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Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches leider unbekannt ist das Ergebnis
der Evaluierung von kognitiver Verhaltenstherapie und psychodynamischer Therapie
im Ausmaß von 25 Stunden zu den Bereichen der sozialen Phobie und der generalisier-
ten Angststörung, die in Deutschland aus staatlichen Mitteln finanziert wird.
Angesichts der Explosion der Fachliteratur, z.B. zum Bereich der posttraumatischen
Belastungsstörung, werden mir zunehmend die Grenzen eines Buches bewusst, dass alle
Angststörungen nach dem DSM-IV-TR darstellen möchte. Ich habe eine Einschränkung
auf den Bereich der Angststörungen nach dem ICD-10 überlegt und dann doch davon
Abstand genommen, weil im Hinblick auf die häufige Komorbidität psychischer Stö-
rungen in der klinischen Praxis gerade die posttraumatische Belastungsstörung, aber
auch bestimmte Formen der Zwangsstörung leicht übersehen werden. Eine Beschrän-
kung der Seitenzahl wäre auch leicht möglich gewesen durch den Verzicht auf die Psy-
chopharmakotherapie, die ich als Psychologischer Psychotherapeut ohnehin nur darstel-
len kann wie ein Journalist. Doch auch dazu konnte ich mich nicht entschließen – aus
Respekt vor biologischen Aspekten psychischer Krankheiten, die auch ein überzeugter
Verhaltenstherapeut wie ich gerne zur Kenntnis nimmt. Immer wieder fällt mir auf, dass
die modernen Antidepressiva gerade jenes ängstliche, zwanghafte und depressive Grü-
beln unterbrechen, das psychische Störungen unnötig lange aufrecht erhält, unabhängig
von den psychischen, sozialen und biologischen Ursachen.
Es fällt mir schwer, Inhalte wegzulassen, die nach vermuteter Meinung von Fachleuten
in diesem Buch unbedingt präsentiert werden müssten, oder auf interessante Details zu
verzichten, die ich in der Zeit der Vorbereitung auf die Überarbeitung dieses Buches ge-
sammelt habe. Ich denke jedoch an klinische Praktiker, interessierte Nicht-Fachleute,
Betroffene und deren Angehörige, an die sich dieses Buch wendet, und nicht an Wissen-
schafter, die andere Quellen finden, um sich über den neuesten Stand zur Thematik der
Angststörungen zu informieren. Wie in eher populären Büchern üblich, habe ich wegen
der leichteren Lesbarkeit auch zunehmend darauf verzichtet, genaue Quellenangaben
vorzunehmen. Die zugestandene Anzahl von 750 Seiten habe ich bewusst unterschritten.
VI Vorwort
Am meisten beeindruckt mich die in den letzten Jahren erfolgte die Weiterentwick-
lung der kognitiven Verhaltenstherapie in Richtung Akzeptanz- und Commitmentthera-
pie und der psychodynamischen Therapie in Richtung interaktioneller, gegenwartsbe-
zogener Konzepte. Hinsichtlich der generalisierten Angststörung finde ich die Erweite-
rung der theoretischen und therapeutischen Konzepte und damit auch die Verbesserung
der Therapieerfolge sehr beachtlich. Am Beispiel der generalisierten Angststörung und
der sozialen Phobie wird deutlich, dass interaktionelle Erfahrungen, Verletzungen und
Vulnerabilitäten typische Auslöser von Angststörungen sind, während ständiges Grü-
beln eine chronische Angstsymptomatik aufrechterhält. Ich bin immer wieder von Neu-
em davon betroffen, wie sehr meine Patienten mit länger dauernder Angststörung unter
einem Vermeidungsverhalten leiden, das sich weder mit Konfrontationstherapie noch
mit kognitiver Therapie so leicht (wie oft behauptet wird) überwinden lässt.
Das Zulassen von Angst in allen Formen des körperlichen Empfindens, Fühlens und
Denkens scheint nicht in unsere Leistungsgesellschaft zu passen, wo man alles unter
Kontrolle haben muss, und wird von den Betroffenen offensichtlich als unerträgliche
Schwäche angesehen, die es auszumerzen gilt. Etwas mit oder trotz Angst zu tun ist
vielen Angstpatienten zu wenig. Sie hoffen auf Befreiung von derartigen Zuständen, um
alles sicher „im Griff“ haben zu können.
Bei Kurzzeittherapien verwende ich gerne folgendes Bild: „Die Angst begleitet Sie
überall hin wie Ihr Schatten an einem sonnigen Tag, doch Sie bestimmen den Weg.
Welches Ziel ist so attraktiv, dass es sich lohnt, die Angst auszuhalten? Es geht Ihnen
nicht schon besser, wenn Ihre Symptome verschwinden, sondern nur weniger schlecht.
Sie müssen das Gute tun, damit es Ihnen besser gehen kann.“ Die Auseinandersetzung
mit der Akzeptanz- und Commitmenttherapie durch die Arbeit an diesem Buch bestärkt
mich in der Haltung, mit meinen Patienten nicht gegen, sondern für etwas zu kämpfen,
nämlich für Autonomie, Freiheit und ein lebenswertes Leben – bei erträglicher Angst!
Während die Achtsamkeitstherapie nach Kabat-Zinn in Deutschland bereits zuneh-
mende Beachtung findet, ist die aus der Verhaltenstherapie stammende Akzeptanz- und
Commitmenttherapie von Hayes und Mitarbeitern zumindest in der klinischen Praxis
noch weitgehend unbekannt. Wenn sie aufgrund nachgewiesener Wirksamkeit jene
Verbreitung findet, wie ihr dies zu wünschen ist, wird die traditionelle kognitiv-
behaviorale Therapie von Menschen mit Angststörungen zukünftig wohl wesentliche
Änderungen erfahren – weg vom Image des „Machertums“ und des „richtigen Den-
kens“ und hin zu mehr Akzeptanz der momentanen Empfindungen, Gefühle und Ge-
danken. Wenn die Therapieforschung in den USA die Effizienzsteigerung der Verhal-
tenstherapie durch die Integration emotionszentrierter und interaktioneller Aspekte in
der Behandlung von Menschen mit Angststörungen immer mehr bestätigen sollte, wird
die Verhaltenstherapie zunehmend in Richtung einer integrativen Therapie gehen, wie
ich mir dies schon immer gewünscht habe.
Für die überarbeitete und erweiterte Neuauflage dieses Buches wurden die neu er-
schienenen deutschsprachigen Fachbücher und Artikel berücksichtigt, insbesondere zu
folgenden Angststörungen: generalisierte Angststörung, soziale Phobie, Zwangsstö-
rung, posttraumatische Belastungsstörung, Angststörungen im Kindes- und Jugendalter.
Das Medikamenten-Kapitel wurde auf den neuesten Stand gebracht, soweit es die in
Deutschland und Österreich erhältlichen Medikamente bei Angststörungen betrifft.
Die anhaltende Beschäftigung mit der Thematik der Angststörungen hat dazu ge-
führt, dass ich mich immer mehr für somatoforme Störungen interessiert habe, im glei-
chen Verlag dazu auch ein Buch veröffentlicht habe und in der Nervenklinik Linz, wo
ich 20 Wochenstunden tätig bin, die Chance zu einer Veränderung wahrgenommen
habe, indem ich seit 2002 nicht mehr in der Psychiatrie, sondern in der Psychosomatik
arbeite. Denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Patienten noch nicht ganz
gesund sind, wenn sie nicht mehr angstkrank sind, denn verspannt sind sie immer noch
und leiden weiterhin unter ihrem Körper, wenngleich sie ihn nicht mehr fürchten.
Aus vielen persönlichen Rückmeldungen weiß ich, dass der Absatz dieses Buches
auch durch meine Internet-Präsenz unter www.panikattacken.at gefördert wurde, wo
auf dieses Buch ausdrücklich hingewiesen wird.
Viele Menschen und auch Journalisten, die zu einem bestimmten Thema Daten sam-
meln, wählen heute das Internet als erstes Informationsmittel. Gegenwärtig gilt
www.google.de als Suchmaschine Nr. 1 (90% der Besucher finden über diesen Weg zu
meiner Homepage). Meine umfangreichen Ausführungen über die verschiedenen
Angststörungen haben schon vielen Menschen weiter geholfen und den Betroffenen das
Gefühl vermittelt, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind.
Die Öffentlichkeitsarbeit zur Thematik der Angststörungen ist mir ein Herzensan-
liegen geworden. Gerade anhand von Ängsten lässt sich beobachten, wie aus normalen
Zuständen krankhafte Beeinträchtigungen werden können, die großes Leid verursachen.
Je früher die Betroffenen Wege zur Selbsthilfe oder zur Therapie finden, umso weniger
Chronifizierung der Ängste ist zu erwarten.
Aus den für jedermann sichtbaren Besucherzahlen meiner Homepage zeigt sich,
dass das Informationsbedürfnis über Angststörungen nach wie vor enorm groß ist. Es
ist daher anzunehmen, dass auch die dritte Auflage dieses Buches eine entsprechende
Nachfrage finden wird.
Aufgrund der Fülle der angebotenen Themen ist es nicht wahrscheinlich, dass je-
mand dieses Buch von Anfang bis zum Ende lesen wird. Es hat sich vielmehr als Nach-
schlagewerk bewährt, das angesichts der aktuellen Fragen und Probleme eine konkrete
Hilfestellung bieten möchte.
Ich wünsche allen Fachleuten, Betroffenen, deren Angehörigen und den anderen an
dieser Thematik Interessierten eine Gewinn bringende Lektüre.
Der Buchumfang ist durch die Erweiterungen noch etwas angewachsen, dennoch hoffe
ich, dass das Buch weiterhin für einen breiten Leserkreis attraktiv erscheint.
Drei umfangreiche und repräsentative deutsche Studien (Dresdner Angststudie,
Bundesgesundheitssurvey 1998, TACOS-Studie) haben die große Bedeutung klinisch
relevanter Ängste neuerlich bestätigt: 9% der deutschen Bevölkerung leiden aktuell und
15% im Laufe des Lebens unter einer behandlungsbedürftigen Angststörung.
Durch die weltweit größte Studie zu generalisierten Angststörungen und Depressio-
nen in den Ordinationen von 558 deutschen Allgemeinärzten bei über 20000 Patienten
wurde zudem auf ein Problem hingewiesen, das bislang unterschätzt und vernachlässigt
wurde, und zwar das hohe Ausmaß der subklinischen Ängste und der klinisch relevan-
ten Ängste in Form der generalisierten Angststörung.
27% der Hauarztpatienten, d.h. mehr als ein Viertel der Patienten, litten in den ver-
gangenen vier Wochen unter Angstbeschwerden, ängstlicher Anspannung und Besorg-
nis. Jeder fünfte dieser Patienten wies eine seit mehr als sechs Monaten andauernde
generalisierte Angststörung auf.
Die generalisierte Angststörung mit einer Stichtagsprävalenz von 5,6% gehört damit
zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung. Die gene-
ralisierte Angststörung wurde jedoch bei zwei Drittel der Patienten von den Ärzten
nicht erkannt. Noch weniger Patienten werden adäquat behandelt, was für die Betroffe-
nen und das Gesundheitssystem schwerwiegende Folgen hat.
Nur ein Drittel der Patienten mit einer generalisierten Angststörung werden vom
Hausarzt richtig diagnostiziert. Andererseits waren nur 16% der hausärztlich gestellten
Diagnosen einer generalisierten Angststörung richtig. Bei einem Drittel der Patienten
mit einer generalisierten Angststörung äußerte der Hausarzt nicht einmal einen Ver-
dacht auf irgendeine psychische Störung. Mit zunehmender Erkrankungsdauer kommt
es zu immer häufigeren deprimierenden erfolglosen Bewältigungsversuchen und un-
tauglichen und chronifizierenden Behandlungsversuchen der Ärzte, sodass im Laufe der
Zeit häufig auch noch eine Depression im Sinne einer Komorbidität auftritt.
Nach den Wirtschaftswissenschaftern Panse und Stegmann beträgt der „Kostenfak-
tor Angst“ in Deutschland rund 100 Milliarden DM pro Jahr.
Die zweite, erweiterte Auflage meines Buches soll einen Beitrag dazu leisten, dass
die Thematik und effektive Behandlung der Angststörungen in der Öffentlichkeit wei-
terhin jenen Platz einnehmen, der aufgrund des individuellen Leids der Betroffenen und
der volkswirtschaftlichen Kosten angemessen ist.
Vorwort
Angststörungen stellen bei Frauen die häufigste, bei Männern nach der Alkoholabhän-
gigkeit die zweithäufigste psychische Störung dar. Zur Angstdämpfung werden oft
Alkohol und abhängig machende Beruhigungsmittel eingesetzt, sodass bald zusätzliche
Probleme auftreten. Die Nichtbewältigung der Ängste führt häufig zu depressiven Er-
schöpfungszuständen. Ohne Behandlung nehmen Angststörungen langfristig einen
schlechteren Verlauf als Depressionen. Aus Angst vor den unerklärlichen körperlichen
Reaktionen (Herzrasen, Schwindel, Ohnmachtsneigung, Atemnot, Hitzewallungen,
Übelkeit, „weiche Knie“ usw.) engen die Betroffenen ihren Bewegungsspielraum im
Laufe der Zeit derart ein, dass dadurch berufliche, familiäre und private Probleme ent-
stehen. Eine ausgeprägte Agoraphobie macht aus früher oft recht selbstständigen Per-
sönlichkeiten plötzlich hilflose Menschen, die wie Behinderte ganz von ihrer Umwelt
abhängig sind. Menschen mit Panikattacken verursachen dem Gesundheitssystem auf-
grund der wiederholten, ergebnislosen Durchuntersuchungen enorm hohe Kosten. Viele
Ärzte haben durch den Druck einer Massenpraxis und die ungenügende Honorierung
für Gespräche zu wenig Zeit und Motivation, sich dieser Patientengruppe ausreichend
zu widmen und verschreiben beruhigende Medikamente.
Dieses Buch über Angststörungen stellt den Versuch dar, die Ganzheit des Men-
schen in der Psychotherapie zu berücksichtigen, d.h. den Menschen als Einheit von
Körper, Geist und Seele zu sehen. Als Klinischer Psychologe und Psychotherapeut habe
ich es aufgrund des jahrelangen Umgangs mit Angstpatienten für notwendig befunden,
mehr Wissen über die körperlichen Abläufe bei Angstzuständen zu erwerben und dieses
den Betroffenen im Rahmen einer verhaltenstherapeutisch orientierten Psychotherapie
auch zu vermitteln. Psychotherapeuten müssen ihre Patienten dort abholen, wo sie ste-
hen, und dies bedeutet oft, organmedizinische in psychotherapeutische Sichtweisen
umzuwandeln.
Bei Menschen mit scheinbar unerklärlichen körperlichen Zuständen, die sich letzt-
lich als psychovegetativ bedingt, als körperliche Angstphänomene, erweisen, ist nicht
nur die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen „heilenden“ Berufsgruppen wie
Ärzten und Psychotherapeuten angezeigt, sondern auch die gleichzeitige Berücksichti-
gung von körperlichen und seelischen Prozessen durch ein und denselben Helfer.
In diesem Sinne nehmen die Darstellung körperlicher Vorgänge zur Vermittlung der
Körper-Seele-Zusammenhänge bei Panikattacken zu Beginn einer Psychotherapie bei
mir sowie körperbezogene Übungen im Verlauf der Therapie einen breiten Raum ein.
Dies spiegelt sich auch in der entsprechend ausführlichen Darstellung in diesem Buch
wider. Im Rahmen meiner Spezialisierung auf die Behandlung von Menschen mit Pa-
nikstörung in der freien Praxis hat sich diese Vorgangsweise sehr bewährt. Teile dieses
Buches wurden schon von vielen meiner Patienten gelesen und dankbar angenommen.
Dies hat mich ermutigt, ein Buch in dieser Form zu veröffentlichen.
Dieses Buch kann eine Psychotherapie bei ausgeprägten Angststörungen nicht er-
setzen, sondern soll bei Bedarf vielmehr dafür sensibilisieren und Psychotherapeuten
und Patienten eine Hilfestellung bieten, rascher auf den „springenden Punkt“ zu kom-
men und dadurch Zeit und Kosten zu sparen. Gleichzeitig können die vermittelten In-
formationen einen Beitrag in Richtung „mündiger und informierter Patient“ darstellen.
Wo Information und Wissen nicht ausreicht, wird eine Psychotherapie dringlich.
XII Vorwort
Viele meiner Patienten leiden schon seit Jahren unter Ängsten. Bei Menschen mit
Panikstörung zeigt sich die Misere unseres Gesundheitssystems besonders deutlich:
z Psychotherapeuten, insbesondere nichtärztlicher Herkunft, beschäftigen sich oft
einseitig mit den psychischen und psychosozialen Aspekten der Panikstörung und
übersehen, dass ihre Patienten mit ihrem Körper nicht zurechtkommen.
z Ärzte behandeln gewöhnlich nur die körperliche Seite der Panikstörung und ver-
nachlässigen die psychischen Aspekte.
z Viele Panikpatienten wünschen anfangs selbst oft nur eine medizinische Behand-
lung (Ausschlussdiagnostik organischer Faktoren, Medikamente) und sind schließ-
lich doch damit unzufrieden, sodass sie bald von einem Arzt zum anderen hilfesu-
chend weiterziehen. Wenn sie von der Schulmedizin endgültig enttäuscht sind, wer-
den alternative Heilmethoden versucht.
z Menschen mit Panikstörung sind in einem primär organmedizinisch orientierten
Gesundheitssystem so lange ein interessanter Fall, bis jede organische Komponente
ausgeschlossen ist. Danach werden Frauen oft als „hysterisch“ und Männer als „hy-
pochondrisch“ abqualifiziert. Nach den hohen Kosten der medizinischen Durchun-
tersuchungen, die das Gesundheitssystem übernimmt, wird den Betroffenen eine
Psychotherapie empfohlen, was wie eine Bestrafung wirkt, wenn man aufgrund der
in Österreich unzulänglichen psychotherapeutischen Versorgung innerhalb des
Krankenkassensystems für seine psychischen Probleme fast zwei Drittel der psycho-
therapeutischen Behandlungskosten selbst bezahlen muß.
Das Buch enthält keine eigenen theoretischen und therapeutischen Konzepte. Seine
Originalität besteht nicht in der Neuheit von Informationen, sondern in der Art der
Zusammenfassung des bekannten Wissens. Auf der Basis der neuesten Fachliteratur
und der besten Selbsthilfeanleitungen werden eine Fülle von Informationen zur Thema-
tik der Angststörungen und deren Behandlung bzw. Selbstbehandlung zu vermitteln
versucht (die angeführten Punkte entsprechen den jeweiligen Kapiteln):
1. eine Einführung in den Bereich der normalen und krankhaften Ängste,
2. eine anschauliche Beschreibung der verschiedenen Angststörungen entsprechend
der Diagnostik der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) und des neuen amerika-
nischen psychiatrischen Diagnoseschemas (DSM-IV),
3. eine Darstellung von Ängsten bei anderen seelischen und körperlichen Störungen,
4. einen Überblick über Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen,
5. eine ausführliche Darstellung der verschiedenen biologischen und psychologischen
Erklärungsversuche von Angststörungen,
6. eine detaillierte Beschreibung der Verhaltenstherapie bei Angststörungen,
7. eine Erläuterung der psychoanalytischen Konzepte bei Angststörungen,
8. eine umfangreiche Hilfestellung zur Selbsthilfe, die eine Psychotherapie bei leichte-
ren Angststörungen vielleicht überflüssig macht oder zumindest gut vorbereitet,
9. eine Sammlung von bewährten Ratschlägen für Angehörige von Menschen mit
Angststörungen,
10. eine Einführung in die medikamentöse Behandlung von Angststörungen sowie eine
Information über den Placeboeffekt von Medikamenten,
11. eine kurze Auflistung der pflanzlichen Präparate zur Linderung von Angst- und
Unruhezuständen.
Vorwort XIII
Wegen der leichteren Lesbarkeit wurde auf die Unterscheidung zwischen weiblicher
und männlicher Form verzichtet, ebenso auf die regelmäßige Nennung von Namen und
Jahreszahlen bei der Verarbeitung der Fach- und Populärliteratur. Für Interessierte wird
durch Zahlen in Klammern die verwendete Literatur im Anhang des Buches dokumen-
tiert. 20 Verlage haben dankenswerterweise die Abdruckgenehmigung für Zitate erteilt.
Als Verhaltenstherapeut ist mir ein Hinweis sehr wichtig. Wenngleich die Verhal-
tenstherapie laut wissenschaftlichen Untersuchungen die effizienteste Psychotherapie-
methode bei Angststörungen ist, muss für Betroffene keinesfalls eine Verhaltensthera-
pie die Methode der Wahl sein (noch dazu, wenn gar kein Verhaltenstherapeut in er-
reichbarer Nähe zu finden ist). Wer die Informationen und verhaltenstherapeutisch
fundierten Ratschläge dieses Buches eigenständig umzusetzen vermag, wird durch den
Psychotherapeuten seines Vertrauens und durch die persönlich passende Psychothera-
piemethode die angemessenste Hilfestellung erfahren.
Wissenschaftlich gesichert sind bei der Verhaltenstherapie von Angststörungen bis-
lang nur die (allerdings oft ausreichenden) symptombezogenen Techniken. Ein Teil der
Menschen mit Angststörungen braucht jedoch mehr (Partner- oder Familientherapie,
stärker erlebnis- und emotionszentrierte Therapie, Stützung in Krisenzeiten, Klärung
beruflicher Konflikte, Bewältigung traumatischer Erfahrungen, Entwicklung bislang
ungenutzter Ressourcen und Persönlichkeitspotentiale usw.). Dies wird von Verhaltens-
therapeuten durchaus berücksichtigt, aber auch von anderen Psychotherapeuten.
Im Bereich der Psychotherapie war ich selbst lange Zeit ein Suchender. Während
meines Psychologie-Studiums in Salzburg in den 70-er Jahren interessierte ich mich
zuerst für Dynamische Gruppenpsychotherapie und nahm an einer zweijährigen Selbst-
erfahrungsgruppe des ÖAGG teil, anschließend faszinierte mich der Rogers-Ansatz,
weshalb ich bei der ÖGWG die Grundausbildung in Klientenzentrierter Psychotherapie
durchlief. Wegen meiner früheren Tätigkeit in der Jugendpsychiatrie absolvierte ich in
den 80er Jahren beim IFS Linz die Ausbildung in Systemischer Familientherapie.
Die seit 1983 erfolgte berufspraktische Ausbildung durch Frau Hofrat Dr. Irene
Schneider in der Verhaltenstherapie-Abteilung der O.Ö. Landes-Nervenklinik Wagner-
Jauregg in Linz, wo ich derzeit psychotherapeutisch arbeite, und die formale Ausbil-
dung in Verhaltenstherapie bei der AVM Salzburg in der ersten Hälfte der 90er-Jahre
haben dazu geführt, dass ich in der Verhaltenstherapie meine geistige Heimat fand.
Diese Hinweise auf meinen psychotherapeutischen Werdegang sollen meine Offen-
heit für andere Psychotherapiemethoden dokumentieren. Bei der Psychotherapie von
Menschen mit Angststörungen vertrete ich ein integratives Behandlungsmodell auf der
Basis der Verhaltenstherapie, das insbesondere systemische, psychoanalytische und
körpertherapeutische Konzepte berücksichtigt. In der Zusammenarbeit mit Psychiatern
habe ich bei schweren Angststörungen, insbesondere in Verbindung mit depressiven
Erschöpfungszuständen, auch den Einsatz von Medikamenten schätzen gelernt.
XIV Vorwort
2. Angststörungen .................................................................................................. 21
„Starke Angst verursacht unangenehme subjektive Gefühle der Erregung, Herzklopfen, Muskelspan-
nung, Zittern, Schreck- oder Alarmreaktion, ein Gefühl der Trockenheit und des ‚Zusammen-
geschnürtseins’ in Mund und Rachen, Beklemmung in der Brust, das Gefühl, daß der Magen sich senkt,
Übelkeit, Verzweiflung, Harn- und Stuhldrang, Gereiztheit und Angriffslust, starkes Verlangen zu
weinen, davonzulaufen oder sich zu verstecken, Atemnot, Prickeln in Händen und Füßen, Gefühle der
Unwirklichkeit oder des Weit-entfernt-Seins, ohnmächtig zu werden und umzufallen. Wenn Angst
lange Zeit andauert, werden selbst gesunde Menschen müde, deprimiert, langsamer, ruhelos und verlie-
ren ihren Appetit. Sie können nicht schlafen, haben schlechte Träume und vermeiden alle furchterre-
genden Situationen.“
2 Normale und krankhafte Ängste
Angst gibt es auch in der Tierwelt, wie der englische Naturforscher Charles Darwin [4]
bereits im Jahr 1872 anschaulich dargestellt hat:
„Bei allen oder fast allen Tieren, sogar bei Vögeln, bringt Terror den Körper zum Zittern. Die Haut
wird blaß, Schweiß bricht aus, und die Haare richten sich auf... Die Atmung ist beschleunigt. Das Herz
schlägt schnell, wild und gewaltsam... Die geistigen Fähigkeiten sind sehr gestört.“
„Das Herz schlägt wild, oder aber es fallen Herzschläge aus, was Ohnmacht zur folge haben kann; man
beobachtet eine todesähnliche Bleiche; der Atem geht schwer; die Nasenflügeln werden weit...es würgt
in der Kehle, die Augen treten hervor, die Pupillen erweitern sich, die Muskeln werden hart. Wenn die
Angst einen extrem hohen Punkt erreicht, entlädt sich die Panik in einem fürchterlichen Schrei. Große
Schweißtropfen stehen auf der Haut. Alle Muskeln des Körpers sind entspannt, bald folgt äußerste
Erschlaffung und die geistigen Kräfte versagen. Die Eingeweide sind ebenfalls betroffen. Die Schließ-
muskeln hören auf zu funktionieren, und der Inhalt des Körpers kann nicht mehr zurückgehalten wer-
den.“
Darwin sah den Grund für die universelle Verbreitung derartiger Symptome in der evo-
lutionären Bedeutung der Angst als Mittel der Vorbereitung auf Verteidigungsmaßnah-
men. Die Erkenntnisse von Darwin stellen die theoretische Grundlage für die neurobio-
logische Erforschung von Angstzuständen dar.
Der amerikanische Physiologe Walter Cannon machte 1929 durch seine Untersu-
chungen die körperlichen Angstreaktionen als „Kampf-Flucht-Reaktion“ weltweit po-
pulär. Der Stressforscher Hans Selye [6] beschrieb eine unspezifische Alarmreaktion des
Körpers in akuten Belastungssituationen, die auch bei plötzlicher Angst auftritt. Diese
Aktivierung wird „Notfallreaktion“ oder „Bereitstellungsreaktion“ genannt.
Angstzustände bewirken eine Alarmreaktion des Körpers zur Vorbereitung auf
Kampf oder Flucht, dienen also der Vorbereitung des Körpers auf schnelles Handeln.
Die Herztätigkeit und die Atmung werden beschleunigt, die Durchblutung verstärkt und
die Muskeln angespannt, um der Gefahr möglichst schnell zu entkommen. Eine derarti-
ge Alarmierung in Ruhe ohne äußere Bedrohung wird als unangenehm erlebt.
Bei akuten Gefahren (z.B. Straßenverkehr, Bedrohung im Rahmen von Überfällen,
Gefährdung von Angehörigen oder Bekannten) ermöglicht Angst eine automatische,
unbewusste, schnelle Alarmreaktion zur Sicherung von Leib und Leben, während bei
Einschaltung der höheren geistigen Funktionen (Nachdenken, ob wirklich eine Gefahr
besteht) die Reaktionsgeschwindigkeit derart verlangsamt würde, dass unweigerlich
bereits nicht mehr gutzumachender Schaden entstehen könnte [7].
Es gibt zahlreiche Schreck- und Angstreaktionen auf bestimmte auslösende Schlüs-
selreize, die im Tierreich gut untersucht wurden. Solche primären Ängste sind teilweise
auch noch beim Menschen vorhanden, z.B. als Abwehr- oder Fluchtreflex.
Auf bestimmte Umweltgegebenheiten (Dunkelheit, Feuer, Unwetter, Blitz und Don-
ner, Höhen, Schlangen, Spinnen usw.) reagieren wir von Natur aus stärker mit Angst als
auf andere Reize. Dies zeigt, dass wir aufgrund eines biologischen Programms, das sich
im Laufe der Evolution entwickelt hat, auf das Überleben von zumindest früher gefähr-
lichen Situationen vorbereitet sind. In Notfallsituationen können selbst Angstpatienten
rasch und richtig handeln, wenn es z.B. gilt, Angehörige aus einer lebensbedrohlichen
Situation zu retten. Man entwickelt dann „übermenschliche Kräfte“. Entwicklungsge-
schichtlich gesehen, stellen die Angststrukturen im Gehirn alte Gehirnanteile dar, die
erst beim Menschen in die höheren psychischen Funktionen integriert wurden.
Angstsymptome – Sozial vermittelt und kulturell geprägt 3
Diese Symptome stellten eine Reaktion auf traumatisierende Erlebnisse an der Front
und einen Schutz vor weiterer Bedrohung durch die Kriegsereignisse dar, indem sie eine
vorübergehende Freistellung vom Kriegsdienst erbrachten.
Um die Jahrhundertwende traten bei Frauen gehäuft Ohnmachtsanfälle als Ausdruck
von Angst und Schrecken auf. Neben der sozialen Machtlosigkeit von Frauen stellt dies
oft auch die Folge der Körperabschnürung durch das damals übliche Korsett dar.
Plötzliches Einschlafen von Soldaten im Schützengraben als Schutz vor dem be-
wussten Erleben einer Verletzung ist aus den Kriegsjahren bekannt.
In anderen Kulturen finden wir epidemisch auftretende Ängste, die für uns unver-
ständlich sind. Sie hängen häufig mit falschen Vorstellungen über Ursachen und Folgen
verschiedener Phänomene zusammen, ähnlich wie dies auf den Aberglauben im frühe-
ren Europa zutrifft, und äußern sich in bestimmten somatoformen Symptomen [13]:
z Koro ist die Angst südostasiatischer Chinesen, dass der Penis schrumpfen könnte,
indem er sich in den Bauch zurückzieht und so schließlich den Tod herbeiführt.
1967 trat diese Angst als Massenphänomen in Singapur auf. Viele Männer hielten
deshalb den Penis fest oder versuchten das Geschehen durch hölzerne Zangen an ih-
rem Penis zu verhindern. Analog, aber deutlich seltener, befürchten asiatische Frau-
en, dass ihre Brustwarzen, ihre Schamlippen oder ihre Scheide schrumpfen könnten.
z Jiryan ist der fixe Glaube, dass das Sperma aus dem Körper in den Urin ausläuft und
infolgedessen ein kontinuierlicher Potenzverlust eintritt.
z Das Dhat-Syndrom stellt in Indien die unberechtigte Sorge um die schwächende
Wirkung des Samenergusses dar. Die Zurückhaltung der Ejakulation sollte dagegen
ein langes Leben in Gesundheit ermöglichen. Häufige sexuelle Betätigung wurde
von antiken und asiatischen Asketen als Energieverlust abgelehnt, früher auch von
der katholischen Kirche.
z Latah ist (als Sonderform der posttraumatischen Belastungsstörung) eine angstge-
prägte Reaktion auf plötzliche Stresssituationen (Krieg, Naturkatastrophen oder so-
ziale Veränderungen), die sich in Hypersuggestibilität, automatischem Gehorsam
und verschiedenen Echophänomenen (Echolalie und Echopraxie) äußert.
z Susto ist die Angst in bestimmten südamerikanischen Gegenden, dass die Seele als
Folge von Stress zeitweilig den Körper verlassen könnte.
z Taijin kyofusho ist in Japan und Korea eine Variante der sozialen Angststörung, bei
der die Betroffenen fürchten, anderen gegenüber aufdringlich zu wirken. Sie sind ex-
trem darauf bedacht, andere Menschen keinesfalls zu stören, zu belästigen, zu belei-
digen oder sonst irgendwie unangenehm zu irritieren durch Blicke, schlechten Kör-
pergeruch, vermeintliche körperliche Defekte, abgehende Blähungen, eigenes Errö-
ten, unpassende Kleidung oder unabsichtliche Berührung. Im Mittelpunkt steht das
ängstliche Bemühen, Schaden von anderen und nicht von sich selbst abzuwenden.
z Das Hirn-Ermüdungs-Syndrom ist eine kulturspezifische Form anhaltender Angst
von Mitgliedern ungebildeter Familien in Afrika, die aufgrund ihrer hohen Intelli-
genz zur Bildung ins Ausland geschickt wurden und wegen ihres akademischen
Versagens wieder nach Hause zurückkehren mussten, geplagt von großer Angst und
Scham vor ihrer Familie, aber auch von vielen körperlichen Symptomen (Kopf-
schmerzen, Sehstörungen, Konzentrations- und Arbeitsbeeinträchtigungen).
z Voodoo ist die Angst vor der Macht des Medizinmannes, der durch seinen Todes-
spruch bewirken kann, dass der Betroffene die Nahrungsaufnahme einstellt und in-
nerhalb von wenigen Tagen tatsächlich stirbt. Die starken Angstsymptome stehen
hier in Verbindung mit dem Glauben, verhext zu sein.
6 Normale und krankhafte Ängste
Gehen Sie mit Angst um wie mit einem Gespenst: „Laufe vor einem Gespenst fort, und
es wird dich verfolgen. Gehe auf es zu, und es wird verschwinden.“ (Altes irisches
Sprichwort). Dichter und Schriftsteller formulieren es ähnlich:
z „Beherzt ist nicht, wer keine Angst kennt, beherzt ist, wer die Angst kennt und sie
überwindet.“ (Khalil Gibran)
z „Tue das, wovor Du Angst hast, und der Tod Deiner Angst ist sicher.“
(Ralph Waldo Emerson)
z „Tue das, wovor du dich fürchtest, und die Furcht stirbt einen sicheren Tod.“ (Willi-
am James)
8 Normale und krankhafte Ängste
Die Verhaltenstherapeutin Doris Wolf [17] bietet in ihrem empfehlenswerten und viel
gelesenen Buch „Ängste verstehen und überwinden“ sechs hilfreiche Fragenbereiche
zur Prüfung an, wann Angst sinnvoll ist und wann nicht:
1. Kann das, was ich als gefährlich ansehe, tatsächlich eintreffen? Ist das, was ich als
gefährlich, katastrophal und unerträglich ansehe, wirklich lebensgefährlich? Gibt es
Beweise dafür? Eine differenzierte Realitätsprüfung der möglichen Gefahren soll
unnötigen Angstfantasien Einhalt gebieten.
2. Wenn die von mir als lebensgefährlich bewertete Situation tatsächlich unangenehm
sein kann, wie wahrscheinlich ist sie? Was als Gefahr grundsätzlich möglich ist,
muss in einer bestimmten realen Situation noch keinen handlungsleitenden Charak-
ter annehmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass einem Fußgänger ein Dachziegel auf
den Kopf fallen kann, ist vernachlässigbar gering, sodass man durchaus entlang ei-
ner Häuserzeile gehen kann.
3. Gibt es Möglichkeiten, das von mir als lebensgefährlich angesehene Ereignis zu
verhindern? Die Auslösung einer Alarmsituation mit allen körperlichen Folgen ist
nur sinnvoll, wenn konkrete Maßnahmen zur Abwehr der Gefahr ergriffen werden.
4. Gibt es Überlebensmöglichkeiten, wenn das von mir als lebensgefährlich einge-
schätzte Ereignis tatsächlich eintritt? Was wäre, wenn ...? Die Vorstellung einer Ge-
fahrensituation soll nicht abschrecken, sondern letztlich die Fantasie anregen, wie
man diese überwinden kann.
5. Haben alle Menschen vor diesen Situationen Angst oder meiden andere Menschen
diese Situationen? Das Bewusstsein, dass andere Menschen mit einer bestimmten
Gefahrensituation sehr wohl zurechtkommen können, erinnert an Wahlmöglichkei-
ten und eröffnet einen Entscheidungsspielraum.
6. Was verliere ich, wenn ich nicht in die von mir als gefährlich angesehene Situation
gehe? Was bedeutet dies beruflich, gesellschaftlich, im Privatleben und bezüglich
meiner Selbstachtung? Was verlieren Angehörige und Bekannte durch meine Angst-
symptome und mein Vermeidungsverhalten? Was kann ich gewinnen, wenn ich in
diese Situation gehe? Ist mir der mögliche Gewinn so viel wert, dass ich mich der
Situation trotz Risiko aussetze? Eine Gewinn-Verlust-Rechnung kann helfen, ein
neues Verhalten auszuprobieren, getreu dem Motto „Wer wagt, gewinnt!“, obwohl
ein gewisses Risiko des Scheiterns immer gegeben sein wird.
Es ist erstaunlich, dass die größten Bedrohungen des Menschen und der Menschheit
(Atomunfall, Giftgaskatastrophe, Umweltvergiftung, unheilbare Krankheit, Autofahren)
oft wenig Beängstigung auslösen. Bis zu einem gewissen Grad scheint es für die psy-
chische Gesundheit notwendig zu sein, an sich realistische Gefahren nicht ständig prä-
sent zu haben, sondern zeitweise verdrängen zu können, um handlungsfähig zu sein.
Optimismus und Vertrauen bedeutet, beim Denken und Handeln die negativen Mög-
lichkeiten und ein gewisses Restrisiko zumindest phasenweise ausblenden zu können.
Es schränkt die Lebensfreude ein, wenn man bei jedem Essen daran denkt, dass dieses
möglicherweise atomar verstrahlt sein könnte.
Oft spiegelt unsere häufige Sorglosigkeit auch den Umstand wider, dass wir für be-
stimmte Gefahrensituationen der modernen Welt von der Evolution kein genetisches
Programm mitbekommen haben, während sich viele Menschen noch immer vor kaum
mehr gegebenen Umweltgefahren unserer Vorfahren fürchten. Dunkelheit, Blitz, Don-
ner und ungefährliche Schlangen lösen oft mehr Ängste aus als Seilbahnen, Flugzeuge,
Kraftfahrzeuge, elektrischer Strom und Schusswaffen.
Die existenzielle Dimension der Angst 9
Die Daseins- und Zukunftsängste in einer sich ständig wandelnden Welt mit bedrohli-
chen Aussichten haben dazu geführt, unser Zeitalter zu einem „Zeitalter der Angst“ zu
erklären. Die verschiedenen Kulturen und Religionen haben sich bemüht, den Menschen
mit dem Schicksal der andauernd gefährdeten Existenz besser umgehen zu helfen.
Viele Menschen mit Angststörungen können letztlich die ständige Bedrohtheit und
Unkontrollierbarkeit des Lebens nicht akzeptieren, wenn sie sich um ihr Leben, ihre
Gesundheit oder ihr Prestige sorgen. Kein Beruhigungsmittel und keine Entspannungs-
methode kann die Todesangst ausschalten, die von jedem Menschen nach seinen Mög-
lichkeiten bewältigt werden muss. Die frühere christliche Weisheit „Lebe jeden Tag so,
als ob er dein letzter wäre!“ drückt aus, welche Intensität das Leben angesichts des
möglichen Todes gewinnen kann. Panikpatienten mit Agoraphobie verhalten sich dage-
gen umgekehrt: Aus Angst vor dem Tod schränken sie ihre Lebensmöglichkeiten ein;
vor lauter Verhinderung des Negativen vergessen sie, das Gute im Hier und Jetzt zu tun.
10 Normale und krankhafte Ängste
Der Schriftsteller Max Frisch [18] drückt den Zusammenhang von Lebensangst und
Lebensfreude folgendermaßen aus:
„Es gibt kein Leben ohne Angst vor dem andern; schon weil es ohne diese Angst, die unsere Tiefe ist,
kein Leben gibt; erst aus dem Nichtsein, das wir ahnen, begreifen wir für Augenblicke, daß wir leben.
Man freut sich seiner Muskeln, man freut sich, daß man gehen kann, man freut sich des Lichtes, das
sich in unserm dunklen Auge spiegelt, man freut sich seiner Haut und Nerven, die uns so vieles spüren
lassen, man freut sich und weiß mit jedem Atemzug, daß alles, was ist, eine Gnade ist. Ohne dieses
spiegelnde Wachbewußtsein, das nur aus Angst möglich ist, wären wir verloren; wir wären nie gewe-
sen.“
Die existenzielle Dimension der Angst und ihrer Bewältigung zeigt sich auch in dem
Umstand, dass die Betroffenen – frei von ihren Ängsten – sich fragen können, wofür sie
nun eigentlich frei sind. Wenn die Angst vor Abhängigkeit und Eingeengtsein vorbei
ist, setzt bei vielen Menschen plötzlich die Angst vor der Entscheidungsfreiheit ein.
Nach dem dänischen Philosophen und Theologen Sören Kierkegaard [19] ist Angst
der „Schwindel der Freiheit“, der beim Anblick der vielfältigen Möglichkeiten des
Lebens und des Drucks konkreter Entscheidungen mit dem Risiko von Fehlern entsteht.
Angst lähme nicht nur, sondern enthalte die unendliche Möglichkeit des Könnens, die
den Motor der menschlichen Entwicklung darstelle, wie Kierkegaard in seinem bedeut-
samen Werk „Der Begriff Angst“ ausführt.
Der Daseinsanalytiker Gion Condrau [20] betont ebenfalls die menschliche Wahl-
freiheit als Quelle der Angst, das Falsche zu tun:
„Angst ist nur auf dem Hintergrund von Freiheit möglich... Freiheit ist immer mit potentieller Angst
verbunden. Je größer die Freiheit für die wachsende Fähigkeit ist, sich den eigenen Möglichkeiten der
individuellen Entfaltung wie auch der Vertiefung zwischenmenschlicher Beziehungen zu stellen, und
diese zu verwirklichen; je größer das Wagnis ist, sich auf neues Gebiet zu wagen, desto größer wird die
Angst. Fürchtet sich aber der Mensch vor der Freiheit, wird die Angst krankhaft.“
Wofür soll man kämpfen, wenn man plötzlich nicht mehr gegen etwas kämpfen muss?
Was soll man selbstverantwortlich tun, wenn man es wirklich tun kann und nicht mehr
länger daran gehindert ist? Eine zentrale Frage in der Psychotherapie bei Menschen mit
Angststörungen lautet: „Was würden Sie tun, wenn Sie keine krankhaften Ängste mehr
hätten?“ Viele Angstpatienten wünschen zwar, ohne krankhafte Angst zu sein, können
sich diese Zeit mit ihren konkreten Möglichkeiten jedoch gar nicht vorstellen.
Der Psychoanalytiker Fritz Riemann [21] beschreibt aus tiefenpsychologischer Sicht
in beeindruckender Weise vier „Grundformen der Angst“ als vier verschiedene Arten
des In-der-Welt-Seins, die allen möglichen Ängsten zugrunde liegen und von einem
gesunden Zustand bis zu einer krankhaften Ausprägung gehen würden (bei pathologi-
scher Ausprägung würden daraus vier Persönlichkeitsstörungen resultieren, was man
jedoch als grobe Vereinfachung ansehen muss):
1. die Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt (krankhaft:
schizoider Typus);
2. die Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgensein und Isolierung erlebt (krank-
haft: depressiver Typus);
3. die Angst vor der Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt (krankhaft:
zwanghafter oder anankastischer Typus);
4. die Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt (hysteri-
scher Typus).
Die existenzielle Dimension der Angst 11
Zu jeder Strebung gehört die Angst vor der Gegenstrebung. Jeder Mensch muss ein
dynamisches Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Tendenzen finden. Die vier
Grundimpulse ergänzen und widersprechen sich in folgenden Polaritäten:
z das Streben nach Selbstbewahrung und Absonderung und das Gegenstreben nach
Selbsthingabe und Zugehörigkeit,
z das Streben nach Dauer und Sicherung und das Gegenstreben nach Wandlung und
Risiko.
Riemann [22] weist darauf hin, dass nicht die Angst vor diesen Aspekten menschlichen
Seins bzw. Verhaltens krank machend ist, sondern deren Nichtbewältigung:
„Hinter den vier Grundformen der Angst stehen allgemein-menschliche Probleme, mit denen wir alle
uns auseinandersetzen müssen. Jedem von uns begegnet die Angst vor der Hingabe in einer ihrer ver-
schiedenen Formen, die als Gemeinsames das Gefühl der Bedrohtheit unserer Existenz, unseres persön-
lichen Lebensraumes, oder der Integrität unserer Persönlichkeit haben. Denn jedes vertrauende sich
Öffnen, jede Zuneigung und Liebe kann uns gefährden, weil wir dann ungeschützter und verwundbarer
sind, etwas von uns selbst aufgeben zu müssen, uns einem anderen ein Stück auszuliefern. Daher ist alle
Angst vor der Hingabe verbunden mit der Angst vor einem möglichen Ich-Verlust.
Jedem begegnet auch die Angst vor der Ich-Werdung, vor der Individuation, die in den verschiede-
nen Formen ihres Auftretens als Gemeinsames die Angst vor der Einsamkeit hat. Denn jede Individua-
tion bedeutet ein sich Herausheben aus bergenden Gemeinsamkeiten. Je mehr wir wir selbst werden,
um so einsamer werden wir, weil wir dann immer mehr die Isoliertheit des Individuums erfahren.
Jedem begegnet auch die Angst vor der Vergänglichkeit auf seine Weise; unvermeidlich erleben
wir immer wieder, daß etwas zu Ende geht, aufhört, plötzlich nicht mehr da ist. Je fester wir etwas
halten, beibehalten wollen, um so mehr erliegen wir dieser Angst, deren verschiedene Formen als
Gemeinsames die Angst vor der Wandlung erkennen lassen.
Und jeder begegnet schließlich auch der Angst vor der Notwendigkeit, vor der Härte und Strenge
des Endgültigen, bei deren verschiedenen Ausformungen das Gemeinsame die Angst vor dem unaus-
weichlichen Festgelegtwerden ist. Je mehr wir eine unverbindliche Freiheit und Willkür anstreben,
desto mehr müssen wir die Konsequenz und die Grenzen der Realität fürchten.
Da sich die großen Ängste unseres Daseins, die so wichtig für unsere reifende Entwicklung sind,
nicht umgehen lassen, bezahlen wir den Versuch, vor ihnen auszuweichen, mit vielen kleinen, banalen
Ängsten. Diese neurotischen Ängste können sich praktisch auf alles werfen, und sie sind letztlich nur
aufzulösen, wenn wir die dahinterliegende eigentliche Angst erkannt haben, und uns mit dieser ausein-
andersetzen... Die Begegnung mit den großen Ängsten ist ein Teilaspekt unseres reifenden Weiter-
schreitens; die Verschiebung auf jene stellvertretenden neurotischen Ängste hat nicht nur eine lähmen-
de und hemmende Wirkung, sondern sie zieht uns auch von wesentlichen Aufgaben unseres Lebens ab,
die zu unserem Menschsein gehören.
So bekommt die Angst in ihren beschriebenen Grundformen eine wichtige Bedeutung: sie ist nicht
mehr nur ein möglichst zu vermeidendes Übel, sondern, und das von ganz früh an, ein nicht wegzuden-
kender Faktor unserer Entwicklung. Wo wir eine der großen Ängste erleben, stehen wir immer in einer
der großen Forderungen des Lebens; im Annehmen der Angst und im Versuch, sie zu überwinden,
wächst uns ein neues Können zu – jede Angstbewältigung ist ein Sieg, der uns stärker macht; jedes
Ausweichen vor ihr ist eine Niederlage, die uns schwächt.“
Diese Ausführungen machen deutlich, dass es kein sinnvolles Ziel ist, keinerlei Angst
zu haben, sondern mit den real vorhandenen und durchaus berechtigten Ängsten besser
umgehen zu lernen. Gelungene Angstbewältigung besteht nicht in der möglichst perfek-
ten Unterdrückung vorhandener Ängste, sondern im Annehmen und Aushalten dieser
Ängste. Das Ziel ist nicht, gegen die Angst, sondern mit der Angst zu leben. Ängste
sollen sensibilisierend und aktivierend und keinesfalls blockierend wirken. Die Angst
begleitet unser Leben wie ein Schatten, doch wir bestimmen den Weg, den wir gehen
möchten, auch wenn wir uns dabei nicht immer wohl fühlen.
12 Normale und krankhafte Ängste
Wenn wir eine Situation (z.B. Bus fahren, nächtlicher Spaziergang) oder ein be-
stimmtes Objekt (z.B. Tier, Spritze) als gefährlich einschätzen, werden wir Angst be-
kommen, was wir körperlich in Form verschiedener Symptome spüren, sodass wir dazu
neigen werden, aus der Angst machenden Situation zu fliehen. Unser Angstgefühl wird
wiederum unser Denken verstärken, dass die betreffende Situation tatsächlich gefährlich
ist, noch dazu, wo wir erleben, dass unsere Angst sofort nachlässt, sobald wir die be-
drohlich erscheinende Situation verlassen.
Unser Denken an Gefahr führt zu Gefühlen der Angst und körperlichen Beschwer-
den und infolgedessen zu Vermeidungsverhalten, das wir auch zukünftig häufiger wäh-
len werden, weil es sich kurzfristig bewährt hat, wenngleich sich langfristig unser Ver-
haltensspielraum dadurch immer mehr einengt. Ehemals selbstbewusste Menschen
können auf diese Weise jegliches Selbstvertrauen verlieren.
Körperliche, gedanklich-gefühlsmäßige und verhaltensbezogene Anteile spielen bei
der Entstehung und Aufrechterhaltung von Ängsten eine entscheidende Rolle, wenn-
gleich die verschiedenen Komponenten individuell recht unterschiedlich wahrgenom-
men werden können, z.B. spüren viele Menschen nur die vegetativen Angstsymptome,
ohne ihre Angst machenden Gedanken zu erkennen. Andere Menschen wissen sehr gut
um ihre ängstlichen Denkmuster, können sich jedoch nicht vorstellen, dass die ihnen
ebenfalls bekannten körperlichen Beschwerden (z.B. Herz-Kreislauf-Probleme, chroni-
sche Muskelverspannungen, Schlafstörungen) damit zusammenhängen.
Es ist ein Faktum: Personen mit Angststörungen leiden unterschiedlich unter den
gedanklichen, emotionalen, körperlichen und verhaltensbezogenen Aspekten ihrer
Angst. Bei den meisten Menschen stehen Gedanken an Versagen, Schwäche, Unfähig-
keit und soziale Ablehnung im Vordergrund. Nicht wenige sind durch ihre körperlichen
Symptome irritiert. Viele kommen eher mit ihren Gefühlen wie ängstlicher Besorgtheit,
Stimmungsschwankungen und großer Unsicherheit nicht zurecht. Andere wiederum
können ihr Verhalten nicht kontrollieren und neigen zu Flucht und Vermeidung.
Die Wechselwirkungen zwischen körperlicher Befindlichkeit, Verhalten, Denken
und Gefühlen können im Rahmen einer Angstbewältigungstherapie genutzt werden:
z Änderungen im Verhalten führen auch zu Änderungen im Denken. Auf diesem
Grundsatz beruhen verhaltensorientierte Therapiemodelle wie die Konfrontations-
therapie in der Verhaltenstherapie, die über konkrete Bewältigungserfahrungen den
Glauben an die Bewältigbarkeit Angst machender Situationen zu stärken versucht.
Erste Fortschritte durch Änderungen im Verhalten lassen sich oft schneller bewirken
als Änderungen im Bereich der Denkmuster oder der Gefühle.
z Änderungen im Denken führen zu Änderungen im Fühlen und Verhalten. Dies wird
durch die üblichen einsichtsorientierten Therapien ebenso angestrebt wie durch die
kognitive Verhaltenstherapie. Die Vermittlung neuer Sichtweisen ermöglicht es,
trotz Angst und Schwindelgefühlen bisher gemiedene Situationen aufzusuchen. Die
Information, dass Herzrasen bei Panikattacken sicher eine Ohnmachtsneigung ver-
hindert, weil dadurch der Blutdruck steigt, führt z.B. zu Aktivität statt zu Schonver-
halten. Bei einer leichteren Panikstörung kann mehr medizinisches Wissen allein be-
reits heilend wirken. Kurzzeittherapien beruhen oft auf der Änderung der Sichtwei-
sen und Einstellungen der Patienten.
z Änderungen im gefühlsmäßigen Erleben führen zu Änderungen im Verhalten und
Denken. Dies wird durch stärker emotionsorientierte Therapiekonzepte, aber auch
durch bestimmte verhaltenstherapeutische Techniken zu verwirklichen versucht. Die
therapeutische Erfahrung, unangenehme Gefühle aushalten zu können, ist heilsam.
Ängste als Übergangs-Probleme im Rahmen des Lebenszyklus 15
„Ich habe Angst vor der Nacht. Ich habe Angst davor, daß mich einer anspringt, wenn es finster ist. Da
bekomme ich richtig Herzklopfen. Aber ich habe keine Angst in meinem Auto, weil ich das beherr-
sche.“
„Natürlich hatte ich nach meinem Unfall auf dem Nürburgring Angstbarrieren. Die Zeit nach dem
Unglück war fürchterlich. Das hat ein halbes Jahr gedauert, bis es wirklich wieder weg war. Es hat sehr
viel Arbeit gebraucht, vor allem, wieder das Vertrauen in die eigene Leistung zu gewinnen. Nur die
sichert mich ab gegen einen Unfall. Doch je mehr die Leistung wieder gestimmt hat, desto angstfreier
wurde ich. Ich konnte wieder ohne Angstschwellen fahren. Nach und nach fand ich zu meiner normalen
Verfassung.“
Zahlreiche berühmte Künstler, Redner oder Politiker litten unter Ängsten. Lampenfieber
und Bühnenängste plagten sowohl Demosthenes, den bekanntesten Redner des griechi-
schen Altertums, als auch Persönlichkeiten der Gegenwart (z.B. Sir Laurence Olivier,
Maria Callas). Lebenseinengende Ängste findet man laut Internet bei Sängern (Barbara
Streisand, Michael Jackson, Courtney Love, David Bowie), Schauspielern (Burt Rey-
nolds, Kim Basinger, Nicholas Cage, Sally Field, Sir Laurence Olivier), Models (Naomi
Campbell), Autoren (Isaac Asimov, John Steinbeck), Dichtern (Bertold Brecht, Franz
Kafka, Samuel Beckett, Robert Burns, Emily Dickinson), Malern (Edvard Munch) u.a.
Die Journalistin Heuer [33] beschreibt in ihrem (vergriffenen) Buch „Angst und wie
man mit ihr umgeht“ anhand von Zitaten das Ausmaß der Ängste vieler Prominenter.
Charles Darwin, der Begründer der modernen Evolutionstheorie, litt schon in jun-
gen Jahren unter einer Angststörung. Seit seinem 28. Lebensjahr war er zunehmend von
Panikzuständen und Agoraphobie gequält, sodass er nicht mehr reisen konnte und des-
halb mit seinem berühmten Werk über die Entstehung der Arten begann. Seine Krank-
heit habe ihm nach eigenen Aussagen zwar mehrere Jahre seines Lebens zunichte ge-
macht, ihn aber gleichzeitig vor den Zerstreuungen der Gesellschaft gerettet, sodass er
seine bahnbrechenden Werke zur Evolutionstheorie schreiben konnte.
18 Normale und krankhafte Ängste
Der Dichter Johann Wolfgang von Goethe stellt in seinen autobiografischen Schrif-
ten recht offen seine ausgeprägte Angststörung dar. Er litt als junger Student unter star-
ken Phobien wie Höhenängsten, Angst vor Dunkelheit, Friedhöfen, einsamen Orten,
nächtlichen Kirchen und Kapellen, Ängsten vor Lärm sowie Ängsten vor Beschmut-
zungen und Verunreinigungen, besonders wenn diese von Blut oder Exkrementen
stammten. Goethe überließ sich nicht passiv seinen Ängsten, sondern entwickelte die
Strategie der direkten Auseinandersetzung mit den angstbesetzten Situationen, die er
erst verließ, wenn er seine Ängste im Griff hatte.
Zur Bewältigung seiner Höhenphobie bestieg Goethe immer wieder das damals im
Bau befindliche Straßburger Münster und balancierte auf Balken und Gerüsten. Seine
eher hypochondrischen Ängste überwand er auf Entbindungsstationen, die damals stark
mit Blut und sonstigen Körpersäften verschmutzt waren. Seine Ängste vor Lärm behan-
delte er, indem er sich beim Zapfenstreich direkt neben die Trommler stellte. Seine
agoraphobischen Ängste vor bestimmten Orten bewältigte er mit eiserner Disziplin
durch eine ausgedehnte Konfrontationstherapie im verhaltenstherapeutischen Sinn.
In „Dichtung und Wahrheit“ berichtet Goethe [34] über die erfolgreiche Behand-
lung seiner Ängste:
„Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig ward... Ich
habe es auch wirklich darin soweit gebracht, daß nichts dergleichen mich jemals wieder aus der Fas-
sung setzen konnte... und auch darin brachte ich es soweit, daß mir Tag und Nacht und jedes Lokal
völlig gleich war, ja daß, als in später Zeit mich die Lust ankam, wieder einmal in solcher Umgebung
die angenehmsten Schauer der Jugend zu fühlen, ich diese mir kaum durch die seltsamsten und fürch-
terlichen Bilder, die ich hervorrief, wieder einigermaßen erzwingen konnte.“
Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse und damit der Psychotherapie über-
haupt, litt ein Jahrzehnt lang (zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr) unter massiven
Ängsten, verbunden mit Anfällen mit Todesangst. Als seine psychovegetativ bedingten
Herzbeschwerden auftraten, war er unbeirrbar davon überzeugt, herzkrank zu sein. Er
beschuldigte seine ärztlichen Freunde sogar, ihm die Diagnose seiner angeblichen
Herzkrankheit zu verheimlichen.
Freud fürchtete, zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr an einem Herzschlag sterben
zu müssen. „Wenn es nicht zu nahe an vierzig ist, ist es gar nicht so schlecht“, schrieb er
[35]. Bald jedoch gab er die von ihm selbst festgestellte Diagnose „Myocarditis“ (Herz-
entzündung) auf, nannte diese Störung „Angstneurose“ und beschrieb sie vortrefflich
mit Worten, die 100 Jahre lang die psychiatrische Diagnostik bestimmt haben.
Es ist eine sehr tröstliche Wahrheit: Der „Vater der Psychotherapie“ litt in dem Jahr-
zehnt, in dem er die Psychoanalyse erfand, selbst unter einer Angststörung. Seine Erfah-
rungen und Erkenntnisse haben Fachleuten und Patienten geholfen, Ängste besser ver-
stehen und bewältigen zu lernen.
Nach seinem Biografen Ernest Jones [36] bestanden bei Freud im letzten Jahrzehnt
des 19. Jahrhunderts gleichzeitig auch starke Stimmungsschwankungen und Depressio-
nen, die ihm das Leben nur für kurze Zeitspannen lebenswert erscheinen ließen.
Zur Vermeidung seiner Herzrhythmusstörungen verzichtete Freud auf Anraten sei-
nes ärztlichen Freundes Fließ, eines Berliner HNO-Arztes, auf das Rauchen. Die Ent-
zugserscheinungen verstärkten jedoch nur seine Panikattacken, wie er im April 1894 in
einem Brief an Fließ schrieb [37]:
In bester Gesellschaft – Ängste bekannter Persönlichkeiten 19
„Bald nach der Entziehung kamen leidliche Tage...; da kam plötzlich ein großes Herzelend, größer als
je beim Rauchen. Tollste Arhythmie, beständige Herzspannung – Pressung – Brennung, heißes Laufen
in den linken Arm, etwas Dyspnoe von verdächtig organischer Mäßigung, das alles eigentlich in Anfäl-
len, d.h. über zwei zu drei des Tages in continuo erstreckt und dabei ein Druck auf die Stimmung, der
sich in Ersatz der gangbaren Beschäftigungsdelirien durch Toten- und Abschiedsmalereien äußerte... Es
ist ja peinlich für einen Medicus, der sich alle Stunden des Tages mit dem Verständnis der Neurosen
quält, nicht zu wissen, ob er an einer logischen oder an einer hypochondrischen Verstimmung leidet.“
Das Hauptkriterium für die Behandlungsbedürftigkeit von Ängsten liegt im Ausmaß der
Lebenseinschränkungen. Mit verschiedenen Ängsten kann man dagegen ganz gut leben,
ohne große Beeinträchtigung des privaten und beruflichen Bewegungsspielraums.
Die Diagnose einer Angststörung erfolgt in mehreren Schritten [2]:
1. Unterscheidung zwischen normaler und pathologischer Angst;
2. Ausschluss körperlicher Ursachen (organische Abklärung);
3. Ausschluss einer anderen psychischen Erkrankung als alleinige Ursache für die
Angstsymptomatik (z.B. Depression);
4. Unterscheidung zwischen objekt-/situationsunabhängiger Angst (Panikstörung,
generalisierte Angststörung) oder objekt-/situationsabhängiger Angst (Phobie: Ago-
raphobie, soziale Phobie, spezifische Phobie);
5. Unterscheidung nach dem Verlauf der Angstsymptomatik (attackenartig wie bei der
Panikstörung oder chronisch wie bei der generalisierten Angststörung);
6. Unterscheidung nach auslösenden Situationen bzw. Objekten (falls vorhanden).
22 Angststörungen
3) Es ist dies nicht die einzige Art, wie die fürs Bewußtsein meist latente, aber konstante Ängstlich-
keit sich äußern kann. Diese kann vielmehr auch plötzlich ins Bewußtsein hereinbrechen, ohne
vom Vorstellungsablauf geweckt zu werden, und so einen A n g s t a n f a l l hervorrufen. Ein sol-
cher Angstanfall besteht entweder einzig aus dem Angstgefühle ohne jede assoziierte Vorstellung
oder mit der naheliegenden Deutung der Lebensvernichtung, des ‚Schlagtreffens’, des drohenden
Wahnsinns, oder aber dem Angstgefühle ist irgendeine Parästhesie beigemengt ... oder endlich
mit der Angstempfindung ist eine Störung irgend einer oder mehrerer Körperfunktionen, der At-
mung, Herztätigkeit, der vasomotorischen Innervation, der Drüsentätigkeit verbunden. Aus dieser
Kombination hebt der Patient bald das eine, bald das andere Moment besonders hervor, er klagt
über ‚Herzkrampf’, ‚Atemnot’, ‚Schweißausbrüche’, ‚Heißhunger’ u. dgl., und in seiner Darstel-
lung tritt das Angstgefühl häufig ganz zurück oder wird recht unkenntlich als ein ‚Schlechtwer-
den’, ‚Unbehagen’ usw. bezeichnet.
4) Interessant und diagnostisch bedeutsam ist nun, daß das Maß der Mischung dieser Elemente im
Angstfalle ungemein variiert, und daß nahezu jedes begleitende Symptom den Anfall ebensowohl
allein konstituieren kann wie die Angst selbst. Es gibt demnach r u d i m e n t ä r e A n g s t a n f ä l l e
und Ä q u i v a l e n t e d e s A n g s t a n f a l l e s , wahrscheinlich alle von der gleichen Bedeutung, die
einen großen und bis jetzt wenig gewürdigten Reichtum an Formen zeigen. Das genauere Studi-
um dieser lavierten Angstzustände (Hecker) und ihre diagnostische Trennung von anderen Anfäl-
len dürfte bald zur notwendigen Arbeit für den Neuropathologen werden. Ich füge hier nur die Li-
ste der mir bekannten Formen des Angstanfalles an:
a) Mit Störungen der H e r z t ä t i g k e i t , Herzklopfen, mit kurzer Arhythmie, mit länger anhaltender
Tachykardie bis zu schweren Schwächezuständen des Herzens, deren Unterscheidung von organi-
scher Herzaffektion nicht immer leicht ist; Pseudoangina pectoris, ein diagnostisch heikles Ge-
biet!
b) Mit Störungen der A t m u n g , mehrere Formen von nervöser Dyspnoë, asthmaartigem Anfalle u.
dgl. Ich hebe hervor, daß selbst diese Anfälle nicht immer von kenntlicher Angst begleitet sind.
c) Anfälle von S c h w e i ß a u s b r ü c h e n , oft nächtlich.
d) Anfälle von Z i t t e r n und S c h ü t t e l n ...
e) Anfälle von H e i ß h u n g e r , oft mit Schwindel verbunden.
f) Anfallsweise auftretende D i a r r h ö e n .
g) Anfälle von lokomotorischem S c h w i n d e l .
h) Anfälle von sogenannten K o n g e s t i o n e n ...
i) Anfälle von P a r ä s t h e s i e n (diese aber selten ohne Angst oder ein ähnliches Unbehagen).
5) Nichts als eine Abart des Angstanfalles ist sehr häufig das n ä c h t l i c h e A u f s c h r e c k e n (Pavor
nocturnus der Erwachsenen), gewöhnlich mit Angst, mit Dyspnoë, Schweiß u. dgl. verbunden.
Diese Störung bedingt eine zweite Form von Schlaflosigkeit im Rahmen der Angstneurose...
6) Eine hervorragende Stellung in der Symptomengruppe der Angstneurose nimmt der ‚S c h w i n -
d e l ’ ein, der in seinen leichtesten Formen besser als ‚Taumel’ zu bezeichnen ist, in schwererer
Ausbildung als ‚Schwindelanfall’ mit oder ohne Angst zu den folgenschwersten Symptomen der
Neurose gehört. Der Schwindel der Angstneurose ist weder ein Drehschwindel, noch läßt er, wie
der M e n i è r e s c h e Schwindel, einzelne Ebenen und Richtungen hervorheben... er besteht in ei-
nem spezifischen Mißbehagen, begleitet von den Empfindungen, daß der Boden wogt, die Beine
versinken, daß es unmöglich ist, sich weiter aufrecht zu halten, und dabei sind die Beine blei-
schwer, zittern oder knicken ein. Zum Hinstürzen führt dieser Schwindel nie. Dagegen möchte ich
behaupten, daß ein solcher Schwindelanfall auch durch einen Anfall von tiefer O h n m a c h t ver-
treten werden kann. Andere ohnmachtartige Zustände bei der Angstneurose scheinen von einem
H e r z k o l l a p s abzuhängen. Der Schwindelanfall ist nicht selten von der schlimmsten Art von
Angst begleitet, häufig mit Herz- und Atemstörungen kombiniert. Höhenschwindel, Berg- und
Abgrundschwindel finden sich nach meinen Beobachtungen gleichfalls bei der Angstneurose häu-
fig vor; ...
7) Auf Grund der chronischen Ängstlichkeit (ängstliche Erwartung) einerseits, der Neigung zum
Schwindelangstanfalle andererseits entwickeln sich zwei Gruppen von typischen Phobien, die er-
ste auf die allgemein physiologischen Bedrohungen, die andere auf die Lokomotion bezüglich.
Zur ersten Gruppe gehören die Angst vor Schlangen, Gewitter, Dunkelheit, Ungeziefer u. dgl.,
sowie die typische moralische Überbedenklichkeit, Formen von Zweifelsucht; hier wird die dis-
ponible Angst einfach zur Verstärkung von Abneigungen verwendet, die jedem Menschen in-
stinktiv eingepflanzt sind. Gewöhnlich bildet sich eine zwangsartig wirkende Phobie aber erst
24 Angststörungen
dann, wenn eine Reminiszenz an ein Erlebnis hinzukommt, bei welchem diese Angst sich äußern
konnte, z.B. nachdem der Kranke ein Gewitter im Freien mitgemacht hat. Man tut Unrecht, solche
Fälle einfach als F o r t d a u e r s t a r k e r E i n d r ü c k e erklären zu wollen; was diese Erlebnisse
bedeutsam und ihre Erinnerung dauerhaft macht, ist doch nur die Angst, die damals hervortreten
konnte und heute ebenso hervortreten kann. Mit anderen Worten, solche Eindrücke bleiben kräf-
tig nur bei Personen mit ‚ängstlicher Erwartung’. Die andere Gruppe enthält die A g o r a p h o b i e
mit allen ihren Nebenarten, sämtliche charakterisiert durch die Beziehung auf die Lokomotion.
Ein vorausgegangener Schwindelanfall findet sich hierbei häufig als Begründung der Phobie; ich
glaube nicht, daß man ihn jedesmal postulieren darf. Gelegentlich sieht man, daß nach einem er-
sten Schwindelanfall ohne Angst die Lokomotion zwar beständig von der Sensation des Schwin-
dels begleitet wird, aber ohne Einschränkung möglich bleibt, daß dieselbe aber unter den Bedin-
gungen des Alleinseins, der engen Straße u. dgl. versagt, wenn einmal sich zum Schwindelanfalle
Angst hinzugesellt hat...
8) Die Verdauungstätigkeit erfährt bei der Angstneurose nur wenige, aber charakteristische Störun-
gen. Sensationen wie Brechneigung und Übligkeiten sind nichts Seltenes, und das Symptom des
Heißhungers kann allein oder mit anderen (Kongestionen) einen rudimentären Angstanfall abge-
ben; als chronische Veränderung, analog der ängstlichen Erwartung, findet man eine Neigung zur
Diarrhöe, die zu den seltsamsten diagnostischen Irrtümern Anlaß gegeben hat... Mischfälle zeigen
oft die bekannte ‚Abwechslung von Diarrhöe und Verstopfung’. Der Diarrhöe analog ist der
H a r n d r a n g der Angstneurose.
9) Die P a r ä s t h e s i e n , die den Schwindel- oder Angstanfall begleiten können, werden dadurch
interessant, dass sie sich, ähnlich wie die Sensationen der hysterischen Aura, zu einer festen Rei-
henfolge assoziieren; doch finde ich diese assoziierten Empfindungen im Gegensatze zu den hy-
sterischen atypisch und wechselnd...
10) Mehrere der genannten Symptome, welche den Angstanfall begleiten oder vertreten, kommen
auch in chronischer Weise vor. Sie sind dann noch weniger leicht kenntlich, da die sie begleitende
ängstliche Empfindung undeutlicher ausfällt als beim Angstanfall. Dies gilt besonders für die Di-
arrhöe, den Schwindel und die Parästhesien. Wie der Schwindelanfall durch einen Ohnmachtsan-
fall, so kann der chronische Schwindel durch die andauernde Empfindung großer Hinfälligkeit,
Mattigkeit u. dgl. vertreten werden.“
Mit der Beschreibung eines Angstanfalls (Punkt 3 und Punkt 4) nimmt Freud die Defi-
nition von Panikattacken vorweg. Die Darstellung des Angstschwindels (Punkt 6) ver-
deutlicht, was viele Menschen mit Agoraphobie fürchten (Punkt 7), wenn sie keine
Panikattacken erwarten. Die Erwartungsangst (Punkt 2 und Punkt 7) wurde von Freud
als zentraler Bestandteil jeder Angststörung erkannt.
Neben der Angstneurose beschrieb Freud bestimmte phobische Störungen unter dem
Konzept der „Angsthysterie“ (für Freud war „Phobie“ und „Angsthysterie“ dasselbe).
Erstmals hatte Freud bereits 1884 Panikattacken detailliert unter der Bezeichnung
„Angstanfälle“ beschrieben.
Historisch interessant ist auch der Umstand, dass Freud bereits 1919 darüber nach-
gedacht hatte, die Psychoanalyse durch eine Verkürzung einer größeren Anzahl von
Patienten zugänglich zu machen. Die meisten Psychoanalysen seiner Anfangsjahre
könnte man ohnehin als „Kurzzeittherapien“ bezeichnen. In den „Studien zur Hysterie“
berichtete Freud über die Heilung der Angsthysterie eines 18-jährigen Mädchens in
einer einzigen Sitzung. Den Komponisten Gustav Mahler hatte er in Anwesenheit seiner
Frau in einer vierstündigen Sitzung von seiner Potenzstörung geheilt.
Eine effektive Behandlung von Ängsten könnte auch nach Meinung verschiedener
Psychoanalytiker in kürzerer Zeit erfolgen als durch eine Langzeitanalyse.
Das entscheidende Merkmal aller wirksamen Psychotherapien stellt nach psycho-
analytischer Sicht die korrigierende emotionale Erfahrung in der Interaktion mit dem
Therapeuten dar, was als Prozess der Übertragung bekannt ist, d.h. die Psychoanalyse
nach Freud ist nicht nur einsichtsorientiert, sondern auch emotionszentriert.
Angststörungen nach ICD-10 und DSM-IV-TR 25
Das ICD-10 kennt vier definierte Gruppen von phobischen Störungen: Agoraphobien,
soziale Phobien, spezifische Phobien, sonstige phobische Störungen (ohne Nennungen).
Bei den phobischen Störungen wird Angst ausschließlich oder überwiegend durch
eindeutig definierte, im Allgemeinen ungefährliche Situationen oder Objekte außerhalb
des Patienten ausgelöst. Diese Situationen oder Objekte werden gemieden oder voller
Angst ertragen, verbunden mit psychovegetativen Symptomen. Bereits die Vorstellung
der phobischen Situation führt zu Erwartungsängsten, die ein ausgeprägtes Vermei-
dungsverhalten bewirken. Die Betroffenen wissen, dass ihre Ängste unangemessen,
übertrieben und irrational sind, können sie aber dennoch nicht in den Griff bekommen.
Unter „Sonstige Angststörungen“ erfolgt eine Differenzierung der früheren Diagno-
se der Angstneurose in die Panikstörung und in die generalisierte Angststörung,
daneben werden noch drei weitere definierte, im klinischen Alltag jedoch selten diagno-
stizierte Angststörungen angeführt. Diese Angststörungen heben sich von den Phobien
dadurch ab, dass sie nicht auf bestimmte Umgebungssituationen begrenzt sind.
26 Angststörungen
Bei der Diagnostik der Angststörungen bestehen wichtige Unterschiede zwischen dem
ICD-10 und dem DSM-IV (aktuelle Version: Textrevision DSM-IV-TR ohne Änderung
der diagnostischen Kriterien; das DSM-V soll 2012 erscheinen: www.dsm5.org):
z Im ICD-10 steht die Agoraphobie hierarchisch höher als die Panikstörung, während
im DSM-IV gerade das Umgekehrte der Fall ist. Das amerikanische Diagnosesche-
ma vertritt die Auffassung, dass die Panikattacken primär sind und eine Agorapho-
bie sekundär aus den Erwartungsängsten entsteht, die zur Vermeidung jener Situa-
tionen führen, in denen neuerlich Panikattacken auftreten könnten. Dies ist zwar oft,
jedoch nicht immer der Fall. Mitunter ist der umgekehrte Verlauf gegeben, dass zu-
erst eine Agoraphobie und einige Zeit später eine Panikattacke auftritt.
z Das DSM-IV zählt viel mehr Störungen zu den Angststörungen als das ICD-10.
Neben den Angststörungen des ICD-10 werden auch die Zwangsstörung, die orga-
nisch bedingte sowie die substanzinduzierte Angststörung und bestimmte Reaktio-
nen auf schwere Belastungen (akute Belastungsstörung, posttraumatische Bela-
stungsstörung) den Angststörungen zugeordnet. Vor allem die Zuordnung der
Zwangsstörung zu den Angststörungen ist unter Fachleuten sehr umstritten.
„Der Patient beklagt sich, daß es ihm unmöglich sei, über freie Plätze zu gehen. Es überfällt ihn bei
dem Versuch dazu sofort ein Angstgefühl, dessen Sitz er auf Befragen mehr im Kopfe als in der Herz-
gegend angibt, indes ist auch oft Herzklopfen dabei. In Berlin ist ihm der Döhnhofsplatz mit am unan-
genehmsten; versucht er, denselben zu überschreiten, so hat er das Gefühl, als ob die Entfernung sehr
groß, meilenweit sei, er nie hinüber kommen könne, und damit verbindet sich das erwähnte, oft von
allgemeinem Zittern begleitete Angstgefühl... Dasselbe Angstgefühl überfällt ihn, wenn er genötigt ist,
an Mauern und langgestreckten Gebäuden entlang oder durch Straßen zu gehen, wenn die Verkaufslä-
den – wie an Sonn- und Feiertagen oder in später Abend- und Nachtstunde – geschlossen sind. In später
Abendstunde – er ißt gewöhnlich abends in Restaurationen – hilft er sich in Berlin in eigentümlicher
Weise; entweder wartet er, bis er eine andere Person die Richtung nach seiner Wohnung einschlagen
sieht und folgt dicht hinter derselben, oder er macht sich an eine Dame der ‚Halbwelt’, läßt sich in ein
Gespräch mit ihr ein und nimmt sie so eine Strecke mit, bis er eine andere ähnliche Gelegenheit findet
und so allmählich seine Wohnung erreicht.“
Die Agoraphobie wurde unter der Bezeichnung „Platzangst“ 1887 vom Psychiater
Emil Kraepelin in die psychiatrische Krankheitslehre eingeführt. Bereits Freud [11]
wies auf die Entstehung der Agoraphobie als Folge von Panikattacken hin:
„Im Falle der Agoraphobie ... finden wir häufig die Erinnerung an eine Angstattacke; und was der
Patient in Wirklichkeit fürchtet, ist das Auftreten einer solchen Attacke unter den speziellen Verhältnis-
sen, in denen er glaubt, ihr nicht entkommen zu können.“
Das Aufsuchen der gefürchteten Plätze zur Therapie empfahl Westphal bereits 1872,
Oppenheimer 1911 in seinem „Lehrbuch der Nervenkrankheiten“ und Freud 1919.
28 Angststörungen
A. Angst, an Orten zu sein, von denen eine Flucht schwierig (oder peinlich) sein könnte oder wo im
Falle einer unerwarteten oder durch die Situation begünstigten Panikattacke oder panikartiger Sym-
ptome Hilfe nicht erreichbar sein könnte. Agoraphobische Ängste beziehen sich typischerweise auf
charakteristische Muster von Situationen: z.B. alleine außer Haus zu sein, in einer Menschenmenge
zu sein, in einer Schlange zu stehen, auf einer Brücke zu sein, Reisen im Bus, Zug oder Auto...
B. Die Situationen werden vermieden (z.B. das Reisen wird eingeschränkt), oder sie werden nur mit
deutlichem Unbehagen oder mit Angst vor dem Auftreten einer Panikattacke oder panikähnlicher
Symptome durchgestanden bzw. können nur in Begleitung aufgesucht werden.
C. Die Angst oder das phobische Vermeidungsverhalten werden nicht durch eine andere psychische
Störung besser erklärt, wie Soziale Phobie (z.B. die Vermeidung ist aus Angst vor Peinlichkeit auf
soziale Situationen beschränkt), Spezifische Phobie (z.B. die Vermeidung ist beschränkt auf einzel-
ne Situationen, wie z.B. Fahrstuhl), Zwangsstörung (z.B. Vermeidung von Schmutz aus zwang-
hafter Angst vor Kontamination), Posttraumatische Belastungsstörung (z.B. Vermeidung von Rei-
zen, die mit einer schweren belastenden Situation assoziiert sind), oder Störung mit Trennungsangst
(z.B. es wird vermieden, das Zuhause oder die Angehörigen zu verlassen).
Agoraphobie 29
Im Gegensatz zum ICD-10 ist im DSM-IV eine Agoraphobie allein keine kodierbare
Störung. Es muss stets Bezug genommen werden zum Fehlen oder Vorhandensein von
Panikattacken. Es handelt sich entweder um eine Agoraphobie ohne Panikstörung in der
Vorgeschichte oder um eine Panikstörung mit Agoraphobie.
Das DSM-IV [13] nennt – bei Ausschluss einer Substanzeinwirkung oder medizini-
scher Krankheitsfaktoren – folgende Kriterien für eine Agoraphobie ohne Panikstörung
in der Vorgeschichte:
A. Es liegt eine Agoraphobie ... vor, die sich auf die Angst vor dem Auftreten panikähnlicher Sym-
ptome bezieht (z.B. Benommenheit oder Durchfall).
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [14] ist eine Agoraphobie (F40.0) durch
folgende Merkmale charakterisiert:
A. Deutliche und anhaltende Furcht vor oder Vermeidung von mindestens zwei der folgenden Situa-
tionen:
1. Menschenmengen
2. öffentliche Plätze
3. allein Reisen
4. Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause.
B. Seit Auftreten der Störung müssen in den gefürchteten Situationen mindestens zwei Angstsympto-
me aus der unten angegebenen Liste, davon eins der vegetativen Symptome 1. bis 4., wenigstens zu
einem Zeitpunkt gemeinsam vorhanden gewesen sein:
Vegetative Symptome:
1. Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz
2. Schweißausbrüche
3. fein- oder grobschlägiger Tremor
4. Mundtrockenheit (nicht infolge Medikation oder Exsikkose).
Psychische Symptome:
9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder
„nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)
11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“
12. Angst zu sterben.
Allgemeine Symptome:
13. Hitzewellen/-wallungen oder Kälteschauer
14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle.
C. Deutliche emotionale Belastung durch das Vermeidungsverhalten oder die Angstsymptome; die
Betroffenen haben die Einsicht, dass diese übertrieben oder unvernünftig sind.
30 Angststörungen
D. Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen
oder Gedanken an sie.
E. Ausschlussvorbehalt: Die Symptome des Kriteriums A. sind nicht bedingt durch Wahn, Halluzina-
tionen oder andere Symptome der Störungsgruppen organische psychische Störungen (F0), Schizo-
phrenie und verwandte Störungen (F2), affektive Störungen (F3) oder eine Zwangsstörung (F42)
oder sind nicht Folge von kulturell akzeptierten Anschauungen.
Das Vorliegen oder Fehlen einer Panikstörung bei der Mehrzahl der agoraphobischen
Situationen wird im ICD-10 an der fünften Stelle kodiert: F40.00 ohne Panikstörung
und F40.01 mit Panikstörung. Orte werden auf einem Kontinuum von völlig sicher bis
völlig unsicher beurteilt. Folgende Situationen werden gemieden oder mit Unbehagen
ertragen, vor allem wenn sie ohne beschützende Begleitperson und ohne sonstige Si-
cherheitsstrategien wie etwa Medikamente oder Handy aufgesucht werden müssen und
subjektiv keine Kontrolle über die befürchteten körperlichen Reaktionen besteht [15]:
z Aufenthalt im Freien unter vielen Menschen oder bei fehlender Fluchtmöglichkeit:
öffentliche Plätze überqueren, unbekannte Stadtteile aufsuchen, in überfüllten Fuß-
gängerzonen bummeln, Gartenfeste, Volksfeste oder Messen besuchen, in einem
Verkehrsstau stecken, mit dem Fahrrad in freier Landschaft fahren, mit dem Auto
bei Nebel (d.h. ohne Sicht) fahren, durch einen längeren Tunnel fahren, mit dem
Boot einen tiefen See überqueren, durch einen Badesee schwimmen, über eine Brü-
cke gehen, einen Berg besteigen, durch einen Wald gehen. Vor großen, leeren Plät-
zen haben wegen fehlender Bewegungseinschränkung nur wenige Agoraphobiker
Angst (davor fürchten sich vor allem Agoraphobiker mit Angstschwindelattacken,
weil sie keine Möglichkeit haben, sich irgendwo festhalten zu können).
z Außerhäusliche Aktivitäten jeder Art, insbesondere berufliche oder private Reisen
über die Stadt-, Bezirks-, Landes- oder Staatsgrenzen hinaus, Reisen in das anders-
sprachige Ausland sowie in unbekannte Gegenden weit weg von zu Hause (im Falle
von körperlichen Beschwerden fehlen deutschsprachige Ärzte).
z Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel (Bus, Straßenbahn, U-Bahn, Eisenbahn, Flug-
zeug, Schiff, Sessellift, Aufzug, Rolltreppen) oder des eigenen Autos, besonders
über längere Strecken.
z Aufenthalt in öffentlichen bzw. halb öffentlichen Räumen, besonders wenn diese
überfüllt sind: Geschäfte, Kirchen, Kinos, Museen, Theater, Konzertsaal, Banken,
Behörden, Krankenhäuser, Wartezimmer bei Ärzten, Gaststätten, Cafés, Diskothe-
ken, betrieblicher Speisesaal, Kantine, Mensa, öffentliche Toiletten, Friedhöfe, Fri-
seursalons, Umkleideräume in Kleidergeschäften, Schlange stehen in Geschäften
und bei Behörden, Sauna, Hallen- oder Freiluftbäder, Arbeit in großen Büros, Hörsä-
le auf der Universität, Besuch von Elternsprechtagen in der Schule, Teilnahme bei
Betriebsversammlungen, Sportveranstaltungen oder großen Feiern.
z Aufenthalt in engen, hohen, geschlossenen oder dunklen Räumen: Lifte, Räume
ohne Fenster, geschlossene Toiletten oder Badezimmer, Diskotheken, Turnsäle, Kel-
lerräume, Höhlen, unterirdische Gänge, Tunnelgänge, Bogengänge (Arkaden),
Durchgänge und Passagen, Hochhausräume, Kirchtürme, Fernsehtürme, Treibhäu-
ser, Ringelspielgeräte, dunkle Schlafzimmer, Einmannzelt, Aufenthalt allein mitten
in einem großen Raum. Bei einer Liftphobie spricht die Angst vor dem Steckenblei-
ben oder Ersticken für eine Agoraphobie, die Angst vor den Blicken anderer für eine
Sozialphobie, die Angst vor dem Abstürzen des Lifts für eine Höhenphobie.
z Vereinbarung von Treffen mit anderen Leuten unter „unsicheren“ Bedingungen.
Agoraphobie 31
Viele Agoraphobiker können zahlreiche der genannten Situationen aufsuchen, wenn sie
dies plötzlich und vorher nicht lange geplant tun müssen. Wenn die betreffenden Aktivi-
täten jedoch bereits seit Tagen feststehen, werden die Erwartungsängste oft derart groß,
dass angesichts zunehmender vegetativer Beschwerden eine Bewältigung unmöglich ist.
Die Angst vor der Angst zwingt viele Betroffene dazu, zahlreiche Aktivitäten (Ausflug,
Theaterbesuch usw.) schon lange im Voraus detailliert zu planen. Gefahrvolle Vorstel-
lungen, Grübeleien und Nervosität (Aufgeregtheit und körperliche Angespanntheit)
bestimmen die Zeit bis zum geplanten Ereignis. Die Erwartungsangst ist meistens viel
schwerer zu bewältigen als das tatsächliche Ereignis, das dann durchaus als angenehm
erlebt werden kann. Diese Erfahrung verhindert jedoch nicht, dass die Betroffenen vor
der nächsten ähnlichen Situation wiederum beunruhigt und besorgt sind. Angesichts von
Restrisiken sind bestimmte Sicherheitssignale (z.B. Handy) von zentraler Bedeutung.
Wichtigste Auslöser für agoraphobische Ängste sind die Entfernung von „sicheren“
Orten und das Fehlen eines Fluchtwegs. Es besteht ein subjektives Gefühl der Einen-
gung der Bewegungsfreiheit („in der Falle sitzen“) sowie eine starke Angst, anderen
Menschen ausgeliefert zu sein. Dies erklärt folgende Sicherheitsverhaltensweisen:
z Verkehrsmittel, Lokale, Kinos und verschiedene Säle können betreten werden, je-
doch nur dann, wenn der Aufenthalt in der Nähe der Tür möglich ist, um jederzeit
fliehen zu können.
z Fahrten mit dem Regionalzug können durchgeführt werden, nicht jedoch mit dem
Schnellzug, der nur selten stehen bleibt.
z Fahrten in halb leeren Verkehrsmitteln sind möglich, nicht jedoch in Zügen, Bussen,
U-Bahnen oder Straßenbahnen unter vielen Leuten.
z Öffentliche Verkehrsmittel können nicht benutzt werden, sehr wohl jedoch das eige-
ne Auto, das Schutz und Freiheit gewährt.
z Beim Autofahren ist das Sitzen vorne problemlos möglich, nicht jedoch hinten,
wenn es sich um ein zweitüriges Auto handelt.
z Selbst mit dem Auto zu fahren, ist leicht möglich, als Beifahrer mitzufahren, dage-
gen nur erschwert möglich (wegen des Gefühls, dem anderen ausgeliefert zu sein,
bzw. wegen der ständigen Gedanken an mögliche Gefahren statt der Beobachtung
des aktuellen Verkehrsgeschehens, wie dies bei Fahrten als Lenker der Fall ist).
z Autofahren ist grundsätzlich möglich, nicht jedoch in folgenden Situationen: auf der
Autobahn, wo Stehenbleiben, Umdrehen und rasches Abfahren ausgeschlossen ist;
durch einen Tunnel, der bei Gefahr kein Entkommen erlaubt; in einer Autokolonne,
wo die hilflose Eingeengtheit gefürchtet wird. Gefürchtet werden Situationen, wo
der Verkehrsfluss zum Erliegen kommt („in der Falle sitzen“): Staus, Halt vor einer
roten Ampel bei einer Kreuzung. Autounfälle wegen Panikattacken sind unbekannt.
z Weite Reisen können trotz Beschwerlichkeit mit dem Auto oder mit der Bahn
durchgeführt werden, nicht jedoch mit dem Flugzeug, das keinen Ausstieg erlaubt.
z Die Reise in die Ferne ist aufgrund von Erwartungsängsten belastender als die
Rückkehr in die Sicherheit gebende Heimat.
z Man kann wohl Räume und Geschäfte betreten, nicht jedoch beim Friseur oder beim
Zahnarzt Platz nehmen, weil Flucht nicht jederzeit möglich ist.
z Man kann wohl in Geschäfte einkaufen gehen, jedoch nur dann, wenn wenige Leute
drinnen sind und keine Schlange bei der Kasse zu erwarten ist.
z Man kann wohl in ein Selbstbedienungsrestaurant gehen, wo das Essen sofort einge-
nommen werden kann, nicht jedoch in ein exklusives Restaurant, wo man vielleicht
lange auf das bestellte Essen warten muss.
32 Angststörungen
z Man kann wohl ein Restaurant zu ebener Erde besuchen, nicht jedoch unter der Erde
oder in einem höheren Stockwerk.
z Man kann wohl in einem Wohnblock unter vielen Menschen wohnen, jedoch nur im
Erdgeschoss, weil man bei Gefahr keinen Lift benötigt und rasch das Haus verlassen
kann.
z Man fürchtet einerseits den Aufenthalt unter fremden Menschen, spricht jedoch
andererseits bei beginnender Panik dieselben Menschen an, um sich entweder abzu-
lenken, sich nicht allein zu fühlen oder sich deren Hilfe für den Notfall zu sichern.
z Man kann zu Hause nur mit der Badehose baden oder duschen, damit man im Falle
einer Panikattacke nicht nackt aus dem Bad oder gar aus der Wohnung laufen muss.
Eine Agoraphobie kann mit oder ohne Panikstörung auftreten. Eine Panikattacke in
einer eindeutig phobischen Situation macht noch keine Panikstörung aus, sondern zeigt
den Schweregrad einer Phobie an. Im klinischen Bereich weisen die meisten Agora-
phobiker auch Panikattacken auf, während diese Kombination in großen Untersuchun-
gen der Durchschnittsbevölkerung nur bei etwa der Hälfte der Agoraphobiker gegeben
war (ein Teil der „Agoraphobiker“ hat jedoch laut Nachuntersuchungen eher eine spezi-
fische Phobie als eine Agoraphobie). Rückfälle bei Agoraphobie hängen häufig mit dem
Auftreten von einer oder mehreren erneuten Panikattacken zusammen.
Belastend ist der Umstand, dass die agoraphobische Symptomatik oft schwankend
ist, ohne dass die Betroffenen einen roten Faden erkennen können. Einmal sind diesel-
ben Situationen leichter, einmal schwerer zu bewältigen, je nachdem, ob es sich um
einen „guten“ oder „schlechten“ Tag handelt. Diese Schwankungen sind eine Quelle der
Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit und Hilflosigkeit vieler agoraphobischer Patienten.
Die Diagnose einer phobischen Störung kann selbst Fachleuten dann schwer fallen,
wenn z.B. Agoraphobiker primär von Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch oder
von depressiven Symptomen berichten (besonders nach langer primär phobischer Sym-
ptomatik), weil sie wenig Angst erleben infolge der Vermeidung der phobischen Situa-
tionen und der Überlagerung durch die genannten Störungen. Das Erleben verstärkter
Ängste im Rahmen einer Konfrontationstherapie ist positiv zu bewerten.
Als Folge der Atemnot bei einer Panikattacke bzw. einer erhöhten Kohlendioxid-
(CO2)-Sensibilität achten viele Patienten darauf, zur Sicherung der Zufuhr frischer Luft
stets das Fenster im Büro sowie im Wohn- und Schlafzimmer geöffnet zu haben. Ver-
schiedene Agoraphobiker schlafen selbst im Winter bei offenem Fenster.
Das Verlassen des Raumes bei Agoraphobie dient oft nur dem „Luftschnappen“,
obwohl es vielleicht mit dem Besuch der Toilette oder mit dem Rauchen auf dem Gang
begründet wird. Es kann sein, dass der Bedarf an Frischluft offen zugegeben wird, je-
doch mit einer asthmatischen Reaktionsbereitschaft begründet wird. Aus Angst vor zu
wenig frischer Luft bzw. aus Angst vor geschlossenen Fenstern und Türen kann oft
auch kein vollbesetzter Kino-, Konzert- oder Gasthaussaal betreten werden.
Frauen mit einer Agoraphobie können sehr gastfreundlich wirken, während sie oft
nur deshalb immer wieder Leute einladen, weil sie nicht allein sein können. Wenn der
Partner aus beruflichen Gründen einen Auslandsaufenthalt antreten muss, werden z.B.
Kinder aus der Verwandtschaft zum Übernachten eingeladen, ohne dass diese etwas von
ihrer Beschützerfunktion ahnen. Eine agoraphobische Mutter kann ihr Kind unter ver-
schiedenen Vorwänden sogar von der Schulpflicht abhalten, um der Einsamkeit zu
entkommen, oder könnte ihr Kind wohl in die Schule bringen, danach aber nicht mehr
alleine nach Hause fahren, sodass eine andere Person sich um den Schulbesuch des
Kindes des Kindes kümmern muss.
Bestimmte Sicherheitssignale [17] reduzieren die Angst, ihr Fehlen kann bereits
Angst auslösen. Sicherheit gibt die Anwesenheit anderer Personen: der Partner oder ein
Elternteil an der Seite, das Kind an der Hand, Bekannte in erreichbarer Nähe. Selbst der
Hund an der Leine vermittelt schon das Gefühl, im Ernstfall nicht ganz alleine zu sein.
Angst abbauend wirkt auch die Mitnahme eines Beruhigungsmittels, eines Handys oder
eines Wasserfläschchens (Trinken beseitigt Mundtrockenheit, Übelkeit oder ein Enge-
gefühl in der Kehle), etwas zum Festhalten (Spazierstock, Regenschirm, Kinderwagen,
Fahrrad), die räumliche Nähe eines Krankenhauses oder einer Arztpraxis, die Telefon-
nummer des nächsten Dienst habenden Arztes am Wochenende oder das Wissen um die
ständige Erreichbarkeit bestimmter Angehöriger zumindest über das Handy. Das Wis-
sen, dass der Hausarzt auf Urlaub gehen wird, kann so beunruhigend wirken, dass um-
fangreiche Vorsorgemaßnahmen getroffen werden müssen.
Die häufige Angst, beim Gehen umzufallen, wird schon reduziert durch die Nähe ei-
ner Hausmauer, die bei Bedarf einen gewissen Halt gewährt. Dies ist der Grund, warum
enge Gassen oft eher gemocht werden als weite Straßen und offene Plätze. Chronischer
Schwindel führt oft zu ständiger Angst vor einer Ohnmacht in der Öffentlichkeit. Der
Schwindel wird als Kreislaufschwindel fehlinterpretiert, während es sich tatsächlich
meistens um einen verspannungsbedingten Schwindel (aufgrund massiver Schulter-
Nacken-Verspannung) oder um einen subklinischen vestibulären Schwindel handelt.
Menschen mit Agoraphobie fühlen sich oft schwindlig und unsicher auf den Beinen,
der Boden scheint zu wanken und nicht ausreichend stabil zu sein. Man hat den Ein-
druck, auf Wolle zu gehen oder zu schweben, ohne sichere Bodenhaftung. Viele Betrof-
fene haben die Befürchtung, nach dem Umfallen hilflos auf dem Boden liegen bleiben
zu müssen, nicht selbst aufstehen zu können und auf die Hilfe anderer angewiesen zu
sein, die im Bedarfsfall vielleicht nicht einmal verlässlich genug erfolgen würde. Be-
sonders demütigend und erniedrigend wirkt die Vorstellung, den Blicken einer gaffen-
den Menge ausgesetzt zu sein, während man regungslos auf dem Boden liegt.
Agoraphobiker befinden sich oft in einem Dilemma: Einerseits leben sie in starker
Abhängigkeit von anderen, andererseits fürchten sie nichts so sehr wie gerade dies.
34 Angststörungen
Eine 19-jährige Patientin mit Panikstörung und Agoraphobie ließ sich von ihrem Freund zur ersten
Therapiestunde bei mir begleiten, ohne dass er selbst an der Therapie teilnehmen sollte – eine vielen
Psychotherapeuten recht bekannte Situation. Die Patientin erklärte, sie leide schon seit 4 Jahren unter
Panikattacken. Diese hätten begonnen, als sie mit 15 Jahren in eine familieneigene Garçonniere gezo-
gen sei, weil sie die ständigen Streitereien der Eltern satt gehabt habe. Es wurde deutlich, dass sie, die
recht Vater bezogen gelebt hatte, das Alleinsein nicht ertragen konnte. Eine frühere Familientherapie
sowie das Erlernen des autogenen Trainings hatten nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Eigentlich
konnte sie sich nicht vorstellen, wie eine im Vergleich zu einer Psychoanalyse von ihr als recht ober-
flächlich beurteilte Verhaltenstherapie ihre mehrjährige Störung wirksam beseitigen könnte. Ich schätz-
te die Patientin in der ersten Stunde so ein, dass sie zu keiner längeren Therapie kommen würde, und
unternahm daher ein etwas gewagtes Experiment. Ich erzählte ihr, dass ich ein Geheimnis von ihr
wüsste, das nicht einmal ihrem Freund bekannt sei. Die Patientin war sehr verwundert und wollte es
wissen. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich es ihr erst in der zweiten Therapiestunde mitteilen könnte,
wenn sie dazu allein, ohne Freund, komme. Die Patientin wies darauf hin, dass sie nicht allein mit
Straßenbahn und Bus unterwegs sein könne und daher in diesem Fall nicht zur Therapiestunde erschei-
nen könnte. Ich bestand auf meinem Vorgehen, die Patientin war derart neugierig, dass sie zur nächsten
Stunde tatsächlich allein kam. Sie war darüber selbst sehr verwundert und meinte, dass es wohl das
Geheimnis sei, man müsse sich nur anstrengen, dann könne man auch die größten Ängste überwinden.
Ich bestärkte sie in dieser Erkenntnis, gab ihr allerdings zu verstehen, dass dies nicht das gemeinte
Geheimnis sei. Ich fragte sie, ob sie bereit sei, ihre Handtasche auf der Stelle umzudrehen und zu öff-
nen, sodass alles herausfalle, was drinnen sei. Die Patientin wollte dies anfangs nicht tun, war dann aber
doch dazu bereit. Auf dem Tisch lagen neben den üblichen Utensilien Tablettenpackungen mit insge-
samt 136 Stück von 8 verschiedenen Sorten (mehrheitlich Tranquilizer). Das war das Geheimnis: so
viele Tabletten benötigte sie, um ohne Freund zu mir zu kommen, d.h. in bestimmten Situationen ist der
Freund durch Medikamente ersetzbar. Ich bat sie, bis zum nächsten Mal nur so viele Medikamente nach
Hause mitzunehmen, wie sie benötigte. Sie nahm 40 Stück von 4 verschiedenen Sorten mit. Und dies,
obwohl sie aus Angst vor Abhängigkeit keine Beruhigungsmittel einnahm.
Agoraphobiker müssen vor allem eines erkennen und erleben: Wenn sie sich vor sich
selbst, vor den eigenen körperlichen Reaktionen oder vor einem Kontrollverlust nicht
mehr fürchten, sondern damit umgehen können, fürchten sie sich auch nicht mehr vor
bestimmten Örtlichkeiten und Menschenansammlungen, denn die Agoraphobie besteht
aus der Angst, aus einer „Falle“ allein nicht mehr herauszukommen.
Agoraphobie 35
Ein Mann ist durch einen relativ harmlosen Autounfall während eines Außendienstes schwer geschockt.
Innerhalb von zwei Wochen entwickelt er eine typisch agoraphobische Vermeidungshaltung. Er kann
über Monate kein Auto oder öffentliches Verkehrsmittel benutzen und damit auch seinen Beruf nicht
ausüben. Im Freizeitbereich kann er seine Funktion als Fußballtrainer nicht mehr wahrnehmen, weil er
weder zum Training noch zu den Spielen in verschiedene Städte fahren kann. Seinen Bekannten erzählt
er nichts von seinen Ängsten, sondern gibt als Grund für sein Verhalten Kopf- und Rückenschmerzen
infolge des Unfalls an. Rückblickend gesehen war er schon seit langem durch seine zahlreichen Aktivi-
täten überfordert.
Ein höherer Angestellter, der früher jahrelang Alkoholmissbrauch betrieben und in diesem Zusammen-
hang auch die Gattin durch Scheidung verloren hatte, bekommt nach anfänglich gutem Verlauf seiner
neuen Partnerschaft die Angst, seine Freundin könnte ihn verlassen, weil er beruflich ständig im Aus-
land unterwegs ist. Bei einem Flug nach Asien erlebt er eine Panikattacke, sodass er nach der Landung
sofort nach Hause zurückkehrt, um sich stationär untersuchen zu lassen. Aufgrund seiner Erwartungs-
ängste vor einer weiteren Panikattacke kann er keine Auslandstätigkeiten mehr übernehmen, was der
Freundin anfangs durchaus recht ist. Als er aus gleichem Grund auch keine Urlaubsreisen mehr antreten
kann und ein bereits gebuchter Flug deshalb kostspielig storniert werden muss, gerät die Partnerschaft
neuerlich in die Krise, weil er zu wenig mit seiner Partnerin unternehmen kann. Innerhalb eines Monats
entwickelt er eine ausgeprägte Agoraphobie, sodass er im Gegensatz zu früher vieles nicht mehr allein
unternehmen kann. Er ist nur beruhigt, wenn er seine Freundin in der Nähe weiß. Die Trennungsgefahr
ist vorläufig gebannt, weil ihn die Partnerin als krank akzeptiert.
Ein Jugendlicher im Alter von 17 Jahren lebt in ständigem Streit mit den Eltern, weil er nach mehreren
selbstverschuldeten Arbeitsplatzverlusten noch immer keiner geregelten Arbeit nachgeht und auch im
Haushalt nicht mithilft. Nach einer heftigen Auseinandersetzung muss er schließlich ausziehen und in
einem Untermietzimmer wohnen, das vorläufig seine Eltern bezahlen. Er geht dann abends oft fort und
nimmt an Rave-Partys teil, wo er mehrfach die aufputschende Droge Ecstasy einnimmt. Nach dem
dritten Gebrauch bekommt er auf dem Heimweg plötzlich eine Panikattacke, sodass er nicht mehr
alleine in seinem Zimmer leben kann und auch nicht mehr fähig ist, eine Arbeit zu suchen. Er zieht sich
bald auch von seinem früheren Bekanntenkreis zurück, weil er wegen seiner Erwartungsängste keine
Lokale mehr aufsuchen kann und auch an den üblichen Aktivitäten Jugendlicher nicht mehr teilnehmen
kann. Wohl oder übel nehmen ihn seine Eltern in ihrem Haus wieder auf unter der Bedingung, dass er
sich behandeln lässt.
36 Angststörungen
Eine hochschwangere Frau mit einer konfliktreichen Partnerschaft fällt bei sommerlicher Hitze auf der
Straße beinahe ohnmächtig um. Sie kann dies gerade noch rechtzeitig verhindern. Einige Monate später
fährt sie mit dem Kinderwagen an derselben Stelle vorbei, erinnert sich an das frühere Ereignis und
kann plötzlich aus Angst umzufallen nicht mehr allein mit dem Kind unterwegs sein, weil dieses auf die
Straße laufen könnte, wenn sie ohnmächtig werden sollte.
Eine junge Mutter geht an einem heißen Sommertag mit ihrem fünfjährigen Sohn, der schon recht
unruhig und lästig wird, eine dicht bevölkerte Einkaufsstraße entlang, als ihr plötzlich schwindlig und
übel wird. Sie bekommt Herzrasen und Ohnmachtsangst, was sich einige Zeit später, als sie in dersel-
ben Straße allein unterwegs ist, in ähnlicher Weise wiederholt, sodass sie ohne Begleitung einer ande-
ren Person nicht mehr das Haus zu verlassen wagt.
Eine Frau möchte die ungeliebten Schwiegereltern nicht jedes Wochenende zusammen mit dem noch
recht mutterabhängigen Gatten besuchen, was zu ständigen Ehestreitigkeiten führt. Dieser unlösbare
Konflikt findet nach einem Monat ein plötzliches Ende, weil die Frau nach einer Panikattacke in einem
überfüllten Restaurant, die sich einige Zeit später beim Friseur wiederholt, das Haus überhaupt nicht
mehr verlassen kann (und damit auch nicht mehr die Schwiegereltern zu besuchen braucht, was vorerst
von keinem der beiden Partner bewusst wahrgenommen wird).
Eine 20-jährige, ehrgeizige Studentin möchte eine Prüfung bestehen, bei der erfahrungsgemäß zwei
Drittel durchfallen. Sie hat die letzte Nacht wenig geschlafen und am Morgen wegen der Aufregung
nichts gegessen. Auf dem Weg zur Universität bekommt sie plötzlich in einer überfüllten Straßenbahn
eine Panikattacke, sodass sie unverzüglich zum Arzt geht, der sie zur Untersuchung in ein Krankenhaus
einweist. Außer dem ohnehin bereits bekannten niedrigen Blutdruck wird dort nichts Auffälliges gefun-
den, sodass sie nach drei Tagen wieder entlassen wird. Zwei Monate später bekommt sie während einer
Vorlesung eine neuerliche Panikattacke, die dazu führt, dass sie das Studium für einige Monate unter-
bricht, weil sie weder eine Straßenbahn benutzen noch in einem Hörsaal sitzen kann.
Eine Frau denkt nach siebenjähriger Ehe an Scheidung, weil sie sich von ihrem Gatten vernachlässigt
fühlt. Sie erlebt, dass sie mit anderen Menschen besser über persönliche Dinge reden kann als mit ihrem
Partner, und geht daher öfter als früher zusammen mit Freundinnen abends fort, weil der Partner aus
beruflichen Gründen abends ebenfalls oft nicht zu Hause ist. Nach einiger Zeit bekommt sie plötzlich in
einem Lokal eine Panikattacke, wodurch sie so verängstigt ist, dass sie ohne ihren Gatten nicht mehr
fortzugehen wagt und ihre Scheidungsgedanken aufgibt, weil sie nicht allein leben kann. Sie ist inner-
halb der nächsten Wochen wegen einer sich entwickelnden Agoraphobie nicht einmal fähig, den Ar-
beitsplatz aufzusuchen, was die Voraussetzung dafür wäre, sich allein erhalten zu können.
Eine früher beruflich recht erfolgreiche Frau hat zugunsten der optimalen Erziehung ihrer beiden Kin-
der (5 und 7 Jahre alt) auf die weitere Berufstätigkeit verzichtet. Dennoch fühlt sie sich zu Hause in
zunehmendem Ausmaß unerfüllt und überlegt, eine Halbtagsarbeit anzunehmen. Der Gatte ist dagegen,
sie hat auch Bedenken, ob sie Beruf, Haushalt und Kindererziehung erfolgreich verbinden kann. Die
Sache ist entschieden, als sie nach einer Panikattacke in einem Bus, die sich drei Wochen später in einer
überfüllten Straßenbahn wiederholt, kein öffentliches Verkehrsmittel mehr besteigen und infolgedessen
auch zu keinem Arbeitsplatz in der 10 km entfernten Stadt fahren kann. Sie hat sogar Schwierigkeiten,
ihre Kinder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel in den Kindergarten bzw. in die 1. Klasse der Volks-
schule zu bringen.
Eine Frau entwickelt nach einer längeren familiären Belastungssituation zuerst eine Panikattacke im
Bus zur Arbeit und anschließend eine ausgeprägte Agoraphobie. Sie ist betroffen durch die Krebser-
krankung ihrer Mutter vor einem Jahr, überfordert durch die Betreuung eines leicht behinderten Kindes
und verärgert über die häufige Abwesenheit ihres Gatten aus sportlichen Gründen (im Sommer Fußball-
trainer, im Winter extreme Schitouren mit Arbeitskollegen, was ihr zusätzlich Angst und Unruhe berei-
tet). Im Laufe der Zeit kann sie bald nichts mehr allein unternehmen aus Angst vor einer Panikattacke.
Die Berufstätigkeit kann nur mehr aufrechterhalten werden, indem sie der Gatte mit dem Auto zur
Arbeitsstelle bringt und von dort auch wieder abholt. Ihr fünfjähriger Sohn muss von der Mutter eines
anderen Kindes in den Kindergarten mitgenommen werden, weil sie sich nicht mehr mit der Straßen-
bahn zu fahren wagt.
Agoraphobie 37
Eine geschiedene Frau, die ihre drei Kinder ohne Unterstützung durch einen Partner erziehen muss,
steht nach einem anstrengenden Arbeitstag noch unter dem Druck, vor Geschäftsschluss die nötigen
Einkäufe zu erledigen. Im Supermarkt bekommt sie in der Warteschlange bei der Kassa plötzlich eine
Panikattacke, die von den Umstehenden registriert wird. Sie möchte am liebsten davonlaufen, kann aber
nicht, weil sie die Lebensmittel im Einkaufswagen für das Abendessen benötigt. Von da an kann sie
nicht mehr einkaufen gehen, sodass ihr die größere Tochter diese Arbeit abnehmen muss.
Eine 45-jährige Frau leidet schon seit längerem unter der ehelichen Untreue ihres Gatten und der über-
mäßigen Belastung am Arbeitsplatz. Die Firma, in der sie seit 15 Jahren arbeitet, steht wirtschaftlich
schlecht da, kündigte verschiedene ältere Arbeitnehmer und fordert von den verbleibenden Arbeitskräf-
ten großen Einsatz bei relativ schlechter Bezahlung. Nach einem Streit mit der Vorarbeiterin, der die
durchaus selbstbewusste Patientin Unfähigkeit und Ungerechtigkeit vorwarf, tritt plötzlich in der Kan-
tine eine Panikattacke auf, sodass die Patientin sofort den Arzt aufsucht und für einen Monat wegen
einer Erschöpfungsdepression krankgeschrieben wird. Der Krankenstand bringt keine Erleichterung,
vielmehr entwickelt die Patientin im Laufe der Zeit eine ausgeprägte Agoraphobie, sodass sie nicht
einmal einkaufen gehen und damit auch nicht mehr kochen kann. Ihre geschiedene und seither allein
lebende Schwester zieht zu ihr in das Haus (in das leer stehende Kinderzimmer) und hilft ihr bei der
Haushaltsführung, nimmt ihr gut gemeint alles ab und verstärkt damit die Agoraphobie der Patientin.
Oft schon nach dem zweiten oder dritten Angstanfall beginnt sich der Aktionsradius
zunehmend einzuengen, obwohl die durchgeführten Untersuchungen keinen organi-
schen Befund ergaben.
Der Schweregrad einer Agoraphobie lässt sich weder durch die Intensität noch
durch die Häufigkeit von Panikattacken ausreichend vorhersagen, viel besser dagegen
durch die Angst vor bestimmten agoraphobischen Situationen. Nach einer Wiener Stu-
die lässt sich aus dem Auftreten von Gefühlen der Peinlichkeit bei der ersten Panikat-
tacke eine spätere Agoraphobie vorhersagen.
Verschiedene Betroffene versuchen anfangs ihre Ängste durch gezieltes Aufsuchen
der gefürchteten Situationen zu bewältigen, die auftretenden Symptome werden dabei
jedoch so stark, dass sie glauben, diesen nur durch Flucht entkommen zu können.
Das plötzliche Nachlassen der vegetativen Beschwerden bei Verlassen der Angst
machenden Situation verstärkt die weitere Fluchtbereitschaft, bis schließlich aus Resi-
gnation vor der nicht möglichen Kontrolle der Symptome entsprechende Situationen
überhaupt nicht mehr aufgesucht werden.
Die Betroffenen fürchten sich eigentlich nicht vor verschiedenen Orten und Situa-
tionen, sondern davor, dass unter diesen Umständen die ihnen gut bekannten Symptome
in unkontrollierbarer Weise auftreten könnten, d.h. sie fürchten sich letztlich vor ihrem
Körper. Die Angst vor einer erneuten Panikattacke ohne Aussicht auf Kontrolle führt
zur Vermeidung von immer mehr Alltagsaktivitäten.
Unbehandelt bleiben Agoraphobien oft für immer oder zumindest über viele Jahre
bestehen. Eine spontane Heilung (Remission) tritt nur bei 38% auf. Nach über einjähri-
ger Dauer der Angststörung sind Spontanheilungen sehr selten, wie die Münchner Ver-
laufsstudie für die BRD ergeben hat. Patienten mit gemischten Angst- und Depressions-
syndromen haben unbehandelt eine schlechtere Prognose als solche mit reinen Angst-
störungen oder reinen Depressionen [22].
Der typische Problemlösungsmechanismus von Menschen mit Agoraphobie besteht
im Vermeiden Angst machender Situationen. Das Ausweichen vor der Angst verhindert
die Erfahrung, dass die gefürchtete Situation gar nicht gefährlich und relativ leicht be-
wältigbar ist. Mangelnde positive Erfahrungen im Umgang mit anfangs unbekannten
oder unberechenbaren Situationen führen zu immer größerem Meidungsverhalten.
Es erfolgt eine Generalisierung, d.h. eine Ausweitung der Angst auf ähnliche Situa-
tionen bis hin zur lebenseinengenden Behinderung. Selbstbewusstsein und Zukunfts-
hoffnung schwinden derart, dass Betroffene, Außenstehende und Ärzte schließlich nicht
mehr wissen, ob aus hemmender Angst, antriebslähmender Depression oder beidem die
schützende Wohnung nicht mehr verlassen werden kann. Es kommt zu einem Teufels-
kreis: eine nicht bewältigbare Agoraphobie führt zu einer Depression, die wiederum die
Phobie verstärkt, sodass ein chronischer Verlauf wahrscheinlich wird.
Im Querschnitt, d.h. aktuell, erscheinen Menschen mit ausgeprägter Agoraphobie oft
als Patienten mit schwerer Depression, im Längsschnitt, d.h. im Lebensverlauf, besteht
dagegen eine chronische Angstsymptomatik, angesichts der die Betroffenen resigniert
haben. Den aufgesuchten Ärzten bietet sich meist das Bild einer reinen Depression,
sodass Antidepressiva verabreicht werden.
Die Einnahme von Antidepressiva ist oft sinnvoll, auch dann, wenn sich die depres-
sive Symptomatik als Folge einer unbewältigbaren Angstsymptomatik herausstellen
sollte. Die Verbesserung des Antriebs ermöglicht erst ein Angstbewältigungstraining.
Sollten die Antidepressiva nicht nur die Depression, sondern auch die Ängste beseiti-
gen, dann ist eher anzunehmen, dass die Ängste auf einer depressiven Episode beruhten.
Agoraphobie 39
Agoraphobikern erscheint ihr Verhalten selbst als unsinnig und peinlich, sodass sie
die wahren Gründe anfangs auch vor Bekannten und Verwandten verbergen, indem sie
Ausreden für ihr Vermeidungsverhalten gebrauchen (Kreislaufbeschwerden, Übelkeit,
Kopfschmerzen, Lustlosigkeit u.a.). Wenn die Störung im Angehörigenkreis bekannt
wird, erleben die Betroffenen anfangs oft erstaunlich viel Nachsicht und Unterstützung.
Durch eine ausufernde Agoraphobie wird im Laufe der Zeit die ganze Familie in
Mitleidenschaft gezogen. Längerfristige familiäre Urlaubsplanungen sind kaum oder
nur bedingt möglich, vor allem bei Flugreisen. Während der Partner ein Ferienziel bu-
chen möchte, fragt der agoraphobische Patient nach den Stornobedingungen für den
Fall, dass er sich vor der Abreise unwohl fühlen sollte. Auch bei kleineren Ausflügen
im eigenen Land bzw. Bundesland muss dieser Umstand berücksichtigt werden.
Verschiedene Agoraphobiker können nur mit dem Partner zusammen in die Arbeit
gehen und nur in seiner Begleitung an verschiedenen sozialen Aktivitäten teilnehmen.
Oft müssen Partner und Kinder von agoraphobischen Frauen die Einkäufe erledigen.
Manchmal nimmt sich der Gatte sogar Urlaub, um an der Seite seiner furchtsamen Frau
bleiben zu können. Ein Drittel der Agoraphobiker ist so behindert, dass die Erfüllung
der beruflichen und familiären Verpflichtungen nicht mehr möglich ist.
Die Agoraphobie kann im Extremfall so ausgeprägt sein, dass der Partner seinen Be-
ruf aufgibt, um ganz für den angstkranken Angehörigen da sein zu können, der weder
allein in der Wohnung verbleiben noch allein das Haus verlassen kann. Wenn die Ange-
hörigen die Agoraphobie des Familienmitglieds nicht mehr länger unterstützen möchten
und sich heftig dagegen wehren, sind ständige Streitereien wahrscheinlich.
Die übrige soziale Umwelt erfährt oft auch weiterhin nichts oder nur wenig von der
agoraphobischen Beeinträchtigung. Im Laufe der Zeit entwickelt sich ein immer stärke-
rer Rückzug vom früheren Bekanntenkreis, eine Einschränkung der Freizeitaktivitäten,
ein zunehmender Leidensdruck, zeitweise auch eine Arbeitsunfähigkeit.
Nach jahrelangem Verbergen der Agoraphobie können plötzlich Situationen entste-
hen, die dazu führen, dass sich die Betroffenen in Behandlung begeben müssen:
z zunehmende Unfähigkeit, alle Tätigkeiten im Außendienst wahrzunehmen;
z notwendige berufliche Weiterbildung in einer fremden Stadt, in der man nicht allein
in einem Hotelzimmer übernachten kann;
z beruflicher Aufstieg durch Versetzung an einen anderen Ort;
z plötzlich erforderliche Aktivitäten im Freizeitbereich (Einladungen, Reisen, Ein-
kaufsfahrten), die ohne das Vorhandensein von Sicherheitsgarantien (Anwesenheit
des Partners, Beruhigungsmittel) nicht möglich sind;
z massiver Druck durch den Partner, der gemeinsame Urlaubsreisen in ferne Länder
unternehmen möchte oder zunehmend eigene Aktivitäten entfaltet und damit aus der
bisher für sicher gehaltenen Ehe auszusteigen droht;
z plötzlicher Ausstieg des Partners aus der Rolle des Symptomverstärkers;
z Trennungsdrohung durch den Partner, wenn die Symptomatik bestehen bleibt.
Eine englische Untersuchung an 1000 agoraphobischen Frauen ergab, dass sich drei
Viertel davon in ihrem Berufsleben durch die Phobie behindert fühlten [23]. 48% hätten
sich gerne beruflich verändert und verbessert, fürchteten jedoch, die Bewerbungs- und
Vorstellungsprozedur nicht durchstehen zu können. Der Anteil der Berufstätigen (nur
23%) war im Vergleich zur weiblichen Durchschnittsbevölkerung reduziert. 83% der
Nichtberufstätigen wollten nach Überwindung der Agoraphobie berufstätig werden.
40 Angststörungen
In großer Not und bei hoher Motivation kann eine Agoraphobie schlagartig über-
wunden werden, um bei Nachlassen des äußeren und inneren Drucks wieder in der
ursprünglichen Form aufzutreten [24]:
„Eine in Wien lebende Jüdin konnte sich von ihrer Wohnung nie weiter als ein paar Straßenlängen
entfernen; als dann die Nazis an die Macht kamen, sah sie sich vor die Wahl gestellt, entweder zu
fliehen oder in einem Konzentrationslager zu landen. Sie begab sich auf die Flucht und reiste zwei
Jahre lang in der Welt umher, bis sie schließlich in den Vereinigten Staaten eintraf. Sobald sie nun in
New York City wieder seßhaft geworden war, entwickelte sie die gleiche Reisephobie, die sie schon in
Wien gehabt hatte.“
Wenn bei einer stationären Besserung aufgrund der bevorstehenden Entlassung eine
plötzliche Verschlechterung der agoraphobischen Symptomatik einsetzt, muss auf das
Auftreten von Erwartungsängsten geschlossen werden, oft auch auf Realängste bezüg-
lich einer stationär zu wenig angesprochenen oder nur unzureichend bearbeiteten fami-
liären, partnerschaftlichen oder beruflichen Problematik, angesichts der ein Kranken-
hausaufenthalt nur eine kurzfristige Entlastung oder eine Vermeidungsreaktion darstellt.
Differenzialdiagnose
Im Gegensatz zu einer Agoraphobie werden bei einer spezifischen Phobie nur bestimm-
te Objekte und Situationen gefürchtet, z.B. Fliegen, Lift fahren, Spinnen, Hunde.
Bei einer sozialen Phobie werden Situationen nicht wegen der körperlichen Bedroh-
lichkeit gefürchtet und gemieden, sondern wegen möglicher negativer Beurteilung
durch andere Menschen, d.h. es werden soziale und Leistungssituationen vermieden.
Bei Agoraphobikern sind oft zwei Arten von Ängsten anzutreffen [25]:
1. Angst vor Panikattacken oder einer panikähnlichen Symptomatik. Die fehlende
Garantie für die Sicherheit und Unversehrtheit der Person führt bei Panikpatienten
oft zur Einschränkung des Aktionsradius und zur Abhängigkeit von bestimmten Si-
cherheitsgarantien (z.B. Vorhandensein von anderen Personen oder Medikamenten).
2. Angst vor sozialer Auffälligkeit („Was werden die anderen Menschen von mir den-
ken, wenn sie mich während einer Panikattacke sehen?“). Hinter der Angst vor dem
Sichtbarwerden körperlicher Symptome stehen oft eine soziale Unsicherheit und ei-
ne soziale Ängstlichkeit. Sozialphobische Agoraphobiker fürchten den „sozialen
Tod“, den Verlust des Sozialprestiges als Folge der sozialen Auffälligkeit, was
durch bestimmte sichtbare, als an sich ungefährlich erkannte Symptome (Rotwerden,
Zittern, Schwitzen, Ausbleiben oder Veränderungen der Stimme) verstärkt wird.
Bei verschiedenen Personen ist nur scheinbar eine Agoraphobie gegeben, tatsächlich
liegt eine soziale Phobie vor. Dieser Umstand wird in der klinischen Praxis oft zu wenig
beachtet, weshalb viele Konfrontationstherapien ohne gleichzeitige kognitive Therapie
unbefriedigend verlaufen. Eine Unterscheidung zwischen Agoraphobie und sozialer
Phobie kann anhand folgender Umstände relativ zuverlässig erfolgen [26]:
z Die Angst vor Menschenansammlungen tritt nicht nur bei einer Agoraphobie, son-
dern öfter auch bei einer sozialen Phobie auf. Bei einer Agoraphobie ist jedoch die
zentrale Befürchtung, die jeweiligen Situationen nicht jederzeit rechtzeitig verlassen
zu können bzw. keine Hilfe von Fremden bekommen zu können, bei der sozialen
Phobie dagegen sind eher bekannte Menschen der Angst auslösende Faktor, die als
potenzielle Kritiker gefürchtet werden. In einem Lokal sitzen Panikpatienten lieber
bei der Tür, Sozialphobiker eher versteckt in einer Ecke. Panikpatienten gehen lieber
in kleinere, überschaubare Geschäfte, Sozialphobiker eher in Supermärkte.
z Bei einer Agoraphobie (vor allem bei gleichzeitiger Panikstörung) kreisen die Be-
fürchtungen um das eigene körperliche und psychische Wohlbefinden (Angst ver-
rückt zu werden, die Kontrolle zu verlieren, zu sterben, in Ohnmacht zu fallen) ohne
Sorgen um die Bewertung des Verhaltens durch andere Menschen. Bei typischen
Agoraphobikern ohne Sozialphobie ist die Angst unabhängig vom sozial relevanten
Verhalten. Sie haben einfach Angst, ohnmächtig umzufallen und vielleicht nicht
mehr aufzuwachen, auch wenn die umstehenden Leute gute Bekannte sind.
42 Angststörungen
z Bei der sozialen Phobie beziehen sich die Befürchtungen auf die negative Bewer-
tung des eigenen Handelns oder der eigenen Person durch andere Menschen. Bei ei-
ner scheinbar agoraphobischen Symptomatik wie der Angst umzufallen kann über
die Frage nach den Konsequenzen des Umfallens rasch erkannt werden, ob anstelle
der Todesangst eine Sozialphobie im Sinne der Angst aufzufallen gegeben ist.
z Eine Agoraphobie in der Folge einer Panikattacke setzt relativ plötzlich ein, wäh-
rend die Meidung von sozialen Situationen aufgrund einer sozialen Phobie sich über
einen langen Zeitraum entwickelt hat.
z Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Agoraphobie und sozialer
Phobie ist die Anwesenheit oder Abwesenheit anderer Menschen als auslösende oder
aufrechterhaltende Bedingung der Angst. Agoraphobiker können auch in menschen-
leeren Bussen oder Kinos Angst erleben (d.h. ohne das Gefühl der Beobachtung)
und suchen daher die Sicherheit gebende Nähe anderer Menschen (wenn sie nicht
überhaupt mit einem nahen Angehörigen oder gutem Bekannten unterwegs sind),
während Sozialphobiker Angst nur in Anwesenheit anderer Menschen erleben. Ago-
raphobiker haben primär Angst, allein zu sein und nicht rechtzeitig Hilfe zu bekom-
men, Sozialphobiker fürchten vor allem, beobachtet und bewertet zu werden. Panik-
patienten gehen z.B. aus Sicherheitsgründen lieber mit Bekannten einkaufen, Sozi-
alphobiker aus Angst vor Blamage vor den Begleitpersonen lieber allein.
z Die Art der Symptome lässt sich zur Unterscheidung der beiden Gruppen ebenfalls
gut heranziehen. Sozialphobiker fürchten eher für andere sichtbare körperliche
Symptome wie Erröten, Schwitzen, Zittern, Weinen und Stimmveränderungen, Ago-
raphobiker fürchten dagegen bedrohlich erscheinende Symptome wie Atembe-
schwerden, Herzrasen, Schwindel, Ohnmacht, Schwäche in den Gliedern („weiche
Knie“) oder Depersonalisation (sich selbst irgendwie fremd erleben mit einer daraus
resultierenden Angst, „verrückt“ zu werden). Bei einer gleichzeitig gegebenen Sozi-
alphobie lassen sich verschiedene Agoraphobiker nicht auf eine Konfrontationsthe-
rapie ein. Sie fürchten neben den Paniksymptomen auch die soziale Auffälligkeit.
Zahlreiche andere Personengruppen ziehen sich zurück, ohne dass ihr Verhalten als
Agoraphobie bezeichnet werden kann:
z Bei Menschen mit medizinischen Krankheitsfaktoren hängen Vermeidungsreaktio-
nen oft mit realistischen Befürchtungen zusammen (z.B. Schwindel bei hirnorgani-
schen Störungen, Durchfall bei Morbus Crohn, Angst vor einem Sturz mit Bein-
bruch bei älteren und gebrechlichen Menschen).
z Personen mit erworbenen Behinderungen oder sichtbaren Krankheiten meiden oft
den Kontakt mit der Umwelt, um nicht aufzufallen und ziehen sich zurück. Sie ha-
ben sekundär, d.h. als Folge der körperlichen Beeinträchtigung, eine sozialphobische
und keine agoraphobische Symptomatik entwickelt.
z Personen mit Zwangsstörungen vermeiden Situationen wegen möglicher Verunrei-
nigungen, um sich dadurch vermehrtes Waschen und Reinigen und die Ausübung
der belastenden Rituale zur Wiederherstellung des früheren Zustandes zu ersparen.
z Bei einer Depression erfolgt der Rückzug nicht aus körperlichen oder sozialen Äng-
sten, sondern aus Antriebsmangel und Lustlosigkeit. Oft verstärkt eine sekundäre
Depression eine ursprüngliche Agoraphobie oder Sozialphobie. Die Beseitigung der
Depression ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Angstbewältigung.
z Patienten mit einer paranoiden Symptomatik ziehen sich zurück, um der gefürchte-
ten Beobachtung und vermeintlichen Bedrohung durch andere zu entgehen.
Panikstörung 43
„Es kommt plötzlich über mich. Dann legt’s sich zuerst wie ein Druck auf meine Augen, der Kopf wird
schwer und sausen tut’s, nicht auszuhalten, und schwindelig bin ich, daß ich glaub’, ich fall’ um, und
dann preßt’s mir die Brust zusammen, daß ich keinen Atem kriege... Den Hals schnürt’s mir zusammen,
als ob ich ersticken sollt... Ich glaub immer, jetzt muß ich sterben, und ich bin sonst couragiert, ich geh’
überall alleine hin, wenn so ein Tag ist, an dem ich das hab’, dann trau’ ich mich nirgends hin, ich
glaub’ immer, es steht jemand hinter mir und packt mich plötzlich an.“
Als Diagnose wurde die Panikstörung erst 1980 in das amerikanische psychiatrische
Diagnoseschema DSM-III und 1991 in das internationale Diagnoseschema ICD-10
aufgenommen. Die Etablierung des Konzepts der Panikstörung wurde seit 1964 vom
amerikanischen Psychiater Donald F. Klein gefördert, der darin eine biologische Grund-
störung sah. Das biologisch orientierte Konzept der Panikstörung förderte die Entwick-
lung psychopharmakologischer Ansätze in der Behandlung von Ängsten und Panikat-
tacken, bewirkte dann aber – unterstützt durch entsprechende Forschungsergebnisse –
eine Gegenbewegung in Richtung psychophysiologischer Erklärungsmodelle und neuer
verhaltenstherapeutischer Behandlungskonzepte von Panikattacken. Diese Entwicklung
wurde in den USA u.a. von Barlow, in Großbritannien von Clark und Salkovskis und in
Deutschland vom Ehepaar Jürgen Margraf und Silvia Schneider vorangetrieben.
Die Diagnose „Panikattacken“ bzw. „Panikstörung“ ist heute – ebenso wie „Burn-
out“ – eine Modediagnose geworden. In den Medien wird bei der Darstellung der
Angststörungen die Panikstörung wegen deren Dramatik oft so stark in den Mittelpunkt
der Aufmerksamkeit gestellt, dass andere Angststörungen zu kurz kommen. Viele Pati-
enten mit allen möglichen Störungen berichten ihren Ärzten, dass sie angesichts be-
stimmter Umstände und Zustände „die Panik bekommen“, sodass sie oft vorschnell die
Diagnose „Panikstörung“ bekommen, obwohl sie tatsächlich eine Agoraphobie, eine
soziale oder spezifische Phobie, eine generalisierte Angststörung, eine Depression, eine
somatoforme bzw. hypochondrische Störung oder eine Schmerzstörung haben.
44 Angststörungen
Unter einer Panikstörung versteht man das wiederholte, unerwartete Auftreten von
Panikattacken. Die klinisch-diagnostische Leitlinien des ICD-10 fordern für die Dia-
gnose einer Panikstörung innerhalb eines Zeitraums von etwa einem Monat mehrere
schwere vegetative Angstanfälle, die sich nicht auf eine spezifische Situation oder be-
sondere Umstände beschränken und deshalb auch nicht vorhersagbar sind. Eine Panik-
störung liegt auch dann vor, wenn nur ganz wenige Panikattacken spontan auftreten, die
Person aber anhaltend von heftiger Sorge vor weiteren Anfällen geplagt wird (Angst vor
der Angst) und bestimmte Situationen nur mit starkem Unbehagen ertragen kann.
Die Diagnose einer Panikstörung darf nach dem ICD-10 und dem DSM-IV nur dann
gestellt werden, wenn die Panikattacken unerwartet auftreten, d.h. nicht auf Situationen
begrenzt sind, in denen objektive Gefahr besteht oder die bekannt sind oder vorherseh-
bar Angst auslösen (z.B. im Rahmen einer Phobie). Eine Panikattacke in einer eindeutig
phobischen Situation drückt nur den Schweregrad einer Phobie aus.
Eine Panikattacke ist eine abgrenzbare Periode intensiver Angst und starken Unbe-
hagens und besteht aus mehreren, plötzlich und unerwartet („wie aus heiterem Him-
mel“), scheinbar ohne Ursachen in objektiv ungefährlichen Situationen auftretenden
somatischen und kognitiven Symptomen von subjektiv lebensbedrohlichem Charakter.
Das DSM-IV [28] erstellt folgende diagnostische Kriterien für eine Panikattacke:
Eine klar abgrenzbare Episode intensiver Angst und Unbehagens, bei der mindestens 4 der nachfolgend
genannten Symptome abrupt auftreten und innerhalb von 10 Minuten einen Höhepunkt erreichen:
z Palpitationen, Herzklopfen oder beschleunigter Herzschlag,
z Schwitzen,
z Zittern oder Beben,
z Gefühl der Kurzatmigkeit oder Atemnot,
z Erstickungsgefühle,
z Schmerzen oder Beklemmungsgefühle in der Brust,
z Übelkeit oder Magen-Darm-Beschwerden,
z Schwindel, Unsicherheit, Benommenheit oder der Ohnmacht nahe sein,
z Derealisation (Gefühl der Unwirklichkeit) oder Depersonalisation (sich losgelöst fühlen),
z Angst, die Kontrolle zu verlieren oder verrückt zu werden,
z Angst zu sterben,
z Parästhesien (Taubheit oder Kribbelgefühle),
z Hitzewallungen oder Kälteschauer.
Panikstörung 45
Menschen mit einer Panikstörung haben neben unerwarteten (spontanen, nicht ausgelö-
sten) Panikattacken oft auch situationsgebundene und/oder situationsbegünstigte Panik-
attacken (letztere in häufigerem Ausmaß). Situationsgebundene Panikattacken zeigen
dasselbe Erscheinungsbild wie spontane Angstanfälle.
Nach der Häufigkeit der Symptome (mindestens 4 oder weniger Symptome) unter-
scheidet man zwischen vollständigen und unvollständigen Panikattacken. Menschen mit
unvollständiger Symptomatik hatten früher oft vollständige Panikattacken.
Eine Panikattacke allein ist nach dem DSM-IV keine kodierbare Störung. Kodiert
wird die Störung, innerhalb der die Panikattacken auftreten: Panikstörung ohne Ago-
raphobie oder Panikstörung mit Agoraphobie. Panikattacken können nicht nur bei
Angststörungen, sondern auch bei anderen psychischen Störungen (Depressionen, Sub-
stanzmissbrauch u.a.) oder körperlichen Erkrankungen auftreten. Panikattacken können
als Zusatzkategorie zu allen möglichen psychischen Störungen angeführt werden. Dies
bedeutet eine Abkehr von der früheren amerikanischen Diagnostik, wonach spontane
und unerwartete Panikattacken implizit als endogenes Geschehen angesehen wurden.
Das DSM-IV [30] erstellt folgende diagnostische Kriterien für eine Panikstörung
ohne Agoraphobie (für eine Panikstörung mit Agoraphobie gelten mit Ausnahme von B
dieselben Kriterien):
C. Die Panikattacken gehen nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z.B. Droge,
Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z.B. Hyperthyreose) zurück.
D. Die Panikattacken werden nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt…
46 Angststörungen
Im Gegensatz zum ICD-10 berücksichtigt das DSM-IV unter Punkt A (2) kognitive
Aspekte (Erwartungsangst, Bedeutungseinschätzung, Folgen), die sehr wichtig sind.
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [31] ist eine Panikstörung (F41.0) durch
folgende Merkmale charakterisiert:
A. Wiederholte Panikattacken, die nicht auf eine spezifische Situation oder ein spezifisches Objekt
bezogen sind und oft spontan auftreten (d.h. die Attacken sind nicht vorhersagbar). Die Panikattak-
ken sind nicht verbunden mit besonderer Anstrengung, gefährlichen oder lebensbedrohlichen Situa-
tionen.
a. Sie ist eine einzelne Episode von intensiver Angst oder Unbehagen
b. sie beginnt abrupt
c. sie erreicht innerhalb weniger Minuten ein Maximum und dauert mindestens einige Minuten
d. Mindestens vier Symptome der unten angegebenen Liste, davon eins von den Symptomen
1. bis 4., müssen vorliegen.
Vegetative Symptome:
1. Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz
2. Schweißausbrüche
3. fein- oder grobschlägiger Tremor
4. Mundtrockenheit (nicht infolge Medikation oder Exsikkose).
Psychische Symptome:
9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder
„nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)
11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“
12. Angst zu sterben.
Allgemeine Symptome:
13. Hitzewellen/-wallungen oder Kälteschauer
14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle.
C. Ausschlussvorbehalt: Die Panikattacken sind nicht Folge einer körperlichen Störung, einer organi-
schen psychischen Störung (F0) oder einer anderen psychischen Störung wie Schizophrenie und
verwandten Störungen (F2), einer affektiven Störung (F3) oder einer somatoformen Störung (F45).
Bei einer Panikattacke – einem falschen Alarmsignal – beginnen die einzelnen Anfälle
gewöhnlich ganz plötzlich, steigern sich innerhalb von Minuten zu einem Höhepunkt
und werden trotz der eher kurzen Dauer von den Patienten sehr unangenehm und stark
bedrohlich erlebt wegen der Intensität und Plötzlichkeit des Auftretens der vegetativen
Symptome. Zur Diagnose einer Panikstörung sind auch nach dem ICD-10 wiederholte
Panikattacken „aus heiterem Himmel“ (vordergründig ohne sichtbare Auslöser) nötig.
Zwischen den Attacken liegen (in Abgrenzung zur generalisierten Angststörung)
weitgehend angstfreie Zeiträume (Erwartungsangst ist jedoch häufig). Schwere, Häufig-
keit und Verlauf der Störung können sehr unterschiedlich sein.
Panikstörung 47
Panikattacken dauern meistens nur einen kurzen Zeitraum (einige Minuten bis zu ei-
ner halben Stunde), manchmal auch länger (einige Stunden), sind dann aber nicht mehr
so ausgeprägt. Laut Studien [32] dauern Panikattacken durchschnittlich eine knappe
halbe Stunde. Wenn Panikattacken länger als 30 Minuten anhalten, ist dies oft durch
den Versuch bedingt, sie zu unterdrücken, zu stoppen oder ängstlich zu analysieren,
wodurch die Anspannung aufrechterhalten wird. Die Angst vor einer weiteren, unkon-
trollierbar erscheinenden Panikattacke führt rasch zu einer starken Erwartungsangst.
Viele Betroffene klagen, dass ihre „Panikattacken“ oft viele Stunden oder gar mehrere
Tage lang anhalten würden. Hier spiegelt sich das Ausmaß der Daueranspannung wider,
meist als Ausdruck einer generalisierten Angststörung oder hypochondrischen Störung.
Panikpatienten neigen zur katastrophenartigen Fehlinterpretation von Symptomen:
„Mein Herz rast – gleich bekomme ich einen Herzinfarkt“; „Mein Hals ist wie zuge-
schnürt – gleich bekomme ich keine Luft“; „Ich bekomme keine Luft – jetzt muss ich
ersticken“; „Ich bin ganz schwindlig – gleich falle ich ohnmächtig um“; „Ich habe
Taubheits- und Kribbelgefühle – gleich bekomme ich einen Schlaganfall“; „Ich kann
nicht klar denken – gleich verliere ich die Kontrolle über meinen Verstand“; „Ich habe
einen großen inneren Druck – gleich verliere ich die Kontrolle und mache etwas Ver-
rücktes, indem ich mir oder anderen etwas antue“; „Ich stehe ganz neben mehr – gleich
werde ich verrückt“; „Ich nehme die Umwelt nicht mehr wahr – jetzt drehe ich durch.“
Obwohl eine Panikattacke eine Sympathikus-Reaktion (u.a. verstärkte Herztätigkeit und
Blutdrucksteigerung) ist, haben viele Betroffene unbegründete Ängste vor Ohnmacht.
Drei Körpersymptome sind bei Panikattacken besonders belastend: Atemnot, Herz-
klopfen/-rasen und Schwindel/Benommenheit. Neben dem Herzrasen steht ein „respira-
torisches Syndrom“ im Mittelpunkt des Erlebens: Kurzatmigkeit, Erstickungsgefühl,
Enge, Druck, Schmerzen auf der Brust, Parästhesien. Die Todesangst und die Angst, die
Kontrolle zu verlieren oder verrückt zu werden, sind häufige psychische Reaktionswei-
sen auf die bedrohlich erscheinenden körperlichen Symptome und Angst machenden
Erfahrungen der Entfremdung (Depersonalisation und Derealisation).
Bei unerwarteten Panikattacken zeigen sich im Vergleich zu situativ ausgelösten
Panikattacken häufiger die Symptome Angst zu sterben, verrückt zu werden oder die
Kontrolle zu verlieren, und Missempfindungen wie Kribbeln oder Taubheitsgefühle.
Diese Symptome sowie Atemnot, Schwindel-, Schwäche- und Unwirklichkeitsgefühle
werden von Panikpatienten häufiger berichtet als von anderen Angstpatienten.
Die erste Panikattacke stellt gewöhnlich ein intensives, existenziell bedrohliches und
traumatisierendes Erlebnis, ein unvergessliches Vernichtungsgefühl dar, sodass auf-
grund von Erwartungsängsten ein umfangreiches Vermeidungsverhalten entsteht. Sie
tritt meistens außer Haus auf, weshalb sich oft mehr oder weniger rasch eine Agorapho-
bie entwickelt. In vielen Fällen besteht daher eine Agoraphobie mit Panikstörung.
Durch das wiederholte Erleben einer Panikattacke werden oft existenzielle Fragen
und Ängste angesprochen (Tod als Ende oder Beginn einer anderen Existenzform, Sinn
des Lebens, Dauerhaftigkeit von Beziehungen u.a.). Es ist wie nach einem schweren
Unfall: Plötzlich verliert das Leben seine Selbstverständlichkeit, das Urvertrauen in das
Leben geht verloren. Man wird übermäßig vorsichtig aus Angst vor der Wiederholung
einer derartigen Erfahrung, beobachtet und kontrolliert seinen Körper, auf den man sich
früher einfach verlassen hat, und braucht die Versicherungen anderer Menschen (z.B.
Angehöriger, Ärzte, Psychotherapeuten), um sich in seiner Haut wohl fühlen zu können.
Es entwickelt sich ein extremes Sicherheitsbedürfnis, das risikoscheu macht, auch in
Situationen, die man früher ohne langes Nachdenken problemlos bewältigen konnte.
48 Angststörungen
Viele Panikpatienten ohne Agoraphobie haben anfangs nicht das Gefühl, unter Ängsten
zu leiden (außer vor neuerlichen Panikattacken). Wegen der anfallsartig auftretenden
körperlichen Symptome wie Herzrasen, Atemnot, Brustschmerz oder Schwindelgefühl
wird Hilfe von praktischen Ärzten, Internisten, Lungenfachärzten, HNO-Ärzten und
Neurologen erwartet, keinesfalls von Psychotherapeuten.
Panikstörung 49
Der Ausschluss organischer Ursachen aufgrund von oft sehr umfangreichen Unter-
suchungen bringt meistens keine Beruhigung, sondern gibt Anlass zur Sorge, letztlich
an einer unbekannten und daher nicht behandelbaren Krankheit zu leiden.
Panikpatienten glauben oft aufgrund der Intensität ihres Erlebens, dass die Mitmen-
schen ihre Panikattacken genau wahrnehmen können. Tatsächlich jedoch erkennen
Außenstehende meist gar nicht, dass die Betroffenen eben eine Panikattacke erleben.
Selbst Fachleute haben oft Schwierigkeiten, bei ihren Patienten eine Panikattacke zu
erkennen. Panikpatienten zittern und beben nur innerlich, und Herzrasen kann man
ohnehin nicht sehen. Die Betroffenen wirken nach außen hin oft nur etwas blass,
manchmal mit ein paar Schweißtropfen auf der Stirn und einem ängstlichen Ge-
sichtsausdruck. Dramatisch wirkt dagegen eine Hyperventilation, das Ringen um Luft,
der angstvolle Griff zum Herzen wie bei einem Herzinfarkt und das gelegentliche Sicht-
Anklammern an den Partner aus Angst umzufallen. Die relative Unauffälligkeit bewirkt,
dass Panikpatienten oft den Eindruck haben, ihre Partner stünden den Attacken ver-
ständnislos und wenig einfühlsam gegenüber.
Panikpatienten nehmen ihre körperlichen Symptome stärker wahr als sie tatsächlich
sind, wie ein Vergleich zwischen Selbstdarstellung und physiologischen Messungen
mittels Langzeit-EKG (tragbare Messgeräte) zeigt [33]. Während bei 70% aller Anfälle
Herzklopfen oder Herzrasen berichtet wird, ergeben sich bei den Messungen nur bei
einigen Panikattacken leicht erhöhte Herzfrequenzen.
In einer umfangreichen Studie ergab sich ein durchschnittlicher Herzfrequenzanstieg
von 11 Schlägen pro Minute bei spontanen und 8 Schlägen bei situativen Panikattacken.
Die Betroffenen stellten ihre Panikattacken später als häufiger und stärker ausgeprägt
dar, als sie diese unmittelbar nach dem Auftreten in einem Angst-Tagebuch vermerkt
hatten. Eine deutliche Erhöhung des Herzschlags war nur bei situativen Panikattacken
gegeben, und zwar schon 15 Minuten vor Beginn der Attacken.
Noch immer wird von vielen Ärzten nach Ausschluss organischer Ursachen nicht
sofort die richtige Diagnose gestellt, sondern – wie früher üblich – eine der folgenden
Diagnosen: vegetative Dystonie, psychovegetatives Syndrom, Neurasthenie, nervöses
Erschöpfungssyndrom, Burn-out, Hyperventilationssyndrom, psychomotorischer Erre-
gungszustand, funktionelles kardiovaskuläres Syndrom, funktionelle Herzbeschwerden.
Frauen werden oft als „hysterisch“ und Männer als „hypochondrisch“ abqualifiziert.
Die richtige Diagnose gibt vielen Patienten das beruhigende Gefühl, dass ihre Stö-
rung einen Namen hat. Nach einer langen Zeit der Ungewissheit weiß man endlich,
worunter man leidet. Im negativen Fall kann dies dazu führen, dass man sich mit seiner
Identität als Panikpatient zufrieden gibt und im Laufe der Zeit verschiedene Psychothe-
rapien wohl beginnt, bald jedoch ergebnislos abbricht. Dies ist insbesondere dann der
Fall, wenn Psychotherapeuten nicht auf die Paniksymptomatik an sich eingehen.
Wenn von den Ärzten die richtige Diagnose nicht gestellt und die angemessene Be-
handlung nicht eingeleitet wird, bleiben Panikpatienten oft über Jahre stark verunsi-
chert. Beruhigungsmittel dämpfen zwar zeitweise die Erwartungsängste, lösen jedoch
nicht das Problem der Panikstörung und führen oft zur Medikamentenabhängigkeit.
Es gibt keine eindeutigen Laborbefunde zur Diagnostik einer Panikstörung. Be-
stimmte Panikpatienten reagieren jedoch bei verschiedenen Panikprovokationsmethoden
(Natriumlaktat-Infusionen, Kohlendioxidinhalationen u.a.) häufiger mit Panikattacken
als Menschen mit anderen Angststörungen oder gesunde Kontrollpersonen. Doch auch
dies hat oft mehr mit kognitiven Aspekten (Erwartung einer Panikattacke im Rahmen
der Studie) zu tun als mit einer „endogenen“ Reaktionsbereitschaft.
50 Angststörungen
Ein 47-jähriger Manager mit hohem Blutdruck und verschiedenen Risikofaktoren (Rauchen, Überge-
wicht, ungesunde Ernährung, übermäßiger Stress), dessen Vater im Alter von 53 Jahren an einem
Herzinfarkt verstorben ist, bekommt plötzlich am Abend im Bett vor dem Einschlafen eine Panikattak-
ke. Nach einer ergebnislosen organischen Abklärung wird dem Betroffenen bewusst, dass er sich fürch-
tet, aufgrund eines ähnlichen Lebensstils wie sein Freund ebenfalls bald sterben zu müssen, noch dazu,
wo er weiß, dass sein Vater nur einige Jahre älter wurde, als er selbst jetzt ist. Der Patient erinnert sich,
dass er kurz vor Beginn der Panikattacke an den unerwarteten Herzinfarkt-Tod seines gleichaltrigen
Freundes vor drei Monaten gedacht hatte. Der früher sehr sportliche Patient beginnt seine diesbezügli-
chen Aktivitäten (Tennis, ausgedehnte Rad- und Schitouren, oft auch allein) aus Angst vor Überforde-
rung einzuschränken und entwickelt eine hypochondrische Form der Körperbeobachtung („Wie schnell
geht der Puls?“, „Ist der Druck auf der Brust und das Kribbeln im linken Arm ein Anzeichen für einen
bevorstehenden Herzinfarkt?“). Er beschäftigt sich vermehrt mit den Folgen seines möglichen Todes
(„Wer wird meine Position in unserer Firma einnehmen, wenn niemand so plötzlich darauf vorbereitet
ist, meine Tätigkeit fortzuführen?“, „Was wird aus meiner Frau, die ohne richtige Ausbildung und
Berufserfahrung sich nicht selbst erhalten kann?“, „Wie wird sich mein 12-jähriger Sohn ohne Vater
entwickeln?“, „Wie soll das Haus zu Ende gebaut werden und der Schuldenstand abgezahlt werden?“).
Er stellt den gelegentlich übermäßigen Alkoholkonsum ein und reduziert den ständig erhöhten Kaffee-
konsum, weil zwei dadurch ausgelöste Panikattacken im Laufe der nächsten Monate seine Todesängste
nur verstärken, ist dadurch aber mit leichten Entzugssymptomen konfrontiert, die ihn erst wieder beun-
ruhigen. Vor allem entwickelt er abends eine bisher nie gekannte Schlafstörung, sodass das Schlafdefi-
zit seine körperliche und psychische Befindlichkeit weiter verschlechtert. Sein Hausarzt diagnostiziert
eine Erschöpfungsdepression und verordnet ein Antidepressivum, und zwar einen selektiven Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer, der auch geeignet erscheint, seine Panikattacken zu beseitigen. Durch die
sensible Reaktion auf die Nebenwirkungen in den ersten zwei Wochen nach der Einnahme (möglicher-
weise anfangs zu hohe Dosierung des Medikaments) werden die körperbezogenen Ängste des Patienten
jedoch nur verstärkt, sodass er bei fortgesetzter Einnahme, zu der ihn sein Arzt ermuntern kann, auf die
Suche nach zusätzlichen Therapiemaßnahmen geht. Wegen seiner zunehmenden körperlichen Verspan-
nungen erfolgt zuerst eine Überweisung an einen Masseur und anschließend auch zu einer Verhaltens-
therapie. Hier wird ein weiterer möglicher Auslöser für die Panikattacken eruiert. Der Patient hatte
begonnen, aus Angst vor den Panikattacken die seit längerem verordneten Beta-Blocker eigenständig zu
erhöhen und dadurch einen für ihn ungewöhnlich niedrigen Blutdruck entwickelt, der möglicherweise
die plötzlich erhöhte Neigung zu Panikattacken begünstigt hat.
Eine Frau mit drei kleinen Kindern bekommt die erste Panikattacke kurz nachdem ihre Mutter sowie
ihre beste Freundin, die zwei kleine Kinder hat, völlig überraschend die Information einer schweren
Krebserkrankung mit Metastasenbildung erhalten hatten. Die Angst, ebenfalls an Krebs zu erkranken,
war der Patientin durchaus bewusst, sie konnte anfangs jedoch nicht erkennen, dass die erste Panikat-
tacke als „Angst aus heiterem Himmel“ damit zu tun haben sollte, weil diese schließlich nicht in einem
Moment der Sorge, sondern zu einem Zeitpunkt des Wohlbefindens auftrat, nämlich während eines
Festes. Sie dürfte wohl unbewusst gedacht haben: „So etwas werde ich vielleicht nicht mehr erleben
können.“ Die Angst vor einer neuerlichen Panikattacke mit Todesfolge steht plötzlich zumindest kurz-
fristig stärker im Mittelpunkt als die Angst vor einer tödlichen Krebserkrankung.
Ein Arbeiter hat eine längere beruflich bedingte Stressphase hinter sich. Erfreut über die kommenden
Tage der Entspannung legt er sich am Abend in sein Bett und bekommt nach einigen Minuten eine
derart massive Panikattacke, dass er aus dem Bett aufspringt und in der Wohnung nervös umhergeht.
Da die Symptomatik nach einigen Minuten nicht abklingt, ruft seine Gattin den Notarzt. Daraufhin
beruhigt sich der Betroffene relativ rasch. Der herbeigeeilte Notarzt äußert den Verdacht auf eine Pa-
nikattacke, da organisch nichts Außergewöhnliches festzustellen ist, und verschreibt ein Beruhigungs-
mittel. Zwei Tage später setzt sich der Mann am Nachmittag im Wohnzimmer in einen Lehnstuhl und
möchte fernsehen. Plötzlich wird er neuerlich von einer heftigen Panikattacke überrascht. Diesmal
bleibt er nach Abklingen der Panikattacke beunruhigt, geht zum Hausarzt und lässt sich von ihm zur
stationären Untersuchung in ein Krankenhaus einweisen.
Panikstörung 51
„Er bekam öfter Anfälle von schneller und heftiger Herzbewegung; diese war jedoch weder unregelmä-
ßig noch durch Unterbrechungen geprägt; dabei stellten sich heftige Angst im Herzen und Beklemmung
ein, mit einem bedrückenden Gefühl des herannahenden Todes. Die Atmung war so beschleunigt und
mühsam, und diese Anfälle kehrten so häufig und in so starkem Ausmaß wieder, daß der Kranke die
Überzeugung gewann, er habe ein gefährliches Herz- und wahrscheinlich auch Schlagaderleiden. Seine
Stimmung war gedrückt, und er erwartete nichts anderes, als daß er in einem dieser fürchterlichen
Anfälle sterben würde. Die Dauer des Anfalles war unbestimmt; in der beschwerdefreien Zeit waren
keine Symptome von einem Herzleiden vorhanden, Herzschlag und Töne waren ganz normal. Dieser
Mann litt nicht an Einbildung; er war kräftig gebaut, hatte die Erde umsegelt und die Beschwerden der
Reise ohne Nachteil ertragen.“
Die Symptomatik der Herzphobie wurde 1969 vom Psychiater Horst-Eberhand Richter
und dem Psychologen Dieter Beckmann [35] unter der Bezeichnung „Herzneurose“
eingehend dargestellt und psychoanalytisch interpretiert. Es wird unterschieden zwi-
schen einem A-Profil (offenes Ausleben der Herzphobie mit starker Regression und
Abhängigkeit von der Familie) und einem B-Profil (kontraphobische Abwehr von To-
desängsten durch Unabhängigkeitsstreben, Leistungsorientierung und Wagemut).
Eine Herzphobie wird oft durch den Herztod einer wichtigen Bezugsperson ausge-
löst. Patienten mit Herzphobie haben ein stärkeres Angsterleben sowie häufiger auch
eine Agoraphobie oder eine Sozialphobie als Menschen ohne Herzphobie.
Eine Herzphobie besteht aus folgenden Merkmalen [36]:
z Anfallsartig auftretende Symptome wie bei einer Panikattacke, jedoch stark herzbe-
zogen erlebt: Herzrasen (120-160 Herzschläge pro Minute), unregelmäßiger Herz-
schlag (Extrasystolen), Blutdrucksteigerung, Brennen und Hitzegefühl an der Herz-
spitze, Stiche, Schmerzen oder Ziehen im (linken) Brustbereich.
z Andere körperliche Symptome: Schwitzen, Hitze- oder Kältegefühle, Atemnot,
Beklemmungs- und Erstickungsgefühle, Schwindelgefühle, Körpermissempfindun-
gen, Übelkeit.
z Panikartiges Todes- und Vernichtungsgefühl, bedingt durch die Symptome, die als
Anzeichen einer Herzerkrankung interpretiert werden.
z Ständige ängstliche Konzentration auf das Herz aus Sorge, an einer bisher nicht
erkannten Herzerkrankung zu leiden. Negative Befunde bei umfangreichen Untersu-
chungen und fachgerechte Aufklärung durch den Arzt können im Extremfall die
phobische Wahrnehmungseinengung auf das Herz nicht verhindern.
z Vertrauensverlust in die automatische Herzfunktion, sodass übertriebene Kontrollen
wie häufiges Pulsfühlen und Pulszählen sowie Blutdruckmessen erfolgen. Das stän-
dige Vergewissern der Herzfunktion führt zu einem abnormen Herzbewusstsein und
verstärkt die Herzangst. Allein die angespannte, erhöhte Aufmerksamkeit auf die
Herztätigkeit bewirkt bereits eine leichte Herzfrequenzsteigerung.
52 Angststörungen
z Ausgeprägte Schonhaltung, um das Herz nicht zu sehr zu belasten, was ein starkes
Vermeidungsverhalten zur Folge hat. Die Betroffenen fürchten bereits alltägliche
Belastungen wie Stiegen steigen, Gartenarbeit, sportliche Betätigung, Geschlechts-
verkehr mit der Partnerin. Frauen mit Kinderwunsch bekommen plötzlich Angst vor
einer Schwangerschaft, weil dadurch die gefürchteten Symptome provoziert werden
könnten. Herzphobiker schonen sich mehr, als selbst Patienten nach einem Herzin-
farkt zur Schonung geraten wird.
z Hypochondrische Ängste, die dazu führen, dass viele an sich normale körperliche
Zustände als Vorzeichen eines möglichen Herzinfarkts interpretiert werden. Charak-
teristisch sind vermehrte Pulskontrollen, die beruhigen sollen, tatsächlich jedoch
durch die ständige Körperzuwendung neue Ängste schüren.
z Ständiges Kreisen um medizinische Sicherungsmaßnahmen (Aufenthalt in der Nähe
eines Krankenhauses oder von Ärzten, Informationssammlung über ärztliche Not-
dienstregelungen, Einspeichern von Notruf-Nummern im Handy).
z Einbeziehung der Familienmitglieder in die Herzängste und die krankheitsbezogene
Lebensweise, sodass ein sanatoriumsartiges Familienklima entsteht. Wenn sich die
Familienmitglieder den auf Vermeidung, Schonung und Rückzug bedachten Lebens-
stil aufzwingen lassen, verstärken sie dadurch die Krankheitsfixierung des Betroffe-
nen.
z Anklammerung an die engsten Familienmitglieder, vor allem an den Partner, der oft
Sicherheit und unbedingte Geborgenheit in einem Leben vermitteln soll, das nicht
selten geprägt ist von frühen Verlusten (Verlust eines Elternteils durch Tod oder
Scheidung, Ehescheidung usw.). Herzphobiker neigen zu symbiotischen Bezie-
hungsmustern und reagieren auf jede Verunsicherung in der Partnerbeziehung mit
extremen Ängsten. Beruhigung bringt nur die ständige Verfügbarkeit des Partners.
In der Psychotherapie muss daher neben der Beseitigung der Symptomatik auch auf
eine günstige Veränderung der Partnerbeziehung geachtet werden.
z Nach längerer Herzangstsymptomatik entwickeln sich sekundär oft andere Störun-
gen: eine Depression, andere phobische Symptome (Agoraphobie, Sozialphobie),
andere neurotische oder psychosomatische Störungen.
Menschen mit einer Herzphobie stellen eine relativ große Patientengruppe dar [38]:
z 10-15% aller Hausarzt-Patienten klagen über funktionelle Herzbeschwerden.
z Bei 20-25% von 16332 Patienten der Deutschen Klinik für Diagnostik in Wiesbaden
ergab sich von der Symptomatik her der Verdacht auf eine Herzneurose.
z 10,7% von 552 Patienten, die mit der Verdachtsdiagnose „Herzinfarkt“ auf eine
Intensivstation aufgenommen wurden, hatten eine Herzphobie.
z 4% von 7150 Notaufnahme-Patienten einer Berliner Klinik hatten eine Herzphobie.
z Nach amerikanischen Studien sind bis zu 50% der Patienten mit Brustschmerzen
und negativem Koronarangiogramm Patienten mit Panikstörung („Herztod-Phobie“).
Viele Herzphobiker erfüllen nicht die Kriterien für eine Panikstörung. Menschen mit
funktionellen Herzbeschwerden weisen im Vergleich zu anderen Personen ein vierfach
erhöhtes Risiko für eine Panikstörung auf. Eine herzphobische Symptomatik entwickelt
sich oft auch sekundär nach einer Panikstörung, analog zu anderen hypochondrischen
Ängsten. Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal ist folgender Hinweis: Bei Panikpati-
enten bestehen Todesängste nur während einer Panikattacke, bei Herzphobikern dage-
gen auch unabhängig von Panikattacken (sie haben andauernd Herzinfarktängste).
Panikattacken im Schlaf
Die Hälfte der Panikpatienten erlebt Panikattacken im Schlaf. Manchmal entwickelt
sich daraus eine Angst vor dem Einschlafen bzw. sogar ein Hinauszögern des Schlafs.
Zwischen Ängsten und Schlafstörungen bestehen oft enge Wechselbeziehungen. Angst-
symptome kommen bei den meisten psychisch bedingten Schlafstörungen vor.
Nächtliche Angst tritt bei unterschiedlichen Störungen auf [39]:
1. Panikstörung. Es erfolgt ein abruptes Erwachen mit starker Angst aus leichtem bis
mitteltiefem Schlaf. Die körperlichen Begleitsymptome (z.B. Atemnot, Herzrasen)
werden als lebensbedrohlich erlebt. Es besteht eine leichte Ein- und Durchschlafstö-
rung. Die Symptomatik verschlechtert sich durch Schlafdefizite.
2. Generalisierte Angst. Charakteristisch sind ein ängstlich-besorgtes Grübeln und frei
flottierende Ängste beim Einschlafen sowie in nächtlichen Wachphasen. Die ständi-
ge Angst, Anspannung und Unruhe bewirkt eine unspezifische Schlafverschlechte-
rung mit Ein- und Durchschlafproblemen und einen Verlust an Tiefschlaf. Menschen
mit einer generalisierten Angststörung weisen gewöhnlich eine chronische Verspan-
nung auf, die das Einschlafen erschwert.
3. Posttraumatische Belastungsstörung. Es besteht ein wechselndes Muster von Alb-
traumerwachen mit schweren Ein- und Durchschlafstörungen und Rückzug in ver-
mehrten Tiefschlaf mit verminderter REM-Schlaf assoziierter Traumerinnerung
(REM = rapid eye movement, d.h. Augenbewegungen bei geschlossenen Lidern, wie
sie im Traumschlaf typisch sind).
54 Angststörungen
4. Pavor nocturnus. Nach 1½ bis 3 Stunden Schlaf, d.h. in der ersten Schlafhälfte,
erfolgt ein abruptes und schreckhaftes Erwachen aus dem Tiefschlaf, verbunden mit
einem plötzlichen Schrei und einige Minuten lang dauernder ängstlich-verwirrter Er-
regung, anschließend gelingt das Wiedereinschlafen problemlos, am Morgen kann
man sich an nichts mehr erinnern. Panikattacken unterscheiden sich davon durch ihr
Auftreten während des Übergangs vom leichten in den mitteltiefen Schlaf, die erhal-
tene Orientierung, die funktionierende Intelligenz nach dem Erwachen und deutlich
größere Schwierigkeiten, wieder einschlafen zu können.
5. Albtraumerwachen. Man erwacht meist in der zweiten Nachthälfte aus einem REM-
Schlaf (Traumschlaf). Der meist relativ lange, Angst und Furcht auslösende Traum
wirkt gefühlsmäßig und körperlich in den folgenden Wachzustand hinein. Die vege-
tativen Begleitsymptome der Angst flauen meistens nach einigen Minuten ab. Die
Angst vor dem Wiederauftreten der Albträume verursacht häufig eine Wiederein-
schlafstörung. Albträume hängen oft mit unverarbeiteten psychischen Problemen zu-
sammen, nicht selten auch mit anderen Faktoren, z.B. Absetzen von Medikamenten,
die den Traumschlaf unterdrücken, wie dies bei Tranquilizerschlafmitteln oder tri-
zyklischen Antidepressiva der Fall ist, sodass in Gegenreaktion darauf Albträume
auftreten. Es kann sich aber auch um den Ausdruck einer Entzugssymptomatik bei
Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit handeln, wo oft lang dauernde Schlafstö-
rungen gegeben sind.
6. Schlaflosigkeit (Insomnie). Es besteht eine Ein- und Durchschlafstörung mit nächtli-
chem Erwachen im Zustand der Anspannung und Unruhe, begleitet von Herzrasen
und Schwitzen. Es besteht keine Traumerinnerung, auch nicht bei REM-Schlaf-
Erwachen. Hellwachgefühl, geistige Überaktivität, Ärger, ängstliche Selbstbeobach-
tung und angstvolles Gedankenkreisen um Alltagsprobleme während des Wachlie-
gens charakterisieren den Zustand der Schlaflosigkeit. Es besteht eine Angst vor der
kommenden Nacht und ein erhöhtes abendliches Aktivierungsniveau. Selbst einfa-
che Belastungen (z.B. bestimmte Filme) verschlechtern den Schlaf, wenn sie Unsi-
cherheit und Ängste auslösen. Schlaflosigkeit wird oft durch psychosoziale Stress-
faktoren bewirkt.
7. Depression. Depressive Patienten haben oft große Ein- und Durchschlafstörungen,
die von Angstsymptomen begleitet sind. Nächtliche Wachperioden sind durch ängst-
liche Anspannung, Grübeln und vegetative Begleitsymptome charakterisiert. In der
Praxis zeigt sich oft die Symptomtrias von Depression, Angst und Schlafstörung, die
die Erstellung der Hauptdiagnose erschwert, noch dazu, wenn eine ängstlich-
depressive Mischsymptomatik besteht. Es ist seit langem durch EEG-Studien be-
kannt, dass depressive Patienten eine gestörte Schlafarchitektur aufweisen (z.B. re-
duzierte Tiefschlafphasen). Nächtliches Aufwachen erfolgt typischerweise in der
zweiten Nachthälfte. Die Nebenwirkungen bestimmter Antidepressiva, und zwar der
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), können die Schlafstörung verstärken.
8. Rebound-Störung (Angst als Medikamentenabsetzphänomen). Nächtliche Angst-
gefühle, Ein- und Durchschlafstörung, Unruhe und Nervosität treten nach schnellem
Absetzen von abhängig machenden Beruhigungs- und Schlafmitteln auf. Erneute
Einnahme beseitigt die Symptomatik, ein allmähliches Ausschleichen des Medika-
ments verhindert derartige Zustände. Die Einnahme von nur kurz wirksamen Tran-
quilizerschlafmitteln mit geringer Halbwertszeit (z.B. Halcion®) kann ein Rebound-
Phänomen auch bei regelmäßiger abendlicher Einnahme bewirken und den Betrof-
fenen in den Morgenstunden verfrüht und mit Angst erwachen lassen.
Panikstörung 55
Panikattacken lassen sich durch das Stressmodell erklären [42]. In Phasen eines allge-
mein hohen Anspannungsniveaus kann schon eine alltägliche Stresssituation (z.B. eine
kleine Verletzung) zum Auslöser für eine Panikattacke werden. Panikattacken sind zu
verstehen als besonders dramatisch ablaufende Alarmreaktionen auf Stress oder eine
Häufung von Stressoren. Im Laufe der Zeit verselbstständigt sich dieses Angsterleben
aufgrund von kognitiven Prozessen als permanente Angst vor einer Panikattacke (Er-
wartungsangst), was die allgemeine Anspannung erhöht. Die Unfähigkeit, sich die sub-
jektiv bedrohlichen Symptome erklären zu können (obwohl die psychosozialen Bela-
stungen durchwegs als solche wahrgenommen werden), verstärkt die Ängste.
Bei über 90% der Betroffenen beginnt die Panikstörung mit einer heftigen Panikat-
tacke außerhalb der Wohnung oder an einem öffentlichen Ort bei einer bislang ganz
normalen Betätigung ohne besonderen Stress [43]. Der entsprechende Ort (z.B. Ge-
schäft, Lokal, Kino, Arbeitsstelle, Wartesaal, Bus) wird fluchtartig verlassen und zu-
künftig angstvoll gemieden. Insgesamt gesehen treten Panikattacken am häufigsten zu
Hause auf (45%) und seltener (31%) in typischen agoraphobischen Situationen.
Manchmal resultiert die erste Panikattacke aus einem kollapsähnlichen Zustand bei
geschwächter körperlicher Kondition und gleichzeitig gegebenem psychosozialen
Stress, dem eine massive Kreislaufankurbelung zur Verhinderung einer Ohnmacht folgt.
Nach der Münchner Verlaufsstudie [44] wurden bei ca. 80% der Betroffenen vor der
ersten Panikattacke schwerwiegende Lebensereignisse festgestellt, oft sogar mehr als
eine Belastung. Zumeist handelte es sich um Tod oder plötzliche, schwere Erkrankung
von nahen Angehörigen oder Freunden, Verlust durch Scheidung oder Trennung, Er-
krankung oder akute Gefährdung der Betroffenen, Schwangerschaft oder Geburt.
Nach einer englischen Untersuchung an 1000 Agoraphobikerinnen [45] entstand die
erste Panikattacke bei 32% nach einem schwerwiegenden Ereignis (Trennung vom
Partner, Arbeitsplatzverlust usw.), bei 27% nach dem Tod oder einer schweren Erkran-
kung eines Angehörigen oder Freundes, 6% der Patientinnen waren Zeugen des Un-
glücks anderer. Eine weitere englische Studie ergab, dass Panikpatienten im Jahr vor
ihrer ersten Panikattacke zweimal häufiger von widrigen und unglücklichen Lebensum-
ständen betroffen waren als gesunde Personen. Dazu zählten eigene Krankheit, Unfall
und/oder Operation, Trennung vom Partner und finanzielle Schwierigkeiten.
Panikstörung 57
Die NCS-R-Studie [50] fand 2001-2003 in der US-Bevölkerung Panikattacken ohne die
Diagnose einer Panikstörung bei 28,3% im Laufe des Lebens und bei 11,2% im Laufe
der letzten 12 Monate, eine Panikstörung mit und ohne Agoraphobie bei 4,7% im Laufe
des Lebens und bei 2,8% im Laufe der letzten 12 Monate. Lebenszeitbezogen bestand
bei 3,7% eine reine Panikstörung (NCS-Studie: 2,0%) und bei 1,1% eine Panikstörung
mit Agoraphobie. Die Mehrzahl der Menschen mit Panikattacken erfüllten nicht die
Kriterien für eine Panikstörung (mit Panikattacken ohne Auslöser), sondern hatten situa-
tionsspezifische Attacken in Verbindung mit anderen psychischen Störungen.
Frauen sind laut allen Studien 2- bis 3-mal häufiger von Panikattacken betroffen als
Männer. Eine Panikstörung kann auch bei Kindern und Jugendlichen auftreten. Mei-
stens zeigt sich ein Beginn kurz nach der Pubertät. Das Erscheinungsbild ist der Sym-
ptomatik im Erwachsenenalter sehr ähnlich. Vor dem 8. Lebensjahr scheinen typische
Panikattacken nicht aufzutreten, sondern sind oft als körperliche Zustände im Rahmen
massiver Verlustängste bei einer Trennungsangststörung (F93.0) zu werten.
Panikstörungen mit und ohne Agoraphobie haben im Vergleich zu Phobien und
generalisierten Angststörungen einen durchschnittlich späteren Beginn. Panikstörungen
treten meistens zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr erstmals auf, bei rund 20% bereits
früher, bei 40% erst später. Das erstmalige Auftreten von Panikattacken nach dem 40.
Lebensjahr kann ein Anzeichen einer zugrunde liegenden Depression sein.
Im Langzeitverlauf von Panikstörungen zeigt sich oft folgende sechsstufige Abfolge:
[51]: Attacken mit unvollständiger Symptomatik – Panikattacken – hypochondrische
Klagen – begrenztes phobisches Vermeidungsverhalten – generalisiertes phobisches
Vermeidungsverhalten – sekundäre Depression.
15-20% der Panikpatienten wiesen bereits vor der Panikstörung leichte agoraphobi-
sche Tendenzen auf. Eine Agoraphobie beginnt keineswegs immer mit der ersten Panik-
attacke. Das Auftreten einer Panikattacke ist keine notwendige Voraussetzung für eine
Agoraphobie. 30-50% der Panikpatienten entwickeln eine Agoraphobie. Eine Panikstö-
rung mit Agoraphobie stellt in der Regel eine schwerwiegendere Beeinträchtigung dar
als eine Panikstörung ohne Agoraphobie, denn sie beginnt früher, hält länger an und
weist mehr psychosoziale Behinderungen auf. Obwohl bei über 80% der Agoraphobiker
zu Beginn der Störung eine Panikattacke auftrat, sind insgesamt nur 31% der Panikat-
tacken in typisch agoraphobischen Situationen zu finden. Eine Untersuchung an 195
Panikpatienten mit und ohne Agoraphobie [52] ergab folgenden Befund:
„Weder die Häufigkeit der Panikattacken (in den letzten drei Wochen) noch die Intensität der Panik-
symptome waren signifikante Prädiktoren für den Schweregrad einer Agoraphobie. Entscheidend war
vielmehr, ob die Patienten in den sogenannten agoraphobischen Situationen einen Panikanfall mit
größerer Wahrscheinlichkeit erwarteten, ob sie sich durch die Panikattacken stärker beeinträchtigt
fühlten und ob sie sich als generell ängstlicher beschrieben. Die Entwicklung einer Agoraphobie hängt
also nicht primär von der Anzahl und Intensität der Panikattacken ab. Entscheidend ist neben der dispo-
sitionellen Ängstlichkeit vielmehr, wie diese Anfälle bewertet werden. Dies wird auch durch Untersu-
chungen bestätigt, welche die Häufigkeit und Intensität der Panikattacken nicht retrospektiv, sondern
anhand von Tagebuchaufzeichnungen kontinuierlich erhoben haben ... Die Dissoziation von Panikat-
tacken und Agoraphobie wird auch durch epidemiologische Studien gestützt, in denen eine relativ hohe
Prozentzahl von Patienten beobachtet wurde, die eine intensive agoraphobische Vermeidung aufwiesen,
ohne daß gleichzeitig eine Panikstörung vorlag. So beträgt die Einjahresprävalenz einer Agoraphobie
ohne Panikstörung je nach Studie zwischen 2.8 und 5.8% ... Dies widerspricht allerdings nicht der
häufig gemachten klinischen Beobachtung, daß fast 80% aller Agoraphobiker bereits früher eine oder
mehrere Panikattacken erlebt haben, welche dann möglicherweise die Entwicklung einer Agoraphobie
ausgelöst haben ... Die Aufrechterhaltung und der Schwergrad der agoraphobischen Vermeidung ist
dagegen weitgehend unabhängig von der Häufigkeit und Schwere der aktuellen Panikattacken.“
60 Angststörungen
Die Folgen von Panikattacken hängen nach einer deutschen Studie stark vom Alter der
Betroffenen zum Zeitpunkt des ersten Auftretens einer Panikattacke ab [53]:
z Panikattacken mit erstmaligem Auftreten vor dem 25. Lebensjahr führen oft zu einer
anderen Angststörung (vor allem zu einer Agoraphobie oder einer spezifischen Pho-
bie), seltener zu sekundärer Depression oder Substanzmissbrauch.
z Panikattacken mit erstmaligem Auftreten im höheren Alter führen oft und rasch
(innerhalb eines Jahres) zu sekundärer Depression, Substanzmissbrauch oder Mehr-
facherkrankung bzw. sind Ausdruck einer vorhandenen Mehrfacherkrankung.
Nach der Münchner Verlaufsstudie [54] ist der Verlauf der Panikstörung in der Durch-
schnittsbevölkerung meistens chronisch, wenn die Störung über ein Jahr bestanden hat
und keine adäquate Behandlung erfolgte. Nach 7 Jahren Beobachtungszeit war bei 51%
der Panikpatienten eine Verschlechterung und Chronifizierung eingetreten, 90% erfüll-
ten noch immer die diagnostischen Kriterien für eine Panikstörung. Nur 14,3% der
Panikpatienten und 19% der Agoraphobiker erreichten eine Spontanheilung. Bei unbe-
handeltem Paniksyndrom entwickelten 71,4% eine depressive Störung, 50% Alkohol-
missbrauch und 28,6% Medikamentenmissbrauch. Nur 14,2% der Panikpatienten hatten
im 7-jährigen Beobachtungszeitraum keine Komorbidität entwickelt.
Unbehandelte Patienten mit einer Panikstörung mit Agoraphobie haben nach Mei-
nung aller Fachleute einen chronischeren Verlauf ihrer Störung und eine langfristig
schlechtere Prognose als Patienten mit depressiven Störungen. Situationsgebundene
Panikattacken (z.B. bei einer Phobie) zeigen deutlich bessere Heilungschancen als spon-
tan auftretende Panikattacken.
Etwa 80% der Patienten mit Panikstörungen weisen gleichzeitig auch andere psychi-
sche Störungen auf, z.B. Agoraphobie, generalisierte Angststörung, Depression und
Dysphorie. Die Mischung von Panikstörung und Agoraphobie ist besonders häufig (bei
rund 50%). Nur 10-30% der Panikstörungen sind tatsächlich reine Panikstörungen.
Nach der Zusammenfassung des Forschungsstandes [55] ergeben sich folgende Zah-
len zum Langzeitverlauf von Panikpatienten aus Behandlungseinrichtungen: 6-10 Jahre
nach der Behandlung sind ungefähr 30% der Betroffenen symptomfrei, 40-50% gebes-
sert und 20-30% gleich schlecht oder verschlechtert.
In Behandlungseinrichtungen finden sich bei Patienten mit Panikstörung oft weitere
Angststörungen in folgender Häufigkeit: generalisierte Angststörung bei 25%, soziale
Phobie bei 15-30%, spezifische Phobie bei 10-20%, Zwangsstörung bei 8-10%. Eine
Depression kommt im Laufe des Lebens bei 50-65% der Panikpatienten vor. Bei fast
einem Drittel der Personen mit beiden Störungen geht die Depression der Panikstörung
voraus. Bei zwei Dritteln tritt die Depression gleichzeitig oder nach dem Beginn der
Panikstörung auf. Eine sekundäre Agoraphobie bei Patienten mit Panikstörung weist auf
einen höheren Schweregrad der Panikstörung hin, oft auch charakterisiert durch einen
früheren Beginn der Störung, eine schwerer ausgeprägte Symptomatik der Panikattak-
ken und eine längere Gesamterkrankungsdauer.
Die Komorbität mit einer generalisierten Angststörung, einer wiederholt auftreten-
den depressiven Symptomatik, einer schweren psychosozialen Beeinträchtigung oder
einer Persönlichkeitsstörung stellt einen prognostisch ungünstigen Verlauf dar.
Verschiedene Studien weisen auf eine familiäre Häufung der Panikstörung hin, wo-
bei aufgrund der Datenlage allein nicht entschieden werden kann, ob dies für genetische
Ursachen oder Lernfaktoren spricht. Bei rund der Hälfte der Angststörungen scheinen
Erbfaktoren eine Rolle zu spielen, die genauen Mechanismen sind noch unbekannt.
Panikstörung 61
Untersuchungen weisen darauf hin, dass eine Panikstörung gelernt werden kann in
einem familiären Milieu, wo derartige Störungen gehäuft auftreten. Studien, in denen
Kinder von Patienten mit Angststörungen untersucht wurden, belegen, dass diese Kin-
der ebenfalls Angststörungen aufweisen. Umgekehrt zeigen Studien, in denen – ausge-
hend von Kindern mit Angststörungen – auch die Eltern untersucht wurden, einen Zu-
sammenhang von kindlichen und elterlichen Angststörungen [56].
Wenn eine Panikstörung nicht bewältigbar erscheint, sind oft folgende Folgepro-
bleme anzutreffen, die hier im Überblick zusammengefasst werden sollen:
z Chronische Erwartungsängste („Angst vor der Angst“). Die Angst vor den Panik-
symptomen führt zu Erwartungsängsten vor einem neuerlichen Anfall, auch wenn
die Patienten aufgrund von körperlichen Untersuchungen wissen, dass sie organisch
gesund sind und keine schwere Erkrankung (Herzinfarkt, Schlaganfall, Gehirntumor,
Kreislaufzusammenbruch mit Ohnmacht) zu befürchten brauchen.
z Ständige medizinische Untersuchungen und Überbeanspruchung des medizinischen
Versorgungssystems. Panikpatienten nehmen besonders in der Frühphase der Er-
krankung verstärkt ärztliche Hilfe in Anspruch und lassen sich oft wiederholt bei
verschiedenen Fachärzten bzw. stationären Aufenthalten untersuchen. Die Betroffe-
nen wirken durch die Symptomatik bzw. durch ihr ängstliches Verhalten auf Ärzte
derart bedrängend, dass ständig aufwändigere und kostspieligere Untersuchungen
sowie unnötige Krankenhausaufenthalte erfolgen, die nur kurzfristig beruhigend
wirken. Die Ängste werden oft verstärkt durch grenzwertige Befunde („am Rande
der Norm“, „leicht abnorm“, „nicht sicher auszuschließen“, „Verlaufskontrolle emp-
fohlen“). Bei langem Suchen findet man häufig unbedeutende Unregelmäßigkeiten.
Eine gründliche Untersuchung zum Ausschluss organischer Ursachen ist jedoch vor
Therapiebeginn dringend anzuraten. Panikpatienten weisen im Vergleich zu anderen
Angstpatienten die höchste Inanspruchnahme stationärer oder ambulanter medizini-
scher Einrichtungen auf. Sie beanspruchen 3-mal so häufig unterschiedlichste soma-
tisch-medizinische Einrichtungen wie andere Personen.
z Vorübergehende oder dauernde Arbeitsunfähigkeit: Lange Krankenstandszeiten mit
großem individuellen Leid und hohen volkswirtschaftlichen Kosten. Die Unbere-
chenbarkeit bezüglich des Wiederauftretens der gefürchteten Panikattacken führt
mangels effizienter Behandlungsmethoden oft zu unnötig langen Krankenstandszei-
ten, weil sich die Betroffenen noch nicht genug vorbereitet fühlen, einen neuerlichen
Anfall zu bewältigen. Im Extremfall kann eine ständige Arbeitsfähigkeit eintreten.
z Depressive Erschöpfung und Resignation als verständliche Folge der nicht kontrol-
lierbar erscheinenden Panikattacken.
z Substanzmissbrauch; Missbrauch von Alkohol oder Benzodiazepintranquilizern, um
die Erwartungsängste besser ertragen zu können.
z Angst vor dem Alleinsein. Im Extremfall können die Betroffenen nicht mehr allein
sein, weil sie sich davor fürchten, den Symptomen hilflos ausgeliefert zu sein.
z Abhängigkeit von einer Vielzahl von Helfern. Angst reduzierend wirkt das Wissen
um die Nähe oder sofortige Erreichbarkeit von Helfern (Ärzte, Krankenhäuser, Psy-
chotherapeuten, Verwandte, Bekannte). Oft sind schon Gespräche beruhigend, ohne
dass neuerliche Untersuchungen nötig sind. Vorher selbstbewusste und lebenstüch-
tige Menschen verhalten sich plötzlich wie furchtsame kleine Kinder.
z Vermeidungsverhalten: Einschränkung der Bewegungsfreiheit im Sinne einer Ago-
raphobie. Menschen mit Panikstörung neigen im Laufe der Zeit dazu, verschiedene
Situationen zu meiden, die als Auslöser für Panikattacken geeignet erscheinen.
62 Angststörungen
Differenzialdiagnose
Eine Abgrenzung gegenüber einer organisch fundierten und einer substanzinduzierten
Angststörung ist unerlässlich und bedarf einer genauen Anamnese und Untersuchung.
Bei einer somatoformen Störung treten die körperlichen Symptome nicht anfallsartig
auf (früher kann jedoch durchaus einmal eine reine Panikstörung bestanden haben, was
im Längsschnittverlauf sogar häufig festzustellen ist).
Zwischen Panikattacken und anderen Angstformen bestehen keine qualitativen Un-
terschiede, wohl aber quantitative Besonderheiten. Charakteristisch für Panikattacken,
die zur Diagnose einer Panikstörung führen, sind:
z das stärkere Vorherrschen somatischer Symptome (dieselben vegetativen Symptome
sind bei anderen Angststörungen meistens nicht so ausgeprägt),
z der akute Zeitverlauf der Symptomatik (eine generalisierte Angststörung beginnt
dagegen meist langsam),
z die Unmittelbarkeit der befürchteten Gefahren bzw. Folgen des Angstanfalls (andere
Angststörungen werden wohl als sehr lästig und lebenseinengend, nicht jedoch als
lebensbedrohlich erlebt),
z die Unvorhersehbarkeit der Angstanfälle, d.h. es bestehen keine aktuellen Auslöser
(im Gegensatz zu den situationsbezogenen und daher vorhersehbaren Panikattacken
bei sozialer oder spezifischer Phobie),
z die zentrale Bedeutung interner Angst auslösender Reize (Phobien werden dagegen
durch spezifische äußere Auslöser bewirkt),
z kein außergewöhnliches, exzessives Trauma (wie bei der posttraumatischen Bela-
stungsstörung).
Panikstörung 63
Paniksymptome
Ängstliche Erwartung
Die Erwartungsangst wird oft zur Hauptursache für eine massive Beeinträchtigung des
allgemeinen Funktionsniveaus. Sie kann sich in zwei Formen äußern:
z Erwartungsangst hinsichtlich typischer oder atypischer Paniksymptome,
z ständige generelle Alarmbereitschaft, verbunden mit dem Gefühl der Unsicherheit,
der Unfähigkeit oder der Bedrohung der physischen bzw. psychischen Integrität.
In der klinischen Praxis hängen Panikstörung und Agoraphobie oft eng zusammen. Das
ständige Vermeidungsverhalten stellt einen Bewältigungsversuch von Panikattacken
und Erwartungsängsten dar. Hinter einer Klaustrophobie (Angst vor engen und ge-
schlossenen Räumen) steht oft die Überempfindlichkeit gegenüber potenziellen Ein-
schränkungen der Atmung, inklusive der Einschränkung der Luftwege durch Sitzgurte
im Auto, Kravatten, geschlossene oberste Hemdknöpfe, Schlucken von Tabletten.
Diese Gegebenheiten passen zur Theorie eines falschen Erstickungsalarms von
Klein, wonach Panikattacken durch Atemnot und Erstickungsgefühle (erhöhte CO2-
Sensitivität) ausgelöst würden. Bestimmte Angstzustände sind in diesem Sinne eher der
Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung zuzuordnen als einer spezifischen Phobie. Eine
Liftphobie kann etwa damit begründet werden, dass im Falle des Steckenbleibens des
Aufzugs und fehlender Hilfe die Luft im Aufzug knapp werden könnte. Diese Angst
besteht trotz des Wissens, dass man im Lift nicht ersticken kann. Ähnliche Befürchtun-
gen von Atemnot gelten auch für den Aufenthalt in anderen geschlossenen Räumen.
Einige Sozialphobien zählen ebenfalls zur Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung.
Eine soziale Vermeidungstendenz wird oft mit der Angst vor dem öffentlichen Auftre-
ten von Paniksymptomen begründet, was als Verlust des Sozialprestiges gefürchtet wird
(„Was werden sich die anderen denken, wenn sie sehen, welche Zustände ich plötzlich
bekomme?“, „Wie entkomme ich, damit niemand meine Symptome bemerkt?“).
Krankheitsängste und Hypochondrie hängen mit der Fehlinterpretation körperlicher
Symptome als lebensgefährlich zusammen, wie dies bei Panikattacken nur für den Zeit-
punkt eines Angstanfalls typisch ist: Herzrasen als Zeichen eines Herzinfarkts, Kopf-
schmerzen als Vorboten eines Hirnschlags oder Kopftumors, leichte Atemprobleme als
Vorzeichen eines Asthma- oder Erstickungsanfalls, Magenschmerzen als Zeichen von
Magenkrebs. Die Beschäftigung mit medizinischen Themen (Lesen entsprechender
Bücher oder Artikel, Gespräche oder Filme über Krankheiten) verstärkt oft krankheits-
bezogene Ängste. Hypochondrische Patienten haben in Verbindung mit ihren an sich
harmlosen Symptomen eine anhaltende Krankheitsüberzeugung entwickelt.
Panikstörung 65
Die Bewältigung dieses Problems wird jedoch nicht durch ständige Vermeidung,
sondern nur durch angemessene Konfrontation mit den Angst machenden Inhalten ge-
lingen. Die Fülle der medizinischen Informationen in diesem Buch ist für bestimmte
Angstpatienten nicht beruhigend, sondern aktiviert vielmehr verschiedene Ängste.
Das Vermeiden von Medikamenten kann ebenfalls Ausdruck einer panikartigen Pho-
bie sein. Verschiedene Panikpatienten reagieren auf jedes Medikament im wahrsten
Sinn des Wortes „allergisch“. Jede angeführte Nebenwirkung des Medikaments auf dem
Beipackzettel wird gefürchtet oder bereits am eigenen Leib erlebt, was die Compliance
(Verhalten entsprechend den ärztlichen Anordnungen) erschwert. Manchmal besteht
gegenüber psychotropen Medikamenten sogar die irrationale Angst der Persönlichkeits-
veränderung und des Verlusts der Selbstkontrolle.
Hinter der Angst vor dem Einschlafen und der damit verbundenen Verzögerung des
Schlafengehens verbirgt sich nicht selten die Angst vor einer Panikattacke oder sogar
die Angst vor dem Tod im Schlaf. In gleicher Weise wird oft eine Narkose gefürchtet.
Die Furcht vor bestimmten Wetterbedingungen (Gewitter, Stürme usw.) kann eben-
falls mit erlebten oder gefürchteten panikähnlichen Zuständen zusammenhängen.
Menschen mit Panikstörung und Agoraphobie verlassen sich aufgrund ihrer Unsicher-
heit und Angst gerne auf die Hilfe anderer, weshalb sie rasch davon abhängig werden.
Ärzte und Therapeuten stellen ebenfalls überschätzte Sicherheitsgarantien dar.
Psychotherapien können oft deswegen nicht beendet werden, weil die vertraute Si-
cherheit dadurch verloren gehen würde. Es besteht nicht selten die Gefahr von Endlos-
therapien, ähnlich wie bei übermäßig langer Medikamenteneinnahme, weil man auf
diese Weise eine gewisse Sicherheit von außen hat, die man sich innerlich noch nicht
zutraut (der Arzt und der Psychotherapeut als Placebo).
Abergläubische Verhaltensweisen (z.B. bestimmte Gegenstände als Talisman) wer-
den ebenfalls dann eingesetzt, wenn das Vertrauen in die eigenen Kräfte fehlt.
Die erhöhte Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Substanzen ist ein typisches Merk-
mal bei vielen Panikpatienten. Mehrere Tassen Kaffee, etwas mehr Alkohol als ge-
wöhnlich, eine geringe Menge bestimmter Medikamente (z.B. Antidepressiva) oder
verschiedene Drogen (z.B. Ecstasy) können Panikattacken auslösen. Angst- und Panik-
patienten erleben auch eher als depressive Patienten verschiedene Nebenwirkungen
bestimmter Antidepressiva, weil sie oft einen sehr sensiblen Körper haben.
Der Beginn einer Pharmakotherapie mit der Zieldosis ohne einschleichendes Vorge-
hen sowie ein relativ rasches Absetzen von Medikamenten wie Tranquilizern und Anti-
depressiva führt bei vielen Panikpatienten zu mehr Symptomen als bei anderen Men-
schen. Manche Menschen mit einer Panikstörung neigen auch dann zu Panikattacken,
wenn die üblichen Richtlinien zur Dosisreduktion von Tranquilizern angewandt werden,
sodass vielfach ein noch langsameres Absetzen angebracht erscheint.
Im Falle einer Alkoholentzugsbehandlung treten bei Panikpatienten ebenfalls eher
Panikattacken auf als bei anderen Personen.
66 Angststörungen
Erhöhte Stressempfindlichkeit
Unter Laborbedingungen reagieren Panikpatienten nicht stärker auf Stress als andere
Versuchspersonen, verschiedene Studien haben jedoch ergeben, dass Panikpatienten für
stressende Lebensereignisse besonders empfindlich sind. Ein geringer Alltagsstress
kann bei einem Schlafdefizit, Überarbeitung u.a. zu Panikattacken führen.
Die erhöhte Stressempfindlichkeit kommt auch in paradoxer Weise zum Ausdruck,
und zwar durch das Auftreten von Panikattacken in der Phase der Entspannung nach
einem stressreichen Ereignis (z.B. Herzrasen nach einer anstrengenden Autofahrt, Ver-
lassen eines überfüllten Kaufhauses, Ausrasten nach einer sportlichen Betätigung, Hin-
legen nach vollbrachter Arbeit).
Im klinischen Alltag fällt auf, dass viele Panikpatienten gegenüber Trennungs- und
Verlusterfahrungen empfindlicher reagieren als andere Menschen, unabhängig davon,
ob bestimmte traumatisierende Verlusterfahrungen in der Kindheit gegeben waren.
