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Vorwort zur vierten Auflage
Über ein Jahrzehnt nach Erscheinen dieses Buches wurde die 4. Auflage erforderlich,
die ich wiederum genutzt habe, übersehene Fehler, notwendige Überarbeitungen und
sinnvolle Erweiterungen vorzunehmen. Durch die Auseinandersetzung mit der neuesten
deutschen und englischen Literatur zur Thematik der Angststörungen habe ich als klini-
scher Praktiker selbst so viel dazugelernt, wie dies sonst nicht der Fall gewesen wäre.
Angesichts der Fülle der neueren Literatur habe ich nur jene Sachverhalte eingearbeitet,
die bei einer Neuauflage dieses Buches unbedingt berücksichtigt werden müssen, ohne
dabei den Seitenumfang und den Preis des Buches ungebührlich zu erhöhen.
Es wurden vor allem folgende Inhalte hinzugefügt:
z aktuelle epidemiologische Daten,
z neuere theoretische Konzepte (z.B. zur sozialen Phobie und zur generalisierten
Angststörung),
z neuere therapeutische Vorgangsweisen (z.B. Achtsamkeitstherapie nach Kabat-
Zinn, Akzeptanz- und Commitmenttherapie von Hayes und Mitarbeitern),
z neuere Daten zur Therapieeffizienz,
z neuere pharmakologische Entwicklungen.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches leider unbekannt ist das Ergebnis
der Evaluierung von kognitiver Verhaltenstherapie und psychodynamischer Therapie
im Ausmaß von 25 Stunden zu den Bereichen der sozialen Phobie und der generalisier-
ten Angststörung, die in Deutschland aus staatlichen Mitteln finanziert wird.
Angesichts der Explosion der Fachliteratur, z.B. zum Bereich der posttraumatischen
Belastungsstörung, werden mir zunehmend die Grenzen eines Buches bewusst, dass alle
Angststörungen nach dem DSM-IV-TR darstellen möchte. Ich habe eine Einschränkung
auf den Bereich der Angststörungen nach dem ICD-10 überlegt und dann doch davon
Abstand genommen, weil im Hinblick auf die häufige Komorbidität psychischer Stö-
rungen in der klinischen Praxis gerade die posttraumatische Belastungsstörung, aber
auch bestimmte Formen der Zwangsstörung leicht übersehen werden. Eine Beschrän-
kung der Seitenzahl wäre auch leicht möglich gewesen durch den Verzicht auf die Psy-
chopharmakotherapie, die ich als Psychologischer Psychotherapeut ohnehin nur darstel-
len kann wie ein Journalist. Doch auch dazu konnte ich mich nicht entschließen – aus
Respekt vor biologischen Aspekten psychischer Krankheiten, die auch ein überzeugter
Verhaltenstherapeut wie ich gerne zur Kenntnis nimmt. Immer wieder fällt mir auf, dass
die modernen Antidepressiva gerade jenes ängstliche, zwanghafte und depressive Grü-
beln unterbrechen, das psychische Störungen unnötig lange aufrecht erhält, unabhängig
von den psychischen, sozialen und biologischen Ursachen.
Es fällt mir schwer, Inhalte wegzulassen, die nach vermuteter Meinung von Fachleuten
in diesem Buch unbedingt präsentiert werden müssten, oder auf interessante Details zu
verzichten, die ich in der Zeit der Vorbereitung auf die Überarbeitung dieses Buches ge-
sammelt habe. Ich denke jedoch an klinische Praktiker, interessierte Nicht-Fachleute,
Betroffene und deren Angehörige, an die sich dieses Buch wendet, und nicht an Wissen-
schafter, die andere Quellen finden, um sich über den neuesten Stand zur Thematik der
Angststörungen zu informieren. Wie in eher populären Büchern üblich, habe ich wegen
der leichteren Lesbarkeit auch zunehmend darauf verzichtet, genaue Quellenangaben
vorzunehmen. Die zugestandene Anzahl von 750 Seiten habe ich bewusst unterschritten.
VI Vorwort

Am meisten beeindruckt mich die in den letzten Jahren erfolgte die Weiterentwick-
lung der kognitiven Verhaltenstherapie in Richtung Akzeptanz- und Commitmentthera-
pie und der psychodynamischen Therapie in Richtung interaktioneller, gegenwartsbe-
zogener Konzepte. Hinsichtlich der generalisierten Angststörung finde ich die Erweite-
rung der theoretischen und therapeutischen Konzepte und damit auch die Verbesserung
der Therapieerfolge sehr beachtlich. Am Beispiel der generalisierten Angststörung und
der sozialen Phobie wird deutlich, dass interaktionelle Erfahrungen, Verletzungen und
Vulnerabilitäten typische Auslöser von Angststörungen sind, während ständiges Grü-
beln eine chronische Angstsymptomatik aufrechterhält. Ich bin immer wieder von Neu-
em davon betroffen, wie sehr meine Patienten mit länger dauernder Angststörung unter
einem Vermeidungsverhalten leiden, das sich weder mit Konfrontationstherapie noch
mit kognitiver Therapie so leicht (wie oft behauptet wird) überwinden lässt.
Das Zulassen von Angst in allen Formen des körperlichen Empfindens, Fühlens und
Denkens scheint nicht in unsere Leistungsgesellschaft zu passen, wo man alles unter
Kontrolle haben muss, und wird von den Betroffenen offensichtlich als unerträgliche
Schwäche angesehen, die es auszumerzen gilt. Etwas mit oder trotz Angst zu tun ist
vielen Angstpatienten zu wenig. Sie hoffen auf Befreiung von derartigen Zuständen, um
alles sicher „im Griff“ haben zu können.
Bei Kurzzeittherapien verwende ich gerne folgendes Bild: „Die Angst begleitet Sie
überall hin wie Ihr Schatten an einem sonnigen Tag, doch Sie bestimmen den Weg.
Welches Ziel ist so attraktiv, dass es sich lohnt, die Angst auszuhalten? Es geht Ihnen
nicht schon besser, wenn Ihre Symptome verschwinden, sondern nur weniger schlecht.
Sie müssen das Gute tun, damit es Ihnen besser gehen kann.“ Die Auseinandersetzung
mit der Akzeptanz- und Commitmenttherapie durch die Arbeit an diesem Buch bestärkt
mich in der Haltung, mit meinen Patienten nicht gegen, sondern für etwas zu kämpfen,
nämlich für Autonomie, Freiheit und ein lebenswertes Leben – bei erträglicher Angst!
Während die Achtsamkeitstherapie nach Kabat-Zinn in Deutschland bereits zuneh-
mende Beachtung findet, ist die aus der Verhaltenstherapie stammende Akzeptanz- und
Commitmenttherapie von Hayes und Mitarbeitern zumindest in der klinischen Praxis
noch weitgehend unbekannt. Wenn sie aufgrund nachgewiesener Wirksamkeit jene
Verbreitung findet, wie ihr dies zu wünschen ist, wird die traditionelle kognitiv-
behaviorale Therapie von Menschen mit Angststörungen zukünftig wohl wesentliche
Änderungen erfahren – weg vom Image des „Machertums“ und des „richtigen Den-
kens“ und hin zu mehr Akzeptanz der momentanen Empfindungen, Gefühle und Ge-
danken. Wenn die Therapieforschung in den USA die Effizienzsteigerung der Verhal-
tenstherapie durch die Integration emotionszentrierter und interaktioneller Aspekte in
der Behandlung von Menschen mit Angststörungen immer mehr bestätigen sollte, wird
die Verhaltenstherapie zunehmend in Richtung einer integrativen Therapie gehen, wie
ich mir dies schon immer gewünscht habe.

Dr. Hans Morschitzky


Hauptstraße 77
A – 4040 Linz
Homepage: www.panikattacken.at
Email: morschitzky@aon.at
Linz, im April 2009 Tel.: 0043 732 778601
Vorwort VII

Vorwort zur dritten Auflage


Die 1998 erschienene Erstausgabe dieses Buches war ein sehr gewagter Versuch, ein
Buch über alle Angststörungen zu schreiben, das sowohl Fachleuten als auch „Laien“
etwas bieten sollte – angeblich eine Kunst, die niemand kann. Die zahlreichen positiven
Rezensionen bestätigen, dass dies im Wesentlichen möglich war; verschiedene kritische
Anmerkungen bringen jedoch genau jenen Zweifel zum Ausdruck, den ich selbst ur-
sprünglich auch hatte: Ist das Buch für Nicht-Fachleute nicht doch zu „hoch“?
Die Erfahrung hat mich eines Besseren belehrt. Viele Angstpatienten bzw. deren
Angehörige haben nicht zu meinem allgemein verständlichen Selbsthilfe-Buch „Die
zehn Gesichter der Angst. Ein Selbsthilfe-Programm in 7 Schritten“ gegriffen, sondern
gerade zu diesem Buch, weil sie nach jahrelangem Leidensweg ein Bedürfnis nach
fundierter Information hatten und den Wunsch verspürten, einen Zugang zu jenem
Wissen zu erhalten, das sonst nur Ärzten, Psychologen und Psychotherapeuten vorbe-
halten ist. Viele Angstpatienten mit einem bestimmten geistigen Anspruchsniveau inter-
essieren sich für die neueren diagnostischen, biologischen und psychologische Konzep-
te im Bereich der Angststörungen, ohne den Anspruch zu stellen, alles verstehen zu
müssen. Die Darstellung der biologischen Grundlagen der Angst, die für „Laien“ im
Detail oft nur schwer verständlich ist, vermittelt den Eindruck, dass man sich im Kopf
„nichts einbildet“, sondern dass das Gehirn die Grundlage für das Seelische darstellt.
Die nunmehr dritte Auflage dieses Buches bestätigt, dass sich das Konzept bewährt
hat. Das Buch wendet sich an den klinischen Praktiker, der sich als Arzt, Psychologe,
Psychotherapeut und Vertreter eines sonstigen medizinischen oder psychosozialen Berufes
konkrete Hilfestellungen für seine Arbeit verspricht, und an den interessierten „Laien“, der
das vorhandene Fachwissen für seine Zwecke allgemeinverständlich verarbeiten möchte,
sei es als von Angststörungen Betroffener oder als Außenstehender, der das Leiden der
Betroffenen besser verstehen und vielleicht auch etwas lindern möchte.
Aus diesem Grund wurde bei der inhaltlichen Erweiterung um 50 Seiten (die zweite
Auflage umfasste einen Textteil von 650 Seiten und einen Vorspann von 22 Seiten) darauf
geachtet, dass den ohnehin bereits im Überfluss vorhandenen Zahlen, Daten und Fakten
nicht eine weitere Unmenge verwirrender Detailergebnisse hinzugefügt wird, wie dies bei
der Aktualisierung eines hoch wissenschaftlichen Buches der Fall sein müsste, sondern
dass primär sowohl die Erklärungskonzepte als auch die Behandlungsmethoden bei den
verschiedenen Angststörungen durch jene neuen Erkenntnisse ergänzt werden, die in der
klinischen Praxis den Fachleuten und den Betroffenen eine bessere Hilfestellung bieten,
als dies durch die bisherigen Sichtweisen und Strategien möglich war.
In den letzten Jahren sind allein im deutschen Sprachraum zu den verschiedenen
Angststörungen so viele Fachbücher und Selbsthilfebücher erschienen, dass deren um-
fassende Verarbeitung den Rahmen einer erweiterten und aktualisierten Auflage dieses
Buches sprengen würde. Daneben wurden in vielen englischsprachigen Fachzeitschrif-
ten und Büchern zahlreiche neue Erkenntnisse veröffentlicht, die hier nicht angemessen
berücksichtigt werden können. Bei der Auswahl der neuen Informationen habe ich mich
unter Bezug auf die Praxisrelevanz an das Motto gehalten: „Weniger ist mehr“. Ich
habe auch der Gefahr widerstanden, das ohnehin bereits umfangreiche Literaturver-
zeichnis um viele weitere Seiten mit neuesten Artikeln aus Fachzeitschriften zu ergän-
zen, weil dies der Lesergruppe dieses Buches keinen Nutzen bringt und den Umfang
und die Kosten dieses Buches nur unnötig erhöht hätte.
VIII Vorwort

Für die überarbeitete und erweiterte Neuauflage dieses Buches wurden die neu er-
schienenen deutschsprachigen Fachbücher und Artikel berücksichtigt, insbesondere zu
folgenden Angststörungen: generalisierte Angststörung, soziale Phobie, Zwangsstö-
rung, posttraumatische Belastungsstörung, Angststörungen im Kindes- und Jugendalter.
Das Medikamenten-Kapitel wurde auf den neuesten Stand gebracht, soweit es die in
Deutschland und Österreich erhältlichen Medikamente bei Angststörungen betrifft.
Die anhaltende Beschäftigung mit der Thematik der Angststörungen hat dazu ge-
führt, dass ich mich immer mehr für somatoforme Störungen interessiert habe, im glei-
chen Verlag dazu auch ein Buch veröffentlicht habe und in der Nervenklinik Linz, wo
ich 20 Wochenstunden tätig bin, die Chance zu einer Veränderung wahrgenommen
habe, indem ich seit 2002 nicht mehr in der Psychiatrie, sondern in der Psychosomatik
arbeite. Denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Patienten noch nicht ganz
gesund sind, wenn sie nicht mehr angstkrank sind, denn verspannt sind sie immer noch
und leiden weiterhin unter ihrem Körper, wenngleich sie ihn nicht mehr fürchten.
Aus vielen persönlichen Rückmeldungen weiß ich, dass der Absatz dieses Buches
auch durch meine Internet-Präsenz unter www.panikattacken.at gefördert wurde, wo
auf dieses Buch ausdrücklich hingewiesen wird.
Viele Menschen und auch Journalisten, die zu einem bestimmten Thema Daten sam-
meln, wählen heute das Internet als erstes Informationsmittel. Gegenwärtig gilt
www.google.de als Suchmaschine Nr. 1 (90% der Besucher finden über diesen Weg zu
meiner Homepage). Meine umfangreichen Ausführungen über die verschiedenen
Angststörungen haben schon vielen Menschen weiter geholfen und den Betroffenen das
Gefühl vermittelt, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind.
Die Öffentlichkeitsarbeit zur Thematik der Angststörungen ist mir ein Herzensan-
liegen geworden. Gerade anhand von Ängsten lässt sich beobachten, wie aus normalen
Zuständen krankhafte Beeinträchtigungen werden können, die großes Leid verursachen.
Je früher die Betroffenen Wege zur Selbsthilfe oder zur Therapie finden, umso weniger
Chronifizierung der Ängste ist zu erwarten.
Aus den für jedermann sichtbaren Besucherzahlen meiner Homepage zeigt sich,
dass das Informationsbedürfnis über Angststörungen nach wie vor enorm groß ist. Es
ist daher anzunehmen, dass auch die dritte Auflage dieses Buches eine entsprechende
Nachfrage finden wird.
Aufgrund der Fülle der angebotenen Themen ist es nicht wahrscheinlich, dass je-
mand dieses Buch von Anfang bis zum Ende lesen wird. Es hat sich vielmehr als Nach-
schlagewerk bewährt, das angesichts der aktuellen Fragen und Probleme eine konkrete
Hilfestellung bieten möchte.
Ich wünsche allen Fachleuten, Betroffenen, deren Angehörigen und den anderen an
dieser Thematik Interessierten eine Gewinn bringende Lektüre.

Dr. Hans Morschitzky


Hauptstraße 77
A – 4040 Linz
Homepage: www.panikattacken.at
Email: morschitzky@aon.at
Linz, im August 2004 Tel./FAX: 0043 732 778601
Vorwort IX

Vorwort zur zweiten Auflage


Als klinischer Praktiker mit wissenschaftlichen Interessen, jedoch ohne wissenschaftli-
che Tätigkeit habe ich vor einigen Jahren den gewagten Versuch unternommen, die
Gruppe der Angststörungen sowohl Fachleuten als auch Betroffenen, deren Angehöri-
gen und sonstigen Interessierten in einem für alle lesbaren Buch vorzustellen.
Die wohlwollende Aufnahme meines Buches bei Ärzten und Patienten hat dazu ge-
führt, dass sich in meiner Praxis immer mehr Ratsuchende eingefunden haben, die zum
Behandlungszeitpunkt eigentlich keine Angststörung, sondern eine somatoforme Stö-
rung aufwiesen. Viele Patienten mit einer chronischen Angst- und Panikstörung erfüllen
auch die Kriterien für eine somatoforme Störung, was den Betroffenen oft gar nicht
bewusst ist, sodass auch deswegen eine persönliche Weiterbildung angezeigt war.
Die zahlreichen positiven Rezensionen haben dazu beitragen, im Verlag Springer,
Wien, ein weiteres, ähnlich aufgebautes Buch zur Thematik der somatoformen Störun-
gen zu veröffentlichen: „Somatoforme Störungen. Diagnostik, Konzepte und Therapie
bei Körpersymptomen ohne Organbefund“.
Der Wert eines Buches wird gewöhnlich auch daran gemessen, dass es von vielen
Leuten gekauft wird. Die 1. Auflage von „Angststörungen“ war nach gut drei Jahren
ausverkauft, sodass eine zweite, verbesserte und etwas erweiterte Auflage notwendig
geworden ist.
Als Österreicher freue ich mich sehr darüber, dass mein Buch auch in Deutschland
nachgefragt wird. Dabei hat sich in steigendem Ausmaß das Internet als Verkaufshilfe
herausgestellt. Viele Menschen mit Angst- und Panikstörungen verwenden heute ver-
schiedene Suchmaschinen, um Informationen und Hilfestellungen zu ihren Symptomen
zu bekommen.
Auf meiner Homepage www.panikattacken.at, die unter den wichtigsten Stichwor-
ten in alle deutschsprachigen Suchmaschinen eingetragen ist, wird auf das Buch sehr
ausführlich hingewiesen.
In der erweiterten Neuauflage des Buches wurden vor allem folgende Veränderun-
gen und Verbesserungen vorgenommen:
z Neben der ausführlichen Präsentation der Kriterien der Angststörungen nach dem
amerikanischen psychiatrischen Diagnoseschema DSM-IV wurden auch die im Ver-
gleich zu den klinisch-diagnostischen Leitlinien wesentlich besser operationalisier-
ten Forschungskriterien des ICD-10 differenziert dargestellt. Das ICD-10 ist seit
2000 in Deutschland und seit 2001 in Österreich das verbindliche Diagnoseschema
und muss daher auch in diesem Buch angemessen berücksichtigt werden, wenn-
gleich viele Wissenschafter und Praktiker das DSM-IV bevorzugen. Die Orientie-
rung am DMS-IV blieb insofern bestehen, als unter dem Begriff der „Angststörun-
gen“ weiterhin alle Angststörungen nach dem DSM-IV dargestellt werden.
z Weitere Verbesserungen erfolgten dort, wo dies unbedingt notwendig war. Das
Kapitel über Psychopharmaka enthält alle bis Herbst 2001 erschienenen Antidepres-
siva, soweit sie für die Behandlung von Angststörungen relevant sind. Bei den Phy-
topharmaka wurden ebenfalls die letzten Entwicklungen berücksichtigt. Die Ent-
scheidung, in diesem Buch auch auf hilfreiche pflanzliche Präparate hinzuweisen,
hat sich angesichts der Forschungsergebnisse der letzten Jahre als richtig erwiesen.
X Vorwort

z Leichte Erweiterungen wurden auch in verschiedenen anderen Kapiteln vorgenom-


men, z.B. in den Bereichen Diagnostik, Epidemiologie, Erklärungsmodelle für
Angststörungen (Biologie der Angst), Behandlung und Selbsthilfe.
z Der gesamte Text wurde nach den Richtlinien der neuen deutschen Rechtschreibung
gestaltet, gleichzeitig wurden auch verschiedene kleinere Tippfehler korrigiert.

Der Buchumfang ist durch die Erweiterungen noch etwas angewachsen, dennoch hoffe
ich, dass das Buch weiterhin für einen breiten Leserkreis attraktiv erscheint.
Drei umfangreiche und repräsentative deutsche Studien (Dresdner Angststudie,
Bundesgesundheitssurvey 1998, TACOS-Studie) haben die große Bedeutung klinisch
relevanter Ängste neuerlich bestätigt: 9% der deutschen Bevölkerung leiden aktuell und
15% im Laufe des Lebens unter einer behandlungsbedürftigen Angststörung.
Durch die weltweit größte Studie zu generalisierten Angststörungen und Depressio-
nen in den Ordinationen von 558 deutschen Allgemeinärzten bei über 20000 Patienten
wurde zudem auf ein Problem hingewiesen, das bislang unterschätzt und vernachlässigt
wurde, und zwar das hohe Ausmaß der subklinischen Ängste und der klinisch relevan-
ten Ängste in Form der generalisierten Angststörung.
27% der Hauarztpatienten, d.h. mehr als ein Viertel der Patienten, litten in den ver-
gangenen vier Wochen unter Angstbeschwerden, ängstlicher Anspannung und Besorg-
nis. Jeder fünfte dieser Patienten wies eine seit mehr als sechs Monaten andauernde
generalisierte Angststörung auf.
Die generalisierte Angststörung mit einer Stichtagsprävalenz von 5,6% gehört damit
zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung. Die gene-
ralisierte Angststörung wurde jedoch bei zwei Drittel der Patienten von den Ärzten
nicht erkannt. Noch weniger Patienten werden adäquat behandelt, was für die Betroffe-
nen und das Gesundheitssystem schwerwiegende Folgen hat.
Nur ein Drittel der Patienten mit einer generalisierten Angststörung werden vom
Hausarzt richtig diagnostiziert. Andererseits waren nur 16% der hausärztlich gestellten
Diagnosen einer generalisierten Angststörung richtig. Bei einem Drittel der Patienten
mit einer generalisierten Angststörung äußerte der Hausarzt nicht einmal einen Ver-
dacht auf irgendeine psychische Störung. Mit zunehmender Erkrankungsdauer kommt
es zu immer häufigeren deprimierenden erfolglosen Bewältigungsversuchen und un-
tauglichen und chronifizierenden Behandlungsversuchen der Ärzte, sodass im Laufe der
Zeit häufig auch noch eine Depression im Sinne einer Komorbidität auftritt.
Nach den Wirtschaftswissenschaftern Panse und Stegmann beträgt der „Kostenfak-
tor Angst“ in Deutschland rund 100 Milliarden DM pro Jahr.
Die zweite, erweiterte Auflage meines Buches soll einen Beitrag dazu leisten, dass
die Thematik und effektive Behandlung der Angststörungen in der Öffentlichkeit wei-
terhin jenen Platz einnehmen, der aufgrund des individuellen Leids der Betroffenen und
der volkswirtschaftlichen Kosten angemessen ist.

Dr. Hans Morschitzky


Hauptplatz 17
A – 4020 Linz
Homepage: www.panikattacken.at
Linz, im Herbst 2001 Email: morschitzky@aon.at
Vorwort XI

Vorwort
Angststörungen stellen bei Frauen die häufigste, bei Männern nach der Alkoholabhän-
gigkeit die zweithäufigste psychische Störung dar. Zur Angstdämpfung werden oft
Alkohol und abhängig machende Beruhigungsmittel eingesetzt, sodass bald zusätzliche
Probleme auftreten. Die Nichtbewältigung der Ängste führt häufig zu depressiven Er-
schöpfungszuständen. Ohne Behandlung nehmen Angststörungen langfristig einen
schlechteren Verlauf als Depressionen. Aus Angst vor den unerklärlichen körperlichen
Reaktionen (Herzrasen, Schwindel, Ohnmachtsneigung, Atemnot, Hitzewallungen,
Übelkeit, „weiche Knie“ usw.) engen die Betroffenen ihren Bewegungsspielraum im
Laufe der Zeit derart ein, dass dadurch berufliche, familiäre und private Probleme ent-
stehen. Eine ausgeprägte Agoraphobie macht aus früher oft recht selbstständigen Per-
sönlichkeiten plötzlich hilflose Menschen, die wie Behinderte ganz von ihrer Umwelt
abhängig sind. Menschen mit Panikattacken verursachen dem Gesundheitssystem auf-
grund der wiederholten, ergebnislosen Durchuntersuchungen enorm hohe Kosten. Viele
Ärzte haben durch den Druck einer Massenpraxis und die ungenügende Honorierung
für Gespräche zu wenig Zeit und Motivation, sich dieser Patientengruppe ausreichend
zu widmen und verschreiben beruhigende Medikamente.
Dieses Buch über Angststörungen stellt den Versuch dar, die Ganzheit des Men-
schen in der Psychotherapie zu berücksichtigen, d.h. den Menschen als Einheit von
Körper, Geist und Seele zu sehen. Als Klinischer Psychologe und Psychotherapeut habe
ich es aufgrund des jahrelangen Umgangs mit Angstpatienten für notwendig befunden,
mehr Wissen über die körperlichen Abläufe bei Angstzuständen zu erwerben und dieses
den Betroffenen im Rahmen einer verhaltenstherapeutisch orientierten Psychotherapie
auch zu vermitteln. Psychotherapeuten müssen ihre Patienten dort abholen, wo sie ste-
hen, und dies bedeutet oft, organmedizinische in psychotherapeutische Sichtweisen
umzuwandeln.
Bei Menschen mit scheinbar unerklärlichen körperlichen Zuständen, die sich letzt-
lich als psychovegetativ bedingt, als körperliche Angstphänomene, erweisen, ist nicht
nur die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen „heilenden“ Berufsgruppen wie
Ärzten und Psychotherapeuten angezeigt, sondern auch die gleichzeitige Berücksichti-
gung von körperlichen und seelischen Prozessen durch ein und denselben Helfer.
In diesem Sinne nehmen die Darstellung körperlicher Vorgänge zur Vermittlung der
Körper-Seele-Zusammenhänge bei Panikattacken zu Beginn einer Psychotherapie bei
mir sowie körperbezogene Übungen im Verlauf der Therapie einen breiten Raum ein.
Dies spiegelt sich auch in der entsprechend ausführlichen Darstellung in diesem Buch
wider. Im Rahmen meiner Spezialisierung auf die Behandlung von Menschen mit Pa-
nikstörung in der freien Praxis hat sich diese Vorgangsweise sehr bewährt. Teile dieses
Buches wurden schon von vielen meiner Patienten gelesen und dankbar angenommen.
Dies hat mich ermutigt, ein Buch in dieser Form zu veröffentlichen.
Dieses Buch kann eine Psychotherapie bei ausgeprägten Angststörungen nicht er-
setzen, sondern soll bei Bedarf vielmehr dafür sensibilisieren und Psychotherapeuten
und Patienten eine Hilfestellung bieten, rascher auf den „springenden Punkt“ zu kom-
men und dadurch Zeit und Kosten zu sparen. Gleichzeitig können die vermittelten In-
formationen einen Beitrag in Richtung „mündiger und informierter Patient“ darstellen.
Wo Information und Wissen nicht ausreicht, wird eine Psychotherapie dringlich.
XII Vorwort

Viele meiner Patienten leiden schon seit Jahren unter Ängsten. Bei Menschen mit
Panikstörung zeigt sich die Misere unseres Gesundheitssystems besonders deutlich:
z Psychotherapeuten, insbesondere nichtärztlicher Herkunft, beschäftigen sich oft
einseitig mit den psychischen und psychosozialen Aspekten der Panikstörung und
übersehen, dass ihre Patienten mit ihrem Körper nicht zurechtkommen.
z Ärzte behandeln gewöhnlich nur die körperliche Seite der Panikstörung und ver-
nachlässigen die psychischen Aspekte.
z Viele Panikpatienten wünschen anfangs selbst oft nur eine medizinische Behand-
lung (Ausschlussdiagnostik organischer Faktoren, Medikamente) und sind schließ-
lich doch damit unzufrieden, sodass sie bald von einem Arzt zum anderen hilfesu-
chend weiterziehen. Wenn sie von der Schulmedizin endgültig enttäuscht sind, wer-
den alternative Heilmethoden versucht.
z Menschen mit Panikstörung sind in einem primär organmedizinisch orientierten
Gesundheitssystem so lange ein interessanter Fall, bis jede organische Komponente
ausgeschlossen ist. Danach werden Frauen oft als „hysterisch“ und Männer als „hy-
pochondrisch“ abqualifiziert. Nach den hohen Kosten der medizinischen Durchun-
tersuchungen, die das Gesundheitssystem übernimmt, wird den Betroffenen eine
Psychotherapie empfohlen, was wie eine Bestrafung wirkt, wenn man aufgrund der
in Österreich unzulänglichen psychotherapeutischen Versorgung innerhalb des
Krankenkassensystems für seine psychischen Probleme fast zwei Drittel der psycho-
therapeutischen Behandlungskosten selbst bezahlen muß.

Das Buch enthält keine eigenen theoretischen und therapeutischen Konzepte. Seine
Originalität besteht nicht in der Neuheit von Informationen, sondern in der Art der
Zusammenfassung des bekannten Wissens. Auf der Basis der neuesten Fachliteratur
und der besten Selbsthilfeanleitungen werden eine Fülle von Informationen zur Thema-
tik der Angststörungen und deren Behandlung bzw. Selbstbehandlung zu vermitteln
versucht (die angeführten Punkte entsprechen den jeweiligen Kapiteln):
1. eine Einführung in den Bereich der normalen und krankhaften Ängste,
2. eine anschauliche Beschreibung der verschiedenen Angststörungen entsprechend
der Diagnostik der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) und des neuen amerika-
nischen psychiatrischen Diagnoseschemas (DSM-IV),
3. eine Darstellung von Ängsten bei anderen seelischen und körperlichen Störungen,
4. einen Überblick über Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen,
5. eine ausführliche Darstellung der verschiedenen biologischen und psychologischen
Erklärungsversuche von Angststörungen,
6. eine detaillierte Beschreibung der Verhaltenstherapie bei Angststörungen,
7. eine Erläuterung der psychoanalytischen Konzepte bei Angststörungen,
8. eine umfangreiche Hilfestellung zur Selbsthilfe, die eine Psychotherapie bei leichte-
ren Angststörungen vielleicht überflüssig macht oder zumindest gut vorbereitet,
9. eine Sammlung von bewährten Ratschlägen für Angehörige von Menschen mit
Angststörungen,
10. eine Einführung in die medikamentöse Behandlung von Angststörungen sowie eine
Information über den Placeboeffekt von Medikamenten,
11. eine kurze Auflistung der pflanzlichen Präparate zur Linderung von Angst- und
Unruhezuständen.
Vorwort XIII

Dieses Buch versucht einen möglichst großen Leserkreis anzusprechen:


z die Vertreter aller medizinischen, psychotherapeutischen, psychologischen, psycho-
sozialen und pädagogischen Berufsgruppen,
z die von den verschiedenen Angststörungen Betroffenen sowie deren Angehörige,
z alle Interessierten, die über eine Literatur mittleren Anspruchsniveaus Menschen mit
Angststörungen besser verstehen lernen möchten.

Wegen der leichteren Lesbarkeit wurde auf die Unterscheidung zwischen weiblicher
und männlicher Form verzichtet, ebenso auf die regelmäßige Nennung von Namen und
Jahreszahlen bei der Verarbeitung der Fach- und Populärliteratur. Für Interessierte wird
durch Zahlen in Klammern die verwendete Literatur im Anhang des Buches dokumen-
tiert. 20 Verlage haben dankenswerterweise die Abdruckgenehmigung für Zitate erteilt.
Als Verhaltenstherapeut ist mir ein Hinweis sehr wichtig. Wenngleich die Verhal-
tenstherapie laut wissenschaftlichen Untersuchungen die effizienteste Psychotherapie-
methode bei Angststörungen ist, muss für Betroffene keinesfalls eine Verhaltensthera-
pie die Methode der Wahl sein (noch dazu, wenn gar kein Verhaltenstherapeut in er-
reichbarer Nähe zu finden ist). Wer die Informationen und verhaltenstherapeutisch
fundierten Ratschläge dieses Buches eigenständig umzusetzen vermag, wird durch den
Psychotherapeuten seines Vertrauens und durch die persönlich passende Psychothera-
piemethode die angemessenste Hilfestellung erfahren.
Wissenschaftlich gesichert sind bei der Verhaltenstherapie von Angststörungen bis-
lang nur die (allerdings oft ausreichenden) symptombezogenen Techniken. Ein Teil der
Menschen mit Angststörungen braucht jedoch mehr (Partner- oder Familientherapie,
stärker erlebnis- und emotionszentrierte Therapie, Stützung in Krisenzeiten, Klärung
beruflicher Konflikte, Bewältigung traumatischer Erfahrungen, Entwicklung bislang
ungenutzter Ressourcen und Persönlichkeitspotentiale usw.). Dies wird von Verhaltens-
therapeuten durchaus berücksichtigt, aber auch von anderen Psychotherapeuten.
Im Bereich der Psychotherapie war ich selbst lange Zeit ein Suchender. Während
meines Psychologie-Studiums in Salzburg in den 70-er Jahren interessierte ich mich
zuerst für Dynamische Gruppenpsychotherapie und nahm an einer zweijährigen Selbst-
erfahrungsgruppe des ÖAGG teil, anschließend faszinierte mich der Rogers-Ansatz,
weshalb ich bei der ÖGWG die Grundausbildung in Klientenzentrierter Psychotherapie
durchlief. Wegen meiner früheren Tätigkeit in der Jugendpsychiatrie absolvierte ich in
den 80er Jahren beim IFS Linz die Ausbildung in Systemischer Familientherapie.
Die seit 1983 erfolgte berufspraktische Ausbildung durch Frau Hofrat Dr. Irene
Schneider in der Verhaltenstherapie-Abteilung der O.Ö. Landes-Nervenklinik Wagner-
Jauregg in Linz, wo ich derzeit psychotherapeutisch arbeite, und die formale Ausbil-
dung in Verhaltenstherapie bei der AVM Salzburg in der ersten Hälfte der 90er-Jahre
haben dazu geführt, dass ich in der Verhaltenstherapie meine geistige Heimat fand.
Diese Hinweise auf meinen psychotherapeutischen Werdegang sollen meine Offen-
heit für andere Psychotherapiemethoden dokumentieren. Bei der Psychotherapie von
Menschen mit Angststörungen vertrete ich ein integratives Behandlungsmodell auf der
Basis der Verhaltenstherapie, das insbesondere systemische, psychoanalytische und
körpertherapeutische Konzepte berücksichtigt. In der Zusammenarbeit mit Psychiatern
habe ich bei schweren Angststörungen, insbesondere in Verbindung mit depressiven
Erschöpfungszuständen, auch den Einsatz von Medikamenten schätzen gelernt.
XIV Vorwort

Dieses Buch habe ich auch in der Absicht verfasst, nicht-verhaltenstherapeutisch


orientierte Kolleginnen und Kollegen mit verhaltenstherapeutischen Konzepten und
Methoden vertraut zu machen, um bei der Behandlung von Menschen mit Angststörun-
gen im Bedarfsfall darauf zurückgreifen zu können. Es gibt in Österreich 17 Psychothe-
rapie-methoden, die im Sinne des Psychotherapiegesetzes 1990 als „wissenschaftlich-
psychotherapeutische Methoden“ staatlich anerkannt sind, die Verhaltenstherapie ist
nur eine davon.
Jenseits des Schulenstreites ist eine zunehmende Annäherung der verschiedenen
Psychotherapiemethoden erkennbar, ohne dass derzeit eine Verschmelzung wün-
schenswert wäre. Vielmehr gelten ein ständiger Dialog und ein gegenseitiger Austausch
als das Gebot der Stunde. In diesem Sinn stellt das vorliegende Buch über Angststörun-
gen eine Einladung zur Begegnung mit der Verhaltenstherapie dar.
Die 14-jährige Tätigkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus hat mein Interesse
für die Biologie und Pharmakotherapie von Angststörungen gefördert. Als nichtärztli-
cher Psychotherapeut habe ich es daher gewagt, über diese Sachverhalte zu schreiben.
Dabei maße ich mir keine Sachkompetenz an, sondern fasse eher wie ein Journalist die
relevante Fachliteratur in allgemeinverständlicher Weise zusammen. Über eine positive
Aufnahme des Buches in der Ärzteschaft würde ich mich besonders freuen.
Ich danke dem Verlag Springer, Wien, vertreten durch Herrn Raimund Petri-
Wieder, für die Bereitschaft, das Buch in der vorliegenden Form zu veröffentlichen.
Ich hoffe, dass das Kunststück gelungen ist, ein Buch über Angststörungen zu
schreiben, das Fachleute und Betroffene gleichermaßen anzusprechen vermag. Vielfach
wird nicht erst die Lektüre des Buches vom Anfang bis zum Ende, sondern bereits die
gezielte Auswahl relevanter Abschnitte ausreichenden Gewinn bringen. Meine Patien-
ten erhalten die Empfehlung, die für ihre Störung relevanten Kapitel zu lesen.
Das Risiko, dass bestimmte Kapitel des Buches für verschiedene Leser einen zu gro-
ßen Schwierigkeitsgrad, für andere dagegen einen zu geringen Neuheitswert darstellen
könnten, gehe ich bewusst ein in der Absicht, die aus gesundheitspolitischer Sicht er-
forderliche vermehrte Öffentlichkeitsarbeit zur Thematik der Angststörungen zu unter-
stützen. In den letzten Jahren wurde in den Medien relativ viel über die Panikstörung
berichtet. Das stille Leiden von Menschen mit einer sozialen Phobie, einer Zwangsstö-
rung oder einer posttraumatischen Belastungsstörung ist dagegen noch zu wenig be-
kannt. Dies ist auch der Grund, warum ich mich entschlossen habe, die Angststörungen
vorwiegend nach dem DSM-IV und nicht nach dem ICD-10 darzustellen.
In den zwei Jahren der Arbeit an diesem Buch habe ich die neueste Fachliteratur zu
erfassen und aus dem riesigen Angebot eine Auswahl zu treffen versucht, wie dies aus
dem Literaturverzeichnis ersichtlich ist.
Für die hilfreiche Unterstützung bei der Suche nach einschlägiger deutscher Litera-
tur danke ich den Damen der zuständigen Fachabteilung des Landesverlags in Linz.
Rückmeldungen und Verbesserungsvorschläge für den Fall einer Neuauflage des
Buches nehme ich gerne entgegen. Trotz größten Bemühens sind Fehler möglich. Das
Buch wurde von mir im Alleingang verfasst und für den Offsetdruck vorbereitet.

Dr. Hans Morschitzky


Hauptplatz 17
Linz, im Jänner 1998 A – 4020 Linz
Inhaltsverzeichnis

1. Normale und krankhafte Ängste ...................................................................... 1

Angst als biologisch sinnvolle Reaktion ................................................................... 1


Angstsymptome – Sozial vermittelt und kulturell geprägt ........................................ 3
Die Angst ist eine Kraft ............................................................................................. 6
Die existenzielle Dimension der Angst ..................................................................... 9
Die Lust an der Angst ................................................................................................ 12
Angst als Stresssymptom ........................................................................................... 13
Angst als ganzheitliches Erleben ............................................................................... 13
Ängste als Übergangs-Probleme im Rahmen des Lebenszyklus ............................... 15
Krankhafte Ängste behindern das Leben .................................................................. 16
In bester Gesellschaft – Ängste bekannter Persönlichkeiten ..................................... 17
Das Internet als Kommunikationsmittel bei Ängsten ................................................ 20

2. Angststörungen .................................................................................................. 21

Allgemeine Merkmale von Angststörungen .............................................................. 21


Sigmund Freud und die Diagnose der Angstneurose ................................................ 22
Angststörungen nach ICD-10 und DSM-IV-TR ........................................................ 25
Agoraphobie – Die Angst, in Angstsituationen keinen Fluchtweg oder
Helfer zu haben ......................................................................................................... 27
Historische Aspekte der Agoraphobie ................................................................. 27
Symptomatik der Agoraphobie ............................................................................ 28
Mit vielen Tricks durch den Alltag ...................................................................... 32
Auslösefaktoren einer Agoraphobie .................................................................... 35
Epidemiologie, Verlauf und Folgen der Agoraphobie ......................................... 37
Differenzialdiagnose ............................................................................................ 41
Panikstörung – Die Angst aus heiterem Himmel ...................................................... 43
Historische Aspekte der Panikstörung ................................................................. 43
Symptomatik der Panikstörung ............................................................................ 44
Herzphobie – Variante einer Panikstörung? ........................................................ 51
Panikattacken im Schlaf ...................................................................................... 53
Auslöser der ersten Panikattacke ......................................................................... 56
Epidemiologie, Verlauf und Folgen der Panikstörung ........................................ 58
Differenzialdiagnose ............................................................................................ 62
Panikstörung als Spektrum-Störung .................................................................... 63
Generalisierte Angststörung – Unkontrollierbare Sorgen .......................................... 67
Historische Aspekte der generalisierten Angststörung ........................................ 67
Symptomatik der generalisierten Angststörung ................................................... 68
Epidemiologie, Verlauf und Folgen der generalisierten Angststörung ............... 74
Differenzialdiagnose ............................................................................................ 77
Spezifische Phobie – Eine Angst macht das Leben schwer ...................................... 78
Historische Aspekte der spezifischen Phobie ...................................................... 78
XVI Inhaltsverzeichnis

Symptomatik der spezifischen Phobie ....................................................................... 79


Epidemiologie, Verlauf und Folgen der spezifischen Phobie .............................. 84
Soziale Phobie – Die Angst vor den anderen ............................................................ 85
Historische Aspekte der sozialen Phobie ............................................................. 85
Symptomatik der sozialen Phobie ........................................................................ 85
Formen sozialer Ängste ................................................................................. 93
Sozialphobie – Leistungstyp .................................................................... 95
Sozialphobie – generalisierter Typ ........................................................... 97
Epidemiologie, Verlauf und Folgen der sozialen Phobie .................................... 99
Differenzialdiagnose ............................................................................................ 103
Zwangsstörung – Angstbewältigung durch Zwänge ................................................. 105
Historische Aspekte der Zwangsstörung ............................................................. 105
Symptomatik der Zwangsstörung ........................................................................ 106
Zwangshandlungen ........................................................................................ 111
Zwangsgedanken ............................................................................................ 116
Zwangsstörungen als Angststörungen – Eine Kontroverse ................................. 118
Differenzialdiagnose ............................................................................................ 119
Epidemiologie, Verlauf und Folgen der Zwangsstörung ..................................... 123
Posttraumatische Belastungsstörung –
Ein Trauma bewirkt bleibende Angstzustände .......................................................... 125
Historische Aspekte der posttraumatischen Belastungsstörung .......................... 125
Symptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung ..................................... 128
Epidemiologie, Verlauf und Folgen der posttraumatischen Belastungsstörung .. 139
Differenzialdiagnose ............................................................................................ 146
Akute Belastungsstörung – Angst als Schockzustand ............................................... 147
Substanzinduzierte Angststörung – Angstzustände durch Substanzen ..................... 151
Koffein ................................................................................................................. 152
Alkohol ................................................................................................................ 153
Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika ........................................................................ 154
Amphetamine und ähnlich wirkende Sympathomimetika ................................... 154
Kokain ................................................................................................................. 156
Cannabis .............................................................................................................. 157
Halluzinogene ...................................................................................................... 158
Andere Substanzen (Medikamente) ..................................................................... 159
Nikotin ................................................................................................................. 159
Opiatentzug .......................................................................................................... 160
Angststörung aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors ............................... 161
Angststörungen im Kindes- und Jugendalter ............................................................ 167

3. Ängste bei anderen Grunderkrankungen ........................................................ 169

Anpassungsstörung – Angst als Reaktion auf belastende Lebensumstände .............. 169


Depersonalisations- und Derealisationsstörung –
Angst machendes Fremdheitserleben ........................................................................ 170
Dissoziative Störungen – Angstbewältigung durch Abspaltung ............................... 171
Somatoforme Störungen – Körperbezogene Ängste ................................................. 173
Inhaltsverzeichnis XVII

Somatisierungsstörung – Körpersymptome bei Angstverleugnung .................... 173


Hypochondrische Störung – Angst vor eingebildeten Krankheiten .................... 175
Dysmorphophobie – Angst vor körperlicher Entstellung .................................... 176
Somatoforme autonome Funktionsstörung – Organgebundene Ängste .............. 176
Depression – Negative Lebenssicht macht Angst ..................................................... 177
Kombination von Angst und Depression ............................................................. 177
Sexualstörung – Angst machendes Denken ist lustfeindlich ..................................... 179
Essstörung – Selbstwert-Ängste hinter Fasten und Körperfigur ............................... 181
Schizophrenie – Ängste, wenn Wahrnehmung und Denken ganz anders werden .... 181
Ängste bei Persönlichkeitsstörungen ......................................................................... 182
Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung –
Angst als Persönlichkeitsmerkmal ....................................................................... 182
Abhängige Persönlichkeitsstörung –
Die Angst, auf sich selbst gestellt zu sein ............................................................ 183
Ängste bei anderen Persönlichkeitsstörungen ..................................................... 184

4. Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen .................................................. 185

Verbreitung von Angststörungen .............................................................................. 185


Angststörungen in der ärztlichen Praxis .................................................................... 188
Angststörungen im Rahmen von psychischen Mehrfacherkrankungen .................... 190
Auftreten mehrerer Angststörungen .................................................................... 191
Angststörung und Persönlichkeitsstörung ........................................................... 191
Angststörung und Depression .............................................................................. 192
Angststörung und Alkohol- bzw. Medikamentenmissbrauch .............................. 195
Angststörung und psychosoziale Behinderungen ................................................ 198
Zwangsstörung und andere psychische Störungen .............................................. 198

5. Erklärungsmodelle für Angststörungen .......................................................... 199

Angst als biologisches Geschehen – Neurobiologische Modelle


der Angstentstehung .................................................................................................. 199
Angst als vererbte Reaktionsbereitschaft ............................................................. 199
Neuroanatomische Ursachen für Angststörungen ............................................... 201
Struktur und Funktion des Nervensystems .................................................... 201
Hirnstamm ................................................................................................ 202
Kleinhirn ................................................................................................... 202
Mittelhirn .................................................................................................. 203
Zwischenhirn ............................................................................................ 203
Großhirn ................................................................................................... 204
Das limbische System als Zentrum der Affekte ....................................... 205
Interaktionen der Hirnregionen bei Angstzuständen ................................ 206
Der Mandelkern im limbischen System als Angstzentrum ...................... 208
XVIII Inhaltsverzeichnis

Biochemische Ursachen für Angststörungen ....................................................... 216


Nervenerregung und Informationsweiterleitung ............................................ 216
Neurotransmitter – Ihre Funktion bei der Auslösung
und Dämpfung von Ängsten .......................................................................... 219
GABA-System .......................................................................................... 220
Serotoninsystem ....................................................................................... 221
Noradrenalinsystem .................................................................................. 223
Dopaminsystem ........................................................................................ 224
Cholecystokininsystem ............................................................................. 225
Glutamatsystem ........................................................................................ 225
Metabolische Ursachen für Angststörungen ........................................................ 225
Neuroendokrinologische Ursachen für Angststörungen ...................................... 226
Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA) ................ 226
Das vegetative Nervensystem – Automatische Regulierung
der Körperfunktionen .......................................................................................... 228
Das sympathische Nervensystem – Körperliche Aktivierung ........................ 231
Neuronale Aktivierung (Hypothalamus-Nebennierenmark-System) ....... 232
Hormonelle Aktivierung
(Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System) ...................... 233
Das parasympathische Nervensystem –
Körperliche Beruhigung und Erholung .......................................................... 235
Unterschiedliche biologische Reaktionsbereitschaft der Menschen .................... 236
Sympathikotoniker (Kampf-Flucht-Typen) ................................................... 236
Vagotoniker (Schrecktypen) .......................................................................... 237
Das biologische Reaktionsspektrum bei Furcht und Bedrohung ......................... 237
Das allgemeine Anpassungssyndrom .................................................................. 239
Alarmreaktion ................................................................................................ 239
Schockphase ............................................................................................. 239
Kampf- oder Fluchtphase ......................................................................... 240
Widerstandsphase (Anpassungsstadium) ....................................................... 242
Erschöpfungsphase ........................................................................................ 243
Körperliche Reaktionsabläufe bei Panikattacken ................................................ 244
Symptome der Schockreaktion ...................................................................... 244
Symptome der körperlichen Aktivierung ....................................................... 245
Der Körper bei Angstzuständen – Wissenswerte Details .................................... 246
Herz und Kreislauf ......................................................................................... 247
Blutdruck ........................................................................................................ 251
Niedriger Blutdruck und dessen Ursachen ............................................... 254
Psychovegetativ bedingte Hypotonie .................................................. 255
Symptomatische Hypotonie ................................................................ 256
Orthostatische Hypotonie ................................................................... 256
Essentielle (konstitutionelle) Hypotonie ............................................. 257
Durchblutungsveränderungen im Körper ....................................................... 258
Atmung .......................................................................................................... 259
Brustatmung ............................................................................................. 261
Zwerchfellatmung .................................................................................... 262
Vollatmung ............................................................................................... 263
Inhaltsverzeichnis XIX

Atmung und Psyche .................................................................................. 263


Hyperventilation ....................................................................................... 264
Globusgefühl – Zuschnüren der Kehle .......................................................... 267
Speichelfluss .................................................................................................. 268
Skelettmuskulatur ........................................................................................... 268
Temperaturumverteilung ................................................................................ 271
Schweißdrüsen ............................................................................................... 271
Stoffwechsel ................................................................................................... 272
Zuckerspiegel ................................................................................................. 273
Ursachen für Hypoglykämie ..................................................................... 274
Unterzuckerungs-Angstsyndrom bei Zuckerkrankheit ............................. 275
Verdauungsorgane ......................................................................................... 276
Ausscheidungsorgane .................................................................................... 279
Augen ............................................................................................................. 279
Schwindel – Die Angst vor Kontrollverlust ................................................... 280
Körperliche Schonung bei Angst – Ein sicherer Weg zur Angstverstärkung ...... 283
Neurobiologische Aspekte der Panikstörung ....................................................... 289
Neurobiologische Aspekte der sozialen Phobie .................................................. 292
Neurobiologische Aspekte der posttraumatischen Belastungsstörung ................ 293
Neurobiologische Aspekte der Zwangsstörung ................................................... 298
Angst als gelerntes Verhalten – Das Modell der frühen Verhaltenstherapie ............ 304
Klassische Konditionierung („Bedingter Reflex“) .............................................. 304
Operante Konditionierung (Lernen am Erfolg) ................................................... 306
Zwei-Faktoren-Modell der Angstentstehung ....................................................... 307
Lernen am Modell (Modelllernen) ...................................................................... 311
Sozialkognitives Lernen ...................................................................................... 312
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte ............................................... 313
Der Teufelskreis der Angst – Ein Stufenmodell der Panikentstehung ................ 315
Der Teufelskreis der Angst – Beispiele für seine Entstehung ............................. 318
Das Stressmodell – Panikattacken als Nach-Stress-Phänomen ........................... 320
Angst als Folge subliminarer Wahrnehmung ...................................................... 322
Der Carpenter-Effekt – Von der Vorstellung zur Körperreaktion ....................... 323
Alexithymie – Das Unvermögen, Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken ... 324
Agoraphobie – Angst vor Situationen ohne Sicherheitssignale ........................... 326
Generalisierte Angststörung – Sorgen als kognitive Vermeidungsstrategie ........ 328
Soziale Angst – Ständige Beschäftigung mit sich und den anderen .................... 334
Spezifische Phobien – Falsche Gefahreneinschätzung ........................................ 338
Zwangsstörung – Die Angst vor schuldhaften Fehlleistungen ............................ 340
Posttraumatische Belastungsstörung – Unverarbeitete Bedrohungserlebnisse .... 355
Angst als biopsychosoziales Geschehen ................................................................... 360
Angst als Bedrohung des Ichs – Das Modell der Psychoanalyse .............................. 362
Angst als Folge eines Konflikts (Konfliktmodell) ............................................... 363
Angst als Folge von Ich-Schwäche (Strukturschwächemodell) .......................... 365
Angst als Bindungsverlustangst (Bindungstheoretisches Modell) ...................... 365
Differenzierung von Angststörungen nach Art und Ausmaß
der Angstbindung ................................................................................................ 366
Phobien – Verschiebung und Vermeidung der Angst .................................... 366
XX Inhaltsverzeichnis

Agoraphobie – Die Angst vor der Selbstständigkeit ...................................... 367


Herzphobie – Existenzangst zwischen Bindungs- und Trennungswünschen 367
Angstneurose – Angstüberflutung infolge des Versagens
der Abwehrmechanismen ............................................................................... 368
Zwangsneurose – Isolierung und Abspaltung des Angstaffekts .................... 370
Sozialphobie – Die narzisstische Dynamik..................................................... 372
Posttraumatische Belastungsstörung – Überflutung des
informationsverarbeitenden Systems ............................................................. 373
Angst als Beziehungsmuster – Das interaktionell-systemische Modell .................... 374
Angst als Folge bedrohter Selbstverwirklichung – Das humanistische Modell ........ 379
Angst im Lebenslauf – Entwicklungspsychologische Aspekte ................................. 380
Angst in Zusammenhang mit dem Geschlecht .......................................................... 381
Angst in der Zeit der Globalisierung – Die Angst um den Arbeitsplatz ................... 382

6. Verhaltenstherapie bei Angststörungen .......................................................... 383

Therapeutische Grundprinzipien der Verhaltenstherapie .......................................... 383


Der Selbstmanagement-Ansatz in der Verhaltenstherapie ................................... 383
Prinzipien einer verhaltenstherapeutischen Kurzzeittherapie .............................. 385
Berücksichtigung allgemein therapeutischer Wirkprinzipien .............................. 388
Grundprinzipien verhaltenstherapeutischer Angstbehandlung ............................ 391
Vorgehen bei kombinierten Angststörungen ....................................................... 393
Agoraphobie ............................................................................................................. 394
Systematische Desensibilisierung – Die Angst erfolgreich meiden .................... 395
Konfrontationstherapie – Der Angst begegnen ................................................... 397
Das Modell der Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie ........ 404
Das Hamburger Modell .................................................................................. 405
Integrative Angstbewältigungstherapie nach Butollo .................................... 407
Weitere Verbesserungen der verhaltenstherapeutischen
Angstbewältigungstherapie ............................................................................ 409
Anleitung zur Konfrontationstherapie für Psychotherapeuten ....................... 410
Panikstörung ............................................................................................................. 414
Generalisierte Angststörung ...................................................................................... 418
Spezifische Phobie .................................................................................................... 423
Soziale Phobie ........................................................................................................... 427
Zwangsstörung .......................................................................................................... 435
Zwangshandlungen .............................................................................................. 435
Zwangsgedanken ................................................................................................. 447
Posttraumatische Belastungsstörung ......................................................................... 448
Erfolge der Verhaltenstherapie bei Angststörungen ................................................. 460
Agoraphobie ........................................................................................................ 462
Panikstörung ........................................................................................................ 468
Generalisierte Angststörung ................................................................................ 469
Spezifische Phobie ............................................................................................... 470
Soziale Phobie ..................................................................................................... 470
Zwangsstörung .................................................................................................... 471
Inhaltsverzeichnis XXI

Posttraumatische Belastungsstörung .................................................................... 473


Perspektivenerweiterung in der Verhaltenstherapie bei Angststörungen:
Achtsamkeit und Akzeptanz als Ergänzung zur Veränderungsorientierung ............. 474
Achtsamkeitsbasierte Stressbewältigung nach Kabat-Zinn ................................. 475
Akzeptanz- und Commitmenttherapie von Hayes und Mitarbeitern ................... 478
Angstbewältigungstherapie bei ängstlichen Persönlichkeiten ................................... 480
Berücksichtigung einer ängstlichen Persönlichkeitsstörung ................................ 480
Modifikation der Angstbewältigungstherapie
bei ängstlicher Persönlichkeitsstruktur ................................................................ 485

7. Psychoanalyse bei Angststörungen .................................................................. 487

Psychoanalytische Konzepte bei Angststörungen ..................................................... 487


Psychoanalytische Konzepte bei Zwangsstörungen .................................................. 490
Psychoanalytische Konzepte bei posttraumatischen Belastungsstörungen ................ 491
Erfolge der Psychoanalyse bei Angststörungen ........................................................ 492

8. Selbsthilfe bei Angststörungen ......................................................................... 493

Bibliotherapie – Selbstheilung durch angeleitetes Lesen .......................................... 493


Angst-Fragebogen – Angststörungen selbst erkennen .............................................. 494
Problem- und Zielanalyse bei Angststörungen .......................................................... 499
Verhaltensanalyse bei Panikattacken ................................................................... 503
Entspannungstraining ................................................................................................ 507
Benson Meditation (Relaxation Response) .......................................................... 508
Autogenes Training ............................................................................................. 509
Progressive Muskelentspannung nach Jacobson ................................................. 511
Atemtraining ............................................................................................................. 513
Atemübungen in Ruhe ......................................................................................... 515
Atemübungen bei Bewegung ............................................................................... 520
Atemübungen mit Düften (Aromatherapie) ......................................................... 523
Achtsamkeitstraining.................................................................................................. 524
Akzeptanz- und Commitmenttraining ....................................................................... 528
Angstbewältigungstraining ........................................................................................ 536
Systematische Desensibilisierung ........................................................................ 536
Konfrontationstherapie ........................................................................................ 537
Grundregeln der Angstbewältigung bei Agoraphobie ................................... 537
Gestufte Reizkonfrontation ............................................................................ 539
Erstellung von Angsthierarchien .............................................................. 539
Grundprinzipien der gestuften Reizkonfrontation .................................... 540
Übungsvorschläge für eine gestufte Reizkonfrontation ........................... 542
Massierte Reizkonfrontation (Reizüberflutung) ............................................ 543
Wenn die Angstbewältigung trotz der richtigen Technik nicht gelingt ......... 544
Kognitive Strategien der Angstbewältigung ............................................................. 547
Mentales Training ................................................................................................ 547
XXII Inhaltsverzeichnis

Tagebuchschreiben und Tonbandgespräche –


Therapeutischer Dialog mit der Angst ................................................................. 558
Selbstinstruktionstraining .................................................................................... 559
Positive Selbstinstruktionen ........................................................................... 560
Alternative Selbstinstruktionen ...................................................................... 563
Negative Selbstinstruktionen in einen positiven Kontext einbetten ............... 563
Selbstinstruktion als Entscheidungsdialog ..................................................... 564
Panikbewältigungstraining ........................................................................................ 564
Allgemeine Ratschläge zur Panikbewältigung .................................................... 565
Aufmerksamkeitslenkung .................................................................................... 567
Konzentration auf die Umwelt statt auf den Körper bei akuter Panik ........... 567
Konzentration auf die Gegenwart statt auf die Zukunft ................................. 568
Bewegungstraining .............................................................................................. 571
Panikprovokationstraining.................................................................................... 572
Provokation von Atembeschleunigung (Hyperventilation) ............................ 573
Provokation von Herzsensationen .................................................................. 574
Provokation von Schwindel und Fallangst ..................................................... 575
Paradoxe Intention – Gefürchtete Symptome bewusst provozieren .................... 580
Konditionstraining ............................................................................................... 582
Aktivitätsaufbau ................................................................................................... 583
Gesundheitsmaßnahmen ...................................................................................... 584
Emotionstraining ................................................................................................. 585
Stressbewältigungstraining .................................................................................. 586
Bewältigungsstrategien bei sozialen Ängsten ........................................................... 587
Bewältigungsstrategien bei generalisierten Ängsten ................................................. 597
Bewältigungsstrategien bei Zwangsstörungen .......................................................... 599
Allgemeine Ratschläge ........................................................................................ 599
Selbsthilfeprogramm bei Wasch- und Reinigungszwängen ................................ 603
Selbsthilfeprogramm bei Kontrollzwängen ......................................................... 605
Selbsthilfeprogramm bei Zwangsbefürchtungen ................................................. 606
Selbsthilfe angesichts des Modells von Zwangsstörungen
als neurobiologische Störungen ........................................................................... 608
Selbsthilfegruppen für Angst- und Zwangskranke .................................................... 610

9. Ratschläge für Angehörige ............................................................................... 611

Ratschläge für Angehörige von Angstpatienten ........................................................ 611


Ratschläge für Angehörige von Zwangspatienten ..................................................... 614

10. Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen ......................................... 617

Anxiolytika (Tranquilizer) ........................................................................................ 617


Benzodiazepine .................................................................................................... 618
Wirkungen und Einsatzbereiche .................................................................... 618
Pharmakologischer Wirkmechanismus der Benzodiazepine ......................... 620
Inhaltsverzeichnis XXIII

Einteilung der Benzodiazepine nach der Eliminationshalbwertszeit ............. 623


Benzodiazepine in der Angstbehandlung ....................................................... 627
Alprazolam (Tafil®, Xanor®) – Bei Panikstörungen am wirksamsten? .......... 631
Störungen durch Substanzkonsum ................................................................. 634
Negative Effekte von Benzodiazepinen ......................................................... 635
Nebenwirkungen von Benzodiazepinen ......................................................... 635
Auswirkungen von Benzodiazepin-Langzeitgebrauch .................................. 636
Überdosierungseffekte und schleichende Vergiftung bei Langzeiteinnahme 638
Benzodiazepinabhängigkeit ........................................................................... 638
Arzneimittel-Wechselwirkungen ................................................................... 643
Nicht-Benzodiazepintranquilizer ......................................................................... 644
Neuroleptika ............................................................................................................. 645
Antidepressiva ........................................................................................................... 647
Trizyklische Antidepressiva ................................................................................ 653
MAO-Hemmer (Monoaminooxydase-Hemmer) ................................................. 656
Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) ......................................... 658
Noradrenalin-Serotonin-selektive Antidepressiva (NaSSA) ............................... 668
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) ................................. 669
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (NARI) ................................................. 671
Serotonin-Wiederaufnahmeverstärker (SRE) ...................................................... 672
Serotonin-Modulatoren ........................................................................................ 673
Kombinationspräparate ........................................................................................ 674
Antiepileptika ...................................................................................................... 674
Beta-Blocker .............................................................................................................. 675
Dosierungsempfehlungen von Psychopharmaka bei Angststörungen ...................... 677
Pharmakotherapie bei verschiedenen Angststörungen .............................................. 679
Der Placeboeffekt von Medikamenten ...................................................................... 685
Der Placeboeffekt bei der medikamentösen Behandlung
verschiedener Krankheiten .................................................................................. 685
Wirkmechanismen von Placebos ......................................................................... 688
Persönlichkeitsvariablen des Patienten .......................................................... 688
Experimentelle Einflussfaktoren .................................................................... 689
Situative Einflussfaktoren (Arzt-Patient-Beziehung) ..................................... 689
Theorien zur Placebowirkung ........................................................................ 691
Nebenwirkungen von Placebos ...................................................................... 692

11. Phytotherapie bei Angststörungen ................................................................. 693

12. Persönliches Schlusswort ................................................................................. 695

Anmerkungen .......................................................................................................... 697

Literaturverzeichnis ................................................................................................ 711


1. Normale und krankhafte Ängste
Wird’s besser?
Wird’s schlimmer?
fragt man alljährlich.
Seien wir ehrlich:
das Leben ist immer lebensgefährlich.

Erich Kästner [1]

Angst als biologisch sinnvolle Reaktion


Angst ist eine primäre Emotion, ein zentraler und ganz normaler menschlicher Gefühls-
zustand wie Freude, Trauer, Furcht, Wut, Überraschung und Ekel. Sie ist in die Zukunft
gerichtet und tritt auf als Reaktion auf bedrohlich, ungewiss oder unkontrollierbar beur-
teilte Ereignisse, Situationen und Vorstellungen. Angst als Folge davon, dass bestimmte
Gegebenheiten instinktiv oder mental als gefährlich eingeschätzt werden, veranlasst den
Menschen, sich so zu verhalten, dass Gefahren überwunden oder vermieden werden
können. Als angemessene Reaktion auf tatsächliche oder vorgestellte Bedrohung stellt
Angst einen notwendigen, allerdings unangenehm erlebten Bestandteil des Lebens dar.
Ohne die Fähigkeit zur Angstreaktion in Gefahrensituationen wäre der Mensch genauso
schutzlos und dem Tode geweiht wie bei angeborener Schmerzlosigkeit. Angst ist ein
biologisch festgelegtes Alarmsignal wie Fieber oder Schmerz und sichert das Überleben
des Menschen und der Menschheit. Angst ist eine Grundbefindlichkeit des menschli-
chen Seins. Wir können nur mehr oder weniger angstfrei sein. Völlige Angstfreiheit ist
nicht nur unrealistisch, sondern in bestimmten Situationen sogar lebensgefährlich.
Das Wort „Angst“ geht auf das althochdeutsche Wort „angust“ zurück, das wieder-
um abgeleitet wird aus dem lateinischen Hauptwort „angustiae“ („Enge, Enge der
Brust“) bzw. aus dem Zeitwort „angere“, das „(die Kehle) zuschnüren, (das Herz) be-
klemmen“ bedeutet [2]. Es erfolgt auch eine Ableitung aus dem urindogermanischen
Wort „anghos“ („Enge, Beengung, Beklemmung, Bedrängnis, Zuschnüren der Kehle“).
„Angst“ bezeichnet also einen Zustand, in dem es einem die Kehle zuschnürt und die
Brust beklemmt, sodass einem die Luft wegbleibt. Sie ergreift den ganzen Menschen
und bewirkt über einen angeborenen Überlebensinstinkt eine biologisch sinnvolle, mas-
sive körperliche und seelische Aktivierung. Angst ohne körperliche Symptome wie
Herzklopfen, Atemnot, feuchte Hände, blasses Gesicht, Muskelzittern oder weiche Knie
drückt eher eine intellektuelle Besorgtheit als eine tatsächliche Angst aus, geschweige
denn eine Angststörung. Der englische Psychiater Isaac Marks [3] beschreibt in seinem
Buch „Ängste. Verstehen und bewältigen“ die körperlichen Angstreaktionen derart:

„Starke Angst verursacht unangenehme subjektive Gefühle der Erregung, Herzklopfen, Muskelspan-
nung, Zittern, Schreck- oder Alarmreaktion, ein Gefühl der Trockenheit und des ‚Zusammen-
geschnürtseins’ in Mund und Rachen, Beklemmung in der Brust, das Gefühl, daß der Magen sich senkt,
Übelkeit, Verzweiflung, Harn- und Stuhldrang, Gereiztheit und Angriffslust, starkes Verlangen zu
weinen, davonzulaufen oder sich zu verstecken, Atemnot, Prickeln in Händen und Füßen, Gefühle der
Unwirklichkeit oder des Weit-entfernt-Seins, ohnmächtig zu werden und umzufallen. Wenn Angst
lange Zeit andauert, werden selbst gesunde Menschen müde, deprimiert, langsamer, ruhelos und verlie-
ren ihren Appetit. Sie können nicht schlafen, haben schlechte Träume und vermeiden alle furchterre-
genden Situationen.“
2 Normale und krankhafte Ängste

Angst gibt es auch in der Tierwelt, wie der englische Naturforscher Charles Darwin [4]
bereits im Jahr 1872 anschaulich dargestellt hat:

„Bei allen oder fast allen Tieren, sogar bei Vögeln, bringt Terror den Körper zum Zittern. Die Haut
wird blaß, Schweiß bricht aus, und die Haare richten sich auf... Die Atmung ist beschleunigt. Das Herz
schlägt schnell, wild und gewaltsam... Die geistigen Fähigkeiten sind sehr gestört.“

Panikartige Angst bei Menschen charakterisierte Darwin [5] folgendermaßen:

„Das Herz schlägt wild, oder aber es fallen Herzschläge aus, was Ohnmacht zur folge haben kann; man
beobachtet eine todesähnliche Bleiche; der Atem geht schwer; die Nasenflügeln werden weit...es würgt
in der Kehle, die Augen treten hervor, die Pupillen erweitern sich, die Muskeln werden hart. Wenn die
Angst einen extrem hohen Punkt erreicht, entlädt sich die Panik in einem fürchterlichen Schrei. Große
Schweißtropfen stehen auf der Haut. Alle Muskeln des Körpers sind entspannt, bald folgt äußerste
Erschlaffung und die geistigen Kräfte versagen. Die Eingeweide sind ebenfalls betroffen. Die Schließ-
muskeln hören auf zu funktionieren, und der Inhalt des Körpers kann nicht mehr zurückgehalten wer-
den.“

Darwin sah den Grund für die universelle Verbreitung derartiger Symptome in der evo-
lutionären Bedeutung der Angst als Mittel der Vorbereitung auf Verteidigungsmaßnah-
men. Die Erkenntnisse von Darwin stellen die theoretische Grundlage für die neurobio-
logische Erforschung von Angstzuständen dar.
Der amerikanische Physiologe Walter Cannon machte 1929 durch seine Untersu-
chungen die körperlichen Angstreaktionen als „Kampf-Flucht-Reaktion“ weltweit po-
pulär. Der Stressforscher Hans Selye [6] beschrieb eine unspezifische Alarmreaktion des
Körpers in akuten Belastungssituationen, die auch bei plötzlicher Angst auftritt. Diese
Aktivierung wird „Notfallreaktion“ oder „Bereitstellungsreaktion“ genannt.
Angstzustände bewirken eine Alarmreaktion des Körpers zur Vorbereitung auf
Kampf oder Flucht, dienen also der Vorbereitung des Körpers auf schnelles Handeln.
Die Herztätigkeit und die Atmung werden beschleunigt, die Durchblutung verstärkt und
die Muskeln angespannt, um der Gefahr möglichst schnell zu entkommen. Eine derarti-
ge Alarmierung in Ruhe ohne äußere Bedrohung wird als unangenehm erlebt.
Bei akuten Gefahren (z.B. Straßenverkehr, Bedrohung im Rahmen von Überfällen,
Gefährdung von Angehörigen oder Bekannten) ermöglicht Angst eine automatische,
unbewusste, schnelle Alarmreaktion zur Sicherung von Leib und Leben, während bei
Einschaltung der höheren geistigen Funktionen (Nachdenken, ob wirklich eine Gefahr
besteht) die Reaktionsgeschwindigkeit derart verlangsamt würde, dass unweigerlich
bereits nicht mehr gutzumachender Schaden entstehen könnte [7].
Es gibt zahlreiche Schreck- und Angstreaktionen auf bestimmte auslösende Schlüs-
selreize, die im Tierreich gut untersucht wurden. Solche primären Ängste sind teilweise
auch noch beim Menschen vorhanden, z.B. als Abwehr- oder Fluchtreflex.
Auf bestimmte Umweltgegebenheiten (Dunkelheit, Feuer, Unwetter, Blitz und Don-
ner, Höhen, Schlangen, Spinnen usw.) reagieren wir von Natur aus stärker mit Angst als
auf andere Reize. Dies zeigt, dass wir aufgrund eines biologischen Programms, das sich
im Laufe der Evolution entwickelt hat, auf das Überleben von zumindest früher gefähr-
lichen Situationen vorbereitet sind. In Notfallsituationen können selbst Angstpatienten
rasch und richtig handeln, wenn es z.B. gilt, Angehörige aus einer lebensbedrohlichen
Situation zu retten. Man entwickelt dann „übermenschliche Kräfte“. Entwicklungsge-
schichtlich gesehen, stellen die Angststrukturen im Gehirn alte Gehirnanteile dar, die
erst beim Menschen in die höheren psychischen Funktionen integriert wurden.
Angstsymptome – Sozial vermittelt und kulturell geprägt 3

Körperliche Notfallreaktionen werden in unserer modernen Gesellschaft auch durch


viele Ängste und Stresssituationen ausgelöst, die keinerlei körperliche Betätigung erfor-
dern, sodass der Körper in der Phase der Alarmbereitschaft verharrt, ohne dass eine
Abreaktion der Anspannung erfolgt. Dauerstress und chronische Übererregung ange-
sichts vermeintlicher Gefahren gelten als typische Fehlalarmierungen des biologisch
sinnvollen Kampf-Flucht-Systems. Wenn Angst ein so extremes Ausmaß annimmt, dass
es zum Zusammenbruch des gesamten geordneten Denkens und Handelns kommt,
spricht man von Panik. In bestimmten Katastrophensituationen (Erdbeben, Großbrand,
Terroranschlag) wird Angst gewöhnlich zur Panik. Panik im Sinne eines katastrophen-
bedingten Massenphänomens ist eine akute Angstreaktion mit verminderter Selbstkon-
trolle, die zu Fluchtverhalten ohne Rücksicht auf soziale Aspekte führt. Es erfolgt eine
blinde, unüberlegte und unorganisierte Flucht, solange die Möglichkeit dazu besteht.
Der Ausfall von Fluchtmöglichkeiten ist verantwortlich für die Entstehung von Panik in
Menschenmengen. Das größte Ausmaß an Panik ist dann gegeben, wenn eine mittlere
Wahrscheinlichkeit besteht, der Situation zu entkommen. Dies erklärt das ständige Auf-
dem-Sprung-Sein vieler Angstpatienten, wenn sie in einer Angstsituation eine Flucht-
möglichkeit sehen (die Vorstellung von Flucht aktiviert zur Flucht). Bei fehlender
Fluchtmöglichkeit (Verschüttung durch Hauseinsturz oder Lawinenunglück, Absturz in
eine Gletscherspalte, Eingeschlossensein durch versperrte Türen usw.) wird man ruhig
und wartet auf Hilfe oder auf den Tod. In ähnlicher Weise werden Angstpatienten ent-
spannter, wenn sie in Angstsituationen auf Flucht verzichten.
Unterschiedliche Formen der Bedrohung werden durch unterschiedliche Worte be-
zeichnet. „Angst“ ist ein Gefühl unbestimmter Bedrohung, „Furcht“ ist eine gerichtete
Angst und subjektive Bedrohung durch bestimmte äußere Gefahren, „Panik“ ist das
Gefühl massiver körperlicher und/oder geistiger Überwältigung. Eine Panikattacke im
Sinne eines klinischen Syndroms besteht aus massiven Symptomen des eigenen Körpers
(Herzrasen, Schwindel, Atemnot, Erstickungsgefühle, Flimmern vor den Augen, Taub-
heits- und Kribbelgefühle usw.), sodass die Betroffenen oft glauben, sterben zu müssen,
obwohl sie gesund und äußerlich nicht bedroht sind. Angst, Furcht und Panik kann
bereits vor jeder bewussten Wahrnehmung einer Gefahr und vor jeder kognitiven Be-
wertung einer Situation auftreten, wie Experimente gezeigt haben.

Angstsymptome – Sozial vermittelt und kulturell geprägt


Angstreaktionen sind nicht nur biologisch bestimmt, sondern auch sozial vermittelt und
kulturell geformt. Ängste drücken sich in verschiedenen Kulturen unterschiedlich aus.
„Ein Mann darf keine Angst zeigen“ ist ein typischer Glaubenssatz der Vergangenheit.
Die Angst äußert sich dann in psychosomatischen Symptomen oder Alkoholmissbrauch.
Frauen dürfen laut früherem Rollenstereotyp ängstlich sein.
Im Laufe der Jahrhunderte traten immer wieder Ängste als Massenphänomene auf,
insbesondere in geschlossenen Gesellschaften. Angst kann buchstäblich „ansteckend“
sein. Der Kontakt mit einer Person, die bereits auffällige Angstsymptome hat, kann zur
„Ansteckung“ einer vorher angstfreien anderen Person führen.
Viele Angstsymptome wie Hyperventilation, Ohnmachtsanfälle und Körpermiss-
empfindungen lassen sich durch Kommunikation und modellhaftes Lernen erklären. Die
Ausbreitung der Angstsymptomatik erfolgt meist über jene Menschen, die emotional
recht instabil sind und aktuell unter massiven Konflikten leiden [8].
4 Normale und krankhafte Ängste

Ein typisches Beispiel für die epidemische Ausbreitung körperlicher Angstreaktio-


nen stellt die Ausbreitung folgender Symptome in einer britischen Mädchenschule dar
[9]: Hyperventilation, Schwindel, Ohnmachtsanfälle, Kopfschmerzen, Kälteschauer,
Übelkeit, Rücken- oder Unterleibsschmerzen, Hitzewallungen und Erschöpfung. In
jeder Klasse wurden zuerst jene Schülerinnen von den Symptomen erfasst, die einerseits
einen hohen Status besaßen und andererseits zu diesem Zeitpunkt bestimmte Probleme
hatten. Im Laufe der Epidemie entwickelten zwei Drittel der 500 Schülerinnen Angst-
symptome, ein Drittel musste sogar in das Krankenhaus eingeliefert werden.
Ein weiteres Beispiel für die plötzliche Ausbreitung panikartiger Angst mit massi-
ven körperlichen Symptomen stammt aus einem Stadion in Kalifornien [10]. Der Platz-
sprecher warnte die Zuschauer, Getränke aus einem bestimmten Limonadenautomaten
zu entnehmen, weil vier Zuschauer nach dem Konsum der vermutlich verdorbenen
Getränke unter Erbrechen litten. Daraufhin mussten viele Teilnehmer der Sportveran-
staltung erbrechen oder litten unter Schwindel, einige wurden sogar bewusstlos. 191
Zuschauer wurden mit dem Verdacht auf eine akute Lebensmittelvergiftung in das
Krankenhaus eingeliefert. Die anschließende Laboruntersuchung ergab jedoch keinerlei
bakterielle Vergiftung der Getränke. Die Macht der Vorstellung und der ansteckende
Effekt der Massenpanik hatten die Angstsymptome ausgelöst.
Eine ähnliche Massenpanik wurde im Jahr 1998 in McMinnville im amerikanischen
Bundesstaat Tennessee von einer Lehrerin in einer High School ausgelöst. Nach dem
vermeintlichen Geruch von Benzin bekam sie Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit und
Atemnot. Man befürchtete einen Chemieunfall mit Austritt eines unsichtbaren Gases,
sodass der Direktor die Feuersirene auslöste und die Schule evakuieren ließ. 80 Schüler
und 19 Angestellte der Schule wurden auf der Notfallstation des Krankenhauses aufge-
nommen. Fünf Tage nach der Wiedereröffnung der Schule kam es zu neuerlicher Panik,
sodass 71 Personen als Notfallpatienten in das Krankenhaus kamen. Fachleute suchten
vergeblich nach chemischen Giften, denn es gab gar keinen Chemieunfall.
Massenpanik lässt sich auch über die Medien auslösen. Am 30.10.1938 gerieten bei
der Ausstrahlung des sehr realistisch gestalteten Hörspiels „Krieg der Welten“ nach
dem Science-Fiction-Roman von H. G. Wells Millionen amerikanische Radio-Zuhörer
in Panik, weil sie allen Ernstes eine Invasion von Mars-Wesen befürchteten.
Aus früheren Jahrhunderten sind zahlreiche Angstepidemien bekannt, die Ausdruck
der damaligen christlichen Glaubensvorstellungen waren: Angst vor Verdammung,
Hölle, Teufel, Dämonen, Hexen, Weltuntergang usw.
Delumeau [11] beschreibt in seinem Buch „Angst im Abendland. Die Geschichte
kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts“ recht eindrucksvoll die
epidemischen Ängste der Bevölkerung vor Pest, Krieg, Hunger, Aufständen und Natur-
gewalten, aber auch die von der Kirche genährten Ängste vor dem Jüngsten Gericht,
Satan und seinen Helfershelfern (Frauen, Hexen, Juden, Andersgläubigen).
Körperliche Angstreaktionen in epidemischem Ausmaß, die bei ihrem erstmaligen
Auftreten rätselhaft erschienen, wurden auch bei Kriegsteilnehmern festgestellt [12]:
z das von Da Costa 1871 als „Soldatenherz“ diagnostizierte Phänomen typischer
Kriegsangst bei 200 amerikanischen Soldaten während des Bürgerkriegs;
z das so genannte Effort-Syndrom amerikanischer Soldaten während des Ersten Welt-
kriegs, das in funktionellen Herzbeschwerden bestand;
z das Kriegszittern bei österreichischen und deutschen Soldaten im 1. Weltkrieg, die
völlig hilflos in Schützengraben eingegraben waren und ständig mit dem Tod durch
eine Granate rechnen mussten.
Angstsymptome – Sozial vermittelt und kulturell geprägt 5

Diese Symptome stellten eine Reaktion auf traumatisierende Erlebnisse an der Front
und einen Schutz vor weiterer Bedrohung durch die Kriegsereignisse dar, indem sie eine
vorübergehende Freistellung vom Kriegsdienst erbrachten.
Um die Jahrhundertwende traten bei Frauen gehäuft Ohnmachtsanfälle als Ausdruck
von Angst und Schrecken auf. Neben der sozialen Machtlosigkeit von Frauen stellt dies
oft auch die Folge der Körperabschnürung durch das damals übliche Korsett dar.
Plötzliches Einschlafen von Soldaten im Schützengraben als Schutz vor dem be-
wussten Erleben einer Verletzung ist aus den Kriegsjahren bekannt.
In anderen Kulturen finden wir epidemisch auftretende Ängste, die für uns unver-
ständlich sind. Sie hängen häufig mit falschen Vorstellungen über Ursachen und Folgen
verschiedener Phänomene zusammen, ähnlich wie dies auf den Aberglauben im frühe-
ren Europa zutrifft, und äußern sich in bestimmten somatoformen Symptomen [13]:
z Koro ist die Angst südostasiatischer Chinesen, dass der Penis schrumpfen könnte,
indem er sich in den Bauch zurückzieht und so schließlich den Tod herbeiführt.
1967 trat diese Angst als Massenphänomen in Singapur auf. Viele Männer hielten
deshalb den Penis fest oder versuchten das Geschehen durch hölzerne Zangen an ih-
rem Penis zu verhindern. Analog, aber deutlich seltener, befürchten asiatische Frau-
en, dass ihre Brustwarzen, ihre Schamlippen oder ihre Scheide schrumpfen könnten.
z Jiryan ist der fixe Glaube, dass das Sperma aus dem Körper in den Urin ausläuft und
infolgedessen ein kontinuierlicher Potenzverlust eintritt.
z Das Dhat-Syndrom stellt in Indien die unberechtigte Sorge um die schwächende
Wirkung des Samenergusses dar. Die Zurückhaltung der Ejakulation sollte dagegen
ein langes Leben in Gesundheit ermöglichen. Häufige sexuelle Betätigung wurde
von antiken und asiatischen Asketen als Energieverlust abgelehnt, früher auch von
der katholischen Kirche.
z Latah ist (als Sonderform der posttraumatischen Belastungsstörung) eine angstge-
prägte Reaktion auf plötzliche Stresssituationen (Krieg, Naturkatastrophen oder so-
ziale Veränderungen), die sich in Hypersuggestibilität, automatischem Gehorsam
und verschiedenen Echophänomenen (Echolalie und Echopraxie) äußert.
z Susto ist die Angst in bestimmten südamerikanischen Gegenden, dass die Seele als
Folge von Stress zeitweilig den Körper verlassen könnte.
z Taijin kyofusho ist in Japan und Korea eine Variante der sozialen Angststörung, bei
der die Betroffenen fürchten, anderen gegenüber aufdringlich zu wirken. Sie sind ex-
trem darauf bedacht, andere Menschen keinesfalls zu stören, zu belästigen, zu belei-
digen oder sonst irgendwie unangenehm zu irritieren durch Blicke, schlechten Kör-
pergeruch, vermeintliche körperliche Defekte, abgehende Blähungen, eigenes Errö-
ten, unpassende Kleidung oder unabsichtliche Berührung. Im Mittelpunkt steht das
ängstliche Bemühen, Schaden von anderen und nicht von sich selbst abzuwenden.
z Das Hirn-Ermüdungs-Syndrom ist eine kulturspezifische Form anhaltender Angst
von Mitgliedern ungebildeter Familien in Afrika, die aufgrund ihrer hohen Intelli-
genz zur Bildung ins Ausland geschickt wurden und wegen ihres akademischen
Versagens wieder nach Hause zurückkehren mussten, geplagt von großer Angst und
Scham vor ihrer Familie, aber auch von vielen körperlichen Symptomen (Kopf-
schmerzen, Sehstörungen, Konzentrations- und Arbeitsbeeinträchtigungen).
z Voodoo ist die Angst vor der Macht des Medizinmannes, der durch seinen Todes-
spruch bewirken kann, dass der Betroffene die Nahrungsaufnahme einstellt und in-
nerhalb von wenigen Tagen tatsächlich stirbt. Die starken Angstsymptome stehen
hier in Verbindung mit dem Glauben, verhext zu sein.
6 Normale und krankhafte Ängste

Die Angst ist eine Kraft


Körperliche Angstreaktionen ohne tatsächlichen Notfall sind zwar unangenehm, jedoch
ungefährlich. Wer mit der Angst so umgeht wie mit dem Feuer, wird davon profitieren.
„Die Angst ist eine Kraft“, wie der Psychologe Willi Butollo [14] in seinem gleich-
namigen Buch feststellt. Sie treibt uns an zur Bewältigung von realen Bedrohungen und
dient damit der Reifung der Persönlichkeit ebenso wie der Beseitigung Angst erregen-
der gesellschaftlicher Entwicklungen (Atomkrieg, Umweltverschmutzung, Ausbeutung
der Erde, Beeinträchtigung des Erbgutes u.a.). Angst führt in diesem Sinne zu einem
persönlichen und gesellschaftlichen Fortschritt, während die vielen Mittel der Angst-
vermeidung und Angstverleugnung das individuelle und kollektive Unheil fixieren.
Die Haltung „Es wird schon nichts passieren“ nimmt mögliche Bedrohungen nicht
ernst und kann sie daher auch nicht reduzieren. „Positives Denken“ ohne konkretes
Handeln ist angesichts von realen Gefahren nicht hilfreich, sondern möglicherweise
sogar lebensgefährlich. Angst als Alarmreaktion in bestimmten Situationen (Prüfungen,
neuen oder schwierigen Aufgabenstellungen, Autofahren, Bergsteigen usw.) erhöht die
generelle Aufmerksamkeit als Schutzmechanismus zur Bewahrung vor Fehlern.
Angst mittleren Ausmaßes verstärkt unsere Anstrengungen in Leistungssituationen
und kann durchaus ein wichtiger Antrieb in unserem Leben sein. Ein wenig Angst zu
haben, ist somit förderlich für die menschliche Entwicklung und Leistungsmotivation.
Während ein dosiertes Angstausmaß die Aufmerksamkeit, Wachheit, intellektuelle und
motorische Leistungsbereitschaft erhöht, führen übermäßige Ängste zur Beeinträchti-
gung des Denkens, der Konzentration und des Verhaltens bis hin zur totalen Angstblok-
kade oder bewirken eine panische Kurzschlussreaktion (z.B. Selbstmordversuch).
Der Zusammenhang zwischen Angst und Leistung entspricht einer Kurve: Zu wenig
Angst macht uns sorglos und antriebslos, zu viel Angst macht uns ungeschickt, ge-
hemmt und gelähmt, während uns ein mittleres Angstausmaß zu Höchstleistungen mo-
tiviert und aktiviert. Ein mittleres Ausmaß an Erregung zum Einsatz der optimalen Lei-
stungsfähigkeit ist in der Psychologie als Yerkes-Dodson-Gesetz bekannt [15].
Ein gewisses Ausmaß von Angst bewahrt uns auch vor Routine und bewirkt, dass
wir „echt“ sind und immer wieder unser Bestes geben. In diesem Sinn ist das Lampen-
fieber von Schauspielern und Sängern zu verstehen, die behaupten, nicht mehr so gut zu
sein, wenn sie vor dem Auftritt nicht mehr nervös seien. Nützlich ist jene Angst, die uns
hilft, im Hier und Jetzt zu handeln. Blockierend ist jene Angst, die uns bei der Vorstel-
lung drohender Gefahr in unseren aktuellen Handlungsmöglichkeiten einschränkt.
Ein wenig soziale Angst ist ebenfalls völlig normal. Dies hängt mit der Schwierig-
keit der Rollenübernahme in neuen Situationen zusammen (Pubertät, Partnersuche,
Elternschaft, neue Arbeitsstelle, Umzug) sowie mit speziellen Anforderungen und Be-
wertungen der eigenen Person in bestimmten Situationen (Prüfung, Bewerbungsge-
spräch). Je größer die Unsicherheit ist, desto größer ist die Angst vor den anderen.
Viele bekannte Persönlichkeiten (Musiker, Dichter, Sänger, Schauspieler, Sportler,
Politiker, Wirtschaftstreibende, Forscher) waren getrieben von der Angst, nicht gut
genug zu sein bzw. nicht besser zu sein als die anderen. Aus Angst davor, nicht geliebt
zu werden, aus Angst vor Kritik, Versagen oder Mittelmäßigkeit steigerten sie ihre
Leistungsfähigkeit durch intensives Training oder überdurchschnittlichen Arbeitsein-
satz. Wirtschaftstreibende und Politiker vergrößern unter enormen Anstrengungen ihren
wirtschaftlichen Gewinn und ihren politischen Machtbereich, weil sie Angst haben,
nicht genug Geld, Vermögen und Macht zu haben und deshalb bedeutungslos zu sein.
Die Angst ist eine Kraft 7

Der Psychiater Borwin Bandelow beschreibt in seinem Werk „Das Angstbuch“


Angst als „Superbenzin“ und Triebfeder für Erfolg. Angst sei der Motor, der perfektio-
nistische Menschen zu Höchstleistungen ansporne. Die Angst vor Misserfolg und Mit-
telmäßigkeit motiviere Menschen zu Spitzenleistungen. Personen mit starken Ängsten
seien oft auch gefühlvoller, emotionaler und leidenschaftlicher als andere, sodass sie
gerade deswegen zu außergewöhnlichen künstlerischen Leistungen fähig seien.
Manchmal kann es sein, dass die Angst erst nach der überwundenen Gefahr auftritt.
Dies ist dann der Fall, wenn wir in der Angstsituation rasch handeln müssen, um eine
Katastrophe zu vermeiden, sodass wir vorher abgelenkt sind und erst anschließend
nachdenken können, wie gefährlich die erlebte Situation war. Hier erinnert uns die
Angst daran, dass wir bestimmte Erfahrungen auch emotional verarbeiten müssen.
Angst schützt uns davor, dass wir uns in Situationen begeben, die wir vielleicht mit
dem Leben bezahlen würden. Ohne Angst wagen wir uns sicherlich leichter in gefährli-
che Situationen, doch kann dies auch Ausdruck einer Selbstüberschätzung sein. Eine
Skitour bei Lawinengefahr oder Klettern auf einem schwierigen Berg ohne ausreichende
Erfahrung kann ebenso gefährlich sein wie Autofahren mit einem Alkoholspiegel über
0,5 Promille, der die Kritikfähigkeit und Angstbereitschaft senkt.
Angst mahnt uns zur Vorsicht in unsicheren Situationen und weist uns auf die Mög-
lichkeit des Versagens hin. Dennoch sollen wir voll Vertrauen in unsere Fähigkeiten
jene Aktivitäten unternehmen, die unser Leben und das unserer Mitmenschen berei-
chern. Bei krankhaften Ängsten, vor allem aber auch bei Zwängen, fehlt das Vertrauen
in die eigene Verhaltenseffizienz, sodass ein zunehmendes Vermeidungsverhalten ein-
setzt. Es geht nicht einfach darum, weniger Angst zu haben, sondern mehr Vertrauen zu
sich zu gewinnen, die Aufgaben, die das Leben uns stellt, nach besten Kräften meistern
zu können. Wir müssen auch einen Weg finden zwischen Angst und Feigheit einerseits
und Wagemut und Tollkühnheit andererseits. Erstrebenswert ist ein je nach Situation
angemessenes Verhältnis von Mut, Vorsicht, Vertrauen und Angst. Ängste, die uns am
Erreichen unserer Ziele hindern, sollen überwunden werden, Ängsten, die uns auf mög-
liche Gefahren hinweisen, soll adäquat begegnet werden.
Es ist kein sinnvolles Ziel, generell angstfrei zu leben, sondern zu lernen [16],
z begründete von unbegründeten (irrationalen) Ängsten zu unterscheiden,
z sinnlose Ängste vor irrealen Gefahren zu überwinden,
z die Angst vor unwahrscheinlichen, aber nicht sicher ausschließbaren Gefahren im
Sinne eines Restrisikos ohne zwanghaftes Sicherheitsbedürfnis besser zu ertragen,
z die Angst vor unkontrollierbaren tatsächlichen Gefahren ohne lähmendes Ausufern
in andere Bereiche zu akzeptieren,
z die Angst vor realen Gefahren als Handlungsimpuls für Lösungen und Bewälti-
gungsstrategien zu nutzen, ohne sich davon überwältigen zu lassen.

Gehen Sie mit Angst um wie mit einem Gespenst: „Laufe vor einem Gespenst fort, und
es wird dich verfolgen. Gehe auf es zu, und es wird verschwinden.“ (Altes irisches
Sprichwort). Dichter und Schriftsteller formulieren es ähnlich:
z „Beherzt ist nicht, wer keine Angst kennt, beherzt ist, wer die Angst kennt und sie
überwindet.“ (Khalil Gibran)
z „Tue das, wovor Du Angst hast, und der Tod Deiner Angst ist sicher.“
(Ralph Waldo Emerson)
z „Tue das, wovor du dich fürchtest, und die Furcht stirbt einen sicheren Tod.“ (Willi-
am James)
8 Normale und krankhafte Ängste

Die Verhaltenstherapeutin Doris Wolf [17] bietet in ihrem empfehlenswerten und viel
gelesenen Buch „Ängste verstehen und überwinden“ sechs hilfreiche Fragenbereiche
zur Prüfung an, wann Angst sinnvoll ist und wann nicht:
1. Kann das, was ich als gefährlich ansehe, tatsächlich eintreffen? Ist das, was ich als
gefährlich, katastrophal und unerträglich ansehe, wirklich lebensgefährlich? Gibt es
Beweise dafür? Eine differenzierte Realitätsprüfung der möglichen Gefahren soll
unnötigen Angstfantasien Einhalt gebieten.
2. Wenn die von mir als lebensgefährlich bewertete Situation tatsächlich unangenehm
sein kann, wie wahrscheinlich ist sie? Was als Gefahr grundsätzlich möglich ist,
muss in einer bestimmten realen Situation noch keinen handlungsleitenden Charak-
ter annehmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass einem Fußgänger ein Dachziegel auf
den Kopf fallen kann, ist vernachlässigbar gering, sodass man durchaus entlang ei-
ner Häuserzeile gehen kann.
3. Gibt es Möglichkeiten, das von mir als lebensgefährlich angesehene Ereignis zu
verhindern? Die Auslösung einer Alarmsituation mit allen körperlichen Folgen ist
nur sinnvoll, wenn konkrete Maßnahmen zur Abwehr der Gefahr ergriffen werden.
4. Gibt es Überlebensmöglichkeiten, wenn das von mir als lebensgefährlich einge-
schätzte Ereignis tatsächlich eintritt? Was wäre, wenn ...? Die Vorstellung einer Ge-
fahrensituation soll nicht abschrecken, sondern letztlich die Fantasie anregen, wie
man diese überwinden kann.
5. Haben alle Menschen vor diesen Situationen Angst oder meiden andere Menschen
diese Situationen? Das Bewusstsein, dass andere Menschen mit einer bestimmten
Gefahrensituation sehr wohl zurechtkommen können, erinnert an Wahlmöglichkei-
ten und eröffnet einen Entscheidungsspielraum.
6. Was verliere ich, wenn ich nicht in die von mir als gefährlich angesehene Situation
gehe? Was bedeutet dies beruflich, gesellschaftlich, im Privatleben und bezüglich
meiner Selbstachtung? Was verlieren Angehörige und Bekannte durch meine Angst-
symptome und mein Vermeidungsverhalten? Was kann ich gewinnen, wenn ich in
diese Situation gehe? Ist mir der mögliche Gewinn so viel wert, dass ich mich der
Situation trotz Risiko aussetze? Eine Gewinn-Verlust-Rechnung kann helfen, ein
neues Verhalten auszuprobieren, getreu dem Motto „Wer wagt, gewinnt!“, obwohl
ein gewisses Risiko des Scheiterns immer gegeben sein wird.

Es ist erstaunlich, dass die größten Bedrohungen des Menschen und der Menschheit
(Atomunfall, Giftgaskatastrophe, Umweltvergiftung, unheilbare Krankheit, Autofahren)
oft wenig Beängstigung auslösen. Bis zu einem gewissen Grad scheint es für die psy-
chische Gesundheit notwendig zu sein, an sich realistische Gefahren nicht ständig prä-
sent zu haben, sondern zeitweise verdrängen zu können, um handlungsfähig zu sein.
Optimismus und Vertrauen bedeutet, beim Denken und Handeln die negativen Mög-
lichkeiten und ein gewisses Restrisiko zumindest phasenweise ausblenden zu können.
Es schränkt die Lebensfreude ein, wenn man bei jedem Essen daran denkt, dass dieses
möglicherweise atomar verstrahlt sein könnte.
Oft spiegelt unsere häufige Sorglosigkeit auch den Umstand wider, dass wir für be-
stimmte Gefahrensituationen der modernen Welt von der Evolution kein genetisches
Programm mitbekommen haben, während sich viele Menschen noch immer vor kaum
mehr gegebenen Umweltgefahren unserer Vorfahren fürchten. Dunkelheit, Blitz, Don-
ner und ungefährliche Schlangen lösen oft mehr Ängste aus als Seilbahnen, Flugzeuge,
Kraftfahrzeuge, elektrischer Strom und Schusswaffen.
Die existenzielle Dimension der Angst 9

Die existenzielle Dimension der Angst


Die existenzielle Dimension der Angst zeigt sich in zahlreichen Grundängsten des Men-
schen. Die Angst, etwas zu verlieren (Angehörige, Beruf, materielle Werte, Sozialpre-
stige, Zuneigung anderer, Gesundheit, körperliche oder geistige Kraft, Macht und Ein-
fluss, äußere Schönheit, das Leben an sich usw.) macht deutlich, was uns wichtig ist.
Nur wer nichts und niemanden geliebt hat, hat keinerlei Verlustängste. Hinter jeder
Angst steckt ein Wunsch: Das, was wir fürchten, soll auf keinen Fall passieren. Wir
fühlen uns jedoch gleichzeitig außerstande, die Gefahr mit Sicherheit beseitigen zu
können. Die Ängste eines Menschen sagen sehr viel aus über dessen Wertsystem und
Lebensziele – gleichsam nach dem Motto: „Sag’ mir, was Du fürchtest, und ich sage
Dir, wer Du bist.“ Unsere größten Befürchtungen zeigen unsere Verletzlichkeit auf:
z Die Angst, zu früh zu sterben, drückt aus, dass viele unserer Hoffnungen und Erwar-
tungen im Leben enttäuscht werden könnten (z.B. Traum von der gelungenen Part-
nerschaft) und unsere Pflichten noch nicht ausreichend erfüllt sein könnten (z.B. Er-
ziehung von Kindern, Erreichung bestimmter beruflicher Ziele).
z Die Angst, dass Angehörige (Elternteil, Partner, Kinder) sterben könnten, macht uns
bewusst, was uns unverzichtbare Geborgenheit vermittelt.
z Die Angst, die Zuneigung anderer Menschen zu verlieren, weist uns darauf hin, wie
sehr unser Selbstbewusstsein von der Anerkennung durch andere abhängig ist. Wir
fürchten uns vor dem „sozialen Tod“, vor dem Verlust unseres Sozialprestiges.
z Die Angst zu versagen spiegelt die Bedeutung der Leistung in der Leistungsgesell-
schaft wider und macht soziale Ängste als Beurteilungsängste verständlich.
z Die Angst, bei zu langem Krankenstand wegen einer Angststörung den Arbeitsplatz
zu verlieren, drückt die Realangst aus, dass der Arbeitgeber dafür weniger Verständ-
nis haben könnte als der Partner oder der Psychotherapeut.
z Die Angst vor Entscheidungen geht oft mit der Angst einher, das Falsche zu wählen
und sich bestimmter Lebensmöglichkeiten zu berauben.
z Die Angst, schwer zu erkranken, hat die möglicherweise für immer verminderten
Lebenschancen und die andauende Abhängigkeit von anderen Menschen im Blick.
z Die Angst vor dem Tod ist die größte Angst. Es handelt sich dabei oft nicht um die
Angst vor dem Prozess des Sterbens, sondern um die Angst, dass mit dem Tod alle
Bestrebungen des Menschen, seine Ziele zu erreichen und sein Leben zu genießen,
beendet sein könnten, und dass mit dem Tod alles aus sein könnte.

Die Daseins- und Zukunftsängste in einer sich ständig wandelnden Welt mit bedrohli-
chen Aussichten haben dazu geführt, unser Zeitalter zu einem „Zeitalter der Angst“ zu
erklären. Die verschiedenen Kulturen und Religionen haben sich bemüht, den Menschen
mit dem Schicksal der andauernd gefährdeten Existenz besser umgehen zu helfen.
Viele Menschen mit Angststörungen können letztlich die ständige Bedrohtheit und
Unkontrollierbarkeit des Lebens nicht akzeptieren, wenn sie sich um ihr Leben, ihre
Gesundheit oder ihr Prestige sorgen. Kein Beruhigungsmittel und keine Entspannungs-
methode kann die Todesangst ausschalten, die von jedem Menschen nach seinen Mög-
lichkeiten bewältigt werden muss. Die frühere christliche Weisheit „Lebe jeden Tag so,
als ob er dein letzter wäre!“ drückt aus, welche Intensität das Leben angesichts des
möglichen Todes gewinnen kann. Panikpatienten mit Agoraphobie verhalten sich dage-
gen umgekehrt: Aus Angst vor dem Tod schränken sie ihre Lebensmöglichkeiten ein;
vor lauter Verhinderung des Negativen vergessen sie, das Gute im Hier und Jetzt zu tun.
10 Normale und krankhafte Ängste

Der Schriftsteller Max Frisch [18] drückt den Zusammenhang von Lebensangst und
Lebensfreude folgendermaßen aus:

„Es gibt kein Leben ohne Angst vor dem andern; schon weil es ohne diese Angst, die unsere Tiefe ist,
kein Leben gibt; erst aus dem Nichtsein, das wir ahnen, begreifen wir für Augenblicke, daß wir leben.
Man freut sich seiner Muskeln, man freut sich, daß man gehen kann, man freut sich des Lichtes, das
sich in unserm dunklen Auge spiegelt, man freut sich seiner Haut und Nerven, die uns so vieles spüren
lassen, man freut sich und weiß mit jedem Atemzug, daß alles, was ist, eine Gnade ist. Ohne dieses
spiegelnde Wachbewußtsein, das nur aus Angst möglich ist, wären wir verloren; wir wären nie gewe-
sen.“

Die existenzielle Dimension der Angst und ihrer Bewältigung zeigt sich auch in dem
Umstand, dass die Betroffenen – frei von ihren Ängsten – sich fragen können, wofür sie
nun eigentlich frei sind. Wenn die Angst vor Abhängigkeit und Eingeengtsein vorbei
ist, setzt bei vielen Menschen plötzlich die Angst vor der Entscheidungsfreiheit ein.
Nach dem dänischen Philosophen und Theologen Sören Kierkegaard [19] ist Angst
der „Schwindel der Freiheit“, der beim Anblick der vielfältigen Möglichkeiten des
Lebens und des Drucks konkreter Entscheidungen mit dem Risiko von Fehlern entsteht.
Angst lähme nicht nur, sondern enthalte die unendliche Möglichkeit des Könnens, die
den Motor der menschlichen Entwicklung darstelle, wie Kierkegaard in seinem bedeut-
samen Werk „Der Begriff Angst“ ausführt.
Der Daseinsanalytiker Gion Condrau [20] betont ebenfalls die menschliche Wahl-
freiheit als Quelle der Angst, das Falsche zu tun:

„Angst ist nur auf dem Hintergrund von Freiheit möglich... Freiheit ist immer mit potentieller Angst
verbunden. Je größer die Freiheit für die wachsende Fähigkeit ist, sich den eigenen Möglichkeiten der
individuellen Entfaltung wie auch der Vertiefung zwischenmenschlicher Beziehungen zu stellen, und
diese zu verwirklichen; je größer das Wagnis ist, sich auf neues Gebiet zu wagen, desto größer wird die
Angst. Fürchtet sich aber der Mensch vor der Freiheit, wird die Angst krankhaft.“

Wofür soll man kämpfen, wenn man plötzlich nicht mehr gegen etwas kämpfen muss?
Was soll man selbstverantwortlich tun, wenn man es wirklich tun kann und nicht mehr
länger daran gehindert ist? Eine zentrale Frage in der Psychotherapie bei Menschen mit
Angststörungen lautet: „Was würden Sie tun, wenn Sie keine krankhaften Ängste mehr
hätten?“ Viele Angstpatienten wünschen zwar, ohne krankhafte Angst zu sein, können
sich diese Zeit mit ihren konkreten Möglichkeiten jedoch gar nicht vorstellen.
Der Psychoanalytiker Fritz Riemann [21] beschreibt aus tiefenpsychologischer Sicht
in beeindruckender Weise vier „Grundformen der Angst“ als vier verschiedene Arten
des In-der-Welt-Seins, die allen möglichen Ängsten zugrunde liegen und von einem
gesunden Zustand bis zu einer krankhaften Ausprägung gehen würden (bei pathologi-
scher Ausprägung würden daraus vier Persönlichkeitsstörungen resultieren, was man
jedoch als grobe Vereinfachung ansehen muss):
1. die Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt (krankhaft:
schizoider Typus);
2. die Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgensein und Isolierung erlebt (krank-
haft: depressiver Typus);
3. die Angst vor der Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt (krankhaft:
zwanghafter oder anankastischer Typus);
4. die Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt (hysteri-
scher Typus).
Die existenzielle Dimension der Angst 11

Zu jeder Strebung gehört die Angst vor der Gegenstrebung. Jeder Mensch muss ein
dynamisches Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Tendenzen finden. Die vier
Grundimpulse ergänzen und widersprechen sich in folgenden Polaritäten:
z das Streben nach Selbstbewahrung und Absonderung und das Gegenstreben nach
Selbsthingabe und Zugehörigkeit,
z das Streben nach Dauer und Sicherung und das Gegenstreben nach Wandlung und
Risiko.

Riemann [22] weist darauf hin, dass nicht die Angst vor diesen Aspekten menschlichen
Seins bzw. Verhaltens krank machend ist, sondern deren Nichtbewältigung:

„Hinter den vier Grundformen der Angst stehen allgemein-menschliche Probleme, mit denen wir alle
uns auseinandersetzen müssen. Jedem von uns begegnet die Angst vor der Hingabe in einer ihrer ver-
schiedenen Formen, die als Gemeinsames das Gefühl der Bedrohtheit unserer Existenz, unseres persön-
lichen Lebensraumes, oder der Integrität unserer Persönlichkeit haben. Denn jedes vertrauende sich
Öffnen, jede Zuneigung und Liebe kann uns gefährden, weil wir dann ungeschützter und verwundbarer
sind, etwas von uns selbst aufgeben zu müssen, uns einem anderen ein Stück auszuliefern. Daher ist alle
Angst vor der Hingabe verbunden mit der Angst vor einem möglichen Ich-Verlust.
Jedem begegnet auch die Angst vor der Ich-Werdung, vor der Individuation, die in den verschiede-
nen Formen ihres Auftretens als Gemeinsames die Angst vor der Einsamkeit hat. Denn jede Individua-
tion bedeutet ein sich Herausheben aus bergenden Gemeinsamkeiten. Je mehr wir wir selbst werden,
um so einsamer werden wir, weil wir dann immer mehr die Isoliertheit des Individuums erfahren.
Jedem begegnet auch die Angst vor der Vergänglichkeit auf seine Weise; unvermeidlich erleben
wir immer wieder, daß etwas zu Ende geht, aufhört, plötzlich nicht mehr da ist. Je fester wir etwas
halten, beibehalten wollen, um so mehr erliegen wir dieser Angst, deren verschiedene Formen als
Gemeinsames die Angst vor der Wandlung erkennen lassen.
Und jeder begegnet schließlich auch der Angst vor der Notwendigkeit, vor der Härte und Strenge
des Endgültigen, bei deren verschiedenen Ausformungen das Gemeinsame die Angst vor dem unaus-
weichlichen Festgelegtwerden ist. Je mehr wir eine unverbindliche Freiheit und Willkür anstreben,
desto mehr müssen wir die Konsequenz und die Grenzen der Realität fürchten.
Da sich die großen Ängste unseres Daseins, die so wichtig für unsere reifende Entwicklung sind,
nicht umgehen lassen, bezahlen wir den Versuch, vor ihnen auszuweichen, mit vielen kleinen, banalen
Ängsten. Diese neurotischen Ängste können sich praktisch auf alles werfen, und sie sind letztlich nur
aufzulösen, wenn wir die dahinterliegende eigentliche Angst erkannt haben, und uns mit dieser ausein-
andersetzen... Die Begegnung mit den großen Ängsten ist ein Teilaspekt unseres reifenden Weiter-
schreitens; die Verschiebung auf jene stellvertretenden neurotischen Ängste hat nicht nur eine lähmen-
de und hemmende Wirkung, sondern sie zieht uns auch von wesentlichen Aufgaben unseres Lebens ab,
die zu unserem Menschsein gehören.
So bekommt die Angst in ihren beschriebenen Grundformen eine wichtige Bedeutung: sie ist nicht
mehr nur ein möglichst zu vermeidendes Übel, sondern, und das von ganz früh an, ein nicht wegzuden-
kender Faktor unserer Entwicklung. Wo wir eine der großen Ängste erleben, stehen wir immer in einer
der großen Forderungen des Lebens; im Annehmen der Angst und im Versuch, sie zu überwinden,
wächst uns ein neues Können zu – jede Angstbewältigung ist ein Sieg, der uns stärker macht; jedes
Ausweichen vor ihr ist eine Niederlage, die uns schwächt.“

Diese Ausführungen machen deutlich, dass es kein sinnvolles Ziel ist, keinerlei Angst
zu haben, sondern mit den real vorhandenen und durchaus berechtigten Ängsten besser
umgehen zu lernen. Gelungene Angstbewältigung besteht nicht in der möglichst perfek-
ten Unterdrückung vorhandener Ängste, sondern im Annehmen und Aushalten dieser
Ängste. Das Ziel ist nicht, gegen die Angst, sondern mit der Angst zu leben. Ängste
sollen sensibilisierend und aktivierend und keinesfalls blockierend wirken. Die Angst
begleitet unser Leben wie ein Schatten, doch wir bestimmen den Weg, den wir gehen
möchten, auch wenn wir uns dabei nicht immer wohl fühlen.
12 Normale und krankhafte Ängste

Die Lust an der Angst


Angst, ein Selbstschutzmechanismus in existenzbedrohenden Situationen, muss nicht
immer ein unangenehmes und unerwünschtes Gefühl sein, sondern kann auch Ausdruck
einer lustvollen Anspannung sein, wie dies etwa der Fall ist bei einem Spiel, einem
Horrorfilm, einem Kriminalroman, einem Wettkampf oder einer gefährlichen Sportart
(z.B. Bungee-Jumping, Rafting, Free-Climbing). Dazu gehört auch die prickelnde
Angst, die entsteht, wenn man an der Ausübung gefährlicher Sportarten nur beobach-
tend (life oder via Fernsehen) teilnimmt (Formel-I-Rennen, Stierkampf, Boxen, Stunt-
Show usw.) [23]. Im Zirkus begeistern vor allem jene Nummern, bei denen mit großem
Risiko gearbeitet wird (Hochseilartisten ohne Netz oder bestimmte Löwen-Dressuren).
Das lustvolle Gefühl der Angst und Erregung suchen auch jene Menschen, die gerne
im Fernsehen oder Internet an Live-Übertragungen von Kriegsereignissen, Banküberfäl-
len mit Geiselnahme, öffentlichen Selbstmord-Ereignissen oder Hinrichtungen teilneh-
men. Sensationshungrig verfolgen viele von uns Katastrophen-Meldungen mit ausführ-
lichem Bildmaterial in den Medien: je schockierender, desto fesselnder.
Kinder hören die gruseligsten Märchen mit der größten Freude und lernen dadurch,
mit ihren Ängsten besser umzugehen. Sie fahren gerne mit der Geisterbahn und betonen
stolz, dass sie sich gar nicht gefürchtet haben. Dies erfolgt erst am Abend vor dem Ein-
schlafen. Erwachsene finden oft Kriminal- oder Kriegsfilme unterhaltsamer als Komö-
dien, sodass viel mehr Action- und Gruselfilme als Lustspiele produziert werden.
Angst ist ein Teil des natürlichen Lebensrhythmus von Anspannung und Entspan-
nung, von Erregung und Beruhigung. Wenn auf die bewusst gesuchte Angstspannung
eine Angstlösung folgt, wird dies als angenehm erlebt. Spannende Filme, Romane,
Kindermärchen oder Spiele beruhen genau auf diesem Prinzip. Wir fürchten uns oft
gerne, wenn wir wissen, dass die Sache letztlich gut ausgeht. Auf der Suche nach Erre-
gung, Nervenkitzel und starken Reizen entwickeln viele Menschen eine ausgesprochene
Angstlust, eine Lust am Risiko und der Gefahr [24].
Risikoverhalten bei realistischer Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit kann
ein hervorragendes Mittel gegen die Angst vor der Angst sein. Durch die Fähigkeit und
die Erfahrung, Gefahren kontrollieren zu können, verliert die Angst ihren Schrecken.
Durch die Ausübung risikoreicher Sportarten (Bergsteigen, Kampfsport, Motorradfah-
ren, Fallschirmspringen) haben zahlreiche Menschen gelernt, die oft großen Ängste
ihrer Kindheit zu überwinden. Angstbewältigung hat jedoch nichts mit Tollkühnheit und
Verwegenheit zu tun, wenn man sich durch überfordernde Mutproben sinnlos in Gefahr
bringt. Psychoanalytiker sprechen von kontraphobischem Verhalten, wenn man seine
Ängste ständig durch die Ausübung gefährlicher Tätigkeiten abzuwehren versucht.
Im Märchen der Gebrüder Grimm „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“
wird die kontraphobische Haltung eines einfältigen jungen Mannes beeindruckend dar-
gestellt. Dieser Kontraphobiker lernte, allen fürchterlichen Abenteuern angstfrei stand-
zuhalten (er trotzte sogar dem Tod und vielen Teufeln), lernte dann aber, zum Freier der
schönen Königstochter erkoren, im Bett das Gruseln. Die Magd zog ihm die Bettdecke
weg, unter der er mit seiner Gemahlin gelegen war, und schüttete lebendige Fische auf
seinen Körper, die auf seiner nackten Haut zappelten. Für heutiges Denken unverständ-
lich, wird hier symbolisch die Thematik der Sexualangst, die Angst vor der Sexualität
der Frau, angesprochen. Dieses Märchen will uns nach psychoanalytischer Auffassung
lehren, dass ein Mensch erst zu sich selbst und zu einer Du-Beziehung findet, wenn er
auch die Angst empfinden kann und ihm bewusst wird, wovor er Angst hat [25].
Angst als ganzheitliches Erleben 13

Angst als Stresssymptom


Angst läuft nach dem Muster einer Stressreaktion ab, wie dies in einem anderen Kapitel
ausführlich dargestellt wird. Krank machend ist nicht der Stress an sich, sondern die
Angst, diesen nicht unter Kontrolle zu bekommen. Angstzustände können ein Signal des
Organismus sein, dass die aktuellen Belastungen zu groß geworden sind. Jeder Mensch
erlebt irgendwann einmal eine Phase großer körperlicher oder seelischer Belastung.
Jeder kennt Stress, doch jeder reagiert darauf anders. Herz-Kreislauf-Probleme, Atem-
beschwerden, Magen-Darm-Beschwerden, Kopf- und Rückenschmerzen, Schlafstörun-
gen, Alkoholmissbrauch u.a. können Folge einer stressbedingten Überforderung sein.
Interessanterweise fürchten sich viele Menschen mit Angststörungen mehr vor den an
sich harmlosen Symptomen ihres Körpers als vor den zugrunde liegenden Problemen.
Panikattacken scheinen wie aus heiterem Himmel zu kommen, lassen sich jedoch
bei näherer Betrachtung häufig als explosionsartige Entladung bei einer Fülle von auf-
gestauten Problemen verstehen. Oft stellt die erste Panikattacke eher einen unterdrück-
ten Wutanfall als einen „Angstanfall“ dar, aber auch einen plötzlichen Spannungsabfall
nach einer massiven Stressphase. Angst tritt dann erst als Reaktion auf die unerklärlich
erscheinenden körperlichen Symptome auf. Zunehmende Erwartungsängste bezüglich
einer Panikattacke bewirken bald mehr Stress durch Hilflosigkeit als die ursprünglichen
Auslöser. Eine Panikstörung ist oft nur die Spitze eines Eisbergs. Anhaltende Gesun-
dung erfordert einerseits einen besseren Umgang mit den Erwartungsängsten, anderer-
seits die Bewältigung der anstehenden Probleme. Emotionaler, familiärer und berufli-
cher Stress lässt sich nicht nur durch Erholung und Entspannung bewältigen.
Ängste bei einer generalisierten Angststörung drücken oft den Stress aus, der ange-
sichts jeder Form von Unsicherheit entsteht. Ständige Befürchtungen beruhen auf dem
stressenden Umstand, ein bestimmtes Restrisiko nicht gegen Null absenken zu können.
Soziale Ängste spiegeln den Stress wider, in sozialen Situationen einen guten Ein-
druck machen zu wollen, gleichzeitig aber davon überzeugt zu sein, dazu nicht in der
Lage zu sein. Spezifische Phobien drücken den Stress durch Umweltfaktoren aus.

Angst als ganzheitliches Erleben


Angst besteht aus drei Ebenen („Drei-Komponenten-Modell“ nach Peter Lang [26]):
z Körperlicher Anteil: objektiv messbare physiologische Faktoren wie Muskelanspan-
nung, Herzrasen, Blutgefäßveränderungen, Blutdrucksteigerung, Atembeschleuni-
gung, Hautwiderstandsveränderung, Gehirnwellenveränderungen usw. Jede Angst
führt zu körperlichen Reaktionen und Empfindungen.
z Subjektiver Anteil (Gedanken und Gefühle): Befürchtungen, Gedanken der Hilflo-
sigkeit, Gefühl des Ausgeliefertseins, Angst erzeugende Denkmuster und damit ver-
bundenes subjektives Angsterleben („Es wird etwas Schlimmes geschehen“, „Ich
kann mir in dieser Situation nicht helfen“). Die Vorstellung von Angst machenden
Situationen der Vergangenheit oder Zukunft sowie die Beurteilung von Reizen als
gefährlich führen zu bestimmten körperlichen Reaktionen oder Verhaltensweisen.
z Verhalten (motorische Ebene): beobachtbare Verhaltensweisen und Reaktionen wie
Starrwerden vor Schreck bis zur Regungslosigkeit (Stupor), Zittern oder Beben,
Flucht bis zum Bewegungssturm und Panikverhalten, Vermeidung Angst machender
Situationen, Vermeidung von Blickkontakt.
14 Normale und krankhafte Ängste

Wenn wir eine Situation (z.B. Bus fahren, nächtlicher Spaziergang) oder ein be-
stimmtes Objekt (z.B. Tier, Spritze) als gefährlich einschätzen, werden wir Angst be-
kommen, was wir körperlich in Form verschiedener Symptome spüren, sodass wir dazu
neigen werden, aus der Angst machenden Situation zu fliehen. Unser Angstgefühl wird
wiederum unser Denken verstärken, dass die betreffende Situation tatsächlich gefährlich
ist, noch dazu, wo wir erleben, dass unsere Angst sofort nachlässt, sobald wir die be-
drohlich erscheinende Situation verlassen.
Unser Denken an Gefahr führt zu Gefühlen der Angst und körperlichen Beschwer-
den und infolgedessen zu Vermeidungsverhalten, das wir auch zukünftig häufiger wäh-
len werden, weil es sich kurzfristig bewährt hat, wenngleich sich langfristig unser Ver-
haltensspielraum dadurch immer mehr einengt. Ehemals selbstbewusste Menschen
können auf diese Weise jegliches Selbstvertrauen verlieren.
Körperliche, gedanklich-gefühlsmäßige und verhaltensbezogene Anteile spielen bei
der Entstehung und Aufrechterhaltung von Ängsten eine entscheidende Rolle, wenn-
gleich die verschiedenen Komponenten individuell recht unterschiedlich wahrgenom-
men werden können, z.B. spüren viele Menschen nur die vegetativen Angstsymptome,
ohne ihre Angst machenden Gedanken zu erkennen. Andere Menschen wissen sehr gut
um ihre ängstlichen Denkmuster, können sich jedoch nicht vorstellen, dass die ihnen
ebenfalls bekannten körperlichen Beschwerden (z.B. Herz-Kreislauf-Probleme, chroni-
sche Muskelverspannungen, Schlafstörungen) damit zusammenhängen.
Es ist ein Faktum: Personen mit Angststörungen leiden unterschiedlich unter den
gedanklichen, emotionalen, körperlichen und verhaltensbezogenen Aspekten ihrer
Angst. Bei den meisten Menschen stehen Gedanken an Versagen, Schwäche, Unfähig-
keit und soziale Ablehnung im Vordergrund. Nicht wenige sind durch ihre körperlichen
Symptome irritiert. Viele kommen eher mit ihren Gefühlen wie ängstlicher Besorgtheit,
Stimmungsschwankungen und großer Unsicherheit nicht zurecht. Andere wiederum
können ihr Verhalten nicht kontrollieren und neigen zu Flucht und Vermeidung.
Die Wechselwirkungen zwischen körperlicher Befindlichkeit, Verhalten, Denken
und Gefühlen können im Rahmen einer Angstbewältigungstherapie genutzt werden:
z Änderungen im Verhalten führen auch zu Änderungen im Denken. Auf diesem
Grundsatz beruhen verhaltensorientierte Therapiemodelle wie die Konfrontations-
therapie in der Verhaltenstherapie, die über konkrete Bewältigungserfahrungen den
Glauben an die Bewältigbarkeit Angst machender Situationen zu stärken versucht.
Erste Fortschritte durch Änderungen im Verhalten lassen sich oft schneller bewirken
als Änderungen im Bereich der Denkmuster oder der Gefühle.
z Änderungen im Denken führen zu Änderungen im Fühlen und Verhalten. Dies wird
durch die üblichen einsichtsorientierten Therapien ebenso angestrebt wie durch die
kognitive Verhaltenstherapie. Die Vermittlung neuer Sichtweisen ermöglicht es,
trotz Angst und Schwindelgefühlen bisher gemiedene Situationen aufzusuchen. Die
Information, dass Herzrasen bei Panikattacken sicher eine Ohnmachtsneigung ver-
hindert, weil dadurch der Blutdruck steigt, führt z.B. zu Aktivität statt zu Schonver-
halten. Bei einer leichteren Panikstörung kann mehr medizinisches Wissen allein be-
reits heilend wirken. Kurzzeittherapien beruhen oft auf der Änderung der Sichtwei-
sen und Einstellungen der Patienten.
z Änderungen im gefühlsmäßigen Erleben führen zu Änderungen im Verhalten und
Denken. Dies wird durch stärker emotionsorientierte Therapiekonzepte, aber auch
durch bestimmte verhaltenstherapeutische Techniken zu verwirklichen versucht. Die
therapeutische Erfahrung, unangenehme Gefühle aushalten zu können, ist heilsam.
Ängste als Übergangs-Probleme im Rahmen des Lebenszyklus 15

Ängste als Übergangs-Probleme im Rahmen des Lebenszyklus


Leben bedeutet Veränderung, Fortschreiten von einer Lebensphase zur anderen. An
diesen ganz normalen Aufgaben, die das Leben uns stellt, reifen wir als Menschen.
Übergänge im Rahmen des Lebenszyklus sind oft auch sehr kritische Ereignisse, die zu
psychischen Störungen führen können, wenn wir sie nicht bewältigen können.
Angststörungen spiegeln oft die Furcht vor Veränderungen wider, die durchaus als
notwendig erkannt werden. Das Alte befriedigt nicht mehr, das Neue macht jedoch
Angst. Die Angst kann nicht als Kraft genutzt werden, sondern führt dazu, dass das
Beschreiten neuer Wege vermieden wird. Eine unglücklich machende Partnerschaft, ein
belastendes Zusammenleben mit den Eltern, ein frustrierender Arbeitsplatz oder eine
unpassende Berufstätigkeit können häufig nicht aufgegeben werden aus Angst vor der
Ungewissheit der Zukunft. Es fehlt das Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten.
Zwangsstörungen drücken nicht selten die Schwierigkeit aus, das Vergangene ver-
gangen sein zu lassen. Das Geschehene muss immer wieder neu auf mögliche Fehler
überprüft werden, sodass die Möglichkeit zu neuen Entwicklungen eingeschränkt ist.
Man beschäftigt sich lieber mit dem Vertrauten, obwohl dies schon bald unerträglich
erscheint, anstatt etwas Neues zu wagen. Es fehlt der Mut zum Risiko. Und wenn doch
neue Möglichkeiten erwogen werden, können Menschen mit einer Zwangsstörung nicht
so einfach resignieren wie Menschen mit einer typischen Angststörung. Sie suchen nach
einem Weg, wie sie eine Aufgabe perfekt bewältigen können, denn Perfektion wäre eine
Garantie dafür, ein befürchtetes Versagen vermeiden zu können. Ein zwanghafter Per-
fektionismus ist oft auch ein Bewältigungsversuch von sonst nicht erträglichen Ängsten:
Wenn alles perfekt ist, braucht man sich nicht mehr zu fürchten – was sich bald als
zusätzliches Problem herausstellt, denn es ist nie alles perfekt vorbereitet.
Depressionen drücken oft die Schwierigkeit aus, von einer bereits vergangenen Le-
bensphase auch innerlich Abschied nehmen und sich auf neue Lebensmöglichkeiten
einstellen zu können. Eine zu Ende gegangene Beziehung, der Tod eines geliebten Men-
schen, der Verlust materieller Sicherheit, der Auszug von Zuhause, der Umzug in eine
neue Gegend, das Nachlassen der körperlichen und geistigen Vitalität sind oft nur
schwer zu verkraften, was die weitere Lebensentwicklung blockieren kann. Es fehlt die
Kraft zum Loslassen und die Neugierde auf Neues.
Es ist völlig normal, sich vor neuen Lebenssituationen zu fürchten, sodass in Über-
gangszeiten krisenhafte Entwicklungen auftreten können, die noch keineswegs patholo-
gisch zu bewerten sind. Erst falsche Problemlösungsversuche machen aus einem norma-
len Lebensproblem ein klinisch relevantes Problem. Symptome stellen einen ineffekti-
ven Problemlösungsversuch dar. Wenn ganz normale Ängste vor dem Neuen und der
Zukunft in Übergangszeiten durch Vermeidungstendenzen im Sinne einer Angststörung
oder durch einen Perfektionismus im Sinne zwanghafter Absicherungstendenzen zu
bewältigen versucht werden, weil das Vertrauen in das richtige Handeln in der Zukunft
in Frage gestellt erscheint, entsteht eine Perpetuierung des Status quo, wodurch Fort-
schritte in Richtung notweniger Veränderungen verhindert werden. Diese Gefahr ist
umso größer, je mehr zugleich auch unbewältigte Dinge aus der Vergangenheit die
Ressourcenaktivierung blockieren.
Psychische Störungen sind oft charakterisiert durch einen Wechsel der Symptoma-
tik. Wer ängstlich war, wird aufgrund mangelnder Erfolgserlebnisse häufig auch noch
depressiv. Wer nicht depressiv werden möchte, wird nicht selten zwanghaft-
perfektionistisch, um befürchteten Schuldgefühlen bei Versagen zu entgehen.
16 Normale und krankhafte Ängste

Krankhafte Ängste behindern das Leben


Viele Menschen mit Ängsten fragen sich und andere oft, ob sie noch normal sind. Doch
was ist normal? Nicht normal wird häufig mit „verrückt“ gleichgesetzt. Dies trifft bei
den meisten Ängsten sicher nicht zu, auch nicht bei Menschen mit Panikattacken, die
verschiedentlich Angst vor dem Verrücktwerden haben. Menschen mit einer Angst-
oder Zwangsstörung sind selbst dann nicht geisteskrank, wenn ihre Ängste abnormal
sind und eine so große Intensität annehmen, dass sie die Lebensqualität beeinträchtigen.
Bei krankhaften Ängsten steht die Intensität der Angst in keinem realistischen Ver-
hältnis zum Ausmaß der subjektiv erlebten Bedrohung. Die Betroffenen wissen dies,
können ihren unangemessenen Angstaffekt jedoch nicht unter Kontrolle bringen. Angst-
störungen bestehen in einem anhaltenden Gefühl der Unvorhersehbarkeit und Unkon-
trollierbarkeit von zukünftigen Ereignissen, die als bedrohlich eingeschätzt werden.
Wenn eine subjektive Gewissheit hinsichtlich der Berechtigung der Angst machen-
den Inhalte besteht, wäre unter bestimmten Umständen eine Wahnsymptomatik zu ver-
muten. Es könnte sich dabei aber auch um den Ausdruck einer schweren Depression
handeln, wie dies z.B. der Fall sein kann bei Ängsten, zukünftig nichts mehr leisten zu
können, von niemandem gemocht zu werden oder nicht mehr ganz gesund zu werden.
Angstkranke beschäftigen sich ständig einseitig mit ihren krankhaften Ängsten und
vernachlässigen ihre gesunden Bedürfnisse und zentralen Lebensziele. Sie sollen wieder
zu Gestaltern ihres Lebens werden und nicht mehr vor ihrer Angst Getriebene sein.
Viele normale Ängste werden zu pathologischen Ängsten durch den Versuch, sie zu
unterdrücken, sie nicht mehr erleben und ertragen zu wollen und daher zu vermeiden.
Die Unterdrückung der Ängste durch Ablenkung, Vermeidung oder Flucht verstärkt
oder verlängert die Angstreaktion, weil nicht gelernt wird, wie man mit Ängsten richtig
umgeht [27]. Man unterscheidet zwischen passiver Vermeidung (z.B. Ausweichen vor
vermeintlich oder möglicherweise gefährlichen Situationen, innere und äußere Läh-
mung) und aktiver Vermeidung (z.B. sofortige Flucht, Hilfesuche, Sicherheitssignale
wie Medikamente oder Handy, Kontrolle der Umgebung und des Körpers).
Die Art des Umgangs mit Ängsten entscheidet darüber, ob normale Ängste zu be-
handlungsbedürftigen Ängsten ausarten. Nach dem Psychotherapeuten Paul Watzlawick
[28] ist es ganz normal, im Leben Probleme zu haben. Die Art der Problemlösung bzw.
ein „Mehr desselben“ an falschen Problemlösungsversuchen mangels besserer Alterna-
tiven bewirkt, dass aus Alltagsproblemen klinisch relevante Probleme werden. Be-
stimmte Ängste werden oft jahrelang mit denselben ineffektiven Mitteln zu bewältigen
versucht. Es werden Problemlösungsstrategien eingesetzt, die zwar kurzfristig hilfreich
sind, langfristig jedoch schaden, nämlich Vermeidung und Flucht aus Angst machenden
Situationen. Wenn jemand fünf Jahre lang dieselben agoraphobischen Ängste aufweist,
ist er im Laufe der Jahre nicht kränker geworden durch die Angststörung, sondern durch
die Folgeprobleme, z.B. Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit, Ehescheidung,
soziale Isolierung, Verlust des Selbstwertgefühls, Einschränkung der beruflichen und
privaten Mobilität, häufige Krankenstände, Verlust des Arbeitsplatzes, Pensionierung.
Häufigkeit und Ausmaß von Alkoholmissbrauch sind oft eng mit unbewältigbar er-
scheinenden Angststörungen verknüpft, vor allem auch mit sozialen Ängsten. Beson-
ders nachteilig wirkt sich das sekundäre Auftreten einer Depression aus, die die psycho-
soziale Integration noch mehr beeinträchtigt und die Chance auf eine Spontanheilung
verschlechtert [29]. Ängste komplizieren auch den Verlauf anderer Krankheiten. Sie
sind eine Begleitsymptomatik vieler psychischer Störungen (z.B. bei Depressionen).
In bester Gesellschaft – Ängste bekannter Persönlichkeiten 17

Unangemessene, pathologische Ängste können unter drei verschiedenen Bedingun-


gen auftreten [30]:
1. Die Bedrohungseinschätzung ist falsch. Ein Beispiel ist die Fehleinschätzung von
wenig oder nicht bedrohlichen Umständen als sehr bedrohliche Gegebenheiten (z.B.
bei Phobien).
2. Die Alarm- oder Bedrohungsstrukturen selbst sind gestört, d.h. es liegen Krank-
heitsprozesse des Gehirns vor. Ein Beispiel ist die spontane und anfallsweise Angst
(z.B. epileptische Angstattacken als Folge von Störungen des mediobasalen Schlä-
fenlappens).
3. Das Warnsignal Angst klingt nicht ab. Es erfolgt keine Gewöhnung, sondern viel-
mehr eine Erregungs- und Angsteskalation. Ein Beispiel ist die posttraumatische Be-
lastungsstörung mit anfangs angemessener, später immer mehr ausufernder Angst.

In bester Gesellschaft – Ängste bekannter Persönlichkeiten


Der dreifache Formel-I-Weltmeister Niki Lauda [31], in seinem Fahrzeug fast ver-
brannt, gestand vor Jahren in einem Zeitungsinterview:

„Ich habe Angst vor der Nacht. Ich habe Angst davor, daß mich einer anspringt, wenn es finster ist. Da
bekomme ich richtig Herzklopfen. Aber ich habe keine Angst in meinem Auto, weil ich das beherr-
sche.“

Zu den Folgen seines lebensbedrohenden Unfalls sagte Lauda [32]:

„Natürlich hatte ich nach meinem Unfall auf dem Nürburgring Angstbarrieren. Die Zeit nach dem
Unglück war fürchterlich. Das hat ein halbes Jahr gedauert, bis es wirklich wieder weg war. Es hat sehr
viel Arbeit gebraucht, vor allem, wieder das Vertrauen in die eigene Leistung zu gewinnen. Nur die
sichert mich ab gegen einen Unfall. Doch je mehr die Leistung wieder gestimmt hat, desto angstfreier
wurde ich. Ich konnte wieder ohne Angstschwellen fahren. Nach und nach fand ich zu meiner normalen
Verfassung.“

Zahlreiche berühmte Künstler, Redner oder Politiker litten unter Ängsten. Lampenfieber
und Bühnenängste plagten sowohl Demosthenes, den bekanntesten Redner des griechi-
schen Altertums, als auch Persönlichkeiten der Gegenwart (z.B. Sir Laurence Olivier,
Maria Callas). Lebenseinengende Ängste findet man laut Internet bei Sängern (Barbara
Streisand, Michael Jackson, Courtney Love, David Bowie), Schauspielern (Burt Rey-
nolds, Kim Basinger, Nicholas Cage, Sally Field, Sir Laurence Olivier), Models (Naomi
Campbell), Autoren (Isaac Asimov, John Steinbeck), Dichtern (Bertold Brecht, Franz
Kafka, Samuel Beckett, Robert Burns, Emily Dickinson), Malern (Edvard Munch) u.a.
Die Journalistin Heuer [33] beschreibt in ihrem (vergriffenen) Buch „Angst und wie
man mit ihr umgeht“ anhand von Zitaten das Ausmaß der Ängste vieler Prominenter.
Charles Darwin, der Begründer der modernen Evolutionstheorie, litt schon in jun-
gen Jahren unter einer Angststörung. Seit seinem 28. Lebensjahr war er zunehmend von
Panikzuständen und Agoraphobie gequält, sodass er nicht mehr reisen konnte und des-
halb mit seinem berühmten Werk über die Entstehung der Arten begann. Seine Krank-
heit habe ihm nach eigenen Aussagen zwar mehrere Jahre seines Lebens zunichte ge-
macht, ihn aber gleichzeitig vor den Zerstreuungen der Gesellschaft gerettet, sodass er
seine bahnbrechenden Werke zur Evolutionstheorie schreiben konnte.
18 Normale und krankhafte Ängste

Der Dichter Johann Wolfgang von Goethe stellt in seinen autobiografischen Schrif-
ten recht offen seine ausgeprägte Angststörung dar. Er litt als junger Student unter star-
ken Phobien wie Höhenängsten, Angst vor Dunkelheit, Friedhöfen, einsamen Orten,
nächtlichen Kirchen und Kapellen, Ängsten vor Lärm sowie Ängsten vor Beschmut-
zungen und Verunreinigungen, besonders wenn diese von Blut oder Exkrementen
stammten. Goethe überließ sich nicht passiv seinen Ängsten, sondern entwickelte die
Strategie der direkten Auseinandersetzung mit den angstbesetzten Situationen, die er
erst verließ, wenn er seine Ängste im Griff hatte.
Zur Bewältigung seiner Höhenphobie bestieg Goethe immer wieder das damals im
Bau befindliche Straßburger Münster und balancierte auf Balken und Gerüsten. Seine
eher hypochondrischen Ängste überwand er auf Entbindungsstationen, die damals stark
mit Blut und sonstigen Körpersäften verschmutzt waren. Seine Ängste vor Lärm behan-
delte er, indem er sich beim Zapfenstreich direkt neben die Trommler stellte. Seine
agoraphobischen Ängste vor bestimmten Orten bewältigte er mit eiserner Disziplin
durch eine ausgedehnte Konfrontationstherapie im verhaltenstherapeutischen Sinn.
In „Dichtung und Wahrheit“ berichtet Goethe [34] über die erfolgreiche Behand-
lung seiner Ängste:

„Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig ward... Ich
habe es auch wirklich darin soweit gebracht, daß nichts dergleichen mich jemals wieder aus der Fas-
sung setzen konnte... und auch darin brachte ich es soweit, daß mir Tag und Nacht und jedes Lokal
völlig gleich war, ja daß, als in später Zeit mich die Lust ankam, wieder einmal in solcher Umgebung
die angenehmsten Schauer der Jugend zu fühlen, ich diese mir kaum durch die seltsamsten und fürch-
terlichen Bilder, die ich hervorrief, wieder einigermaßen erzwingen konnte.“

Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse und damit der Psychotherapie über-
haupt, litt ein Jahrzehnt lang (zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr) unter massiven
Ängsten, verbunden mit Anfällen mit Todesangst. Als seine psychovegetativ bedingten
Herzbeschwerden auftraten, war er unbeirrbar davon überzeugt, herzkrank zu sein. Er
beschuldigte seine ärztlichen Freunde sogar, ihm die Diagnose seiner angeblichen
Herzkrankheit zu verheimlichen.
Freud fürchtete, zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr an einem Herzschlag sterben
zu müssen. „Wenn es nicht zu nahe an vierzig ist, ist es gar nicht so schlecht“, schrieb er
[35]. Bald jedoch gab er die von ihm selbst festgestellte Diagnose „Myocarditis“ (Herz-
entzündung) auf, nannte diese Störung „Angstneurose“ und beschrieb sie vortrefflich
mit Worten, die 100 Jahre lang die psychiatrische Diagnostik bestimmt haben.
Es ist eine sehr tröstliche Wahrheit: Der „Vater der Psychotherapie“ litt in dem Jahr-
zehnt, in dem er die Psychoanalyse erfand, selbst unter einer Angststörung. Seine Erfah-
rungen und Erkenntnisse haben Fachleuten und Patienten geholfen, Ängste besser ver-
stehen und bewältigen zu lernen.
Nach seinem Biografen Ernest Jones [36] bestanden bei Freud im letzten Jahrzehnt
des 19. Jahrhunderts gleichzeitig auch starke Stimmungsschwankungen und Depressio-
nen, die ihm das Leben nur für kurze Zeitspannen lebenswert erscheinen ließen.
Zur Vermeidung seiner Herzrhythmusstörungen verzichtete Freud auf Anraten sei-
nes ärztlichen Freundes Fließ, eines Berliner HNO-Arztes, auf das Rauchen. Die Ent-
zugserscheinungen verstärkten jedoch nur seine Panikattacken, wie er im April 1894 in
einem Brief an Fließ schrieb [37]:
In bester Gesellschaft – Ängste bekannter Persönlichkeiten 19

„Bald nach der Entziehung kamen leidliche Tage...; da kam plötzlich ein großes Herzelend, größer als
je beim Rauchen. Tollste Arhythmie, beständige Herzspannung – Pressung – Brennung, heißes Laufen
in den linken Arm, etwas Dyspnoe von verdächtig organischer Mäßigung, das alles eigentlich in Anfäl-
len, d.h. über zwei zu drei des Tages in continuo erstreckt und dabei ein Druck auf die Stimmung, der
sich in Ersatz der gangbaren Beschäftigungsdelirien durch Toten- und Abschiedsmalereien äußerte... Es
ist ja peinlich für einen Medicus, der sich alle Stunden des Tages mit dem Verständnis der Neurosen
quält, nicht zu wissen, ob er an einer logischen oder an einer hypochondrischen Verstimmung leidet.“

Freud entwickelte auch eine belastende Agoraphobie („Reisefieber“). Er fürchtete sich


davor, mit der Eisenbahn, dem damals schnellsten Verkehrsmittel, zu fahren und die
Straße zu überqueren – aus Angst vor den Fuhrwerken [38]. Eine Eisenbahnphobie
stellte im 19. Jahrhundert eine relativ häufige Phobie dar. Freud zwang sich dazu, die
angstbesetzten Situationen auszuhalten und verlor so im Laufe der Zeit seine Angst.
1919 empfahl Freud allen Psychoanalytikern, ihre phobischen Patienten zur direkten
Konfrontation mit den Angst machenden Reizen anzuhalten, da sonst bei der psychoana-
lytischen Technik der freien Assoziation kein relevantes Material zutage gefördert wer-
den könnte [39]. Darauf beziehen sich immer mehr psychodynamische Therapeuten.
Goethe und Freud – zwei frühe Beispiele erfolgreicher verhaltenstherapeutisch ori-
entierter Selbstbehandlung? Oder ist die als wissenschaftlich hoch effizient erwiesene
Methode der Konfrontationstherapie in der Verhaltenstherapie nichts anderes als der
Ausdruck der Vernunft vergangener Zeiten? Dann wäre allerdings zu fragen, warum die
meisten Psychotherapieschulen bis zum heutigen Tag derartige Techniken des gesunden
Menschenverstandes der Verhaltenstherapie als ihre spezielle Domäne überlassen ha-
ben. Oft wird erst nach der Konfrontationstherapie die wahre Lebensangst deutlich.
Eine der spannendsten Aufgaben der Zukunft im Bereich der psychischen Störungen
stellt die Erforschung der Umstände und Strategien dar, die es vielen Menschen ermög-
lichen, ihre Symptomatik ohne jede professionelle Hilfe zu überwinden. Es ist zu ver-
muten, dass erfolgreiche Selbstheilungsversuche bei Angststörungen auf der Technik
der Konfrontationstherapie und der Vermeidung des Vermeidens beruhen.
Gut und hilfreich ist das, was wirkt, und dies sollte Psychotherapieschulen übergrei-
fend gelten. Die Verhaltenstherapeuten haben das Prinzip der Konfrontation mit den
Angst machenden Situationen als Bewältigungsstrategie nicht erfunden, sondern nur
aufgegriffen, systematisiert, theoretisch begründet und empirisch überprüft.
Ein Behandlungsansatz auf der Symptomebene ist bei Panikattacken oft auch dann
erforderlich, wenn die Hintergründe und Ursachen der Panikstörung herausgearbeitet
wurden. Die Angstanfälle traten bei Freud gerade zu jener Zeit auf, als er unter großen
beruflichen und privaten Konflikten litt und viele gute Freunde durch Tod oder auf
andere Weise verloren hatte. Neben psychosozialen Stressfaktoren lassen sich bei Freud
auch körperliche Belastungen vor dem Auftreten der Panikattacken nachweisen [40]:
schwere Grippeerkrankungen, Nikotinentzug, mehrjährige Kokainexperimente. Freud
wollte das stimulierende Kokain zuerst zur Depressionsbehandlung einsetzen, bis er
dieses später als „dritte Geisel der Menschheit“ verteufelte.
Freud konnte seine Panikstörung nicht allein durch seine Eigenanalyse überwinden,
weshalb er später auf die Grenzen der psychoanalytischen Therapie und die Notwendig-
keit konfrontativer Maßnahmen bei Phobien hinwies.
Trotz des Wissens um die Hintergründe von Angst- und Panikstörungen ist es ge-
wöhnlich notwendig, sich den Angst machenden Situationen gezielt auszusetzen, um im
Gehirn neue Erfahrungen im Umgang mit Ängsten abzuspeichern. Es ist eine bekannte
Tatsache: Angststörungen sind nicht allein durch Einsicht und Willen überwindbar.
20 Normale und krankhafte Ängste

Das Internet als Kommunikationsmittel bei Ängsten


Das Internet stellt für viele Menschen mit Angst- und Panikstörungen ein wichtiges
Mittel zur Kommunikation mit Betroffenen und Fachleuten dar und dürfte zukünftig
eine noch größere Bedeutung gewinnen. Auf diese Weise können auch jene Angstpati-
enten mit der Außenwelt in Kontakt treten, die aus agoraphobischen oder sozialphobi-
schen Gründen ihren Bewegungsradius bereits sehr eingeschränkt haben.
Seit Jahren sind den Betroffenen zahlreiche Angst-und-Panik-Homepages mit vielen
Informationen und Kontaktmöglichkeiten zugänglich. Zu den umfangreichsten deut-
schen Angst-Seiten zählt z.B. www.panik-attacken.de der MASH (Münchner Angst-
Selbsthilfe) und DASH (Deutsche Angst-Selbsthilfe). Dort habe ich vor Jahren längere
Zeit mitgearbeitet und Anfragen beantwortet, dort finden sich auch zahlreiche meiner
Informationen über Angststörungen. Diese Seite – auch über www.angstselbsthilfe.de
zugänglich – ist allen Betroffenen sehr zu empfehlen.
Ich habe das Internet schon früh als nützliche Hilfestellung für Angst- und Panikpa-
tienten erkannt und bereits im März 2000 eine selbst entwickelte Homepage unter der
Adresse www.panikattacken.at in das Internet gestellt, die ich regelmäßig überarbeite
und erweitere. Es handelt sich dabei um die umfangreichste Seite über Angststörungen
im ganzen deutschen Sprachraum. In den letzten Jahren wurden die Informationen über
Angststörungen durch zahlreiche Ausführungen zu anderen psychischen sowie psycho-
somatischen Störungen erweitert.
Meine Homepage hat dazu geführt, dass eine Flut von Emails aus dem ganzen deut-
schen Sprachraum eingetroffen ist, die ich beim besten Willen nicht mehr bewältigen
konnte. Ich war daher genötigt, darauf hinzuweisen, dass ich Email-Anfragen zu priva-
ten Problemen aus Kapazitätsgründen nicht mehr beantworten kann. Meine Homepage
enthält auch ein Diskussionsforum für Menschen mit Angststörungen zum gegenseiti-
gen Austausch von Informationen und Erfahrungen sowie ein Forum zur Darstellung
der eigenständigen Angstbewältigung als Vorbild für andere Menschen. Die Erfahrung
mit beiden Foren auf meiner Homepage zeigt, dass das Internet gerne im Rahmen einer
Krise als Möglichkeit zu einem Hilferuf an gleichfalls Betroffene verwendet wird, viel
seltener dagegen als Chance wahrgenommen wird, anderen Leidenden von der Besse-
rung oder Heilung der eigenen Beschwerden zu berichten und auf diese Weise Mut zu
machen. Angstpatienten können daher im Internet leicht den falschen Eindruck bekom-
men, als wären krankhafte Ängste nicht wirklich auf Dauer heilbar.
Meine Homepage hat zur Folge, dass rund ein Drittel meiner Patienten über den
Weg des Internets in meine Praxis finden, meist durch Eingabe relevanter Stichworte in
die Suchmaschine Google. Über diesen Weg kam ich auch mit zahlreichen Journalisten
in Kontakt, die um Interviews zur Thematik der Angststörungen ersuchten.
Ich biete per Telefon auch eine kostenpflichtige Online-Beratung für Angstpatienten
aus dem ganzen deutschen Sprachraum an, nicht jedoch eine Beratung per Email oder
Chat, weil das gesprochene Wort doch persönlicher ist. Ich lege in diesem Zusammen-
hang großen Wert auf die Feststellung, dass eine Online-Beratung keine Psychotherapie
und keine klinisch-psychologische Behandlung ersetzen kann. Dennoch habe ich bei
den bisherigen Online-Beratungen per Telefon (früher auch per Email und Diskussions-
foren) die Erfahrung gemacht, dass derartige Hilfestellungen für die Betroffenen sehr
nützlich sein können. Ich denke daran, im Falle einer späteren allgemeinen Verbreitung
von Webcams dieses Medium auch stärker im Rahmen der Nachbetreuung jener Patien-
ten zu benutzen, die ich persönlich kennen gelernt habe.
2. Angststörungen
Allgemeine Merkmale von Angststörungen
Angst kann auftreten als Zustandsangst („state anxiety“) oder als Ängstlichkeit im Sinne
einer relativ stabilen Bewertungs- und Verhaltensdisposition, d.h. als Persönlichkeits-
merkmal („trait anxiety“). Die Zustandsangst ist charakterisiert durch momentane Ge-
fühle der Besorgnis und Spannung, begleitet von einer Erregung des autonomen Ner-
vensystems. Ängstlichkeit wird dagegen im Sinne einer Prädisposition als situations-
unabhängige, persönlichkeitsspezifische Verhaltensbereitschaft verstanden, viele Situa-
tionen als bedrohlich zu erleben und dabei mit einer Zustandsangst zu reagieren.
Pathologische Ängste finden sich bei fast allen psychischen Störungen, treten oft je-
doch auch ohne andere psychische Beeinträchtigungen auf. Man spricht dann von
„Angststörungen“. Der Begriff der Störung wird heute gegenüber dem Begriff der
Krankheit bevorzugt, weil er kein rein biologisches Erklärungsmodell impliziert, son-
dern auf der phänomenologischen Ebene nur das jeweilige Syndrom in einer für alle
Experten akzeptablen Weise darstellen soll.
Angststörungen als Beeinträchtigung des Lebens im Sinne von Krankheit (patholo-
gische Ängste) sind dann gegeben, wenn die Ängste [1]
z ohne jede reale Bedrohung auftreten,
z zu lange andauern,
z auch nach Beseitigung einer realen Bedrohung andauern,
z unangemessen, zu stark und zu häufig auftreten,
z mit unangenehmen körperlichen Symptomen verbunden sind,
z mit einem Verlust der Kontrolle über Auftreten und Andauern verbunden sind,
z ausgeprägte Erwartungsängste zur Folge haben,
z auf falschen Erklärungskonzepten beruhen und richtige nicht vorhanden sind,
z keine Bewältigungsstrategien verfügbar sind,
z zur Vermeidung der Angst machenden, objektiv ungefährlichen Situationen führen,
z Unterlassungen wichtiger Aktivitäten zur Folge haben,
z Lebenseinschränkungen (vor allem soziale und berufliche Behinderung) bewirken,
z sehr belasten und starkes Leiden verursachen.

Das Hauptkriterium für die Behandlungsbedürftigkeit von Ängsten liegt im Ausmaß der
Lebenseinschränkungen. Mit verschiedenen Ängsten kann man dagegen ganz gut leben,
ohne große Beeinträchtigung des privaten und beruflichen Bewegungsspielraums.
Die Diagnose einer Angststörung erfolgt in mehreren Schritten [2]:
1. Unterscheidung zwischen normaler und pathologischer Angst;
2. Ausschluss körperlicher Ursachen (organische Abklärung);
3. Ausschluss einer anderen psychischen Erkrankung als alleinige Ursache für die
Angstsymptomatik (z.B. Depression);
4. Unterscheidung zwischen objekt-/situationsunabhängiger Angst (Panikstörung,
generalisierte Angststörung) oder objekt-/situationsabhängiger Angst (Phobie: Ago-
raphobie, soziale Phobie, spezifische Phobie);
5. Unterscheidung nach dem Verlauf der Angstsymptomatik (attackenartig wie bei der
Panikstörung oder chronisch wie bei der generalisierten Angststörung);
6. Unterscheidung nach auslösenden Situationen bzw. Objekten (falls vorhanden).
22 Angststörungen

Man unterscheidet neben normalen, angemessenen Ängsten (Alltagsangst, Real-


angst) zwei Formen krankhafter Ängste: primäre Angststörungen und sekundäre Angst-
syndrome (z.B. als Begleitsymptomatik im Rahmen von Depressionen oder als Folge-
symptomatik von hirnorganischen Erkrankungen oder bei Substanzentzug).
Angststörungen werden diagnostiziert nach dem ICD (International Codex of Disea-
ses), dem weltweit gültigen Diagnoseschema der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Das bis zur Jahrtausendwende gültige ICD-9 – das frühere Diagnoseschema vor dem
heutigen ICD-10 – kannte nur zwei Angstkategorien als grobe Unterscheidungen [3]:
z Angstneurose: Ängste ohne äußere Auslöser, die entweder als Angstanfälle oder als
Dauerzustand auftreten. Die Angst ist meistens diffus und kann sich bis zur Panik
steigern. Charakteristisch sind frei flottierende Ängste, die primär nicht an bestimm-
te Situationen oder Umweltobjekte gebunden sind. Es handelt sich um ungerichtete
Befürchtungen im Sinne generalisierter Ängste. Diese diffusen Ängste sind oft mit
erheblichen körperlichen Beschwerden verbunden.
z Phobie: abnorm starke Furcht vor bestimmten Objekten oder Situationen, die solche
Gefühle normalerweise nicht hervorrufen. Die Ängste sind an konkrete Objekte oder
Lebenssituationen gebunden und unterscheiden sich durch diese Begrenztheit und
Spezifität von der generalisierten Angst.

Sigmund Freud und die Diagnose der Angstneurose


Der Begriff der Angstneurose stammt von Sigmund Freud. In seinem 1895 veröffent-
lichten Artikel „Über die Berechtigung von der Neurasthenie einen bestimmten Sym-
ptomenkomplex als ‘Angstneurose’ abzutrennen“ definiert Freud [4] als erster die „Kli-
nische Symptomatologie der Angstneurose“ sehr anschaulich anhand von 10 Punkten:

„Das klinische Bild der Angstneurose umfaßt folgende Symptome:


1) D i e a l l g e m e i n e R e i z b a r k e i t . Diese ist ein häufiges nervöses Symptom, als solches vielen
Status nervosi eigen. Ich führe sie hier an, weil sie bei der Angstneurose konstant vorkommt und
theoretisch bedeutsam ist. Gesteigerte Reizbarkeit deutet ja stets auf Anhäufung von Erregung
oder auf Unfähigkeit, Anhäufung zu ertragen, also auf a b s o l u t e oder r e l a t i v e Reizanhäufung.
Einer besonderen Hervorhebung wert finde ich den Ausdruck dieser gesteigerten Reizbarkeit
durch eine Gehörshyperästhesie, eine Überempfindlichkeit gegen Geräusche, welches Symptom
sicherlich durch die mitgeborene innige Beziehung zwischen Gehörseindrücken und Erschrecken
zu erklären ist. Die Gehörshyperästhesie findet sich häufig als Ursache der S c h l a f l o s i g k e i t ,
von welcher mehr als eine Form zur Angstneurose gehört.
2) D i e ä n g s t l i c h e E r w a r t u n g . Ich kann den Zustand, den ich meine, nicht besser erläutern als
durch diesen Namen und einige beigefügte Beispiele. Eine Frau z.B., die an ängstlicher Erwar-
tung leidet, denkt bei jedem Hustenstoße ihres katarrhalisch affizierten Mannes an Influenzap-
neumonie und sieht im Geiste seinen Leichenzug vorüberziehen. Wenn sie auf dem Wege nach
Hause zwei Personen vor ihrem Haustor beisammenstehend sieht, kann sie sich des Gedankens
nicht erwehren, daß eines ihrer Kinder aus dem Fenster gestürzt sei; wenn sie die Glocke läuten
hört, so bringt man ihr eine Trauerbotschaft u. dgl., während doch in allen diesen Fällen kein be-
sonderer Anlaß zur Verstärkung einer bloßen Möglichkeit vorliegt. Die ängstliche Erwartung
klingt natürlich stetig ins Normale ab, umfaßt alles, was man gemeinhin als ‚Ängstlichkeit, Nei-
gung zu pessimistischer Auffassung der Dinge’ bezeichnet, geht aber so oft als möglich über sol-
che plausible Ängstlichkeit hinaus und ist häufig selbst für den Kranken als eine Art von Zwang
erkenntlich... Die ängstliche Erwartung ist das Kernstück der Neurose; in ihr liegt auch ein Stück
von der Theorie derselben frei zutage. Man kann etwa sagen, daß hier ein Q u a n t u m A n g s t
f r e i f l o t t i e r e n d vorhanden ist, welches bei der Erwartung die Auswahl der Vorstellungen be-
herrscht und jederzeit bereit ist, sich mit irgend einem passenden Vorstellungsinhalt zu verbinden.
Sigmund Freud und die Diagnose der Angstneurose 23

3) Es ist dies nicht die einzige Art, wie die fürs Bewußtsein meist latente, aber konstante Ängstlich-
keit sich äußern kann. Diese kann vielmehr auch plötzlich ins Bewußtsein hereinbrechen, ohne
vom Vorstellungsablauf geweckt zu werden, und so einen A n g s t a n f a l l hervorrufen. Ein sol-
cher Angstanfall besteht entweder einzig aus dem Angstgefühle ohne jede assoziierte Vorstellung
oder mit der naheliegenden Deutung der Lebensvernichtung, des ‚Schlagtreffens’, des drohenden
Wahnsinns, oder aber dem Angstgefühle ist irgendeine Parästhesie beigemengt ... oder endlich
mit der Angstempfindung ist eine Störung irgend einer oder mehrerer Körperfunktionen, der At-
mung, Herztätigkeit, der vasomotorischen Innervation, der Drüsentätigkeit verbunden. Aus dieser
Kombination hebt der Patient bald das eine, bald das andere Moment besonders hervor, er klagt
über ‚Herzkrampf’, ‚Atemnot’, ‚Schweißausbrüche’, ‚Heißhunger’ u. dgl., und in seiner Darstel-
lung tritt das Angstgefühl häufig ganz zurück oder wird recht unkenntlich als ein ‚Schlechtwer-
den’, ‚Unbehagen’ usw. bezeichnet.
4) Interessant und diagnostisch bedeutsam ist nun, daß das Maß der Mischung dieser Elemente im
Angstfalle ungemein variiert, und daß nahezu jedes begleitende Symptom den Anfall ebensowohl
allein konstituieren kann wie die Angst selbst. Es gibt demnach r u d i m e n t ä r e A n g s t a n f ä l l e
und Ä q u i v a l e n t e d e s A n g s t a n f a l l e s , wahrscheinlich alle von der gleichen Bedeutung, die
einen großen und bis jetzt wenig gewürdigten Reichtum an Formen zeigen. Das genauere Studi-
um dieser lavierten Angstzustände (Hecker) und ihre diagnostische Trennung von anderen Anfäl-
len dürfte bald zur notwendigen Arbeit für den Neuropathologen werden. Ich füge hier nur die Li-
ste der mir bekannten Formen des Angstanfalles an:
a) Mit Störungen der H e r z t ä t i g k e i t , Herzklopfen, mit kurzer Arhythmie, mit länger anhaltender
Tachykardie bis zu schweren Schwächezuständen des Herzens, deren Unterscheidung von organi-
scher Herzaffektion nicht immer leicht ist; Pseudoangina pectoris, ein diagnostisch heikles Ge-
biet!
b) Mit Störungen der A t m u n g , mehrere Formen von nervöser Dyspnoë, asthmaartigem Anfalle u.
dgl. Ich hebe hervor, daß selbst diese Anfälle nicht immer von kenntlicher Angst begleitet sind.
c) Anfälle von S c h w e i ß a u s b r ü c h e n , oft nächtlich.
d) Anfälle von Z i t t e r n und S c h ü t t e l n ...
e) Anfälle von H e i ß h u n g e r , oft mit Schwindel verbunden.
f) Anfallsweise auftretende D i a r r h ö e n .
g) Anfälle von lokomotorischem S c h w i n d e l .
h) Anfälle von sogenannten K o n g e s t i o n e n ...
i) Anfälle von P a r ä s t h e s i e n (diese aber selten ohne Angst oder ein ähnliches Unbehagen).
5) Nichts als eine Abart des Angstanfalles ist sehr häufig das n ä c h t l i c h e A u f s c h r e c k e n (Pavor
nocturnus der Erwachsenen), gewöhnlich mit Angst, mit Dyspnoë, Schweiß u. dgl. verbunden.
Diese Störung bedingt eine zweite Form von Schlaflosigkeit im Rahmen der Angstneurose...
6) Eine hervorragende Stellung in der Symptomengruppe der Angstneurose nimmt der ‚S c h w i n -
d e l ’ ein, der in seinen leichtesten Formen besser als ‚Taumel’ zu bezeichnen ist, in schwererer
Ausbildung als ‚Schwindelanfall’ mit oder ohne Angst zu den folgenschwersten Symptomen der
Neurose gehört. Der Schwindel der Angstneurose ist weder ein Drehschwindel, noch läßt er, wie
der M e n i è r e s c h e Schwindel, einzelne Ebenen und Richtungen hervorheben... er besteht in ei-
nem spezifischen Mißbehagen, begleitet von den Empfindungen, daß der Boden wogt, die Beine
versinken, daß es unmöglich ist, sich weiter aufrecht zu halten, und dabei sind die Beine blei-
schwer, zittern oder knicken ein. Zum Hinstürzen führt dieser Schwindel nie. Dagegen möchte ich
behaupten, daß ein solcher Schwindelanfall auch durch einen Anfall von tiefer O h n m a c h t ver-
treten werden kann. Andere ohnmachtartige Zustände bei der Angstneurose scheinen von einem
H e r z k o l l a p s abzuhängen. Der Schwindelanfall ist nicht selten von der schlimmsten Art von
Angst begleitet, häufig mit Herz- und Atemstörungen kombiniert. Höhenschwindel, Berg- und
Abgrundschwindel finden sich nach meinen Beobachtungen gleichfalls bei der Angstneurose häu-
fig vor; ...
7) Auf Grund der chronischen Ängstlichkeit (ängstliche Erwartung) einerseits, der Neigung zum
Schwindelangstanfalle andererseits entwickeln sich zwei Gruppen von typischen Phobien, die er-
ste auf die allgemein physiologischen Bedrohungen, die andere auf die Lokomotion bezüglich.
Zur ersten Gruppe gehören die Angst vor Schlangen, Gewitter, Dunkelheit, Ungeziefer u. dgl.,
sowie die typische moralische Überbedenklichkeit, Formen von Zweifelsucht; hier wird die dis-
ponible Angst einfach zur Verstärkung von Abneigungen verwendet, die jedem Menschen in-
stinktiv eingepflanzt sind. Gewöhnlich bildet sich eine zwangsartig wirkende Phobie aber erst
24 Angststörungen

dann, wenn eine Reminiszenz an ein Erlebnis hinzukommt, bei welchem diese Angst sich äußern
konnte, z.B. nachdem der Kranke ein Gewitter im Freien mitgemacht hat. Man tut Unrecht, solche
Fälle einfach als F o r t d a u e r s t a r k e r E i n d r ü c k e erklären zu wollen; was diese Erlebnisse
bedeutsam und ihre Erinnerung dauerhaft macht, ist doch nur die Angst, die damals hervortreten
konnte und heute ebenso hervortreten kann. Mit anderen Worten, solche Eindrücke bleiben kräf-
tig nur bei Personen mit ‚ängstlicher Erwartung’. Die andere Gruppe enthält die A g o r a p h o b i e
mit allen ihren Nebenarten, sämtliche charakterisiert durch die Beziehung auf die Lokomotion.
Ein vorausgegangener Schwindelanfall findet sich hierbei häufig als Begründung der Phobie; ich
glaube nicht, daß man ihn jedesmal postulieren darf. Gelegentlich sieht man, daß nach einem er-
sten Schwindelanfall ohne Angst die Lokomotion zwar beständig von der Sensation des Schwin-
dels begleitet wird, aber ohne Einschränkung möglich bleibt, daß dieselbe aber unter den Bedin-
gungen des Alleinseins, der engen Straße u. dgl. versagt, wenn einmal sich zum Schwindelanfalle
Angst hinzugesellt hat...
8) Die Verdauungstätigkeit erfährt bei der Angstneurose nur wenige, aber charakteristische Störun-
gen. Sensationen wie Brechneigung und Übligkeiten sind nichts Seltenes, und das Symptom des
Heißhungers kann allein oder mit anderen (Kongestionen) einen rudimentären Angstanfall abge-
ben; als chronische Veränderung, analog der ängstlichen Erwartung, findet man eine Neigung zur
Diarrhöe, die zu den seltsamsten diagnostischen Irrtümern Anlaß gegeben hat... Mischfälle zeigen
oft die bekannte ‚Abwechslung von Diarrhöe und Verstopfung’. Der Diarrhöe analog ist der
H a r n d r a n g der Angstneurose.
9) Die P a r ä s t h e s i e n , die den Schwindel- oder Angstanfall begleiten können, werden dadurch
interessant, dass sie sich, ähnlich wie die Sensationen der hysterischen Aura, zu einer festen Rei-
henfolge assoziieren; doch finde ich diese assoziierten Empfindungen im Gegensatze zu den hy-
sterischen atypisch und wechselnd...
10) Mehrere der genannten Symptome, welche den Angstanfall begleiten oder vertreten, kommen
auch in chronischer Weise vor. Sie sind dann noch weniger leicht kenntlich, da die sie begleitende
ängstliche Empfindung undeutlicher ausfällt als beim Angstanfall. Dies gilt besonders für die Di-
arrhöe, den Schwindel und die Parästhesien. Wie der Schwindelanfall durch einen Ohnmachtsan-
fall, so kann der chronische Schwindel durch die andauernde Empfindung großer Hinfälligkeit,
Mattigkeit u. dgl. vertreten werden.“

Mit der Beschreibung eines Angstanfalls (Punkt 3 und Punkt 4) nimmt Freud die Defi-
nition von Panikattacken vorweg. Die Darstellung des Angstschwindels (Punkt 6) ver-
deutlicht, was viele Menschen mit Agoraphobie fürchten (Punkt 7), wenn sie keine
Panikattacken erwarten. Die Erwartungsangst (Punkt 2 und Punkt 7) wurde von Freud
als zentraler Bestandteil jeder Angststörung erkannt.
Neben der Angstneurose beschrieb Freud bestimmte phobische Störungen unter dem
Konzept der „Angsthysterie“ (für Freud war „Phobie“ und „Angsthysterie“ dasselbe).
Erstmals hatte Freud bereits 1884 Panikattacken detailliert unter der Bezeichnung
„Angstanfälle“ beschrieben.
Historisch interessant ist auch der Umstand, dass Freud bereits 1919 darüber nach-
gedacht hatte, die Psychoanalyse durch eine Verkürzung einer größeren Anzahl von
Patienten zugänglich zu machen. Die meisten Psychoanalysen seiner Anfangsjahre
könnte man ohnehin als „Kurzzeittherapien“ bezeichnen. In den „Studien zur Hysterie“
berichtete Freud über die Heilung der Angsthysterie eines 18-jährigen Mädchens in
einer einzigen Sitzung. Den Komponisten Gustav Mahler hatte er in Anwesenheit seiner
Frau in einer vierstündigen Sitzung von seiner Potenzstörung geheilt.
Eine effektive Behandlung von Ängsten könnte auch nach Meinung verschiedener
Psychoanalytiker in kürzerer Zeit erfolgen als durch eine Langzeitanalyse.
Das entscheidende Merkmal aller wirksamen Psychotherapien stellt nach psycho-
analytischer Sicht die korrigierende emotionale Erfahrung in der Interaktion mit dem
Therapeuten dar, was als Prozess der Übertragung bekannt ist, d.h. die Psychoanalyse
nach Freud ist nicht nur einsichtsorientiert, sondern auch emotionszentriert.
Angststörungen nach ICD-10 und DSM-IV-TR 25

Angststörungen nach ICD-10 und DSM-IV-TR


Das ICD-10 [5] ist das aktuelle Diagnoseschema der Weltgesundheitsorganisation
(WHO). Es ist in Deutschland seit 2000 und in Österreich seit 2001 verbindlich. Es
handelt sich dabei um eine 1990 herausgegebene (1991 auf Deutsch erschienene und
1992 geringfügig veränderte) internationale Kompromissbildung. 2008 erschien die
neueste deutsche Aktualisierung. Kapitel V (F) enthält die psychischen Störungen.
Das ICD-10, Kapitel V, wurde erstellt in Annäherung an das amerikanische psychia-
trische Diagnoseschema (damals DSM-III-R), erreichte jedoch nicht dessen Klarheit
und Präzision. Das DSM entspricht viel stärker den Kriterien nach einer strikt empiri-
schen, auf Forschungsergebnissen beruhenden psychiatrischen Diagnostik. Die „wei-
chere“ Operationalisierung der klinisch-diagnostischen Leitlinien soll das ICD-10 für
den klinischen Alltag praktikabler machen, für wissenschaftliche Untersuchungen wur-
de – analog zum DSM-IV – eine genauere Operationalisierung in Form von For-
schungskriterien vorgenommen. Im ICD-10 [6] werden die Angststörungen im Kapitel
F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen folgendermaßen eingeteilt:

F40 Phobische Störungen


z F40.0 Agoraphobie
F40.00 ohne Panikstörung
F40.01 mit Panikstörung
z F40.1 soziale Phobien
z F40.2 spezifische (isolierte) Phobien
z F40.8 sonstige phobische Störungen

F41 Sonstige Angststörungen


z F41.0 Panikstörung (episodisch paroxysmale Angst)
F41.00 mittelgradige Panikstörung
F41.01 schwere Panikstörung
z F41.1 generalisierte Angststörung
z F41.2 Angst und depressive Störung, gemischt (beide eher leicht ausgeprägt)
z F41.3 andere gemischte Angststörungen (generalisierte Angststörung u.a.)
z F41.8 sonstige spezifische (näher bezeichnete) Angststörungen („Angsthysterie“)

Das ICD-10 kennt vier definierte Gruppen von phobischen Störungen: Agoraphobien,
soziale Phobien, spezifische Phobien, sonstige phobische Störungen (ohne Nennungen).
Bei den phobischen Störungen wird Angst ausschließlich oder überwiegend durch
eindeutig definierte, im Allgemeinen ungefährliche Situationen oder Objekte außerhalb
des Patienten ausgelöst. Diese Situationen oder Objekte werden gemieden oder voller
Angst ertragen, verbunden mit psychovegetativen Symptomen. Bereits die Vorstellung
der phobischen Situation führt zu Erwartungsängsten, die ein ausgeprägtes Vermei-
dungsverhalten bewirken. Die Betroffenen wissen, dass ihre Ängste unangemessen,
übertrieben und irrational sind, können sie aber dennoch nicht in den Griff bekommen.
Unter „Sonstige Angststörungen“ erfolgt eine Differenzierung der früheren Diagno-
se der Angstneurose in die Panikstörung und in die generalisierte Angststörung,
daneben werden noch drei weitere definierte, im klinischen Alltag jedoch selten diagno-
stizierte Angststörungen angeführt. Diese Angststörungen heben sich von den Phobien
dadurch ab, dass sie nicht auf bestimmte Umgebungssituationen begrenzt sind.
26 Angststörungen

Die im Jahr 1994 veröffentlichte 4. Version des Diagnoseschemas der amerikani-


schen psychiatrischen Vereinigung, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disor-
ders (DSM-IV), nimmt folgende Klassifizierung der Angststörungen vor [7]:
z Panikstörung ohne Agoraphobie („Angst vor der Angst“, d.h. vor der Panikattacke)
z Panikstörung mit Agoraphobie (Angst mit Vermeidungsverhalten)
z Agoraphobie ohne Panikstörung in der Vorgeschichte (Vermeidung ohne Panik)
z Spezifische Phobie (Angst vor bestimmten Objekten und Situationen)
z Soziale Phobie (Angst vor kritischer Beurteilung durch andere Menschen)
z Generalisierte Angststörung (andauernde Ängste, unkontrollierbare Befürchtungen)
z Zwangsstörung (Angst auslösende Gedanken, die durch Rituale gemildert werden)
z Posttraumatische Belastungsstörung (Angst durch Wiedererinnern eines Traumas)
z Akute Belastungsstörung (plötzlicher Schockzustand)
z Angststörung aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors (nach Krankheiten)
z Substanzinduzierte Angststörung (nach Einnahme Angst auslösender Substanzen)

Bei der Diagnostik der Angststörungen bestehen wichtige Unterschiede zwischen dem
ICD-10 und dem DSM-IV (aktuelle Version: Textrevision DSM-IV-TR ohne Änderung
der diagnostischen Kriterien; das DSM-V soll 2012 erscheinen: www.dsm5.org):
z Im ICD-10 steht die Agoraphobie hierarchisch höher als die Panikstörung, während
im DSM-IV gerade das Umgekehrte der Fall ist. Das amerikanische Diagnosesche-
ma vertritt die Auffassung, dass die Panikattacken primär sind und eine Agorapho-
bie sekundär aus den Erwartungsängsten entsteht, die zur Vermeidung jener Situa-
tionen führen, in denen neuerlich Panikattacken auftreten könnten. Dies ist zwar oft,
jedoch nicht immer der Fall. Mitunter ist der umgekehrte Verlauf gegeben, dass zu-
erst eine Agoraphobie und einige Zeit später eine Panikattacke auftritt.
z Das DSM-IV zählt viel mehr Störungen zu den Angststörungen als das ICD-10.
Neben den Angststörungen des ICD-10 werden auch die Zwangsstörung, die orga-
nisch bedingte sowie die substanzinduzierte Angststörung und bestimmte Reaktio-
nen auf schwere Belastungen (akute Belastungsstörung, posttraumatische Bela-
stungsstörung) den Angststörungen zugeordnet. Vor allem die Zuordnung der
Zwangsstörung zu den Angststörungen ist unter Fachleuten sehr umstritten.

Die verschiedenen Angststörungen werden im Folgenden näher beschrieben, wobei die


Einteilung dem amerikanischen psychiatrischen Diagnoseschema DSM-IV-TR folgt.
Dies hängt nicht nur mit dem Umstand zusammen, dass von vielen Wissenschaftern das
präzisere DSM-IV-TR bevorzugt wird, sondern ist vor allem auch durch die Absicht
bestimmt, psychische Störungen beschreiben zu können, die nach dem ICD-10 nicht zu
den Angststörungen gezählt werden. Vor allem die Zwangsstörung und die posttrauma-
tische Belastungsstörung sollen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.
Die gut operationalisierten Diagnosekriterien des DSM-IV-TR werden durch aus-
führliche Zitate aus der 2003 erschienenen deutschen Übersetzung [8] dargestellt.
Gleichzeitig erfolgt auch eine Beschreibung der Angststörungen nach dem interna-
tional verbindlichen ICD-10, und zwar sowohl nach den weniger strengen klinisch-
diagnostischen Leitlinien als auch nach den präziseren Forschungskriterien. Dabei wer-
den auch die Unterschiede zum amerikanischen DSM-IV herausgearbeitet.
Das ICD-10 ist im Internet zu finden auf der Homepage des Deutschen Instituts für
Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI):
www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/index.htm
Agoraphobie 27

Agoraphobie – Die Angst, in Angstsituationen


keinen Fluchtweg oder Helfer zu haben

Historische Aspekte der Agoraphobie


Agoraphobie (vom Griechischen agora = Marktplatz und phobos = Angst) heißt auf
Deutsch „Platzangst“. Die Angst bezieht sich nicht nur auf offene Plätze, sondern auf
alle möglichen öffentlichen Orte (Lokal, Geschäft u.a.) und Menschenansammlungen,
wo Flucht schwer möglichst. Gefürchtet werden daher mehr überfüllte als leere Plätze.
Der Begriff „Agoraphobie“ wurde erstmals im Jahr 1871 vom deutschen Psychiater
Carl F. O. Westphal verwendet und verstanden als „Unmöglichkeit, durch bestimmte
Straßen oder über bestimmte Plätze zu gehen oder die Gewissheit, dies nur unter Angst
tun zu können“. Schon Westphal [9] betonte folgende Aspekte der Agoraphobie:
z Die „Angst vor der Angst“, d.h. die Erwartungsangst, ist das zentrale Merkmal der
Agoraphobie. Von einem der drei beschriebenen Patienten heißt es: „Was ihm Angst
mache, davon hat er selbst keine Vorstellung, es ist gleichsam die Angst vor der
Angst.“
z Bei agoraphobischen Zuständen handelt es sich oft um plötzlich auftretende Angst-
zustände mit Herzklopfen, Schwindel, Ohnmachtsgefühlen, Todesangst, „Furcht vor
dem Irrewerden“ und der Angst, die Kontrolle zu verlieren. Es wird somit bereits die
Agoraphobie mit Panikstörung beschrieben („Die Angst ist da, von selbst, ein plötz-
lich auftretendes Etwas“).
z Die Angstgefühle verschwinden in Begleitung einer bekannten Person.

Westphal [10] liefert die erste Falldarstellung einer Agoraphobie:

„Der Patient beklagt sich, daß es ihm unmöglich sei, über freie Plätze zu gehen. Es überfällt ihn bei
dem Versuch dazu sofort ein Angstgefühl, dessen Sitz er auf Befragen mehr im Kopfe als in der Herz-
gegend angibt, indes ist auch oft Herzklopfen dabei. In Berlin ist ihm der Döhnhofsplatz mit am unan-
genehmsten; versucht er, denselben zu überschreiten, so hat er das Gefühl, als ob die Entfernung sehr
groß, meilenweit sei, er nie hinüber kommen könne, und damit verbindet sich das erwähnte, oft von
allgemeinem Zittern begleitete Angstgefühl... Dasselbe Angstgefühl überfällt ihn, wenn er genötigt ist,
an Mauern und langgestreckten Gebäuden entlang oder durch Straßen zu gehen, wenn die Verkaufslä-
den – wie an Sonn- und Feiertagen oder in später Abend- und Nachtstunde – geschlossen sind. In später
Abendstunde – er ißt gewöhnlich abends in Restaurationen – hilft er sich in Berlin in eigentümlicher
Weise; entweder wartet er, bis er eine andere Person die Richtung nach seiner Wohnung einschlagen
sieht und folgt dicht hinter derselben, oder er macht sich an eine Dame der ‚Halbwelt’, läßt sich in ein
Gespräch mit ihr ein und nimmt sie so eine Strecke mit, bis er eine andere ähnliche Gelegenheit findet
und so allmählich seine Wohnung erreicht.“

Die Agoraphobie wurde unter der Bezeichnung „Platzangst“ 1887 vom Psychiater
Emil Kraepelin in die psychiatrische Krankheitslehre eingeführt. Bereits Freud [11]
wies auf die Entstehung der Agoraphobie als Folge von Panikattacken hin:

„Im Falle der Agoraphobie ... finden wir häufig die Erinnerung an eine Angstattacke; und was der
Patient in Wirklichkeit fürchtet, ist das Auftreten einer solchen Attacke unter den speziellen Verhältnis-
sen, in denen er glaubt, ihr nicht entkommen zu können.“

Das Aufsuchen der gefürchteten Plätze zur Therapie empfahl Westphal bereits 1872,
Oppenheimer 1911 in seinem „Lehrbuch der Nervenkrankheiten“ und Freud 1919.
28 Angststörungen

Symptomatik der Agoraphobie


Eine Agoraphobie umfasst eine Gruppe von Ängsten („multiple Situationsphobien“),
die dann auftreten, wenn man die gewohnte oder schützende Umgebung verlässt (eigene
Wohnung, bekannte und sichere Gegend, Zusammensein mit Vertrauenspersonen). Es
bestehen phobische Ängste, die Wohnung zu verlassen, Geschäfte zu betreten, sich in
einer Menschenmenge oder auf öffentlichen Plätzen aufzuhalten oder alleine in Zügen,
Bussen oder Flugzeugen zu reisen. Nach den ICD-10-Forschungskriterien besteht eine
deutliche und anhaltende Furcht vor oder Vermeidung von mindestens zwei von vier
Situationen: Menschenmengen, öffentliche Plätze, allein Reisen, Reisen mit weiter
Entfernung von zu Hause. Die frühere Gegenüberstellung von Agoraphobie (Angst vor
offenen Plätzen) und Klaustrophobie (Angst vor geschlossenen Räumen) ist überholt.
Als Agoraphobie gilt heutzutage alles, wo man sich in seinen Fluchtmöglichkeiten
eingeschränkt fühlt: nicht nur Ängste vor offenen Plätzen, sondern auch Ängste vor
öffentlichen Orten, Situationen und Menschenansammlungen, wo (laut DSM-IV) beim
plötzlichen Auftreten einer unerwarteten oder durch die Situation ausgelösten Panikat-
tacke oder ähnlichen, milderen Symptomen (Schwindel, Ohnmachtsangst, Herzrasen,
Schwitzen, Verlust der Blasen-/Darmkontrolle usw.) eine Flucht schwierig oder peinlich
wäre oder aber keine Hilfe verfügbar wäre. Besonders Angst machend ist die Vorstel-
lung, die Kontrolle über sich und die Körperreaktionen zu verlieren (Harn- oder Stuhl-
drang), in der Öffentlichkeit umzufallen und hilflos liegen zu bleiben oder der Reaktion
der Umwelt ausgeliefert zu sein bzw. „durchzudrehen“ und „verrückt“ zu werden.
Phobische Situationen werden konsequent gemieden, wenn kein Fluchtweg in Aus-
sicht ist, oder können nur unter großer Angst und Belastung durchgestanden werden.
Das Fehlen eines nutzbaren Fluchtweges ist ein Schlüsselsymptom der Agoraphobie.
Folgen der Angst sind Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und die Notwendig-
keit einer Begleitperson außerhalb der Wohnung – oder die phobischen Situationen
können nur unter intensiver Angst durchgestanden werden. Manche Agoraphobiker
erleben aufgrund ihres Vermeidungsverhaltens aktuell wenig Angst. Das Vermeidungs-
verhalten führt oft zu einem totalen Rückzug in die eigene Wohnung und damit zur
sozialen Isolierung. Doch auch zu Hause kann das Gefühl der Sicherheit verloren gehen.
Das DSM-IV [12] erstellt folgende Kriterien für eine Agoraphobie:

A. Angst, an Orten zu sein, von denen eine Flucht schwierig (oder peinlich) sein könnte oder wo im
Falle einer unerwarteten oder durch die Situation begünstigten Panikattacke oder panikartiger Sym-
ptome Hilfe nicht erreichbar sein könnte. Agoraphobische Ängste beziehen sich typischerweise auf
charakteristische Muster von Situationen: z.B. alleine außer Haus zu sein, in einer Menschenmenge
zu sein, in einer Schlange zu stehen, auf einer Brücke zu sein, Reisen im Bus, Zug oder Auto...

B. Die Situationen werden vermieden (z.B. das Reisen wird eingeschränkt), oder sie werden nur mit
deutlichem Unbehagen oder mit Angst vor dem Auftreten einer Panikattacke oder panikähnlicher
Symptome durchgestanden bzw. können nur in Begleitung aufgesucht werden.

C. Die Angst oder das phobische Vermeidungsverhalten werden nicht durch eine andere psychische
Störung besser erklärt, wie Soziale Phobie (z.B. die Vermeidung ist aus Angst vor Peinlichkeit auf
soziale Situationen beschränkt), Spezifische Phobie (z.B. die Vermeidung ist beschränkt auf einzel-
ne Situationen, wie z.B. Fahrstuhl), Zwangsstörung (z.B. Vermeidung von Schmutz aus zwang-
hafter Angst vor Kontamination), Posttraumatische Belastungsstörung (z.B. Vermeidung von Rei-
zen, die mit einer schweren belastenden Situation assoziiert sind), oder Störung mit Trennungsangst
(z.B. es wird vermieden, das Zuhause oder die Angehörigen zu verlassen).
Agoraphobie 29

Im Gegensatz zum ICD-10 ist im DSM-IV eine Agoraphobie allein keine kodierbare
Störung. Es muss stets Bezug genommen werden zum Fehlen oder Vorhandensein von
Panikattacken. Es handelt sich entweder um eine Agoraphobie ohne Panikstörung in der
Vorgeschichte oder um eine Panikstörung mit Agoraphobie.
Das DSM-IV [13] nennt – bei Ausschluss einer Substanzeinwirkung oder medizini-
scher Krankheitsfaktoren – folgende Kriterien für eine Agoraphobie ohne Panikstörung
in der Vorgeschichte:

A. Es liegt eine Agoraphobie ... vor, die sich auf die Angst vor dem Auftreten panikähnlicher Sym-
ptome bezieht (z.B. Benommenheit oder Durchfall).

B. Die Kriterien für eine Panikstörung ... waren nie erfüllt...

Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [14] ist eine Agoraphobie (F40.0) durch
folgende Merkmale charakterisiert:

A. Deutliche und anhaltende Furcht vor oder Vermeidung von mindestens zwei der folgenden Situa-
tionen:

1. Menschenmengen
2. öffentliche Plätze
3. allein Reisen
4. Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause.

B. Seit Auftreten der Störung müssen in den gefürchteten Situationen mindestens zwei Angstsympto-
me aus der unten angegebenen Liste, davon eins der vegetativen Symptome 1. bis 4., wenigstens zu
einem Zeitpunkt gemeinsam vorhanden gewesen sein:

Vegetative Symptome:
1. Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz
2. Schweißausbrüche
3. fein- oder grobschlägiger Tremor
4. Mundtrockenheit (nicht infolge Medikation oder Exsikkose).

Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen:


5. Atembeschwerden
6. Beklemmungsgefühl
7. Thoraxschmerzen und -missempfindungen
8. Nausea oder abdominelle Missempfindungen (z.B. Unruhegefühl im Magen).

Psychische Symptome:
9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder
„nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)
11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“
12. Angst zu sterben.

Allgemeine Symptome:
13. Hitzewellen/-wallungen oder Kälteschauer
14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle.

C. Deutliche emotionale Belastung durch das Vermeidungsverhalten oder die Angstsymptome; die
Betroffenen haben die Einsicht, dass diese übertrieben oder unvernünftig sind.
30 Angststörungen

D. Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen
oder Gedanken an sie.

E. Ausschlussvorbehalt: Die Symptome des Kriteriums A. sind nicht bedingt durch Wahn, Halluzina-
tionen oder andere Symptome der Störungsgruppen organische psychische Störungen (F0), Schizo-
phrenie und verwandte Störungen (F2), affektive Störungen (F3) oder eine Zwangsstörung (F42)
oder sind nicht Folge von kulturell akzeptierten Anschauungen.

Das Vorliegen oder Fehlen einer Panikstörung bei der Mehrzahl der agoraphobischen
Situationen wird im ICD-10 an der fünften Stelle kodiert: F40.00 ohne Panikstörung
und F40.01 mit Panikstörung. Orte werden auf einem Kontinuum von völlig sicher bis
völlig unsicher beurteilt. Folgende Situationen werden gemieden oder mit Unbehagen
ertragen, vor allem wenn sie ohne beschützende Begleitperson und ohne sonstige Si-
cherheitsstrategien wie etwa Medikamente oder Handy aufgesucht werden müssen und
subjektiv keine Kontrolle über die befürchteten körperlichen Reaktionen besteht [15]:
z Aufenthalt im Freien unter vielen Menschen oder bei fehlender Fluchtmöglichkeit:
öffentliche Plätze überqueren, unbekannte Stadtteile aufsuchen, in überfüllten Fuß-
gängerzonen bummeln, Gartenfeste, Volksfeste oder Messen besuchen, in einem
Verkehrsstau stecken, mit dem Fahrrad in freier Landschaft fahren, mit dem Auto
bei Nebel (d.h. ohne Sicht) fahren, durch einen längeren Tunnel fahren, mit dem
Boot einen tiefen See überqueren, durch einen Badesee schwimmen, über eine Brü-
cke gehen, einen Berg besteigen, durch einen Wald gehen. Vor großen, leeren Plät-
zen haben wegen fehlender Bewegungseinschränkung nur wenige Agoraphobiker
Angst (davor fürchten sich vor allem Agoraphobiker mit Angstschwindelattacken,
weil sie keine Möglichkeit haben, sich irgendwo festhalten zu können).
z Außerhäusliche Aktivitäten jeder Art, insbesondere berufliche oder private Reisen
über die Stadt-, Bezirks-, Landes- oder Staatsgrenzen hinaus, Reisen in das anders-
sprachige Ausland sowie in unbekannte Gegenden weit weg von zu Hause (im Falle
von körperlichen Beschwerden fehlen deutschsprachige Ärzte).
z Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel (Bus, Straßenbahn, U-Bahn, Eisenbahn, Flug-
zeug, Schiff, Sessellift, Aufzug, Rolltreppen) oder des eigenen Autos, besonders
über längere Strecken.
z Aufenthalt in öffentlichen bzw. halb öffentlichen Räumen, besonders wenn diese
überfüllt sind: Geschäfte, Kirchen, Kinos, Museen, Theater, Konzertsaal, Banken,
Behörden, Krankenhäuser, Wartezimmer bei Ärzten, Gaststätten, Cafés, Diskothe-
ken, betrieblicher Speisesaal, Kantine, Mensa, öffentliche Toiletten, Friedhöfe, Fri-
seursalons, Umkleideräume in Kleidergeschäften, Schlange stehen in Geschäften
und bei Behörden, Sauna, Hallen- oder Freiluftbäder, Arbeit in großen Büros, Hörsä-
le auf der Universität, Besuch von Elternsprechtagen in der Schule, Teilnahme bei
Betriebsversammlungen, Sportveranstaltungen oder großen Feiern.
z Aufenthalt in engen, hohen, geschlossenen oder dunklen Räumen: Lifte, Räume
ohne Fenster, geschlossene Toiletten oder Badezimmer, Diskotheken, Turnsäle, Kel-
lerräume, Höhlen, unterirdische Gänge, Tunnelgänge, Bogengänge (Arkaden),
Durchgänge und Passagen, Hochhausräume, Kirchtürme, Fernsehtürme, Treibhäu-
ser, Ringelspielgeräte, dunkle Schlafzimmer, Einmannzelt, Aufenthalt allein mitten
in einem großen Raum. Bei einer Liftphobie spricht die Angst vor dem Steckenblei-
ben oder Ersticken für eine Agoraphobie, die Angst vor den Blicken anderer für eine
Sozialphobie, die Angst vor dem Abstürzen des Lifts für eine Höhenphobie.
z Vereinbarung von Treffen mit anderen Leuten unter „unsicheren“ Bedingungen.
Agoraphobie 31

Viele Agoraphobiker können zahlreiche der genannten Situationen aufsuchen, wenn sie
dies plötzlich und vorher nicht lange geplant tun müssen. Wenn die betreffenden Aktivi-
täten jedoch bereits seit Tagen feststehen, werden die Erwartungsängste oft derart groß,
dass angesichts zunehmender vegetativer Beschwerden eine Bewältigung unmöglich ist.
Die Angst vor der Angst zwingt viele Betroffene dazu, zahlreiche Aktivitäten (Ausflug,
Theaterbesuch usw.) schon lange im Voraus detailliert zu planen. Gefahrvolle Vorstel-
lungen, Grübeleien und Nervosität (Aufgeregtheit und körperliche Angespanntheit)
bestimmen die Zeit bis zum geplanten Ereignis. Die Erwartungsangst ist meistens viel
schwerer zu bewältigen als das tatsächliche Ereignis, das dann durchaus als angenehm
erlebt werden kann. Diese Erfahrung verhindert jedoch nicht, dass die Betroffenen vor
der nächsten ähnlichen Situation wiederum beunruhigt und besorgt sind. Angesichts von
Restrisiken sind bestimmte Sicherheitssignale (z.B. Handy) von zentraler Bedeutung.
Wichtigste Auslöser für agoraphobische Ängste sind die Entfernung von „sicheren“
Orten und das Fehlen eines Fluchtwegs. Es besteht ein subjektives Gefühl der Einen-
gung der Bewegungsfreiheit („in der Falle sitzen“) sowie eine starke Angst, anderen
Menschen ausgeliefert zu sein. Dies erklärt folgende Sicherheitsverhaltensweisen:
z Verkehrsmittel, Lokale, Kinos und verschiedene Säle können betreten werden, je-
doch nur dann, wenn der Aufenthalt in der Nähe der Tür möglich ist, um jederzeit
fliehen zu können.
z Fahrten mit dem Regionalzug können durchgeführt werden, nicht jedoch mit dem
Schnellzug, der nur selten stehen bleibt.
z Fahrten in halb leeren Verkehrsmitteln sind möglich, nicht jedoch in Zügen, Bussen,
U-Bahnen oder Straßenbahnen unter vielen Leuten.
z Öffentliche Verkehrsmittel können nicht benutzt werden, sehr wohl jedoch das eige-
ne Auto, das Schutz und Freiheit gewährt.
z Beim Autofahren ist das Sitzen vorne problemlos möglich, nicht jedoch hinten,
wenn es sich um ein zweitüriges Auto handelt.
z Selbst mit dem Auto zu fahren, ist leicht möglich, als Beifahrer mitzufahren, dage-
gen nur erschwert möglich (wegen des Gefühls, dem anderen ausgeliefert zu sein,
bzw. wegen der ständigen Gedanken an mögliche Gefahren statt der Beobachtung
des aktuellen Verkehrsgeschehens, wie dies bei Fahrten als Lenker der Fall ist).
z Autofahren ist grundsätzlich möglich, nicht jedoch in folgenden Situationen: auf der
Autobahn, wo Stehenbleiben, Umdrehen und rasches Abfahren ausgeschlossen ist;
durch einen Tunnel, der bei Gefahr kein Entkommen erlaubt; in einer Autokolonne,
wo die hilflose Eingeengtheit gefürchtet wird. Gefürchtet werden Situationen, wo
der Verkehrsfluss zum Erliegen kommt („in der Falle sitzen“): Staus, Halt vor einer
roten Ampel bei einer Kreuzung. Autounfälle wegen Panikattacken sind unbekannt.
z Weite Reisen können trotz Beschwerlichkeit mit dem Auto oder mit der Bahn
durchgeführt werden, nicht jedoch mit dem Flugzeug, das keinen Ausstieg erlaubt.
z Die Reise in die Ferne ist aufgrund von Erwartungsängsten belastender als die
Rückkehr in die Sicherheit gebende Heimat.
z Man kann wohl Räume und Geschäfte betreten, nicht jedoch beim Friseur oder beim
Zahnarzt Platz nehmen, weil Flucht nicht jederzeit möglich ist.
z Man kann wohl in Geschäfte einkaufen gehen, jedoch nur dann, wenn wenige Leute
drinnen sind und keine Schlange bei der Kasse zu erwarten ist.
z Man kann wohl in ein Selbstbedienungsrestaurant gehen, wo das Essen sofort einge-
nommen werden kann, nicht jedoch in ein exklusives Restaurant, wo man vielleicht
lange auf das bestellte Essen warten muss.
32 Angststörungen

z Man kann wohl ein Restaurant zu ebener Erde besuchen, nicht jedoch unter der Erde
oder in einem höheren Stockwerk.
z Man kann wohl in einem Wohnblock unter vielen Menschen wohnen, jedoch nur im
Erdgeschoss, weil man bei Gefahr keinen Lift benötigt und rasch das Haus verlassen
kann.
z Man fürchtet einerseits den Aufenthalt unter fremden Menschen, spricht jedoch
andererseits bei beginnender Panik dieselben Menschen an, um sich entweder abzu-
lenken, sich nicht allein zu fühlen oder sich deren Hilfe für den Notfall zu sichern.
z Man kann zu Hause nur mit der Badehose baden oder duschen, damit man im Falle
einer Panikattacke nicht nackt aus dem Bad oder gar aus der Wohnung laufen muss.

Eine Agoraphobie kann mit oder ohne Panikstörung auftreten. Eine Panikattacke in
einer eindeutig phobischen Situation macht noch keine Panikstörung aus, sondern zeigt
den Schweregrad einer Phobie an. Im klinischen Bereich weisen die meisten Agora-
phobiker auch Panikattacken auf, während diese Kombination in großen Untersuchun-
gen der Durchschnittsbevölkerung nur bei etwa der Hälfte der Agoraphobiker gegeben
war (ein Teil der „Agoraphobiker“ hat jedoch laut Nachuntersuchungen eher eine spezi-
fische Phobie als eine Agoraphobie). Rückfälle bei Agoraphobie hängen häufig mit dem
Auftreten von einer oder mehreren erneuten Panikattacken zusammen.
Belastend ist der Umstand, dass die agoraphobische Symptomatik oft schwankend
ist, ohne dass die Betroffenen einen roten Faden erkennen können. Einmal sind diesel-
ben Situationen leichter, einmal schwerer zu bewältigen, je nachdem, ob es sich um
einen „guten“ oder „schlechten“ Tag handelt. Diese Schwankungen sind eine Quelle der
Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit und Hilflosigkeit vieler agoraphobischer Patienten.
Die Diagnose einer phobischen Störung kann selbst Fachleuten dann schwer fallen,
wenn z.B. Agoraphobiker primär von Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch oder
von depressiven Symptomen berichten (besonders nach langer primär phobischer Sym-
ptomatik), weil sie wenig Angst erleben infolge der Vermeidung der phobischen Situa-
tionen und der Überlagerung durch die genannten Störungen. Das Erleben verstärkter
Ängste im Rahmen einer Konfrontationstherapie ist positiv zu bewerten.

Mit vielen Tricks durch den Alltag


Agoraphobiker wenden eine Fülle von Tricks an, die der Umwelt gar nicht auffallen, um
das Leben bewältigen zu können. Auf diese Weise können Agoraphobiker ihre Beein-
trächtigung oft jahrelang verbergen. Es bleibt jedoch ein „Leben auf der Flucht“.
Heiße oder schwüle Witterungsbedingungen sind für viele agoraphobische Patienten
belastender als für andere Menschen [16]. Mit der Begründung körperlicher Beschwer-
den (z.B. Kopfschmerzen, Kreislaufprobleme, Übelkeit) wird daher zu diesen Zeiten das
Haus oft gar nicht verlassen. Hitzegefühle gehen oft mit Ohnmachtsängsten einher.
Die erste Panikattacke tritt viel eher im Sommer als im Winter auf, wie eine Unter-
suchung in Australien ergab (bei 57% im Sommer, nur bei 11% im Winter). Nach einer
englischen Studie verschlechterte sich bei 35% der Patienten die Agoraphobie, wenn es
draußen heiß war. Viele Agoraphobiker vermeiden daher überhitzte Räume und Ein-
kaufszentren und bevorzugen lieber kühlere Temperaturen. Helles Sonnenlicht, Neon-
licht und flackernde Leuchtreklamen stellen oft belastende Reizsituationen dar, weshalb
manche Angstpatienten gerne Sonnenbrillen oder dunkle Gläser tragen.
Agoraphobie 33

Als Folge der Atemnot bei einer Panikattacke bzw. einer erhöhten Kohlendioxid-
(CO2)-Sensibilität achten viele Patienten darauf, zur Sicherung der Zufuhr frischer Luft
stets das Fenster im Büro sowie im Wohn- und Schlafzimmer geöffnet zu haben. Ver-
schiedene Agoraphobiker schlafen selbst im Winter bei offenem Fenster.
Das Verlassen des Raumes bei Agoraphobie dient oft nur dem „Luftschnappen“,
obwohl es vielleicht mit dem Besuch der Toilette oder mit dem Rauchen auf dem Gang
begründet wird. Es kann sein, dass der Bedarf an Frischluft offen zugegeben wird, je-
doch mit einer asthmatischen Reaktionsbereitschaft begründet wird. Aus Angst vor zu
wenig frischer Luft bzw. aus Angst vor geschlossenen Fenstern und Türen kann oft
auch kein vollbesetzter Kino-, Konzert- oder Gasthaussaal betreten werden.
Frauen mit einer Agoraphobie können sehr gastfreundlich wirken, während sie oft
nur deshalb immer wieder Leute einladen, weil sie nicht allein sein können. Wenn der
Partner aus beruflichen Gründen einen Auslandsaufenthalt antreten muss, werden z.B.
Kinder aus der Verwandtschaft zum Übernachten eingeladen, ohne dass diese etwas von
ihrer Beschützerfunktion ahnen. Eine agoraphobische Mutter kann ihr Kind unter ver-
schiedenen Vorwänden sogar von der Schulpflicht abhalten, um der Einsamkeit zu
entkommen, oder könnte ihr Kind wohl in die Schule bringen, danach aber nicht mehr
alleine nach Hause fahren, sodass eine andere Person sich um den Schulbesuch des
Kindes des Kindes kümmern muss.
Bestimmte Sicherheitssignale [17] reduzieren die Angst, ihr Fehlen kann bereits
Angst auslösen. Sicherheit gibt die Anwesenheit anderer Personen: der Partner oder ein
Elternteil an der Seite, das Kind an der Hand, Bekannte in erreichbarer Nähe. Selbst der
Hund an der Leine vermittelt schon das Gefühl, im Ernstfall nicht ganz alleine zu sein.
Angst abbauend wirkt auch die Mitnahme eines Beruhigungsmittels, eines Handys oder
eines Wasserfläschchens (Trinken beseitigt Mundtrockenheit, Übelkeit oder ein Enge-
gefühl in der Kehle), etwas zum Festhalten (Spazierstock, Regenschirm, Kinderwagen,
Fahrrad), die räumliche Nähe eines Krankenhauses oder einer Arztpraxis, die Telefon-
nummer des nächsten Dienst habenden Arztes am Wochenende oder das Wissen um die
ständige Erreichbarkeit bestimmter Angehöriger zumindest über das Handy. Das Wis-
sen, dass der Hausarzt auf Urlaub gehen wird, kann so beunruhigend wirken, dass um-
fangreiche Vorsorgemaßnahmen getroffen werden müssen.
Die häufige Angst, beim Gehen umzufallen, wird schon reduziert durch die Nähe ei-
ner Hausmauer, die bei Bedarf einen gewissen Halt gewährt. Dies ist der Grund, warum
enge Gassen oft eher gemocht werden als weite Straßen und offene Plätze. Chronischer
Schwindel führt oft zu ständiger Angst vor einer Ohnmacht in der Öffentlichkeit. Der
Schwindel wird als Kreislaufschwindel fehlinterpretiert, während es sich tatsächlich
meistens um einen verspannungsbedingten Schwindel (aufgrund massiver Schulter-
Nacken-Verspannung) oder um einen subklinischen vestibulären Schwindel handelt.
Menschen mit Agoraphobie fühlen sich oft schwindlig und unsicher auf den Beinen,
der Boden scheint zu wanken und nicht ausreichend stabil zu sein. Man hat den Ein-
druck, auf Wolle zu gehen oder zu schweben, ohne sichere Bodenhaftung. Viele Betrof-
fene haben die Befürchtung, nach dem Umfallen hilflos auf dem Boden liegen bleiben
zu müssen, nicht selbst aufstehen zu können und auf die Hilfe anderer angewiesen zu
sein, die im Bedarfsfall vielleicht nicht einmal verlässlich genug erfolgen würde. Be-
sonders demütigend und erniedrigend wirkt die Vorstellung, den Blicken einer gaffen-
den Menge ausgesetzt zu sein, während man regungslos auf dem Boden liegt.
Agoraphobiker befinden sich oft in einem Dilemma: Einerseits leben sie in starker
Abhängigkeit von anderen, andererseits fürchten sie nichts so sehr wie gerade dies.
34 Angststörungen

Beruhigungsmittel (Tranquilizer) werden oft wie ein Talisman mitgeführt, obwohl


man aus Angst vor Abhängigkeit derartige Medikamente überhaupt nicht einnehmen
möchte. Dabei reichen häufig nicht 1-3 Tabletten, sondern es muss gleich die halbe
Packung in einer Tasche griffbereit sein, vielleicht auch noch ein anderes Medikament.
Bei Einnahme von Tranquilizern wirken diese nach Meinung der Betroffenen oft sofort,
obwohl die volle Wirksamkeit erst nach 30-60 Minuten erreicht wird.
Eine sofortige Medikamentenwirkung beruht auf einem Placeboeffekt, sodass es für
viele Agoraphobiker eigentlich egal ist, was sie einnehmen. Hauptsache ist, dass bei
Bedarf etwas geschluckt werden kann, und wenn es sich dabei nur um Kreislauftropfen,
Baldrianpillen oder ein stärkendes Getränk handelt.
In Zeiten des Misstrauens gegen Psychopharmaka erfüllen „natürliche“ Mittel oft
denselben Effekt. Beliebt sind auch Kaugummi-Kauen und Bonbon-Lutschen, um einen
trockenen Mund und damit Schluckbeschwerden zu verhindern. Vertrauen in unsicheren
Situationen schaffen jedenfalls nur verschiedene Mittel und nicht die eigenen Bemü-
hungen. Die Entdeckung, die hilfreichen Tabletten vergessen zu haben, kann bereits
Panik auslösen, obwohl vorher kein Grund dazu bestand. Auch Jahre nach der Über-
windung der das Leben stark einengenden Agoraphobie gehen viele Betroffene sicher-
heitshalber nur mit Tabletten in der Hand- oder Aktentasche von zu Hause fort.

Eine 19-jährige Patientin mit Panikstörung und Agoraphobie ließ sich von ihrem Freund zur ersten
Therapiestunde bei mir begleiten, ohne dass er selbst an der Therapie teilnehmen sollte – eine vielen
Psychotherapeuten recht bekannte Situation. Die Patientin erklärte, sie leide schon seit 4 Jahren unter
Panikattacken. Diese hätten begonnen, als sie mit 15 Jahren in eine familieneigene Garçonniere gezo-
gen sei, weil sie die ständigen Streitereien der Eltern satt gehabt habe. Es wurde deutlich, dass sie, die
recht Vater bezogen gelebt hatte, das Alleinsein nicht ertragen konnte. Eine frühere Familientherapie
sowie das Erlernen des autogenen Trainings hatten nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Eigentlich
konnte sie sich nicht vorstellen, wie eine im Vergleich zu einer Psychoanalyse von ihr als recht ober-
flächlich beurteilte Verhaltenstherapie ihre mehrjährige Störung wirksam beseitigen könnte. Ich schätz-
te die Patientin in der ersten Stunde so ein, dass sie zu keiner längeren Therapie kommen würde, und
unternahm daher ein etwas gewagtes Experiment. Ich erzählte ihr, dass ich ein Geheimnis von ihr
wüsste, das nicht einmal ihrem Freund bekannt sei. Die Patientin war sehr verwundert und wollte es
wissen. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich es ihr erst in der zweiten Therapiestunde mitteilen könnte,
wenn sie dazu allein, ohne Freund, komme. Die Patientin wies darauf hin, dass sie nicht allein mit
Straßenbahn und Bus unterwegs sein könne und daher in diesem Fall nicht zur Therapiestunde erschei-
nen könnte. Ich bestand auf meinem Vorgehen, die Patientin war derart neugierig, dass sie zur nächsten
Stunde tatsächlich allein kam. Sie war darüber selbst sehr verwundert und meinte, dass es wohl das
Geheimnis sei, man müsse sich nur anstrengen, dann könne man auch die größten Ängste überwinden.
Ich bestärkte sie in dieser Erkenntnis, gab ihr allerdings zu verstehen, dass dies nicht das gemeinte
Geheimnis sei. Ich fragte sie, ob sie bereit sei, ihre Handtasche auf der Stelle umzudrehen und zu öff-
nen, sodass alles herausfalle, was drinnen sei. Die Patientin wollte dies anfangs nicht tun, war dann aber
doch dazu bereit. Auf dem Tisch lagen neben den üblichen Utensilien Tablettenpackungen mit insge-
samt 136 Stück von 8 verschiedenen Sorten (mehrheitlich Tranquilizer). Das war das Geheimnis: so
viele Tabletten benötigte sie, um ohne Freund zu mir zu kommen, d.h. in bestimmten Situationen ist der
Freund durch Medikamente ersetzbar. Ich bat sie, bis zum nächsten Mal nur so viele Medikamente nach
Hause mitzunehmen, wie sie benötigte. Sie nahm 40 Stück von 4 verschiedenen Sorten mit. Und dies,
obwohl sie aus Angst vor Abhängigkeit keine Beruhigungsmittel einnahm.

Agoraphobiker müssen vor allem eines erkennen und erleben: Wenn sie sich vor sich
selbst, vor den eigenen körperlichen Reaktionen oder vor einem Kontrollverlust nicht
mehr fürchten, sondern damit umgehen können, fürchten sie sich auch nicht mehr vor
bestimmten Örtlichkeiten und Menschenansammlungen, denn die Agoraphobie besteht
aus der Angst, aus einer „Falle“ allein nicht mehr herauszukommen.
Agoraphobie 35

Auslösefaktoren einer Agoraphobie


Auslöser einer Agoraphobie sind in der Regel länger dauernde belastende oder trauma-
tische Stresszustände, die oft zur ersten Panikattacke oder zu einer panikähnlichen
Symptomatik führen, in deren Folge häufig eine Agoraphobie auftritt [18].
Agoraphobiker unterscheiden sich von anderen Personen weniger durch die Art der
ersten Reaktion auf eine real belastende Lebenssituation als vielmehr durch den Um-
stand, dass diese Reaktion beibehalten bzw. unangemessen generalisiert wird. Anstelle
neuer effizienter Strategien wird bevorzugt die Möglichkeit zur Flucht genutzt.
Bei näherer Betrachtung ist zumindest für einen Psychotherapeuten oft erkennbar,
dass das Schicksal einer Panikattacke mit einer daraus resultierenden Agoraphobie trotz
der Belastung einem sinnvollen Zweck dient, nämlich einem ersten, wenngleich auf
Dauer ungenügenden Lösungsversuch einer vorhandenen Konfliktsituation. Eine Ago-
raphobie schafft häufig eine Pattsituation in einem anderen Bereich (Partnerschaft, Be-
ruf u.a.), in dem eine Problemlösung ansteht.
Einige Beispiele sollen die Entwicklung einer Agoraphobie verdeutlichen, die mei-
stens mit einer Panikattacke oder panikähnlichen Erfahrung beginnt und im Laufe der
Zeit durch die Erwartungsängste zu einer immer größeren Einschränkung des Bewe-
gungsspielraums führt.

Ein Mann ist durch einen relativ harmlosen Autounfall während eines Außendienstes schwer geschockt.
Innerhalb von zwei Wochen entwickelt er eine typisch agoraphobische Vermeidungshaltung. Er kann
über Monate kein Auto oder öffentliches Verkehrsmittel benutzen und damit auch seinen Beruf nicht
ausüben. Im Freizeitbereich kann er seine Funktion als Fußballtrainer nicht mehr wahrnehmen, weil er
weder zum Training noch zu den Spielen in verschiedene Städte fahren kann. Seinen Bekannten erzählt
er nichts von seinen Ängsten, sondern gibt als Grund für sein Verhalten Kopf- und Rückenschmerzen
infolge des Unfalls an. Rückblickend gesehen war er schon seit langem durch seine zahlreichen Aktivi-
täten überfordert.

Ein höherer Angestellter, der früher jahrelang Alkoholmissbrauch betrieben und in diesem Zusammen-
hang auch die Gattin durch Scheidung verloren hatte, bekommt nach anfänglich gutem Verlauf seiner
neuen Partnerschaft die Angst, seine Freundin könnte ihn verlassen, weil er beruflich ständig im Aus-
land unterwegs ist. Bei einem Flug nach Asien erlebt er eine Panikattacke, sodass er nach der Landung
sofort nach Hause zurückkehrt, um sich stationär untersuchen zu lassen. Aufgrund seiner Erwartungs-
ängste vor einer weiteren Panikattacke kann er keine Auslandstätigkeiten mehr übernehmen, was der
Freundin anfangs durchaus recht ist. Als er aus gleichem Grund auch keine Urlaubsreisen mehr antreten
kann und ein bereits gebuchter Flug deshalb kostspielig storniert werden muss, gerät die Partnerschaft
neuerlich in die Krise, weil er zu wenig mit seiner Partnerin unternehmen kann. Innerhalb eines Monats
entwickelt er eine ausgeprägte Agoraphobie, sodass er im Gegensatz zu früher vieles nicht mehr allein
unternehmen kann. Er ist nur beruhigt, wenn er seine Freundin in der Nähe weiß. Die Trennungsgefahr
ist vorläufig gebannt, weil ihn die Partnerin als krank akzeptiert.

Ein Jugendlicher im Alter von 17 Jahren lebt in ständigem Streit mit den Eltern, weil er nach mehreren
selbstverschuldeten Arbeitsplatzverlusten noch immer keiner geregelten Arbeit nachgeht und auch im
Haushalt nicht mithilft. Nach einer heftigen Auseinandersetzung muss er schließlich ausziehen und in
einem Untermietzimmer wohnen, das vorläufig seine Eltern bezahlen. Er geht dann abends oft fort und
nimmt an Rave-Partys teil, wo er mehrfach die aufputschende Droge Ecstasy einnimmt. Nach dem
dritten Gebrauch bekommt er auf dem Heimweg plötzlich eine Panikattacke, sodass er nicht mehr
alleine in seinem Zimmer leben kann und auch nicht mehr fähig ist, eine Arbeit zu suchen. Er zieht sich
bald auch von seinem früheren Bekanntenkreis zurück, weil er wegen seiner Erwartungsängste keine
Lokale mehr aufsuchen kann und auch an den üblichen Aktivitäten Jugendlicher nicht mehr teilnehmen
kann. Wohl oder übel nehmen ihn seine Eltern in ihrem Haus wieder auf unter der Bedingung, dass er
sich behandeln lässt.
36 Angststörungen

Eine hochschwangere Frau mit einer konfliktreichen Partnerschaft fällt bei sommerlicher Hitze auf der
Straße beinahe ohnmächtig um. Sie kann dies gerade noch rechtzeitig verhindern. Einige Monate später
fährt sie mit dem Kinderwagen an derselben Stelle vorbei, erinnert sich an das frühere Ereignis und
kann plötzlich aus Angst umzufallen nicht mehr allein mit dem Kind unterwegs sein, weil dieses auf die
Straße laufen könnte, wenn sie ohnmächtig werden sollte.

Eine junge Mutter geht an einem heißen Sommertag mit ihrem fünfjährigen Sohn, der schon recht
unruhig und lästig wird, eine dicht bevölkerte Einkaufsstraße entlang, als ihr plötzlich schwindlig und
übel wird. Sie bekommt Herzrasen und Ohnmachtsangst, was sich einige Zeit später, als sie in dersel-
ben Straße allein unterwegs ist, in ähnlicher Weise wiederholt, sodass sie ohne Begleitung einer ande-
ren Person nicht mehr das Haus zu verlassen wagt.

Eine Frau möchte die ungeliebten Schwiegereltern nicht jedes Wochenende zusammen mit dem noch
recht mutterabhängigen Gatten besuchen, was zu ständigen Ehestreitigkeiten führt. Dieser unlösbare
Konflikt findet nach einem Monat ein plötzliches Ende, weil die Frau nach einer Panikattacke in einem
überfüllten Restaurant, die sich einige Zeit später beim Friseur wiederholt, das Haus überhaupt nicht
mehr verlassen kann (und damit auch nicht mehr die Schwiegereltern zu besuchen braucht, was vorerst
von keinem der beiden Partner bewusst wahrgenommen wird).

Eine 20-jährige, ehrgeizige Studentin möchte eine Prüfung bestehen, bei der erfahrungsgemäß zwei
Drittel durchfallen. Sie hat die letzte Nacht wenig geschlafen und am Morgen wegen der Aufregung
nichts gegessen. Auf dem Weg zur Universität bekommt sie plötzlich in einer überfüllten Straßenbahn
eine Panikattacke, sodass sie unverzüglich zum Arzt geht, der sie zur Untersuchung in ein Krankenhaus
einweist. Außer dem ohnehin bereits bekannten niedrigen Blutdruck wird dort nichts Auffälliges gefun-
den, sodass sie nach drei Tagen wieder entlassen wird. Zwei Monate später bekommt sie während einer
Vorlesung eine neuerliche Panikattacke, die dazu führt, dass sie das Studium für einige Monate unter-
bricht, weil sie weder eine Straßenbahn benutzen noch in einem Hörsaal sitzen kann.

Eine Frau denkt nach siebenjähriger Ehe an Scheidung, weil sie sich von ihrem Gatten vernachlässigt
fühlt. Sie erlebt, dass sie mit anderen Menschen besser über persönliche Dinge reden kann als mit ihrem
Partner, und geht daher öfter als früher zusammen mit Freundinnen abends fort, weil der Partner aus
beruflichen Gründen abends ebenfalls oft nicht zu Hause ist. Nach einiger Zeit bekommt sie plötzlich in
einem Lokal eine Panikattacke, wodurch sie so verängstigt ist, dass sie ohne ihren Gatten nicht mehr
fortzugehen wagt und ihre Scheidungsgedanken aufgibt, weil sie nicht allein leben kann. Sie ist inner-
halb der nächsten Wochen wegen einer sich entwickelnden Agoraphobie nicht einmal fähig, den Ar-
beitsplatz aufzusuchen, was die Voraussetzung dafür wäre, sich allein erhalten zu können.

Eine früher beruflich recht erfolgreiche Frau hat zugunsten der optimalen Erziehung ihrer beiden Kin-
der (5 und 7 Jahre alt) auf die weitere Berufstätigkeit verzichtet. Dennoch fühlt sie sich zu Hause in
zunehmendem Ausmaß unerfüllt und überlegt, eine Halbtagsarbeit anzunehmen. Der Gatte ist dagegen,
sie hat auch Bedenken, ob sie Beruf, Haushalt und Kindererziehung erfolgreich verbinden kann. Die
Sache ist entschieden, als sie nach einer Panikattacke in einem Bus, die sich drei Wochen später in einer
überfüllten Straßenbahn wiederholt, kein öffentliches Verkehrsmittel mehr besteigen und infolgedessen
auch zu keinem Arbeitsplatz in der 10 km entfernten Stadt fahren kann. Sie hat sogar Schwierigkeiten,
ihre Kinder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel in den Kindergarten bzw. in die 1. Klasse der Volks-
schule zu bringen.

Eine Frau entwickelt nach einer längeren familiären Belastungssituation zuerst eine Panikattacke im
Bus zur Arbeit und anschließend eine ausgeprägte Agoraphobie. Sie ist betroffen durch die Krebser-
krankung ihrer Mutter vor einem Jahr, überfordert durch die Betreuung eines leicht behinderten Kindes
und verärgert über die häufige Abwesenheit ihres Gatten aus sportlichen Gründen (im Sommer Fußball-
trainer, im Winter extreme Schitouren mit Arbeitskollegen, was ihr zusätzlich Angst und Unruhe berei-
tet). Im Laufe der Zeit kann sie bald nichts mehr allein unternehmen aus Angst vor einer Panikattacke.
Die Berufstätigkeit kann nur mehr aufrechterhalten werden, indem sie der Gatte mit dem Auto zur
Arbeitsstelle bringt und von dort auch wieder abholt. Ihr fünfjähriger Sohn muss von der Mutter eines
anderen Kindes in den Kindergarten mitgenommen werden, weil sie sich nicht mehr mit der Straßen-
bahn zu fahren wagt.
Agoraphobie 37

Eine geschiedene Frau, die ihre drei Kinder ohne Unterstützung durch einen Partner erziehen muss,
steht nach einem anstrengenden Arbeitstag noch unter dem Druck, vor Geschäftsschluss die nötigen
Einkäufe zu erledigen. Im Supermarkt bekommt sie in der Warteschlange bei der Kassa plötzlich eine
Panikattacke, die von den Umstehenden registriert wird. Sie möchte am liebsten davonlaufen, kann aber
nicht, weil sie die Lebensmittel im Einkaufswagen für das Abendessen benötigt. Von da an kann sie
nicht mehr einkaufen gehen, sodass ihr die größere Tochter diese Arbeit abnehmen muss.

Eine 45-jährige Frau leidet schon seit längerem unter der ehelichen Untreue ihres Gatten und der über-
mäßigen Belastung am Arbeitsplatz. Die Firma, in der sie seit 15 Jahren arbeitet, steht wirtschaftlich
schlecht da, kündigte verschiedene ältere Arbeitnehmer und fordert von den verbleibenden Arbeitskräf-
ten großen Einsatz bei relativ schlechter Bezahlung. Nach einem Streit mit der Vorarbeiterin, der die
durchaus selbstbewusste Patientin Unfähigkeit und Ungerechtigkeit vorwarf, tritt plötzlich in der Kan-
tine eine Panikattacke auf, sodass die Patientin sofort den Arzt aufsucht und für einen Monat wegen
einer Erschöpfungsdepression krankgeschrieben wird. Der Krankenstand bringt keine Erleichterung,
vielmehr entwickelt die Patientin im Laufe der Zeit eine ausgeprägte Agoraphobie, sodass sie nicht
einmal einkaufen gehen und damit auch nicht mehr kochen kann. Ihre geschiedene und seither allein
lebende Schwester zieht zu ihr in das Haus (in das leer stehende Kinderzimmer) und hilft ihr bei der
Haushaltsführung, nimmt ihr gut gemeint alles ab und verstärkt damit die Agoraphobie der Patientin.

Epidemiologie, Verlauf und Folgen der Agoraphobie


In Deutschland [19] kommt eine Agoraphobie bei 5,7% der Bevölkerung im Laufe des
Lebens, bei 3,6% innerhalb der letzten 6 Monate und bei 2,9% innerhalb des letzten
Monats vor.
Zwei umfangreiche Studien stammen aus den USA [20]: Die repräsentative NCS-
Studie fand in den 1990er-Jahre eine Agoraphobie mit und ohne Panikstörung lebens-
zeitbezogen bei 6,7% (9,0% der Frauen, 4,1% der Männer) und innerhalb des letzten
Monats bei 2,3% (3,1% der Frauen, 1,4% der Männer). Laut Nachuntersuchungen weist
die Mehrzahl der „Agoraphobiker“ eine spezifische Phobie auf. Bei 55,4% der Betrof-
fenen ist die Agoraphobie sekundär in dem Sinn, dass vorher bereits eine andere psychi-
sche Störung bestand, ohne dass allerdings Aussagen über einen kausalen Zusammen-
hang gemacht werden können. Ohne Panikstörung trat eine Agoraphobie lebenszeitbe-
zogen bei 5,3% und innerhalb der letzten 12 Monate bei 2,8% der Bevölkerung auf.
21,6% der befragten Agoraphobiker nehmen lebenslänglich Medikamente gegen ihre
Angst. Die neuere NCS-R-Studie zehn Jahre später ermittelte aufgrund präziseren Erhe-
bungskriterien eine Agoraphobie ohne Panikstörung lebenszeitbezogen bei 1,4% und
innerhalb der letzten 12 Monate bei 0,8% sowie eine Panikstörung mit Agoraphobie
lebenszeitbezogen bei 1,1% der US-Amerikaner.
In klinischen Behandlungseinrichtungen weisen fast alle Personen mit Agoraphobie
(95%) aktuell oder in der Vorgeschichte auch die Diagnose einer Panikstörung auf [21].
Dies zeigt auf, dass die Behandlungsbedürftigkeit der Agoraphobie aus den nicht bewäl-
tigbar erscheinenden Panikattacken resultiert. In der Durchschnittsbevölkerung findet
man eine größere Zahl von Personen mit einer Agoraphobie ohne Panikstörung.
Eine Agoraphobie beginnt bei rund 90% der Patienten mit einer Panikattacke außer
Haus. Plötzlich, unerwartet und unerklärlich kommt es zu massiven vegetativen Be-
schwerden: Herzrasen, Atemnot, Schwindelgefühle, Ohnmachtsangst, Übelkeit, Schwä-
chegefühl in den Beinen usw. Eine Agoraphobie entwickelt sich meistens erst Monate
nach der ersten Panikattacke. Wenn nach der ersten Panikattacke längere Zeit keine
zweite folgt, kommt es trotz der Dramatik des Erlebten meist zu keiner Einschränkung
des Bewegungsspielraums.
38 Angststörungen

Oft schon nach dem zweiten oder dritten Angstanfall beginnt sich der Aktionsradius
zunehmend einzuengen, obwohl die durchgeführten Untersuchungen keinen organi-
schen Befund ergaben.
Der Schweregrad einer Agoraphobie lässt sich weder durch die Intensität noch
durch die Häufigkeit von Panikattacken ausreichend vorhersagen, viel besser dagegen
durch die Angst vor bestimmten agoraphobischen Situationen. Nach einer Wiener Stu-
die lässt sich aus dem Auftreten von Gefühlen der Peinlichkeit bei der ersten Panikat-
tacke eine spätere Agoraphobie vorhersagen.
Verschiedene Betroffene versuchen anfangs ihre Ängste durch gezieltes Aufsuchen
der gefürchteten Situationen zu bewältigen, die auftretenden Symptome werden dabei
jedoch so stark, dass sie glauben, diesen nur durch Flucht entkommen zu können.
Das plötzliche Nachlassen der vegetativen Beschwerden bei Verlassen der Angst
machenden Situation verstärkt die weitere Fluchtbereitschaft, bis schließlich aus Resi-
gnation vor der nicht möglichen Kontrolle der Symptome entsprechende Situationen
überhaupt nicht mehr aufgesucht werden.
Die Betroffenen fürchten sich eigentlich nicht vor verschiedenen Orten und Situa-
tionen, sondern davor, dass unter diesen Umständen die ihnen gut bekannten Symptome
in unkontrollierbarer Weise auftreten könnten, d.h. sie fürchten sich letztlich vor ihrem
Körper. Die Angst vor einer erneuten Panikattacke ohne Aussicht auf Kontrolle führt
zur Vermeidung von immer mehr Alltagsaktivitäten.
Unbehandelt bleiben Agoraphobien oft für immer oder zumindest über viele Jahre
bestehen. Eine spontane Heilung (Remission) tritt nur bei 38% auf. Nach über einjähri-
ger Dauer der Angststörung sind Spontanheilungen sehr selten, wie die Münchner Ver-
laufsstudie für die BRD ergeben hat. Patienten mit gemischten Angst- und Depressions-
syndromen haben unbehandelt eine schlechtere Prognose als solche mit reinen Angst-
störungen oder reinen Depressionen [22].
Der typische Problemlösungsmechanismus von Menschen mit Agoraphobie besteht
im Vermeiden Angst machender Situationen. Das Ausweichen vor der Angst verhindert
die Erfahrung, dass die gefürchtete Situation gar nicht gefährlich und relativ leicht be-
wältigbar ist. Mangelnde positive Erfahrungen im Umgang mit anfangs unbekannten
oder unberechenbaren Situationen führen zu immer größerem Meidungsverhalten.
Es erfolgt eine Generalisierung, d.h. eine Ausweitung der Angst auf ähnliche Situa-
tionen bis hin zur lebenseinengenden Behinderung. Selbstbewusstsein und Zukunfts-
hoffnung schwinden derart, dass Betroffene, Außenstehende und Ärzte schließlich nicht
mehr wissen, ob aus hemmender Angst, antriebslähmender Depression oder beidem die
schützende Wohnung nicht mehr verlassen werden kann. Es kommt zu einem Teufels-
kreis: eine nicht bewältigbare Agoraphobie führt zu einer Depression, die wiederum die
Phobie verstärkt, sodass ein chronischer Verlauf wahrscheinlich wird.
Im Querschnitt, d.h. aktuell, erscheinen Menschen mit ausgeprägter Agoraphobie oft
als Patienten mit schwerer Depression, im Längsschnitt, d.h. im Lebensverlauf, besteht
dagegen eine chronische Angstsymptomatik, angesichts der die Betroffenen resigniert
haben. Den aufgesuchten Ärzten bietet sich meist das Bild einer reinen Depression,
sodass Antidepressiva verabreicht werden.
Die Einnahme von Antidepressiva ist oft sinnvoll, auch dann, wenn sich die depres-
sive Symptomatik als Folge einer unbewältigbaren Angstsymptomatik herausstellen
sollte. Die Verbesserung des Antriebs ermöglicht erst ein Angstbewältigungstraining.
Sollten die Antidepressiva nicht nur die Depression, sondern auch die Ängste beseiti-
gen, dann ist eher anzunehmen, dass die Ängste auf einer depressiven Episode beruhten.
Agoraphobie 39

Agoraphobikern erscheint ihr Verhalten selbst als unsinnig und peinlich, sodass sie
die wahren Gründe anfangs auch vor Bekannten und Verwandten verbergen, indem sie
Ausreden für ihr Vermeidungsverhalten gebrauchen (Kreislaufbeschwerden, Übelkeit,
Kopfschmerzen, Lustlosigkeit u.a.). Wenn die Störung im Angehörigenkreis bekannt
wird, erleben die Betroffenen anfangs oft erstaunlich viel Nachsicht und Unterstützung.
Durch eine ausufernde Agoraphobie wird im Laufe der Zeit die ganze Familie in
Mitleidenschaft gezogen. Längerfristige familiäre Urlaubsplanungen sind kaum oder
nur bedingt möglich, vor allem bei Flugreisen. Während der Partner ein Ferienziel bu-
chen möchte, fragt der agoraphobische Patient nach den Stornobedingungen für den
Fall, dass er sich vor der Abreise unwohl fühlen sollte. Auch bei kleineren Ausflügen
im eigenen Land bzw. Bundesland muss dieser Umstand berücksichtigt werden.
Verschiedene Agoraphobiker können nur mit dem Partner zusammen in die Arbeit
gehen und nur in seiner Begleitung an verschiedenen sozialen Aktivitäten teilnehmen.
Oft müssen Partner und Kinder von agoraphobischen Frauen die Einkäufe erledigen.
Manchmal nimmt sich der Gatte sogar Urlaub, um an der Seite seiner furchtsamen Frau
bleiben zu können. Ein Drittel der Agoraphobiker ist so behindert, dass die Erfüllung
der beruflichen und familiären Verpflichtungen nicht mehr möglich ist.
Die Agoraphobie kann im Extremfall so ausgeprägt sein, dass der Partner seinen Be-
ruf aufgibt, um ganz für den angstkranken Angehörigen da sein zu können, der weder
allein in der Wohnung verbleiben noch allein das Haus verlassen kann. Wenn die Ange-
hörigen die Agoraphobie des Familienmitglieds nicht mehr länger unterstützen möchten
und sich heftig dagegen wehren, sind ständige Streitereien wahrscheinlich.
Die übrige soziale Umwelt erfährt oft auch weiterhin nichts oder nur wenig von der
agoraphobischen Beeinträchtigung. Im Laufe der Zeit entwickelt sich ein immer stärke-
rer Rückzug vom früheren Bekanntenkreis, eine Einschränkung der Freizeitaktivitäten,
ein zunehmender Leidensdruck, zeitweise auch eine Arbeitsunfähigkeit.
Nach jahrelangem Verbergen der Agoraphobie können plötzlich Situationen entste-
hen, die dazu führen, dass sich die Betroffenen in Behandlung begeben müssen:
z zunehmende Unfähigkeit, alle Tätigkeiten im Außendienst wahrzunehmen;
z notwendige berufliche Weiterbildung in einer fremden Stadt, in der man nicht allein
in einem Hotelzimmer übernachten kann;
z beruflicher Aufstieg durch Versetzung an einen anderen Ort;
z plötzlich erforderliche Aktivitäten im Freizeitbereich (Einladungen, Reisen, Ein-
kaufsfahrten), die ohne das Vorhandensein von Sicherheitsgarantien (Anwesenheit
des Partners, Beruhigungsmittel) nicht möglich sind;
z massiver Druck durch den Partner, der gemeinsame Urlaubsreisen in ferne Länder
unternehmen möchte oder zunehmend eigene Aktivitäten entfaltet und damit aus der
bisher für sicher gehaltenen Ehe auszusteigen droht;
z plötzlicher Ausstieg des Partners aus der Rolle des Symptomverstärkers;
z Trennungsdrohung durch den Partner, wenn die Symptomatik bestehen bleibt.

Eine englische Untersuchung an 1000 agoraphobischen Frauen ergab, dass sich drei
Viertel davon in ihrem Berufsleben durch die Phobie behindert fühlten [23]. 48% hätten
sich gerne beruflich verändert und verbessert, fürchteten jedoch, die Bewerbungs- und
Vorstellungsprozedur nicht durchstehen zu können. Der Anteil der Berufstätigen (nur
23%) war im Vergleich zur weiblichen Durchschnittsbevölkerung reduziert. 83% der
Nichtberufstätigen wollten nach Überwindung der Agoraphobie berufstätig werden.
40 Angststörungen

In großer Not und bei hoher Motivation kann eine Agoraphobie schlagartig über-
wunden werden, um bei Nachlassen des äußeren und inneren Drucks wieder in der
ursprünglichen Form aufzutreten [24]:

„Eine in Wien lebende Jüdin konnte sich von ihrer Wohnung nie weiter als ein paar Straßenlängen
entfernen; als dann die Nazis an die Macht kamen, sah sie sich vor die Wahl gestellt, entweder zu
fliehen oder in einem Konzentrationslager zu landen. Sie begab sich auf die Flucht und reiste zwei
Jahre lang in der Welt umher, bis sie schließlich in den Vereinigten Staaten eintraf. Sobald sie nun in
New York City wieder seßhaft geworden war, entwickelte sie die gleiche Reisephobie, die sie schon in
Wien gehabt hatte.“

In den deutschen Konzentrationslagern verschwanden (agora-)phobische Symptome


entweder völlig oder besserten sich so sehr, dass die Häftlinge arbeitsfähig waren, weil
sie ansonsten auf der Stelle in die Vernichtungslager geschickt worden wären. Nach der
Befreiung traten bei einem Teil der Lagerinsassen die alten Symptome wieder auf.
In Notsituationen des alltäglichen Lebens (z.B. bei einem Unfall mit Verletzten oder
bei schwerer Erkrankung des Kindes) können agoraphobische Patienten ebenfalls plötz-
lich ihre Agoraphobie überwinden. Das Fluktuieren der Symptomatik kann bei Ver-
wandten und Bekannten zur Auffassung führen, der Betroffene sei einfach nur unwillig,
bequem und wolle sich vor schwierigen Situationen drücken. Demgegenüber ist festzu-
halten, dass Höchstleistungen nicht dauernd erbracht werden können.
Die angeführten Beispiele weisen auf die Bedeutung der Motivation hin. Die Aus-
sicht, bei Überwindung der Angst positive Situationen zu erleben (z.B. Urlaub, Ar-
beitsaufnahme), oder die Angst, bei übermäßiger Agoraphobie als wichtig eingeschätzte
Befriedigungen des Lebens zu verlieren (z.B. Arbeit als Mittel des Selbsterhalts), macht
die Agoraphobie in bestimmten Situationen leichter bewältigbar als in anderen Situatio-
nen, die keinen Motivations- und Energieschub auslösen.
Schwankungen der agoraphobischen Symptomatik lassen sich oft auch durch „gute“
und „schlechte“ Tage erklären, nicht selten durch depressive Stimmungsschwankungen,
die den Antrieb zur Bewältigung der Agoraphobie vermindern, sodass diese nicht selten
ausufert wie in früheren Zeiten.
Ohne Vorliegen einer Erschöpfungsdepression bringen längere Krankenstände zur
Erholung und Entspannung meist keine Besserung, sondern häufig sogar eine Ver-
schlechterung der Agoraphobie, weil die Symptomatik ohne den Zwang zur Einhaltung
eines bestimmten Tagesablaufs erst richtig ausufern kann. Die scheinbare Erholung im
Krankenstand wird oft nur bewirkt durch die Reduktion der Erwartungsangst vor dem
Auftreten der Symptome am Arbeitsplatz.
Das Fehlen einer fix vorgegebenen Tagesstruktur mit Aktivitäten außer Haus ist der
Grund, warum eine Agoraphobie bei Hausfrauen, Studenten und Selbstständigen leich-
ter ausufert als bei unselbstständig Beschäftigten. Dies erklärt auch, warum viele früher
sehr selbstbewusste und beruflich erfolgreiche Frauen eine lebenseinengende Ago-
raphobie erst dann entwickeln, wenn sie wegen der Heirat und der Kindererziehung
ihren Beruf aufgegeben haben.
Stationäre Aufenthalte können bei allgemeinen Überlastungssituationen, depressiven
Erschöpfungszuständen und gezielten symptombezogenen Therapiemaßnahmen einen
heilenden Effekt haben, sie können jedoch auch die Gefahr einer überlangen Aufent-
haltsdauer in sich bergen. Verschiedene Patienten möchten das Krankenhaus am lieb-
sten erst dann verlassen, wenn ihre Erwartungsängste bezüglich des Auftretens von
Panikattacken in agoraphobischen Situationen völlig verschwunden sind.
Agoraphobie 41

Wenn bei einer stationären Besserung aufgrund der bevorstehenden Entlassung eine
plötzliche Verschlechterung der agoraphobischen Symptomatik einsetzt, muss auf das
Auftreten von Erwartungsängsten geschlossen werden, oft auch auf Realängste bezüg-
lich einer stationär zu wenig angesprochenen oder nur unzureichend bearbeiteten fami-
liären, partnerschaftlichen oder beruflichen Problematik, angesichts der ein Kranken-
hausaufenthalt nur eine kurzfristige Entlastung oder eine Vermeidungsreaktion darstellt.

Differenzialdiagnose
Im Gegensatz zu einer Agoraphobie werden bei einer spezifischen Phobie nur bestimm-
te Objekte und Situationen gefürchtet, z.B. Fliegen, Lift fahren, Spinnen, Hunde.
Bei einer sozialen Phobie werden Situationen nicht wegen der körperlichen Bedroh-
lichkeit gefürchtet und gemieden, sondern wegen möglicher negativer Beurteilung
durch andere Menschen, d.h. es werden soziale und Leistungssituationen vermieden.
Bei Agoraphobikern sind oft zwei Arten von Ängsten anzutreffen [25]:
1. Angst vor Panikattacken oder einer panikähnlichen Symptomatik. Die fehlende
Garantie für die Sicherheit und Unversehrtheit der Person führt bei Panikpatienten
oft zur Einschränkung des Aktionsradius und zur Abhängigkeit von bestimmten Si-
cherheitsgarantien (z.B. Vorhandensein von anderen Personen oder Medikamenten).
2. Angst vor sozialer Auffälligkeit („Was werden die anderen Menschen von mir den-
ken, wenn sie mich während einer Panikattacke sehen?“). Hinter der Angst vor dem
Sichtbarwerden körperlicher Symptome stehen oft eine soziale Unsicherheit und ei-
ne soziale Ängstlichkeit. Sozialphobische Agoraphobiker fürchten den „sozialen
Tod“, den Verlust des Sozialprestiges als Folge der sozialen Auffälligkeit, was
durch bestimmte sichtbare, als an sich ungefährlich erkannte Symptome (Rotwerden,
Zittern, Schwitzen, Ausbleiben oder Veränderungen der Stimme) verstärkt wird.

Bei verschiedenen Personen ist nur scheinbar eine Agoraphobie gegeben, tatsächlich
liegt eine soziale Phobie vor. Dieser Umstand wird in der klinischen Praxis oft zu wenig
beachtet, weshalb viele Konfrontationstherapien ohne gleichzeitige kognitive Therapie
unbefriedigend verlaufen. Eine Unterscheidung zwischen Agoraphobie und sozialer
Phobie kann anhand folgender Umstände relativ zuverlässig erfolgen [26]:
z Die Angst vor Menschenansammlungen tritt nicht nur bei einer Agoraphobie, son-
dern öfter auch bei einer sozialen Phobie auf. Bei einer Agoraphobie ist jedoch die
zentrale Befürchtung, die jeweiligen Situationen nicht jederzeit rechtzeitig verlassen
zu können bzw. keine Hilfe von Fremden bekommen zu können, bei der sozialen
Phobie dagegen sind eher bekannte Menschen der Angst auslösende Faktor, die als
potenzielle Kritiker gefürchtet werden. In einem Lokal sitzen Panikpatienten lieber
bei der Tür, Sozialphobiker eher versteckt in einer Ecke. Panikpatienten gehen lieber
in kleinere, überschaubare Geschäfte, Sozialphobiker eher in Supermärkte.
z Bei einer Agoraphobie (vor allem bei gleichzeitiger Panikstörung) kreisen die Be-
fürchtungen um das eigene körperliche und psychische Wohlbefinden (Angst ver-
rückt zu werden, die Kontrolle zu verlieren, zu sterben, in Ohnmacht zu fallen) ohne
Sorgen um die Bewertung des Verhaltens durch andere Menschen. Bei typischen
Agoraphobikern ohne Sozialphobie ist die Angst unabhängig vom sozial relevanten
Verhalten. Sie haben einfach Angst, ohnmächtig umzufallen und vielleicht nicht
mehr aufzuwachen, auch wenn die umstehenden Leute gute Bekannte sind.
42 Angststörungen

z Bei der sozialen Phobie beziehen sich die Befürchtungen auf die negative Bewer-
tung des eigenen Handelns oder der eigenen Person durch andere Menschen. Bei ei-
ner scheinbar agoraphobischen Symptomatik wie der Angst umzufallen kann über
die Frage nach den Konsequenzen des Umfallens rasch erkannt werden, ob anstelle
der Todesangst eine Sozialphobie im Sinne der Angst aufzufallen gegeben ist.
z Eine Agoraphobie in der Folge einer Panikattacke setzt relativ plötzlich ein, wäh-
rend die Meidung von sozialen Situationen aufgrund einer sozialen Phobie sich über
einen langen Zeitraum entwickelt hat.
z Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Agoraphobie und sozialer
Phobie ist die Anwesenheit oder Abwesenheit anderer Menschen als auslösende oder
aufrechterhaltende Bedingung der Angst. Agoraphobiker können auch in menschen-
leeren Bussen oder Kinos Angst erleben (d.h. ohne das Gefühl der Beobachtung)
und suchen daher die Sicherheit gebende Nähe anderer Menschen (wenn sie nicht
überhaupt mit einem nahen Angehörigen oder gutem Bekannten unterwegs sind),
während Sozialphobiker Angst nur in Anwesenheit anderer Menschen erleben. Ago-
raphobiker haben primär Angst, allein zu sein und nicht rechtzeitig Hilfe zu bekom-
men, Sozialphobiker fürchten vor allem, beobachtet und bewertet zu werden. Panik-
patienten gehen z.B. aus Sicherheitsgründen lieber mit Bekannten einkaufen, Sozi-
alphobiker aus Angst vor Blamage vor den Begleitpersonen lieber allein.
z Die Art der Symptome lässt sich zur Unterscheidung der beiden Gruppen ebenfalls
gut heranziehen. Sozialphobiker fürchten eher für andere sichtbare körperliche
Symptome wie Erröten, Schwitzen, Zittern, Weinen und Stimmveränderungen, Ago-
raphobiker fürchten dagegen bedrohlich erscheinende Symptome wie Atembe-
schwerden, Herzrasen, Schwindel, Ohnmacht, Schwäche in den Gliedern („weiche
Knie“) oder Depersonalisation (sich selbst irgendwie fremd erleben mit einer daraus
resultierenden Angst, „verrückt“ zu werden). Bei einer gleichzeitig gegebenen Sozi-
alphobie lassen sich verschiedene Agoraphobiker nicht auf eine Konfrontationsthe-
rapie ein. Sie fürchten neben den Paniksymptomen auch die soziale Auffälligkeit.

Zahlreiche andere Personengruppen ziehen sich zurück, ohne dass ihr Verhalten als
Agoraphobie bezeichnet werden kann:
z Bei Menschen mit medizinischen Krankheitsfaktoren hängen Vermeidungsreaktio-
nen oft mit realistischen Befürchtungen zusammen (z.B. Schwindel bei hirnorgani-
schen Störungen, Durchfall bei Morbus Crohn, Angst vor einem Sturz mit Bein-
bruch bei älteren und gebrechlichen Menschen).
z Personen mit erworbenen Behinderungen oder sichtbaren Krankheiten meiden oft
den Kontakt mit der Umwelt, um nicht aufzufallen und ziehen sich zurück. Sie ha-
ben sekundär, d.h. als Folge der körperlichen Beeinträchtigung, eine sozialphobische
und keine agoraphobische Symptomatik entwickelt.
z Personen mit Zwangsstörungen vermeiden Situationen wegen möglicher Verunrei-
nigungen, um sich dadurch vermehrtes Waschen und Reinigen und die Ausübung
der belastenden Rituale zur Wiederherstellung des früheren Zustandes zu ersparen.
z Bei einer Depression erfolgt der Rückzug nicht aus körperlichen oder sozialen Äng-
sten, sondern aus Antriebsmangel und Lustlosigkeit. Oft verstärkt eine sekundäre
Depression eine ursprüngliche Agoraphobie oder Sozialphobie. Die Beseitigung der
Depression ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Angstbewältigung.
z Patienten mit einer paranoiden Symptomatik ziehen sich zurück, um der gefürchte-
ten Beobachtung und vermeintlichen Bedrohung durch andere zu entgehen.
Panikstörung 43

Panikstörung – Die Angst aus heiterem Himmel

Historische Aspekte der Panikstörung


Die Bezeichnung „Panik“ hat – ebenso wie der Terminus „Phobie“ – seinen Ursprung in
der griechischen Mythologie. Der Gott Pan, halb Geißbock, halb Mensch, erschreckte
ahnungslose Reisende zu Tode und versetzte ganze Tierherden in der Mittagshitze un-
erwartet in großen Schrecken. Menschen und Tiere flohen dann planlos („in Panik“).
Phobos, der Gott der Furcht, halb Löwe, halb Mensch, Sohn und Begleiter des Kriegs-
gottes Ares, erschreckte vor dem Kampf die Feinde und schlug diese so in die Flucht.
Die Symptome einer Panikattacke wurden bereits von Sigmund Freud sehr präzise
in seinem bedeutsamen Artikel über die Angstneurose als eine spezifische Form der
Angstneurose beschrieben. In seinen 1895 erschienenen „Studien über Hysterie“, die
den Beginn der Psychotherapie markieren, gibt Freud [27] die plastische Darstellung
einer Panikattacke mit Atemnot durch die 18-jährige Katharina wieder, die mit 14 Jah-
ren von ihrem Vater sexuell bedrängt wurde und mit 16 Jahren zufällig den Vater beim
Geschlechtsverkehr mit ihrer Cousine beobachtete, die in der Folge davon schwanger
wurde. Die Bekanntgabe der Vorfälle an die Mutter führte zu einem großen Streit zwi-
schen den Eltern vor den Kindern, zur Bedrohung Katharinas durch den Vater und
schließlich zur Scheidung der Eltern, was von Katharina schuldhaft verarbeitet wurde,
weil der Vater ihr die Schuld am Scheitern der Ehe gab.

„Es kommt plötzlich über mich. Dann legt’s sich zuerst wie ein Druck auf meine Augen, der Kopf wird
schwer und sausen tut’s, nicht auszuhalten, und schwindelig bin ich, daß ich glaub’, ich fall’ um, und
dann preßt’s mir die Brust zusammen, daß ich keinen Atem kriege... Den Hals schnürt’s mir zusammen,
als ob ich ersticken sollt... Ich glaub immer, jetzt muß ich sterben, und ich bin sonst couragiert, ich geh’
überall alleine hin, wenn so ein Tag ist, an dem ich das hab’, dann trau’ ich mich nirgends hin, ich
glaub’ immer, es steht jemand hinter mir und packt mich plötzlich an.“

Als Diagnose wurde die Panikstörung erst 1980 in das amerikanische psychiatrische
Diagnoseschema DSM-III und 1991 in das internationale Diagnoseschema ICD-10
aufgenommen. Die Etablierung des Konzepts der Panikstörung wurde seit 1964 vom
amerikanischen Psychiater Donald F. Klein gefördert, der darin eine biologische Grund-
störung sah. Das biologisch orientierte Konzept der Panikstörung förderte die Entwick-
lung psychopharmakologischer Ansätze in der Behandlung von Ängsten und Panikat-
tacken, bewirkte dann aber – unterstützt durch entsprechende Forschungsergebnisse –
eine Gegenbewegung in Richtung psychophysiologischer Erklärungsmodelle und neuer
verhaltenstherapeutischer Behandlungskonzepte von Panikattacken. Diese Entwicklung
wurde in den USA u.a. von Barlow, in Großbritannien von Clark und Salkovskis und in
Deutschland vom Ehepaar Jürgen Margraf und Silvia Schneider vorangetrieben.
Die Diagnose „Panikattacken“ bzw. „Panikstörung“ ist heute – ebenso wie „Burn-
out“ – eine Modediagnose geworden. In den Medien wird bei der Darstellung der
Angststörungen die Panikstörung wegen deren Dramatik oft so stark in den Mittelpunkt
der Aufmerksamkeit gestellt, dass andere Angststörungen zu kurz kommen. Viele Pati-
enten mit allen möglichen Störungen berichten ihren Ärzten, dass sie angesichts be-
stimmter Umstände und Zustände „die Panik bekommen“, sodass sie oft vorschnell die
Diagnose „Panikstörung“ bekommen, obwohl sie tatsächlich eine Agoraphobie, eine
soziale oder spezifische Phobie, eine generalisierte Angststörung, eine Depression, eine
somatoforme bzw. hypochondrische Störung oder eine Schmerzstörung haben.
44 Angststörungen

Symptomatik der Panikstörung


„Mir wird plötzlich ganz schwindlig und übel. Meine Hände werden taub, im linken Arm entsteht ein
eigenartiges Kribbelgefühl, meine Knie werden ganz weich. Ich habe Angst, umzufallen und ohnmäch-
tig zu werden, dann dazuliegen, und niemand kommt mir zu Hilfe. Mein Herz beginnt zu rasen, ich
spüre einen Druck auf der Brust und fürchte, dass ich einen Herzinfarkt bekomme und sterben muss.
Mir wird ganz heiß, ich bekomme Hitzewallungen, das Blut steigt von unten nach oben. Ich beginne zu
schwitzen, auf einmal überfällt mich ein Kälteschauer am ganzen Körper. Ich beginne zu zittern, am
liebsten würde ich davonlaufen, aber ich fühle mich wie gelähmt. Meine Kehle schnürt sich zusammen,
dass ich keine Luft mehr bekomme. Ich ringe um Luft, aber es reicht nicht, ich atme noch mehr und
spüre, wie der Druck in meinem Brustkorb ansteigt. Ich bin dann gar nicht mehr richtig da und glaube,
gleich überzuschnappen und verrückt zu werden. Alles erscheint so unwirklich. Wenn ich das Ganze
überlebe, glaube ich, dass ich in die Psychiatrie komme. Die Panikattacke dauert etwa eine Viertelstun-
de. Wenn ich in dieser Zeit auf meine beiden kleinen Kinder aufpassen muss, denke ich, wer wird sich
um die Kinder kümmern, wenn mir etwas passiert. Wenn mein Mann in der Nähe ist, beruhige ich mich
schneller, als wenn ich allein bin. Das Erlebnis einer Panikattacke ist so belastend, dass ich manchmal
noch immer nicht sicher bin, ob ich nicht doch eine körperliche Erkrankung habe.“

Unter einer Panikstörung versteht man das wiederholte, unerwartete Auftreten von
Panikattacken. Die klinisch-diagnostische Leitlinien des ICD-10 fordern für die Dia-
gnose einer Panikstörung innerhalb eines Zeitraums von etwa einem Monat mehrere
schwere vegetative Angstanfälle, die sich nicht auf eine spezifische Situation oder be-
sondere Umstände beschränken und deshalb auch nicht vorhersagbar sind. Eine Panik-
störung liegt auch dann vor, wenn nur ganz wenige Panikattacken spontan auftreten, die
Person aber anhaltend von heftiger Sorge vor weiteren Anfällen geplagt wird (Angst vor
der Angst) und bestimmte Situationen nur mit starkem Unbehagen ertragen kann.
Die Diagnose einer Panikstörung darf nach dem ICD-10 und dem DSM-IV nur dann
gestellt werden, wenn die Panikattacken unerwartet auftreten, d.h. nicht auf Situationen
begrenzt sind, in denen objektive Gefahr besteht oder die bekannt sind oder vorherseh-
bar Angst auslösen (z.B. im Rahmen einer Phobie). Eine Panikattacke in einer eindeutig
phobischen Situation drückt nur den Schweregrad einer Phobie aus.
Eine Panikattacke ist eine abgrenzbare Periode intensiver Angst und starken Unbe-
hagens und besteht aus mehreren, plötzlich und unerwartet („wie aus heiterem Him-
mel“), scheinbar ohne Ursachen in objektiv ungefährlichen Situationen auftretenden
somatischen und kognitiven Symptomen von subjektiv lebensbedrohlichem Charakter.
Das DSM-IV [28] erstellt folgende diagnostische Kriterien für eine Panikattacke:

Eine klar abgrenzbare Episode intensiver Angst und Unbehagens, bei der mindestens 4 der nachfolgend
genannten Symptome abrupt auftreten und innerhalb von 10 Minuten einen Höhepunkt erreichen:
z Palpitationen, Herzklopfen oder beschleunigter Herzschlag,
z Schwitzen,
z Zittern oder Beben,
z Gefühl der Kurzatmigkeit oder Atemnot,
z Erstickungsgefühle,
z Schmerzen oder Beklemmungsgefühle in der Brust,
z Übelkeit oder Magen-Darm-Beschwerden,
z Schwindel, Unsicherheit, Benommenheit oder der Ohnmacht nahe sein,
z Derealisation (Gefühl der Unwirklichkeit) oder Depersonalisation (sich losgelöst fühlen),
z Angst, die Kontrolle zu verlieren oder verrückt zu werden,
z Angst zu sterben,
z Parästhesien (Taubheit oder Kribbelgefühle),
z Hitzewallungen oder Kälteschauer.
Panikstörung 45

Das DSM-IV [29] unterscheidet drei Arten von Panikattacken:


1. Unerwartete (nicht ausgelöste) Panikattacken. Das Eintreten der Panikattacken
hängt nicht von situativen Auslösern ab, sondern erfolgt spontan („wie aus heiterem
Himmel“). Mindestens zwei unerwartete Panikattacken sind zur Diagnose einer Pa-
nikstörung erforderlich. Menschen mit einer Panikstörung erleben häufig auch situa-
tionsbegünstigte Panikattacken.
2. Situationsgebundene (ausgelöste) Panikattacken. Das Auftreten der Panikattacken
erfolgt fast immer bei einer Konfrontation mit dem situativen Reiz oder Auslöser
oder dessen Vorstellung (z.B. bestimmte Verkehrsmittel, Tiere, Menschen, soziale
Situationen). Derartige Panikattacken sind charakteristisch für soziale und spezifi-
sche Phobien und zeigen den Schweregrad der entsprechenden Phobie an.
3. Situationsbegünstigte Panikattacken. Das Auftreten wird durch phobische Objekte
oder Situationen zwar begünstigt, aber nicht sofort nach der Konfrontation ausgelöst
(z.B. Panikattacken beim Autofahren erst nach längerer Zeit oder nur selten).

Menschen mit einer Panikstörung haben neben unerwarteten (spontanen, nicht ausgelö-
sten) Panikattacken oft auch situationsgebundene und/oder situationsbegünstigte Panik-
attacken (letztere in häufigerem Ausmaß). Situationsgebundene Panikattacken zeigen
dasselbe Erscheinungsbild wie spontane Angstanfälle.
Nach der Häufigkeit der Symptome (mindestens 4 oder weniger Symptome) unter-
scheidet man zwischen vollständigen und unvollständigen Panikattacken. Menschen mit
unvollständiger Symptomatik hatten früher oft vollständige Panikattacken.
Eine Panikattacke allein ist nach dem DSM-IV keine kodierbare Störung. Kodiert
wird die Störung, innerhalb der die Panikattacken auftreten: Panikstörung ohne Ago-
raphobie oder Panikstörung mit Agoraphobie. Panikattacken können nicht nur bei
Angststörungen, sondern auch bei anderen psychischen Störungen (Depressionen, Sub-
stanzmissbrauch u.a.) oder körperlichen Erkrankungen auftreten. Panikattacken können
als Zusatzkategorie zu allen möglichen psychischen Störungen angeführt werden. Dies
bedeutet eine Abkehr von der früheren amerikanischen Diagnostik, wonach spontane
und unerwartete Panikattacken implizit als endogenes Geschehen angesehen wurden.
Das DSM-IV [30] erstellt folgende diagnostische Kriterien für eine Panikstörung
ohne Agoraphobie (für eine Panikstörung mit Agoraphobie gelten mit Ausnahme von B
dieselben Kriterien):

A. Sowohl (1) als auch (2):


(1) wiederkehrende unerwartete Panikattacken...
(2) bei mindestens einer der Attacken folgte mindestens ein Monat mit mindestens einem der nach-
folgend genannten Symptome:
a) anhaltende Besorgnis über das Auftreten weiterer Panikattacken,
b) Sorgen über die Bedeutung der Attacke oder ihre Konsequenzen (z.B. die Kontrolle zu ver-
lieren, einen Herzinfarkt zu erleiden, verrückt zu werden),
c) deutliche Verhaltensänderungen infolge der Attacken.

B. Es liegt keine Agoraphobie vor...

C. Die Panikattacken gehen nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z.B. Droge,
Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z.B. Hyperthyreose) zurück.

D. Die Panikattacken werden nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt…
46 Angststörungen

Im Gegensatz zum ICD-10 berücksichtigt das DSM-IV unter Punkt A (2) kognitive
Aspekte (Erwartungsangst, Bedeutungseinschätzung, Folgen), die sehr wichtig sind.
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [31] ist eine Panikstörung (F41.0) durch
folgende Merkmale charakterisiert:

A. Wiederholte Panikattacken, die nicht auf eine spezifische Situation oder ein spezifisches Objekt
bezogen sind und oft spontan auftreten (d.h. die Attacken sind nicht vorhersagbar). Die Panikattak-
ken sind nicht verbunden mit besonderer Anstrengung, gefährlichen oder lebensbedrohlichen Situa-
tionen.

B. Eine Panikattacke hat alle folgenden Charakteristika:

a. Sie ist eine einzelne Episode von intensiver Angst oder Unbehagen
b. sie beginnt abrupt
c. sie erreicht innerhalb weniger Minuten ein Maximum und dauert mindestens einige Minuten
d. Mindestens vier Symptome der unten angegebenen Liste, davon eins von den Symptomen
1. bis 4., müssen vorliegen.

Vegetative Symptome:
1. Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz
2. Schweißausbrüche
3. fein- oder grobschlägiger Tremor
4. Mundtrockenheit (nicht infolge Medikation oder Exsikkose).

Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen:


5. Atembeschwerden
6. Beklemmungsgefühl
7. Thoraxschmerzen und -missempfindungen
8. Nausea oder abdominelle Missempfindungen (z.B. Unruhegefühl im Magen).

Psychische Symptome:
9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder
„nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)
11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“
12. Angst zu sterben.

Allgemeine Symptome:
13. Hitzewellen/-wallungen oder Kälteschauer
14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle.

C. Ausschlussvorbehalt: Die Panikattacken sind nicht Folge einer körperlichen Störung, einer organi-
schen psychischen Störung (F0) oder einer anderen psychischen Störung wie Schizophrenie und
verwandten Störungen (F2), einer affektiven Störung (F3) oder einer somatoformen Störung (F45).

Bei einer Panikattacke – einem falschen Alarmsignal – beginnen die einzelnen Anfälle
gewöhnlich ganz plötzlich, steigern sich innerhalb von Minuten zu einem Höhepunkt
und werden trotz der eher kurzen Dauer von den Patienten sehr unangenehm und stark
bedrohlich erlebt wegen der Intensität und Plötzlichkeit des Auftretens der vegetativen
Symptome. Zur Diagnose einer Panikstörung sind auch nach dem ICD-10 wiederholte
Panikattacken „aus heiterem Himmel“ (vordergründig ohne sichtbare Auslöser) nötig.
Zwischen den Attacken liegen (in Abgrenzung zur generalisierten Angststörung)
weitgehend angstfreie Zeiträume (Erwartungsangst ist jedoch häufig). Schwere, Häufig-
keit und Verlauf der Störung können sehr unterschiedlich sein.
Panikstörung 47

Panikattacken dauern meistens nur einen kurzen Zeitraum (einige Minuten bis zu ei-
ner halben Stunde), manchmal auch länger (einige Stunden), sind dann aber nicht mehr
so ausgeprägt. Laut Studien [32] dauern Panikattacken durchschnittlich eine knappe
halbe Stunde. Wenn Panikattacken länger als 30 Minuten anhalten, ist dies oft durch
den Versuch bedingt, sie zu unterdrücken, zu stoppen oder ängstlich zu analysieren,
wodurch die Anspannung aufrechterhalten wird. Die Angst vor einer weiteren, unkon-
trollierbar erscheinenden Panikattacke führt rasch zu einer starken Erwartungsangst.
Viele Betroffene klagen, dass ihre „Panikattacken“ oft viele Stunden oder gar mehrere
Tage lang anhalten würden. Hier spiegelt sich das Ausmaß der Daueranspannung wider,
meist als Ausdruck einer generalisierten Angststörung oder hypochondrischen Störung.
Panikpatienten neigen zur katastrophenartigen Fehlinterpretation von Symptomen:
„Mein Herz rast – gleich bekomme ich einen Herzinfarkt“; „Mein Hals ist wie zuge-
schnürt – gleich bekomme ich keine Luft“; „Ich bekomme keine Luft – jetzt muss ich
ersticken“; „Ich bin ganz schwindlig – gleich falle ich ohnmächtig um“; „Ich habe
Taubheits- und Kribbelgefühle – gleich bekomme ich einen Schlaganfall“; „Ich kann
nicht klar denken – gleich verliere ich die Kontrolle über meinen Verstand“; „Ich habe
einen großen inneren Druck – gleich verliere ich die Kontrolle und mache etwas Ver-
rücktes, indem ich mir oder anderen etwas antue“; „Ich stehe ganz neben mehr – gleich
werde ich verrückt“; „Ich nehme die Umwelt nicht mehr wahr – jetzt drehe ich durch.“
Obwohl eine Panikattacke eine Sympathikus-Reaktion (u.a. verstärkte Herztätigkeit und
Blutdrucksteigerung) ist, haben viele Betroffene unbegründete Ängste vor Ohnmacht.
Drei Körpersymptome sind bei Panikattacken besonders belastend: Atemnot, Herz-
klopfen/-rasen und Schwindel/Benommenheit. Neben dem Herzrasen steht ein „respira-
torisches Syndrom“ im Mittelpunkt des Erlebens: Kurzatmigkeit, Erstickungsgefühl,
Enge, Druck, Schmerzen auf der Brust, Parästhesien. Die Todesangst und die Angst, die
Kontrolle zu verlieren oder verrückt zu werden, sind häufige psychische Reaktionswei-
sen auf die bedrohlich erscheinenden körperlichen Symptome und Angst machenden
Erfahrungen der Entfremdung (Depersonalisation und Derealisation).
Bei unerwarteten Panikattacken zeigen sich im Vergleich zu situativ ausgelösten
Panikattacken häufiger die Symptome Angst zu sterben, verrückt zu werden oder die
Kontrolle zu verlieren, und Missempfindungen wie Kribbeln oder Taubheitsgefühle.
Diese Symptome sowie Atemnot, Schwindel-, Schwäche- und Unwirklichkeitsgefühle
werden von Panikpatienten häufiger berichtet als von anderen Angstpatienten.
Die erste Panikattacke stellt gewöhnlich ein intensives, existenziell bedrohliches und
traumatisierendes Erlebnis, ein unvergessliches Vernichtungsgefühl dar, sodass auf-
grund von Erwartungsängsten ein umfangreiches Vermeidungsverhalten entsteht. Sie
tritt meistens außer Haus auf, weshalb sich oft mehr oder weniger rasch eine Agorapho-
bie entwickelt. In vielen Fällen besteht daher eine Agoraphobie mit Panikstörung.
Durch das wiederholte Erleben einer Panikattacke werden oft existenzielle Fragen
und Ängste angesprochen (Tod als Ende oder Beginn einer anderen Existenzform, Sinn
des Lebens, Dauerhaftigkeit von Beziehungen u.a.). Es ist wie nach einem schweren
Unfall: Plötzlich verliert das Leben seine Selbstverständlichkeit, das Urvertrauen in das
Leben geht verloren. Man wird übermäßig vorsichtig aus Angst vor der Wiederholung
einer derartigen Erfahrung, beobachtet und kontrolliert seinen Körper, auf den man sich
früher einfach verlassen hat, und braucht die Versicherungen anderer Menschen (z.B.
Angehöriger, Ärzte, Psychotherapeuten), um sich in seiner Haut wohl fühlen zu können.
Es entwickelt sich ein extremes Sicherheitsbedürfnis, das risikoscheu macht, auch in
Situationen, die man früher ohne langes Nachdenken problemlos bewältigen konnte.
48 Angststörungen

Menschen mit einer Panikstörung entwickeln hinsichtlich der Begleiterscheinungen


und Konsequenzen von Panikattacken typische Auffassungen, Ursachenzuschreibungen
und Verhaltensweisen, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen:
z Bewertungen der körperlichen Symptome als gefährlich, was Angst machend wirkt.
z Neues „Körper-Bewusstsein“, geprägt von der Angst vor einer lebensbedrohlichen
Erkrankung (Herzinfarkt, Schlaganfall, Gehirntumor), weshalb schon leichte Sym-
ptome (Kribbeln, Kopfweh, Nebenwirkungen von Medikamenten) übermäßig ernst
genommen werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich nach innen, auf alle Zustände.
z Mangelnde Beruhigung trotz vieler organischer Untersuchungen mit negativem
Befund, weil plausible Erklärungen für die Symptomatik ausbleiben.
z Demoralisierung als Folge der nicht bewältigbar erscheinenden Panikattacken.
z Angst, „verrückt“ zu werden oder die Kontrolle zu verlieren. Diese Angst wird
begünstigt durch Depersonalisationserfahrungen, situativ bedingten Sauerstoff-
mangel im Gehirn und großen inneren Druck, oft auch verstärkt durch die Angst,
dass andere Menschen die plötzlichen Veränderungen bemerken könnten. Daneben
kann auch die Angst vor sozialer Auffälligkeit und dem Verlust des Sozialprestiges
belastend sein.
z Folgenschwere Verhaltensänderungen (z.B. Kündigung der Arbeitsstelle, Ein-
schränkung des Aktionsradius, Veränderungen im familiären Zusammenleben).
z Entwicklung von Erwartungsängsten und Vermeidungsverhalten (Agoraphobie).
z Psychologische Abhängigkeit von Hilfsmitteln (Mitnahme von Tabletten, Handy,
Spazierstock u.a.) oder nahe stehenden Personen.
z Substanzmissbrauch (Alkohol, Tranquilizer) zur Bewältigung der Angstzustände.

Die relative Unabhängigkeit der spontanen Panikattacken von situativen Bedingungen


bedeutet nach neueren Forschungsergebnissen nicht, dass die Anfälle völlig spontan,
d.h. ohne Auslöser, auftreten. Unerwartete Panikattacken werden durch interne Reize
ausgelöst. Dies erfolgt durch die Wahrnehmung körperlicher Symptome (z.B. Atemnot
oder Herzklopfen), die als unmittelbar bevorstehende körperliche oder seelische Kata-
strophe interpretiert werden, aber auch durch bestimmte Angst machende Gedanken
oder Vorstellungen. Die bildhafte Vergegenwärtigung vermeintlicher körperlicher Be-
drohung alarmiert den Körper wie bei tatsächlicher Gefahr.
Im Gegensatz zu phobischen und agoraphobischen Syndromen, wo die Aufmerk-
samkeit auf Angst machende äußere Reize und deren Vermeidung gelegt wird, erfolgt
bei Panikattacken eine Aufmerksamkeitslenkung nach innen, auf sich selbst: Der Körper
wird immer häufiger nach möglichen Anzeichen drohender Gefahr abgesucht.
Bestimmte Situationen führen bei sensiblen Personen zu unangenehmen körperli-
chen Empfindungen, aus denen sich dann Panikattacken entwickeln können:
z Heißes oder schwüles Wetter begünstigt unangenehmes Schwitzen, Schwindel,
Herz- und Kreislaufbeschwerden (Blutgefäßerweiterung mit Blutdruckabfall).
z Enge und geschlossene Räume bewirken das Gefühl, zu wenig Luft zu bekommen
(erhöhte CO2-Sensitivität).

Viele Panikpatienten ohne Agoraphobie haben anfangs nicht das Gefühl, unter Ängsten
zu leiden (außer vor neuerlichen Panikattacken). Wegen der anfallsartig auftretenden
körperlichen Symptome wie Herzrasen, Atemnot, Brustschmerz oder Schwindelgefühl
wird Hilfe von praktischen Ärzten, Internisten, Lungenfachärzten, HNO-Ärzten und
Neurologen erwartet, keinesfalls von Psychotherapeuten.
Panikstörung 49

Der Ausschluss organischer Ursachen aufgrund von oft sehr umfangreichen Unter-
suchungen bringt meistens keine Beruhigung, sondern gibt Anlass zur Sorge, letztlich
an einer unbekannten und daher nicht behandelbaren Krankheit zu leiden.
Panikpatienten glauben oft aufgrund der Intensität ihres Erlebens, dass die Mitmen-
schen ihre Panikattacken genau wahrnehmen können. Tatsächlich jedoch erkennen
Außenstehende meist gar nicht, dass die Betroffenen eben eine Panikattacke erleben.
Selbst Fachleute haben oft Schwierigkeiten, bei ihren Patienten eine Panikattacke zu
erkennen. Panikpatienten zittern und beben nur innerlich, und Herzrasen kann man
ohnehin nicht sehen. Die Betroffenen wirken nach außen hin oft nur etwas blass,
manchmal mit ein paar Schweißtropfen auf der Stirn und einem ängstlichen Ge-
sichtsausdruck. Dramatisch wirkt dagegen eine Hyperventilation, das Ringen um Luft,
der angstvolle Griff zum Herzen wie bei einem Herzinfarkt und das gelegentliche Sicht-
Anklammern an den Partner aus Angst umzufallen. Die relative Unauffälligkeit bewirkt,
dass Panikpatienten oft den Eindruck haben, ihre Partner stünden den Attacken ver-
ständnislos und wenig einfühlsam gegenüber.
Panikpatienten nehmen ihre körperlichen Symptome stärker wahr als sie tatsächlich
sind, wie ein Vergleich zwischen Selbstdarstellung und physiologischen Messungen
mittels Langzeit-EKG (tragbare Messgeräte) zeigt [33]. Während bei 70% aller Anfälle
Herzklopfen oder Herzrasen berichtet wird, ergeben sich bei den Messungen nur bei
einigen Panikattacken leicht erhöhte Herzfrequenzen.
In einer umfangreichen Studie ergab sich ein durchschnittlicher Herzfrequenzanstieg
von 11 Schlägen pro Minute bei spontanen und 8 Schlägen bei situativen Panikattacken.
Die Betroffenen stellten ihre Panikattacken später als häufiger und stärker ausgeprägt
dar, als sie diese unmittelbar nach dem Auftreten in einem Angst-Tagebuch vermerkt
hatten. Eine deutliche Erhöhung des Herzschlags war nur bei situativen Panikattacken
gegeben, und zwar schon 15 Minuten vor Beginn der Attacken.
Noch immer wird von vielen Ärzten nach Ausschluss organischer Ursachen nicht
sofort die richtige Diagnose gestellt, sondern – wie früher üblich – eine der folgenden
Diagnosen: vegetative Dystonie, psychovegetatives Syndrom, Neurasthenie, nervöses
Erschöpfungssyndrom, Burn-out, Hyperventilationssyndrom, psychomotorischer Erre-
gungszustand, funktionelles kardiovaskuläres Syndrom, funktionelle Herzbeschwerden.
Frauen werden oft als „hysterisch“ und Männer als „hypochondrisch“ abqualifiziert.
Die richtige Diagnose gibt vielen Patienten das beruhigende Gefühl, dass ihre Stö-
rung einen Namen hat. Nach einer langen Zeit der Ungewissheit weiß man endlich,
worunter man leidet. Im negativen Fall kann dies dazu führen, dass man sich mit seiner
Identität als Panikpatient zufrieden gibt und im Laufe der Zeit verschiedene Psychothe-
rapien wohl beginnt, bald jedoch ergebnislos abbricht. Dies ist insbesondere dann der
Fall, wenn Psychotherapeuten nicht auf die Paniksymptomatik an sich eingehen.
Wenn von den Ärzten die richtige Diagnose nicht gestellt und die angemessene Be-
handlung nicht eingeleitet wird, bleiben Panikpatienten oft über Jahre stark verunsi-
chert. Beruhigungsmittel dämpfen zwar zeitweise die Erwartungsängste, lösen jedoch
nicht das Problem der Panikstörung und führen oft zur Medikamentenabhängigkeit.
Es gibt keine eindeutigen Laborbefunde zur Diagnostik einer Panikstörung. Be-
stimmte Panikpatienten reagieren jedoch bei verschiedenen Panikprovokationsmethoden
(Natriumlaktat-Infusionen, Kohlendioxidinhalationen u.a.) häufiger mit Panikattacken
als Menschen mit anderen Angststörungen oder gesunde Kontrollpersonen. Doch auch
dies hat oft mehr mit kognitiven Aspekten (Erwartung einer Panikattacke im Rahmen
der Studie) zu tun als mit einer „endogenen“ Reaktionsbereitschaft.
50 Angststörungen

Drei Beispiele sollen die Entwicklung einer Panikstörung veranschaulichen:

Ein 47-jähriger Manager mit hohem Blutdruck und verschiedenen Risikofaktoren (Rauchen, Überge-
wicht, ungesunde Ernährung, übermäßiger Stress), dessen Vater im Alter von 53 Jahren an einem
Herzinfarkt verstorben ist, bekommt plötzlich am Abend im Bett vor dem Einschlafen eine Panikattak-
ke. Nach einer ergebnislosen organischen Abklärung wird dem Betroffenen bewusst, dass er sich fürch-
tet, aufgrund eines ähnlichen Lebensstils wie sein Freund ebenfalls bald sterben zu müssen, noch dazu,
wo er weiß, dass sein Vater nur einige Jahre älter wurde, als er selbst jetzt ist. Der Patient erinnert sich,
dass er kurz vor Beginn der Panikattacke an den unerwarteten Herzinfarkt-Tod seines gleichaltrigen
Freundes vor drei Monaten gedacht hatte. Der früher sehr sportliche Patient beginnt seine diesbezügli-
chen Aktivitäten (Tennis, ausgedehnte Rad- und Schitouren, oft auch allein) aus Angst vor Überforde-
rung einzuschränken und entwickelt eine hypochondrische Form der Körperbeobachtung („Wie schnell
geht der Puls?“, „Ist der Druck auf der Brust und das Kribbeln im linken Arm ein Anzeichen für einen
bevorstehenden Herzinfarkt?“). Er beschäftigt sich vermehrt mit den Folgen seines möglichen Todes
(„Wer wird meine Position in unserer Firma einnehmen, wenn niemand so plötzlich darauf vorbereitet
ist, meine Tätigkeit fortzuführen?“, „Was wird aus meiner Frau, die ohne richtige Ausbildung und
Berufserfahrung sich nicht selbst erhalten kann?“, „Wie wird sich mein 12-jähriger Sohn ohne Vater
entwickeln?“, „Wie soll das Haus zu Ende gebaut werden und der Schuldenstand abgezahlt werden?“).
Er stellt den gelegentlich übermäßigen Alkoholkonsum ein und reduziert den ständig erhöhten Kaffee-
konsum, weil zwei dadurch ausgelöste Panikattacken im Laufe der nächsten Monate seine Todesängste
nur verstärken, ist dadurch aber mit leichten Entzugssymptomen konfrontiert, die ihn erst wieder beun-
ruhigen. Vor allem entwickelt er abends eine bisher nie gekannte Schlafstörung, sodass das Schlafdefi-
zit seine körperliche und psychische Befindlichkeit weiter verschlechtert. Sein Hausarzt diagnostiziert
eine Erschöpfungsdepression und verordnet ein Antidepressivum, und zwar einen selektiven Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer, der auch geeignet erscheint, seine Panikattacken zu beseitigen. Durch die
sensible Reaktion auf die Nebenwirkungen in den ersten zwei Wochen nach der Einnahme (möglicher-
weise anfangs zu hohe Dosierung des Medikaments) werden die körperbezogenen Ängste des Patienten
jedoch nur verstärkt, sodass er bei fortgesetzter Einnahme, zu der ihn sein Arzt ermuntern kann, auf die
Suche nach zusätzlichen Therapiemaßnahmen geht. Wegen seiner zunehmenden körperlichen Verspan-
nungen erfolgt zuerst eine Überweisung an einen Masseur und anschließend auch zu einer Verhaltens-
therapie. Hier wird ein weiterer möglicher Auslöser für die Panikattacken eruiert. Der Patient hatte
begonnen, aus Angst vor den Panikattacken die seit längerem verordneten Beta-Blocker eigenständig zu
erhöhen und dadurch einen für ihn ungewöhnlich niedrigen Blutdruck entwickelt, der möglicherweise
die plötzlich erhöhte Neigung zu Panikattacken begünstigt hat.

Eine Frau mit drei kleinen Kindern bekommt die erste Panikattacke kurz nachdem ihre Mutter sowie
ihre beste Freundin, die zwei kleine Kinder hat, völlig überraschend die Information einer schweren
Krebserkrankung mit Metastasenbildung erhalten hatten. Die Angst, ebenfalls an Krebs zu erkranken,
war der Patientin durchaus bewusst, sie konnte anfangs jedoch nicht erkennen, dass die erste Panikat-
tacke als „Angst aus heiterem Himmel“ damit zu tun haben sollte, weil diese schließlich nicht in einem
Moment der Sorge, sondern zu einem Zeitpunkt des Wohlbefindens auftrat, nämlich während eines
Festes. Sie dürfte wohl unbewusst gedacht haben: „So etwas werde ich vielleicht nicht mehr erleben
können.“ Die Angst vor einer neuerlichen Panikattacke mit Todesfolge steht plötzlich zumindest kurz-
fristig stärker im Mittelpunkt als die Angst vor einer tödlichen Krebserkrankung.

Ein Arbeiter hat eine längere beruflich bedingte Stressphase hinter sich. Erfreut über die kommenden
Tage der Entspannung legt er sich am Abend in sein Bett und bekommt nach einigen Minuten eine
derart massive Panikattacke, dass er aus dem Bett aufspringt und in der Wohnung nervös umhergeht.
Da die Symptomatik nach einigen Minuten nicht abklingt, ruft seine Gattin den Notarzt. Daraufhin
beruhigt sich der Betroffene relativ rasch. Der herbeigeeilte Notarzt äußert den Verdacht auf eine Pa-
nikattacke, da organisch nichts Außergewöhnliches festzustellen ist, und verschreibt ein Beruhigungs-
mittel. Zwei Tage später setzt sich der Mann am Nachmittag im Wohnzimmer in einen Lehnstuhl und
möchte fernsehen. Plötzlich wird er neuerlich von einer heftigen Panikattacke überrascht. Diesmal
bleibt er nach Abklingen der Panikattacke beunruhigt, geht zum Hausarzt und lässt sich von ihm zur
stationären Untersuchung in ein Krankenhaus einweisen.
Panikstörung 51

Herzphobie – Variante einer Panikstörung?


Die Herzphobie wird im amerikanischen Diagnoseschema DSM seit 1980 als eine Form
der Panikstörung verstanden (ähnlich wie das Hyperventilationssyndrom), im ICD-10
gilt sie als somatoforme autonome Funktionsstörung, kardiovaskuläres System.
Der englische Internist Hope beschrieb bereits 1832 unter der Bezeichnung „nervö-
ses Herzklopfen“ eine der Panikstörung ähnliche Symptomatik. Der Herzspezialist
Stokes [34] beschrieb 1855 eine Herzneurose bei einem Mann mittleren Alters:

„Er bekam öfter Anfälle von schneller und heftiger Herzbewegung; diese war jedoch weder unregelmä-
ßig noch durch Unterbrechungen geprägt; dabei stellten sich heftige Angst im Herzen und Beklemmung
ein, mit einem bedrückenden Gefühl des herannahenden Todes. Die Atmung war so beschleunigt und
mühsam, und diese Anfälle kehrten so häufig und in so starkem Ausmaß wieder, daß der Kranke die
Überzeugung gewann, er habe ein gefährliches Herz- und wahrscheinlich auch Schlagaderleiden. Seine
Stimmung war gedrückt, und er erwartete nichts anderes, als daß er in einem dieser fürchterlichen
Anfälle sterben würde. Die Dauer des Anfalles war unbestimmt; in der beschwerdefreien Zeit waren
keine Symptome von einem Herzleiden vorhanden, Herzschlag und Töne waren ganz normal. Dieser
Mann litt nicht an Einbildung; er war kräftig gebaut, hatte die Erde umsegelt und die Beschwerden der
Reise ohne Nachteil ertragen.“

Die Symptomatik der Herzphobie wurde 1969 vom Psychiater Horst-Eberhand Richter
und dem Psychologen Dieter Beckmann [35] unter der Bezeichnung „Herzneurose“
eingehend dargestellt und psychoanalytisch interpretiert. Es wird unterschieden zwi-
schen einem A-Profil (offenes Ausleben der Herzphobie mit starker Regression und
Abhängigkeit von der Familie) und einem B-Profil (kontraphobische Abwehr von To-
desängsten durch Unabhängigkeitsstreben, Leistungsorientierung und Wagemut).
Eine Herzphobie wird oft durch den Herztod einer wichtigen Bezugsperson ausge-
löst. Patienten mit Herzphobie haben ein stärkeres Angsterleben sowie häufiger auch
eine Agoraphobie oder eine Sozialphobie als Menschen ohne Herzphobie.
Eine Herzphobie besteht aus folgenden Merkmalen [36]:
z Anfallsartig auftretende Symptome wie bei einer Panikattacke, jedoch stark herzbe-
zogen erlebt: Herzrasen (120-160 Herzschläge pro Minute), unregelmäßiger Herz-
schlag (Extrasystolen), Blutdrucksteigerung, Brennen und Hitzegefühl an der Herz-
spitze, Stiche, Schmerzen oder Ziehen im (linken) Brustbereich.
z Andere körperliche Symptome: Schwitzen, Hitze- oder Kältegefühle, Atemnot,
Beklemmungs- und Erstickungsgefühle, Schwindelgefühle, Körpermissempfindun-
gen, Übelkeit.
z Panikartiges Todes- und Vernichtungsgefühl, bedingt durch die Symptome, die als
Anzeichen einer Herzerkrankung interpretiert werden.
z Ständige ängstliche Konzentration auf das Herz aus Sorge, an einer bisher nicht
erkannten Herzerkrankung zu leiden. Negative Befunde bei umfangreichen Untersu-
chungen und fachgerechte Aufklärung durch den Arzt können im Extremfall die
phobische Wahrnehmungseinengung auf das Herz nicht verhindern.
z Vertrauensverlust in die automatische Herzfunktion, sodass übertriebene Kontrollen
wie häufiges Pulsfühlen und Pulszählen sowie Blutdruckmessen erfolgen. Das stän-
dige Vergewissern der Herzfunktion führt zu einem abnormen Herzbewusstsein und
verstärkt die Herzangst. Allein die angespannte, erhöhte Aufmerksamkeit auf die
Herztätigkeit bewirkt bereits eine leichte Herzfrequenzsteigerung.
52 Angststörungen

z Ausgeprägte Schonhaltung, um das Herz nicht zu sehr zu belasten, was ein starkes
Vermeidungsverhalten zur Folge hat. Die Betroffenen fürchten bereits alltägliche
Belastungen wie Stiegen steigen, Gartenarbeit, sportliche Betätigung, Geschlechts-
verkehr mit der Partnerin. Frauen mit Kinderwunsch bekommen plötzlich Angst vor
einer Schwangerschaft, weil dadurch die gefürchteten Symptome provoziert werden
könnten. Herzphobiker schonen sich mehr, als selbst Patienten nach einem Herzin-
farkt zur Schonung geraten wird.
z Hypochondrische Ängste, die dazu führen, dass viele an sich normale körperliche
Zustände als Vorzeichen eines möglichen Herzinfarkts interpretiert werden. Charak-
teristisch sind vermehrte Pulskontrollen, die beruhigen sollen, tatsächlich jedoch
durch die ständige Körperzuwendung neue Ängste schüren.
z Ständiges Kreisen um medizinische Sicherungsmaßnahmen (Aufenthalt in der Nähe
eines Krankenhauses oder von Ärzten, Informationssammlung über ärztliche Not-
dienstregelungen, Einspeichern von Notruf-Nummern im Handy).
z Einbeziehung der Familienmitglieder in die Herzängste und die krankheitsbezogene
Lebensweise, sodass ein sanatoriumsartiges Familienklima entsteht. Wenn sich die
Familienmitglieder den auf Vermeidung, Schonung und Rückzug bedachten Lebens-
stil aufzwingen lassen, verstärken sie dadurch die Krankheitsfixierung des Betroffe-
nen.
z Anklammerung an die engsten Familienmitglieder, vor allem an den Partner, der oft
Sicherheit und unbedingte Geborgenheit in einem Leben vermitteln soll, das nicht
selten geprägt ist von frühen Verlusten (Verlust eines Elternteils durch Tod oder
Scheidung, Ehescheidung usw.). Herzphobiker neigen zu symbiotischen Bezie-
hungsmustern und reagieren auf jede Verunsicherung in der Partnerbeziehung mit
extremen Ängsten. Beruhigung bringt nur die ständige Verfügbarkeit des Partners.
In der Psychotherapie muss daher neben der Beseitigung der Symptomatik auch auf
eine günstige Veränderung der Partnerbeziehung geachtet werden.
z Nach längerer Herzangstsymptomatik entwickeln sich sekundär oft andere Störun-
gen: eine Depression, andere phobische Symptome (Agoraphobie, Sozialphobie),
andere neurotische oder psychosomatische Störungen.

Während die Ängste bei organischen Herzerkrankungen typischerweise nicht offen,


sondern verschlüsselt oder durch depressive Zustände verdeckt sind, weisen die neuroti-
schen Herzängste einen stark appellativen, mitteilungsbedürftigen und Hilfe suchenden
Charakter auf.
Herzphobiker fühlen sich körperlich schwer krank, nicht dagegen psychisch krank.
Sie finden sich daher viel häufiger in den Praxen von Internisten als von Psychiatern
und Psychotherapeuten. Selbst eine Herzkathederuntersuchung beruhigt nur kurzfristig.
Die Diagnose einer Panikstörung vom Typ einer Herzphobie ist therapeutisch inso-
fern bedeutsam, als diese aufgrund der Herzfixierung oft schwieriger zu behandeln ist
als eine typische Panikstörung.
Je nach Art und Intensität der herzbezogenen Ängste kann man drei Gruppen von
Herzphobikern unterscheiden [37]:
z Herztod-Phobiker, die starke panikartige Angstanfälle erleben;
z Herztod-Hypochonder, die keine Angstdurchbrüche erleben, sondern von der sub-
jektiven Gewissheit geplagt sind, einen Herztod zu erleiden;
z Herz-Hypochonder, deren Ängste in Sorgen und Befürchtungen um das Herz beste-
hen.
Panikstörung 53

Herzphobiker und Hypochonder sind relativ leicht voneinander zu unterscheiden:


z Herzphobiker werden von ihren körperbezogenen Ängsten überflutet.
z Hypochonder haben zwar unkorrigierbare Befürchtungen und Überzeugungen,
krank zu sein, erleben jedoch keine panikartigen Ängste um ihr Leben. Ihre Ängste
sind jedoch so beständig, dass sie durch die Anwesenheit von Vertrauenspersonen
nicht wie bei Herzphobikern gemildert werden.

Menschen mit einer Herzphobie stellen eine relativ große Patientengruppe dar [38]:
z 10-15% aller Hausarzt-Patienten klagen über funktionelle Herzbeschwerden.
z Bei 20-25% von 16332 Patienten der Deutschen Klinik für Diagnostik in Wiesbaden
ergab sich von der Symptomatik her der Verdacht auf eine Herzneurose.
z 10,7% von 552 Patienten, die mit der Verdachtsdiagnose „Herzinfarkt“ auf eine
Intensivstation aufgenommen wurden, hatten eine Herzphobie.
z 4% von 7150 Notaufnahme-Patienten einer Berliner Klinik hatten eine Herzphobie.
z Nach amerikanischen Studien sind bis zu 50% der Patienten mit Brustschmerzen
und negativem Koronarangiogramm Patienten mit Panikstörung („Herztod-Phobie“).

Viele Herzphobiker erfüllen nicht die Kriterien für eine Panikstörung. Menschen mit
funktionellen Herzbeschwerden weisen im Vergleich zu anderen Personen ein vierfach
erhöhtes Risiko für eine Panikstörung auf. Eine herzphobische Symptomatik entwickelt
sich oft auch sekundär nach einer Panikstörung, analog zu anderen hypochondrischen
Ängsten. Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal ist folgender Hinweis: Bei Panikpati-
enten bestehen Todesängste nur während einer Panikattacke, bei Herzphobikern dage-
gen auch unabhängig von Panikattacken (sie haben andauernd Herzinfarktängste).

Panikattacken im Schlaf
Die Hälfte der Panikpatienten erlebt Panikattacken im Schlaf. Manchmal entwickelt
sich daraus eine Angst vor dem Einschlafen bzw. sogar ein Hinauszögern des Schlafs.
Zwischen Ängsten und Schlafstörungen bestehen oft enge Wechselbeziehungen. Angst-
symptome kommen bei den meisten psychisch bedingten Schlafstörungen vor.
Nächtliche Angst tritt bei unterschiedlichen Störungen auf [39]:
1. Panikstörung. Es erfolgt ein abruptes Erwachen mit starker Angst aus leichtem bis
mitteltiefem Schlaf. Die körperlichen Begleitsymptome (z.B. Atemnot, Herzrasen)
werden als lebensbedrohlich erlebt. Es besteht eine leichte Ein- und Durchschlafstö-
rung. Die Symptomatik verschlechtert sich durch Schlafdefizite.
2. Generalisierte Angst. Charakteristisch sind ein ängstlich-besorgtes Grübeln und frei
flottierende Ängste beim Einschlafen sowie in nächtlichen Wachphasen. Die ständi-
ge Angst, Anspannung und Unruhe bewirkt eine unspezifische Schlafverschlechte-
rung mit Ein- und Durchschlafproblemen und einen Verlust an Tiefschlaf. Menschen
mit einer generalisierten Angststörung weisen gewöhnlich eine chronische Verspan-
nung auf, die das Einschlafen erschwert.
3. Posttraumatische Belastungsstörung. Es besteht ein wechselndes Muster von Alb-
traumerwachen mit schweren Ein- und Durchschlafstörungen und Rückzug in ver-
mehrten Tiefschlaf mit verminderter REM-Schlaf assoziierter Traumerinnerung
(REM = rapid eye movement, d.h. Augenbewegungen bei geschlossenen Lidern, wie
sie im Traumschlaf typisch sind).
54 Angststörungen

4. Pavor nocturnus. Nach 1½ bis 3 Stunden Schlaf, d.h. in der ersten Schlafhälfte,
erfolgt ein abruptes und schreckhaftes Erwachen aus dem Tiefschlaf, verbunden mit
einem plötzlichen Schrei und einige Minuten lang dauernder ängstlich-verwirrter Er-
regung, anschließend gelingt das Wiedereinschlafen problemlos, am Morgen kann
man sich an nichts mehr erinnern. Panikattacken unterscheiden sich davon durch ihr
Auftreten während des Übergangs vom leichten in den mitteltiefen Schlaf, die erhal-
tene Orientierung, die funktionierende Intelligenz nach dem Erwachen und deutlich
größere Schwierigkeiten, wieder einschlafen zu können.
5. Albtraumerwachen. Man erwacht meist in der zweiten Nachthälfte aus einem REM-
Schlaf (Traumschlaf). Der meist relativ lange, Angst und Furcht auslösende Traum
wirkt gefühlsmäßig und körperlich in den folgenden Wachzustand hinein. Die vege-
tativen Begleitsymptome der Angst flauen meistens nach einigen Minuten ab. Die
Angst vor dem Wiederauftreten der Albträume verursacht häufig eine Wiederein-
schlafstörung. Albträume hängen oft mit unverarbeiteten psychischen Problemen zu-
sammen, nicht selten auch mit anderen Faktoren, z.B. Absetzen von Medikamenten,
die den Traumschlaf unterdrücken, wie dies bei Tranquilizerschlafmitteln oder tri-
zyklischen Antidepressiva der Fall ist, sodass in Gegenreaktion darauf Albträume
auftreten. Es kann sich aber auch um den Ausdruck einer Entzugssymptomatik bei
Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit handeln, wo oft lang dauernde Schlafstö-
rungen gegeben sind.
6. Schlaflosigkeit (Insomnie). Es besteht eine Ein- und Durchschlafstörung mit nächtli-
chem Erwachen im Zustand der Anspannung und Unruhe, begleitet von Herzrasen
und Schwitzen. Es besteht keine Traumerinnerung, auch nicht bei REM-Schlaf-
Erwachen. Hellwachgefühl, geistige Überaktivität, Ärger, ängstliche Selbstbeobach-
tung und angstvolles Gedankenkreisen um Alltagsprobleme während des Wachlie-
gens charakterisieren den Zustand der Schlaflosigkeit. Es besteht eine Angst vor der
kommenden Nacht und ein erhöhtes abendliches Aktivierungsniveau. Selbst einfa-
che Belastungen (z.B. bestimmte Filme) verschlechtern den Schlaf, wenn sie Unsi-
cherheit und Ängste auslösen. Schlaflosigkeit wird oft durch psychosoziale Stress-
faktoren bewirkt.
7. Depression. Depressive Patienten haben oft große Ein- und Durchschlafstörungen,
die von Angstsymptomen begleitet sind. Nächtliche Wachperioden sind durch ängst-
liche Anspannung, Grübeln und vegetative Begleitsymptome charakterisiert. In der
Praxis zeigt sich oft die Symptomtrias von Depression, Angst und Schlafstörung, die
die Erstellung der Hauptdiagnose erschwert, noch dazu, wenn eine ängstlich-
depressive Mischsymptomatik besteht. Es ist seit langem durch EEG-Studien be-
kannt, dass depressive Patienten eine gestörte Schlafarchitektur aufweisen (z.B. re-
duzierte Tiefschlafphasen). Nächtliches Aufwachen erfolgt typischerweise in der
zweiten Nachthälfte. Die Nebenwirkungen bestimmter Antidepressiva, und zwar der
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), können die Schlafstörung verstärken.
8. Rebound-Störung (Angst als Medikamentenabsetzphänomen). Nächtliche Angst-
gefühle, Ein- und Durchschlafstörung, Unruhe und Nervosität treten nach schnellem
Absetzen von abhängig machenden Beruhigungs- und Schlafmitteln auf. Erneute
Einnahme beseitigt die Symptomatik, ein allmähliches Ausschleichen des Medika-
ments verhindert derartige Zustände. Die Einnahme von nur kurz wirksamen Tran-
quilizerschlafmitteln mit geringer Halbwertszeit (z.B. Halcion®) kann ein Rebound-
Phänomen auch bei regelmäßiger abendlicher Einnahme bewirken und den Betrof-
fenen in den Morgenstunden verfrüht und mit Angst erwachen lassen.
Panikstörung 55

9. Schlafapnoesyndrom. Man bekommt beim Schlafen zu wenig Luft, weshalb ein


abruptes, angstvolles Erwachen mit Atemnot, Herzrasen und Beklemmungsgefühlen
auftritt. Das Erwachen erfolgt im Zusammenhang mit nächtlichen Atempausen, vor
allem bei Schnarchern. Der Schlaf ist wenig erholsam, es treten morgendliche Kopf-
schmerzen, internistische Begleiterkrankungen (arterielle Hypertonie, Herzrhyth-
musstörungen) und erhöhte Tagesmüdigkeit bzw. Schläfrigkeit auf. Patienten mit
Verdacht auf ein Schlafapnoesyndrom haben nicht selten eine Angststörung.

Panikattacken können durch Entspannung und Schläfrigkeit beim abendlichen Liegen


im Bett ausgelöst werden, ohne vorheriges ängstliches Grübeln. Eventuell auftretende
Muskelzuckungen stellen eine elektrische Entladung vorher angespannter Muskelgrup-
pen dar, was erst durch die Bewertung als Zeichen drohender körperlicher Gefährdung
Angst machend wirkt. Mehr als die Hälfte der Panikpatienten erlebt Panikattacken im
Schlaf und entwickelt deshalb oft eine Angst vor dem Einschlafen [40].
Aus Angst vor einem Herzinfarkt und dem Tod in der Nacht möchten viele Betrof-
fene im Bett am liebsten nur ruhen, ohne einzuschlafen. Als Folge davon kommt es zu
einem Schlafdefizit, das die Angstzustände verstärkt und die Panikattacken vermehrt. Es
entsteht ein Teufelskreis: nächtliche Panikattacken führen zu phobischen Ängsten vor
dem Einschlafen, die durch Schlafvermeidung zu lösen versucht werden, wodurch es
erst recht zu Panikattacken kommen kann.
Die Ursachen für Panikattacken im Schlaf sind noch nicht ausreichend erforscht,
derzeit geht man vom Modell einer chronischen Übererregung und Anspannung aus,
die sich beim Einschlafen bzw. im Schlaf löst und Panikattacken bewirkt. Diese Vermu-
tung wird durch zwei Faktoren bestätigt [41]:
1. Panikattacken treten während einer Schlafvertiefung im Laufe des Übergangs vom
Leichtschlaf des Schlafstadiums II in den delta-wellenreichen tieferen Schlaf des
Stadiums II auf und nicht im Tiefschlaf des Stadiums IV wie ein Pavor nocturnus.
2. Panikattacken (vor allem die ersten) entwickeln sich bei vielen Betroffenen während
des an sich entspannenden Liegens abends im Bett oder beim entspannten Sitzen im
Lehnstuhl, d.h. gerade nicht in Zeiten größter Belastung, sondern in der Entspan-
nungsphase. Auch Migräneanfälle treten oft beim Übergang in die Entspannung
nach langer Anspannung auf, z.B. am Wochenende. Die Neigung zu Panikattacken
wird verstärkt durch die ängstliche Beobachtung dieser Vorgänge und deren Uner-
klärlichkeit.