Trennungsängste als Ausdruck der Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung können
sich in der Kindheit als Schulphobie äußern oder als Unmöglichkeit, allein im Zimmer
zu schlafen, insbesondere wenn kein Licht aufgedreht ist, im Erwachsenenalter als Un-
fähigkeit, wegen einer Arbeit das schützende Haus zu verlassen oder allein zu verreisen
aus beruflichen oder privaten Gründen. Verschiedene Autoren meinen, kindliche Tren-
nungsängste würden den Panikattacken Erwachsener entsprechen.
Menschen mit erhöhter Sensibilität für Verluste reagieren oft bereits bei der Gefahr
von Verlusten mit panikähnlichen Symptomen (z.B. nach einem heftigen Ehestreit,
beim Gedanken an Trennung aus eigener Initiative oder bei der Befürchtung, der Part-
ner könnte die Beziehung beenden, beim Gedanken an den möglichen Tod bestimmter
Angehöriger).
Partner werden nach dem Prinzip absoluter Verlässlichkeit ausgesucht. Partnerschaf-
ten sind daher entsprechend eng, um jedes Gefühl von Alleinsein zu vermeiden. Jede
Bedrohung dieser symbiotischen Beziehung bewirkt panikartige Ängste.
Das Panik-Agoraphobie-Spektrum-Modell wird gegenwärtig mit Hilfe eines speziel-
len Fragebogens empirisch zu überprüfen versucht. Es wurde bereits deutlich, dass die
Komorbidität mit einer Depression das Ausmaß einer Panik-Agoraphobie-Spektrum-
Störung verschärft.
Die Berücksichtigung der Erkenntnisse zur Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung
ermöglicht eine effizientere Pharmako- und Psychotherapie. Für die akute psychiatri-
sche Behandlung dieser Patienten bedeutet dies, dass im stationären Setting zuerst eine
vorhandene Depression zu behandeln ist und in weiterer Folge eine entsprechende
Angstbehandlung mit Medikamenten und/oder Psychotherapie einzuleiten ist. Die An-
nahme, dass die SSRI beide Störungen beseitigen, unterschätzt die Erwartungsängste.
Das Modell der Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung kehrt das traditionelle Den-
ken der europäischen Psychiatrie um. Es wird zwar eine dem aktuellen Störungsbild
zugrunde liegende Basis angenommen, jedoch nicht im Sinne einer prämorbiden Per-
sönlichkeitsstörung, sondern als konzentrierte Erfahrung bestimmter Symptome in der
Kindheit oder Jugend, die die Persönlichkeit so geformt haben, wie sie bei Erwachsenen
mit einer Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung in jeder Arztpraxis feststellbar ist.
Generalisierte Angststörung 67
A. Übermäßige Angst und Sorge (furchtsame Erwartung) bezüglich mehrerer Ereignisse oder Tätig-
keiten (wie etwa Arbeit oder Schulleistungen), die während mindestens 6 Monaten an der Mehrzahl
der Tage auftraten.
C. Die Angst und Sorge sind mit mindestens drei der folgenden 6 Symptome verbunden (wobei zu-
mindest einige der Symptome in den vergangenen 6 Monaten an der Mehrzahl der Tage vorlagen)...
(1) Ruhelosigkeit oder ständiges „auf dem Sprung sein“,
(2) leichte Ermüdbarkeit,
(3) Konzentrationsschwierigkeiten oder Leere im Kopf,
(4) Reizbarkeit,
(5) Muskelspannung,
(6) Schlafstörungen (Ein- oder Durchschlafschwierigkeiten oder unruhiger, nicht erholsamer
Schlaf)...
D. Die Angst und Sorgen sind nicht auf Merkmale einer Achse-I-Störung beschränkt, z.B. die Angst
und Sorgen beziehen sich nicht darauf, eine Panikattacke zu haben (wie bei Panikstörung), sich in
der Öffentlichkeit zu blamieren (wie bei Sozialer Phobie), verunreinigt zu werden (wie bei
Zwangsstörung) … oder eine ernsthafte Krankheit zu haben (wie bei Hypochondrie) …
E. Die Angst, Sorge oder körperlichen Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden
oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
F. Das Störungsbild geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z.B. Droge, Medi-
kament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors … zurück…
Generalisierte Angststörung 69
1. Befürchtungen:
z Sorge über zukünftiges Unglück und entsprechende Vorahnungen: Angehörige
könnten demnächst erkranken oder verunglücken, unbegründete Geldsorgen,
übertriebene Sorgen um die Leistungsfähigkeit in der Schule oder im Beruf,
z Nervosität: ständige geistige Übererregbarkeit, erhöhte Aufmerksamkeit und Ge-
reiztheit angesichts der unkontrollierbaren Befürchtungen, Schreckhaftigkeit,
z Konzentrationsschwierigkeiten oder Vergesslichkeit.
2. Motorische Spannung:
z körperliche Unruhe,
z Spannungskopfschmerz,
z Zittern: sichtbarer Ausdruck der Muskelanspannung, unwillkürliches Zucken,
„wackelig auf den Beinen“ sein,
z Unfähigkeit, sich zu entspannen: ständige muskuläre Anspannung, verbunden
mit rascher Ermüdbarkeit und Erschöpfung.
3. Vegetative Übererregbarkeit:
z Schwindel oder Benommenheit,
z Atemnot, Erstickungsgefühle oder Atembeschleunigung,
z Herzrasen,
z Schwitzen,
z Hitzewallungen oder Frösteln,
z feucht-kalte Hände,
z Magen-Darm-Beschwerden: Übelkeit, Bauchschmerzen, Durchfall,
z häufiges Wasserlassen (Harndrang),
z Mundtrockenheit,
z Schluckbeschwerden oder Gefühl, einen „Kloß im Hals“ zu haben,
z Ein- oder Durchschlafstörungen.
70 Angststörungen
A. Ein Zeitraum von mindestens sechs Monaten mit vorherrschender Anspannung, Besorgnis und
Befürchtungen in Bezug auf alltägliche Ereignisse und Probleme.
B. Mindestens vier Symptome der unten angegebenen Liste, davon eins von den Symptomen 1. bis 4. ,
müssen vorliegen:
Vegetative Symptome:
1. Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz
2. Schweißausbrüche
3. fein- oder grobschlägiger Tremor
4. Mundtrockenheit (nicht infolge Medikation oder Exsikkose).
Psychische Symptome:
9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder
„nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)
11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“
12. Angst zu sterben.
Allgemeine Symptome:
13. Hitzewellen/-wallungen oder Kälteschauer
14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle.
C. Die Störung erfüllt nicht die Kriterien für eine Panikstörung (F41.0), eine phobische Störung (F40),
eine Zwangsstörung (F42) oder eine hypochondrische Störung (F45.2).
D. Ausschlussvorbehalt: Die Störung ist nicht zurückzuführen auf eine organische Krankheit wie eine
Hyperthyreose, eine organische psychische Störung (F0) oder auf eine durch psychotrope Substan-
zen bedingte Störung (F1), z.B. auf einen exzessiven Genuss von amphetaminähnlichen Substanzen
oder auf einen Benzodiazepinentzug.
Nach dem ICD-10 sind die Sorgen und Befürchtungen – im Gegensatz zum DSM-
IV – nicht unkontrollierbar und auch nicht übermäßig; laut ICD-10-Forschungskriterien
müssen mindestens 4 von 22 möglichen Begleitsymptomen vorhanden sein. Eine gene-
ralisierte Angststörung ist – wie nach DSM-III-R – ausgeschlossen, wenn gleichzeitig
eine depressive Episode, eine Panikstörung, eine phobische Störung, eine Zwangsstö-
rung oder eine hypochondrische Störung vorliegen. Als Restkategorie handelt es sich
bei der generalisierten Angststörung im ICD-10 um keine eigenständige Angststörung,
die DSM-IV-Kriterien betonen die Eigenständigkeit der Störung bei Komorbidität.
Das DSM-IV-Kriterium, dass die Sorgen „exzessiv“ (übermäßig) sein müssen, sollte
zukünftig – wie im ICD-10 – gestrichen werden, da laut Studien auch anhaltende nor-
male Sorgen im Laufe der Zeit zu erheblichen Beeinträchtigungen der Funktionsfähig-
keit führen. Im ICD sollte dagegen zukünftig das DSM-IV-Kriterium, dass die Sorgen
unkontrollierbar sein müssen, aufgenommen werden.
Neuere Studien weisen darauf hin, dass die geforderte Dauer der generalisierten
Angststörung von mindestens einem halben Jahr die Zahl der Betroffenen unterschätzt,
da auch zahlreiche Personen mit geringerer Dauer der Störung unter erheblichen Funk-
tionseinschränkungen und Einbußen der Lebensqualität leiden. Die 6 möglichen Sym-
ptome des DSM-IV erweisen sich laut Studien viel besser geeignet als die 22 möglichen
Symptome der ICD-10-Forschungskriterien, eine generalisierte Angststörung zu dia-
gnostizieren. Bei Berücksichtigung der vegetativen Symptome, wie dies im ICD-10 der
Fall ist, gelingt nur schwer eine Abgrenzung gegenüber der Panikstörung.
Bei weniger restriktiven DSM-IV-Kriterien (Dauer der Störung nur mindestens
einen Monat, Verzicht auf das Kriterium der Übermäßigkeit/Exzessivität der Ängste
und nur mindestens zwei Symptome) würde die Häufigkeit der generalisierten Angst-
störung in der Bevölkerung (auf der Basis der amerikanischen NCS-R-Daten) um mehr
als das Doppelte ansteigen. Die Daten bezüglich Komorbidität wären dagegen geringer.
Die Betroffenen begeben sich meist nicht wegen der Symptome der generalisierten
Angststörung, an die sie sich oft schon gewöhnt haben, in ärztliche Behandlung, son-
dern wegen der Begleit- und Folgestörungen, z.B. depressive Episode, Muskelverspan-
nung, anhaltende somatoforme Schmerzstörung oder Substanzmissbrauch, d.h. meistens
erst im Falle einer Komorbidität. Bei der Diagnostik der generalisierten Angststörung in
der klinischen Praxis tritt nicht selten eine Komplikation dadurch auf, dass die Betroffe-
nen oft beklagen, die Kontrolle über ihre ständigen Ängste zu verlieren („Meine Gedan-
ken laufen dahin, ich bekomme sie nicht mehr unter Kontrolle“), verrückt zu werden
(„Bald schnappe ich über“) oder nicht mehr gesund zu werden („Mir kann kein Arzt
mehr helfen“), ohne dass gleichzeitig eine Panikstörung, eine Depression oder eine
Schizophrenie gegeben ist. Dennoch wird vom konsultierten Arzt nicht selten die Ver-
dachtsdiagnose „schwere Depression“ oder gar „beginnende Schizophrenie“ gestellt –
oder die Betroffenen werden als hypochondrisch bzw. hysterisch abqualifiziert.
Unnötig häufig werden schwere Psychopharmaka verordnet, vor allem auch Neuro-
leptika, obwohl keine Anzeichen für eine beginnende Schizophrenie gegeben sind. Da
die Betroffenen oft sehr empfindlich sind gegenüber Psychopharmaka, treten durch die
verabreichten Neuroleptika und Antidepressiva (anfangs nicht selten in zu hoher Dosis)
zusätzliche Symptome auf, die von Menschen mit einer generalisierten Angststörung als
weiterer Beweis ihrer Unheilbarkeit gewertet werden. Wegen der eskalierenden Sym-
ptomatik erfolgt dann öfter eine (bei richtiger Diagnose und Behandlung meistens nicht
erforderliche) Einweisung in die Psychiatrie, was die Betroffenen in ihren Ängsten
massiv verstärken kann, vor allem auch durch die dort gemachten Erfahrungen.
72 Angststörungen
Frau Huber, 37 Jahre alt, verheiratet mit einem Außendienstmitarbeiter, Mutter von zwei Vorschulkin-
dern und seit einem Jahr halbtags berufstätig, macht sich ständig wechselnde Sorgen: ob sie Haushalt,
Kinderbetreuung und Beruf auf Dauer ohne Überforderung bewältigen könne; ob dem Gatten bei seinen
täglichen, beruflich veranlassten Reisen nicht doch einmal etwas passieren könnte oder ihm seine
ungesunde und unregelmäßige Ernährung nicht einmal schaden könnte; ob die Kinder während ihrer
Arbeitszeit von ihrer Mutter wirklich ausreichend betreut werden; ob sie nicht im Falle einer Grippe der
Kinder durch einen nötigen Pflegeurlaub von der Kündigung bedroht sein könnte; ob sie bei ihren
Schlafstörungen nicht einmal aus Konzentrationsmangel einen gröberen Fehler in der Arbeit machen
könnte; ob sie nicht wegen des starken Verkehrs öfter verspätet in die Arbeit kommen könnte und dann
mit Kritik vonseiten ihres Chefs rechnen müsste; ob tatsächlich genug Geld vorhanden ist, um nach den
Vorstellungen des Gatten einen Hausbau zu wagen; ob sie sich daneben wirklich auch noch ein Auto
für die Fahrt zur Arbeit, eine bessere Waschmaschine und einen neuen Ofen leisten könne; ob ihr ge-
liebter herzkranker Vater nicht bald sterben könnte, weil er zuletzt öfter im Krankenhaus war.
Generalisierte Angststörung 73
Die Betroffenen erreichen trotz chronischer Anspannung („auf dem Sprung sein“) meist
nicht eine körperliche Aktivierung im Ausmaß einer Panikattacke – und wenn dies doch
einmal der Fall ist, weil eine ganz bestimmte Sorge in lebendig-plastischen Bildern in
den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit tritt, besteht in der klinischen Praxis häufig die
Gefahr, angesichts der dramatischen Schilderung einer Panikattacke die bereits jahre-
lang vorhandene generalisierte Angststörung zu übersehen oder deren dauerhaft vor-
handene körperliche Symptomatik als Ausdruck einer Depression fehlzudiagnostizieren.
Die Sorgen als Gedankenketten bezüglich möglicher bedrohlicher Situationen und
die daraus resultierenden Körpersymptome schaukeln sich gewöhnlich erst dann zu
einer Panikattacke auf, wenn die kognitive Vermeidung nicht mehr gelingt, insbesonde-
re wenn eine sehr bildhafte Vergegenwärtigung der vermeintlichen Gefahr diese als
schon fast eingetreten erscheinen lässt. Die bildhafte Vergegenwärtigung eines gefürch-
teten Ereignisses wirkt derart lähmend, dass zielführendes Denken und konstruktives
Handeln nicht möglich sind. Panik, berichtet als „Panikattacke“, ist die Folge.
Im Gegensatz zu den Sorgen von Depressiven, die meist mit Ereignissen in der Ver-
gangenheit zu tun haben, sind die Sorgen von Patienten mit generalisierten Ängsten auf
die Zukunft gerichtet. Das Ergebnis ist jedoch in beiden Fällen dasselbe: Es kommt zu
keinem beruhigenden Abschluss des Denkprozesses. Depressive können Verlusterleb-
nisse oder Schuldgefühle bezüglich vermeintlicher Fehler nicht überwinden, Angstpati-
enten finden kein Vertrauen zu sich und zur Zukunft. Sie zeigen eine Intoleranz gegen-
über Unsicherheit und Unkontrollierbarkeit und suchen absolute Sicherheit.
Die sinnhafte Funktion von Sorgen (Unsicherheit zu reduzieren und sich auf ein
mögliches negatives Ereignis vorzubereiten), ist bei Menschen mit generalisierten Äng-
sten verloren gegangen. Unabhängig davon, wie berechtigt die Befürchtungen tatsäch-
lich sind, kommt es zu keinem zielführenden Abschluss der Überlegungen nach dem
Motto: „Wenn X eintritt, werde ich Y tun“, sodass von einem ständigen Grübeln ohne
mentale Vorentscheidungen gesprochen werden kann. Dies vermittelt und verstärkt das
Gefühl von Hilflosigkeit und Kontrollverlust über die Lebenssituation. Trotz des
Sorgens von über sechs Stunden pro Tag müssen – ähnlich wie bei Zwangspatienten –
Angehörige und Bekannte beruhigend wirken. Die Betroffenen müssen sich zu ihrer
Beruhigung ständig bei anderen Menschen rückversichern, dass nichts passieren wird.
Eine derart ängstliche Frau wird so von ihrem Gatten abhängig wie ein kleines Kind.
Man kann das ständige Sich-Sorgen als „Problemlöseprozess ohne Problemlösung“
verstehen. Die Betroffenen spielen gedanklich alle möglichen Katastrophen (Worst-
Case-Szenarien) durch, ohne jemals zu Lösungen zu gelangen, wie diese Katastrophen
vermieden werden könnten (z.B. „Wenn mein Mann nicht zum vereinbarten Zeitpunkt
zu Hause ist, ist ihm bestimmt etwas zugestoßen“). Die Besorgnis erregenden Überle-
gungen beziehen sich stets auf negative Aspekte, mögliches Versagen oder Unglück und
führen nicht zu hilfreichen und damit beruhigend wirkenden Lösungsstrategien. Das
Grübeln stellt nicht nur ein Problem dar, sondern auch einen Lösungsversuch. Sich zu
sorgen, scheint noch größeres Leid verhindern zu können („Ich muss mich ständig sor-
gen, sonst passiert noch etwas Schlimmes“). Wenn sich vorübergehend Erleichterung
einstellt, weil man sich lange genug mit einer Befürchtung beschäftigt hat und nun
gleichsam vor einer realen Gefahr bewahrt bleibt, wird das Grübeln letztlich verstärkt.
Unkontrollierbare Befürchtungen führen zu einem ausgeprägten Vermeidungsver-
halten, das die Lebensqualität erheblich beeinträchtigt, z.B. erfolgt aus Angst vor Risi-
ken ein Verzicht auf Kinder, sportliche Aktivitäten, weite Reisen, Kreditaufnahme für
einen Hausbau, leitende berufliche Position mit Verantwortungsübernahme u.a.
74 Angststörungen
Es gibt auch verschiedene Studien zur Häufigkeit von Patienten mit einer generali-
sierten Angststörung in den Allgemeinarztpraxen. Nach einer WHO-Studie ist die gene-
ralisierte Angststörung die häufigste Angststörung in Allgemeinarztpraxen von 15 Län-
dern (6-Monate-Prävalenz 7,9% nach dem ICD-10, 5,3% nach dem strengeren DSM-
IV). Die wenigsten Betroffenen nennen „Angstprobleme“ als Konsultationsgrund.
Unter Leitung des Experten Wittchen wurde die weltweit größte Studie zu generali-
sierten Angststörungen und Depressionen in den Ordinationen von 558 deutschen All-
gemeinärzten bei über 20000 Patienten erstellt (GAD-P-Studie: Generalisierte Angst
und Depression in der Primärärztlichen Versorgung). Alle Patienten, die am Stichtag
den Hausarzt aufsuchten, wurden mittels eines standardisierten Fragebogens zu ihren
aktuellen psychischen Beschwerden befragt. Unabhängig davon charakterisierten die
Hausärzte nach der Konsultation das Störungsbild, den Schweregrad, den Behandlungs-
bedarf sowie den psychischen und physischen Gesundheitszustand des Patienten.
27% der Hauarztpatienten, d.h. mehr als ein Viertel der Patienten, litten in den ver-
gangenen vier Wochen unter Angstbeschwerden, ängstlicher Anspannung und Besorg-
nis. Jeder fünfte dieser Patienten wies eine seit mehr als sechs Monaten andauernde
generalisierte Angststörung auf. Die generalisierte Angststörung mit einer Stichtagsprä-
valenz von 5,6% gehört damit zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in der All-
gemeinarztpraxis. Die generalisierte Angststörung wurde jedoch bei zwei Drittel der
Patienten von den Ärzten nicht erkannt. Noch weniger Patienten werden adäquat behan-
delt, was für die Betroffenen und das Gesundheitssystem schwerwiegende Folgen hat.
Nur ein Drittel der Patienten mit einer generalisierten Angststörung werden von
Hausarzt richtig diagnostiziert. Andererseits waren nur 16% der hausärztlich gestellten
Diagnosen einer generalisierten Angststörung richtig. Bei einem Drittel der Patienten
mit einer generalisierten Angststörung äußerte der Hausarzt nicht einmal einen Verdacht
auf irgendeine psychische Störung. Fast jeder zweite Betroffene wurde nicht richtig
behandelt, zumeist weil die Störung nicht erkannt wurde. Weniger als 20% der Betrof-
fenen erhalten eine spezifische medikamentöse Therapie. Von den 40% psychothera-
peutisch behandelten Patienten erhält nur ein Bruchteil davon eine effektive kognitive
Verhaltenstherapie. Mit zunehmender Erkrankungsdauer kommt es zu immer häufige-
ren deprimierenden erfolglosen Bewältigungsversuchen und untauglichen und chronifi-
zierenden Behandlungsversuchen der Ärzte, sodass im Laufe der Zeit häufig auch noch
eine Depression im Sinne einer Komorbidität auftritt. Die generalisierte Angststörung,
an der über 2,5 Millionen der deutschen Bevölkerung leiden, verursacht die höchsten
arbeitsbezogenen Einschränkungen (angstbedingte Fehlzeiten und Minderleistung).
Nach einer großen Studie in Allgemeinarztpraxen in Skandinavien (Dänemark,
Finnland, Norwegen und Schweden) im Jahr 2001 leiden 6,0% der Frauen und 4,8% der
Männer unter einer generalisierten Angststörung. Es ergab sich damit ein ähnlicher
Befund wie in Deutschland, in den skandinavischen Ländern zeigte sich jedoch eine fast
doppelt so hohe Komorbidität von generalisierter Angststörung und depressiver Störung
als in deutschen Allgemeinarztpraxen. Nur ein Drittel bis zur Hälfte der Betroffenen
wurde von den Hausärzten richtig diagnostiziert.
Laut Studien [63] weisen 90% der Patienten mit generalisierten Ängsten in Behand-
lungseinrichtungen mindestens eine weitere Störung auf, oft auch mehr als zwei, am
häufigsten eine Dysthymie bzw. depressive Störung, aber auch andere Angststörungen
(vor allem soziale Phobie, spezifische Phobie oder Panikstörung). Gehäuft findet man
(meist vermeidende oder dependente) Persönlichkeitsstörungen. Bei Bevölkerungsstu-
dien in den USA und Australien ergaben sich ähnliche Komorbiditäten um 90%.
76 Angststörungen
Eine generalisierte Angststörung beginnt meist in jüngerem Alter als eine Panikstö-
rung, und zwar zwischen 11. Lebensjahr und frühen 20er-Jahren (bei zwei Drittel). Ein
zweiter (geringerer) Altersgipfel liegt zwischen dem 30. und dem 35. Lebensjahr [64].
Die Werte bleiben stabil hoch mindestens bis zum 55. Lebensjahr. Unter älteren Perso-
nen (vor allem Frauen) ist die generalisierte Angststörung die häufigste Angststörung.
Die Störung beginnt im Gegensatz zur Panikstörung meist langsam, ohne ein auslösen-
des, einschneidendes Ereignis. Ihre Entwicklung wird begünstigt durch bestimmte le-
bensgeschichtliche Ereignisse und Erfahrungen (frühe Trennung von den Eltern, unsi-
chere Eltern-Kind-Bindung, negative Erlebnisse in der Schulzeit, alkoholkranker Vater,
bedrohliche Ereignisse wie Arbeitslosigkeit oder finanzielle Probleme, allgemein erhöh-
tes Stressniveau, körperliche und sexuelle Gewalt sowie andere Traumatisierungen).
Den Betroffenen ist lange Zeit nicht bewusst, dass ihre ständigen Sorgen und Be-
fürchtungen eine Krankheit darstellen. Viele Patienten kennen sich von klein auf als
Person, die ständig besorgt ist über alle möglichen Dinge des Lebens. Sie gehen daher
anfangs häufig nicht in psychotherapeutische Behandlung, sondern suchen wegen der
zunehmenden körperlichen Begleitsymptomatik (Schlafstörung, chronische Verspan-
nung, Nervosität, Magen-Darm-Probleme, Kopfschmerzen u.a.) den Hausarzt auf.
Neuere Studien belegen enge Zusammenhänge zwischen generalisierter Angststö-
rung und psychosomatischen Beschwerden, insbesondere Schmerzstörungen und Ma-
gen-Darm-Beschwerden. Ein gutes Drittel der Patienten leidet unter einem Reizdarm-
syndrom. Die generalisierte Angststörung kann einerseits über den Weg der chronischen
Muskelverspannung zu einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung führen, ande-
rerseits können chronische Schmerzen eine generalisierte Angststörung begünstigen.
Sobald körperliche Beschwerden hartnäckig andauern, nehmen die Betroffenen ver-
mehrt medizinische Dienste in Anspruch zur diagnostischen Abklärung und primär
organmedizinisch ausgerichteten Behandlung ihrer Beschwerden.
Die Störung verläuft ohne adäquate Behandlung oft chronisch, mit einer geringen
Spontanheilungsrate. Schwankungen der Befindlichkeit sind allerdings typisch. Bei
rund der Hälfte der Betroffenen gibt es durchaus symptomfreie Intervalle. Positiv-
lebensverändernde Ereignisse (z.B. Heirat) können den Verlauf einer generalisierten
Angststörung oft nicht beeinflussen. Mit der Fortdauer der Störung nehmen Anzahl und
Ausprägungsgrad der Symptome zu. In Belastungssituationen tritt häufig eine Ver-
schlechterung auf. Wenn die Störung länger als ein Jahr andauert, lassen sich oft auch
andere Störungen feststellen, insbesondere soziale Phobie, Dysthymie (lang andauernde,
leichte depressive Verstimmung), Medikamentenmissbrauch und Persönlichkeitsstörun-
gen, vor allem eine ängstlich-vermeidende oder zwanghafte Persönlichkeitsstörung.
Aufgrund des großen subjektiven Leidensdrucks und der möglichen Folgen ist die
generalisierte Angststörung als sehr beeinträchtigende Störung anzusehen. Die soziale
Beeinträchtigung ist oft größer als bei Patienten mit einer chronisch somatischen Er-
krankung. Die Betroffenen werden wegen der zahlreichen anhaltenden körperlichen
Symptome meist nur medikamentös behandelt, vor allem mit Medikamenten für Schlaf-
störungen und Nervosität. Die Grundkrankheit wird oft übersehen. Rund ein Drittel der
Personen mit einer generalisierten Angststörung war laut eigenen Angaben bereits lange
vor Beginn der Störung nervös und ängstlich.
In Hausarzt-Praxen stellen generalisierte Ängste die häufigste Angststörung dar,
obwohl die Betroffenen meist nicht deswegen zum Arzt gehen. Dies zeigt die Notwen-
digkeit der Früherkennung, um großes individuelles Leid und hohe volkswirtschaftliche
Kosten wegen der Begleit- und Folgekrankheiten rechtzeitig verhindern zu können.
Generalisierte Angststörung 77
Differenzialdiagnose
Die Ängste bei einer generalisierten Angststörung weisen vielfältigste Inhalte auf und
sind nicht auf bestimmte Themen begrenzt, wie dies bei anderen Angststörungen der
Fall ist: Angst vor einer Panikattacke (Panikstörung), Angst vor fehlender Fluchtmög-
lichkeit (Agoraphobie), Angst vor Kritik (Sozialphobie), Angst vor Verunreinigung
(Zwangsstörung), Angst vor dem Wiedererleben bestimmter traumatisierender Erfah-
rungen (posttraumatische Belastungsstörung), Angst vor einer ernsthaften Erkrankung
(Hypochondrie), Angst vor vielfältigen Körpersymptomen (Somatisierungsstörung).
Im Vergleich zu Panikpatienten, die plötzlich auftretende Symptome (Herzrasen,
Atemnot) als lebensgefährliche Bedrohung erleben, dominieren bei Menschen mit gene-
ralisierter Angststörung andere, jedoch länger anhaltende körperliche Beschwerden
(Übelkeit, Durchfall, Kopfschmerzen, Anspannung, Schlafstörungen) sowie Befürch-
tungen bezüglich anderer möglicher Bedrohungssituationen (Sorgen um die Zukunft
und die mögliche Gefährdung Angehöriger, Verlustängste, interpersonelle Probleme).
Im Vergleich zu Sozialphobikern, die sich vor sozialen Leistungssituationen fürch-
ten, sind die Ängste unabhängig von sozialen Situationen. Gegenüber spezifischen Pho-
bien imponiert das stärkere „Was wäre, wenn…?“, ohne Vermeidung externer Reize.
Im Vergleich zu Depressiven klagen die Betroffenen weniger über Interessenverlust,
Niedergeschlagenheit oder psychomotorische Verlangsamung und grübeln auch weni-
ger über Selbstmord oder Schuldthematiken; die Sorgen sind nicht einseitig auf die
Vergangenheit und das eigene Versagen gerichtet, sondern ängstlich-zukunftorientiert
nach dem Motto „Was wäre, wenn“. Bei Menschen mit einer Depression drehen sich
die Sorgen und Grübeleien typischerweise um Ereignisse aus der Vergangenheit, die mit
Fehlschlägen, vermeintlichen Schuldgefühlen oder Verlusterlebnissen zu tun haben.
Menschen mit einer generalisierten Angststörung sorgen sich zwar ständig über alles
Mögliche in der Zukunft, hoffen aber doch, dass das Bevorstehende gut ausgeht. De-
pressive Patienten sind dagegen überzeugt, dass es angesichts betrüblicher Ereignisse in
der Vergangenheit und Gegenwart keine positive Zukunft mehr geben kann. Der ängst-
liche Mensch will eine Katastrophe um jeden Preis vermeiden, für den depressiven
Menschen ist dagegen die Katastrophe bereits eingetreten.
Im Vergleich zu Menschen mit einer Hypochondrie sorgen sich Menschen mit einer
generalisierten Angststörung über eine Fülle möglicher Gefahren neben dem Risiko
einer körperlichen Erkrankung der eigenen Person oder eines Familienmitglieds.
Gegenüber Menschen mit einer Zwangsstörung lässt sich das ständige Sorgen von
Personen mit einer generalisierten Angststörung klar abgrenzen. Die Sorgen sind reali-
stischer, ich-näher und weniger aufdringlich als das Grübeln. Es bestehen keine Sorgen
um Verunreinigung und Ansteckung. Es fehlen auch die zwangstypischen Rituale.
Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung wird keine generalisierte Angststö-
rung diagnostiziert, wenn die Ängste nur im Verlauf derselben auftreten.
Ein vorübergehendes Auftreten anderer Symptome während jeweils weniger Tage,
vor allem eine Depression, schließt nach dem ICD-10 eine generalisierte Angststörung
als Hauptdiagnose nicht aus, die Betroffenen dürfen jedoch nicht die vollständigen
Kriterien für eine depressive Episode (F32), eine phobische Störung (F40), eine Panik-
störung (F41.0) oder eine Zwangsstörung (F42) erfüllen. Wenn dies der Fall ist, kann
jedoch nach dem DSM-IV eine Doppeldiagnose im Sinne einer Komorbidität gestellt
werden. Die Diagnose einer generalisierten Angststörung setzt den Ausschluss einer
körperlichen Erkrankung (z.B. der Schilddrüse) und einer Substanzeinwirkung voraus.
78 Angststörungen
Agoraphobie Angst vor dem Überqueren eines freien Platzes (ursprüngliche Bedeutung)
Aichmophobie Angst vor spitzen Gegenständen
Ailurophobie Angst vor Katzen
Aiktiophobie Angst vor scharfen, spitzen Instrumenten
Akrophobie Angst vor Höhen
Algophobie Angst vor Schmerz
Androphobie Angst vor Männern
Aquaphobie Angst vor Wasser
Arachnophobie Angst vor Spinnen
Astraphobie Angst vor Blitzen
Aviophobie Angst vor dem Fliegen
Bakteriophobie Angst vor Schmutz und Bakterien
Blaptophobie Angst vor Verletzung anderer mit einem Messer oder spitzen Gegenstand
Brontophobie Angst vor Donner
Dromosiderophobie Angst vor Eisenbahnen
Dysmorphophobie Angst vor körperlicher Entstellung
Emetophobie Angst vor Erbrechen
Entophobie Angst vor Insekten
Equinophobie Angst vor Pferden
Erythrophobie Angst vor Erröten
Gephyrophobie Angst vor Brücken
Gynophobie Angst vor Frauen
Gymnophobie Angst vor Nacktheit
Herpetophobie Angst vor Eidechsen, Reptilien, kriechenden, krabbelnden Tieren
Karzinophobie Angst vor Krebs
Keraunophobie Angst vor Gewittern
Klaustrophobie Angst vor engen Räumen
Kynophobie Angst vor Hunden
Melissophobie Angst vor Bienen
Mysophobie Angst vor Berührung, Schmutz, Bazillen, Ansteckung
Nosophobie Furcht vor Krankheit
Nyktophobie Angst vor der Nacht
Ökophobie Angst vor Umweltgiften
Ophidiophobie Angst vor Schlangen
Phobophobie Angst vor der Angst
Pyrophobie Angst vor Feuer
Skotophobie Angst vor Dunkelheit
Thanatophobie Angst vor dem Tod
Trypanphobie Angst vor Blut und/oder Injektionen
Xenophobie Angst vor Fremden
Zoophobie Angst vor Tieren
Spezifische Phobie 79
A. Ausgeprägte und anhaltende Angst, die übertrieben oder unbegründet ist und die durch das Vor-
handensein oder die Erwartung eines spezifischen Objekts oder einer spezifischen Situation ausge-
löst wird (z.B. Fliegen, Höhen, Tiere, eine Spritze bekommen, Blut sehen).
B. Die Konfrontation mit dem phobischen Reiz ruft fast immer eine unmittelbare Angstreaktion her-
vor, die das Erscheinungsbild einer situationsgebundenen oder einer situationsbegünstigten Panik-
attacke annehmen kann...
C. Die Person erkennt, daß die Angst übertrieben oder unbegründet ist...
D. Die phobischen Situationen werden gemieden bzw. nur unter starker Angst oder starkem Unbeha-
gen ertragen.
E. Das Vermeidungsverhalten, die ängstliche Erwartungshaltung oder das Unbehagen in den gefürch-
teten Situationen schränkt deutlich die normale Lebensführung der Person, ihre berufliche (oder
schulische) Leistung oder sozialen Aktivitäten oder Beziehungen ein, oder die Phobie verursacht
erhebliches Leiden für die Person.
80 Angststörungen
F. Bei Personen unter 18 Jahren hält die Phobie über mindestens sechs Monate an.
G. Die Angst, Panikattacken oder das phobische Vermeidungsverhalten, die mit dem spezifischen
Objekt oder der spezifischen Situation assoziiert sind, werden nicht besser durch eine andere psy-
chische Störung erklärt, wie z.B. Zwangsstörung (z.B. Angst vor Schmutz bei Personen, die die
Vorstellung haben, kontaminiert zu werden), Posttraumatische Belastungsstörung (z.B. Vermei-
dung von Reizen, die mit dem Trauma assoziiert sind) oder Störung mit Trennungsangst
(z.Β. Vermeidung von Schulbesuchen), Soziale Phobie (z.B. Vermeidung sozialer Situationen aus
Angst vor Peinlichkeiten), Panikstörung mit Agoraphobie oder Agoraphobie ohne Panikstörung in
der Vorgeschichte.
Das DSM-IV [67] kategorisiert die Vielfalt der spezifischen Phobien in fünf Typen,
wobei das Auftreten eines bestimmten Subtyps die Wahrscheinlichkeit für das Vorhan-
densein einer weiteren spezifischen Phobie desselben Subtyps erhöht. Zahlreiche Perso-
nen weisen mehrere Subtypen einer spezifischen Phobie auf, was entsprechend notiert
werden sollte.
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [68] ist eine spezifische (isolierte) Phobie
(F40.2) durch folgende Merkmale charakterisiert:
1. deutliche Furcht vor einem bestimmten Objekt oder einer bestimmten Situation, außer Ago-
raphobie (F40.0) oder sozialer Phobie (F40.1)
2. deutliche Vermeidung solcher Objekte und Situationen, außer Agoraphobie (F40.0) oder sozia-
ler Phobie (F40.1).
Häufige phobische Objekte und Situationen sind Tiere, Vögel, Insekten, Höhen, Donner, Flüge, kleine
geschlossene Räume, Anblick von Blut oder Verletzungen, Injektionen, Zahnarzt- und Krankenhausbe-
suche.
B. Angstsymptome in den gefürchteten Situationen zu irgendeiner Zeit seit Auftreten der Störung sind
wie in Kriterium B. von F40.0 (Agoraphobie) definiert.
C. Deutliche emotionale Belastung durch die Symptome oder das Vermeidungsverhalten; Einsicht,
dass diese übertrieben und unvernünftig sind.
D. Die Symptome sind auf die gefürchtete Situation oder auf Gedanken an diese beschränkt.
Wenn gewünscht, können die spezifischen Phobien wie folgt unterteilt werden:
Das ICD-10 übernimmt in den Forschungskriterien die fünf Subtypen spezifischer Pho-
bien des DSM-IV. Zwischen ICD-10- und DSM-IV-Kriterien herrscht weitgehende
Übereinstimmung: Es besteht eine Angst vor und/oder eine Vermeidung von bestimmten
klar erkennbaren, eng umschriebenen Reizen (Objekten oder Situationen). Dieses Ver-
halten wird von den Betroffenen als unangemessen, übertrieben und unvernünftig („irra-
tional“) erkannt, kann aber dennoch nicht kontrolliert werden. Wenn sich die betreffen-
den Reize nicht vermeiden lassen, können sie nur unter großer Furcht und Belastung
ertragen werden. Die Furcht oder Vermeidung führt – worauf das DSM-IV hinweist –
zu großem Leidensdruck und zu erheblichen Beeinträchtigungen des Lebens.
Bei einer phobischen Störung muss das phobische Objekt oder die phobische Situa-
tion außerhalb der betreffenden Person liegen, weshalb körperbezogene Ängste als
hypochondrische Störung gelten, außer sie beziehen sich auf eine spezielle Situation, in
der eine Krankheit erworben werden könnte. Die Furcht vor Situationen mit Erkran-
kungsgefahr ist nach dem ICD-10 eine spezifische Phobie (z.B. eine AIDS-Phobie, bei
der öffentliche Toiletten oder sexuelle Kontakte aus Angst vor Ansteckung vermieden
werden). Eine spezifische Phobie ist auch dann gegeben, wenn sich die Furcht vor
Krankheit auf den Anblick von Blut oder Verletzungen, auf ärztliche Handlungen (In-
jektionen und Operationen) oder auf medizinische Institutionen (Zahnarztpraxen, Kran-
kenhäuser) bezieht. Medizinische Institutionen sind angstbesetzt und werden gemieden.
Nach dem ICD-10 gelten Krankheitsängste im Sinne der Furcht vor bestimmten
Krankheiten ohne Krankheitsüberzeugung („Nosophobie“) als Variante einer hypo-
chondrischen Störung (z.B. die Furcht vor Krebs, Herzkrankheit oder Geschlechts-
krankheit ohne jede körperliche Symptomatik). Nach dem DSM-IV hängt die Unter-
scheidung zwischen einer spezifischen Phobie, anderer Typ, und einer Hypochondrie
vom Vorhandensein oder Fehlen einer Krankheitsüberzeugung ab. Menschen mit Hypo-
chondrie leben in der ständigen Angst, eine Krankheit zu haben, d.h. es besteht eine
Krankheitsüberzeugung, Personen mit einer spezifischen Phobie fürchten dagegen, eine
Krankheit zu bekommen, können aber glauben, dass sie diese aktuell noch nicht haben.
Verschiedene Befürchtungen sind oft keine spezifische Phobie, sondern Ausdruck
einer anderen Störung. Belastende Prüfungsängste gelten als soziale Phobie, ebenso
Errötungsängste (Erythrophobie), Ängste vor Händezittern, Ängste vor Urinieren und
Defäzieren auf der Toilette. Es handelt sich dabei um die Angst vor kritischer Beurtei-
lung durch andere Menschen. Ängste vor Schmutz, Verseuchung oder Ansteckung
stehen häufig mit Zwangsstörungen in Verbindung. Schulängste von Kindern hängen
häufig entweder mit einer Trennungsangststörung zusammen oder mit Ängsten vor
kritischer Beurteilung durch Lehrer oder Mitschüler im Sinne einer sozialen Phobie.
Zu den fünf Typen spezifischer Phobien sind folgende Informationen hilfreich:
z Der Tier-Typus (Furcht vor Hunden, Katzen, Pferden, Vögeln, Schlangen, Mäusen,
Schnecken, Insekten wie Spinnen, Käfern oder Bienen) beginnt bei über 80% der
Tierphobiker bereits im Kindesalter (vor dem 10. Lebensjahr), ohne dass die Mehr-
zahl der Betroffenen entsprechend negative Erfahrungen mit bestimmten Tieren ge-
macht hat. Viele Tierphobien entwickeln sich in der Kindheit aus der falschen Ein-
schätzung der Gefahr oder sind biologisch vorgeformt (Ängste vor sich am Boden
bewegenden Tieren wie z.B. Schlangen, die früher auch bei uns giftig und damit tat-
sächlich bedrohlich waren). Eine Spinnenphobie findet sich bei etwa 35% der Men-
schen. Insektenphobien beruhen häufig auf einem Ekel vor Insekten und weniger auf
Ängsten vor realer Bedrohung. Gefürchtet wird oft ein als unangenehm (aversiv) er-
lebter Hautkontakt mit bestimmten Tieren. Ekel ist schwerer überwindbar als Angst.
82 Angststörungen
z Der Umwelt-Typus nach dem DSM-IV bzw. der Naturgewalten-Typ nach den For-
schungskriterien des ICD-10 (Furcht vor Höhen, Tiefen, Stürmen, Unwetter, Don-
ner, Blitz, Unwetter, Wasser, Feuer, Dunkelheit usw.) beginnt ebenfalls meistens
schon in der Kindheit. Naturereignisse werden trotz technischer Schutzvorrichtun-
gen (z.B. Blitzableiter) nach wie vor von zahlreichen Menschen gefürchtet. Die
Furcht vor tiefem Wasser führt oft zu Ängsten vor dem Bootfahren wegen der ver-
meintlichen Gefahr des Ertrinkens. Die Furcht vor Höhen oder Tiefen drückt eine
Angst vor dem Absturz aus. Die Dunkelangst ist eine im Rahmen der Evolution ver-
ständliche Angst vor Bedrohung in der Finsternis (früher gab es noch keinen Strom).
z Der situative Typus besteht in der Furcht vor bestimmten Verkehrsmitteln (z.B.
Autos, öffentliche Verkehrsmittel, Seilbahnen, Flugzeugen), in der Furcht vor ande-
ren geschlossenen bzw. engen Räumen (Aufzug, Tunnel, Bergwerk, Unterführung,
fensterloser Raum) und in der Furcht vor Höhen (z.B. Angst vor dem Hinunter-
schauen oder Hinunterfallen an bestimmten Orten wie Brücken, Stegen, Treppen,
Hochhaus-Balkon). Diese Phobieform muss unbedingt vom Ausmaß einer Ago-
raphobie abgegrenzt werden, weil die Furchtreaktion auf spezifische, eng umschrie-
bene Situationen begrenzt ist. Bezüglich der Flugangst sind folgende Zahlen be-
kannt: 15% der Bevölkerung leiden unter einer akuten Flugangst (Aviophobie), wei-
tere 20% verspüren ein deutliches Unbehagen beim Fliegen. Flugangst-Patienten
fürchten oft weniger den Absturz als die agoraphobische Eingeengtheit (Kontrollver-
lust). „Klaustrophobien“ (Furcht vor Enge) treten lebenszeitlich bei 7-8% der Be-
völkerung auf. Höhenängste kreisen um die Befürchtung hinunterzufallen (z.B. von
Brücken, Berggipfeln oder hohen Gebäuden); sie werden durch fehlende Schwindel-
freiheit verstärkt. Dieser Subtyp geht oft mit situationsspezifischen, durch die jewei-
ligen Umstände ausgelösten Panikattacken einher, die das Ausmaß der Phobie an-
zeigen und noch keine Diagnose der Panikstörung begründen (dazu gehören defini-
tionsgemäß spontane, nicht durch bestimmte Situationen ausgelöste Panikattacken).
Oft treten nicht nur körperliche Angstsymptome, sondern auch kognitive Symptome
auf (vor allem die Angst verrückt zu werden oder die Kontrolle zu verlieren und
dann eine selbstgefährdende Handlung zu setzen wie etwa von einer Höhe hinunter
zu springen, obwohl keine Selbstmordabsicht besteht).
z Anderer Typus. Es besteht eine phobische Vermeidung von Situationen, die zum
Ersticken, Erbrechen, Verschlucken, Umfallen, zu einer Krankheit oder sonstigen
körperlichen Bedrohung führen könnten. Zu diesem Subtyp gehört auch eine Ver-
meidung lauter Geräusche. Die Furcht vor Lärm und Geräuschen – vor allem bei
Kindern – wird durch überraschende und unidentifizierbare Reize ausgelöst. Bei
Kindern zählt dazu auch die Angst vor verkleideten Personen. Aus Angst vor dem
Verschlucken bzw. Ersticken nehmen viele Betroffene nur „sichere“ (leicht verdau-
liche bzw. breiig-flüssige) Nahrung zu sich, z.B. Joghurt, Pudding, verschiedene Ar-
ten von Brei oder Eiscreme). Die Erfahrung zeigt, dass dies oft mit einem subjektiv
sehr bedrohlichen Globusgefühl zusammenhängt, das als Zuschnüren der Kehle er-
lebt wird. Die Symptomatik wird verstärkt durch eine große Mundtrockenheit, wes-
halb viele Betroffene zur Befeuchtung der Kehle häufig etwas trinken oder lutschen.
Menschen mit spezifischen Phobien richten sehr viel Aufmerksamkeit auf die rechtzei-
tige Erkennung von potenziellen Gefahren. Sie entwickeln eine Überaufmerksamkeit
(„Überfokussierung“, selektive Aufmerksamkeit) auf die als gefährlich angesehenen
Reize, um rechtzeitig Angst vermeidende Maßnahmen treffen zu können. Die Überauf-
merksamkeit führt zu einer unnötig hohen vegetativen Erregung, kleinste Auffälligkei-
ten bewirken bereits eine Alarmreaktion. Eine heftige Angstreaktion erfolgt bereits bei
der Vorstellung oder Erwartung bestimmter Reize und nicht erst bei deren Anblick.
Differenzialdiagnostisch lassen sich spezifische Phobien von anderen Angststörun-
gen abgrenzen durch den eindeutigen Situations- und Objektbezug. In Abwesenheit
dieser Reize bestehen keine phobischen Ängste (außer spezifische Erwartungsängste),
keine Panikattacken und keine allgemein erhöhte Ängstlichkeit. Mediale Informationen
(z.B. Flugzeugabsturz) können spezifische Phobien auslösen bzw. verstärken.
84 Angststörungen
„wegen seiner Schüchternheit, wegen seines Argwohns und seiner Furchtsamkeit kaum zu sehen be-
kam; der die Dunkelheit wie sein Leben liebte und weder Helligkeit ertragen noch an beleuchteten
Plätzen sitzen konnte, der – den Hut über die Augen gezogen – weder andere sehen noch von ihnen
angeschaut werden wollte. Er mied jeden Kontakt aus Angst, schlecht behandelt zu werden, sich zu
blamieren oder in seinen Gebärden oder durch sein Reden aus dem Rahmen zu fallen, oder sich überge-
ben zu müssen. Er glaubte sich von jedermann beobachtet...“
Das Phänomen der sozialen Phobie wurde bereits 1903 vom französischen Psychiater
Pierre Janet beschrieben. Die soziale Phobie in ihrer modernen Form wurde 1966 von
den englischen Psychiatern und Verhaltenstherapeuten Isaac Marks und Michael Gelder
definiert, später weiter ausgearbeitet, 1980 in das amerikanische psychiatrische Diagno-
seschema DSM-III aufgenommen und 1991 auch im internationalen Diagnoseschema
ICD-10 verankert. Zunehmend wird der Begriff „soziale Phobie“ durch den Terminus
„soziale Angststörung“ ersetzt, der das Ausmaß der Störung besser widerspiegelt [72].
Das DSM-IV [73] erstellt folgende diagnostische Kriterien für eine soziale Phobie:
A. Eine ausgeprägte und anhaltende Angst vor einer oder mehreren sozialen oder Leistungssituatio-
nen, in denen die Person mit unbekannten Personen konfrontiert ist oder von anderen Personen be-
urteilt werden könnte. Der Betroffene befürchtet, ein Verhalten (oder ein Angstsymptom) zu zei-
gen, das demütigend oder peinlich sein könnte...
B. Die Konfrontation mit der gefürchteten sozialen Situation ruft fast immer eine unmittelbare Angst-
reaktion hervor, die das Erscheinungsbild einer situationsgebundenen oder einer situations-
begünstigten Panikattacke annehmen kann...
C. Die Person erkennt, daß die Angst übertrieben oder unbegründet ist....
D. Die gefürchteten sozialen oder Leistungssituationen werden vermieden oder nur unter intensiver
Angst oder Unwohlsein ertragen.
E. Das Vermeidungsverhalten, die ängstliche Erwartungshaltung oder das starke Unbehagen in den
gefürchteten sozialen oder Leistungssituationen beeinträchtigen deutlich die normale Lebensfüh-
rung der Person, ihre berufliche (oder schulische) Leistung oder soziale Aktivitäten oder Beziehun-
gen, oder die Phobie verursacht erhebliches Leiden.
F. Bei Personen unter 18 Jahren hält die Phobie über mindestens 6 Monate an...
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [74] ist eine soziale Phobie (F40.1) durch
folgende Merkmale charakterisiert:
1. deutliche Furcht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedri-
gend zu verhalten
2. deutliche Vermeidung im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder vor Situationen, in de-
nen die Angst besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten.
Diese Ängste treten in sozialen Situationen auf, wie Essen oder Sprechen in der Öffentlichkeit, Begeg-
nung von Bekannten in der Öffentlichkeit, Hinzukommen oder Teilnahme an kleinen Gruppen, wie z.B.
bei Parties, Konferenzen oder in Klassenräumen.
B. Mindestens zwei Angstsymptome in den gefürchteten Situationen mindestens einmal seit Auftreten
der Störung, wie in F40.0, Kriterium B., definiert, sowie zusätzlich mindestens eins der folgenden
Symptome:
C. Deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten. Ein-
sicht, dass die Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben und unvernünftig sind.
D. Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen
oder auf Gedanken an diese.
E. Ausschlussvorbehalt: Die Symptome der Kriterien A. und B. sind nicht bedingt durch Wahn, Hal-
luzinationen oder andere Symptome der Störungsgruppen organische psychische Störungen (F0),
Schizophrenie und verwandte Störungen (F2), affektive Störungen (F3) oder eine Zwangsstörung
(F42) oder sind nicht Folge von kulturell akzeptierten Anschauungen.
Soziale Phobie 87
Menschen mit einer Sozialphobie haben Angst zu versagen, sich lächerlich zu machen
oder durch ungeschicktes Verhalten unangenehm aufzufallen. Sie befürchten, in sozia-
len Situationen verspottet oder feindselig behandelt zu werden, dumm auszusehen, die
Kontrolle zu verlieren, Panik zu bekommen und nicht mehr zu wissen, was sie sagen
sollen. Das Gefühl von Peinlichkeit oder Blamage geht mit heftigen Emotionen wie
Scham, Verlegenheit oder Unsicherheit einher. Starke Schamgefühle spiegeln die
krankhafte Selbstabwertung vor anderen Menschen wider. Soziale Situationen lösen fast
unvermeidlich eine sofortige Angstreaktion aus, die mit körperlichen Symptomen ver-
bunden ist, wie etwa Verkrampfung, Händezittern, feuchte Hände, Schwitzen am gan-
zen Körper, Erröten, Herzrasen, Atemnot, Kloßgefühl im Hals, Übelkeit, Schwindel,
Harn- und Stuhldrang, Kopf- oder Magenschmerzen, Stottern bzw. Sprechhemmung.
Sichtbare Symptome (Schwitzen, Zittern, Erröten, Weinen, Stimmveränderungen,
Flucht auf die Toilette) verstärken die Angst vor sozialer Auffälligkeit. Sozialphobiker
haben ständige Erwartungsängste in Bezug auf soziale Situationen und sind durch die
sozialen Folgeprobleme ihres Vermeidungsverhaltens bald erheblich beeinträchtigt.
Die körperlichen Symptome erreichen meist nicht das Ausmaß einer Panikattacke,
es können aber auch situationsgebundene oder situationsbegünstigte Panikattacken
auftreten, die das Ausmaß der sozialen Phobie anzeigen. Viele Sozialphobiker glauben
irrtümlich, sie hätten eine Panikstörung; diese erfordert jedoch auch unerwartete, situa-
tionsunabhängige Panikattacken. Eine soziale Phobie mit Panikstörung kommt etwa
gleich häufig vor wie eine Agoraphobie mit Panikstörung.
Laut DSM-IV äußert sich eine soziale Phobie bei Kindern auch in Form von Schrei-
en, Wutanfällen, Gelähmtsein oder Zurückweichen von sozialen Situationen mit unver-
trauten Personen; zudem kann die Einsicht fehlen, dass die Ängste übertrieben und
unvernünftig sind. Zur Abgrenzung gegenüber vorübergehenden, entwicklungsbeding-
ten Rückzugstendenzen fordert das DSM-IV bei unter 18-Jähigen eine Mindestdauer
von sechs Monaten. Bei Erwachsenen wird keine Mindestdauer festgelegt. Eine verläss-
liche Diagnose ist bei Kindern erst ab dem 8. Lebensjahr möglich. Die Fähigkeit zum
Aufbau altersgemäßer Sozialkontakte mit vertrauten Personen wird vorausgesetzt.
Die Sozialphobie ist trotz der belastenden körperlichen Symptome laut DSM-IV und
ICD-10 im Wesentlichen eine kognitive Störung: Sie beruht auf der Fehleinschätzung
des eigenen sozialen und Leistungsverhaltens (z.B. „Ich bin unfähig, langweilig und
uninteressant“) und auf der Erwartung von negativen Bewertungen des eigenen Verhal-
tens durch andere („Die anderen werden mich kritisieren und bestimmt ablehnen“).
Das ICD-10 fordert – im Gegensatz zum DSM-IV – das Vorhandensein von körper-
lichen Angstsymptomen, was eine unnötige Einschränkung darstellt. Laut Forschungs-
befunden können Angstsymptome auch fehlen, sodass die Kriterien des DSM-IV in der
klinischen Praxis vorzuziehen sind. Körperliche Symptome werden oft durch ein ausge-
prägtes Vermeidungsverhalten oder durch ein ständiges Sicherheitsverhalten (Mitnahme
bzw. Einnahme bestimmter Medikamente u.a.) umgangen oder vermindert.
Generalisierte soziale Ängste, die sich auf viele soziale Situationen beziehen, wer-
den heute allgemein als „soziale Angststörung“ bezeichnet. Der Begriff „soziale Pho-
bie“ erfasst eher spezifische soziale Ängste (ängstliche Blockaden in Leistungssituatio-
nen) und ist bei eher generalisierten sozialen Ängsten unpassend, weil er das Ausmaß
der Beeinträchtigung stark unterschätzt. Bei einer spezifischen Sozialphobie kann man –
ähnlich wie bei einer spezifischen Phobie – durchaus öfter ausweichen, ohne zu große
Nachteile zu riskieren, während bei einer eher generalisierten sozialen Phobie die sozia-
le Kontaktfähigkeit an sich beeinträchtigt ist.
88 Angststörungen
Auf den vier Ebenen der Angst zeigen sich typische Merkmale:
1. Kognitionen. Es bestehen typische (automatische) Denkmuster: „Ich bin dumm,
hässlich, langweilig, uninteressant, nicht liebenswert“; „Ich werde zittern, schwit-
zen, rot werden und immer nervöser werden“; „Die anderen werden meine Sympto-
me bemerken und dann bin ich erledigt“; „Wenn ich zittere, werden sie mich für
nervenkrank halten“; „Wenn ich rot werde, werden sie mich für schüchtern oder
schwach halten.“ Ein negatives Selbstbild mit ständiger Kritikangst sowie Perfektio-
nismusstreben zur Überkompensation von Defiziten sind zentrale Charakteristika.
2. Emotionen. Es bestehen charakteristische Gefühlsreaktionen: Ablehnungsangst,
Erwartungsangst, Schamgefühle, Unsicherheit, Verlegenheit, Sorgen, Depressivität.
3. Körpersymptome. Sichtbare, an sich harmlose Körpersymptome werden aus Angst,
dadurch noch unangenehmer aufzufallen, besonders gefürchtet: Erröten, Zittern,
Schwitzen, Stottern, Stimmveränderungen. Weitere Körpersymptome werden aus
Angst, andere Menschen könnten daraus Rückschlüsse auf psychische Probleme
ziehen, ebenfalls als sozial stigmatisierend erlebt: situative Panikattacken mit Herz-
rasen und der daraus resultierenden Angst vor Auffälligkeit; Schwindel mit der
Angst umzufallen und durch aufzufallen; ständige Muskelanspannung („Nervosi-
tät“), Übelkeit mit der Angst zu erbrechen und sich dadurch zu blamieren; Harn-
oder Stuhldrang mit Erwartungsängsten, ständig auf die Toilette gehen zu müssen;
trockener Mund wegen der Angst, durch ständiges Trinken unangenehm aufzufallen;
Atemnot wegen der damit einhergehenden peinlichen Störung des Sprachflusses.
4. Verhaltensweisen. Die jeweiligen Denkmuster und Gefühle führen nicht nur zu
bestimmten körperlichen Symptomen, sondern vor allem auch zu bestimmten Ver-
haltensweisen, die die soziale Phobie aufrechterhalten und verschlimmern:
z Vermeidung oder Flucht („aktive Vermeidung“): Vermeidung sozialer Aktivitä-
ten; Lügen und Ausreden, warum man an bestimmten sozialen Ereignissen nicht
teilnehmen kann; Vermeidung öffentlicher Mahlzeiten aus Angst vor Übelkeit,
Erbrechen oder Händezittern; Vermeidung von Blickkontakt, um nicht als unsi-
cher beurteilt zu werden. Vermeidungsreaktionen bestätigen mangels gegenteili-
ger Erfahrungen die Angst, von anderen abgelehnt zu werden, und halten die So-
zialphobie aufrecht (nach dem Prinzip der „negativen Verstärkung“). Die Hem-
mung des spontanen Sozialverhaltens („passive Vermeidung“) durch Überkon-
trolle und Unterdrückungsversuche von körperlichen Symptomen, wenn Flucht
nicht möglich ist, erhöht die Wahrscheinlichkeit, als unnatürlich und unecht auf-
zufallen. Der Schreck kann bis zur totalen Verhaltensblockade („Freeze“) führen.
z Sicherheitsverhaltensweisen in den sozial bedrohlich erscheinenden Situationen
wie ständige Selbstbeobachtung (erhöhte Selbstaufmerksamkeit: „Wie wirke ich
auf andere?“), der Konsum von Alkohol oder die Einnahme von Medikamenten
(Beruhigungsmittel oder Beta-Blocker) mit dem Ziel, ruhiger zu wirken, oder
das rigide Ablesen eines bis ins kleinste Detail vorbereiteten Manuskripts aus
Angst zu stottern vermindern zwar kurzfristig tatsächlich oder vermeintlich die
befürchtete Blamage und die sozialen Ängste, verstärken diese jedoch langfristig
mangels alternativer Erfahrungen, sodass zukünftig erst recht wieder Vermei-
dungs- oder Sicherheitsverhaltensweisen eingesetzt werden. Die erhöhte Selbst-
aufmerksamkeit verhindert zudem ein lockeres und spontanes Verhalten.
z Sozial inadäquates Verhalten wird nur zu vermeiden und zu unterdrücken ver-
sucht, anstatt durch ein Versuch-und-Irrtum-Lernen adäquatere soziale Reakti-
onsmuster zu entwickeln und zu erproben.
Soziale Phobie 89
Soziale Phobien können klar abgegrenzt und umschrieben sein oder unbestimmt und in
fast allen sozialen Situationen außerhalb des Familienkreises auftreten. Die Diagnose
einer sozialen Phobie wird bestätigt, wenn eine Person Tätigkeiten alleine angstfrei
ausführen kann, die ihr in Gegenwart anderer Menschen aufgrund von Beobachtungs-
und Bewertungsängsten schwer fallen. Die Beobachtung durch andere wirkt irritierend,
die Furcht vor kritischer Beurteilung bewirkt eine Leistungshemmung.
Angst auslösend sind Leistungssituationen, wo das eigene Verhalten von anderen
beobachtet und bewertet werden kann (z.B. öffentliches Reden, Trinken, Essen, Schrei-
ben, Prüfungen, sportliche Betätigung) und Interaktionssituationen, wo das eigene Ver-
halten und die Reaktionen der anderen in wechselseitiger Beziehung stehen (z.B. soziale
Kontakte mit Bekannten, Fremden, Autoritätspersonen oder dem anderen Geschlecht).
Ganz normale, belanglose Unterhaltungen („Small-Talk“) werden vor allem dann zum
Problem, wenn kein strukturierter Ablauf vorhanden ist, wie dieser etwa in einer durch
bestimmte Rollen definierten Verkaufssituation gegeben ist. Außenstehende können das
kaum verstehen: Dieselben Leute, die als Verkäufer im Geschäft sehr kompetent und
überzeugend wirken, können später mit ihren Kunden kein lockeres Gespräch über
Belanglosigkeiten oder private Angelegenheiten führen und nur unter großer innerer
Überwindung und Belastung ein gemeinsames Essen in einem Restaurant einnehmen.
Typische Situationen, wo soziale Ängste auftreten, sind:
z sich in Gegenwart anderer äußern und die eigene Meinung vertreten,
z in der Öffentlichkeit eine Rede halten oder in einer Arbeitsgruppe referieren,
z bei einem bestimmten Anlass öffentlich in Erscheinung treten (z.B. bei Ehrungen),
z jemandem bei Meinungsverschiedenheiten widersprechen und Forderungen stellen,
z Beschwerden vorbringen oder Reklamationen in Geschäften vornehmen,
z Kontakte mit dem anderen Geschlecht (Ansprechen oder Flirt),
z Kontakte mit Autoritätspersonen, Prüfern oder sonstigen einflussreichen Personen,
z Kontakte und Gespräche mit fremden Menschen (z.B. anderen vorgestellt werden),
z Essen und Trinken mit anderen (das Glas oder die Tasse heben, ohne zu zittern),
z Teilnahme an Gruppen (Party, Feier, Veranstaltung, Geschäftsessen, Meeting),
z Betreten eines Raumes, in dem bereits andere Personen sitzen (z.B. Wartesaal),
z in einem Lokal in der Mitte sitzen oder sonst anderswo auffällig dasitzen,
z in der Öffentlichkeit telefonieren oder mit unbekannten Personen telefonieren,
z unter Beobachtung anderer schreiben oder eine Unterschrift leisten,
z in einer Leistungssituation von anderen beobachtet werden (z.B. bei der Arbeit),
z sportliche Betätigung, während andere zuschauen (z.B. Gymnastik, Schwimmen),
z mündliche Prüfungen, Teilnahme bei Tests und Wettbewerben,
z beim Rotwerden, Zittern oder Schwitzen sich beobachtet fühlen,
z in öffentlichen Verkehrsmitteln anderen gegenübersitzen und dabei auffallen,
z Besuch öffentlicher Toiletten (Paruresis bei Männern und Frauen),
z Bewerbungsgespräche vornehmen und Aufnahmsprüfungen durchstehen.
Angst vor Kritik und Ablehnung führt dazu, dass Menschen mit sozialen Ängsten sich
nicht durchsetzen und ihre berechtigten Wünsche und Bedürfnisse nicht ausreichend
vertreten können. Sie haben Schwierigkeiten, Nein zu sagen und sich gegenüber den
Forderungen anderer abzugrenzen, weil sie Angst haben, nicht mehr geliebt zu werden.
Sie verzichten lieber auf ihre Ansprüche, als potenzielle Ablehnung zu riskieren.
Ihre Furcht vor Kritik hängt häufig mit einem geringen Selbstwertgefühl zusammen.
Menschen mit Sozialphobie sind häufig selbst ihre schärfsten Kritiker und fürchten,
dass andere Menschen ihre eingebildeten oder tatsächlichen Schwächen erkennen könn-
ten. Sie können sich selbst mit ihrer Eigenart nicht annehmen und fürchten daher die
soziale Ablehnung als Bestätigung ihrer Insuffizienz.
Soziale Angst, die aus Selbstunsicherheit entsteht, kann so weit gehen, dass die Be-
troffenen glauben, andere Menschen würden ständig über sie sprechen oder sie in be-
sonderer Weise anschauen (so genannte Beziehungsideen). Eine Person mit einem aus-
geprägten derartigen Verhalten wird als „sensitiv“ bezeichnet. Es tritt oft auch bei de-
pressiven Personen mit geringem Selbstwertgefühl auf.
Viele Menschen mit einer generalisierten Sozialphobie leben recht zurückgezogen
und sehnen sich bei aller Angst vor Ablehnung und Zurückweisung doch sehr nach
Kontakt und Anerkennung. Nach verschiedenen verpassten Gelegenheiten leiden sie
stark unter dem Gefühl, wieder einmal nicht die Initiative ergriffen zu haben (z.B. eine
Person des anderen Geschlechts anzusprechen). Das Risiko, auf der Suche nach dem
richtigen Partner einige Ablehnungen hinnehmen zu müssen, erscheint einfach zu groß.
Soziale Phobie 91
Auf der Suche nach einem Partner hoffen viele sozialphobische Menschen gleich
auf einen intimen Partner. Das erste Gespräch im Lokal wird bereits zum Test, ob man
beim anderen „angekommen“ oder „durchgefallen“ ist. Diese Art der Kontaktsuche ist
auf dem Hintergrund des langen Alleinseins verständlich, stellt jedoch eine Überforde-
rung für beide Interaktionspartner dar. Oft fehlen Geduld, Engagement und Verständnis
dafür, dass eine Beziehung über einen längeren Zeitraum, auch durch Enttäuschungen
hindurch, aufgebaut werden muss. Allein stehende Sozialphobiker glauben nicht selten,
durch einen intimen Partner schlagartig alle sozialen Ängste zu verlieren. Ein Partner
wird häufig als der Retter aus großer Not sehnsüchtig erwartet. Bei langfristig unerfüll-
ten Erwartungen können depressive Verstimmungen auftreten.
Viele Sozialphobiker haben völlig unrealistische Zielvorstellungen über den Aufbau
und die Erhaltung von Beziehungen und erleben deshalb ständig neue Enttäuschungen.
Die Suche nach einem Partner stellt oft einen Kompensationsversuch der eigenen Unsi-
cherheit dar, der trotz ständiger Misserfolge so lange nicht aufgegeben werden kann, als
nur in einem intimen Partner die Erlösung aus der Einsamkeit gesehen wird.
Soziale Phobien äußern sich häufig in Form von sexuellen Funktionsstörungen. Die
Angst, in sexueller Hinsicht zu versagen oder als Frau bzw. Mann nicht attraktiv genug
zu sein, verhindert den näheren Kontakt mit einer Person des anderen Geschlechts.
Küssen wird nicht selten aus Angst vor schlechtem Mundgeruch vermieden. Die Betrof-
fenen brechen eine beginnende Beziehung häufig von sich aus ab, um dem deprimie-
renden Gefühl der Ablehnung zu entkommen. Scham und Scheu im sexuellen Kontext
ist auch aus einem Gedicht von Schiller bekannt („Errötend folgt er ihren Spuren“).
Bei Kindern und Jugendlichen treten soziale Ängste am häufigsten in Form der
Schulphobie und der Prüfungsangst auf, aber auch in Form der Angst, von anderen
Kindern ausgelacht zu werden, wenn diese als Gruppe und damit als bestimmende
Mehrheit erlebt werden. Schüler mit einer sozialen Phobie schneiden wegen ihrer Prü-
fungsängste und des nicht seltenen Vermeidens der Teilnahme am Unterricht bei Prü-
fungen häufig schlechter ab als andere Kinder, was die Angst vor Leistungsbeurteilun-
gen verstärkt. Schlechtere Schulleistungen als aufgrund des oft großen Lerneinsatzes
notwendig sind, hängen häufig zusammen mit der angstbedingten Blockade beim Spre-
chen vor der ganzen Klasse und der Autoritätsperson des Lehrers.
Die Prüfungssituation als der Inbegriff einer gefürchteten Leistungsbeurteilung führt
zu einer verstärkten Beobachtung des eigenen Verhaltens bzw. bestimmter sozial auffäl-
lig machender Symptome (Zittern, Rotwerden, Schwitzen, Stottern, Versagen der
Stimme) und infolgedessen zu einer Konzentrationsstörung, sodass das oft vorhandene
Wissen nicht adäquat dokumentiert werden kann. Im Sport spricht man von „Trai-
ningsweltmeistern“, weil die Betroffenen aus „Nervosität“ im Wettkampf versagen.
Die Beziehung zwischen sozialen Ängsten und verschiedenen Körpersymptomen
wird von sozialphobischen Patienten oft umgedreht: Nicht die Ängste würden zu Sym-
ptomen führen, sondern die unerklärlichen Symptome würden die Ängste verursachen.
In der Selbstwahrnehmung werden die körperlichen Angstsymptome demnach als das
primäre Problem verkannt. Typische Aussagen sind etwa: „Wenn ich nicht so leicht
erröten, schwitzen oder zittern würde, dann hätte ich keine Angst vor anderen Men-
schen.“ Die Einsicht in die tatsächlichen Zusammenhänge stellt die Voraussetzung für
eine Psychotherapie dar, andernfalls wird die Lösung in der Einnahme von Medikamen-
ten (Beruhigungsmitteln, Beta-Blockern und immer häufiger Antidepressiva) gesucht,
die die gefürchteten Körpersymptome verhindern sollen. Die Betroffenen hätten am
liebsten ein Pokerface, das nichts über ihr inneres Befinden verrät.
92 Angststörungen
Eine Errötungsangst (Erythrophobie) bezieht sich auf das Erröten in sozialen Situa-
tionen und resultiert oft aus der Angst vor Sozialkontakten oder aus einem plötzlichen
Überraschungseffekt in sozialen Situationen. Die Betroffenen meinen, sie würden nur
wegen des unkontrollierbaren Errötens den Kontakt mit anderen Menschen fürchten und
hätten sonst keine soziale Unsicherheit und keine Probleme im Umgang mit anderen.
Schwitzen wird oft nicht durch die Bewältigung der sozialen Ängste, sondern mög-
lichst durch das Vermeiden von Schwitzen zu bewältigen versucht (z.B. keine warmen
Räume betreten, nicht zu warm anziehen). Es werden Verhaltensweisen entwickelt, wie
man das Schwitzen möglichst unauffällig ertragen kann (z.B. ein Unterhemd mit hoher
Saugkraft, ein Spray zur Vermeidung eines unangenehmen Körpergeruchs).
Ein psychogener Tremor in Form des Händezitterns hat für viele Betroffene häufig
noch weitreichendere Folgen als das unkontrollierbare Auftreten von Rotwerden oder
Schwitzen. Hier zeigt sich vielleicht am deutlichsten, dass nicht das Verhalten an sich,
sondern dessen Bewertung Angst machend ist. Psychogenes Händezittern wird von den
Betroffenen oft als „Nervenkrankheit“ erlebt. Sie fürchten daher, andere Menschen
könnten ähnlich denken, sodass sie schon allein deswegen als psychiatrischer Fall gel-
ten könnten. Die Betroffenen weichen sozialen Situationen subjektiv wegen des be-
fürchteten Händezitterns aus, doch ist dieser Tremor letztlich nur das Ergebnis der
angstbedingten Muskelverspannung. Verspannt sind oft nicht nur die Hand, sondern
auch der ganze Arm und der Schulter-Nacken-Bereich. Die Angst vor dem sichtbaren
Zittern der Hände kann dazu führen, dass die Betroffenen in Anwesenheit anderer aus
Angst vor Auffälligkeit nichts essen, trinken oder unterschreiben. Ohne das Gefühl der
Beobachtung können die Betroffenen alle Tätigkeiten problemlos ausführen.
Am Beispiel des Händezitterns kann die Eigenart einer Sozialphobie im Vergleich
zur Parkinson-Krankheit erläutert werden [75]. Sozialphobiker haben Angst, auf einem
Formular oder Zahlschein nur unleserlich unterschreiben zu können, im Restaurant die
Suppe vom Löffel zu kippen, beim Anstoßen mit dem Weinglas ungeschickt zu sein, im
Café den Zucker oder den Kaffee zu verschütten, im Selbstbedienungsrestaurant das
Cola-Glas unruhig zu tragen, im Geschäft das Wechselgeld nicht in Ruhe entgegenneh-
men zu können, obwohl diese Befürchtungen meistens unberechtigt sind. Parkinson-
Kranke dagegen zittern sehr stark, bemerken es jedoch oft gar nicht und haben trotz
ihrer Beeinträchtigung gewöhnlich keine Angst, etwas in der Öffentlichkeit zu tun.
Die übermäßige Beschäftigung mit der eigenen Person und der Wirkung auf andere
Menschen äußert sich in sozialen Situationen in der Form, dass Sozialphobiker glauben,
die anderen Menschen würden ebenfalls ständig ihre vermeintlichen Defizite und ihre
psychovegetative Auffälligkeit (an sich harmlose, jedoch von anderen beobachtbare
körperliche Symptome) beobachten. Sozialer Rückzug und das verkrampfte Bemühen,
möglichst unauffällig zu wirken, verhindern die Erfahrung, dass die Mitmenschen die
Betroffenen gar nicht im gefürchteten Ausmaß beobachten bzw. kritisieren, sondern
trotz der vermeintlichen Schwächen als liebenswerte Persönlichkeiten ansehen. Durch
die ständige ängstliche Selbstbeobachtung steigt die vegetative Anspannung, was die
Befürchtung verstärkt, als „nervös“ zu gelten und abgelehnt zu werden.
Ein typisches Beispiel einer sozialen Phobie [76] ist die Geschichte eines Mannes,
der in einer Buchhandlung ein interessantes Buch über Schüchternheit sieht, es aber
trotz großen Interesses nicht wagt, das Buch zu kaufen oder nur hineinzuschauen, weil
die Verkäuferin dann ja wüsste, dass er ein schüchterner Mensch ist. Das Erlebnis, sich
wieder einmal nicht über seine Angst vor der Reaktion der anderen Leute hinwegsetzen
zu können, bestätigt ihm sein Schicksal der Unveränderbarkeit.
Soziale Phobie 93
Wenn Sozialphobiker bestimmte Situationen nicht vermeiden können oder diese mit
weniger Belastung ertragen möchten, wenden sie typische Sicherheitsverhaltensweisen
an, die die Gefahr einer sozialen Auffälligkeit mit allen nur möglichen Mitteln und
Methoden vermindern sollen:
z vor Prüfungen alles aufschreiben, auswendig lernen, im Kopf x-mal durchgehen,
z bei Gesprächen vorher alles gut durchdenken, bevor man sich äußert,
z nichts sagen, um nicht durch Erröten oder Schwitzen im Mittelpunkt zu stehen,
z auf Suppe oder Kaffee verzichten, um nicht durch Händezittern aufzufallen,
z das Glas oder die Tasse sehr fest halten, um leichtes Zittern zu unterdrücken,
z mögliches Zittern kontrollieren, um den Anschein von Nervosität zu vermeiden,
z bestimmte Kleidung anziehen, um sichtbares Schwitzen zu vermindern,
z Alkohol oder Wärme vermeiden oder Fenster öffnen, um nicht zu schwitzen,
z Alkohol oder ein Medikament einnehmen, um Angstreaktionen zu unterdrücken,
z übermäßig viel Makeup verwenden, um bei Erröten nicht aufzufallen,
z vermehrt reden, um unerträgliche Stille oder peinliche Sprechpausen zu vermeiden,
z sich so platzieren, dass man nicht sofort bemerkt wird,
z Blickkontakt vermeiden und auf den Boden oder anderswohin schauen,
z vermeiden, über sich selbst etwas Persönliches zu sagen.
Französische Autoren unterscheiden vier Formen sozialer Ängste, die von normal bis
krankhaft und von spezifisch bis generalisiert gehen:
z Lampenfieber („Bammel“): normale, situationsgebundene soziale Angst,
z Soziale Phobie: situationsgebundene, krankhafte Angst,
z Schüchternheit: normale, generalisierte soziale Angst,
z Ängstlich-vermeidende Persönlichkeit: generalisierte, krankhafte soziale Angst.
Der englische Psychiater Isaac Marks, einer der „Väter“ der Diagnose „soziale Phobie“,
unterscheidet zwei Arten von klinisch relevanten sozialen Ängsten, die auch einer dem-
entsprechend unterschiedlichen Behandlung bedürfen:
z Sozialphobie im Sinne einer angstbedingten Hemmung (Sozialphobie im engeren
Sinne),
z Sozialphobie als Folge eines sozialen Kompetenzdefizits (Mangel an sozialen Fer-
tigkeiten).
94 Angststörungen
Die Sozialphobie im engeren Sinn tritt bei Männern und Frauen gleich häufig auf, be-
ginnt meist im Teenager-Alter, bezieht sich auf spezifische Auslösereize, ist durch aus-
geprägte körperliche Reaktionen charakterisiert, ist nur gelegentlich mit anderen Pro-
blemen verbunden und wird durch eine Konfrontationstherapie behandelt [78]. Die
Betroffenen verfügen über normale soziale Fertigkeiten, weisen jedoch Ängste in Bezug
auf eine oder mehrere soziale Situationen auf und zeigen starke körperliche Reaktionen
bei der Konfrontation mit relevanten phobischen Reizen. Schüchternheit kann, muss
aber nicht vorhanden sein. Viele sozial gehemmte Menschen weisen oft unpassende
oder unzweckmäßige Verhaltensweisen auf. Sie entschuldigen sich oft, sind übertrieben
höflich, schweigen zu viel, reagieren bei zu viel „Schlucken“ mit Aggressionsdurchbrü-
chen, sprechen eher über andere als mit anderen, reden zu viel über sich selbst, statt sich
auf den anderen einzulassen, sind körperlich ausdruckslos, monoton in der Stimme und
schauen beim Reden die anderen zu wenig an.
Eine Sozialphobie im Sinne eines sozialen Kompetenzdefizits tritt bei Männern häu-
figer auf als bei Frauen, beginnt schleichend in der Kindheit, weist diffuse phobische
Ängste auf, zeigt sich wenig in körperlichen Reaktionen, ist häufig mit vielen anderen
Problemen verbunden und wird am besten durch ein soziales Kompetenztraining im
Rahmen einer Gruppentherapie behandelt. Sozialphobikern mit einem Defizit an sozia-
ler Kompetenz, d.h. Menschen mit einer sozialen Angststörung, fehlen die nötigen Fer-
tigkeiten, um soziale Situationen erfolgreich bewältigen zu können. Sie können Gesprä-
che nicht beginnen, aufrechterhalten und beenden, wissen nicht, wie man sich in be-
stimmten Situationen verhält, sind schüchtern und haben allgemein Probleme im Um-
gang mit anderen Menschen. Sie weisen ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten in
Bezug auf soziale Situationen auf, weil sie fürchten, kritisiert oder verspottet zu werden,
nicht als normal angesehen zu werden, nicht zu wissen, was sie sagen sollen, die Kon-
trolle zu verlieren und in Panik zu geraten. Sie leben deswegen sehr zurückgezogen und
sind oft sehr unglücklich oder depressiv. Die sozialen Defizite äußern sich durch oft
lebenslange Schwierigkeiten im Knüpfen und Aufrechterhalten von sozialen Kontakten
trotz des vorhandenen Wunsches danach sowie durch das ständige Bemühen, die Be-
drohung der eigenen Person zu reduzieren, mit dem Ergebnis sozialen Rückzugs und
starker Beeinträchtigungen im Beruf. Die schwierigsten sozialen Situationen für sozial
defizitäre Personen sind Partys, Tanzen und andere enge Kontakte mit Menschen. Ca-
fés, Restaurants und Gasthäuser, wo Anonymität möglich und kein direkter Kontakt mit
anderen erforderlich ist, können dagegen meistens besucht werden. Typisch sind größe-
re Probleme mit Gleichaltrigen als mit jüngeren oder älteren Personen, Schwierigkeiten
im Kontaktaufnehmen mit fremden bzw. gegengeschlechtlichen Personen, Hemmungen
beim Äußern eigener Gefühle und damit Vertiefen einer Beziehung.
Das DSM-IV [79] ermöglicht bei der Diagnose der sozialen Phobie die Zusatzkodie-
rung „generalisiert“ und impliziert dabei zwei Subtypen, ohne den anderen Subtyp
konkret zu benennen, sodass dafür in der Literatur unterschiedliche Bezeichnungen
gewählt wurden (nicht-generalisiert, spezifisch, Leistungstyp). Die Unterscheidung von
Subtypen ist umstritten: Die Kriterien sind zu wenig konkret und erlauben keine klare
Differenzierung der beiden Formen sozialer Phobien. Eine generalisierte Sozialphobie
ist dann zu kodieren, wenn „die Angst fast alle sozialen Situationen betrifft“. Jedenfalls
werden nach dem Ausmaß der Generalisierung zwei Arten von Sozialphobien unter-
schieden: eine Sozialphobie – Leistungstyp und eine Sozialphobie – generalisierter Typ.
Soziale Phobie 95
Sozialphobie – Leistungstyp
Die nicht generalisierte (spezifische) Sozialphobie wird gewöhnlich mit der Angst in
sozialen Leistungssituationen gleichgesetzt, obwohl dies im DSM-IV explizit nicht so
definiert ist. Eine Sozialphobie vom Leistungstyp ist eine nicht generalisierte, d.h. eine
im DSM-IV allerdings nicht so bezeichnete „spezifische Sozialphobie“, die der Sozial-
phobie im engeren Sinn nach Marks entspricht. Spezifische soziale Ängste beziehen
sich auf Reden, Essen, Schreiben, Leistungssituationen (Prüfung, Reden in der Öffent-
lichkeit, sportliche Betätigung usw.). Als Auslöser dient oft ein einschneidendes Erleb-
nis (z.B. Ausgelachtwerden beim Stottern während eines Referats, Verspottung bei
einer ungeschickten Turnübung, Händezittern beim Essen oder Schreiben an der Tafel).
Häufig trat – von den anderen unbemerkt – eine Panikattacke oder eine panikähnliche
Reaktion auf, die die Angst vor Auffälligkeit verstärkte. Die Angst bewirkt eine Hem-
mung an sich vorhandener Fertigkeiten und geht mit körperlichen Symptomen einher.
Die Störung ist begrenzt auf spezifische Leistungssituationen vor den Augen anderer
Menschen, während in allen anderen Bereichen eine gute soziale Funktionsfähigkeit
gegeben ist. Soziale Ängste vom Leistungstyp können aufgrund der damit verbundenen
körperlichen Symptome zu einer plötzlichen Veränderung des Betroffenen führen, die
der Umwelt völlig unerklärlich erscheint, vor allem wenn der Betroffene vorher als
kontaktfreudig und selbstbewusst galt. Bei der Behandlung ist hier neben einer Kon-
frontationstherapie eine kognitive Umstrukturierung (Denkmuster ändern) angebracht.
Eine spezifische Sozialphobie beginnt durchschnittlich im 16. oder 17. Lebensjahr
und hängt oft mit situativ bedingten Panikattacken zusammen. Die Störung führt später
zu Beeinträchtigungen im schulischen und beruflichen Bereich, verstärkt durch berufli-
che, schulische oder private Veränderungen wie Umzug, Schul- oder Arbeitsplatzwech-
sel, vor allem jedoch auch durch beruflichen Aufstieg, der zu einem unangenehmen
Mittelpunktserleben führt. Zwei Beispiele sollen diese Störung veranschaulichen:
Ein 28-jähriger kaufmännischer Sachbearbeiter, der bisher stets im Hintergrund gearbeitet hatte, wird
aufgrund seiner Tüchtigkeit zum Leiter einer Niederlassung des Konzerns bestimmt, in dem er seit
seinem Schulabgang arbeitet. Nach einigen Monaten treten immer mehr körperliche und seelische
Beschwerden auf. In allen öffentlichen Situationen, in denen er gleichsam eine Leistung erbringen
muss, wie etwa eine Rede halten, eine Feier einleiten, eine Mitarbeiterehrung durchführen oder der
obersten Geschäftsführung einen mündlichen Bericht abstatten, leidet er abwechselnd unter Herzrasen,
Schwitzen, Übelkeit, Harndrang, Angst vor Händezittern und Stottern. Vor entsprechenden Ereignissen
nimmt er einen Beta-Blocker in der Absicht, sein Herz zu beruhigen, und in der Hoffnung, dadurch
nicht zu zittern, zu schwitzen oder sonst irgendwie sichtbar nervös zu wirken. Am Vorabend eines
entsprechenden Ereignisses kann er aus Aufregung nicht einschlafen, sodass er ein Tranquilizer-
Schlafmittel benötigt. Niemals in seinem Leben litt er so unter psychovegetativen Symptomen wie nach
dem Karriereschub. Er fürchtet sich mehr vor seinen Mitarbeitern als diese vor ihm und hat ständig
Angst sich zu blamieren. Erst später wird ihm bewusst, dass er sich auch schon in der Schule vor Prü-
fungen und in der Musikschule vor Soloauftritten besonders gefürchtet hatte.
Ein 17-jähriger Schüler, der bislang keine sozialen Ängste gekannt hat, wird bei einem Referat in
Deutsch plötzlich nervös und glaubt, sichtbar zu zittern und zu schwitzen. Er ist sich sicher, dass seine
Schulkollegen dies bemerkt haben und ihn seither für einen unsicheren Menschen halten, obwohl ihn
keiner darauf angesprochen hat. Er meldet sich im Unterricht in allen Fächern immer seltener aus
Angst, negativ aufzufallen und ausgelacht zu werden. Vor mündlichen Prüfungen lässt er sich vom
Hausarzt ein Beruhigungsmittel verschreiben oder von seiner Mutter einen Beruhigungstee zubereiten.
Schließlich legt er auch seine Funktion als Klassensprecher zurück, weil er in dieser Rolle ebenfalls
Gefahr laufen könnte, sich peinlich zu verhalten.
96 Angststörungen
Faktum ist: Zu wenig Angst macht sorglos und antriebslos, zu viel Angst wirkt geistig
blockierend. Ein mittleres Ausmaß an Erregung und Angst garantiert die optimale Lei-
stungsfähigkeit. Das Lampenfieber von Schauspielern und Sängern ist ein bekanntes
Beispiele dafür, dass leichte Angst und Anspannung das Leistungsvermögen steigern.
Schüler und Studenten mit negativ-pessimistischen Erwartungen beschäftigen sich
ständig mit dem möglichen Misserfolg, den Konsequenzen des Misserfolgs, den Selbst-
zweifeln und den negativen Bewertungen durch andere Personen (z.B. „Was wird der
Lehrer bzw. der Vater hinterher sagen?“). Sie beurteilen ihr Verhalten in der Prüfungssi-
tuation kritisch und selbstabwertend (z.B. „Ich schaffe die Prüfung nicht“, „Ich bin zu
dumm, um das zu verstehen“, „Ich kann gar nichts“). Sie beobachten ständig die auftre-
tenden körperlichen Angstsymptome und sehen darin eine Bestätigung ihrer Unfähig-
keit. Die körperlichen Symptome (z.B. Herzrasen, Atemnot, Übelkeit, Anspannung,
Zittern) sind so stark, dass sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Dies ver-
stärkt die Angst und führt bis zu panikähnlichen Symptomen, die nicht nur den Körper
überaktivieren, sondern auch den Geist verwirren und blockieren.
Die negativen Selbstgespräche, die ständige Beobachtung des eigenen Körpers und
die Beschäftigung mit den Folgen des vorweggenommenen Versagens führen in der
Prüfungssituation zu einer geteilten Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit und Konzen-
tration ist nicht mehr in vollem Ausmaß auf die Prüfungsvorbereitung bzw. auf die
Aufgabenstellung gerichtet, sodass es zu einer Leistungsbeeinträchtigung kommt. Es
zeigen sich mehr Flüchtigkeitsfehler, eine geringere Quantitätsleistung, eine niedrigere
Durchhaltemotivation und eine Beeinträchtigung bei Aufgaben, die komplexere Denk-
prozesse erfordern. Die angstbedingten Denkblockaden verhindern die Aktivierung des
gelernten Prüfungsstoffes und vermitteln aufgrund der negativen Leistungsdaten den
Eindruck mangelnder Prüfungsvorbereitungen.
Eine massive Prüfungsangst kann zu einem teilweisen Verlust des gelernten Wissens
führen. Das Gefühl eines „leeren Hirns“ hängt mit der angstbedingten Ausschüttung der
Stresshormone Kortison und Kortisol zusammen, die das Langzeitgedächtnis blockie-
ren. Erst wenn sich die Menge der Stresshormone nach einiger Zeit auf den Normalwert
eingependelt hat, funktioniert das Gedächtnis wieder in vollem Umfang.
Soziale Phobie 97
Prüfungsängstliche Schüler und Studenten werden häufig unter ihrem Wert geschla-
gen und entwickeln aufgrund des realen angstbedingten Versagens immer größere Prü-
fungsängste, Ohnmachterlebnisse und Minderwertigkeitsgefühle, die im Sinne eines
Teufelskreises wiederum die Prüfungsergebnisse verschlechtern. Aus Angst vor dem
Versagen entwickeln prüfungsängstliche Studenten oft perfektionistische, stresserhö-
hende Bewältigungsstrategien (Lernen ohne Pausen, Antreten zur Prüfung nur bei siche-
rem Wissen). Auch sehr gute Schüler können als Folge ihrer Denkmuster („Ich muss
immer der Beste sein“, „Wenn ich das nicht weiß, bin ich doch nicht so gut, wie ich
immer sein möchte“) unter belastenden Prüfungsängsten leiden.
Schüler und Studenten mit positiven Erwartungen erleben Angst und Unruhe als lei-
stungssteigernd. Kompetenzgefühle und die positive Leistungserwartungen verhindern
angstbedingte Leistungsblockaden. Angst wirkt nicht lähmend, sondern fördert die
Prüfungsvorbereitung und den Lerneinsatz. Sie stimuliert den Ehrgeiz, stärkt den
Kampfeswillen, mobilisiert die Energiereserven und fördert die Umsetzung aller Kennt-
nisse und Fertigkeiten. Die als aktivierend erlebte Angst intensiviert die Aufmerksam-
keit, reduziert die Fehlerzahl, steigert die Leistungsmenge, verstärkt den Leistungsein-
satz und erhöht die Ausdauer bei schwierigen Aufgabenstellungen. Die körperlichen
Symptome der Angst werden im Sinne eines Lampenfiebers als Zeichen notwendiger
Energie zur Ausschöpfung aller Leistungsreserven interpretiert. Unangenehme körperli-
che Angstsymptome werden zwar wahrgenommen, jedoch nicht durch ständige Beob-
achtung verstärkt. Es gelingt eine Aufmerksamkeitsumlenkung von der Wahrnehmung
der Angstsymptome auf die Bewältigung der Aufgabenstellung, sodass eine optimale
Konzentrationsleistung gegeben ist. Eine Einstellungsänderung bewirkt eine Verringe-
rung der Prüfungsangst. Dies ermöglicht eine optimale Konzentration auf die Aufga-
benstellung, wodurch die Erfolgschancen erhöht werden.
Versagensängstlichen Personen wird ein Selbsthilfebuch des Autors („Die Angst zu
versagen und wie man sie besiegt“) empfohlen.
Ein 34-jähriger allein stehender Arbeiter stellt sich dem Ausmaß seiner sozialen Ängste erst dann, als er
wegen eines chronischen Alkoholmissbrauchs keinen Tropfen Alkohol mehr trinken soll. Plötzlich
bemerkt er mehr als vorher seine sozialen Kontaktprobleme. Er kann sich in Gruppensituationen kaum
äußern aus Angst, etwas Falsches zu sagen; er fürchtet Pausenzeiten in der Arbeit, weil er nicht weiß,
was er mit seinen Arbeitskollegen reden soll; er verzichtet auf berufliche Aufstiegschancen, weil er
dadurch mehr als bisher im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit anderer Menschen stehen könnte; er
macht Weiterbildungsmaßnahmen nur widerwillig, weil er im Kurs als dumm auffallen könnte; er
knüpft keine neuen Kontakte aus Angst, abgelehnt zu werden; er spricht aus Angst vor Nervosität und
Rotwerden keine Frauen an, obwohl er sich seit langem eine Partnerin wünscht; er verwendet Ausre-
den, um Familientreffen zu entkommen, denn auch dort könnte er durch seine Zurückgezogenheit
unangenehm auffallen; aus Nervosität entfällt ihm bei Gesprächen oft der Name seines Gegenübers.
Soziale Phobie 99
Bei der Mehrzahl der Betroffenen in der Bevölkerung besteht eine spezifische Sozi-
alphobie. Die häufigsten spezifischen Sozialphobien sind die Redephobien. Im klini-
schen Bereich überwiegen generalisierte Sozialphobien. In klinischen Behandlungsein-
richtungen ist die Sozialphobie nach der Agoraphobie die zweithäufigste Angststörung.
Die Betroffenen beginnen eine Therapie häufig wegen anderer Probleme (Alkoholmiss-
brauch, vegetative Störungen, Depression, Selbstmordversuch). Sie begeben sich oft
erst nach zwei Jahrzehnten in Psychotherapie. Von allen Angstpatienten beginnen Men-
schen mit einer sozialen Phobie am spätesten mit einer adäquaten Therapie, vermutlich
weil sie ihre Störung mit ihrem Charakter gleichsetzen. Unter den Menschen mit krank-
haften sozialen Ängsten, d.h. unter definierten Patienten, haben mindestens die Hälfte
der Betroffenen generalisierte soziale Ängste im Sinne einer heute so genannten sozia-
len Angststörung. Die soziale Phobie ist die häufigste komorbide Störung bei anderen
psychischen Störungen (sie bestand meistens bereits vorher).
Frauen haben im Vergleich zu Männern ein etwas höheres Risiko für eine soziale
Phobie (Verhältnis 3:2), die Frauendominanz ist jedoch nicht so ausgeprägt wie bei
anderen Angststörungen (Panikstörung, generalisierter Angststörung und spezifischen
Phobien). Bei Frauen äußern sich soziale Ängste in anderer Form als bei Männern. Sie
haben mehr soziale Ängste in Bezug auf Autoritäten, öffentliche Reden, Berichterstat-
tung in Gruppen, Widersprechen, Beobachtung bei der Arbeit, Mittelpunkerleben oder
Betreten von Räumen, in denen bereits Menschen sind.
Das Auftreten und die Art der sozialen Ängste sind auch kulturabhängig. Soziale
Phobien kommen in der westlichen Welt häufiger vor als in Asien. Viele Menschen in
Japan und Korea haben mehr Angst davor, andere zu kränken oder in Verlegenheit zu
bringen, als selbst emotional peinlich berührt zu sein oder gekränkt zu werden. Sie ha-
ben Angst, andere dadurch in Verlegenheit zu bringen, dass sie vor ihnen erröten, den
Blick über ihren Genitalbereich gleiten lassen, einen unangenehmen Körpergeruch
ausstrahlen oder einen unpassenden Gesichtsausdruck aufweisen. In asiatischen Län-
dern besteht eine viel größere soziale Gehemmtheit als in der westlichen Welt. Ein
sozial zurückhaltendes und eher introvertiertes Verhalten entspricht dort eher den kultu-
rellen Gepflogenheiten als in Europa oder Amerika. In ostasiatischen Ländern zeigt sich
ein eher „kollektivistisches“ als ein „individualistisches“ Verhalten wie in den USA.
Die soziale Phobie nimmt vor allem bei der jüngeren Bevölkerung zu, bedingt durch
soziale und gesellschaftliche Umstände (steigender Leistungsdruck). Sie setzt in immer
früherem Alter ein und weist einen immer höheren Schweregrad auf. Dieser Eindruck
ergibt sich zumindest aus dem Umstand, dass jüngere Menschen bei Befragungen häu-
figer soziale Ängste im Laufe des Lebens angaben als ältere Personengruppen.
Vorübergehende soziale Ängste sind im Kindes- und Jugendalter relativ häufig.
Soziale Phobien beginnen meist zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr (bei 75% vor
dem 16. Lebensjahr) und damit früher als Panikstörungen und Agoraphobien. Eine
generalisierte soziale Phobie beginnt durchschnittlich mit 10-13 Jahren, eine nicht gene-
ralisierte Sozialphobie mit 16-22 Jahren [83]. Ein Störungsbeginn nach dem 25. Lebens-
jahr ist selten. Bei Kindern stehen soziale Ängste oft mit bestimmten psychischen Stö-
rungen in Verbindung (selektivem Mutismus, Schulverweigerung, Trennungsangststö-
rung, übermäßiger Schüchternheit und Gehemmtheit). Der frühe Beginn sozialer Phobi-
en im Kindes- oder Jugendalter macht es verständlich, dass sich aufgrund der auftreten-
den Defizite rascher als bei anderen Menschen auch weitere psychische Störungen ent-
wickeln, vor allem Depressionen aufgrund mangelnder positiver Lebenserfahrungen.
Die häufigste soziale Phobie des Kindes- und Jugendalters ist die Schulphobie.
Soziale Phobie 101
Soziale Angststörungen zeigen eine starke familiäre Häufung. Das Risiko, soziale
Ängste zu bekommen, ist für Kinder von Menschen mit sozialen Phobien etwa dreimal
so hoch wie in unbelasteten Familien. Dies gilt vor allem bei generalisierten sozialen
Phobien. Nach Zwillingsstudien besteht eine Erblichkeit von 30-50%. Die Wahrschein-
lichkeit für die Entwicklung einer sozialen Phobie ist deutlich erhöht bei einer tempe-
ramentbedingten, vermutlich ererbten Tendenz zur „Verhaltenshemmung“. Man ver-
steht darunter die Neigung, auf neue (soziale und nicht soziale) Situationen nach außen
hin gehemmt, scheu und zurückhaltend zu reagieren, während innerlich eine hohe auto-
nome Erregung besteht (stabil hohe Herzfrequenz, erhöhte Kortisolwerte im Speichel).
„Schüchternheit“ von Kindheit an ist laut amerikanischen Längsschnittstudien als
konstitutioneller Faktor anzusehen; sie wurde bereits im Alter von 21 Monaten nachge-
wiesen, dauert bis in das Erwachsenenalter an und stellt noch keine Krankheitswertig-
keit dar. Der Zustand der Schüchternheit wird erst durch das subjektive Erleben, nicht
anders handeln zu können, zu einer anhaltenden Belastung. Es gibt viel mehr schüchter-
ne als sozial ängstliche Menschen. Nicht alle schüchternen Menschen sind daher als
Sozialphobiker anzusehen. Im Vergleich zu schüchternen Menschen haben sozial ängst-
liche Personen weniger soziale Fertigkeiten, ein größeres Vermeidungsverhalten, einen
chronischeren Verlauf, einen späteren Krankheitsbeginn und oft auch mehr Symptome.
Soziale Ängste werden begünstigt durch bestimmte psychosoziale Belastungssitua-
tionen (soziales Außenseitertum der Familie, Außenseiter-Dasein im Kindergarten und
in der Pflichtschule, alkoholkranker Elternteil, niedriger sozialer Status und Bildungs-
stand, geringes Einkommen, Arbeitslosigkeit) und ein bestimmtes Erziehungsmilieu
(übertriebene Strenge und Kontrolle, überfürsorgliches Verhalten, wenig Zuwendung
und Fürsorge). Soziale Ängstlichkeit wird vor allem auch erlernt am Beispiel eines
sozial unsicheren und ängstlichen Elternteils, was mit dem Begriff des Modelllernens
bezeichnet wird (anderer Fachausdruck: „familiäre Transmission“). Spezifische Phobien
haben häufig Auslöser in Form eines „Minitraumas“ (z.B. peinlicher Auftritt bei einem
Referat, Erfahrungen, von Mitschülern ausgelacht oder sekkiert zu werden).
Der Verlauf einer unbehandelten Sozialphobie ist gewöhnlich chronisch. Häufig
besteht ein konstanter und phasenhafter Verlauf mit Schwankungen, nur bei der Min-
derheit kommt es zu Spontanremissionen, was die Notwendigkeit einer speziellen Psy-
chotherapie aufzeigt. Viele Betroffene leiden schon 20 Jahre lang darunter. Soziale
Phobien entwickeln sich langsamer als andere Angststörungen. Erste Anzeichen dafür
sind eine ausgeprägte Schüchternheit oder Zurückhaltung, später resultieren daraus
berufliche, schulische, soziale, familiäre oder private Probleme. Viele Betroffene leben
unter ihren Möglichkeiten und verpassen die Chancen ihres Lebens. Single-Dasein,
Schulabbrüche, Karrierenachteile und soziale Vereinsamung machen unglücklich.
Mindestens drei Viertel der Sozialphobiker entwickeln im Laufe ihres Lebens weite-
re psychische Störungen, d.h. es besteht eine extrem hohe Komorbidität. Die unzurei-
chende Bewältigung einer sozialen Phobie bzw. sozialen Angststörung stellt einen Risi-
kofaktor für weitere psychische Störungen war, vor allem für Depressionen und Abhän-
gigkeitserkrankungen. Vor allem eine generalisierte soziale Phobie geht häufig mit
Depressionen und Alkoholmissbrauch einher, während eine nicht generalisierte soziale
Phobie eher mit Panikattacken in Verbindung steht oder zumindest von den Betroffenen
als Panikstörung erlebt wird. Eine Sozialphobie ist somit häufig die „Einstiegsstörung“
in die genannten „härteren“ psychischen Störungen, begünstigt aber auch die Ausprä-
gung einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung, die Ausdruck der Verfesti-
gung der Einstellungen und Verhaltensweisen ist.
102 Angststörungen
Eine Depression ist die häufigste Begleit- und Folgesymptomatik der sozialen Pho-
bie und tritt (je nach Diagnosekriterien) in 14-50% der Fälle auf. Sozialphobiker mit
einer zusätzlichen Depression entwickeln eine schwerere Form von Sozialphobie als
nichtdepressive Sozialphobiker. Sozialphobiker mit einer Depression weisen eine be-
sondere Überempfindlichkeit bei Kritik und Ablehnung auf. Eine soziale Phobie ist
keine harmlose Angstkrankheit, was sich auch in relativ häufigen Selbstmordgedanken
und Selbstmordversuchen äußert. Bei rund 15% der Betroffenen kommen Selbstmord-
versuche vor [84]. Die depressive Verstimmung entwickelt sich oft als Folge der sozia-
len Hemmung und des ständigen sozialen Vermeidungsverhaltens, das keine positiven
und aufbauenden Erfahrungen in Sozialkontakten ermöglicht. Die Depression ist oft
bedingt durch die Unzufriedenheit mit der jeweiligen Lebenssituation (geringe Durch-
setzungsfähigkeit im beruflichen und privaten Bereich, Vereinsamung, wenig Verhal-
tensalternativen). Eine soziale Phobie geht auch oft mit einer Dysthymie einher.
Viele Sozialphobiker (5-36%) benutzen Alkohol, um ihre Ängste zu dämpfen [85].
Nach einer Studie entwickeln rund 20% der Sozialphobiker einen ausgeprägten Alko-
holkonsum, der deutlich über dem von Agoraphobikern liegt. Zahlreiche Angst auslö-
sende soziale Interaktionen erfolgen in Situationen, in denen auch Alkohol zur Verfü-
gung steht (z.B. bei Verabredungen, Feiern, Essen im Restaurant). Umgekehrt finden
sich unter Alkoholikern viele sozial ängstliche Menschen, die wegen ihrer Ängste zu
trinken begonnen haben.
Vor allem bei einem frühen Beginn der sozialen Phobie besteht die Gefahr der Ent-
wicklung eines Alkoholmissbrauchs oder einer Depression. Die viel selteneren sozialen
Phobien mit späterem Beginn sind eher die Folge anderer komorbider Störungen, z.B.
einer chronifizierten Depression. Soziale Phobien können aber auch die Folge von Sub-
stanzmissbrauch sein und lassen sich dann erklären durch die befürchtete oder reale
soziale Auffälligkeit (z.B. Entzugserscheinungen, soziale oder berufliche Probleme).
Soziale Ängste wirken sich erheblich auf Partnerschaft, Familie, Beruf und Lebens-
qualität aus. Viele Menschen mit sozialer Phobie sind unverheiratet, haben keinen fe-
sten Partner, leben auch als Erwachsene noch immer zu Hause, bekommen Partnerpro-
bleme wegen ihres Verhaltens, haben keine sexuellen Erfahrungen oder leiden unter
sexuellen Problemen, haben nur einen kleinen Freundes- und Bekanntenkreis oder leben
sozial isoliert. Die Betroffenen sind in höherem Ausmaß arbeitslos oder im Kran-
kenstand, verdienen weniger als andere, werden unterqualifiziert eingesetzt und errei-
chen aufgrund ihres ständigen Vermeidungsverhaltens nicht jene beruflichen Positio-
nen, die sie aufgrund ihrer Fähigkeit innehaben könnten.
Eine Sozialphobie kommt auch gehäuft bei Personen mit einer Essstörung (Anore-
xie, Bulimie) und einer Dysmorphophobie vor.
Zwänge stellen häufig einen Bewältigungsversuch von sozialer Unsicherheit und
mangelnder sozialer Kompetenz dar [86]. Dies wird oft erst deutlich, wenn die Zwänge
vermindert oder sogar völlig beseitigt sind. Rund 20% der Sozialphobiker weisen
Zwangssymptome auf, die mit gefürchteten negativen sozialen Konsequenzen (Angst
vor Kritik) zusammenhängen [87]:
z Ordnungs- und Putzzwänge aus Angst, bestimmte Sauberkeitsnormen nicht zu erfül-
len (z.B. Angst vor Kritik durch die Schwiegermutter oder andere Besucher);
z Kontrollzwänge aus Angst, den geforderten Perfektionsansprüchen nicht zu entspre-
chen (z.B. beruflicher Perfektionismus zur Vermeidung von Kritik durch den Chef);
z Zwangsgedanken im Sinne der Vorwegnahme der gefürchteten negativen Reaktio-
nen anderer, wodurch eine Handlungsunfähigkeit gegeben ist.
Soziale Phobie 103
Differenzialdiagnose
Viele gesunde Menschen erleben zeitweise die Angst, sich in sozialen Situationen zu
blamieren, fühlen sich dadurch aber nicht so belastet und beeinträchtigt wie Sozialpho-
biker. Insbesondere die Angst vor öffentlichem Sprechen führt dazu, dass zahlreiche
Menschen den Auftritt in der Öffentlichkeit vermeiden, so gut es geht.
Prüfungsangst, Sprechangst, Lampenfieber und Schüchternheit in Anwesenheit
fremder Personen kommen häufig vor und sollten nur dann als Ausdruck einer sozialen
Phobie diagnostiziert werden, wenn die dabei auftretende Angst belastend ist und die
einsetzende Vermeidungstendenz zu einer ernsthaften Beeinträchtigung der schulischen,
beruflichen oder sozialen Funktionsfähigkeit führt. Bei Prüfungsangst, Lampenfieber
und Schüchternheit führt die Angst oder Vermeidung gewöhnlich zu keiner klinisch
bedeutsamen Beeinträchtigung.
Viele Fachdiskussionen, jedoch bislang keine ausreichenden empirischen Befunde
gibt es zum Verhältnis zwischen Sozialphobie und Schüchternheit. Schüchternheit ist
eine subklinische Form von Angst und kommt bei vielen Menschen vor, die deswegen
nicht beeinträchtigt wirken. Schüchterne erleben sich in ihren Lebensmöglichkeiten
weniger eingeschränkt als Sozialphobiker. Schüchternheit ist nicht mit sozialem Rück-
zug oder sozialem Vermeidungsverhalten gleichzusetzen. Wenn aus schulischen, beruf-
lichen oder sonstigen Gründen ein öffentlicher Auftritt unvermeidlich ist, können
schüchterne Personen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit treten, während Sozi-
alphobiker oft vegetative Symptome bekommen, krank werden oder durch Ausreden die
betreffenden Situationen zu vermeiden trachten. Gegenüber einer eher persönlichkeits-
typischen Schüchternheit und subklinischen sozialen Ängsten geht eine Sozialphobie
meist mit sehr belastenden körperlichen Symptomen einher.
Die Abgrenzung der beiden Sozialphobie-Subtypen, die im ICD-10 nicht in dieser
Form erwähnt werden, ist im Einzelfall oft nicht leicht oder nur schwer möglich, zumal
im DSM-IV keine ausreichend klaren Kriterien bestehen. Grundsätzlich gilt jedenfalls,
dass die generalisierte Sozialphobie mehr sozialphobische (leistungs- und interaktions-
bezogene) Situationen umfasst als die nicht-generalisierte (spezifische) Sozialphobie.
Eine klare Abgrenzung gegenüber der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeits-
störung wird im DSM-IV nicht vorgenommen. Es gilt nur das grundsätzliche Kriterium,
dass eine Persönlichkeitsstörung einen noch höheren Generalisierungsgrad aufweist,
also noch mehr Ängste umfasst als die generalisierte Sozialphobie, und in stärkerem
Ausmaß als grundlegende Beziehungsstörung mit einem sehr geringen und negativen
Selbstwertgefühl zu sehen ist, während die soziale Phobie vor allem auf spezifische
Handlungen bezogen ist und primär als Angst vor negativer Bewertung zu verstehen ist.
Dennoch sind die diagnostischen Kriterien derart ähnlich, dass im Falle einer generali-
sierten Angststörung oft auch eine selbstunsichere Persönlichkeitsstörung diagnostiziert
werden kann. Angesichts des diagnostischen Dilemmas, dass keine klar abgrenzbaren
Störungskategorien vorhanden sind, bewährt sich beim derzeitigen Forschungsstand die
Annahme eines Kontinuums unterschiedlicher Ausprägungsgrade von sozialer Angst:
nicht generalisiert – generalisiert – vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung.
20-25% der Personen mit einer spezifischen Sozialphobie und 70-89% der Men-
schen mit einer generalisierten Sozialphobie erfüllen gleichzeitig auch die Kriterien der
vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung. Die Zusatzdiagnose einer vermei-
dend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung ist vor allem im therapeutischen Kontext
bedeutsam, weil mit einer längeren Behandlungszeit gerechnet werden muss.
104 Angststörungen
Das DSM-IV [89] zählt die Zwangsstörung zu den Angststörungen und nennt fol-
gende diagnostische Kriterien:
B. Zu irgendeinem Zeitpunkt im Verlauf der Störung hat die Person erkannt, daß die Zwangsgedanken
oder Zwangshandlungen übertrieben oder unbegründet sind.
Beachte: Dies muß bei Kindern nicht der Fall sein.
D. Falls eine andere Achse-I-Störung vorliegt, so ist der Inhalt der Zwangsgedanken oder Zwangs-
handlungen nicht auf diese beschränkt (z.B. starkes Beschäftigtsein mit Essen bei Vorliegen einer
Eßstörung, Haareausreißen bei Vorliegen einer Trichotillomanie, Sorgen um das Erscheinungsbild
bei Vorliegen einer Körperdysmorphen Störung, starkes Beschäftigtsein mit Drogen bei Vorliegen
einer Störung im Zusammenhang mit Psychotropen Substanzen, starkes Beschäftigtsein mit einer
schweren Krankheit bei Vorliegen einer Hypochondrie, starkes Beschäftigtsein mit sexuellen Be-
dürfnissen oder Phantasien bei Vorliegen einer Paraphilie, Grübeln über Schuld bei Vorliegen einer
Major Depression).
E. Das Störungsbild geht nicht auf eine direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z.B. Droge,
Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück...
Laut DSM-IV liegt bei Zwängen wenig Einsicht vor (deutsch „überwertige Ideen“ ge-
nannt), wenn der Betroffene den Großteil der Zeit kaum erkennt, dass seine Zwangsge-
danken oder Zwangshandlungen übermäßig oder unbegründet sind. Richtigerweise wird
im Gegensatz zum ICD-10 weder ein Widerstand noch eine Einsicht in die Unsinnigkeit
der Zwänge gefordert. Im DSM-IV werden Zwangsgedanken und Zwangshandlungen
genauer definiert. Kognitive Rituale (Beten, Zählen, in Gedanken Wörter wiederholen)
gelten nicht als Zwangsgedanken, sondern als Zwangshandlungen. Grundgedanke:
Zwangsgedanken rufen Angst hervor, Zwangshandlungen reduzieren die Angst.
108 Angststörungen
Zwangshandlungen sind nach dem ICD-10 [90] ständig wiederholte Stereotypien, die
angesichts von objektiv ungefährlichen, subjektiv jedoch als sehr bedrohlich erlebten
Ereignissen eingesetzt werden, um Schaden für den Patienten oder andere Menschen zu
vermeiden. Oft wird die Gefahr als von der eigenen Person ausgehend erlebt, was mit
allen Mitteln zu verhindern versucht wird. Das Zwangsritual stellt einen letztlich wir-
kungslosen, symbolischen Versuch dar, eine vermeintliche Gefahr abzuwehren. Die
meisten Zwangshandlungen stehen in Zusammenhang mit Reinlichkeit (besonders Hän-
dewaschen), übertriebener Ordnung und Sauberkeit oder wiederholten Kontrollen.
Die häufigsten Zwänge sind Kontrollzwänge (Kontrollieren von Ofen, Licht, Gas-
und Wasserhahn, Fenster, Türen, Auto usw.), gefolgt von Waschzwängen. Zwangs-
handlungen können täglich oft stundenlang ausgeführt werden und beeinträchtigen im
Laufe der Zeit die soziale und berufliche Integration. Zwangshandlungen treten bei
beiden Geschlechtern etwa gleich häufig auf. Handwaschzwänge sind bei Frauen häufi-
ger, eine Verzögerung der Handlungsabläufe ohne Wiederholung bei Männern.
Zwangsgedanken sind nach dem ICD-10 [91] zwanghafte Ideen, bildhafte Vorstel-
lungen oder Zwangsimpulse, die sich dem Betroffenen in quälender Weise aufdrängen.
Sie beziehen sich oft auf aggressive, sexuelle, obszöne oder blasphemische (gottes-
lästerliche) Themen, die von den Patienten als persönlichkeitsfremd und abstoßend
erlebt werden (z.B. Zwangsimpulse einer Mutter, ihr geliebtes Kleinkind mit dem Mes-
ser zu töten; Zwangsimpuls, von einer Brücke oder einem hohen Gebäude zu springen,
obwohl keine Selbstmordgedanken bestehen; Zwangsimpuls zu unkontrollierten ver-
pönten sexuellen Handlungen). Das Auftreten von aggressiven oder autoaggressiven
Impulsen bewirkt massive Ängste, dass diese in die Tat umgesetzt werden könnten.
Dies kommt jedoch praktisch nicht vor, weshalb die oft umfangreichen Sicherungsstra-
tegien, die das Selbstvertrauen der Patienten nur weiter untergraben, unnötig sind. Die
Störung ist weniger durch Ängste als vielmehr durch eine massive Unsicherheit bedingt.
Zur Diagnose einer Zwangsstörung müssen nach dem ICD-10 Zwangsgedanken
und/oder Zwangshandlungen wenigstens zwei Wochen lang an den meisten Tagen vor-
handen sein und zu einer massiven psychosozialen Beeinträchtigung führen, meist be-
dingt durch den besonderen Zeitaufwand.
80% der Zwangsstörungen lassen sich in der Praxis durch drei Fragen erfassen:
„Müssen Sie Ihre Hände immer wieder waschen? Müssen Sie manche Dinge immer
wieder kontrollieren? Haben Sie Gedanken, die Sie quälen und die Sie nicht loslassen?“
Laut einer Studie werden 90% der Zwangshandlungen ausgeführt, um Angst ma-
chende Zwangsgedanken zu vermindern oder rückgängig zu machen.
Zwangsstörung 109
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [92], die eine präzisere Operationalisie-
rung als die klinisch-diagnostischen Leitlinien vornehmen, ist eine Zwangsstörung
(F42) durch folgende Merkmale charakterisiert:
A. Entweder Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen (oder beides) an den meisten Tagen über
einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen.
B. Die Zwangsgedanken (Ideen oder Vorstellungen) und Zwangshandlungen zeigen sämtliche folgen-
den Merkmale:
1. sie werden als eigene Gedanken/Handlungen von den Betroffenen angesehen und nicht als von
anderen Personen oder Einflüssen eingegeben
2. sie wiederholen sich dauernd und werden als unangenehm empfunden, und mindestens ein
Zwangsgedanke oder eine Zwangshandlung werden als übertrieben und unsinnig anerkannt
3. Die Betroffenen versuchen, Widerstand zu leisten (bei lange bestehenden Zwangsgedanken und
Zwangshandlungen kann der Widerstand allerdings sehr gering sein). Gegen mindestens einen
Zwangsgedanken oder eine Zwangshandlung wird gegenwärtig erfolglos Widerstand geleistet
4. Die Ausführung eines Zwangsgedankens oder einer Zwangshandlung ist für sich genommen
nicht angenehm (dies sollte von einer vorübergehenden Erleichterung von Spannung und Angst
unterschieden werden).
C. Die Betroffenen leiden unter den Zwangsgedanken und Zwangshandlungen oder werden in ihrer
sozialen oder individuellen Leistungsfähigkeit behindert, meist durch den besonderen Zeitaufwand.
D. Ausschlussvorbehalt: Die Störung ist nicht bedingt durch eine andere psychische Störung, wie
Schizophrenie und verwandte Störungen (F2) oder affektive Störungen (F3).
„Ich habe Angst, mein Sohn könnte sich mit Schmutz auf dem Boden infizieren, wenn er auf dem
Fußboden der Wohnung oder im Rasen des Vorgartens herumkrabbelt. Ich muss den Boden absolut
sauber halten, niemand darf mit Schuhen die Wohnung betreten, und wenn, dann muss ich stundenlang
den Boden von den Spuren reinigen. Auf dem Rasen des Gartens darf er sich überhaupt nicht aufhalten,
weil man nie wissen kann, welche Gifte der Boden enthält. Wenn er mit den Händen den Boden berührt
und dann die Hände oder eine Nahrung in den Mund nimmt, könnte er schwer krank werden oder gar
sterben – und ich bin schuld, weil ich nicht aufgepasst habe. Wenn meine Mutter auf meinen Sohn
aufpasst, darf er auf dem Boden krabbeln, weil ich das nicht sehe. Wenn ihm jedoch einmal etwas
passieren sollte, werde ich mir Vorwürfe machen, denn ich habe ihn meiner Mutter überlassen.“
110 Angststörungen
Ein Mann mit Kontrollzwängen ist mit folgendem inneren Dialog beschäftigt:
„Habe ich die Haustür wirklich abgesperrt oder nur ins Schloss fallen lassen? Sind die Fenster tatsäch-
lich fest verschlossen oder nur angelehnt? Es ist furchtbar, wenn ich die Wohnung nicht einbruchssicher
verlassen habe. Ich habe die Wohnung als letzter verlassen. Ich bin schuld, wenn etwas passiert. Was
ist, wenn Diebe kommen? In unserer Gegend ist ohnehin schon einmal eingebrochen worden. Das halte
ich nicht aus. Ich muss sofort noch einmal umdrehen und zu Hause nachschauen. Nein, es wird schon
nichts passieren, ich versäume sonst den Bus zur Arbeit. Ich habe ohnehin alles mehrfach kontrolliert.
Aber was ist, wenn ein Sturm ein Fenster öffnet, das doch nur angelehnt war? Bei einem Sturm sind nur
wenig Menschen auf der Straße, und niemand sieht, wie leicht ein paar Ausländer unsere Wohnung
ausräumen, den wertvollen Schmuck meiner Frau, die neue HiFi-Anlage meines Sohnes und die wert-
vollen Bilder und Teppiche mitnehmen und sofort unauffindbar aus der Gegend verschwinden und das
Ganze im Ausland verkaufen. Ich muss unbedingt sofort zurück. Das Risiko ist zu groß. Das halte ich
nicht aus. Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, was passieren kann.“
Alle Familienmitglieder (Vater, Sohn und Tochter) müssen vor der Wohnungstür die Schuhe ausziehen,
peinlich genau säubern und schließlich noch die Sohlen desinfizieren. Beim Eintreten dürfen sie nicht
den Griff der bereits von der Patientin geöffneten Tür berühren. Sie müssen sofort in das Bad gehen, die
Hände gründlich mit Seife waschen, die Kleidung in die Schmutzwäsche geben und frisches Gewand
anziehen, weil die Luft durch die Großindustrie verunreinigt sein könnte. In bestimmten Fällen, wenn
die Luft besonders schlecht ist, müssen sich alle nach dem Betreten der Wohnung sicherheitshalber
auch noch duschen. Trotz dieser Vorkehrungen müssen bestimmte Stellen der Wohnung gemieden
werden, weil die Patientin sonst mit der Reinigung der Wohnung überfordert wäre. Außer den Famili-
enmitgliedern darf seit einem Jahr kein Bekannter oder Verwandter mehr die Wohnung betreten, weil
man fremden Menschen derartige Reinigungsrituale nicht zumuten kann und sonst ins Gerede kommen
würde. Alle Familienmitglieder finden Ausreden, warum Besuche derzeit nicht möglich sind. Sie sind
innerlich voll Groll über die Patientin, decken sie jedoch nach außen hin und führen ihre Zwangsrituale
aus, um nicht ihren Ärger zu erregen und in ständigen familiären Spannungen leben zu müssen.
Besondere Reinigungsprozeduren sind erforderlich, wenn die Patientin und die 14-jährige Tochter
die Menstruation haben. Die Unterwäsche und die Klobrille werden gereinigt, als wären sie verseucht.
Die Hände müssen nicht nur gründlich mit Seife gewaschen, sondern desinfiziert werden wie in einem
Krankenhaus. Erst danach dürfen Nahrungsmittel angegriffen und verarbeitet werden. Schließlich
sollen die Familienmitglieder nicht mit Bazillen, die im Regelblut sein könnten, angesteckt werden. Die
Mutter schärft der Tochter dieses Verhalten stets aufs Neue ein und erinnert sie daran, welche Gefahren
ansonsten drohen könnten. Wenn die Tochter die Menstruation einmal bereits zwei Tage lang bekom-
men hat, ohne dass die Mutter dies weiß, ist sie beunruhigt, denn die Tochter könnte sich nicht an die
Vereinbarungen gehalten haben. Dann muss die Mutter alles, was die Tochter angegriffen hat, beson-
ders gründlich reinigen. Wenn die Tochter nicht darauf achtet, dass ihre Unterhose mit dem Regelblut
nicht mit der übrigen Wäsche in Berührung kommen darf, ist für die ganze Schmutzwäsche ein Spezial-
waschgang erforderlich. Der Gatte, der in seinem Betrieb mit chemischen Substanzen in Kontakt
kommt, darf erst nach Hause kommen, wenn er sich in der Firma geduscht hat und seine Arbeitsklei-
dung im Betrieb abgelegt hat, die konsequenterweise auch auswärts gereinigt werden muss.
Die Patientin war früher halbtags berufstätig, aufgrund der Wasch- und Reinigungszwänge, die täg-
lich mehrere Stunden in Anspruch nehmen, kam sie mit dem Haushalt nicht mehr zurecht, obwohl alle
kräftig mithalfen, sodass sie vor zwei Jahren ihren Beruf aufgeben musste. Von da an wurde die
Zwangsstörung noch ärger, schon allein deshalb, weil die Patientin nun mehr Zeit dazu hatte. Die
Patientin ist für keinerlei Vernunftargumente zugänglich. Sie hat letztlich ein emotionales Problem,
nämlich dass einem Familienmitglied etwas Lebensgefährliches zustoßen könnte. Ursächlich hängt dies
damit zusammen, dass bei ihrer Mutter vor vier Jahren eine Magenkrebserkrankung entdeckt wurde.
Die Patientin führte diese Erkrankung darauf zurück, dass die Mutter mit ihren ungewaschenen Händen,
die vorher berufsbedingt chemische Substanzen berührt hatten, alle Lebensmittel angegriffen und sich
dadurch gleichsam selbst vergiftet habe. Die Patientin sah darin schon immer eine gewisse Gefahr und
fühlt sich durch diese Ereignisse in ihrer Sorge bestätigt, weshalb sie in ihrer Familie darauf achtet, dass
niemand durch Verunreinigung zu Schaden kommt.
Zwangsstörung 111
Zwangshandlungen
Zwangshandlungen (engl. compulsions) werden in fünf Typen unterschieden (die Dar-
stellung folgt vielfach den Ausführungen von Hoffmann und Hofmann [93]):
z Kontrollzwänge,
z Wasch- und Säuberungszwänge,
z Ordnungszwänge,
z Wiederholungszwänge,
z Sammeln, Stapeln und Horten.
Kontrollzwänge
Es ist ganz normal, bei wichtigen Anlässen, erhöhter Unsicherheit oder in Zeiten großer
Belastungen genauer und vermehrt zu kontrollieren, um dann die Kontrollen in ange-
messener Weise erfolgreich abzuschließen. Zwangskranke dagegen können ihre Kon-
trollen nicht beenden und sich nicht davon distanzieren. Es fehlen ihnen meist klare
Beurteilungsmaßstäbe, wann sie auf weitere Kontrolltätigkeiten verzichten können. Sie
erleben ihre Kontrollen als unvollständig, haben ein diffuses Gefühl, dass alles so wie
jetzt noch nicht passt und bleiben körperlich und geistig ständig angespannt. Aus dem
permanenten Gefühl der Unvollständigkeit und des Ungenügens heraus setzen sie auf
vermehrte Kontrollen mithilfe aller Sinne (etwas hören, ertasten und aus verschiedenen
Blickwinkeln betrachten). Die sinnliche Wahrnehmung, dass alles passt, kommt im
Kopf der Zwangskranken nicht als entsprechendes Gefühl an. Der Überblick über die
Situation geht zunehmend verloren, kleine Ausschnitte der Wirklichkeit werden überfi-
xiert, das Handeln ist entweder diffus und unorganisiert oder starr und unflexibel.
Magische Praktiken können dazu verwendet werden, lange Kontrollrituale abzukür-
zen. Sie haben eine ökonomische Funktion. Beispielsweise können 20 Kontrollen des
Ofens vor dem Verlassen des Hauses auf zwei reduziert werden, wenn dabei magische
Rituale eingesetzt werden: bestimmte Gesten oder Bewegungen machen (z.B. Kreuzzei-
chen), Sätze oder Zahlen sprechen, Gebete verrichten, alles in einer genau bestimmten
Häufigkeit tun, wobei bestimmte „gute“ Zahlen als Leitlinie dienen (etwas dreimal
machen müssen, etwas anderes sechsmal machen müssen).
Die Angst vor einer Katastrophe („Durch mein Verhalten könnte jemand ein Un-
glück erleiden“, „Ich könnte für einen Fehler bestraft werden“), für die man verantwort-
lich sein könnte, führt oft zu einer übermäßigen Kontrolle des Ofens, anderer Elektroge-
räte (z.B. Kaffeemaschine, Bügeleisen, Haarfön), der Gas- und Wasserhähne, der Türen
und Fenster, verschiedener Schlösser, bestimmter beruflicher oder privater Tätigkeiten
(z.B. werden erledigte Arbeiten oder ausgefüllte Zahlscheine ständig überprüft).
Die Betroffenen haben ein übertriebenes Verantwortungsgefühl für eventuelle Feh-
ler und Folgen für andere Menschen, sodass angesichts des befürchteten Versagens
heftige Schuldgefühle einsetzen. Sie achten in Form ständiger Kontrollen darauf, dass
sie ihre Mitmenschen nicht durch ihre Unachtsamkeit gefährden und möchten ihre An-
gehörigen vor Gefahren bewahren. Viele Kontrollzwänge werden ausgelöst durch die
Angst, dass man andere Menschen unabsichtlich gefährdet haben könnte und das Be-
dürfnis nach der Sicherheit, dass dies keinesfalls passieren darf. Zwangskranke fühlen
sich bereits vor jeder Handlung ständig schuldig und unfähig und daher verantwortlich
für potenzielle Fehler. Häufige Frage: „Könnte ich an diesem Ereignis schuld sein?“
112 Angststörungen
Die Betroffenen fühlen sich durch Substanzen verseucht. Wasch- und Säuberungszwän-
ge sind nach Hoffmann und Hofmann „Berührungsvermeidungszwänge“, weil es letzt-
lich darum geht, Kontakte und Berührungen mit bestimmten Substanzen zu vermeiden.
Wenn dies nicht möglich war, werden hinterher Waschen und Wischen als Zwangsritua-
le eingesetzt. Die Ursache von Waschzwängen sind in erster Linie massive Ekelgefühle
und nicht, wie oft angeführt wird, Angstgefühle. Ängste vor Ansteckung und Krankheit
kommen erst an zweiter Stelle der Ursachen für Wasch- und Reinigungszwänge.
Ekel ist ein fundamentales Gefühl, das den ganzen Menschen intensiv erfasst und
zur Abwehr des Ekelhaften bewegt. Ekel auslösend und damit den Zwang begünstigend
sind gewöhnlich organische Substanzen. Bei Ekel kommt einem etwas zu nahe, über-
schreitet etwas die Körper- und Intimgrenzen, dringt etwas gleichsam in den eigenen
Körper hinein, bleibt etwas auf der Haut haften, erzeugt etwas Klebriges und Glitschi-
ges auf dem eigenen Körper eine intensive Abscheu vor sich selbst. Wasch- und Reini-
gungszwänge sollen dann wieder „Reinheit“ und nicht einfach nur Sauberkeit bewirken.
Der Umgang mit ekeligen Substanzen wird durch zwei Grundannahmen bestimmt:
1. Die eklige Substanz ist durch Berührung endlos übertragbar, sodass durch die suk-
zessive Ausbreitung über viele Stationen richtige Verseuchungsketten entstehen, de-
nen man nur schwer entkommen kann.
2. Der ekelige Stoff verliert sein Ekelpotenzial auch nicht in gleichsam „homöopathi-
scher Verdünnung“, sodass kein klares Beurteilungskriterium vorhanden ist, ab wel-
chem Reinigungsgrad man wieder sauber im Sinne von „rein“ und unbefleckt ist.
Als Überträger von Ekelsubstanzen gelten andere Menschen sowie deren Kleidung und
Gegenstände. Selbst bei Hundekot oder Schmutz vom Boden besteht die größere Ab-
scheu vor den Menschen, die den ekeligen Stoff übertragen und bis in die eigene Woh-
nung einschleppen, sodass man diesen Personen unbedingt ausweichen oder Einhalt
gebieten muss, auch wenn es sich um Familienmitglieder und gute Bekannte handelt.
Aus Ekel oder Krankheitsangst werden folgende Dinge besonders gefürchtet: Körper-
ausscheidungen (Schweiß, Urin, Kot, Samen, Menstruationsblut, Vaginalsekret),
Schmutz (Erde, Fußboden), Keime jeder Art (z.B. bei Abfällen, öffentlichen Toiletten,
Türgriffen), Bakterien und Viren, Krankheiten (z.B. AIDS, Krebs), bestimmte chemi-
sche Substanzen oder Tiere als Überträger gefährlicher Krankheitserreger (z.B. BSE).
Zwangsstörung 113
Ideelle Substanzen wie der „Geruch des Todes“, der durch einen Friedhofbesuch
oder die Teilnahme an einem Begräbnis übertragen werden kann, werden ebenso ge-
mieden wie der „Geruch des Vaters“, der noch auf Gegenständen vorhanden sein könn-
te, die der gehasste oder bereits verstorbene Vater vor Jahren berührt hat. Wasch- und
Reinigungszwänge werden verursacht durch Ekelgefühle, Angst vor Ansteckung mit
Krankheitskeimen, Verunreinigung mit menschlichen Ausscheidungen oder Verseu-
chung durch gefährliche Chemikalien. Die Betroffenen fürchten bei Konfrontation mit
diesen Stoffen, krank zu werden bzw. zu sterben oder andere durch Übertragung der
Keime zu infizieren und zu gefährden.
Wasch- und Putzzwänge haben eine starke Ähnlichkeit mit phobischem Vermei-
dungsverhalten, phobischer Erwartungsangst und spezifischen Auslösern. Die Angst vor
Verunreinigung durch verschiedene Substanzen und deren vermeintliche Folgen (Tod,
Krankheit, Unglück) führt zu stundenlangen Wasch- und Reinigungsprozeduren. Bevor-
zugt gewaschen werden Hände, Arme oder Kleidungsstücke. Überpenibel gereinigt
werden meist die Schuhe oder bestimmte Einrichtungsgegenstände. Personen mit einem
Reinigungszwang haben aufgrund ihrer ständigen Schuldgefühle oft große Angst, ande-
re Menschen anzustecken, was voraussetzt, dass sie glauben, selbst bereits angesteckt zu
sein, doch dies belastet sie meist weniger als der Umstand, dass sie selbst jemanden
anstecken könnten. Wasch- und Putzzwänge sollen ein befürchtetes Unglück (Krankheit
oder Tod) verhindern oder das Gefühl des Wohlbehagens wiederherstellen. Reinigungs-
zwänge ufern im Laufe der Zeit immer mehr aus, weil aufgrund möglicher Kontakte
und Übertragungen immer mehr Lebensbereiche als verunreinigt angesehen werden.
Angehörige müssen oft dieselben Reinigungsrituale einhalten, um jede Verunreini-
gung zu vermeiden. Eltern, Partner und Kinder fügen sich erstaunlich geduldig den
Reinigungsvorschriften des Zwangskranken. Manchmal wehren sie sich erbittert gegen
diese Anordnungen, sodass ständige Spannungen gegeben sind. Menschen mit Wasch-
zwängen haben einen hohen Verbrauch von Warmwasser, Seife und Handtüchern. Das
Badezimmer wird oft stundenlang nicht verlassen. Wasch- und Reinigungszwänge be-
ziehen sich entsprechend der zugrunde liegenden Problematik oft nur auf bestimmte
Bereiche (z.B. Hände, Toilette), während andere Bereiche ausgesprochen schmutzig
sein können. Ein „Sauberkeitsfanatiker“ achtet in allen Bereichen auf Sauberkeit.
Früher wurden oft Geschlechtskrankheiten (Syphilis, Gonorrhö, Herpes) gefürchtet,
heute stehen oft AIDS, BSE oder Krebs im Vordergrund der Reinigungszwänge.
Ordnungszwänge
Ordnungszwänge sind oft reine Handlungszwänge. Die Betroffenen haben das Ge-
fühl, dass etwas so, wie es ist, nicht in Ordnung ist und können gar nicht angeben, wel-
che Konsequenzen sie im Falle des Nichtausführens der Zwänge fürchten.
Wiederholungszwänge
Sammeln als Hobby bedeutet das Aufbewahren von Dingen, die einem persönlich be-
deutsam sind. Zwangspatienten sammeln und horten viele Gegenstände oft jahrelang,
auch wenn sie diese gar nicht brauchen. Nichts kann weggeworfen werden aus Angst, es
könnte noch einmal gebraucht werden. Kaputte Maschinen oder Elektrogeräte werden
z.B. deshalb aufgehoben, weil man später einmal für ein neueres Gerät einen Ersatzteil
aus dem alten Gerät brauchen könnte. Alte Zeitungen, Zeitschriften, Prospekte, Rech-
nungen, Fahrkarten, Notizzettel, Plastiktüten, Flaschen, Kleidungsstücke werden aufge-
hoben, weil das Wegwerfen unmöglich geworden ist. Horten in der Wohnung führt
häufig zu Platzmangel, Unordentlichkeit und Unbehaglichkeit für die Familienmitglie-
der. Die Wohnung von manchen Zwangskranken schaut aus wie ein großer Müllhaufen.
Zwanghaftes Horten kann zusammenfassend charakterisiert werden als Sammeln
von meist wertlosen, nur wenig wertvollen bzw. unbrauchbar gewordenen Gegenstän-
den, die im Laufe der Zeit den gesamten Lebensraum ungemütlich machen, verstopfen
und für andere Zwecke fast unbrauchbar machen. Zu den gehorteten Gegenständen
besteht eine übermäßige emotionale Beziehung, weshalb das Wegwerfen schwer fällt,
zur Rationalisierung des Verhaltens werden oft Gründe wie Sparsamkeit, Verantwor-
tungsgefühl oder Brauchbarkeit der jeweiligen Teile und Objekte angeführt.
Die Betroffenen beschränken ihr Verhalten gewöhnlich auf den privaten Bereich der
Wohnung und sind im Beruf sowie im Freizeitverhalten eher unauffällig. Obwohl man-
che Personen im Laufe der Zeit unter ihrem krankhaften Horten leiden, sind sie nicht in
der Lage, ihr Verhalten zu ändern. Die Symptomatik kommt oft bei Menschen vor, die
zu depressiven Episoden neigen. Diese Störung wird oft als Kontrollzwang verstanden,
weil es eine Form der Kontrolle ist, alles zu sammeln und zu behalten.
Zwangsstörung 115
Der tiefere Sinn des zwanghaften Hortens liegt in folgender bewusster bzw. unbewuss-
ter Motivation: Sammeln vermittelt das Gefühl der Kontrolle über die Umwelt, eine
Absicherung gegenüber der Zukunft und somit eine Pseudosicherheit gegenüber der
Ungewissheit des weiteren Lebens. Auch für diese Zwangssymptomatik gilt der Grund-
satz, dass Zwangssymptome als Kompensationsversuche für erlebte Ich-Schwäche zu
interpretieren sind. Fehlende innere Sicherheit und Stabilität wird wie bei anderen
Zwängen über äußere Kontrollen zu regulieren versucht. Jedes Wegwerfen von gehorte-
ten Objekten fällt den Betroffenen sehr schwer, weil es ihnen wie ein Verlust von Si-
cherheit und Identität vorkommt. Die psychische Problematik der „zwanghaften Ver-
müllung“ besteht also weniger im Sammeln von nutz- und wertlosen Objekten, sondern
vielmehr in der Unfähigkeit, etwas wegwerfen oder weggeben zu können.
Zwanghafte Sammler setzen ihrer Sammelleidenschaft keinen Widerstand entgegen
und werden erst unruhig, wenn die Angehörigen Druck machen, verschiedene Sachen
wegzuwerfen. Die Betroffenen sind nur dann in der Lage, verschiedene gehortete Ob-
jekte wegzuwerfen, wenn sie durch verschiedene Maßnahmen eine gewisse psychische
Stabilität („Ich-Stärke“) erlangt haben, sonst werden sie nicht nur heftig protestieren,
sondern auf andere Weise noch negativer auffallen, d.h. es besteht bei einer Zwangs-
räumung ohne psychologisch-psychotherapeutische Begleitmaßnahmen die Gefahr der
psychischen Dekompensation der Betroffenen.
Die primäre zwanghafte Langsamkeit ist ein Handeln im Zeitlupentempo, wo alle All-
tagshandlungen extrem viel Zeit in Anspruch nehmen, ohne dass dieses Verhalten die
Folge anderer Zwänge darstellt. Diese Störung kommt monosymptomatisch zwar selten
vor, verhindert dann allerdings oft die berufliche und soziale Integration. Die Betroffe-
nen brauchen extrem lange zur Verrichtung alltäglicher Handlungen (Anziehen oder
Ausziehen, Körperpflege wie z.B. Zähneputzen, Rasieren, Haare kämmen, Tätigkeiten
im Haushalt, Essen). Massiv verlangsamend wirkt das Gefühl, dass eine Handlung noch
nicht passt (Unvollständigkeitsgefühl) oder das ständige detaillierte Durchdenken der
Handlungsabläufe, d.h. die Betroffenen denken ständig an Vergangenes. Wird der Ab-
lauf irgendwie gestört, muss alles wieder von vorne begonnen werden. Kurz dauernde
Alltagshandlungen werden auf diese Weise zu einer stundenlangen Beschäftigung.
116 Angststörungen
Zwangsgedanken
Zwangsgedanken (engl. obsessions) sind lästige und aufdringliche Gedanken, bildhafte
Vorstellungen und dranghafte Impulse. Der Begriff der Zwangsgedanken umfasst
zwanghafte Gedanken, Ideen, Vorstellungen, Erinnerungen, Fragen, Befürchtungen und
Grübeleien. Bestimmte Gedanken, Zahlen, Farben, Dinge, Anordnungen müssen ver-
mieden werden, weil davon Unglück ausgehen könnte, falsche Gedanken können sogar
zum Tod führen, wenn nichts dagegen unternommen wird. Die Betroffenen erleben die
jeweiligen Inhalte als persönlichkeitsfremd, abstoßend, unannehmbar, moralisch ver-
werflich, sinnlos und kaum ausschaltbar. Sie fühlen sich geistig sehr beunruhigt, vegeta-
tiv stark erregt und angespannt und neigen zur Vermeidung der quälenden Gedanken.
Zwangsgedanken haben wenig ausformulierte, recht abstrakte und verhaltensferne
Themen zum Inhalt. Sie können wegen der damit verbundenen Verantwortungs-
Schuldgefühle nicht beendet werden durch einfaches Übergehen zu anderen Gedanken.
Sie werden in einer Skala zur Erfassung von Zwängen (Y-BOCS Yale-Brown-
Obsessive-Compulsive-Scale) inhaltlich folgendermaßen differenziert:
z Zwangsgedanken bezüglich Aggressionen,
z Zwangsgedanken bezüglich Sexualität,
z Zwangsgedanken bezüglich Verschmutzung,
z Zwangsgedanken bezüglich Sammeln und Aufbewahren von Gegenständen,
z Zwangsgedanken bezüglich der Religion oder eines schlechten Gewissens,
z Zwangsgedanken bezüglich Symmetrie oder Genauigkeit,
z Zwangsgedanken bezüglich des eigenen Körpers,
z Zwangsgedanken anderer Art (z.B. Furcht, Dinge zu tun, zu sagen, zu verlieren).
Zwangsgedanken drehen sich immer um die eigene Person, vor allem um die möglichen
negativen Auswirkungen der eigenen Handlungen und Einstellungen. Sie stellen eine
mögliche Kritik des eigenen Verhaltens dar und werden meist in Frageform formuliert.
Nach Hoffmann & Hofmann gibt es zwei verschiedene zwanghafte Fragestrukturen:
1. „Kann es sein, dass ich etwas ungewollt und unbewusst getan habe?“ Hier zeigt sich
ein fundamentales Misstrauen in das eigene Gedächtnis.
2. „Kann es sein, dass ich jemandem, weil ich ein schlechter Mensch bin, wirklich
schaden wollte bzw. geschadet habe, ohne mir dessen bewusst zu sein?“ Hier zeigt
sich ein starkes Misstrauen in die eigene Person, die durch und durch schlecht sei.
Es bestehen quälende Befürchtungen, gegen soziale Tabus zu verstoßen, z.B. sich unab-
sichtlich aggressiv, sexuell unanständig, sozial auffällig oder religiös unangepasst zu
verhalten. Es bestehen auch große Befürchtungen um ein bevorstehendes Unheil, eher
auf andere, nahe stehende Personen bezogen als auf die eigene Person. Oft bestehen
Zwangsgedanken mit aggressivem Inhalt gegen nahe stehende Personen (z.B. jemanden
zu verletzen). Der Zwangskranke glaubt, bereits schuldig zu sein oder es zu werden
durch irgendein falsches Verhalten und fühlt sich für die Abwendung der Katastrophe
verantwortlich. Zwangsbefürchtungen und -impulse lösen Angst und Unruhe aus und
werden durch kognitive oder verhaltensbezogene Rituale neutralisiert, die jedoch nur
kurz wirksam sind. Die Angst auslösende Zwangsbefürchtung „Ich könnte jemanden
umbringen“ wird etwa durch den kurzfristig beruhigenden Gegengedanken „Ich darf
niemanden umbringen“ zu bewältigen versucht (dieser wird „Denkzwang“ genannt).
Derartige Zwangsgedanken stehen im Widerspruch zum Wertesystem der Betroffe-
nen (dies macht ihr Wesen aus): gotteslästerliche Gedanken eines frommen Menschen,
aggressive Impulse eines Pazifisten, Mordfantasien einer überbehütenden Mutter ge-
genüber ihrer geliebten kleinen Tochter, sexuelle Impulse eines sexuell Gehemmten.
Abergläubische Ängste rund um Todesängste zählen auch zu den Zwangsgedanken.
Nach dem DSM-IV sind Denkzwänge Handlungszwänge, die ähnlich Angst und Unru-
he reduzierend wirken wie sichtbare Zwangsrituale. Ein Angst machender Zwangsge-
danke wird durch einen Denkzwang als Gegengedanken neutralisiert. Denkzwänge
(Gedankenzwänge) sind gedankliche Rituale, mit denen Zwangsgedanken, -impulse,
und -vorstellungen („Wirf dich vor den Zug“, „Spring vom Balkon hinunter“, „Töte
deinen Vater“) neutralisiert werden. Kognitive Rituale (Beschwörungsformeln, Gebete,
Sätze, Zählen) werden zur Beruhigung eingesetzt (z.B. ein Zählzwang oder „gute“ Ge-
danken wie „Dein Vater ist gut“). Bestimmte Zwangsgedanken führen zu zwanghafter
Beschäftigung mit den entsprechenden, meist unbestimmten Inhalten. Es besteht oft
eine enge Kombination von Zwangsgedanken und verdeckten Zwangshandlungen.
Zwanghaftes Grübeln
Differenzialdiagnose
Eine sorgfältige Differenzialdiagnose der Zwangsstörung gegenüber anderen Störungen
ist von großer Bedeutung, wenngleich oft eine Komorbidität gegeben sein kann. Im
Einzelnen ist eine Abgrenzung gegenüber folgenden Störungen vorzunehmen [96]:
Generalisierte Angststörung
Immer wiederkehrende Gedanken treten bei einer Zwangsstörung und bei einer genera-
lisierten Angststörung auf. Zwangsgedanken bzw. zwanghaftes Grübeln haben zwar
eine gewisse Ähnlichkeit mit einer generalisierten Angststörung, lassen sich in der Re-
gel jedoch eher leicht davon unterscheiden:
z Bei einer generalisierten Angststörung steht eine ständige übertriebene Besorgtheit
im Vordergrund, die mit realen Lebensumständen zu tun hat und eher ich-nahe (ich-
synton) erlebt wird. Menschen mit einer generalisierten Angststörung sind zwar
ständig nervös und ängstlich und grübeln viel über gefürchtete Zukunftssituationen,
ihre Sorgen richten sich jedoch auf alltägliche Belastungen und Gefahren, wie sie
auch von gesunden Menschen gelegentlich gefürchtet werden, jedoch nicht in die-
sem Ausmaß.
z Zwangsgedanken sind charakterisiert durch die Aufdringlichkeit der Gedanken, die
damit verbundenen Gedanken von Verantwortung und Schuld sowie den irrealen
Charakter der Zwangsgedanken, die eher als ich-fremd (ich-dyston) erlebt werden.
z Menschen mit Zwangsstörungen weisen mentale und verhaltensbezogene Rituale
auf, um auf diese Weise die innere Anspannung zu reduzieren. Derartige Rituale
fehlen bei Personen mit einer generalisierten Angststörung.
120 Angststörungen
Phobien
Posttraumatische Belastungsstörung
Schizophrenie
Depressionen
Depressive Grübeleien werden als ich-synton und stimmungskongruent erlebt und wer-
den nicht abgewehrt, zwanghafte Grübeleien werden als ich-dyston erlebt. Die Abgren-
zung gegenüber Depressionen kann (zumindest im Querschnitt) schwierig sein.
Zwangsstörung und Depression hängen oft eng zusammen [99]:
z Zwangsgedanken (Grübelzwänge) treten oft im Rahmen einer depressiven Episode
auf. Eine Zwangsstörung sollte nur dann diagnostiziert werden, wenn der Grübel-
zwang nicht im Zusammenhang mit einer Depression auftritt und anhält.
z Depressive Reaktionen entstehen oft auch als Folge nicht bewältigbarer Zwänge,
gleichsam als Resignationserscheinung nach langen Kämpfen gegen die Zwänge.
z Bestimmte Antidepressiva (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) sind auch
bei Zwangsstörungen wirksam, was biologische Zusammenhänge nahe legt.
Oft wird von „zwanghaftem“ Trinken, Essen, Spielen und Sexualverhalten gesprochen.
Gegenüber Sucht- und Drangverhalten gibt es typische Abgrenzungskriterien [100]:
z Bei Substanzmissbrauch haben die Betroffenen zumindest zum Zeitpunkt des Ver-
haltens einen gewissen Genuss, auch wenn sie es später bereuen, dem Drang nach-
gegeben zu haben. Zwangshandlungen bereiten dagegen niemals angenehme Gefüh-
le, sondern führen nur zu einem Nachlassen unangenehmer Gefühle.
z Bei einer Essstörung (Anorexie, Bulimie) besteht zwar eine zwangsähnliche Be-
schäftigung mit der Symptomatik oder ein ausgeprägter Drangzustand, der nicht sel-
ten als zwanghaft erlebt wird, es wird jedoch eindeutig ein positiv definierter Zielzu-
stand angestrebt, der lustvoll fantasiert oder erlebt wird (z.B. dünn sein).
z Drang- und Impulsstörungen sind eine Erleichterung bei allgemeiner Anspannung,
Zwänge beinhalten eine spezifische Angst, die durch Rituale bekämpft wird.
Somatoforme Störungen
Zwanghafte (anankastische)Persönlichkeitsstörung
Ticstörung
Hirnorganische Störung
Der Beginn einer Psychotherapie erfolgt trotz großen Leidensdrucks zumeist nur auf
Anraten eines Arztes oder auf Druck der Angehörigen. In den ersten Phasen einer Psy-
chotherapie besteht oft eine große Ambivalenz gegenüber Änderungsversuchen.
Lebensereignisse, psychosoziale Faktoren und vermehrter Stress tragen zur Auslö-
sung oder spezifischen Ausformung von Zwängen in ähnlicher Weise bei wie bei ande-
ren Angststörungen. Zwangsstörungen können durchaus Schwankungen aufweisen.
Rituale können verzögert, hinausgeschoben oder in Anwesenheit bestimmter Men-
schen unterdrückt werden (z.B. zur Vermeidung von Auffälligkeit). Ein Durchbruch
aggressiver oder sexueller Impulse kommt aufgrund der starken Kontrollen nur in ex-
tremen Ausnahmefällen vor.
Der Verlauf einer Zwangsstörung ist ohne adäquate Behandlung oft chronisch stabil,
progredient oder schwankend. Spontanheilungen sind im Erwachsenenalter selten, wenn
die Störung bereits länger als ein Jahr vorhanden war. Eine vollständige Heilung einer
langjährigen Symptomatik ist eher die Ausnahme, eine wesentliche Besserung durch
eine Kombination von Verhaltenstherapie und Psychopharmakotherapie ist jedoch sehr
wahrscheinlich, wenn die Patienten therapiemotiviert sind.
Rückfälle nach ursprünglich erfolgreichen Behandlungen im Rahmen stationärer
Aufenthalte sind häufig, weshalb eine längere ambulante Nachbehandlung zur Stabili-
sierung der Fortschritte angezeigt erscheint. Symptomverschlechterungen können durch
psychosozialen Stress verursacht sein [106]. Andererseits führt eine chronifizierte
Zwangsstörung gewöhnlich zu erheblichen familiären Problemen, wenn die Angehöri-
gen nicht mehr länger bereit sind, die Zwänge zu ertragen.
Eine Zwangsstörung tritt oft in Kombination mit anderen psychischen Störungen
auf, vor allem mit einer Depression oder Dysthymie (lang andauernde depressive Stö-
rung leichterer Art). Mindestens ein Drittel der Zwangskranken hat auch eine Depressi-
on. Die Zwänge sind während einer depressiven Episode gewöhnlich stärker ausgeprägt.
Die Komorbidität von Zwangsstörung und erheblicher Depression ist ein erschwerender
Umstand hinsichtlich der Beseitigung der Zwänge. Das Risiko, dass eine Zwangstörung
zu einer Depression führt, ist dreimal so hoch wie umgekehrt. Bei zunehmender bzw.
hoher Intensität bewirken Zwänge eine psychophysische Erschöpfung und Resignation.
Neben der Depression besteht eine hohe Komorbidität mit verschiedenen Angststörun-
gen (spezifischen Phobien, sozialen Phobien, generalisierten Angststörungen und Pa-
nikstörungen mit und ohne Agoraphobie). Häufig ist auch eine Komorbidität mit soma-
toformen Störungen, vor allem mit einer Hypochondrie oder einer Dysmorphophobie.
Mindestens ein Drittel der Patienten mit Zwangsstörungen weist eine Persönlich-
keitsstörung auf, vor allem eine selbstunsichere, dependente oder histrionische Persön-
lichkeitsstörung. Eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung kommt entgegen früheren
Behauptungen nur bei 10-25% der Zwangspatienten vor. Eine Zwangsstörung als Be-
gleitsymptomatik wurde auch bei verschiedenen Personen mit Essstörungen (Anorexie
und Bulimie) gefunden. Rund 10% der Frauen mit einer Zwangsstörung hatten in der
Vergangenheit eine Anorexia nervosa. Missbrauch oder Abhängigkeit von Alkohol
gehen deswegen häufig mit einer Zwangsstörung einher, weil anfangs oft mit Hilfe von
Alkohol eine Erleichterung der Zwänge zu erreichen versucht wurde.
Zwangskranke bekommen – im Gegensatz zu früheren Annahmen – nicht häufiger
eine Schizophrenie als andere Personen. Auch bei den Familienangehörigen von
Zwangskranken wurde kein erhöhtes Risiko für eine Schizophrenie gefunden.
Die Zwangsstörung wird zwar häufig auch in Verbindung mit dem Gilles-de-la-
Tourette-Syndrom diskutiert, eine Komorbidität wurde jedoch nur bei 5% gefunden.
Posttraumatische Belastungsstörung 125
Posttraumatische Belastungsstörung –
Ein Trauma bewirkt bleibende Angstzustände
„um ein aus mannigfaltigen nervösen und psychischen Erscheinungen zusammengesetztes Krankheits-
bild, welches sich in Folge von heftigen Gemüthserschütterungen, plötzlichem Schreck, großer Angst
ausbildet und daher nach schweren Unfällen und Verletzungen, besonders nach Feuersbrünsten, Explo-
sionen, Entgleisungen oder Zusammenstößen auf der Eisenbahn u. dergl. beobachtet wird.“
In Frankreich wiesen Charcot und Janet erstmals in den 80er-Jahren des 19. Jahrhun-
derts auf die Bedeutung von Traumata zur Erklärung so genannter „hysterischer“ Sym-
ptome hin. Während Charcot von einer „traumatischen Hysterie“ sprach, ging Janet
von einer posttraumatischen „Dissoziation“ aus. Er studierte als erster intensiv das
Phänomen der Dissoziation in Zusammenhang mit der Bewältigung traumatischer Bela-
stungen. Seine Erkenntnisse gerieten durch die spätere Dominanz des psychoanalyti-
schen Denkens in Vergessenheit und wurden erst in neuerer Zeit ausreichend gewürdigt.
126 Angststörungen
In Österreich hatte Sigmund Freud bereits Ende des 19. Jahrhunderts panikartige
Symptome als Folge von sexuellem Missbrauch in der Kindheit und diesen wiederum
als Ursache für die Hysterie beschrieben, er musste seine Feststellungen über einen real
weit verbreiteten sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie jedoch unter dem Druck
der empörten Öffentlichkeit widerrufen und die realen traumatisierenden Erfahrungen
zu sexuellen Wunschfantasien seiner „hysterischen“ Patientinnen erklären.
Die panikartigen Anfälle wie bei der 18-jährigen, vom Vater sexuell belästigten Ka-
tharina, deren Fall in den 1895 erschienenen „Studien zur Hysterie“ dargestellt ist,
verstand Freud als typische angsthysterische Anfälle in Reaktion auf das erinnerte
Trauma. 1896 veröffentlichte Freud [109] 18 Fallstudien unter dem Titel „Zur Ätiologie
der Hysterie“, wo er feststellte:
„Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich – durch die analy-
tische Arbeit reproduzierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalls – ein oder mehrere Erleb-
nisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören. Ich halte dies für eine
wichtige Enthüllung...“
Freuds Erklärungen wurden damals als wissenschaftliches Märchen abgelehnt und we-
der zitiert noch diskutiert. Freud wurde ausgegrenzt und erhielt keine Überweisungen
mehr. Bereits ein Jahr später verwarf Freud insgeheim die Theorie vom Trauma als
Ursache der Hysterie, wie aus seinen Briefen hervorgeht. Er war zu sehr beunruhigt
über die Folgen seiner Erkenntnisse. Wenn seine Patientinnen die Wahrheit gesagt hat-
ten und seine ursprüngliche Theorie stimmte, dann war aufgrund der Häufigkeit der
„Hysterie“ sexueller Missbrauch als weit verbreitet anzusehen. Freuds Patientinnen
stammten aus geachteten bürgerlichen Familien Wiens. Dort durften derartige Ereignis-
se einfach nicht vorkommen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
Judith Herman [110] beschreibt den Standpunktwechsel von Freud folgendermaßen:
„Aus den Trümmern seiner Theorie zur Entstehung der Hysterie durch frühe Traumatisierung schuf
Freud die Psychoanalyse. Die maßgebliche psychologische Theorie des 20. Jahrhunderts basiert auf der
Leugnung weiblicher Realität. Die Sexualität stand weiterhin im Mittelpunkt des Forschungsinteresses,
doch das ausbeuterische soziale Umfeld, in dem sexuelle Beziehungen letztlich stattfinden, verschwand
völlig aus dem Gesichtsfeld. Die Psychoanalyse beschäftigte sich von nun an mit dem inneren Wandel
der Phantasien und Sehnsüchte, losgelöst von den realen Erfahrungen. Im Jahr 1910 war Freud dann zu
dem Schluß gekommen, daß die Berichte seiner hysterischen Patientinnen über sexuellen Mißbrauch in
der Kindheit nicht der Wahrheit entsprachen, obwohl er nie eine klinische Dokumentation falscher
Anklagen vorlegte: ‘Als ich dann doch erkennen mußte, diese Verführungsszenen seien niemals vorge-
fallen, seien nur Phantasien, die meine Patienten erdichtet, die ich ihnen vielleicht selbst aufgedrängt
hatte, war ich eine Zeitlang ratlos.’ “
1920 sah Freud in „Jenseits des Lustprinzips“ eine traumatische Situation dann als
gegeben an, wenn von außen so starke Erregungen auf das Ich einstürzen, dass der Reiz-
schild durchbrochen werde. Das Ich werde dabei von Außenreizen überschwemmt und
die bisher erreichte Anpassung werde massiv gestört. Der Betroffene versuche die Pro-
blematik durch die Regression zu einem früheren Abwehrmechanismus zu bewältigen,
nämlich durch die zwanghafte Wiederholung der traumatischen Situation.
Freud hatte sich auch Verdienste erworben bezüglich der angemessenen Beurteilung
und Behandlung der österreichischen Soldaten mit „Kriegszittern“ im 1. Weltkrieg,
indem er in einem Gutachten gegen die schmerzhaften galvanischen Stromstöße an den
symptomtragenden Körperteilen auftrat.
Posttraumatische Belastungsstörung 127
Die „Kriegszitterer“ des 1. Weltkriegs, die mit den Grausamkeiten des Krieges nicht
zurechtkamen, wurden als Simulanten, Drückeberger und unzulängliche Männer abge-
stempelt und mit sehr schmerzhaften Stromschlägen behandelt, die zweifellos einen
strafenden, disziplinierenden und abschreckenden Charakter hatten. Die österreichi-
schen und deutschen Psychiater gingen davon aus, dass „richtige Männer“ die Kriegser-
lebnisse unbeschadet überstehen könnten und nur „Psychopathen“ sich in Krankheiten
flüchten würden. Im 2. Weltkrieg traten zuerst neue psychosomatische Erkrankungen
auf, wie etwa Magengeschwüre, Herz-Kreislauf-Störungen oder Kopfschmerzen. Spä-
ter, als der Krieg immer grausamer wurde, kamen die aus dem 1. Weltkrieg bekannten
Kriegsneurosen hinzu.
Im Gegensatz zu Deutschland standen die amerikanischen und britischen Behörden
nach beiden Weltkriegen den Soldaten mit massiven psychischen Kriegsfolgen Renten
zu. Vor allem im deutschen Sprachraum wurden bis in die 1970er-Jahre berufsunfähig
gewordene Menschen mit traumatischen Erlebnissen als Rentenneurotiker abqualifi-
ziert. Es wurde ihnen die Echtheit der berichteten Symptome abgesprochen und eine
Aggravationstendenz mit dem Wunsch nach finanzieller Entschädigung unterstellt
(„Kompensationsneurose“). Man ging von einer konstitutionellen Schwäche als Ursache
für psychische Störungen nach Extrembelastungen aus. Selbst bei den Opfern des Nazi-
Terrors wie etwa den KZ-Häftlingen, deren psychische Beschwerden eindeutige Folge
der traumatisierenden Umstände waren, verwendeten psychiatrische Gutachter mit Vor-
liebe Diagnosen wie „Neurasthenie“, „Psychasthenie“ und „psychovegetative Dysto-
nie“. Erst politische Entscheidungen führten später zu Entschädigungszahlungen [111].
Die Erforschung psychischer Störungen infolge traumatischer Kriegs- oder Internie-
rungserlebnisse erlahmte jeweils kurz nach beiden Weltkriegen, obwohl dabei interes-
sante Erkenntnisse gewonnen wurden. Bei zurückgekehrten Kriegsteilnehmern wurde
1945 in den USA eine Gefechtsneurose mit folgenden Symptomen diagnostiziert: inne-
re Unruhe, Aggressionen, Depressionen, Gedächtnisstörungen, Überaktivität des sym-
pathischen Nervensystems, Konzentrationsstörungen, Alkoholismus, Albträume, Phobi-
en und Misstrauen [112]. In den 1950er- und 1960er-Jahren begann man mit der Erfor-
schung der psychischen Folgen von Natur- und Industriekatastrophen (Brandkatastro-
phen, Gasexplosionen, Erdbeben, Tornados u.a.). Seit den 1970er-Jahren widmete man
sich in den USA intensiv der Untersuchung von Opfern sexueller und nichtsexueller
Gewalt. Später untersuchte man auch Traumata durch nötige medizinische Eingriffe.
Die Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung (engl. PTSD posttraumatic
stress disorder, d.h. posttraumatische Stressverarbeitungsstörung) ergab sich aus den
Untersuchungen an Vietnam-Kriegsteilnehmern in den USA. Sie wurde 1980 in das
DSM-III aufgenommen, u.a. auf Betreiben des Psychoanalytikers Mardi Horowitz
[113]. Die Störung findet sich im ICD-10 unter den „Reaktionen auf schwere Belastun-
gen und Anpassungsstörungen“. „Posttraumatisch“ bezeichnet den Zustand nach einer
schweren seelischen Verwundung (post = danach, trauma = seelische Verwundung).
Im Laufe der Erforschung dieser Störung wurde klar, dass die psychischen Syndro-
me, an denen die Opfer von Vergewaltigungen, häuslicher Gewalt und Inzest litten, den
Syndromen der Kriegsopfer entsprachen. Besonderen Anteil an dieser Entwicklung
hatte der erstarkende Feminismus in den USA in den 1970er-Jahren.
Judith Herman [114] stellt in ihrem lesenswerten Buch „Die Narben der Gewalt.
Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden“, das den Stand der Forschung
und der Therapie mit Opfern häuslicher, sexueller und politischer Gewalt zusammen-
fasst, lapidar fest: „Weibliche Hysterie und männliche Kriegsneurose sind das gleiche.“
128 Angststörungen
A. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden
Kriterien vorhanden waren:
(1) die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die
tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen
Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten.
(2) Die Reaktion der Person umfaßte intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen...
B. Das traumatische Ereignis wird beharrlich auf mindestens eine der folgenden Weisen wiedererlebt:
(1) wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die Bilder, Gedan-
ken oder Wahrnehmungen umfassen können...
(2) Wiederkehrende, belastende Träume von dem Ereignis...
(3) Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt (beinhaltet das Gefühl, das
Ereignis wiederzuerleben, Illusionen, Halluzinationen und dissoziative Flashback-Episoden,
einschließlich solcher, die beim Aufwachen oder bei Intoxikationen auftreten)...
(4) Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweis-
reizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte dessel-
ben erinnern.
(5) Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen,
die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erin-
nern.
C. Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind, oder eine Abflachung
der allgemeinen Reagibilität (vor dem Trauma nicht vorhanden).
Mindestens drei der folgenden Symptome liegen vor:
(1) bewußtes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Ver-
bindung stehen,
(2) bewußtes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma
wachrufen,
(3) Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern,
(4) deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten,
(5) Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen,
(6) eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu empfinden),
(7) Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z.B. erwartet nicht, Karriere, Ehe, Kinder oder normal
langes Leben zu haben).
D. Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens zwei der
folgenden Symptome liegen vor:
(1) Schwierigkeiten ein- oder durchzuschlafen,
(2) Reizbarkeit oder Wutausbrüche,
(3) Konzentrationsschwierigkeiten,
(4) übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz),
(5) übertriebene Schreckreaktion.
E. Das Störungsbild (Symptome unter Kriterium B, C und D) dauert länger als 1 Monat.
Bestimme, ob:
Akut: Wenn die Symptome weniger als 3 Monate andauern.
Chronisch: Wenn die Symptome mehr als 3 Monate andauern.
Bestimme, ob
Mit Verzögertem Beginn: Wenn der Beginn der Symptome mindestens 6 Monate nach dem Bela-
stungsfaktor liegt.
130 Angststörungen
Das DSM-IV unterscheidet nach der Dauer der Symptome bzw. dem Zeitpunkt des
Störungseintritts drei Varianten der Beeinträchtigung:
z akut: weniger als 3 Monate lang,
z chronisch: mindestens drei Monate oder länger (bei ca. 40-50%),
z mit verzögertem Beginn: zwischen dem traumatischen Ereignis und dem Beginn der
Symptome sind mindestens 6 Monate vergangen (dies ist eher selten).
Nach dem ICD-10 handelt es sich bei der posttraumatischen Belastungsstörung um eine
verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation
von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß (kurz oder lang
anhaltend), die bei fast jedem Menschen eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.
Beispielhaft angeführt werden folgende Traumata: durch die Natur oder durch Men-
schen verursachte Katastrophen, Kampfhandlungen, schwerer Unfall, Zeuge des ge-
waltsamen Todes anderer oder selbst Opfer von Folterung, Terrorismus, Vergewalti-
gung oder anderen Verbrachen zu sein. Von besonderer Bedeutung und Tragweite ist
der Umstand, dass auch nach dem ICD-10 Angehörige und Bekannte der Betroffenen
sowie sonstige Zeugen eines traumatischen Geschehens eine posttraumatische Bela-
stungsstörung entwickeln können. Prämorbide Persönlichkeitsfaktoren oder neurotische
Vorerkrankungen können eine posttraumatische Belastungsstörung laut ICD-10 zwar
begünstigen und verstärken, jedoch nicht entscheidend bewirken. Die frühere Annahme,
dass die Entwicklung dieser Störung nur bei Personen mit bereits prämorbider psychi-
scher Auffälligkeit (z.B. mit emotionaler Labilität, neurotischen, affektiven oder schi-
zophrenen Beeinträchtigungen) vorkommt, gilt als widerlegt. Es besteht heute ein Kon-
sens darüber, dass die Störung auch bei früher psychisch stabilen Personen auftreten
kann, wenn diese außergewöhnlich belastenden Situationen ausgesetzt sind.
Zentrale Merkmale der posttraumatischen Belastungsstörung sind nach den klinisch-
diagnostischen Leitlinien des ICD-10 folgende Symptome: wiederholtes unausweichli-
ches Wiedererleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinne-
rungen, „Flashbacks“), Träumen oder Tagträumen, andauernde Gefühle von Betäubt-
sein und emotionaler Abgestumpftheit (Gefühlsabstumpfung), emotionaler Rückzug,
Gleichgültigkeit gegenüber anderen, Teilnahmslosigkeit der Umwelt gegenüber, Freud-
losigkeit (Anhedonie), Vermeidung von traumarelevanten Aktivitäten und Situationen,
Furcht vor oder Vermeidung von Stichworten, die an das ursprüngliche Trauma erin-
nern könnten, manchmal auch dramatische Ausbrüche von Angst, Panik oder Aggressi-
on infolge des plötzlichen Erinnerns und intensiven Wiedererlebens des Traumas oder
der ursprünglichen Reaktion darauf, weiters vegetative Übererregtheit mit erhöhter
Vigilanz, übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlafstörung. Weitere Symptome wie
Angst, Depression, Selbstmordgedanken, Drogeneinnahme und übermäßiger Alkohol-
konsum können das Störungsbild verschärfen.
Die Störung entwickelt sich oft nicht sofort nach dem traumatischen Erlebnis, wie
dies bei einer akuten Belastungsreaktion oder einer Anpassungsstörung der Fall ist,
sondern häufig erst Wochen bis Monate später, doch selten später als sechs Monate
nach dem Trauma. Die Feststellung des ICD-10, dass eine posttraumatische Belastungs-
störung verzögert, jedoch gewöhnlich innerhalb von sechs Monaten nach einem trauma-
tischen Ereignis von außergewöhnlicher Schwere auftritt (wenngleich nicht näher spezi-
fizierte Ausnahmen zugestanden werden), vernachlässigt den Umstand, dass bei zahl-
reichen Personen der Ausbruch der Störung erst nach Jahren eintritt, z.B. bei vergewal-
tigten Frauen, die das Ereignis jahrelang aus der Erinnerung verdrängt haben.
Posttraumatische Belastungsstörung 131
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [116] ist eine posttraumatische Belastungs-
störung (F43.1) folgendermaßen definiert:
A. Die Betroffenen waren einem kurz- oder langdauernden Ereignis oder Geschehen von außerge-
wöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgrei-
fende Verzweiflung auslösen würde.
C. Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang stehen, werden tatsächlich
oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Erlebnis.
D. Entweder 1. oder 2.
1. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an einige wichtige Aspekte der Belastung zu er-
innern.
2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden
vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale:
a. Ein- und Durchschlafstörungen
b. Reizbarkeit oder Wutausbrüche
c. Konzentrationsschwierigkeiten
d. Hypervigilanz
e. erhöhte Schreckhaftigkeit
E. Die Kriterien B., C. und D. treten innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis oder
nach Ende einer Belastungsperiode auf. (Aus bestimmten Gründen kann ein späterer Beginn be-
rücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben werden).
Dissoziative Symptome fehlen im ICD-10 ebenso wie im DSM-IV, wo sie nur bei der
akuten Belastungsstörung angeführt sind. Nach den ICD-10-Forschungskriterien ist
Angst kein obligates Diagnosekriterium (Schreckhaftigkeit ist nur ein mögliches Sym-
ptom), weshalb die posttraumatische Belastungsstörung – anders als DSM-IV – nicht
als Angststörung, sondern als Reaktion auf eine schwere Belastung (Gruppe F43) gilt.
Im Vergleich zum ICD-10 sind die Kriterien für eine posttraumatische Belastungs-
störung im DSM-IV vor allem durch die Symptomgruppe C und F viel enger gefasst,
was erhebliche Auswirkungen auf die angenommene Häufigkeit in der Bevölkerung hat.
Bei einer Untersuchung an einer großen Stichprobe wiesen nach den ICD-10-Kriterien
7% der Untersuchten, nach den DSM-IV-Kriterien dagegen nur 3% eine posttraumati-
sche Belastungsstörung auf. Zwischen beiden Diagnoseschemata bestand nur eine
Übereinstimmung von 35%. Die Häufigkeit der Störung wird also nach dem ICD-10
überschätzt (keine Mindestzeitdauer der Störung und kein bestimmtes Beeinträchti-
gungsausmaß), nach dem DSM-IV dagegen unterschätzt (vor allem bei Kindern).
132 Angststörungen
DSM-IV und ICD-10 implizieren durch die jeweils angeführten Symptome, dass
eine posttraumatische Belastungsstörung und deren Ausmaß nicht allein durch das
Trauma an sich definiert ist, sondern vielmehr auch durch die subjektive Reaktion dar-
auf, die auf die unzureichende Verarbeitungsfähigkeit der betroffenen Person hinweist
(z.B. intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen). Traumatisierend wirkt zudem nicht
nur die Bedrohung der körperlichen Integrität, sondern auch die Bedrohung der funda-
mental menschlichen Erfahrung, eine autonom handelnde und denkende Person zu sein.
Das Sich-Aufgeben und der Verlust jeglicher Autonomie in der Zeit der traumatischen
Erfahrung stellen nach neueren Erkenntnissen an vergewaltigten oder inhaftierten Men-
schen – unabhängig von der Lebensbedrohung – verschärfende Belastungsfaktoren dar,
was zukünftig stärker berücksichtigt werden sollte.
Bei Holocaust-Überlebenden ist die posttraumatische Symptomatik als „survivor
syndrome“ bekannt und besteht aus einer Mischung von chronischer Angst, depressiv-
dysphorischer Stimmung, Schuld- und Schambefühlen bezüglich des Überlebens, psy-
chosomatischen Symptomen, Hypervigilanz, Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung
und bleibenden Persönlichkeitsveränderungen. Das Verhalten der Betroffenen ist der
Grund, warum sich die traumatischen Erfahrungen der Nazi-Opfer nachweislich oft bis
in die zweite Generation, d.h. bis auf die Kinder, auswirken.
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung reichen Schrecken und Terror bis in
die neuronalen Gehirnstrukturen hinein und bilden ein schwer löschbares „molekulares
Angstgedächtnis“, dessen Grundlage in mediobasalen Schläfenlappenstrukturen (Hip-
pocampus und Amygdala) zu suchen ist. Diese Hirnregionen üben eine Kontrolle über
die vegetativen und endokrinen Zentren von Hypothalamus und Hypophyse aus, was
die oft nur mühsame Veränderbarkeit der Symptome durch Pharmako- oder Psychothe-
rapie erklärt. Lerntheoretisch ausgedrückt, kommt es bei einer posttraumatischen Bela-
stungsstörung trotz häufiger Konfrontation zu keiner Gewöhnung (Habituation). Erfolg-
reiche Behandlungskonzepte bewirken während der Angst aktivierenden Konfrontation
mit den Ereignissen in Verbindung mit kognitiven Strategien eine Neuformierung der
Erinnerung durch die Hinzufügung hilfreicher Elemente, z.B. durch die Entwicklung
neuer Sichtweisen des Traumas in einem anderen, umfassenderen Kontext.
Wenn die Grundstörung von Fachleuten nicht erkannt bzw. von den Betroffenen
nicht berichtet wird, erhalten traumatisierte Personen nach wie vor oft eine Diagnose,
die mit den Folgen dieser Störung zusammenhängt (depressive Anpassungsstörung,
Alkoholmissbrauch, Verhaltensstörung, Somatisierungsstörung, dissoziative Störung,
Borderline-Persönlichkeitsstörung). Das häufige Fehlen einer spezifischen Therapie
trägt zur weiteren Chronifizierung der Störung bei. Im Vergleich zu früher hat sich
jedoch bereits eine wesentliche Verbesserung ergeben; dies gilt sowohl für die therapeu-
tischen Angebote als auch für die ansteigende Zahl an Selbsthilfebüchern.
In der Literatur findet man je nach Betrachtungsaspekt der posttraumatischen Bela-
stungsstörung verschiedene Einteilungsgesichtspunkte, sodass im Folgenden näher
daraus eingegangen wird. Man unterscheidet nach der Nähe zum traumatischen Erlebnis
zwischen drei Arten von Opfern, was vor allem im Rahmen von Zivilgerichtsverfahren
bei Forderungen nach finanzieller Kompensation (Schmerzensgeld), Übernahme von
Therapiekosten und der psychiatrischen Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit (z.B. von
Zeugen, Helfern oder Verwandten) von erheblicher Bedeutung ist:
z Primäropfer: Betroffene,
z Sekundäropfer: Zeugen, Einsatzkräfte,
z Tertiäropfer: Angehörige, Freunde, Bekannte.
Posttraumatische Belastungsstörung 133
Wegen der unterschiedlichen Folgen hat sich eine Einteilung nach zufälligen versus
menschlich verursachten Traumata bewährt:
z Zufällige Traumata: Katastrophen, berufsbedingte und Unfalltraumata (Natur- und
Technikkatastrophen, berufsbedingte und Arbeitsunfälle, Verkehrsunfälle).
z Menschlich verursachte Traumata: Körperliche und sexuelle Gewalt in Kindheit,
Jugend oder Erwachsenenalter, Kriegserlebnisse, Folter, politische Inhaftierung,
Geiselhaft und andere menschlich verursachte, gezielt gesetzte Traumata wirken
sich viel verheerender auf die Persönlichkeit der Betroffenen aus als andere Trauma-
ta und begünstigen eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung.
Nach der Auftretenshäufigkeit kann man zwei Arten von Traumata unterscheiden:
z Kurz dauernde, einmalige traumatische Erfahrung (Monotrauma, Typ-I-Trauma),
meist gekennzeichnet durch akute Lebensgefahr, Plötzlichkeit und Überraschung:
Naturkatastrophen, technische Katastrophen, Überfall, Vergewaltigung, Unfall,
Schusswechsel. Dies entspricht dem Störungsbild nach ICD-10 und DSM-IV.
z Lange dauernde bzw. wiederholte traumatische Erfahrungen (Multitraumata, auch
Typ-II-Traumata genannt), charakterisiert durch Serien verschiedener traumatischer
Einzelerlebnisse und geringe Vorhersagbarkeit der weiteren traumatischen Ereignis-
se: Krieg, Geiselhaft, KZ-Haft, mehrfache Folter, jahrelanger sexueller Missbrauch,
ständige körperliche Misshandlung. Multitraumata begünstigen eine so genannte
komplexe posttraumatische Belastungsstörung, die in den gegenwärtigen Diagnose-
schemata leider noch nicht vorkommt.
Judith Herman, die renommierte amerikanische Traumaexpertin und Aktivistin bei der
amerikanischen Frauenbewegung, hat 1992 in ihrem empfehlenswerten Buch „Die
Narben der Gewalt“ für komplexe, menschlich verursachte und wiederholt gesetzte
Traumatisierungen, die mit Affektregulationsstörungen, Bewusstseinsstörungen (Disso-
ziation und Amnesie, Somatisierungsstörungen, gestörter Wahrnehmung des Täters und
der eigenen Person und Störungen des persönlichen Wertesystems einhergehen, den
(heute noch immer nicht offiziellen) Begriff der „komplexen posttraumatischen Bela-
stungsstörung“ vorgeschlagen und folgendermaßen definiert [118]:
1. Der Patient war über einen längeren Zeitraum (Monate bis Jahre) totalitärer Herrschaft unterwor-
fen, wie zum Beispiel Geiseln, Kriegsgefangene, Überlebende von Konzentrationslagern oder Aus-
steiger aus religiösen Sekten, aber auch Menschen, die in sexuellen oder familiären Beziehungen
totale Unterdrückung erlebten, beispielsweise von Familienangehörigen geschlagen, als Kinder
physisch missbraucht wurden oder von organisierten Banden sexuell ausgebeutet wurden.
3. Bewußteinsveränderungen, darunter
- Amnesie oder Hypermnesie, was die traumatischen Ereignisse anbelangt
- zeitweilig dissoziative Phasen
- Depersonalisation/Derealisation
- Wiederholung des traumatischen Geschehens, entweder als intrusive Symptome der post-
traumatischen Belastungsstörung oder als ständige grüblerische Beschäftigung
6. Beziehungsprobleme, darunter
- Isolation und Rückzug
- gestörte Intimbeziehungen
- wiederholte Suche nach einem Retter (eventuell alternierend mit Isolation und Rückzug)
- anhaltendes Misstrauen
- wiederholt erfahrene Unfähigkeit zum Selbstschutz
C. Somatisierung
D. Chronische Persönlichkeitsveränderungen
(1) Änderung in der Selbstwahrnehmung: chronische Schuldgefühle; Selbstvorwürfe; Gefühle,
nichts bewirken zu können: Gefühle, fortgesetzt geschädigt zu werden
(2) Änderungen in der Wahrnehmung des Schädigers: verzerrte Einstellungen und Idealisierung
des Schädigers
(3) Veränderung der Beziehung zu anderen Menschen:
(a) Unfähigkeit zu vertrauen und Beziehungen mit anderen aufrechtzuerhalten
(b) die Tendenz, erneut Opfer zu werden
(c) die Tendenz, andere zum Opfer zu machen
E. Veränderungen in Bedeutungssystemen
1. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit
2. Verlust der bisherigen Lebensüberzeugungen
„Die Persönlichkeitsänderung muss andauernd sein und sich in unflexiblem und unangepaßtem Verhal-
ten äußern, das zu Beeinträchtigungen in den zwischenmenschlichen, sozialen und beruflichen Bezie-
hungen führt. Die Persönlichkeitsänderung sollte fremdanamnestisch bestätigt werden.
Zur Diagnosestellung müssen folgende, zuvor nicht beobachtete Merkmale vorliegen:
1. Eine feindliche oder misstrauische Haltung der Welt gegenüber.
2. Sozialer Rückzug.
3. Gefühle der Leere oder Hoffnungslosigkeit.
4. Ein chronisches Gefühl von Nervosität wie bei ständigem Bedrohtsein.
5. Entfremdung.
Die Persönlichkeitsänderung muss über mindestens zwei Jahre bestehen und nicht auf eine vorher
bestehende Persönlichkeitsstörung oder auf eine andere psychische Störung außer einer posttraumati-
schen Belastungsstörung (F43.1) zurückzuführen sein. Eine schwere Schädigung oder Erkrankung des
Gehirns, die gleiche klinische Bilder verursachen kann, muß ausgeschlossen werden.“
138 Angststörungen
Ein 37-jähriger Pharmareferent hat auf dem Rückweg von einem Kunden spätabends auf regennasser
Fahrbahn einen Verkehrsunfall. Sekundenschlaf aus Übermüdung, dazu noch bei hoher Geschwindig-
keit. Als er aufwacht, ist es schon zu spät: sein Auto rammt die rechte Leitplanke, rast ungebremst die
15 Meter hohe Böschung hinunter, überschlägt sich und bleibt schließlich mit verformten Seitenteilen
stehen. Er ist eingeklemmt und kann sich selbst nicht befreien, hat Schmerzen am ganzen Körper, vor
allem im Bereich der Brust, und bleibt durchgehend bei vollem Bewusstsein. Er spürt, daß er verletzt
ist, sieht es aber in der Dunkelheit nicht. Er weiß nur: Schreien ist sinnlos, zu abgelegen ist dieses Stück
Landstraße und kaum frequentiert. Er steht Todesängste aus, fühlt sich von Gott und der Welt verlassen
und hat keinen Zugriff zum rettenden Handy. Er fürchtet zu verbluten oder zu erfrieren, denn es ist an
jenem Dezembertag empfindlich kalt. Erst am frühen Morgen bemerkt ihn ein LKW-Fahrer, der Poli-
zei, Feuerwehr und Rettung verständigt. Er muss aus dem Auto herausgeschnitten werden und wird in
das nächste Krankenhaus gebracht. Dort wird festgestellt, daß er neben einem Bruch des rechten Fußes,
einem Bluterguss und verschiedenen Hautabschürfungen keine weiteren Verletzungen erlitten hat. Am
Tag nach dem Unfall verstärken sich im Krankenhaus die Schmerzen im Bereich der Brust, der Schul-
tern und der Halswirbelsäule. Drei Wochen nach der Entlassung kann er abends tagelang nicht einschla-
fen: Sobald er die Augen schließt, hat er die Bilder des schrecklichen Unfalls vor sich. Ein wenig Ab-
hilfe bringt es, auch nachts das Licht anzulassen. Bald aber überfallen ihn die furchtbaren Erinnerungen
an den Unfall auch tagsüber. Er muss immer wieder daran denken, wie er hilflos im Auto eingeklemmt
war und Angst vor diesem einsamen Tod hatte. Als er nach der Gipsabnahme wieder Auto fahren kann,
kommt er drei Tage später an der Unfallstelle vorbei und wird neuerlich durch heftige Erinnerungen
aufgeschreckt. Von da an fürchtet er sich permanent vor einem neuerlichen Unfall und schafft es kaum
mehr, in der Dunkelheit Auto zu fahren. Wenig später kann er nicht einmal mehr tagsüber in den Wa-
gen steigen, weil er sofort wieder Schmerzen bekommt und den Gurt nicht mehr anlegen kann – aus
Angst, dieser könnte das Engegefühl in der Brust noch verstärken. Auch die früher heiß geliebten
Autorennen im Fernsehen bereiten ihm nun kein Vergnügen mehr. Im Gegenteil: völlig unfähig Auto
zu fahren, bekommt er auch bald Probleme im Beruf, die in extreme Existenzängste münden. Beruhi-
gungsmittel helfen ihm zwar vorübergehend tagsüber und abends beim Einschlafen, beeinträchtigen
jedoch die Fahrtüchtigkeit, sodass diese Mittel nicht infrage kommen, schon auch wegen des langfristig
abhängig machenden Effekts. Wegen Verdachts auf eine Depression schickt ihn sein Hausarzt zu einem
Psychiater, der eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.
Eine 18-jährige Verkäuferin nimmt an der Geburtstagsfeier eines Arbeitskollegen teil, der eine Gruppe
von jungen Erwachsenen in seine Wohnung eingeladen hat. Im Laufe der Nacht fahren immer mehr
Teilnehmer nach Hause, bis nur mehr die Verkäuferin, der Gastgeber und dessen Freund übrig bleiben.
Sie hat kein Auto und erhält daher das Angebot, in einem leer stehenden Zimmer zu übernachten, bis
sie in der Früh mit dem Bus nach Hause fahren kann. Als sich die junge Frau in das angebotene Zim-
mer zurückziehen will, wird sie von den beiden Männern sexuell belästigt. Sie wehrt sich anfangs,
bemerkt jedoch bald, dass sie keine Chance hat. Der Freund des Gastgebers wollte die junge Frau schon
seit längerem gerne zur Freundin haben, doch sie hatte stets abgelehnt mit dem Hinweis, dass sie bereits
einen Freund habe. Als er erkennt, dass sie auch jetzt noch immer keine engere Beziehung mit ihm
möchte, stürzt er sich auf sie, küsst sie, reißt ihr die Kleider vom Leib und vergewaltigt sie, während
der Gastgeber sie anfangs festhält. Sie will schreien, doch sie bringt kein Wort heraus. Der Gastgeber
macht Fotos von der Vergewaltigung, um ihr späteres Schweigen zu erpressen, und vergewaltigt sie
anschießend ebenfalls auf noch brutalere Weise. Sie lässt alles wie gelähmt über sich ergehen und ist
schließlich froh, als beide das Zimmer verlassen. In der Früh fährt sie wortlos nach Hause und duscht
sich im Bad zwei Stunden lang; es ekelt ihr vor ihr selbst. Beim täglichen Schlafengehen benötigt sie
ein wenig Licht, weil sie sich vor dem Finstern fürchtet, wo ihre Erinnerungen so lebendig werden, als
würden die schrecklichen Ereignisse neuerlich stattfinden. Sie kann mit ihrem Freund, den sie seit
einigen Monaten kennt, keine sexuelle Beziehung mehr eingehen, weil sie dabei an die Vergewaltigung
erinnert würde. Andererseits kann sie abends ohne ihn kaum einschlafen, weil sie fürchtet, es könnte ihr
jemand in der Nacht wieder etwas antun, obwohl sie weiß, dass niemand in die Wohnung gelangen
kann. Sicherheitshalber sperrt sie das Schlafzimmer ab und schließt auch im Sommer stets das Fenster
aus Angst vor Einbrechern. Sie kann sich auch keine Filme mit sexuellen Szenen mehr anschauen.
Posttraumatische Belastungsstörung 139
Aufgrund der telefonischen Befragung von 2181 18- bis 45-Jährigen in den USA be-
trug das durchschnittliche Risiko, nach einem Trauma eine posttraumatische Bela-
stungsstörung zu entwickeln, 9,2% (13% bei Frauen und 6,2% bei Männern). Knapp
90% (87,1% der Frauen und 92,2% der Männer) berichteten mindestens ein Trauma
nach den DSM-IV-Kriterien (im Durchschnitt waren es 4,8 traumatische Ereignisse).
Die Lebenszeitprävalenz für eine posttraumatische Belastungsstörung betrug bei Frauen
19,3% und beim Männern 10,2%. Bei fast einem Drittel der Fälle trat die Störung nach
dem plötzlichen, unerwarteten Tod einer nahe stehenden Person auf. Dies ist auch nicht
weiter verwunderlich, weil 60% der Befragten (61,1% der Männer und 59,0% der Frau-
en) den plötzlichen Tod eines nahen Angehörigen als traumatisches Ereignis angaben.
Zusammenfassend gesehen ergibt sich aus verschiedenen Studien folgender Befund:
Rund drei Viertel der amerikanischen Bevölkerung haben ein Trauma im Sinne des
DSM-IV erlebt und etwa ein Viertel der Betroffenen hat das Vollbild einer posttrauma-
tischen Belastungsstörung entwickelt; diese wurde am häufigsten durch eine Vergewal-
tigung ausgelöst. Ein Drittel bis zur Hälfte der Traumatisierten entwickelt eine chronifi-
zierte Symptomatik, teilweise auch trotz erfolgter Behandlung.
Eine Studie aus verschiedenen europäischen Ländern (u.a. Deutschland, Frankreich,
Spanien, Belgien) fand nur eine Lebenszeitprävalenz von 1,4%. Mittlerweile gibt es
mehrere deutsche Studien mit repräsentativen Daten.
Eine Befragung bei 14- bis 24-Jährigen in Bayern ergab eine Lebenszeitprävalenz
von 1,3% (2,2% bei Frauen und 0,4% bei Männern). Subsyndromale Formen kamen bei
5,6% der Befragten vor. Das Risiko, nach einem Trauma eine posttraumatische Bela-
stungsstörung zu entwickeln, betrug bei Männern 2,2%, bei Frauen 14,5%. 18,6% der
männlichen und 15,5% der weiblichen Befragten berichteten von einem Trauma nach
den DSM-IV-Kriterien. 9,7% der Befragten waren körperlicher Gewalt, 7,8% schweren
Unfällen, 2,1% sexuellem Missbrauch und 1,2% einer Vergewaltigung ausgesetzt. Die-
se relativ niedrigen Raten ergeben sich aus dem jungen Alter der Betroffenen und aus
dem Umstand, dass in Deutschland bestimmte traumatische Ereignisse im Vergleich zu
den USA nicht so häufig vorkommen (z.B. Naturkatastrophen, Gewaltverbrechen,
Kriegserfahrung). Das Risiko einer posttraumatischen Belastungsstörung war in
Deutschland so hoch wie in den USA. Bei einer späteren Nachuntersuchung bestand bei
10,3% der Befragten eine posttraumatische Belastungsstörung unter Einschluss der
subsyndromalen Formen.
Die erste gesamtdeutsche Befragung im Jahr 2005 bei einem breiten Altersspektrum
(14-93 Jahre) ergab in Bezug auf eine aktuell vorhandene posttraumatische Belastungs-
störung (Einmonatsprävalenzrate) nach DSM-IV-Kriterien eine Häufigkeit von 2,3% für
das Vollbild (2,5% der Frauen und 2,1% der Männer) und 2,7% für partielle Syndrome.
Es bestanden keine Unterschiede nach dem Geschlecht, wohl aber nach dem Alter:
ansteigende Häufigkeit nach dem Alter (14- bis 29-Jährige: 1,3%, 30- bis 59-Jährige:
1,9%, über 60-Jährige: 3,4), was mit Erlebnissen aus dem Zweiten Weltkrieg und deren
Folgen auch noch nach Jahrzehnten zusammenhängt. Die Lebenszeitprävalenz traumati-
scher Ereignisse ergab bei kriegsbezogenen Traumata folgende Prozentwerte: 8,16%
Kriegshandlungen (direkt), 7,04% ausgebombt im Krieg, 6,66% heimatvertrieben,
1,57% Gefangenschaft/Geiselnahme. Bezüglich ziviler Traumata ergaben sich folgende
Lebenszeithäufigkeiten: 0,75% Vergewaltigung, 1,20% Kindesmissbrauch (vor dem 14.
Lebensjahr), 4,59% schwerer Unfall, 3,77% körperliche Gewalt, 2,98% lebensbedrohli-
che Krankheit, 0,79% Naturkatastrophe, 8,45% Zeuge eines Traumas, 3,61% andere
Traumata.
Posttraumatische Belastungsstörung 141
Die bedingte gemittelte Wahrscheinlichkeit, dass sich aus dem Trauma im Laufe des
Lebens eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, betrug für das Vollbild
12,8%, für die partiellen Syndrome 12,8%. Das größte Risiko bestand der Reihe nach
hinsichtlich Vergewaltigung (37,5%), Kindesmissbrauch (35,3%) und lebensbedrohli-
che Erkrankungen (23,4%), schwerer Unfall (12,82%), körperliche Gewalt (10,53%).