Etwa 70% der nächtlichen Panikattacken stehen in keinem Zusammenhang zu REM-


Schlafphasen, weshalb sie nicht als Folge von Albträumen angesehen werden können.
Schlafgebundene Panikattacken treten in einem Zustand minimaler Geistestätigkeit
auf. Panikattacken könnten eventuell auch durch veränderte Atemmuster im Sinne einer
Hyperventilation im Schlaf ausgelöst werden.
18% der Panikattacken entwickeln sich aus dem Schlaf heraus, was ein gegenwärtig
noch häufig unterschätztes Phänomen darstellt. Bei nächtlichen Panikattacken kommt es
im Schlaf zuerst zu körperlichen Reaktionen als Folge der Entspannung, die vom Schla-
fenden als ungewohnt und bedrohlich eingeschätzt werden, sodass er voll Angst und
Panik munter wird. Es handelt sich dabei um eine Bewertung körperbezogener Reize,
ähnlich wie im Schlaf auch eine Bewertung umweltbezogener Reize erfolgt, die in ei-
nem Fall dazu führen, dass man munter wird (z.B. beim Schreien des Säuglings), wäh-
rend im anderen Fall kein Weckreiz erfolgt (z.B. bei Lärm durch Autos oder Züge).
56 Angststörungen

Auslöser der ersten Panikattacke


Die erste Panikattacke resultiert meist aus einem allgemein erhöhten Stressniveau (kör-
perlich, psychisch, geistig, sozial, familiär, beruflich, finanziell). Es bestehen oft körper-
liche oder emotionale Überlastungen bzw. chronische Konflikte (z.B. in Partnerschaft,
Familie und/oder Beruf). Eine Panikattacke erfolgt häufig erst verzögert in der nachfol-
genden Ruhesituation, die einerseits eine ungewohnte körperliche Entspannung darstellt
und andererseits ein Nachdenken und Verarbeiten des Erlebten ermöglicht. Sie entsteht
gewöhnlich im Rahmen einer Kombination von zwei Arten von Stressfaktoren:
1. Psychophysiologische (körperliche) Belastung: niedriger Blutdruck, Blutdruckab-
fall, Allergie, Genesungsphase nach einer Krankheit (z.B. plötzliches Aufstehen
nach einer Grippe), prämenstruelle Phase, Schwangerschaft, Geburt, zu viel Kaffee,
Alkohol oder Drogen, körperliche Aktivierung nach längerer Inaktivität usw.
2. Psychosoziale Belastung: völlig unerwarteter Todesfall oder schwere Erkrankung
eines Angehörigen (oft Herzinfarkt oder Krebs), Trennungserlebnisse, akute familiä-
re oder berufliche Konflikte, berufliche Überforderung, Kündigung usw.

Panikattacken lassen sich durch das Stressmodell erklären [42]. In Phasen eines allge-
mein hohen Anspannungsniveaus kann schon eine alltägliche Stresssituation (z.B. eine
kleine Verletzung) zum Auslöser für eine Panikattacke werden. Panikattacken sind zu
verstehen als besonders dramatisch ablaufende Alarmreaktionen auf Stress oder eine
Häufung von Stressoren. Im Laufe der Zeit verselbstständigt sich dieses Angsterleben
aufgrund von kognitiven Prozessen als permanente Angst vor einer Panikattacke (Er-
wartungsangst), was die allgemeine Anspannung erhöht. Die Unfähigkeit, sich die sub-
jektiv bedrohlichen Symptome erklären zu können (obwohl die psychosozialen Bela-
stungen durchwegs als solche wahrgenommen werden), verstärkt die Ängste.
Bei über 90% der Betroffenen beginnt die Panikstörung mit einer heftigen Panikat-
tacke außerhalb der Wohnung oder an einem öffentlichen Ort bei einer bislang ganz
normalen Betätigung ohne besonderen Stress [43]. Der entsprechende Ort (z.B. Ge-
schäft, Lokal, Kino, Arbeitsstelle, Wartesaal, Bus) wird fluchtartig verlassen und zu-
künftig angstvoll gemieden. Insgesamt gesehen treten Panikattacken am häufigsten zu
Hause auf (45%) und seltener (31%) in typischen agoraphobischen Situationen.
Manchmal resultiert die erste Panikattacke aus einem kollapsähnlichen Zustand bei
geschwächter körperlicher Kondition und gleichzeitig gegebenem psychosozialen
Stress, dem eine massive Kreislaufankurbelung zur Verhinderung einer Ohnmacht folgt.
Nach der Münchner Verlaufsstudie [44] wurden bei ca. 80% der Betroffenen vor der
ersten Panikattacke schwerwiegende Lebensereignisse festgestellt, oft sogar mehr als
eine Belastung. Zumeist handelte es sich um Tod oder plötzliche, schwere Erkrankung
von nahen Angehörigen oder Freunden, Verlust durch Scheidung oder Trennung, Er-
krankung oder akute Gefährdung der Betroffenen, Schwangerschaft oder Geburt.
Nach einer englischen Untersuchung an 1000 Agoraphobikerinnen [45] entstand die
erste Panikattacke bei 32% nach einem schwerwiegenden Ereignis (Trennung vom
Partner, Arbeitsplatzverlust usw.), bei 27% nach dem Tod oder einer schweren Erkran-
kung eines Angehörigen oder Freundes, 6% der Patientinnen waren Zeugen des Un-
glücks anderer. Eine weitere englische Studie ergab, dass Panikpatienten im Jahr vor
ihrer ersten Panikattacke zweimal häufiger von widrigen und unglücklichen Lebensum-
ständen betroffen waren als gesunde Personen. Dazu zählten eigene Krankheit, Unfall
und/oder Operation, Trennung vom Partner und finanzielle Schwierigkeiten.
Panikstörung 57

Panikpatienten haben gewöhnlich nicht mehr Stress als die Normalbevölkerung zu


bewältigen, sie bewerten die Belastungen jedoch viel negativer, weil sie aufgrund ihres
größeren Sicherheitsbedürfnisses mit möglicher Bedrohung und Unsicherheit nicht gut
umgehen können, was oft lebensgeschichtlich verständlich ist (z.B. ängstliche Mutter,
Herzkrankheiten, Asthma, Schlaganfall, Krebs, unerwartete Todesfälle in der Familie
oder im Bekanntenkreis, nicht verkraftete Traumatisierung). Besonders belastend ist
jener Stress, den man gerne kontrollieren möchte, jedoch bei noch so viel Aufwand
nicht kontrollieren kann. Als Folge davon entwickelt sich eine „erlernte Hilflosigkeit“,
die zu Resignation, depressiver Erschöpfung und vermehrten Erwartungsängsten führt.
Nicht selten stellt der erste „Angstanfall“ eigentlich einen unterdrückten „Wutanfall“
in einer psychosozialen Konfliktsituation dar, z.B. bei Ärger in der Partnerschaft oder
im Beruf. Häufig besteht die emotionale Befindlichkeit vor einer Panikattacke in einer
Kombination von Ohnmacht und Wut („ohnmächtige Wut“). Die Angst entsteht oft erst
als Reaktion auf die unerklärlich erscheinenden körperlichen Symptome.
Auslösefaktoren für die erste Panikattacke (auch für spätere Panikanfälle) können
zahlreiche körperliche, ernährungsbedingte, sozioökonomische, ökologische, soziale,
familiäre und psychische Stressoren sein [46]:
z Tod eines Angehörigen oder Bekannten.
z Andere Verlustereignisse: Trennung vom Partner, Auszug der Kinder, Umzug.
z Krankheitsängste: Krankheiten in der Familie, Verwandtschaft oder Bekanntschaft
(Herzinfarkt, Asthma, Krebs), eigene Erkrankung, bevorstehende Operation.
z Massive familiäre Belastungen (durch Eltern, Partner, Kinder), Trennungsängste.
z Unverarbeitete Lebensereignisse: Gewalt, Missbrauch, Unfall, Scheidung der El-
tern, Verkehrsunfall, schwere Erkrankung eines Kindes.
z Heftige Emotionen: Erregtheit, Ärger, Streit, Unterdrückung von Aggressionen.
z Umstellung von Anspannung auf Entspannung: entspanntes Liegen im Bett, Sitzen
vor dem Fernsehapparat, Bummeln in einem Einkaufszentrum oder im Urlaub.
z Massive Zukunftsängste oder berufliche/wirtschaftliche Sorgen: finanzielle Sorgen,
Unsicherheit des Arbeitsplatzes, Arbeitsplatzverlust oder Arbeitsplatzwechsel.
z Stellvertretende Erfahrungen: Lesen von Medizin-Artikeln, Miterleben von schwe-
ren Schicksalsschlägen oder Symptomen bei anderen.
z Ungesunde, stressreiche Lebensführung ganz allgemein (übermäßiger Zeitdruck,
berufliche Überlastung usw.), die zu Erschöpfung führen kann.
z Allergien: Die gesteigerte Abwehr von verschiedenen auf den Körper einwirkenden
Substanzen führt zu Entzündungen und Gefäßerweiterungen (bis zum Kollaps).
z Hormonelle Störungen: Schilddrüsenüberfunktion, Hormonstörungen bei Frauen.
z Bestimmte Krankheiten: Lebererkrankung, Virusinfektion, Mangel an Vitamin B1,
Störungen im Kalziumhaushalt.
z Nebenwirkungen von Medikamenten: Blutdrucksenkung, allergische Reaktion u.a.
z Alkohol, Drogen, Koffein und Nikotin: übermäßiger Konsum oder plötzlicher Entzug
von Genussmitteln.
z Unterzuckerung (Hypoglykämie): Zuckerabfall mit panikartigem Zustand, z.B. bei
Abmagerungskuren, zu viel Alkoholkonsum, schwerer körperlicher Arbeit, bei Zuk-
kerkranken wegen eines falsch eingestellten insulinpflichtigen Diabetes.
z Kreislaufschwankungen bzw. Kreislaufstörungen durch zu viel Koffein oder Niko-
tin, Kater, Alkohol- oder Medikamentenentzug, Zuckerabfall, Sportübungen, Mü-
digkeit oder Erschöpfung, Hitze bzw. schwüles Wetter, Krankheit, allergische Reak-
tionen, prämenstruelle Angespanntheit, Schwangerschaft.
58 Angststörungen

z Generell niedriger Blutdruck (z.B. 95/65), der in Schrecksituationen noch weiter


abfällt (Kollapsneigung), sodass Herzrasen Blutdruck erhöhend wirkt, um eine wei-
tere Sauerstoffunterversorgung und daraus folgende Ohnmacht zu verhindern.
z Langes Stehen ohne Bewegung (orthostatische Hypotonie): das Blut geht in die
Beine, sodass im Kopf zu wenig Blut und Sauerstoff vorhanden sind.
z Hemmung der Fluchtreaktion in einer bestimmten Situation (Bus, Geschäft usw.)
mit der Folge einer vagovasalen Ohnmachtsneigung. Man kann bzw. will eine bela-
stende Situation nicht verlassen, obwohl der Körper für eine Fluchtreaktion aktiviert
ist. Es kommt dabei zu einer vermehrten Durchblutung der Muskulatur, vor allem in
den Beinen (spürbar als Muskelverspannung) und mangels Bewegung (oft Erstar-
rung im Schreck) zu einem verminderten Blutrückfluss zum Herzen, sodass weniger
Blut in den Kreislauf gepumpt wird, was sich bereits nach Sekunden als Schwindel
und später als Ohnmachtsneigung bemerkbar macht.
z Hyperventilation: in Stresssituationen erfolgt oft ein zu rasches und zu flaches At-
men mit Angst machenden körperlichen Folgezuständen, die nur im Ruhezustand
auftreten und bei Bewegung sofort weg wären. Zwischen den Diagnosen Agorapho-
bie/Panikstörung und Hyperventilationssyndrom besteht eine Überlappung von 60%.

Epidemiologie, Verlauf und Folgen der Panikstörung


Im Laufe des Lebens leiden in der Bevölkerung 15-30% unter gelegentlichen Panikat-
tacken und 2-5% unter einer Panikstörung. Einzelne Panikattacken kommen somit viel
häufiger vor als eine typische Panikstörung [47].
In Deutschland haben 2,4% der Bevölkerung im Laufe des Lebens, 1,1% innerhalb
der letzten 6 Monate und 1,0% innerhalb des letzten Monats eine Panikstörung [48].
Nach dem deutschen Bundesgesundheitssurvey 1998 haben 3,9% der Deutschen im
Laufe des Lebens eine Panikstörung.
Die amerikanische NCS-Studie [49] in den 1990er-Jahren erbrachte folgende Daten:
z Gelegentliche Panikattacken treten lebenszeitbezogen bei 15,6% der Befragten auf;
3,8% erlebten eine Panikattacke innerhalb des letzten Monats vor der Befragung.
z Eine Panikstörung tritt lebenszeitbezogen bei 3,5%, innerhalb der letzten 12 Monate
bei 2,5% und innerhalb des letzten Monates bei 1,5% der Befragten auf.
z 1,5% weisen lebenszeitlich und 0,7% innerhalb des letzten Monats eine Kombinati-
on von Panikstörung und Agoraphobie auf. Dies stellt einen Beleg dafür dar, dass
ein beachtlicher Teil der Panikpatienten keine Agoraphobie entwickelt. Neben den
1,5% der Bevölkerung mit einer Kombination von Panikstörung und Agoraphobie
gibt es lebenszeitlich 4,2% Personen in der amerikanischen Bevölkerung, die eine
Agoraphobie ohne Panikstörung aufweisen (ein Teil davon hat jedoch laut Nachun-
tersuchung durch Experten eher eine spezifische Phobie als eine Agoraphobie). Die-
se Daten bestätigen das ICD-10 (Agoraphobie als eigenständige Diagnose), während
das DSM-IV der Panikstörung eine übergeordnete Bedeutung einräumt.
z Panikstörungen treten im Laufe des Lebens bei 5,0% der Frauen und 2,0% der Män-
ner auf, innerhalb der letzten 12 Monate bei 3,8% der Frauen und 1,7% der Männer,
innerhalb des letzten Monats bei 2,0% der Frauen und bei 0,8% der Männer.
z 50% der Befragten mit Panikstörung wiesen keine Agoraphobie auf.
z Panikattacken treten oft auch bei zahlreichen anderen psychischen Störungen auf.
Panikstörung 59

Die NCS-R-Studie [50] fand 2001-2003 in der US-Bevölkerung Panikattacken ohne die
Diagnose einer Panikstörung bei 28,3% im Laufe des Lebens und bei 11,2% im Laufe
der letzten 12 Monate, eine Panikstörung mit und ohne Agoraphobie bei 4,7% im Laufe
des Lebens und bei 2,8% im Laufe der letzten 12 Monate. Lebenszeitbezogen bestand
bei 3,7% eine reine Panikstörung (NCS-Studie: 2,0%) und bei 1,1% eine Panikstörung
mit Agoraphobie. Die Mehrzahl der Menschen mit Panikattacken erfüllten nicht die
Kriterien für eine Panikstörung (mit Panikattacken ohne Auslöser), sondern hatten situa-
tionsspezifische Attacken in Verbindung mit anderen psychischen Störungen.
Frauen sind laut allen Studien 2- bis 3-mal häufiger von Panikattacken betroffen als
Männer. Eine Panikstörung kann auch bei Kindern und Jugendlichen auftreten. Mei-
stens zeigt sich ein Beginn kurz nach der Pubertät. Das Erscheinungsbild ist der Sym-
ptomatik im Erwachsenenalter sehr ähnlich. Vor dem 8. Lebensjahr scheinen typische
Panikattacken nicht aufzutreten, sondern sind oft als körperliche Zustände im Rahmen
massiver Verlustängste bei einer Trennungsangststörung (F93.0) zu werten.
Panikstörungen mit und ohne Agoraphobie haben im Vergleich zu Phobien und
generalisierten Angststörungen einen durchschnittlich späteren Beginn. Panikstörungen
treten meistens zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr erstmals auf, bei rund 20% bereits
früher, bei 40% erst später. Das erstmalige Auftreten von Panikattacken nach dem 40.
Lebensjahr kann ein Anzeichen einer zugrunde liegenden Depression sein.
Im Langzeitverlauf von Panikstörungen zeigt sich oft folgende sechsstufige Abfolge:
[51]: Attacken mit unvollständiger Symptomatik – Panikattacken – hypochondrische
Klagen – begrenztes phobisches Vermeidungsverhalten – generalisiertes phobisches
Vermeidungsverhalten – sekundäre Depression.
15-20% der Panikpatienten wiesen bereits vor der Panikstörung leichte agoraphobi-
sche Tendenzen auf. Eine Agoraphobie beginnt keineswegs immer mit der ersten Panik-
attacke. Das Auftreten einer Panikattacke ist keine notwendige Voraussetzung für eine
Agoraphobie. 30-50% der Panikpatienten entwickeln eine Agoraphobie. Eine Panikstö-
rung mit Agoraphobie stellt in der Regel eine schwerwiegendere Beeinträchtigung dar
als eine Panikstörung ohne Agoraphobie, denn sie beginnt früher, hält länger an und
weist mehr psychosoziale Behinderungen auf. Obwohl bei über 80% der Agoraphobiker
zu Beginn der Störung eine Panikattacke auftrat, sind insgesamt nur 31% der Panikat-
tacken in typisch agoraphobischen Situationen zu finden. Eine Untersuchung an 195
Panikpatienten mit und ohne Agoraphobie [52] ergab folgenden Befund:

„Weder die Häufigkeit der Panikattacken (in den letzten drei Wochen) noch die Intensität der Panik-
symptome waren signifikante Prädiktoren für den Schweregrad einer Agoraphobie. Entscheidend war
vielmehr, ob die Patienten in den sogenannten agoraphobischen Situationen einen Panikanfall mit
größerer Wahrscheinlichkeit erwarteten, ob sie sich durch die Panikattacken stärker beeinträchtigt
fühlten und ob sie sich als generell ängstlicher beschrieben. Die Entwicklung einer Agoraphobie hängt
also nicht primär von der Anzahl und Intensität der Panikattacken ab. Entscheidend ist neben der dispo-
sitionellen Ängstlichkeit vielmehr, wie diese Anfälle bewertet werden. Dies wird auch durch Untersu-
chungen bestätigt, welche die Häufigkeit und Intensität der Panikattacken nicht retrospektiv, sondern
anhand von Tagebuchaufzeichnungen kontinuierlich erhoben haben ... Die Dissoziation von Panikat-
tacken und Agoraphobie wird auch durch epidemiologische Studien gestützt, in denen eine relativ hohe
Prozentzahl von Patienten beobachtet wurde, die eine intensive agoraphobische Vermeidung aufwiesen,
ohne daß gleichzeitig eine Panikstörung vorlag. So beträgt die Einjahresprävalenz einer Agoraphobie
ohne Panikstörung je nach Studie zwischen 2.8 und 5.8% ... Dies widerspricht allerdings nicht der
häufig gemachten klinischen Beobachtung, daß fast 80% aller Agoraphobiker bereits früher eine oder
mehrere Panikattacken erlebt haben, welche dann möglicherweise die Entwicklung einer Agoraphobie
ausgelöst haben ... Die Aufrechterhaltung und der Schwergrad der agoraphobischen Vermeidung ist
dagegen weitgehend unabhängig von der Häufigkeit und Schwere der aktuellen Panikattacken.“
60 Angststörungen

Die Folgen von Panikattacken hängen nach einer deutschen Studie stark vom Alter der
Betroffenen zum Zeitpunkt des ersten Auftretens einer Panikattacke ab [53]:
z Panikattacken mit erstmaligem Auftreten vor dem 25. Lebensjahr führen oft zu einer
anderen Angststörung (vor allem zu einer Agoraphobie oder einer spezifischen Pho-
bie), seltener zu sekundärer Depression oder Substanzmissbrauch.
z Panikattacken mit erstmaligem Auftreten im höheren Alter führen oft und rasch
(innerhalb eines Jahres) zu sekundärer Depression, Substanzmissbrauch oder Mehr-
facherkrankung bzw. sind Ausdruck einer vorhandenen Mehrfacherkrankung.

Nach der Münchner Verlaufsstudie [54] ist der Verlauf der Panikstörung in der Durch-
schnittsbevölkerung meistens chronisch, wenn die Störung über ein Jahr bestanden hat
und keine adäquate Behandlung erfolgte. Nach 7 Jahren Beobachtungszeit war bei 51%
der Panikpatienten eine Verschlechterung und Chronifizierung eingetreten, 90% erfüll-
ten noch immer die diagnostischen Kriterien für eine Panikstörung. Nur 14,3% der
Panikpatienten und 19% der Agoraphobiker erreichten eine Spontanheilung. Bei unbe-
handeltem Paniksyndrom entwickelten 71,4% eine depressive Störung, 50% Alkohol-
missbrauch und 28,6% Medikamentenmissbrauch. Nur 14,2% der Panikpatienten hatten
im 7-jährigen Beobachtungszeitraum keine Komorbidität entwickelt.
Unbehandelte Patienten mit einer Panikstörung mit Agoraphobie haben nach Mei-
nung aller Fachleute einen chronischeren Verlauf ihrer Störung und eine langfristig
schlechtere Prognose als Patienten mit depressiven Störungen. Situationsgebundene
Panikattacken (z.B. bei einer Phobie) zeigen deutlich bessere Heilungschancen als spon-
tan auftretende Panikattacken.
Etwa 80% der Patienten mit Panikstörungen weisen gleichzeitig auch andere psychi-
sche Störungen auf, z.B. Agoraphobie, generalisierte Angststörung, Depression und
Dysphorie. Die Mischung von Panikstörung und Agoraphobie ist besonders häufig (bei
rund 50%). Nur 10-30% der Panikstörungen sind tatsächlich reine Panikstörungen.
Nach der Zusammenfassung des Forschungsstandes [55] ergeben sich folgende Zah-
len zum Langzeitverlauf von Panikpatienten aus Behandlungseinrichtungen: 6-10 Jahre
nach der Behandlung sind ungefähr 30% der Betroffenen symptomfrei, 40-50% gebes-
sert und 20-30% gleich schlecht oder verschlechtert.
In Behandlungseinrichtungen finden sich bei Patienten mit Panikstörung oft weitere
Angststörungen in folgender Häufigkeit: generalisierte Angststörung bei 25%, soziale
Phobie bei 15-30%, spezifische Phobie bei 10-20%, Zwangsstörung bei 8-10%. Eine
Depression kommt im Laufe des Lebens bei 50-65% der Panikpatienten vor. Bei fast
einem Drittel der Personen mit beiden Störungen geht die Depression der Panikstörung
voraus. Bei zwei Dritteln tritt die Depression gleichzeitig oder nach dem Beginn der
Panikstörung auf. Eine sekundäre Agoraphobie bei Patienten mit Panikstörung weist auf
einen höheren Schweregrad der Panikstörung hin, oft auch charakterisiert durch einen
früheren Beginn der Störung, eine schwerer ausgeprägte Symptomatik der Panikattak-
ken und eine längere Gesamterkrankungsdauer.
Die Komorbität mit einer generalisierten Angststörung, einer wiederholt auftreten-
den depressiven Symptomatik, einer schweren psychosozialen Beeinträchtigung oder
einer Persönlichkeitsstörung stellt einen prognostisch ungünstigen Verlauf dar.
Verschiedene Studien weisen auf eine familiäre Häufung der Panikstörung hin, wo-
bei aufgrund der Datenlage allein nicht entschieden werden kann, ob dies für genetische
Ursachen oder Lernfaktoren spricht. Bei rund der Hälfte der Angststörungen scheinen
Erbfaktoren eine Rolle zu spielen, die genauen Mechanismen sind noch unbekannt.
Panikstörung 61

Untersuchungen weisen darauf hin, dass eine Panikstörung gelernt werden kann in
einem familiären Milieu, wo derartige Störungen gehäuft auftreten. Studien, in denen
Kinder von Patienten mit Angststörungen untersucht wurden, belegen, dass diese Kin-
der ebenfalls Angststörungen aufweisen. Umgekehrt zeigen Studien, in denen – ausge-
hend von Kindern mit Angststörungen – auch die Eltern untersucht wurden, einen Zu-
sammenhang von kindlichen und elterlichen Angststörungen [56].
Wenn eine Panikstörung nicht bewältigbar erscheint, sind oft folgende Folgepro-
bleme anzutreffen, die hier im Überblick zusammengefasst werden sollen:
z Chronische Erwartungsängste („Angst vor der Angst“). Die Angst vor den Panik-
symptomen führt zu Erwartungsängsten vor einem neuerlichen Anfall, auch wenn
die Patienten aufgrund von körperlichen Untersuchungen wissen, dass sie organisch
gesund sind und keine schwere Erkrankung (Herzinfarkt, Schlaganfall, Gehirntumor,
Kreislaufzusammenbruch mit Ohnmacht) zu befürchten brauchen.
z Ständige medizinische Untersuchungen und Überbeanspruchung des medizinischen
Versorgungssystems. Panikpatienten nehmen besonders in der Frühphase der Er-
krankung verstärkt ärztliche Hilfe in Anspruch und lassen sich oft wiederholt bei
verschiedenen Fachärzten bzw. stationären Aufenthalten untersuchen. Die Betroffe-
nen wirken durch die Symptomatik bzw. durch ihr ängstliches Verhalten auf Ärzte
derart bedrängend, dass ständig aufwändigere und kostspieligere Untersuchungen
sowie unnötige Krankenhausaufenthalte erfolgen, die nur kurzfristig beruhigend
wirken. Die Ängste werden oft verstärkt durch grenzwertige Befunde („am Rande
der Norm“, „leicht abnorm“, „nicht sicher auszuschließen“, „Verlaufskontrolle emp-
fohlen“). Bei langem Suchen findet man häufig unbedeutende Unregelmäßigkeiten.
Eine gründliche Untersuchung zum Ausschluss organischer Ursachen ist jedoch vor
Therapiebeginn dringend anzuraten. Panikpatienten weisen im Vergleich zu anderen
Angstpatienten die höchste Inanspruchnahme stationärer oder ambulanter medizini-
scher Einrichtungen auf. Sie beanspruchen 3-mal so häufig unterschiedlichste soma-
tisch-medizinische Einrichtungen wie andere Personen.
z Vorübergehende oder dauernde Arbeitsunfähigkeit: Lange Krankenstandszeiten mit
großem individuellen Leid und hohen volkswirtschaftlichen Kosten. Die Unbere-
chenbarkeit bezüglich des Wiederauftretens der gefürchteten Panikattacken führt
mangels effizienter Behandlungsmethoden oft zu unnötig langen Krankenstandszei-
ten, weil sich die Betroffenen noch nicht genug vorbereitet fühlen, einen neuerlichen
Anfall zu bewältigen. Im Extremfall kann eine ständige Arbeitsfähigkeit eintreten.
z Depressive Erschöpfung und Resignation als verständliche Folge der nicht kontrol-
lierbar erscheinenden Panikattacken.
z Substanzmissbrauch; Missbrauch von Alkohol oder Benzodiazepintranquilizern, um
die Erwartungsängste besser ertragen zu können.
z Angst vor dem Alleinsein. Im Extremfall können die Betroffenen nicht mehr allein
sein, weil sie sich davor fürchten, den Symptomen hilflos ausgeliefert zu sein.
z Abhängigkeit von einer Vielzahl von Helfern. Angst reduzierend wirkt das Wissen
um die Nähe oder sofortige Erreichbarkeit von Helfern (Ärzte, Krankenhäuser, Psy-
chotherapeuten, Verwandte, Bekannte). Oft sind schon Gespräche beruhigend, ohne
dass neuerliche Untersuchungen nötig sind. Vorher selbstbewusste und lebenstüch-
tige Menschen verhalten sich plötzlich wie furchtsame kleine Kinder.
z Vermeidungsverhalten: Einschränkung der Bewegungsfreiheit im Sinne einer Ago-
raphobie. Menschen mit Panikstörung neigen im Laufe der Zeit dazu, verschiedene
Situationen zu meiden, die als Auslöser für Panikattacken geeignet erscheinen.
62 Angststörungen

z Psychosoziale Beeinträchtigungen. Menschen mit einer Panikstörung weisen im


Vergleich zu anderen Angstpatienten die meisten psychosozialen Beeinträchtigun-
gen auf. Diese sind umso größer, je depressiver die Betroffenen gleichzeitig sind.
Studien haben ergeben, dass Panikpatienten mit zusätzlicher depressiver Symptoma-
tik ausgeprägtere Angstsymptome, eine ungünstigere Krankheitsentwicklung und
größere psychosoziale Beeinträchtigungen erleben sowie eine schlechtere Behand-
lungsprognose und chronischere depressive Symptome aufweisen. Die sekundäre
Entwicklung depressiver Episoden ist nach verschiedenen Untersuchungen haupt-
verantwortlich für die Entwicklung massiverer psychosozialer Integrationsprobleme.
Die Kombination von Pharmakotherapie (Verabreichung eines selektiven Serotonin-
Wiederaufnahmehemmers) und anfänglich symptombezogener Psychotherapie
(Verhaltenstherapie) kann auch in diesen Fällen zur Heilung führen.
z Übermäßige Schonhaltung aus Angst, die Symptome nicht zu provozieren, und
ständige hypochondrische Selbstbeobachtung in der Hoffnung, die gefürchteten
Symptome irgendwie verhindern zu können. Panikpatienten haben das Vertrauen in
ihren Körper verloren und befürchteten Herzinfarkt, Ohnmacht oder Verrücktwer-
den. Sie zeigen seit dem ersten Anfall ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis bei allen
Unternehmungen und möchten das kleinste Risiko eines Panikanfalls ausschalten.
Aus falscher Schonhaltung schränken die Betroffenen, die früher oft sehr sportlich
waren, körperliche Aktivitäten (Sport, Treppensteigen, anstrengende manuelle Tä-
tigkeiten usw.) ein. Durch die fehlende Kondition werden erst recht jene Symptome
begünstigt, die man wegen ihres Angst machenden Effekts vermeiden möchte.

Differenzialdiagnose
Eine Abgrenzung gegenüber einer organisch fundierten und einer substanzinduzierten
Angststörung ist unerlässlich und bedarf einer genauen Anamnese und Untersuchung.
Bei einer somatoformen Störung treten die körperlichen Symptome nicht anfallsartig
auf (früher kann jedoch durchaus einmal eine reine Panikstörung bestanden haben, was
im Längsschnittverlauf sogar häufig festzustellen ist).
Zwischen Panikattacken und anderen Angstformen bestehen keine qualitativen Un-
terschiede, wohl aber quantitative Besonderheiten. Charakteristisch für Panikattacken,
die zur Diagnose einer Panikstörung führen, sind:
z das stärkere Vorherrschen somatischer Symptome (dieselben vegetativen Symptome
sind bei anderen Angststörungen meistens nicht so ausgeprägt),
z der akute Zeitverlauf der Symptomatik (eine generalisierte Angststörung beginnt
dagegen meist langsam),
z die Unmittelbarkeit der befürchteten Gefahren bzw. Folgen des Angstanfalls (andere
Angststörungen werden wohl als sehr lästig und lebenseinengend, nicht jedoch als
lebensbedrohlich erlebt),
z die Unvorhersehbarkeit der Angstanfälle, d.h. es bestehen keine aktuellen Auslöser
(im Gegensatz zu den situationsbezogenen und daher vorhersehbaren Panikattacken
bei sozialer oder spezifischer Phobie),
z die zentrale Bedeutung interner Angst auslösender Reize (Phobien werden dagegen
durch spezifische äußere Auslöser bewirkt),
z kein außergewöhnliches, exzessives Trauma (wie bei der posttraumatischen Bela-
stungsstörung).
Panikstörung 63

Panikstörung als Spektrum-Störung


Das Panik-Agoraphobie-Spektrum-Modell [57] stellt eine neue Sichtweise dieses Be-
reichs dar, die der klinischen Realität eher gerecht wird als die Kategorisierung nach
scheinbar klar voneinander psychiatrischen Syndromen und Diagnosen.
Die amerikanischen und italienischen Erforscher dieses klinischen Phänomens brin-
gen ein typisches Beispiel für eine Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung. Ein junger
Mann mit 20 Jahren erlebt ein paar Panikattacken mit begrenzter Symptomatik. Er be-
gibt sich nicht in Behandlung, die erlebten Symptome verändern jedoch sein Leben auf
eine ganz bestimmte Weise. Vor der ersten Panikattacke war er energisch, interessiert
an neuen Erfahrungen und in sozialer Hinsicht recht gesellig. Nach den ersten Panikat-
tacken wird er zunehmend ängstlich, passiv, von anderen abhängig, sozial zurückgezo-
gen und besorgt um seine Gesundheit. Im Laufe der Zeit werden diese Tendenzen zu
stabilen Persönlichkeitsmerkmalen. Mit 40 Jahren sucht er einen Arzt auf wegen einer
depressiven Episode, die Paniksymptome hat er längst vergessen. Er macht den Ein-
druck eines ängstlichen Menschen mit hypochondrischer Färbung, der von anderen
Menschen so abhängig ist, dass er nicht allein sein kann.
Wenn der Arzt nur die Depression behandelt, wird die Panikattacke vor 20 Jahren
als der Hauptgrund für die Angst, Abhängigkeit, Vermeidungstendenz und Hypochon-
drie des Patienten übersehen. Trotz erfolgreicher Behandlung der Depression leidet der
Patient weiterhin unter einer Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung mit den entspre-
chenden Beeinträchtigungen, wenn nicht gleichzeitig auch diese behandelt wird. Zahl-
reiche Patienten mit einer Panikstörung haben bereits Folgesymptome und Beeinträchti-
gungen entwickelt, wenn sie wegen ihrer Beschwerden erstmals zum Arzt gehen.
Die Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung umfasst bestimmte Merkmalsbereiche,
die wegen ihrer Bedeutsamkeit im Folgenden ausführlich dargestellt werden sollen.

Paniksymptome

Die DSM-IV-Kriterien zur Diagnose einer Panikattacke (mindestens 4 von 13 Sympto-


men) sind aus der Sicht der klinischen Praxis zu rigide. Zur Panik-Agoraphobie-
Spektrum-Störung zählen auch zahlreiche Angstanfälle mit weniger als 4 Symptomen
oder mit anderen, in den Konsequenzen jedoch ähnlich schwerwiegenden Symptomen.
Neben den 13 typischen Paniksymptomen müssen folgende atypische Symptome zur
Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung gezählt werden:
z Gefühle der Verwirrtheit und Erstarrtheit,
z Gefühle der räumlichen Desorientierung,
z Empfindung, wie auf samtenem Boden oder auf Schaumgummi zu gehen, oder wie
wenn die Beine geleeartig weich wären,
z Gefühl der mangelnden Stabilität, des ungeschickten Gehens oder wie wenn die
Beine steif wären,
z Empfindung des Harndrangs und des „In-die-Hose-Machens“,
z Entwicklung depressiver Symptome,
z Gefühl des Kontrollverlusts,
z Kopfschmerzen,
z Überempfindlichkeit gegenüber Hitze, verbrauchter oder feuchter Luft,
z Überempfindlichkeit gegenüber Parfüm oder anderen Düften,
64 Angststörungen

z Überempfindlichkeit gegenüber Licht,


z Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen,
z Unbehagen bei verschwommener Sicht (z.B. Nebel),
z Unbehagen in der Dunkelheit,
z Schwächezustand (Asthenie),
z Gefühl, als ob im Kopf oder im Körper etwas gebrochen wäre,
z Gefühl, als ob man blind oder taub wäre.

Ängstliche Erwartung

Die Erwartungsangst wird oft zur Hauptursache für eine massive Beeinträchtigung des
allgemeinen Funktionsniveaus. Sie kann sich in zwei Formen äußern:
z Erwartungsangst hinsichtlich typischer oder atypischer Paniksymptome,
z ständige generelle Alarmbereitschaft, verbunden mit dem Gefühl der Unsicherheit,
der Unfähigkeit oder der Bedrohung der physischen bzw. psychischen Integrität.

Phobische und vermeidende Tendenzen

In der klinischen Praxis hängen Panikstörung und Agoraphobie oft eng zusammen. Das
ständige Vermeidungsverhalten stellt einen Bewältigungsversuch von Panikattacken
und Erwartungsängsten dar. Hinter einer Klaustrophobie (Angst vor engen und ge-
schlossenen Räumen) steht oft die Überempfindlichkeit gegenüber potenziellen Ein-
schränkungen der Atmung, inklusive der Einschränkung der Luftwege durch Sitzgurte
im Auto, Kravatten, geschlossene oberste Hemdknöpfe, Schlucken von Tabletten.
Diese Gegebenheiten passen zur Theorie eines falschen Erstickungsalarms von
Klein, wonach Panikattacken durch Atemnot und Erstickungsgefühle (erhöhte CO2-
Sensitivität) ausgelöst würden. Bestimmte Angstzustände sind in diesem Sinne eher der
Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung zuzuordnen als einer spezifischen Phobie. Eine
Liftphobie kann etwa damit begründet werden, dass im Falle des Steckenbleibens des
Aufzugs und fehlender Hilfe die Luft im Aufzug knapp werden könnte. Diese Angst
besteht trotz des Wissens, dass man im Lift nicht ersticken kann. Ähnliche Befürchtun-
gen von Atemnot gelten auch für den Aufenthalt in anderen geschlossenen Räumen.
Einige Sozialphobien zählen ebenfalls zur Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung.
Eine soziale Vermeidungstendenz wird oft mit der Angst vor dem öffentlichen Auftre-
ten von Paniksymptomen begründet, was als Verlust des Sozialprestiges gefürchtet wird
(„Was werden sich die anderen denken, wenn sie sehen, welche Zustände ich plötzlich
bekomme?“, „Wie entkomme ich, damit niemand meine Symptome bemerkt?“).
Krankheitsängste und Hypochondrie hängen mit der Fehlinterpretation körperlicher
Symptome als lebensgefährlich zusammen, wie dies bei Panikattacken nur für den Zeit-
punkt eines Angstanfalls typisch ist: Herzrasen als Zeichen eines Herzinfarkts, Kopf-
schmerzen als Vorboten eines Hirnschlags oder Kopftumors, leichte Atemprobleme als
Vorzeichen eines Asthma- oder Erstickungsanfalls, Magenschmerzen als Zeichen von
Magenkrebs. Die Beschäftigung mit medizinischen Themen (Lesen entsprechender
Bücher oder Artikel, Gespräche oder Filme über Krankheiten) verstärkt oft krankheits-
bezogene Ängste. Hypochondrische Patienten haben in Verbindung mit ihren an sich
harmlosen Symptomen eine anhaltende Krankheitsüberzeugung entwickelt.
Panikstörung 65

Die Bewältigung dieses Problems wird jedoch nicht durch ständige Vermeidung,
sondern nur durch angemessene Konfrontation mit den Angst machenden Inhalten ge-
lingen. Die Fülle der medizinischen Informationen in diesem Buch ist für bestimmte
Angstpatienten nicht beruhigend, sondern aktiviert vielmehr verschiedene Ängste.
Das Vermeiden von Medikamenten kann ebenfalls Ausdruck einer panikartigen Pho-
bie sein. Verschiedene Panikpatienten reagieren auf jedes Medikament im wahrsten
Sinn des Wortes „allergisch“. Jede angeführte Nebenwirkung des Medikaments auf dem
Beipackzettel wird gefürchtet oder bereits am eigenen Leib erlebt, was die Compliance
(Verhalten entsprechend den ärztlichen Anordnungen) erschwert. Manchmal besteht
gegenüber psychotropen Medikamenten sogar die irrationale Angst der Persönlichkeits-
veränderung und des Verlusts der Selbstkontrolle.
Hinter der Angst vor dem Einschlafen und der damit verbundenen Verzögerung des
Schlafengehens verbirgt sich nicht selten die Angst vor einer Panikattacke oder sogar
die Angst vor dem Tod im Schlaf. In gleicher Weise wird oft eine Narkose gefürchtet.
Die Furcht vor bestimmten Wetterbedingungen (Gewitter, Stürme usw.) kann eben-
falls mit erlebten oder gefürchteten panikähnlichen Zuständen zusammenhängen.

Bedürfnis nach Beruhigung durch andere

Menschen mit Panikstörung und Agoraphobie verlassen sich aufgrund ihrer Unsicher-
heit und Angst gerne auf die Hilfe anderer, weshalb sie rasch davon abhängig werden.
Ärzte und Therapeuten stellen ebenfalls überschätzte Sicherheitsgarantien dar.
Psychotherapien können oft deswegen nicht beendet werden, weil die vertraute Si-
cherheit dadurch verloren gehen würde. Es besteht nicht selten die Gefahr von Endlos-
therapien, ähnlich wie bei übermäßig langer Medikamenteneinnahme, weil man auf
diese Weise eine gewisse Sicherheit von außen hat, die man sich innerlich noch nicht
zutraut (der Arzt und der Psychotherapeut als Placebo).
Abergläubische Verhaltensweisen (z.B. bestimmte Gegenstände als Talisman) wer-
den ebenfalls dann eingesetzt, wenn das Vertrauen in die eigenen Kräfte fehlt.

Empfindlichkeit gegenüber Substanzen verschiedenster Art

Die erhöhte Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Substanzen ist ein typisches Merk-
mal bei vielen Panikpatienten. Mehrere Tassen Kaffee, etwas mehr Alkohol als ge-
wöhnlich, eine geringe Menge bestimmter Medikamente (z.B. Antidepressiva) oder
verschiedene Drogen (z.B. Ecstasy) können Panikattacken auslösen. Angst- und Panik-
patienten erleben auch eher als depressive Patienten verschiedene Nebenwirkungen
bestimmter Antidepressiva, weil sie oft einen sehr sensiblen Körper haben.
Der Beginn einer Pharmakotherapie mit der Zieldosis ohne einschleichendes Vorge-
hen sowie ein relativ rasches Absetzen von Medikamenten wie Tranquilizern und Anti-
depressiva führt bei vielen Panikpatienten zu mehr Symptomen als bei anderen Men-
schen. Manche Menschen mit einer Panikstörung neigen auch dann zu Panikattacken,
wenn die üblichen Richtlinien zur Dosisreduktion von Tranquilizern angewandt werden,
sodass vielfach ein noch langsameres Absetzen angebracht erscheint.
Im Falle einer Alkoholentzugsbehandlung treten bei Panikpatienten ebenfalls eher
Panikattacken auf als bei anderen Personen.
66 Angststörungen

Erhöhte Stressempfindlichkeit

Unter Laborbedingungen reagieren Panikpatienten nicht stärker auf Stress als andere
Versuchspersonen, verschiedene Studien haben jedoch ergeben, dass Panikpatienten für
stressende Lebensereignisse besonders empfindlich sind. Ein geringer Alltagsstress
kann bei einem Schlafdefizit, Überarbeitung u.a. zu Panikattacken führen.
Die erhöhte Stressempfindlichkeit kommt auch in paradoxer Weise zum Ausdruck,
und zwar durch das Auftreten von Panikattacken in der Phase der Entspannung nach
einem stressreichen Ereignis (z.B. Herzrasen nach einer anstrengenden Autofahrt, Ver-
lassen eines überfüllten Kaufhauses, Ausrasten nach einer sportlichen Betätigung, Hin-
legen nach vollbrachter Arbeit).

Erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Trennungs- oder Verlusterfahrungen

Im klinischen Alltag fällt auf, dass viele Panikpatienten gegenüber Trennungs- und
Verlusterfahrungen empfindlicher reagieren als andere Menschen, unabhängig davon,
ob bestimmte traumatisierende Verlusterfahrungen in der Kindheit gegeben waren.
Trennungsängste als Ausdruck der Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung können
sich in der Kindheit als Schulphobie äußern oder als Unmöglichkeit, allein im Zimmer
zu schlafen, insbesondere wenn kein Licht aufgedreht ist, im Erwachsenenalter als Un-
fähigkeit, wegen einer Arbeit das schützende Haus zu verlassen oder allein zu verreisen
aus beruflichen oder privaten Gründen. Verschiedene Autoren meinen, kindliche Tren-
nungsängste würden den Panikattacken Erwachsener entsprechen.
Menschen mit erhöhter Sensibilität für Verluste reagieren oft bereits bei der Gefahr
von Verlusten mit panikähnlichen Symptomen (z.B. nach einem heftigen Ehestreit,
beim Gedanken an Trennung aus eigener Initiative oder bei der Befürchtung, der Part-
ner könnte die Beziehung beenden, beim Gedanken an den möglichen Tod bestimmter
Angehöriger).
Partner werden nach dem Prinzip absoluter Verlässlichkeit ausgesucht. Partnerschaf-
ten sind daher entsprechend eng, um jedes Gefühl von Alleinsein zu vermeiden. Jede
Bedrohung dieser symbiotischen Beziehung bewirkt panikartige Ängste.
Das Panik-Agoraphobie-Spektrum-Modell wird gegenwärtig mit Hilfe eines speziel-
len Fragebogens empirisch zu überprüfen versucht. Es wurde bereits deutlich, dass die
Komorbidität mit einer Depression das Ausmaß einer Panik-Agoraphobie-Spektrum-
Störung verschärft.
Die Berücksichtigung der Erkenntnisse zur Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung
ermöglicht eine effizientere Pharmako- und Psychotherapie. Für die akute psychiatri-
sche Behandlung dieser Patienten bedeutet dies, dass im stationären Setting zuerst eine
vorhandene Depression zu behandeln ist und in weiterer Folge eine entsprechende
Angstbehandlung mit Medikamenten und/oder Psychotherapie einzuleiten ist. Die An-
nahme, dass die SSRI beide Störungen beseitigen, unterschätzt die Erwartungsängste.
Das Modell der Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung kehrt das traditionelle Den-
ken der europäischen Psychiatrie um. Es wird zwar eine dem aktuellen Störungsbild
zugrunde liegende Basis angenommen, jedoch nicht im Sinne einer prämorbiden Per-
sönlichkeitsstörung, sondern als konzentrierte Erfahrung bestimmter Symptome in der
Kindheit oder Jugend, die die Persönlichkeit so geformt haben, wie sie bei Erwachsenen
mit einer Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung in jeder Arztpraxis feststellbar ist.
Generalisierte Angststörung 67

Generalisierte Angststörung – Unkontrollierbare Sorgen

Historische Aspekte der generalisierten Angststörung


Sigmund Freud beschrieb im Rahmen der erstmaligen Definition der Angstneurose im
Jahr 1895 zwei sehr unterschiedliche Angststörungen in Form einer einzigen Diagnose,
wobei er die plötzlich und dramatisch auftretende Symptomatik der Panikattacken –
vielleicht erleichtert durch seine eigenen Erfahrungen – sehr treffend charakterisierte,
die Symptomatik der chronischen Angst dagegen relativ blass und vage mit den Begrif-
fen „allgemeine Reizbarkeit“ und „ängstliche Erwartung“ umschrieb. Diese Art der
Angst bezeichnete er als „frei flottierend“, weil sich die Erwartungsangst mit stets neu-
en ängstlichen Vorstellungsbildern verbinde.
Die psychoanalytisch orientierte Konzeption der Angstneurose wird in der neueren
Diagnostik nicht nur durch eine theorienfreie Beschreibung ersetzt, sondern völlig neu
als eigenständige Störung definiert. Die generalisierte Angststörung wird durch das
ICD-10 und das DSM-IV präziser definiert, als dies bei der recht vagen und umfassen-
den Charakterisierung der Angstneurose der Fall ist, sodass eine bessere empirische
Überprüfbarkeit und eine größere klinische Nützlichkeit gegeben ist.
Historisch gesehen handelt es sich bei der generalisierten Angststörung um die Rest-
kategorie der ehemaligen Diagnose der Angstneurose, die sich nach der Abtrennung der
Panikstörung ergab. Ihr eigenständiger und eindeutiger Charakter war lange Zeit um-
stritten und gilt nunmehr als gesichert. Die generalisierte Angststörung wurde erstmals
1980 im amerikanischen psychiatrischen Diagnoseschema DSM-III als eigenständige
Störung präsentiert, jedoch nur als eher diffuse Restkategorie nach Ausschluss anderer
Störungen verstanden und erst im DSM-IV in Form einer Positivdiagnostik als Aus-
druck ständiger unkontrollierbarer Sorgen angesehen. Sie ist im Vergleich zu anderen
Angststörungen noch weniger untersucht und im klinischen Alltag viel zu selten dia-
gnostiziert und behandelt. Sie findet auch in Forschung und Therapie erst in den letzten
Jahren jene Beachtung, die sie aufgrund ihrer Lebenszeithäufigkeit von 5% und ihrer
Ein-Jahres-Prävalenz von rund 3% in der Durchschnittsbevölkerung verdient. Im Ge-
gensatz zu früher gibt es auch bereits verschiedene Erfolg versprechende Therapiekon-
zepte, die zur Überwindung des früheren therapeutischen Pessimismus beitragen.
Im medizinischen Alltag besteht ein Hauptproblem bei der Erfassung dieser Störung
in dem Umstand, dass die Betroffenen häufig den Arzt aufsuchen, ohne von ihren stän-
digen Sorgen und Befürchtungen zu berichten, an die sich im Laufe der Zeit bereits
gewöhnt haben. Sie klagen überwiegend über Schlafstörungen, ständige Anspannung,
Kopfschmerzen, Übelkeit, Reizbarkeit, Nervosität und Konzentrationsstörungen, wes-
halb auch von erfahrenen Ärzten häufig die Fehldiagnose einer Depression gestellt wird,
wenngleich nach langer Dauer und unzureichender Behandlung der generalisierten
Angststörung häufig auch eine Depression als Folgesymptomatik auftritt.
Der klinische Eindruck einer Überlastung und Erschöpfung führt oft zur Verschrei-
bung von Antidepressiva und zur Empfehlung von mehr Ruhe, Entspannung und Erho-
lung, ohne dass die zentralen Ursachen der körperlichen Fehlsteuerung erkannt werden.
Sie liegen in einer erhöhten Aktivität des zentralen Nervensystems durch anhaltende
und unkontrollierbare Sorgen und nicht einfach in einer starken körperlichen Erschöp-
fung und Überaktivität des vegetativen (autonomen) Nervensystems. Die Betroffenen
haben daher häufig einen jahrelangen Leidensweg hinter sich, bis ihre generalisierte
Angststörung von Fachleuten als Ursache ihrer Beschwerden erkannt wird.
68 Angststörungen

Symptomatik der generalisierten Angststörung


Das ist das zentrale Merkmal der generalisierten Angststörung: ständige unkontrollier-
bare Sorgen und Befürchtungen, die psychisch krank machen und körperliche Sympto-
me bewirken. Die Betroffenen sind grüblerisch, überbesorgt und pessimistisch bezüg-
lich alltäglicher Ereignisse und geplagt von Erwartungsängsten („Die Welt und die
Zukunft sind gefährlich“). Es besteht ein ständig erhöhtes Angstniveau, das meist keine
Panikattacken, jedoch eine motorische Anspannung und vegetative Symptome bewirkt.
Als Kern einer empirisch-beschreibend definierten generalisierten Angststörung
wird im amerikanischen Diagnoseschema DSM-IV die exzessive Angst und Sorge über
mehrere Lebensumstände (im Sinne einer furchtsamen Erwartung) angesehen, die nicht
unter Kontrolle gebracht werden kann, sodass mindestens drei von sechs empirisch am
häufigsten gefundene körperliche Begleitsymptome (Ruhelosigkeit, leichte Ermüdbar-
keit, Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit, Muskelanspannung und Schlafstörungen)
auftreten. Es dominieren zentralnervöse Symptome (Erregung und Anspannung). Die
typischen vegetativen Angstsymptome (Herzklopfen, Atemnot Schwitzen, Übelkeit,
Kloßgefühl) wurden – im Gegensatz zum ICD-10 – als unspezifisch ausgeschlossen.
Die übermäßigen und unkontrollierbaren Sorgen in mehreren Bereichen (Arbeit,
Familie u.a.) sowie einige der charakteristischen Symptome müssen in den letzten sechs
Monaten an der Mehrzahl der Tage aufgetreten sein, sodass eine deutliche Beeinträchti-
gung der beruflichen und sozialen Funktionsfähigkeit sowie der Lebensqualität gegeben
ist. Die ständigen Sorgen sind nach dem DSM-IV – im Gegensatz zum DSM-III-R –
nicht unrealistische, sondern nur exzessiv-unkontrollierbar ausufernde Alltagssorgen.
Das DSM-IV [58] nennt folgende Kriterien für eine generalisierte Angststörung:

A. Übermäßige Angst und Sorge (furchtsame Erwartung) bezüglich mehrerer Ereignisse oder Tätig-
keiten (wie etwa Arbeit oder Schulleistungen), die während mindestens 6 Monaten an der Mehrzahl
der Tage auftraten.

B. Die Person hat Schwierigkeiten, die Sorgen zu kontrollieren.

C. Die Angst und Sorge sind mit mindestens drei der folgenden 6 Symptome verbunden (wobei zu-
mindest einige der Symptome in den vergangenen 6 Monaten an der Mehrzahl der Tage vorlagen)...
(1) Ruhelosigkeit oder ständiges „auf dem Sprung sein“,
(2) leichte Ermüdbarkeit,
(3) Konzentrationsschwierigkeiten oder Leere im Kopf,
(4) Reizbarkeit,
(5) Muskelspannung,
(6) Schlafstörungen (Ein- oder Durchschlafschwierigkeiten oder unruhiger, nicht erholsamer
Schlaf)...

D. Die Angst und Sorgen sind nicht auf Merkmale einer Achse-I-Störung beschränkt, z.B. die Angst
und Sorgen beziehen sich nicht darauf, eine Panikattacke zu haben (wie bei Panikstörung), sich in
der Öffentlichkeit zu blamieren (wie bei Sozialer Phobie), verunreinigt zu werden (wie bei
Zwangsstörung) … oder eine ernsthafte Krankheit zu haben (wie bei Hypochondrie) …

E. Die Angst, Sorge oder körperlichen Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden
oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

F. Das Störungsbild geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z.B. Droge, Medi-
kament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors … zurück…
Generalisierte Angststörung 69

Krankhafte Sorgen sind ständige Gedankenketten, die mögliche bedrohliche Situationen


zum Inhalt haben. Sie gehen mit Angst einher und werden als unkontrollierbar erlebt.
Nach dem ICD-10 ist eine generalisierte Angststörung eine generalisierte und an-
haltende Angst, die nicht auf bestimmte Situationen in der Umgebung beschränkt ist,
sondern frei flottierend auftritt. Sie geht mit zahlreichen Befürchtungen, Sorgen und
Vorahnungen in Bezug auf die eigene Person oder andere Menschen einher. Die Betrof-
fenen befürchten Krankheiten, Unfälle oder sonstige unangenehme Situationen im All-
tagsleben. Früher wurde diese Störung, die in einem ängstlichen, zukunftsgerichteten
Grübeln besteht, „Angstneurose“ genannt. Die ständigen Sorgen führen zu zahlreichen
körperlichen Symptomen als Ausdruck der motorischen Anspannung und vegetativen
Übererregbarkeit. Die primären Symptome von Angst treten an den meisten Tagen auf,
mindestens mehrere Wochen lang, meistens sogar mehrere Monate (mindestens 6 Mo-
nate nach den Forschungskriterien des ICD-10). Die Störung findet sich häufiger bei
Frauen, oft in Zusammenhang mit lang dauernden Belastungen durch äußere Umstände.
Der Verlauf ist schwankend, mit einer Tendenz zur Chronifizierung. Bei Kindern zeigt
sich eine generalisierte Angststörung im häufigen Bedürfnis nach Beruhigung sowie in
wiederholten körperlichen Beschwerden.
Nach den klinisch-diagnostischen Leitlinien des ICD-10 [59] sind bei einer generali-
sierten Angststörung (F41.1) folgende Symptome typisch:

1. Befürchtungen:
z Sorge über zukünftiges Unglück und entsprechende Vorahnungen: Angehörige
könnten demnächst erkranken oder verunglücken, unbegründete Geldsorgen,
übertriebene Sorgen um die Leistungsfähigkeit in der Schule oder im Beruf,
z Nervosität: ständige geistige Übererregbarkeit, erhöhte Aufmerksamkeit und Ge-
reiztheit angesichts der unkontrollierbaren Befürchtungen, Schreckhaftigkeit,
z Konzentrationsschwierigkeiten oder Vergesslichkeit.

2. Motorische Spannung:
z körperliche Unruhe,
z Spannungskopfschmerz,
z Zittern: sichtbarer Ausdruck der Muskelanspannung, unwillkürliches Zucken,
„wackelig auf den Beinen“ sein,
z Unfähigkeit, sich zu entspannen: ständige muskuläre Anspannung, verbunden
mit rascher Ermüdbarkeit und Erschöpfung.

3. Vegetative Übererregbarkeit:
z Schwindel oder Benommenheit,
z Atemnot, Erstickungsgefühle oder Atembeschleunigung,
z Herzrasen,
z Schwitzen,
z Hitzewallungen oder Frösteln,
z feucht-kalte Hände,
z Magen-Darm-Beschwerden: Übelkeit, Bauchschmerzen, Durchfall,
z häufiges Wasserlassen (Harndrang),
z Mundtrockenheit,
z Schluckbeschwerden oder Gefühl, einen „Kloß im Hals“ zu haben,
z Ein- oder Durchschlafstörungen.
70 Angststörungen

Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [60] bestehen folgende Merkmale:

A. Ein Zeitraum von mindestens sechs Monaten mit vorherrschender Anspannung, Besorgnis und
Befürchtungen in Bezug auf alltägliche Ereignisse und Probleme.

B. Mindestens vier Symptome der unten angegebenen Liste, davon eins von den Symptomen 1. bis 4. ,
müssen vorliegen:

Vegetative Symptome:
1. Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz
2. Schweißausbrüche
3. fein- oder grobschlägiger Tremor
4. Mundtrockenheit (nicht infolge Medikation oder Exsikkose).

Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen:


5. Atembeschwerden
6. Beklemmungsgefühl
7. Thoraxschmerzen und -missempfindungen
8. Nausea oder abdominelle Missempfindungen (z.B. Kribbeln im Magen).

Psychische Symptome:
9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder
„nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)
11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“
12. Angst zu sterben.

Allgemeine Symptome:
13. Hitzewellen/-wallungen oder Kälteschauer
14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle.

Symptome der Anspannung:


15. Muskelverspannung, akute und chronische Schmerzen
16. Ruhelosigkeit und Unfähigkeit zum Entspannen
17. Gefühle von Aufgedrehtsein, Nervosität und psychischer Anspannung
18. Kloßgefühl im Hals oder Schluckbeschwerden.

Andere unspezifische Symptome:


19. übertriebene Reaktionen auf kleine Überraschungen oder Erschrecktwerden
20. Konzentrationsschwierigkeiten, Leeregefühle im Kopf wegen Sorgen oder Angst
21. anhaltende Reizbarkeit
22. Einschlafstörung wegen Besorgnissen

C. Die Störung erfüllt nicht die Kriterien für eine Panikstörung (F41.0), eine phobische Störung (F40),
eine Zwangsstörung (F42) oder eine hypochondrische Störung (F45.2).

D. Ausschlussvorbehalt: Die Störung ist nicht zurückzuführen auf eine organische Krankheit wie eine
Hyperthyreose, eine organische psychische Störung (F0) oder auf eine durch psychotrope Substan-
zen bedingte Störung (F1), z.B. auf einen exzessiven Genuss von amphetaminähnlichen Substanzen
oder auf einen Benzodiazepinentzug.

Die ICD-10-Forschungskriterien erweitern bei der generalisierten Angststörung die


bekannte Liste der 14 möglichen Symptome einer Angststörung um weitere acht Sym-
ptome (vier Symptome der Anspannung und vier andere unspezifische Symptome),
sodass sich insgesamt eine Liste von 22 möglichen Symptomen ergibt.
Generalisierte Angststörung 71

Nach dem ICD-10 sind die Sorgen und Befürchtungen – im Gegensatz zum DSM-
IV – nicht unkontrollierbar und auch nicht übermäßig; laut ICD-10-Forschungskriterien
müssen mindestens 4 von 22 möglichen Begleitsymptomen vorhanden sein. Eine gene-
ralisierte Angststörung ist – wie nach DSM-III-R – ausgeschlossen, wenn gleichzeitig
eine depressive Episode, eine Panikstörung, eine phobische Störung, eine Zwangsstö-
rung oder eine hypochondrische Störung vorliegen. Als Restkategorie handelt es sich
bei der generalisierten Angststörung im ICD-10 um keine eigenständige Angststörung,
die DSM-IV-Kriterien betonen die Eigenständigkeit der Störung bei Komorbidität.
Das DSM-IV-Kriterium, dass die Sorgen „exzessiv“ (übermäßig) sein müssen, sollte
zukünftig – wie im ICD-10 – gestrichen werden, da laut Studien auch anhaltende nor-
male Sorgen im Laufe der Zeit zu erheblichen Beeinträchtigungen der Funktionsfähig-
keit führen. Im ICD sollte dagegen zukünftig das DSM-IV-Kriterium, dass die Sorgen
unkontrollierbar sein müssen, aufgenommen werden.
Neuere Studien weisen darauf hin, dass die geforderte Dauer der generalisierten
Angststörung von mindestens einem halben Jahr die Zahl der Betroffenen unterschätzt,
da auch zahlreiche Personen mit geringerer Dauer der Störung unter erheblichen Funk-
tionseinschränkungen und Einbußen der Lebensqualität leiden. Die 6 möglichen Sym-
ptome des DSM-IV erweisen sich laut Studien viel besser geeignet als die 22 möglichen
Symptome der ICD-10-Forschungskriterien, eine generalisierte Angststörung zu dia-
gnostizieren. Bei Berücksichtigung der vegetativen Symptome, wie dies im ICD-10 der
Fall ist, gelingt nur schwer eine Abgrenzung gegenüber der Panikstörung.
Bei weniger restriktiven DSM-IV-Kriterien (Dauer der Störung nur mindestens
einen Monat, Verzicht auf das Kriterium der Übermäßigkeit/Exzessivität der Ängste
und nur mindestens zwei Symptome) würde die Häufigkeit der generalisierten Angst-
störung in der Bevölkerung (auf der Basis der amerikanischen NCS-R-Daten) um mehr
als das Doppelte ansteigen. Die Daten bezüglich Komorbidität wären dagegen geringer.
Die Betroffenen begeben sich meist nicht wegen der Symptome der generalisierten
Angststörung, an die sie sich oft schon gewöhnt haben, in ärztliche Behandlung, son-
dern wegen der Begleit- und Folgestörungen, z.B. depressive Episode, Muskelverspan-
nung, anhaltende somatoforme Schmerzstörung oder Substanzmissbrauch, d.h. meistens
erst im Falle einer Komorbidität. Bei der Diagnostik der generalisierten Angststörung in
der klinischen Praxis tritt nicht selten eine Komplikation dadurch auf, dass die Betroffe-
nen oft beklagen, die Kontrolle über ihre ständigen Ängste zu verlieren („Meine Gedan-
ken laufen dahin, ich bekomme sie nicht mehr unter Kontrolle“), verrückt zu werden
(„Bald schnappe ich über“) oder nicht mehr gesund zu werden („Mir kann kein Arzt
mehr helfen“), ohne dass gleichzeitig eine Panikstörung, eine Depression oder eine
Schizophrenie gegeben ist. Dennoch wird vom konsultierten Arzt nicht selten die Ver-
dachtsdiagnose „schwere Depression“ oder gar „beginnende Schizophrenie“ gestellt –
oder die Betroffenen werden als hypochondrisch bzw. hysterisch abqualifiziert.
Unnötig häufig werden schwere Psychopharmaka verordnet, vor allem auch Neuro-
leptika, obwohl keine Anzeichen für eine beginnende Schizophrenie gegeben sind. Da
die Betroffenen oft sehr empfindlich sind gegenüber Psychopharmaka, treten durch die
verabreichten Neuroleptika und Antidepressiva (anfangs nicht selten in zu hoher Dosis)
zusätzliche Symptome auf, die von Menschen mit einer generalisierten Angststörung als
weiterer Beweis ihrer Unheilbarkeit gewertet werden. Wegen der eskalierenden Sym-
ptomatik erfolgt dann öfter eine (bei richtiger Diagnose und Behandlung meistens nicht
erforderliche) Einweisung in die Psychiatrie, was die Betroffenen in ihren Ängsten
massiv verstärken kann, vor allem auch durch die dort gemachten Erfahrungen.
72 Angststörungen

Menschen mit generalisierter Angststörung unterschieden sich von gesunden Perso-


nen nicht bezüglich der Inhalte, über die sie sich sorgen, wohl aber hinsichtlich der Zeit,
die sie mit Sorgen zubringen. Während sich laut Studien Patienten mit einer generali-
sierten Angststörung 60% des Tages (mehr als 6 Stunden) sorgen, trifft dies bei gesun-
den Kontrollgruppen nur in 18% der Fälle zu. Lediglich um den täglichen Kleinkram
sorgen sich Angstpatienten viel mehr als andere Menschen [61]. Die Betroffenen wis-
sen, dass sich andere nicht um solche Kleinigkeiten sorgen. Sie sorgen sich auch mehr
als andere um mögliche zukünftige Ereignisse, ohne Lösungsstrategien zu entwickeln.
Sie leben ständig „in der Zukunft“ („Was wäre, wenn“) und zu wenig im Hier und Jetzt.
Die anhaltenden Sorgen kreisen gewöhnlich um folgende Inhalte: Krankheit, Ver-
letzungen, Familienangelegenheiten, Beruf, Finanzen, Kleinigkeiten des Alltagslebens,
Umwelt u.a. Der alltägliche Kleinkram wie zusätzliche Haushaltstätigkeiten (Waschen
oder Wohnungsreinigung), geringfügige Reparaturen und Renovierungen, verschiedene
Termine, finanzielle Ausgaben in überschaubarem Ausmaß, normale Veränderungen
wie geplanter Umzug, gewünschter Berufswechsel des Gatten oder notwendiger Schul-
wechsel des Kindes bringen die betroffene Person völlig durcheinander und machen sie
ständig nervös und angespannt. Alles wird gleich zur größten Katastrophe – und den-
noch kann, obwohl die eine Sache noch gar nicht überstanden ist, bald wieder etwas
völlig anderes im Zentrum der ängstlichen Besorgtheit stehen: Es bilden sich Sorgen-
Ketten. Das Springen von einem Thema zum anderen wirkt kurzfristig spannungsver-
mindernd, weil das Verweilen bei einem Inhalt die Angst zur Panik steigern könnte.
Die Ängste werden oft nicht durch bestimmte äußere Reize oder Situationen ausge-
löst, weshalb das äußere Vermeidungsverhalten keine so große Rolle spielt wie bei
Phobien, auch nicht durch bestimmte Körperwahrnehmungen wie bei Panikattacken.
Äußere Reize können jedoch die innere Bereitschaft zu Sorgen aktivieren. Latent vor-
handene Ängste vor Erkrankungen in der Familie können durch Informationen über
momentan gehäuft auftretende Fälle einer bestimmten Krankheit sofort manifest wer-
den. Auf Dauer empfinden die Betroffenen ihr ständiges Sorgen als sehr belastend,
können es aber dennoch nicht kontrollieren, verglichen mit nichtängstlichen Personen,
die sich (allerdings weniger lange) über dieselben Angelegenheiten sorgen können.
Das innere Vermeidungsverhalten der Betroffenen (nicht an die Sorgen denken und
sich ständig ablenken mithilfe bestimmter Strategien) verhindert eine zielführende Aus-
einandersetzung mit den ständigen Befürchtungen und verstärkt letztlich die Sorgen,
d.h. der kurzfristige Beruhigungseffekt wirkt sich langfristig fatal aus. Manche Patien-
ten sind subjektiv überzeugt, dass das ständige Sorgen sinnvoll ist, um auf mögliche
negative Ereignisse besser vorbereitet zu sein. Ein Beispiel veranschaulicht die Störung:

Frau Huber, 37 Jahre alt, verheiratet mit einem Außendienstmitarbeiter, Mutter von zwei Vorschulkin-
dern und seit einem Jahr halbtags berufstätig, macht sich ständig wechselnde Sorgen: ob sie Haushalt,
Kinderbetreuung und Beruf auf Dauer ohne Überforderung bewältigen könne; ob dem Gatten bei seinen
täglichen, beruflich veranlassten Reisen nicht doch einmal etwas passieren könnte oder ihm seine
ungesunde und unregelmäßige Ernährung nicht einmal schaden könnte; ob die Kinder während ihrer
Arbeitszeit von ihrer Mutter wirklich ausreichend betreut werden; ob sie nicht im Falle einer Grippe der
Kinder durch einen nötigen Pflegeurlaub von der Kündigung bedroht sein könnte; ob sie bei ihren
Schlafstörungen nicht einmal aus Konzentrationsmangel einen gröberen Fehler in der Arbeit machen
könnte; ob sie nicht wegen des starken Verkehrs öfter verspätet in die Arbeit kommen könnte und dann
mit Kritik vonseiten ihres Chefs rechnen müsste; ob tatsächlich genug Geld vorhanden ist, um nach den
Vorstellungen des Gatten einen Hausbau zu wagen; ob sie sich daneben wirklich auch noch ein Auto
für die Fahrt zur Arbeit, eine bessere Waschmaschine und einen neuen Ofen leisten könne; ob ihr ge-
liebter herzkranker Vater nicht bald sterben könnte, weil er zuletzt öfter im Krankenhaus war.
Generalisierte Angststörung 73

Die Betroffenen erreichen trotz chronischer Anspannung („auf dem Sprung sein“) meist
nicht eine körperliche Aktivierung im Ausmaß einer Panikattacke – und wenn dies doch
einmal der Fall ist, weil eine ganz bestimmte Sorge in lebendig-plastischen Bildern in
den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit tritt, besteht in der klinischen Praxis häufig die
Gefahr, angesichts der dramatischen Schilderung einer Panikattacke die bereits jahre-
lang vorhandene generalisierte Angststörung zu übersehen oder deren dauerhaft vor-
handene körperliche Symptomatik als Ausdruck einer Depression fehlzudiagnostizieren.
Die Sorgen als Gedankenketten bezüglich möglicher bedrohlicher Situationen und
die daraus resultierenden Körpersymptome schaukeln sich gewöhnlich erst dann zu
einer Panikattacke auf, wenn die kognitive Vermeidung nicht mehr gelingt, insbesonde-
re wenn eine sehr bildhafte Vergegenwärtigung der vermeintlichen Gefahr diese als
schon fast eingetreten erscheinen lässt. Die bildhafte Vergegenwärtigung eines gefürch-
teten Ereignisses wirkt derart lähmend, dass zielführendes Denken und konstruktives
Handeln nicht möglich sind. Panik, berichtet als „Panikattacke“, ist die Folge.
Im Gegensatz zu den Sorgen von Depressiven, die meist mit Ereignissen in der Ver-
gangenheit zu tun haben, sind die Sorgen von Patienten mit generalisierten Ängsten auf
die Zukunft gerichtet. Das Ergebnis ist jedoch in beiden Fällen dasselbe: Es kommt zu
keinem beruhigenden Abschluss des Denkprozesses. Depressive können Verlusterleb-
nisse oder Schuldgefühle bezüglich vermeintlicher Fehler nicht überwinden, Angstpati-
enten finden kein Vertrauen zu sich und zur Zukunft. Sie zeigen eine Intoleranz gegen-
über Unsicherheit und Unkontrollierbarkeit und suchen absolute Sicherheit.
Die sinnhafte Funktion von Sorgen (Unsicherheit zu reduzieren und sich auf ein
mögliches negatives Ereignis vorzubereiten), ist bei Menschen mit generalisierten Äng-
sten verloren gegangen. Unabhängig davon, wie berechtigt die Befürchtungen tatsäch-
lich sind, kommt es zu keinem zielführenden Abschluss der Überlegungen nach dem
Motto: „Wenn X eintritt, werde ich Y tun“, sodass von einem ständigen Grübeln ohne
mentale Vorentscheidungen gesprochen werden kann. Dies vermittelt und verstärkt das
Gefühl von Hilflosigkeit und Kontrollverlust über die Lebenssituation. Trotz des
Sorgens von über sechs Stunden pro Tag müssen – ähnlich wie bei Zwangspatienten –
Angehörige und Bekannte beruhigend wirken. Die Betroffenen müssen sich zu ihrer
Beruhigung ständig bei anderen Menschen rückversichern, dass nichts passieren wird.
Eine derart ängstliche Frau wird so von ihrem Gatten abhängig wie ein kleines Kind.
Man kann das ständige Sich-Sorgen als „Problemlöseprozess ohne Problemlösung“
verstehen. Die Betroffenen spielen gedanklich alle möglichen Katastrophen (Worst-
Case-Szenarien) durch, ohne jemals zu Lösungen zu gelangen, wie diese Katastrophen
vermieden werden könnten (z.B. „Wenn mein Mann nicht zum vereinbarten Zeitpunkt
zu Hause ist, ist ihm bestimmt etwas zugestoßen“). Die Besorgnis erregenden Überle-
gungen beziehen sich stets auf negative Aspekte, mögliches Versagen oder Unglück und
führen nicht zu hilfreichen und damit beruhigend wirkenden Lösungsstrategien. Das
Grübeln stellt nicht nur ein Problem dar, sondern auch einen Lösungsversuch. Sich zu
sorgen, scheint noch größeres Leid verhindern zu können („Ich muss mich ständig sor-
gen, sonst passiert noch etwas Schlimmes“). Wenn sich vorübergehend Erleichterung
einstellt, weil man sich lange genug mit einer Befürchtung beschäftigt hat und nun
gleichsam vor einer realen Gefahr bewahrt bleibt, wird das Grübeln letztlich verstärkt.
Unkontrollierbare Befürchtungen führen zu einem ausgeprägten Vermeidungsver-
halten, das die Lebensqualität erheblich beeinträchtigt, z.B. erfolgt aus Angst vor Risi-
ken ein Verzicht auf Kinder, sportliche Aktivitäten, weite Reisen, Kreditaufnahme für
einen Hausbau, leitende berufliche Position mit Verantwortungsübernahme u.a.
74 Angststörungen

Epidemiologie, Verlauf und Folgen der generalisierten Angststörung


Zusammenfassend gesehen leiden nach verschiedenen Studien rund 5% der Bevölke-
rung im Laufe des Lebens und rund 3% aktuell unter einer generalisierten Angststörung.
Die Häufigkeit der Störung ist im Steigen begriffen. Jüngere Menschen sind mehr da-
von betroffen als ältere, Frauen doppelt so oft als Männer.
Die Häufigkeitsdaten zur generalisierten Angststörung müssen auf dem Hintergrund
der jeweiligen Diagnosekriterien gesehen werden [62]. Diese haben sich in den USA
vom DSM-III über das DSM-III-R bis zum DSM-IV erheblich geändert und unterschei-
den sich auch vom ICD-10 sehr wesentlich. Zwischen den DSM-IV- und den ICD-10-
Kriterien besteht laut Studien nur eine Übereinstimmung um 50%. Nach den ICD-10-
Kriterien wird eine höhere Häufigkeitsrate erhoben als nach den DSM-IV-Kriterien.
In den USA wurde im Rahmen einer nationalen Studie (NCS-Studie) in den 1990er-
Jahren mithilfe der DSM-III-R-Kriterien die generalisierte Angststörung lebenszeitbe-
zogen bei 5,1%, innerhalb des letzten Jahres bei 3,1% und innerhalb des letzten Monats
bei 1,6% der Bevölkerung gefunden (nach ICD-10-Kriterien lebenszeitbezogen bei
8,9%). Die Störung zeigte sich lebenszeitbezogen bei 6,6% der Frauen und 3,6% der
Männer, innerhalb des letzten Jahres bei 4,3% der Frauen und 2,0% der Männer, inner-
halb des letzten Monats bei 2,1% der Frauen und 1,0% der Männer. Es bestand eine
Lebenszeit-Komorbidität von 90,5%, d.h. die Betroffenen wiesen zumeist auch noch
mindestens eine andere psychische Störung auf. Aktuell (auf die letzten 30 Tage bezo-
gen) zeigte sich bei beachtlichen 66,3% eine weitere psychische Störung, während nur
ein Drittel eine reine generalisierte Angststörung aufwies. Von den Betroffenen fühlten
sich 49% im Leben deutlich beeinträchtigt, suchten 66% irgendeine Form von Hilfestel-
lung und nahmen 44% Medikamente.
Nach der neueren nationalen Erhebung in den USA (NCS-R-Studie) in den Jahren
2001-2003 mithilfe der DSM-IV-Kriterien ergab sich eine Häufigkeit der generalisier-
ten Angststörung lebenszeitbezogen von 5,7% (Frauen: 7,1%, Männer; 4,2%) und in-
nerhalb der letzten 12 Monate von 3,1%. Bei weniger strengen Kriterien (Dauer nur
mindestens vier Wochen, Verzicht auf das Kriterium der Exzessivität der Sorgen) be-
stand eine Lebenszeithäufigkeit von 12,8% und eine 12-Monate-Häufigkeit von 6,2%.
Unter Berücksichtigung eines dritten Kriteriums (nur zwei statt mindestens drei Sym-
ptome) ergab sich nur mehr ein minimaler Häufigkeitsanstieg (lebenszeitbezogen 13,7%
und 12-Monate-Häufigkeit 6,6%). Menschen mit unkontrollierbaren Sorgen von weni-
ger als 6 Monaten unterscheiden sich hinsichtlich zahlreicher Parameter kaum von Per-
sonen mit mindestens 6 Monate anhaltenden unkontrollierbaren Befürchtungen, d.h. auf
der Grundlage der gegenwärtigen Diagnosekriterien wird nicht nur die Häufigkeit der
generalisierten Angststörung unterschätzt, sondern auch das Beeinträchtigungsausmaß
einer relativ großen subklinischen Bevölkerungsgruppe. Eine Lockerung der DSM-IV-
Diagnose-Kriterien ist angezeigt. Das diffuse, schwer objektivierbare Kriterium der
„übermäßigen“ Besorgtheit, das ursprünglich die Pathologisierung normaler Alltagssor-
gen in Reaktion auf stressreiche Lebensereignisse verhindern sollte, könnte zumindest
entschärft werden durch Bezeichnungen wie „intensive“ oder „häufige“ Sorgen.
Eine nationale Befragung in den Niederlanden fand bei 2,3% im Laufe des Lebens
und bei 1,2% im Laufe der letzten 12 Monate eine generalisierte Angststörung. Eine
nationale Befragung in Australien erhob nach DSM-IV-Kriterien eine Ein-Jahres-
Prävalenz von 3,6%.
Generalisierte Angststörung 75

Es gibt auch verschiedene Studien zur Häufigkeit von Patienten mit einer generali-
sierten Angststörung in den Allgemeinarztpraxen. Nach einer WHO-Studie ist die gene-
ralisierte Angststörung die häufigste Angststörung in Allgemeinarztpraxen von 15 Län-
dern (6-Monate-Prävalenz 7,9% nach dem ICD-10, 5,3% nach dem strengeren DSM-
IV). Die wenigsten Betroffenen nennen „Angstprobleme“ als Konsultationsgrund.
Unter Leitung des Experten Wittchen wurde die weltweit größte Studie zu generali-
sierten Angststörungen und Depressionen in den Ordinationen von 558 deutschen All-
gemeinärzten bei über 20000 Patienten erstellt (GAD-P-Studie: Generalisierte Angst
und Depression in der Primärärztlichen Versorgung). Alle Patienten, die am Stichtag
den Hausarzt aufsuchten, wurden mittels eines standardisierten Fragebogens zu ihren
aktuellen psychischen Beschwerden befragt. Unabhängig davon charakterisierten die
Hausärzte nach der Konsultation das Störungsbild, den Schweregrad, den Behandlungs-
bedarf sowie den psychischen und physischen Gesundheitszustand des Patienten.
27% der Hauarztpatienten, d.h. mehr als ein Viertel der Patienten, litten in den ver-
gangenen vier Wochen unter Angstbeschwerden, ängstlicher Anspannung und Besorg-
nis. Jeder fünfte dieser Patienten wies eine seit mehr als sechs Monaten andauernde
generalisierte Angststörung auf. Die generalisierte Angststörung mit einer Stichtagsprä-
valenz von 5,6% gehört damit zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in der All-
gemeinarztpraxis. Die generalisierte Angststörung wurde jedoch bei zwei Drittel der
Patienten von den Ärzten nicht erkannt. Noch weniger Patienten werden adäquat behan-
delt, was für die Betroffenen und das Gesundheitssystem schwerwiegende Folgen hat.
Nur ein Drittel der Patienten mit einer generalisierten Angststörung werden von
Hausarzt richtig diagnostiziert. Andererseits waren nur 16% der hausärztlich gestellten
Diagnosen einer generalisierten Angststörung richtig. Bei einem Drittel der Patienten
mit einer generalisierten Angststörung äußerte der Hausarzt nicht einmal einen Verdacht
auf irgendeine psychische Störung. Fast jeder zweite Betroffene wurde nicht richtig
behandelt, zumeist weil die Störung nicht erkannt wurde. Weniger als 20% der Betrof-
fenen erhalten eine spezifische medikamentöse Therapie. Von den 40% psychothera-
peutisch behandelten Patienten erhält nur ein Bruchteil davon eine effektive kognitive
Verhaltenstherapie. Mit zunehmender Erkrankungsdauer kommt es zu immer häufige-
ren deprimierenden erfolglosen Bewältigungsversuchen und untauglichen und chronifi-
zierenden Behandlungsversuchen der Ärzte, sodass im Laufe der Zeit häufig auch noch
eine Depression im Sinne einer Komorbidität auftritt. Die generalisierte Angststörung,
an der über 2,5 Millionen der deutschen Bevölkerung leiden, verursacht die höchsten
arbeitsbezogenen Einschränkungen (angstbedingte Fehlzeiten und Minderleistung).
Nach einer großen Studie in Allgemeinarztpraxen in Skandinavien (Dänemark,
Finnland, Norwegen und Schweden) im Jahr 2001 leiden 6,0% der Frauen und 4,8% der
Männer unter einer generalisierten Angststörung. Es ergab sich damit ein ähnlicher
Befund wie in Deutschland, in den skandinavischen Ländern zeigte sich jedoch eine fast
doppelt so hohe Komorbidität von generalisierter Angststörung und depressiver Störung
als in deutschen Allgemeinarztpraxen. Nur ein Drittel bis zur Hälfte der Betroffenen
wurde von den Hausärzten richtig diagnostiziert.
Laut Studien [63] weisen 90% der Patienten mit generalisierten Ängsten in Behand-
lungseinrichtungen mindestens eine weitere Störung auf, oft auch mehr als zwei, am
häufigsten eine Dysthymie bzw. depressive Störung, aber auch andere Angststörungen
(vor allem soziale Phobie, spezifische Phobie oder Panikstörung). Gehäuft findet man
(meist vermeidende oder dependente) Persönlichkeitsstörungen. Bei Bevölkerungsstu-
dien in den USA und Australien ergaben sich ähnliche Komorbiditäten um 90%.
76 Angststörungen

Eine generalisierte Angststörung beginnt meist in jüngerem Alter als eine Panikstö-
rung, und zwar zwischen 11. Lebensjahr und frühen 20er-Jahren (bei zwei Drittel). Ein
zweiter (geringerer) Altersgipfel liegt zwischen dem 30. und dem 35. Lebensjahr [64].
Die Werte bleiben stabil hoch mindestens bis zum 55. Lebensjahr. Unter älteren Perso-
nen (vor allem Frauen) ist die generalisierte Angststörung die häufigste Angststörung.
Die Störung beginnt im Gegensatz zur Panikstörung meist langsam, ohne ein auslösen-
des, einschneidendes Ereignis. Ihre Entwicklung wird begünstigt durch bestimmte le-
bensgeschichtliche Ereignisse und Erfahrungen (frühe Trennung von den Eltern, unsi-
chere Eltern-Kind-Bindung, negative Erlebnisse in der Schulzeit, alkoholkranker Vater,
bedrohliche Ereignisse wie Arbeitslosigkeit oder finanzielle Probleme, allgemein erhöh-
tes Stressniveau, körperliche und sexuelle Gewalt sowie andere Traumatisierungen).
Den Betroffenen ist lange Zeit nicht bewusst, dass ihre ständigen Sorgen und Be-
fürchtungen eine Krankheit darstellen. Viele Patienten kennen sich von klein auf als
Person, die ständig besorgt ist über alle möglichen Dinge des Lebens. Sie gehen daher
anfangs häufig nicht in psychotherapeutische Behandlung, sondern suchen wegen der
zunehmenden körperlichen Begleitsymptomatik (Schlafstörung, chronische Verspan-
nung, Nervosität, Magen-Darm-Probleme, Kopfschmerzen u.a.) den Hausarzt auf.
Neuere Studien belegen enge Zusammenhänge zwischen generalisierter Angststö-
rung und psychosomatischen Beschwerden, insbesondere Schmerzstörungen und Ma-
gen-Darm-Beschwerden. Ein gutes Drittel der Patienten leidet unter einem Reizdarm-
syndrom. Die generalisierte Angststörung kann einerseits über den Weg der chronischen
Muskelverspannung zu einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung führen, ande-
rerseits können chronische Schmerzen eine generalisierte Angststörung begünstigen.
Sobald körperliche Beschwerden hartnäckig andauern, nehmen die Betroffenen ver-
mehrt medizinische Dienste in Anspruch zur diagnostischen Abklärung und primär
organmedizinisch ausgerichteten Behandlung ihrer Beschwerden.
Die Störung verläuft ohne adäquate Behandlung oft chronisch, mit einer geringen
Spontanheilungsrate. Schwankungen der Befindlichkeit sind allerdings typisch. Bei
rund der Hälfte der Betroffenen gibt es durchaus symptomfreie Intervalle. Positiv-
lebensverändernde Ereignisse (z.B. Heirat) können den Verlauf einer generalisierten
Angststörung oft nicht beeinflussen. Mit der Fortdauer der Störung nehmen Anzahl und
Ausprägungsgrad der Symptome zu. In Belastungssituationen tritt häufig eine Ver-
schlechterung auf. Wenn die Störung länger als ein Jahr andauert, lassen sich oft auch
andere Störungen feststellen, insbesondere soziale Phobie, Dysthymie (lang andauernde,
leichte depressive Verstimmung), Medikamentenmissbrauch und Persönlichkeitsstörun-
gen, vor allem eine ängstlich-vermeidende oder zwanghafte Persönlichkeitsstörung.
Aufgrund des großen subjektiven Leidensdrucks und der möglichen Folgen ist die
generalisierte Angststörung als sehr beeinträchtigende Störung anzusehen. Die soziale
Beeinträchtigung ist oft größer als bei Patienten mit einer chronisch somatischen Er-
krankung. Die Betroffenen werden wegen der zahlreichen anhaltenden körperlichen
Symptome meist nur medikamentös behandelt, vor allem mit Medikamenten für Schlaf-
störungen und Nervosität. Die Grundkrankheit wird oft übersehen. Rund ein Drittel der
Personen mit einer generalisierten Angststörung war laut eigenen Angaben bereits lange
vor Beginn der Störung nervös und ängstlich.
In Hausarzt-Praxen stellen generalisierte Ängste die häufigste Angststörung dar,
obwohl die Betroffenen meist nicht deswegen zum Arzt gehen. Dies zeigt die Notwen-
digkeit der Früherkennung, um großes individuelles Leid und hohe volkswirtschaftliche
Kosten wegen der Begleit- und Folgekrankheiten rechtzeitig verhindern zu können.
Generalisierte Angststörung 77

Differenzialdiagnose
Die Ängste bei einer generalisierten Angststörung weisen vielfältigste Inhalte auf und
sind nicht auf bestimmte Themen begrenzt, wie dies bei anderen Angststörungen der
Fall ist: Angst vor einer Panikattacke (Panikstörung), Angst vor fehlender Fluchtmög-
lichkeit (Agoraphobie), Angst vor Kritik (Sozialphobie), Angst vor Verunreinigung
(Zwangsstörung), Angst vor dem Wiedererleben bestimmter traumatisierender Erfah-
rungen (posttraumatische Belastungsstörung), Angst vor einer ernsthaften Erkrankung
(Hypochondrie), Angst vor vielfältigen Körpersymptomen (Somatisierungsstörung).
Im Vergleich zu Panikpatienten, die plötzlich auftretende Symptome (Herzrasen,
Atemnot) als lebensgefährliche Bedrohung erleben, dominieren bei Menschen mit gene-
ralisierter Angststörung andere, jedoch länger anhaltende körperliche Beschwerden
(Übelkeit, Durchfall, Kopfschmerzen, Anspannung, Schlafstörungen) sowie Befürch-
tungen bezüglich anderer möglicher Bedrohungssituationen (Sorgen um die Zukunft
und die mögliche Gefährdung Angehöriger, Verlustängste, interpersonelle Probleme).
Im Vergleich zu Sozialphobikern, die sich vor sozialen Leistungssituationen fürch-
ten, sind die Ängste unabhängig von sozialen Situationen. Gegenüber spezifischen Pho-
bien imponiert das stärkere „Was wäre, wenn…?“, ohne Vermeidung externer Reize.
Im Vergleich zu Depressiven klagen die Betroffenen weniger über Interessenverlust,
Niedergeschlagenheit oder psychomotorische Verlangsamung und grübeln auch weni-
ger über Selbstmord oder Schuldthematiken; die Sorgen sind nicht einseitig auf die
Vergangenheit und das eigene Versagen gerichtet, sondern ängstlich-zukunftorientiert
nach dem Motto „Was wäre, wenn“. Bei Menschen mit einer Depression drehen sich
die Sorgen und Grübeleien typischerweise um Ereignisse aus der Vergangenheit, die mit
Fehlschlägen, vermeintlichen Schuldgefühlen oder Verlusterlebnissen zu tun haben.
Menschen mit einer generalisierten Angststörung sorgen sich zwar ständig über alles
Mögliche in der Zukunft, hoffen aber doch, dass das Bevorstehende gut ausgeht. De-
pressive Patienten sind dagegen überzeugt, dass es angesichts betrüblicher Ereignisse in
der Vergangenheit und Gegenwart keine positive Zukunft mehr geben kann. Der ängst-
liche Mensch will eine Katastrophe um jeden Preis vermeiden, für den depressiven
Menschen ist dagegen die Katastrophe bereits eingetreten.
Im Vergleich zu Menschen mit einer Hypochondrie sorgen sich Menschen mit einer
generalisierten Angststörung über eine Fülle möglicher Gefahren neben dem Risiko
einer körperlichen Erkrankung der eigenen Person oder eines Familienmitglieds.
Gegenüber Menschen mit einer Zwangsstörung lässt sich das ständige Sorgen von
Personen mit einer generalisierten Angststörung klar abgrenzen. Die Sorgen sind reali-
stischer, ich-näher und weniger aufdringlich als das Grübeln. Es bestehen keine Sorgen
um Verunreinigung und Ansteckung. Es fehlen auch die zwangstypischen Rituale.
Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung wird keine generalisierte Angststö-
rung diagnostiziert, wenn die Ängste nur im Verlauf derselben auftreten.
Ein vorübergehendes Auftreten anderer Symptome während jeweils weniger Tage,
vor allem eine Depression, schließt nach dem ICD-10 eine generalisierte Angststörung
als Hauptdiagnose nicht aus, die Betroffenen dürfen jedoch nicht die vollständigen
Kriterien für eine depressive Episode (F32), eine phobische Störung (F40), eine Panik-
störung (F41.0) oder eine Zwangsstörung (F42) erfüllen. Wenn dies der Fall ist, kann
jedoch nach dem DSM-IV eine Doppeldiagnose im Sinne einer Komorbidität gestellt
werden. Die Diagnose einer generalisierten Angststörung setzt den Ausschluss einer
körperlichen Erkrankung (z.B. der Schilddrüse) und einer Substanzeinwirkung voraus.
78 Angststörungen

Spezifische Phobie – Eine Angst macht das Leben schwer

Historische Aspekte der spezifischen Phobie


Aus früheren Zeiten stammen Klassifikationen nach dem Inhalt spezifischer Phobien
mit einer beeindruckenden Vielfalt von Bezeichnungen, die zumeist nur historische
Bedeutung und keinerlei Erklärungswert haben. Im Internet findet man Listen mit meh-
reren hundert spezifischen Phobien, die auf altgriechischen Wortwurzeln beruhen. Der-
artige Aufzählungen sind nicht an klinisch unterscheidbaren Syndromen orientiert und
sagen auch nichts über die Krankheitswertigkeit dieser „Phobien“ aus.

Tab. 1: Auswahl spezifischer Phobien

Agoraphobie Angst vor dem Überqueren eines freien Platzes (ursprüngliche Bedeutung)
Aichmophobie Angst vor spitzen Gegenständen
Ailurophobie Angst vor Katzen
Aiktiophobie Angst vor scharfen, spitzen Instrumenten
Akrophobie Angst vor Höhen
Algophobie Angst vor Schmerz
Androphobie Angst vor Männern
Aquaphobie Angst vor Wasser
Arachnophobie Angst vor Spinnen
Astraphobie Angst vor Blitzen
Aviophobie Angst vor dem Fliegen
Bakteriophobie Angst vor Schmutz und Bakterien
Blaptophobie Angst vor Verletzung anderer mit einem Messer oder spitzen Gegenstand
Brontophobie Angst vor Donner
Dromosiderophobie Angst vor Eisenbahnen
Dysmorphophobie Angst vor körperlicher Entstellung
Emetophobie Angst vor Erbrechen
Entophobie Angst vor Insekten
Equinophobie Angst vor Pferden
Erythrophobie Angst vor Erröten
Gephyrophobie Angst vor Brücken
Gynophobie Angst vor Frauen
Gymnophobie Angst vor Nacktheit
Herpetophobie Angst vor Eidechsen, Reptilien, kriechenden, krabbelnden Tieren
Karzinophobie Angst vor Krebs
Keraunophobie Angst vor Gewittern
Klaustrophobie Angst vor engen Räumen
Kynophobie Angst vor Hunden
Melissophobie Angst vor Bienen
Mysophobie Angst vor Berührung, Schmutz, Bazillen, Ansteckung
Nosophobie Furcht vor Krankheit
Nyktophobie Angst vor der Nacht
Ökophobie Angst vor Umweltgiften
Ophidiophobie Angst vor Schlangen
Phobophobie Angst vor der Angst
Pyrophobie Angst vor Feuer
Skotophobie Angst vor Dunkelheit
Thanatophobie Angst vor dem Tod
Trypanphobie Angst vor Blut und/oder Injektionen
Xenophobie Angst vor Fremden
Zoophobie Angst vor Tieren
Spezifische Phobie 79

Zeitgeschichtliche Faktoren beeinflussen die Art der spezifischen Phobien [65]:


z Unter den Krankheitsängsten war früher oft die Angst vor Syphilis und Seuchen
anzutreffen, gegenwärtig dominieren Ängste vor Krebs, AIDS oder Umweltgiften.
z Unter den körperbezogenen Ängsten war früher aufgrund des puritanischen Zeital-
ters die Angst vor Nacktheit (Gymnophobie) weit verbreitet, heutzutage besteht eher
die Angst vor mangelnder körperlicher Attraktivität des nackten Körpers.
z Unter den Technikängsten dominierte früher die Angst vor Eisenbahnen, heute ist
die Angst vor dem Fliegen weit verbreitet (bei 15-30% der Bevölkerung).

Symptomatik der spezifischen Phobie


Eine spezifische (früher: isolierte) Phobie ist eine ausgeprägte, anhaltende und unange-
messene oder unbegründete Angst, die durch das Vorhandensein oder die Erwartung
von klar erkennbaren, eng umschriebenen Objekten oder Situationen ausgelöst wird.
Die Konfrontation mit dem phobischen Reiz bewirkt eine Angstreaktion, die bis zu
einer situationsgebundenen oder situationsbegünstigten Panikattacke ansteigen kann.
Das Ausmaß der Angst hängt mit der Nähe zum phobischen Objekt zusammen (um-
so größere Angst, je näher z.B. ein Hund ist), ist aber dennoch nicht immer in vorher-
sagbarer Weise damit verbunden (z.B. kann sich eine Hundephobie oder eine Brücken-
phobie zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlichen Reaktionen äußern). Die
Betroffenen erkennen, dass die Angst übertrieben oder unbegründet ist, können sich
dadurch aber nicht beruhigen. Die phobischen Objekte und Situationen werden gemie-
den oder können nur unter starker Angst oder großem Unbehagen ertragen werden.
Spezifischen Phobien sind monosymptomatische Phobien, im Gegensatz zu den
„multiplen Situationsphobien“ bei der Agoraphobie. Manche Betroffene weisen mehr
als eine spezifische Phobie auf. Einige Phobien, die bei einer Agoraphobie auftreten,
kommen auch als eigenständige situationale Phobien vor (z.B. Lift- oder Flugphobie).
Bestimmte spezifische Phobien (z.B. Angst vor Ansteckung oder spitzen Messern)
sind eher zwanghafte Befürchtungen bzw. Impulse und stehen den Zwangsstörungen
nahe, weil den phobischen Auslösern durch zwanghafte Kontrollen begegnet wird.
Das DSM-IV [66] erstellt folgende Kriterien für eine spezifische Phobie:

A. Ausgeprägte und anhaltende Angst, die übertrieben oder unbegründet ist und die durch das Vor-
handensein oder die Erwartung eines spezifischen Objekts oder einer spezifischen Situation ausge-
löst wird (z.B. Fliegen, Höhen, Tiere, eine Spritze bekommen, Blut sehen).

B. Die Konfrontation mit dem phobischen Reiz ruft fast immer eine unmittelbare Angstreaktion her-
vor, die das Erscheinungsbild einer situationsgebundenen oder einer situationsbegünstigten Panik-
attacke annehmen kann...

C. Die Person erkennt, daß die Angst übertrieben oder unbegründet ist...

D. Die phobischen Situationen werden gemieden bzw. nur unter starker Angst oder starkem Unbeha-
gen ertragen.

E. Das Vermeidungsverhalten, die ängstliche Erwartungshaltung oder das Unbehagen in den gefürch-
teten Situationen schränkt deutlich die normale Lebensführung der Person, ihre berufliche (oder
schulische) Leistung oder sozialen Aktivitäten oder Beziehungen ein, oder die Phobie verursacht
erhebliches Leiden für die Person.
80 Angststörungen

F. Bei Personen unter 18 Jahren hält die Phobie über mindestens sechs Monate an.

G. Die Angst, Panikattacken oder das phobische Vermeidungsverhalten, die mit dem spezifischen
Objekt oder der spezifischen Situation assoziiert sind, werden nicht besser durch eine andere psy-
chische Störung erklärt, wie z.B. Zwangsstörung (z.B. Angst vor Schmutz bei Personen, die die
Vorstellung haben, kontaminiert zu werden), Posttraumatische Belastungsstörung (z.B. Vermei-
dung von Reizen, die mit dem Trauma assoziiert sind) oder Störung mit Trennungsangst
(z.Β. Vermeidung von Schulbesuchen), Soziale Phobie (z.B. Vermeidung sozialer Situationen aus
Angst vor Peinlichkeiten), Panikstörung mit Agoraphobie oder Agoraphobie ohne Panikstörung in
der Vorgeschichte.

Bestimme den Typus:


Tier-Typus,
Umwelt-Typus (z.B. Höhen, Stürme, Wasser),
Blut-Spritzen-Verletzungs-Typus,
Situativer Typus (z.B. Flugzeuge, Fahrstühle, enge, geschlossene Räume),
Anderer Typus (z.B. Angst zu ersticken, zu erbrechen oder sich mit einer Krankheit zu infizieren; bei
Kindern Angst vor lauten Geräuschen oder kostümierten Figuren).

Das DSM-IV [67] kategorisiert die Vielfalt der spezifischen Phobien in fünf Typen,
wobei das Auftreten eines bestimmten Subtyps die Wahrscheinlichkeit für das Vorhan-
densein einer weiteren spezifischen Phobie desselben Subtyps erhöht. Zahlreiche Perso-
nen weisen mehrere Subtypen einer spezifischen Phobie auf, was entsprechend notiert
werden sollte.
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [68] ist eine spezifische (isolierte) Phobie
(F40.2) durch folgende Merkmale charakterisiert:

A. Entweder 1. oder 2.:

1. deutliche Furcht vor einem bestimmten Objekt oder einer bestimmten Situation, außer Ago-
raphobie (F40.0) oder sozialer Phobie (F40.1)
2. deutliche Vermeidung solcher Objekte und Situationen, außer Agoraphobie (F40.0) oder sozia-
ler Phobie (F40.1).

Häufige phobische Objekte und Situationen sind Tiere, Vögel, Insekten, Höhen, Donner, Flüge, kleine
geschlossene Räume, Anblick von Blut oder Verletzungen, Injektionen, Zahnarzt- und Krankenhausbe-
suche.

B. Angstsymptome in den gefürchteten Situationen zu irgendeiner Zeit seit Auftreten der Störung sind
wie in Kriterium B. von F40.0 (Agoraphobie) definiert.

C. Deutliche emotionale Belastung durch die Symptome oder das Vermeidungsverhalten; Einsicht,
dass diese übertrieben und unvernünftig sind.

D. Die Symptome sind auf die gefürchtete Situation oder auf Gedanken an diese beschränkt.

Wenn gewünscht, können die spezifischen Phobien wie folgt unterteilt werden:

- Tier-Typ (z.B. Insekten, Hunde)


- Naturgewalten-Typ (z.B. Sturm, Wasser)
- Blut-Injektions-Verletzungs-Typ
- situativer Typ (z.B. Fahrstuhl, Tunnel, Flugzeug)
- andere Typen.
Spezifische Phobie 81

Das ICD-10 übernimmt in den Forschungskriterien die fünf Subtypen spezifischer Pho-
bien des DSM-IV. Zwischen ICD-10- und DSM-IV-Kriterien herrscht weitgehende
Übereinstimmung: Es besteht eine Angst vor und/oder eine Vermeidung von bestimmten
klar erkennbaren, eng umschriebenen Reizen (Objekten oder Situationen). Dieses Ver-
halten wird von den Betroffenen als unangemessen, übertrieben und unvernünftig („irra-
tional“) erkannt, kann aber dennoch nicht kontrolliert werden. Wenn sich die betreffen-
den Reize nicht vermeiden lassen, können sie nur unter großer Furcht und Belastung
ertragen werden. Die Furcht oder Vermeidung führt – worauf das DSM-IV hinweist –
zu großem Leidensdruck und zu erheblichen Beeinträchtigungen des Lebens.
Bei einer phobischen Störung muss das phobische Objekt oder die phobische Situa-
tion außerhalb der betreffenden Person liegen, weshalb körperbezogene Ängste als
hypochondrische Störung gelten, außer sie beziehen sich auf eine spezielle Situation, in
der eine Krankheit erworben werden könnte. Die Furcht vor Situationen mit Erkran-
kungsgefahr ist nach dem ICD-10 eine spezifische Phobie (z.B. eine AIDS-Phobie, bei
der öffentliche Toiletten oder sexuelle Kontakte aus Angst vor Ansteckung vermieden
werden). Eine spezifische Phobie ist auch dann gegeben, wenn sich die Furcht vor
Krankheit auf den Anblick von Blut oder Verletzungen, auf ärztliche Handlungen (In-
jektionen und Operationen) oder auf medizinische Institutionen (Zahnarztpraxen, Kran-
kenhäuser) bezieht. Medizinische Institutionen sind angstbesetzt und werden gemieden.
Nach dem ICD-10 gelten Krankheitsängste im Sinne der Furcht vor bestimmten
Krankheiten ohne Krankheitsüberzeugung („Nosophobie“) als Variante einer hypo-
chondrischen Störung (z.B. die Furcht vor Krebs, Herzkrankheit oder Geschlechts-
krankheit ohne jede körperliche Symptomatik). Nach dem DSM-IV hängt die Unter-
scheidung zwischen einer spezifischen Phobie, anderer Typ, und einer Hypochondrie
vom Vorhandensein oder Fehlen einer Krankheitsüberzeugung ab. Menschen mit Hypo-
chondrie leben in der ständigen Angst, eine Krankheit zu haben, d.h. es besteht eine
Krankheitsüberzeugung, Personen mit einer spezifischen Phobie fürchten dagegen, eine
Krankheit zu bekommen, können aber glauben, dass sie diese aktuell noch nicht haben.
Verschiedene Befürchtungen sind oft keine spezifische Phobie, sondern Ausdruck
einer anderen Störung. Belastende Prüfungsängste gelten als soziale Phobie, ebenso
Errötungsängste (Erythrophobie), Ängste vor Händezittern, Ängste vor Urinieren und
Defäzieren auf der Toilette. Es handelt sich dabei um die Angst vor kritischer Beurtei-
lung durch andere Menschen. Ängste vor Schmutz, Verseuchung oder Ansteckung
stehen häufig mit Zwangsstörungen in Verbindung. Schulängste von Kindern hängen
häufig entweder mit einer Trennungsangststörung zusammen oder mit Ängsten vor
kritischer Beurteilung durch Lehrer oder Mitschüler im Sinne einer sozialen Phobie.
Zu den fünf Typen spezifischer Phobien sind folgende Informationen hilfreich:
z Der Tier-Typus (Furcht vor Hunden, Katzen, Pferden, Vögeln, Schlangen, Mäusen,
Schnecken, Insekten wie Spinnen, Käfern oder Bienen) beginnt bei über 80% der
Tierphobiker bereits im Kindesalter (vor dem 10. Lebensjahr), ohne dass die Mehr-
zahl der Betroffenen entsprechend negative Erfahrungen mit bestimmten Tieren ge-
macht hat. Viele Tierphobien entwickeln sich in der Kindheit aus der falschen Ein-
schätzung der Gefahr oder sind biologisch vorgeformt (Ängste vor sich am Boden
bewegenden Tieren wie z.B. Schlangen, die früher auch bei uns giftig und damit tat-
sächlich bedrohlich waren). Eine Spinnenphobie findet sich bei etwa 35% der Men-
schen. Insektenphobien beruhen häufig auf einem Ekel vor Insekten und weniger auf
Ängsten vor realer Bedrohung. Gefürchtet wird oft ein als unangenehm (aversiv) er-
lebter Hautkontakt mit bestimmten Tieren. Ekel ist schwerer überwindbar als Angst.
82 Angststörungen

z Der Umwelt-Typus nach dem DSM-IV bzw. der Naturgewalten-Typ nach den For-
schungskriterien des ICD-10 (Furcht vor Höhen, Tiefen, Stürmen, Unwetter, Don-
ner, Blitz, Unwetter, Wasser, Feuer, Dunkelheit usw.) beginnt ebenfalls meistens
schon in der Kindheit. Naturereignisse werden trotz technischer Schutzvorrichtun-
gen (z.B. Blitzableiter) nach wie vor von zahlreichen Menschen gefürchtet. Die
Furcht vor tiefem Wasser führt oft zu Ängsten vor dem Bootfahren wegen der ver-
meintlichen Gefahr des Ertrinkens. Die Furcht vor Höhen oder Tiefen drückt eine
Angst vor dem Absturz aus. Die Dunkelangst ist eine im Rahmen der Evolution ver-
ständliche Angst vor Bedrohung in der Finsternis (früher gab es noch keinen Strom).

z Der Blut-Spritzen-Verletzungsphobie-Typus (Furcht vor dem Anblick von Blut oder


einer Verletzung, Furcht vor Spritzen oder medizinischer Behandlung) umfasst kör-
perbezogene Befürchtungen. Charakteristisch ist eine vagovasale Ohnmachtsnei-
gung. Ca. 75% der Betroffenen erlebten Ohnmachtsanfälle in solchen Situationen.
70% aller Blut- und 56% aller Injektionsphobiker wurden im Laufe ihres Lebens
beim Anblick von Blut oder bei invasiven medizinischen Maßnahmen ohnmächtig,
während dies unter Agoraphobikern, die wegen ihrer sehr belastenden Schwindelzu-
stände oft eine Ohnmacht fürchten, nur bei 1% im Lebenszeitraum der Fall war (dies
hängt meist mit einem Hitzekollaps oder einer körperlichen Erkrankung zusammen).
Von diesem Subtyp Betroffene sind tatsächlich die einzigen Phobiker, die bei großer
Angst ohnmächtig werden, viele andere Angstpatienten (vor allem solche mit Ago-
raphobie mit und ohne Panikstörung) fürchten dies unnötig. Während bei Tierphobi-
en eine starke Reaktion des sympathischen Teils des autonomen Nervensystems ein-
setzt, besteht bei Blut-Spritzen- und Verletzungsphobien ein di-phasisches vegetati-
ves Muster beim Ablauf der Furchtreaktion: Zuerst kommt es zu einer sympathiko-
tonen Alarmierung (Blutdruck- und Herzfrequenzsteigerung), danach zu einer para-
sympathikotonen Reaktion (Blutdruckabfall, Übelkeit). Es erfolgt zuerst eine kurze
Beschleunigung der Herzfrequenz, anschließend ein Abfall von Puls und Blutdruck,
was im Gegensatz zur sympathischen Aktivierung (Pulsbeschleunigung) bei den an-
deren Phobien steht. Blut- und Injektionsphobien, die bei 3-4% der Bevölkerung
vorkommen, können dazu führen, dass notwendige Operationen oder kleinere ärztli-
che Eingriffe nicht erfolgen, Frauen aus Angst vor der Geburt nicht schwanger wer-
den möchten trotz Kinderwunsch, Besuche bei Verwandten im Krankenhaus ver-
mieden werden. Fazit: Während bei den meisten Phobien die Herzfrequenz beim
Anblick des gefürchteten Objekts ansteigt, kommt es beim Anblick von Blut, Ver-
letzungen oder etwas Grauenhaftem nach einer kurzen Pulsbeschleunigung zu einem
parasympathisch (vagovasal) gesteuerten Absinken des Herzschlags um 30-40
Schläge pro Minute, bis hin zu Ohnmachtsneigung und tatsächlicher Ohnmacht [69].
Bei Verletzungen wird dadurch der Blutverlust vermindert. Der vagovasale Reflex
dürfte auf dem Hintergrund der Evolutionsgeschichte auch in Zusammenhang mit
dem Totstellreflex stehen, wie er aus der Tierwelt her bekannt ist. Blutphobiker be-
richten häufig über Übelkeit ohne subjektives Angsterleben. Die sehr unangenehme
aufsteigende Übelkeit hängt mit der parasympathischen Reaktionsweise zusammen.
Bei Blutphobien besteht oft eine familiäre Tradition (vererbte und/oder erlernte Re-
aktionsweise). Die so genannte Dental- oder Oralophobie (früher Zahnarztphobie
genannt) wird trotz ihrer weiten Verbreitung (bei 5-10% der Bevölkerung) weder im
ICD-10 noch im DSM-IV erwähnt und sollte wegen des di-phasischen Reaktionsab-
laufs den Blut-, Spritzen- und Verletzungsphobien zugeordnet werden.
Spezifische Phobie 83

z Der situative Typus besteht in der Furcht vor bestimmten Verkehrsmitteln (z.B.
Autos, öffentliche Verkehrsmittel, Seilbahnen, Flugzeugen), in der Furcht vor ande-
ren geschlossenen bzw. engen Räumen (Aufzug, Tunnel, Bergwerk, Unterführung,
fensterloser Raum) und in der Furcht vor Höhen (z.B. Angst vor dem Hinunter-
schauen oder Hinunterfallen an bestimmten Orten wie Brücken, Stegen, Treppen,
Hochhaus-Balkon). Diese Phobieform muss unbedingt vom Ausmaß einer Ago-
raphobie abgegrenzt werden, weil die Furchtreaktion auf spezifische, eng umschrie-
bene Situationen begrenzt ist. Bezüglich der Flugangst sind folgende Zahlen be-
kannt: 15% der Bevölkerung leiden unter einer akuten Flugangst (Aviophobie), wei-
tere 20% verspüren ein deutliches Unbehagen beim Fliegen. Flugangst-Patienten
fürchten oft weniger den Absturz als die agoraphobische Eingeengtheit (Kontrollver-
lust). „Klaustrophobien“ (Furcht vor Enge) treten lebenszeitlich bei 7-8% der Be-
völkerung auf. Höhenängste kreisen um die Befürchtung hinunterzufallen (z.B. von
Brücken, Berggipfeln oder hohen Gebäuden); sie werden durch fehlende Schwindel-
freiheit verstärkt. Dieser Subtyp geht oft mit situationsspezifischen, durch die jewei-
ligen Umstände ausgelösten Panikattacken einher, die das Ausmaß der Phobie an-
zeigen und noch keine Diagnose der Panikstörung begründen (dazu gehören defini-
tionsgemäß spontane, nicht durch bestimmte Situationen ausgelöste Panikattacken).
Oft treten nicht nur körperliche Angstsymptome, sondern auch kognitive Symptome
auf (vor allem die Angst verrückt zu werden oder die Kontrolle zu verlieren und
dann eine selbstgefährdende Handlung zu setzen wie etwa von einer Höhe hinunter
zu springen, obwohl keine Selbstmordabsicht besteht).

z Anderer Typus. Es besteht eine phobische Vermeidung von Situationen, die zum
Ersticken, Erbrechen, Verschlucken, Umfallen, zu einer Krankheit oder sonstigen
körperlichen Bedrohung führen könnten. Zu diesem Subtyp gehört auch eine Ver-
meidung lauter Geräusche. Die Furcht vor Lärm und Geräuschen – vor allem bei
Kindern – wird durch überraschende und unidentifizierbare Reize ausgelöst. Bei
Kindern zählt dazu auch die Angst vor verkleideten Personen. Aus Angst vor dem
Verschlucken bzw. Ersticken nehmen viele Betroffene nur „sichere“ (leicht verdau-
liche bzw. breiig-flüssige) Nahrung zu sich, z.B. Joghurt, Pudding, verschiedene Ar-
ten von Brei oder Eiscreme). Die Erfahrung zeigt, dass dies oft mit einem subjektiv
sehr bedrohlichen Globusgefühl zusammenhängt, das als Zuschnüren der Kehle er-
lebt wird. Die Symptomatik wird verstärkt durch eine große Mundtrockenheit, wes-
halb viele Betroffene zur Befeuchtung der Kehle häufig etwas trinken oder lutschen.

Menschen mit spezifischen Phobien richten sehr viel Aufmerksamkeit auf die rechtzei-
tige Erkennung von potenziellen Gefahren. Sie entwickeln eine Überaufmerksamkeit
(„Überfokussierung“, selektive Aufmerksamkeit) auf die als gefährlich angesehenen
Reize, um rechtzeitig Angst vermeidende Maßnahmen treffen zu können. Die Überauf-
merksamkeit führt zu einer unnötig hohen vegetativen Erregung, kleinste Auffälligkei-
ten bewirken bereits eine Alarmreaktion. Eine heftige Angstreaktion erfolgt bereits bei
der Vorstellung oder Erwartung bestimmter Reize und nicht erst bei deren Anblick.
Differenzialdiagnostisch lassen sich spezifische Phobien von anderen Angststörun-
gen abgrenzen durch den eindeutigen Situations- und Objektbezug. In Abwesenheit
dieser Reize bestehen keine phobischen Ängste (außer spezifische Erwartungsängste),
keine Panikattacken und keine allgemein erhöhte Ängstlichkeit. Mediale Informationen
(z.B. Flugzeugabsturz) können spezifische Phobien auslösen bzw. verstärken.
84 Angststörungen

Epidemiologie, Verlauf und Folgen der spezifischen Phobie


Spezifische Phobien sind die häufigsten Angststörungen. In den USA zeigte sich in den
1990er-Jahren (NCS-Studie [70]) eine spezifische Phobie bei 11,3% im Lebenszeit-
raum, bei 8,8% innerhalb der letzten 12 Monate und bei 4,5% innerhalb des letzten
Monats. Differenziert nach dem Geschlecht ergibt sich eine spezifische Phobie im Laufe
des Lebens bei 15,7% der Frauen und bei 6,7% der Männer, innerhalb des letzten Jahres
bei 13,2% der Frauen und bei 4,4% der Männer, innerhalb des letzten Monats bei 8,7%
der Frauen und bei 2,3% der Männer. Die Lebenszeit-Komorbidität ist mit 79% sehr
hoch, nur 21 % hatten im Laufe des Lebens eine reine spezifische Phobie. Nach der
NCS-R-Studie 10 Jahre später ergab sich eine Lebenszeithäufigkeit von 12,5% und eine
Ein-Jahres-Prävalenz von 8,7%. Nach einer noch größeren US-Studie hatten 9,4% le-
benszeitlich und 7,1% im Laufe der letzten 12 Monate eine spezifische Phobie. Unter
jungen Frauen in Dresden hatten 12,8% im Laufe ihres Lebens eine spezifische Phobie.
In der EU weisen 18,5% (14,4-18,6%) der Bevölkerung spezifische Phobien auf.
Frauen sind viel häufiger als Männer von spezifischen Phobien betroffen. Je nach
Subtyp ist der Frauenanteil unterschiedlich groß: 75-90% beim Tier-, Situations- und
Umwelt-Typus (bei Höhenphobien jedoch nur 55-70%), 55-70% beim Blut-, Spritzen-
und Verletzungs-Typus. Beginn und Verlauf von spezifischen Phobien hängen von
deren Art ab. Spezifische Phobien vom Tier-Typus, Umwelt-Typus und Blut-Spritzen-
Verletzungs-Typus beginnen meist schon in der Kindheit, spezifische Phobien vom
situativen Typus (z.B. Flug-, Lift- oder Höhenphobien) treten meist erst im Erwachse-
nenalter auf. Die objekt- und situationsbezogenen Ängste im frühen Kindesalter errei-
chen jedoch nur selten den Schweregrad einer phobischen Störung; sie lösen sich im
Laufe der Zeit häufig spontan auf. Bei Kindern äußern sich starke phobische Ängste oft
in Form von Schreien, Wutanfällen, Erstarren oder Anklammern. Spezifische Phobien,
die bis ins Erwachsenenalter anhalten, verschwinden nur selten (nur bei 20%). Eine
spezifische Phobie bleibt bei Erwachsenen ohne Behandlung oft hartnäckig bestehen.
Der Beginn spezifischer Phobien liegt meistens vor dem 20. Lebensjahr. Patienten
mit spezifischen Phobien können oft über lange Zeit psychosozial unbeeinträchtigt
leben. Phobien, die sich aufgrund einer traumatischen Erfahrung (z.B. Unfall mit Er-
stickungsgefahr) oder einer situationsbezogenen Panikattacke entwickeln, weisen dage-
gen einen akuten Entwicklungsverlauf auf und können in jedem Altersabschnitt auftre-
ten. Fazit: Traumatische Erlebnisse, situationsspezifische Panikattacken, die Beobach-
tung anderer Menschen in bedrohlichen Situationen sowie bestimmte Instruktionen und
Informationen haben Einfluss auf die Entstehung und das Ausmaß der Phobie.
Spezifische Phobien stellen so lange keine Belastung dar, als sie das Leben nicht
unnötig einengen oder zu gefährlichen Situationen führen (z.B. Autounfall wegen
Kleintierphobie, Radunfall wegen Hundephobie, Verlust des Gleichgewichts auf einer
Leiter wegen Bienenphobie). Menschen mit einer spezifischen Phobie können oft über
längere Zeiträume sozial funktionieren, während Personen mit einer sozialen Phobie oft
schon von Beginn an eine erhebliche psychosoziale Beeinträchtigung aufweisen.
Spezifische Phobien sind bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen oft ein frühes
Anzeichen für spätere psychische Störungen von erheblichem Ausmaß. Alle Subtypen,
vor allem auch deren Kombinationen, erhöhen das Risiko für andere psychische Störun-
gen (z.B. andere Angststörungen, Depressionen, Essstörungen). Die Betroffenen sind
auch ohne Komorbidität umso kränker, je mehr spezifische Phobien sie aufweisen.
Spezifische Phobien verdienen zukünftig mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit.
Soziale Phobie 85

Soziale Phobie – Die Angst vor den anderen

Historische Aspekte der sozialen Phobie


Der griechische Arzt Hippokrates [71] beschrieb in der Antike einen Mann, den man

„wegen seiner Schüchternheit, wegen seines Argwohns und seiner Furchtsamkeit kaum zu sehen be-
kam; der die Dunkelheit wie sein Leben liebte und weder Helligkeit ertragen noch an beleuchteten
Plätzen sitzen konnte, der – den Hut über die Augen gezogen – weder andere sehen noch von ihnen
angeschaut werden wollte. Er mied jeden Kontakt aus Angst, schlecht behandelt zu werden, sich zu
blamieren oder in seinen Gebärden oder durch sein Reden aus dem Rahmen zu fallen, oder sich überge-
ben zu müssen. Er glaubte sich von jedermann beobachtet...“

Das Phänomen der sozialen Phobie wurde bereits 1903 vom französischen Psychiater
Pierre Janet beschrieben. Die soziale Phobie in ihrer modernen Form wurde 1966 von
den englischen Psychiatern und Verhaltenstherapeuten Isaac Marks und Michael Gelder
definiert, später weiter ausgearbeitet, 1980 in das amerikanische psychiatrische Diagno-
seschema DSM-III aufgenommen und 1991 auch im internationalen Diagnoseschema
ICD-10 verankert. Zunehmend wird der Begriff „soziale Phobie“ durch den Terminus
„soziale Angststörung“ ersetzt, der das Ausmaß der Störung besser widerspiegelt [72].

Symptomatik der sozialen Phobie


Eine soziale Phobie lässt sich durch folgende Definitionen charakterisieren:
z Eine soziale Phobie ist eine starke andauernde Angst vor sozialen, beruflichen oder
sonstigen Leistungsanforderungen in Gegenwart anderer Menschen, die eine kriti-
sche Bewertung abgeben könnten. Die Betroffenen erleben soziale Situationen oder
bloß deren Erwartung mit großer Angst und Scham, weil sie glauben, die geltenden
Bewertungsstandards nicht erfüllen zu können. Sie befürchten Blamage, Kritik oder
Ablehnung und tendieren zur Vermeidung oder können unausweichliche Sozialkon-
takte nur mit großer innerer Anspannung durchstehen. Sie wissen, dass ihre Ängste
übertrieben oder unbegründet sind, können ihr Angst- und Vermeidungsverhalten
aber nicht kontrollieren und reagieren auf soziale Situationen öfter mit einer situati-
onsabhängigen Panikattacke, was das Ausmaß ihrer sozialen Phobie widerspiegelt.
z Eine soziale Phobie ist eine starke Furcht und ständige Vermeidung von Situationen,
bei denen man im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit anderer Menschen steht und sich
peinlich oder erniedrigend verhalten könnte. Die emotionale Belastung in sozialen
Situationen zeigt sich oft in Form körperlicher Symptome (z.B. Schwitzen, Zittern).
z Eine soziale Phobie ist eine dauerhafte, unangemessene Furcht und ängstliche Ver-
meidung von Situationen, in denen die Betroffenen mit anderen Menschen zu tun
haben und dadurch einer möglichen Bewertung im weitesten Sinne ausgesetzt sind.
z Eine soziale Phobie besteht in der Überzeugung oder Erwartung, das eigene Verhal-
ten oder sichtbare Körpersymptome wie Rotwerden, Schwitzen oder Zittern könnten
von anderen Menschen kritisch oder sonst irgendwie peinlich bewertet werden.
z Eine Sozialphobie ist eine Bewertungsangst, in den Augen der anderen Menschen
nicht gut genug zu sein, woraus bestimmte Verhaltensweisen (z.B. Vermeidung) re-
sultieren, um sich vor entsprechenden Reaktionen der sozialen Umwelt zu schützen.
86 Angststörungen

Das DSM-IV [73] erstellt folgende diagnostische Kriterien für eine soziale Phobie:

A. Eine ausgeprägte und anhaltende Angst vor einer oder mehreren sozialen oder Leistungssituatio-
nen, in denen die Person mit unbekannten Personen konfrontiert ist oder von anderen Personen be-
urteilt werden könnte. Der Betroffene befürchtet, ein Verhalten (oder ein Angstsymptom) zu zei-
gen, das demütigend oder peinlich sein könnte...

B. Die Konfrontation mit der gefürchteten sozialen Situation ruft fast immer eine unmittelbare Angst-
reaktion hervor, die das Erscheinungsbild einer situationsgebundenen oder einer situations-
begünstigten Panikattacke annehmen kann...

C. Die Person erkennt, daß die Angst übertrieben oder unbegründet ist....

D. Die gefürchteten sozialen oder Leistungssituationen werden vermieden oder nur unter intensiver
Angst oder Unwohlsein ertragen.

E. Das Vermeidungsverhalten, die ängstliche Erwartungshaltung oder das starke Unbehagen in den
gefürchteten sozialen oder Leistungssituationen beeinträchtigen deutlich die normale Lebensfüh-
rung der Person, ihre berufliche (oder schulische) Leistung oder soziale Aktivitäten oder Beziehun-
gen, oder die Phobie verursacht erhebliches Leiden.

F. Bei Personen unter 18 Jahren hält die Phobie über mindestens 6 Monate an...

Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [74] ist eine soziale Phobie (F40.1) durch
folgende Merkmale charakterisiert:

A. Entweder 1. oder 2.:

1. deutliche Furcht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedri-
gend zu verhalten
2. deutliche Vermeidung im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder vor Situationen, in de-
nen die Angst besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten.

Diese Ängste treten in sozialen Situationen auf, wie Essen oder Sprechen in der Öffentlichkeit, Begeg-
nung von Bekannten in der Öffentlichkeit, Hinzukommen oder Teilnahme an kleinen Gruppen, wie z.B.
bei Parties, Konferenzen oder in Klassenräumen.

B. Mindestens zwei Angstsymptome in den gefürchteten Situationen mindestens einmal seit Auftreten
der Störung, wie in F40.0, Kriterium B., definiert, sowie zusätzlich mindestens eins der folgenden
Symptome:

1. Erröten oder Zittern


2. Angst zu erbrechen
3. Miktions- oder Defäkationsdrang bzw. Angst davor.

C. Deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten. Ein-
sicht, dass die Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben und unvernünftig sind.

D. Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen
oder auf Gedanken an diese.

E. Ausschlussvorbehalt: Die Symptome der Kriterien A. und B. sind nicht bedingt durch Wahn, Hal-
luzinationen oder andere Symptome der Störungsgruppen organische psychische Störungen (F0),
Schizophrenie und verwandte Störungen (F2), affektive Störungen (F3) oder eine Zwangsstörung
(F42) oder sind nicht Folge von kulturell akzeptierten Anschauungen.
Soziale Phobie 87

Menschen mit einer Sozialphobie haben Angst zu versagen, sich lächerlich zu machen
oder durch ungeschicktes Verhalten unangenehm aufzufallen. Sie befürchten, in sozia-
len Situationen verspottet oder feindselig behandelt zu werden, dumm auszusehen, die
Kontrolle zu verlieren, Panik zu bekommen und nicht mehr zu wissen, was sie sagen
sollen. Das Gefühl von Peinlichkeit oder Blamage geht mit heftigen Emotionen wie
Scham, Verlegenheit oder Unsicherheit einher. Starke Schamgefühle spiegeln die
krankhafte Selbstabwertung vor anderen Menschen wider. Soziale Situationen lösen fast
unvermeidlich eine sofortige Angstreaktion aus, die mit körperlichen Symptomen ver-
bunden ist, wie etwa Verkrampfung, Händezittern, feuchte Hände, Schwitzen am gan-
zen Körper, Erröten, Herzrasen, Atemnot, Kloßgefühl im Hals, Übelkeit, Schwindel,
Harn- und Stuhldrang, Kopf- oder Magenschmerzen, Stottern bzw. Sprechhemmung.
Sichtbare Symptome (Schwitzen, Zittern, Erröten, Weinen, Stimmveränderungen,
Flucht auf die Toilette) verstärken die Angst vor sozialer Auffälligkeit. Sozialphobiker
haben ständige Erwartungsängste in Bezug auf soziale Situationen und sind durch die
sozialen Folgeprobleme ihres Vermeidungsverhaltens bald erheblich beeinträchtigt.
Die körperlichen Symptome erreichen meist nicht das Ausmaß einer Panikattacke,
es können aber auch situationsgebundene oder situationsbegünstigte Panikattacken
auftreten, die das Ausmaß der sozialen Phobie anzeigen. Viele Sozialphobiker glauben
irrtümlich, sie hätten eine Panikstörung; diese erfordert jedoch auch unerwartete, situa-
tionsunabhängige Panikattacken. Eine soziale Phobie mit Panikstörung kommt etwa
gleich häufig vor wie eine Agoraphobie mit Panikstörung.
Laut DSM-IV äußert sich eine soziale Phobie bei Kindern auch in Form von Schrei-
en, Wutanfällen, Gelähmtsein oder Zurückweichen von sozialen Situationen mit unver-
trauten Personen; zudem kann die Einsicht fehlen, dass die Ängste übertrieben und
unvernünftig sind. Zur Abgrenzung gegenüber vorübergehenden, entwicklungsbeding-
ten Rückzugstendenzen fordert das DSM-IV bei unter 18-Jähigen eine Mindestdauer
von sechs Monaten. Bei Erwachsenen wird keine Mindestdauer festgelegt. Eine verläss-
liche Diagnose ist bei Kindern erst ab dem 8. Lebensjahr möglich. Die Fähigkeit zum
Aufbau altersgemäßer Sozialkontakte mit vertrauten Personen wird vorausgesetzt.
Die Sozialphobie ist trotz der belastenden körperlichen Symptome laut DSM-IV und
ICD-10 im Wesentlichen eine kognitive Störung: Sie beruht auf der Fehleinschätzung
des eigenen sozialen und Leistungsverhaltens (z.B. „Ich bin unfähig, langweilig und
uninteressant“) und auf der Erwartung von negativen Bewertungen des eigenen Verhal-
tens durch andere („Die anderen werden mich kritisieren und bestimmt ablehnen“).
Das ICD-10 fordert – im Gegensatz zum DSM-IV – das Vorhandensein von körper-
lichen Angstsymptomen, was eine unnötige Einschränkung darstellt. Laut Forschungs-
befunden können Angstsymptome auch fehlen, sodass die Kriterien des DSM-IV in der
klinischen Praxis vorzuziehen sind. Körperliche Symptome werden oft durch ein ausge-
prägtes Vermeidungsverhalten oder durch ein ständiges Sicherheitsverhalten (Mitnahme
bzw. Einnahme bestimmter Medikamente u.a.) umgangen oder vermindert.
Generalisierte soziale Ängste, die sich auf viele soziale Situationen beziehen, wer-
den heute allgemein als „soziale Angststörung“ bezeichnet. Der Begriff „soziale Pho-
bie“ erfasst eher spezifische soziale Ängste (ängstliche Blockaden in Leistungssituatio-
nen) und ist bei eher generalisierten sozialen Ängsten unpassend, weil er das Ausmaß
der Beeinträchtigung stark unterschätzt. Bei einer spezifischen Sozialphobie kann man –
ähnlich wie bei einer spezifischen Phobie – durchaus öfter ausweichen, ohne zu große
Nachteile zu riskieren, während bei einer eher generalisierten sozialen Phobie die sozia-
le Kontaktfähigkeit an sich beeinträchtigt ist.
88 Angststörungen

Auf den vier Ebenen der Angst zeigen sich typische Merkmale:
1. Kognitionen. Es bestehen typische (automatische) Denkmuster: „Ich bin dumm,
hässlich, langweilig, uninteressant, nicht liebenswert“; „Ich werde zittern, schwit-
zen, rot werden und immer nervöser werden“; „Die anderen werden meine Sympto-
me bemerken und dann bin ich erledigt“; „Wenn ich zittere, werden sie mich für
nervenkrank halten“; „Wenn ich rot werde, werden sie mich für schüchtern oder
schwach halten.“ Ein negatives Selbstbild mit ständiger Kritikangst sowie Perfektio-
nismusstreben zur Überkompensation von Defiziten sind zentrale Charakteristika.
2. Emotionen. Es bestehen charakteristische Gefühlsreaktionen: Ablehnungsangst,
Erwartungsangst, Schamgefühle, Unsicherheit, Verlegenheit, Sorgen, Depressivität.
3. Körpersymptome. Sichtbare, an sich harmlose Körpersymptome werden aus Angst,
dadurch noch unangenehmer aufzufallen, besonders gefürchtet: Erröten, Zittern,
Schwitzen, Stottern, Stimmveränderungen. Weitere Körpersymptome werden aus
Angst, andere Menschen könnten daraus Rückschlüsse auf psychische Probleme
ziehen, ebenfalls als sozial stigmatisierend erlebt: situative Panikattacken mit Herz-
rasen und der daraus resultierenden Angst vor Auffälligkeit; Schwindel mit der
Angst umzufallen und durch aufzufallen; ständige Muskelanspannung („Nervosi-
tät“), Übelkeit mit der Angst zu erbrechen und sich dadurch zu blamieren; Harn-
oder Stuhldrang mit Erwartungsängsten, ständig auf die Toilette gehen zu müssen;
trockener Mund wegen der Angst, durch ständiges Trinken unangenehm aufzufallen;
Atemnot wegen der damit einhergehenden peinlichen Störung des Sprachflusses.
4. Verhaltensweisen. Die jeweiligen Denkmuster und Gefühle führen nicht nur zu
bestimmten körperlichen Symptomen, sondern vor allem auch zu bestimmten Ver-
haltensweisen, die die soziale Phobie aufrechterhalten und verschlimmern:
z Vermeidung oder Flucht („aktive Vermeidung“): Vermeidung sozialer Aktivitä-
ten; Lügen und Ausreden, warum man an bestimmten sozialen Ereignissen nicht
teilnehmen kann; Vermeidung öffentlicher Mahlzeiten aus Angst vor Übelkeit,
Erbrechen oder Händezittern; Vermeidung von Blickkontakt, um nicht als unsi-
cher beurteilt zu werden. Vermeidungsreaktionen bestätigen mangels gegenteili-
ger Erfahrungen die Angst, von anderen abgelehnt zu werden, und halten die So-
zialphobie aufrecht (nach dem Prinzip der „negativen Verstärkung“). Die Hem-
mung des spontanen Sozialverhaltens („passive Vermeidung“) durch Überkon-
trolle und Unterdrückungsversuche von körperlichen Symptomen, wenn Flucht
nicht möglich ist, erhöht die Wahrscheinlichkeit, als unnatürlich und unecht auf-
zufallen. Der Schreck kann bis zur totalen Verhaltensblockade („Freeze“) führen.
z Sicherheitsverhaltensweisen in den sozial bedrohlich erscheinenden Situationen
wie ständige Selbstbeobachtung (erhöhte Selbstaufmerksamkeit: „Wie wirke ich
auf andere?“), der Konsum von Alkohol oder die Einnahme von Medikamenten
(Beruhigungsmittel oder Beta-Blocker) mit dem Ziel, ruhiger zu wirken, oder
das rigide Ablesen eines bis ins kleinste Detail vorbereiteten Manuskripts aus
Angst zu stottern vermindern zwar kurzfristig tatsächlich oder vermeintlich die
befürchtete Blamage und die sozialen Ängste, verstärken diese jedoch langfristig
mangels alternativer Erfahrungen, sodass zukünftig erst recht wieder Vermei-
dungs- oder Sicherheitsverhaltensweisen eingesetzt werden. Die erhöhte Selbst-
aufmerksamkeit verhindert zudem ein lockeres und spontanes Verhalten.
z Sozial inadäquates Verhalten wird nur zu vermeiden und zu unterdrücken ver-
sucht, anstatt durch ein Versuch-und-Irrtum-Lernen adäquatere soziale Reakti-
onsmuster zu entwickeln und zu erproben.
Soziale Phobie 89

Soziale Phobien können klar abgegrenzt und umschrieben sein oder unbestimmt und in
fast allen sozialen Situationen außerhalb des Familienkreises auftreten. Die Diagnose
einer sozialen Phobie wird bestätigt, wenn eine Person Tätigkeiten alleine angstfrei
ausführen kann, die ihr in Gegenwart anderer Menschen aufgrund von Beobachtungs-
und Bewertungsängsten schwer fallen. Die Beobachtung durch andere wirkt irritierend,
die Furcht vor kritischer Beurteilung bewirkt eine Leistungshemmung.
Angst auslösend sind Leistungssituationen, wo das eigene Verhalten von anderen
beobachtet und bewertet werden kann (z.B. öffentliches Reden, Trinken, Essen, Schrei-
ben, Prüfungen, sportliche Betätigung) und Interaktionssituationen, wo das eigene Ver-
halten und die Reaktionen der anderen in wechselseitiger Beziehung stehen (z.B. soziale
Kontakte mit Bekannten, Fremden, Autoritätspersonen oder dem anderen Geschlecht).
Ganz normale, belanglose Unterhaltungen („Small-Talk“) werden vor allem dann zum
Problem, wenn kein strukturierter Ablauf vorhanden ist, wie dieser etwa in einer durch
bestimmte Rollen definierten Verkaufssituation gegeben ist. Außenstehende können das
kaum verstehen: Dieselben Leute, die als Verkäufer im Geschäft sehr kompetent und
überzeugend wirken, können später mit ihren Kunden kein lockeres Gespräch über
Belanglosigkeiten oder private Angelegenheiten führen und nur unter großer innerer
Überwindung und Belastung ein gemeinsames Essen in einem Restaurant einnehmen.
Typische Situationen, wo soziale Ängste auftreten, sind:
z sich in Gegenwart anderer äußern und die eigene Meinung vertreten,
z in der Öffentlichkeit eine Rede halten oder in einer Arbeitsgruppe referieren,
z bei einem bestimmten Anlass öffentlich in Erscheinung treten (z.B. bei Ehrungen),
z jemandem bei Meinungsverschiedenheiten widersprechen und Forderungen stellen,
z Beschwerden vorbringen oder Reklamationen in Geschäften vornehmen,
z Kontakte mit dem anderen Geschlecht (Ansprechen oder Flirt),
z Kontakte mit Autoritätspersonen, Prüfern oder sonstigen einflussreichen Personen,
z Kontakte und Gespräche mit fremden Menschen (z.B. anderen vorgestellt werden),
z Essen und Trinken mit anderen (das Glas oder die Tasse heben, ohne zu zittern),
z Teilnahme an Gruppen (Party, Feier, Veranstaltung, Geschäftsessen, Meeting),
z Betreten eines Raumes, in dem bereits andere Personen sitzen (z.B. Wartesaal),
z in einem Lokal in der Mitte sitzen oder sonst anderswo auffällig dasitzen,
z in der Öffentlichkeit telefonieren oder mit unbekannten Personen telefonieren,
z unter Beobachtung anderer schreiben oder eine Unterschrift leisten,
z in einer Leistungssituation von anderen beobachtet werden (z.B. bei der Arbeit),
z sportliche Betätigung, während andere zuschauen (z.B. Gymnastik, Schwimmen),
z mündliche Prüfungen, Teilnahme bei Tests und Wettbewerben,
z beim Rotwerden, Zittern oder Schwitzen sich beobachtet fühlen,
z in öffentlichen Verkehrsmitteln anderen gegenübersitzen und dabei auffallen,
z Besuch öffentlicher Toiletten (Paruresis bei Männern und Frauen),
z Bewerbungsgespräche vornehmen und Aufnahmsprüfungen durchstehen.

Die Unterscheidung sozialphobischer Situationen nach Leistungs- und Interaktionssitua-


tionen muss sich am Einzelfall orientieren, weil es nicht so sehr auf die objektiven Ei-
genschaften einer Situation ankommt, sondern vielmehr auf die subjektiven Bewertun-
gen. Ein Sozialphobiker kann beim Gespräch in einer Gruppe fürchten, keinen Kontakt
herstellen zu können oder aus Unwissenheit etwas Dummes zu sagen (Interaktions-
aspekt) oder vor anderen zu zittern oder zu stottern (Leistungsaspekt). Die Angst auslö-
senden Umstände hängen zentral von den jeweiligen Denkmustern ab.
90 Angststörungen

In Leistungssituationen (z.B. Vortrag, Vorspielen, Vorsingen oder Vorturnen) und


Interaktionssituationen (z.B. Teilnahme an einer Geburtstagsfeier oder an einer Diskus-
sionsrunde) bestehen unterschiedliche Möglichkeiten, von anderen Menschen Rückmel-
dungen zum eigenen Verhalten zu bekommen, um dadurch mehr Sicherheit zu entwik-
keln. Aufgrund mangelnder unmittelbarer sozialer Feedback-Möglichkeiten in Lei-
stungssituationen ist etwa bei einem Frontalvortrag die soziale Unsicherheit größer als
bei Unterhaltungen im Rahmen einer Arbeitsgruppe, wo rascher und in deutlicherem
Ausmaß die Reaktion der anderen auf das eigene Sozialverhalten ersichtlich ist.
Das Ausmaß sozialer Ängste hängt auch von der Art und der Größe sozialer Grup-
pen ab. Definitionsgemäß bestehen soziale Phobien in der Furcht vor der prüfenden
Beobachtung durch andere Menschen in verhältnismäßig kleinen Gruppen, nicht dage-
gen in anonymen Menschenmengen (z.B. Kino, Theater, Großveranstaltung, Fußball-
platz), weil hier die gefürchtete persönliche Nähe zu einzelnen Menschen entfällt.
Sozialphobiker teilen andere Menschen je nach dem Gefühl der Bedrohung häufig in
drei Gruppen ein, was bedacht werden muss, wenn man verstehen will, warum sie sich
vor verschiedenen Leuten fürchten, vor anderen dagegen überhaupt keine Angst haben:
z Sehr vertraute Menschen (Eltern, Großeltern, Partner, eigene Kinder, engste Freun-
de), vor denen keine Angst besteht, weil eine Beurteilungssicherheit gegeben ist.
z Die große Gruppe der unbekannten oder weniger vertrauten Personen, d.h. der Groß-
teil der Menschen, deren Urteil aus irgendeinem Grund potenziell wichtig sein könn-
te, sodass Auffälligkeit und Kritik nicht riskiert werden darf.
z Jene Menschen, die man nie wieder sieht (z.B. auf einer Autobahnraststätte), die
man selbst nicht mag oder deren Urteil einem gleichgültig ist (z.B. Personen, die
man selbst als klar unterlegen oder verabscheuenswürdig beurteilt). Weil diese Per-
sonen als nicht relevant für das Sozialprestige und das Selbstbewusstsein angesehen
werden, besteht ihnen gegenüber weniger oder gar keine Angst.

Angst vor Kritik und Ablehnung führt dazu, dass Menschen mit sozialen Ängsten sich
nicht durchsetzen und ihre berechtigten Wünsche und Bedürfnisse nicht ausreichend
vertreten können. Sie haben Schwierigkeiten, Nein zu sagen und sich gegenüber den
Forderungen anderer abzugrenzen, weil sie Angst haben, nicht mehr geliebt zu werden.
Sie verzichten lieber auf ihre Ansprüche, als potenzielle Ablehnung zu riskieren.
Ihre Furcht vor Kritik hängt häufig mit einem geringen Selbstwertgefühl zusammen.
Menschen mit Sozialphobie sind häufig selbst ihre schärfsten Kritiker und fürchten,
dass andere Menschen ihre eingebildeten oder tatsächlichen Schwächen erkennen könn-
ten. Sie können sich selbst mit ihrer Eigenart nicht annehmen und fürchten daher die
soziale Ablehnung als Bestätigung ihrer Insuffizienz.
Soziale Angst, die aus Selbstunsicherheit entsteht, kann so weit gehen, dass die Be-
troffenen glauben, andere Menschen würden ständig über sie sprechen oder sie in be-
sonderer Weise anschauen (so genannte Beziehungsideen). Eine Person mit einem aus-
geprägten derartigen Verhalten wird als „sensitiv“ bezeichnet. Es tritt oft auch bei de-
pressiven Personen mit geringem Selbstwertgefühl auf.
Viele Menschen mit einer generalisierten Sozialphobie leben recht zurückgezogen
und sehnen sich bei aller Angst vor Ablehnung und Zurückweisung doch sehr nach
Kontakt und Anerkennung. Nach verschiedenen verpassten Gelegenheiten leiden sie
stark unter dem Gefühl, wieder einmal nicht die Initiative ergriffen zu haben (z.B. eine
Person des anderen Geschlechts anzusprechen). Das Risiko, auf der Suche nach dem
richtigen Partner einige Ablehnungen hinnehmen zu müssen, erscheint einfach zu groß.
Soziale Phobie 91

Auf der Suche nach einem Partner hoffen viele sozialphobische Menschen gleich
auf einen intimen Partner. Das erste Gespräch im Lokal wird bereits zum Test, ob man
beim anderen „angekommen“ oder „durchgefallen“ ist. Diese Art der Kontaktsuche ist
auf dem Hintergrund des langen Alleinseins verständlich, stellt jedoch eine Überforde-
rung für beide Interaktionspartner dar. Oft fehlen Geduld, Engagement und Verständnis
dafür, dass eine Beziehung über einen längeren Zeitraum, auch durch Enttäuschungen
hindurch, aufgebaut werden muss. Allein stehende Sozialphobiker glauben nicht selten,
durch einen intimen Partner schlagartig alle sozialen Ängste zu verlieren. Ein Partner
wird häufig als der Retter aus großer Not sehnsüchtig erwartet. Bei langfristig unerfüll-
ten Erwartungen können depressive Verstimmungen auftreten.
Viele Sozialphobiker haben völlig unrealistische Zielvorstellungen über den Aufbau
und die Erhaltung von Beziehungen und erleben deshalb ständig neue Enttäuschungen.
Die Suche nach einem Partner stellt oft einen Kompensationsversuch der eigenen Unsi-
cherheit dar, der trotz ständiger Misserfolge so lange nicht aufgegeben werden kann, als
nur in einem intimen Partner die Erlösung aus der Einsamkeit gesehen wird.
Soziale Phobien äußern sich häufig in Form von sexuellen Funktionsstörungen. Die
Angst, in sexueller Hinsicht zu versagen oder als Frau bzw. Mann nicht attraktiv genug
zu sein, verhindert den näheren Kontakt mit einer Person des anderen Geschlechts.
Küssen wird nicht selten aus Angst vor schlechtem Mundgeruch vermieden. Die Betrof-
fenen brechen eine beginnende Beziehung häufig von sich aus ab, um dem deprimie-
renden Gefühl der Ablehnung zu entkommen. Scham und Scheu im sexuellen Kontext
ist auch aus einem Gedicht von Schiller bekannt („Errötend folgt er ihren Spuren“).
Bei Kindern und Jugendlichen treten soziale Ängste am häufigsten in Form der
Schulphobie und der Prüfungsangst auf, aber auch in Form der Angst, von anderen
Kindern ausgelacht zu werden, wenn diese als Gruppe und damit als bestimmende
Mehrheit erlebt werden. Schüler mit einer sozialen Phobie schneiden wegen ihrer Prü-
fungsängste und des nicht seltenen Vermeidens der Teilnahme am Unterricht bei Prü-
fungen häufig schlechter ab als andere Kinder, was die Angst vor Leistungsbeurteilun-
gen verstärkt. Schlechtere Schulleistungen als aufgrund des oft großen Lerneinsatzes
notwendig sind, hängen häufig zusammen mit der angstbedingten Blockade beim Spre-
chen vor der ganzen Klasse und der Autoritätsperson des Lehrers.
Die Prüfungssituation als der Inbegriff einer gefürchteten Leistungsbeurteilung führt
zu einer verstärkten Beobachtung des eigenen Verhaltens bzw. bestimmter sozial auffäl-
lig machender Symptome (Zittern, Rotwerden, Schwitzen, Stottern, Versagen der
Stimme) und infolgedessen zu einer Konzentrationsstörung, sodass das oft vorhandene
Wissen nicht adäquat dokumentiert werden kann. Im Sport spricht man von „Trai-
ningsweltmeistern“, weil die Betroffenen aus „Nervosität“ im Wettkampf versagen.
Die Beziehung zwischen sozialen Ängsten und verschiedenen Körpersymptomen
wird von sozialphobischen Patienten oft umgedreht: Nicht die Ängste würden zu Sym-
ptomen führen, sondern die unerklärlichen Symptome würden die Ängste verursachen.
In der Selbstwahrnehmung werden die körperlichen Angstsymptome demnach als das
primäre Problem verkannt. Typische Aussagen sind etwa: „Wenn ich nicht so leicht
erröten, schwitzen oder zittern würde, dann hätte ich keine Angst vor anderen Men-
schen.“ Die Einsicht in die tatsächlichen Zusammenhänge stellt die Voraussetzung für
eine Psychotherapie dar, andernfalls wird die Lösung in der Einnahme von Medikamen-
ten (Beruhigungsmitteln, Beta-Blockern und immer häufiger Antidepressiva) gesucht,
die die gefürchteten Körpersymptome verhindern sollen. Die Betroffenen hätten am
liebsten ein Pokerface, das nichts über ihr inneres Befinden verrät.
92 Angststörungen

Eine Errötungsangst (Erythrophobie) bezieht sich auf das Erröten in sozialen Situa-
tionen und resultiert oft aus der Angst vor Sozialkontakten oder aus einem plötzlichen
Überraschungseffekt in sozialen Situationen. Die Betroffenen meinen, sie würden nur
wegen des unkontrollierbaren Errötens den Kontakt mit anderen Menschen fürchten und
hätten sonst keine soziale Unsicherheit und keine Probleme im Umgang mit anderen.
Schwitzen wird oft nicht durch die Bewältigung der sozialen Ängste, sondern mög-
lichst durch das Vermeiden von Schwitzen zu bewältigen versucht (z.B. keine warmen
Räume betreten, nicht zu warm anziehen). Es werden Verhaltensweisen entwickelt, wie
man das Schwitzen möglichst unauffällig ertragen kann (z.B. ein Unterhemd mit hoher
Saugkraft, ein Spray zur Vermeidung eines unangenehmen Körpergeruchs).
Ein psychogener Tremor in Form des Händezitterns hat für viele Betroffene häufig
noch weitreichendere Folgen als das unkontrollierbare Auftreten von Rotwerden oder
Schwitzen. Hier zeigt sich vielleicht am deutlichsten, dass nicht das Verhalten an sich,
sondern dessen Bewertung Angst machend ist. Psychogenes Händezittern wird von den
Betroffenen oft als „Nervenkrankheit“ erlebt. Sie fürchten daher, andere Menschen
könnten ähnlich denken, sodass sie schon allein deswegen als psychiatrischer Fall gel-
ten könnten. Die Betroffenen weichen sozialen Situationen subjektiv wegen des be-
fürchteten Händezitterns aus, doch ist dieser Tremor letztlich nur das Ergebnis der
angstbedingten Muskelverspannung. Verspannt sind oft nicht nur die Hand, sondern
auch der ganze Arm und der Schulter-Nacken-Bereich. Die Angst vor dem sichtbaren
Zittern der Hände kann dazu führen, dass die Betroffenen in Anwesenheit anderer aus
Angst vor Auffälligkeit nichts essen, trinken oder unterschreiben. Ohne das Gefühl der
Beobachtung können die Betroffenen alle Tätigkeiten problemlos ausführen.
Am Beispiel des Händezitterns kann die Eigenart einer Sozialphobie im Vergleich
zur Parkinson-Krankheit erläutert werden [75]. Sozialphobiker haben Angst, auf einem
Formular oder Zahlschein nur unleserlich unterschreiben zu können, im Restaurant die
Suppe vom Löffel zu kippen, beim Anstoßen mit dem Weinglas ungeschickt zu sein, im
Café den Zucker oder den Kaffee zu verschütten, im Selbstbedienungsrestaurant das
Cola-Glas unruhig zu tragen, im Geschäft das Wechselgeld nicht in Ruhe entgegenneh-
men zu können, obwohl diese Befürchtungen meistens unberechtigt sind. Parkinson-
Kranke dagegen zittern sehr stark, bemerken es jedoch oft gar nicht und haben trotz
ihrer Beeinträchtigung gewöhnlich keine Angst, etwas in der Öffentlichkeit zu tun.
Die übermäßige Beschäftigung mit der eigenen Person und der Wirkung auf andere
Menschen äußert sich in sozialen Situationen in der Form, dass Sozialphobiker glauben,
die anderen Menschen würden ebenfalls ständig ihre vermeintlichen Defizite und ihre
psychovegetative Auffälligkeit (an sich harmlose, jedoch von anderen beobachtbare
körperliche Symptome) beobachten. Sozialer Rückzug und das verkrampfte Bemühen,
möglichst unauffällig zu wirken, verhindern die Erfahrung, dass die Mitmenschen die
Betroffenen gar nicht im gefürchteten Ausmaß beobachten bzw. kritisieren, sondern
trotz der vermeintlichen Schwächen als liebenswerte Persönlichkeiten ansehen. Durch
die ständige ängstliche Selbstbeobachtung steigt die vegetative Anspannung, was die
Befürchtung verstärkt, als „nervös“ zu gelten und abgelehnt zu werden.
Ein typisches Beispiel einer sozialen Phobie [76] ist die Geschichte eines Mannes,
der in einer Buchhandlung ein interessantes Buch über Schüchternheit sieht, es aber
trotz großen Interesses nicht wagt, das Buch zu kaufen oder nur hineinzuschauen, weil
die Verkäuferin dann ja wüsste, dass er ein schüchterner Mensch ist. Das Erlebnis, sich
wieder einmal nicht über seine Angst vor der Reaktion der anderen Leute hinwegsetzen
zu können, bestätigt ihm sein Schicksal der Unveränderbarkeit.
Soziale Phobie 93

Wenn Sozialphobiker bestimmte Situationen nicht vermeiden können oder diese mit
weniger Belastung ertragen möchten, wenden sie typische Sicherheitsverhaltensweisen
an, die die Gefahr einer sozialen Auffälligkeit mit allen nur möglichen Mitteln und
Methoden vermindern sollen:
z vor Prüfungen alles aufschreiben, auswendig lernen, im Kopf x-mal durchgehen,
z bei Gesprächen vorher alles gut durchdenken, bevor man sich äußert,
z nichts sagen, um nicht durch Erröten oder Schwitzen im Mittelpunkt zu stehen,
z auf Suppe oder Kaffee verzichten, um nicht durch Händezittern aufzufallen,
z das Glas oder die Tasse sehr fest halten, um leichtes Zittern zu unterdrücken,
z mögliches Zittern kontrollieren, um den Anschein von Nervosität zu vermeiden,
z bestimmte Kleidung anziehen, um sichtbares Schwitzen zu vermindern,
z Alkohol oder Wärme vermeiden oder Fenster öffnen, um nicht zu schwitzen,
z Alkohol oder ein Medikament einnehmen, um Angstreaktionen zu unterdrücken,
z übermäßig viel Makeup verwenden, um bei Erröten nicht aufzufallen,
z vermehrt reden, um unerträgliche Stille oder peinliche Sprechpausen zu vermeiden,
z sich so platzieren, dass man nicht sofort bemerkt wird,
z Blickkontakt vermeiden und auf den Boden oder anderswohin schauen,
z vermeiden, über sich selbst etwas Persönliches zu sagen.

Formen sozialer Ängste


Die meisten Menschen möchten bei den anderen gut ankommen. Soziale Ängste sind
daher auf einem Kontinuum von normal bis krankhaft darstellbar. Verschiedene Fach-
leute haben unterschiedliche Typen sozialer Ängste herausgearbeitet [77].
Deutschsprachige Autoren charakterisieren vier Formen sozialer Ängste in Zusam-
menhang mit den therapeutischen Konsequenzen:
z niedrige soziale Angst und niedrige soziale Defizite („normale“ soziale Angst),
z hohe soziale Angst und niedrige soziale Defizite (Phobie, eher leicht behandelbar),
z niedrige soziale Angst und hohe soziale Defizite (Defizite, schwieriger und langfri-
stiger zu behandeln),
z hohe soziale Angst und hohe soziale Defizite (schwere Störung, aufwendige, lang-
wierige Behandlung).

Französische Autoren unterscheiden vier Formen sozialer Ängste, die von normal bis
krankhaft und von spezifisch bis generalisiert gehen:
z Lampenfieber („Bammel“): normale, situationsgebundene soziale Angst,
z Soziale Phobie: situationsgebundene, krankhafte Angst,
z Schüchternheit: normale, generalisierte soziale Angst,
z Ängstlich-vermeidende Persönlichkeit: generalisierte, krankhafte soziale Angst.

Der englische Psychiater Isaac Marks, einer der „Väter“ der Diagnose „soziale Phobie“,
unterscheidet zwei Arten von klinisch relevanten sozialen Ängsten, die auch einer dem-
entsprechend unterschiedlichen Behandlung bedürfen:
z Sozialphobie im Sinne einer angstbedingten Hemmung (Sozialphobie im engeren
Sinne),
z Sozialphobie als Folge eines sozialen Kompetenzdefizits (Mangel an sozialen Fer-
tigkeiten).
94 Angststörungen

Die Sozialphobie im engeren Sinn tritt bei Männern und Frauen gleich häufig auf, be-
ginnt meist im Teenager-Alter, bezieht sich auf spezifische Auslösereize, ist durch aus-
geprägte körperliche Reaktionen charakterisiert, ist nur gelegentlich mit anderen Pro-
blemen verbunden und wird durch eine Konfrontationstherapie behandelt [78]. Die
Betroffenen verfügen über normale soziale Fertigkeiten, weisen jedoch Ängste in Bezug
auf eine oder mehrere soziale Situationen auf und zeigen starke körperliche Reaktionen
bei der Konfrontation mit relevanten phobischen Reizen. Schüchternheit kann, muss
aber nicht vorhanden sein. Viele sozial gehemmte Menschen weisen oft unpassende
oder unzweckmäßige Verhaltensweisen auf. Sie entschuldigen sich oft, sind übertrieben
höflich, schweigen zu viel, reagieren bei zu viel „Schlucken“ mit Aggressionsdurchbrü-
chen, sprechen eher über andere als mit anderen, reden zu viel über sich selbst, statt sich
auf den anderen einzulassen, sind körperlich ausdruckslos, monoton in der Stimme und
schauen beim Reden die anderen zu wenig an.
Eine Sozialphobie im Sinne eines sozialen Kompetenzdefizits tritt bei Männern häu-
figer auf als bei Frauen, beginnt schleichend in der Kindheit, weist diffuse phobische
Ängste auf, zeigt sich wenig in körperlichen Reaktionen, ist häufig mit vielen anderen
Problemen verbunden und wird am besten durch ein soziales Kompetenztraining im
Rahmen einer Gruppentherapie behandelt. Sozialphobikern mit einem Defizit an sozia-
ler Kompetenz, d.h. Menschen mit einer sozialen Angststörung, fehlen die nötigen Fer-
tigkeiten, um soziale Situationen erfolgreich bewältigen zu können. Sie können Gesprä-
che nicht beginnen, aufrechterhalten und beenden, wissen nicht, wie man sich in be-
stimmten Situationen verhält, sind schüchtern und haben allgemein Probleme im Um-
gang mit anderen Menschen. Sie weisen ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten in
Bezug auf soziale Situationen auf, weil sie fürchten, kritisiert oder verspottet zu werden,
nicht als normal angesehen zu werden, nicht zu wissen, was sie sagen sollen, die Kon-
trolle zu verlieren und in Panik zu geraten. Sie leben deswegen sehr zurückgezogen und
sind oft sehr unglücklich oder depressiv. Die sozialen Defizite äußern sich durch oft
lebenslange Schwierigkeiten im Knüpfen und Aufrechterhalten von sozialen Kontakten
trotz des vorhandenen Wunsches danach sowie durch das ständige Bemühen, die Be-
drohung der eigenen Person zu reduzieren, mit dem Ergebnis sozialen Rückzugs und
starker Beeinträchtigungen im Beruf. Die schwierigsten sozialen Situationen für sozial
defizitäre Personen sind Partys, Tanzen und andere enge Kontakte mit Menschen. Ca-
fés, Restaurants und Gasthäuser, wo Anonymität möglich und kein direkter Kontakt mit
anderen erforderlich ist, können dagegen meistens besucht werden. Typisch sind größe-
re Probleme mit Gleichaltrigen als mit jüngeren oder älteren Personen, Schwierigkeiten
im Kontaktaufnehmen mit fremden bzw. gegengeschlechtlichen Personen, Hemmungen
beim Äußern eigener Gefühle und damit Vertiefen einer Beziehung.
Das DSM-IV [79] ermöglicht bei der Diagnose der sozialen Phobie die Zusatzkodie-
rung „generalisiert“ und impliziert dabei zwei Subtypen, ohne den anderen Subtyp
konkret zu benennen, sodass dafür in der Literatur unterschiedliche Bezeichnungen
gewählt wurden (nicht-generalisiert, spezifisch, Leistungstyp). Die Unterscheidung von
Subtypen ist umstritten: Die Kriterien sind zu wenig konkret und erlauben keine klare
Differenzierung der beiden Formen sozialer Phobien. Eine generalisierte Sozialphobie
ist dann zu kodieren, wenn „die Angst fast alle sozialen Situationen betrifft“. Jedenfalls
werden nach dem Ausmaß der Generalisierung zwei Arten von Sozialphobien unter-
schieden: eine Sozialphobie – Leistungstyp und eine Sozialphobie – generalisierter Typ.
Soziale Phobie 95

Sozialphobie – Leistungstyp
Die nicht generalisierte (spezifische) Sozialphobie wird gewöhnlich mit der Angst in
sozialen Leistungssituationen gleichgesetzt, obwohl dies im DSM-IV explizit nicht so
definiert ist. Eine Sozialphobie vom Leistungstyp ist eine nicht generalisierte, d.h. eine
im DSM-IV allerdings nicht so bezeichnete „spezifische Sozialphobie“, die der Sozial-
phobie im engeren Sinn nach Marks entspricht. Spezifische soziale Ängste beziehen
sich auf Reden, Essen, Schreiben, Leistungssituationen (Prüfung, Reden in der Öffent-
lichkeit, sportliche Betätigung usw.). Als Auslöser dient oft ein einschneidendes Erleb-
nis (z.B. Ausgelachtwerden beim Stottern während eines Referats, Verspottung bei
einer ungeschickten Turnübung, Händezittern beim Essen oder Schreiben an der Tafel).
Häufig trat – von den anderen unbemerkt – eine Panikattacke oder eine panikähnliche
Reaktion auf, die die Angst vor Auffälligkeit verstärkte. Die Angst bewirkt eine Hem-
mung an sich vorhandener Fertigkeiten und geht mit körperlichen Symptomen einher.
Die Störung ist begrenzt auf spezifische Leistungssituationen vor den Augen anderer
Menschen, während in allen anderen Bereichen eine gute soziale Funktionsfähigkeit
gegeben ist. Soziale Ängste vom Leistungstyp können aufgrund der damit verbundenen
körperlichen Symptome zu einer plötzlichen Veränderung des Betroffenen führen, die
der Umwelt völlig unerklärlich erscheint, vor allem wenn der Betroffene vorher als
kontaktfreudig und selbstbewusst galt. Bei der Behandlung ist hier neben einer Kon-
frontationstherapie eine kognitive Umstrukturierung (Denkmuster ändern) angebracht.
Eine spezifische Sozialphobie beginnt durchschnittlich im 16. oder 17. Lebensjahr
und hängt oft mit situativ bedingten Panikattacken zusammen. Die Störung führt später
zu Beeinträchtigungen im schulischen und beruflichen Bereich, verstärkt durch berufli-
che, schulische oder private Veränderungen wie Umzug, Schul- oder Arbeitsplatzwech-
sel, vor allem jedoch auch durch beruflichen Aufstieg, der zu einem unangenehmen
Mittelpunktserleben führt. Zwei Beispiele sollen diese Störung veranschaulichen:

Ein 28-jähriger kaufmännischer Sachbearbeiter, der bisher stets im Hintergrund gearbeitet hatte, wird
aufgrund seiner Tüchtigkeit zum Leiter einer Niederlassung des Konzerns bestimmt, in dem er seit
seinem Schulabgang arbeitet. Nach einigen Monaten treten immer mehr körperliche und seelische
Beschwerden auf. In allen öffentlichen Situationen, in denen er gleichsam eine Leistung erbringen
muss, wie etwa eine Rede halten, eine Feier einleiten, eine Mitarbeiterehrung durchführen oder der
obersten Geschäftsführung einen mündlichen Bericht abstatten, leidet er abwechselnd unter Herzrasen,
Schwitzen, Übelkeit, Harndrang, Angst vor Händezittern und Stottern. Vor entsprechenden Ereignissen
nimmt er einen Beta-Blocker in der Absicht, sein Herz zu beruhigen, und in der Hoffnung, dadurch
nicht zu zittern, zu schwitzen oder sonst irgendwie sichtbar nervös zu wirken. Am Vorabend eines
entsprechenden Ereignisses kann er aus Aufregung nicht einschlafen, sodass er ein Tranquilizer-
Schlafmittel benötigt. Niemals in seinem Leben litt er so unter psychovegetativen Symptomen wie nach
dem Karriereschub. Er fürchtet sich mehr vor seinen Mitarbeitern als diese vor ihm und hat ständig
Angst sich zu blamieren. Erst später wird ihm bewusst, dass er sich auch schon in der Schule vor Prü-
fungen und in der Musikschule vor Soloauftritten besonders gefürchtet hatte.

Ein 17-jähriger Schüler, der bislang keine sozialen Ängste gekannt hat, wird bei einem Referat in
Deutsch plötzlich nervös und glaubt, sichtbar zu zittern und zu schwitzen. Er ist sich sicher, dass seine
Schulkollegen dies bemerkt haben und ihn seither für einen unsicheren Menschen halten, obwohl ihn
keiner darauf angesprochen hat. Er meldet sich im Unterricht in allen Fächern immer seltener aus
Angst, negativ aufzufallen und ausgelacht zu werden. Vor mündlichen Prüfungen lässt er sich vom
Hausarzt ein Beruhigungsmittel verschreiben oder von seiner Mutter einen Beruhigungstee zubereiten.
Schließlich legt er auch seine Funktion als Klassensprecher zurück, weil er in dieser Rolle ebenfalls
Gefahr laufen könnte, sich peinlich zu verhalten.
96 Angststörungen

Prüfungsangst – eine Sozialphobie vom Leistungstyp

Massive Prüfungsängste sind ein Spezialfall der spezifischen Sozialphobie. Ängste in


Leistungs- und Prüfungssituationen sind normal, weil es sich dabei um persönlich be-
deutsame Gelegenheiten handelt, die von den Betroffenen niemals völlig kontrollierbar
sind. Das Ausmaß der Beeinträchtigung macht sie jedoch krankhaft. Prüfungsängstliche
Menschen haben aufgrund ihrer Versagensängste oft wenig Selbstbewusstsein und set-
zen jedes Versagen mit der Ablehnung ihrer Person gleich. Sie überschätzen reale An-
forderungen, stellen an sich überhöhte Erwartungen und unterschätzen ihre Fähigkeiten.
Man kann zwei Arten von Prüfungsängsten unterscheiden:
1. Angst in der Zeit der Prüfungsvorbereitung. Die Angst verhindert die optimale Auf-
nahme des Lernstoffes und beeinträchtigt die Lernphase. Die Angst wird häufig
durch negative Vorstellungsbilder aufgeschaukelt.
2. Angst während der Prüfung. Die Angst beeinträchtigt die Wiedergabe des gelernten
Wissens und wird häufig durch massive körperliche Angstsymptome und deren
ständige Beobachtung sowie durch die negative Bewertung des Prüfungsverhaltens
verursacht bzw. verstärkt.

Faktum ist: Zu wenig Angst macht sorglos und antriebslos, zu viel Angst wirkt geistig
blockierend. Ein mittleres Ausmaß an Erregung und Angst garantiert die optimale Lei-
stungsfähigkeit. Das Lampenfieber von Schauspielern und Sängern ist ein bekanntes
Beispiele dafür, dass leichte Angst und Anspannung das Leistungsvermögen steigern.
Schüler und Studenten mit negativ-pessimistischen Erwartungen beschäftigen sich
ständig mit dem möglichen Misserfolg, den Konsequenzen des Misserfolgs, den Selbst-
zweifeln und den negativen Bewertungen durch andere Personen (z.B. „Was wird der
Lehrer bzw. der Vater hinterher sagen?“). Sie beurteilen ihr Verhalten in der Prüfungssi-
tuation kritisch und selbstabwertend (z.B. „Ich schaffe die Prüfung nicht“, „Ich bin zu
dumm, um das zu verstehen“, „Ich kann gar nichts“). Sie beobachten ständig die auftre-
tenden körperlichen Angstsymptome und sehen darin eine Bestätigung ihrer Unfähig-
keit. Die körperlichen Symptome (z.B. Herzrasen, Atemnot, Übelkeit, Anspannung,
Zittern) sind so stark, dass sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Dies ver-
stärkt die Angst und führt bis zu panikähnlichen Symptomen, die nicht nur den Körper
überaktivieren, sondern auch den Geist verwirren und blockieren.
Die negativen Selbstgespräche, die ständige Beobachtung des eigenen Körpers und
die Beschäftigung mit den Folgen des vorweggenommenen Versagens führen in der
Prüfungssituation zu einer geteilten Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit und Konzen-
tration ist nicht mehr in vollem Ausmaß auf die Prüfungsvorbereitung bzw. auf die
Aufgabenstellung gerichtet, sodass es zu einer Leistungsbeeinträchtigung kommt. Es
zeigen sich mehr Flüchtigkeitsfehler, eine geringere Quantitätsleistung, eine niedrigere
Durchhaltemotivation und eine Beeinträchtigung bei Aufgaben, die komplexere Denk-
prozesse erfordern. Die angstbedingten Denkblockaden verhindern die Aktivierung des
gelernten Prüfungsstoffes und vermitteln aufgrund der negativen Leistungsdaten den
Eindruck mangelnder Prüfungsvorbereitungen.
Eine massive Prüfungsangst kann zu einem teilweisen Verlust des gelernten Wissens
führen. Das Gefühl eines „leeren Hirns“ hängt mit der angstbedingten Ausschüttung der
Stresshormone Kortison und Kortisol zusammen, die das Langzeitgedächtnis blockie-
ren. Erst wenn sich die Menge der Stresshormone nach einiger Zeit auf den Normalwert
eingependelt hat, funktioniert das Gedächtnis wieder in vollem Umfang.
Soziale Phobie 97

Prüfungsängstliche Schüler und Studenten werden häufig unter ihrem Wert geschla-
gen und entwickeln aufgrund des realen angstbedingten Versagens immer größere Prü-
fungsängste, Ohnmachterlebnisse und Minderwertigkeitsgefühle, die im Sinne eines
Teufelskreises wiederum die Prüfungsergebnisse verschlechtern. Aus Angst vor dem
Versagen entwickeln prüfungsängstliche Studenten oft perfektionistische, stresserhö-
hende Bewältigungsstrategien (Lernen ohne Pausen, Antreten zur Prüfung nur bei siche-
rem Wissen). Auch sehr gute Schüler können als Folge ihrer Denkmuster („Ich muss
immer der Beste sein“, „Wenn ich das nicht weiß, bin ich doch nicht so gut, wie ich
immer sein möchte“) unter belastenden Prüfungsängsten leiden.
Schüler und Studenten mit positiven Erwartungen erleben Angst und Unruhe als lei-
stungssteigernd. Kompetenzgefühle und die positive Leistungserwartungen verhindern
angstbedingte Leistungsblockaden. Angst wirkt nicht lähmend, sondern fördert die
Prüfungsvorbereitung und den Lerneinsatz. Sie stimuliert den Ehrgeiz, stärkt den
Kampfeswillen, mobilisiert die Energiereserven und fördert die Umsetzung aller Kennt-
nisse und Fertigkeiten. Die als aktivierend erlebte Angst intensiviert die Aufmerksam-
keit, reduziert die Fehlerzahl, steigert die Leistungsmenge, verstärkt den Leistungsein-
satz und erhöht die Ausdauer bei schwierigen Aufgabenstellungen. Die körperlichen
Symptome der Angst werden im Sinne eines Lampenfiebers als Zeichen notwendiger
Energie zur Ausschöpfung aller Leistungsreserven interpretiert. Unangenehme körperli-
che Angstsymptome werden zwar wahrgenommen, jedoch nicht durch ständige Beob-
achtung verstärkt. Es gelingt eine Aufmerksamkeitsumlenkung von der Wahrnehmung
der Angstsymptome auf die Bewältigung der Aufgabenstellung, sodass eine optimale
Konzentrationsleistung gegeben ist. Eine Einstellungsänderung bewirkt eine Verringe-
rung der Prüfungsangst. Dies ermöglicht eine optimale Konzentration auf die Aufga-
benstellung, wodurch die Erfolgschancen erhöht werden.
Versagensängstlichen Personen wird ein Selbsthilfebuch des Autors („Die Angst zu
versagen und wie man sie besiegt“) empfohlen.

Sozialphobie – generalisierter Typ


Eine generalisierte Sozialphobie entspricht eher dem Sozialphobiker mit Sozialkompe-
tenzdefizit (mangelnde soziale Fertigkeiten und allgemeine Selbstunsicherheit). Eine
generalisierte soziale Phobie ist charakterisiert durch das Auftreten von Ängsten in
vielen verschiedenen sozialen Situationen. Die Betroffenen fürchten sowohl öffentliche
Leistungssituationen (vor anderen reden, essen schreiben usw.) als auch soziale Situa-
tionen (z.B. Kontaktaufnahme mit Fremden oder dem anderen Geschlecht).
Im Laufe der Zeit kommt es zu schweren Beeinträchtigungen in allen Lebensberei-
chen, sodass soziale, schulische und berufliche Probleme auftreten. Die Störung ist oft
mit einer depressiven Symptomatik oder mit Alkoholmissbrauch verbunden.
Generalisierte soziale Ängste treten gewöhnlich schon sehr früh auf (durchschnitt-
lich mit 11-12 Jahren), jedenfalls vor dem 15. Lebensjahr.
Häufig liegen zwar ausgeprägte soziale Defizite zugrunde, dennoch wird mit einer
„generalisierten Sozialphobie“ insgesamt eher das Verhalten des ängstlich-gehemmten
Sozialphobikers bezeichnet, während die schweren Formen sozialer Defizite als Persön-
lichkeitsstörung beschrieben werden:
z „ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung“ (ICD-10)
z „vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung“ (DSM-IV)
98 Angststörungen

Bei der ängstlich-vermeidenden bzw. vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstö-


rung treten Ängste in fast allen sozialen Situationen auf, weshalb in den Diagnosesche-
mata als Grundlage für derart generalisierte soziale Ängste eine dementsprechende
Persönlichkeitsstruktur angenommen wird. Bei der sozialen Phobie werden soziale
Situationen gemieden, bei der ängstlichen Persönlichkeitsstörung soziale Beziehungen
überhaupt, bedingt durch die größere allgemeine Unsicherheit und Ängstlichkeit.
Soziale Phobie und ängstliche Persönlichkeitsstörung unterscheiden sich nur durch
den Schweregrad der Beschwerden voneinander. Beide Störungen liegen auf einem
Kontinuum des Schweregrades der Gestörtheit (Ausprägung der Angst und der Defizi-
te), wobei die ängstliche Persönlichkeitsstörung nur durch die besondere Schwere der
sozialen Störung definiert ist. In einer amerikanischen Studie [80] an 1000 Personen aus
der Durchschnittsbevölkerung bezeichneten sich 40% als dauerhaft schüchtern und 80%
als zumindest zeitweise schüchtern. Dies weist darauf hin, dass soziale Phobien auf
einem Kontinuum zu normalen Ängsten liegen.
Die Trennung zwischen sozialer Phobie (sozialer Gehemmtheit) und sozialen Defizi-
ten (ängstlicher Persönlichkeitsstörung) in zwei unabhängige Kategorien entspricht
nicht der Realität. Bei einer Sozialphobie können auch soziale Defizite gegeben sein.
Die sozialen Defizite bei einer ängstlich-unsicheren Persönlichkeit lassen sich ebenso
erfolgreich therapieren wie bei einer Sozialphobie, sodass soziale Defizite nicht als
zentrales Wesensmerkmal für eine definitionsgemäß nur relativ schwer veränderbare
Persönlichkeitsstörung angesehen werden sollten.
Personen mit einer generalisierten sozialen Angststörung verhalten sich in sozialen
Situationen zwar weniger sozial kompetent als andere Menschen, dies drückt jedoch
nicht unbedingt einen Mangel an sozialen Fertigkeiten aus, sondern kann auch in der
unzulänglichen Umsetzung vorhandener Fähigkeiten liegen. Zur Vermeidung eines
falschen Therapieansatzes (z.B. eines reinen sozialen Kompetenztrainings) muss man
zwischen sozialer Kompetenz (grundsätzlicher Verfügbarkeit eines sozial kompetenten
Verhaltensrepertoires in sozialen Situationen) und sozialer Performanz (in sozialen
Situationen aufgrund des Verhaltens tatsächlich gezeigter und beobachtbarer sozialer
Kompetenz) unterscheiden. Oft kommt es in der Therapie nur darauf an, die Performanz
zu verbessern, d.h. die Bedingungen, Einstellungen und Verhaltensweisen zu optimie-
ren, die die Umsetzung der vorhandenen Fertigkeiten erleichtern.
Eine generalisierte Sozialphobie muss auch nicht mit Schüchternheit im Sinne einer
sozialen Befangenheit, einer Hemmung des spontanen sozialen Verhaltens und eines
erhöhten Bewusstseins für die Beobachtung und Bewertung des eigenen Verhaltens
durch andere Menschen in Zusammenhang stehen, Schüchternheit als erblich determi-
nierter Temperamentsfaktor kann aber einen subklinischen Risikofaktor darstellen.
Ein Beispiel soll das Leiden bei einer generalisierten Sozialphobie verdeutlichen:

Ein 34-jähriger allein stehender Arbeiter stellt sich dem Ausmaß seiner sozialen Ängste erst dann, als er
wegen eines chronischen Alkoholmissbrauchs keinen Tropfen Alkohol mehr trinken soll. Plötzlich
bemerkt er mehr als vorher seine sozialen Kontaktprobleme. Er kann sich in Gruppensituationen kaum
äußern aus Angst, etwas Falsches zu sagen; er fürchtet Pausenzeiten in der Arbeit, weil er nicht weiß,
was er mit seinen Arbeitskollegen reden soll; er verzichtet auf berufliche Aufstiegschancen, weil er
dadurch mehr als bisher im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit anderer Menschen stehen könnte; er
macht Weiterbildungsmaßnahmen nur widerwillig, weil er im Kurs als dumm auffallen könnte; er
knüpft keine neuen Kontakte aus Angst, abgelehnt zu werden; er spricht aus Angst vor Nervosität und
Rotwerden keine Frauen an, obwohl er sich seit langem eine Partnerin wünscht; er verwendet Ausre-
den, um Familientreffen zu entkommen, denn auch dort könnte er durch seine Zurückgezogenheit
unangenehm auffallen; aus Nervosität entfällt ihm bei Gesprächen oft der Name seines Gegenübers.
Soziale Phobie 99

Epidemiologie, Verlauf und Folgen der sozialen Phobie


Nach neueren Studien leiden in der Bevölkerung 7-13% im Laufe des Lebens, 6-8% im
Laufe des letzten Jahres und 3-4% im Laufe des letzten Monats an einer Sozialphobie.
Die Störung kommt bei jüngeren Menschen häufiger vor. Die Sozialphobie ist nach
Depressionen und Alkoholproblemen die dritthäufigste psychische Störung und die
häufigste Angststörung.
Ältere deutsche und amerikanische Bevölkerungsstudien [81] erbrachten bei der
Sozialphobie eine Lebenszeitprävalenz von 2,5%. Nach einer gesamtdeutschen Erhe-
bung 1997-1998 bestand bei 2,0% der 16- bis 65-Jährigen in den letzten 12 Monaten
vor der Befragung eine Sozialphobie. Nach einer repräsentativen Befragung in Bayern
litten von den 18- bis 24-Jährigen 8,7% im Laufe des Lebens und 6,2% im Laufe der
letzten 12 Monate unter einer sozialen Phobie. Nach einer nationalen Befragung in den
Niederlanden im Jahr 1996 (NEMESIS) hatten 7,8% der Bevölkerung im Laufe des
Lebens und 4,8% innerhalb der letzten 12 Monate eine soziale Phobie.
Nach der repräsentativen amerikanischen NCS-Studie [82] aus den frühen 1990er-
Jahren ist die soziale Phobie mit einer Auftretenswahrscheinlichkeit von 13,3% im
Laufe des Lebens (11,1% Männer, 15,5% Frauen), 7,9% innerhalb der letzten 12 Mona-
te (6,5% Männer, 9,1% Frauen) und 4,5% innerhalb des letzten Monats (3,8% Männer
und 5,2% Frauen) nach der Depression und der Alkoholabhängigkeit die dritthäufigste
psychische Störung. Sozialphobien kommen bei Frauen 1,4-mal häufiger vor als bei
Männern. Es besteht eine sehr hohe Komorbidität. 81% der Sozialphobiker entwickeln
im Laufe des Lebens eine oder mehrere psychische Störungen, deren Verlauf sich teil-
weise überschneidet. 56,9% der Sozialphobiker entwickeln eine andere Angststörung,
41,4% eine affektive Störung, 39,6% Substanzmissbrauch/-abhängigkeit. Bei drei Vier-
tel der Fälle (77%) bestand die Sozialphobie bereits vor der Komorbidität.
Nach einer neuerlichen nationalen Befragung in den USA im Zeitraum 2001-2003
(NCS-R-Studie) auf der Basis der DSM-IV-Kriterien leiden 12,1% im Laufe des Lebens
und 7,1% im Laufe der letzten 12 Monate an einer sozialen Phobie. Damit werden die
älteren US-Daten mit ihren hohen Prozentwerten bestätigt. Es konnte auch eine große
Komorbidität mit anderen psychischen Störungen (vor allem mit anderen Angststörun-
gen, affektiven Störungen und Substanzmissbrauch) nachgewiesen werden. Mit der
Zahl der sozialen Ängste stieg die Komorbidität mit anderen psychischen Störungen
deutlich an, und zwar auf 90,2% bei Personen mit mehr als 11 sozialen Ängsten. Fast
alle Menschen mit sozialen Ängsten im Ausmaß von mindestens einem Jahr (genau
92,6%) berichteten von einer Beeinträchtigung ihrer Lebenssituation, bei mehr als ei-
nem Drittel (36,5%) bestand eine erhebliche Beeinträchtigung in zumindest einem zen-
tralen Funktionsbereich. Eine starke Beeinträchtigung von Menschen mit einer sozialen
Phobie zeigte sich auch bei jenen Betroffenen, die keine weitere psychische Störung
aufwiesen. Die soziale Phobie bzw. soziale Angststörung hatte umso früher im Leben
begonnen, je mehr soziale Ängste die Betroffenen aufwiesen. Nachdenklich stimmt vor
allem auch der Befund, dass die meisten Betroffenen an keiner phobiespezifischen Be-
handlung teilnahmen, und zwar umso weniger, je mehr soziale Ängste sie aufwiesen.
Die häufigsten sozialen Ängste waren laut dieser Befragung Sprechängste in verschie-
denen Situationen. Die Studie konnte keine speziellen Subtypen von sozialen Ängsten
herausfinden, d.h. die häufige Unterscheidung zwischen leistungsbezogenen (spezifi-
schen) und interaktionsbezogenen (generalisierten) sozialen Ängsten konnte nicht bestä-
tigt werden.
100 Angststörungen

Bei der Mehrzahl der Betroffenen in der Bevölkerung besteht eine spezifische Sozi-
alphobie. Die häufigsten spezifischen Sozialphobien sind die Redephobien. Im klini-
schen Bereich überwiegen generalisierte Sozialphobien. In klinischen Behandlungsein-
richtungen ist die Sozialphobie nach der Agoraphobie die zweithäufigste Angststörung.
Die Betroffenen beginnen eine Therapie häufig wegen anderer Probleme (Alkoholmiss-
brauch, vegetative Störungen, Depression, Selbstmordversuch). Sie begeben sich oft
erst nach zwei Jahrzehnten in Psychotherapie. Von allen Angstpatienten beginnen Men-
schen mit einer sozialen Phobie am spätesten mit einer adäquaten Therapie, vermutlich
weil sie ihre Störung mit ihrem Charakter gleichsetzen. Unter den Menschen mit krank-
haften sozialen Ängsten, d.h. unter definierten Patienten, haben mindestens die Hälfte
der Betroffenen generalisierte soziale Ängste im Sinne einer heute so genannten sozia-
len Angststörung. Die soziale Phobie ist die häufigste komorbide Störung bei anderen
psychischen Störungen (sie bestand meistens bereits vorher).
Frauen haben im Vergleich zu Männern ein etwas höheres Risiko für eine soziale
Phobie (Verhältnis 3:2), die Frauendominanz ist jedoch nicht so ausgeprägt wie bei
anderen Angststörungen (Panikstörung, generalisierter Angststörung und spezifischen
Phobien). Bei Frauen äußern sich soziale Ängste in anderer Form als bei Männern. Sie
haben mehr soziale Ängste in Bezug auf Autoritäten, öffentliche Reden, Berichterstat-
tung in Gruppen, Widersprechen, Beobachtung bei der Arbeit, Mittelpunkerleben oder
Betreten von Räumen, in denen bereits Menschen sind.
Das Auftreten und die Art der sozialen Ängste sind auch kulturabhängig. Soziale
Phobien kommen in der westlichen Welt häufiger vor als in Asien. Viele Menschen in
Japan und Korea haben mehr Angst davor, andere zu kränken oder in Verlegenheit zu
bringen, als selbst emotional peinlich berührt zu sein oder gekränkt zu werden. Sie ha-
ben Angst, andere dadurch in Verlegenheit zu bringen, dass sie vor ihnen erröten, den
Blick über ihren Genitalbereich gleiten lassen, einen unangenehmen Körpergeruch
ausstrahlen oder einen unpassenden Gesichtsausdruck aufweisen. In asiatischen Län-
dern besteht eine viel größere soziale Gehemmtheit als in der westlichen Welt. Ein
sozial zurückhaltendes und eher introvertiertes Verhalten entspricht dort eher den kultu-
rellen Gepflogenheiten als in Europa oder Amerika. In ostasiatischen Ländern zeigt sich
ein eher „kollektivistisches“ als ein „individualistisches“ Verhalten wie in den USA.
Die soziale Phobie nimmt vor allem bei der jüngeren Bevölkerung zu, bedingt durch
soziale und gesellschaftliche Umstände (steigender Leistungsdruck). Sie setzt in immer
früherem Alter ein und weist einen immer höheren Schweregrad auf. Dieser Eindruck
ergibt sich zumindest aus dem Umstand, dass jüngere Menschen bei Befragungen häu-
figer soziale Ängste im Laufe des Lebens angaben als ältere Personengruppen.
Vorübergehende soziale Ängste sind im Kindes- und Jugendalter relativ häufig.
Soziale Phobien beginnen meist zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr (bei 75% vor
dem 16. Lebensjahr) und damit früher als Panikstörungen und Agoraphobien. Eine
generalisierte soziale Phobie beginnt durchschnittlich mit 10-13 Jahren, eine nicht gene-
ralisierte Sozialphobie mit 16-22 Jahren [83]. Ein Störungsbeginn nach dem 25. Lebens-
jahr ist selten. Bei Kindern stehen soziale Ängste oft mit bestimmten psychischen Stö-
rungen in Verbindung (selektivem Mutismus, Schulverweigerung, Trennungsangststö-
rung, übermäßiger Schüchternheit und Gehemmtheit). Der frühe Beginn sozialer Phobi-
en im Kindes- oder Jugendalter macht es verständlich, dass sich aufgrund der auftreten-
den Defizite rascher als bei anderen Menschen auch weitere psychische Störungen ent-
wickeln, vor allem Depressionen aufgrund mangelnder positiver Lebenserfahrungen.
Die häufigste soziale Phobie des Kindes- und Jugendalters ist die Schulphobie.
Soziale Phobie 101

Soziale Angststörungen zeigen eine starke familiäre Häufung. Das Risiko, soziale
Ängste zu bekommen, ist für Kinder von Menschen mit sozialen Phobien etwa dreimal
so hoch wie in unbelasteten Familien. Dies gilt vor allem bei generalisierten sozialen
Phobien. Nach Zwillingsstudien besteht eine Erblichkeit von 30-50%. Die Wahrschein-
lichkeit für die Entwicklung einer sozialen Phobie ist deutlich erhöht bei einer tempe-
ramentbedingten, vermutlich ererbten Tendenz zur „Verhaltenshemmung“. Man ver-
steht darunter die Neigung, auf neue (soziale und nicht soziale) Situationen nach außen
hin gehemmt, scheu und zurückhaltend zu reagieren, während innerlich eine hohe auto-
nome Erregung besteht (stabil hohe Herzfrequenz, erhöhte Kortisolwerte im Speichel).
„Schüchternheit“ von Kindheit an ist laut amerikanischen Längsschnittstudien als
konstitutioneller Faktor anzusehen; sie wurde bereits im Alter von 21 Monaten nachge-
wiesen, dauert bis in das Erwachsenenalter an und stellt noch keine Krankheitswertig-
keit dar. Der Zustand der Schüchternheit wird erst durch das subjektive Erleben, nicht
anders handeln zu können, zu einer anhaltenden Belastung. Es gibt viel mehr schüchter-
ne als sozial ängstliche Menschen. Nicht alle schüchternen Menschen sind daher als
Sozialphobiker anzusehen. Im Vergleich zu schüchternen Menschen haben sozial ängst-
liche Personen weniger soziale Fertigkeiten, ein größeres Vermeidungsverhalten, einen
chronischeren Verlauf, einen späteren Krankheitsbeginn und oft auch mehr Symptome.
Soziale Ängste werden begünstigt durch bestimmte psychosoziale Belastungssitua-
tionen (soziales Außenseitertum der Familie, Außenseiter-Dasein im Kindergarten und
in der Pflichtschule, alkoholkranker Elternteil, niedriger sozialer Status und Bildungs-
stand, geringes Einkommen, Arbeitslosigkeit) und ein bestimmtes Erziehungsmilieu
(übertriebene Strenge und Kontrolle, überfürsorgliches Verhalten, wenig Zuwendung
und Fürsorge). Soziale Ängstlichkeit wird vor allem auch erlernt am Beispiel eines
sozial unsicheren und ängstlichen Elternteils, was mit dem Begriff des Modelllernens
bezeichnet wird (anderer Fachausdruck: „familiäre Transmission“). Spezifische Phobien
haben häufig Auslöser in Form eines „Minitraumas“ (z.B. peinlicher Auftritt bei einem
Referat, Erfahrungen, von Mitschülern ausgelacht oder sekkiert zu werden).
Der Verlauf einer unbehandelten Sozialphobie ist gewöhnlich chronisch. Häufig
besteht ein konstanter und phasenhafter Verlauf mit Schwankungen, nur bei der Min-
derheit kommt es zu Spontanremissionen, was die Notwendigkeit einer speziellen Psy-
chotherapie aufzeigt. Viele Betroffene leiden schon 20 Jahre lang darunter. Soziale
Phobien entwickeln sich langsamer als andere Angststörungen. Erste Anzeichen dafür
sind eine ausgeprägte Schüchternheit oder Zurückhaltung, später resultieren daraus
berufliche, schulische, soziale, familiäre oder private Probleme. Viele Betroffene leben
unter ihren Möglichkeiten und verpassen die Chancen ihres Lebens. Single-Dasein,
Schulabbrüche, Karrierenachteile und soziale Vereinsamung machen unglücklich.
Mindestens drei Viertel der Sozialphobiker entwickeln im Laufe ihres Lebens weite-
re psychische Störungen, d.h. es besteht eine extrem hohe Komorbidität. Die unzurei-
chende Bewältigung einer sozialen Phobie bzw. sozialen Angststörung stellt einen Risi-
kofaktor für weitere psychische Störungen war, vor allem für Depressionen und Abhän-
gigkeitserkrankungen. Vor allem eine generalisierte soziale Phobie geht häufig mit
Depressionen und Alkoholmissbrauch einher, während eine nicht generalisierte soziale
Phobie eher mit Panikattacken in Verbindung steht oder zumindest von den Betroffenen
als Panikstörung erlebt wird. Eine Sozialphobie ist somit häufig die „Einstiegsstörung“
in die genannten „härteren“ psychischen Störungen, begünstigt aber auch die Ausprä-
gung einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung, die Ausdruck der Verfesti-
gung der Einstellungen und Verhaltensweisen ist.
102 Angststörungen

Eine Depression ist die häufigste Begleit- und Folgesymptomatik der sozialen Pho-
bie und tritt (je nach Diagnosekriterien) in 14-50% der Fälle auf. Sozialphobiker mit
einer zusätzlichen Depression entwickeln eine schwerere Form von Sozialphobie als
nichtdepressive Sozialphobiker. Sozialphobiker mit einer Depression weisen eine be-
sondere Überempfindlichkeit bei Kritik und Ablehnung auf. Eine soziale Phobie ist
keine harmlose Angstkrankheit, was sich auch in relativ häufigen Selbstmordgedanken
und Selbstmordversuchen äußert. Bei rund 15% der Betroffenen kommen Selbstmord-
versuche vor [84]. Die depressive Verstimmung entwickelt sich oft als Folge der sozia-
len Hemmung und des ständigen sozialen Vermeidungsverhaltens, das keine positiven
und aufbauenden Erfahrungen in Sozialkontakten ermöglicht. Die Depression ist oft
bedingt durch die Unzufriedenheit mit der jeweiligen Lebenssituation (geringe Durch-
setzungsfähigkeit im beruflichen und privaten Bereich, Vereinsamung, wenig Verhal-
tensalternativen). Eine soziale Phobie geht auch oft mit einer Dysthymie einher.
Viele Sozialphobiker (5-36%) benutzen Alkohol, um ihre Ängste zu dämpfen [85].
Nach einer Studie entwickeln rund 20% der Sozialphobiker einen ausgeprägten Alko-
holkonsum, der deutlich über dem von Agoraphobikern liegt. Zahlreiche Angst auslö-
sende soziale Interaktionen erfolgen in Situationen, in denen auch Alkohol zur Verfü-
gung steht (z.B. bei Verabredungen, Feiern, Essen im Restaurant). Umgekehrt finden
sich unter Alkoholikern viele sozial ängstliche Menschen, die wegen ihrer Ängste zu
trinken begonnen haben.
Vor allem bei einem frühen Beginn der sozialen Phobie besteht die Gefahr der Ent-
wicklung eines Alkoholmissbrauchs oder einer Depression. Die viel selteneren sozialen
Phobien mit späterem Beginn sind eher die Folge anderer komorbider Störungen, z.B.
einer chronifizierten Depression. Soziale Phobien können aber auch die Folge von Sub-
stanzmissbrauch sein und lassen sich dann erklären durch die befürchtete oder reale
soziale Auffälligkeit (z.B. Entzugserscheinungen, soziale oder berufliche Probleme).
Soziale Ängste wirken sich erheblich auf Partnerschaft, Familie, Beruf und Lebens-
qualität aus. Viele Menschen mit sozialer Phobie sind unverheiratet, haben keinen fe-
sten Partner, leben auch als Erwachsene noch immer zu Hause, bekommen Partnerpro-
bleme wegen ihres Verhaltens, haben keine sexuellen Erfahrungen oder leiden unter
sexuellen Problemen, haben nur einen kleinen Freundes- und Bekanntenkreis oder leben
sozial isoliert. Die Betroffenen sind in höherem Ausmaß arbeitslos oder im Kran-
kenstand, verdienen weniger als andere, werden unterqualifiziert eingesetzt und errei-
chen aufgrund ihres ständigen Vermeidungsverhaltens nicht jene beruflichen Positio-
nen, die sie aufgrund ihrer Fähigkeit innehaben könnten.
Eine Sozialphobie kommt auch gehäuft bei Personen mit einer Essstörung (Anore-
xie, Bulimie) und einer Dysmorphophobie vor.
Zwänge stellen häufig einen Bewältigungsversuch von sozialer Unsicherheit und
mangelnder sozialer Kompetenz dar [86]. Dies wird oft erst deutlich, wenn die Zwänge
vermindert oder sogar völlig beseitigt sind. Rund 20% der Sozialphobiker weisen
Zwangssymptome auf, die mit gefürchteten negativen sozialen Konsequenzen (Angst
vor Kritik) zusammenhängen [87]:
z Ordnungs- und Putzzwänge aus Angst, bestimmte Sauberkeitsnormen nicht zu erfül-
len (z.B. Angst vor Kritik durch die Schwiegermutter oder andere Besucher);
z Kontrollzwänge aus Angst, den geforderten Perfektionsansprüchen nicht zu entspre-
chen (z.B. beruflicher Perfektionismus zur Vermeidung von Kritik durch den Chef);
z Zwangsgedanken im Sinne der Vorwegnahme der gefürchteten negativen Reaktio-
nen anderer, wodurch eine Handlungsunfähigkeit gegeben ist.
Soziale Phobie 103

Differenzialdiagnose
Viele gesunde Menschen erleben zeitweise die Angst, sich in sozialen Situationen zu
blamieren, fühlen sich dadurch aber nicht so belastet und beeinträchtigt wie Sozialpho-
biker. Insbesondere die Angst vor öffentlichem Sprechen führt dazu, dass zahlreiche
Menschen den Auftritt in der Öffentlichkeit vermeiden, so gut es geht.
Prüfungsangst, Sprechangst, Lampenfieber und Schüchternheit in Anwesenheit
fremder Personen kommen häufig vor und sollten nur dann als Ausdruck einer sozialen
Phobie diagnostiziert werden, wenn die dabei auftretende Angst belastend ist und die
einsetzende Vermeidungstendenz zu einer ernsthaften Beeinträchtigung der schulischen,
beruflichen oder sozialen Funktionsfähigkeit führt. Bei Prüfungsangst, Lampenfieber
und Schüchternheit führt die Angst oder Vermeidung gewöhnlich zu keiner klinisch
bedeutsamen Beeinträchtigung.
Viele Fachdiskussionen, jedoch bislang keine ausreichenden empirischen Befunde
gibt es zum Verhältnis zwischen Sozialphobie und Schüchternheit. Schüchternheit ist
eine subklinische Form von Angst und kommt bei vielen Menschen vor, die deswegen
nicht beeinträchtigt wirken. Schüchterne erleben sich in ihren Lebensmöglichkeiten
weniger eingeschränkt als Sozialphobiker. Schüchternheit ist nicht mit sozialem Rück-
zug oder sozialem Vermeidungsverhalten gleichzusetzen. Wenn aus schulischen, beruf-
lichen oder sonstigen Gründen ein öffentlicher Auftritt unvermeidlich ist, können
schüchterne Personen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit treten, während Sozi-
alphobiker oft vegetative Symptome bekommen, krank werden oder durch Ausreden die
betreffenden Situationen zu vermeiden trachten. Gegenüber einer eher persönlichkeits-
typischen Schüchternheit und subklinischen sozialen Ängsten geht eine Sozialphobie
meist mit sehr belastenden körperlichen Symptomen einher.
Die Abgrenzung der beiden Sozialphobie-Subtypen, die im ICD-10 nicht in dieser
Form erwähnt werden, ist im Einzelfall oft nicht leicht oder nur schwer möglich, zumal
im DSM-IV keine ausreichend klaren Kriterien bestehen. Grundsätzlich gilt jedenfalls,
dass die generalisierte Sozialphobie mehr sozialphobische (leistungs- und interaktions-
bezogene) Situationen umfasst als die nicht-generalisierte (spezifische) Sozialphobie.
Eine klare Abgrenzung gegenüber der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeits-
störung wird im DSM-IV nicht vorgenommen. Es gilt nur das grundsätzliche Kriterium,
dass eine Persönlichkeitsstörung einen noch höheren Generalisierungsgrad aufweist,
also noch mehr Ängste umfasst als die generalisierte Sozialphobie, und in stärkerem
Ausmaß als grundlegende Beziehungsstörung mit einem sehr geringen und negativen
Selbstwertgefühl zu sehen ist, während die soziale Phobie vor allem auf spezifische
Handlungen bezogen ist und primär als Angst vor negativer Bewertung zu verstehen ist.
Dennoch sind die diagnostischen Kriterien derart ähnlich, dass im Falle einer generali-
sierten Angststörung oft auch eine selbstunsichere Persönlichkeitsstörung diagnostiziert
werden kann. Angesichts des diagnostischen Dilemmas, dass keine klar abgrenzbaren
Störungskategorien vorhanden sind, bewährt sich beim derzeitigen Forschungsstand die
Annahme eines Kontinuums unterschiedlicher Ausprägungsgrade von sozialer Angst:
nicht generalisiert – generalisiert – vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung.
20-25% der Personen mit einer spezifischen Sozialphobie und 70-89% der Men-
schen mit einer generalisierten Sozialphobie erfüllen gleichzeitig auch die Kriterien der
vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung. Die Zusatzdiagnose einer vermei-
dend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung ist vor allem im therapeutischen Kontext
bedeutsam, weil mit einer längeren Behandlungszeit gerechnet werden muss.
104 Angststörungen

Die richtige Unterscheidung zwischen Sozialphobie und Agoraphobie mit Panikstö-


rung ist das in der klinischen Praxis häufigste Problem. Sozialphobiker fürchten körper-
liche Symptome nur angesichts von sozialen Situationen. Bei einer Agoraphobie mit
Panikstörung fürchten die Betroffenen um ihre körperliche Unversehrtheit, während es
bei einer Sozialphobie um das Sozialprestige geht. Eine Unterscheidung ist auch durch
die jeweils im Vordergrund stehenden Symptome möglich: Sozialphobiker fürchten in
stärkerem Ausmaß sichtbare Symptome wie Erröten, Schwitzen oder Zittern, Ago-
raphobiker mit und ohne Panikattacken dagegen eher bedrohlich erscheinende körperli-
che Symptome wie Herzrasen, Atemnot, Brustschmerzen, mentale Kontrollverlustge-
fühle, Einengung der Bewegungsfreiheit und Entfernung von Sicherheit gebenden Per-
sonen, Situationen oder Objekten. Sozialphobiker können sich vor denselben Situatio-
nen wie Agoraphobiker fürchten, jedoch aus anderen Gründen, nämlich wegen der uner-
träglichen sozialen Beachtung und Beurteilung der eigenen Person („Was werden sich
die anderen von mir denken?“, „Bestimmt halten sie mich für dumm“, „Ich könnte mich
blamieren“). Nicht selten wird die soziale Phobie durch Ausreden zu verbergen versucht
(z.B. „Ich finde Partys blöd“, „Ich mag diese Typen einfach nicht“, „Ich kann nicht
mehr so viel fortgehen wie früher, weil ich zu Hause so viel Arbeit habe“, „Ohne mei-
nen Mann freut mich das Fortgehen nicht“, „Ich bin nicht mehr so gesund wie früher“).
Neben einer Agoraphobie oder einer Panikstörung kann im Längsschnittverlauf jedoch
auch eine Sozialphobie bestehen, d.h. nicht selten ist auch eine Komorbidität gegeben.
Bei einer generalisierten Angststörung gehen die Sorgen und Befürchtungen bezüg-
lich vermeintlicher Katastrophen weit über soziale Situationen hinaus. Die Angst vor
Peinlichkeit oder Demütigung steht nicht so stark im Mittelpunkt der Befürchtungen
wie bei einer Sozialphobie, wenngleich sie vorhanden sein kann. Anders formuliert: Die
Sorgen und Befürchtungen von Menschen mit einer generalisierten Angststörung beste-
hen unabhängig davon, ob die Betroffenen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen
und von anderen bewertet werden können. Im Gegensatz zu den bei einer Sozialphobie
typischen Symptomen wie Schwitzen, Zittern und Rotwerden stehen bei einer generali-
sierten Angststörung andere Symptome im Vordergrund (z.B. Kopfschmerzen, Ver-
spannung, Schlafstörungen).
Bei einer Depression beruht der soziale Rückzug nicht bloß auf der Angst vor sozia-
ler Ablehnung, sondern vor allem auch auf mangelnder Motivation und Energie sowie
auf allgemeiner Lustlosigkeit. Häufig führt eine langjährige und unbehandelte Sozial-
phobie wegen der fehlenden sozialen Verstärker zu einer sekundären Depression. Wenn
die sozialen Ängste nur im Rahmen einer Depression bestehen und zusammen mit der
Depression wieder verschwinden, ist keine zusätzliche Diagnose einer sozialen Phobie
zu stellen. Wenn dagegen vor oder nach einer depressiven Episode ausgeprägte soziale
Ängste bestehen, ist eine Doppeldiagnose angezeigt.
Bei einer Dysmorphophobie (körperdysmorphen Störung nach dem DSM-IV) beruht
die Vermeidung sozialer Situationen ausschließlich auf der subjektiven Überzeugung,
körperlich entstellt zu sein und nur deswegen unangenehm aufzufallen.
Bei einer Zwangsstörung resultieren soziale Vermeidungsreaktionen aus der Be-
fürchtung, sich bei anderen Menschen anstecken zu können und dadurch andere Perso-
nen anstecken zu können und infolgedessen Zwangsrituale durchführen zu müssen.
Eine sekundäre soziale Phobie bei einer körperlichen Krankheit oder Behinderung
führt nur wegen der zumindest teilweise begründeten Angst vor negativer Bewertung
aufgrund einer tatsächlich gegebenen körperlichen Auffälligkeit zu einem sozialen
Rückzugs- und Vermeidungsverhalten.
Zwangsstörung 105

Zwangsstörung – Angstbewältigung durch Zwänge

Historische Aspekte der Zwangsstörung


Beispiele für zwanghaftes Verhalten wurden bereits von Euripides in der antiken Litera-
tur angeführt. Verschiedene bedeutende Persönlichkeiten waren in der Vergangenheit
von dieser Störung betroffen, z.B. Martin Luther und Charles Darwin.
Die Fremdheit der Zwänge wurde in der christlichen Welt durch das Wirken des
Teufels erklärt, was sich erst im 19. Jahrhundert änderte. Bewusstes Verweilen bei be-
stimmten Gedanken mit Wohlgefallen galt als sündhaft und musste von Katholiken
gebeichtet werden. Gedanken mit sündhaften Inhalten galten als ähnlich schwerwiegend
wie Taten. Es wurde im 16. Jahrhundert von Ignatius von Loyola als Sünde betrachtet,
wenn man bei einem Gedanken mit unmoralischem Inhalt ein wenig verweilt und ein
wenig Wohlgefallen findet und diesen nur sehr nachlässig verwirft. Skrupelhafte Chri-
sten neigten zu übermäßig häufiger Beichte, um durch Reue und Buße den befürchteten
Höllenqualen zu entkommen. Katholische Beichtväter hatten daher als erste von Berufs
wegen mit Zwangskranken zu tun. Die reuigen „Sünder“ hatten nach der Beichte häufig
jedoch nicht das Gefühl der Reinheit, sodass sie immer wieder eine Lossprechung von
ihren Sünden begehrten und die Beichtstühle richtiggehend belagerten.
Der französische Psychiater Esquirol beschrieb 1838 erstmals die Zwangsstörung im
heutigen Sinn und bezeichnete sie als die „Krankheit des Zweifelns“. Der französische
Arzt Le Grand du Saulle charakterisierte Zwänge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts als „Verrücktheit bei klarem Verstand“. In den folgenden Jahrzehnten wurden
Zwänge meistens als Ausdruck einer Depression angesehen.
Der deutsche Psychiater Westphal schlug 1878 vor, Zwänge wegen ihrer Unter-
schiede gegenüber Angststörungen und Depressionen als eigenständige Krankheit anzu-
sehen. Er betrachtete sie wegen des bizarren Verhaltens und der sich aufdrängenden
Gedanken als leichte Form der Schizophrenie. Um 1900 diskutierten verschiedene Psy-
chiater in Deutschland, ob eine Zwangsstörung eine primäre Denkstörung mit einer
Schwäche des Assoziierens oder eine primäre Affektstörung in Zusammenhang mit
großen Ängsten ist, d.h. eine kognitive oder eine emotionale Störung. 1894 beschrieb
Freud erstmals Zwänge als „Zwangsneurose“ und entwickelte ein psychoanalytisches
Erklärungsmodell. Der heute zu wenig beachtete französische Psychiater Pierre Janet
unterschied bereits 1903 erstmals zwischen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen
und diagnostizierte ein Verhalten dann als zwanghaft, wenn es von Zwangsgedanken
ausgelöst wird und einen Versuch darstellt, eine Gefahr abzuwenden.
Zwangsstörungen wurden in den letzten hundert Jahren ohne große Kontroversen re-
lativ einheitlich definiert. Die Interrater-Reliabilität ist sehr hoch. Auffassungsunter-
schiede bestehen vor allem hinsichtlich der Zuordnung. Zwangsstörungen werden seit
1987 (seit dem amerikanischen psychiatrischen Diagnoseschema DSM-III-R) zu den
Angststörungen gezählt, während sie im internationalen Diagnoseschema als eigenstän-
dige Krankheitsgruppe geführt werden. Das ICD-10 betrachtet die Zwangsstörung – im
ICD-9 noch „Zwangsneurose“ genannt – im Gegensatz zum DSM-IV als gleichgeordne-
te (d.h. andersartige) und nicht der Angststörung untergeordnete Krankheitsgruppe.
Die Zwangsstörung galt früher als kaum heilbar, was sich erst seit den 1960er-
Jahren durch die Erfolge der Verhaltenstherapie zu ändern begann. Anstelle psychoana-
lytischer Ursachentherapien machte man sich daran, die Zwangsrituale zu unterbrechen,
um die Betroffenen direkt mit ihren Befürchtungen zu konfrontieren.
106 Angststörungen

Symptomatik der Zwangsstörung


Zwangsähnliche Phänomene treten auch bei vielen gesunden Menschen auf: Gehen
entlang bestimmter Linien, nicht auf bestimmte Fugen steigen, Vermeiden bestimmter
Bodenplatten, Lesen-Müssen aller Autokennzeichen oder Werbeplakate, Zählen von
Randsteinen, Treppenstufen, Autos oder Glockenschlägen, übermäßige Genauigkeit in
bestimmten Bereichen, verschiedene stereotype Gewohnheiten und Rituale, mehrfaches
Nachzählen der Geldscheine auf der Bank bei Abhebung eines großen Geldbetrags,
wiederholte Kontrollen des Ofens, der Gas- und Wasserhähne, der Wohnungstür, der
Fenster oder des Gepäcks vor Urlaubsreisen, mehrfache Kontrollen beim Auto nach
einer unangenehmen Panne, leicht magische Praktiken, um das Glück zu erzwingen
(z.B. Einsetzen der Geburtsdaten bei den Lottozahlen, Klopfen auf Holz, „toi-toi-toi“-
Rufe), gedankliches Beharren auf einzelnen Worten, Sätzen oder Melodien u.a. Es han-
delt sich dabei um keine lebensbeeinträchtigenden Denk- und Verhaltensgewohnheiten,
sondern um Strukturierungshilfen für das Leben. Der Gesunde kontrolliert bei Unsi-
cherheit nur einmal und gewinnt Sicherheit, der Zwangskranke bleibt unsicher.
Unter einem Zwang versteht man lebensbeeinträchtigende Gedanken, Vorstellungen,
Impulse und Handlungen, die sich einem Menschen immer wieder stereotyp aufdrän-
gen, obwohl er sich meist intensiv dagegen zu wehren versucht und sie loswerden
möchte. Im Laufe der Zeit kann der Widerstand gegen den inneren subjektiven Drang
nachlassen, was bei einer chronifizierten Zwangsstörung häufig vorkommt. Zwänge
werden als unsinnig oder zumindest übertrieben, beunruhigend, quälend und psychove-
getativ belastend erlebt (bei Kindern fehlt oft die Einsicht) und als eigene Gedanken und
Impulse erkannt (keine Fremdbeeinflussungsideen wie bei Schizophrenie), was Angst-,
Schuld- und Schamgefühle auslöst. Zwänge werden – im Gegensatz zu Suchtverhal-
tensweisen – nicht als angenehm empfunden (abgesehen von der spannungsreduzieren-
den Funktion). Sie dienen nicht der Durchführung an sich nützlicher Tätigkeiten, son-
dern nur der Verminderung von Anspannung und der Abwehr vermeintlicher Gefahren.
Zwangsstörungen umfassen zwei große Gruppen: Zwangsgedanken, -befürchtungen
und -impulse (engl. obsessions) und Zwangshandlungen (engl. compulsions). Im anglo-
amerikanischen Raum heißt die Zwangsstörung „obsessive-compulsive disorder“, da es
– anders als im Deutschen – kein einzelnes Wort gibt, das beide Aspekte umfasst.
Bei einer Zwangsstörung lösen bestimmte Situationen, Personen oder Objekte be-
stimmte Zwangsgedanken aus, die zu Zwangshandlungen führen. Über 85% der Betrof-
fenen weisen primär Zwangshandlungen auf, nur rund 12% der Zwangskranken in Be-
handlungseinrichtungen leiden unter reinen Zwangsgedanken [88]. Zwangshandlungen
ohne Zwangsgedanken sind selten. Zwänge treten verstärkt in Stresssituationen auf.
Menschen mit Zwangsstörungen versuchen die zwangsauslösenden Reize zu ver-
meiden, die mit bestimmten Denkmustern (Bedrohung durch Unheil, Krankheiten,
Schmutz, Verunreinigung u.a.) und affektiven Zuständen (Angst, Unruhe, Ekel, Wut,
Schuldgefühlen, Unvollständigkeitsgefühlen u.a.) einhergehen. Man unterscheidet zwi-
schen passiver und aktiver Vermeidung. Die „passive Vermeidung“ besteht im Auswei-
chen vor allem, was zu einer Bedrohung und damit zu aktivem Vermeidungsverhalten
führen könnte. „Aktive Vermeidung“ (Neutralisierung) umfasst motorische Komponen-
ten (Kontrollieren, Waschen, Saubermachen, d.h. spezifische Versuche, alles wieder gut
zu machen und den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen, weiters ritualisierte
Bewegungen, Absichern bei anderen) und kognitive Komponenten (grübeln, Zählritua-
le, in Gedanken alles wiederholt durchgehen, Gegengedanken und -bilder entwickeln).
Zwangsstörung 107

Das DSM-IV [89] zählt die Zwangsstörung zu den Angststörungen und nennt fol-
gende diagnostische Kriterien:

A. Entweder Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen:


Zwangsgedanken, wie durch (1), (2), (3) und (4) definiert:
(1) wiederkehrende und anhaltende Gedanken, Impulse oder Vorstellungen, die zeitweise während
der Störung als aufdringlich und unangemessen empfunden werden und die ausgeprägte Angst
und großes Unbehagen hervorrufen,
(2) die Gedanken, Impulse oder Vorstellungen sind nicht nur übertriebene Sorgen über reale Le-
bensprobleme,
(3) die Person versucht, diese Gedanken, Impulse oder Vorstellungen zu ignorieren oder zu unter-
drücken oder sie mit Hilfe anderer Gedanken oder Tätigkeit zu neutralisieren,
(4) die Person erkennt, daß die Zwangsgedanken, -impulse oder -vorstellungen ein Produkt des ei-
genen Geistes sind (nicht von außen auferlegt wie bei Gedankeneingebung).

Zwangshandlungen, wie durch (1) und (2) definiert:


(1) wiederholte Verhaltensweisen (z.B. Händewaschen, Ordnen, Kontrollieren) oder gedankliche
Handlungen (z.B. Beten, Zählen, Wörter leise Wiederholen), zu denen sich die Person als Reak-
tion auf einen Zwangsgedanken oder aufgrund von streng zu befolgenden Regeln gezwungen
fühlt,
(2) die Verhaltensweisen oder die gedanklichen Handlungen dienen dazu, Unwohlsein zu verhin-
dern oder zu reduzieren oder gefürchteten Ereignissen oder Situationen vorzubeugen; diese
Verhaltensweisen oder gedanklichen Handlungen stehen jedoch in keinem realistischen Bezug
zu dem, was sie neutralisieren oder zu verhindern versuchen, oder sie sind deutlich übertrieben.

B. Zu irgendeinem Zeitpunkt im Verlauf der Störung hat die Person erkannt, daß die Zwangsgedanken
oder Zwangshandlungen übertrieben oder unbegründet sind.
Beachte: Dies muß bei Kindern nicht der Fall sein.

C. Die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen verursachen erhebliche Belastung, sind zeitaufwen-


dig (benötigen mehr als 1 Stunde pro Tag) oder beeinträchtigen deutlich die normale Tagesroutine
der Person, ihre beruflichen (oder schulischen) Funktionen oder die üblichen Aktivitäten und Be-
ziehungen.

D. Falls eine andere Achse-I-Störung vorliegt, so ist der Inhalt der Zwangsgedanken oder Zwangs-
handlungen nicht auf diese beschränkt (z.B. starkes Beschäftigtsein mit Essen bei Vorliegen einer
Eßstörung, Haareausreißen bei Vorliegen einer Trichotillomanie, Sorgen um das Erscheinungsbild
bei Vorliegen einer Körperdysmorphen Störung, starkes Beschäftigtsein mit Drogen bei Vorliegen
einer Störung im Zusammenhang mit Psychotropen Substanzen, starkes Beschäftigtsein mit einer
schweren Krankheit bei Vorliegen einer Hypochondrie, starkes Beschäftigtsein mit sexuellen Be-
dürfnissen oder Phantasien bei Vorliegen einer Paraphilie, Grübeln über Schuld bei Vorliegen einer
Major Depression).

E. Das Störungsbild geht nicht auf eine direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z.B. Droge,
Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück...

Laut DSM-IV liegt bei Zwängen wenig Einsicht vor (deutsch „überwertige Ideen“ ge-
nannt), wenn der Betroffene den Großteil der Zeit kaum erkennt, dass seine Zwangsge-
danken oder Zwangshandlungen übermäßig oder unbegründet sind. Richtigerweise wird
im Gegensatz zum ICD-10 weder ein Widerstand noch eine Einsicht in die Unsinnigkeit
der Zwänge gefordert. Im DSM-IV werden Zwangsgedanken und Zwangshandlungen
genauer definiert. Kognitive Rituale (Beten, Zählen, in Gedanken Wörter wiederholen)
gelten nicht als Zwangsgedanken, sondern als Zwangshandlungen. Grundgedanke:
Zwangsgedanken rufen Angst hervor, Zwangshandlungen reduzieren die Angst.
108 Angststörungen

Die Zwangsgedanken und Zwangshandlungen müssen laut DSM-IV beträchtliche


individuelle, berufliche oder soziale Probleme bereiten und einen hohen Zeitaufwand
erfordern (täglich mindestens eine Stunde, was das ICD-10 nicht verlangt), um als
krankhaft zu gelten. Das DSM-IV legt bei den Ausschlusskriterien großen Wert auf die
Abgrenzung gegenüber Symptomen, die nicht als zwanghaft im engeren Sinn gelten.
Im ICD-10 werden die Zwangsstörungen unter Kapitel F4 „Neurotische, Bela-
stungs- und somatoforme Störungen“ als eigenständige Krankheitsgruppe angeführt,
d.h. sie werden nicht als Angststörungen definiert, wie dies im DSM-IV der Fall ist. Im
Gegensatz zum DSM-IV werden drei Subtypen einer Zwangsstörung unterschieden:
F42.0 Zwangsstörung mit vorwiegend Zwangsgedanken oder Grübelzwang
F42.1 Zwangsstörung mit vorwiegend Zwangshandlungen (Zwangsrituale)
F42.2 Zwangsgedanken und -handlungen, gemischt

Zwangshandlungen sind nach dem ICD-10 [90] ständig wiederholte Stereotypien, die
angesichts von objektiv ungefährlichen, subjektiv jedoch als sehr bedrohlich erlebten
Ereignissen eingesetzt werden, um Schaden für den Patienten oder andere Menschen zu
vermeiden. Oft wird die Gefahr als von der eigenen Person ausgehend erlebt, was mit
allen Mitteln zu verhindern versucht wird. Das Zwangsritual stellt einen letztlich wir-
kungslosen, symbolischen Versuch dar, eine vermeintliche Gefahr abzuwehren. Die
meisten Zwangshandlungen stehen in Zusammenhang mit Reinlichkeit (besonders Hän-
dewaschen), übertriebener Ordnung und Sauberkeit oder wiederholten Kontrollen.
Die häufigsten Zwänge sind Kontrollzwänge (Kontrollieren von Ofen, Licht, Gas-
und Wasserhahn, Fenster, Türen, Auto usw.), gefolgt von Waschzwängen. Zwangs-
handlungen können täglich oft stundenlang ausgeführt werden und beeinträchtigen im
Laufe der Zeit die soziale und berufliche Integration. Zwangshandlungen treten bei
beiden Geschlechtern etwa gleich häufig auf. Handwaschzwänge sind bei Frauen häufi-
ger, eine Verzögerung der Handlungsabläufe ohne Wiederholung bei Männern.
Zwangsgedanken sind nach dem ICD-10 [91] zwanghafte Ideen, bildhafte Vorstel-
lungen oder Zwangsimpulse, die sich dem Betroffenen in quälender Weise aufdrängen.
Sie beziehen sich oft auf aggressive, sexuelle, obszöne oder blasphemische (gottes-
lästerliche) Themen, die von den Patienten als persönlichkeitsfremd und abstoßend
erlebt werden (z.B. Zwangsimpulse einer Mutter, ihr geliebtes Kleinkind mit dem Mes-
ser zu töten; Zwangsimpuls, von einer Brücke oder einem hohen Gebäude zu springen,
obwohl keine Selbstmordgedanken bestehen; Zwangsimpuls zu unkontrollierten ver-
pönten sexuellen Handlungen). Das Auftreten von aggressiven oder autoaggressiven
Impulsen bewirkt massive Ängste, dass diese in die Tat umgesetzt werden könnten.
Dies kommt jedoch praktisch nicht vor, weshalb die oft umfangreichen Sicherungsstra-
tegien, die das Selbstvertrauen der Patienten nur weiter untergraben, unnötig sind. Die
Störung ist weniger durch Ängste als vielmehr durch eine massive Unsicherheit bedingt.
Zur Diagnose einer Zwangsstörung müssen nach dem ICD-10 Zwangsgedanken
und/oder Zwangshandlungen wenigstens zwei Wochen lang an den meisten Tagen vor-
handen sein und zu einer massiven psychosozialen Beeinträchtigung führen, meist be-
dingt durch den besonderen Zeitaufwand.
80% der Zwangsstörungen lassen sich in der Praxis durch drei Fragen erfassen:
„Müssen Sie Ihre Hände immer wieder waschen? Müssen Sie manche Dinge immer
wieder kontrollieren? Haben Sie Gedanken, die Sie quälen und die Sie nicht loslassen?“
Laut einer Studie werden 90% der Zwangshandlungen ausgeführt, um Angst ma-
chende Zwangsgedanken zu vermindern oder rückgängig zu machen.
Zwangsstörung 109

Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [92], die eine präzisere Operationalisie-
rung als die klinisch-diagnostischen Leitlinien vornehmen, ist eine Zwangsstörung
(F42) durch folgende Merkmale charakterisiert:

A. Entweder Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen (oder beides) an den meisten Tagen über
einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen.

B. Die Zwangsgedanken (Ideen oder Vorstellungen) und Zwangshandlungen zeigen sämtliche folgen-
den Merkmale:

1. sie werden als eigene Gedanken/Handlungen von den Betroffenen angesehen und nicht als von
anderen Personen oder Einflüssen eingegeben
2. sie wiederholen sich dauernd und werden als unangenehm empfunden, und mindestens ein
Zwangsgedanke oder eine Zwangshandlung werden als übertrieben und unsinnig anerkannt
3. Die Betroffenen versuchen, Widerstand zu leisten (bei lange bestehenden Zwangsgedanken und
Zwangshandlungen kann der Widerstand allerdings sehr gering sein). Gegen mindestens einen
Zwangsgedanken oder eine Zwangshandlung wird gegenwärtig erfolglos Widerstand geleistet
4. Die Ausführung eines Zwangsgedankens oder einer Zwangshandlung ist für sich genommen
nicht angenehm (dies sollte von einer vorübergehenden Erleichterung von Spannung und Angst
unterschieden werden).

C. Die Betroffenen leiden unter den Zwangsgedanken und Zwangshandlungen oder werden in ihrer
sozialen oder individuellen Leistungsfähigkeit behindert, meist durch den besonderen Zeitaufwand.

D. Ausschlussvorbehalt: Die Störung ist nicht bedingt durch eine andere psychische Störung, wie
Schizophrenie und verwandte Störungen (F2) oder affektive Störungen (F3).

Eine Spezifizierung der Zwangsstörung ist nach den ICD-10-Forschungskriterien mög-


lich: vorwiegend Zwangsgedanken und Grübelzwang (F42.0), vorwiegend Zwangs-
handlungen (Zwangsrituale (F42.1), Zwangsgedanken und -handlungen, gemischt
(F42.2), sonstige Zwangsstörungen (F42.8), NNB Zwangsstörungen (F42.9).
Die Zwangsstörung wird im Vergleich zum DSM-IV im ICD-10 zwar ähnlich, je-
doch weniger genau und weniger streng definiert und von den Ausschlusskriterien her
weniger präzise erfasst. Die Zwangsstörung gilt – im Gegensatz zum DSM-IV – als
gleichgeordnete (d.h. andersartige) und nicht der Angststörung untergeordnete Krank-
heitsgruppe. Das ICD-10-Kriterium der Einsicht in die Sinnlosigkeit der Zwänge und
des Widerstands gegen die Zwänge ist in der klinischen Praxis zumindest bei zwangs-
kranken Kindern und schwer zwangskranken Erwachsenen oft nicht erfüllt und wird
daher vom DSM-IV nicht in dieser Form gefordert.
Einige Beispiele sollen die Dynamik verschiedener Zwänge verdeutlichen.
Eine junge Mutter mit einem 9 Monate alten Sohn leidet unter einem Waschzwang
und beschäftigt sich mit folgenden Überlegungen:

„Ich habe Angst, mein Sohn könnte sich mit Schmutz auf dem Boden infizieren, wenn er auf dem
Fußboden der Wohnung oder im Rasen des Vorgartens herumkrabbelt. Ich muss den Boden absolut
sauber halten, niemand darf mit Schuhen die Wohnung betreten, und wenn, dann muss ich stundenlang
den Boden von den Spuren reinigen. Auf dem Rasen des Gartens darf er sich überhaupt nicht aufhalten,
weil man nie wissen kann, welche Gifte der Boden enthält. Wenn er mit den Händen den Boden berührt
und dann die Hände oder eine Nahrung in den Mund nimmt, könnte er schwer krank werden oder gar
sterben – und ich bin schuld, weil ich nicht aufgepasst habe. Wenn meine Mutter auf meinen Sohn
aufpasst, darf er auf dem Boden krabbeln, weil ich das nicht sehe. Wenn ihm jedoch einmal etwas
passieren sollte, werde ich mir Vorwürfe machen, denn ich habe ihn meiner Mutter überlassen.“
110 Angststörungen

Ein Mann mit Kontrollzwängen ist mit folgendem inneren Dialog beschäftigt:

„Habe ich die Haustür wirklich abgesperrt oder nur ins Schloss fallen lassen? Sind die Fenster tatsäch-
lich fest verschlossen oder nur angelehnt? Es ist furchtbar, wenn ich die Wohnung nicht einbruchssicher
verlassen habe. Ich habe die Wohnung als letzter verlassen. Ich bin schuld, wenn etwas passiert. Was
ist, wenn Diebe kommen? In unserer Gegend ist ohnehin schon einmal eingebrochen worden. Das halte
ich nicht aus. Ich muss sofort noch einmal umdrehen und zu Hause nachschauen. Nein, es wird schon
nichts passieren, ich versäume sonst den Bus zur Arbeit. Ich habe ohnehin alles mehrfach kontrolliert.
Aber was ist, wenn ein Sturm ein Fenster öffnet, das doch nur angelehnt war? Bei einem Sturm sind nur
wenig Menschen auf der Straße, und niemand sieht, wie leicht ein paar Ausländer unsere Wohnung
ausräumen, den wertvollen Schmuck meiner Frau, die neue HiFi-Anlage meines Sohnes und die wert-
vollen Bilder und Teppiche mitnehmen und sofort unauffindbar aus der Gegend verschwinden und das
Ganze im Ausland verkaufen. Ich muss unbedingt sofort zurück. Das Risiko ist zu groß. Das halte ich
nicht aus. Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, was passieren kann.“

Eine Frau mit Waschzwängen muss folgende Zwangsrituale durchführen:

Alle Familienmitglieder (Vater, Sohn und Tochter) müssen vor der Wohnungstür die Schuhe ausziehen,
peinlich genau säubern und schließlich noch die Sohlen desinfizieren. Beim Eintreten dürfen sie nicht
den Griff der bereits von der Patientin geöffneten Tür berühren. Sie müssen sofort in das Bad gehen, die
Hände gründlich mit Seife waschen, die Kleidung in die Schmutzwäsche geben und frisches Gewand
anziehen, weil die Luft durch die Großindustrie verunreinigt sein könnte. In bestimmten Fällen, wenn
die Luft besonders schlecht ist, müssen sich alle nach dem Betreten der Wohnung sicherheitshalber
auch noch duschen. Trotz dieser Vorkehrungen müssen bestimmte Stellen der Wohnung gemieden
werden, weil die Patientin sonst mit der Reinigung der Wohnung überfordert wäre. Außer den Famili-
enmitgliedern darf seit einem Jahr kein Bekannter oder Verwandter mehr die Wohnung betreten, weil
man fremden Menschen derartige Reinigungsrituale nicht zumuten kann und sonst ins Gerede kommen
würde. Alle Familienmitglieder finden Ausreden, warum Besuche derzeit nicht möglich sind. Sie sind
innerlich voll Groll über die Patientin, decken sie jedoch nach außen hin und führen ihre Zwangsrituale
aus, um nicht ihren Ärger zu erregen und in ständigen familiären Spannungen leben zu müssen.
Besondere Reinigungsprozeduren sind erforderlich, wenn die Patientin und die 14-jährige Tochter
die Menstruation haben. Die Unterwäsche und die Klobrille werden gereinigt, als wären sie verseucht.
Die Hände müssen nicht nur gründlich mit Seife gewaschen, sondern desinfiziert werden wie in einem
Krankenhaus. Erst danach dürfen Nahrungsmittel angegriffen und verarbeitet werden. Schließlich
sollen die Familienmitglieder nicht mit Bazillen, die im Regelblut sein könnten, angesteckt werden. Die
Mutter schärft der Tochter dieses Verhalten stets aufs Neue ein und erinnert sie daran, welche Gefahren
ansonsten drohen könnten. Wenn die Tochter die Menstruation einmal bereits zwei Tage lang bekom-
men hat, ohne dass die Mutter dies weiß, ist sie beunruhigt, denn die Tochter könnte sich nicht an die
Vereinbarungen gehalten haben. Dann muss die Mutter alles, was die Tochter angegriffen hat, beson-
ders gründlich reinigen. Wenn die Tochter nicht darauf achtet, dass ihre Unterhose mit dem Regelblut
nicht mit der übrigen Wäsche in Berührung kommen darf, ist für die ganze Schmutzwäsche ein Spezial-
waschgang erforderlich. Der Gatte, der in seinem Betrieb mit chemischen Substanzen in Kontakt
kommt, darf erst nach Hause kommen, wenn er sich in der Firma geduscht hat und seine Arbeitsklei-
dung im Betrieb abgelegt hat, die konsequenterweise auch auswärts gereinigt werden muss.
Die Patientin war früher halbtags berufstätig, aufgrund der Wasch- und Reinigungszwänge, die täg-
lich mehrere Stunden in Anspruch nehmen, kam sie mit dem Haushalt nicht mehr zurecht, obwohl alle
kräftig mithalfen, sodass sie vor zwei Jahren ihren Beruf aufgeben musste. Von da an wurde die
Zwangsstörung noch ärger, schon allein deshalb, weil die Patientin nun mehr Zeit dazu hatte. Die
Patientin ist für keinerlei Vernunftargumente zugänglich. Sie hat letztlich ein emotionales Problem,
nämlich dass einem Familienmitglied etwas Lebensgefährliches zustoßen könnte. Ursächlich hängt dies
damit zusammen, dass bei ihrer Mutter vor vier Jahren eine Magenkrebserkrankung entdeckt wurde.
Die Patientin führte diese Erkrankung darauf zurück, dass die Mutter mit ihren ungewaschenen Händen,
die vorher berufsbedingt chemische Substanzen berührt hatten, alle Lebensmittel angegriffen und sich
dadurch gleichsam selbst vergiftet habe. Die Patientin sah darin schon immer eine gewisse Gefahr und
fühlt sich durch diese Ereignisse in ihrer Sorge bestätigt, weshalb sie in ihrer Familie darauf achtet, dass
niemand durch Verunreinigung zu Schaden kommt.
Zwangsstörung 111

Zwangshandlungen
Zwangshandlungen (engl. compulsions) werden in fünf Typen unterschieden (die Dar-
stellung folgt vielfach den Ausführungen von Hoffmann und Hofmann [93]):
z Kontrollzwänge,
z Wasch- und Säuberungszwänge,
z Ordnungszwänge,
z Wiederholungszwänge,
z Sammeln, Stapeln und Horten.

Kontrollzwänge

Es ist ganz normal, bei wichtigen Anlässen, erhöhter Unsicherheit oder in Zeiten großer
Belastungen genauer und vermehrt zu kontrollieren, um dann die Kontrollen in ange-
messener Weise erfolgreich abzuschließen. Zwangskranke dagegen können ihre Kon-
trollen nicht beenden und sich nicht davon distanzieren. Es fehlen ihnen meist klare
Beurteilungsmaßstäbe, wann sie auf weitere Kontrolltätigkeiten verzichten können. Sie
erleben ihre Kontrollen als unvollständig, haben ein diffuses Gefühl, dass alles so wie
jetzt noch nicht passt und bleiben körperlich und geistig ständig angespannt. Aus dem
permanenten Gefühl der Unvollständigkeit und des Ungenügens heraus setzen sie auf
vermehrte Kontrollen mithilfe aller Sinne (etwas hören, ertasten und aus verschiedenen
Blickwinkeln betrachten). Die sinnliche Wahrnehmung, dass alles passt, kommt im
Kopf der Zwangskranken nicht als entsprechendes Gefühl an. Der Überblick über die
Situation geht zunehmend verloren, kleine Ausschnitte der Wirklichkeit werden überfi-
xiert, das Handeln ist entweder diffus und unorganisiert oder starr und unflexibel.
Magische Praktiken können dazu verwendet werden, lange Kontrollrituale abzukür-
zen. Sie haben eine ökonomische Funktion. Beispielsweise können 20 Kontrollen des
Ofens vor dem Verlassen des Hauses auf zwei reduziert werden, wenn dabei magische
Rituale eingesetzt werden: bestimmte Gesten oder Bewegungen machen (z.B. Kreuzzei-
chen), Sätze oder Zahlen sprechen, Gebete verrichten, alles in einer genau bestimmten
Häufigkeit tun, wobei bestimmte „gute“ Zahlen als Leitlinie dienen (etwas dreimal
machen müssen, etwas anderes sechsmal machen müssen).
Die Angst vor einer Katastrophe („Durch mein Verhalten könnte jemand ein Un-
glück erleiden“, „Ich könnte für einen Fehler bestraft werden“), für die man verantwort-
lich sein könnte, führt oft zu einer übermäßigen Kontrolle des Ofens, anderer Elektroge-
räte (z.B. Kaffeemaschine, Bügeleisen, Haarfön), der Gas- und Wasserhähne, der Türen
und Fenster, verschiedener Schlösser, bestimmter beruflicher oder privater Tätigkeiten
(z.B. werden erledigte Arbeiten oder ausgefüllte Zahlscheine ständig überprüft).
Die Betroffenen haben ein übertriebenes Verantwortungsgefühl für eventuelle Feh-
ler und Folgen für andere Menschen, sodass angesichts des befürchteten Versagens
heftige Schuldgefühle einsetzen. Sie achten in Form ständiger Kontrollen darauf, dass
sie ihre Mitmenschen nicht durch ihre Unachtsamkeit gefährden und möchten ihre An-
gehörigen vor Gefahren bewahren. Viele Kontrollzwänge werden ausgelöst durch die
Angst, dass man andere Menschen unabsichtlich gefährdet haben könnte und das Be-
dürfnis nach der Sicherheit, dass dies keinesfalls passieren darf. Zwangskranke fühlen
sich bereits vor jeder Handlung ständig schuldig und unfähig und daher verantwortlich
für potenzielle Fehler. Häufige Frage: „Könnte ich an diesem Ereignis schuld sein?“
112 Angststörungen

Kontrollzwänge führen zu einer starken Verlangsamung im Beruf (z.B. immer wie-


der alles nachzählen müssen), in der Schule (z.B. einen Lernstoff oft wiederholen müs-
sen) und in der Freizeit (z.B. einen Ort erst dann verlassen können, wenn man alles
genau und lange genug kontrolliert hat, obwohl man bereits etwas anderes tun sollte).
Oft werden Arbeiten immer wieder kontrolliert, um Fehler und damit soziale Kritik
oder gar befürchtete Ablehnung zu vermeiden. Die durchgeführten Kontrollen werden
ständig bezweifelt, sodass sie immer wieder neu ausgeführt werden müssen.
Zur Rückversicherung müssen oft noch Personen des besonderen Vertrauens nach-
kontrollieren. Viele Kontrollzwänge laufen auf der kognitiven Ebene ab und sind somit
von anderen Menschen überhaupt nicht beobachtbar, sodass gar nicht auffällt, wie sehr
die Betroffenen damit beschäftigt sind, aber auch für andere Menschen nicht nachvoll-
ziehbar ist, warum sie in Gesprächen oft so abwesend wirken.

Wasch- und Säuberungszwänge

Die Betroffenen fühlen sich durch Substanzen verseucht. Wasch- und Säuberungszwän-
ge sind nach Hoffmann und Hofmann „Berührungsvermeidungszwänge“, weil es letzt-
lich darum geht, Kontakte und Berührungen mit bestimmten Substanzen zu vermeiden.
Wenn dies nicht möglich war, werden hinterher Waschen und Wischen als Zwangsritua-
le eingesetzt. Die Ursache von Waschzwängen sind in erster Linie massive Ekelgefühle
und nicht, wie oft angeführt wird, Angstgefühle. Ängste vor Ansteckung und Krankheit
kommen erst an zweiter Stelle der Ursachen für Wasch- und Reinigungszwänge.
Ekel ist ein fundamentales Gefühl, das den ganzen Menschen intensiv erfasst und
zur Abwehr des Ekelhaften bewegt. Ekel auslösend und damit den Zwang begünstigend
sind gewöhnlich organische Substanzen. Bei Ekel kommt einem etwas zu nahe, über-
schreitet etwas die Körper- und Intimgrenzen, dringt etwas gleichsam in den eigenen
Körper hinein, bleibt etwas auf der Haut haften, erzeugt etwas Klebriges und Glitschi-
ges auf dem eigenen Körper eine intensive Abscheu vor sich selbst. Wasch- und Reini-
gungszwänge sollen dann wieder „Reinheit“ und nicht einfach nur Sauberkeit bewirken.
Der Umgang mit ekeligen Substanzen wird durch zwei Grundannahmen bestimmt:
1. Die eklige Substanz ist durch Berührung endlos übertragbar, sodass durch die suk-
zessive Ausbreitung über viele Stationen richtige Verseuchungsketten entstehen, de-
nen man nur schwer entkommen kann.
2. Der ekelige Stoff verliert sein Ekelpotenzial auch nicht in gleichsam „homöopathi-
scher Verdünnung“, sodass kein klares Beurteilungskriterium vorhanden ist, ab wel-
chem Reinigungsgrad man wieder sauber im Sinne von „rein“ und unbefleckt ist.

Als Überträger von Ekelsubstanzen gelten andere Menschen sowie deren Kleidung und
Gegenstände. Selbst bei Hundekot oder Schmutz vom Boden besteht die größere Ab-
scheu vor den Menschen, die den ekeligen Stoff übertragen und bis in die eigene Woh-
nung einschleppen, sodass man diesen Personen unbedingt ausweichen oder Einhalt
gebieten muss, auch wenn es sich um Familienmitglieder und gute Bekannte handelt.
Aus Ekel oder Krankheitsangst werden folgende Dinge besonders gefürchtet: Körper-
ausscheidungen (Schweiß, Urin, Kot, Samen, Menstruationsblut, Vaginalsekret),
Schmutz (Erde, Fußboden), Keime jeder Art (z.B. bei Abfällen, öffentlichen Toiletten,
Türgriffen), Bakterien und Viren, Krankheiten (z.B. AIDS, Krebs), bestimmte chemi-
sche Substanzen oder Tiere als Überträger gefährlicher Krankheitserreger (z.B. BSE).
Zwangsstörung 113

Ideelle Substanzen wie der „Geruch des Todes“, der durch einen Friedhofbesuch
oder die Teilnahme an einem Begräbnis übertragen werden kann, werden ebenso ge-
mieden wie der „Geruch des Vaters“, der noch auf Gegenständen vorhanden sein könn-
te, die der gehasste oder bereits verstorbene Vater vor Jahren berührt hat. Wasch- und
Reinigungszwänge werden verursacht durch Ekelgefühle, Angst vor Ansteckung mit
Krankheitskeimen, Verunreinigung mit menschlichen Ausscheidungen oder Verseu-
chung durch gefährliche Chemikalien. Die Betroffenen fürchten bei Konfrontation mit
diesen Stoffen, krank zu werden bzw. zu sterben oder andere durch Übertragung der
Keime zu infizieren und zu gefährden.
Wasch- und Putzzwänge haben eine starke Ähnlichkeit mit phobischem Vermei-
dungsverhalten, phobischer Erwartungsangst und spezifischen Auslösern. Die Angst vor
Verunreinigung durch verschiedene Substanzen und deren vermeintliche Folgen (Tod,
Krankheit, Unglück) führt zu stundenlangen Wasch- und Reinigungsprozeduren. Bevor-
zugt gewaschen werden Hände, Arme oder Kleidungsstücke. Überpenibel gereinigt
werden meist die Schuhe oder bestimmte Einrichtungsgegenstände. Personen mit einem
Reinigungszwang haben aufgrund ihrer ständigen Schuldgefühle oft große Angst, ande-
re Menschen anzustecken, was voraussetzt, dass sie glauben, selbst bereits angesteckt zu
sein, doch dies belastet sie meist weniger als der Umstand, dass sie selbst jemanden
anstecken könnten. Wasch- und Putzzwänge sollen ein befürchtetes Unglück (Krankheit
oder Tod) verhindern oder das Gefühl des Wohlbehagens wiederherstellen. Reinigungs-
zwänge ufern im Laufe der Zeit immer mehr aus, weil aufgrund möglicher Kontakte
und Übertragungen immer mehr Lebensbereiche als verunreinigt angesehen werden.
Angehörige müssen oft dieselben Reinigungsrituale einhalten, um jede Verunreini-
gung zu vermeiden. Eltern, Partner und Kinder fügen sich erstaunlich geduldig den
Reinigungsvorschriften des Zwangskranken. Manchmal wehren sie sich erbittert gegen
diese Anordnungen, sodass ständige Spannungen gegeben sind. Menschen mit Wasch-
zwängen haben einen hohen Verbrauch von Warmwasser, Seife und Handtüchern. Das
Badezimmer wird oft stundenlang nicht verlassen. Wasch- und Reinigungszwänge be-
ziehen sich entsprechend der zugrunde liegenden Problematik oft nur auf bestimmte
Bereiche (z.B. Hände, Toilette), während andere Bereiche ausgesprochen schmutzig
sein können. Ein „Sauberkeitsfanatiker“ achtet in allen Bereichen auf Sauberkeit.
Früher wurden oft Geschlechtskrankheiten (Syphilis, Gonorrhö, Herpes) gefürchtet,
heute stehen oft AIDS, BSE oder Krebs im Vordergrund der Reinigungszwänge.

Ordnungszwänge

Bettzeug, Wäsche, Kleidung, Zahnbürsten, Schuhe, Wohnungsgegenstände, Arbeitsge-


räte, Schreibtisch-Utensilien, Schränke, Laden und Regale werden nach einem ganz
bestimmten Muster angeordnet bzw. aufgeräumt. Oft spielt die symmetrische oder mil-
limetergenaue Ausrichtung eine große Rolle. In ihrem Perfektionsdrang möchten die
Betroffenen oft stundenlang alles „richtig“ an seinen Platz stellen. Wenn die Ordnung
oder Symmetrie nicht eingehalten wird, könnte ein Unglück passieren, was große innere
Unruhe auslöst. Ordnungsrituale können den Charakter einer magischen Schutzwirkung
ausüben. Niemand darf das etablierte Ordnungssystem verändern. Ein bestimmtes per-
sontypisches, oft nicht näher begründbares festes Ordnungssystem dient zur Strukturie-
rung der Lebensumwelt nach dem Motto „Ordnung schafft Sicherheit“. Eine schwache
und brüchige Ich-Struktur wird durch rigide äußere Strukturen zu stabilisieren versucht.
114 Angststörungen

Ordnungszwänge sind oft reine Handlungszwänge. Die Betroffenen haben das Ge-
fühl, dass etwas so, wie es ist, nicht in Ordnung ist und können gar nicht angeben, wel-
che Konsequenzen sie im Falle des Nichtausführens der Zwänge fürchten.

Wiederholungszwänge

Wiederholungsrituale (Wiederholungen von Handlungen, Worten, Sätzen, Zahlen oder


Gebeten) dienen der Abwehr oder Neutralisierung etwaiger Katastrophen, auch wenn
keinerlei logische Beziehung besteht zwischen der Zwangsbefürchtung („Meine Mutter
könnte bald sterben“, „Mein Gatte könnte fremdgehen“) und der Zwangshandlung. Es
handelt sich um Rituale, wie z.B. bestimmte stereotype Bewegungen, ständiges An- und
Ausziehen, Zählen-Müssen nach einem bestimmten Muster, Handlungen unter dem
Diktat einer bestimmten Zahl. Zählzwänge können sich auf alles Mögliche beziehen.
Die Betroffenen müssen etwa eine ganz bestimmte Stundenzahl arbeiten, Blätter in ganz
bestimmter Weise beschreiben und Arbeitsschritte genau dreimal wiederholen, anson-
sten muss die ganze Arbeit noch einmal gemacht werden, um ein Unglück zu verhin-
dern oder das Gefühl der Unvollkommenheit zu beseitigen. Wiederholungszwänge
haben eher magischen als logischen Charakter. Die fehlende innere Sicherheit und
Stimmigkeit wird durch magische Praktiken (äußere Manipulationen) herzustellen ver-
sucht. Bei Wiederholungszwängen gibt es oft keine äußeren Umstände als Auslöser.

Sammeln, Stapeln und Horten

Sammeln als Hobby bedeutet das Aufbewahren von Dingen, die einem persönlich be-
deutsam sind. Zwangspatienten sammeln und horten viele Gegenstände oft jahrelang,
auch wenn sie diese gar nicht brauchen. Nichts kann weggeworfen werden aus Angst, es
könnte noch einmal gebraucht werden. Kaputte Maschinen oder Elektrogeräte werden
z.B. deshalb aufgehoben, weil man später einmal für ein neueres Gerät einen Ersatzteil
aus dem alten Gerät brauchen könnte. Alte Zeitungen, Zeitschriften, Prospekte, Rech-
nungen, Fahrkarten, Notizzettel, Plastiktüten, Flaschen, Kleidungsstücke werden aufge-
hoben, weil das Wegwerfen unmöglich geworden ist. Horten in der Wohnung führt
häufig zu Platzmangel, Unordentlichkeit und Unbehaglichkeit für die Familienmitglie-
der. Die Wohnung von manchen Zwangskranken schaut aus wie ein großer Müllhaufen.
Zwanghaftes Horten kann zusammenfassend charakterisiert werden als Sammeln
von meist wertlosen, nur wenig wertvollen bzw. unbrauchbar gewordenen Gegenstän-
den, die im Laufe der Zeit den gesamten Lebensraum ungemütlich machen, verstopfen
und für andere Zwecke fast unbrauchbar machen. Zu den gehorteten Gegenständen
besteht eine übermäßige emotionale Beziehung, weshalb das Wegwerfen schwer fällt,
zur Rationalisierung des Verhaltens werden oft Gründe wie Sparsamkeit, Verantwor-
tungsgefühl oder Brauchbarkeit der jeweiligen Teile und Objekte angeführt.
Die Betroffenen beschränken ihr Verhalten gewöhnlich auf den privaten Bereich der
Wohnung und sind im Beruf sowie im Freizeitverhalten eher unauffällig. Obwohl man-
che Personen im Laufe der Zeit unter ihrem krankhaften Horten leiden, sind sie nicht in
der Lage, ihr Verhalten zu ändern. Die Symptomatik kommt oft bei Menschen vor, die
zu depressiven Episoden neigen. Diese Störung wird oft als Kontrollzwang verstanden,
weil es eine Form der Kontrolle ist, alles zu sammeln und zu behalten.
Zwangsstörung 115

Seit den 1980er-Jahren wird zwanghaftes Horten als „Vermüllungssyndrom“ be-


zeichnet, weil in der Folge davon eine große Unordnung im Wohnbereich entsteht. Die
Betroffenen werden „Messies“ genannt, abgeleitet vom englischen Wort “mess“, das
„Unordnung“, „Durcheinander“ oder „Chaos“ bedeutet.
Das Info www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/vermuellung.html führt fol-
gende Merkmale des Vermüllungssyndroms an:
z häusliche und persönliche Verwahrlosung
z Horten von Unrat und gekauften oder gesammelten Gegenständen
z sozialer Rückzug und Isolation
z Müll als Entlastung von seelischen Problemen
z Verweigerung von Hilfsangeboten
z Nicht-Sehen bzw. Nicht-Akzeptieren der offenkundigen Verwahrlosung
z Panikreaktion bei Entmüllungsaktionen

Der tiefere Sinn des zwanghaften Hortens liegt in folgender bewusster bzw. unbewuss-
ter Motivation: Sammeln vermittelt das Gefühl der Kontrolle über die Umwelt, eine
Absicherung gegenüber der Zukunft und somit eine Pseudosicherheit gegenüber der
Ungewissheit des weiteren Lebens. Auch für diese Zwangssymptomatik gilt der Grund-
satz, dass Zwangssymptome als Kompensationsversuche für erlebte Ich-Schwäche zu
interpretieren sind. Fehlende innere Sicherheit und Stabilität wird wie bei anderen
Zwängen über äußere Kontrollen zu regulieren versucht. Jedes Wegwerfen von gehorte-
ten Objekten fällt den Betroffenen sehr schwer, weil es ihnen wie ein Verlust von Si-
cherheit und Identität vorkommt. Die psychische Problematik der „zwanghaften Ver-
müllung“ besteht also weniger im Sammeln von nutz- und wertlosen Objekten, sondern
vielmehr in der Unfähigkeit, etwas wegwerfen oder weggeben zu können.
Zwanghafte Sammler setzen ihrer Sammelleidenschaft keinen Widerstand entgegen
und werden erst unruhig, wenn die Angehörigen Druck machen, verschiedene Sachen
wegzuwerfen. Die Betroffenen sind nur dann in der Lage, verschiedene gehortete Ob-
jekte wegzuwerfen, wenn sie durch verschiedene Maßnahmen eine gewisse psychische
Stabilität („Ich-Stärke“) erlangt haben, sonst werden sie nicht nur heftig protestieren,
sondern auf andere Weise noch negativer auffallen, d.h. es besteht bei einer Zwangs-
räumung ohne psychologisch-psychotherapeutische Begleitmaßnahmen die Gefahr der
psychischen Dekompensation der Betroffenen.

Primäre zwanghafte Langsamkeit

Die primäre zwanghafte Langsamkeit ist ein Handeln im Zeitlupentempo, wo alle All-
tagshandlungen extrem viel Zeit in Anspruch nehmen, ohne dass dieses Verhalten die
Folge anderer Zwänge darstellt. Diese Störung kommt monosymptomatisch zwar selten
vor, verhindert dann allerdings oft die berufliche und soziale Integration. Die Betroffe-
nen brauchen extrem lange zur Verrichtung alltäglicher Handlungen (Anziehen oder
Ausziehen, Körperpflege wie z.B. Zähneputzen, Rasieren, Haare kämmen, Tätigkeiten
im Haushalt, Essen). Massiv verlangsamend wirkt das Gefühl, dass eine Handlung noch
nicht passt (Unvollständigkeitsgefühl) oder das ständige detaillierte Durchdenken der
Handlungsabläufe, d.h. die Betroffenen denken ständig an Vergangenes. Wird der Ab-
lauf irgendwie gestört, muss alles wieder von vorne begonnen werden. Kurz dauernde
Alltagshandlungen werden auf diese Weise zu einer stundenlangen Beschäftigung.
116 Angststörungen

Zwangsgedanken
Zwangsgedanken (engl. obsessions) sind lästige und aufdringliche Gedanken, bildhafte
Vorstellungen und dranghafte Impulse. Der Begriff der Zwangsgedanken umfasst
zwanghafte Gedanken, Ideen, Vorstellungen, Erinnerungen, Fragen, Befürchtungen und
Grübeleien. Bestimmte Gedanken, Zahlen, Farben, Dinge, Anordnungen müssen ver-
mieden werden, weil davon Unglück ausgehen könnte, falsche Gedanken können sogar
zum Tod führen, wenn nichts dagegen unternommen wird. Die Betroffenen erleben die
jeweiligen Inhalte als persönlichkeitsfremd, abstoßend, unannehmbar, moralisch ver-
werflich, sinnlos und kaum ausschaltbar. Sie fühlen sich geistig sehr beunruhigt, vegeta-
tiv stark erregt und angespannt und neigen zur Vermeidung der quälenden Gedanken.
Zwangsgedanken haben wenig ausformulierte, recht abstrakte und verhaltensferne
Themen zum Inhalt. Sie können wegen der damit verbundenen Verantwortungs-
Schuldgefühle nicht beendet werden durch einfaches Übergehen zu anderen Gedanken.
Sie werden in einer Skala zur Erfassung von Zwängen (Y-BOCS Yale-Brown-
Obsessive-Compulsive-Scale) inhaltlich folgendermaßen differenziert:
z Zwangsgedanken bezüglich Aggressionen,
z Zwangsgedanken bezüglich Sexualität,
z Zwangsgedanken bezüglich Verschmutzung,
z Zwangsgedanken bezüglich Sammeln und Aufbewahren von Gegenständen,
z Zwangsgedanken bezüglich der Religion oder eines schlechten Gewissens,
z Zwangsgedanken bezüglich Symmetrie oder Genauigkeit,
z Zwangsgedanken bezüglich des eigenen Körpers,
z Zwangsgedanken anderer Art (z.B. Furcht, Dinge zu tun, zu sagen, zu verlieren).

Zwangsgedanken drehen sich immer um die eigene Person, vor allem um die möglichen
negativen Auswirkungen der eigenen Handlungen und Einstellungen. Sie stellen eine
mögliche Kritik des eigenen Verhaltens dar und werden meist in Frageform formuliert.
Nach Hoffmann & Hofmann gibt es zwei verschiedene zwanghafte Fragestrukturen:
1. „Kann es sein, dass ich etwas ungewollt und unbewusst getan habe?“ Hier zeigt sich
ein fundamentales Misstrauen in das eigene Gedächtnis.
2. „Kann es sein, dass ich jemandem, weil ich ein schlechter Mensch bin, wirklich
schaden wollte bzw. geschadet habe, ohne mir dessen bewusst zu sein?“ Hier zeigt
sich ein starkes Misstrauen in die eigene Person, die durch und durch schlecht sei.

Es bestehen Zweifel an der Erinnerungsfähigkeit bezüglich der vermeintlichen Taten.


Der Betroffene hat das Gefühl, sich nicht vollständig erinnern zu können und versucht
sich ständig vergeblich den Ablauf des Geschehens, das ja nicht erfolgt ist, zu verge-
genwärtigen. Die vermeintliche Erinnerungslücke belastet den Patienten vor allem auch
deshalb, weil er den Eindruck bekommt, dass er seinem Bewusstsein, seiner Aufmerk-
samkeit und seinem Gedächtnis auch zukünftig nicht trauen kann und daher stets in
Gefahr ist, etwas zu tun, das für andere gefährlich sein könnte. Dem Betroffenen fehlt
ein Gefühl der Wirklichkeit und der Vollständigkeit des eigenen Erlebens bei der Aus-
führung und der Erinnerung seiner Handlungen. Zwangsgedanken offenbaren eine situa-
tionsspezifische und vorübergehende Störung der Ich-Integrität. Es besteht ein plötzli-
cher Riss im Ablauf des Fühlens, Denkens und Handelns. Die Betroffenen suchen Si-
cherheit außerhalb ihrer Person, weil sie ihren inneren Zusammenhalt verloren haben.
Zwangsgedanken entstehen in Zeiten schwerer persönlicher Krisen.
Zwangsstörung 117

Man unterscheidet drei Arten von Zwangsgedanken [94]: Zwangsbefürchtungen


bzw. -impulse, Denkzwänge und zwanghaftes Grübeln.

Zwangsbefürchtungen und Zwangsimpulse

Es bestehen quälende Befürchtungen, gegen soziale Tabus zu verstoßen, z.B. sich unab-
sichtlich aggressiv, sexuell unanständig, sozial auffällig oder religiös unangepasst zu
verhalten. Es bestehen auch große Befürchtungen um ein bevorstehendes Unheil, eher
auf andere, nahe stehende Personen bezogen als auf die eigene Person. Oft bestehen
Zwangsgedanken mit aggressivem Inhalt gegen nahe stehende Personen (z.B. jemanden
zu verletzen). Der Zwangskranke glaubt, bereits schuldig zu sein oder es zu werden
durch irgendein falsches Verhalten und fühlt sich für die Abwendung der Katastrophe
verantwortlich. Zwangsbefürchtungen und -impulse lösen Angst und Unruhe aus und
werden durch kognitive oder verhaltensbezogene Rituale neutralisiert, die jedoch nur
kurz wirksam sind. Die Angst auslösende Zwangsbefürchtung „Ich könnte jemanden
umbringen“ wird etwa durch den kurzfristig beruhigenden Gegengedanken „Ich darf
niemanden umbringen“ zu bewältigen versucht (dieser wird „Denkzwang“ genannt).
Derartige Zwangsgedanken stehen im Widerspruch zum Wertesystem der Betroffe-
nen (dies macht ihr Wesen aus): gotteslästerliche Gedanken eines frommen Menschen,
aggressive Impulse eines Pazifisten, Mordfantasien einer überbehütenden Mutter ge-
genüber ihrer geliebten kleinen Tochter, sexuelle Impulse eines sexuell Gehemmten.
Abergläubische Ängste rund um Todesängste zählen auch zu den Zwangsgedanken.

Denkzwänge (kognitive Zwangshandlungen)

Nach dem DSM-IV sind Denkzwänge Handlungszwänge, die ähnlich Angst und Unru-
he reduzierend wirken wie sichtbare Zwangsrituale. Ein Angst machender Zwangsge-
danke wird durch einen Denkzwang als Gegengedanken neutralisiert. Denkzwänge
(Gedankenzwänge) sind gedankliche Rituale, mit denen Zwangsgedanken, -impulse,
und -vorstellungen („Wirf dich vor den Zug“, „Spring vom Balkon hinunter“, „Töte
deinen Vater“) neutralisiert werden. Kognitive Rituale (Beschwörungsformeln, Gebete,
Sätze, Zählen) werden zur Beruhigung eingesetzt (z.B. ein Zählzwang oder „gute“ Ge-
danken wie „Dein Vater ist gut“). Bestimmte Zwangsgedanken führen zu zwanghafter
Beschäftigung mit den entsprechenden, meist unbestimmten Inhalten. Es besteht oft
eine enge Kombination von Zwangsgedanken und verdeckten Zwangshandlungen.

Zwanghaftes Grübeln

Zwanghaftes Grübeln (engl. ruminations) gilt als verdecktes (kognitives) Zwangsritual


zur Neutralisierung von Befürchtungen. Es besteht aus langen unproduktiven Gedan-
kenketten, die sich um rasch wechselnde Themen drehen (z.B. „Was habe ich Schlech-
tes gesagt bzw. getan?“). In Form scheinbar sinnloser Selbstgespräche werden ständig
Fragen ohne Antworten gestellt. Grübeln dient zur Beruhigung nach aufdringlichen
Zwangsgedanken und ist als Verhaltensritual anzusehen. Intensives Nachdenken soll
Unheil abwenden. Weil dies aber nicht gelingt, verstärkt es bald die Angst und Unruhe.
118 Angststörungen

Zwangsstörungen als Angststörungen – Eine Kontroverse


Zwischen ICD-10 und DSM-IV bestehen wesentliche Unterschiede in der Zuordnung
der Zwangsstörungen. Das internationale ICD-10 ordnet die Zwangsstörung den neuro-
tischen Störungen zu (obwohl dieser Terminus in der neuen Diagnostik möglichst ver-
mieden wird). Das amerikanische DSM-IV zählt die Zwangsstörung zu den Angststö-
rungen, was der einflussreiche englische Psychiater Marks bereits 1969 getan hat. Die
Angststörungen in diesem Buch umfassen alle krankhaften Ängste nach dem amerikani-
schen DSM-IV, das auch die Zwangsstörung dazuzählt. Es gibt jedoch zahlreiche Ar-
gumente gegen die Zuordnung der Zwangsstörung zu den Angststörungen [95]:
1. Nicht Ängste, sondern allgemeine Unruhe, Anspannung, Ärger, Gereiztheit, Ekel
und diffuses Unbehagen stehen im Mittelpunkt vieler Zwänge. Zwangsrituale sind
ein Mittel zur Bewältigung von Unruhe und Unbehagen. Das zentrale Merkmal bei
Zwangsstörungen ist das Zwangsritual. Erst dessen Nicht-Ausführung im Rahmen
von Unterdrückungsversuchen der Zwänge bewirkt unerträgliche Angstzustände.
Ängste werden erst dann massiv erlebt, wenn die anspannungsreduzierenden
Zwangsrituale nicht mehr im nötigen Ausmaß ausgeführt werden. Die entscheidende
Emotion bei Zwängen ist somit nicht Angst, sondern Unruhe bzw. Unbehagen.
2. Ängste bei Zwängen werden nicht einfach nur durch bestimmte phobische Reize und
Situationen ausgelöst, sondern vielmehr erst durch das Gefühl einer damit verbun-
denen Verantwortung, der man nicht gewachsen sein könnte, sodass andere Perso-
nen zu Schaden kommen könnten. Man sorgt sich um die Verseuchung der Hände
durch Bazillen vor allem deshalb, weil man dadurch andere anstecken könnte.
3. Durch die enge Verknüpfung von Angst und phobischem Reiz schwindet bei Phobi-
kern die Angst sofort durch Fluchtverhalten, während Zwangspatienten oft noch
Stunden nach der Konfrontation mit dem aversiven Reiz die Auswirkungen mit Hil-
fe von verhaltensbezogenen oder kognitiven Ritualen zu mildern oder zu beseitigen
versuchen, weil sie sich für eventuelle negative Folgen verantwortlich fühlen.
4. Während Zwangshandlungen zu einer kurzfristig wirksamen Verringerung von
Angst und Unruhe führen, ist bei Zwangsgedanken geradezu das Gegenteil der Fall:
Es kommt zu einem Anstieg von Erregung und Unruhe.
5. Tranquilizer bewirken – im Gegensatz zu Angstpatienten – bei Zwangspatienten
keine Besserung, was darauf hinweist, dass Angst lösende Medikamente nicht den
zentralen Wirkmechanismus von Angstverläufen bei Zwängen erfassen.
6. Zwangspatienten sprechen im Vergleich zu Angstpatienten kaum auf Placebos an.
7. Zwangspatienten erleben im Gegensatz zu Angstpatienten oft keine vollständige
Heilung, sondern müssen mit einer Restsymptomatik besser leben lernen.
8. Zwangspatienten sind interaktionell verletzbarer als Angstpatienten.
9. Bei einem Teil der Zwangspatienten sind hirnorganische Komponenten anzunehmen
(gestörte Interaktion zwischen Basalganglien, limbischem System und Frontalhirn).
10. Zwangsstörungen weisen Übergänge zu unterschiedlichen psychischen Störungen
auf. Man spricht heute vom„Spektrum der Zwangsstörungen“, das verschiedene
Störungen umfasst, z.B. Essstörungen (Anorexie, Bulimie), Tics, Tourette-Syndrom,
Hypochondrie, Dysmorphophobie, Impulskontrollstörung (pathologisches Spielen,
zwanghaftes Kaufen, Kleptomanie, Pyromanie), Trichotillomanie (zwanghaftes Aus-
reißen der Haare). Das Gemeinsame dieser Störungen ist eine gesteigerte Anspan-
nung oder Unruhe, die vermindert werden muss. Die Anspannung durch Schuldge-
fühle ist dabei weniger bedeutsam als bei Zwangsstörungen.
Zwangsstörung 119

Differenzialdiagnose
Eine sorgfältige Differenzialdiagnose der Zwangsstörung gegenüber anderen Störungen
ist von großer Bedeutung, wenngleich oft eine Komorbidität gegeben sein kann. Im
Einzelnen ist eine Abgrenzung gegenüber folgenden Störungen vorzunehmen [96]:

Panikstörung und Agoraphobie

Zwangspatienten weisen ebenfalls Vermeidungsreaktionen wie Patienten mit einer


Agoraphobie auf, jedoch aus anderen Gründen. Während Menschen mit einer Ago-
raphobie das Auftreten einer Panikattacke oder einer panikähnlichen Symptomatik an
einem öffentlichen Ort fürchten (z.B. in Bus oder Straßenbahn), weisen Zwangspatien-
ten ein andersartig motiviertes Vermeidungsverhalten auf (z.B. Vermeidung von Kon-
takt mit anderen Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln, um einer gefürchteten An-
steckung zu entgehen). Sie möchten auf diese Weise spätere Zwangsrituale (z.B. Wa-
schen und Reinigen) vermeiden oder reduzieren. Das Vermeidungsverhalten stellt in
diesem Sinn ein ökonomisches Verhalten dar, um sich spätere qualvolle Wiedergutma-
chungszwänge zu ersparen.
Bestimmte Zwangsgedanken oder Zwangsbefürchtungen finden sich oft auch bei
Panikpatienten in Zusammenhang mit Kontrollverlustängsten. Typisch ist diesbezüglich
die Zwangsbefürchtung, ein Kind zu verletzen oder zu töten, aber auch die Angst, ohne
suizidale Absicht irgendwo hinunterzuspringen, sodass Brücken und Höhen (hohe Häu-
ser, offene Balkone oder Fenster, Sessellifte, Türme u.a.) gemieden werden.
Aus Angst vor dem Durchbruch dieser Impulse werden oft besondere Vorsichts-
maßnahmen getroffen. Zwangsrituale stellen demnach Bewältigungsversuche von
Zwangsgedanken im Rahmen von Kontrollverlustängsten dar.

Generalisierte Angststörung

Immer wiederkehrende Gedanken treten bei einer Zwangsstörung und bei einer genera-
lisierten Angststörung auf. Zwangsgedanken bzw. zwanghaftes Grübeln haben zwar
eine gewisse Ähnlichkeit mit einer generalisierten Angststörung, lassen sich in der Re-
gel jedoch eher leicht davon unterscheiden:
z Bei einer generalisierten Angststörung steht eine ständige übertriebene Besorgtheit
im Vordergrund, die mit realen Lebensumständen zu tun hat und eher ich-nahe (ich-
synton) erlebt wird. Menschen mit einer generalisierten Angststörung sind zwar
ständig nervös und ängstlich und grübeln viel über gefürchtete Zukunftssituationen,
ihre Sorgen richten sich jedoch auf alltägliche Belastungen und Gefahren, wie sie
auch von gesunden Menschen gelegentlich gefürchtet werden, jedoch nicht in die-
sem Ausmaß.
z Zwangsgedanken sind charakterisiert durch die Aufdringlichkeit der Gedanken, die
damit verbundenen Gedanken von Verantwortung und Schuld sowie den irrealen
Charakter der Zwangsgedanken, die eher als ich-fremd (ich-dyston) erlebt werden.
z Menschen mit Zwangsstörungen weisen mentale und verhaltensbezogene Rituale
auf, um auf diese Weise die innere Anspannung zu reduzieren. Derartige Rituale
fehlen bei Personen mit einer generalisierten Angststörung.
120 Angststörungen

Phobien

Zwischen Phobien und Zwangsstörungen bestehen deutliche Unterschiede. Die Aspekte


„Ekelgefühle“ und „persönliche Verantwortung“ stellen bei Zwangskranken, nicht
jedoch bei Phobikern, zentrale Merkmale dar. Phobien bestehen in der Erwartung einer
gefürchteten Katastrophe, auf die man keinen Einfluss zu haben glaubt, weshalb Ver-
meidung als einzige Lösung angesehen wird. Zwangsstörungen sind dagegen charakte-
risiert durch ein großes Gefühl der Verantwortung für die erwartete Katastrophe, ver-
bunden mit Schuldgefühlen, sollte diese nicht abgewendet werden können. Dieser Um-
stand ist letztlich die Ursache für die ständige zwanghafte Beschäftigung mit den ent-
sprechenden Inhalten. Dasselbe gilt von Ekelgefühlen, die kein Hundephobiker hat.
Phobien und Zwänge lassen sich nach Reinecker [97] derart unterscheiden:
z Phobien drehen sich um ein zentrales Thema, Zwänge stellen stereotype, wiederhol-
te Gedanken und Handlungen dar.
z Bei Phobien verursachen bestimmte Reize (Verkehrsmittel, Räume, Tiere usw.)
Angst und Panik, bei Zwängen führen Auslöser wie Schmutz, Berührung oder Ver-
letzung zu großer Unruhe und quälendem Unbehagen.
z Als zentrale auslösende Emotionen gelten bei Phobien Angst- und Panikgefühle, bei
Zwängen dagegen Ekel, Ärger, kognitive Unruhe und moralisches Unbehagen.
z Bei Phobien sind die Angstsituationen gut benennbar und konkret, bei Zwängen sind
Angst und Unruhe teilweise reizunspezifisch und allgemeiner Art (z.B. Staub).
z Phobiker haben Angst vor Kontakt mit speziellen Auslösesituationen, Zwangspati-
enten fürchten mögliche, in der Zukunft liegende Konsequenzen, wenn sie mit be-
stimmten Reizen in Berührung kommen.
z Phobiker haben relativ klare Vorstellungen über die Notwendigkeit der Vermeidung
(z.B. Panikattacke, Ohnmachtsanfall), Zwangspatienten haben wenig konkrete, je-
doch ziemlich unkorrigierbare Vorstellungen, was im Falle einer Verschmutzung
passieren könnte (z.B. Verteilung von Bakterien, Schuldgefühle).

Posttraumatische Belastungsstörung

Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung stehen die „Zwangsgedanken“ in engem


Zusammenhang mit einem traumatischen Erlebnis, das nicht überwunden werden kann
und dessen Wiederauftreten oft gefürchtet wird. Die Betroffenen fühlen sich dafür nicht
verantwortlich, sondern erleben sich als Opfer der Umstände, was einen wesentlichen
Unterschied gegenüber Zwangspatienten darstellt.

Schizophrenie

Zwangskranke unterscheiden sich von Schizophrenen durch zwei Kriterien [98]:


z Zwangspatienten wissen meist, dass ihre Gedanken unrichtig sind bzw. haben Zwei-
fel. Nur 5% sind völlig, weitere 20% sehr stark von deren Sinnhaftigkeit überzeugt.
Paranoid Schizophrene haben stets eine unkorrigierbare subjektive Gewissheit über
den Inhalt der Gedanken (ego-syntone Symptomatik), jedoch keine Rituale.
z Zwangspatienten wissen auch (im Gegensatz zu schizophrenen Patienten), dass das
Bedrängtwerden aus der eigenen Person und nicht aus der Umwelt stammt.
Zwangsstörung 121

Depressionen

Depressive Grübeleien werden als ich-synton und stimmungskongruent erlebt und wer-
den nicht abgewehrt, zwanghafte Grübeleien werden als ich-dyston erlebt. Die Abgren-
zung gegenüber Depressionen kann (zumindest im Querschnitt) schwierig sein.
Zwangsstörung und Depression hängen oft eng zusammen [99]:
z Zwangsgedanken (Grübelzwänge) treten oft im Rahmen einer depressiven Episode
auf. Eine Zwangsstörung sollte nur dann diagnostiziert werden, wenn der Grübel-
zwang nicht im Zusammenhang mit einer Depression auftritt und anhält.
z Depressive Reaktionen entstehen oft auch als Folge nicht bewältigbarer Zwänge,
gleichsam als Resignationserscheinung nach langen Kämpfen gegen die Zwänge.
z Bestimmte Antidepressiva (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) sind auch
bei Zwangsstörungen wirksam, was biologische Zusammenhänge nahe legt.

Substanzabhängigkeit, Essstörungen und Impulsstörungen

Oft wird von „zwanghaftem“ Trinken, Essen, Spielen und Sexualverhalten gesprochen.
Gegenüber Sucht- und Drangverhalten gibt es typische Abgrenzungskriterien [100]:
z Bei Substanzmissbrauch haben die Betroffenen zumindest zum Zeitpunkt des Ver-
haltens einen gewissen Genuss, auch wenn sie es später bereuen, dem Drang nach-
gegeben zu haben. Zwangshandlungen bereiten dagegen niemals angenehme Gefüh-
le, sondern führen nur zu einem Nachlassen unangenehmer Gefühle.
z Bei einer Essstörung (Anorexie, Bulimie) besteht zwar eine zwangsähnliche Be-
schäftigung mit der Symptomatik oder ein ausgeprägter Drangzustand, der nicht sel-
ten als zwanghaft erlebt wird, es wird jedoch eindeutig ein positiv definierter Zielzu-
stand angestrebt, der lustvoll fantasiert oder erlebt wird (z.B. dünn sein).
z Drang- und Impulsstörungen sind eine Erleichterung bei allgemeiner Anspannung,
Zwänge beinhalten eine spezifische Angst, die durch Rituale bekämpft wird.

Somatoforme Störungen

Unter den somatoformen Störungen stellen ständige körperbezogene Kontrollrituale das


charakteristische Merkmal der hypochondrischen Störung dar. Die Betroffenen fürchten
sich vor eigener Gefährdung oder Gefährdung anderer, meist nahe stehender Personen.
Ihr Denken und Sorgen dreht sich häufig darum, dass sie eine Krankheit bekommen und
andere anstecken könnten. Je mehr sie sich bezüglich einer Erkrankung oder Übertra-
gung von Erregern die Schuld geben, desto mehr bestehen Übergänge zur Zwangsstö-
rung. Bei einem Wasch- und/oder Kontrollzwang in Zusammenhang mit einer AIDS-
Phobie bestehen ständige Sorgen, andere anzustecken und dafür verantwortlich zu sein.
Eine Dysmorphophobie (körperdysmorphe Störung nach dem DSM-IV) ist dadurch
charakterisiert, dass die Betroffenen überzeugt sind von einer körperlichen Entstellung,
die sie „zwanghaft“ ständig beobachten, überspielen und beseitigen wollen. Sie fürchten
sich vor dem Anblick anderer Menschen wegen ihrer vermeintlichen Hässlichkeit und
weisen nicht selten eine soziale Phobie als zweite Diagnose auf. Menschen mit einer
Dysmorphophobie erleben ihre Befürchtung als ich-synton, während Personen mit einer
Zwangsstörung ihre Symptomatik gewöhnlich als ich-dyston erleben.
122 Angststörungen

Zwanghafte (anankastische)Persönlichkeitsstörung

Zwangsstörungen sich gegenüber einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung, die bei


etwa 1% der Normalbevölkerung vorkommt, klar abgrenzbar. Eine zwanghafte Persön-
lichkeit ist definiert durch ein ausgeprägtes Streben nach Ordentlichkeit, Perfektionis-
mus und Kontrolle (bis zur Pedanterie), Zwangsgedanken und -handlungen fehlen da-
gegen (keine Rituale zur Neutralisation von Gedanken). Zwangstörungen werden als
„ich-dyston“ (persönlichkeitsfremd) erlebt, zwanghafte Persönlichkeitsmerkmale als
„ich-synton“ (zur Persönlichkeit passend). Zwangspatienten haben im Gegensatz zu
Anankasten ständig große Schuldgefühle. Das ICD-10 [101] beschreibt eine anankasti-
sche (zwanghafte) Persönlichkeitsstörung (F60.5), die bei 10-25% der Zwangspatienten
vorliegt. Im Gegensatz zur Zwangsstörung besteht eine lebenslange, seit der Jugend sich
manifestierende Störung der gesamten Persönlichkeit mit folgenden Merkmalen:
z Unentschlossenheit, Zweifel und Vorsicht als Ausdruck einer großen Unsicherheit,
z ständige Beschäftigung mit Details, Regeln, Listen, Plänen, Ordnung usw.,
z Perfektionismus und ständige Kontrollen zur Vermeidung von Fehlern,
z übertriebene Gewissenhaftigkeit, Skrupelhaftigkeit und unverhältnismäßige Lei-
stungsbezogenheit ohne Zeit für Vergnügen und Sozialkontakte,
z übertriebene Pedanterie und Konventionalität mit einer geringen Fähigkeit zum
Ausdruck warmer Gefühle,
z Rigidität und Eigensinn als Ausdruck mangelnder Flexibilität,
z Beharren auf der Unterordnung der anderen unter die eigenen Gewohnheiten,
z Aufdrängen von unerwünschten Gedanken und Impulsen.

Ticstörung

Tics erfolgen unbeabsichtigt, während Zwangshandlungen gezielt ausgeführt werden,


um eine bestimmte Absicht zu verwirklichen (z.B. eine Gefahr abzuwenden). Tics die-
nen nicht dazu, einen Zwangsgedanken zu neutralisieren.

Hirnorganische Störung

Nach Hirnschäden können Zwangssymptome oder zwangsähnliche Zustände auftreten.


Diese haben jedoch eine hirnorganische Ursache. Oft handelt es sich um stereotype
Reaktionen. Die Zwangsgedanken haben keinen sinnvollen Inhalt und die Zwangshand-
lungen kein bestimmtes Ziel. Kontrollverhaltensweisen im Rahmen eines hirnorgani-
schen Psychosyndroms sind ein Kompensationsversuch bei erkannter Aufmerksamkeits-
und Konzentrationsstörung sowie bei belastender Merkfähigkeitsstörung, um die depri-
mierende Minderleistung zu verringern.

Nach dem Konzept der Zwangsspektrumstörungen ähneln verschiedene Störungen den


Zwängen wegen des stereotypen bzw. ritualisierten Verhaltens oder der zwanghaften
Beschäftigung mit bestimmten Gedanken, z.B. somatoforme Störungen (Hypochondrie,
Dysmorphophobie), Essstörungen (Anorexie, Bulimie), Störungen der Impulskontrolle
(Kleptomanie, Kaufsucht, pathologisches Spielen, Pyromanie, Trichotillomanie), sexu-
elle Störungen, Tic-Störungen (Tourette-Syndrom: motorische und vokale Tics).
Zwangsstörung 123

Epidemiologie, Verlauf und Folgen der Zwangsstörung


Zusammenfassend gesehen leiden 2-3% der Bevölkerung unter einer Zwangsstörung. In
Deutschland leiden 2,0% der Bevölkerung im Laufe des Lebens, 1,8% innerhalb der
letzten 6 Monate und 1,4% innerhalb des letzten Monats unter einer Zwangsstörung
[102]. In den USA (ECA-Studie [103]) haben 2,5% der Bevölkerung im Lebenszeit-
raum, 1,5% innerhalb der letzten 6 Monate und 1,3% innerhalb des letzten Monats eine
Zwangsstörung. Nach der NCS-R-Studie haben 1,6% der Amerikaner lebenszeitlich und
1,0% im Laufe der letzten 12 Monate eine Zwangsstörung.
Zwangsstörungen entwickeln sich meist schleichend, ein akuter Beginn durch be-
stimmte Auslöser ist jedoch möglich. Im Kindergartenalter sind ritualisierte Verhal-
tensweisen sowie magische Denkmuster altersentsprechend. Rituale bieten äußere
Struktur und innere Sicherheit. Behandlungsbedürftige Zwänge beginnen oft schon in
Kindheit oder Jugend (ab dem 7. Lebensjahr), am öftesten im frühen Erwachsenenalter
(im 3. Lebensjahrzehnt, durchschnittlich mit etwa 23 Jahren).
Nach neueren Erkenntnissen begann die Symptomatik bei 80% der Patienten bereits
im Kindes- und Jugendalter. 3-5% aller Jugendlichen weisen vorübergehend zwanghafte
Verhaltensweisen auf. 1-3% der Kinder und Jugendlichen weisen eine behandlungsbe-
dürftige Zwangsstörung auf. Etwa 65% aller Zwänge setzen vor dem 25. Lebensjahr,
rund 95% vor dem 40. Lebensjahr ein und treten fast nie erstmals im Alter (über 50
Jahre) auf. Kontrollzwänge bei älteren Menschen sind oft ein Kompensationsversuch
von kognitiven Defiziten (z.B. bei Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen nach
einem Schädel-Hirn-Trauma).
Drei Viertel der Waschzwänge setzen plötzlich ein, oft als Folge eines bestimmten
Ereignisses, an das sich die Betroffenen meist genau erinnern können. Kontrollzwänge
(oft bei jüngeren Männern) beginnen bei zwei Drittel schleichend und unmerklich, bis
sie zu einer großen Belastung für die Betroffenen und ihre Umwelt werden.
Die verschiedenen Zwangsstörungen weisen folgende Häufigkeitsverteilung auf:
50% Waschzwänge, 35% Kontrollzwänge, 12-15% reine Zwangsgedanken.
Unter den Zwangskranken sind 55% Frauen und 45% Männer. Auffällig ist die hohe
Zahl von Betroffenen ohne festen Partner (rund 50% im Vergleich zu 25% bei anderen
Angststörungen), was auf die Defizite im interaktionell-sozialen Bereich hinweist [104].
Kontrollzwänge, die mehrheitlich bei Männern zu finden sind, treten oft bereits mit
18-20 Jahren auf. Waschzwänge, die vor allem bei Frauen vorkommen (66-86% der
Patienten sind Frauen), beginnen erst mit 25-27 Jahren [105]; sie beginnen öfter akut.
Im Vergleich zu Frauen erkranken Männer also etwa fünf Jahre früher, bedingt durch
den Umstand, dass Kontrollzwänge einfach früher auftreten als Waschzwänge. Männer
leiden häufiger unter sexuellen, Frauen öfter unter aggressiven Zwangsvorstellungen.
Zwangsstörungen gelten als „heimliche Krankheit“. Viele Patienten mit psychoso-
matischen, depressiven oder generalisiert-ängstlichen Beschwerden müssen gezielt auf
Zwänge angesprochen werden. Zwangspatienten versuchen, ihre Krankheit so lange als
möglich geheim zu halten (anfangs auch vor den engsten Angehörigen) und alleine
damit zurechtzukommen. Sie fallen oft erst wegen verschiedener Folgeprobleme auf
(z.B. Depression, Alkoholmissbrauch, somatoforme Störungen wegen der Verspan-
nung). Zwangspatienten suchen durchschnittlich erst 7,5 Jahre nach Beginn der Störung
eine Behandlung auf (sie sind dann bereits rund 30 Jahre alt). Die Krankheit ist dann oft
schon weit fortgeschritten, schwerer behandelbar und mit Depressionen, Angststörun-
gen oder somatoformen Störungen verbunden.
124 Angststörungen

Der Beginn einer Psychotherapie erfolgt trotz großen Leidensdrucks zumeist nur auf
Anraten eines Arztes oder auf Druck der Angehörigen. In den ersten Phasen einer Psy-
chotherapie besteht oft eine große Ambivalenz gegenüber Änderungsversuchen.
Lebensereignisse, psychosoziale Faktoren und vermehrter Stress tragen zur Auslö-
sung oder spezifischen Ausformung von Zwängen in ähnlicher Weise bei wie bei ande-
ren Angststörungen. Zwangsstörungen können durchaus Schwankungen aufweisen.
Rituale können verzögert, hinausgeschoben oder in Anwesenheit bestimmter Men-
schen unterdrückt werden (z.B. zur Vermeidung von Auffälligkeit). Ein Durchbruch
aggressiver oder sexueller Impulse kommt aufgrund der starken Kontrollen nur in ex-
tremen Ausnahmefällen vor.
Der Verlauf einer Zwangsstörung ist ohne adäquate Behandlung oft chronisch stabil,
progredient oder schwankend. Spontanheilungen sind im Erwachsenenalter selten, wenn
die Störung bereits länger als ein Jahr vorhanden war. Eine vollständige Heilung einer
langjährigen Symptomatik ist eher die Ausnahme, eine wesentliche Besserung durch
eine Kombination von Verhaltenstherapie und Psychopharmakotherapie ist jedoch sehr
wahrscheinlich, wenn die Patienten therapiemotiviert sind.
Rückfälle nach ursprünglich erfolgreichen Behandlungen im Rahmen stationärer
Aufenthalte sind häufig, weshalb eine längere ambulante Nachbehandlung zur Stabili-
sierung der Fortschritte angezeigt erscheint. Symptomverschlechterungen können durch
psychosozialen Stress verursacht sein [106]. Andererseits führt eine chronifizierte
Zwangsstörung gewöhnlich zu erheblichen familiären Problemen, wenn die Angehöri-
gen nicht mehr länger bereit sind, die Zwänge zu ertragen.
Eine Zwangsstörung tritt oft in Kombination mit anderen psychischen Störungen
auf, vor allem mit einer Depression oder Dysthymie (lang andauernde depressive Stö-
rung leichterer Art). Mindestens ein Drittel der Zwangskranken hat auch eine Depressi-
on. Die Zwänge sind während einer depressiven Episode gewöhnlich stärker ausgeprägt.
Die Komorbidität von Zwangsstörung und erheblicher Depression ist ein erschwerender
Umstand hinsichtlich der Beseitigung der Zwänge. Das Risiko, dass eine Zwangstörung
zu einer Depression führt, ist dreimal so hoch wie umgekehrt. Bei zunehmender bzw.
hoher Intensität bewirken Zwänge eine psychophysische Erschöpfung und Resignation.
Neben der Depression besteht eine hohe Komorbidität mit verschiedenen Angststörun-
gen (spezifischen Phobien, sozialen Phobien, generalisierten Angststörungen und Pa-
nikstörungen mit und ohne Agoraphobie). Häufig ist auch eine Komorbidität mit soma-
toformen Störungen, vor allem mit einer Hypochondrie oder einer Dysmorphophobie.
Mindestens ein Drittel der Patienten mit Zwangsstörungen weist eine Persönlich-
keitsstörung auf, vor allem eine selbstunsichere, dependente oder histrionische Persön-
lichkeitsstörung. Eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung kommt entgegen früheren
Behauptungen nur bei 10-25% der Zwangspatienten vor. Eine Zwangsstörung als Be-
gleitsymptomatik wurde auch bei verschiedenen Personen mit Essstörungen (Anorexie
und Bulimie) gefunden. Rund 10% der Frauen mit einer Zwangsstörung hatten in der
Vergangenheit eine Anorexia nervosa. Missbrauch oder Abhängigkeit von Alkohol
gehen deswegen häufig mit einer Zwangsstörung einher, weil anfangs oft mit Hilfe von
Alkohol eine Erleichterung der Zwänge zu erreichen versucht wurde.
Zwangskranke bekommen – im Gegensatz zu früheren Annahmen – nicht häufiger
eine Schizophrenie als andere Personen. Auch bei den Familienangehörigen von
Zwangskranken wurde kein erhöhtes Risiko für eine Schizophrenie gefunden.
Die Zwangsstörung wird zwar häufig auch in Verbindung mit dem Gilles-de-la-
Tourette-Syndrom diskutiert, eine Komorbidität wurde jedoch nur bei 5% gefunden.
Posttraumatische Belastungsstörung 125

Posttraumatische Belastungsstörung –
Ein Trauma bewirkt bleibende Angstzustände

Historische Aspekte der posttraumatischen Belastungsstörung


Die Folgen traumatischer Erlebnisse (Kriegserfahrungen, Feuersbrunst u.a.) wurden seit
der Antike immer wieder erwähnt. Ein Zeuge des Londoner Großbrandes im Jahr 1666
beschrieb sechs Monate später seine seit diesem Ereignis bestehende Schlafstörung mit
nächtlichem Erwachen in Verbindung mit der Angst, neuerlich Opfer des Feuers zu
werden [107]. Das Verständnis psychischer Symptome als Folge traumatischer Erfah-
rungen entwickelte sich im 19. Jahrhundert. Die bekanntesten historischen Vorläufer der
posttraumatischen Belastungsstörung sind die „Unfallneurose“ als psychische Störung
nach schweren Belastungen (z.B. nach den ersten Eisenbahnunfällen im 19. Jahrhun-
dert) und die „Kriegsneurose“ („Frontneurose“, „Gefechtsneurose“, „Schützengraben-
neurose“, „Granatenschock“) bei Teilnehmern am 1. oder 2. Weltkrieg.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in England sehr detailliert die
psychischen Folgen von Eisenbahnunfällen beschrieben. Die aufgetretenen Symptome
wie Angst, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Schlafstörungen, belastende
Träume, leichte Irritierbarkeit und zahlreiche körperliche Beschwerden wurden zuerst
organmedizinisch erklärt, und zwar verursacht durch eine Rückenmarksschädigung als
Folge der unfallbedingten Erschütterung, zwei Jahrzehnte später dagegen rein psychisch
bedingt angesehen als Ausdruck einer „traumatischen Hysterie“.
In den USA wurden im 19. Jahrhundert die psychovegetativen Veränderungen bei
vielen Soldaten des amerikanischen Bürgerkriegs als Folge der Überforderung durch
belastende Kriegsbedingungen wie etwa Fieber oder Durchfall betrachtet. Da Costa
beschrieb die pseudokardialen Symptome vieler Soldaten als „irritable heart“.
Im deutschen Sprachraum verwendete Oppenheim 1889 erstmals den Begriff der
„traumatischen Neurose“ zur Beschreibung von Symptomen wie Angst, Unruhe, Des-
orientiertheit, Unfähigkeit zu reden oder zu stehen und Schlafstörungen als Folge von
Eisenbahn- und Arbeitsunfällen. Schreck und Gemütsbewegung würden zu nicht sicht-
baren mikroskopischen Veränderungen im Großhirn führen. Dieses Konzept begründete
eine Entschädigungspflicht, was von vielen anderen Fachleuten massiv abgelehnt wur-
de, weil die Betroffenen ihre Symptome nur zu einem pathologischen Rentenbegehren
verwenden würden. Nach dem Psychiater Kraepelin [108], der 1899 verschiedene Sym-
ptome unter der Bezeichnung „Schreckneurose“ darstellte, handelt es sich dabei

„um ein aus mannigfaltigen nervösen und psychischen Erscheinungen zusammengesetztes Krankheits-
bild, welches sich in Folge von heftigen Gemüthserschütterungen, plötzlichem Schreck, großer Angst
ausbildet und daher nach schweren Unfällen und Verletzungen, besonders nach Feuersbrünsten, Explo-
sionen, Entgleisungen oder Zusammenstößen auf der Eisenbahn u. dergl. beobachtet wird.“

In Frankreich wiesen Charcot und Janet erstmals in den 80er-Jahren des 19. Jahrhun-
derts auf die Bedeutung von Traumata zur Erklärung so genannter „hysterischer“ Sym-
ptome hin. Während Charcot von einer „traumatischen Hysterie“ sprach, ging Janet
von einer posttraumatischen „Dissoziation“ aus. Er studierte als erster intensiv das
Phänomen der Dissoziation in Zusammenhang mit der Bewältigung traumatischer Bela-
stungen. Seine Erkenntnisse gerieten durch die spätere Dominanz des psychoanalyti-
schen Denkens in Vergessenheit und wurden erst in neuerer Zeit ausreichend gewürdigt.
126 Angststörungen

In Österreich hatte Sigmund Freud bereits Ende des 19. Jahrhunderts panikartige
Symptome als Folge von sexuellem Missbrauch in der Kindheit und diesen wiederum
als Ursache für die Hysterie beschrieben, er musste seine Feststellungen über einen real
weit verbreiteten sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie jedoch unter dem Druck
der empörten Öffentlichkeit widerrufen und die realen traumatisierenden Erfahrungen
zu sexuellen Wunschfantasien seiner „hysterischen“ Patientinnen erklären.
Die panikartigen Anfälle wie bei der 18-jährigen, vom Vater sexuell belästigten Ka-
tharina, deren Fall in den 1895 erschienenen „Studien zur Hysterie“ dargestellt ist,
verstand Freud als typische angsthysterische Anfälle in Reaktion auf das erinnerte
Trauma. 1896 veröffentlichte Freud [109] 18 Fallstudien unter dem Titel „Zur Ätiologie
der Hysterie“, wo er feststellte:

„Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich – durch die analy-
tische Arbeit reproduzierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalls – ein oder mehrere Erleb-
nisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören. Ich halte dies für eine
wichtige Enthüllung...“

Freuds Erklärungen wurden damals als wissenschaftliches Märchen abgelehnt und we-
der zitiert noch diskutiert. Freud wurde ausgegrenzt und erhielt keine Überweisungen
mehr. Bereits ein Jahr später verwarf Freud insgeheim die Theorie vom Trauma als
Ursache der Hysterie, wie aus seinen Briefen hervorgeht. Er war zu sehr beunruhigt
über die Folgen seiner Erkenntnisse. Wenn seine Patientinnen die Wahrheit gesagt hat-
ten und seine ursprüngliche Theorie stimmte, dann war aufgrund der Häufigkeit der
„Hysterie“ sexueller Missbrauch als weit verbreitet anzusehen. Freuds Patientinnen
stammten aus geachteten bürgerlichen Familien Wiens. Dort durften derartige Ereignis-
se einfach nicht vorkommen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
Judith Herman [110] beschreibt den Standpunktwechsel von Freud folgendermaßen:

„Aus den Trümmern seiner Theorie zur Entstehung der Hysterie durch frühe Traumatisierung schuf
Freud die Psychoanalyse. Die maßgebliche psychologische Theorie des 20. Jahrhunderts basiert auf der
Leugnung weiblicher Realität. Die Sexualität stand weiterhin im Mittelpunkt des Forschungsinteresses,
doch das ausbeuterische soziale Umfeld, in dem sexuelle Beziehungen letztlich stattfinden, verschwand
völlig aus dem Gesichtsfeld. Die Psychoanalyse beschäftigte sich von nun an mit dem inneren Wandel
der Phantasien und Sehnsüchte, losgelöst von den realen Erfahrungen. Im Jahr 1910 war Freud dann zu
dem Schluß gekommen, daß die Berichte seiner hysterischen Patientinnen über sexuellen Mißbrauch in
der Kindheit nicht der Wahrheit entsprachen, obwohl er nie eine klinische Dokumentation falscher
Anklagen vorlegte: ‘Als ich dann doch erkennen mußte, diese Verführungsszenen seien niemals vorge-
fallen, seien nur Phantasien, die meine Patienten erdichtet, die ich ihnen vielleicht selbst aufgedrängt
hatte, war ich eine Zeitlang ratlos.’ “

1920 sah Freud in „Jenseits des Lustprinzips“ eine traumatische Situation dann als
gegeben an, wenn von außen so starke Erregungen auf das Ich einstürzen, dass der Reiz-
schild durchbrochen werde. Das Ich werde dabei von Außenreizen überschwemmt und
die bisher erreichte Anpassung werde massiv gestört. Der Betroffene versuche die Pro-
blematik durch die Regression zu einem früheren Abwehrmechanismus zu bewältigen,
nämlich durch die zwanghafte Wiederholung der traumatischen Situation.
Freud hatte sich auch Verdienste erworben bezüglich der angemessenen Beurteilung
und Behandlung der österreichischen Soldaten mit „Kriegszittern“ im 1. Weltkrieg,
indem er in einem Gutachten gegen die schmerzhaften galvanischen Stromstöße an den
symptomtragenden Körperteilen auftrat.
Posttraumatische Belastungsstörung 127

Die „Kriegszitterer“ des 1. Weltkriegs, die mit den Grausamkeiten des Krieges nicht
zurechtkamen, wurden als Simulanten, Drückeberger und unzulängliche Männer abge-
stempelt und mit sehr schmerzhaften Stromschlägen behandelt, die zweifellos einen
strafenden, disziplinierenden und abschreckenden Charakter hatten. Die österreichi-
schen und deutschen Psychiater gingen davon aus, dass „richtige Männer“ die Kriegser-
lebnisse unbeschadet überstehen könnten und nur „Psychopathen“ sich in Krankheiten
flüchten würden. Im 2. Weltkrieg traten zuerst neue psychosomatische Erkrankungen
auf, wie etwa Magengeschwüre, Herz-Kreislauf-Störungen oder Kopfschmerzen. Spä-
ter, als der Krieg immer grausamer wurde, kamen die aus dem 1. Weltkrieg bekannten
Kriegsneurosen hinzu.
Im Gegensatz zu Deutschland standen die amerikanischen und britischen Behörden
nach beiden Weltkriegen den Soldaten mit massiven psychischen Kriegsfolgen Renten
zu. Vor allem im deutschen Sprachraum wurden bis in die 1970er-Jahre berufsunfähig
gewordene Menschen mit traumatischen Erlebnissen als Rentenneurotiker abqualifi-
ziert. Es wurde ihnen die Echtheit der berichteten Symptome abgesprochen und eine
Aggravationstendenz mit dem Wunsch nach finanzieller Entschädigung unterstellt
(„Kompensationsneurose“). Man ging von einer konstitutionellen Schwäche als Ursache
für psychische Störungen nach Extrembelastungen aus. Selbst bei den Opfern des Nazi-
Terrors wie etwa den KZ-Häftlingen, deren psychische Beschwerden eindeutige Folge
der traumatisierenden Umstände waren, verwendeten psychiatrische Gutachter mit Vor-
liebe Diagnosen wie „Neurasthenie“, „Psychasthenie“ und „psychovegetative Dysto-
nie“. Erst politische Entscheidungen führten später zu Entschädigungszahlungen [111].
Die Erforschung psychischer Störungen infolge traumatischer Kriegs- oder Internie-
rungserlebnisse erlahmte jeweils kurz nach beiden Weltkriegen, obwohl dabei interes-
sante Erkenntnisse gewonnen wurden. Bei zurückgekehrten Kriegsteilnehmern wurde
1945 in den USA eine Gefechtsneurose mit folgenden Symptomen diagnostiziert: inne-
re Unruhe, Aggressionen, Depressionen, Gedächtnisstörungen, Überaktivität des sym-
pathischen Nervensystems, Konzentrationsstörungen, Alkoholismus, Albträume, Phobi-
en und Misstrauen [112]. In den 1950er- und 1960er-Jahren begann man mit der Erfor-
schung der psychischen Folgen von Natur- und Industriekatastrophen (Brandkatastro-
phen, Gasexplosionen, Erdbeben, Tornados u.a.). Seit den 1970er-Jahren widmete man
sich in den USA intensiv der Untersuchung von Opfern sexueller und nichtsexueller
Gewalt. Später untersuchte man auch Traumata durch nötige medizinische Eingriffe.
Die Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung (engl. PTSD posttraumatic
stress disorder, d.h. posttraumatische Stressverarbeitungsstörung) ergab sich aus den
Untersuchungen an Vietnam-Kriegsteilnehmern in den USA. Sie wurde 1980 in das
DSM-III aufgenommen, u.a. auf Betreiben des Psychoanalytikers Mardi Horowitz
[113]. Die Störung findet sich im ICD-10 unter den „Reaktionen auf schwere Belastun-
gen und Anpassungsstörungen“. „Posttraumatisch“ bezeichnet den Zustand nach einer
schweren seelischen Verwundung (post = danach, trauma = seelische Verwundung).
Im Laufe der Erforschung dieser Störung wurde klar, dass die psychischen Syndro-
me, an denen die Opfer von Vergewaltigungen, häuslicher Gewalt und Inzest litten, den
Syndromen der Kriegsopfer entsprachen. Besonderen Anteil an dieser Entwicklung
hatte der erstarkende Feminismus in den USA in den 1970er-Jahren.
Judith Herman [114] stellt in ihrem lesenswerten Buch „Die Narben der Gewalt.
Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden“, das den Stand der Forschung
und der Therapie mit Opfern häuslicher, sexueller und politischer Gewalt zusammen-
fasst, lapidar fest: „Weibliche Hysterie und männliche Kriegsneurose sind das gleiche.“
128 Angststörungen

Symptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung


Laut DSM-IV besteht eine posttraumatische Belastungsstörung aus mindestens 6 von 17
Symptomen der Kriterien B-D nach einem traumatischen Ereignis (Kriterium A).
Kriterium A (Trauma) wird folgendermaßen definiert: Die Person hat direkt eine
Situation erlebt, die mit Tod, Todesandrohung, schwerer Verletzung oder einer anderen
Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit zu tun hat. Es können aber auch mehrere
persönlich erlebte Traumata sein. Als Trauma gilt nicht nur das Erleben der vitalen
Bedrohung der eigenen Person, sondern auch das Erleben einer ähnlichen Bedrohung
einer anderen Personen (meist eines Familienmitglieds oder eines nahe stehenden Men-
schen). Die Person hat auf die Bedrohung mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Ent-
setzen reagiert (Kinder können sich auch aufgelöst oder agitiert verhalten). Beispielhaft
genannt werden zahlreiche traumatische Erfahrungen: Krieg, gewalttätige Angriffe auf
die eigene Person (Vergewaltigung, körperlicher Angriff, Raubüberfall, Straßenüber-
fall), Entführung, Geiselnahme, Terroranschlag, Folterung, Kriegsgefangenschaft, Ge-
fangenschaft in einem Konzentrationslager, durch die Natur oder durch Menschen ver-
ursachte Katastrophen, schwere Autounfälle oder die Diagnose einer lebensbedrohli-
chen Krankheit. Bei Kindern gelten auch dem Entwicklungsstand unangemessene sexu-
elle Erfahrungen ohne angedrohte oder reale Gewalt als sexuelle Traumatisierung. Als
beobachtete traumatische Ereignisse werden beispielhaft angeführt: schwere Verletzung
oder unnatürlicher Tod einer anderen Person durch gewalttätigen Angriff, Unfall, Krieg
oder Katastrophen sowie der unerwartete Anblick eines toten Körpers oder eines toten
Körperteils. Als traumatisierend gelten auch bestimmte Schicksalsschläge bei anderen
Personen (speziell Familienmitgliedern oder nahe stehenden Menschen), von denen man
erfahren hat, beispielsweise schwere Unfälle oder Verletzungen, plötzlicher, unerwarte-
ter Tod oder lebensbedrohende Erkrankung des eigenen Kindes.
Die Kriterien B, C und D, die länger als einen Monat andauern und eine klinisch
relevante Beeinträchtigung zur Folge haben (Kriterien E und F), beschreiben die drei
zentralen längerfristigen Reaktionen auf das Trauma als Ausdruck dafür, dass die be-
troffene Person das traumatische Ereignis nicht erfolgreich verarbeiten konnte:
z Mindestens ein Symptom bezüglich des Wiedererlebens des traumatischen Erei-
gnisses: wiederkehrende, aufdringliche und belastende Erinnerungen an das Trauma
in Form von Bildern, Gedanken oder Wahrnehmungen (bei Kindern auch bestimmte
Spiele); wiederkehrende, belastende Träume vom Trauma; Handeln oder Fühlen wie
bei neuerlicher realer Konfrontation (dissoziierte Zustände: „Flashbacks“); intensive
psychische Belastung mit internalen oder externalen traumarelevanten Reizen; kör-
perliche Reaktionen angesichts internaler oder externaler traumarelevanter Reize.
z Mindestens drei Symptome einer anhaltenden Vermeidung von traumarelevanten
Reizen oder einer Abflachung der allgemeinen Reagibilität: bewusstes Vermeiden
traumarelevanter Gedanken, Gefühle, oder Gespräche; bewusstes Vermeiden trau-
marelevanter Aktivitäten, Orte oder Menschen; Unfähigkeit, wichtige Aspekte des
Traumas zu erinnern; deutlich verminderte wichtige Aktivitäten; Gefühl des Losge-
löstseins oder der Entfremdung von anderen; eingeschränkte Affektbreite (z.B. Un-
fähigkeit zu zärtlichen Gefühlen); Gefühle einer eingeschränkten Zukunft.
z Mindestens zwei anhaltende Symptome eines erhöhten Erregungszustands (Arou-
sals), die vor dem Trauma nicht vorhanden waren: Ein- oder Durchschlafstörung;
Reizbarkeit oder Wutausbrüche; Konzentrationsstörungen; übermäßige Wachsam-
keit (Hypervigilanz), übertriebene Schreckhaftigkeit.
Posttraumatische Belastungsstörung 129

Das DSM-IV [115] nennt im Detail folgende diagnostische Kriterien:

A. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden
Kriterien vorhanden waren:
(1) die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die
tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen
Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten.
(2) Die Reaktion der Person umfaßte intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen...