Die relativ niedrigen Häufigkeitsraten für das Vollbild einer aktuell vorhandenen
posttraumatischen Belastungsstörung in Europa mit Werten um 2% sind zwar erfreu-
lich, wenn in der Literatur immer wieder die beeindruckend hohen Lebenszeitprävalen-
zen von 6-8% aus den USA angeführt werden (laut neuerer NCS-R-Studie dagegen nur
eine Ein-Jahres-Prävalenz von 3,5%), doch bestehen für diese noch immer beachtlich
große Zahl leidender Personen nach wie vor zu wenig Behandlungsangebote. Weiters
darf die große der von partiellen Syndromen Betroffenen nicht übersehen werden, die
ebenfalls erheblich unter den Folgen eines Traumas leiden. Angesichts der in den mo-
dernen Diagnoseschemata noch nicht definierten und daher in der Bevölkerung diagno-
stisch auch noch nicht erhebbaren komplexen posttraumatischen Belastungsstörung
besteht ebenfalls kein Grund, über die geringen Häufigkeitsraten von 1-2% für das der-
zeitige Vollbild der Störung beruhigt zu sein.
Gesellschaftspolitisch bedeutsam sind in Europa und anderswo auch die hohen Ra-
ten an posttraumatischen Belastungsstörungen bei Flüchtlingen aus verschiedenen Län-
dern (laut Studien rund 35-40%, d.h. jeder Dritte leidet unter einem Trauma). Die Be-
troffenen weisen auch zahlreiche komorbide Störungen auf (andere Angststörung, De-
pression, Dysthymie, somatoforme Störung, Substanzmissbrauch und -abhängigkeit).
Traumaspezifische Prävalenzen
10-25% der Opfer entwickeln nach einem Trauma eine posttraumatische Belastungsstö-
rung. Je nach Art des Traumas ergeben sich unterschiedliche Lebenszeitprävalenzen:
50-65% nach Kriegsereignissen mit persönlicher Gefährdung, 50-55% nach Vergewal-
tigung und sexuellem Missbrauch, 3-11% nach Verkehrsunfällen, 5% nach Natur-,
Brand- und Feuerkatastrophen, 2-7% als Zeuge von Unfällen oder Gewalthandlungen,
[124]. Das höchste Erkrankungsrisiko – oft im Sinne einer komplexen posttraumati-
schen Belastungsstörung – haben Menschen mit interpersonellen Multitraumata, d.h.
Typ-II-Traumata (häufiger Missbrauch in der Kindheit, Kriegserleben, Folter).
In einer retrospektiven Untersuchung beschrieben die Opfer sexueller Angriffe in
35% der Fälle eine lebenslange und in 13% der Fälle eine zeitweilige posttraumatische
Belastungsstörung. Von den Opfern schwerer nichtsexueller Angriffe berichteten 39%
eine lebenslange und 12% eine zeitweilige posttraumatische Belastungsstörung. In einer
prospektiven Studie (Verlaufserhebung) zeigten sich bei 47% der Opfer sexueller An-
griffe und bei 22% der Opfer nicht-sexueller Bedrohungen drei Monate nach diesen
Erlebnissen die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Eine Studie an 1500 Vergewaltigungsopfern [125] fand bei 35% eine posttraumati-
sche Belastungsstörung. Bei den Opfern einer versuchten Vergewaltigung war der An-
teil 14%. Über 90% der Vergewaltigungsopfer entwickeln eine Angst davor, alleine zu
sein oder alleine auszugehen während der Dunkelheit, während der Nacht oder alleine
zu schlafen. Aus dem Sicherheitsbedürfnis zu Hause entstehen oft Kontrollzwänge
bezüglich verschlossener Türen und Fenster. Das Bewusstsein der persönlichen Unver-
letzlichkeit wurde durch eine Vergewaltigung auf Monate oder Jahre hin zerstört.
142 Angststörungen
Unter den Vietnam-Kriegsteilnehmern war bei 38% der Männer und bei 17,5% der
Frauen eine zeitweilige posttraumatische Belastungsstörung nachweisbar. Kriegsgefan-
gene und politische Gefangene weisen Lebenszeitprävalenzen von 50-70% auf.
Die Ein-Jahres-Prävalenz einer posttraumatischen Belastungsstörung bei Opfern von
Verkehrsunfällen beträgt laut Studien etwa 10%. Kürzer dauernde Traumatisierungen
und akute Belastungsreaktionen sind dagegen wesentlich häufiger. Bei fast 40% der
Unfallopfer fand sich eine typische und bei 30% eine subsyndromale posttraumatische
Belastungsstörung. Eine deutsche Studie fand sechs Monate nach schweren Verkehrsun-
fällen bei 18% eine posttraumatische Belastungsstörung (lebendige Erinnerungen an
den Unfall, Fahrangst) und bei weiteren 28% subsyndromale Formen.
Unter 773 Verkehrsunfallopfern fand man bei einem Drittel eine oder mehrere psy-
chische Störungen: 23% hatten drei Monate nach dem Unfall eine posttraumatische
Belastungsstörung, 5% eine Depression, 19% eine generalisierte Angststörung und 22%
eine Reisephobie. Unter Unfallopfern in Australien litten ein halbes Jahr nach dem
Unfall 19% unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, 37% unter Ängsten, 17%
unter Depressionen und 15% unter Suchtproblemen.
Die Traumatisierung von Helfern beträgt bei Feuerwehrleuten 5-20%, bei Rettungs-
assistenten 10-20% und bei Polizisten 5-7%. Bis zu einem Drittel der Rettungskräfte bei
Katastropheneinsätzen ist in Gefahr, eine schwerwiegende posttraumatische Belastungs-
störung zu entwickeln. Unter Lokomotivführern, die eine suizidale Person überfahren
hatten, trat bei 10-20% eine posttraumatische Belastungsstörung auf.
Posttraumatische Belastungsstörungen entstehen auch nach körperlich schwer beein-
trächtigenden, lebensbedrohlichen und entstellenden Erkrankungen, d.h. nach somati-
schen Erkrankungen (Krebs, koronarer Herzerkrankung, HIV-Erkrankung, unheilbaren
Schmerzen), nach Reanimationen, nach schweren medizinischen Eingriffen (Organ-
transplantation), nach Aufenthalten in intensivmedizinischer Umgebung und nach ärzt-
lichen und pflegerischen Behandlungsfehlern. In der Literatur werden folgende Präva-
lenzen angeführt: 15% bei akutem Koronarsyndrom, 30% bei Überlebenden eines plötz-
lichen Herzstillstandes (bei 20-35% aller nach einem Herzstillstand reanimierten Patien-
ten), 27% bei akutem respiratorischen Distress-Syndrom, 5-20% bei Krebserkrankung,
7% nach Fehlgeburten.
Verlauf
Risikofaktoren
Die Risikofaktoren, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich aus einem Trauma
eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, lassen sich unterscheiden nach
bestimmten Umständen vor, während und nach dem traumatischen Ereignis [123]:
z Prätraumatische Belastungsfaktoren: weibliches Geschlecht, jüngeres oder hohes
Alter, frühere Traumata (länger andauernder sexueller Missbrauch in der Kindheit),
physische und psychiatrische Vorerkrankung (Depressionen, Angststörungen), man-
gelnde soziale Geborgenheit (fehlende, chaotisch-desorganisierte oder unsichere
Bindungen), dysfunktionale Familienstrukturen, emotionale Belastungen, nahe Be-
ziehung zum Täter, Verlusterfahrungen (Tod eines nahen Angehörigen außer dem
Ehepartner), niedrige Intelligenz, niedrige Bildung und niedriger sozioökonomischer
Status (Ausdruck geringerer psychischer Verarbeitungskapazität), Minoritätenstatus.
144 Angststörungen
Die Forschung hat gezeigt, dass nicht das Trauma an sich, sondern großteils günstige
bzw. ungünstige Personen- und Interaktionsmerkmale darüber entscheiden, wie sehr ein
schlimmes Ereignis zu einer posttraumatischen Belastungsstörung ausartet.
Komorbidität
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung besteht eine hohe Komorbidität mit ande-
ren psychischen Störungen, aber auch mit körperlichen Erkrankungen [126]. Nach der
NCS-Studie wiesen 88,3% der Männer und 79,3% der Frauen gleichzeitig auch noch
andere Diagnosen auf. Die häufigsten komorbiden psychischen Erkrankungen waren
Angststörungen, depressive Störungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch. Fast die Hälf-
te der Personen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickelte im Laufe
des Lebens eine Depression. Mehr als die Hälfte der Männer und ein Viertel der Frauen
hatte ein Alkoholproblem. Die klinisch oft erkennbaren Verknüpfungen mit dissoziati-
ven und somatoformen Störungen, Essstörungen und Persönlichkeitsstörungen sind an
der Durchschnittsbevölkerung empirisch noch zu wenig überprüft.
Nach der umfangreichen deutschen Befragung von 14- bis 24-Jährigen in Bayern
bestand bei 87,5% der Personen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung minde-
stens eine weitere psychische Störung.
Posttraumatische Belastungsstörung 145
Differenzialdiagnose
Eine posttraumatische Belastungsstörung muss gegenüber verschiedenen anderen Stö-
rungen abgegrenzt werden:
z Eine akute Belastungsreaktion/-störung dauert nach dem ICD-10 nur einige Stunden
oder Tage an, nach dem DSM-IV bis zu einem Monat. Das DSM-IV möchte durch
das Kriterium der längeren Dauer dem Umstand Rechnung tragen, dass posttrauma-
tische Reaktionen ganz normale, nicht-pathologische Reaktionen auf eine abnormale
Situation sind. Nach dem DSM-IV kann – im Gegensatz zum ICD-10 – eine post-
traumatische Belastungsstörung erst nach mehr als vier Wochen andauernden Sym-
ptomen gestellt werden, d.h. es ist in den ersten vier Wochen nach dem Trauma im-
mer eine akute posttraumatische Belastungsstörung zu diagnostizieren.
z Eine Anpassungsstörung tritt nach entscheidenden Lebensveränderungen und Stres-
soren auf, die weniger katastrophal sind (z.B. Todesfall, Trennung, Arbeitsplatzver-
lust, Umzug, Emigration, schwere körperliche Erkrankung), und erfüllt nicht die
Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung. Bei einer posttraumatischen
Belastungsstörung muss der Belastungsfaktor dagegen sehr extrem sein, nach dem
ICD-10 sogar von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß.
z Angststörungen und Depressionen haben oft keine derart extremen Belastungsfakto-
ren als Auslöser oder verstärken nur die zentralen Symptome (Vermeidung, emotio-
nale Taubheit, Interesselosigkeit usw.) einer bereits bestehenden posttraumatischen
Belastungsstörung. Symptome wie Vermeidung, Empfindungslosigkeit oder erhöhte
Erregbarkeit, die bereits vor dem Trauma vorhanden waren, machen noch keine
posttraumatische Belastungsstörung aus, sondern sind Ausdruck einer anderen psy-
chischen Störung (z.B. einer Depression oder einer anderen Angststörung).
z Nach dem ICD-10 zählt die posttraumatische Belastungsstörung nicht zu den Angst-
störungen. Neben Übereinstimmungen (Angstzuständen, phobisch geprägten Ver-
meidungsreaktionen, starker sympathikotoner Hyperreaktivität mit bestimmten kör-
perlichen Symptomen wie z.B. Schwitzen, Atemnot, Herzbeschwerden) gibt es auch
Unterschiede zwischen beiden Störungsgruppen (Angststörungen haben oft keine
derart umschriebenen Auslöser wie posttraumatische Belastungsstörungen).
z Symptome wie Vermeidung, Empfindungslosigkeit oder erhöhte Erregbarkeit, die
bereits vor dem Trauma vorhanden waren, machen noch keine posttraumatische Be-
lastungsstörung aus, sondern sind als Ausdruck einer anderen psychischen Störung
(z.B. einer Depression oder einer anderen Angststörung) zu sehen.
z Die typischen Flashback-Episoden einer posttraumatischen Belastungsstörung müs-
sen durch ihren Charakter von Halluzinationen und anderen Wahrnehmungsstörun-
gen bei Schizophrenie, schizoaffektiven Störungen, affektiven Störungen mit psy-
chotischen Elementen und substanzinduzierten Störungen abgegrenzt werden.
z Bei einer Zwangsstörung stehen die aufdringlichen Gedanken nicht in Zusammen-
hang mit einem Trauma.
z Eine „andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung“ ist nach den
gegenwärtigen Diagnosekriterien dann gegeben, wenn eine Persönlichkeitsänderung
nach dem Trauma mindestens zwei Jahre lang anhält und nicht auf eine früher be-
stehende Persönlichkeitsstörung, eine andere psychische Störung außer einer post-
traumatischen Belastungsstörung oder eine schwere Schädigung oder Erkrankung
des Gehirns zurückgeht. Es handelt sich dabei um die chronischen und irreversiblen
Auswirkungen einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Akute Belastungsstörung 147
„Ein etwa 45-jähriger Mann stürzte sich in Selbstmordabsicht vor einen Autobus. Der Mann war sofort
tot, der Fahrer erlitt einen schweren Schock.“
„Das Haus einer fünfköpfigen Familie explodierte mit einem lauten Knall. Drei Menschen waren sofort
tot, die zwei anderen Bewohner wurden mit einem schweren Schock in das Krankenhaus eingeliefert.“
Eine akute Belastungsreaktion zählt nach dem ICD-10 zu den Reaktionen auf schwere
Belastungen und Anpassungsstörungen, stellt eine unmittelbare Reaktion auf ein trau-
matisches Ereignis dar und besteht in einer vorübergehenden Störung (1-3 Tage Dauer)
von beträchtlichem Schweregrad, die sich auch bei völlig gesunden Menschen als Reak-
tion auf traumatische Erlebnisse und ernsthafte Bedrohung von Leib und Leben entwik-
keln kann, ähnlich wie dies – nur mit verzögerter und länger anhaltender Wirkung – bei
einer posttraumatischen Belastungsstörung der Fall ist. Es handelt sich um eine akute
Krisenreaktion bzw. um einen psychischen Schockzustand.
Die Störung tritt innerhalb von Minuten bis Stunden nach Traumatisierungen aller
Art auf und klingt spontan ab. Wenn dies nicht der Fall ist und die Störung mehr als drei
Tage andauert bzw. sogar mehrere Wochen lang bestehen bleibt, fehlen im ICD-10
Hinweise darauf, welche Diagnose dann zu stellen ist. Die Betroffenen bedürfen unbe-
dingt einer genauen Beobachtung und Überwachung sowie oft auch einer Behandlung.
Die Symptome der akuten Belastungsreaktion beginnen nach dem ICD-10 [130]
gewöhnlich mit einer Art „Betäubung“, d.h. mit einer gewissen Bewusstseinseinengung,
eingeschränkten Aufmerksamkeit, Unfähigkeit zur adäquaten Reizverarbeitung und
Desorientiertheit. Anschließend kann ein weiterer Rückzug aus der aktuellen Situation
erfolgen oder ein Unruhezustand und eine Überaktivität wie Fluchtreaktion oder Fugue
auftreten. Häufig finden sich vegetative Symptome wie Herzrasen, Schwitzen oder
Erröten als Ausdruck panischer Angst. Rückzug und Stupor (völlige Regungslosigkeit)
sind ebenso möglich wie Unruhezustände, Überaktivität und Flucht.
Die Angst hängt bei dieser Störung mit einer akuten überstarken emotionalen Reak-
tion auf veränderte Lebensumstände zusammen und stellt eine unmittelbare Reaktion
auf eine schwere Belastungssituation dar (z.B. Naturkatastrophe, schwerer Unfall,
Verbrechen, Vergewaltigung, Verlust von Angehörigen, der bisherigen Umwelt oder
der Arbeit). Persönlichkeitsfaktoren müssen allerdings in vielen Fällen zur Erklärung
dafür herangezogen werden, warum dieselben Belastungen nicht auf alle Menschen die
gleichen Auswirkungen haben.
Der eigenständige Charakter der akuten Belastungsreaktion wurde früher kontrovers
diskutiert, kann aber jetzt als gesichert angenommen werden. Es handelt sich dabei um
ein vielgestaltiges und rasch wechselndes Erscheinungsbild, bei dem nach Studien un-
terschiedliche Symptome auftreten können: Unruhe, Reizbarkeit, psychomotorische
Agitiertheit oder Verlangsamung, Apathie, Rückzug, Depression, Schreckreaktion,
Angst, affektive Einengung, Verwirrtheit, Schmerzsymptome, funktionelle gastrointe-
stinale Beschwerden, aggressive, feindselige oder paranoide Reaktionen.
Als gleichwertige Begriffe gelten nach dem ICD-10 folgende Bezeichnungen: akute
Krisenreaktion, Krisenzustand, Kriegsneurose (combat fatigue) und psychischer
Schock.
148 Angststörungen
Eine akute Belastungsreaktion (F43.0) wird nach den Forschungskriterien des ICD-
10 [131] folgendermaßen definiert:
B. Der außergewöhnlichen Belastung folgt unmittelbar der Beginn der Symptome (innerhalb einer
Stunde).
D. Wenn die Belastung vorübergehend ist oder gemildert werden kann, beginnen die Symptome nach
spätestens acht Stunden abzuklingen. Hält die Belastung an, beginnen die Symptome nach höch-
stens 48 Stunden nachzulassen.
E. Ausschlussvorbehalt: Derzeitig darf keine andere psychische oder Verhaltensstörung der ICD-10
vorliegen (außer F41.1 generalisierte Angststörung und F60 Persönlichkeitsstörungen). Das Ende
einer Krankheitsperiode, einer anderen psychischen oder Verhaltensstörung muß mehr als drei Mo-
nate zurückliegen.
Nach dem ICD-10 beginnt eine akute Belastungsreaktion unmittelbar nach dem Trauma
und klingt nach längstens drei Tagen ab, nach dem DSM-IV dagegen darf eine akute
posttraumatische Belastungsstörung erst nach einer Symptomdauer von zwei Tagen
diagnostiziert werden und stellt eine noch nicht chronifizierte, aber bereits krankheits-
wertige posttraumatische Reaktion dar.
Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand erhöhen folgende Symptome und deren
Ausmaß die Wahrscheinlichkeit einer späteren posttraumatischen Belastungsstörung:
stärkere Intrusion, Vermeidung, Depression und Angst in der auf das Trauma folgenden
Woche. Dissoziative Symptome in der traumatischen Situation begünstigen die Ausprä-
gung einer posttraumatischen Belastungsstörung, weil keine Integration des Erlebten,
sondern eine Abspaltung erfolgt.
„Eingefrorensein“, Stupor, Selbstaufgabe, Kontrollverlust über die Situation und
Unvorhersehbarkeit der Ereignisse wirken sich auf den Langzeitverlauf ungünstig aus.
Das Ausmaß der subjektiven Belastung in den Tagen unmittelbar nach dem Trauma
steht in engem Zusammenhang mit der späteren Entwicklung einer posttraumatischen
Belastungsstörung. Psychosoziale Faktoren wie soziale Unterstützung, Erfahrungen in
der Kindheit und im späteren Leben, Persönlichkeitsvariablen und vorher bestehende
psychische Störungen beeinflussen und modifizieren die Entwicklung der Störung.
Akute Belastungsstörung 149
Das DSM-IV [132] nennt folgende diagnostische Kriterien für eine akute Bela-
stungsstörung:
A. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden
Kriterien erfüllt waren:
(1) Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert,
die den tatsächlichen oder drohenden Tod oder eine ernsthafte Verletzung oder Gefahr der
körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten.
(2) Die Reaktion der Person umfaßte intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen.
B. Entweder während oder nach dem extrem belastenden Ereignis zeigte die Person mindestens drei
der folgenden dissoziativen Symptome:
(1) subjektives Gefühl von emotionaler Taubheit, von Losgelöstheit oder Fehlen emotionaler Re-
aktionsfähigkeit,
(2) Beeinträchtigung der bewußten Wahrnehmung der Umwelt (z.B. „wie betäubt sein“),
(3) Derealisationserleben,
(4) Depersonalisationserleben,
(5) dissoziative Amnesie (z.B. Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erin-
nern).
C. Das traumatische Ereignis wird ständig auf mindestens eine der folgenden Arten wiedererlebt:
wiederkehrende Bilder, Gedanken, Träume, Illusionen, Flashback-Episoden, oder das Gefühl, das
Trauma wiederzuerleben oder starkes Leiden bei Reizen, die an das Trauma erinnern.
D. Deutliche Vermeidung von Reizen, die an das Trauma erinnern (z.B. Gedanken, Gefühle, Gesprä-
che, Aktivitäten, Orte oder Personen).
E. Deutliche Symptome von Angst oder erhöhtem Arousal (z.B. Schlafstörungen, Reizbarkeit, Kon-
zentrationsschwierigkeiten, Hypervigilanz, übertriebene Schreckreaktion, motorische Unruhe).
F. Die Störung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen,
beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen oder beeinträchtigt die Fähigkeit der Per-
son, notwendige Aufgaben zu bewältigen, z.B. notwendige Unterstützung zu erhalten oder zwi-
schenmenschliche Ressourcen zu erschließen, indem Familienmitgliedern über das Trauma berich-
tet wird.
G. Die Störung dauert mindestens 2 Tage und höchstens 4 Wochen und tritt innerhalb von 4 Wochen
nach dem traumatischen Ereignis auf...
Das DSM-IV spricht nicht von einer „Reaktion“, sondern von einer „Störung“, weil
diese auch länger andauern kann als die akute Symptomatik nach dem ICD-10. Nach
dem DSM-IV dauert eine akute Belastungsstörung mindestens zwei Tage und höchstens
vier Wochen. Bei längerer Dauer muss die Diagnose einer posttraumatischen Bela-
stungsstörung gestellt werden, die nach dem DSM-IV aufgrund der Diagnosekriterien
(Dauer von mehr als vier Wochen) vorher noch gar nicht gestellt werden kann.
Die Diagnose der akuten Belastungsstörung wurde in das DSM-IV aufgenommen,
um bereits in den ersten Wochen nach einem Trauma eine Differenzierung zwischen
„normalen“, unpathologischen Reaktionen nach einem traumatischen Erlebnis und
krankheitswertigen Störungen zu ermöglichen. Die Schwere und die Dauer des Traumas
sowie die Nähe der Person bei der Konfrontation mit dem traumatischen Erlebnis sind
die wichtigsten Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit der Ausprägung einer posttrauma-
tischen Belastungsstörung begünstigen. Die Störung kann bei Menschen auftreten, die
vorher keinerlei psychopathologische Auffälligkeit gezeigt hatten.
150 Angststörungen
Nach dem Trauma wird dieses ständig wiederbelebt; die Betroffenen vermeiden
traumarelevante Reize und weisen eine allgemein erhöhte psychovegetative Erregbar-
keit auf. Es besteht mindestens eines der drei zentralen Symptome einer posttraumati-
schen Belastungsstörung: Intrusion/Wiedererleben, Vermeidung traumarelevanter Reize
und Übererregbarkeit durch traumarelevante Reize.
Das DSM-IV legt bei der Diagnose der akuten Belastungsstörung den Schwerpunkt
auf die dissoziativen Symptome (Empfindungslosigkeit, Losgelöstsein, Fehlen emotio-
naler Reaktionsmöglichkeit, Beeinträchtigung der bewussten Umweltwahrnehmung,
Derealisation, Depersonalisation, dissoziative Amnesie) in Verbindung mit Angst und
vorübergehenden Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Die momentane DSM-IV-Konzeption der akuten Belastungsstörung ist umstritten,
und zwar hinsichtlich des Stellenwertes der dissoziativen Symptome:
z Verschiedene Experten kritisieren die gegenwärtige Überbewertung der dissoziati-
ven Symptome nach einem Trauma. Nach bestimmten Untersuchungen hätten peri-
traumatische Dissoziationen keine besondere Bedeutung für die spätere Symptom-
entwicklung erlangt. Zudem gebe es Menschen, die später eine posttraumatische Be-
lastungsstörung entwickeln würden, ohne dass sie dabei nennenswerte Dissoziatio-
nen entwickelt hätten. Aufgrund dieser Daten schlagen die betreffenden Autoren
vor, in der nächsten Auflage des DSM eine diagnostische Angleichung an die Krite-
rien des ICD-10 vorzunehmen, wonach eine posttraumatische Belastungsstörung be-
reits in den ersten Wochen nach dem Trauma und nicht erst nach einem Monat dia-
gnostiziert werden kann. Dissoziative Symptome sollten dabei als mögliche, nicht
jedoch unbedingt notwendige Diagnosekriterien gelten.
z In Übereinstimmung mit dem DSM-IV betonen dagegen einige andere Forscher die
zentrale Bedeutung dissoziativer Phänomene bei der posttraumatischen Reaktion.
z Eine Autorengruppe geht davon aus, dass peritraumatische Dissoziationen ein vorü-
bergehendes Phänomen sein können und dass erst eine chronische Störung wie die
posttraumatische Belastungsstörung durch andauernde dissoziative Symptome bis
zum Ende des ersten Monats nach dem Trauma vorhergesagt werden kann.
z Wieder andere Fachleute gehen davon aus, dass es zwei unterschiedliche Reakti-
onsweisen gibt, die beide unabhängig voneinander das Risiko einer späteren post-
traumatischen Belastungsstörung erhöhen: Eine Reaktionsweise ist durch die disso-
ziativen Symptome bestimmt, wie sie durch die gegenwärtige DSM-IV-Diagnose
der akuten Belastungsstörung zum Ausdruck kommt, eine andere Reaktionsweise ist
durch das intensive Wiedererleben des Traumas und die starke physische, psychi-
sche und kognitive Übererregung charakterisiert.
z Ein Experte plädiert – abseits von den aktuellen Definitionen der akuten Belastungs-
störung und der posttraumatischen Belastungsstörung – für einen umfassenderen
Blick hinsichtlich aller möglichen posttraumatischen Symptome, die den Verlauf der
Störung bestimmen und die als Prädiktoren für eine Chronifizierung dienen können.
Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand reichen die Daten für eine umfassende Kon-
zeption aller posttraumatischen Reaktionen noch nicht aus, sodass erst weitere Studien
endgültige Klarheit bringen werden. In neuerer Zeit wurden weitere posttraumatische
Stress- bzw. Anpassungsstörungen beschreiben: komplizierte Trauer (schwere Störung
nach Todesfall einer bedeutsamen Bezugsperson), posttraumatische Verbitterungsstö-
rung nach Linden (Verbitterung, dysphorisch-aggressiv-depressiv gefärbte Stimmung).
Substanzinduzierte Angststörung 151
Substanzinduzierte Angststörung –
Angstzustände durch Substanzen
Das DSM-IV [133] führt unter den Angststörungen auch eine substanzinduzierte Angst-
störung an, die aus ausgeprägter Angst, Panikattacken, Zwangsgedanken oder Zwangs-
handlungen bestehen kann. Die Angstsymptome treten während oder innerhalb eines
Monats nach einer Substanzintoxikation (Vergiftung) oder nach einem Entzug auf und
stehen in ursächlichem Zusammenhang mit der Substanzeinnahme (Alkohol, Koffein,
Nikotin, Medikamente, Drogen oder andere Substanzen).
Das ICD-10 kennt keine durch Substanzen ausgelöste Angststörung. Durch die
Doppeldiagnose Panikstörung (F41.0) und Störung durch eine bestimmte Substanz, wie
sie unter der Kategorie F1 angeführt ist, ist dieser Umstand aber dennoch kodierbar.
Alkohol, Nikotin, Kaffee, Medikamente und Drogen können durch Herz-Kreislauf-
Veränderungen (Kollapsneigung oder Kreislaufankurbelung) sowie durch einen Blut-
zuckerabfall Panikattacken verursachen.
Bei Panikpatienten findet man in der Vorgeschichte oft Alkohol- oder Drogen-
(Tranquilizer-)Missbrauch, verstärktes Rauchen und übermäßigen Kaffeekonsum. Nach
dem Auftreten von Panikattacken wird der übermäßige Konsum von Alkohol oder
Tranquilizern eher noch gesteigert. Wenn eine Droge mit beruhigender Wirkung plötz-
lich abgesetzt wird, steigt der Adrenalinspiegel, wodurch eine Panikattacke ausgelöst
werden kann.
Aufputschende Drogen können eine übermäßige Kreislaufreaktion bewirken, die als
Panikattacke erlebt wird, sodass Erwartungsängste bestehen bleiben, auch wenn schon
seit längerer Zeit keine Substanzen mehr eingenommen werden [134].
Überdosierungen bzw. psychische und körperliche Entzugserscheinungen können
aufgrund der erlebten Wirkungen eine ängstliche Körperbeobachtung zur Folge haben.
Viele Drogen (z.B. Kokain, Amphetamine, LSD) entfalten ihre biochemischen Wir-
kungen gerade in jenen Gehirnstrukturen, die mit emotionalen Reaktionen und Ge-
dächtnisvorgängen zu tun haben (mediobasaler Schläfenlappen mit dem zugeordneten
limbischen System). Dies erklärt die emotionalen Veränderungen, abnormen Erregungs-
und Angstzustände („Horrortrips“) sowie Panikattacken [135].
Der Verdacht auf eine substanzbedingte Angststörung kann sich aus dem Vorhan-
densein von Merkmalen ergeben, die für eine primäre Angststörung untypisch sind (z.B.
untypisches Alter bei Störungsbeginn oder untypischer Verlauf).
Bei einer Panikstörung sind dies [136]:
z Beginn nach dem 45 Lebensjahr (was selten ist),
z Vorhandensein von untypischen Symptomen während einer Panikattacke (primärer
Schwindel, Verlust von Gleichgewichts-, Bewusstseins-, Blasen- oder Darmkontrol-
le, Kopfschmerzen, undeutliche Sprache, Amnesie usw.).
Auf eine primäre Angststörung, die bereits vor dem Substanzmissbrauch vorhanden
war, weisen folgende Umstände hin [137]:
z Angstsymptome vor dem Substanzgebrauch,
z Anhalten der Angstsymptome über eine deutliche Zeitspanne (über einen Monat)
nach dem Ende der Substanzeinwirkung oder des akuten Entzugs hinaus,
z Entwicklung von Symptomen, die deutlich ausgeprägter sind, als dies aufgrund von
Art und Menge der eingenommenen Substanz oder aufgrund der Einnahme zu er-
warten ist, früheres Vorhandensein einer primären Angststörung.
152 Angststörungen
Das DSM-IV [138] nennt folgende 10 Substanzklassen, die durch Missbrauch, Vergif-
tung, Nebenwirkungen oder Entzugserscheinungen eine spezifische substanzinduzierte
Angststörung bewirken können (Nikotin und Opiate werden nicht angeführt):
z Koffein
z Alkohol
z Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika
z Amphetamine oder ähnlich wirkende Sympathomimetika
z Kokain
z Cannabis
z Halluzinogene
z Phencyclidine oder ähnlich wirkende Substanzen (hier nicht besprochen)
z Inhalanzien, d.h. Schnüffelstoffe (hier nicht besprochen)
z andere Substanzen (Medikamente)
Koffein
Koffein, die weltweit beliebteste und meistkonsumierte psychotrope Substanz, ist in
Kaffee, Tee, Colagetränken, Schokolade und Kakao enthalten.
Koffein beseitigt in kleinen Dosen (50-250 mg) Müdigkeit, Erschöpfung und allge-
meine Schwäche und macht das Denken und Fühlen lebhafter. Es zeigt sich eine ver-
kürzte Reaktionszeit, eine leichte Euphorie, eine Anregung der Atmung und eine gestei-
gerte Leistungsfähigkeit. Vermehrtes Kaffeetrinken (mehr als 3-4 Tassen Kaffee pro
Tag) kann bei Menschen, die zu Angstzuständen neigen, leicht Panikattacken auslösen.
Mittelhohe Tagesdosen (250-600 mg) können folgende Symptome bewirken: Herz-
rasen, Herzrhythmusstörungen, gerötetes Gesicht, Magen-Darm-Beschwerden, Rast-
und Ruhelosigkeit, Nervosität, Erregung, psychomotorische Agitiertheit, Zittern, Mus-
kelzucken, Einschlafstörung, Schlaflosigkeit, Übersensibilität.
Hohe Dosen (über 600 mg in kurzer Zeit oder über 1000 mg pro Tag) bewirken
Herzrasen, Schlafstörungen, Unruhe und Getriebenheit, Übelkeit und Erbrechen [139].
Die Eliminationshalbwertszeit von Koffein beträgt 3-7 Stunden. Koffein bindet an
den Adenosinrezeptoren im Zentralnervensystem und hemmt die beruhigende Wirkung
von Adenosin, wodurch die aufputschende Wirkung von Kaffee entsteht. Es kommt zur
Erhöhung erregender Neurotransmitter, insbesondere von Dopamin. Nach einigen Tas-
sen Kaffee sind rund 50% der Adenosinrezeptoren mit Koffein besetzt.
In reiner, konzentrierter Form ist Koffein in vielen Medikamenten enthalten (50-200
mg pro Tablette). Nach der Überwindung der Panikstörung sollte der mäßige Kaffeege-
nuss wieder möglich sein, wenn dies früher als angenehm erlebt wurde.
Der Koffeingehalt von Getränken und Arzneimitteln ist sehr unterschiedlich [140]:
Alkohol
Alkohol, abhängig machende Beruhigungsmittel und verschiedene Drogen haben an-
fangs zwar eine Angst dämpfende Wirkung, führen jedoch später über Langzeiteinnah-
me, paradoxe Effekte oder Entzugssymptome zu massiven Angstzuständen, sodass erst
recht wieder dieselben Mittel zur Bekämpfung verwendet werden, wenn den Betroffe-
nen diese Zusammenhänge nicht bekannt sind. Längerer Alkoholmissbrauch kann bei
gegenwärtig abstinent lebenden Personen eine Angststörung vorbereitet haben.
Das Missbrauchspotential von Alkohol beruht auf einer Aktivierung dopaminerger
Neurotransmittersysteme, insbesondere dopaminerger Nervenbahnen, die von der Area
tegmentalis ventralis (einer Region der Mittelhirnhaube), zum Nucleus accumbens (ei-
ner Nervenzellenanhäufung im Vorderhirn) und zum frontalen Kortex (vordere Groß-
hirnrinde) verlaufen. Fachlich ausgedrückt: Die erwünschte Wirkung von Alkohol
kommt zustande durch die exzitatorische (erregende) Wirkung von Alkohol auf die
dopaminergen Neurone in der Area tegmentalis ventralis infolge einer durch GABAA-
Rezeptoren vermittelten Hemmung der hemmenden (inhibitorischen) Interneurone.
Einfacher formuliert: Ethanol verstärkt die Wirkung der wichtigsten natürlichen hem-
menden Transmittersubstanz Gamma-Aminobuttersäure (GABA) an bestimmten GA-
BAA-Rezeptoren. Mit anderen Worten: Die entspannende und Angst lösende Wirkung
von Alkohol beruht auf einer Verstärkung der GABA-ergen Wirkungsmechanismen.
Alkohol fördert das GABA-System im Gehirn als natürliches Bremssystem bei Angst
und allen möglichen Erregungen. Ethanol könnte aber auch direkt die Aktivität der
dopaminergen Neurone ohne Zwischenschaltung von Interneuronen erhöhen [141].
Angst im Rahmen des Alkoholentzugs wird durch zwei Faktoren bewirkt [142]:
1. Erniedrigte GABA-Tätigkeit. Chronischer Alkoholkonsum erniedrigt den GABA-
Spiegel im Plasma, was bei Absetzen des Alkohols einen Erregungsanstieg bewirkt.
Bei einem Alkoholentzug bzw. bei reduziertem Alkoholkonsum von Abhängigen
kommt es zu einer länger andauernden Erregbarkeitssteigerung im Zentralnervensy-
stem, was mit Angst verbunden ist und auch bei völligem Absetzen des Alkohols
noch monatelang anhalten kann.
2. Erhöhte noradrenerge Aktivität. Bei einem Alkoholentzug kommt es zu einer Über-
aktivität im Locus coeruleus, der zentralen noradrenergen Struktur, wodurch eine
allgemeine Erregung, speziell auch Angst, entsteht. Häufig werden deshalb Alkohol-
entzugssymptome mit Tranquilizern bekämpft oder dem Arzt die Symptome einer
Panikattacke beschrieben, ohne vom vorausgehenden Alkoholmissbrauch zu berich-
ten, sodass Tranquilizer als (falsche) Behandlungsmethode eingesetzt werden.
Bei einem Alkoholentzug nach übermäßigem und lang dauerndem Alkoholkonsum tre-
ten mindestens zwei der folgenden Symptome innerhalb einiger Stunden oder weniger
Tage auf [143]: Angst, Hyperaktivität des vegetativen Nervensystems (Schwitzen oder
Puls über 100), psychomotorische Agitiertheit, Schlaflosigkeit, Übelkeit oder Erbre-
chen, verstärktes Händezittern (Tremor), vorübergehende visuelle, taktile oder akusti-
sche Halluzinationen oder Illusionen, Grand-mal-Anfälle (epileptische Anfälle).
Langjähriger Alkoholmissbrauch kann durch seine dämpfende Wirkung den Herz-
muskel schädigen und durch den häufigen Vitamin-B1-Mangel das Herz in seiner
Pumpkraft beeinträchtigen. Alkoholkonsum regt auch die Nebennieren zu vermehrter
Ausschüttung von Kortisol an, dem Stresshormon, das den Blutdruck erhöht, indem es
die Wasserausscheidung durch die Nieren hemmt.
154 Angststörungen
Bei Menschen mit hohem Blutdruck werden die ohnehin erhöhten Stresshormone
wegen des Alkohols langsamer abgebaut, sodass der Blutdruck noch mehr ansteigt und
Symptome auftreten (Kopfschmerzen, Schwindel, Atemnot, Druck auf der Brust, Herz-
beschwerden, Leistungsminderung, Unruhegefühl u.a.).
Bei niedrigem Blutdruck macht sich die Blutgefäß erweiternde Wirkung des Alko-
hols bemerkbar, sodass beim Stehen besonders viel Blut in den weit gestellten Venen
der Beine versackt. Durch die Gegenregulation kommt es zu Herzrasen und Schweiß-
ausbrüchen.
Kokain
Kokain wurde 1884 von Sigmund Freud als Mittel gegen Depressionen und Angstzu-
stände empfohlen und in jahrelangen Selbstversuchen erprobt, später aber als sehr ge-
fährlich erkannt. Kokain ist eine natürliche Substanz aus den Blättern des Cocastrau-
ches, die in der Drogenszene „Koks“ oder „Schnee“ genannt wird.
Kokain drängt die Neurotransmitter Noradrenalin, Dopamin und Serotonin aus den
synaptischen Endknöpfen der Nervenendigungen im Gehirn und bewirkt durch deren
Anstieg in den entsprechenden Synapsen eine künstliche Hochstimmung und Munter-
keit. Gleichzeitig wird durch die Wiederaufnahmehemmung von Noradrenalin, Dopa-
min und Serotonin in die präsynaptische Nervenendigung eine längere Wirkdauer der
Reizleitung ermöglicht [149].
Die entscheidenden verhaltensverstärkenden und psychisch stimulierenden Effekte
von Kokain beruhen auf seiner Wirkung auf die mesolimbischen dopaminergen Nerven-
endigungen (lokalisiert im medialen präfrontalen Kortex, Nucleus accumbens, Amygda-
la-Komplex und Hippocampus).
Die Verstärkung der Dopamin-Aktivität kann schizophrenieartige Psychosen auslö-
sen oder verschlimmern. Serotonin ist auch an den Wirkungen von Kokain beteiligt (ein
Serotoninmangel steigert die Wirksamkeit von Kokain als positivem Verstärker).
Kokain hat die stärkste Wirkung aller Stimulanzien. Wegen der kurzen Elimina-
tionshalbwertszeit (30-90 Minuten) ist eine häufige Einnahme erforderlich, um „high“
zu bleiben. Kokain findet zunehmende Verbreitung. Es wird anfangs oft als Mittel zur
Steigerung der Leistungsfähigkeit eingesetzt.
Kokain hat drei zentrale pharmakologische Wirkungen: Lokalanästhetikum, Veren-
gung der Blutgefäße, starkes Psychostimulans mit ausgeprägten Verstärkungseigen-
schaften.
Kokain aktiviert über den Noradrenalinanstieg in den Synapsen das sympathische
Nervensystem mit allen Folgen [150]: gesteigerte Aufmerksamkeit, motorische Hyper-
aktivität, Anstieg der Pulsfrequenz, Gefäßverengung, Blutdruckerhöhung, Erweiterung
der Bronchien und Bronchiolen, Anstieg der Körpertemperatur, Pupillenerweiterung,
erhöhte Glukoseverfügbarkeit und Verlagerung der Durchblutung von den inneren Or-
ganen zu den Muskeln.
Kokainkonsumenten befinden sich in folgendem Dilemma [151]:
z Appetit, Schlaf und Müdigkeit werden unterdrückt, kehren später aber verstärkt
zurück.
z Die motorische Aktivität wird erhöht, was sich bald in Erregtheit, Unruhe und Be-
wegungsdrang äußert.
z Bewusstseinsklarheit und geistige Präsenz nehmen wunschgemäß zu, gehen später
jedoch in Erschöpfung über.
Substanzinduzierte Angststörung 157
Cannabis
Cannabis ist die weltweit am häufigsten konsumierte illegale Substanz. Jeder Fünfte
Europäer hat schon einmal gekifft, etwa 5% der 14- bis 25-Jährigen tun dies öfter.
Cannabis wird aus den weiblichen Hanfpflanzen gewonnen, und zwar als Marihua-
na (Gemisch aus getrockneten harzhältigen Blättern, Stielen und Blüten) und Haschisch
(aus dem stärker wirksamen Harz der Hanfpflanze) [154]. Das Harz enthält den Wirk-
stoff THC (Tetrahydrocannabinol) besonders reichlich. Haschisch ist im Verhältnis von
5:1 stärker als Marihuana. Hochgezüchtetes und daher gefährlicheres Kraut enthält
20-25% THC statt den bisher üblichen 0,5-5%. THC aktiviert die dopaminergen Neuro-
ne und bewirkt einen massiven Anstieg des Serotoninspiegels im Gehirn. Serotonin hat
eine Funktion bei der Reizübermittlung im limbischen System und im retikulären Sy-
stem und beeinflusst damit Emotionen, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit [155].
Die Wirkung von Cannabis besteht im Allgemeinen in einer weitgehenden Aus-
schaltung negativer Umwelteinflüsse bis hin zu einem Zustand, den die Konsumenten
als Höhepunkt des Rausches verstehen („high“ sein). Es kommt im typischen Fall zu
starkem Wohlempfinden, die charakteristische Haschischwirkung kann zweiphasig
verlaufen: nach anfänglicher Stimulation erfolgt eine Sedierung. Es kommt zu keiner
körperlichen Abhängigkeit, die Tendenz zur Dosissteigerung ist gering ausgeprägt.
Die gleichzeitige Dämpfung und Erregung verschiedener Bereiche des Gehirns führt
zu Stimmungsschwankungen und emotionaler Labilität (unmotivierter Wechsel von
Heiterkeit und tiefer Traurigkeit). Die vorhandene Stimmungslage wird verstärkt.
158 Angststörungen
Bei zahlreichen jüngeren Menschen hat der mehr oder weniger regelmäßige Haschisch-
Konsum die Entwicklung einer Angststörung begünstigt, sodass in der klinischen Praxis
stets nach einem Cannabis-Konsum gefragt werden sollte.
Halluzinogene
Die inhomogene Gruppe der Halluzinogene umfasst natürliche oder chemische Stoffe,
die für eine bestimmte Zeit das Bewusstsein und die Stimmungslage verändern und
schizophrenieähnliche Zustände bewirken.
Das bekannteste Halluzinogen ist LSD (Lysergsäurediethylamid), ein Wirkstoff des
Mutterkorns, ein Pilz, der auf Getreideähren wächst, gefolgt von Mescalin und Psilocy-
bin. Designerdrogen bestehen oft aus unterschiedlichen Mischungen von Halluzinoge-
nen und Amphetaminen [158].
Eine Halluzinogenintoxikation weist folgende Symptome auf [159]:
z Unangepasste verhaltensbezogene oder psychische Veränderungen: deutliche Angst
oder Depression, Beziehungsideen, Furcht, den Verstand zu verlieren, paranoide
Vorstellungen, beeinträchtigte Urteilsfähigkeit, beeinträchtigte soziale bzw. berufli-
che Funktionsfähigkeit.
z Wahrnehmungsveränderungen: Wahrnehmungsintensivierung, Depersonalisation,
Derealisation, Illusionen, Halluzinationen, Synästhesien (Miterregung eines Sinnes-
organs bei Reizung eines anderen, z.B. Farbensehen bei Tönen).
z Mindestens zwei körperliche Symptome (als Folge der stimulierenden Wirkung):
Herzrasen, Herzstolpern, Schwitzen, Verschwommensehen, Zittern, Koordinations-
störungen, rascher Wechsel der Pupillenweite (Mydriasis).
Schwermetalle und Toxine (z.B. flüchtige Stoffe wie Benzin oder Farben, organo-
phosphatische Insektizide, Nervengas, Kohlenmonoxid, Kohlendioxid) können eben-
falls Angstsymptome bewirken.
Nikotin
Nikotin wird im DSM-IV nicht unter den Substanzen angeführt, die eine Angststörung
auslösen können. Die Forschungsergebnisse reichen derzeit nicht aus, um von einer
Intoxikation durch Nikotin und daraus resultierender Angst sprechen zu können. Bei der
Darstellung des Nikotinentzugs wird jedoch auf das mögliche Auftreten von Ängsten
hingewiesen. Es gibt jedoch immer mehr Belege dafür, dass Rauchen das Auftreten von
Panikattacken begünstigt.
Nikotin stimuliert spezifische Acetylcholinrezeptoren im Gehirn und steigert so die
psychomotorische Aktivität, die geistige Leistungsfähigkeit, die sensomotorische Lei-
stung, die Aufmerksamkeit und die Merkfähigkeit [162]. Gleichzeitig aktiviert Nikotin
über die vermehrte Adrenalin- und Noradrenalinausschüttung das sympathische Ner-
vensystem und versetzt den Körper in einen Alarmzustand wie bei einer Stressreaktion.
160 Angststörungen
Nikotin beschleunigt den Herzschlag und verengt die Blutgefäße, wodurch der Blut-
druck erhöht wird. Die anfängliche Leistungssteigerung führt jedoch bald zu einer Lei-
stungsminderung (durch Blutdruckabfall und Sauerstoffmangel).
Langfristig bewirkt zu viel Nikotin eine Störung der Serotonin-Speicherverteilung,
eine Hemmung der Proteinsynthese, eine Blutgefäßverengung und eine Arterienverkal-
kung.
Nikotin raubt dem Körper in Belastungssituationen den nötigen Sauerstoff und über
die Appetithemmung die nötige Energie, sodass die körperliche Leistungsfähigkeit
letztlich gesenkt wird, und zwar gerade dann, wenn aufgrund von körperlicher oder
psychischer Belastung ein Mehrbedarf an Sauerstoff erforderlich ist. Der Nikotintrans-
port über die Blutbahn beeinträchtigt den Sauerstofftransport.
Sauerstoff wird durch Bindung von Sauerstoffmolekülen an die roten Blutkörper-
chen transportiert. Das im Rauch enthaltene giftige Kohlenmonoxid bindet in gleicher
Weise an die roten Blutkörperchen (Erythrozyten), und zwar 200-mal leichter als Sauer-
stoff. Selbst bei niedriger Kohlenmonoxidkonzentration werden 15-20% aller Erythro-
zyten mit Kohlenmonoxid „besetzt“ und fallen für ihre eigentliche Aufgabe als Sauer-
stoffträger aus [163]. Das Kohlenmonoxid im Blut verhindert eine ausreichende Sauer-
stoffzufuhr zum Gehirn und zu anderen Organen, insbesondere zum Herzen, wodurch
Herzrhythmusstörungen und Angina-Pectoris-artige Anfälle auftreten können.
Beim Nikotinentzug (plötzliche Beendigung des Rauchens innerhalb von 24 Stun-
den) treten nach dem DSM-IV [164] mindestens vier der folgenden Symptome auf:
Angst, Unruhe, verminderte Herzfrequenz, Konzentrationsschwierigkeiten, Ablenkbar-
keit, Enttäuschung oder Ärger, dysphorische oder depressive Stimmung, Schlaflosig-
keit, gesteigerter Appetit oder Gewichtszunahme.
Nach einer amerikanischen Studie kann tägliches Rauchen von mehr als 20 Zigaret-
ten später zu Angst- und Panikstörungen führen. 688 Jugendliche wurden im Alter von
durchschnittlich 16 Jahren zwischen 1985 und 1986 und erneut im Alter von etwa 22
Jahren zwischen 1991 und 1993 interviewt. Die Auswertung ergab, dass von den star-
ken Rauchern im Alter von 16 Jahren mit 22 Jahren 10,3% an Platzangst litten gegen-
über 1,8% der anderen Jugendlichen. Angststörungen hatten im Alter von 22 Jahren
20,5% der Raucher, hingegen nur 3,71% der übrigen jungen Erwachsenen, bezüglich
schwerer Panikattacken lagen die starken Raucher ebenfalls auf Platz 1 mit 7,7% ge-
genüber 0,6%.
Opiatentzug
Opiatbedingte Angstzustände sind im DSM-IV nicht als substanzbedingte Angststörun-
gen kodierbar, weil sie nicht durch die Substanz als solche, sondern erst durch deren
Entzug auftreten. Unter den zahlreichen recht belastenden und schmerzvollen Sympto-
men eines Opiatentzugs (z.B. Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Schwitzen, Fieber, Mus-
kelschmerzen, Gänsehaut, Tränenfluss, Schlaflosigkeit, dysphorische Verstimmung)
finden sich auch regelmäßig Angst und Unruhe.
Angstzustände gehören nicht nur zu den ersten Entzugssymptomen, sondern entwik-
keln sich auch im Rahmen der weniger akuten, über Wochen und Monate anhaltenden
Entzugssymptome, oft in Verbindung mit dysphorisch-depressiver Verstimmung,
Freudlosigkeit und Schlafstörung [165]. Angst und Unruhe treten in ähnlicher Weise
auf wie bei einem Entzug von Alkohol, Sedativa, Hypnotika und Anxiolytika.
Angststörungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors 161
Allergien
Hypoglykämie
Bei einer Überfunktion der Schilddrüse treten panikartige Symptome auf, bei einer
Unterfunktion besteht eine Antriebsschwäche, die leicht mit einer ängstlich-depressiven
Symptomatik verwechselt werden kann.
Eine Schilddrüsenüberfunktion (Hyperthyreose) führt zu einer erhöhten Adrenalin-
Empfindlichkeit. Typische Symptome sind Angstzustände, ängstlich angespannte Ruhe-
losigkeit (motorische und psychische Unruhezustände), psychomotorische Erregung,
hektisches Verhalten, Ungeduld, Zittern der Hände, emotionale Labilität, Überempfind-
lichkeit, Herzbeschleunigung (Sinustachykardie), Herzpochen, Herzrhythmusstörungen,
Schweißausbrüche, Hitzeunverträglichkeit, Atemnot, Muskelschwäche, Schlafstörun-
gen, geringe Belastbarkeit, Konzentrationsstörungen, Sehstörungen, Durchfälle und
plötzliche Gewichtsabnahme trotz Heißhungers. Die häufigsten Symptome sind schnel-
ler Puls, Hitzeunverträglichkeit und rasche Ermüdbarkeit bei normaler Aktivität. Die
genauen Ursachen der Angst auslösenden Mechanismen bei einer Hyperthyreose sind
noch unbekannt.
Eine Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose) geht einher mit Depression, Apathie
(Gleichgültigkeit, Antriebslosigkeit), Muskelkrämpfen und Gewichtszunahme.
Schilddrüsenfehlfunktionen kommen bei etwa einem Viertel der Panikpatienten vor.
Es gibt einige leicht erkennbare Unterschiede zwischen Menschen mit Hyperthyreose
und Menschen mit Angstzuständen, die schnell zur richtigen Verdachtsdiagnose führen.
Bei primären Angststörungen kommt es zu einer Absenkung des beschleunigten
Herzschlags in der Nacht und bei Ruhe, während eine Schilddrüsenüberfunktion dem
Herzen keine Schonung gönnt.
Die ständige ängstliche Erregung bei Hyperthyreose spricht gegen eine Panikstörung
mit ihrem anfallsartigen Charakter. Menschen mit Hyperthyreose haben warme Hände,
während Angstpatienten feuchtkalte Hände aufweisen.
Angststörungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors 165
Weitere Hormonstörungen
Hirnorganische Störungen
Angesichts der Fülle der möglichen organischen Ursachen für Panikattacken ist festzu-
halten, dass im klinischen Alltag unerkannt gebliebene körperliche Erkrankungen als
Ursache für Angststörungen eher die Ausnahme sind. Gerade Panikpatienten werden oft
mehrmals ergebnislos untersucht, sodass im Rahmen der üblichen Routinediagnostik
organische Faktoren kaum übersehen werden. Die nach wie vor häufigste Fehldiagnose
besteht darin, dass die Angststörung nicht erkannt wird.
Ein besonders tragisches Beispiel für die Fehldiagnose einer Panikstörung bei einer
organischen Erkrankung stellt einer meiner stationär behandelten Patienten dar:
Ein 36-jähriger, beruflich sehr gestresster und erfolgreicher Techniker musste wegen Panikattacken
seinen Auslandseinsatz abbrechen. Eine Untersuchung am Aufenthaltsort hatte keinen organischen
Befund erbracht, sodass ihm zu einer psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung geraten
wurde, die er in Absprache mit seiner Firma in seinem Heimatland absolvieren wollte. Wegen seiner
akuten Panikanfälle begab er sich dazu in stationäre Behandlung in die Oberösterreichische Landes-
Nervenklinik Linz. Eine verhaltenstherapeutische Behandlung bei mir und entsprechende Medikamente
führten bald zu einer Besserung, sodass er nach drei Wochen in stabilem Zustand entlassen werden
konnte. Nach zehn Tagen rief er mich an, dass es ihm wieder sehr schlecht gehe. Er müsse die Medi-
kamentendosis erhöhen, weil meine Ratschläge nicht mehr helfen würden.
Ich riet ihm zu einer neuerlichen organischen Untersuchung in einem anderen Krankenhaus. Dort
wurde ein Nebennierenadenom diagnostiziert, das eine sofortige Operation erforderte. Bei einer Routi-
neuntersuchung, die im Krankenhaus vor einiger Zeit durchgeführt worden war, hätte man laut behan-
delndem Facharzt diesen Befund auf dem Röntgenbild entdecken müssen, doch war der Patient nicht
wegen des Verdachts auf ein Adenom untersucht worden, sodass man auch nicht darauf geachtet hatte.
Einige Wochen nach der Operation hielt es der Patient nicht mehr zu Hause aus und begab sich wegen
einer depressiven Erschöpfungssymptomatik mit Schmerzzuständen neuerlich in stationäre psychiatri-
sche Behandlung. Wegen der panikartig erlebten Symptomatik wurde er auch wieder zu mir überwie-
sen, um die Verhaltenstherapie fortzusetzen. Bald wurde die Ursache seiner Beschwerden gefunden:
Bei der Operation hatte man leider seine Milz so schwer verletzt, dass sie in einer weiteren Operation
nur mehr entfernt werden konnte.
Angststörungen im Kindes- und Jugendalter 167
Zentrale Merkmale der Trennungsangststörung (F93.0) sind nach den klinisch diagno-
stischen Leitlinien des ICD-10 [172]:
A. Intensive Ängste und Sorgen (ängstliche Erwartung) über einen Zeitraum von mindestens sechs
Monaten an mindestens der Hälfte der Tage. Die Ängste und Sorgen beziehen sich auf mindestens
einige Ereignisse und Aktivitäten (wie Arbeits- oder Schulleistungen).
B. Die Betroffenen finden es schwierig, mit den Sorgen fertig zu werden.
C. Die Ängste und Sorgen sind mit mindestens drei der folgenden Symptome verbunden (mindestens
zwei Symptome an mindestens der Hälfte der Tage):
1. Ruhelosigkeit, Gefühl überdreht, nervös zu sein (deutlich z.B. durch das Gefühl geistiger An-
strengung zusammen mit der Unfähigkeit, sich zu entspannen)
2. Gefühl von Müdigkeit, Erschöpfung oder leicht ermattet zu sein durch die Sorgen und Ängste
3. Konzentrationsschwierigkeiten oder Gefühl, der Kopf sei leer
4. Reizbarkeit
5. Muskelverspannung
6. Schlafstörung (Ein- und Durchschlafstörungen, unruhiger oder schlechter Schlaf) wegen der
Ängste und Sorgen.
D. Die vielfältigen Ängste und Befürchtungen treten in mindestens zwei Situationen, Zusammenhän-
gen oder Umständen auf. Die generalisierte Angststörung tritt nicht in einzelnen paroxysmalen Epi-
soden (wie eine Panikstörung) auf, die Hauptsorgen beziehen sich auch nicht auf ein einzelnes
Hauptthema (wie bei der Störung mit Trennungsangst oder der phobischen Störung des Kindesal-
ters). (Treten bei einer generalisierten Angststörung auch häufiger fokussierte Ängste auf, hat die
generalisierte Angststörung Vorrang vor der Diagnose einer anderen Angststörung.)
E. Beginn in der Kindheit oder in der Adoleszenz (vor dem 18. Lebensjahr).
F. Die Ängste, Sorgen oder körperlichen Symptome verursachen eindeutiges Leiden oder Beeinträch-
tigungen in sozialen, beruflichen und in anderen wichtigen Lebens- und Funktionsbereichen.
G. Die Störung ist keine direkte Folge einer Substanzaufnahme (z.B. psychotrope Substanzen, Medi-
kamente) oder einer organischen Krankheit (wie z.B. Hyperthyreose) und tritt auch nicht aus-
schließlich im Rahmen einer affektiven oder psychotischen Störung auf oder bei einer
tiefgreifenden Entwicklungsstörung.
Nach ICD-10 und DSM-IV können alle Angststörungskategorien für Erwachsene auch
bei Kindern und Jugendlichen angewandt werden.
3. Ängste bei anderen Grunderkrankungen
Anhaltende oder gelegentliche Ängste ohne das Ausmaß einer Angststörung treten auch
bei zahlreichen anderen seelischen und körperlichen Störungen auf, wie im Folgenden
näher dargestellt werden soll.
Viele Angst- und Panikpatienten entwickeln im Laufe der Zeit auch eine somatoforme
Störung, nicht selten verbunden mit einer hypochondrischen Störung.
Die Betroffenen lehnen häufig die Möglichkeit ab, dass bei ihren Beschwerden psy-
chische Ursachen eine Rolle spielen könnten, sondern bestehen trotz negativer Befunde
auf weiteren organmedizinischen Untersuchungen und Behandlungsmethoden.
Eine Somatisierungsstörung (F45.0) wird in den klinisch-diagnostischen Leitlinien
des ICD-10 durch folgende Merkmale charakterisiert [22]:
z Charakteristisch sind multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde kör-
perliche Symptome, die seit mindestens zwei Jahren bestehen.
z Die Symptome können sich auf jeden Körperteil oder jedes Körpersystem beziehen.
Zu den häufigsten Symptomen zählen gastrointestinale Beschwerden (wie Schmerz,
Aufstoßen, Rumination, Erbrechen, Übelkeit usw.), abnorme Hautempfindungen
(wie Jucken, Brennen, Prickeln, Taubheitsgefühle, Wundsein usw.) und Ausschlag.
Sexuelle und menstruelle Störungen können ebenfalls vorhanden sein.
z Die Betroffenen weigern sich hartnäckig, den Rat oder die Versicherung mehrerer
Ärzte anzunehmen, dass die Körpersymptome keine organische Ursache haben.
z Die meisten Betroffenen haben in der Primärversorgung und in spezialisierten Ein-
richtungen bereits zahlreiche negative Untersuchungen und ergebnislose Operatio-
nen hinter sich.
z Die Störung beginnt meist im frühen Erwachsenenalter und weist einen chronisch
fluktuierenden Verlauf auf.
z Die Symptome führen zu einer lang dauernden Beeinträchtigung des sozialen, inter-
personalen und familiären Verhaltens.
Die Betroffenen erleben Ängste subjektiv oft nur als Folge der körperlichen Funktions-
störungen und haben zumindest anfangs häufig Schwierigkeiten, Ängste als Teilursache
ihrer Störung zu akzeptieren. Die Symptome können auch Ausdruck einer chronischen
Stresssymptomatik oder einer Depression sein.
Depression – Negative Lebenssicht macht Angst 177
„Depressive Patienten scheinen häufig gut sozial angepaßt zu sein. Durch eine genaue Analyse kann
jedoch deutlich werden, daß sie besonders Defizite und Ängste im Äußern eigener Bedürfnisse haben,
ihre ‘Beliebtheit’ durch Überanpassung, Konfliktvermeidung und übertriebene Hilfsbereitschaft erwor-
ben haben und dieses Verhalten als normgerecht und wünschenswert betrachten. Im Vergleich zu den
meisten sozial Gehemmten, die ihre Unfähigkeit z.B. zum Neinsagen sehr schnell als Problem und
Belastung erkennen, ist bei den anhaltend Depressiven erst ein Aufbau von Problembewußtsein und
eine Motivationsänderung notwendig.“
Darwin [35] beschrieb den Zusammenhang von Angst und Depression folgendermaßen:
„Wenn wir erwarten, daß wir leiden werden, sind wir ängstlich, wenn wir keine Hoffnung auf eine
Erleichterung haben, verzweifeln wir.“
Angst und Depression lassen sich anhand von drei Aspekten unterscheiden, was in der
klinischen Praxis sehr bedeutsam sein kann [37]:
z Schlafstörung
z Appetitstörung
z Störungen von Herz-Kreislauf-System, Atmung und Magen-Darm-Bereich
z Irritabilität
z Konzentrationsstörungen
z Müdigkeit
z Einschlafstörung
z Hypervigilanz (Überwachheit), Gespanntheit
z Herzrasen, Schwitzen, Zittern, Hitzewallungen, Kälteschauer
z Schwindel, Ohnmachtgefühle, Angst umzufallen
z Schwierigkeiten beim Atmen, Hyperventilation
z Erwartungsangst, vorweggenommene Gefahr, Panik
z phobisches Vermeidungsverhalten
z Depersonalisation oder Derealisation
Die Mehrzahl der funktionellen Sexualstörungen bei Männern lässt sich erklären durch
das bewusste Bemühen, ein einmal erlebtes bzw. befürchtetes Versagen zu verhindern
durch vermehrte Aufmerksamkeit auf das richtige Funktionieren. Die Spontaneität der
körperlichen Reaktionsabläufe wird unterbrochen durch die Aufmerksamkeitsumlen-
kung von den Reizen der Partnerin auf die ängstliche Beobachtung des eigenen Körpers.
Die Angst vor sexuellem Versagen und das ständige Sich-selbst-Beobachten bewirkt
dieses Versagen erst recht.
Angst vor der Sexualität und Sexualaversion führen zu einem Vermeidungsverhal-
ten, wie es für eine phobische Symptomatik typisch ist. Dadurch wird nicht nur die
sexuelle Funktionsfähigkeit, sondern überhaupt das sexuelle Verlangen (Libido) ver-
mindert bzw. verhindert.
Sexuelle Ängste treten oft bei Menschen mit sozialer Phobie als Ausdruck der Be-
ziehungsstörung auf. Viele vermeidend-selbstunsichere bzw. ängstlich-vermeidende
Persönlichkeiten haben noch nie eine sexuelle Beziehung erlebt. Engere Beziehungen
werden trotz Wunsch danach nicht selten vermieden wegen sexueller Ängste.
Im DSM-IV [43] werden alle sexuellen Funktionsstörungen den ersten drei der vier
Phasen des sexuellen Reaktionszyklus zugeordnet: Appetenz (Verlangen) – Erregung –
Orgasmus – Entspannung. Störungen des sexuellen Verlangens zeigen sich in vermin-
derter sexueller Appetenz bzw. in einer sexuellen Aversion.
Eine sexuelle Aversion kann laut DSM-IV bei einer Konfrontation mit sexuellen Si-
tuationen Panikattacken mit extremer Angst, Gefühlen des Schreckens, der Ohnmacht,
Übelkeit, Herzklopfen, Schwindel und Atembeschwerden auslösen.
Nach dem ICD-10 ist eine sexuelle Aversion (F32.10) u.a. charakterisiert durch eine
deutliche Aversion, Furcht oder Angst angesichts der Möglichkeit sexueller Aktivitäten
mit Partnern, sodass sexuelle Aktivitäten vermieden werden. Wenn es doch zum Ge-
schlechtsverkehr kommt, geht dies einher mit starken negativen Gefühlen und der Un-
fähigkeit, Befriedigung zu erleben.
In den „Störungen der Sexualpräferenz“ (Fetischismus, Exhibitionismus, Voyeu-
rismus, Pädophilie u.a.) laut ICD-10 bzw. in den „Paraphilien“ laut DSM-IV, wo die
sexuelle Erregung im Allgemeinen durch nichtmenschliche Objekte ausgelöst wird,
äußern sich oft Ängste vor einer adäquaten partnerschaftlichen Sexualität [44].
Essstörung – Selbstwert-Ängste hinter Fasten und Körperfigur 181
Eine ängstliche Persönlichkeitsstörung zeigt sich vor allem in einer übergroßen Emp-
findsamkeit gegenüber Ablehnung durch andere. Es besteht oft ein unlösbarer Konflikt
zwischen Bindungs- und Autonomiebedürfnis, zwischen Bindungssehnsucht und Bin-
dungsangst. Die Betroffenen sehnen sich nach zwischenmenschlicher Nähe und Sicher-
heit, vermeiden jedoch enge Beziehungen, um nicht zurückgewiesen zu werden. Trotz
der sozialen Vermeidung bleibt das persönliche Bedürfnis nach Zuwendung und Akzep-
tiert werden durch andere bestehen [50].
Die ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung des ICD-10 entspricht der ver-
meidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung des DSM-IV und kommt bei 0,5-1%
der Normalbevölkerung vor.
Ängste bei Persönlichkeitsstörungen 183
Abhängige Persönlichkeitsstörung –
Die Angst, auf sich selbst gestellt zu sein
ICD-10 und DSM-IV beschreiben mit der abhängigen (dependenten) Persönlichkeits-
störung eine weitere Persönlichkeitsstörung, die bei Angstpatienten oft vorhanden ist
und deren Vernachlässigung die Therapieerfolge erheblich beeinträchtigt. Dependenz
(Abhängigkeit) wird verstanden als mangelnde Fähigkeit oder fehlende Bereitschaft zur
Übernahme autonomer Verantwortung bzw. zur Durchsetzung berechtigter Ansprüche
vor allem gegenüber Menschen, zu denen eine Abhängigkeit besteht.
Nach dem ICD-10 [51] lässt sich eine abhängige (asthenische) Persönlichkeitsstö-
rung (F60.7) folgendermaßen charakterisieren:
z Hilfe suchen bei anderen und Übertragung der Verantwortung und Entscheidung an
andere in den meisten Lebenssituationen.
z Unterordnung der eigenen Bedürfnisse unter die anderer Menschen, von denen man
abhängig ist, und große Nachgiebigkeit gegenüber den Wünschen anderer.
z Mangelnde Bereitschaft zur Äußerung angemessener Ansprüche gegenüber Men-
schen, von denen man abhängig ist.
z Massives Unbehagen beim Alleinsein aus Angst, nicht für sich allein sorgen zu
können.
z Ständige Angst vor dem Verlassen werden durch eine enge Bezugsperson, auf die
man angewiesen ist.
z Mangelnde Entscheidungsfähigkeit angesichts von Alltagssituationen ohne Rat-
schläge vonseiten anderer und ohne Bestätigung durch andere.
Aus den relativ übereinstimmenden Daten beider Studien folgt: Unter Berücksichti-
gung der Zwangsstörung, der posttraumatischen Belastungsstörung und der Trennungs-
angststörung, die nach dem ICD-10 nicht zu den Angststörungen im Sinne der Diagno-
sen F40 und F41 zählen, leidet mindestens jeder Vierte der Allgemeinbevölkerung im
Laufe seines Lebens unter einer Angststörung. Die Befragungsergebnisse mögen auf
den ersten Blick unglaubhaft hoch erscheinen, sie müssen jedoch auf den Hintergrund
verstanden werden, dass laut aktueller NCS-R-Studie 46,4% der US-Bürger mindestens
einmal in ihrem Leben unter einer psychischen Störung leiden (innerhalb der letzten 12
Monate trifft dies auf 26,2% zu).
Nach einer umfangreichen europäischen Befragung (ESEMeD) von 21425 Personen
in sechs Ländern (Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Spanien) in
den Jahren 2001-2003 hatten im Laufe des Lebens 13,6% der Bevölkerung (9,5% der
Männer und 17,5% der Frauen) und innerhalb der letzten 12 Monate 6,4% der Bevölke-
rung (3,8% der Männer und 8,7% der Frauen) eine Angststörung. Es gibt mittlerweile
auch andere repräsentative deutsche Studien zur Verbreitung von Angststörungen. Dem-
nach leiden aktuell (Punktprävalenz) rund 9% der Deutschen unter einer Angststörung.
Im Rahmen des Bundesgesundheitssurvey 1998 wurden durch eine Zusatzauswer-
tung auf der Basis von 4181 Personen aktuellste und repräsentative Daten zur Verbrei-
tung von Angststörungen in Deutschland gewonnen [6]. Ca. 9% (genau 8,87%) der 18-
bis 65-Jährigen wiesen aktuell (innerhalb der letzten vier Wochen) und 14,5% innerhalb
der letzten 12 Monate eine Angststörung auf. Die 12-Monatsprävalenzen der verschie-
denen Angststörungen betragen: 1,1% Panikstörung, 2,0% Agoraphobie, 7,6% spezifi-
sche Phobie, 2,0% soziale Phobie, 5,1% generalisierte Angststörung, 0,7% Zwangsstö-
rung. Es bestanden keine Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland (alte Bun-
desländer: 8,97%; neue Bundesländer: 8,98%). Unter den Männern wiesen rund 5%,
unter den Frauen rund 13% eine Angststörung auf, und zwar relativ unabhängig vom
jeweiligen Altersbereich. Der höchste Prozentsatz bestand bei 18- bis 35-Jährigen
(Frauen: 13,32%, Männer: 5,46%).
Nach der TACOS-Studie, einer 1996 durchgeführten Erhebung an 4075 18- bis 64-
Jährigen der Allgemeinbevölkerung einer norddeutschen Region wiesen 15,1% im Lau-
fe des Lebens eine Angststörung nach dem DSM-IV auf (Panikattacken: 5,8%, Panik-
störung ohne Agoraphobie: 0,9%, Panikstörung mit Agoraphobie: 1,3%, Agoraphobie
ohne Panikstörung: 1,1%, soziale Phobie: 1,9%, generalisierte Angststörung: 0,8%,
spezifische Phobie: 10,6%, Zwangsstörungen: 0,5%, posttraumatische Belastungsstö-
rung: 1,4%, Angststörung aufgrund medizinischer Krankheitsfaktoren: 0,7%).
Nach der EDSP-Studie, einer über 5 Jahre angelegten repräsentativen Verlaufsstudie
bei 3021 14- bis 24-Jährigen aus Bayern, erlebten 14,4% dieser jungen Menschen im
Laufe des Lebens eine Angststörung. Die Lebenszeitprävalenz im Einzelnen: 3,5%
Panikstörung, 5,3% Agoraphobie, 5,1% generalisierte Angststörung, 11,3% spezifische
Phobie, 7,6% soziale Phobie, 2,1% Zwangsstörung (Datenerhebung 1995 und 1996).
Nach einer 1994 unter Leitung des Angstexperten Margraf [7] durchgeführten reprä-
sentativen Befragung von 2948 Personen in der BRD (1939 in Westdeutschland und
1009 in Ostdeutschland) weisen 8,8% der Deutschen (11,0% der Frauen und 6,4% der
Männer) zum Befragungszeitpunkt behandlungsrelevante Angstsyndrome auf, erhoben
durch das Beck-Angst-Inventar. Ängste treten in Ostdeutschland (16,3%) doppelt so
häufig auf als in Westdeutschland (7%), was wohl durch die Umbruchssituation erklär-
bar ist. Aus der Forschung ist bekannt, dass die Unkontrollierbarkeit und Unvorhersag-
barkeit von Lebenssituationen eine zentrale Ursache für Angstreaktionen darstellt.
Verbreitung von Angststörungen 187
Jeder siebente Deutsche (13,1%) war bzw. ist gerade wegen Angstsymptomen in Be-
handlung (von den insgesamt 394 Behandelten waren 109 klinische und 285 subklini-
sche „Fälle“). Nur 41,6% aller Befragten mit behandlungsbedürftigen Ängsten erhielten
eine Behandlung im weitesten Sinne. Als Behandler der Befragten wurden verschiedene
Berufsgruppen in folgender Häufigkeit eruiert: 81,7% Allgemeinmediziner, 5,8% Psy-
chiater oder Nervenfachärzte, 16,5% andere Fachärzte (z.B. Internisten), 2,8% Psycho-
logen und 1,3% Heilpraktiker. Über vier Fünftel der Behandlungen von Menschen mit
Angststörungen erfolgen demnach durch den Hausarzt.
89,3% aller Behandelten erhielten Medikamente, 74,4% eine allgemeine Beratung,
9,4% eine stationäre Behandlung, 16,5% eine Psychotherapie, 5,1% eine andere Be-
handlung. Die Pharmakotherapie stellt in der Versorgungspraxis die häufigste Form der
Angstbehandlung dar. Nur bei insgesamt 25% der klinischen und subklinischen Fälle
erfolgte eine psychotherapeutische Behandlung. Von allen Behandelten wurden 2,0% in
einer psychiatrischen/psychosomatischen/verhaltenstherapeutischen Klinik und 9,1% in
einer Kur- bzw. Rehabilitationsklinik stationär therapiert.
Die Behandelten unterzogen sich folgenden psychotherapeutische Methoden: 11,9%
Entspannungsmethoden, autogenes Training oder Hypnose, 11,4% Gesprächstherapie
oder psychodynamische Verfahren und 1,0% verhaltenstherapeutische bzw. kognitive
Verfahren. Verhaltenstherapeutische Behandlungsmethoden, deren Wirksamkeit sehr
hoch und durch die Psychotherapieforschung gut belegt sind, wurden in der Praxis
kaum verwendet, was eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit erfordert. Nur 26,3% aller in
irgendeiner Form behandelten Patienten schätzten die Therapie als dauerhaft erfolgreich
ein. Von den Befragten mit psychotherapeutischer Behandlung berichteten 8,1% keinen,
28,6% einen kurzfristigen, 48,0% einen mittelfristigen und nur 15,3% einen dauerhaften
Erfolg, bei den medikamentös Behandelten beschrieben 8,9% keinen, 28,2% einen
kurzfristigen, 33,2% einen mittelfristigen und 29,7% einen dauerhaften Erfolg.
Nach der Dresdner Angststudie besteht akuter Handlungsbedarf im Bereich der
Angststörungen. Rund 60% aller Befragten mit Angstsymptomen haben niemals einen
Therapeuten aufgesucht. Im Durchschnitt erfolgt eine adäquate Behandlung erst nach 7
Jahren. Die Ersterkrankung setzt zwischen dem 20. und dem 25. Lebensjahr ein. Der
erste Arztbesuch erfolgt durchschnittlich mit 24 Jahren.
Ohne Behandlung ist die Entwicklung von Angststörungen im Laufe des Lebens
nach allen Studien als sehr negativ zu beurteilen. Spontanheilungen sind seltener, als
früher angenommen wurde, jedenfalls niedriger als bei anderen psychischen Störungen.
188 Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen
Es ist ein Faktum: Angststörungen sind – ebenso wie Depressionen – in den letzten
Jahrzehnten stark angestiegen. Laut manchen Fachleuten seien nur die Diagnosen ange-
stiegen, während der Prozentanteil der Angstkranken in der Bevölkerung gleich geblie-
ben sei. Viele Experten gehen jedoch davon aus, dass seit den 1950er-Jahre Angststö-
rungen tatsächlich um mindestens 1,2 Standardabweichungen zugenommen haben,
bedingt durch sozioökonomische Faktoren und persönliche Bedrohungseinschätzungen:
z Obwohl das Leben in früheren Jahrhunderten durch zahlreiche Faktoren viel stärker
bedroht war als heute, nehmen die Menschen gegenwärtig subjektiv immer weniger
Sicherheit im Leben wahr. Die Bevölkerung ist im Zeitalter der Globalisierung bin-
nen Minuten über alle Bedrohungen in der näheren und weiteren Umwelt informiert.
Die mangelnde subjektive Kontrolle der Umwelt macht Angst und erzeugt Stress.
Krank machend ist nicht der Stress an sich, sondern das Gefühl des Kontrollverlusts.
z Der schulische und berufliche Leistungsdruck fördert Versagensängste und soziale
Ängste, aber auch existenzielle Ängste in Bezug auf die ökonomische Absicherung
des weiteren Lebens. Arbeitnehmer haben immer häufiger das Gefühl, dass ihr Ar-
beitsplatz als Grundlage der Existenzsicherung nicht garantiert ist.
z Die Menschen wurden noch nie so alt wie jetzt und fürchten sich dennoch mehr
denn je vor Krankheiten, einerseits wegen des größeren Erkrankungsrisikos als Fol-
ge höheren Lebensalters, andererseits wegen höherer Erwartungen an die Medizin.
z Familiäre Stützsysteme haben durch die zunehmende Instabilität von Ehe und Be-
ziehungen ihren wichtigen Schutzfaktor für die Gesundheit in Kindheit, Jugend und
Erwachsenenalter verloren. Die Vereinzelung, soziale Entwurzelung und mangelnde
Solidarität fördert heutzutage Angstkrankheiten. Stabile Sozialkontakte dagegen
schützen vor krankhaften Ängsten. Der Verlust von sozialer Verbundenheit macht
zwanzig Prozent der Varianz aus, die beim Anstieg der Ängste beobachtbar sind.
Bereits ohne die nicht erfassten spezifischen und sozialen Phobien sowie posttraumati-
schen Belastungsstörungen weisen mehr als 10% der Patienten von Allgemeinärzten
manifeste behandlungsbedürftige Angststörungen auf.
Nach der WHO-Studie findet man in deutschen Allgemeinarztpraxen 1,6% akute
Agoraphobien, 1,3% akute Panikstörungen, 8,5% generalisierte Angststörungen.
Insgesamt leiden weltweit etwa ein Viertel der Patienten von Allgemeinärzten unter
psychischen Störungen. Rund 60% aller Patienten, die wegen psychischer Probleme den
Hausarzt aufsuchen, weisen laut WHO-Studie mehr als eine psychische Störung auf
(zumeist Angst und Depression).
In der BRD erhielten 20,9% der Patienten von Allgemeinmedizinern eine psychiatri-
sche ICD-10-Diagnose, weitere 8,5% klagten über typische Beschwerden, ohne die
vollen Kriterien einer psychiatrischen ICD-10-Diagnose zu erfüllen [10].
Die Übereinstimmung zwischen der ICD-Diagnose durch Fachleute und der Fest-
stellung einer psychischen Erkrankung durch den Hausarzt betrug 60%, d.h. bei 40%
wurde die psychische Störung nicht erkannt [11]. Rund 50% aller Angststörungen wer-
den vom Hausarzt nicht erkannt oder als Depressionen bzw. somatische Störungen
fehldiagnostiziert. Weitere 25% werden nach Expertenurteil fehlbehandelt [12].
16,1% der Patienten von deutschen Allgemeinärzten erhalten Medikamente wegen
einer psychischen Störung, davon 4,5% Tranquilizer, 3,4% Hypnotika (Schlafmittel),
1,7% Anxiolytika, 2,0% Antidepressiva, 1,3% Antipsychotika, 2,8% pflanzliche Mittel,
1,1% Schmerzmittel [13].
Die Mehrzahl der Angstpatienten wird über 4-10 Jahre nicht adäquat diagnostiziert
und behandelt. Im Durchschnitt vergehen sieben Jahre, bis eine Angsterkrankung als
solche erkannt wird. Ärztliche Hilfe wird anfangs eher über somatoforme Störungen
(Kreislaufprobleme, Schwindel usw.) und Schlafstörungen gesucht.
Unter 500 deutschen Allgemeinarztpatienten mit aktuellen, körperlich nicht hinrei-
chend begründbaren Beschwerden wurde bei 21% eine Angststörung festgestellt.
Von 6307 Patienten aus Allgemeinarztpraxen in den USA wiesen 32,7% eine vorü-
bergehende Angstsymptomatik auf, die in 56% der Fälle nicht erkannt wurde.
Von 1994 niederländischen Patienten mit einer psychiatrischen Diagnose wurden in
den Allgemeinarztpraxen nur 47% als psychisch krank erkannt. Die von den Ärzten
rasch erkannten und richtig behandelten Angstpatienten wiesen eine kürzere Erkran-
kungsdauer auf. Das rasche Erkennen von Angststörungen hat somit einen positiven
Effekt auf den Krankheitsverlauf.
Menschen mit Angststörungen können in einer durchschnittlichen Arztpraxis ange-
sichts des nötigen Zeitaufwands oft nicht ausreichend betreut werden.
Bei einer Befragung von Allgemeinärzten und Nervenärzten in Deutschland [14]
gaben 54,5% an, dass Angstpatienten eine große Belastung für die Praxis seien. 91,7%
meinten, dass bei Angstpatienten im Vergleich zu anderen Patienten mehr Zeit aufge-
wendet werden müsse. Tranquilizer sind daher häufig das Mittel der Wahl, dieses Pro-
blem zu entschärfen, von dem viele Ärzte wissen, dass es dadurch nicht lösbar ist.
Nach einer US-Studie an 794 Patienten mit Panikanfällen (mit und ohne Agorapho-
bie) erhielten nur 4% eine Verhaltenstherapie. Nur bei 2,6% der Patienten mit Vermei-
dungsverhalten wurde eine Konfrontationstherapie durchgeführt. Ähnlich geringe Pro-
zentwerte fand – wie erwähnt – Margraf [15] bei fast 400 deutschen Angstpatienten.
190 Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen
Verschiedene Studien zeigen, dass eine anfängliche Panikattacke ein deutlich höheres
Risiko bedeutet, eine Panikstörung, eine Agoraphobie oder eine andere Angststörung zu
bekommen. Dieses Risiko ist allerdings relativ unspezifisch, da Panikattacken auch bei
fast allen anderen Formen psychischer Störungen auftreten können (z.B. bei affektiven,
psychotischen, somatoformen oder Substanzmissbrauchsstörungen).
Diese Befunde haben dazu geführt, dass im amerikanischen DSM-IV eine Panikat-
tacke als Zusatzphänomen bei jeder psychischen Störung vermerkt werden kann. Sie
bestätigen auch das internationale Diagnoseschema ICD-10, das die Agoraphobie als
eigenständige Störung auflistet.
Ähnliche Befunde ergaben sich für die Agoraphobie sowie für die soziale und spezifi-
sche Phobie. Bei mehr als zwei Drittel aller Mehrfacherkrankungen ist die Angst-
symptomatik die primäre Störung, während die Depression eine oft Jahre später eintre-
tende Komplikation darstellt.
Die wenigen Fälle, die zuerst eine Depression erlebt hatten, wiesen zumeist eine
deutlich abgrenzbare (eher reaktive) Depression auf. Bei fast allen deutschen Patienten
mit Panikstörung und Agoraphobie, die im Lebenszeitlauf eine Depression entwickel-
ten, trat also die Depression nach der Angststörung auf. Nur bei 10% der Mehrfach-
erkrankten bestand vor der Angststörung eine Depression [24].
Nach der NCS-Studie [26] entstehen Depressionen im Lebenslauf bei 45,9% der Agora-
phobien, 64,1% der Panikstörungen, 62,4% der generalisierten Angststörungen, 42,3%
der spezifischen Phobien, 37,2% der sozialen Phobien und 47,9% der posttraumatischen
Belastungsstörungen.
85% der Patienten mit Angststörungen und Depressionen gaben in einer anderen
amerikanischen Studie an, dass ihre Angststörungen zuerst aufgetreten seien.
Depressive Episoden entwickeln sich (ebenso wie Substanzmissbrauch bzw. Sub-
stanzabhängigkeit) nach den vorhandenen US-Studien meistens nach Beginn der Angst-
erkrankung. Dies erfolgt oft erst mehrere Jahre später, lediglich bei Panikstörungen
kommt es relativ rasch innerhalb eines Jahres zu einer depressiven Episode. Der Um-
stand, dass die Angststörung zumeist primär und die depressive Störung sekundär ist,
hat weit reichende Konsequenzen für die Art des therapeutischen Vorgehens.
Bei Angstpatienten treten öfter Selbstmordgedanken und Selbstmordversuche auf.
Dabei ist jedoch eine Komorbidität mit einer Depression oder einem Alkoholmiss-
brauch zu vermuten, gewöhnlich als Folge einer chronifizierten Symptomatik. Relativ
häufig finden sich auch Zwangssymptome, die mit der Angst vor negativen sozialen
Konsequenzen zu tun haben. Ordnungs- und Putzzwänge sind oft Folge der Angst,
Sauberkeitsnormen nicht zu erfüllen, Kontrollzwänge Ausdruck der Angst, den gefor-
derten Perfektionsansprüchen nicht zu genügen, handlungshemmende Gedankenzwänge
Ausdruck der Angst, dass die anderen das eigene Verhalten kritisieren könnten.
Ein nicht unbeträchtlicher Prozentsatz der Bevölkerung sowie der Patienten in medi-
zinischen (nichtpsychiatrischen) Behandlungseinrichtungen leidet unter gemischt ängst-
lich-depressiven Symptomen. Die Grundproblematik hinter dem meist diffusen körperli-
chen Beschwerdeangebot wird oft nicht erkannt. Wenngleich es sich großteils nur um
subklinische, nicht akute Symptome handelt, leiden die Betroffenen subjektiv doch
bedeutsam darunter und sind zahlreichen psychosozialen Problemen ausgesetzt.
Bei ca. 10% der Amerikaner fand man gemischt ängstlich-depressive Symptome,
ohne dass damit schon in den meisten Fällen bereits eine Diagnose gestellt werden
konnte [27]. Bei über 80% davon traten phobische Beschwerden, körperliche Symptome
einer Depression oder aber eine allgemeine „Nervosität“ auf. Bei 13% davon zeigte sich
eine typische Mischung aus ängstlichen und depressiven Symptomen, gelegentlich
gingen sie mit Phobien, einer Dysphorie (einer leichten depressiven Verstimmung) oder
somatischen Angstäquivalenten einher. Bei 4,5% der gemischt ängstlich-depressiven
Personen bestand eine Major Depression mit Nervosität, Panik und Phobien.
In einer Untersuchung an britischen Frauen in den 1980er-Jahren wurden die mei-
sten gefundenen Syndrome als subklinisch eingestuft [28]. Bei ca. 2% ergab sich eine
Mischung von ängstlichen und depressiven Syndromen. Unter den subklinischen Angst-
patientinnen bot mehr als die Hälfte ein anfangs gemischt ängstlich-depressives Zu-
standsbild, wobei im Laufe der Zeit die depressive Symptomatik ohne Behandlung
verschwand, während eine chronische subklinische Angstsymptomatik bestehen blieb.
Alle subklinischen Untergruppierungen zeigten ein höheres Risiko, nach stressrei-
chen Lebensereignissen (zumeist nach Trennung oder Verlust des Partners) eine schwe-
re Depression zu entwickeln. Unter den subklinisch belasteten Frauen waren bei der
Mehrzahl lang dauernde soziale Probleme festzustellen.
Eine Studie an über 6000 jungen Erwachsenen in Zürich [29] ergab ganz ähnliche
Befunde. Man fand vor allem deutlich depressive Symptome, die nur kurz anhielten,
dafür jedoch fast allmonatlich wiederkehrten und bei fast der Hälfte der Betroffenen
auch mit Ängsten verbunden waren.
194 Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen
In Deutschland [30] weisen 3,8% der Bevölkerung eine Komorbidität von Angststö-
rungen und affektiven Störungen auf. Ein Viertel davon entwickelte im Laufe der Zeit
zusätzlich auch einen bedeutsamen Medikamenten- oder Alkoholmissbrauch.
Während 40-80% der Panikpatienten lebenszeitlich irgendwann eine sekundäre De-
pression erleiden, entwickeln umgekehrt Patienten mit einer Depression in ca. 25% der
Fälle auch einmal eine Panikstörung [31].
Im Vergleich zu rein depressiven Patienten haben Patienten, die zugleich eine Pa-
nikstörung und eine Depression aufweisen, unter ihren Verwandten ersten Grades ein
zweimal häufigeres Auftreten von Depressionen, Panikstörungen, Phobien und Alko-
holabhängigkeit. Bei Patienten mit einer primären Panikstörung und einer sekundären
Depression findet man familiär keine Häufung von Depressionen, wohl aber eine von
Panikstörungen.
Menschen mit einer primären Depression und einer sekundären Panikstörung zeigen
in ihrer depressiven Querschnittsymptomatik häufiger eine (früher so genannte) endo-
gene Depression, sprechen meist gut auf Antidepressiva an und entwickeln gewöhnlich
nur eine leichtere Agoraphobie (wenn überhaupt).
Primäre Angststörungen beginnen selten nach dem 40. Lebensjahr, außer sie sind
symptomatischer Natur, d.h. durch eine körperliche Erkrankung verursacht. Wenn dies
ausgeschlossen ist, sind sie Ausdruck einer zugrunde liegenden Depression.
Im Vergleich zur Normalbevölkerung weisen depressive Patienten ein höheres Risi-
ko auf, im weiteren Lebensverlauf an einer Angststörung zu erkranken [32]:
z spezifische Phobie: 9-mal,
z Agoraphobie: 15,3-mal,
z Panikstörung: 18,8-mal.
In der genannten Reihenfolge der Diagnosegruppen musste bei den betroffenen Patien-
ten ein immer ungünstiger werdender Krankheitsverlauf festgestellt werden, vor allem
auch ein wachsender Grad an psychosozialer Beeinträchtigung.
Die Entwicklung von Depressionen und Angststörungen im Lebensverlauf bedarf
wohl bestimmter Persönlichkeitsmerkmale, insbesondere soweit es die Verarbeitung
bedeutsamer negativer Lebensereignisse betrifft.
Bei den Patienten mit ängstlich-depressiven Symptomen zeigen sich sehr passiv-
abhängige Wesenszüge. Diese Patientengruppe weist folgende Charakteristika auf [34]:
z eine auffällige Scheu vor neuen sozialen Situationen (geringe „Neuigkeitssuche“),
z eine erhöhte Enttäuschbarkeit (hohe „Belohnungsabhängigkeit“),
z eine spezielle kognitive Angsterwartung (starke „Gefahrvermeidung“).
Vor der Ausprägung der Krankheitssymptome erlebten diese Patienten eine erhöhte
Zahl an negativen Lebensereignissen von „Gefahr“ und „Verlust“, die nicht angemessen
verarbeitet werden konnten, sodass zunächst eine Hilflosigkeit, später (nach erfolglosen
Kontrollversuchen über die Einflussfaktoren) auch eine Hoffnungslosigkeit auftrat, die
die Entwicklung einer Depression begünstigte.
Angststörungen im Rahmen von psychischen Mehrfacherkrankungen 195
Alkohol wirkt Angst reduzierend durch die Verstärkung der hemmenden Funktion
der Gamma-Aminobuttersäureneurone (GABA), aber auch durch positive Erwartungen.
In der Fachliteratur werden vier Möglichkeiten des Zusammenhangs von Angststö-
rung und Alkoholmissbrauch diskutiert und durch Studien untermauert [37]:
1. Der Alkoholkonsum dient der Selbstbehandlung von Angst.
2. Angst und Alkoholabhängigkeit sind Effekte einer gemeinsamen Grundstörung.
3. Angst tritt als schädliche Auswirkung von Alkoholmissbrauch oder -entzug auf.
4. Angst stellt eine kognitive Folge von Alkoholmissbrauch oder Alkoholentzug dar.
In Deutschland [38] war bei 20% der Angstpatienten im Laufe der Jahre Substanzmiss-
brauch bzw. Substanzabhängigkeit festzustellen. Bei 1,2% der deutschen Bevölkerung
besteht eine Mischung von Angststörung und Medikamentenmissbrauch, bei 1% eine
Mischung von Angststörung, affektiver Störung und Medikamentenmissbrauch.
Nach der amerikanischen NCS-Studie [39] zeigt sich Substanzmissbrauch (Alkohol,
Medikamente, Drogen) lebenszeitlich bei 36,3% der Agoraphobien, 39,4% der Panik-
störungen, 32,3% der generalisierten Angststörungen, 39,6% der sozialen Phobien,
39,4% der spezifischen Phobien und 51,4% der posttraumatischen Belastungsstörungen.
In den USA weisen lebenszeitlich unter den Menschen mit irgendeiner Form von
Angststörung 22,7% der Männer und 48,8% der Frauen einen Alkoholmissbrauch und
35,8% der Männer und 60,7% der Frauen eine Alkoholabhängigkeit auf. Das Vorhan-
densein einer sozialen Phobie ging am stärksten mit einer Alkoholproblematik einher.
Es handelt sich bei diesen Ergebnissen allerdings um retrospektive Daten. Zur Absi-
cherung der Befunde wäre eine prospektive Studie (Verlaufsstudie) erforderlich. Die
Mehrzahl der Befragten in der NCS-Studie weist lebenszeitlich mindestens eine weitere
psychiatrische Störung auf. Der Befund, dass insbesondere bei Frauen ein enger Zu-
sammenhang zwischen Alkoholmissbrauch bzw. Alkoholabhängigkeit und Angststö-
rung besteht, wird auch durch andere Studien bestätigt. Panikpatienten mit und ohne
Agoraphobie neigen auch nach anderen Studien oft zu Alkoholmissbrauch. Nach der
amerikanischen ECA-Studie und der Münchner Follow-up-Studie weisen 36-40% der
Panikpatienten Substanzmissbrauch oder Substanzabhängigkeit auf [40]. Panik- und
Alkoholerkrankung können auch die gleichzeitige Folge einer erhöhten Belastung sein.
Wenn Alkohol zum Mittel wird, Vermeidungsverhalten und Erwartungsangst zu re-
duzieren, kann sich daraus eine sekundäre Alkoholabhängigkeit entwickeln. In einer
Untersuchung [41] berichteten 50% der stationären Patienten mit Alkohol- und Drogen-
missbrauch von wiederholten Panikattacken, die die meisten von ihnen (83%) mit Al-
kohol bekämpften, was sich mehrheitlich (bei 72%) auch als wirksam gezeigt habe.
Patienten mit einer isolierten Panikstörung weisen häufiger eine primäre Alkoholab-
hängigkeit auf. Dies ist so zu interpretieren, dass die ständig wiederkehrenden Entzugs-
symptome Panikattacken auslösen können, weil die Symptome ähnlich sind.
Die Erfassung von Panikstörungen bei Alkoholikern ist nicht unproblematisch. Nach
einer Studie [42] sind Alkoholiker nicht in der Lage, zwischen Symptomen von Panik
und solchen von Alkoholentzug zu unterscheiden, mit Ausnahme des Zitterns, das im
Entzug als stärker erlebt wurde. In einer amerikanischen Untersuchung an 565 Alkohol-
abhängigen wiesen 10% eine Phobie und 13% Panikattacken auf, während eine andere
Studie an Alkoholikern bei 7,8% eine soziale Phobie und bei 8,5% eine Agoraphobie
fand [43]. Eine weitere Befragung von 321 stationären Alkoholabhängigen ergab bei
6% Panikstörungen und bei 18% Phobien im Rahmen des Lebensverlaufs [44]. Wäh-
rend des Alkoholentzugs sind noch höhere Werte zu finden.
Angststörungen im Rahmen von psychischen Mehrfacherkrankungen 197
Viele sozial ängstliche Menschen verwenden Alkohol als Mittel zur Linderung ihrer
Symptome. Am Beginn einer Alkoholabhängigkeit steht oft eine soziale Phobie, die mit
Alkohol so lange zu überspielen versucht wurde, bis man davon abhängig wurde. Viele
Alkoholiker erkennen erst nach dem Entzug das wahre Ausmaß ihrer sozialen Ängste.
Die Fachliteratur und leidvolle Erfahrungen der Betroffenen zeigen, dass die Selbst-
behandlung mit Alkohol die Angstsymptomatik langfristig nicht zu lindern vermag,
sondern tendenziell eher verschlimmert. Insgesamt sind jedoch die empirischen Belege
für die häufige klinische Erfahrung, dass zuerst die Angststörung und dann die Alko-
holproblematik auftritt, derzeit noch nicht ausreichend vorhanden.
Therapeutisch gesehen muss bei Alkoholikern neben dem Ziel der Abstinenz oft
auch eine bessere soziale Kompetenz aufgebaut werden.
Der Zusammenhang von Angst und Alkohol kann auch umgekehrt sein: eine primä-
re Abhängigkeitserkrankung kann zu einer sekundären Angstsymptomatik bzw. sekun-
dären Angststörung führen. Angst als Folge von Alkoholmissbrauch muss nicht unbe-
dingt auf einer direkten Alkoholwirkung beruhen, sondern könnte auch durch die mit
dem Alkoholentzug einhergehenden neurobiologischen Veränderungen bedingt sein.
Wiederholte Alkoholentzüge (auch ein zum üblichen Blutalkoholspiegel nur relativ
geringfügiger Abfall des Alkoholspiegels) bewirken eine länger andauernde Erregbar-
keitssteigerung im Zentralnervensystem, die mit Angst verbunden ist und nach Absti-
nenzbeginn noch monatelang anhalten kann. Man spricht in diesem Fall von einem
„subakuten verlängerten Alkoholentzugssyndrom“ [45].
Zumindest bei prädisponierten Personen können wiederholte Alkoholentzüge durch
Sensibilisierung und erhöhte exzitatorische Instabilität die Schwelle für das Auftreten
von Angst herabsetzen. Dies wird als Kindling-Phänomen bezeichnet.
Im Alkoholentzug besteht eine noradrenerge Hyperaktivität des Zentralnerven-
systems, die erregend wirkt. Panikstörungen sind ebenfalls charakterisiert durch eine
Aktivitätssteigerung des noradrenergen Systems, ausgehend vom Locus coeruleus.
Trizyklische Antidepressiva oder bestimmte neuere Antidepressiva (außer den nicht
dämpfenden SSRI) gelten als Therapieempfehlung bei Panikstörungen von Alkoholi-
kern. Diese Medikamente erhöhen in gleicher Weise wie die MAO-Hemmer die Ver-
fügbarkeit von Noradrenalin im synaptischen Spalt und bewirken so über einen negati-
ven Feedback-Mechanismus eine verminderte Aktivität der Neurone im Locus coeru-
leus und damit auch eine Reduzierung der noradrenergen Aktivität.
Der Zusammenhang von Alkohol und Angst kann als Teufelskreis dargestellt wer-
den [46]: Alkoholfolgen wie z.B. vegetative Übererregbarkeit, Irritierbarkeit, Schlafstö-
rungen, Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen, reduzierte Leistungsfähigkeit,
Erschöpfung, Herz-Kreislauf-Probleme oder Magen-Darm-Beschwerden dienen häufig
als Auslöser für Angstreaktionen in der Form, dass diese Zustände als Angst machend
interpretiert werden. Um die Angstgefühle zu beseitigen, wird erst recht wieder Alkohol
als Mittel der Wahl eingesetzt.
Alkohol und Tranquilizer (z.B. Tafil®/Xanor®, Lexotanil®, Valium®) ermöglichen
oft lange das Verbergen der Sozialphobie Phobie bzw. der Agoraphobie vor anderen
und ein unauffälliges Leben. Im Laufe der Zeit entstehen jedoch große Folgeprobleme
(schwerer Missbrauch bzw. Abhängigkeit von Alkohol oder Beruhigungsmitteln, De-
pressionen, Berufsunfähigkeit, völlige Abhängigkeit von bestimmten Bezugspersonen).
Eine Abhängigkeit von Tranquilizern entwickelt sich oft schneller als von Alkohol,
weil die Einnahme anfangs ärztlich legitimiert erfolgte und die soziale Kontrolle fehlte
(Tabletteneinnahme erfolgt ohne Zuschauer).
198 Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen
Das menschliche Gehirn enthält in seinem Aufbau die ganze Evolutionsgeschichte von
den einfachsten Tierarten bis zum Menschen. Es besteht im Wesentlichen aus folgenden
Teilen: Hirnstamm – Kleinhirn – Mittelhirn – Zwischenhirn – Großhirn (Endhirn).
202 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Hirnstamm
Der Hirnstamm ist der älteste Teil des Gehirns, der bereits bei den Reptilien vorhanden
ist. Seine Zerstörung führt zum Tod des Menschen. Der untere Teil des Hirnstamms
umfasst die Medulla oblongata (verlängertes Mark), die eine direkte Fortsetzung des
Rückenmarks darstellt. Die Region unmittelbar darüber ist die Brücke (Pons), die vom
Kleinhirn überlagert wird. Der oberste Teil des Hirnstamms besteht aus dem Mittelhirn.
Der Hirnstamm verbindet das Rückenmark mit dem Zwischenhirn und der Groß-
hirnrinde. Alle aufsteigenden und absteigenden Bahnen, die das Rückenmark und das
Gehirn verbinden, gehen durch den Hirnstamm. Im Hirnstamm befinden sich die Steue-
rungs- und Regulationszentren für die wichtigsten Lebensfunktionen: Herzschlag, Blut-
druck, Atmung, Magen-Darm-Funktionen, Schlaf-Wach-Rhythmus, Temperatur.
Der Hirnstamm enthält auch die Formatio reticularis, die sich über den ganzen
Hirnstamm bis zum Mittel- und Zwischenhirn ausdehnt. Die Formatio reticularis steu-
ert durch ein kompliziertes Netzwerk von Nervensträngen die Wachheit und bestimmt
damit den Grad der Bewusstseinshelligkeit. Das gesamte Netzwerk, das von der Forma-
tio reticularis im Hirnstamm aus bei plötzlicher Gefahr sofort das ganze Gehirn akti-
viert, heißt aufsteigendes reticuläres Aktivierungssystem (ARAS).
Eine Erregung der Formatio reticularis bewirkt eine arousal reaction (Alarm-
reaktion mit gesteigerter Wachheit, Angst, Blutdruckanstieg, Schwitzen, Erhöhung der
Muskelspannung usw.). Bei Bewertung von Reizen als bedrohlich erfolgt eine massive
Aktivierungsreaktion des Organismus (auch Alarm- oder Bereitstellungsreaktion ge-
nannt). Wenn ein Reiz mehrmals hintereinander auftritt, erfolgt eine Habituation (Ge-
wöhnung), die Aufmerksamkeit nimmt ab. Monotone Reize wirken einschläfernd.
Neben dem ARAS steuern ein noradrenerges und ein dopaminerges aufsteigendes
System die Vigilanz (Wachsamkeit, Aufmerksamkeit). In der Brücke zum Stammhirn
befindet sich der Locus coeruleus, in dem die Hälfte aller Neurone des Gehirns, die
Noradrenalin synthetisieren, entspringen und von dem etwa 70% des gesamten Nor-
adrenalins im Gehirns produziert werden. Von diesem System geht eine erregend-
aktivierende Wirkung auf das ganze Gehirn aus, insbesondere auf das limbische System
(Amygdala, Hippocampus, Septum, Gyrus cinguli u.a.) und die Großhirnrinde.
Der Locus coeruleus gilt als Umschaltsystem in einem Alarm-Furcht-Angst-System.
Im Tierversuch (bei Affen) führt eine Stimulierung des Locus coeruleus zu Angstzu-
ständen, während eine Lähmung oder Entfernung eine Angstreduktion bewirkt. Die
Stimulierung des Locus coeruleus bewirkt jedoch keine Panikattacken.
Kleinhirn
Das Kleinhirn (Cerebellum) ist eine große, stark gegliederte Struktur und befindet sich
unmittelbar hinter dem Hirnstamm, mit dem es über große Bahnen verbunden ist. Das
Kleinhirn sorgt für die räumliche und zeitliche Koordination motorischer Handlungsab-
läufe und der Körperhaltung (Gleichgewicht), indem es die Informationen aus Gleich-
gewichtssystemen, Muskelspindeln, Sinnesrezeptoren, Auge und Ohr miteinander ver-
bindet und ständig mit motorischen Programmen vergleicht. Die Impulse der willkürli-
chen Motorik gehen von der motorischen Hirnrinde aus, das Kleinhirn koordiniert dabei
die komplexen motorischen Handlungsabläufe. Das Kleinhirn ist auch der Ort des mo-
torischen Gedächtnisses (z.B. Fähigkeit des Fahrradfahrens).
Angst als biologisches Geschehen 203
Mittelhirn
Das Mittelhirn (Mesencephalon) ist die vorderste Fortsetzung des Hirnstamms und
besteht aus einem oberen Teil (Tectum, d.h. Dach, oder Vierhügelplatte), der vor allem
der Blick- und Kopforientierung dient, und einem unteren Teil (Tegmentum, d.h. Hau-
be), der wichtige Zentren für die Bewegungs- und Handlungskontrolle enthält: die Sub-
stantia nigra (schwarze Substanz) und den Nucleus ruber (roter Kern). Beide motori-
schen Kerne dienen der Koordination der Bewegung und arbeiten mit dem Kleinhirn
zusammen. Ein Ausfall des schwarzen Kerns bewirkt Muskelstarre, Schüttelbewegun-
gen der Hände, einen Ausfall der Mitbewegungen sowie psychische Störungen (An-
triebsmangel oder Triebhandlungen). Die Nervenzellen der Substantia nigra bilden den
Neurotransmitter Dopamin, der eine für die Motorik wichtige Substanz darstellt (die
Parkinson-Krankheit beruht auf einer Degeneration dopaminerger Neurone im Bereich
der Substantia nigra). Der Zustand der Formatio reticularis der Haube beeinflusst die
Stimmungslage (vegetativ-affektives Verhalten). Eine Überfunktion bewirkt affektive
Spannungszustände, eine Unterfunktion Erschöpfung und Depression.
Zwischenhirn
Das Zwischenhirn (Diencephalon) findet sich erst bei den frühen Säugetieren. Es liegt
zwischen Stammhirn und Großhirn und enthält u.a. wichtige Schaltstellen:
z Thalamus. Der Thalamus ist das wichtigste subkortikale, d.h. unbewusst arbeitende
Integrationszentrum der allgemeinen Sensibilität (Tastempfindung, Tiefensensibili-
tät, Temperatur- und Schmerzempfindung, Seh- und Riechfunktion), und eine wich-
tige Umschaltstelle auf die Motorik (Gemütsbetonung der Motorik in Mimik und
Gebärden, z.B. heftige Angstreaktionen). Der Thalamus ist eine Relaisstation für al-
le eingehenden sensorische Informationen, d.h. gilt als die übergeordnete Schaltsta-
tion der zur Großhirnrinde aufsteigenden Nervenbahnen des Seh-, Hör- und somato-
sensorischen Systems, das Integratationszentrum von Sinnesreizen und Affekten und
stellt damit das Tor zum Bewusstsein dar. Die eingehenden Nachrichten werden nach
ihrer Wichtigkeit ausgewählt, d.h. überlebenswichtige Informationen aus den Sin-
nesorganen werden vorrangig behandelt. Alle Informationen, die als Empfindung
bewusst werden sollen, werden zur Großhirnrinde weitergeleitet. Anders formuliert:
alle Erregungen, die bewusst werden sollen, müssen den Thalamus passieren. Das
Zwischenhirn enthält archaische Umweltbearbeitungsprogramme, d.h. vererbte, ste-
reotype, jedoch komplexe Reaktionsmuster für bestimmte Reizsituationen, die dem
Ziel des Überlebens in Gefahrensituationen dienen. Unbekannte und bedrohlich wir-
kende Situationen (Gehen in der Finsternis, ungewohnte Höhen, unbekannte Tiere
usw.) lösen Panik und Fluchtreaktionen aus, die nur durch die Großhirnrinde (Be-
wertung als ungefährlich) gestoppt werden können. Vom Thalamus geht eine direkte
Bahn zur Amygdala, was eine blitzschnelle (oft vorschnelle) Reaktion ermöglicht.
z Hypothalamus. Der Hypothalamus ist das übergeordnete Steuerungszentrum für das
vegetative Nervensystem. Die im Vorderteil gelegenen Zentren dienen mehr den pa-
rasympathischen Funktionen, die im Hinterteil gelegenen Zentren den sympathi-
schen Funktionen. Bei Angst und Stress bewirkt der Hypothalamus zusammen mit
dem limbischen System über elektrische Impulse eine schnelle, direkte Aus-
schüttung der Hormone Adrenalin und Noradrenalin im Nebennierenmark.
204 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Großhirn
Das Großhirn (Endhirn, Telencephalon) ist der jüngste und größte Teil des Gehirns. Es
besteht aus den beiden Großhirnhälften (Hemisphären) mit der grauen Rinde (Kortex),
die durch den Balken (Corpus callosum) miteinander verbunden sind, den Stammgan-
glien (Basalganglien) und dem limbischen System, das sich phylogenetisch aus dem
Riechhirn (Rhinencephalon) entwickelt hat.
Entwicklungsbiologisch unterscheidet man beim Großhirn zwei Teile:
1. den Paläokortex als den phylogenetisch älteren Teil mit dem Riechhirn, den Basal-
kernen und dem limbischen System,
2. den Neokortex (Großhirnrinde, Cortex cerebri) als dem entwicklungsgeschichtlich
jüngeren Teil, in dem die höheren kognitiven Funktionen ablaufen.
Die Großhirnrinde stellt die äußere Schicht des Großhirns dar. Zur Vergrößerung der
Gesamtfläche besteht der Kortex aus Windungen (Gyri) und Furchen (Sulci). Der Neo-
kortex umfasst 80% des Gesamthirnvolumens und umhüllt die anderen Teile des Ge-
hirns wie ein Mantel. Alle spezifisch menschlichen Leistungen beruhen auf den Funk-
tionen des Großhirns.
Die Großhirnrinde besteht u.a. aus folgenden Regionen, die hier nach den verarbei-
teten sensorischen Informationen dargestellt werden:
z Frontallappen (Regulierung von Verhalten, Belohnung, Lernen, Erinnerung, Verar-
beitung von viszeralen Reizen und abstraktem Denken),
z vordere Zentralwindung (Steuerung der motorischen Aktivität),
z hintere Zentralwindung (Hauptverarbeitungsstelle für den Tastsinn),
z Scheitellappen (Weiterverarbeitung von Tast- und anderen Empfindungsreizen aus
dem Körper sowie Zentrum der räumlichen Vorstellung),
z Hinterhauptlappen (Verarbeitung der visuellen Information),
z Schläfenlappen (Verarbeitung der akustischen Reize, Beteiligung an der vom Broca-
und Wernicke-Areal gesteuerten Integration von Hören und Sprechen).
Die Basalganglien dienen (ähnlich wie das Kleinhirn) der Steuerung der Motorik
und stellen eine Umschaltstelle von und zur motorischen Großhirnrinde dar. Die Basal-
ganglien haben neben der Bewegungssteuerung eine große Bedeutung für die Hand-
lungsplanung und weisen Verbindungen zur Großhirnrinde, zum Thalamus, zur Sub-
stantia nigra und zum Kleinhirn auf. Die Entwicklung von Zwangsstörungen hängt
zumindest in bestimmten Fällen mit einer Beeinträchtigung der Basalganglien zusam-
men. Die bekannteste Störung der Basalganglien stellt die Parkinson-Krankheit dar.
Das limbische System (limbischer Kortex) ist für das Verständnis der neurobiologi-
schen Ursachen von Gefühlen und Angstzuständen von entscheidender Bedeutung. Bei
Untersuchungen an Tieren und Menschen konnte nachgewiesen werden, dass Angst
durch die Reizung bestimmter Hirnareale, vor allem des limbischen Systems, entsteht.
Das limbische System wird im Folgenden näher beschrieben.
Aus den gemachten Erfahrungen ist durch Speicherung der Informationen Lernen mög-
lich. Die eingehenden Informationen erhalten eine gefühlsmäßige Bewertung (z.B.
angenehm – unangenehm), die entsprechenden Reaktionen erfahren eine gefühlsmäßige
Färbung (z.B. Lust oder Unlust). Die Gefühlsdimensionen des limbischen Systems
stellen auf vorbewusster Ebene ein Bewertungs- und Belohnungssystem dar, das als
Handlungs- und Entscheidungsregulativ in bestimmten Situationen dient.
Ein spezieller Bereich des limbischen Systems, der mediobasale Schläfenlappen mit
dem Hippocampus und der benachbarten Amygdala (Mandelkern), bestimmt das Angst-
erleben. Hippocampus und Amygdala bilden zusammen eine Gedächtniseinheit: Der
Hippocampus, ein zentraler Ort des Gedächtnisses, vergleicht jeden Reiz mit früheren
Erfahrungen, die Amygdala löst Angst aus bei Erinnerungen an Gefahr. Vorschnelle
Angstreaktionen durch die Amygdala werden durch Hippocampus-Vergleiche gestoppt.
206 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Gedanken und Gefühle hängen in ihrer Art und Stärke vom Grad der Wachheit ab (vom
Stammhirn gesteuert). Bei Müdigkeit oder medikamentös bewirkter Gefühlsdämpfung
werden wir selbst bedrohlichen Situationen gegenüber gleichgültig. Entspannungsübun-
gen reduzieren nicht nur die körperliche Anspannung, sondern auch die geistige Auf-
merksamkeit, sodass sie geeignete Einschlafhilfen darstellen.
Mentale Techniken (autogenes Training, Hypnose, Selbsthypnose, Meditation) be-
wirken eine Wahrnehmungseinengung, eine Einschränkung der Aufmerksamkeit auf
einen kleinen Bereich und damit ein Abschalten gegenüber den vielen im Moment irre-
levanten inneren und äußeren Reizen. Andererseits können unsere Gedanken und Ge-
fühle auch unser Stammhirn aktivieren. Wir sind nicht zum Einschlafen müde genug,
sondern hellwach, wenn beängstigende Gedanken sich abends im Bett aufdrängen.
Ohne unsere bewusste Aufmerksamkeit verarbeiten unsere Sinnesorgane alle Reize
außerhalb und innerhalb unseres Körpers. Sobald etwas Ungewöhnliches passiert, wird
über das ARAS unsere Aufmerksamkeit aktiviert und infolgedessen unser Denken,
Fühlen und körperliches Reagieren in Gang gesetzt. Es kommt zu einer Alarm- oder
Bereitstellungsreaktion. Der Körper wird in Bruchteilen einer Sekunde auf Reaktionsbe-
reitschaft geschaltet, vermittelt über das motorische und autonome Nervensystem.
Angst als biologisches Geschehen 207
Sobald die äußere oder innere Gefahr identifiziert, beseitigt oder erträglich erscheint,
lässt die Aktivierung der Aufmerksamkeit wieder nach. Es kommt zur Habituation
(Gewöhnung) an die betreffenden Reize. Das ARAS wird gedämpft, wenn die Bedro-
hung abgewendet oder die Angst machende Situation als nicht mehr akut bedrohlich
eingeschätzt wird. Die Wirkungsweise von Tranquilizern beruht u.a. genau auf dem
Umstand, dass das Wachheitssystem in der Formatio reticularis vermindert wird.
Zwischen Angst und Gedächtnis besteht eine enge Beziehung. Bei der posttraumati-
schen Belastungsstörung zeigt sich das traumatische Wiedererinnern als Wiedererleben
der extremen Bedrohungssituation. Angst ist häufig mit bildhaften Erinnerungen ver-
knüpft, wodurch die Unmittelbarkeit emotionaler Reaktionen gewährleistet ist.
Ängstliche Personen und Angstpatienten verbinden kritische Situationen vorwie-
gend mit negativen Erfahrungen. Sie können bedrohliche Gedächtnisinhalte leichter
abrufen als andere Menschen. Auch für diese Funktion, nämlich das „Abtasten“ der
Gedächtnisspeicher zur Bewertung aktueller Informationen, kommt dem mediobasalen
Schläfenlappen eine besondere Bedeutung zu.
Das „Gefühl“ der Angst und die damit verbundenen körperlichen Symptome ent-
wickeln sich als Folge eines rasch ablaufenden, komplizierten Zusammenspiels [8]:
z Die Sinnesorgane nehmen einen Reiz aus der Umwelt (z.B. einen Ton) oder vom
Körper (z.B. einen Druck auf die Haut) auf und leiten ihn an das Gehirn weiter. Bei
jedem neuen Reiz wird das ARAS aktiviert und die Aufmerksamkeit erhöht.
z Im Zwischenhirn, und zwar im Thalamus („Tor zum Bewusstsein“), laufen alle
Meldungen von den Sinnesorganen zusammen und werden an die Großhirnrinde
(cerebraler Kortex) weitergeleitet. Über die Weiterleitung zum Frontallappen des
Großhirns werden die entsprechenden Empfindungen bewusst und können durch die
frontale Großhirnrinde auch kontrolliert werden. Ein kleiner Teil der Informationen
über äußere Reize wird direkt an die Amygdala weitergeleitet, wo eine extrem rasche
Reaktion zur Sicherung des Lebens erfolgt. Bei Gefahr für Leib und Leben wäre der
Weg über die Großhirnrinde zu langsam. Ohne reale Bedrohung wird die Reaktion
der Amygdala als vorschnell und unnötig, aber dennoch nicht unterdrückbar erlebt.
z In der Großhirnrinde als dem Ort der bewussten Wahrnehmung und des Denkens
werden die Sinnesreize zu Bildern bzw. Begriffen zusammengesetzt und interpre-
tiert. Vom cerebralen Kortex gelangen die Informationen zum limbischen System.
z Das limbische System (namentlich der Mandelkern) wählt die passenden gefühlsmä-
ßigen Reaktionsweisen aus (z.B. Angst) und stimuliert über Eiweiße (Neuropeptide)
den Hypothalamus zur Aktivierung bestimmter körperlicher Vorgänge. Durch das
limbische System erhalten Reize eine gefühlsmäßige Bewertung. Die anatomisch ne-
beneinander liegenden Areale Amygdala und Hippocampus arbeiten zusammen bei
der Bewertung von Gefahr, indem sie Gedächtnisinhalte (Erfahrungen) abrufen.
z Der Hypothalamus als Steuerungszentrum aller vegetativen und hormonellen Pro-
zesse, speziell der nucleus paraventricularis, einer seiner Kerne, stimuliert über be-
stimmte Eiweiße (u.a. CRH) die Hypophyse, die wiederum das Hormon ACTH frei-
setzt. Dadurch erfolgt auf schnellem Weg über Nervenbahnen im Nebennierenmark
die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin und etwas langsamer über hor-
monelle Prozesse in der Nebennierenrinde u.a. die Ausschüttung von Kortisol.
z Die Hormone des Nebennierenmarks und die Glukokortikoide der Nebennierenrinde
aktivieren das vegetative Nervensystem mit seinen beiden Zweigen, dem sympathi-
schen Nervensystem (zur Aktivierung) und dem parasympathischen Nervensystem
(zur anschließenden Beruhigung und Erholung).
208 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Der Mandelkern kann schon auf Gefahrenreize reagieren, bevor eine bewusste Ver-
arbeitung über die Großhirnrinde erfolgt ist und der Neokortex überhaupt weiß, was los
ist. Die Alarmierung über den direkten Weg des Mandelkerns erfolgt zwar sehr schnell,
ist jedoch ungenau und fehleranfällig. Der Mandelkern kann bereits zu einem Zeitpunkt
emotionale Reaktionen auslösen, wo die Signale zwischen Mandelkern und Neokortex
noch hin und her gehen. Der langsamere, aber vollständiger informierte Neokortex
modifiziert anschließend die Reaktionen, wenn eine Überreaktion erfolgt sein sollte.
Die direkte Kurzschaltung vom Thalamus zum Mandelkern mit seiner raschen An-
kurbelung von Emotionen ermöglicht in lebensbedrohlichen Situationen, wo es um
Millisekunden geht, eine Sofortreaktion zur Sicherung des Lebens, war im Rahmen der
Evolution von entscheidender Bedeutung und stellt in der Tierwelt eine zentrale Über-
lebenshilfe angesichts der vielen Feinde dar. Derartige Schreckreaktionen erleben wir
auch während eines angenehmen Spaziergangs durch den Wald, wenn sich plötzlich auf
dem Boden unter den abgefallenen Herbstblättern etwas zu bewegen beginnt bzw. wenn
wir im ersten Moment einen Stock mit einer Schlange verwechseln, obwohl wir wissen,
dass es bei uns keine giftigen Schlangen gibt.
Die Amygdala erhält Informationen von zahlreichen Ebenen der kognitiven Verar-
beitung, die zu emotionalen Bewertungen und bestimmten Reaktionen führen:
1. Die sensorischen Bereiche des Thalamus übermitteln einfache Reizmerkmale.
2. Der sensorische Kortex vermittelt komplexe Aspekte der Reizverarbeitung (Objekte
und Ereignisse).
3. Der Hippocampus und die rhinale oder Übergangsrinde (ein angrenzender Rinden-
bereich), die zuständig sind für die Bildung und den Abruf von expliziten, bewuss-
ten Erinnerungen, stellen bestimmte Erinnerungen zur Verfügung.
4. Der mediale präfrontale Kortex (im Stirnhirn) schwächt bzw. löscht Furchtkonditio-
nierungen in einer Weise, dass sie nicht mehr als Verhaltensreaktionen auftreten. Er
gilt als „Gegenspieler der Amygdala“ und steuert als Ort der menschlichen Hand-
lungsplanung das konkrete Verhalten, z.B. rasche Flucht bei Gefahr oder Hemmung
der Fluchtreaktion nach Entwarnung. Psychotherapie bei Ängsten verstärkt die ko-
gnitive Kontrolle mit Hilfe des präfrontalen Kortex (die Amygdala wird gehemmt).
Die Amygdala weist auch Projektionen zu vielen Bereichen des Gehirns auf:
1. Hippocampus. Dieses Areal ist ein zentraler Ort des Langzeitgedächtnisses (z.B.
Speicherung szenischer Erinnerungen wie etwa traumatischer Erfahrungen).
2. Sensorischer Kortex. Diese Areale sind die Orte der sinnlichen Reizverarbeitung.
3. Zentrales Höhlengrau. Dieses Areal ist verantwortlich für den Totstellreflex bei
Tieren und bewirkt bei Menschen Todesangst mit heftigen vegetativen Symptomen.
4. Locus coeruleus. Dieser Kernbereich in der Formatio reticularis des Hirnstamms
steuert Orientierung und Aufmerksamkeit (Ausschüttung von Noradrenalin).
5. Hypothalamus. Dieser Bereich unter dem Thalamus schüttet einerseits die Stress-
hormone aus und aktiviert andererseits das sympathische Nervensystem.
Neben der direkten Beeinflussung aktiviert die Amygdala den Kortex also auch indirekt
über Verbindungen zu den Erregungssystemen im Gehirn, die die Wachsamkeit und
Aufmerksamkeit und damit das Erregungsniveau des Kortex steuern. Vier Erregungssy-
steme im Hirnstamm aktivieren bei neuen bzw. bedeutsamen Reizen den ganzen Be-
reich des Vorderhirns, indem die entsprechenden Axon-Endknöpfe jeweils einen Neuro-
transmitter (Acetylcholin, Noradrenalin, Dopamin oder Serotonin) ausschütten.
210 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Das Arbeitsgedächtnis, d.h. das bewusste Gegenwartserleben, verbindet die blassen und
affektlosen Erinnerungen des expliziten (Langzeit-)Gedächtnisses an ein traumatisches
Ereignis mit den emotionalen Erinnerungen des impliziten Gedächtnisses. Es kommt zu
einer einheitlichen Erfahrung: Die emotional-lebendige Erinnerung führt zu Angst- und
Panikreaktionen, als ob das traumatische Ereignis eben stattfinden würde.
Das Septum-Hippocampus-System ist ebenfalls an der Entstehung von Angst zentral
beteiligt, weshalb eine entsprechende medikamentöse Dämpfung Angst lindernd wirkt.
Die Zerstörung dieser Struktur bewirkt eine Angstlosigkeit. Dieses System wird durch
die vom Locus coeruleus ausgehenden Noradrenalinneurone sowie durch serotonerge
Neurone aktiviert. Anxiolytika reduzieren die Aktivität der noradrenergen und seroto-
nergen Projektionen zum Septum-Hippocampus-System.
Der mediobasale Schläfenlappen und die zugeordneten limbischen Hirnstrukturen
sind jene Hirngebiete, die mit der Integration von Wahrnehmungen und Gedächtnisvor-
gängen sowie mit der emotionalen und vegetativ-endokrinen Steuerung zu tun haben.
Durch Ableitungen über Tiefenelektroden, die in den Kopf eingeführt werden, wurde
nachgewiesen, dass eine abnorme Aktivität in bestimmten Schläfenlappengebieten oft
zu akuter Angst führt. Nach Strian [14] steht bei einer abnormen Aktivität des medioba-
salen Schläfenlappens Angst im Vordergrund, gefolgt von komplexen Wahrnehmungs-
mustern (z.B. bildhaft-traumhaften Erlebnissen), stereotypisierten Verhaltensweisen
(z.B. mimischen und gestischen Bewegungen), vegetativen Missempfindungen (z.B.
Schwitzen und Herzklopfen), Änderungen des Bewusstseins (z.B. Fremdheits- und
Vertrautheitsgefühl, Dämmerzustände) und starken Emotionen (z.B. große Angst, eksta-
tische Freude). Die Bedeutung des limbischen Systems für die Angstentstehung konnte
durch neuere Untersuchungsmethoden wie die Positronenemissionstomographie (PET)
bestätigt werden (z.B. verstärkte Durchblutung im Temporallappenbereich bei gesunden
Personen in Erwartung eines schmerzvollen Elektroschocks).
„Präkognitive Emotionen“ [15], d.h. dem Denken vorauseilende Emotionen, beru-
hen auf bruchstückhaften sensorischen Informationen, die noch nicht vollständig analy-
siert und als bestimmte Objekte erkannt worden sind. Sobald der Mandelkern ein rele-
vantes sensorisches Muster erahnt, reagiert er sofort mit einer Aktivierung des Körpers,
ohne eine Bestätigung abzuwarten. Diese Reaktionsbereitschaft bleibt auch dann erhal-
ten, wenn man Furchtlosigkeit und rational richtiges Denken anstrebt und eintrainiert,
weil es sich einfach um ein biologisch vorgegebenes Programm handelt.
212 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Durch Projektionen von Bildern mit Hilfe eines Tachistoskops, das die Einstellung
der Projektionsdauer und damit eine subliminare Wahrnehmung ermöglicht, können
Ängste oder andere Reaktionen angesichts von nicht bewusst wahrgenommenen Bildern
erzeugt werden, die auch später wieder auftreten (z.B. Abneigungen oder Vorlieben bei
Wahlmöglichkeiten), ohne dass die Betroffenen darum wissen. Unterschwellige Projek-
tionen von Schlangen mit Hilfe des Tachistoskops bewirkten bei Schlangenphobikern
einen messbaren Schweißausbruch, der auf Angst schließen lässt, obwohl diese erklär-
ten, nichts zu sehen. Der Schweißausbruch trat auch bei sichtbar projizierten Schlan-
genbildern auf, obwohl die Betroffenen erklärten, keine Angst zu haben.
Erlebnisse mit starker Mandelkernerregung stellen im Sinne einer biologisch sinn-
vollen Überlebensschutzfunktion unauslöschliche Erinnerungen dar. Dies gilt sowohl
für emotional positive Erlebnisse (z.B. intensive Liebesgefühle, große Erfolgserlebnis-
se) als auch für emotional sehr belastende Erfahrungen (z.B. traumatische Ereignisse
wie Unfall, Misshandlung oder Vergewaltigung). Diese Erfahrung kann sogar durch
weniger wirklichkeitsnahe psychologische Experimente bestätigt werden [18]. Eine
emotional belastende und unangenehme Geschichte wurde zwei Gruppen von Teilneh-
mern vorgelesen, von denen eine den Beta-Blocker Propranolol (Inderal®, Dociton®)
erhielt, der die Rezeptoren jener Zellen blockiert, auf die die Stresshormone Adrenalin
und Noradrenalin reagieren, die als Auslöser der Kampf-Flucht-Reaktion bekannt sind.
Bei einem Gedächtnistest eine Woche später zeigte sich, dass die Gruppe mit dem Beta-
Blocker wohl die harmlosen Details, nicht jedoch die beunruhigenden Teile der Ge-
schichte angemessen erinnerte. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass die Blok-
kade der Stresshormone die emotionale Erinnerung verhinderte.
Fazit: Der Mandelkern ist wichtig zur Erinnerung an Situationen und Ereignisse,
vor denen man sich zu Recht fürchten soll. Ohne diese Fähigkeit zur Furcht und ohne
die Aktivierung der unauslöschlich gespeicherten, real oder subjektiv oft Existenz ge-
fährdenden Erfahrungen wäre das menschliche Leben oft dem Tode geweiht. In der
Amygdala und im Hippocampus sind die typischen Angsterfahrungen und auch andere
belastende Erinnerungen gespeichert, deretwegen sich viele Menschen in psychothera-
peutische Behandlung begeben, weil sie damit nicht umgehen können. Aus den ange-
führten Erkenntnissen ergibt sich die Schlussfolgerung, dass angstvolle Erlebnisse, die
ständig unangenehm erinnert werden, am besten überwunden werden können, wenn sie
im therapeutischen Kontext zuerst gezielt aktiviert und dann durch neue, positivere
Emotionen, aber auch durch neue Sichtweisen korrigiert werden. Vermeidungs- und
Unterdrückungsreaktionen verhindern dagegen derartige Bewältigungserfahrungen.
Traumatische Erinnerungen (z.B. Unfall, Panikattacken) können viel besser durch
neue emotionale Erfahrungen in ähnlichen Situationen im Rahmen einer Konfrontati-
onstherapie überwunden werden als durch abstrakt-intellektuelles Analysieren und
Nachdenken über die Hintergründe. Wenn die Angstinhalte jedoch immer wieder neu
vergegenwärtigt werden und keine Generalisierung der positiven Erfahrungen in be-
stimmten Situationen erfolgt, sind unbedingt auch kognitive Interventionen erforderlich.
Als durchaus gleichwertig können Lernerfahrungen im Therapieraum gelten, wenn
sie imstande sind, die relevanten emotionalen Erinnerungen auszulösen und zu korrigie-
ren. Dies erfolgt durch bestimmte erlebnisaktivierende Übungen, wie sie von verschie-
denen Psychotherapiemethoden (Verhaltenstherapie, Gestalttherapie, Hypnotherapie,
Psychodrama, katathym-imaginative Psychotherapie u.a.) eingesetzt werden. Die psy-
choanalytische Therapie versucht traumatische Erfahrungen durch emotionales Wieder-
erleben im Rahmen der „Übertragung“ zu provozieren und zu bearbeiten.
214 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Abb. 1: Efferente Verbindungen zwischen dem zentralen Kern der Amygdala und den
verschiedenen Zielregionen im Gehirn [21]
Zwischen den aufeinander treffenden Endigungen der Nerven befindet sich ein nur
0,2 millionstel Millimeter breiter Spalt, die Synapse. Die elektrischen Impulse können
diesen Spalt nicht überqueren, sodass eine chemische Erregungsübertragung erforder-
lich ist. Jede Nervenzelle hat meist mehrere hundert synaptische Verbindungen zu ande-
ren Nervenzellen, die entweder erregend oder hemmend wirken.
Die Information wird über Botenstoffe (Transmittersubstanzen) in den Spalt zwi-
schen den beiden Nerven ausgeschüttet, wodurch eine elektrische Erregung der nach-
folgenden Nervenbahn oder Muskelzelle bewirkt wird. Ist der Impuls weitergeleitet,
wird der Botenstoff wieder zurück in die Zelle gepumpt. Dieser Vorgang wird Wieder-
aufnahme oder „Reuptake“ genannt.
Durch ein Defizit an Noradrenalin und Serotonin funktioniert nach den gängigen
Theorien die Signalübertragung der Neuronen bei Depressionen und Angststörungen
nur eingeschränkt. Neue Antidepressiva blockieren deshalb gezielt den Prozess der
Wiederaufnahme dieser Botenstoffe. Der Transmittermangel wird auf diese Weise
kompensiert und die Signalübertragung verbessert.
Die Botenstoffe des Zentralnervensystems werden Neurotransmitter genannt. Die
Neurotransmitter werden in der präsynaptischen Nervenendigung gebildet und bis zur
Ausschüttung in Bläschen (Vesikel) gespeichert.
Die Erregungsübertragung von einer Nervenzelle auf eine andere läuft derart ab:
z Ein ankommender elektrischer Impuls (Aktionspotential) wird an der präsynapti-
schen Membran in einen chemischen Impuls umgewandelt, der in der Ausschüttung
bestimmter Transmitter aus den Bläschen (Vesikeln) in die Synapse besteht.
z Die Neurotransmitter wirken über den synaptischen Spalt hinweg auf Rezeptoren
(Empfänger) in der postsynaptischen Membran der nachgeschalteten Nervenzelle
ein. Rezeptoren sind Proteine, die aus der postsynaptischen Membran herausragen,
damit die Transmitter an sie binden können. Die Rezeptoren bestehen aus zwei
Komponenten, und zwar aus einer Bindungsstelle, an die sich der Transmitter anla-
gert, und aus einem Kanal, der sich öffnet, wenn der Transmitter gebunden ist, und
durch den die Ionen die Membran passieren können. Jeder Neurotransmitter wirkt
auf spezifische Rezeptoren.
z Durch die Verbindung der Neurotransmitter mit den Rezeptoren an der postsynapti-
schen Membran der nachgeschalteten Nervenzelle wird eine elektrische Reaktion
(Potentialänderung) bewirkt, die wiederum eine elektrische Weiterleitung der Infor-
mation ermöglicht. Die Verbindung der Neurotransmitter mit den passenden Ein-
weißstrukturen führt zu einer kurzfristigen Veränderung der Oberflächenstruktur
dieser Membran, sodass sich Natriumionen-Kanäle öffnen, wodurch es auch an die-
ser Membran – hier allerdings chemisch bedingt – zu einer Ladungsumkehr, d.h. zu
einer Erregung, kommt. Die Art des Neurotransmitters und die Eigenschaften der
postsynaptischen Rezeptoren bestimmen, ob das Membranpotential der beeinfluss-
ten Zelle in negativer Richtung (Hyperpolarisierung) oder in positiver Richtung
(Depolarisation) verschoben wird.
z Die Neurotransmitter werden nach der Ausschüttung in den synaptischen Spalt
schnell wieder entfernt, und zwar durch chemischen Abbau (Monoaminooxidase)
oder durch Wiederaufnahme („reuptake“) in die präsynaptische Nervenendigung.
Bestimmte Antidepressiva (Serotonin- oder Noradrenalin-Wiederaufnahme-
hemmer) blockieren die Wiederaufnahme, sodass die betreffenden Neurotransmitter
länger im synaptischen Spalt verweilen und ihre Wirkung ausüben können.
218 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Die Erforschung der biologischen Grundlagen von Angst und Panik beruht auf vier
verschiedenen Strategien [23]:
1. Tierversuche,
2. Vergleichsuntersuchungen von physiologischen und neuroendokrinen Messwerten
bei Patienten und gesunden Kontrollpersonen,
3. Provokationsstudien durch Angst erzeugende Substanzen, die an unterschiedlichen
zentralen Regulationssystemen ansetzen,
4. Therapiestudien mit bestimmten Angst lösenden Substanzen, deren Wirksamkeit auf
bestimmte Fehlregulationen in den zentralen Transmittersystemen hinweist.
Angst als biologisches Geschehen 219
GABA-System
Die Gamma-Aminobuttersäure (GABA) ist die wichtigste hemmende (inhibitorische)
Transmittersubstanz im Zentralnervensystem. Angstpatienten haben vermutlich eine
erniedrigte GABA-Rezeptorsensitivität sowie Veränderungen der GABA-ergen Neuro-
transmission. Die höchste Dichte von GABA-Rezeptoren findet man in den Bereichen
Kortex, basale und laterale Mendelkerne, Locus coeruleus, Hippocampus, Cerebellum.
30% aller Gehirn-Synapsen verwenden GABA als Überträgersubstanz. Der Neuro-
transmitter GABA wird aus der präsynaptischen Nervenendigung in den synaptischen
Spalt ausgeschüttet und bindet an den GABAA-Rezeptor der Membran des nachfolgen-
den Nervs [28]. Binnen Millisekunden stabilisiert sich das Ruhepotential des Neurons,
sodass diese Nervenzelle unerregbar wird. Der GABAA-Rezeptor ist ein Ionenkanal, der
quer durch die postsynaptische Membran läuft. Die Bindung von GABA an den GA-
BAA-Rezeptor bewirkt eine Konformitätsänderung des Rezeptormoleküls. Das Rezep-
tormolekül bildet eine Pore, einen Ionenkanal, durch die Membran, sodass negativ gela-
dene Chloridionen in die postsynaptische Nervenzelle einströmen können. Der Chlorid-
ionen-Einstrom führt zur Hyperpolarisierung der postsynaptischen Nervenzellmembran,
wodurch die Erregbarkeit der Nervenzelle durch andere Transmitter abnimmt.
Die GABA (genauer zwei GABA-Moleküle) bewirkt eine optimale Öffnung des
Chloridionen-Kanals und infolgedessen einen Chloridionen-Einstrom in das Zellinnere
mit einer anschließenden Erregbarkeitsminderung. Ohne GABA-Einwirkung ist der
Chloridionen-Kanal geschlossen und für Chloridionen weitgehend undurchlässig.
Die äußere Oberfläche des GABAA-Rezeptors enthält zusätzliche spezifische Bin-
dungsstellen (Rezeptoren) für Benzodiazepine und Barbiturate. Die Bindung dieser
Substanzen an den GABAA-Rezeptor führt zu einer leichteren und längeren Öffnung des
Ionenkanals, wodurch die hemmende Wirkung von GABA verstärkt oder potenziert
wird. GABA- und Benzodiazepinrezeptoren sind über die GABA-Synapsen miteinander
verbunden. Über ein zwischengeschaltetes Molekül aktiviert ein Benzodiazepin den
Benzodiazepinrezeptor und verstärkt so entweder die Bindung der GABA-Moleküle an
den GABA-Rezeptor oder die Koppelung zwischen dem GABA-Rezeptor und dem
Chloridionen-Kanal, oder es wirkt auf beides verstärkend.
Barbiturate und Anästhetika verlängern die Öffnungszeit der durch GABA aktivier-
ten Chloridionen-Kanäle um das 4- bis 5-fache und können in höherer Konzentration
alle GABAA-Rezeptoren auch in Abwesenheit der GABA-ergen Transmission aktivie-
ren [29]. Dies erklärt die größere Toxizität der Barbiturate. Die Fähigkeit, viele Neuro-
nensysteme direkt zu hemmen, begründet die anästhetische Wirkung. Benzodiazepine
können dagegen nur die gerade stattfindende GABA-erge Transmission bis zu einem
bestimmten Grad verstärken.
Angst als biologisches Geschehen 221
Die entspannende und Angst lösende Wirkung von Alkohol hängt ebenfalls mit der
Verstärkung der GABA-ergen Transmission zusammen. Das plötzliche Fehlen der Al-
koholwirkung nach chronischem Alkoholkonsum geht mit einer reduzierten GABA-
ergen Transmission einher, was unangenehm erregend wirkt. Die Hemmung der GA-
BA-ergen Synapsen führt zu Angst, Erregung, Krämpfen, Spastizität und im Extremfall
zum Tod. Über die Benzodiazepinbindungsstellen der GABAA-Rezeptoren wird nicht
nur eine Angst lösende, sondern auch eine Angst erzeugende Wirkung bewirkt[30]:
z Inverse Benzodiazepinrezeptor-Agonisten (manche Beta-Carboline) vermindern den
Chloridionen-Einstrom und wirken dadurch Angst erzeugend.
z Benzodiazepinrezeptor-Antagonisten (Flumazenil, Pentylentetrazol, Picrotoxin) ver-
hindern die Effekte direkter und inverser Agonisten und wirken so Angst erzeugend.
Serotoninsystem
Das zentrale Serotoninsystem geht von den Raphekernen im Bereich der medulla ob-
longata, der Brücke und des Mittelhirns aus und weist enge, direkte Verbindungen zum
Kortex, Thalamus, Hypothalamus, Hippocampus und zu den Basalganglien (limbisch
und präfrontal orientierte Abschnitte) auf. Serotonerge Neurone finden sich vor allem
im limbischen System, das die Steuerung emotionaler Reaktionen bewirkt.
Serotonin (5-HT: 5-Hydroxytryptamin) entsteht aus der Aminosäure L-Tryptophan
und dient bei etwa 1% der Nervenzellen des Gehirns als Botenstoff und ist modulierend
beteiligt an der Regulation vielfältigster Funktionen wie Emotionen, aggressiven Impul-
sen, Körpertemperatur, Blutdruck, Energie, Ess- und Sexualverhalten, Erbrechen, Schlaf
und Schmerzempfindlichkeit, aber auch bei vielen psychischen Störungen wie Angst-
störung, Depression, Schizophrenie, Essstörung oder Aggressivität. Die serotonerge
Übertragung erfolgt über Serotoninrezeptoren, die aus bestimmten Klassen (5-HT1,
5-HT2, 5-HT3, 5-HT5, 5-HT6, 5-HT7) und Subtypen (5-HTA, 5-HTB, 5-HTC, 5-HTD)
bestehen [31]. Bei Depressionen besteht ein Serotonindefizit, bei Angst- und Panikstö-
rungen ein Serotoninüberschuss bzw. eine Überempfindlichkeit bestimmter Serotonin-
rezeptoren (5-HT2A/2C). Der wichtigste hemmende serotonerge Rezeptor (5-HT1A) steht
mit Angststörungen und Depressionen in Verbindung. SSRI haben je nach Rezeptortyp
unterschiedliche Wirkungen: 5-HT1A-Rezeptor-Stimulierung mildert, 5-HT2A/2C-
Rezeptorstimulierung bewirkt und verstärkt Ängste. Die Behandlung mit Serotonin-
Wiederaufnahmehemmern (SSRI) bei Angststörungen führt zu einer „Down-Regulation“
der Serotoninrezeptoren und damit zu einer Angstreduktion.
Serotonin hat eine homöostatische Funktion, indem es exzessive Reize moduliert.
Das serotonerge System gilt als Modulatorsystem, d.h. es beeinflusst auch andere, damit
in Verbindung stehende Neurotransmittersysteme. Das serotonerge System übt eine
hemmende Wirkung auf das dopaminerge System aus, hemmt auch die erregende Wir-
kung von Azetylcholin und von Glutamat an neokortikalen Neuronen und wirkt zusätz-
lich indirekt hemmend durch die Stimulation des GABA-ergen inhibitorischen Systems.
Serotonin ist wichtig zur Wahrnehmung, Erinnerung und Steuerung von Stimmun-
gen. Das Serotoninsystem ist bedeutsam für emotionale Kontrollmechanismen, insbe-
sondere für die Hemmung negativer Emotionen (Angst, Furcht, Hilflosigkeit, Depressi-
on). Die Erhöhung der Serotoninkonzentration in der Synapse hat eine Stimmungs- und
Antriebssteigerung, eine antipanische Wirkung, eine Appetithemmung sowie eine Re-
duktion der Libido zur Folge.
222 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Serotonin ist wichtig für die Verhaltensmodulation, was die Bedeutung der SSRI in
der Behandlung von Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen unterstreicht [32]:
„In fast allen Testen, die als Modelle für angstinduziertes Verhalten, für Hilflosigkeitsverhalten bzw.
für Unterdrückung von Verhalten in nichtbelohnten Situationen (passive Vermeidung) oder für die
Verhaltenskontrolle zur Erzielung verzögerter Belohnung gelten, beeinträchtigt Serotoninmangel die
Anpassungsfähigkeit der Tiere. Dies gilt auch für Sozialverhaltensmuster in angstauslösender Situa-
tion. Serotonin hat die Aufgabe, die Bewertung des aversiven Charakters von Situationen zu fördern
und das Verhalten so einzustellen, daß die Gefährdung des Organismus durch Auswahl angepaßter
Verhaltensreaktionen möglichst gering gehalten wird... Extrem serotoninverarmte Ratten sind überer-
regbar, hyper-emotional, hyperaggressiv, impulskontrollgestört und hypersexuell. Sie zeigen Episoden
von bizarrem Sozialverhalten und eine enorme Überempfindlichkeit gegenüber belanglosen sensori-
schen Reizmustern.“
Mäuse ohne 5-HT1A-Rezeptor sind weniger aggressiv, aber ängstlicher als andere Mäu-
se, Mäuse ohne 5-HT1B-Rezeptor sind weniger ängstlich, jedoch aggressiver.
Eine Überfunktion des Serotoninsystems als Folge bestimmter Substanzen kann zu
Panikattacken führen [34]:
1. Der Serotoninagonist m-Chlorophenylpiperazin (mCPP) kann über eine Hypersensi-
tivität postsynaptischer Serotoninrezeptoren Panikattacken auszulösen. Wegen der
komplexen Neuropharmakologie ist keine klare Interpretation der Studien möglich.
2. Der Serotoninagonist Fenfluramin (Ponderax®, nicht mehr auf dem Markt) kann
durch die präsynaptische Freisetzung von Serotonin Panikattacken auslösen.
3. Trizyklische Antidepressiva (Imipramin) und selektive Serotonin-Wiederaufnahme-
hemmer (SSRI) bewirken anfangs öfter panikähnliche Zustände und führen dazu,
dass bestimmte Patienten diese Angst lösenden Medikamente wegen unerträglicher
Nebenwirkungen absetzen. Dies erfordert eine einschleichende, nur langsam dosis-
steigernde Medikamentierung, bis nach einer Gewöhnung von 2-3 Wochen die er-
wünschte Wirkung eintritt. Ein ähnlicher Effekt kann auch bei Buspiron auftreten.
Eine Injektion von Benzodiazepinen in die dorsalen Raphekerne mit ihren zahlreichen
Serotoninneuronen, die Vorderhirn, Amygdala, Septo-Hippocampales-System und an-
dere limbische Areale innervieren, hemmt die elektrische Aktivität der serotonergen
Neurone und hat damit eine Angst lösende Wirkung.
Angst als biologisches Geschehen 223
Noradrenalinsystem
Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin werden als Katecholamine bezeichnet. Adrena-
lin, ein zentraler Neurotransmitter im peripheren Nervensystem, kommt im Gehirn nur
in geringen Mengen vor, und zwar im verlängerten Mark (Medulla oblongata), wo es
die Kreislaufregulation bewirkt. Noradrenalin und Dopamin sind die wichtigsten Kate-
cholamin-Neurotransmitter des Gehirns.
Die Zellkörper noradrenerger Neurone befinden sich in zwei Bereichen des Hirn-
stamms (Locus coeruleus und laterales Tegmentum), ihre aufsteigenden Axone aktivie-
ren den Kortex, das limbische System (vor allem die Amygdala), den Hypothalamus
und das Kleinhirn sowie – über die Aktivierung mesokortikaler dopaminerger Bahnen –
den präfrontalen Kortex.
Die Aktivierung eines bestimmten Hypothalamuskerns (Nucleus paraventricularis)
führt zur Stimulierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Das
noradrenerge System wird umgekehrt durch limbische und kortikale Gebiete erregt.
Die Noradrenalinfreisetzung bzw. die Erhöhung der Noradrenalinkonzentration im
synaptischen Spalt bewirkt eine Steigerung der gerichteten Aufmerksamkeit, eine Ori-
entierung (Vigilanzerhöhung) bezüglich neuer und/oder potenziell bedrohlicher Reize,
eine Steigerung der blutdruckerhöhenden Noradrenalineffekte, Erektions- und Ejakula-
tionsstörungen, Zittern, eine Stimmungs- und Antriebssteigerung, Belohnungsgefühle
und Schmerzunempfindlichkeit.
Die noradrenergen Neurone sind beteiligt an der Regelung des Blutdrucks, der Ent-
stehung von Hunger- und Durstgefühlen, der Emotionen und des Sexualverhaltens und
zusammen mit dem serotonergen System an der Regulation des Schlaf-Wach-
Rhythmus. Noradrenalin stimuliert die limbischen und kortikalen Prozesse und das
sympathische Nervensystem. Angst kann durch eine Überfunktion des noradrenergen
Systems ausgelöst werden. Eine Stimulierung des Locus coeruleus im Stammhirn, der
vor allem noradrenerge Neurone enthält, die von dort aus das ganze Gehirn innervieren,
bewirkt Angstzustände (jedenfalls im Tierversuch), nicht jedoch Panikattacken.
Benzodiazepine wie Alprazolam (D: Tafil®, Ö: Xanor®), trizyklische Antidepressiva
und MAO-Hemmer reduzieren die Aktivität der Locus-coeruleus-Neurone und vermin-
dern dadurch Angst- und Panikzustände.
224 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Dopaminsystem
Die Erhöhung der Dopaminkonzentration im synaptischen Spalt bewirkt eine psycho-
motorische Aktivierung. Nach neuesten Studien ist der Botenstoff Dopamin, der für
Motivation, Verlangen nach Nahrung, Lust, Sex oder Drogen zuständig ist, nach Sero-
tonin und Noradrenalin der dritte Neurotransmitter, der die Amygdala stimuliert und
damit bei der Emotionsverarbeitung beteiligt ist. Je mehr Dopamin in der Amygdala
vorhanden ist (es kann dort je nach Person unterschiedlich gut gespeichert werden),
umso ängstlicher reagieren Menschen bei subjektiver Bedrohung. Wenn jedoch eine
intensive Kommunikation zwischen der Amygdala und dem anterioren Cingulum be-
stand, sank die Angst trotz hoher Dopamin-Produktion. Bekannt war bisher bereits:
Stress führt zu einem Anstieg des Dopaminverbrauchs im frontalen Kortex und kann
dadurch Angst auslösen, was sich durch Benzodiazepine verhindert lässt [38].
Man unterscheidet drei dopaminerge Neuronensysteme [37]:
1. Nigro-striatales System. Die Substantia nigra ist ein Teil des Hirnstamms, ihre Neu-
rone dienen der Kontrolle der Motorik.
2. Mesolimbisch-mesokortikales System. Die dopaminergen Neurone, die zur vorderen
Großhirnrinde gehen, sind wichtig für Denkvorgänge, Lernen, Gedächtnis und af-
fektive Funktionen im Sinne einer emotionalen Kontrolle (Integration von Emotio-
nen). Das mesokortikale Dopaminsystem steuert Aufmerksamkeit, soziales Verhal-
ten, Motivation und Organisation.
3. Tubero-infundibuläres System. Ausschüttung der Hypophysenhormone.
Angst als biologisches Geschehen 225
Cholecystokininsystem
Das Peptid Cholecystokinin (CCK) wurde vor allem im Gastrointestinaltrakt gefunden,
wo es der Stimulation der Gallenblasenkontraktion und der Pankreassekretion dient,
aber auch im Zentralnervensystem. Die Angst erzeugende Wirkung des Cholecystoki-
ninsystems wird belegt durch den experimentellen Einsatz von Cholecystokininrezeptor-
Agonisten (CCK-4), die zu Panikattacken führen, die den real auftretenden Panikattak-
ken recht ähnlich sind. Die Injektion bereits geringer Mengen an Cholecystokinin in die
Amygdala kann Panikattacken auslösen.
Glutamatsystem
Glutamat ist der wichtigste schnelle erregende Überträgerstoff im Gehirn. Glutamat
und die darauf ansprechenden NMDA-Rezeptoren (N-methyl-D-asparat) haben eine
große Bedeutung für Lernvorgänge. Die rasche fortdauernde Erregung von Nervenbah-
nen, die Glutamat als Transmitter benutzen (z.B. im Hippocampus), bewirkt eine anhal-
tende gesteigerte Erregbarkeit der aktivierten Synapsen. Die Potenzierung wird durch
den Glutamatrezeptor NMDA eingeleitet. Das Glutamatsystem mit den NMDA-
Rezeptoren könnte für die Angstentstehung insofern bedeutsam sein, als es Hinweise
auf eine Beteiligung von erregenden Aminosäuresystemen an der Entstehung von Angst
gibt. NMDA-Antagonisten wirken akut Angst lösend.
Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA)
Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse wird durch drei Hormone
konstituiert, die eine optimale Anpassungsreaktion des Organismus auf antizipierte,
unkontrollierbare, neue oder mehrdeutige Belastungssituationen ermöglichen [42]:
z Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) des Hypothalamus,
z Adrenokortikotropes Hormon (ACTH) der Hypophyse,
z Kortisol der Nebennierenrinde.
Die Botenstoffe des Hypothalamus werden je nach ihrer Funktion in zwei Faktoren
unterschieden: Releasing Faktoren und Inhibiting Faktoren. Das Corticotropin-
Releasing-Hormon (CRH) bewirkt die Aktivierung der HHNA. CRH ist ein Neuropep-
tid, das bei besonderen Anforderungen aktiviert wird und hormonelle und autonome
Anpassungsfunktionen des Organismus ermöglicht.
Psychische Belastungen und nur vorgestellte Gefahren führen ebenfalls über die
CRH-Freisetzung zur HHNA-Aktivierung. Bei emotionaler Erregung, Stress und Angst
wirkt CRH in Bezug auf andere Systeme aktivierend und integrierend. Die CRH-
Freisetzung ist ein wesentlicher ursächlicher Faktor der Angstentstehung.
Angst als biologisches Geschehen 227
„Aus biologisch-stammesgeschichtlicher Sicht ist es dem Organismus möglich, über Aktivierung der
HHNA eine sehr breite und adäquate Anpassungsreaktion einzuleiten. Über Aktivierung des sympathi-
schen Nervensystems wird der Organismus rasch in einen effizienten Bereitschafts- und Arbeitszustand
versetzt. Dadurch können rasch Kampf- oder Fluchtreaktionen ausgeübt werden, welche nahezu im
gesamten Verlauf der menschlichen Entwicklungsgeschichte überlebensnotwendig waren. Mit einiger
Verzögerung erfolgt dann die Freisetzung von ACTH und Cortisol, wobei Cortisol bei anhaltender
Beanspruchung Energiereserven mobilisiert und reguliert, sodass eine dauerhaftere Leistung gewährlei-
stet ist. Die Aktivierung der Achse ist einerseits dadurch gekennzeichnet, dass wichtige Anpassungsre-
aktionen erleichtert werden (Herzschlag, Herzzeitvolumen, verbesserte Durchblutung insbesondere der
Muskulatur, Glukoneogenese), andererseits jene Organfunktionen gedrosselt werden, welche bei kurz-
fristiger psychischer oder physischer Beanspruchung nicht benötigt werden (Verdauung, Fortpflanzung,
Wachstum und Regeneration).“
228 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Die Organe des vegetativen Nervensystems verfügen über eine glatte Muskulatur, die
vom Willen nicht steuerbar ist, weshalb man auch vom „autonomen“ oder „unwillkür-
lichen“ Nervensystem spricht. Emotionale Zustände (Freude, Ärger, Wut, Leid, Trauer,
Angst) bewirken Veränderungen des vegetativen Nervensystems.
Die Informationsweiterleitung im sympathischen und parasympathischen Nervensy-
stem erfolgt über zwei verschiedene Arten von Nervenbahnen:
1. Afferente Bahnen. Weiterleitung der Informationen von der Peripherie in die über-
geordneten Zentren (Zentralnervensystem: Gehirn und Rückenmark). Die afferente
Erregungsleitung erfolgt über eine einzige Nervenzelle.
2. Efferente Bahnen. Weiterleitung der Informationen von den übergeordneten Steue-
rungszentren zu den Muskel- und Drüsenzellen. Für die efferente Erregungsleitung
sind zwei Nervenzellen erforderlich. Die Umschaltung von der ersten auf die zweite
Nervenzelle erfolgt in den Ganglien. Ganglien sind Nervenzellansammlungen bzw.
Nervengeflechte außerhalb des Zentralnervensystems, die aus den Nervenzellkör-
pern der zweiten efferenten Nervenzellen bestehen. Das Neuron nach den Ganglien
wird auch postganglionäres Neuron genannt. Das erste efferente Neuron, d.h. die
Nervenzelle vor den Ganglien, dessen Zellkörper innerhalb des Zentralnervensy-
stems in vegetativen Kernen liegen, wird auch präganglionäres Neuron genannt.
Die sympathischen Ganglien liegen in der Nähe der Wirbelsäule, die parasympa-
thischen Ganglien meistens in der Nähe der Erfolgsorgane.
Adrenerge Wirkungen
Cholinerge Wirkungen
Medikamente wirken auf das vegetative Nervensystem in Form der Beeinflussung der
synaptischen Erregungsübertragung ein, wobei es zwei Ansatzmöglichkeiten gibt:
z Einwirkung in den Ganglien, d.h. bei der Umschaltung von der ersten auf die zweite
Nervenzelle. Medikamente, die hier ansetzen, d.h. bei der cholinergen Erregungs-
übertragung, beeinflussen gleichzeitig Sympathikus und Parasympathikus.
z Einwirkung bei der Informationsübertragung vom zweiten, postganglionären Neuron
auf das jeweilige Erfolgsorgan. Medikamente, die hier eingreifen, wirken spezifi-
scher, d.h. sie beeinflussen nur die adrenerge Übertragung des sympathischen Ner-
vensystems oder die cholinerge Übertragung des parasympathischen Nervensystems.
Im parasympathischen Nervensystem dient zwar an beiden Umschaltungsstellen des
efferenten Neurons der Transmitter Acetylcholin als Überträgersubstanz, es sind je-
doch jeweils andere Rezeptorsysteme vorhanden. Die ganglionären Acetylcholin-
Rezeptoren sind Nikotinrezeptoren, die postganglionären Acetylcholinrezeptoren
sind Muskarinrezeptoren.
Angst als biologisches Geschehen 231
Wegen der zentral erregenden Wirkung gilt die Adrenalinerhöhung als Anzeichen für
psychische Belastung und Stress (z.B. vorweggenommene Beanspruchung, Konflikte,
Ängste, aber auch positive Gefühle wie freudige Erregung). Adrenalin ist daher auch bei
Flucht- und Vermeidungsreaktionen gegenüber Noradrenalin überproportional erhöht.
Ein Adrenalinstoß führt zu einer erhöhten geistigen Wachheit, die bei anhaltenden
Angst- und Stresszuständen das Abschalten erschwert. Angstbedingtes, abendliches
Grübeln im Bett führt häufig zu Einschlafstörungen, manchmal zu Panikattacken.
Eine Panikattacke entsteht durch eine plötzliche Adrenalinausschüttung, die den
Körper kurzfristig maximal aktiviert. Laut Studien steigt bei einer Panikattacke auch das
Stresshormon Kortisol messbar an (Erhöhung des Speichelkortisols). Eine vermehrte
Adrenalinfreisetzung kann nicht nur durch Angst, Aufregung und Stress bewirkt wer-
den, sondern auch durch Ärger, Wut und Aggression.
Menschen mit Angststörungen sollten folgende Zusammenhänge beachten: Häufig
lösen Wut und Ärger Panikattacken aus, z.B. beim Nachdenken in Ruhephasen. Unkon-
trollierbare Angst ist dann die Reaktion auf die massiven körperlichen Erregungsvor-
gänge, die durch die ängstliche Bewertung als lebensbedrohlich verstärkt werden.
Noradrenalin hat folgende Funktionen:
z Erhöhung des diastolischen Blutdrucks durch Anspannung der glatten Muskulatur in
den kleinen Arterien (Arteriolen),
z Erweiterung der Bronchien (Luftröhrenverzweigungen in der Lunge),
z Förderung der Atemtiefe,
z Freisetzung von Blutfetten,
z Hemmung der Magen-Darm-Tätigkeit (um Energie zu sparen).
Angst als biologisches Geschehen 233
Noradrenalin wirkt weder zentral erregend noch beschleunigt es den Herzschlag oder
erhöht es den Blutzuckerspiegel. Diese energiesparende Anpassung ermöglicht einen
sprunghaften Einsatz von Energie liefernden Prozessen bei Bedarf, z.B. bei plötzlicher
körperlicher Anstrengung oder bei sofort erforderlicher Kampfposition angesichts einer
akuten Bedrohung. Körperliche Belastung allein bewirkt eine gegenüber Adrenalin
überproportionale Noradrenalinerhöhung. Noradrenalin gilt daher als Anzeichen für
eine körperliche Belastung bzw. für eine Kampfreaktion.
Die maximale Aktivierung des Sympathikus durch die Katecholamine Adrenalin
und Noradrenalin wird nach einigen Minuten infolge von Gewöhnung an den Stressor
gestoppt, sodass eine Überbeanspruchung des Körpers verhindert wird. Dies erfolgt
einerseits durch Aktivierung des parasympathischen Nervensystems, andererseits durch
chemischen Abbau von Adrenalin und Noradrenalin, was jedoch einige Zeit dauert,
sodass man sich auch nach der Beseitigung der Belastung oder Gefahr noch einige Zeit
angespannt und erregt fühlt.
Hormonelle Aktivierung
(Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System)
Schon während der Alarmreaktion regen die Katecholamine über den Hypothalamus die
Ausschüttung von Nebennierenrindenhormonen (Kortikosteroide) an, und zwar von
Glukokortikosteroiden (Zuckerstoffwechselhormonen), die die Auffüllung der entleer-
ten Energiespeicher in Gang setzen. Etwa vier Stunden nach der Alarmreaktion errei-
chen diese Hormone ihren höchsten Blutspiegel. Ziel der Verschiebung von der neuro-
nal bewirkten, raschen und kurzfristigen Leistungsbereitschaft durch die Katecholamine
Adrenalin und Noradrenalin auf eine hormonell ausgelöste, längerfristige Leistungsbe-
reitschaft durch Nebennierenrinden- und Schilddrüsenhormone ist es, den Körper durch
Aufbau und Preisgabe neuer Reserven leistungs- und widerstandsfähiger zu machen,
ohne ihn dabei so überzuaktivieren, wie dies durch Adrenalin geschieht. Diese Reakti-
onsmechanismen benötigen wegen der hormonellen Informationsübermittlung über die
Blutbahn etwas länger bis zur vollen Wirksamkeit, wirken dafür jedoch langfristiger.
Der Hypothalamus – speziell der Nucleus paraventricularis als zentrale Kontrolle
über die gesamte Kaskade – gibt infolge neuronaler Impulse aus höheren Gehirnzentren
über die Blutbahn hormonfreisetzende Hormone (CRH) ab, die die Hypophyse stimulie-
ren, die als oberste Steuerungsinstanz aller hormonellen Prozesse gilt.
Das ausgeschüttete CRH hat zahlreiche Funktionen: Erhöhung von Blutzuckerspie-
gel, Sauerstoffverbrauch, Herzauswurfleistung, Atemtätigkeit und Wachsamheit, Re-
duktion der gastrointestinalen, reproduktiven und sexuellen Funktionen u.a.
Der Hypophysenvorderlappen setzt daraufhin bestimmte Hormone frei, die in den
untergeordneten Drüsen die Ausschüttung bestimmter Endhormone bewirken:
z Das adrenokortikotrope Hormon (ACTH) bewirkt in der Nebennierenrinde die Aus-
schüttung der Glukokortikosteroide Kortison (Hydrokortison) und Kortisol, welche
vor allem der Zuckerneubildung dienen.
z Das thyreotrope (Schilddrüsen stimulierende) Hormon bewirkt in der Schilddrüse
die Ausschüttung von Schilddrüsenhormonen, besonders von Trijodthyronin (T3)
und von Thyroxin (T4) zur Stoffwechselbeschleunigung.
z Das somatotrope Hormon (Wachstumshormon) bewirkt über Wachstumsfaktoren
der Leber ebenfalls eine Stoffwechselerhöhung.
234 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Eine erhöhte Kortisolausschüttung ist die normale Reaktion auf Stress. Anormal hohe
Kortisolkonzentrationen bei chronischem Stress können zu Bluthochdruck und Stress-
zucker führen. Zahlreiche Untersuchungen bei Tieren und Menschen zur Thematik der
gelernten Hilflosigkeit konnten zeigen, dass unkontrollierbar und unvorhersagbar unan-
genehme Reize bzw. Situationen zu einer massiven Kortisolausschüttung führen (leicht
nachweisbar durch den Kortisolspiegel im Blut).
Früher wurde davon ausgegangen, dass eine stressinduzierte Hypersekretion von
Kortisol das Immunsystem schwächt und für Infektionskrankheiten, Krebs oder Auto-
immunkrankheiten anfälliger macht. Neuerdings wird angenommen, dass Kortisol eine
protektive Wirkung besitzt, indem eine stressinduzierte Immunaktivierung abgebremst
wird, um schädigende Effekte zu vermeiden [46].
Der Zusammenhang zwischen einem Mangel bzw. Überschuss an Glukokortikoiden
und der Störung der Immunfunktionen ist noch nicht eindeutig geklärt.
Die Schilddrüsenhormone, insbesondere T3 (Trijodthyronin), bewirken eine raschere
Sauerstoffaufnahme in den Zellen, sodass mehr Verbrennungsenergie zur Verfügung
steht und die Stoffwechselprozesse dadurch beschleunigt werden. Als Folge davon wird
die Wärmeproduktion vermehrt.
Chronischer Stress bewirkt eine Drosselung der Produktion der Geschlechtshormo-
ne und damit eine Reduktion des sexuellen Verlangens, bei Frauen zusätzlich oft ein
Aussetzen der Menstruationsblutung, bei Männern eine geringere Samenproduktion.
Angst als biologisches Geschehen 235
Beide Typen können nicht allein durch psychologische Faktoren erklärt werden, son-
dern drücken unterschiedliche konstitutionelle Bedingungen aus. Die jeweiligen Anlage-
faktoren werden jedoch durch bestimmte Erziehungs- und Milieufaktoren verstärkt und
sind innerhalb gewisser Grenzen auch veränderbar.
Sympathikotoniker (Kampf-Flucht-Typen)
Sympathikotoniker neigen bei Angst, Aufregung und Stress zu sympathischer Überakti-
vierung: vermehrte Herz- und Atemtätigkeit, Blutdruckanstieg, Muskelanspannung,
Heiß-Werden, abnehmender Appetit, Verstopfung. Sie zeigen eine Überanspannung, ein
ständiges „Auf-dem-Sprung-Sein“, eine große innere Unruhe, eine leichte Gereiztheit
bis zur Aggressivität, eine große Hektik in allen Bewegungen, eine überschnelle
Kampf- und Leistungsbereitschaft, eine ständige Überaktivität ohne Entspannung.
Wenn sich diese Reaktionsbereitschaft in stärkerer Ausprägung zu einem relativ sta-
bilen Persönlichkeitstyp verfestigt, dann entsteht daraus das „Typ-A-Verhalten“, das
nach Friedman und Rosenman ein erhöhtes Herzinfarktrisiko in sich birgt (Gefahr der
Arterienverkalkung durch erhöhte Blutfett- und Zuckerwerte sowie Blutgefäßschädi-
gung durch hohen Blutdruck bei chronischer psychovegetativer Überreaktion), insbe-
sondere dann, wenn auch aus anderen Gründen ein erhöhtes Risiko gegeben ist (z.B.
Anlage, Rauchen, fett- und kohlehydratreiche Ernährung, Bewegungsmangel, Zucker-
krankheit, essenzielle Hypertonie).
Herzinfarktpatienten sind oft unfähig, sich zu entspannen. Jedes natürliche Bedürf-
nis nach Entspannung und Passivität wird abgewehrt. Leistung, Erfolg, Aufstieg und
Karriere sind zentraler Lebensinhalt. Die generelle Gültigkeit des Typ-A-Konzepts ist
nach neueren Studien einzuschränken auf die Gesundheitsschädlichkeit einer übertrie-
ben aggressiven Leistungshaltung mit ständiger Überforderung.
Sympathikotoniker neigen im Krankheitsfall zu Störungen des Gefäß-, Herz- und
Kreislaufsystems: Bluthochdruck, Kreislaufstörungen, Herzkranzgefäßerkrankungen
(Angina Pectoris und Herzinfarkt).
Ein „Kampftyp“ mit ständiger Anspannung und Ausrichtung auf Höchstleistungen
wird durch bestimmte Risikoverhaltensweisen (z.B. Rauchen) zusätzlich fixiert.
„Nervosität“ ist eine starke Aktivierung des Sympathikus. Der Körper ist bereits auf
hohe körperliche und geistige Leistung eingestellt, ohne diese jedoch schon zu erbrin-
gen (z.B. Aufregung wegen bevorstehender Prüfung oder Unternehmung). Es besteht
eine große Anspannung, die nicht durch erholsame Ruhe abgelöst werden kann, weil
man sich bewusst und unbewusst ständig mit der bevorstehenden Belastung beschäftigt.
Nicht bewältigbare Erwartungsängste führen zu chronischer Anspannung, wie diese für
Angstpatienten typisch ist. In harmloser Form zeigt sich eine deutliche Nervosität oft
auch bei bevorstehenden positiven Ereignissen (z.B. Urlaub oder Hochzeit).
Angst als biologisches Geschehen 237
Vagotoniker (Schrecktypen)
Vagotoniker neigen bei Angst, Aufregung und Stress zu parasympathischer Überakti-
vierung: Abfall von Herz- und Atemtätigkeit, Blutdruckabfall, Schwindel, Benommen-
heit, Ohnmachtsneigung, Atemnot durch Zusammenziehen der Bronchien, Schwitzen,
Kälteempfindung, Nachlassen der Muskelspannung („weiche Knie“), Schwächegefühl,
Übelkeit/Brechreiz durch Verkrampfung der Magen- und Darmmuskulatur, Harn- oder
Stuhldrang, Erröten, Weinen.
Vagotoniker bleiben in der Schock-/Schreckreaktion wie gelähmt, eben geschockt,
stecken und gelangen nicht zu Widerstand und aktiver Auseinandersetzung mit dem
Stressor. Das psychische Ohnmachtserleben zeigt sich körperlich in ständiger Benom-
menheit, Schwindelgefühlen und Ohnmachtsneigung.
Die vagotone Befindlichkeit drückt entweder eine starke Hilflosigkeit und Hand-
lungsunfähigkeit als Folge einer Schreckbereitschaft bzw. Schockreaktion aus oder eine
Erschöpfung nach übermäßiger Anspannung.
Der „Schrecktyp“ wird vor allem gefördert durch eine Lebensgeschichte, in der
Ohnmachtserleben und Hilflosigkeitsgefühle dominieren, wo von der eigenen Aktivität
keine Problemlösung erwartet wird, sodass man sich den Umweltbedingungen wehrlos
ausgeliefert fühlt.
Diese Reaktionsbereitschaft wurde bei vielen Frauen durch das traditionelle weibli-
che Rollenklischee wesentlich verstärkt. Eine Frau, die ständig zu Hilflosigkeitsreaktio-
nen neigt, wird auch durch einen Mann verstärkt, der ihre Hilflosigkeit und Abhängig-
keit als besonders weiblich schätzt bzw. von seiner Persönlichkeit her eine derartige
Frau wünscht.
Vagotoniker neigen im Krankheitsfall zu erniedrigtem Blutdruck mit zahlreichen
Folgesymptomen (z.B. Kollapsneigung), Magen-Darm-Beschwerden (chronischer Ver-
stopfung, Gastritis, Magenentzündungen, Magengeschwüren, Zwölffingerdarmge-
schwüren), Blasenerkrankungen, Bronchialasthma, asthenisch-depressiven Zuständen.
Die Unterscheidung zwischen Sympathikotonikern (Kampf-Flucht-Typen) und Va-
gotonikern (Schrecktypen) erlaubt bereits unabhängig von konkreten Situationen die
Vorhersage der körperlichen Reaktionsweise bestimmter Menschen in Angstsituationen:
z Sympathikotoniker klagen wegen der starken psychovegetativen Kampf- oder
Fluchtbereitschaft eher über Herzrasen, Druck auf der Brust, starke muskuläre Ver-
spannungszustände und Atemprobleme (Hyperventilation).
z Vagotoniker klagen eher über Schwindel, „weiche Knie“, Übelkeit, Durchfallsnei-
gung, Blasendruck, kalte Hände und Füße, verbunden mit der Angst umzufallen und
ohnmächtig zu werden.
Menschen und Tiere zeigen in Furchtsituationen vier Reaktionsmuster, die je nach situa-
tiver Notwendigkeit, individueller Reaktionsfähigkeit, Struktur des Organsystems,
Temperament und individueller Lerngeschichte variieren [47]: Flucht, Immobilität und
Bewegungsstarre, Abwehr durch Aggression, Beschwichtigung durch Unterordnung.
Das Fluchtverhalten ist charakterisiert durch eine schnelle motorische Reaktion.
Bereits bei der Vorstellung von Gefahr erfolgt eine massive Aktivierung des sympathi-
schen Nervensystems (Anstieg des Herzzeitminutenvolumens, des arteriellen Blut-
drucks, der Muskeldurchblutung u.a.), um der Muskulatur den benötigten erhöhten
Energiestoff-wechsel gewährleisten und auf diese Weise die Fluchtreaktion vorbereiten
zu können. Das Muster einer starken Fluchttendenz findet sich z.B. bei Tierphobikern
bei der Konfrontation mit den gefürchteten Tieren (oft schon vor dem Anblick des Tie-
res). Die massive Furchtreaktion äußert sich in einer panikähnlichen Symptomatik.
Immobilität, Bewegungsstarre oder „Einfrieren der Bewegung“ sind der Fluchtreak-
tion entgegengesetzte Reaktionsmöglichkeiten, die in zwei Formen auftreten können:
z Aufmerksame Immobilität. Der Organismus entwickelt eine Überaufmerksamkeit
(Hypervigilanz) und eine Überreaktion auf exterozeptive Reize (z.B. Berührung).
z Tonische Bewegungslosigkeit. Der Organismus ist steif vor Angst und reagiert selbst
bei intensiver und schmerzhafter Stimulation nicht mehr.
Alarmreaktion
Jede akute körperliche oder seelische Belastung bewirkt eine kurzfristige maximale
Aktivierung des vegetativen Nervensystems („Alarmreaktion“). Bei akuter Angst wird
extrem schnell das limbische System (namentlich die Amygdala) aktiviert, das über eine
Katecholaminausschüttung eine massive körperliche Aktivierung bewirkt. Bei der
Alarmreaktion werden zwei Phasen unterschieden, die für das Verständnis von Angst-
und Panikreaktionen sehr wichtig sind: Schockphase und Kampf- oder Fluchtphase.
Schockphase
Bei akuter Bedrohung erfolgt zuerst eine kurze Schockphase. Umgangssprachlich nennt
man diesen Zustand „Schrecksekunde“. Das vegetative Nervensystem schaltet kurz auf
die vagotone Spannungslage um, also auf totale Entspannung. Die massive, parasym-
pathische Aktivität bewirkt einen Stillhaltereflex, d.h. eine kurzfristige Reaktionsunfä-
higkeit, die dem Atemholen, Kräftesammeln und Abschätzen der Gefahr dient.
Eine längere Schockphase ist gekennzeichnet durch arteriellen Unterdruck, Tempe-
raturabsenkung, Unterzuckerung des Blutes, verminderte Harnabsonderung, Abnahme
des Chloridgehaltes des Blutes, des Natrium- und des Kaliumgehalts und Vermehrung
der Lymphozyten im Blut. Es kommt zu einem völligen Leistungsabfall.
Ein schwerer psychischer Schock führt zum Absacken von Herztätigkeit und Blut-
druck und damit zum Kreislaufabfall bzw. zum Kreislaufversagen. Der dadurch entste-
hende Sauerstoffmangel bewirkt eine Ohnmacht. Viele Angstpatienten haben das Ge-
fühl der Ohnmacht, werden aber nicht ohnmächtig, weil bei Angst der Blutdruck steigt.
Ein leichterer Schock (Schreckreaktion, „Schrecksekunde“), wie dieser in der Regel
bei akuter Angst und Bedrohung auftritt, zeigt sich in parasympathisch gesteuerten
Reaktionen, z.B. Kreislaufschwäche, Schwindel, Ohnmachtsangst, Atemnot, Zuschnü-
ren der Kehle, Übelkeitsgefühlen, Harn- oder Stuhldrang, Durchfall, Magenkrämpfen,
Muskelschwäche („weichen Knien“), Erröten, Tränenausscheidung, Weinkrämpfen.
Die Schockphase („Freeze“) ist (bzw. war in der Evolution) durchaus sinnvoll:
z Reduzierte Angriffslust eines Feindes durch die Bewegungslosigkeit im Schock,
z Schutz vor Entdecktwerden durch Regungslosigkeit anstelle geräuschvoller Flucht,
z Sicherung des Überlebens bei massiven körperlichen Schäden durch Vorbeugung
gegenüber Verblutung (Blutdruckabfall, Hautgefäßverengung, Blutverdickung),
z Konzentration aller Sinne auf das umfassende Erkennen der Gefahr,
z kurzfristige Sammlung von Energien als Vorbereitung auf die Angriffsphase.
240 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Herz und Kreislauf arbeiten auf Hochtouren, die Blutgefäße der Haut verengen sich und
der Blutdruck steigt. Die Ankurbelung des Blutkreislaufs dient dem erhöhten Energie-
transport, um die Zellen des Körpers rasch und ausreichend mit Sauerstoff, Nährstoffen
und den steuernden Botenstoffen (Hormonen) versorgen zu können. Die Atmung wird
schneller und tiefer, um möglichst viel Sauerstoff als Verbrennungsenergie für den
Körper aufnehmen zu können. Die Skelettmuskulatur wird angespannt, um den Körper
auf Kampf oder Flucht vorzubereiten, sodass man sich „ständig auf dem Sprung“ fühlt.
Die im Körper in Form von Zucker- und Fettreserven gespeicherte Energie wird bereit-
gestellt und in den Blutkreislauf ausgeschüttet. Die erhöhte Energiezufuhr an die Ske-
lettmuskulatur wird durch eine Intensivierung der Durchblutung erreicht, indem die
Blutgefäße der Skelettmuskulatur erweitert werden. Angesichts von akuten Gefahren ist
auch eine maximale geistige Aufmerksamkeit gegeben, sodass man sich hellwach er-
lebt, bis hin zur unangenehmen Überwachheit (Hypervigilanz).
Wenn die Symptome der Kampf- oder Fluchtphase in Ruhe ohne ersichtlichen
Grund einer äußeren Bedrohung auftreten, spricht man von einer „Panikattacke“. Die
Betroffenen fühlen sich von den akut auftretenden Symptomen überrascht, mangels
plausibler Erklärbarkeit lebensgefährlich bedroht und fürchten diese zukünftig.
Angst als biologisches Geschehen 241
Nach einigen Minuten lässt die Alarmwirkung nach, es kommt zur Entspannung oder
(bei Andauer der körperlichen oder seelischen Belastung) zur Widerstandsphase (An-
passungsphase). Alpha2-adrenerge und beta-adrenerge Rezeptoren sowie andere neuro-
nale Systeme (insbesondere über GABA) bewirken im Sinne eines Feedbacksystems ein
Abklingen der Reaktion und ein neues Gleichgewicht.
Die Begriffe „Kampf“ und „Flucht“ sind bei vielen Stresssituationen nicht wörtlich
zu nehmen. „Kampf“ bezeichnet das Herangehen an die Angst oder Stress auslösende
Situation, den Versuch, das Problem aktiv zu lösen, „Flucht“ jede Art von Rückzug aus
den belastenden Situationen, auch Fluchtimpulse, nicht nur wirkliches Weglaufen.
Zum Verständnis, warum gerade die körperliche Leistung bei Stress im Vordergrund
steht, muss man bedenken, dass sich diese vegetative Reaktion in Millionen von Jahren
allmählich herausgebildet hat. Die meiste Zeit lebten die Menschen unter Bedingungen,
in denen körperliche Leistungsfähigkeit (Kraft, Schnelligkeit) die entscheidende Vor-
aussetzung dafür war, in Stresssituationen zu überleben. Unsere biologische Ausstattung
stammt aus einer früheren Phase der Evolution, wo Kampf oder Flucht die angemessen-
sten Reaktionsweisen waren, um mit Bedrohung fertig zu werden.
Derselbe körperliche Reaktionsmechanismus der Kampf- oder Fluchtphase läuft
auch dann ab, wenn Situationen nur als bedrohlich vorgestellt werden, d.h. der Körper
unterscheidet nicht zwischen realen und vorgestellten Gefahren. Körperliche Mobilisie-
rung bereits bei der Vorstellung von Gefahren ist notwendig, um bei tatsächlicher Ge-
fahr rasch reaktionsbereit zu sein. Der Organismus reagiert bei körperlichen und seeli-
schen Belastungssituationen in gleicher Weise mit einer Aktivierung des vegetativen
Nervensystems. Bei psychischem Stress ist die körperliche Mobilisierung meist zu
stark, weil keine entsprechende Aktivität (Kampf oder Flucht) erforderlich ist.
Die körperliche Aktivierung stellt eine Fehlsteuerung dar, wenn vorschnell und un-
berechtigt harmlose Situationen als gefährlich eingeschätzt werden. Es kommt zu einem
körperlichen Anspannungszustand, der mangels Bewegung bestehen bleibt, sowie zum
Aufbau von Energie und zur Beschleunigung von Stoffwechselvorgängen, was gar nicht
erforderlich ist. Eine mehrstündige Kampf-Flucht-Symptomatik ist völlig ungefährlich.
Die Betroffenen müssen lernen, ihre Vorstellungen von Gefahr einerseits ohne Un-
terdrückungs- und Vermeidungsversuche zuzulassen und andererseits als „nur“ Gedan-
ken und Vorstellungen zu identifizieren, um eine Kampf-Flucht-Reaktion zu vermeiden.
242 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Widerstandsphase (Anpassungsstadium)
Als Widerstandsphase bezeichnet man die Zeit, in der die Aktivierung des Körpers an-
dauert. Diese Zeitspanne hängt davon ab, wie lange die belastende Situation weiter
besteht bzw. wie lange der Körper in der Lage ist, die übermäßige Anspannung aufrecht
zu erhalten. Um die vom Sympathikus gesteuerte Mobilmachung des Körpers zu brem-
sen, setzt einige Minuten nach Beginn des Alarmstadiums eine Gegenregulation über
das parasympathische Nervensystem ein. Dadurch soll der Körper wieder in das
Gleichgewicht gebracht werden.
In dieser Phase der Stressreaktion kann es zur übersteigerten Aktivierung von Ma-
gen- und Darmtätigkeit kommen, verbunden mit Gefühlen von Übelkeit, Erbrechen,
Harn- und Stuhldrang.
Im Widerstandsstadium passt sich der Körper bei Bedarf an einen länger dauernden
bzw. chronischen Stressor durch Mobilisierung anderer Abwehrkräfte an:
z Nebennierenrindenhormone: die Zuckerstoffwechselhormone (Glukokortikoste-
roide) Kortisol und Kortison dienen der Zuckerherstellung.
z Schilddrüsenhormone: Tri- und Tetrajodthyronin (Thyroxin) beschleunigen die
Stoffwechselprozesse.
Erschöpfungsphase
Nach der Bewältigung des Stresszustandes in der Widerstandsphase erfolgt eine Um-
schaltung in die parasympathische (vagotone) Spannungslage, die der Erholung dient.
Bei unzureichender Stressbewältigung arbeitet das sympathische Nervensystem weiter,
während gleichzeitig das parasympathische Nervensystem aktiviert wird. Es kommt
dadurch zu einer Störung in den normalerweise gut koordinierten vegetativen Abläufen,
zu einem Nebeneinander von Anspannung und Schwäche. Erst nach einer Weile haben
sich die einzelnen Körperfunktionen wieder so eingespielt, dass man wirklich abschal-
ten und sich erholen kann.
Diese Störungen werden bei einmaligen oder seltenen Stresssituationen verhältnis-
mäßig leicht überwunden. Gelingt dies wegen des anhaltenden physischen oder psychi-
schen Stresszustandes nicht, bleibt das Missverhältnis zwischen Aktivität und Entspan-
nung auf Dauer bestehen, was sich entweder mehr im Sinne einer übermäßigen An-
spannung (sympathikotone Richtung) oder in einem Schwächezustand (vagotone Rich-
tung) äußert.
Die Überforderung der einzelnen Organfunktionen bewirkt Befindensstörungen:
z funktionelle Störungen (Funktionsstörungen ohne Gewebeveränderungen, nach dem
ICD-10 zu klassifizieren unter F45 „somatoforme Störungen“);
z psychosomatische Krankheiten (Organstörungen mit Gewebeveränderungen, nach
dem ICD-10 zu klassifizieren unter F54 „Psychologische Faktoren und Verhaltens-
faktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten“).
Es gibt einige Störungen, die bei fast allen Erschöpfungszuständen auftreten: Schlafstö-
rungen, Einschränkung der Konzentrations- und Leistungsfähigkeit, Nervosität. Die
Überforderung und Erschöpfung zeigt sich immer an dem Organ oder Organsystem, das
am wenigsten belastbar ist.
Die organische Schwäche kann anlagemäßig vorhanden sein oder nur im Moment
bestehen. Jemand mit einer erblichen Veranlagung zu erhöhter Magensäureproduktion
wird bei dauerndem Stress wahrscheinlich am ehesten an einer Magenschleimhautent-
zündung oder sogar an einem Magengeschwür erkranken. Wer sich wenig bewegt, wird
bei Belastungen vielleicht mit Rückenschmerzen reagieren.
244 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Das „schwächste Glied in der Kette“, das Organ, an dem sich die Erschöpfungs-
und Krankheitszeichen zuerst zeigen, kann auch durch bestimmte Risikoverhaltenswei-
sen vorgeschädigt sein. Nikotin-, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch können die
Grundlage für eine Magenschleimhautentzündung sein, das Rauchen kann die Grundla-
ge für eine chronische Bronchitis oder Kreislaufstörung darstellen und eine falsche
Ernährung kann die Ursache für Stoffwechselstörungen sein.
4. Harn- oder Stuhldrang ergeben sich aus der Aktivierung der Ausscheidungsorgane.
Durchfall entsteht aus der übermäßigen Verkrampfung des Dickdarms („Gleich ma-
che ich in die Hose“, „Ich muss sofort aufs Klo“, „Ich muss schon wieder auf die
Toilette, obwohl ich erst vorhin war“).
5. Weinen stellt eine spezifisch menschliche Form einer Schreckreaktion dar und hat in
diesem Fall nichts zu tun mit Traurigkeit.
6. „Weiche Knie“ beruhen auf der Erschlaffung der Skelettmuskulatur. Der Abfall des
Muskeltonus führt oft zur Angst, bald umzufallen („Meine Knie werden ganz
weich“, „Gleich sinke ich zu Boden“, „Ich muss mich jetzt unbedingt irgendwo an-
halten, sonst falle ich um“).
7. Blockierung des Denkens. Dies wird oft als Konzentrationsstörung sowie als Angst,
verrückt zu werden, erlebt („Ich kann nicht klar denken“, „Jetzt drehe ich durch“,
„Gleich werde ich wahnsinnig und muss in die Psychiatrie“). Eine spätere, sympa-
thisch gesteuerte Hyperventilation mit der Folge einer Sauerstoffnot im Gehirn, das
Gefühl des Kontrollverlusts sowie das Erleben einer Depersonalisation (Gefühl eines
gestörten Selbsterlebens) verstärken die Angst, verrückt zu werden.
5. Die muskuläre Verspannung des ganzen Körpers bis hin zum Zittern und Beben
ergibt sich durch die Anspannung der Muskulatur, was gerade bei ausbleibender
Bewegung als sehr unangenehm und schmerzhaft erlebt wird. Der Körper wird für
eine Bewegung aktiviert, die nicht erfolgt, sodass keine Abreaktion der Anspannung
stattfindet. Die Verspannung der Beinmuskulatur führt zu einem unsicheren Stand,
sodass nunmehr aus diesem Grund das Gefühl, bald umzufallen, gegeben sein kann
(„Ich bin so wackelig auf den Beinen“, „Meine Knie zittern“, „Mein ganzer Körper
bebt“, „Meine Hände sind so zittrig“).
6. Hitzegefühle entwickeln sich durch den erhöhten Energieverbrauch. Als Folge davon
setzt anschließend Schwitzen als Mittel der Kühlung des überhitzten Körpers durch
Wasserverdunstung ein („Mir wird so heiß“, „Ich schwitze ständig“).
7. Geistige Überaktivierung (erhöhte Wachsamkeit), um die Aufmerksamkeit und
Reaktionsfähigkeit angesichts möglicher Gefahren zu steigern, resultiert aus der
adrenalinbedingten Stimulierung bestimmter Hirnregionen. Bei Fehlen echter Ge-
fahren wird dies als unangenehme Übersensibilität erlebt („Ich bin so aufgedreht“,
„Ich fühle mich ganz überdreht“, „Ich kann nicht abschalten“).
Wenn die Panikattacke aus verschiedenen Gründen (anhaltende Todes- oder Verlust-
ängste, massive Erregung durch Wut und Aggressionen, fehlende Bewegung aus Angst
umzufallen) nicht abklingt, kommt es zu einem länger dauernden Nebeneinander von
sympathisch und parasympathisch bewirkten Körperreaktionen mit einem anschließen-
den Erschöpfungsgefühl.
Viele Patienten mit einer Angst- und Panikstörung leiden primär unter einer anhal-
tenden somatoformen Störung im Sinne einer alarmierenden Brustschmerzsymptomatik.
Eine Angststörung stellt die häufigste nichtorganische Ursache von Brustschmerzen dar.
Die ständige emotionale Anspannung vieler Angstpatienten (vor allem bei solchen mit
einer generalisierten Angststörung) führt zu chronischer Muskelverspannung, die bis zur
schmerzhaften Ausprägung führen kann.
Verschiedene amerikanische Studien mit Hilfe von Herzkathederuntersuchungen
führten die falsch-positiven Befunde der betroffenen Personen auf deren hohe Belastung
durch Angst, Depression oder körperliche Fixierung zurück.
Andererseits weisen oft auch herzkranke Patienten psychische Belastungsfaktoren
auf, sodass unklar bleibt, ob organisch und nichtorganisch bedingte Brustschmerzen
anhand bestimmter psychopathologischer Kriterien klar voneinander unterschieden
werden können. Genau diese Fragestellung wurde in einer Studie der kardiologischen
Ambulanz der Universitätsklinik Heidelberg untersucht, die sich mit der Thematik der
psychischen Komorbidität bei Patienten mit alarmierender Brustschmerzsymptomatik
beschäftigte. Von 77 Patienten, die mit dem Schmerzbild einer Angina Pectoris in Ruhe
zur medizinischen Abklärung kamen, konnte mittels einer invasiven Herzkathederunter-
suchung bei 35% keine stenotische Lumeneinengung gefunden werden. Die kardiologi-
sche Unauffälligkeit dieser Personengruppe wurde durch ein negatives Belastungs-EKG
und ein unauffälliges Langzeit-EKG bestätigt.
Im Gegensatz zu der häufigen Behauptung, dass eine Pseudo-Angina-Pectoris
hauptsächlich bei weiblichen Personen auftritt, setzte sich die Gruppe der Patienten mit
nichtorganisch bedingten Herzschmerzen aus 81% Männern und 19% Frauen zusam-
men. Der durchschnittliche Frauenanteil bei nichtorganisch bedingten Brustschmerzen
liegt auch nach anderen Studien unter 50%. Die organisch gesunden Patienten mit
Herzbeschwerden waren nur geringfügig depressiver als die herzkranken Patienten,
während hinsichtlich des Ausmaßes an Hilflosigkeit und Klagsamkeit eine gleich große
Belastung und somit kein signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen bestand.
Patienten mit nicht koronar bedingten Herzschmerzen wiesen zumindest in dieser
Studie kein höheres Ausmaß an psychischer Irritabilität auf als Patienten mit ischämi-
schen Herzschmerzen. Die verwendeten psychodiagnostischen Erhebungsinstrumente
waren nicht in der Lage, beide Gruppen zu unterscheiden. Zur Erklärung der Befunde
weisen die Autoren darauf hin, dass eine chronifizierte Schmerzsymptomatik beide
Gruppen eher homogenisiert als differenziert. Chronische Schmerzen können ein de-
pressives Zustandsbild bewirken, eine Depression wiederum kann die Schmerzschwelle
senken und damit das Schmerzerleben verstärken.
Die gängigen Vorstellungen der Kardiologen und Psychosomatiker über eine leichte
diagnostische Unterscheidbarkeit zwischen beiden Gruppen sind nach den Heidelberger
Forschern kritisch zu beurteilen. Menschen mit psychisch bedingten Brustschmerzen,
die eine medizinische Untersuchung bis zur Koronarangiographie erleben, stellen eine
heterogene Patientengruppe dar. Typische Panikpatienten waren zu diesem Untersu-
chungszeitpunkt in der Regel bereits sicher diagnostiziert und ausgefiltert.
Diese Studie belegt, dass viele Menschen mit chronifizierter Angina-Pectoris-artiger
Symptomatik ohne organischen Befund weniger eine Panik- und Angststörung aufwei-
sen als vielmehr eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Dieser Aspekt ist insbe-
sondere auch bei einer posttraumatischen Belastungsstörung (z.B. bei Zuständen nach
einem Unfall, einer Vergewaltigung oder einem Überfall) zu bedenken, wo Brust-
schmerzen mit angstbetonten Herzsensationen im Vordergrund stehen.
250 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Ein untrainiertes, geschwächtes oder krankes Herz kann oft keinen ausreichenden
Druck mehr durch die Kraft seiner Kontraktion aufbauen und versucht dann häufig, dies
durch eine vermehrte Schlagzahl auszugleichen, damit der Körper ausreichend durch-
blutet wird. Während bei Untrainierten Blutdruck und Puls unter Belastung stark anstei-
gen, ist dies bei Trainierten kaum der Fall.