B. Das traumatische Ereignis wird beharrlich auf mindestens eine der folgenden Weisen wiedererlebt:
(1) wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die Bilder, Gedan-
ken oder Wahrnehmungen umfassen können...
(2) Wiederkehrende, belastende Träume von dem Ereignis...
(3) Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt (beinhaltet das Gefühl, das
Ereignis wiederzuerleben, Illusionen, Halluzinationen und dissoziative Flashback-Episoden,
einschließlich solcher, die beim Aufwachen oder bei Intoxikationen auftreten)...
(4) Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweis-
reizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte dessel-
ben erinnern.
(5) Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen,
die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erin-
nern.

C. Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind, oder eine Abflachung
der allgemeinen Reagibilität (vor dem Trauma nicht vorhanden).
Mindestens drei der folgenden Symptome liegen vor:
(1) bewußtes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Ver-
bindung stehen,
(2) bewußtes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma
wachrufen,
(3) Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern,
(4) deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten,
(5) Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen,
(6) eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu empfinden),
(7) Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z.B. erwartet nicht, Karriere, Ehe, Kinder oder normal
langes Leben zu haben).

D. Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens zwei der
folgenden Symptome liegen vor:
(1) Schwierigkeiten ein- oder durchzuschlafen,
(2) Reizbarkeit oder Wutausbrüche,
(3) Konzentrationsschwierigkeiten,
(4) übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz),
(5) übertriebene Schreckreaktion.

E. Das Störungsbild (Symptome unter Kriterium B, C und D) dauert länger als 1 Monat.

F. Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in


sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

Bestimme, ob:
Akut: Wenn die Symptome weniger als 3 Monate andauern.
Chronisch: Wenn die Symptome mehr als 3 Monate andauern.
Bestimme, ob
Mit Verzögertem Beginn: Wenn der Beginn der Symptome mindestens 6 Monate nach dem Bela-
stungsfaktor liegt.
130 Angststörungen

Das DSM-IV unterscheidet nach der Dauer der Symptome bzw. dem Zeitpunkt des
Störungseintritts drei Varianten der Beeinträchtigung:
z akut: weniger als 3 Monate lang,
z chronisch: mindestens drei Monate oder länger (bei ca. 40-50%),
z mit verzögertem Beginn: zwischen dem traumatischen Ereignis und dem Beginn der
Symptome sind mindestens 6 Monate vergangen (dies ist eher selten).

Nach dem ICD-10 handelt es sich bei der posttraumatischen Belastungsstörung um eine
verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation
von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß (kurz oder lang
anhaltend), die bei fast jedem Menschen eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.
Beispielhaft angeführt werden folgende Traumata: durch die Natur oder durch Men-
schen verursachte Katastrophen, Kampfhandlungen, schwerer Unfall, Zeuge des ge-
waltsamen Todes anderer oder selbst Opfer von Folterung, Terrorismus, Vergewalti-
gung oder anderen Verbrachen zu sein. Von besonderer Bedeutung und Tragweite ist
der Umstand, dass auch nach dem ICD-10 Angehörige und Bekannte der Betroffenen
sowie sonstige Zeugen eines traumatischen Geschehens eine posttraumatische Bela-
stungsstörung entwickeln können. Prämorbide Persönlichkeitsfaktoren oder neurotische
Vorerkrankungen können eine posttraumatische Belastungsstörung laut ICD-10 zwar
begünstigen und verstärken, jedoch nicht entscheidend bewirken. Die frühere Annahme,
dass die Entwicklung dieser Störung nur bei Personen mit bereits prämorbider psychi-
scher Auffälligkeit (z.B. mit emotionaler Labilität, neurotischen, affektiven oder schi-
zophrenen Beeinträchtigungen) vorkommt, gilt als widerlegt. Es besteht heute ein Kon-
sens darüber, dass die Störung auch bei früher psychisch stabilen Personen auftreten
kann, wenn diese außergewöhnlich belastenden Situationen ausgesetzt sind.
Zentrale Merkmale der posttraumatischen Belastungsstörung sind nach den klinisch-
diagnostischen Leitlinien des ICD-10 folgende Symptome: wiederholtes unausweichli-
ches Wiedererleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinne-
rungen, „Flashbacks“), Träumen oder Tagträumen, andauernde Gefühle von Betäubt-
sein und emotionaler Abgestumpftheit (Gefühlsabstumpfung), emotionaler Rückzug,
Gleichgültigkeit gegenüber anderen, Teilnahmslosigkeit der Umwelt gegenüber, Freud-
losigkeit (Anhedonie), Vermeidung von traumarelevanten Aktivitäten und Situationen,
Furcht vor oder Vermeidung von Stichworten, die an das ursprüngliche Trauma erin-
nern könnten, manchmal auch dramatische Ausbrüche von Angst, Panik oder Aggressi-
on infolge des plötzlichen Erinnerns und intensiven Wiedererlebens des Traumas oder
der ursprünglichen Reaktion darauf, weiters vegetative Übererregtheit mit erhöhter
Vigilanz, übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlafstörung. Weitere Symptome wie
Angst, Depression, Selbstmordgedanken, Drogeneinnahme und übermäßiger Alkohol-
konsum können das Störungsbild verschärfen.
Die Störung entwickelt sich oft nicht sofort nach dem traumatischen Erlebnis, wie
dies bei einer akuten Belastungsreaktion oder einer Anpassungsstörung der Fall ist,
sondern häufig erst Wochen bis Monate später, doch selten später als sechs Monate
nach dem Trauma. Die Feststellung des ICD-10, dass eine posttraumatische Belastungs-
störung verzögert, jedoch gewöhnlich innerhalb von sechs Monaten nach einem trauma-
tischen Ereignis von außergewöhnlicher Schwere auftritt (wenngleich nicht näher spezi-
fizierte Ausnahmen zugestanden werden), vernachlässigt den Umstand, dass bei zahl-
reichen Personen der Ausbruch der Störung erst nach Jahren eintritt, z.B. bei vergewal-
tigten Frauen, die das Ereignis jahrelang aus der Erinnerung verdrängt haben.
Posttraumatische Belastungsstörung 131

Nach den präziseren ICD-10-Forschungskriterien umfasst die posttraumatische Be-


lastungsstörung – wie nach dem DSM-IV – drei zentrale Symptomgruppen:
1. aufdringliches Wiedererleben: das Trauma wird als gegenwärtig wiedererinnert;
2. Vermeidung traumarelevanter Reize oder emotionale Erstarrung: Vermeidung trau-
mabezogener Situationen und Erinnerungen oder emotionale Abspaltung;
3. Amnesie oder chronische Übererregtheit (körperlich, emotional, kognitiv): Hypera-
rousal, ständige körperliche Mobilisierung.

Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [116] ist eine posttraumatische Belastungs-
störung (F43.1) folgendermaßen definiert:

A. Die Betroffenen waren einem kurz- oder langdauernden Ereignis oder Geschehen von außerge-
wöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgrei-
fende Verzweiflung auslösen würde.

B. Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinne-


rungen (Flash-backs), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch innere Be-
drängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen.

C. Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang stehen, werden tatsächlich
oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Erlebnis.

D. Entweder 1. oder 2.

1. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an einige wichtige Aspekte der Belastung zu er-
innern.
2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden
vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale:
a. Ein- und Durchschlafstörungen
b. Reizbarkeit oder Wutausbrüche
c. Konzentrationsschwierigkeiten
d. Hypervigilanz
e. erhöhte Schreckhaftigkeit

E. Die Kriterien B., C. und D. treten innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis oder
nach Ende einer Belastungsperiode auf. (Aus bestimmten Gründen kann ein späterer Beginn be-
rücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben werden).

Dissoziative Symptome fehlen im ICD-10 ebenso wie im DSM-IV, wo sie nur bei der
akuten Belastungsstörung angeführt sind. Nach den ICD-10-Forschungskriterien ist
Angst kein obligates Diagnosekriterium (Schreckhaftigkeit ist nur ein mögliches Sym-
ptom), weshalb die posttraumatische Belastungsstörung – anders als DSM-IV – nicht
als Angststörung, sondern als Reaktion auf eine schwere Belastung (Gruppe F43) gilt.
Im Vergleich zum ICD-10 sind die Kriterien für eine posttraumatische Belastungs-
störung im DSM-IV vor allem durch die Symptomgruppe C und F viel enger gefasst,
was erhebliche Auswirkungen auf die angenommene Häufigkeit in der Bevölkerung hat.
Bei einer Untersuchung an einer großen Stichprobe wiesen nach den ICD-10-Kriterien
7% der Untersuchten, nach den DSM-IV-Kriterien dagegen nur 3% eine posttraumati-
sche Belastungsstörung auf. Zwischen beiden Diagnoseschemata bestand nur eine
Übereinstimmung von 35%. Die Häufigkeit der Störung wird also nach dem ICD-10
überschätzt (keine Mindestzeitdauer der Störung und kein bestimmtes Beeinträchti-
gungsausmaß), nach dem DSM-IV dagegen unterschätzt (vor allem bei Kindern).
132 Angststörungen

DSM-IV und ICD-10 implizieren durch die jeweils angeführten Symptome, dass
eine posttraumatische Belastungsstörung und deren Ausmaß nicht allein durch das
Trauma an sich definiert ist, sondern vielmehr auch durch die subjektive Reaktion dar-
auf, die auf die unzureichende Verarbeitungsfähigkeit der betroffenen Person hinweist
(z.B. intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen). Traumatisierend wirkt zudem nicht
nur die Bedrohung der körperlichen Integrität, sondern auch die Bedrohung der funda-
mental menschlichen Erfahrung, eine autonom handelnde und denkende Person zu sein.
Das Sich-Aufgeben und der Verlust jeglicher Autonomie in der Zeit der traumatischen
Erfahrung stellen nach neueren Erkenntnissen an vergewaltigten oder inhaftierten Men-
schen – unabhängig von der Lebensbedrohung – verschärfende Belastungsfaktoren dar,
was zukünftig stärker berücksichtigt werden sollte.
Bei Holocaust-Überlebenden ist die posttraumatische Symptomatik als „survivor
syndrome“ bekannt und besteht aus einer Mischung von chronischer Angst, depressiv-
dysphorischer Stimmung, Schuld- und Schambefühlen bezüglich des Überlebens, psy-
chosomatischen Symptomen, Hypervigilanz, Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung
und bleibenden Persönlichkeitsveränderungen. Das Verhalten der Betroffenen ist der
Grund, warum sich die traumatischen Erfahrungen der Nazi-Opfer nachweislich oft bis
in die zweite Generation, d.h. bis auf die Kinder, auswirken.
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung reichen Schrecken und Terror bis in
die neuronalen Gehirnstrukturen hinein und bilden ein schwer löschbares „molekulares
Angstgedächtnis“, dessen Grundlage in mediobasalen Schläfenlappenstrukturen (Hip-
pocampus und Amygdala) zu suchen ist. Diese Hirnregionen üben eine Kontrolle über
die vegetativen und endokrinen Zentren von Hypothalamus und Hypophyse aus, was
die oft nur mühsame Veränderbarkeit der Symptome durch Pharmako- oder Psychothe-
rapie erklärt. Lerntheoretisch ausgedrückt, kommt es bei einer posttraumatischen Bela-
stungsstörung trotz häufiger Konfrontation zu keiner Gewöhnung (Habituation). Erfolg-
reiche Behandlungskonzepte bewirken während der Angst aktivierenden Konfrontation
mit den Ereignissen in Verbindung mit kognitiven Strategien eine Neuformierung der
Erinnerung durch die Hinzufügung hilfreicher Elemente, z.B. durch die Entwicklung
neuer Sichtweisen des Traumas in einem anderen, umfassenderen Kontext.
Wenn die Grundstörung von Fachleuten nicht erkannt bzw. von den Betroffenen
nicht berichtet wird, erhalten traumatisierte Personen nach wie vor oft eine Diagnose,
die mit den Folgen dieser Störung zusammenhängt (depressive Anpassungsstörung,
Alkoholmissbrauch, Verhaltensstörung, Somatisierungsstörung, dissoziative Störung,
Borderline-Persönlichkeitsstörung). Das häufige Fehlen einer spezifischen Therapie
trägt zur weiteren Chronifizierung der Störung bei. Im Vergleich zu früher hat sich
jedoch bereits eine wesentliche Verbesserung ergeben; dies gilt sowohl für die therapeu-
tischen Angebote als auch für die ansteigende Zahl an Selbsthilfebüchern.
In der Literatur findet man je nach Betrachtungsaspekt der posttraumatischen Bela-
stungsstörung verschiedene Einteilungsgesichtspunkte, sodass im Folgenden näher
daraus eingegangen wird. Man unterscheidet nach der Nähe zum traumatischen Erlebnis
zwischen drei Arten von Opfern, was vor allem im Rahmen von Zivilgerichtsverfahren
bei Forderungen nach finanzieller Kompensation (Schmerzensgeld), Übernahme von
Therapiekosten und der psychiatrischen Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit (z.B. von
Zeugen, Helfern oder Verwandten) von erheblicher Bedeutung ist:
z Primäropfer: Betroffene,
z Sekundäropfer: Zeugen, Einsatzkräfte,
z Tertiäropfer: Angehörige, Freunde, Bekannte.
Posttraumatische Belastungsstörung 133

Nach neueren Studien unterscheidet man zwei unterschiedliche Reaktionsmuster:


z Hyperarousal-Typ: körperliche, emotionale und kognitive Übererregung bei Wie-
dererinnerung an das Trauma oder Konfrontation mit traumarelevanten Reizen;
z Dissoziations-Typ: Abspaltung als Schutzmechanismus vor Übererregung.

Wegen der unterschiedlichen Folgen hat sich eine Einteilung nach zufälligen versus
menschlich verursachten Traumata bewährt:
z Zufällige Traumata: Katastrophen, berufsbedingte und Unfalltraumata (Natur- und
Technikkatastrophen, berufsbedingte und Arbeitsunfälle, Verkehrsunfälle).
z Menschlich verursachte Traumata: Körperliche und sexuelle Gewalt in Kindheit,
Jugend oder Erwachsenenalter, Kriegserlebnisse, Folter, politische Inhaftierung,
Geiselhaft und andere menschlich verursachte, gezielt gesetzte Traumata wirken
sich viel verheerender auf die Persönlichkeit der Betroffenen aus als andere Trauma-
ta und begünstigen eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung.

Nach der Auftretenshäufigkeit kann man zwei Arten von Traumata unterscheiden:
z Kurz dauernde, einmalige traumatische Erfahrung (Monotrauma, Typ-I-Trauma),
meist gekennzeichnet durch akute Lebensgefahr, Plötzlichkeit und Überraschung:
Naturkatastrophen, technische Katastrophen, Überfall, Vergewaltigung, Unfall,
Schusswechsel. Dies entspricht dem Störungsbild nach ICD-10 und DSM-IV.
z Lange dauernde bzw. wiederholte traumatische Erfahrungen (Multitraumata, auch
Typ-II-Traumata genannt), charakterisiert durch Serien verschiedener traumatischer
Einzelerlebnisse und geringe Vorhersagbarkeit der weiteren traumatischen Ereignis-
se: Krieg, Geiselhaft, KZ-Haft, mehrfache Folter, jahrelanger sexueller Missbrauch,
ständige körperliche Misshandlung. Multitraumata begünstigen eine so genannte
komplexe posttraumatische Belastungsstörung, die in den gegenwärtigen Diagnose-
schemata leider noch nicht vorkommt.

Die Fülle traumatischer Erfahrungen kann man folgendermaßen differenzieren:


z Individuelle Gewalt: ständige körperliche Misshandlung als Kind, einmalige oder
mehrfache sexuelle Gewalt, als Kind ständiger Zeuge von Gewalt in der Familie,
Verbrechen wie z.B. Banküberfall, Entführung, Geiselhaft, versuchter Raubmord,
Körperverletzung, Misshandlung, Folterung, angedrohte Ermordung.
z Kollektive Gewalt: Erfahrung von Krieg, Kampfhandlungen oder Terrorismus,
Kriegsverwundung (Abschuss als Pilot, Explosion einer Granate), Aufenthalt im
Luftschutzkeller bei Fliegeralarm, gewaltsame Entwurzelung (Verschleppung, Ver-
folgung, Vertreibung), unmenschliche Haftbedingungen (Konzentrationslager, poli-
tisch motivierte Haft), Aussteiger aus Sekten.
z Naturkatastrophen: Großbrand, Blitzschlag, Überschwemmung, Dammbruch, Berg-
rutsch, Grubenunglück, Lawinenunglück, Erdbeben, Vulkanausbruch, Tornados.
z Technikkatastrophen: Zeuge oder Beteiligter an einem schweren Autounfall, Eisen-
bahn-, Schiffs- oder Flugzeugunglück, Explosion, Arbeitsunfall, Chemieunfall,
Giftgasunfall, Kabelbrand mit Ausbrennen einer Fabrik.
z Berufsbedingte Unfälle: traumatische Erfahrungen im Rahmen der Tätigkeit bei
Militär, Polizei, Feuerwehr und Rettung.
z Körperliche oder psychische Extrembelastungen: schwere Verbrennungen oder
Schmerzzustände, Gehirnblutung, überlebter Herzstillstand, schwerer allergischer
Schock, Knochenmarkstransplantation, lebensbedrohliche Erkrankung.
134 Angststörungen

Die Etablierung der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung als psy-


chophysische Langzeitfolge eines Extremstressereignisses war sehr bedeutsam, bei der
Überarbeitung der aktuellen Diagnoseschemata sollten jedoch folgende Aspekte und
Kritikpunkte berücksichtigt werden, die auch therapeutische Relevanz haben [117]:
1. Gegenwärtig ist das Krankheitsbild zu eng verbunden mit bestimmten Symptomen
als Folge umschriebener Ereignisse wie Vergewaltigung, Naturkatastrophen und
Krieg, während die Langzeitfolgen von stark traumatisierenden, länger dauernden
Erlebnissen in Kindheit und Jugend sowie von Folter, Konzentrationslagerhaft und
anderen einschneidenden Lebensumständen nicht ausreichend gewürdigt werden.
Die fehlende Unterscheidung zwischen einmaliger und wiederholter Traumatisie-
rung unterschätzt die teilweise unterschiedlichen Folgeerscheinungen.
2. Der Aspekt der realen oder potenziellen Lebensbedrohung steht zu sehr im Mittel-
punkt der gegenwärtigen Definition der posttraumatischen Belastungsstörung.
3. Die fehlende Unterscheidung zwischen Traumata, die durch Menschen absichtlich
verursacht wurden (Vergewaltigung, Folter, körperliche oder sexuelle Gewalt) und
Traumata, die nicht bzw. nicht absichtlich durch Menschen bewirkt wurden (z.B.
Naturkatastrophen, Verkehrsunfall, Chemieunfall), vernachlässigt den Aspekt der
traumatisierenden sozialen und gesellschaftlichen Umstände und individualisiert das
Opfer. Die Störung wird zu einer rein individuellen Reaktion der Betroffenen, wäh-
rend der gesellschaftliche Kontext im Hintergrund bleibt.
4. Die längerfristigen psychischen und körperlichen Folgen sind vielfältiger, als in den
diagnostischen Kriterien zum Ausdruck kommt. Bei Menschen mit einer posttrau-
matischen Belastungsstörung treten oft auch folgende Störungen auf: akute post-
traumatische Belastungsstörung, depressive Störungen, dissoziative Störungen, so-
matoforme Störungen, Persönlichkeitsstörungen (vor allem die Borderline-Persön-
lichkeitsstörung), Essstörungen, Angststörungen, Substanzmissbrauch und körperli-
che Erkrankungen. Dissoziative, somatoforme und depressive Symptome kommen
so häufig vor, dass dies zukünftig stärker berücksichtigt werden muss.
5. Die meisten Betroffenen weisen unmittelbar nach dem traumatischen Erlebnis meist
auch eine akute Belastungsstörung auf und reagieren nicht erst verzögert.
6. Es fehlen Kriterien für eine subsyndromale oder partielle posttraumatische Bela-
stungsstörung. Viele Opfer traumatischer Erfahrungen mit klinisch relevanten Sym-
ptomen (z.B. essgestörte, somatoforme oder depressive Patienten) entwickeln nach
neueren Studien nicht das Vollbild der gegenwärtig definierten Störungskategorie
(zumindest nach dem DSM-IV) und müssen von einer entsprechenden Diagnose
ausgeschlossen werden, weil sie nicht alle drei charakteristischen Merkmale (Intru-
sion, Übererregung und Vermeidung) aufweisen. Oft fehlt das Merkmal der Ver-
meidung, obwohl die Betroffenen erheblich unter posttraumatischen Störungen lei-
den. Das C-Kriterium nach dem DSM-IV sollte zudem von drei auf zwei Symptome
reduziert werden, damit auch die gegenwärtig als subklinisch zu bezeichnenden
Syndrome berücksichtigt werden können. Das ICD-10 ist lockerer und realistischer.
7. Die Zusammenfassung der Merkmale „Vermeidung traumarelevanter Reize“ und
„Abflachung der emotionalen Reagibilität“ zu einem einigen Punkt, wie dies im
DSM-IV bei Kriterium C der Fall ist, gilt als umstritten, denn es handelt sich dabei
um sehr unterschiedliche Sachverhalte.
8. Umstritten ist auch die Zuordnung der Störung: Das DSM-IV zählt die Störung zu
den Angststörungen, das ICD-10 zur Kategorie „F43 Reaktionen auf schwere Bela-
stungen und Anpassungsstörungen“.
Posttraumatische Belastungsstörung 135

Trauma-Störungen nach DSM-IV und ICD-10 sind einfache (monokausale) posttrauma-


tische Belastungsstörungen. Komplexe (multitraumatische) posttraumatische Bela-
stungsstörungen umfassen neben den vier erstgenannten Kernsymptomen zahlreiche
weitere Symptome, entweder als typische Merkmale oder im Sinne einer Komorbidität:
z Intrusionen: wiederholtes Erleben des Traumas in plötzlich sich aufdrängenden
Erinnerungen (Flashbacks, d.h. Rückblenden), Tagträumen oder Albträumen mit
Wiedererlebensängsten (fortwährende Angst, das Ereignis könnte sich wiederholen).
z Vermeidungsreaktionen: Vermeidung traumarelevanter Aktivitäten und Situationen;
Furcht vor und Vermeidung von Stichworten, Vorstellungen oder Gefühlen, die den
Betroffenen an das ursprüngliche Trauma erinnern könnten.
z Emotionale Taubheit: emotionale Abgestumpftheit, ständiges Gefühl von Betäubt-
sein, emotionaler Rückzug, allgemeine Lustlosigkeit als Schutz vor Überforderung.
z Hypervigilanz: ständige übermäßige Wachsamkeit gegenüber allen möglichen Rei-
zen und häufige Schlaflosigkeit (Ein- und Durchschlafstörung).
z Störungen der Affektregulation: akute und dramatische Ausbrüche von Angst, Panik
oder Aggression, ausgelöst durch ein plötzliches Erinnern und intensives Wiederer-
leben des Traumas oder der ursprünglichen Reaktion darauf; impulsive und risiko-
reiche Verhaltensweisen; ausgeprägte Stimmungsinstabilität; depressive Symptoma-
tik, oft verbunden mit Selbstmordgedanken, Selbstbeschädigung, Selbstvorwürfen,
Schuldgefühlen und Störungen der fokussierten Aufmerksamkeit.
z Dissoziative Störungen: dissoziative Amnesie (Vergessen des traumatischen Erleb-
nisses oder bestimmter Aspekte davon), Depersonalisation/Derealisation, Lähmung.
z Somatoforme Störungen: ständige psychovegetative Übererregbarkeit (Herzrasen,
Schweißausbrüche, Kreislauflabilität, Zittern, Übelkeit, Kopfschmerzen, Hyperven-
tilation u.a.), Somatisierungsstörungen, somatoforme Schmerzstörungen.
z Angststörungen: Panikattacken, Sozialphobie, generalisierte Angststörung, Ago-
raphobie, spezifische Phobien, übermäßige Schreckhaftigkeit, chronische Angst.
z Substanzmissbrauch: Missbrauch von Alkohol, Medikamenten oder Drogen.
z Essstörungen: vor allem Bulimia nervosa, manchmal auch Anorexia nervosa.
z Zwangsstörungen: Entwicklung von Kontrollzwängen zur Angstbewältigung (Kon-
trolle von Türschlössern und Fenstern aus Angst vor Eindringlingen).
z Gestörte Wahrnehmung des Täters: übermäßige Beschäftigung mit der Person des
Täters, unrealistische Einschätzung des Täters als allmächtig, Idealisierung, parado-
xe Dankbarkeit, Mitleid mit dem Täter, positive Beziehung (Stockholm Syndrom).
z Soziale Beziehungsstörung: Rückzug aus sozialen Bindungen, zukünftige Einnahme
einer Opfer- oder Täterrolle, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Ent-
fremdung von den Angehörigen, zwischenmenschliche Konflikte als Folge der
Vermeidung sozialer oder sexueller Aktivitäten, die an das Trauma erinnern.
z Verlust des Selbstwertgefühls: Minderwertigkeitsgefühle, Identitätsprobleme.
z Resignation: Gefühl einer Zukunft ohne Erwartung und Hoffnung.
z Sinn- und Werteverlust: Verlust der bisherigen Sinn- und Wertvorstellungen.
z Funktionelle Sexualstörungen bei Vergewaltigungsopfern.
z Leistungsstörungen: Konzentrationsstörungen, Beeinträchtigung der beruflichen
oder schulischen Leistungsfähigkeit bis zur Arbeitsunfähigkeit.
z Andauernde, irreversible Persönlichkeitsveränderung nach dem Trauma: sozialer
Rückzug und Feindseligkeit bzw. Misstrauen gegenüber der Welt, Hoffnungslosig-
keit, ständige Nervosität durch das Gefühl dauernder Bedrohtheit, Entfremdung.
z Persönlichkeitsstörungen: z.B. Ausprägung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.
136 Angststörungen

Judith Herman, die renommierte amerikanische Traumaexpertin und Aktivistin bei der
amerikanischen Frauenbewegung, hat 1992 in ihrem empfehlenswerten Buch „Die
Narben der Gewalt“ für komplexe, menschlich verursachte und wiederholt gesetzte
Traumatisierungen, die mit Affektregulationsstörungen, Bewusstseinsstörungen (Disso-
ziation und Amnesie, Somatisierungsstörungen, gestörter Wahrnehmung des Täters und
der eigenen Person und Störungen des persönlichen Wertesystems einhergehen, den
(heute noch immer nicht offiziellen) Begriff der „komplexen posttraumatischen Bela-
stungsstörung“ vorgeschlagen und folgendermaßen definiert [118]:

1. Der Patient war über einen längeren Zeitraum (Monate bis Jahre) totalitärer Herrschaft unterwor-
fen, wie zum Beispiel Geiseln, Kriegsgefangene, Überlebende von Konzentrationslagern oder Aus-
steiger aus religiösen Sekten, aber auch Menschen, die in sexuellen oder familiären Beziehungen
totale Unterdrückung erlebten, beispielsweise von Familienangehörigen geschlagen, als Kinder
physisch missbraucht wurden oder von organisierten Banden sexuell ausgebeutet wurden.

2. Störungen der Affektregulation, darunter


- anhaltende Dysphorie
- chronische Suizidgedanken
- Selbstverstümmelung
- aufbrausende oder extrem unterdrückte Wut (eventuell alternierend)
- zwanghafte oder extrem gehemmte Sexualität (eventuell alternierend)

3. Bewußteinsveränderungen, darunter
- Amnesie oder Hypermnesie, was die traumatischen Ereignisse anbelangt
- zeitweilig dissoziative Phasen
- Depersonalisation/Derealisation
- Wiederholung des traumatischen Geschehens, entweder als intrusive Symptome der post-
traumatischen Belastungsstörung oder als ständige grüblerische Beschäftigung

4. Gestörte Selbstwahrnehmung, darunter


- Ohnmachtsgefühle, Lähmung jeglicher Initiative
- Scham- und Schuldgefühle, Selbstbezichtigung
- Gefühl der Beschmutzung und Stigmatisierung
- Gefühl, sich von anderen grundlegend zu unterscheiden (der Patient ist etwa überzeugt, etwas
ganz Besonderes zu sein, fühlt sich mutterseelenallein, glaubt, niemand könne ihn verstehen
oder nimmt eine nichtmenschliche Identität an)

5. Gestörte Wahrnehmung des Täters, darunter


- ständiges Nachdenken über die Beziehung zum Täter (auch Rachegedanken)
- unrealistische Einschätzung des Täters, der für allmächtig gehalten wird (Vorsicht: Das Opfer
schätzt die Machtverhältnisse eventuell realistischer ein als der Arzt)
- Idealisierung oder paradoxe Dankbarkeit
- Gefühl einer besonderen oder übernatürlichen Beziehung
- Übernahme des Überzeugungssystems oder Rationalisierungen des Täters

6. Beziehungsprobleme, darunter
- Isolation und Rückzug
- gestörte Intimbeziehungen
- wiederholte Suche nach einem Retter (eventuell alternierend mit Isolation und Rückzug)
- anhaltendes Misstrauen
- wiederholt erfahrene Unfähigkeit zum Selbstschutz

7. Veränderung des Wertesystems, darunter


- Verlust fester Glaubensinhalte
- Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung
Posttraumatische Belastungsstörung 137

Das Konzept der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung wurde leider nicht in


das DSM-IV übernommen. Es gibt jedoch die Kategorie „Störungen durch extremen
Stress, die nicht anderweitig spezifiziert sind“ in einem eigenen Abschnitt als „assozi-
ierte Merkmale und Störungen“. Diese als DESNOS (disorders of extreme stress not
otherwise specified) bezeichneten Störungen bestehen aus folgenden Merkmalen [119]:

A. Störungen der Regulierung des affektiven Erregungsniveaus


(1) chronische Affektdysregulation
(2) Schwierigkeiten, Ärger zu modulieren
(3) selbstdestruktives und suizidales Verhalten
(4) Schwierigkeit, sexuelles Kontaktverhalten zu modulieren
(5) impulsive und risikoreiche Verhaltensweisen

B. Störungen der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins


(1) Amnesie
(2) Dissoziation

C. Somatisierung

D. Chronische Persönlichkeitsveränderungen
(1) Änderung in der Selbstwahrnehmung: chronische Schuldgefühle; Selbstvorwürfe; Gefühle,
nichts bewirken zu können: Gefühle, fortgesetzt geschädigt zu werden
(2) Änderungen in der Wahrnehmung des Schädigers: verzerrte Einstellungen und Idealisierung
des Schädigers
(3) Veränderung der Beziehung zu anderen Menschen:
(a) Unfähigkeit zu vertrauen und Beziehungen mit anderen aufrechtzuerhalten
(b) die Tendenz, erneut Opfer zu werden
(c) die Tendenz, andere zum Opfer zu machen

E. Veränderungen in Bedeutungssystemen
1. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit
2. Verlust der bisherigen Lebensüberzeugungen

Die DESNOS-Kriterien und das Konzept der komplexen posttraumatischen Persönlich-


keitsstörung entsprechen im ICD-10 nur teilweise (weil zahlreiche Symptome fehlen)
der Diagnose einer „andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastungen“
(F62.0), die als chronische und irreversible Folge einer nicht oder nicht ausreichend
bewältigten posttraumatischen Belastungsstörung anzusehen ist [120]:

„Die Persönlichkeitsänderung muss andauernd sein und sich in unflexiblem und unangepaßtem Verhal-
ten äußern, das zu Beeinträchtigungen in den zwischenmenschlichen, sozialen und beruflichen Bezie-
hungen führt. Die Persönlichkeitsänderung sollte fremdanamnestisch bestätigt werden.
Zur Diagnosestellung müssen folgende, zuvor nicht beobachtete Merkmale vorliegen:
1. Eine feindliche oder misstrauische Haltung der Welt gegenüber.
2. Sozialer Rückzug.
3. Gefühle der Leere oder Hoffnungslosigkeit.
4. Ein chronisches Gefühl von Nervosität wie bei ständigem Bedrohtsein.
5. Entfremdung.

Die Persönlichkeitsänderung muss über mindestens zwei Jahre bestehen und nicht auf eine vorher
bestehende Persönlichkeitsstörung oder auf eine andere psychische Störung außer einer posttraumati-
schen Belastungsstörung (F43.1) zurückzuführen sein. Eine schwere Schädigung oder Erkrankung des
Gehirns, die gleiche klinische Bilder verursachen kann, muß ausgeschlossen werden.“
138 Angststörungen

Zwei Beispiele sollen typische posttraumatische Belastungsstörungen veranschaulichen.


Dabei werden ein tragischer Verkehrsunfall und eine Vergewaltigung ausgewählt.

Ein 37-jähriger Pharmareferent hat auf dem Rückweg von einem Kunden spätabends auf regennasser
Fahrbahn einen Verkehrsunfall. Sekundenschlaf aus Übermüdung, dazu noch bei hoher Geschwindig-
keit. Als er aufwacht, ist es schon zu spät: sein Auto rammt die rechte Leitplanke, rast ungebremst die
15 Meter hohe Böschung hinunter, überschlägt sich und bleibt schließlich mit verformten Seitenteilen
stehen. Er ist eingeklemmt und kann sich selbst nicht befreien, hat Schmerzen am ganzen Körper, vor
allem im Bereich der Brust, und bleibt durchgehend bei vollem Bewusstsein. Er spürt, daß er verletzt
ist, sieht es aber in der Dunkelheit nicht. Er weiß nur: Schreien ist sinnlos, zu abgelegen ist dieses Stück
Landstraße und kaum frequentiert. Er steht Todesängste aus, fühlt sich von Gott und der Welt verlassen
und hat keinen Zugriff zum rettenden Handy. Er fürchtet zu verbluten oder zu erfrieren, denn es ist an
jenem Dezembertag empfindlich kalt. Erst am frühen Morgen bemerkt ihn ein LKW-Fahrer, der Poli-
zei, Feuerwehr und Rettung verständigt. Er muss aus dem Auto herausgeschnitten werden und wird in
das nächste Krankenhaus gebracht. Dort wird festgestellt, daß er neben einem Bruch des rechten Fußes,
einem Bluterguss und verschiedenen Hautabschürfungen keine weiteren Verletzungen erlitten hat. Am
Tag nach dem Unfall verstärken sich im Krankenhaus die Schmerzen im Bereich der Brust, der Schul-
tern und der Halswirbelsäule. Drei Wochen nach der Entlassung kann er abends tagelang nicht einschla-
fen: Sobald er die Augen schließt, hat er die Bilder des schrecklichen Unfalls vor sich. Ein wenig Ab-
hilfe bringt es, auch nachts das Licht anzulassen. Bald aber überfallen ihn die furchtbaren Erinnerungen
an den Unfall auch tagsüber. Er muss immer wieder daran denken, wie er hilflos im Auto eingeklemmt
war und Angst vor diesem einsamen Tod hatte. Als er nach der Gipsabnahme wieder Auto fahren kann,
kommt er drei Tage später an der Unfallstelle vorbei und wird neuerlich durch heftige Erinnerungen
aufgeschreckt. Von da an fürchtet er sich permanent vor einem neuerlichen Unfall und schafft es kaum
mehr, in der Dunkelheit Auto zu fahren. Wenig später kann er nicht einmal mehr tagsüber in den Wa-
gen steigen, weil er sofort wieder Schmerzen bekommt und den Gurt nicht mehr anlegen kann – aus
Angst, dieser könnte das Engegefühl in der Brust noch verstärken. Auch die früher heiß geliebten
Autorennen im Fernsehen bereiten ihm nun kein Vergnügen mehr. Im Gegenteil: völlig unfähig Auto
zu fahren, bekommt er auch bald Probleme im Beruf, die in extreme Existenzängste münden. Beruhi-
gungsmittel helfen ihm zwar vorübergehend tagsüber und abends beim Einschlafen, beeinträchtigen
jedoch die Fahrtüchtigkeit, sodass diese Mittel nicht infrage kommen, schon auch wegen des langfristig
abhängig machenden Effekts. Wegen Verdachts auf eine Depression schickt ihn sein Hausarzt zu einem
Psychiater, der eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.

Eine 18-jährige Verkäuferin nimmt an der Geburtstagsfeier eines Arbeitskollegen teil, der eine Gruppe
von jungen Erwachsenen in seine Wohnung eingeladen hat. Im Laufe der Nacht fahren immer mehr
Teilnehmer nach Hause, bis nur mehr die Verkäuferin, der Gastgeber und dessen Freund übrig bleiben.
Sie hat kein Auto und erhält daher das Angebot, in einem leer stehenden Zimmer zu übernachten, bis
sie in der Früh mit dem Bus nach Hause fahren kann. Als sich die junge Frau in das angebotene Zim-
mer zurückziehen will, wird sie von den beiden Männern sexuell belästigt. Sie wehrt sich anfangs,
bemerkt jedoch bald, dass sie keine Chance hat. Der Freund des Gastgebers wollte die junge Frau schon
seit längerem gerne zur Freundin haben, doch sie hatte stets abgelehnt mit dem Hinweis, dass sie bereits
einen Freund habe. Als er erkennt, dass sie auch jetzt noch immer keine engere Beziehung mit ihm
möchte, stürzt er sich auf sie, küsst sie, reißt ihr die Kleider vom Leib und vergewaltigt sie, während
der Gastgeber sie anfangs festhält. Sie will schreien, doch sie bringt kein Wort heraus. Der Gastgeber
macht Fotos von der Vergewaltigung, um ihr späteres Schweigen zu erpressen, und vergewaltigt sie
anschießend ebenfalls auf noch brutalere Weise. Sie lässt alles wie gelähmt über sich ergehen und ist
schließlich froh, als beide das Zimmer verlassen. In der Früh fährt sie wortlos nach Hause und duscht
sich im Bad zwei Stunden lang; es ekelt ihr vor ihr selbst. Beim täglichen Schlafengehen benötigt sie
ein wenig Licht, weil sie sich vor dem Finstern fürchtet, wo ihre Erinnerungen so lebendig werden, als
würden die schrecklichen Ereignisse neuerlich stattfinden. Sie kann mit ihrem Freund, den sie seit
einigen Monaten kennt, keine sexuelle Beziehung mehr eingehen, weil sie dabei an die Vergewaltigung
erinnert würde. Andererseits kann sie abends ohne ihn kaum einschlafen, weil sie fürchtet, es könnte ihr
jemand in der Nacht wieder etwas antun, obwohl sie weiß, dass niemand in die Wohnung gelangen
kann. Sicherheitshalber sperrt sie das Schlafzimmer ab und schließt auch im Sommer stets das Fenster
aus Angst vor Einbrechern. Sie kann sich auch keine Filme mit sexuellen Szenen mehr anschauen.
Posttraumatische Belastungsstörung 139

Epidemiologie, Verlauf und Folgen der


posttraumatischen Belastungsstörung
Epidemiologische Feldstudien

Eine posttraumatische Belastungsstörung kommt bei 2-8% der Bevölkerung im Laufe


des Lebens vor (unterschiedliche Daten je nach Diagnosekriterien, erfragter Traumata,
Land und Befragungsgruppe). Unter Berücksichtigung der partiellen posttraumatischen
Belastungsstörungen (nicht alle Kernsymptome vorhanden), der komplexen posttrauma-
tischen Belastungsstörungen und der subklinischen Leidenszustände ergibt sich eine
noch höhere Lebenszeithäufigkeit. Je nach Studie entwickelt sich bei 10-25 % der Per-
sonen, die ein Trauma erleben, eine posttraumatische Belastungsstörung.
Die umfangreichsten, sehr repräsentativen Befragungen wurden in den USA Anfang
der 1990er-Jahre (NCS-Studie) und zehn Jahre später (NCS-R-Studie) durchgeführt.
Nach der NCS-Studie [121] sind von einer posttraumatischen Belastungsstörung 7,8%
der amerikanischen Bevölkerung (10,4 % der Frauen und 5,0% der Männer) im Laufe
ihres Lebens und 2,8% innerhalb des letzten Monats betroffen. Das Risiko einer post-
traumatischen Belastungsstörung nach einem Trauma war bei Frauen doppelt so hoch
wie bei Männern (vor allem wegen sexueller Gewalt). 8,2% der Männer und 20,4% der
Frauen entwickelten nach einem Trauma eine posttraumatische Belastungsstörung. Von
den Befragten berichteten 51,2% der Frauen und 60,7% der Männer von mindestens
einem traumatischen Erlebnis in ihrem Leben. Die Mehrzahl der Befragten berichtete
mehr als ein traumatisches Ereignis. Männer machen mehr traumatische Erfahrungen
als Frauen, Frauen erleben jedoch mehr Ereignisse mit hoher traumatisierender Wir-
kung, vor allem weil diese in den Bereich der interpersonellen Traumatisierung fallen
(z.B. Vergewaltigung, Kindesmisshandlung), d.h. Frauen entwickeln viel häufiger als
Männer eine posttraumatische Belastungsstörung nach einem traumatischen Ereignis.
Das Trauma, das am häufigsten zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führ-
te, war bei Frauen und Männern die Vergewaltigung, und zwar bei 55,5% der Betroffe-
nen. Bei Frauen folgten weiters körperliche Misshandlung, Bedrohung mit der Waffe,
sexuelle Belästigung, körperliche Attackierung und Vernachlässigung in der Kindheit,
bei Männern insbesondere Kriegserfahrung, körperliche Misshandlung, Vernachlässi-
gung in der Kindheit, sexuelle Belästigung, Unfall und Schockerlebnis.
Von den Frauen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung gaben 29,9% Ver-
gewaltigung und 19,1% sexuelle Belästigung als Auslöser der Störung an. Dies ent-
spricht der Hälfte der Betroffenen. Von den Männern mit einer posttraumatischen Bela-
stungsstörung gaben 28,8% Kampfeinsatz und 24,3% das Erlebnis des Unglücks (Ver-
letzung oder Tötung) eines anderen Menschen als Trauma auslösend an.
Bei einem Großteil der Betroffenen gingen die Symptome innerhalb des ersten Jah-
res zurück. Die posttraumatische Belastungsstörung dauerte bei denen, die professionel-
le Hilfe suchten, durchschnittlich 36 Monate, bei den anderen durchschnittlich 64 Mo-
nate. Dies weist auf die Wirksamkeit von Hilfsangeboten hin. Bei etwas mehr als einem
Drittel der Betroffenen blieb die Störung über viele Jahre unverändert bestehen, und
zwar sowohl bei jenen, die Hilfe suchten, als auch bei jenen, die keine Hilfe suchten.
50% erreichen eine Remission ohne therapeutische Unterstützung nach zwei Jahren.
Nach der neueren NCS-R-Studie in den frühen 2000er-Jahren [122] leiden in den
USA 6,8% der Bevölkerung im Laufe des Lebens und 3,5% im Laufe der letzten 12
Monate unter einer posttraumatischen Belastungsstörung.
140 Angststörungen

Aufgrund der telefonischen Befragung von 2181 18- bis 45-Jährigen in den USA be-
trug das durchschnittliche Risiko, nach einem Trauma eine posttraumatische Bela-
stungsstörung zu entwickeln, 9,2% (13% bei Frauen und 6,2% bei Männern). Knapp
90% (87,1% der Frauen und 92,2% der Männer) berichteten mindestens ein Trauma
nach den DSM-IV-Kriterien (im Durchschnitt waren es 4,8 traumatische Ereignisse).
Die Lebenszeitprävalenz für eine posttraumatische Belastungsstörung betrug bei Frauen
19,3% und beim Männern 10,2%. Bei fast einem Drittel der Fälle trat die Störung nach
dem plötzlichen, unerwarteten Tod einer nahe stehenden Person auf. Dies ist auch nicht
weiter verwunderlich, weil 60% der Befragten (61,1% der Männer und 59,0% der Frau-
en) den plötzlichen Tod eines nahen Angehörigen als traumatisches Ereignis angaben.
Zusammenfassend gesehen ergibt sich aus verschiedenen Studien folgender Befund:
Rund drei Viertel der amerikanischen Bevölkerung haben ein Trauma im Sinne des
DSM-IV erlebt und etwa ein Viertel der Betroffenen hat das Vollbild einer posttrauma-
tischen Belastungsstörung entwickelt; diese wurde am häufigsten durch eine Vergewal-
tigung ausgelöst. Ein Drittel bis zur Hälfte der Traumatisierten entwickelt eine chronifi-
zierte Symptomatik, teilweise auch trotz erfolgter Behandlung.
Eine Studie aus verschiedenen europäischen Ländern (u.a. Deutschland, Frankreich,
Spanien, Belgien) fand nur eine Lebenszeitprävalenz von 1,4%. Mittlerweile gibt es
mehrere deutsche Studien mit repräsentativen Daten.
Eine Befragung bei 14- bis 24-Jährigen in Bayern ergab eine Lebenszeitprävalenz
von 1,3% (2,2% bei Frauen und 0,4% bei Männern). Subsyndromale Formen kamen bei
5,6% der Befragten vor. Das Risiko, nach einem Trauma eine posttraumatische Bela-
stungsstörung zu entwickeln, betrug bei Männern 2,2%, bei Frauen 14,5%. 18,6% der
männlichen und 15,5% der weiblichen Befragten berichteten von einem Trauma nach
den DSM-IV-Kriterien. 9,7% der Befragten waren körperlicher Gewalt, 7,8% schweren
Unfällen, 2,1% sexuellem Missbrauch und 1,2% einer Vergewaltigung ausgesetzt. Die-
se relativ niedrigen Raten ergeben sich aus dem jungen Alter der Betroffenen und aus
dem Umstand, dass in Deutschland bestimmte traumatische Ereignisse im Vergleich zu
den USA nicht so häufig vorkommen (z.B. Naturkatastrophen, Gewaltverbrechen,
Kriegserfahrung). Das Risiko einer posttraumatischen Belastungsstörung war in
Deutschland so hoch wie in den USA. Bei einer späteren Nachuntersuchung bestand bei
10,3% der Befragten eine posttraumatische Belastungsstörung unter Einschluss der
subsyndromalen Formen.
Die erste gesamtdeutsche Befragung im Jahr 2005 bei einem breiten Altersspektrum
(14-93 Jahre) ergab in Bezug auf eine aktuell vorhandene posttraumatische Belastungs-
störung (Einmonatsprävalenzrate) nach DSM-IV-Kriterien eine Häufigkeit von 2,3% für
das Vollbild (2,5% der Frauen und 2,1% der Männer) und 2,7% für partielle Syndrome.
Es bestanden keine Unterschiede nach dem Geschlecht, wohl aber nach dem Alter:
ansteigende Häufigkeit nach dem Alter (14- bis 29-Jährige: 1,3%, 30- bis 59-Jährige:
1,9%, über 60-Jährige: 3,4), was mit Erlebnissen aus dem Zweiten Weltkrieg und deren
Folgen auch noch nach Jahrzehnten zusammenhängt. Die Lebenszeitprävalenz traumati-
scher Ereignisse ergab bei kriegsbezogenen Traumata folgende Prozentwerte: 8,16%
Kriegshandlungen (direkt), 7,04% ausgebombt im Krieg, 6,66% heimatvertrieben,
1,57% Gefangenschaft/Geiselnahme. Bezüglich ziviler Traumata ergaben sich folgende
Lebenszeithäufigkeiten: 0,75% Vergewaltigung, 1,20% Kindesmissbrauch (vor dem 14.
Lebensjahr), 4,59% schwerer Unfall, 3,77% körperliche Gewalt, 2,98% lebensbedrohli-
che Krankheit, 0,79% Naturkatastrophe, 8,45% Zeuge eines Traumas, 3,61% andere
Traumata.
Posttraumatische Belastungsstörung 141

Die bedingte gemittelte Wahrscheinlichkeit, dass sich aus dem Trauma im Laufe des
Lebens eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, betrug für das Vollbild
12,8%, für die partiellen Syndrome 12,8%. Das größte Risiko bestand der Reihe nach
hinsichtlich Vergewaltigung (37,5%), Kindesmissbrauch (35,3%) und lebensbedrohli-
che Erkrankungen (23,4%), schwerer Unfall (12,82%), körperliche Gewalt (10,53%).
Die relativ niedrigen Häufigkeitsraten für das Vollbild einer aktuell vorhandenen
posttraumatischen Belastungsstörung in Europa mit Werten um 2% sind zwar erfreu-
lich, wenn in der Literatur immer wieder die beeindruckend hohen Lebenszeitprävalen-
zen von 6-8% aus den USA angeführt werden (laut neuerer NCS-R-Studie dagegen nur
eine Ein-Jahres-Prävalenz von 3,5%), doch bestehen für diese noch immer beachtlich
große Zahl leidender Personen nach wie vor zu wenig Behandlungsangebote. Weiters
darf die große der von partiellen Syndromen Betroffenen nicht übersehen werden, die
ebenfalls erheblich unter den Folgen eines Traumas leiden. Angesichts der in den mo-
dernen Diagnoseschemata noch nicht definierten und daher in der Bevölkerung diagno-
stisch auch noch nicht erhebbaren komplexen posttraumatischen Belastungsstörung
besteht ebenfalls kein Grund, über die geringen Häufigkeitsraten von 1-2% für das der-
zeitige Vollbild der Störung beruhigt zu sein.
Gesellschaftspolitisch bedeutsam sind in Europa und anderswo auch die hohen Ra-
ten an posttraumatischen Belastungsstörungen bei Flüchtlingen aus verschiedenen Län-
dern (laut Studien rund 35-40%, d.h. jeder Dritte leidet unter einem Trauma). Die Be-
troffenen weisen auch zahlreiche komorbide Störungen auf (andere Angststörung, De-
pression, Dysthymie, somatoforme Störung, Substanzmissbrauch und -abhängigkeit).

Traumaspezifische Prävalenzen

10-25% der Opfer entwickeln nach einem Trauma eine posttraumatische Belastungsstö-
rung. Je nach Art des Traumas ergeben sich unterschiedliche Lebenszeitprävalenzen:
50-65% nach Kriegsereignissen mit persönlicher Gefährdung, 50-55% nach Vergewal-
tigung und sexuellem Missbrauch, 3-11% nach Verkehrsunfällen, 5% nach Natur-,
Brand- und Feuerkatastrophen, 2-7% als Zeuge von Unfällen oder Gewalthandlungen,
[124]. Das höchste Erkrankungsrisiko – oft im Sinne einer komplexen posttraumati-
schen Belastungsstörung – haben Menschen mit interpersonellen Multitraumata, d.h.
Typ-II-Traumata (häufiger Missbrauch in der Kindheit, Kriegserleben, Folter).
In einer retrospektiven Untersuchung beschrieben die Opfer sexueller Angriffe in
35% der Fälle eine lebenslange und in 13% der Fälle eine zeitweilige posttraumatische
Belastungsstörung. Von den Opfern schwerer nichtsexueller Angriffe berichteten 39%
eine lebenslange und 12% eine zeitweilige posttraumatische Belastungsstörung. In einer
prospektiven Studie (Verlaufserhebung) zeigten sich bei 47% der Opfer sexueller An-
griffe und bei 22% der Opfer nicht-sexueller Bedrohungen drei Monate nach diesen
Erlebnissen die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Eine Studie an 1500 Vergewaltigungsopfern [125] fand bei 35% eine posttraumati-
sche Belastungsstörung. Bei den Opfern einer versuchten Vergewaltigung war der An-
teil 14%. Über 90% der Vergewaltigungsopfer entwickeln eine Angst davor, alleine zu
sein oder alleine auszugehen während der Dunkelheit, während der Nacht oder alleine
zu schlafen. Aus dem Sicherheitsbedürfnis zu Hause entstehen oft Kontrollzwänge
bezüglich verschlossener Türen und Fenster. Das Bewusstsein der persönlichen Unver-
letzlichkeit wurde durch eine Vergewaltigung auf Monate oder Jahre hin zerstört.
142 Angststörungen

Unter den Vietnam-Kriegsteilnehmern war bei 38% der Männer und bei 17,5% der
Frauen eine zeitweilige posttraumatische Belastungsstörung nachweisbar. Kriegsgefan-
gene und politische Gefangene weisen Lebenszeitprävalenzen von 50-70% auf.
Die Ein-Jahres-Prävalenz einer posttraumatischen Belastungsstörung bei Opfern von
Verkehrsunfällen beträgt laut Studien etwa 10%. Kürzer dauernde Traumatisierungen
und akute Belastungsreaktionen sind dagegen wesentlich häufiger. Bei fast 40% der
Unfallopfer fand sich eine typische und bei 30% eine subsyndromale posttraumatische
Belastungsstörung. Eine deutsche Studie fand sechs Monate nach schweren Verkehrsun-
fällen bei 18% eine posttraumatische Belastungsstörung (lebendige Erinnerungen an
den Unfall, Fahrangst) und bei weiteren 28% subsyndromale Formen.
Unter 773 Verkehrsunfallopfern fand man bei einem Drittel eine oder mehrere psy-
chische Störungen: 23% hatten drei Monate nach dem Unfall eine posttraumatische
Belastungsstörung, 5% eine Depression, 19% eine generalisierte Angststörung und 22%
eine Reisephobie. Unter Unfallopfern in Australien litten ein halbes Jahr nach dem
Unfall 19% unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, 37% unter Ängsten, 17%
unter Depressionen und 15% unter Suchtproblemen.
Die Traumatisierung von Helfern beträgt bei Feuerwehrleuten 5-20%, bei Rettungs-
assistenten 10-20% und bei Polizisten 5-7%. Bis zu einem Drittel der Rettungskräfte bei
Katastropheneinsätzen ist in Gefahr, eine schwerwiegende posttraumatische Belastungs-
störung zu entwickeln. Unter Lokomotivführern, die eine suizidale Person überfahren
hatten, trat bei 10-20% eine posttraumatische Belastungsstörung auf.
Posttraumatische Belastungsstörungen entstehen auch nach körperlich schwer beein-
trächtigenden, lebensbedrohlichen und entstellenden Erkrankungen, d.h. nach somati-
schen Erkrankungen (Krebs, koronarer Herzerkrankung, HIV-Erkrankung, unheilbaren
Schmerzen), nach Reanimationen, nach schweren medizinischen Eingriffen (Organ-
transplantation), nach Aufenthalten in intensivmedizinischer Umgebung und nach ärzt-
lichen und pflegerischen Behandlungsfehlern. In der Literatur werden folgende Präva-
lenzen angeführt: 15% bei akutem Koronarsyndrom, 30% bei Überlebenden eines plötz-
lichen Herzstillstandes (bei 20-35% aller nach einem Herzstillstand reanimierten Patien-
ten), 27% bei akutem respiratorischen Distress-Syndrom, 5-20% bei Krebserkrankung,
7% nach Fehlgeburten.

Verlauf

Der Verlauf einer posttraumatischen Belastungsstörung ist wechselhaft, in der Mehrzahl


der Fälle ist jedoch eine Heilung möglich, oft allerdings erst nach Jahren. Die Störung
beginnt gewöhnlich innerhalb der ersten drei Monate nach dem Trauma, kann aber auch
Monate oder sogar Jahre später auftreten. Die Symptome halten unterschiedlich lange
an. Bei der Hälfte der Fälle verschwinden die Symptome innerhalb von 3 Monaten.
Akute und umschriebene Traumata führen eher zu einer einfachen posttraumatischen
Belastungsstörung im Sinne von ICD-10 und DSM-IV, wiederholte und länger dauern-
de Traumata haben häufiger eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung zur
Folge, die auch andere psychische Beeinträchtigungen umfasst (z.B. Depressionen,
dissoziative oder somatoforme Störungen, Persönlichkeitsstörungen).
Traumatisierte haben ein erhöhtes Risiko für psychische Folgestörungen wie Panik-
störung, Agoraphobie, Zwangsstörung, soziale Phobie, spezifische Phobie, Depression,
Somatisierungsstörung und Medikamentenmissbrauch.
Posttraumatische Belastungsstörung 143

Grundsätzlich gilt folgende Verlaufsentwicklung:


z Die Symptome treten – entgegen dem ICD-10 – meistens sofort nach dem Trauma
auf, ein verzögerter Beginn ist lediglich bei 11% der Fälle festzustellen. In seltenen
Fällen kann eine posttraumatische Belastungsstörung auch Jahre nach dem Trauma
ausgelöst werden.
z Im ersten Jahr nach dem Trauma remittieren rund 50% der Betroffenen ohne Be-
handlung.
z Bei etwa einem Drittel der Betroffenen entsteht ein chronischer Verlauf.
z Das Risiko für einen chronischen Verlauf ist umso höher, je schwerer die anfängli-
chen Symptome waren.
z Die Störung ist besonders schwer und lang andauernd, wenn das Trauma nicht durch
Katastrophen, sondern durch Menschen verursacht wurde, weil dabei gezielt eine
Erniedrigung und Zerstörung des Selbstwertgefühls der Betroffenen angestrebt wur-
de (z.B. Terror, Folterung, Vergewaltigung durch mehrere Männer) bzw. durch die
Beseitigung aller kommunikativen Strukturen eine totale soziale Isolierung geschaf-
fen wurde (z.B. mehrjähriges Festhalten einer Geisel in einem finsteren Keller).
z Ein sehr starker Stressor bewirkt eine größere Störung. Untersuchungen an verge-
waltigten Frauen sowie an Kriegsteilnehmern haben ergeben, dass der Schweregrad
des Stressors, d.h. die Stärke der Traumatisierung (große Brutalität), zu einer stärke-
ren posttraumatischen Belastungsstörung führte.
z Bei Kriegsteilnehmern oder Überlebenden aus Vernichtungslagern traten die trau-
matischen Bilder („Holocaust“-Erfahrungen) auch nach vier Jahrzehnten unverän-
dert lebendig und belastend auf, wie Nachuntersuchungen ergaben. Selbst bei der
Nachwuchsgeneration der Holocaust-Überlebenden konnten noch zahlreiche typi-
sche Symptome festgestellt werden.
z Eine posttraumatische Belastungsstörung kann einen derart chronischen Verlauf
nehmen, dass es zu einer tief greifenden Veränderung der Persönlichkeitsstruktur
kommt. Diese ist nicht durch eine verstärkte Ausprägung primärer Persönlichkeits-
züge charakterisiert, sondern durch das Auftreten neuer Symptome, die vorher nicht
bestanden haben (feindliche und misstrauische Haltung der Welt gegenüber, sozialer
Rückzug, Entfremdung, Gefühl der Leere oder Hoffnungslosigkeit, chronische Ner-
vosität wie bei ständiger Bedrohung). Bei mehr als zweijähriger Dauer spricht man
von einer „andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastungen“.

Risikofaktoren

Die Risikofaktoren, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich aus einem Trauma
eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, lassen sich unterscheiden nach
bestimmten Umständen vor, während und nach dem traumatischen Ereignis [123]:
z Prätraumatische Belastungsfaktoren: weibliches Geschlecht, jüngeres oder hohes
Alter, frühere Traumata (länger andauernder sexueller Missbrauch in der Kindheit),
physische und psychiatrische Vorerkrankung (Depressionen, Angststörungen), man-
gelnde soziale Geborgenheit (fehlende, chaotisch-desorganisierte oder unsichere
Bindungen), dysfunktionale Familienstrukturen, emotionale Belastungen, nahe Be-
ziehung zum Täter, Verlusterfahrungen (Tod eines nahen Angehörigen außer dem
Ehepartner), niedrige Intelligenz, niedrige Bildung und niedriger sozioökonomischer
Status (Ausdruck geringerer psychischer Verarbeitungskapazität), Minoritätenstatus.
144 Angststörungen

z Peritraumatische Belastungsfaktoren (Ereignisfaktoren zum Zeitpunkt des Trau-


mas): Schwere, Dauer und Ausmaß des Traumas, von Menschen gezielt bewirktes,
beabsichtigtes Trauma, starke Dissoziation während des Traumas, reale Gefährdung
(Todesgefahr und Verletzung: Menschen, die neben einem seelischen Trauma auch
körperlich verletzt wurden, erleben 5-mal so häufig eine posttraumatische Bela-
stungsstörung wie Menschen, die „nur“ ein seelisches Trauma erlebt haben).
z Posttraumatische Belastungsfaktoren (aufrechterhaltende bzw. verschlimmernde
Faktoren nach dem Trauma): permanente Erinnerung an das Trauma, ständiges bela-
stendes Grübeln, mangelnde soziale Unterstützung, mangelnde Anerkennung des
Traumas durch andere Menschen, Schuldgefühle (Gefühle, am Trauma mitschuldig
zu sein), Vermeidungsverhalten (emotional, kognitiv, räumlich), dysfunktionale
Denkmuster, anhaltende negative Lebensereignisse, psychosoziale Folgeprobleme
(Angst vor dem Täter, Bedrohungen, schulische, berufliche, finanzielle Probleme,
bleibende Verlusterfahrungen bezüglich Angehöriger, Heimat u.a.).

Glücklicherweise gibt es auch verschiedene Schutzfaktoren bzw. heilende Faktoren:


z vonseiten der betroffenen Person: gute Ressourcen bzw. Verarbeitungskapazität
(Reflexionsfähigkeit, verbale Kommunikationsfähigkeit, Bewältigung von Angst,
Ärger, Ekel, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Vertrauensverlust), Kohärenzgefühl nach dem
Salutogenese-Modell von Antonovsky (Entwicklung von Sinnzusammenhängen);
z vonseiten der sozialen Umwelt: gute soziale Bindungen, soziale Unterstützung durch
Angehörige und Bekannte, sonstige günstige Lebensbedingungen, soziale Anerken-
nung und Wertschätzung als Opfer, adäquate rechtliche Folgen (straf- und zivilrecht-
liche Verfahren, die den Opfercharakter ausdrücklich betonen, z.B. Verfolgung und
Verurteilung des Täters, Schmerzensgeld als Kompensationszahlung, keine unan-
gemessen langen Zivilrechtsverfahren wegen Zahlungsverweigerung der gegneri-
schen Versicherung bei Autounfällen und ärztlichen Kunstfehlern).

Die Forschung hat gezeigt, dass nicht das Trauma an sich, sondern großteils günstige
bzw. ungünstige Personen- und Interaktionsmerkmale darüber entscheiden, wie sehr ein
schlimmes Ereignis zu einer posttraumatischen Belastungsstörung ausartet.

Komorbidität

Bei der posttraumatischen Belastungsstörung besteht eine hohe Komorbidität mit ande-
ren psychischen Störungen, aber auch mit körperlichen Erkrankungen [126]. Nach der
NCS-Studie wiesen 88,3% der Männer und 79,3% der Frauen gleichzeitig auch noch
andere Diagnosen auf. Die häufigsten komorbiden psychischen Erkrankungen waren
Angststörungen, depressive Störungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch. Fast die Hälf-
te der Personen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickelte im Laufe
des Lebens eine Depression. Mehr als die Hälfte der Männer und ein Viertel der Frauen
hatte ein Alkoholproblem. Die klinisch oft erkennbaren Verknüpfungen mit dissoziati-
ven und somatoformen Störungen, Essstörungen und Persönlichkeitsstörungen sind an
der Durchschnittsbevölkerung empirisch noch zu wenig überprüft.
Nach der umfangreichen deutschen Befragung von 14- bis 24-Jährigen in Bayern
bestand bei 87,5% der Personen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung minde-
stens eine weitere psychische Störung.
Posttraumatische Belastungsstörung 145

Von 1600 repräsentativ ausgewählten Vietnam-Kriegsveteranen [127] wiesen fast


ein Viertel der Männer, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung litten, gleich-
zeitig auch eine Alkoholabhängigkeit bzw. einen Alkoholmissbrauch auf, während dies
bei Vietnam-Kriegsveteranen ohne posttraumatische Belastungsstörung nur auf 10%
zutraf. Mehr als einer von 20 männlichen Vietnam-Kriegsveteranen mit posttraumati-
scher Belastungsstörung hatte ein Drogenproblem (Missbrauch oder Abhängigkeit).
Fast zwanzig Jahre nach dem Vietnamkrieg fand man unter den 15% der Veteranen, die
noch an einer posttraumatischen Belastungsstörung litten, bei 73% einen Substanzmiss-
brauch, bei 26% eine Depression und bei 21% eine Dysthymie.
Bei 2009 landesweit untersuchten amerikanischen Frauen, die Opfer eines Gewalt-
verbrechens geworden waren, hatten die Opfer mit posttraumatischer Belastungsstörung
ein 3,2fach erhöhtes Risiko einer Alkoholproblematik und ein 3,4fach erhöhtes Risiko
einer Drogenproblematik im Vergleich zu Opfern ohne posttraumatische Belastungsstö-
rung [128]. Bei Patienten ist die Doppeldiagnose von posttraumatischer Belastungsstö-
rung und Substanzmissbrauch viel eher gegeben als in der Allgemeinbevölkerung.
Bei rund zwei Drittel der Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung be-
stehen schwere frühkindliche (oft sexuelle) Traumatisierungen. Dies ist der Hauptgrund
für den hohen Frauenanteil von über 80%. Der enge und spezifische Zusammenhang
zwischen chronischer sexueller Traumatisierung und Borderlinesyndrom ist bei anderen
Persönlichkeitsstörungen nicht in dieser Weise gegeben.
In letzter Zeit fand man auch Zusammenhänge zwischen verschiedenen Traumata
und körperlichen Erkrankungen. Bei traumatisierten Feuerwehrmännern bestand eine
Häufung von kardiovaskulären, respiratorischen, muskuloskeletalen und neurologischen
Symptomen. Frauen mit sexueller Traumatisierung zeigten eine Häufung von gastroin-
testinalen, kardiopulmonalen und neurologischen Symptomen, Schmerzsymptomen und
Sexualstörungen. Bei Vietnam-Kriegsveteranen bewirkte die Kombination von geneti-
schen Faktoren und Kriegseinwirkungen laut einer Zwillingsstudie eine Häufung von
ischämischen Herzerkrankungen, Krebserkrankungen, chronischen Lungenerkrankun-
gen, Knochenfrakturen, gastrointestinalen Beschwerden und Gelenkerkrankungen.
Eine epidemiologische Studie ergab bei Frauen mit Traumatisierung in der Kindheit
und im Erwachsenenalter chronische Erschöpfungssyndrome, Blasenstörungen, Kopf-
schmerzen inklusive Migräne, Asthma, Diabetes und Herzprobleme [129]. Magen-
Darm-Erkrankungen sowie chronische Veränderungen des Immunsystems sind weitere
häufig auftretende körperliche Belastungsfaktoren bei traumatisierten Personen.
Es gibt verschiedene Erklärungsansätze für das gemeinsame Auftreten von post-
traumatischer Belastungsstörung und mindestens einer weiteren psychischen Störung:
z Eine bereits vorhandene psychische Störung erhöht das Risiko einer posttraumati-
schen Belastungsstörung nach einem Trauma.
z Die beiden psychischen Störungen können eine gemeinsame Grundlage haben, vor
allem eine angeborene oder früh erworbene Vulnerabilität.
z Die posttraumatische Belastungsstörung hat eine psychische Folgestörung ausgelöst
wie etwa eine Depression oder einen Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenmiss-
brauch. Der Versuch der Selbstmedikation zur Linderung der Intrusionen und der
Übererregung hat dann die gesamte Symptomatik verschlimmert.

Die alleinige Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung reduzierte bereits


komorbide Störungen. Dies weist auf die Notwendigkeit einer effektiven Behandlung
der Grundstörung hin.
146 Angststörungen

Differenzialdiagnose
Eine posttraumatische Belastungsstörung muss gegenüber verschiedenen anderen Stö-
rungen abgegrenzt werden:
z Eine akute Belastungsreaktion/-störung dauert nach dem ICD-10 nur einige Stunden
oder Tage an, nach dem DSM-IV bis zu einem Monat. Das DSM-IV möchte durch
das Kriterium der längeren Dauer dem Umstand Rechnung tragen, dass posttrauma-
tische Reaktionen ganz normale, nicht-pathologische Reaktionen auf eine abnormale
Situation sind. Nach dem DSM-IV kann – im Gegensatz zum ICD-10 – eine post-
traumatische Belastungsstörung erst nach mehr als vier Wochen andauernden Sym-
ptomen gestellt werden, d.h. es ist in den ersten vier Wochen nach dem Trauma im-
mer eine akute posttraumatische Belastungsstörung zu diagnostizieren.
z Eine Anpassungsstörung tritt nach entscheidenden Lebensveränderungen und Stres-
soren auf, die weniger katastrophal sind (z.B. Todesfall, Trennung, Arbeitsplatzver-
lust, Umzug, Emigration, schwere körperliche Erkrankung), und erfüllt nicht die
Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung. Bei einer posttraumatischen
Belastungsstörung muss der Belastungsfaktor dagegen sehr extrem sein, nach dem
ICD-10 sogar von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß.
z Angststörungen und Depressionen haben oft keine derart extremen Belastungsfakto-
ren als Auslöser oder verstärken nur die zentralen Symptome (Vermeidung, emotio-
nale Taubheit, Interesselosigkeit usw.) einer bereits bestehenden posttraumatischen
Belastungsstörung. Symptome wie Vermeidung, Empfindungslosigkeit oder erhöhte
Erregbarkeit, die bereits vor dem Trauma vorhanden waren, machen noch keine
posttraumatische Belastungsstörung aus, sondern sind Ausdruck einer anderen psy-
chischen Störung (z.B. einer Depression oder einer anderen Angststörung).
z Nach dem ICD-10 zählt die posttraumatische Belastungsstörung nicht zu den Angst-
störungen. Neben Übereinstimmungen (Angstzuständen, phobisch geprägten Ver-
meidungsreaktionen, starker sympathikotoner Hyperreaktivität mit bestimmten kör-
perlichen Symptomen wie z.B. Schwitzen, Atemnot, Herzbeschwerden) gibt es auch
Unterschiede zwischen beiden Störungsgruppen (Angststörungen haben oft keine
derart umschriebenen Auslöser wie posttraumatische Belastungsstörungen).
z Symptome wie Vermeidung, Empfindungslosigkeit oder erhöhte Erregbarkeit, die
bereits vor dem Trauma vorhanden waren, machen noch keine posttraumatische Be-
lastungsstörung aus, sondern sind als Ausdruck einer anderen psychischen Störung
(z.B. einer Depression oder einer anderen Angststörung) zu sehen.
z Die typischen Flashback-Episoden einer posttraumatischen Belastungsstörung müs-
sen durch ihren Charakter von Halluzinationen und anderen Wahrnehmungsstörun-
gen bei Schizophrenie, schizoaffektiven Störungen, affektiven Störungen mit psy-
chotischen Elementen und substanzinduzierten Störungen abgegrenzt werden.
z Bei einer Zwangsstörung stehen die aufdringlichen Gedanken nicht in Zusammen-
hang mit einem Trauma.
z Eine „andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung“ ist nach den
gegenwärtigen Diagnosekriterien dann gegeben, wenn eine Persönlichkeitsänderung
nach dem Trauma mindestens zwei Jahre lang anhält und nicht auf eine früher be-
stehende Persönlichkeitsstörung, eine andere psychische Störung außer einer post-
traumatischen Belastungsstörung oder eine schwere Schädigung oder Erkrankung
des Gehirns zurückgeht. Es handelt sich dabei um die chronischen und irreversiblen
Auswirkungen einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Akute Belastungsstörung 147

Akute Belastungsstörung – Angst als Schockzustand


Meldungen über einen Schockzustand stehen häufig in der Zeitung:

„Ein etwa 45-jähriger Mann stürzte sich in Selbstmordabsicht vor einen Autobus. Der Mann war sofort
tot, der Fahrer erlitt einen schweren Schock.“

„Das Haus einer fünfköpfigen Familie explodierte mit einem lauten Knall. Drei Menschen waren sofort
tot, die zwei anderen Bewohner wurden mit einem schweren Schock in das Krankenhaus eingeliefert.“

Eine akute Belastungsreaktion zählt nach dem ICD-10 zu den Reaktionen auf schwere
Belastungen und Anpassungsstörungen, stellt eine unmittelbare Reaktion auf ein trau-
matisches Ereignis dar und besteht in einer vorübergehenden Störung (1-3 Tage Dauer)
von beträchtlichem Schweregrad, die sich auch bei völlig gesunden Menschen als Reak-
tion auf traumatische Erlebnisse und ernsthafte Bedrohung von Leib und Leben entwik-
keln kann, ähnlich wie dies – nur mit verzögerter und länger anhaltender Wirkung – bei
einer posttraumatischen Belastungsstörung der Fall ist. Es handelt sich um eine akute
Krisenreaktion bzw. um einen psychischen Schockzustand.
Die Störung tritt innerhalb von Minuten bis Stunden nach Traumatisierungen aller
Art auf und klingt spontan ab. Wenn dies nicht der Fall ist und die Störung mehr als drei
Tage andauert bzw. sogar mehrere Wochen lang bestehen bleibt, fehlen im ICD-10
Hinweise darauf, welche Diagnose dann zu stellen ist. Die Betroffenen bedürfen unbe-
dingt einer genauen Beobachtung und Überwachung sowie oft auch einer Behandlung.
Die Symptome der akuten Belastungsreaktion beginnen nach dem ICD-10 [130]
gewöhnlich mit einer Art „Betäubung“, d.h. mit einer gewissen Bewusstseinseinengung,
eingeschränkten Aufmerksamkeit, Unfähigkeit zur adäquaten Reizverarbeitung und
Desorientiertheit. Anschließend kann ein weiterer Rückzug aus der aktuellen Situation
erfolgen oder ein Unruhezustand und eine Überaktivität wie Fluchtreaktion oder Fugue
auftreten. Häufig finden sich vegetative Symptome wie Herzrasen, Schwitzen oder
Erröten als Ausdruck panischer Angst. Rückzug und Stupor (völlige Regungslosigkeit)
sind ebenso möglich wie Unruhezustände, Überaktivität und Flucht.
Die Angst hängt bei dieser Störung mit einer akuten überstarken emotionalen Reak-
tion auf veränderte Lebensumstände zusammen und stellt eine unmittelbare Reaktion
auf eine schwere Belastungssituation dar (z.B. Naturkatastrophe, schwerer Unfall,
Verbrechen, Vergewaltigung, Verlust von Angehörigen, der bisherigen Umwelt oder
der Arbeit). Persönlichkeitsfaktoren müssen allerdings in vielen Fällen zur Erklärung
dafür herangezogen werden, warum dieselben Belastungen nicht auf alle Menschen die
gleichen Auswirkungen haben.
Der eigenständige Charakter der akuten Belastungsreaktion wurde früher kontrovers
diskutiert, kann aber jetzt als gesichert angenommen werden. Es handelt sich dabei um
ein vielgestaltiges und rasch wechselndes Erscheinungsbild, bei dem nach Studien un-
terschiedliche Symptome auftreten können: Unruhe, Reizbarkeit, psychomotorische
Agitiertheit oder Verlangsamung, Apathie, Rückzug, Depression, Schreckreaktion,
Angst, affektive Einengung, Verwirrtheit, Schmerzsymptome, funktionelle gastrointe-
stinale Beschwerden, aggressive, feindselige oder paranoide Reaktionen.
Als gleichwertige Begriffe gelten nach dem ICD-10 folgende Bezeichnungen: akute
Krisenreaktion, Krisenzustand, Kriegsneurose (combat fatigue) und psychischer
Schock.
148 Angststörungen

Eine akute Belastungsreaktion (F43.0) wird nach den Forschungskriterien des ICD-
10 [131] folgendermaßen definiert:

A. Erleben einer außergewöhnlichen psychischen oder physischen Belastung.

B. Der außergewöhnlichen Belastung folgt unmittelbar der Beginn der Symptome (innerhalb einer
Stunde).

C. Es gibt zwei Symptomgruppen. Die akute Belastungsreaktion wird unterteilt in:

F43.00 leicht nur Symptome aus Gruppe 1.


F43.01 mittelgradig Symptome aus Gruppe 1. und zwei Symptome aus Gruppe 2.
F43.02 schwer Symptome aus Gruppe 1. und vier Symptome der Gruppe 2. oder
dissoziativer Stupor (F44.2).

1. Die Kriterien B, C und D der generalisierten Angststörung (F41.1)


2. a. Rückzug von erwarteten sozialen Interaktionen
b. Einengung der Aufmerksamkeit
c. offensichtliche Desorientierung
d. Ärger oder verbale Aggression
e. Verzweiflung oder Hoffnungslosigkeit
f. unangemessene oder sinnlose Überaktivität
g. unkontrollierbare und außergewöhnliche Trauer (zu beurteilen nach den jeweiligen
kulturellen Normen)

D. Wenn die Belastung vorübergehend ist oder gemildert werden kann, beginnen die Symptome nach
spätestens acht Stunden abzuklingen. Hält die Belastung an, beginnen die Symptome nach höch-
stens 48 Stunden nachzulassen.

E. Ausschlussvorbehalt: Derzeitig darf keine andere psychische oder Verhaltensstörung der ICD-10
vorliegen (außer F41.1 generalisierte Angststörung und F60 Persönlichkeitsstörungen). Das Ende
einer Krankheitsperiode, einer anderen psychischen oder Verhaltensstörung muß mehr als drei Mo-
nate zurückliegen.

Nach dem ICD-10 beginnt eine akute Belastungsreaktion unmittelbar nach dem Trauma
und klingt nach längstens drei Tagen ab, nach dem DSM-IV dagegen darf eine akute
posttraumatische Belastungsstörung erst nach einer Symptomdauer von zwei Tagen
diagnostiziert werden und stellt eine noch nicht chronifizierte, aber bereits krankheits-
wertige posttraumatische Reaktion dar.
Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand erhöhen folgende Symptome und deren
Ausmaß die Wahrscheinlichkeit einer späteren posttraumatischen Belastungsstörung:
stärkere Intrusion, Vermeidung, Depression und Angst in der auf das Trauma folgenden
Woche. Dissoziative Symptome in der traumatischen Situation begünstigen die Ausprä-
gung einer posttraumatischen Belastungsstörung, weil keine Integration des Erlebten,
sondern eine Abspaltung erfolgt.
„Eingefrorensein“, Stupor, Selbstaufgabe, Kontrollverlust über die Situation und
Unvorhersehbarkeit der Ereignisse wirken sich auf den Langzeitverlauf ungünstig aus.
Das Ausmaß der subjektiven Belastung in den Tagen unmittelbar nach dem Trauma
steht in engem Zusammenhang mit der späteren Entwicklung einer posttraumatischen
Belastungsstörung. Psychosoziale Faktoren wie soziale Unterstützung, Erfahrungen in
der Kindheit und im späteren Leben, Persönlichkeitsvariablen und vorher bestehende
psychische Störungen beeinflussen und modifizieren die Entwicklung der Störung.
Akute Belastungsstörung 149

Das DSM-IV [132] nennt folgende diagnostische Kriterien für eine akute Bela-
stungsstörung:

A. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden
Kriterien erfüllt waren:
(1) Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert,
die den tatsächlichen oder drohenden Tod oder eine ernsthafte Verletzung oder Gefahr der
körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten.
(2) Die Reaktion der Person umfaßte intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen.

B. Entweder während oder nach dem extrem belastenden Ereignis zeigte die Person mindestens drei
der folgenden dissoziativen Symptome:
(1) subjektives Gefühl von emotionaler Taubheit, von Losgelöstheit oder Fehlen emotionaler Re-
aktionsfähigkeit,
(2) Beeinträchtigung der bewußten Wahrnehmung der Umwelt (z.B. „wie betäubt sein“),
(3) Derealisationserleben,
(4) Depersonalisationserleben,
(5) dissoziative Amnesie (z.B. Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erin-
nern).

C. Das traumatische Ereignis wird ständig auf mindestens eine der folgenden Arten wiedererlebt:
wiederkehrende Bilder, Gedanken, Träume, Illusionen, Flashback-Episoden, oder das Gefühl, das
Trauma wiederzuerleben oder starkes Leiden bei Reizen, die an das Trauma erinnern.

D. Deutliche Vermeidung von Reizen, die an das Trauma erinnern (z.B. Gedanken, Gefühle, Gesprä-
che, Aktivitäten, Orte oder Personen).

E. Deutliche Symptome von Angst oder erhöhtem Arousal (z.B. Schlafstörungen, Reizbarkeit, Kon-
zentrationsschwierigkeiten, Hypervigilanz, übertriebene Schreckreaktion, motorische Unruhe).

F. Die Störung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen,
beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen oder beeinträchtigt die Fähigkeit der Per-
son, notwendige Aufgaben zu bewältigen, z.B. notwendige Unterstützung zu erhalten oder zwi-
schenmenschliche Ressourcen zu erschließen, indem Familienmitgliedern über das Trauma berich-
tet wird.

G. Die Störung dauert mindestens 2 Tage und höchstens 4 Wochen und tritt innerhalb von 4 Wochen
nach dem traumatischen Ereignis auf...

Das DSM-IV spricht nicht von einer „Reaktion“, sondern von einer „Störung“, weil
diese auch länger andauern kann als die akute Symptomatik nach dem ICD-10. Nach
dem DSM-IV dauert eine akute Belastungsstörung mindestens zwei Tage und höchstens
vier Wochen. Bei längerer Dauer muss die Diagnose einer posttraumatischen Bela-
stungsstörung gestellt werden, die nach dem DSM-IV aufgrund der Diagnosekriterien
(Dauer von mehr als vier Wochen) vorher noch gar nicht gestellt werden kann.
Die Diagnose der akuten Belastungsstörung wurde in das DSM-IV aufgenommen,
um bereits in den ersten Wochen nach einem Trauma eine Differenzierung zwischen
„normalen“, unpathologischen Reaktionen nach einem traumatischen Erlebnis und
krankheitswertigen Störungen zu ermöglichen. Die Schwere und die Dauer des Traumas
sowie die Nähe der Person bei der Konfrontation mit dem traumatischen Erlebnis sind
die wichtigsten Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit der Ausprägung einer posttrauma-
tischen Belastungsstörung begünstigen. Die Störung kann bei Menschen auftreten, die
vorher keinerlei psychopathologische Auffälligkeit gezeigt hatten.
150 Angststörungen

Nach dem Trauma wird dieses ständig wiederbelebt; die Betroffenen vermeiden
traumarelevante Reize und weisen eine allgemein erhöhte psychovegetative Erregbar-
keit auf. Es besteht mindestens eines der drei zentralen Symptome einer posttraumati-
schen Belastungsstörung: Intrusion/Wiedererleben, Vermeidung traumarelevanter Reize
und Übererregbarkeit durch traumarelevante Reize.
Das DSM-IV legt bei der Diagnose der akuten Belastungsstörung den Schwerpunkt
auf die dissoziativen Symptome (Empfindungslosigkeit, Losgelöstsein, Fehlen emotio-
naler Reaktionsmöglichkeit, Beeinträchtigung der bewussten Umweltwahrnehmung,
Derealisation, Depersonalisation, dissoziative Amnesie) in Verbindung mit Angst und
vorübergehenden Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Die momentane DSM-IV-Konzeption der akuten Belastungsstörung ist umstritten,
und zwar hinsichtlich des Stellenwertes der dissoziativen Symptome:
z Verschiedene Experten kritisieren die gegenwärtige Überbewertung der dissoziati-
ven Symptome nach einem Trauma. Nach bestimmten Untersuchungen hätten peri-
traumatische Dissoziationen keine besondere Bedeutung für die spätere Symptom-
entwicklung erlangt. Zudem gebe es Menschen, die später eine posttraumatische Be-
lastungsstörung entwickeln würden, ohne dass sie dabei nennenswerte Dissoziatio-
nen entwickelt hätten. Aufgrund dieser Daten schlagen die betreffenden Autoren
vor, in der nächsten Auflage des DSM eine diagnostische Angleichung an die Krite-
rien des ICD-10 vorzunehmen, wonach eine posttraumatische Belastungsstörung be-
reits in den ersten Wochen nach dem Trauma und nicht erst nach einem Monat dia-
gnostiziert werden kann. Dissoziative Symptome sollten dabei als mögliche, nicht
jedoch unbedingt notwendige Diagnosekriterien gelten.
z In Übereinstimmung mit dem DSM-IV betonen dagegen einige andere Forscher die
zentrale Bedeutung dissoziativer Phänomene bei der posttraumatischen Reaktion.
z Eine Autorengruppe geht davon aus, dass peritraumatische Dissoziationen ein vorü-
bergehendes Phänomen sein können und dass erst eine chronische Störung wie die
posttraumatische Belastungsstörung durch andauernde dissoziative Symptome bis
zum Ende des ersten Monats nach dem Trauma vorhergesagt werden kann.
z Wieder andere Fachleute gehen davon aus, dass es zwei unterschiedliche Reakti-
onsweisen gibt, die beide unabhängig voneinander das Risiko einer späteren post-
traumatischen Belastungsstörung erhöhen: Eine Reaktionsweise ist durch die disso-
ziativen Symptome bestimmt, wie sie durch die gegenwärtige DSM-IV-Diagnose
der akuten Belastungsstörung zum Ausdruck kommt, eine andere Reaktionsweise ist
durch das intensive Wiedererleben des Traumas und die starke physische, psychi-
sche und kognitive Übererregung charakterisiert.
z Ein Experte plädiert – abseits von den aktuellen Definitionen der akuten Belastungs-
störung und der posttraumatischen Belastungsstörung – für einen umfassenderen
Blick hinsichtlich aller möglichen posttraumatischen Symptome, die den Verlauf der
Störung bestimmen und die als Prädiktoren für eine Chronifizierung dienen können.

Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand reichen die Daten für eine umfassende Kon-
zeption aller posttraumatischen Reaktionen noch nicht aus, sodass erst weitere Studien
endgültige Klarheit bringen werden. In neuerer Zeit wurden weitere posttraumatische
Stress- bzw. Anpassungsstörungen beschreiben: komplizierte Trauer (schwere Störung
nach Todesfall einer bedeutsamen Bezugsperson), posttraumatische Verbitterungsstö-
rung nach Linden (Verbitterung, dysphorisch-aggressiv-depressiv gefärbte Stimmung).
Substanzinduzierte Angststörung 151

Substanzinduzierte Angststörung –
Angstzustände durch Substanzen
Das DSM-IV [133] führt unter den Angststörungen auch eine substanzinduzierte Angst-
störung an, die aus ausgeprägter Angst, Panikattacken, Zwangsgedanken oder Zwangs-
handlungen bestehen kann. Die Angstsymptome treten während oder innerhalb eines
Monats nach einer Substanzintoxikation (Vergiftung) oder nach einem Entzug auf und
stehen in ursächlichem Zusammenhang mit der Substanzeinnahme (Alkohol, Koffein,
Nikotin, Medikamente, Drogen oder andere Substanzen).
Das ICD-10 kennt keine durch Substanzen ausgelöste Angststörung. Durch die
Doppeldiagnose Panikstörung (F41.0) und Störung durch eine bestimmte Substanz, wie
sie unter der Kategorie F1 angeführt ist, ist dieser Umstand aber dennoch kodierbar.
Alkohol, Nikotin, Kaffee, Medikamente und Drogen können durch Herz-Kreislauf-
Veränderungen (Kollapsneigung oder Kreislaufankurbelung) sowie durch einen Blut-
zuckerabfall Panikattacken verursachen.
Bei Panikpatienten findet man in der Vorgeschichte oft Alkohol- oder Drogen-
(Tranquilizer-)Missbrauch, verstärktes Rauchen und übermäßigen Kaffeekonsum. Nach
dem Auftreten von Panikattacken wird der übermäßige Konsum von Alkohol oder
Tranquilizern eher noch gesteigert. Wenn eine Droge mit beruhigender Wirkung plötz-
lich abgesetzt wird, steigt der Adrenalinspiegel, wodurch eine Panikattacke ausgelöst
werden kann.
Aufputschende Drogen können eine übermäßige Kreislaufreaktion bewirken, die als
Panikattacke erlebt wird, sodass Erwartungsängste bestehen bleiben, auch wenn schon
seit längerer Zeit keine Substanzen mehr eingenommen werden [134].
Überdosierungen bzw. psychische und körperliche Entzugserscheinungen können
aufgrund der erlebten Wirkungen eine ängstliche Körperbeobachtung zur Folge haben.
Viele Drogen (z.B. Kokain, Amphetamine, LSD) entfalten ihre biochemischen Wir-
kungen gerade in jenen Gehirnstrukturen, die mit emotionalen Reaktionen und Ge-
dächtnisvorgängen zu tun haben (mediobasaler Schläfenlappen mit dem zugeordneten
limbischen System). Dies erklärt die emotionalen Veränderungen, abnormen Erregungs-
und Angstzustände („Horrortrips“) sowie Panikattacken [135].
Der Verdacht auf eine substanzbedingte Angststörung kann sich aus dem Vorhan-
densein von Merkmalen ergeben, die für eine primäre Angststörung untypisch sind (z.B.
untypisches Alter bei Störungsbeginn oder untypischer Verlauf).
Bei einer Panikstörung sind dies [136]:
z Beginn nach dem 45 Lebensjahr (was selten ist),
z Vorhandensein von untypischen Symptomen während einer Panikattacke (primärer
Schwindel, Verlust von Gleichgewichts-, Bewusstseins-, Blasen- oder Darmkontrol-
le, Kopfschmerzen, undeutliche Sprache, Amnesie usw.).

Auf eine primäre Angststörung, die bereits vor dem Substanzmissbrauch vorhanden
war, weisen folgende Umstände hin [137]:
z Angstsymptome vor dem Substanzgebrauch,
z Anhalten der Angstsymptome über eine deutliche Zeitspanne (über einen Monat)
nach dem Ende der Substanzeinwirkung oder des akuten Entzugs hinaus,
z Entwicklung von Symptomen, die deutlich ausgeprägter sind, als dies aufgrund von
Art und Menge der eingenommenen Substanz oder aufgrund der Einnahme zu er-
warten ist, früheres Vorhandensein einer primären Angststörung.
152 Angststörungen

Das DSM-IV [138] nennt folgende 10 Substanzklassen, die durch Missbrauch, Vergif-
tung, Nebenwirkungen oder Entzugserscheinungen eine spezifische substanzinduzierte
Angststörung bewirken können (Nikotin und Opiate werden nicht angeführt):
z Koffein
z Alkohol
z Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika
z Amphetamine oder ähnlich wirkende Sympathomimetika
z Kokain
z Cannabis
z Halluzinogene
z Phencyclidine oder ähnlich wirkende Substanzen (hier nicht besprochen)
z Inhalanzien, d.h. Schnüffelstoffe (hier nicht besprochen)
z andere Substanzen (Medikamente)

Koffein
Koffein, die weltweit beliebteste und meistkonsumierte psychotrope Substanz, ist in
Kaffee, Tee, Colagetränken, Schokolade und Kakao enthalten.
Koffein beseitigt in kleinen Dosen (50-250 mg) Müdigkeit, Erschöpfung und allge-
meine Schwäche und macht das Denken und Fühlen lebhafter. Es zeigt sich eine ver-
kürzte Reaktionszeit, eine leichte Euphorie, eine Anregung der Atmung und eine gestei-
gerte Leistungsfähigkeit. Vermehrtes Kaffeetrinken (mehr als 3-4 Tassen Kaffee pro
Tag) kann bei Menschen, die zu Angstzuständen neigen, leicht Panikattacken auslösen.
Mittelhohe Tagesdosen (250-600 mg) können folgende Symptome bewirken: Herz-
rasen, Herzrhythmusstörungen, gerötetes Gesicht, Magen-Darm-Beschwerden, Rast-
und Ruhelosigkeit, Nervosität, Erregung, psychomotorische Agitiertheit, Zittern, Mus-
kelzucken, Einschlafstörung, Schlaflosigkeit, Übersensibilität.
Hohe Dosen (über 600 mg in kurzer Zeit oder über 1000 mg pro Tag) bewirken
Herzrasen, Schlafstörungen, Unruhe und Getriebenheit, Übelkeit und Erbrechen [139].
Die Eliminationshalbwertszeit von Koffein beträgt 3-7 Stunden. Koffein bindet an
den Adenosinrezeptoren im Zentralnervensystem und hemmt die beruhigende Wirkung
von Adenosin, wodurch die aufputschende Wirkung von Kaffee entsteht. Es kommt zur
Erhöhung erregender Neurotransmitter, insbesondere von Dopamin. Nach einigen Tas-
sen Kaffee sind rund 50% der Adenosinrezeptoren mit Koffein besetzt.
In reiner, konzentrierter Form ist Koffein in vielen Medikamenten enthalten (50-200
mg pro Tablette). Nach der Überwindung der Panikstörung sollte der mäßige Kaffeege-
nuss wieder möglich sein, wenn dies früher als angenehm erlebt wurde.
Der Koffeingehalt von Getränken und Arzneimitteln ist sehr unterschiedlich [140]:

1 Tasse Röstkaffee (ca. 225 ml) 125 mg


1 Tasse Instantkaffee (ca. 225 ml) 90 mg
1 Tasse entkoffeinierter Kaffee 4 mg
1 Tasse Tee (Blatt oder Beutel) 60 mg
1 Tasse Kakao (150 ml) 5 mg
1 Dose Coca Cola (333 ml) 40 mg
1 Dose energy drink (z.B. Red Bull®) 80 mg
1 koffeinhaltige Schmerztablette (z.B. Thomapyrin®) 50 mg
Substanzinduzierte Angststörung 153

Alkohol
Alkohol, abhängig machende Beruhigungsmittel und verschiedene Drogen haben an-
fangs zwar eine Angst dämpfende Wirkung, führen jedoch später über Langzeiteinnah-
me, paradoxe Effekte oder Entzugssymptome zu massiven Angstzuständen, sodass erst
recht wieder dieselben Mittel zur Bekämpfung verwendet werden, wenn den Betroffe-
nen diese Zusammenhänge nicht bekannt sind. Längerer Alkoholmissbrauch kann bei
gegenwärtig abstinent lebenden Personen eine Angststörung vorbereitet haben.
Das Missbrauchspotential von Alkohol beruht auf einer Aktivierung dopaminerger
Neurotransmittersysteme, insbesondere dopaminerger Nervenbahnen, die von der Area
tegmentalis ventralis (einer Region der Mittelhirnhaube), zum Nucleus accumbens (ei-
ner Nervenzellenanhäufung im Vorderhirn) und zum frontalen Kortex (vordere Groß-
hirnrinde) verlaufen. Fachlich ausgedrückt: Die erwünschte Wirkung von Alkohol
kommt zustande durch die exzitatorische (erregende) Wirkung von Alkohol auf die
dopaminergen Neurone in der Area tegmentalis ventralis infolge einer durch GABAA-
Rezeptoren vermittelten Hemmung der hemmenden (inhibitorischen) Interneurone.
Einfacher formuliert: Ethanol verstärkt die Wirkung der wichtigsten natürlichen hem-
menden Transmittersubstanz Gamma-Aminobuttersäure (GABA) an bestimmten GA-
BAA-Rezeptoren. Mit anderen Worten: Die entspannende und Angst lösende Wirkung
von Alkohol beruht auf einer Verstärkung der GABA-ergen Wirkungsmechanismen.
Alkohol fördert das GABA-System im Gehirn als natürliches Bremssystem bei Angst
und allen möglichen Erregungen. Ethanol könnte aber auch direkt die Aktivität der
dopaminergen Neurone ohne Zwischenschaltung von Interneuronen erhöhen [141].
Angst im Rahmen des Alkoholentzugs wird durch zwei Faktoren bewirkt [142]:
1. Erniedrigte GABA-Tätigkeit. Chronischer Alkoholkonsum erniedrigt den GABA-
Spiegel im Plasma, was bei Absetzen des Alkohols einen Erregungsanstieg bewirkt.
Bei einem Alkoholentzug bzw. bei reduziertem Alkoholkonsum von Abhängigen
kommt es zu einer länger andauernden Erregbarkeitssteigerung im Zentralnervensy-
stem, was mit Angst verbunden ist und auch bei völligem Absetzen des Alkohols
noch monatelang anhalten kann.
2. Erhöhte noradrenerge Aktivität. Bei einem Alkoholentzug kommt es zu einer Über-
aktivität im Locus coeruleus, der zentralen noradrenergen Struktur, wodurch eine
allgemeine Erregung, speziell auch Angst, entsteht. Häufig werden deshalb Alkohol-
entzugssymptome mit Tranquilizern bekämpft oder dem Arzt die Symptome einer
Panikattacke beschrieben, ohne vom vorausgehenden Alkoholmissbrauch zu berich-
ten, sodass Tranquilizer als (falsche) Behandlungsmethode eingesetzt werden.

Bei einem Alkoholentzug nach übermäßigem und lang dauerndem Alkoholkonsum tre-
ten mindestens zwei der folgenden Symptome innerhalb einiger Stunden oder weniger
Tage auf [143]: Angst, Hyperaktivität des vegetativen Nervensystems (Schwitzen oder
Puls über 100), psychomotorische Agitiertheit, Schlaflosigkeit, Übelkeit oder Erbre-
chen, verstärktes Händezittern (Tremor), vorübergehende visuelle, taktile oder akusti-
sche Halluzinationen oder Illusionen, Grand-mal-Anfälle (epileptische Anfälle).
Langjähriger Alkoholmissbrauch kann durch seine dämpfende Wirkung den Herz-
muskel schädigen und durch den häufigen Vitamin-B1-Mangel das Herz in seiner
Pumpkraft beeinträchtigen. Alkoholkonsum regt auch die Nebennieren zu vermehrter
Ausschüttung von Kortisol an, dem Stresshormon, das den Blutdruck erhöht, indem es
die Wasserausscheidung durch die Nieren hemmt.
154 Angststörungen

Bei Menschen mit hohem Blutdruck werden die ohnehin erhöhten Stresshormone
wegen des Alkohols langsamer abgebaut, sodass der Blutdruck noch mehr ansteigt und
Symptome auftreten (Kopfschmerzen, Schwindel, Atemnot, Druck auf der Brust, Herz-
beschwerden, Leistungsminderung, Unruhegefühl u.a.).
Bei niedrigem Blutdruck macht sich die Blutgefäß erweiternde Wirkung des Alko-
hols bemerkbar, sodass beim Stehen besonders viel Blut in den weit gestellten Venen
der Beine versackt. Durch die Gegenregulation kommt es zu Herzrasen und Schweiß-
ausbrüchen.

Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika


Sedativa (Beruhigungsmittel), Hypnotika (Schlafmittel) und Anxiolytika (Angst lösende
Mittel) umfassen Benzodiazepine, Carbamate (z.B. Meprobamat®), Barbiturate und
barbituratähnliche Hypnotika. Zu dieser Substanzklasse gehören alle Schlafmittel und
fast alle sofort wirkenden Angst lösenden Medikamente.
Diese Mittel haben eine ähnliche Wirkung wie Alkohol: sie dämpfen, können sub-
stanzinduzierte Angststörungen auslösen und bewirken bei Beendigung oder Reduktion
eines schweren oder lang anhaltenden Konsums dieselben Entzugserscheinungen wie
bei Alkoholabhängigkeit.
Der Entzug tritt bei kurz wirkenden Substanzen (z.B. Triazolam: Halcion®) inner-
halb von Stunden, bei lang wirkenden Medikamenten (z.B. Diazepam: Valium®) erst
nach 1-2 Tagen oder später auf. Diese Medikamente – die klassischen Beruhigungsmit-
tel – werden im Kapitel über Psychopharmakotherapie ausführlich besprochen.

Amphetamine und ähnlich wirkende Sympathomimetika


Zu dieser Substanzklasse zählen folgende Mittel [144]:
z Amphetaminpräparate (oft auch „Weckamine“ genannt);
z Methamphetamin: amphetaminähnliche Substanzen, z.B. „Speed“ und „Ice“ (wirkt
durch Rauchen rasch und intensiv stimulierend, ähnlich wie „Crack“-Kokain), das
Präparat Pervitin® wurde im 2. Weltkrieg von Soldaten vieler Länder eingenommen;
z Substanzen mit anderer Struktur, jedoch amphetaminähnlicher Wirkung (z.B. Me-
thylphenidat: Ritalin®, Fenetyllin: Captagon®);
z einige Appetitzügler („Diätpillen“).

Die Hauptvertreter dieser Substanzgruppe sind die Amphetaminderivate, die in Öster-


reich mittlerweile verboten und nur mehr illegal erhältlich sind.
In Deutschland sind die Amphetaminpräparate ebenfalls nicht mehr im Handel,
strukturverwandte Substanzen sind verschreibungspflichtig oder finden im Rahmen der
Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung in begrenztem Umfang therapeutische
Verwendung (z.B. die Präparate Ritalin® und Captagon®).
Amphetamine zählen zur Gruppe der Psychostimulanzien, die natürliche Substanzen
(z.B. Kokain) und synthetische Substanzen (z.B. Amphetamine) umfassen.
Amphetamine und amphetaminähnliche Drogen wirken (abgesehen von der fehlen-
den anästhetischen Wirkung) ähnlich wie Kokain, nur länger, können jedoch intensivere
periphere sympathomimetische Effekte aufweisen (Sympathikusüberregung).
Substanzinduzierte Angststörung 155

Psychostimulanzien jeder Art haben folgende Effekte [145]:


z Dopamin-Wiederaufnahmehemmung. Psychostimulanzien bewirken eine Wieder-
aufnahmehemmung des Neurotransmitters Dopamin in den präsynaptischen Spalt
und damit ein längeres Verweilen von Dopamin im synaptischen Spalt und verstär-
ken und verlängern dadurch die Dopaminwirkung auf das mesolimbische System im
Gehirn (Sitz des „Belohnungssystems“).
z Ausschüttung von Stresshormonen. Viele Stimulanzien verursachen eine Ausschüt-
tung der stimulierenden Katecholamine Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin.
z Hemmung der Monoaminooxidase (MAO). Die MAO baut im präsynaptischen Neu-
ron Katecholamine ab. Die Stimulanzien hemmen diesen Vorgang und bewirken
damit eine höhere Katecholaminmenge in der präsynaptischen Nervenendigung.
z Manche Stimulanzien haben eine Eigenwirkung auf postsynaptische Katecholamin-
rezeptoren einschließlich der Dopaminrezeptoren.

Die vielfältigen Wirkungsmöglichkeiten machen den subjektiv belohnenden Effekt


(„Kick“) im mesolimbischen System des Gehirns aus, wenngleich je nach Substanz eine
etwas unterschiedliche Wirkungsweise gegeben ist.
Amphetamin und seine Derivate setzen Dopamin und Noradrenalin aus den präsy-
naptischen Nervenendigungen frei und hemmen gleichzeitig die Wiederaufnahme in das
präsynaptische Neuron, wodurch deren Wirksamkeit steigt. Diese Substanzen unter-
drücken durch die bessere Durchblutung und Sauerstoffversorgung Müdigkeit und
Schläfrigkeit, beseitigen körperliche Abgeschlagenheit und Schlappheit, bewirken all-
gemeines Wohlgefühl und leichte Euphorie („high“-Gefühl) und verbessern kurzfristig
die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit [146]. Einige Amphetamine sind „Appetit-
zügler“, weil sie das Hungergefühl unterdrücken.
Als Nebenwirkungen des Amphetamingebrauchs sind zu erwarten: Herzrasen, Herz-
stolpern, Blutdruckerhöhung, Schlaflosigkeit, Albträume, Zittern, Kopfschmerzen,
Mundtrockenheit, Durchfall u.a.
Psychostimulanzien gewinnen im Rahmen der Leistungsgesellschaft steigende Be-
deutung. Die „neuen Abhängigen“ möchten erfolgreich sein. Sie haben oft Versagens-
ängste und versuchen sich durch „Speed“-Präparate fit zu halten.
Eine Amphetaminintoxikation weist nach DSM-IV [147] folgende Symptome auf:
z Unangepasste verhaltensbezogene oder psychische Veränderungen: Angst, Anspan-
nung, Aggressivität, Euphorie oder affektive Verflachung, Hypervigilanz (über-
mäßige Wachheit), Veränderung in der Geselligkeit, vermindertes Urteilsvermögen,
reduzierte soziale und berufliche Funktionstüchtigkeit.
z Mindestens zwei der folgenden Symptome: Tachykardie (Herzrasen) oder Bradykar-
die (langsamer Herzschlag), erhöhter oder erniedrigter Blutdruck, Schwitzen oder
Frösteln, Übelkeit oder Erbrechen, Gewichtsverlust, psychomotorische Agitiertheit
oder Verlangsamung, Muskelschwäche, Abfall der Atemfrequenz (Atemdepression),
Brustschmerzen, Herzrhythmusstörungen, Verwirrtheit u.a.

Bei Amphetaminabhängigkeit treten – wie bei regelmäßiger Kokaineinnahme – oft auch


starke Angstzustände und paranoide Vorstellungen auf.
Die heutzutage viel diskutierten Designerdrogen [148] zählen ebenfalls zu den am-
phetaminähnlichen Stoffen. Es handelt sich dabei um chemisch hergestellte Mischungen
aus amphetaminähnlichen und halluzinogenen Stoffen, die je nach Zusammensetzung
unterschiedliche Wirkungen haben können.
156 Angststörungen

Der Amphetaminanteil führt zu Antriebssteigerung, Schlaf- und Appetitlosigkeit,


innerer Unruhe, gesteigertem Rededrang und Gedankenbeschleunigung. Die bei uns
aktuellste Designerdroge ist das Amphetaminpräparat Ecstasy. Durch die Ampheta-
minwirkung kann es zu massiven Kreislaufreaktionen, im Extremfall zu Überhitzung
und Herz-Kreislauf-Versagen wegen der zu geringen Abkühlung und der fehlenden
Flüssigkeitszufuhr kommen (z.B. bei Rave-Partys). Auftretende Panikattacken können
bei dafür sensiblen Personen eine Ecstasy-induzierte Angststörung auslösen.

Kokain
Kokain wurde 1884 von Sigmund Freud als Mittel gegen Depressionen und Angstzu-
stände empfohlen und in jahrelangen Selbstversuchen erprobt, später aber als sehr ge-
fährlich erkannt. Kokain ist eine natürliche Substanz aus den Blättern des Cocastrau-
ches, die in der Drogenszene „Koks“ oder „Schnee“ genannt wird.
Kokain drängt die Neurotransmitter Noradrenalin, Dopamin und Serotonin aus den
synaptischen Endknöpfen der Nervenendigungen im Gehirn und bewirkt durch deren
Anstieg in den entsprechenden Synapsen eine künstliche Hochstimmung und Munter-
keit. Gleichzeitig wird durch die Wiederaufnahmehemmung von Noradrenalin, Dopa-
min und Serotonin in die präsynaptische Nervenendigung eine längere Wirkdauer der
Reizleitung ermöglicht [149].
Die entscheidenden verhaltensverstärkenden und psychisch stimulierenden Effekte
von Kokain beruhen auf seiner Wirkung auf die mesolimbischen dopaminergen Nerven-
endigungen (lokalisiert im medialen präfrontalen Kortex, Nucleus accumbens, Amygda-
la-Komplex und Hippocampus).
Die Verstärkung der Dopamin-Aktivität kann schizophrenieartige Psychosen auslö-
sen oder verschlimmern. Serotonin ist auch an den Wirkungen von Kokain beteiligt (ein
Serotoninmangel steigert die Wirksamkeit von Kokain als positivem Verstärker).
Kokain hat die stärkste Wirkung aller Stimulanzien. Wegen der kurzen Elimina-
tionshalbwertszeit (30-90 Minuten) ist eine häufige Einnahme erforderlich, um „high“
zu bleiben. Kokain findet zunehmende Verbreitung. Es wird anfangs oft als Mittel zur
Steigerung der Leistungsfähigkeit eingesetzt.
Kokain hat drei zentrale pharmakologische Wirkungen: Lokalanästhetikum, Veren-
gung der Blutgefäße, starkes Psychostimulans mit ausgeprägten Verstärkungseigen-
schaften.
Kokain aktiviert über den Noradrenalinanstieg in den Synapsen das sympathische
Nervensystem mit allen Folgen [150]: gesteigerte Aufmerksamkeit, motorische Hyper-
aktivität, Anstieg der Pulsfrequenz, Gefäßverengung, Blutdruckerhöhung, Erweiterung
der Bronchien und Bronchiolen, Anstieg der Körpertemperatur, Pupillenerweiterung,
erhöhte Glukoseverfügbarkeit und Verlagerung der Durchblutung von den inneren Or-
ganen zu den Muskeln.
Kokainkonsumenten befinden sich in folgendem Dilemma [151]:
z Appetit, Schlaf und Müdigkeit werden unterdrückt, kehren später aber verstärkt
zurück.
z Die motorische Aktivität wird erhöht, was sich bald in Erregtheit, Unruhe und Be-
wegungsdrang äußert.
z Bewusstseinsklarheit und geistige Präsenz nehmen wunschgemäß zu, gehen später
jedoch in Erschöpfung über.
Substanzinduzierte Angststörung 157

z Es kommt zur erwünschten sofortigen und intensiven Euphorie und gesteigerten


Selbstsicherheit, später jedoch zu einem ausgeprägten Angstzustand, der mehrere
Stunden andauert. Zusätzlich treten noch Depressionen und im Extremfall Wahnvor-
stellungen auf. Das Bedürfnis nach Wiederherstellung der Euphorie führt rasch zur
psychischen Abhängigkeit.

Chronischer Kokainkonsum im Sinne einer psychischen Abhängigkeit führt zu Angst,


Depression, Verfolgungsideen, aggressiven Verhaltensweisen und Gewichtsverlust.
Ein Kokainentzug nach Absetzen oder Reduktion der Substanz bewirkt eine dyspho-
rische Verstimmung sowie mindestens zwei der folgenden physiologischen Verände-
rungen [152]: Müdigkeit, psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung, lebhafte und
unangenehme Träume, Schlaflosigkeit oder übermäßiges Schlafbedürfnis, gesteigerten
Appetit. Eine körperliche Abhängigkeit mit Entzugssymptomen tritt dagegen nicht auf.
Eine Kokainintoxikation besteht nach dem DSM-IV [153] in folgenden Symptomen:
z Unangepasste verhaltensbezogene oder psychische Veränderungen: Euphorie oder
affektive Verflachung, Angst, Anspannung oder Ärger, Hypervigilanz, Veränderun-
gen im Sozialverhalten, beeinträchtigtes Urteilsvermögen oder Beeinträchtigungen
im sozialen oder beruflichen Bereich. Es können auch Wahrnehmungsstörungen
(Halluzinationen) auftreten.
z Mindestens zwei körperliche Symptome: Tachykardie oder Bradykardie, erhöhter
oder erniedrigter Blutdruck, Schwitzen oder Schüttelfrost, Übelkeit oder Erbrechen,
Gewichtsverlust, Pupillenerweiterung, psychomotorische Agitiertheit oder Verlang-
samung, Muskelschwäche, flache Atmung, Brustschmerzen, Herzrhythmusstörun-
gen, Verwirrung, Anfälle, Dystonie, Dyskinesien.

Cannabis
Cannabis ist die weltweit am häufigsten konsumierte illegale Substanz. Jeder Fünfte
Europäer hat schon einmal gekifft, etwa 5% der 14- bis 25-Jährigen tun dies öfter.
Cannabis wird aus den weiblichen Hanfpflanzen gewonnen, und zwar als Marihua-
na (Gemisch aus getrockneten harzhältigen Blättern, Stielen und Blüten) und Haschisch
(aus dem stärker wirksamen Harz der Hanfpflanze) [154]. Das Harz enthält den Wirk-
stoff THC (Tetrahydrocannabinol) besonders reichlich. Haschisch ist im Verhältnis von
5:1 stärker als Marihuana. Hochgezüchtetes und daher gefährlicheres Kraut enthält
20-25% THC statt den bisher üblichen 0,5-5%. THC aktiviert die dopaminergen Neuro-
ne und bewirkt einen massiven Anstieg des Serotoninspiegels im Gehirn. Serotonin hat
eine Funktion bei der Reizübermittlung im limbischen System und im retikulären Sy-
stem und beeinflusst damit Emotionen, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit [155].
Die Wirkung von Cannabis besteht im Allgemeinen in einer weitgehenden Aus-
schaltung negativer Umwelteinflüsse bis hin zu einem Zustand, den die Konsumenten
als Höhepunkt des Rausches verstehen („high“ sein). Es kommt im typischen Fall zu
starkem Wohlempfinden, die charakteristische Haschischwirkung kann zweiphasig
verlaufen: nach anfänglicher Stimulation erfolgt eine Sedierung. Es kommt zu keiner
körperlichen Abhängigkeit, die Tendenz zur Dosissteigerung ist gering ausgeprägt.
Die gleichzeitige Dämpfung und Erregung verschiedener Bereiche des Gehirns führt
zu Stimmungsschwankungen und emotionaler Labilität (unmotivierter Wechsel von
Heiterkeit und tiefer Traurigkeit). Die vorhandene Stimmungslage wird verstärkt.
158 Angststörungen

Die Serotoninwirkung bewirkt eine Verengung der peripheren Blutgefäße (kalte


Hände und Füße) und eine Erhöhung der Pulsfrequenz um 20-30 Schläge pro Minute.
Starker und regelmäßiger Konsum führt zu chronischer Bronchitis, Husten, Atemnot,
geschwächter Infektionsabwehr, Konzentrations- und Kurzzeitgedächtnisstörungen. Bei
einem Drittel der Cannabiskonsumenten zeigen sich leichte Formen von Angst, Depres-
sion oder Reizbarkeit. Bei hohen Dosen können „Horrortrips“ auftreten, die sich ähn-
lich wie Halluzinogen induzierte „bad trips“ äußern können: als leichte bis mäßige
Angstzustände, als schwere Angstzustände im Ausmaß einer Panikattacke, als paranoi-
de Ideen und Halluzinationen. Bei psychischer Abhängigkeit bewirkt das Absetzen der
Substanz psychische Entzugssymptome [156]: Angst, Unruhe, Reizbarkeit, Schlafstö-
rungen und vegetative Störungen.
Eine Cannabisintoxikation weist folgende Symptome auf [157]:
z Unangepasste verhaltensbezogene oder psychische Veränderungen: zuerst Euphorie
(erwünscht), dann Angst, sozialer Rückzug, Beeinträchtigung der motorischen Ko-
ordination, beeinträchtigtes Urteilsvermögen.
z Mindestens zwei körperliche Symptome: Herzrasen, Mundtrockenheit, gesteigerter
Appetit, Sichtbarwerden von Gefäßen beim Auge.

Bei zahlreichen jüngeren Menschen hat der mehr oder weniger regelmäßige Haschisch-
Konsum die Entwicklung einer Angststörung begünstigt, sodass in der klinischen Praxis
stets nach einem Cannabis-Konsum gefragt werden sollte.

Halluzinogene
Die inhomogene Gruppe der Halluzinogene umfasst natürliche oder chemische Stoffe,
die für eine bestimmte Zeit das Bewusstsein und die Stimmungslage verändern und
schizophrenieähnliche Zustände bewirken.
Das bekannteste Halluzinogen ist LSD (Lysergsäurediethylamid), ein Wirkstoff des
Mutterkorns, ein Pilz, der auf Getreideähren wächst, gefolgt von Mescalin und Psilocy-
bin. Designerdrogen bestehen oft aus unterschiedlichen Mischungen von Halluzinoge-
nen und Amphetaminen [158].
Eine Halluzinogenintoxikation weist folgende Symptome auf [159]:
z Unangepasste verhaltensbezogene oder psychische Veränderungen: deutliche Angst
oder Depression, Beziehungsideen, Furcht, den Verstand zu verlieren, paranoide
Vorstellungen, beeinträchtigte Urteilsfähigkeit, beeinträchtigte soziale bzw. berufli-
che Funktionsfähigkeit.
z Wahrnehmungsveränderungen: Wahrnehmungsintensivierung, Depersonalisation,
Derealisation, Illusionen, Halluzinationen, Synästhesien (Miterregung eines Sinnes-
organs bei Reizung eines anderen, z.B. Farbensehen bei Tönen).
z Mindestens zwei körperliche Symptome (als Folge der stimulierenden Wirkung):
Herzrasen, Herzstolpern, Schwitzen, Verschwommensehen, Zittern, Koordinations-
störungen, rascher Wechsel der Pupillenweite (Mydriasis).

Chronischer Halluzinogenkonsum bewirkt oft folgende Angstzustände [160]:


z Horrortrips: massive akute Angstanfälle mit paranoid-halluzinatorischer Färbung.
z Flash-back-Phänomene: Ohne neuerliche Drogeneinnahme erfolgt unerwartet eine
neuerliche Rauschwirkung, begleitet von intensiver Angst und Desorientierung.
Substanzinduzierte Angststörung 159

Andere Substanzen (Medikamente)


Angstzustände können durch zahlreiche Medikamente ausgelöst werden [161]:
z Antibiotika: die intramuskuläre Verabreichung von Procain-Penicillin G kann starke
Angst- und Panikzustände auslösen,
z Antihistaminika (Allergiemittel),
z Antisympathotonika (Mittel, die den Blutdruck senken): das abrupte Absetzen der
Substanz Clonidin, Präparat Catapresan®, bewirkt eine überschießende Freisetzung
von Katecholaminen, was mit der vorher erzwungenen noradrenergen Freisetzungs-
hemmung sowie mit Rezeptordichteveränderungen zusammenhängt,
z Alpha-Sympathomimetika (gefäßverengende Mittel zur Behandlung hypotoner Blut-
druckstörungen und zur Schleimhautabschwellung bei Entzündungen): nach länge-
rem Gebrauch kann das abrupte Absetzen von vasokonstringierenden alpha-
sympathomimetischen Nasentropfen, speziell Oxymetazolin, zu Angst- und Panik-
zuständen führen, bedingt durch den Wegfall der natürlichen Hemmungsprozesse im
Locus coeruleus, in dem eine hohe Noradrenalinkonzentration gegeben ist,
z Antiarhythmika (Mittel gegen Herzrhythmusstörungen): die Substanz Lidocain kann
eine ausgeprägte und spezifische Todesangst bewirken,
z Asthmamittel,
z anabole Steroide (männliches Sexualhormon zur Steigerung der sportlichen Lei-
stungsfähigkeit),
z Glukokortikoide (z.B. Kortison),
z Schilddrüsenpräparate,
z bestimmte Erkältungsmittel,
z Antiparkinsonmittel mit anticholinergen Effekten,
z Zytostatika (gegen Tumorzellen), z.B. Ifosfamid,
z Analgetika (Schmerzmittel),
z orale Kontrazeptiva: bestimmte Präparate können eine ängstlich-depressive Ver-
stimmung bewirken.

Schwermetalle und Toxine (z.B. flüchtige Stoffe wie Benzin oder Farben, organo-
phosphatische Insektizide, Nervengas, Kohlenmonoxid, Kohlendioxid) können eben-
falls Angstsymptome bewirken.

Nikotin
Nikotin wird im DSM-IV nicht unter den Substanzen angeführt, die eine Angststörung
auslösen können. Die Forschungsergebnisse reichen derzeit nicht aus, um von einer
Intoxikation durch Nikotin und daraus resultierender Angst sprechen zu können. Bei der
Darstellung des Nikotinentzugs wird jedoch auf das mögliche Auftreten von Ängsten
hingewiesen. Es gibt jedoch immer mehr Belege dafür, dass Rauchen das Auftreten von
Panikattacken begünstigt.
Nikotin stimuliert spezifische Acetylcholinrezeptoren im Gehirn und steigert so die
psychomotorische Aktivität, die geistige Leistungsfähigkeit, die sensomotorische Lei-
stung, die Aufmerksamkeit und die Merkfähigkeit [162]. Gleichzeitig aktiviert Nikotin
über die vermehrte Adrenalin- und Noradrenalinausschüttung das sympathische Ner-
vensystem und versetzt den Körper in einen Alarmzustand wie bei einer Stressreaktion.
160 Angststörungen

Nikotin beschleunigt den Herzschlag und verengt die Blutgefäße, wodurch der Blut-
druck erhöht wird. Die anfängliche Leistungssteigerung führt jedoch bald zu einer Lei-
stungsminderung (durch Blutdruckabfall und Sauerstoffmangel).
Langfristig bewirkt zu viel Nikotin eine Störung der Serotonin-Speicherverteilung,
eine Hemmung der Proteinsynthese, eine Blutgefäßverengung und eine Arterienverkal-
kung.
Nikotin raubt dem Körper in Belastungssituationen den nötigen Sauerstoff und über
die Appetithemmung die nötige Energie, sodass die körperliche Leistungsfähigkeit
letztlich gesenkt wird, und zwar gerade dann, wenn aufgrund von körperlicher oder
psychischer Belastung ein Mehrbedarf an Sauerstoff erforderlich ist. Der Nikotintrans-
port über die Blutbahn beeinträchtigt den Sauerstofftransport.
Sauerstoff wird durch Bindung von Sauerstoffmolekülen an die roten Blutkörper-
chen transportiert. Das im Rauch enthaltene giftige Kohlenmonoxid bindet in gleicher
Weise an die roten Blutkörperchen (Erythrozyten), und zwar 200-mal leichter als Sauer-
stoff. Selbst bei niedriger Kohlenmonoxidkonzentration werden 15-20% aller Erythro-
zyten mit Kohlenmonoxid „besetzt“ und fallen für ihre eigentliche Aufgabe als Sauer-
stoffträger aus [163]. Das Kohlenmonoxid im Blut verhindert eine ausreichende Sauer-
stoffzufuhr zum Gehirn und zu anderen Organen, insbesondere zum Herzen, wodurch
Herzrhythmusstörungen und Angina-Pectoris-artige Anfälle auftreten können.
Beim Nikotinentzug (plötzliche Beendigung des Rauchens innerhalb von 24 Stun-
den) treten nach dem DSM-IV [164] mindestens vier der folgenden Symptome auf:
Angst, Unruhe, verminderte Herzfrequenz, Konzentrationsschwierigkeiten, Ablenkbar-
keit, Enttäuschung oder Ärger, dysphorische oder depressive Stimmung, Schlaflosig-
keit, gesteigerter Appetit oder Gewichtszunahme.
Nach einer amerikanischen Studie kann tägliches Rauchen von mehr als 20 Zigaret-
ten später zu Angst- und Panikstörungen führen. 688 Jugendliche wurden im Alter von
durchschnittlich 16 Jahren zwischen 1985 und 1986 und erneut im Alter von etwa 22
Jahren zwischen 1991 und 1993 interviewt. Die Auswertung ergab, dass von den star-
ken Rauchern im Alter von 16 Jahren mit 22 Jahren 10,3% an Platzangst litten gegen-
über 1,8% der anderen Jugendlichen. Angststörungen hatten im Alter von 22 Jahren
20,5% der Raucher, hingegen nur 3,71% der übrigen jungen Erwachsenen, bezüglich
schwerer Panikattacken lagen die starken Raucher ebenfalls auf Platz 1 mit 7,7% ge-
genüber 0,6%.

Opiatentzug
Opiatbedingte Angstzustände sind im DSM-IV nicht als substanzbedingte Angststörun-
gen kodierbar, weil sie nicht durch die Substanz als solche, sondern erst durch deren
Entzug auftreten. Unter den zahlreichen recht belastenden und schmerzvollen Sympto-
men eines Opiatentzugs (z.B. Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Schwitzen, Fieber, Mus-
kelschmerzen, Gänsehaut, Tränenfluss, Schlaflosigkeit, dysphorische Verstimmung)
finden sich auch regelmäßig Angst und Unruhe.
Angstzustände gehören nicht nur zu den ersten Entzugssymptomen, sondern entwik-
keln sich auch im Rahmen der weniger akuten, über Wochen und Monate anhaltenden
Entzugssymptome, oft in Verbindung mit dysphorisch-depressiver Verstimmung,
Freudlosigkeit und Schlafstörung [165]. Angst und Unruhe treten in ähnlicher Weise
auf wie bei einem Entzug von Alkohol, Sedativa, Hypnotika und Anxiolytika.
Angststörungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors 161

Angststörung aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors


Das ICD-10 kennt eine organische Angststörung (F06.4) als Folge zerebraler Funkti-
onsstörungen (z.B. Temporallappenepilepsie, Thyreotoxikose, Phäochromozytom). Die
Symptomatik ist neben der organischen Grundkrankheit charakterisiert durch die Krite-
rien einer Panikstörung (F41.0), einer generalisierten Angststörung (F41.1) oder einer
Kombination von beiden.
Das DSM-IV [166] beschreibt eine Angststörung aufgrund eines medizinischen
Krankheitsfaktors. Diese Diagnose ist auch dann zu berücksichtigen, wenn nach der
Beseitigung der organischen Ursachen für die ersten Panikattacken die späteren Panik-
attacken durch rein psychogene Faktoren (z.B. Erwartungsängste) ausgelöst werden.
Dabei sind nach dem Vorherrschen der jeweiligen Symptomatik drei Zusatzkodierungen
möglich: mit generalisierter Angst, mit Panikattacken, mit Zwangssymptomen.
Rein körperliche Störungen können zu einem Zustandsbild führen, das dem von Pa-
nikattacken nach außen hin völlig gleicht. Die Diagnose einer Angst- und Panikstörung
erfordert den Ausschluss von körperlichen Störungen oder ist nur als Zusatzdiagnose
angebracht. Die Vielfalt der möglichen organischen Ursachen für Panikattacken ist
häufig der Anlass zu einer sehr aufwändigen und kostspieligen Untersuchung. Der Arzt
muss entscheiden, welche Untersuchungen im gegebenen Fall unbedingt notwendig
sind, kann aber durch noch so viele organische Untersuchungen das Faktum einer Pa-
nikstörung nicht positiv belegen. Die Feststellung einer bestimmten psychischen Stö-
rung erfolgt nicht aufgrund einer Ausschlussdiagnostik, sondern erfordert eine Diagno-
stik entsprechend den Kriterien für die jeweilige Störung. Das Vorhandensein der Krite-
rien für eine Panikstörung bedeutet andererseits nicht automatisch das Fehlen organi-
scher Faktoren, wie die diagnostische Kategorie „organische Angststörung“ zeigt.
Panikartige Angstzustände treten bei vielen körperlichen Krankheiten auf [167]:
z als angst- und panikähnliche Symptomatik, die sich aufgrund einer Untersuchung als
rein organisch bedingt erweist (z.B. Schilddrüsenüberfunktion, Nebennierenrinden-
überfunktion, Hypoglykämie, Lungenembolie, Mitralklappenprolaps),
z als seelisch-körperliche Wechselwirkung (z.B. niedriger Blutdruck, verstärkt in
psychischen Stresssituationen),
z als seelische Reaktion auf ein bekanntes, organisch bedingtes, beunruhigendes und
belastendes Leiden (z.B. Krebs, Herzerkrankung, multiple Sklerose, chronische
Schmerzen),
z als Angstzustand vor oder nach einer schweren Operation (z.B. Kopfoperation).

Panikartige Ängste können folgende organische Ursachen haben [168]:


z endokrine (hormonelle) Störungen (z.B. Hyperthyreoidismus, Phäochromozytom),
z metabolische (stoffwechselbedingte) Störungen (z.B. Hypoglykämie, Hypoxie),
z kardiovaskuläre Störungen (Herz-Kreislauf-System),
z respiratorische Störungen (Atemwegserkrankungen wie z.B. Asthma),
z neurologische Störungen (z.B. Temporallappenepilepsie, Enzephalopathie)
z diätetische Faktoren (Vitaminmangelerkrankungen, Mineralstoffwechselstörungen,
Koffeinüberdosierung, Natriumglutamat, bekannt als „China-Restaurant-Syndrom“),
z Infektionen,
z sezernierende Tumore (Karzinoid, Insulinom, Phäochromozytom),
z hämatologische Faktoren (Anämien),
z immunologische Faktoren (Anaphylaxie, systemischer Lupus erythemathodes).
162 Angststörungen

Menschen mit Angststörungen weisen häufiger körperliche Begleiterkrankungen auf als


Kontrollgruppen. Unter Angstpatienten fand man bei 31% Ulkuserkrankungen, bei 27%
Hypertonie und bei 17% Herzerkrankungen [169]. Unter Patienten mit psychosomati-
scher Rehabilitation fand man bei 38,7% gleichzeitig Angststörungen und körperliche
Erkrankungen. Bei Hinweisen auf einen kürzlichen oder andauernden Substanzgebrauch
muss eine substanzinduzierte Angststörung in Betracht gezogen werden.
Bei sekundären Angstsyndromen treten körperliche Ursachen in folgender Häufig-
keit auf [170]:
z neurologische und endokrinologische Ursachen bei jeweils 25%,
z Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronische Infektionen und Autoimmunerkrankungen
bei jeweils 12%,
z andere Ursachen (Medikamente, Drogen, Ernährungsstörungen, Morbus Menière,
bösartige Erkrankungen) bei insgesamt 14%.

Einige der häufigsten organischen Ursachen für Panikattacken werden im Folgenden


näher dargestellt.

Herz- und Kreislaufstörungen

Herz-Kreislauf-Kranke und Menschen mit Panikattacken und generalisierter Angststö-


rung berichten häufig dieselben Beschwerden: Druckgefühle in der Brust, Nervosität,
Herzklopfen, Tachykardien, Atemnot, anfallsweises Schwitzen und Muskelzittern, Ge-
sichtsblässe, Schwächegefühle, Furcht und Beklemmungsgefühle.
Dies weist auf die Notwendigkeit einer gleichzeitigen organischen und psychischen
Untersuchung hin. Vor allem bei Patienten unter 40 Jahren ist eine Angststörung zu
vermuten. Es können jedoch auch gleichzeitig eine organische und eine psychische
Beeinträchtigung gegeben sein.
Epidemiologische Studien belegen, dass durch das gleichzeitige Vorhandensein von
Herz-Kreislauf-Erkrankung und Depression bzw. Angststörung eine ungünstigere Ent-
wicklung gegeben ist.
Kardiovaskuläre Störungen wie Herzinfarkt, Angina Pectoris, Mitralklappenprolaps,
Durchblutungsstörungen (insbesondere Koronarinsuffizienz), niedriger oder hoher
Blutdruck können verständliche Ängste in Bezug auf die körperliche Befindlichkeit und
das weitere Leben auslösen.
Das Herzangstsyndrom nach einem überstandenen Herzinfarkt oder einer Bypass-
Operation wird in der Praxis oft unterschätzt oder übersehen. Laut einer Studie leiden
etwa 14% aller Herzpatienten unter Panikstörungen. Aufgrund der intensiven Körperbe-
obachtung und der Erwartungsängste kommt es zu vegetativen Symptomen, die die
körperlichen Zustände nach einem Herzinfarkt verschlimmern.
Die Symptome bei einer Angina Pectoris stellen eine ständig wiederholte Erfahrung
von Todesangst dar.
Ein Mitralklappenprolaps (anlagebedingter Vorfall eines oder beider Segel in den
linken Vorhof des Herzens während des Blutauswurfs), der mit einer Häufigkeit von
etwa 6% der Bevölkerung gar nicht selten vorkommt, führt bei der Hälfte der Betroffe-
nen zu Herzrasen, Herzstechen, Magenschmerzen, Beklemmungsgefühl, Atemnot,
Angstzuständen und Panikattacken. Bei Menschen mit Panikattacken kommt ein Mi-
tralklappenprolaps mit einer Rate von 18% deutlich erhöht vor.
Angststörungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors 163

Zwischen einem Mitralklappenprolaps-Syndrom und einer Panikstörung bzw. Herz-


phobie besteht kein Zusammenhang. Ein Mitralklappenprolaps bei Panikpatienten ist
gewöhnlich nicht schwerwiegend und nur von subklinischem Ausmaß (keine pathologi-
schen Herzgeräusche, keine Einschränkung der Funktion des linken Ventrikels).
Blutdruckprobleme können sowohl Ursache als auch Folge von Angstzuständen
sein. Durchblutungsstörungen im Gehirn (z.B. transiente ischämische Attacken) führen
ebenfalls zu Angst machenden Zuständen.
Die Angst bei organischen Herzerkrankungen ist oft verschlüsselt, bewusst ver-
drängt oder durch depressive Reaktionen verdeckt, während sie bei Herzphobikern
offen zutage tritt und einen stark appellativen und Hilfe suchenden Charakter annimmt.

Störungen der Lunge und der Atemwege

Respiratorische Störungen wie Asthma, Lungenembolie, Emphysem, Hypoxie, chro-


nisch obstruktive Lungenerkrankungen (COPD), Pneumonie, Lungenödem und chroni-
sche Bronchitis führen zu Angst machender Atemnot bzw. zu einem lebensbedrohenden
Zustand, der später angstvoll erinnert wird.
Bei Asthma führen bestimmte Reize (Bakterien, Viren, Pilze, Allergene u.a.) zum
Anschwellen der Schleimhaut und zur Verkrampfung der Bronchienmuskulatur, wo-
durch die Ausatmung blockiert wird.
Das Schlafapnoesyndrom (Atemaussetzen im Schlaf) kann leicht mit Panikattacken
im Schlaf verwechselt werden, sodass eine Schlaf-EEG-Untersuchung erforderlich ist.
Eine Nasenscheidewandverkrümmung führt durch die Beeinträchtigung der Nasen-
atmung zu einer übermäßigen Mundatmung mit entsprechenden Problemen.

Allergien

Allergien sind immunologische Unverträglichkeitsreaktionen bzw. übersteigerte Ab-


wehrreaktionen des Immunsystems gegenüber Pollen, Hausstaubmilben, Schimmelpilz-
sporen, Nahrungsmitteln, Medikamentenzusätzen, Nickel bei Modeschmuck sowie
zahlreichen anderen Fremdstoffen. Die bei der allergischen Reaktion freigesetzten kör-
pereigenen Reizstoffe (z.B. Histamin) bewirken im Extremfall einen anaphylaktischen
Schock: Blutdrucksenkung durch eine starke Gefäßerweiterung, Herzrhythmus-, Atem-,
Haut- und Magen-Darmstörungen. Die allergische Kreislaufreaktion tritt 5-20 Minuten
nach dem Kontakt mit dem Allergen auf und verläuft in 4 Stadien. Die Stadien 1 und 2
haben Ähnlichkeiten mit Panikattacken. Es kommt zu einer Sofortreaktion mit starker
Gefäßerweiterung, die einen Blutdruckabfall bewirkt, der durch Herzrasen zu beheben
versucht wird, weiters zu Beschwerden wie Kloßgefühl im Hals, Atemnot, Druck auf
der Brust, Husten, Erröten der Haut, Juckreiz, Wärmegefühl, Schwindel, Kopfschmer-
zen, Übelkeit, Magen-Darm-Krämpfen, Koliken, Erbrechen und Durchfällen.
Die Angst vor Panikattacken kann mit erlebten allergischen Reaktionen zusammen-
hängen. Nach einer Studie [171] hatten 70% der untersuchten Panik- und Agoraphobie-
Patienten leichte bis mittelschwere allergische Reaktionen vom Soforttyp-I (vermittelt
durch den Antikörper IgE). Bei weiteren 15% der Angstpatienten traten verzögerte Typ-
IV-Reaktionen auf (vermittelt durch sensitivierte T-Lymphozyten). 45% der untersuch-
ten Allergiker erlebten in der Vergangenheit Panikattacken.
164 Angststörungen

Hypoglykämie

Extrem niedriger Blutzucker (Hypoglykämie) bei Diabetikern (Nüchternblutzucker unter


50 mg %) stellt eine Gefahrenquelle für Panikattacken dar. Ein falsch eingestellter insu-
linpflichtiger Diabetes (Typ-I-Diabetes bei jüngeren Menschen) löst panikartige Zu-
stände aus, die großteils durch die gegenregulatorische Hormonausschüttung (Gluka-
gon, Kortisol, Adrenalin) bedingt sind (Herzklopfen, Atembeklemmung, Schweißaus-
bruch, Muskelzittern, Muskelschwäche, Unruhe, Angst, Albträume, Verfremdungsge-
fühle im Sinne leichter Depersonalisations- und Derealisationssymptome), manchmal
aber auch durch Zuckermangelsymptome (Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörun-
gen, Kopfschmerz, Sehstörungen, Verschwommensehen, Müdigkeits- und Schwächege-
fühl, Schläfrigkeit, zunehmende Bewusstseinsstörung und neurologische Störungen).
Diabetiker müssen die hypoglykämischen Warnsymptome genau beachten und rich-
tig einordnen, um entsprechend reagieren zu können. Bei Nichtbeachtung der Warn-
symptome kann ein hypoglykämisches Koma auftreten.
Während die fehlende Reaktion auf die Unterzuckerungssymptome die Gefahr eines
Unterzuckerkomas in sich birgt, kann eine ängstliche Überreaktion bei hypoglykämi-
schen Warnsymptomen zu vorzeitiger und übermäßiger Aufnahme von Kohlehydraten
führen, wodurch die Diabetes-Einstellung gefährdet wird.

Über- und Unterfunktion der Schilddrüse

Bei einer Überfunktion der Schilddrüse treten panikartige Symptome auf, bei einer
Unterfunktion besteht eine Antriebsschwäche, die leicht mit einer ängstlich-depressiven
Symptomatik verwechselt werden kann.
Eine Schilddrüsenüberfunktion (Hyperthyreose) führt zu einer erhöhten Adrenalin-
Empfindlichkeit. Typische Symptome sind Angstzustände, ängstlich angespannte Ruhe-
losigkeit (motorische und psychische Unruhezustände), psychomotorische Erregung,
hektisches Verhalten, Ungeduld, Zittern der Hände, emotionale Labilität, Überempfind-
lichkeit, Herzbeschleunigung (Sinustachykardie), Herzpochen, Herzrhythmusstörungen,
Schweißausbrüche, Hitzeunverträglichkeit, Atemnot, Muskelschwäche, Schlafstörun-
gen, geringe Belastbarkeit, Konzentrationsstörungen, Sehstörungen, Durchfälle und
plötzliche Gewichtsabnahme trotz Heißhungers. Die häufigsten Symptome sind schnel-
ler Puls, Hitzeunverträglichkeit und rasche Ermüdbarkeit bei normaler Aktivität. Die
genauen Ursachen der Angst auslösenden Mechanismen bei einer Hyperthyreose sind
noch unbekannt.
Eine Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose) geht einher mit Depression, Apathie
(Gleichgültigkeit, Antriebslosigkeit), Muskelkrämpfen und Gewichtszunahme.
Schilddrüsenfehlfunktionen kommen bei etwa einem Viertel der Panikpatienten vor.
Es gibt einige leicht erkennbare Unterschiede zwischen Menschen mit Hyperthyreose
und Menschen mit Angstzuständen, die schnell zur richtigen Verdachtsdiagnose führen.
Bei primären Angststörungen kommt es zu einer Absenkung des beschleunigten
Herzschlags in der Nacht und bei Ruhe, während eine Schilddrüsenüberfunktion dem
Herzen keine Schonung gönnt.
Die ständige ängstliche Erregung bei Hyperthyreose spricht gegen eine Panikstörung
mit ihrem anfallsartigen Charakter. Menschen mit Hyperthyreose haben warme Hände,
während Angstpatienten feuchtkalte Hände aufweisen.
Angststörungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors 165

Weitere Hormonstörungen

z Hormonstörung der Frau. Wechselbeschwerden wie die bekannten Hitzewallungen


müssen als solche erkannt und behandelt werden.
z Phäochromozytom. Dieser seltene Tumor im Nebennierenmark führt zur übermäßi-
gen Ausschüttung von Adrenalin, das den Körper so überaktiviert wie bei einer Pa-
nikattacke. Es besteht eine starke Blutdruckerhöhung, die oft mit massiven körperli-
chen Beschwerden wie Herzklopfen, Herzrasen, Kopfschmerzen, Atemnot, Unruhe,
Zittern, Schwächegefühl, Bewusstseinsstörungen, Synkopen und manchmal auch
mit zerebralen Krampfanfällen verbunden ist. Im Frühstadium eines Phäochromozy-
toms kann die Symptomatik mit Panikattacken verwechselt werden.
z Cushing-Syndrom. Es handelt sich dabei um eine endokrine Störung in der Funktion
des Hypophysenvorderlappens, wodurch eine übermäßige Sekretion des Stresshor-
mons Kortisol erfolgt, sodass der Blutplasmaspiegel von Kortisol exzessiv erhöht
ist. Dies führt u.a. zu depressiver bzw. ängstlich-depressiver Symptomatik, Affekt-
labilität (Stimmungsumschwüngen, Erregbarkeit), Zuckerkrankheit, Bluthochdruck,
Panikattacken, Depersonalisation und Derealisation.

Hirnorganische Störungen

z Organisches Psychosyndrom. Ängste resultieren hier entweder aus den Störungen


im Gehirn oder aus der erkannten und subjektiv belastenden Leistungsminderung,
was oft auch zu depressiven Reaktionen führt. Menschen mit einer hirnorganischen
Beeinträchtigung haben oft Angst vor allem und jedem, insbesondere vor allem
Neuen, wodurch ihre allgemeine Überforderung zum Ausdruck kommt. Viele ältere
Menschen entwickeln ebenfalls früher nie gekannte Ängste, meistens in Zusammen-
hang mit der allgemeinen Hilflosigkeit. Wenn die Beeinträchtigung weit fortge-
schritten ist (ausgeprägte Demenz), treten die Ängste in den Hintergrund, weil der
aktuelle Zustand nicht mehr wahrgenommen und reflektiert werden kann.
z Epilepsie, insbesondere Temporallappenepilepsie, kann mit panikähnlichen Sym-
ptomen einhergehen. Bei komplex-fokalen Anfällen, die früher „psychomotorische
Anfälle“ genannt wurden, d.h. bei Anfällen, die der Betroffene ohne Bewusstseins-
verlust und ohne Krampfanfälle erlebt, tritt oft Angst auf, in Zusammenhang mit
Herzrasen, Atemnot, Schweißausbruch, Oberbauchbeschwerden und Unwirklich-
keitsgefühlen (Depersonalisation und Derealisation). Die Angst resultiert aus den
vielgestaltigen bild- und szenenhaften Erlebnissen und Bewegungsmustern während
der bewusst erlebten Anfälle. Neuroanatomisch gesehen beruht das Angstgefühl auf
einer während des Anfalls gegebenen Aktivierung der Amygdala. Dies wird dadurch
bestätigt, dass durch eine temporale Lobektomie und die damit verbundene Teilent-
fernung der Amygdala die Angstanfälle verschwanden.
z Organisch bedingte Schwindelanfälle. Schwindelzustände und Gleichgewichtsstö-
rungen sind bei Panikstörungen und Agoraphobie derart häufig, dass eine hirnorga-
nische Ursache (z.B. arteriosklerotische Verengung der Hirngefäße, multiple Sklero-
se) oder eine andere organische Ursache (z.B. Bluthochdruck, Anämie, Herzrhyth-
musstörungen, Polyneurophathie, Störungen des Gleichgewichtsorgans im Ohr) si-
cher ausgeschlossen werden muss. Bei Störungen der Hirndurchblutung ist Schwin-
del nie das einzige Krankheitszeichen.
166 Angststörungen

Angst verstärkende körperliche Störungen

z Angst-Schmerz-Syndrom. Chronische, organisch bedingte Schmerzzustände werden


noch verstärkt, wenn sie mit Angsterleben und angstvoller Erwartung einhergehen.
Es entwickelt sich ein Angst-Schmerz-Kreislauf.
z Schwere körperliche Erkrankungen mit unklarem Ausgang (z.B. Krebs, AIDS, mul-
tiple Sklerose). Die Angst vor frühzeitigem Tod und Behinderung begleitet die gan-
ze Zeit der Erkrankung und wird je nach Persönlichkeit unterschiedlich verarbeitet.
z Notwendige, jedoch nicht ungefährliche Operationen (z.B. bestimmte Kopfopera-
tionen) bewirken eine ängstliche Erwartungsspannung.
z Ängstlich-depressive Erschöpfungszustände nach einer schweren Operation mit
zumindest vorübergehenden Beeinträchtigungen (z.B. Zustand nach einer kompli-
zierten Kopftumoroperation).
z Ängste im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung nach schweren kör-
perlichen Beeinträchtigungen und langwierigen körperlichen Störungen.
z Körperliche Behinderungen bzw. Beeinträchtigungen. Ängste vor der Reaktion der
Umwelt sowie Ängste, vieles nicht mehr tun zu können, stellen bei Körperbehinder-
ten bzw. Minderbegabten einfühlbare Bewältigungsreaktionen dar.

Gefahr von Fehldiagnosen

Angesichts der Fülle der möglichen organischen Ursachen für Panikattacken ist festzu-
halten, dass im klinischen Alltag unerkannt gebliebene körperliche Erkrankungen als
Ursache für Angststörungen eher die Ausnahme sind. Gerade Panikpatienten werden oft
mehrmals ergebnislos untersucht, sodass im Rahmen der üblichen Routinediagnostik
organische Faktoren kaum übersehen werden. Die nach wie vor häufigste Fehldiagnose
besteht darin, dass die Angststörung nicht erkannt wird.
Ein besonders tragisches Beispiel für die Fehldiagnose einer Panikstörung bei einer
organischen Erkrankung stellt einer meiner stationär behandelten Patienten dar:

Ein 36-jähriger, beruflich sehr gestresster und erfolgreicher Techniker musste wegen Panikattacken
seinen Auslandseinsatz abbrechen. Eine Untersuchung am Aufenthaltsort hatte keinen organischen
Befund erbracht, sodass ihm zu einer psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung geraten
wurde, die er in Absprache mit seiner Firma in seinem Heimatland absolvieren wollte. Wegen seiner
akuten Panikanfälle begab er sich dazu in stationäre Behandlung in die Oberösterreichische Landes-
Nervenklinik Linz. Eine verhaltenstherapeutische Behandlung bei mir und entsprechende Medikamente
führten bald zu einer Besserung, sodass er nach drei Wochen in stabilem Zustand entlassen werden
konnte. Nach zehn Tagen rief er mich an, dass es ihm wieder sehr schlecht gehe. Er müsse die Medi-
kamentendosis erhöhen, weil meine Ratschläge nicht mehr helfen würden.
Ich riet ihm zu einer neuerlichen organischen Untersuchung in einem anderen Krankenhaus. Dort
wurde ein Nebennierenadenom diagnostiziert, das eine sofortige Operation erforderte. Bei einer Routi-
neuntersuchung, die im Krankenhaus vor einiger Zeit durchgeführt worden war, hätte man laut behan-
delndem Facharzt diesen Befund auf dem Röntgenbild entdecken müssen, doch war der Patient nicht
wegen des Verdachts auf ein Adenom untersucht worden, sodass man auch nicht darauf geachtet hatte.
Einige Wochen nach der Operation hielt es der Patient nicht mehr zu Hause aus und begab sich wegen
einer depressiven Erschöpfungssymptomatik mit Schmerzzuständen neuerlich in stationäre psychiatri-
sche Behandlung. Wegen der panikartig erlebten Symptomatik wurde er auch wieder zu mir überwie-
sen, um die Verhaltenstherapie fortzusetzen. Bald wurde die Ursache seiner Beschwerden gefunden:
Bei der Operation hatte man leider seine Milz so schwer verletzt, dass sie in einer weiteren Operation
nur mehr entfernt werden konnte.
Angststörungen im Kindes- und Jugendalter 167

Angststörungen im Kindes- und Jugendalter


Angststörungen im Kindes- und Jugendalter werden im Folgenden nur kurz erwähnt.
Sie stehen nicht im Mittelpunkt dieses Buches, ebenso wenig wie Angststörungen im
höheren Alter. Angststörungen im Kindes- und Jugendalter wurden früher in ihrer Be-
deutung stark unterschätzt und galten in der Vergangenheit als Stiefkind der Angstfor-
schung. Interessanterweise gibt es jedoch historisch bedeutsame Fallgeschichten zur
Thematik der kindlichen Ängste: den Fall „Der kleine Hans“ von Sigmund Freud und
den Fall „Der kleine Albert“ aus der frühen Lerntheorie. Der jahrzehntelange Stillstand
dieses Forschungszweiges wurde erst in den letzten Jahren durch bedeutsame Fortschrit-
te auf dem Gebiet der Angststörungen des Kindes- und Jugendalters überwunden. Mitt-
lerweile gibt es dazu auch ausgezeichnete Überblicksliteratur.
Im deutschen Sprachraum hat vor allem Silvia Schneider bedeutsame Arbeiten dazu
veröffentlicht und zusammen mit verschiedenen Koautoren in dem sehr empfehlenswer-
ten Standardwerk „Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen. Grundlagen und
Behandlung“ einen umfassenden Überblick zur Diagnostik, Theorie und Therapie von
krankhaften Ängsten im Kindes- und Jugendalter vorgelegt.
Das ICD-10 unterscheidet in der Kategorie „emotionale Störungen des Kindesal-
ters“ vier kind- und jugendspezifische Angststörungen, wobei jeweils eine Mindestdau-
er von vier Wochen gegeben sein muss:
1. Emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters (F93.0). Diese Störung ist
dann zu diagnostizieren, wenn die Furcht vor Trennung (gewöhnlich von der Haupt-
bezugsperson) den Kern der Angst darstellt und wenn eine solche Angst erstmals
während der frühen Kindheit auftrat (vor dem sechsten Lebensjahr). Sie unterschei-
det sich von normaler Trennungsangst durch eine unübliche, übermäßig starke Aus-
prägung unrealistischer Ängste in vorübergehenden Trennungssituationen von zen-
tralen Bezugspersonen, eine abnorme Dauer über die typische Altersstufe hinaus
und durch deutliche Probleme in sozialen Funktionen. Hinter einer Schulphobie, d.h.
einem schulischen Vermeidungsverhalten ohne direkten Bezug zur Schulsituation,
steht oft eine Trennungsangststörung: Eine auch nur vorübergehende Trennung von
der Hauptbezugsperson ist aus verschiedenen Gründen nicht möglich.
2. Phobische Störung des Kindesalters (F93.1). Es handelt sich dabei um Befürchtun-
gen in der Kindheit, die eine deutliche Spezifität für die entsprechenden Entwick-
lungsphasen aufweisen und in einem gewissen Ausmaß bei der Mehrzahl der Kinder
auftreten, hier aber in einer besonderen Ausprägung. Im Mittelpunkt stehen anhal-
tend starke, unrealistische Befürchtungen angesichts bestimmter Objekte, Situatio-
nen oder Tiere. Andere in der Kindheit auftretende Befürchtungen, die nicht norma-
ler Bestandteil der psychosozialen Entwicklung sind, wie z.B. eine Agoraphobie,
sind mit den entsprechenden ICD-10-Codes für Erwachsene zu klassifizieren.
3. Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters (F93.2). Es besteht ein Misstrau-
en gegenüber Fremden sowie eine soziale Besorgnis oder Angst in neuen, fremden
oder sozial bedrohlichen Situationen. Diese Kategorie sollte nur verwendet werden,
wenn solche Ängste bereits in der frühen Kindheit auftreten (mit einem Beginn vor
dem sechsten Lebensjahr), diese ungewöhnlich stark ausgeprägt sind und zu deutli-
chen Problemen in der sozialen Funktionsfähigkeit führen.
4. Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität (F93.3). Diese Störung soll nur dann
diagnostiziert werden, wenn sowohl das Ausmaß als auch die Dauer übermäßig aus-
geprägt sind und mit Störungen der sozialen Interaktionen einhergehen.
168 Angststörungen

Zentrale Merkmale der Trennungsangststörung (F93.0) sind nach den klinisch diagno-
stischen Leitlinien des ICD-10 [172]:

1. Unrealistische, vereinnahmende Besorgnis über mögliches Unheil, das Hauptbezugspersonen


zustoßen könnte oder Furcht, dass sie weggehen und nicht wiederkommen könnten.
2. Unrealistische, vereinnahmende Besorgnis, dass irgendein unglückliches Ereignis das Kind von der
Hauptbezugsperson trennen werde – beispielsweise, dass das Kind verlorengeht, gekidnappt, ins
Krankenhaus gebracht oder getötet wird.
3. Aus Furcht vor der Trennung (mehr als aus anderen Gründen, wie Furcht vor Ereignissen in der
Schule) resultierende, andauernde Abneigung oder Weigerung, die Schule zu besuchen.
4. Anhaltende Abneigung oder Weigerung, ins Bett zu gehen, ohne dass eine Hauptbezugsperson
dabei oder in der Nähe ist.
5. Anhaltende unangemessene Angst allein oder ohne eine Hauptbezugsperson zu Hause zu sein
6. Wiederholte Alpträume über Trennung
7. Wiederholtes Auftreten somatischer Symptome (wie Übelkeit, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen
oder Erbrechen) bei Trennung von einer Hauptbezugsperson, wie beim Verlassen des Hauses, um
in die Schule zu gehen.
8. Extremes wiederkehrendes Unglücklichsein (z.B. Angst, Schreien, Wutausbrüche, Unglücklichsein,
Apathie oder sozialer Rückzug) in Erwartung von, während oder unmittelbar nach der Trennung
von einer Hauptbezugsperson.

Die ICD-10-Forschungskriterien führen auch eine generalisierte Angststörung des Kin-


desalters“ (F93.80) an [173]:

A. Intensive Ängste und Sorgen (ängstliche Erwartung) über einen Zeitraum von mindestens sechs
Monaten an mindestens der Hälfte der Tage. Die Ängste und Sorgen beziehen sich auf mindestens
einige Ereignisse und Aktivitäten (wie Arbeits- oder Schulleistungen).
B. Die Betroffenen finden es schwierig, mit den Sorgen fertig zu werden.
C. Die Ängste und Sorgen sind mit mindestens drei der folgenden Symptome verbunden (mindestens
zwei Symptome an mindestens der Hälfte der Tage):
1. Ruhelosigkeit, Gefühl überdreht, nervös zu sein (deutlich z.B. durch das Gefühl geistiger An-
strengung zusammen mit der Unfähigkeit, sich zu entspannen)
2. Gefühl von Müdigkeit, Erschöpfung oder leicht ermattet zu sein durch die Sorgen und Ängste
3. Konzentrationsschwierigkeiten oder Gefühl, der Kopf sei leer
4. Reizbarkeit
5. Muskelverspannung
6. Schlafstörung (Ein- und Durchschlafstörungen, unruhiger oder schlechter Schlaf) wegen der
Ängste und Sorgen.
D. Die vielfältigen Ängste und Befürchtungen treten in mindestens zwei Situationen, Zusammenhän-
gen oder Umständen auf. Die generalisierte Angststörung tritt nicht in einzelnen paroxysmalen Epi-
soden (wie eine Panikstörung) auf, die Hauptsorgen beziehen sich auch nicht auf ein einzelnes
Hauptthema (wie bei der Störung mit Trennungsangst oder der phobischen Störung des Kindesal-
ters). (Treten bei einer generalisierten Angststörung auch häufiger fokussierte Ängste auf, hat die
generalisierte Angststörung Vorrang vor der Diagnose einer anderen Angststörung.)
E. Beginn in der Kindheit oder in der Adoleszenz (vor dem 18. Lebensjahr).
F. Die Ängste, Sorgen oder körperlichen Symptome verursachen eindeutiges Leiden oder Beeinträch-
tigungen in sozialen, beruflichen und in anderen wichtigen Lebens- und Funktionsbereichen.
G. Die Störung ist keine direkte Folge einer Substanzaufnahme (z.B. psychotrope Substanzen, Medi-
kamente) oder einer organischen Krankheit (wie z.B. Hyperthyreose) und tritt auch nicht aus-
schließlich im Rahmen einer affektiven oder psychotischen Störung auf oder bei einer
tiefgreifenden Entwicklungsstörung.

Nach ICD-10 und DSM-IV können alle Angststörungskategorien für Erwachsene auch
bei Kindern und Jugendlichen angewandt werden.
3. Ängste bei anderen Grunderkrankungen
Anhaltende oder gelegentliche Ängste ohne das Ausmaß einer Angststörung treten auch
bei zahlreichen anderen seelischen und körperlichen Störungen auf, wie im Folgenden
näher dargestellt werden soll.

Anpassungsstörung – Angst als Reaktion auf


belastende Lebensumstände
Nach einer entscheidenden Lebensveränderung (Verlassen des Elternhauses, Umzug,
Nichterreichen beruflicher Ziele, Pensionierung), einem belastenden Lebensereignis
(massive familiäre Probleme, Ehescheidung oder Trennung, Tod von Verwandten oder
Freunden, Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Notlage) oder auch nach einer schweren
körperlichen Krankheit (z.B. einer lebensbedrohlichen bzw. chronischen Erkrankung
wie etwa Krebs) können verschiedene „Anpassungsstörungen“ auftreten, d.h. Zustände
von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung, die die Leistungsfähigkeit
in verschiedenen Bereichen (Arbeit, Schule, Sozialkontakte) vermindern [1].
Bei einer Anpassungsstörung können neben depressiven Reaktionen und Verhal-
tensstörungen auch Angstzustände vorhanden sein. Die Ängste treten hier im Rahmen
einer länger andauernden Anpassungsproblematik an veränderte bzw. belastende Le-
bensbedingungen auf. Die Störung kann auch in Form einer Kombination von Angst
und depressiver Stimmung sichtbar werden. Daneben gibt es auch eine gemischte Stö-
rung von emotionaler Beeinträchtigung und Störung des Sozialverhaltens, und zwar
häufig bei Jugendlichen, die ihre Angst und emotionale Beunruhigung in Form von
aggressivem oder dissozialem Verhalten abreagieren.
Das DSM-IV [2] beschreibt den Subtyp einer „Anpassungsstörung mit Angst“, der
durch Nervosität, Sorgen und Ängstlichkeit charakterisiert ist, das ICD-10 [3] definiert
den Subtyp „Angst und depressive Reaktion gemischt“ (F43.22).
Die Anpassungsstörung ist nach dem DSM-IV [4] eine Restkategorie zur Beschrei-
bung all jener Symptome, die eine Reaktion auf einen identifizierbaren Belastungsfaktor
darstellen und die nicht die Kriterien für eine andere psychische Störung erfüllen.
Selbst das frühere ICD-9 [5], das vorwiegend „härtere“ Diagnosen enthielt und den
Krankheitsbegriff auf eine viel geringere Zahl von Diagnosen einschränkte, als dies bei
den modernen Diagnoseschemata der Fall ist, kannte diese Störung unter der Bezeich-
nung „Psychogene Reaktion (Anpassungsstörung)“ und charakterisierte sie hinsichtlich
der Dominanz von Angstzuständen als „Anpassungsstörung mit vorwiegend emotiona-
ler Symptomatik“.
Eine akute Anpassungsstörung entwickelt sich nach dem DSM-IV innerhalb von
drei Monaten nach Beginn der Belastung und endet spätestens 6 Monate nach Beendi-
gung der Belastung oder deren Folgen [6]. Eine chronische Anpassungsstörung dauert
dagegen länger als 6 Monate.
Während die posttraumatische Belastungsstörung und die akute Belastungsstörung
als reaktive Störungen nach dem ICD-10 durch das Vorhandensein einer extremen Be-
lastung (eines Traumas) und einer spezifischen Konstellation von Symptomen charakte-
risiert sind, kann eine Anpassungsstörung durch einen Belastungsfaktor jedweder
Schwere ausgelöst werden und vielfältige Symptome beinhalten.
170 Ängste bei anderen Grunderkrankungen

Anpassungsstörungen treten in der Bevölkerung und im klinischen Bereich häufig


auf. Aufgrund der reaktiv bedingten Entstehung ist eine Psychotherapie angezeigt. Un-
ter ambulanten Psychotherapiepatienten zählt die Anpassungsstörung zu den häufigsten
Diagnosen.
Vielen Psychotherapiepatienten, die unter verschiedenen psychosozialen Belastun-
gen leiden, wird mit dieser milden Diagnose ein krankheitswertiger Zustand beschei-
nigt, der zur Inanspruchnahme von Krankenkassenleistungen berechtigt.

Depersonalisations- und Derealisationsstörung –


Angst machendes Fremdheitserleben
Bei den Gefühlen der Unwirklichkeit besteht entweder ein Angst machendes Fremd-
heitserleben gegenüber sich selbst (Depersonalisation) oder gegenüber der Umwelt
(Derealisation) [7]. Die Betroffenen erleben eine massive Verunsicherung und einen
starken Vertrauensverlust in die Umwelt bzw. in die Selbstwahrnehmung.
Beide Zustände treten selten allein auf, sondern meistens in Verbindung mit anderen
psychischen Störungen (posttraumatische Belastungsstörung, Phobien, Panikstörung,
Depression, Zwangsstörung). Ähnliche Zustände finden sich bei Gesunden auch im
Zustand der Müdigkeit, sinnlichen Wahrnehmungsbehinderung, Meditation oder Ver-
änderung durch halluzinogene Drogen oder Trance (hypnotischer Zustand). Die Zustän-
de sind auch den todesnahen Erfahrungen in Momenten extremer Lebensgefahr ähnlich.
Depersonalisation ist eine häufige Erfahrung, auch wenn es jedem einzelnen Betrof-
fenen so vorkommen mag, als könnte man dieses Erleben keinem Menschen durch
Beschreibung verständlich machen. Die Hälfte der Erwachsenen erlebt laut DSM-IV [8]
im Laufe des Lebens eine kurzfristige Depersonalisation, zumeist nach einer schweren
Belastung. Eine vorübergehende Depersonalisation zeigt sich bei etwa einem Drittel der
Personen, die einer lebensbedrohenden Gefahr ausgesetzt waren, sowie bei fast 40% der
Patienten, die wegen einer psychischen Störung stationär behandelt werden.
Bei einer Depersonalisation machen die Betroffenen die angstvolle Erfahrung einer
Veränderung ihrer geistigen Aktivität, ihrer Gefühle oder ihres Körpers. Es besteht das
Gefühl des Losgelöstseins, der Entfremdung zum eigenen Selbst und des „Daneben-
Stehens“. Es herrscht der Eindruck vor, nicht ganz da zu sein und nicht mehr das eigene
Denken, die eigenen Vorstellungen oder Erinnerungen zu erleben. Die betroffene Per-
son empfindet sich so, als wäre sie ein außen stehender Beobachter der eigenen geisti-
gen Prozesse, des eigenen Körpers oder einzelner Körperteile. Sensorische Unempfind-
lichkeit, Mangel an emotionalen Reaktionen und das Gefühl, das eigene Handeln ein-
schließlich der Sprache nicht völlig beherrschen zu können, werden oft beklagt [9].
Bewegungen und Verhaltensweisen werden irgendwie nicht mehr als die eigenen er-
lebt. Man kann sich wie ein Roboter fühlen. Der Körper erscheint leblos, losgelöst oder
sonst anormal. Das Leben wirkt künstlich, wie in einem Traum, in einem Film oder auf
einer Bühne, wo man eine Rolle spielt. Am meisten beklagt wird der Verlust der Gefüh-
le. Der charakteristische Gefühlsverlust wird oft verwechselt mit einer Depression,
wenngleich diese ebenfalls gegeben sein kann. Bei einer Depersonalisation werden die
Gefühle abgespalten aus Schutz vor einer leidvollen Gefühlsüberflutung.
Bei der Depersonalisationsstörung bleibt die Realitätsprüfung intakt, weshalb die
häufige Befürchtung, an Schizophrenie zu erkranken, völlig unbegründet ist [10]. Viele
Panikpatienten fürchten eher diese kognitiven Symptome als körperliche Symptome.
Dissoziative Störung – Angstbewältigung durch Abspaltung 171

Depersonalisation und Derealisation sind oft Symptome einer Panikattacke und


stellen den Hauptgrund dar, warum Menschen mit Panikstörung häufig die Angst haben,
„durchzudrehen und verrückt zu werden“, wenn die Depersonalisationserfahrung im
Rahmen einer Panikattacke auftritt.
Eine Depersonalisationsstörung (F48.1) als eigenständige Störung liegt nur dann
vor, wenn die beschriebenen Zustände nicht ausschließlich im Rahmen einer Angststö-
rung, einer Depression oder einer anderen Störung auftreten.
Bei einer Derealisation [11] besteht das Gefühl des gestörten Umwelterlebens. Ob-
jekte, Menschen oder die gesamte Umgebung werden als fremd, unvertraut, unwirklich,
roboterhaft, fern, künstlich, zu klein oder zu groß, farblos oder leblos erlebt.
Das DSM-IV ordnet – im Gegensatz zum ICD-10 – die Depersonalisationsstörung
den dissoziativen Störungen zu, was insofern berechtigt erscheint, als es sich dabei um
Abspaltungsvorgänge handelt. Negative, belastende und unerträgliche Gefühle werden
durch Abspaltung zu bewältigen versucht, die wahrgenommene Gefühllosigkeit wird in
der Folge als Entfremdung gegenüber sich selbst erlebt.

Dissoziative Störungen – Angstbewältigung durch Abspaltung


Die dissoziativen Störungen (Dissoziation = Abspaltung) sind charakterisiert durch eine
teilweise oder vollständige Entkoppelung von seelischen und körperlichen Funktionen.
Es besteht ein Verlust der Kontrolle über die normalerweise integrativen Funktionen des
Bewusstseins, der Identität, des Gedächtnisses, der Wahrnehmung der Umwelt, der
unmittelbaren Empfindungen und verschiedener Körperbewegungen.
Die dissoziativen Störungen der Bewegung (motorische Symptome und psychogene
Anfälle) und der Sinnesempfindungen (sensorische Symptome und Ausfälle), die wie
organische Störungen wirken und daher als „pseudoneurologische“ Symptome bekannt
sind, werden im DSM-IV [12] als „Konversionsstörung“ bezeichnet und zu den soma-
toformen Störungen gezählt. Die Konversionssymptome stimmen typischerweise nicht
mit den bekannten anatomischen Bahnen und physiologischen Mechanismen überein,
sodass sie vom Fachmann relativ leicht als solche erkannt werden.
Diese vielgestaltigen Störungsbilder, die im ICD-10 als „dissoziative Störungen
(Konversionsstörungen)“ eine eigene Krankheitsgruppe innerhalb der neurotischen
Störungen bilden, galten früher als „hysterische“ Störungen.
Das früher verbindliche ICD-9 [13] kennt hierfür den Begriff der „hysterischen
Neurose“, der im ICD-10 durch den Begriff der dissoziativen Störung ersetzt ist. We-
gen des zugrunde liegenden psychoanalytischen Erklärungsmodells und wegen der
heutzutage als Abwertung angesehenen Bezeichnung wurde der Begriff der Hysterie in
der psychiatrischen Terminologie aufgegeben.
Die Symptomatik steht in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit traumatisier-
enden Ereignissen, unlösbaren oder unerträglichen Konflikten oder gestörten Beziehun-
gen. Die Symptome können plötzlich oder allmählich auftreten und sowohl vorüberge-
hend als auch chronisch verlaufen.
Nach psychoanalytischer Auffassung [14] bestehen unerfüllte Triebwünsche, die in
das Unbewusste verdrängt wurden, von da aus jedoch in Form von Konversionssym-
ptomen wirksam werden. Innere Konflikte werden in der Sprache des Körpers ausge-
drückt, eine Psychoanalyse deckt den Ausdrucks- und Symbolcharakter auf. Die Angst
davor, allein etwas zu unternehmen, äußert sich z.B. in einer psychogenen Gangstörung.
172 Ängste bei anderen Grunderkrankungen

Über die jeweilige Konversionssymptomatik wird ein so genannter „primärer


Krankheitsgewinn“ erreicht, der darin besteht, dass sich die Betroffenen nicht mit den
problematischen bzw. Angst machenden Situationen auseinandersetzen müssen und den
Konflikt außerhalb des Bewusstseins halten können [15]. Die Verringerung der inneren
Anspannung durch die kompromisshafte Scheinlösung der Symptombildung wird dabei
als wesentlicher erlebt als die Belastung durch das entsprechende Symptom.
Unter einem „sekundären Krankheitsgewinn“ versteht man den äußeren Vorteil, den
ein Patient nachträglich aus einer bereits bestehenden neurotischen Symptomatik be-
zieht, z.B. vermehrte Zuwendung und Schonung vonseiten der Umwelt, Entlastung von
unangenehmen Pflichten oder Verantwortlichkeiten.
ICD-10 und DSM-IV beschreiben aufgrund unterschiedlicher Konzepte eine unter-
schiedliche Zahl von dissoziativen Störungen (nach dem DSM-IV gelten nur die kogni-
tiv-dissoziativen Symptome als dissoziative Störungen, während die körperlich-dissozi-
ativen Störungen zu den somatoformen Störungen gezählt werden).
Das ICD-10 [16] nennt u.a. folgende dissoziative Störungen:
z Dissoziative Amnesie: angstvolle Erfahrungen im Rahmen schwerer psychosozialer
Belastungssituationen oder einer posttraumatischen Belastungsstörung (Unfall, Ver-
gewaltigung, Misshandlung, Todesfall, Kriegsereignis usw.) werden aus der Erinne-
rung ausgeblendet und vergessen, was eine psychische Schutzfunktion darstellt. Es
besteht ein Erinnerungsverlust für Ereignisse, die in einem engen zeitlichen Zusam-
menhang mit einem Trauma stehen, d.h. Geschehnisse kurz vor und nach dem bela-
stenden Ereignis können nicht erinnert werden. Das Erinnerungsvermögen kehrt bei
einer besseren Integrationsleistung des Bewusstseins wieder zurück.
z Dissoziative Fugue: ziellose Ortsveränderungen („Umherwandern“) mit Erinne-
rungsverlust, oft nach traumatischen Erfahrungen (z.B. nach einem Unfall) oder
chronischen, unlösbaren Konfliktsituationen (z.B. bei massiven Eheproblemen).
z Dissoziativer Stupor: psychogen bedingte völlige Regungslosigkeit (körperlich und
sprachlich), oft als Reaktion auf eine vorhergehende traumatische Erfahrung. Aus
dem Verhalten ist erkennbar, dass der Betroffene weder schläft noch bewusstlos ist.
z Dissoziative Störungen der Bewegung und der Sinnesempfindung: Verlust oder
Veränderung von Bewegungsfunktionen oder sensorischen Empfindungen (oft
Hautempfindungen).
z Dissoziative Bewegungsstörungen: vollständiger oder teilweiser Verlust der Bewe-
gungsfähigkeit eines oder mehrerer Körperglieder (z.B. psychogene Lähmungser-
scheinungen der Arme oder Beine), übermäßiges Zittern oder Schütteln einer oder
mehrerer Extremitäten bzw. des ganzen Körpers, psychogene Kiefersperre.
z Dissoziative Krampfanfälle: psychogene Krampfanfälle (oft mit kurzer Bewusstlo-
sigkeit), die wegen ihrer Dramatik für den Laien meist wie epileptische Anfälle aus-
schauen, für den Fachmann jedoch leicht als psychogene Anfälle erkennbar sind.
Dissoziative Krampfanfälle stellen häufig eine akute Angstreaktion dar.
z Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen: psychogene Sehstörung
(Blindheit, Verlust der Sehschärfe, „Tunnelsehen“), psychogene Taubheit, psycho-
gen bedingte Missempfindung oder Taubheit der Haut.

Die dissoziativen Störungen mit körperlichen Funktionsbeeinträchtigungen werden


zusammen mit den somatoformen Störungen ausführlicher beschrieben in meinem Buch
„Somatoforme Störungen. Diagnostik, Konzepte und Therapie bei Körpersymptomen
ohne Organbefund“.
Somatoforme Störungen – Körperbezogene Ängste 173

Somatoforme Störungen – Körperbezogene Ängste


Somatoforme Störungen sind körperliche Beschwerden verschiedenster Art ohne aus-
reichende organische Ursachen. Die Betroffenen glauben weiterhin an organische Ur-
sachen und fordern ständig medizinische Untersuchungen. In vielen Fällen kann Angst
eine Teilursache sein. Bei jedem dritten Patienten, der wegen körperlicher Symptome
den Arzt aufsucht, fehlen organische Ursachen. Diese Gruppe von Störungen verursacht
dem Gesundheitssystem immense Kosten. [17]. Es besteht großer Handlungsbedarf
bezüglich adäquater Diagnose und Therapie.
Somatoforme Störungen galten noch vor zwei Jahrzehnten als „Großes unbekanntes
Land zwischen Psychologie und Medizin“ [18] und wurden in Deutschland durch die
Psychologen Winfried Rief und Wolfgang Hiller bekannt gemacht. Das Buch „Somato-
forme Störungen. Diagnostik, Konzepte und Therapie bei Körpersymptomen ohne Or-
ganbefund“ des Autors bietet einen Überblick über diese Gruppe von Störungen, die
mittlerweile große Beachtung gefunden haben. Oft bestehen fließende Übergänge und
Überlappungen zwischen somatoformen Störungen, Angst- und Zwangsstörungen.

Das ICD-10 [19] kennt folgende somatoforme Störungen:


z Somatisierungsstörung
z undifferenzierte Somatisierungsstörung
z hypochondrische Störung (inklusive Dysmorphophobie)
z somatoforme autonome Funktionsstörung
z anhaltende somatoforme Schmerzstörung
z sonstige somatoforme Störungen

Das DSM-IV [20] unterscheidet folgende somatoforme Störungen:


z Somatisierungsstörung
z undifferenzierte somatoforme Störung
z Konversionsstörung
z Schmerzstörung
z Hypochondrie
z körperdysmorphe Störung

Viele Angst- und Panikpatienten entwickeln im Laufe der Zeit auch eine somatoforme
Störung, nicht selten verbunden mit einer hypochondrischen Störung.

Somatisierungsstörung – Körpersymptome bei Angstverleugnung


Die Somatisierungsstörung (F45.0) wurde früher als Hysterie oder Briquet-Syndrom
bezeichnet. Das Vollbild kommt vorwiegend bei Frauen und bei rund 1-3% der Allge-
meinbevölkerung vor. Vielfältige, wiederholt auftretende, oft bereits seit einigen Jahren
bestehende und häufig wechselnde körperliche Symptome ohne organische Ursachen
machen das Wesen der Somatisierungsstörung aus [21].
Nach dem ICD-10 und dem DSM-IV müssen stets mehrere Organsysteme betroffen
sein, im Gegensatz zu den anderen somatoformen Störungen. Die Diagnose „Somatisie-
rungsstörung“ wird gestellt, wenn die vielfältigen Symptome in keinem offensichtlichen
oder ausschließlichen Zusammenhang mit Ängsten stehen.
174 Ängste bei anderen Grunderkrankungen

Die Betroffenen lehnen häufig die Möglichkeit ab, dass bei ihren Beschwerden psy-
chische Ursachen eine Rolle spielen könnten, sondern bestehen trotz negativer Befunde
auf weiteren organmedizinischen Untersuchungen und Behandlungsmethoden.
Eine Somatisierungsstörung (F45.0) wird in den klinisch-diagnostischen Leitlinien
des ICD-10 durch folgende Merkmale charakterisiert [22]:
z Charakteristisch sind multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde kör-
perliche Symptome, die seit mindestens zwei Jahren bestehen.
z Die Symptome können sich auf jeden Körperteil oder jedes Körpersystem beziehen.
Zu den häufigsten Symptomen zählen gastrointestinale Beschwerden (wie Schmerz,
Aufstoßen, Rumination, Erbrechen, Übelkeit usw.), abnorme Hautempfindungen
(wie Jucken, Brennen, Prickeln, Taubheitsgefühle, Wundsein usw.) und Ausschlag.
Sexuelle und menstruelle Störungen können ebenfalls vorhanden sein.
z Die Betroffenen weigern sich hartnäckig, den Rat oder die Versicherung mehrerer
Ärzte anzunehmen, dass die Körpersymptome keine organische Ursache haben.
z Die meisten Betroffenen haben in der Primärversorgung und in spezialisierten Ein-
richtungen bereits zahlreiche negative Untersuchungen und ergebnislose Operatio-
nen hinter sich.
z Die Störung beginnt meist im frühen Erwachsenenalter und weist einen chronisch
fluktuierenden Verlauf auf.
z Die Symptome führen zu einer lang dauernden Beeinträchtigung des sozialen, inter-
personalen und familiären Verhaltens.

Eine undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1) wird diagnostiziert, wenn das


Vollbild der Somatisierungsstörung fehlt, d.h. wenn weniger Symptome als bei einer
Somatisierungsstörung vorhanden sind. Die Betroffenen klagen dabei seit mindestens
einem halben Jahr über einzelne Symptome wie Müdigkeit, Appetitverlust, Herzrasen,
Kopfschmerzen, gastrointestinale oder urologische Beschwerden. Etwa 10-16% der
Bevölkerung weisen laut Studien ein multiples somatoformes Syndrom auf.
Somatisierungsstörung und Hypochondrie sind derart unterscheidbar [23]:
z Bei der Somatisierungsstörung liegt der Schwerpunkt auf den Symptomen selbst
und ihren Auswirkungen. Die Betroffenen verlangen eine Behandlung zur Beseiti-
gung ihrer Symptome. Oft besteht ein ausgeprägter Medikamentenmissbrauch.
z Bei der hypochondrischen Störung ist die ängstliche Aufmerksamkeit mehr auf das
Vorhandensein eines zugrunde liegenden fortschreitenden und ernsthaften Krank-
heitsprozesses und seine Behinderungsfolgen gerichtet. Die Betroffenen verlangen
Untersuchungen zur Bestimmung oder Bestätigung der Art der zugrunde liegenden
Krankheit. Sie fürchten sich vor Medikamenten und deren Nebenwirkungen und su-
chen durch ständige Arztbesuche eine Beruhigung ohne aktuelle Behandlung.
z Das zentrale Unterscheidungsmerkmal zwischen Somatisierungsstörung und Hypo-
chondrie ist der Aspekt der Angst, der bei hypochondrischen Patienten stark im Vor-
dergrund steht [24].

Die Unterscheidung zwischen einer Angststörung und einer Somatisierungsstörung ist


nicht immer leicht, öfter sind beide Diagnosen gleichzeitig zu stellen.
Bei einer Panikstörung treten die Symptome primär während einer Panikattacke auf.
Bei einer generalisierten Angststörung finden sich ebenfalls zahlreiche körperliche
Symptome, diese stehen jedoch nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern sind die
Folge der ständigen unkontrollierbaren Sorgen über alle möglichen Dinge.
Somatoforme Störungen – Körperbezogene Ängste 175

Hypochondrische Störung – Angst vor eingebildeten Krankheiten


Das zentrale Merkmal der hypochondrischen Störung (F45.2) ist die Angst vor einer
Erkrankung oder die Überzeugung, bereits krank zu sein, die auf einer Fehlinterpretati-
on körperlicher Symptome beruht. Das DSM-IV [25] bezeichnet nur die Überzeugung,
bereits an einer Krankheit zu leiden, als Hypochondrie, während Krankheitsängste ohne
die Überzeugung, aktuell krank zu sein, zu den spezifischen Phobien gezählt werden.
Die Versicherung der Ärzte, dass den Symptomen keine körperliche Krankheit
zugrunde liegt, wird – wenn überhaupt – nur kurzzeitig geglaubt. Die ärztlichen Beruhi-
gungsversuche stellen bestenfalls eine kurzfristige Entlastung dar, ohne die Angst vor
einer Erkrankung langfristig ändern zu können. Die Angst äußert sich in der beharrli-
chen Beschäftigung mit der Möglichkeit, an einer oder mehreren schweren und fort-
schreitenden körperlichen Störungen zu leiden, manifestiert durch anhaltende körperli-
che Beschwerden oder ständige Beschäftigung mit dem eigenen Körper. Hypochonder,
zu denen laut WHO 5% der Hausarztpatienten gehören, weisen durch ihre Körperfixie-
rung und Krankheitsängste oft Störungen in den Sozialbeziehungen und in der berufli-
chen Leistungsfähigkeit auf. Ein häufiger Arztwechsel ist typisch („Doctor-Shopping“).
Hypochonder schätzen körperliche Beschwerden und Symptome bedrohlicher ein,
als sie tatsächlich sind, und fühlen sich unfähig, die Krankheit zu verhindern und ihren
Verlauf zu beeinflussen, woraus massive Angst resultiert. Die Betroffenen interpretieren
normale Empfindungen und Erscheinungen als abnorm und belastend und richten ihre
Aufmerksamkeit meist auf ein oder zwei Organe oder Organsysteme. Die befürchtete
körperliche Krankheit oder Entstellung kann benannt werden, der Grad der Überzeu-
gung, von ihr befallen zu sein, kann schwanken in Richtung einer anderen Erkrankung.
Hypochonder weisen eine selektive Wahrnehmung auf. Sie konzentrieren sich auf
krankheitsbestätigende Informationen und ignorieren jene Fakten, die sie als gesund
erweisen. Vermeidung (z.B. keine körperliche Betätigung aus Angst vor Überforderung)
wirkt kurzfristig Angst lindernd, langfristig Angst verstärkend. Es besteht folgender
Kreislauf [26]: ein bestimmter Reiz (Information, Ereignis, Krankheit, Vorstellung)
wird als bedrohlich wahrgenommen. Dies führt zu einer erhöhten physiologischen Erre-
gung, zu einer verstärkten Aufmerksamkeit auf den Körper und zu einem ständigen
Bedürfnis nach Rückversicherung bei Ärzten, dass keine ernsthafte Krankheit vorliegt.
Die wahrgenommenen körperlichen Veränderungen und die ungewöhnlichen kör-
perlichen Empfindungen halten die übermäßige Beschäftigung mit den Körpersympto-
men aufrecht (z.B. häufiges Pulsmessen zur Kontrolle). Die körperlichen Empfindungen
werden als Zeichen einer schweren Krankheit fehlinterpretiert, sodass die übermäßige
Körperbeobachtung noch verstärkt wird. Wichtig ist folgende Unterscheidung: Hypo-
chonder leiden primär unter ihren Krankheitsängsten, somatoforme Patienten dagegen
unter den vorhandenen Körpersymptomen (z.B. Schmerzen, Übelkeit, Schwindel).
Die Betroffenen stehen einer Psychotherapie gewöhnlich sehr skeptisch gegenüber,
weshalb Psychotherapeuten dieser Patientengruppe anfangs in einem sehr somatischen
Kontext begegnen müssen, um sie für eine Psychotherapie gewinnen zu können.
Nach ICD-10 und DSM-IV [27] ist eine Hypochondrie ausgeschlossen, wenn die
beschriebene Symptomatik ausschließlich während einer Angststörung, Depression,
Schizophrenie oder anderen somatoformen Störung auftritt. Bezieht sich die Furcht vor
Krankheit primär auf eine Infektions- oder Vergiftungsgefahr, auf ärztliche Handlungen
(Injektionen, Operationen usw.) oder auf medizinische Institutionen (Zahnarztpraxen,
Krankenhäuser usw.), dann ist nach dem ICD-10 [28] eine spezifische Phobie gegeben.
176 Ängste bei anderen Grunderkrankungen

Dysmorphophobie – Angst vor körperlicher Entstellung


Die Dysmorphophobie (F45.2) stellt im ICD-10 sehr unpassend eine Form der hypo-
chondrischen Störung dar. Es handelt sich um eine völlig unbegründete Angst vor einer
vermeintlichen körperlichen Entstellung, die die Umwelt wahrnehmen könnte, sodass
Sozialkontakte oft vermieden werden. Im DSM-IV wird diese Symptomatik unter der
Bezeichnung körperdysmorphe Störung (d.h. Überzeugung und nicht nur Angst, ent-
stellt zu sein) als eigenständige Form der somatoformen Störungen ausgewiesen [29].
Körperliche Mängel werden meist beklagt hinsichtlich Gesicht (z.B. Falten, Haut-
flecken, Gesichtsbehaarung, Gesichtsschwellungen, Form der Nase, des Mundes, der
Augenbrauen und des Kiefers), Geschlechtsorganen, Brüsten, Hüften, Bauch, Arme und
Beine [30]. Es besteht eine nur schwer korrigierbare Angst, dass der Körper oder be-
stimmte Teile missgebildet oder zu klein bzw. zu groß seien oder ein schlechter
Schweiß- oder Mundgeruch bzw. ein unangenehmer Geruch der Geschlechts- und Aus-
scheidungsorgane gegeben sei. Sichtbare „Schönheitsfehler“ werden durch verschiedene
Methoden zu überdecken versucht (Schminken, bestimmte Kleidung usw.).
Wenn tatsächlich eine leichte körperliche Anomalie vorliegt, sind die Sorgen der
Betroffenen stark übertrieben. Die Fixierung auf die vermeintliche Beeinträchtigung
geht mit einem subjektiv großen Leidensdruck einher. Meist wird die Problemlösung
nicht durch eine Psychotherapie, sondern durch die plastische Chirurgie erwartet.
Die Symptomatik entwickelt sich oft in der Pubertät und passt gut zu der häufig
schon vorher gegebenen sozialen Unsicherheit, während die Betroffenen darauf behar-
ren, dass sie nur deswegen soziale Situationen fürchten oder vermeiden, weil sie durch
ihre „Entstellung“ überall auffallen würden [31].

Somatoforme autonome Funktionsstörung –


Organgebundene Ängste
Menschen mit einer somatoformen autonomen Funktionsstörung (F45.3) erleben ihre
Symptome in Zusammenhang mit bestimmten Organsystemen [32]:
z Kardiovaskuläres System: funktionelle Störungen des Herz-Kreislauf-Systems (z.B.
Herzrasen, Herzrhythmusstörungen).
z Oberer Gastrointestinaltrakt (funktionelle Oberbauchbeschwerden): funktionelle
Störungen von Speiseröhre und Magen (z.B. Erbrechen, Reizmagen).
z Unterer Gastrointestinaltrakt (funktionelle Unterbauchbeschwerden): funktionelle
Störungen des Darmbereichs (z.B. Reizdarm: Wechsel von Durchfall und Verstop-
fung). Mehr als die Hälfte der Dyspepsie-Patienten leiden gleichzeitig unter der
Angststörung.
z Respiratorisches System (Atmung): funktionelle Störungen der Atmung (Hyper-
ventilation, Atemnot, psychogener Husten).
z Urogenitalsystem: Funktionsstörungen von Blase (Reizblase) und Genitalbereich.

Die Betroffenen erleben Ängste subjektiv oft nur als Folge der körperlichen Funktions-
störungen und haben zumindest anfangs häufig Schwierigkeiten, Ängste als Teilursache
ihrer Störung zu akzeptieren. Die Symptome können auch Ausdruck einer chronischen
Stresssymptomatik oder einer Depression sein.
Depression – Negative Lebenssicht macht Angst 177

Depression – Negative Lebenssicht macht Angst


Bei 70-95% der depressiven Patienten treten auch Ängste unterschiedlichen Schwere-
grades auf, die jedoch nach dem Abklingen der Depression verschwinden müssten,
wenn eine primäre Depression vorliegt. Wenn dies nicht der Fall ist, spricht dieser Um-
stand für eine bereits vorher gegebene Angststörung.
Bei depressiven Zuständen nehmen Versagensängste und Zukunftsängste einen
zentralen Stellenwert ein. Oft besteht auch das angstgefärbte Gefühl, unerwünscht zu
sein bzw. nicht geliebt oder akzeptiert zu werden.
Hypochondrische Befürchtungen drücken die häufige Überbewertung körperlicher
Beschwerden im Rahmen einer Depression aus. Verschiedene Ängste können bis zur
wahnhaften Ausformung gehen (z.B. unberechtigte Ängste zu verarmen, Angst vor
göttlicher Strafe wegen eines schlechten Lebens).
Viele depressive Patienten weisen soziale Defizite auf, die nach der Behandlung der
Depression ebenfalls beseitigt werden sollten, damit sie nicht später eine weitere de-
pressive Phase begünstigen oder eine sozialphobische Symptomatik verstärken [33]:

„Depressive Patienten scheinen häufig gut sozial angepaßt zu sein. Durch eine genaue Analyse kann
jedoch deutlich werden, daß sie besonders Defizite und Ängste im Äußern eigener Bedürfnisse haben,
ihre ‘Beliebtheit’ durch Überanpassung, Konfliktvermeidung und übertriebene Hilfsbereitschaft erwor-
ben haben und dieses Verhalten als normgerecht und wünschenswert betrachten. Im Vergleich zu den
meisten sozial Gehemmten, die ihre Unfähigkeit z.B. zum Neinsagen sehr schnell als Problem und
Belastung erkennen, ist bei den anhaltend Depressiven erst ein Aufbau von Problembewußtsein und
eine Motivationsänderung notwendig.“

Kombinationen von Angst und Depression


Schon Hippokrates [34] wusste um die Zusammenhänge von Angst und Depression:

„Patienten mit lange währender Angst werden anfällig für Melancholie.“


„Eine Frau aus Thassos wurde mürrisch nach einem berechtigten Kummer und sie litt an Schlaflosig-
keit, Appetitverlust... sie klagte über Ängste und redete zu wenig; sie war verzagt und zeigte viele und
anhaltende Schmerzen.“

Darwin [35] beschrieb den Zusammenhang von Angst und Depression folgendermaßen:

„Wenn wir erwarten, daß wir leiden werden, sind wir ängstlich, wenn wir keine Hoffnung auf eine
Erleichterung haben, verzweifeln wir.“

Die Unterscheidung zwischen ängstlicher und depressiver Grundsymptomatik kann


schwer fallen. Phobische Angst tritt oft gleichzeitig mit einer Depression auf. Eine be-
reits vorher bestehende phobische Angst wird während einer depressiven Episode stär-
ker. Manche depressiven Zustände werden zeitweilig von phobischer Angst begleitet.
Bei einigen Phobien (besonders Agoraphobien) findet sich oft eine depressive
Stimmung. Depressive Symptome bereits vor den phobischen Zuständen sprechen für
eine primäre depressive Episode.
Wenn Angst und depressive Symptomatik gleich ausgeprägt erscheinen (beide je-
doch in jeweils nur leichterem Ausmaß), wird die ICD-10-Diagnose „Angst und depres-
sive Störung, gemischt“ (F41.2) gestellt [36].
178 Ängste bei anderen Grunderkrankungen

Angst und Depression lassen sich anhand von drei Aspekten unterscheiden, was in der
klinischen Praxis sehr bedeutsam sein kann [37]:

1. Gemeinsame Symptome von Angst und Depression:

z Schlafstörung
z Appetitstörung
z Störungen von Herz-Kreislauf-System, Atmung und Magen-Darm-Bereich
z Irritabilität
z Konzentrationsstörungen
z Müdigkeit

2. Spezifische Symptome von Angststörungen:

z Einschlafstörung
z Hypervigilanz (Überwachheit), Gespanntheit
z Herzrasen, Schwitzen, Zittern, Hitzewallungen, Kälteschauer
z Schwindel, Ohnmachtgefühle, Angst umzufallen
z Schwierigkeiten beim Atmen, Hyperventilation
z Erwartungsangst, vorweggenommene Gefahr, Panik
z phobisches Vermeidungsverhalten
z Depersonalisation oder Derealisation

3. Spezifische Symptome von Depressionen:

z Durchschlafstörung (Früherwachen) oder übermäßiger Schlafbedarf


z Tagesschwankungen (Morgentief)
z psychomotorische Hemmung (Verlangsamung im Denken, Sprechen, Handeln)
z Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen
z Traurigkeit (trauriger, niedergeschlagener Gesichtsausdruck)
z wahrgenommener Verlust
z Interessensverlust, Verlust des Interesses an täglichen Aktivitäten
z Anhedonie (Freudlosigkeit, Verlust der Fähigkeit, Freude zu empfinden)
z Hoffnungslosigkeit – Gedanken an den Tod – Selbstmordgedanken (Suizidalität)
z Selbstentwertung, Schuldgefühle
z Libidoverlust (fehlendes Sexualverlangen)
z Gewichtsverlust
z chronische oder wiederholt auftretende Schmerzen ohne organischen Ursachen

Patienten mit einer gemischt depressiv-ängstlichen Symptomatik [38]


z sind bedeutsam kränker,
z leiden unter mehr Symptomen,
z sind häufiger im stationären Kontext zu finden,
z haben einen insgesamt ungünstigeren Krankheitsverlauf, d.h. müssen längerfristiger
behandelt werden, haben häufiger unbefriedigende Behandlungsergebnisse und
kompliziertere Krankheitsverläufe,
z sind stärker selbstmordgefährdet aufgrund des oft turbulenten Wechsels von depres-
siver, dysphorischer, ärgerlicher und ängstlicher Symptomatik.
Sexualstörung – Angst machendes Denken ist lustfeindlich 179

Sexualstörung – Angst machendes Denken ist lustfeindlich


Im Bereich der Sexualität erleben viele Menschen im Laufe des Lebens starke Ängste in
Abhängigkeit vom Alter (Kind, Jugendlicher, Erwachsener, älterer Mensch), der Ge-
schlechtsrolle, der Partnersituation, der psychischen Gesamtbefindlichkeit und der aktu-
ellen körperlichen Befindlichkeit.
Angst ist die Gegenspielerin der Lust und hat eine lusthemmende Wirkung. Sexuelle
Ängste verhindern nach gängiger Auffassung die Erregung und hemmen das autonome
Nervensystem derart, dass eine physiologische Erregung unmöglich wird. Nach neue-
ren, kognitiven Auffassungen ist der Sachverhalt viel differenzierter zu bewerten.
Kognitive Prozesse sind in Wechselwirkung mit verschiedenen Ängsten als Ursache
sexueller Funktionsstörungen zu sehen [39]:
z Sexuelle Erregung wird bei Männern mit Sexualstörungen durch Angst gehemmt,
bei Männern ohne Sexualstörungen dagegen häufig erleichtert.
z Sexuelle Leistungsforderung führt bei sexuell gestörten Männern zu Ablenkung und
Behinderung, bei sexuell ungestörten Männern dagegen zur Erhöhung der sexuellen
Erregung.
z Sexualgestörte Menschen erleben in sexuellen Situationen häufig negative Gefühle,
während sexuell ungestörte Personen mehr positive Emotionen erleben.
z Sexuell gestörte Männer unterschätzen im Vergleich zu sexuell ungestörten Män-
nern das Ausmaß ihrer sexuellen Erregung.

Sexualängste beschränken die sexuelle Erlebnisfähigkeit und die partnerschaftlichen


Erlebnismöglichkeiten. Sie können sich als Störungen im Erleben und Verhalten, als
psychovegetative Symptome oder als Beziehungsstörungen äußern.
Sexuelle Ängste, insbesondere Versagensängste, spielen bei vielen sexuellen Funk-
tionsstörungen eine bedeutende Rolle und verhindern bzw. mindern die sexuelle Reak-
tionsfähigkeit. Die Vielfalt möglicher Sexualängste umfasst vier Grundängste [40]:
Triebängste, Beziehungsängste, Geschlechtsidentitätsängste, Gewissensängste.
Im Bereich der Sexualität Erwachsener zeigen sich häufig folgende Ängste [41]:
z Angst in Zusammenhang mit Scham- und Schuldgefühlen oder Ekel,
z Angst vor sexuellem Versagen und Sorgen, den eigenen Leistungsstandards nicht
immer entsprechen zu können,
z Angst, den Erwartungen des Partners nicht zu entsprechen, zurückgewiesen oder
verlassen zu werden,
z Angst, körperlich mangelhaft zu sein (zu kleiner Penis, zu kleine Brust),
z Angst vor Kontrollverlust beim Geschlechtsverkehr,
z Angst vor AIDS oder anderen Infektionen,
z Angst vor Bindung (Abhängigkeit) oder Trennung (Verlust des Partners),
z Angst vor Nähe oder Berührung,
z Angst vor Schwangerschaft,
z Angst vor dem anderen Geschlecht,
z Angst vor Bestrafung im Zusammenhang mit Sexualtabus und Verboten,
z religiös begründete Gewissensängste bezüglich bestimmter Sexualpraktiken,
z Angst vor Schmerzen oder Verletzungen beim Geschlechtsverkehr,
z Angst vor Gewalttätigkeit des Partners oder vor Vergewaltigung,
z Angst, ausgebeutet, unterdrückt oder gedemütigt zu werden,
z Angst, homosexuell oder pervers zu sein.
180 Ängste bei anderen Grunderkrankungen

Bei sexuellen Funktionsstörungen entwickelt sich oft folgender Teufelskreis [42]:


1. Sexueller Leistungsdruck (um jeden Preis „funktionieren“ zu müssen) aus Angst zu
versagen, als Bestätigung der persönlichen „Potenz“, aus dem Bemühen, den ande-
ren nicht zu enttäuschen oder aus anderen Gründen.
2. Erwartungs- und Versagensängste durch die bildhafte Vergegenwärtigung früheren
Versagens und/oder die Vorstellung zukünftigen Versagens bzw. die Vergegenwär-
tigung möglicher Reaktionsweisen des Partners, was vom unmittelbaren Erleben
wegführt.
3. Unlust oder Schmerz wegen mangelnder sexueller Reaktionsfähigkeit.
4. Vermeidungsverhalten (diverse psychovegetative Symptome als Schutz vor einem
Geschlechtsverkehr, Flucht in die Arbeit, häufige Abwesenheit von zu Hause, wenig
Zeit füreinander, symptomatischer Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch).
5. Verlust- und Trennungsängste, die nicht selten zu sexuellen Aktivitäten führen,
obwohl kein echtes Bedürfnis danach besteht.
6. Sexuelle Funktionsstörung (erektile Dysfunktion oder vorzeitiger Samenerguss beim
Mann, Orgasmusprobleme bei der Frau, Erregungsprobleme bei beiden).

Die Mehrzahl der funktionellen Sexualstörungen bei Männern lässt sich erklären durch
das bewusste Bemühen, ein einmal erlebtes bzw. befürchtetes Versagen zu verhindern
durch vermehrte Aufmerksamkeit auf das richtige Funktionieren. Die Spontaneität der
körperlichen Reaktionsabläufe wird unterbrochen durch die Aufmerksamkeitsumlen-
kung von den Reizen der Partnerin auf die ängstliche Beobachtung des eigenen Körpers.
Die Angst vor sexuellem Versagen und das ständige Sich-selbst-Beobachten bewirkt
dieses Versagen erst recht.
Angst vor der Sexualität und Sexualaversion führen zu einem Vermeidungsverhal-
ten, wie es für eine phobische Symptomatik typisch ist. Dadurch wird nicht nur die
sexuelle Funktionsfähigkeit, sondern überhaupt das sexuelle Verlangen (Libido) ver-
mindert bzw. verhindert.
Sexuelle Ängste treten oft bei Menschen mit sozialer Phobie als Ausdruck der Be-
ziehungsstörung auf. Viele vermeidend-selbstunsichere bzw. ängstlich-vermeidende
Persönlichkeiten haben noch nie eine sexuelle Beziehung erlebt. Engere Beziehungen
werden trotz Wunsch danach nicht selten vermieden wegen sexueller Ängste.
Im DSM-IV [43] werden alle sexuellen Funktionsstörungen den ersten drei der vier
Phasen des sexuellen Reaktionszyklus zugeordnet: Appetenz (Verlangen) – Erregung –
Orgasmus – Entspannung. Störungen des sexuellen Verlangens zeigen sich in vermin-
derter sexueller Appetenz bzw. in einer sexuellen Aversion.
Eine sexuelle Aversion kann laut DSM-IV bei einer Konfrontation mit sexuellen Si-
tuationen Panikattacken mit extremer Angst, Gefühlen des Schreckens, der Ohnmacht,
Übelkeit, Herzklopfen, Schwindel und Atembeschwerden auslösen.
Nach dem ICD-10 ist eine sexuelle Aversion (F32.10) u.a. charakterisiert durch eine
deutliche Aversion, Furcht oder Angst angesichts der Möglichkeit sexueller Aktivitäten
mit Partnern, sodass sexuelle Aktivitäten vermieden werden. Wenn es doch zum Ge-
schlechtsverkehr kommt, geht dies einher mit starken negativen Gefühlen und der Un-
fähigkeit, Befriedigung zu erleben.
In den „Störungen der Sexualpräferenz“ (Fetischismus, Exhibitionismus, Voyeu-
rismus, Pädophilie u.a.) laut ICD-10 bzw. in den „Paraphilien“ laut DSM-IV, wo die
sexuelle Erregung im Allgemeinen durch nichtmenschliche Objekte ausgelöst wird,
äußern sich oft Ängste vor einer adäquaten partnerschaftlichen Sexualität [44].
Essstörung – Selbstwert-Ängste hinter Fasten und Körperfigur 181

Essstörung – Selbstwert-Ängste hinter Fasten und Körperfigur


Bei den Essstörungen Anorexie (Magersucht) und Bulimie (Ess-/Brechsucht) werden
Ängste und mangelnder Selbstwert durch Gewichtskorrekturen (Fasten, Diät) und durch
ein bestimmtes körperliches Aussehen zu bewältigen versucht [45]. Es besteht eine
panische Angst vor jeder noch so geringen Gewichtszunahme sowie eine phobische
Vermeidung von Nahrungsmitteln. Menschen mit Anorexie und/oder Bulimie sind von
der massiven Angst zu dick zu sein bzw. zu werden, bestimmt. Es besteht ein gestörtes
Verhältnis zum eigenen Körper sowie eine Fehlwahrnehmung von Körpersignalen.
Grundsätzlich äußert sich in einer Anorexie die Angst vor psychosexueller Reife, in
einer Bulimie die Angst, nicht dem angestrebten stereotypen weiblichen Geschlechtsrol-
lenideal zu entsprechen, das als Orientierungshilfe bei einem unsicheren Selbstwertge-
fühl dient. Anorektische Jugendliche versuchen die durch die biologische Reifung aus-
gelösten Veränderungen in den Rollenerwartungen durch Fasten und Hungern zu ver-
hindern (z.B. durch ein bestimmtes Untergewicht, bei dem die Menstruation ausbleibt),
bulimische Frauen möchten attraktiv weiblich aussehen, glauben es aber nicht zu sein.
Die angestrebte biologische Regression hat die Funktion einer Angstreduktion und
ermöglicht über die ständig neu erreichten Erfolge in der Gewichtsabnahme ein Gefühl
der Kompetenz als Ersatz dafür, dass in anderen Bereichen des Lebens keine Erfolgser-
lebnisse vorhanden sind [46]. Diesem Verhalten liegt die Einstellung zugrunde: „Ich
kann nichts, aber abnehmen kann ich.“
Fasten vermittelt ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber der als triebhaft angese-
henen sozialen Umwelt. Askese und Fasten sind eine Form, wie ein befürchteter Kon-
trollverlust während des Essens von Lieblingsspeisen vermieden werden kann. Es han-
delt sich um Scheinlösungen, die eine echte Bewältigung jener Ängste verhindern, die
im Rahmen der Pubertätsentwicklung von jedem Jugendlichen verlangt wird.
Erbrechen nach Heißhungeranfällen, das im Laufe der Zeit auch bei vielen Mager-
süchtigen auftritt, stellt eine subjektiv als wirksam erlebte Strategie zur Vermeidung
einer Gewichtszunahme dar und wird als Angst reduzierende Maßnahme eingesetzt.

Schizophrenie – Ängste, wenn Wahrnehmung und Denken


ganz anders werden
Bei einer Schizophrenie entstehen die Ängste vor allem aufgrund von paranoiden Vor-
stellungen und Trugwahrnehmungen (zumeist akustischen Halluzinationen, d.h. Stim-
men-Hören) bzw. von körperlichen Missempfindungen, bei schon länger Erkrankten
auch als Folge einer teilweise erkannten geistigen Beeinträchtigung oder einer sozialen
Stigmatisierung [47]. Bei einer paranoiden und katatonen Schizophrenie werden viel
stärkere Ängste erlebt als bei den weniger dramatischen und schleichenden Persönlich-
keitsveränderungen (Hebephrenie und Residualzustand).
Viele schizophrene Patienten wiesen bereits vor ihrer Erkrankung starke soziale
Hemmungen und Beziehungsprobleme auf. Unkontrollierbar erscheinende Ängste, wie
diese im ungünstigsten Fall auch durch eine massierte Konfrontationstherapie ausgelöst
werden können, führen nicht selten zu einer neuerlichen akut psychotischen Symptoma-
tik. Bei Menschen mit Schizophrenie ist daher eine sehr schonende Form der Angstbe-
wältigung zu wählen.
182 Ängste bei anderen Grunderkrankungen

Ängste bei Persönlichkeitsstörungen


Als Persönlichkeitsstörung werden tief verwurzelte, anhaltende und relativ stabile Ver-
haltensmuster bezeichnet, die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönli-
che und soziale Situationen äußern. Die zugrunde liegende Lebenshaltung wird dabei
als subjektiv begründet und berechtigt angesehen, ist also fest in der Persönlichkeit der
Betroffenen verwurzelt („ich-synton“).
Ängste treten auch im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen auf. Die neuen psych-
iatrischen Diagnoseschemata halten trotz der Problematik (bislang fehlende empirische
Validierung) am Begriff der Persönlichkeitsstörung fest und nennen eine unterschiedli-
che Zahl von Persönlichkeitsstörungen. Dabei besteht ein beschreibender Ansatz, orien-
tiert an der klinischen Praxis, ohne bestimmte theoretische Grundlagen.
Das wiedererwachende Interesse an Persönlichkeitsstörungen zeigt sich in verschie-
denen Büchern zur Diagnostik und Therapie von Persönlichkeitsstörungen, etwa in dem
ausgezeichneten Lehrbuch „Persönlichkeitsstörungen“ des Verhaltenstherapeuten Peter
Fiedler [48]. Persönlichkeitsstörungen werden dabei als interaktionell verfestigte, je-
doch grundsätzlich änderbare Verhaltenstendenzen verstanden. Die frühe Verhaltens-
therapie hatte aufgrund des lerntheoretischen Ansatzes („states“ statt „traits“) das Kon-
zept der Persönlichkeitsstörung als statisches Modell abgelehnt.

Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung –


Angst als Persönlichkeitsmerkmal
Das ICD-10 [49] beschreibt eine ängstliche (vermeidende) Persönlichkeit (F60.6), die
große Ähnlichkeiten mit der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung nach
dem DSM-IV aufweist:
z Ständiges Gefühl der Anspannung und Besorgtheit.
z Überzeugung der sozialen Unbeholfenheit, Unattraktivität und Minderwertigkeit als
Ausdruck eines mangelnden Selbstwertgefühls und einer großen Selbstunsicherheit.
z Ständige Sorge und Überempfindlichkeit bezüglich Kritik und Ablehnung in sozia-
len Situationen.
z Vermeidung persönlicher Kontakte, außer beim Gefühl völliger Akzeptanz.
z Eingeschränkter Lebensstil wegen des Bedürfnisses nach Sicherheit und Gewissheit.
z Vermeidung sozialer und beruflicher Aktivitäten aus Angst vor sozialer Kritik und
Ablehnung.

Eine ängstliche Persönlichkeitsstörung zeigt sich vor allem in einer übergroßen Emp-
findsamkeit gegenüber Ablehnung durch andere. Es besteht oft ein unlösbarer Konflikt
zwischen Bindungs- und Autonomiebedürfnis, zwischen Bindungssehnsucht und Bin-
dungsangst. Die Betroffenen sehnen sich nach zwischenmenschlicher Nähe und Sicher-
heit, vermeiden jedoch enge Beziehungen, um nicht zurückgewiesen zu werden. Trotz
der sozialen Vermeidung bleibt das persönliche Bedürfnis nach Zuwendung und Akzep-
tiert werden durch andere bestehen [50].
Die ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung des ICD-10 entspricht der ver-
meidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung des DSM-IV und kommt bei 0,5-1%
der Normalbevölkerung vor.
Ängste bei Persönlichkeitsstörungen 183

Abhängige Persönlichkeitsstörung –
Die Angst, auf sich selbst gestellt zu sein
ICD-10 und DSM-IV beschreiben mit der abhängigen (dependenten) Persönlichkeits-
störung eine weitere Persönlichkeitsstörung, die bei Angstpatienten oft vorhanden ist
und deren Vernachlässigung die Therapieerfolge erheblich beeinträchtigt. Dependenz
(Abhängigkeit) wird verstanden als mangelnde Fähigkeit oder fehlende Bereitschaft zur
Übernahme autonomer Verantwortung bzw. zur Durchsetzung berechtigter Ansprüche
vor allem gegenüber Menschen, zu denen eine Abhängigkeit besteht.
Nach dem ICD-10 [51] lässt sich eine abhängige (asthenische) Persönlichkeitsstö-
rung (F60.7) folgendermaßen charakterisieren:
z Hilfe suchen bei anderen und Übertragung der Verantwortung und Entscheidung an
andere in den meisten Lebenssituationen.
z Unterordnung der eigenen Bedürfnisse unter die anderer Menschen, von denen man
abhängig ist, und große Nachgiebigkeit gegenüber den Wünschen anderer.
z Mangelnde Bereitschaft zur Äußerung angemessener Ansprüche gegenüber Men-
schen, von denen man abhängig ist.
z Massives Unbehagen beim Alleinsein aus Angst, nicht für sich allein sorgen zu
können.
z Ständige Angst vor dem Verlassen werden durch eine enge Bezugsperson, auf die
man angewiesen ist.
z Mangelnde Entscheidungsfähigkeit angesichts von Alltagssituationen ohne Rat-
schläge vonseiten anderer und ohne Bestätigung durch andere.

Die abhängige Persönlichkeitsstörung besteht in einer übermäßigen Abhängigkeit von


relevanten Bezugspersonen und in mangelnder Eigeninitiative. Ihr liegt ein Mangel an
Selbstwert zugrunde. Selbstvertrauen und Selbstsicherheit fehlen weitgehend, sodass
eine Angst vor unabhängigen Entscheidungen besteht, anderen die richtige Entschei-
dung zugetraut und damit auch die Verantwortung übertragen wird. Dies verstärkt im
Sinne eines Teufelskreises die bestehende Abhängigkeit von bedeutsamen Bezugsper-
sonen und die Neigung zur Anpassung. Aus Angst davor, allein mit den Anforderungen
des Lebens nicht zurechtzukommen, besteht ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Abhän-
gigkeit von anderen Menschen.
Nach kognitiv-behavioralen Erklärungskonzepten besteht eine Angst vor unabhän-
gigen Entscheidungen. Im Rahmen der Lerngeschichte entwickelte sich eine übermäßi-
ge Tendenz zur Anpassung und zum Vertrauen in die Richtigkeit der Entscheidung und
Verantwortungsübernahme durch andere, was zu verstärkter Abhängigkeit von den
jeweiligen Bezugspersonen geführt hat.
Menschen mit einer abhängigen Persönlichkeitsstruktur sind oft in Psychotherapie-
praxen zu finden und können verschiedenartigste Hauptdiagnosen haben.
Bei Menschen mit Angststörungen ist zwar gehäuft eine abhängige Persönlichkeits-
störung zu vermuten, eine interpersonelle Abhängigkeitsstörung kann jedoch nur dann
sinnvoll diagnostiziert werden, wenn eine solche vor und nach einer umschriebenen
Angststörung feststellbar ist, anderenfalls wäre die abhängige Interaktionsstruktur nur
ein episodenspezifisches Merkmal einer Angststörung oder depressiven Störung. Dies
zeigt die Notwendigkeit einer Intervention auf der Symptomebene, weil sonst gar nicht
erkennbar ist, ob die Abhängigkeit von Bezugspersonen nicht eine reine Folge der un-
bewältigten Angst- und Panikstörung ist.
184 Ängste bei anderen Grunderkrankungen

Ängste bei anderen Persönlichkeitsstörungen


Ängste treten auch bei zahlreichen anderen Persönlichkeitsstörungen auf [52]:
z Anankastische (zwanghafte) Persönlichkeitsstörung (F60.5). Diese Störung wurde
bereits bei der Zwangsstörung beschrieben. Aus Angst vor Unvollkommenheit und
Angst machender Unsicherheit wird ein Perfektionismus angestrebt. Die Starrheit im
Denken und Handeln vermittelt Sicherheit angesichts von Unsicherheit und Angst
erzeugenden Veränderungen jeglicher Art. Im Gegensatz zu Patienten mit Zwangs-
störungen erleben Menschen mit zwanghafter Persönlichkeitsstruktur ihr Verhalten
als ich-synton, d.h. zur Persönlichkeit passend, weshalb sie kaum Veränderungs-
wünsche und damit auch kein Therapiebedürfnis haben. Ein Behandlungswunsch
entwickelt sich erst nach dem Auftreten einer depressiven Symptomatik.
z Histrionische Persönlichkeitsstörung (F60.4). Es besteht eine Angst vor dem Verlust
der Anerkennung durch andere, was durch ständiges Mittelpunktstreben zu vermei-
den versucht wird. Die Bezeichnung dieser Störung ist abgeleitet vom griechischen
Wort „histrione“, das „Schauspieler“ bedeutet. Es besteht ein schauspielerisches,
Aufmerksamkeit heischendes Verhalten, was einen Teilaspekt dessen erfasst, was
früher als „hysterische Persönlichkeit“ bezeichnet wurde. Dieser Bezeichnung liegt
das griechische Wort „hysteron“ zugrunde, das „Gebärmutter“ heißt. Im antiken
Griechenland wurden hysterische Symptome durch eine herumwandernde Gebär-
mutter bei unfruchtbaren Frauen erklärt.
z Paranoide Persönlichkeitsstörung (F60.0). Es liegt ein angstbedingtes Misstrauen
vor, das bis zu Wahnideen führt. Im Gegensatz zu den irrationalen Ängsten bei so-
zialen Phobien beruht die Angst auf rational begründeten, stabilen Überzeugungen.
z Schizoide Persönlichkeitsstörung (F60.1). Die Hauptmerkmale bestehen in einer
Gleichgültigkeit, Distanziertheit und stark eingeschränkten Möglichkeit des Ge-
fühlsausdrucks in sozialen Beziehungen. Die angstbedingte soziale Distanziertheit
und emotionale Kühle dient als Angst- und Affektschutz.
z Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus (F60.31). Bei
einer Borderline Persönlichkeitsstörung, die bei 1,5% der Bevölkerung vorkommt,
treten besonders schwere und schwer kontrollierbare Ängste auf. Zu den Haupt-
merkmalen zählt u.a. ein tief greifendes Muster von Instabilität in zwischenmensch-
lichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impul-
sivität. Es besteht ein übertriebenes Bemühen, das Verlassenwerden zu vermeiden,
sodass permanente Verlassenheitsängste vorhanden sind, ohne dass von sich aus ei-
ne stabile Beziehung garantiert werden kann. Die dysphorische Grundstimmung und
innere Leere von Borderline-Patienten wird oft durch Phasen der Angst, Wut oder
Verzweiflung unterbrochen. Nach psychoanalytischen Konzeptbildungen handelt es
sich bei der Borderline Persönlichkeitsstörung um eine frühe, fundamentale Ich-
Entwicklungsstörung. In der frühen Kindheit dieser Personengruppe finden sich häu-
fig körperlicher und sexueller Missbrauch, Vernachlässigung, feindselige Konflikte,
früher Verlust oder frühe Trennung von den Eltern. Die Identitätsentwicklung und
das Urvertrauen zur Welt sind infolgedessen schwerstens gestört. Das auffällige
Verhalten in Sozialbeziehungen dient dem für die Störung charakteristischen Selbst-
schutz, d.h. der Vermeidung zwischenmenschlicher Verwundbarkeit, was auf dem
Hintergrund der Lebensgeschichte verständlich ist, von den jeweiligen aktuellen Be-
zugspersonen jedoch eine hohe Frustrationstoleranz und eine klare Linie erfordert,
um mit der Symptomatik des Betroffenen nicht mitzuagieren.
4. Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen
Verbreitung von Angststörungen
Angststörungen sind bei Frauen (noch vor den Depressionen) die häufigste psychiatri-
sche Störung, bei Männern (nach dem Alkoholmissbrauch) immerhin die zweithäufigste
psychische Störung. In klinischen Stichproben sind Panikstörungen und Agoraphobien
die häufigsten Angststörungen, gefolgt von sozialen Phobien, während in der Allge-
meinbevölkerung soziale und spezifische Phobien am weitesten verbreitet sind.
Laut umfangreichen älteren Befragungen litten in den USA und in Deutschland etwa
14-15 % der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens unter einer Angststörung.
Nach der ECA-Studie [1] in 5 Großstädten von 5 US-Bundesstaaten an über 18000
Personen in den 1980er-Jahren hatten nach DSM-III-Diagnostik 14,6% der Bevölke-
rung im Laufe ihres Lebens und 8,9% innerhalb der letzten 6 Monate eine Angststö-
rung. Lebenszeitbezogen entwickeln 5,2% eine Agoraphobie, 1,6% eine Panikstörung,
8,5% eine generalisierte Angststörung, 10,0% eine spezifische Phobie, 2,8% eine sozia-
le Phobie und 2,5% eine Zwangsstörung.
Nach der Münchner 7-Jahres-Follow-up-Studie (MFS) des Max-Planck-Instituts für
Psychiatrie [5], einer 1981 begonnenen Verlaufsstudie an über 1300 Personen, bekom-
men in Deutschland 13,9% der Allgemeinbevölkerung irgendwann im Verlauf ihres
Lebens eine Angststörung: 5,7% eine Agoraphobie, 2,4% eine Panikstörung, 8,0% eine
spezifische Phobie, 2,5% eine soziale Phobie und 2,0% eine Zwangsstörung (die gene-
ralisierte Angststörung wurde nicht erfasst).
Nach zwei umfangreichen neueren Erhebungen in den USA ist die Häufigkeitsrate
von Angststörungen in der Bevölkerung der 18- bis 54-Jährigen deutlich höher als frü-
her angenommen [3].
Nach der National Comorbidity Survey (NCS-Studie [4]) in den frühen 1990er-
Jahren mit verbesserten diagnostischen Kriterien (DSM-III-R) entwickelten von über
8000 repräsentativ ausgewählten Personen in den USA 24,9% im Laufe ihres Lebens
eine Angststörung: 3,5% eine Panikstörung (eine Panikattacke: 15,6%), 5,3% eine Ago-
raphobie ohne Panikstörung (inklusive mit Panikstörung: 6,7%), 5,1% eine generalisier-
te Angststörung, 11,3% eine spezifische Phobie, 13,3% eine soziale Phobie, 7,8% eine
posttraumatische Belastungsstörung. Innerhalb der letzten 12 Monate bekamen 17,2%
der US-Amerikaner eine Angststörung: 2,3% eine Panikstörung, 2,8% eine Agorapho-
bie ohne Panikstörung, 3,1% eine generalisierte Angststörung, 8,8% eine spezifische
Phobie, 7,9% eine soziale Phobie, 2,3% eine posttraumatische Belastungsstörung.
Nach der National Comorbidity Survey Replication (NCS-R-Studie) [5] bei über
9000 Personen in den Jahren 2001-2003 hatten nach DSM-IV-Kriterien in der US-
Bevölkerung im Laufe des Lebens 28,8% eine Angststörung: 4,7% eine Panikstörung,
1,4% eine Agoraphobie ohne Panikstörung, 12,5% eine spezifische Phobie, 12,1% eine
soziale Phobie, 5,7% eine generalisierte Angststörung, 6,8% eine posttraumatische
Belastungsstörung, 1,6% eine Zwangsstörung, 5,2% eine Trennungsangststörung. Im
Laufe des Lebens hatten 22,7% der Bevölkerung mindestens eine Panikattacke. Inner-
halb der letzten 12 Monate hatten 18,1% eine Angststörung: 2,7% eine Panikstörung,
0,8% eine Agoraphobie ohne Panikstörung, 8,7% eine spezifische Phobie, 6,8% eine
soziale Phobie, 3,1% eine generalisierte Angststörung, 3,5% eine posttraumatische
Belastungsstörung, 1,0% eine Zwangsstörung, 0,9% eine Trennungsangststörung.
186 Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen

Aus den relativ übereinstimmenden Daten beider Studien folgt: Unter Berücksichti-
gung der Zwangsstörung, der posttraumatischen Belastungsstörung und der Trennungs-
angststörung, die nach dem ICD-10 nicht zu den Angststörungen im Sinne der Diagno-
sen F40 und F41 zählen, leidet mindestens jeder Vierte der Allgemeinbevölkerung im
Laufe seines Lebens unter einer Angststörung. Die Befragungsergebnisse mögen auf
den ersten Blick unglaubhaft hoch erscheinen, sie müssen jedoch auf den Hintergrund
verstanden werden, dass laut aktueller NCS-R-Studie 46,4% der US-Bürger mindestens
einmal in ihrem Leben unter einer psychischen Störung leiden (innerhalb der letzten 12
Monate trifft dies auf 26,2% zu).
Nach einer umfangreichen europäischen Befragung (ESEMeD) von 21425 Personen
in sechs Ländern (Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Spanien) in
den Jahren 2001-2003 hatten im Laufe des Lebens 13,6% der Bevölkerung (9,5% der
Männer und 17,5% der Frauen) und innerhalb der letzten 12 Monate 6,4% der Bevölke-
rung (3,8% der Männer und 8,7% der Frauen) eine Angststörung. Es gibt mittlerweile
auch andere repräsentative deutsche Studien zur Verbreitung von Angststörungen. Dem-
nach leiden aktuell (Punktprävalenz) rund 9% der Deutschen unter einer Angststörung.
Im Rahmen des Bundesgesundheitssurvey 1998 wurden durch eine Zusatzauswer-
tung auf der Basis von 4181 Personen aktuellste und repräsentative Daten zur Verbrei-
tung von Angststörungen in Deutschland gewonnen [6]. Ca. 9% (genau 8,87%) der 18-
bis 65-Jährigen wiesen aktuell (innerhalb der letzten vier Wochen) und 14,5% innerhalb
der letzten 12 Monate eine Angststörung auf. Die 12-Monatsprävalenzen der verschie-
denen Angststörungen betragen: 1,1% Panikstörung, 2,0% Agoraphobie, 7,6% spezifi-
sche Phobie, 2,0% soziale Phobie, 5,1% generalisierte Angststörung, 0,7% Zwangsstö-
rung. Es bestanden keine Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland (alte Bun-
desländer: 8,97%; neue Bundesländer: 8,98%). Unter den Männern wiesen rund 5%,
unter den Frauen rund 13% eine Angststörung auf, und zwar relativ unabhängig vom
jeweiligen Altersbereich. Der höchste Prozentsatz bestand bei 18- bis 35-Jährigen
(Frauen: 13,32%, Männer: 5,46%).
Nach der TACOS-Studie, einer 1996 durchgeführten Erhebung an 4075 18- bis 64-
Jährigen der Allgemeinbevölkerung einer norddeutschen Region wiesen 15,1% im Lau-
fe des Lebens eine Angststörung nach dem DSM-IV auf (Panikattacken: 5,8%, Panik-
störung ohne Agoraphobie: 0,9%, Panikstörung mit Agoraphobie: 1,3%, Agoraphobie
ohne Panikstörung: 1,1%, soziale Phobie: 1,9%, generalisierte Angststörung: 0,8%,
spezifische Phobie: 10,6%, Zwangsstörungen: 0,5%, posttraumatische Belastungsstö-
rung: 1,4%, Angststörung aufgrund medizinischer Krankheitsfaktoren: 0,7%).
Nach der EDSP-Studie, einer über 5 Jahre angelegten repräsentativen Verlaufsstudie
bei 3021 14- bis 24-Jährigen aus Bayern, erlebten 14,4% dieser jungen Menschen im
Laufe des Lebens eine Angststörung. Die Lebenszeitprävalenz im Einzelnen: 3,5%
Panikstörung, 5,3% Agoraphobie, 5,1% generalisierte Angststörung, 11,3% spezifische
Phobie, 7,6% soziale Phobie, 2,1% Zwangsstörung (Datenerhebung 1995 und 1996).
Nach einer 1994 unter Leitung des Angstexperten Margraf [7] durchgeführten reprä-
sentativen Befragung von 2948 Personen in der BRD (1939 in Westdeutschland und
1009 in Ostdeutschland) weisen 8,8% der Deutschen (11,0% der Frauen und 6,4% der
Männer) zum Befragungszeitpunkt behandlungsrelevante Angstsyndrome auf, erhoben
durch das Beck-Angst-Inventar. Ängste treten in Ostdeutschland (16,3%) doppelt so
häufig auf als in Westdeutschland (7%), was wohl durch die Umbruchssituation erklär-
bar ist. Aus der Forschung ist bekannt, dass die Unkontrollierbarkeit und Unvorhersag-
barkeit von Lebenssituationen eine zentrale Ursache für Angstreaktionen darstellt.
Verbreitung von Angststörungen 187

Angststörungen sind häufiger


z bei Frauen (unter den Angst-Betroffenen sind 66,0% Frauen und 34,0% Männer),
z bei jungen und alten Menschen (bis 20 Jahre: 13,5%, über 65 Jahre: 13,4%),
z in der Altersgruppe der 36- bis 45-Jährigen (10,3%),
z bei Geschiedenen oder getrennt Lebenden (12,1%, nur Osten: 20,2%),
z bei Verwitweten (12,9%, nur Osten: 18,4%),
z bei der Gruppe der in Ausbildung Stehenden wie Schüler, Studenten, Auszubilden-
de, Wehr- und Zivildienstleistende (13,5%, nur Osten: 26,3%),
z bei Arbeitslosen (10,8%, nur Osten: 16,8%),
z bei fehlendem Schulabschluss (18,9%, nur Westen: 20,5%),
z bei un- oder angelernten Arbeitern (12,1%, nur Osten: 14,5%),
z bei niedrigem Einkommen (12,7%) und auch bei hohem Einkommen (16,4%),
z in kleinen Wohnorten unter 2000 Einwohnern (15,3%).

Jeder siebente Deutsche (13,1%) war bzw. ist gerade wegen Angstsymptomen in Be-
handlung (von den insgesamt 394 Behandelten waren 109 klinische und 285 subklini-
sche „Fälle“). Nur 41,6% aller Befragten mit behandlungsbedürftigen Ängsten erhielten
eine Behandlung im weitesten Sinne. Als Behandler der Befragten wurden verschiedene
Berufsgruppen in folgender Häufigkeit eruiert: 81,7% Allgemeinmediziner, 5,8% Psy-
chiater oder Nervenfachärzte, 16,5% andere Fachärzte (z.B. Internisten), 2,8% Psycho-
logen und 1,3% Heilpraktiker. Über vier Fünftel der Behandlungen von Menschen mit
Angststörungen erfolgen demnach durch den Hausarzt.
89,3% aller Behandelten erhielten Medikamente, 74,4% eine allgemeine Beratung,
9,4% eine stationäre Behandlung, 16,5% eine Psychotherapie, 5,1% eine andere Be-
handlung. Die Pharmakotherapie stellt in der Versorgungspraxis die häufigste Form der
Angstbehandlung dar. Nur bei insgesamt 25% der klinischen und subklinischen Fälle
erfolgte eine psychotherapeutische Behandlung. Von allen Behandelten wurden 2,0% in
einer psychiatrischen/psychosomatischen/verhaltenstherapeutischen Klinik und 9,1% in
einer Kur- bzw. Rehabilitationsklinik stationär therapiert.
Die Behandelten unterzogen sich folgenden psychotherapeutische Methoden: 11,9%
Entspannungsmethoden, autogenes Training oder Hypnose, 11,4% Gesprächstherapie
oder psychodynamische Verfahren und 1,0% verhaltenstherapeutische bzw. kognitive
Verfahren. Verhaltenstherapeutische Behandlungsmethoden, deren Wirksamkeit sehr
hoch und durch die Psychotherapieforschung gut belegt sind, wurden in der Praxis
kaum verwendet, was eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit erfordert. Nur 26,3% aller in
irgendeiner Form behandelten Patienten schätzten die Therapie als dauerhaft erfolgreich
ein. Von den Befragten mit psychotherapeutischer Behandlung berichteten 8,1% keinen,
28,6% einen kurzfristigen, 48,0% einen mittelfristigen und nur 15,3% einen dauerhaften
Erfolg, bei den medikamentös Behandelten beschrieben 8,9% keinen, 28,2% einen
kurzfristigen, 33,2% einen mittelfristigen und 29,7% einen dauerhaften Erfolg.
Nach der Dresdner Angststudie besteht akuter Handlungsbedarf im Bereich der
Angststörungen. Rund 60% aller Befragten mit Angstsymptomen haben niemals einen
Therapeuten aufgesucht. Im Durchschnitt erfolgt eine adäquate Behandlung erst nach 7
Jahren. Die Ersterkrankung setzt zwischen dem 20. und dem 25. Lebensjahr ein. Der
erste Arztbesuch erfolgt durchschnittlich mit 24 Jahren.
Ohne Behandlung ist die Entwicklung von Angststörungen im Laufe des Lebens
nach allen Studien als sehr negativ zu beurteilen. Spontanheilungen sind seltener, als
früher angenommen wurde, jedenfalls niedriger als bei anderen psychischen Störungen.
188 Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen

Es ist ein Faktum: Angststörungen sind – ebenso wie Depressionen – in den letzten
Jahrzehnten stark angestiegen. Laut manchen Fachleuten seien nur die Diagnosen ange-
stiegen, während der Prozentanteil der Angstkranken in der Bevölkerung gleich geblie-
ben sei. Viele Experten gehen jedoch davon aus, dass seit den 1950er-Jahre Angststö-
rungen tatsächlich um mindestens 1,2 Standardabweichungen zugenommen haben,
bedingt durch sozioökonomische Faktoren und persönliche Bedrohungseinschätzungen:
z Obwohl das Leben in früheren Jahrhunderten durch zahlreiche Faktoren viel stärker
bedroht war als heute, nehmen die Menschen gegenwärtig subjektiv immer weniger
Sicherheit im Leben wahr. Die Bevölkerung ist im Zeitalter der Globalisierung bin-
nen Minuten über alle Bedrohungen in der näheren und weiteren Umwelt informiert.
Die mangelnde subjektive Kontrolle der Umwelt macht Angst und erzeugt Stress.
Krank machend ist nicht der Stress an sich, sondern das Gefühl des Kontrollverlusts.
z Der schulische und berufliche Leistungsdruck fördert Versagensängste und soziale
Ängste, aber auch existenzielle Ängste in Bezug auf die ökonomische Absicherung
des weiteren Lebens. Arbeitnehmer haben immer häufiger das Gefühl, dass ihr Ar-
beitsplatz als Grundlage der Existenzsicherung nicht garantiert ist.
z Die Menschen wurden noch nie so alt wie jetzt und fürchten sich dennoch mehr
denn je vor Krankheiten, einerseits wegen des größeren Erkrankungsrisikos als Fol-
ge höheren Lebensalters, andererseits wegen höherer Erwartungen an die Medizin.
z Familiäre Stützsysteme haben durch die zunehmende Instabilität von Ehe und Be-
ziehungen ihren wichtigen Schutzfaktor für die Gesundheit in Kindheit, Jugend und
Erwachsenenalter verloren. Die Vereinzelung, soziale Entwurzelung und mangelnde
Solidarität fördert heutzutage Angstkrankheiten. Stabile Sozialkontakte dagegen
schützen vor krankhaften Ängsten. Der Verlust von sozialer Verbundenheit macht
zwanzig Prozent der Varianz aus, die beim Anstieg der Ängste beobachtbar sind.

Angststörungen in der ärztlichen Praxis


Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation [8] in 15 Zentren aus 14 Ländern über das
Vorkommen psychischer Störungen in der Ordination von Allgemeinärzten, diagnosti-
ziert anhand der ICD-10-Kriterien, ergab prozentuelle Häufigkeiten psychischer Stö-
rungen, wie sie in Tab. 2 dargestellt sind.

Tab. 2: Psychische Störungen in der Allgemeinarztpraxis [9]

Psychische Störung Weltweit Europa BRD


(WHO-Querschnittstudie) (15 Zentren) (ohne BRD) (Berlin, Mainz)
% % %
Agoraphobie, akut 1,5 2,4 1,6
Panikstörung, akut 1,1 2,0 1,3
Generalisierte Angststörung 7,9 8,5 8,5
Depression 10,4 12,7 8,6
Dysthymie (leichte Depression) 2,1 2,5 0,7
Somatisierungsstörung 2,7 1,3 2,1
Alkoholabhängigkeit 2,7 2,3 6,3
Alkoholmissbrauch 3,3
Neurasthenie 7,9 7,5
Hypochondrie 5,4
Gesamt 24,0 21,9 20,9
Angststörungen in der ärztlichen Praxis 189

Bereits ohne die nicht erfassten spezifischen und sozialen Phobien sowie posttraumati-
schen Belastungsstörungen weisen mehr als 10% der Patienten von Allgemeinärzten
manifeste behandlungsbedürftige Angststörungen auf.
Nach der WHO-Studie findet man in deutschen Allgemeinarztpraxen 1,6% akute
Agoraphobien, 1,3% akute Panikstörungen, 8,5% generalisierte Angststörungen.
Insgesamt leiden weltweit etwa ein Viertel der Patienten von Allgemeinärzten unter
psychischen Störungen. Rund 60% aller Patienten, die wegen psychischer Probleme den
Hausarzt aufsuchen, weisen laut WHO-Studie mehr als eine psychische Störung auf
(zumeist Angst und Depression).
In der BRD erhielten 20,9% der Patienten von Allgemeinmedizinern eine psychiatri-
sche ICD-10-Diagnose, weitere 8,5% klagten über typische Beschwerden, ohne die
vollen Kriterien einer psychiatrischen ICD-10-Diagnose zu erfüllen [10].
Die Übereinstimmung zwischen der ICD-Diagnose durch Fachleute und der Fest-
stellung einer psychischen Erkrankung durch den Hausarzt betrug 60%, d.h. bei 40%
wurde die psychische Störung nicht erkannt [11]. Rund 50% aller Angststörungen wer-
den vom Hausarzt nicht erkannt oder als Depressionen bzw. somatische Störungen
fehldiagnostiziert. Weitere 25% werden nach Expertenurteil fehlbehandelt [12].
16,1% der Patienten von deutschen Allgemeinärzten erhalten Medikamente wegen
einer psychischen Störung, davon 4,5% Tranquilizer, 3,4% Hypnotika (Schlafmittel),
1,7% Anxiolytika, 2,0% Antidepressiva, 1,3% Antipsychotika, 2,8% pflanzliche Mittel,
1,1% Schmerzmittel [13].
Die Mehrzahl der Angstpatienten wird über 4-10 Jahre nicht adäquat diagnostiziert
und behandelt. Im Durchschnitt vergehen sieben Jahre, bis eine Angsterkrankung als
solche erkannt wird. Ärztliche Hilfe wird anfangs eher über somatoforme Störungen
(Kreislaufprobleme, Schwindel usw.) und Schlafstörungen gesucht.
Unter 500 deutschen Allgemeinarztpatienten mit aktuellen, körperlich nicht hinrei-
chend begründbaren Beschwerden wurde bei 21% eine Angststörung festgestellt.
Von 6307 Patienten aus Allgemeinarztpraxen in den USA wiesen 32,7% eine vorü-
bergehende Angstsymptomatik auf, die in 56% der Fälle nicht erkannt wurde.
Von 1994 niederländischen Patienten mit einer psychiatrischen Diagnose wurden in
den Allgemeinarztpraxen nur 47% als psychisch krank erkannt. Die von den Ärzten
rasch erkannten und richtig behandelten Angstpatienten wiesen eine kürzere Erkran-
kungsdauer auf. Das rasche Erkennen von Angststörungen hat somit einen positiven
Effekt auf den Krankheitsverlauf.
Menschen mit Angststörungen können in einer durchschnittlichen Arztpraxis ange-
sichts des nötigen Zeitaufwands oft nicht ausreichend betreut werden.
Bei einer Befragung von Allgemeinärzten und Nervenärzten in Deutschland [14]
gaben 54,5% an, dass Angstpatienten eine große Belastung für die Praxis seien. 91,7%
meinten, dass bei Angstpatienten im Vergleich zu anderen Patienten mehr Zeit aufge-
wendet werden müsse. Tranquilizer sind daher häufig das Mittel der Wahl, dieses Pro-
blem zu entschärfen, von dem viele Ärzte wissen, dass es dadurch nicht lösbar ist.
Nach einer US-Studie an 794 Patienten mit Panikanfällen (mit und ohne Agorapho-
bie) erhielten nur 4% eine Verhaltenstherapie. Nur bei 2,6% der Patienten mit Vermei-
dungsverhalten wurde eine Konfrontationstherapie durchgeführt. Ähnlich geringe Pro-
zentwerte fand – wie erwähnt – Margraf [15] bei fast 400 deutschen Angstpatienten.
190 Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen

Angststörungen im Rahmen von


psychischen Mehrfacherkrankungen
„Komorbidität“ bezeichnet eine Mehrfacherkrankung in einem bestimmten Zeitinter-
vall, d.h. die Betroffenen weisen mehr als eine Diagnose auf, was bei der Behandlung
von Angstpatienten ausreichend berücksichtigt werden muss. Es können folgende Zu-
sammenhänge zwischen Ängsten und anderen psychischen Störungen bestehen:
z gleichzeitiges Auftreten von Angst und einer anderen psychischen Störung, verur-
sacht durch eine dritte Störung (z.B. Alkoholmissbrauch),
z Ängste als Ursache anderer Störungen,
z Ängste als oft bleibende Folge anderer Störungen,
z Ängste zeitlich umschrieben im Rahmen der Manifestation einer anderen Störung.

Nach umfangreichen statistischen Analysen verschiedener epidemiologischer Studien


[16] hatten mehr als 70% aller psychischen Mehrfacherkrankungen, wo Angst eine
Rolle spielt, mit einer Angstsymptomatik begonnen. Nur bei ca. 20% waren die depres-
siven Symptome bereits vor den Angstsymptomen vorhanden. Diese Beziehung kann
wegen der unzureichenden Datengrundlage allerdings nicht im Sinne eines Ursache-
Wirkungs-Verhältnisses interpretiert werden.
Lebenszeitlich gesehen sind in der BRD [17] nur 8% der Panikstörungen, 25% der
Agoraphobien und 44% der spezifischen und sozialen Phobien und in den USA (NCS-
Studie [18]) nur 12,4% der Agoraphobien, 16,6% der spezifischen Phobien und 19% der
sozialen Phobien reine Angststörungen. In allen anderen Fällen trat im Laufe des Le-
bens noch mindestens eine weitere Angststörung auf.
In der deutschen Bevölkerung ergeben sich Mehrfacherkrankungen im Laufe des
Lebens in folgender Häufigkeit: 3,8% Angststörung und affektive Störung, 1,2% Angst-
störung und Medikamentenmissbrauch, 1,0% Angststörung, affektive Störung und Me-
dikamentenmissbrauch.
Von den nach der MFS-Studie 13,9% im Laufe des Lebens an Angststörungen er-
krankten Deutschen leidet jeder Zweite wenigstens einmal an einer weiteren psychi-
schen Störung. In der Gruppe von Menschen mit Angststörungen, affektiven Erkran-
kungen und Substanzmissbrauch findet sich lebenszeitlich gesehen jeweils ein Prozent-
anteil von 26,4% mit reinen Angststörungen bzw. reinen Depressionen, während knapp
die Hälfte eine Kombination von Angst und Depression aufweist, teilweise in Verbin-
dung mit Substanzmissbrauch bzw. Substanzabhängigkeit [19].
Psychische Mehrfacherkrankungen sind im klinischen Bereich (Ambulanzen, statio-
näre Patienten) noch häufiger als in der Allgemeinbevölkerung. Im klinischen Bereich
(stationär behandelte Patienten der Klinik des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in
München) waren lebenszeitlich gesehen die reinen Störungen mit 9,1% reinen Angststö-
rungen, 13,1% reinen depressiven Störungen und 1% reinem Substanzmissbrauch bzw.
reiner Substanzabhängigkeit die Ausnahme, fast 80% wiesen eine Kombination von
Angststörung und Depression auf, selbst im Querschnittsbefund (gleichzeitig auftre-
tend) war dies bei fast 50% der Fall [20].
Die Thematik der Komorbidität ist ein häufiger Grund, warum eine monosymptoma-
tisch ausgerichtete Konfrontationstherapie zu keinem Erfolg führt.
Die lebenszeitbezogene Komorbidität einer Angststörung mit einer anderen psychi-
schen Störung soll im Folgenden anhand der vorliegenden Studien näher dargestellt
werden.
Angststörungen im Rahmen von psychischen Mehrfacherkrankungen 191

Auftreten mehrerer Angststörungen


Mehr als 50% aller Menschen mit zumindest einer Angststörung entwickeln in den
USA (NCS-Studie [21] im Laufe des Lebens in folgender Häufigkeit mindestens eine
weitere Angststörung (die genannten Zahlen dürfen jedoch nicht im Sinne kausaler
Zusammenhänge interpretiert werden):
z Von den Personen mit einer Panikstörung entwickeln 21,6% eine Agoraphobie,
14,8% eine spezifische Phobie, 10,9% eine soziale Phobie und 23,5% eine generali-
sierte Angststörung.
z Von den Personen mit gelegentlichen Panikattacken entwickeln 35,8% eine Ago-
raphobie, 27,0% eine einfache Phobie, 20,7% eine soziale Phobie und 41,5% eine
generalisierte Angststörung.
z Von den Personen mit Agoraphobie entwickeln 27,0% eine spezifische Phobie,
23,3% eine soziale Phobie und 25,7% eine generalisierte Angststörung.
z Von den Personen mit einer generalisierten Angststörung entwickeln 19,8% eine
Agoraphobie, 16,0% eine spezifische Phobie und 13,3% eine soziale Phobie.
z Von den Personen mit einer sozialen Phobie entwickeln 46,5% eine Agoraphobie,
44,5% eine spezifische Phobie und 34,4% eine generalisierte Angststörung.
z Von den Personen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln 22,6%
eine Agoraphobie, 19,7% eine einfache Phobie, 15,8% eine soziale Phobie und
19,5% eine generalisierte Angststörung.

Verschiedene Studien zeigen, dass eine anfängliche Panikattacke ein deutlich höheres
Risiko bedeutet, eine Panikstörung, eine Agoraphobie oder eine andere Angststörung zu
bekommen. Dieses Risiko ist allerdings relativ unspezifisch, da Panikattacken auch bei
fast allen anderen Formen psychischer Störungen auftreten können (z.B. bei affektiven,
psychotischen, somatoformen oder Substanzmissbrauchsstörungen).
Diese Befunde haben dazu geführt, dass im amerikanischen DSM-IV eine Panikat-
tacke als Zusatzphänomen bei jeder psychischen Störung vermerkt werden kann. Sie
bestätigen auch das internationale Diagnoseschema ICD-10, das die Agoraphobie als
eigenständige Störung auflistet.

Angststörung und Persönlichkeitsstörung


Menschen mit Angststörungen weisen oft auch eine Persönlichkeitsstörung auf [22]. Bei
40-60% der Panikpatienten mit und ohne Agoraphobie wurden gleichzeitig eine oder
mehrere Persönlichkeitsstörungen gefunden. Es handelt sich dabei meistens um eine
dependente (abhängige) Persönlichkeitsstörung (12-25%) oder um eine ängstliche (ver-
meidende) Persönlichkeitsstörung (19-25%). Bei Menschen mit sozialen Phobien wur-
den in rund 50% der Fälle Persönlichkeitsstörungen festgestellt.
Verlässliche Aussagen über die Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsstörungen
und Angststörungen werden erschwert durch die Probleme bei der Erfassung von Per-
sönlichkeitsstörungen sowie durch den mehrfachen Wechsel der diagnostischen Katego-
rien für Persönlichkeitsstörungen.
192 Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen

Angststörung und Depression


Nach der DEPRES-Studie an über 78000 Personen in 6 europäischen Ländern bestand
bei ca. 70% der Patienten eine Komorbidität von Angststörung und Depression. Depres-
sionen können Ursache, Folge oder Begleitsymptomatik einer Angststörung sein. De-
pressionen entstehen oft als Folge nicht bewältigter Ängste. Angststörungen gehören zu
den häufigsten Risikofaktoren für sekundäre Depressionen.
Menschen mit primärer Angststörung haben ein 7-12-mal erhöhtes Risiko, später
eine Depression zu bekommen. Die Depression wiederum verstärkt die Angststörung,
behindert die psychosoziale Integration und verschlechtert die Chancen auf eine Spon-
tanheilung. 32-50% aller Panikpatienten entwickeln im Lebenslauf eine Depression.
Das Ausmaß depressiver Folgeerkrankungen ist je nach Angststörung unterschied-
lich. Bei Panikstörungen und generalisierten Angststörungen treten lebenszeitlich am
häufigsten Depressionen auf. Depressionen sind die häufigste Begleit- oder Folgesym-
ptomatik sozialer Phobien.
Die Münchner Verlaufsstudie [23] erbrachte folgende Zusammenhänge:
z Bei 90% gingen die Panikattacken dem Auftreten der Depression voraus.
z Die depressive Symptomatik bei den Panikstörungen mit Beginn im gleichen Jahr
trat zumeist wenige Monate nach Entwicklung der Panikstörung auf, bei den Mehr-
facherkrankungen hingegen erst Jahre später, d.h. auf eine Panikstörung folgt ra-
scher eine depressive Episode als bei den anderen Angststörungen.

Ähnliche Befunde ergaben sich für die Agoraphobie sowie für die soziale und spezifi-
sche Phobie. Bei mehr als zwei Drittel aller Mehrfacherkrankungen ist die Angst-
symptomatik die primäre Störung, während die Depression eine oft Jahre später eintre-
tende Komplikation darstellt.
Die wenigen Fälle, die zuerst eine Depression erlebt hatten, wiesen zumeist eine
deutlich abgrenzbare (eher reaktive) Depression auf. Bei fast allen deutschen Patienten
mit Panikstörung und Agoraphobie, die im Lebenszeitlauf eine Depression entwickel-
ten, trat also die Depression nach der Angststörung auf. Nur bei 10% der Mehrfach-
erkrankten bestand vor der Angststörung eine Depression [24].

Die amerikanischen Befunde (NCS-Studie [25]) bestätigen die deutschen Erkenntnisse:


z Nur 20% aller Angststörungen sind reine Störungen.
z Mehr als zwei Drittel aller Depressionen in Kombination mit Angststörungen ent-
wickelten sich eindeutig (mehr als ein Jahr) nach dem Erstauftreten von Angststö-
rungen. Der höchste Anteil eindeutig sekundärer Depressionen zeigt sich bei Panik-
störungen, Agoraphobien und generalisierten Angststörungen.
z Durchschnittlich vergehen bei allen Phobien mehr als 10 Jahre zwischen dem Be-
ginn der Angststörung und dem Beginn der Depression.
z Wenn Panikstörungen und generalisierte Angststörungen schnell (im gleichen Jahr)
auftreten, beträgt die Entwicklung einer sekundären Depression nur ca. 1,5 Jahre.
z Im Falle einer Mehrfacherkrankung entstehen neben einer Angststörung lebenszeit-
lich durchschnittlich vier weitere Störungen (andere Angststörungen, Substanzmiss-
brauch, somatoforme Störungen).
z Menschen mit Panikattacken entwickeln viermal so häufig eine Major Depression
als Personen aus der Durchschnittsbevölkerung.
Angststörungen im Rahmen von psychischen Mehrfacherkrankungen 193

Nach der NCS-Studie [26] entstehen Depressionen im Lebenslauf bei 45,9% der Agora-
phobien, 64,1% der Panikstörungen, 62,4% der generalisierten Angststörungen, 42,3%
der spezifischen Phobien, 37,2% der sozialen Phobien und 47,9% der posttraumatischen
Belastungsstörungen.
85% der Patienten mit Angststörungen und Depressionen gaben in einer anderen
amerikanischen Studie an, dass ihre Angststörungen zuerst aufgetreten seien.
Depressive Episoden entwickeln sich (ebenso wie Substanzmissbrauch bzw. Sub-
stanzabhängigkeit) nach den vorhandenen US-Studien meistens nach Beginn der Angst-
erkrankung. Dies erfolgt oft erst mehrere Jahre später, lediglich bei Panikstörungen
kommt es relativ rasch innerhalb eines Jahres zu einer depressiven Episode. Der Um-
stand, dass die Angststörung zumeist primär und die depressive Störung sekundär ist,
hat weit reichende Konsequenzen für die Art des therapeutischen Vorgehens.
Bei Angstpatienten treten öfter Selbstmordgedanken und Selbstmordversuche auf.
Dabei ist jedoch eine Komorbidität mit einer Depression oder einem Alkoholmiss-
brauch zu vermuten, gewöhnlich als Folge einer chronifizierten Symptomatik. Relativ
häufig finden sich auch Zwangssymptome, die mit der Angst vor negativen sozialen
Konsequenzen zu tun haben. Ordnungs- und Putzzwänge sind oft Folge der Angst,
Sauberkeitsnormen nicht zu erfüllen, Kontrollzwänge Ausdruck der Angst, den gefor-
derten Perfektionsansprüchen nicht zu genügen, handlungshemmende Gedankenzwänge
Ausdruck der Angst, dass die anderen das eigene Verhalten kritisieren könnten.
Ein nicht unbeträchtlicher Prozentsatz der Bevölkerung sowie der Patienten in medi-
zinischen (nichtpsychiatrischen) Behandlungseinrichtungen leidet unter gemischt ängst-
lich-depressiven Symptomen. Die Grundproblematik hinter dem meist diffusen körperli-
chen Beschwerdeangebot wird oft nicht erkannt. Wenngleich es sich großteils nur um
subklinische, nicht akute Symptome handelt, leiden die Betroffenen subjektiv doch
bedeutsam darunter und sind zahlreichen psychosozialen Problemen ausgesetzt.
Bei ca. 10% der Amerikaner fand man gemischt ängstlich-depressive Symptome,
ohne dass damit schon in den meisten Fällen bereits eine Diagnose gestellt werden
konnte [27]. Bei über 80% davon traten phobische Beschwerden, körperliche Symptome
einer Depression oder aber eine allgemeine „Nervosität“ auf. Bei 13% davon zeigte sich
eine typische Mischung aus ängstlichen und depressiven Symptomen, gelegentlich
gingen sie mit Phobien, einer Dysphorie (einer leichten depressiven Verstimmung) oder
somatischen Angstäquivalenten einher. Bei 4,5% der gemischt ängstlich-depressiven
Personen bestand eine Major Depression mit Nervosität, Panik und Phobien.
In einer Untersuchung an britischen Frauen in den 1980er-Jahren wurden die mei-
sten gefundenen Syndrome als subklinisch eingestuft [28]. Bei ca. 2% ergab sich eine
Mischung von ängstlichen und depressiven Syndromen. Unter den subklinischen Angst-
patientinnen bot mehr als die Hälfte ein anfangs gemischt ängstlich-depressives Zu-
standsbild, wobei im Laufe der Zeit die depressive Symptomatik ohne Behandlung
verschwand, während eine chronische subklinische Angstsymptomatik bestehen blieb.
Alle subklinischen Untergruppierungen zeigten ein höheres Risiko, nach stressrei-
chen Lebensereignissen (zumeist nach Trennung oder Verlust des Partners) eine schwe-
re Depression zu entwickeln. Unter den subklinisch belasteten Frauen waren bei der
Mehrzahl lang dauernde soziale Probleme festzustellen.
Eine Studie an über 6000 jungen Erwachsenen in Zürich [29] ergab ganz ähnliche
Befunde. Man fand vor allem deutlich depressive Symptome, die nur kurz anhielten,
dafür jedoch fast allmonatlich wiederkehrten und bei fast der Hälfte der Betroffenen
auch mit Ängsten verbunden waren.
194 Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen

In Deutschland [30] weisen 3,8% der Bevölkerung eine Komorbidität von Angststö-
rungen und affektiven Störungen auf. Ein Viertel davon entwickelte im Laufe der Zeit
zusätzlich auch einen bedeutsamen Medikamenten- oder Alkoholmissbrauch.
Während 40-80% der Panikpatienten lebenszeitlich irgendwann eine sekundäre De-
pression erleiden, entwickeln umgekehrt Patienten mit einer Depression in ca. 25% der
Fälle auch einmal eine Panikstörung [31].
Im Vergleich zu rein depressiven Patienten haben Patienten, die zugleich eine Pa-
nikstörung und eine Depression aufweisen, unter ihren Verwandten ersten Grades ein
zweimal häufigeres Auftreten von Depressionen, Panikstörungen, Phobien und Alko-
holabhängigkeit. Bei Patienten mit einer primären Panikstörung und einer sekundären
Depression findet man familiär keine Häufung von Depressionen, wohl aber eine von
Panikstörungen.
Menschen mit einer primären Depression und einer sekundären Panikstörung zeigen
in ihrer depressiven Querschnittsymptomatik häufiger eine (früher so genannte) endo-
gene Depression, sprechen meist gut auf Antidepressiva an und entwickeln gewöhnlich
nur eine leichtere Agoraphobie (wenn überhaupt).
Primäre Angststörungen beginnen selten nach dem 40. Lebensjahr, außer sie sind
symptomatischer Natur, d.h. durch eine körperliche Erkrankung verursacht. Wenn dies
ausgeschlossen ist, sind sie Ausdruck einer zugrunde liegenden Depression.
Im Vergleich zur Normalbevölkerung weisen depressive Patienten ein höheres Risi-
ko auf, im weiteren Lebensverlauf an einer Angststörung zu erkranken [32]:
z spezifische Phobie: 9-mal,
z Agoraphobie: 15,3-mal,
z Panikstörung: 18,8-mal.

Eine amerikanische Studie untersuchte den Krankheitsverlauf von stationär behandelten


Patienten aus drei verschiedenen Diagnosegruppen [33]:
1. Depression ohne Panikstörung,
2. primäre Depression mit sekundärer Panikstörung,
3. primäre Panikstörung mit sekundärer Depression.

In der genannten Reihenfolge der Diagnosegruppen musste bei den betroffenen Patien-
ten ein immer ungünstiger werdender Krankheitsverlauf festgestellt werden, vor allem
auch ein wachsender Grad an psychosozialer Beeinträchtigung.
Die Entwicklung von Depressionen und Angststörungen im Lebensverlauf bedarf
wohl bestimmter Persönlichkeitsmerkmale, insbesondere soweit es die Verarbeitung
bedeutsamer negativer Lebensereignisse betrifft.
Bei den Patienten mit ängstlich-depressiven Symptomen zeigen sich sehr passiv-
abhängige Wesenszüge. Diese Patientengruppe weist folgende Charakteristika auf [34]:
z eine auffällige Scheu vor neuen sozialen Situationen (geringe „Neuigkeitssuche“),
z eine erhöhte Enttäuschbarkeit (hohe „Belohnungsabhängigkeit“),
z eine spezielle kognitive Angsterwartung (starke „Gefahrvermeidung“).

Vor der Ausprägung der Krankheitssymptome erlebten diese Patienten eine erhöhte
Zahl an negativen Lebensereignissen von „Gefahr“ und „Verlust“, die nicht angemessen
verarbeitet werden konnten, sodass zunächst eine Hilflosigkeit, später (nach erfolglosen
Kontrollversuchen über die Einflussfaktoren) auch eine Hoffnungslosigkeit auftrat, die
die Entwicklung einer Depression begünstigte.
Angststörungen im Rahmen von psychischen Mehrfacherkrankungen 195

In der Verlaufsentwicklung von primärer Angst zu sekundärer depressiver Verstim-


mung entstehen zentrale kognitive Schemata, wie sie der amerikanische Depressionsex-
perte Beck mit der Trias einer negativen Sicht der eigenen Person, der Umwelt und der
Zukunft beschrieben hat.
Psychoanalytische Konzepte liefern ebenfalls einen Beitrag zur Erklärung der häufi-
gen Übergänge von ängstlicher und depressiver Symptomatik. Nach realen oder symbo-
lischen Objektverlusten, insbesondere nach Trennungen von wichtigen Personen, die für
den Patienten eine unersetzbare Funktion zur Aufrechterhaltung des innerseelischen
Gleichgewichts ausübten, tritt oft eine massive Labilisierung des Selbstwertgefühls auf.
Je nachdem, ob diese Person vorrangig Schutz und Sicherheit vermitteln oder Gefühle
von Liebe, Bewunderung und Anerkennung garantieren musste, kommt es eher zu einer
ängstlichen oder eher zu einer depressiven Reaktion.
Die bei einem Objektverlust entstehenden aggressiven Emotionen führen je nach
psychodynamischer Verarbeitung entweder zu ängstlich-phobischen Mustern bei pro-
jektiver Erledigung (Fremdanklage) oder zu depressiv-suizidalen Symptomen bei intro-
jektiver Verarbeitung (Selbstanklage).
Die Zusammenhänge zwischen Angststörungen und Depressionen lassen sich fol-
gendermaßen zusammenfassen [35]:
z Auf eine primäre Depression folgt seltener eine sekundäre Angststörung, auf eine
primäre Angststörung folgt dagegen recht oft eine typische depressive Episode. Für
diese sekundäre Depression ist keine genetische Disposition wahrscheinlich.
z Nicht selten setzt zuerst eine Panikstörung ein, einige Monate später folgt darauf
eine Depression. Für diese Depression ist möglicherweise eine genetische Kompo-
nente gegeben.
z Nicht selten mündet eine jahrelange, oft subklinisch verlaufende Angststörung in
eine depressive Störung, die oft „Erschöpfungsdepression“ genannt wird.
z Besonders bei älteren Patienten folgt nicht selten auf eine typische Depression ein
anhaltendes, vorrangig durch Angstsymptome bestimmtes Verhalten. Dabei müssen
auch die Wechselwirkungen mit verschiedenen Medikamenten, speziell mit Benzo-
diazepintranquilizern, aber auch mit Alkoholmissbrauch beachtet werden.

Angststörung und Alkohol- bzw. Medikamentenmissbrauch


Die Angst dämpfende Wirkung von Alkohol ist seit langem bekannt. Schon Hippokra-
tes empfahl eine Mischung aus Wein und Wasser zur Bekämpfung von Angstgefühlen.
Westphal, der 1871 als erster das Bild der Agoraphobie beschrieb, wies in derselben
Arbeit bereits darauf hin, dass die Betroffenen sich unter Alkoholeinfluss an Örtlichkei-
ten aufhalten konnten, vor denen sie sich eigentlich ängstigten [36].
Die Angst dämpfende Wirkung des Alkohols lässt sich lerntheoretisch gut erklären.
Alkohol reduziert kurzfristig Angst, diese Angst reduzierende Wirkung wiederum ver-
stärkt den Alkoholkonsum. Alkohol mindert nicht nur Angst, sondern auch andere nega-
tive Gefühlszustände (Missstimmungen, depressive Verstimmungen), steigert damit
zumindest kurzfristig das Wohlbefinden und verändert auch die Erinnerung an negative
Erlebnisse und Ereignisse. Angstreduktion durch Alkoholkonsum ist als „zustandsab-
hängiges Lernen“ zu verstehen, das nicht auf den nüchternen Zustand generalisiert. Die
kurzfristige Angstreduktion geht jedoch langfristig mit einer Angststeigerung einher.
196 Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen

Alkohol wirkt Angst reduzierend durch die Verstärkung der hemmenden Funktion
der Gamma-Aminobuttersäureneurone (GABA), aber auch durch positive Erwartungen.
In der Fachliteratur werden vier Möglichkeiten des Zusammenhangs von Angststö-
rung und Alkoholmissbrauch diskutiert und durch Studien untermauert [37]:
1. Der Alkoholkonsum dient der Selbstbehandlung von Angst.
2. Angst und Alkoholabhängigkeit sind Effekte einer gemeinsamen Grundstörung.
3. Angst tritt als schädliche Auswirkung von Alkoholmissbrauch oder -entzug auf.
4. Angst stellt eine kognitive Folge von Alkoholmissbrauch oder Alkoholentzug dar.

In Deutschland [38] war bei 20% der Angstpatienten im Laufe der Jahre Substanzmiss-
brauch bzw. Substanzabhängigkeit festzustellen. Bei 1,2% der deutschen Bevölkerung
besteht eine Mischung von Angststörung und Medikamentenmissbrauch, bei 1% eine
Mischung von Angststörung, affektiver Störung und Medikamentenmissbrauch.
Nach der amerikanischen NCS-Studie [39] zeigt sich Substanzmissbrauch (Alkohol,
Medikamente, Drogen) lebenszeitlich bei 36,3% der Agoraphobien, 39,4% der Panik-
störungen, 32,3% der generalisierten Angststörungen, 39,6% der sozialen Phobien,
39,4% der spezifischen Phobien und 51,4% der posttraumatischen Belastungsstörungen.
In den USA weisen lebenszeitlich unter den Menschen mit irgendeiner Form von
Angststörung 22,7% der Männer und 48,8% der Frauen einen Alkoholmissbrauch und
35,8% der Männer und 60,7% der Frauen eine Alkoholabhängigkeit auf. Das Vorhan-
densein einer sozialen Phobie ging am stärksten mit einer Alkoholproblematik einher.
Es handelt sich bei diesen Ergebnissen allerdings um retrospektive Daten. Zur Absi-
cherung der Befunde wäre eine prospektive Studie (Verlaufsstudie) erforderlich. Die
Mehrzahl der Befragten in der NCS-Studie weist lebenszeitlich mindestens eine weitere
psychiatrische Störung auf. Der Befund, dass insbesondere bei Frauen ein enger Zu-
sammenhang zwischen Alkoholmissbrauch bzw. Alkoholabhängigkeit und Angststö-
rung besteht, wird auch durch andere Studien bestätigt. Panikpatienten mit und ohne
Agoraphobie neigen auch nach anderen Studien oft zu Alkoholmissbrauch. Nach der
amerikanischen ECA-Studie und der Münchner Follow-up-Studie weisen 36-40% der
Panikpatienten Substanzmissbrauch oder Substanzabhängigkeit auf [40]. Panik- und
Alkoholerkrankung können auch die gleichzeitige Folge einer erhöhten Belastung sein.
Wenn Alkohol zum Mittel wird, Vermeidungsverhalten und Erwartungsangst zu re-
duzieren, kann sich daraus eine sekundäre Alkoholabhängigkeit entwickeln. In einer
Untersuchung [41] berichteten 50% der stationären Patienten mit Alkohol- und Drogen-
missbrauch von wiederholten Panikattacken, die die meisten von ihnen (83%) mit Al-
kohol bekämpften, was sich mehrheitlich (bei 72%) auch als wirksam gezeigt habe.
Patienten mit einer isolierten Panikstörung weisen häufiger eine primäre Alkoholab-
hängigkeit auf. Dies ist so zu interpretieren, dass die ständig wiederkehrenden Entzugs-
symptome Panikattacken auslösen können, weil die Symptome ähnlich sind.
Die Erfassung von Panikstörungen bei Alkoholikern ist nicht unproblematisch. Nach
einer Studie [42] sind Alkoholiker nicht in der Lage, zwischen Symptomen von Panik
und solchen von Alkoholentzug zu unterscheiden, mit Ausnahme des Zitterns, das im
Entzug als stärker erlebt wurde. In einer amerikanischen Untersuchung an 565 Alkohol-
abhängigen wiesen 10% eine Phobie und 13% Panikattacken auf, während eine andere
Studie an Alkoholikern bei 7,8% eine soziale Phobie und bei 8,5% eine Agoraphobie
fand [43]. Eine weitere Befragung von 321 stationären Alkoholabhängigen ergab bei
6% Panikstörungen und bei 18% Phobien im Rahmen des Lebensverlaufs [44]. Wäh-
rend des Alkoholentzugs sind noch höhere Werte zu finden.
Angststörungen im Rahmen von psychischen Mehrfacherkrankungen 197

Viele sozial ängstliche Menschen verwenden Alkohol als Mittel zur Linderung ihrer
Symptome. Am Beginn einer Alkoholabhängigkeit steht oft eine soziale Phobie, die mit
Alkohol so lange zu überspielen versucht wurde, bis man davon abhängig wurde. Viele
Alkoholiker erkennen erst nach dem Entzug das wahre Ausmaß ihrer sozialen Ängste.
Die Fachliteratur und leidvolle Erfahrungen der Betroffenen zeigen, dass die Selbst-
behandlung mit Alkohol die Angstsymptomatik langfristig nicht zu lindern vermag,
sondern tendenziell eher verschlimmert. Insgesamt sind jedoch die empirischen Belege
für die häufige klinische Erfahrung, dass zuerst die Angststörung und dann die Alko-
holproblematik auftritt, derzeit noch nicht ausreichend vorhanden.
Therapeutisch gesehen muss bei Alkoholikern neben dem Ziel der Abstinenz oft
auch eine bessere soziale Kompetenz aufgebaut werden.
Der Zusammenhang von Angst und Alkohol kann auch umgekehrt sein: eine primä-
re Abhängigkeitserkrankung kann zu einer sekundären Angstsymptomatik bzw. sekun-
dären Angststörung führen. Angst als Folge von Alkoholmissbrauch muss nicht unbe-
dingt auf einer direkten Alkoholwirkung beruhen, sondern könnte auch durch die mit
dem Alkoholentzug einhergehenden neurobiologischen Veränderungen bedingt sein.
Wiederholte Alkoholentzüge (auch ein zum üblichen Blutalkoholspiegel nur relativ
geringfügiger Abfall des Alkoholspiegels) bewirken eine länger andauernde Erregbar-
keitssteigerung im Zentralnervensystem, die mit Angst verbunden ist und nach Absti-
nenzbeginn noch monatelang anhalten kann. Man spricht in diesem Fall von einem
„subakuten verlängerten Alkoholentzugssyndrom“ [45].
Zumindest bei prädisponierten Personen können wiederholte Alkoholentzüge durch
Sensibilisierung und erhöhte exzitatorische Instabilität die Schwelle für das Auftreten
von Angst herabsetzen. Dies wird als Kindling-Phänomen bezeichnet.
Im Alkoholentzug besteht eine noradrenerge Hyperaktivität des Zentralnerven-
systems, die erregend wirkt. Panikstörungen sind ebenfalls charakterisiert durch eine
Aktivitätssteigerung des noradrenergen Systems, ausgehend vom Locus coeruleus.
Trizyklische Antidepressiva oder bestimmte neuere Antidepressiva (außer den nicht
dämpfenden SSRI) gelten als Therapieempfehlung bei Panikstörungen von Alkoholi-
kern. Diese Medikamente erhöhen in gleicher Weise wie die MAO-Hemmer die Ver-
fügbarkeit von Noradrenalin im synaptischen Spalt und bewirken so über einen negati-
ven Feedback-Mechanismus eine verminderte Aktivität der Neurone im Locus coeru-
leus und damit auch eine Reduzierung der noradrenergen Aktivität.
Der Zusammenhang von Alkohol und Angst kann als Teufelskreis dargestellt wer-
den [46]: Alkoholfolgen wie z.B. vegetative Übererregbarkeit, Irritierbarkeit, Schlafstö-
rungen, Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen, reduzierte Leistungsfähigkeit,
Erschöpfung, Herz-Kreislauf-Probleme oder Magen-Darm-Beschwerden dienen häufig
als Auslöser für Angstreaktionen in der Form, dass diese Zustände als Angst machend
interpretiert werden. Um die Angstgefühle zu beseitigen, wird erst recht wieder Alkohol
als Mittel der Wahl eingesetzt.
Alkohol und Tranquilizer (z.B. Tafil®/Xanor®, Lexotanil®, Valium®) ermöglichen
oft lange das Verbergen der Sozialphobie Phobie bzw. der Agoraphobie vor anderen
und ein unauffälliges Leben. Im Laufe der Zeit entstehen jedoch große Folgeprobleme
(schwerer Missbrauch bzw. Abhängigkeit von Alkohol oder Beruhigungsmitteln, De-
pressionen, Berufsunfähigkeit, völlige Abhängigkeit von bestimmten Bezugspersonen).
Eine Abhängigkeit von Tranquilizern entwickelt sich oft schneller als von Alkohol,
weil die Einnahme anfangs ärztlich legitimiert erfolgte und die soziale Kontrolle fehlte
(Tabletteneinnahme erfolgt ohne Zuschauer).
198 Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen

Angststörung und psychosoziale Behinderungen


Nach amerikanischen Forschungsergebnissen (NCS-Studie [47]) weisen Menschen mit
Angststörungen große psychosoziale Einschränkungen auf, die bei gleichzeitigem Vor-
handensein einer anderen Angststörung (z.B. Panikstörung), noch stärker werden:
z Massive soziale Beeinträchtigungen zeigen sich bei 88,0% der Panikstörungen,
26,5% der Agoraphobien, 53,2% der generalisierten Angststörungen, 34,2% der
spezifischen Phobien und 33,5% der sozialen Phobien.
z Professionelle Hilfe wurde gesucht bei 65% der Panikstörungen, 41% der Ago-
raphobien, 66% der generalisierten Angststörungen, 30,2% der spezifischen Phobien
und 19% der sozialen Phobien.
z Medikamenteneinnahme war festzustellen bei 81,3% der Panikstörungen, 21,6% der
Agoraphobien, 44% der generalisierten Angststörungen, 8,0% der spezifischen Pho-
bien und 6,2% der sozialen Phobien.

Zwangsstörung und andere psychische Störungen


Von den Zwangspatienten haben gleichzeitig 13,8% eine Panikstörung und 20% eine
generalisierte Angststörung. 24,1% weisen einen Missbrauch oder eine Abhängigkeit
von Alkohol auf, meist als Folge der Zwangsstörung.
Viele Menschen mit einer Zwangsstörung leiden gleichzeitig unter einer depressiven
Symptomatik (28-38%) oder unter einer Dysthymie. Etwa ein Drittel der Zwangspatien-
ten weist eine primäre affektive Störung auf [48]. Die depressive Symptomatik kann
vor, während oder nach der Entwicklung einer Zwangsstörung auftreten.
Der Verlauf „zuerst Zwangsstörung, dann Depression“ ist dreimal so hoch wie
umgekehrt. Die Fortdauer einer Zwangsstörung führt aufgrund der Lebenseinschrän-
kungen zu Hilflosigkeit, Entmutigung und Depressivität. Eine Depression verstärkt eine
Zwangsstörung. Frauen mit einer Zwangsstörung haben früher nicht selten eine Anore-
xie oder eine Bulimie gehabt.
Die Komorbidität mit somatoformen Störungen beträgt 8-37% (vor allem mit der
Hypochondrie und der Dysmorphophobie).
Eine Alkoholabhängigkeit kommt bei Patienten mit einer Zwangsstörung häufiger
vor als in der Durchschnittsbevölkerung. Der Alkoholmissbrauch ist meistens die Folge
der Zwangsstörung im Sinne eines untauglichen Behandlungsversuchs.
Obwohl Zwangsstörungen oft recht bizarr erscheinen, folgt darauf laut Studien [49]
nur in höchstens 3% der Fälle eine schizophrene Symptomatik. Zwänge mit ihrem rigi-
den System wurden früher von Klinikern oft als Versuch angesehen, einen psychoti-
schen Zerfallsprozess zu verhindern. Aus einer Zwangsstörung entwickelt sich jedoch
nicht häufiger eine Schizophrenie als bei anderen psychischen Störungen. Bei den
scheinbaren Verläufen „zuerst Zwang, dann Schizophrenie“ wurde meistens die von
Anfang vorhandene Psychose wegen ihrer Unspezifität nicht erkannt.
Früher wurde auch angenommen, dass sich Zwangsstörungen auf der Grundlage ei-
ner zwanghaften Persönlichkeit entwickeln, d.h. Zwangskranken wurde prämorbid eine
anankastische Persönlichkeit unterstellt. Dieser Zusammenhang ließ sich empirisch
nicht bestätigen. Nur rund 10-25% der Zwangspatienten erfüllen die Kriterien für die
anankastische Persönlichkeitsstörung. Eine Zwangsstörung wird auch gefunden bei
einer selbstunsicheren, dependenten und histrionischen Persönlichkeitsstörung.
5. Erklärungsmodelle für Angststörungen
Angst als biologisches Geschehen –
Neurobiologische Modelle der Angstentstehung
Neurobiologische Erklärungen von Ängsten machen klar: Alle psychischen Prozesse
gehen mit ununterbrochenen Aktivitätsmustern des Gehirns einher. Die körperlichen
Grundlagen der Angstentstehung werden nach fünf verschiedenen Aspekten dargestellt:
1. vererbte Reaktionsbereitschaft (angeborene Schreck- und Angstreaktionen),
2. neuroanatomische Ursachen (Gehirnstrukturen),
3. biochemische Ursachen (Neurotransmitterwirkungen),
4. metabolische Ursachen (Stoffwechselveränderungen),
5. neuroendokrinologische Ursachen (hormonell bedingte Veränderungen im vegetati-
ven Nervensystem).

Angst als vererbte Reaktionsbereitschaft


Nicht spezifische Angststörungen, wohl aber gewisse Anfälligkeiten dafür sind vererbt.
Als Auslöser für genetisch begünstigte Angststörungen gelten Umweltfaktoren, Lebens-
erfahrungen und Denkmuster. Angeboren sind vor allem auch viele Schreck- und Angst-
reaktionen auf entsprechende auslösende Schlüsselreize, z.B. Abwehr- und Fluchtrefle-
xe (Zurückschrecken vor einem Abgrund, Schreckreaktion bei unbekanntem Lärm).
Angeboren sind etwa folgende Angstreaktionen:
z die Angst vor dahinkriechenden Tieren im Wald, obwohl wir vom Verstand her
wissen, dass giftige Schlangen in unserem Lebensraum nicht zu erwarten sind;
z die Angst vor Blitz und Donner, obwohl Blitzableiter Sicherheit gewähren;
z die Angst vor Dunkelheit, und zwar auch an Orten, die man bei Tag problemlos
aufsuchen und in der Nacht beleuchten kann;
z die Angst vor Höhen, z.B. Flugangst, obwohl Fliegen sicherer ist als Autofahren.

Nach der Theorie der Preparedness (biologische Vorbereitetheit von Verhaltensweisen)


des amerikanischen Psychologen Martin Seligman [1] werden nicht alle Verbindungen
von Reiz und Reaktion im Sinne der klassischen Konditionierung nach dem Zufalls-
prinzip gleich schnell gelernt, sondern es besteht eine biologisch-evolutionär bedingte
Vorgeformtheit sowie eine artspezifisch unterschiedliche Erlernbarkeit bestimmter
Konditionierungen. Dies bedeutet, dass bestimmte Ängste eher angeboren sind als ande-
re. Die Dunkelangst ist besonders häufig. Im Rahmen der Evolution bedeutet Dunkel-
heit Gefahr vonseiten eines nicht erkennbaren Feindes. Im Zeitalter des elektrischen
Lichts ist die Dunkelangst dennoch geblieben. Die Angst von Kindern, allein im dunk-
len Zimmer einzuschlafen, ist daher als evolutionär geprägt zu verstehen und nicht als
Folge von Erziehungsfehlern, die erst in Reaktion darauf festzustellen sind. Die Angst
vor Dunkelheit, vor bestimmten Tieren (z.B. Schlangen), vor Blitz und Donner, vor
Höhen u.a. ist nur im Rahmen ihrer evolutionären Bedeutung verstehbar. Viel gefährli-
chere Lebensbedingungen (z.B. Stromanschlüsse, Autofahren, Giftstoffe, Waffen), die
im Rahmen der Evolution noch recht neue Erfahrungen für den menschlichen Organis-
mus darstellen, fürchten wir dagegen nicht im eigentlich oft nötigen Ausmaß.
200 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Biologisch-evolutionär vorgeformte Phobien unterscheiden sich von konditionierten


Furchtreaktionen im Labor durch folgende Punkte [2]:
1. Selektive Bindung an bestimmte Situationen. Es gelingt in der Regel außerordentlich
schnell, bei Menschen durch klassische Konditionierung eine Schlangen-, Hunde-
oder Rattenfurcht zu erzeugen. Es bereitet jedoch große Schwierigkeiten, einen Tür-
griff, ein Musikinstrument, einen Fernsehapparat oder eine Stereoanlage zu einem
konditionierten Angstauslöser werden zu lassen.
2. Große Löschungsresistenz. Evolutionär vorgeformte Phobien (z.B. Tierphobien)
lassen sich oft nur schwer löschen, während konditionierte Furchtreaktionen ohne
neuerliches Auftreten des unkonditionierten Stimulus schon nach wenigen Durch-
gängen gelöscht werden können.
3. Sehr rasche Konditionierung. Oft reicht schon ein einziges traumatisches Ereignis
aus, während bei Konditionierungsversuchen im Labor immer mehrere Lerndurch-
gänge notwendig sind.
4. Irrationalität. Informationen und Überzeugungsversuche hinsichtlich der Ungefähr-
lichkeit des Objekts bewirken oft keine Angstreduktion, während sich der Erwerb
und die Löschung konditionierter Furchtreaktionen leicht durch verbale Instruktio-
nen beeinflussen lassen.

Angststörungen sind nicht angeboren, eine allgemein höhere Angstbereitschaft (Prä-


disposition, Vulnerabilität) und eine physiologische Labilität können jedoch vererbt
sein. Panikattacken sind ebenfalls nicht angeboren (selbst wenn ein Elternteil Panikat-
tacken hatte), sondern nur die personspezifischen Voraussetzungen für Panikattacken:
1. Angeborene Kreislauflabilität. Viele Panikpatienten haben einen angeboren niedri-
gen Blutdruck, leiden unter orthostatischer Hypotonie oder zeigen eine angeborene
Bereitschaft zu leichter Veränderlichkeit der Blutgefäße. Bei Belastungen kommt es
dann zu noch stärkerer Gefäßerweiterung und damit zu Schwindelzuständen als
Ausdruck der durch den zu niedrigen Blutdruck bedingten Sauerstoffunterversor-
gung des Gehirns, was durch das Herzrasen beseitigt wird.
2. Übersensibilität gegenüber Kohlendioxidüberschuss, was oft zu Atmungsverände-
rungen führt. Zumindest für eine Subgruppe von Panikpatienten ist eine erhöhte
Kohlendioxid-Sensibilität anzunehmen, sodass bestimmte Gegebenheiten („Luft-
mangel“, mangelnde Luftzirkulation) zu einem falschen Erstickungsalarm führen.
3. Psychische Sensibilität. Viele Panikpatienten reagieren sehr schnell auf äußere oder
innere Reize, d.h. sie weisen eine höhere Sensibilität gegenüber körperlichen Verän-
derungen auf als andere Menschen. Die angeborene, rasche psychovegetative Erreg-
barkeit kommt insbesondere angesichts möglicher Gefahren zum Tragen.
4. Sehr bildhafte Vorstellungsfähigkeit. Die angeborene, oft überdurchschnittlich gute
Fähigkeit zur bildhaften Vorstellung von Situationen aktiviert den Körper im Falle
von Angstinhalten wie bei einer realen äußeren Bedrohung. Das Gehirn unterschei-
det nicht zwischen äußeren und inneren Angst auslösenden Reizen, sondern aktiviert
den Körper in beiden Fällen auf dieselbe Weise. Die Angstinhalte sind nicht angebo-
ren, sondern erlernt durch die Vorbilder von Kindheit an (überängstliche Mutter,
wegen Schwindel und Kreislaufproblemen ständig bettlägige Mutter, um sein Herz
besorgter Vater, asthmakranker Bruder). Aus neurobiologischer Sicht weisen viele
Panikpatienten eine Überaktivierung der rechten Gehirnhälfte auf, die für die visu-
ell-figurale und die emotionale Informationsverarbeitung zuständig ist. Panikpatien-
ten mit rechtsfrontaler Überaktivierung reagieren daher leicht emotional negativ.
Angst als biologisches Geschehen 201

Neuroanatomische Ursachen für Angststörungen


Gegenwärtig gibt es verschiedene neurobiologische Theorien zur Erklärung von Angst-
störungen, die sich einerseits auf die neuroanatomischen Gehirnstrukturen und anderer-
seits auf die Reizweiterleitung von einem Nerv zum anderen mittels Überträgerstoffen
(Transmittersubstanzen) beziehen [3].
Die Neurobiologie der Angst wird gut beschrieben in folgenden Büchern: „Angst-
und Panik-Erkrankungen“, herausgegeben von Kasper und Möller, „Furcht und Phobi-
en“ von Hamm [4], „Panik und Agoraphobie“ von Bandelow, „Das Netz der Gefühle“
von LeDoux und „Der Körper erinnert sich. Die Psychophysiologie des Traumas und
der Traumabehandlung“ von Rothschild.
Zum besseren Verständnis der Vorgänge im Gehirn wird im Folgenden neuroanato-
misches Grundlagenwissen vermittelt [5].

Struktur und Funktion des Nervensystems


Das Nervensystem gilt als das „Organ“ des Erlebens und Verhaltens. Topographisch
(nach der Lage) wird das Nervensystem in zwei große Bereiche unterteilt:
1. Zentralnervensystem. Es besteht aus dem Gehirn und dem Rückenmark. Das Rük-
kenmark dient vor allem als Durchgangsstation und enthält die Nervenfasern vom
und zum Gehirn mit den dazugehörigen Nervenzellen. Die meisten Nervenfasern
werden auf dem Weg vom Gehirn zu den jeweiligen Körperregionen in bestimmten
Nervenzellen 2- bis 3-mal umgeschaltet.
2. Peripheres Nervensystem. Es umfasst alle Nervenzellen und Nervenfasern außerhalb
von Gehirn und Rückenmark.

Funktionell wird das Nervensystem in zwei Bereiche unterteilt:


1. Cerebrospinales oder somatisches Nervensystem. Es regelt die Beziehung zur Um-
welt, ermöglicht Empfindung und Bewegung und ist willentlich beeinflussbar. Die
Sinnesorgane (sensorisches System) nehmen Informationen aus der Umwelt auf und
leiten sie zum Gehirn und Rückenmark weiter (afferente, zentripedale oder sensible
Leitung). Die Reaktion darauf erfolgt in Form der Willkürmotorik (motorisches Sy-
stem), die durch die quergestreifte Muskulatur gesteuert wird (efferente, zentrifugale
oder motorische Leitung).
2. Vegetatives oder autonomes Nervensystem. Es steuert alle inneren Vorgänge und
Abläufe des Körpers, regelt zahlreiche lebenswichtige Körperfunktionen und arbei-
tet dabei unwillkürlich durch die glatte Muskulatur. Das Zentralnervensystem wirkt
über vegetative Efferenzen auf Eingeweideteile (innere Effektoren, Drüsen) ein.
Eingeweideteile (innere Rezeptoren) geben ihre Informationen über viszerale Affe-
renzen an das Zentralnervensystem weiter. Das vegetative Nervensystem außerhalb
des Gehirns besteht aus zwei Untersystemen:
z sympathisches Nervensystem zur Aktivierung,
z parasympathisches Nervensystem zur Beruhigung und Erholung.

Das menschliche Gehirn enthält in seinem Aufbau die ganze Evolutionsgeschichte von
den einfachsten Tierarten bis zum Menschen. Es besteht im Wesentlichen aus folgenden
Teilen: Hirnstamm – Kleinhirn – Mittelhirn – Zwischenhirn – Großhirn (Endhirn).
202 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Hirnstamm
Der Hirnstamm ist der älteste Teil des Gehirns, der bereits bei den Reptilien vorhanden
ist. Seine Zerstörung führt zum Tod des Menschen. Der untere Teil des Hirnstamms
umfasst die Medulla oblongata (verlängertes Mark), die eine direkte Fortsetzung des
Rückenmarks darstellt. Die Region unmittelbar darüber ist die Brücke (Pons), die vom
Kleinhirn überlagert wird. Der oberste Teil des Hirnstamms besteht aus dem Mittelhirn.
Der Hirnstamm verbindet das Rückenmark mit dem Zwischenhirn und der Groß-
hirnrinde. Alle aufsteigenden und absteigenden Bahnen, die das Rückenmark und das
Gehirn verbinden, gehen durch den Hirnstamm. Im Hirnstamm befinden sich die Steue-
rungs- und Regulationszentren für die wichtigsten Lebensfunktionen: Herzschlag, Blut-
druck, Atmung, Magen-Darm-Funktionen, Schlaf-Wach-Rhythmus, Temperatur.
Der Hirnstamm enthält auch die Formatio reticularis, die sich über den ganzen
Hirnstamm bis zum Mittel- und Zwischenhirn ausdehnt. Die Formatio reticularis steu-
ert durch ein kompliziertes Netzwerk von Nervensträngen die Wachheit und bestimmt
damit den Grad der Bewusstseinshelligkeit. Das gesamte Netzwerk, das von der Forma-
tio reticularis im Hirnstamm aus bei plötzlicher Gefahr sofort das ganze Gehirn akti-
viert, heißt aufsteigendes reticuläres Aktivierungssystem (ARAS).
Eine Erregung der Formatio reticularis bewirkt eine arousal reaction (Alarm-
reaktion mit gesteigerter Wachheit, Angst, Blutdruckanstieg, Schwitzen, Erhöhung der
Muskelspannung usw.). Bei Bewertung von Reizen als bedrohlich erfolgt eine massive
Aktivierungsreaktion des Organismus (auch Alarm- oder Bereitstellungsreaktion ge-
nannt). Wenn ein Reiz mehrmals hintereinander auftritt, erfolgt eine Habituation (Ge-
wöhnung), die Aufmerksamkeit nimmt ab. Monotone Reize wirken einschläfernd.
Neben dem ARAS steuern ein noradrenerges und ein dopaminerges aufsteigendes
System die Vigilanz (Wachsamkeit, Aufmerksamkeit). In der Brücke zum Stammhirn
befindet sich der Locus coeruleus, in dem die Hälfte aller Neurone des Gehirns, die
Noradrenalin synthetisieren, entspringen und von dem etwa 70% des gesamten Nor-
adrenalins im Gehirns produziert werden. Von diesem System geht eine erregend-
aktivierende Wirkung auf das ganze Gehirn aus, insbesondere auf das limbische System
(Amygdala, Hippocampus, Septum, Gyrus cinguli u.a.) und die Großhirnrinde.
Der Locus coeruleus gilt als Umschaltsystem in einem Alarm-Furcht-Angst-System.
Im Tierversuch (bei Affen) führt eine Stimulierung des Locus coeruleus zu Angstzu-
ständen, während eine Lähmung oder Entfernung eine Angstreduktion bewirkt. Die
Stimulierung des Locus coeruleus bewirkt jedoch keine Panikattacken.

Kleinhirn
Das Kleinhirn (Cerebellum) ist eine große, stark gegliederte Struktur und befindet sich
unmittelbar hinter dem Hirnstamm, mit dem es über große Bahnen verbunden ist. Das
Kleinhirn sorgt für die räumliche und zeitliche Koordination motorischer Handlungsab-
läufe und der Körperhaltung (Gleichgewicht), indem es die Informationen aus Gleich-
gewichtssystemen, Muskelspindeln, Sinnesrezeptoren, Auge und Ohr miteinander ver-
bindet und ständig mit motorischen Programmen vergleicht. Die Impulse der willkürli-
chen Motorik gehen von der motorischen Hirnrinde aus, das Kleinhirn koordiniert dabei
die komplexen motorischen Handlungsabläufe. Das Kleinhirn ist auch der Ort des mo-
torischen Gedächtnisses (z.B. Fähigkeit des Fahrradfahrens).
Angst als biologisches Geschehen 203

Mittelhirn
Das Mittelhirn (Mesencephalon) ist die vorderste Fortsetzung des Hirnstamms und
besteht aus einem oberen Teil (Tectum, d.h. Dach, oder Vierhügelplatte), der vor allem
der Blick- und Kopforientierung dient, und einem unteren Teil (Tegmentum, d.h. Hau-
be), der wichtige Zentren für die Bewegungs- und Handlungskontrolle enthält: die Sub-
stantia nigra (schwarze Substanz) und den Nucleus ruber (roter Kern). Beide motori-
schen Kerne dienen der Koordination der Bewegung und arbeiten mit dem Kleinhirn
zusammen. Ein Ausfall des schwarzen Kerns bewirkt Muskelstarre, Schüttelbewegun-
gen der Hände, einen Ausfall der Mitbewegungen sowie psychische Störungen (An-
triebsmangel oder Triebhandlungen). Die Nervenzellen der Substantia nigra bilden den
Neurotransmitter Dopamin, der eine für die Motorik wichtige Substanz darstellt (die
Parkinson-Krankheit beruht auf einer Degeneration dopaminerger Neurone im Bereich
der Substantia nigra). Der Zustand der Formatio reticularis der Haube beeinflusst die
Stimmungslage (vegetativ-affektives Verhalten). Eine Überfunktion bewirkt affektive
Spannungszustände, eine Unterfunktion Erschöpfung und Depression.

Zwischenhirn
Das Zwischenhirn (Diencephalon) findet sich erst bei den frühen Säugetieren. Es liegt
zwischen Stammhirn und Großhirn und enthält u.a. wichtige Schaltstellen:
z Thalamus. Der Thalamus ist das wichtigste subkortikale, d.h. unbewusst arbeitende
Integrationszentrum der allgemeinen Sensibilität (Tastempfindung, Tiefensensibili-
tät, Temperatur- und Schmerzempfindung, Seh- und Riechfunktion), und eine wich-
tige Umschaltstelle auf die Motorik (Gemütsbetonung der Motorik in Mimik und
Gebärden, z.B. heftige Angstreaktionen). Der Thalamus ist eine Relaisstation für al-
le eingehenden sensorische Informationen, d.h. gilt als die übergeordnete Schaltsta-
tion der zur Großhirnrinde aufsteigenden Nervenbahnen des Seh-, Hör- und somato-
sensorischen Systems, das Integratationszentrum von Sinnesreizen und Affekten und
stellt damit das Tor zum Bewusstsein dar. Die eingehenden Nachrichten werden nach
ihrer Wichtigkeit ausgewählt, d.h. überlebenswichtige Informationen aus den Sin-
nesorganen werden vorrangig behandelt. Alle Informationen, die als Empfindung
bewusst werden sollen, werden zur Großhirnrinde weitergeleitet. Anders formuliert:
alle Erregungen, die bewusst werden sollen, müssen den Thalamus passieren. Das
Zwischenhirn enthält archaische Umweltbearbeitungsprogramme, d.h. vererbte, ste-
reotype, jedoch komplexe Reaktionsmuster für bestimmte Reizsituationen, die dem
Ziel des Überlebens in Gefahrensituationen dienen. Unbekannte und bedrohlich wir-
kende Situationen (Gehen in der Finsternis, ungewohnte Höhen, unbekannte Tiere
usw.) lösen Panik und Fluchtreaktionen aus, die nur durch die Großhirnrinde (Be-
wertung als ungefährlich) gestoppt werden können. Vom Thalamus geht eine direkte
Bahn zur Amygdala, was eine blitzschnelle (oft vorschnelle) Reaktion ermöglicht.
z Hypothalamus. Der Hypothalamus ist das übergeordnete Steuerungszentrum für das
vegetative Nervensystem. Die im Vorderteil gelegenen Zentren dienen mehr den pa-
rasympathischen Funktionen, die im Hinterteil gelegenen Zentren den sympathi-
schen Funktionen. Bei Angst und Stress bewirkt der Hypothalamus zusammen mit
dem limbischen System über elektrische Impulse eine schnelle, direkte Aus-
schüttung der Hormone Adrenalin und Noradrenalin im Nebennierenmark.
204 Erklärungsmodelle für Angststörungen

z Hypophyse (Hirnanhangsdrüse). Die Hypophyse stellt zusammen mit dem Hypo-


thalamus das Zentrum für die hormonelle Steuerung des Körpers dar. Bei Angst-
und Stressreaktionen bewirkt der Nucleus paraventricularis, ein bestimmter Kern des
Hypothalamus, die Produktion und Freisetzung des Corticotropin-Releasing-
Hormons (CRH). Dieses Hormon bewirkt im Hypophysenvorderlappen die Freiset-
zung des adrenokortikotropen Hormons (ACTH), welches wiederum in der Neben-
nierenrinde die Ausschüttung der Glukokortikoide (insbesondere Kortisol) veran-
lasst. Bei Stress erfolgt in der Hypophyse auch eine Ausschüttung von Beta-
Endorphinen, die für die Schmerzunempfindlichkeit verantwortlich sind.

Großhirn
Das Großhirn (Endhirn, Telencephalon) ist der jüngste und größte Teil des Gehirns. Es
besteht aus den beiden Großhirnhälften (Hemisphären) mit der grauen Rinde (Kortex),
die durch den Balken (Corpus callosum) miteinander verbunden sind, den Stammgan-
glien (Basalganglien) und dem limbischen System, das sich phylogenetisch aus dem
Riechhirn (Rhinencephalon) entwickelt hat.
Entwicklungsbiologisch unterscheidet man beim Großhirn zwei Teile:
1. den Paläokortex als den phylogenetisch älteren Teil mit dem Riechhirn, den Basal-
kernen und dem limbischen System,
2. den Neokortex (Großhirnrinde, Cortex cerebri) als dem entwicklungsgeschichtlich
jüngeren Teil, in dem die höheren kognitiven Funktionen ablaufen.

Die Großhirnrinde stellt die äußere Schicht des Großhirns dar. Zur Vergrößerung der
Gesamtfläche besteht der Kortex aus Windungen (Gyri) und Furchen (Sulci). Der Neo-
kortex umfasst 80% des Gesamthirnvolumens und umhüllt die anderen Teile des Ge-
hirns wie ein Mantel. Alle spezifisch menschlichen Leistungen beruhen auf den Funk-
tionen des Großhirns.
Die Großhirnrinde besteht u.a. aus folgenden Regionen, die hier nach den verarbei-
teten sensorischen Informationen dargestellt werden:
z Frontallappen (Regulierung von Verhalten, Belohnung, Lernen, Erinnerung, Verar-
beitung von viszeralen Reizen und abstraktem Denken),
z vordere Zentralwindung (Steuerung der motorischen Aktivität),
z hintere Zentralwindung (Hauptverarbeitungsstelle für den Tastsinn),
z Scheitellappen (Weiterverarbeitung von Tast- und anderen Empfindungsreizen aus
dem Körper sowie Zentrum der räumlichen Vorstellung),
z Hinterhauptlappen (Verarbeitung der visuellen Information),
z Schläfenlappen (Verarbeitung der akustischen Reize, Beteiligung an der vom Broca-
und Wernicke-Areal gesteuerten Integration von Hören und Sprechen).

Der präfrontale Kortex hat im Angst-Kontext folgende Aufgaben: Interpretation senso-


rischer multimodaler Eingänge, Löschung gelernter Angstreaktionen, Steuerung des
deklarativen und Arbeitsgedächtnisses, antizipatorische Phänomene, Reaktionsplanung.
Die Basalganglien bestehen aus einer Gruppe von Kernen, die im Zentrum der
Großhirnhemisphären, in der Tiefe des Vorderhirns, liegen. Die drei wichtigsten Struk-
turen der Basalganglien sind der Nucleus caudatus und das Putamen (beide werden als
Corpus striatum zusammengefasst) sowie der Globus pallidus.
Angst als biologisches Geschehen 205

Die Basalganglien dienen (ähnlich wie das Kleinhirn) der Steuerung der Motorik
und stellen eine Umschaltstelle von und zur motorischen Großhirnrinde dar. Die Basal-
ganglien haben neben der Bewegungssteuerung eine große Bedeutung für die Hand-
lungsplanung und weisen Verbindungen zur Großhirnrinde, zum Thalamus, zur Sub-
stantia nigra und zum Kleinhirn auf. Die Entwicklung von Zwangsstörungen hängt
zumindest in bestimmten Fällen mit einer Beeinträchtigung der Basalganglien zusam-
men. Die bekannteste Störung der Basalganglien stellt die Parkinson-Krankheit dar.
Das limbische System (limbischer Kortex) ist für das Verständnis der neurobiologi-
schen Ursachen von Gefühlen und Angstzuständen von entscheidender Bedeutung. Bei
Untersuchungen an Tieren und Menschen konnte nachgewiesen werden, dass Angst
durch die Reizung bestimmter Hirnareale, vor allem des limbischen Systems, entsteht.
Das limbische System wird im Folgenden näher beschrieben.