Bewegung und Konditionstraining sind sehr wichtig, um Herzrasen und Atemnot
vorzubeugen. 3- bis 4-mal pro Woche sollen während 30-60 Minuten 65% der maxima-
len Kreislauftätigkeit erreicht werden, d.h. ein Puls von 180 minus Alter.
Ein Pulsanstieg auf 160 pro Minute unter Trainingsbedingungen ist durchaus normal
und gesund, ein höherer Wert bringt dagegen keine zusätzlichen positiven Wirkungen
auf das Herz. Ein sportlicher Trainingseffekt ist überhaupt erst ab einer Herzfrequenz
von 100 und mehr pro Minute zu erwarten.
Durch ein Konditionstraining wird das Herz leistungsfähiger. Die Größe der Herz-
kammern, die Dicke der Herzwände und die Weite der Herzkranzgefäße nehmen zu.
Das Herz pumpt mit jedem Schlag mehr Blut und verbessert damit die Blutzirkulation
und die Versorgung des Körpers mit Sauerstoff. Es werden auch neue Blutgefäße (ins-
besondere Kapillargefäße) gebildet, um die Muskelfasern und die Haut besser versorgen
zu können.
Durch ein regelmäßiges Konditionstraining steigt der Puls unter Belastung weniger
stark an, gleichzeitig sinkt der Ruhepuls ab. Der Ruhepuls erreicht bei Untrainierten oft
Zahlen über 90, während bei Trainierten eine Verlangsamung auf Werte zwischen 32
und 40 möglich ist.
Ein Konditionstraining (z.B. auf einem Hometrainer) kräftigt nicht nur das Herz und
den Körper, sondern stellt auch eine Art Angstbewältigungstherapie bei Panikpatienten
mit der Angst vor Herzrasen dar.
Bei Herzrasen kann der Herzschlag folgendermaßen verlangsamt werden:
z doppelt so lang ausatmen als einatmen,
z grundsätzlich Konzentration auf die Ausatmung, während die Einatmung reflexhaft
von alleine erfolgt (diese Atemtechnik hilft auch bei Asthma).
Bei Ruhe und Entspannung bewirkt das parasympathische Nervensystem eine Verlang-
samung des Herzschlags, eine Verringerung der Pumpleistung und eine Verengung der
Herzkranzgefäße. In der Folge davon kommt es zu einem Abfall des Kreislaufs. Im
Schockzustand kann ein Kreislaufversagen eintreten. Subjektiv äußern sich Schock- und
Schreckreaktionen als Kreislaufschwäche.
Blutdruck
Unter Blutdruck versteht man den vom Herzmuskel erzeugten Druck, unter dem die
Blutmasse des ganzen Körpers durch die Adern (Arterien) getrieben wird. Der Blut-
druck ist abhängig von der Schlagkraft des Herzens, von der Elastizität der Gefäßwan-
dung und dem Widerstand der Arteriolen und Kapillargefäße (den kleinen arteriellen
Blutgefäßen). Der Blutdruck steigt durch eine erhöhte Herztätigkeit und die Verengung
der kleinen arteriellen Blutgefäße der Haut.
Die Steigerung des systolischen Blutdrucks (Pumpdruck auf die Arterien beim Aus-
wurf des Blutes aus dem Herzen, d.h. zum Zeitpunkt des Zusammenziehens des Herz-
muskels) erfolgt durch die verstärkte Herzleistung.
252 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Das Versacken des Blutes in den Venen (und damit die Schwindelzustände) bzw. der
Stau in den Muskeln kann durch drei Methoden leicht behoben werden:
z Bewegung der Muskulatur, vor allem der Beine, wodurch das Blut von den Venen
zum Herzen gepumpt wird. Jede Bewegung erhöht sofort den Blutdruck.
z Kälteanwendung. Durch eine kalte Dusche (nach einer Warmwasseranwendung)
ziehen sich die Venen zusammen und befördern das Blut schneller zum Herzen zu-
rück. Oft reicht es, die Unterarme unter das Leitungswasser zu halten.
z Ausreichende Ernährung, salzreichere Kost und vermehrte Flüssigkeitszufuhr erhöht
bei niedrigem Blutdruck die Flüssigkeitsmenge in den Gefäßen.
Symptomatische Hypotonie
Symptomatische Hypotonie tritt auf als Folge von Krankheiten, Allergien, Medikamen-
tennebenwirkungen oder bestimmten körperlichen Zuständen:
1. Herzkrankheiten (Herzschwäche, Herzinfarkt) und viele andere Krankheiten.
2. Allergien. Nicht die Antikörper, sondern die dabei freigesetzten körpereigenen Reiz-
stoffe (Histamin) senken den Blutdruck durch starke Gefäßerweiterung.
3. In der Genesungszeit nach Operationen und Infektionskrankheiten, vor allem auch
nach einer Grippe (eine nicht auskurierte Grippe kann eine Panikattacke auslösen).
4. Während der Schwangerschaft.
5. Übermäßiger Alkoholkonsum. Die Blutgefäße der Haut erweitern sich (Histamin-
Wirkung), wodurch der Blutdruck gesenkt wird (Ausnahme: Sekt, und zwar wegen
des Kohlensäuregehalts). Menschen mit reiner Panikstörung ohne Agoraphobie ha-
ben oftmals eine mehr oder weniger lange Zeit von Alkoholmissbrauch hinter sich.
6. Nikotinentzug. Die Blutgefäße der Haut erweitern sich nach der Nikotin-bedingten
Verengung. Dies führt zu Herzrasen, wodurch der Blutdruck wieder gehoben wird.
7. Wetter. Warmes oder schwüles Wetter bewirkt über eine Gefäßerweiterung einen
Blutdruckabfall.
8. Medikamente. Viele Medikamente (z.B. Tranquilizer, bestimmte Antidepressiva)
haben als Nebenwirkung eine Blutdrucksenkung. Bei kreislaufbedingter Ohn-
machtsneigung sollten keine Beruhigungsmittel eingenommen werden, weil diese
einen niedrigen Blutdruck noch weiter senken. Alle Medikamente sollten auf eine
unerwünschte Blutdrucksenkung hin überprüft werden. Bei niedrigem Blutdruck
sollten wegen möglicher Blutdrucksenkung weder trizyklische Antidepressiva (z.B.
Amitriptylin mit Präparaten wie Saroten® oder Tryptizol®) noch bestimmte nicht-
trizyklische Antidepressiva (Mianserin mit den Präparaten Tolvon® und Tolvin® und
Trazodon mit den Präparaten Trittico® und Thombran®) eingenommen werden. Die
neueren Antidepressiva (SSRI) haben keinen Blutdruck senkenden Effekt.
Orthostatische Hypotonie
Orthostatische Hypotonie (mit der Folge von orthostatischem Schwindel) ist eine Son-
derform des niedrigen Blutdrucks, die beim Übergang vom Liegen zum Stehen oder bei
längerem Stehen auftritt (orthostatisch = aufrecht stehend). Sie zeigt sich besonders bei
jüngeren Frauen, bei großen, hageren Menschen, bei Personen mit Krampfadern (die
erweiterten Beinvenen nehmen zu viel Blut auf) und bei vielen Patienten nach krank-
heitsbedingten Liegephasen.
Diese Störung ergibt sich aus dem vorübergehenden Versagen der Kreislaufregula-
tion beim Aufstehen oder im Stehen. Das Blut folgt der Schwerkraft und versackt des-
halb beim Aufrichten oder längeren Stehen nach unten in die Beine. Im Liegen dagegen
entspricht der Blutdruck der Betroffenen der Norm. Da die dünnwandigen Venen leich-
ter dehnbar sind als die Arterien und sich kaum selbst zusammenziehen können, versak-
ken beim Aufstehen kurzfristig 400-600 ml Blut in den Beinen. Diese Menge wird den
Blutgefäßen in Oberkörper und Kopf entzogen, sodass weniger Blut zum Herzen zu-
rückfließen kann. Wenn sich aber die Herzkammern weniger füllen, dann sinkt auch die
Pumpleistung des Herzens und der Blutdruck fällt ab.
Angst als biologisches Geschehen 257
Bei normalem Blutdruck wird dieser Reaktion sofort durch Verengung der Beinge-
fäße und Abgabe von gespeichertem Blut aus den Depots des Körpers gegengesteuert,
sodass man den kurzen Blutdruckabfall nicht bemerkt. Das gelingt bei der orthostati-
schen Hypotonie nicht schnell genug. Es kommt beim plötzlichen Aufstehen oder nach
längerem Stehen zu Schwindel, Übelkeit, Flimmern und Schwarzwerden vor den Augen
oder sogar zu einer kurzen Ohnmacht infolge der Blutleere im Gehirn. Zugleich wirkt
sich die verzögerte Gegenregulation des Sympathikus (vermehrte Ausschüttung der
Stresshormone) in Form von Herzrasen, Schweißausbrüchen und Angstgefühlen Blut-
druck steigernd aus. Der orthostatische Schwindel wird beim Stehen vor allem dann
provoziert, wenn der Blutdruck ohnehin niedrig und nur im Liegen normal ist, sowie bei
Krampfadern, wo an sich bereits bis zu 20% des Blutes in den Venen versacken.
Verschiedene Panikpatienten sind früher einmal bei längerem Stehen umgefallen,
was sich im Gedächtnis eingeprägt hat, sodass sie später bei anhaltendem Schwindel,
der jedoch meistens durch chronische Muskelverspannung entstanden ist, eine neuerli-
che Ohnmacht fürchten, was häufig zu einer Schonhaltung führt.
Durchblutungsveränderungen im Körper
Blut ist das Transportmittel, das den ganzen Körper mit Sauerstoff, Zucker, anderen
Nährstoffen, Abwehrzellen und Hormonen versorgt und die Abfälle beseitigt. Die fünf
Liter Blut des Körpers werden jeweils durch Erweiterung bzw. Verengung der Blutge-
fäße der verschiedenen Organe so umverteilt, wie es dem aktuellen Bedarf entspricht.
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Er-
höhung der Durchblutung durch die Erweiterung der Blutgefäße in den Organen, die
für die momentane Aktivität bzw. für das Überleben besonders wichtig sind (Herz, Lun-
ge, Leber, Skelettmuskulatur, vor allem die großen Muskeln wie z.B. Bizeps und Ober-
schenkeln). Es erfolgt eine vermehrte Versorgung der Arm-, Bein- und sonstigen
Kampf-Flucht-Muskulatur mit Sauerstoff und Nährstoffen.
Gleichzeitig wird die Durchblutung der Gefäße in den Organen, die für die momen-
tane Tätigkeit nicht unbedingt nötig sind (Magen, Darm, Nieren, Haut, Schleimhäute,
Geschlechtsorgane), vermindert zugunsten der erhöhten Durchblutung der aktuell wich-
tigen Organe. Sympathikotone Hautgefäßverengung (Vasokonstriktion der peripheren
Hautgefäße) wird technisch gewöhnlich als Abnahme der Fingerpulsamplitude festge-
stellt, Vasodilatation der Muskelgefäße als Zunahme des Blutvolumens im Unterarm.
Die Mangeldurchblutung bestimmter Organe führt zu Übelkeit („Schmetterlinge im
Bauch“), Nachlassen der Verdauungstätigkeit und verminderter sexueller Reaktion. Die
blutleere Haut wirkt blass, Hände und Füße sind kalt und kribbelig. Taubheits-, Kribbel-
und Kältegefühle sind typische Zeichen einer angstbedingten Blutumverteilung zur
arbeitenden Muskulatur.
Die Verengung der Blutgefäße an der Körperoberfläche reduziert die Gefahr der
Verblutung bei Verletzungen in Kampf- und Bedrohungssituationen. Diesem Zweck
dient auch die Verkrampfung von Brust und Bauchdecke bei realer bzw. gefürchteter
Bedrohung. In geringerem Maße ist auch die Durchblutung des Gehirns von der Blut-
umverteilung betroffen. Dies führt zu Schwindelgefühlen, die bei angstbedingter massi-
ver sympathischer Aktivierung sehr oft beklagt werden.
Diese Vorgänge erklären, warum bei Angst, Aufregung und Stress oft geklagt wird
über Herzrasen, blasse und kalte Haut, blasses Gesicht, kalte Hände und Füße, Verdau-
ungsstörungen und mangelnde sexuelle Reaktionsfähigkeit.
Eine wirksame Blutumverteilung hängt von der Schnelligkeit ab. Dies wird durch
die Beschleunigung des Herzschlags und das Schlagvolumen bewirkt. Das Schlagvolu-
men ist jene Menge Blut, die das Herz, und zwar die rechte Herzkammer, während eines
Schlages aufnimmt und wieder über die linke Herzkammer in den Körper pumpt.
Bei einer Notfallreaktion kann der Puls von durchschnittlich 70 Schlägen pro Minu-
te auf 180 und mehr pro Minute ansteigen, während sich das Schlagvolumen verdop-
pelt. In Ruhe wird das Blut in einer Minute einmal „umgewälzt“. Während der Alarm-
oder Bereitstellungsreaktion werden infolge des stark erhöhten Pulses die 5 Liter Blut
bis zu 5-mal pro Minute durch den Körper gepumpt und dabei immer wieder mit Ener-
gie (Sauerstoff und Zucker) angereichert.
Bei Ruhe und Entspannung, wie sie über das parasympathische Nervensystem be-
wirkt wird, werden die Blutgefäße von Herz, Lunge, Leber und Skelettmuskulatur ver-
engt und damit die Durchblutung verringert, während die Blutgefäße von Haut, Verdau-
ungsorganen, Schleimhäuten und Geschlechtsorganen erweitert und damit die Durch-
blutung erhöht wird.
Angst als biologisches Geschehen 259
Zur Verdauung wird vermehrt Blut benötigt und den anderen Organen entzogen
(insbesondere dem Kopf und der Muskulatur). Man fühlt sich daher nach dem Essen
geistig und körperlich müde („Ein voller Bach studiert nicht gern“). Fortgesetzte Tätig-
keit erfordert eine erhebliche Mehranstrengung.
Die Entspannung der Muskeln im Unterleib (und damit die vermehrte Durchblu-
tung) kann durch Wärmevorstellungen und Wärmeerfahrungen gefördert werden:
1. Sonnengeflecht-Übung des autogenen Trainings: „Sonnengeflecht strömend warm“,
2. intensive Erinnerung und Vergegenwärtigung einer warmen Flüssigkeit im Magen
(Suppe, Tee, Kaffee, ein Schluck Schnaps), die sich im ganzen Unterleib ausbreitet,
3. warme Hände, Wärmeflasche oder Sonnenstrahlen auf der Bauchdecke.
Atmung
Der Mensch kann ohne Essen etwa 40 Tage, ohne Trinken nahezu 5 Tage, ohne Sauer-
stoff nur einige Minuten überleben. Bei fehlender Sauerstoffzufuhr zum Gehirn treten
bereits nach einigen Sekunden Schwindel und zunehmende Bewusstseinstrübung, nach
4 Minuten bleibende Gehirnschäden auf.
Ängste sind stets mit Atmungsveränderungen verbunden, sodass dem Verständnis
der richtigen Atmung eine ganz besondere Bedeutung zukommt.
Bei der Einatmung gelangt die Luft über die Nase oder den Mund durch die Luft-
röhre zur Lunge. Im Brustkorb teilt sich die Luftröhre, um beide Lungenflügel versor-
gen zu können. Die beiden Luftröhrenäste werden Bronchien genannt. Diese verzwei-
gen sich in der Lunge in immer feinere Verästelungen (Bronchiolen). Durch diese ge-
langt die Luft schließlich in die Lungenbläschen (Alveolen), die extrem dünn und von
feinsten Blutgefäßen durchzogen sind. Hier erfolgt der Gasaustausch: Aufnahme von
Sauerstoff aus der Luft und Abgabe von Kohlendioxid aus dem Blut.
Im Rahmen des Lungenkreislaufes wird das verbrauchte Blut, das die rechte Herz-
kammer aus den großen Körpervenen aufnimmt, über die Lungenarterie in die Lunge
befördert, bis hin zu den Lungenbläschen. Dort gibt das Blut das Abfallprodukt Koh-
lendioxid (CO2) zum Ausatmen ab und nimmt aus der eingeatmeten Luft den Sauerstoff
(O2) auf. Das mit Sauerstoff angereicherte Blut gelangt dann in die linke Herzkammer
und wird dort über die Körperhauptschlagader (Aorta) je nach Bedarf im Körper ver-
teilt. Das Atmungszentrum im Hirnstamm koordiniert die gesamte Atmung.
Der Sauerstoff muss mit dem Blut in der Lunge in Kontakt kommen, um aufge-
nommen und verwertet werden zu können. Aufgrund des aufrechten Ganges des Men-
schen und der Schwerkraft ist das Blut in der Lunge sehr unterschiedlich verteilt. An der
Lungenspitze, in der Nähe des Schlüsselbeins, beträgt die Durchblutung weniger als ein
Zehntel Liter pro Minute, im untersten Drittel der Lunge dagegen einen Liter pro Minu-
te. Für eine maximale Aufnahme von Sauerstoff ist das Hineinatmen in den unteren
Bereich der Lunge erforderlich. Bei flacher Atmung werden nur 0,2 statt 0,5 Liter Sau-
erstoff aufgenommen, wodurch die unteren Lungenbläschen unterversorgt bleiben.
Sauerstoff ist die Verbrennungsenergie des Körpers, durch die alle Stoffwechselpro-
zesse ermöglicht werden. Sauerstoff sorgt in den Körperzellen für die Verbrennung der
Nährstoffe, wodurch diese zur Energiegewinnung nutzbar gemacht werden.
260 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Während der Sauerstoff verbrannt wird, entstehen Kohlendioxid und Wasser als
Stoffwechselabfälle. Zu viel Kohlendioxid und zu wenig Sauerstoff im Blut führen zum
Einatmen. Bei Sauerstoffüberangebot und Kohlendioxidmangel (z.B. nach einer Hyper-
ventilation) kommt es zur Atemruhe oder zum Atemstillstand. Hyperventilation bewirkt
somit Atemnot, führt jedoch nicht zur Bewusstlosigkeit.
Atem- und Herzrhythmus sind eng aneinander gekoppelt. Das Verhältnis von At-
mung und Herzschlag beträgt in Ruhe sowie im Schlaf 1:4. Bei 15-20 Atemzügen pro
Minute erfolgen 60-80 Herzschläge.
Die Ruheatmung sollte nicht mehr als 15 Atemzüge pro Minute umfassen (bei Män-
nern 12-14, bei Frauen 14-15 Atemzüge). Unter Belastung erfolgen bis zu 30 Atemzü-
ge, bei gezielter Entspannung 6-8 Atemzüge pro Minute. Schneller atmen beschleunigt
den Herzschlag, weil der vermehrt eingeatmete Sauerstoff zu den Organen weiterbeför-
dert werden muss. Langsamer atmen verlangsamt den Herzschlag. Viele Panikpatienten
haben bereits in Ruhe einen zu hohen Puls.
Einatmen bedeutet Anspannung, Ausatmen bewirkt Entspannung. Je flacher die At-
mung, desto schneller ist sie und desto höher ist in der Regel auch die Herzfrequenz.
Die Einatmungsluft enthält 20% Sauerstoff, 78% Stickstoff, 0,03% Kohlendioxid
und andere Stoffe wie z.B. Reizstoffe, Umweltgifte, Staub. Die Ausatmungsluft enthält
14% Sauerstoff, 69% Stickstoff, 5% Kohlendioxid sowie etwas Wasserdampf und Spu-
ren anderer Gase.
Das maximale Sauerstoffaufnahmevermögen hängt von der Größe des Herzminuten-
volumens (Schlagfrequenz mal Schlagvolumen/Minute) ab. Ausdauerbelastung verbes-
sert das Herzschlagvolumen. Das Sportlerherz schlägt in Ruhe oft nur 40- bis 50-mal
pro Minute und kann bei Belastung mit weniger Schlägen mehr Blut befördern als das
von Untrainierten. Ein trainierter Körper hat infolgedessen eine bessere Aufnahme und
Verwertung von Sauerstoff als ein untrainierter Körper.
Sportler atmen Luft mit 20% Sauerstoff ein und Luft mit 12% Sauerstoff aus. Nicht-
sportler atmen Luft mit 20% Sauerstoff ein und Luft mit 17% aus: Sie nutzen mit jedem
Atemzug nur 3% des vorhandenen Sauerstoffs. Untrainierte müssen daher fast dreimal
so viel atmen wie Trainierte, um dieselbe Energie zu erhalten.
Ausdauersport (Laufen, Schwimmen, Radfahren, Skilanglauf) ist das beste Atem-
training, weil dadurch eine maximale Sauerstoffaufnahme und -verwertung erfolgt.
Unzureichendes Ausatmen vor dem Einatmen, wie dies oft bei Angst, Aufregung
und Stress der Fall ist, führt dazu, dass sich Kohlendioxid und Schlacken als Abfallpro-
dukt des Atmens in der Lunge stauen und ins Blut abgedrängt werden, was eine vorü-
bergehende Vergiftung bewirkt, die sich in Unruhe, Müdigkeit, Erschöpfung u.a. äußert.
Vollständiges Ausatmen ermöglicht erst intensives Einatmen.
Ständige Sauerstoffunterversorgung des Körpers führt langfristig zu Verspannun-
gen, Kopfweh, Kreislaufproblemen, rascher Ermüdung und Konzentrationsschwäche.
Asthma und Bronchitis werden durch psychogen bedingte Verkrampfungen der At-
mungsorgane verstärkt. Asthma ist eine Störung der Ausatmung als Folge von Ver-
krampfung oder schleimbedingter Verstopfung der Bronchiolen.
Bei Arbeitsbedingungen ohne ausreichende Sauerstoffzufuhr kann der Körper Ener-
gie durch Glykolyse (Zuckerspaltung) gewinnen. Zu Beginn jeder intensiven Arbeit
schaltet der Organismus von der Oxydation (Energiegewinnung unter Sauerstoff) auf
Glykolyse um. Dabei wird Glukose in Laktat (Milchsäure) umgewandelt.
Man unterscheidet drei Formen der Atmung: Brust-, Zwerchfell- und Vollatmung.
Die verschiedenen Formen der Atmung werden im Folgenden näher beschrieben.
Angst als biologisches Geschehen 261
Brustatmung
Zwerchfellatmung
Das Zwerchfell ist der wichtigste Atemmuskel, weil er bei richtiger Atmung 80% des
Atemvolumens bewirkt. Es handelt sich dabei um eine gewölbte Muskelplatte, die aus-
sieht wie ein aufgespannter Regenschirm und die den Brustraum vom Bauchraum ab-
grenzt. Eigentlich sind zwei Zwerchfellkuppeln vorhanden, je eine im rechten und lin-
ken Oberbauch. Der Zwerchfellmuskel und die Zwischenrippenmuskeln sorgen gemein-
sam für die Ausdehnungsfähigkeit der Lunge und ausreichende Atemluft.
Die Zwerchfellatmung ist die normale Atmung in Ruhe. Sie beruht auf einer An-
spannung (Abflachung) des Zwerchfells beim Einatmen, wodurch die Lunge sich aus-
dehnen und das untere Drittel der Lunge durchlüftet werden kann, und einer Entspan-
nung (Krümmung) beim Ausatmen, wodurch die Lunge zusammengepresst wird.
Die beiden Lungenflügel hängen frei im Brustkorb und werden bei der Einatmung
auseinander gezogen. Durch das Auseinanderziehen der Lunge beim Tiefertreten des
Zwerchfells entsteht scheinbar ein Hohlraum (ein Unterdruck in Wirklichkeit), in den
die Luft passiv hineingesogen wird – ein ähnliches Prinzip wie beim Aufziehen einer
Spritze, wodurch ebenfalls ein Unterdruck entsteht. Die Lunge kann sich durch die
Zwerchfellatmung nach unten weiter ausdehnen und mehr Luft aufnehmen. Im unter-
sten Drittel ist aufgrund der Schwerkraft auch das meiste Blut zur Sauerstoffaufnahme.
Das Ausatmen ist ein rein passiver Vorgang für Zwerchfell, Lunge und Luft. Die
vorher angespannte Zwerchfellmuskulatur entspannt sich und wölbt sich deshalb wieder
in den Brustkorb vor. Die vorher gedehnte Lunge kann nun wie ein Gummiband auf
ihre ursprüngliche Größe zusammenschrumpfen. Dabei entweicht die Luft automatisch
und passiv aus der Lunge über die Nase oder durch den Mund.
Beim Einatmen flacht sich die bis dahin hochgewölbte Zwerchfellkuppel durch akti-
ves Zusammenziehen der Muskulatur ab (das Zwerchfell steht dann um 1-3 cm tiefer).
Dadurch wird der Brustraum größer, zunächst auf Kosten des Bauchraums. Die Einge-
weide im Bauchraum können aber nicht beliebig zusammengedrückt werden. Folglich
drängen sie nach vorne und wölben den Bauch vor (Heben und Senken der Bauchdecke
bei guter Zwerchfellatmung). Man spricht deshalb auch von der Bauchatmung.
Bei der Zwerchfellatmung werden auch die seitlichen Rippenmuskeln bewegt. Die
unteren Rippen werden auseinander gezogen, sodass sich der Brustraum erweitert. Die-
se Form der Atmung nennt man Flankenatmung. Es weitet sich auch der untere Rücken.
Die Zwerchfellatmung erleichtert auch andere Körpervorgänge:
z Erleichterung der Verdauung. Das Auf und Ab des Zwerchfells ist für die Einge-
weide eine verdauungsfördernde Massage (besonders hilfreich bei Verstopfung).
z Erleichterung der Herztätigkeit und des Blutkreislaufs. Das Herz ruht mit einem
breiten Streifen seiner rechten Herzkammer und mit einem Teil seiner linken Kam-
mer auf dem Zwerchfell. Die rechte Herzhälfte, insbesondere der ihr vorgeschaltete
venöse Abschnitt des großen Kreislaufs, macht alle Zwerchfellbewegungen mit.
Durch die Zwerchfallabflachung beim Einatmen bewegt sich auch das Herz weiter
nach unten und wird dadurch größer und länger, sodass es mehr Blut aus den Venen
aufnehmen kann. Durch die Wölbung beim Ausatmen wird das Herz wieder in den
Brustkorb hoch gedrückt.
z Schonung der Stimme. Die Stimmritze wird durch die Zwerchfellanspannung beim
Einatmen geöffnet, was eine gute Stimme ermöglicht, während sie bei der Brustat-
mung geschlossen bleibt. Bei reinen Brustatmern kommt es daher leicht zur Beein-
trächtigung der Stimme.
Angst als biologisches Geschehen 263
Vollatmung
Die Vollatmung (Brust- und Zwerchfellatmung) ist die effizienteste Atmung. Zuerst
hebt sich die Bauchdecke (Zwerchfellatmung), dann erweitern sich auf der Höhe der
Einatmung infolge der Aufwärtsbewegung der Luft die unteren Rippen (Flanken-
atmung) und der Rücken (Rückenatmung), schließlich heben sich die Schultern (Schlüs-
selbeinatmung), sodass der ganze Atemraum vom Zwerchfell bis zum obersten Lungen-
bereich, den Lungenspitzen, benutzt wird. Anschließend wird sofort ausgeatmet. Ein
ergiebiger tiefer Atemzug steigt somit immer von unten, aus dem Bauch heraus, nach
oben bis in die Lungenspitzen. Die Atmung gleicht einer Wellenbewegung. Dazu passt
bei Atemübungen die Vorstellung, die Luft von unten nach oben einzuatmen und von
oben nach unten auszuatmen.
Hyperventilation
Bei Angst, Aufregung, Wut und Stress ist die Atmung oft entweder rasch und flach mit
eingestreuten Seufzerzügen oder sie wechselt von einer unruhigen Mittellage zur Hy-
perventilation (schnell und tief). Plötzliches Erschrecken kann zu einem vorübergehen-
den Atemstillstand führen („Luft anhalten“), gefolgt von einer intensivierten Atmung.
Das Hyperventilationssyndrom wird von vielen Fachleuten und vom DSM-IV als ei-
ne Unterform der Panikstörung angesehen, ähnlich wie die Herzphobie. Beiden ge-
meinsam ist der appellative Charakter der Symptomatik. Das Hyperventilationssyndrom
tritt vor allem bei jüngeren Menschen auf, bevorzugt im zweiten und dritten Lebens-
jahrzehnt. Die Symptomatik kommt bei Frauen dreimal so häufig vor wie bei Männern.
60% der Angstpatienten hyperventilieren bei Angst. Menschen mit chronischem Hyper-
ventilationssyndrom weisen in weniger als 1% der Fälle eine Zwerchfellatmung auf.
Die Art der Atmung (fast ausschließlich Brustatmung, geringe oder fehlende Bauch-
atmung) kann bei ansonsten unklaren Symptomen den Verdacht auf ein Hyperventilati-
onssyndrom untermauern. Zur Überprüfung dient ein Hyperventilationstest für drei
Minuten, wobei die Betroffenen erkennen lernen, wie ihre Symptome entstehen.
Hyperventilation ist in über 95% der Fälle psychisch bedingt. Wenn keine Auslö-
sung durch psychische Erregung (Angst, Ärger, Wut) erkennbar ist, sollten mögliche
organische Ursachen ausgeschlossen werden, z.B. Kaliummangel oder -überschuss,
Kalziummangel, Magnesiummangel, metabolische Azidose oder Alkalose.
Menschen mit Ängsten, chronischem Stress und Verspannung atmen flach und uner-
giebig aus dem oberen Brustkorb heraus und nutzen damit nur ein Drittel bis zur Hälfte
der Lungenkapazität. Bei mehr Sauerstoffbedarf atmen sie noch stärker mit dem Brust-
korb statt intensiver mit dem Zwerchfell. Durch die schnelle Atmung kommt es zum
Herzrasen. Den Betroffenen fällt die Hyperventilation oft gar nicht auf, sodass sie diese
auch nicht als die Ursache ihres beschleunigten Herzschlags erkennen können.
Die generelle Einatmung durch den Mund, wie sie insbesondere bei Menschen mit
Allergien, Asthma oder Atemwegserkrankungen vorkommt, begünstigt bei Angst, Auf-
regung oder Stress ohne gleichzeitige Bewegung eine Hyperventilation. Oft wird die
Hyperventilation nicht durch Angst, sondern durch Wut oder Aggression ausgelöst.
Hyperventilation wird einerseits häufig durch chronische Muskelverspannungen im
Brustkorb begünstigt, führt andererseits aber auch zu Brustschmerzen, wenn bei fast
vollständig gefüllter Lunge hyperventiliert wird (aufgesetzte Hyperventilation).
Angst als biologisches Geschehen 265
Hyperventilation bewirkt eine Überdehnung der Muskeln zwischen den Rippen, was
Schmerzen bzw. Ziehen in der Brust hervorruft. Weiteres, noch tieferes Einatmen führt
zu verstärktem Schmerz bzw. Ziehen in der Brust.
Die Betroffenen sollten die körperlichen Vorgänge bei einer Hyperventilation genau
verstehen, um ihre häufige Beunruhigung durch die dabei auftretenden Symptome zu
vermindern. Deshalb wird im Folgenden eine ausführliche Erklärung geboten.
Unter dem Hyperventilationssyndrom versteht man eine über das physiologische
Bedürfnis hinausgehende Beschleunigung und Vertiefung der Atmung, wodurch im
Blut der Sauerstoffanteil ansteigt und der Kohlendioxidgehalt stark abfällt. Das Atem-
minutenvolumen liegt durchschnittlich 95%, im Anfall bis zu 500% über dem Soll.
Hyperventilation bedeutet, dass man schneller und/oder tiefer atmet, als es für die
Versorgung des Körpers mit Sauerstoff und den Abbau von Kohlendioxid nötig ist. Es
wird zu viel Sauerstoff eingeatmet und zu viel Kohlendioxid ausgeatmet. Ohne körperli-
che Bewegung sinkt der Kohlendioxidanteil im Blut besonders stark ab, weil nicht ge-
nügend Kohlendioxid in den Muskeln gebildet wird.
Hyperventilation bewirkt eine Fehlregulation des Gasstoffwechsels im Bereich der
Lungenbläschen und infolgedessen eine Verminderung des Kohlendioxidpartialdrucks,
wodurch es zu einer Verschiebung des Säure-Basen-Gleichgewichts kommt. Kohlen-
dioxid ist zwar ein Abfallprodukt, muss jedoch in einem bestimmten Verhältnis zum
Sauerstoff im Körper vorhanden sein.
Durch den Kohlendioxidmangel steigt der pH-Wert (Säure-Basen-Verhältnis im
Blut): das Blut wird basisch. Das massive Absinken des Säuregehalts im Blut wird
„respiratorische Alkalose“ genannt. Bei starker Hyperventilation kann der Kohlendi-
oxidanteil im Blut in weniger als 30 Sekunden um 50% abnehmen. Innerhalb einer
Minute treten Symptome auf.
Hyperventilation bewirkt über die Kohlendioxidreduktion eine Erniedrigung der
Kalziumionen-Konzentration im Blut, d.h. der Anteil von ionisiertem Kalzium im Blut
sinkt ab, wodurch die Nervenzellen erregbarer werden und leichter eine Alarmreaktion
(Bereitstellungsreaktion) ausgelöst werden kann. Wenn das Kohlendioxid, das von
Eiweißkörperchen im Blut transportiert wird, durch die Hyperventilation (insbesondere
bei fehlender körperlicher Bewegung) im Blut stark abnimmt, bindet sich normalerwei-
se neben anderen Stoffen das Erdalkalimetall Kalzium stärker an das Eiweiß, was zu
Problemen führt, wie nachstehend erklärt werden soll.
Kalzium ist ein wichtiger Bestandteil des Blutes und wird neben der Stärkung der
Knochen u.a. auch zur Funktionsfähigkeit der Nervenzellen und der Muskel benötigt.
Kalzium ist im Blut teilweise an Eiweiß gebunden, teilweise schwimmt es als freier
Bestandteil ohne Verbindung zu anderen Blutbestandteilen im Blut herum. Das freie
Kalzium im Blut wird umso weniger, je mehr Stellen am Bluteiweiß wegen des stark
abgeatmeten Kohlendioxids frei werden.
Das freie Kalzium im Blut ist u.a. dafür verantwortlich, dass die Muskeln geschmei-
dig arbeiten können. Wenn weniger freies Kalzium im Blut ist, werden die Nerven er-
regbarer, und die Muskeln beginnen sich zu verkrampfen. Gewöhnlich merkt man dies
zuerst an einem Kribbeln in den Lippen bzw. im Bereich des Mundes, bald darauf zie-
hen sich die Lippen zusammen („Kussmundstellung“). Dann kribbelt es in Händen und
Füßen und die Finger ziehen sich zusammen, sodass die Hände wie Pfoten aussehen
(„Pfötchenstellung“) und im Extremfall gar nicht mehr bewegt werden können. Neben
Kribbeln, Pelzigkeit und Taubheitsgefühlen können in Brust und Hals auch Druck- oder
Engegefühle entstehen.
266 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Durch die engere Bindung der Kalziumionen an das Eiweiß im Blut verengen sich
auch die Blutgefäße im Gehirn, was die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn beeinträchtigt und
zu Schwindel, Konzentrationsstörungen und Schwarzwerden vor den Augen führt und
die bestehende Angst und Unruhe verstärkt. Gleichzeitig wird das sympathische Ner-
vensystem aktiviert, sodass eine Notfallreaktion immer wahrscheinlicher wird, die dann
als Panikattacke erlebt wird.
Hyperventilation führt über den Kalziumabfall zur Verkrampfung der Bronchien und
der Stimmritzen. Wegen der zunehmenden Angst, keine Luft zu bekommen, und wegen
des Drucks im Brustkorb atmen die Betroffenen noch tiefer und heftiger. Da weiterhin
keine Bewegung erfolgt, wird der Kohlendioxidmangel im Blut noch größer.
Nicht einmal im Extremfall führt hyperventilationsbedingte Sauerstoffnot zur Ohn-
macht, wie eine niederländische Studie an Versuchspersonen ergab, die mindestens 90
Minuten lang so schnell und tief atmeten, als sie konnten. Es ist jedoch eine Hyperventi-
lationstetanie möglich, d.h. ein krampfartiger Anfall, der für Unerfahrene wie ein epi-
leptischer Anfall ausschaut, sodass Beobachter unnötigerweise den Notarzt rufen.
Der Arzt verabreicht oft eine Kalziumspritze zur Krampflösung. Die künstliche Zu-
fuhr von Kalzium löst rasch den Muskelkrampf (Tetanie). Eigentlich handelt es sich
dabei um einen typischen Placeboeffekt, weil bei einer Hyperventilation nur ein relati-
ver und kein absoluter Kalziummangel gegeben ist. Die Kalziuminjektion bewirkt ein
subjektives Wärmegefühl in Händen und Füßen, was dem Gefühl des Absterbens der
Extremitäten entgegenwirkt.
Bei starken Tetanien wird oft auch eine Beruhigungsspritze (Valium®, Rivotril®)
verabreicht, was meist unnötig ist, weil deren Wirkung weit über den Hyperventilati-
onszeitraum hinaus anhält, sodass man sich noch Stunden später benommen fühlt.
Richtige, langsame Zwerchfellatmung, gleichzeitige Bewegung während der At-
mung bzw. eine Papiertüte, ein Taschentuch oder die hohle Handinnenfläche vor dem
Mund, um das ausgeatmete Kohlendioxid wieder einzuatmen, sind gut geeignet, den
Kohlendioxidgehalt im Blut zu steigern und die Muskeln geschmeidiger zu machen.
Eine Hyperventilation bewirkt folgende Symptome: anhaltendes Gefühl, nicht richtig
durchatmen zu können, verbunden mit dem Zwang, ein paar Mal tief durchatmen zu
müssen, Atemnot und Druck auf der Brust, Herzklopfen und Herzrasen, Herzschmer-
zen, Brustschmerzen (durch Überspannung der Muskeln zwischen den Rippen), Enge-
gefühl über der Brust (Gürtel- und Reifengefühl), Gefühllosigkeit, Kribbeln („Ameisen-
laufen“) und Zittern an Händen (besonders in den Fingerspitzen), Füßen und Beinen,
Kribbeln um die Mundregion, taube Lippen, Globusgefühl (Zusammenschnüren der
Kehle), Verkrampfung der Hände („Pfötchenstellung“), kalte Hände und Füße, Zittern,
Muskelschmerzen, Druck im Kopf und Oberbauch, Bauchbeschwerden (durch das Luft-
schlucken), Übelkeit, Schwindel, Benommenheit, Unwirklichkeitsgefühle, Pupillener-
weiterung, Sehstörungen, Gefühl, wie auf Wolken zu gehen, Angst, ohnmächtig zu
werden, und Todesangst (wegen der Erstickungsgefühle).
Im Extremfall einer Hyperventilationstetanie führt der Sauerstoffmangel zu
Krampfzuständen. Die in verschiedenen Büchern beschriebene, für einen Zeitraum von
einigen Sekunden mögliche Bewusstlosigkeit tritt in der Praxis nicht auf.
Hyperventilation führt auch zu Veränderungen der Wahrnehmung. Sehen und Hören
sind beeinträchtigt, das Selbsterleben bekommt eine andere, Angst machende Dimensi-
on, was die Paniksymptome verstärkt, insbesondere die Angst vor dem Verrücktwerden.
Bei starker Hyperventilation treten binnen einer Minute Symptome auf, die zwar unan-
genehm sind, jedoch keinen bleibenden Schaden verursachen.
Angst als biologisches Geschehen 267
Eine zu rasche und zu tiefe Atmung im Sinne einer Hyperventilation führt parado-
xerweise zu einem Sauerstoffmangel, verbunden mit dem Angstgefühl zu ersticken,
sodass noch schneller und tiefer geatmet wird (was die Symptomatik verschärft).
Trotz des Überatmens besteht ein Gefühl von Luftnot, das sich bis zur Erstickungs-
angst steigern kann. Dies hängt damit zusammen, dass die Atmung vor allem durch
einen Kohlendioxidüberschuss und in geringerem Ausmaß auch durch einen Sauer-
stoffmangel angeregt wird. Bei einer Hyperventilation ist gerade das Umgekehrte der
Fall, sodass das Atemzentrum die Atmungsvorgänge vermindert.
Menschen, die chronisch hyperventilieren, haben oft keine eindeutig abgrenzbaren
akuten Anfälle, nur relativ unspezifische und vage Beschwerden, selten Atemstörungen
oder Tetaniezeichen.
Als Leitsymptome des chronisches Hyperventilationssyndroms gelten: Schwindel,
Brustschmerzen, kalte Hände und Füße sowie verschiedene psychische Beschwerden
(Müdigkeit, Schlappheit, Schläfrigkeit, Wetterfühligkeit, Konzentrationsstörungen,
Vergesslichkeit, Reizbarkeit, Angespanntheit, ängstliche oder depressive Symptomatik).
Panikattacken lassen sich nach neueren Untersuchungen nicht generell durch die di-
rekte biologische Wirkung der Hyperventilation erklären, wenngleich im Einzelfall
Hyperventilation oft zu Panikattacken führen kann. Panikattacken dürfen nicht einfach
mit dem Hyperventilationssyndrom gleichgesetzt werden.
Viele Panikpatienten hyperventilieren überhaupt nicht. Provokationstests bewirkten
bei Panikpatienten keinen erniedrigten Kohlendioxidpartialdruck des Blutes, der bei
chronischer Hyperventilation zu erwarten gewesen wäre.
Ein psychogen bedingtes Globusgefühl kann durch Trinken und Essen leicht besei-
tigt werden, während beim Leerschlucken keine Erschlaffung der Muskelspannung des
Speiseröhreneinganges erfolgt. Viele Angstpatienten führen deshalb eine Flasche mit
einem Getränk mit sich. Durch Trinken verschwindet die Verspannung ebenso rasch
wie die oft gleichzeitig gegebene Mundtrockenheit.
Laut Psychoanalyse symbolisiert ein Globusgefühl bestimmte „Schluckprobleme“.
Man schluckt ein Problem hinunter und würgt daran. Als Konversionssymptom wurde
das Globusgefühl deshalb früher auch „Globus hystericus“ genannt.
Speichelfluss
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Vermin-
derung des Speichelflusses, weil dabei auch Appetit und Verdauung gehemmt werden.
Die Schleimbildung ist vermindert und die Luftzufuhr in die Lunge dadurch verbessert.
Subjektiv äußert sich Stress häufig in trockenem Mund bzw. dickflüssigem Speichel.
Das parasympathische Nervensystem bewirkt eine Erhöhung des dünnflüssigen
Speichelflusses und eine vermehrte dünnflüssige Schleimabsonderung. Dadurch wird
beim Essen der Bissen schlüpfrig und schluckfähig. Subjektiv äußert sich Entspannung
durch vermehrte Speichelbildung, sodass man öfter schlucken muss. Vermehrtes Schlu-
cken tritt auch bei Entspannungsübungen auf.
Skelettmuskulatur
Alle Muskeln haben eine bestimmte Grundspannung (Tonus), ohne die wir zusammen-
sinken würden wie bei einem Ohnmachtsanfall. Der Muskeltonus ändert sich ständig,
ohne dass uns dies auffällt. Wenn bereits bei potenzieller Gefahr die Skelettmuskeln
angespannt werden, besteht bei tatsächlichem Bedarf eine rasche Reaktionsfähigkeit im
Sinne von Kampf oder Flucht. Bei häufiger Fehlalarmierung kommt es jedoch zu einer
chronischen Muskelverspannung, die im Ruhezustand sehr unangenehm erlebt wird.
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine An-
spannung der Skelettmuskulatur als Vorbereitung auf körperliche Aktivität (Flucht oder
Angriff). Die vermehrte Blut- und Energiezufuhr erhöht den Spannungszustand in den
Muskeln. Gedanken und Gefühle. Innere Reize (Gedanken), führen zur gleichen musku-
lären Anspannung wie Anforderungen vonseiten der Umwelt. Dies ist für das Überleben
unbedingt notwendig. Die Erregungsbereitschaft der Gelenke äußert sich oft in einem
unsicheren Stand, der subjektiv als typischer Schwankschwindel erlebt werden kann.
Die hohe Muskelanspannung führt zum Zittern, solange keine gerichteten Bewegun-
gen erfolgen. Das Zittern der Muskeln dient auch der Bereitstellung von Wärme, um der
Skelettmuskulatur Höchstleistungen abzuverlangen. Damit die Muskeln Höchstleistung
erbringen können, müssen sie warm sein, wie aus dem Sport bekannt ist.
Viele Angstpatienten haben vor dem von anderen Menschen beobachtbaren Zittern
der Hände oft mehr Angst als vor dem von anderen nicht sichtbaren Herzrasen. Sie
befürchten, wie Alkoholiker auf Entzug zu wirken, wenn sie in einem Lokal eine Tasse
Kaffee zum Mund führen. Das feinmotorische Zittern wird durch Anspannung zu unter-
drücken versucht, sodass bei Überspannung eine grobmotorische Reaktion sichtbar
werden kann, die erst recht auffällig macht.
Angst als biologisches Geschehen 269
Die Verspannung und Verkrampfung in den Muskeln kann so weit gehen, dass sich
diese nicht einmal in Ruhestellung zu ihrer ursprünglichen Länge und Form ausdehnen
können. Dies beeinträchtigt die Durchblutung der Muskeln und die Funktion des
Lymphsystems, sodass nicht alle Giftstoffe aus den Muskeln ausgeschieden werden
können. Die im Körper verbleibenden Giftstoffe bilden Kristalle und verursachen
Schmerzen, Steifheit und manchmal Entzündungen und Schwellungen. Chronische
Muskelverspannung führt nicht nur zu örtlich begrenztem Muskelschmerz, sondern
auch zu Gelenkverrenkungen und ihren Folgeschmerzen.
Es ist ein häufiges Faktum: Chronische Muskelverspannungen bewirken starke
Schmerzzustände, weil die angespannten Muskeln die Gefäße verengen, die Blutzufuhr
beeinträchtigen und den Abtransport der Stoffwechselprodukte behindern. Viele chroni-
sche Schmerzen entstehen einfach nur aus den zweifachen Folgen der Minderdurchblu-
tung bei chronischer Verspannung: aus der Unterversorgung der Zellen mit Sauerstoff
einerseits und dem fehlenden Abtransport der Abfallprodukte des Stoffwechsels (Milch-
säure u.a.) andererseits.
Die Verspannung der Beine hängt bei vielen Menschen nicht nur mit der Vorberei-
tung auf Kampf oder Flucht zusammen, sondern oft auch mit einer Urangst vor dem
Fallen, der man durch Anspannung der Beine zu begegnen sucht. Die verspannungsbe-
dingte Stand- und Gangunsicherheit löst oft Schwindelgefühle aus, weil der Gleichge-
wichtssinn irritiert ist, sodass sich nicht selten ein agoraphobisches Vermeidungsverhal-
ten entwickelt. Übungen des entspannten und sicheren Stehens (in der Bioenergetik
„Erden“ genannt) sind hilfreiche Bewältigungsstrategien. Viele Menschen drücken ihre
Knie fest zusammen und stehen mit den Beinen steif durchgestreckt da, weil sie Angst
haben umzufallen. Die Beine elastisch etwas durchzubeugen (wie beim Schifahren) und
den Körperschwerpunkt zu senken, gibt dagegen Sicherheit vor dem Fall. Beim Schi-
fahren kommt es gerade dann zu Knochenbrüchen, wenn man die Beinmuskeln an-
spannt und sich gegen den Fall wehrt (in 90% der Fälle).
Übermäßige Anspannung in Phasen von körperlicher Untätigkeit führt nicht selten
zu Panikattacken. Es ist typisch, dass Panikanfälle oft in Ruhe, d.h. ohne anschließende
Bewegung, auftreten (beim Sitzen oder Liegen, in Pausen, am Wochenende). Möglichst
ruhiges Stehen-, Sitzen- oder Liegen-Bleiben bei Panikattacken aus Angst, dass noch
Ärgeres passieren könnte, verstärkt die Symptomatik. Durch Bewegung wird dagegen
die Anspannung rasch abgeführt. Hilfreich ist das Ausschütteln der Arme und Beine.
Muskuläre Verspannung begünstigt Schlafstörungen, besonders dann, wenn tags-
über keine ausreichende Bewegung und damit keine Ermüdung der Muskeln erfolgt, die
angenehme Entspannung garantiert. Einschlafstörungen, wie sie oft bei Menschen mit
einer generalisierten Angststörung vorkommen, treten verstärkt auf, wenn vor dem
Einschlafen ein langes ängstliches Grübeln erfolgt, wodurch der Körper immer wieder
aktiviert wird und nicht auf Entspannung umschalten kann. Ein- und Durchschlafstö-
rungen bzw. Schlaflosigkeit sind oft Ausdruck einer Befindlichkeitsverschlechterung.
Chronische Anspannung führt auch zu ständiger Müdigkeit, ähnlich wie bei einer
Depression. Die Betroffenen klagen über Erschöpfung ohne Anstrengung (asthenische
Symptomatik, d.h. Kraft- und Energielosigkeit). Diese Müdigkeit lässt sich am rasche-
sten durch zunehmende körperliche Betätigung überwinden, auch wenn man sich an-
fangs kaum dazu aufraffen kann.
Bei der Behandlung von Depressionen, Angststörungen und chronischen Schmerzen
gewinnen körperliche Aktivierung, Sport (Langsamlauftherapie), Massagen, Bäder zur
Muskelentspannung und körperorientierte Psychotherapie zunehmend an Bedeutung.
270 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Temperaturumverteilung
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Erhö-
hung der Temperatur im Körperinneren (Kerntemperatur) und eine Verminderung der
Hauttemperatur als Folge der Blutumverteilung und der erhöhten Stoffwechselprozesse.
Dies geschieht durch die Verengung der Blutgefäße der Haut.
Bei Ruhe und Entspannung erfolgt über das parasympathische Nervensystem eine
Reduzierung der Temperatur im Körperinneren (Kerntemperatur) und eine Erhöhung
der Hauttemperatur als Folge der Blutumverteilung und der verminderten Stoffwechsel-
prozesse. Die Senkung der Körpertemperatur geschieht größtenteils durch Erweiterung
der Hautgefäße. Ungefähr 75% der Wärmeabgabe erfolgt durch Wärmestrahlung und
Wärmeleitung.
Schweißdrüsen
Der Schweiß erhöht die Leitfähigkeit der Haut und damit die Reaktionsgeschwindigkeit.
Der Anstieg der Hautleitfähigkeit (Absinken des Hautwiderstands) ist ein beliebtes Maß
für die sympathikotone Erregung, weil die neuronale Kontrolle der Schweißdrüsen
ausschließlich durch den Sympathikus erfolgt. Ein emotionaler Reiz führt innerhalb von
1-4 Sekunden zum Absinken des Hautwiderstands.
Der Schweiß dient als natürliches Kühlsystem für den erhitzten Körper, ähnlich wie
das Kühlwasser beim Auto. Im Rahmen der Evolution diente der Schweiß wohl auch
dazu, den Körper glitschiger und damit für einen möglichen Feind unangreifbarer zu
machen. Bei Tieren werden durch den Schweiß die Geruchsreize für Artgenossen inten-
siviert. Es gibt einen kalten und einen warmen Schweiß.
Bei Angst, Aufregung und Stress kommt es – bewirkt über das sympathische Ner-
vensystem – zum Auftreten von kaltem und klebrigem Schweiß. Die Schweißdrüsen
sondern vermehrt Schweiß ab zur Kühlung des vermeintlich hart arbeitenden Organis-
mus. Der Schweiß trifft jedoch (im Gegensatz zum Arbeitsschweiß) auf kalte Haut,
bedingt durch die verminderte Durchblutung der Blutgefäße der Haut bei akutem Angst-
und Stresszustand, wo er sofort kalt wird. Das emotionale Schwitzen („kalter Angst-
schweiß“) geht im Gegensatz zum thermischen Schwitzen nicht mit einer Gefäßerweite-
rung einher. Wegen des unangenehmen Schwitzens wird oft ein Händedruck vermieden.
Das parasympathische Nervensystem bewirkt das Auftreten von warmem, dünnflüs-
sigem Schweiß großen Ausmaßes. Vermehrtes Schwitzen bei Anstrengung (Arbeits-
schweiß) dient dazu, den Körper angesichts des hohen Energieverbrauchs und der damit
verbundenen Erhitzung zu kühlen und vor Überhitzung zu bewahren. Über die Verdun-
stungskälte, die durch das Schwitzen entsteht, wird das Blut unter der Haut gekühlt,
bevor es in das Körperinnere gepumpt wird. 20% der Wärme wird durch Wasserverdun-
stung abgegeben, die zum Teil auch unmerklich durch Haut und Lunge erfolgt.
272 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Stoffwechsel
Unter Stoffwechsel versteht man alle chemischen Vorgänge im Inneren des Körpers, in
jeder lebenden Zelle. Das gilt von dem ursprünglichen Ausgangsstoff der zugeführten
körperfremden Nahrung über deren Umbau bis zu den Endprodukten. Zu den Stoffwech-
selsubstanzen gehören Kohlehydrate (z.B. Zucker oder Getreidestärke), Fette, Proteine
(Eiweißstoffe), Mineralsalze, Spurenelemente, Vitamine, Sauerstoff und Wasser.
Der durch die Atmung aufgenommene Sauerstoff sorgt in den Körperzellen für die
Verbrennung der Nährstoffe, wodurch diese nutzbar gemacht werden. Die dem Körper
zugeführte Nahrung wird um- bzw. abgebaut. Im Verdauungsvorgang werden die ver-
wertbaren Bestandteile chemisch umgeformt und in kleine Teile zerlegt, damit sie die
Darmwand durchdringen und in das Blut eintreten können. Über den Blutkreislauf wer-
den sie den Zellen zugeführt und helfen dort entweder deren eigene Substanz aufzubau-
en (Zellstoffwechsel) oder dienen der Energiegewinnung (Betriebsstoffwechsel).
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Be-
schleunigung der gesamten Stoffwechselprozesse und infolgedessen eine verbesserte
Leistungsfähigkeit des menschlichen Organismus (Energie abbauender Stoffwechsel).
Subjektiv fühlt man sich durch den erhöhten Energieverbrauch oft heiß und erhitzt,
hinterher oft müde und ausgelaugt.
Bei körperlicher und/oder seelischer Belastung zeigt sich folgender Stoffwechsel:
1. Zuerst erfolgt in der Alarmphase über die Katecholamine des Nebennierenmarks
(Adrenalin, Noradrenalin) ein Abbau vorhandener Energien. Die Alarmreaktion be-
steht in einer höchstens 3-4 Minuten dauernden massiven Aktivierung des sympathi-
schen Nervensystems. Nach einigen Minuten lässt die Alarmwirkung nach. Es
kommt zur Gewöhnung an den Stressor bzw. zur Entspannung oder (bei weiterer
körperlicher oder seelischer Belastung) zur Widerstandsphase.
2. In der Widerstandsphase erfolgt über die Zuckerstoffwechselhormone der Nebennie-
renrinde (Glukokortikosteroide, insbesondere Kortisol) der Aufbau und die Preisga-
be neuer Energien. Nach 4 Stunden setzt die volle Wirksamkeit ein: Zuckerherstel-
lung aus Eiweiß, verstärkte Magensaftproduktion (Verdauungsförderung zur Ener-
giegewinnung). Es werden die vorhandenen Katecholamineffekte verstärkt (Herzlei-
stung-erhöhende Adrenalinwirkung, gefäßverengende Noradrenalinwirkung).
3. Gleichzeitig erfolgt bei längerer Belastung eine vermehrte Freisetzung von Schild-
drüsenhormonen (insbesondere Trijodthyronin). Dies bewirkt eine Beschleunigung
der Stoffwechselvorgänge durch raschere und verstärkte Sauerstoffzufuhr in die Zel-
len. Trijodthyronin (T3) bewirkt eine gesteigerte Verbrennung von Kohlehydraten
(Zucker und Stärke), Eiweiß und Fetten, eine Steigerung des Grundumsatzes, eine
Erhöhung des Zuckerabbaus bis zur Erschöpfung der Reserven und damit einen An-
stieg des Blutzuckers, eine Entleerung der Fettdepots und einen Mangel an Eiweiß.
Die dabei anfallende Verbrennungswärme wird durch Schwitzen und erhöhte
Durchblutung der Hautgefäße an die Umwelt abgegeben.
Angst als biologisches Geschehen 273
Der Stoffwechsel kann durch eine Schilddrüsenstörung zu stark oder zu wenig ausge-
prägt sein (übermäßige oder zu geringe Verbrennung der Nahrungsstoffe).
Eine Schilddrüsenüberfunktion (vor allem zu viel Trijodthyronin) führt zu folgenden
Symptomen: starke Erhöhung des Grundumsatzes, übermäßiges Hitzegefühl, Gewichts-
abnahme trotz Appetit (Magerkeit), Herzrasen, Verdauungsstörungen, Durchfall, Unru-
he und Nervosität, psychische Veränderungen (Depressivität, Schlafstörungen). Eine
Schilddrüsenüberfunktion kann Panikattacken bewirken.
Bei Ruhe und Entspannung kommt es – vermittelt durch das parasympathische Ner-
vensystem – zur Reduzierung der gesamten Stoffwechselprozesse. Dies ermöglicht eine
Erholung des ganzen Körpers sowie Energie aufbauende Stoffwechselprozesse.
Zuckerspiegel
Glukose ist der Treibstoff, mit dem der Körper läuft. Das Gehirn kann nicht (wie z.B.
das Muskelgewebe) Proteine aufnehmen und nutzen. Deshalb treten bei sinkendem
Blutzuckerspiegel (insbesondere bei einem Nüchternblutzuckerspiegel unter 50 mg %)
viele Symptome auf, die eine große Beunruhigung auslösen.
Die gegenteilige Situation (z.B. „Stresszucker“ als Folge andauernder seelischer Be-
lastung) wird subjektiv meist gar nicht wahrgenommen. Wir brauchen keine großen
Zuckereinlagerungen, um den Nachschub an Glukose zu gewährleisten, denn die mei-
sten Lebensmittel können vom Körper in Glukose und Fruktose gespalten werden.
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Er-
höhung des Blutzuckerspiegels durch Umwandlung des in der Leber und Skelettmusku-
latur gespeicherten Glykogen in Glukose (Traubenzucker) mit anschließender vermehr-
ter Zuckerausschüttung in das Blut, um mehr Energie für den sofortigen Verbrauch der
Muskeltätigkeit bereitzustellen. Zuckerüberschüsse sind in der Leber gespeichert, um
bei Bedarf darauf zurückgreifen zu können, wenn der Verdauungstrakt leer ist. Bei
erblicher Belastung und falschem Lebensstil kann ein permanent erhöhtes Stressniveau
Diabetes II begünstigen (die Stresshormone kurbeln die Zuckerausschüttung an).
Angstpatienten weisen in der Regel keinen Zuckermangel auf, sondern Schwankun-
gen des Blutzuckerspiegels (instabile Blutzuckerwerte). Symptome erzeugt eher ein zu
rasches Absinken des Blutzuckerspiegels als ein zu niedriger Blutzuckerwert. Eine re-
gelmäßige und ausgewogene Ernährung ist daher wichtig. Als Soforthilfe sind 3 Stück
Dextroenergen anzuraten, länger wirksam ist jedoch ein Stück Vollkornbrot oder Obst.
Bei Angst, Aufregung und Stress wird über die Stresshormone schnell viel Insulin
produziert, was zur Folge hat, dass mehr Insulin ausgeschüttet wird, als der Körper
benötigt. Dies wiederum führt dazu, dass die verfügbare Glukose schnell aufgebraucht
wird und der Blutzuckerspiegel drastisch sinkt.
Ein erniedrigter Blutzuckerspiegel trägt dazu bei, dass schon kleine Veränderungen
in der Atmung, wie sie in Angstsituationen immer auftreten, körperliche Symptome
produzieren. Es treten die typischen Hypoglykämiesymptome auf, die der Körper durch
einen massiven Adrenalinschub zu bewältigen versucht.
Der Verzehr von Süßigkeiten (z.B. Pralinen) bei Stress und Traurigkeit erhöht nach-
weislich den Serotoninspiegel, was die subjektiv angenehmen Zustände begründet, führt
jedoch bei zu großen Mengen zu einem Blutzuckerabfall und infolgedessen zu einem
erhöhten Adrenalinschub mit umfassender sympathischer Überaktivierung, was als
Auslöser für Panikattacken dienen kann.
274 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Bei Angst, Aufregung und Stress besteht oft eine Appetitlosigkeit, die zu einer zeit-
weiligen Unterzuckerung führt, sodass Angst- und Stresssituationen eine noch größere
Unterzuckerung bewirken. Es treten dann die Symptome von Hypoglykämie auf, die der
Körper durch einen massiven Adrenalinschub zu bewältigen versucht.
Hypoglykämie (Unterzucker) führt zu folgenden Symptomen: Herzklopfen und Herz-
rasen, Blutdrucksenkung, Schwindel bis hin zur Ohnmacht, dumpfe Kopfschmerzen,
Schweißausbruch (kalter Schweiß), Zittern (meistens inneres Zittern ohne entsprechen-
de äußere Anzeichen), Blässe der Haut, kalte Hände und Füße, Übelkeit, Magenkrämp-
fe, innere Unruhe, Angstzustände (Panik), plötzliche Traurigkeit, Schlaflosigkeit zwi-
schen zwei und drei Uhr morgens (wegen der Blutleere im Gehirn), Müdigkeit am
Vormittag und am Nachmittag, Koordinationsstörungen, Zucken der Augenlider, Seh-
störungen (Doppelbilder), Ataxie, Bewusstseinsstörungen, Heißhunger (Hunger auf
Süßes), Hungergefühl eine Stunde nach der Mahlzeit.
Bei Angst- und Panikpatienten ist das Phänomen der Unterzuckerung mit anschlie-
ßender Ankurbelung des Sympathikus manchmal eine Erklärung dafür, dass nach einer
längeren Konfrontationstherapie keine Gewöhnung (Habituation) an die Angst machen-
den Situationen erfolgt. Sollte im Rahmen einer umfangreichen Konfrontationstherapie
das Gefühl eines inneren Zitterns auftreten, empfiehlt sich zur Überprüfung eines even-
tuellen Zuckermangelsyndroms ein kleiner Imbiss. Wenn aus Angst und Aufregung
keine Nahrungsaufnahme möglich ist, erhärtet sich der Verdacht auf eine Hypoglykä-
mie. Die Betroffenen sollten dann ihren Blutzuckermangel als Folge ihrer angst- und
stressbedingten Appetitlosigkeit erkennen lernen, weil sie dadurch in Angstsituationen
weniger Angst machende Ursachenzuschreibungen vornehmen werden.
Über das parasympathische Nervensystem kommt es zur Reduzierung des Blutzuk-
kerspiegels durch verminderte Zuckerausschüttung.
5. Rauchen, Kaffee und Alkohol führen über die Stimulierung des Sympathikus zu
erhöhtem Blutzucker, der dann durch die vermehrte Produktion und Ausschüttung
von Insulin durch die Bauchspeicheldrüse bis hin zum Unterzucker abgebaut wird.
Dasselbe gilt auch für den plötzlichen Entzug von Alkohol und Drogen, wozu auch
die Tranquilizer gehören. Tranquilizer dürfen daher nur langsam abgesetzt werden,
da ansonsten Panikattacken auftreten können. Ein Kater nach zu viel Alkohol wird
großteils durch Hypoglykämie ausgelöst. Die Symptome eines Katers sind Zeichen
einer Hypoglykämie. Wenn der Blutzuckerspiegel instabil ist, reicht bereits eine
kleine Menge Alkohol aus, um Unterzuckersymptome hervorzurufen. Um den Un-
terzucker wiederum zu beseitigen, wird vermehrt Adrenalin ausgeschüttet, das den
Kreislauf unnötig belastet. Zu viel Rauchen oder Alkohol vor dem Essen kann Pa-
nikattacken begünstigen. Raucher haben oft einen instabilen Blutzucker. Bei sinken-
dem Blutzuckerspiegel neigen sie zum Rauchen statt zu richtiger Ernährung.
Gegenregulationssymptome Zuckermangelsymptome
(Adrenerge Symptome)
Angst, nächtliche Albträume Konzentrationsminderung
Unruhe, Reizbarkeit Merkfähigkeitsstörung
Zittern Kopfschmerzen
Schwitzen Müdigkeits- und Schwächegefühl
Herzklopfen/-rasen Sehstörungen (Verschwommensehen)
Atembeklemmung Schläfrigkeit
Körpermissempfindungen Zunehmende Bewusstseinsstörung und
Gefühl der Unwirklichkeit (Derealisation) schwere neurologische Störungen
Verdauungsorgane
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt der Sympathikus eine Reduzierung der Ver-
dauungsprozesse durch Hemmung der Magen- und Darmtätigkeit, um Energie zu spa-
ren und den Körper kurzfristig ganz auf die Kampf- oder Fluchtreaktion einzustellen
(verminderte Beweglichkeit bzw. reduzierte Muskelspannung von Speiseröhre, Magen
und Darm, weniger Magensäure, Gefäßverengung). Zum Ausgleich erfolgt etwas später
eine verstärkte Parasympathikus-Aktivität mit Magen- und Darmreaktionen (auch ohne
vorherige Nahrungsaufnahme). Während eines Dauerlaufs ist keine Verdauung möglich.
Leistungssportler (z.B. Marathonläufer) ergänzen ihren Energiehaushalt durch Flüssig-
keitslösungen oder Traubenzucker, nicht jedoch durch feste Nahrung.
Subjektiv äußern sich Angst und Stress oft in funktionellen Oberbauchbeschwerden
(Appetitlosigkeit, Unwohlsein, Schlechtwerden, Völlegefühl, flaues Gefühl im Magen,
Magenschmerzen, Erbrechen, Aufstoßen, Sodbrennen usw.) und funktionellen Unter-
bauchbeschwerden (Durchfall, Verstopfung, Reizdarm: Wechsel von Durchfall und
Verstopfung).
Funktionelle und organisch fundierte Magen- und Darmstörungen gehen zwar
mehrheitlich mit einer vagotonen (parasympathischen) Fehlsteuerung einher, können
jedoch auch durch eine sympathische Überaktivität mitverursacht sein (neben Anlage-
faktoren und Risikoverhaltensweisen). Bei der Kampf- oder Fluchtreaktion werden
Skelettmuskeln, Herz und Gehirn stärker durchblutet als im entspannten Zustand, die
Verdauungsorgane dagegen weniger.
Die kleinen Arterien in der Magenschleimhaut verengen sich unter dem Einfluss der
Stresshormone. Durch die mangelhafte Durchblutung wird auf die Dauer die Schleim-
haut geschädigt, sodass die Magenwände selbst bei verminderter Magensäure nicht
mehr geschützt sind. Somit sind nicht nur die Schreckhaften und Hilflosen in Gefahr,
ein Magengeschwür zu entwickeln, sondern auch Menschen, die ständig „eine Wut im
Bauch“ haben.
Oft bewährt sich folgende Differenzierung:
z Angst, Trauer, Depressionen und stressende Aktivitäten senken die Magensaftpro-
duktion und die Muskeltätigkeit der Verdauungsorgane (deshalb oft Verstopfung
oder Unwohlsein).
z Unterdrückter Ärger und Zorn sowie ohnmächtig machender Stress dagegen erhö-
hen die Magensäureproduktion und Muskeltätigkeit der Verdauungsorgane.
Bei Ruhe und Entspannung bewirkt das parasympathische Nervensystem eine Anregung
der Verdauungsprozesse durch die Aktivierung der Magen- und Darmtätigkeit in Form
von Anspannung der Muskulatur, Anregung der Peristaltik (wellenförmige Bewegung
von Magen und Darm zum Weitertreiben des Speisebreis), Verstärkung der Drüsentä-
tigkeit (mehr Magensäure) und Gefäßerweiterung. Die parasympathische Überaktivität
in Schock- und Schreckreaktionen bewirkt zahlreiche Symptome.
Angst als biologisches Geschehen 277
Funktionelle oder organisch fundierte Magen- und Darmstörungen treten häufig auf
bei Menschen, die sich ständig hilflos fühlen und chronisch schreckhaft sind, denen die
Möglichkeiten fehlen, sich zu wehren, die sich nicht durchsetzen können und sich daher
allem und jedem ausgeliefert erleben. Klinisch ist oft eine Depression oder eine Angst-
störung vorhanden.
Viele Magen- und Darmstörungen sind funktioneller Natur:
z Schluckbeschwerden können auf einer dauerhaften Verspannung der Speiseröhre
beruhen, z.B. als Folge von Angst oder Stress. Speiseröhrenverkrampfungen bewir-
ken ein Kloßgefühl (Globusgefühl) im Hals.
z Die Gallengänge können sich ebenfalls verkrampfen, sodass es durch die Stauung
der Gallenflüssigkeit zu Koliken kommt.
z Magenkrämpfe entstehen durch krampfartiges Zusammenziehen der Magenwand als
Folge starker nervlicher Erregung (Stress, plötzlicher Zorn oder im Experiment
durch elektrische Reizung von Hirnteilen, in denen Gefühle lokalisiert sind). Die
Verkrampfung der Magenmuskulatur führt zu Übelkeit oder Erbrechen (etwas ist
zum Erbrechen, „zum Kotzen“).
z Der überhöhte Säuregehalt des Magens bewirkt saures Aufstoßen oder Sodbrennen,
besonders bei leerem Magen, aber auch Übelkeit.
z Beim Sodbrennen steigt Magensäure in die Speiseröhre. Dies kann die Folge einer
zu hohen Säureproduktion und/oder Zeichen eines mangelhaften Verschlusses des
Magens nach oben sein. Übersäuerung entsteht, wenn dem Magen durch Hormone
und parasympathische Aktivität ständig suggeriert wird, es gäbe etwas zu verdauen,
die Säure dann aber nicht durch Nahrung wieder neutralisiert wird.
z Magendrücken ist oft die Folge von „Verschlucken“ von Luft, die sich im oberen
Teil des Magens ansammelt. Im Extremfall kann der Magen nach oben auf das dar-
über liegende Herz drücken und so „Herzschmerzen“ bewirken. Eine falsche Atem-
technik kann die Ursache sein. Eine stärkere Bauchatmung ist hilfreich.
z Blähungen (Meteorismus) sind nicht die Folge vermehrter Gasproduktion, was bei
der Verdauung völlig normal ist, sondern Folge von Verkrampfungen der Darm-
wände aufgrund des trägen Transports des Kotes bei falscher Ernährung.
Diffuser Magenschmerz beruht oft auf einer Reizung der Magenschleimhaut durch
1. mangelhafte Durchblutung der Magenwand als Folge sympathischer Übererregung
durch Überlastung, Stress und Verspannung (sympathische Überaktivierung);
2. zu viel Produktion von Säure, die eine durch Mangeldurchblutung geschwächte
Magenwand reizt (parasympathische Überaktivierung).
Zorn und Wut bewirken eine Rötung der Magenschleimhaut (vermehrte Durchblutung),
verstärkte Säureproduktion und starke Magenwandbewegungen. Unterdrückte Wut
(„alles in sich hineinfressen“) kann bei entsprechender Veranlagung zu Geschwüren
führen.
278 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Ein Reizdarm (Colon irritabile) ist eine funktionelle Dickdarmstörung mit folgenden
Symptomen: unklare Bauchbeschwerden, Wechsel von Durchfall (Diarrhö) und Ver-
stopfung (Obstipation), oft nur fallweise Verstopfung oder häufige Durchfälle, Neigung
zu Blähungen, „Blähbauch“ und reichlicher Abgang von Winden.
Nach einer deutschen Studie führen Ängste zu einer erhöhten Darmmotilität, De-
pressionen dagegen zu einer verminderten Darmmotilität. Die durchschnittliche Passa-
gezeit des Nahrungsbreis im Darm betrug bei Gesunden 42 Stunden, bei Angstpatienten
14 Stunden, bei Depressiven 49 Stunden. Es ist ein Faktum: Angstpatienten bekommen
leicht Durchfall, Depressive leicht Verstopfung.
Bei chronischer vagotoner Fehlsteuerung, d.h. bei ständigen Schreck- und Hilflo-
sigkeitsreaktionen, können in Verbindung mit Anlagefaktoren und Risikoverhaltenswei-
sen bestimmte Geschwüre entstehen (z.B. Magengeschwür, Zwölffingerdarmgeschwür).
Vererbung (Neigung zu erhöhter Magensäureproduktion) und Risikoverhaltensweisen
(Rauchen, Alkohol, Kaffee, falsche Ernährungsgewohnheiten, zu viele Medikamente
u.a.) gelangen oft erst durch chronischen Stress zur vollen Auswirkung.
Dafür gibt es zwei Voraussetzungen:
z Schäden (Reizung) an der Schleimhaut des Magens bzw. des Darms,
z Verätzungen des darunter liegenden Muskelgewebes durch die Magensäure.
Magen und Darm reagieren mit Überanspannung und erhöhter Säureproduktion. Da-
durch werden die Schleimhäute geschädigt. Durch die Verkrampfung der Muskulatur ist
die Blutversorgung der Schleimhäute gestört. Schlecht oder gar nicht durchblutetes
Gewebe wird geschädigt. Es bekommt zu wenig Sauerstoff, und die Abfallprodukte des
Stoffwechsels werden nicht abtransportiert. Das durch die geschädigte, vielleicht schon
abgestorbene Schleimhaut nicht mehr geschützte Muskelgewebe entzündet sich durch
die Einwirkung der sehr aggressiven Magensäure. Es kann zu Blutungen, aber auch zum
Magen- oder Darmdurchbruch kommen.
Ständiges Unterdrücken der Entspannungsbedürfnisse des Körpers führt im Aus-
gleich zu überschießender Parasympathikusaktivität, besonders in der Nacht, wo es
nichts mehr zu verdauen gibt.
Angst als biologisches Geschehen 279
Ausscheidungsorgane
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Hem-
mung der Ausscheidungsorgane durch die Anspannung der Schließmuskulatur (keine
Darm- und Blasenentleerung). Subjektiv kann sich dies als Harnverhalten äußern.
Das parasympathische Nervensystem bewirkt eine Aktivierung der Ausscheidungs-
organe (Darm- und Blasenentleerung).
Subjektiv äußern sich Schock- oder Schreckreaktionen häufig als Harndrang („Reiz-
blase“), tatsächlicher Harnverlust (Stressinkontinenz), Stuhldrang, Durchfall und allge-
meines Gefühl, gleich „in die Hose zu machen“.
Darm- und Blasenentleerungen bei Angst und Gefahr sind im Rahmen der Evolution
zu verstehen. Durch den Gewichtsverlust wird die Flucht erleichtert.
Augen
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Erweite-
rung der Pupillen, um mehr Licht durchzulassen und damit die Augen lichtempfindli-
cher zu machen und das Sehfeld zu vergrößern. Eine vergrößerte Pupille, also größere
Blende wie beim Fotoapparat, verringert die Schärfentiefe und erhöht damit die Mög-
lichkeit, unterschiedliche Entfernungen besser voneinander zu unterscheiden. Dadurch
können bedrohliche Objekte besser wahrgenommen werden. Subjektiv kann sich dies in
Sehstörungen äußern (verschwommenes Sehen, Pünktchen vor den Augen).
Das parasympathische Nervensystem bewirkt eine Verengung der Pupillen.
Bei Angst, Aufregung und Stress kommt es – gesteuert über das sympathische Ner-
vensystem – zur Abflachung der Augenlinsen. Die infolgedessen geringere Brech-
kraft/größere Brennweite ermöglicht eine verbesserte Fernsicht (Objekte in 3-10 Meter
Entfernung werden besonders gut wahrgenommen). Chronische Verspannung im Be-
reich der Augen kann die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit fördern.
Subjektiv kann sich Angst, Aufregung und Stress in dem Gefühl äußern, nicht gut
zu sehen, soweit es die Nahsicht betrifft (z.B. beim Lesen und Schreiben).
Bei Ruhe und Entspannung bewirkt das parasympathische Nervensystem eine
Krümmung der Augenlinsen. Die dadurch größere Brechkraft/geringere Brennweite
ermöglicht eine verbesserte Nahsicht.
Subjektiv kann sich ohnmächtig machende Angst und chronischer Stress in dem Ge-
fühl äußern, nicht gut zu sehen, soweit es die Ferne betrifft (beim Autofahren).
Viele Menschen mit Angststörungen klagen über Sehstörungen. Verschiedene Seh-
störungen hängen jedoch nicht mit dem aktuellen Zustand der Pupillen und der Augen-
linsen zusammen, sondern mit Durchblutungsstörungen bzw. Blutumverteilungen zur
arbeitenden Muskulatur bei einer Alarmreaktion:
z Schwindel und verschwommenes Sehen beruht oft auf unzureichender Sauerstoff-
zufuhr infolge niedrigen Blutdrucks oder Verspannung der Nackenmuskulatur (we-
niger Blutzufuhr zum Kopf).
z Schwarzwerden vor den Augen, Flimmern oder Sternchensehen beruht oft auf einer
vorübergehenden Mangeldurchblutung der Sehbahn und des Augenhintergrundes im
Rahmen der Bereitstellungsreaktion und hat dann nichts mit einem zu niedrigem
Blutdruck zu tun.
280 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Bei vielen Angstpatienten mit Schwindel ohne neurologische oder vestibuläre Ursa-
chen lassen sich drei relativ gut abgrenzbare Syndrome unterscheiden:
z Phobischer Attacken-Schwankschwindel mit und ohne Paniksymptome in agorapho-
bischen Situationen als Ausdruck des Gefühls, nicht entkommen zu können.
z Psychogene Stand- und Gangstörung. Schreckreaktionen (oft mit Ohnmachtsangst)
führen zu „weichen Knien“ als Folge der Dominanz des parasympathischen Nerven-
systems. Menschen mit chronischer Verspannung als Folge der Dominanz des sym-
pathischen Nervensystems erleben dagegen einen Dauerschwindel. Aus Angst vor
dem Umfallen entwickeln die Betroffenen oft eine Agoraphobie. Zunehmende Ver-
krampfung und ständige Selbstbeobachtung verstärken den Schwindel.
z Schwindel als Benommenheit (engl. dizziness). Das Gefühl der Beeinträchtigung der
Wahrnehmung und der Denkfähigkeit, bedingt durch Ängste, Depressionen und
emotionale Belastungen, löst oft die Furcht vor einem geistigen Kontrollverlust aus.
„Welche zentrale Rolle die Angst beim psychogenen Schwindel einnimmt, zeigt sich nicht zuletzt an
der häufigsten umschriebenen klinischen Erscheinungsform des psychogenen Schwindels, dem phobi-
schen Attackenschwindel. Diesen erleiden Patienten in bestimmten sozialen Situationen (Kaufhäuser,
Restaurants, Konzerte, Besprechungen, Empfänge) oder angesichts typischer auslösender Sinnesreize
(Brücken, leere Räume, Treppen, Straßen, Autofahren). Der Schwindel entspricht von seiner Erlebnis-
qualität her dem Höhenschwindel und ist durch die Kombination eines Benommenheitsgefühls mit
subjektiver Stand- und Gangunsicherheit sowie einer Crescendo-Vernichtungsangst charakterisiert. Im
Unterschied zur Agoraphobie oder unspezifischen Panikattacken klagen die Patienten mit phobischem
Attackenschwindel nicht in erster Linie über die ‘Angst’, sondern über den ‘Schwindel’, der allenfalls
die schreckliche Angst ausgelöst habe. Sie fühlen sich organisch krank. Zum Schwindel führende
Sinnesreize und Situationen können rasch konditioniert werden und sich generalisieren. Es bildet sich
ein entsprechendes Vermeidungsverhalten aus.“
In der Münchner Spezialambulanz für Schwindel [56] war unter 768 Patienten nach
dem benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel (20,6%) der phobische Schwank-
schwindel (16,8%) als zweithäufigste Schwindelart anzutreffen.
Ein phobischer Schwankschwindel ist durch sechs Kriterien charakterisierbar [57]:
z „Der Patient klagt über Schwankschwindel und subjektive Stand-/Gangunsicherheit bei normalem
neurologischem Befund und unauffälligen Gleichgewichtstests.
z Der Schwindel wird beschrieben als eine fluktuierende Unsicherheit von Stand und Gang mit
attackenartiger Fallangst ohne Sturz, z.T. nur als einzelne unwillkürliche Körperschwankung.
z Während oder kurz nach diesen Attacken werden (häufig erst auf Befragen) Angst und vegetative
Mißempfindungen angegeben, wobei die meisten Patienten auch Schwindelattacken ohne Angst be-
richten.
z Die Attacken treten oft in typischen Situationen auf, die auch als externe Auslöser anderer phobi-
scher Syndrome bekannt sind (Brücken, Autofahren, leere Räume, große Menschenansammlungen
im Kaufhaus oder Restaurant). Im Verlauf entsteht eine Generalisierung mit zunehmendem Ver-
meidungsverhalten auslösender Reize.
z Patienten mit phobischem Schwankschwindel zeichnen sich meist durch zwanghafte Persönlich-
keitszüge und eine reaktiv depressive Symptomatik aus.
z Der Beginn der Erkrankung läßt sich häufig auf eine initiale vestibuläre Erkrankung (z.B. Neuritis
vestibularis) oder besondere Belastungssituationen zurückverfolgen.“
282 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Das beste Trainingsprogramm für die Gesamtfitness besteht aus einer Kombination
von Ausdauersportarten und muskelkräftigenden Elementen. Nach dem Kriterium des
Sauerstoffverbrauchs können vier Trainingsmethoden unterschieden werden:
1. Isometrisches Muskeltraining (isometrisch = in gleicher Länge bleibend). Übungen,
die für mehrere Sekunden eine Muskelanspannung bewirken, aber keine Bewegung
verlangen und daher wenig oder keinen Sauerstoff verbrauchen. Meistens handelt es
sich darum, zwei Gliedmaßen kräftig gegeneinander oder gegen ein Objekt zu drük-
ken. Diese Muskelspannung bewirkt einen Druck auf die Blutgefäße, die sich da-
durch entleeren. Das Blut wird in den Venen zum Herz befördert. Die isometrische
Spannung aktiviert den Kreislauf und sichert die Sauerstoffversorgung. Menschen
mit niedrigem Blutdruck lernen auf diese Weise, ihren Blutdruck zu steigern.
Beispiele: kräftiges Gegeneinanderdrücken der Hände, Spreizen der Arme zwischen
zwei Türpfosten, jede Druckverstärkung gegen einen Widerstand, Expander-
übungen, progressive Muskelentspannung nach Jacobson, Übungen zur Kräftigung
der Beckenbodenmuskulatur.
Ein derartiges Krafttraining führt zum Muskelwachstum. Der stärkste Reiz für die
Zunahme der Muskelkraft liegt nicht in häufigen Belastungen, sondern in kurzen,
nur wenige Sekunden anhaltenden, maximalen isometrischen Kontraktionen. Durch
Überschreiten der Reizhäufigkeit ist keine stärkere Muskelkräftigung zu erzielen. Je
dicker der Muskel ist, umso kräftiger ist er. Bei hohem Krafteinsatz unter anaeroben
(sauerstoffarmen) Bedingungen wird der Muskel in einen Spannungszustand ver-
setzt, der das Dickenwachstum bewirken soll. Die hohe Sauerstoffschuld bringt eine
hohe Übersäuerung durch Kohlendioxid, Milchsäure und saure Stoffwechselschlak-
ken mit sich. Sie führt rasch zur Ermüdung. Es ist daher wichtig, dass nach hohem
Krafteinsatz eine Erholungspause von 3-5 Minuten folgt. Es sollen jeweils nur für
kurze Zeit unterschiedliche Muskelgruppen trainiert werden (Prinzip des Circuit-
Training/Zirkeltraining; circuitus = Rundgang).
2. Isotonisches Training: (isoton = gleich bleibender Druck). Beispiel: Gymnastik.
3. Anaerobe Trainingsübungen (anaerob = ohne Sauerstoff lebend). Kurzfristige Ma-
ximalleistungen. Beispiel: Sprint, rasches Stiegensteigen.
4. Aerobes Training (aerob = mit Sauerstoff lebend): Sportarten, die genügend Sauer-
stoff erfordern, lange genug anhalten und somit zu einem Trainingseffekt führen.
Sämtliche Ausdauersportarten: Wandern, Laufen, Geländelauf, Schwimmen, Rad-
fahren, Schilanglauf, Rudern, längeres Stiegensteigen. usw. Laufen ist die billigste
und beste Sportart. Der Sauerstoffbedarf des Körpers ist bereits bei langsamem Lau-
fen relativ hoch. Dadurch werden die Sauerstoff aufnehmenden, transportierenden
und verwertenden Systeme des Körpers intensiv angeregt und entwickelt. Infolge
des Einsatzes großer Muskelgruppen ist auch der Energieaufwand beim Laufen hö-
her als bei anderen Sportarten. Beim Laufen gilt als Faustregel: Man muss sich so
belasten, dass das Herz mindestens um 50% schneller schlägt. Diese Belastung muss
man längere Zeit durchhalten. Für ein effizientes Herz-Kreislauf-Training ist die
Steigerung der Pulsfrequenz um mindestens 50% erforderlich. Man sollte immer nur
so schnell laufen, dass man nicht in Atemnot gerät. Beim langsamen Laufen zu
Trainingsbeginn wird den Muskeln nie mehr Energie abverlangt als der Kreislauf
noch liefern kann. Sauerstoffaufnahme und -verbrauch halten sich die Waage. Aero-
bes Laufen verhindert einen Muskelkater.
286 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Der Effekt der Leistungssteigerung durch Sport lässt sich durch eine Laktatunter-
suchung messen. Aus dem Ohrläppchen werden ein paar Tropfen Kapillarblut gewon-
nen, und der Laktatspiegel (Milchsäure) wird im Labor bestimmt. Dieser Wert gibt
verlässlich Auskunft über die Leistungsfähigkeit.
Sport verbessert die oft depressive Stimmung vieler Angstpatienten, weil dabei die
Ausschüttung von Endorphinen, d.h. körpereigenen Opiaten, bewirkt wird (was bislang
trotz häufiger Behauptungen allerdings nicht ausreichend klar erwiesen ist), steigert den
oft niedrigen Blutdruck und verbessert die Gehirndurchblutung.
Bei Ängsten und Depressionen werden durch Sport Muskelspannungen abgebaut
und intensivere Atemzüge bewirkt. Von Menschen mit belastenden Erlebnissen litten
jene weniger häufig unter verschiedenen Krankheiten, die regelmäßig Sport betrieben.
Ein Forscherteam aus Göttingen [59] untersuchte den Stellenwert von Sport in der
Behandlung psychischer Erkrankungen und fasste den aktuellen Forschungsstand zu-
sammen. Im Folgenden werden diese bedeutsamen Erkenntnisse ausführlich referiert.
Studien an Gesunden haben den positiven Einfluss eines Ausdauertrainings auf Fak-
toren wie Ängstlichkeit, Depressivität, Selbstbewusstsein, Konzentrationsfähigkeit und
Stressbewältigung nachgewiesen. Sport senkt die Eigenschaftsangst (trait anxiety) und
beeinflusst in positiver Weise physiologische Faktoren, die als Ausdruck von Angst und
Spannung angesehen werden. Aerobes Training hat auch günstige Auswirkungen auf
die Schlafqualität (erhöhter Tiefschlafanteil, größere REM-Latenz).
Bei Sportlern mit einer Trainingspause weist das „akute Entlastungssyndrom“, d.h.
eine „Sport-Entzugssymptomatik“, auf die Bedeutung neurobiologischer Adaptations-
prozesse hin. Eine akute Sportpause führt nach 1-2 Wochen bei durchtrainierten Sport-
lern zu Symptomen wie Herzklopfen oder -stichen, Schweißausbrüchen, Beklemmung,
Schwindel, Verdauungsstörungen, Unruhezuständen, Konzentrationsstörungen, Schlaf-
störungen und depressiver Verstimmung. Bei Wiederaufnahme der sportlichen Betäti-
gung verschwinden alle Symptome innerhalb kurzer Zeit. Die Verordnung von Ruhe
und Entspannung ist völlig kontraproduktiv. Die neurobiologischen Ursachen dieses
Phänomens dürften im serotonergen Neuronensystem zu sein.
Die erste größere praktische und wissenschaftliche Bedeutung im psychiatrischen
Kontext erlangte die Sporttherapie Ende der 1970er-Jahre in den USA, wo depressive
Patienten mit Erfolg an einem Ausdauertrainingsprogramm teilnahmen.
Verschiedene Studien an psychisch Kranken belegen mittlerweile eindeutig, dass
Sport bei Depressionen und Angststörungen heilsam wirkt (zu anderen psychischen
Störungen liegen noch wenige Studien vor).
Die Göttinger Arbeitsgruppe legte 1997 die erste voll randomisierte, placebokontrol-
lierte Studie zur therapeutischen Wirksamkeit von Ausdauertraining bei Patienten mit
Panikstörung und/oder Agoraphobie vor. Im Rahmen der 10 Wochen dauernden Studie
wurden die Therapieeffekte bei 49 Panikpatienten untersucht, die drei verschiedenen
Behandlungsbedingungen zugeordnet wurden: Ausdauertraining (3- bis 4-mal wöchent-
lich 30-60 Minuten Laufen), Clomipramin (112,5 mg pro Tag) und Placebo. Clomipra-
min und Ausdauertraining führten im Vergleich zur Placebogruppe zu einer deutlichen
Besserung der Angstsymptomatik, gleichzeitig sank auch das Ausmaß der Depressivität.
Die gemessene Steigerung der körperlichen Fitness bestätigt die Wirksamkeit des Aus-
dauertrainingsprogramms. Diese Studie weist darauf hin, dass bei Panikpatienten be-
reits ein Ausdauertraining ohne spezifische Begleittherapie zu einer deutlichen Besse-
rung der Symptomatik führt. Ein körperliches Fitnesstraining sollte Bestandteil jeder
Angstbehandlungstherapie sein.
Angst als biologisches Geschehen 287
Ein Teil der Angstpatienten weist eine erhöhte Laktatsensitivität auf, wie bei experi-
mentellen Panikstudien festgestellt wurde. Bei Laktatinfusionen wird oft geklagt über
Parästhesien (Körpermissempfindungen), Zittern, Schwindel, starkes Herzklopfen,
Kälte, Nervosität und Atemnot. Dieser Umstand könnte auch für das Vermeidungsver-
halten verschiedener Panikpatienten gegenüber sportlicher Betätigung bedeutsam sein.
Ein Ausdauertraining reduziert bei Angstpatienten die vegetative Erregbarkeit, führt
zu einer gesunden Abhärtung des Körpers, stellt eine aktive Bewältigungsstrategie an-
gesichts von unvermeidlichen Härten des Lebens dar und verbessert das allgemeine
körperliche Befinden und Selbstbewusstsein.
Körperliche Betätigung führt zu einer sofortigen Unterbrechung des ängstlichen
und/oder depressiven Grübelns, weil durch die Konzentration auf die Umwelt, in der die
Ausdauersportart ausgeführt wird, eine sofortige Aufmerksamkeitsumlenkung erfolgt,
z.B. Konzentration auf die Natur beim Laufen oder Radfahren, Kontakt mit anderen
Menschen im Schwimmbad oder während des Schiurlaubs.
Ein Ausdauertraining stellt für viele Agoraphobie-Patienten mit und ohne Panikstö-
rung bereits eine Art Konfrontationstherapie dar, sodass sportliche Betätigung in ein
verhaltenstherapeutisch orientiertes Angstbehandlungsprogramm leicht und gut inte-
grierbar ist. Gleichzeitig führt vermehrte körperliche Aktivität zu der oft gewünschten
körperlichen Entspannung, ohne dass zu diesem Zweck Medikamente (vor allem zum
Schlafen) eingenommen werden müssen, wie dies ansonsten häufig der Fall ist.
Die alleinige Anwendung eines Ausdauertrainings ohne weitere Behandlungskom-
ponenten kann nach neuesten Befunden bei bestimmten Panikpatienten mit und ohne
Agoraphobie bereits eine ausreichende Besserung bewirken.
Die Erfahrungen des Göttinger Forscherteams zeigen jedoch auch, dass Angstpatien-
ten eine entsprechende Information, Motivation und Handlungsanleitung benötigen, um
in dieser Weise aktiv zu werden. Die gut gemeinten Ratschläge, sich etwas mehr zu
bewegen und in die frische Luft zu gehen, weil dies gesund sei, bleiben in der Regel so
lange wirkungslos, als sie nicht in ein konkretes Erklärungsmodell zur Wirksamkeit bei
Angststörungen eingebettet werden.
In der Verhaltenstherapie geht es nicht nur darum, etwas gegen Angstzustände zu
unternehmen, sondern auch darum, Körpererleben und körperliche Fitness zu fördern.
Angst als biologisches Geschehen 289
Diese Argumente gelten heute als widerlegt bzw. nicht ausreichend belegt:
1. Spontane Panikattacken haben zwar keine äußeren Auslöser, wohl aber innere Aus-
löser: internale Reize in Form von Körperempfindungen oder bewussten bzw. „un-
bewussten“ (subliminaren) Wahrnehmungen und Gedanken.
2. Spontane Panikattacken können dauerhaft mit psychologischen Methoden behandelt
werden, lassen sich aber auch durch Tranquilizer behandeln.
3. Angstreaktionen bei Panikprovokationsversuchen werden durch kognitive Faktoren
beeinflusst. Panikpatienten haben bereits vorher eine größere Erwartungsangst und
daher höhere psychophysiologische Ausgangswerte als Kontrollpersonen.
4. Die Vererbung von Panikattacken sowie das regelmäßige Erlebnis kindlicher Tren-
nungsängste sind nicht ausreichend belegt. Die familiäre Häufung von Panikstörun-
gen beweist jedoch, dass eine gewisse Anfälligkeit für Angststörungen vererbt ist.
5. Die Ähnlichkeit spontaner und situationsgebundener Panikattacken rechtfertigt nicht
die Annahme völlig unterschiedlicher Entstehungsbedingungen.
Die Forschungen von Klein haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Panikstörung
1980 in das amerikanische psychiatrische Diagnoseschema (damals DSM-III) aufge-
nommen und als eigenständige Störung von der bislang so genannten „Angstneurose“
abgetrennt wurde.
1987 wurde die Panikstörung im DSM-III-R zumindest implizit als biologische
Grundstörung definiert, obwohl im amerikanischen Diagnoseschema das Prinzip eines
rein phänomenologisch-beschreibenden Ansatzes ohne theoretische Erklärungskonzepte
vertreten wurde. Im Sinne dieser biologisch-kausalen Sichtweise wurde die Panik-
störung der Agoraphobie übergeordnet (Panikstörung mit bzw. ohne Agoraphobie), was
im DSM-IV aufgrund der neuesten Forschungsergebnisse nicht mehr in dieser Form
aufrechterhalten wird.
Die biologisch orientierten Thesen von Klein und Sheehan und Sheehan haben dazu
geführt, dass sich die Pharmaindustrie der Panikstörung sehr intensiv angenommen und
bestimmte Medikamente zur Behandlung entwickelt hat.
In den 1980er-Jahren wurde die Substanz Alprazolam (D: Tafil®, Ö: Xanor®) auf
den Markt gebracht, die von den amerikanischen und deutschen Gesundheitsbehörden
als einziger Tranquilizer die Indikation für Panikstörungen zugesprochen erhielt. Ur-
sprünglich wurde dieses Medikament auch als leichtes Antidepressivum vorgestellt,
während die Abhängigkeitsgefahr unterschätzt wurde.
Die mit großem Aufwand betriebene Propagierung der neuen Diagnose der Panik-
störung hat jedoch auch Verhaltenstherapeuten ein weites Feld eröffnet, als wirksame
verhaltenstherapeutische Behandlungsmethoden zur Verfügung standen.
Angst als biologisches Geschehen 291
Zentrale neurobiologische Grundlagen der Angst, die Rolle des GABAergen Sy-
stems, Neurotransmitterstörungen (Serotonin, Noradrenalin), CRH-Hypersekretion und
eine erhöhte Sensibilität gegenüber bestimmten Substanzen wurden bereits angeführt.
Einen guten Überblick bietet das Buch „Panik und Agoraphobie. Diagnose, Ursachen,
Behandlung“ von Bandelow. Im Folgenden sollen in Bezug auf die Panikstörung die
wichtigsten Aspekte aus neurobiologischer Sicht zusammenfassend präsentiert werden.
Die Vertreter neurobiologischer Sichtweisen gehen davon aus, dass bei Patienten
mit einer Panikstörung eine vererbte Vulnerabilität gegeben ist, die in Verbindung mit
Lernfaktoren in der Kindheit, bestimmten Stressfaktoren im späteren Leben und spezifi-
schen kognitiven Fehlinterpretationen der Symptome als gefährlich das Auftreten von
Panikattacken begünstigt. Bei Menschen mit einer Panikstörung besteht demnach ein
genetisch bestimmtes, dauerhaft erhöhtes Angstbereitschaftspotenzial, das unter be-
stimmten Umständen das Auftreten von Panikattacken begünstigt.
Unerwartete, spontane Panikattacken können bei biologisch vulnerablen Personen
bereits durch geringfügige und inadäquate Reize ausgelöst werden. Die biologische
Grundlage dafür ist die Aktivierung des Nucleus centralis der Amygdala, von der aus
andere Zentren wie etwa Locus coeruleus, periaquäduktales Grau, Hypothalamus und
Nucleus parabrachialis aktiviert werden.
Im Gegensatz zur allgemeinen Ängstlichkeit, wie diese beispielsweise bei Personen
mit einer generalisierten Angststörung gegeben ist, besteht aus neurobiologischer Sicht
bei Menschen mit einer Panikstörung eine spezifische Angstbereitschaft, nämlich eine
selektive Überempfindlichkeit in Bezug auf bestimmte körperliche Sensationen. Im
Bereich von Amygdala und Hippocampus erfolgt bei Panikpatienten rascher als bei
anderen Menschen eine Beurteilung verschiedener viszerosensorischer Reize als be-
drohlich. Die Interpretation harmloser körperlicher Reize als gefährlich führt zur sofor-
tigen Angstreaktion mit zahlreichen körperlichen Symptomen. Häufige Panikattacken
fördern die Entwicklung ausgeprägter Erwartungsängste bezüglich des unkontrollierba-
ren Auftretens weiterer Panikattacken, sodass sich im Laufe der Zeit ein körperlicher
Daueranspannungszustand entwickelt.
Aus neurobiologischer Sicht sind bestimmte Psychopharmaka (selektive Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer, stärker serotonerg wirkende trizyklische Antidepressiva und
Tranquilizer wie etwa die Substanz Alprazolam) die adäquate Behandlungsmethode.
Diese Mittel schwächen die Aktivität jener Hirnstammzentren ab, die von der Amygdala
aus aktiviert werden und dann sofort die vegetativen und neuroendokrinen Reaktionen
bei einer Panikattacke auslösen.
In Ergänzung zu den biologischen Vorgängen wirken kognitive Mechanismen, vor
allem die Befürchtung einer schweren körperlichen Erkrankung, krankheitsverstärkend.
Lernerfahrungen von Hilflosigkeit in bestimmten Situationen begünstigen in Verbin-
dung mit der Interpretation der Symptome als gefährlich sekundär die Entwicklung
eines agoraphobischen Vermeidungsverhaltens.
Psychiater wie Bandelow, die sowohl den neurobiologischen als auch den kognitiv-
verhaltenstherapeutischen Standpunkt vertreten, weisen darauf hin, dass Menschen mit
Panikattacken ihren Symptomen nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern neben der Ein-
nahme von symptomlindernden Medikamenten auch durch eine verhaltenstherapeutisch
orientierte Psychotherapie auf die biologischen Prozesse Einfluss nehmen können. Da-
bei werden durch die Aktivierung höherer kognitiver Zentren (vor allem im präfrontalen
Kortex) die starken Erregungen in niedrigeren Zentren (vor allem der Amygdala) durch
bestimmte Übungen und Einstellungsänderungen zu kontrollieren gelernt.
292 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Zwei Mechanismen sind von zentraler Bedeutung: die Aktivierung der Amygdala (Fol-
ge: Störung der Informationsverarbeitung im Hypothalamus) und die fehlende Hem-
mung kortikaler Impulse (die Folge: die Übererregungssymptome halten an).
Die neuronalen Grundlagen des Lernens und des Gedächtnisses werden im Kontext
der klassischen und operanten Konditionierung beschrieben, wodurch das Zusammen-
spiel von biologischen und psychologischen Faktoren besonders hervorgehoben wird:
1. Furchtkonditionierung nach dem Modell der klassischen Konditionierung stellt den
Schlüsselbegriff zum Erwerb der Störung dar. Ursprünglich neutrale Reize (be-
stimmte Geräusche, Objekte, Situationen usw.) erlangten durch die zeitliche oder
räumliche Koppelung mit dem unbedingten Reiz (Körperverletzung, Autounfall, Na-
turkatastrophe usw.) die Fähigkeit, jene psychischen und körperlichen Reaktionen
auszulösen, die ursprünglich nur in der traumatischen Situation aufgetreten waren.
Sensorische oder kognitive Reize (konditionierte Stimuli), die in irgendeiner Weise
eine Ähnlichkeit mit den ursprünglichen Angst auslösenden Reizen (unkon-
ditionierten Stimuli) aufweisen, lösen die Symptome der posttraumatischen Bela-
stungsstörung immer wieder neu aus. Amygdala, Locus coeruleus, Thalamus und
Hippocampus stellen die neuroanatomischen Grundlagen dar, noradrenerge und opi-
oide Rezeptoren sowie NMDA-Rezeptoren die wirksamen neurochemischen Syste-
me. Die Stresshormone, die während des traumatischen Erlebnisses ausgeschüttet
wurden, bewirkten eine Verfestigung in den entsprechenden Hirnstrukturen (Amyg-
dala und Hippocampus). Das wiederholte Erinnern der belastenden Erlebnisse setzt
die Schwelle für das weitere schmerzhafte Wiedererleben herab und bewirkt da-
durch eine verstärkte Einprägung im Gehirn. Konditionierungsexperimente bei Tie-
ren und Menschen ergaben einen erhöhten Blutfluss in der Amygdala.
Angst als biologisches Geschehen 295
1. Endokrine Neurotransmitterabweichungen
z Aktivierung der Hormone der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-
Achse (HHNA). Erhöhte Anzahl an Glukokortikoidrezeptoren auf Lymphozyten,
erhöhter Spiegel des Corticotropin-Releasing-Hormons (CRH) in der Zere-
brospinalflüssigkeit, supprimierte Freisetzung des adrenokortikotropen Hormons
(ACTH), reduzierte Kortisolfreisetzung nach CFR-Stimulation. Entscheidend ist
das Paradoxon: bei PTBS-Patienten geht eine übermäßige Freisetzung von CRH
mit einem erniedrigten Kortisolspiegel einher; die Anzahl und die Sensitivität
der Glukokortikoid-Rezeptoren nehmen zu. Der erniedrige Kortisolspiegel wird
erklärt durch die Theorie der verstärkten negativen Feedbackhemmung. Bei De-
pressionen und chronischem Stress bestehen gegenteilige Verhältnisse (ge-
schwächte negative Feedbackhemmung von Kortisol, Hyperkortisolismus).
z Erhöhte Freisetzung von Noradrenalin. Dieser Umstand erklärt die verstärkte
Reizbarkeit, die Tendenz zu vermehrtem Ärgerausdruck und die erhöhte
Schreckhaftigkeit von PTBS-Patienten. Noradrenalin ist verantwortlich für Ori-
entierungsvorgänge, selektive Aufmerksamkeitsprozesse, Hypervigilanz und au-
tonomes Arousal. Stress führt im Locus coeruleus zu einer erhöhten neuronalen
Feuerungsrate und Freisetzung von Noradrenalin, wobei die Responsivität von
Noradrenalin durch alpha2-adrenerge Rezeptoren gesteuert wird. Bei PTBS-
Patienten fand man einen deutlich erhöhten Noradrenalinspiegel im Urin und ei-
nen nächtlichen Noradrenalinanstieg im Plasma. Dies erklärt die häufigen
Schlafstörungen mit Albträumen. Bei PTBS-Patienten besteht eine 40%ige Re-
duktion der alpha2-adrenergen Rezeptoren. Diese Rezeptor-Downregulation wird
als Folge der exzessiven Katecholaminfreisetzung gesehen.
z Opiatvermittelte Analgesie. Der analgetische Effekt dürfte durch eine Stimulie-
rung im periaquäduktalen Grau bei gleichzeitiger Erhöhung von Beta-Endorphin
und ACTH, gemessen in der Zerebrospinalflüssigkeit, ausgelöst werden.
2. Psychophysiologische Besonderheiten
z In Abhängigkeit von der Spezifität der Stimuli und dem Schweregrad der Krank-
heitssymptome kommt es bei 60-90% der PTBS-Patienten zu einer Erhöhung
der elektrodermalen Aktivität, der Herzrate und des Blutdrucks. Bei PTBS-
Patienten wurde in allen Untersuchungen übereinstimmend eine erhöhte
Schreckhaftigkeit gefunden, die durch die Amygdala gesteuert wird.
z Als weiteres Zeichen einer erhöhten autonomen Arousal-Reaktion gilt eine ge-
ringere elektrodermale Habituation auf die Darbietung von Schreckreizen. Es
besteht eine hohe Konditionierbarkeit autonomer Prozesse auf negative Stimuli
und infolgedessen eine verringerte Habituation.
Angst als biologisches Geschehen 297
Zusammenfassend gesehen ergibt sich aus der Wirksamkeit der SSRI nicht zwin-
gend die Schlussfolgerung, dass bei Zwangsstörungen das Serotoninsystem gestört sein
muss, vielmehr könnten die SSRI auch über ein normales serotonerges System positiv
in die Pathophysiologie der Zwangsstörung eingreifen. Der Umstand, dass SSRI bei
vielen reinen Zwangsstörungen allein eine ausreichende Besserung bewirken, bei ande-
ren Zwängen (bei Komorbidität mit Tics und Tourette-Syndrom) eher nur in Verbin-
dung mit Dopaminantagonisten (= Neuroleptika) hilfreich sind und bei wieder anderen
Zwängen überhaupt keinen Effekt zeigen, weist darauf hin, dass es pathophysiologisch
gesehen unterschiedliche Formen von Zwangsstörungen geben muss, weshalb zukünftig
schon allein aus diesem Grund bestimmte Subtypen unterschieden werden müssen.
Bei reinen Zwangsstörungen scheint eher die serotonerg beeinflussbare Achse zwi-
schen dem orbitofrontalen Kortex und der Amygdala eine krankheitskausale Bedeutung
zu haben. Bei komorbid auftretenden Störungen wie Tics und Tourette-Syndrom, die
primär mit einer Dysfunktion des Striatums einhergehen, scheint die zusätzliche Verab-
reichung eines Neuroleptikums wie Risperidon eine Wirkungsverbesserung zu bringen,
weil das Striatum stärker dopaminerg beeinflussbar ist. Eine Kombinationstherapie mit
SSRI und dem Neuroleptikum Risperidon ergab im Vergleich zur reinen SSRI-
Medikation sogar auch eine bessere Wirkung bei Zwangspatienten ohne komorbide
Störungen, d.h. ohne Tics und Tourette-Syndrom.
Die Forschung belegt eine gestörte funktionale Interaktion zwischen Frontalhirn,
limbischem System und Basalganglien (limbisch und präfrontal orientierten Abschnit-
ten), die das neuroanatomische Korrelat bestimmter Zwangsstörungen zu sein scheint
(gestörte Filterfunktion der Basalganglien mit der Folge mangelnder Hemmung der vom
Großhirn kommenden Gedanken und Impulse, in Verbindung damit Überaktivität des
Frontalhirns). Alle Modelle gehen davon aus, dass bei Zwangsstörungen eine Funkti-
onsstörung der Regelschleife vorliegt, die den orbitofrontalen Kortex mit dem Nucleus
caudatus (erregend), diesen mit dem Pallidum (hemmend), diesen mit dem Thalamus
(hemmend) und diesen mit dem orbitofrontalen Kortex (erregend) verbindet. Die ur-
sächliche, pathogenetische Wirkung ist damit aber noch nicht geklärt.
Die Störung der kortiko-subkortikalen Regelschleife führt zu einer Störung der inte-
grativen Verarbeitung sensorischer Daten. Viele Zwangspatienten berichten, sie sähen
wohl, dass Herd, Gas- und Wasserhahn abgedreht und Türen und Fenster verschlossen
seien, diese Wahrnehmung komme aber nicht im Kopf an und es stelle sich nicht das
Gefühl ein, dass alles passe. Das neurobiologische Modell der Zwangsstörung beruht
gegenwärtig auf der Annahme einer Funktionsstörung bestimmter Hirnregionen [68]:
1. Überaktivität des vorderen Hirnbereichs (orbitofrontaler Kortex),
2. Überaktivität von Teilen des limbischen Systems (Cingulum, Basalganglien),
3. Überaktivität der Amygdala.
Der anteriore Gyrus cinguli steht ebenfalls in enger Verbindung mit Handlungsent-
scheidungen und ist zusammen mit dem orbitofrontalen Kortex Teil eines umfangrei-
chen kortikalen Netzwerkes (unter Einschluss des medialen präfrontalen Kortex und des
limbischen Systems), das die emotionalen Bewertungen von äußeren Reizen und die
Auswahl von Verhaltensantworten beeinflusst. Der Gyrus cinguli im Mittelpunkt des
Gehirns, an der tiefsten Stelle der Hirnrinde, steht als Teil des limbischen Systems mit
den Zentren der Gefühlswelt und der Herztätigkeit in Verbindung und dient der Verar-
beitung und Steuerung von Emotionen. Das Cingulum bewirkt Gefühle von Angst und
Schrecken, wenn die Zwangshandlungen nicht ausgeführt werden.
Bei Zwangskranken bewirkt die Überaktivität im orbitofrontalen Kortex (zu viel
Grübeln), eine Überfokussierung und Einengung der Aufmerksamkeit. Die Betroffenen
bleiben am bestehenden Tun oder Denken haften und können sich nicht lösen. Das
ständige Beachten von bedeutungslosen externen oder internen Elementen führt zu
einem Zustand permanenter Überwachheit. Irrelevante Reize können nicht ausgeblendet
werden, alles erscheint gleich wichtig. Spontanverhalten wird gehemmt. Plötzliche
Impulse und lustvolle Bedürfnisse werden zugunsten der fehlerfreien Durchführung
bestimmter Handlungen unterdrückt. Dies ist zwar für die fehlerfreie Durchführung
aller Details einer Routinehandlung wichtig, wirkt sich jedoch störend aus, wenn es um
die Befriedigung von Bedürfnissen geht, die durch Spontaneität, Spaß und Lust charak-
terisiert sind. Die Angst vor Fehlern verstärkt die Prüf-, Kontroll- und Denkroutinen.
Die Überkontrolle des eigenen Denkens und Tuns zeigt sich auch im Umgang mit
den Zwangssymptomen. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen werden mit großer
Kraftanstrengung zu unterdrücken versucht, wodurch die Symptome paradoxerweise
noch stärker werden. Die Unterdrückung von Zwangsgedanken bedeutet, dass man
ständig auf sie achtet, wodurch die Erregung noch verstärkt wird. Die verstärkte Erre-
gung und Unruhe fördert wiederum mehr Rituale zur Verringerung der Anspannung.
Angst als biologisches Geschehen 301
Bei Zwangsstörungen besteht eine ständige Überaktivität von Teilen des limbischen
Systems (anteriorer Gyrus cinguli und Teile der Basalganglien in Verbindung mit ande-
ren Hilfssystemen). Diese Gehirnregionen sind für die Ausführung von Gewohnheits-
verhalten zuständig, d.h. für fertige Verhaltensschablonen.
Das überaktive Vorderhirn wird durch die Überaktivität dieser Gehirnregion, die für
die präzise Ausführung aller Details von Gewohnheitshandlungen verantwortlich ist,
nicht ausreichend gehemmt, sondern noch zusätzlich angefeuert, d.h. es kommt zu einer
noch stärkeren Bremsung des spontanen Verhaltens.
Die Dysfunktion der Basalganglien verstärkt die orbitofrontale Überaktivität. Dies
wiederum führt zu einer ungenügenden Hemmung der medialen Thalamuskerne bzw.
der positiven Rückkoppelung zwischen orbitofrontalem Kortex und Thalamus. Neben
der Überfunktion bestimmter Teile der Basalganglien besteht gleichzeitig eine Unter-
funktion anderer Teile der Basalganglien. Die Basalganglien (Putamen, Nucleus cauda-
tus, Globus pallidus) sind die zentrale Schaltstelle für die Koordination routinemäßig
ablaufender Bewegungsabfolgen wie Gehen, Schreiben oder Autofahren, wodurch die
Großhirnrinde entlastet wird und sich auf wichtigere Aufgaben konzentrieren kann.
Das Corpus Striatum, das den Nucleus caudatus, das Putamen und den Nucleus ac-
cumbens umfasst, prüft im Sinne einer Filterfunktion die eintreffenden Empfindungen
oder Gedanken auf Vorrangigkeit und Bedeutung und dient der Vorbereitung auf Hand-
lungen als angemessene Reaktionen auf diese Empfindungen und Gedanken. Das dorsa-
le Striatum moduliert motorische Funktionen und prozedurales Lernen, das ventrale
Striatum moduliert kognitive, emotionale und motivationale Prozesse. Das Putamen ist
die automatische Übertragungsstelle für jene Gehirnregion, die die motorischen oder
körperlichen Bewegungsabläufe reguliert. Der Nucleus caudatus stellt die automatische
Übertragungsanlage und Filterstation für jenen Frontalteil des Gehirns dar, der die
Denkvorgänge kontrolliert. Das Striatum ermöglicht eine automatische Informations-
verarbeitung ohne Bewusstseinrepräsentation und steuert jene stereotypen, regelhaft
ablaufenden Vorgänge, die kein Bewusstsein erfordern. Es kann ohne Einschaltung
höherer Gehirnzentren motorische Aktionen selbstständig ausführen oder Wahrneh-
mungen unterdrücken und übernimmt den automatischen Ablauf jener Bewegungen, die
zuerst durch bewusste Aufmerksamkeit und Willensanstrengung eingeübt wurden (z.B.
Erlernen eines Instruments, einer Sportart, des Autofahrens oder des Schreibens). Die
Tätigkeit des Striatums erleichtert das Leben und erhöht die Effizienz des Großhirns,
weil dadurch vieles automatisch und unbewusst ablaufen kann. Bei einer Störung des
Striatums werden zu viele Informationen als relevant angesehen und emotional und
motorisch bewertet, sodass das Frontalhirn die Filterung übernehmen muss und dadurch
überaktiviert wird. Automatisch ablaufende Tätigkeiten werden nun durch bewusste
Aufmerksamkeitszuwendung gesteuert, was viel Kraft und Konzentration erfordert.
Fazit: Zwangspatienten müssen aufgrund einer reversiblen Schädigung des Striatums
mehr nachdenken und sich bewusst anstrengen, um unbewusst und automatisch ablau-
fende Verhaltensweisen ausführen zu können und entgegen den vorhandenen störenden
Gedanken und Drangzuständen doch eine Verhaltensänderung bewirken zu können.
Die kortiko-striatalen Regelkreise umfassen zwei Schleifen, die für die Ausprägung
eines Zwangsstörung bedeutsam sind: Vom Striatum geht einerseits eine direkte Schlei-
fe mit erregender Wirkung über den Globus pallidus interna zum Thalamus und von
dort wieder zurück zum frontalen Kortex und andererseits eine indirekte Schleife mit
dämpfender Wirkung über den Globus Pallidus externa zum Globus pallidus interna und
von dort über den Thalamus wieder zurück zum Kortex.
302 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Die direkte Schleife bewirkt ein positives Feedback, die indirekte ein negatives
Feedback. Positive Rückkoppelungsschleifen zwischen Kortex und Thalamus begünsti-
gen Zwangsgedanken, während das Striatum repetitive Handlungsmuster in Form von
Zwangsritualen bewirkt. Die gestörte Interaktion zwischen Basalganglien, limbischem
System und Frontalhirn kann also zu verschiedenartigen Zwängen führen.
Bei Gesunden besteht ein Gleichgewicht zwischen direkten und indirekten kortiko-
striato-thalamischen Regelkreisen, bei Zwangskranken dagegen ein Ungleichgewicht
zugunsten des direkten Systems. Dies bewirkt eine ständige Erregung des Thalamus und
schließlich eine Hochregulation zwischen Kortex und Thalamus.
Schwartz [69], einer der führenden Zwangsforscher in den USA, fasst den Stand der
Hypothesenbildung zur Entwicklung von Zwangshandlungen in seinem allgemein ver-
ständlichen Buch „Zwangshandlungen und wie man sich davon befreit“ aus psychobio-
logischer Sicht folgendermaßen zusammen (und entwickelt in Anschluss daran auch ein
später ausführlich dargestelltes psychotherapeutisches Behandlungskonzept):
„Wir wissen, dass das Corpus striatum bei korrekter Funktion wie ein Filter arbeitet, indem es die ihm
zugehenden Sinnesinformationen ‚durchschleust’ und so die ihm zustehende Rolle im verhaltensbezo-
genen Leistungsnetz des Gehirns spielt. Aller Wahrscheinlichkeit nach passiert nun bei Zwangsstörun-
gen Folgendes: Aus früheren Evolutionsstufen stammende Regelkreise des Kortex, wie die für Wa-
schen und Kontrollieren, durchbrechen die Schleuße, vermutlich aufgrund eines Problems im Nucleus
caudatus. Ohne ein wirksames Schleußensystem jedoch kann der oder die Betroffene von diesen auf-
dringlichen Zwängen überwältigt werden und unvernünftigerweise sein/ihr Handeln von ihnen bestim-
men lassen. Solche Handlungen werden dann ‚behaviorale Perseveration’ genannt, eine Bezeichnung
für Zwangshandlungen, mit der eine Wiederholungstendenz im Verhalten ausgedrückt werden soll.
Besonders solche Zwangshandlungen sind behaviorale Perseverationen, die der oder die Betroffene
durchaus als unsinnig erkennt und die er/sie eigentlich nicht ausführen möchte: Die Zwangsvorstellung
kommt in der Schleuße an, die Schleuße lässt sich nicht schließen, und die Vorstellung dringt immer
wieder ungehindert ein. Die Betroffenen müssen dann ihrer Wiederholungstendenz folgen, sich unauf-
hörlich die Hände waschen oder immer wieder den Herd nachkontrollieren, auch wenn das völlig sinn-
los ist. Solche Handlungen mögen ihnen eine momentane Erleichterung verschaffen, aber weil die
Schleuße sich eben nicht schließen lässt, bricht der Drang zum Waschen oder Kontrollieren gleich
wieder durch. Und um alles noch schlimmer zu machen: Es sieht ganz so aus, als stecke das Schleußen-
tor um so unbeweglicher fest, je mehr Zwangshandlungen jemand begeht. Aufgrund des Fehlens eines
voll funktionsfähigen Corpus striatum muss der Kortex, die Großhirnrinde, mit ganz bewusstem Einsatz
funktionieren, weil ja die unerwünschten Vorstellungen und Antriebe ständig einzudringen versuchen.
Und genau solch ein bewusster Einsatz geschieht in der Verhaltenstherapie, wenn nämlich jemand seine
Reaktionen auf eindringliche Zwänge in den Griff zu bekommen sucht.
Wir haben gute Gründe für die Annahme, dass ein zwangsgestörter Mensch sich deswegen von solchen
aufdringlichen Vorstellungen und Trieben nicht zu befreien vermag, weil der orbitale Kortex, das
‚Frühwarnsystem’ des Gehirns, unzutreffende Informationen von sich gibt, ‚abfeuert’, wie wir sagen.
Der Übeltäter kann sehr wohl die mangelhafte Filterung des Nucleus caudatus sein.“
Die Störung der integrativen Verarbeitung sensorischer Daten zeigt sich z.B. bei Kon-
trollzwängen in dem Umstand, dass der abgedrehte Wasserhahn wohl wahrgenommen,
aber im Kopf dennoch nicht so erlebt wird, sodass durch eine neuerliche Kontrolle eine
innere Beruhigung erwartet wird, was sich bald als Irrtum herausstellt.
Kontrollzwänge lassen sich als spezifische Gedächtnisstörungen interpretieren. Bei
Patienten mit Kontrollzwängen hinterlässt der motorische Vollzug bestimmter Hand-
lungen keine ausreichende Gedächtnisspur, sodass sensorische Informationen (z.B.
ständig hinschauen) zur Kompensation benutzt werden. Die fehlerhafte Verarbeitung
und Speicherung motorischer Handlungsabläufe hängt mit der Störung der Interaktion
zwischen orbitofrontalem Kortex und Basalganglien zusammen.
Angst als biologisches Geschehen 303
Bei der Therapie von Kontrollzwängen ist auf eine optimale sinnliche Repräsentati-
on und Speicherung einer einmaligen Kontrollhandlung zu achten, um Wiederholungen
des Kontrollverhaltens wegen Vergessens der Handlungsausführung zu verhindern (z.B.
mit geschlossenen Augen langsam den Wasserhahn zudrehen bzw. sich ein Kontroll-
verhalten bei geschlossenen Augen vorstellen).
Die durch die bildgebenden Verfahren (PET, SPECT, fMRT) gefundenen Abnorma-
litäten sind vermutlich nicht die Ursache der Zwänge, wie Schwartz und andere For-
scher annehmen, sondern möglicherweise nur das Ergebnis längerer Zwangsstörungen.
Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen gehen ständig mit Veränderungen der Ge-
hirnchemie einher. Der vermehrte Zuckerstoffwechsel stellt nur das physiologische
Korrelat eines primär psychologischen Phänomens dar, nämlich der intensiven kogniti-
ven Aktivität. Die erhöhe orbitofrontale Stoffwechselaktivität kann die neuronale Ab-
bildung des Widerstands gegen die Störgedanken und den Drang zum Ausführen von
Zwangshandlungen sein. Der erhöhte Stoffwechsel im orbitofrontalen, mediofrontalen,
rechtsfrontalen und cingulären Kortex ist keineswegs spezifisch für Zwangsstörungen,
sondern zeigt sich auch bei Depressionen. Bei Angstpatienten finden sich keine Verän-
derungen im Nucleus caudatus, wohl aber im orbitofrontalen Kortex.
Neben der bisherigen Betonung der Rolle des kortiko-striatalen Systems für die Ent-
stehung repetitiver Gedanken und Handlungen wird in letzter Zeit auch die Bedeutung
der Amygdala, d.h. des Mandelkerns, als neuroanatomisches Substrat für die affektive
Symptomatik bei Zwangsstörungen hervorgehoben, und zwar vor allem hinsichtlich des
Aspekts der Angst. Die Amygdala speichert auf kortikaler Ebene Lernvorgänge als
Assoziationen zwischen Reizen. Die Amygdala steht in einer engen Verbindung mit den
kortiko-striato-thalamischen Regelkreisen; auf diese Weise können eintreffende Infor-
mationen schnell weitergeleitet werden. So wie mittels PET- und SPECT-Studien bei
Zwangskranken im Vergleich zu Gesunden durch Symptomprovokation eine erhöhte
Aktivierung von orbitofrontalem Kortex, Nucleus caudatus und Gyrus cinguli gezeigt
werden konnte, wurde mithilfe der funktionellen Kernspintomographie durch Sym-
ptomprovokation auch eine Aktivierung der Amygdala nachgewiesen. Weiters wurde
bei Zwangspatienten im Vergleich zu Gesunden neben einem geringeren Umfang des
orbitofrontalen Kortex auch eine Volumenreduktion der Amygdala gefunden.
Die Amygdala spielt, was bislang völlig vernachlässigt wurde, bei der Pathophysio-
logie der Zwangsstörung eine entscheidende Rolle und muss zukünftig noch genauer
erforscht werden. Konditionierungsprozesse – auch krankheitsunspezifischer Art –
werden bei Zwangspatienten löschungsresistenter gespeichert, sodass es zu einer länger
dauernden Aktivierung der Amygdala kommt als bei anderen Menschen.
Das Faktum der erhöhten inneren Erregung dürfte auch in Interaktion mit psycholo-
gischen Aspekten zu sehen sein. Der Druck, sich angesichts von Situationen irgendwie
verhalten und entscheiden zu müssen, sowie das Vorhandensein unlösbar scheinender
Probleme und die grundlegende Unsicherheit hinsichtlich des richtigen Verhaltens füh-
ren zu einem unspezifischen emotionalen Erregungszustand. Es lassen sich experimen-
telle Erkenntnisse anführen, wie auf diese Weise zwanghaftes Verhalten begünstigt
bzw. überhaupt erst ermöglicht wird.
Bei manchen Zwangspatienten wurden auch hirnmorphologische Unterschiede ge-
genüber Gesunden gefunden. Die überwiegende Mehrzahl der Untersuchungen erbrach-
ten jedoch keine signifikanten cerebralen Strukturveränderungen bei Menschen mit
Zwangsstörungen. Genetische Aspekte dürften ebenfalls relevant sein, weil Zwangsstö-
rungen auch bei getrennt aufgewachsenen Zwillingspaaren gefunden wurden.
304 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Viele Ängste bei Agoraphobien mit Panikstörung, spezifischen Phobien oder posttrau-
matischen Belastungsstörungen entstanden durch klassische Konditionierung:
z Die Angst eines Kindes vor Männern mit weißem Mantel entwickelte sich zu dem
Zeitpunkt, als es einmal von einem Arzt eine Spritze erhielt, die schmerzvoll in Er-
innerung blieb.
z Die Angst vor Brücken, Höhen, geschlossenen Räumen, öffentlichen Verkehrsmit-
teln usw. stellt die Reaktion auf den Umstand dar, dass dort einmal ein sehr unange-
nehmer Zustand (z.B. Übelkeit, Atemnot, Ohnmachtsneigung) auftrat.
z Ehemalige Soldaten reagierten noch viele Jahre nach dem 2. Weltkrieg auf Schlacht-
feldgeräusche mit starken Emotionen.
z Massive psychosomatische Reaktionen werden oft noch Jahre nach einer Vergewal-
tigung oder einer Flugzeugentführung ausgelöst durch bestimmte Reize, die im Zu-
sammenhang mit der traumatischen Erfahrung auftraten.
Darbietung Entfernung
2. Der Betroffene versucht, dem gefürchteten Reiz zu entfliehen oder überhaupt nicht
mehr zu begegnen, wodurch die Angst sofort beendet oder überhaupt vermieden
wird. Das Vermeidungsverhalten wird durch den Erfolg, nämlich das Ausbleiben der
vermeintlichen, erwarteten aversiven Situation, negativ verstärkt (= zweiter Faktor;
operante Konditionierung, Prinzip der negativen Verstärkung). Es wird zwar Angst
vermieden, jedoch um den Preis, dass man sich zukünftig immer weniger in Ge-
schäften oder öffentlichen Verkehrsmitteln aufhalten kann. Flucht als Problemlö-
sung wird zukünftig häufiger auftreten, weil sie die Angstsymptome beseitigt.
Zwangshandlungen stellen einen Versuch dar, eine angstbesetzte Situation oder eine
Befürchtung (z.B. eingeschaltete Herdplatte) zu bewältigen, indem Rituale (z.B. Kon-
trollzwänge) eingesetzt werden. Wenn dies zum Erfolg (Angstreduktion) führt, wird das
Zwangsritual wiederholt. Die Zwangshandlung tritt dann an die Stelle der Angst, sodass
den Betroffenen vielfach gar nicht mehr klar ist, dass sie Angst haben.
Das Zwei-Faktoren-Modell ist zwar hilfreich zur Erklärung verschiedener Ängste
und Zwänge sowie zur Begründung der davon abgeleiteten Technik der Reizkonfronta-
tion mit Reaktionsverhinderung, insgesamt jedoch überholt und sehr ergänzungsbedürf-
tig, weil viele Phänomene dadurch nicht erklärt werden können [72]:
z Phobische Objekte und Situationen entstehen nicht einfach durch zufällige klassi-
sche Konditionierungen, sondern nach dem Prinzip der biologisch-evolutionären
Bedeutsamkeit. Nach Martin Seligman reagiert der Organismus vor allem in solchen
Situationen, die für das Überleben der Art wichtig sind, mit raschen und stabilen
Angst- und Vermeidungsreaktionen. Nach dem Modell der biologischen Vorberei-
tung von Ängsten sind bestimmte Ängste eher angeboren (z.B. die Angst vor Dun-
kelheit, Blitz und Donner, Höhen, Tiefen), während andere, viel gefährlichere Situa-
tionen keine unmittelbaren Angstreaktionen hervorrufen (z.B. elektrischer Strom,
Flugzeug, Rennauto). Der Effekt der biologischen Vorgeformtheit bedeutet auch,
dass verschiedene Ängste wesentlich schwerer zu überwinden sind als andere, ob-
wohl sie nach den gleichen Prinzipien zu löschen versucht werden.
z Ängste weisen kulturelle und religiöse Überformungen auf. Sie werden beeinflusst
durch die Bedeutsamkeit bestimmter Handlungen im Rahmen der jeweiligen Kultur
(z.B. religiöse und sexuelle Vorstellungen, Versündigungs- und Schuldthematik).
z Der Angsterwerb nach dem Modell der klassischen Konditionierung kann nicht
erklären, warum traumatische Bedingungen (z.B. Sirenen bei Fliegeralarm im Krieg,
Hundebiss) nicht linear zu einer Phobie führen. Es müssen individuelle Faktoren
(z.B. eine individuell erhöhte Angstsensitivität) berücksichtigt werden, um zu erklä-
ren, warum dies bei manchen Menschen der Fall ist, bei vielen anderen jedoch nicht.
z Angstreaktionen werden nicht einfach wegen ihres erstmaligen Auftretens in zeitli-
cher oder räumlicher Nähe zu einem traumatisierenden Ereignis fixiert („Kontigui-
tät“), sondern durch Konditionierung von zusammengehörigen Reizen (Garcia-
Effekt). Lernen bedeutet nach neueren Konditionierungskonzepten das Lernen von
Beziehungen zwischen Ereignissen, d.h. es werden aufgrund von Erfahrung Erwar-
tungswahrscheinlichkeiten gewonnen. Lernen besteht darin, Konzepte über das ei-
gene Verhalten aufgrund seiner Wechselwirkung mit der Umgebung zu entwickeln.
Es wird gelernt zu erkennen, was gefährlich und was ungefährlich ist. Angst ist ver-
ursacht durch die Wahrnehmung oder Überzeugung, eine Situation nicht bewältigen
zu können. Angst resultiert aus „erlernter Hilflosigkeit“. Bereits eine nur vermeintli-
che Kontrolle einer Bedrohungssituation wirkt Angst mindernd.
z Entgegen den Prinzipien der negativen Verstärkung (das Verlassen der aversiven,
Angst machenden Situation mindert die Angstsymptomatik und verstärkt dadurch
zukünftig die Vermeidungsreaktion als wirksame Methode des Umgangs mit phobi-
schen Situationen) wird laut Studien englischer Verhaltenstherapeuten um Rachman
die Angst nicht größer, wenn Patienten die Angst machenden Situationen zum Zeit-
punkt der größten Angst verlassen. Erfolge treten auch bei Verlassen der Übungssi-
tuation zum Zeitpunkt der größten Angst auf, was sich nach dem Zwei-Faktoren-
Modell nicht erklären lässt. Dies ist nur erklärbar durch kognitive Konzepte (Aus-
maß der wahrgenommenen Kontrolle der Situation versus Ohnmachtserleben).
310 Erklärungsmodelle für Angststörungen
z Eine nach allen Regeln der Kunst durchgeführte Konfrontationstherapie kann später
zu unerklärlichen Rückfällen führen, die durch neuerliche Reizüberflutung nicht in
den Griff zu bekommen sind. Hier sind die funktionalen Bedingungen, unter denen
das Angstverhalten auftritt, zu berücksichtigen (z.B. Partner- oder Berufsprobleme).
z Bei verschiedenen Angstpatienten werden die agoraphobischen oder sozialen Äng-
ste trotz permanenter Konfrontation nicht gelöscht (bei längerer Appetitlosigkeit mit
Zuckermangelsymptomen, bei Schauspielern, Musikern und Radiosprechern trotz
ständiger Auftritte, bei Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung, z.B. bei
Berufskraftfahrern nach einem Unfall oder bei Frauen nach einer Vergewaltigung).
z Die Ängste einer posttraumatischen Belastungsstörung verschwinden oft nicht
durch eine reine Konfrontationstherapie. Hier besteht das Problem gerade darin, dass
trotz oft permanenter kognitiver Konfrontation kein Gewöhnungseffekt einsetzt. Es
erfolgt häufig keine Habituierung, weil die Art der Gedächtnisspeicherung der trau-
matischen Erfahrungen im Gehirn immer wieder neue Angstreaktionen auslöst. Der
verzögerte Störungsbeginn ist lerntheoretisch ebenfalls nicht erklärbar.
z Das Zwei-Faktoren-Modell ist ein Modell zur Erklärung von Handlungen, nicht
jedoch von Gedanken. Sozialphobien und Zwangsstörungen sind vor allem kognitive
Störungen, weshalb lerntheoretische Modelle zu deren Erklärung völlig unzurei-
chend sind. Sie können nicht das Phänomen Angst verstärkender Zwänge erklären.
Viele Zwangspatienten vermeiden die zwangsauslösenden Reize überhaupt nicht,
sondern suchen sie vielmehr. In der Lebensgeschichte von Zwangspatienten kom-
men zudem selten Traumata vor, die konditionierend wirken könnten.
Es zeigte sich, dass die Eltern oder andere Familienmitglieder von Panikpatienten,
nicht jedoch die von anderen Angstpatienten häufiger unter chronischen Krankheiten
oder körperlichen Angstsymptomen gelitten hatten als die Bezugspersonen der Kon-
trollgruppe. Die Beobachtung nahe stehender Personen (z.B. einer Mutter, die wegen
Schwindel viel im Bett liegt) kann bei Panikpatienten zur Überzeugung führen, dass
körperliche Symptome gefährlich sind und es bei Vorliegen solcher Symptome sinnvoll
ist, sich zu schonen und Situationen zu vermeiden, in denen diese Symptome auftreten.
Sozialkognitives Lernen
Nach dem um kognitive Aspekte erweiterten Lernmodell werden vor allem solche Ver-
haltensweisen erlernt und in das Verhaltensrepertoire integriert, die soziale Bestätigung
finden. Kognitive Prozesse steuern dabei die Wechselwirkungen des Verhaltens mit der
Umgebung. Lernen besteht vor allem in der Entwicklung von Konzepten über das eige-
ne Verhalten und dessen soziale Rückwirkungen, sodass Lernprozesse letztlich eine
Form der Selbstregulation darstellen (mit Selbstbeobachtung, Selbstbeurteilung und
Selbstverstärkung) [75].
Angstbewältigung bedeutet, Situationen angemessen einschätzen zu können und
Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu gewinnen. Entscheidend ist die Selbstwirksam-
keitsüberzeugung, d.h. der Glaube daran, in vorher nicht bekannten Situationen sich
wirksam behaupten zu können. Schon eine rein fiktive (vermeintliche) Kontrolle über
eine Situation kann Angst mindernd wirken.
Die negative Einschätzung einer bedrohlichen Situation führt dagegen zu einer stär-
keren Wahrnehmung der negativen Situationsmerkmale, wodurch wiederum die Lö-
sungsbemühungen weniger, stereotyper und auswegloser werden. Ängstliche Personen
malen sich häufig die schlimmsten Folgen oder gar eine unabwendbare Katastrophe aus
(„sich selbst erfüllende Prophezeiung“).
Bei Sozialphobikern bestimmt die Art der sozialen Rückmeldung das Befinden. In
öffentlichen Situationen, wo wenig soziale Rückmeldung erfolgt (z.B. vom Publikum
bei einem Vortrag), bleibt mangels Bestätigung eine größere soziale Unsicherheit beste-
hen als in Situationen, wo bessere Möglichkeiten gegeben sind, unmittelbare positive
Rückmeldungen über das eigene Sozialverhalten durch andere zu erleben und damit
Beurteilungs- und Kontrollmöglichkeiten entwickeln zu können. Es gibt folgende sozi-
alkognitive Erklärungsmöglichkeiten für die Entstehung sozialer Defizite [76]:
a) „Das Individuum hatte im Laufe der Sozialisation keine angemessenen Lernmodelle in seiner
unmittelbaren Umwelt.
b) Die Defizite können eine Folge von bestehenden sozialen Ängsten sein, die das Individuum durch
ausgeprägtes Vermeidungsverhalten an neuen Lernerfahrungen hindern, wodurch wiederum die
Ängste gesteigert und die Defizite vergrößert werden, usw.
c) Viele Personen, die adäquate Skills erworben hatten, können diese aufgrund einer langjährigen
Hospitalisierung wieder verlernt haben.
d) Eine weitere Ursache der Defizite kann darin bestehen, daß das betreffende Verhalten zuvor nicht
erforderlich war und deshalb nicht gelernt wurde, eine gravierende Veränderung der Lebensum-
stände (Umzug, Tod eines Angehörigen) jedoch diese neuen Fertigkeiten notwendig machte.
e) Die Ursache sozial inadäquaten Verhaltens kann auch in der mangelnden sozialen Wahrnehmung
liegen, wobei soziale Reize fehlinterpretiert und daraus falsche Handlungsschritte abgeleitet wer-
den.“
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 313
Bei Angst- und Panikstörungen zeigt sich die Macht der Gedanken. Die Art und Weise,
wie Situationen und Erfahrungen beurteilt werden, kann beruhigend oder Angst ma-
chend wirken. Kognitive Aspekte haben eine große Bedeutung für die Entwicklung von
Angstzuständen. Menschen mit Angststörungen bewerten viele Situationen, die andere
nicht als gefährlich einschätzen, als bedrohlich, häufig sogar als lebensgefährlich.
Oft besteht eine Angst vor dem Herztod, vor dem Ersticken oder vor Krebs, häufig
geprägt durch entsprechende Ereignisse in der sozialen Umwelt vor Ausbruch der
Angststörung sowie durch eine übermäßige Konzentration auf die Thematik von Krank-
heit, Sterben und Tod im Rahmen der Familie. Nach neueren Erkenntnissen werden
behandelte Phobiker bei falscher Einschätzung von Situationen relativ leicht rückfällig.
Kognitive sowie psychophysiologische Modelle stellen zentrale Konzepte bei der
Erklärung und verhaltenstherapeutischen Behandlung der verschiedenen Angststörun-
gen dar. Die kognitiven Angsttheorien verstehen Angst als Emotion im Sinne eines
physiologischen Erregungszustandes und analysieren primär die mit den Ängsten ver-
knüpften Erwartungen und Bewertungen. Kognitive Modelle stellen eine notwendige
Ergänzung der rein lerntheoretisch fundierten Konfrontationstherapien dar.
Der Kern der Angststörungen liegt in dem Umstand, dass sich die Betroffenen als
besonders verletzlich erleben und daher dazu neigen, verschiedene Situationen irrtüm-
lich als gefährlich einzuschätzen und potenzielle Gefahrenzeichen überzubewerten.
Unter Belastung, wie dies in Angst machenden Situationen der Fall ist, ist es für die
Betroffenen sehr schwer, ihre emotionalen Reaktionen auf bestimmte Reize zu kontrol-
lieren und ihre übertriebenen Ängste auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen. Neben der
rascheren Gefahreinschätzung gehen Angstpatienten gleichzeitig davon aus, dass sie zu
wenig Kompetenz (Selbstwirksamkeit) zur Bewältigung der Angstreaktion haben.
Nach dem Modell der kognitiven Schemata von Beck [78] werden Angststörungen
bewirkt und aufrechterhalten durch inadäquate kognitive Schemata, die die Wahrneh-
mung und Interpretation der Umgebung durch die Person steuern. Angst- und Panikstö-
rungen entstehen durch falsche Ursachenzuschreibung von körperlichen Symptomen
sowie durch katastrophisierende Gedanken und Vorstellungen. Angst machende Grund-
überzeugungen bestehen schon vor einer Panikattacke bzw. vor agoraphobischen oder
sozialpbobischen Situationen und werden durch entsprechende Erfahrungen und Bewer-
tungen verstärkt. Empirisch ist noch unklar, ob diese Kognitionen tatsächlich Ursache
oder Folge der Angststörung sind. Typische Angst erzeugende bzw. Angst verstärkende
kognitive Schemata sind z.B.: „Es ist am besten, das Schlimmste zu erwarten“, „Zu
meiner Sicherheit muss ich alle Gefahren vorhersehen und sehr achtsam sein.“
Paniksymptome werden von den Betroffenen folgendermaßen bewertet [79]:
z Herzrasen/Schwitzen/Atembeschwerden: „Ich bekomme einen Herzinfarkt.“
z Schwindel/Schwächegefühl/Benommenheit: „Ich werde in Ohnmacht fallen.“
z Atemnot/Würgegefühl/Kloß im Hals: „Ich ersticke.“
z Kribbeln in den Extremitäten: „Ich werde gelähmt durch einen Gehirnschlag.“
z Derealisations- und Depersonalisationsgefühle (Unwirklichkeits- und Entfrem-
dungsgefühle): „Ich verliere die Kontrolle über mich, ich werde verrückt.“
314 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Die Arbeiten zur kognitiven Verhaltenstherapie bei Angststörungen wurden vor allem
vom Psychiater Aaron T. Beck und vom Psychiater und Psychologen David H. Barlow
in den USA und von den Psychologen David M. Clark, Adrian Wells und Paul M. Sal-
kovskis in England vorangetrieben. Die stärkere Berücksichtigung kognitiver Aspekte
hat ein neues Bild aller Angststörungen ermöglicht. Seit einiger Zeit werden auch inter-
aktionelle und emotionsbezogene Prozesse stärker berücksichtigt als früher.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 315
Ein neueres Angstmodell von Beck und Clark auf der Basis der Informationsverar-
beitungstheorie, das der Angstforschung neue Impulse gibt, geht von drei Stufen aus:
1. Registrieren einer Bedrohung,
2. Aktivierung eines „frühen Alarmmodus“,
3. sekundäres, ausführliches Kontrollieren.
Die Behandlung von Angststörungen zielt auf die Deaktivierung des frühen Alarmmo-
dus ab, d.h. auf die Modifikation dysfunktionaler und verfestigter Reaktionsbereitschaft.
Die kognitiven Theorien berücksichtigen den Umstand, dass Ängste oft durch Kon-
ditionierung und andere Lernvorgänge erworben wurden, betonen jedoch die große
Bedeutung der Interpretation der Ereignisse und Reaktionen. Weil die Stabilität der
Angstreaktionen vor allem auf der Stabilität von fehlangepassten Kognitionen beruht,
lassen sich Ängste dauerhaft und effektiv am besten durch kognitive Analysen und
Umstrukturierung modifizieren.
Es besteht eine allgemeine Übereinstimmung zwischen der eher kognitiv und der
eher behavioral ausgerichteten Verhaltenstherapie, dass die effektivste Einstellungsän-
derung oft am raschesten durch eine Verhaltensänderung zu erreichen ist. Nicht immer
bestimmen die Kognitionen das konkrete Verhalten, oft werden Kognitionen durch
unangemessenes Verhalten bewirkt und aufrechterhalten (z.B. durch Vermeidung bzw.
reales oder mentales Fluchtverhalten), sodass eine Verhaltensänderung zu einer Einstel-
lungsänderung führt. In zahlreichen anderen Fällen lässt sich die Verhaltensänderung
dagegen viel leichter durch eine Änderung der Einstellungen herbeiführen.
Der englische Psychologe und Verhaltenstherapeut David M. Clark [86] stellte 1986 als
erster ein rein kognitiv ausgerichtetes Modell zur Erklärung von Panikattacken vor. Eine
wahrgenommene Bedrohung durch äußere Reize (Umweltsituationen) oder durch innere
Reize (Gedanken, Vorstellungen, Körperempfindungen) bewirkt eine milde Anspan-
nung, die wiederum körperliche Symptome produziert. Die Interpretation der wahrge-
nommenen körperlichen Symptome als gefährlich führt zu einer weiteren, stärkeren
Anspannung; es kommt zu vermehrten körperlichen Symptomen und Ängsten.
Der beschriebene Teufelskreis führt schließlich zu einer Panikattacke. Fehlinterpre-
tationen von Körperempfindungen als Folge einer wahrgenommenen Bedrohung stellen
die entscheidende Rolle bei der Auslösung, Aufrechterhaltung und Stabilisierung von
Panikattacken dar. Die kognitiven Bewertungsprozesse und Angst steigernden Interpre-
tationen müssen nicht bewusst sein, sondern können auch unbewusst ablaufen.
Die Auslösung der Panikattacken erfolgt nach Clark meist durch innere, körpereige-
ne Reize (z.B. Herzsensationen als Herzinfarktzeichen, Schwindel als Anzeichen für
einen drohenden Kontrollverlust) und viel seltener durch äußere Reize.
Dysfunktionale Fehlinterpretation körperlicher Empfindungen ohne panikartiges
Ausmaß, die zu ständigen Sorgen um die Gesundheit führen, stellen die Grundlage für
die hypochondrische Störung dar, die zukünftig besser „Gesundheitsangststörung“ ge-
nannt werden sollte. Sorgen um die Gesundheit stellen oft auch den Hintergrund einer
chronifizierten Panikstörung dar („Wie lange hält mein Herz das noch aus?“).
Panikattacken lassen sich nach Margraf und Schneider durch ein psychophysiologi-
sches Modell erklären, das eine Weiterentwicklung entsprechender Konzepte aus den
USA (Barlow) und England (Clark) darstellt und im Folgenden näher beschrieben wird.
Panikattacken entstehen in einem mehrstufigen Prozess („Teufelskreis der Angst“ [87]):
1. Physiologische oder kognitive Veränderungen. Auslöser für den Aufschaukelungs-
prozess sind physiologische oder kognitive Veränderungen. Die körperlichen Sym-
ptome (z.B. Herzrasen, Atemnot, Übelkeit) oder kognitiven Veränderungen (z.B.
Wahrnehmungsstörung, Aufmerksamkeitsbeeinträchtigung, Gedankenrasen) können
Ausdruck von Erregung und Angst sein oder Folge verschiedener Faktoren wie kör-
perlicher Anstrengung, Einnahme chemischer Substanzen (z.B. Koffein), situativer
Bedingungen (z.B. Hitze, Enge) oder emotionaler Erregung (z.B. Angst, Wut).
2. Wahrnehmung der Veränderungen. Die körperlichen oder kognitiven Veränderun-
gen werden von der Person wahrgenommen.
3. Assoziation mit Gefahr. Die wahrgenommenen körperlichen oder kognitiven Verän-
derungen werden mit Gefahr verbunden. Besonders Symptome, die mit lebensnot-
wendigen Funktionen (Herz und Atmung) zusammenhängen, sowie plötzlich und
spontan auftretende Symptome werden als Zeichen von Gefahr erlebt.
4. Angst als Folge der wahrgenommenen Bedrohung. Die Person reagiert auf die
wahrgenommene Bedrohung mit Angst.
5. Physiologische Veränderungen als Folge der Angst erzeugenden Bewertung der
registrierten Symptome. Wenn die verstärkt auftretenden Symptome wahrgenom-
men und wiederum mit Gefahr assoziiert werden, kommt es zu einem weiteren An-
stieg der Angst.
6. Symptome der Panikattacke. Der kontinuierliche Aufschaukelungsprozess von kör-
perlichen Veränderungen und deren Bewertung als Gefahrenzeichen führt schließ-
lich zu einer Panikattacke. Dieser Rückkoppelungsprozess kann mehrmals durchlau-
fen werden und geschieht in der Regel so schnell, dass dies den Betroffenen oft gar
nicht bewusst wird.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 317
Nach einer Untersuchung [91] hatten die Eltern oder Familienmitglieder von Menschen
mit Panikattacken, nicht aber von Menschen mit anderen Angststörungen, häufiger
unter chronischen Krankheiten oder körperlichen Angstsymptomen gelitten als die Be-
zugspersonen der Kontrollgruppen. Die späteren Panikpatienten könnten durch die
Beobachtung der Angehörigen zur Überzeugung gelangt sein, dass körperliche Sym-
ptome gefährlich sind und es bei Vorliegen solcher Symptome sinnvoll ist, sich zu
schonen und Situationen zu vermeiden, in denen diese Symptome auftreten. Die Panik-
neigung könnte also über Prozesse des Modelllernens erworben worden sein.
Eine verstärkte Selbstbeobachtung lässt sich sogar schon bei Kindern von Panikpati-
enten feststellen, die selbst noch keinen Anfall erlebt hatten. Diese zeigten im Vergleich
zu anderen Kindern eine erhöhte Aufmerksamkeitslenkung auf körperliche Zustände
und „gefährliche“ Worte wie Tod, Sarg oder Tränen [92].
Die psychophysiologischen und kognitiven Modelle zur Erklärung von Angst- und
Panikstörungen haben sich in den letzten Jahren derart durchgesetzt, dass die moderne
Verhaltenstherapie mittlerweile weit entfernt ist von den rein lerntheoretischen Konzep-
ten, die jedoch durch eine Neuformulierung in das Gesamtkonzept integriert wurden.
„Bei Menschen, die an plötzlichen, scheinbar unerklärlichen Angstanfällen leiden, hat sich in aller
Regel zwischen den verschiedenen Bestandteilen der normalen Angstreaktion ein Teufelskreis heraus-
gebildet. Obwohl dieser Teufelskreis von Mensch zu Mensch verschieden ist, gibt es doch einige wich-
tige Gemeinsamkeiten... einen Kreis mit folgenden Komponenten: Wahrnehmung, Gedanken, physio-
logische Veränderungen, körperliche Symptome.
Der Teufelskreis kann nun an jeder Stelle in Gang gesetzt werden. Meist beginnt er nur mit einer
Komponente. Das folgende Beispiel zeigt Ihnen, wie während eines Angstanfalls der Teufelskreis
abläuft: Stellen Sie sich vor, Sie bemerken plötzlich, wie Ihr Herz schneller zu schlagen beginnt. Sie
haben das Gefühl, Sie können nicht mehr richtig atmen. Sie haben keine Erklärung für diese Symptome
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 319
und werden ängstlich und stellen sich vor, wie Sie nach Luft schnappen müssen. Gleichzeitig denken
Sie, Sie fallen gleich in Ohnmacht. Sie nehmen hier also körperliche Symptome wahr und interpretieren
Sie als gefährlich, als Warnung vor etwas Schrecklichem, das bald geschehen könnte. Diese Vorstel-
lung erzeugt Angst. Durch die Angst werden in Ihrem Körper weitere physiologische Veränderungen
ausgelöst (z.B. Adrenalinausschüttung), und die körperlichen Symptome werden noch intensiver. Ihnen
wird jetzt sehr schwindlig und heiß, und Sie fangen an zu schwitzen und haben das Gefühl zu schwan-
ken. Ihre Gedanken fangen an zu rasen, und Sie fühlen sich völlig verwirrt. Sie denken: ‚Ich verliere
den Verstand und werde vollständig die Kontrolle verlieren.’ Ihr Herz schlägt noch schneller, und Sie
spüren Schmerzen in der Brust. Sie nehmen wiederum die jetzt stärker gewordenen Symptome wahr
und bewerten Sie erst recht als gefährlich, da sie ja wirklich stärker geworden sind und Sie somit Ihre
Befürchtung einer drohenden Gefahr bestätigt sehen. Das Ganze schaukelt sich also auf. Sie denken
jetzt: ‚Ich werde einen Herzanfall bekommen’. Sie werden noch ängstlicher. Sie denken: ‚Dieses Ge-
fühl wird nie wieder weggehen, und niemand wird mir helfen können. Ich habe Angst zu sterben.’ Sie
würden gerne irgendwohin laufen, wo Sie sich sicher fühlen, aber Sie wissen nicht wohin. Sie rufen
jetzt Ihren Arzt an und bitten ihn um Hilfe. Sie spüren sofort, daß nach dem Telefongespräch Ihre Angst
langsam nachläßt. Bis der Arzt bei Ihnen ist, ist Ihre Angst fast verschwunden.
Das Beispiel zeigt unter anderem, daß körperliche Symptome häufig stärker werden, wenn man be-
sonders auf sie achtet. Da die Person in dem Beispiel keine Erklärung für ihre Symptome hatte, wurde
sie ängstlich. Weil sie ängstlich war, bekam sie noch mehr Angst. Je ängstlicher sie wurde, desto stär-
ker wurden die Symptome und umgekehrt. Manche Menschen, die einmal starke Angst erfahren haben,
werden sehr empfindlich gegenüber körperlichen Veränderungen. Sie nehmen sehr schnell körperliche
Veränderungen wahr, sie achten verstärkt auf diese Symptome, bewerten sie als besonders gefährlich
und setzen so den Teufelskreis in Gang.
Noch einmal zusammenfassend kann der Teufelskreis also an jeder Stelle in Gang gesetzt werden:
Er kann sowohl durch Gedanken ebenso wie durch die Wahrnehmung körperlicher Veränderungen
ausgelöst werden. Entscheidend ist dabei, daß diese inneren Reize (vor allem körperliche Veränderun-
gen) als Gefahrensignale interpretiert und somit stärker werden. Erst dadurch kommt der Aufschauke-
lungsprozeß so richtig in Gang. Als Konsequenz der Aufschaukelung wird dann auch Ihr Verhalten
beeinflußt. Angstanfälle entstehen also als eine Reaktion auf die Wahrnehmung und Bewertung innerer
Reize. Obwohl diese Reaktion zunächst meist verständlich und weitgehend natürlich ist, geht sie bei
manchen Menschen zu weit, da sie auf falschen Bewertungen beruht. Ihre Angstreaktion auf die von
Ihnen als gefährlich interpretierten Reize ist dabei ganz natürlich, aber Ihre Bewertungen von Reizen,
für die Sie keine Erklärung haben, als gefährlich, ist in diesem Fall falsch...
Darüber hinaus hängt der Teufelskreis auch von allgemeiner Anspannung bzw. Streß ab... Die mei-
sten Menschen sind ständig mehr oder weniger angespannt. Etwas mehr angespannt sind Sie z.B., wenn
Sie auf einen wichtigen Anruf warten... Manchmal ist die allgemeine Anspannung hoch, d.h. sie liegt
kurz unter der Schwelle, bei der ein Angstanfall ausgelöst wird. Sie kann aber auch niedrig sein, also
weit unter der Schwelle zur Auslösung eines Angstanfalls liegen. Es gibt nun Tage oder auch länger
anhaltende Phasen, an denen Sie angespannter sind, weil Sie z.B. viel Arbeit zu bewältigen haben oder
weil in Ihrem Leben eine einschneidende Veränderung (etwa die Geburt eines Kindes, eine Operation,
ein Umzug) stattgefunden hat, an die Sie sich erst gewöhnen müssen. In solchen Phasen, in denen Sie
also ein hohes Anspannungsniveau haben, kann nun schon eine alltägliche Streßsituation, wie bei-
spielsweise, daß Sie vergessen haben, die Herdplatte abzustellen und Ihnen das Essen angebrannt ist, zu
einem Auslöser für einen Angstanfall werden. Viele Betroffene erleben ihren ersten Angstanfall in
einer solchen Streßsituation. Es kann aber auch sein, daß Ihr allgemeines Anspannungsniveau niedrig
ist und Sie einem starken Stressor, z.B. dem Tod eines nahestehenden Menschen, ausgesetzt sind und so
die Schwelle für einen Angstanfall überschreiten. Es gibt viele Kombinationen von allgemeiner An-
spannung und Stressoren, die zu einem Angstanfall führen können.
Wenn man mehrmals einen Angstanfall hatte, entwickelt man oft eine anhaltende Sorge davor, so
etwas könnte wieder geschehen. Dies erhöht das allgemeine Anspannungsniveau. Auch andere Folge-
probleme von Angstanfällen können zu einer solchen Steigerung des allgemeinen Anspannungsniveaus
führen. Sie können z.B. wegen Ihrer Angstanfälle in Ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt werden.
Vielleicht können Sie aufgrund Ihrer Angstanfälle nicht mehr so gut vor anderen Menschen reden. Dies
ist aber nur ein Teil Ihrer Arbeit. Sie versuchen, diese Situation so oft wie möglich zu vermeiden,
fühlen sich aber ständig unter dem Druck, den Anforderungen Ihrer Arbeit nicht nachkommen zu kön-
nen. Infolgedessen steigt natürlich Ihr allgemeines Anspannungsniveau. Es können nun schon schwache
Stressoren und Belastungen zur Auslösung eines Angstanfalls führen.“
320 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Stress mindernd wirkt das Gefühl der Kontrolle, Stress erhöhend das Gefühl der Nicht-
beeinflussbarkeit und Machtlosigkeit angesichts der Lebensbedingungen. Stress resul-
tiert nicht einfach nur aus dem Auftreten eines Stressors, sondern hängt auch von dessen
subjektiver Bewertung als viel oder wenig belastend ab (transaktionales Stressmodell
von Lazarus). Stress ist das Ergebnis der Wechselwirkungen zwischen Stressor und
betroffener Person in einem bestimmten größeren Zusammenhang (situativer Kontext).
Panikpatienten weisen keine größere Zahl an kritischen Lebensereignissen als Kontroll-
personen auf, sondern bewerten ihre Stressoren nur viel negativer.
Ein und derselbe Stressor kann individuell sehr unterschiedliche Stressreaktionen
auslösen, in Abhängigkeit von Erbanlagen (Konstitution), erworbenen körperlichen
Beeinträchtigungen, Alter, Geschlecht, Persönlichkeitsstruktur, lebensgeschichtlich
erworbener Ansprechbarkeit verschiedener Organe (z.B. Herz- oder Magenfixierung in
der ganzen Familie), Erziehung (z.B. Angst förderndes Milieu oder Unterdrückung von
Emotionen), Lernerfahrungen im Umgang mit bestimmten Stressoren, momentaner
körperlicher und seelischer Belastbarkeit und momentanen kognitiven Bewertungen
(z.B. gefährlich, nicht bewältigbar).
Panikattacken entstehen auf dem Hintergrund einer erhöhten, oftmals bereits chroni-
schen Belastungssituation. Stress spielt eine zentrale Rolle bei der Auslösung des Teu-
felskreises der Angst.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 321
Der Carpenter-Effekt [96] bezeichnet das Phänomen der Ideomotorik: Die Vorstellung
einer Bewegung (z.B. einer angstbedingten Kampf- oder Fluchtbewegung) löst die
Tendenz zu ihrer Realisierung aus, d.h. die Wahrnehmung oder Vorstellung einer Be-
wegung bewirkt minimale Mitbewegungen des relevanten Körperteils.
Die motorischen Vorstellungen werden über das limbische System und den motori-
schen Kortex in Handlungsimpulse umgesetzt. Die bei der Wahrnehmung oder Vorstel-
lung einer Bewegung entstehenden Bewegungsimpulse können mit einem Gerät zur
Messung der Muskelspannung (EMG: Elektromyelographie) nachgewiesen werden.
Mit intensiven Bewegungsvorstellungen gehen eine zentrale Erregung des motori-
schen Rindenfeldes des Gehirns sowie minimale Kontraktionen der Muskeln einher. Es
erfolgt eine Intensivierung des Gasstoffwechsels, eine Beschleunigung von Atmung und
Herzschlag, eine Blutdruckerhöhung und eine stärkere Erregbarkeit der peripheren
Nerven. Durch die innere Mitbewegung kommt es im Zentralnervensystem zur Ausbil-
dung von Spuren, die die Bahnung koordinierter Verhaltensmuster beschleunigen.
Der amerikanische Physiologe Jacobson wies bereits 1929 nach, dass die Vorstel-
lung, an einem Marathonlauf teilzunehmen, eine minimale Aktivierung der entspre-
chenden motorischen Nerven bewirkt, was zu einer leichten Stimulierung der Beinmus-
kulatur führt. Der durch eine konkrete Vorstellung ausgelöste ideomotorische Prozess
aktiviert nicht nur die Willkürmuskulatur, sondern erhöht auch die Herzschlagfrequenz
und den Blutdruck, verstärkt die Schweißabsonderung, steigert die Ausschüttung von
Endorphinen usw.
Messungen im Sport haben ergeben, dass 800 Millisekunden vor einer Reaktion der
Muskulatur das Gehirn die Bewegungen des Körpers vorwegnimmt [97]. Elektrische
Impulse bewirken eine Aufladung der Muskeln über das zentrale Nervensystem, in dem
die Bilder gespeichert sind. Die Bewegung ist im Gehirn bereits vollzogen, bevor der
Körper reagiert. Ein systematisch durchgeführtes Vorstellungstraining aktiviert die
gleichen nervalen und muskulären Prozesse wie beim physischen Training im Sport.
Durch den Spitzensport ist mentales Training einem breiten Bevölkerungskreis be-
kannt geworden und der Glaube an dessen psychologische Wirksamkeit gestiegen.
Menschen mit Angst- und Panikstörungen können lernen, sich wie Spitzensportler auf
gefürchtete Situationen vorzubereiten.
Das Prinzip der Ideomotorik ist die Basis vieler Hypnosephänomene und des menta-
len Trainings im Sport. Die praktische Bedeutung des Carpenter-Effekts zeigt sich beim
Training von Spitzensportlern ebenso wie in der Rehabilitation von Körperverletzten,
wo ohne tatsächliche Bewegungsmöglichkeit bzw. Bewegungsfähigkeit bestimmte
Muskelpartien mental gezielt aktiviert werden.
324 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Studien zur Hypnotisierbarkeit von Menschen haben ergeben, dass Phobiker eine
höhere Hypnotisierbarkeit bzw. Suggestibilität haben als die Durchschnittsbevölkerung.
Demnach werden bestimmte Menschen wegen ihrer ausgeprägten Vorstellungsfähigkeit
und kognitiven Beteiligung bei Ereignissen eher zu Phobikern werden als andere.
Wenn nach dem Carpenter-Effekt bestimmte Vorstellungen in körperliche Reakti-
onsweisen umgesetzt werden, wird auch verständlich, warum die phobischen Angst-
inhalte zu belastenden körperlichen Zuständen führen. Aus Angst vor einer bestimmten
Situation am liebsten davonlaufen zu wollen, führt zu einer entsprechenden Aktivie-
rung. Wenn dies jedoch z.B. wegen der Teilnahme an einer Sitzung oder während der
Fahrt in einem Schnellzugabteil unmöglich ist, entsteht eine unangenehme Muskelver-
spannung, die mangels Bewegung nicht abreagiert werden kann.
Eine gute Vorstellungsfähigkeit wirkt sich wohl bei Angstinhalten negativ aus, bleibt
aber dennoch eine Begabung, die für künstlerisch-kreative Tätigkeiten unbedingt erfor-
derlich ist. Die Lektüre eines Romans ohne gute Vorstellungsfähigkeit wird bald an-
strengend und langweilig. Filme versuchen mit gestalterischen Mitteln bewusst eine
innere Anteilnahme zu erzeugen, um den Erlebniswert zu erhöhen.
Die Ursachen der Alexithymie sind unbekannt. In neuerer Zeit werden auch neurobiolo-
gische Ursachen vermutet (z.B. eine Unterbrechung der Verbindung zwischen dem
limbischen System und dem Neokortex). Das ursprüngliche Konzept der Alexithymie
als spezifische Persönlichkeitseigenschaft, die zu psychosomatischen Störungen präde-
stiniere, war theoretisch und empirisch nicht haltbar. Defizite in der Verarbeitung von
Gefühlen führen keineswegs automatisch zu psychosomatischen Störungen.
Gegenwärtig wird das Alexithymie-Modell als diagnosenunspezifisches Erklärungs-
konzept für Störungen der kognitiven Verarbeitung emotionaler Vorgänge sowie für das
Defizit an adäquaten Bewältigungsstrategien von emotionaler Hilflosigkeit verwendet,
wodurch der Alexithymie-Begriff seinen Wert behält.
Mit der Entwicklung der Toronto-Alexithymia-Scale, die auch auf Deutsch vorliegt
[99], wurde eine Neufassung des Konzepts versucht, das Alexithymie als mögliche
Reaktion oder Bewältigungsstrategie auf belastende Ereignisse versteht.
Erhöhte Alexithymie-Werte ließen sich empirisch nachweisen bei körperlich Kran-
ken, bei Opfern von Vergewaltigungen (d.h. bei Menschen mit posttraumatischen Bela-
stungsstörungen), bei Personen mit Panikstörungen und bei Frauen mit Anorexie.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 325
Das Konzept der Alexithymie als Reaktionsform auf belastende Ereignisse findet
mittlerweile eine gewisse Bestätigung. Die Tendenz, schwer bewältigbare Erinnerungen
und damit verbundene Emotionen auszublenden, ist mit einer Abschwächung der all-
gemeinen emotionalen Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit verbunden.
Alexithymie hängt oft auch mit den Variablen Depressivität bzw. Demoralisierung
zusammen. Die mangelnde Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit von negativen, un-
erwünschten Gefühlen führt zu einer erhöhten physiologischen Erregung, die sich die
Betroffenen nicht erklären können, sodass sie ständig neue Untersuchungen und medi-
kamentöse Behandlungen verlangen.
Eine typische Alexithymie-Problematik weist z.B. jemand auf, der von Übelkeit,
Herzklopfen, Schwitzen, Benommenheit, Übelkeit und einem flauen Gefühl im Magen
berichtet, aber nicht weiß, dass er Angst empfindet und über diese Symptome seine
Angst ausdrückt. „Alexithymiker“ sind keineswegs gefühlsarme Leute, die nichts emp-
finden können, sie können nur ihre Gefühle nicht richtig wahrnehmen und ausdrücken.
Was ihnen fehlt, ist die „emotionale Intelligenz“, die in dem gleichnamigen Bestsel-
ler des amerikanischen Psychologen Goleman ausführlich beschrieben wird. Es mangelt
ihnen an der richtigen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, soweit es den
Gefühlsbereich betrifft. Selbst die Aussage, man fühle sich „schlecht“, kann nicht näher
erläutert werden. Die mangelnde Gefühlswahrnehmung führt dazu, dass die Betroffenen
oft über körperliche Beschwerden klagen, d.h. sie drücken ihre Gefühle in Form von
somatischen Beschwerden aus. Es handelt sich dabei um keine psychosomatische Stö-
rung im üblichen Sinn, wo emotionale Probleme zu Gesundheitsproblemen führen.
Eine Verbesserung der emotionalen Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit ist vor
allem bei Menschen mit Panikstörungen, Zwangsstörungen und somatoformen Störun-
gen angebracht, die ihrer körperlichen Erregung angstvoll und verständnislos gegenü-
berstehen. Die Betroffenen müssen die zugrunde liegenden Emotionen wahrnehmen und
in ihre Persönlichkeit integrieren lernen, wenn sie mehr Kontrolle über ihren Körper
erlangen wollen. Viele „Angstpatienten“ haben mehr „Wut im Bauch“ als Angstvorstel-
lungen im Kopf. Dies äußert sich oft auch in Form von Magen- und Darmproblemen.
Im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie bei Angststörungen muss auf die
Wahrnehmung und Identifizierung von Emotionen sowie auf deren adäquaten Ausdruck
geachtet werden. Emotionen sind nicht einfach nur die Folge von dysfunktionalen Ko-
gnitionen, wie dies durch die kognitive Therapie nahe gelegt wird, sodass primär nur die
kognitiven Schemata zu ändern wären. Gefühle sind vielmehr ein eigenständiger Be-
reich in jedem Menschen, der aus sich heraus handlungssteuernd wirkt. Dies wird auch
durch neurobiologische Befunde bestätigt.
Ohne Berücksichtigung des emotionalen Erlebens und dessen Auswirkung auf die
physiologische Befindlichkeit bleibt eine Angstbewältigungstherapie unzureichend:
1. Eine rein kognitive Verhaltenstherapie ist in Gefahr, verschiedene Emotionen „weg-
zurationalisieren“, nachdem sie als unberechtigt erkannt worden sind. Insbesondere
die rational-emotive Therapie nach Ellis, die eine Art stoischer Gleichgültigkeit an-
strebt, aber auch eine einseitige kognitive Therapie nach Beck, verhilft zu keinem
adäquaten Umgang mit störenden Emotionen. Dies wird z.B. durch Konzepte und
Techniken aus der Gestalttherapie eher erreicht, wie Butollo und Mitarbeiter in
München durch ihr Konzept einer integrativen Angsttherapie aufgezeigt haben.
2. Eine reine Konfrontationstherapie ist in Gefahr, unerwünschte Emotionen nach dem
Modell der physiologischen Habituierung „wegzutrainieren“, statt deren umfassen-
de Wahrnehmung und Integration in die Gesamtpersönlichkeit zu fördern.
326 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Generalisierte Angststörung –
Sorgen als kognitive Vermeidungsstrategie
Das bekannte Drei-Faktoren-Modell erklärt die Entstehung einer generalisierten Angst-
störung auf der Basis von Vulnerabilität, auslösenden Faktoren und aufrechterhaltenden
Bedingungen. Eine genetische Komponente (Vulnerabilität) in Form einer allgemeinen
Veranlagung zu erhöhter Ängstlichkeit kann bei bestimmten Personen in Verbindung
mit verschiedenen Lernerfahrungen, psychosozialen Faktoren und Belastungen (auslö-
senden Bedingungen) und speziellen Angst verstärkenden Denkmustern (aufrechterhal-
tenden Bedingungen) zu einer generalisierten Angststörung führen.
Eine generalisierte Angststörung wird in ihrem Wesen nur dann wirklich verstanden,
wenn man die andauernden Sorgen und deren Aufrechterhaltung im Rahmen eines
Teufelskreis-Modells berücksichtigt, wie dies etwa in den deutschen Arbeiten von Mar-
graf, Becker und Hoyer erfolgt. Bei einer gewissen Neigung (Prädisposition) zu erhöh-
ter Ängstlichkeit können äußere Auslöser (Lebensereignisse und -krisen, Stress, Über-
forderung, Krankheit) und/oder innere Auslöser (bestimmte Angst verstärkende Denk-
muster wie hohe Bedrohlichkeit, geringe Kompetenzerwartungen, mangelndes Kon-
trollgefühl oder Gesundheitsängste, aber auch verschiedene körperliche Reize wie Ver-
spannungen oder allgemeine Nervosität) einen Sorgenprozess aufschaukeln und in Gang
halten, der von ängstlichen Gefühlen und körperlichen Symptomen getragen wird. Die
Betroffenen unterschätzen angesichts des Bedrohungsgefühls ihre Möglichkeiten und
Fähigkeiten zu einer konstruktiven Problembewältigung und entwickeln vermehrte
Sorgen. Sie bekommen ihre Sorgen nicht unter Kontrolle, sodass diese vermehrt auftre-
ten, nehmen Zuflucht zu Rückversicherungsstrategien bei Vertrauenspersonen (sie bit-
ten oft um die Bestätigung der Ungefährlichkeit von Situationen), versuchen ihre Sor-
gen zu unterdrücken und durch Ablenkung zu vermeiden und verstärken damit erst recht
ihre Sorgen und Befürchtungen, weil keine Gewöhnung (Habituation) an die bildhaften
Vorstellungen erfolgt. Die Betroffenen verwechseln ihre Bilder mangels anhaltender
Konfrontation damit immer wieder mit vermeintlich bevorstehenden Situationen.
Ständiges Sich-Sorgen gilt vor allem seit dem DSM-IV als das zentrale Merkmal der
generalisierten Angststörung. Es besteht eine besorgte Anspannung, die sehr allgemein
ist (im Gegensatz zu Phobien) und auf multiple Lebensumstände bezogen ist. Die Be-
troffenen machen sich ständig Sorgen um alles Mögliche. Die Sorgen können nicht
kontrolliert werden und beanspruchen deshalb die Aufmerksamkeit in übermäßiger
Weise. Je weniger die ständig wechselnden Sorgen bewältigt werden können, umso
mehr erfolgt eine Aufmerksamkeitseinengung darauf, während gleichzeitig die anfal-
lenden Aufgaben des Alltags immer stärker vernachlässigt werden. Dies führt zum
Eindruck, das Leben nicht bewältigen zu können, was das Gefühl des Kontrollverlusts
verstärkt, sodass eine weitere Einengung auf die Sorgen und die eigene Unfähigkeit
erfolgt. Das Grübeln wird weiterhin als Problemlösungsmittel angesehen, während die
Offenheit für nicht angstbezogene Gegebenheiten völlig verloren geht.
Menschen mit einer generalisierten Angststörung grübeln den ganzen Tag vor sich
hin, mehrheitlich über Kleinigkeiten des Alltags nachdenkend, ohne je zu einem konkre-
ten Ergebnis zu gelangen. Die Entscheidung zu einer bestimmten Bewältigung eines
Problems löst sofort Angst aus, sodass wiederum der Weg zurück in die Unentschie-
denheit des Grübelns gewählt wird, ohne dass eine vollständige kognitive und emotio-
nale Bearbeitung einer tatsächlichen oder vermeintlichen Bedrohung erfolgt. Auf diese
Weise wird der Mechanismus der generalisierten Angststörung aufrechterhalten.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 329
Die Sorgen bei generalisierten Angststörungen sind ständig wechselnd, oft diffus
und wenig bildhaft. Bildhafte Vorstellungen konkreter, negativer Inhalte lösen psycho-
vegetative Symptome aus, die es zu vermeiden gilt. Obwohl die ständigen Sorgen bela-
stend sind, verhindern sie doch noch unangenehmere Zustände. Gedanken und Sätze mit
unangenehmem Inhalt sind emotional weniger belastend als konkrete bildhafte Vorstel-
lungen, die Angst und Unruhe intensivieren. Dies kann durch ein Zu-Ende-Denken
einer ganz bestimmten Sorge auf plastisch-bildhafter Ebene überprüft werden. Wenn bei
ständiger Besorgtheit abstrakt-gedankliche Prozesse dominieren und bildhafte Vorstel-
lungen vermieden werden, werden auf diese Weise körperliche Symptome unterdrückt
oder nur vermindert wahrgenommen. Sich-Sorgen und Grübeln sind kognitive Vermei-
dungsreaktionen angesichts von unerwünschten emotionalen Zuständen (emotionale
Bedrohung und körperliche Angespanntheit), analog zur offenen motorischen Vermei-
dung bei der Agoraphobie. Sie lenken ab von bildhaften Vorstellungen, die große Angst
und emotionale Betroffenheit bewirken. Die Sorgen und Grübeleien dämpfen die emo-
tionale Verarbeitung und verhindern damit körperliche Symptome. Das unaufhörliche
Sich-Sorgen gilt lerntheoretisch als „negative Verstärkung“. Sorgen stellen insofern
negative Verstärker dar, als sie die körperlichen und psychischen Komponenten bei
negativen emotionalen Erfahrungen reduzieren.
Trotz des Leidens unter ihren Befürchtungen halten viele Betroffene ihre Sorgen
nicht für sinnlos, sondern für ähnlich wirksam wie magische, abergläubische Praktiken.
Wenn man sich nur ausreichend über gefürchtete Ereignisse sorgt, werden sie schon
nicht eintreten. Hier ist ebenfalls das Prinzip der negativen Verstärkung wirksam.
Die Betroffenen sind nicht bereit, das geringste Ausmaß an Unsicherheit zu tolerie-
ren. Sie weisen wegen eines minimalen Restrisikos eine erhöhte kognitive und körperli-
che Alarmbereitschaft auf. Aus dem Verständnis der generalisierten Angststörung als
Störung der Emotionsregulierung (Vermeidung intensiver Angst) und als ineffiziente
Kontrollversuche der Sorgen ist therapeutisch eine mentale Konfrontation mit den Sor-
gen im Sinne eines bildhaften Zu-Ende-Denkens der Befürchtungen indiziert.
Fachleute in den USA, Kanada und Großbritannien haben unterschiedliche kognitive
Konzepte ausgearbeitet, die wegen ihrer Bedeutung für eine Verbesserung der (verhal-
tens-)therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten im Folgenden dargestellt werden.
Der amerikanische Psychologe Thomas Borkovec und sein Team [101] entwickeln
seit Jahrzehnten ein umfangreiches, immer weiter ausdifferenziertes kognitives Modell
zur Erklärung der generalisierten Angststörung. Es beruhte ursprünglich auf lerntheore-
tischen Konzepten und betont mittlerweile auch interaktionelle und emotionszentrierte
Aspekte. Sich-Sorgen wird als Bewältigungsstrategie, und zwar als eine kognitive Ver-
meidungsstrategie, verstanden und als Prozess mit vierfacher Funktion gesehen:
Sich-Sorgen (Grübeln, Nachdenken) stellt eine kognitive Aktivität dar, die primär
verbal, d.h. mit Worten, erfolgt. Auf diese Weise wird eine stärker emotionale Akti-
vierung (große Angst) vermieden, wie diese durch lebendig-plastische Bilder be-
wirkt wird. Sorgenketten ermöglichen eine relativ emotionslose, wenig konkret-
bildhafte Beschäftigung mit gefürchteten Ereignissen in der nächsten Zukunft. Ver-
bal dominiertes Sich-Sorgen geht mit einer verstärkten Aktivität in der linken (ratio-
nal betonten) Hirnhälfte einher. Nach dem lerntheoretischen Prinzip der negativen
Verstärkung (Ausbleiben stark negativer emotionaler Reaktionen) wird Sich-Sorgen
weiterhin als effiziente Methode zur Vermeidung bzw. Verminderung von Angst
eingesetzt. Die Dominanz gedanklicher Aktivitäten während des Sorgenprozesses
anstelle von Angst machenden lebhaften Vorstellungsbildern entspricht bei der Ago-
raphobie der Fluchtreaktion und der damit verbundenen Angstminderung.
Nach dem englischen Psychologen Adrian Wells, der sein Konzept in seinem Buch
„Cognitive therapy of anxiety disorder“ darlegt, haben Patienten mit einer generalisier-
ten Angststörung ganz spezifische Annahmen über ihre Sorgen („Meta-Sorgen“: Sor-
gen über die Sorgen). Die Betroffenen sorgen sich zwar um ihre Sorgen („Von den
vielen Sorgen werde ich noch verrückt“), sehen sie aber dennoch als sinnvoll an („Wenn
ich mich nicht mehr sorge, könnte etwas Schlimmes passieren“), sodass sie daran fest-
halten. Meta-Sorgen halten den Sorgenprozess aufrecht, führen aber auch zu weiteren
Ängsten und ineffizienten Unterdrückungsversuchen, die das Sich-Sorgen verstärken.
Interne oder externe Auslöser führen zu Typ-I-Sorgen („Was wäre, wenn …?“), die
ganz normal sind. Die krank machenden Typ-II-Sorgen (Meta-Sorgen) stellen Bewer-
tungen dieser Sorgen dar („Das Sorgen schadet mir“, „Wenn ich meine Ängste und
Sorgen nicht in den Griff bekomme, werde ich noch verrückt“). Die Folgen zeigen sich
im Verhalten (Kontrollieren, Rückversicherung), im Denken (Versuch der Gedanken-
kontrolle, Vermeiden der Gedanken) und im Gefühlsbereich (Panik, Anspannung).
Der Psychologe Stanley Rachman – einer der Gründungsväter der Verhaltensthera-
pie – beschreibt in seinem empfehlenswerten, allgemein verständlichen Buch „Angst.
Diagnose, Klassifikation und Therapie“ die generalisierte Angststörung auf dem Hin-
tergrund des Konzepts der Sicherheitssignale als Zusammenspiel von Gefahrensignalen
und Sicherheitssignalen, als nicht erfolgreiche Suche nach Sicherheit. Die gescheiterten
Bemühungen um Sicherheit vor den Gefahren, die der Familie, Freunden und einem
selbst drohen, verstärken das exzessive Streben nach Sicherheit. Die generalisierte
Angststörung beruht nach dem Sicherheitssignalkonzept auf dem Fehlen von Sicher-
heitsvorkehrungen oder Sicherheitssignalen oder deren Unzulänglichkeit und auf der
Überschätzung der Wahrscheinlichkeit von Gefahren und deren Auswirkungen. Ein
eingetretener oder befürchteter Verlust von Sicherheit erhöht die Angst und Sorge und
intensiviert die Suche nach Sicherheit. Sicherheitssignale bieten für den Moment und an
dem Ort, wo sich der Betroffene aufhält, eine gewisse Sicherheit.
332 Erklärungsmodelle für Angststörungen
2. Positive Funktion der Sorgen. Das ständige Sich-Sorgen wird zwar nicht von allen,
aber doch von zahleichen Menschen mit einer generalisierten Angststörung als posi-
tiv und wichtig angesehen, wie Wells mit seinem Konzept der Meta-Sorgen aufge-
zeigt hat. Die positive Auswirkung von ständigem Sich-Sorgen lässt sich lerntheore-
tisch erklären nach mit dem Prinzip der positiven Verstärkung (erwünschte Folgen
wie etwa Beruhigung treten ein) und dem Prinzip der negativen Verstärkung (das
ständige Sich-Sorgen hat zu keiner der befürchteten Katastrophen geführt, hat sich
somit subjektiv bewährt und wird daher weiter als Problemlösungsstrategie einge-
setzt, weil negative Konsequenzen ausgeblieben sind). Die Autoren möchten fünf
Typen von positiven Annahmen über Sorgen empirisch als relevant für die Entwick-
lung einer generalisierten Angststörung belegen:
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 333
4. Kognitive Vermeidung hält die Störung aufrecht, weil die Betroffenen mit den bela-
stenden Sorgen nicht adäquat umgehen lernen, und erfolgt auf zweierlei Wegen:
z Implizite oder automatische Strategien. Die Vermeidung bedrohlicher kognitiver
und emotionaler Inhalte mithilfe stärker kognitiv-verbal dominierter Strategien
(Grübeln) anstelle von stärker bildhaften und damit stärker Angst machenden
Strategien (Visualisieren) hält die Störung aus lerntheoretischer Sicht über den
Mechanismus der negativen Verstärkung im Sinne von Borkovec aufrecht.
z Explizite oder willentliche Strategien (bewusstes Vermeiden) umfasst vier Arten:
- Unterdrücken der Sorgen. Gedankenunterdrückung („Denke nicht an einen
weißen Bären“) führt nach allgemein bekannten psychologischen Erkenntnis-
sen zum vermehrten Auftreten der Sorgen. Die Strategie der bewussten Ver-
meidung verstärkt letztlich die Auffassung der Betroffenen, dass sie mangels
positiver Erfahrungen eine ängstliche Besorgtheit nicht ertragen können.
- Substitution der Sorgen durch neutrale oder positive Gedanken.
- Ablenkung zur Unterbrechung der Sorgen.
- Vermeidung von Situationen, die zu sorgenvollen Gedanken führen könnten.
334 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Nach Beck [103] findet man bei Sozialphobikern oft folgende innere Dialoge:
1. In welchem Ausmaß ist dies ein Test meiner Kompetenz oder meines Ansehens? Wie sehr muß ich
mich mir oder anderen etwas beweisen?
2. Wie ist mein Status im Vergleich zu dem der anderen?
3. Wie wichtig ist es, eine Stärkeposition bezüglich des Status oder ein gutes Ansehen im Umgang mit
sozial Bewertenden zu etablieren?
4. Wie ist die Haltung der Bewertenden? Sind sie akzeptierend und verständnisvoll oder zurückwei-
send? Sind ihre Bewertungen objektiv oder hart und bestrafend?
5. In welchem Ausmaß kann ich auf meine Fähigkeiten zählen, um die Bewertung zu überstehen?
6. Mit welcher Wahrscheinlichkeit werde ich von ablenkenden Ängsten und Hemmungen verunsi-
chert?
Nach dem kognitiven Modell von Clark und Wells [105] haben Sozialphobiker eine
negative kognitive Repräsentation ihres Selbst. Aufgrund negativer Erwartungen kon-
struieren Sozialphobiker verzerrte Vorstellungen oder Bilder von sich selbst, wie die
anderen sie angeblich sehen. Die erwarteten negativen Bewertungen des eigenen Ver-
haltens vonseiten der Umwelt werden verstärkt durch fehlerhafte Informationsverarbei-
tung und ungünstige Verhaltensweisen der Betroffenen. Sozialphobiker erschließen ihre
Wirkung auf andere durch die Beobachtung des eigenen Verhaltens nach dem Motto
„Wenn ich mich gut finde, werden mich auch die anderen gut finden; wenn ich mich
nicht okay finde, werden mich auch die anderen nicht okay finden.“ Sie vernachlässigen
die Rückmeldungen durch externe Reize; sie beobachten zu wenig die Reaktionen der
anderen ihnen gegenüber, um daraus mehr Sicherheit und Vertrauen zu gewinnen, son-
dern gehen zu sehr von der eigenen Beurteilung ihres Sozialverhaltens aus. Sozialpho-
biker weisen drei Arten von Annahmen über sich selbst und ihre soziale Umwelt auf:
1. Übertrieben hohe Maßstäbe für das Sozialverhalten, z.B. „Ich darf niemals meine
Angst zeigen“, „Ich muss immer funktionieren, dann bin ich nicht angreifbar.“
2. Dysfunktionale bzw. negative Überzeugungen zur eigenen Person, z.B. „Ich bin
anders, dumm, langweilig, uninteressant, nicht unterhaltsam, nicht liebenswert.“
3. Falsche Überzeugungen zur sozialen Bewertung bzw. zu den vermeintlichen Folgen
des eigenen Verhaltens oder Erscheinungsbildes, z.B. „Wenn ich jemandem wider-
spreche, wird er mich ablehnen“, „Wenn meine Hände zittern, werden sie mich für
nervenkrank halten“, „Wenn ich wenig sage, werden sie mich für langweilig oder
dumm halten“, „Wenn sie mich näher kennen würden, würden sie mich ablehnen.“
Ein derartiges „Sicherheitsverhalten“ ist der Grund, warum oft trotz langer Konfronta-
tion mit sozialen Situationen keine Habituation erfolgt. Die Betroffenen sind überzeugt,
nur durch Vermeidung oder Hilfsmittel einer sozialen Auffälligkeit zu entgehen. Be-
stimmte Sicherheitsverhaltensweisen vermindern in unvermeidbaren Situationen die
Ängste und erwarteten negativen Bewertungen, z.B. soll ein Beta-Blocker oder Alkohol
die innere Anspannung reduzieren oder leichte Kleidung das Schwitzen vermindern.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 337
„Auch wenn man dieser Argumentation folgt, erweist sie sich für Konsequenzen, die in ferner Zukunft
befürchtet werden, und für Rituale mit Symbolcharakter für wenig stichhaltig. Subjektive Einschätzun-
gen, Bewertungen und Vermutungen haben für die Aufrechterhaltung solcher Zwänge stärkeres Ge-
wicht als die Erfahrung, daß auf die Unterlassung keine unmittelbaren Folgen eintreten. Eine Korrektur
längerfristiger Erwartungen geht damit nicht notwendig einher. Dem entspricht ein reduzierter Behand-
lungseffekt durch Reaktionsverhinderung.“
Die Dynamik einer Zwangsstörung besteht darin, dass die unwillkürlichen, aufdringli-
chen („intrusiven“) Gedanken, Vorstellungen und Impulse, die steigende Angst und
Unruhe verursachen, durch willkürliche verhaltensbezogene und kognitive Zwangsritua-
le zu neutralisieren versucht werden mit dem Ziel, Angst, Unruhe und mögliches Un-
glück zu vermindern bzw. zu verhindern. Zwänge folgen einem vierstufigen Ablauf-
schema, wie dies Salkovskis und Reinecker anschaulich aufgezeigt haben [109]:
1. Belastender, aufdringlicher Gedanke/Reiz: „Ich könnte ein Kind verletzen“, „Das ist
schmutzig“, „Einem Angehörigen könnte etwas passieren.“
2. Bewertung: „Dies ist schlimm“, „Dies ist gefährlich“, „Ich darf nicht so denken“,
„Ich bin verantwortlich, dass nichts passiert“, „Ich bin schuldig, wenn etwas pas-
siert.“ Die Bewertung macht aus dem Gedanken oder Gefühl erst ein richtiges Pro-
blem. Die Betroffenen fühlen sich dafür verantwortlich, dass etwas angeblich Ge-
fährliches von ihnen verhindert werden muss bzw. dass niemand durch sie zu Scha-
den kommen darf. Sie sind ständig darum bemüht, potenzielle Schuld zu vermeiden.
Ohne den Verantwortungs- und Schuldaspekt sind Zwänge nicht zu verstehen.
3. Physiologische Erregung und Unbehagen (Arousal): körperliche Unruhe, Erregung,
Angstzustände, Kontrollverlustangst, Schuldgefühle usw.
4. Neutralisieren: Beseitigen der „gefährlichen“ Sachen, Abwehr des Gedankens durch
ein Ritual (Zwangshandlung, kognitives Ritual). Neutralisieren beruhigt kurzfristig.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 341
Am Beginn eines Zwangs stehen aufdringliche Gedanken, die als gefährlich oder mora-
lisch verwerflich bewertet werden. Dies führt zu Erregung und Unruhe, die man durch
verschiedene Formen der Entschärfung zu reduzieren versucht. Wenn möglich, wird die
zwangsauslösende Situation überhaupt gemieden. Wenn dies unmöglich ist, erfolgt ein
Ritual zur Verhinderung eines vermeintlichen Schadens (z.B. Waschen) bzw. zur Wie-
dergutmachung oder Neutralisierung eines angeblich bereits eingetretenen Schadens
oder Fehlers, für den sich die Betroffenen die Schuld geben. Rituale schaffen Sicherheit.
Zwangskranke tun alles, um nicht schuldig zu sein und niemandem zu schaden. Bei
subjektiv und objektiv unzulänglichen Einflussmöglichkeiten möchten sie eine imaginä-
re Katastrophe um jeden Preis verhindern, da sie sonst daran schuldig wären.
Das Neutralisieren des Gedankens, das Beseitigen eines „gefährlichen“ Objekts und
das Vermeiden einer gefürchteten Situation kann nie vollständig gelingen. Es kommt
daher im Sinne einer Rückkoppelung zu erneuter Erregung und Unruhe, zu erneutem
Auftreten des auslösenden Gedankens, zu intensivierten kognitiven oder verhaltensbe-
zogenen Ritualen. Je stärker die Zwangsgedanken und Zwangsimpulse unterdrückt
werden, desto stärker drängen sie sich auf. Dieses Faktum hat der amerikanische Psy-
chologe Wegner in seinem Buch „Die Spirale im Kopf. Von der Hartnäckigkeit uner-
wünschter Gedanken – Die Psychologie der mentalen Kontrolle“ deutlich aufgezeigt.
Foa und Wilson [110] beschreiben einen sechsstufigen Verlauf von Zwängen:
1. Auslösendes Ereignis. Bei Zwangshandlungen gibt es stets ein auslösendes Ereignis
(vermeintliche Verunreinigung, fehlerhafte Kontrolle, unbefriedigende Ordnung),
bei Zwangsgedanken fehlt meist ein auslösendes Ereignis. Situationen und Ereignis-
se, die großes Unbehagen oder den Drang zu einem Zwangsverhalten auslösen, wer-
den zu vermeiden versucht. Wenn dies nicht möglich ist, dienen Zwangsrituale der
Abwehr befürchteter Konsequenzen bzw. der Wiedergutmachung von vermeintlich
eingetretenem Schaden.
2. Einsetzen von Zwangsgedanken. Es treten wiederkehrende, negative Gedanken,
Bilder oder Impulse auf (z.B. „Durch meine Verunreinigung gefährde ich meine
Angehörigen“, „Ich könnte mein Kind töten“, „Habe ich den Ofen abgedreht?“).
3. Entstehung von Befürchtungen und Ängsten. Es werden bestimmte Konsequenzen
gefürchtet, wenn die vermeintlichen Gefahren nicht vermieden bzw. durch Zwangs-
rituale nicht bewältigt werden können („Wenn ich jetzt nicht XY tue oder denke,
muss meine Mutter sterben“, „Wenn ich mein Kind töte, komme ich in das Gefäng-
nis“, „Wenn der Ofen nicht abgedreht ist, wird unser Haus abbrennen“). Die
Zwangsgedanken werden als sehr quälend und unangenehm erlebt. Sie bewirken
Angst, Unsicherheit, Scham, Ekel und vegetative Symptome.
4. Drang zum Zwangsverhalten. Der seelische und körperliche Druck bewirkt einen
starken Drang zur Ausführung eines Zwangsrituals.
5. Ausführung des Zwangsrituals. Die Zwangsgedanken werden durch verhaltensbezo-
gene oder kognitive Rituale zu bewältigen versucht.
6. Erleichterung und Selbstkritik. Die Ausführung des Zwangsrituals führt zwar einer-
seits zu einer kurzfristigen Reduktion des Unbehagens, verstärkt jedoch andererseits
auch die Selbstkritik über die Ausführung der scheinbar sinnlosen Rituale.
Alles, was „Keime“ Ich könnte mich mit Andere werden krank, Desinfizieren der Hän-
enthält (z.B. Abfall, etwas angesteckt haben. wenn ich meine Hände de und aller berührten
öffentliche Toiletten). nicht desinfiziere. Objekte.
Alles, was verseucht Ich bin durch Bazillen Andere könnten ster- Vermehrtes Händewa-
bzw. infiziert sein verseucht. ben, wenn ich ihnen die schen, Duschen, Baden,
könnte (z.B. Objekte, Das Küchenmesser Hand gebe. Die Kinder Wechseln und Waschen
Menschen, Nahrungs- könnte infiziert sein. könnten krank werden, der Kleidung. Messer
mittel). wenn ich Brot ab- mehrfach sterilisieren
schneide. oder wegwerfen.
Alles, was „schmutzig“ Weil ich das jetzt Mit meinem Schmutz Häufiges Waschen der
ist (z.B. Kot, Urin, angegriffen habe, bin verunreinige ich die Hände mit Seife und
Menstruationsblut, ich verunreinigt. ganze Wohnung, wenn Putzen der berührten
Schweiß, Fußboden). ich mich nicht wasche. Wohnungsteile.
Alles, was gesundheits- Die ganze Wohnung Familienmitglieder Übermäßiges Putzen
schädlich sein könnte könnte durch dieses könnten sterben, wenn der Wohnung, um
(z.B. Chemikalien, Putzmittel verseucht die Schadstoffe nicht „gefährliche“ Rück-
Asbest). worden sein. beseitigt werden. stände zu beseitigen.
Kontrollzwänge
Begangene Fehler (z.B. Ich könnte mich beim Der Arbeitgeber, die Mehrfaches Kontrollie-
falschen Geldbetrag Zahleneingeben bzw. Kundschaften usw. ren und Durchlesen von
gebucht, falsches Wort Schreiben geirrt haben. könnten ohne Kontrolle Rechnungen und
geschrieben). zu Schaden kommen. Schriftstücken.
Verlassen des Hauses Habe ich beim Fortge- Ohne (neuerliche) Ständiges Überprüfen
ohne Kontrolle des hen den Ofen, den Kontrolle könnte die des Ofens und des
Ofens, des Wasser- Wasserhahn, das Licht Wohnung abbrennen Wasserhahns durch
hahns, der Lichtschal- wirklich abgedreht? bzw. überschwemmt Rückkehr in die Woh-
ter. werden. nung.
Schlafengehen ohne Habe ich die Türen und Wenn Türen und Fen- Wiederholtes Aufste-
Kontrolle, ob die Türen Fenster wirklich fest ster nicht fest ver- hen, um die Fenster und
und Fenster geschlos- verschlossen? schlossen sind, könnten Türen zu kontrollieren.
sen sind. Einbrecher kommen.
Risiken im Straßenver- Ich könnte mit dem Wenn ich nicht zurück- Mehrfaches Überprüfen
kehr (z.B. einen Rad- Auto einen Radfahrer fahre, werde ich wegen der Fahrstrecke und des
fahrer oder Fußgänger bzw. Fußgänger ange- Fahrerflucht angeklagt. Straßenrands auf Indi-
anfahren). fahren haben. zien. Spitäler anrufen.
Beim Kochen Unsi- Ist das (eben aufgetau- Wenn das Fleisch Ständige Fragen an den
cherheit über die Quali- te) Fleisch nicht schon verdorben ist, könnte Gatten, ob das Fleisch
tät der Nahrungsmittel zu lange in der Küche ich meine Kinder nicht schon verdorben
(z.B. angeblich verdor- gelegen und verdorben? vergiften. sein könnte, sicher-
benes Fleisch). heitshalber Wegwerfen
des Fleisches.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 343
Ordnungszwänge
Handlungen nach Ich muss die Wohnung Wenn ich nicht alles Handlungen so oft
einem bestimmten nach einem bestimmten genau nach Plan mache, „richtig“ wiederholen,
Muster ausführen. Plan reinigen, Gegen- wird ein Unglück bis sie gefühlsmäßig
stände in einer ganz geschehen bzw. einem stimmen.
bestimmten Weise Angehörigen etwas Wiederholtes Zurecht-
anordnen usw. Im zustoßen, und ich rücken von Gegenstän-
Moment passt es nicht. werde schuld sein. den.
Dinge auf den richtigen Es stört mich, wenn Ich kann sonst nicht Dinge ständig hin und
Platz legen. nicht alles richtig lernen und falle bei der her bewegen.
daliegt. Prüfung durch.
Zwangsimpulse
Aggressive Impulse Ich könnte mein Kind Ich könnte mein Kind Nicht mit dem Kind
(z.B. ein Kind verletzen verletzen oder töten, mit dem Messer töten, allein sein. Messer
oder in einer Kurz- und das ist schlimm. ich komme dann in das versperren oder nur in
schlusshandlung töten, Gefängnis und darf nie Anwesenheit des
jemanden überfahren). mehr nach Hause. Gatten verwenden.
Sexuelle Impulse Ich werde gleich etwas Wenn ich sexuell so Sozialkontakte vermei-
(übermäßige Beschäfti- Obszönes herausschrei- unbeherrscht bin, den, versichernde Fra-
gung mit den Ge- en, was pervers ist. werden mich alle für gen, zusammenreißen.
schlechtsorganen, Ich werde jemanden bei unmoralisch halten und Nicht mit den poten-
befürchtetes triebhaftes, den Geschlechtsorga- verachten, sodass mein ziellen Opfern allein
perverses oder sonst nen berühren. Ruf für alle Zeiten sein, krampfhaftes
inakzeptables sexuelles Ich werde jemanden dahin ist. Vermeiden dieses
Verhalten). vergewaltigen. Gedankenganges.
Blasphemische Impulse So ein Gott kann mir Wenn ich nicht Buße Häufige Beichte und
(religiöse Zweifel). gestohlen bleiben, der tue, werde ich in die Stoßgebete, Auferlegen
mir nicht hilft. Hölle kommen. harter Bußen.
Zwangsgedanken
Gedanken an Fehler, Ich bin ein Versager. Wenn ich jetzt nichts Wiederholen von Gebe-
Gefahren und Unglück. Es wird ein Unglück tue, wird etwas ten, Worten, Zahlen.
geschehen. Jemand Schreckliches passie-
könnte sterben. ren, und ich bin schuld.
Zwangsstörungen stellen im Wesentlichen kognitive Störungen dar, die durch das Zwei-
Faktoren-Modell nicht ausreichend erklärt werden können. Dieses Konzept ist ein Er-
klärungsmodell für Handlungen, nicht jedoch für Gedanken. Bei Zwangsstörungen wird
das Verhalten nicht bloß durch einschneidende Lernerfahrungen wie etwa einen Fehler
mit erheblichen Folgen bestimmt, sondern vor allem durch typische Denkmuster in
Bezug auf spezifische Themen. Zwangsstörungen drehen sich meist um die Themen
Verantwortung, Schuld, Zweifel und Unsicherheit, nicht akzeptierbare sexuelle Hand-
lungen, abgelehnte aggressive Impulse, religiös motivierte Gewissensbisse, Befürchtung
negativer Konsequenzen bzw. Katastrophen. Diese können therapeutisch nicht nach
dem lerntheoretischen Paradigma der Habituation überwunden werden.
Das gegenwärtig dominierende kognitiv-behaviorale Erklärungsmodell von Zwangs-
störungen, das kognitive und lerntheoretische Konzepte miteinander verbindet, wurde
von Salkovskis in England in den 1980er- und 1990er-Jahren entwickelt und von Rein-
ecker und Lakatos im deutschen Sprachraum adaptiert [112].
344 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Eine zentrale Annahme ist die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Gedanken:
1. Sich aufdrängende Gedanken (Intrusionen). Bestimmte Gedanken werden als sich
aufdrängend, irrational und ich-dyston (ich-fremd) empfunden. Derartige gelegent-
lich und unwillkürlich auftretende aufdringliche Gedanken sind normal und kom-
men nach einer englischen Untersuchung bei 95% der Menschen vor, z.B. jemanden
beim Autofahren verletzen oder gar überfahren, Krankheitsängste bezüglich Famili-
enangehöriger, aggressive oder sexuelle Fantasien, die dem persönlichen Wertesy-
stem widersprechen, jedoch nicht ausgelebt werden. Solche Gedanken werden von
anderen Menschen, die sich diesbezüglich nicht schämen oder verantwortlich füh-
len, nicht so wichtig genommen wie von Zwangspatienten.
2. Automatische Gedanken. Diese Gedanken werden als relativ autonom, idiosynkra-
tisch, ich-synton und der Vernunft zugänglich erlebt. Automatische Gedanken bein-
halten die Auffassung der Betroffenen über ihre persönliche Verantwortung und im
Falle eines möglichen Versagens über ihre Schuld und begründen das Zwangsver-
halten (z.B. Kontroll- oder Reinigungszwänge), ohne deren Ausübung man sich an
etwas schuldig fühlen könnte. Automatische Gedanken sind die Reaktion auf die
sich aufdrängenden Gedanken und sollen diese neutralisieren. Als Folge der Neutra-
lisierung werden die Zwangsgedanken hartnäckiger und häufiger, wodurch Angst
entsteht, die wiederum durch neuerliche Zwänge neutralisiert werden muss.
Ähnlich wie bei Panikattacken, wo ebenfalls nicht die Symptome an sich, sondern erst
deren Bewertung als gefährlich den Teufelskreis der Angst aufschaukelt, liegt bei
Zwangsstörungen das Grundproblem in der Art und Weise, wie die sich aufdrängenden
Gedanken bewertet werden. Intrusionen hängen mit Kognitionen zusammen:
1. Es besteht das Risiko einer Gefahr für die eigene Person oder andere Menschen.
2. Es besteht ein Verantwortungsgefühl bezüglich Gefahren und deren Verhinderung.
Die Bewertung der sich aufdrängenden Gedanken als negativ und bedrohlich führt in
der Folge zu großer Angst und Unruhe, sodass zahlreiche psychovegetative Symptome
und später oft auch Depressionen auftreten. Durch die Bewertung als schlimm und ver-
werflich erhalten diese Gedanken eine besondere affektive Bedeutung und bewusste
Beachtung, verglichen mit anderen Überlegungen, die nicht aus dem Strom der Gedan-
ken als derart gefährlich hervorgehoben werden. Im Gegensatz zur tatsächlichen Ab-
sicht kommt es zur Fixierung auf die unerwünschten Gedanken, sodass diese im Mittel-
punkt der Aufmerksamkeit bleiben und viel Energie zur Verdrängung erfordern.
Die Aufmerksamkeitsfokussierung auf die Intrusionen und ihre Auslöser in der
Umwelt sowie die ständige Beschäftigung mit den aufdringlichen Gedanken gehen mit
Verhaltensweisen einher, die als „Neutralisieren“ bekannt sind. Dabei versuchen
Zwangspatienten auf der kognitiven und Verhaltensebene Rituale zu entwickeln, deren
Funktion die Verminderung oder Vermeidung von Gefahr, Verantwortlichkeit und mög-
licher Schuld ist. Neutralisieren verringert zwar durch die Druckreduktion kurzfristig
die Gefühle der Angst, Unsicherheit, Unruhe und wahrgenommenen Verantwortlichkeit,
verstärkt diese jedoch langfristig. Die befürchteten negativen Konsequenzen werden
auch nicht widerlegt durch andere Erfahrungen. Es erfolgt eine zunehmende Einengung
des ganzen Lebens auf den Bereich der zwanghaften Gedanken und Verhaltensweisen.
Dieser Stress verstärkt jenen psychosozialen Stress, der zur Ausbildung der Zwänge
geführt hat. Zwänge sind oft misslungene Anpassungsprozesse an die Anforderungen
und Belastungen im Leben, die zu Angst, Unruhe und Bedrohung geführt haben.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 345
„In vielen Fällen wissen die Kranken, vor und während der Kontrolle, daß der Sachverhalt in Ordnung
ist. Aber sie sind nicht zufrieden mit ihrem Erleben. Dieses Erleben ist es, das sie durch weitere Kon-
trollen verändern wollen.“
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 347
Zwänge gelten als die „Krankheit des Zweifelns“. Ein permanentes Unvollständigkeits-
gefühl und ein ständiges Unsicherheitsgefühl, das sich trotz aller Bemühungen nicht in
ausreichende Sicherheit umwandeln lässt, bilden das Fundament einer Zwangsstörung,
insbesondere dann, wenn es um Garantien geht, eine von der Umwelt oder meist vom
Patienten ausgehende Bedrohung abwenden zu können. Aus dieser Konfliktsituation
resultieren Angst und Unruhe, was durch die Zwangsrituale zu beseitigen versucht wird.
Viele Zwangspatienten vermeiden nicht die zwangsauslösenden Reize, sondern füh-
len sich geradezu magisch angezogen. Im Gegensatz zu Phobikern fühlen sich Personen
mit Zwangsstörungen verantwortlich, mit den zwangsauslösenden Reizen zurechtkom-
men zu müssen, um nicht durch Fehler und Unterlassungen schuldig zu werden.
Allgemein akzeptierte Erklärungsmodelle für Zwangsstörungen fehlen gegenwärtig,
in der Literatur werden jedoch folgende kognitive Aspekte angeführt [114]:
z Fehlende Ambiguitätstoleranz: Unsicherheit und Zweifel sind unerträglich, eine
fundamentale Verunsicherung wird durch Zwänge kompensiert. Es besteht ein ex-
tremes Sicherheitsbedürfnis und eine Unfähigkeit, angesichts von unwahrscheinli-
chen, aber dennoch nicht sicher ausschließbaren Bedrohungen mit einem Restrisiko
leben zu können. Das Urvertrauen in die eigene Person und in die Zukunft ist massiv
gestört. Der Problemlösungsversuch (100%ige Sicherheit) wird zum Hauptproblem.
z Überschätzung von Gefahren: Eine Intoleranz gegenüber möglicher bzw. minimaler
Gefahr bewirkt ein ständiges Bedrohungsgefühl. Es bestehen dauernd Erwartungen
von Misserfolg und negativen Konsequenzen, die schuldhaft verarbeitet werden.
z Überschätzung der individuellen Verantwortlichkeit. Ein überhöhtes Verantwor-
tungsgefühl führt zu ständigen Sorgen um das Wohl anderer Menschen, um nicht
durch Fehlhandlungen und Unterlassungen Schuld auf sich zu laden. Aus Angst vor
Fehlern und falschen Entscheidungen wird Verantwortung daher oft vermieden, um
nicht schuldig zu werden („Lieber keine Entscheidung als eine Fehlentscheidung“).
z Ständige Schuldgefühle, und zwar auch angesichts unmöglicher Täterschaft („Könn-
te ich nicht doch einen Menschen gefährdet haben, obwohl ich mich nicht daran er-
innern kann?“). Zwänge sind ein Versuch, Schuld zu vermeiden oder abzutragen.
z Entscheidungsschwierigkeiten aufgrund des Gefühls unzureichender Informationen,
sodass durch weitere Informationssammlung mehr Sicherheit erhofft wird, ohne dass
dann tatsächlich eine Entscheidung getroffen wird oder die getroffene Entscheidung
nicht wieder bezweifelt wird. Es fehlt das Vertrauen in die eigene Person.
z Extremes Kontrollbedürfnis, alles im Griff haben zu wollen, auch alle Gefühle und
Gedanken. Jede ängstigende Unsicherheit soll ausgeschaltet werden. Die ständigen
Kontrollbemühungen des letztlich Unkontrollierbaren ermöglichen jedoch keine
Kontrolle, sondern verstärken vielmehr das eigene Ohnmachtsgefühl, was erst recht
zu erneuten Kontrollbemühungen und Sicherheitsbestrebungen führt.
z Gedankenkontrolle durch Unterdrücken und Vermeiden: irrealer Anspruch, gewisse
aufdringliche tabuisierte und als unmoralisch bewertete Gedanken und Gefühle
überhaupt nicht haben zu dürfen, sodass sich Zwänge gerade um die Abwehr sexuel-
ler, aggressiver und gotteslästerlicher Gedanken und Gefühle drehen.
z Angst vor Spontaneität sowie vor Triebhaftigkeit (aus diesem Grund z.B. Ausbil-
dung starker sexueller Hemmschwellen); paradoxes Bestreben, alles, was spontan
auftritt, kontrollieren zu wollen, was zur Aufmerksamkeitsfixierung auf ursprünglich
nur flüchtig auftretende Gedanken, Vorstellungen oder Gefühle führt.
z Emotionale Defizite: Blockierung und Vermeidung von Gefühlen, Gefühlskonfusi-
on, emotionale Defizite und Probleme in der Wahrnehmung der jeweiligen Gefühle.
348 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Hand [115] betont die intraindividuelle und interaktionelle Funktionalität von Zwängen:
„Zwangsverhalten resultiert nicht primär aus einem gegen den Willen und die Einsicht des Individuums
laufenden unbeherrschbaren Impuls, es ist vielmehr durch subjektiv als positiv erlebte intraindividuelle
und (oder) interaktionelle Funktionen mitbedingt und mit aufrechterhalten (Ausnahme: bestimmte
Denkzwänge ...). Auf einer rational-normangepaßten Ebene mag der Betroffene dieses Verhalten zwar
ablehnen, auf der subjektiven, emotional-kognitiven Ebene ist es für ihn aufgrund dieser Funktionen
aber zugleich unverzichtbar. Dies gilt insbesondere auch für die eher häufig anzutreffende magische
Komponente der Zwänge ...“
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 349
Die Funktionalität von Zwängen unterscheidet sich teilweise sehr stark von jener phobi-
schen Meidungsverhaltens (Ausnahme: bestimmte Wasch- und Reinigungsrituale).
Zwangsstörungen stellen auf intrainvidueller Ebene Bewältigungsversuche bei generali-
sierten vital-bedrohlichen Ängsten, Depressionen, Schuldgefühlen, Ärger, mangelndem
Selbstwertgefühl, Unsicherheit und sozialen Defiziten dar und sind auf interpersoneller
Ebene entweder Ursache oder Folge von Kommunikations- und Beziehungsstörungen.
Zwänge vermitteln eine Pseudoselbstsicherheit gegenüber anderen Menschen. Hand
differenziert Zwangsstörungen mithilfe des Konzepts der Bewältigung oder Hilflosigkeit
angesichts von subjektiver Bedrohung und Gefahr. Patienten können anfangs oft schwer
glauben, dass ihre Zwänge eine persönliche Form der Problemlösung sein sollen.
Nach Hoffmann und Hofmann [117] entstehen Zwänge in einem Gefühlschaos, d.h.
angesichts einer Konfusion von intensiven negativen Gefühlen, mit dem Ziel, eine ge-
wisse Struktur zu entwickeln, um handlungsfähig zu werden. Zwangskranke erleben
sich in einer sehr bedrohlich erscheinenden Welt und befinden sich in einer permanen-
ten Alarmbereitschaft mit ständiger Erwartung des Schlimmsten. Die Errichtung eines
Zwangssystems garantiert vorübergehend äußere Sicherheit und innere Entspannung.
350 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Weil die Betroffenen in diesen Situationen keinen Zugang zu ihren Gefühlen und
Bedürfnissen finden, können sie die bedrohlichen Ereignisse und inneren Verletzungen
nicht unter Kontrolle bringen und erleben eine „Desintegration des Selbst“. Zur Bewäl-
tigung des Unvollständigkeitsgefühls, der Positionsunsicherheit und der Depersonalisa-
tions- und Derealisationserlebnisse nehmen sie Zuflucht zu Kontrollen der Umwelt, die
die Aufrechterhaltung der inneren und äußeren „Reinheit“ ermöglichen und damit die
innere Sicherheit gewährleisten sollen. Die innerliche Verletzlichkeit, die Demütigung
durch andere und die Angst vor anderen Menschen oder ekeligen bzw. „gefährlichen“
Substanzen wird symbolisch über äußere Regulationen zu bewältigen versucht. Durch
die Verschiebung der inneren Bedrohungsgefühle auf äußere bedrohliche Reize und
Situationen wird ein Gefühl der Pseudokontrolle und Pseudosicherheit entwickelt.
Es handelt sich dabei um „archaische“ Abwehrmaßnahmen: Bestimmte Substanzen
wie Urin, Kot, Blut, Schmutz oder Keime, die durch andere Menschen auf die eigene
Person übertragen werden könnten, werden zum Inbegriff des Ekeligen und zum sicht-
baren Symbol für Gefahr. Gegen diese externen Bedrohungen gelingen aus der Sicht der
Menschen mit Wasch- und Reinigungszwängen leichter verschiedene Schutzmaßnah-
men als gegen die erfolgten inneren Verletzungen und Gefühlsverwirrungen. Durch die
Konkretisierung der Gefahren in der „bösen“ Außenwelt geht es nun ständig darum, die
„reine“ Innenwelt zu schützen und vor Ekel und Gefahren zu bewahren. Vermeidung
dieser externen Bedrohungen bzw. Waschen und Wischen im Falle erfolgter unvermeid-
licher Kontakte sind dann angemessene Bewältigungsstrategien. Auf diese Weise er-
folgt eine Verschiebung der Bedrohlichkeitsebene: Nicht mehr die belastenden und
schmerzlichen Ereignisse im realen Leben wirken bedrohlich, sondern die leichter kon-
trollierbaren Objekte und Situationen auf einem Nebenschauplatz.
Ein Beispiel: Wer mit den Gefühlen bezüglich der Mutter oder mit Konflikten in der
Beziehung mit dem Vater bzw. dem Partner nicht zurechtkommt, kann diese Personen
für verseucht erklären, dadurch eine äußere Distanz herstellen und durch Wasch- und
Reinigungsrituale das Gefühl der Reinheit und den Verlust der Ekelgefühle erreichen.
Ein weiteres Beispiel: Eine Frau überrascht ihren Gatten beim Geschlechtsverkehr
mit seiner Freundin im ehelichen Schlafzimmer. In der Folge davon entwickelt sie einen
Wasch- und Reinigungszwang. Sie muss ständig das Schlafzimmer säubern, die Betten
fast täglich überziehen und anschließend regelmäßig ihre Hände längere Zeit waschen,
um wieder sauber zu sein. Es ekelt ihr vor dem, was sie gesehen hat. Im Laufe der Zeit
weiten sich die Zwänge aus: Sie muss in der Wohnung alles reinigen, was ihr „ver-
schmutzter“ Gatte berührt haben könnte; er muss sich immer sofort nach der Arbeit
duschen und die Kleidung wechseln, um keinen Schmutz nach Hause zu bringen. Wenn
ihr Gatte sie berührt, muss sie sich sofort duschen, um seinen Geruch auf ihrer Haut
wegzuwaschen. Schließlich muss sie ihre drei kleinen Kinder täglich mehrfach baden,
um den Schmutz von ihnen abzuwaschen. Obwohl die Patientin die Zusammenhänge
zwischen ihren Ekel- bzw. Wutgefühlen ihrem Mann gegenüber und ihren Wasch- und
Reinigungszwängen durchaus erkennen kann, ist sie nicht in der Lage, ihr Verhalten
von sich aus zu ändern, denn über den Weg der Zwänge kann sie ihren Mann in einer
Weise einengen, kontrollieren und bestrafen, wie ihr dies bislang nicht möglich war.
Nach Hoffman und Hofmann bestimmen zwei Grundannahmen den Umgang mit
Angst oder Ekel erregenden Substanzen: „Die endlose Übertragbarkeit der Substanz“
durch Menschen (endlose Übertragung von einer Stelle zu anderen bewirkt in der Um-
welt immer mehr Verseuchung) und „Die Substanzen bleiben immer wirksam“ (bei die
Übertragung auf verschiedene Stellen erfolgt im Laufe der Zeit keine „Verdünnung“).
352 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Kontrollzwänge
Kontroll- und Ordnungszwänge dienen nach Hand oft (als Folge primärer und sekundä-
rer sozialer Defizite) der Reduktion von Selbstunsicherheit und Angst vor Ablehnung
durch andere. Die Übererfüllung sozialer Normen in den Bereichen Ordentlichkeit,
Genauigkeit, Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit soll soziale Zustimmung und
Belohnung sicherstellen, geradezu erzwingen („erzwängeln“). Diese Strategie wird im
Alltags- und Berufsleben häufig angewandt und als teilweise wirksam erlebt, kann aber
bei Ausbleiben der erhofften Reaktionen so ausufern, dass die Kontroll- und Ordnungs-
handlungen stark leistungshemmend wirken und dadurch einen Teufelskreis in Gang
setzen: Vermehrtes Zwangsverhalten führt zu verminderter sozialer Anerkennung und
zunehmender Ablehnung, was ein intensiveres Zwangsverhalten bewirkt.
Bei Kontrollzwängen besteht ein übertriebenes Verantwortungsgefühl aus Angst vor
Fehlern und deren Folgen. Oft werden auch Verunsicherungen durch neue Lebenssitua-
tionen mittels Kontrollzwängen zu bewältigen versucht. Kontrollzwänge können der
Versuch der Lebensbewältigung in einer Situation sein, die man auf sich selbst gestellt
ansonsten für kaum bewältigbar hält. Eine bislang eher unselbstständige Mutter mit
zwei Kleinkindern fühlt sich nach dem plötzlichen Tod des Ehemannes völlig überfor-
dert und entwickelt durch übermäßige Kontrollen zumindest in Teilbereichen kompen-
satorisch Sicherheit. Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung hirnorganischen Ur-
sprungs versuchen nicht selten durch Kontrollzwänge mögliche Fehler zu vermeiden.
Die Rituale bei Kontroll- und Ordnungszwängen geben zwar noch Hoffnung auf die
eigene Verhaltenseffektivität, sicherheitshalber werden jedoch – sehr viel früher als bei
anderen Zwängen – magische Elemente (z.B. Zähl- und Wiederholungszwänge) einge-
baut. Magische Verhaltensweisen ermöglichen eine Verkürzung der Zwangshandlun-
gen, weil die Sicherheit nicht mehr durch die eigenen Kontrollen, sondern durch weni-
ger aufwändige magische Rituale (z.B. bestimmte Sprüche bzw. Gesten oder Zählen
nach einem bestimmten System) gewährleistet wird. Magie vermittelt Macht über ande-
re und Einfluss auf das Schicksal angesichts erlebter oder befürchteter Ohnmacht.
Wegen der kategorialen Andersartigkeit von Kontrollzwängen im Vergleich zu den
Kontrollen gesunder Menschen kritisieren Hoffmann & Hofmann die kognitiven Sicht-
weisen, wonach Zwänge als Endpunkt des Kontinuums genau – übergenau – zwanghaft
zu sehen seien. Es bestünden bei Menschen mit Kontrollzwängen bereits Schuldgefühle,
noch bevor diesen richtig klar sei, wodurch sie eigentlich schuldig geworden sein könn-
ten. Die angeführten Gründe für mögliche Schuld stellen nachträgliche sekundäre Ra-
tionalisierungen des zwanghaften Denkens und Handelns dar. Dabei werden als Motive
Ziele und Werte gewählt, die in unserer Gesellschaft hoch angesehen sind, z.B. Verant-
wortungsgefühl, Sorge und Einsatz für andere. Neben starken Schuldgefühlen leiden Pa-
tienten mit Kontrollzwängen auch unter einem ständigen Unvollständigkeitsgefühl ihres
Verhaltens; sie können ihre Kontrolltätigkeiten nicht beenden und müssen zur Verbesse-
rung ihres Vollständigkeitsbedürfnisses „noch etwas dazutun“ und übernehmen die
Kontrolle der Kontrolle der Kontrolle. Es kommt in ihrem Kopf nicht an, was sie mit
ihren Sinneskanälen wahrgenommen haben, nämlich dass alles schon passt, z.B. kein
Schmutz mehr sichtbar ist, der Ofen und der Wasserhahn abgedreht sind. Das Problem
wird verschärft durch fehlende Beurteilungskriterien, wann eine Handlung bzw. Kon-
trolle als beendet angesehen werden kann, sodass „zur Sicherheit“ eine neuerliche Kon-
trolle erfolgt. Es müssen ständig äußere Handlungen (externe Kontrollen) verrichtet
werden, weil das „innere Handeln“ (Denken als Probehandeln) nicht funktioniert.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 353
Andere Zwänge
Zähl-, Wiederholungs-, Berührungs- und Sprechzwänge können nach Hand zur Bewäl-
tigung von stärker generalisierten Ängsten, die oft diffuse Katastrophenängste in Bezug
auf die eigene Person oder auf nahe stehende Menschen darstellen, eingesetzt werden.
Diese Zwänge sind durch ein ausgesprochen magisches Denken charakterisiert (z.B.
„gute“ Zahlen wiederholen, bestimmte objektiv unnütze Bewegungen). Es wird ver-
sucht, durch bestimmte Rituale Unheil von sich oder anderen abzuwenden, obwohl vom
Verstand her klar ist, dass die entsprechenden Vorstellungen und Handlungen unsinnig
sind. Angst und Unsicherheit, dass einem selbst oder den anderen etwas zustoßen könn-
te, können nicht ertragen oder durch eigene Leistung bewältigt werden, sondern werden
durch den Glauben an die magische Kraft der Rituale zu überwinden versucht. Aus dem
Alltagsleben gibt es dafür viele Beispiele (z.B. Geburtsdaten als Lottozahlen).
Zwangsgedanken sind entweder (auf der Bedrohungsebene) Auslöser für Zwangs-
handlungen (bei rund 90% der Zwangskranken) oder (auf der Abwehrebene) kurzfristi-
ge Symptomlinderungsmaßnahmen in Form bestimmter Gegengedanken, die nach dem
DSM-IV als Verhaltensrituale anzusehen sind.
Zwangsgedanken im Sinne von Zwangsbefürchtungen, sich selbst oder anderen
Schaden zuzufügen (z.B. das eigene Kind mit dem Messer zu verletzen oder zu töten),
wirken gerade durch die subjektive Gewissheit der bevorstehenden Katastrophe extrem
belastend und sind oft Ausdruck einer Depression oder ein Ventil zum Ausdruck von
ansonsten verbotenen Aggressionen. Verhaltensrituale sollen diese Ängste reduzieren.
Denk- und Grübelzwänge (z.B. ständiges gedankliches Durchspielen von bevorste-
henden Gesprächen mit wichtigen Personen, Grübeln über vergangene Gespräche und
Ereignisse) können die Funktion haben, Sicherheit zu gewinnen und negative Emotio-
nen oder Kognitionen zu vermeiden (ähnlich wie das ständige Sorgen bei einer generali-
sierten Angststörung).
Die Denkzwänge „Grübeln vor bzw. nach einer Handlung“ haben bei Menschen mit
Selbstunsicherheit und sozialen Defiziten eine ähnliche Funktion wie Ordnungs- und
Kontrollzwänge (Kompensationsversuch von Selbstunsicherheit und sozialer Angst).
Bei Denk- oder Grübelzwängen besteht die unkorrigierbare Erwartung von unver-
meidbaren Katastrophen und infolgedessen die Gewissheit der eigenen Hilflosigkeit.
Denkzwänge verstärken nach Hand die negativen Erwartungen, Ängste, Schuldgefühle
und depressiven Stimmungen und bewirken keine Abschwächung der Symptomatik,
wie dies bei anderen Zwängen der Fall ist. Zwangsgedanken sind deshalb häufiger mit
einer Depression verbunden als die anderen Zwangsstörungen. Manchmal werden die
vermeintlichen Katastrophen sogar als bereits eingetreten erlebt, auch wenn die Umwelt
dies nicht glauben will. In dieser Hinsicht besteht bei Denkzwängen oft eine größere
Ähnlichkeit mit wahnhaften Depressionen als bei anderen Zwangsstörungen. Nach
Hoffmann und Hofmann sind Zwangsgedanken „situationsspezifische und vorüberge-
hende Störungen der Ich-Integrität“. Der spontane Ablauf der Gefühle, Gedanken und
Verhaltensweisen ist unterbrochen, es besteht ein „Riss in der Ich-Kontinuität“. Als
Ursachen gelten schwere persönliche Krisen und pathologische Beziehungsstörungen.
Eine starke innere Verunsicherung soll durch ständiges Nachdenken darüber, ob man
etwas sehr Schlimmes tatsächlich getan haben könnte oder zu tun in der Lage wäre,
bewältigt werden, d.h. primitive externale Regulationsversuche („Ist äußerlich wirklich
nichts passiert?“, „Wie kann ich das Schlimmste noch verhindern, wenn ich doch schon
etwas Böses getan haben könnte?“) sollen den fehlenden inneren Halt kompensieren.
354 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Man kann Ängste, Zwänge und Depressionen anhand eines Vierfelderschemas charakte-
risieren, das sich aus zwei Dimensionen ergibt (nach Arntz):
1. Verantwortung:
z viel Verantwortung (Ursachenzuschreibung: die Verantwortung liegt bei der Per-
son selbst),
z wenig Verantwortung (Ursachenzuschreibung: die Verantwortung liegt außer-
halb der Person bei anderen Menschen, Umständen, Schicksal u.a.).
2. Zeitdimension:
z Zukunft: Was geschehen könnte.
z Vergangenheit: Was bereits passiert ist oder unterlassen wurde.
Vergangenheit Zukunft
Posttraumatische Belastungsstörung –
Unverarbeitete Bedrohungserlebnisse
Die Zwei-Faktoren-Theorie der Angstentstehung von Mowrer wurde auch auf die post-
traumatische Belastungsstörung übertragen[118]:
1. Das aufdringliche Wiedererinnern des Traumas wird durch klassisch konditionierte
emotionale Reaktionen erklärt: Alles, was an das traumatische Erlebnis erinnert, löst
ähnliche emotionale Reaktionen aus wie in der traumatisierenden Situation.
2. Die Vermeidung von traumaspezifischen Auslösereizen bzw. die emotionale Ab-
stumpfung nach dem Trauma bewirken eine Erleichterung der emotionalen Überer-
regtheit und stellen daher nach dem Prinzip der operanten Konditionierung eine ne-
gative Verstärkung dar, sodass zukünftig mehr Vermeidungsverhalten auftritt.
Das Gefühl von Gefahr oder Lebensbedrohung wird zur fundamentalen Lebenseinstel-
lung nach dem Trauma. Es wird eine Furchtstruktur aufgebaut, die bewirken kann, dass
sich Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung so lange bedroht fühlen, wie
keine Zeichen der Sicherheit erkennbar sind, während andere Personen sich so lange
sicher fühlen, wie keine Zeichen der Gefahr vorhanden sind. Das Verständnis für diese
Entwicklung wird nur durch die Berücksichtigung kognitiver Aspekte erlangt.
Netzwerkmodelle der posttraumatischen Belastungsstörung [119] können die Fixie-
rung auf potenzielle Gefahren besser erklären als lerntheoretische Modelle. Dabei wer-
den die psychologischen Erkenntnisse und Annahmen zur Informationsverarbeitung und
Gedächtnisspeicherung besonders berücksichtigt. Furchtstrukturen in Form neuronaler
Netzwerke integrieren neben dem traumatischen Stimulus auch alle Informationen über
die Begleitumstände, die sinnlichen, kognitiven und emotionalen Aspekte der Person.
Die Entwicklung einer ängstlichen Aufmerksamkeit für angstbezogene Reize stellt
nach Jones und Barlow [120] das entscheidende Merkmal der posttraumatischen Bela-
stungsstörung dar. Es kommt zu einer chronischen Übererregung und einer Einengung
der Aufmerksamkeit auf bedrohliche Reize mit der Wahrscheinlichkeit der Entdeckung
entsprechender „Gefahren“. Im Sinne eines Teufelskreises kann die Übererregung selbst
wieder zum Auslöser einer falschen Alarmreaktion und damit verbundenen Erinnerun-
gen werden. Die Betroffenen weisen eine selektive Aufmerksamkeit für traumaspezifi-
sche Gefahrenreize und eine selektive Gedächtnisspeicherung von bedrohlichen Infor-
mationen auf. Traumatische Erfahrungen verändern kognitive Schemata im Sinne von
Beck, d.h. Grundüberzeugungen hinsichtlich der eigenen Person und der Umwelt, die
die Wahrnehmung und das Verhalten des Menschen steuern.
Menschen, die nach einem Trauma eine posttraumatische Belastungsstörung ent-
wickeln, unterscheiden sich von Personen, die ähnliche Erfahrungen ohne Störung über-
winden, durch bestimmte kognitive Gesichtspunkte:
z übermäßige selektive Aufmerksamkeit auf Gefahrenreize,
z einseitige Interpretation von Reizen und Situationen als gefährlich,
z kognitive Fehlinterpretationen, die falsche Alarmreaktionen des Körpers auslösen,
z Unterdrückung der traumatischen Erinnerungen und Gedanken aus Angst vor deren
Nicht-Bewältigbarkeit, was einen ständigen biologischen Stressor darstellt,
z Abspaltung der Gefühle bis zur emotionalen Taubheit, wodurch kein Umgang mit
negativen Emotionen erlernt wird, sodass deren Auftreten extrem gefürchtet wird,
z Vermeidung von Situationen und Erinnerungen an das Trauma, die das Gefühl der
erlernten Hilflosigkeit fördert und Kompetenzerfahrungen verhindert.
356 Erklärungsmodelle für Angststörungen
In ihrer starken und akuten Form wurden Ängste als „traumatische Angst“ und in ihrer
milderen Erscheinung als „Signalangst“ bezeichnet. Die Signalangst entspricht einer
Realangst, die traumatische Angst einer neurotischen Angst.
Realangst ist eine auf eine äußere Gefahr gerichtete Angst, sie ist angemessen und
dient dazu, durch Flucht oder Aggression äußere Gefahr zu beseitigen.
Neurotische Angst ist eine unangemessene, übertriebene und in keiner Weise zweck-
dienliche Angst. Angst stellt nach Freud das Grundproblem der Neurosen dar.
Freud entwickelte zwei Angsttheorien [122]: Angst als Folge eines Triebstaus und
Angst als Signal. Nach der ersten, biologischen („triebhydraulischen“) Angsttheorie ist
Angst die Folge der Blockierung von körperlicher Erregung oder Triebansprüchen, vor
allem von sexuellen und aggressiven Impulsen. Die Stauung libidinöser Triebenergie
setzt sich mangels adäquater körperlicher Abfuhr im psychischen Erleben als Angst um,
wobei es zusätzlich zu körperlichen Begleiterscheinungen kommt. Angst wird von
Freud als pathologische Manifestation nicht abreagierter, primär sexuell verstandener
Triebenergie verstanden. Es handelt sich um eine biologisch orientierte Angsttheorie,
die auf dem überholten physikalischen Triebmodell des 19. Jahrhunderts beruht. Angst
und Aggression (z.B. Wut) bewirken nach heutiger Auffassung dieselbe sympathikoto-
ne Aktivierung, die mangels einer akuten äußeren Gefahr oft zu keiner adäquaten moto-
rischen Aktivität führt.
Die zweite, psychologische Angsttheorie Freuds enthält gegenteilige Aussagen:
1. Angststätte ist nicht das Es (die Triebe), sondern das Ich. Das Ich ist der Ort, wo die
Angst auftritt. Die Angst ist umso größer, je mehr sich das Ich bedroht fühlt. Die
Fähigkeit zur sinnvollen Kontrolle der Angst ist ein Maß für die Ich-Reife.
2. Nicht die Verdrängung erzeugt Angst, sondern die Angst erzeugt Verdrängung.
Angst entsteht, wenn das Ich mit einer Gefahrensituation konfrontiert ist. Triebim-
pulse führen zu Angst, wenn deren Regung durch äußere oder innere Verbote nicht
akzeptiert werden kann. Angst als Signal setzt die Abwehrmechanismen der Ver-
drängung und Unterdrückung in Gang, um damit fertig zu werden. Beim reifen
Abwehrmechanismus der Verdrängung ist völlige Angstfreiheit möglich, weil Af-
fekt- und Vorstellungsanteil eines bedrohlichen Triebimpulses aus dem Bewusstsein
ausgeschlossen werden. Wenn dies nicht gelingt, entstehen neurotische Ängste, die
je nach Art der Abwehrmechanismen unterschiedlich geformt sind. Eine Agorapho-
bie wird von Freud z.B. als Angst vor sexuellen Impulsen interpretiert und als Unfä-
higkeit, damit umzugehen. Durch die Agoraphobie erfolgt die Lösung des sexuellen
Konflikts in dem Sinn, dass keine Versuchungssituation mehr möglich ist.
Man kann in der neueren Psychoanalyse neben dem ursprünglichen Modell (Angst als
Triebstau) drei Modelle der Angstentstehung unterscheiden [123]:
1. Angst als Folge eines Konflikts (Konfliktmodell),
2. Angst als Folge von Ich-Schwäche (Strukturschwächemodell),
3. Angst als Bindungsverlustangst (bindungstheoretisches Modell).
Angst als Bedrohung des Ichs – Das Modell der Psychoanalyse 363
Bei einem aktuellen Konflikt werden über regressive Prozesse unbewusste Inhalte in
der „symptomauslösenden Situation“ aktiviert. Entsprechende Impulse, Wünsche oder
Fantasien werden vom Ich als innere Gefahr gewertet. Dies führt zur Entwicklung von
Angst als Signalangst mit dem Zweck, geeignete Abwehrmaßnahmen zu mobilisieren,
die das Auftreten einer intensiven und überwältigenden Angst verhindern sollen. Im
besten Fall der Angstbewältigung erfolgt eine Verdrängung oder Sublimierung.
Bei Angststörungen sind die Abwehrmechanismen des Ich nicht mehr in der Lage,
den unbewussten Reiz ausreichend abzuwehren, sodass er sich mit dem aktuellen Reiz
in der symptomauslösenden Situation verbindet. Derartige Symptombildungen dienen
dem Zweck, konflikthafte Strebungen bzw. Einstellungen im Individuum durch einen
Kompromiss miteinander zu versöhnen und dadurch das psychische Gleichgewicht um
den Preis einer neurotischen Konfliktlösung zu erhalten.
Die neurotische Konfliktlösung durch Verschiebung auf ein äußeres Objekt führt zu
einer Phobie, die Verschiebung auf den eigenen Körper (Körpersymptome) bewirkt eine
Konversionsstörung bzw. eine Hypochondrie. Wenn die Angstbindung durch Verschie-
bung ausfällt, bricht die Angst als manifeste, frei flottierende Angst im Sinne einer
Angstneurose durch. Das Konfliktmodell dient zur Erklärung phobischer Störungen.
Phobien können auch durch kontraphobische Vermeidung – ähnlich wie bei einer
Zwangsstörung – bewältigt werden. Kontraphobische Patienten suchen gerade jene
Situationen recht häufig auf, die sie in Wahrheit besonders fürchten. Sie leugnen oder
verdrängen jede Angst und wirken nach außen hin sehr mutig, unterschätzen dabei je-
doch reale Belastungs- und Gefahrensituationen.
Aktueller Konflikt
È
Regression
È
„Innere Gefahr“
È
Angst
È
Sublimierung Å Abwehr Æ Verdrängung
Ë Ì
Regression Verschiebung der Angst
È È È
Versagen der Abwehr Objekt der Objekte der
Außenwelt (Körper-)
Innenwelt
È È
Angstanfall Vermeidung È
È È
Angstneurose Phobie Hypochondrie
Akute Ängste werden bei angstneurotischen Patienten vor allem dann ausgelöst, wenn
äußere, ich-stützende Mechanismen in Frage gestellt werden, z.B. drohender Verlust
einer nahe stehenden Bezugsperson oder Verlust von sozialer Anerkennung. Ich-
strukturell gestörte Patienten werden dadurch rasch hilflos, weil die Selbststeuerung, die
nur in Verbindung mit einer Sicherheit gebenden Bezugsperson bestand, akut gefährdet
erscheint. Bei angstneurotischen Patienten erfüllt der Partner oft die Rolle eines Hilfs-
Ichs. Der Partner muss stützende Ich-Funktionen übernehmen und so die fehlende stabi-
le Innensteuerung ausgleichen. Für klinische Praktiker ist es oft sehr beeindruckend, wie
gut und subtil gerade angstneurotische Patienten ein soziales Arrangement herstellen
können, das ihnen diese Außensteuerung gewährleistet. Auch Verhaltenstherapeuten
sind bei vielen Angstpatienten mit der Dynamik einer angstneurotischen Symptomatik
konfrontiert, z.B. wenn diese nicht bereit sind, nach den Regeln der Konfrontationsthe-
rapie vorzugehen, weil sie sich dann allein und verlassen fühlen, haben jedoch anderer
Erklärungsmuster dafür (z.B. Intoleranz von Unsicherheit, „Persönlichkeitsstörung“).
Die Unangemessenheit der neurotischen Angstreaktion beruht darauf, dass der be-
wusst wahrgenommene Reiz durch einen unbewussten, dem Patienten nicht erkennba-
ren Reiz verstärkt, modifiziert oder ersetzt wird. Die unbewussten Reize (frühkindliche
Fantasien, bestimmte Wünsche und Vorstellungen, aggressive oder sexuelle Impulse,
traumatische Erlebnisse) sind aufgrund von Abwehrmechanismen des Ichs nicht be-
wusstseinsfähig und sollen durch eine psychoanalytische Therapie aufgedeckt werden.
Angst als Bedrohung des Ichs – Das Modell der Psychoanalyse 369
Bei einer Angstneurose besteht eine Ich-Regression aufgrund von Defekten in der
Ich-Struktur. Die Ich-Schwäche zeigt sich darin, dass keinerlei Angst ertragen werden
kann, nicht einmal die Angst vor der Angst. Angstneurotische Patienten erleben auch
ohne Auslöser immer wieder das Angst machende Gefühl der inneren Brüchigkeit und
Verletzlichkeit als Folge ihrer Ich-Schwäche. Generalisierte Ängste können wegen der
Ich-Schwäche nur unzureichend bewältigt werden und kommen in bestimmten konkre-
ten Ängsten immer wieder zum Ausdruck. Das ständige Versagen bei der Bewältigung
von selbst sehr unwesentlichen Ängsten kann zu einer schweren chronifizierten Angst-
störung führen, die eine stationäre Behandlung erfordert.
Neben Bassler und Hoffmann [130], deren Ausführungen hier wiedergegeben wur-
den, haben auch Mentzos et al. [131] die Angstneurose sehr anschaulich beschrieben.
Die Ursachen einer schweren Angstneurose liegen auch nach diesen Autoren in einer
Pathologie der Objektbeziehungsfähigkeit, d.h. in einer fundamentalen Beziehungsstö-
rung. Menschen mit einer ausgeprägten Angstneurose haben eine Unzuverlässigkeit in
den zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt mit der Folge, letztlich niemand mehr
vertrauen zu können. Sie provozieren in Sozialbeziehungen immer wieder Ablehnung,
weil sie sich aufgrund ihrer Lebensgeschichte so verhalten, dass sie Zurückweisung
erwarten. Wichtige Bezugspersonen werden immer wieder auf die Probe gestellt, ob sie
tatsächlich vertrauenswürdig sind.
In der therapeutischen Übertragungsbeziehung werden die ursprünglichen Bezie-
hungsmuster aktiviert und aufgearbeitet, deren Ursachen näher analysiert und anschlie-
ßend vertrauensvollere Interaktionsmuster aufgebaut. Vorübergehend lässt der Analyti-
ker aus therapeutischen Gründen eine starke Regression zu, d.h. eine starke Abhängig-
keit des Patienten von ihm, in der Hoffnung, dass der Patient danach reifere Bezie-
hungsformen entwickeln lernt.
Der angstneurotische Anfall ist ein akuter Zustand intensiver Angst, der sich im Ge-
gensatz zu den Phobien weniger auf konkrete Objekte oder Situationen bezieht. Im
Vordergrund steht eine diffuse Angst. Die Betroffenen werden körperlich von Angst
buchstäblich überflutet. Hinter der Angst vor Beeinträchtigung oder Versagen eines
Organs (z.B. das Herz bei der Herzphobie) steht eine fundamentale Angst vor dem
schwer vorstellbaren und sehr bedrohlichen Selbstverlust mit den damit verbundenen
Gefühlen der Hilflosigkeit, absoluten Verlassenheit und Verzweiflung.
Der angstneurotische Bewältigungsmechanismus besteht darin, dass aus der ur-
sprünglichen Selbstverlustangst (Angst vor dem Sterben) eine Angst vor dem Versagen
körperlicher Funktionen oder vor dem Angstanfall selbst wird, und zwar in der Art einer
phobischen Symptombildung (Angst vor einer neuerlichen Panikattacke). Hinter der
erlebten Todes- oder Vernichtungsangst des Angstneurotikers steht verhüllt eine Le-
bensangst, die auf die Angst vor den körperlichen Symptomen verschoben wurde.
Faktische oder symbolische Trennungssituationen sind die häufigsten Auslöser einer
angstneurotischen Symptomatik. Nach psychoanalytischer Auffassung stehen hinter
angstneurotischen Zuständen stets Verlustängste bezüglich wichtiger Bezugspersonen
und/oder bezüglich der eigenen Existenz und des eigenen Selbst. Eine Plananalyse im
Rahmen einer Verhaltenstherapie, d.h. eine Analyse der hierarchisch geordneten Le-
benspläne eines Patienten, führt häufig zu denselben Erkenntnissen.
Beim Mechanismus der Verschiebung auf oberflächlichere Gegebenheiten wie bei
einer Phobie (Furcht vor Messern, Höhen, bestimmten körperlichen Erkrankungen
usw.) sind die zugrunde liegenden Existenzängste häufig nicht sofort zu erkennen, wes-
halb Psychoanalytiker eine „aufdeckende“ Therapie anbieten.
370 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Die typische Angst des Angstneurotikers ist die Angst vor Bindungsverlust und da-
mit die Angst vor Verlust des eigenen Halts. Angstneurotiker haben ein Bedürfnis nach
starken Schutzfiguren. Sie sind für ihr Wohlergehen auf die konkrete Anwesenheit ihres
Partners angewiesen, beklagen jedoch zugleich, dass der Partner sie krank mache, ab-
werte oder in ihren Selbstständigkeitsbestrebungen entmutige.
Der angstneurotische Mensch hat nur vordergründig Angst, andere zu verlieren. Im
tiefsten Inneren steht hinter der Angst vor dem Verlust der wichtigsten Bezugspersonen
die Angst, sich selbst zu verlieren, sich selbst ausgeliefert zu sein in allen unberechenba-
ren Situationen des Lebens. Angstneurotiker fürchten nichts so sehr wie das Alleinsein
mit sich selbst. Sie spüren ihre innere Leere und Haltlosigkeit und fürchten sich extrem
vor diesen Erfahrungen. Durch die Verschiebung auf die Besorgtheit um ihre körperli-
che Gesundheit, wie dies im Falle einer extremen Agoraphobie der Fall ist (z.B. nicht
allein zu Hause bleiben zu können), verbergen Angstneurotiker sich und anderen das
Erleben dieser existenziellen Grundängste.
Angst zeigt sich bei der Zwangsneurose nicht als Objektverlustangst, wie dies bei
der Angstneurose der Fall ist, sondern als Straf- und Vergeltungsangst. Die Regression
in die anale Phase erscheint als Rückkehr zum magischen Denken. Die magisch anmu-
tenden Zwangshandlungen sollen jene Bedrohung und Angst abwehren, die aus nicht
eingestandenen und verdrängten sexuellen und aggressiven Impulsen entstanden sind. In
einer Messerphobie stellt sich nach Freud verhüllt die verdrängte Feindseligkeit gegen-
über einem nahe stehenden Menschen dar, ein Waschzwang symbolisiert die Reinigung
bei einem Sexualkomplex und das Reinwaschen von schuldhaft erlebten Aggressions-
tendenzen oder auch beides zugleich.
Die bevorzugten Abwehrmechanismen des Ichs sind: Isolierung, Ungeschehen-
Machen, magisches Denken, Zweifel, Unentschlossenheit, Intellektualisierung, Rationa-
lisierung, Verleugnung, Verdrängung, Reaktionsbildung. Diese Abwehrorganisation
von Menschen mit Zwangsstörungen ist mit den traditionellen Mitteln der Psychoanaly-
se oft nur schwer zu verändern. Die bei der Zwangsentstehung wirksamen Impulse sind
kaum völlig unbewusst. Die neurotische Abwehr beruht weniger auf einer Verdrängung
als auf einer inhaltlichen und affektiven Isolierung (Versachlichung, Gefühlsvermei-
dung). Bei Zwängen dominiert der Abwehrmechanismus der Isolierung. Die Gedanken
bleiben im Bewusstsein erhalten, werden aber von den zugehörigen Affekten isoliert.
Bei der Hysterie gelingt es, die bedrohlichen Fantasien zu verdrängen, während die
zugehörigen Affekte wahrnehmbar sind, bei der Zwangsneurose lassen sich dagegen die
belastenden Gedanken und Impulse nicht verdrängen, sondern brechen in beängstigen-
der Weise durch, sodass sie durch andere Abwehrmechanismen kontrolliert werden
müssen (Affektisolierung, Ungeschehen-Machen, Verschiebung auf das Kleinste).
Die aggressiven Regungen richten sich gegen die für die Versagung (Frustration)
der kindlichen Triebbedürfnisse verantwortliche, gleichzeitig geliebte und gehasste
Person. Ein sehr stark ausgeprägtes Über-Ich, das sich durch Identifikation mit der
versagenden und verbietenden Instanz entwickelt und deren Funktion übernimmt, er-
klärt manche Zwangshandlungen als Selbstbestrafungstendenzen.
Die ausgeprägte Über-Ich-Strenge und die übermäßige Gewissenhaftigkeit stellen
einen lebenswichtigen Gegenpol zu den bedrängenden, als antisozial erlebten Trieb-
wünschen dar. Zwangsneurotiker weisen eine ausgeprägte Ambivalenz auf, die mit ei-
nem ständigen Zweifeln und einer eigenartigen Handlungsstörung verbunden ist. Eigen-
ständiges Handeln ist kaum möglich, weil alle andrängenden Impulse als sehr gefährlich
und alle Abwehrhandlungen als recht unsicher erscheinen. Die Betroffenen haben in der
Kindheit kein probierendes Handeln erlernt, um die Folgen ihres Denkens überprüfen zu
können. Sie mussten sich mit Fantasien und Wünschen anstelle des Tuns behelfen.
Im Laufe der Zeit erfolgte eine magische Gleichsetzung von Denken und Tun. Ein
böser Gedanke ist bereits ein böses Tun und muss daher unterdrückt oder durch Kon-
trollen eingegrenzt werden. Das Zulassen bestimmter Gedanken erhöht die Wahrschein-
lichkeit für deren Ausführung. Dies führt zu einem derart hohen Abwehraufwand der
gefährlichen Gedanken, dass immer mehr Ich-Funktionen beeinträchtigt werden und
eine zunehmende kognitive und psychosoziale Beeinträchtigung erfolgt.
Das Triebabwehr-Konzept wurde später von Psychoanalytikern wie E. H. Erikson
erweitert durch den Aspekt Entwicklung bzw. Unterdrückung des Autonomiebedürfnis-
ses. Als zentrales Thema gilt nach neueren Auffassungen der Konflikt „Autonomie
versus Fügsamkeit“, anders formuliert der Konflikt zwischen Sich-Auflehnen und Ge-
horsam. Der Zwangsneurotiker unterwirft sich aufgrund seiner mangelnden Ich-
Autonomie seinem strengen Über-Ich, opponiert aber untergründig dagegen.
372 Erklärungsmodelle für Angststörungen
„Diese ursprünglich einseitige Betonung der Triebproblematik wurde in den letzten Jahrzehnten zugun-
sten des allgemeineren Konfliktes ‚Gehorsam versus Sich-Auflehnen’ modifiziert. Es handelt sich also
um eine Variation des Abhängigkeits-Autonomie-Konfliktes ... Der abzuwehrende Konflikt ist also (mit
Hilfe des Dreiinstanzenmodells ausgedrückt) ein Konflikt zwischen Ich und Über-Ich, wobei man von
einem ausgesprochen rigiden und übermoralischen Über-Ich ausgeht. Was in der analen Phase noch ein
externer Konflikt mit der Mutter oder den Eltern war, wird später zu einem inneren Konflikt zwischen
Über-Ich und dem nach Autonomie tendierenden Ich (sowie dem nach Abfuhr drängenden Es). Die
ursprüngliche Angst vor Strafe verwandelt sich zum Teil in Schuldgefühl. Das Ich ist ständig bemüht,
in oft fast hoffnungslosen Anstrengungen seine Schuldgefühle abzubauen (Wiedergutmachungsaktio-
nen). Zum anderen bemüht es sich um Zurückdrängen der Es-Impulse, um erneute Strafsanktionen des
Über-Ichs zu vermeiden. Daraus entsteht das, was man den ‚Zweifrontenkrieg’ genannt hat.“
4. Die Triebdynamik. Sexuelle Triebkonflikte als Ursache des Errötens (ein sexuelles
Bedürfnis kann nicht zugelassen werden, muss daher abgewehrt werden und äußert
sich dann in Form der Erythrophobie) kommen nach S. O. Hoffmann bei der Psy-
chodynamik von Sozialphobien so selten vor, dass umfassendere psychodynamische
Konzepte entwickelt werden müssen, wenn das triebtheoretische Modell aufrecht
erhalten werden soll.
5. Die Schicksale des Bindungsverhaltens (Attachment-Theorie von Bowlby). Die Be-
drohung der Bindungssicherheit führt automatisch zum Affekt der Angst und löst in
weiterer Folge eine soziale Phobie aus. Bei nicht erfüllter Bindungssicherheit erfol-
gen zum Selbstschutz ein sozialer Rückzug und eine ängstliche Vermeidung sozialer
Situationen. Soziale Ängste entstehen oft als Folge früherer negativer Beziehungser-
fahrungen. Bei einer Trennungsangst zeigt sich ein bedrohtes Bindungserleben.
6. Die Schicksale des Abwehr-/Sicherheitsverhaltens. Das Abwehr-/Sicherheitsmodell,
das in fast komplementärer Ergänzung zum Attachment-Modell steht, berücksichtigt
auch ethologische und biologische Aspekte in sozialen Beziehungen.
Posttraumatische Belastungsstörung –
Überflutung des informationsverarbeitenden Systems
Im Bereich der posttraumatischen Belastungsstörung hat sich in den letzten Jahrzehnten
am deutlichsten die Entwicklungs- und Integrationsfähigkeit der modernen Psychoana-
lyse gezeigt. Der amerikanische Psychiater und Psychoanalytiker Mardi Horowitz, der
sich bezüglich der Etablierung der posttraumatischen Belastungsstörung im amerikani-
schen psychiatrischen Diagnoseschema DSM aufgrund seiner Forschungen an Vietnam-
Kriegsveteranen (Standardwerk „Stress response syndromes“) große Verdienste erwor-
ben hat, trug zur Weiterentwicklung der psychodynamischen Modelle wesentlich bei,
indem er spezifische Bewusstseinszustände postulierte, so genannte „states of mind“.
Im Mittelpunkt des Konzepts von Horowitz steht die Überforderung der Informati-
onsverarbeitung durch die traumatischen Erfahrungen, die von den Betroffenen nicht in
ihre bisherigen Ordnungsschemata integriert werden können. Als Folge davon kommt
es zu einem oszillierenden Prozess zwischen Überflutung und Verleugnung der trauma-
tischen Inhalte. Das psychische System hat grundsätzlich eine Tendenz zur Vervollstän-
digung der Informationsverarbeitung. Der phasisch ablaufende psychotraumatische
Prozess kommt daher erst dann zur Ruhe, wenn die traumatischen Erfahrungen von den
Betroffenen vollständig in ihre Erlebens- und Bewertungsschemata integriert werden
können. Horowitz beschreibt als typische Schritte der Traumabewältigung die Phasen
des Aufschreis, der Verleugnung und der Intrusion, die in die Phase des Durcharbeitens
und der Integration münden, wenn die Betroffenen dazu bereit sind. Dieser Prozess wird
als normal und adaptiv angesehen. Die posttraumatische Symptombildung resultiert
nach Horowitz aus einer Intensivierung und Verlängerung bzw. Blockade des natürli-
chen Ablaufs. Neben den Merkmalen des Traumas haben Risikofaktoren (z.B. erhöhte
Vulnerabilität in Kindheit und Jugend oder vorbestehende Belastungen) und Schutzfak-
toren (z.B. individuelle Ressourcen, psychosoziale Unterstützung, Sinn- und Bewer-
tungskonzepte) großen Einfluss auf die weitere Krankheitsentwicklung. Nach Horowitz
ist die Bewältigung der traumatischen Störung dann erfolgt, wenn die Betroffenen das
Trauma willentlich erinnern können, ohne davon überflutet werden, sodass sie in der
Lage sind, sich wieder anderen Dingen zuzuwenden.
374 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Fischer und Riedesser haben mit ihrem bedeutsamen Werk „Lehrbuch der Psycho-
traumatologie“ aus der Sicht einer modernen Psychoanalyse die konzeptionellen und
therapeutischen Schritte weiter ausgearbeitet und schließlich in Form der Mehrdimen-
sionalen Psychoanalytischen Traumatherapie (MPTT) einen integrativen Behandlungs-
ansatz auf psychoanalytischer Grundlage vorgelegt, der auch verhaltenstherapeutische
Konzepte berücksichtigt.
Luise Reddemann hat sich mit ihrer psychodynamisch imaginativen Traumatherapie
(PITT) ebenfalls sehr intensiv bemüht, neben biologischen auch andere therapeutische
Konzepte zu berücksichtigen. Neben der Betonung des zentralen Aspekts der therapeu-
tischen Beziehung werden auch zahlreiche Techniken eingesetzt, wie dies Standard ist
bei verhaltenstherapeutisch und humanistisch orientierten Vorgangsweisen. Reddemann
weist allerdings darauf hin, dass traumatherapeutische Techniken bei komplexen post-
traumatischen Belastungsstörungen wenig effektiv sind, weil die Betroffenen aufgrund
ihrer Bindungs- und Entwicklungspathologie stärker beziehungsorientierte Behand-
lungsangebote benötigen, die den (Wieder-)Aufbau der Bindungsfähigkeit fördern.
Anstelle einseitiger Traumaarbeit wird auch die Selbstbegegnung gezielt gefördert.
Die Psychotherapie bei Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen ist
das beste Beispiel dafür, wie eine integrative Psychotherapie zukünftig auch bei vielen
anderen psychischen Störungen zum Wohle der Patienten eingesetzt werden könnte.
„Insbesondere den Agoraphobikerinnen wird in analytisch wie systemisch orientierter, aber auch in der
Verhaltenstherapie ein aus der Kindheit herrührendes ‚Abhängigkeitsbedürfnis’ unterstellt. Dabei wird
meist von einer ambivalenten Einstellung der Agoraphobikerinnen zu ihrem Partner ausgegangen: der
Wunsch fortzulaufen, würde durch die Selbsteinsperrung über die Agoraphobie nicht realisierbar; in
Abwesenheit des Partners bliebe die Betroffene im selbstgewählten Gefängnis der Wohnung – nur im
Beisein des Partners, unter seiner ständigen Kontrolle, wage sie sich hinaus. Die Agoraphobie soll so
vor gefürchteten Konsequenzen (z.B. Angst vor dem Alleinsein) der Ausbruchstendenzen schützen.
Auf der Ebene partnerschaftlicher Funktionalitäten könnte die Agoraphobie aber auch die Funktion
gewinnen, einen befürchteten Ausbruchsversuch des Partners zu verhindern – besonders in der Kombi-
nation mit einer ‚Angst vor dem Alleinsein in der Wohnung’. Hier würde der Partner, über den Appell
an altruistische Helfergefühle, außerhalb seiner Berufstätigkeit ‚an die Kette gelegt’. Eine Reihe weite-
rer Funktionalitäten sind denkbar, werden hypothetisch aus Verhaltensanalysen häufig abgeleitet und
auch für die Therapieindikation und -prognose verwandt ...“
Die angeführten Hypothesen sind bislang zwar noch nicht empirisch überprüft und
bestätigt, bewähren sich jedoch häufig in der klinischen Praxis.
Die Interaktionsstörungen sind bei den verschiedenen Zwangstypen unterschiedlich
stark ausgeprägt: bei Wasch- und Reinigungszwängen weniger stark, bei Zwangsgedan-
ken dagegen ganz massiv, mit sehr rigid-zähen, nur schwer veränderbaren Interaktions-
mustern, weil hier die sozialen Defizite am fundamentalsten sind.
Aufgrund des häufig großen Ausmaßes der interaktionellen Funktionalität der
Zwänge fordert Hand die Einbeziehung systemischer Elemente in den Gesamtbehand-
lungsplan (zumindest teilweise auch Familiensitzungen).
Zwangspatienten können ihre Zwänge nur sehr schwer aufgeben, weil sie dann nicht
nur mit ihren Ängsten, sondern auch mit ihren sozialen Defiziten konfrontiert würden,
wenn ihnen die „Waffe“ der Zwänge fehlt. Der zu Therapiebeginn angeführte Wunsch
nach primärer Symptombeseitigung entspricht oft nicht der tatsächlichen Motivation der
Patienten. Diese Beurteilung bezüglich einer großen Ambivalenz hinsichtlich von Ände-
rungswünschen gilt so lange, als über den Weg der Zwänge Ziele erreichbar sind, die
anders nicht realisierbar erscheinen.
Der Versuch, Zwangssymptome in ähnlicher Weise wie Phobien zu löschen, gelingt
aufgrund der verschiedenen, sich überschneidenden Funktionalitäten von Zwangssym-
ptomen oft nur schwer. Es braucht sehr viel Zeit, bis Menschen mit Zwangsstörungen
bereit sind, ihre mangelnden sozialen Fertigkeiten anzuerkennen und adäquatere Bewäl-
tigungsstrategien und Beziehungsmuster zu entwickeln.
Psychotherapeuten müssen auch den Partnern von Zwangspatienten bei der Beseiti-
gung ihrer ebenfalls vorhandenen Defizite helfen, denn nur so ist es erklärbar, dass
diese so lange die Zwangssymptomatik als Mittel der Beziehungssteuerung hingenom-
men haben. Die Partner haben in der Regel durch ihr Nachgeben zwecks Konfliktver-
meidung die Symptomatik des Patienten massiv verstärkt.
Panikattacken mit ihrer Dramatik schützen den Menschen vor der vollständigen
Wahrnehmung seiner inneren Befindlichkeit, die einen Zusammenbruch der Selbst-
struktur zur Folge hätte. Man möchte z.B. gerne eine gute Ehe führen bzw. eine berufli-
che Erfüllung erleben, muss jedoch erkennen, dass dies nicht (mehr) möglich ist.
Panikpatienten können ein von hohen selbstgesetzten Idealen (Anständigkeit, Moral,
Eigenständigkeit, Tüchtigkeit, Perfektion) abweichendes Selbst nicht akzeptieren und
erleben dies als Schwäche und Peinlichkeit und leiden darunter, wenn sie ihre Gefühle
nicht kontrollieren können. Jede Abhängigkeit von der Anwesenheit anderer Personen
erzeugt Wut und Ärger und widerspricht dem Selbstideal völliger Autonomie.
Angstpatienten weisen aufgrund ihrer Sozialisationsbedingungen eine gestörte Au-
tonomieentwicklung mit mangelndem Selbstvertrauen auf. Das im Rahmen der Familie
nicht ausreichend erfüllte Grundbedürfnis nach Anerkennung und Geborgenheit führt zu
einem großen Bedürfnis nach Geborgenheit bzw. zur Angst vor dem Verlassenwerden,
was im Erwachsenenalter einen Widerspruch zu dem Selbstideal von Ungebundenheit
und freier Entfaltung darstellt.
Die Therapie soll in der Symptomphase das Vertrauen zum eigenen Körper stärken
und in der Beziehungs- und Konfliktphase eine Beziehungsklärung gegenüber der sozia-
len Umwelt fördern.
Aus der Befürchtung schwerer chronischer Erkrankungen resultiert die Angst, von
anderen Menschen abhängig zu werden und die Lebenssituation nicht mehr kontrollie-
ren und nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können. Angststörungen im Alter sind
häufig durch ein geringes Selbstvertrauen bezüglich alltäglicher Verrichtungen bedingt
und hängen oft mit Einschlafschwierigkeiten und/oder Depressionen zusammen.
Ängste können auch aus einer beginnenden Demenz resultieren, die das Zurechtfin-
den in der Welt sehr erschwert. Entsprechende Ängste äußern sich oft in Form von
Agitiertheit (Aufgeregtheit), motorischer Anspannung oder Angriffsverhalten.
Eine Agoraphobie beginnt bei älteren Menschen meistens nach dem 60. Lebensjahr,
nur bei einigen bestand schon im Erwachsenenalter eine Agoraphobie. Als Auslöser
fungiert meist ein alterstypisches Ereignis (Sturz, Unfall, Bewegungsunsicherheit, be-
stimmte Krankheiten). Die Agoraphobie dient oft dazu, eine Wiederholung des bela-
stenden Erlebnisses zu vermeiden.
Die größere Anfälligkeit von Frauen für Angststörungen wird derart begründet [143]:
z Frauen sind ab der Pubertät biologisch anfälliger. Hormonelle Schwankungen, Men-
struation, Schwangerschaft, Geburt, Menopause und Hormonstörungen stellen starke
körperliche und psychische Belastungen dar.
z Angststörungen sind oft eine Reaktion auf die Erfahrung häuslicher Gewalt.
z Frauen erleben andere Sozialisationsbedingungen mit anderen Zielen als Männer.
Frauen wurden oft nicht so selbstbewusst und selbstständig wie Männer erzogen,
sodass sie entsprechende Verhaltensweisen nicht ausreichend erwerben konnten.
Frauen wurden von klein auf dazu angehalten, nett und freundlich zu sein, während
Männer von klein auf eher aggressiv sein durften. Frauen neigen daher eher dazu,
Ärger hinunterzuschlucken. Sie dürfen und können ihre Angstgefühle oft nicht in
Wut umkehren und ausdrücken.
z Berufstätige Mütter sind durch die Mehrfachbelastung von Haushalt, Kinder und
Beruf oft überlastet, sodass sie unter Dauerstress leiden. Die Wahrscheinlichkeit ei-
ner Angsterkrankung steigt mit der Zahl der Familienmitglieder, insbesondere wenn
es Pflegefälle oder andere Belastungen in der Familie gibt.
382 Erklärungsmodelle für Angststörungen
z Das häufigere und stärkere Auftreten von Agoraphobien bei Frauen kann damit
zusammenhängen, dass Frauen im Laufe ihrer Entwicklung (Heirat, Geburt von
Kindern, Unterbrechung der Berufstätigkeit usw.) die für die Bewältigung schwieri-
gerer Situationen notwendigen Fertigkeiten nicht mehr üben konnten. Durch die feh-
lende Berufstätigkeit waren sie nicht mehr gezwungen, die Angst machenden Situa-
tionen besser aushalten zu lernen.
Hafner [144] fand bei Frauen mit einfacher Agoraphobie (keine weiteren psychischen
Auffälligkeiten) einen intrapsychischen Konflikt, und zwar einen ausgesprochen starken
Geschlechtsrollenkonflikt zwischen beruflicher bzw. privater Selbstverwirklichung ei-
nerseits und Hausfrauen- und Mutter-Dasein andererseits. Diese Frauen waren früher
in ihrem Beruf kompetent und erfüllt, können sich nun jedoch schwer auf das Hausfrau-
en-Dasein umstellen und leiden unter der ökonomischen Abhängigkeit vom Mann und
der Einschränkung ihrer Freiheit durch die Kinder.
Agoraphobien mit Panikattacken entstehen oft aus dem intrapsychischen Konflikt,
einerseits unabhängig und lebenszufrieden sein zu wollen, andererseits abhängig und
eingeschränkt zu sein sowie für und durch die Kinder und den Gatten leben zu müssen,
angewiesen auf stellvertretende Erfüllung der Bedürfnisse nach Leistung und Anerken-
nung. Der Zusammenhang zwischen Familienstatus und Agoraphobie ist empirisch
erwiesen [145]. Die Mehrzahl der Frauen mit Agoraphobie ist verheiratet, eine Ago-
raphobie tritt bei vielen Frauen erst nach der Heirat auf.
z Verhaltensorientiert denken besteht in der Erkenntnis, dass für die Lösung von Pro-
blemen aktives Handeln und eine Verhaltensänderung notwendig sind. Das alleinige
Wissen über die Ursachen bestimmter Probleme („Ich habe Angst, weil ich als Kind
keine stabilen Beziehungen erlebt und kein ausreichendes Selbstvertrauen erworben
habe“) verändert nichts am Problem. „Verhalten“ wird in einem sehr umfassenden
Sinn verstanden (sichtbares Verhalten, Kognitionen, Emotionen, körperlich-
physiologische Befindlichkeit). Verhalten passiert nicht einfach, sondern erfolgt
zielorientiert im Sinne von Handeln (Absicht, Motivation) und findet statt in einem
ganz bestimmten sozialen Kontext (Partner- und Familiensituation, Berufswelt, so-
zioökonomische und ökologische Bedingungen). Das Problem- und Zielverhalten
wird in der Verhaltenstherapie möglichst konkret beschrieben. Man spricht von ei-
ner „Operationalisierung“ und meint damit beobachtbare Veränderungskriterien.
Typische Fragen dazu sind: An welchen Verhaltensweisen erkennen Sie, dass Ihre
Angst (Unsicherheit usw.) abnimmt? Was genau stellt für Sie eine erste kleine Bes-
serung dar? Woran werden die anderen Menschen erste Erfolge erkennen? Woran
erkannt man, dass Ihre Angst noch größer geworden ist?
z Lösungsorientiert denken bedeutet, dass der Schwerpunkt auf der Entwicklung von
Problemlösungen liegt. Die Konstruktion von Lösungen ist wichtiger als die lang-
wierige Analyse der Lebensgeschichte, so wichtig diese auch zum Verständnis der
aktuellen Symptome und Probleme sein mag. Es werden primär jene lebensge-
schichtlichen Aspekte erfasst, die zum Verständnis der aktuellen Beschwerden und
deren Bewältigung von Bedeutung zu sein scheinen. Patienten werden dabei ermu-
tigt, bereits kleinste Initiativen als eigenständigen Beitrag zur Problemlösung anse-
hen zu lernen und nicht endlos lange im Erörtern der Probleme und des negativen
Ist-Zustandes zu verharren. Die genaue Erforschung der Entstehung und Aufrechter-
haltung der Probleme („Verhaltensanalyse“ bzw. „Problemanalyse“) dient dazu,
Schlussfolgerungen für eine konkrete Problembewältigung ableiten zu können.
z Positiv denken bedeutet, den Patienten zu ermutigen, seine eigenen Stärken und
Fähigkeiten („Ressourcen“) zu entdecken und ihn aus dem Teufelskreis negativer
Gedanken zu befreien. Positiv denken heißt nicht, berechtigte Sorgen und Ängste zu
leugnen und die Patienten an die Missstände und negativen Lebenssituationen anzu-
passen. Der Therapieansatz ist klar auf aktive Veränderung angelegt. Positives Den-
ken bei Angstzuständen entspricht nicht der Haltung „Es wird schon nichts passie-
ren“, sondern umfasst Vorstellungen, wie es nach einer vermeintlichen Katastrophe
einigermaßen gut oder erträglich weitergehen kann.
z In kleinen Schritten denken bedeutet, dass der Patient sich zusammen mit dem The-
rapeuten kleine, begrenzte Ziele setzt, die wirklich erreichbar sind. Große Ziele wer-
den in Zwischenziele zerlegt, um die Erfolgschancen zu erhöhen. Viele Patienten
haben anfangs zu große Ziele, die nicht schnell genug realisierbar sind, sodass bald
eine Resignation eintritt. Dies ist oft bei depressiven Angstpatienten der Fall.
Therapeutische Grundprinzipien der Verhaltenstherapie 385
z Flexibel denken bedeutet, dass die Therapie nicht gescheitert ist, wenn eine Pro-
blemlösungsstrategie nicht erfolgreich war. In der Selbstmanagement-Therapie gibt
es prinzipiell verschiedene Wege, ein Ziel zu erreichen. Wenn Methoden und Tech-
niken anderer Psychotherapiemethoden erwiesenermaßen wirksam sind, können die-
se innerhalb eines verhaltenstherapeutisch orientierten Grundkonzepts problemlos
eingesetzt werden. Die Anwendung systemischer, gestalttherapeutischer oder kör-
pertherapeutischer Techniken erfordert nicht den Ausstieg aus einer verhaltensthera-
peutisch angelegten Behandlungsweise.
3. Orientierung auf positive Ziele statt Fixierung auf die Probleme. Wichtige ziel-
orientierte Fragen sind: Angenommen, Sie würden über Nacht gesund, was hätte
dies für Folgen für Ihr Leben? Woran werden Sie und andere erkennen, dass Sie ge-
sund sind? Was werden Sie tun, wenn Sie gesund sind? Wenn sich Ihr Problem in
der nächsten Zeit nicht wesentlich verändern lässt, wie könnten Sie dann Ihr Leben
doch erträglicher gestalten? Wenn das Symptom weg ist (z.B. Ängste, Depression,
Alkoholmissbrauch), was tritt dann an dessen Stelle und was können Sie dann mehr
tun als vorher? Was davon könnten Sie bereits jetzt trotz der Probleme zu tun versu-
chen? Wenn absolut nichts möglich ist, kann dies ein Hinweis darauf sein, dass das
Symptom ein wichtiger Schutz vor etwas ist, das mehr Probleme bereiten würde als
das gegenwärtige Symptom. Die mangelnde Veränderbarkeit einer Symptomatik
wird dann zum Thema der Therapie gemacht.
6. Weg der kleinen Schritte. Die Zerlegung eines Traumziels in realisierbare und kon-
kret überprüfbare Teilziele ist für viele Patienten eine der schwersten, zugleich aber
auch wichtigsten Aufgaben, denn es erfordert Bescheidenheit und Geduld mit sich
selbst. Menschen mit Angststörungen streben oft das völlig unrealistische Therapie-
ziel an, alles ohne Angst bewältigen zu können. Ängstlich-vermeidende Persönlich-
keiten möchten so schnell wie möglich in jeder Hinsicht selbstsicher auftreten kön-
nen. Bei resignativen Patienten mit langjähriger Symptomatik ist es das erste und
entscheidende Therapieziel, kleine, aber sichtbare Anfangserfolge zu erreichen. Was
ist die kleinstmögliche Veränderung, die bereits einen Fortschritt bedeuten würde?
Welche konkreten Verbesserungen sind bei einer Kurzzeittherapie von 10-20 Stun-
den realistischerweise zu erwarten? Welche Probleme sollte man vorerst einmal oh-
ne Änderungsversuche besser als bisher annehmen und aushalten lernen? Welche
Ängste müssen in den nächsten 3-6 Monaten unbedingt bewältigt werden?
388 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Der verstorbene Psychotherapieforscher Klaus Grawe [4], der die Effizienz verschiede-
ner Methoden untersucht hat, betont vier Merkmale wirksamer Psychotherapien:
1. Ressourcenaktivierung (durch eine unterstützende Therapeut-Patient-Beziehung),
2. Problemaktualisierung (Prinzip der realen Erfahrung, erfahrungsorientiertes Lernen),
3. Bewältigungsperspektive (aktive Hilfe bei der Problembewältigung),
4. Klärungsperspektive (Klärung der Störungsursachen und der Motivation).
1. „Orientierung der Therapie auch an den Stärken (Ressourcen) des Patienten. Der Patient wird
nicht nur als Leidender und mit Problemen und Störungen belasteter Mensch begriffen, sondern
auch als jemand, der über Fähigkeiten und (verborgene) Stärken verfügt, die für den Therapiever-
lauf genutzt werden können. Die Verhaltenstherapie berücksichtigt diese Ressourcen-Orientierung,
indem sie ausdrücklich die sogenannten Verhaltensaktiva (=Stärken und Fähigkeiten) des Patienten
herausstellt und ihn auch als aktiven und verantwortlichen Partner bei der Therapiedurchführung
begreift.
Therapeutische Grundprinzipien der Verhaltenstherapie 389
2. Problemaktualisierung in der Therapie. Das heißt, das Problem, um das es geht, sollte nicht nur
besprochen, sondern auch auf der Ebene der Gefühle, der Körperreaktionen und des beobachteten
Verhaltens erfahrbar werden. Mit ihren Übungsangeboten und dem direkten Aufsuchen von Angst-
situationen ist es seit jeher ein Wesensmerkmal der VT, die Probleme direkt und – wenn möglich –
‚live’ zu analysieren und zu bearbeiten. Wenn, wie das Sprichwort lautet, ein Bild mehr sagen kann
als tausend Worte, so kann eine konkrete positive Erfahrung oft mehr ändern als viele Gespräche.
3. Die Bewältigungsperspektive. Unter dem Gesichtspunkt des ‚Noch-nicht-Könnens’ des Patienten
kann die VT konkrete Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln. So finden konkrete Anleitungen und
Übungen z.B. zur Streßbewältigung ebenso ihren Platz wie Übungen zum sicheren Verhalten in der
Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz.
4. Die Klärungsperspektive. Fast jeder Patient hat das Bedürfnis zu erkennen, warum er ein Problem
oder eine Störung hat. Unter dem Gesichtspunkt der Klärung geht es auch in der VT darum, ge-
meinsam herauszufinden, wie aus den Lebenserfahrungen des Patienten und seinen aktuellen Kon-
flikt- und Lebensproblemen die Störung entstehen konnte (‚Ursachenforschung’). Ein Patient kann
so z.B. erkennen, daß seine Kopfschmerzen Signal für Überforderungen am Arbeitsplatz sind, oder
aber, daß er ‚unbewußt’ versucht, durch die Schmerzen die Zuwendung seiner Partnerin zu erhal-
ten, da er sich nicht traut, diese ‚direkt’ zu erbitten.“
Erfahrungen durch die Auseinandersetzung mit den konkreten Problemen auf der
Ebene intensiver Vorstellungen und lebendiger Vergegenwärtigungen von Problem-
situationen (z.B. „Stellen Sie sich die gefürchtete Situation ganz intensiv vor“) oder
in Form von emotionsaktivierenden Konfrontationen mit realen Situationen. Auf
diese Weise werden Auslöser, Abläufe und Konsequenzen der Probleme erfahrbar
und bewältigbar. Erlebnisaktivierende Psychotherapien beschleunigen die Lösung
von Problemen, weil durch konkrete Erfahrungen die problemerzeugenden Situatio-
nen wiederhergestellt und dadurch leichter bewältigbar werden. Aktivierung und
Bewältigung emotional belastender Situationen erfordern beispielsweise eine Grup-
pentherapie bei generalisierten sozialen Ängsten, eine Paartherapie bei Verlustäng-
sten angesichts von Partnerproblemen, eine Familientherapie oder die Einbeziehung
relevanter Familienmitglieder, wenn die Angststörung eng mit familiären Problemen
zusammenhängt, eine Konfrontation mit der konkreten Alltagsrealität durch Aufsu-
chen relevanter Orte bei Agoraphobie oder Waschzwängen.
Scheitern verurteilt ist, wenn der Patient im Sinne einer motivationalen Klärung vor-
erst einmal das Bedürfnis hat, sich auf dem Hintergrund seiner früheren und aktuel-
len Lebenssituation besser verstehen und seine momentanen Gefühle besser wahr-
nehmen zu lernen. Vielen Patienten ist das vorherige Verstehen ihrer Person und ih-
rer Lebensgeschichte wichtiger als ein rascher Änderungsversuch.
– „Sorgen- – Rollenspiele
Exposition“ – In-vivo-Exposition
– Kognitive Stra-
tegien zur Beru-
higung
Tab. 11: 3-Phasen-Modell der Behandlung von Agoraphobie und Panikattacken [10]
Rief [11] beschreibt das konkrete Vorgehen am Beispiel von Panikstörungen und Ago-
raphobien (die Ausführungen gelten analog auch für andere Angststörungen):
„Das typische Vorgehen in der Behandlung von Personen mit Angst- und Panikstörungen läßt sich in
der Regel in drei Phasen untergliedern.
Die erste Phase stellt die Eröffnungsphase dar, in der die medizinische und psychologische Diagno-
stik im Vordergrund steht. Ziel ist es, die ‚innere Welt des Patienten’ zu explorieren, seine Ängste,
seine Kognitionen, seine körperlichen Reaktionen. Dem Patienten werden zahlreiche Informationen zur
Entstehung von Angstattacken vermittelt und mit ihm wird ein gemeinsames psychologisches Stö-
rungsmodell erarbeitet... Das Ende der ersten Behandlungsphase stellt in der Regel die Ableitung des
Therapierationals dar, das festlegt, wie ein sinnvolles weiteres Vorgehen aussehen soll. Insgesamt liegt
somit ein Schwerpunkt auf der Informationsgewinnung, Informationsvermittlung sowie Motivierung
zur Verhaltensänderung. Verschiedene Provokationstests (z.B. Hyperventilation) mit entsprechenden
Auswertungen werden unterstützend eingesetzt in dieser Phase.
Die zweite Therapiephase stellt das Kernstück der Behandlung dar. In ihr erfolgt eine Auseinander-
setzung mit angstbesetzten Reizen, welche sowohl verinnerlichte Reize als auch äußere Angstauslöser
sein können. Hauptziel dieser Auseinandersetzung ist nicht das Bewältigen als solches, sondern eine
kognitive Neubewertung der Situation, der eigenen Fähigkeiten und der persönlichen körperlichen
Reaktionen. So trivial das Expositionsverfahren in der theoretischen Darstellung oftmals wirkt, so viel
Erfahrung ist doch andererseits in der praktischen Durchführung nötig...
Therapeutische Grundprinzipien der Verhaltenstherapie 393
Die dritte Behandlungsphase sollte aus Interventionen bestehen, die der allgemeinen psychischen
Stabilisierung dienen. Hierzu stehen verschiedenste Möglichkeiten zur Auswahl, die je nach Problem-
lage des Patienten und persönlichen Vorlieben des Therapeuten gestaltet werden können. So wäre hier
durchaus auch an eine biographische Aufarbeitung zu denken, die versucht, dem Patienten Sinnzusam-
menhänge seiner Angststörung zu vermitteln bzw. solche mit ihm zu erarbeiten, wie dies üblicherweise
eher in psychodynamischen Therapien geschieht. Allgemeine Stabilisierungsmaßnahmen können gene-
rell alle Maßnahmen zur Steigerung des Selbstwertgefühls darstellen oder zur Aneignung von adäqua-
tem sozialem Kommunikationsverhalten und sozialer Kompetenz. Hierzu zählt zu lernen, Emotionen zu
äußern, Kontakte aufzunehmen und aufrechtzuerhalten, berechtigte Forderungen zu stellen und unbe-
rechtigte Forderungen zurückzuweisen und vieles mehr. Auch kann zu diesem Zeitpunkt eine Klärung
familiärer Beziehungen sowie die Übernahme von Selbstverantwortung in der Familie, am Arbeitsplatz
und in weiteren Lebenssituationen erfolgen. Auch eine Auseinandersetzung mit früheren Traumata mag
angezeigt sein.
Die Regel der zeitlichen Anordnung ‚symptomorientierte Therapie vor allgemein psychisch stabili-
sierenden Maßnahmen’ hat sich nicht nur in wissenschaftlichen Studien bewährt, sondern zeigte sich
auch im praktischen Vorgehen als überzeugend. Gerade die biographische Aufarbeitung von traumati-
schen Ereignissen oder andere Interventionen der dritten Phase lösen in der Regel erneute Ängste aus,
die zu ständigen Unterbrechungen und Abweichungen vom Therapieplan führen. Mit solchen Krisen
kann der Patient deutlich besser umgehen, wenn ihm zuvor Hilfsmittel zum Umgang an die Hand
gegeben und mit ihm eingeübt wurden. Oftmals bekommen Patienten erst durch die symptomorientierte
Therapie ausreichend Vertrauen zum Therapeuten, um anschließend auch weitere psychotherapeutische
Maßnahmen durchführen zu wollen und das nötige Vertrauen hierzu zu entwickeln.“
Laut Hand [13] entscheiden sich etwa 75% der phobischen Patienten auch bei gleichzei-
tigem Vorliegen anderer Probleme (z.B. in der Partnerschaft) vorerst einmal für eine
Symptomtherapie. Die Entscheidung für eine symptombezogene Therapie sollte nicht
routinemäßig aufgrund der Diagnose, sondern erst aufgrund der Problemanalyse erfol-
gen. Es kann auch mit einer „Therapie am Symptom vorbei“ begonnen werden. Thera-
peut und Patient können unterschiedliche Sichtweisen der Problementstehung und The-
rapieplanung aufweisen. Einem Beispiel von Hand [14] folgend, beschreibt ein Phobi-
ker folgende Problementwicklung: Phobie – Depression – Arbeitsplatzprobleme –
Eheschwierigkeiten. Der Therapeut vermutet aufgrund seiner Analysen dagegen folgen-
de Entwicklung: Ehekonflikt – Depression – Phobie – Schwierigkeiten am Arbeitsplatz.
Hier sollte der Therapeut dem Patienten die Chance geben, in der Therapie sein eigenes
Modell zu überprüfen. Der Therapiegrundsatz „Den Patienten dort abholen, wo er
steht“ bedeutet in diesem Fall, mit einer Symptomtherapie zu beginnen. Erst nach einer
Symptombehandlung wird vielen Patienten ihr Partner- oder Berufskonflikt deutlich.
Im Folgenden wird die Verhaltenstherapie der verschiedenen Angststörungen aus-
führlich dargestellt. Zur Diagnostik wird auf das von den Psychologen Jürgen Hoyer
und Jürgen Margraf herausgegebene Buch „Angstdiagnostik. Grundlagen und Testver-
fahren“ verwiesen, das zu jeder Angststörung zahlreiche Fragebögen vorstellt.
Agoraphobie
In der Verhaltenstherapie wurden im Laufe der Zeit zwei verschiedene Strategien zur
Behandlung von phobischen Ängsten entwickelt:
1. Systematische Desensibilisierung: Aushalten immer schwierigerer Angst machender
Situationen in der Vorstellung unter Angst dämpfenden Entspannungsbedingungen
und anschließend in der Realität bei dosierter, leicht erträglicher Angst („gestufte
Reizkonfrontation“ oder „Angstbewältigungstraining“).
2. Reizkonfrontation mit Reaktionsverhinderung („massierte Reizkonfrontation“ im
Sinne von Reizüberflutung/Flooding): intensive Konfrontation mit den Angst ma-
chenden Situationen in der Realität ohne Entspannung, sondern bei bewusster
Angst- und Panikprovokation mit dem Ziel der Erlernung von Bewältigungsstrategi-
en bei erlebten Panikreaktionen.
Art der Angstkonfrontation In der Vorstellung (in sensu) In der Realität (in vivo)
Graduiert Desensibilisierung Habituationstraining
(allmählich, gestuft) (Annähern) (Gewöhnung)
Massiert Implosion Flooding
(plötzlich und intensiv) (Löschen durch Übertreiben) (Reizüberflutung)
„Wenn es gelingt, eine mit Angst unvereinbare Reaktion bei Anwesenheit eines angsterzeugenden
Stimulus auftreten zu lassen, so daß es zu einer vollständigen oder teilweisen Unterdrückung der Angst-
reaktion kommt, wird die Verbindung zwischen dem Stimulus und der Angstreaktion abgeschwächt.“
Entspannung wird als die gesuchte Angst dämpfende Bedingung angesehen, weshalb
die rasch erlernbare Technik der progressiven Muskelentspannung nach Jacobson ein-
geübt wird. Es können aber auch andere Entspannungstechniken eingesetzt werden
(Atemtechniken, autogenes Training, Biofeedback, Hypnose).
Bei der systematischen Desensibilisierung werden zuerst konkrete Situationen hin-
sichtlich eines phobischen Objekts oder Ereignisses gesammelt, dann in eine nach
Schwierigkeitsgrad abgestufte Rangfolge gebracht (d.h. es wird eine Angsthierarchie
erstellt) und anschließend von der leichtesten bis zur schwersten Aufgabe unter Ent-
spannungsbedingungen in der Vorstellung ertragen gelernt, bis Angstfreiheit gegeben
ist. Die jeweils schwierigere Situation wird erst dann angegangen, wenn die leichtere
wiederholt ohne Angst durchgestanden werden kann [18].
Die Desensibilisierung kann nicht nur in der Vorstellung, sondern auch in der Reali-
tät erfolgen. In der Realität werden nur jene Situationen aufgesucht, die in der Vorstel-
lung bereits sicher ertragen werden können. Es handelt sich dabei um eine Angstbe-
handlung nach dem Modell der gestuften Reizkonfrontation. Auf diesem Prinzip beru-
hen die verschiedenen Selbsthilfeprogramme.
Ein Beispiel für eine Angstbehandlung nach dem klassischen Desensibilisierungs-
modell ist die Behandlung von Tierphobien. Während zuerst Bilder und Filme der ge-
fürchteten Tiere oder Objekte gezeigt werden (vielleicht auch gezeichnet werden), er-
folgt im Laufe der Zeit eine immer stärkere Annäherung an die realen Angstauslöser,
bis schließlich eine Berührung der Tiere bei erträglicher Erregung möglich wird oder
die Tiere auf der Haut ertragen werden (z.B. bei Käfer- oder Spinnenphobien). Oft müs-
sen gar keine Ängste, sondern vielmehr Ekelgefühle ausgehalten werden.
Das Desensibilisierungskonzept stellte in den 1960er- und 1970er-Jahren weltweit
die zentrale Angstbehandlungsmethode der Verhaltenstherapie dar, vielfach galt sogar
die formelhafte Gleichsetzung „Verhaltenstherapie = systematische Desensibilisierung“.
396 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Das Modell der systematischen Desensibilisierung bedeutet nach Iver Hand [20] ein
problematisches Angst-Meidungs-Training („Meidungs-Management“). Eine stärker
emotional-physiologische Erregung durch intensivere Angstzustände wird gezielt zu
vermeiden versucht. Es wird trainiert, wie man den bisher phobisch gemiedenen Situa-
tionen ohne große Angst und Panik begegnen kann. Dies kommt dem Bedürfnis vieler
Patienten sehr entgegen, bisher Angst machende Situationen mit Hilfe bestimmter
Techniken garantiert ohne Angst bewältigen zu können.
Das Modell der massierten Reizkonfrontation in der Realität (Reizüberflutung oder
Flooding) stellt ein Angst-Management-Training dar, dessen Charakteristika im Ver-
gleich zum Desensibilisierungsmodell gut aufgezeigt werden können.
Angst-Meidungs-Training Angst-Management-Training
(Desensibilisierungs-Modell) (Flooding-Modell)
z Konfrontation sehr gestuft (Prinzip der klei- z Konfrontation rasch und intensiv (Prinzip
nen Schritte) „Wer wagt, gewinnt“)
z Meidung von Angst/Panik z Induktion von Angst/Panik
z Entspannungstraining zur Meidung der Angst z Managementtraining von induzierter
Angst/Panik führt indirekt zur Entspannung
z Antidepressiva, Anxiolytika oder Beta- z Anxiolytika behindern den Therapieprozess;
Blocker können den Beginn von Selbsthilfe- Antidepressiva gelegentlich anfangs hilf-
übungen erleichtern reich, meist verzichtbar, mitunter hinderlich
z Durchführung in der Regel in angeleiteter z Durchführung in der Regel therapeuten-
Selbsthilfe geleitet (bevorzugt in Gruppen)
1980 veröffentlichten die Marburger Forscher Bartling, Fiegenbaum und Krause [25]
das Standardwerk „Reizüberflutung. Theorie und Praxis“. Die Autoren bezogen sich
zur theoretischen Fundierung auf die Zwei-Faktoren-Theorie von Mowrer, die sie je-
doch als unzulänglich hinstellten, weil dieses Konzept das Anhalten phobischen Verhal-
tens trotz einer Konfrontationstherapie nicht erklären könne. Neben den lerntheoreti-
schen Konzepten von Stimulus (Reiz) und Response (Reaktion) als Grundeinheiten des
Verhaltens wurden bereits damals kognitive Konzepte betont, die die psychischen Ver-
arbeitungsprozesse berücksichtigen, die während einer Konfrontationstherapie ablaufen:
Durch positive Erfahrung werden negative Erwartungen widerlegt (kognitive Diskre-
panz zwischen Befürchtungen und erlebter Realität) und ein Gefühl der Selbstwirksam-
keit erzeugt. Die Wirkmechanismen der Konfrontationstherapie beruhen nach traditio-
neller Auffassung auf den Vorgängen der „Löschung“ und der „Habituation“ [26]:
„Durch wiederholte Konfrontation mit dem konditionierten Stimulus bei gleichzeitiger völliger Verhin-
derung der Vermeidungsreaktion soll die Angstreaktion gelöscht werden. Für eine effektive Löschung
sollten möglichst alle Reize, die zu konditionierten Stimuli für die (potentielle) Angstreaktion geworden
sind, dargeboten werden. Ein Generalisierungseffekt ist jedoch zu erwarten.“
Löschung bedeutet, dass die Angstreaktion auf einen phobischen Auslöser hin nicht
durch Flucht oder Vermeidung beendet wird, sondern durch Gewöhnung (Habituation)
an den phobischen Reiz in Form von regelmäßiger Konfrontation.
Habituation bedeutet eine Gewöhnung an bislang Angst machende Reize und Situa-
tionen, sodass die physiologische Erregung nachlässt. Anders formuliert ist Habituation
„das Absinken der Reaktionswahrscheinlichkeit zentralnervöser und peripherer Struktu-
ren bei wiederholter Reizdarbietung“ [27]. Bei neuen, ungewohnten, unerwarteten,
gefährlich und unerträglich erscheinenden Reizen und Situationen erfolgt eine 3-5 Mi-
nuten dauernde arousal reaction, d.h. eine massive körperliche und geistige Aktivierung
im Sinne der Kampf-Flucht-Reaktion nach Cannon und der Alarmreaktion nach Selye.
Bei Angst- und Zwangspatienten hält jedoch die psychophysiologische Aktivierung
dauerhaft an, weil durch das ständige Restrisikodenken und Vermeidungsverhalten
keine Gewöhnung an die entsprechenden Auslösereize erfolgt.
Die verhaltenstherapeutischen Experten [28] weisen auf die Ähnlichkeit der Reiz-
konfrontationstherapie mit paradoxen Therapieverfahren hin:
„Die Aufforderung, die Angst zuzulassen, beinhaltet nach unserer Erfahrung erhebliche Anteile einer
paradoxen Instruktion und sollte vor und während des Intensivtrainings häufiger wiederholt werden.“
Agoraphobie 399
Die Effektivität eines derartigen Vorgehens hatte bereits in den 1930er-Jahren der Wie-
ner Psychiater Viktor Frankl mit seiner Technik der „paradoxen Intention“ aufgezeigt.
Die Reizüberflutungstherapie beginnt genau mit dem, was die systematische Desensibi-
lisierung bzw. gestufte Reizkonfrontationstherapie gezielt zu verhindern sucht, nämlich
mit der Provokation von Emotionen und körperlichen Angstreaktionen.
Durch rasche und massive Konfrontation mit den am meisten Angst machenden Si-
tuationen unter realistischen Bedingungen, d.h. in Alltagssituationen, werden die bisher
gefürchteten körperlichen, emotionalen und kognitiven Reaktionen in Anwesenheit des
Therapeuten provoziert und bewältigt. Die Patienten werden ermutigt, die Angst ma-
chenden Situationen zum Zeitpunkt der größten vegetativen Erregung nicht zu verlas-
sen, sondern in einer Art Beobachterposition aushalten zu lernen [29]. Nach dem Acht-
samkeitskonzept werden psychophysiologische Zustände dagegen nicht zuerst provo-
ziert und dann toleriert, sondern als Kommen-und-Gehen ohne Bewertung zugelassen.
Bereits vor rund drei Jahrzehnten warnten die erwähnten Experten vor dem Automa-
tismus „Angst in verschiedenen Situationen, daher Konfrontationstherapie“ und beton-
ten die Notwendigkeit einer umfassenden Verhaltensanalyse unter Berücksichtung ko-
gnitiver Aspekte. Angst könne die Folge eines anderen Problems sein. Nur bei einer
sich verselbstständigenden Angstsymptomatik sei eine Konfrontationstherapie indiziert.
Verhaltenstherapeuten gehen – im Gegensatz zu anderen Psychotherapeuten – bei
Bedarf zusammen mit ihren Patienten aus dem Therapieraum in Angst machende Situa-
tionen des Lebensalltags, um ihnen diese in Form eines intensiven Erlebens besser be-
wältigen zu helfen als durch ein „Darüber-Reden“. Heutzutage erfolgt eine massierte
Konfrontationstherapie nur mehr bei einer sehr schweren Agoraphobie gemeinsam mit
dem Therapeuten, der sich später immer mehr ausblendet, meistens erfolgt die Expositi-
on von Beginn an alleine oder in Begleitung einer gut instruierten Vertrauensperson.
Bei vielen agoraphobischen Patienten ist eine Reizüberflutung in Begleitung des
Therapeuten wenig sinnvoll, weil der anwesende Therapeut eine Sicherheitsgarantie
darstellt („Wenn etwas passiert, werden Sie mir helfen“, „Auf Ihre Verantwortung hin
mache ich alles“), aber auch das unerträgliche Gefühl des Alleinseins mildert („Mit
Ihnen mache ich gerne alle Übungen, allein freut es mich nicht“) [30]. Viele Agorapho-
bie-Patienten können die Übungen in Anwesenheit des Therapeuten sogar genießen,
während sie erst beim Üben allein richtiggehend Angst bekommen.
Reizüberflutung bedeutet nach einem Bild von Marks [31], in das tiefe Wasser der
Angst zu springen, Desensibilisierung ist dagegen ein zentimeterweises Hineinwaten
vom seichten Ende her. Bei Therapiebeginn erfolgt sofort eine Konfrontation mit den
am stärksten Angst machenden Situationen im Sinne einer „Überflutung“ (Flooding),
um rasch einen Durchbruch zu erreichen und tage- bzw. wochenlanges Üben überflüssig
zu machen. Dabei wird anfangs mindestens 1-3 Tage lang zusammen mit dem Thera-
peuten intensiv geübt, und zwar den ganzen Tag lang (mindestens jedenfalls 4-6 Stun-
den), oder es finden 1-5 Übungstage innerhalb von 2 Wochen statt, während eine ge-
stufte Reizkonfrontation im Sinne eines Angst-Meidungs-Trainings 6 Wochen bis 6
Monate Zeit erfordert, bis sich ein ausreichender Therapieerfolg einstellt.
Bei einem zeitlich besonders massierten Vorgehen werden in ca. 5-10 aufeinander
folgenden Tagen bis zu 8-10 Stunden täglich die symptomauslösenden Situationen
aufgesucht [32]. Trainiert wird die Konfrontation mit Angst machenden Situationen,
wie sie für den Patienten typisch sind, aber auch wie sie in der Alltagswelt des Durch-
schnittsbürgers auftreten können. Nach den Intensivtagen zusammen mit dem Therapeu-
ten soll der Patient die Übungen täglich allein fortsetzen.
400 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Durch die massierte Reizkonfrontation soll möglichst rasch und intensiv eine Kon-
frontation mit den gefürchteten körperlichen, kognitiven und emotionalen Reaktionen
erreicht werden. Ohne Bereitschaft zur intensivsten Reaktionsmöglichkeit (Panikattak-
ke), besteht eine potenzielle Rückfallsgefahr und eine große Erwartungsangst vor dem
Schlimmsten, dem man sich nicht gewachsen sieht [33]. Erwartungsängste sollen da-
durch abgebaut und zukünftig vermindert werden. Bei der Reizüberflutungstherapie
besteht die Bereitschaft, Angst- und Panik-Reaktionen in der realen phobischen Umwelt
auszulösen und zugleich adäquate Bewältigungsstrategien einzuüben. Dieses Ziel wird
durch ein gestuftes Vorgehen oder durch eine parallel laufende Medikation nicht so
leicht erreicht, weil die typische „Angst vor der Angst“ nicht überwunden wird.
Die Erfahrung, dass auch die stärkste Angst aushaltbar ist und nach einiger Zeit
(5-20 Minuten) zurückgeht, bewirkt nicht nur eine Habituation, sondern eine „kognitive
Umstrukturierung“, die durch eine rein kognitive Therapie (Analyse und Änderung der
Denkmuster) nicht so effektiv erreicht wird (Motto: „Ich erlebe, dass ich Angst aushal-
ten kann, daher glaube ich auch zukünftig, dass ich Angst aushalten kann“). Eine Kon-
frontationstherapie bewirkt über die Habituation hinaus eine Verbesserung der Selbst-
wirksamkeit. Faktum ist: Das beste Lernen erfolgt bei einem mittleren Angstausmaß.
Daher gehen immer mehr Verhaltenstherapeuten davon aus, dass es bei der Konfronta-
tionstherapie nicht primär um die Provokation und Bewältigung von Panikattacken geht,
sondern vielmehr um die Ermöglichung von Erfolgserlebnissen und Bewegungsfreiheit.
Durch eine Expositionstherapie ist oft schon nach einer Woche eine jahrelange Ago-
raphobie bewältigbar. Dies bringt zwar die schnellsten und sichersten Erfolge, scheint
jedoch nur Mutigen und gut Belastbaren vorbehalten zu sein. Eine massierte Konfronta-
tionstherapie ist besonders bei Phobien mit Panikattacken und Vermeidungsverhalten
(Kleintierphobie, Agoraphobie, soziale Phobie) angezeigt, weil die Betroffenen dazu
neigen, Panikattacken durch Vermeidungsstrategien zu bewältigen, die in weiterer Fol-
ge die Angst vor der Angst nur verstärken und langfristig die Gefahr einer sekundären
Depression oder eines Alkohol- bzw. Medikamentenmissbrauchs in sich bergen.
Bei unüberwindlichem chronischen Vermeidungsverhalten ist eine gestufte Reizkon-
frontation sinnvoll, wenngleich therapieverlängernd. Nützlich sind dabei auch Selbsthil-
febücher wie das altbekannte Agoraphobie-Selbsthilfeprogramm von Mathews, Gelder
und Johnston [34] aus London, das von Hand und Fisser-Wilke in Hamburg übersetzt
und seit den 1980er-Jahren erfolgreich eingesetzt wird. Hausübungen in Form einer
eigenständigen, gestuften Angstkonfrontation entsprechen dem Prinzip der Verhaltens-
therapie, dass sich Veränderungen nicht so sehr in den therapeutischen Sitzungen, son-
dern vielmehr in den Zeiträumen zwischen den Therapiestunden ereignen.
Meine Erfahrung ist: Erwartungsängste bezüglich Panikattacken sind bei bereitwil-
ligen Patienten am schnellsten mittels Provokation einer solchen durch mentale Verge-
genwärtigung im Therapieraum zu behandeln, weil als Folge der Erfahrung, dass keine
Katastrophe eintritt, die falschen Denkansätze der Patienten am überzeugendsten korri-
giert werden können. Das Grundprinzip lautet: Realitätstestung statt Fantasieren [35].
Ziel ist eine realistischere Einschätzung von Situationen und körperlichen Reaktionen.
Durch Konfrontationen mit gefürchteten Situationen, deren konkrete Angstauslöser
vorher oft gar nicht angegeben werden können, wird deutlich, ob eher eine Angst vor
den eigenen körperlichen Reaktionen besteht (wie dies bei einer Panikstörung der Fall
ist) oder eher eine Angst vor der Reaktion der Umwelt (wie dies bei einer sozialen Pho-
bie zutrifft). Verschiedene Agoraphobiker mit Panikstörung haben keine Angst zu ster-
ben, sondern eine Angst, unangenehm aufzufallen oder für verrückt gehalten zu werden.
Agoraphobie 401
„Um Phobien im Keim zu ersticken, lautet die goldene Regel: Vermeiden Sie Flucht! Fördern Sie die
Konfrontation mit der Angst. Nach einem plötzlichen Unfall vergeht oft eine gewisse Zeit, bevor eine
Phobie entsteht. Wenn der Betreffende in diesem Zeitraum der ursprünglichen Situation noch einmal
unmittelbar ausgesetzt wird, bewahrt ihn das davor, sich vor ihr zu fürchten. Es ist eine alte Erkenntnis,
daß Menschen unmittelbar nach dem ursprünglichen Trauma die traumatische Situation noch einmal
durchleben sollten. Piloten wird geraten, nach einem Flugunfall absichtlich sobald als möglich wieder
zu fliegen, und Autofahrern wird empfohlen, sich nach einem Zusammenstoß sobald wie möglich
wieder ans Steuer zu setzen. Wenn man von einem Pferd stürzt, ist es das Beste, gleich wieder aufzu-
steigen.“
Der Erfolg von Konfrontationstherapien hängt sehr davon ab, dass die Betroffenen
durch ein plausibles Erklärungsmodell von der Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens über-
zeugt werden können. Dies setzt nicht nur eine optimale Vermittlung von Sachinforma-
tionen und technischen Anleitungen voraus, sondern auch eine gute Therapeut-Patient-
Beziehung, durch die ein Angstpatient erst Vertrauen und Zuversicht entwickeln kann.
Die meisten phobischen Patienten wissen im Prinzip, auf welche Weise sie ihre
Ängste überwinden könnten, nämlich durch etwas mehr Mut und Konfrontation mit den
Angst machenden Situationen, doch gerade dazu sind sie nicht in der Lage. Angst vor
bestimmten Situationen zu haben, bedeutet, sich selbst nicht vertrauen zu können, aber
auch sonst niemandem. Konfrontationstherapien sind daher Übungen des Vertrauens.
Es ist eine paradoxe Situation: Trotz ihrer häufigen Abhängigkeit von Verwandten und
Bekannten, ohne die sie das Haus nicht mehr verlassen können, haben viele Agorapho-
biker das irreale Ziel, sich immer auf sich selbst zu verlassen, während andere Men-
schen eher darauf vertrauen, dass ihnen im Bedarfsfall schon jemand helfen wird.
Zahlreiche Angstpatienten benötigen gerade zu Beginn der Therapie eine emotionale
Unterstützung, Motivierung und Handlungsanleitung durch den Therapeuten. Die Ent-
scheidung zu einer Konfrontationstherapie zusammen mit dem Therapeuten stellt einen
Ausdruck des Vertrauens zum Therapeuten dar. Entsprechende Übungen innerhalb und
außerhalb des Therapieraumes führen im Falle einer gemeinsamen Therapie zu einer
Intensivierung der Therapeut-Patient-Beziehung, sodass es später möglich wird, ver-
schiedene persönliche Themen in die Therapie einzubringen [37]. Die therapeutische
Beziehung ist in der Verhaltenstherapie ebenso wichtig wie bei anderen Psychothera-
piemethoden. Die „Verhaltens“-Therapie wird durch die Übungen auch zu einer „Erle-
bens“-Therapie, wie der Angst- und Zwangsexperte Reinecker formuliert hat.
Die meisten Patienten machen durch eine Konfrontationstherapie die bisher für un-
möglich gehaltene Erfahrung, dass sie auch die größte körperliche Erregung ertragen
können. Wiederholte Erlebnisse dieser Art bewirken eine kognitive Umstrukturierung:
neue Erfahrungen führen zu neuen Einstellungen. In vielen Therapien sowie auch bei
rein kognitiv orientierter Verhaltenstherapie läuft es umgekehrt: neue Sichtweisen sol-
len zu neuen Erfahrungen führen. Dies ist zwar oft der elegantere Weg, scheitert bei
Angststörungen jedoch häufig an den unkontrollierbar erscheinenden körperlichen
Symptomen und dem seit Jahren eingeschliffenen Vermeidungsverhalten.
Aufgrund ihrer relativ stabilen Persönlichkeitsstruktur gelingt es reinen Agorapho-
bikern oft recht leicht, nach einer Konfrontationstherapie weitere anstehende Probleme
selbst zu lösen (z.B. partnerschaftliche, familiäre oder berufliche Probleme).
402 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Die Therapieerfolge nach dem Hamburger Konzept, das Flucht grundsätzlich „er-
laubt“, scheinen diese Befunde indirekt zu bestätigen. Nach verschiedenen Autoren ist
als gemeinsamer Nenner aller erfolgreichen Angstbehandlungen die Konfrontation mit
den Angst machenden äußeren und inneren Reizen anzusehen, die zu einer kognitiven
Neubewertung körperlicher Reaktionen und situativer Gegebenheiten führt.
Die Forderung, in der Angst machenden Situation unbedingt auszuharren und erst
nach Abklingen der Angst den jeweiligen Aufenthaltsort zu verlassen, weist auf die
lerntheoretischen Wurzeln der Konfrontationstherapie hin: Durch das Vermeidungsver-
halten erfolge keine ausreichende „Löschung“ des Angstverhaltens, weil dieses durch
die erfolgreiche Aktion der Flucht immer wieder verstärkt werde. Dies trifft zwar oft zu,
eine Verallgemeinerung ist daraus jedoch nicht ableitbar. Die Möglichkeit zur Flucht
kann ein Gefühl der Souveränität vermitteln und das Aushalten der Angst erleichtern.
Das Team um Isaac Marks [40] in London bestätigte im Rahmen einer großen Stu-
die an 99 phobischen Patienten die Ergebnisse anderer Untersuchungen, dass sich die
meisten Phobiker wesentlich verbessern durch systematische Selbstkonfrontation und
wenig profitieren von zusätzlicher therapeutengeleiteter Exposition. Die in der klini-
schen Praxis oft anzutreffende Konfrontationstherapie in Begleitung eines Therapeuten
scheint demnach unter dem Gesichtspunkt von Aufwand und Ertrag nicht erforderlich
zu sein. Amerikanische Studien [41] zur Behandlung von Panikattacken weisen eben-
falls darauf hin, dass ein reduzierter Therapeutenkontakt oft schon einen ausreichenden
Therapieerfolg garantiert. Die Erkenntnisse der englischen und amerikanischen Studien
haben zur Folge, dass der Stundenaufwand für Therapeuten bei Angstbehandlungen
deutlich reduziert werden kann, weil das gemeinsame Üben in Alltagssituationen ent-
fällt. Zumindest in günstigen Fällen können körperbezogene Übungen und Erfahrungen
in Gegenwart des Therapeuten auf den Therapieraum begrenzt werden, ähnlich wie
dies z.B. in der Gestalttherapie erfolgt [42].
Fazit: Bei Konfrontationstherapien geht es nicht primär darum, die Patienten mit den
gefürchteten Situationen oder Orten zu konfrontieren, sondern mit den dabei auftreten-
den, als gefährlich und unkontrollierbar erlebten Körpersymptomen. Wenn dies im
Therapieraum durch bestimmte Provokationsübungen gelingt, wird das selbstständige
Aufsuchen der gefürchteten Situationen erleichtert. Sollte dies nicht möglich sein, wer-
den jene Situationen, in denen die gefürchteten körperlichen Zustände auftreten könn-
ten, sukzessive aufgesucht. Bei einer Konfrontationstherapie geht es weniger um Bewäl-
tigungserfahrungen im Sinne von „Sie sehen, was Sie alles aushalten können“, als viel-
mehr darum, den Patienten im Rahmen einer verbesserten Selbstwahrnehmung zu zei-
gen, wie sie selbst den gefürchteten Angstkreislauf aufschaukeln.
Im Sinne eines zeitökonomischen Vorgehens sind keine stunden- oder tagelangen
gemeinsamen Übungen erforderlich, um dem Patienten in jeder nur denkbaren Situation
das Gefühl der Kontrolle zu vermitteln, sondern lediglich eine gezielte Auswahl von
möglicherweise Panik provozierenden Situationen. Die Verfechter einer massierten
Konfrontationstherapie sind überzeugt: Ohne Bereitschaft zum Erleben einer Panikat-
tacke ist eine massierte Konfrontationstherapie bei Agoraphobie mit Panikstörung we-
nig sinnvoll, weil die Betroffenen dann alle unkontrollierbar erscheinenden Situationen
vermeiden werden. Die massierte Reizkonfrontation mit anschließender Reaktionsver-
hinderung (Bereitschaft der Patienten, die Angst machende Situation nicht zu verlassen,
und zwar nicht durch therapeutischen Druck, sondern durch eigene Entscheidung) sei
aus zeit- und geldökonomischen Gründen sowie aufgrund der Forschungsergebnisse das
Mittel der Wahl bei Agoraphobie mit Panikstörung.
404 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
„Lassen Sie alle aufkommenden Gefühle zu, beobachten und beschreiben Sie (anfangs bei therapeuten-
begleiteten Übungen oft lautes Verbalisieren erforderlich, später in innerer Selbstsprache) die Realität
Ihrer Umgebung und die Reaktionen Ihres Körpers; gehen Sie nicht Ihren Phantasien über möglicher-
weise gleich eintretende schreckliche oder katastrophale Ereignisse nach – versuchen Sie aber auch
nicht, Ihre Angst oder andere unangenehme Gefühle durch irgendwelche Gedanken oder Verhaltens-
manöver zu unterdrücken; wenn auf diese Weise die Situation für Sie scheinbar unerträglich wird,
versuchen Sie, sich weitere 10 Sekunden zu geben, um in der Situation zu bleiben und mit der Be-
schreibung der äußeren und inneren Realität fortzufahren; vergleichen Sie dann, ob die eingetretenen
Reaktionen Ihren Erwartungen entsprechen und entscheiden Sie, ob Sie noch weitere 10 Sekunden
ausharren können (usw. usw.).“
Die Konzentration auf die unmittelbare Gegenwart durch Beobachtung des Körpers und
Verbalisierung der aktuellen Erfahrungen soll Katastrophenfantasien verhindern.
Die fortlaufende Selbstbeschreibung der äußeren und inneren Realität (anfangs laut
in Anwesenheit des Therapeuten) soll vor allem auch die kontinuierliche Konzentration
auf die Angst machenden Reize sowie auf die aktuelle Körperwahrnehmung sicherstel-
len und die gewohnten Vermeidungsmanöver unterbinden.
406 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
„Im allgemeinen genügen 2 jeweils 2- bis 5stündige Sitzungen, um eine Symptomreduktion zu errei-
chen und weitere Expositionen vom Patienten durchführen zu lassen. Ist diese bis dahin nicht eingetre-
ten, liegt meist eine von 2 denkbaren Komplikationen vor: Die erste besteht in Motivationsproblemen
hinsichtlich eines Abbaus der Symptomatik oder eines Aufbaus alternativer Verhaltensweisen. In so
einem Falle werden fortgesetzte Expositionsübungen Ersatzrituale für Symptomrituale oder auch kurz-
fristiger Lebensinhalt; der Therapeut unterstützt mit dieser Scheinlösung nur die Ambivalenz des Pati-
enten im Hinblick auf Veränderungen in relevanten Problembereichen. Die zweite denkbare Komplika-
tion besteht im Ausbleiben der psycho-physiologischen Habituation trotz voller Kooperation des Pati-
enten. Längeres Fortsetzen der Übungen wird dann eher die allgemeine Irritierbarkeit im Alltagsleben
erhöhen, als einen späteren Erfolg bringen.“
Im Hamburger Modell der Reizüberflutung ist die Konfrontation mit den Angst auslö-
senden realen oder imaginären Reizen lediglich Mittel zum Zweck der Konfrontation
mit den eigenen Reaktionen, den dadurch ausgelösten Gedanken, Gefühlen und körper-
lichen Reaktionen des Betroffenen (Reizüberflutung zur Herbeiführung einer Reakti-
onsüberflutung). Dabei wird nicht selten erkannt, dass andere Affekte als Angst die
körperliche Symptomatik bewirken (z.B. Ekel, Ärger, Aggression, Depression, Leerege-
fühl, traumatische Erfahrungen, die bislang verdrängt wurden). Eine derartige Konfron-
tationstherapie berücksichtigt Elemente aus anderen Psychotherapiemethoden: Psycho-
analyse, Gestalttherapie, Psychodrama und bestimmte Gruppentherapien [46].
Bei guter Mitarbeit des Patienten kann die Konfrontation mit den Angst auslösenden
Reizen in der Realität reduziert oder gar überflüssig werden. Wenn im Therapieraum
durch Gespräche, Vorstellungsübungen oder Provokationstechniken (z.B. Hyperventila-
tion, Einleitung eines Drehschwindels, bestimmte Bewegungen) eine panikähnliche
Symptomatik auch ohne Konfrontation mit den realen Reizen ausgelöst und deren Be-
wältigung vermittelt werden kann, ist dem Patienten anschließend häufig die eigenstän-
dige Angstbewältigung möglich, da auch dort der kompetente Umgang mit den eigenen
Reaktionsmustern entscheidend ist. Oft provozieren und bewältigen die Betroffenen
bereits im Therapieraum jene psychovegetativen Reaktionen (z.B. Herzrasen, Atemnot,
Schwindel, Ohnmachtsangst), die in Realsituationen gefürchtet werden. Durch derartige
Übungen wird auch die Patient-Therapeut-Beziehung intensiviert, was nach der Sym-
ptombehandlung den Einstieg in emotional schmerzhafte Problembereiche erleichtert.
Iver Hand [47] weist darauf hin, dass die möglichen Auswirkungen einer raschen
Symptombeseitigung auf die eheliche Beziehung rechtzeitig beachtet werden müssen:
„Von großer Bedeutung kann allerdings die Vorbereitung der Partner von Agoraphobikern auf einen
raschen Symptomabbau sein. Besonders nach jahre- oder jahrzehntelangem Krankheitsverlauf mit
starker Einengung der Beweglichkeit auch des Partners, kann der in der Regel innerhalb von 3- bis
5tägiger Expositionsbehandlung eintretende starke Symptomabbau bei dem Partner zu aggressiven
Reaktionen statt zur Entlastung führen: wenn es so leicht war, die Krankheit zu beheben, dann kann
diese auch lange nicht so ‚schwer’ gewesen sein, wie es all die Jahre den Anschein hatte. Der Partner
fühlt sich im nachhinein getäuscht und mißbraucht und sinnt nun auf ‚Wiedergutmachung’...“
Hoffmann und Hofmann vertreten in ihrem bedeutsamen Werk „Expositionen bei Äng-
sten und Zwängen. Ein Praxishandbuch“ einen ähnlichen Therapieansatz wie die Ham-
burger Therapeuten. Nach ihrem Modell der „Subjektkonstituierung“ dienen Expositio-
nen dazu, dass der Patient wieder zum Subjekt wird und nicht länger Objekt bleibt. Es
geht dabei mehr um den Aufbau von Selbstvertrauen als um den Abbau von Ängsten.
Die Provokation von Panikattacken wird als schädliche Überaktivierung abgelehnt.
Agoraphobie 407
Das von Iver Hand entwickelte Hamburger Modell unterscheidet sich in verschiede-
nen Punkten vom Modell der Christoph-Dornier-Stiftung [48]:
1. Geographischer Umfang der durchgeführten Konfrontationstherapie. Den Hambur-
ger Therapeuten reicht im Kontext des beschriebenen Angst-Managements eine
Reizüberflutung in und um Hamburg bzw. am Wohnort, bevorzugt also in der natür-
lichen Umwelt des Patienten, während in der Christoph-Dornier-Stiftung auf große
Entfernungen und möglichst viele, auch eher seltene Lebenssituationen (hohe Berge,
Fliegen, Ausland) Wert gelegt wird, d.h. auf Reisen über hunderte von Kilometern
in kurzer Zeit. Die Hamburger Verhaltenstherapeuten halten dagegen nichts von the-
rapeutenbegleiteten Fernreisen (außer vielleicht bei einer massiven Flugphobie). Am
Therapiekonzept der Christoph-Dornier-Stiftung kann kritisiert werden, dass nicht
jede Angst, die in allen nur möglichen und unmöglichen Situationen auftreten kann,
vorbeugend behandelt werden muss. Es reicht, dass Angstpatienten jene Situationen
meistern lernen, die im alltäglichen Leben zu erwarten sind.
2. Art der Aktivierung emotionaler und physiologischer Angstkomponenten bei der
Reizkonfrontation. Nach dem Konzept der Christoph-Dornier-Stiftung kommt es bei
der Angstbewältigung primär darauf an, durch ausreichend lange Dauer der Reiz-
konfrontation den Patienten den Effekt der Gewöhnung (Habituation) an die Angst
machende Situation erfahrbar zu machen. Die Betroffenen sollen die körperlichen
Alarmreaktionen erleben und besser ertragen lernen. Das Hamburger Konzept ver-
wendet die Reizkonfrontation auch gezielt zu einer erweiterten Selbsterforschung
und Problemanalyse der Patienten im Zustand hoher emotionaler Erregung. Dies
kann manchmal eine „kathartische Entblockung“, d.h. eine heilsame emotionale
Entladung, bewirken. Frühere, dem Bewusstsein bislang nicht mehr zugängliche
traumatische Erlebnisse und Erfahrungen können bewusst werden. Nach dem Mo-
dell der Christoph-Dornier-Stiftung werden derartige Aspekte nach der Durchbre-
chung des Vermeidungsverhaltens bei Bedarf von Psychotherapeuten am Heimatort
behandelt.
3. Art der Reaktionsverhinderung. Im Hamburger Modell behält der Patient die volle
Entscheidung darüber, ob er die Angst machende Situation verlassen will oder nicht,
wenngleich er zum Durchhalten ermutigt wird. In der Christoph-Dornier-Stiftung
unterschreiben die Patienten, dass sie bei Fluchtverhalten vom Therapeuten daran
gehindert werden dürfen. Nach Hand widerspricht dies dem Selbstmanagement-
Konzept und stellt eine passagere Entmündigung des Patienten dar. Dies sei ethisch
bedenklich und therapeutisch unnötig (weit über 90% derer, die die Angst machende
Situation kurz verlassen haben, nehmen die Übung wieder auf).
4. Art des Settings (Einzel- oder Gruppentherapie). Im Hamburger Modell erfolgt die
Reizkonfrontationstherapie vorwiegend in Gruppen, in der Christoph-Dornier-
Stiftung dagegen stets in Form einer Einzeltherapie.
Butollo und Höfling [50] veröffentlichten bereits im Jahr 1984 einen Therapieleitfaden
zur Behandlung chronischer Ängste und Phobien, wo die verhaltenstherapeutisch fun-
dierte Angstbewältigung (Konfrontationstherapie und kognitive Therapie) mit einer
„Angstlösung durch Erfahrungsorientiertes Lernen“ verbunden wird, die auf gestaltthe-
rapeutischen Prinzipien beruht. Das Anliegen von Butollo lässt sich heutzutage im
Rahmen des Selbstmanagementkonzepts genuin verhaltenstherapeutisch realisieren.
Agoraphobie 409
Bei der Behandlung von Menschen mit Angst- und Panikzuständen, die zu einer körper-
lichen Schonhaltung neigen, ist oft auch eine körperbezogene Therapie mit dem Ziel der
physiologischen Aktivierung und Symptomprovokation angezeigt.
Das traditionelle Erlernen von Entspannungstechniken (z.B. autogenes Training) zur
Dämpfung von chronischer Anspannung ist zwar durchaus wichtig und wertvoll, dient
bei dieser Patientengruppe jedoch zu sehr dem Zweck, jede Form von Anspannung
wegen des Angst erzeugenden Effekts weg entspannen zu wollen. Wenn die körperliche
Ebene bei einer starken Somatisierung zur stellvertretenden Konfliktebene geworden ist,
wird nicht nur durch Medikamente, sondern auch durch reine Entspannungstechniken
keine Sensibilisierung dafür entwickelt, was wirklich körperlich so bedrängend ist.
In der Verhaltenstherapie war ein körperorientiertes Vorgehen früher zu sehr auf an-
spannungsreduzierende Methoden bezogen oder sollte durch eine Konfrontationsthera-
pie nur eine Habituation an die Angst machenden Reize bewirkt werden. Zukünftig sind
vermehrt Konzepte und Techniken zu berücksichtigen, die anderswo unter folgenden
Bezeichnungen bekannt sind: emotionszentrierte Psychotherapie, Awareness-Training
(Wahrnehmung, was ist), körperorientierte Psychotherapie, Leibtherapie, Sporttherapie.
Körperliche Aktivierung und körperbezogene Erfahrungen dienen nicht nur im Sin-
ne von Belastungstraining, Sport, Turnen, Langsamlauftherapie oder Schwimmtherapie
dazu, chronische Verspannungszustände als Folge des ständigen ängstlichen Denkens
abzureagieren oder körperliche Fitness anstelle der ausgeprägten hypochondrischen
Schonhaltung aufzubauen, sondern haben vielmehr auch den Zweck, den Körper im
buchstäblichsten Sinn als Ausdruck der Seele wahrnehmen zu lernen.
Psychotherapie als geplante Intervention zur Veränderung des Verhaltens, Erlebens
und Denkens bedarf auch in der Verhaltenstherapie stärker als bisher eines Verständnis-
ses, das den Körper als Ort und Mittel für den Zugang zur Seele ernst nimmt.
410 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
15. Der Patient darf die Situation jederzeit verlassen – in Abweichung vom „klassi-
schen“ Vorgehen und in Übereinstimmung mit Experten wie Rachman, Hand,
Hoffmann und Hofmann. Dies muss keineswegs einen Rückschlag für die Therapie
bedeuten, wie früher immer behauptet wurde. Die Entscheidung zum (Wieder-)
Aufsuchen oder Verlassen einer Situation verbleibt immer beim Patienten. Schrän-
ken Sie den Patienten keinesfalls durch einen entmündigenden Therapievertrag ein.
Der Patient ist für sein Leben und Verhalten selbst verantwortlich. Das oberste Ziel
ist die Selbstbestimmung und Freiheit des Patienten, der auch in der Therapie zu
nichts gezwungen wird, sondern sich selbst für jenen Weg entscheidet, der ihm der
beste zu sein scheint. Im Falle Ihrer Anwesenheit diskutieren Sie mit dem Patienten
jedoch vor dem gewünschten Abbruch einer Übung die möglichen Folgen seines
Verhaltens, um ihn dadurch vielleicht zum Durchhalten ermutigen zu können.
16. Der Patient soll in der Angstsituation seine Wahrnehmungen der Innen- und Au-
ßenwelt verbalisieren, um seine Gedanken, Gefühle und körperlichen Zustände be-
wusst und ohne jegliche Vermeidung zu registrieren. Er sagt innerlich bzw. laut vor
dem Therapeuten: „Ich sehe … spüre … höre … denke jetzt …“ Er spürt und be-
nennt vor allem auch die Angstreaktionen seines Körpers: „Mein Herz schlägt jetzt
schneller, mir wird etwas übel, mein Mund ist ganz trocken, ich bin leicht schwind-
lig, meine Beine sind wackelig.“ Er akzeptiert alle körperlichen Empfindungen oh-
ne Ablenkungs- oder Unterdrückungsversuche und wendet sich seinen Zielen zu.
17. Der Patient soll sich dann, wenn er sich vor seinen Angstsymptomen und bestimm-
ten äußeren Situationen nicht mehr so stark fürchtet wie früher, bewusst auf die
Umwelt konzentrieren und das tun, was er gerne tun möchte. Das primäre Therapie-
ziel des Patienten soll nicht nur die Angstbewältigung sein, sondern vielmehr auch
die intensivere Teilnahme am Leben und an der Welt um ihn herum. Es soll wieder
Spaß machen, sich überallhin bewegen zu können. Deshalb ist es wichtig, Ziele zu
entwickeln, deretwegen es sich lohnt, die Wohnung zu verlassen und nicht einfach
nur wegen der Angstbewältigung fremde Umgebungen aufzusuchen.
18. Die folgenden zusätzlichen Empfehlungen für Sie bzw. den Patienten haben sich in
der Praxis vielfach bewährt. Der Patient soll bereits gemeisterte leichtere Situatio-
nen später wiederholen, um dadurch sein Erfolgserleben zu verstärken. Dies gilt
insbesondere auch angesichts von mit großem Energieaufwand bewältigten schwie-
rigeren Übungen, die erste Selbstzweifel des Patienten über den Gesamterfolg der
Therapie bewirkt haben könnten. Überprüfen Sie den Erfolg jeder Sitzung und dis-
kutieren Sie Fortschritte und Konsequenzen des neuen Verhaltens. Vereinbaren Sie
zwischen den Therapieterminen Übungsaufgaben, die der Patient allein erledigt,
und ermutigen Sie den Patienten zum täglichen Üben. Betonen Sie die Notwendig-
keit regelmäßigen Übens für den langfristigen Erfolg. Verweisen Sie auf die Mög-
lichkeit von zwischenzeitlichen Rückschritten und die Chance, daraus zu lernen.
Vereinbaren Sie nach der Kurzzeittherapie gemeinsame Auffrischungssitzungen.
Halten Sie den Termin auch dann ein, wenn es dem Patienten gut geht.
19. Ziehen Sie sich im Laufe der Sitzungen zunehmend zurück, falls Sie aus bestimmten
Gründen mehrfach an der Konfrontationstherapie teilgenommen haben, und lassen
Sie den Patienten das Konzept ohne Hilfestellung anwenden. Der Patient soll die
Begegnung mit den gefürchteten Situationen möglichst oft allein üben bzw. anfangs
mit Unterstützung durch einen Partner, eine andere Bezugsperson oder einen ande-
ren Angstpatienten, wenn er doch noch nicht in der Lage ist, alles ohne Hilfestel-
lung zu bewältigen. Als antidepressives Motto gilt: „Lieber mit Hilfe als gar nicht!“
414 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
20. Die Provokation von heftigen Panikattacken ist für die Bewältigung einer Ago-
raphobie nicht unbedingt erforderlich. Bei dieser Form der Konfrontationstherapie
kommt es nicht darauf an, dass der Patient möglichst viele und starke Panikattacken
erlebt. Wenn er die Bereitschaft zu einer Panikattacke mitbringt bzw. diese zumin-
dest nicht vermeidet, falls sie doch auftreten sollte, sind Angst und Schrecken vor
Panikattacken ohnehin bald Vergangenheit. Das Ertragen eines massiven Kontroll-
verlusts in Form einer heftigen Panikattacke ist für viele Agoraphobiker keine heil-
same Erfahrung. Das optimale Lernen und Einüben neuer Erfahrungen wie etwa die
Rückeroberung der Umwelt durch einen erweiterten Bewegungsradius erfolgt am
besten auf einem mittleren Angstniveau und wird im Falle einer psychovegetativen
Überaktivierung sogar gestört. Der Patient soll nicht primär seine Angst durch Ha-
bituation verlieren, sondern vielmehr neue Lebensmöglichkeiten entwickeln.
21. Akzeptieren Sie es, wenn der Patient nach reiflicher Überlegung und mehrfachem
Üben erklärt, dass er zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestimmte Ängste
nicht ändern kann oder will. Der Patient ist für sein Leben selbst verantwortlich und
hat ein Recht darauf, so sein zu dürfen, wie er ist. Vielleicht braucht er jedoch Ihre
Hilfe, sich mit seinen Ängsten besser annehmen zu lernen, ohne ständig das Ziel ei-
nes möglichst angstfreien Lebens vor Augen zu haben. Die Einstellung „Ich darf
Angst haben“ bzw. „Ich bin auch trotz meiner Ängste ein liebenswerter Mensch“
kann bereits neue Verhaltensmöglichkeiten eröffnen.
22. Greifen Sie nach der Konfrontationstherapie bei Bedarf die dem Patienten bewusst
gewordenen Themen und Problembereiche auf (z.B. Verlustängste, Todesängste,
Angst vor Eigenständigkeit, Schwierigkeiten im Umgang mit Gefühlen, mangeln-
des Vertrauen in sich und andere, Partner- und Familienkonflikte). Bieten Sie eine
„Hintergrundsarbeit“ an, drängen Sie diese dem Patienten jedoch nicht auf.
Panikstörung
Panikartige Ängste galten bis vor etwa 20 Jahren als schwer behandelbar. Selbst in der
Verhaltenstherapie wurden im Vergleich zur Agoraphobie erst relativ spät spezifische
Behandlungsansätze entwickelt. Man beschäftigte sich lange Zeit nur mit der Behand-
lung von Ängsten als Folge externer Reize, d.h. mit phobischen Störungen und dem
damit verbundenen Vermeidungsverhalten. Die Behandlung von Panikstörungen inner-
halb der Verhaltenstherapie wurde erst möglich durch eine stärkere Berücksichtigung
kognitiver Konzepte, die bei den lerntheoretisch orientierten Ansätzen der frühen Ver-
haltenstherapie vernachlässigt wurden. Die kognitive Verhaltenstherapie bietet mittler-
weile das erfolgreichste Behandlungskonzept für Panikpatienten mit und ohne Ago-
raphobie an.
Im deutschen Sprachraum haben Jürgen Margraf und Silvia Schneider [51] 1989 auf
der Grundlage der kognitiven Therapie von David M. Clark und Aaron T. Beck mit
ihrem Standardwerk „Panik. Angstanfälle und ihre Behandlung“ ein umfangreiches
und empirisch gut abgesichertes Behandlungsprogramm für Panikstörungen vorgelegt.
Kognitive Techniken werden dabei nicht global eingesetzt, sondern stellen die veränder-
te Bewertung körperlicher Symptome in den Mittelpunkt. Daneben werden die bewähr-
ten Techniken der Konfrontationstherapie angewandt, um kognitive Änderungen zu
erleichtern. Das Programm ist zugeschnitten auf die Behandlung von Panikstörungen
ohne Agoraphobie, ist aber auch bei Agoraphobie mit Panikstörung verwendbar.
Panikstörung 415
Der effiziente Einsatz des Programms im Rahmen einer Gruppentherapie an der psych-
iatrischen Ambulanz der Wiener Universitätsklinik erforderte eine Erweiterung im Sin-
ne einer stärkeren individuellen Zuwendung und eine stärkere Berücksichtigung lebens-
geschichtlicher Bedingungen im Sinne der „Interpersonellen Psychotherapie“.
Schmidt-Traub [52] legte mit ihrem empfehlenswerten Buch „Panikstörung und
Agoraphobie. Ein Therapiemanual“ ein Konzept vor, das eine halbstandardisierte, fle-
xibel konzipierte Gruppentherapie von 8 Sitzungen im Ausmaß von jeweils einer Dop-
pelstunde effizient mit Einzelgesprächen nach individuellem Bedarf (im Durchschnitt
8 Sitzungen), vom gleichen Therapeuten durchgeführt, verbindet. Die Gruppentherapie
dauert 5 Monate, die Einzeltherapie je nach der Zahl der Therapiestunden 5-9 Monate.
Die Einzeltermine erfolgen zwischen den Gruppensitzungen, die in immer größeren
Abständen erfolgen.
Panikstörung 417
Das Konzept, das auf ambulante Panikpatienten mit und ohne Agoraphobie zuge-
schnitten ist, lässt sich bei engeren Sitzungsabständen auch auf den stationären Bereich
übertragen. Die Gruppenteilnehmer werden aufgrund der Ergebnisse eines mindestens
einstündigen Vorgesprächs zur differenzialdiagnostischen Abklärung ausgewählt. Dabei
werden auch Angst-Fragebögen eingesetzt. Die sorgfältige Auswahl der Gruppenthera-
pieteilnehmer bewirkt, dass während der Therapie nur wenige Ausfälle zu verzeichnen
sind. Das halbstandardisierte Therapieprogramm umfasst fünf Interventionsbereiche:
1. Psychologische und medizinische Edukation. Umfangreiche Informationen und
Patienten-Informationsblätter, die in jeder Stunde verteilt werden, geben Hinweise
über Entstehung, Verlauf und Behandlung einer Panikstörung bzw. Agoraphobie.
2. Kognitive Schritte. Vermittelt werden ein individuell relevantes Störungsmodell und
Strategien zur kontinuierlichen funktionalen Verhaltens- und Bedingungsanalyse,
zur Konzentrationslenkung mit dem Ziel der Angstkontrolle, zur besseren Problem-
lösefähigkeit und zur positiven Selbstinstruktion in Angstsituationen.
3. Konfrontation in vivo und in sensu. Es werden reale und mentale Expositionen mit
den gefürchteten Situationen ebenso durchgeführt wie interozeptive Konfrontationen
zur besseren Symptomtoleranz. Die Konfrontationstherapie erfolgt von Beginn an
ohne Therapeutenbegleitung in gestufter Form, um Erfolgserlebnisse sicherzustellen.
Therapeutengeleitete Konfrontationstherapien erfolgen nur in einigen hartnäckigen
Fällen. Bei Panikattacken werden im Sinne eines aktiven Handels statt eines passi-
ven Erleidens Konzentrationslenkungsübungen (intensive Konzentration auf externe
Reize), Atem-, Entspannungs- und Bewegungsübungen empfohlen, obwohl diese
Strategien grundsätzlich als Sicherheitsverhaltensweisen gelten.
4. Körperbezogene Verfahren, die eine Angstkontrolle bewirken, und Gesundheitsver-
haltenstraining (Ernährung, dosierter Alkohol-, Kaffee-, Nikotin-, Zucker-Konsum,
Sport, Schlaf, Genießen), das eine psychoimmunologische Stärkung ermöglicht.
5. Gruppendynamik und Modellverhalten der Gruppenteilnehmer erleichtern aufgrund
der motivierenden Wirkung das Angstbewältigungstraining.
Generalisierte Angststörung
Die generalisierte Angststörung war früher ein Stiefkind der Forschung und Behandlung
im Bereich der Angsterkrankungen. Die Verhaltenstherapie bei generalisierten Angst-
störungen ist im Vergleich zu anderen Angststörungen auch gegenwärtig noch immer
unzureichend entwickelt und zu wenig effizient (nur bei jedem zweiten Betroffenen
wirksam) in den letzten Jahren wurden jedoch spezifischere und effektivere Behand-
lungsmethoden vorgestellt. Das umfangreiche Behandlungskonzept besteht aus einer
Verbindung verschiedener nachweislich erfolgreicher Strategien:
1. Informationsvermittlung über die Störung und den Kreislauf der Angst.
2. Selbstbeobachtung zur Sensibilisierung für die Mechanismen der Angstentstehung.
3. Hier-und-Jetzt-Wahrnehmungsübungen („Awareness“): Konzentration der Wahr-
nehmung und des Erlebens auf aktuelle Sinneseindrücke und Erfahrungen und nicht
auf vergangene oder zukünftig befürchtete Ereignisse. Die Betroffenen beseitigen
dagegen die aktuellen Angstgedanken durch Ablenkung oder Aufmerksamkeitsum-
lenkung auf andere noch gefährlichere Situationen, die zukünftig eintreten könnten.
4. Entspannungstechniken zur Reduktion des erhöhten Anspannungsniveaus (bevor-
zugt wird die progressive Muskelentspannung nach Jacobson).
5. Einbeziehung kognitiver Techniken aus der kognitiven Therapie nach Aaron Beck:
Identifizierung, Analyse und Veränderung von kognitiven Verzerrungen mit dem
Ziel der kognitiven Umstrukturierung zugunsten alternativer und hilfreicherer
Sichtweisen. Angesichts der ständigen Suche nach Sicherheit ist es vor allem auch
wichtig, mehr Toleranz von Unsicherheit und Restrisiko zu entwickeln. Das ständige
Sich-Sorgen resultiert entscheidend aus der Intoleranz gegenüber Unsicherheit.
6. Intensive Konfrontation mit den ständigen Sorgen („Sorgen-Exposition“) im Sinne
einer kognitiv-emotionalen Konfrontation in der Vorstellung (Konfrontation in sen-
su). Der Patient soll sich zur besseren Toleranz von Unsicherheit und unlösbaren
Problemen täglich mindestens 25-30 Minuten lang eine typische Sorgensituation
vorstellen, diese Sorge mit allen möglichen negativen Konsequenzen ausmalen, die
dabei auftretenden Kognitionen registrieren und die damit verbundenen Emotionen
und körperlichen Zustände aushalten lernen. Es ist das Ziel, sich der größtmöglichen
Angst ohne kognitive Vermeidungsstrategien zu stellen. Die Furcht erregende Szene
wird so lange möglichst bildhaft mit dem allerschlimmsten denkbaren Ausgang
durchgespielt, bis sie nur noch wenig Angst auslöst, d.h. bis eine Gewöhnung (Habi-
tuation) einsetzt. Erst danach sollen weniger sorgenvolle Alternativen erwogen wer-
den. Anschließend werden weitere Sorgen in ähnlicher Weise behandelt. Die Tech-
nik des bildhaften Zu-Ende-Denkens wird auch in der Behandlung von Zwangsge-
danken eingesetzt. Wenn sie wirkt, beruht sie teilweise auf einem paradoxen Effekt:
Was man absichtlich auslöst, wird nicht mehr als unkontrollierbar erlebt.
7. Konfrontationstherapie (Konfrontation in vivo) zur realen Überprüfung der Sorgen.
8. Problemlösetraining bei intrapsychischen und interaktionellen Konflikten.
Der fast rein kognitive Ansatz von Adrian Wells in England konzentriert sich neben
der kognitiven Umstrukturierung dysfunktionaler Denkmuster auf die von ihm betonten
Meta-Sorgen (Sorgen über die Sorgen), die zumindest bei bestimmten Angstpatienten
eine wichtige Rolle spielen. Derartige Meta-Kognitionen beinhalten positive Annahmen
(„Sorgen ist gleich Vorsorgen“, „Sich-Sorgen zeigt von Verantwortungsbewusstsein“)
sowie auch negative („Die ständigen Sorgen schaden mir“, „Wenn ich mich zu sorgen
anfange, kann ich nicht mehr aufhören und schaffe die Arbeit nicht mehr“). Je länger
die Sorgen andauern, umso mehr überwiegen die negativen Aspekte die positiven.
Das bislang umfassendste deutschsprachige Behandlungskonzept, das die genannten
Ansätze integriert und erweitert, haben Eni Becker und Jürgen Margraf in ihrem Buch
„Generalisierte Angststörung“ vorgestellt. Die Methode der Konfrontationstherapie,
die sich bei der Therapie spezifischer und sozialer Phobien sowie der Agoraphobie
bewährt hat, wird auf den Bereich der generalisierten Angststörung übertragen. Im Mit-
telpunkt der Behandlung steht die Sorgenkonfrontation in sensu sowie in vivo ohne jede
Entspannung, weil diese eine Habituation verhindert. Anschließend erfolgt eine kogniti-
ve Therapie. Die Behandlung wird als Einzeltherapie durchgeführt, weil dadurch am
besten auf die individuell recht unterschiedlichen Sorgen und Komorbiditäten einge-
gangen werden kann, beruht auf einem sehr hilfreichen und konkreten Therapieleitfa-
den, dauert etwa 15-20 Stunden (empfohlen werden Doppelstunden zur Erleichterung
der Habituation bei der Sorgenkonfrontation) und umfasst im Detail folgende Schritte:
1. Allgemeine Informationsvermittlung. Informationen über Angst und Angststörungen
im Allgemeinen sowie über die generalisierte Angststörung im Besonderen sollen
den Betroffenen ein besseres Verständnis ihrer Störung ermöglichen. Anschließend
werden mit den Patienten gemeinsam die Entstehungsbedingungen (auslösende und
aufrechterhaltende Faktoren) ihrer Ängste erforscht, damit die Betroffenen die all-
gemeinen Informationen auf ihre spezielle Situation übertragen und das daraus fol-
gende Therapiekonzept nachvollziehen können. Wichtige Informationen für die The-
rapie stammen aus der regelmäßigen Selbstbeobachtung der Patienten, weshalb die-
se angeleitet werden, ein Sorgen-Tagebuch zu führen, um auf diese Weise die typi-
schen Inhalte und Auslöser der Sorgen, den Verlauf der Sorgenepisoden und der
sorgenfreien Zeiten zu dokumentieren und Zusammenhänge zwischen Sorgen und
Aktivitäten, Zeiten oder Personen zu erkennen.
2. Sorgenkonfrontation in sensu. Die Patienten erhalten eine Einführung in die Art und
Wirkungsweise einer Konfrontationstherapie, um den Effekt der Angstreduktion
durch Habituation zu verstehen. Ablenkung, Unterdrückung und Vermeidung der
Sorgen sowie Rückversicherungsfragen werden als nur kurzfristig wirksam und
langfristig Angst verstärkend dargestellt. Die zahlreichen unkontrollierbaren Sorgen
werden in der Therapie isoliert und nacheinander bewältigt, um die Sorgenkette zu
durchbrechen. Die rasch wechselnden Gedankenketten werden in lebendige Vorstel-
lungsbilder übersetzt, wobei alle Sinnesqualitäten angesprochen werden, um ein
konkretes Bild zum schlimmstmöglichen Ausgang zu entwickeln. Das ständige
„Was wäre, wenn…?“ soll bei geschlossenen Augen bildhaft zu Ende gedacht wer-
den. Dabei werden bewusst auch die bisher gefürchteten und daher vermiedenen ve-
getativen Symptome provoziert. Die Betroffenen sollen die Erfahrung machen, dass
Ängste am besten und raschesten durch mentales und körperliches Zulassen ohne
jeden Kampf dagegen überwunden werden können. Sie erhalten dann die Aufgabe,
sich täglich eine Stunde lang sehr lebendig mit ihren Angst machenden Sorgen zu
konfrontieren. Positive Erlebnisse führen dann auch zu neuen Denkmustern.
420 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Seit Ende der 1990er-Jahre werden von einem Team um Thomas Borkovec psycho-
dynamische und humanistische Konzepte, vor allem die interpersonelle Therapie nach
Jeremy Safran (interpersonelle Schemata) und die emotionszentrierte Therapie nach
Leslie Greenberg, in die kognitive Verhaltenstherapie bei generalisierter Angststörung
integriert, um die Effektivität zu erhöhen, die nach den traditionellen Behandlungsme-
thoden (kognitive Umstrukturierung, Änderung der Erwartungswahrscheinlichkeiten,
Entspannungstechniken wie progressive Muskelentspannung) nur bei jedem zweiten
Patienten gegeben ist. Nach dem Furchtkonzept von Foa und Kozak kann die Änderung
eines Angstnetzwerkes nur erfolgen, wenn die gesamte Furchtstruktur (externe bzw.
interne Reize, Reaktionsmuster, Bedeutungszuschreibungen bei bestimmten Angstinhal-
ten) genügend stark aktiviert ist. Ständiges Sich-Sorgen ist eine primär verbal-kognitive
Aktivität, die stark emotionale Prozesse bewusst verhindern soll, sodass keine wirkliche
Emotionsverarbeitung angesichts von Angst machenden bildhaften Vorstellungen erfol-
gen kann. Ohne adäquate Berücksichtigung der vermiedenen schmerzhaften emotiona-
len Prozesse kann chronisches Sich-Sorgen durch die Überaktivität des sympathischen
Nervensystems und die gestörte Funktion des parasympathischen Nervensystems auch
zu erheblichen Problemen der körperlichen Gesundheit führen, die die berufliche und
soziale Funktionsfähigkeit in unserer Leistungsgesellschaft gefährden.
Menschen mit generalisierten Ängsten müssen einen besseren Umgang mit stören-
den Emotionen erlernen, d.h. eine bessere Wahrnehmung und Verarbeitung zentraler
Gefühle, um diese in zwischenmenschlichen Beziehungen zum Ausdruck bringen zu
können. Die ständigen Befürchtungen bezüglich alltäglicher Dinge stellen nur die Ober-
fläche dar, dahinter steht oft die Angst vor sich selbst – vor Gefühlen wie Wut, Ärger,
Aggression, Enttäuschung, Traurigkeit, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Verlassen-Werden.
Im Umgang mit befürchteten negativen Ereignissen geht es nicht nur darum, die
jeweils schlimmstmögliche Katastrophe in der Vorstellung zuzulassen, sondern viel-
mehr darum, erfolgreiche Problembewältigungsstrategien (vor allen in zwischen-
menschlichen Situationen) mindestens ebenso erfolgreich visualisieren zu können wie
unerwünschte Situationen. Es ist das Ziel, die Angst machenden Bilder von unwahr-
scheinlichen (katastrophalen) Entwicklungen durch lebendige Bilder von den wahr-
scheinlichen (positiven) Handlungsabläufen als Folge gezielter Aktivitäten der Betrof-
fenen zu ersetzen. Angesichts des Grundthemas der Betroffenen „Die Welt und die
Zukunft sind gefährlich“ ist der Aufbau von mehr Selbstvertrauen und Selbstwirksam-
keit erforderlich, wie dieser durch ein erfolgreiches Problemlösetraining möglich ist, das
auf die konkrete Situation und Bedürfnisstruktur der Betroffenen zugeschnitten ist.
Patienten mit generalisierter Angststörung leben nicht voll und ganz im Hier und
Jetzt. Aufgrund der ständigen inneren Beschäftigung mit möglichem zukünftigen Un-
heil übersehen sie das Naheliegende, nämlich die Gegenwart, ihre aktuelle Lebenssitua-
tion und ihre momentanen Bedürfnisse. Die Therapie hat daher vor allem das Ziel, dass
die Betroffenen besser als bisher ihr momentanes Leben genießen lernen. Das Leben im
Augenblick ohne Blick auf die Zukunft ist allein schon deswegen Angst reduzierend,
weil jede Angst definitionsgemäß auf mögliche zukünftige Ereignisse bezogen ist.
Zur Einschränkung der ständigen Sorgenprozesse, die ein befriedigendes Leben in
der Gegenwart verhindern, empfiehlt Borkovec ein Sorgentagebuch – eine Methode zur
so genannten Stimuluskontrolle. Sich-Sorgen wird auf einen ganz bestimmten Zeitpunkt
jeden Tages verschoben, zu dem man alle Befürchtungen eine ganze Stunde lang auf-
schreibt und später mit dem tatsächlichen Geschehensablauf vergleicht. Es handelt sich
dabei um eine bewusst eingesetzte mentale Konfrontationstherapie.
422 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Spezifische Phobie
Spezifische Phobien stellten seit den frühen 1960er-Jahren ein beliebtes Anwendungs-
gebiet der neu entwickelten verhaltenstherapeutischen Methoden dar (insbesondere der
systematischen Desensibilisierung, z.B. bei einer Spinnenphobie). Dabei ging man lan-
ge Zeit rigide nach bestimmten Techniken vor, ohne die funktionale Bedeutung der
jeweiligen Phobie ausreichend zu berücksichtigen. Ein derartiges „Wegtrainieren“ von
Symptomen hat in vielen Fällen zwar durchaus gut funktioniert, insgesamt jedoch dem
Image der Verhaltenstherapie so schwer geschadet, dass viele Kritiker auch heute noch
dieser Psychotherapiemethode ihre Vergangenheit vorwerfen.
Heutzutage wird stärker als früher beachtet, dass auch die scheinbar einfachen spezi-
fischen Phobien vor Behandlungsbeginn eine individuelle und differenzierte Verhal-
tensanalyse sowie eine funktionale Analyse ihrer Bedeutung erfordern. Misserfolge in
der Therapie sind oft durch die Vernachlässigung dieser Aspekte erklärbar.
Spezifische Phobien sind oft sehr subtil in den beruflichen, familiären oder privaten
Bereich eingebettet:
z Eine sich plötzlich entwickelnde Flugphobie eines erfolgreichen, weltweit tätigen
Managers kann Ausdruck dafür sein, dass er als Familienvater mit vier Kindern und
einer überforderten bzw. chronisch kranken Frau unbewusst nicht mehr ständig Au-
ßendienste, noch dazu in Übersee, machen möchte, obwohl er vielleicht bewusst
nach einer entsprechenden Lösung sucht und daher eine reine Flugphobie-
Behandlung erwartet.
z Die Angst vor Blitz und Donner kann zwar ausdrücken, dass eine Frau sich während
eines heftigen Gewitters ohne ihren Mann zu Hause fürchtet, aber auch signalisieren,
dass sie eigentlich nicht mehr länger im entlegenen Haus am Waldrand wohnen
möchte, abgeschnitten vom früheren Bekanntenkreis.
z Eine sich plötzlich entwickelnde Blutphobie einer Krankenschwester kann symboli-
sieren, dass sie wegen der Kinder nicht mehr länger berufstätig sein möchte, obwohl
sie dies aus finanziellen Gründen (Kreditrückzahlung) eigentlich sein müsste.
z Eine Hundephobie kann der Rechtfertigung eines sozialen Rückzugs dienen.
Bei den häufigen Tierphobien (Spinnen, Schlangen, Hunde usw.) wurde zumeist die
systematische Desensibilisierung eingesetzt. Der schwedische Verhaltenstherapeut Öst
[54] entwickelte eine Behandlungsmethode, mit der spezifische Phobien in einer Sit-
zung behandelt werden können. Es handelt sich dabei um eine Kombination von Kon-
frontation und teilnehmender Beobachtung. Der Phobiker beobachtet zuerst den Thera-
peuten als Modell und setzt sich anschließend der Konfrontation mit dem gefürchteten
Tier aus. Die Sitzung ist beendet, wenn der phobische Patient im Rahmen einer gestuf-
ten Angstbewältigung entweder gelernt hat, dem Tier mit keiner bzw. wenig Angst zu
begegnen oder wenn drei Stunden vorbei sind. Die ganze Konfrontation wird auf Video
aufgenommen, sodass sich der Patient noch einmal alle Therapieelemente vergegenwär-
tigen kann. Anschließend stärkt der Patient zu Hause seine Erfolgserlebnisse durch
Selbstkonfrontationsübungen auf der Basis eines Selbstbehandlungsmanuals.
Bei Insektenphobien, die sich vordergründig meist um die „Angst“ vor Spinnen und
Käfern drehen, geht es tatsächlich meist um Ekelgefühle, die es besser auszuhalten gilt,
sowie um die Überprüfung der fantastischen Vorstellungsbilder, die nichts mit der Rea-
lität der entsprechenden Kleintiere zu tun hat. Es erfolgt eine Überprüfung der Wahr-
nehmung (Was sehe ich wirklich?) und der Gefühle (Was spüre ich wirklich?).
424 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Bei Blut-, Verletzungs- und Spritzenphobien wird angesichts der dabei auftretenden
physiologischen Besonderheiten (plötzlicher Blutdruckabfall mit Schwindel und Ohn-
machtsneigung) vom schwedischen Team um Öst eine spezielle Vorgangsweise ge-
wählt, die ursprünglich im Rahmen von fünf Sitzungen zur Anwendung gelangte [55]:
z In der ersten Sitzung wird nach einer kurzen Verhaltensanalyse eine Anspannungs-
technik zur Hebung des Blutdrucks gelernt (jede muskuläre Anspannung führt zur
Hebung des Blutdrucks und verhindert damit wirksam die befürchtete Ohnmachts-
reaktion). Dabei werden die großen Skelettmuskeln (Arme, Brust und Beine) für
15-20 Sekunden angespannt, was nach einer Pause von 30 Sekunden wiederholt
wird. Diese Übung soll zu Hause täglich 5-mal zu jeweils fünf Zyklen von Anspan-
nung und Entspannung durchgeführt werden.
z In der zweiten und dritten Sitzung werden dem Betroffenen 30 Dias von Verletzten
gezeigt. Der Patient soll dabei auf die ersten Zeichen einer nahenden Ohnmacht ach-
ten lernen. Als Vorzeichen können verschiedene Symptome auftreten: kalter
Schweiß auf der Stirn, bestimmte Empfindungen im Magen (Übelkeit), Ohrensausen
usw. Bei Registrierung der ersten Frühwarnsymptome soll der Patient die erlernte
Anspannungstechnik zur Hebung des Blutdrucks einsetzen, während er weiterhin die
Bilder von Verletzten betrachtet.
z Die vierte Sitzung erfolgt in einer Blutspendezentrale, wo der phobische Patient
andere Personen beim Blutspenden beobachtet und sich anschließend selbst Blut ab-
nehmen lässt. Bei Bedarf wird wiederum die Anspannungstechnik eingesetzt.
z Die fünfte und letzte Sitzung erfolgt auf einer chirurgischen Station, wo der Patient
eine Operation mitverfolgt. Die weitere Therapie besteht in einem sechs Monate
dauernden Selbstbehandlungsprogramm.
Menschen mit Klaustrophobie haben eine große Ähnlichkeit mit Agoraphobikern mit
Panikattacken, weil sie wie diese befürchten, in einer Situation, in der sie sich festgehal-
ten fühlen, eine Panikattacke zu bekommen, sodass sie sich in ständiger Fluchtbereit-
schaft und starker Anspannung befinden. Die Betroffenen haben in geschlossenen Räu-
men ein Engegefühl in der Brust mit der Schwierigkeit durchzuatmen, sodass sie am
liebsten das Weite suchen würden, aber ausharren müssen. Von der englischen Gruppe
um Rachman [56] wurde ein Programm entwickelt, das aus einer Kombination von drei
Therapieelementen besteht:
z Konfrontation mit Angst auslösenden Situationen,
z Konfrontation mit den körperbezogenen Reaktionen,
z kognitive Therapie.
Eine wegen der Gefahr kaputter Zähne folgenreiche Oralo- oder Dentalphobie (früher
„Zahnarztphobie“ genannt), die bei mindestens 15% der Bevölkerung vorkommt, lässt
sich effizient behandeln durch ein Breitband-Therapieprogramm mit folgenden Elemen-
ten [57]:
z systematische Desensibilisierung,
z EMG-Biofeedback (Entspannungstraining für die Kopfmuskulatur),
z Modelllernen durch Video (Betrachtung von Filmen über Zahnbehandlungen),
z Einsatz hypnotherapeutischer Methoden im Rahmen eines verhaltenstherapeutischen
Behandlungskonzepts (durch die Verringerung der Schmerzempfindlichkeit über
den Weg der Suggestion angenehmer Vorstellungsbilder kann die zahnärztliche Be-
handlung sehr erleichtert werden).
Spezifische Phobie 425
Wenn eine Höhenphobie nur durch den Blick aus Höhen (Brücken, Hochhaus-Balkon,
Turm, Leiter, Seilbahn) ausgelöst wird, beruht sie möglicherweise nur auf einem ganz
normalen Höhenschwindel. Die Betroffenen müssen vor einer Konfrontationstherapie
über den Umstand aufgeklärt werden, dass ein Höhenschwindel einfach nur durch den
Blick in die Tiefe ausgelöst wird, weil das Auge in der Nähe keinen festen Punkt zur
Orientierung findet, sodass man mangels Halt einen Absturz fürchtet. Tatsächlich je-
doch hat der Höhenschwindel weniger mit einer Angst an sich zu tun, sondern vielmehr
mit dem Umstand, dass in größeren Höhen die Entfernung zum nächsten Objekt zu groß
ist und daher durch die fehlende Auge-Körper-Koordination ein Schwindelgefühl auf-
tritt. Erst in weiterer Folge entwickeln sich Vorstellungen, jederzeit abstürzen zu kön-
nen, sodass man sich dagegen wehrt und in der Folge davon stark verspannt. Die Be-
troffenen sollen unterscheiden lernen zwischen ihren inneren Vorstellungen und ihren
äußeren Wahrnehmungen (Was genau stelle ich mir vor, was sehe ich wirklich vor
mir?). Anschließend sollen sie den Wahrheitsgehalt der aktivierten Vorstellungen in der
Realität überprüfen und die Situation neu bewerten lernen. Allein schon durch eine
Verbesserung der Wahrnehmung können die Mikroauslöser der Höhenphobie identifi-
ziert werden. Im Laufe der Zeit soll sich der Patient nicht einfach nur an die Situation
gewöhnen, sondern ein Sicherheitsgefühl gewinnen, das zu einem besseren Wohlgefühl
in größeren Höhen führt.
Grundsätzlich wird bei der Behandlung von spezifischen Phobien auf dieselben
Techniken zurückgegriffen, wie sie bei der Behandlung der Agoraphobie bereits darge-
stellt wurden. Es bewähren sich auch Techniken aus dem mentalen Training. Bei ent-
sprechender Ausbildung des Psychotherapeuten kann eine Hypnotherapie sehr hilfreich
sein. Bei manchen spezifischen Phobien müssen Vorstellungsübungen oder eine Cyber-
brille eingesetzt werden, weil eine Konfrontation in der Realität nicht möglich ist oder
die phobische Auslösesituation nicht willkürlich hergestellt werden kann.
426 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Soziale Phobie
Bei sozialen Phobien sind je nach Diagnose (spezifische oder generalisierte Sozialpho-
bie) und Verhaltensanalyse (reine Sozialphobie oder komorbide Störung) unterschiedli-
che therapeutische Vorgangsweisen angezeigt [59]:
1. Kognitive Therapie als grundlegender Therapiebaustein bei allen sozialen Ängsten.
Aus der kognitiven Theorie der Sozialphobie der englischen Psychologen David M.
Clark und Adrian Wells resultieren ganz bestimmte Behandlungsansätze. Es geht
dabei um die Änderung der zentralen aufrechterhaltenden Faktoren der Sozialpho-
bie, nämlich der selbstfokussierten Aufmerksamkeit, der negativen Verarbeitung des
Selbst und des Sicherheitsverhaltens. Die Modifikation dieser Faktoren bietet den
Betroffenen die Möglichkeit, ihre negativen Überzeugungen bezüglich ihrer Wir-
kung auf andere Menschen durch direkte Beobachtung zu verändern, statt sie durch
ständige Selbstbeobachtung zu erschließen.
2. Konfrontationstherapie in der Vorstellung (in sensu) und in der Realität (in vivo) bei
einer spezifischen Sozialphobie, wo aus Angst vor sozialer Kritik vorhandene sozia-
le Kompetenzen nicht genutzt werden. Spezifische Sozialphobien beruhen gerade
auf der Angst vor ganz bestimmten Situationen, die durch Sicherheits- und Vermei-
dungsverhalten zu umgehen versucht werden. Auf diese Weise werden die soziale
Phobie und soziale Defizite aufgrund mangelnder Übung verstärkt. Das Hamburger
Therapiekonzept von Wlazlo geht bei sozialen Ängsten stärker im Sinne einer Kon-
frontationstherapie vor (Übungen in realen Situationen und weniger im Therapie-
raum). Dies ist gerade bei Menschen mit einer spezifischen Sozialphobie wichtig,
die bei ausreichenden sozialen Kompetenzen ständig Angst vor Beurteilung haben.
Für einen dauerhaften Therapieerfolg ist es erforderlich, eine Veränderung des zen-
tralen Aspekts der sozialen Phobie, nämlich der Angst vor negativer Bewertung
durch andere, zu erreichen. Sozialphobiker, die Kontaktprobleme eher wegen ihrer
Hemmung aus Angst vor sozialer Kritik und nicht wegen eines fundamentalen Man-
gels an sozialer Kompetenz haben, benötigen Angst provozierende Übungssituatio-
nen zur Stärkung des Selbstvertrauens. Über Erfolge im Rahmen einer Konfrontati-
onstherapie finden dabei indirekt auch Einstellungsänderungen statt. Es erfolgt dabei
einerseits eine externe Realitätsüberprüfung („Die anderen tun nichts, was negativ
oder bedrohlich wäre“), andererseits eine interne Realitätsüberprüfung („Ich kann
mit den negativen Urteilen anderer besser leben, als ich geglaubt habe“).
3. Training zur Verbesserung der sozialen Kompetenz bei generalisierten Sozialphobi-
en und vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörungen. Ein früher Erklä-
rungsversuch sozialer Phobien ging nach dem Modell sozialen Lernens von unzurei-
chenden sozialen Fertigkeiten aus, bedingt durch fehlende effektive Modelle und
mangelnde Verstärkung selbstsicherer Verhaltensweisen. Die Beseitigung sozialer
Defizite erfolgte traditionellerweise durch soziale Kompetenztrainings, die früher
häufig „Selbstsicherheitstraining“ genannt wurden. Nach, neben oder anstelle einer
kognitiv orientierten Einzeltherapie kann bei einem Defizit an sozialer Kompetenz
auch nach den neueren primär kognitiven Therapiekonzepten eine kognitiv-
behaviorale Gruppentherapie erfolgen. Das kognitive Modell der Sozialphobie nach
Clark und Wells geht – im Gegensatz zu früheren Erklärungsmodellen sozialer Äng-
ste – nicht von der Annahme erheblicher sozialer Kompetenzdefizite aus, wonach
diese erst aufgebaut und entwickelt werden müssten, sondern sieht diese eher als
Folgezustände des chronischen Sicherheits- und Vermeidungsverhaltens.
428 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
2. Kognitive Vorbereitung auf die Exposition. Im Zentrum steht die Änderung der
Faktoren der Informationsverarbeitung, die die unrealistischen Bewertungen stabili-
sieren und aufrechterhalten, nämlich die Art der Selbstaufmerksamkeit, der bildhaf-
ten Vorstellungen und des Sicherheitsverhaltens. Dabei werden innerhalb des The-
rapieraums Rollenspiele und Videofeedback eingesetzt, um Angstreaktionen zu ak-
tivieren und bewältigen zu lernen. Videoaufnahmen ermöglichen eine Sicht von au-
ßen, aus der Beobachterperspektive, wie einen die anderen sehen, was die falschen
Bewertungen auf der Basis des überkritischen inneren Erlebens korrigieren soll. Das
bisherige Sicherheits- und Vermeidungsverhalten soll aufgegeben werden (z.B. kei-
ne Symptomunterdrückung, keine übermäßige Vorbereitung, kein Alkoholkonsum).
Verhaltensexperimente als Hausaufgaben zur Überprüfungen der bisherigen Be-
fürchtungen und zur Vermittlung neuer Denk- und Verhaltensweisen sollen den the-
rapeutischen Prozess zwischen den Sitzungen fördern.
3. Exposition in vivo und Verhaltensexperimente. Nach den Erfahrungen und Erfolgen
im Therapieraum erfolgt eine Konfrontation mit Angst aktivierenden Situationen in
der realen Umwelt. Durch derartige Verhaltensexperimente in der Realität werden
die negativen Überzeugungen überprüft und als unzutreffend erkannt. Dabei werden
auch Mittelpunktsübungen durchgeführt, wo die Betroffenen bewusst auf sich auf-
merksam machen nach dem Prinzip der paradoxen Intention, z.B. absichtlich zittern
oder laut reden. Der Therapieeffekt beruht nicht einfach auf ausreichend langen und
wiederholten Konfrontationen, bis eine Habituation einsetzt, sondern auf der reali-
tätsadäquaten Informationsverarbeitung, dass nichts Schlimmes passiert. Eine Schu-
lung der sozialen Wahrnehmung ist unbedingt angezeigt, damit Sozialphobiker die
Reaktionen anderer Menschen richtig einschätzen lernen. Die Betroffenen sollen ih-
re Befürchtungen im Rahmen der Konfrontationstherapie nicht einfach besser aus-
halten, sondern überhaupt als unberechtigt erkennen lernen. Es wird daher eine ad-
äquatere Form der Informationsverarbeitung trainiert. Bei den Expositionen in vivo
sollen die Patienten ihre Wahrnehmung auf die soziale Umwelt und nicht ständig auf
sich selbst richten, um eine angemessene Realitätsprüfung zu erreichen, sowie alle
Sicherheitsverhalten unterlassen, die eine negative Bewertung verhindern könnten.
4. Verbale Überprüfung negativer Kognitionen. Nach der behavioralen, d.h. verhal-
tensbezogenen Überprüfung negativer Gedanken und Erwartungen, erfolgt in einem
weiteren Schritt nach dem therapeutischen Grundprinzip des geleiteten Entdeckens
und mithilfe der Methode des Sokratischen Dialogs eine verbale Überprüfung dys-
funktionaler Gedanken und Grundüberzeugungen mit dem Ziel, angemessenere Ko-
gnitionen zu entwickeln. Dabei werden auch zwei typische Mechanismen falscher
Informationsverarbeitung identifiziert und verändert: ständige Erwartungsängste
(Worst-Case-Szenarien) und nachträgliche Umbewertungen (verzerrte Verarbeitung
im Nachhinein). In dieser Therapiephase werden zahlreiche Strategien und Techni-
ken der kognitiven Therapie eingesetzt. Die direkte Analyse und Änderung der vor-
handenen Denkmuster (z.B. Annahme der sozialen Ablehnung) ist von zentraler Be-
deutung, weil viele Sozialphobiker im Gegensatz zu Agoraphobikern ohnehin die
meisten sozialen Situationen aufsuchen (wenngleich oft mit einem unguten Gefühl),
ohne jedoch dadurch eine Symptomreduktion zu erreichen.
5. Therapieabschluss und Rückfallprophylaxe. Am Therapieende werden die Erkennt-
nisse und Fortschritte zusammengefasst, vom Patienten in Form einer „Therapiege-
schichte“ schriftlich festgehalten, mögliche Auslöser für Rückfälle besprochen so-
wie Vereinbarungen für eventuelle Auffrischungs- oder Krisensitzungen getroffen.
430 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Soziale Defizite wurden früher überbetont. Die Modelle zur Erklärung sozialer Ängste
und Phobien haben in der Vergangenheit die Defizite hinsichtlich sozialer Performanz
zu wenig berücksichtigt und Sozialphobikern oft vorschnell einen Mangel an sozialer
Kompetenz unterstellt. Die Mehrzahl der Sozialphobiker setzt die vorhandenen sozialen
Fertigkeiten nicht ein. Die unzureichende Unterscheidung zwischen sozialer Kompetenz
und sozialer Performanz kann zu einem falschen therapeutischen Vorgehen führen. Es
wird dann etwas trainiert, was die Betroffenen bereits können, jedoch nicht einsetzen.
Exposition anstelle von Vermeidung ist sehr wichtig. Eine massive Form der sozia-
len Konfrontation ist die Symptomprovokation, auch paradoxe Intention genannt, d.h.
der Vorsatz bzw. Ratschlag, genau das zu tun, was man am meisten fürchtet: Rotwerden
oder Schwitzen von sich aus ansprechen, absichtlich zittern, bei Sprechangst die Nervo-
sität öffentlich bekannt geben, durch auffälliges Verhalten auf sich aufmerksam machen
oder bestimmte gefürchtete Personen bewusst ansprechen. Es wird auf alle Vermei-
dungsreaktionen und Sicherheitsverhaltensweisen verzichtet. Bei derartigen Mittel-
punktsübungen machen die Betroffenen nach einem bestimmten Plan auf sich aufmerk-
sam und riskieren eine bislang gefürchtete Kritik vonseiten der Umwelt. Symptompro-
vokationen können bei vielen Menschen mit chronischem Vermeidungsverhalten sinn-
voll sein, wenn es gilt, unberechtigte Ängste vor sozialer Ablehnung durch Erfahrung zu
widerlegen, können aber ohne Berücksichtigung der Lebenserfahrungen und der Persön-
lichkeit des Patienten zu symptomverstärkenden Retraumatisierungen führen.
Der Effekt der erhofften Habituation kann außerdem durch bestimmte Interpretatio-
nen zunichte gemacht werden, z.B. „Bei einer solchen Übung kann ich mich durchaus
auffällig verhalten, in bestimmten für mich wichtigen Situationen darf ich mich aber
nicht blamieren, weil ich sonst erledigt bin.“ Dies zeigt die Kontextabhängigkeit von
sozialen Phobien: In einem irrelevanten Kontext gelingt es leicht, furchtlos zu handeln.
Therapeutisch sinnvolle Verhaltensexperimente unterscheiden sich von therapeu-
tisch kontraindizierten übertriebenen„Shame-attack-Übungen“ dadurch, dass es sich um
keine übermäßig peinlichen oder ungehörigen Verhaltensweisen außerhalb der gesell-
schaftlichen Verhaltensnormen und auch um keine traumatisierende Bloßstellung der
Betroffenen handelt. Manche Verhaltenstherapeuten halten solche Peinlichkeitsübungen
(z.B. mit erhobenen Händen gehen, laut mit sich selbst reden) jedoch für hilfreich.
Die kognitiven Verhaltenstherapeuten Clark und Wells kritisieren den unreflektier-
ten Einsatz von sozialen Kompetenztrainings, denn es sind bestimmte Kognitionen, die
die Umsetzung der vorhandenen Fähigkeiten blockieren, z.B. „Ich könnte mich zwar
durchsetzen, aber dann ist mein Partner beleidigt, und das halte ich nicht aus, wenn ich
nicht jederzeit geliebt werde.“ Das Vermeidungsverhalten von Menschen mit sozialen
Ängsten und Phobien hat den Charakter eines Sicherheitsverhaltens, das die Betroffenen
vor unangenehmen Erfahrungen wie Peinlichkeit und Abgelehnt-Werden bewahren soll.
Bei einem Training sozialer Fertigkeiten sind folgende Aspekte zu berücksichtigen:
z Interaktionelle Sichtweise bestimmter Verhaltensweisen im Gesamtkontext. Es muss
der Kontext von Partnerschaft, Berufssituation u.a. berücksichtigt werden. Welche
Bedeutung hat ein bestimmtes Verhalten in einer konkreten Situation? Jedes Verhal-
ten hat eine unterschiedliche Bedeutung und Funktion, je nach Situation, Kontext,
Art und Stadium der Interaktion, Art und Anzahl der Personen und ihren Zielen.
z Individuelle Anpassung an den Patienten. Was ist „echt“, was nur „antrainiert“?
z Reflexion der impliziten Ziel- und Wertvorstellungen. Wer bestimmt, was „sozial
angepasst“ und „sozial kompetent“ ist? Erwünschte Standards in unserer Gesell-
schaft dürfen nicht unkritisch als Therapieziele übernommen werden.
432 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Alle Therapiekonzepte zum Abbau sozialer Ängste müssen deren mögliche Funktionen
im Rahmen der aktuellen Sozialbeziehungen berücksichtigen. Einige Beispiele sollen
mögliche systemische Funktionen einer Sozialphobie vergegenwärtigen:
z Eine junge Frau mit sozialen Ängsten bleibt partnerlos an die Mutter gebunden, die
seit dem Tod ihres Gatten allein nicht ausreichend lebensfähig ist.
z Ein Mann mit sozialen Ängsten verbringt sein Leben in überenger Beziehung mit
seiner Gattin und schränkt dadurch deren Freiheitsraum ein („Ich lebe ganz für Ehe
und Familie, sie soll es auch tun“).
z Ein Jugendlicher mit sozialen Ängsten möchte sich von den Eltern erhalten lassen.
Soziale Kompetenztrainings werden heutzutage nicht nur bei Menschen mit Angststö-
rungen und Selbstunsicherheit, sondern auch bei Patienten eingesetzt, die ganz unter-
schiedliche Diagnosen aufweisen (z.B. Depression, Zwangsstörung, Schizophrenie,
sexuelle Störung, Essstörung, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch, psychosomati-
sche Störungen, Behinderungen verschiedener Art).
Der amerikanischen Psychologen Arnold Lazarus definierte in den frühen 1970er-
Jahren soziale Kompetenz anhand von vier Fertigkeiten, was für die therapeutische
Praxis große Auswirkungen hatte: Nein sagen können, Wünsche und Forderungen stel-
len können, Sozialkontakte beginnen und beenden können, positive und negative Ge-
fühle offen ausdrücken können.
Das Assertiveness-Training-Programm (ATP) von Rüdiger Ullrich und Rita de
Muynck [62] aus den 1970er- und 1980er-Jahren fand im deutschen Sprachraum, aus-
gehend von München, vor allem auch im klinischen Bereich weite Verbreitung. Eine
Gruppentherapie mit einer Dauer von rund 10 Monaten (35 Doppelstunden) wird mit
Einzelsitzungen kombiniert. Eine komplette Therapie dauert 1-2 Jahre.
Das Therapiekonzept bezieht sich auf vier Generalisationsbereiche sozialer Ängste:
z Angst vor Ablehnung beim Äußern eigener Bedürfnisse,
z Angst vor Ablehnung bei der Abgrenzung gegen Übergriffe von anderen,
z Angst vor Kritik oder Fehlschlägen,
z Angst vor sozialen Kontakten.
„Konfrontation ohne Berücksichtigung von Abwehrstrategien oder ‚reines Üben’ ohne Beseitigung der
Bedingungen, die zur Vermeidung geführt haben, kann nicht als bedingungsanalytische Psychotherapie
oder Verhaltenstherapie gelten.“
Das im deutschen Sprachraum weit verbreitete, seit über 25 Jahren ständig erweiterte,
verhaltenstherapeutisch fundierte und als effizient evaluierte „Gruppentraining sozialer
Kompetenzen (GSK)“ der deutschen Psychologen Rüdiger Hinsch und Ulrich Pfingsten
[64] fördert im Rahmen von sieben Sitzungen, unterstützt durch zahlreiche Fragebögen,
Informations- und Arbeitsblätter, drei Arten von Skills:
z die Fertigkeit, ein (mehr oder minder) formales Recht durchzusetzen,
z ein kompetentes Verhalten in Beziehungen,
z die Fertigkeit, um Sympathie zu werben.
Auf der Basis dieses Programms wurde von Rüdiger Hinsch und Simone Wittmann das
Selbsthilfebuch „Soziale Kompetenz kann man lernen“ verfasst.
Das neueste, 2006 veröffentlichte und ebenfalls sehr umfangreiche deutsche Thera-
piekonzept „Soziales Kompetenztraining. Gruppentherapie bei sozialen Ängsten und
Defiziten“, herausgegeben von Heike Alsleben und Iver Hand [65], stellt die Entwick-
lung eines verhaltenstherapeutisch orientierten Autorenteams großteils aus Hamburg
dar. Es umfasst im Rahmen von 12 Sitzungen im Umfang von 150-480 Minuten (inklu-
sive Exposition in vivo) und zwei Terminen vor sowie drei Terminen nach der Behand-
lung (nach 3, 6 und 12 Monaten) drei Therapiebausteine zu den Themen
z Angstbewältigung (Motivationsaufbau, psychoedukative Phase zur Thematik der
sozialen Phobie, Schulung der adäquaten Wahrnehmungs- und Diskriminationsfä-
higkeit, Angstmanagement, Mittelpunktsübungen),
z Erhöhung der sozialen Kompetenz (allgemeine Grundlagen und spezielle Fertigkei-
ten der Kommunikation),
z Bearbeitung zugrunde liegender Problembereiche (individuelles Problemlösevorge-
hen in sieben Schritten, Aktivitätsaufbau, Entwicklung eines individuellen Stö-
rungsmodells).
434 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Exkurs: Prüfungsängste
Zwangsstörung
Die Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen hat sich aus dem Verständnis der Zwangs-
rituale als Vermeidungsreaktionen entwickelt. Lerntheoretisch stellt ein Zwangsritual
eine operante Konditionierung (negative Verstärkung) dar: Das Ausbleiben der gefürch-
teten Konsequenzen (Unglück, Katastrophe) infolge der als wirksam angesehenen
Zwangsrituale verstärkt die Tendenz zu deren neuerlichem Einsatz. Den Betroffenen
muss daher in der Therapie durch mühevolle Kleinarbeit immer wieder die Erfahrung
vermittelt werden, dass nichts passiert, wenn sie ihre Zwangsrituale unterbrechen. Auf
dieser an sich simplen Überlegung beruhen die ersten erfolgreichen Behandlungsmaß-
nahmen der Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen.
Zwangshandlungen
Die Exposition bei Zwängen wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts vom Pariser Psy-
chiater Janet eingesetzt. Die 1966 von Meyer [67] in London beschriebene Technik der
Reizkonfrontation mit Reaktionsverhinderung gilt bei Zwangsstörungen (wie bei der
Agoraphobie und den spezifischen Phobien) als das verhaltenstherapeutische Standard-
programm für das zumeist notwendige symptomorientierte Vorgehen:
z Reizkonfrontation. Der Patient wird ermutigt, sich den gemiedenen äußeren Reizen
(bestimmten Situationen und Objekten) bzw. inneren Reizen (Gedanken, Bildern,
Impulsen), die Angst oder andere negative Emotionen provozieren, in der Vorstel-
lung und in der Realität so lange und wiederholt auszusetzen, bis durch Gewöhnung
(Habituation) und Erleben des Ausbleibens der gefürchteten Konsequenzen ein bes-
seres Aushalten der entsprechenden Situationen gelingt. Die Konfrontation wird erst
nach einer deutlichen Reduktion von Angst und Unbehagen beendet. Alle auftreten-
den Gefühle sollen zugelassen werden. Das Wahrnehmen und Erleben der Gefühle
wird durch fortlaufendes Verbalisieren ohne Rituale verstärkt. Die Reizkonfrontati-
on kann ähnlich wie bei der Angstbehandlung gestuft oder massiert (Reizüberflu-
tung) erfolgen. Am effektivsten ist die rasche und massierte Konfrontation mit den
zwangsauslösenden Reizen. Für viele Zwangspatienten ist jedoch nur eine gestufte
Behandlung erträglich, beginnend mit leichteren oder mittelschweren Aufgabenstel-
lungen, weil sonst die Gefahr eines Abbruchs droht. Die Sitzungen können anfangs
1½ bis 2 Stunden oder länger dauern und sollen in eher kurzen Abständen erfolgen.
z Reaktionsverhinderung (Verzicht auf Neutralisierung). Nach der Konfrontation mit
den zwangsauslösenden Reizen und Situationen (Blut, Urin, Vaginalsekret,
Schmutz, chemische Stoffe, Glassplitter, Türklinken, Benutzung fremder Toiletten)
wurden Vermeidungs- und Wiedergutmachungsrituale ursprünglich vom Klinikper-
sonal mittels „Reaktionsverhinderung“ unterbunden (eine bestimmte Zeit lang nicht
waschen, putzen, kontrollieren). Der Patient soll nach der realen bzw. mentalen
Konfrontation mit den zwangsauslösenden Reizen auf reale oder gedankliche Flucht
verzichten, d.h. dem Drang zur Ausführung offener oder kognitiver Rituale wider-
stehen. Vermeidungsreaktionen und Zwangsrituale werden heute keinesfalls durch
Fremdkontrolle, wie dies anfangs bei Meyer üblich war, sondern nur durch Selbst-
kontrolle beseitigt. Der Patient darf die Situation jederzeit verlassen, soll jedoch
durch den Therapeuten ermutigt werden durchzuhalten, um die auftauchenden Ge-
fühle, Bilder und Gedanken besser wahrnehmen und bewältigen zu lernen.
436 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Bei Waschzwängen wird selbst die übliche Hygiene auf ein Mindestmaß einge-
schränkt, um den Kontakt mit Wasser möglichst zu vermeiden (in der ersten Woche
keinerlei Kontakt mit Wasser), das Ausbleiben von Erkrankungen zu erleben und da-
durch Schmutz und Verunreinigung besser und rascher ertragen zu lernen. Das Pro-
gramm umfasst 15 Konfrontationen von jeweils 2 Stunden Dauer in Anwesenheit des
Therapeuten sowie 2-4 Stunden tägliche Hausaufgaben. Die Konfrontation erfolgt zu-
erst jeweils in der Vorstellung, anschließend in der Realität. Im erwähnten Fachbuch
heißt es in Bezug auf Waschzwänge recht autoritär [69]:
z Bis Abschluss der Behandlungssitzungen ist es Ihnen nicht erlaubt, Wasser an den Körper zu las-
sen: kein Händewaschen, kein Abspülen, keine nassen Tücher oder Waschlappen sind erlaubt.
z Der Gebrauch von Cremes und anderen Toilettenartikeln (Badepuder, Deodorant etc.) ist nur dann
erlaubt, wenn das Ihr Gefühl von Verunreinigung nicht verringert.
z Rasieren Sie sich nur noch elektrisch.
z Sie können Wasser zum Trinken oder Zähneputzen benutzen, aber achten Sie darauf, dass Sie es
nicht ins Gesicht oder auf die Hände bekommen.
z Das Duschen soll durch jemanden überwacht werden; es ist nur alle drei Tage und nur jeweils 10
Minuten lang erlaubt, einschließlich Haarewaschen. Rituelles oder wiederholtes Waschen von be-
stimmten Körperregionen (Genitalien, Haare) ist während des Duschens verboten. Die Duschzeit
sollte von Ihrer Bezugsperson registriert werden, aber er oder sie muss Sie nicht direkt beobachten.
z Nur unter außergewöhnlichen Umständen dürfen Ausnahmen von diesen Regeln gemacht werden,
z.B. bei medizinischen Erkrankungen, die eine bestimmte Art der Reinigung notwendig machen.
Besprechen Sie das mit Ihrem Therapeuten.
z Wenn Sie zu Hause den Drang zum Waschen oder Säubern verspüren und befürchten, dass Sie ihm
nicht widerstehen können, sprechen Sie mit Ihrer Bezugsperson und bitten Sie sie, solange bei Ih-
nen zu bleiben, bis der Drang so weit abgesunken ist, dass Sie ihn allein unter Kontrolle halten
können.
z Ihre Bezugsperson soll Verletzungen der Reaktionsverhinderung an Ihren Therapeuten melden. Sie
oder er soll versuchen, solche Regelverletzungen durch feste Ermahnungen zu verhindern, aber
nicht durch körperliche Maßnahmen oder durch Streit. Wasserhähne dürfen von der Bezugsperson
abgedreht werden, wenn Sie das zuvor mit ihr vereinbart haben.
Die Autoren geben eine hohe Wirksamkeit des Therapieprogramms an, bei etwa 20%
komme es jedoch zu einem Rückfall. Etwa 25% der Zwangspatienten verweigern die
Teilnahme an einer derartigen Therapie, was durchaus verständlich ist.
Das Verbot, sich einige Wochen nicht zu duschen, eine Woche nicht die Hände zu
waschen, auch nicht vor dem Essen oder nach der Toilette, entspricht nicht den Sauber-
keitsstandards der westlichen Gesellschaft. Eine derartige Anweisung ist auch therapeu-
tisch sinnlos. Der Patient soll nichts eintrainieren, was er nicht auch nach der Therapie
weiter ausführen kann. Das Ziel einer Konfrontationstherapie bei Zwangsstörungen
besteht darin, die Wasch- und anderen Zwangsrituale auf ein kulturell übliches und das
sonstige Leben nicht einschränkende Ausmaß zu reduzieren.
Der Psychologe Hans Reinecker weist in seinem Buch „Zwänge“ auf ethisch-
normative Aspekte bei derartigen Konfrontationstherapien hin. Der bessere Umgang mit
Schmutz, Staub usw. bei Waschzwängen erfordert wohl, dass sich der Patient mit den
entsprechenden, bisher gemiedenen Gegenständen und Situationen auseinandersetzt, die
Konfrontation muss jedoch keineswegs das Wühlen in Mülltonnen oder einen langen
Aufenthalt in einer stark verschmutzten Autobahntoilette beinhalten. Es reicht, wenn der
Patient mit jenen Situationen konfrontiert wird, deren adäquate Bewältigung die Vor-
aussetzung für eine bessere soziale Integration darstellt. Für die Reaktionsverhinderung
gelten ähnliche Überlegungen.
438 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Süllwold und Herrlich [72] weisen u.a. auf folgende wichtige Therapieaspekte hin:
z „Es geht nicht nur darum, Handlungen zu unterlassen (z.B. Händewaschen vor dem Toilettengang
oder nach einzelnen Teilschritten beim Anziehen, stereotype Wiederholung des Anklammerns beim
Wäscheaufhängen, mehrmaliges Zuschlagen der Tür zur ‚Kontrolle’, daß sie verschlossen ist), son-
dern vor allem um die Möglichkeit, die Selbstkontrolle über das Verhalten wiederzugewinnen. Aus
individuellen Beispielen ist abzuleiten, wie Wahrnehmungen der Relevanz eines Reizes über das
Ingangsetzen von Handlungen entscheiden und deren Beendigung bewirken können. Die Beach-
tung hierfür notwendiger Hinweisreize muß eingeübt werden. Das automatisierte Verhalten soll
wieder durch Einsicht und rationale Kriterien steuerbar und situationsangemessen werden. Bei
Ordnungszwängen z.B. können die individuellen Standards so lange akzeptiert werden, wie sie die-
ser Anpassung dienen.
z Handlungen, die nicht gestoppt werden können oder durch Zählrituale o.ä. begrenzt werden sollen,
müssen zusätzlich durch Lenkung der Aufmerksamkeit auf relevante Stimuli und deren bewußte
Wahrnehmung trainiert werden...
z Es wird eine Schwierigkeitshierarchie sowohl für das Unterlassen von Kontrollen o.ä. als auch für
die Berührung gemiedener (‚kontaminierter’) Objekte erarbeitet. Bereits bewältigte Teilschritte
müssen vom Patienten möglichst täglich wiederholt werden. Entsprechendes gilt bei Patienten mit
Zwangsgedanken für die Aufhebung der Vermeidung.
z Da es prinzipiell um den Ersatz und Neuaufbau von adaptiven Verhaltensweisen an Stelle des
Zwangs geht, sind wir der Auffassung, daß unrealistische Übertreibungen, wie z.B. Forderungen,
der Patient solle Kot anfassen und sich damit beschmieren, auf falschen Konzepten beruhen.
z Das Tempo muss individuell bestimmt werden. Zu langsames Vorgehen kann die Motivation
schwächen, zu rasches Tempo überfordern. Das angemessene Verhalten muß durch Wiederholung
gefestigt werden und benötigt ebenfalls Zeit bis zum Stadium der Routine.
z Die Zieldefinitionen für das neue Verhalten schließen als wesentliche Elemente kognitive Behand-
lungsstrategien ein. Dies gilt u.a. für Erörterungen wie: ‚was ist richtiges Zähneputzen’, ‚wie häufig
putzt eine ordentliche Hausfrau das Bad’ etc. Die Standards werden nicht verordnet, sondern durch
entsprechende Frage- und Gesprächstechniken (z.B. sokratischer Dialog) im Gespräch festgelegt.