Das limbische System als Zentrum der Affekte


Das limbische System besteht aus einer Gruppe von miteinander verbundenen Gehirn-
strukturen im Randgebiet zwischen dem Hirnstamm und dem Großhirn, d.h. es liegt im
mediobasalen Hirnbereich. Es hat sich aus dem Riechhirn (Rhinencephalon, olfaktori-
scher Lappen) entwickelt und umringt den oberen Teil des Hirnstamms (limbus = Ring).
Es weist einen äußeren Ring und einen inneren Ring auf. Das limbische System umfasst
folgende Teile: Amygdala (Mandelkern), Hippocampus, Mammilarkörper des Hypotha-
lamus, Thalamuskerngebiete, Septum, Fornix, Gyrus cinguli (cingulärer Kortex), en-
torhinaler Kortex und Bulbus olfactorius. Die Fornix (Gewölbe) ist ein dickes Bündel
von Nervenfasern, das verschiedene Teile des limbischen Systems (z.B. Hippocampus
und Septum) miteinander verbindet. Das limbische System steht in enger Verbindung
mit vielen anderen Hirnregionen (frontaler Kortex, Stammganglien, Locus coeruleus
und Formatio reticularis im Hirnstamm), sodass eine Vernetzung der Angst aktivieren-
den Systeme gegeben ist. Das limbische System
z ist das Zentrum der Gemütsbetonung und der gemütsbedingten Antriebe (Angst,
Wut, Aggression, Ärger, Ekel, Trauer, sexuelle Erregung usw.),
z beeinflusst die vegetative Innervation der inneren Organe und die hormonalen Steu-
erungen, d.h. steuert das vegetative Nervensystem (Herzschlag, Atmung, Blutdruck)
und das vegetative Arousalsystem,
z ist bedeutsam für die Gedächtnisspeicherung, die Motivation und das Lernen.

Aus den gemachten Erfahrungen ist durch Speicherung der Informationen Lernen mög-
lich. Die eingehenden Informationen erhalten eine gefühlsmäßige Bewertung (z.B.
angenehm – unangenehm), die entsprechenden Reaktionen erfahren eine gefühlsmäßige
Färbung (z.B. Lust oder Unlust). Die Gefühlsdimensionen des limbischen Systems
stellen auf vorbewusster Ebene ein Bewertungs- und Belohnungssystem dar, das als
Handlungs- und Entscheidungsregulativ in bestimmten Situationen dient.
Ein spezieller Bereich des limbischen Systems, der mediobasale Schläfenlappen mit
dem Hippocampus und der benachbarten Amygdala (Mandelkern), bestimmt das Angst-
erleben. Hippocampus und Amygdala bilden zusammen eine Gedächtniseinheit: Der
Hippocampus, ein zentraler Ort des Gedächtnisses, vergleicht jeden Reiz mit früheren
Erfahrungen, die Amygdala löst Angst aus bei Erinnerungen an Gefahr. Vorschnelle
Angstreaktionen durch die Amygdala werden durch Hippocampus-Vergleiche gestoppt.
206 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Im limbischen System befindet sich auch das Belohnungssystem, das verschiedene


Gebiete umfasst (Area tegmentalis ventralis, mittleres Vorderhirnbündel, Nucleus ac-
cumbens und limbisches System selbst). Das Belohnungssystem ist für die Entstehung
des Suchtverhaltens von entscheidender Bedeutung, weil das erlebte Lustgefühl zu
einem Wiederholungsverhalten führt. In diesen Zentren befinden sich Dopamin aus-
schüttende Neurone, die das spezifisch belohnungsgesteuerte Verhalten sowie die Ver-
meidungsverhaltensweisen modulieren. Dopamin gilt als „Wohlfühl-Hormon“, das
unsere Grundbedürfnisse (Ernährung, Sex u.a.) steuert. Die Aktivität der dopaminergen
Neurone wird von opioidergen, GABA-ergen und anderen Neuronen beeinflusst [6].
Nach neueren Auffassungen [7] gibt es kein klar umrissenes „emotionales Gehirn“,
sondern mehrere Schaltungssysteme in zumeist starken Verbindungen zum Mandelkern,
die die verschiedenen Emotionen, die möglicherweise in verschiedenen Teilen des Ge-
hirns lokalisiert sind, miteinander verknüpfen und koordinieren. Die zukünftige For-
schung wird vermutlich eine emotionale Kartierung des Gehirns vornehmen.

Interaktionen der Hirnregionen bei Angstzuständen


Alle Gehirnteile sind miteinander vernetzt und arbeiten eng zusammen. Durch den Auf-
bau des Gehirns kann die jeweils untergeordnete Einheit von den darüber liegenden
Strukturen gelenkt, aber nicht ausgeschaltet werden. Wir können durch vernünftiges
Nachdenken (Großhirnleistung) unsere Gefühle (im limbischen Zentrum lokalisiert) in
ihrer Art und Intensität verändern, jedoch nicht ausschalten. Umgekehrt ist unser Den-
ken und Wahrnehmen stets auch von unseren Gefühlen und Stimmungen beeinflusst.
Bei Angstzuständen hat dies folgende Konsequenzen:
z Neue Sichtweisen können die Angst reduzieren, Gefühle und Körperreaktionen (z.B.
Veränderung des Herzschlags und der Atmung) jedoch nicht unterdrücken.
z Starke gefühlsmäßige und körperliche Angstreaktionen schränken die Klarheit des
Denkens ein. Bei Angst und depressiver Stimmung sehen wir plötzlich Probleme,
wo wir ohne diese Gefühlszustände völlig zuversichtlich sind.

Gedanken und Gefühle hängen in ihrer Art und Stärke vom Grad der Wachheit ab (vom
Stammhirn gesteuert). Bei Müdigkeit oder medikamentös bewirkter Gefühlsdämpfung
werden wir selbst bedrohlichen Situationen gegenüber gleichgültig. Entspannungsübun-
gen reduzieren nicht nur die körperliche Anspannung, sondern auch die geistige Auf-
merksamkeit, sodass sie geeignete Einschlafhilfen darstellen.
Mentale Techniken (autogenes Training, Hypnose, Selbsthypnose, Meditation) be-
wirken eine Wahrnehmungseinengung, eine Einschränkung der Aufmerksamkeit auf
einen kleinen Bereich und damit ein Abschalten gegenüber den vielen im Moment irre-
levanten inneren und äußeren Reizen. Andererseits können unsere Gedanken und Ge-
fühle auch unser Stammhirn aktivieren. Wir sind nicht zum Einschlafen müde genug,
sondern hellwach, wenn beängstigende Gedanken sich abends im Bett aufdrängen.
Ohne unsere bewusste Aufmerksamkeit verarbeiten unsere Sinnesorgane alle Reize
außerhalb und innerhalb unseres Körpers. Sobald etwas Ungewöhnliches passiert, wird
über das ARAS unsere Aufmerksamkeit aktiviert und infolgedessen unser Denken,
Fühlen und körperliches Reagieren in Gang gesetzt. Es kommt zu einer Alarm- oder
Bereitstellungsreaktion. Der Körper wird in Bruchteilen einer Sekunde auf Reaktionsbe-
reitschaft geschaltet, vermittelt über das motorische und autonome Nervensystem.
Angst als biologisches Geschehen 207

Sobald die äußere oder innere Gefahr identifiziert, beseitigt oder erträglich erscheint,
lässt die Aktivierung der Aufmerksamkeit wieder nach. Es kommt zur Habituation
(Gewöhnung) an die betreffenden Reize. Das ARAS wird gedämpft, wenn die Bedro-
hung abgewendet oder die Angst machende Situation als nicht mehr akut bedrohlich
eingeschätzt wird. Die Wirkungsweise von Tranquilizern beruht u.a. genau auf dem
Umstand, dass das Wachheitssystem in der Formatio reticularis vermindert wird.
Zwischen Angst und Gedächtnis besteht eine enge Beziehung. Bei der posttraumati-
schen Belastungsstörung zeigt sich das traumatische Wiedererinnern als Wiedererleben
der extremen Bedrohungssituation. Angst ist häufig mit bildhaften Erinnerungen ver-
knüpft, wodurch die Unmittelbarkeit emotionaler Reaktionen gewährleistet ist.
Ängstliche Personen und Angstpatienten verbinden kritische Situationen vorwie-
gend mit negativen Erfahrungen. Sie können bedrohliche Gedächtnisinhalte leichter
abrufen als andere Menschen. Auch für diese Funktion, nämlich das „Abtasten“ der
Gedächtnisspeicher zur Bewertung aktueller Informationen, kommt dem mediobasalen
Schläfenlappen eine besondere Bedeutung zu.
Das „Gefühl“ der Angst und die damit verbundenen körperlichen Symptome ent-
wickeln sich als Folge eines rasch ablaufenden, komplizierten Zusammenspiels [8]:
z Die Sinnesorgane nehmen einen Reiz aus der Umwelt (z.B. einen Ton) oder vom
Körper (z.B. einen Druck auf die Haut) auf und leiten ihn an das Gehirn weiter. Bei
jedem neuen Reiz wird das ARAS aktiviert und die Aufmerksamkeit erhöht.
z Im Zwischenhirn, und zwar im Thalamus („Tor zum Bewusstsein“), laufen alle
Meldungen von den Sinnesorganen zusammen und werden an die Großhirnrinde
(cerebraler Kortex) weitergeleitet. Über die Weiterleitung zum Frontallappen des
Großhirns werden die entsprechenden Empfindungen bewusst und können durch die
frontale Großhirnrinde auch kontrolliert werden. Ein kleiner Teil der Informationen
über äußere Reize wird direkt an die Amygdala weitergeleitet, wo eine extrem rasche
Reaktion zur Sicherung des Lebens erfolgt. Bei Gefahr für Leib und Leben wäre der
Weg über die Großhirnrinde zu langsam. Ohne reale Bedrohung wird die Reaktion
der Amygdala als vorschnell und unnötig, aber dennoch nicht unterdrückbar erlebt.
z In der Großhirnrinde als dem Ort der bewussten Wahrnehmung und des Denkens
werden die Sinnesreize zu Bildern bzw. Begriffen zusammengesetzt und interpre-
tiert. Vom cerebralen Kortex gelangen die Informationen zum limbischen System.
z Das limbische System (namentlich der Mandelkern) wählt die passenden gefühlsmä-
ßigen Reaktionsweisen aus (z.B. Angst) und stimuliert über Eiweiße (Neuropeptide)
den Hypothalamus zur Aktivierung bestimmter körperlicher Vorgänge. Durch das
limbische System erhalten Reize eine gefühlsmäßige Bewertung. Die anatomisch ne-
beneinander liegenden Areale Amygdala und Hippocampus arbeiten zusammen bei
der Bewertung von Gefahr, indem sie Gedächtnisinhalte (Erfahrungen) abrufen.
z Der Hypothalamus als Steuerungszentrum aller vegetativen und hormonellen Pro-
zesse, speziell der nucleus paraventricularis, einer seiner Kerne, stimuliert über be-
stimmte Eiweiße (u.a. CRH) die Hypophyse, die wiederum das Hormon ACTH frei-
setzt. Dadurch erfolgt auf schnellem Weg über Nervenbahnen im Nebennierenmark
die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin und etwas langsamer über hor-
monelle Prozesse in der Nebennierenrinde u.a. die Ausschüttung von Kortisol.
z Die Hormone des Nebennierenmarks und die Glukokortikoide der Nebennierenrinde
aktivieren das vegetative Nervensystem mit seinen beiden Zweigen, dem sympathi-
schen Nervensystem (zur Aktivierung) und dem parasympathischen Nervensystem
(zur anschließenden Beruhigung und Erholung).
208 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Der Mandelkern im limbischen System als Angstzentrum


Die Forschungen der letzten Jahre brachten neue Erkenntnisse über die emotionalen
Reaktionsweisen des Gehirns. Die Bedeutung des Mandelkerns (Corpus amygdaloi-
deum) für das Erleben von Angst kann in dem sehr informativen Bestseller „Emotiona-
le Intelligenz“ von Goleman [9] sowie in dem allgemein verständlichen Buch „Das
Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen“ von LeDoux [10] nachgelesen werden.
An neurobiologischen Grundlagen der Angst Interessierten sind auch das Fachbuch
„Furcht und Phobien“ von Hamm [11] sowie das populär geschriebene Buch „Biologie
der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden“ von Hüther [12] zu empfehlen.
Der Mandelkern ist ein mandelförmiges Gebilde oberhalb des Hirnstamms, in der
Nähe der Unterseite des limbischen Ringes, direkt dem Hippocampus anliegend. Jede
Hirnhälfte hat einen Mandelkern, es gibt daher zwei Mandelkerne. Die Mandelkerne des
Menschen sind im Vergleich zu den höchstentwickelten Tieren, den Primaten, deutlich
vergrößert. Die Amygdala besteht aus zahlreichen Kernen, die mit dem Hypothalamus,
dem Neokortex und dem Thalamus wechselweise verschaltet sind. Die Amygdala hat –
neben zahlreichen anderen Funktionen (z.B. Riechen, Ernährung, Sexualverhalten) –
eine zentrale Bedeutung bei der Entstehung von Furcht und Angst.
Ein Teil der Amygdala, der Nucleus centralis, löst die Angstreaktion aus. Reize, die
mit Gefahr verbunden sind, führen dazu, dass die Amygdala auf den Nucleus paraven-
tricularis des Hypothalamus einwirkt, das Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH)
auszuschütten, um über das adrenokortikotrope Hormon (ACTH) der Hypophyse in der
Nebennierenrinde die Freisetzung der Steroidhormone (insbesondere Kortisol) zu be-
wirken. Die Steroidhormone wirken über die Blutbahn auf das Gehirn zurück, wo sie
sich an bestimmte Rezeptoren im Hippocampus, der Amygdala, dem präfrontalen Kor-
tex und anderen Bereichen binden. Über diesen Feedbackmechanismus hemmt der Hip-
pocampus die weitere Ausschüttung von CRH. Das Verhältnis zwischen fördernden
Wirkungen der Amygdala und hemmenden Wirkungen des Hippocampus auf den Nu-
cleus paraventricularis bestimmt das Ausmaß der weiteren Ausschüttung von CRH,
ACTH und Steroidhormonen.
Nach früheren Auffassungen gehen alle sensorischen Informationen von den Sinnes-
organen zum Thalamus und dann zu den sensorischen Verarbeitungsbereichen in der
Großhirnrinde, wo die Signale zu den wahrgenommenen Reizen (Objekten) zusammen-
gefügt und vom Neokortex auf ihre Bedeutung hin analysiert werden, anschließend
gehen in Reaktion auf diese Bewertung Signale zur Amygdala zwecks Aktivierung der
emotionalen Zentren des limbischen Systems. Demnach wäre die Reaktionsweise des
Mandelkerns völlig von den Signalen der Großhirnrinde abhängig.
Die Forschungen der letzten 25 Jahre haben zur Erkenntnis geführt, dass nicht alle
sensorischen Informationen vom Thalamus zum Neokortex weitergeleitet werden, son-
dern nur der Großteil, während ein kleiner, oft überlebenswichtiger Teil der sensori-
schen Informationen einen kürzeren Weg bis zur Reaktion des Organismus geht. Der
Neuropsychologe LeDoux machte in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre bei Versuchen
zur Furchtkonditionierung von Ratten die revolutionäre Entdeckung, dass ein kleiner
Teil der sensorischen Signale vom Auge oder Ohr nach der Aufnahme im Thalamus
über eine einzige Synapse direkt zum Mandelkern geht, von wo aus der Körper alar-
miert wird, ohne dass der Neokortex eingeschaltet wird. Durch die direkte Verbindung
zwischen Thalamus und Amygdala kann die Furchtreaktion sehr schnell aktiviert wer-
den. Die Aktivierung der Amygdala über den Kortex dauert dagegen wesentlich länger.
Angst als biologisches Geschehen 209

Der Mandelkern kann schon auf Gefahrenreize reagieren, bevor eine bewusste Ver-
arbeitung über die Großhirnrinde erfolgt ist und der Neokortex überhaupt weiß, was los
ist. Die Alarmierung über den direkten Weg des Mandelkerns erfolgt zwar sehr schnell,
ist jedoch ungenau und fehleranfällig. Der Mandelkern kann bereits zu einem Zeitpunkt
emotionale Reaktionen auslösen, wo die Signale zwischen Mandelkern und Neokortex
noch hin und her gehen. Der langsamere, aber vollständiger informierte Neokortex
modifiziert anschließend die Reaktionen, wenn eine Überreaktion erfolgt sein sollte.
Die direkte Kurzschaltung vom Thalamus zum Mandelkern mit seiner raschen An-
kurbelung von Emotionen ermöglicht in lebensbedrohlichen Situationen, wo es um
Millisekunden geht, eine Sofortreaktion zur Sicherung des Lebens, war im Rahmen der
Evolution von entscheidender Bedeutung und stellt in der Tierwelt eine zentrale Über-
lebenshilfe angesichts der vielen Feinde dar. Derartige Schreckreaktionen erleben wir
auch während eines angenehmen Spaziergangs durch den Wald, wenn sich plötzlich auf
dem Boden unter den abgefallenen Herbstblättern etwas zu bewegen beginnt bzw. wenn
wir im ersten Moment einen Stock mit einer Schlange verwechseln, obwohl wir wissen,
dass es bei uns keine giftigen Schlangen gibt.
Die Amygdala erhält Informationen von zahlreichen Ebenen der kognitiven Verar-
beitung, die zu emotionalen Bewertungen und bestimmten Reaktionen führen:
1. Die sensorischen Bereiche des Thalamus übermitteln einfache Reizmerkmale.
2. Der sensorische Kortex vermittelt komplexe Aspekte der Reizverarbeitung (Objekte
und Ereignisse).
3. Der Hippocampus und die rhinale oder Übergangsrinde (ein angrenzender Rinden-
bereich), die zuständig sind für die Bildung und den Abruf von expliziten, bewuss-
ten Erinnerungen, stellen bestimmte Erinnerungen zur Verfügung.
4. Der mediale präfrontale Kortex (im Stirnhirn) schwächt bzw. löscht Furchtkonditio-
nierungen in einer Weise, dass sie nicht mehr als Verhaltensreaktionen auftreten. Er
gilt als „Gegenspieler der Amygdala“ und steuert als Ort der menschlichen Hand-
lungsplanung das konkrete Verhalten, z.B. rasche Flucht bei Gefahr oder Hemmung
der Fluchtreaktion nach Entwarnung. Psychotherapie bei Ängsten verstärkt die ko-
gnitive Kontrolle mit Hilfe des präfrontalen Kortex (die Amygdala wird gehemmt).

Die Amygdala weist auch Projektionen zu vielen Bereichen des Gehirns auf:
1. Hippocampus. Dieses Areal ist ein zentraler Ort des Langzeitgedächtnisses (z.B.
Speicherung szenischer Erinnerungen wie etwa traumatischer Erfahrungen).
2. Sensorischer Kortex. Diese Areale sind die Orte der sinnlichen Reizverarbeitung.
3. Zentrales Höhlengrau. Dieses Areal ist verantwortlich für den Totstellreflex bei
Tieren und bewirkt bei Menschen Todesangst mit heftigen vegetativen Symptomen.
4. Locus coeruleus. Dieser Kernbereich in der Formatio reticularis des Hirnstamms
steuert Orientierung und Aufmerksamkeit (Ausschüttung von Noradrenalin).
5. Hypothalamus. Dieser Bereich unter dem Thalamus schüttet einerseits die Stress-
hormone aus und aktiviert andererseits das sympathische Nervensystem.

Neben der direkten Beeinflussung aktiviert die Amygdala den Kortex also auch indirekt
über Verbindungen zu den Erregungssystemen im Gehirn, die die Wachsamkeit und
Aufmerksamkeit und damit das Erregungsniveau des Kortex steuern. Vier Erregungssy-
steme im Hirnstamm aktivieren bei neuen bzw. bedeutsamen Reizen den ganzen Be-
reich des Vorderhirns, indem die entsprechenden Axon-Endknöpfe jeweils einen Neuro-
transmitter (Acetylcholin, Noradrenalin, Dopamin oder Serotonin) ausschütten.
210 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Ein fünftes Erregungssystem mit dem Neurotransmitter Acetylcholin befindet sich


im Vorderhirn in der Nähe der Amygdala. Dieses Erregungszentrum besteht aus dem
Basalkern und ist besonders wichtig. Bei Gefahr aktiviert die Amygdala den Basalkern,
der im ganzen Kortex Acetylcholin ausschüttet.
Bei Tierversuchen führte die elektrische Reizung der Amygdala zu verstärkten
Angstreaktionen (Erhöhung von Puls- und Atemfrequenz, Blutdruckerhöhung, Erhö-
hung des Kortikosteronspiegels im Blut, erhöhte Schreckhaftigkeit, Unterbrechung der
eben durchgeführten Verhaltensmuster). Die Zerstörung der Amygdalakerne bewirkte
angst- und furchtlose Tiere. Die Angst reduzierende Wirkung einer beeinträchtigten
Amygdala wurde beim Menschen durch gehirnchirurgische Eingriffe nachgewiesen.
Früher wurden frontale Lobotomien durchgeführt, um sonst nicht behandelbare Angst-
zustände oder Temporallappenepilepsien in den Griff zu bekommen. Dabei wurden die
anatomischen Verbindungen zwischen dem frontalen Kortex und dem limbischen Sy-
stem durchtrennt. Auf diese Weise wurden zwar Ängste beseitigt, aber auch jedes diffe-
renzierte Gefühlserleben, sodass eine Affektverflachung festzustellen war. Angst dämp-
fende Substanzen, die die Amygdala beeinflussen, wirken spezifischer als Substanzen,
die auf Gehirnregionen wirken, die nur Teilsymptome der Angst auslösen.
Der Ausfall des Hippocampus bewirkt ein totales Leben im Hier und Jetzt ohne Ge-
dächtnis. Ein in der Fachliteratur oft zitierter Patient konnte sich an keine Ereignisse
erinnern, die länger als einige Sekunden zurücklagen, war nicht in der Lage, neue Inhal-
te zu erlernen und konnte seine Identität nicht weiterentwickeln. Die Entfernung des
Mandelkerns führt zu einer Affektblindheit, d.h. zu einer Unfähigkeit, die emotionale
Bedeutung von Ereignissen zu erfassen. Amygdala und Hippocampus, die tief im me-
dialen Teil des Temporallappens liegen und zusammen eine Gedächtniseinheit bilden,
waren die wichtigsten Teile des primitiven Riechhirns, aus dem sich im Rahmen der
Evolution der Kortex und der Neokortex entwickelt haben. Im Hippocampus, einer lang
gestreckten Gehirnstruktur unterhalb der beiden Schläfenlappens, erfolgt die Speiche-
rung von Informationen, im Mandelkern deren emotionale Bewertung und Färbung.
In der Speicherung von Erfahrungen arbeiten die Amygdala und der Hippocampus
eng zusammen. Eine angstvolle Erfahrung (ein Autounfall bei einer Linkskurve, ein
Raubüberfall in einem Park, eine Vergewaltigung an einem Urlaubsort) wird derart
gespeichert, dass im Hippocampus die realen Gegebenheiten und nüchternen Fakten
und im Mandelkern die emotionalen Begleitreaktionen aufbewahrt werden. Das Furcht-
gedächtnis des Gehirns arbeitet nach den Prinzipien der klassischen Konditionierung.
Der Hippocampus ist für die Furchtkonditionierung und damit für das Kontextlernen
sehr wichtig, vermittelt die traumatischen Erinnerungen, bewertet alle Stimuli nach
Gefährlichkeit und blockiert bei Ungefährlichkeit weitere Fluchtreaktionen. Die Hippo-
campus-Reaktion hängt von den Lebenserfahrungen ab.
Die enge Verknüpfung des Hippocampus mit den übrigen Strukturen des limbischen
Systems weist auf die emotionale Färbung aller Lern- und Gedächtnisprozesse hin. Wir
merken uns, was uns wichtig ist. Dies gilt für positive und negative Erfahrungen (z.B.
Angst machende Situationen, deprimierende Misserfolge).
Übermäßige Angst kann aufgrund der ausgelösten psychovegetativen Reaktionen
Lernprozesse hemmen. Extremer Stress (massive Ausschüttung von Nebennierensteroi-
den), wie dieser z.B. bei einer posttraumatischen Belastungsstörung vorkommt, kann
sogar zu Störungen im Langzeitgedächtnisspeicher und damit zu Gedächtnisausfällen
führen, weil die Zellen und Dendriten des Hippocampus zu verkümmern beginnen.
Massive Angst und großer Stress blockieren auch den Abruf des gespeicherten Wissens.
Angst als biologisches Geschehen 211

Man unterscheidet heute zwei Gedächtnisarten [13]:


z Explizites bzw. deklaratives Gedächtnis (episodisches, autobiografisches Gedächtnis
für Menschen, Orte, Dinge). Es ist im Hippocampus zentriert, wird vom Bewusst-
sein gesteuert und steht mit dem Sprachzentrum in Verbindung. Der Hippocampus
vergleicht und bewertet Reize und Situationen mit Vorerfahrungen, die im assoziati-
ven Kortex gespeichert sind. Es geht um Dort-und-Damals-Erinnerungen.
z Implizites Emotionales bzw. emotionales Gedächtnis. Es wird von der Amygdala
gesteuert und läuft unbewusst ab. Es enthält auch subkortikal entstandene Furcht-
konditionierungen, die der Grund dafür sind, dass wir uns vor bestimmten Reizen
fürchten, ohne dass wir ein auslösendes Ereignis kennen. Das Amygdala-gestützte
Gedächtnis ist bildhaft (nicht-sprachlich) strukturiert und vermittelt Erinnerungen
als affektiv-physiologisch betonte Hier-und-Jetzt-Erfahrungen ohne Integration in
das biografische Gedächtnis. Traumatische Erinnerungen überfluten unkontrolliert
den Menschen und müssen in das explizite Gedächtnis überführt werden.

Das Arbeitsgedächtnis, d.h. das bewusste Gegenwartserleben, verbindet die blassen und
affektlosen Erinnerungen des expliziten (Langzeit-)Gedächtnisses an ein traumatisches
Ereignis mit den emotionalen Erinnerungen des impliziten Gedächtnisses. Es kommt zu
einer einheitlichen Erfahrung: Die emotional-lebendige Erinnerung führt zu Angst- und
Panikreaktionen, als ob das traumatische Ereignis eben stattfinden würde.
Das Septum-Hippocampus-System ist ebenfalls an der Entstehung von Angst zentral
beteiligt, weshalb eine entsprechende medikamentöse Dämpfung Angst lindernd wirkt.
Die Zerstörung dieser Struktur bewirkt eine Angstlosigkeit. Dieses System wird durch
die vom Locus coeruleus ausgehenden Noradrenalinneurone sowie durch serotonerge
Neurone aktiviert. Anxiolytika reduzieren die Aktivität der noradrenergen und seroto-
nergen Projektionen zum Septum-Hippocampus-System.
Der mediobasale Schläfenlappen und die zugeordneten limbischen Hirnstrukturen
sind jene Hirngebiete, die mit der Integration von Wahrnehmungen und Gedächtnisvor-
gängen sowie mit der emotionalen und vegetativ-endokrinen Steuerung zu tun haben.
Durch Ableitungen über Tiefenelektroden, die in den Kopf eingeführt werden, wurde
nachgewiesen, dass eine abnorme Aktivität in bestimmten Schläfenlappengebieten oft
zu akuter Angst führt. Nach Strian [14] steht bei einer abnormen Aktivität des medioba-
salen Schläfenlappens Angst im Vordergrund, gefolgt von komplexen Wahrnehmungs-
mustern (z.B. bildhaft-traumhaften Erlebnissen), stereotypisierten Verhaltensweisen
(z.B. mimischen und gestischen Bewegungen), vegetativen Missempfindungen (z.B.
Schwitzen und Herzklopfen), Änderungen des Bewusstseins (z.B. Fremdheits- und
Vertrautheitsgefühl, Dämmerzustände) und starken Emotionen (z.B. große Angst, eksta-
tische Freude). Die Bedeutung des limbischen Systems für die Angstentstehung konnte
durch neuere Untersuchungsmethoden wie die Positronenemissionstomographie (PET)
bestätigt werden (z.B. verstärkte Durchblutung im Temporallappenbereich bei gesunden
Personen in Erwartung eines schmerzvollen Elektroschocks).
„Präkognitive Emotionen“ [15], d.h. dem Denken vorauseilende Emotionen, beru-
hen auf bruchstückhaften sensorischen Informationen, die noch nicht vollständig analy-
siert und als bestimmte Objekte erkannt worden sind. Sobald der Mandelkern ein rele-
vantes sensorisches Muster erahnt, reagiert er sofort mit einer Aktivierung des Körpers,
ohne eine Bestätigung abzuwarten. Diese Reaktionsbereitschaft bleibt auch dann erhal-
ten, wenn man Furchtlosigkeit und rational richtiges Denken anstrebt und eintrainiert,
weil es sich einfach um ein biologisch vorgegebenes Programm handelt.
212 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Mithilfe der Achtsamkeitstherapie und der Akzeptanz- und Commitmenttherapie


kann man lernen, biologisch gesteuerte Reaktionen zuzulassen, nicht-wertend und ak-
zeptierend zu beobachten, ohne dagegen anzukämpfen und damit abzuschwächen.
Die Überreaktion der Amygdala kann durch kortikale Mechanismen kontrolliert
werden. Der präfrontale Kortex (Präfrontallappen) kann nach genauen Analysen und
Bewertungen der jeweiligen Situationen das eingeleitete Emotion aktivierende Pro-
gramm des Mandelkerns stoppen, wenn die Reizsituation als ungefährlich bewertet
wird. Er kann auch dazu verhelfen, trotz vorhandener Angst oder Wut bestimmte Situa-
tionen effektiver zu bewältigen. Eine elegantere Dämpfung der Mandelkernreaktionen
besteht in weniger ängstigenden Sichtweisen, weil Angst erzeugende Denkmuster un-
kontrollierte Emotionen erst recht provozieren. Abgesehen von emotionalen Krisen, wo
durch die Kurzschaltung zwischen Thalamus und Mandelkern eine sofortige und massi-
ve Körperreaktion ausgelöst wird, bleibt im Normalfall noch ausreichend Zeit, dass der
präfrontale Kortex eine Bewertung der eingehenden sensorischen Informationen vor-
nehmen und damit auch die emotionalen Reaktionen steuern kann. Wenn das Fühlen
durch das Denken gesteuert wird, kommt es zu einem kontrollierteren emotionalen
Erleben. Freude nach getaner Arbeit, Zufriedenheit nach einem Sieg, Traurigkeit nach
einem Verlust oder Ärger über die Äußerungen eines anderen Menschen sind nur nach
Bewertungsvorgängen im Neokortex möglich.
Ein einziges Neuron stellt die Verbindung zwischen Mandelkern und Präfrontalkor-
tex her. Es mündet in den Bereich des orbitofrontalen Kortex, der als die entscheidende
Stelle zur Bewertung und Kontrolle der emotionalen Reaktionen gilt [16]. Der orbito-
frontale Kortex reguliert über ein dichtes Netz von Nervenbahnen zum limbischen Sy-
stem die emotionalen Reaktionen. Aus Studien ist bekannt, dass die Emotionskontrolle
durch den linken Präfrontallappen erfolgt, während der rechte präfrontale Kortex als
Sitz negativer Gefühle (z.B. Furcht und Aggression) gilt. Der linke Präfrontallappen
hemmt vermutlich den rechten Präfrontallappen. Wenn der linke Präfrontallappen aus-
fällt (z.B. Beschädigung durch einen Schlaganfall), kommt es zu unkontrollierten Sor-
gen und Ängsten sowie zu emotionalen Ausfälligkeiten. Emotionale Entgleisungen
hängen mit zwei Faktoren zusammen: mit einer raschen Auslösung über den Mandel-
kern und mit dem Ausfall der Kontrollfunktionen des linken Präfrontallappens [17].
Nach den Erkenntnissen von LeDoux können emotionale Reaktionen und emotiona-
le Erinnerungen ohne bewusste kognitive Beteiligung entstehen, d.h. ohne den Umweg
vom Thalamus zum Neokortex. Der Mandelkern kann sowohl Erinnerungen aufbewah-
ren als auch Reaktionsmuster auslösen, ohne dass wir davon wissen. In Bezug auf
Angstzustände bedeutet dieser Umstand, dass wir auf etwas angstvoll reagieren können,
ohne dass wir wissen, warum dies so ist. Viele Angstreaktionen wurden durch klassi-
sche Konditionierung unterhalb der Wahrnehmungsschwelle erworben. Bei Menschen
mit Angststörungen (insbesondere mit posttraumatischer Belastungsstörung) wird auf-
grund von Lernerfahrungen, die durch klassische Konditionierung erklärt werden kön-
nen, durch bestimmte Sinnesreize (Bilder, Töne, Geräusche, Gerüche, Körperempfin-
dungen usw.) eine massive körperliche Aktivierung ausgelöst, die in der aktuellen Si-
tuation unnötig ist. Einschneidende emotionale Erlebnisse werden von frühester Kind-
heit an im Mandelkern gespeichert, längst bevor eine verbale Kodierung möglich ist.
Auf diese Weise ist erklärbar, wie frühe Lebenserfahrungen eine prägende Bedeutung
gewinnen können, ohne dass die Betroffenen darum wissen und ihre emotionalen Erin-
nerungen in Worte fassen können. Dieser Umstand muss bei einer ergebnislosen Ver-
haltenstherapie von Menschen mit chronifizierten Angstzuständen stets bedacht werden.
Angst als biologisches Geschehen 213

Durch Projektionen von Bildern mit Hilfe eines Tachistoskops, das die Einstellung
der Projektionsdauer und damit eine subliminare Wahrnehmung ermöglicht, können
Ängste oder andere Reaktionen angesichts von nicht bewusst wahrgenommenen Bildern
erzeugt werden, die auch später wieder auftreten (z.B. Abneigungen oder Vorlieben bei
Wahlmöglichkeiten), ohne dass die Betroffenen darum wissen. Unterschwellige Projek-
tionen von Schlangen mit Hilfe des Tachistoskops bewirkten bei Schlangenphobikern
einen messbaren Schweißausbruch, der auf Angst schließen lässt, obwohl diese erklär-
ten, nichts zu sehen. Der Schweißausbruch trat auch bei sichtbar projizierten Schlan-
genbildern auf, obwohl die Betroffenen erklärten, keine Angst zu haben.
Erlebnisse mit starker Mandelkernerregung stellen im Sinne einer biologisch sinn-
vollen Überlebensschutzfunktion unauslöschliche Erinnerungen dar. Dies gilt sowohl
für emotional positive Erlebnisse (z.B. intensive Liebesgefühle, große Erfolgserlebnis-
se) als auch für emotional sehr belastende Erfahrungen (z.B. traumatische Ereignisse
wie Unfall, Misshandlung oder Vergewaltigung). Diese Erfahrung kann sogar durch
weniger wirklichkeitsnahe psychologische Experimente bestätigt werden [18]. Eine
emotional belastende und unangenehme Geschichte wurde zwei Gruppen von Teilneh-
mern vorgelesen, von denen eine den Beta-Blocker Propranolol (Inderal®, Dociton®)
erhielt, der die Rezeptoren jener Zellen blockiert, auf die die Stresshormone Adrenalin
und Noradrenalin reagieren, die als Auslöser der Kampf-Flucht-Reaktion bekannt sind.
Bei einem Gedächtnistest eine Woche später zeigte sich, dass die Gruppe mit dem Beta-
Blocker wohl die harmlosen Details, nicht jedoch die beunruhigenden Teile der Ge-
schichte angemessen erinnerte. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass die Blok-
kade der Stresshormone die emotionale Erinnerung verhinderte.
Fazit: Der Mandelkern ist wichtig zur Erinnerung an Situationen und Ereignisse,
vor denen man sich zu Recht fürchten soll. Ohne diese Fähigkeit zur Furcht und ohne
die Aktivierung der unauslöschlich gespeicherten, real oder subjektiv oft Existenz ge-
fährdenden Erfahrungen wäre das menschliche Leben oft dem Tode geweiht. In der
Amygdala und im Hippocampus sind die typischen Angsterfahrungen und auch andere
belastende Erinnerungen gespeichert, deretwegen sich viele Menschen in psychothera-
peutische Behandlung begeben, weil sie damit nicht umgehen können. Aus den ange-
führten Erkenntnissen ergibt sich die Schlussfolgerung, dass angstvolle Erlebnisse, die
ständig unangenehm erinnert werden, am besten überwunden werden können, wenn sie
im therapeutischen Kontext zuerst gezielt aktiviert und dann durch neue, positivere
Emotionen, aber auch durch neue Sichtweisen korrigiert werden. Vermeidungs- und
Unterdrückungsreaktionen verhindern dagegen derartige Bewältigungserfahrungen.
Traumatische Erinnerungen (z.B. Unfall, Panikattacken) können viel besser durch
neue emotionale Erfahrungen in ähnlichen Situationen im Rahmen einer Konfrontati-
onstherapie überwunden werden als durch abstrakt-intellektuelles Analysieren und
Nachdenken über die Hintergründe. Wenn die Angstinhalte jedoch immer wieder neu
vergegenwärtigt werden und keine Generalisierung der positiven Erfahrungen in be-
stimmten Situationen erfolgt, sind unbedingt auch kognitive Interventionen erforderlich.
Als durchaus gleichwertig können Lernerfahrungen im Therapieraum gelten, wenn
sie imstande sind, die relevanten emotionalen Erinnerungen auszulösen und zu korrigie-
ren. Dies erfolgt durch bestimmte erlebnisaktivierende Übungen, wie sie von verschie-
denen Psychotherapiemethoden (Verhaltenstherapie, Gestalttherapie, Hypnotherapie,
Psychodrama, katathym-imaginative Psychotherapie u.a.) eingesetzt werden. Die psy-
choanalytische Therapie versucht traumatische Erfahrungen durch emotionales Wieder-
erleben im Rahmen der „Übertragung“ zu provozieren und zu bearbeiten.
214 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Der reflexhafte neuronale „Kurzschluss“ zwischen Thalamus und Amygdala kann


durch kognitive Bewertungsprozesse auf höherer kortikaler Ebene (und zwar bereits
durch Vergleiche im Hippocampus) abgebremst werden. Furchtkonditionierungen kön-
nen durch Einsicht (Kontrolle durch den medialen präfrontalen Kortex) und durch kon-
frontative Übungen (Gewöhnung an die phobischen Reize) in ihrem verhaltensbezoge-
nen Ausdruck gehindert werden, sind dadurch aber nicht gelöscht. Die konditionierte
Furchtreaktion kann zwar durch bestimmte geistige Einstellungen und positive Lebens-
erfahrungen unterbunden werden, die impliziten Erinnerungen bleiben jedoch trotz einer
erfolgreichen Psychotherapie weiterhin im Mandelkern gespeichert.
Extreme psychosoziale Belastungen oder ein Trauma (z.B. Unfall, Überfall, Tod ei-
nes nahen Angehörigen, schwere körperliche Erkrankung) können die aus dem Verhal-
ten eliminierte Furchtreaktion rasch reaktivieren und ein ausgeprägtes phobisches Ver-
meidungsverhalten begünstigen, das schon als überwunden galt. Die Hoffnung, dass
eine Konfrontationstherapie oder eine andere Form von Psychotherapie einen Menschen
mit Panikstörung oder posttraumatischer Belastungsstörung lebenslänglich immun ge-
gen einmal aufgetretene Ängste macht, ist trügerisch. Hilfreich ist dagegen die Sicht-
weise, dass man zwar nicht die impliziten Erinnerungen, die vielen Angststörungen
zugrunde liegen, beseitigen kann, wohl aber die phobischen Vermeidungsreaktionen.
Über die in der Amygdala gespeicherten angstvollen Erinnerungen kann man eine
mentale Kontrolle derart gewinnen, dass man zumindest in guten Phasen des Lebens
damit umgehen kann. Dies weist auch darauf hin, dass Angstpatienten im Rahmen einer
Angstbewältigungstherapie nicht nur die Ängste bekämpfen, sondern auch viele positi-
ve Erfahrungen machen sollten, die das Vertrauen in sich selbst, in die Zukunft und in
die soziale Umwelt stärken. Bessere Ressourcen vermitteln wieder die Kraft, mit einer
Angststörung effektiver umgehen zu können. Menschen mit Angststörungen, die ihre
emotionalen Reaktionen in Angstsituationen als persönliches Versagen bewerten, stre-
ben oft das Ziel eines angstfreien Lebens an. Das Verständnis für die Funktionsweise
des Mandelkerns kann zu der Einsicht verhelfen, dass die erste, biologisch gesteuerte
Angstreaktion mit starker körperlicher Aktivierung (beschleunigter Herzschlag, Verän-
derung der Atmung, muskuläre Anspannung, flaues Gefühl im Magen usw.) in bedroh-
lich erscheinenden Situationen kognitiv und willentlich nicht verhindert werden kann,
wohl aber durch eine veränderte Reaktion darauf leichter überwunden werden kann.
Die Ausführungen von Goleman und LeDoux [19] über die Funktionsweise des
Mandelkerns zeigen auf, warum das Ziel der Angstfreiheit aus biologischen Gründen
überhaupt nicht möglich und sinnvoll ist. Der Mandelkern als Speicher der emotionalen
Erinnerungen prüft und vergleicht die aktuellen Erfahrungen mit früheren Erlebnissen.
Bei Ähnlichkeiten irgendwelcher Art wird sofort die rasche und direkte Kurzschaltung
vom Thalamus zum Mandelkern ohne Umweg über den Kortex aktiviert. Erst anschlie-
ßend erkennt der Verstand, dass eine derart massive Reaktion unnötig war.
Wir zahlen mit vielen unnötigen Angstreaktionen zwar einen großen Preis für den
Mechanismus der Amygdala, doch sichert er unser Überleben in gefährlichen Situatio-
nen, wo das Denken nicht rasch genug ist. Zugegebenermaßen bleibt es für Menschen,
die das irreale Ziel der totalen Kontrolle über alle körperlichen Reaktionen weiterhin
aufrechterhalten, ein Ärgernis, von subkortikalen Mechanismen gesteuert zu werden.
Die zahlreichen Bahnen vom zentralen Kern der Amygdala zu den verschiedenen
Hirnregionen, d.h. die Efferenzen des Nucleus centralis des Corpus amygdaloideum,
wurden in den letzten Jahren näher erforscht und von Hamm [20] in einer schemati-
schen Darstellung übersichtlich zusammengefasst.
Angst als biologisches Geschehen 215

Abb. 1: Efferente Verbindungen zwischen dem zentralen Kern der Amygdala und den
verschiedenen Zielregionen im Gehirn [21]

Hirnregionen Effekte der Physiologische


Stimulation und behaviorale
Furcht-
indikatoren
Î Nucleus dor- Î Parasym- Î Bradykardie,
somedialis des pathische Defäkation,
Nervus vagus, Aktivierung Einnässen,
Nucleus ambi- Ulzerationen
guus
Î Nucleus Î Gesteigerte Î Hyperven-
parabrachialis Respiration tilation,
(Atmungsregu- Atemnot,
lationszentrum Dyspnoe
in der Pons)
Î Ventrale Î Zunahme von Î erhöhte Verhal-
Region des Dopamin tensaktivität
Tegmentum (Verhaltens-
(Area tegmen- arousal), EEG-
Amygdala talis ventralis) Arousal, Vigi-
lanzerhöhung
Ncl. Î Nucleus Î Ncl. Î Î Locus Î Zunahme der Î Erhöhte Vigi-
lat. bas. lat. centr. coeruleus Noradrenalin- lanz und Erre-
ausschüttung gung: Anstieg
von Blutdruck,
Herzfrequenz
und Furcht-
verhalten
Î Nucleus teg- Î Zunahme von Î Kortikale
mentalis dorsa- Acetylcholin Aktivierung
lis lateralis
Î Nucleus reticu- Î Bahnung Î Steigerung der
laris pontis protektiver Schreckreflexe
caudalis Reflexe (verstärkte
Schreckreaktion)
Î Zentrales Î Unterdrückung Î Bewegungs-
Höhlengrau motorischen starre,
(periaquäduk- Verhaltens Immobilität
tales Grau des (Totstellreflex,
Mittelhirns) Todesangst)
Î Nucleus para- Î HHNA- Î Freisetzung
ventricularis Aktivierung: von Kortisol
des Hypotha- Sezernierung („Stress-
lamus von CRH, antwort“)
Freisetzung
von ACTH
Î Extrapyrami- Î Motorische Î Körperliche
dales motori- Reaktion nach Reaktionen
sches System Angst auslö-
senden Stimuli
Î Nervus trige- Î Anspannung Î Ängstlicher
minus, Nervus Gesichts-
facialis ausdruck
216 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Biochemische Ursachen für Angststörungen

Nervenerregung und Informationsweiterleitung


Im Folgenden wird die Nervenerregung und der Erregungsweiterleitung erläutert [22].
Die grundlegenden Bausteine des Nervensystems sind die Nervenzellen (Neurone), die
durch viele Nervenfasern miteinander verbunden sind. Jedes Neuron besteht aus einem
Zellkörper (Soma), mehreren Zellfortsätzen (Dendriten) und einer Nervenfaser (Axon).
Die Dendriten, die vom Soma ausgehende Fortsätze mit Hunderten und Tausenden
von Verzweigungen sind, empfangen an bestimmten Stellen auf ihrer Membran Signale
von anderen Neuronen, mit deren Axonen sie an diesen Stellen verbunden sind, und
leiten sie zur Nervenzelle weiter.
Das Axon, das von mehreren Millimetern bis zu einem Meter (z.B. Axone entlang
des Rückenmarks) lang sein kann, überträgt die Informationen als elektrische Aktivität
(so genannte Aktionspotentiale) vom Zellkörper zu anderen Neuronen bzw. zu Muskeln,
Drüsen oder Organen des Körpers. Nervenfasern sind Bahnen, die Informationen über
elektrische Impulse weiterleiten.
Jede Nervenzelle kann elektrische Impulse selbst erzeugen oder empfangene Signale
in elektrische Impulse umwandeln und weiterleiten. Jede Nervenzelle und ihre Fortsätze
(Axon und Dendriten) wird von einer Membran umgeben, die nur unter bestimmten
Umständen für ganz bestimmte Moleküle durchlässig (permeabel) ist. Die Öffnungsstel-
len werden als Ionenkanäle bezeichnet.
Ionen sind elektrisch geladene Atome bzw. Moleküle mit positiver oder negativer
Ladung. Positiv geladen sind Natrium (Na+) und Kalium (K+), negativ geladen sind
Chlor (Cl-) und bestimmte Eiweißfragmente. Die Durchlässigkeit ist abhängig von der
elektrischen Ladung des Ions und der Membran (gleiche Ladungen stoßen sich ab, ge-
gensätzliche ziehen sich an), von der Porengröße der Membran und vom Konzentrati-
onsgefälle innerhalb und außerhalb der Zelle. Die Ionen sind innerhalb und außerhalb
der Zelle in unterschiedlicher Anzahl und Verteilung vorhanden.
Im Ruhezustand befinden sich extrazellulär mehr Na+-Ionen, intrazellulär besteht ein
relativer Überschuss an K+-Ionen. Innerhalb der Zelle befinden sich gleichzeitig auch
mehr negative Cl--Ionen und negativ geladene Eiweißsubstanzen. Das Zellinnere ist
daher, verglichen mit der Außenwelt, in der Ruhephase negativ geladen. Das Ruhepo-
tential besteht aus einer negativen Spannung von -70 mVolt (Millivolt).
Wenn an einer bestimmten Stelle des Axons durch einen erregenden Neurotransmit-
ter eine Öffnung spezieller Na+-Ionen-Kanäle erfolgt, strömen viele Na+-Ionen aufgrund
der Anziehung durch die überwiegend negative Ladung in die Zelle. Nach Sekunden-
bruchteilen sind so viele Na+-Ionen in der Zelle, dass dort eine Ladungsumkehr erfolgt.
Die Zelle wird depolarisiert, das Aktionspotential beträgt +30 mVolt.
Die vorübergehende Depolarisation (Ladungsumkehr) eines bestimmten Teils des
Axons führt zu kurzfristigen Veränderungen des benachbarten Abschnitts, sodass sich
auch dort die Natriumionen-Kanäle öffnen. Natriumionen können einströmen und die-
sen Abschnitt depolarisieren. Die rasche Ausbreitung des Aktionspotentials am Axon
stellt die Form der elektrischen Erregungsweiterleitung im Nervensystem dar.
Aktionspotentiale laufen nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip ab, d.h. sie finden
entweder statt oder nicht. Am Ausgangspunkt der Erregung erfolgt eine Repolarisierung
als Voraussetzung für die nächste Erregungsweiterleitung, d.h. das Ruhepotential von
-70 mVolt wird durch bestimmte Mechanismen (Ionenpumpe) wiederhergestellt.
Angst als biologisches Geschehen 217

Zwischen den aufeinander treffenden Endigungen der Nerven befindet sich ein nur
0,2 millionstel Millimeter breiter Spalt, die Synapse. Die elektrischen Impulse können
diesen Spalt nicht überqueren, sodass eine chemische Erregungsübertragung erforder-
lich ist. Jede Nervenzelle hat meist mehrere hundert synaptische Verbindungen zu ande-
ren Nervenzellen, die entweder erregend oder hemmend wirken.
Die Information wird über Botenstoffe (Transmittersubstanzen) in den Spalt zwi-
schen den beiden Nerven ausgeschüttet, wodurch eine elektrische Erregung der nach-
folgenden Nervenbahn oder Muskelzelle bewirkt wird. Ist der Impuls weitergeleitet,
wird der Botenstoff wieder zurück in die Zelle gepumpt. Dieser Vorgang wird Wieder-
aufnahme oder „Reuptake“ genannt.
Durch ein Defizit an Noradrenalin und Serotonin funktioniert nach den gängigen
Theorien die Signalübertragung der Neuronen bei Depressionen und Angststörungen
nur eingeschränkt. Neue Antidepressiva blockieren deshalb gezielt den Prozess der
Wiederaufnahme dieser Botenstoffe. Der Transmittermangel wird auf diese Weise
kompensiert und die Signalübertragung verbessert.
Die Botenstoffe des Zentralnervensystems werden Neurotransmitter genannt. Die
Neurotransmitter werden in der präsynaptischen Nervenendigung gebildet und bis zur
Ausschüttung in Bläschen (Vesikel) gespeichert.
Die Erregungsübertragung von einer Nervenzelle auf eine andere läuft derart ab:
z Ein ankommender elektrischer Impuls (Aktionspotential) wird an der präsynapti-
schen Membran in einen chemischen Impuls umgewandelt, der in der Ausschüttung
bestimmter Transmitter aus den Bläschen (Vesikeln) in die Synapse besteht.
z Die Neurotransmitter wirken über den synaptischen Spalt hinweg auf Rezeptoren
(Empfänger) in der postsynaptischen Membran der nachgeschalteten Nervenzelle
ein. Rezeptoren sind Proteine, die aus der postsynaptischen Membran herausragen,
damit die Transmitter an sie binden können. Die Rezeptoren bestehen aus zwei
Komponenten, und zwar aus einer Bindungsstelle, an die sich der Transmitter anla-
gert, und aus einem Kanal, der sich öffnet, wenn der Transmitter gebunden ist, und
durch den die Ionen die Membran passieren können. Jeder Neurotransmitter wirkt
auf spezifische Rezeptoren.
z Durch die Verbindung der Neurotransmitter mit den Rezeptoren an der postsynapti-
schen Membran der nachgeschalteten Nervenzelle wird eine elektrische Reaktion
(Potentialänderung) bewirkt, die wiederum eine elektrische Weiterleitung der Infor-
mation ermöglicht. Die Verbindung der Neurotransmitter mit den passenden Ein-
weißstrukturen führt zu einer kurzfristigen Veränderung der Oberflächenstruktur
dieser Membran, sodass sich Natriumionen-Kanäle öffnen, wodurch es auch an die-
ser Membran – hier allerdings chemisch bedingt – zu einer Ladungsumkehr, d.h. zu
einer Erregung, kommt. Die Art des Neurotransmitters und die Eigenschaften der
postsynaptischen Rezeptoren bestimmen, ob das Membranpotential der beeinfluss-
ten Zelle in negativer Richtung (Hyperpolarisierung) oder in positiver Richtung
(Depolarisation) verschoben wird.
z Die Neurotransmitter werden nach der Ausschüttung in den synaptischen Spalt
schnell wieder entfernt, und zwar durch chemischen Abbau (Monoaminooxidase)
oder durch Wiederaufnahme („reuptake“) in die präsynaptische Nervenendigung.
Bestimmte Antidepressiva (Serotonin- oder Noradrenalin-Wiederaufnahme-
hemmer) blockieren die Wiederaufnahme, sodass die betreffenden Neurotransmitter
länger im synaptischen Spalt verweilen und ihre Wirkung ausüben können.
218 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Während bei einer erregenden synaptischen Übertragung die Rezeptoren Natrium-


ionen-Kanäle öffnen, sodass Natriumionen einströmen können und eine Depolarisie-
rung der Zellmembran bewirkt wird, öffnen bei einer hemmenden synaptischen Über-
tragung die Rezeptoren die gewöhnlich geschlossenen Chloridionen-Kanäle, sodass
Chloridionen einströmen können, wodurch eine Hyperpolarisierung der Zellmembran
bewirkt wird. Das Potential wird dadurch negativer als das Ruhepotential, sodass die
Zelle daran gehindert wird, ein Aktionspotential zu erzeugen, d.h. es erfolgt keine
Reizweiterleitung.
Der Neurotransmitter GABA (Gamma-Aminobuttersäure) hemmt die Informations-
weiterleitung im Zentralnervensystem. Benzodiazepine verstärken die hemmende Wir-
kung der GABA. Nur durch die Kenntnis dieser Vorgänge im Nervensystem können die
Wirkungsweise der Psychopharmaka sowie die neurobiologischen Theorien zur Erklä-
rung psychischer Krankheiten als Neurotransmitterstörungen verstanden werden:
z Psychopharmaka wirken durch einen Eingriff in die Abläufe bei der synaptischen
Erregungsübertragung. Sie verstärken oder schwächen die Erregungsweiterleitung
durch höhere oder geringere Konzentration der Transmittersubstanzen oder durch
Beeinflussung der Rezeptoren. Viele Medikamente üben ihre Wirkung am synapti-
schen Spalt aus, indem sie die Weiterleitung von Informationen dämpfen und damit
zur Beruhigung beitragen oder gezielt erregend wirken. Psychopharmaka täuschen
den Rezeptoren auf den Nervenzellen vor, sie seien Neurotransmitter. Sie lagern sich
aufgrund ihrer chemischen Struktur an den Rezeptor an und aktivieren ihn (agonisti-
sche Wirkstoffe) oder hindern das normale Transmittermolekül daran, sich an den
Rezeptor zu heften (antagonistische Wirkstoffe). Benzodiazepine stellen eine geziel-
te Hemmung der Erregungsweiterleitung am synaptischen Spalt dar. Angst lösende
Substanzen (Tranquilizer, Morphin, Buspiron, Clonidin u.a.) dämpfen die Schreck-
reaktion im Mandelkern.
z Bei verschiedenen psychischen Krankheiten wird eine Neurotransmitterstörung im
Gehirn angenommen. Bei bestimmten Depressionen besteht ein Mangel an Nor-
adrenalin, Serotonin und Dopamin, bei einem Teil der Zwangsstörungen eine Sero-
tonin-Dopamin-Balance-Störung, bei der Positivsymptomatik der Schizophrenie ei-
ne Dopaminüberfunktion. Die früheren, recht einfachen Modelle, die psychische
Störungen durch einen Mangel oder ein Übermaß an bestimmten Neurotransmittern
erklärten, werden zunehmend durch komplexere Konzepte ersetzt, die den Wech-
selwirkungen zwischen den verschiedenen Neurotransmittern und der Vielfältigkeit
der Erscheinungsformen der jeweiligen Störungen eher gerecht werden.

Die Erforschung der biologischen Grundlagen von Angst und Panik beruht auf vier
verschiedenen Strategien [23]:
1. Tierversuche,
2. Vergleichsuntersuchungen von physiologischen und neuroendokrinen Messwerten
bei Patienten und gesunden Kontrollpersonen,
3. Provokationsstudien durch Angst erzeugende Substanzen, die an unterschiedlichen
zentralen Regulationssystemen ansetzen,
4. Therapiestudien mit bestimmten Angst lösenden Substanzen, deren Wirksamkeit auf
bestimmte Fehlregulationen in den zentralen Transmittersystemen hinweist.
Angst als biologisches Geschehen 219

Neurotransmitter – Ihre Funktion bei der Auslösung


und Dämpfung von Ängsten
Es wurden bereits mehr als 60 Neurotransmitter und 80 Neuropetide, die als Transmitter
fungieren können, gefunden. Die wichtigsten Neurotransmitter im Gehirn sind die Ami-
ne Acetylcholin, Noradrenalin, Dopamin, Serotonin, erregende (exzitatorische) und
hemmende (inhibitorische) Aminosäuren sowie die Opioidpeptide.
Erregende Neurotransmitter sind Azetylcholin, Noradrenalin, Adrenalin, Serotonin,
Dopamin, Histamin und Glutamat. Hemmende Neurotransmitter sind die Gamma-
Aminobuttersäure (GABA) und Glycin.
Die verschiedenen Transmitter lassen sich vier chemischen Typen zuordnen [24].

Tab. 3: Transmittertypen [25]

Chemischer Typ Transmittersubstanzen


Amine (organisch-chemische Verbindung, bei der Acetylcholin, Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin,
Wasserstoffatome durch Ammoniakreste ersetzt Serotonin, Histamin
sind)
Aminosäuren (organische Säure, Bausteine der Glutamat, Gamma-Aminobuttersäure (GABA),
Proteine, d.h. der Eiweißstoffe) Glycin, Aspartat
Nukleotide (Grundbausteine der Nukleinsäure) Adenosin-Triphosphat (ATP)
Neuropeptide (kurze Aminosäureketten, Verbin- Tachykinine (Peptide zur schnellen Kontraktion
dungen aus zwei oder mehreren Aminosäuren, der glatten Muskulatur), Opioide (körpereigene
verstärken oder schwächen die Neurotransmitter- Morphin-ähnliche Peptide: Endorphine, Enkepha-
Wirkungen) line)

Die Transmittersubstanzen werden an unterschiedlichen Orten von den Nervenzellen


gebildet, in kleinen Bläschen (Vesikeln) in den präsynaptischen Nervenendigungen
gespeichert und beim Eintreffen des Aktionspotentials, d.h. bei Erregung, in den synap-
tischen Spalt ausgeschüttet. Die Substanzen, die über die Neurotransmittersysteme
wirken, stimulieren die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und den
noradrenergen Locus coeruleus.
Studien zur experimentellen Panikprovokation mit Hilfe bestimmter Substanzen
sollten die These belegen, dass Panikattacken biologisch bedingt sind. Alle Panikprovo-
kationsmethoden lassen sich nach zwei Wirkmechanismen klassifizieren [26]:
z Wirkungsweise über spezifische Neurotransmittersysteme,
z Wirkungsweise durch metabolische Veränderungen (Stoffwechselveränderungen).

An der Angstentstehung sind folgende Transmittersysteme beteiligt [27]:


z GABA-System: reduzierte Sensitivität oder erniedrigte Aktivität des Benzodiazepin-
Gamma-Aminobuttersäure-A-Rezeptors (GABAA), was jedoch nicht als direkte Ur-
sache für Panikattacken anzusehen ist,
z Serotoninsystem: erhöhte oder erniedrigte Neurotransmission (die bisherige Seroto-
ninhypothese als primäre Ursache für Panikattacken wird immer mehr erschüttert),
z Noradrenalinsystem: erhöhte Aktivität oder Reaktivität,
z Dopaminsystem: erhöhter Dopaminverbrauch durch Stress,
z Cholecystokininsystem,
z Glutamatsystem (wichtigstes erregendes Aminosäuresystem).
220 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Zur Panikprovokation durch Neurotransmitterbeeinflussung wurden versucht:


z inverse Benzodiazepinrezeptor-Agonisten (Beta-Carbolinester),
z Benzodiazepinrezeptor-Antagonisten (Flumazenil),
z die noradrenergen Substanzen Adrenalin, Noradrenalin, Isoprenalin, Yohimbin,
Piperoxan,
z Serotoninagonisten: Fenfluramin, mCPP (m-Chlorophenylpiperazin),
z das Neuropeptid Cholecystokinin (CCK-B-Rezeptor-Agonist CCK-4),
z Koffein: Blockade des Adenosinrezeptors.

GABA-System
Die Gamma-Aminobuttersäure (GABA) ist die wichtigste hemmende (inhibitorische)
Transmittersubstanz im Zentralnervensystem. Angstpatienten haben vermutlich eine
erniedrigte GABA-Rezeptorsensitivität sowie Veränderungen der GABA-ergen Neuro-
transmission. Die höchste Dichte von GABA-Rezeptoren findet man in den Bereichen
Kortex, basale und laterale Mendelkerne, Locus coeruleus, Hippocampus, Cerebellum.
30% aller Gehirn-Synapsen verwenden GABA als Überträgersubstanz. Der Neuro-
transmitter GABA wird aus der präsynaptischen Nervenendigung in den synaptischen
Spalt ausgeschüttet und bindet an den GABAA-Rezeptor der Membran des nachfolgen-
den Nervs [28]. Binnen Millisekunden stabilisiert sich das Ruhepotential des Neurons,
sodass diese Nervenzelle unerregbar wird. Der GABAA-Rezeptor ist ein Ionenkanal, der
quer durch die postsynaptische Membran läuft. Die Bindung von GABA an den GA-
BAA-Rezeptor bewirkt eine Konformitätsänderung des Rezeptormoleküls. Das Rezep-
tormolekül bildet eine Pore, einen Ionenkanal, durch die Membran, sodass negativ gela-
dene Chloridionen in die postsynaptische Nervenzelle einströmen können. Der Chlorid-
ionen-Einstrom führt zur Hyperpolarisierung der postsynaptischen Nervenzellmembran,
wodurch die Erregbarkeit der Nervenzelle durch andere Transmitter abnimmt.
Die GABA (genauer zwei GABA-Moleküle) bewirkt eine optimale Öffnung des
Chloridionen-Kanals und infolgedessen einen Chloridionen-Einstrom in das Zellinnere
mit einer anschließenden Erregbarkeitsminderung. Ohne GABA-Einwirkung ist der
Chloridionen-Kanal geschlossen und für Chloridionen weitgehend undurchlässig.
Die äußere Oberfläche des GABAA-Rezeptors enthält zusätzliche spezifische Bin-
dungsstellen (Rezeptoren) für Benzodiazepine und Barbiturate. Die Bindung dieser
Substanzen an den GABAA-Rezeptor führt zu einer leichteren und längeren Öffnung des
Ionenkanals, wodurch die hemmende Wirkung von GABA verstärkt oder potenziert
wird. GABA- und Benzodiazepinrezeptoren sind über die GABA-Synapsen miteinander
verbunden. Über ein zwischengeschaltetes Molekül aktiviert ein Benzodiazepin den
Benzodiazepinrezeptor und verstärkt so entweder die Bindung der GABA-Moleküle an
den GABA-Rezeptor oder die Koppelung zwischen dem GABA-Rezeptor und dem
Chloridionen-Kanal, oder es wirkt auf beides verstärkend.
Barbiturate und Anästhetika verlängern die Öffnungszeit der durch GABA aktivier-
ten Chloridionen-Kanäle um das 4- bis 5-fache und können in höherer Konzentration
alle GABAA-Rezeptoren auch in Abwesenheit der GABA-ergen Transmission aktivie-
ren [29]. Dies erklärt die größere Toxizität der Barbiturate. Die Fähigkeit, viele Neuro-
nensysteme direkt zu hemmen, begründet die anästhetische Wirkung. Benzodiazepine
können dagegen nur die gerade stattfindende GABA-erge Transmission bis zu einem
bestimmten Grad verstärken.
Angst als biologisches Geschehen 221

Die entspannende und Angst lösende Wirkung von Alkohol hängt ebenfalls mit der
Verstärkung der GABA-ergen Transmission zusammen. Das plötzliche Fehlen der Al-
koholwirkung nach chronischem Alkoholkonsum geht mit einer reduzierten GABA-
ergen Transmission einher, was unangenehm erregend wirkt. Die Hemmung der GA-
BA-ergen Synapsen führt zu Angst, Erregung, Krämpfen, Spastizität und im Extremfall
zum Tod. Über die Benzodiazepinbindungsstellen der GABAA-Rezeptoren wird nicht
nur eine Angst lösende, sondern auch eine Angst erzeugende Wirkung bewirkt[30]:
z Inverse Benzodiazepinrezeptor-Agonisten (manche Beta-Carboline) vermindern den
Chloridionen-Einstrom und wirken dadurch Angst erzeugend.
z Benzodiazepinrezeptor-Antagonisten (Flumazenil, Pentylentetrazol, Picrotoxin) ver-
hindern die Effekte direkter und inverser Agonisten und wirken so Angst erzeugend.

Serotoninsystem
Das zentrale Serotoninsystem geht von den Raphekernen im Bereich der medulla ob-
longata, der Brücke und des Mittelhirns aus und weist enge, direkte Verbindungen zum
Kortex, Thalamus, Hypothalamus, Hippocampus und zu den Basalganglien (limbisch
und präfrontal orientierte Abschnitte) auf. Serotonerge Neurone finden sich vor allem
im limbischen System, das die Steuerung emotionaler Reaktionen bewirkt.
Serotonin (5-HT: 5-Hydroxytryptamin) entsteht aus der Aminosäure L-Tryptophan
und dient bei etwa 1% der Nervenzellen des Gehirns als Botenstoff und ist modulierend
beteiligt an der Regulation vielfältigster Funktionen wie Emotionen, aggressiven Impul-
sen, Körpertemperatur, Blutdruck, Energie, Ess- und Sexualverhalten, Erbrechen, Schlaf
und Schmerzempfindlichkeit, aber auch bei vielen psychischen Störungen wie Angst-
störung, Depression, Schizophrenie, Essstörung oder Aggressivität. Die serotonerge
Übertragung erfolgt über Serotoninrezeptoren, die aus bestimmten Klassen (5-HT1,
5-HT2, 5-HT3, 5-HT5, 5-HT6, 5-HT7) und Subtypen (5-HTA, 5-HTB, 5-HTC, 5-HTD)
bestehen [31]. Bei Depressionen besteht ein Serotonindefizit, bei Angst- und Panikstö-
rungen ein Serotoninüberschuss bzw. eine Überempfindlichkeit bestimmter Serotonin-
rezeptoren (5-HT2A/2C). Der wichtigste hemmende serotonerge Rezeptor (5-HT1A) steht
mit Angststörungen und Depressionen in Verbindung. SSRI haben je nach Rezeptortyp
unterschiedliche Wirkungen: 5-HT1A-Rezeptor-Stimulierung mildert, 5-HT2A/2C-
Rezeptorstimulierung bewirkt und verstärkt Ängste. Die Behandlung mit Serotonin-
Wiederaufnahmehemmern (SSRI) bei Angststörungen führt zu einer „Down-Regulation“
der Serotoninrezeptoren und damit zu einer Angstreduktion.
Serotonin hat eine homöostatische Funktion, indem es exzessive Reize moduliert.
Das serotonerge System gilt als Modulatorsystem, d.h. es beeinflusst auch andere, damit
in Verbindung stehende Neurotransmittersysteme. Das serotonerge System übt eine
hemmende Wirkung auf das dopaminerge System aus, hemmt auch die erregende Wir-
kung von Azetylcholin und von Glutamat an neokortikalen Neuronen und wirkt zusätz-
lich indirekt hemmend durch die Stimulation des GABA-ergen inhibitorischen Systems.
Serotonin ist wichtig zur Wahrnehmung, Erinnerung und Steuerung von Stimmun-
gen. Das Serotoninsystem ist bedeutsam für emotionale Kontrollmechanismen, insbe-
sondere für die Hemmung negativer Emotionen (Angst, Furcht, Hilflosigkeit, Depressi-
on). Die Erhöhung der Serotoninkonzentration in der Synapse hat eine Stimmungs- und
Antriebssteigerung, eine antipanische Wirkung, eine Appetithemmung sowie eine Re-
duktion der Libido zur Folge.
222 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Serotonin ist wichtig für die Verhaltensmodulation, was die Bedeutung der SSRI in
der Behandlung von Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen unterstreicht [32]:

„Das Serotoninsystem beeinflußt grundlegende Funktionen des Gehirns (vigilanzkonforme Verbesse-


rung des zentralmotorischen Bereitschaftstonus bei Dämpfung von sensorischen Störeinflüssen im
Schlaf-/Wach-Zyklus, Aktivierung von zentral-rhythmischen Mustergenerationen) und moduliert
gleichzeitig komplexe Leistungen des Gehirns (z.B. Kognition, Lernen, Gedächtnis, Impuls- und Af-
fektkontrolle, Triebbefriedigungsverhalten, Angstbewertung). Die serotonergen Rapheneurone besitzen
Schrittmachereigenschaften und entladen langsam-tonisch in strenger Ankoppelung an die vorherr-
schende Vigilanzsituation des Organismus im Schlaf-/Wach-Zyklus ... Die Hauptaufgabe der 5-HT-
Neurone besteht wahrscheinlich in einer vigilanzkorrelierten Kontrolle der Netzwerkreagibilität zur
Ausblendung von bedeutungslosen sensorischen Störgrößen, ohne die eine augenblicksüberdauernde,
stabile Arbeitsweise von Netzwerken kaum möglich ist. Diese Fähigkeit zur Ausblendung von unwich-
tigen und zur Bahnung von situationsrelevanten Informationen verleiht dem zentralen Serotoninsystem
die Eigenschaft eines protektiven Neurotransmitters, der emotional ausgleichend, anti-aggressiv, im-
pulskontrollverbessernd, antinozeptiv, hedonismusbegrenzend und damit sozialverhaltensverbessernd
wirkt... Jede längerfristige Störung dieser Gleichgewichte kann die Grundlage abnormer psychischer
Reaktionen und Verhaltensstörungen sein.“

Aus Tierversuchen wurden folgende Erkenntnisse gewonnen [33]:

„In fast allen Testen, die als Modelle für angstinduziertes Verhalten, für Hilflosigkeitsverhalten bzw.
für Unterdrückung von Verhalten in nichtbelohnten Situationen (passive Vermeidung) oder für die
Verhaltenskontrolle zur Erzielung verzögerter Belohnung gelten, beeinträchtigt Serotoninmangel die
Anpassungsfähigkeit der Tiere. Dies gilt auch für Sozialverhaltensmuster in angstauslösender Situa-
tion. Serotonin hat die Aufgabe, die Bewertung des aversiven Charakters von Situationen zu fördern
und das Verhalten so einzustellen, daß die Gefährdung des Organismus durch Auswahl angepaßter
Verhaltensreaktionen möglichst gering gehalten wird... Extrem serotoninverarmte Ratten sind überer-
regbar, hyper-emotional, hyperaggressiv, impulskontrollgestört und hypersexuell. Sie zeigen Episoden
von bizarrem Sozialverhalten und eine enorme Überempfindlichkeit gegenüber belanglosen sensori-
schen Reizmustern.“

Mäuse ohne 5-HT1A-Rezeptor sind weniger aggressiv, aber ängstlicher als andere Mäu-
se, Mäuse ohne 5-HT1B-Rezeptor sind weniger ängstlich, jedoch aggressiver.
Eine Überfunktion des Serotoninsystems als Folge bestimmter Substanzen kann zu
Panikattacken führen [34]:
1. Der Serotoninagonist m-Chlorophenylpiperazin (mCPP) kann über eine Hypersensi-
tivität postsynaptischer Serotoninrezeptoren Panikattacken auszulösen. Wegen der
komplexen Neuropharmakologie ist keine klare Interpretation der Studien möglich.
2. Der Serotoninagonist Fenfluramin (Ponderax®, nicht mehr auf dem Markt) kann
durch die präsynaptische Freisetzung von Serotonin Panikattacken auslösen.
3. Trizyklische Antidepressiva (Imipramin) und selektive Serotonin-Wiederaufnahme-
hemmer (SSRI) bewirken anfangs öfter panikähnliche Zustände und führen dazu,
dass bestimmte Patienten diese Angst lösenden Medikamente wegen unerträglicher
Nebenwirkungen absetzen. Dies erfordert eine einschleichende, nur langsam dosis-
steigernde Medikamentierung, bis nach einer Gewöhnung von 2-3 Wochen die er-
wünschte Wirkung eintritt. Ein ähnlicher Effekt kann auch bei Buspiron auftreten.

Eine Injektion von Benzodiazepinen in die dorsalen Raphekerne mit ihren zahlreichen
Serotoninneuronen, die Vorderhirn, Amygdala, Septo-Hippocampales-System und an-
dere limbische Areale innervieren, hemmt die elektrische Aktivität der serotonergen
Neurone und hat damit eine Angst lösende Wirkung.
Angst als biologisches Geschehen 223

Benzodiazepine können das Serotoninsystem dämpfen, was darauf hinweist, dass


Angst durch eine Überfunktion der serotonergen Neurone ausgelöst werden kann [35].
Sowohl Serotoninagonisten als auch Serotoninantagonisten können Angst lösend wir-
ken, je nach der Lokalisation und Funktion der Serotoninrezeptoren.
Zusammenfassend ist festzuhalten (wie auch Bandelow in seinem Buch „Panik und
Agoraphobie“ betont), dass aufgrund widersprüchlicher Forschungsbefunde die An-
nahme einer Dysfunktion des Serotoninsystems als eigentliche Ursache von Panikattak-
ken noch völlig ungesichert ist. Ein erhöhter und auch ein erniedrigter Serotoninspiegel
kann anxiogen wirken, was mit der unterschiedlichen Funktion der dorsalen und media-
len Raphekerne zusammenhängen könnte.
Die spezifische Wirkung von SSRI bei Panikpatienten ist ebenfalls noch ungeklärt.
Die vereinfachte Formel „Eine verminderte Serotonintransmission wird durch die Gabe
von SSRI normalisiert“, wie sie in der klinischen Praxis oft anzutreffen ist, ist mit Si-
cherheit falsch.

Noradrenalinsystem
Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin werden als Katecholamine bezeichnet. Adrena-
lin, ein zentraler Neurotransmitter im peripheren Nervensystem, kommt im Gehirn nur
in geringen Mengen vor, und zwar im verlängerten Mark (Medulla oblongata), wo es
die Kreislaufregulation bewirkt. Noradrenalin und Dopamin sind die wichtigsten Kate-
cholamin-Neurotransmitter des Gehirns.
Die Zellkörper noradrenerger Neurone befinden sich in zwei Bereichen des Hirn-
stamms (Locus coeruleus und laterales Tegmentum), ihre aufsteigenden Axone aktivie-
ren den Kortex, das limbische System (vor allem die Amygdala), den Hypothalamus
und das Kleinhirn sowie – über die Aktivierung mesokortikaler dopaminerger Bahnen –
den präfrontalen Kortex.
Die Aktivierung eines bestimmten Hypothalamuskerns (Nucleus paraventricularis)
führt zur Stimulierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Das
noradrenerge System wird umgekehrt durch limbische und kortikale Gebiete erregt.
Die Noradrenalinfreisetzung bzw. die Erhöhung der Noradrenalinkonzentration im
synaptischen Spalt bewirkt eine Steigerung der gerichteten Aufmerksamkeit, eine Ori-
entierung (Vigilanzerhöhung) bezüglich neuer und/oder potenziell bedrohlicher Reize,
eine Steigerung der blutdruckerhöhenden Noradrenalineffekte, Erektions- und Ejakula-
tionsstörungen, Zittern, eine Stimmungs- und Antriebssteigerung, Belohnungsgefühle
und Schmerzunempfindlichkeit.
Die noradrenergen Neurone sind beteiligt an der Regelung des Blutdrucks, der Ent-
stehung von Hunger- und Durstgefühlen, der Emotionen und des Sexualverhaltens und
zusammen mit dem serotonergen System an der Regulation des Schlaf-Wach-
Rhythmus. Noradrenalin stimuliert die limbischen und kortikalen Prozesse und das
sympathische Nervensystem. Angst kann durch eine Überfunktion des noradrenergen
Systems ausgelöst werden. Eine Stimulierung des Locus coeruleus im Stammhirn, der
vor allem noradrenerge Neurone enthält, die von dort aus das ganze Gehirn innervieren,
bewirkt Angstzustände (jedenfalls im Tierversuch), nicht jedoch Panikattacken.
Benzodiazepine wie Alprazolam (D: Tafil®, Ö: Xanor®), trizyklische Antidepressiva
und MAO-Hemmer reduzieren die Aktivität der Locus-coeruleus-Neurone und vermin-
dern dadurch Angst- und Panikzustände.
224 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Verschiedene noradrenerge Substanzen bewirken Angst und Panikanfälle [36]:


z Yohimbin und Piperoxan (alpha-adrenerge Antagonisten) bewirken eine Hemmung
der alpha-adrenergen Rezeptoren in präsynaptischen Nervenendigungen und damit
die Freisetzung von Noradrenalin aus den noradrenergen Synapsen, wodurch es zu
Furcht und Angst bei Tieren und Menschen kommt.
z Amphetamine und Kokain bewirken eine Freisetzung von Noradrenalin.
z Isoprenalin und Noradrenalin sind über periphere Mechanismen Angst erzeugend.
z Trizyklische Antidepressiva wie Imipramin (Tofranil®) können bei akuter Verab-
reichung in höheren Dosen in den ersten 2-3 Wochen ebenfalls panikähnliche Zu-
stände bewirken, weil sie die Entfernung des Noradrenalins aus dem synaptischen
Spalt verzögern und somit die noradrenerge Funktion verstärken. Aus diesem Grund
müssen Trizyklika einschleichend, d.h. nur langsam steigernd, verabreicht werden.

Beim Alkohol-Barbiturat-Benzodiazepin-Entzugssyndrom besteht ebenfalls eine Hyper-


aktivität der noradrenergen Neurone des Locus coeruleus. Substanzen, die zuerst durch
die Verstärkung der GABA-ergen Mechanismen beruhigend wirken, führen durch ihr
plötzliches Fehlen zu einer noradrenerg bestimmten unangenehmen Erregung.
Zusammenfassend gesehen gibt es Hinweise auf eine Störung des noradrenergen
Systems bei Panikpatienten (z.B. erhöhte nächtliche Noradrenalinausscheidung). Erste
erfolgreiche Medikamentenstudien mit Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (Rebo-
xetin) bei Panikpatienten weisen ebenfalls auf eine Beteiligung des noradrenergen Sy-
stems hin, sodass die bisherige alleinige Serotoninhypothese als Erklärungsmodell für
Panikattacken nicht haltbar sein dürfte. Anzunehmen ist bei der Panikentstehung viel-
mehr ein mangelhaftes Zusammenwirken des serotonergen und noradrenergen Systems.

Dopaminsystem
Die Erhöhung der Dopaminkonzentration im synaptischen Spalt bewirkt eine psycho-
motorische Aktivierung. Nach neuesten Studien ist der Botenstoff Dopamin, der für
Motivation, Verlangen nach Nahrung, Lust, Sex oder Drogen zuständig ist, nach Sero-
tonin und Noradrenalin der dritte Neurotransmitter, der die Amygdala stimuliert und
damit bei der Emotionsverarbeitung beteiligt ist. Je mehr Dopamin in der Amygdala
vorhanden ist (es kann dort je nach Person unterschiedlich gut gespeichert werden),
umso ängstlicher reagieren Menschen bei subjektiver Bedrohung. Wenn jedoch eine
intensive Kommunikation zwischen der Amygdala und dem anterioren Cingulum be-
stand, sank die Angst trotz hoher Dopamin-Produktion. Bekannt war bisher bereits:
Stress führt zu einem Anstieg des Dopaminverbrauchs im frontalen Kortex und kann
dadurch Angst auslösen, was sich durch Benzodiazepine verhindert lässt [38].
Man unterscheidet drei dopaminerge Neuronensysteme [37]:
1. Nigro-striatales System. Die Substantia nigra ist ein Teil des Hirnstamms, ihre Neu-
rone dienen der Kontrolle der Motorik.
2. Mesolimbisch-mesokortikales System. Die dopaminergen Neurone, die zur vorderen
Großhirnrinde gehen, sind wichtig für Denkvorgänge, Lernen, Gedächtnis und af-
fektive Funktionen im Sinne einer emotionalen Kontrolle (Integration von Emotio-
nen). Das mesokortikale Dopaminsystem steuert Aufmerksamkeit, soziales Verhal-
ten, Motivation und Organisation.
3. Tubero-infundibuläres System. Ausschüttung der Hypophysenhormone.
Angst als biologisches Geschehen 225

Cholecystokininsystem
Das Peptid Cholecystokinin (CCK) wurde vor allem im Gastrointestinaltrakt gefunden,
wo es der Stimulation der Gallenblasenkontraktion und der Pankreassekretion dient,
aber auch im Zentralnervensystem. Die Angst erzeugende Wirkung des Cholecystoki-
ninsystems wird belegt durch den experimentellen Einsatz von Cholecystokininrezeptor-
Agonisten (CCK-4), die zu Panikattacken führen, die den real auftretenden Panikattak-
ken recht ähnlich sind. Die Injektion bereits geringer Mengen an Cholecystokinin in die
Amygdala kann Panikattacken auslösen.

Glutamatsystem
Glutamat ist der wichtigste schnelle erregende Überträgerstoff im Gehirn. Glutamat
und die darauf ansprechenden NMDA-Rezeptoren (N-methyl-D-asparat) haben eine
große Bedeutung für Lernvorgänge. Die rasche fortdauernde Erregung von Nervenbah-
nen, die Glutamat als Transmitter benutzen (z.B. im Hippocampus), bewirkt eine anhal-
tende gesteigerte Erregbarkeit der aktivierten Synapsen. Die Potenzierung wird durch
den Glutamatrezeptor NMDA eingeleitet. Das Glutamatsystem mit den NMDA-
Rezeptoren könnte für die Angstentstehung insofern bedeutsam sein, als es Hinweise
auf eine Beteiligung von erregenden Aminosäuresystemen an der Entstehung von Angst
gibt. NMDA-Antagonisten wirken akut Angst lösend.

Metabolische Ursachen für Angststörungen


Panikreaktionen lassen sich durch bestimmte Methoden metabolisch provozieren [39]:
z Natriumlaktat-Infusionen (Laktat ist das Endprodukt des Zuckerstoffwechsels),
z Hydrogencarbonat,
z Kohlendioxidinhalationen.

Veränderungen von Kohlendioxid (CO2) durch Laktatinfusionen oder Kohlendioxid-


inhalationen wirken über den Weg des Locus coeruleus (noradrenerge Neurone) Angst
erzeugend. Bei den metabolischen Provokationsmethoden erfolgen eine Veränderung
des pH-Werts (Kohlendioxidanstieg durch Laktatinfusion und Kohlendioxidinhalation)
und eine Stimulierung der Atmung. Ein CO2-Anstieg bewirkt eine Intensivierung der
Atmung (Hyperventilation). Durch Hyperventilation wird eine gegensätzliche Stoff-
wechselreaktion bewirkt, nämlich ein Kohlendioxidabfall durch die übermäßige CO2-
Ausatmung (respiratorische Alkalose). Experimente mit Kohlendioxidinhalationen
(längere Inhalation von mit 4-7,5% CO2 angereicherter Luft oder einmalige Inhalation
von 35% CO2) sollten die Auffassung belegen, dass Panikattacken durch eine pathologi-
sche Hypersensitivität oder Labilität auf pH-Veränderungen der zentralen Chemorezep-
toren im Locus coeruleus ausgelöst werden, d.h. dass Panikpatienten im Vergleich zu
anderen Menschen sehr sensibel reagieren auf einen plötzlichen Abfall im intrazellulä-
ren pH der ventromedullären Chemorezeptoren. Panikpatienten reagierten auf Provoka-
tionsmethoden (Cholecystokinin, Kohlendioxidinhalationen, Natriumlaktat-Infusionen)
in verschiedenen Studien mit stärkerer Angst als Kontrollpersonen.
226 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Relativ echte Panikattacken scheinen metabolisch nur durch Kohlendioxid (CO2)


und über den Weg der Neurotransmitter nur durch Cholecystokinin auslösbar zu sein,
während durch andere Substanzen eher intensive Angstzustände bewirkt werden [40].
Experimentell ausgelöste Panikattacken sind nicht durch die biologischen Provoka-
tionsmethoden, sondern durch psychologische Wirkmechanismen bedingt. Panik-
patienten hatten bereits vor Beginn der Experimente eine größere Erwartungsangst und
damit höhere physiologische Ausgangswerte als Kontrollpersonen, während sie sich in
ihren Reaktionen auf die Panikprovokationsmethoden nicht qualitativ unterschieden.
Entscheidende psychologische Faktoren wie die Erwartungshaltungen und Kontroll-
überzeugungen der Versuchspersonen wurden bei den Studien biologisch orientierter
Forscher nicht berücksichtigt. Es ist erweisen, dass Panikreaktionen stark von kogniti-
ven Faktoren abhängig sind [41]. Panikpatienten zeigten bereits in Erwartung von Pa-
nikprovokationstechniken einen größeren Anstieg von Angst, Herzfrequenz und Blut-
druck als Kontrollpersonen. Je nach der Instruktion vor den Provokationstests (Natrium-
laktat-Infusionen, CO2-Inhalationen, Hyperventilation) konnten die Panikreaktionen von
Panikpatienten und gesunden Personen verstärkt oder verringert werden. Der Glaube an
die Kontrollmöglichkeiten über die Gabe des Gasgemisches bewirkte, dass bei Kohlen-
dioxid-Inhalationen nur 20% der Panikpatienten panisch reagierten. Nach erfolgreicher
kognitiver Verhaltenstherapie lösten Natriumlaktat-Infusionen und Kohlendioxidinhala-
tionen bei Panikpatienten kaum noch Panikattacken aus.
Fazit: Die Hyperventilationstheorie der Entstehung von Panikattacken gilt heute als
widerlegt, wenngleich eine Hyperventilation als Auslöser dafür dienen kann.

Neuroendokrinologische Ursachen für Angststörungen


Ängste hängen mit dem bisher bestuntersuchten endokrinen System zusammen, und
zwar mit der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA-Achse).

Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA)
Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse wird durch drei Hormone
konstituiert, die eine optimale Anpassungsreaktion des Organismus auf antizipierte,
unkontrollierbare, neue oder mehrdeutige Belastungssituationen ermöglichen [42]:
z Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) des Hypothalamus,
z Adrenokortikotropes Hormon (ACTH) der Hypophyse,
z Kortisol der Nebennierenrinde.

Die Botenstoffe des Hypothalamus werden je nach ihrer Funktion in zwei Faktoren
unterschieden: Releasing Faktoren und Inhibiting Faktoren. Das Corticotropin-
Releasing-Hormon (CRH) bewirkt die Aktivierung der HHNA. CRH ist ein Neuropep-
tid, das bei besonderen Anforderungen aktiviert wird und hormonelle und autonome
Anpassungsfunktionen des Organismus ermöglicht.
Psychische Belastungen und nur vorgestellte Gefahren führen ebenfalls über die
CRH-Freisetzung zur HHNA-Aktivierung. Bei emotionaler Erregung, Stress und Angst
wirkt CRH in Bezug auf andere Systeme aktivierend und integrierend. Die CRH-
Freisetzung ist ein wesentlicher ursächlicher Faktor der Angstentstehung.
Angst als biologisches Geschehen 227

CRH aktiviert die HHNA-Achse in jeder Situation, wo eine bedeutsame persönliche


Orientierungsreaktion notwendig erscheint, um auf die antizipierte Belastung besser
reagieren zu können. Tierexperimente belegen, dass die durch CRH ausgelöste autono-
me und endokrine Aktivierung über den Weg der klassischen Konditionierung erlern-
bar ist, d.h. assoziierte oder konditionierte Reize reichen aus, um eine CRH-Freisetzung
und damit eine HHNA-Aktivierung zu bewirken. Das Hormon CRH wurde außerhalb
der hypothalamischen Region als wirksamer Neurotransmitter erkannt.
Die experimentelle Applikation von CRH direkt in das Ventrikelsystem des Gehirns
bewirkt verschiedene Hypophysenreaktionen (ACTH-Freisetzung, Hemmung der
Hypophysen-Gonaden-Achse, Freisetzung von Wachstumshormonen) und starke Ver-
änderungen im autonomen Nervensystem (Anstieg von Adrenalin, Noradrenalin und
Glukose, Absinken des peripheren vaskulären Widerstands, starker Anstieg der Herz-
frequenz und des Herzzeitvolumens, Hemmung der Aktivität des oberen Verdauungs-
trakts, Förderung der Ausscheidungsfunktionen des unteren Verdauungstrakts).
CRH-Antagonisten und Benzodiazepine können diese Effekte dosisabhängig aufhe-
ben oder vermindern, was für Angstzustände bedeutsam ist. CRH übt seine Wirkung
nicht direkt aus, sondern meistens mittelbar über die Stimulation anderer zentraler (z.B.
opioiderger) oder peripherer (z.B. katecholaminerger) Systeme. Die Fähigkeit zur Habi-
tuation verhindert eine dauerhafte HHNA-Stimulierung bei Angst- und Stresszuständen.
CRH wird in bestimmten Neuronen des Hypothalamus synthetisiert. Die Axone die-
ser Neurone enden im Hypophysenstiel, wo CRH in das Portalblut freigesetzt wird und
über Blutgefäße die Rezeptoren an kortikotropen Zellen des Hypophysenvorderlappens
erreicht. Dort stimuliert CRH (zusammen mit dem Hormon Vasopressin) die Synthese
und Freisetzung des Hypophysenhormons ACTH (adrenokortikotropes Hormon).
ACTH wird in verschiedenen Typen kortikotroper Zellen des Hypophysenvorder-
lappens synthetisiert und gemeinsam mit Beta-Endorphinen in die Blutzirkulation abge-
geben. ACTH stimuliert über Rezeptoren auf Zellen in der Nebennierenrinde die Syn-
these und Freisetzung von Glukokortikoiden.
Kortisol, das wichtigste Glukokortikoid des Menschen, wird nach der Freisetzung
aus der Nebennierenrinde in die Blutbahn größtenteils an Transporteiweiße gebunden.
Die 5-10% ungebunden zirkulierende Kortisolmenge ist die biologisch aktive Hormon-
fraktion. Kortisol bewirkt über die Stimulierung der Glukoseneubildung und die Hem-
mung des Glukoseverbrauchs im Gewebe den Aufbau eines größeren Energievorrats im
Körper. Bei psychobiologischen Studien erfolgt zunehmend eine Messung des Kortisol-
spiegels im Speichel, weil auf diesem Weg zuverlässig die freie Hormonfraktion bela-
stungsfrei und laborunabhängig festgestellt werden kann.
Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse ist sehr wichtig [43]:

„Aus biologisch-stammesgeschichtlicher Sicht ist es dem Organismus möglich, über Aktivierung der
HHNA eine sehr breite und adäquate Anpassungsreaktion einzuleiten. Über Aktivierung des sympathi-
schen Nervensystems wird der Organismus rasch in einen effizienten Bereitschafts- und Arbeitszustand
versetzt. Dadurch können rasch Kampf- oder Fluchtreaktionen ausgeübt werden, welche nahezu im
gesamten Verlauf der menschlichen Entwicklungsgeschichte überlebensnotwendig waren. Mit einiger
Verzögerung erfolgt dann die Freisetzung von ACTH und Cortisol, wobei Cortisol bei anhaltender
Beanspruchung Energiereserven mobilisiert und reguliert, sodass eine dauerhaftere Leistung gewährlei-
stet ist. Die Aktivierung der Achse ist einerseits dadurch gekennzeichnet, dass wichtige Anpassungsre-
aktionen erleichtert werden (Herzschlag, Herzzeitvolumen, verbesserte Durchblutung insbesondere der
Muskulatur, Glukoneogenese), andererseits jene Organfunktionen gedrosselt werden, welche bei kurz-
fristiger psychischer oder physischer Beanspruchung nicht benötigt werden (Verdauung, Fortpflanzung,
Wachstum und Regeneration).“
228 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Das vegetative Nervensystem – Automatische Regulierung


der Körperfunktionen
Das vegetative Nervensystem regelt den inneren Betrieb des Körpers, hält alle lebens-
wichtigen Organtätigkeiten aufrecht und passt den Körper an wechselnde Umweltbe-
dingungen an. Es steuert Kreislauf, Atmung, Stoffwechsel, Ernährung, Eingeweide,
Verdauung, Drüsentätigkeit, Temperatur, Ausscheidung, Aktivität, Schlaf, Wachstum,
Reifung und Fortpflanzung.
Das vegetative Nervensystem besteht aus zwei Teilen, die gegensätzliche Funktio-
nen haben und durch ihr Zusammenspiel das vegetative Gleichgewicht des Körpers
(Homöostase) aufrechterhalten [44]:
1. sympathisches Nervensystem: für Aktivität und Leistung;
2. parasympathisches Nervensystem: für Erholung, Entspannung und Energieaufbau.

Tab. 4: Sympathikus und Parasympathikus im Überblick

Körperbereich Sympathikus – Aktivierung Parasympathikus – Beruhigung


Herz Steigerung des Herzschlags, Verlangsamung des Herzschlags,
Kraftsteigerung, Verengung der Herzkranzgefäße
Erweiterung der Herzkranzgefäße
Blutgefäße der arbei- Erweiterung Verengung
tenden Muskulatur
Blutgefäße der Haut Verengung Erweiterung (Erschlaffung)
Blutdruck Steigerung durch Beschleunigung der Reduzierung durch verringerte Herz-
Herztätigkeit und Verengung der tätigkeit und Erweiterung der Blutge-
Blutgefäße der Haut fäße der Haut
Gerinnungsfähigkeit Erhöhung, um eventuelle Wunden Abschwächung, d.h. Verdünnung
des Blutes zu schließen
Stoffwechsel Steigerung, Energieabbau Reduzierung, Energieeinsparung
Bronchien (Lunge) Erweiterung Verengung, Schleimproduktion
Magen/Darm Hemmung der Verdauungsfunktio- Förderung der Verdauungsfunktio-
nen, Hemmung der Produktion von nen, Anregung der Produktion von
Verdauungssäften bzw. Schleim, Verdauungssäften bzw. Schleim,
Anspannung der glatten Muskulatur, Entspannung der glatten Muskulatur,
Gefäßverengung, Gefäßerweiterung,
Hemmung der Defäkation Anregung der Defäkation
Bauchspeicheldrüse Hemmung der Insulinproduktion Förderung der Insulinproduktion
Schweißdrüsen wenig klebriger Schweiß viel dünnflüssiger Schweiß
Speicheldrüsen Hemmung des Speichelflusses Verstärkung des Speichelflusses
(zähflüssiger Speichel) (dünnflüssiger Speichel)
Harnblase Hemmung des Zusammenziehens der Zusammenziehen der Harnblase
Harnblase (Harnverhalten) (Harnentleerung)
Genitalien Hemmung der Durchblutung der Förderung der Sekretion,
Genitalien (Gefäßverengung), Stimulierung der Durchblutung der
Ejakulation Genitalien (Gefäßerweiterung),
Erektion
Auge Pupillenerweiterung, Pupillenverengung, Akkomodation,
Lidspaltenerweiterung Lidspaltenverengung
Tränendrüsen geringe Sekretion starke Sekretion
Gehirn Bewusstseinsaufhellung Bewusstseinsminderung
Angst als biologisches Geschehen 229

Die Organe des vegetativen Nervensystems verfügen über eine glatte Muskulatur, die
vom Willen nicht steuerbar ist, weshalb man auch vom „autonomen“ oder „unwillkür-
lichen“ Nervensystem spricht. Emotionale Zustände (Freude, Ärger, Wut, Leid, Trauer,
Angst) bewirken Veränderungen des vegetativen Nervensystems.
Die Informationsweiterleitung im sympathischen und parasympathischen Nervensy-
stem erfolgt über zwei verschiedene Arten von Nervenbahnen:
1. Afferente Bahnen. Weiterleitung der Informationen von der Peripherie in die über-
geordneten Zentren (Zentralnervensystem: Gehirn und Rückenmark). Die afferente
Erregungsleitung erfolgt über eine einzige Nervenzelle.
2. Efferente Bahnen. Weiterleitung der Informationen von den übergeordneten Steue-
rungszentren zu den Muskel- und Drüsenzellen. Für die efferente Erregungsleitung
sind zwei Nervenzellen erforderlich. Die Umschaltung von der ersten auf die zweite
Nervenzelle erfolgt in den Ganglien. Ganglien sind Nervenzellansammlungen bzw.
Nervengeflechte außerhalb des Zentralnervensystems, die aus den Nervenzellkör-
pern der zweiten efferenten Nervenzellen bestehen. Das Neuron nach den Ganglien
wird auch postganglionäres Neuron genannt. Das erste efferente Neuron, d.h. die
Nervenzelle vor den Ganglien, dessen Zellkörper innerhalb des Zentralnervensy-
stems in vegetativen Kernen liegen, wird auch präganglionäres Neuron genannt.
Die sympathischen Ganglien liegen in der Nähe der Wirbelsäule, die parasympa-
thischen Ganglien meistens in der Nähe der Erfolgsorgane.

Die Informationsweiterleitung von der präganglionären auf die postganglionäre Nerven-


zelle erfolgt im sympathischen und im parasympathischen Nervensystem durch den
Transmitterstoff Acetylcholin. Die erste, präganglionäre Nervenzelle wird daher auch
cholinerg genannt.
Das zweite, postganglionäre Neuron, das direkt auf die Muskel- bzw. Drüsenzelle
des Erfolgsorgans einwirkt, weist zwei Transmittersubstanzen auf:
z Noradrenalin in den sympathischen Nervenfasern, weshalb die postganglionären
Fasern des sympathischen Nervensystems auch adrenerg genannt werden.
z Acetylcholin in den parasympathischen Nervenfasern, weshalb die postganglionären
Fasern des parasympathischen Nervensystems auch cholinerg genannt werden.

Die entscheidende Transmittersubstanz des sympathischen Nervensystems ist das Kate-


cholamin Noradrenalin, das in den Endigungen der postganglionären Neurone syntheti-
siert, in Vesikeln (Bläschen) gespeichert und bei Bedarf freigesetzt wird.
Die Entfernung aus der Synapse geschieht durch Wiederaufnahme und durch enzy-
matische Inaktivierung mittels der Monoaminooxidase (MAO) und der Catechol-O-
Methyl-Transferase (COMT).
Das sympathische Nervensystem weist Alpha- und Beta-Rezeptoren in zwei ver-
schiedenen Ausprägungen auf, die jeweils unterschiedliche physiologische Wirkungen
haben.
Als prä- und postganglionäre Transmittersubstanz des parasympathischen Nervensy-
stems dient der Überträgerstoff Acetylcholin, der auch für die Informationsübertragung
an den motorischen Endplatten der willkürlich innervierten quergestreiften Skelettmus-
kulatur verantwortlich ist.
230 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Tab. 5: Periphere adrenerge und cholinerge Erregungsübertragung [45]

Adrenerge Wirkungen

Rezeptor Ort Effekte von Agonisten


alpha1 Gefäße, Uterus, Kontraktion,
Schließmuskeln (Blase, Darm),
Lunge (Bronchiolen),
Magen- und Darmdrüsen Hemmung der Sekretion
alpha2 Gefäße,
Niere (Reninfreisetzung), Kontraktion (der Gefäße),
Leber (Lipolyse – Fettabbau), Hemmung der Organfunktion
Bauchspeicheldrüse
(Insulinfreisetzung)
beta1 Herz Steigerung von Frequenz,
Überleitung und Kontraktilität
Niere (Reninfreisetzung) Steigerung der Sekretion
beta2 Gefäße, Uterus, Erschlaffung,
Schließmuskeln (Blase, Darm),
Lunge (Bronchiolen),
Bauchspeicheldrüse Steigerung der Sekretion
(Insulinfreisetzung)

Cholinerge Wirkungen

Rezeptor Ort Effekte von Agonisten


Nikotinrezeptor Skelettmuskulatur Relaxation
vegetative Ganglien Erregung, Förderung der
Transmission
Muskarinrezeptor Herz Abnahme von Frequenz,
Kontraktionskraft und Leitungsge-
schwindigkeit
glatte Muskulatur Kontraktion
Drüsen Sekretionssteigerung

Medikamente wirken auf das vegetative Nervensystem in Form der Beeinflussung der
synaptischen Erregungsübertragung ein, wobei es zwei Ansatzmöglichkeiten gibt:
z Einwirkung in den Ganglien, d.h. bei der Umschaltung von der ersten auf die zweite
Nervenzelle. Medikamente, die hier ansetzen, d.h. bei der cholinergen Erregungs-
übertragung, beeinflussen gleichzeitig Sympathikus und Parasympathikus.
z Einwirkung bei der Informationsübertragung vom zweiten, postganglionären Neuron
auf das jeweilige Erfolgsorgan. Medikamente, die hier eingreifen, wirken spezifi-
scher, d.h. sie beeinflussen nur die adrenerge Übertragung des sympathischen Ner-
vensystems oder die cholinerge Übertragung des parasympathischen Nervensystems.
Im parasympathischen Nervensystem dient zwar an beiden Umschaltungsstellen des
efferenten Neurons der Transmitter Acetylcholin als Überträgersubstanz, es sind je-
doch jeweils andere Rezeptorsysteme vorhanden. Die ganglionären Acetylcholin-
Rezeptoren sind Nikotinrezeptoren, die postganglionären Acetylcholinrezeptoren
sind Muskarinrezeptoren.
Angst als biologisches Geschehen 231

Das sympathische Nervensystem – Körperliche Aktivierung


Jeder Stressor bzw. Angst machende Reiz führt zuerst zu einer unspezifischen Aktivie-
rung kortikaler und limbischer Gehirnstrukturen, die eine Stimulierung des zentralen
und peripheren noradrenergen Systems bewirken („arousal reaction“).
Das sympathische Nervensystem ist ein aktivierendes System, das Energie freisetzt
(abbaut) und den Körper auf Handlungen und kurzfristige Höchstleistungen vorbereitet
(ausgelöst durch die Hormone Adrenalin, Noradrenalin, Kortisol).
Stress, Aufregung und Angst (besonders Panikattacken) führen zu einer Adrenalin-
ausschüttung mit massiver Körpersymptomatik (Herzrasen, Schwitzen, Atembeschleu-
nigung, Muskelanspannung u.a.).
Bei chronischem Stress kann der Adrenalinspiegel bis zum Zehnfachen erhöht sein.
Angst ist unmöglich ohne körperliche Erregung, körperliche Erregung ist jedoch mög-
lich ohne Angst. Auch Wut und Freude führen zu einer Aktivierung des Sympathikus.
Das sympathische Nervensystem hat folgende Aufgaben:
z Steigerung des Herzschlags, Erweiterung der Herzkranzgefäße,
z Steigerung des Blutdrucks durch Beschleunigung der Herztätigkeit und Verengung
der Blutgefäße der Haut,
z Verengung der Blutgefäße der Haut (blutleer-blasse Haut) und der inneren Organe,
z Erweiterung der Blutgefäße der arbeitenden Muskulatur,
z Steigerung der Schweißdurchlässigkeit der Haut (der Hautwiderstand sinkt ab),
z Anspannung der Skelettmuskulatur als Vorbereitung auf körperliche Aktivität,
z Erhöhung der Gerinnungsfähigkeit des Blutes, um Wunden zu schließen,
z Beschleunigung des Stoffwechsels (Energieabbau),
z Erweiterung der Atemwege (Bronchien) durch Erschlaffung der Lungenmuskeln,
z Hemmung der Verdauungsfunktionen, Anspannung der glatten Muskulatur von
Magen und Darm, verstärkte Drüsentätigkeit,
z vermehrte Ausschüttung von Zucker und Fettsäuren,
z Hemmung der Insulinproduktion durch die Bauchspeicheldrüse,
z Absonderung von wenig klebrigem Schleim durch die Schweißdrüsen,
z Hemmung des Speichelflusses (Produktion von zähflüssigem Speichel),
z Hemmung der Ausscheidungsorgane (keine Darm- und Blasenentleerung),
z Hemmung der Durchblutung der Genitalien (Gefäßverengung), Ejakulation,
z Pupillenerweiterung, Abflachung der Augenlinsen,
z Aufstellen der Haare („Gänsehaut“),
z Zusammenbeißen der Zähne.

Der Nucleus paraventricularis des Hypothalamus als oberste Steuerungsinstanz des


sympathischen Nervensystems erhält seine Impulse durch noradrenerge, adrenerge und
serotonerge Systeme des Hirnstamms, endokrine Faktoren, Systeme des Vorderhirns
und andere Kerne des Hypothalamus und setzt daraufhin gleichzeitig zwei Aktivie-
rungsmechanismen in Gang:
1. Neuronale Aktivierung. Über die Nervenbahn erfolgt die Ausschüttung der Neben-
nierenmarkhormone Adrenalin und Noradrenalin, die eine kurzfristige maximale
Aktivierung durch Rückgriff auf gespeicherte Energiereserven bewirken.
2. Hormonelle Aktivierung. Botenstoffe (Hormone), die über die Blutbahn zu bestimm-
ten Organen und Gewebeteilen transportiert werden, bewirken eine längerfristige
Mobilisierung des Körpers durch Aufbau und Preisgabe neuer Energien.
232 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Neuronale Aktivierung (Hypothalamus-Nebennierenmark-System)


Der Hypothalamus im Zwischenhirn als oberste Steuerungsinstanz des vegetativen
Nervensystems stimuliert über eine Nervenbahn die Sympathikuskerne im Rückenmark,
von denen aus über nervöse (elektrische) Impulse im Nebennierenmark die Ausschüt-
tung eines Hormongemisches von 80% Adrenalin und 20% Noradrenalin in die Blut-
bahn bewirkt wird.
Die Katecholaminausschüttung erfolgt wegen der neuronalen Vermittlung sehr rasch
und dient im Sinne einer Alarmreaktion einer kurzfristigen Energiemobilisierung durch
Rückgriff auf gespeicherte Energiereserven des Körpers.
Adrenalin hat folgende Funktionen:
z Erhöhung von Schlagkraft, -rate und -volumen des Herzens und damit Steigerung
des systolischen Blutdrucks (Druck auf die Gefäßwände),
z verstärkte Durchblutung der Skelettmuskulatur als Vorbereitung auf Bewegung
durch Blutumverteilung (Blutabzug von Magen, Darm und Haut),
z verstärkte Atmung, um mehr Sauerstoff als Verbrennungsenergie zu haben,
z Mobilisierung gespeicherter Energiereserven (Zucker, Fette), um mehr Brennstoffe
für die bevorstehende Muskeltätigkeit bereitzustellen,
z Erhöhung des Energiegrundumsatzes um ca. 30%,
z verstärkte Wärmeproduktion und Temperaturerhöhung als Folge des erhöhten Ener-
gieumsatzes,
z zentral erregende Wirkung: erhöhte Erregung, Aufmerksamkeit und Konzentration
durch Stimulierung der Formatio reticularis im Hirnstamm und damit auch der
Großhirnrinde und des limbischen Systems.

Wegen der zentral erregenden Wirkung gilt die Adrenalinerhöhung als Anzeichen für
psychische Belastung und Stress (z.B. vorweggenommene Beanspruchung, Konflikte,
Ängste, aber auch positive Gefühle wie freudige Erregung). Adrenalin ist daher auch bei
Flucht- und Vermeidungsreaktionen gegenüber Noradrenalin überproportional erhöht.
Ein Adrenalinstoß führt zu einer erhöhten geistigen Wachheit, die bei anhaltenden
Angst- und Stresszuständen das Abschalten erschwert. Angstbedingtes, abendliches
Grübeln im Bett führt häufig zu Einschlafstörungen, manchmal zu Panikattacken.
Eine Panikattacke entsteht durch eine plötzliche Adrenalinausschüttung, die den
Körper kurzfristig maximal aktiviert. Laut Studien steigt bei einer Panikattacke auch das
Stresshormon Kortisol messbar an (Erhöhung des Speichelkortisols). Eine vermehrte
Adrenalinfreisetzung kann nicht nur durch Angst, Aufregung und Stress bewirkt wer-
den, sondern auch durch Ärger, Wut und Aggression.
Menschen mit Angststörungen sollten folgende Zusammenhänge beachten: Häufig
lösen Wut und Ärger Panikattacken aus, z.B. beim Nachdenken in Ruhephasen. Unkon-
trollierbare Angst ist dann die Reaktion auf die massiven körperlichen Erregungsvor-
gänge, die durch die ängstliche Bewertung als lebensbedrohlich verstärkt werden.
Noradrenalin hat folgende Funktionen:
z Erhöhung des diastolischen Blutdrucks durch Anspannung der glatten Muskulatur in
den kleinen Arterien (Arteriolen),
z Erweiterung der Bronchien (Luftröhrenverzweigungen in der Lunge),
z Förderung der Atemtiefe,
z Freisetzung von Blutfetten,
z Hemmung der Magen-Darm-Tätigkeit (um Energie zu sparen).
Angst als biologisches Geschehen 233

Noradrenalin wirkt weder zentral erregend noch beschleunigt es den Herzschlag oder
erhöht es den Blutzuckerspiegel. Diese energiesparende Anpassung ermöglicht einen
sprunghaften Einsatz von Energie liefernden Prozessen bei Bedarf, z.B. bei plötzlicher
körperlicher Anstrengung oder bei sofort erforderlicher Kampfposition angesichts einer
akuten Bedrohung. Körperliche Belastung allein bewirkt eine gegenüber Adrenalin
überproportionale Noradrenalinerhöhung. Noradrenalin gilt daher als Anzeichen für
eine körperliche Belastung bzw. für eine Kampfreaktion.
Die maximale Aktivierung des Sympathikus durch die Katecholamine Adrenalin
und Noradrenalin wird nach einigen Minuten infolge von Gewöhnung an den Stressor
gestoppt, sodass eine Überbeanspruchung des Körpers verhindert wird. Dies erfolgt
einerseits durch Aktivierung des parasympathischen Nervensystems, andererseits durch
chemischen Abbau von Adrenalin und Noradrenalin, was jedoch einige Zeit dauert,
sodass man sich auch nach der Beseitigung der Belastung oder Gefahr noch einige Zeit
angespannt und erregt fühlt.

Hormonelle Aktivierung
(Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System)
Schon während der Alarmreaktion regen die Katecholamine über den Hypothalamus die
Ausschüttung von Nebennierenrindenhormonen (Kortikosteroide) an, und zwar von
Glukokortikosteroiden (Zuckerstoffwechselhormonen), die die Auffüllung der entleer-
ten Energiespeicher in Gang setzen. Etwa vier Stunden nach der Alarmreaktion errei-
chen diese Hormone ihren höchsten Blutspiegel. Ziel der Verschiebung von der neuro-
nal bewirkten, raschen und kurzfristigen Leistungsbereitschaft durch die Katecholamine
Adrenalin und Noradrenalin auf eine hormonell ausgelöste, längerfristige Leistungsbe-
reitschaft durch Nebennierenrinden- und Schilddrüsenhormone ist es, den Körper durch
Aufbau und Preisgabe neuer Reserven leistungs- und widerstandsfähiger zu machen,
ohne ihn dabei so überzuaktivieren, wie dies durch Adrenalin geschieht. Diese Reakti-
onsmechanismen benötigen wegen der hormonellen Informationsübermittlung über die
Blutbahn etwas länger bis zur vollen Wirksamkeit, wirken dafür jedoch langfristiger.
Der Hypothalamus – speziell der Nucleus paraventricularis als zentrale Kontrolle
über die gesamte Kaskade – gibt infolge neuronaler Impulse aus höheren Gehirnzentren
über die Blutbahn hormonfreisetzende Hormone (CRH) ab, die die Hypophyse stimulie-
ren, die als oberste Steuerungsinstanz aller hormonellen Prozesse gilt.
Das ausgeschüttete CRH hat zahlreiche Funktionen: Erhöhung von Blutzuckerspie-
gel, Sauerstoffverbrauch, Herzauswurfleistung, Atemtätigkeit und Wachsamheit, Re-
duktion der gastrointestinalen, reproduktiven und sexuellen Funktionen u.a.
Der Hypophysenvorderlappen setzt daraufhin bestimmte Hormone frei, die in den
untergeordneten Drüsen die Ausschüttung bestimmter Endhormone bewirken:
z Das adrenokortikotrope Hormon (ACTH) bewirkt in der Nebennierenrinde die Aus-
schüttung der Glukokortikosteroide Kortison (Hydrokortison) und Kortisol, welche
vor allem der Zuckerneubildung dienen.
z Das thyreotrope (Schilddrüsen stimulierende) Hormon bewirkt in der Schilddrüse
die Ausschüttung von Schilddrüsenhormonen, besonders von Trijodthyronin (T3)
und von Thyroxin (T4) zur Stoffwechselbeschleunigung.
z Das somatotrope Hormon (Wachstumshormon) bewirkt über Wachstumsfaktoren
der Leber ebenfalls eine Stoffwechselerhöhung.
234 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Die Glukokortikosteroide (besonders Kortisol) haben folgende Funktionen im Rahmen


der Reaktion des Körpers auf Stress:
z Glukoseausschüttung aus der Leber.
z Erhöhung des Blutzuckerspiegels durch Umbau von Eiweiß in Zucker, d.h. es erfolgt
eine Zuckerneubildung und damit der Aufbau neuer Energiestoffe (Adrenalin dage-
gen mobilisiert nur vorhandenen Zucker).
z Steigerung der Herzleistung und Blutgefäßverengung der Haut (Verstärkung der
Katecholamineffekte).
z Blutdruckerhöhung durch verstärkte Herzleistung, Blutgefäßverengung der Haut
und Erhöhung der Salzkonzentration im Blut, wodurch die Wasserausscheidung der
Niere gehemmt und die Blutmenge erhöht wird.
z Erhöhung der Blutgerinnung durch vermehrte Bildung von Gerinnungsfaktoren, um
bei Verletzungen einen größeren Blutverlust zu vermeiden.
z Psychische Stimulierung und Aktivierung: Stimmungsverbesserung, die von einem
Gefühl des Wohlbefindens bis zu übermäßiger Euphorie reichen kann.
z Entzündungshemmende Wirkung: Schwächung des Immunsystems und der Krank-
heitsabwehr durch Hemmung der Bildung von Antikörpern (Immunglobuline) und
der Verminderung der Lymphfunktionen. Um alle Energien auf die Bewältigung des
anhaltenden Stresszustandes konzentrieren zu können, wird vorübergehend die Neu-
bildung von Eiweiß und damit auch die Antikörperbildung gegenüber körperfrem-
dem und somit bedrohlichem Eiweiß ebenso gehemmt wie die Produktion von wei-
ßen Blutzellen (Leukozyten), vor allem von Lymphzellen und Granulozyten, die die
wichtigsten Träger der Immunabwehr sind. Bei chronischem Stress hat der Körper
daher nur unzureichende Mittel zur Abwehr neuer Belastungen (z.B. Infektionen)
zur Verfügung, sodass er anfälliger für Krankheiten ist.
z Hemmung der gastrointestinalen Funktionen.
z Hemmung der Gonadenfunktion.

Eine erhöhte Kortisolausschüttung ist die normale Reaktion auf Stress. Anormal hohe
Kortisolkonzentrationen bei chronischem Stress können zu Bluthochdruck und Stress-
zucker führen. Zahlreiche Untersuchungen bei Tieren und Menschen zur Thematik der
gelernten Hilflosigkeit konnten zeigen, dass unkontrollierbar und unvorhersagbar unan-
genehme Reize bzw. Situationen zu einer massiven Kortisolausschüttung führen (leicht
nachweisbar durch den Kortisolspiegel im Blut).
Früher wurde davon ausgegangen, dass eine stressinduzierte Hypersekretion von
Kortisol das Immunsystem schwächt und für Infektionskrankheiten, Krebs oder Auto-
immunkrankheiten anfälliger macht. Neuerdings wird angenommen, dass Kortisol eine
protektive Wirkung besitzt, indem eine stressinduzierte Immunaktivierung abgebremst
wird, um schädigende Effekte zu vermeiden [46].
Der Zusammenhang zwischen einem Mangel bzw. Überschuss an Glukokortikoiden
und der Störung der Immunfunktionen ist noch nicht eindeutig geklärt.
Die Schilddrüsenhormone, insbesondere T3 (Trijodthyronin), bewirken eine raschere
Sauerstoffaufnahme in den Zellen, sodass mehr Verbrennungsenergie zur Verfügung
steht und die Stoffwechselprozesse dadurch beschleunigt werden. Als Folge davon wird
die Wärmeproduktion vermehrt.
Chronischer Stress bewirkt eine Drosselung der Produktion der Geschlechtshormo-
ne und damit eine Reduktion des sexuellen Verlangens, bei Frauen zusätzlich oft ein
Aussetzen der Menstruationsblutung, bei Männern eine geringere Samenproduktion.
Angst als biologisches Geschehen 235

Das parasympathische Nervensystem –


Körperliche Beruhigung und Erholung
Das parasympathische Nervensystem ist ein wiederherstellendes System, das den Kör-
per zurück in den Normalzustand versetzt und der Ruhe, Erholung und Schaffung neuer
Energien dient. Im Gegensatz zum sympathischen Nervensystem reagiert das parasym-
pathische Nervensystem nicht als Ganzes, sondern aktiviert nur diejenigen Funktionen,
die zu einem bestimmten Zeitpunkt notwendig sind.
Ein Teil der parasympathischen Nervenfasern läuft im Vagus (10. Hirnnerv) mit,
sodass man vereinfachend auch von vagotoner Aktivierung spricht. Alle Entspannungs-
techniken (autogenes Training, progressive Muskelentspannung, Atemtechniken, Medi-
tation, Selbsthypnose, Yoga, Biofeedback) unterstützen die Aktivität des parasympathi-
schen Nervensystems. Beruhigungsmittel vom Typ der Benzodiazepine dienen demsel-
ben Ziel, machen bei Dauergebrauch jedoch abhängig.
Das parasympathische Nervensystem hat folgende Funktionen:
z Verlangsamung des Herzschlags, Verengung der Herzkranzgefäße,
z Reduzierung des Blutdrucks durch verringerte Herztätigkeit und Erweiterung der
Blutgefäße der Haut,
z Verengung der Blutgefäße der arbeitenden Muskulatur,
z Erweiterung der Blutgefäße der Haut und der inneren Organe (mehr Durchblutung),
z Erschlaffung der Skelettmuskulatur und dadurch eintretende Entspannung,
z Verminderte Gerinnungsfähigkeit des Blutes, d.h. Blutverdünnung,
z Reduzierung des Stoffwechsels (Energieeinsparung und Energieaufbau),
z Verengung der Bronchien (Lunge),
z Förderung der Verdauungsfunktionen, Entspannung der glatten Muskulatur von
Magen und Darm, reduzierte Drüsentätigkeit,
z Verminderte Ausschüttung von Zucker und Fettsäuren,
z Förderung der Insulinproduktion durch die Bauchspeicheldrüse,
z Absonderung von viel dünnflüssigem Schweiß durch die Schweißdrüsen,
z Verstärkung des Speichelflusses (dünnflüssiger Speichel),
z Aktivierung der Ausscheidungsorgane (Darm- und Blasenentleerung),
z Stimulierung der Durchblutung der Genitalien (Gefäßerweiterung), Erektion,
z Pupillenverengung, Krümmung der Augenlinsen, Tränenausscheidung.

Psychovegetative Störungen (funktionelle Störungen, die keine Gewebeveränderungen


bewirken) zeigen sich kaum in einer isolierten Erregung des gesamten Sympathikus
bzw. Parasympathikus, sondern in einer Kombination aus Symptomen beider Nervensy-
steme. Besonders bei extremen Erregungs- und Panikzuständen bewirken die gleichzei-
tige Erregung von Sympathikus und Parasympathikus Symptome wie z.B. Herztätigkeit
(Herzrasen) und Darm-/Blasentätigkeit (Durchfall bzw. Harndrang).
Die meisten funktionellen Störungen sind Ausdruck dafür, dass Energie für eine
körperliche Leistung bereitgestellt wird, diese aber nicht abgerufen wird (weil sie gar
nicht benötigt wird), sodass ein Spannungszustand bestehen bleibt.
Viele Stresszustände (z.B. Ängste) spielen sich im Kopf ab, ohne dass eine massive
körperliche Aktivität erforderlich wäre. Bei einer Panikattacke ist der Körper aktiviert
für eine Notfallreaktion, doch es gibt aktuell nichts zu tun, weil keine reale Bedrohung
vorhanden ist. Unser Körper funktioniert seit Urzeiten gleich: Bei psychischem Stress
werden dieselben körperlichen Aktivierungsvorgänge ausgelöst wie bei Körperarbeit.
236 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Unterschiedliche biologische Reaktionsbereitschaft der Menschen


Bei seelischen und körperlichen Belastungen erfolgt in Abhängigkeit von Anlage (Kon-
stitution) und Lernerfahrungen eine individuell sehr unterschiedliche vegetative Reakti-
onsbereitschaft. Etwas vereinfacht kann man zwei Typen unterscheiden:
z Kampf- und Fluchttypen (Sympathikotoniker)
z Schrecktypen (Vagotoniker)

Beide Typen können nicht allein durch psychologische Faktoren erklärt werden, son-
dern drücken unterschiedliche konstitutionelle Bedingungen aus. Die jeweiligen Anlage-
faktoren werden jedoch durch bestimmte Erziehungs- und Milieufaktoren verstärkt und
sind innerhalb gewisser Grenzen auch veränderbar.

Sympathikotoniker (Kampf-Flucht-Typen)
Sympathikotoniker neigen bei Angst, Aufregung und Stress zu sympathischer Überakti-
vierung: vermehrte Herz- und Atemtätigkeit, Blutdruckanstieg, Muskelanspannung,
Heiß-Werden, abnehmender Appetit, Verstopfung. Sie zeigen eine Überanspannung, ein
ständiges „Auf-dem-Sprung-Sein“, eine große innere Unruhe, eine leichte Gereiztheit
bis zur Aggressivität, eine große Hektik in allen Bewegungen, eine überschnelle
Kampf- und Leistungsbereitschaft, eine ständige Überaktivität ohne Entspannung.
Wenn sich diese Reaktionsbereitschaft in stärkerer Ausprägung zu einem relativ sta-
bilen Persönlichkeitstyp verfestigt, dann entsteht daraus das „Typ-A-Verhalten“, das
nach Friedman und Rosenman ein erhöhtes Herzinfarktrisiko in sich birgt (Gefahr der
Arterienverkalkung durch erhöhte Blutfett- und Zuckerwerte sowie Blutgefäßschädi-
gung durch hohen Blutdruck bei chronischer psychovegetativer Überreaktion), insbe-
sondere dann, wenn auch aus anderen Gründen ein erhöhtes Risiko gegeben ist (z.B.
Anlage, Rauchen, fett- und kohlehydratreiche Ernährung, Bewegungsmangel, Zucker-
krankheit, essenzielle Hypertonie).
Herzinfarktpatienten sind oft unfähig, sich zu entspannen. Jedes natürliche Bedürf-
nis nach Entspannung und Passivität wird abgewehrt. Leistung, Erfolg, Aufstieg und
Karriere sind zentraler Lebensinhalt. Die generelle Gültigkeit des Typ-A-Konzepts ist
nach neueren Studien einzuschränken auf die Gesundheitsschädlichkeit einer übertrie-
ben aggressiven Leistungshaltung mit ständiger Überforderung.
Sympathikotoniker neigen im Krankheitsfall zu Störungen des Gefäß-, Herz- und
Kreislaufsystems: Bluthochdruck, Kreislaufstörungen, Herzkranzgefäßerkrankungen
(Angina Pectoris und Herzinfarkt).
Ein „Kampftyp“ mit ständiger Anspannung und Ausrichtung auf Höchstleistungen
wird durch bestimmte Risikoverhaltensweisen (z.B. Rauchen) zusätzlich fixiert.
„Nervosität“ ist eine starke Aktivierung des Sympathikus. Der Körper ist bereits auf
hohe körperliche und geistige Leistung eingestellt, ohne diese jedoch schon zu erbrin-
gen (z.B. Aufregung wegen bevorstehender Prüfung oder Unternehmung). Es besteht
eine große Anspannung, die nicht durch erholsame Ruhe abgelöst werden kann, weil
man sich bewusst und unbewusst ständig mit der bevorstehenden Belastung beschäftigt.
Nicht bewältigbare Erwartungsängste führen zu chronischer Anspannung, wie diese für
Angstpatienten typisch ist. In harmloser Form zeigt sich eine deutliche Nervosität oft
auch bei bevorstehenden positiven Ereignissen (z.B. Urlaub oder Hochzeit).
Angst als biologisches Geschehen 237

Vagotoniker (Schrecktypen)
Vagotoniker neigen bei Angst, Aufregung und Stress zu parasympathischer Überakti-
vierung: Abfall von Herz- und Atemtätigkeit, Blutdruckabfall, Schwindel, Benommen-
heit, Ohnmachtsneigung, Atemnot durch Zusammenziehen der Bronchien, Schwitzen,
Kälteempfindung, Nachlassen der Muskelspannung („weiche Knie“), Schwächegefühl,
Übelkeit/Brechreiz durch Verkrampfung der Magen- und Darmmuskulatur, Harn- oder
Stuhldrang, Erröten, Weinen.
Vagotoniker bleiben in der Schock-/Schreckreaktion wie gelähmt, eben geschockt,
stecken und gelangen nicht zu Widerstand und aktiver Auseinandersetzung mit dem
Stressor. Das psychische Ohnmachtserleben zeigt sich körperlich in ständiger Benom-
menheit, Schwindelgefühlen und Ohnmachtsneigung.
Die vagotone Befindlichkeit drückt entweder eine starke Hilflosigkeit und Hand-
lungsunfähigkeit als Folge einer Schreckbereitschaft bzw. Schockreaktion aus oder eine
Erschöpfung nach übermäßiger Anspannung.
Der „Schrecktyp“ wird vor allem gefördert durch eine Lebensgeschichte, in der
Ohnmachtserleben und Hilflosigkeitsgefühle dominieren, wo von der eigenen Aktivität
keine Problemlösung erwartet wird, sodass man sich den Umweltbedingungen wehrlos
ausgeliefert fühlt.
Diese Reaktionsbereitschaft wurde bei vielen Frauen durch das traditionelle weibli-
che Rollenklischee wesentlich verstärkt. Eine Frau, die ständig zu Hilflosigkeitsreaktio-
nen neigt, wird auch durch einen Mann verstärkt, der ihre Hilflosigkeit und Abhängig-
keit als besonders weiblich schätzt bzw. von seiner Persönlichkeit her eine derartige
Frau wünscht.
Vagotoniker neigen im Krankheitsfall zu erniedrigtem Blutdruck mit zahlreichen
Folgesymptomen (z.B. Kollapsneigung), Magen-Darm-Beschwerden (chronischer Ver-
stopfung, Gastritis, Magenentzündungen, Magengeschwüren, Zwölffingerdarmge-
schwüren), Blasenerkrankungen, Bronchialasthma, asthenisch-depressiven Zuständen.
Die Unterscheidung zwischen Sympathikotonikern (Kampf-Flucht-Typen) und Va-
gotonikern (Schrecktypen) erlaubt bereits unabhängig von konkreten Situationen die
Vorhersage der körperlichen Reaktionsweise bestimmter Menschen in Angstsituationen:
z Sympathikotoniker klagen wegen der starken psychovegetativen Kampf- oder
Fluchtbereitschaft eher über Herzrasen, Druck auf der Brust, starke muskuläre Ver-
spannungszustände und Atemprobleme (Hyperventilation).
z Vagotoniker klagen eher über Schwindel, „weiche Knie“, Übelkeit, Durchfallsnei-
gung, Blasendruck, kalte Hände und Füße, verbunden mit der Angst umzufallen und
ohnmächtig zu werden.

Das biologische Reaktionsspektrum bei Furcht und Bedrohung


Angst- und Furchtreaktionen werden durch zwei primäre Emotionssysteme ausgelöst:
1. Kampf-Flucht-System (Steuerung durch die Amygdala), das defensive Aggression
und unkonditionierte sowie konditionierte Flucht auslöst (bei Aggression und Angst
bestehen ähnliche physiologische Reaktionen: maximale körperliche und zentralner-
vöse Aktivierung);
2. Verhaltenshemmsystem, das passive Vermeidung oder Löschung bewirkt (Tranquili-
zer und Alkohol hemmen selektiv dieses System, was Angstminderung bedeutet).
238 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Menschen und Tiere zeigen in Furchtsituationen vier Reaktionsmuster, die je nach situa-
tiver Notwendigkeit, individueller Reaktionsfähigkeit, Struktur des Organsystems,
Temperament und individueller Lerngeschichte variieren [47]: Flucht, Immobilität und
Bewegungsstarre, Abwehr durch Aggression, Beschwichtigung durch Unterordnung.
Das Fluchtverhalten ist charakterisiert durch eine schnelle motorische Reaktion.
Bereits bei der Vorstellung von Gefahr erfolgt eine massive Aktivierung des sympathi-
schen Nervensystems (Anstieg des Herzzeitminutenvolumens, des arteriellen Blut-
drucks, der Muskeldurchblutung u.a.), um der Muskulatur den benötigten erhöhten
Energiestoff-wechsel gewährleisten und auf diese Weise die Fluchtreaktion vorbereiten
zu können. Das Muster einer starken Fluchttendenz findet sich z.B. bei Tierphobikern
bei der Konfrontation mit den gefürchteten Tieren (oft schon vor dem Anblick des Tie-
res). Die massive Furchtreaktion äußert sich in einer panikähnlichen Symptomatik.
Immobilität, Bewegungsstarre oder „Einfrieren der Bewegung“ sind der Fluchtreak-
tion entgegengesetzte Reaktionsmöglichkeiten, die in zwei Formen auftreten können:
z Aufmerksame Immobilität. Der Organismus entwickelt eine Überaufmerksamkeit
(Hypervigilanz) und eine Überreaktion auf exterozeptive Reize (z.B. Berührung).
z Tonische Bewegungslosigkeit. Der Organismus ist steif vor Angst und reagiert selbst
bei intensiver und schmerzhafter Stimulation nicht mehr.

Die Immobilitätsreaktion besteht in einer vagotonen Aktivierung, d.h. in einer Steuerung


durch das parasympathische Nervensystem (Pupillenerweiterung, Abfall der Körper-
temperatur, anfängliche Beschleunigung mit anschließendem dramatischem Abfall der
Pulsfrequenz). Die biologische Sinnhaftigkeit der tonischen Immobilität („Totstellre-
flex“) besteht in einer Sicherung des Überlebens, wenn Flucht oder Kampf aus offen-
sichtlicher Unterlegenheit nicht möglich oder sinnvoll erscheint. Viele Raubtiere greifen
ihre Beute nur bei Bewegung an und reagieren nicht auf bewegungslose Tiere.
Blut- und Injektionsphobiker zeigen eine vagotone Reaktionsbereitschaft, wenn sie
medizinischen Eingriffen nicht ausweichen können oder dem Anblick von Blut ausge-
setzt sind. Es tritt ein zweiphasiges kardiovaskuläres Reaktionsmuster auf: Nach an-
fänglichem Anstieg von Blutdruck und Herzrate erfolgt ein starker Blutdruckabfall bis
hin zur vagovasalen Ohnmacht [48]. Die Anspannung der großen Skelettmuskulatur für
etwa 15-20 Sekunden bewirkt eine Blutdrucksteigerung und verhindert eine Ohnmacht.
Aggressive Verhaltensweisen im Sinne einer Furchtabwehr durch Aggression kom-
men zum Ausdruck als Drohgebärden in Form bestimmter Körperhaltungen sowie (ins-
besondere bei Primaten) als drohendes Fixieren des Gegenüber in Form heruntergezo-
gener Augenbrauen, geschlossenem Mund und zusammengepressten Lippen. Bei einer
Aggression als Abwehr von Bedrohung werden alle verfügbaren Mittel eingesetzt.
Beschwichtigung oder Unterordnung als Variante des Umgangs mit Bedrohung wird
besonders bei Bedrohung durch die eigenen Artgenossen gezeigt. Hier werden Gesten
der Unterlegenheit und Unterordnung eingesetzt, um dem stärkeren Tier die Anerken-
nung seiner Überlegenheit zu signalisieren. Diese untertänige Reaktionsweise ist bei
vielen Tieren (z.B. Wölfen, Hunden, Primaten) zu beobachten. Menschen mit sozialer
Phobie erleben Blickkontakt als recht bedrohlich und signalisieren unbewusst durch ihr
ständiges Wegschauen ihre Unterlegenheit. Sie harren (ähnlich wie Agoraphobiker) in
sozialen Situationen bei einem generell erhöhten tonischen Erregungsniveau aus.
Nach neueren Befunden wird bei einer Panikattacke die Hypothalamus-
Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse nicht aktiviert, sondern möglicherweise sogar
gehemmt durch ANH (atriales natriuretisches Hormon).
Angst als biologisches Geschehen 239

Das allgemeine Anpassungssyndrom


Bei körperlichem und seelischem Stress kommt es zum Ablauf folgender vegetativer
Reaktionsphasen, die von Selye [49], dem Begründer der Stressforschung, als „allge-
meines Anpassungssyndrom“ (AAS) des Körpers an den Stressor beschrieben wurden:
1. Alarmreaktion bei akutem Stress (durch eine Adrenalinausschüttung),
2. Widerstandsstadium bei chronischem Stress,
3. Erschöpfungsstadium bei unzureichender Stressbewältigung.

Alarmreaktion
Jede akute körperliche oder seelische Belastung bewirkt eine kurzfristige maximale
Aktivierung des vegetativen Nervensystems („Alarmreaktion“). Bei akuter Angst wird
extrem schnell das limbische System (namentlich die Amygdala) aktiviert, das über eine
Katecholaminausschüttung eine massive körperliche Aktivierung bewirkt. Bei der
Alarmreaktion werden zwei Phasen unterschieden, die für das Verständnis von Angst-
und Panikreaktionen sehr wichtig sind: Schockphase und Kampf- oder Fluchtphase.

Schockphase
Bei akuter Bedrohung erfolgt zuerst eine kurze Schockphase. Umgangssprachlich nennt
man diesen Zustand „Schrecksekunde“. Das vegetative Nervensystem schaltet kurz auf
die vagotone Spannungslage um, also auf totale Entspannung. Die massive, parasym-
pathische Aktivität bewirkt einen Stillhaltereflex, d.h. eine kurzfristige Reaktionsunfä-
higkeit, die dem Atemholen, Kräftesammeln und Abschätzen der Gefahr dient.
Eine längere Schockphase ist gekennzeichnet durch arteriellen Unterdruck, Tempe-
raturabsenkung, Unterzuckerung des Blutes, verminderte Harnabsonderung, Abnahme
des Chloridgehaltes des Blutes, des Natrium- und des Kaliumgehalts und Vermehrung
der Lymphozyten im Blut. Es kommt zu einem völligen Leistungsabfall.
Ein schwerer psychischer Schock führt zum Absacken von Herztätigkeit und Blut-
druck und damit zum Kreislaufabfall bzw. zum Kreislaufversagen. Der dadurch entste-
hende Sauerstoffmangel bewirkt eine Ohnmacht. Viele Angstpatienten haben das Ge-
fühl der Ohnmacht, werden aber nicht ohnmächtig, weil bei Angst der Blutdruck steigt.
Ein leichterer Schock (Schreckreaktion, „Schrecksekunde“), wie dieser in der Regel
bei akuter Angst und Bedrohung auftritt, zeigt sich in parasympathisch gesteuerten
Reaktionen, z.B. Kreislaufschwäche, Schwindel, Ohnmachtsangst, Atemnot, Zuschnü-
ren der Kehle, Übelkeitsgefühlen, Harn- oder Stuhldrang, Durchfall, Magenkrämpfen,
Muskelschwäche („weichen Knien“), Erröten, Tränenausscheidung, Weinkrämpfen.
Die Schockphase („Freeze“) ist (bzw. war in der Evolution) durchaus sinnvoll:
z Reduzierte Angriffslust eines Feindes durch die Bewegungslosigkeit im Schock,
z Schutz vor Entdecktwerden durch Regungslosigkeit anstelle geräuschvoller Flucht,
z Sicherung des Überlebens bei massiven körperlichen Schäden durch Vorbeugung
gegenüber Verblutung (Blutdruckabfall, Hautgefäßverengung, Blutverdickung),
z Konzentration aller Sinne auf das umfassende Erkennen der Gefahr,
z kurzfristige Sammlung von Energien als Vorbereitung auf die Angriffsphase.
240 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Bestimmte Menschen, die eher zu einer parasympathisch (vagoton) dominierten Span-


nungslage neigen, bleiben in der Schock-/Schreckreaktion stecken, d.h. es kommt nicht
bzw. nicht so rasch zur sympathisch dominierten Kampf- oder Fluchtphase im Sinne
einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Stressor. Die Betroffenen klagen daher in
Belastungs- bzw. Angstsituationen über anhaltende Zustände von Schwindel, Ohn-
machtsneigung, Atemnot, „weiche Knie“, Harn- oder Stuhldrang, Übelkeit, Magen-
krämpfe, Wechsel von Verstopfung und Durchfall („Reizdarm“).

Kampf- oder Fluchtphase


Nach der Schreckreaktion stellt sich der Körper in der Kampf- oder Fluchtphase auf
eine kurzfristige Höchstleistung ein. Man spricht von einer „Bereitstellungsreaktion“
oder einer „Notfallreaktion“, die den sofortigen maximalen Einsatz des ganzen Körpers
bewirkt und Kampf oder Flucht zum Ziel hat. Es erfolgt eine durch den Sympathikus
(mittels „Adrenalinschub“) gesteuerte Aktivierung des Herz- und Kreislaufsystems und
der Atmung, eine Anspannung der Skelettmuskulatur u.a. Gleichzeitig werden alle mo-
mentan nicht benötigten Körpervorgänge gehemmt (Appetit, Verdauung, sexuelle Reak-
tion, Immunabwehr u.a.), um kurzfristig alle Energien auf die Bewältigung der aktuel-
len Stresssituation konzentrieren zu können. Der Zeitablauf für diese Mobilmachung
beträgt ½-1½ Minuten. Gleichzeitig entwickeln sich anstelle der langsamen und
gleichmäßigen Hirnwellen, wie sie in Ruhe typisch sind, schnelle, unruhige und unre-
gelmäßige Hirnwellen als Zeichen der erhöhten Erregung und Aufmerksamkeit.
Die massive Aktivierung erfolgt durch zwei Arten von Stresshormonen:
1. Nebennierenmarkhormone (die Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin) bewir-
ken zuerst eine 3-4 Minuten dauernde massive Aktivierung des sympathischen Ner-
vensystems.
2. Nebennierenrindenhormone (die Glukokortikosteroide Kortisol und Kortison) er-
möglichen – zeitlich etwas verzögert und länger wirksam – die Bewältigung eines
länger andauernden Stresszustands.

Herz und Kreislauf arbeiten auf Hochtouren, die Blutgefäße der Haut verengen sich und
der Blutdruck steigt. Die Ankurbelung des Blutkreislaufs dient dem erhöhten Energie-
transport, um die Zellen des Körpers rasch und ausreichend mit Sauerstoff, Nährstoffen
und den steuernden Botenstoffen (Hormonen) versorgen zu können. Die Atmung wird
schneller und tiefer, um möglichst viel Sauerstoff als Verbrennungsenergie für den
Körper aufnehmen zu können. Die Skelettmuskulatur wird angespannt, um den Körper
auf Kampf oder Flucht vorzubereiten, sodass man sich „ständig auf dem Sprung“ fühlt.
Die im Körper in Form von Zucker- und Fettreserven gespeicherte Energie wird bereit-
gestellt und in den Blutkreislauf ausgeschüttet. Die erhöhte Energiezufuhr an die Ske-
lettmuskulatur wird durch eine Intensivierung der Durchblutung erreicht, indem die
Blutgefäße der Skelettmuskulatur erweitert werden. Angesichts von akuten Gefahren ist
auch eine maximale geistige Aufmerksamkeit gegeben, sodass man sich hellwach er-
lebt, bis hin zur unangenehmen Überwachheit (Hypervigilanz).
Wenn die Symptome der Kampf- oder Fluchtphase in Ruhe ohne ersichtlichen
Grund einer äußeren Bedrohung auftreten, spricht man von einer „Panikattacke“. Die
Betroffenen fühlen sich von den akut auftretenden Symptomen überrascht, mangels
plausibler Erklärbarkeit lebensgefährlich bedroht und fürchten diese zukünftig.
Angst als biologisches Geschehen 241

Alles, was im Moment nicht lebensnotwendig ist, wird in der Kampf-Flucht-Phase


ausgeschaltet. Zur Mobilisierung vorhandener Reserven wird für den kurzen Zeitraum
der Alarmreaktion alles gehemmt, was einem längerfristigen Energieaufbau dient:
z Hemmung des Appetits,
z Hemmung der Magen- und Darmtätigkeit,
z Hemmung der sexuellen Reaktionsfähigkeit,
z Hemmung der Immunabwehr des Körpers, d.h. die Widerstandskraft gegen Krank-
heitskeime (Infekte) nimmt ab, was auch auf Hochleistungssportler zutrifft.

Flucht- und Kampfbereitschaft werden hormonell unterschiedlich gesteuert:


z Beim Fluchtimpuls steht die Ausschüttung des Stresshormons Adrenalin im Vorder-
grund. Dieses bewirkt eine Verengung der Blutgefäße, eine Freisetzung von Blut-
zucker, eine Förderung der Blutgerinnung und eine starke geistige Aktivierung.
z Bei einer Kampfbereitschaft kommt es vorwiegend zur Produktion von Noradrena-
lin, das den Herzschlag und den Blutdruck erhöht sowie Blutfette freisetzt.

Nach einigen Minuten lässt die Alarmwirkung nach, es kommt zur Entspannung oder
(bei Andauer der körperlichen oder seelischen Belastung) zur Widerstandsphase (An-
passungsphase). Alpha2-adrenerge und beta-adrenerge Rezeptoren sowie andere neuro-
nale Systeme (insbesondere über GABA) bewirken im Sinne eines Feedbacksystems ein
Abklingen der Reaktion und ein neues Gleichgewicht.
Die Begriffe „Kampf“ und „Flucht“ sind bei vielen Stresssituationen nicht wörtlich
zu nehmen. „Kampf“ bezeichnet das Herangehen an die Angst oder Stress auslösende
Situation, den Versuch, das Problem aktiv zu lösen, „Flucht“ jede Art von Rückzug aus
den belastenden Situationen, auch Fluchtimpulse, nicht nur wirkliches Weglaufen.
Zum Verständnis, warum gerade die körperliche Leistung bei Stress im Vordergrund
steht, muss man bedenken, dass sich diese vegetative Reaktion in Millionen von Jahren
allmählich herausgebildet hat. Die meiste Zeit lebten die Menschen unter Bedingungen,
in denen körperliche Leistungsfähigkeit (Kraft, Schnelligkeit) die entscheidende Vor-
aussetzung dafür war, in Stresssituationen zu überleben. Unsere biologische Ausstattung
stammt aus einer früheren Phase der Evolution, wo Kampf oder Flucht die angemessen-
sten Reaktionsweisen waren, um mit Bedrohung fertig zu werden.
Derselbe körperliche Reaktionsmechanismus der Kampf- oder Fluchtphase läuft
auch dann ab, wenn Situationen nur als bedrohlich vorgestellt werden, d.h. der Körper
unterscheidet nicht zwischen realen und vorgestellten Gefahren. Körperliche Mobilisie-
rung bereits bei der Vorstellung von Gefahren ist notwendig, um bei tatsächlicher Ge-
fahr rasch reaktionsbereit zu sein. Der Organismus reagiert bei körperlichen und seeli-
schen Belastungssituationen in gleicher Weise mit einer Aktivierung des vegetativen
Nervensystems. Bei psychischem Stress ist die körperliche Mobilisierung meist zu
stark, weil keine entsprechende Aktivität (Kampf oder Flucht) erforderlich ist.
Die körperliche Aktivierung stellt eine Fehlsteuerung dar, wenn vorschnell und un-
berechtigt harmlose Situationen als gefährlich eingeschätzt werden. Es kommt zu einem
körperlichen Anspannungszustand, der mangels Bewegung bestehen bleibt, sowie zum
Aufbau von Energie und zur Beschleunigung von Stoffwechselvorgängen, was gar nicht
erforderlich ist. Eine mehrstündige Kampf-Flucht-Symptomatik ist völlig ungefährlich.
Die Betroffenen müssen lernen, ihre Vorstellungen von Gefahr einerseits ohne Un-
terdrückungs- und Vermeidungsversuche zuzulassen und andererseits als „nur“ Gedan-
ken und Vorstellungen zu identifizieren, um eine Kampf-Flucht-Reaktion zu vermeiden.
242 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Widerstandsphase (Anpassungsstadium)
Als Widerstandsphase bezeichnet man die Zeit, in der die Aktivierung des Körpers an-
dauert. Diese Zeitspanne hängt davon ab, wie lange die belastende Situation weiter
besteht bzw. wie lange der Körper in der Lage ist, die übermäßige Anspannung aufrecht
zu erhalten. Um die vom Sympathikus gesteuerte Mobilmachung des Körpers zu brem-
sen, setzt einige Minuten nach Beginn des Alarmstadiums eine Gegenregulation über
das parasympathische Nervensystem ein. Dadurch soll der Körper wieder in das
Gleichgewicht gebracht werden.
In dieser Phase der Stressreaktion kann es zur übersteigerten Aktivierung von Ma-
gen- und Darmtätigkeit kommen, verbunden mit Gefühlen von Übelkeit, Erbrechen,
Harn- und Stuhldrang.
Im Widerstandsstadium passt sich der Körper bei Bedarf an einen länger dauernden
bzw. chronischen Stressor durch Mobilisierung anderer Abwehrkräfte an:
z Nebennierenrindenhormone: die Zuckerstoffwechselhormone (Glukokortikoste-
roide) Kortisol und Kortison dienen der Zuckerherstellung.
z Schilddrüsenhormone: Tri- und Tetrajodthyronin (Thyroxin) beschleunigen die
Stoffwechselprozesse.

Es kommt (nach 4 Stunden) zur vollen Wirksamkeit der Nebennierenrindenhormone,


insbesondere des Glukokortikosteroids Kortisol (Hydrokortison), das Aufbau und Preis-
gabe neuer Energien ermöglicht. Dies geschieht durch Zuckerherstellung aus Eiweiß
sowie durch verstärkte Magensaftproduktion (Verdauungsförderung).
Gleichzeitig werden die Katecholamineffekte verstärkt (Herzleistung-erhöhende Ad-
renalinwirkung, allgemein gefäßverengende Noradrenalinwirkung).
Unkontrollierbarer Stress führt zu einem lang anhaltenden erhöhten Glukokorti-
koidspiegel. Anhaltender, unbewältigbarer Stress bewirkt eine „erlernte Hilflosigkeit“,
die das Tiermodell für Stresserkrankungen darstellt.
Die Entdeckung von Glukokortikoidrezeptoren im Gehirn weist darauf hin, dass die
Stressreaktion nicht nur vom Gehirn ausgeht, sondern auch darauf zurückwirkt und
degenerative sowie regenerative Folgezustände auslöst. Bei Dauerstress erfolgen eine
Degeneration noradrenerger Axone und eine Verringerung der noradrenergen Innervati-
onsdichte im Kortex.
Neben der Ausschüttung von Glukokortikosteroiden kommt es bei längerer Bela-
stung auch zur vermehrten Freisetzung von Schilddrüsenhormonen, die eine Steigerung
der Sauerstoffaufnahme der Zellen und damit eine Beschleunigung der Stoffwechsel-
vorgänge bewirken. Insbesondere T3 (Trijodthyronin), das bereits nach Stunden seine
Maximalwirkung erreicht, bewirkt eine gesteigerte Verbrennung von Kohlehydraten
(Zucker und Stärke), Eiweiß und Fetten, eine Steigerung des Grundumsatzes, eine Er-
höhung des Zuckerabbaus bis zur Erschöpfung der Reserven und damit einen Anstieg
des Blutzuckers, eine Entleerung der Fettdepots und einen Mangel an Eiweiß. Die anfal-
lende Verbrennungswärme wird durch Schwitzen und erhöhte Durchblutung der Haut-
gefäße an die Umwelt abgegeben.
Als gefährlicher Nebeneffekt der Konzentration aller Energien auf die Bewältigung
eines Dauerstresses zeigt sich eine erhöhte Anfälligkeit des Körpers für Krankheiten, da
der Körper hierfür nur unzureichende Abwehrreserven zur Verfügung hat.
Angst als biologisches Geschehen 243

Erschöpfungsphase
Nach der Bewältigung des Stresszustandes in der Widerstandsphase erfolgt eine Um-
schaltung in die parasympathische (vagotone) Spannungslage, die der Erholung dient.
Bei unzureichender Stressbewältigung arbeitet das sympathische Nervensystem weiter,
während gleichzeitig das parasympathische Nervensystem aktiviert wird. Es kommt
dadurch zu einer Störung in den normalerweise gut koordinierten vegetativen Abläufen,
zu einem Nebeneinander von Anspannung und Schwäche. Erst nach einer Weile haben
sich die einzelnen Körperfunktionen wieder so eingespielt, dass man wirklich abschal-
ten und sich erholen kann.
Diese Störungen werden bei einmaligen oder seltenen Stresssituationen verhältnis-
mäßig leicht überwunden. Gelingt dies wegen des anhaltenden physischen oder psychi-
schen Stresszustandes nicht, bleibt das Missverhältnis zwischen Aktivität und Entspan-
nung auf Dauer bestehen, was sich entweder mehr im Sinne einer übermäßigen An-
spannung (sympathikotone Richtung) oder in einem Schwächezustand (vagotone Rich-
tung) äußert.
Die Überforderung der einzelnen Organfunktionen bewirkt Befindensstörungen:
z funktionelle Störungen (Funktionsstörungen ohne Gewebeveränderungen, nach dem
ICD-10 zu klassifizieren unter F45 „somatoforme Störungen“);
z psychosomatische Krankheiten (Organstörungen mit Gewebeveränderungen, nach
dem ICD-10 zu klassifizieren unter F54 „Psychologische Faktoren und Verhaltens-
faktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten“).