Der Rückgriff auf Modelle in der unmittelbaren Umgebung der Patienten hat sich in diesem Zu-
sammenhang bewährt.
z So müssen mit dem Patienten Standards z.B. für ein angemessenes Wasch- oder Kontrollverhalten
vereinbart werden. Der Patient benötigt ein Konzept für das nicht-zwanghafte Verhalten und muß
erneut lernen, auf relevante Merkmale, die z.B. das Ende eines Handlungsvollzuges signalisieren,
zu achten. Aufgrund der für Zwangskranke offenbar charakteristischen Überfokussierung der Auf-
merksamkeit hat es sich bewährt, die Aufmerksamkeitslenkung auf handlungsrelevante Abläufe
durch eine vorübergehende verbale Kodierung der Vorgänge zu erleichtern. Der Einsatz unter-
schiedlicher Sinnesmodalitäten kann die Prägnanz der Wahrnehmung zusätzlich erhöhen.
z Es wird darauf hingewiesen, daß der bewußte, willentlich gesteuerte Ablauf von Routinehandlun-
gen einen Übergang darstellt, bis die neue Gewohnheit ohne große Aufmerksamkeitszuwendung
stabil bleibt. Die ausgehandelten und in Form eines Kontraktes fixierten Standards dienen der
Selbstinstruktion für die Bearbeitung der ‚Hausaufgaben’.
z Wenn irrationale Überzeugungen (z.B. durch das Aussprechen bestimmter Worte oder Zahlen,
impotent zu werden oder durch den Anblick von Knochen oder das Denken an den Tod, verunrei-
nigt zu sein) vorhanden sind, müssen sie therapiebegleitend immer wieder einer Realitätsprüfung
unterzogen und ad absurdum geführt werden. Durch Fragetechniken kann dem Patienten ermög-
licht werden, Inkonsistenzen seiner Überzeugungen zu erkennen, Alternativhypothesen zu entwik-
keln und einer Selbstüberprüfung zu unterziehen...
z Notwendige Ergänzungen der Zwangsbehandlung sind häufig ein therapiebegleitender Ausbau
allgemeiner Aktivitäten, das Anregen von Interessen sowie die Normalisierung sozialer Beziehun-
gen. Hierbei kommen alle verhaltenstherapeutischen Methoden zur Anwendung, die sich bewährt
haben.
z Bei Zwangsvorstellungen ohne Handlungsteil hat es sich nach unserer Erfahrung bewährt, neben
der einleitend beschriebenen kognitiven Strategie der Etikettierung, Neubewertung und Distanzie-
rung von den Zwangsgedanken, die Methode der Sättigung anzuwenden. Der Patient wird aufge-
fordert, mit dem Vorspann: ‚Meine Zwangsvorstellung lautet...’ diese so lange zu verbalisieren, bis
442 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
das Aussprechen kaum mehr gelingt und ein Gefühl des Überdrusses aufkommt. Solche Sitzungen
können Stunden in Anspruch nehmen, der Therapeut muß anwesend sein, um darauf zu achten, daß
der Patient die Zwangsvorstellung bewußt und konzentriert wiederholt... Entgegen der in der Lite-
ratur immer wieder zu findenden Kritik, haben wir in Einzelfällen auch mit dem gezielten Einsatz
von Ablenkungstechniken (z.B. auf Umgebungsreize) und Entspannung beim Auftreten der
Zwangsvorstellung Fortschritte erzielt...
z Wir legen viel Wert auf die genaue Festlegung der Standards für das adaptive Verhalten sowie die
veränderten Bewertungskriterien beim Auftreten von Zwangsvorstellungen, da wir darin einen we-
sentlichen Faktor für die Rückfallsprophylaxe sehen.“
Hand regt die Entwicklung und Evaluierung von Therapeutenmanualen an, die neben
individualpsychologischen und symptomtechnischen Aspekten auch den systemischen
Aspekten von Zwangsstörungen durch entsprechende Strategien gerecht werden.
In Hamburg und anderen Orten werden auch Gruppentherapien für Zwangskranke
und deren Angehörige angeboten sowie Selbsthilfegruppen gefördert [76]. Reine
Selbsthilfegruppen wie bei anderen Störungen sind bei Zwangskranken unzureichend.
Viele Menschen mit Zwangsstörung haben aufgrund früher sozialer Defizite und Ängste
große Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Kontakt. Der Gruppenzusammenhalt
und die Verbesserung der sozialen Kontaktfähigkeit der einzelnen Teilnehmer muss
anfangs durch gezielte therapeutische Hilfestellungen gefördert werden. In diesem Sinn
hat es sich nach wissenschaftlichen Untersuchungen bewährt, die Effizienz von Selbst-
hilfegruppen bei Zwangsstörungen durch die Vorschaltung einer expertenangeleiteten
Gruppe über einen längeren Zeitraum zu erhöhen.
444 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Die Berliner Experten Nicolas Hoffmann und Birgit Hofmann vermitteln in ihrem Buch
„Expositionen bei Ängsten und Zwängen. Ein Praxishandbuch“ ein umfassendes und
fundiertes kognitiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungskonzept von Zwangsstörun-
gen, das aus einem sehr differenzierten Verständnis der verschiedenen Zwänge resul-
tiert. Dabei legen die Autoren in kritischer Auseinandersetzung mit kognitiven Verhal-
tenstherapeuten wie Salkovskis Wert auf den Nachweis, dass schwere Zwangsstörungen
qualitativ völlig andere Zustände sind als nur der Endpunkt auf einem Kontinuum von
„genau – übergenau – zwangskrank“ und mehr sind als nur eine falsche und damit
Angst machende Bewertung bestimmter „intrusiver“ (aufdringlicher ) Gedanken. Die
Autoren weisen auf die zentrale Bedeutung bestimmter Aspekte hin, und zwar auf
z eine fundamentale Konfusion und Blockierung der Gefühle,
z ein quälendes Unvollständigkeitsgefühl (als passend Wahrgenommenes wird vom
Gefühl und von der Vernunft nicht so erlebt),
z ein ständiges Schuldgefühl ohne konkrete Auslöser,
z ein uneinfühlbares permanentes Bedrohungsgefühl,
z eine Unfähigkeit, die Zwänge aufgrund fehlender Beurteilungskriterien für „sauber“,
„ungefährlich“, „ordentlich“ usw. zu beenden,
z ein massives Unsicherheitsgefühl (bei Kontrollzwängen),
z ein starkes Ekelgefühl in Verbindung mit „Reinheit“ und nicht so sehr ein Reinlich-
keitsbedürfnis im Sinne von Sauberkeit (bei Wasch- und Reinigungszwängen),
z ein andauerndes externales Regulationsbedürfnis im Sinne äußerer Sicherheit und
Stabilität zur Kompensation einer großen inneren Unsicherheit, Haltlosigkeit und
chaotischen Erlebniswelt,
z eine Verschiebung der wahren und zentralen Probleme des Lebens von der Haupt-
bühne auf den Nebenschauplatz der Zwänge, wo diese verzerrt, übertrieben und
klamottenhaft nachgespielt werden,
z eine sekundäre Rationalisierung der Zwänge im Sinne gesellschaftlich erwünschter
Verhaltensweisen wie Sauberkeit und Ordentlichkeit (nur in bestimmten Bereichen),
z eine gestörte, oft schwer defizitäre Ich-Struktur.
Ähnlich wie bei Hand werden von Hoffmann und Hofmann im Rahmen einer Verhal-
tensanalyse die intraindividuellen und interpersonellen Funktionalitäten von Zwangsstö-
rungen herausgearbeitet, ohne die die verschiedenen Zwänge weder umfassend verstan-
den noch therapiert werden können. Als allgemeine Therapieziele gelten:
z „Subjektkonstituierung“, d.h. der Patient als Handelnder und nicht als Getriebener,
z eine zunehmende Distanz zu den Inhalten der Zwänge,
z eine Stärkung der Ich-Funktionen und eine Etablierung des eigenen Ichs als zentrale
Steuerungsinstanz,
z eine Fokussierung auf die normalen zentralen Bereiche des persönlichen Lebens,
z ein fundierter, organisch ablaufender und zum Ziel führender Handlungsanlauf an-
stelle des verwaschenen und zwanghaft pseudostrukturierten Verhaltens,
z eine Neuetablierung zentraler Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenle-
bens in einer durch die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Werte strukturierten Welt,
z eine Problemlösung auf der realen und nicht auf der symbolisch-magischen Ebene,
z eine Gefühlsdifferenzierung in Bezug auf die relevanten Sachverhalte statt der bis-
herigen Konfusion der Gefühle.
Zwangsstörung 445
Bei Kontrollzwängen wird die imaginative Konfrontation mit Katastrophen, wie dies
etwa von Foa empfohlen wird, als nicht zielführend abgelehnt. Es könne niemals zu
einer Gewöhnung an Katastrophen durch permanente Konfrontation kommen, weil stark
Angst machende Vorstellungen nicht einfach durch In-sensu-Konfrontation habituieren
und daher auf diese Weise auch nicht gelöscht werden können. Die Autoren stellen
nicht die Arbeit an den Katastrophenängsten und die Unterbindung von Kontrollen in
der Vordergrund der Therapie, sondern vielmehr die Entwicklung der Fähigkeit einer
„normalen“ Kontrolle. Zwangskranke sollen – wie andere Menschen auch – bei Bedarf
ein einziges Mal kontrollieren ohne weitere Kontrollen. Es geht bei Kontrollzwängen
nicht nur um eine Verminderung von Angst, Unsicherheit und mangelnder Ich-Stärke,
sondern vielmehr auch um die aktive Etablierung eines neuen Realitätsbezugs, wo das
eigene gesunde Ich die Umwelt gemäß seinen Überzeugungen, Werten, Bedürfnissen,
Gefühlen und Gedanken steuert, anstatt weiterhin der ständigen Diktatur des Fremdsy-
stems des Zwangs zu unterliegen.
Im Rahmen der Therapie werden konkrete Beurteilungskriterien erarbeitet für jene
Objekte, die „normal“ kontrolliert werden sollen, denn ohne vorherige klare Kriterien
würden die Betroffenen nach einer eventuell einmaligen (zugelassenen) Kontrolle stän-
dig weiter kontrollieren. Dabei lernen die Zwangskranken aktiv und energisch zu han-
deln anstelle des bisher ängstlich-zauderhaften Verhaltens, um das „Klebenbleiben“ an
einem Objekt wie etwa dem Ofen zu verhindern.
Die Erreichung der nötigen hohen mentalen Spannkraft wird durch eine Art „Selbst-
instruktionstraining“ garantiert. Dabei verbalisiert der Patient sein Vorhaben zielorien-
tiert, indem er etwa innerlich zu sich sagt: „Ich stehe jetzt vor der Küchentür, spüre
meinen Körper, stehe sicher da, gehe jetzt in die Küche hinein, stelle mich vor den Ofen
hin und kontrolliere diesen mit einem Blick. Wenn alles passt, lasse ich ihn, wenn nicht,
werde ich ein einziges Mal kontrollieren.“ Danach erfolgt vor dem Ofen die entschlos-
sene Umsetzung dieser Absichtserklärung. Bei jeder Teilkontrolle stellt der Patient klar
und deutlich fest: „Der Ofen ist in Ordnung.“ Abschließend bestätigt er sich alles noch-
mals aufgrund der vorher etablierten Beurteilungskriterien und verlässt den Ort der
Handlung. Die Bestärkung der klaren und eindeutigen Handlungsabsicht und die Ent-
wicklung eines präzisen, organischen Handlungsablaufs sind von zentraler Bedeutung.
Die Betroffenen müssen die anschließend oft auftretende Restspannung durch ein
gezieltes Training besser aushalten lernen und dürfen diese nicht als Beweis für Fehler
und Unordentlichkeit werten. Bei schwer gestörten Kontrollzwangpatienten ist dabei
eine Unterstützung vonseiten des Therapeuten erforderlich, d.h. bei diesen Patienten
sind Hausbesuche und Telefonkontakte unumgänglich notwendig. Zur Vermeidung
unnötiger Misserfolge wird der Patient nicht überfordert und in seiner erhöhten An-
spannungshaltung nicht verstärkt, vielmehr wird die sukzessive und regelmäßige (tägli-
che) Arbeit gefördert. Bei entsprechender Zeitkapazität des Therapeuten werden in den
ersten Wochen sogar fast tägliche Treffen in der Wohnung des Patienten als ideal ange-
sehen, zusätzlich unterstützt durch Telefonate mit dem Therapeuten zum Zeitpunkt der
Übung des Patienten allein zu Hause. Dem richtigen Kontrollverhalten dient auch ein
vorheriges mentales Training („mentale Probe“), bei dem das richtige Verhalten imagi-
nativ eingeübt wird (In-sensu-Übungen). Die Anleitung der Angehörigen zum richtigen
Umgang mit ihrem zwangskranken Familienmitglied ist ebenfalls von großer Bedeu-
tung, damit sich diese sukzessive von dessen zwanghaften Absicherungstendenzen
distanzieren lernen. Nach der symptombezogenen Therapie erfolgt die Bearbeitung der
intrapsychischen und interpersonellen Funktionalitäten.
446 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Zwangsgedanken
Zwangsstörungen ohne sichtbare Zwangsrituale stellten bis vor kurzem eine schwer
behandelbare Art von Zwängen dar, weil Vermeidung und Neutralisierung nicht sicht-
bar ablaufen und eine offene Konfrontation mit Unterlassung der kognitiven Zwangs-
rituale schwer durchführbar und hinsichtlich seines Effekts nicht klar überprüfbar ist.
Die Kombination von Reizkonfrontation und Reaktionsverhinderung wurde erfolg-
reich auf die Behandlung von Zwangsgedanken und Gedankenzwänge übertragen [77]:
z Massierte Konfrontation in der Vorstellung, d.h. Zu-Ende-Denken der Zwangsge-
danken, die durch Denkzwänge zu neutralisieren versucht werden, sobald sie auftre-
ten. Die Betroffenen lernen, sich die fürchterlichsten Konsequenzen auszumalen und
ohne gedankliche Vermeidungsreaktionen auszuhalten. Vorstellungsübungen kön-
nen auch das Streben nach 100%iger Sicherheit problematisieren.
z Regelmäßiges Protokollieren der Gedankenzwänge als Form der Konfrontation. Alle
Zwangsgedanken werden möglichst sofort nach dem Auftreten in einem Tagebuch
festgehalten und ohne Vermeidung zugelassen und ertragen.
z Anlegen von Tonbandschleifen. Die Zwangsgedanken werden in ihrer ärgsten Form
30-60 Sekunden lang auf ein Endlosband gesprochen (z.B. „Ich könnte meine kleine
Tochter mit dem Küchenmesser töten, anschließend ins Gefängnis kommen und we-
gen meiner Gefährlichkeit nie mehr bei meiner Familie wohnen“). Die Endloskasset-
te wird über einen mehrwöchigen Zeitraum täglich an zwei verschiedenen Zeitpunk-
ten für einen längeren Zeitraum (z.B. eine Stunde) ohne Ablenkungsversuche ange-
hört. Auf dem Tonband dürfen keine neutralisierenden Gedanken enthalten sein, so-
dass das Prinzip der Konfrontation mit Reaktionsverhinderung gewahrt bleibt.
Durch diese Form der Konfrontation erfolgt im Laufe der Zeit eine bessere Toleranz
der Zwangsgedanken ohne stets neue emotionale und körperliche Beunruhigung.
z Paradoxe Intervention (Symptomverschreibung). Verschreibung der Gedanken-
zwänge in Form ritualisierter Beschäftigung damit (z.B. alle 30 Minuten 5 Minuten
lang alles aufschreiben, bis dies in einer Gegenreaktion zu mühsam erscheint). Diese
Strategie ist nur bei einer guten Therapeut-Patient-Beziehung akzeptabel.
z Achtsamkeitstherapie. Zwangsgedanken werden registriert und ohne Beurteilung
zugelassen. Stellen Sie sich vor, wie Ihre Zwangsgedanken an Ihnen vorbeiziehen
wie die Wolken am Himmel und wie die Umwelt beim Autofahren.
z Kognitive Therapie. Das Hauptproblem stellt nicht der Zwangsgedanke an sich dar,
sondern die nachfolgende negative Bewertung, die eine Aufmerksamkeitsfixierung
darauf bewirkt. Zwanghafte Gedanken, Impulse und Bilder erfahren durch kognitive
Strategien eine andere Bewertung und damit auch eine andere Bedeutung, sodass sie
weniger bedrohlich wirken. Wichtig sind auch der Abbau des erhöhten Verantwor-
tungsgefühls und das bessere Ertragen von Unsicherheit.
z Zwangsgedanken konkretisieren und in autobiografischem Kontext sehen. Nach
Hoffmann und Hofmann sollen die Betroffenen ihre Zwangsgedanken ganz konkret
identifizieren (diese sind oft sehr abstrakt und diffus), in ihrer Bedeutung einordnen
(„Das ist nur ein Zwangsgedanke“), dann aus dem Gedanken aussteigen lernen (oh-
ne sich von den auftretenden starken Emotionen abzulenken, sondern zu lernen, die-
se zu ertragen) und erst danach den Zwangsgedanken abschließen durch Umlenkung
der Aufmerksamkeit auf andere Dinge. Über die Konfrontation mit den Zwangsge-
danken sollen die Patienten auch die Erkenntnis gewinnen, dass diese mit ihren
komplexen und schwierigen Sozialbeziehungen zusammenhängen.
448 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Posttraumatische Belastungsstörung
Die Psychotherapie bei Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen wird seit
Judith Hermann in drei Phasen eingeteilt, die sich teilweise überlappen [78]:
1. Stabilisierung (Sicherheit). Ein Trauma bewirkt ein Gefühl der Ohnmacht, des Kon-
trollverlusts und oft auch der realen Angst vor weiterer Bedrohung. Psychotherapeu-
ten müssen anfangs die Betroffenen darin unterstützen, Lebensbedingungen herzu-
stellen, die ein Gefühl der Sicherheit und der Kontrolle über ihr Leben vermitteln.
Bereits bei einfachen, noch viel mehr aber bei komplexen posttraumatischen Bela-
stungsstörungen ist der Aufbau einer guten und vertrauensvollen Therapeut-Patient-
Beziehung noch wichtiger als bei anderen Angstpatienten, die oft weniger massive
Bindungsstörungen erlebt haben. Nur im Rahmen eines sicheren und verlässlichen
Arbeitsbündnisses können die Betroffenen ihre bedrohlichen Erfahrungen mitteilen,
emotional verarbeiten und kognitiv neu bewerten lernen. Vorschnelle Erforschungen
und zu frühe plastische Schilderungen der traumatischen Ereignisse können zu einer
Retraumatisierung, d.h. zu einer Wiederholung des Traumas, führen. Ein unkontrol-
lierbarer Durchbruch von Emotionen ist zu vermeiden, weil dadurch weitere Ängste
sowie auch suizidale Reaktionen ausgelöst werden können. Bei Überflutung durch
bedrängende Vorstellungen und Gefühle ist eine stärkere Beruhigung und emotiona-
le Unterstützung der Patienten sowie eine größere Strukturierung der Therapiesitua-
tion erforderlich. Konfrontative Strategien (z.B. Reizüberflutung in der Vorstellung)
zur Aufhebung von Meidung und Abspaltung (Dissoziation) sind oft erst nach län-
gerer Therapie und Entwicklung einer tragfähigen Beziehung angezeigt.
2. Traumabearbeitung (Konfrontation, Wiedererinnern, Trauern). In der zweiten Phase
erfolgt eine Rekonstruktion der traumatischen Erinnerungen mit dem Ziel einer bes-
seren Integration in die Lebensgeschichte des Betroffenen. Bei einer stärkeren Läh-
mung, Abspaltung und Vermeidung von Gefühlen ist eine Intensivierung des emo-
tionalen Erlebens sowie des Gefühlsausdrucks angebracht. Bei einer unbewältigbar
erscheinenden Überflutung durch die traumatischen Ereignisse muss die Erfahrung
der erträglichen, wenngleich belastenden Vergegenwärtigung der traumatischen Er-
eignisse im Rahmen einer schützenden Therapiebeziehung gemacht werden.
Schließlich muss die zumeist verdrängte tiefe Trauer über die schweren Verluste an
Lebensqualität, Gesundheit, materiellen und ideellen Werten usw. zugelassen und
durchlebt werden, die mit einem Trauma stets verbunden sind. Mithilfe der Konfron-
tation in der Vorstellung wird das traumatische Erlebnis besser bewältigbar, die Pro-
bleme und Defizite des Patienten im Rahmen seiner Persönlichkeit, Familie, Sozial-
beziehungen und Berufssituation werden dadurch jedoch nicht verändert.
3. Rehabilitation und Reintegration (Wiederanknüpfen). Nach der Bewältigung der
traumatischen Vergangenheit erfolgen die Wiederherstellung der Verbindungen zum
normalen Leben und die Entwicklung neuer Verhaltensmuster, um eine befriedigen-
de Gegenwart und hoffnungsvolle Zukunft zu ermöglichen. Die Verbesserung der
Beziehung zu sich selbst und zur sozialen Umwelt ist dabei von entscheidender Be-
deutung. Viele Betroffene müssen erst lernen, ihre Wünsche, Neigungen, Ziele und
körperlichen Bedürfnisse zu entdecken und neue soziale Beziehungen einzugehen in
der Gewissheit, dass sie liebenswert sind, verbunden mit der Zuversicht, dass sie un-
terscheiden können, wem sie vertrauen können und wem nicht. Wichtig ist die Er-
fahrung von Kontrolle, Selbstbestimmung, Vorhersagbarkeit und Beeinflussbarkeit
sozialer Beziehungen.
Posttraumatische Belastungsstörung 449
Das in der Sprache des Patienten formulierte Traumadrehbuch wird vom Therapeu-
ten und Patienten wechselweise in mehreren Durchgängen in der Therapiestunde in
der Gegenwartsform vorgelesen, als ob das Trauma gerade jetzt stattfinden würde.
Der Ablauf beginnt mit einem Ausgangspunkt, als alles noch normal war, konzen-
triert sich dann auf einen oder mehrere „Hot Spots“ (zentrale Erfahrungen von ex-
tremem Stress, Hilflosigkeit und Todesangst) und endet dann an einem Punkt, wo
sich der Patient in Sicherheit fühlt. Meist erfolgt nach 6-10 Durchgängen im Aus-
maß von jeweils etwa einer Stunde eine deutliche psychophysische Habituation.
Nach der mentalen Exposition werden die auftretenden Gefühle und Gedanken be-
arbeitet. Der Patient setzt zur Festigung der Therapiefortschritte die mentale Kon-
frontation mit den traumatischen Erinnerungen in Form von Hausübungen fort. Er
spricht bzw. hört auf einem Tonträger den traumabezogenen Text immer wieder bis
zur emotionalen Erleichterung. Das intensive emotionale Erleben des gesamten
Traumas in einer sicheren Umgebung ermöglicht einen entspannenden Abschluss.
Die mentale Konfrontationstherapie der amerikanischen Traumaexpertin Edna Foa,
einer der zentralen Fachleute auf diesem Gebiet, hat folgenden Aufbau:
- Lebendig-plastische Vergegenwärtigung der traumatischen Erfahrung durch
mentale Repräsentation auf allen Sinneskanälen für die Dauer einer Stunde.
- Situationsbeschreibung in der Gegenwartsform („Ich sehe ... höre ... spüre ...“).
- Mehrfache Wiederholung dieser lebendigen Vorstellungen.
- Hausaufgaben zur rascheren emotionalen Bewältigung: Anhörung der Tonbänder
aus den Therapiestunden, Konfrontation mit externen Angst auslösenden Reizen,
die an das Trauma erinnern (eigenständige Konfrontation in vivo).
Nach Foa ist laut Studien die alleinige prolongierte Exposition in sensu und in vivo
sehr wirksam. Festzuhalten ist jedoch: Aus kognitiver Sicht geht es nicht nur darum,
durch eine verlängerte Konfrontation in der Vorstellung (umfassende Vergegenwär-
tigung des Traumas durch alle Sinneskanäle) eine Habituation zu erreichen, sondern
auch die persönliche Bedeutung des Traumas und seiner Folgen für die betroffene
Person genauestens zu erfassen und im spezifischen Kontext ihrer Persönlichkeit
kognitive Veränderungen („kognitive Umstrukturierungen“) vorzunehmen.
z Hypnosetherapie. Hypnose kann die Effekte der kognitiv-behavioren und der psy-
chodynamischen Therapie verbessern. Eine Hypnotherapie nach Milton H. Erickson
ist eine sehr effektive Methode der Traumabewältigung, weil dabei auf sanfte und
subtile Weise eine kognitive und emotionale Umstrukturierung erfolgt. Zahlreiche
hypnotherapeutische Techniken und Strategien können auch ohne formale Trance-
Induktion als therapeutengeleitete Imaginationsübungen eingesetzt werden, wie dies
etwa in der psychodynamischen Therapie bei Reddemann in Form von Stabilisie-
rungsimaginationen erfolgt (z.B. Vorstellungsbild des sicheren Ortes, Einnahme ei-
ner Beobachterposition zur affektiven Distanzierung). Hypnose ermöglicht eine
wirksame Symptomreduktion, aber auch die Konstruktion einer alternativen Wirk-
lichkeit (z.B. im Rahmen von Altersregressionen oder Zukunftsprogressionen), in-
dem bestimmte hilfreiche Elemente hinzugefügt werden. Ein Hinweis: Mithilfe von
Hypnose ist keine Unterscheidung zwischen historischen und imaginierten bzw. sug-
gerierten Vorstellungsinhalten möglich.
z Training sozialer Kompetenz. Bei Bedarf erfolgt ein Training der sozialen Kompe-
tenz und der interpersonellen Kommunikation, um anderen Menschen gegenüber
mehr Selbstsicherheit zu entwickeln und mit Gefühlen wie Angst, Misstrauen, Ärger
und Wut in Sozialkontakten besser umgehen zu lernen. Ein Selbstsicherheitstraining
kann jene sozialen Ängste überwinden helfen, die durch die Angst vor der Wieder-
holung eines traumatischen Ereignisses (z.B. einer Vergewaltigung) entstanden sind.
Traumatisierte Menschen sollen wieder das Gefühl der Kontrolle über verschiedene
Situationen erlangen, denen sie sich hilflos ausgeliefert fühlen. Die Teilnahme an ei-
ner Gruppentherapie ermöglicht auch die Erfahrung sozialer Akzeptanz und des
Verstandenwerdens durch andere, vor allem durch Teilnehmer, die ähnliche trauma-
tisierende Erfahrungen gemacht haben.
z Rollenspiele. Rollenspiele (z.B. Techniken aus dem Psychodrama oder der Gestalt-
therapie) ermöglichen neue Erfahrungen. Angst auslösende Situationen werden im
Rahmen einer Einzeltherapie zusammen mit dem Therapeuten, in einer Gruppenthe-
rapie zusammen mit anderen Teilnehmern, aber auch in Form von Hausaufgaben zu-
sammen mit Angehörigen bzw. Freunden durchgespielt, um ein adäquates Bewälti-
gungsverhalten einzutrainieren. Durch das Gefühl erfolgreicher Bewältigungsstrate-
gien im Falle der Wiederholung ähnlicher Ereignisse entwickelt sich ein positiveres
Selbstbild (Motto: „Nochmals kann mir das Gleiche nicht passieren!“). Die Betrof-
fenen lernen, vergangene Erlebnisse zu verarbeiten und mit befürchteten Wiederho-
lungen derartiger Erfahrungen in der Zukunft besser umzugehen.
„Die Reizkonfrontation ist Bestandteil eines vom amerikanischen Bundesamt für Kriegsveteranen
entwickelten Intensivprogramms zur Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen. Mit Hilfe
dieser verhaltenstherapeutischen Technik versucht man dem traumatischen Ereignis seinen Schrecken
zu nehmen, indem man den Patienten erneut damit konfrontiert und ihn die traumatische Erfahrung
kontrolliert noch einmal durchleben läßt. Bevor das Verfahren der Reizüberflutung angewandt wird,
lernt der Patient, wie er seine Angst durch Entspannung und beruhigendes Bilderleben unter Kontrolle
bekommen kann. Dann bereiten Patient und Therapeut gemeinsam ein ‚Drehbuch’ vor, in dem der
traumatische Vorfall detailliert beschrieben wird. Das Drehbuch umfaßt vier Aspekte des Traumas: den
Kontext, die Fakten, die Gefühle und die Bedeutung. Falls mehrere traumatische Ereignisse stattgefun-
den haben, wird für jedes einzelne ein gesondertes Drehbuch erstellt. Wenn die Drehbücher fertig sind,
wählt der Patient selbst aus, welchen Situationen er im Rahmen der Reizüberflutung ausgesetzt werden
will und ordnet sie dabei auch nach dem Grad der Belastung. Angefangen mit der leichtesten werden
alle Erfahrungen bis hin zur schwerwiegendsten nacheinander durchgearbeitet. Bei der Reizüberflutung
liest der Patient die Geschichte im Präsens vor, der Therapeut fordert ihn unterdessen beständig dazu
auf, die jeweils empfundenen Gefühle so genau wie möglich zum Ausdruck zu bringen. Die Behand-
lung wird jede Woche wiederholt und dauert durchschnittlich zwölf bis vierzehn Sitzungen.“
Anke Ehlers [82] hat mit ihrem Buch „Posttraumatische Belastungsstörung“ eine be-
eindruckende kognitiv-verhaltenstherapeutische Traumatherapie vorgestellt, die Ge-
dächtnis-Aspekte stärker berücksichtigt als andere Konzepte. Das Basiskonzept lautet:
Das Trauma-Gedächtnis wurde von den Betroffenen nur ungenügend elaboriert, d.h. in
seiner Bedeutung verarbeitet, und völlig unzureichend in den Kontext von Zeit, Raum,
vorangegangenen und nachfolgenden Informationen und anderen autobiografischen
Erinnerungen integriert, d.h. es blieb gleichsam im Rohzustand erhalten, sodass sich die
jeweiligen Inhalte immer wieder aufdrängen können, als wären sie Jetzt-Situationen.
Die Therapie besteht in einer Kombination von Konfrontationstherapie und kognitiver
Therapie und umfasst nach der umfangreichen Diagnostik u.a. folgende Aspekte (alle
Sitzungen werden auf Tonband aufgenommen, späteres Anhören unterstützt den Fort-
schritt; Hausaufgaben tragen ebenfalls zur Festigung der Veränderungen bei):
z Symptome normalisieren: Erklärungen der Symptomatik vermitteln ein Modell der
Störung und ermöglichen dadurch ein besseres Therapieverständnis. Die Patienten
müssen durch eine vertrauensvoll strukturierte Therapiebeziehung und durch eine
umfassende Information für ein derartiges Behandlungskonzept gewonnen werden,
um die zu erwartende, vorübergehende Mehrbelastung akzeptieren zu können.
z Experimente zur Gedankenunterdrückung: Unterdrückungsstrategien bezüglich der
ungewollten Erinnerungen an das Trauma werden als unwirksam aufgezeigt.
z Interpretation des Traumes und seiner Konsequenzen: Die Betroffenen lernen die
Zusammenhängen zwischen Symptomen, Gedanken und Gefühlen erkennen.
z Das Leben zurückerobern: Wiederaufnahme früherer Kontakte und Aktivitäten.
z Imaginatives Nacherleben des Traumas: Das Trauma wird in den Sitzungen und zu
Hause möglichst lebendig in der Ich-Form und in der Gegenwartsform nacherlebt, um
durch die Elaboration des Trauma-Gedächtnisses eine bessere emotionale und kogniti-
ve Verarbeitung als bisher zu erreichen. Veränderungen erfolgen nicht durch bloße
mentale Exposition, sondern vielmehr durch kognitive und emotionale Neubewertung
der Erinnerungen. Die negative Bedeutung des Traumas und der Intrusionen bestim-
men das Ausmaß der erlebten Belastung und der körperlichen Erregung.
z Identifikation und Diskrimination von Auslösern des intrusiven Wiedererlebens: Die
Betroffenen sollen eine bessere Kontrolle über die „Schlüsselreize“ gewinnen.
z In-vivo-Exposition: Konfrontation mit bisher gemiedenen Reizen und Orten.
z Kognitive Umstrukturierung: Änderung dysfunktionaler Interpretationen und Kogni-
tionen (Übergeneralisierung von Gefahr, irreale Befürchtungen, anhaltender Ärger,
Imaginationstechniken als Möglichkeiten der Integration des Traumas, Umstruktu-
rierung fundamentaler Überzeugungen über das Selbst und die Welt). Viele Opfer
betreiben ein exzessives Grübeln („Warum gerade ich?“, „Warum konnte ich das
nicht verhindern?“), werden von Schuldgefühlen gequält („Bin ich mitschuldig, weil
ich den Täter in die Wohnung gelassen habe?“), entwickeln falsche Erklärungsmu-
ster („Mein Leben ist ruiniert“, „Wenn es so weitergeht, werde ich noch verrückt“,
„Das werde ich nie überwinden“), reagieren mit Wut und Hass oder setzen Alkohol
und Drogen als Bewältigungsmittel ein. Diese Reaktionsweisen stellen insofern eine
kognitive Vermeidung dar, als sie von den durch das Trauma ursprünglich ausgelö-
sten, nicht bewältigten negativen Emotionen (z.B. völlige Hilflosigkeit und massive
Angst) ablenken. Eine Konfrontationstherapie mit kognitiver Umstrukturierung in
Bezug auf das ursprüngliche Erleben und Bewerten des Traumas ist daher von ent-
scheidender Bedeutung für eine dauerhafte Bewältigung.
z Rückfallsprophylaxe: Vorkehrungen bezüglich Rückschlägen.
458 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Ein Trauma ist bewältigt, wenn folgende Kriterien erfüllt sind [84]:
1. Alle körperlichen Symptome der Störung sind erträglich.
2. Die Betroffenen können die mit dem Trauma verbundenen Gefühle ertragen.
3. Die Betroffenen haben ihre Erinnerungen unter Kontrolle, d.h. sie können selbst
entscheiden, wann sie sich an das Trauma erinnern wollen und wann nicht.
4. Die Betroffenen können die Geschichte ihres Traumas zusammenhängend erzählen,
und zwar ohne ihre Gefühle dabei auszuschalten.
5. Das stark beschädigte Selbstwertgefühl ist wiederhergestellt.
6. Die Betroffenen haben alle wichtigen Beziehungen wieder aufgenommen.
7. Den Betroffenen ist es gelungen, das Trauma in ein neu aufgebautes, eigenes Werte-
system zu integrieren.
460 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Agoraphobie
Der Therapieforscher Klaus Grawe und seine Mitarbeiter [86] fassten die Ergebnisse
ihrer Literaturauswertung zur Psychotherapieforschung hinsichtlich der Konfrontations-
therapie im Rahmen einer verhaltenstherapeutisch fundierten Angstbehandlung in ihrem
Buch „Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession“ bereits im Jahr
1994 in einer Weise zusammen, wie dies auch heute noch immer gilt, wenngleich diese
Ausführungen von Vertretern anderer Psychotherapiemethoden heftig kritisiert wurden:
„Die massierte Reizkonfrontation muß nach dieser Faktenlage als ein außerordentlich wirksames Ver-
fahren zur Reduktion von Ängsten und Zwängen angesehen werden... Während Agoraphobie und
Zwänge noch vor dreißig Jahren zu den schwer behandelbaren Störungen zählten und Patienten mit
diesen Störungen in großer Zahl die psychiatrischen Kliniken bevölkerten, hat sich dieses Bild heute
dramatisch gewandelt. Patienten mit solchen Störungen haben heute eine eher günstige Prognose, und
dies ist fast gänzlich den Reizkonfrontationstherapien zu verdanken... Man kann jedoch ohne Übertrei-
bung feststellen, daß die Reizkonfrontationsverfahren sich inzwischen immer mehr als die Methode der
Wahl zur Behandlung von Zwängen und agoraphobischen Störungen erwiesen haben.“
Nach der viel zitierten Marburger Untersuchung von Fiegenbaum [88] aus den 1980er-
Jahren waren 78% von 104 Agoraphobikerinnen 5 Jahre nach Abschluss einer massier-
ten Reizkonfrontationstherapie völlig symptomfrei. Nach einer neueren Untersuchung
des Teams um Fiegenbaum [89] bei 61 Patienten bewerteten 74,2% der Patienten ihren
Zustand als „sehr viel besser“ bzw. „viel besser“. Die Nachuntersuchung fünf Jahre
nach der Konfrontationstherapie [90] ergab bei 30% der ehemaligen Patienten eine
Verschlechterung der Partnerschaft bis hin zur Trennung. Angesichts des Umstands,
dass in der gesunden Vergleichsgruppe eine ähnlich hohe Rate an Partnerschaftspro-
blemen und Trennungen gefunden wurde, ist dieses Ergebnis nach Auffassung der Au-
toren nicht als negativer Therapieeffekt zu werten. Ein Drittel an Beziehungsverschlech-
terungen bzw. Trennungen erscheint bedauerlich hoch, wenngleich im Einzelfall eine
klare Trennung bzw. Scheidung als sinnvolle Problemlösung angesehen werden kann.
Dies sollte Anlass sein, die aktuelle Partnerbeziehung von Therapiebeginn an stärker zu
berücksichtigen.
Erfolge der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 463
Hand [91] fand bei 199 Agoraphobie-Patienten aus zwei Studien in Hamburg bei ei-
ner durchschnittlichen Nachuntersuchungszeit von 5,3 Jahren eine Erfolgsrate von 75%.
10-25% der Patienten lehnten eine Reizkonfrontation ab. 83-85% der Patienten hielten
die Therapie durch. Agoraphobiker mit Panikattacken haben die besten Therapieergeb-
nisse, wenn sie gleich an den ersten Übungstagen wiederholt Panikzustände erleben und
deren Bewältigung erlernen. Dies lässt sich durch die sofort einsetzende kognitive Um-
strukturierung im Rahmen dieser „Realitätstestung“ erklären. Hand [92] stellt dazu fest:
„Am erfolgreichsten unter den phobischen Patienten scheinen jene aus den Phobieübungen hervorzuge-
hen, die bereits am ersten Übungstag ein bis mehrere akute Panikattacken erleben und an ihnen eine
erfolgreiche Bestätigung des ihnen vermittelten Therapieprinzips erfahren konnten. Patienten, die
emotionale Reaktionen durchgängig ängstlich-gespannt unterdrücken, scheinen, wenn es dem Thera-
peuten nicht gelingt, diese Haltung zu lockern, kaum zu profitieren und die Therapie als ausgesprochen
unangenehm zu erleben.“
„Die Reizkonfrontation ist die Methode der Wahl bei der Behandlung der Agoraphobie/Panik, von
sozialen, spezifischen und anderen Phobien, der Zwangskrankheit und vermutlich auch der posttrauma-
tischen Streßerkrankung... Es ist unnötig, die Angst des Patienten während der Reizkonfrontation auf
ein Maximum zu erhöhen, etwas Unbehagen scheint jedoch notwendig zu sein. Dies bezeichnet man als
emotionale Beteiligung am Prozeß der Reizkonfrontation. Wenn sich der Patient während der Reizkon-
frontation zurückzieht, ohne das Gefühl des üblichen Unbehagens als Merkmal seiner Angststörung zu
erleben, ist eine Besserung unwahrscheinlich. Verläuft die Reizkonfrontation zu langsam, dann wird es
zu lange dauern, bis eine deutliche Besserung eintritt...
Früher war es üblich, die Reizkonfrontation in Gegenwart des Therapeuten durchzuführen; zahlrei-
che kontrollierte Studien haben jedoch gezeigt, daß seine Anwesenheit nicht unbedingt notwendig ist.
Die Angst vermindert sich bei der Reizkonfrontation mit derselben Geschwindigkeit, unabhängig
davon, ob der Therapeut anwesend ist oder nicht. Keine kontrollierte Studie hat bisher nachweisen
können, daß die therapeutenbegleitete Reizkonfrontation signifikant überlegen ist. Entscheidend ist die
vom Patienten selbst durchgeführte Reizkonfrontation. Wenn der Patient selbst keine Reizkonfrontation
durchführt, dann ist es eher unwahrscheinlich, daß die Fortschritte, die mit Hilfe des Therapeuten erzielt
werden, langfristig aufrechterhalten werden können. Die Rolle des Therapeuten besteht hauptsächlich
in der eines Anleiters, Trainers und Überwachers. Diese Anleitung muß individuell auf den Patienten
abgestimmt sein, wenn sie etwas bewirken soll... Die Erkenntnis der Bedeutung der vom Patienten
selbst durchgeführten Reizkonfrontation und der Redundanz einer therapeutisch begleiteten Reizkon-
frontation ist für die Behandlung wichtig. Sie hat den Zeitaufwand für den Therapeuten verkürzt, je-
doch nicht für den Patienten, der hart arbeiten muß, um Verbesserungen zu erzielen...
Erfolge der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 465
Marks fasste bereits im Jahr 2000 in seinem Artikel „Fear reductions by psychothera-
pies. Recent findings, future directions“ die Forschungsbefunde der 1990er-Jahre zu-
sammen, wonach neben der Konfrontationstherapie auch nicht-konfrontative Behand-
lungsmethoden wirksam sind (d.h. das Dogma unbedingter Konfrontation ist veraltet):
z Muskelanspannung bei Blutphobie zur Hebung des Blutdrucks.
z Kognitive Therapie: bei Panikstörung mit und ohne Agoraphobie, Zwangsstörung,
posttraumatischer Belastungsstörung, Hypochondrie.
z Selbst-Reflexions-Training als eine bestimmte Form des Problemlösens bei generali-
sierter Angststörung.
z Achtsamkeitsmeditation nach Kabat-Zinn: differenzierte Körperwahrnehmung (Bo-
dy Scan), Hatha Yoga, Instruktion, alle während des Meditierens auftretenden Ge-
danken nur als Gedanken zu verstehen und bei diesen Gedanken zu verweilen, bis
sie verschwinden, was man als eine Art der Konfrontationstherapie verstehen kann.
„Als Resümee zu dem Problem der Konfrontation, Vermeidung und Angstreduktion kann man festhal-
ten, daß Konfrontation praktisch in allen Fällen eine hinreichende Bedingung für die Angstreduktion
darstellt. So gesehen steht die Bedeutung dieses Prinzips für die Behandlung von Phobien außer Frage.
Auf der anderen Seite zeigen die verschiedenen Argumente, daß die Technik der Konfrontation offen-
bar nicht in jedem Falle notwendig ist, um einen Prozeß der Angstreduktion in Gang zu setzen.“
Die 2001 veröffentlichte Meta-Analyse von Ruhmland und Margraf [102] bezüglich
psychologischer Studien bei Panikstörung mit Agoraphobie erbrachte im Vergleich zur
Wartelistenkontrollgruppe große Effekte am Therapieende bezüglich der Konfrontation
in vivo (ES = 1,64) und der kognitiv-behavioralen Therapie (ES = 1,19). Hinsichtlich
der Reduktion der Lebensbeeinträchtigung und der Panikattacken war die Konfrontati-
onstherapie in vivo die effektivste Therapiemethode (ES = 2,11 bzw. ES = 1,32), vergli-
chen mit kognitiv-behavioraler Therapie, kognitiver Therapie und nondirektiver Thera-
pie. 7-24 Monate später ergab sich hinsichtlich der Hauptsymptomatik der Panikstörung
mit Agoraphobie bei der Konfrontation in vivo sogar eine sehr hohe Effektstärke von
3,23, d.h. eine wesentlich größere Wirksamkeit als am Therapieende, was die Stabilität
der Therapieerfolge von Konfrontationstherapien in beeindruckender Weise aufzeigt.
Bei der Auswertung von Langzeiteffekten einer Kurzzeit-Verhaltenstherapie im
Rahmen von 11 Studien aus verschiedenen Ländern mit insgesamt 474 Agoraphobie-
Patienten konnte eine durchschnittliche Erfolgsrate von 76% ermittelt werden [103].
466 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
1993 wurde eine umfangreiche Studie veröffentlicht, die unter Leitung von Marks
[105] in London und Toronto bei Patienten mit Panikstörung mit Agoraphobie den
Effekt einer Konfrontationstherapie im Vergleich zu Tranquilizer Alprazolam (Tafil®,
Xanor®) im Rahmen einer achtwöchigen Therapie erhoben. Die Expositionsbehandlung
hatte einen doppelt so hohen Effekt wie Alprazolam. Schrittweises Reduzieren und
anschließendes Absetzen von Alprazolam führte bei der rein pharmakotherapeutisch
behandelten Gruppe zu einem Rückfall auf das Ausgangsniveau. Bei der Gruppe mit
Reizkonfrontation blieben die Erfolge stabil. Die Kombination von Alprazolam und
Expositionsbehandlung bewirkte während der Behandlung kurzfristig sehr gute Effekte,
bei der späteren Nachuntersuchung hatte die Gruppe mit nur Reizkonfrontation bessere
Erfolge als die Gruppe mit der Kombination von Reizkonfrontation und Alprazolam.
Mehrere Studien [106] weisen darauf hin, dass die Verringerung der Angst vor den
Paniksymptomen die entscheidende Komponente ist, ob Panikpatienten die einmal
eingenommenen Medikamente wie Alprazolam leicht wieder absetzen können oder
langfristig beibehalten. Die kognitive Verhaltenstherapie und die Konfrontationsthera-
pie verhelfen zur Erfahrung der Bewältigbarkeit von Panikattacken, sodass die Erwar-
tungsängste geringer werden. Dieser Umstand scheint ausschlaggebend dafür zu sein,
dass bei verschiedenen Studien die Kombinationstherapien nicht nur eine raschere,
sondern auch eine bleibend bessere Wirksamkeit aufweisen als die Monotherapien.
Neueste Tendenzen aus den USA erwecken den Eindruck, als wäre bei klarer Fest-
legung einer kurzen Einnahmezeit (z.B. zwei Wochen) und bei fixer Vereinbarung einer
anschließenden Verhaltenstherapie die regelmäßige Einnahme einer niedrigen Dosis
von Alprazolam keineswegs schädlich, wenn auf das anschließende Ausschleichen der
Medikation geachtet wird [107].
Nach einer 1995 veröffentlichten niederländische Studie [108] zur Behandlung von
Panikstörung mit Agoraphobie war die Kombination von Fluvoxamin (Fevarin®, Floxy-
fral®) und Expositionstherapie den drei anderen Therapiebedingungen (Exposition +
Placebo, psychologisches Management + Exposition, reine Exposition) deutlich überle-
gen, zumindest kurzfristig. Eine weitere 1995 vorgelegte Studie [109] bestätigte die
Überlegenheit einer gleichzeitigen Psycho- und Pharmakotherapie. Die Kombination
Paroxetin (Seroxat®, Tagonis®) und kognitive Therapie war bei der Behandlung von
Panikstörungen wirkungsvoller als die Kombination von kognitiver Therapie und Pla-
cebo. Eine umfangreiche amerikanische Therapiestudie zur Behandlung von Panikstö-
rungen mit Agoraphobie weist darauf hin, dass die Kombination von Imipramin (Tofra-
nil®) und Verhaltenstherapie (Reizkonfrontation und kognitive Therapie) wesentlich
effektiver ist als die jeweilige Monotherapie [110].
Eine Analyse von 11 Studien [111] zur Kombinationstherapie bei Panik- und Ago-
raphobie-Patienten ergab, dass die Kombinationsbehandlungen den jeweiligen Mono-
therapien (Konfrontationstherapie bzw. Psychopharmakotherapie mit Antidepressiva
oder Benzodiazepinen) bei Abschluss der Behandlung zumindest leicht überlegen war,
soweit es die Beseitigung von phobischer Angst, phobischem Vermeidungsverhalten,
Depression und psychosozialen Funktionsbeeinträchtigungen betraf. Die Kombinations-
therapie erwies sich auch bei der Reduktion von Panikattacken der reinen Verhaltens-
therapie leicht überlegen, der reinen Psychopharmakotherapie mit Imipramin jedoch
nicht. Eine weitere Analyse zahlreicher Studien [112] zur Effizienz der Behandlung von
Panikattacken und Agoraphobie mittels Verhaltenstherapie und Psychopharmakothera-
pie ergab, dass die Verhaltenstherapie und die Kombinationstherapie einen größeren
Effekt aufwiesen als eine ausschließliche Psychopharmakotherapie.
468 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Nach einer anderen Zusammenfassung der Forschungsergebnisse [113] ist bei Be-
rücksichtigung verschiedener Kriterien (Abbrecherquote, Erfolgs- und Rückfallsraten,
kurz- und langfristige Effekte) die reine Verhaltenstherapie am effektivsten, während
die Kombination von Verhaltenstherapie und Pharmakotherapie keinen entscheidenden
Vorteil bei der Behandlung von Panikstörungen und Agoraphobie bringt. Die bedeut-
samste, umfangreichste und aussagekräftigste Zusammenfassung des Forschungsstands
zur Kombinationstherapie (23 Studien) wurde von der Cochrane Collaboration
(www.cochrane.org) vorgenommen. Demnach ist die Kombinationstherapie von Psy-
chotherapie und Antidepressiva bei der Behandlung von Panikpatienten mit und ohne
Agoraphobie der jeweiligen Monotherapie in der akuten (anfänglichen) Behandlungs-
phase eindeutig überlegen. Langfristig gesehen ist die Kombinationstherapie gleich
effektiv wie die Psychotherapie und besser wirksam als eine reine Antidepressivathera-
pie. Die Kombinationstherapie führte in der akuten Behandlungsphase zu mehr Ausfäl-
len, bedingt durch die für verschiedene Patienten unerträglichen Nebenwirkungen der
Antidepressiva. Die Überlegenheit der Kombinationstherapie blieb so lange bestehen,
als Antidepressiva eingenommen wurden. Die reine Psychotherapie war langfristig nicht
wirksamer als die Kombinationstherapie. Von den verschiedenen Psychotherapiemetho-
den zeigten die behavioralen und kognitiv-behavioralen Therapien die beste Wirksam-
keit. Die Studienautoren geben bei Panikstörungen mit und ohne Agoraphobie folgende
Behandlungsempfehlungen ab: Die Therapie der ersten Wahl ist entweder die Kombina-
tionstherapie oder eine reine (primär verhaltenstherapeutisch orientierte) Psychothera-
pie. Das Vorgehen hängt einerseits von den Wünschen der Patienten und andererseits
von den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ab. Eine reine Antidepressivatherapie
ist nicht die Methode der ersten Wahl, wenn eine wirksame Psychotherapie möglich ist
Wenn dies jedoch nicht der Fall ist, bleibt die Antidepressivatherapie leider als einzige
Behandlungsform übrig. Ohne ausreichende Absicherung durch entsprechende Studien
empfehlen die Autoren auch die Psychotherapie als einzige Methode der ersten Wahl
und schlagen bei deren Scheitern eine anschließende Kombinationstherapie vor.
Angesichts der vorliegenden Studien müssen jene Verhaltenstherapeuten umdenken,
die bisher gegen jede begleitende Psychopharmakotherapie eingestellt waren. Der Ge-
sichtspunkt, dass die Bewältigung einer Panikstörung mit Agoraphobie ausschließlich
aus eigenen Kräften gelingen sollte, weil die Selbstzuschreibung des Erfolgs entschei-
dend sei für den Abbau von Erwartungsängsten hinsichtlich des Auftretens neuerlicher
Panikattacken, scheint nicht im Widerspruch zu stehen mit einer gleichzeitig gegebenen
medikamentösen Therapie. Auf der anderen Seite empfehlen biologisch orientierte
Psychiater heute oft auch eine gleichzeitige Verhaltenstherapie, um bei einer Medika-
mentenreduktion die ansonsten häufig gegebene hohe Rückfallsgefahr zu vermindern.
Panikstörung
Die Behandlung von Panikstörungen ohne Agoraphobie nach dem 15 Sitzungen umfas-
senden Therapiekonzept von Margraf und Schneider [114] brachte bei 80% eine dauer-
hafte Beseitigung der Panikattacken. Nach Studien in den USA, England, Deutschland
und Italien sind zwei Jahre nach der Behandlung ebenfalls rund 80% der Panikpatienten
nicht nur symptomfrei, sondern zeigten auch wesentliche Verbesserungen hinsichtlich
allgemeiner Ängstlichkeit, panikrelevanter Denkmuster, phobischem Vermeidungsver-
halten und Depression [115].
Erfolge der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 469
Nach der von Ruhmland und Margraf [116] 2001 veröffentlichten Meta-Analyse
von sechs Studien zur kognitiv-behavioralen Therapie bei Panikstörung ohne Ago-
raphobie ergab sich in der Hauptsymptomatik und der Anzahl der Panikattacken eine
Effektstärke von 1,32 bzw. von 1,24, d.h. ein sehr guter Therapieeffekt, verglichen mit
einer Wartelistenkontrollgruppe. Bei zusätzlicher agoraphobischer Vermeidung ist, wie
bereits erwähnt, eine Konfrontationstherapie am effektivsten.
Gegenwärtig (2006-2009) läuft im Rahmen des Forschungsverbunds Psychotherapie
eine Studie zur Verbesserung der Behandlung der Panikstörung. In einer Gruppe erfol-
gen Expositionen im Beisein des Therapeuten, in der anderen Gruppe führen die Patien-
ten die Expositionen eigenständig durch. Daneben gibt es eine Wartekontrollgruppe.
Eine Zusammenfassung [117] von 12 Kombinationsstudien (Imipramin und Kon-
frontationstherapie) bei Panikpatienten mit zumindest leichter zusätzlicher depressiver
Symptomatik ergab eine deutliche Überlegenheit der Kombinationstherapie in Bezug
auf die Verbesserung der phobischen Symptomatik im Vergleich zur reinen Psy-
chopharmakotherapie. Die reine Konfrontationstherapie war zwar kurzfristig genauso
wirksam wie die Kombinationsbehandlung, bei der Untersuchung der Langzeiteffekte
zeigte sich jedoch eine Überlegenheit der Kombinationstherapie bei der Reduzierung
der phobischen Symptomatik, der allgemeinen Ängstlichkeit und der Depressivität.
Eine Studie von Margraf und Schneider [118] an 66 Patienten, die durchschnittlich
seit sieben Jahren an Panikstörungen litten, ergab einen beträchtlichen Kosteneinspa-
rungseffekt im Gesundheitssystem allein durch die Teilnahme an 15 Sitzungen der be-
schriebenen Gruppentherapie. Eine amerikanische Studie belegte, dass die kognitive
Verhaltenstherapie wesentlich kostengünstiger ist als eine Psychopharmakotherapie.
Generalisierte Angststörung
Die Erfolge der Verhaltenstherapie bei generalisierten Angststörungen sind noch unzu-
reichend, wie Meta-Analysen von Ruhmland und Margraf aufzeigen (mittlere Prä-post-
Effektstärken zwischen 0,46 und 1,43). Die kognitiv-behaviorale Therapie (ES = 1,43)
und die kognitive Therapie (ES = 1,20) erzielten die größten Erfolge bezüglich der
Hauptsymptomatik der generalisierten Angststörung. Eine bedeutsame Studie erbrachte
nach einem Jahr bei 57,9% der Behandelten nahezu eine Heilung [119]. Nach einem
Studienüberblick durch die Cochrane Collaboration (www.cochrane.org) war die kogni-
tiv-behaviorale Therapie bei 46% der Patienten erfolgreich. Die langfristigen Behand-
lungserfolge sind dagegen noch unzureichend belegt. Die Studienautoren plädieren für
die Berücksichtigung erfolgreicher Konzepte aus der kognitiv-analytischen Therapie
und der interpersonellen Therapie, um die Therapieerfolgsrate zu erhöhen.
Die niedrigere Erfolgsrate hängt damit zusammen, dass bei dieser Störung der As-
pekt der Vermeidung bestimmter Situationen nur eine geringe Rolle spielt und daher
über Konfrontationstechniken allein kein ausreichender Therapieerfolg gesichert wer-
den kann. Mangels umschriebener phobischer Symptomatik ist in vielen Fällen eine
kognitive Therapie von zentraler Bedeutung. Die im Vergleich zu anderen Angststörun-
gen unbefriedigenden Erfolgsraten im Rahmen der traditionellen verhaltenstherapeuti-
schen Behandlungsmethoden können nur durch die Einbeziehung neuer Strategien er-
höht werden. Unspezifische kognitive Therapien in Verbindung mit Entspannungstech-
niken zur Reduzierung des erhöhten Anspannungsniveaus sind unzureichende Behand-
lungsansätze.
470 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Effektiver ist die Konzentration auf den Prozess des ständigen Sich-Sorgens, dessen
Provokation und Bewältigung. Neuere, spezifischere Konzepte von Dugas und Robi-
chaud [120] führten bei 60-77% der Patienten zu Behandlungserfolgen und bei 62-65%
zu wesentlich besserer Lebensqualität.
Gegenwärtig (2009) läuft eine Vergleichsstudie zwischen kognitiver Verhaltensthe-
rapie und analytischer Kurztherapie (25 Stunden) bei generalisierter Angststörung.
Spezifische Phobie
Die erfolgreiche Behandlung monosymptomatischer Phobien begründete den Ruf der
Verhaltenstherapie als effiziente Therapiemethode. Die meisten Therapiestudien der
1960er- und 1970er-Jahre belegten die Wirksamkeit der systematischen Desensibilisie-
rung bei spezifischen Phobien. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich die gestufte
bzw. massierte Reizkonfrontation als weitaus effizienter erwiesen. Die meisten Wirk-
samkeitsstudien beziehen sich auf folgende spezifische Phobien: Tierphobien, Blut-,
Spritzen- und Verletzungsphobien, Dentalphobie, Klaustrophobie, Höhenphobie, Flug-
phobie. Insgesamt ergaben sich in 80-95% der Fälle klinische Verbesserungen [121].
Die Prä-post-Effektstärken für die Konfrontationsverfahren waren nach den Meta-
Analysen von Ruhmland und Margraf durchwegs hoch (ES zwischen 1,42 und 2,06).
Soziale Phobie
Die Kombination von sozialem Kompetenztraining, Reizkonfrontation in der Realität
und kognitiver Umstrukturierung führt bei 80-85% der Sozialphobiker zu Besserungen.
Nach amerikanischen Studien der Gruppe um Heimberg [122] ist die Kombination
von kognitiver Therapie (Analyse und Änderung negativer Denkmuster in sozialen
Situationen) und Konfrontationsübungen (Verhaltenstraining in der Gruppe und zu
Hause) wirksamer als jedes der beiden Therapiekonzepte allein (Erfolgsraten: 60-80%).
Während frühere Studien Gruppen- und Einzeltherapie als gleich wirksam ansahen,
weisen neuere Studien auf größere Therapieeffekte bei Einzeltherapien hin.
Nach den Meta-Analysen von Ruhmland und Margraf [123] ergaben sich mit einer
durchschnittlichen Effektstärke von 1,0 gute und dauerhafte Verbesserungen der sozi-
alphobischen Symptomatik durch Konfrontation und kognitiv-behaviorale Therapie. Im
Einzelnen wurden folgende Effektstärken für die verschiedenen Behandlungsmethoden
eruiert: kognitive Umstrukturierung + Exposition: 1,07; Exposition alleine: 1,76; kogni-
tive Umstrukturierung alleine: 1,13; soziale Kompetenmztrainings: 0,85; Entspannungs-
training: 0,44. Eine reine Konfrontationsbehandlung führt zu ebenso guten Ergebnissen
wie deren Kombination mit kognitiver Umstrukturierung, doch auch eine reine kogniti-
ve Therapie ohne Konfrontation war sehr erfolgreich. Ein soziales Kompetenztraining
verringert eine Sozialphobie nur dann, wenn es mit kognitiver Therapie verbunden wird.
Neuere Studien zeigen eine beachtliche Effizienzsteigerung durch die kognitiv-
behaviorale Therapie von Clark und Wells [124]. Die Effektstärken für die kognitive
Therapie generalisierter sozialer Ängste betrugen in einer ersten Therapiestudie am
Therapieende ES = 2,14 und drei Monate danach ES = 2,57. Nach einer weiteren Studie
war die kognitive Therapie (ES = 2,39 am Therapieende und ES= 2,41 drei Monate
später) der Expositionstherapie überlegen (ES = 1,25 und ES = 1,28).
Erfolge der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 471
Zwangsstörung
Die Cochrane Collaboration (www.cochrane.org) bestätigt in einer differenzierten Un-
tersuchung der vorhandenen Studien die Wirksamkeit der behavioralen, kognitiven und
kognitiv-behavioralen Therapiemethoden bei Zwangsstörungen [125].
Eine Meta-Analyse von 24 Studien zur Expositionstherapie mit Reaktionsverhinde-
rung (Verzicht auf Rituale) durch Abramowitz belegte die Wirksamkeit der Therapie
am Ende (ES = 1,16 nach Selbstbeurteilung, ES = 1,41 nach klinischer Beurteilung)
ebenso wie zu einem späteren Zeitpunkt (ES = 1,10 bzw. 1,57).
Eine zusätzliche kognitive Therapie verbessert den Therapieerfolg, sodass die kogni-
tiv-behaviorale Therapie die wirksamste Psychotherapie bei Zwangsstörungen ist. Laut
einer holländischen Studie ist die kognitive Therapie bei Patienten mit Zwangsstörun-
gen mindestens so effektiv wie die Konfrontationstherapie mit Reaktionsverhinderung.
Es finden sich immer mehr Hinweise darauf, dass – im Gegensatz zu früheren Auffas-
sungen – in der Behandlung von Denkzwängen ähnliche Erfolge möglich sind wie bei
der Behandlung von Handlungszwängen [126].
Nach der Analyse von 16 Effizienzuntersuchungen [127] weist die Verhaltensthera-
pie bei Zwangsstörungen eine Erfolgsquote von 50-80% auf (durchschnittlich 75%).
Nach einer amerikanischen Meta-Analyse bewirkt die Expositionstherapie mit Reakti-
onsverhinderung bei drei Drittel der Zwangspatienten eine Besserung oder Heilung.
Nach der 2001 veröffentlichten Meta-Analyse relevanter Studien von Ruhmland und
Margraf ist mit kognitiv-behavioraler Therapie und Konfrontation eine deutliche Ver-
besserung der Zwangssymptomatik erreichbar, die analysierten Studien stammten je-
doch aus dem Forschungsbereich (besondere Patientenselektion, Randomisierung und
somit keine Wahl einer spezifischen Behandlung), weshalb auf die Notwendigkeit von
mehr Studien aus der klinischen Praxis hingewiesen wurde.
Es ist ein Faktum: Hohe Erfolgsquoten zwischen 70 und 80% stammen meist oft aus
Universitätskliniken und Forschungseinrichtungen mit ausgelesenen Stichproben (vor-
wiegend isolierte Wasch- und Kontrollzwänge ohne Komorbidität). In der klinischen
Praxis (stationär und ambulant) ergibt sich ein jahrelang anhaltender Behandlungserfolg
nur bei etwa der Hälfte der Zwangskranken. Bei 39 Zwangspatienten der Hamburger
Verhaltenstherapie-Ambulanz ergab sich eine Erfolgsrate von 66% (großteils Wasch-
und Reinigungszwänge). Bei einer Gruppe von Zwangskranken im Rahmen des Versor-
gungsauftrags, die oft eine psychische Mehrfacherkrankung aufwiesen, konnte in der
Hamburger Klinik gar nur eine Erfolgsquote von 49% erreicht werden [128].
Die Ergebnisse einer Langzeitverlaufsbeobachtung aller seit 1992 in der Klinik Win-
dach bei München mit verhaltenstherapeutischen Methoden stationär behandelten
Zwangspatienten [129] belegen die Grenzen der Therapie bei schweren Störungen. Von
148 untersuchten Patienten zeigten nach jeweils knapp vier Monaten stationärem Auf-
enthalt 70-85% eine Besserung. 3-8 Jahre (durchschnittlich 5,8 Jahre) nach der Entlas-
sung wiesen nur mehr 51,5% eine deutliche oder leichte Besserung auf (3,3% sehr deut-
lich, 16,5% signifikant, 31,9% leicht gebessert, dagegen 37,3% gleich schlecht, 11%
verschlechtert).
Nach Reinecker [130] bestehen bei der Verhaltenstherapie von Zwangsstörungen
folgende Misserfolge: 5-25% Therapieverweigerer, 0-12% Ausfälle während der Thera-
pie (Drop-outs vor Zielerreichung), 15-40% Misserfolge in der Behandlung (d.h. keine
Besserung um mehr als 30% der Problematik auf verschiedenen Messebenen), 20-30%
Rückfälle nach 1-2 Jahren (oft durch psychosozialen Stress bedingt).
472 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Die Einbeziehung der Angehörigen verbessert die Ergebnisse, doch zeigen die Er-
fahrungen von Iver Hand [131], dass symptomzentrierte Interventionen zu Therapiebe-
ginn den Therapieprozess beschleunigen. Eine Partnertherapie ist selten ausreichend.
Eine partnerunterstützte Therapie brachte nach einer niederländischen Studie keine
Verbesserung gegenüber einer Einzeltherapie.
Nur wenige Patienten können als völlig geheilt bezeichnet werden. Häufig bleiben
einige Reste an zwanghaften Gedanken oder Ritualen bestehen. An diesen halten die
Betroffenen weiterhin fest, im Unterschied etwa zu Patienten mit Phobien und Panikstö-
rungen. Dies weist auf die Massivität der verursachenden Bedingungen (kognitive Fak-
toren, soziale Defizite, biologische Komponenten) sowie auf die Bedeutung der Persön-
lichkeitsprägung durch die oft jahrzehntelangen Zwänge hin. Die Annahme einer
zugrunde liegenden anankastischen Persönlichkeitsstörung stellt dagegen keine ausrei-
chende Erklärung für den zwanghaften Rest dar. Rückfälle sind vor allem dann zu er-
warten, wenn keine positiven Alternativen zu den früheren Zwängen aufgebaut werden.
An der bleibenden Restsymptomatik zeigt sich die Bedeutung gesellschaftlich-
normativer Aspekte für Zwänge. Was aus Überzeugung vertreten wird, lässt sich thera-
peutisch oft nur schwer ändern (wenn z.B. bestimmte Zwangsgedanken als berechtigt
anerkannt werden). Es zeugt von Respekt gegenüber dem Wertesystem des Patienten,
wenn der Therapeut es akzeptiert, dass der Patient mit den erreichten Erfolgen zufrieden
ist, obwohl sich aus therapeutischer Sicht daraus ein erhöhtes Rückfallsrisiko ergibt.
Die Kombination von Verhaltenstherapie und Psychopharmakotherapie hat sich
auch bei der Behandlung der oft nur schwer therapierbaren Zwangsstörungen bewährt.
Aufgrund der relativ bescheidenen Wirksamkeit der Pharmakotherapie (nur bei etwa
40%) ist eine zusätzliche Verhaltenstherapie unbedingt erforderlich; deren Wirksamkeit
kann wiederum – zumindest in bestimmten Fällen – durch Medikamente erhöht werden.
Nach einer englischen Studie [132] aus den 1980er-Jahren war die Kombination von
Clomipramin und Verhaltenstherapie nach 8 Wochen wirksamer in der Behandlung von
Zwangsstörungen als die Kombination von Placebo und Verhaltenstherapie.
Eine amerikanische Studie [133] verglich die Behandlungserfolge unter vier Thera-
piebedingungen (Verhaltenstherapie, Clomipramin-Behandlung, Verhaltenstherapie +
Clomipramin, Placebobehandlung) und fand bei der Konfrontationstherapie mit Reakti-
onsverhinderung die stärksten und dauerhaftesten Erfolge. Bei derartigen Studien ist
sicherlich zu bedenken, dass es sich dabei um einen extrem hohen verhaltenstherapeuti-
schen Aufwand durch Topexperten bei einer hoch selektiven Stichprobe handelt, sodass
die Ergebnisse nicht einfach auf die klinische Praxis übertragen werden können.
Eine neuere deutsche Multicenter-Studie (Freiburg, Hamburg, Mannheim) an 60
schweren, 10 Wochen stationär behandelten Zwangspatienten [134] brachte folgende
Befunde zum Verhältnis von Verhaltenstherapie (graduierte Konfrontation) und Psy-
chopharmakotherapie (Fluvoxamin) bei Zwangsstörungen:
z Psychotherapie und Pharmakotherapie waren gleichermaßen erfolgreich.
z Die Kombination von Verhaltenstherapie und Fluvoxamin (Fevarin®, Floxyfral®)
erhöht den Erfolg (durchschnittlich verabreichte Dosis: 288 mg Fluvoxamin).
z Leidet der Patient primär an Zwangshandlungen, ist eine Verhaltenstherapie ausrei-
chend, die Gabe eines Serotonin-Wiederaufnahmehemmers bringt keinen zusätzli-
chen Effekt. Bei einem Überwiegen der Zwangsgedanken ist die Kombination mit
einem Serotonin-Wiederaufnahmehemmer der reinen Verhaltenstherapie überlegen.
z Bei einer sekundären Depression verbessert ein Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
den Effekt einer Verhaltenstherapie. Antidepressiva sind in diesem Fall bedeutsam.
Erfolge der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 473
Posttraumatische Belastungsstörung
Eine Meta-Analyse belegt die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie bei post-
traumatischen Belastungsstörung (ES = 1,66). Die in den letzten Jahren immer häufiger
eingesetzte Methode EMDR ist ebenfalls erfolgreich (ES = 1,43). Die Behandlungser-
folge sind bei beiden Therapiemethoden auch nach einem Jahr noch aufrecht. 30% der
Behandelten haben nach der Therapie jedoch noch immer eine posttraumatische Bela-
stungsstörung. Unter Berücksichtigung der Abbrecherquoten haben nur 54-60% der
Behandelten nach der Verhaltenstherapie keine posttraumatische Belastungsstörung
mehr. Trotz dieser im Vergleich zu anderen Angststörungen begrenzten Therapierfolge
ist die kognitive Verhaltenstherapie der Pharmakotherapie eindeutig überlegen. Bei
einfachen posttraumatischen Belastungsstörungen sind naturgemäß größere Heilungsra-
ten zu erwarten als bei komplexen Traumastörungen.
Nach vielen Studien besteht die bei allen möglichen posttraumatischen Belastungs-
störungen wirksamste Therapie in der Kombination von Exposition in sensu und Expo-
sition in vivo, d.h. in der Verbindung von imaginativer Konfrontationstherapie mit rea-
ler Konfrontation ohne Vermeidungsverhalten (soweit diese angesichts des erlittenen
Traumas und der realen Umstände möglich und sinnvoll ist). In bestimmten Fällen (z.B.
bei komplexer Traumatisierung) kann die Wirksamkeit noch gesteigert durch die Kom-
bination von Expositionstherapie und kognitiver Therapie (z.B. Erkennen und Verän-
dern dysfunktionaler Annahmen, veränderte Zuschreibung von Schuld und Verantwor-
tung, Umgang mit Wut und Ärger, Neustrukturierung des negativen Selbstbildes). In
anderen Studien zeigte die alleinige mentale Konfrontationstherapie eine gute Wirkung.
Nach Studien aus der amerikanischen Arbeitsgruppe um Foa führte die Einbezie-
hung kognitiver Strategien zu keiner wesentlichen Effizienzsteigerung der Kombination
von imaginativer Konfrontationstherapie und Exposition in vivo.
Nach Ehlers weist der von ihr entwickelte Behandlungsansatz die höchsten Erfolgs-
quoten auf, verglichen mit einer Wartelistengruppe (ES = 2,25 in der Selbstbeurteilung,
ES = 2,18 in der Fremdbeurteilung). Dies hänge möglicherweise damit zusammen, dass
bei ihrem Ansatz die kognitiven Methoden eng verzahnt seien mit dem imaginativen
Nacherleben, während in anderen Studien die kognitiven Interventionen stets nach ca.
einer Stunde Nacherleben durchgeführt wurden. Das Stressinokulationstraining nach
Meichenbaum (eine Mehrkomponententherapie) ist ebenfalls erfolgreich.
Nachgewiesen ist auch die Effizienzsteigerung durch die Integration anderer Thera-
pieelemente. Angstmanagementtraining, Affektregulierungstechniken, Biofeedback,
Stressbewältigungs-, Selbstsicherheits- und Entspannungstrainings haben sich jedoch
nur als zusätzliche, nicht jedoch als eigenständige Behandlungskonzepte bewährt.
Die Technik der mentalen Reizüberflutung ergab bei Vietnam-Kriegsteilnehmern
nach mehreren Studien [135] eine deutliche Verringerung der typischen Symptome der
Übererregbarkeit und der unkontrollierbaren Überflutung durch die traumatisierenden
Ereignisse. Albträume, belastende Flashbacks, Konzentrationsstörungen, Angstgefühle,
Depressionen und psychosomatische Störungen gingen dauerhaft zurück. Bei komple-
xer Traumatisierung war die reine Expositionstherapie dagegen nicht so erfolgreich.
Gestufte und massierte Konfrontationstherapien in der Vorstellung bei Vergewalti-
gungsopfern und Opfern nichtsexueller Gewalt, wie sie von der amerikanischen Gruppe
um Foa [136] durchgeführt wurden, waren gleichermaßen wirksam. Dreieinhalb Monate
später machten sich jedoch die positiven Auswirkungen der Konfrontationstherapie als
wesentlichster Therapiebestandteil bemerkbar.
474 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Die Achtsamkeitspraxis nach Kabat-Zinn umfasst sieben Faktoren, die gerade auch für
Menschen mit Angststörungen im Umgang mit ihren Körperempfindungen, Denkmu-
stern, Vorstellungen und Gefühlen sehr hilfreich sind:
1. Nicht-Beurteilen. Achtsamkeit ist dann gegeben, wenn man die inneren und äußeren
Erfahrungen, d.h. die eigenen Empfindungen, Gedanken, Vorstellungen und Gefühle
ebenso wie die äußeren Reize und Ereignisse bewusst beobachten kann, ohne diese
zu bewerten. Man nimmt dabei die gewährend-akzeptierende Haltung eines neutra-
len unvoreingenommenen Beobachters ein, der alles registriert, jedoch nichts bewer-
tet und daher auch nicht entsprechend reagiert. Es ist eine menschliche Eigenschaft,
alles schnell zu beurteilen und zu kategorisieren. Dies hat Vor- und Nachteile. Men-
schen mit Angststörungen neigen dazu, alles Mögliche, das andere Personen beden-
kenlos tolerieren können, als bedrohlich zu bewerten, aktivieren infolgedessen oft
vorschnell ihren Körper und verharren dann mangels Entwarnung lange Zeit in ei-
nem körperlich und geistig angespannten Zustand. Es geht nicht darum, das vor-
schnelle Beurteilen und negative Bewerten zu verurteilen, zu vermeiden oder zu un-
terdrücken, sondern nur wahrzunehmen, dass es passiert. Die bewusste Wahrneh-
mung der oft unbewusst vorgenommenen Bewertungen ist die Voraussetzung für ei-
ne spätere Änderung. Wenn man eine Bedrohungseinschätzung akzeptieren und zu-
lassen kann, ist bereits eine erste Änderung eingetreten, nämlich die Erkenntnis, dass
es sich dabei nur einen Gedanken und nicht um die Realität handelt.
2. Geduld. Der Aspekt der Geduld betont den Umstand, dass Dinge Zeit brauchen, sich
zu entfalten, und dass jeder Druck nur Anspannung erzeugt. Ungeduld zeigt sich
beispielsweise in dem Umstand, dass unangenehme Dinge nicht schnell genug ver-
schwinden oder dass man schon weiter (anderswo oder in der Zukunft) sein möchte,
als noch länger im Hier und Jetzt verweilen zu müssen. Geduld ist die Fähigkeit,
Probleme mit innerer Ruhe und Selbstbeherrschung hinzunehmen. In Verbindung
mit Vertrauen und Mut lässt sich manches geduldiger ertragen.
3. Den Geist des Anfängers bewahren. Aufgrund vorgefasster Meinungen können wir
uns oft schwer auf den jeweiligen Augenblick einlassen, weil wir glauben, über die
aktuelle Situation und Befindlichkeit schon alles zu wissen. Dabei gleicht kein Au-
genblick dem anderen. Das Staunen des Kindes, das alles wie zum ersten Mal erlebt,
und die Neugierde des Forschers, der stets mit Neuem rechnet, ermöglichen andere
Sicht- und Erlebnisweisen angesichts altbekannter Sachverhalte. Die Bereitschaft
zur Beobachtung und Erfahrung des Bekannten wird erleichtert durch die Neugier-
de, d.h. durch die Erwartung von etwas Neuem und Unbekannten.
4. Vertrauen. Durch die Achtsamkeitspraxis entwickelt sich Vertrauen zum eigenen
Körper, in die eigenen Gefühle und Fähigkeiten. Das zunehmende Vertrauen in die
eigene Autorität macht uns von anderen Menschen und von Autoritäten unabhängig.
5. Nicht-Greifen (Nicht-Streben). Jede Handlung verfolgt ein Ziel und erfüllt einen
bestimmten Zweck. Bei der Achtsamkeitspraxis geht es dagegen um aktives Nicht-
Tun und Nichts-Erreichen-Wollen. Im Mittelpunkt steht die Gegenwart, ohne An-
strengungen zu unternehmen, etwas erreichen oder vermeiden zu wollen.
6. Akzeptanz. Annehmen, was in und um uns ist, bedeutet nicht, alles gut zu finden und
in Passivität zu verharren, sondern alles nur als momentan vorhanden zu akzeptie-
ren. Innere und äußere Störgeräusche, Symptome und Schwächen werden nicht
Energie raubend bekämpft, sondern als momentan gegeben hingenommen.
7. Loslassen. Anhaften an Vergangenem und bestimmten Problemen führt zur Vermei-
dung der Gegenwart. Loslassen ermöglicht erst Einlassen auf das Hier und Jetzt.
Perspektivenerweiterung in der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 477
Die Verbindung von Abhängigkeit und zwanghafter Kontrolliertheit zeigt sich beson-
ders beim B-Typus des Herzphobikers nach Richter und Beckmann. Der Herzphobiker
kann nur während akuter herzphobischer Krisen Hilflosigkeit, Angst und Abhängigkeit
zulassen. Im Rahmen einer rein organisch wirkenden Erkrankung kann Hilfe angenom-
men werden, wenngleich nur von neutralen professionellen Instanzen (Arzt, Kranken-
haus), was sonst als Schwäche und Kontrollverlust mit dem Selbstbild unvereinbar
wäre.
Angstbewältigungstherapie bei ängstlichen Persönlichkeiten 481
„Nahezu alle Studien, die Patienten mit Angststörungen mit und ohne Persönlichkeitsstörungen nachun-
tersucht haben, konnten eine schlechtere Prognose bzw. eine geringere therapeutische Ansprechbarkeit
der Gruppe von Angststörungen mit pathologischen Persönlichkeitszügen oder Persönlichkeitsstörun-
gen gegenüber der Gruppe ohne solche Züge feststellen...“
1. „Phobiker reagieren auf Störungen der Beziehungssicherheit habituell mit Angst, bzw. erhöhtem
autonomen Erregungsniveau. Ein typischer angstinduzierender situativer Kontext ist z.B. die Ablö-
sung von den Eltern, eine partnerschaftliche Krise oder der Verlust einer beruflich-kollegialen Bin-
dung.
2. Zur Sicherung von Bindungsunsicherheit haben Phobiker dispositionelle Kontroll- und Anpas-
sungsstrategien entwickelt:
- Affektive Selbstkontrolle: Sie unterdrücken Empfindungen von Ärger und Enttäuschung. An-
sprüche und Bedürfnisse, z.B. bezogen auf eine intensive partnerschaftliche Beziehung, werden
wegen ihres Konfliktpotentials nicht offen zum Ausdruck gebracht. Die Grundeinstellung ist
konfliktvermeidend.
- Sicherung der Bindung durch Übernahme wichtiger Funktionen für den Partner (‚der Verdie-
ner’, ‚der Organisator’, ‚der Versorger’, ‚der Helfer’). Die Grundeinstellung ist leistungsbetont.
- Absicherung gegenüber Hilflosigkeitserfahrungen, die zu einer passiven Abhängigkeit führen
könnten. Angewiesensein wird als Ausgeliefertsein erlebt und gefürchtet. Die Grundeinstellung
ist defensiv-vorsichtig.
- Rückversicherungstendenz, ob Bezogenheit gesichert ist, z.B. im Sinne von Besorgtheit, dem
Partner/den Kindern etc. könnte etwas Schlimmes passieren. Der Drang nach Rückversiche-
rung kann auch in der Gewohnheit zum Ausdruck kommen, in bestimmten Zeitabständen Kon-
takt aufzunehmen und sei es nur ein kurzes Telefonat. Gedanklich und in Phantasiebildern er-
folgt auffallend oft eine Bezugnahme auf das Zuhause oder einen anderen wichtigen Bezugsort.
Die Grundeinstellung ist kontrollierend-absichernd.“
Dieser Beziehungsstil spiegelt die reale kindliche Erfahrung wider, dass Zuwendung
und Zugehörigkeit aktiv abgesichert werden mussten und nicht geschenkt wurden, wie
dies unter günstigen Familienverhältnissen der Fall ist. Die erlebten Frustrationen blei-
ben unverarbeitet, eine kleine, beständige soziale Umwelt soll als Ersatz dienen.
Angstbewältigungstherapie bei ängstlichen Persönlichkeiten 483
Phobisches Verhalten kann bei jeder Angststörung ein bewährtes Instrument der Bezie-
hungskontrolle, der Bindung und Steuerung von Bezugspersonen sein. Der Partner darf
nichts allein unternehmen, muss ständig erreichbar sein und soll sich gegen diesen
Zugriff in keiner Weise wehren, um Streit zu vermeiden.
Der Phobiker kann über seine Störung eine Bindung absichern, ohne sich selbst da-
bei als abhängig zu erleben bzw. zu definieren. Er fühlt sich für seine Manipulation
nicht verantwortlich, weil er sein Verhalten einer krankhaften Not zuschreibt, und kann
sein Selbstbild und Selbstideal von persönlicher Autonomie und Unabhängigkeit auf-
rechterhalten, weil er die tatsächliche Abhängigkeit als fremdbestimmt (krankheits-
bewirkt) erlebt.
Der Phobiker baut Bindungen auf, ohne sich und anderen eingestehen zu müssen,
dass er andere nötig hat, unabhängig von jeder Phobie. Dieser Mechanismus spielt bei
den meisten Phobien eine mehr oder weniger bedeutsame Rolle, kann jedoch zum be-
herrschenden funktionalen Prinzip werden, wenn die durchgängige Bezogenheitsabsi-
cherung zum zentralen Motiv wird.
Lebensgeschichtlich zeigen sich bei persönlichkeitsgestörten Phobikern frühe Ver-
lassenheits- und Vernachlässigungserfahrungen, häufiger Wechsel von Bezugspersonen
oder auch traumatische Vertrauensbrüche, z.B. durch sexuellen Missbrauch, die eine
derartige Tendenz verständlich erscheinen lassen. Die Angst vor dem Verlassenwerden
ist eines der zentralen Merkmale bei Menschen mit einer Borderline-Persönlich-
keitsstörung. Eine differenzialdiagnostische Abklärung ist daher sehr wichtig.
484 Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Modulierte Angstabwehr setzt nach Möhlenkamp die Fähigkeit voraus, auf eine poten-
ziell bedrohliche Situation nicht sofort zu reagieren und sich für die Situationseinschät-
zung und Reaktionsweise Zeit lassen zu können. Der damit verbundene Zustand kogni-
tiver Unsicherheit kann durch fundamentale Verunsicherungen in der Kindheit und
fehlende positive Lernerfahrungen in der späteren Entwicklung nicht ertragen werden.
Bei der Beurteilung subjektiver Gefährdung dominiert ein Entweder-oder-Muster. Dif-
ferenzierungsmöglichkeiten nach dem Ausmaß der Bedrohlichkeit von Situationen und
der Notwendigkeit entsprechender Reaktionen sind nicht vorhanden.
Alles bedeutet höchste Gefahr und führt zu entsprechenden körperlichen Alarm-
reaktionen. Die spezifische Verletzbarkeit phobischer Persönlichkeiten liegt in ihrer
Unsicherheit im Hinblick auf Bezogenheit und Zugehörigkeit.
Nach der psychoanalytischen Ich-Psychologie handelt es sich dabei um strukturell
ich-schwache Persönlichkeiten, die aufgrund früher Störungen keine ausreichende „Ob-
jektkonstanz“ entwickeln konnten. Sie haben zu wenig Beziehungsstabilität erlebt, um
auf die ständige Rückversicherung von Bezogenheit verzichten zu können.
Der innerlich ständig fantasierte Kontakt zu rettenden Personen und Orten stellt eine
notwendige Beruhigung dar, wenn man äußerlich ganz allein ist. Der Partner dient als
Hilfs-Ich, auch wenn er nicht da ist, ein Medikament als Hilfe, wenn man sich nicht
mehr selbst helfen kann, ein sicherer Ort (z.B. eine Arztpraxis oder ein Krankenhaus)
als rettende Zuflucht, wenn man sich äußerlich ausgeliefert fühlt.
Phobische Persönlichkeiten konstruieren sich auf der Fantasieebene ständig eine
Beziehungssicherheit und sind damit immer „in Kontakt“. Sie können, wenn schon
äußerlich allein, niemals innerlich allein sein. Massives Unbehagen und Panikattacken
entstehen, wenn sich die Betroffenen plötzlich ganz allein fühlen und jede Fluchtmög-
lichkeit zu einem rettenden Ort abgeschnitten ist. Die Angst, bei einer Panikattacke zu
sterben, legitimiert den ständigen inneren Kontakt mit einem Hilfs-Ich.
Ängstliche Persönlichkeiten vermeiden unerträgliche Gefühle von Leere und Allein-
sein. Auch wenn sie den Partner nicht mehr mögen, können sie sich doch nicht von ihm
trennen, weil sie nichts mehr fürchten als das Alleinsein.
Fehlende Beziehungssicherheit bewirkt ein tiefes Verlassenheitsgefühl, ein unerträg-
liches Gefühl innerer Leere und ein diffuses Bedrohungserleben. Die Betroffenen sind
in der Fantasie ständig damit beschäftigt, die Nähe wichtiger Personen oder rettender
Institutionen zu sichern, auch dann, wenn aktuell gar keine konkreten Erwartungsängste
vorhanden sind, die ein solches Verhalten verständlich machen würden.
Zusammenfassend gesehen, besteht das Problem phobischer Persönlichkeiten nach
Möhlenkamp in ihrer Einengung auf eine aktiv-kontrollierende Selbstorganisation von
Hilfe, Rettung und Bezogenheit. Lernziel wäre eine abwartend-gelassene Haltung auf
Hilfe von außen bzw. der Aufbau von Vertrauen in die eigene Selbsthilfekompetenz.
Angstbewältigungstherapie bei ängstlichen Persönlichkeiten 485
Hilfreich ist auch die Vorstellung, nach der Bewältigung der Ängste allein kleine
Reisen und Aktivitäten zu unternehmen. Dabei stellt sich häufig heraus, dass die Betrof-
fenen auch ohne Angst gar keine Lust auf Aktivitäten ohne andere Menschen haben.
Wenn das phobische Denken als unverzichtbarer Schutz vor dem belastenden Ge-
fühl des Alleinseins akzeptiert wird, kommt es nach Möhlenkamp [148] „zu einer Pro-
blemverschiebung zum Thema Alleinsein und den damit verbundenen Gefühlen des
Abgeschnittenseins, der Leere und des Schreckens“. Dies wird üblicherweise Trauerar-
beit genannt. Im Wiedererleben und Nacherleben (diesmal allerdings als Erwachsener)
können die Katastrophenfantasien aus der Zeit der kindlichen Abhängigkeit und des
existenziellen Angewiesenseins auf eine unverlässliche Umwelt bearbeitet und abgebaut
werden. Man erlebt vielleicht mit großer Traurigkeit, dass man in der Kindheit keine
Beziehungssicherheit gehabt hat und spürt auch jetzt noch schmerzhaft, dass man etwas
vermisst. Das ständige Streben nach Beziehungssicherheit wird hinfällig, wenn der
Verlust von Bezogenheit seinen Schrecken verliert und die Traurigkeit über einen even-
tuellen Geborgenheitsverlust besser ertragen werden kann.
Möhlenkamp [149] weist auf die Gefahren einer Verhaltenstherapie hin, die zu sehr
einem „Macher-Image“ nach dem Motto „Das haben wir bald im Griff“ zu entsprechen
versucht:
„Verhaltenstherapeutische Übungen und kognitive Strategien, die primär eine perfekte Selbstkontrolle
zum Ziel haben und die Einstellung verstärken, daß Selbst- und Situationskontrolle aktiv erreicht und
Hilflosigkeit überwunden werden können, wenn man nur richtig denkt und sich rational verhält, weisen
vor diesem Hintergrund in die falsche Richtung. Das wäre nur mehr desselben, aber keine neue Lerner-
fahrung.
Diese Zielsetzung, die Angst gleichsam zu besiegen und als irrational-krankhaften Kurzschluß
möglichst schnell wieder zu reparieren, deckt sich mit der Wunschvorstellung, die Phobiker zu Beginn
der Behandlung äußern.
Sich hier nicht versuchen zu lassen, einem zum Zeitgeist passenden Kontroll- und Machbarkeits-
mythos zu folgen, ist gerade für Verhaltenstherapeuten schwierig, da der Behaviorismus einschließlich
seiner kognitiven Varianten mit einer solchen Einstellung ideologisch im Grunde d’accord geht.“
Möhlenkamp [150] zeigt auf, dass die kognitive Verhaltenstherapie, die eine notwendi-
ge Ergänzung zur Konfrontationstherapie darstellt, bei phobischen Persönlichkeiten erst
dann voll wirksam werden kann, wenn zentrale affektive und interaktionelle Probleme
bearbeitet sind:
„Die kognitive Umstrukturierung der negativen Selbstbewertungen ist hier keine Frage übender Falsifi-
kation sogenannter dysfunktionaler automatischer Gedanken. Das Angewiesensein auf Beziehungskon-
trolle, das Vermeiden bestimmter phobischer Situationen und das ständige ‚Funken’ in Richtung retten-
der Instanzen ist weniger durch erlernte Denkfehler bestimmt als durch tief eingeprägte aversive Affek-
te, die über informierendes Lernen nicht direkt beeinflußbar sind. Kognitives Training greift wahr-
scheinlich erst dann, wenn sich durch ein konsistent positives affektives Klima innerhalb der therapeu-
tischen Beziehung die vorherrschende Alarmbereitschaft gelegt hat und Raum für kognitives Lernen
und Gewöhnungsprozesse entsteht.“
Eine solche Therapie erfordert einen längeren Zeitraum als eine Kurzzeittherapie von
10-15 Stunden. Nach Möhlenkamp ist es wenig wahrscheinlich, dass bei Angstpatienten
mit Persönlichkeitsstörung eine Behandlung unter zwei Jahren zu dauerhaften Verände-
rungen führt. Nach einer Intensivphase kann die Therapie später mit größeren Sitzungs-
abständen fortgeführt werden. Auf diese Weise kann verhindert werden, dass der Patient
vom Psychotherapeuten abhängig wird.
7. Psychoanalyse bei Angststörungen
Psychoanalytische Konzepte bei Angststörungen
Die Langzeit-Psychoanalyse versteht sich als aufdeckendes und persönlichkeitsumstruk-
turierendes Verfahren. Ziel ist die Änderung der Persönlichkeit in einer Weise, dass den
Angstsymptomen der Boden entzogen wird. Das allgemeine Behandlungsziel einer
Langzeit-Psychoanalyse ist nur in geringem Umfang oder gar nicht auf bestimmte Sym-
ptome gerichtet, sondern auf die psychische Struktur und die unverarbeitete Lebensge-
schichte des Patienten. Das Hauptziel bei der Behandlung angstneurotischer Patienten
besteht in der Ich-Stärkung bzw. Nachreifung angesichts ihrer ich-strukturellen Störung.
Die Art des psychoanalytischen Behandlungsansatzes bei Angststörungen hängt
vom Ausmaß der Ich-Schwäche des Patienten ab. Schwer ich-gestörte Patienten geraten
durch das klassische Setting der Psychoanalyse in eine für sie bedrohliche Regression
und werden in ihrer ohnehin brüchigen Ich-Struktur noch zusätzlich erschüttert. Im
ungünstigsten Fall kann dies bis zur psychotischen Entgleisung führen. Es geht bei
diesen Personen zunächst nicht um das rasche Aufdecken von Konflikten, den dabei
beteiligten Triebstrebungen und eingesetzten Widerstandsmustern, sondern um die
Verbesserung der Angstbewältigungsmöglichkeiten. Dies kann im Rahmen einer psy-
choanalytisch orientierten Krisenintervention oder Kurzzeittherapie erfolgen.
Bassler und Hoffmann [1] erstellten folgende Richtlinien für die psychoanalytische
Behandlung angstneurotischer Patienten:
1. Bei somatisierten Angstzuständen (z.B. Herzphobie), wo aufgrund des fehlenden
Angstaffekts die somatischen Angstäquivalente, d.h. die körperlichen Beschwerden,
im Vordergrund stehen, ist anfangs eine organische Untersuchung angezeigt.
2. Psychopharmaka sollten nur langsam abgesetzt werden. Viele angstneurotische
Patienten wünschen weniger eine innere Veränderung als eine rasche Entlastung von
ihrer Angst. Ihre mangelhafte Angsttoleranz als Folge ihrer Ich-Schwäche führt häu-
fig zu Alkohol- und Medikamentenmissbrauch. Diese Patienten sind daher stark
suchtgefährdet. Bei schwer ich-gestörten Patienten wäre die Forderung nach Ver-
zicht auf Beruhigungsmittel vor Therapiebeginn eine starke Überforderung.
3. Zunächst sollte der Aufbau einer vertrauensvollen Therapeut-Patient-Beziehung im
Vordergrund stehen. In der psychoanalytischen Literatur gibt es wenig systemati-
sche Überlegungen zur Behandlung angstneurotischer Patienten. Es wird häufig nur
die Empfehlung abgegeben, die mangelhaften Ich-Funktionen in der therapeutischen
Beziehung nachreifen zu lassen.
4. Bei angstneurotischen Patienten ist ein strafferes psychoanalytisches Setting erfor-
derlich als bei anderen Patienten. Angstneurotiker leiden sehr unter ihren starken
Ängsten und möchten beruhigt werden. Sie klammern sich stark an den Therapeuten
an und verlangen oft seine räumliche Nähe und ständige Verfügbarkeit. Der Thera-
peut wird wie der Partner oder andere nahe Bezugspersonen zu einer ständig stüt-
zenden Person degradiert, die den Patienten immer wieder neu beruhigen und er-
muntern muss. Psychoanalytische Deutungen bleiben in dieser Phase meist wir-
kungslos, müssen aber dennoch begonnen werden, um den Patienten auf die Art der
von ihm gewünschten „nährenden“ Beziehung hinzuweisen und ihn langsam an rei-
fere Interaktionsmuster heranzuführen. Im Laufe der Nachreifungszeit sollte auch
eine stärkere Angsttoleranz gelingen.
488 Psychoanalyse bei Angststörungen
Das Ausmaß der Angst stellt nicht notwendigerweise einen Hinweis auf das Ausmaß der
Ich-Störung dar. Früher so genannte „hysterische“ Patienten mit relativ guter Ich-
Struktur können mit massiven Angstzuständen reagieren, wenn diese Angstanfälle einer
bestimmten Konfliktlösung dienen (den Partner zu binden, sich selbst am Ausscheren
aus der Ehe zu hindern usw.). Bei phobischen und zwangsneurotischen Patienten be-
steht im Gegensatz zu angstneurotischen Patienten meistens eine relativ gute Ich-
Struktur, sodass eine klassische Psychoanalyse laut Experten ohne größere Probleme
durchgeführt werden kann. Bei Bedarf kann eine ich-stützende, Autonomie fördernde
Einzeltherapie durch eine analytische Gruppenpsychotherapie hilfreich ergänzt werden.
Die oft vorhandenen sozialen Defizite können dadurch überwunden und die typischen
Abwehrmechanismen durch die Reaktion der Gruppenmitglieder abgebaut werden.
Früher wurde der psychoanalytische bzw. psychodynamische Ansatz der Verhal-
tenstherapie gegenübergestellt, die zudeckend und symptomzentriert arbeite, was zwar
momentan wirke, jedoch wegen fehlender Behandlung der Grundstörung nicht lange
anhalte oder nur zu einer Symptomverschiebung führe. Die Polemiken zwischen Psy-
choanalyse und Verhaltenstherapie sind als überholt anzusehen. Beide Psychotherapie-
methoden haben sich weiterentwickelt und sind bereit, voneinander zu lernen. Das Buch
„Praxis der Psychotherapie. Ein integratives Lehrbuch für Psychoanalyse und Verhal-
tenstherapie“ von Senf und Broda dokumentiert diese Tendenzen ebenso wie das von
Bassler und Leidig herausgegebene Buch „Psychotherapie der Angsterkrankungen.
Krankheitsmodelle und Therapiepraxis – störungsspezifisch und schulenübergreifend“.
Psychoanalytiker erkennen immer häufiger die Notwendigkeit, die Dynamik der je-
weiligen Angststörung zu unterbrechen, bevor deren Hintergründe (Ursachen, Funktio-
nalitäten) bearbeitet werden können. Eine monate- oder gar jahrelange Psychoanalyse
bei Angstpatienten ohne Reduktion des phobischen Vermeidungsverhaltens wird zu-
nehmend als problematisch angesehen. Die klassische Psychoanalyse ist bei vielen
Angstpatienten überhaupt nicht bzw. jedenfalls nicht zu Beginn anwendbar, wie viele
psychoanalytische Theoretiker und Praktiker offen zugeben (z.B. Mentzos, S. O. Hoff-
mann, Bassler). Eine analytische Kurz- oder Fokaltherapie bei Angststörungen ist ähn-
lich stützend und symptomzentriert wie eine Verhaltenstherapie.
Psychodynamische Therapiekonzepte in manualisierter Form werden für verschie-
dene Angststörungen in Deutschland und Amerika immer häufiger befürwortet und
erstellt (z.B. von Autoren wie S. O. Hoffmann, Leichsenring, Luborsky, Shear, Crits-
Christoph, Milrod). In Deutschland haben Leichsenring und Mitarbeiter eine manuali-
sierte, psychoanalytisch orientierte Fokaltherapie der generalisierten Angststörung und
der sozialen Phobie für die psychotherapeutische Versorgung entwickelt, basierend auf
der supportiv-expressiven Therapie von Luborsky, der das psychodynamische Konflikt-
konzept auf Beziehungskonfliktthemata ausweitet. Generalisierte Ängste weisen inter-
aktionelle Bezüge auf (unsichere Bindungen). Es handelt sich um Kurztherapien im
Ausmaß von jeweils 25 Sitzungen (plus 5 probatorischen Sitzungen), die von der Deut-
schen Forschungsgemeinschaft gefördert sind (Verbund Psychotherapie).
Verhaltenstherapeuten anerkennen zunehmend die Problem- und Sachlage, auf die
Psychoanalytiker hinweisen (ein Konflikt als Grundlage bei vielen Angststörungen,
Angst als Symptom für etwas „tiefer Liegendes“, wie dies z.B. bei vielen Panikstörun-
gen augenfällig ist, die Bedeutung von Persönlichkeitsfaktoren, lebensgeschichtliche
Aspekte, Ausbau von Ressourcen), formulieren sie jedoch in einer Sprache, die mehr
aus der Welt der wissenschaftlichen Psychologie stammt, und verwenden andere Strate-
gien, um eine Bewältigung zu erreichen.
Psychoanalytische Konzepte bei Angststörungen 489
„Unsere Technik ist an der Behandlung der Hysterie erwachsen und noch immer auf diese Affektion
eingerichtet. Aber schon die Phobien nötigen uns, über unser bisheriges Verhalten hinauszugehen. Man
wird kaum einer Phobie Herr, wenn man abwartet, bis sich der Kranke durch die Analyse bewegen läßt,
sie aufzugeben. Er bringt niemals jenes Material in die Analyse, das zur überzeugenden Lösung der
Phobie unentbehrlich ist. Man muß anders vorgehen. Nehmen Sie das Beispiel eines Agoraphoben; es
gibt zwei Klassen von solchen, eine leichtere und eine schwerere. Die ersteren haben zwar jedesmal
unter Angst zu leiden, wenn sie allein auf der Straße gehen, aber sie haben darum das Alleingehen noch
nicht aufgegeben; die anderen schützen sich vor der Angst, indem sie auf das Alleingehen verzichten.
Bei diesen letzteren hat man nur dann Erfolg, wenn man sie durch den Einfluß der Analyse dazu bewe-
gen kann, sich wieder wie Phobiker ersten Grades zu benehmen, also auf die Straße zu gehen und
während dieses Versuches mit der Angst zu kämpfen. Man bringt es also zunächst dahin, die Phobie so
weit zu ermäßigen, und erst wenn dies durch die Forderung des Arztes erreicht ist, wird der Kranke
jener Einfälle und Erinnerungen habhaft, welche die Lösung der Phobie ermöglichen.“
„Wir sind davon überzeugt, daß für eine erfolgreiche psychoanalytische (stationäre) Behandlung von
Angsterkrankungen angstexponierende Therapieelemente unabdingbar sind (Freud empfahl bereits
1919 eine solche Vorgehensweise bei der Psychoanalyse von Phobien).“
Sie beschreiben das von ihnen entwickelte Konzept der integrativ, primär psychoanaly-
tisch ausgerichteten psychosomatischen Fachklinik in Mainz folgendermaßen [4]:
„Speziell für Angstpatienten haben wir seit 1992 ein Angstkonfrontationstraining eingeführt, das abge-
stimmt auf den einzelnen Patienten die aktive Auseinandersetzung mit der angstauslösenden Situation
bzw. Stimulus intendiert. Dabei wird mit dem Patienten intensiv in Einzel- und Gruppengesprächen
über seine dabei gemachten Erfahrungen, Eindrücke bzw. Phantasien gesprochen. Insgesamt bleibt also
die Grundorientierung am Angstsymptom als Ausdruck bzw. Folge unbewußter Konflikte weiterhin
ohne Einschränkungen erhalten, jedoch erscheint es uns unerläßlich, für Angstpatienten auch übende
verhaltenstherapeutische Elemente in das Konzept von stationärer Psychotherapie zu integrieren.“
Der Einfluss des Partners und naher Bezugspersonen auf die Aufrechterhaltung der
Agoraphobie muss ebenfalls beachtet werden, was im Rahmen einer psychoanalytisch
orientierten Einzel- oder Gruppentherapie oft zu wenig erfolgt. Partner und Angehörige
haben oft ein unbewusstes Bedürfnis, die Angstsymptomatik aufrechtzuerhalten, weil
dann ihre eigenen Probleme in den Vordergrund treten würden.
Bei Panikstörungen ohne Agoraphobie sollte laut Bassler die psychoanalytische
Therapie anfangs so gestaltet werden wie eine kognitive Verhaltenstherapie, bei der
dem Patienten das „Teufelskreis-Modell“ erklärt und ein hilfreicher Umgang mit dem
Körper trainiert wird, um ein Übermaß an Medikamenten bzw. Alkohol zu verhindern.
Rationale Rekonstruktionen von Kindheitskonflikten sind oft wenig hilfreich, was auch
von Psychoanalytikern zugegeben wird. Deutungen werden von den Patienten zwar oft
eingesehen, bewirken jedoch mangels intensiven Erlebens aktueller Gefühlszustände
häufig keine Änderungen des konkreten Verhaltens. Die Gefahr des Intellektualisierens
wird durch das psychoanalytische Setting geradezu verstärkt [6]. Psychoanalytiker wie
Joraschky zeigen eine zunehmende Offenheit gegenüber verhaltenstherapeutischen
Konfrontationskonzepten bei der Behandlung von Zwangsstörungen [7]:
1. Hatten Sie schon einmal einen Angstanfall, d.h., wurden Sie ganz plötzlich und ja nein
unerwartet von starker Angst oder Beklommenheit überfallen, und zwar in È
Situationen, in denen die meisten Menschen nicht ängstlich sind? Frage 9
2. Solche Angstanfälle treten manchmal auf, wenn man wirklich in ernster Gefahr ja nein
ist oder wenn man im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit anderer steht. Treten Ihre È
Angstanfälle auch unabhängig von solchen Situationen auf? Frage 9
3. Versuchen Sie, sich an einen Ihrer schwersten Angstanfälle zurückzuerinnern!
Hatten Sie während dieses Angstanfalls
z Atemnot oder Schwierigkeiten, Luft zu bekommen? ja nein
z Herzklopfen? ja nein
z Schwindel, Benommenheitsgefühle? ja nein
z ein Engegefühl oder Schmerzen in Brust oder Magen? ja nein
z Kribbeln oder Taubheitsgefühle? ja nein
z Erstickungsgefühle? ja nein
z das Gefühl, einer Ohnmacht nahe zu sein? ja nein
z geschwitzt? ja nein
z gezittert oder gebebt? ja nein
z Hitzewallungen oder Kälteschauer? ja nein
z die Dinge um Sie herum als unwirklich empfunden? ja nein
z die Befürchtung, dass Sie sterben könnten? ja nein
z die Befürchtung, verrückt zu werden? ja nein
z einen Brechreiz verspürt? ja nein
z Beklemmungsgefühle? ja nein
z einen trockenen Mund? ja nein
4. Traten diese Beschwerden sehr plötzlich auf, und verschlimmerten sie sich dann
innerhalb von Minuten? ja nein
5. Hatten Sie jemals vier Angstanfälle innerhalb von 4 aufeinander folgenden
Wochen? ja nein
6. Hatten Sie nach einem solchen Angstanfall wochenlang ständig Angst davor,
wieder einen solchen Angstanfall zu bekommen? ja nein
7. Wann hatten Sie zum ersten Mal einen Angstanfall?
8. Wann hatten Sie zum letzten Mal einen Angstanfall?
Haben Sie die Fragen 1, 2, mindestens eine Beschwerde von Frage 3 sowie die
Fragen 4 (oder 5) und 6 mit Ja beantwortet?
Wenn dies zutrifft, haben Sie möglicherweise eine Panikstörung!
Angst-Fragebogen – Angststörungen selbst erkennen 495
Haben Sie die Fragen 9, 13 und fünf oder mehr Beschwerden von Frage 14 mit
Ja beantwortet? Wenn ja, haben Sie möglicherweise eine generalisierte Angst-
störung!
17. Einige Menschen haben ohne klaren Grund eine solch starke Angst vor Men-
schenmengen, alleine das Haus zu verlassen oder Bus, Auto oder Eisenbahn zu
benutzen, dass sie solche Situationen vermeiden oder nur unter großer Angst
ertragen können. Hatten Sie jemals eine derart unbegründet starke Angst,
z vor Menschenmengen oder Schlange zu stehen? ja nein
z das Haus zu verlassen oder außerhalb des Hauses allein zu sein? ja nein
z sich auf öffentlichen Plätzen (Markt, Kino) aufzuhalten? ja nein
z sich im Auto, Zug, Bus oder Flugzeug zu befinden? ja nein
z oder eine Brücke zu überqueren? ja nein
Wenn Sie alle diese Fragen verneint haben, springen Sie zu Frage 28!
496 Selbsthilfe bei Angststörungen
Haben Sie zumindest eine der Beschwerden der Fragen 18 oder 19 sowie die
Fragen 23-25 mit Ja beantwortet? Dann liegt bei Ihnen möglicherweise eine
Agoraphobie vor!
28. Manche Menschen haben eine solche unbegründet starke Angst davor, etwas in
Gegenwart anderer Menschen zu tun, dass Sie solche Situationen meiden oder
Sie nur unter großer Angst durchstehen. Hatten Sie jemals solch starke Ängste
z vor anderen Ihnen bekannten Personen zu sprechen? ja nein
z auf die Toilette gehen zu müssen (Restaurant, Kino)? ja nein
z in der Öffentlichkeit zu essen oder zu trinken? ja nein
Wenn Sie eine, mehrere oder alle dieser Fragen mit Ja beantwortet haben, gehen
sie weiter zu Frage 29! Haben Sie alle Fragen verneint, gehen Sie zu Frage 40!
40. Es gibt noch andere Situationen, in denen manche Menschen eine solche unbe-
gründet starke Angst verspüren, dass sie sie zu vermeiden versuchen.
Hatten Sie jemals eine unbegründet starke Angst
z vor Höhen? ja nein
z vor dem Fliegen? ja nein
z davor, Blut zu sehen? ja nein
z vor Stürmen, Donner oder Blitz? ja nein
z vor Schlangen, Vögeln, Insekten oder anderen Tieren? ja nein
z vor geschlossenen Räumen (z.B. Aufzugkabinen)? ja nein
z vor Blut oder eine Spritze zu bekommen? ja nein
z davor, im Wasser (z.B. Swimmingpool, Meer) zu sein? ja nein
z vor irgendwelchen anderen Situationen? ja nein
Welche?
_______________________________________________________________
Wenn Sie eine, mehrere oder alle dieser Fragen mit Ja beantwortet haben, gehen
Sie weiter zu Frage 41! Haben Sie alle Fragen verneint, beenden Sie den Frage-
bogen!
41. Hat eine dieser Ängste Monate oder gar Jahre angedauert? ja nein
42. Haben Sie mit einem Arzt über diese Ängste gesprochen? ja nein
43. Haben Sie wegen dieser Angst Medikamente genommen? ja nein
44. Hat diese Angst oder das Vermeiden dieser Situation wesentlich in Ihr normales
Leben eingegriffen? ja nein
45. Hat diese Angst Sie jemals sehr belastet? ja nein
46. Hat die Angst Sie jemals daran gehindert, eine berufliche Aufgabe zu überneh-
men oder eine neue Stelle anzutreten? ja nein
47. Hat die Angst Sie jemals daran gehindert, zu einer Feier oder einer sonstigen
gesellschaftlichen Veranstaltung zu gehen? ja nein
48. Wenn Sie sich in einer Angstsituation befanden oder wenn Sie an eine solche
Situation dachten, wurden Sie da fast immer nervös oder „panisch“? Schwitzten
Sie? Hatten Sie Herzklopfen? Waren Sie kurzatmig? ja nein
49. Wann hatten Sie zum ersten Mal eine solche Angst?
50. Wann hatten Sie zum letzten Mal eine solche Angst?
Haben Sie die Fragen 41, 44-46 oder 47 und 48 mit Ja beantwortet?
Dann haben Sie möglicherweise eine spezifische Phobie!
Auf der Grundlage der Forschungskriterien des ICD-10 habe ich den nachfolgenden
Fragebogen zur Erfassung von Angststörungen erstellt. Markieren Sie alle Symptome,
die gegenwärtig auftreten, entweder plötzlich in Form von Panikattacken oder als
Angstattacken in phobischen Situationen oder als Dauerzustand im Sinne einer generali-
sierten Angststörung. Geben Sie zusätzlich durch einen Vermerk an, falls Sie früher
eine der Angststörungen 1.-4. hatten.
498 Selbsthilfe bei Angststörungen
Individuelle Verhaltensanalyse
z Können Sie Ihre Ängste aufzählen, genau beschreiben und nach der Stärke reihen?
z Welche körperlichen Zustände, Verhaltensweisen und Gedanken treten auf, wenn
Sie Angst haben? Was sind für Sie die schlimmsten Angstsymptome?
z Seit wann – wann – wo – wie – mit welchem Ablauf – wie oft – wie stark – mit wem
zusammen – mit welchen unterschiedlichen Erscheinungsformen und Schwan-
kungsbreiten treten Ihre Ängste auf?
z In welchen Situationen treten Ihre Ängste derzeit vorwiegend auf?
z Gibt es auch Ausnahmen? Gibt es Zeiten und Umstände, wo Ihre Ängste nicht oder
kaum auftreten? Wenn ja, wie erklären Sie sich das?
z Unter welchen Umständen sind Ihre Ängste entstanden?
z Welche damaligen Umstände sind auch heute noch vorhanden? Welche davon haben
auch jetzt noch eine ursächliche Bedeutung, welche dagegen nicht mehr?
z Durch welche gegenwärtigen Umstände werden Ihre Ängste aufrechterhalten?
z Durch welche Einstellungen werden Ihre Ängste geprägt und verstärkt?
z Angenommen, Sie möchten Ihre Ängste schlimmer machen, was müssten Sie da
tun? Wenn dies tatsächlich möglich ist, was können Sie daraus lernen?
z Vermeiden ist das zentrale Symptom bei einer Agoraphobie. Was genau möchten
Sie am liebsten vermeiden? Welche Symptome Ihres Körpers fürchten Sie am mei-
sten? Was haben die gefürchteten Situationen miteinander gemeinsam?
z Wenn Sie sich einmal entschlossen haben, eine Angst machende Situation durchzu-
stehen, was führt schließlich doch dazu, dass Sie die betreffende Situation verlassen?
Welche körperlichen Zustände, Gedanken und Gefühle haben Sie da?
z Falls Sie Ihre Ängste schon längere Zeit haben, was genau macht die Situation gera-
de jetzt so belastend, dass Sie eine Psychotherapie beginnen möchten?
500 Selbsthilfe bei Angststörungen
z Welche Zusammenhänge könnten zwischen Ihren Ängsten und Ihrer familiären bzw.
partnerschaftlichen Situation bestehen?
z Welche Zusammenhänge könnten zwischen Ihren Ängsten und Ihrer beruflichen
oder schulischen Situation bestehen?
z Hat ein Elternteil auch Ängste? Wenn ja: dieselben wie Sie oder andere?
z Hat Ihr Partner auch Ängste? Wenn ja: dieselben wie Sie oder andere?
z Haben andere Verwandte oder Bekannte ähnliche Ängste wie Sie selbst?
z Wenn die Eltern oder der Partner auch Ängste haben: Sehen Sie einen Zusammen-
hang zwischen den Ängsten eines Elternteils bzw. des Partners und Ihren Ängsten?
Wenn ja, welchen?
z Was sind die wichtigsten Einstellungen, Lebensregeln und Wertvorstellungen, die
Ihnen Ihre Eltern im Laufe der Erziehung vermittelt haben? Welche gelten für Sie
auch jetzt noch? Wie könnten diese mit Ihren Ängsten zusammenhängen?
z Welche Umstände, die mit Ihren Ängsten zusammenhängen, können weder durch
Sie noch durch eine Psychotherapie verändert werden, sodass Sie besser damit leben
lernen müssen?
z Welche Folgen hätte die Angstbewältigung für Ihre Eltern bzw. Ihren Partner?
z Wären Ihre Eltern bzw. Ihr Partner bereit, bei Bedarf an einer Psychotherapie teilzu-
nehmen? Warum möchten Ihre Angehörigen vielleicht doch nicht teilnehmen?
Auswirkungen
z Wie beeinträchtigen Ihre Ängste ganz konkret Ihr Leben? Welche Einschränkungen
und Behinderungen sind damit verbunden? Nehmen Sie eine Rangreihung Ihrer
Ängste nach dem Ausmaß der Belastungen und der negativen Auswirkungen vor.
z Was sind die derzeit negativsten Folgen Ihrer Ängste für Ihre Lebenssituation?
z Welche Folgen hätte es für Ihre Lebenssituation, wenn Ihre Ängste bestehen bleiben
sollten? Worauf müssten Sie verzichten? Was wären die negativsten Konsequenzen?
z Was könnte ohne Psychotherapie schlimmstenfalls passieren, wenn es so weiter
ginge wie bisher? Wie nahe sind Sie dieser Situation im Moment schon?
z Angenommen, es geschieht über Nacht ein Wunder: Sie wachen am Morgen auf und
haben keinerlei Ängste mehr. Welche positiven und negativen Auswirkungen hätte
dies auf Ihr Leben? Was würden Sie dann tun (sofort, in der nächsten Zeit, mittelfri-
stig)? Woran würden die anderen erkennen, dass ein Wunder geschehen ist?
z Welche Personen Ihrer Umwelt wissen von Ihrer Angststörung? Wenn kaum jemand
darüber Bescheid weiß, was fürchten Sie, wenn andere davon wüssten?
z Wie reagieren Ihre Angehörigen und Arbeitskollegen auf Ihre Ängste?
z Was tun Ihre Angehörigen, um Ihre Ängste zu reduzieren bzw. im Gegenteil be-
wusst oder unbewusst zu verstärken?
z Welche Reaktionen der Umwelt haben Ihnen bisher am meisten geholfen, welche
am meisten geschadet?
Problem- und Zielanalyse bei Angststörungen 501
z Können Sie an Ihren Ängsten auch irgendetwas Positives sehen? Wofür können sie
vielleicht ganz gut sein? Welche Funktion könnten Ihre Ängste haben?
z Wer hat mehr Vorteile von Ihrer Angststörung: Sie oder Ihre Umgebung?
z Warum haben Sie es in der Vergangenheit – vielleicht nach mehrfachem Bemühen –
aufgegeben, Ihre Angststörung zu überwinden? Können Sie darin auch etwas Gutes
sehen? Welche Überlegungen haben Sie angestellt, dass Sie es trotz des Leidens un-
ter Ihren Ängsten leichter finden, mit Ihrer Angststörung zu leben als ohne sie?
z Welche schönen Dinge des Lebens können Sie trotz Ihrer Ängste derzeit noch erle-
ben und genießen? Was davon baut Sie gegenwärtig am meisten auf?
Bisherige Problemlösungsstrategien
Erklärungsversuche
z Welche Erklärungsversuche für Ihre Ängste haben Sie bisher selbst entwickelt?
z Was genau halten Sie für die zwei oder drei wesentlichsten Ursachen Ihrer Ängste?
z Was glauben Sie, warum Ihre Ängste auch jetzt noch, vielleicht nach vorübergehen-
der Besserung, bestehen bleiben?
z Wenn Sie einigermaßen überzeugende Erklärungsversuche für Ihre Ängste entwik-
kelt haben, können Sie dann vorhersagen, unter welchen Bedingungen Ihre Ängste
nach vorübergehender Besserung wieder stärker auftreten müssten?
z Wie sehr erwarten Sie von einer Psychotherapie (weitere) Erklärungsversuche, wie
sehr konkrete Hilfestellungen zur Veränderung?
z Falls Sie schon einmal ähnliche Ängste gehabt und vollständig überwunden haben,
wie erklären Sie sich, dass diese Ängste jetzt wieder verstärkt auftreten und von Ih-
nen nicht mehr allein erfolgreich bewältigt werden können?
z Welche Erklärungsversuche und Änderungsvorschläge für Ihre Ängste kommen
vonseiten Ihrer Angehörigen und Bekannten? Wie stehen Sie dazu?
z Welche Erklärungsversuche und Änderungsvorschläge für Ihre Ängste haben Sie
bisher von Fachleuten (Ärzten, Psychologen, Psychotherapeuten) erhalten?
z Welche Erklärungsversuche haben Sie in Büchern als für Sie relevant erkannt?
z Glauben Sie, dass bessere Erklärungsversuche als bisher irgendetwas an Ihren aktu-
ellen Ängsten ändern können?
502 Selbsthilfe bei Angststörungen
Globale Therapieziele
Spezifische Therapieziele
z Wenn Sie wählen können, in welcher Reihenfolge möchten Sie Ihre Ängste über-
winden (welche zuerst, welche später)? Erstellen Sie eine Rangreihe Ihrer Ängste
nach dem Ausmaß der Dringlichkeit ihrer Bewältigung.
z Was genau soll anders werden (Denkmuster, Gefühle, Verhaltensweisen, körperliche
Reaktionsweisen, Lebensbedingungen, Sozialbeziehungen)?
z Möchten Sie bestimmte Fähigkeiten und Verhaltensweisen entwickeln bzw. ausbau-
en, wenn Sie Ihre Ängste überwunden haben (z.B. sich besser durchsetzen lernen,
bestimmte Dinge erleben und genießen lernen)?
z Was von den geliebten Dingen, die Sie gerne tun möchten, aber derzeit nicht tun
können, geht Ihnen am meisten ab? Was möchten Sie daher möglichst schnell wie-
der tun? Worauf freuen Sie sich schon jetzt?
z Wenn Sie eine Psychotherapie machen, welche konkreten Ziele müssen dabei auf
jeden Fall erreicht werden? In welchem Zeitraum?
z Welche Verbesserungen erwarten Sie ganz konkret bereits für die nächsten drei
Monate?
z Wie wichtig ist Ihnen eine konkrete Zielvereinbarung mit einem Therapeuten?
z An welchen vielleicht unscheinbar kleinen Dingen würden Sie zuerst erkennen, dass
Ihre Ängste geringer werden?
z Woran, an welchen Verhaltensweisen würden Ihre Angehörigen zuerst erkennen,
dass Ihre Ängste zurückgehen?
z Woran würden Sie zuerst erkennen, dass sich Ihre Ängste nach anfänglicher Besse-
rung wieder zu verschlechtern beginnen?
z Wenn die Bewältigung Ihrer Ängste nur stufenweise möglich sein sollte, welche
kleinen Teilschritte und Teillösungen können Sie sich vorstellen?
z Mit welchen konkreten Verbesserungen könnten Sie bereits zufrieden sein, falls
keine optimale Problemlösung möglich sein sollte?
Problem- und Zielanalyse bei Angststörungen 503
Motivationsanalyse
z Warum streben Sie gerade jetzt eine Bewältigung Ihrer Ängste an und wie wichtig
ist Ihnen diese Änderung?
z Wie weit möchten Sie selbst etwas ändern und wie weit, damit andere (Partner,
Eltern, Bekannte) zufrieden sind?
z Wie viel Aufwand sind Sie bereit zu erbringen? Wann würden Sie den Aufwand für
die in diesem Buch vorgeschlagene Therapie lohnenswert finden?
z Versuchen Sie, sich mit Ihrer Situation ohne Änderung irgendwie zu arrangieren?
Ein derart standardisiertes Angst-Tagebuch kann neben der dadurch erlangten Selbster-
kenntnis auch eine wichtige Unterlage für eine Psychotherapie sein. Die Verwendung
eines Angst-Tagebuches drückt einen aktiven Bewältigungsprozess im Umgang mit
Panikattacken aus und spiegelt die Bereitschaft zur Selbstverantwortung wider.
Möglichst bald nach einer Panikattacke erfolgte Eintragungen liefern einem Psycho-
therapeuten konkretere Informationen als spätere retrospektive Darstellungen. Auf diese
Weise gelingt es leichter, die Entstehung und Aufrechterhaltung von Panikattacken zu
verfolgen und effiziente Veränderungsschritte einzuleiten.
Konkrete Eintragungen nach einer Panikattacke stellen bereits eine erste Form der
Konfrontationstherapie dar, weil sie ein Vermeidungsverhalten (Ablenkung) verhindern.
504 Selbsthilfe bei Angststörungen
Zum Verständnis und zur Bewältigung von Panikattacken reicht es oft aus, wenn Sie
erkennen, wie Sie durch Ihre Denkmuster und Verhaltensweisen eine Panikattacke un-
gewollt auslösen oder verstärken. Die ursprünglichen Ursachen von Panikattacken kön-
nen ganz unterschiedlich sein (z.B. Grübeln, körperliche Befindlichkeitsstörung ohne
Krankheitswertigkeit, ungewohnte Ruhe und Entspannung, Konflikte in Beruf, Familie
oder Partnerschaft). Wahrscheinlich hätten Sie die früheren Umstände ebenso wenig
beeinflussen können wie die späteren Auslöser (z.B. schlechter Schlaf, Überlastung).
Viele Betroffene fragen sich, ob sie von Panikattacken dauerhaft geheilt werden
können, wenn sie niemals die wahren Ursachen herausfinden sollten. Die frohe Bot-
schaft der Verhaltenstherapie lautet: Sie können lernen, mit Panikattacken so umzuge-
hen, dass Sie sich nicht mehr so davor fürchten wie bisher. Die Bewältigung von Panik-
attacken erfordert nicht immer das Verständnis der tieferen Ursachen, wenngleich dies
sehr hilfreich sein kann.
Vergegenwärtigen Sie sich eine frühere Panikattacke oder stellen Sie sich den näch-
sten Angstanfall so vor, wie Sie glauben, dass er ablaufen wird. Welche Gedanken,
Gefühle und Verhaltensweisen stellen Sie bei sich fest? Wie gehen Sie mit einer auf-
kommenden Panikattacke um? Kämpfen Sie gegen die Panikattacke an? Versuchen Sie
sich abzulenken? Reden Sie sich ein, die Panikattacke sei nicht gefährlich, können es
aber doch nicht glauben?
Panikattacken sind oft Ausdruck starker Gefühle oder Gefühlskonflikte (Ambivalen-
zen, z.B. „Ich liebe meinen Partner, aber oft bin ich wütend auf ihn“). Wie gut können
Sie mit Gefühlen und emotionalen Zwiespältigkeiten umgehen? Diese bewirken oft eine
massive körperliche Anspannung und gelangen irgendwann einmal in Form einer Pa-
nikattacke zur Entladung. Bekommen Sie bei Panikattacken die Angst, verrückt zu
werden? Dahinter steht oft die falsche Vorstellung, dass „angespannte Nerven“ irgend-
wann einmal „reißen“ könnten, also die Befürchtung, einen hohen emotionalen Anspan-
nungszustand auf Dauer nicht aushalten zu können, ohne verrückt zu werden, ähnlich
wie andere Panikpatienten glauben, ihr Körper könnte längeres Herzrasen nicht ohne
Schaden aushalten.
Bedenken Sie, dass die ursprünglichen Ursachen von Panikattacken oft nicht Ängste
sind, wie dies etwa der Fall sein kann bei Verlustängsten, sondern andere Gefühle wie
Wut, Ärger, Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühle. Welche dieser Gefühle könnten bei
Ihnen mitspielen? Ängste werden oft erst später zu Auslösern von Panikattacken, wenn
zunehmend die „Angst vor der Angst“ den Körper zu Angstanfällen aktiviert.
Können Panikattacken bei Ihnen auch ausgelöst oder verstärkt werden durch ein
Burnout, eine Depression oder Substanzmissbrauch (Alkohol, Drogen, Kaffee)?
Fürchten Sie als Folge einer Panikattacke eher die soziale Auffälligkeit oder schrän-
ken Sie in Reaktion darauf Ihren Bewegungsradius ein? Im ersten Fall sollten Sie an die
Möglichkeit einer zusätzlichen sozialen Phobie denken, im zweiten Fall an die Wahr-
scheinlichkeit einer zusätzlichen Agoraphobie. Viele Menschen mit Panikattacken ha-
ben im Laufe der Zeit zwar immer weniger Panikattacken, jedoch um den hohen Preis
der Vermeidung aller Situationen, die dazu führen könnten. Erkaufen auch Sie die Ver-
minderung Ihrer Panikattacken durch die massive Einschränkung Ihrer Lebensmöglich-
keiten?
Hängen Ihre Panikattacken mit ständigen Krankheitsängsten zusammen, die bei ei-
nem Angstanfall übersteigert zum Ausdruck kommen? Dann sollten Sie zum besseren
Verständnis Ihrer Krankheitsängste mein Buch „Die Angst vor Krankheit verstehen und
bewältigen“ lesen.
Verhaltensanalyse bei Panikattacken 505
Aus der Beschreibung der Panikattacken können Sie im Idealfall erkennen, welche
Zusammenhänge zwischen den Umständen bzw. Auslösern der Panikattacke, den Pa-
niksymptomen, den negativen Gedanken und den Folgen der Panikattacke bestehen.
Unterscheiden Sie zwischen den Ursachen der ersten Panikattacke (z.B. chronischer
Stress, Verlusterlebnisse) und den späteren Auslösern (z.B. Hitze, Alkohol, Spannungs-
abfall). Auf diese Weise können Sie bereits selbst ein Erklärungsmodell für Ihre Panik-
attacken entwickeln und bei Bedarf viel zielstrebiger eine Psychotherapie angehen.
Zur detaillierten Dokumentation der körperlichen Symptome bei einer Panikattacke
können Sie eine Symptomliste (Tab. 17) verwenden.
Tab. 17: Liste der möglichen Symptome bei einer Panikattacke [6]
Herzklopfen, Herzrasen
Schweißausbrüche
Zittern
Mundtrockenheit
Atembeschwerden
Beklemmungsgefühl
Schmerzen oder Missempfindungen in der Brust
Übelkeit oder Bauchbeschwerden
Schwindel, Schwäche, Benommenheit
Entfremdungsgefühle/Unwirklichkeitsgefühle
Angst vor Kontrollverlust oder Verrücktwerden
Angst zu sterben
Hitzewallungen oder Kälteschauer
Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle
Zusätzliche Symptome
Ohnmachtsangst
Druckgefühl im Kopf
Kopfschmerzen
Ohrensausen
Taubheit/Kribbeln/Pelzigkeit im Gesicht
Muskelzucken im Gesicht
Rotwerden im Gesicht
Sehstörungen
Engegefühl im Hals („Kloßgefühl“)
Erstickungsgefühl
Verspannung/Schmerzen im Nacken
Brechreiz
Durchfall
Harndrang
Taubheit/Kribbeln in den Armen
Taubheit/Kribbeln in den Beinen
506 Selbsthilfe bei Angststörungen
Panikpatienten glauben oft, ihre Anfälle seien grundlos. Tatsächlich bestehen zahlreiche
Angst machende „Was wäre, wenn“-Fragen ohne Antwort, d.h. ohne konkret vorstell-
bare Lösungsmöglichkeiten. Dies führt zu anhaltender Beunruhigung und körperlicher
Anspannung, sodass derartige Gedanken und Vorstellungsbilder unterdrückt werden.
Das Zulassen aller Gedanken, Gefühle und Empfindungen fördert dagegen die Selbst-
wahrnehmung und erleichtert die Panikbewältigung.
Analysieren Sie, welche Faktoren bei Ihnen eine Panikattacke auslösen können:
z Körperliche Beschwerden: Herzrasen, Atemnot, Schwindel, Übelkeit, Hitze usw.
z Verhalten: Aufsuchen einer Angstsituation, z.B. Betreten eines Supermarkts.
z Bildhafte Vorstellungen: Fantasien über bevorstehende Angstsituationen.
z Gedanken: bestimmte Angst machende Denkmuster.
Folgende Denkmuster sind oft Auslöser oder Verstärker von Panikattacken [7]:
z Mein Herz beginnt schon wieder zu rasen, gleich bekomme ich einen Anfall.
z Ich bekomme keine Luft mehr, alles schnürt sich zusammen, jetzt muss ich sterben.
z Mir wird so schwindlig, gleich falle ich bewusstlos um und wache nicht mehr auf.
z Ich habe auf einer Körperseite unerklärliche Empfindungen, gleich bekomme ich
einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt – oder ich habe Multiple Sklerose.
z Wenn die Ärzte nicht bald herausfinden, woher meine Attacken kommen, dauert
mein Leben bestimmt nicht mehr lange, denn lange hält dies mein Körper nicht aus.
z Ich habe Angst zu sterben, Angst vor den Symptomen eines qualvollen Todes.
z Wenn ich nochmals solche Symptome bekomme, sterbe ich bestimmt, weil mein
Körper dies nicht mehr aushält.
z Es wäre schlimm, wenn ich ähnlich schnell und unerwartet sterben sollte wie ein
Bekannter oder Verwandter, der bis zuletzt völlig gesund war.
z Ich habe Angst, wie mein Vater zu früh an einem Herzinfarkt zu versterben.
z Ich bekomme bestimmt Brustkrebs (Magenkrebs), so wie meine Mutter.
z Ich darf jetzt auf keinen Fall sterben, weil mich meine Kinder unbedingt brauchen.
z Wenn mich mein Partner verlassen/betrügen würde, würde ich das nicht aushalten.
z Wenn mein Partner stirbt (durch Unfall oder Krankheit), ist alles sinnlos.
z Ich könnte es nicht überleben, wenn meinem Kind etwas passieren würde.
z Mein Partner (Kind) ist noch immer nicht zu Hause. Ist ihm etwas passiert?
z Ich wäre verzweifelt, wenn ein Elternteil sterben sollte.
z Es wäre alles aus, wenn ich meinen Beruf verlieren sollte.
z Wenn ich allein bin, dann heißt das, dass mich niemand mag.
z Ich darf nie die Kontrolle verlieren, weil ich sonst nicht weiß, was mit mir passiert.
z Wenn ich die Kontrolle verliere und etwas Schlimmes tue (ein Familienmitglied
unabsichtlich verletze), komme ich in die Psychiatrie oder ins Gefängnis.
z Wenn ich jetzt beim Autofahren wieder so einen Anfall bekomme wie zuletzt, könn-
te ich leicht einen Unfall verursachen und alle Mitfahrer gefährden.
z Ich muss jede Situation fest im Griff haben, weil ich für alles verantwortlich bin.
z Ich muss immer alle Aufgaben bewältigen können und muss immer der Beste sein.
z Wenn ich etwas nicht kann, bin ich ein Versager. Niemand wird mich mehr mögen.
z Wenn ich diese Prüfung nicht schaffe, sind alle meine Chancen dahin.
z Ich muss mich zusammenreißen, damit niemand bemerkt, wie schlecht es mir geht.
z Wenn die anderen um meine Panikattacken wissen, halten sie mich für verrückt.
z Wenn ich neuerlich einen Anfall bekomme, muss ich wieder in ein Krankenhaus,
werde ich krankgeschrieben, mache ich mich lächerlich, verliere ich meine Arbeit.
Entspannungstraining 507
z Wenn ich umfalle, schauen alle auf mich her, stehen alle um mich herum und holen
die Rettung, die mich in ein Krankenhaus bringt, obwohl ich dies nicht will.
z Wenn ich umfalle, bleibe ich liegen und keiner hilft mir.
z Wenn ich durch meine Symptome unangenehm auffalle, kann ich mich bei meinen
Verwandten, Freunden, Nachbarn, Arbeitskollegen usw. nicht mehr blicken lassen.
z Ich darf an keinen Anfall denken, sonst geht es gleich los wie immer.
z Ich bin voller Wut über meinen Partner, ich sage jedoch lieber nichts, sonst zahlt er
es mir wieder zurück, weil er keine Kritik verträgt.
z An meiner Arbeitsstelle fühle ich mich ausgenützt, mich ärgert das alles sehr, aber
aufbegehren bringt nichts, weil dann alles nur noch schlimmer wird, sodass ich mei-
nen Ärger hinunterschlucken muss.
z Meine Schwiegermutter ärgert mich sehr, aber das kann ich ihr nicht sagen, sonst ist
sie mir wieder böse oder ich bekomme Spannungen mit meinem Partner.
Entspannungstraining
Sind Sie durch Ihre Ängste körperlich und geistig sehr angespannt? Sie können lernen,
Entspannung genauso zu konditionieren wie Ihre Angstzustände. In der Fachsprache
wird dies die Ausbildung eines bedingten Reflexes („klassische Konditionierung“) ge-
nannt. Die Entspannungsreaktion in Angstsituationen wird durch bestimmte, von Ihnen
festgesetzte Signale ausgelöst, die vorher im Rahmen eines Trainings mit Ruhe, Ent-
spannung, Selbstsicherheit oder Erfolg gekoppelt wurden [8]:
z Worte oder kurze Sätze. „Ruhe“, „Entspannung“, „warm“, „ich bin okay“. Alle
Formeln und formelhaften Vorsatzbildungen aus dem autogenen Training können
hier Anwendung finden. Sagen Sie sich das entscheidende beruhigende Wort in der
Phase der Ausatmung innerlich vor, um den Entspannungseffekt zu verstärken.
z Bilder oder Vorstellungen. Stellen Sie sich einen Ort oder eine Szene vor, die Sie
mit angenehmen körperlichen Empfindungen, Gefühlen und Gedanken verbinden
(„Ruhebild“), z.B. eine angenehme Urlaubserinnerung, einen ruhigen See, das weite
Meer, einen Berggipfel, eine blühende Wiese, ein wohlig warmes Bad, ein großes
Erfolgserlebnis (Erleben höchster Kompetenz), das Gefühl, geliebt zu sein.
z Zählen. Zählen Sie zur Einleitung einer Tiefenentspannung bei jedem langsamen
Ausatmen eine Zahl von 1 bis 10 und vergegenwärtigen Sie sich bei 10 Ihr wirksam-
stes Ruhebild und verbinden Sie die Entspannung mit einem bestimmten Wort, Satz
oder Symbol, um sie noch besser zu verankern und später rascher abrufen zu können
(z.B. „Ich fühle mich wohl und bin ganz entspannt“ oder Meeresrauschen). Am En-
de der Übung zählen Sie bei jeder Einatmung eine Zahl von 10 bis 1, bei 1 öffnen
Sie Ihre Augen, schütteln Ihre Arme und Beine und sagen sich: „Ich bin jetzt wieder
ganz im Hier und Jetzt und gehe gestärkt meine nächsten Aufgaben an.“
z Symbole. Symbole von Kraft, Stärke, Überlegenheit oder Distanziertheit können
Selbstsicherheit verleihen, z.B. ein Baum, der fest verwurzelt ist, ein Fels in der
Brandung, ein Adler, der über den Dingen kreist, eine Blume, die aufblüht.
z Positive Körpersignale. Berühren oder halten Sie einen beruhigenden Gegenstand
mit der rechten Hand, halten Sie die Hand des Partners, legen Sie die dominante
Hand auf Ihre Bauchdecke, stellen Sie sich ein intensives Wärmegefühl im Magen
vor (z.B. die Empfindung von warmem Tee oder warmer Suppe). Sie überlagern auf
diese Weise die negativen Empfindungen.
508 Selbsthilfe bei Angststörungen
z Düfte. Atmen Sie einen beruhigenden Duft ein (z.B. ätherisches Öl, Blumenduft,
Wald-, Berg- oder Meeresluft, Geruch des Partners, Duft des Badewassers).
z Musik. Vergegenwärtigen Sie sich oder hören Sie Ihre Lieblingsmusik, singen oder
summen Sie dazu. Spielen Sie, falls Sie dazu in der Lage sind, auf einem Instrument.
Die entspannende Wirkung durch die totale Konzentration auf das Hier und Jetzt wurde
durch die Bücher des Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi als „Flow“-Erlebnis be-
kannt. Es handelt sich dabei um das völlige Aufgehen in einer Tätigkeit (Spiel, Sport,
Musik, Hobby). Jedes Sinnesorgan und jede Tätigkeit kann genutzt werden, um Flow
auszulösen. Die volle Konzentration auf Dinge, die man gerne tut, wirkt entspannend.
Dies gilt auch für Tätigkeiten, die durchwegs anstrengend sein können und von anderen
Menschen, die diese Beschäftigungen nicht mögen, als Belastung angesehen werden.
Verschiedene Entspannungstechniken bei Angst- und Spannungszuständen werden
im Folgenden näher beschrieben: Benson Meditation, autogenes Training, progressive
Muskelentspannung nach Jacobson, Atemtechniken in Ruhe, Atemtechniken bei Bewe-
gung, Nasenatmung über Duftanregung (Aromatherapie), Entspannung durch die Kör-
perzuwendung nach der Achtsamkeitstherapie von Kabat-Zinn („Body-Scan“).
Autogenes Training
Das autogene Training wurde vom Berliner Nervenarzt Johannes H. Schultz in den
1920er- und 1930er-Jahren aus der Hypnose entwickelt mit dem Ziel, die Fremdsugge-
stion der Hypnose durch eine Form der Selbstsuggestion zu ersetzen. Das autogene
Training ist eine standardisierte Form der Selbsthypnose. Es handelt sich dabei um eine
konzentrative Selbstentspannung durch Körperzuwendung und Verbalsuggestionen. Das
autogene Training sollte unbedingt in einem fachlich gut geleiteten Kurs (in der Regel
6-7 Termine) und nicht nur aus Büchern erlernt werden, um fehlerhafte Einübungen zu
vermeiden. Zudem ist die Aufmunterung durch eine Gruppe oft sehr hilfreich.
Die Unterstufe des autogenen Trainings besteht aus sechs Übungen, die nach länge-
rem Training einen Ruhe- und Entspannungszustand herbeiführen. Die Übungen, die in
Tab. 18 anschaulich dargestellt sind, werden nacheinander im Abstand von mindestens
einer Woche gelernt, wobei zu Hause täglich geübt werden soll.
Die Übungsformeln sollen jeweils 6-mal wiederholt werden. Zwischen den Übungen
schaltet man immer wieder die Ruhetönung ein, deren Formel zweimal wiederholt wird.
Am Ende des Trainings ist das „Zurücknehmen“ sehr wichtig (leichtes Anspannen und
Entspannen der Muskulatur, insbesondere der Arme), um den normalen physiologischen
Spannungszustand des Wachbewusstseins wiederzuerlangen, anderenfalls können ver-
schiedene Missempfindungen auftreten.
510 Selbsthilfe bei Angststörungen
Nach dem Erlernen aller Übungen werden die sechs Organbereiche in der angeführ-
ten Reihenfolge durchgegangen. Regelmäßiges Üben beschleunigt den Prozess der
Entspannung. Untersuchungen haben gezeigt, dass für Entspannungszwecke die Schwe-
re-, Wärme- und Atemübung völlig ausreichend sind, weil ein Generalisierungseffekt
eintritt. Die mentale Wiederholung der bildhaft vorgestellten Kurzformeln führt zur
Empfindung der Schwere (Ausdruck der Muskelentspannung) und der Wärme (Aus-
druck der erfolgten Gefäßerweiterung). Die Atemübung verstärkt das Entspannungsge-
fühl (Ausatmen geht mit Muskelentspannung einher).
Die monotone Wiederholung der Verbalsuggestionen, die plastische Vergegen-
wärtigung entsprechender Körpererfahrungen (z.B. Vergegenwärtigung der Schwerkraft
bei der „Schwere“-Übung durch ein Hinunter-Gezogenwerden der Arme, bei der Wär-
meübung Vorstellung eines warmen Bades, bei der Atemübung Vorstellung, in einem
schaukelnden Boot zu liegen, das sich im Rhythmus der Wellen bewegt) und die passi-
ve Konzentration auf die sich sukzessiv einstellenden körperlichen Empfindungen be-
schleunigen die neurovegetative Umschaltung auf die körperliche Entspannung.
Die formelhaften Vorsatzbildungen beim autogenen Training sollen bestimmte Ein-
stellungs- und Verhaltensänderungen bewirken, ähnlich wie dies bei der Hypnose durch
posthypnotische Aufträge in Form länger wirkender Suggestionen erfolgt.
Im entspannten Zustand werden die ausgewählten Formeln im Unterbewusstsein ge-
speichert, sodass sie später auch ohne bewusste Erinnerung wirksam sein sollen.
Einige Beispiele dafür sind die folgenden Formeln:
z Ich glaube an mich, ich schaffe es.
z Ich schaffe, was ich mir vornehme.
z Ich kann die Angst aushalten.
z Ich bin mutig und wage das Neue.
z Ich bin ruhig und gelassen.
z Ich kann mich voll Vertrauen fallen lassen.
z Meine Atmung gibt mir Kraft und Energie.
Schultz [10] verweist ausdrücklich auf das autogene Trainings bei Angststörungen:
Bei der Erlernung des autogenen Trainings durch Menschen mit Angststörungen kön-
nen im Einzelfall folgende Probleme auftreten, die zu beachten sind:
z Bestimmte (hypochondrische) Angstpatienten haben Schwierigkeiten mit der Zu-
wendung auf sich selbst bzw. auf bestimmte Körperorgane und werden vorüberge-
hend durch das autogene Training noch unruhiger. Dies weist auf die Notwendigkeit
einer verbesserten Selbstwahrnehmung hin. Herzphobische Patienten geraten leicht
in Unruhe, wenn sie sich auf ihren Herzschlag konzentrieren sollen. Autogenes
Training hilft Panikpatienten erst nach einer besseren Selbstaufmerksamkeit.
z Stark verspannte Menschen können durch bestimmte Symptome als Folge einer sich
plötzlich einstellenden Entspannung in Unruhe und Panik versetzt werden (z.B.
Muskelzuckungen als Ausdruck elektrischer Muskelentladungen, Kribbelgefühle als
Zeichen verstärkter Durchblutung der Kapillargefäße der Haut, Gefühl des mentalen
Kontrollverlusts durch Verfließen der Ich-Grenzen).
Entspannungstraining 511
z Nicht selten wird anfangs in den besonders stark verspannten Körperteilen eine noch
größere Anspannung bis hin zu Schmerzen erlebt, was durch die Kontrastwirkung
(überall sonst im Körper ist Entspannung eingetreten) erklärt werden kann. In ähnli-
cher Weise können anfangs durch einen sich ausbreitenden Wärmeeffekt schlecht
durchblutete und daher als kalt erlebte Körperteile noch kälter empfunden werden.
z Bei bestimmten Menschen mit chronischen Erwartungsängsten, körperlichen An-
spannungszuständen, Schlafstörungen oder dem Bedürfnis, alles im Griff haben zu
wollen, besteht das Grundproblem oft darin, loszulassen, sich fallen zu lassen, Ver-
trauen zu sich und zur Umwelt zu haben. Diese Personen tun sich zumindest anfangs
häufig auch mit dem autogenen Training sehr schwer und profitieren mehr durch die
aktivere Technik der progressiven Muskelentspannung, bestätigen mit diesen Pro-
blemen jedoch die Sinnhaftigkeit des autogenen Trainings.
z Bestimmte Menschen mit Panikattacken oder einer Agoraphobie mit Schwindelzu-
ständen, die einen chronisch niedrigen Blutdruck haben und bei einem weiteren Ab-
fall eine Panikattacke zur Hebung des Blutdrucks erleben, sollten eher ein körperlich
aktivierendes als ein entspannendes Trainingsprogramm durchführen oder die Tech-
nik der progressiven Muskelentspannung anwenden. Hilfreich ist auch der Einsatz
einer Blutdruck stabilisierenden Formel (z.B. „Ich bin ruhig und frisch“).
Bernstein und Borkovec [11] haben in den frühen 1970er-Jahren in den USA aus
dem langwierigen Verfahren von Jacobson ein Grundverfahren mit 16 Muskelgruppen
entwickelt, die in vorgegebener Reihenfolge angespannt und entspannt werden:
1. Rechte Hand und rechter Unterarm (Linkshänder beginnen links). Formen Sie mit
der Hand eine feste Faust und spannen Sie dadurch die Muskeln von Hand und Un-
terarm an.
2. Rechter Oberarm. Spannen Sie die Muskeln des rechten Oberarms an, ohne dabei
die Muskeln des Unterarms und der Hand anzuspannen. Dies erreichen Sie am be-
sten, wenn Sie den Ellbogen fest auf eine Unterlage (Armlehne) drücken.
3. Linke Hand und linker Unterarm. Üben Sie denselben Vorgang wie bei (1).
4. Linker Oberarm. Üben Sie denselben Vorgang wie bei (2).
5. Stirn. Ziehen Sie Ihre Augenbrauen so stark wie möglich hoch und spannen Sie
dabei gleichzeitig die Stirn- und Scheitelregion an.
6. Obere Wangenpartie und Nase. Kneifen Sie die Augen fest zu, rümpfen Sie gleich-
zeitig die Nase und spannen Sie den gesamten mittleren Gesichtsbereich an.
7. Untere Wangenpartie und Kiefer. Beißen Sie die Zähne fest zusammen und ziehen
Sie die Mundwinkel stark zurück, sodass die Muskulatur des unteren Gesichtsdrit-
tels angespannt wird.
8. Nacken und Hals. Ziehen Sie das Kinn möglichst weit zur Brust, ohne die Brust
tatsächlich zu berühren, während Sie gleichzeitig die Nackenmuskulatur anspannen.
9. Brust, Schultern und obere Rückenpartie. Atmen Sie tief ein, halten Sie die Luft an,
ziehen Sie die Schultern zurück und pressen Sie dabei die Schulterblätter möglichst
weit zusammen, sodass eine starke Anspannung von Brust, Schultern und oberer
Rückenpartie entsteht.
10. Bauchmuskulatur. Spannen Sie den Bauch fest an und machen Sie diesen ganz hart,
wie wenn Sie sich vor einem Schlag schützen müssten.
11. Rechter Oberschenkel. Spannen Sie den großen Muskel an der Vorderseite des
Oberschenkels an, während Sie den hinteren Muskel gegenhalten.
12. Rechter Unterschenkel. Ziehen Sie die Zehen in Richtung Kopf hoch, sodass eine
Anspannung entsteht.
13. Rechter Fuß. Strecken Sie den Fuß, drehen Sie ihn nach innen und beugen Sie
gleichzeitig die Zehen. Verkrampfen Sie dabei die Muskeln nicht zu stark.
14. Linker Oberschenkel. Üben Sie denselben Vorgang wie bei (11).
15. Linker Unterschenkel. Üben Sie denselben Vorgang wie bei (12).
16. Linker Fuß. Üben Sie denselben Vorgang wie bei (13).
Wenn Sie das Grundverfahren ausreichend beherrschen, können Sie eine zeitökonomi-
sche Kurzform mit vier Muskelgruppen als Standardprogramm wählen:
1. Anspannung von beiden Händen, Unterarmen und Oberarmen,
2. Anspannung der Gesichts- und Nackenmuskulatur,
3. Anspannung der Muskeln der Brust, der Schultern, des Rückens und des Bauches,
4. Anspannung der Muskeln von beiden Füßen, Unterschenkeln und Oberschenkeln.
Bei gutem Übungsstand können Sie sich die erlebte Muskelentspannung durch reine
Vorstellung vergegenwärtigen. Zur Intensivierung zählen Sie dabei im Rhythmus des
Ausatmens von 1 bis 10, um bei 10 eine tiefe Muskelentspannung zu erleben.
Atemtraining
Von allen vegetativ gesteuerten Körperfunktionen nimmt die Atmung eine Sonderstel-
lung ein, weil sie willkürlich leicht beeinflussbar ist. Indirekt lässt sich dadurch auch der
Herzschlag steuern (verlangsamen). Die Atmung in Ruhe soll 8-12 Atemzüge pro Minu-
te betragen (5-6 pro Minute wirken sehr dämpfend, 3-4 noch mehr). Schneller atmen
beschleunigt den Herzschlag, langsamer atmen vermindert die Herzschlagfrequenz.
Verstärktes Einatmen fördert Anspannung und Verkrampfung, tief ausatmen entspannt,
lockert und schafft Unterdruck in der Lunge, sodass das Einatmen von selbst erfolgt.
Die verschiedenen Atemtherapien legen großen Wert auf eine frei fließende, mög-
lichst ausgedehnte Ausatmungsphase, um die Blockierung des Ausatmens zu überwin-
den und den spontan einsetzenden Einatmungsreflex zu ermöglichen. Sportler achten
auf die intensive Ausatmung durch den Mund (z.B. beim Laufen und Schwimmen),
ungeübte Läufer und ängstliche Schwimmer konzentrieren sich auf die Einatmung mit
dem Mund und bekommen bald Seitenstechen, Schwächezustände und Muskelkater.
Das Einatmen in Ruhe sollte stets über die Nase erfolgen, und zwar möglichst laut-
los. Bei der Nasenatmung wird die Luft gereinigt, befeuchtet und erwärmt. Bei der
Einatmung durch die Nase werden die Nasenflügel durch den Atemsog vorne leicht
angesaugt. Die Nase verschmälert sich beim Einatmen, und die Grübchen über den
Nasenflügeln werden tiefer. Durch die Schmalstellung der Nasenöffnung (z.B. beim
intensiven Einatmen eines angenehmen Geruchs) erhält die einströmende Luft einen
Widerstand, wodurch die Einatmung verlangsamt und verlängert und die Zwerchfellat-
mung angeregt wird. Die Luft bleibt länger in der Lunge, die Durchblutung und die
Lüftung von Lunge und Herz werden verbessert, die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn er-
höht. Der Atem hat genügend Zeit, sich in den Lungenbläschen auszubreiten und in das
Blut der Kapillargefäße einzudringen.
Das Blut wird bei der langsamen, tiefen und längeren Atmung mit mehr Sauerstoff
gesättigt und gleichzeitig vermehrt vom Abfallprodukt Kohlendioxid befreit. Dem Blut
verbleibt mehr Zeit, bis in die Zellen der entferntesten Körperstellen zu gelangen und zu
wirken. Eine intensive Zwerchfellatmung bewirkt auch eine bessere Durchblutung der
Bauchorgane und erleichtert den venösen Rückstrom des Blutes zum Herzen.
Einatmen durch den Mund führt zu übermäßiger Brustatmung, Verspannungen im
Brustbereich (infolge der übermäßigen Atmung) und zu einem trockenen Mund, oft
verbunden mit einem Hustenreiz. „Einschnüffeln“ von Luft bei geschlossenem Mund
(z.B. sich einen angenehmen Geruch vorstellen und bewusst einatmen) erleichtert die
Nasenatmung und lässt die Bewegungen des Zwerchfells besonders gut spürbar werden.
514 Selbsthilfe bei Angststörungen
Das Atmen soll nicht erzwungen werden, sondern der Atem kommt und geht in rhyth-
mischer Weise. Nach dem Einatmen soll die Luft nicht angehalten werden (dies darf nur
bei Yoga-Übungen gemacht werden, die unter Anleitung gelernt werden), sondern es
soll sofort ausgeatmet werden. Atemanhalten empfiehlt sich dagegen nach der vollstän-
digen Ausatmung, um zu sehen, was passiert. Nach kurzer Zeit erfolgt ein wohltuender,
intensiver Einatemreflex, gesteuert durch das Zwerchfell (vorausgesetzt, der Mund
bleibt bei der Einatmung geschlossen), weil die Ansammlung von Kohlendioxid im Blut
die Einatmung einfach erzwingt.
Die Zwerchfellatmung lernen Sie am leichtesten im Liegen. Bei jeder Einatmung
hebt sich die Bauchdecke, bei jeder Ausatmung senkt sich die Bauchdecke infolge der
Schwerkraft. Dieses Auf und Ab entfällt beim Sitzen oder Stehen, weshalb hier die
Zwerchfellatmung etwas schwerer zu erlernen ist. Wenn Ihnen die Bauchatmung
schwer fällt, spannen Sie vorerst einmal Ihre Bauchmuskeln an und heben bzw. senken
Sie auf diese Weise die Bauchdecke. Es fällt Ihnen dann vielleicht leichter, die Bauch-
decke allein über die Zwerchfellatmung zu bewegen. Eine weitere Erleichterung: im
Sitzen verschränken Sie zuerst Ihre Hände hinter dem Kopf, dann atmen Sie durch die
Nase ein, anschließend werden Sie spüren, wie Sie locker aus dem Bauch heraus atmen.
Die Intensivierung der Zwerchfellatmung bewirkt ein Weiterwerden der ganzen
Taille und des ganzen Rumpfes beim Einatmen und ein Schmalwerden der Taille bei
der Ausatmung. Beim Einatmen weiten sich neben der Bauchdecke auch die unteren
Rippen (Flanken), an denen das Zwerchfell festgewachsen ist, und der untere Rücken-
teil (Kreuzbereich).
Atemtraining 515
Viele Menschen mit einer Zwerchfellschlaffheit, d.h. mit einer völligen Verkümme-
rung der Zwerchfellmuskulatur (als „Zwerchfellhochstand“ diagnostiziert), können
nicht gut waagrecht liegen, weil der Bauchinhalt nach oben drückt und die Herztätigkeit
behindert. Dies könnte gelegentlich bei jenen Panikpatienten der Fall sein, die Panik-
attacken bevorzugt im Liegen als Ausdruck der Behinderung der Herztätigkeit erleben.
Atemübungen in Ruhe
1. Kerzenflamme ausblasen. Stellen Sie eine Kerze einen Meter entfernt vor Ihnen auf
und versuchen Sie, die Kerzenflamme auszublasen. Gelingt Ihnen dies nicht beim
ersten oder zweiten Mal, sollten Sie unbedingt ein Atemtraining durchführen.
2. Atmung beobachten. Legen Sie Ihre rechte Hand nacheinander auf verschiedene
Körperpartien, um die Atembewegung zu spüren: Schlüsselbein – Achselhöhle –
Brustbein – seitlicher Brustkorb – Bauchdecke – Leistenbeuge. Wo ist viel, wo ist
wenig Bewegung? Wenn sich Ihr Brustkorb mehr hebt als Ihre Bauchdecke, benöti-
gen Sie ein Atemtraining.
3. Atemstrom spüren. Verfolgen Sie beim Einatmen den Atemstrom, wie dieser durch
die Nase über den Rachenraum und die Luftröhre bis in den unteren Teil der Lunge
gelangt. Spüren Sie, wie sich die Lunge beim Atmen ganz von alleine füllt und sich
beim Ausatmen durch die Nase oder durch den Mund wieder leert.
4. Kerzenflamme bewegen. Atmen Sie durch die Nase ein und bei leicht geschlossenen
Lippen aus („Lippenbremse“). Stellen Sie sich beim Ausatmen vor, möglichst lange
eine 20 cm entfernte Kerzenflamme in Bewegung zu versetzen (ohne Ausblasen).
5. Suppe kühlen. Atmen Sie durch die Nase ein und durch die wie zum Pfeifen ge-
spitzten Lippen aus, mit der Vorstellung, möglichst lange einen Löffel heißer Suppe
blasend zu kühlen. Sie können imaginativ auch ein Fenster im Winter anhauchen
oder durch einen Strohhalm in ein Wasserglas ausatmen, sodass Luftbläschen im
Wasser aufsteigen.
6. Ausatmend zählen. Atmen Sie durch die Nase ein und zählen Sie beim Ausatmen
im Rhythmus des Herzschlags bzw. jede Sekunde eine Zahl. Bis zu welcher Zahl
kommen Sie?
8. Doppelte Ausatmungslänge. Atmen Sie doppelt so lang aus als ein. Zählen Sie beim
Einatmen innerlich 1-2 und beim Ausatmen 1-2-3-4, beim Gehen zusätzlich in Ver-
bindung mit den Schritten (d.h. „1-2 ein“, „1-2-3-4 aus“). Diese Übung ist hilfreich
für Agoraphobiker.
516 Selbsthilfe bei Angststörungen
9. Dreifache Ausatmungslänge. Atmen Sie 3-mal so lang aus als ein. Zählen Sie beim
Einatmen innerlich 1-2-3 und beim Ausatmen 1-2-3-4-5-6-7-8-9 (dies ergibt rund
fünf Atemzüge pro Minute, was sehr beruhigend wirkt).
10. Sinken lassen (Schwerkraft spüren). Lassen Sie sich im Liegen auf die Unterlage
sinken. Stellen Sie sich dabei vor, Sie würden langsam in Ihr Bett, in eine Schaum-
gummimatte oder in weichen Sand am Strand einsinken und einen Abdruck hinter-
lassen. Bei jedem Ausatmen spüren Sie, wie die Schwerkraft Sie nach unten zieht
und Ihr Körper schwerer und entspannter wird. Spüren Sie, welche Stellen Ihres
Körpers besonders gut auf der Unterlage aufliegen, und welche Stellen bei mehr
Entspannung ebenfalls noch besser auf der Unterlage aufliegen könnten. Sagen Sie
sich: „Ich lasse mich jetzt ganz fallen, mit jeder Ausatmung immer mehr.“ Spüren
Sie, wie beim Ausatmen die Spannung aus Ihrem Körper in die Unterlage fließt und
die Muskeln Ihres Körpers ganz entspannt werden.
11. Hände auf Bauch und Brust legen. Legen Sie Ihre rechte Hand auf den Bauch un-
terhalb des Nabels und Ihre linke Hand auf die Brust (Linkshänder umgekehrt). Bei
richtiger Zwerchfellatmung hebt und senkt sich fast nur die rechte Hand auf der
Bauchdecke, während die linke Hand fast ruhig auf der Brust liegen bleibt. Bei
richtiger Zwerchfellatmung weitet sich bei der Einatmung auch die Taille, bei der
Ausatmung verengt sie sich wieder, wie Sie durch seitliches Händeauflegen fest-
stellen können.
12. Beide Hände auf den Bauch legen. Legen Sie beide Hände auf den Unterbauch und
beobachten Sie, wie sich diese beim Einatmen heben und beim Ausatmen senken
(Einschnüffeln eines angenehmen Dufts erleichtert die Bauchatmung). Die Hände
auf der Bauchdecke fördern die Konzentration auf die Bauchatmung und bewirken
ein Wärmegefühl (zusätzlich warm in den Bauch hineinatmen). Durch die Berüh-
rung Ihrer Körpermitte finden Sie sozusagen Halt in Ihrer Mitte.
13. Druck auf die Bauchdecke beim Ausatmen. Legen Sie beide Hände auf den Unter-
bauch (knapp unterhalb des Nabels) und drücken Sie die Bauchdecke beim Ausat-
men sanft hinein, sodass Sie beim Einatmen durch die Nase den Gegendruck Ihrer
Hände überwinden müssen, um die Bauchdecke heben zu können.
14. Partner drückt auf die Bauchdecke beim Ausatmen. Wenn Ihnen die letzte Übung
schwer fällt, ersuchen Sie Ihren Partner oder einen Bekannten, mit seiner Hand Ihre
Bauchdecke beim Ausatmen langsam, jedoch relativ fest hineinzudrücken, sodass
Sie beim Einatmen einen stärkeren Gegendruck ausüben müssen, um die Bauch-
decke heben zu können.
15. Gegenstand auf die Bauchdecke legen. Legen Sie im Liegen eine Wärmeflasche
(Wärme entspannt), einen 0,5-1 kg schweren Sack oder ein Buch auf Ihre Bauch-
decke und bewegen Sie den Gegenstand durch die Bauchatmung auf und ab. Bei
Problemen spannen Sie zuerst Ihre Bauchmuskulatur willkürlich an, um Ihren Un-
terbauch besser spüren zu lernen. Bei richtiger Zwerchfellatmung erfolgt dann je-
doch kein Einsatz der Bauchmuskeln.
Atemtraining 517
16. Schaukelndes Boot. Stellen Sie sich vor, Sie liegen in einem kleinen Boot oder auf
einer breiten Luftmatratze auf einem See oder im Meer bei leichtem Wellengang.
Beobachten Sie, wie sich Ihre Bauchdecke beim Einatmen mit der Welle hebt und
beim Ausatmen mit der Welle senkt. Die Vorstellung einer rhythmischen Bewe-
gung wirkt entspannend. Die Vergegenwärtigung eines erholsamen Urlaubs bzw.
wärmender Sonnenstrahlen kann zusätzlich entspannend wirken.
17. Atmung im Rhythmus der Meereswellen. Stellen Sie sich vor, Sie liegen wohlig ent-
spannt am Ufer des Meeres. Beim Heranströmen und Hochspülen des Wassers am
Ufer atmen Sie ein, wobei sich Ihre Bauchdecke hebt, beim Zurückfließen des Was-
sers atmen Sie aus, wobei sich Ihre Bauchdecke senkt.
18. Atem als Welle. Lassen Sie den Atem beim Einatmen wie eine Welle von unten
nach oben „schwingen“ und beim Ausatmen von oben nach unten gehen.
19. Bauch wie einen Ballon aufblasen. Stellen Sie sich beim Einatmen vor, die Luft von
unten (zwischen den Beinen) anzusaugen und Ihren Bauch wie einen Ballon aufzu-
blasen, atmen Sie dann nach unten hin aus mit der Vorstellung, dass Ihr Bauch wie-
der kleiner wird. Spüren dabei, wie sich Ihre Bauchdecke beim Einatmen hebt.
20. Imaginative Einatmung durch den Unterleib bzw. (bei Frauen) durch die Scheide.
Frauen stellen sich vor, durch die Scheide einzuatmen, d.h. den Luftstrom von un-
ten anzusaugen, während sich die Bauchdecke mühelos hebt, und durch den Körper
bis zur Nase hinaufzuziehen und anschließend den Atemstrom wieder abwärts
durch die Scheide hindurch auszuatmen. Diese Übung bewährt sich bei Unterleibs-
schmerzen und sexuellen Problemen.
21. Energie einatmen. Stellen Sie sich vor, beim Einatmen Kraft und Energie einzuat-
men (Sauerstoff, biochemisch gesehen) und beim Ausatmen alles Verbrauchte, Be-
lastende und Ängstigende auszuatmen (Kohlendioxid oder Schlacken, biochemisch
gesehen). Formelhafte Vorsatzbildungen in Verbindung mit der Atmung sind hilf-
reich („Mit jedem Atemzug gewinne ich mehr Energie und Selbstvertrauen“, „Mit
jedem Mal Ausatmen gebe ich etwas Angst, Anspannung, Schmerz usw. ab“).
22. Geruch einatmen. Stellen Sie sich intensiv einen angenehmen Geruch vor: Wald-,
Berg-, Meeres- oder Frischluft, Blumenduft (z.B. Rose), Parfum, Inhalationsmittel,
ätherisches Öl (z.B. Minze, Orange), Gewürzkraut oder Räucherstäbchen. Atmen
Sie diesen Duft durch die Nase ein und ziehen Sie ihn hoch (d.h. „schnüffeln“ Sie
diesen ein) und atmen Sie dann durch die Lippenbremse aus. Konditionieren Sie
sich auf einen bestimmten entspannenden und beruhigenden Duft, den Sie sich dann
in jeder Angstsituation vergegenwärtigen. Anfangs können Sie vielleicht ein Duft-
fläschchen bei sich tragen und bei Bedarf daran riechen. Die Konzentration auf ei-
nen angenehmen Duft lenkt Sie von der im Rahmen des Atemtrainings vielleicht er-
folgten übermäßigen Fixierung auf die richtige (Bauch-)Atmung ab.
23. Schaukel. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einer Schaukel oder einem Schaukel-
stuhl und atmen bei der Vorwärtsbewegung aus und bei der Rückwärtsbewegung
ein. Die Vorwärtsbewegung erfolgt mit Kraft, die Rückwärtsbewegung ohne.
518 Selbsthilfe bei Angststörungen
24. Rückenatmung. Legen Sie Ihre rechte Hand auf die Bauchdecke und Ihre linke
Hand in den Rücken. Versuchen Sie die Einatemluft in den unteren Rücken zu diri-
gieren, sodass sich dieser etwas weitet, und atmen Sie dann entspannt aus.
25. Atmen durch das imaginierte Atemloch. Stellen Sie sich vor, dass die Luft bei der
Einatmung durch das so genannte Atemloch in die Beckenschale hineinströmt und
bei der Ausatmung wieder aus ihr hinausströmt. Das „Atemloch“ bezeichnet den
Akupunkturpunkt „Hui-Yin“ auf der Mitte des Dammes zwischen After und Ge-
schlechtsorgan. Der Unterleib wird dabei gut durchblutet. Sie stellen sich also vor,
Sie würden die Luft von unten durch den Körper ansaugen und wieder so abgeben.
26. Erhobene Arme. Heben Sie beide Arme hinter Ihrem Kopf in die Höhe oder ver-
schränken Sie die Hände hinter Ihrem Kopf und atmen Sie in dieser Haltung ein
und aus. Die Brustmuskulatur wird dadurch gestreckt, sodass Sie nicht mit dem
Brustkorb atmen können und die Zwerchfellatmung leichter erlernen.
27. Erden. Stellen Sie sich locker so hin, dass die Füße etwas auseinander und flach
und sicher auf dem Boden stehen. Die Beine sind dabei nicht steif durchgestreckt,
sondern minimal geknickt und dadurch leicht federnd (wie beim Schifahren). Spü-
ren Sie die Schwerkraft der Erde, indem Sie beim Ausatmen erleben, wie das Ge-
wicht Ihres Körpers über die Füße auf den Boden drückt. Ihre Füße sind fest auf
dem Boden verankert, sie gleichen den Wurzeln eines Baumes, die bei allen Stür-
men sicheren Halt geben. Stellen Sie sich mit geschlossenen Augen vor, beim Ein-
atmen Kraft und Energie aus der Erde aufzunehmen, und erleben Sie dabei die tra-
gende Kraft der Erde. Diese Übung ist sehr hilfreich bei Schwindelgefühlen und
Ohnmachtsängsten, wie sie oft im Rahmen einer Agoraphobie vorkommen.
28. Tiefenatmung bewirkt ein Sich-Spüren. Spüren Sie beim Atmen Ihren momentanen
körperlichen Zustand. Wenn Sie langsam tief ein- und ausatmen, können Sie even-
tuell nicht geahnte Gefühle provozieren, z.B. können Ihnen beim entspannten Aus-
atmen Tränen in die Augen kommen als Zeichen des Loslassens. Wenn Sie dagegen
Ihre Gefühle bzw. Schmerzzustände unterdrücken, werden Sie auch tiefes Atmen
unterdrücken. Viele Menschen haben sich wegen Schmerzen im Unterleib eine fal-
sche Atmung angewöhnt.
29. Warmer Bauch. Stellen Sie sich beim Ausatmen vor, eine warme Flüssigkeit (Tee,
Suppe usw.) aufzunehmen und verfolgen Sie den Weg bis in den Magen. Spüren
Sie, wie diese Flüssigkeit Ihren Magen erwärmt. Vergegenwärtigen Sie sich eine
konkrete Erfahrung oder trinken Sie einen warmen Tee und prägen Sie sich diese
Erfahrung ein. Vom Magen strömt die Wärme weiter in Ihren Unterleib und in Ihr
Becken und breitet sich wohltuend aus bis in Ihre Geschlechtsorgane. Diese Übung
ist oft recht hilfreich bei Magen- und Darmproblemen sowie bei sexuellen Ängsten
und Verspannungen.
30. Warmer Unterleib. Schicken Sie beim Ausatmen im Sitzen oder Liegen Ihren Atem
warm in den Unterleib. Spüren Sie, wie Ihr Unterleib warm wird, und genießen Sie
die Entspannung. Sie fühlen, wie mit dem Atem Kraft und Energie in den Unterleib
strömen. Sie atmen ruhig ein und aus und denken „Ich lasse ganz los“.
Atemtraining 519
32. Vokalatmung. Singen Sie laut und lang gezogen Töne mit den Vokalen A-E-I-O-U.
Die Vokalatmung fördert optimales Ausatmen. Vokale sind Klangträger, bei denen
die Luft am strömungsfreiesten abgegeben wird, sodass eine Kerze im Abstand von
einem halben Meter während des Tönens nicht flattern dürfte, wenn es einwandfrei
gelingt. Beim Tönen der Vokale bleibt die Zunge locker, während bei den meisten
Mitlauten das Ansatzrohr durch Zungenbewegungen verengt wird.
33. Mit einem Ton ausatmen. Atmen Sie langsam und lang mit einem bestimmten Ton
aus, am besten mit „UU“ oder „OOUUMMOOUUMM“ (ein bekanntes Mantra),
weil ein tiefer Ton seine Schwingungen mehr im Unterleib entfaltet und der Vokal
„U“ beruhigend wirkt. Schließen Sie dabei die Augen und genießen Sie die Erfah-
rung einer derartigen Ausatmung.
34. Gesichtsschlottern auf „U-U-U“. Beugen Sie sich im Sitzen oder Stehen leicht vor
und schütteln Sie Ihre Gesichtsmuskulatur locker schlotternd auf „U-U-U“ aus. Der
Ton soll aus dem Unterleib kommen, während alle Muskeln gelockert sind.
35. Lieblingslied. Singen, summen oder pfeifen Sie Ihr Lieblingslied. Der Rhythmus
des Liedes normalisiert Ihre Atmung und verhindert die Hyperventilation. Singen
und Sprechen ist Ausatmen. Beides ist bei starker Anspannung beeinträchtigt.
36. Keuchen. „Keuchen“ Sie beim Ausatmen den Atem in kleinen Stößen heraus, bis
sich Ihre Lunge leer anfühlt. Sie keuchen wie eine Lokomotive, die den Dampf in
kurzen Abständen ablässt. Stoßweises Ausatmen ist die Ausatmung beim Joggen.
37. Seufzen und Stöhnen. Lernen Sie entspannendes Stöhnen. Stellen Sie sich locker in
leichter Grätsche hin und lassen Sie Ihre Arme entspannt seitlich am Körper hän-
gen. Atmen Sie durch die Nase ein und stöhnen Sie beim Ausatmen, indem Sie Ih-
ren Oberkörper locker vornüber hängen lassen. Stöhnen Sie alles weg, was Sie
hemmt, belastet, blockiert.
38. Durch ein Nasenloch atmen (Nasenenge). Verschließen Sie beim Sitzen oder Lie-
gen mit dem rechten Zeigefinger das rechte Nasenloch, atmen Sie langsam durch
das linke Nasenloch ein, verschließen Sie nach der Einatmung mit dem linken Zei-
gefinger das linke Nasenloch und atmen Sie durch das rechte Nasenloch aus. Atmen
Sie anschließend in derselben Weise durch das rechte Nasenloch ein und durch das
linke Nasenloch aus. Die Nasenenge öffnet Ihre Bronchien und regt Ihr Zwerchfell
zu kräftigerer Arbeit an. Wiederholen Sie mehrfach diesen Wechsel (links einat-
men, rechts ausatmen und rechts einatmen, links ausatmen).
Empfehlenswert ist das Taschenbuch „Atme richtig“ von Hiltrud Lodes, aus dem viele
der angeführten Übungen modifiziert übernommen wurden. Gute Atemtechniken findet
man auch in Atemtherapie-Büchern für Asthmatiker. Die Atemblockade soll bei Asth-
matikern durch die Forcierung der Ausatmung durchbrochen werden.
520 Selbsthilfe bei Angststörungen
1. Kreuz wölben. Ziehen Sie beim Liegen auf dem Rücken Ihre Beine so an, dass die
Fußsohlen flach aufstehen, während die Arme seitlich liegen. Wölben Sie beim
Einatmen das Kreuz und drücken Sie beim Ausatmen das Kreuz wieder flach auf
den Boden. Diese Übung fördert das Erlernen der Zwerchfellatmung. Wenn Sie
einatmen und das Kreuz leicht wölben, zieht sich das Zwerchfell nach unten zum
Bauchraum zusammen, und wenn Sie ausatmen, wölbt sich das Zwerchfell kuppel-
förmig zum Brustraum nach oben.
2. Kreuz wölben mit Drehung der Arme. Ziehen Sie beim Liegen auf dem Rücken Ihre
Beine so an, dass die Fußsohlen flach aufstehen, und strecken Sie Ihre Arme aus,
sodass der Körper ein T bildet, wobei die Handflächen nach unten zeigen. Wölben
Sie beim Einatmen durch die Nase das Kreuz und drehen Sie gleichzeitig die Arme
am Boden nach oben, sodass die Handflächen nach oben zeigen. Beim Ausatmen
drücken Sie das Kreuz wieder auf den Boden und drehen Sie die Arme so, dass die
Handflächen wieder nach unten zeigen.
Atemtraining 521
3. Beckenschaukel. Ziehen Sie beim Liegen auf dem Rücken Ihre Beine an, heben Sie
Ihr Becken von der Unterlage so weit als möglich ab, während Sie dabei durch den
Mund ausatmen (z.B. mit „PFF“) und senken Sie es beim Einatmen durch die Nase.
Die Arme liegen dabei seitlich ausgestreckt.
4. Beckenbodenübung. Ziehen Sie in Rückenlage Ihre Beine zum Gesäß an, sodass die
Fußsohlen aufstehen. Lassen Sie nun Ihre Knie nach außen-seitwärts sinken, bis die
Fußsohlen aneinander liegen und atmen Sie dabei ein. Dann schließen Sie Ihre Bei-
ne wieder, indem Sie Ihre Knie wieder anheben und einander annähern, während
Sie dabei ausatmen.
5. Körper beugen im Stehen. Grätschen Sie die Beine hüftbreit und führen Sie die et-
was auseinander gehaltenen Arme ausgestreckt nach vorne und dann nach oben.
Atmen Sie dabei ein, bis Ihre Arme ganz hochgehalten sind. Dann beugen Sie sich
mit geradem Rücken langsam nach unten, die Arme weiterhin gestreckt, atmen da-
bei aus und versuchen, mit den Händen den Boden zu berühren. Nach einer kurzen
Atempause richten Sie sich mit geradem Rücken auf und atmen dabei ein, während
Sie die Arme wieder nach oben strecken.
8. Jogging-Atmung. Beim Langsam-Laufen atmen Sie stoßweise aus mit einem hörba-
ren Laut und lassen das Einatmen von alleine geschehen (ungeübte Läufer betonen
die Einatmung, überdehnen dadurch den Brustkorb und bekommen Seitenstechen).
9. Sitzend nach vorne beugen. Sitzen Sie aufrecht auf einem Sessel und ziehen Sie
beim Einatmen durch die Nase das Kinn nach oben, sodass sich die Vorderseite Ih-
res Körpers streckt und die Bauchdecke hebt. Anschließend beugen Sie sich beim
Ausatmen langsam nach vorne, gleichsam um die ganze Luft aus Ihrem Bauch her-
auszupressen, während Sie durch die Lippen so ausatmen, als ob Sie eine Kerze
ausblasen wollten.
10. Sitzend nach vorne beugen mit gestreckten Armen. Auf einem Sessel sitzend heben
Sie langsam beide Arme ausgestreckt, bis sie waagrecht sind, und atmen dabei
durch die Nase ein, dann beugen Sie den Rumpf möglichst weit vorne hinunter,
strecken die Arme nach rückwärts und atmen dabei durch den Mund aus.
522 Selbsthilfe bei Angststörungen
11. Zum gestreckten Knie hin ausatmen. Knien Sie sich mit dem linken Bein nieder und
strecken Sie das rechte Bein aus. Heben Sie beide Arme hoch und beugen Sie dann
Ihren Oberkörper zum ausgestreckten Fuß hin aus, gleichzeitig senken Sie Ihre aus-
gestreckten Arme und versuchen Sie damit die Fußspitze des ausgestreckten Beins
zu erreichen, während Sie ausatmen. Anschließend machen Sie dieselbe Übung mit
dem ausgestreckten linken Fuß.
12. Zur rechten Fußsohle einatmen, zur linken ausatmen. Verlagern Sie in leichter
Grätsche bei lockeren Kniegelenken Ihr Körpergewicht auf den rechten Fuß. Atmen
Sie in der Vorstellung zur Mitte der rechten Fußsohle ein und lassen Sie den Atem
beinwärts Richtung Kopf strömen, dann verlagern Sie Ihr Gewicht auf den linken
Fuß und lassen die Ausatmung in gegenläufiger Bewegung zur Mitte der linken
Fußsohle wieder ausströmen. Nach der Atempause atmen Sie zur linken Fußsohle
ein und zur rechten aus usw.
13. Kniebeugen und Liegestütz. Beim Beugen atmen Sie jeweils durch den Mund aus,
beim Aufrichten durch die Nase ein.
14. Stiegensteigen. Am Fuß der Treppe holen Sie über die Nase tief Luft und steigen
dann so lange die Stufen hinauf, wie Sie auf „SCH“ ausatmen können. Wenn das
„SCH“ leiser wird, bleiben Sie sofort stehen, schöpfen erneut Atem über die Nase
und steigen mit „SCH“ weiter voran usw.
15. Schrittatmung (rhythmisches Ein- und Ausatmen durch Schritte zählen beim Gehen,
Laufen oder Stiegensteigen). Koppeln Sie Ihren Atemrhythmus mit Ihren Schritten,
insbesondere bei körperlicher Anstrengung, aber auch bei Angst und Stress. Dies
bringt ein Maximum an Sauerstoff und spart Kraft. Auch Leistungssportler oder
Dauerläufer sind bestrebt, Bewegung und Atem zu rhythmisieren, denn jede rhyth-
mische Bewegung spart Kraft. Beispiele: (a) 1-2-3 Schritte ausatmen, anschließend
1-2-3 Schritte einatmen; (b) 1-2-3-4 ausatmen, anschließend 1-2 einatmen beim
Gehen, Laufen oder Stiegensteigen. Bei guter Kondition sind jeweils 4-5 Schritte
ein- und ausatmen möglich. 6 Schritte sind für einen normalen Menschen das
Höchstmaß, das nicht überschritten werden sollte, weil es sonst zu Verkrampfungen
der Muskeln in den Atemwegen kommen kann.
16. Schlag mit beiden Händen. Schlagen Sie mit verschränkten Händen auf eine weiche
Unterlage und atmen Sie dabei fest mit einem Ton aus (z.B. „HUUH“, „PUUH“).
17. Holzhacken. Stehen Sie mit gespreizten Beinen da. Strecken Sie beim Einatmen die
verschränkten Hände nach oben und biegen Sie sich so weit als möglich zurück.
Beim Ausatmen schlagen Sie mit den verschränkten Händen nach unten durch die
Beine, wie beim Holzhacken, Ihr Atem strömt hörbar durch den Mund heraus.
Achtsamkeitstraining
Die systematische Schulung der Achtsamkeit gilt als Herzstück der buddhistischen Me-
ditation. Achtsamkeit bedeutet, jeden Augenblick bewusst zu erfassen. Meditation ist
eine bewusste Beobachtung von Körper und Geist, bei der man alle auftauchenden Er-
fahrungen zulässt, ohne einzugreifen. Gedanken und Vorstellungen werden nicht unter-
drückt oder verändert. Es geht darum, da zu sein, wo man gerade ist, und nicht darum,
irgendwo anders hinzukommen. Das primäre Ziel ist nicht die Entspannung, sondern
vielmehr die Wahrnehmung des aktuellen Erlebens (z.B. der Atmung), wobei Entspan-
nung durchaus ein Nebenprodukt sein kann.
Achtsamkeit fördert keine Passivität im Leben, sondern führt vielmehr zu einer neu-
en Form von Aktivität. Die bewusstere Wahrnehmung dessen, was in uns vorgeht, hat
einen positiven Einfluss auf unser ganzes Leben und Handeln. Eine größere Achtsam-
keit im Sinne einer besseren Selbstwahrnehmung führt zu einer größeren Selbstkontrol-
le. Achtsamkeit kann durchaus auch bedeuten, dass die anfangs störenden Gedanken,
Gefühle und Empfindungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt werden.
Alles Störende wird dabei jedoch passiv angenommen und nicht bewertet, sodass im
Laufe der Zeit die Unruhe verschwindet. Ängstliche Gedanken und Vorstellungen dür-
fen vorhanden sein und wirken aufgrund dieser Einstellung bereits weniger bedrohlich.
Das empfehlenswerte Buch „Gesund durch Meditation“ des amerikanische Verhal-
tensmediziners Jon Kabat-Zinn beschreibt das Programm der von ihm früher geleiteten
amerikanischen Stressklinik, das auf einem systematischen Training der Achtsamkeit
beruht, einer Form der Meditation, die auf buddhistische Traditionen zurückgeht. Men-
schen mit Angststörungen werden von Kabat-Zinn ermutigt, der Angst nicht auszuwei-
chen, sondern alle auftretenden Gedanken und Zustände durch bewusste Wahrnehmung
und Methoden der Achtsamkeit besser ertragen zu lernen. Interessierte sollten unbedingt
eine einschlägige Veranstaltung besuchen und nicht nur eigenständig üben.
Die sieben zentralen Aspekte der Achtsamkeitspraxis sind:
z Nicht-Beurteilen: Verzicht auf ständige Bewertung der körperlichen Empfindungen.
z Geduld: Warten-Können, denn jedes Ding hat seine eigene Zeit.
z Den Geist des Anfängers bewahren: für alles offen sein, wie wenn es neu wäre.
z Vertrauen: Vertrauen in das eigene innere, grundlegendes Ganz-Sein.
z Nicht-Greifen (Nicht-Streben): nichts direkt anstreben oder erzwingen wollen.
z Akzeptanz: alle Zustände annehmen (dies bedeutet nicht, alles gut zu finden).
z Loslassen: auch nichts Schönes festhalten wollen, um es zu bewahren.
Ich liege da auf dem Rücken, meine Arme sind ausgestreckt neben meinem Körper. Ich nehme mir jetzt
eine halbe Stunde Zeit, um bewusst wahrzunehmen, wie ich mich körperlich fühle. Ich schließe meine
Augen und bemerke, wie sich mein körperliches Erleben verändert, wenn ich das Sehen und damit die
Umwelt ausschalte und mich ganz auf meine momentanen körperlichen Empfindungen einlasse. Was
empfinde ich gerade jetzt? Welche körperlichen Zustände nehme ich momentan wahr? Welche inneren
Bilder tauchen gerade auf? Ich wende mich meinem Körper zu und beobachte ihn ganz bewusst. Ich
registriere alles, was kommt, lasse alles zu und möchte nichts Besonderes erreichen. Ich bleibe ganz im
Hier und Jetzt, lebe von Augenblick zu Augenblick. Wenn ich mich vor dieser Übung etwas fürchte, ist
es okay. Ich möchte nichts als negativ bewerten und unterdrücken und auch nichts direkt anstreben,
weil beide Bemühungen nur meine Anspannung erhöhen und vom Erleben der unmittelbaren Gegen-
wart ablenken. Ich weiß, dass ich bisher meinen Körper oft ängstlich und kritisch beobachtet habe. Ich
neige dazu, alles, was ich erlebe, kritisch zu bewerten. Ich brauche aber auch dieses Beurteilen und
Interpretieren meiner körperlichen Empfindungen nicht zu unterdrücken. Ich mache mir bewusst, alles,
was geschieht, lediglich zu beobachten und zu registrieren, ohne es als negativ oder positiv zu bewerten
oder in irgendeiner Form darauf zu reagieren. Ich kann Anspannung genauso zulassen wie Angst oder
Schmerz. Ich lasse störende Gedanken vorbeiziehen wie die Wolken am Himmel und konzentriere mich
immer auf das, was gerade ist, was ich gerade spüre, und lasse mich überraschen, was kommen wird,
ohne Vorausahnungen anzustellen. Wenn ich unruhiger werde, bin ich eben unruhiger, wenn ich ent-
spannter bin, bin ich eben entspannter. Ich spüre mich, ohne etwas zu vermeiden oder anzustreben.
526 Selbsthilfe bei Angststörungen
Ich konzentriere mich jetzt auf meine Atmung, spüre den Rhythmus des Aus- und Einatmens und
lebe dadurch ganz im Augenblick, in der Gegenwart. Ich spüre, wie ich ganz von allein durch die Nase
einatme und wie der Atemstrom in die Lunge hineinfließt, dann in den Bauchraum hinunterströmt und
bis in das linke Bein, in den linken Fuß und in die Zehen des linken Fußes gelangt und durch in die
Umwelt austritt. Ich stelle mir vor, wie ich durch die Zehen des rechten Fußes einatme und der Atem-
strom durch das rechte Bein in den Körper herauf gelangt, in den Bauchraum und in die Lunge hinein-
fließt, bis hinauf zum Kopf weiterströmt und bei der Nase austritt. Ich lasse den warmen Atemstrom in
meinen Bauch- und Beckenraum fließen und beobachte meine Empfindungen im Unterleib. Ich spüre,
was mich gefühlsmäßig bewegt, in meinem Ober- und Unterbauch und lasse alles zu, was kommt. Ich
kann in jeden Körperteil hineinatmen, der angespannt ist oder der mich ängstigt, und alles zulassen, was
ich im momentan spüre. Wenn mich unangenehme Erinnerungen oder Befürchtungen überfallen, lasse
ich sie zu, ohne dagegen anzukämpfen oder schönere Vorstellungen produzieren zu wollen. Ich darf
mich fürchten, ärgern, traurig fühlen, egal ob es dafür einen Grund gibt oder nicht.
In der Veränderung meines Atmens nehme ich wahr, dass Veränderungen ein natürlicher Bestand-
teil des Lebens sind. Wenn ich mich ärgere oder ängstigende, wird mein Atem schnell, wenn ich mich
beruhe, wird mein Atem langsamer. Ich erlebe, wie meine Anspannung nachlässt, wenn ich langsam
und vollständig durch den leicht geschlossenen Mund ausatme, und wie sich mein Körper mit Sauer-
stoff und Energie auftankt, wenn ich tief durch die Nase einatme. Ich spüre, wie beim Ausatmen ein
angenehmes Gefühl der Entspannung und beim Einatmen ein natürliches Gefühl der Anspannung
entsteht. Wenn mich etwas ablenkt und ich es merke, komme ich immer wieder zurück auf meinen
Körper, konzentriere mich auf meine Atmung und erlebe das Auf und Ab der Bauchdecke als Ausdruck
meiner ruhigen Zwerchfellatmung. Ich spüre die Atmung wie eine Welle, die meinen Körper durchflu-
tet. Ich finde immer wieder meine Mitte, indem ich mich auf meinen Bauch konzentriere, wenn ich das
Gefühl habe, verloren zu gehen oder unruhig zu werden. Die Lebendigkeit der Atmung zeigt mir, dass
alles in Ordnung ist. Ich kann alles Unangenehme genau so registrieren wie alles Schöne, denn ich
finde Beruhigung durch den Rhythmus meiner Atmung.
In den Phasen, in denen ich ausatme, wird mein Körper immer schwerer, bedingt durch die nach-
lassende Muskelspannung. Ich kann jeden Teil meines Körpers spüren, der auf der Unterlage aufliegt,
und ich lasse mich beim Ausatmen buchstäblich immer mehr fallen, im Vertrauen auf den festen Halt
der Unterlage. Beim Ausatmen entspannen sich die Muskeln meiner Blutgefäße, sodass mehr Blut
hindurchfließen kann und mein Körper warm wird. Ich spüre die zunehmende Wärme und Entspannung
meines Körpers, aber auch jene Stellen, die vielleicht andere Empfindungen vermitteln. Je wärmer ich
mich fühle, umso mehr vertieft sich meine Entspannung. Ich spüre die Berührungswärme an den Stellen
meines Körpers, die auf der Unterlage aufliegen. Wenn ich mich jetzt in bestimmten Bereichen meines
Körpers unwohl fühle, nehme ich das wahr und lasse es zu, ohne irgendetwas ändern zu wollen. Ich
muss nichts erreichen, ich muss nichts vermeiden, ich bleibe ganz im Hier und Jetzt, in der Gegenwart,
im Moment, und lasse mich überraschen was kommt, ohne ständig voraus denken zu müssen.
Ich gehe in Gedanken meinen ganzen Körper durch und stelle mir alle Körperteile möglichst genau
und plastisch vor. Meine Aufmerksamkeit ist ganz auf die jeweilige Körperstelle gerichtet, sodass ich
die momentanen Empfindungen wahrnehmen kann. Ich brauche nichts zu ändern, sondern nur zu beo-
bachten, wie warm oder kühl, wie entspannt oder angespannt, wie wohlig oder unbehaglich ich die
verschiedenen Körperteile erlebe. Vom Fuß bis zum Kopf versuche ich in der Reihenfolge und in der
Art, wie es mir gerade gefällt, jeden Teil meines Körpers zu spüren und bewusst als Teil von mir zu
erleben. Das alles kann ich wahrnehmen: den rechten Fuß, den linken Fuß, die momentane Temperatur
und Empfindung in den Füßen, die Zehen, die Durchblutung bis in die Zehen hinein, die Fußsohlen, das
Aufliegen der Fersen, die momentane Anspannung oder Entspannung der Muskeln in den Unterschen-
keln, die Kniegelenke, die Oberschenkel und die dabei vorhandenen Empfindungen, das Übergehen der
Oberschenkel in den Körper, das Gesäß, das Becken, den Bauch mit seinen Organen, das Heben und
Senken der Bauchdecke im Rhythmus der Atmung, ein eventuelles Geräusch im Darm als Zeichen
zunehmender Entspannung, den Brustkorb, das momentane Schlagen des Herzens, den Schulterbereich,
die Ober- und Unterarme bis hinein in jedes einzelne Fingerglied, die Schwere der Arme beim Ausat-
men und die Berührung der Unterlage, das Aufliegen des Kopfes, die Empfindungen im Nacken, die
Temperatur in den Ohren und in der Haut des Gesichts, den Mund, die Zunge, die Kiefermuskulatur,
wie entspannt oder angespannt diese ist, die Temperatur in den Wangen, die Empfindungen in der Nase
bei der Ein- und Ausatmung, die geschlossenen Augenlider mit den Augen darunter, die Stirn mit den
momentanen Empfindungen. Wenn mein Kiefer angespannt ist, lasse ich beim Ausatmen los und spüre,
wie sich mein Gesicht entspannt.
Achtsamkeitstraining 527
Ich verweile überall dort, wo ich Anspannung oder Verkrampfung verspüre. Mit jedem Mal Aus-
atmen löst sich die Verspannung, und ich genieße die zunehmende Entspannung. Ich atme langsam und
vollständig aus und atme dabei alles hinweg, was mich belastet und schmerzt. Wenn Anspannung oder
Schmerzen an einer bestimmten Stelle zurückbleiben, während sich rundherum Entspannung breit
macht, stelle ich mir vor, wie der kühlende Ausatemstrom dorthin geht und lindernd wirkt. Es mag
mich eigenartig berühren, durch bestimmte Körperteile auszuatmen, ich stelle mir jetzt vor, durch
verspannte oder schmerzende Körperteile auszuatmen: durch die Zehen, durch die Finger, durch den
Unterleib, durch die Augen, durch die Stirn, durch die Schädeldecke, durch den Nacken.
Beim Ein- und Ausatmen erlebe ich die Lebendigkeit meiner Person, den Rhythmus des Auf und
Ab der Bauchdecke, bewirkt durch meine Zwerchfellatmung. Beim Einatmen durch die Nase spüre ich
die Mitte meines Körpers, wie sich meine Bauchdecke hebt. Beim Ausatmen erlebe ich, wie meine
Bauchdecke durch die Schwerkraft nach unten gezogen wird. So wie ich meine Atemmuskeln bei der
Sauerstoffaufnahme beobachten kann, kann ich auch meinen Herzmuskel bei der Arbeit wahrnehmen.
Ich spüre die Stelle in meiner Brust, wo sich mein Herz befindet, und konzentriere mich für einige Zeit
ganz auf mein Herz, wie es gerade schlägt. Ich kann es aushalten, wenn ich mich dabei vielleicht etwas
beunruhigt fühlen sollte. Ich weiß, dass nach einiger Zeit wieder Ruhe in meinen Körper einkehrt.
Ich stelle mir vor, wie mein Herz das Blut aus dem Körper ansaugt, sich kräftig zusammenzieht und
das warme Blut wieder in den Kreislauf auswirft. Der warme Blutstrom fließt durch die weit geöffneten
Arterien bis in die letzten Verästelungen, die Kapillargefäße, wo der vermehrte Blutfluss ein Kribbelge-
fühl bewirkt. Die vermehrte Durchblutung der feinen Blutgefäße der Haut bewirkt ein angenehmes
Wärmegefühl, ich kann aber auch spüren, an welchen Stellen meines Körpers die Wärme der Durchblu-
tung vielleicht weniger gut ist. Ich stelle mir vor, wie das Blut vom Herzen weg in alle Stellen meine
Körpers fließt und diesen mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt und wie das Kohlendioxid durch die
Venen zum Herzen zurück transportiert wird, von dort in die Lunge gepumpt und beim Ausatmen
ausgeschieden wird. Ich genieße die wohlige Wärme des Körpers. Wenn andere Empfindungen auftre-
ten, die ich eigentlich nicht will, lasse ich sie zu, denn ich muss auch im Laufe der Zeit nichts erreichen.
Wichtig ist nur zu spüren, wie der Blut- und Atemstrom meinen Körper durchfließen und mich lebend
und gesund erhalten.
Ich habe meinen Körper nun ausreichend beobachtet und gespürt und präge mir den angenehm ent-
spannten Zustand ein, sodass ich beim nächsten Mal nur daran zu denken brauche und leichter in diesen
Zustand gelange. Ich zähle jetzt im Rhythmus des Ausatmens langsam von 1 bis 10 und spüre, wie mit
jeder Zahl und jeder Ausatmung meine Entspannung immer tiefer wird, sodass ich beim nächsten Mal
auf diese Weise gleich zu Beginn in eine tiefere Entspannung als bisher gelangen kann. Bei 10 verge-
genwärtige ich mir noch zusätzlich durch ein Wort oder Bild den Zustand der Entspannung und genieße
es noch eine Weile, in diesem Zustand zu sein. Danach zähle ich langsam im Rhythmus des Einamtens
von 10 bis 1 und spüre, wie dadurch Energie und Kraft in meinen Körper gelangt.
Ich beende jetzt die Übung und spanne meine Gliedmaßen, die Hände und Füße, zwei- bis dreimal
kurz und fest an. Ich rekle und strecke mich, atme ein paar Mal kräftig durch und öffne die Augen. Ich
fühle mich frisch und erholt, ganz im Hier und Jetzt, gestärkt für die Aufgaben, die mich bald erwarten.
Die Botschaft der Achtsamkeitstherapie nach Jon Kabat-Zinn lautet: Menschen mit
Angststörungen kämpfen nicht zu wenig, sondern zu viel gegen ihre ängstlichen Be-
fürchtungen, unangenehmen Gefühle, körperlichen Verspannungen und negativen Erin-
nerungen. Die formale Achtsamkeitspraxis strebt auch nicht bewusst das Gegenteil
(Beruhigung und Entspannung) an, sondern lehrt die Betroffenen im Rahmen eines
achtwöchigen Kurses die Erfahrung, dass jede körperliche, emotionale und geistige
Befindlichkeit durch einfaches Gewahr-Werden und Zulassen bewältigbar ist – ohne
jede Anstrengung und ohne jeden Kampf, der die vorhandene Anspannung nur weiter
verstärkt. Die Konzentration auf die Atmung strebt keine bewusste Entspannung an,
sondern eine bessere Zentrierung und vertiefte Körperwahrnehmung. Das heilsame
Motto lautet gleichsam: „Kontrolle durch Nicht-Kontrolle“. Dies ist nur möglich durch
die Stärkung des Vertrauens in den eigenen Körper und in die eigenständige Handlungs-
fähigkeit ohne Sicherheitssignale und Vermeidungsstrategien, d.h. ohne Unterstützung
durch andere Menschen oder bestimmte Hilfsmittel wie Medikamente oder Handy.
528 Selbsthilfe bei Angststörungen
Es ist ganz normal, Angst zu haben. Es kommt darauf an, wie man damit umgeht.
Die sechs Behandlungsprinzipien der Akzeptanz- und Commitmenttherapie werden im
Folgenden in Form von Handlungsanleitungen dargestellt:
1. Akzeptanz und Bereitschaft: Akzeptieren Sie Ihre Ängste und lassen Sie sich bereit-
willig auf Angst machende Erfahrungen ein, ohne sie zu vermeiden. Versuchen Sie
nicht ständig, Ihre Ängste kontrollieren und beseitigen zu wollen. Wir vermeiden
und fliehen Angst machende Situationen nicht deshalb, weil wir Angst haben, son-
dern weil wir nicht bereit sind, unsere Angst zuzulassen und zu spüren – aus Angst,
die Kontrolle darüber zu verlieren. Wenn Ihnen etwas wichtig ist, dann tun Sie es –
mit Angst und trotz Angst! Lassen Sie Ihre Angstgefühle zu, ohne ständig dagegen
anzukämpfen, weil dies Ihre Anspannung nur verstärkt nach dem Motto: „Alles, was
man unterdrücken möchte, verharrt länger und stärker im Bewusstsein – und kostet
viel Energie.“ Diese Energie fehlt Ihnen dann bei der Umsetzung Ihrer Lebensziele.
Durch den Kampf gegen unangenehme Gefühle, schmerzliche Erinnerungen und
beunruhigende Zukunftsvorstellungen beschränken wir unser Leben auf die hartnäk-
kige Kontrolle der letztlich unkontrollierbaren Gefühle. Wir verlieren dabei alles aus
den Augen, was uns im Leben wichtig ist. Während wir ständig dabei sind, die
Angst als Beschränkung der Lebensmöglichkeiten beseitigen zu wollen, vergessen
wir darauf, ein befriedigenden Leben bereits zu Zeiten großer Angst zu beginnen.
Angstvermeidung ist Gefühls- und Erlebensvermeidung. Wer Angst machenden Si-
tuationen ausweicht, bringt sich um die Chance bereichernder Erfahrungen. Sind Sie
bereit, sich auf neue und unsichere Situationen einzulassen, weil Sie etwas ganz Be-
stimmtes erreichen und erleben möchten? Sobald Sie dazu bereit sind, ist Angst
nicht mehr das entscheidende Gefühl, das Ihr Erleben und Verhalten in verschiede-
nen Situationen bestimmt und Sie zu Vermeidung bzw. Flucht drängt. Hindert Sie
Ihr irreales Ziel, zuerst keine Angst mehr zu haben und dann alles tun zu wollen, bei
der Bewältigung derzeit Angst machender Situationen? Dann leben Sie nach dem
schädlichen Motto: „Man muss sich bei allem, das im Leben gut ist, auch immer gut
fühlen.“ Sie kennen diese Ratschläge: „Don’t worry, be happy“; „Sorge dich nicht,
lebe“; „denke positiv, sei gelassen und locker; sei selbstbewusst und glaub’ an dich;
sag’ dir, du brauchst keine Angst zu haben.“ Diese gut gemeinten Empfehlungen
machen Ihnen nur Stress und verstärken Ihr Gefühl der Unfähigkeit, wenn Sie ohne-
hin schon lange genug nach dem Motto „Reiß’ dich mehr zusammen“ gelebt haben.
Sie sind nicht willensschwach oder gar psychisch krank, weil Sie bestimmte Gefühle
wie Angst, Traurigkeit oder Ärger haben. Sie machen deswegen alles noch schlim-
mer, weil Sie immer wieder dieselben unwirksamen Problemlösungsversuche an-
wenden, nämlich Ihre Gefühle unter Kontrolle („in den Griff“) zu bekommen und
allen unangenehmen Empfindungen auszuweichen, anstatt diese durch Zulassen zu
verarbeiten. Gefühle wie Angst können Sie nicht durch logische Analysen und gro-
ßen Willenseinsatz „wegmachen“. Stellen Sie sich Angst machenden Situationen
nicht mit dem Bedürfnis nach Kontrolle der Angst, auch nicht mit der Einstellung,
dass nach einiger Zeit der Konfrontation ein Gewöhnungseffekt (Habituation) ein-
treten wird, sondern weil Ihnen ein bestimmtes Ziel sehr wichtig ist. Kämpfen Sie
nicht gegen die Angst, sondern für ein besseres Leben. Begrüßen Sie Ihre Angst und
treten Sie in einen Dialog mit der Angst, sagen Sie ihr: „Da bist du wieder, ich ken-
ne dich schon. Jetzt gehen wir ein Stück gemeinsam weiter, dorthin, wo ich hinge-
hen möchte. Du darfst mich begleiten wie mein Schatten, du darfst dabei sein, wenn
ich jetzt mehr vom Leben haben möchte.“
Akzeptanz- und Commitmenttraining 531
2. Entkoppelung von Gedanken und Realität (Defusion): Schaffen Sie einen Abstand zu
Ihren Gedanken und Gefühlen. Wir sind oft mit unseren Gedanken und Vorstellun-
gen verschmolzen (fusioniert) und fürchten uns dann vor dem, was wir uns denken
und vorstellen. Wenn wir keinen Abstand zu unseren Gedanken und Gefühlen ha-
ben, sondern diese für hundertprozentig richtig halten, bekommen unsere inneren
Erlebnisse große Macht über uns, sodass wir ständig ein Kontrollverlustgefühl ha-
ben. Unterscheiden Sie zwischen Ihren Gedanken und Gefühlen einerseits und der
Realität andererseits. Nehmen Sie Ihre Gedanken nicht so wörtlich, betrachten Sie
Ihre Gedanken, Gefühle und körperlichen Empfindungen als vorübergehend (als
kommend und gehend, wie eine Welle oder wie die Wolken am Himmel). Sagen Sie
sich: „Das sind nur meine momentanen Gedanken und Gefühle. Sie sind jetzt da und
werden vorübergehen. Ich habe momentan diese Gedanken über die Wirklichkeit,
aber meine Gedanken sind nicht die Realität.“ Sie sollten in bestimmten Situationen
auch gar nicht versuchen, „positiv“ zu denken oder Ihre „falschen“ (dysfunktiona-
len) Gedanken durch „richtige“ (angemessenere) zu ersetzen, wie dies in der kogni-
tiven Verhaltenstherapie im Sinne einer „kognitiven Umstrukturierung“ angestrebt
wird. Negative und unrealistische Gedanken an sich (z.B. „Jetzt muss ich sterben“,
„Gleich werde ich verrückt“, „Bald liege ich ohnmächtig da“, „Ich bin ein Versa-
gern“, „Alle werden mich ablehnen“, „Ohne meinen Partner kann ich nicht überle-
ben“) sind nicht wirklich das Problem; sie führen erst dann zur Beeinträchtigung un-
seres Lebens, wenn wir sie wörtlich nehmen, für die Wahrheit halten, und unser Le-
ben danach ausrichten. Wenn bestimmte Gedanken, Gefühle und Empfindungen zur
Belastung werden, geht es nicht darum, die jeweiligen Inhalte als falsch oder bewäl-
tigbar anzusehen, sondern zu den Gedanken als solchen eine innere Distanz, einen
Abstand, dazu zu schaffen nach dem Motto: „Ich bemerke, wie ich Angst bekomme
durch die Identifizierung und Verschmelzung mit meinen momentanen Gedanken
und Gefühlen. Doch das sind nur Gedanken, die nicht die Realität wiedergeben, das
sind nur Gefühle, die vorübergehen werden.“ Lassen Sie Ihre Gedanken und Gefüh-
le in bestimmten Situationen ebenso zu wie Ihre körperlichen Zustände, ohne dage-
gen anzukämpfen, denn diese sind nur momentan vorhanden und werden von allein
wieder verschwinden. Werden Sie zum distanzierten Beobachter Ihres inneren Erle-
bens, ohne sich davon überwältigen zu lassen. Bleiben Sie nicht in Ihren Gedanken,
Gefühlen und Empfindungen stecken, treten Sie vielmehr heraus und schauen Sie
sich diese aus einer gewissen Distanz wie ein interessierter Beobachter oder Wissen-
schafter an. Sagen Sie sich: „Ich habe jetzt einen bestimmten Gedanken, aber ich bin
nicht mein Gedanke, ich und mein Gedanke sind nicht eins. Ich denke, das ist jetzt
so, aber das ist nur mein momentaner Eindruck von der Realität.“ Sagen Sie sich in-
nerlich Ihre Gedanken ganz bewusst vor und schreiben Sie diese auch auf (z.B.
„Mein Partner wird mich verlassen“, „Ich glaube, dass mich dieses Herzrasen um-
bringen wird“, „Ich falle bei diesem Schwindel bewusstlos um“). Lassen Sie Ihre
Gedanken (z.B. an ein negatives Erlebnis oder an die nächste Panikattacke mit To-
desangst) zu, als wären Sie ein Zuschauer in einem Kino und lassen Sie diese Bilder
wie einen Film an Ihnen vorüberziehen, ohne sich damit zu identifizieren und ohne
sich in das Geschehen hineinzuversetzen. Beschreiben Sie auch Ihre momentan ge-
fürchteten Impulse (z.B. „Ich könnte sie/ihn anschreien oder würgen“) und machen
Sie die Erfahrung, dass Sie davon nicht überwältigt werden. Humor (über sich selbst
lachen können) ist ebenfalls eine hilfreiche Distanzierungstechnik (z.B. „Ich lasse
mich überraschen, woran ich bei der nächsten Panikattacke sterben werde“).
532 Selbsthilfe bei Angststörungen
4. Trennen Sie Ihr Selbst (als Kontext) von Ihren Gedanken und Erfahrungen (Inhalt).
Jeder Mensch stellt sich die Fragen: „Wer bin ich?“ und „Was halten die anderen
von mir?“ Das Bild, das wir von uns selbst haben, besteht aus einer Fülle von positi-
ven und negativen Aussagen, die wir im Laufe der Zeit aufgrund der Erfahrungen
mit uns selbst und mit der Umwelt gemacht haben. Vervollständigen Sie doch ein-
mal rasch und spontan folgende Sätze: „Ich bin …“, „Ich bin nicht der Typ, der …“,
„Ich habe schon immer …“, „Ich war noch nie …“, Ich war auch früher schon …“,
„Ich werde auch in Zukunft …“, „Es fällt mir schwer, …“, „Es ist wieder einmal ty-
pisch, dass ich …“, „Wenn mir alles zu viel wird, dann …“, „Wenn ich vor neuen
Situationen stehe, möchte ich am liebsten …“, „Wer mich näher kennt, der …“,
„Mir liegt …“, „Ich mag an mir …“, „Drei typische Merkmale von mir sind …“. Er-
stellen Sie eine Hitliste der zehn häufigsten negativen Selbstaussagen. Lassen Sie
diese dann wie auf einem Monitor an Ihnen vorbeiziehen und gehen Sie dazu auf
Distanz. Je mehr wir uns mit den Aussagen über uns selbst identifizieren und mit
diesen verschmelzen, desto rigider und unveränderlicher ist unser Selbstbild und
umso weniger sind wir offen für neue Sichtweisen, Erfahrungen und Verhaltenswei-
sen. Eine derartige Einstellung uns selbst gegenüber hält uns im Gefängnis unseres
momentanen Selbstkonzepts fest und schränkt unsere Lernmöglichkeiten erheblich
ein. Die Summe unserer Vorstellungen über uns selbst ist nicht endgültig festste-
hend, sondern ständig wechselnd je nach Sichtweise und Lernerfahrung. Neue Er-
fahrungen mit uns selbst und unserer Umwelt ermöglichen ein neues Selbstkonzept,
das weitere Verhaltensmöglichkeiten eröffnet. So wie wir uns von unserem momen-
tanen Befinden distanzieren können, ohne damit zu verschmelzen, können wir uns
auch von unserem aktuellen Selbstbild als der Summe der gegenwärtigen Aussagen
über uns selbst distanzieren. Wir sind mehr als das, was wir von uns halten. Wir sind
mehr als unser momentanes Selbstkonzept und gehören nicht auf Dauer in eine be-
stimmte Schublade oder Diagnosekategorie. Die Aussage „Ich bin ein ängstlicher
Typ“ legt unser weiteres Verhalten fest. Wir können auf Distanz zu unserem einen-
genden Selbst-Konzept gehen, indem wir uns aus einer Beobachter-Perspektive an-
schauen. Wir sind der Mensch, der Beobachter, der hinter den jeweiligen sich än-
dernden Befindlichkeiten und Selbstkonzepten steht, der sich durch seine Erfahrun-
gen in der Vergangenheit und in der Zukunft von dem abhebt, was im gegenwärti-
gen Moment als Bild der Persönlichkeit sichtbar wird. Es ist nicht notwendig, unsere
negativen und schädlichen Selbstaussagen durch positive und nützlichere zu erset-
zen, damit wir anders handeln können. Es reicht, auf Distanz zu unseren einengen-
den Selbstkonzepten zu gehen und unser bisheriges Selbstbild mit neuen Sichtwei-
sen zu verknüpfen – und zwar durch das Wort „und“. Die Feststellung: „Ich reagiere
in unbekannter Umgebung rasch mit Angst und möchte jetzt doch einmal neue Orte
und Situationen aufsuchen“ erweitert Ihren Handlungsspielraum. Die Sichtweise
„Ich bin ein schüchterner Mann und kann bei der nächsten Gelegenheit eine Frau
ansprechen“ ermutigt Sie zu einem neuen Verhalten, das Ihr momentanes Selbstbild
aufgrund der gemachten Erfahrungen verändern wird. Eine Flugangst lässt sich
möglicherweise durch folgende Aussage überwinden: „Ich bin nicht gerne abhängig
von fremden Menschen und unbekannter Technik und ich lasse mich trotzdem auf
einen Flug ein, weil ich gerne einmal mit meiner Familie in die Türkei fliegen
möchte.“ Ihr Bewegungsspielraum kann sich auch durch folgende Sichtweise erwei-
tern: „Hunde machen mir Angst und ich suche trotzdem Orte auf, wo ich bestimmt
Hunde antreffe, weil ich mit meinen Kindern überall hingehen möchte.“
534 Selbsthilfe bei Angststörungen
5. Entscheiden Sie sich für bestimmte Werte und daraus abgeleitete Richtungsziele im
Leben. Die Entscheidung für bestimmte Werte gibt unserem Leben die nötige Orien-
tierung und ermöglicht uns aufgrund der damit verbundenen Handlungsrichtlinien
Einflussnahme und Kontrolle. Unsere Gedanken, Gefühle und körperlichen Empfin-
dungen haben wir dagegen oft nicht unter Kontrolle. Unser Verhalten ausschließlich
nach unserem Befinden steuern zu wollen, würde zu einer erheblichen Erschränkung
unserer Handlungsmöglichkeiten führen. Wenn Gedanken (z.B. die Überzeugung,
körperlich nicht attraktiv zu sein oder etwas nicht zu schaffen), Gefühle (z.B. Angst,
Ekel oder Lustlosigkeit) und körperliche Zustände (z.B. Schwindel, Übelkeit oder
Schmerzen) die entscheidenden Ursachen für unser Handeln wären, würden wir bald
ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten und resignative Tendenzen entwickeln.
Werte als Aussagen darüber, was unser Leben sinnvoll und lebenswert macht, er-
möglichen die Ausrichtung unseres Verhaltens an den daraus abgeleiteten kurz-,
mittel- und langfristigen Lebenszielen, unabhängig von unserem aktuellen Befinden.
Es mag sein, dass wir unsere Ziele oft nicht oder nicht ausreichend erreichen, den-
noch bleiben Werte als allgemeine Vorstellungen über die Gestaltung unseres Le-
bens weiterhin bestehen. Ein befriedigendes Leben erfordert mehr als die Beseiti-
gung oder Linderung von Angststörungen, Depressionen, Schmerzen oder körperli-
chen Beschwerden. Oft können wir weder unerwünschte Zustände wie Angst, Trau-
rigkeit oder Lustlosigkeit rasch und anhaltend überwinden noch angenehme Zustän-
de wie Glück, Zufriedenheit oder Freude herbeiführen. Durch die Orientierung an
unseren Werten und den daraus resultierenden Zielen können wir jedoch mehr Sinn
in unser Leben bringen. Ein gutes Leben in Einklang mit unseren Werten, mit dem,
was uns „lieb und teuer“ ist, ist auch dann möglich, wenn wir mit unserer körperli-
chen, seelischen und sozialen Befindlichkeit nicht zufrieden sind. Definieren Sie
sich nicht einseitig nach Ihrem aktuellen Befinden (Denken, Gefühle, Empfindun-
gen), sondern vielmehr nach dem, was Sie wichtig und wertvoll finden. Was sind Ih-
re zentralen Werte, Ihre kurz-, mittel- und langfristigen Lebensziele? Was motiviert
Sie trotz Angst, Schmerzen, Lust- und Antriebslosigkeit? Welche Werte sind Ihnen
so hoch und heilig, welche Ziele so attraktiv, dass Sie auch mit und trotz Angst und
Furcht bemüht sind, entsprechend Ihren Wert- und Zielvorstellungen zu handeln?
Sind Sie derzeit bereit, Ihre wertebasierten Ziele auch mit größerer Angst und unan-
genehmen körperlichen Zuständen zu realisieren? Was könnten Sie schon jetzt und
nicht erst nach Überwindung Ihrer Ängste und sonstigen Beschwerden in Angriff
nehmen? Treffen Sie die Entscheidung, welche Schritte zu einem besseren Leben
Sie wann ganz konkret unternehmen möchten.
6. Handeln Sie engagiert entsprechend Ihren Wert- und Zielvorstellungen. Nehmen Sie
sich das Versprechen ab und treffen Sie eine innere Festlegung (englisch „Commit-
ment“) bezüglich der konsequenten Umsetzung Ihrer wertegestützten Ziele. Wenn
die bisherigen Werte ihre Bedeutung verlieren, entscheiden Sie sich für neue Werte
und lohnenswertere Ziele. Ängste lassen sich leichter überwinden, wenn die Ziele
attraktiv genug sind. Es geht nicht einfach darum, weniger Angst zu haben, sondern
mehr Motivation und Einsatz für das, was Ihnen wichtig ist. Konfrontieren Sie sich
ohne Sicherheitsstrategien (Handy, Medikamente u.a.) und ohne Vermeidungsver-
halten mit allem, was Ihnen Angst macht, um besser damit umgehen zu lernen. Be-
herzigen Sie den Spruch „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ (Erich Kästner)
und den Ratschlag „Es ist nicht genug zu wissen, man muss es auch anwenden; es ist
nicht genug zu wollen, man muss es auch tun“ (Johann Wolfgang von Goethe).
Akzeptanz- und Commitmenttraining 535
Angstbewältigungstraining
Systematische Desensibilisierung
Bei Experten gilt das ursprüngliche Modell der systematischen Desensibilisierung, d.h.
die Angstbewältigung in der Vorstellung unter Angst dämpfender Entspannung, als
überholte, weil zu langsame und nur unzureichend wirksame Strategie, verglichen mit
den Methoden der Konfrontationstherapie. Es handelt sich um eine Vorgangsweise nach
dem Motto „Wasch’ mich, aber mach’ mich nicht nass!“
Wenn Sie gute Gründe haben, warum Sie unbedingt die Technik der systematischen
Desensibilisierung einsetzen möchten, die früher als die Methode der Angstbewältigung
in der Verhaltenstherapie galt, können Ihnen vielleicht folgende Ratschläge helfen:
1. Erstellen Sie in Zusammenhang mit Ihrer Phobie (z.B. Hundephobie, Flugphobie,
Sexualphobie, Sozialphobie) eine Liste von ganz konkreten Situationen rund um das
phobische Objekt oder Ereignis. Die Angstsituationen müssen so klar und präzise
sein, dass sie ähnlich beobachtbar sind wie eine vorgestellte Filmszene.
2. Erstellen Sie eine Angsthierarchie, d.h. reihen Sie diese Situationen nach dem Aus-
maß des angenommenen Angsterlebens, indem Sie Punktewerte von 0-100 als sub-
jektive Belastungswerte vergeben. Eine Angsthierarchie sollte mindestens 10 Situa-
tionen umfassen, und zwar möglichst für jede Zehnerstufe eine Vorstellungsübung.
3. Entspannen Sie sich mit Hilfe einer Methode, die Sie gut beherrschen (autogenes
Training, progressive Muskelentspannung, Atemtechniken, Meditation, Selbsthyp-
nose) und beschleunigen Sie die Entspannung durch ein bestimmtes Ruhebild (z.B.
angenehme Urlaubsszene, warme Badewanne, aufbauendes Erfolgserlebnis).
4. Stellen Sie sich unter Entspannungsbedingungen die leichteste Situation in Bezug
auf das phobische Objekt oder Ereignis möglichst plastisch vor, und zwar minde-
stens 30 Sekunden lang. Lassen Sie die Situation zuerst als Betrachter von außen auf
sich wirken (wie bei einem Videofilm) und versetzen Sie sich dann in die Szene, wie
wenn Sie das Ereignis gerade real erleben würden, indem Sie eine Vergegenwärti-
gung auf allen Sinneskanälen anstreben. Entspannen Sie sich verstärkt und kehren
Sie zu Ihrem angenehmen Ruhebild zurück. Setzen Sie sich dann derselben Vorstel-
lung noch zweimal aus, sodass Sie ein sicheres Bewältigungserlebnis haben.
5. Wenn Sie sich eine Situation angstfrei bzw. bei erträglicher Angst vorstellen kön-
nen, gehen Sie zur nächsten Situation in Ihrer Angsthierarchie weiter, bis Sie die
schwierigsten Situationen zumindest in der Vorstellung aushalten können.
6. Bei aufkommender Angst konzentrieren Sie sich auf die langsame Ausatmung. So-
lange Sie ausatmen, können Sie sich nicht reflexhaft anspannen. Wenn die Angst
dennoch zu groß wird, lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit von der Angstsituation ver-
stärkt auf das Ruhebild, um die Entspannung sicherzustellen. Von der Ruheszene
aus wenden Sie sich dann anfangs der zuletzt bewältigten Vorstellung zu, bevor Sie
die schwierigere Situation erneut angehen.
7. Die Übung sollte maximal 30 Minuten dauern, um Überforderungen zu vermeiden.
8. Aufgrund der Übungen kann eine Umstellung der Angsthierarchie erforderlich sein,
weil einige Situationen leichter oder schwieriger sind als angenommen.
9. Wenn Sie die leichteren Angstsituationen in der Vorstellung gut ertragen können,
sollten Sie diese Situationen in der Realität aushalten lernen nach dem Modell der
gestuften Angstbewältigung. Auch hier können Sie durch Entspannungstechniken
die jeweiligen Situationen erträglicher gestalten.
Angstbewältigungstraining 537
Konfrontationstherapie
1. Denken Sie immer daran, daß Ihre Angstgefühle und die dabei auftretenden körperlichen Sym-
ptome nichts anderes sind als eine „Übersteigerung“ der normalen Körperreaktion in einer Streß-
situation.
2. Solche Gefühle und Körperreaktionen sind zwar sehr unangenehm, aber weder gefährlich, noch in
irgendeiner Weise schädlich. Nichts Schlimmes wird geschehen!
3. Steigern Sie sich in Angstsituationen nicht selbst durch Gedanken wie: „Was wird geschehen“
und „Wohin kann das führen“ in noch größere Ängste hinein.
4. Konzentrieren Sie sich nur auf das, was um Sie herum und mit Ihrem Körper wirklich geschieht –
nicht auf das, was in Ihrer Vorstellung noch alles geschehen könnte.
5. Warten Sie ab und geben Sie der Angst Zeit, vorüberzugehen. Bekämpfen Sie Ihre Angst nicht!
Laufen Sie nicht davon! Akzeptieren Sie die Angst.
6. Beobachten Sie, wie die Angst von selbst wieder abnimmt, wenn Sie aufhören, sich in Ihre Ge-
danken (Angst vor der Angst) weiter hineinzusteigern.
7. Denken Sie daran, daß es beim Üben nur darauf ankommt zu lernen, mit der Angst umzugehen –
nicht, sie zu vermeiden. Nur so geben Sie sich selbst eine Chance, Fortschritte zu machen.
8. Halten Sie sich innere Ziele vor Augen, welche Fortschritte Sie schon – trotz aller Schwierigkei-
ten – gemacht haben. Denken Sie daran, wie zufrieden Sie sein werden, wenn Sie auch dieses Mal
Erfolg haben.
9. Wenn Sie sich besser fühlen, schauen Sie sich um und planen Sie den nächsten Schritt.
10. Wenn Sie sich in der Lage fühlen weiterzumachen, dann versuchen Sie, ruhig und gelassen in die
nächste Übung zu gehen.
1. Meine Angstgefühle und die dabei auftretenden körperlichen Symptome sind verstärkte normale
Streßreaktionen.
2. Ich bin und bleibe körperlich gesund trotz der Angstreaktionen.
3. Ich schwäche meine Angstreaktionen, wenn ich an etwas anderes denke.
4. Ich bleibe trotz Panikgefühlen in der Realität. Ich beobachte und beschreibe, was ich momentan
wirklich erlebe.
5. Ich warte in der Situation, bis die Angst vorübergeht.
6. Ich beobachte, wann und wie die Angst von alleine wieder abnimmt.
538 Selbsthilfe bei Angststörungen
7. Ich gebe mir eine Chance, einen Fortschritt zu machen und stelle mich jeder Angstsituation ohne
Vermeidung.
8. Ich führe jede Übung bis zum Abschluß durch.
9. Ich kann stolz sein auf meine bisherigen Bemühungen und Erfolge, auch die kleinsten.
10. Ich nehme mir Zeit für die Übungen.
Gestufte Reizkonfrontation
Es erfolgt ein schrittweises Vorgehen von leichteren zu schwierigeren Situationen, um
langsam Selbstvertrauen aufzubauen. Spontan wird dieses Vorgehen von den meisten
Betroffenen gewünscht, auch wenn sie oft nur langsam vorankommen und den nächst-
schwierigeren Aufgabenstellungen vielleicht mit Erwartungsängsten entgegenblicken.
12. Rechnen Sie mit Rückschlägen, ohne sich davor zu fürchten, und nutzen Sie diese als
Chance, etwas daraus zu lernen. Die stärksten Rückschläge erfolgen oft aus einer
Panikattacke heraus. In diesem Fall sollten Sie erkennen, dass eine gestufte Angst-
bewältigung allein unzureichend ist, weil Sie dabei nicht lernen, mit extrem starken
Ängsten umzugehen, wie diese bei Panikattacken auftreten.
13. Überlegen Sie bei Erfolgen durch eine gestufte Reizkonfrontation eine massierte
Reizkonfrontation. Anstelle der Methode „Wasch’ mich, aber mach’ mich nicht
nass“ sollten Sie direkt in das „kalte Wasser“ der Angst springen und eine massierte
Reizkonfrontation allein, mit Hilfe einer vertrauten Person oder eines Psychothera-
peuten beginnen. In diesem Fall lernen Sie, Ihre stärksten Ängste zu provozieren
und damit umzugehen. Was fürchten Sie bei einer Panikattacke wirklich, wenn Sie
glauben können, dass Sie dabei nicht sterben?
14. Nehmen Sie weder vor der Übung Beruhigungsmittel ein noch führen Sie diese wäh-
rend der Übungen mit sich, auch wenn Sie vorhaben, keine einzunehmen. Lernen
Sie von Beginn an, sich ausschließlich auf sich selbst zu verlassen und nicht auf Be-
ruhigungsmittel, die Sie wie einen Talisman mit sich führen. Sie schaffen damit die
Voraussetzungen, dass Sie alle erreichten Erfolge sich selbst und nicht den Tabletten
zuschreiben. Lassen Sie bei allen Übungen auch Ihr Handy zu Hause.
15. Wenn Sie derzeit Beruhigungsmittel nehmen, setzen Sie diese in Absprache mit Ih-
rem Arzt langsam ab, bevor Sie mit den Übungen beginnen. Eine Woche vor Beginn
der Übungen sollten Sie frei von Beruhigungsmitteln sein. Wenn Sie sich gegenwär-
tig dazu nicht in der Lage fühlen, sollten Sie wenigstens alle Übungsaufgaben inklu-
sive der schwierigsten mit Hilfe der Beruhigungsmittel bewältigen können, ohne
dass Sie diese wegen der Übungen in verstärktem Ausmaß einnehmen. Anderenfalls
geben Sie letztlich zu, dass Sie sich nicht einmal unter dem Schutz Ihrer Medika-
mente in Angst machende Situationen zu begeben wagen.
16. Wenn Sie derzeit Angst dämpfende Antidepressiva einnehmen, insbesondere solche,
die nachweislich gegen Panikattacken wirken (so genannte Serotonin-Wiederauf-
nahmehemmer), nehmen Sie diese in der verordneten Weise weiterhin ein, weil de-
ren Wirksamkeit eine mehrmonatige kontinuierliche Einnahme erfordert. Wenn Sie
zur mittelfristigen Unterstützung auf Anraten des Arztes diese Medikamente ein-
nehmen sollen, beginnen Sie mit der Einnahme nicht gerade am Anfang der Kon-
frontationstherapie, zumindest nicht sofort mit der Zieldosis, sondern mit einer nied-
rigeren Dosis, d.h. nehmen Sie diese Medikamente in Absprache mit dem Arzt „ein-
schleichend“ in wöchentlich steigender Dosis bis zur Zieldosis ein, weil diese Medi-
kamente in den ersten zwei Wochen Nebenwirkungen haben können, wenngleich
wesentlich geringere als ältere Antidepressiva. Sie könnten die Nebenwirkungen an-
derenfalls leicht als Angstsymptome im Rahmen Ihres Übungsprogramms interpre-
tieren und wären dann gefährdet, Ihre Konfrontationstherapie einzustellen.
17. Achten Sie von Beginn Ihrer Konfrontationstherapie an darauf, dass Sie nicht so
sehr gegen Ihre Ängste kämpfen, sondern vielmehr für Ihre Freiheit, tun und lassen
zu können, was Sie wollen, d.h. üben Sie nicht nur das Aushalten unangenehmer Si-
tuationen, die auch weniger ängstliche Menschen ungern erleben, sondern unter-
nehmen Sie viele Dinge, die Sie eigentlich gerne tun möchten. Dies stärkt Ihre Mo-
tivation zum Durchhalten. Vergegenwärtigen Sie sich, was Sie früher gerne getan
haben, und malen Sie sich in der Fantasie möglichst plastisch aus, wie Sie jene Si-
tuationen aufsuchen können, deren Bewältigung Sie in der nächsten Zeit erst noch
üben müssen. Hauptziel ist nicht, weniger Angst, sondern mehr Freude zu erleben.
542 Selbsthilfe bei Angststörungen
z Gehen Sie über eine gefürchtete Brücke und schauen Sie in der Mitte auf den Fluss
hinunter.
z Gehen oder laufen Sie mindestens eine Stunde lang durch einen Wald.
z Gehen Sie bei Nacht mindestens eine halbe Stunde lang in einer belebten Straße
spazieren.
z Gehen Sie Blutspenden bei einer öffentlichen Blutsammelstelle.
z Machen Sie einen dreistündigen Stadtbummel ohne Mitnahme von Beruhigungsmit-
teln und lassen Sie auch Ihr Handy zu Hause.
z Fahren Sie in eine größere Stadt oder in eine Gegend, in der Sie sich nicht gut aus-
kennen, und fragen Sie Leute auf der Straße nach einem bestimmten Ort.
z Verreisen Sie über Nacht in eine Stadt, in der Sie noch nie waren, ohne jemanden zu
informieren, wo Sie sind, und übernachten Sie dort allein in einem Hotel.
z Übernachten Sie in einer voll belegten Jugendherberge.
z Bleiben Sie Ängsten vor dem Alleinsein mindestens vier Stunden lang allein in der
Wohnung, ohne mit jemandem Kontakt aufzunehmen (auch nicht telefonisch).
z Bleiben Sie allein zu Hause und machen Sie bewusst etwas, wovor Sie sich bisher
stets gefürchtet haben, z.B. Lesen eines Buches, in dem viel über gefürchtete Krank-
heiten steht, Vorstellung einer früheren oder zukünftig gefürchteten Panikattacke bei
geschlossenen Augen, während Sie im Bett liegen.
Ihre Ängste können die Funktion haben, Sie vor noch größeren Problemen als Ihre Ago-
raphobie oder Panikattacken zu bewahren. Werden Sie die wiedergewonnene Freiheit
auf Anhieb tatsächlich nützen können? Hinter einer Agoraphobie kann die Angst vor
Verantwortung und Freiheit stehen. Wenn Sie die Fesseln und Ketten Ihrer Ängste
abgeworfen haben, können eventuell die Bürde der Verantwortung und der Freiheit
sowie der Zwang zur Entscheidung zwischen verschiedenen Alternativen auf Sie war-
ten. Nach der Beseitigung Ihrer Ängste können Sie vielleicht vor der Situation stehen,
z Annehmlichkeiten zu verlieren (Umsorgtwerden, viel Zuwendung und Nachsicht,
Unterstützung bei der Arbeit) und vieles wieder selbst erledigen zu müssen;
z als Mutter weiterhin bei den Kindern zu Hause zu bleiben oder berufstätig zu wer-
den, wo Sie doch beides in bestmöglicher Weise miteinander verbinden möchten;
z den Arbeitsplatz wegen Unzufriedenheit zu wechseln und dabei das Risiko einzuge-
hen, dies hinterher zu bereuen;
z sich vom Partner zu trennen, dann aber die Vorteile der Beziehung zu verlieren;
z sich dem Partner gegenüber zwar besser als früher durchsetzen zu können, aber
deswegen auch Angst haben zu müssen, seine Zuwendung und Liebe zu verlieren;
z als Jugendlicher von zu Hause auszuziehen und ein selbstständiges Leben zu begin-
nen oder weiter unter den Einschränkungen im Elternhaus zu leiden.
Die Betroffenen stellen sich zwar allen Situationen, jedoch nur so, dass sie dabei auf
keinen Fall eine Panikattacke erleben. Dies allein hält bereits eine Daueranspannung
aufrecht. Ohne die innere Bereitschaft zu einer Panikattacke bleibt ein Dauerstress be-
stehen, weil man ja ständig Vermeidungs- und Unterdrückungsmechanismen anwenden
muss oder mental oder real auf der Flucht ist und damit angespannt bleibt. Die Angst
vor der Angst („Was wäre, wenn ...“) hält ständige Erwartungsängste aufrecht. Jede
Vermeidungsreaktion verstärkt den Eindruck, einer bestimmten Erfahrung nicht ge-
wachsen zu sein, sodass das weitere Vermeidungsverhalten bereits vorgezeichnet ist.
z Jeder Perfektionismus („Wenn schon, dann muss ich alles super schaffen“) ist bei
einer Konfrontationstherapie schädlich, weil er den Stress erhöht.
z Der Versuch, erlebte positive Erfahrungen bei einer Konfrontationstherapie zu gene-
ralisieren auf andere Situationen scheitert öfter an der mangelnden Fähigkeit zur
Generalisierung von Erfahrungen. Der Grund liegt im Perfektionismus: „Es ist jetzt
schon 20-mal gut gegangen, doch wird es auch beim 21. Mal gut gehen?“
z Intoleranz gegenüber jeder Form von Unsicherheit und Kontrollverlust verhindert
jedes vertrauensvolle Sich-Einlassen auf neue oder unangenehme Situationen.
Eine Sozialphobie, bei der es um das Sozialprestige und nicht um Leib und Leben geht,
hält trotz erfolgreicher Konfrontationstherapie eine ständige Anspannung aufrecht:
z Was werden die anderen über mich denken, wenn sie meine Symptome bemerken?
z Wenn ich in irgendeiner Weise negativ auffalle, bin ich dann „nervenschwach“,
„psychisch nicht belastbar“, ein Schwächling, weniger liebenswert, weil schwach?
Viele Angstpatienten möchten ihre Zustände durch Abwendung und Ablenkung bewäl-
tigen. Man wird jedoch eher ruhig, wenn man sich nicht pausenlos abzulenken versucht,
sondern sich seinen Symptomen zuwendet und diese akzeptiert: „Ich spüre jetzt meinen
Schwindel, mein Herzklopfen, meine weichen Knie usw., und ich gehe dennoch in die
gefürchtete Situation und bleibe so lange, wie ich will, und nicht so lange, wie die Sym-
ptome diktieren möchten. Meine Symptome begleiten mich wie mein Schatten, doch ich
bestimme den Weg.“ Laut Untersuchungen scheitert eine Konfrontationstherapie, wenn
Patienten eine zu geringe emotionale Aktivierung aufweisen oder während der Exposi-
tionstherapie dissoziieren, d.h. sich ablenken und ihre Gefühle abspalten/unterdrücken.
546 Selbsthilfe bei Angststörungen
8. Sekundärer Krankheitsgewinn
Symptome können zwar das Leben einschränken, aber auch verschiedene Vorteile ha-
ben, die von Psychoanalytikern „sekundärer Krankheitsgewinn“ genannt werden:
z Gibt es letztlich auch Vorteile aus der Agoraphobie?
z Was möchten Sie eigentlich vermeiden? Was steckt hinter Ihren Ängsten?
z Welchen anderen Konflikten gehen Sie aus dem Weg, die sofort und unweigerlich
auftreten, wenn Sie alle gefürchteten Situationen problemlos meisten können?
Eine depressive Symptomatik ist u.a. charakterisiert durch eine körperliche und psychi-
sche Kraftlosigkeit. Man sollte daher in einer depressiven Phase gar nicht versuchen,
durch eine derartige Aktivierung, wie sie bei einer gestuften oder massierten Konfronta-
tionstherapie erforderlich ist, sein Selbstwertgefühl aufzubauen, denn es kann nur zu
einem Misserfolg kommen, der die depressive Symptomatik noch weiter verstärkt.
Eine Konfrontationstherapie ist ungeeignet, das schwache Selbstbewusstsein in der
Depression aufzubauen, weil wieder alles auf Leistung und Durchhalten ausgerichtet ist.
Ein derartiges Denkmuster ist oft der Grund für eine „Erschöpfungsdepression“.
Oft stehen hinter einer Agoraphobie mit Panikstörung latente oder offene Partnerpro-
bleme, die anfangs häufig nicht in Zusammenhang mit der Angststörung gesehen wer-
den. Eine Agoraphobie stellt dann eine Pattsituation dar, die den unbefriedigenden ge-
genwärtigen Zustand aufrechterhält. Dies ist so lange eine durchaus sinnvolle Problem-
lösung auf der Symptomebene, als man noch keine Entscheidung darüber getroffen hat,
wie es mit der Partnerschaft weitergehen soll, wenn die Agoraphobie überwunden ist.
Neben Partnerproblemen sind sonstige familiäre Probleme (Konflikte mit den Eltern
oder mit einem Kind) sowie Arbeitsplatzprobleme Panik begünstigende Stressfaktoren.
Eine zu rasche Symptombeseitigung kann manchmal zu psychosozialen Problemen
führen, mit denen die Betroffenen und deren Angehörige oft nicht gerechnet haben.
Die „Wunder-Frage“ in der Psychotherapie nach Steve DeShazer lautet: „Stellen Sie
sich vor, Sie wachen morgen in der Früh auf und Sie sind völlig gesund. Was würden
Sie da tun? Was würde sich in Ihrem Leben dann ändern?“
Viele Angstpatienten haben vordergründig oft keine anderen Ziele, als ständig nur
gegen ihre Ängste zu kämpfen. Beantworten Sie zur Abklärung folgende Fragen:
z Was wollen Sie eigentlich im Leben erreichen, wenn Sie keine Symptome haben?
Wenn es Ihnen nicht mehr schlecht geht, muss es Ihnen noch lange nicht gut gehen!
z Wofür lohnt sich der ganze Aufwand der Angstbewältigung? Was motiviert Sie?
z Was würden Sie sofort, in einem Monat, in sechs Monaten, in einem Jahr tun, wenn
Sie keine krankhaften Ängste (Agoraphobie, Panikattacken) mehr hätten?
z Wie gerne sind Sie allein, wenn Sie nach gelungener Konfrontationstherapie allein
sein können? Aktivitäten unternehmen bedeutet auch, allein etwas tun können. Was
können Sie mit sich selbst anfangen, wenn Sie allein sind?
Kognitive Strategien der Angstbewältigung 547
Mentales Training
Der abstrakte Wille und Vorsatz allein ist auf Dauer für eine Verhaltensänderung einge-
fahrener Reaktionsmuster zu wenig. Plastisch-konkrete Vorstellungen des Gelingens
stärken die Motivation in schwierigen Zeiten und richten den Blick auf die positiven
Möglichkeiten statt auf die Fehler und Schwächen, die in vielen Psychotherapien oft zu
einseitig im Mittelpunkt stehen.
Angstpatienten können sich das, was sie fürchten, sehr bildhaft vorstellen, nicht aber
die Art und Weise, wie es nach der Angstreaktion gut oder zumindest erträglich weiter-
gehen könnte. Menschen mit Panikattacken beschäftigen sich in der Fantasie oft mit
dem Eintreffen gefährlicher Ereignisse nach dem Motto „Was wäre, wenn …“. Sie
grübeln ständig, sorgen sich um die Zukunft, malen sich schreckliche Bilder aus und
brechen kurz vor dem Höhepunkt, vor dem negativsten Ereignis, ihre Fantasien ab, weil
sie in Panik geraten. Sie begehen den Fehler, nicht weiterzudenken und nach Bewälti-
gungsstrategien zu suchen, sondern bleiben bei der Hilflosigkeit und Ohnmacht stehen.
Solange man nicht stirbt, gibt es immer mehrere Möglichkeiten, wie es weitergehen
könnte. Das Durchspielen verschiedener Bewältigungsstrategien soll im Rahmen des
mentalen Trainings gelernt werden. Angst ist immer Angst vor etwas. Genau das, was
man real nicht erleben möchte, muss man zuerst einmal mental bewältigen lernen.
Mentales Training dient bei Angststörungen dazu, in Gedanken bzw. durch mög-
lichst bildhafte Vorstellung eine positive bzw. bewältigbare Lösung jener Situation
durchzuspielen, vor der man Angst hat [19]. Was man sich nicht einmal vorstellen kann,
kann man oft auch nur schwer tun. In diesem Sinn erleichtert jede anschauliche Vorstel-
lung einer Bewältigungsreaktion die tatsächliche Handlungsbereitschaft.
Die typischen Katastrophenvorstellungen von Angstpatienten sind negative Vorstel-
lungsbilder (Worst-Case-Szenarien), die durch alternative oder positiv-kreative Visuali-
sierungen ersetzt werden sollen. Der Begriff des mentalen Trainings ist sehr breit, theo-
retisch nicht eingeengt und aus dem Spitzensport gut bekannt, weshalb diese Bezeich-
nung in diesem Buch bevorzugt wird gegenüber Ausdrücken wie Visualisierung, Imagi-
nation, gelenkter Tagtraum, Selbsthypnose, hypnotische Trance.
Visualisieren bezeichnet ein Denken in inneren Bildern. Ein entspannter Zustand er-
leichtert die Entwicklung von inneren Bildern und Vorstellungen, ist jedoch nicht unbe-
dingt notwendig. Entscheidend ist vielmehr die intensive, durch alle Sinne erleichterte
Konzentration auf einen bestimmten Sachverhalt im Sinne einer Wahrnehmungseinen-
gung, wie dies auch bei einer Hypnose der Fall ist.
Nach dem Carpenter-Effekt führt jeder Gedanke an eine bestimmte Tätigkeit zu ent-
sprechenden Muskelstimulierungen. Dies gilt auch für Menschen mit Angststörungen.
Der Gedanke, aus einer gefürchteten Situation am liebsten fliehen zu wollen, führt zu
entsprechender muskulärer Aktivierung. Wenn Sie bei Ihren Konfrontationsübungen
bewusst auf Flucht verzichten, werden Sie nicht jeden Moment, wo diese (noch) mög-
lich ist, Ihren Körper im Sinne einer Kampf-Flucht-Reaktion aktivieren.
Positive Vorstellungen (ein bestimmtes Ruhebild) sowie die Vorstellung des Gelin-
gens einer Handlung (lebendige Vorstellung vom Ziel einer Übung bei Agoraphobie)
bewirken angenehme körperliche Zustände. Die Vorstellung einzelner Körperpartien
sowie deren momentane Befindlichkeit und Tätigkeit verbessert die Wahrnehmung und
die Funktionen des eigenen Körpers und führt zu einem besseren Körpererleben.
548 Selbsthilfe bei Angststörungen
Nach einer Untersuchung zur Behandlung von Prüfungsängsten mittels Hypnose ist die
Konfrontation mit Angst machenden Situationen allein wenig Erfolg versprechend,
entscheidend ist vielmehr das mentale Eintrainieren von Bewältigungsreaktionen.
In ähnlicher Weise erreichten vergewaltigte Frauen, die mit Hilfe einer mentalen
Konfrontationstherapie einen besseren Umgang mit den traumatischen Erinnerungen
erlernt hatten, durch ein zusätzliches mentales Bewältigungstraining in Hinblick auf
zukünftige ähnliche Situationen einen noch besseren Therapieerfolg.
Menschen mit Agoraphobie und sozialer Phobie können durch mentale Strategien
dazu ermutigt werden, sich der gefürchteten Realität zu stellen. Durch ein derartiges
Vorgehen wird die Erfolgserwartung gestärkt und die Erwartungsangst abgebaut. Es
kommt darauf an, sich zukünftige Problemsituationen durch mehrere konkret ausgestal-
tete Handlungsmöglichkeiten als lösbar vorstellen zu können.
Angstkonfrontationen in der Vorstellung können folgenden Sinn haben:
z Klärung und Identifizierung der konkreten Ängste: wahrnehmen und erkennen ler-
nen, wovor man sich tatsächlich fürchtet, z.B. vor einer bestimmten körperlichen
Reaktion, vor dem Blick der Leute, vor deren Nachrede.
z Differenzierung von Gefühlszuständen in bestimmten Situationen: viele Angstpatien-
ten neigen dazu, jede Erregung gleich mit Angst zu assoziieren, tatsächlich könnte
es sich z.B. auch um eine wutbedingte Erregung handeln.
z Vorstellung der katastrophalen Folgen, die man in realen Situationen noch nicht
zulassen kann und daher meidet bzw. flieht.
550 Selbsthilfe bei Angststörungen
z Stärkung des Glaubens, dass man eine bestimmte Situation bewältigen kann, indem
man sich diese einfach als bewältigbar vorstellt. Oft liegt das Problem gerade darin,
dass man etwas tun soll, das man sich nicht einmal als bewältigbar vorstellen kann.
z Gewöhnung an Angst machende Situationen durch besseren Umgang mit Erwar-
tungsängsten.
z Mentale Einübung neuer Fertigkeiten und Vorbereitung auf das Üben in einer un-
gewohnten oder gefürchteten Realsituation.
Mentales Training ermöglicht nicht nur die Etablierung positiver Sichtweisen und Be-
wältigungsreaktionen, sondern auch die Klärung von Einstellungen, Empfindungen und
Konflikten, indem durch inneres Probehandeln ohne Risiko Alternativen abgewogen
und innere Barrieren überwunden werden können.
Beim mentalen Training ist es wichtig, das Vorgestellte immer als gegenwärtig bzw.
als bald, aber sicher eintretend zu visualisieren, auch wenn es sich um unsichere Situa-
tionen und zukünftige Ereignisse handelt. Hypnose, autogenes Training oder andere
Entspannungstechniken verwenden ähnliche Vorgangsweisen.
Typische Beispiele sind:
z „Der rechte Arm ist ganz schwer.“
z „Die Atmung ist ruhig und regelmäßig.“
z „Der ganze Körper wird angenehm warm.“
z „Ich spüre, wie das langsame Ausatmen meinen Körper entspannt.“
z „Wenn mein Herz rast, wird es durch ruhiges Atmen wieder langsamer schlagen.“
z „Wenn mir beim Gehen schwindlig wird, bleibe ich aufrecht und gehe weiter.“
Wichtige Übungen können vorher auf Tonband gesprochen werden und dann immer
wieder angehört werden. Die lebendige Vorstellung der Bewältigbarkeit einer Situation
stärkt den Glauben daran, ähnlich wie die Vorstellung einer bevorstehenden Katastro-
phe die Angst vor deren Eintreten und damit das Vermeidungsverhalten bestärkt. In
beiden Fällen ist es die plastisch-lebendige Vergegenwärtigung des Ausgangs eines
Ereignisses in Form eines bestimmten Bildes oder einer Filmsequenz, die das vorherige
Empfinden bestimmt (Angst oder Zuversicht).
Menschen mit Ängsten betreiben ständig eine „negative Selbsthypnose“. Sie haben
die Fähigkeit zu sehr bildhaftem Denken, was bei Ängsten zur Belastung wird. Die
imaginativen Fähigkeiten werden in der Therapie positiv genutzt. Zur Entspannung
können bestimmte Techniken eingesetzt werden, die einen leichten Trancezustand be-
wirken. Eine vorherige Entspannung ist jedoch nicht nötig, wenn durch die Vorstel-
lungsübung eine konzentrierte Aufmerksamkeit auf die gewünschte Situation gelingt.
Die möglichst plastisch-lebendige Vorstellung einer Angst machenden Situation (er-
lebte oder erwartete Panikattacke, realer oder gefürchteter Verlust eines geliebten Men-
schen, traumatisches Erlebnis, bevorstehendes Ereignis, phobische Situation) und deren
Bewältigung kann durch folgendes Vorgehen gefördert werden:
1. Setzen Sie sich zu Hause in einen bequemen Lehnstuhl und schließen Sie die Augen.
Stellen Sie sich vor, Sie schalten Ihren Fernsehapparat ein und schauen sich einen
„Angstfilm“ an, einen Videofilm einer für Sie typischen Angstsituation (ähnlich wie
Sie sich auch ein Urlaubsvideo anschauen würden). Sie haben dabei die Fernsteue-
rung in der Hand, um den Film je nach Bedarf steuern zu können.
2. Lassen Sie diesen Film mehrfach vor Ihren Augen ablaufen, bis zum Ende. Mit der
Fernsteuerung können Sie diesen Film jederzeit vor- und zurückspielen bzw. anhal-
ten, um ein Standbild zu erhalten. Sehen Sie sich selbst im Film, d.h. erleben Sie
sich als distanzierter Beobachter. Entdecken Sie, dass Sie nur dann intensive Angst
bekommen, wenn Sie sich selbst nicht mehr im Film sehen, sondern plötzlich als
mitten drin im Geschehen erleben, wie wenn der Film gerade jetzt gedreht würde.
3. Vergegenwärtigen Sie sich bei aufkommender Angst beim Anschauen des „Angst-
films“, dass Sie zu Hause sitzen und sich das Angstgeschehen nur im Film ereignet.
Nehmen Sie Ihre Körperposition im Lehnstuhl wahr und spüren Sie die Sitz- oder
Liegefläche, die Lehne, die Ihren Rücken abstützt, den Stoff, den Ihre Hände berüh-
ren. Beobachten Sie den Raum, in dem Sie sich befinden, um das Hier und Jetzt zu
betonen gegenüber vergangenen oder zukünftigen Angstsituationen.
4. Definieren Sie irgendeine Schlüsselerfahrung, die Sie zumindest durch ein Sinnes-
organ sicher in der Gegenwart verankert, z.B. Ballen der Hand zu einer Faust, Blick
auf ein bestimmtes Wohnzimmerbild, Hören Ihrer Lieblingsmusik im Hintergrund
oder der Stimme einer vertrauten Person, Summen einer bestimmten Melodie,
Zwerchfellatmung mit Heben und Senken Ihrer Hände auf der Bauchdecke, Spüren
des Lehnstuhls, in dem Sie sitzen, Riechen des Geruchs des Partners oder des
Wohnzimmers, Schmecken des Getränks, das Sie gerade trinken.
5. Wenn starke Angst aufkommt, können Sie den Film vorübergehend leiser oder
dunkler drehen bzw. kurz ausschalten, jedoch nur dann, wenn Sie vorher bereit sind,
nach kurzer Erholung den Film wieder einzuschalten, als Ausdruck dafür, nicht zu
flüchten. Wenn Sie einen bestimmten „Angstfilm“ sehr bildhaft ablaufen lassen
können, können Sie die Szenen auch laut kommentieren, wie wenn Sie diese einem
Zuseher neben Ihnen beschreiben würden. Das Sprechen kann Ihnen während des
Sitzens helfen, starke Anspannungen über die Mundbewegungen abzuführen.
552 Selbsthilfe bei Angststörungen
6. Wenn Sie diese Technik einigermaßen beherrschen, können Sie sich vorstellen, wie
der vorher gesehene „Angstfilm“ gerade gedreht wird, mit Ihnen als Hauptdarstel-
ler(in), d.h. Sie wechseln in die Teilnehmerposition über.
7. Vergegenwärtigen Sie sich Ihren Körper, wie Sie ihn bisher im „Angstfilm“ gesehen
haben, und erleben Sie sich so, als ob die Ereignisse gerade jetzt stattfinden würden.
Bei bestimmten traumatischen Erlebnissen (z.B. Vergewaltigung, Verbrechen, Un-
fall) sollten Sie dieses Vorgehen jedoch nicht allein anwenden, sondern nur in An-
wesenheit eines Therapeuten oder zumindest einer vertrauten Person, um bei Bedarf
Unterstützung zu haben. Dann können Sie Ihr Erleben noch vertiefen, indem Sie die
Ereignisse in der Ich-Form beschreiben („Ich sehe ... höre ... spüre jetzt ...“).
8. Sie können diese Schilderung auch auf Tonband festhalten und später immer wieder
anhören, um sich besser daran zu gewöhnen. Oft geht es dabei um die Bewältigung
der Erfahrung des möglichen Todes oder einer schweren Demütigung, die als völlige
Hilflosigkeit und Ohnmacht erlebt wurde und anhaltend das Vertrauen in eigene
Person und in die Umwelt erschüttert hat. Das ungewollte Wiedererleben des völli-
gen Ausgeliefertseins stellt später ein Problem dar, wenn die Betroffenen nicht ler-
nen, diese Erfahrung in ihre Person und den Kontext ihrer Erinnerungen zu integrie-
ren, wie dies etwa bei einer Verhaltenstherapie von Personen mit einer posttraumati-
schen Belastungsstörung gelernt wird.
9. Bei Bedarf wechseln Sie wieder in die Beobachterposition über und verankern Sie
Ihr Erleben im Hier und Jetzt. Wenn Sie in mutiger Weise neuerlich in das Wieder-
erleben des belastenden Ereignisses einsteigen, tun Sie dies mit den seither gewon-
nenen Sichtweisen und Erfahrungen, d.h. Sie fügen den sich aufdrängenden Angst-
vorstellungen neue Elemente hinzu, sodass Sie trotz der realen Hilflosigkeit dennoch
irgendwie stärker wirken.
10. Zur weiteren Stärkung Ihres Selbstvertrauens können Sie abschließend den Film in
der Beobachter- und Teilnehmerposition wiederholt so ablaufen lassen, als würden
Sie eine ähnliche Situation in der Zukunft erleben, wo es Ihnen allerdings gelingt,
eine andere, positivere Bewältigungsstrategie anzuwenden und eine Wiederholung
der traumatischen Ereignisse der Vergangenheit zu verhindern.
Vorstellung einer real bewältigten Angstsituation (Blick zurück). Erinnern Sie sich an
eine Situation, die Sie früher gefürchtet haben, nunmehr jedoch bewältigen können, weil
Sie diese bereits mehrfach intensiv erlebt haben. Vergegenwärtigen Sie sich diese Er-
fahrung vom anfänglichen Unbehagen an bis zur gelungenen Bewältigung.
Vorstellung einer erfolgreichen, in dieser Weise bisher noch nie gelungenen Angstbe-
wältigung („Ein schöner Tagtraum“). Vermitteln Sie sich in Form eines Tagtraums die
mentale Erfahrung der Bewältigung einer in der Realität noch nicht erfolgreich erlebten
Situation. Was Sie sich konkret vorstellen können, wird Sie stärker motivieren.
Lautes Verbalisieren der Angst machenden Vorstellungen. Die Wirkung der imaginier-
ten Reizkonfrontation wird erhöht, wenn Sie bei geschlossenen Augen alles, was Sie
sich vorstellen, laut aussprechen, um auf diese Weise in der Angstsituation zu verblei-
ben. Sprechen Sie dabei in der Ich-Form und in der Gegenwartsform, als ob die Erei-
gnisse jetzt passieren würden. Nehmen Sie Ihre Angstgedanken bis zur vermeintlichen
Katastrophe, aber auch Ihre Gedanken nach der überlebten Katastrophe, auf Tonband
auf und hören Sie diese Ausführungen später immer wieder an. Besprechen Sie das
Tonband, als würden Sie die Panikattacke oder die traumatisierende Situation momen-
tan erleben und hören Sie das Band dann zusammen mit einer Vertrauensperson an.
Intensives Wiedererleben der letzten Panikattacke. Schließen Sie die Augen und stellen
Sie sich die Situation rund um die letzte Panikattacke ganz konkret vor. Erleben Sie die
Panikattacke im Zeitlupentempo noch einmal mental durch, und zwar in der Ich-Form
und in der Gegenwartsform, z.B. „Ich atme jetzt schneller, mein Herz beginnt zu rasen,
mir wird leicht übel, ich zittere leicht usw.“ Wie fängt die Panikattacke an, was macht
sie ärger? Was ist das Schlimmste? Erinnern Sie sich dabei auch, wie Sie diesen Angst-
anfall überlebt haben. Wenn Sie vom gegenwärtigen Standpunkt aus auf die Panikattak-
ke zurückblicken, stärken Sie Ihren Glauben an deren Bewältigbarkeit.
Bewusstes und intensives Erleben der bei einer Panikattacke ablaufenden Kreislaufre-
aktionen. Üben Sie folgende gelenkte Vorstellungsübung („Ohnmachtsangst“), um
durch bewusste Konzentration auf die gefürchteten körperlichen Vorgänge diese besser
ertragen zu lernen. Sprechen Sie den folgenden oder einen ähnlichen Text langsam und
mit Pausen auf Tonband und hören Sie sich die Geschichte immer wieder an, bis Sie
damit keine Probleme mehr haben.
Ich stehe da und habe Angst, bald umzufallen. Ich weiß nicht warum und lasse diese Erfahrungen
dennoch zu. Meine Blutgefäße erweitern sich und mein Blutdruck sackt ab. Ich erlebe Schwindel,
Druck auf der Brust, Schweißausbruch, Übelkeit, weiche Knie und Kribbeln in den Händen. Ich fürchte
mich davor, ohnmächtig zu werden. Rundherum sind Leute, die mich sehen könnten, wie ich zu Boden
sinke. Was werden die Umstehenden tun? Mich anstarren, mich angreifen oder die Rettung rufen? Ich
kenne meine Zustände und werde es ablehnen, mich von einem Rettungswagen in ein Krankenhaus
bringen zu lassen. Und wenn ich doch mitfahren muss, werde ich dem Aufnahmearzt im Krankenhaus
sagen, dass ich nicht aufgenommen werden möchte. Ich bin bereit, kurz ohnmächtig zu werden, die
Kontrolle zu verlieren und mich den anderen Menschen hilflos auszuliefern. Ich möchte das wirklich
einmal erleben, was ich die ganze Zeit fürchte, um die Erfahrung zu machen, dass ich es überlebe. Ich
vergegenwärtige mir jene Situation, in der ich am ehesten umfallen oder eine Panikattacke erleben
könnte. Ich stelle mir vor, wie sich in der Ohnmacht mein Blutdruck wieder normalisiert, sodass ich
bald zu mir komme, sollte ich überhaupt ohnmächtig werden. Ich fürchte mich vor diesen Vorgängen,
habe Angst umzufallen, möchte mich daher im Stehen am liebsten nicht bewegen oder zur Sicherheit
hinlegen. Wenn ich mich jedoch nicht bewege, um den Blutdruck durch die Verengung meiner Blutge-
fäße rasch wieder zu heben, muss ich es aushalten lernen, wenn mein Herz durch einen Adrenalinstoß
angekurbelt wird, um den Blutdruck zu heben. Ich spüre bereits, wie mein Herz zu rasen beginnt, um
meinen Kreislauf wieder anzukurbeln. Das Pochen und Rasen meines Herzens macht mir Angst, dass
mir etwas Gefährliches zustoßen könnte. Ich bewege mich intensiv, schüttle meinen Körper so, wie ein
nasser Hund das Wasser abschüttelt, und erhöhe damit den Blutdruck derart, dass ich nicht mehr ohn-
mächtig umfallen kann. Die körperlichen Reaktionen zeigen mir, dass mein Körper richtig funktioniert
und bemüht ist, mich vor einer Ohnmacht zu bewahren. Ich bin ganz gesund, wenn ich so dastehe und
mein Herz und meinen Kreislauf bei der Arbeit erlebe. Ich beruhige mich, indem ich langsam durch den
Mund ausatme und durch die Nase einatme. Was sich die Leute über mich denken, wenn Sie mich so
sehen, ist mir egal. Jedem kann es einmal schlecht gehen. Doch nicht jeder hat den Mut, dies zu zeigen.
554 Selbsthilfe bei Angststörungen
Vergegenwärtigung des eigenen Todes. Panikattacken lassen sich sehr schnell überwin-
den, wenn man sich in mutiger Weise der Unausweichlichkeit des Todes stellt.
Stellen Sie sich vor, Sie liegen auf dem Totenbett, noch voll bei Bewusstsein, aber
in der Gewissheit, dass der Tod unmittelbar bevorsteht und vielleicht schon in der näch-
sten halben Stunde eintreten wird. Woran werden Sie sterben? Wie stellen Sie sich das
Sterben vor? Wer soll nach Ihrem Wunsch an Ihrem Totenbett stehen? Von welchen
Menschen fällt Ihnen der Abschied besonders schwer? Was möchten Sie den Umste-
henden in Ihren letzten Worten mitteilen? Welches Testament werden Sie Ihren Ange-
hörigen hinterlassen? Was kann Ihnen Hoffnung geben, dass die anderen nach einer
Phase der Trauer ohne Sie gut weiterleben können? Von welchen nicht verwirklichten
Lebensträumen müssen Sie Abschied nehmen? Auf welche der nicht gelebten Möglich-
keiten können Sie am schwersten verzichten? Wie stellen Sie sich das „Sein nach dem
Tode“ vor, z.B. als „Weiterleben“ in einer bestimmten Form oder als völlige Auslö-
schung Ihrer Person? Es gibt viele Beispiele dafür, dass Ruhe und Frieden in Sterbende
und Todgeweihte einkehrt, wenn sie die Unvermeidbarkeit des Todes akzeptiert haben.
Wenn Sie diese Übung nicht allein durchführen können, weil Sie die „totale Panik“
fürchten, dann sollte Ihnen bewusst werden, dass Unmengen von Beruhigungsmitteln
nicht ausreichen werden, die mit den Panikattacken verbundenen Todesängste zu besei-
tigen. Brauchen Sie wirklich auch dann noch abhängig machende Beruhigungsmittel
und/oder eine lange Psychotherapie, wenn Sie die Todesangst als das schmerzliche
Bewusstwerden der Endlichkeit Ihrer Existenz akzeptiert haben? Brauchen Sie viel-
leicht gerade deshalb eine zumindest kürzere Psychotherapie, weil Sie mit diesen exi-
stenziellen Ängsten gegenwärtig nicht umgehen können? Wie groß ist – in einem Pro-
zentwert angegeben – der Anteil der Todesangst an Ihren krankhaften Ängsten? Oder
leiden Sie unter einer Hypochondrie? Im Falle von Krankheitsängsten empfehle ich
Ihnen meinen Selbsthilfe-Ratgeber: „Krankheitsängste verstehen und überwinden.“
Kognitive Strategien der Angstbewältigung 555
Durchspielen der gefürchteten Situation in Form eines Rollenspiels, wobei Sie bei ent-
sprechenden technischen Möglichkeiten auch eine Videoaufzeichnung vornehmen kön-
nen. Stellen Sie sich zu Hause vor, wie Sie sich gerade in der Ernstsituation befinden.
Wenn es Ihnen hilft, sich eine Situation möglichst realistisch zu vergegenwärtigen,
können Sie dabei auch die Augen schließen. Spielen Sie dann buchstäblich in Form
eines kleinen Stückes alles durch, was Ihnen real passieren könnte: Sie werden schwind-
lig, Sie schwanken, Sie wollen sich anhalten, tun es aber nicht, Sie beginnen vermehrt
zu atmen oder halten die Luft an, Sie spüren, wie weich oder angespannt Ihre Knie sind,
und lassen es zu, dass Sie umfallen, bleiben eine Weile liegen und versuchen sich dann
langsam wieder zu erheben. Sie können den ganzen Ablauf auch so gestalten, dass Sie
sich vorstellen, Sie seien eine Schauspielerin, die für die Zuschauer des Films genau das
spielt und ausagiert, was Sie denken und fürchten.
Einige Beispiele zur Imagination positiver Erlebnisse sollen zu eigenen Ideen anregen:
z Urlaub am Meer. Sie liegen am Meer, lassen sich mit jeder Ausatmung angenehm
schwer in Ihren Liegestuhl fallen, sehen die Weite des blauen Meeres, hören das
Rauschen der Wellen, riechen den salzigen Seetang, spüren die warmen Sonnen-
strahlen auf Ihrer Haut und die angenehm kühlende Wirkung der Meerestropfen in
Ihrem Gesicht und genießen die Urlaubsstimmung. Was die Leute um Sie herum re-
den, ist Ihnen egal, auch wenn es über Sie sein sollte, denn Sie verstehen ihre Spra-
che überhaupt nicht.
z Bergerlebnis. Sie stehen sicher und fest auf einem Berggipfel, schauen auf das ein-
zigartige Panorama hinab, erleben das beruhigende Grün der Berghänge, blicken auf
den blauen Himmel, hören den heißeren Schrei einer Krähe, spüren einen angeneh-
men Lufthauch über Ihr Gesicht streichen, atmen die frische Bergluft ein und tanken
sich dadurch auf mit neuer Energie, fühlen sich abgehoben vom Lärm des Tales, al-
les schaut so weit weg aus. Sie stehen souverän über den Dingen und können ent-
scheiden, wann Sie sich wieder auf das Gewühl im Tal einlassen. Wenn auf Sie et-
was bedrückend wirkt wie ein dominierender Berg in einem engen Tal, dann stellen
Sie sich vor, Sie sehen alles vom Gipfel aus und blicken hinunter von der Weite des
Bergkamms.
z Erfolgserlebnis. Vergegenwärtigen Sie sich eines Ihrer größten Erfolgserlebnisse
und spüren Sie die dabei auftretenden körperlichen Empfindungen. Sehen Sie Ihr
Verhalten wie in einem Videofilm vor sich und schlüpfen Sie in diesen Körper, wo
Sie sich dann selbst nicht mehr sehen und plötzlich alles so erleben, als wäre es ge-
genwärtig. Spüren Sie mit allen Fasern Ihres Körpers die Kompetenz und den Wert
Ihrer Person. Mit jeder Einatmung tanken Sie sich auf mit jener Kraft und Energie,
die Sie aus diesem Erfolgserlebnis beziehen. Mit diesem Körpergefühl gehen Sie ge-
lassen auf gefürchtete Situationen oder Personen zu.
z Lieblingsmusik. Schließen Sie Ihre Augen und vergegenwärtigen Sie sich mental
Ihre Lieblingsmusik. Stellen Sie sich vor, Sie haben erstklassige Kopfhörer auf, ver-
sinken tief in der Welt der Musik und blenden die ganze Umwelt für einen bestimm-
ten Zeitraum aus, um sich aufzutanken. Hören Sie die Melodie, erleben Sie den
Rhythmus, der Sie mitreißt, bewegen Sie Ihren Körper bzw. Ihre Lippen, um Ihre
lebendige Teilnahme zu verstärken, spüren Sie das angenehme Kribbeln in Ihrem
Körper und lassen Sie angenehme Bilder aufkommen, die zu dieser Musik passen.
Kognitive Strategien der Angstbewältigung 557
Die Konzentration auf die Inhalte des mentalen Trainings wird oft durch Störgedanken
oder Abschweifen beeinträchtigt. Ein direktes Dagegen-Ankämpfen führt jedoch oft zur
Fixierung darauf. Hilfreich sind Vorstellungen, wie unerwünschte Gedanken von allein
wieder so verschwinden werden, wie sie gekommen sind.
Störende Gedanken
z ziehen dahin wie die Wolken am Himmel,
z taumeln weg wie die Blätter im Herbstwind,
z werden weggetrieben wie Abfälle in einem Fluss,
z lösen sich auf wie der Nebel, der eine schöne Landschaft freigibt,
z werden in Kisten eingepackt wie Objekte und im Keller oder Dachboden abgestellt.
Viele Menschen glauben, sie müssten ihre negativen und ängstlichen Vorstellungen
durch positives Denken ersetzen. Einseitig positives Denken und übertrieben positive
Tagträume („Luftschlösser“) führen zur Entfernung von der Alltagswelt und bewirken
keine Verbesserungen im Leben, weil sie die Schattenseiten des Lebens ausblenden.
Nach neueren psychologischen Forschungsbefunden sind positive Fantasien anfangs
zwar sehr wichtig, um überhaupt Veränderungswünsche entstehen zu lassen, in weiterer
Folge sind jedoch realistisch-negative Vorstellungen hilfreicher, um mit möglichen
Problemen, Schwächen, Gefahren und Rückfällen besser umgehen zu lernen. Nur die
Vorstellung der konkreten Bewältigbarkeit hilft uns, daran zu glauben, dass unsere
Träume Wirklichkeit werden können und die befürchteten Probleme lösbar sind.
In dem Buch „Psychologie des Zukunftsdenkens“ von Gabriele Oettingen werden
verschiedene Studien beschrieben, die belegen, dass problemorientierte, realistische und
damit auch negative Fantasien zu produktiveren Ergebnissen führen, als allzu positive
Vorstellungen und Hoffnungen, die sich nicht mit konkreten Schritten beschäftigen, wie
befürchtete Situationen bewältigt werden können. Die vorstellten mentalen Übungen zur
Angstbewältigung entsprechen diesen psychologischen Erkenntnissen.
558 Selbsthilfe bei Angststörungen
Selbstinstruktionstraining
Wir führen ständig bewusst und unbewusst innere Dialoge. Wir sprechen mit uns selbst
und instruieren uns, was wir tun und lassen sollen. Bei Versagensangst demotivieren
wir uns durch negative Selbstinstruktionen („negative Selbsthypnose“). Das Gehirn
reagiert auf Bedrohungsvorstellungen ähnlich rasch wie auf äußere Gefahren. Bei der
Behandlung von Ängsten kommt der Veränderung von Selbstgesprächen, inneren Mo-
nologen und Selbstinstruktionen eine große Bedeutung zu. Innerlich anders mit sich
reden können schafft die Voraussetzung dafür, äußerlich anders handeln zu können.
Butollo und Höfling [26] weisen in ihrem Buch zur Behandlung chronischer Ängste
und Phobien auf das Gefühl der Kompetenz durch ein Selbstinstruktionstraining hin:
„Nicht was man sich in diesen Augenblicken sagt ist wichtig, sondern daß man sich etwas sagt, und daß
man an die Wirkung dieser Aussagen glaubt. Wenn man an die angstreduzierende Wirkung einer
Selbstinstruktion, einer Bewältigungsstrategie, einer Ablenkung oder eines Stoßgebetes glaubt, tut man
kognitiv etwas fundamental anderes als sich Angst-Machen durch Zweifeln an der eigenen Kompe-
tenz... Letztlich scheint eine kognitive Bewältigungsstrategie die Bedeutung der Kontrollierbarkeit der
Aversivität eines Ereignisses ... zu vermitteln. Die Kontrolle muß nicht unbedingt ausgeübt werden, um
zu beweisen, daß sie effektiv ist, sie muß nicht einmal realistisch sein, es kann schon genügen, daß sie
als effektiv bewertet wird.“
Je nach der Art der Erwartungen können verschiedene Angst verstärkende Selbstin-
struktionen in Angstsituationen unterschieden werden:
z Selbstinstruktionen über Situationserwartungen beziehen sich auf die momentane
Situation und deren Veränderungen, die ohne das eigene Verhalten zu erwarten sind:
„Die morgige Prüfung wird bestimmt schwer.“
z Selbstinstruktionen über Kompetenzerwartungen beziehen sich darauf, inwieweit
sich eine Person ein bestimmtes Verhalten zutraut (z.B. „Ich schaffe es bestimmt
nicht, in dieser Situation auszuharren“, „Ich bleibe so lange in der Situation, bis ich
es vor lauter Angst nicht mehr aushalten kann“, „Das schaffe ich nie“, „Ich werde
kein Wort herausbringen“, „Ich werde bei der Prüfung bestimmt durchfallen“) bzw.
inwieweit sie ein Gefühl der Kontrolle über ein unerwünschtes Verhalten zu haben
glaubt (z.B. „Bestimmt gerate ich außer Kontrolle“, „Gleich werde ich ohnmächtig“,
„Wenn die Panik kommt, muss ich sofort weg von hier“, „Wenn das Herz wieder zu
rasen beginnt, halte ich das nicht mehr lange aus“, „Ich werde bestimmt rot“,
„Gleich werde ich wieder stottern“).
z Selbstinstruktionen über Folgeerwartungen haben das eigene Verhalten und seine
Folgen und Auswirkungen zum Inhalt (z.B. „Wenn ich nicht rechtzeitig aus der
Angstsituation flüchten kann, wird mir etwas passieren“, „Wenn ich zittere oder rot
werde, bin ich bei den anderen erledigt“, „Die anderen merken, dass ich rot werde“,
„Wenn ich jetzt versage, werde ich diese Situation nie mehr aufsuchen“).
Positive Selbstinstruktionen
Aus dem Sport ist bekannt, dass bereits vor dem Aufgeben und dem tatsächlichen Ver-
sagen die Selbstgespräche kippen in die Richtung: „Das schaffe ich nicht.“ Psychologi-
sche Trainingsmethoden im Spitzensport zielen darauf ab, den Kampf um das Durchhal-
ten über positive Selbstgespräche zu stärken. Dabei werden keine unrealistischen Ziele
angepeilt, sondern realistische Leistungsmöglichkeiten vergegenwärtigt.
Wenn Sie angesichts einer bestimmten Situation Angst haben und mit Problemen
rechnen, heißt dies noch lange nicht, dass eine Katastrophe eintreten muss. Positives
Denken bedeutet nicht unbedingt, einen problemlosen Ausgang zu erwarten, sondern
sich mögliche Probleme als bewältigbar vorstellen zu können. Statt „Es wird schon
nichts passieren“ lautet das Motto „Was auch immer passiert, ich werde damit zurecht-
kommen, weil ich noch alles irgendwie geschafft habe“; statt „Ich habe keine Angst“
oder „Wenn ich Angst bekomme, lenke ich mich schnell ab“ sagen Sie sich „Diese
Angst kann ich ertragen“. Das positive Denken, wie es oft verstanden wird, birgt die
Gefahr in sich, die negativen Aspekte des Lebens zu leugnen und nicht ausreichend
darauf vorzubereiten. Die Akzeptanz von Gefahr lenkt den Blick auf das Mögliche.
Positive Selbstinstruktionen werden unter verschiedenen Bezeichnungen eingesetzt:
z als „Affirmationen“ (Selbstbestärkungen),
z als „formelhafte Vorsatzbildungen“ im autogenen Training,
z als „Selbstsuggestionen“ im Bereich der Selbsthypnose.
Kognitive Strategien der Angstbewältigung 561
Mit Hilfe der Spaltentechnik können Sie Ihre Angst machenden Gedanken und negati-
ven Selbstgespräche analysieren, in positive Selbstinstruktionen umformen und sich
innerlich vorsagen lernen [28]. Jede positive Selbstaussage stärkt Ihre Selbstsicherheit,
jede ängstliche Selbstinstruktion schwächt Ihre Handlungsfähigkeit.
Unter großem Stress neigt man leicht zu „primitiveren“ Bewältigungsstrategien und
fällt man schnell auf die früheren negativen Denkmuster zurück, sodass die neuen Ein-
stellungen intensiv eintrainiert werden müssen, bevor sie aus dem Unterbewussten her-
aus wirksam werden können.
Die wichtigsten Selbstinstruktionen können Sie auf ein kleines Kärtchen schreiben, stets
bei sich tragen und bei Bedarf vorher durchlesen [29]. Die positiven Selbstinstruktionen
sollten Sie auch im Rahmen von Entspannungsübungen gleichsam tief in Ihrem Unter-
bewusstsein verankern. Ein in „guten Tagen“ besprochenes Tonband oder bereitliegen-
des Tagebuch mit Ihren ermutigenden Selbstsuggestionen kann Ihnen gute Dienste
leisten in “schlechten Tagen“. Sie werden dadurch wieder an Ihre positiven Kräfte erin-
nert. Entscheiden Sie sich nach einigem Herumprobieren für einige wenige, besonders
passende Affirmationen, die Sie sich täglich innerlich mehrfach vorsagen, vielleicht
sogar auch laut aussprechen, um dadurch Ihre Kraft und Energie zu spüren. Sie können
diese Sätze eingebettet in einen umfassenderen Text auch auf Tonband sprechen, mit
Musik untermalen und täglich in einem Entspannungszustand anhören. Auf diese Weise
erstellen Sie Ihre eigene individuelle Kassette „Mentale Angstbewältigung“, wie Sie
derartige Produkte in recht allgemein formulierter Weise als CD zu kaufen bekommen.
Sie können einen passenden Satz auch im Sinne einer formelhaften Vorsatzbildung
während des autogenen Trainings verwenden.
Die folgenden Beispiele dienen als Anregung zur Entwicklung positiver Selbstin-
struktionen in Angstsituationen bzw. zur Stärkung vor Angstsituationen:
z Ich kann überall hingehen trotz meiner Angst vor Ohnmacht.
z Ich habe einen mutigen Teil in mir, den ich durch jedes mutige Verhalten stärke.
z Ich vertraue auf mich und kann Neues erleben.
z Ich schaffe, was ich mir vornehme.
z Was mir wirklich wichtig ist, erreiche ich bestimmt.
z Ich nehme meine Angst an und begegne mutig meinen Angstsymptomen.
z Ich akzeptiere meine Angstsymptome und tue, was zu erledigen ist.
z Ich akzeptiere Unsicherheit und Restrisiko angesichts der Zukunft als normal.
z Ich kann mich auf andere Menschen einlassen trotz meiner Angst.
z Ich kann Angst haben und meine Sachen trotzdem erfolgreich erledigen.
z Ich habe Angst, aber es wird trotzdem alles gut gehen.
z Angst ist nicht gefährlich – nur unangenehm. Ich habe sie schon oft ausgehalten.
z Meine Angst ist nur ein Adrenalinschub, und der ist bald vorbei.
z Meine Angstreaktionen sind alte Gewohnheitsmuster. Ich werde sie bald los sein.
z Ich tue alles, was mir wichtig ist, wenn es sein muss, auch mit Angstgefühlen.
z Mein Motto lautet: „Alles mit der Angst, nichts gegen die Angst.“
z Meine Angst zeigt, dass mir die Sache wichtig ist, ich tue, was ich kann.
z Ich kann die Angst nicht verhindern, ich kann ihr aber widerstehen.
z Ich muss nicht perfekt sein, ich kann das aber aushalten.
z Jetzt halte ich alles aus, was später kommt, werden wir sehen.
z Ich mache etwas nicht gerne allein, aber ich kann es, wenn es sein muss.
z Ich darf so sein wie ich bin. Ich darf auch schwach sein.
z Es ist ein Zeichen von Stärke, seine Schwäche zuzulassen.
z Angst macht mich gefühlvoll und menschlich.
z Ich nehme alle aufkommenden Gefühle wahr und kann sie aushalten.
z Meine Schwächen machen mich menschlich und liebenswert.
z Ich mag mich, auch wenn ich mich ängstlich und hilflos fühle.
z Ich akzeptiere mich im Moment so wie ich bin, egal wie viel Angst ich habe.
z Die anderen mögen mich auch dann, wenn ich Angst habe.
z Wenn ich durch Zittern, Schwitzen usw. auffalle, sehen die anderen wenigstens, dass
ich mir nichts einbilde.
Kognitive Strategien der Angstbewältigung 563
Alternative Selbstinstruktionen
Menschen mit Ängsten rechnen in jeder Situation gleich mit dem Schlimmsten. Tat-
sächlich sind jedoch mindestens drei Möglichkeiten gegeben:
z ein negativer Ausgang (das Allerschlimmste, die Katastrophe),
z ein positiver Ausgang (das Allerbeste, die Wunschlösung),
z ein erträglicher Ausgang (belastend, jedoch aushaltbar).
Ein Spruch lautet: „Die Freiheit beginnt bei drei Möglichkeiten.“ Bei einer Möglichkeit
steht man unter Zwang, bei zwei Möglichkeiten befindet man sich in einem Dilemma.
Panikbewältigungstraining
Als Therapieziel bei Panikstörungen gilt der bessere Umgang mit Panikattacken, sodass
die belastenden Erwartungsängste geringer werden. Ein sicheres Ausbleiben der gefürch-
teten Panikattacken kann dagegen nicht garantiert werden. Können Sie als Betroffener mit
diesem Ziel zufrieden sein? Wenn Sie ein gewisses Restrisiko einer Panikattacke nicht
ertragen möchten, zeigt Ihr Bedürfnis nach 100%iger Garantie, dass Sie vermutlich starke
Todesängste oder ausgeprägte Krankheitsängste haben, auf keinen Fall sozial auffällig
werden wollen oder zwanghaft-perfektionistische Tendenzen aufweisen.
Weder viele Medikamente noch lange und tief schürfende Psychotherapien können
Ihnen die Garantie geben, dass Sie keine der gefürchteten Panikattacken mehr erleben
werden. Wenn eine verhaltenstherapeutisch orientierte Kurzzeittherapie bei einer seit
Jahren vorhandenen Panikstörung mit Agoraphobie wirksam ist, dann oft deshalb, weil
man nach zahlreichen Erfolgserlebnissen mit einem Restrisiko besser umgehen lernt.
Ohne Bewältigungserfahrungen führt jede Angst vor einer neuerlichen Panikattacke zu
ständigen Vermeidungsreaktionen und im Laufe der Zeit zu einer Daueranspannung.
Panikbewältigungstraining 565
Die ständige Beschäftigung mit Ihren Symptomen und irrealen Ängsten kann eine neu-
rotische Vermeidungsstrategie derart sein, dass Sie sich vor den eigentlichen privaten,
familiären, sozialen, beruflichen, ökonomischen oder gesundheitlichen Problemen ab-
lenken. Je mehr Sie sich durch innere Anspannung und Angst gegen Ihre Katastrophen-
fantasien wehren, umso weniger sind Sie in der Lage, dort zeit- und sachgemäß ein-
zugreifen, wo dies realistisch und sinnvoll ist. Das Hauptproblem irrationaler Ängste
besteht darin, dass Sie sich auf real nicht relevante Bedrohungen fixieren und gerade
dadurch realitätsangemessenes Handeln bei wirklichen Gefahren behindern.
Die Verhaltenstherapeutin Schmidt-Traub [33] betont in ihrem Buch „Angst bewäl-
tigen. Selbsthilfe bei Panik und Agoraphobie“, einem guten Selbsthilferatgeber bei
Panikattacken und Agoraphobie, folgende Aspekte zur Bewältigung von Panikattacken:
z Schärfung der Wahrnehmung: Beobachten und Analysieren der Ängste.
z Motivation: Mut machen zur Angstbekämpfung durch Sammeln von Informationen.
z Umbewertung der körperlichen Symptome: Angst als sinnvolles Alarmsignal.
z Konfrontation: Aufsuchen der Angstsituationen ohne Meidungsverhalten.
z Konzentrationslenkung als Angstkontrolle: von negativer Selbstbeobachtung und
Angst machenden Gedanken zu angenehmen oder neutralen Dingen schwenken.
z Besseres Gesundheitsverhalten: mehr Sport, Entspannung, bessere Ernährung.
z Lebensplanung: persönliche Herausforderungen für mehr Sinn im Leben suchen.
z Stressmanagement: Belastungen früher erkennen und planvoll mildern.
z Selbstbehauptung: bessere Durchsetzung und Abgrenzung gegenüber anderen.
Folgende Ratschläge können bei der Bewältigung von Panikattacken nützlich sein:
z Lassen Sie sich körperlich untersuchen, jedoch nur einmal.
z Analysieren Sie nach jedem Anfall Ihre Angst und Panik.
z Bleiben Sie bei einer akuten Panikattacke nicht ruhig, sondern bewegen Sie sich.
z Verwenden Sie bei einer Panikattacke Atemtechniken mit Bewegung.
z Beobachten Sie bei einer Panikattacke nicht den Körper, sondern die Umgebung.
z Bleiben Sie bei einer Panikattacke im Hier und Jetzt, ohne negative Erwartungen.
z Akzeptieren Sie Ihre Ängste und Symptome, ohne dagegen anzukämpfen.
z Lassen Sie die Panikattacke vorbeiziehen wie ein heftiges Gewitter.
z Stellen Sie sich Ihren größten Ängsten, die Sie in Panik versetzen.
z Motivieren Sie sich durch Ziele jenseits von Angst und Panik.
z Spielen Sie Panik erzeugende Situationen in der Vorstellung durch.
z Betreiben Sie regelmäßig mentales Training mit der Vorstellung von Panik.
z Stellen Sie sich allen Angstsituationen mit Panikgefahr, ohne auszuweichen.
z Lernen Sie, Ihre Panikattacken durch Provokation zu kontrollieren.
z Lernen Sie, besser mit Herzrasen, Schwindel und Fallangst umzugehen.
z Stellen Sie sich bei Bedarf Ihrer unbegründeten Angst verrückt zu werden.
z Schonen Sie Ihren Körper nicht ständig, sondern trainieren Sie ihn.
z Machen Sie neben Ihrer Angst und Panik viele positive körperliche Erfahrungen.
z Lernen Sie, sich zu entspannen und besser mit Stress umzugehen.
z Leben Sie gesund bzw. entwickeln Sie ein verstärktes Gesundheitsverhalten.
z Werden Sie selbstbewusster gegenüber anderen. Lernen Sie, Nein zu sagen.
z Nehmen Sie trotz Angst vor Panikattacken möglichst wenig Beruhigungsmittel.
z Vermeiden Sie längere Krankenstände und zu lange Krankenhausaufenthalte.
z Vergegenwärtigen Sie sich während einer Panikattacke, dass Sie gesund sind und
auch gesund bleiben und dass Ihre momentanen Todesängste nur Gedanken sind.
Panikbewältigungstraining 567
Aufmerksamkeitslenkung
Konzentration auf die Umwelt statt auf den Körper bei akuter Panik
Beobachten Sie bei akuter Angst und Panik nicht den Körper, sondern die Umgebung!
Die ständige Selbstbeobachtung und Konzentration auf die vorhandenen Symptome
verstärkt bei vielen Betroffenen die Angstbereitschaft, wodurch die Beschwerden größer
und die Panikattacken wahrscheinlicher werden. Wenden Sie sich daher bei beginnen-
der Panikattacke vom Beobachten und Erleben des eigenen Körpers ab und konzentrie-
ren Sie sich auf die Umgebung. Verzichten Sie auf jeden direkten Kampf gegen die
Paniksymptome. Wenn Sie mit Ihren Panikattacken besser umgehen können, werden
Sie eine Panikattacke auch durch Zuwendung auf Ihren Körper bewältigen lernen, in-
dem Sie Achtsamkeitsübungen und Atemtechniken ohne Bewegung anwenden.
Je mehr Sie gegen etwas direkt ankämpfen, umso stärker bleibt dies im Gedächtnis
haften. Dies lässt sich anhand eines Beispiels demonstrieren. Stellen Sie sich eine Minu-
te lang eine grüne Wiese vor, auf der ein weißer Elefant steht. Dann stellen Sie sich
dieselbe grüne Wiese eine Minute lang ohne den weißen Elefanten vor. Wie können Sie
das beharrliche Bild des weißen Elefanten am ehesten zum Verschwinden bringen?
Ein Training der Konzentrationslenkung kann Ihnen helfen, beginnende Panikattak-
ken zu beenden, indem Sie sich auf etwas anderes konzentrieren, solange Sie über keine
distanzierte Selbstbeobachtungsfähigkeit verfügen. Verwenden Sie Konzentrationshil-
fen, die eine bessere Wahrnehmung der Umwelt über alle Sinne ermöglicht:
z Was sehen und hören Sie jetzt gerade, wenn Sie sich auf die Umwelt konzentrieren?
z Was riechen und schmecken Sie gegenwärtig, wenn Sie mehr darauf achten?
z Was tasten und spüren Sie im Moment, soweit es die konkrete Umgebung betrifft?
Sorgen Sie für den Notfall vor und überlegen Sie, welche der folgenden Anregungen für
Sie nützlich sein könnten [34]:
z Konzentrieren Sie sich auf etwas, das fünf Minuten lang Ihre ganze Aufmerksamkeit
erfordert. Damit fangen Sie oft bereits die ärgste Panik ab.
z Denken Sie an etwas, das Sie in der nächsten Zeit unbedingt tun müssen, wenn Sie
nicht Nachteile in Kauf nehmen wollen, oder gehen Sie im Geist verschiedene Auf-
gaben durch, die Sie erledigen müssen (bestimmte Reparaturen, Speiseplanerstel-
lung, Behördenwege, Ausflugsplanung u.a.).
z Fixieren Sie einen Punkt oder Gegenstand, wodurch Sie ruhiger werden.
z Beobachten Sie Häuser, Bäume, Pflanzen, Tiere, Autos, Nummernschilder, Plakate,
Bilder, Schaufenster usw. und prägen Sie sich alles möglichst gut ein.
z Beobachten Sie (z.B. in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Geschäften) andere Men-
schen, ihre Haltung, Mimik, Kleidung usw. und versuchen Sie über diese Menschen
etwas zu erraten (Alter, Beruf, Herkunftsland usw.).
z Beobachten Sie beim Autofahren die Umgebung, hören Sie Radio, verwenden Sie
einen MP3-Player und summen bzw. singen Sie laut zur Musik mit.
z Drehen Sie den Fernsehapparat auf und suchen Sie den interessantesten Film aus.
z Hören Sie Ihre Lieblingsmusik bzw. das, was Sie noch kaum gehört haben.
z Verwenden Sie unterwegs einen MP3-Player wie Jugendliche mit Ihrer Lieblings-
musik und summen bzw. bewegen Sie sich dazu.
z Klatschen Sie rhythmisch mit den Händen zu einem bestimmten Lied, das Sie
gleichzeitig singen, vielleicht mit Unterstützung durch einen Tonträger.
568 Selbsthilfe bei Angststörungen
z Schauen Sie Ihre Fotos oder Videoaufnahmen an (z.B. vom letzten Urlaub).
z Lesen Sie ein spannendes Buch, eine Zeitung oder Zeitschrift, am besten laut.
z Wenn Sie zu Hause eine Panikattacke im Sitzen oder Liegen überfällt, stehen Sie auf
und gehen Sie in der Wohnung umher.
z Beginnen Sie mit einer Hausarbeit oder Gartenarbeit, die eine natürliche Form der
Bewegung und Ablenkung darstellt.
z Schreiben Sie einen Brief, machen Sie Notizen für bestimmte Planungen oder
schreiben Sie auf, was Sie einkaufen müssen.
z Konzentrieren Sie sich auf Rechenaufgaben, auf die Berechnung Ihrer wöchentli-
chen Haushaltsausgaben oder auf das Lösen von Kreuzworträtseln.
z Spielen Sie etwas, das Sie fordert (z.B. Computerspiele, Gameboy, mit Tieren).
z Gehen Sie in Ihr Bad und nehmen Sie eine Wechseldusche, mit warmem Wasser
beginnend, mit kaltem Wasser endend.
z Telefonieren Sie mit jemandem, wenn Sie allein zu Hause sind, ohne von Ihrer mo-
mentanen Panikattacke zu berichten, und warten Sie ab, ob Ihr Telefonpartner Ihre
Unruhe überhaupt erkennt. Rufen Sie nur in Ausnahmefällen Ihren Partner, Arzt
oder Psychotherapeuten an, ein Telefonat mit Verwandten, Bekannten, Behörden
oder Firmen (z.B. Reisebüro wegen Urlaubsangeboten) tut es auch.
z Wenn Sie allein zu Hause sind, verlassen Sie die Wohnung und gehen Sie spazieren,
wenn nötig unter Menschen, ohne jemanden wegen Ihrer Zustände anzureden.
z Wenn Sie allein unterwegs sind, sprechen Sie andere Menschen an und fragen Sie
nach etwas, ohne von Ihrer Panik zu erzählen.
z Lesen Sie im Geschäft die Aufschrift bei verschiedenen Produkten, suchen Sie nach
ausgefallenen Artikeln oder beginnen Sie ein Gespräch mit einer Verkäuferin.
z Genießen Sie etwas: Nahrungsmittel, Obst, Süßigkeit, Kaugummi, Getränk.
z Riechen Sie einen angenehmen Geruch, den Sie in Ihrer Wohnung verbreiten (z.B.
ein ätherisches Öl).
z Betasten Sie mit Ihren Händen Dinge, die Sie mögen, um sich wohl zu fühlen. Strei-
cheln Sie ein Tier oder Stofftier, um andere Empfindungen zu bekommen.
z Wenn Sie sich von Ihrer Umwelt nicht verstanden fühlen oder diese in Ihre Proble-
me nicht einweihen möchten, benutzen Sie das Internet als Kontaktmöglichkeit mit
gleichfalls Betroffenen, um auf diese Weise Verständnis und Hilfe zu erfahren.
Sie können lernen, Ihre Angstreaktionen nicht durch Furcht erregende Fantasievor-
stellungen zu verstärken, sondern durch die Konzentration auf die aktuelle Situation
erträglicher zu gestalten. Folgende Tipps können Ihnen dabei helfen:
1. Widerstehen Sie negativen Bewertungen und Angst machenden Zukunftsvorstellun-
gen. Bleiben Sie mental ganz in der Gegenwart, in der Realität, im Hier und Jetzt.
Konzentrieren Sie sich auf den Augenblick, keine Sekunde früher oder später.
2. Beobachten Sie, was im Moment um Sie herum geschieht. Beobachten Sie, wie sich
die heftige Erregung aufschaukelt und von allein wieder abklingt ohne Eingreifen.
3. Sprechen Sie mit sich selbst, indem Sie kommentieren, was Sie jetzt spüren.
4. Sagen Sie sich wiederholt, dass Sie das aushalten können, was Sie jetzt spüren.
5. Sagen Sie sich, dass Sie sich jetzt in einem Zustand befinden, den Sie schon x-mal
überlebt haben und daher auch zukünftig aushalten können.
6. Konzentrieren Sie sich auf Ihre Atmung und stellen Sie sich vor, wie Sie mit jeder
Einatmung durch die Nase mehr Kraft und Zuversicht bekommen und mit jeder
Ausatmung durch die leicht geschlossenen Lippen immer mehr Druck und Anspan-
nung von sich geben. Während Sie Ihre Atmung beobachten, werden negative Ge-
danken ausgeblendet. Die Tiefenatmung bewirkt eine Verlangsamung der Atmung.
Untersuchungen über die Effekte von Zuwendung bzw. Abwendung der Aufmerksam-
keit auf bestimmte Stressreize haben ergeben, dass die Abwendung vom Stressor kurz-
fristig bessere Resultate erbringt (in Akutsituationen wie starken Schmerzzuständen),
die Zuwendung zum Stressor jedoch langfristig wirksamer ist (bei länger andauernden
psychischen und physischen Stresssituationen). Daraus lässt sich ableiten, dass in aku-
ten Paniksituationen eine wirksame Ablenkungstechnik hilfreich ist, während angesichts
der chronischen Erwartungsängste und der erhöhten psychovegetativen Erregbarkeit
eine Zuwendung zum Körper mit dem Ziel der besseren Wahrnehmung und Erträglich-
keit der Symptome sinnvoller ist. Ablenkungstechniken sind wirksam, wenn man ganz
in den alternativen Vorstellungen oder Tätigkeiten aufgehen kann, d.h. sie müssen fes-
selnd sein. Man muss dann auch nicht fürchten, dass der unerwünschte Gedanke doch
auftreten könnte. Er verblasst angesichts der Attraktivität der Alternativen. Jedes so
genannte Flow-Erlebnis (fasziniertes Aufgehen im Tun) ist demnach eine Ablenkung.
Die genaue Beobachtung des Ist-Zustandes macht die Abwehr von etwas noch
Schlimmerem überflüssig, weil der aktuelle Zustand aushaltbar ist. Die Zuwendung auf
die eigene Person in Form der Selbstwahrnehmung der momentanen körperlichen, emo-
tionalen und geistigen Befindlichkeit verhindert die drohende Entfremdung vom aktuel-
len Erleben und den gegenwärtigen Bedürfnissen. Das Gewahr-Werden bzw. Gewahr-
Sein der inneren und äußeren Ereignisse, die im Hier und Jetzt auftreten, ist die Voraus-
setzung für jede Veränderung von Problemen im Verhalten und Erleben. Das bessere
Wahrnehmen und Zulassen der Ist-Situation ist erlernbar durch ein Training der Auf-
merksamkeit auf die von außen einströmenden Informationen und die im Inneren ent-
stehenden körperlichen, emotionalen und kognitiven Prozesse.
Menschen mit Angst- und Panikzuständen fällt es schwer, sich ihrem Körper voll
und ganz zuzuwenden, weil sie durch die Wahrnehmung der aktuellen Befindlichkeit
(beginnende Angstsymptomatik) befürchten, die Symptomatik im Sinne des Teufels-
kreises der Angst bis zu einer Panikattacke aufzuschaukeln. Sie brechen daher den
Wahrnehmungsprozess ab und können im Erstgespräch oft nicht einmal berichten, wie
sich die körperliche Erregung genau entwickelt („Es kommt alles ganz plötzlich über
mich“), weil die ersten Anzeichen gar nicht bewusst wahrgenommen wurden.
570 Selbsthilfe bei Angststörungen
Ich merke, wie sich meine Beine zu verkrampfen beginnen und wie ich unsicher dastehe. Ich habe
Angst umzufallen, aber noch stehe ich. Meine Knie beginnen zu zittern, ich halte die Luft an, mir wird
ganz schwindlig, jetzt glaube ich, dass ich gleich umfallen werde, am liebsten möchte ich mich irgend-
wo anhalten, aber ich stehe noch immer da. Mir wird etwas übel, ich atme einmal tief durch, vielleicht
wird es dann besser. Mir wird vom Bauch aus bis zum Kopf ganz heiß, das kenne ich schon, ich öffne
zwei Knöpfe meiner Kleidung, jetzt ist es etwas erträglicher. Mein Herz schlägt wie verrückt, das
macht mir Angst, jetzt spüre ich das Pochen auch in den Adern. Das muss ich jetzt aushalten, warum
muss mein Herz immer gleich so zu rasen beginnen. Jetzt fängt auch wieder dieser lästige Druck auf
der Brust an. Ich schnaufe jetzt am besten einige Male tief durch, auch wenn mir dies etwas schwer
fällt, am besten durch die Nase, nicht durch den Mund. Aber einmal muss ich noch durch den Mund tief
Luft holen, sonst halte ich das nicht aus. Ich atme dafür auch ganz fest durch den Mund aus. Es wird
leichter, wenn ich mich zu bewegen beginne. Nur nicht ruhig stehen bleiben, ich beuge meine Knie ein
paar Mal etwas federnd durch und schüttle dabei meine Hände und meinen Kopf. Jetzt weiß ich, ich
habe es wieder einmal geschafft, ich stehe noch immer aufrecht da und kann meinen Weg weitergehen.
Es ist mir peinlich, wenn mich jetzt jemand beobachtet hat, aber eigentlich kann es jedem einmal
schlecht gehen. Ich bin schon froh, wenn ich mich nicht mehr so unterkriegen lasse wie früher.
Bewegungstraining
Bleiben Sie bei einer akuten Panikattacke nicht ruhig, sondern bewegen Sie sich! Eine
Panikattacke entsteht durch einen heftigen Adrenalinstoß (oft aus emotionalen Grün-
den). Bei einer bereits eingetretenen Panikattacke helfen ohne ausreichendes Training
keine Atem- und Muskelentspannungsübungen mehr, sondern nur intensive körperliche
Bewegung, weil der Körper auf Aktivität, Kampf oder Flucht vorbereitet wird, wie bei
einem Notfall. Umhergehen, auch wenn Sie oder andere Menschen dies bisher als Zei-
chen von Nervosität erleben, ist eine adäquate Reaktion, um die erlebte muskuläre An-
spannung abzureagieren. Reine Atemtechniken, wie sie als Hilfe bei beginnender Pa-
nikattacke beschrieben werden, sind bei einer akuten Panikattacke oft ineffizient:
z Die körperliche Anspannung erfordert körperliche Bewegung zur Abreaktion.
z Atemtechniken fördern die Konzentration auf den eigenen Körper, was bei akuten
Panikattacken nur die Wahrnehmung der Symptome intensiviert und bei vielen Be-
troffenen, die mit Zuwendung nicht umgehen können, die Panikreaktion verstärkt.
Machen Sie auch dann intensive körperliche Bewegungen, wenn Sie meinen, Sie müss-
ten sich aus Sicherheitsgründen ganz ruhig verhalten und schonen. Durch die intensive
Körperarbeit werden die ausgeschütteten Stresshormone rascher abgebaut. Bewegung
bietet Ihnen vor allem auch eine einfache Erklärung für die vegetative Aktivierung, die
Ihnen bei einer Panikattacke in Ruhe oft unerklärlich erscheinen mag. Wenn Sie sich bei
Panikattacken, die durch Hyperventilation ausgelöst werden, rhythmisch zu bewegen
beginnen, zwingen Sie Ihre Atmung einfach durch die Art der Bewegung zu einem
langsameren Tempo. Bei Bewegung verschwinden vor allem auch die typischen Hyper-
ventilationssymptome, die stets nur bei körperlicher Bewegungslosigkeit auftreten.
Wenn bei niedrigem Blutdruck in einer Schrecksekunde bzw. in einer Phase der
Hilflosigkeit Ihr Blutdruck noch weiter absinkt (Schwindelgefühl, Ohrensausen, kalter
Schweiß auf der Stirn, ein bestimmtes Gefühl im Magen) und Sie Angst vor Ohnmacht
oder einer Panikattacke haben, können Sie außer Bewegung auch eine bestimmte Form
der Muskelanspannung praktizieren, die sich bei Blut- und Verletzungsphobien bewährt
hat, um eine rapide Absenkung des Blutdrucks zu verhindern:
Spannen Sie die großen Skelettmuskeln (Brust, Arme, Oberschenkel) an und halten
Sie diese Spannung 15-20 Sekunden lang an (d.h. länger als bei der progressiven Mus-
kelanspannung). Dann lösen Sie die Spannung wieder bis auf das Ausgangsniveau, aber
nicht bis zur Entspannung. Nach 30 Sekunden spannen Sie diese Muskeln wiederum an.
Wenn Sie diesen Vorgang fünfmal wiederholen, steigt Ihr Blutdruck ganz bestimmt und
verhindert wirksam eine Ohnmacht, wie dies bei Blutphobien nachgewiesen wurde.
572 Selbsthilfe bei Angststörungen
Panikprovokationstraining
Lernen Sie, Ihre Panikattacken durch Provozieren zu kontrollieren! Wenn Sie sehr
sensibel sind, unter großem Stress stehen und sich übermäßig fürchten vor Krankheit
und Tod, dann bekommen Sie bei einem Anfall mit Kollapsneigung oder bei heftigen
vegetativen Symptomen (Herzrasen, Atemnot, Schwindel, Übelkeit, Zittern, Hitze- oder
Kältegefühle) starke Angst vor Ohnmacht, Tod oder Kontrollverlust, ohne dass Sie die
Ursachen der Angst sofort erkennen können.
Eine schlimme Panikattacke kann Sie bereits traumatisieren, d.h. so in Angst und
Schrecken versetzen, dass Sie gar keinen zweiten oder weiteren Angstanfall zur Festi-
gung und Verstärkung Ihrer Ängste benötigen. Sie fürchten dann schon eine weitere
Attacke, wenn Sie nur leichte Symptome spüren. Die ängstliche Selbstbeobachtung
führt zu vermehrten vegetativen Beschwerden und verstärkten Alarm- oder Panikreak-
tionen. Denn das ängstlich-misstrauische Beobachten des eigenen Körpers wirkt selbst-
hypnotisch im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.
Durch die bewusste Provokation von anfangs leichteren, später stärkeren Sympto-
men können Sie lernen, mit den belastenden Körperreaktionen besser umzugehen, in-
dem Sie diese unter Kontrolle bekommen und die Erwartungsängste dadurch geringer
werden. Dies nennt man paradoxe Reaktion. Wenn man etwas tut, was man eigentlich
fürchtet, fürchtet man es nicht mehr, sodass man dabei immer ruhiger wird.
Die bewusste Auslösung von Symptomen, die bisher mit unkontrollierbarer Panik
verbunden schienen, fällt vielen Betroffenen jedoch sehr schwer. Dies zeigt, wie groß
die Angst selbst unter Therapiebedingungen ist, die Symptome letztlich doch nicht in
den Griff zu bekommen, weshalb man sie lieber nicht auslösen möchte. In diesem Sinn
ist die häufig gestellte Frage, ob es nicht doch ohne derartige Provokationsversuche
gehe, sehr verständlich.
Ein Teil der Betroffenen lehnt die Provokation panikähnlicher Symptome selbst
nach „gelungener“ Agoraphobie-Behandlung ab, d.h. sie entscheiden sich, mit einer
gewissen Erwartungsangst weiterzuleben, und sind mit folgenden Teilzielen zufrieden:
z Zuversichtliche Gewissheit, dass man an Panikattacken nicht sterben kann.
z Hoffnung, Panikattacken durch die gelernten Atem- und Bewegungsübungen abfan-
gen zu können.
z Erkenntnis der Auslöser (massive Verlustängste aufgrund entsprechender Erfahrun-
gen, nicht bewältigte Trennung, nicht bewältigte Todesängste nach einer Krankheit).
Eine Konfrontation mit den körperlichen Symptomen der Angst kann am besten durch
folgende Provokationstechniken erreicht werden:
z Beschleunigung der Atmung (Hyperventilation),
z Provokation von Herzsensationen: Beobachtung und Beschleunigung des Herz-
schlags,
z Provokation von Schwindelzuständen.
Panikbewältigungstraining 573
Wenn diese Übungen für Sie nicht durchführbar sind und Sie gerade wegen derartiger
Befürchtungen eine Panikattacke bekommen, sollten Sie unbedingt eine Psychotherapie
beginnen. Medikamente stellen keine Lösung dar, wenn es gilt, die Angst vor einer
Panikattacke, die völlig ungefährlich ist, in den Griff zu bekommen. Es ist nicht sinn-
voll, mit Medikamenten Herzsensationen nur deswegen zu unterdrücken, weil letztlich
der Gedanke an den Tod unerträglich erscheint. Wegen ganz normaler Todesängste sind
Sie auch nicht depressiv und brauchen deswegen keine Antidepressiva.
Viele Panikpatienten haben Angst umzufallen, verhalten sich daher ruhig und beobach-
ten ständig ihren Körper. Die Betroffenen befürchten einen Blutdruckabfall und daraus
resultierende Ohnmacht. Sie sollten sich vielmehr bewegen, denn dadurch würde der
Blutdruck ansteigen, sollte er tatsächlich absinken. Aus Angst vor dem Fallen spannen
viele ängstliche Schwindelpatienten die Beine an, drücken ihre Knie fest zusammen und
stehen mit steif durchgestreckten Beinen da, was die Unsicherheit im Stehen verstärkt.
Die Beine elastisch etwas durchzubeugen und den Körperschwerpunkt zu senken
(wie beim Schifahren), gibt Sicherheit vor dem Fall. Beobachten Sie Kinder und Er-
wachsene, die gerade das Schifahren lernen. Wie elegant fahren doch Kinder den Hang
hinunter, mit tiefer Hocke bzw. Rückenlage, ohne in den Schnee zu fallen. Kinder ha-
ben meist keine Angst vor dem Fall und verspannen sich daher auch nicht. Wie steif
stehen dagegen viele Erwachsene auf den Brettern. Aus Angst vor dem Fall strecken sie
ihre Beine zu stark durch und heben den Körper zu hoch. Je höher der Körperschwer-
punkt, desto leichter fällt man bei einer kleinen Unebenheit hin. Menschen mit Falläng-
sten sind wie unsichere Schifahrer. Aus Angst vor dem Fallen strecken sie die Beine
durch und heben den Körperschwerpunkt. Sie sind dadurch unelastisch und fühlen sich
unsicher auf den Beinen.
576 Selbsthilfe bei Angststörungen
Wenn Sie zu wenig Bodenkontakt und Erdverbundenheit spüren, verlieren Sie den
„Boden unter den Füßen“ und das Gefühl für Ihren Körperschwerpunkt. Sie geraten
dann aus dem Gleichgewicht und bekommen Angst vor dem Fallen. Beim Schifahren
kommt es gerade dann zu Knochenbrüchen, wenn man die Beinmuskeln anspannt und
sich gegen den Fall wehrt (trifft auf über 90% der Brüche zu). Die Knie durchzubeugen,
mit dem Fall mitzugehen und sich dann wieder aufzurichten, verhindert dagegen einen
Sturz. Wehren Sie sich nicht gegen den Fall, wenn er unvermeidlich sein sollte, machen
Sie bewusst Fallübungen, indem Sie sich fallen lassen. Üben Sie aber auch, mit dem
Körper bei offenen und geschlossenen Augen hin und her zu schwanken wie ein Baum
im Wind. Machen Sie die Erfahrung, dass Sie fest am Boden aufstehen und Halt finden.
Bewegen Sie sich so, dass Sie den Körper vom Becken aus bewegen wie beim Tanz.
Die psychotherapeutische und physiotherapeutische Technik des „Erdens“ (besserer
Kontakt mit dem Boden unter den Füßen) ist eine nützliche Hilfe. Das Verständnis für
den bedeutsamen Vorgang des Kontaktnehmens zum Boden lässt sich auch über die
„Fußreflexzonen“ noch vertiefen. Im Fuß haben alle Organe ihre zugeordneten Stellen,
die so genannten Reflexzonen. Durch Druck auf Zehen-, Ballen-, mittleren oder Fersen-
bereich des Fußes belebt sich analog der Zuordnung der „Reflexzonen“ des Fußes die
Atmung im oberen, mittleren oder unteren Körperbereich. Durch Lockern, Massieren
und Bewegen der Füße kann dieser Kontakt zum Boden verstärkt werden.
Bei akuten Schwindelbeschwerden schützt Hinlegen vor unkontrollierten Reaktio-
nen. Langfristig hemmt die mit der ständigen Bettruhe verbundene Inaktivität die Koor-
dinationszentren des Gleichgewichtssystems und beeinträchtigt so die körperlichen
Erholungsmöglichkeiten. Wissenschafter der NASA konnten zeigen, dass bei Gesunden
schon allein durch eine siebentägige Bettruhe das Koordinationssystem des Gleichge-
wichts empfindlich gestört werden kann.
Ein Trainingsprogramm gegen Schwindel ist sehr hilfreich:
z Bestimmte sportliche Aktivitäten wie Waldlauf oder Tischtennisspielen haben eine
positive Wirkung auf das Gleichgewichtssystem.
z Fixationsübungen benutzen die von Tänzern bekannte Erfahrung, dass man beim
Drehen des Körpers durch Fixieren eines festen Punktes während einer Halbkreis-
drehung den Schwindel weitgehend unterdrücken kann.
z Augenfolgeübungen (mit den Augen einen sich langsam bewegenden Gegenstand
verfolgen) fördern einen besseren Umgang mit Bewegungsreizen.
z Rasche Dreh- und Bewegungsübungen sind gut geeignet zur Behandlung des Lage-
rungsschwindels. Bestimmte Ringelspiele auf dem Rummelplatz stellen eine ideale
Schwindelprovokation dar.
z Balancierungsübungen fördern einen besseren Gleichgewichtssinn.
z Das Fixieren von Mustern, die sich bei längerem Hinschauen zu bewegen beginnen,
provoziert einen Schwindelreiz und führt im Laufe der Zeit zur Gewöhnung.
Einige der folgenden Gleichgewichtsübungen stellen Variationen der Übungen aus dem
Buch „Atme richtig“ von Hiltrud Lodes [36] dar und können nach Belieben abgewan-
delt werden, um Schwindelzustände auszulösen und das Vertrauen in die Körperfunk-
tionen Gleichgewicht, Stehen und Gehen wiederzuerlangen (bei vielen Angst- und Pa-
nikpatienten löst allein bereits Schwindel eine Panikattacke oder Ohnmachtsangst aus):
1. Balancieren. Balancieren Sie auf Baumstämmen, Balken usw. Spannen Sie dabei
plötzlich Ihren rechten Arm an und machen Sie mit der Hand eine Faust, um das
Gleichgewicht halten zu müssen.
2. Kontaktnehmen zum Boden. Stehen Sie mit den Füßen fest am Boden, strecken Sie
die Zehen aus und achten Sie auf einen guten Kontakt zum Boden. Spüren Sie den
Boden unter Ihren Füßen und die Teile Ihrer Fußsohlen, die den Boden berühren.
Gehen Sie dann mit gutem Kontakt Ihrer Füße zum Boden durch den Raum.
3. Atmung als Bewegung. Atmen Sie im Stehen bei geschlossenen Augen tief ein, ach-
ten Sie dabei auf eine gute Zwerchfellatmung und beobachten Sie, wie Ihre Atmung
Ihren Körper in leichtem Ausmaß schwanken lässt.
4. Pendeln und Kreisen über den Füßen. Stellen Sie Ihre Füße knapp nebeneinander
und kreisen Sie mit Ihrem Oberkörper. Stellen Sie sich vor, auf Ihrem Kopf einen
Teller zu jonglieren. Bemerken Sie einen Unterschied bei geschlossenen Augen?
5. Verlagern des Körperschwerpunkts nach vor und zurück. Verlagern Sie den Körper-
schwerpunkt möglichst weit vor auf die Zehen und anschließend möglichst weit zu-
rück auf die Fersen. Spüren Sie dabei die Atemanregung.
6. Über den Füßen vor- und zurückschaukeln. Schaukeln Sie in leichtem Grätschstand
auf Ihren Füßen vor und zurück, indem Sie beim Einatmen Ihre Fersen anheben und
dabei das Körpergewicht auf die Vorderfüße verlagern, beim Ausatmen die Fersen
wieder sinken lassen und dabei das Körpergewicht bei gutem Bodenkontakt auf die
Fersen verlagern. Die Kniegelenke bleiben dabei immer in lockerer Bereitschafts-
stellung.
7. Verlagern des Körperschwerpunkts nach rechts und links im Wechsel. Verlagern Sie
Ihr Körpergewicht abwechselnd auf die rechte und die linke Fußsohle. Vom belaste-
ten Fuß aus soll der Körper durchgehend bis zum Kopf gestreckt sein. Heben Sie
dabei den nicht belasteten Fuß ein wenig vom Boden ab. Zur Unterstützung der Be-
wegung heben Sie die Arme etwas an und balancieren Sie Ihren Körper, während
das ganze Gewicht auf einem Fuß ruht.
8. Wippen aus dem Stand. Stehen Sie mit den Händen in den Hüften aufrecht da und
heben Sie schwunghaft beide Fersen, und zwar so hoch wie möglich. Nach 3 Sekun-
den stellen Sie Ihre Füße wieder flach auf den Boden. Wiederholen Sie diese Übung
20-mal. Diese Übung bewirkt auch eine Kräftigung der Waden.
578 Selbsthilfe bei Angststörungen
9. In die Hocke gehen. Stehen Sie mit den Händen in den Hüften aufrecht da und gehen
Sie langsam in die Knie. Wenn die Oberschenkel parallel zum Boden sind, halten
Sie diese Position 3 Sekunden lang. Kehren Sie dann langsam in die Ausgangsposi-
tion zurück und wiederholen Sie die Übung 10-mal. Diese Übung kräftigt den Qua-
drizeps, den Muskel an der Vorderseite des Oberschenkels.
10. Anspannung des Körpers. Spannen Sie Ihren ganzen Körper eine Minute lang an, in
dem Sie im Stehen Ihre Arm-, Bein-, Bauch-, Rücken-, Schulter- und Gesichtsmus-
keln anspannen und beobachten Sie, welche Gefühle dies in Ihnen auslöst.
11. Gehen mit einem Krug oder Buch auf dem Kopf. Gehen Sie mit einem Krug, Buch
oder ähnlichem Gegenstand auf dem Kopf durch den Raum. Halten Sie dabei nicht
den Atem an vor lauter Konzentration! In Sammlung auf die zu lösende Aufgabe be-
lebt sich die Atmung. Der Atemraum weitet sich durch das Aufrichten der Wirbel-
säule. Lassen Sie beim Gehen die Beine locker aus der Hüfte schwingen, wobei die
Leiste gestreckt ist. Die Füße spüren den Boden und rollen bei jedem Schritt auf den
Fußsohlen ab. Um den Gegenstand gut auszubalancieren, richten Sie sich unwillkür-
lich auf, die Haltung korrigiert sich von selbst. Sobald Sie den Nacken einknicken
oder ins Hohlkreuz gehen, fällt der Gegenstand vom Kopf.
Drehen bzw. schnelles Bewegen des Kopfes kann rasch einen Schwindelzustand („Lage-
rungsschwindel“) und Benommenheit herbeiführen. Längeres Üben bewirkt eine Ge-
wöhnung an den Schwindel, sodass er nicht mehr so belastend ist (diese Übungen soll-
ten Sie nur machen, wenn Sie keine neurologischen Probleme haben):
1. Drehen Sie den Kopf für 30 Sekunden hin und her.
2. Legen Sie den Kopf für 30 Sekunden zwischen die Beine und bewegen Sie dann den
Kopf ganz schnell wieder nach oben.
3. Drehen Sie sich bei geschlossenen Augen längere Zeit stehend im Kreis, bis Sie
schwindlig werden.
4. Setzen Sie sich in einen Drehstuhl, drehen Sie sich eine Minute lang und halten Sie
dann plötzlich an.
Alexander Lowen [37], der Begründer der Bioenergetik, setzte Fallübungen thera-
peutisch ein, um die Hemmungen aufzudecken, die einen Menschen verkrampfen, ihm
den Boden unter den Füßen wegziehen und dadurch eine Fallangst auslösen:
„Dann fordere ich den Patienten auf, sein ganzes Gewicht auf ein Bein zu verlagern und dessen Knie
vollständig zu beugen. Der Fuß des anderen Beins darf den Boden leicht berühren, dient aber nur zur
Balance. Die Anweisungen sind sehr einfach. Der Patient soll so lange in dieser Lage verharren, bis er
hinfällt; er darf sich jedoch nicht mit Absicht fallen lassen. Wenn man sich bewußt löst oder lockert,
fällt man nicht richtig, weil man den Sturz kontrolliert. Ein ‚wirksamer’ Fall muß ungesteuert und
unwillkürlich sein. Wenn man seinen Geist darauf konzentriert, die eingenommene Position zu halten,
stellt der Fall die Loslösung des Körpers von der bewußten Kontrolle dar. Da sich die meisten Men-
schen davor fürchten, die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren, erzeugt schon dieser Vorgang
Angst.“
Viele Menschen haben nach Lowen Angst, dass sie nicht mehr aufstehen könnten, wenn
sie fallen würden. Hilflos am Boden liegen zu müssen, ist oft ein unerträglicher Gedan-
ke. Lowen verweist in Anlehnung an Wilhelm Reich auf den Zusammenhang von Fall-
angst und falscher Atmung. Der Abfluss von Energie aus Füßen und Beinen, der durch
die fehlende Zwerchfellatmung und die Blockade der unteren Körperhälfte bewirkt
wird, führt nach Lowen zu einem Verlust des Bodenkontakts.
Sich buchstäblich fallen lassen zu können, stellt auch eine Vertrauensübung gegen-
über anderen Menschen dar. Ersuchen Sie eine Person, sich einen Meter hinter Ihnen
aufzustellen und lassen Sie sich steif durchgestreckt zurückfallen. Wie viel Vertrauen
haben Sie, dass der andere Sie sicher auffängt?
Folgende Übungen können für Sie hilfreich sein (selbstverständlich sollten Sie dar-
auf achten, wo und vor wem Sie es wagen, sich derart auffällig zu verhalten):
z Händezittern. Zittern Sie absichtlich so lange mit den Händen, während Sie ein Glas
oder eine Tasse halten bzw. etwas unterschreiben, bis es jemand merkt, oder spre-
chen Sie den Sachverhalt selbst in humoriger Weise an (z.B. „Ich komme mir heute
vor wie bei einem Alkoholentzug“, „Glauben Sie, dass ich schon die Parkinson-
Krankheit bekomme?“, „Ich zittere heute so, dabei ist mir gar nicht kalt“).
z Erröten. Versuchen Sie, möglichst schnell rot zu werden, und achten Sie darauf, ob
es jemand bemerkt, anderenfalls sprechen Sie den Sachverhalt selbst an („Merkst
Du, wie rot ich bin?“, „Immer, wenn ich einen Menschen mag, werde ich so rot“).
z Schwitzen. Wischen Sie sich demonstrativ mit der Hand über die Stirn, um einen
tatsächlichen oder vorgegebenen Schweiß wegzuwischen, und machen Sie selbst ei-
ne Bemerkung dazu (z.B. „Ich komme jetzt richtig ins Schwitzen“).
z Ohnmachtsangst. Lassen Sie sich vor anderen Menschen demonstrativ zusammen-
sinken, sagen Sie, dass es Ihnen körperlich nicht gut gehe, weil Sie Übelkeit,
Schwindel oder Kreislaufprobleme hätten, geben Sie aber gleichzeitig zu verstehen,
dass Sie deswegen auf keinen Fall einen Arzt benötigen.
z Herzrasen. Greifen Sie mit der Hand demonstrativ zum Herzen und sagen Sie, dass
es Ihnen jetzt einen komischen Stich gegeben habe.
z Seufzen. Atmen Sie vor anderen laut ein und aus in Form einer Seufzeratmung.
z Atemnot. Fragen Sie die Anwesenden im Raum, ob Sie kurz das Fenster oder die Tür
aufmachen könnten, weil Sie im Moment zu wenig Luft bekommen würden.
z Stottern. Verhalten Sie sich etwas nervös und stottern Sie beim Reden ein wenig, um
die Reaktionen der anderen zu beobachten.
z Klagen. Klagen Sie vor anderen Menschen laut über verschiedene Beschwerden, die
Sie im Moment plagen, und beobachten Sie, wie die anderen darauf reagieren.
z Angstbuch lesen. Lesen Sie vor anderen Leuten demonstrativ ein Buch über Ängste,
das Ihren Namen enthält, bzw. lassen Sie es ganz offen liegen, sodass andere darauf
aufmerksam werden, und warten Sie auf deren Reaktionen.
z Angst vor einem Fehler offenbaren. Sprechen Sie Ihre Erwartungsängste in be-
stimmten Situationen offen und direkt an („Ich glaube, vor so vielen Leuten werde
ich bald rot werden, stottern, zu schwitzen beginnen usw.“, „Ich habe Angst, dass
ich jetzt einen Fehler mache, und alle lachen dann laut“, „Ich fürchte mich vor Kri-
tik“).
z Angstzustände offenbaren. Sagen Sie vor Bekannten oder fremden Menschen, mit
denen Sie in Lokalen, öffentlichen Verkehrsmitteln oder anderen Orten ins Gespräch
kommen: „Ich leide unter Ängsten. Ich bekomme alle Zustände, wenn ich irgendwo
bin und nicht jederzeit weggehen kann. Ich fühle mich dann richtig eingeengt und
glaube, dass ich keine Luft mehr bekomme. Manchmal bekomme ich auch aus uner-
klärlichen Gründen starkes Herzrasen, das mir große Angst einjagt. Ich war schon
bei mehreren Ärzten, die alle gesagt haben, dass ich körperlich ganz gesund bin.
Können Sie mir raten, was ich da tun soll? Wissen Sie, wie das ist? Kennen Sie je-
mand, der so etwas hat? Können das Panikattacken sein?“
Konditionstraining
Betreiben Sie (wieder) regelmäßig Sport und achten Sie auf ausreichende Bewegung,
besonders bei einem sitzenden Beruf! Beginnen Sie mit einem Aufbautraining und üben
Sie möglichst regelmäßig anstelle einer gelegentlichen exzessiven sportlichen Betäti-
gung. Viele Panikpatienten waren früher oft überdurchschnittlich sportlich, haben je-
doch nach Beginn der Panikstörung alle sportlichen Tätigkeiten eingestellt aus Angst,
die Symptomatik dadurch zu provozieren. Sport ist eines der wirksamsten Mittel der
Angstbewältigung für Menschen mit Panikstörung, Phobien und generalisierter Angst-
störung. Angstpatienten schonen sich oft mehr als Menschen nach einem Herzinfarkt,
denen vom Arzt relativ rasch ein dosiertes körperliches Training verordnet wird. Erkun-
digen Sie sich, welches Trainingsprogramm Herzinfarktpatienten in REHA-Zentren
absolvieren müssen. Die ständige Schonhaltung führt zu mangelnder körperlicher Fit-
ness und verstärkt dadurch erst recht die Panikneigung. Wenn dies auch auf Sie zutrifft,
werden Sie durch die regelmäßige Sportausübung und das damit verbundene körperli-
che Erfolgserlebnis rasch Ihr früheres Selbstbewusstsein wiedergewinnen.
Für Menschen mit Schwindelzuständen und/oder Agoraphobie ist Gehen über länge-
re Strecken die einfachste und gesündeste Form der körperlichen Aktivität. Unser Kör-
per ist auf die Fortbewegung auf zwei Beinen angewiesen.
Gehen (vor allem „Walking“) ist ein natürliches Training des Gleichgewichtssinns
und fördert als aerobe Übung die Ausdauerbelastbarkeit. Gehen Sie täglich 5 km in 45
Minuten. Wenn Herz- und Atemfrequenz nach 45 Minuten langem Gehen nicht erhöht
sind, gehen Sie schneller oder auf einer Strecke mit einer leichten Steigung.
Die Gleichgewichtsregulierung ist eine wichtige Komponente beim Gehen. Beim
Gehen erfolgt im Gehirn eine Verknüpfung von visueller, taktiler und propriozeptiver
Stimulation. Visuelle Reize beim Stehen und Gehen helfen zur Lageorientierung. Tast-
rezeptoren melden den Kontakt mit der Erde. Propriorezeptoren in den Muskeln, Seh-
nen und Gelenken informieren das Gehirn über die exakte Position der Körperteile im
Raum. Störungen in einem dieser Kanäle führen zu einem Gefühl des Schwankens.
Schonen Sie Ihren Körper nicht ständig, sondern trainieren Sie ihn! Bewegung und
Atmung spielen rhythmisch und harmonisch zusammen. Wie immer Sie sich bewegen,
atmen Sie stets mit Bewegungsbeginn aus, am besten mit einem Stimmlaut („HUH“,
„HA“ usw.). Das Prinzip der Ausatmung während der Belastung ist vom Sport her be-
kannt (das Ausatmen erfolgt z.B. im Tennis beim Schlag, beim Speerwerfen während
des Abwurfs). Beim Radfahren, Schiwandern, Schwimmen, Laufen usw. gilt immer das
gleiche Prinzip: die Koppelung von Bewegung und Atmung spart Kraft und bewirkt
eine maximale Ausschöpfung des eingeatmeten Sauerstoffs.
Vermehrte Bewegung baut überschüssige Energie ab, kräftigt den Herzmuskel (das
Herz muss bei gleicher Arbeitsleistung weniger schlagen, weil die Pumpkraft erhöht
wird), verbessert die Durchblutung, erhöht die Sauerstoffzufuhr, bewirkt eine schnellere
Erholung nach Belastungen und bedeutet einen Reiz zur Bildung neuer Blutgefäße (Ka-
pillargefäße). Sport verbessert die Gesundheit und das allgemeine Wohlbefinden.
Beim Konditionstraining soll der Puls zwischen 140 und 160 betragen. In Bezug auf
das Alter ist folgende (grobe) Formel für den oberen Pulswert bekannt: 180 Schläge pro
Minute minus Lebensalter, d.h. 150 für einen 30-Jährigen. Ein echter Trainingseffekt
ergibt sich nur bei regelmäßigem Training (3-mal pro Woche jeweils 30-45 Minuten).
Die Leistungsfähigkeit wird durch ein derartiges Trainingsprogramm im Laufe der Zeit
um 30-50% gesteigert.
Panikbewältigungstraining 583
Aktivitätsaufbau
Viele Menschen mit Agoraphobie schränken ihre Aktivitäten, Freizeitinteressen und
Sozialkontakte zunehmend ein, weil dies zumeist erfordert, das Haus zu verlassen und
sich Angst machenden Situationen zu stellen. Sie ziehen sich immer mehr vom bisheri-
gen Bekanntenkreis zurück und werden sozial isoliert. Alle Tätigkeiten, die früher Spaß
gemacht haben, werden aus Angst vor Panikattacken vermieden.
Aus diesem Meidungsverhalten entwickelt sich häufig eine sekundäre Depression,
in deren Rahmen noch weniger Aktivitäten erfolgen. Viele Betroffene wissen oft gar
nicht mehr, ob sie aus Angst oder depressiver Lustlosigkeit frühere Aktivitäten nicht
mehr ausüben. Zur Verhinderung einer depressiven Entwicklung sollten Sie Ihre frühe-
ren Freizeitaktivitäten außer Haus wieder aufnehmen bzw. entsprechende Interessen
ausbauen. Besuchen Sie wieder Freunde und Verwandte, rufen Sie alte Bekannte an und
vereinbaren Sie ein Treffen, nehmen Sie teil an gesellschaftlichen Ereignissen, unter-
nehmen Sie nach der Arbeit wieder etwas mit Ihren Arbeitskollegen, gehen Sie in Clubs
und Sportvereine, die Ihnen früher wichtig waren.
Wenn Sie derzeit nicht berufstätig sind (was für viele Frauen zutrifft), überlegen Sie
eine außerhäusliche Tätigkeit (z.B. eine Halbtagsarbeit, die Teilnahme an Frauen- und
Mütterrunden sowie an Kursen zur Verbesserung Ihrer sportlichen, künstlerischen,
geistigen oder beruflichen Fähigkeiten). Was haben Sie früher gerne getan, was würde
Ihnen auch jetzt noch Spaß machen, wenn Sie nur Ihre Ängste überwinden könnten?
Kämpfen Sie nicht so sehr gegen Ihre Ängste, sondern vielmehr für ein befriedigenderes
Leben, indem Sie alles tun, was Ihnen gefällt.
Angenommen, es geschieht ein Wunder, und Sie wachen morgen in der Früh auf
und haben keine lebenseinengenden Ängste, keine Agoraphobie oder Panikattacken
mehr, was würden Sie da tun? Erstellen Sie eine Liste aller gewünschten Tätigkeiten.
Was davon könnten Sie schon jetzt tun, was erst nach Überwindung Ihrer Ängste?
Viele Angstpatienten sind an „guten Tagen“ durchaus erfolgreich in ihren Bemü-
hungen und werden inaktiv an „schlechten Tagen“. Nehmen Sie eine Tagesplanung
unabhängig von Ihren Stimmungen und Ängsten vor. Erstellen Sie einen Tages- und
Wochenplan, was Sie tun müssen und was Sie gerne tun wollen, und führen Sie diese
Tätigkeiten zum gegebenen Zeitpunkt unabhängig von Ihrer Stimmung aus. Diese Vor-
gangsweise wird auch depressiven Patienten empfohlen (Motto: „Aktivität verbessert
die Stimmung“).
Bei Angstpatienten tritt die größte Angst immer erst dann auf, wenn sie etwas tun
sollen oder wollen. Rechnen Sie damit, dass dies auch bei Ihnen so sein wird. Ihre rela-
tive Angstfreiheit ist erkauft um den Preis, dass Sie sich zu einer Meidung Angst ma-
chender Situationen entschlossen haben. Die Einstellung, verschiedene Aktivitäten erst
dann zu unternehmen, wenn die Angst weg ist, ist ebenso handlungsblockierend wie der
Vorsatz depressiver Patienten, wieder aktiv zu werden, wenn die Stimmung besser ist.
Bei bestimmten Menschen ufern die Angst- und Panikzustände aufgrund eines unzu-
reichend strukturierten Tagesablaufs stärker aus als bei anderen Personen. Hausfrauen,
Studenten, Selbstständige, Arbeitslose und Rentner können Angstsituationen leichter
vermeiden, weil sie nicht so sehr den Zwängen der Fremdbestimmung ausgesetzt sind,
sondern sich den Tag je nach Stimmung einteilen können.
Zu lange Krankenstände bei Angststörungen führen oft ebenfalls dazu, dass die
Ängste nicht weniger werden, sondern nur vermieden werden, um dann umso heftiger
aufzutreten, wenn die Gesundschreibung erfolgt.
584 Selbsthilfe bei Angststörungen
Gesundheitsmaßnahmen
Menschen mit einer Panikstörung leben oft ziemlich ungesund, was Panikattacken be-
wirken oder verstärken kann. Folgende Ratschläge können weiterhelfen:
1. Ernähren Sie sich gesund! Richtige Ernährung in Verbindung mit den notwendigen
Vitaminen, Mineralstoffen (z.B. Calcium, Natrium, Phosphor, Magnesium) und
Spurenelementen (z.B. Eisen, Chrom, Kobalt, Fluor, Jod) stärkt Ihren Körper. Holen
Sie bei Bedarf entsprechende Informationen ein oder nehmen Sie eine Ernährungs-
beratung in Anspruch. Hungerkuren (Blutzuckerabfall) können ebenso Panikattak-
ken auslösen wie größere Mengen von Süßigkeiten (vermehrte Adrenalinausschüt-
tung zur Aktivierung der Zuckerneubildung).
2. Schränken Sie das Rauchen und übermäßige Kaffeetrinken ein! Viele Panik-
patienten rauchen zu viel und/oder trinken zu viel Kaffee bzw. koffeinhaltige Ge-
tränke. Suchen Sie andere Möglichkeiten, wie Sie Stress begegnen können, ohne auf
diese Genussmittel gänzlich verzichten zu müssen, wenn Sie damit kontrolliert um-
gehen können.
3. Vermeiden Sie übermäßigen Alkoholkonsum! Wenn Sie früher gerne Alkohol ge-
trunken haben, ohne dabei Probleme von Missbrauch oder Abhängigkeit zu bekom-
men, können Sie dieses Genussmittel weiterhin in Maßen zu sich nehmen.
4. Vermeiden Sie übermäßige Schonung und Bettruhe tagsüber! Viele Panikpatienten
schonen sich zu sehr und verlieren jene körperliche Fitness, die sie früher oft ausge-
zeichnet hat. Mangelnde körperliche Kondition begünstigt Panikattacken.
5. Achten Sie auf ausreichenden Schlaf! Zu wenig Schlaf sowie Ein- und Durchschlaf-
störungen verhindern die Regeneration und führen zu psychischer Überlastung.
Schlafdefizite beeinträchtigen die Leistungsfähigkeit Ihres Immunsystems.
Emotionstraining
Viele Menschen mit Angststörungen können weder mit Angst noch mit anderen Gefüh-
len umgehen. Panikattacken entstehen oft aus unterdrückten Gefühlen (z.B. Wut, Ver-
lustangst). Viele Panikpatienten versuchen, störende Emotionen zu ignorieren oder zu
verdrängen, wodurch diese erst recht außer Kontrolle geraten. Die Betroffenen befürch-
ten, durch die Beschäftigung mit ihrer Angst eine unkontrollierbare Angstüberflutung
zu provozieren, und bevorzugen daher Angstmeidungs- und Unterdrückungsstrategien.
Starker Gefühlsdruck wird oft als geistige Störung („verrückt“) fehlinterpretiert. Nur ein
besseres Wahrnehmen, Erleben und Annehmen der dem Verhalten zugrunde liegenden
Gefühle kann neben der Änderung des Denkens zu dauerhaften Verhaltensänderungen
bei Angstpatienten führen. Das Akzeptieren von Angst-, Verlassenheits- und Hilflosig-
keitsgefühlen bewirkt bereits eine Veränderung. Nehmen Sie Ihre Angst bzw. Furcht an,
und sie wird sich wandeln vom Feind zum Freund. Wenn Sie Ihrer Angst ausweichen
oder gegen sie kämpfen mit dem Ziel, dass sie verschwindet, werden Sie sich laufend
bedroht fühlen und damit den Angstkreislauf nur schwer verlassen können.
Analysieren Sie, welche Gefühle Sie haben Situationen, die Sie mit Angst oder bela-
stenden körperlichen Beschwerden verbinden. Menschen mit Angststörungen bezeich-
nen verschiedene Gefühlszustände mit dem Begriff „Angst“, ähnlich wie zahlreiche
depressive Patienten jedes unangenehme Gefühl mit depressiver Stimmung verbinden.
Achten Sie darauf, ob statt oder neben einem Angstgefühl auch folgende Gefühle auf-
treten: Hilflosigkeit, Schwäche, Lustlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Traurigkeit, Ohn-
machts- und Sinnlosigkeitsgefühle, Bedürfnis zu weinen, Enttäuschung, Wut, Ärger,
Unruhe, Abneigung (Aversion), Ekel, Einsamkeit, Verlassenheitsgefühl, Sehnsucht
nach Geborgenheit, Wunsch nach Gehalten-Werden. Oft besteht eine ausgeprägte Ge-
fühlsambivalenz (z.B. Liebe und Hass, Ärger und Mitleid, Wut und Ohnmacht), die
einen starken inneren Druck bewirkt, sodass eine große körperliche und geistige An-
spannung entsteht und in sehr unangenehmer Weise bestehen bleibt.
Welche Gefühle lehnen Sie bei sich eigentlich ab? Besteht Ihre Angst dann nicht
einfach darin, diese Gefühle doch zu bekommen bzw. einfach zuzulassen (z.B. Angst
vor Hilflosigkeit, Schwäche, Weinen oder Wutausbruch)? Wenn Sie Angst haben, ist
dies ein ganz normales Gefühl. Was genau gibt Ihnen den Eindruck, dass es sich dabei
um etwas Abnormales handelt? Aus welchen früheren Lebenserfahrungen kennen Sie
derartige Bewertungen? Warum wollen Sie immer stark sein? Wer sagt, dass Sie immer
stark sein müssen? Es ist ein Zeichen von Stärke, seine Schwächen zulassen und zeigen
zu können in dem Vertrauen, dass „Echtheit“ mehr Beziehung, Nähe und Anerkennung
bewirkt als das Aufsetzen einer Maske und die Übernahme einer Rolle.
Können Sie unterscheiden, wann Sie aufgrund der Umstände verständliche und
normale, wenngleich unangenehme Gefühle haben, und wann Sie krankhafte Zustände
von Angst oder depressiver Antriebs- und Lustlosigkeit haben? Diese Unterscheidungs-
fähigkeit ist Voraussetzung für den sinnvollen Umgang mit Medikamenten. Es ist nicht
sinnvoll, jedes unangenehme Gefühl gleich mit einem Medikament dämpfen oder besei-
tigen zu wollen. Wann sind Sie verärgert und wann einfach nur angespannt?
Das bessere Wahrnehmen und Ausdrücken Ihrer Gefühle wird erleichtert durch re-
gelmäßige Tagebuch-Aufzeichnungen, die neben den Tagesereignissen auch eine Dar-
stellung Ihrer Gefühlszustände enthalten. Wenn bei Angststörungen unterschiedliche
Psychotherapiemethoden wirksam sind, dann oft deshalb, weil sie helfen, mit unange-
nehmen, diffusen und zwiespältigen Gefühlszuständen besser umgehen zu lernen.
586 Selbsthilfe bei Angststörungen
Stressbewältigungstraining
Strategien zur Stressbewältigung sind nach zahlreichen Studien dann erfolgreich, wenn
sie Vorhersagbarkeit, Verständnis für Zusammenhänge, Wissen und Gefühle von Kon-
trollierbarkeit und Bewältigbarkeit von Situationen vermitteln. Stress hängt oft mit den
Aspekten Unsicherheit und mangelnde Kontrolle von Situationen zusammen.
Manchmal gelingt es schon, die übermäßige Ausschüttung des Stresshormons Korti-
sol zu stoppen, wenn man in belastenden und überfordernden Situationen als Ausdruck
der Handlungsbereitschaft irgendetwas tut bzw. etwas, das man noch nicht versucht hat.
Menschen mit Panikstörungen leben oft unter großem Stress, der Panikattacken be-
günstigt. Panikstörungen mit und ohne Agoraphobie bestehen in einer Kontrollverlust-
angst. Viele Verhaltensweisen, die die Betroffenen oft bis zu einer Erschöpfungsdepres-
sion überfordern, stellen den Versuch dar, die Dinge und den eigenen Körper immer
und überall „im Griff“ zu haben (Motto: „Alles unter Kontrolle“).
Folgende Ratschläge zur Stressbewältigung können nützlich sein [38]:
z Analysieren Sie Ihren privaten und beruflichen Stress, indem Sie Ihre Stressfaktoren
auf einer Liste festhalten und nach dem Ausmaß der Belastung reihen.
z Unterscheiden Sie zwischen jenem Stress, der durch Ihre Lebenssituation gegeben
ist, und jenem Stress, der letztlich durch Ihre Denkmuster und Einstellungen bewirkt
wird, völlig unabhängig von situativen Gegebenheiten.
z Unterscheiden Sie zwischen dem Stress, den Sie sich selbst machen, und dem Stress,
den Ihnen andere Menschen und bestimmte Umstände bereiten.
z Erstellen Sie eine Prioritätenliste Ihrer Aktivitäten. Treffen Sie eine Unterscheidung
zwischen dem, was wichtig ist und deshalb getan werden sollte, und dem, was wohl
auch wünschenswert wäre, jedoch momentan eine Überforderung darstellt, sodass
Sie in der nächsten Zeit bewusst darauf verzichten.
z Erstellen Sie Ihren Terminkalender so, dass Sie nicht bereits durch zu viele Termine
und fehlende Pausen in Stress geraten, noch dazu, wenn unvorhersehbare Ereignisse
eintreten. Planen Sie im Tagesablauf bewusst Pausen von einer Viertelstunde ein.
z Analysieren und ändern Sie jene Denkmuster, die den größten Stress erzeugen und
das Risiko von Panikattacken erhöhen (z.B. ständige „Was wäre, wenn“-Gedanken,
alles „im Griff“ haben wollen, sich für alle und alles verantwortlich fühlen, perma-
nente Überforderung durch überhöhte Ziele, alles perfekt machen wollen, Perfektio-
nismus zur Vermeidung von Kritik oder Minderwertigkeitsgefühlen, jedem alles
recht machen wollen, sich nicht abgrenzen und nicht Nein sagen können, alles lieber
„hinunterschlucken“ statt Ärger offen aussprechen und Konflikte riskieren).
z Achten Sie auf Entspannungsmöglichkeiten und Zeiten der Ruhe und Erholung.
z Verbessern Sie Ihre persönliche Stresstoleranz, indem Sie Phasen der Anspannung
mit einem körperlichen Bewegungsprogramm ausgleichen.
z Lernen Sie, die ersten körperlichen, seelischen und gedanklichen Anzeichen von
überforderndem Stress zu erkennen, um Panikattacken vermeiden zu können.
z Treffen Sie bei Bedarf eine vielleicht schon seit längerem hinausgeschobene Neu-
orientierung Ihres Lebens, z.B. die Klärung einer belastenden familiären, partner-
schaftlichen oder beruflichen Situation. Belastend ist oft nicht der Stress an sich,
sondern der hilflos und ohnmächtig machende Stress.
z Wenn Sie durch die soziale Situation in chronischen und übermäßigen Stress gera-
ten, achten Sie auf emotionale Unterstützung durch Menschen Ihres Vertrauens.
Bewältigungsstrategien bei sozialen Ängsten 587
Zahlreiche Menschen mit Panikstörung mit und ohne Agoraphobie haben auch soziale
Ängste, ähnlich wie Menschen mit sozialen Ängsten und Phobien oft zu situationsspezi-
fischen Panikattacken neigen. Neben dem effizienten Umgang mit sich selbst müssen
viele Angstpatienten auch einen besseren Umgang mit anderen Menschen erlernen.
Es gibt zahlreiche Selbsthilfebücher zur Bewältigung sozialer Ängste und Phobien.
Eines der hilfreichsten Bücher für Betroffene und deren Angehörige, das nicht nur die
Aspekte Schüchternheit, Selbstsicherheit, Selbstbehauptung und ähnliche Aspekte,
sondern den vollen Begriffsumfang der Diagnose „soziale Phobie“ thematisiert, stammt
von der englischen Psychologin und Verhaltenstherapeutin Gillian Butler und heißt in
deutscher Übersetzung „Schüchtern – na und? Selbstsicherheit gewinnen“. Es berück-
sichtigt die kognitiven Konzepte und erfolgreichen Behandlungsmethoden der engli-
schen Psychologen und Verhaltenstherapeuten Clark und Wells, wie sie in den entspre-
chenden Abschnitten dieses Buches dargelegt wurden.
Kurz zusammengefasst bedeutet dieses Erklärungsmodell sozialer Ängste und Pho-
bien für Ihr Sozialverhalten Folgendes: In einer bestimmten sozialen Situation werden
bei Ihnen lebensgeschichtlich bedingte grundlegende Überzeugungen (z.B. „Ich bin
nicht okay, nicht liebenswert“) und negative automatische (unbewusste) Gedanken bzw.
Annahmen (z.B. „Die anwesenden Personen werden mich ablehnen“) aktiviert, die
z eine erhöhte Aufmerksamkeit auf Ihre Person bewirken (ständige Selbstaufmerk-
samkeit mit mangelnder Konzentration auf die Aufgaben und Interaktionspartner),
z ein Sicherheitsverhalten auslösen (anhaltende Vermeidungs-, Flucht-, Unterdrük-
kungs- und Kompensationstendenzen, z.B. soziale Situationen vermeiden, Unsicher-
heit durch Perfektion überspielen wollen, lange im Voraus über die bevorstehende
Situation nachdenken, Alkohol oder Beruhigungsmittel einnehmen),
z körperliche Symptome erzeugen (z.B. Schwitzen, Erröten, Zittern, Herzklopfen).
588 Selbsthilfe bei Angststörungen
Lernen Sie, Ihre Ablehnungsangst zu bewältigen. Verhalten Sie sich bestimmten Men-
schen gegenüber absichtlich so, dass Sie mit einer Ablehnung rechnen müssen:
z Ersuchen Sie jemand, Ihnen Kleingeld zum Telefonieren zu schenken.
z Fragen Sie eine unbekannte Dame, ob Sie ihr den Koffer tragen dürfen.
z Fragen Sie einen eilig vorbeigehenden Passanten, der wenig Zeit zu haben scheint,
nach einem komplizierten Weg.
z Fragen Sie einen streng und seriös wirkenden Herrn, ob er Ihnen ein gutes Speiselo-
kal in der Nähe empfehlen kann.
z Fragen Sie in einem Lokal ein Paar, ob Sie sich dazusetzen dürfen, weil sonst nichts
mehr frei sei.
z Reden Sie, wenn Sie allein unterwegs sind, eine Person des anderen Geschlechts an
und versuchen Sie, sich fünf Minuten mit ihr zu unterhalten, obwohl Sie den Ein-
druck haben, dass diese Person nicht mit Ihnen reden wird.
z Bewerben Sie sich, wenn Sie derzeit arbeitslos sind, absichtlich bei einer Stelle, wo
Sie mit einer Absage rechnen müssen.
z Setzen Sie sich in einem Lokal oder Zugsabteil auf einen reservierten Platz, um die
Erfahrung des Aufstehen-Müssens ertragen zu lernen.
z Versuchen Sie, in einem Geschäft bei einem Produkt einen um 5% niedrigeren Preis
auszuverhandeln, obwohl dies ziemlich unwahrscheinlich erscheint.
z Verhandeln Sie in einem Geschäft mit einem Verkäufer, etwas billiger zu bekom-
men, weil es leicht beschädigt sei, obwohl dies nur unwesentlich der Fall ist.
z Interviewen Sie Passanten mit einem Mikrofon zu einem bestimmten Thema.
592 Selbsthilfe bei Angststörungen
Soziale Ängste stehen häufig in Zusammenhang mit Versagensängsten, die auch unab-
hängig von sozialer Bewertung, Kritik und Ablehnung in jedem von uns vorhanden
sind. Wir möchten etwas gut machen und fürchten uns manchmal gerade deswegen, es
schlecht zu machen. Wenn wir uns selbst übermäßig kritisieren, brauchen wir uns nicht
zu wundern, dass wir uns oft auch vor dem Urteil anderer Menschen fürchten.
Von normalem Lampenfieber bis hin zu krankhaften Versagensängsten gibt es un-
terschiedliche Formen, wie Menschen mit Leistungsanforderungen in Ausbildung, Be-
ruf und Sozialbeziehungen umgehen. Die Angst zu versagen zeigt sich in vielfältiger
Weise als Leistungs- und Prüfungsangst in Schule und Ausbildung, als Versagensangst
im Beruf, als Präsentationsangst in beruflichen und privaten Situationen, als Angst vor
Minderleistung in den Bereichen von Sport, Kunst, Kultur und Wissenschaft, als Furcht
vor Blamage in vielen an sich angenehmen Freizeitsituationen, als sexuelle Versagens-
angst in der Partnerschaft, als Angst vor Versagen angesichts familiärer Rollen und
Verpflichtungen, als Angst vor Statusverlust bei finanzieller Notlage.
Psychologen unterscheiden zwei Komponenten von Prüfungs- und Versagensäng-
sten: Erregung, soweit es die körperlichen und emotionalen Aspekte betrifft, und Be-
sorgtheit, soweit es die gedanklichen Aspekte betrifft. Die unkontrollierbare Besorgtheit
angesichts von subjektiv schwierigen Leistungssituationen ist das Hauptproblem. Die
körperlichen Erregungssymptome werden durch die Angst im Kopf verschlimmert. Die
Erregung verstärkt die Befürchtung zu versagen – ein Teufelskreis. Wenn die körperli-
che Erregung subjektiv zum Hauptproblem wird, beruht dies gewöhnlich auf dem unan-
genehmen Gefühl von dauernder körperlicher Anspannung.
Ich habe zur Thematik der Versagensängste ein Selbsthilfebuch verfasst: „Die Angst
zu versagen und wie man sie besiegt“. Besiegen kann man die Versagensangst nicht,
man kann nur lernen, besser mit ihr zurechtzukommen – für den Titel ist der Verlag
verantwortlich. In Form von 20 Schritten vermittle ich darin Strategien im Umgang mit
Versagensängsten, die im Folgenden zusammenfassend dargestellt werden:
1. Motivieren Sie sich durch attraktive Ziele und lassen Sie sich nicht erst durch äuße-
re Notwendigkeit anspornen. Das Motto lautet: Wollen statt müssen. Der Erfolg ge-
lingt Ihnen leichter, wenn Sie etwas tun wollen – statt es tun zu müssen. Sie errei-
chen mehr, wenn Sie eine starke Triebfeder für Ihr Tun haben. Entwickeln Sie eine
Zug-Motivation („Ich will etwas verwirklichen“, „Ich freue mich darauf, dieses Ziel
zu erreichen“) anstatt einer Druck-Motivation („Ich muss eine Sache angehen“, „Ich
sollte endlich etwas tun, damit nicht alles noch schlimmer wird“).
2. Streben Sie nach Erfolg und nicht so sehr nach der Vermeidung von Misserfolg. Das
Motto lautet: Maximierung der Erfolgswahrscheinlichkeit statt Minimierung der
Misserfolgswahrscheinlichkeit. In Leistungssituationen unterscheiden sich Men-
schen dadurch, ob sie getragen sind von der Hoffnung auf Erfolg, den sie erreichen
wollen, oder von der Furcht vor Misserfolg, den sie vermeiden möchten. Bemühen
Sie sich weniger darum, Misserfolge zu verhindern, denn Scheitern ist immer mög-
lich, sondern konzentrieren Sie sich vielmehr darauf, die Wahrscheinlichkeit des Er-
folgs zu erhöhen. Sich selbst erfüllende Prophezeiungen veranschaulichen anhand
der Folgen, wie sehr es darauf ankommt, das Gute zu erwarten und anzustreben, statt
ständig das Negative zu fürchten.
Bewältigungsstrategien bei sozialen Ängsten 593
3. Formulieren Sie Ihre Ziele positiv und setzen Sie sich keine negativ formulierten
Ziele, bei denen es nur darum geht, einen Misserfolg zu vermeiden. Das Motto lau-
tet: Kampf für etwas statt gegen etwas. Das Unbewusste kennt keine Verneinung.
Etwas nicht zu wollen, z.B. keinen Fehler zu machen, stellt dies erst recht in den
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Machen Sie sich klar: Sie möchten etwas errei-
chen. Anstrebungsziele sind positiv formuliert; sie gewinnen dadurch ihre Anzie-
hungskraft. Verzichten Sie auf negativ formulierte Ziele. Es geht nicht primär dar-
um, etwas zu vermeiden. Vermeidungsziele sollen Sie nur vor einem unangenehmen
Zustand bewahren; sie helfen Ihnen nicht, einen erwünschten Zustand zu erreichen.
4. Setzen Sie sich realistische, erreichbare Ziele und provozieren Sie nicht Ihr Versa-
gen durch unrealistische Ziele. Das Motto lautet: Den Erfolg in Teilschritten an-
streben. Verzichten Sie auf unerreichbare Ideale, die Sie von Anfang an nur entmu-
tigen. Halten Sie durchaus an hohen, prinzipiell erreichbaren Endzielen fest, setzen
Sie sich jedoch klare und vernünftige Zwischen- bzw. Teilziele. Sind Ihre Teil- und
Endziele konkret formuliert, können Sie später Erfolg oder Misserfolg überprüfen.
5. Visualisieren Sie den Erfolg und produzieren Sie keine abschreckenden Horrorvi-
sionen. Das Motto lautet: Mentales Training wie im Spitzensport. Nutzen Sie die
Kraft Ihrer Vorstellungen. Dieselbe „Einbildung“, die Ihre Versagensängste produ-
ziert, hilft Ihnen auch, sich erfolgreiche Lösungswege auszumalen. Sie glauben mit
Hilfe positiver Bilder stärker an Ihren Erfolg. Stellen Sie sich genau vor, was Sie er-
reichen möchten. Sie werden an den Erfolg Ihrer Bemühungen umso eher glauben,
je mehr Sie ihn in Ihrer Vorstellung vorwegnehmen. Was Sie sich nicht einmal vor-
stellen können, können Sie nur schwer tun. Beim mentalen Training handeln wir
geistig „auf Probe“: Wir spielen Situationen und unser Verhalten gedanklich durch.
6. Bleiben Sie in Leistungssituationen im Hier und im Jetzt und verzichten Sie auf ne-
gative Gedanken an Vergangenheit oder Zukunft. Das Motto lautet: Tu’, was genau
jetzt zu tun ist. Konzentration ist eine Einengung der Aufmerksamkeit auf die unmit-
telbare Gegenwart. Konzentrieren Sie sich ganz auf das, was Sie gerade jetzt tun. Sie
leben dann ganz für den Augenblick. Beschäftigen sich aufmerksam mit der aktuel-
len Aufgabe – und mit sonst nichts. Sie werden unkonzentriert, wenn Sie sich auf zu
vieles gleichzeitig konzentrieren. Ihre Konzentration lässt nach, sobald Sie an etwas
anderes denken: sei es der soeben begangene kleine Fehler oder eine zukünftige
Hürde. Blicken Sie nicht in die Vergangenheit oder in die Zukunft. Denken Sie auch
nicht zu sehr an das Ziel, während Sie gerade eine Leistung erbringen.
7. Konzentrieren Sie sich intensiv auf die gegenwärtige Aufgabe und achten Sie nicht
ständig auf Ihre Mitmenschen oder Ihre körperlichen Reaktionen. Das Motto lautet:
Bleiben Sie im Tun, anstatt die Beobachter-Perspektive einzunehmen. Wenn Sie sich
einer Herausforderung stellen, dann ignorieren Sie Ihre Umgebung. Achten Sie nicht
auf die anderen Menschen, die Sie beobachten oder mit denen Sie im Wettbewerb
stehen. Kontrollieren Sie auch nicht ständig Ihren Körper nach Symptomen, die an-
dere wahrnehmen könnten. Konzentrieren Sie sich stattdessen voll und ganz auf die
Tätigkeit, auf die es gerade ankommt. Ruhen Sie in Leistungssituationen in sich und
stehen Sie nicht ständig neben sich. Begleiten Sie bei Bedarf Ihr Handeln durch ein
inneres Sprechen, denn so können Sie sich besser auf Ihre Aufgabe konzentrieren.
594 Selbsthilfe bei Angststörungen
8. Lernen und trainieren Sie sich gezielt und vermeiden Sie reine Absichtserklärungen
und unkoordinierte Aktionen. Das Motto lautet: Erfolg durch ein detailliertes Trai-
ningsprogramm. Bereiten Sie sich auf alle Leistungssituationen so gut wie möglich
vor. Sie verunsichern sich unnötig, wenn Sie sich überhaupt nicht oder nur schlecht
vorbereiten. Wenn Sie eine Situation immer wieder vermeiden, lernen Sie nicht,
damit umzugehen. Erstellen Sie einen konkreten Lern- und Trainingsplan mit Teil-
zielen, die Sie der Reihe nach umsetzen. Sie bestärken sich mit den erreichten Zwi-
schenzielen und glauben fester an Ihren endgültigen Erfolg. Ihre Fortschritte werden
Sie zu weiteren Aktivitäten anspornen. Für Motivationskrisen gilt: Warten Sie nicht
zu lange auf den richtigen Schwung. Just do it – tun reicht, es muss nicht immer
Spaß machen. Beginnen Sie Ihre Aufgabe mit einem Teil, der Sie weiter anspornt
und in Schwung hält. Wenn Sie sich wenigstens für kurze Zeit mit bestimmten Auf-
gaben beschäftigen, werden Sie leichter damit fortfahren. Gestehen Sie sich ein: Ihr
Interesse an einer Sache entsteht häufig erst durch Ihre Beschäftigung damit – nicht
durch den häufig vergeblichen Versuch, sich schon vorher dafür zu begeistern.
9. Erinnern Sie sich an Ihre Erfolge und starren Sie nicht ständig auf Ihre Misserfolge.
Das Motto lautet: Rufen Sie in Ihrem Gehirn Ihre Erfolgsfilme ab. Wenn Sie sich
unsicher und verzagt fühlen, vergegenwärtigen Sie sich möglichst anschaulich Ihre
bisherigen Erfolge. Sie werden sich beim Gedanken daran gleich kompetenter füh-
len und sich mehr zutrauen. Spielen Sie vor Ihrem inneren Auge einen Erfolgsfilm
bezüglich einer früheren Tätigkeit ab, dann werden diese angenehmen Erfahrungen
erneut in Ihnen lebendig. Ihre Angst zu versagen lässt nach, sobald Sie erkennen,
was Sie in Ihrem Leben bereits geleistet haben. Sagen Sie sich: „Ich habe eine ähnli-
che Aufgabe schon öfter geschafft, es kann mir auch heute gelingen.“
10. Akzeptieren Sie Ihre Versagensangst und Fehleranfälligkeit und fürchten Sie sich
nicht ständig vor Misserfolgen. Das Motto lautet: Aus jedem Fehler können Sie et-
was lernen. Erlauben Sie sich ausdrücklich, Fehler zu machen. Wenn Sie sich diese
Möglichkeit zugestehen, brauchen Sie Misserfolge nicht mehr zu fürchten. Sagen
Sie sich: „Irren ist menschlich und macht menschlich.“ Nehmen Sie Ihre Angst zu
versagen an. Akzeptieren Sie sich selbst mit Ihren Schwächen. Mit diesem Schritt
haben Sie sich bereits verändert. Dies ist Ihr bestes Mittel gegen ständige
Versagensängste. Die Bereitschaft zu einem Versuch-Irrtum-Lernen bietet Ihnen die
Chance, etwas Neues dazuzulernen, anstatt aus Angst vor Fehlern immer nur im
Gewohnten zu verharren. Bedenken Sie: Sie sind oft kritischer als Ihre Umwelt.
11. Stärken Sie Ihr Selbstwertgefühl und entwerten Sie sich nicht ständig selbst. Das
Motto lautet: Sie sind schon etwas und müssen nicht erst etwas werden. Vertrauen
Sie bei einer Herausforderung auf sich und Ihr Können. Machen Sie sich Ihre Stär-
ken und Fähigkeiten bewusst. Halten Sie sich nicht für unfähig und minderwertig.
Erkennen Sie den Wert Ihrer Person. Sie werden auf diese Weise unabhängig von
Lob und Anerkennung anderer Menschen. Sie sind dann frei, zu tun und zu lassen,
was Ihnen beliebt. Ständige Selbstkritik macht Sie dagegen anfällig für Fremdkritik.
Menschen mit Selbstbewusstsein sind sich ihrer selbst bewusst. Sie kennen ihre Fä-
higkeiten ebenso wie ihre Schwächen. Wenn Sie Ihre Wünsche, Ihre Bedürfnisse
und Ihre momentane Leistungsfähigkeit wahrnehmen und akzeptieren, schaffen Sie
sich damit eine ideale Basis für ein gesundes Selbstwertgefühl.
Bewältigungsstrategien bei sozialen Ängsten 595
12. Führen Sie aufbauende Selbstgespräche und machen Sie sich innerlich nicht ständig
runter. Das Motto lautet: Innere Dialoge zur positiven Selbstinstruktion nutzen. Re-
den Sie mit sich selbst so, wie Sie möchten, dass andere mit Ihnen sprechen. Spre-
chen Sie nett und aufbauend mit sich. Spornen Sie sich durch Ihre inneren Dialoge
an, als wären Sie Ihr eigener Trainer. Schreiben Sie auf, wie Sie vor, in und nach
Leistungssituationen denken und mit sich reden. Verändern Sie anschließend Ihre
Selbstgespräche so, dass diese Sie auf dem Weg zum Erfolg unterstützen statt hem-
men. Wenn Sie innerlich anders mit sich reden, werden Sie anders handeln.
13. Gestalten Sie Ihr Leben und fühlen Sie sich nicht als Opfer der Umstände. Das Mot-
to lautet: Handeln statt jammern. Betrachten Sie sich nicht stets als armes Opfer un-
günstiger Umstände oder einer schlechten Kindheit. Nutzen Sie Ihre Chancen. Neh-
men Sie Ihr Leben aktiv in die Hand. Gestalten Sie Ihre Zukunft. Gehen Sie Ihre
Aufgaben aktiv an und handeln Sie gezielt. Verfallen Sie bei einer Herausforderung
nicht in das Verhalten Ihrer Kindheit mit ihren unangenehmen Erfahrungen. Halten
Sie sich lieber Ihre Möglichkeiten als erwachsener Mensch bewusst vor Augen.
14. Konfrontieren Sie sich mit Ihren Versagensängsten und körperlichen Symptomen
und fliehen Sie nicht ständig vor allen Belastungen. Das Motto lautet: Der Angst ins
Angesicht blicken statt davonlaufen und sich ihr ausliefern. Angst lebt vom Vermei-
den und Ausweichen. Stellen Sie sich Ihren Versagensängsten. Konfrontieren Sie
sich bewusst mit Gedanken, Situationen, Symptomen und Personen, die Ihnen Angst
einflößen. Suchen Sie alle Situationen ohne äußere oder innere Vermeidung auf.
Wenn Sie der Angst ausweichen, wird sie nur immer stärker. Bleiben Sie mindestens
so lange in jeder Angstsituation, bis Sie spüren, wie Ihre Angst nach einiger Zeit
nachlässt. Je öfter Sie sich in eine Angst machende Situation begeben, umso schnel-
ler gewöhnt sich Ihr Körper daran. Führen Sie einen inneren Dialog mit Ihrer Angst.
15. Treten Sie echt und glaubwürdig auf und spielen Sie anderen keine unechten Rollen
vor. Das Motto lautet: Bleiben Sie authentisch. Bleiben Sie bei allen Auftritten echt.
Zeigen Sie sich nach außen so, wie Sie sind und sich fühlen. Bleiben Sie Ihrem We-
sen treu und spielen Sie keine Rollen, die nicht zu Ihnen passen. Verstellen Sie sich
nicht aus lauter Angst vor dem Publikum. Klammern Sie sich bei Ihren Auftritten
nicht an vorgefertigte Verhaltensmuster. Verlassen Sie sich nicht zu sehr auf Tech-
niken, sondern vielmehr auf Ihre individuellen Fähigkeiten. Handeln Sie aus der
Kraft Ihrer Spontaneität. Vertrauen Sie darauf, dass Ihre persönliche Note Sie bei je-
dem Auftritt sympathisch und überzeugend macht.
16. Wechseln Sie Stress und Erholung ab und powern Sie sich nicht mit ununterbroche-
ner Arbeit aus. Das Motto lautet: Systematischer Wechsel zwischen Anspannung
und Entspannung. Spitzensportler und Führungskräfte sind auf Dauer nur erfolg-
reich durch den systematischen Wechsel zwischen überdurchschnittlicher Lei-
stungsbereitschaft und maximalem Stress einerseits und angemessenen Erholungs-
pausen andererseits. Bauen Sie sich einen Lebens- und Leistungsrhythmus auf, der
Ihnen gut tut. Wechseln Sie regelmäßig und zeitgerecht zwischen Anspannung und
Entspannung. Geben Sie vollen Einsatz, gönnen Sie sich anschließend entsprechen-
de Erholungsphasen. Andauernde Anspannung erschöpft Sie und macht Sie krank.
Zu viel Muße und Entspannung verhindert den nötigen Energieaufbau.
596 Selbsthilfe bei Angststörungen
17. Achten Sie auf Ihre körperliche Entspannung und vermeiden Sie ständige Anspan-
nung mit der Folge psychosomatischer Störungen. Das Motto lautet: Lernen Sie
passende Entspannungstechniken. Verringern Sie Ihre körperliche Anspannung, in-
dem Sie in einem Kurs bestimmte Entspannungstechniken erlernen. Überprüfen Sie
bei ständiger innerer Angespanntheit, ob Sie sich eher durch körperliche Aktivität
oder eher durch passive Übungen entspannen können. Die wichtigsten Entspan-
nungstechniken sind Atemübungen, autogenes Training, progressive Muskelent-
spannung nach Jacobson, Yoga und Zen-Meditation; immer mehr Bedeutung ge-
winnen auch Tai chi und Qi Gong.
18. Stellen Sie keine zu hohen Ansprüche an sich selbst und vermeiden Sie jede länger
dauernde Überforderung. Das Motto lautet: Beugen Sie einem Burn-out vor. Erfolg
und Versagen hängen damit zusammen, wie Sie mit sich selbst umgehen. Überprü-
fen Sie, ob Sie zu hohe Anforderungen an sich selbst stellen und relativieren Sie Ihre
Ansprüche – spätestens wenn ein körperlicher und seelischer Zusammenbruch droht.
Seien Sie realistisch in Bezug auf die Leistungen, die Sie von sich selbst erwarten.
Berücksichtigen Sie Ihre Möglichkeiten und die gesamten Umstände. Stellen Sie ei-
ne gesunde Balance her zwischen Ihren beruflichen, familiären und individuellen
Bedürfnissen. Geben Sie durchaus Ihr Bestes in Ihrem Beruf, für Ihre Familie, Ihre
Ideale und die Entwicklung Ihrer Fähigkeiten. Achten Sie dabei jedoch mehr als
bisher auf sich selbst, auf Ihre Wünsche und Bedürfnisse. Engagieren Sie sich wie
bisher mit Feuereifer für Ihre Mitmenschen und Ihre Ziele. Schützen Sie sich jedoch
davor, auszubrennen oder innerlich zu verbrennen.
19. Legen Sie Ihre Überverantwortung ab und vermeiden Sie ein Helfersyndrom. Das
Motto lautet: Schauen Sie auf sich so, dass Sie auch weiterhin anderen helfen kön-
nen. Handeln Sie verantwortungsbewusst, jedoch nicht überverantwortlich. Sie sind
nicht für alles und jeden verantwortlich. Es ist nicht Ihr Versagen, wenn andere ihre
Verantwortung nicht wahrnehmen oder Fehler begehen. Fühlen Sie sich nicht schul-
dig, wenn andere Menschen ihren Verpflichtungen nicht gerecht werden. Auch
wenn Sie anderen Menschen helfen, müssen sich diese für ihr Handeln selbst ver-
antworten. Erkennen Sie den gefährlichen Teufelskreis der Verantwortungsfalle: Je
mehr Hilfe Sie leisten, desto hilfloser verhalten sich die Menschen rundherum. Je
mehr Sie sich als Retter anbieten, umso mehr verlassen sich andere auf Sie. Tun Sie
nichts, was die anderen selbst tun können.
20. Treten Sie kompetent auf und verkaufen Sie nicht unter Ihrem Wert. Das Motto lau-
tet: Verbessern Ihre soziale Kompetenz. Entwickeln Sie Ihre sozialen Fertigkeiten,
um vor anderen Menschen kompetenter aufzutreten. Es ist heute zunehmend wich-
tig, sich selbst besser präsentieren und „verkaufen“ zu können. Dazu sollten Sie Ihre
Angst vor Blamage und Kritik überwinden. Angst hemmt nur Ihre Spontaneität und
Kreativität. Treten Sie selbstbewusster auf als bisher. Machen Sie durch Ihr Verhal-
ten auf sich aufmerksam. Stellen Sie sich bewusst in den Mittelpunkt der Aufmerk-
samkeit anderer Menschen. Stehen Sie zu Ihren Auffassungen und vertreten Sie Ihre
Werte. Äußern Sie notwendige Kritik. Wagen Sie zu widersprechen. Stellen Sie be-
rechtigte Forderungen. Schlagen Sie überzogene Bitten ab. Sagen Sie Nein zu allem,
was gegen Ihre Interessen ist. Tolerieren Sie öffentliche Beachtung. Schauen Sie an-
deren direkt in die Augen. Nehmen Sie eine selbstsichere Körperhaltung ein.
Bewältigungsstrategien bei generalisierten Ängsten 597
z die Grundstrukturen Ihrer ängstlichen Denkmuster: Was sind Ihre zentralen Ge-
danken (z.B. „Das schaffe ich nie“, „In der nächsten Zeit wird etwas Schlimmes
passieren“, „Ich bin ein Pechvogel“, „Ich muss jede Unsicherheit beseitigen“)?
Finden Sie auch heraus, was der positive Sinn Ihrer Sorgen und Befürchtungen
ist. Was hilft es Ihnen, über eine befürchtete Katastrophe nachzudenken, wenn
Sie glauben, darauf ohnehin keinen Einfluss zu haben? Glauben Sie etwa in einer
Art magischem Denken, durch intensives Grübeln ein mögliches Unglück viel-
leicht verhindern bzw. durch zu positive Erwartungen gar heraufbeschwören zu
können? Leben Sie nach dem Motto: „Wenn ich mögliches Unglück schon nicht
verhindern kann, kann ich wenigstens etwas tun, nämlich darüber nachdenken“?
Bekommen Sie auf diese Weise das Gefühl der Kontrolle über die Situation der-
art, dass Sie wenigstens das Unheil vorhergesehen haben, sodass Sie dann nicht
überrascht sind und sagen können: „Ich hab’s ja gewusst“? Wenn Sie Ihre Sor-
gen letztlich als hilfreich erleben, um mit der Ungewissheit der Zukunft besser
zurechtzukommen, werden Sie diese nur schwer abstellen können.
3. Betreiben Sie eine intensive Sorgen-Konfrontation. Nehmen Sie sich öfter eine gan-
ze Stunde Zeit für Ihre Sorgen und denken Sie jede Sorge möglichst bildhaft bis zum
schlimmstmöglichen Ausgang zu Ende, ohne sich dabei abzulenken. Halten Sie die-
ses Worst-Case-Szenario in Ihrem Sorgen-Tagebuch fest, denn reines Nachdenken
führt rasch zu unproduktiven Sorgenketten. Bleiben Sie stets bei einem Sorgenthema
und einem schlimmen Ausgang, ohne sich durch andere gefürchtete Katastrophen
abzulenken, wie Sie dies zu Ihrer kurzfristigen Entlastung bei Ihren ständigen Sor-
genketten tun, wo Sie von einer Sorge zur nächsten springen und dabei keine wirk-
lich bewältigen. Schreiben Sie in dieser Weise im Laufe der Zeit eine Sorgenge-
schichte nach der anderen auf. Lassen Sie alle Gefühle und körperlichen Empfin-
dungen zu und notieren Sie diese ebenfalls in Ihrem Sorgen-Tagebuch. Vergegen-
wärtigen Sie sich, dass es sich bei Ihren Befürchtungen nur um bildhafte Vorstellun-
gen und nicht um die Realität handelt. Sie überwinden Ihre belastendsten Ängste
dann am schnellsten, wenn Sie sie einfach zulassen und darauf warten, bis sie von
alleine vergehen, ohne dass Sie aktiv eingreifen. Ihre Sorgen werden erst abnehmen,
wenn Sie sich nicht mehr vor ihnen fürchten, d.h. wenn Sie sich diese möglichst
bildhaft und emotional bewegt vergegenwärtigen. Das Motto lautet: Blicken Sie Ih-
ren Sorgen ins Angesicht und sie werden ihren Schrecken verlieren.
4. Praktizieren Sie das Achtsamkeitstraining, wie es im entsprechenden Abschnitt
dieses Buch beschrieben ist. Lassen Sie dabei alle Sorgen ohne Bewertung zu.
5. Reduzieren Sie sukzessive Ihr Vermeidungs-, Rückversicherungs- und Kontrollver-
halten. Stellen Sie sich auch real allen Situationen, die Ihnen Angst machen, und ler-
nen Sie, Ihre Gefühle und bildhaften Vorstellungen ohne Ablenkung und Verdrän-
gung wahrzunehmen und Ihre Unsicherheit auszuhalten, ohne sich ständig bei ande-
ren Menschen absichern zu müssen.
6. Entwickeln Sie Problemlösungsstrategien, statt ständig unproduktiv über Ihre Pro-
bleme zu grübeln. Entwickeln Sie verschiedene Lösungswege, nehmen Sie Bewer-
tungen vor, treffen Sie dann eine Entscheidung und setzen Sie die beste Lösung um.
7. Verbessern Sie Ihre körperliche Befindlichkeit und Ihr Gesundheitsverhalten. Erler-
nen und pflegen Sie regelmäßig verschiedene Entspannungstechniken (z.B. progres-
sive Muskelentspannung, Gi Gong). Entwickeln Sie ein sportliches Aktivitätspro-
gramm (z.B. Gymnastiktraining und Ausdauersportarten wie Walking, Radfahren
oder Schwimmen) und ändern Sie bei Bedarf auch Ihr Ernährungsverhalten.
Bewältigungsstrategien bei Zwangsstörungen 599
Allgemeine Ratschläge
Bei Zwängen sind aufgrund der Hartnäckigkeit der Symptomatik Selbsthilfeprogramme
ohne begleitende Psychotherapie weniger erfolgreich als bei einer Agoraphobie oder
Panikstörung, sodass auch eine Verhaltenstherapie nötig wird. Die Selbsthilfetipps be-
ruhen auf Fachbüchern und Selbsthilfebüchern: „Hör endlich auf damit“ (vergriffen)
von Foa und Wilson [39], „Alles unter Kontrolle“ von Baer [40], „Wenn Zwänge das
Leben einengen“ von Hoffmann [41], „Wege aus dem Zwang. Wie Sie Zwangsrituale
verstehen und überwinden“ von Ambühl [42], „Die Krankheit des Zweifelns. Wege zur
Überwindung von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen“ von Ecker.
Das Selbsthilfeprogramm zur Überwindung Ihrer Zwänge besteht aus vier Teilen:
1. Konfrontation in der Vorstellung. Stellen Sie sich vor, wie Sie sich einer bisher
gemiedenen Situation (Ekel, „Schmutz“, „Unordnung“ usw.) aussetzen.
2. Konfrontation in der Realität. Konfrontieren Sie sich gestuft oder massiert mit ge-
fürchteten Situationen Ihrer Umwelt (z.B. Verunreinigung Ihres Körpers, Ihrer Klei-
dung, Ihrer Lieblingsgegenstände und Wohnungseinrichtung mit Blut oder Staub).
3. Ritualverhinderung. Verzichten Sie auf die Ausführung von kognitiven und verhal-
tensbezogenen Ritualen (z.B. Waschen, Reinigen, Kontrollieren, zwanghaftes Zäh-
len). Lernen Sie, alle auftretenden Gedanken, Gefühle und körperlichen Empfindun-
gen wahrzunehmen und besser als bisher auszuhalten. Begrenzen Sie vor allem auch
das Ausmaß Ihres Verantwortungsgefühls für ein mögliches Unglück.
4. Änderung der Denkmuster. Bewerten Sie realistischer als bisher, wie gefährlich be-
stimmte Situationen und Objekte wirklich sind. Analysieren Sie Ihre perfektionisti-
schen Bewältigungsversuche, die jedes Restrisiko ausschließen sollen. „Alles unter
Kontrolle“ bedeutet, keine Angst haben zu müssen, statt Angst aushalten zu lernen.
4. Prüfen Sie, wie realistisch der jeweilige Zwangsinhalt ist, und geben Sie einen
Wahrscheinlichkeitsgrad an (z.B. 1:10000), um das wahre Risiko zu verdeutlichen.
5. Konfrontieren Sie sich bei Bedarf mit den gefürchteten inneren und äußeren Reizen
bzw. Situationen zuerst in der Vorstellung, anderenfalls gleich in der Realität.
6. Konfrontieren Sie sich mit den zwangsauslösenden Reizen und Situationen in der
Vorstellung („in sensu“) und in der Realität („in vivo“) so lange, bis Angst, Unruhe
oder Unbehagen um mindestens das halbe Ausmaß abnehmen. Es ist nicht das Ziel,
die Konfrontation erst dann zu beenden, wenn Sie keine negativen Gedanken und
Gefühle mehr aufweisen, sondern wenn die zwangsauslösenden Reize und Reaktio-
nen erträglicher werden als bisher, ohne dass Sie dabei ein Zwangsritual einsetzen.
7. Verzichten Sie so gut als möglich auf jede Form von Vermeidung der bislang
zwangsauslösenden Reize sowie auf die Ausführung von Ritualen jeder Art.
8. Verstärken Sie das Wahrnehmen und Erleben der momentanen Gefühle, indem Sie
diese während der Konfrontation laut aussprechen bzw. auf Tonband aufnehmen.
Machen Sie die Erfahrung, dass Sie die aufkommenden Gefühle ertragen können.
9. Wenn Angst und Unbehagen in der Vorstellung bzw. in der Realität angesichts ei-
nes bestimmten Reizes nicht absinken, stellen Sie sich dieser Situation einige Zeit
später oder am nächsten Tag erneut bzw. verlängern Sie die Dauer der Konfrontati-
on um eine weitere Stunde, bis Sie ein Erfolgserlebnis haben.
10. Üben Sie täglich mindestens 1-2 Stunden lang, da regelmäßige Konfrontationen
mehr Effekt haben als nur gelegentliche Expositionen.
11. Wenn Sie die geübte Situation dauerhaft ertragen können, steigern Sie den Schwie-
rigkeitsgrad der Konfrontationsübungen gemäß der Auflistung Ihrer Zwänge nach
dem Ausmaß der Belastung. Lassen Sie sich dabei durch Tagesschwankungen Ihrer
Erfolge nicht entmutigen, denn kleine Rückfälle (neuerliche Rituale) sind normal.
12. Wenn Sie bezüglich Ihres Verhaltens unsicher geworden sind, erlauben Sie sich zu
Beginn Ihres Selbsthilfeprogramms die Ausführung Ihres Zwangsrituals maximal
einmal, und zwar nach einer vorher festgesetzten Zeitspanne (z.B. frühestens nach
einer Stunde) für einen bestimmten Zeitraum (z.B. drei Minuten waschen), d.h. Sie
dürfen nur einmal nach Abschluss einer Handlung neuerlich waschen, kontrollieren,
ordnen usw. Sie sollen lernen, einer einzigen Kontrolle zu vertrauen und sich bei
einer späteren Unsicherheit an diese Kontrolle zu erinnern. Wenn Sie Ihrer eigenen
Kontrolle nicht mehr vertrauen, wird Ihr Zwangsverhalten bald extrem ausufern.
Sie werden nach vielen Kontrollen vielleicht sogar andere fragen müssen, ob alles
in Ordnung ist und nichts passieren kann. Dies kann Ihnen zwar kurzfristig Erleich-
terung bringen, untergräbt jedoch langfristig Ihr Selbstvertrauen völlig.
13. Erstellen Sie vor der einmaligen Ausführung Ihres Zwangsrituals verlässliche Kri-
terien, anhand derer Sie danach genau erkennen können, ob Ihr Ritual den er-
wünschten Effekt erbracht hat. Ihr Zwangsverhalten beruht teilweise darauf, dass
Sie vorher keine ausreichend klar überprüfbaren Maßstäbe entwickelt haben, die
Ihnen hinterher helfen, dem Druck Ihrer Angst und Unruhe standzuhalten. Wie er-
kennen Sie, dass Ihre Hände nicht mehr verseucht sind? Legen Sie vor dem Wa-
schen fest, was Ihre Sauberkeit ausmacht. Überlegen Sie bei Wasch- und Reini-
gungszwängen, wann Ihre Ekelgefühle beseitigt sind. Bestimmen Sie vor dem Kon-
trollieren, was „ausreichend kontrolliert“ bedeutet. Achten Sie dabei auf Ihre sinnli-
che Wahrnehmung (Sehen, Hören, Spüren, Riechen) und damit auf Tatsachen, statt
sich nur von Ihrem Gefühl „Es passt noch nicht“ bestimmen zu lassen.
Bewältigungsstrategien bei Zwangsstörungen 601
14. Zur Sicherung des Effekts der einmaligen Ausführung Ihres Zwangsrituals (Wa-
schen, Kontrolle, Ordnen, Zählen usw.) in Hinblick auf Ihre spätere Beruhigung un-
ternehmen Sie alles, um die oft durch Angst und Unruhe beeinträchtigte Aufmerk-
samkeit während der Ausführung des Rituals zu verbessern. Bei einem Kontroll-
zwang des Ofens atmen Sie z.B. während der Kontrolle der verschiedenen Schalter
aus, um in Entspannung das Ergebnis Ihrer Kontrolle aufmerksam zu registrieren.
Zur Sicherung der geschlossenen Fenster und Türen erstellen Sie eine Liste der zu
kontrollierenden Objekte und haken Sie den entsprechenden Punkt erst dann ab,
wenn Sie sicher sind, dass alles passt.
15. Bei späterer Verunsicherung erinnern Sie sich an Ihre einmalige Kontrolle oder be-
trachten Sie Ihre Liste. Bei Besserung verzichten Sie wieder auf die Kontrolle mit-
tels einer Liste. Vergegenwärtigen Sie sich möglichst konkret und bildhaft Ihre letz-
te Kontrolle bzw. Ihr letztes Waschritual, um das Vertrauen in Ihr Tun zu stärken.
16. Bedenken Sie, dass Ihre Zwänge oft durch ein übermäßiges Verantwortungsbe-
wusstsein geprägt sind, und lernen Sie, ein gewisses Restrisiko zu ertragen. Verge-
genwärtigen Sie sich, welche Verantwortung Sie nicht einzugehen wagen, weil Sie
im Falle von Fehlern unerträgliche Schuldgefühle befürchten.
17. Setzen Sie vor der Handlung bzw. Kontrolle Selbstinstruktionstechniken ein, z.B.
„Ich gehe jetzt zur Tür, kontrolliere sie einmal und gehe dann sofort zum Bus.“
18. Setzen Sie zur Unterstützung Ihres Sicherheitsgefühls nach der Handlung Selbstin-
struktionstechniken ein. Sagen Sie sich vor, was Ihnen mehr Sicherheit geben kann
(„Vor einer Stunde war ich unsicher, ob der Ofen, Wasserhahn, Lichtschalter usw.
abgedreht ist. Ich habe genau kontrolliert und kann meiner Kontrolle vertrauen“,
„Ich habe meine Hände vor 10 Minuten gründlich mit Seife gewaschen. Es reicht
jetzt, sonst werden meine Hände durch das ständige Waschen noch ganz trocken,
spröde und aufgeraut und machen mich erst recht anfällig für Infektionen“).
19. Nehmen Sie bei Bedarf die Hilfe von Personen Ihres Vertrauens in Anspruch, um
die Konfrontation zu erleichtern und den Verzicht auf Zwangsrituale durchzuhalten,
verwenden Sie diese Hilfspersonen jedoch nicht zur Absicherung (keine Einbin-
dung in Zwangsrituale wie Kontrollieren, Fragen um Bestätigung u.a.). Nutzen Sie
andere Personen auch zur Orientierung dafür, was „normales“ Verhalten ist.
20. Akzeptieren Sie, dass Sie mit diesem Selbsthilfeprogramm vorerst nur Ihr Verhal-
ten besser in den Griff bekommen können. Ihre Gedanken, Gefühle und Impulse
werden anfangs noch gleich belastend und unkontrollierbar erscheinen. Das Gefühl,
dass Ihre Hände noch immer schmutzig sind bzw. dass irgendetwas passieren könn-
te, wird noch immer da sein. Dies wird sich erst später ändern. Neues Verhalten
schafft mit der Zeit neues Denken und Fühlen.
21. Verlassen Sie anfangs nach der Konfrontation die Situation für 1-4 Stunden, um der
Gefahr von Zwangshandlungen zu entkommen (z.B. neuerliches Waschen und
Kontrollieren). Eine Ortsveränderung zwingt Sie zum Aushalten von Unsicherheit.
22. Protokollieren Sie alle Übungen hinsichtlich Art, Zeitpunkt und Dauer und ver-
zeichnen Sie das Ausmaß von Angst und Unbehagen anhand einer Skala von 0-10.
23. Treffen Sie bei Handlungszwängen, vor allem bei Kontrollzwängen, Vorkehrungen
dafür, dass Sie sich richtig erinnern können, was Sie getan bzw. wie genau Sie kon-
trolliert haben. Zur besseren Nutzung der motorischen Informationen aus dem
Handlungsvollzug sollten Sie daher die jeweiligen Kontrollen auch mit geschlosse-
nen Augen durchführen, um auf Weise die motorischen Vollzüge besser in Ihrem
Gedächtnis zu speichern und später abrufen zu können.
602 Selbsthilfe bei Angststörungen
24. Finden Sie heraus, welche intrapsychischen und interaktionellen Funktionen Ihre
Zwänge könnten. Welche an sich guten Ziele verfolgen Ihre Zwänge? Was können
Sie damit bei Ihrer Umwelt erreichen, was Ihnen sonst nicht so leicht gelingen wür-
de (z.B. die Durchsetzung bestimmter Wünsche)? Welche Sicherheit in Beziehun-
gen gewinnen Sie durch die Ausführung von Kontroll- und Reinigungszwängen
(z.B. Verhinderung von Kritik wegen fehlerhafter Arbeitsweise)? Wie können Sie
in Beziehungen mehr Vertrauen lernen, ohne ständig Kontrolle ausüben zu müssen?
25. Lassen Sie im Zusammenhang mit der Konfrontation und Reaktionsverhinderung
(Verzicht auf Rituale) bei jeder Übung alle Gefühle zu, auch die unangenehmsten.
Auf diese Weise können Sie vielleicht erkennen, welche Gefühle Sie innerlich
wirklich beschäftigen, z.B. Ärger, Wut, Traurigkeit. Je mehr Sie Ihre Gefühle und
Gedanken unterdrücken, umso häufiger und bedrängender werden sie auftreten.
26. Machen Sie bei Zwangsbefürchtungen („Was wäre, wenn“-Gedanken) eine „Expo-
sition in sensu“, indem Sie alles bis zum Ende durchdenken und zulassen. Die emo-
tionale Auseinandersetzung mit den auftauchenden Themen (z.B. Tod, Schuldge-
fühle, Ohnmachtserleben) ist heilsam.
27. Überprüfen Sie, welche Erwartungen und Befürchtungen sich nach der Konfronta-
tion mit Reaktionsverhinderung als unberechtigt herausgestellt haben. Erstellen Sie
dann auch für alle anderen zwangsauslösenden Gedanken eine Tabelle, wo Sie die
Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens angeben (z.B. brennender Ofen bei nicht abge-
drehter Herdplatte: 1:100). Diskutieren Sie diese Erwartungswahrscheinlichkeiten
mit Ihren Bekannten, um eine realistischere Einschätzung zu gewinnen, und über-
prüfen Sie diese Befürchtungen durch weitere Verhaltensexperimente.
28. Analysieren und verändern Sie Ihre Denkmuster, die bestimmte Zwänge begünsti-
gen. Andere Menschen haben oft ähnliche Gedanken, bewerten sie jedoch nicht als
so gefährlich und moralisch bedenklich, sodass sie sich auch nicht ständig damit
beschäftigen müssen. Typische Denkmuster in Verbindung mit Zwängen sind z.B.:
z „Ich bin für jeden Gedanken verantwortlich, der mir unterkommt.“
z „Ich muss meine Gedanken jederzeit unter Kontrolle haben.“
z „Wenn ich daran denke, dass ich etwas tun könnte, dann ist dies moralisch ge-
nauso verwerflich wie die Tat selbst.“
z „Wenn mir ein Gedanke kommt, dass ich jemand anderem etwas antun könnte,
muss ich unbedingt etwas dagegen unternehmen, damit nichts passiert.“
z „Wenn ich nichts dagegen unternehme, bedeutet dies, dass ich das Betreffende
eigentlich wünsche, und ich meine Befürchtungen zu wenig erst nehme.“
z „Wenn ich an etwas gedacht habe, das später tatsächlich passiert ist, bin ich
schuld daran, dass ich es nicht verhindert habe.“
Wenn dieses Vorgehen nicht zum Erfolg führt, beantworten Sie folgende Fragen:
z Welche positive Bedeutung und welche Funktion könnten Ihre Zwänge haben, so-
dass Sie sie derzeit noch nicht aufgeben können?
z Welche Verhaltensweisen müssten Sie entwickeln, um Ihre Ziele zu erreichen?
z Wo müssten Sie zukünftig sagen „Ich will nicht“ statt „Ich kann nicht“?
z Fürchten Sie die Folgen eines zwangsfreien Lebens? Welche möglichen Konsequen-
zen der Durchbrechung Ihrer Zwänge möchten Sie auf keinen Fall riskieren? Möch-
ten Sie deshalb bestimmte Zwänge lieber beibehalten als aufgeben?
z Welche Gedanken und Wertvorstellungen verhindern die Durchbrechung Ihrer
Zwänge? Welche zentralen Glaubenssätze vereiteln jeden Fortschritt?
Bewältigungsstrategien bei Zwangsstörungen 603
„Die Haut ist unter normalen Umständen relativ undurchlässig für chemische Substanzen bzw. krank-
machende Keime. Der Schutz gegen diese Substanzen ist vorwiegend in der Hornzellschicht der Ober-
haut (Epidermis) gelegen und wird vor allem durch den Säurefettschutzmantel der Haut erzeugt. Dies
ist ein dünner Film von Lipiden (Fetten), der durch die Talgdrüsen an die Hautoberfläche gelangt. Das
saure Milieu an der Hautoberfläche mit einem pH-Wert von ungefähr 5,5 entsteht einerseits durch das
Sekret der Schweißdrüsen, andererseits durch Spaltung von Lipiden wie Triglyzeriden in freie Fettsäu-
ren und Cholesterin. Dieser sogenannte Säurefettschutzmantel der Haut hat eine doppelte Funktion:
Zum einen sorgen die Fette dafür, daß die Haut geschmeidig bleibt und keine wesentlichen Risse oder
Rauhigkeiten an der Hautoberfläche entstehen. Zum anderen sorgt das saure Milieu an der Hautoberflä-
che dafür, daß verschiedene chemische Substanzen neutralisiert werden bzw. daß verschiedene patho-
gene Keime an der Hautoberfläche ein schlechtes Milieu für ihr Wachstum vorfinden, da die meisten
dieser Keine eher ein neutrales Milieu bevorzugen. Durch einen verstärkten Waschzwang kommt es vor
allem zu einer Zerstörung der Säureschutzschicht der Haut. Der intensive Gebrauch von Wasser be-
wirkt ein Aufquellen der Hornschicht an der Hautoberfläche, so daß der feste mechanische Verband der
Hornzellen zerstört und damit das Eindringen von chemischen Substanzen bzw. krankmachenden
Keimen in die Haut erleichtert wird. Seifen erfüllen ihre Waschfunktion vor allem dadurch, daß sie zu
einer massiven Entfettung der Haut führen. Die meisten konventionellen Seifen sind mit ihrem pH-
Wert im basischen Bereich angesiedelt. Somit ist es gut verständlich, daß häufiger Gebrauch von Seifen
zu einer Zerstörung des Säurefettschutzmantels der Haut führen kann. Eine so geschädigte Haut impo-
niert meistens als eine sehr trockene, teilweise rissige und rauhe Haut. Auch können mehr oder weniger
diskrete Rötungen, Entzündungen und Schuppungen entstehen. Sind diese aufgetreten, spricht man von
einem Exsikkations- oder Austrocknungsekzem. Diese vorgeschädigte Haut ist prädestiniert für die
Entwicklung weiterer Hautprobleme. Die harmlosesten sind sicherlich die Entstehung verschiedener
Ekzeme, die nach Kontakt mit chemischen Substanzen auftreten können und meist toxisch (giftig)-
irritativer Natur sind. Es kann jedoch auch zu einer leichteren Sensibilisierung gegenüber allergieauslö-
senden Substanzen kommen, so daß es nicht verwundert, wenn Patienten mit Waschzwang auch ge-
häuft unter allergischen Hauterkrankungen leiden. Wesentlicher jedoch dürfte das erhöhte Risiko für
infektiöse Hauterkrankungen sein. Besonders zu erwarten ist das vermehrte Auftreten von verschiede-
nen Pilzerkrankungen. Aber auch das Auftreten einer Impetigo contagiosa (oberflächliche bakterielle
Infektion der Haut) oder einer tieferen Infektion der Haut unter Mitbeteiligung der Weichteile sind zu
erwarten.“
Gehen Sie zur Selbstbehandlung von Wasch- und Reinigungszwängen derart vor:
1. Wählen Sie aus der Liste Ihrer Waschzwänge, die Sie nach den oben angeführten
Kriterien erstellt haben, einen Waschzwang mittleren Schwierigkeitsgrades aus und
erstellen Sie vor der Konfrontation klare Beurteilungskriterien für „sauber“.
2. Sagen Sie sich aufgrund der Selbstanalyse innerlich vor, was Sie bei der Konfronta-
tion fürchten und stehen Sie dazu, z.B. „Ich habe Angst, dass ich mich verschmutze.
Wenn ich mich dann nicht gleich wasche, habe ich die Befürchtung, meine Tochter
anzustecken, sodass sie krank wird oder gar stirbt, weil sie noch so klein ist.“ Ver-
wenden Sie während der Übung keine kognitiven und Verhaltensrituale.
3. Berühren Sie mit Ihren Händen intensiv einen „verschmutzten“ Gegenstand (Tür-
griff mit den Bazillen anderer Menschen, Fleischmesser mit Blut, Schuhsohle mit
dem Schmutz der Straße, Verpackungsmaterial für bestimmte chemische Produkte
usw.), eine „verseuchte“ Oberfläche (Abfallkübel, Mülltonne, Klobrille, Boden
usw.) oder mit Ihren Fingern eine Körperausscheidung (Schweiß, Urin, Vaginalse-
kret, Menstruationsblut). Halten Sie die Berührung so lange durch, bis Angst, Unru-
he und Unbehagen deutlich abnehmen und erträglich erscheinen.
4. Erleichtern Sie sich bei großem Unbehagen das Durchhalten durch entspannende
Atemübungen mit Betonung der verlängerten Ausatmung (später ohne Atemtechni-
ken) sowie durch bestimmte Selbstinstruktionen („Das ist ekelig, aber nicht gefähr-
lich“, „Es muss mir nicht gut gehen, ich muss es nur aushalten“). Rechnen Sie da-
mit, dass Sie anfangs vielleicht längere Zeit und wiederholtes Üben benötigen.
5. „Verseuchen“ Sie mit Ihren „verschmutzten“ Händen Ihren ganzen Körper (Ge-
sicht, Haar, Arme, Beine, Kleidung), weiters Ihre Angehörigen, alle Wohnräume
und Gegenstände (Türgriffe, Polstermöbel, Sesseln, Schreibtisch, Esstisch, Ess-
besteck, Lichtschalter, Elektrogeräte, Bettzeug, Handtücher, saubere Kleidung im
Schrank, Arbeitsplatte in der Küche usw.). Über ein intensiv berührtes Tuch können
Sie auch gefürchteten Schmutz von außerhalb Ihrer Wohnung mit nach Hause neh-
men, Ihre Angehörigen damit „anstecken“ und durch Wischen überall verteilen.
6. Verzichten Sie hinterher auf alle Reinigungsrituale (Waschen, Putzen, Desinfizie-
ren), kognitive Rituale (Stoßgebete, magisches Zählen usw.) oder Absicherungsfra-
gen an Ihre Angehörigen („Kann wirklich nichts passieren?“). Ihre Hände waschen
Sie frühestens nach drei Stunden maximal 1-3 Minuten lang ohne spätere Wiederho-
lung, probeweise waschen Sie sich die Hände einmal den ganzen Tag nicht. Tolerie-
ren Sie die Verschmutzung und provozieren Sie bewusst ein mögliches Unglück
(„Wer wird schwer krank werden oder gar sterben müssen?“). Die Wohnung reini-
gen Sie frühestens erst nach 3-7 Tagen, das „verschmutzte“ Bettzeug wechseln Sie
ebenfalls erst nach diesem Zeitraum. Vielleicht kann ein anderes Familienmitglied
den nächsten Wohnungsputz übernehmen, damit nicht alles so ordentlich gereinigt
ist, wie Sie dies tun würden. Sie müssen aber nicht so radikal und schnell vorgehen.
7. Konfrontieren Sie sich am besten durch ein 2- bis 4-wöchiges Intensivprogramm mit
allen Reizen, die Wasch- und Reinigungszwänge auslösen können.
8. Wenn Sie Schwierigkeiten haben, derartige Übungen sofort in der Realität auszufüh-
ren, üben Sie die Konfrontation mehrfach in der Vorstellung, beschreiben Sie mit
geschlossenen Augen den ganzen Vorgang in der Ich-Form und in der Gegenwart
(z.B. „Ich berühre jetzt mit der Hand einen ‘verschmutzten’ Gegenstand und an-
schließend den Fußboden und die Wohnungstür“), diktieren Sie den Ablauf auf
Tonband (ohne kognitive Rituale) und hören Sie den Text mehrfach täglich an, bis
Sie eine Konfrontation in der Realität wagen.
Bewältigungsstrategien bei Zwangsstörungen 605
9. Denken Sie die unangenehmen Szenen möglichst bildhaft bis zum Ende durch, las-
sen Sie einen inneren Film ablaufen mit der größtmöglichen Katastrophe, bewerten
Sie die Wahrscheinlichkeit eines derartigen Endes und wägen Sie ab, ob Sie ange-
sichts des möglichen Gewinns (mehr Lebensqualität und innere Freiheit) dieses Ri-
siko eigenverantwortlich (ohne Absicherung bei anderen) eingehen möchten.
10. Bei Schwierigkeiten, mit verschiedenen Übungen zu beginnen oder durchzuhalten,
denken Sie daran, dass Sie öfter vielleicht mehr ein Gefühl von Ekel als von Angst
und Unbehagen haben werden (z.B. im Kontakt mit den eigenen Körperausschei-
dungen). Ekel führt oft zu Übelkeitsgefühlen. Das ist ganz normal. Sie müssen
Ekelgefühle nicht überwinden, sondern nur besser aushalten lernen.
6. Zur Sicherung einer einzigen Kontrolle erstellen Sie zu Beginn der Konfronta-
tionsübungen eine Liste der zu kontrollierenden Objekte bzw. Sachverhalte. Bei
Kontrollzwängen in der Wohnung schreiben Sie jedes zu kontrollierende Objekt auf
und haken es erst dann als erledigt ab, wenn Sie dies bei voller Aufmerksamkeit un-
ter Entspannungsbedingungen (entspannte Ausatmung) geprüft haben.
7. Wenn Sie später doch unsicher werden sollten, betrachten Sie den entsprechenden
Vermerk auf Ihrer Liste und lernen Sie auf diese Weise, Ihrer Prüftätigkeit zu ver-
trauen. Lernen Sie, im Laufe der Zeit ohne derartige Listen auszukommen, indem
Sie Ihr Gedächtnis entsprechend trainieren.
8. Geben Sie Ihr Absicherungsdenken auf und fragen Sie niemanden, ob Sie ausrei-
chend kontrolliert haben. Lernen Sie, selbst die Verantwortung für Ihr Verhalten zu
übernehmen. Sie werden anderenfalls völlig von Ihrer Umwelt abhängig.
9. Verzichten Sie auf magische Rituale, die Sie zur Vereinfachung und Abkürzung
Ihrer Kontrollen entwickelt haben, und lernen Sie, mit einem Restrisiko zu leben.
10. Zögern Sie bei großem Kontrollbedürfnis dieses zumindest zeitlich etwas hinaus,
um mit dem Druck besser umgehen zu lernen, und lenken Sie sich dabei ab, indem
Sie sofort nach der Kontrolle etwas anderes machen, z.B. Einkaufen gehen.
Wichtiger als der Kampf gegen alle Zwänge ist der (Wieder-)Aufbau von Vertrauen:
z Vertrauen zum eigenen Gedächtnis, dass Sie alles richtig erinnern können.
z Vertrauen zu Ihren Sinnesorganen, dass Sie alles richtig wahrgenommen haben.
z Vertrauen zu Ihren Impulsen, dass Sie nichts gegen Ihre Moral unternehmen.
z Vertrauen zu Ihren Gedanken, dass diese Sie zu nichts bewegen können, was Sie
nicht wollen, und dass Sie auch etwas denken können, was Sie dann doch nicht tun
werden, wenn Sie es nicht wirklich tun möchten.
z Vertrauen darauf, dass Sie in jeder Situation zumindest für den Moment spontan
richtig denken, fühlen und handeln können, ohne ständig darauf achten zu müssen.
z Vertrauen darauf, dass Sie in allen Situationen Ihrer Verantwortung jederzeit gerecht
werden können und nicht ständig Schuldgefühle haben müssen.
z Vertrauen darauf, dass Sie alle körperlichen, geistigen und emotionalen Anspannun-
gen aushalten, die mit der Nicht-Ausführung von Zwangsritualen verbunden sind.
z Vertrauen darauf, dass Sie sich in zwischenmenschlichen Situationen angemessen
durchsetzen können und nicht ständig zur Waffe der Zwänge greifen müssen.
dafür angeführt, dass der direkte Kampf dagegen sinnlos ist, sondern vielmehr eine
Ablenkung und Konzentration auf andere Denk- und Verhaltensweisen erfolgen
sollte. Das deprimierende Gefühl, den Kampf gegen die Zwänge ständig zu verlie-
ren, auch bei größtem Willenseinsatz, wird damit vermieden. Zwänge werden durch
den Versuch, direkt dagegen anzukämpfen, erst recht in den Mittelpunkt gestellt.
Diese Sicht entspricht dem Konzept der Achtsamkeits- und Commitmenttherapie.
3. Neu-Einstellen. Nach der kognitiven Umstrukturierung der ersten beiden Schritte,
die die verschiedenen Zwangsstörungen als biochemische Ungleichgewichte im Ge-
hirn versteht und damit von einem sinnlosen Kräfte raubenden Kampf dagegen ab-
halten soll, werden schließlich im dritten Schritt aktive Ablenkungsmethoden einge-
setzt: Hobbys, Musik hören, lesen, Spazierengehen, sportliche Betätigung, Fernse-
hen, Computerspiele usw. Konzentration erfordernde Betätigungen unterbrechen die
Fixierung auf die Zwänge am schnellsten. Bestimmte Selbstinstruktionen sollen dies
erleichtern („Ich habe gerade wieder einen Zwangsgedanken bzw. Handlungszwang.
Als Alternative muss ich gleich ein anderes Verhalten dagegensetzen“). Ablen-
kungsmethoden bewirken genau das, was gesunden Personen bei ähnlichen Gedan-
ken ohne Schwierigkeiten gelingt: Sie konzentrieren sich nicht auf die „blöden“ Ge-
danken und Impulse, weil sie diese nicht für bedeutungsvoll und handlungsleitend
halten. Die Fünfzehn-Minuten-Regel soll dazu verhelfen, einen Zwangsgedanken
oder eine Zwangshandlung mindestens 15 Minuten hinauszuschieben, wenngleich
den Betroffenen anfangs oft nur ein Aufschub von 5 Minuten gelingen wird. Als
Grundsatz gilt jedenfalls, keine Zwangshandlung auszuführen, ohne eine Zeitlang
gewartet zu haben und die beiden ersten Schritte angewandt zu haben. Dieses Vor-
gehen führt rasch zu der Erfahrung, dass der jeweilige Zwang umso stärker nach-
lässt, je länger er hinausgeschoben wurde. Ähnlich wirksam ist auch das Verschie-
ben der Ausführung eines Drangzustandes bei Alkoholabhängigkeit oder Bulimie. In
der Zwischenzeit etwas anderes zu tun, führt rasch zur Ablenkung von den unange-
nehmen Gefühlen. Was zählt, ist nicht, wie man sich fühlt, sondern was man tut.
Wenn man etwas Hilfreiches und Angenehmes tut, werden sich im Laufe der Zeit
auch die Gefühle ändern. Dies ist ein bekanntes Prinzip aus der Behandlung von
Depressiven nach dem Motto: „Aktivität verbessert die Stimmung.“ Bei Zwangsstö-
rungen gilt derselbe Grundsatz: „Ändere zuerst dein Verhalten, und es wird sich im
Laufe der Zeit auch dein Denken und Fühlen ändern.“ Eine Veränderung des Ver-
haltens führt zu einer Veränderung des Gehirns.
4. Neu-Bewerten. Nach erfolgreicher Durchführung der ersten drei Schritte wird es
eher leicht fallen, die Gedanken- und Handlungszwänge neu zu bewerten. Den
Zwängen wird nicht mehr jenes Gewicht beigemessen, wie dies früher der Fall war.
Schwartz [45] fasst seine über langjährigen Forschungsbemühungen und die Ergebnisse
seines Vier-Schritte-Therapiekonzepts bei über 1000 Zwangspatienten, die einzeln oder
in allwöchentlichen Therapiegruppen behandelt wurden, folgendermaßen zusammen:
„Zum allerersten Mal im gesamten Bereich der Psychiatrie und psychotherapeutischen Technik haben
wir wissenschaftliche Beweise dafür, daß kognitive Verhaltenstherapie tatsächlich biochemische Ver-
änderungen in den Gehirnfunktionen der Betroffenen schafft. Wir konnten deutlich machen, daß Sie
sich durch eine Änderung Ihres Verhaltens von der Gehirnblockade frei machen, die biochemischen
Funktionen Ihres Gehirns beeinflussen und die Erlösung von den schrecklichen Zwangssymptomen
erlangen können. Das Endresultat ist: Vermehrte Selbstkontrolle und verstärkte Selbstbestimmung,
dadurch eine erhöhte Selbstachtung.“
610 Selbsthilfe bei Angststörungen
Aus dem kognitiv-behavioralen Therapiekonzept von Schwartz [46] ergeben sich fol-
gende Konsequenzen:
„Sobald jemand gelernt hat, die vier Schritte den Regeln entsprechend nachzuvollziehen, ereignen sich
zwei äußerst positive Dinge. Zunächst gewinnt man eine bessere Kontrolle über Verhaltensreaktionen
auf Gedanken und Empfindungen, wodurch das ganze Leben weitaus glücklicher und gesünder wird.
Sodann verändert man durch den Wandel der Verhaltensreaktionen die schadhafte Biochemie des
Gehirns, die Ursache der heftigen Beschwerden durch die Zwangssymptome war. Nachdem es wissen-
schaftlich erwiesen ist, daß die biochemischen Gehirnabläufe bei diesem psychiatrisch schwerwiegen-
den Leiden durch die Anwendung der vier Schritte verändert wird, ist es durchaus wahrscheinlich, daß
man seine biochemischen Gehirnabläufe durch neue Reaktionen auf Verhaltensprobleme oder schlechte
Gewohnheiten mit Hilfe der Vier-Schritte-Methode verändern kann. Das Ergebnis könnte eine Verrin-
gerung der Intensität und Aufdringlichkeit der unerwünschten Gewohnheiten und Verhaltensweisen
sein, so daß sie leichter aufzubrechen sind.“
Der Therapieansatz von Schwartz ist insofern kritisch zu betrachten, als die unzutref-
fende Annahme einer rein biologischen Fundierung der Zwangsstörung dafür herhalten
muss, dass Zwangspatienten den permanenten Kampf gegen ihre Zwänge aufgeben
können. Die paradoxe Intervention, die Konfrontationstherapie und die Achtsamkeits-
und Commitmenttherapie beruhen ebenfalls auf dem Verzicht der willentlichen Kon-
trolle von Angst und Unruhe erzeugenden Gedankenmustern.
Wenn in Ihrer Gegend keine Selbsthilfegruppe existiert, werden Sie durch ein Inserat in
Ihrer Regionalzeitung möglicherweise bald Leidensgenossen finden, die froh sind,
durch Ihre Initiative aus ihrer Isolierung heraustreten zu können. Aus organisatorischen
Gründen empfiehlt sich der Anschluss an einen bestehenden Dachverband der Selbsthil-
fegruppen, der Sie auch über bereits bestehende Gruppen informieren kann.
Die Erfahrung zeigt, dass Selbsthilfegruppen von Zwangskranken stärker der Unter-
stützung durch Fachleute bedürfen als Angst- und Panik-Selbsthilfegruppen.
9. Ratschläge für Angehörige
Ratschläge für Angehörige von Angstpatienten
Die folgenden Fragen und Anregungen sollen Ihnen, wenn Sie Angehöriger sind, Hilfe-
stellungen bieten, wie Sie mit Ihrem angstkranken Partner (bzw. Elternteil oder Kind)
besser umgehen können. Die einzelnen Punkte beziehen sich auf eine angstkranke Frau
[1]. Dieselben Hinweise gelten auch für einen angstkranken Mann.
1. Überlegen Sie, ob Sie bislang in irgendeiner Form bewusst und/oder unbewusst die
Angstsymptomatik Ihrer Partnerin unterstützt haben.
2. In welchen Bereichen haben Sie eine bestimmte Unterstützung aus sich heraus an-
geboten, wo und wann nur deshalb, weil Sie Ihre Partnerin dazu gedrängt hat?
3. Haben Sie sich den angstbedingten Wünschen Ihrer Partnerin gefügt, um Streit zu
vermeiden (z.B. keine Ausflüge allein machen, weil die Partnerin aus Angst nicht al-
lein zu Hause bleiben möchte)?
4. Haben Sie gelernt, die Ängste Ihrer Partnerin als unveränderlich hinzunehmen und
damit eine neue Lebensaufgabe zu entwickeln, für sie da zu sein?
5. Haben Sie irgendein Interesse daran, dass Ihre Partnerin nicht zu selbstständig wird,
wenn sie alle ihre Ängste verliert?
6. Haben Sie selbst Ängste, die den Ängsten Ihrer Partnerin ähnlich sind?
7. Haben Sie früher Ängste gehabt, die Sie vielleicht dadurch verloren haben, dass Sie
durch die Beziehung zu einer ebenfalls eher ängstlichen Partnerin an Stärke gewin-
nen konnten?
8. Haben Sie Probleme, Dinge ohne Ihre Partnerin zu tun? Machen Sie Ausflüge und
bestimmte Aktivitäten auch allein, wenn Ihre Partnerin wegen ihrer Ängste nicht
daran teilnehmen möchte? Können Sie sich zu Hause ohne Partnerin wohl fühlen?
9. Wären Sie bereit, auf Wunsch Ihrer Partnerin oder eines Psychotherapeuten an einer
Therapie teilzunehmen? Oder legen Sie großen Wert darauf, dass Ihre Partnerin eine
rein individuelle Störung hat, die nichts mit Ihrer Beziehung zu tun hat?
10. Wie hat sich Ihre Partnerbeziehung verändert, seit Ihre Partnerin Ängste hat?
Fragen Sie sich, was sich ändern würde, wenn Ihre Partnerin keine Ängste mehr hätte
1. Welche Folgen hätte es für Sie, wenn Ihre Partnerin keine Ängste mehr hätte?
2. Welche Auswirkungen hätte eine Angstfreiheit Ihrer Partnerin für Ihre Beziehung?
3. Was würde sich vielleicht hinsichtlich der ganzen Lebensgestaltung ändern (z.B.
andere Arbeit, mehr soziale Aktivitäten)?
4. Angenommen, Ihre jetzt nicht berufstätige Partnerin möchte nach der Überwindung
ihrer Angststörung (wieder) berufstätig werden, wie stehen Sie dazu?
5. Stellen Sie sich vor, Ihre Partnerin wäre bereits in drei Wochen frei von allen le-
benseinengenden Ängsten, was würde dies für Ihre Beziehung bedeuten? Was wäre
endlich möglich? Welche Konflikte und Gefahren könnten drohen?
612 Ratschläge für Angehörige
1. Sagen Sie Ihrer Partnerin von Anfang an klar und bestimmt, dass Sie unbedingt eine
Beseitigung ihrer Ängste wünschen, zumindest soweit Sie selbst dadurch betroffen
sind. Lassen Sie sie jedoch die Art der Angstbewältigung selbst auswählen: eigen-
ständig mit Hilfe von Selbstbehandlungsliteratur – gemeinsam mit Ihnen – Psycho-
therapie allein oder mit Ihnen zusammen.
2. Anerkennen und loben Sie jedes eigenständige Bemühen Ihrer Partnerin, mit Angst
machenden Situationen umzugehen. Kritisieren Sie sie nicht bei Rückfällen, son-
dern ermutigen Sie sie, ihr Übungsprogramm fortzusetzen.
3. Übergehen Sie geduldig die klagenden und deprimierten Äußerungen Ihrer Partne-
rin, statt sie durch übermäßige Beachtung und Zuwendung zu verstärken.
4. Unterstützen Sie ein Angstbewältigungstraining durch möglichst attraktive Ziele,
wo Ihre Partnerin auf jeden Fall gerne hingehen würde, wenn sie sich nur irgendwie
dazu überwinden könnte.
5. Planen Sie in einem bestimmten zeitlichen Abstand Urlaubsreisen, die Ihre Gattin
auch gerne mitmachen würde, derzeit aus Angst vor dem Fliegen, der weiten Ent-
fernung u.a. jedoch nicht zu unternehmen wagt. Schränken Sie sich nicht auf den
Radius Ihrer Partnerin ein, weil sie dann keinen Anreiz zur Änderung verspürt.
6. Übernehmen Sie keine Aufgabe, die Ihre Partnerin bereits selbst erledigen kann
bzw. könnte. Ihre Zurückhaltung bewirkt, dass Ihre Partnerin rasch selbstständig
und selbstbewusst wird.
7. Überlegen Sie, ob Sie Ihrer Partnerin durch Ihre Unterstützung wirklich helfen,
angstfreier und eigenständiger zu werden oder ob Sie damit nicht eher ihre Be-
quemlichkeit unterstützen. Ist es wirklich Angst, wenn Ihre Partnerin nicht mit dem
öffentlichen Verkehrsmittel in die Arbeit fahren kann oder ist es einfach nur be-
quemer, von Ihnen mit dem eigenen Auto dorthin gebracht zu werden? Nicht alles,
was man nicht allein tun möchte, hängt mit Angst zusammen. Im Rahmen der
Angstzustände hat Ihre Partnerin oft nur gelernt, dass es einfacher und angenehmer
ist, sich auf die Hilfe anderer Menschen verlassen zu können.
8. Fragen Sie Ihre Partnerin, wo sie zur besseren Angstbewältigung Ihre Hilfe wünscht
(z.B. Begleitung in anfangs allein nicht bewältigbar erscheinenden Situationen) und
überlegen Sie gemeinsam, wo dies eher schädlich wäre (z.B. Begleitung in Situa-
tionen, wo Ihre Partnerin zwar ein ungutes Gefühl hat, jedoch bereits auf Bewälti-
gungserfolge zurückblicken kann).
9. Selbst wenn Sie gemeinsame Übungen planen, überlegen Sie, wie Ihre Partnerin
dabei zumindest zeitweise allein üben kann (z.B. allein in das gefürchtete Geschäft
hineingehen; gemeinsame Fahrt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel, jedoch oh-
ne Nebeneinandersitzen; im Kino ebenfalls getrennt voneinander sitzen; eine Vier-
telstunde vor Ihnen allein in ein Lokal gehen).
10. Sagen Sie Ihrer agoraphobischen Partnerin nicht, was sie tun soll, sondern unter-
stützen und ermutigen Sie sie bei der Erreichung der selbstgesteckten Ziele. Kon-
trollieren und diktieren Sie Ihre Partnerin nicht, sondern bieten Sie Hilfe zur Selbst-
hilfe im gewünschten Ausmaß an.
11. Schlagen Sie spontan gemeinsame Aktivitäten ohne lange vorherige Planungen vor,
weil dadurch rasch Erfolgserlebnisse vermittelt werden können. Lange Planungen
verstärken nur die Erwartungsängste und die Vermeidungstendenz Ihrer Partnerin,
weil sie viel Zeit zum Nachdenken hat.
Ratschläge für Angehörige von Angstpatienten 613
12. Achten Sie darauf, dass Ihre Partnerin Angst machende Situationen möglichst oft
auch ohne Ihre Begleitung aufsucht und bei Angst vor dem Alleinsein zu Hause in
zunehmendem Ausmaß allein in der Wohnung verbleibt. Vereinbaren Sie, wann
und wie oft Ihre Partnerin mit Ihnen telefonischen Kontakt aufnehmen darf, um der
Gefahr vorzubeugen, ständig angerufen zu werden, weil Ihre Partnerin das zeitwei-
se Alleinsein nicht ertragen kann.
13. Wenn Ihre Partnerin bei Aktivitäten in Ihrer Anwesenheit eine Panikattacke be-
kommt, ermutigen Sie sie, die angstbesetzte Situation nicht zu verlassen, bevor die
Angst abgeklungen ist. Bringen Sie Ihre Partnerin weder nach Hause noch zu einem
Arzt oder in ein Krankenhaus, sondern ermutigen Sie sie durchzuhalten, bis der
Angstzustand vorbei ist, ohne dass eine Flucht aus der jeweiligen Situation erfolgt.
Ermutigen Sie sie, höchstens ein wenig Luftschnappen zu gehen und dann wieder
gestärkt in die Angst machende Situation zurückzukommen, um das Erfolgserlebnis
des Durchhaltens genießen zu lernen. Fragen Sie Ihre Partnerin in dieser Zeit nicht
ständig nach ihrem Befinden, weil Sie sie dadurch auf ihre Symptomatik fixieren,
sondern lassen Sie sie etwas in Ruhe oder suchen Sie nach Ablenkungsmöglichkei-
ten (z.B. ein anderes Gesprächsthema).
14. Ermutigen Sie Ihre Partnerin, zu ihren Ängsten zu stehen und diese öffentlich be-
kannt zu geben, wenn dadurch der innere Druck und das Versteckenspielen vor der
Umwelt reduziert werden können. Die vielen „Notlügen“ sollten ein baldiges Ende
finden. Die Angst vor sozialer Kritik bei Bekanntwerden der Ängste kann am be-
sten durch Ihre emotionale Unterstützung überwunden werden.
z Wenn Ihre Partnerin an einer reinen Panikstörung (ohne Agoraphobie) leidet, lassen
Sie Ihre Partnerin zeitweise auch allein. Die irrationale Angst, ohne Ihre Anwesen-
heit und Hilfe im Falle einer Panikattacke vielleicht sterben zu müssen, führt anson-
sten zu einer immer größeren Abhängigkeit von Ihnen. Achten Sie darauf, dass Sie
aus diesem Grund auch nicht jede Minute des Tages über das Telefon oder das Han-
dy erreichbar sind. Vereinbaren Sie Zeiten, in denen Ihre Gattin Sie keinesfalls anru-
fen soll, damit sie lernt, auf sich selbst gestellt zurechtzukommen. Lassen Sie sich
nicht ständig durch Anrufe bei der Arbeit stören.
z Wenn Ihre Partnerin unter einer Sozialphobie leidet, reduzieren Sie deswegen weder
Einladungen von Bekannten und Verwandten in Ihrer Wohnung noch schränken Sie
Ihre außerhäuslichen sozialen Aktivitäten ein. Laden Sie Ihre Partnerin immer wie-
der zu sozialen Aktivitäten ein, zwingen Sie sie jedoch nicht dazu, sondern nehmen
Sie alleine an den geplanten Treffen mit anderen Leuten teil.
z Wenn Ihre Partnerin unter einer generalisierten Angststörung mit vielen verschiede-
nen Ängsten leidet, sagen Sie ihr klar und bestimmt Ihre Meinung dazu, geben Sie
jedoch nicht immer wieder dieselben Antworten auf die gleichen Fragen. Dies wird
Sie mit der Zeit immer mehr ärgern und Ihre Partnerin von Ihrer Beruhigung abhän-
gig machen. Sagen Sie Ihrer Partnerin z.B. „Du weißt, wenn ich dich jetzt wieder
beruhige, wird es nur so lange halten wie zuletzt. Meine Meinung kennst du ja.
Wenn du dich sorgst, tue etwas dagegen, reden allein hilft dir nicht.“
z Wenn Ihre Partnerin unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, helfen
Sie ihr angesichts der traumatischen Erinnerungen bei der Verankerung im Jetzt.
614 Ratschläge für Angehörige
11. Hindern Sie den Zwangskranken nie direkt oder gar mit Druckmitteln bzw. Bra-
chialgewalt an der Ausführung seiner Zwänge. Ihr Angehöriger ist ein freier
Mensch wie Sie und hat das Recht zur Ausführung seiner Zwänge, so wie Sie das
Recht haben, nicht nach diesen Zwängen leben zu müssen. Loben Sie ihn für jede
noch so kleine Verbesserung und schimpfen Sie nicht bei Rückfällen.
12. Wenn Sie hinsichtlich der sexuellen Beziehung mit Ihrem zwangskranken Partner
unzufrieden sind, bedenken Sie, dass sich eine Zwangsstörung oft auch in Form se-
xueller Ängstlichkeit, Verklemmtheit und mangelnder Spontaneität äußert. Legen
Sie schon auch in Ihrem Interesse auf eine Therapie der Grundstörung Ihres Part-
ners großen Wert. Unternehmen Sie zusammen vieles andere, das Sie verbindet.
Zunehmende Aktivitäten verhindern auch eine depressive Entwicklung.
13. Verweisen Sie bei anhaltenden Spannungen immer wieder auf die Notwendigkeit
einer Psychotherapie, wenn sich die familiären und partnerschaftlichen Bezie-
hungsstrukturen bessern sollen. Sie können die Anweisungen für den Umgang mit
Zwangskranken auf Dauer nur schwer allein durchhalten, weil Sie der Zwangskran-
ke ständig bezichtigen wird, dass Sie ihn nicht mehr lieben, sonst würden Sie auf
seine (zwanghaften) Bedürfnisse mehr Rücksicht nehmen. Die Dynamik einer
Zwangsstörung besteht wesentlich darin, dass der Betroffene versucht, seine Ängste
so gering wie möglich zu halten und daher alle Familienmitglieder in die Zwangs-
störung einzubeziehen. Angehörige von Zwangskranken können niemals die Thera-
peutenrolle übernehmen, weil sie damit den familiären Machtkampf extrem ver-
schärfen. Der Hilferuf der Angehörigen an Außenstehende wie Ärzte oder Psycho-
therapeuten stellt daher eine oft schon längst fällige Entlastung für das familiäre
Klima dar. Geben Sie Ihrem Angehörigen zu verstehen, dass Sie ihn deshalb nicht
verachten, sondern eine Hilfe in dieser Situation als etwas durchaus Normales be-
trachten, wobei Sie auf Wunsch des Therapeuten sogar an der Psychotherapie teil-
nehmen würden (dies ist tatsächlich oft sinnvoll bzw. sogar notwendig).
14. Bei der Überlegung einer stationären Behandlung sollten Sie folgende Aspekte be-
denken. Selbst im Falle einer sehr schweren Zwangsstörung ist gegen den Willen
Ihres Angehörigen keine „Unterbringung“ (Zwangseinweisung) in eine psychiatri-
sche Anstalt möglich, sofern nicht eine akute Selbst- und Fremdgefährdung gege-
ben ist. Eine stationär-psychiatrische Behandlung kann sinnvoll sein zum Zweck
einer möglichst nebenwirkungsarmen Einstellung auf bestimmte Medikamente,
wird jedoch noch viel effektiver sein, wenn so rasch als möglich eine stationär be-
ginnende und ambulant fortgeführte Psychotherapie eingeleitet wird. Oft wird dabei
eine symptombezogene Therapie im Sinne der Verhaltenstherapie den Anfang dar-
stellen. Eine stationäre Behandlung wird dann wenig hilfreich sein, wenn die wich-
tigsten zwangsauslösenden Reize im Krankenhausumfeld nicht oder kaum auftre-
ten. Erwarten Sie in diesem Fall nicht zu viel von einer stationären Behandlung.
15. Bereiten Sie sich auf die Besserung Ihres zwangskranken Angehörigen durch fol-
gende Fragen vor: Was möchten Sie zusammen mit Ihrem Angehörigen unterneh-
men, wenn er durch die Reduktion seiner Zwänge mehr Zeit für andere Dinge hat?
Welche positiven und negativen Änderungen in Ihrer Beziehung könnten durch die
Beseitigung der Zwänge eintreten? Haben Sie selbst perfektionistische Tendenzen,
deretwegen Ihr Angehöriger vielleicht wieder stärkere Zwänge entwickeln könnte,
z.B. verstärkte Reinigungszwänge, um Ihrer Kritik zu entgehen? Sind Sie recht do-
minant, sodass sich Ihr Angehöriger in bestimmten Situationen wiederum durch
Zwänge Ihnen gegenüber durchsetzen müsste?
10. Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Dieses Kapitel informiert über Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren der Pharmakothe-
rapie bei Angststörungen, differenziert nach Medikamentengruppen und der Art der
Angststörungen. Der Text beruht auf zahlreichen Büchern und Artikeln von Fachleuten
[1] sowie auf den offiziellen Verzeichnissen aller Arzneimittel; wichtige Datenquellen:
z „Kompendium der Psychiatrischen Pharmakologie“ von Benkert und Hippius,
z „Psychopharmakologischer Leitfaden für Psychologen und Psychotherapeuten“ von
Benkert, Hautzinger und Graf-Morgenstern,
z „Medikamentöse Behandlung von Angst- und Zwangs- und posttraumatischen Bela-
stungsstörungen. Behandlungsleitlinien der World Federation of Societies of Biolo-
gical Psychiatry (WFSBP)”, bearbeitet von Bandelow u.a.,
z Datenbanken: Austria Codex (österr. Med.), www.rote-liste.de (deutsche Med.),
www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed (Medline), www.cochrane.org, www.netdoktor.de.
Anxiolytika (Tranquilizer)
Anxiolytika („Angstlöser“) oder Tranquilizer („Beruhigungsmittel“) sind Psychophar-
maka zur Behandlung von Angst- und Spannungszuständen. Als klinischen Tranquili-
zer-effekt bezeichnet man die Angst lösenden, beruhigenden und emotional entspan-
nenden Wirkungen. Nach der chemischen Struktur unterscheidet man folgende Gruppen:
1. Benzodiazepine. Mit den Benzodiazepinen begann in den frühen 1960er-Jahren der
Siegeszug der Tranquilizer (1960 Librium®, 1963 Valium®). Benzodiazepine sind
aufgrund ihrer pharmakologischen Vorzüge trotz Abhängigkeitsgefahr unersetzbar.
2. Chemisch andersartige Tranquilizer ohne Abhängigkeitseffekt (häufig bei generali-
sierter Angststörung eingesetzt):
z Buspiron (Bespar®, Buspar®), ein partieller Agonist an 5-HT1A-Rezeptoren, hat
abnehmende Bedeutung wegen SSRI, Venlafaxin, Pregabalin u.a.
z Opipramol (Insidon®) ist den trizyklischen Antidepressiva nahestehend.
z Hydroxyzin (Atarax®) wirkt als Antihistaminikum über die Histaminblockade se-
dierend und wird eingesetzt bei Angst, Anspannung und Schlafstörungen.
z Pregabalin (Lyrica®), ein Antiepileptikum, hat sich bei generalisierter Angststö-
rung als wirksam erwiesen (auch bei sozialen Angststörungen).
3. Niedrig dosierte Neuroleptika. Der Einsatz klassischer Neuroleptika (Schizophrenie-
Medikamente) in niedriger Dosierung als Tranquilizerersatz bei Angstpatienten ist
obsolet, atypische Neuroleptika werden in bestimmten Fällen zusätzlich eingesetzt.
4. Beta-Rezeptoren-Blocker. Beta-Blocker (Propanolol, Atenolol u.a) gelten bei kör-
perlichen Angstsymptomen als kurzfristige Alternative zu Benzodiazepinen.
5. Phytopharmaka: Baldrian, Hopfen, Melisse, Passionsblume, Kava-Kava (verboten).
Benzodiazepine
Eine Trennung dieser Wirkungen ist bisher nicht gelungen. Bei den einzelnen Substan-
zen stehen jedoch unterschiedliche Effekte im Vordergrund. Manche Benzodiazepine
wie Alprazolam (D: Tafil®, Ö: Xanor®), Clobazam (Frisium®) und Prazepam (Deme-
trin®) haben eine relativ geringe sedierende Wirkung, bei anderen Benzodiazepinen wie
Diazepam (D: Valium®, Ö: Valium®, Gewacalm®, Psychopax®) ist die Sedierung dage-
gen stark ausgeprägt. Das Ausmaß der Dämpfung ist hierbei von der einzelnen Sub-
stanz, insbesondere von der Dosierung abhängig.
Viele Tranquilizer wirken in höherer Dosierung schlafanstoßend (hypnogen). Man-
che Benzodiazepine sind deshalb als Hypnotika (Schlafmittel) im Handel, z.B. Nitraze-
pam (D: Mogadan®, Ö: Mogadon®), Flunitrazepam (Rohypnol®), Triazolam (Halcion®).
Einige Benzodiazepine haben durch die Erhöhung der Krampfschwelle im Hippocam-
pus eine ausgeprägte krampflösende Wirkung, z.B. Diazepam (Valium®) oder Clonaze-
pam (Rivotril®), weshalb sie zur Epilepsiebehandlung eingesetzt werden.
Als Zielsymptome für die Verordnung von Tranquilizern gelten: Angst, Unruhe, mo-
torische Spannung, Hypervigilanz, Gereiztheit, vegetative Übererregbarkeit und Schlaf-
störungen. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Affekten und vegetativen
Funktionen äußert sich die emotional entspannende Wirkung der Benzodiazepine auch
in der Dämpfung psychovegetativer Symptome, wie dies bei Ängsten der Fall ist.
Benzodiazepine wirken rasch und zuverlässig nach ca. 20 Minuten. Den Spitzenwert
ihrer Plasmakonzentration erreichen sie (je nach Medikament) nach 0,5-2 Stunden.
Durch Injektionen und Infusionen tritt die Wirkung schneller ein [2].
Bei der Substanz Oxazepam (Adumbran®, Praxiten®), die einen mittellang wirksa-
men Tranquilizer und das Endprodukt des Abbaus zahlreicher Benzodiazepine darstellt,
wird der maximale Blutspiegel erst nach 2-4 Stunden erreicht. Die langsame Resorption
bewahrt vor einer raschen Abhängigkeit, das Fehlen aktiver Metaboliten verhindert eine
unerwünschte Langzeitwirkung. Aus diesem Grund wird Oxazepam von Ärzten häufig
verschrieben. Bei längerer und regelmäßiger Einnahme tritt jedoch auch bei Oxazepam
ein Abhängigkeitseffekt auf. Oxazepam wird oft als Schlafmittel eingesetzt.
Anxiolytika (Tranquilizer) 619
Bei Tranquilizern ist die Einnahme nach Bedarf (z.B. bei Panikattacken) aus lern-
theoretischer Sicht nicht unproblematisch. Nach dem Prinzip der operanten Konditionie-
rung (Mechanismus der positiven Verstärkung) wird das Auftreten von Angst durch die
Einnahme eines Tranquilizers „belohnt“. Wegen der raschen Wirksamkeit wird später
wiederum ein Beruhigungsmittel eingenommen, sodass die Entwicklung einer Abhän-
gigkeit gefördert wird. Zahlreiche Panikpatienten, die Psychopharmaka gegenüber eher
kritisch eingestellt sind und ein Benzodiazepin-Medikament aus Angst vor Abhängig-
keit so wenig wie möglich einnehmen möchten, nehmen dann in bestimmten Situatio-
nen aus Angst vor einer Panikattacke gleich zwei Stück davon, was bedeutet, dass sie
bei einem schnell wirksamen Mittel wie Alprazolam die Spiegelschwankungen durch
den raschen Anstieg und den relativ raschen Abfall der Wirksamkeit in unangenehmer
Weise spüren werden. In Krisensituationen kann daher die kurzzeitige Einnahme eines
Tranquilizers in regelmäßigen Intervallen (panikunabhängig) sinnvoller sein, z.B. 1-2
Wochen lang dreimal täglich eine halbe Tablette Alprazolam 0,5 mg, d.h. über den Tag
verteilt insgesamt 1,5 mg Tafil® (in Österreich Xanor®).
Ehemalige Alkoholiker betreiben nicht selten einen Tranquilizermissbrauch. Die
Benzodiazepineinnahme erfolgt entweder, weil der Alkoholkonsum problematisch ge-
worden ist und daher durch die unauffällige und weniger kontrollierbare Tablette ersetzt
werden soll oder weil die Alkoholentzugssymptome damit beseitigt werden sollen.
Manche Patienten mit Alkoholabhängigkeit, die sich ihr Problem nicht gerne eingeste-
hen, missdeuten Entzugssymptome als „Panikattacken“.
620 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Der körpereigene Agonist des Benzodiazepinrezeptors ist bis jetzt unbekannt. Es muss
in der Natur eine Substanz geben, die auf diesen Rezeptor anspricht und dadurch starke
Angst verhindert, beruhigend wirkt, das Einschlafen ermöglicht, überstarke Muskel-
spannungen reduziert und Krampfanfälle verhindert. Bis jetzt wurden 8 natürliche Ben-
zodiazepine aus Kartoffeln und Weizenkörnern isoliert.
Benzodiazepine wirken auf der Rezeptorebene nicht selbst, sondern verstärken den
Effekt der natürlichen Substanz Gamma-Aminobuttersäure (GABA), der in einer Hem-
mung der noradrenergen, serotonergen und dopaminergen Neuronensysteme besteht.
GABA ist der wichtigste hemmende Neurotransmitter im Zentralnervensystem.
Der Benzodiazepinrezeptor bildet mit dem GABAA-Rezeptor einen Komplex, der
über den Weg des Chloridionen-Kanals den Chloridionen-Einstrom in die Zelle steuert
und diese dadurch weniger erregbar macht (Hyperpolarisierung).
Aufgrund der funktionellen Einheit zwischen Benzodiazepinrezeptoren und postsy-
naptischen GABA-Rezeptoren bewirkt eine Besetzung der Benzodiazepinrezeptoren
durch Benzodiazepine eine verbesserte Koppelung zwischen dem GABA-Rezeptor und
dem Chloridionen-Kanal, was zu einer zusätzlichen Öffnung der durch GABA gesteuer-
ten Chloridionen-Kanäle und damit zu einer verstärkten Hemmung am Neuron führt.
Experten [3] beschreiben die GABA-Mechanismen für Nichtmediziner:
„Wird GABA an einer Synapse freigesetzt, wird das nachgeschaltete Neuron kurzfristig für erregende
Überträgerstoffe unempfindlich. Damit können z.B. bestimmte von außen auf das Gehirn einwirkende
Reize oder Empfindungen, die momentan bedeutungslos sind, besser gedämpft und biologisch sinnvoll
verarbeitet werden.
Die Benzodiazepin-Rezeptoren bilden – mit den postsynaptischen GABA-Rezeptoren gleichsam
verkoppelt – eine funktionelle Einheit. Werden diese Benzodiazepin-Rezeptoren von ihren Agonisten –
den Benzodiazepinen – besetzt, kommt es zu einer verbesserten Koppelung zwischen dem GABA-
Rezeptor und dem Chlorid-Ionen-Kanal. Dies führt zu einer zusätzlichen Öffnung der durch GABA
gesteuerten Chloridkanäle und damit zu einer verstärkten Hemmung am Neuron. Auf diese Weise
bewirken die Benzodiazepine einen verstärkten (natürlichen) ‚Bremseffekt’ auf das ZNS... Eine Frage
bleibt noch offen: Warum hat sich der Organismus einen spezifischen Benzodiazepin-Rezeptor geschaf-
fen, ohne daß er wußte, dass eines Tages Medikamente – die Benzodiazepine – Verwendung finden, die
in ihrer Struktur diesem Rezeptor angepaßt sind? Es liegt nahe anzunehmen, daß es, ähnlich wie beim
Opiat-Rezeptor die Endorphine, auch beim Benzodiazepin-Rezeptor endogene, also körpereigene Stoffe
gibt, die mit diesem Rezeptor interferieren.“
Nach einer nicht ausreichend belegten Hypothese ist bei Angststörungen der GABA-
Benzodiazepinkomplex verändert und in seiner Empfindlichkeit gestört.
Anxiolytika (Tranquilizer) 621
„Aus der jeweiligen neuroanatomischen Lokalisierung wird auch die Vielzahl der unter Benzodiazepi-
nen registrierbaren Effekte verständlicher: der ataktische Effekt durch Vermittlung von Benzodiazepin-
rezeptoren im Kleinhirn, der sedative im Hirnstamm oder Cortex, der neuroendokrine (Verringerung
von ACTH und Cortisol, Erhöhung von HGH) im Hypothalamus, der amnestische im Hippocampus,
der konfliktlösende und anxiolytische in der Amygdala, im Hippocampus und anderen limbischen
Hirnstrukturen ...“
Julien [5] beschreibt in seinem für Nichtmediziner verfassten Buch „Drogen und Psy-
chopharmaka“ die pharmakologische Wirkungsweise der Benzodiazepine:
„Die klinischen und psychischen Wirkungen der Benzodiazepine entstehen alle als Folge der GABA-
induzierten neuronalen Hemmung in den verschiedenen Regionen des Zentralnervensystems, in denen
GABAA-Rezeptoren vorkommen. Geringe Dosen vermindern durch ihre Effekte auf die im Hippocam-
pus und im Corpus amygdaloideum (Amygdala, Mandelkern) lokalisierten Rezeptoren Angst, Erregung
und Furcht. Geistige Verwirrung und Amnesie scheinen mit den Wirkungen auf die GABA-Neuronen
in der Großhirnrinde und im Hippocampus zusammenzuhängen. Die sedativ-hypnotischen Wirkungen
werden offenbar durch Effekte auf Rezeptoren in der Großhirnrinde ausgelöst. Die leicht muskelent-
spannenden Eigenschaften der Benzodiazepine werden vermutlich durch ihre anxiolytische Wirkung
und durch gewisse Effekte auf GABA-Rezeptoren im Rückenmark, Kleinhirn und Hirnstamm hervor-
gerufen und ihre antiepileptischen Wirkungen sind wahrscheinlich durch gewisse Effekte auf GABA-
Rezeptoren unter anderem im Neocortex und im Hippocampus bedingt. Das Mißbrauchspotential und
die psychische Abhängigkeit schließlich entstehen möglicherweise infolge der Wirkungen auf GABA-
Rezeptoren, welche die Erregung solcher Neuronen modulieren, die am verhaltensverstärkenden Sy-
stem im Gehirn beteiligt sind und Belohnungsgefühle vermitteln ...“
Die Angst lösende Wirkung der Benzodiazepine entsteht wahrscheinlich nicht als unmit-
telbare Folge der Vorgänge am GABAA-Rezeptor, sondern über die Zwischenschaltung
anderer Transmitter, deren Wirkungen durch GABA modifiziert werden. Benzodiazepi-
ne können den GABA-Effekt nicht über einen bestimmten Schwellenwert hinaus ver-
stärken. Barbiturate können dagegen eine Öffnung des Chloridionen-Kanals auch ohne
GABA bewirken, was bei Missbrauch und Überdosis ihre Gefährlichkeit ausmacht.
Benzodiazepine wirken auf fast alle GABAA-Rezeptoren im Gehirn und nicht angst-
spezifisch. Sie aktivieren stets alle vier GABAA-Rezeptoren (alpha1, alpha2, alpha3,
alpha5). Neben den erwünschten Wirkungen (Angst lösend, muskelentspannend) kommt
es dadurch auch zu unterwünschten Nebenwirkungen (Sedierung, Abhängigkeit).
Aufgrund der Wirkungsweise der Benzodiazepine führt selbst eine in suizidaler Ab-
sicht eingenommene hohe Benzodiazepindosis zu keiner Selbsttötung. Schwere Kom-
plikationen können jedoch in Verbindung mit Alkohol auftreten. In Selbstmordabsicht
eingenommene trizyklische Antidepressiva sind viel lebensbedrohlicher, weil sich diese
stark auf die Herz- und Kreislauftätigkeit auswirken.
Die verschiedenen Rezeptoren im Zentralnervensystem sind durch eine hohe (jedoch
nicht absolute) Spezifität oder Affinität für die Moleküle der passenden Wirksubstanz
charakterisiert. Das am besten zum Rezeptor passende Molekül löst die stärkste Reakti-
on in der Zelle aus. Die Wirkpotenz wird durch die Rezeptoraffinität bestimmt. Man
unterscheidet Präparate mit hoher Wirkpotenz (Tagesdosis unter 1 mg) und geringer
Wirkpotenz (Tagesdosis über 20 mg).
622 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Die Selektivität (Spezifität) der Wirkung einer Substanz beruht auf folgenden Faktoren:
z Spezifität der betreffenden Substanz für bestimmte Rezeptoren,
z selektive Verteilung der Rezeptoren,
z Stärke der Bindung an den Rezeptor („Affinität“), d.h. passendere Moleküle anderer
Substanzen können verdrängend wirken (Lorazepam, Triazolam, Lormetazepam
Flunitrazepam und Alprazolam haben die höchste Rezeptoraffinität, Diazepam,
Bromazepam, Oxazepam und Clobazam haben eine geringere Rezeptoraffinität),
z Folgen der Wechselwirkung zwischen Substanz und Rezeptor.
Kurz wirksame Benzodiazepine (weniger als 5 Stunden), die gleichzeitig auch keine
wirksamen Metaboliten aufweisen, lassen sich in der Wirkung gut steuern. Es kommt zu
keiner Anhäufung (Kumulation) des Stoffes im Organismus und damit zu keinem oder
nur geringem Überhang („hang-over“). Nachwirkungen am nächsten Morgen bzw. in
den kommenden Tag hinein werden vermieden. Der Wirkungseintritt wird als rascher
empfunden und deshalb gerne bei akuten oder situationsbedingten Störungen genutzt
(z.B. Trauer- oder Konfliktreaktionen, auf Reisen usw.). Dafür kann die Wirkung gele-
gentlich weniger konstant ausfallen. Als Beruhigungsmittel am Tag sind diese Medika-
mente weniger geeignet.
Substanzen mit einer kurzen Halbwertszeit wie Triazolam (Halcion®) besitzen we-
gen des geringen Kumulationsrisikos Vorteile beim Einsatz als Schlafmittel sowie bei
älteren Patienten, sie führen jedoch oft zu einem Rebound-Effekt (überschießende Ge-
genreaktion nach dem Absetzen, z.B. Angstzustände, noch größere Schlafstörung).
Bereits nach 1-2 Tagen spüren verschiedene Menschen vermehrte Unruhe und
Angst, nach einiger Zeit kann ein Gedächtnisverlust für die Zeit vor dem Zubettgehen
auftreten. Es besteht auch eine größere Abhängigkeitsgefahr. Der Körper ist nach der
raschen Ausscheidung sehr sensibel für die dabei auftretenden Stoffwechselver-
änderungen und recht aufnahmebereit für die als angenehm erlebte Substanz.
Triazolam wird vom Zentralnervensystem sehr schnell aufgenommen und kann kurz
nach der Einnahme euphorische Zustände auslösen. Das Präparat Halcion® wurde we-
gen häufiger Gedächtnisstörungen in England bereits verboten.
Mittellang wirksame Benzodiazepine (5-24 Stunden) haben als Nachteil eine mehr oder
weniger ausgeprägte Kumulationsgefahr. Besonders bei mehrfacher Einnahme pro Tag
ist die Zufuhr zunächst größer als die Abbaurate im Organismus. Die Folge ist eine
Wirkungserhöhung, vielleicht sogar drohende Überdosierung. Es kann sich um eine
unerwünschte Dämpfung als Nacheffekt eines Schlafmittels oder um eine zunehmende
Müdigkeit und Mattigkeit als Folge der regelmäßigen Einnahme eines Tagestranqui-
lizers handeln. Als Gegenmittel zur medikamentösen Dämpfung dienen häufig Kaffee,
Schwarztee, Cola-Getränke oder Rauchen. Anstelle einer Überdosierung gilt es, bei
Bedarf die individuelle Dosis eines Benzodiazepinhypnotikums herauszufinden, bei der
die Nachwirkung am nächsten Morgen erträglich ist, ohne dass der schlaffördernde
Effekt darunter leidet.
Die Benzodiazepine Alprazolam (D: Tafil®, Ö: Xanor®), Bromazepam (Lexotanil®),
Lorazepam (D: Tavor®, Ö: Temesta®) und Oxazepam (D/Ö: Adumbran®, Praxiten®, in
Ö auch Anxiolit®) zählen zu den im klinischen Alltag am meisten verschriebenen Tran-
quilizern. Das Benzodiazepinschlafmittel Flunitrazepam (Rohypnol®) steht in der Miss-
brauchsstatistik an oberster Stelle. Die Substanz ist rasch spürbar, was den bekannten
„Kick“ ausmacht, lässt in der Wirkung jedoch bald nach, sodass der Körper nach einer
neuerlichen Einnahme verlangt. Das Präparat lässt sich auch auflösen, sodass der Wirk-
stoff gespritzt werden kann, was besonders von ehemaligen Drogenabhängigen als billi-
ge und legale Form der Bewusstseinsveränderung eingesetzt wird.
Anxiolytika (Tranquilizer) 625
Kurz wirksam: Brotizolam (H) Lendormin® (D), Lendorm® (Ö) 4-7 / - 0,25
(Bildung von
langlebigen, Clobazam Frisium® (D/Ö) 18-42 / 36-80 20
aktiven Meta-
® ®
boliten, z.B. Diazepam Valium (D/Ö), Gewacalm (Ö) 24-48 / 50-80 10
Desmetyl- Psychopax® (Ö)
diazepam, Diazepam Firmenname (D/Ö)
wodurch die Faustan® (D) Stesolid® (D/Ö)
Halbwertszeit Valiquid® (D), Diazep® (D)
und damit die Valocordin®-Diazepam (D)
Wirksamkeit
verlängert Betamed® (Ö): Mischpräparat
wird, d.h. Harmomed® (Ö): Mischpräparat
starke Kumu- Harmomed® forte (Ö): Mischpräp.
lationsneigung
bei wiederhol- Dikaliumclorazepat Tranxilium® (D/Ö) - / 25-80 20
ter Anwendung
Flurazepam (H) Dalmadorm® (D) 1,5 / 50-100 30
Staurodorm® Neu (D)
Flurazepam Firmenname (D)
„Beruhigungsmittel sind die am häufigsten verlangten und verordneten Psychopharmaka. Das war so,
das ist so, das wird vermutlich noch einige Zeit so bleiben. Überforderung, Anspannung, Streß, innere
Unruhe, Nervosität, Angstzustände und Einschlafstörungen sind die häufigsten Befindensschwankun-
gen an der Grenze zur seelischen Störung. Sie münden über die psychosozialen Folgen (Partnerschaft,
Familie, Beruf) in einen Teufelskreis, der irgendwann einmal medikamentös unterbrochen werden soll,
weil die nichtmedikamentöse Eigeninitiative zu wünschen übrig läßt und Arzneimittel einen schnelleren
und scheinbar problemloseren Behandlungserfolg garantieren.“
Faust [9] weist auf die Grenzen der Beruhigungsmittel bei seelischen Konflikten hin:
„Eine medikamentöse Konfliktlösung ist durch Tranquilizer in der Regel nicht möglich. Zwar werden
die anstehenden Probleme ggf. ‚entaktualisiert’ und dadurch leichter bearbeitbar bzw. überstehbar.
Doch dies setzt eine konsequente Eigenleistung voraus: Aussprache, Korrekturversuche (Partnerschaft,
Beruf usw.), Entspannungsverfahren lernen, Genußgifte einschränken, regelmäßige körperliche Aktivi-
tät usw. Nur so läßt sich auf Dauer die Krise überwinden und die Gefahr eindämmen, immer wieder zu
einer ‚medikamentösen Krücke’ Zuflucht nehmen zu müssen, bis man hängenbleibt.“
628 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Benzodiazepine sind nach wie vor bei akuten Angstzuständen das Mittel der ersten
Wahl für einen Zeitraum von 1-2 Wochen. Benzodiazepine können bei Angststörungen
kurzfristig in zweifacher Weise sinnvoll sein:
z bei der Erstmanifestation einer Angststörung: Beschränkung auf wenige Wochen in
möglichst niedriger Dosierung (3-4, höchstens 6 Wochen lang regelmäßig),
z in der Einstellphase einer antidepressiven Therapie bei Panikstörung und generali-
sierter Angststörung (1-2 Wochen lang, bis die Antidepressiva voll wirken).
Bei kritischer Beurteilung ist der Einsatz von Tranquilizern nur dort gezielt und hilf-
reich, wo Angstpatienten ihre Angstsituationen nur sehr selten aufsuchen bzw. aufsu-
chen müssen, wenn sie nicht bestimmte Nachteile in Kauf nehmen wollen, oder wo eine
akute Erregung besteht.
Beispiele für den kurzfristigen Tranquilizereinsatz sind:
z rasch wirksame Dämpfung bei akuter Erregung, insbesondere auch im Rahmen einer
schweren psychischen Störung, die einen stationären Aufenthalt erfordert,
z akute psychosoziale Belastungssituation,
z kurzfristiger beruflicher Stress mit Kündigungsgefahr bei Versagen,
z entscheidende Bewerbungssituation,
z unerwünschte Auffälligkeit in einer wichtigen sozialen Situation,
z Prüfungsangst,
z negative Folgen bei einer wichtigen, nicht bestandenen Prüfung,
z Flugangst bei nur gelegentlichen Flügen.
Patienten mit früherem oder aktuellem Alkohol- bzw. Drogenmissbrauch sollten keine
Benzodiazepine einnehmen, sondern Antidepressiva mit Angst dämpfendem Effekt. Bei
akutem und kurzfristigem Einsatz ist die Wirksamkeit, gute Verträglichkeit und Sicher-
heit von Benzodiazepinen unbestritten. Bei länger dauernden Angstzuständen sind ande-
re medikamentöse sowie psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten anzustreben.
Laux [10] erstellte 1995 in der Fachzeitschrift „Nervenarzt“ folgende Richtlinien
und Empfehlungen für den Einsatz von Benzodiazepinen:
„Als Grundlage für eine adäquate Therapie mit Benzodiazepinen ist das Vorliegen einer klaren Indika-
tion anzusehen... Die Behandlung muß eingebettet sein in eine ‚psychologische Basisberatung/-
behandlung’. Lassen sich psychodynamische Faktoren für die Entstehung oder Aufrechterhaltung der
vorliegenden Störung eruieren, sollte der Patient einer psychotherapeutischen Behandlung zugeführt
werden. In vielen Fällen hat sich die Kombination einer (intermittierenden) Pharmakotherapie mit
(kognitiver) Verhaltenstherapie bewährt. Benzodiazepine sollten initial niedrig, aber ausreichend do-
siert werden, Ziel ist eine kurzfristige Verordnung (z.B. Überbrückung der Wirklatenz von Antidepres-
siva). Bei Patienten mit intermittierend auftretenden, situativ bedingten Symptomen sollte primär eine
diskontinuierliche Therapie im Sinne einer Bedarfsmedikation erfolgen. Es ist unbedingt darauf zu
achten, daß nur ein Benzodiazepin verordnet wird (nicht gleichzeitig ‚Tagestranquilizer’ und Benzodia-
zepinhypnotikum; Benzodiazepine zusätzlich in Kombinationspräparaten; Parallelverordnungen durch
Simultankonsultationen). Benzodiazepine bedürfen wie alle Psychopharmaka einer persönlichen Ver-
ordnung durch den Arzt, insbesondere bei Wiederholungsrezepturen...
Benzodiazepine sollten in der Regel nicht länger als 4 Wochen – nach der Empfehlung der FDA
nicht länger als 4 Monate – kontinuierlich verordnet werden. Allerdings kann für einige Patienten mit
chronischen Angsterkrankungen eine Langzeitbehandlung mit Benzodiazepinen indiziert sein. Dies
impliziert aber, daß eine engmaschige ärztliche Führung mit regelmäßigen Absetzversuchen und Initiie-
rung anderer Therapien durchgeführt wird.
Klinische Erfahrungen der zurückliegenden Jahre haben gezeigt, daß das Absetzen, die Dosisreduk-
tion von Benzodiazepinen sehr langsam vorgenommen werden muß. Als Richtlinie kann gelten, maxi-
mal ca. ¼ der Tagesdosis pro Woche zu reduzieren. Offenbar sind insbesondere Patienten mit Paniker-
krankungen sensibel für die Dosisreduktion...
Langzeitbehandlungen mit Benzodiazepinen sollten nach Möglichkeit vermieden werden und auf
schwere, chronische Störungen beschränkt bleiben, die ohne Medikamente nicht hinreichend gebessert
werden können. Regelmäßig muß deren Notwendigkeit durch langsame Absetzversuche überprüft
werden. Als Alternative zu einer Benzodiazepinlangzeitbehandlung gilt im allgemeinen die Medika-
mentenfreiheit.“
Laux et al. [11] beschreiben in ihrem Buch „Psychopharmaka. Ein Leitfaden“ die Mög-
lichkeiten und Gefahren der Tranquilizereinnahme folgendermaßen:
z „Panikstörungen mit und ohne Agoraphobie, sofern therapeutische Alternativen nicht erfolgreich
waren oder nicht geeignet sind.“
z „Die längerfristige Behandlung und die Verordnung höherer Dosierungen (über 4 mg täglich hin-
aus) darf nur durch einen Psychiater erfolgen.“
„Unter der Dosierung von 2-6 mg, und in wenigen Fällen auch bis 10 mg bessert sich die Paniksym-
ptomatik häufig innerhalb von wenigen Tagen. Als therapeutischer Wirkmechanismus wird dabei die
Bildung des GABA-Benzodiazepin-Rezeptorkomplexes mit einer Verstärkung der inhibitorischen
Neurotransmission angenommen. Dadurch wird jedoch die körpereigene Produktion der GABA gedros-
selt. Die Kenntnis dieses psychophysiologischen Vorganges ist deswegen von Wichtigkeit, da das
Absetzen des Benzodiazepins nur in langsamen Schritten (über mehrere Wochen) erfolgen sollte, da
ansonsten schwerwiegende Absetzerscheinungen auftreten, die meistens zu einer Fortsetzung der Ben-
zodiazepinmedikation führen. Neben Alprazolam liegen auch Untersuchungen über andere Benzodia-
zepine wie Diazepam, Oxazepam bzw. Lorazepam vor, die jeweils eine günstige Wirkung bei Angststö-
rungen erkennen lassen. Da Alprazolam jedoch keine sedierende bzw. muskelrelaxierende Wirkung hat,
ist es den anderen Medikamenten wegen der geringeren Nebenwirkungen und daraus folgenden besse-
ren Compliance vorzuziehen.“
Deutsche Experten [14] beschreiben die Vor- und Nachteile von Alprazolam:
„Mit den Benzodiazepinen Alprazolam, Clonazepam und Lorazepam ist eine Therapie der Panikattak-
ken möglich. Für Alprazolam ist in groß angelegten Studien der Wirksamkeitsnachweis bei Panikattak-
ken erbracht worden ... Alprazolam soll auch das Vermeidungsverhalten reduzieren ... Der Wirkungs-
eintritt ist schneller und die Compliance aufgrund des geringer ausgeprägten Nebenwirkungsprofiles
besser als bei einem trizyklischen Antidepressivum, z.B. Imipramin ... Es sind allerdings recht hohe
Dosen notwendig, um einen antipanischen Effekt zu erzielen, z.B. für Alprazolam durchschnittlich 6
mg ... Kurze Halbwertszeiten von Alprazolam können zur Zunahme der Angst zwischen den Einnah-
mezeiten führen und damit zu einer unkontrollierten Dosissteigerung. Dies wurde für Clonazepam mit
seiner langen Halbwertszeit nicht berichtet. Mehrere Faktoren sind als Risiken der oft langjährigen
Einnahme durch die Patienten und die Verschreibungspraxis des Arztes anzusehen: auf der einen Seite
die akute Wirksamkeit und gute Verträglichkeit ..., auf der anderen Seite aber auch Benzodiazepin-
rebound- und Entzugsphänomene und Rückfälle nach Absetzen ... Wegen der damit bestehenden dop-
pelten Problematik bei Beendigung einer Benzodiazepinbehandlung ist es in vielen Fällen nicht mög-
lich, die Benzodiazepine über einen Zeitraum von 4 Wochen abzusetzen ... Oft ist nach langfristiger
Gabe ein langsames, schrittweises Absetzen über mehrere Monate notwendig ... Das Absetzen von
Benzodiazepinen kann durch zusätzliche Gabe von Carbamazepin erleichtert werden ...“
632 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Vor der Einnahme von Alprazolam sollten Sie folgende Hinweise beachten:
z Nehmen Sie aus Erwartungsangst vor einer Panikattacke möglichst keine oder nur
wenig Medikamente! Panikattacken beruhen auf einem Adrenalinstoß, der oft durch
harmlose körperliche Reaktionen und deren Bewertung als gefährlich ausgelöst
wird. Wenn Sie schon Alprazolam einnehmen, suchen Sie alle Situationen auf, die
Sie bisher gemieden haben. Wenn Sie Ihr Vermeidungsverhalten dennoch beibehal-
ten, zeigen Sie offensichtlich wenig Vertrauen in die Wirksamkeit des Mittels.
z Die erlebte Benzodiazepinwirkung sofort nach der Einnahme ist als Placeboeffekt zu
erklären. Die Wirkung setzt erst nach ca. 20 Minuten, die volle Wirksamkeit erst
nach 30-60 Minuten ein. Der Glaube an die Wirksamkeit ist bereits Angst lindernd.
Die Placebowirkung von Tranquilizern zeigt sich auch in dem Umstand, dass viele
Angst- und Panikpatienten das Mittel überall mitführen, ohne es einzunehmen.
z Wenn Sie in einer chronischen Stresssituation ständig an der Grenze zur Überforde-
rung leben, nehmen Sie eine Änderung Ihrer Lebensumstände vor! Wenn dies nicht
möglich ist, nehmen Sie regelmäßig ein anderes Medikament zur längerfristigen
Stabilisierung ein, das nicht abhängig macht und wenige Nebenwirkungen aufweist,
wie dies bei einem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer der Fall ist. Bei
einer in absehbarer Zeit unveränderlichen Belastungssituation, die immer wieder zu
Panikattacken führt und auch durch eine Psychotherapie nicht kurzfristig änderbar
ist, wird ein Medikament „bei Bedarf“ in der Art des Alprazolam Ihre Leistungsfä-
higkeit und Ihre psychische Befindlichkeit auf Dauer mehr beeinträchtigen als ein
regelmäßig eingenommener Serotonin-Wiederaufnahmehemmer.
634 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
z Wenn Sie schon einen hoch potenten Tranquilizer wie Alprazolam bei Bedarf neh-
men, nehmen Sie nicht plötzlich zwei oder gar drei Tabletten, weil Sie dann nach ei-
nigen Stunden die nachlassende Wirkung erst recht in Form von unangenehmen
Symptomen erleben und den Griff zur nächsten Tablette tun könnten.
z Wenn Sie Ihren Arzt um ein rasch wirksames Mittel gegen Ihre Panikattacken bzw.
gegen Ihre Ängste davor ersuchen, wird er Ihnen einen Tranquilizer in der Art von
Alprazolam verschreiben. Können Sie sich vorstellen, dass Ihnen ein aufklärendes
Gespräch Ihres Arztes bzw. allein die Empfehlung einer Psychotherapie hilft, ohne
dass Sie von Ihrem Arzt gleichzeitig die Verschreibung eines rasch wirksamen Me-
dikaments erwarten? Ärzte erfüllen oft nur die Rollenerwartungen ihrer Patienten.
Psychisch/psychosozial:
z Sedierung: Müdigkeit, Schläfrigkeit, Benommenheit,
z reduzierte Bewusstseinshelligkeit,
z Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung, was sich gerade in Leistungssituatio-
nen (z.B. bei Prüfungen) ungünstig auswirken kann,
z paradoxe Reaktionen: Unruhe, akute Erregungszustände, Wutanfälle,
z Gedächtnisstörungen: bereits geringe Mengen (z.B. 5 mg Diazepam) beeinträchtigen
das Kurzzeitgedächtnis, bei hohen Mengen kommt es zu einer anterograden Amne-
sie (Vergesslichkeit für Informationen nach der Benzodiazepineinnahme; wegen der
Gefahr von Gedächtnislücken wurde das Benzodiazepinschlafmittel Halcion® in ei-
nigen Ländern bereits eingezogen),
z „Maskierungseffekt“, Realitätsflucht (Verdecken der Probleme),
z geistig-seelische „Bindung“, psychische Abhängigkeit,
z affektive (depressive) Verstimmungen.
Körperlich:
z Blutdruckabfall (insbesondere bei schneller intravenöser Verabreichung, was bei
Panikpatienten mit ohnehin recht niedrigem Blutdruck erneute Panikattacken begün-
stigen und bei Menschen mit Herz-Kreislauf-Problemen zu gefährlichen Komplika-
tionen führen kann),
z Atembeschwerden (aus einer zentralnervös bedingten Abflachung der Atemzüge
kann insbesondere bei zu schneller intravenöser Verabreichung leicht eine Atem-
depression, d.h. ein Atemstillstand, entstehen, vor allem bei Patienten mit Lungen-
krankheiten),
z Schwindel,
z Mundtrockenheit,
636 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
z Magen-Darm-Beschwerden,
z Appetitstörungen, Appetitzunahme,
z Muskelschwäche (Ataxie), z.B. „weiche Knie“ und allgemeine Kraftminderung,
z Koordinationsstörungen: Beeinträchtigung der visuomotorischen Koordination,
z psychomotorische Verlangsamung: verlängerte Reaktionszeit im Straßenverkehr
(Fahruntüchtigkeit) und Gefährdung bei der Arbeit mit Maschinen,
z Artikulationsstörungen (verwaschene Sprache),
z Sexualstörungen und Minderung des sexuellen Verlangens (nur bei sexuell Ge-
hemmten führen geringe Dosen zur Minderung der Sexualängste und damit zu be-
friedigender Sexualität),
z Menstruationsstörungen.
Psychisch/psychosozial:
z Persönlichkeitswandel: Gleichgültigkeit, Antriebsverlust, dysphorische Verstim-
mung,
z gleichgültige bis euphorische Grundstimmung (inhaltloses Glücksgefühl),
z fehlende Belastungs- und Konfliktfähigkeit,
z fehlende Vorausplanung („in den Tag hinein leben“),
z Dauersedierung: Benommenheit, Müdigkeit und Schläfrigkeit, sodass Unmengen
von Kaffee, Coca-Cola, Red Bull und Aufputschmittel zur Aufmunterung eingesetzt
werden,
z Einschränkung der Aufmerksamkeit, Konzentrationsstörung,
z allgemeine seelisch-körperliche (psychomotorische) Verlangsamung,
z Reaktionszeitverlangsamung mit potenziell gefährlichen Folgen im Verkehr, Beruf
und Haushalt,
z Vergesslichkeit (Erinnerungslücken): Gedächtniseinbußen hinsichtlich der Aufnah-
me neuer Informationen in den Langzeitspeicher, nicht dagegen hinsichtlich der Er-
innerungsfähigkeit an früher (vor dem Missbrauch) gelernter Inhalte,
z hirnorganisches Psychosyndrom bzw. substanzbedingte Demenz bei älteren Perso-
nen, deren Stoffwechsel lang wirkende Benzodiazepine und ihre aktiven Zwischen-
produkte nur sehr langsam abbauen kann (bei unerklärlichem Demenzverdacht kann
das langsame Absetzen der Tranquilizerschlafmittel einen Medikamenteneffekt auf-
zeigen und anschließend eine Besserung der „Demenz“ bewirken),
z mangelnde Belastbarkeit mit Leistungsabfall, nicht zuletzt bei plötzlichem Aufga-
benzuwachs oder krankheits- bzw. urlaubsbedingten Versetzungen, bei denen die
bisherige Routine nicht mehr kompensatorisch wirken kann,
z dysphorisch-depressive Verstimmung, wechselnde Verstimmungszustände,
z gemütsmäßiger Kontrollverlust mit Reizbarkeit und eventuell aggressiven Durch-
brüchen, manchmal regelrecht feindseliges Verhalten,
z innere Unruhe, Nervosität, Fahrigkeit, unerklärliche und unbestimmte Angstzustän-
de: Tranquilizer verstärken langfristig die ursprünglich vorhandene Angst (nach spä-
testens 4 Monaten bleiben Angst dämpfende Effekte überhaupt aus),
Anxiolytika (Tranquilizer) 637
Körperlich:
z wenig erholsamer Schlaf,
z EEG-Veränderungen (Zunahme der langsamen Beta-Wellen, Abnahme der Alpha-
Wellen),
z Schlafstörungen mit Albträumen (insbesondere bei Absetzversuchen),
z Appetit- und Gewichtszunahme bzw. Appetitlosigkeit,
z Juckreiz,
z Störungen der Monatsblutung,
z Libidostörung: Nachlassen von sexuellem Verlangen und Potenz,
z Kopfschmerzen,
z Herzrasen, unklare Herzschmerzen,
z Zittern,
z Gefühlsstörungen,
z Schwindel,
z Bewegungsunsicherheit bis zur Kollapsgefahr (durch die Muskelerschlaffung, was
besonders im höheren Lebensalter ein Problem ist),
z uncharakteristische Sehstörungen (Unscharfsehen bis flüchtige Doppelbilder),
z Gefahr der Abhängigkeit (Suchtgefahr),
z paradoxe Reaktionen (Unruhe, Gespanntheit, Überdrehtheit, Erregung, Reizbarkeit,
Aggression, Angst, Panik, Ein- und Durchschlafstörungen, Umkehr des Wach-
Schlaf-Rhythmus), besonders im Alter,
z besondere Nebenwirkungen im höheren Lebensalter: allgemeine Verminderung der
Bewusstseinslage, apathisch, verlangsamt, schläfrig, Verwirrtheitszustände, Delir-
Gefahr, Schwindel, Kollapszustände (besonders bei ohnehin niedrigem Blutdruck
und häufigem Liegen), Gehstörungen, erhöhte Unfallgefahr wegen Muskelerschlaf-
fung (Oberschenkelhalsfraktur, Schädelprellung), paradoxe Reaktionen.
Benzodiazepinabhängigkeit
Im Wirkprofil der Benzodiazepine zeigen die einzelnen Wirkkomponenten eine unter-
schiedlich schnelle Toleranzentwicklung. Während die dämpfende Komponente schon
nach wenigen Tagen spürbar abnehmen kann, die muskelentspannende und krampflö-
sende Wirkung nach Wochen bis wenigen Monaten deutlich nachlässt, ist die Angst
lösende Komponente meist noch nach Monaten nachweisbar. Doch auch sie führt all-
mählich zu einer Toleranzentwicklung, sodass eine Dosissteigerung nötig ist.
Während verschiedene Angstpatienten auch von einer Langzeittherapie mit Benzo-
diazepinen profitieren, sprechen einige Studien dafür, dass Therapieeffekte nicht über
ein halbes Jahr gegeben sind. Nach spätestens 4 Monaten bleiben die Angst lösenden
Effekte aus, es treten dann oft gegenteilige bzw. unerwünschte Effekte auf. Nach späte-
stens viermonatiger Einnahme führt ein plötzliches Absetzen zu Entzugssymptomen.
Anxiolytika (Tranquilizer) 639
Bei der Mehrzahl der Benzodiazepinabhängigen wurden bereits vor der Abhängigkeits-
entwicklung bestimmte Krankheiten vorhanden [24]:
z Angsterkrankungen aller Art,
z affektive Psychosen (Zyklothymien, monopolare Depressionen),
z depressive Reaktionen,
z chronische Schlafstörungen, insbesondere Einschlafstörungen,
z chronische Schmerzzustände.
Psychisch/psychosozial:
z Affektlabilität,
z Passivität oder Lustlosigkeit (Dysphorie),
z Stimmungsschwankungen: Wechsel zwischen inhaltslosem Glücksgefühl und de-
pressiv-weinerlich-ängstlich-zurückgezogen leben,
z depressive Verstimmungen,
z reizbar-aggressive Reaktionsbereitschaft,
z Überempfindlichkeit, leichte Verletzbarkeit,
z Angstanfälle/Panikattacken: „Rückschlag-Angst“ (Rebound-Phänomen), nachdem
die Ängste früher nur chemisch unterdrückt waren,
z phobische Ängste: klassische Phobien, Lärmphobien, Sexualphobien, Krankheits-
phobien (z.B. Angst vor Herzstillstand),
z diffuse Ängste (Ängstlichkeit),
z Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen: hirnorganisches Psychosyndrom,
z abnorme Bewegungswahrnehmung,
z Desorientierung (örtlich, zeitlich, gegenüber sich selbst),
z Fremdheitsgefühl gegenüber sich selbst (Depersonalisation) und der Umwelt (De-
realisation),
z Halluzinationen (Hör-, Seh-, Gefühls-, Geschmacks- und Geruchs-Trugwahr-
nehmung), wobei die Betroffenen wissen, dass die Wahrnehmungsstörungen irreal
sind, weshalb sie oft die Angst haben, verrückt zu werden,
z Verwirrtheit, Delir-Gefahr: wie bei Alkoholikern, wobei aber häufiger Veränderun-
gen der Sinneswahrnehmungen auftreten, der Tremor ist nur feinschlägig,
z psychotische Symptomatik: nur sehr selten psychotische Zustände mit Wahn und
Stupor, noch seltener paranoide Psychosen und Halluzinosen.
Körperlich:
z Schweißausbrüche,
z Muskelanspannung: Zittern (Tremor),
z Muskelschmerzen (Myalgien) oder Muskelzucken,
z Kopfschmerzen bzw. Dröhnen im Kopf,
z Herzrasen, „Herzschlag bis zum Hals“,
z Blutdruckänderungen: im Gegensatz zu Alkoholabhängigen meist Blutdruckabfall,
z Schwindel,
z Übelkeit, Brechreiz oder Erbrechen,
z Appetitmangel bzw. Appetitlosigkeit,
z innere Unruhe,
z allgemeines Schwächegefühl,
z verschwommenes Sehen bzw. Sehstörung (Mikropsie, Makropsie),
z Berührungs- und Schmerzüberempfindlichkeit,
z Licht- oder Gehörüberempfindlichkeit (sensorische Hypersensitivität),
z Geruchsüber- oder -unterempfindlichkeit,
z Schlafstörungen mit belastenden Träumen: „Rückschlag-Schlafstörung“, weil der
Schlaf zuvor nur chemisch erzwungen wurde (Schlafgestörte erleben während der
Entzugsphase größere Schlafstörungen als vor der Benzodiazepineinnahme),
z Gefahr von Krampfanfällen (epileptische Anfälle): EEG-Veränderungen.
Anxiolytika (Tranquilizer) 643
Arzneimittel-Wechselwirkungen
Die Kombination von Benzodiazepinen und zentral dämpfenden Psychopharmaka (Al-
kohol, Hypnotika/Barbiturate, Neuroleptika, Antihistaminika) bewirkt eine verstärkte
Sedierung. Benzodiazepine haben bei anderen Substanzen mit GABA-erger Wirkung
(Alkohol, Antikonvulsiva) eine stärker dämpfende und muskelerschlaffende Wirkung.
Es kommt nicht nur zur Summierung, sondern zur Potenzierung, d.h. zur Vervielfa-
chung der Wirkung. Dies gilt sowohl für den Wirkeffekt als auch für die unerwünschten
Begleiterscheinungen. Bereits geringer Alkoholkonsum kann zu ungeahnten Beeinträch-
tigungen führen, die man bisher anderen Ursachen zuschrieb (Wetter, Stress, Überforde-
rung). Die gleichzeitige Einnahme von Benzodiazepinen und Alkohol kann folgende
Symptome bewirken [28]:
z Müdigkeit, Mattigkeit, Abgeschlagenheit,
z Gedämpftheit,
z Blutdruckabfall mit Schwindel,
z Übelkeit,
z Schwung- und Initiativelosigkeit,
z Merkfähigkeitsstörung,
z Konzentrationsstörung,
z psychomotorische Verlangsamung (Beeinträchtigung im Straßenverkehr),
z Koordinationsstörungen, insbesondere Gehstörungen,
z Stimmungslabilität,
z fehlende Frische am Morgen: kein erholsamer Schlaf durch Veränderung der Schlaf-
stadien infolge von Alkohol- und Benzodiazepineinnahme am Vorabend.
Nicht-Benzodiazepintranquilizer
Buspiron
Buspiron (D: Bespar®, Busp®, Ö: Buspar®) ist ein Anxiolytikum aus der Substanzklasse
der Azapirone. Die Substanz dient zur Behandlung von Angst, innerer Unruhe und
Spannungszuständen im Rahmen einer Angststörung. Buspiron bindet nicht an den
Benzodiazepinrezeptoren und hat keinen Einfluss auf das GABA-erge Neurotransmit-
tersystem. Buspiron wirkt stark auf das serotonerge System und nur mäßig (im Gegen-
satz zu früheren Auffassungen) auf das dopaminerge System. Während bei den Benzo-
diazepinen die Angst lindernde Wirkung mit der Bindung an GABAA-Rezeptoren zu-
sammenhängt, beruht die Wirkung von Buspiron darauf, dass diese Substanz selektiv an
eine bestimmte Untergruppe der Serotoninrezeptoren bindet. Buspiron bindet spezifisch
an den 5-HT1A-Rezeptor, der sowohl prä- als auch postsynaptisch vorkommt. Buspiron
wirkt postsynaptisch an 5-HT1A-Rezeptoren als partieller Agonist und hat dadurch eine
serotonerge Wirkung. Durch die spezifische Wirkung am 5-HT1A-Rezeptor bleiben auch
bei starker Anxiolyse Müdigkeit, Konzentrations- und Reaktionsstörungen aus. Buspi-
ron ist auch noch bei weiteren Interaktionen zentralnervöser Neurotransmitter beteiligt.
Es besteht keine Sedierung (auch nicht in höherer Dosis), keine Müdigkeit, keine
schlafanstoßende Wirkung, keine Muskelentspannung, keine psychomotorische Beein-
trächtigung, keine Euphorisierung, keine Alkoholpotenzierung, keine Kreuztoleranz mit
Benzodiazepinen, keine Abhängigkeitsgefahr, keine Beeinträchtigung der Gedächtnis-
leistung, keine Beeinträchtigung der kognitiven Funktionen, kein Rebound-Effekt.
Buspiron hat nur wenige mögliche Nebenwirkungen zu Behandlungsbeginn: Unruhe,
Erregung, erhöhte Nervosität, Schwindel, Kopfschmerzen, Sedierung, Benommenheit,
Übelkeit, Durchfall, Magenbeschwerden, Schweißausbrüche, Herzrasen.
Laut Studien ist der Angst lösende Effekt gegenüber Benzodiazepinen geringer aus-
geprägt. Es besteht ein verzögerter Wirkungseintritt. Der maximale Therapieeffekt wird
erst nach 3-6 Wochen kontinuierlicher Einnahme erreicht. Aus diesem Grund kann in
der Akutphase der Angst eine zweiwöchige Benzodiazepin-Einnahme sinnvoll sein.
Die Eliminationshalbwertszeit liegt bei nur 2,5 Stunden. Erforderlich ist daher eine
Tagesdosis von 3-mal 5 mg bzw. 3-mal 10 mg (maximale Tagesdosis: 60 mg).
Buspiron galt früher als das Mittel der ersten Wahl bei generalisierten Angststörun-
gen. Bei Panikstörungen ergaben sich keine überzeugenden Behandlungsergebnisse.
Durch die Zulassung bestimmter Antidepressiva (Paroxetin, Sertralin, Escitalopram,
Venlafaxin), Opipramol und Pregabalin als Mittel bei generalisierten Angststörungen
hat Buspiron an Bedeutung verloren. Eine Langzeiteinnahme wie bei einem SSRI ist
zudem nicht ratsam, die dreimal tägliche Einnahme für viele Patienten unbequem.
Opipramol
Die thymoleptische Wirkung des Mittels dürfte auf dem selektiven Dopaminantagonis-
mus beruhen. Im Vergleich zu Benzodiazepinen fehlen ein muskelentspannender sowie
ein direkter schlafanstoßender Effekt. Ähnlich wie bei Antidepressiva ist der Wirkungs-
eintritt nicht so rasch wie bei Benzodiazepinen.
Die Tagesdosis ist je nach Bedarf 50-200 mg (Hauptdosis abends). Die Elimina-
tionshalbwertszeit beträgt 6-9 Stunden. Häufige Nebenwirkungen sind: Müdigkeit,
Mundtrockenheit, Schwindel, allergische Hautreaktionen, Benommenheit, Kopfschmer-
zen, Appetitmangel, Unruhe, Verstopfung, Übelkeit, verschwommenes Sehen.
Hydroxyzin
Pregabalin
Aus der Gruppe der Antiepileptika wird hier nur kurz auf den später ausführlicher be-
schriebenen Kalziumkanalmodulator Pregabalin (D/Ö: Lyrica®) hingewiesen, der in
den letzten Jahren als Anxiolytikum anerkannt wurde (zur Behandlung der generalisier-
ten Angststörung). Es bestehen auch Hinweise auf Wirksamkeit bei sozialen Phobien.
Neuroleptika
Klassische Neuroleptika wirken auf das dopaminerge System ein und blockieren einen
bestimmten Subtyp der postsynaptischen Dopaminrezeptoren (Dopamin2-Rezeptoren).
Sie üben dadurch eine antipsychotische Wirkung aus und sind daher wirksame Medi-
kamente zur Behandlung schizophrener Psychosen. Niedrig potente Neuroleptika oder
hoch potente Neuroleptika in niedriger Dosierung wurden und werden nach wie vor von
zahlreichen Psychiatern in Deutschland und Österreich (im Gegensatz zu den USA) –
begründet mit der Abhängigkeitsgefahr bei suchtgefährdeten Personen – als Alternative
zu Tranquilizern verordnet, da sie dämpfend wirken und nicht abhängig machen. Die
klassischen Neuroleptika besitzen keine unmittelbar Angst lösende Wirkung. Angstge-
tönte motorische Unruhezustände können durch dämpfende Neuroleptika zwar rasch
gemildert werden, die subjektiv erlebbare Angst lösende Wirkung bleibt jedoch erheb-
lich hinter derjenigen von Benzodiazepinen und Antidepressiva zurück, während das
Risiko von Nebenwirkungen größer ist. Die im deutschen Sprachraum weit verbreitete
Neuroleptanxiolyse mithilfe klassischer Neuroleptika ist wegen der Nebenwirkungen
und wegen des Vorhandenseins zahlreicher besserer Möglichkeiten obsolet.
646 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Tab. 25: Häufige klassische Neuroleptika nach Potenz (Ausmaß der D2-Blockade) [30]
Die klassischen Neuroleptika sind bei Angstpatienten nicht angezeigt wegen der auch in
niedriger Dosis größeren Nebenwirkungen als bei Tranquilizern (z.B. extrapyramidale
Symptomatik, d.h. Parkinson-Syndrom, weiters Bewegungsstörungen, Krämpfe, Sitz-,
Steh- und Gehunruhe, erhebliche Gewichtszunahme, Speichelfluss, Libidoverlust, funk-
tionelle Sexualstörungen, Blutbildschäden, hormonelle Störungen, ständige Müdigkeit,
psychomotorische Verlangsamung, Konzentrationsstörung) und wegen der bei einer
Langzeittherapie nicht ausschließbaren negativen Folgen (irreversible Spätdyskinesien,
d.h. unwillkürliche Bewegungen der Zungen-, Mund- und Gesichtsmuskulatur, Grimas-
sieren, bizarre Körperbewegungsstörungen). Die Arzneimittelkommission der Deut-
schen Ärzteschaft rät vom Neuroleptikaeinsatz bei Angst- und Spannungszuständen ab.
Selbst in der Schizophrenie-Behandlung werden die besser verträglichen atypischen
Neuroleptika bevorzugt: Amisulpirid (Solian®), Aripiprazol (Abilify®), Clozapin (Le-
ponex®), Olanzapin (Zyprexa®), Quetiapin (Seroquel®), Risperidon (Risperdal®), Ser-
dintol (Serdolect®), Ziprasidon (Zeldox®), Zotepin (Nipolept®). Die klassische Substanz
Sulpirid (Dogmatil®, Meresa®) hat Ähnlichkeiten mit den atypischen Neuroleptika.
Nach ersten Hinweisen können die Präparate Zyprexa®, Seroquel® und Risperdal® bei
Zwangsstörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen als Zusatztherapie neben
den primär indizierten Antidepressiva hilfreich sein (Zyprexa® ist auch wirksam bei
generalisierter Angststörung, Seroquel® bei generalisierter Angststörung und Panikstö-
rung). Die Wirksamkeit von Olanzapin (Zyprexa®), Quetiapin (Seroquel®) und Risperi-
don (Risperdal®) bei Angststörungen beruht auf der Blockade von 5-HT2A-Rezeptoren.
Benkert und Hippius weisen in ihrem Standardwerk „Kompendium der Psychiatri-
schen Pharmakotherapie“ darauf hin, dass man auch bei den atypischen Neuroleptika
das Nebenwirkungsrisiko berücksichtigen müsse, z.B. die Gewichtszunahme unter Zy-
prexa®. Es seien primär Antidepressiva und zusätzlich therapeutische Alternativen (Psy-
chotherapie, Pregabalin) zu bevorzugen; erst bei Nicht-Ansprechen seien atypische
Neuroleptika indiziert. Konventionelle Neuroleptika sollten wegen ihrer typischen Ne-
benwirkungen keine routinemäßige primäre Verwendung bei der Behandlung von Men-
schen mit Angststörungen finden. Wörtlich schreiben die Autoren [31]:
„Hochpotente, nicht oder kaum sedierende Antipsychotika wie Fluspirilen, Flupentixol oder Fluphena-
zin als „Minor Tranquilizer“ sollten bei Angststörungen wegen der Gefahr von EPS (Anmerkung:
extrapyramidale Symptomatik) und Spätdyskinesien nicht mehr gegeben werden.“
Antidepressiva 647
Antidepressiva
Angstpatienten mit depressiver Symptomatik als Folge der Angststörung werden durch
eine längerzeitige (mehrmonatige) Einnahme von Antidepressiva oft handlungsfähiger.
Antidepressiva sind bei der Behandlung von Angststörungen überhaupt die bedeutsam-
ste medikamentöse Alternative zu Benzodiazepinen. Sie haben einen Angst und An-
spannung lösenden Effekt und machen nicht abhängig. Sie können in geringeren oder
höheren Dosen 3-12 Monate oder länger als Dauermedikation verwendet werden. Sie
sind nicht sporadisch oder punktuell, sondern kontinuierlich einzunehmen. Antidepres-
siva wirken erst nach 1-3 Wochen regelmäßiger Einnahme Angst lösend, stimmungs-
aufhellend bzw. dämpfend. Im stationären Bereich können Infusionen den Wirkungsein-
tritt mitunter beschleunigen.
Während der ersten 2-3 Wochen treten bei 25-30% der Patienten Nebenwirkungen
auf, die insbesondere Panikpatienten an ihre gefürchteten Symptome erinnern, weshalb
die Medikamente nicht selten abgesetzt werden: Übelkeit, Kopfschmerzen, Schwindel,
Schlafstörungen, Zittern, Herzrasen, Angstgefühle, Unruhe, Nervosität u.a.
Nebenwirkungen treten bei empfindlichen Personen, zu denen viele Panikpatienten
gehören, insbesondere auch dann auf, wenn die angestrebte Wirkdosis nicht langsam
steigend eingenommen wird. Eine „einschleichende Medikation“ ist unbedingt zu emp-
fehlen, z.B. alle 3-4 Tage Steigerung in Schritten von 5, 10 bzw. 25 mg (je nach SSRI-
Medikament unterschiedlich). Im weiteren Behandlungsverlauf können medikamenten-
spezifische Nebenwirkungen auftreten. Die Nebenwirkungen sind am stärksten bei den
trizyklischen Antidepressiva (TZA) und am geringsten bei selektiven Serotonin-
Wiederaufnahmehemmern (SSRI). Zur Verminderung der möglichen Nebenwirkungen
(z.B. übermäßige Sedierung) sollten trizyklische Antidepressiva zur Angstbehandlung
am besten täglich nur einmal, und zwar abends, eingenommen werden, da sie wegen der
relativ langen Halbwertszeit auch am nächsten Tag noch voll wirksam sind. Wegen der
Vorteile der SSRI sind die für Krankenkassen relativ billigen Trizyklika nicht mehr die
Mittel der ersten Wahl bei Angststörungen (auch nicht mehr bei Depressionen).
Das spätere Absetzen der Antidepressiva muss langsam-stufenweise erfolgen („aus-
schleichend“ über mehrere Wochen), um panikähnliche Nebenwirkungen zu vermeiden.
Antidepressiva machen nicht abhängig, daher treten auch keine Entzugserscheinungen
auf, bei plötzlichem Absetzen (z.B. wegen vermeintlicher Unwirksamkeit oder wegen
des Beginns einer Psychotherapie) ist jedoch mit folgenden Absetzerscheinungen zu
rechnen: innere Unruhe und Anspannung, Reizbarkeit, Missgestimmtheit, Angstzustän-
de, vegetative Symptome (z.B. Übelkeit, Magen-Darm-Störungen, Schwindel, Bewe-
gungsstörungen, Schlafstörung).
Angstpatienten erhalten folgende Antidepressiva (chemische Substanz in Klammer):
1. Trizyklische Antidepressiva (Amitriptylin, Imipramin, Clomipramin)
2. MAO-Hemmer: Reversible Monoaminoxidase-A-Hemmer (RIMA: Moclobemid)
3. SSRI Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxe-
tin, Sertralin, Citalopram, Escitalopram)
4. NaSSA Noradrenalin-Serotonin-selektive Antidepressiva (Mirtazapin)
5. SNRI Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (Venlafaxin, Duloxetin,
Milnacipran)
6. NARI Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (Reboxetin)
7. SRE Serotonin-Wiederaufnahmeverstärker (Tianeptin)
8. Serotonin-Modulatoren (Trazodon)
648 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Trizyklische Antidepressiva
Bis zu 90% aller depressiven Patienten leiden unter Angstzuständen. Zu ihrer Behand-
lung wurden früher trizyklische Antidepressiva eingesetzt, in den letzten Jahren haben
sich jedoch die nebenwirkungsärmeren Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)
durchgesetzt, sodass der Einsatz der Trizyklika gegenwärtig immer mehr auf Spezialfäl-
le (z.B. Therapieresistenz unter SSRI) beschränkt ist.
Die Bezeichnung „trizyklisch“ weist auf die Drei-Ring-Struktur dieser Antidepres-
siva hin. Alle trizyklischen Antidepressiva („Trizyklika“) hemmen bzw. reduzieren die
Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin in die präsynaptischen Nervenendi-
gungen und bewirken zusätzlich in therapeutischer Dosierung durch ihre Affinität zu
synaptischen Rezeptoren wie den Histamin-H1-Rezeptoren, den adrenergen (alpha1)-
Rezeptoren und cholinergen Rezeptoren relativ starke Nebenwirkungen.
Trizyklika hemmen eher die Noradrenalin-Wiederaufnahme in den präsynaptischen
Rezeptor. Die Noradrenalinerhöhung in den Synapsen bewirkt eine Stimmungs- und
Antriebssteigerung sowie eine Verstärkung der blutdruckerhöhenden Noradrenalinef-
fekte, aber auch Nebenwirkungen wie z.B. Erektions- und Ejakulationsstörungen, Zit-
tern und Vigilanzveränderungen. Wegen der Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung
können in den ersten zwei Wochen Unruhe, Erregung und panikähnliche Zustände auf-
treten. Unter den Trizyklika hat Clomipramin (Anafranil®) die stärkste Serotonin-
Wiederaufnahmehemmung. Die neueren Antidepressiva (SSRI) wirken selektiver und
führen zu einer stärkeren Hemmung der Serotonin-Wiederaufnahme.
Von allen trizyklischen Antidepressiva haben die Substanzen Amitriptylin und Do-
xepin den stärksten sedierenden Effekt, weshalb sie oft zur dämpfenden Behandlung bei
Ängsten, Erregtheit und Unruhe eingesetzt werden. Die frühere Annahme, stärker sedie-
rende Substanzen hätten eine bessere Angst lösende Wirkung, hat sich nicht bestätigt.
654 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Niedrig dosierte Trizyklika (vor allem Amitriptylin und Doxepin) werden öfter (ohne
entsprechende Studienbelege) bei generalisierter Angststörung eingesetzt. Bei Panikstö-
rungen wurde aus der Gruppe der Trizyklika vor allem die Wirkung von Imipramin
(Tofranil®) belegt. Bei spezifischen und sozialen Phobien ohne Begleitdepression sind
trizyklische Antidepressiva nicht indiziert, es liegen daher kaum Studien vor. Trizyklika
müssen mindestens 4-8 Wochen lang eingenommen werden, bevor ihre Wirkung ver-
lässlich beurteilt werden kann. Laut Studien besteht ohne gleichzeitige Verhaltensthera-
pie bei Absetzen des Mittels – ähnlich wie bei SSRI – eine hohe Rückfallsgefahr.
Alle trizyklischen Antidepressiva binden mehr oder weniger stark an serotonerge,
histaminerge, adrenerge und cholinerge Rezeptoren und weisen dadurch typische Ne-
benwirkungen auf. In Abhängigkeit von der jeweiligen Rezeptorblockade finden sich
folgende typische Nebenwirkungen:
Antidepressiva 655
„Ein Vorteil der Trizyklika gegenüber Benzodiazepinen und Neuroleptika besteht darin, dass sie nicht
zu Abhängigkeitsentwicklungen und Spätdyskinesien führen. Gleichwohl müssen mögliche andere
unerwünschte Wirkungen bedacht werden. Zu erwähnen sind vor allem Blutzellschädigungen, Leber-
und Nierenfunktionsstörungen sowie vor allem vielfältige zentrale und periphere vegetative Begleitwir-
kungen. Die bisweilen kritiklose Anwendung von Benzodiazepinen und Neuroleptika darf daher nicht
durch eine kritiklose Anwendung von Trizyklika bei generalisierten Angststörungen ersetzt werden.“
656 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Autoren wie Laux [34] warnen ebenfalls davor, eine problematische Langzeitbehand-
lung mit Benzodiazepinen unkritisch durch eine solche mit Antidepressiva oder Neuro-
leptika zu ersetzen, da auch diese oft unerwünschte Effekte haben können.
Wegen der anticholinergen Nebenwirkungen und der möglicherweise gefährlichen
Folgen für das Herz-Kreislauf-System (vor allem bei Überdosierung und gezielten
Selbstmordversuchen, die wegen der kardialen Nebenwirkungen oft tödlich ausgehen
können) werden die trizyklischen Antidepressiva bei der Behandlung von Angststörun-
gen zunehmend durch die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) ersetzt.
Sie behalten jedoch in speziellen Fällen weiterhin ihre Bedeutung, z.B. bei erwünschter
stärkerer Dämpfung im stationären Rahmen sowie als Einschlafhilfe, da die Serotonin-
Wieder-aufnahmehemmer keinen ausreichend sedierenden Effekt haben. Namentlich
handelt es sich dazu um die Substanzen Amitriptylin (Saroten®) und Doxepin (D: Sin-
quan®, Ö: Sinequan®), die jedoch zunehmend durch andere, neuere dämpfende Antide-
pressiva ersetzt werden, vor allem Trazodon (D: Thombran®, Ö: Trittico®) und Mirtaza-
pin (D: Remergil®, Ö: Remeron®).
MAO-Hemmer (Monoaminooxydase-Hemmer)
Monoaminooxydase-Hemmer hemmen das Enzym Monoaminooxydase (MAO), insbe-
sondere den Typ MAO-A, der die Neurotransmitter Noradrenalin, Dopamin und Sero-
tonin metabolisiert (verstoffwechselt) und steigern dadurch die Mengen dieser Trans-
mitter in den präsynaptischen Nervenendigungen. Infolgedessen können mehr Transmit-
termoleküle in den synaptischen Spalt freigesetzt werden, wenn die Nerven stimuliert
werden. Man unterscheidet zwei Typen von MAO-Hemmern:
1. Irreversible, nicht-selektive MAO-Hemmer (MAO-Hemmer der 1. Generation) mit
der Substanz Tranylcypromin (D: Jatrosom®; in Ö nicht mehr im Handel).
2. Reversible, selektive MAO-A-Hemmer (MAO-Hemmer der 2. Generation, RIMA)
mit der Substanz Moclobemid (Aurorix®).
Bei SSRI bestehen auch Placeboeffekte: Depressive Patienten, die auf eine SSRI-
Therapie sehr früh ansprachen (im Sinne eines antizipierten Placeboeffekts), profitierten
bei einer Langzeittherapie von Placebo, während Patienten mit einem anfänglich verzö-
gerten Ansprechen zur Rückfallsvorbeugung ein Antidepressivum benötigten. Wenn
depressive Patienten also schon sehr früh auf SSRI ansprachen, machte es keinen Unter-
schied, ob sie bei einer Langzeittherapie ein Placebo oder einen SSRI erhielten.
Die derzeit auf dem Markt befindlichen sechs SSRI (Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxe-
tin, Sertralin, Citalopram, Escitalopram) werden im Folgenden näher dargestellt, weil
sie bei Angstpatienten gegenwärtig als die Mittel der ersten Wahl gelten. Die Verord-
nung von SSRI-Antidepressiva stieg zwischen 1997 und 2006 um fast 700 Prozent an.
Fluoxetin
Fluoxetin (D: Fluctin®, Ö: Fluctine®, USA: Prozac®) war der erste SSRI auf dem Markt
(in den USA seit 1988). Neben dem Originalpräparat gibt es – wie bei anderen SSRI –
mittlerweile zahlreiche Generika, d.h. Medikamente, die auch andere Firmen erzeugen
dürfen, weil der Patentschutz erloschen ist. Prozac® wurde in den USA durch ein Buch,
das zum Bestseller wurde, als „Glückspille“ bekannt, was nicht zutreffend ist. Gesunden
Menschen geht es nach Einnahme dieser Substanz nicht besser, sondern schlechter.
Fluoxetin hat die Zulassung für Depressionen, Zwangsstörungen und Bulimia nervo-
sa. Bei Panikstörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen besteht ebenfalls
Wirksamkeit. Eine Dosis von 20 mg/Tag ist meist ausreichend, bei Zwangsstörungen ist
eine langsame Steigerung auf 40-60 mg/Tag empfehlenswert. Wenn nach 10 Wochen
keine Besserung der Zwänge einsetzt, sollte ein Wechsel auf eine andere Substanz er-
wogen werden. Bei Panikpatienten sollte mit einer Einschleichdosis von 10 mg begon-
nen werden. Fluoxetin wirkt stimmungsaufhellend ohne Tagesmüdigkeit.
Die Eliminationshalbwertszeit der Muttersubstanz beträgt 4-6 Tage, des Metaboliten
Norfluoxetin 4-16 Tage. Dies ist viel länger als bei allen anderen SSRI und hat Vor-
und Nachteile. Die sehr lange Wirkungsdauer verhindert zwar Rückfälle bei unregelmä-
ßiger Medikamenteneinnahme bzw. Symptome beim plötzlichen Absetzen, erschwert
jedoch den raschen Umstieg auf ein anderes Mittel bei Wirkungslosigkeit der Substanz.
Es bestehen keine anticholinergen oder antihistaminergen Eigenschaften. Häufige
Nebenwirkungen zu Behandlungsbeginn und bei höherer Dosierung sind: Appetitlosig-
keit, (meist erwünschte) Gewichtsabnahme, Übelkeit (gelegentlich bis zum Erbrechen),
Durchfall, vermehrtes Schwitzen, Angst, innere Unruhe und Erregungszustände (Agi-
tiertheit), Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Tremor, Schwindel, sexuelle Funktionsstö-
rungen (insbesondere Ejakulationsverzögerungen), Hautausschlag, Juckreiz, Herzklop-
fen. Bei trotz einschleichender Dosierung anhaltenden Erregungszuständen mit Unruhe,
Angst, Desorientierung und Schlafstörungen muss das Präparat gewechselt werden. Bei
Diabetikern ist eine Hypoglykämie möglich, nach dem Absetzen eine Hyperglykämie.
Fluoxetin hemmt das Cytochrom P450IID6 Isoenzym, sodass die Wirkung aller
Medikamente, die dadurch metabolisiert werden, erhöht wird (Dosisreduktion des ande-
ren Mittels ist zu überlegen). Fluoxetin beeinflusst die Dopaminfunktion, was bei ande-
ren SSRI nicht der Fall ist. Die Substanz stellt nicht das Mittel der ersten Wahl bei
Angst- und Panikstörungen dar, weil die Wirksamkeit im Vergleich zu anderen SSRI
weniger gut belegt ist. Bei einer placebokontrollierten Studie zeigte sich jedoch eine
Verminderung der Panikattacken und der damit verbundenen Angstsymptome.
662 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Fluvoxamin
Paroxetin
Paroxetin (D/Ö: Seroxat®), das zu den selektivsten SSRI gehört, ist aufgrund vieler
Studien zugelassen für Depressionen, Panikstörungen mit und ohne Agoraphobie, sozia-
le Angststörungen, generalisierte Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörun-
gen und Zwangsstörungen. Umfangreiches Datenmaterial belegt weiters, dass Paroxetin
auch die Ängste im Rahmen einer depressiven Episode wirksam beseitigt (im Rahmen
einer depressiven Episode treten bei mindestens 60-90% der Patienten auch Ängste auf).
Bei Panikpatienten und Sozialphobikern ist eine einmalige Tagesdosis von 20 mg mor-
gens ausreichend, bei Bedarf (bei Zwangsstörungen unbedingt) kann eine Steigerung
auf 50-60 mg vorgenommen werden (Intervall der Dosissteigerung mindestens eine
Woche). Zumindest bei Panikpatienten sollte zur Vermeidung bzw. Minimierung des
Risikos einer möglichen Verschlechterung der Panikstörung anfangs mit einer subthera-
peutischen Dosis von 10 mg/Tag begonnen werden und dann wöchentlich um jeweils
10 mg/Tag bis zur Zieldosis gesteigert werden. Bei einer Dosis von 40 mg ließ sich die
Anzahl kompletter Panikattacken im Vergleich zu niedrigeren Dosierungen und zu
Placebo am stärksten reduzieren. Der Rückgang der Angstsymptomatik setzt im Ver-
gleich zu anderen Antidepressiva und Placebo bereits nach einer Woche ein. Bei einer
Dosisfindungsstudie für Panikpatienten waren Dosen von 10 und 20 mg Paroxetin nicht
bzw. nur wenig besser als Placebo, während 40 mg die beste Wirkung erbrachten.
Häufige Nebenwirkungen zu Therapiebeginn sowie bei Dosissteigerung sind: sexu-
elle Funktionsstörungen (insbesondere verzögerte Ejakulation), Übelkeit, Brechreiz,
Magen-Darmbeschwerden, Durchfall, Verstopfung, verminderter Appetit, Mundtrok-
kenheit, Schwitzen, Tremor, Unruhe, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Schwindel,
erhöhte Cholesterinwerte (bei Herz-Kreislauf-Patienten besonders beachten!).
Ein abruptes Absetzen sollte vermieden werden, weil vorübergehend bestimmte
Symptome auftreten können, vor allem Benommenheit, sensorische Störungen, Schlaf-
störungen, Agitation, Ängstlichkeit, Übelkeit oder Schwitzen. Absetzphänomene sind
stärker als bei anderen SSRI. Bei Kombination mit Trizyklika, Benzodiazepinen, Neu-
roleptika und Lithium kann ein vorher stabiler Plasmaspiegel stark ansteigen.
Antidepressiva 663
Wie bei anderen SSRI sollte gleichzeitig keinesfalls ein MAO-Hemmer (Aurorix®)
eingenommen werden (Abstand von 14 Tagen), weil es dadurch zu Erregung, Unruhe,
Zittern, Herzrasen und gastrointestinalen Beschwerden wie Übelkeit oder Durchfall
kommen kann. Paroxetin kann ein neuroleptisches malignes Syndrom auslösen.
Paroxetin kann anfangs erregend und stimulierend wirken, z.B. in Form von Schlaf-
losigkeit, Nervosität und vermehrtem Antrieb. Bei Patienten mit Selbstmordgedanken,
Erregung und Schlafstörung sollte daher anfangs zusätzlich ein beruhigendes bzw.
schlafförderndes Mittel (ein dämpfendes Antidepressivum oder ein Tranquilizer in fal-
lender Dosierung) verordnet werden.
Die Eliminationshalbwertszeit beträgt ca. 16 Stunden (8-30 Stunden), ein Steady-
state-Plasmaspiegel wird nach ca. 7-14 Tagen erreicht. Paroxetin und Fluvoxamin haben
eine kürzere Halbwertszeit als andere SSRI. Die belastenden anticholinergen und antihi-
staminergen Nebenwirkungen fehlen. Paroxetin weist unter den selektiven Serotonin-
Wiederaufnahmehemmern die geringste Affinität zu den Histamin-H1-, alpha1- und
cholinergen Rezeptoren auf.
Paroxetin war lange Zeit neben Sertralin eines der häufigsten Mittel zur Behandlung
von Panikstörungen und wird immer mehr zugunsten des wesentlich nebenwirkungsär-
meren Escitalopram ersetzt. Die Substanz wirkt im Vergleich zu Fluoxetin schneller,
stärker Angst lösend und weist höhere Ansprechraten auf. Paroxetin zeigte im Vergleich
mit Clomipramin einen deutlich früheren Wirkungsbeginn und war nach 12 Wochen
gleich wirksam bei weniger Nebenwirkungen als das trizyklische Antidepressivum.
1995 wurde die erste SSRI-Studie bei Panikpatienten (großteils mit Agoraphobie)
vorgestellt, bei der Paroxetin und Placebo jeweils in Kombination mit einer kognitiven
Therapie eingesetzt wurden. Dabei war die Kombination von Pharmakotherapie und
kognitive Therapie der anderen Behandlungsform überlegen. Eine Reduktion um min-
destens 50% der Panikattacken nach 3 Monaten war bei 82% der Paroxetin-Gruppe und
bei 50% der Placebogruppe festzustellen.
1997 wurde eine in 11 Ländern durchgeführte Placebo- und Clomipramin-kon-
trollierte Doppelblindstudie veröffentlicht, die den Effekt von Paroxetin bei 367 Panik-
patienten nach 3 Monaten erhob. Nach 3 Monaten hatten 50,9% der Paroxetin-Gruppe,
36,7% der Clomipramin-Gruppe und 31,6% der Placebogruppe keine Panikattacken
mehr. Das Kriterium der Panikattackenreduktion um mindestens die Hälfte ergab in
allen 3 Gruppen doppelt so hohe Erfolgswerte (76,1% vs. 64,5% vs. 60,0%). Paroxetin
und Clomipramin waren gleich wirksam, allerdings wirkte Paroxetin rascher und hatte
weniger Nebenwirkungen. Beachtlich ist der relativ hohe Placeboeffekt.
In einer weiteren Erfolgsüberprüfung nach einem Jahr [35] wurden die in der Studie
verbliebenen 176 Panikpatienten untersucht. Es handelt sich dabei um die erste länger-
fristige SSRI-Studie mit Placebokontrolle bei Panikstörungen. Insgesamt ergab sich
eine weitere Besserung mit denselben bereits angeführten Effekten. Am Studienende
hatten 85% der Paroxetin-Gruppe, 72% der Clomipramin-Gruppe und 59% der Place-
bogruppe keine Panikattacken mehr. Die Prozentwerte für eine Reduktion der Panik-
attacken auf die Hälfte betrugen bei den 3 Gruppen 98%, 92% bzw. 88%. Paroxetin
erwies sich auch nach einem Jahr als wirksames, sicheres und gut verträgliches Mittel
zur Behandlung von Panikstörungen. Trotz des Ausfalls zahlreicher Placebo-
Gruppenteilnehmer war bei verschiedenen Patienten auch noch nach einem Jahr eine
anhaltende Placebowirkung feststellbar, obwohl Beratungsgespräche möglichst redu-
ziert worden waren. Die Teilnahme an einer Studie stellt nach Auffassung der Autoren
an sich bereits einen Placeboeffekt dar.
664 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Sertralin
Sertralin (D: Gladem®, Zoloft®, Ö: Gladem®, Tresleen®) ist ein hochselektiver SSRI zur
Behandlung folgender Störungen: Depressionen (inklusive Rezidivprophylaxe depressi-
ver Störungen und Depressionen in Begleitung von Angstzuständen), Panikstörungen
mit und ohne Agoraphobie, Zwangsstörungen (auch bei Kindern und Jugendlichen),
generalisierte Angststörungen, soziale Phobien und posttraumatische Belastungsstörun-
gen. Die Wirksamkeit ist durch zahlreiche Studien belegt.
Die Standarddosis beträgt unabhängig vom Alter 50 mg pro Tag und kann bei Be-
darf und guter Verträglichkeit um jeweils weitere 50 mg pro Woche auf die Zieldosis
auf 100-200 mg erhöht werden, was vor allem bei Zwangspatienten angezeigt ist. Dosis-
findungsstudien haben gezeigt, dass eine Tagesdosis von 50 mg in den meisten Fällen
ausreichend ist. Diese Dosis entspricht auch der Erhaltungsdosis. Der Wirkungseintritt
erfolgt relativ rasch, erste Effekte sind oft bereits nach einer Woche festzustellen.
Sertralin weist für ein Antidepressivum recht günstige Eigenschaften auf:
z langsame Absorption,
z einmalige 50 mg Dosierung pro Tag,
z von Beginn an ohne Einschleichen einnehmbar, während bei den anderen SSRI oft
eine einschleichende Dosierung empfehlenswert ist,
z dosisproportionale Plasmakonzentrationen, d.h. die Beziehung zwischen Sertralin-
Dosis und Sertralin-Plasmaspiegel ist – im Gegensatz zu anderen SSRI – über die
gesamte therapeutische Dosierungsbreite von 50-200 mg pro Tag linear,
z altersunabhängige Pharmakokinetik, d.h. bei älteren Menschen ist keine spezielle
Dosisanpassung nötig, wie dies bei Citalopram und Paroxetin empfohlen wird,
z keine klinisch relevante Metabolitenaktivität,
z keine relevante Affinität zu cholinergen, histaminergen, serotonergen, dopaminer-
gen, alpha1-, alpha2- oder beta-adrenergen Rezeptoren, auch nicht zu GABA- oder
Benzodiazepinrezeptoren,
z Eliminationshalbwertszeit von ca. 26 Stunden (Einmal-pro-Tag-Dosierung),
z bei gleichzeitiger Einnahme anderer Medikamente kaum Wechselwirkungen.
Sertralin hat im Vergleich zu Paroxetin, Fluoxetin und Fluvoxamin auch ein geringeres
Interaktionsrisiko mit anderen Medikamenten. Es verträgt sich eher mit Trizyklika,
Benzodiazepinen und Medikamenten für ältere Menschen.
Häufige Nebenwirkungen zu Therapiebeginn und bei Dosissteigerung sind: Übel-
keit, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Durchfall, Mundtrockenheit, Tremor, Schwindel,
Schlafstörungen, Müdigkeit, sexuelle Funktionsstörungen (insbesondere Ejakulations-
verzögerung), vermehrtes Schwitzen, Dyspepsie, Kopfschmerzen.
Antidepressiva 665
Sertralin hemmt nicht so stark wie andere SSRI den Abbau des Enzymsystems Cy-
tochrom P450 (Isoenzym 2D6, aber auch Isoenzyme 2C9 und 2C10), das für den Abbau
vieler Arzneimittel (auch Lebensmittel) zuständig ist, und verstärkt nicht in unkontrol-
lierbarer Weise die Wirkung anderer gleichzeitig eingenommener Medikamente.
Vergleichsstudien zwischen Sertralin und Fluoxetin ergaben, dass die Angstsym-
ptomatik durch Sertralin tendenziell besser beeinflusst wurde als durch Fluoxetin. Bei
einer deutschen 15-Wochen-Studie zum Vergleich von Sertralin (50-150 mg) und Paro-
xetin (40-60 mg) ergab sich die gleiche Wirksamkeit, jedoch eine bessere Verträglich-
keit von Sertralin (keine Verschlechterung während der Ausschleichphase; Paroxetin-
Patienten erlebten beim Absetzen mehr Panikattacken und generell eher eine Ver-
schlechterung des Zustandsbildes).
In den USA wurden mehrere multizentrische, placebokontrollierte Doppelblindstu-
dien mit einer Dosis von 50, 100 und 200 mg Sertralin durchgeführt. Die Studien dauer-
ten zumeist 10-12 Wochen. Tab. 27 zeigt die hohe Wirksamkeit von Sertralin, aber auch
die hohen Placeboeffekte.
Citalopram
Citalopram (D: Cipramil®, Ö: Seropram®) war vor Escitalopram, das von derselben
Firma entwickelt wurde, der selektivste Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Citalopram
ist zugelassen zur Behandlung von Depressionen, Panikstörungen mit und ohne Ago-
raphobie, soziale Phobien und Zwangsstörungen und zählte wegen der geringen Ne-
benwirkungen vor dem Erscheinen des Nachfolgepräparates Escitalopram zu den in der
klinischen Praxis am meisten verschriebenen SSRI.
Bei den meisten Angst- und Panikpatienten ist eine Zieldosis von 20-30 mg/Tag aus-
reichend, bei Zwangspatienten wird bei Verträglichkeit der Substanz eine Dosis bis zu
60 mg/Tag empfohlen. Bei manchen Panikpatienten treten anfangs verstärkte Angst-
symptome auf. Diese paradoxe Zunahme der Angst ist in der ersten Behandlungswoche
am stärksten und lässt im Laufe von zwei Wochen nach. Durch eine niedrige Anfangs-
dosis von 10 mg/Tag in der ersten Woche kann dies oft verhindert werden.
Die Wirkung von Citalopram setzt schneller ein als die von Fluoxetin (maximaler
Plasmaspiegel nach 3 Stunden). Der Steady-state-Plasmaspiegel wird innerhalb von 1-2
Wochen erreicht. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt ca. 33 Stunden. Das Medika-
ment sollte ausschleichend abgesetzt werden (pro Woche 10 mg weniger).
Citalopram beeinflusst die Wiederaufnahme von Noradrenalin, Dopamin und Gam-
ma-Aminobuttersäure (GABA) nicht oder nur in geringem Maß. Im Gegensatz zu vielen
trizyklischen Antidepressiva und einigen Serotonin-Wiederaufnahmehemmern zeigt
Citalopram keine oder nur geringe Affinität zu einer Reihe von Rezeptoren wie 5-HT1A-
Rezeptoren und 5-HT2-Rezeptoren, dopaminergen D1- und D2-Rezeptoren, Histamin
H1-Rezeptoren, verschiedenen Adrenorezeptoren, muskarinischen cholinergen Rezepto-
ren sowie Benzodiazepin- und Opioid-Rezeptoren. Die fehlende Wirkung auf diese
Rezeptoren erklärt das Fehlen von Nebenwirkungen wie z.B. Mundtrockenheit, Blasen-
und Darmstörungen, verschwommenes Sehen, Sedierung, Kardiotoxizität, orthostati-
sche Hypotonie. Citalopram unterdrückt den REM-Schlaf, erhöht die Tiefschlafphase,
bewirkt keine psychomotorische Verlangsamung und keine kognitive Beeinträchtigung
und nur eine minimale Sedierung.
Häufige Nebenwirkungen zu Therapiebeginn bzw. bei höherer Dosierung sind:
Übelkeit (gelegentlich bis zum Erbrechen), Appetitlosigkeit, Durchfall, verstärkte
Schweißneigung, innere Unruhe, Agitiertheit, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Tre-
mor, Schwindel und Zwangsgähnen, aber auch sexuelle Funktionsstörungen (insbeson-
dere Ejakulationsverzögerungen, Orgasmusstörungen, Libidominderung). Geringe In-
teraktionen mit anderen Medikamenten sind möglich, die Komplikationen mit anderen
Medikamenten sind jedoch geringer als bei Paroxetin.
In einer großen Untersuchung an 401 Zwangspatienten wurde Citalopram auch als
wirksames Mittel zur Behandlung der Zwangsstörung nachgewiesen. Die Wirksamkeit
der Substanz war im Wesentlichen unabhängig von der Höhe der Dosierung (Tagesdo-
sen von 20, 40 und 60 mg).
Antidepressiva 667
Escitalopram
Escitalopram (D/Ö: Cipralex®) ist der neueste und gleichzeitig stärkste selektive Sero-
tonin-Wiederaufnahmehemmer, der eine Weiterentwicklung von Citalopram darstellt.
Aus der einschlägigen Fachliteratur stammen folgende Informationen: Escitalopram ist
das pharmakologisch wirksame Enantiomer des Citaloprams, eines so genannten Ra-
zemats. Citalopram ist ein Razemat aus einem rechtsdrehenden (R-) Enantiomer, das
therapeutisch wirkungslos und sogar kontraproduktiv ist, und einem linksdrehenden
(S-) Enantiomer, das für die therapeutische Wirksamkeit verantwortlich ist. Links- und
rechtsdrehende Moleküle, die zueinander gleich sind, werden Enantiomere genannt, die
zur Unterscheidung mit R und S gekennzeichnet sind. Als Razemat bezeichnet man das
Gemisch der beiden Enantiomere. Durch die neuen Möglichkeiten der technischen
Trennung der beiden Komponenten konnte das reine (S)-Citalopram entwickelt werden,
das eine noch höhere Serotonin-Spezifität aufweist, bei bereits erheblich niedrigerer
Dosierung wirkt und entsprechend weniger Nebenwirkungen hat.
Escitalopram weist gegenüber Citalopram folgende Verbesserungen auf: Es erfolgt
eine noch selektivere Serotonin-Wiederaufnahmehemmung; die Wirkung tritt deutlich
früher ein; mehr Patienten sprechen darauf an und werden symptomfrei; die Substanz ist
genauso gut verträglich wie Citalopram, sogar mit noch weniger Nebenwirkungen.
Wegen der besseren Wirksamkeit bei relativ günstigem Preis möchte die Hersteller-
firma Escitalopram durch das früher bewährte Citalopram sukzessive ersetzen.
Escitalopram ist anerkannt zur Behandlung von Depressionen, Panikstörungen mit
und ohne Agoraphobie, Zwangsstörungen, generalisierten und sozialen Angststörungen.
Gegenüber Venlafaxin-Retard-Präparaten 75-150 mg wirkte Escitalopram schneller
und war gleich gut bei besserer Verträglichkeit.
Einnahmeempfehlungen: in der ersten Woche 5 mg/Tag, danach 10 mg pro Tag, bei
Bedarf später 20 mg/Tag (bei Zwängen 30 mg/Tag). Bei einer Eliminationshalbwerts-
zeit von 30 Stunden reicht eine Tablette pro Tag aus. Der maximale Plasmaspiegel wird
nach 4 Stunden erreicht. Das Wirkungsmaximum wird nach etwa drei Monaten erreicht.
Die Einnahmedauer sollte bei erstmaligem Auftreten der Symptome mindestens mehre-
re Monate, eher jedoch 6 Monate und nach einem Rückfall sogar 12 Monate umfassen.
Häufige Nebenwirkungen zu Behandlungsbeginn und bei höherer Dosierung: Übel-
keit (gelegentlich bis zum Erbrechen), Appetitlosigkeit, Durchfall, Appetitlosigkeit,
vermehrtes Schwitzen, innere Unruhe, Agitiertheit, Kopfschmerzen, Schwindel, Tre-
mor, Einschlafstörung, sexuelle Funktionsstörungen (Ejakulationsverzögerung, Libido-
minderung, Orgasmusstörungen). Es gibt nur wenige Arzneimittelinteraktionen, sodass
sich das Mittel gut zur Kombinationstherapie eignet.
668 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Mirtazapin (D: Remergil®, Ö: Remeron®) hat eine tetrazyklische Struktur und ist das
Nachfolgepräparat von Mianserin. Es ist ein noradrenerges und spezifisch serotonerges
Antidepressivum (NaSSA) mit einem dualen Wirkmechanismus. Es werden die präsy-
naptischen adrenergen alpha2-Rezeptoren am noradrenergen Neuron (= Autorezeptor)
und am serotonergen Neuron (= Heterozeptor) blockiert. Durch diese Rezeptorblockade
wird ein Neurotransmittermangel vorgetäuscht. Im Sinne einer negativen Feedback-
Regulation erfolgt eine vermehrte Freisetzung von Noradrenalin und Serotonin. Zusätz-
lich stimuliert das noradrenerge Neuron die nachgeschaltete serotonerge Nervenzelle,
was die Serotonin-Freisetzung fördert. Die Aktivierung von Neuronen durch Serotonin
über den Subtyp der 5-HT1A-Rezeptoren führt zur erwünschten antidepressiven und
Angst lösenden Wirkung. Die unerwünschte Wirkung der Stimulierung der 5-HT1A-
Rezeptoren (Mirtazapin ist ein H1-Rezeptoragonist) bewirkt Nebenwirkungen wie Mü-
digkeit, Benommenheit, Mundtrockenheit und vor allem häufige Gewichtszunahme.
Die gleichzeitige Blockierung der 5-HT2- und 5-HT3-Rezeptoren auf postsynapti-
scher Ebene, die gegenwärtig kein anderes Antidepressivum bewirkt, verhindert die
typischen serotonergen Nebenwirkungen. Dadurch werden SSRI-Nebenwirkungen wie
Übelkeit, Durchfall, Schlafstörungen und Sexualstörungen vermieden.
Mirtazapin wirkt antidepressiv, schlaffördernd und Angst lösend. Es besteht zwar
offiziell nur eine Indikation für depressive Erkrankungen, die Substanz wird jedoch
auch jenen Angstpatienten verordnet, die gleichzeitig eine Sedierung benötigen, ohne
dass deswegen Tranquilizer eingesetzt werden sollen.
Die Tagesdosis beträgt 30 mg abends (beginnend mit 15 mg), bei Nichtansprechen
wird auf 45 mg erhöht. Bei Hypotoniepatienten ist eine Verstärkung der Hypotonie bei
Bedarf durch eine Dosisreduktion zu vermeiden. Das Mittel wird ausschleichend abge-
setzt. Wirkungen und Nebenwirkungen beruhen auf folgenden Rezeptoreinwirkungen:
z Die Blockade der präsynaptischen alpha2-Autorezeptoren bewirkt eine erhöhte Frei-
setzung von Noradrenalin und infolgedessen eine erhöhte noradrenerge Neuro-
transmission, was einen antidepressiven Effekt hat.
z Die Blockade der präsynaptischen alpha2-Heterorezeptoren verhindert den hem-
menden Effekt von Noradrenalin auf die Serotoninfreisetzung (Serotoninerhöhung).
z Die agonistische Wirkung auf die alpha1-Adrenorezeptoren bewirkt eine Serotonin-
erhöhung (noradrenerge Neurone steuern die Impulsrate von serotonergen 5-HT-
Neuronen über alpha1-Adrenorezeptoren, die sich auf den 5-HT-Zellkörpern befin-
den, d.h. die Stimulation der alpha1-Adrenorezeptoren durch Noradrenalin führt zu
einem Anstieg der Impulsrate der 5-HT-Neurone, was eine vermehrte Serotonin-
freisetzung bewirkt). In seltenen Fällen kann sich dieser Mechanismus negativ als
orthostatische Hypotonie, Reflextachykardie und Schwindel äußern.
z Die spezifische Stimulation der 5-HT1A-Rezeptoren hat eine antidepressive und
Angst lösende Wirkung.
z Die Blockade der 5-HT2-Rezeptoren wirkt schlaffördernd und Angst lösend (eine
5-HT2-Stimulation bewirkt Agitiertheit, Nervosität, Schlaf- und Sexualstörungen).
z Die Blockade der 5-HT3-Rezeptoren verhindert Übelkeit, Erbrechen und Durchfall.
z Die Blockade der Histamin-H1-Rezeptoren bewirkt eine erwünschte Sedierung, im
negativen Fall Schläfrigkeit, Benommenheit und Gewichtszunahme (Hungergefühl).
Antidepressiva 669
Mirtazapin wirkt relativ rasch (oft bereits in der ersten Woche) und hat eine nur leicht
sedierende Wirkung, weil der aktivierende Noradrenalin-Effekt die sedierende Wirkung
über die Histaminrezeptoren teilweise kompensiert. Anticholinerge, antiadrenerge und
serotonerge Nebenwirkungen treten selten auf. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt
20-40 Stunden (bis 65 Stunden möglich). Dies rechtfertigt die Empfehlung zur Einmal-
gabe. Der maximale Plasmaspiegel wird nach zwei Stunden, der Steady-state-
Plasmaspiegel nach 3-4 Tagen erreicht, danach erfolgt keine weitere Akkumulation.
Die häufigsten Nebenwirkungen sind Sedierung, Müdigkeit (manchmal „hang over“-
Effekt am nächsten Morgen), Appetit- und Gewichtszunahme (Heißhungerphasen),
gelegentlich auch Mundtrockenheit, Verstopfung, Schwindel, orthostatische Hypotonie,
Kopfschmerzen, akute Knochenmarksdepression. Wegen der möglichen Blutbildschä-
digung sind regelmäßige Laborkontrollen empfehlenswert. Das in der Praxis größte
Problem stellt die oft relativ starke Gewichtszunahme dar. Die Beeinträchtigung von
Wachheit, Aufmerksamkeit und Konzentration (vor allem in den ersten Wochen) ist
bezüglich Verkehrstauglichkeit zu beachten. Anticholinerge Wirkungen fehlen.
Mirtazapin verstärkt die Wirkung von Benzodiazepinen, was bei gleichzeitiger Ein-
nahme zu beachten ist, und verstärkt auch die Wirkung von Alkohol, sodass eine strikte
Alkoholabstinenz eingehalten werden muss. Mirtazapin ist bei viel weniger Nebenwir-
kungen gleich wirksam wie Amitriptylin, Clomipramin und Doxepin und wirksamer als
Trazodon. Im Vergleich zu den SSRI fehlen Nebenwirkungen wie Übelkeit, und es zeigt
sich ein (oft erwünschter) leicht sedierender Effekt. Mirtazapin führt zu keiner Hem-
mung metabolisierender Enzymsysteme (insbesondere Cytochrom P450), sodass ein
eher geringes Interaktionspotenzial besteht.
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI)
Venlafaxin (D: Trevilor®, Ö: Efectin®), Milnacipran (Ö: Dalcipran®, Ixel®, in D nicht
auf dem Markt) und das relativ neue Duloxetin (Cymbalta®) sind spezifische Serotonin-
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI specific serotonin and noradrenalin reup-
take inhibitors); sie hemmen die Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin aus
dem synaptischen Spalt ohne die Trizyklika-Wirkungen auf andere Rezeptorsysteme.
Venlafaxin
Venlafaxin ist zugelassen mit der Indikation für Depressionen mit und ohne beglei-
tende Angstsymptomatik (auch für Rezidivprophylaxe depressiver Störungen), generali-
sierte Angststörungen und soziale Phobien (nicht für Zwangsstörungen zugelassen). Die
Angst lösende Komponente von Venlafaxin wurde auch bei depressiven Patienten mit
gleichzeitiger Angstsymptomatik im Vergleich zu Fluoxetin und Placebo nachgewiesen.
Das Mittel erzielt nach einer multizentrischen Studie über 6 Monate bei ambulanten
Patienten mit einer generalisierten Angststörung auch dann gute Erfolge, wenn keine
depressive Begleitsymptomatik besteht. Die häufige Komorbidität von Angststörung
und Depression verschlechtert die Prognose, sodass eine effiziente Behandlung sehr
wichtig ist. Venlafaxin stellt oft das Mittel der ersten Wahl dar, weil es den Vorteil
hoher Wirksamkeit gegenüber beiden Erkrankungen in einem Präparat vereint.
Die Tagesdosis beträgt 75-150 mg (beginnend mit 37,5 mg), auf 2-mal 75 mg ver-
teilt, bei Bedarf Steigerung bis auf 225 mg. Wegen besserer Verträglichkeit sind Re-
tardpräparate (D: Trevilor® retard, Ö: Efectin® ER) empfehlenswert.
Venlafaxin hat im Vergleich zu Trizyklika weniger Nebenwirkungen, weil andere
Transmittersysteme nicht wesentlich beeinflusst werden, oft zeigen sich jedoch mehr
Nebenwirkungen als bei SSRI. Es besteht keine Affinität für cholinerge, H1-Histamin-,
alpha1-adrenerge, Benzodiazepin-, Opiat-, N-methyl-d-Asparaginsäure (NMDA)- und
Phenzyklidin (PCP)-Rezeptoren. Häufigkeit und Intensität der Nebenwirkungen neh-
men im Verlauf der Behandlung und nach Reduktion der Dosis ab.
Häufige Nebenwirkungen zu Behandlungsbeginn und bei Dosissteigerung: Übelkeit
(gelegentlich mit Erbrechen), Durchfall, Appetitlosigkeit, vermehrter (nächtlicher)
Schweiß, innere Unruhe, Agitiertheit, Angstzustände, Tremor, Nervosität, Sehstörun-
gen, dosisabhängig Blutdruckanstieg und Herzbeschwerden, Schlafstörung, Parästhesi-
en, Hautausschlag, sexuelle Funktionsstörungen. Ein sedierender Effekt fehlt.
Milnacipran
Milnacipran (Ö: Ixel®, Dalcipran®, in D nicht auf dem Markt) hemmt selektiv die Wie-
deraufnahme von Serotonin und Noradrenalin, ohne direkt die postsynaptischen Rezep-
toren zu beeinflussen. Das Mittel hat keine Auswirkungen auf die cholinergen Rezepto-
ren, die H1-Histaminrezeptoren, die dopaminergen Rezeptoren, die Benzodiazepin- und
Opiatrezeptoren. Gegenüber Venlafaxin hemmt Milnacipran das serotonerge und das
noradrenerge System in gleich starker Weise. Venlafaxin wirkt in niedriger Dosis wie
ein SSRI, während die noradrenerge Komponente erst bei einer Tagesdosis von über
150 mg zum Tragen kommt. Milnacipran ist zugelassen zur Behandlung von Depres-
sionen. Es gibt erste Hinweise auf Wirksamkeit bei Angststörungen.
Die Substanz weist im Gegensatz zu den meisten SSRI und Trizyklika eine lineare
Kinetik auf. Es besteht eine lineare Beziehung zwischen der verabreichten Dosis und
der Plasmakonzentration. Kumulations- oder Sättigungsphänomene treten nicht auf.
Es gibt keine dosisabhängige Wirkung auf die verschiedenen Transmittersysteme
und keine Wechsel- und Nebenwirkungen wie bei den trizyklischen Antidepressiva. Die
Substanz unterliegt keiner Biotransformation durch das Cytochrom P450-System.
Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören: Schwindel, übermäßiges Schwitzen,
Angstzustände, Schlafstörungen, Hitzewallungen, Schwitzen, Dysurie, Übelkeit, Erbre-
chen, Mundtrockenheit, Verstopfung, Tremor, Herzklopfen, Agitiertheit, Hautaus-
schlag. Gastrointestinale und sexuelle Nebenwirkungen sind seltener als bei den SSRI.
Antidepressiva 671
Duloxetin
Serotonin-Wiederaufnahmeverstärker (SRE)
Tianeptin
Tianeptin (Ö: Stablon®, D: nicht auf dem Markt) ist ein neueres Antidepressivum im
deutschsprachigen Raum, in Frankreich ist die Substanz seit längerem zugelassen.
Das Mittel ist ein Serotonin-Wiederaufnahmeverstärker (Enhancer). Statt selektiver
Serotonin-Wiederaufnahmehemmung erhöht Tianeptin die Serotonin-Rückaufnahme
aus dem synaptischen Spalt und widerspricht damit gängigen Theorien. Tianeptin er-
höht die Feuerungsrate der Neuronen im Hippocampus. Die Substanz steigert erstens
die spontane Aktivität von Pyramidenzellen im Hippocampus und beschleunigt ihre
Wiederherstellung nach funktioneller Hemmung und steigert zweitens die Wiederauf-
nahme von Serotonin durch die Nervenzellen in der Hirnrinde sowie im Hippocampus.
Tianeptin wird neben der Behandlung von Depressionen wegen der anxiolytischen
Komponente auch bei Angststörungen eingesetzt. Doppelblindstudien fehlen jedoch.
Die Substanz nimmt eine Mittelstellung zwischen sedativen und stimulierenden Antide-
pressiva ein und hat eine starke Wirkung auf somatische Beschwerden, besonders auf
die mit Angst und Stimmungsschwankungen verbundenen gastrointestinalen Beschwer-
den. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt 3 Stunden, was leider eine tägliche Mehr-
facheinnahme erfordert. Die Tagesdosis ist 37,5 mg (dreimal 12,5 mg).
Das Mittel ist gut verträglich und sollte wie alle Antidepressiva nur ausschleichend
abgesetzt werden. Es bestehen keine MAO-Aktivität und keine Effekte an anderen Neu-
rotransmittern (keine Metabolisierung über das Cytochrom P450). Bei gleich guter
Wirksamkeit gegenüber SSRIs und besserer Akzeptanz als Trizyklika weist die Sub-
stanz einige Vorteile auf, die den Einsatz durchaus bei Angstpatienten überlegenswert
machen. Anticholinerge Symptome fehlen.
Die häufigsten Nebenwirkungen sind: Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Somnolenz,
Angst, Mundtrockenheit, Verstopfung, Bauchschmerzen, Übelkeit, Schwindel, Rücken-
schmerzen, Kopfschmerzen, seltener sind Ein- und Durchschlafstörungen, Erbrechen,
Dyspepsie, Durchfall, Appetitmangel, Hautveränderungen (Pruritus), Sehstörungen. Die
Nebenwirkungen nehmen bei fortgesetzter Behandlung und Dosisreduktion ab.
Antidepressiva 673
Serotonin-Modulatoren
Trazodon
Kombinationspräparate
Es gibt zur Behandlung von Menschen mit Ängsten in Österreich auch noch verschie-
dene Kombinationspräparate, die in Deutschland wegen der problematischen Kombina-
tion der Substanzen mittlerweile nicht mehr auf dem Markt sind:
1. Kombination von Tranquilizer und älterem (trizyklischen) Antidepressivum:
z Harmomed® (2,5 mg Diazepam und 14 mg Dosulepin) mit der Empfehlung einer
dreimal täglichen Einnahme des Dragees,
z Limbitrol® (5 mg Chlordiazepoxid und 12,5 mg Amitriptylin) mit täglicher Ein-
nahme von 2-6 Kapseln (Hauptdosis abends). Wegen des Tranquilizeranteils in
Limbitrol und Harmomed besteht bei Langzeiteinnahme Abhängigkeitsgefahr.
2. Kombination von Tranquilizer und Beta-Rezeptoren-Blocker:
z Betamed® (2,5 Diazepam und 60 mg Bupranolol) mit empfohlener zweimal täg-
licher Einnahme. Die Tablette ist ein Kombinationspräparat für Angstsyndrome
mit kardiovaskulären Symptomen. Beide Substanzen des Präparats sind bei län-
ger dauernder Einnahme wegen möglicher Folgestörungen problematisch.
3. Kombination von älterem (trizyklischen) Antidepressivum (Melitracen) und älterem
Neuroleptikum (Flupentixol):
z Deanxit® bzw. Deanxit® forte, bereits seit den 1950er-Jahren auf dem Markt,
wird von manchen Ärzten als Tranquilizeralternative 1-2-mal täglich verordnet.
Antiepileptila
Der Kalziumkanalmodulator Pregabalin (D/Ö: Lyrica®) aus der Gruppe der Antikon-
vulsiva ist neben der Indikation für Epilepsie und neuropathische Schmerzen wegen
seiner anxiolytischen Wirkung auch für generalisierte Angststörungen zugelassen und
auch bei sozialer Phobie wirksam. Pregabalin bindet an die alpha2-delta-Untereinheit
spannungsabhängiger Kalziumkanäle auf Nervenzellmembranen und moduliert den
Kalziumeinstrom in die Nervenzelle. Ein durch Pregabalin verminderter Kalziumein-
strom bewirkt bei neuronaler Übererregung, dass weniger erregende Transmitter wie
Glutamat oder Substanz P freigesetzt werden. Die Stimulation der postsynaptischen
Rezeptoren ist daher geringer, das Neuron reduziert seine Entladungstätigkeit.
Pregabalin wirkt bei geringer ausgeprägtem sedierenden Effekt genauso schnell wie
Benzodiazepine (Alprazolam) und erzeugt anfangs weniger Unruhe als Venlafaxin. Das
Mittel wirkt auch etwas schlafanstoßend, was bei Schlafstörungen günstig ist, beim
Autofahren und Arbeiten aber bedacht werden muss. Es kann auch Alkohol und Tran-
quilizer verstärken. Die mittlere Eliminationshalbwertszeit beträgt 6,3 Stunden.
Die Tagesdosis ist 300-600 mg (beginnend mit 75 mg und wöchentlicher Steige-
rung). Umstände wie rascher Wirkungseintritt, meist gute Verträglichkeit, Kombinier-
barkeit, kaum sexuelle Funktionsstörungen und fehlende Abhängigkeit empfehlen das
Mittel als Erfolg versprechende Alternative zu Benzodiazepinen und SSRI. Häufige
Nebenwirkungen: Benommenheit, Schläfrigkeit, Schwindel, Sexualstörungen, Tremor,
Verstopfung, Appetit- und Gewichtszunahme, Stimmungsänderungen, Sehstörungen.
Das Antiepileptikum Gabapentin (Neurontin®) ist bei sozialen und generalisierten
Angststörungen wirksam (geringfügig auch bei Panikstörungen). Antiepileptika werden
bei Angststörungen noch weiter erforscht und überprüft, vor allem auch andere Sub-
stanzen mit anxiolytischer Wirksamkeit (Tiagabin, Vigabatrin, Levetiracetan).
Beta-Blocker 675
Beta-Blocker
Beta-Blocker (eigentlich Beta-Rezeptoren-Blocker) werden seit den 1970er-Jahren auch
zur Behandlung von körperlichen Angstsymptomen eingesetzt (Herzklopfen, Herzrasen,
Erröten, Schwitzen, Zittern, Magen-Darm-Beschwerden). Beta-Blocker bestehen aus
dem Wirkstoff Bisoprolol (Concor®), Metoprolol (Beloc®, Lopresor®), Oxprenolol
(Trasicor®), Pindolol (Visken®), Propranolol (Inderal®, Dociton®) u.a. Sie dienen zur
Behandlung von Angina Pectoris, Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck, Herzkranz-
verengungen, Hyperthyreose sowie zur Behandlung nach einem Herzinfarkt. Bei Äng-
sten mit Körpersymptomen wird in der Praxis vor allem Propanolol eingesetzt.
Beta-Blocker haben eine blutdrucksenkende Wirkung, indem sie die Kontraktion
steigernden und Frequenz erhöhenden Eigenschaften von Noradrenalin am Herzen
hemmen und die Blutgefäße erweitern. Die Stimulation der beta1-adrenergen Rezepto-
ren bewirkt eine Erweiterung der Arterien, eine Erhöhung der Herzfrequenz, eine Er-
weiterung der Bronchien, eine Renin-Auschüttung und eine gesteigerte Glykogenolyse
(Zuckerbildung). Beta-Blocker blockieren einen Teil der Erregungsübertragung vom
Sympathikus auf die Organe und bewirken dadurch eine niedrigere Pulsrate, eine Sen-
kung des erhöhten Blutdrucks und eine Hemmung der Schweißsekretion.
Beta-Blocker verhindern einen Adrenalinstoß. Beta-Blocker (z.B. vorübergehende
Einnahme von 20-40 mg Inderal® bzw. Dociton®) schwächen den physiologischen Teil
der Angstreaktion, indem weniger Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt und dadurch
Herzfrequenz und Blutdruck gesenkt und das Kreislaufsystem stabilisiert werden. Beta-
Blocker wirken bei „nervösem“ Herzrasen (hyperkinetischem Herzsyndrom) so zuver-
lässig, dass die Diagnose falsch ist, wenn sie versagen. Es handelt sich dann um andere
Ursachen (z.B. Schilddrüsenüberfunktion, schwere psychische Krankheiten).
Beta-Blocker verhindern durch die reduzierte Stimulation der beta-adrenergen Re-
zeptorfunktionen die Rückmeldung körperlicher Veränderungen an das Gehirn. Körper-
liche Veränderungen im Rahmen von Angstreaktionen werden damit nicht wahrge-
nommen, wodurch eine Aufschaukelung der Ängste verhindert wird, d.h. der Teufels-
kreis der Angstaufschaukelung wird unterbrochen. Anders ausgedrückt: Man erlebt
weniger körperliche Angstsymptome und fühlt sich dadurch weniger ängstlich. Beta-
Blocker bewirken eine Entkoppelung von psychischen und vegetativen Symptomen.
Während die körperlichen Symptome der Angst relativ gut verhindert bzw. beseitigt
werden können, sind die psychischen Symptome der Angst (Nervosität, Reizbarkeit,
Ruhelosigkeit) durch Beta-Blocker weniger gut behandelbar. Beta-Blocker machen
nicht abhängig und sind weniger sedierend als Benzodiazepine. Sie bewähren sich daher
bei einigen Situationsphobien (Auftritt von Solisten, Sängern oder Schauspielern, Rede-
angst in der Öffentlichkeit, Prüfungsängste). Die Einnahme von Beta-Blockern ist sinn-
voll eine halbe Stunde vor einer Prüfung oder einer anderen akuten Belastungssituation.
Herzrasen, Erröten und Zittern stellen zentrale Symptome vieler Angstzustände dar.
Beta-Blocker reduzieren die unangenehmen körperlichen Symptome, ohne gleich-
zeitig Aufmerksamkeit und Konzentration zu beeinträchtigen, sodass die volle Lei-
stungsfähigkeit gegeben ist, d.h. Beta-Blocker wirken nicht dämpfend wie die Benzo-
diazepine. Beta-Blocker sind in ihrer Wirkung den Angst dämpfenden Antidepressiva
und Tranquilizern deutlich unterlegen. Wenn nicht die körperlichen, sondern die psychi-
schen Symptome im Vordergrund stehen, sollten primär Angst lösende Antidepressiva
eingenommen werden. Betablocker mögen zwar das Lampenfieber von Musikern redu-
zieren, wie die Praxis zeigt, helfen aber Sozialphobikern nicht im erwünschten Ausmaß.
676 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Antihistamine
Hydroxyzin Atarax® (D/Ö)) 37,5-75
Trizykl. Piperazinylderivat
Opipramol Insidon® (D/Ö) 50-200
Trizyklische
Antidepressiva
Amitriptylin Saroten® (D/Ö), Tryptizol® (Ö) 100-150 (300)
Clomipramin Anafranil® (D/Ö) 75-150 (300)
Doxepin Aponal® (D), Sinquan® (D), Sinequan® (Ö) 100-150 (300)
Imipramin Tofranil® (D/Ö) 75-200 (300)
Selektive Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer
(SSRI)
Citalopram Cipramil® (D), Seropram® (Ö) 20-40 (60)
Escitalopram Cipralex® (D/Ö) 10-20 (30)
Fluoxetin Fluctin® (D), Fluctine® (Ö), Mutan® (Ö) 20-40 (60)
Fluvoxamin Fevarin® (D), Floxyfral® (Ö) 100-150 (300)
Paroxetin Seroxat® (D/Ö), Tagonis® (D) 20-40 (60)
Sertralin Zoloft® (D), Gladem® (Ö), Tresleen® (Ö) 50-100 (200)
Selektiver Serotonin-
Noradrenalin-Wiederauf-
nahmehemmer (SNRI)
Duloxetin Cymbalta® (D/Ö) 60-120
Milnacipran Dalcipran® (Ö), Ixel® (Ö) (in D nicht auf dem Markt) 50-100 (200)
Venlafaxin Trevilor® retard (D), Efectin® ER (Ö) 75-150 (300)
Serotonin-
Wiederaufnahme-
verstärker (SRE)
Tianeptin Stablon® (Ö) (in D nicht auf dem Markt) 37,5
Noradrenalin-Serotonin-
spezifische-Antidepressiva
(NaSSA)
Mirtazapin Remergil® (D), Remeron® (Ö) 30-45
Selektive Noradrenalin-
Wiederaufnahmehemmer
(NARI)
Reboxetin Edronax® (D/Ö), Solvex® (D) 4-8
Serotonin-Modulatoren
Trazodon Thombran® (D), Trittico® (Ö) 150-200
Irreversible MAO-Hemmer
Tranylcypromin Jatrosom N® (D) (in Ö nicht mehr auf dem Markt) 20-40
Reversible
MAO-A-Hemmer (RIMA)
Moclobemid Aurorix® (D/Ö) 300-600
Antikonvulsiva
Pregabalin Lyrica® (D/Ö) 300-600
Atypische Neuroleptika
Olanzapin Zyprexa® (D/Ö) 5-15
Quetiapin Seroquel® (D/Ö) 150-300
Risperidon Risperdal® (D/Ö) 0,5-2
Beta-Blocker
Propranolol Dociton® (D), Inderal® (Ö) 10-40
Pharmakotherapie bei verschiedenen Angststörungen 679
„Selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRIs) stellen derzeit die Medikamente der ersten Wahl
für die Panikstörung dar. Typische Antidepressiva (TCAs) sind ebenso wirksam, werden aber weniger
gut vertragen als SSRIs. In therapieresistenten Fällen können Benzodiazepine wie Alprazolam verwen-
det werden, wenn bei diesen Patienten anamnestisch keine Abhängigkeit oder Toleranz bekannt ist…
Für die Behandlung der generalisierten Angststörung können Venlafaxin und die SSRIs empfohlen
werden; alternativ kommt eine Behandlung mit Buspiron und Imipramin infrage. (Pregabalin stellt eine
neue Therapieoption dar.) Für die soziale Angststörung werden SSRIs (und Venlafaxin) als Medika-
mente der ersten Wahl und … Moclobemid und Benzodiazepine als Mittel der zweiten Wahl empfoh-
len. Die Zwangsstörung wird mit SSRIs und Clomipramin behandelt. In therapieresistenten Fällen kann
ein SSRI mit einem atypischen Neuroleptikum kombiniert werden. Für die medikamentöse Behandlung
der posttraumatischen Belastungsstörung stellen SSRIs die Mittel der ersten Wahl dar.“
Bei Angst- und Panikstörungen ist folgender Ablauf relevant: Eine Aktivierung des
Locus coeruleus bewirkt eine erhöhte Noradrenalin-Freisetzung und damit einen erhöh-
ten Blutdruck und eine erhöhte Herzfrequenz. Im Hypothalamus bewirkt der Nucleus
paraventricularis eine erhöhte Aktivität des endokrinen Stresshormonsystems, was zur
erhöhten Freisetzung von Kortikosteroiden führt. Es kommt also zu einer sehr starken
Aktivierung des sympathischen Nervensystems. Neben der SSRI-bedingten vermehrten
Serotoninfreisetzung in den Raphekernen verstärken Benzodiazepine den Effekt des
hemmenden (inhibitorischen) Transmitters GABA und wirken damit beruhigend.
In der Akuttherapie bewähren sich laut Studien die hoch potenten Benzodiazepine
Alprazolam, Clonazepam und Lorazepam, die zwar weniger Nebenwirkungen aufwei-
sen als Tranquilizer wie Diazepam, bei höherer Dosis aber dennoch unerwünschte Ne-
benwirkungen haben. Benzodiazepine sollten bei akuter Paniksymptomatik nicht länger
als 1-2 Wochen und insgesamt wegen der Abhängigkeitsgefahr nicht länger als 4-6
Wochen verordnet werden (Absetzversuche sind nach spätestens 6 Wochen angezeigt).
Die Wirksamkeit der trizyklischen Antidepressiva Imipramin und Clomipramin ist
gut belegt. In den USA wurde das trizyklische Antidepressivum Imipramin bereits 1959
erstmals bei einer Panikstörung eingesetzt und galt in der Forschung bislang als Stan-
dard- und Referenz-Substanz. In Deutschland wurde Clomipramin, das potenteste Sero-
tonin-Wiederaufnahme-hemmende Trizyklikum, als erstes Antidepressivum mit der
Indikation für die Panikstörung zugelassen. Später waren in der klinischen Praxis und in
kleineren Studien auch andere Trizyklika (Amitriptylin, Doxepin) wirksam.
Wegen des günstigeren Nebenwirkungsprofils haben sich im Laufe der Jahre die
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer als Mittel der ersten Wahl erwiesen. Studien bele-
gen die Wirksamkeit der sechs SSRI (Fluctine, Paroxetin, Fluvoxamin, Sertralin, Cita-
lopram, Escitalopram). Sie wirken erst nach 2-4 Wochen, spätestens nach 8 Wochen
und sollten 6-12 Monate lang eingenommen werden. In den ersten zwei Wochen erfolgt
bis zur vollen Wirksamkeit des SSRI die Kombination mit einem Tranquilizer (Alprazo-
lam oder Lorazepam 0,5-1 mg), was der Akutwirkung und der Unterdrückung mögli-
cher Nebenwirkungen dient. Wegen des im Vergleich zu anderen SSRI günstigeren
Interaktionsprofils mit anderen Medikamenten wurde früher oft die Kombination mit
Sertralin gewählt, in neuerer Zeit ist immer häufiger Escitalopram das Mittel der ersten
Wahl bei einer anfänglichen Kombinationstherapie mit Alprazolam oder Lorazepam.
In neuerer Zeit wurde die Wirksamkeit des Serotonin-Noradrenalin-Wiederauf-
nahmehemmers Venlafaxin sowie auch (wenngleich noch nicht ausreichend genug be-
legt) des Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmers Reboxetin nachgewiesen. Weil viele
Panikpatienten im Vergleich zu depressiven Patienten körperlich sensibler sind und
Nebenwirkungen schwerer tolerieren können, sollte eine einschleichende Verordnung
von SSRI und Venlafaxin erfolgen, d.h. anfangs jeweils nur eine halbe Tablette des
jeweiligen Präparats, um die Wirkung zu testen und die Compliance zu fördern. Als
dritte Wahl sind Gabapentin oder Mirtazapin zu überlegen. Der RIMA Moclobemid
sowie der 5-HT1A-Agonist Buspiron zeigten keine bzw. keine ausreichende antipanische
Wirksamkeit. Beta-Blocker, die nur die vegetativen, nicht jedoch die psychischen Sym-
ptome der Angst vermindern und für Panikpatienten auch in niedrigeren Dosierungen
unangenehme Nebenwirkungen haben können (z.B. Herzschlagverlangsamung, Blut-
druckabsenkung), sind ebenfalls unwirksam. Die hohe Placeborate (30-50%) bei Studi-
en zur medikamentösen Angstbehandlung weist darauf hin, dass gerade Menschen mit
einer Panikstörung auch durch Placebos motivierbar sind, weil sie nach einer oft lang
dauernden Resignation wieder Hoffnung schöpfen, dass ihr Zustand änderbar ist.
Pharmakotherapie bei verschiedenen Angststörungen 681
Bei der generalisierten Angststörung werden aus neurobiologischer Sicht ähnliche Fehl-
regulierungen angenommen wie bei der Panikstörung, vor allem eine Störung zentraler
Serotoninsysteme. Als Mittel der ersten Wahl gelten laut Studien bestimmte Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer (Paroxetin, Escitalopram, Sertralin) und die Serotonin-
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Venlafaxin (XR) und Duloxetin. Die Behand-
lungsdauer beträgt 6-12 Monate, viele Fachleute empfehlen 1-2 Jahre wegen des chroni-
schen Verlaufs. Antidepressiva sind schon allein wegen der hohen Komorbidität mit
depressiven Störungen sinnvoll. Sie mildern vor allem die psychischen Symptome der
generalisierten Angststörung (ständige Sorgen, Anspannung, Grübeln, Ängste im zwi-
schenmenschlichen Bereich). Nach älteren Studien ist auch das trizyklische Antidepres-
sivum Imipramin wirksam. Beta-Blocker lindern zwar die vegetative Begleitsymptoma-
tik, beeinflussen jedoch nicht die Kernsymptomatik der generalisierten Angststörung.
Zur Akutbehandlung haben sich laut Studien auch hoch potente Benzodiazepine
(Alprazolam, Diazepam, Lorazepam) bewährt, über einen etwas längeren Zeitraum als
Mittel der zweiten Wahl auch Nicht-Benzodiazepin-Tranquilizer, die insbesondere bei
suchtgefährdeten Patienten mit generalisierter Angststörung eingesetzt werden können:
z Opipramol, das den trizyklischen Antidepressiva nahe steht und bereits seit einigen
Jahrzehnten auf dem Markt ist, hat sich in einer Studie als erfolgreich erwiesen.
z Hydroxyzin, das antihistaminerge, adrenolytische und anticholinerge Eigenschaften
hat und in höherer Dosierung stark sedierend wirkt, hat sich in einer Studie bei nied-
riger, nicht sedierender Dosis als wirksames Angstmittel gezeigt.
z Buspiron, ein Azapiron und ein 5-HT1A-Agonist, wurde in der Vergangenheit auf-
grund von Studien als das Mittel der ersten Wahl angesehen, verliert jedoch zuneh-
mend seine Bedeutung durch den Siegeszug der SSRI.
z Pregabalin, ein Kalziumkanalmodulator aus der Gruppe der Antiepileptika, wurde
in neuerer Zeit ebenfalls als wirksame Substanz nachgewiesen.
Während es bei spezifischen Phobien trotz des Einsatzes von Benzodiazepinen und
verschiedenen SSRI in bestimmten Fällen keine umfangreichen Wirksamkeitsstudien
gibt, wurden im Bereich der sozialen Phobien in den letzten Jahren zahlreiche Wirk-
samkeitsstudien durchgeführt. Als Mittel der ersten Wahl gelten die Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer Fluvoxamin, Paroxetin, Fluoxetin, Sertralin, Citalopram und
Escitalopram sowie der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Venlafaxin.
Die Erfolgsrate liegt bei ca. 50%
682 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Bereits Ende der 1960er-Jahre wurde die Effizienz von Clomipramin bei der Behand-
lung von Zwangsstörungen erkannt. Heute gelten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
(Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin, Citalopram, Escitalopram) als Mittel der
ersten Wahl. Sie sind auch dann indiziert, wenn neben den Zwängen eine Depression
besteht, wenn Zwangsgedanken dominieren, wenn eine Verhaltenstherapie ohne ausrei-
chenden Erfolg endet, wenn der Patient noch nicht zu einer Konfrontationstherapie mit
Verzicht auf Rituale bereit ist. Aus neurobiologischer Sicht besteht bei Zwangsstörun-
gen neben einer Störung des kortiko-striato-thalamo-kortikalen Regelkreises und einer
manchmal zusätzlich gegebenen anderen Störung des Gehirns eine serotonerge Dys-
funktion, die auch durch den Befund bestätigt wird, dass durch die Verabreichung des
Serotoninagonisten m-Chlorophenylpiperazin (m-CPP) eine Verschlechterung der
Zwangssymptomatik auftritt. Das bisher bekannte Wissen zur pharmakotherapeutischen
Behandlung von Zwangsstörungen lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
z Zur Wirksamkeit des trizyklischen Antidepressivums Clomipramin liegen zwar
verschiedene Studien vor, wegen möglicher Herz-Kreislauf-Probleme und anticholi-
nerger Nebenwirkungen (Mundtrockenheit, Schwitzen u.a.) sind jedoch SSRI zu be-
vorzugen. Clomipramin kann aufgrund anticholinerger Nebenwirkungen auch Ge-
dächtnisstörungen bewirken, was gerade bei Menschen mit Zwangsstörungen sehr
ungünstig ist. Der umfangreichste Effizienznachweis stammt aus einer groß angeleg-
ten Studie an 520 Zwangspatienten, wo mehr als die Hälfte so gut auf Clomipramin
ansprachen, dass sie im Alltagsleben nicht oder kaum mehr eingeschränkt waren.
z Mittlerweile gibt es zahlreiche große Studien mit Zwangspatienten, die mit SSRI
mindestens so erfolgreich behandelt wurden wie mit Clomipramin, allerdings bei
deutlich geringeren Nebenwirkungen. Die SSRI bewirken eine gewisse Distanzie-
rung gegenüber der Bedrängung durch die Zwänge, ohne diese zu beseitigen.
z Zur optimalen Wirksamkeit ist eine höhere Tagesdosis nötig als bei Depressionen
oder Angst- und Panikstörungen (Clomipramin: bis zu 300 mg, Fluvoxamin: bis zu
300 mg, Fluoxetin: bis zu 80 mg, Paroxetin: bis zu 60 mg, Sertralin: bis zu 200 mg,
Citalopram: bis zu 60 mg, Escitalopram: bis zu 30 mg, Venlafaxin: bis zu 300 mg).
z Zur Vermeidung von unerwünschten Nebenwirkungen, die zur Beendigung der
Medikamenteneinnahme führen könnten, ist eine einschleichende Dosierung ange-
zeigt (anfangs sehr niedrige und langsam steigende Dosierung). Dies ist besonders
wichtig bei einer Unverträglichkeit von Fluoxetin, das zusammen mit dem aktiven
Metaboliten im Vergleich zu anderen Substanzen eine lange Halbwertszeit aufweist.
z Der therapeutische Effekt der SSRI in der Behandlung von Zwangsstörungen setzt
oft erst später ein als bei Depressionen und Panikstörungen. Der sichtbare Wir-
kungseintritt erfolgt häufig erst nach 6-12 Wochen. Ein SSRI sollte zumindest über
12 Wochen eingenommen werden, bevor der Erfolg beurteilt und ein Medikamen-
tenwechsel erwogen wird. Bei 30% bleibt eine SSRI-Monotherapie erfolglos.
z Bei Wirkungslosigkeit nach 3 Monaten sollte ein Umstieg auf einen anderen SSRI
erfolgen. Wenn auch ein dritter SSRI wirkungslos bleibt, sollte eine alternative The-
rapie versucht werden, z.B. eine Kombination von zwei SSRI, ein Serotonin-
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (Venlafaxin) oder die Zugabe eines atypi-
schen Neuroleptikums zur Affektdistanzierung (z.B. Risperidon oder Quetiapin),
doch ist hier die Dosis deutlich geringer als bei schizophrenen Patienten. Bei diesen
Medikamenten sind jedoch mehr Nebenwirkungen wahrscheinlich als bei SSRI.
684 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
„Für die Placebobehandlungen bei verschiedenen körperlichen und psychischen Krankheiten sowie
Symptomen wurde eine durchschnittliche Placeboreagibilität von 35 bis 42% errechnet (Netter et al.
1986) ... Die größten Effekte wurden bei Erkältungen, Magen-Darm-Störungen, Rheuma, multipler
Sklerose, bei Angina pectoris, Neurosen und Psychosen erzielt. Asthmapatienten regierten in 35% der
Fälle auf die orale Gabe von Placebos mit einer Reduktion ihrer Asthmabeschwerden und in 53% auf
die Placeboinjektion ... Kopfschmerzpatienten reagierten je nach Studie in 46 bis 96% auf Placebo,
Migränekopfschmerz besserte sich bei den Kranken zwischen 20 und 58%. In 11 Doppelblindstudien
von 1959 bis 1974 an 908 Patienten mit vergleichbarer Schmerzintensität gaben 36% der Untersuchten
unter Placebo eine Verminderung der Beschwerden um mehr als die Hälfte an ... Auch andere Schmer-
zen mit gesichertem morphologischen Substrat (Tumor, Operationswunde, Wehen) konnten durch eine
Placebobehandlung gebessert werden, wobei die Belastung von Patienten mit Streß die Wirksamkeit
der Placebos erhöhte (10mal so wirksam ...).“
Placebos wirken am besten bei Symptomen oder Störungen, die zeitlichen Schwankun-
gen unterliegen, z.B. bei Depressionen, Angststörungen und chronischen Schmerzen.
Bei der Verabreichung von Placebos als Schmerzmittel oder als Psychopharmaka (z.B.
als Beruhigungsmittel) erlebten bis zu 70% der Patienten eine lindernde Wirkung. 40%
gaben sogar Nebenwirkungen an. Nach einer US-Studie über 50 Wochen macht es bei
jenen Patienten, die so früh auf eine antidepressive Therapie angesprochen hatten, dass
ein Placeboeffekt angenommen werden muss, keinen Unterschied, ob sie in der Lang-
zeittherapie ein Placebo oder ein SSRI-Antidepressivum erhielten.
Eine Placeboreaktion ist wahrscheinlicher, wenn die Behandlung auf eine Funktion
des Zentralnervensystems gerichtet ist (wie bei psychischen Störungen). Das Vorhan-
densein von Angst ist die beste Voraussetzung für eine Placebowirkung. Die Angst-
spannung wird durch die suggestiven Effekte rund um die Placebobehandlung reduziert.
Patienten ohne Angst reagieren auf Placebos schlechter.
Die britische Psychologe Irving Kirsch [40] veröffentlichte 1998, 2002 und 2008
drei Meta-Analysen von Antidepressiva-Studien. Antidepressiva-Wirkungen würden
meist auf Placeboeffekten beruhen und nur bei sehr schweren Depressionen echt sein.
Bei der ersten Meta-Analyse von 19 Doppelblindstudien fand er einen Placeboeffekt
von 75% (Verbesserungen beruhen zu 25% auf dem Antidepressivum, zu 51% auf dem
Placeboeffekt und zu 24% auf anderen Faktoren, bekannt als „Spontanremissionen“). In
einer zweiten Meta-Analyse von 30 Antidepressiva-Studien ergab sich ein Placebo-
effekt von 78%. Bis zu 80% der Versuchspersonen konnten erraten, ob sie sich in der
Verum- oder in der Placebogruppe befanden. Dies hängt mit den Nebeneffekten des
Versuchspräparats zusammen, die den Studienteilnehmern vor Beginn der Behandlung
mitgeteilt werden müssen. Die Erkenntnis der Versuchsteilnehmer „Je mehr Nebenwir-
kungen, desto eher befindet man sich in der Behandlungsgruppe“ stärken den Glauben
an die Wirksamkeit des Medikaments. Dieser Umstand hat zur Folge, dass im Doppel-
blind-Versuch mit mehreren Antidepressiva und Placebos jene Tabletten am besten
wirkten, die die spürbarsten Nebenwirkungen hatten. Die dritte, 2008 veröffentlichte
Meta-Analyse beruht auf 35 Studien mit Antidepressiva, die zwischen 1989 und 1999 in
den USA zugelassen wurden (Fluoxetin, Paroxetin, Venlafaxin und das mittlerweile aus
dem Handel genommene Nefadozon; die Studien mit Sertralin und Citalopram wurden
wegen unvollständiger Datenlage nicht einbezogen). Dabei entsprach die Placebowir-
kung bei etwa 80% der Wirkung der modernen Antidepressiva. Nicht bei leichten und
mittelschweren, sondern nur bei sehr schweren Depressionen (Werten ab 28 bei der
Hamilton-Depressions-Skala) bestand eine antidepressive Wirksamkeit. Bei dieser
schwer kranken Patientengruppe sei der Placeboeffekt geringer, sodass Antidepressiva
deswegen bessere Wirkung zeigen würden. Nur diese Patienten sollten SSRI erhalten.
Der Placeboeffekt von Medikamenten 687
Studien ergaben, dass nicht nur Patienten, sondern auch Ärzte in Doppelblindstudien
mit hoher Wahrscheinlichkeit erraten können, ob der Patient eine aktive Substanz oder
ein Placebo erhält. Versuchspersonen können aufgrund der ihnen bekannten Nebenwir-
kungen des Verums (z.B. Mundtrockenheit, Übelkeit, Schwindel) in bis zu 80% der
Fälle richtig raten, ob sie sich in der Verum- oder in der Placebogruppe befinden.
Placebos können ähnliche und ebenso lang anhaltende Verhaltensänderungen her-
vorrufen wie pharmakologisch aktive Substanzen. 30-60% der Wirkung aller Medika-
mente und aller therapeutischen Maßnahmen sind auf den Placeboeffekt zurückzufüh-
ren, d.h. auf die positiven Erwartungen von Arzt bzw. Therapeut und Patient. Placebo-
effekte sind auch bei Psychotherapien wirksam, was durchaus positiv zu bewerten ist.
Deutsche Psychiater [41] schreiben über Placeboeffekte:
„Ein Placebo-Effekt konnte auch beim Vergleich von Placebopatienten einer Doppelblindstudie mit
einer ‚no pills’ Gruppe nachgewiesen werden ... Allerdings wird die ‚Blindheit’ pharmakologischer
Studien immer wieder in Frage gestellt, da ja erfahrene Ärzte, aber auch die Patienten anhand der
Nebenwirkungen vermuten können, ob es sich bei dem Medikament um Verum oder Placebo handelt ...
Andererseits werden in einer Medikamentenstudie tatsächlich vorhandene Verum/Placebo-Unterschiede
nicht selten dadurch verwischt, daß durch die Zuwendung, die die Patienten bei einer aufwendigen
Studie erhalten, Placebo- und Verumpatienten gleichermaßen einer unspezifischen Psychotherapie
unterliegen...
Das Ausfüllen von Angstskalen dürfte einen ähnlichen Effekt haben wie eine kognitive Therapie:
Der Patient lernt, welche Symptome zu der Angsterkrankung gehören. Untersuchungen, die von der
pharmazeutischen Industrie gesponsert werden, unterliegen einem weiteren Problem, dem ‚publication
bias’. Studien, in denen sich das Prüfmedikament nicht besser oder gar schlechter wirksam als Placebo
zeigte, werden seltener veröffentlicht ...“
„Die Placeboreaktion ... wird durch Linderung der Angstzustände und mentale Suggestion erklärt ...
Man glaubt, daß ängstliche Patienten der Suggestion leichter zugänglich sind. Shapiro behauptete sogar,
daß Patienten ohne Angst generell schlechter auf Placebos reagieren ...
Subjektiv stark empfundene Hilfsbedürftigkeit erhöht ebenfalls die Reaktionsfähigkeit auf Place-
bos. Besonders empfänglich sind psychomotorisch Kranke mit begleitenden Angst- und Depressionszu-
ständen aufgrund ihrer Verunsicherung, ihres fehlenden Selbstvertrauens und ihres Entscheidungsfä-
higkeitsverlustes ...
Immer wieder hat sich gezeigt, daß eine Medizin dann am besten wirkt, wenn die Not am stärksten
empfunden wird. Hierbei wird gerne von Streßfaktoren gesprochen, die durch Krankheitssymptome wie
Fieber, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Schmerzen, sowie das damit verbundene ‚psychische Elend’ in Form
von Angst, Depression, Verstimmung, geringer Selbstachtung und fehlender sozialer Unterstützung
(Krankenrolle) ausgelöst werden. In einem solchen emotional-aktivierten Zustand ist der Patient beein-
flußbar und reagiert deshalb besser auf Placebos. Der universellen Wirksamkeit des Placebos entspricht
auch die Vorstellung, daß die Streßwirkung die gemeinsame Grundlage aller Adaptationsreaktionen des
menschlichen Körpers ist ...
Cleghorn et al. konnten bei Patienten nach subkutaner Kochsalzinjektion eine Stimulierung der Ne-
bennierenrinde feststellen ... Durch Placebogabe kann also eine positive Streßreaktion im Sinne einer
Nebennierenrinden-Stimulation (NNR) ausgelöst werden. Beecher wies darauf hin, daß angstvolle
Patienten häufig Störungen der Nebennierenrinde (aktiviertes adrenerges System) aufweisen und mög-
licherweise deshalb besser auf Placebos reagieren.“
Experimentelle Einflussfaktoren
Bestimmte experimentelle Einflussfaktoren verstärken aufgrund der Erkenntnisse der
Placeboforschung den Effekt von Placebos [45]:
z Verabreichungsform. Injektionen und Infusionen wirken stärker als oral verabreichte
Kapseln oder Tabletten, Placebosalben besser als Placebotabletten.
z Aussehen (Form und Farbe). Blaue Tabletten werden als eher sedierend, rote oder
pinkfarbene als eher stimulierend erlebt. Weiße Tabletten stehen am unteren Ende
der Wirksamkeitsskala, farbige Pillen suggerieren spezifischere Wirkungsweisen.
Grüne Placebos helfen besonders bei Angstzuständen, blaue mehr bei Erregungszu-
ständen, gelbe mehr bei Depressionen, rote bei jeder Art von Schmerzen und Ent-
zündungen. Während früher viele Medikamente weiß und rund waren, wird heutzu-
tage von den Pharmafirmen auf die optische Gefälligkeit geachtet.
z Größe. Sehr kleine und sehr große Tabletten sind wirksamer als normal große.
z Geschmack. Präparate mit Geschmackszusätzen werden als wirkungsvoller be-
schrieben. Ein unangenehmer Geschmack wirkt stärker als ein angenehmer.
z Dosis. Hohe Dosierungen wirken stärker als niedrige.
Placebopräparate wirken sogar dann, wenn Arzt und Patient von Beginn an wissen, dass
ein Placebo verabreicht wird. Dies lässt sich durch langjährige Konditionierung erklä-
ren. Jedes im Laufe des Lebens eingenommene Kopfwehmittel verstärkt die Assoziation
zwischen der weißen Pille und dem Gefühl der Besserung. Medikamente wirken bei
Studien oft besser als im klinischen Alltag. Dies hängt damit zusammen, dass die Ärzte
bei einer Studie mit den Patienten aufgrund der häufigen und ausführlichen Befragun-
gen intensiver in Kontakt treten müssen, als dies in der Alltagspraxis der Fall ist. Bei
einer internationalen Studie der Weltgesundheitsorganisation über den Effekt der medi-
kamentösen Behandlung bei Panikstörungen mit Alprazolam (D: Tafil®, Ö: Xanor®) und
Imipramin (Tofranil®) ergab sich der Befund, dass dieselben Medikamente bei Patienten
in der Dritten Welt eine viel bessere Wirkung aufwiesen als in der westlichen Welt.
Aufgrund der Art der Studie mussten sich die Ärzte mehr mit ihren Patienten beschäfti-
gen, als dies in der Dritten Welt üblich ist. Neben den Medikamenten wirkte der ver-
mehrte Arzt-Patient-Kontakt zusätzlich heilsam. Die stärkere Arzt-Patient-Interaktion
bei Medikamentenstudien wird auch als zentraler Wirkeffekt bei Befindlichkeitsverbes-
serungen in Placebogruppen angesehen. Wenn für viele Menschen allein die Nähe zur
Medizin und zu Ärzten bereits Symptom lindernd wirkt, muss dieser Effekt auch in
Placebogruppen angenommen werden.
Der Placeboeffekt von Medikamenten 691
- „Die Placebowirkungen zur Schmerzreduktion könnte durch eine zentral vermittelte Endorphinfrei-
setzung zustandekommen (Netter et al. 1986).
- Viele der Placebowirkungen auf das Vegetativum sind den Körpereffekten nach Entspannungs-
techniken vergleichbar. Durch eine Fremd- bzw. Autosuggestion lassen sich entsprechende psychi-
sche und körperliche Veränderungen hervorrufen.
- Ein dritter Erklärungsansatz auf lerntheoretischer Grundlage bezieht sich auf Patienten, bei denen
eine Verumtherapie gewirkt hat und bei denen nun eine Wirkungserwartung gegenüber der Place-
botherapie besteht. Hierbei gilt das früher wirksame Pharmazeutikum als unkonditionierter Stimu-
lus, das Aussehen und die Applikationsart des Präparates, der Ort der Einnahme und das Pflegeper-
sonal als neutraler Stimulus, der in der Lage ist, die frühere positive Wirkung des unkonditionierten
Stimulus nun seinerseits hervorzurufen ...
- Nach einem attributionstheoretischen Modell könnte der Patient zufällige Änderungen des körperli-
chen und psychischen Befindens auf das Placebo beziehen und ihm die Ursachen für die Verände-
rungen zuschreiben.“
Der Placeboeffekt ist ein unspezifischer Behandlungseffekt, der bei jeder medizinischen
und psychotherapeutischen Behandlung wirksam ist. Er stellt eine unbewusste Aktivie-
rung der Selbstheilungskräfte des Menschen dar und ist keineswegs bloß Einbildung,
sondern hat durchaus klar und objektiv messbare körperliche Gesundungseffekte.
Die genaue Wirksamkeit von Placebos beruht auf den komplizierten Zusammenhän-
gen zwischen Psyche, Nerven- und Immunsystem. Mögliche Wirkmechanismen sind
Konditionierung, Entwicklung einer Erwartungshaltung und Freisetzung endogener
Überträgersubstanzen einschließlich der Endorphine (körpereigene Peptide mit mor-
phinähnlicher Wirkung) und der adrenalinähnlichen Katecholamine.
Die Wirksamkeit von Placebos bei körperlichen Störungen kann nicht bloß durch
Einbildung und Erfolgserwartung erklärt werden. Vielmehr ist bereits seit längerem
nachgewiesen, dass zumindest bei bestimmten Schmerzpatienten der Glaube an die
Schmerz dämpfenden Effekte des Placebos zur Ausschüttung endogener analgetisch
wirkender Stoffe führt. Es handelt sich dabei um die vermehrte Ausschüttung von En-
dorphinen, d.h. körpereigenen Opiaten zur Schmerzdämpfung. Endorphine als körperei-
gene Agonisten binden an denselben Rezeptoren des Schmerz dämpfenden Systems
(Opioidrezeptoren) wie Analgetika. Endorphine hemmen dadurch die Ausschüttung
Schmerzimpuls vermittelnder Neurotransmitter. Die freigesetzten Endorphine blockie-
ren die vom Hinterhorn des Spinalmarks eintreffenden Schmerzimpulse.
Die durch das Placebo bewirkte Schmerzdämpfung nimmt nach einiger Zeit ab, d.h.
es setzt eine Toleranz ein, die durch eine Dosissteigerung überwunden werden muss –
ein typischer Suchtmechanismus. Bei plötzlichem Absetzen des Placebos können sogar
Entzugserscheinungen auftreten. Der analgetische Effekt des Placebos lässt sich zumin-
dest bei einem Teil der Patienten durch einen Opiatantagonisten (z.B. Nalaxon mit dem
Präparat Narcanti®) aufheben. Der Umstand, dass die Schmerzdämpfung bei einem Teil
der Patienten trotz der Blockierung der Endorphinrezeptoren anhält, weist darauf hin,
dass Placebos noch über andere Schmerz hemmende Systeme wirken müssen, die ande-
re Neurotransmitter freisetzen.
Laut einer PET-Studie führen positive Erwartungen im Sinne des Placeboeffekts
auch zur vermehrten Ausschüttung von Dopamin, das einen Belohnungseffekt darstellt.
692 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Grundsätzlich achte ich bei einer Verhaltenstherapie von Menschen mit Angst- und
Panikstörungen auf folgende Aspekte:
z Aufbau einer guten Therapiebeziehung. Das Vertrauen zum Therapeuten und die
Erwartung von Erfolg sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass die Betroffenen an
ihre baldige Selbstkompetenz glauben können. Wie groß der Placeboeffekt im Sinne
einer Selbstheilungstendenz ist, habe ich in den letzten Jahren an dem Umstand er-
kannt, dass viele Angstpatienten – noch ohne mich persönlich zu kennen – aufgrund
meiner Bücher und meiner Homepage www.panikattacken.at die Hoffnung auf Er-
folg entwickelt haben.
z Vermittlung störungsspezifischer Informationen. Ein besseres Verständnis der Sym-
ptome und Dynamiken einer Angststörung ist bereits ein erster Schritt zu deren Be-
wältigung. Die Erkenntnis der Körper-Seele-Zusammenhänge, wie sie durch die be-
kannten psychophysiologischen Modelle vermittelbar ist, beendet die fruchtlosen
Diskussionen, was biologisch (und daher nur mit Psychopharmaka) und was psycho-
logisch (und daher nur durch eine lange Psychotherapie) veränderbar ist.
z Genaue Problem- und Verhaltensanalyse. Die genaue Kenntnis der individuellen
(körperlichen, emotionalen und kognitiven) Faktoren und der systemischen (partner-
schaftlichen, familiären und beruflichen) Faktoren, die die Angststörung bewirkt ha-
ben und gegenwärtig aufrechterhalten, erlauben präzisere und effektivere Interven-
tionen als die blinde Anwendung von Techniken und Strategien, die angeblich be-
reits aus sich selbst heraus wirksam sind.
z Vermittlung eines besseren Selbstverständnisses hinsichtlich der Zusammenhänge
zwischen der spezifischen Angststörung und der persönlichen Lebenssituation. Viele
Angstpatienten sind erst dann für verhaltenstherapeutische Interventionen offen,
wenn sie plausible Antworten bekommen haben auf Fragen wie „Warum gerade
ich?“, „Warum gerade jetzt?“, „Warum hat bisher noch nichts geholfen?“
z Individueller Therapieplan. Das konkrete Vorgehen richtet sich primär nach den
Ergebnissen der Verhaltensanalyse und den Zielen des Patienten.
z Stellenwert behavioraler Techniken. Die Konfrontationstherapie wird als sehr wich-
tig dargestellt und durch konkrete Hilfestellungen vorbereitet, erfolgt jedoch immer
ohne Therapeutenbegleitung. Die Erfahrung hat mich gelehrt, wenn Agoraphobie-
und Panikpatienten nicht zu einer heftigen Panikattacke bereit sind (wie dies anfangs
oft der Fall ist), hat eine massierte Konfrontationstherapie wenig Sinn. Wichtiger
sind mir dagegen mentale und körperbezogene Übungen im Therapieraum.
z Kognitive Therapie. Oft reichen, wie meine langjährige persönliche Erfahrung zeigt,
kognitive Interventionen aus, was durch die neuere Therapieforschung bestätigt ist.
z Systemische (interaktionelle, psychosoziale) Aspekte. Die Berücksichtigung partner-
schaftlicher, familiärer und/oder beruflicher Probleme stellt sich oft als entscheiden-
der Faktor für einen raschen Therapieerfolg heraus.
z Sonstige Hilfen (Psychopharmakotherapie, Phytotherapie). Es ist das Idealziel, die
jeweilige Angststörung ohne Medikamente zu bewältigen, wenn die Betroffenen
dies wünschen, ich unterstütze jedoch als Psychologe die vorübergehende Einnahme
von chemischen oder pflanzlichen Mitteln und fördere die nötige Compliance.
z Therapiedauer. Es gilt das Motto: „So kurz wie möglich, so lange wie notwendig.“
Als Verhaltenstherapeut in Österreich, wo es keine Kassenverträge, sondern für alle
Patienten nur einen Kostenzuschuss gibt, muss ich unter Berücksichtigung der be-
grenzten finanziellen Ressourcen vieler Patienten mit noch weniger Stunden aus-
kommen, als dies für eine Verhaltenstherapie ohnehin typisch ist.
Anmerkungen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
115. Bandelow et al.,1995, a.a.O., S. 454; Barlow & Lehman,1996, a.a.O.; Margraf & Schneider,
1996, a.a.O., S. 24 f.
116, Ruhmland & Margraf, 2001, a.a.O.
117. Boerner, 1995, a.a.O., S. 214
118. Neumer & Margraf, 1996, a.a.O., S. 548
119. Barlow & Lehman, 1996, a.a.O., S. 729
120. Dugas, Robichaud, 2007, a.a.O.
121. Barlow & Lehman, 1996, a.a.O., S. 732
122. Barlow & Lehman, 1996, a.a.O., S. 731 f.; Juster et al., 1996, a.a.O.
123. Ruhmland & Margraf, 2001, a.a.O.
124. Stangier et al., 2006, a.a.O., S. 95
125. Diese beeindruckende Studie kann unter www.cochrane.org heruntergeladen werden.
126. Hand, 1992, a.a.O., S. 169; 1995, a.a.O.
127. Foa & Kozak, zit. nach Barlow & Lehman, 1996, a.a.O., S. 730 f.; Hand, 1993, a.a.O.; 1995,
a.a.O., S. 16
128. Hand, 1995, a.a.O., S. 16
129. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 128; Reinecker & Zaudig, 1995, a.a.O.
130. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 114 ff.
131. Hand, 1992, a.a.O., S. 165 f.
132. Marks, zit. nach Volk, 1994, a.a.O., S. 113
133. Foa & Liebowitz, zit. nach Barlow & Lehman, 1996, a.a.O., S. 731
134. Hohagen et al., 1997, a.a.O.
135. Barlow & Lehman, 1996, a.a.O., S. 732
136. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 88 f.
137. Möhlenkamp, 1995, a.a.O.
138. Bronisch, 1995a, a.a.O., S. 58
139. Möhlenkamp, 1995, a.a.O., S. 377 f.
140. Möhlenkamp, 1995, a.a.O., S. 378
141. Möhlenkamp, 1995, a.a.O., S. 376
142. Möhlenkamp, 1995, a.a.O., S. 376
143. Möhlenkamp, 1995, a.a.O., S. 376
Kapitel 7
Kapitel 8
1. Gosh & Marks, 1987, a.a.O.; Gould et al., 1993, a.a.O.; Gould & Clum, 1995, a.a.O.; Thiels et
al., 1995, a.a.O.; Angenendt, 1996, a.a.O.
2. Antony & Stein, 2008, a.a.O.
3. Wittchen et al., 1995, a.a.O.
4. Wittchen et al., 1995, a.a.O., S. 65 ff.
5. Becker & Schneider,1995, a.a.O., S. 417; Schmidt-Traub, 2008, a.a.O.
6. modifiziert nach Leidig, 1994, a.a.O., S. 89 f.
7. Beck et al., 1985; Margraf & Schneider, 1990, a.a.O., S. 72; Peurifoy, 2006, a.a.O.
8. Kossak, 1993, a.a.O.; Alman & Lambrou, 1995, a.a.O.
9. modifiziert nach Eberspächer, 1995, a.a.O., S. 71
10. zit. nach Wahl & Kohl, 1995, a.a.O., S. 457
11. Bernstein & Borkovec, 1982, a.a.O., S. 67 ff.
12. Hanisch & Ferstl, 1993, a.a.O.
13. Keller, 1995, a.a.O., S. 66
14. Keller, 1995, a.a.O., S. 64 u. 85
15. Mathews et al., 1994, a.a.O., S. 60
16. modifiziert nach Mathews et al., 1994, a.a.O., S. 61
17. Marks, 1993a, a.a.O., S. 224
18. Mathews et al., 1994, a.a.O., S. 39 ff.
19. Christmann, 1996, a.a.O.
20. Christmann, 1996, a.a.O.
21. Reinhardt, 1993, a.a.O.; Eberspächer, 1995, a.a.O.
22. Christmann, 1996, a.a.O., S. 55 f.
23. Es handelt sich dabei um Techniken aus der Hypnose und dem Neurolinguistischen Programmie-
ren (NLP).
24. Calhoun & Atkeson, 1994, a.a.O., S. 100
25. Pennebaker, 1993, a.a.O.; Calhoun & Atkeson, 1994, a.a.O., S. 100
26. Butollo & Höfling, 1984, a.a.O., S. 23
27. Meichenbaum, 1979, a.a.O.
28. Peurifoy, 2006, a.a.O.; Kaestele, 1994, a.a.O.; Schmidt-Traub, 2001, a.a.O.
29. Peurifoy, 2006, a.a.O.
30. Kaestele, 1994, a.a.O., S. 82 f.
31. Kaestele, 1994, a.a.O., S. 85 f.
32. Kaestele, 1994, a.a.O., S.106 f.
33. Schmidt-Traub, 2001, a.a.O.
34. Schmidt-Traub, 2001, a.a.O.
35. Wegner, 1995, a.a.O.
36. Lodes, 1991, a.a.O.
37. Lowen, 1984, a.a.O., S. 179
38. Kaluza, 1996, a.a.O.
39. Foa & Wilson, 1994, a.a.O., S. 190 ff.; es handelt sich dabei um ein radikales Programm
40. Baer, 2001, a.a.O.; dieses Buch ist Betroffene und Fachleute geeignet
41. Hoffmann, 1996, a.a.O.; dieses Buch ist nach wie vor ein „Dauerbrenner“
42. Ambühl, 2004, a.a.O.; dies ist das neueste und wohl beste Selbsthilfebuch bei Zwängen
43. Jurecka, 1996, a.a.O., S. 7 f.
44. Schwartz & Beyette, 1997, a.a.O.
45. Schwartz & Beyette, 1997, a.a.O., S. 26
46. Schwartz & Beyette, 1997, a.a.O., S. 30
Kapitel 9
Kapitel 10
1. Kapfhammer, 1995, a.a.O.; Kasper, 1995, a.a.O.; Laux et al., 1995, a.a.O.; Wurthmann, 1995,
a.a.O.; Brosch, 1996, a.a.O.; Poser & Poser, 1996, a.a.O.; Benkert & Hippius, 2009, a.a.O.
2. Kapfhammer, 1995, a.a.O., S. 273
3. Laux et al., 1995, a.a.O., S. 40 ff.
4. Kapfhammer, 1995, a.a.O., S. 276
5. Julien, 1997, a.a.O., S. 86
6. modifiziert nach Laux, 1993, a.a.O., S. 473
7. Laux, 1993, a.a.O.; S. 473; Kapfhammer, 1995, a.a.O., S. 273; Benkert & Hippius, 2009, a.a.O.;
8. Faust, 1995, a.a.O., S. 33
9. Faust, 1995, a.a.O., S. 217
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Hans Morschitzky, geb. 1952, Dr. phil., Klinischer Psychologe und Gesundheitspsycho-
loge, Psychotherapeut (Zusatzbezeichnungen „Verhaltenstherapie“ und „Systemische
Familientherapie“)
Er war seit 2002 auf der psychosomatischen Station der Nervenklinik beschäftigt und ist
seit 2005 auf der psychosomatischen Tagesklinik tätig.
Hans Morschitzky vertritt ein integratives Behandlungsmodell auf der Basis der Verhal-
tenstherapie unter Berücksichtigung anderer Psychotherapiemethoden.
In seinen bisher acht Büchern war es ihm immer wichtig, zentrale Aspekte aus dem
Bereich der psychischen und psychosomatischen Störungen einem möglichst großen
Leserkreis zu vermitteln und damit eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit zu leisten.
Ebenfalls bei Springer, Wien, erschienen sind seine Bücher: „Somatoforme Störungen.
Diagnostik, Konzepte und Therapie bei Körpersymptomen ohne Organbefund“ (2007,
2., erweiterte Auflage) und „Psychotherapie Ratgeber. Ein Wegweiser zur seelischen
Gesundheit“ (2007).