Psychische Überlagerungen können bei vielen organischen Krankheiten auftreten, so-


dass man gar nicht von einigen typischen psychosomatischen Krankheiten (z.B. Blut-
hochdruck, Asthma, Magen-, Darm-, Zwölffingerdarmgeschwür) sprechen kann.
Andererseits können primär körperliche Faktoren die psychische Befindlichkeit be-
einträchtigen. Therapeutisch bedeutet die Wechselwirkung von körperlichen und gei-
stig-seelischen Vorgängen, dass zur Gesundung bei schweren Störungen auf beiden
Ebenen angesetzt werden muss.
Chronische Stress- und Angstzustände beeinträchtigen die Heilungschancen bei vie-
len Krankheiten (z.B. bei Krebs, Infektionskrankheiten). Bei ständiger Überlastung ist
die Immunabwehr so geschwächt, dass selbst ein Schnupfen übermäßig lange anhält.
Eine allgemeine Erschöpfung wird heute auch „chronisches Erschöpfungssyndrom“
genannt. Das äußere Bild der Erschöpfung kann sehr unterschiedlich ausschauen, z.B.
z Bluthochdruck, erhöhter Blutfettspiegel, fraglicher Herzinfarkt,
z „Nervenzusammenbruch“, niedriger Blutdruck, Magenschleimhautentzündung,
z chronische Kopfschmerzen, anfallsweises Herzrasen, ständige Müdigkeit.

Es gibt einige Störungen, die bei fast allen Erschöpfungszuständen auftreten: Schlafstö-
rungen, Einschränkung der Konzentrations- und Leistungsfähigkeit, Nervosität. Die
Überforderung und Erschöpfung zeigt sich immer an dem Organ oder Organsystem, das
am wenigsten belastbar ist.
Die organische Schwäche kann anlagemäßig vorhanden sein oder nur im Moment
bestehen. Jemand mit einer erblichen Veranlagung zu erhöhter Magensäureproduktion
wird bei dauerndem Stress wahrscheinlich am ehesten an einer Magenschleimhautent-
zündung oder sogar an einem Magengeschwür erkranken. Wer sich wenig bewegt, wird
bei Belastungen vielleicht mit Rückenschmerzen reagieren.
244 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Das „schwächste Glied in der Kette“, das Organ, an dem sich die Erschöpfungs-
und Krankheitszeichen zuerst zeigen, kann auch durch bestimmte Risikoverhaltenswei-
sen vorgeschädigt sein. Nikotin-, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch können die
Grundlage für eine Magenschleimhautentzündung sein, das Rauchen kann die Grundla-
ge für eine chronische Bronchitis oder Kreislaufstörung darstellen und eine falsche
Ernährung kann die Ursache für Stoffwechselstörungen sein.

Körperliche Reaktionsabläufe bei Panikattacken


Angst, Aufregung und Stress bewirken bestimmte biologisch sinnvolle vegetative Reak-
tionen, im negativen Fall bestimmte belastende Fehlregulierungen. Jede unnötige Adre-
nalinausschüttung führt zu psychovegetativen Beschwerden.
Alles, was zu einem drastischen Anstieg des Adrenalinspiegels im Blut führt, kann
eine Panikattacke auslösen. Die Alarmierung des Körpers kann dabei durch körperliche
und/oder seelische Stressoren bewirkt werden.
Panikattacken treten oft erst nach einer starken körperlichen oder seelischen Bela-
stung auf. War der Adrenalinspiegel aufgrund von starkem Stress über einen längeren
Zeitraum erhöht, sinkt er mit nachlassender Belastung nicht sofort auf das Normalmaß
zurück, sondern wird oft über eine Panikattacke abgebaut. Dies erklärt das häufige Auf-
treten von Panikattacken in Phasen beginnender Ruhe, d.h. wenn man sich gerade nie-
dergesetzt oder in das Bett gelegt hat. Eine derartige Symptomatik ist mit einer Wo-
chenendmigräne vergleichbar.
Der Umstand, dass man die ungewohnten körperlichen Reaktionen in einem Ruhe-
zustand nicht zu erklären vermag, und die einsetzende ängstliche Beobachtung des
Körpers, die einem mangels anderer Tätigkeiten möglich ist, führen zu Beunruhigung
und Angst und damit zu einer Verstärkung der körperlichen Symptome.
Panikattacken können sogar im Schlaf auftreten, und zwar dann, wenn die chroni-
sche Verspannung erst im Schlaf nachlässt.

Symptome der Schockreaktion


Die anfänglichen Schock- und Schrecksymptome bei einer Panikattacke werden durch
das parasympathische Nervensystem erzeugt [50]:
1. Kreislaufschwäche, Schwindel und Ohnmachtsneigung entstehen durch den Blut-
druckabfall infolge der verringerten Herztätigkeit und/oder der Erweiterung der
Blutgefäße der Haut. Der Blutdruckabfall bewirkt Schwindel als Zeichen einer Un-
terversorgung des Gehirns mit Sauerstoff („Mir ist so schwindlig“, „Ich werde
gleich ohnmächtig“, „Gleich liege ich hilflos oder bewusstlos auf dem Boden, und
die anderen holen die Rettung“).
2. Atemnot ist bedingt durch die Verengung der Luftröhre, die Verkrampfung der
Bronchiolen (kleine Luftröhrenverästelungen in der Lunge) und/oder das Zuschnü-
ren der Kehle (Kloßgefühl im Hals), das auf einem Zusammenziehen der obersten
Speiseröhrenmuskulatur beruht. In der Schrecksekunde hält man die Luft an („Mir
verschlägt es den Atem“, „Mir schnürt es die Kehle zu“, „Ich ersticke“).
3. Übelkeit oder Brechreiz wird bewirkt durch die Verkrampfung der Magenmuskula-
tur („Mir ist speiübel“, „Gleich muss ich erbrechen“).
Angst als biologisches Geschehen 245

4. Harn- oder Stuhldrang ergeben sich aus der Aktivierung der Ausscheidungsorgane.
Durchfall entsteht aus der übermäßigen Verkrampfung des Dickdarms („Gleich ma-
che ich in die Hose“, „Ich muss sofort aufs Klo“, „Ich muss schon wieder auf die
Toilette, obwohl ich erst vorhin war“).
5. Weinen stellt eine spezifisch menschliche Form einer Schreckreaktion dar und hat in
diesem Fall nichts zu tun mit Traurigkeit.
6. „Weiche Knie“ beruhen auf der Erschlaffung der Skelettmuskulatur. Der Abfall des
Muskeltonus führt oft zur Angst, bald umzufallen („Meine Knie werden ganz
weich“, „Gleich sinke ich zu Boden“, „Ich muss mich jetzt unbedingt irgendwo an-
halten, sonst falle ich um“).
7. Blockierung des Denkens. Dies wird oft als Konzentrationsstörung sowie als Angst,
verrückt zu werden, erlebt („Ich kann nicht klar denken“, „Jetzt drehe ich durch“,
„Gleich werde ich wahnsinnig und muss in die Psychiatrie“). Eine spätere, sympa-
thisch gesteuerte Hyperventilation mit der Folge einer Sauerstoffnot im Gehirn, das
Gefühl des Kontrollverlusts sowie das Erleben einer Depersonalisation (Gefühl eines
gestörten Selbsterlebens) verstärken die Angst, verrückt zu werden.

Symptome der körperlichen Aktivierung


Die Symptome der Überaktivierung werden durch das sympathische Nervensystem
mittels einer Adrenalinausschüttung erzeugt:
1. Herzklopfen, Herzrasen und Herzstolpern wird bewirkt durch die plötzliche Be-
schleunigung des Herzschlags und die Erhöhung der Pumpleistung des Herzens.
Sauerstoff und Nährstoffe, besonders Zucker, sollen rasch zu den Skelettmuskeln
transportiert werden, um den Körper auf Kampf oder Flucht vorzubereiten. Das Blut
wird dazu bis zu 5-mal schneller durch den Körper gepumpt, um es besonders stark
mit Sauerstoff und Zucker anzureichern. Ein Adrenalinstoß kann die Herzfrequenz
von einem Schlag zum nächsten verdoppeln („Mein Herz schlägt bis zum Hals“,
„Gleich bekomme ich einen Herzinfarkt“).
2. Pulsierende Kopfschmerzen, Ohrensausen, Flimmern vor den Augen oder Kribbeln
in Armen und Beinen entstehen durch die Steigerung des Blutdrucks als Folge der
erhöhten Herztätigkeit und der Verengung der kleinen arteriellen Blutgefäße der
Haut ( „Meine Ohren dröhnen“, „Meine Hände sind so kalt und feucht“, „In meinen
Händen und Beinen ist so ein komisches Kribbeln“, „Alles verschwimmt“).
3. Atembeklemmung und Druck auf der Brust durch Hyperventilation. Bei Stress muss
schneller geatmet werden, um das Abfallprodukt Kohlendioxid vermehrt abzugeben
und Sauerstoff aufzunehmen. Bei grundloser Angst wird der vom Körper vermehrt
aufgenommene Sauerstoff mangels Bewegung nicht verbraucht (man muss ja nicht
wirklich davonlaufen). Durch die übermäßige Atmung mit dem Mund wird zu viel
Luft eingeatmet, sodass es zur Überdehnung der Lunge kommt. Dies führt zu einem
unangenehmen Druckgefühl im Brustkorb, das oft als Erstickungsgefühl oder Herz-
schmerzen erlebt wird, sodass noch schneller und flacher geatmet wird. Die Ausat-
mung wird dabei vermindert. Das Blut wird alkalisch, die Blutgefäße verengen sich
und bewirken eine mangelnde Durchblutung (auch im Kopf).
4. Mundtrockenheit entsteht durch die übermäßige Atmung mit dem Mund und die
Speichelreduktion in Zusammenhang mit der Blockierung der Verdauungsfunktio-
nen („Mein Mund ist so trocken, ich muss etwas trinken“).
246 Erklärungsmodelle für Angststörungen

5. Die muskuläre Verspannung des ganzen Körpers bis hin zum Zittern und Beben
ergibt sich durch die Anspannung der Muskulatur, was gerade bei ausbleibender
Bewegung als sehr unangenehm und schmerzhaft erlebt wird. Der Körper wird für
eine Bewegung aktiviert, die nicht erfolgt, sodass keine Abreaktion der Anspannung
stattfindet. Die Verspannung der Beinmuskulatur führt zu einem unsicheren Stand,
sodass nunmehr aus diesem Grund das Gefühl, bald umzufallen, gegeben sein kann
(„Ich bin so wackelig auf den Beinen“, „Meine Knie zittern“, „Mein ganzer Körper
bebt“, „Meine Hände sind so zittrig“).
6. Hitzegefühle entwickeln sich durch den erhöhten Energieverbrauch. Als Folge davon
setzt anschließend Schwitzen als Mittel der Kühlung des überhitzten Körpers durch
Wasserverdunstung ein („Mir wird so heiß“, „Ich schwitze ständig“).
7. Geistige Überaktivierung (erhöhte Wachsamkeit), um die Aufmerksamkeit und
Reaktionsfähigkeit angesichts möglicher Gefahren zu steigern, resultiert aus der
adrenalinbedingten Stimulierung bestimmter Hirnregionen. Bei Fehlen echter Ge-
fahren wird dies als unangenehme Übersensibilität erlebt („Ich bin so aufgedreht“,
„Ich fühle mich ganz überdreht“, „Ich kann nicht abschalten“).

Nach der Sympathikusüberaktivierung erfolgen parasympathische Reaktionen:


z Schwitzen als Wasserverdunstung zur Kühlung des überhitzten Körpers,
z Magen- und Darmaktivität (Übelkeit, Brechreiz, Harndrang, Durchfallsneigung),
z allgemeine Erschlaffung („weiche Knie“ nach der Anspannung sind Ausdruck der
Erschöpfung).

Wenn die Panikattacke aus verschiedenen Gründen (anhaltende Todes- oder Verlust-
ängste, massive Erregung durch Wut und Aggressionen, fehlende Bewegung aus Angst
umzufallen) nicht abklingt, kommt es zu einem länger dauernden Nebeneinander von
sympathisch und parasympathisch bewirkten Körperreaktionen mit einem anschließen-
den Erschöpfungsgefühl.

Der Körper bei Angstzuständen – Wissenswerte Details


Viele Menschen mit Panikstörung und Agoraphobie haben nach Ausschluss organischer
Ursachen ein erhöhtes Erklärungsbedürfnis für ihre Störung. Sie bleiben aus verständli-
chen Gründen weiterhin organisch fixiert, obwohl sie laut Ärzten „nichts Organisches“
haben. Für Betroffene, denen die bisherigen Erläuterungen über die Körper-Seele-
Zusammenhänge noch immer nicht ausreichend und konkret genug erscheinen, sowie
für nichtärztliche Psychotherapeuten mit Interesse an medizinischen Informationen sind
die folgenden Ausführungen gedacht, die mit Hilfe der entsprechenden Fach- und Popu-
lärliteratur erstellt wurden [51]. Umfangreiches Wissen macht es möglich, dass Angst-
patienten die ärztlichen Erläuterungen, die im Rahmen einer Kassenpraxis mit dem
damit verbundenen Zeitdruck oft nur knapp ausfallen, besser verstehen und eventuell
spezifischere Fragen an den behandelnden Arzt richten können. Allgemein verständli-
che medizinische Informationen tragen auch dazu bei, die so häufigen krankheitsängst-
lichen Fehlinterpretationen an sich harmloser Symptome zu vermindern.
Die Erfahrung zeigt: Für verschiedene krankheitsphobische Angstpatienten, die
medizinische Informationen aus Angst vor Beunruhigung vermeiden, stellt der folgende
Text auch eine Art Konfrontationstherapie dar.
Angst als biologisches Geschehen 247

Herz und Kreislauf


Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Be-
schleunigung des Herzschlags, eine Erhöhung der Pumpleistung des Herzens und eine
Erweiterung der Herzkranzgefäße, infolgedessen eine Blutkreislaufsteigerung. Subjek-
tiv wird dies erlebt als starkes Herzklopfen, Herzrasen oder Herzstolpern, Stechen,
Schmerzen oder Engegefühl in der Brust.
Jede körperliche oder seelische Belastung erhöht die Aktivität des Herzens. Ein
angstbedingter Adrenalinstoß kann die Herzfrequenz von einem Schlag zum nächsten
verdoppeln. Die vermehrte Durchblutung bewirkt eine verstärkte Versorgung aller Kör-
perzellen mit Nährstoffen und mit Sauerstoff als der Verbrennungsenergie sowie den
anschließenden raschen Abtransport der Stoffwechselprodukte aus dem Gewebe. Bei
Angst werden die fünf Liter Blut bis zu fünfmal pro Minute durch den Körper gepumpt,
um ihn stark mit Sauerstoff und Zucker anzureichern (im Ruhezustand nur einmal pro
Minute). Bei physischer und psychischer Belastung werden die Skelettmuskeln, die für
Kampf- und Fluchtverhalten benötigt werden, gut versorgt, andere Organe dagegen
weniger durchblutet. Anders formuliert: Wenn die Muskeln durch Bewegung mehr
Sauerstoff fordern, arbeitet das Herz stärker, um mehr Blut in Umlauf zu bringen.
Angst, Aufregung und Stress führen manchmal zu Herzrhythmusstörungen (Herz-
stolpern, Extraschläge, Herzschläge „außer der Reihe“, Extrasystolen). Extrasystolen
entstehen bei raschem Umschalten auf Beschleunigung oder Verlangsamung der Herz-
schläge. Nach raschen Herzschlägen macht das Herz anschließend eine von vielen Men-
schen als beängstigend erlebte kurze Pause, um den Rhythmus wiederherzustellen. Dies
ist eine völlig normale, ungefährliche Reaktion. Die Herzaussetzer sind ein Zeichen der
körperlichen Beruhigung nach einer größeren Belastung. Ein Ausschluss organischer
Ursachen ist aber dennoch erforderlich. Übermäßiges Rauchen bzw. Kaffeetrinken kann
ebenfalls (neben der Pulsbeschleunigung) Herzrhythmusstörungen bewirken.
Angst, Aufregung und Stress kann zu einer nervös bedingten Verkrampfung der
Herzkranzgefäße führen („spastische Angina Pectoris“ infolge spastischer Verengung)
und damit zu einer verminderten Durchblutung und unzureichenden Sauerstoffzufuhr
zum Herzen, oft verbunden mit ausstrahlenden Schmerzen vorwiegend in den linken
Arm und Herzinfarktängsten. Es treten ähnlich massive und beängstigende Schmerzen
auf wie bei Angina Pectoris (wörtlich „Brustenge“). Im Gegensatz zu Angina Pectoris
sind diese jedoch vorübergehend, weil sie rein „nervös“ bedingt sind.
Die Schmerzen lassen sich durch Ruhe oft nicht lindern, auch nicht durch Medika-
mente wie Nitroglyzerin, sondern sind intensiv und dauern lange an. Die Schmerzen
können einige Stunden bis Tage anhalten, während ein Angina-Pectoris-Anfall nur 2-20
Minuten dauert. Die Schmerzzustände treten am Tag oder in der Nacht auf, d.h. oft auch
während des Schlafs. Auslöser können neben Stressfaktoren auch Koffein, bestimmte
Substanzen im Zigarettenrauch und Kälte sein. Häufig entstehen daraus Panikattacken.
Hilfen sind: den linken Arm langsam immer tiefer in warmes Wasser tauchen, was
entspannend wirkt und die Herzdurchblutung fördert; die Formel „Linker Arm ganz
warm“ aus dem autogenen Training, verbunden mit der Vorstellung des Armes in war-
mem Wasser; eine verlängerte Ausatmung zur Beruhigung des Herzens.
Die Beschwerden bei einer Angina Pectoris beruhen auf einer Verengung der Herz-
kranzgefäße durch Ablagerungen in den Gefäßen, sodass zu wenig Blut hindurchfließen
kann. Bei körperlicher Belastung braucht das Herz mehr Blut, d.h. mehr Sauerstoff und
Nährstoffe, als durch die verstopften Herzkranzgefäße zugeführt werden kann.
248 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Als Folge davon kommt es zu heftigen Brustschmerzen: plötzliche, meist anfallswei-


se auftretende Schmerzen hinter dem Brustbein, die typischerweise in den linken Arm
ausstrahlen, manchmal auch auf die obere Brust, die Schultern, den Hals, den Unterkie-
fer und den Oberbauch, oft erlebt als Druck auf der Brust, als beklemmendes, schmer-
zendes, brennendes Gefühl, als Engegefühl in der Brust, wie wenn ein Reifen um die
Brust gelegt würde. Bei schweren Anfällen treten oft Kollapszustände auf, verbunden
mit Übelkeit, Schwitzen und Angstgefühlen.
Bei der Prinzmetall-Angina, einer Sonderform der Angina Pectoris, treten Schmer-
zen in Ruhe bei ansonsten guter Belastbarkeit auf. Die Symptomatik ist charakterisiert
durch eine starke ST-Hebung im Anfall, die sich nach 1-2 Stunden normalisiert, und
durch Kammerarhythmien ohne zusätzliche enzymatische Auffälligkeiten.
Bei einem Herzinfarkt besteht das Hauptsymptom in einem intensiven Schmerz, der
sich im Zentrum des Brustraums ausbreitet. Der veränderte Herzrhythmus, der bei Pa-
nikattacken so beunruhigend ist, wird dagegen als zweitrangig erlebt. Bei Bewegung
werden der Schmerz und der Druck ärger, bei Ruhigstellung geringer, bei Panikattacken
verschwinden die Symptome durch Bewegung rasch und nehmen in Ruhe eher zu.
Während ein kürzerer und weniger ausgeprägter Sauerstoffmangel durch Verengung
der Herzkranzgefäße eine Angina Pectoris bewirkt, kommt es bei einem längeren und
vollständigen Sauerstoffmangel durch Gefäßverschluss zu einem Herzinfarkt. Wenn das
Herz einige Sekunden lang überhaupt keinen Sauerstoff mehr erhält, stirbt der betroffe-
ne Teil des Herzmuskels ab. In bestimmten Fällen kann eine durch arteriosklerotische
Ablagerungen bedingte Angina Pectoris zu einem Herzinfarkt führen. Ist ein großes
Blutgefäß und damit ein großer Herzbereich vom Infarkt betroffen, kommt es zum so-
fortigen Tod, sind nur kleine Bereiche betroffen, bleibt der Infarkt fast unbemerkt
(„stummer Infarkt“, mit kurzen Brustschmerzen).
Typische Herzinfarktsymptome sind: heftige Schmerzen hinter dem Brustbein, oft
ausstrahlend in den linken Arm, Übelkeit, kalter Schweiß und niedriger Puls.
In den hoch industrialisierten Staaten zählen Brustschmerzsymptome zu den häufig-
sten Beschwerden. Laut einer repräsentativen Studie in den USA haben 17,4% der Be-
völkerung ein Unbehagen im Brustbereich, 13,8% erleben Druckgefühle und 7,6%
heftige Schmerzen über eine halbe Stunde oder länger.
1995 wurden in Deutschland 409159 Herzkathederuntersuchungen durchgeführt,
von denen nur 26,8% der Fälle eine Koronarintervention zur Folge hatten. Die weitere
Betreuung der Untersuchten ohne positiven Koronarbefund ist in individueller und
sozialmedizinischer Hinsicht oft unbefriedigend.
Untersuchungen an Patienten mit Verdacht auf eine stenosierende Koronarerkran-
kung haben gezeigt, dass mindestens 20-30%, eher sogar ein Drittel der Fälle, keine
organische Symptomatik aufwiesen. Heidelberger Forscher, die im Laufe von 10 Jahren
die Daten einer repräsentativen Akutklinik-Stichprobe von fast 50000 Patienten ge-
sammelt hatten, zeigten auf, dass unter den mit der Verdachtsdiagnose Angina Pectoris
stationär aufgenommenen Patienten in 15,8% der Fälle keine organische Diagnose gesi-
chert werden konnte und diesen Patienten auch keine klare Alternativdiagnose angebo-
ten wurde [52]. Wichtigste Ursachen für Fehlklassifikation waren folgende Krankheits-
bilder: Refluxösophagitis, costovertebrales Syndrom und Herzangstneurose.
Herzerkrankungen führen zu elektrischen Veränderungen des Herzens, die im EKG
sichtbar werden. Bei Panikattacken besteht dagegen die einzig sichtbare Veränderung in
einem leichten Anstieg der Herzfrequenz. Ein Belastungs-EKG ohne Auffälligkeiten
spricht eindeutig gegen eine Herzerkrankung.
Angst als biologisches Geschehen 249

Viele Patienten mit einer Angst- und Panikstörung leiden primär unter einer anhal-
tenden somatoformen Störung im Sinne einer alarmierenden Brustschmerzsymptomatik.
Eine Angststörung stellt die häufigste nichtorganische Ursache von Brustschmerzen dar.
Die ständige emotionale Anspannung vieler Angstpatienten (vor allem bei solchen mit
einer generalisierten Angststörung) führt zu chronischer Muskelverspannung, die bis zur
schmerzhaften Ausprägung führen kann.
Verschiedene amerikanische Studien mit Hilfe von Herzkathederuntersuchungen
führten die falsch-positiven Befunde der betroffenen Personen auf deren hohe Belastung
durch Angst, Depression oder körperliche Fixierung zurück.
Andererseits weisen oft auch herzkranke Patienten psychische Belastungsfaktoren
auf, sodass unklar bleibt, ob organisch und nichtorganisch bedingte Brustschmerzen
anhand bestimmter psychopathologischer Kriterien klar voneinander unterschieden
werden können. Genau diese Fragestellung wurde in einer Studie der kardiologischen
Ambulanz der Universitätsklinik Heidelberg untersucht, die sich mit der Thematik der
psychischen Komorbidität bei Patienten mit alarmierender Brustschmerzsymptomatik
beschäftigte. Von 77 Patienten, die mit dem Schmerzbild einer Angina Pectoris in Ruhe
zur medizinischen Abklärung kamen, konnte mittels einer invasiven Herzkathederunter-
suchung bei 35% keine stenotische Lumeneinengung gefunden werden. Die kardiologi-
sche Unauffälligkeit dieser Personengruppe wurde durch ein negatives Belastungs-EKG
und ein unauffälliges Langzeit-EKG bestätigt.
Im Gegensatz zu der häufigen Behauptung, dass eine Pseudo-Angina-Pectoris
hauptsächlich bei weiblichen Personen auftritt, setzte sich die Gruppe der Patienten mit
nichtorganisch bedingten Herzschmerzen aus 81% Männern und 19% Frauen zusam-
men. Der durchschnittliche Frauenanteil bei nichtorganisch bedingten Brustschmerzen
liegt auch nach anderen Studien unter 50%. Die organisch gesunden Patienten mit
Herzbeschwerden waren nur geringfügig depressiver als die herzkranken Patienten,
während hinsichtlich des Ausmaßes an Hilflosigkeit und Klagsamkeit eine gleich große
Belastung und somit kein signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen bestand.
Patienten mit nicht koronar bedingten Herzschmerzen wiesen zumindest in dieser
Studie kein höheres Ausmaß an psychischer Irritabilität auf als Patienten mit ischämi-
schen Herzschmerzen. Die verwendeten psychodiagnostischen Erhebungsinstrumente
waren nicht in der Lage, beide Gruppen zu unterscheiden. Zur Erklärung der Befunde
weisen die Autoren darauf hin, dass eine chronifizierte Schmerzsymptomatik beide
Gruppen eher homogenisiert als differenziert. Chronische Schmerzen können ein de-
pressives Zustandsbild bewirken, eine Depression wiederum kann die Schmerzschwelle
senken und damit das Schmerzerleben verstärken.
Die gängigen Vorstellungen der Kardiologen und Psychosomatiker über eine leichte
diagnostische Unterscheidbarkeit zwischen beiden Gruppen sind nach den Heidelberger
Forschern kritisch zu beurteilen. Menschen mit psychisch bedingten Brustschmerzen,
die eine medizinische Untersuchung bis zur Koronarangiographie erleben, stellen eine
heterogene Patientengruppe dar. Typische Panikpatienten waren zu diesem Untersu-
chungszeitpunkt in der Regel bereits sicher diagnostiziert und ausgefiltert.
Diese Studie belegt, dass viele Menschen mit chronifizierter Angina-Pectoris-artiger
Symptomatik ohne organischen Befund weniger eine Panik- und Angststörung aufwei-
sen als vielmehr eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Dieser Aspekt ist insbe-
sondere auch bei einer posttraumatischen Belastungsstörung (z.B. bei Zuständen nach
einem Unfall, einer Vergewaltigung oder einem Überfall) zu bedenken, wo Brust-
schmerzen mit angstbetonten Herzsensationen im Vordergrund stehen.
250 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Diese Studie unterstreicht die Notwendigkeit einer organischen Untersuchung bei


Brustschmerzen. Das Vorhandensein psychischer Belastungsfaktoren stellt kein verläss-
liches Zeichen für eine nichtorganische Brustschmerzsymptomatik dar. Andererseits
weisen 15-20% aller Patienten nach einem akuten Herzinfarkt eine Depression auf.
Rund 15% der Herzinfarktpatienten erleben Panikattacken.
In einer unausgelesenen Stichprobe von 3705 Patienten, die zur Abklärung mittels
Belastungs-EKG überwiesen wurden, hatten 19,7% auffällige Angstwerte und 9,1%
hohe Depressionswerte.
Menschen mit einer Herzneurose, die auch Herztod-Phobie genannt wird, fürchten
plötzliche Tachykardien (bis zu 160 Schläge/min), starken Blutdruckanstieg (bis zu
200/100 mg Hg), Schweißausbrüche, Gesichtsröte und gelegentliche Atembeschleuni-
gung. Sie klagen über Herzschmerzen und Stiche mit ausstrahlenden Schmerzen in den
linken Arm, die sich in unregelmäßigen Abständen wiederholen.
Funktionell bedingte Herzschmerzen sind charakterisiert durch einen dumpfen
Druck und ein Brennen (einige Stunden bis mehrere Tage) und kurze nadelartige
Schmerzen unter der linken Brustwarze. Die psychogenen Schmerzzustände treten ohne
körperliche Belastung auf. Wenn sie bei körperlicher Belastung einsetzen, dann deshalb,
weil die von Herztod-Phobikern wahrgenommenen Körpersensationen immer Angst
auslösen.
Nach dem ersten Anfall kommt es zu einer gedanklichen und erlebnismäßigen Ein-
engung auf ein stark angstbesetztes Herzerleben. Im Sinne einer Erwartungsangst be-
steht eine ständige Angst vor einem Herzinfarkt, die durch bestimmte Strategien zu
bewältigen versucht wird. Herztod-Phobiker kontrollieren dauernd ihren Puls, bestehen
auf häufigen Herzuntersuchungen trotz fehlender pathologischer Befunde und wandern
von einem Arzt zum anderen, wenn sie sich nicht verstanden fühlen.
Eine der Hauptängste bei Menschen mit Panikattacken, bei denen das Herzrasen im
Vordergrund steht, ist die Angst vor einem Herzinfarkt, sodass das Herz bei Gedanken
an den Tod sofort noch schneller zu schlagen beginnt.
Zahlreiche Panikpatienten haben von Natur aus einen niedrigen Blutdruck, der bei
einer anfänglichen Schreckreaktion noch weiter sinkt. Um eine Ohnmacht zu vermei-
den, setzt Herzrasen als Mittel der Gegensteuerung ein. Bei einem Herzinfarkt (Ver-
schluss von Gefäßen) würde Herzrasen nichts nützen.
Bei Herzrasen und infolgedessen steigendem Blutdruck kann man nicht mehr ohn-
mächtig werden! Bewegung wäre allerdings besser als die ängstliche Beobachtung des
Herzrasens beim Sitzen oder Liegen. Bewegung führt rasch zu Blutdrucksteigerung und
vermehrter Atmung, wodurch die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn verbessert und Schwin-
delzustände rasch beseitigt werden. Sport lässt Herzrasen normal erscheinen.
Herzrasen hat angesichts von körperlichem oder seelischem Stress die Funktion der
Blutdruckerhöhung und damit der verbesserten Sauerstoffzufuhr zum Gehirn zwecks
Vermeidung von Schwindelzuständen, sodass die Angst vor einem Herzinfarkt unbe-
gründet ist. Niedriger Blutdruck schützt vor einem Herzinfarkt. Herzrasen führt weder
zu einem Herzinfarkt noch kann es einen Herzinfarkt verhindern, der – wie erwähnt – in
einem Verschluss eines Blutgefäßes besteht, das der Herzversorgung dient.
Herzängste führen oft zu Schonung und mangelnder körperlicher Betätigung. In der
Folge davon kommt es schon bei geringer Belastung rasch zum Herzrasen, weil die
fehlende Kraft des Herzens durch mehr Herzschläge ausgeglichen werden muss. Der
Druck, den das Herz auf die Blutsäule in den Arterien ausübt (systolischer Blutdruck),
hängt von der Kraft des Herzmuskels und der Herzschlagzahl ab.
Angst als biologisches Geschehen 251

Ein untrainiertes, geschwächtes oder krankes Herz kann oft keinen ausreichenden
Druck mehr durch die Kraft seiner Kontraktion aufbauen und versucht dann häufig, dies
durch eine vermehrte Schlagzahl auszugleichen, damit der Körper ausreichend durch-
blutet wird. Während bei Untrainierten Blutdruck und Puls unter Belastung stark anstei-
gen, ist dies bei Trainierten kaum der Fall.
Bewegung und Konditionstraining sind sehr wichtig, um Herzrasen und Atemnot
vorzubeugen. 3- bis 4-mal pro Woche sollen während 30-60 Minuten 65% der maxima-
len Kreislauftätigkeit erreicht werden, d.h. ein Puls von 180 minus Alter.
Ein Pulsanstieg auf 160 pro Minute unter Trainingsbedingungen ist durchaus normal
und gesund, ein höherer Wert bringt dagegen keine zusätzlichen positiven Wirkungen
auf das Herz. Ein sportlicher Trainingseffekt ist überhaupt erst ab einer Herzfrequenz
von 100 und mehr pro Minute zu erwarten.
Durch ein Konditionstraining wird das Herz leistungsfähiger. Die Größe der Herz-
kammern, die Dicke der Herzwände und die Weite der Herzkranzgefäße nehmen zu.
Das Herz pumpt mit jedem Schlag mehr Blut und verbessert damit die Blutzirkulation
und die Versorgung des Körpers mit Sauerstoff. Es werden auch neue Blutgefäße (ins-
besondere Kapillargefäße) gebildet, um die Muskelfasern und die Haut besser versorgen
zu können.
Durch ein regelmäßiges Konditionstraining steigt der Puls unter Belastung weniger
stark an, gleichzeitig sinkt der Ruhepuls ab. Der Ruhepuls erreicht bei Untrainierten oft
Zahlen über 90, während bei Trainierten eine Verlangsamung auf Werte zwischen 32
und 40 möglich ist.
Ein Konditionstraining (z.B. auf einem Hometrainer) kräftigt nicht nur das Herz und
den Körper, sondern stellt auch eine Art Angstbewältigungstherapie bei Panikpatienten
mit der Angst vor Herzrasen dar.
Bei Herzrasen kann der Herzschlag folgendermaßen verlangsamt werden:
z doppelt so lang ausatmen als einatmen,
z grundsätzlich Konzentration auf die Ausatmung, während die Einatmung reflexhaft
von alleine erfolgt (diese Atemtechnik hilft auch bei Asthma).

Bei Ruhe und Entspannung bewirkt das parasympathische Nervensystem eine Verlang-
samung des Herzschlags, eine Verringerung der Pumpleistung und eine Verengung der
Herzkranzgefäße. In der Folge davon kommt es zu einem Abfall des Kreislaufs. Im
Schockzustand kann ein Kreislaufversagen eintreten. Subjektiv äußern sich Schock- und
Schreckreaktionen als Kreislaufschwäche.

Blutdruck
Unter Blutdruck versteht man den vom Herzmuskel erzeugten Druck, unter dem die
Blutmasse des ganzen Körpers durch die Adern (Arterien) getrieben wird. Der Blut-
druck ist abhängig von der Schlagkraft des Herzens, von der Elastizität der Gefäßwan-
dung und dem Widerstand der Arteriolen und Kapillargefäße (den kleinen arteriellen
Blutgefäßen). Der Blutdruck steigt durch eine erhöhte Herztätigkeit und die Verengung
der kleinen arteriellen Blutgefäße der Haut.
Die Steigerung des systolischen Blutdrucks (Pumpdruck auf die Arterien beim Aus-
wurf des Blutes aus dem Herzen, d.h. zum Zeitpunkt des Zusammenziehens des Herz-
muskels) erfolgt durch die verstärkte Herzleistung.
252 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Die Steigerung des diastolischen Blutdrucks (Blutdruck in den Arterien zwischen


zwei Herzschlägen, Widerstand der Arterienwände zum Zeitpunkt der Erschlaffung des
Herzens, d.h. während der Füllung mit Blut) erfolgt aufgrund der Verengung der klei-
nen Arterien (Arteriolen) durch Noradrenalin. Die kleinsten Arterien sind die eigentli-
chen Widerstandsgefäße des Blutstroms und bestimmen, wie viel Blut zu den Organen
und zum Gewebe fließt.
Die Arterien (vom Herzen wegführende Blutgefäße) haben Muskeln in ihren Wän-
den und können sich daher bei der Systole (Blutauswurf des Herzens mit entsprechen-
dem Pumpdruck) elastisch ausdehnen und bei der Diastole (Ruhephase des Herzens)
wieder zusammenziehen, wodurch das Blut weiterbefördert wird.
Die Venen (zum Herzen hinführende Blutgefäße) haben einen niedrigen Druck und
sind eher weit gestellt. Es besteht eine schwächer ausgeprägte Muskulatur als bei den
Arterien. Deshalb befindet sich in den Venen mehr Blut als in den Arterien. Auf dieses
„Reserveblut“ kann bei besonderen Belastungen zurückgegriffen werden.
Der Blutdruck wird gemessen in Millimeter Quecksilbersäule (mm Hg). Als Nor-
malwerte für den Blutdruck (systolisch/diastolisch) gelten:
für 10- bis 30-Jährige: 120/80 mm Hg,
für 30- bis 40-Jährige: 125/85 mm Hg,
für 40- bis 60-Jährige: 135-140/90-95 mm Hg.
Auffällige Blutdruckwerte zeigen sich in Form von:
Grenzwerthypertonie: 140-160/90-95 mm Hg (mehr als 140/90 mm Hg ist überhöht).
Hypertonie (Bluthochdruck): Werte über 160/95 mm Hg.
Niedriger Blutdruck (Hypotonie): Werte unter 100/70-65 mm Hg.

Die angeführten Grenzwerte gelten nicht für gelegentliche Blutdruckschwankungen,


sondern für den durchschnittlich gegebenen Blutdruck. Besonders kritisch ist ein zu
hoher diastolischer Blutdruck (über 95 mm Hg), der auf eine zu geringe Elastizität der
Gefäße und damit auf eine Verkalkung und Verhärtung der Arterien hinweist. Er kann
aber auch Ausdruck einer psychisch bedingten chronischen Verspannung sein.
Der Blutdruck schwankt im Tagesverlauf. Die höchsten Werte ergeben sich am
Vormittag (8.00-11.00), späten Nachmittag und frühen Abend (16.00-20.00). Während
der Mittagszeit (besonders nach dem Mittagessen) sinkt der Blutdruck deutlich ab, am
stärksten während der Nacht (tiefste Werte gegen 3.00). Frühaufsteher haben einen
starken Blutdruckanstieg in den frühen Morgenstunden.
„Morgenmuffeln“ haben einen verzögerten und langsameren Anstieg im Laufe des
Vormittags. Viele Menschen mit niedrigem Blutdruck klagen über Morgenmüdigkeit.
Umgekehrt sinkt der Blutdruck am Abend bei den Frühaufstehern früher ab als bei den
Morgenmuffeln. Entsprechend den Blutdruckschwankungen ändern sich auch die Kör-
pertemperatur und die allgemeine Leistungsfähigkeit.
Hypertonie (hoher Blutdruck) bedeutet, dass sich das Herz zu sehr anstrengen muss,
um zur Versorgung der Gewebe das Blut durch den ganzen Körper zu pumpen. Der
Blutdruck wird zu hoch, wenn das Herz mit jedem Zusammenziehen eine erhöhte Blut-
menge ausstoßen oder einen erhöhten Widerstand der Arterienwände überwinden muss
(bedingt durch mangelnde Elastizität der Gefäße infolge von Verkalkung).
Bei Bluthochdruck muss das Herz mehr Kraft aufwenden, weshalb sich ein verstärk-
tes Muskelwachstum entwickelt. Der vergrößerte Herzmuskel benötigt mehr Sauerstoff,
der jedoch gerade bei Gefäßverkalkungen nur unzureichend zugeführt wird.
Angst als biologisches Geschehen 253

Typische Bluthochdrucksymptome: pulsierende Kopfschmerzen, Schwindel (oft mit


Ohrensausen und Flimmern vor den Augen), Kribbeln in Armen und Beinen, Wetter-
fühligkeit, Nasenbluten, leichter Druckschmerz in der Brust, Atemnot (besonders bei
physischem und psychischem Stress), Herzbeschwerden, Müdigkeit, Leistungsminde-
rung, Nervosität, Reizbarkeit, Unruhegefühl.
Angst, Aufregung und Stress führen häufig zu steigendem Blutdruck, bewirkt durch
das sympathische Nervensystem. Obwohl der Blutdruck in Angst-, Stress- und Kon-
fliktsituationen messbar erhöht ist, wird dies oft gar nicht so erlebt. Bei extremer kör-
perlicher oder seelischer Belastung (z.B. bei heftigem Streit) kann der Blutdruck bis auf
240/130 mm Hg ansteigen.
Viele Menschen glauben, sie könnten bei Stress und in Ärgersituationen ganz ruhig
bleiben. Sie erkennen ohne Messung gar nicht, wie hoch ihr Blutdruck in diesen Situa-
tionen ansteigt. Sie sind stolz darauf, wie gut sie sich beherrschen können.
Wenn der Blutdruck aufgrund von Stress dauerhaft erhöht ist, kann eine funktionelle
Störung in eine organische übergehen. Der Körper lernt, dies als Normalzustand zu
verstehen und sorgt nicht mehr für Maßnahmen zur Senkung des Blutdrucks.
Bei Ruhe und Entspannung bewirkt das parasympathische Nervensystem ein Absin-
ken des Blutdrucks als Folge der reduzierten Herztätigkeit und der Erweiterung der
kleinen arteriellen Blutgefäße der Haut.
Schock- und Schreckreaktionen sowie überfordernder Stress bewirken eine para-
sympathische Überaktivität mit starkem Blutdruckabfall bis hin zum Kreislaufzusam-
menbruch. Subjektiv macht sich dies bemerkbar in Schwindel- und Ohnmachtsgefühlen,
eventuell sogar in kurzer Ohnmacht.
Der so häufige und belastende Schwindel (Schwankschwindel: der Boden unter den
Füßen scheint zu schwanken) kann aus folgenden Kreislaufproblemen resultieren:
z Niedriger Blutdruck: als Folge von Angst oder „ohnmächtig“ machendem Stress,
besonders bei genereller Neigung zu niedrigem Blutdruck oder orthostatischer Hy-
potonie (Versacken des Blutes in den Beinen beim Stehen).
z Alarmreaktion des Körpers (Bereitstellungsreaktion) ohne anschließende Bewe-
gung. Die Erweiterung und vermehrte Durchblutung der Gefäße der Muskulatur
führt zu einer unzureichenden Durchblutung des Kopfes.
z Schulter-Nacken-Verspannungen. Die Verspannung dieser Muskelgruppen kann die
Blutzufuhr und damit auch die Sauerstoffzufuhr zum Kopf beeinträchtigen.

Das Versacken des Blutes in den Venen (und damit die Schwindelzustände) bzw. der
Stau in den Muskeln kann durch drei Methoden leicht behoben werden:
z Bewegung der Muskulatur, vor allem der Beine, wodurch das Blut von den Venen
zum Herzen gepumpt wird. Jede Bewegung erhöht sofort den Blutdruck.
z Kälteanwendung. Durch eine kalte Dusche (nach einer Warmwasseranwendung)
ziehen sich die Venen zusammen und befördern das Blut schneller zum Herzen zu-
rück. Oft reicht es, die Unterarme unter das Leitungswasser zu halten.
z Ausreichende Ernährung, salzreichere Kost und vermehrte Flüssigkeitszufuhr erhöht
bei niedrigem Blutdruck die Flüssigkeitsmenge in den Gefäßen.

Viele Agoraphobikerinnen haben ihren Bewegungsradius nicht wegen erlebter Panikat-


tacken anhaltend eingeschränkt, sondern wegen unerklärlicher Schwindelzustände, die
besonders im Falle einer früheren Synkope (Ohnmacht) gefürchtet werden.
254 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Niedriger Blutdruck und dessen Ursachen


Als niedriger Blutdruck (Hypotonie) gilt ein systolischer Blutdruck unter 105 mm Hg
und ein diastolischer Blutdruck unter 70-65 mm Hg. Die Gefäße sind durch eine Fehl-
steuerung der Gefäßnerven so erweitert, dass die vom Herzen ausgeworfene Blutmenge
oft nicht ausreicht, um einen normalen Blutdruck herzustellen. Dies führt zu Blut- und
Sauerstoffmangel im Gehirn sowie zu Beeinträchtigungen aller Körperfunktionen.
Niedriger Blutdruck äußert sich in folgenden Symptomen: Müdigkeit, Abgeschla-
genheit, Antriebsschwäche, Unlust, Erschöpfung, Konzentrations- und Leistungsschwä-
che, Schwindelgefühle, Ohnmachtsneigung, Ohrensausen, Kopfschmerzen, Schwarz-
werden vor den Augen, blasses Gesicht, kalte Hände und Füße, Herzschmerzen (Man-
geldurchblutung des Herzmuskels und damit Sauerstoffmangel), Herzklopfen (Ankurbe-
lung des Blutdrucks), Herzstechen, Krämpfe innerer Organe (Mangeldurchblutung),
Übelkeit, Appetitlosigkeit, Magendrücken, Blähungen, bei Frauen oft Unterleibskrämp-
fe, Stimmungsschwankungen, Gereiztheit, depressive Verstimmung, Wetterfühligkeit,
Schlafbedürfnis, Schlafstörung (Blutleere im Gehirn, besonders zwischen 2 und 4 Uhr).
Schwarzwerden vor den Augen, Flimmern oder Sternchensehen beruht auf einer Man-
geldurchblutung der Sehbahn und des Augenhintergrundes.
Bei „nervösem Niederdruck“ sollten keine Blutdruck steigernden Mittel eingenom-
men werden, die den Sympathikusnerv reizen und ein Zusammenziehen der Blutgefäße
bewirken, weil sich dadurch alle angeführten Symptome noch verschlechtern können.
Besser sind sportliche Betätigung, salzreichere Ernährung (Wasserbindung) und
Kneipp-Methoden (Kreislaufankurbelung durch Wechselduschen).
Menschen mit niedrigem Blutdruck kamen vor dem Ausbruch von Panikattacken
mit ihrer körperlichen Befindlichkeit ganz gut zurecht, sodass in der Regel auch bei
einer Panikstörung keine Blutdruck steigernden Mittel erforderlich sind.
Viele Menschen mit Panikstörung haben einen generell niedrigen Blutdruck (z.B.
95/65 mm Hg), ohne in der Vergangenheit darunter gelitten zu haben. In einer bestimm-
ten Situation fiel der Blutdruck noch weiter ab, sodass es zu einer bedrohlichen Unter-
versorgung des Körpers mit Blut und damit auch mit Sauerstoff und Nährstoffen (na-
mentlich Glukose) kam, die der Körper durch eine Ankurbelung von Herz und Kreislauf
zu beheben versuchte. Dies wird oft als Panikattacke erlebt.
Panikattacken mit anfänglicher Ohnmachtsangst und anschließendem Herzrasen ha-
ben oft eine ganz einfache Erklärung. Vor Panikattacken sind die großen Gefäße häufig
erweitert, der Blutdruck sackt ab, es kommt zu Schwindel, Druck auf der Brust,
Schweißausbruch, Übelkeit und im Extremfall zu Ohnmacht. Das Herz fängt daraufhin
zu rasen an, um den Kreislauf wieder anzukurbeln. Solche vegetativen Symptome ma-
chen Angst.
Die aufkommende Panikreaktion bewirkt zusätzlich einen massiven Adrenalinschub
und damit eine Umkehr der Symptomatik: Kreislauf und Blutdruck werden weiter er-
höht (durch Herzrasen und Verengung der Blutgefäße), die Atmung wird beschleunigt.
Diese Alarmreaktion schützt wirksam vor Ohnmacht.
Herzrasen ist das Mittel der Wahl, um bei niedrigem Blutdruck in bestimmten kör-
perlichen oder seelischen Stresssituationen den Blutdruck rasch zu erhöhen. Bei stei-
gendem Blutdruck kann man nicht mehr ohnmächtig werden!
Patienten mit einem Kreislaufschock (extreme Gefäßerweiterung) wird vom Arzt
Adrenalin gespritzt, das sofort die Gefäße verengt und vor einem Kollaps schützt. Eine
Panikattacke bewirkt dasselbe.
Angst als biologisches Geschehen 255

Es gibt vier verschiedene Arten von niedrigem Blutdruck:


1. psychovegetativ bedingte Hypotonie: in Belastungssituationen;
2. symptomatische Hypotonie: Folge von Krankheiten;
3. orthostatische Hypotonie: beim Aufstehen und längeren Stehen;
4. konstitutionelle (essenzielle oder primäre) Hypotonie: anlagebedingt.

Psychovegetativ bedingte Hypotonie


Psychovegetativ bedingte Hypotonie äußert sich im Extremfall in einem kurz andauern-
den Verlust des Bewusstseins und der Muskelspannung. Dieser langsam sich entwik-
kelnden vagovasalen Ohnmacht (Synkope) gehen folgende Vorzeichen voraus: Muskel-
schwäche, Schwindelgefühl, Übelkeit, Schweißausbruch, Unruhe, Blässe, Seufzerat-
mung, Gähnen (als Zeichen von Sauerstoffmangel).
Sinken der systolische Blutdruck (infolge geringerer Herztätigkeit) und der diastoli-
sche Blutdruck (infolge Entspannung der Blutgefäße der Haut) weiter ab, kommt es
zunächst zu einer Pulsbeschleunigung, bei Erreichen von systolischen Blutdruckwerten
zwischen 60 und 55 mm Hg zu einem plötzlichen Absinken der Pulsfrequenz mit an-
schließendem Bewusstseinsverlust. Dauert die Bewusstlosigkeit länger als 10-20 Se-
kunden an, können auch klonische Muskelkrämpfe auftreten. 30% aller gesunden Er-
wachsenen haben schon einmal eine vagovasale Synkope erlebt.
Der Blutdruckabfall lässt sich rasch beenden, wenn der Betroffene in die horizontale
Lage gebracht wird (mit den Füßen hochgelagert), Bewegungen macht oder die Mus-
keln der Arme und Beine mehrfach fest anspannt (dadurch steigt der Blutdruck).
Der vagovasale Anfall hängt mit einer Hemmung der Fluchtreaktion zusammen. Die
physiologische Vorbereitung auf die Fluchtreaktion führt zur Mehrdurchblutung der
Muskulatur. Wenn man wegen einer Hemmung der Fluchtreaktion in Bewegungslosig-
keit verharrt, kommt es zu einer unphysiologischen „inneren Verblutung“ in die Musku-
latur und damit zu einem verminderten Rückstrom des Blutes zum Herzen. Es erfolgt
eine Abnahme des Herzzeitvolumens (Herzfrequenz mal Schlagvolumen pro Minute).
Überschreitet die Verminderung des Herzzeitvolumens ein kritisches Ausmaß, tritt
Bewusstlosigkeit ein. Voraussetzung ist eine Immobilisierung der Motorik in aufrechter
Haltung, die Betroffenen stehen steif da ohne Bewegung. Im Liegen erfolgt keine vago-
vasale Ohnmacht, weil sich das Blut gleichverteilt und nicht in den Beinen versackt.
Die vagovasale Ohnmachtsneigung beruht auf einer Alarmreaktion des Körpers, d.h.
auf einer Aktivierung für Kampf oder Flucht, ohne anschließende Bewegung, sodass
durch den reduzierten Rückfluss des Blutes von den Muskeln zum Herzen eine Minder-
versorgung des Gehirns mit Blut und Sauerstoff erfolgt, was zu Schwindel und Ohn-
machtsneigung führt. Jede körperliche Bewegung beseitigt den Schwindel und die
Ohnmachtsneigung, weil der Blutdruck steigt und die Blutgefäße der Haut verengt wer-
den, sodass mehr Blut und damit auch mehr Sauerstoff in das Gehirn gelangt. Selbst
lautes Schreien oder Singen sowie die spontane Äußerung der Angstgefühle führt be-
reits zur Normalisierung von Puls- und Blutdruck.
Psychodynamisch wird die Ohnmacht in Form einer Synkope als Mechanismus ge-
sehen, einer ausweglos erscheinenden Situation zu entkommen, da Kampf oder Flucht
nicht möglich sind oder nicht gewagt werden. Die Betroffenen fühlen sich in großen
seelischen Belastungssituationen hilflos und „ohnmächtig“. Dissoziative (funktionelle)
Anfälle erfolgen dagegen ohne Blutdruck- und Herzfrequenzänderungen.
256 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Symptomatische Hypotonie
Symptomatische Hypotonie tritt auf als Folge von Krankheiten, Allergien, Medikamen-
tennebenwirkungen oder bestimmten körperlichen Zuständen:
1. Herzkrankheiten (Herzschwäche, Herzinfarkt) und viele andere Krankheiten.
2. Allergien. Nicht die Antikörper, sondern die dabei freigesetzten körpereigenen Reiz-
stoffe (Histamin) senken den Blutdruck durch starke Gefäßerweiterung.
3. In der Genesungszeit nach Operationen und Infektionskrankheiten, vor allem auch
nach einer Grippe (eine nicht auskurierte Grippe kann eine Panikattacke auslösen).
4. Während der Schwangerschaft.
5. Übermäßiger Alkoholkonsum. Die Blutgefäße der Haut erweitern sich (Histamin-
Wirkung), wodurch der Blutdruck gesenkt wird (Ausnahme: Sekt, und zwar wegen
des Kohlensäuregehalts). Menschen mit reiner Panikstörung ohne Agoraphobie ha-
ben oftmals eine mehr oder weniger lange Zeit von Alkoholmissbrauch hinter sich.
6. Nikotinentzug. Die Blutgefäße der Haut erweitern sich nach der Nikotin-bedingten
Verengung. Dies führt zu Herzrasen, wodurch der Blutdruck wieder gehoben wird.
7. Wetter. Warmes oder schwüles Wetter bewirkt über eine Gefäßerweiterung einen
Blutdruckabfall.
8. Medikamente. Viele Medikamente (z.B. Tranquilizer, bestimmte Antidepressiva)
haben als Nebenwirkung eine Blutdrucksenkung. Bei kreislaufbedingter Ohn-
machtsneigung sollten keine Beruhigungsmittel eingenommen werden, weil diese
einen niedrigen Blutdruck noch weiter senken. Alle Medikamente sollten auf eine
unerwünschte Blutdrucksenkung hin überprüft werden. Bei niedrigem Blutdruck
sollten wegen möglicher Blutdrucksenkung weder trizyklische Antidepressiva (z.B.
Amitriptylin mit Präparaten wie Saroten® oder Tryptizol®) noch bestimmte nicht-
trizyklische Antidepressiva (Mianserin mit den Präparaten Tolvon® und Tolvin® und
Trazodon mit den Präparaten Trittico® und Thombran®) eingenommen werden. Die
neueren Antidepressiva (SSRI) haben keinen Blutdruck senkenden Effekt.

Orthostatische Hypotonie
Orthostatische Hypotonie (mit der Folge von orthostatischem Schwindel) ist eine Son-
derform des niedrigen Blutdrucks, die beim Übergang vom Liegen zum Stehen oder bei
längerem Stehen auftritt (orthostatisch = aufrecht stehend). Sie zeigt sich besonders bei
jüngeren Frauen, bei großen, hageren Menschen, bei Personen mit Krampfadern (die
erweiterten Beinvenen nehmen zu viel Blut auf) und bei vielen Patienten nach krank-
heitsbedingten Liegephasen.
Diese Störung ergibt sich aus dem vorübergehenden Versagen der Kreislaufregula-
tion beim Aufstehen oder im Stehen. Das Blut folgt der Schwerkraft und versackt des-
halb beim Aufrichten oder längeren Stehen nach unten in die Beine. Im Liegen dagegen
entspricht der Blutdruck der Betroffenen der Norm. Da die dünnwandigen Venen leich-
ter dehnbar sind als die Arterien und sich kaum selbst zusammenziehen können, versak-
ken beim Aufstehen kurzfristig 400-600 ml Blut in den Beinen. Diese Menge wird den
Blutgefäßen in Oberkörper und Kopf entzogen, sodass weniger Blut zum Herzen zu-
rückfließen kann. Wenn sich aber die Herzkammern weniger füllen, dann sinkt auch die
Pumpleistung des Herzens und der Blutdruck fällt ab.
Angst als biologisches Geschehen 257

Bei normalem Blutdruck wird dieser Reaktion sofort durch Verengung der Beinge-
fäße und Abgabe von gespeichertem Blut aus den Depots des Körpers gegengesteuert,
sodass man den kurzen Blutdruckabfall nicht bemerkt. Das gelingt bei der orthostati-
schen Hypotonie nicht schnell genug. Es kommt beim plötzlichen Aufstehen oder nach
längerem Stehen zu Schwindel, Übelkeit, Flimmern und Schwarzwerden vor den Augen
oder sogar zu einer kurzen Ohnmacht infolge der Blutleere im Gehirn. Zugleich wirkt
sich die verzögerte Gegenregulation des Sympathikus (vermehrte Ausschüttung der
Stresshormone) in Form von Herzrasen, Schweißausbrüchen und Angstgefühlen Blut-
druck steigernd aus. Der orthostatische Schwindel wird beim Stehen vor allem dann
provoziert, wenn der Blutdruck ohnehin niedrig und nur im Liegen normal ist, sowie bei
Krampfadern, wo an sich bereits bis zu 20% des Blutes in den Venen versacken.
Verschiedene Panikpatienten sind früher einmal bei längerem Stehen umgefallen,
was sich im Gedächtnis eingeprägt hat, sodass sie später bei anhaltendem Schwindel,
der jedoch meistens durch chronische Muskelverspannung entstanden ist, eine neuerli-
che Ohnmacht fürchten, was häufig zu einer Schonhaltung führt.

Essenzielle (konstitutionelle) Hypotonie


Essenzielle Hypotonie (anlagebedingt, ohne zugrunde liegende Krankheit) kommt fami-
liär gehäuft vor und kann durch psychosoziale Faktoren verstärkt werden.
Die Hypotoniesymptome Antriebsschwäche, chronische Müdigkeit, Ohnmachtsnei-
gung und reduziertes Leistungsvermögen können verschlüsselter Ausdruck einer be-
stimmten Persönlichkeit sein. Konstitutionell niedriger Blutdruck hat dann keinen
Krankheitswert, wenn er (wie oft der Fall) keine Lebensbeeinträchtigung darstellt.
Ein zu niedriger Blutdruck kann oft viele Jahre lang unerkannt und ohne belastende
Auswirkungen vorhanden sein, dann aber durch psychosoziale Stressfaktoren, die zu
einem ständigen psychischen Ohnmachtserleben führen, zu einem großen Problem
werden. Ohnmachtserleben gegenüber den Anforderungen des Alltags und Unvermö-
gen, die Konflikte zu lösen, kann zu Erschöpfung und Blutdruckabfall führen.
Eine Tasse Kaffee oder Schwarztee sind bewährte Blutdruck steigernde Mittel. Bei
erniedrigten Blutdruckwerten sind nur in extremen Fällen Medikamente sinnvoll.
Sympathomimetika (z.B. Präparate wie Effortil®, Novadral®, Dihydergot®) führen
direkt zu einer Verengung der Venen in Armen und Beinen und damit zu einem verbes-
serten Rückfluss des Blutes zum Herzen. Sie haben meist nur eine vorübergehende
Wirkung und sollten bei akutem Bedarf nicht länger als 4-6 Wochen eingenommen
werden, da ein Gewöhnungseffekt (nachlassende Wirkung) mit einer anschließenden
Verschlechterung des Allgemeinbefindens eintreten kann.
Die medikamentöse Sympathikuserregung kann über die Gefäßverengung die Puls-
rate beängstigend steigern. Die Blutdrucksteigerung führt oft zu einer als unangenehm
erlebten, erhöhten Allgemeinerregung und Unruhe. Es können auch Herzrhythmusstö-
rungen und Angina-Pectoris-ähnliche Beschwerden auftreten.
Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft empfiehlt bei niedrigem
Blutdruck anstelle von Medikamenten ein intensives Trainingsprogramm: Wassertreten,
Kneippgüsse, Wechselduschen, Atemgymnastik und regelmäßige sportliche Betätigung.
Morgengymnastik, Krafttraining und Ausdauersportarten wie Leichtathletik (Zirkel-
training), Schwimmen, Radfahren, Ballspiele, Tennis, Laufen, Wandern oder Schilan-
glauf stärken den Kreislauf.
258 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Durchblutungsveränderungen im Körper
Blut ist das Transportmittel, das den ganzen Körper mit Sauerstoff, Zucker, anderen
Nährstoffen, Abwehrzellen und Hormonen versorgt und die Abfälle beseitigt. Die fünf
Liter Blut des Körpers werden jeweils durch Erweiterung bzw. Verengung der Blutge-
fäße der verschiedenen Organe so umverteilt, wie es dem aktuellen Bedarf entspricht.
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Er-
höhung der Durchblutung durch die Erweiterung der Blutgefäße in den Organen, die
für die momentane Aktivität bzw. für das Überleben besonders wichtig sind (Herz, Lun-
ge, Leber, Skelettmuskulatur, vor allem die großen Muskeln wie z.B. Bizeps und Ober-
schenkeln). Es erfolgt eine vermehrte Versorgung der Arm-, Bein- und sonstigen
Kampf-Flucht-Muskulatur mit Sauerstoff und Nährstoffen.
Gleichzeitig wird die Durchblutung der Gefäße in den Organen, die für die momen-
tane Tätigkeit nicht unbedingt nötig sind (Magen, Darm, Nieren, Haut, Schleimhäute,
Geschlechtsorgane), vermindert zugunsten der erhöhten Durchblutung der aktuell wich-
tigen Organe. Sympathikotone Hautgefäßverengung (Vasokonstriktion der peripheren
Hautgefäße) wird technisch gewöhnlich als Abnahme der Fingerpulsamplitude festge-
stellt, Vasodilatation der Muskelgefäße als Zunahme des Blutvolumens im Unterarm.
Die Mangeldurchblutung bestimmter Organe führt zu Übelkeit („Schmetterlinge im
Bauch“), Nachlassen der Verdauungstätigkeit und verminderter sexueller Reaktion. Die
blutleere Haut wirkt blass, Hände und Füße sind kalt und kribbelig. Taubheits-, Kribbel-
und Kältegefühle sind typische Zeichen einer angstbedingten Blutumverteilung zur
arbeitenden Muskulatur.
Die Verengung der Blutgefäße an der Körperoberfläche reduziert die Gefahr der
Verblutung bei Verletzungen in Kampf- und Bedrohungssituationen. Diesem Zweck
dient auch die Verkrampfung von Brust und Bauchdecke bei realer bzw. gefürchteter
Bedrohung. In geringerem Maße ist auch die Durchblutung des Gehirns von der Blut-
umverteilung betroffen. Dies führt zu Schwindelgefühlen, die bei angstbedingter massi-
ver sympathischer Aktivierung sehr oft beklagt werden.
Diese Vorgänge erklären, warum bei Angst, Aufregung und Stress oft geklagt wird
über Herzrasen, blasse und kalte Haut, blasses Gesicht, kalte Hände und Füße, Verdau-
ungsstörungen und mangelnde sexuelle Reaktionsfähigkeit.
Eine wirksame Blutumverteilung hängt von der Schnelligkeit ab. Dies wird durch
die Beschleunigung des Herzschlags und das Schlagvolumen bewirkt. Das Schlagvolu-
men ist jene Menge Blut, die das Herz, und zwar die rechte Herzkammer, während eines
Schlages aufnimmt und wieder über die linke Herzkammer in den Körper pumpt.
Bei einer Notfallreaktion kann der Puls von durchschnittlich 70 Schlägen pro Minu-
te auf 180 und mehr pro Minute ansteigen, während sich das Schlagvolumen verdop-
pelt. In Ruhe wird das Blut in einer Minute einmal „umgewälzt“. Während der Alarm-
oder Bereitstellungsreaktion werden infolge des stark erhöhten Pulses die 5 Liter Blut
bis zu 5-mal pro Minute durch den Körper gepumpt und dabei immer wieder mit Ener-
gie (Sauerstoff und Zucker) angereichert.
Bei Ruhe und Entspannung, wie sie über das parasympathische Nervensystem be-
wirkt wird, werden die Blutgefäße von Herz, Lunge, Leber und Skelettmuskulatur ver-
engt und damit die Durchblutung verringert, während die Blutgefäße von Haut, Verdau-
ungsorganen, Schleimhäuten und Geschlechtsorganen erweitert und damit die Durch-
blutung erhöht wird.
Angst als biologisches Geschehen 259

Zur Verdauung wird vermehrt Blut benötigt und den anderen Organen entzogen
(insbesondere dem Kopf und der Muskulatur). Man fühlt sich daher nach dem Essen
geistig und körperlich müde („Ein voller Bach studiert nicht gern“). Fortgesetzte Tätig-
keit erfordert eine erhebliche Mehranstrengung.
Die Entspannung der Muskeln im Unterleib (und damit die vermehrte Durchblu-
tung) kann durch Wärmevorstellungen und Wärmeerfahrungen gefördert werden:
1. Sonnengeflecht-Übung des autogenen Trainings: „Sonnengeflecht strömend warm“,
2. intensive Erinnerung und Vergegenwärtigung einer warmen Flüssigkeit im Magen
(Suppe, Tee, Kaffee, ein Schluck Schnaps), die sich im ganzen Unterleib ausbreitet,
3. warme Hände, Wärmeflasche oder Sonnenstrahlen auf der Bauchdecke.

Schock- und Schreckreaktionen äußern sich – parasympathisch bedingt – als Erröten.


Rotwerden beruht auf einer vagotonen Fehlregulierung in Überraschungssituationen.

Atmung
Der Mensch kann ohne Essen etwa 40 Tage, ohne Trinken nahezu 5 Tage, ohne Sauer-
stoff nur einige Minuten überleben. Bei fehlender Sauerstoffzufuhr zum Gehirn treten
bereits nach einigen Sekunden Schwindel und zunehmende Bewusstseinstrübung, nach
4 Minuten bleibende Gehirnschäden auf.
Ängste sind stets mit Atmungsveränderungen verbunden, sodass dem Verständnis
der richtigen Atmung eine ganz besondere Bedeutung zukommt.
Bei der Einatmung gelangt die Luft über die Nase oder den Mund durch die Luft-
röhre zur Lunge. Im Brustkorb teilt sich die Luftröhre, um beide Lungenflügel versor-
gen zu können. Die beiden Luftröhrenäste werden Bronchien genannt. Diese verzwei-
gen sich in der Lunge in immer feinere Verästelungen (Bronchiolen). Durch diese ge-
langt die Luft schließlich in die Lungenbläschen (Alveolen), die extrem dünn und von
feinsten Blutgefäßen durchzogen sind. Hier erfolgt der Gasaustausch: Aufnahme von
Sauerstoff aus der Luft und Abgabe von Kohlendioxid aus dem Blut.
Im Rahmen des Lungenkreislaufes wird das verbrauchte Blut, das die rechte Herz-
kammer aus den großen Körpervenen aufnimmt, über die Lungenarterie in die Lunge
befördert, bis hin zu den Lungenbläschen. Dort gibt das Blut das Abfallprodukt Koh-
lendioxid (CO2) zum Ausatmen ab und nimmt aus der eingeatmeten Luft den Sauerstoff
(O2) auf. Das mit Sauerstoff angereicherte Blut gelangt dann in die linke Herzkammer
und wird dort über die Körperhauptschlagader (Aorta) je nach Bedarf im Körper ver-
teilt. Das Atmungszentrum im Hirnstamm koordiniert die gesamte Atmung.
Der Sauerstoff muss mit dem Blut in der Lunge in Kontakt kommen, um aufge-
nommen und verwertet werden zu können. Aufgrund des aufrechten Ganges des Men-
schen und der Schwerkraft ist das Blut in der Lunge sehr unterschiedlich verteilt. An der
Lungenspitze, in der Nähe des Schlüsselbeins, beträgt die Durchblutung weniger als ein
Zehntel Liter pro Minute, im untersten Drittel der Lunge dagegen einen Liter pro Minu-
te. Für eine maximale Aufnahme von Sauerstoff ist das Hineinatmen in den unteren
Bereich der Lunge erforderlich. Bei flacher Atmung werden nur 0,2 statt 0,5 Liter Sau-
erstoff aufgenommen, wodurch die unteren Lungenbläschen unterversorgt bleiben.
Sauerstoff ist die Verbrennungsenergie des Körpers, durch die alle Stoffwechselpro-
zesse ermöglicht werden. Sauerstoff sorgt in den Körperzellen für die Verbrennung der
Nährstoffe, wodurch diese zur Energiegewinnung nutzbar gemacht werden.
260 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Während der Sauerstoff verbrannt wird, entstehen Kohlendioxid und Wasser als
Stoffwechselabfälle. Zu viel Kohlendioxid und zu wenig Sauerstoff im Blut führen zum
Einatmen. Bei Sauerstoffüberangebot und Kohlendioxidmangel (z.B. nach einer Hyper-
ventilation) kommt es zur Atemruhe oder zum Atemstillstand. Hyperventilation bewirkt
somit Atemnot, führt jedoch nicht zur Bewusstlosigkeit.
Atem- und Herzrhythmus sind eng aneinander gekoppelt. Das Verhältnis von At-
mung und Herzschlag beträgt in Ruhe sowie im Schlaf 1:4. Bei 15-20 Atemzügen pro
Minute erfolgen 60-80 Herzschläge.
Die Ruheatmung sollte nicht mehr als 15 Atemzüge pro Minute umfassen (bei Män-
nern 12-14, bei Frauen 14-15 Atemzüge). Unter Belastung erfolgen bis zu 30 Atemzü-
ge, bei gezielter Entspannung 6-8 Atemzüge pro Minute. Schneller atmen beschleunigt
den Herzschlag, weil der vermehrt eingeatmete Sauerstoff zu den Organen weiterbeför-
dert werden muss. Langsamer atmen verlangsamt den Herzschlag. Viele Panikpatienten
haben bereits in Ruhe einen zu hohen Puls.
Einatmen bedeutet Anspannung, Ausatmen bewirkt Entspannung. Je flacher die At-
mung, desto schneller ist sie und desto höher ist in der Regel auch die Herzfrequenz.
Die Einatmungsluft enthält 20% Sauerstoff, 78% Stickstoff, 0,03% Kohlendioxid
und andere Stoffe wie z.B. Reizstoffe, Umweltgifte, Staub. Die Ausatmungsluft enthält
14% Sauerstoff, 69% Stickstoff, 5% Kohlendioxid sowie etwas Wasserdampf und Spu-
ren anderer Gase.
Das maximale Sauerstoffaufnahmevermögen hängt von der Größe des Herzminuten-
volumens (Schlagfrequenz mal Schlagvolumen/Minute) ab. Ausdauerbelastung verbes-
sert das Herzschlagvolumen. Das Sportlerherz schlägt in Ruhe oft nur 40- bis 50-mal
pro Minute und kann bei Belastung mit weniger Schlägen mehr Blut befördern als das
von Untrainierten. Ein trainierter Körper hat infolgedessen eine bessere Aufnahme und
Verwertung von Sauerstoff als ein untrainierter Körper.
Sportler atmen Luft mit 20% Sauerstoff ein und Luft mit 12% Sauerstoff aus. Nicht-
sportler atmen Luft mit 20% Sauerstoff ein und Luft mit 17% aus: Sie nutzen mit jedem
Atemzug nur 3% des vorhandenen Sauerstoffs. Untrainierte müssen daher fast dreimal
so viel atmen wie Trainierte, um dieselbe Energie zu erhalten.
Ausdauersport (Laufen, Schwimmen, Radfahren, Skilanglauf) ist das beste Atem-
training, weil dadurch eine maximale Sauerstoffaufnahme und -verwertung erfolgt.
Unzureichendes Ausatmen vor dem Einatmen, wie dies oft bei Angst, Aufregung
und Stress der Fall ist, führt dazu, dass sich Kohlendioxid und Schlacken als Abfallpro-
dukt des Atmens in der Lunge stauen und ins Blut abgedrängt werden, was eine vorü-
bergehende Vergiftung bewirkt, die sich in Unruhe, Müdigkeit, Erschöpfung u.a. äußert.
Vollständiges Ausatmen ermöglicht erst intensives Einatmen.
Ständige Sauerstoffunterversorgung des Körpers führt langfristig zu Verspannun-
gen, Kopfweh, Kreislaufproblemen, rascher Ermüdung und Konzentrationsschwäche.
Asthma und Bronchitis werden durch psychogen bedingte Verkrampfungen der At-
mungsorgane verstärkt. Asthma ist eine Störung der Ausatmung als Folge von Ver-
krampfung oder schleimbedingter Verstopfung der Bronchiolen.
Bei Arbeitsbedingungen ohne ausreichende Sauerstoffzufuhr kann der Körper Ener-
gie durch Glykolyse (Zuckerspaltung) gewinnen. Zu Beginn jeder intensiven Arbeit
schaltet der Organismus von der Oxydation (Energiegewinnung unter Sauerstoff) auf
Glykolyse um. Dabei wird Glukose in Laktat (Milchsäure) umgewandelt.
Man unterscheidet drei Formen der Atmung: Brust-, Zwerchfell- und Vollatmung.
Die verschiedenen Formen der Atmung werden im Folgenden näher beschrieben.
Angst als biologisches Geschehen 261

Brustatmung

Die Zwischenrippenmuskeln (Interkostalmuskeln) sorgen dafür, dass das Volumen des


Brustkorbs beim Einatmen zunimmt und beim Ausatmen abnimmt, was jedoch nur bei
körperlicher Belastung verstärkt erforderlich ist (in Ruhe reicht die Zwerchfellatmung).
Jede dieser Bewegungen überträgt sich auf die Lunge, die sich dann entsprechend aus-
dehnt oder verkleinert. Bei der reinen Brustatmung wird nur das obere und mittlere
Drittel der Lunge durchlüftet.
Zur Brustatmung gehört auch die Schulter-(Schlüsselbein-), Flanken-(Untere Rip-
pen-) und Rückenatmung. Bei der Schulteratmung bewegen sich in der Einatmungspha-
se die Schultern in Richtung der Ohren. Weil bei der Schulteratmung Muskeln des
Schlüsselbeins benutzt werden, die normalerweise zum Atmen nicht gebraucht werden,
spricht man auch von Schlüsselbein- oder Hochatmung. Die Schulter- bzw. Schlüssel-
bein-Atmung ist die schlechteste und ineffizienteste Atmungsform, weil mit sehr viel
Energie relativ wenig Luft bewegt wird. Durch das Hochziehen der Schultern wird der
Brustkorb nicht erweitert, sodass sich die Lunge nicht genügend ausdehnen kann. Es
kommt zu einem unangenehmen Luftstau im oberen Brustkorb, der eine Einatmung im
unteren Lungenbereich verhindert. Die muskuläre Verspannung im Schulter- und Brust-
bereich verhindert ein entspanntes Ausatmen.
Die Schulteratmung tritt auf bei Angstzuständen, wenn der Atem zu stocken beginnt.
Bei einer Schreckreaktion zieht man die Schultern hoch, hält den Atem an und atmet
ineffektiv aus dem oberen Brustkorb heraus weiter, in der irrigen Meinung, über den
Mund maximal viel Luft aufzunehmen. Tatsächlich wird jedoch nur ein kleiner Teil der
Lungenkapazität genutzt, was verstärkte Atemnot bewirkt und Hyperventilieren begün-
stigt. Es werden Muskelgruppen aktiviert, die für den normalen Atemvorgang nicht
benötigt werden, um den Preis, dass „mehr Arbeit für weniger Luft“ erfolgt. Gleichzei-
tig wirkt die hoch sitzende Luftfülle bedrängend (Druckgefühl auf der Brust).
Wenn man bei der Aufforderung, mit dem Mund tief einzuatmen, um eine maximale
Menge Luft aufzunehmen, die Schultern in Richtung der Ohren hebt, hat man eine völ-
lig ineffiziente Schulter- oder Schlüsselbeinatmung. Bei überwiegender Brustatmung,
wie sie für viele Menschen typisch ist, hebt und senkt sich nur der Brustkorb, entspre-
chend dem früheren militärischen Motto „Brust heraus, Bauch hinein!“
Etwa zwei Drittel der Menschen atmen falsch. Sie ziehen beim Einatmen den Bauch
ein und heben die Schultern, beim Ausatmen drücken sie den Bauch heraus. Sie atmen
zu flach in den oberen Brustraum hinein und haben eine zu hohe Atemfrequenz. Mehr
als 15 Atemzüge pro Minute werden von vielen Atemtherapeuten bereits als Stresssi-
gnal angesehen. Eine falsche Atmung hängt oft auch mit dem herrschenden Schlank-
heitsideal zusammen. Viele Menschen – vor allem Frauen – möchten nicht durch eine
stärkere Bauchatmung in unangenehmer Weise an ihr Übergewicht erinnert werden.
Eine falsche Brustatmung kann ein Druck- und Engegefühl im Brustkorb begünsti-
gen, aber auch herzphobische Ängste auslösen, wenn die Missempfindungen im Brust-
bereich irrtümlich auf das darunter liegende Herz projiziert werden.
Ein wichtiger Hinweis für Angstpatienten ohne übermäßige Brustatmung: Das in
Angstsituationen oft sehr belastende Druckgefühl im Brustkorb („Beklemmung“) selbst
bei richtiger Atmung entsteht durch den Umstand, dass sich bei starken Emotionen wie
Angst die Lunge zur verbesserten Atmung weit stellt und sich füllt und dann von innen
gegen die angstverspannte Brust- und Rippenmuskulatur drückt. Im nicht bewegten
Zustand wird diese Symptomatik oft als bedrohlicher erlebt als bei Aktivität.
262 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Zwerchfellatmung
Das Zwerchfell ist der wichtigste Atemmuskel, weil er bei richtiger Atmung 80% des
Atemvolumens bewirkt. Es handelt sich dabei um eine gewölbte Muskelplatte, die aus-
sieht wie ein aufgespannter Regenschirm und die den Brustraum vom Bauchraum ab-
grenzt. Eigentlich sind zwei Zwerchfellkuppeln vorhanden, je eine im rechten und lin-
ken Oberbauch. Der Zwerchfellmuskel und die Zwischenrippenmuskeln sorgen gemein-
sam für die Ausdehnungsfähigkeit der Lunge und ausreichende Atemluft.
Die Zwerchfellatmung ist die normale Atmung in Ruhe. Sie beruht auf einer An-
spannung (Abflachung) des Zwerchfells beim Einatmen, wodurch die Lunge sich aus-
dehnen und das untere Drittel der Lunge durchlüftet werden kann, und einer Entspan-
nung (Krümmung) beim Ausatmen, wodurch die Lunge zusammengepresst wird.
Die beiden Lungenflügel hängen frei im Brustkorb und werden bei der Einatmung
auseinander gezogen. Durch das Auseinanderziehen der Lunge beim Tiefertreten des
Zwerchfells entsteht scheinbar ein Hohlraum (ein Unterdruck in Wirklichkeit), in den
die Luft passiv hineingesogen wird – ein ähnliches Prinzip wie beim Aufziehen einer
Spritze, wodurch ebenfalls ein Unterdruck entsteht. Die Lunge kann sich durch die
Zwerchfellatmung nach unten weiter ausdehnen und mehr Luft aufnehmen. Im unter-
sten Drittel ist aufgrund der Schwerkraft auch das meiste Blut zur Sauerstoffaufnahme.
Das Ausatmen ist ein rein passiver Vorgang für Zwerchfell, Lunge und Luft. Die
vorher angespannte Zwerchfellmuskulatur entspannt sich und wölbt sich deshalb wieder
in den Brustkorb vor. Die vorher gedehnte Lunge kann nun wie ein Gummiband auf
ihre ursprüngliche Größe zusammenschrumpfen. Dabei entweicht die Luft automatisch
und passiv aus der Lunge über die Nase oder durch den Mund.
Beim Einatmen flacht sich die bis dahin hochgewölbte Zwerchfellkuppel durch akti-
ves Zusammenziehen der Muskulatur ab (das Zwerchfell steht dann um 1-3 cm tiefer).
Dadurch wird der Brustraum größer, zunächst auf Kosten des Bauchraums. Die Einge-
weide im Bauchraum können aber nicht beliebig zusammengedrückt werden. Folglich
drängen sie nach vorne und wölben den Bauch vor (Heben und Senken der Bauchdecke
bei guter Zwerchfellatmung). Man spricht deshalb auch von der Bauchatmung.
Bei der Zwerchfellatmung werden auch die seitlichen Rippenmuskeln bewegt. Die
unteren Rippen werden auseinander gezogen, sodass sich der Brustraum erweitert. Die-
se Form der Atmung nennt man Flankenatmung. Es weitet sich auch der untere Rücken.
Die Zwerchfellatmung erleichtert auch andere Körpervorgänge:
z Erleichterung der Verdauung. Das Auf und Ab des Zwerchfells ist für die Einge-
weide eine verdauungsfördernde Massage (besonders hilfreich bei Verstopfung).
z Erleichterung der Herztätigkeit und des Blutkreislaufs. Das Herz ruht mit einem
breiten Streifen seiner rechten Herzkammer und mit einem Teil seiner linken Kam-
mer auf dem Zwerchfell. Die rechte Herzhälfte, insbesondere der ihr vorgeschaltete
venöse Abschnitt des großen Kreislaufs, macht alle Zwerchfellbewegungen mit.
Durch die Zwerchfallabflachung beim Einatmen bewegt sich auch das Herz weiter
nach unten und wird dadurch größer und länger, sodass es mehr Blut aus den Venen
aufnehmen kann. Durch die Wölbung beim Ausatmen wird das Herz wieder in den
Brustkorb hoch gedrückt.
z Schonung der Stimme. Die Stimmritze wird durch die Zwerchfellanspannung beim
Einatmen geöffnet, was eine gute Stimme ermöglicht, während sie bei der Brustat-
mung geschlossen bleibt. Bei reinen Brustatmern kommt es daher leicht zur Beein-
trächtigung der Stimme.
Angst als biologisches Geschehen 263

Vollatmung
Die Vollatmung (Brust- und Zwerchfellatmung) ist die effizienteste Atmung. Zuerst
hebt sich die Bauchdecke (Zwerchfellatmung), dann erweitern sich auf der Höhe der
Einatmung infolge der Aufwärtsbewegung der Luft die unteren Rippen (Flanken-
atmung) und der Rücken (Rückenatmung), schließlich heben sich die Schultern (Schlüs-
selbeinatmung), sodass der ganze Atemraum vom Zwerchfell bis zum obersten Lungen-
bereich, den Lungenspitzen, benutzt wird. Anschließend wird sofort ausgeatmet. Ein
ergiebiger tiefer Atemzug steigt somit immer von unten, aus dem Bauch heraus, nach
oben bis in die Lungenspitzen. Die Atmung gleicht einer Wellenbewegung. Dazu passt
bei Atemübungen die Vorstellung, die Luft von unten nach oben einzuatmen und von
oben nach unten auszuatmen.

Atmung und Psyche


Atmung und körperliche bzw. psychische Befindlichkeit hängen eng zusammen. Es ist
unmöglich, einerseits körperlich ruhig und entspannt zu atmen und andererseits aufge-
regt zu sein. Über die Art der Atmung wird der Körper entspannter oder angespannter.
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Er-
weiterung der Luftröhre und der Bronchien (Luftröhrenverzweigungen in der Lunge),
was eine tiefere Atmung ermöglicht, um mehr Sauerstoff für die bevorstehende Muskel-
tätigkeit zur Verfügung zu haben. Atemhäufigkeit und Atemmenge steigen an.
Durch eine vertiefte Atmung kann bedeutend mehr Sauerstoff aufgenommen werden
als durch eine beschleunigte. Der bei Angst vermehrt aufgenommene Sauerstoff bleibt
mangels Bewegung in den Bronchien und wird nicht zu den Lungenbläschen in den
Randbezirken der Lunge transportiert, was ein Gefühl der Atembeklemmung bewirkt.
Bei Ruhe und Entspannung bewirkt das parasympathische Nervensystem eine Ver-
engung der Luftröhre.
Schock- bzw. Schreckreaktionen führen durch die parasympathische Überaktivität zu
einer Verkrampfung der Bronchiolen (kleine Verästelungen der Bronchien) bei der
Ausatmung sowie zu einer reduzierten Atemhäufigkeit und -menge, was als Atemnot
erlebt wird. Subjektiv äußern sich Schock- und Schreckreaktionen als Atemanhalten,
Zuschnüren der Kehle, „Kloßgefühl“ im Hals, (durch Sauerstoffmangel bedingte) all-
gemeine Schwäche, Schwindel, Benommenheit, Erstickungsangst.
Bei Schreck hält man die Luft an. Bleibt der Schreck bestehen, sodass man nicht er-
leichtert ausatmen kann, bleibt diese Luft im Körper, und man atmet anschließend mit
angespanntem Brustkorb wieder ein, wie dies auch bei Asthmatikern der Fall ist. Dies
führt zu einem unangenehmen Spannungsgefühl im Brustbereich, meist linksseitig, was
oft herzbezogene Ängste auslöst.
Atemanhalten wird häufig auch zur Unterdrückung von unangenehmen Gefühlen
und zur Linderung von Schmerzzuständen eingesetzt. Tiefes Durchatmen führt dagegen
oft zu Weinen. Weinen bei Angst und Stress kann durchaus gut und entspannend sein
und sollte nicht unterdrückt werden. Weinen sollte deswegen jedoch nicht gefördert
werden, weil Untersuchungen zeigen, dass es einem danach nicht unbedingt besser geht.
Grundsätzlich dient ein „Tief-Luft-Holen“ in Schrecksituationen dazu, innezuhalten,
sich voll zu konzentrieren und dann gezielt zu reagieren (was bei so genannten
„Schrecktypen“ unterbleibt).
264 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Kleine Spannungsveränderungen der Atemmuskeln verändern das Gesamtvolumen


der Lunge beträchtlich. Schon leichte Muskelverspannungen können Störungen der
Atmung bewirken, wie dies bei Angst, Aufregung, Stress und verschiedenen körperli-
chen Krankheiten der Fall ist. Die Verspannung des Brustkorbs (zusammen mit der
häufigen Schulter-Nacken-Verspannung und der Anhebung der Schlüsselbeine und des
Brustbeins) behindert die Atmung und kann zur Hyperventilation führen.
Verstärkte Brustatmung bei Verspannung bzw. Verkrampfung der Zwischenrippen-
muskulatur führt zu einem Enge- und Druckgefühl im Brustkorb. Durch die Füllung der
oberen Lungenhälfte bei gleichzeitiger Anspannung des Brustkorbs entsteht der Ein-
druck, dass kein Platz mehr zum Atmen da sei. Als Folge davon wird noch intensiver
mit dem Mund eingeatmet, wodurch das Engegefühl im Brustkorb verstärkt wird. Es
kommt zu einer „aufgesetzten Hyperventilation“.

Hyperventilation
Bei Angst, Aufregung, Wut und Stress ist die Atmung oft entweder rasch und flach mit
eingestreuten Seufzerzügen oder sie wechselt von einer unruhigen Mittellage zur Hy-
perventilation (schnell und tief). Plötzliches Erschrecken kann zu einem vorübergehen-
den Atemstillstand führen („Luft anhalten“), gefolgt von einer intensivierten Atmung.
Das Hyperventilationssyndrom wird von vielen Fachleuten und vom DSM-IV als ei-
ne Unterform der Panikstörung angesehen, ähnlich wie die Herzphobie. Beiden ge-
meinsam ist der appellative Charakter der Symptomatik. Das Hyperventilationssyndrom
tritt vor allem bei jüngeren Menschen auf, bevorzugt im zweiten und dritten Lebens-
jahrzehnt. Die Symptomatik kommt bei Frauen dreimal so häufig vor wie bei Männern.
60% der Angstpatienten hyperventilieren bei Angst. Menschen mit chronischem Hyper-
ventilationssyndrom weisen in weniger als 1% der Fälle eine Zwerchfellatmung auf.
Die Art der Atmung (fast ausschließlich Brustatmung, geringe oder fehlende Bauch-
atmung) kann bei ansonsten unklaren Symptomen den Verdacht auf ein Hyperventilati-
onssyndrom untermauern. Zur Überprüfung dient ein Hyperventilationstest für drei
Minuten, wobei die Betroffenen erkennen lernen, wie ihre Symptome entstehen.
Hyperventilation ist in über 95% der Fälle psychisch bedingt. Wenn keine Auslö-
sung durch psychische Erregung (Angst, Ärger, Wut) erkennbar ist, sollten mögliche
organische Ursachen ausgeschlossen werden, z.B. Kaliummangel oder -überschuss,
Kalziummangel, Magnesiummangel, metabolische Azidose oder Alkalose.
Menschen mit Ängsten, chronischem Stress und Verspannung atmen flach und uner-
giebig aus dem oberen Brustkorb heraus und nutzen damit nur ein Drittel bis zur Hälfte
der Lungenkapazität. Bei mehr Sauerstoffbedarf atmen sie noch stärker mit dem Brust-
korb statt intensiver mit dem Zwerchfell. Durch die schnelle Atmung kommt es zum
Herzrasen. Den Betroffenen fällt die Hyperventilation oft gar nicht auf, sodass sie diese
auch nicht als die Ursache ihres beschleunigten Herzschlags erkennen können.
Die generelle Einatmung durch den Mund, wie sie insbesondere bei Menschen mit
Allergien, Asthma oder Atemwegserkrankungen vorkommt, begünstigt bei Angst, Auf-
regung oder Stress ohne gleichzeitige Bewegung eine Hyperventilation. Oft wird die
Hyperventilation nicht durch Angst, sondern durch Wut oder Aggression ausgelöst.
Hyperventilation wird einerseits häufig durch chronische Muskelverspannungen im
Brustkorb begünstigt, führt andererseits aber auch zu Brustschmerzen, wenn bei fast
vollständig gefüllter Lunge hyperventiliert wird (aufgesetzte Hyperventilation).
Angst als biologisches Geschehen 265

Hyperventilation bewirkt eine Überdehnung der Muskeln zwischen den Rippen, was
Schmerzen bzw. Ziehen in der Brust hervorruft. Weiteres, noch tieferes Einatmen führt
zu verstärktem Schmerz bzw. Ziehen in der Brust.
Die Betroffenen sollten die körperlichen Vorgänge bei einer Hyperventilation genau
verstehen, um ihre häufige Beunruhigung durch die dabei auftretenden Symptome zu
vermindern. Deshalb wird im Folgenden eine ausführliche Erklärung geboten.
Unter dem Hyperventilationssyndrom versteht man eine über das physiologische
Bedürfnis hinausgehende Beschleunigung und Vertiefung der Atmung, wodurch im
Blut der Sauerstoffanteil ansteigt und der Kohlendioxidgehalt stark abfällt. Das Atem-
minutenvolumen liegt durchschnittlich 95%, im Anfall bis zu 500% über dem Soll.
Hyperventilation bedeutet, dass man schneller und/oder tiefer atmet, als es für die
Versorgung des Körpers mit Sauerstoff und den Abbau von Kohlendioxid nötig ist. Es
wird zu viel Sauerstoff eingeatmet und zu viel Kohlendioxid ausgeatmet. Ohne körperli-
che Bewegung sinkt der Kohlendioxidanteil im Blut besonders stark ab, weil nicht ge-
nügend Kohlendioxid in den Muskeln gebildet wird.
Hyperventilation bewirkt eine Fehlregulation des Gasstoffwechsels im Bereich der
Lungenbläschen und infolgedessen eine Verminderung des Kohlendioxidpartialdrucks,
wodurch es zu einer Verschiebung des Säure-Basen-Gleichgewichts kommt. Kohlen-
dioxid ist zwar ein Abfallprodukt, muss jedoch in einem bestimmten Verhältnis zum
Sauerstoff im Körper vorhanden sein.
Durch den Kohlendioxidmangel steigt der pH-Wert (Säure-Basen-Verhältnis im
Blut): das Blut wird basisch. Das massive Absinken des Säuregehalts im Blut wird
„respiratorische Alkalose“ genannt. Bei starker Hyperventilation kann der Kohlendi-
oxidanteil im Blut in weniger als 30 Sekunden um 50% abnehmen. Innerhalb einer
Minute treten Symptome auf.
Hyperventilation bewirkt über die Kohlendioxidreduktion eine Erniedrigung der
Kalziumionen-Konzentration im Blut, d.h. der Anteil von ionisiertem Kalzium im Blut
sinkt ab, wodurch die Nervenzellen erregbarer werden und leichter eine Alarmreaktion
(Bereitstellungsreaktion) ausgelöst werden kann. Wenn das Kohlendioxid, das von
Eiweißkörperchen im Blut transportiert wird, durch die Hyperventilation (insbesondere
bei fehlender körperlicher Bewegung) im Blut stark abnimmt, bindet sich normalerwei-
se neben anderen Stoffen das Erdalkalimetall Kalzium stärker an das Eiweiß, was zu
Problemen führt, wie nachstehend erklärt werden soll.
Kalzium ist ein wichtiger Bestandteil des Blutes und wird neben der Stärkung der
Knochen u.a. auch zur Funktionsfähigkeit der Nervenzellen und der Muskel benötigt.
Kalzium ist im Blut teilweise an Eiweiß gebunden, teilweise schwimmt es als freier
Bestandteil ohne Verbindung zu anderen Blutbestandteilen im Blut herum. Das freie
Kalzium im Blut wird umso weniger, je mehr Stellen am Bluteiweiß wegen des stark
abgeatmeten Kohlendioxids frei werden.
Das freie Kalzium im Blut ist u.a. dafür verantwortlich, dass die Muskeln geschmei-
dig arbeiten können. Wenn weniger freies Kalzium im Blut ist, werden die Nerven er-
regbarer, und die Muskeln beginnen sich zu verkrampfen. Gewöhnlich merkt man dies
zuerst an einem Kribbeln in den Lippen bzw. im Bereich des Mundes, bald darauf zie-
hen sich die Lippen zusammen („Kussmundstellung“). Dann kribbelt es in Händen und
Füßen und die Finger ziehen sich zusammen, sodass die Hände wie Pfoten aussehen
(„Pfötchenstellung“) und im Extremfall gar nicht mehr bewegt werden können. Neben
Kribbeln, Pelzigkeit und Taubheitsgefühlen können in Brust und Hals auch Druck- oder
Engegefühle entstehen.
266 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Durch die engere Bindung der Kalziumionen an das Eiweiß im Blut verengen sich
auch die Blutgefäße im Gehirn, was die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn beeinträchtigt und
zu Schwindel, Konzentrationsstörungen und Schwarzwerden vor den Augen führt und
die bestehende Angst und Unruhe verstärkt. Gleichzeitig wird das sympathische Ner-
vensystem aktiviert, sodass eine Notfallreaktion immer wahrscheinlicher wird, die dann
als Panikattacke erlebt wird.
Hyperventilation führt über den Kalziumabfall zur Verkrampfung der Bronchien und
der Stimmritzen. Wegen der zunehmenden Angst, keine Luft zu bekommen, und wegen
des Drucks im Brustkorb atmen die Betroffenen noch tiefer und heftiger. Da weiterhin
keine Bewegung erfolgt, wird der Kohlendioxidmangel im Blut noch größer.
Nicht einmal im Extremfall führt hyperventilationsbedingte Sauerstoffnot zur Ohn-
macht, wie eine niederländische Studie an Versuchspersonen ergab, die mindestens 90
Minuten lang so schnell und tief atmeten, als sie konnten. Es ist jedoch eine Hyperventi-
lationstetanie möglich, d.h. ein krampfartiger Anfall, der für Unerfahrene wie ein epi-
leptischer Anfall ausschaut, sodass Beobachter unnötigerweise den Notarzt rufen.
Der Arzt verabreicht oft eine Kalziumspritze zur Krampflösung. Die künstliche Zu-
fuhr von Kalzium löst rasch den Muskelkrampf (Tetanie). Eigentlich handelt es sich
dabei um einen typischen Placeboeffekt, weil bei einer Hyperventilation nur ein relati-
ver und kein absoluter Kalziummangel gegeben ist. Die Kalziuminjektion bewirkt ein
subjektives Wärmegefühl in Händen und Füßen, was dem Gefühl des Absterbens der
Extremitäten entgegenwirkt.
Bei starken Tetanien wird oft auch eine Beruhigungsspritze (Valium®, Rivotril®)
verabreicht, was meist unnötig ist, weil deren Wirkung weit über den Hyperventilati-
onszeitraum hinaus anhält, sodass man sich noch Stunden später benommen fühlt.
Richtige, langsame Zwerchfellatmung, gleichzeitige Bewegung während der At-
mung bzw. eine Papiertüte, ein Taschentuch oder die hohle Handinnenfläche vor dem
Mund, um das ausgeatmete Kohlendioxid wieder einzuatmen, sind gut geeignet, den
Kohlendioxidgehalt im Blut zu steigern und die Muskeln geschmeidiger zu machen.
Eine Hyperventilation bewirkt folgende Symptome: anhaltendes Gefühl, nicht richtig
durchatmen zu können, verbunden mit dem Zwang, ein paar Mal tief durchatmen zu
müssen, Atemnot und Druck auf der Brust, Herzklopfen und Herzrasen, Herzschmer-
zen, Brustschmerzen (durch Überspannung der Muskeln zwischen den Rippen), Enge-
gefühl über der Brust (Gürtel- und Reifengefühl), Gefühllosigkeit, Kribbeln („Ameisen-
laufen“) und Zittern an Händen (besonders in den Fingerspitzen), Füßen und Beinen,
Kribbeln um die Mundregion, taube Lippen, Globusgefühl (Zusammenschnüren der
Kehle), Verkrampfung der Hände („Pfötchenstellung“), kalte Hände und Füße, Zittern,
Muskelschmerzen, Druck im Kopf und Oberbauch, Bauchbeschwerden (durch das Luft-
schlucken), Übelkeit, Schwindel, Benommenheit, Unwirklichkeitsgefühle, Pupillener-
weiterung, Sehstörungen, Gefühl, wie auf Wolken zu gehen, Angst, ohnmächtig zu
werden, und Todesangst (wegen der Erstickungsgefühle).
Im Extremfall einer Hyperventilationstetanie führt der Sauerstoffmangel zu
Krampfzuständen. Die in verschiedenen Büchern beschriebene, für einen Zeitraum von
einigen Sekunden mögliche Bewusstlosigkeit tritt in der Praxis nicht auf.
Hyperventilation führt auch zu Veränderungen der Wahrnehmung. Sehen und Hören
sind beeinträchtigt, das Selbsterleben bekommt eine andere, Angst machende Dimensi-
on, was die Paniksymptome verstärkt, insbesondere die Angst vor dem Verrücktwerden.
Bei starker Hyperventilation treten binnen einer Minute Symptome auf, die zwar unan-
genehm sind, jedoch keinen bleibenden Schaden verursachen.
Angst als biologisches Geschehen 267

Eine zu rasche und zu tiefe Atmung im Sinne einer Hyperventilation führt parado-
xerweise zu einem Sauerstoffmangel, verbunden mit dem Angstgefühl zu ersticken,
sodass noch schneller und tiefer geatmet wird (was die Symptomatik verschärft).
Trotz des Überatmens besteht ein Gefühl von Luftnot, das sich bis zur Erstickungs-
angst steigern kann. Dies hängt damit zusammen, dass die Atmung vor allem durch
einen Kohlendioxidüberschuss und in geringerem Ausmaß auch durch einen Sauer-
stoffmangel angeregt wird. Bei einer Hyperventilation ist gerade das Umgekehrte der
Fall, sodass das Atemzentrum die Atmungsvorgänge vermindert.
Menschen, die chronisch hyperventilieren, haben oft keine eindeutig abgrenzbaren
akuten Anfälle, nur relativ unspezifische und vage Beschwerden, selten Atemstörungen
oder Tetaniezeichen.
Als Leitsymptome des chronisches Hyperventilationssyndroms gelten: Schwindel,
Brustschmerzen, kalte Hände und Füße sowie verschiedene psychische Beschwerden
(Müdigkeit, Schlappheit, Schläfrigkeit, Wetterfühligkeit, Konzentrationsstörungen,
Vergesslichkeit, Reizbarkeit, Angespanntheit, ängstliche oder depressive Symptomatik).
Panikattacken lassen sich nach neueren Untersuchungen nicht generell durch die di-
rekte biologische Wirkung der Hyperventilation erklären, wenngleich im Einzelfall
Hyperventilation oft zu Panikattacken führen kann. Panikattacken dürfen nicht einfach
mit dem Hyperventilationssyndrom gleichgesetzt werden.
Viele Panikpatienten hyperventilieren überhaupt nicht. Provokationstests bewirkten
bei Panikpatienten keinen erniedrigten Kohlendioxidpartialdruck des Blutes, der bei
chronischer Hyperventilation zu erwarten gewesen wäre.

Globusgefühl – Zuschnüren der Kehle


Angst, Aufregung, Stress, Ekel, Trauer und Depressionen bewirken häufig ein Fremd-
körper- und Engegefühl im Rachen. Es entsteht ein Würgegefühl und ein Schluck-
zwang, wie wenn man einen im Rachen steckenden Fremdkörper (Globus = Kugel,
Ball) schlucken sollte, der sich jedoch trotz Schluckens nicht von der Stelle bewegt. Der
Schluckakt ist im Gegensatz zu einer Schluckstörung nicht beeinträchtigt.
Das Globusgefühl kann folgende Empfindungen umfassen: Kloß im Hals, Fremd-
körpergefühl, Kratzen, Brennen, Trockenheitsgefühl, Schleimgefühl, Räusperzwang,
Schluckzwang, Schmerzen im Hals, die gelegentlich bis zu den Ohren ausstrahlen, im
Extremfall ein Zuschnüren der Kehle, das als Angst machendes Erstickungsgefühl er-
lebt wird. Das Zuschnüren der Kehle ist ein typisches Angstsymptom.
Bei bestimmten Panikpatienten beginnt die Attacke mit einem Globusgefühl, das zu
einer Erstickungsangst und erst infolgedessen zu massivem Herzrasen führt. Das Glo-
busgefühl beruht auf einer angst- und stressbedingten Krampfneigung der Muskulatur
des Speiseröhrenmundes.
Ein weiteres nichtorganisches Globusgefühl entsteht durch Verspannungen der
Halsmuskulatur, bedingt durch extreme körperliche Belastung, aber auch durch extre-
mes Zurückbeugen des Kopfes (z.B. beim Zahnarzt) und der damit verbundenen Über-
dehnung der Halsmuskulatur.
Verschiedene Angstpatienten fürchten den Zahnarzt gerade wegen dieses Globusge-
fühls. Sie haben Angst, etwas zu verschlucken und dabei zu ersticken. Die Angst vor
dem Verschlucken und dem darauf folgenden Ersticken stellt eine gar nicht so seltene
spezifische Phobie (Verletzungsphobie) dar.
268 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Ein psychogen bedingtes Globusgefühl kann durch Trinken und Essen leicht besei-
tigt werden, während beim Leerschlucken keine Erschlaffung der Muskelspannung des
Speiseröhreneinganges erfolgt. Viele Angstpatienten führen deshalb eine Flasche mit
einem Getränk mit sich. Durch Trinken verschwindet die Verspannung ebenso rasch
wie die oft gleichzeitig gegebene Mundtrockenheit.
Laut Psychoanalyse symbolisiert ein Globusgefühl bestimmte „Schluckprobleme“.
Man schluckt ein Problem hinunter und würgt daran. Als Konversionssymptom wurde
das Globusgefühl deshalb früher auch „Globus hystericus“ genannt.

Speichelfluss
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Vermin-
derung des Speichelflusses, weil dabei auch Appetit und Verdauung gehemmt werden.
Die Schleimbildung ist vermindert und die Luftzufuhr in die Lunge dadurch verbessert.
Subjektiv äußert sich Stress häufig in trockenem Mund bzw. dickflüssigem Speichel.
Das parasympathische Nervensystem bewirkt eine Erhöhung des dünnflüssigen
Speichelflusses und eine vermehrte dünnflüssige Schleimabsonderung. Dadurch wird
beim Essen der Bissen schlüpfrig und schluckfähig. Subjektiv äußert sich Entspannung
durch vermehrte Speichelbildung, sodass man öfter schlucken muss. Vermehrtes Schlu-
cken tritt auch bei Entspannungsübungen auf.

Skelettmuskulatur
Alle Muskeln haben eine bestimmte Grundspannung (Tonus), ohne die wir zusammen-
sinken würden wie bei einem Ohnmachtsanfall. Der Muskeltonus ändert sich ständig,
ohne dass uns dies auffällt. Wenn bereits bei potenzieller Gefahr die Skelettmuskeln
angespannt werden, besteht bei tatsächlichem Bedarf eine rasche Reaktionsfähigkeit im
Sinne von Kampf oder Flucht. Bei häufiger Fehlalarmierung kommt es jedoch zu einer
chronischen Muskelverspannung, die im Ruhezustand sehr unangenehm erlebt wird.
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine An-
spannung der Skelettmuskulatur als Vorbereitung auf körperliche Aktivität (Flucht oder
Angriff). Die vermehrte Blut- und Energiezufuhr erhöht den Spannungszustand in den
Muskeln. Gedanken und Gefühle. Innere Reize (Gedanken), führen zur gleichen musku-
lären Anspannung wie Anforderungen vonseiten der Umwelt. Dies ist für das Überleben
unbedingt notwendig. Die Erregungsbereitschaft der Gelenke äußert sich oft in einem
unsicheren Stand, der subjektiv als typischer Schwankschwindel erlebt werden kann.
Die hohe Muskelanspannung führt zum Zittern, solange keine gerichteten Bewegun-
gen erfolgen. Das Zittern der Muskeln dient auch der Bereitstellung von Wärme, um der
Skelettmuskulatur Höchstleistungen abzuverlangen. Damit die Muskeln Höchstleistung
erbringen können, müssen sie warm sein, wie aus dem Sport bekannt ist.
Viele Angstpatienten haben vor dem von anderen Menschen beobachtbaren Zittern
der Hände oft mehr Angst als vor dem von anderen nicht sichtbaren Herzrasen. Sie
befürchten, wie Alkoholiker auf Entzug zu wirken, wenn sie in einem Lokal eine Tasse
Kaffee zum Mund führen. Das feinmotorische Zittern wird durch Anspannung zu unter-
drücken versucht, sodass bei Überspannung eine grobmotorische Reaktion sichtbar
werden kann, die erst recht auffällig macht.
Angst als biologisches Geschehen 269

Die Verspannung und Verkrampfung in den Muskeln kann so weit gehen, dass sich
diese nicht einmal in Ruhestellung zu ihrer ursprünglichen Länge und Form ausdehnen
können. Dies beeinträchtigt die Durchblutung der Muskeln und die Funktion des
Lymphsystems, sodass nicht alle Giftstoffe aus den Muskeln ausgeschieden werden
können. Die im Körper verbleibenden Giftstoffe bilden Kristalle und verursachen
Schmerzen, Steifheit und manchmal Entzündungen und Schwellungen. Chronische
Muskelverspannung führt nicht nur zu örtlich begrenztem Muskelschmerz, sondern
auch zu Gelenkverrenkungen und ihren Folgeschmerzen.
Es ist ein häufiges Faktum: Chronische Muskelverspannungen bewirken starke
Schmerzzustände, weil die angespannten Muskeln die Gefäße verengen, die Blutzufuhr
beeinträchtigen und den Abtransport der Stoffwechselprodukte behindern. Viele chroni-
sche Schmerzen entstehen einfach nur aus den zweifachen Folgen der Minderdurchblu-
tung bei chronischer Verspannung: aus der Unterversorgung der Zellen mit Sauerstoff
einerseits und dem fehlenden Abtransport der Abfallprodukte des Stoffwechsels (Milch-
säure u.a.) andererseits.
Die Verspannung der Beine hängt bei vielen Menschen nicht nur mit der Vorberei-
tung auf Kampf oder Flucht zusammen, sondern oft auch mit einer Urangst vor dem
Fallen, der man durch Anspannung der Beine zu begegnen sucht. Die verspannungsbe-
dingte Stand- und Gangunsicherheit löst oft Schwindelgefühle aus, weil der Gleichge-
wichtssinn irritiert ist, sodass sich nicht selten ein agoraphobisches Vermeidungsverhal-
ten entwickelt. Übungen des entspannten und sicheren Stehens (in der Bioenergetik
„Erden“ genannt) sind hilfreiche Bewältigungsstrategien. Viele Menschen drücken ihre
Knie fest zusammen und stehen mit den Beinen steif durchgestreckt da, weil sie Angst
haben umzufallen. Die Beine elastisch etwas durchzubeugen (wie beim Schifahren) und
den Körperschwerpunkt zu senken, gibt dagegen Sicherheit vor dem Fall. Beim Schi-
fahren kommt es gerade dann zu Knochenbrüchen, wenn man die Beinmuskeln an-
spannt und sich gegen den Fall wehrt (in 90% der Fälle).
Übermäßige Anspannung in Phasen von körperlicher Untätigkeit führt nicht selten
zu Panikattacken. Es ist typisch, dass Panikanfälle oft in Ruhe, d.h. ohne anschließende
Bewegung, auftreten (beim Sitzen oder Liegen, in Pausen, am Wochenende). Möglichst
ruhiges Stehen-, Sitzen- oder Liegen-Bleiben bei Panikattacken aus Angst, dass noch
Ärgeres passieren könnte, verstärkt die Symptomatik. Durch Bewegung wird dagegen
die Anspannung rasch abgeführt. Hilfreich ist das Ausschütteln der Arme und Beine.
Muskuläre Verspannung begünstigt Schlafstörungen, besonders dann, wenn tags-
über keine ausreichende Bewegung und damit keine Ermüdung der Muskeln erfolgt, die
angenehme Entspannung garantiert. Einschlafstörungen, wie sie oft bei Menschen mit
einer generalisierten Angststörung vorkommen, treten verstärkt auf, wenn vor dem
Einschlafen ein langes ängstliches Grübeln erfolgt, wodurch der Körper immer wieder
aktiviert wird und nicht auf Entspannung umschalten kann. Ein- und Durchschlafstö-
rungen bzw. Schlaflosigkeit sind oft Ausdruck einer Befindlichkeitsverschlechterung.
Chronische Anspannung führt auch zu ständiger Müdigkeit, ähnlich wie bei einer
Depression. Die Betroffenen klagen über Erschöpfung ohne Anstrengung (asthenische
Symptomatik, d.h. Kraft- und Energielosigkeit). Diese Müdigkeit lässt sich am rasche-
sten durch zunehmende körperliche Betätigung überwinden, auch wenn man sich an-
fangs kaum dazu aufraffen kann.
Bei der Behandlung von Depressionen, Angststörungen und chronischen Schmerzen
gewinnen körperliche Aktivierung, Sport (Langsamlauftherapie), Massagen, Bäder zur
Muskelentspannung und körperorientierte Psychotherapie zunehmend an Bedeutung.
270 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Stressbedingte, chronische Muskelverspannungen zeigen sich in vielen Bereichen:


1. Extremitäten. Hände, Beine, Füße sind angespannt.
2. Kopfbereich. Eine Gefäßverkrampfung ist die Ursache häufiger Spannungskopf-
schmerzen, eine Schulter-Nacken-Verspannung die Ursache der dumpfen Kopf-
schmerzen im Hinterkopf und des Gefühls der Verschwommenheit.
3. Schulter-Nacken-Bereich. Hinterkopfspannungsschmerzen, Schwindel, Sehstörun-
gen und Klingelgeräusche in den Ohren sind die Folge der verspannten Blutgefäße,
die den Kopf versorgen.
4. Rücken. Rücken- und Kreuzschmerzen resultieren aus der ständigen muskulären
Verspannung des Rückens und bewirken zahlreiche Beschwerden wie schmerzhafte
Nackenversteifung, ausstrahlende Schmerzen in Schultern, Arme und Hände und
Durchblutungsstörung der Hände. Muskelverspannungen des oberen Rückens, die
zu Schmerzen unterhalb des Herzens oder im linken Arm führen, werden von den
Betroffenen häufig als Herzkrämpfe oder Herzschmerzen und damit als Panikattak-
ken auslösend erlebt. Fehlstellungen der Wirbelsäule im Hals- und Brustbereich auf-
grund chronischer Verspannung führen zu einem Druck auf die Nerven, der als
Schmerz im vorderen Brustbereich empfunden wird, weil dort die Nerven endigen.
5. Brustkorb. Die Verspannung des Brustkorbs (zusammen mit der Schulter-Nacken-
Verspannung und der Anhebung von Schlüsselbeinen und Brustbein) behindert die
Atmung und führt oft zu Hyperventilation mit Panikattacken.
6. Wangen-Kiefer-Bereich. Kieferverspannung sowie zusammengepresste Lippen und
Zähne sind Ausdruck einer allgemeinen Anspannung im Gesichtsbereich.
7. Zähne. Zähneknirschen (Bruxismus) ist eine häufige nächtliche Symptomatik.

Angstbedingte chronische Verspannungen werden fälschlich oft als Bandscheibenleiden


oder Rheumatismus diagnostiziert. Wenn alle Behandlungsversuche scheitern, erhebt
sich der Verdacht auf Angst, Depression oder Stress als Ursache der Verspannungen.
Oft wirken sich psychische Faktoren bei organisch bereits vorgeschädigten Körperteilen
im Sinne einer psychischen Überlagerung aus.
Subjektiv äußern sich Angst, Aufregung und Stress als Anspannung der Muskulatur,
was sich manchmal bis zu deutlich sichtbarem Zittern oder Beben ausweitet. Ohne an-
schließende körperliche Betätigung wird die chronische Anspannung der Muskulatur als
unangenehme Verspannung erlebt, oft verbunden mit Schmerzen. Bei einer Gesamt-
aktivierung des Organismus drückt sich emotionale Anspannung vorrangig in erhöhter
Muskelspannung aus.
Bei Ruhe und Entspannung bewirkt das parasympathische Nervensystem eine Er-
schlaffung der Skelettmuskulatur. Die Muskulatur umfasst mehr als die Hälfte der Kör-
permasse, sodass eine Lösung und Erschlaffung der Muskulatur zu einer weit reichen-
den Umschaltung des Organismus in Richtung Entspannung führt.
Muskelentspannung bei sich oder bei anderen wird als Schwere erlebt. Entspannte,
schlafende und ohnmächtige Menschen wirken deshalb schwerer als sonst. Das autoge-
ne Training beginnt mit der „Schwere-Übung“ als Mittel der muskulären Entspannung.
Bei Entspannung sowie vor dem Einschlafen treten bei chronisch verspannten Men-
schen oft Muskelzuckungen in den Armen und Beinen sowie im Gesicht auf, die eine
elektrische Entladung der vorher angespannten Muskeln darstellen. Zahlreiche Angstpa-
tienten, die um diese Vorgänge nicht Bescheid wissen, fürchten sich daher, an einer
unbekannten Störung zu leiden, wenn derartige Zustände plötzlich auftreten, und wer-
den durch die Fehlinterpretation der Empfindungen als gefährlich wieder ganz munter.
Angst als biologisches Geschehen 271

Die parasympathische Überaktivität bei Schock- bzw. Schreckreaktionen führt zu


„weichen Knien“, weil die Spannung nachlässt, im Extremfall erfolgt ein Zusammen-
sinken des Körpers, was bei Angstpatienten praktisch nicht vorkommt. Muskelschwä-
chen in den Beinen sind nicht selten durch eine Tranquilizerüberdosierung verursacht,
wie dies bei älteren Menschen häufig vorkommt.

Temperaturumverteilung
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Erhö-
hung der Temperatur im Körperinneren (Kerntemperatur) und eine Verminderung der
Hauttemperatur als Folge der Blutumverteilung und der erhöhten Stoffwechselprozesse.
Dies geschieht durch die Verengung der Blutgefäße der Haut.
Bei Ruhe und Entspannung erfolgt über das parasympathische Nervensystem eine
Reduzierung der Temperatur im Körperinneren (Kerntemperatur) und eine Erhöhung
der Hauttemperatur als Folge der Blutumverteilung und der verminderten Stoffwechsel-
prozesse. Die Senkung der Körpertemperatur geschieht größtenteils durch Erweiterung
der Hautgefäße. Ungefähr 75% der Wärmeabgabe erfolgt durch Wärmestrahlung und
Wärmeleitung.

Schweißdrüsen
Der Schweiß erhöht die Leitfähigkeit der Haut und damit die Reaktionsgeschwindigkeit.
Der Anstieg der Hautleitfähigkeit (Absinken des Hautwiderstands) ist ein beliebtes Maß
für die sympathikotone Erregung, weil die neuronale Kontrolle der Schweißdrüsen
ausschließlich durch den Sympathikus erfolgt. Ein emotionaler Reiz führt innerhalb von
1-4 Sekunden zum Absinken des Hautwiderstands.
Der Schweiß dient als natürliches Kühlsystem für den erhitzten Körper, ähnlich wie
das Kühlwasser beim Auto. Im Rahmen der Evolution diente der Schweiß wohl auch
dazu, den Körper glitschiger und damit für einen möglichen Feind unangreifbarer zu
machen. Bei Tieren werden durch den Schweiß die Geruchsreize für Artgenossen inten-
siviert. Es gibt einen kalten und einen warmen Schweiß.
Bei Angst, Aufregung und Stress kommt es – bewirkt über das sympathische Ner-
vensystem – zum Auftreten von kaltem und klebrigem Schweiß. Die Schweißdrüsen
sondern vermehrt Schweiß ab zur Kühlung des vermeintlich hart arbeitenden Organis-
mus. Der Schweiß trifft jedoch (im Gegensatz zum Arbeitsschweiß) auf kalte Haut,
bedingt durch die verminderte Durchblutung der Blutgefäße der Haut bei akutem Angst-
und Stresszustand, wo er sofort kalt wird. Das emotionale Schwitzen („kalter Angst-
schweiß“) geht im Gegensatz zum thermischen Schwitzen nicht mit einer Gefäßerweite-
rung einher. Wegen des unangenehmen Schwitzens wird oft ein Händedruck vermieden.
Das parasympathische Nervensystem bewirkt das Auftreten von warmem, dünnflüs-
sigem Schweiß großen Ausmaßes. Vermehrtes Schwitzen bei Anstrengung (Arbeits-
schweiß) dient dazu, den Körper angesichts des hohen Energieverbrauchs und der damit
verbundenen Erhitzung zu kühlen und vor Überhitzung zu bewahren. Über die Verdun-
stungskälte, die durch das Schwitzen entsteht, wird das Blut unter der Haut gekühlt,
bevor es in das Körperinnere gepumpt wird. 20% der Wärme wird durch Wasserverdun-
stung abgegeben, die zum Teil auch unmerklich durch Haut und Lunge erfolgt.
272 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Drei Viertel der durch die Stoffwechselprozesse entstehenden übermäßigen inneren


Wärme wird durch eine intensive Durchblutung der Haut an die Umwelt abgestrahlt.
Bei körperlicher Anstrengung ist die Haut gut durchblutet, da die Blutgefäße weit ge-
stellt sind. Ist bei hoher Außentemperatur die Luft mit Wasserdampf gesättigt, kann es
zu einem Wärmestau (Hitzschlag) kommen.

Stoffwechsel
Unter Stoffwechsel versteht man alle chemischen Vorgänge im Inneren des Körpers, in
jeder lebenden Zelle. Das gilt von dem ursprünglichen Ausgangsstoff der zugeführten
körperfremden Nahrung über deren Umbau bis zu den Endprodukten. Zu den Stoffwech-
selsubstanzen gehören Kohlehydrate (z.B. Zucker oder Getreidestärke), Fette, Proteine
(Eiweißstoffe), Mineralsalze, Spurenelemente, Vitamine, Sauerstoff und Wasser.
Der durch die Atmung aufgenommene Sauerstoff sorgt in den Körperzellen für die
Verbrennung der Nährstoffe, wodurch diese nutzbar gemacht werden. Die dem Körper
zugeführte Nahrung wird um- bzw. abgebaut. Im Verdauungsvorgang werden die ver-
wertbaren Bestandteile chemisch umgeformt und in kleine Teile zerlegt, damit sie die
Darmwand durchdringen und in das Blut eintreten können. Über den Blutkreislauf wer-
den sie den Zellen zugeführt und helfen dort entweder deren eigene Substanz aufzubau-
en (Zellstoffwechsel) oder dienen der Energiegewinnung (Betriebsstoffwechsel).
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Be-
schleunigung der gesamten Stoffwechselprozesse und infolgedessen eine verbesserte
Leistungsfähigkeit des menschlichen Organismus (Energie abbauender Stoffwechsel).
Subjektiv fühlt man sich durch den erhöhten Energieverbrauch oft heiß und erhitzt,
hinterher oft müde und ausgelaugt.
Bei körperlicher und/oder seelischer Belastung zeigt sich folgender Stoffwechsel:
1. Zuerst erfolgt in der Alarmphase über die Katecholamine des Nebennierenmarks
(Adrenalin, Noradrenalin) ein Abbau vorhandener Energien. Die Alarmreaktion be-
steht in einer höchstens 3-4 Minuten dauernden massiven Aktivierung des sympathi-
schen Nervensystems. Nach einigen Minuten lässt die Alarmwirkung nach. Es
kommt zur Gewöhnung an den Stressor bzw. zur Entspannung oder (bei weiterer
körperlicher oder seelischer Belastung) zur Widerstandsphase.
2. In der Widerstandsphase erfolgt über die Zuckerstoffwechselhormone der Nebennie-
renrinde (Glukokortikosteroide, insbesondere Kortisol) der Aufbau und die Preisga-
be neuer Energien. Nach 4 Stunden setzt die volle Wirksamkeit ein: Zuckerherstel-
lung aus Eiweiß, verstärkte Magensaftproduktion (Verdauungsförderung zur Ener-
giegewinnung). Es werden die vorhandenen Katecholamineffekte verstärkt (Herzlei-
stung-erhöhende Adrenalinwirkung, gefäßverengende Noradrenalinwirkung).
3. Gleichzeitig erfolgt bei längerer Belastung eine vermehrte Freisetzung von Schild-
drüsenhormonen (insbesondere Trijodthyronin). Dies bewirkt eine Beschleunigung
der Stoffwechselvorgänge durch raschere und verstärkte Sauerstoffzufuhr in die Zel-
len. Trijodthyronin (T3) bewirkt eine gesteigerte Verbrennung von Kohlehydraten
(Zucker und Stärke), Eiweiß und Fetten, eine Steigerung des Grundumsatzes, eine
Erhöhung des Zuckerabbaus bis zur Erschöpfung der Reserven und damit einen An-
stieg des Blutzuckers, eine Entleerung der Fettdepots und einen Mangel an Eiweiß.
Die dabei anfallende Verbrennungswärme wird durch Schwitzen und erhöhte
Durchblutung der Hautgefäße an die Umwelt abgegeben.
Angst als biologisches Geschehen 273

Der Stoffwechsel kann durch eine Schilddrüsenstörung zu stark oder zu wenig ausge-
prägt sein (übermäßige oder zu geringe Verbrennung der Nahrungsstoffe).
Eine Schilddrüsenüberfunktion (vor allem zu viel Trijodthyronin) führt zu folgenden
Symptomen: starke Erhöhung des Grundumsatzes, übermäßiges Hitzegefühl, Gewichts-
abnahme trotz Appetit (Magerkeit), Herzrasen, Verdauungsstörungen, Durchfall, Unru-
he und Nervosität, psychische Veränderungen (Depressivität, Schlafstörungen). Eine
Schilddrüsenüberfunktion kann Panikattacken bewirken.
Bei Ruhe und Entspannung kommt es – vermittelt durch das parasympathische Ner-
vensystem – zur Reduzierung der gesamten Stoffwechselprozesse. Dies ermöglicht eine
Erholung des ganzen Körpers sowie Energie aufbauende Stoffwechselprozesse.

Zuckerspiegel
Glukose ist der Treibstoff, mit dem der Körper läuft. Das Gehirn kann nicht (wie z.B.
das Muskelgewebe) Proteine aufnehmen und nutzen. Deshalb treten bei sinkendem
Blutzuckerspiegel (insbesondere bei einem Nüchternblutzuckerspiegel unter 50 mg %)
viele Symptome auf, die eine große Beunruhigung auslösen.
Die gegenteilige Situation (z.B. „Stresszucker“ als Folge andauernder seelischer Be-
lastung) wird subjektiv meist gar nicht wahrgenommen. Wir brauchen keine großen
Zuckereinlagerungen, um den Nachschub an Glukose zu gewährleisten, denn die mei-
sten Lebensmittel können vom Körper in Glukose und Fruktose gespalten werden.
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Er-
höhung des Blutzuckerspiegels durch Umwandlung des in der Leber und Skelettmusku-
latur gespeicherten Glykogen in Glukose (Traubenzucker) mit anschließender vermehr-
ter Zuckerausschüttung in das Blut, um mehr Energie für den sofortigen Verbrauch der
Muskeltätigkeit bereitzustellen. Zuckerüberschüsse sind in der Leber gespeichert, um
bei Bedarf darauf zurückgreifen zu können, wenn der Verdauungstrakt leer ist. Bei
erblicher Belastung und falschem Lebensstil kann ein permanent erhöhtes Stressniveau
Diabetes II begünstigen (die Stresshormone kurbeln die Zuckerausschüttung an).
Angstpatienten weisen in der Regel keinen Zuckermangel auf, sondern Schwankun-
gen des Blutzuckerspiegels (instabile Blutzuckerwerte). Symptome erzeugt eher ein zu
rasches Absinken des Blutzuckerspiegels als ein zu niedriger Blutzuckerwert. Eine re-
gelmäßige und ausgewogene Ernährung ist daher wichtig. Als Soforthilfe sind 3 Stück
Dextroenergen anzuraten, länger wirksam ist jedoch ein Stück Vollkornbrot oder Obst.
Bei Angst, Aufregung und Stress wird über die Stresshormone schnell viel Insulin
produziert, was zur Folge hat, dass mehr Insulin ausgeschüttet wird, als der Körper
benötigt. Dies wiederum führt dazu, dass die verfügbare Glukose schnell aufgebraucht
wird und der Blutzuckerspiegel drastisch sinkt.
Ein erniedrigter Blutzuckerspiegel trägt dazu bei, dass schon kleine Veränderungen
in der Atmung, wie sie in Angstsituationen immer auftreten, körperliche Symptome
produzieren. Es treten die typischen Hypoglykämiesymptome auf, die der Körper durch
einen massiven Adrenalinschub zu bewältigen versucht.
Der Verzehr von Süßigkeiten (z.B. Pralinen) bei Stress und Traurigkeit erhöht nach-
weislich den Serotoninspiegel, was die subjektiv angenehmen Zustände begründet, führt
jedoch bei zu großen Mengen zu einem Blutzuckerabfall und infolgedessen zu einem
erhöhten Adrenalinschub mit umfassender sympathischer Überaktivierung, was als
Auslöser für Panikattacken dienen kann.
274 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Bei Angst, Aufregung und Stress besteht oft eine Appetitlosigkeit, die zu einer zeit-
weiligen Unterzuckerung führt, sodass Angst- und Stresssituationen eine noch größere
Unterzuckerung bewirken. Es treten dann die Symptome von Hypoglykämie auf, die der
Körper durch einen massiven Adrenalinschub zu bewältigen versucht.
Hypoglykämie (Unterzucker) führt zu folgenden Symptomen: Herzklopfen und Herz-
rasen, Blutdrucksenkung, Schwindel bis hin zur Ohnmacht, dumpfe Kopfschmerzen,
Schweißausbruch (kalter Schweiß), Zittern (meistens inneres Zittern ohne entsprechen-
de äußere Anzeichen), Blässe der Haut, kalte Hände und Füße, Übelkeit, Magenkrämp-
fe, innere Unruhe, Angstzustände (Panik), plötzliche Traurigkeit, Schlaflosigkeit zwi-
schen zwei und drei Uhr morgens (wegen der Blutleere im Gehirn), Müdigkeit am
Vormittag und am Nachmittag, Koordinationsstörungen, Zucken der Augenlider, Seh-
störungen (Doppelbilder), Ataxie, Bewusstseinsstörungen, Heißhunger (Hunger auf
Süßes), Hungergefühl eine Stunde nach der Mahlzeit.
Bei Angst- und Panikpatienten ist das Phänomen der Unterzuckerung mit anschlie-
ßender Ankurbelung des Sympathikus manchmal eine Erklärung dafür, dass nach einer
längeren Konfrontationstherapie keine Gewöhnung (Habituation) an die Angst machen-
den Situationen erfolgt. Sollte im Rahmen einer umfangreichen Konfrontationstherapie
das Gefühl eines inneren Zitterns auftreten, empfiehlt sich zur Überprüfung eines even-
tuellen Zuckermangelsyndroms ein kleiner Imbiss. Wenn aus Angst und Aufregung
keine Nahrungsaufnahme möglich ist, erhärtet sich der Verdacht auf eine Hypoglykä-
mie. Die Betroffenen sollten dann ihren Blutzuckermangel als Folge ihrer angst- und
stressbedingten Appetitlosigkeit erkennen lernen, weil sie dadurch in Angstsituationen
weniger Angst machende Ursachenzuschreibungen vornehmen werden.
Über das parasympathische Nervensystem kommt es zur Reduzierung des Blutzuk-
kerspiegels durch verminderte Zuckerausschüttung.

Ursachen für Hypoglykämie


Eine Hypoglykämie kann durch folgende Faktoren bedingt sein:
1. Zu hohe Dosierung Blutzucker senkender Medikamente (Insulin, Tabletten).
2. Zu starke körperliche Belastung. Dies erschöpft die Zuckerreserven.
3. Stressbedingte Appetitlosigkeit, längeres Nicht-Essen, Abnehmen oder Fasten senkt
den Blutzuckerspiegel. Die Symptome der Hypoglykämie sind sinnvoll als Signal,
etwas zu essen. Kurzfristig kommt es zur Ausschüttung von Adrenalin, um die Zuk-
kerproduktion anzukurbeln. Das im Körper vorhandene Fett wird in Zucker umge-
wandelt, um die Unterzuckerung zu beseitigen. Gleichzeitig treten jedoch alle ande-
ren unerwünschten Effekte eines Adrenalinstoßes auf. Ein zu niedriger Blutzucker-
spiegel führt somit zu einem erhöhten Adrenalinschub mit umfassender sympathi-
scher Überaktivierung, was wiederum als Auslöser für Panikattacken dienen kann.
Eine ausgewogene Ernährung ist daher sehr wichtig.
4. Zufuhr von zu viel Zucker zur Leistungssteigerung bzw. Verzehr von zu viel Süßig-
keiten. Dadurch steigt der Blutzuckerspiegel steil an, was die Bauchspeicheldrüse
durch vermehrte Insulinproduktion ausgleicht. Der Blutzuckerspiegel fällt daraufhin
steil ab und bewirkt eine Unterzuckerung. Der Abfall von einem anfänglich sehr ho-
hen Blutzuckerspiegel auf das Normalniveau innerhalb kurzer Zeit, wie dies beim
Sport der Fall ist, kann das Bild einer Hypoglykämie bewirken, z.B. von 500 mg %
auf das Normalniveau von 90 mg %. Zu viel Zucker bzw. Süßes macht müde.
Angst als biologisches Geschehen 275

5. Rauchen, Kaffee und Alkohol führen über die Stimulierung des Sympathikus zu
erhöhtem Blutzucker, der dann durch die vermehrte Produktion und Ausschüttung
von Insulin durch die Bauchspeicheldrüse bis hin zum Unterzucker abgebaut wird.
Dasselbe gilt auch für den plötzlichen Entzug von Alkohol und Drogen, wozu auch
die Tranquilizer gehören. Tranquilizer dürfen daher nur langsam abgesetzt werden,
da ansonsten Panikattacken auftreten können. Ein Kater nach zu viel Alkohol wird
großteils durch Hypoglykämie ausgelöst. Die Symptome eines Katers sind Zeichen
einer Hypoglykämie. Wenn der Blutzuckerspiegel instabil ist, reicht bereits eine
kleine Menge Alkohol aus, um Unterzuckersymptome hervorzurufen. Um den Un-
terzucker wiederum zu beseitigen, wird vermehrt Adrenalin ausgeschüttet, das den
Kreislauf unnötig belastet. Zu viel Rauchen oder Alkohol vor dem Essen kann Pa-
nikattacken begünstigen. Raucher haben oft einen instabilen Blutzucker. Bei sinken-
dem Blutzuckerspiegel neigen sie zum Rauchen statt zu richtiger Ernährung.

Unterzuckerungs-Angstsyndrom bei Zuckerkrankheit


Besonders jüngere Menschen mit insulinpflichtigem Typ-I-Diabetes müssen ihre Warn-
signale rechtzeitig erkennen lernen. Unterzuckerungsbedingte Angstsymptome sind bei
ihnen vorwiegend durch so genannte „gegenregulatorische“ Hormonausschüttungen
und nicht so sehr durch den Zuckermangel im Gehirn selbst bedingt.
Die gegenregulatorischen Symptome sind bedingt durch einen Adrenalinstoß, der
unangenehme Zustände bewirkt: Angst, Unruhe, Zittern, Schwitzen, Herzklopfen, Herz-
rasen, Atembeklemmung, Körpermissempfindungen und Entfremdungsgefühle.

Tab. 6: Unterzuckerungs-Angstsyndrom [53]

Gegenregulationssymptome Zuckermangelsymptome
(Adrenerge Symptome)
Angst, nächtliche Albträume Konzentrationsminderung
Unruhe, Reizbarkeit Merkfähigkeitsstörung
Zittern Kopfschmerzen
Schwitzen Müdigkeits- und Schwächegefühl
Herzklopfen/-rasen Sehstörungen (Verschwommensehen)
Atembeklemmung Schläfrigkeit
Körpermissempfindungen Zunehmende Bewusstseinsstörung und
Gefühl der Unwirklichkeit (Derealisation) schwere neurologische Störungen

Anhand der Zuckerkrankheit können sehr gut die Körper-Seele-Zusammenhänge aufge-


zeigt werden, ebenso die Probleme monokausaler Erklärungsmodelle, d.h. ob ein be-
stimmtes Symptom als rein körperlich oder rein seelisch bedingt anzusehen ist.
Bei gut eingestelltem Diabetes kann im Rahmen einer großen körperlichen oder see-
lischen Belastung plötzlich eine Unterzuckerung auftreten, die zu Angstsymptomen
führt. Aus Angst vor Unterzuckerungssymptomen bzw. aus Unsicherheit in der Wahr-
nehmung dieser Symptome nehmen Zuckerkranke gelegentlich zu viel Zucker, Obstsäf-
te, Süßigkeiten usw. zu sich und gefährden dadurch die an sich passende Diabetes-
Einstellung.
276 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Verdauungsorgane
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt der Sympathikus eine Reduzierung der Ver-
dauungsprozesse durch Hemmung der Magen- und Darmtätigkeit, um Energie zu spa-
ren und den Körper kurzfristig ganz auf die Kampf- oder Fluchtreaktion einzustellen
(verminderte Beweglichkeit bzw. reduzierte Muskelspannung von Speiseröhre, Magen
und Darm, weniger Magensäure, Gefäßverengung). Zum Ausgleich erfolgt etwas später
eine verstärkte Parasympathikus-Aktivität mit Magen- und Darmreaktionen (auch ohne
vorherige Nahrungsaufnahme). Während eines Dauerlaufs ist keine Verdauung möglich.
Leistungssportler (z.B. Marathonläufer) ergänzen ihren Energiehaushalt durch Flüssig-
keitslösungen oder Traubenzucker, nicht jedoch durch feste Nahrung.
Subjektiv äußern sich Angst und Stress oft in funktionellen Oberbauchbeschwerden
(Appetitlosigkeit, Unwohlsein, Schlechtwerden, Völlegefühl, flaues Gefühl im Magen,
Magenschmerzen, Erbrechen, Aufstoßen, Sodbrennen usw.) und funktionellen Unter-
bauchbeschwerden (Durchfall, Verstopfung, Reizdarm: Wechsel von Durchfall und
Verstopfung).
Funktionelle und organisch fundierte Magen- und Darmstörungen gehen zwar
mehrheitlich mit einer vagotonen (parasympathischen) Fehlsteuerung einher, können
jedoch auch durch eine sympathische Überaktivität mitverursacht sein (neben Anlage-
faktoren und Risikoverhaltensweisen). Bei der Kampf- oder Fluchtreaktion werden
Skelettmuskeln, Herz und Gehirn stärker durchblutet als im entspannten Zustand, die
Verdauungsorgane dagegen weniger.
Die kleinen Arterien in der Magenschleimhaut verengen sich unter dem Einfluss der
Stresshormone. Durch die mangelhafte Durchblutung wird auf die Dauer die Schleim-
haut geschädigt, sodass die Magenwände selbst bei verminderter Magensäure nicht
mehr geschützt sind. Somit sind nicht nur die Schreckhaften und Hilflosen in Gefahr,
ein Magengeschwür zu entwickeln, sondern auch Menschen, die ständig „eine Wut im
Bauch“ haben.
Oft bewährt sich folgende Differenzierung:
z Angst, Trauer, Depressionen und stressende Aktivitäten senken die Magensaftpro-
duktion und die Muskeltätigkeit der Verdauungsorgane (deshalb oft Verstopfung
oder Unwohlsein).
z Unterdrückter Ärger und Zorn sowie ohnmächtig machender Stress dagegen erhö-
hen die Magensäureproduktion und Muskeltätigkeit der Verdauungsorgane.

Dies ist biologisch-evolutionär sinnvoll (vgl. die Tierwelt):


z Bei Angst muss man eher davonlaufen, also braucht die Muskulatur das ganze Blut
und nicht der Verdauungstrakt.
z Bei Aggressionen muss man sich auf Nahrungsverarbeitung (Fressen) vorbereiten.

Bei Ruhe und Entspannung bewirkt das parasympathische Nervensystem eine Anregung
der Verdauungsprozesse durch die Aktivierung der Magen- und Darmtätigkeit in Form
von Anspannung der Muskulatur, Anregung der Peristaltik (wellenförmige Bewegung
von Magen und Darm zum Weitertreiben des Speisebreis), Verstärkung der Drüsentä-
tigkeit (mehr Magensäure) und Gefäßerweiterung. Die parasympathische Überaktivität
in Schock- und Schreckreaktionen bewirkt zahlreiche Symptome.
Angst als biologisches Geschehen 277

Funktionelle oder organisch fundierte Magen- und Darmstörungen treten häufig auf
bei Menschen, die sich ständig hilflos fühlen und chronisch schreckhaft sind, denen die
Möglichkeiten fehlen, sich zu wehren, die sich nicht durchsetzen können und sich daher
allem und jedem ausgeliefert erleben. Klinisch ist oft eine Depression oder eine Angst-
störung vorhanden.
Viele Magen- und Darmstörungen sind funktioneller Natur:
z Schluckbeschwerden können auf einer dauerhaften Verspannung der Speiseröhre
beruhen, z.B. als Folge von Angst oder Stress. Speiseröhrenverkrampfungen bewir-
ken ein Kloßgefühl (Globusgefühl) im Hals.
z Die Gallengänge können sich ebenfalls verkrampfen, sodass es durch die Stauung
der Gallenflüssigkeit zu Koliken kommt.
z Magenkrämpfe entstehen durch krampfartiges Zusammenziehen der Magenwand als
Folge starker nervlicher Erregung (Stress, plötzlicher Zorn oder im Experiment
durch elektrische Reizung von Hirnteilen, in denen Gefühle lokalisiert sind). Die
Verkrampfung der Magenmuskulatur führt zu Übelkeit oder Erbrechen (etwas ist
zum Erbrechen, „zum Kotzen“).
z Der überhöhte Säuregehalt des Magens bewirkt saures Aufstoßen oder Sodbrennen,
besonders bei leerem Magen, aber auch Übelkeit.
z Beim Sodbrennen steigt Magensäure in die Speiseröhre. Dies kann die Folge einer
zu hohen Säureproduktion und/oder Zeichen eines mangelhaften Verschlusses des
Magens nach oben sein. Übersäuerung entsteht, wenn dem Magen durch Hormone
und parasympathische Aktivität ständig suggeriert wird, es gäbe etwas zu verdauen,
die Säure dann aber nicht durch Nahrung wieder neutralisiert wird.
z Magendrücken ist oft die Folge von „Verschlucken“ von Luft, die sich im oberen
Teil des Magens ansammelt. Im Extremfall kann der Magen nach oben auf das dar-
über liegende Herz drücken und so „Herzschmerzen“ bewirken. Eine falsche Atem-
technik kann die Ursache sein. Eine stärkere Bauchatmung ist hilfreich.
z Blähungen (Meteorismus) sind nicht die Folge vermehrter Gasproduktion, was bei
der Verdauung völlig normal ist, sondern Folge von Verkrampfungen der Darm-
wände aufgrund des trägen Transports des Kotes bei falscher Ernährung.

Diffuser Magenschmerz beruht oft auf einer Reizung der Magenschleimhaut durch
1. mangelhafte Durchblutung der Magenwand als Folge sympathischer Übererregung
durch Überlastung, Stress und Verspannung (sympathische Überaktivierung);
2. zu viel Produktion von Säure, die eine durch Mangeldurchblutung geschwächte
Magenwand reizt (parasympathische Überaktivierung).

Diese Kombination kann auf einem Hin-und-her-Gerissen-Sein zwischen zwei Haltun-


gen beruhen. Jemand weiß nicht, ob er
z „angreifen“ soll: Aktivierung des Parasympathikus (Säureproduktion, weil im
Rahmen der Evolution zum Angreifen auch „Fressen“ gehört) oder
z davonlaufen bzw. sich „unterwerfen“ soll: Aktivierung des Sympathikus (Mangel-
durchblutung als Folge der Blutumverteilung zur Skelettmuskulatur).

Zorn und Wut bewirken eine Rötung der Magenschleimhaut (vermehrte Durchblutung),
verstärkte Säureproduktion und starke Magenwandbewegungen. Unterdrückte Wut
(„alles in sich hineinfressen“) kann bei entsprechender Veranlagung zu Geschwüren
führen.
278 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Bei ständig erhöhter Säureproduktion entstehen mehr Säure produzierende Zellen.


Seelische Verspannung führt auf Dauer zu Blutarmut der Magenwand. Die Fähigkeit
der Magenschleimhaut, Schleim zu produzieren, nimmt ab, sodass Magengeschwüre
entstehen können. Schleim schützt die Magenwand gegenüber der eigenen Säure.
Übermäßige Verkrampfung des Dickdarms kann zweierlei bewirken:
1. Durchfall: Abgabe von Wasser und infolgedessen eine schnelle wässrige Entleerung
des Darms. Wenn die Dickdarmwand zu aktiv ist und der Kot zu schnell weiterbe-
fördert wird, wird dieser nicht eingedickt und bleibt flüssig. Im Rahmen der Evolu-
tion ermöglichte die Darmentleerung weniger Gewicht und schnellere Flucht.
2. Spastische Verstopfung: Spannungsbedingte Behinderung des Transports des Darm-
inhalts, gelegentlich auch Blähungen bei fast leerem Magen, was ebenfalls ein Ver-
stopfungsgefühl bewirkt. Dieses wird begleitet von Völlegefühl, Blähungen, Leib-
schmerzen und Appetitlosigkeit.

Ein Reizdarm (Colon irritabile) ist eine funktionelle Dickdarmstörung mit folgenden
Symptomen: unklare Bauchbeschwerden, Wechsel von Durchfall (Diarrhö) und Ver-
stopfung (Obstipation), oft nur fallweise Verstopfung oder häufige Durchfälle, Neigung
zu Blähungen, „Blähbauch“ und reichlicher Abgang von Winden.
Nach einer deutschen Studie führen Ängste zu einer erhöhten Darmmotilität, De-
pressionen dagegen zu einer verminderten Darmmotilität. Die durchschnittliche Passa-
gezeit des Nahrungsbreis im Darm betrug bei Gesunden 42 Stunden, bei Angstpatienten
14 Stunden, bei Depressiven 49 Stunden. Es ist ein Faktum: Angstpatienten bekommen
leicht Durchfall, Depressive leicht Verstopfung.
Bei chronischer vagotoner Fehlsteuerung, d.h. bei ständigen Schreck- und Hilflo-
sigkeitsreaktionen, können in Verbindung mit Anlagefaktoren und Risikoverhaltenswei-
sen bestimmte Geschwüre entstehen (z.B. Magengeschwür, Zwölffingerdarmgeschwür).
Vererbung (Neigung zu erhöhter Magensäureproduktion) und Risikoverhaltensweisen
(Rauchen, Alkohol, Kaffee, falsche Ernährungsgewohnheiten, zu viele Medikamente
u.a.) gelangen oft erst durch chronischen Stress zur vollen Auswirkung.
Dafür gibt es zwei Voraussetzungen:
z Schäden (Reizung) an der Schleimhaut des Magens bzw. des Darms,
z Verätzungen des darunter liegenden Muskelgewebes durch die Magensäure.

Magen und Darm reagieren mit Überanspannung und erhöhter Säureproduktion. Da-
durch werden die Schleimhäute geschädigt. Durch die Verkrampfung der Muskulatur ist
die Blutversorgung der Schleimhäute gestört. Schlecht oder gar nicht durchblutetes
Gewebe wird geschädigt. Es bekommt zu wenig Sauerstoff, und die Abfallprodukte des
Stoffwechsels werden nicht abtransportiert. Das durch die geschädigte, vielleicht schon
abgestorbene Schleimhaut nicht mehr geschützte Muskelgewebe entzündet sich durch
die Einwirkung der sehr aggressiven Magensäure. Es kann zu Blutungen, aber auch zum
Magen- oder Darmdurchbruch kommen.
Ständiges Unterdrücken der Entspannungsbedürfnisse des Körpers führt im Aus-
gleich zu überschießender Parasympathikusaktivität, besonders in der Nacht, wo es
nichts mehr zu verdauen gibt.
Angst als biologisches Geschehen 279

Ausscheidungsorgane
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Hem-
mung der Ausscheidungsorgane durch die Anspannung der Schließmuskulatur (keine
Darm- und Blasenentleerung). Subjektiv kann sich dies als Harnverhalten äußern.
Das parasympathische Nervensystem bewirkt eine Aktivierung der Ausscheidungs-
organe (Darm- und Blasenentleerung).
Subjektiv äußern sich Schock- oder Schreckreaktionen häufig als Harndrang („Reiz-
blase“), tatsächlicher Harnverlust (Stressinkontinenz), Stuhldrang, Durchfall und allge-
meines Gefühl, gleich „in die Hose zu machen“.
Darm- und Blasenentleerungen bei Angst und Gefahr sind im Rahmen der Evolution
zu verstehen. Durch den Gewichtsverlust wird die Flucht erleichtert.

Augen
Bei Angst, Aufregung und Stress bewirkt das sympathische Nervensystem eine Erweite-
rung der Pupillen, um mehr Licht durchzulassen und damit die Augen lichtempfindli-
cher zu machen und das Sehfeld zu vergrößern. Eine vergrößerte Pupille, also größere
Blende wie beim Fotoapparat, verringert die Schärfentiefe und erhöht damit die Mög-
lichkeit, unterschiedliche Entfernungen besser voneinander zu unterscheiden. Dadurch
können bedrohliche Objekte besser wahrgenommen werden. Subjektiv kann sich dies in
Sehstörungen äußern (verschwommenes Sehen, Pünktchen vor den Augen).
Das parasympathische Nervensystem bewirkt eine Verengung der Pupillen.
Bei Angst, Aufregung und Stress kommt es – gesteuert über das sympathische Ner-
vensystem – zur Abflachung der Augenlinsen. Die infolgedessen geringere Brech-
kraft/größere Brennweite ermöglicht eine verbesserte Fernsicht (Objekte in 3-10 Meter
Entfernung werden besonders gut wahrgenommen). Chronische Verspannung im Be-
reich der Augen kann die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit fördern.
Subjektiv kann sich Angst, Aufregung und Stress in dem Gefühl äußern, nicht gut
zu sehen, soweit es die Nahsicht betrifft (z.B. beim Lesen und Schreiben).
Bei Ruhe und Entspannung bewirkt das parasympathische Nervensystem eine
Krümmung der Augenlinsen. Die dadurch größere Brechkraft/geringere Brennweite
ermöglicht eine verbesserte Nahsicht.
Subjektiv kann sich ohnmächtig machende Angst und chronischer Stress in dem Ge-
fühl äußern, nicht gut zu sehen, soweit es die Ferne betrifft (beim Autofahren).
Viele Menschen mit Angststörungen klagen über Sehstörungen. Verschiedene Seh-
störungen hängen jedoch nicht mit dem aktuellen Zustand der Pupillen und der Augen-
linsen zusammen, sondern mit Durchblutungsstörungen bzw. Blutumverteilungen zur
arbeitenden Muskulatur bei einer Alarmreaktion:
z Schwindel und verschwommenes Sehen beruht oft auf unzureichender Sauerstoff-
zufuhr infolge niedrigen Blutdrucks oder Verspannung der Nackenmuskulatur (we-
niger Blutzufuhr zum Kopf).
z Schwarzwerden vor den Augen, Flimmern oder Sternchensehen beruht oft auf einer
vorübergehenden Mangeldurchblutung der Sehbahn und des Augenhintergrundes im
Rahmen der Bereitstellungsreaktion und hat dann nichts mit einem zu niedrigem
Blutdruck zu tun.
280 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Schwindel – Die Angst vor Kontrollverlust


Der Psychiater Westphal wies bereits 1871 bei der Darstellung der Agoraphobie auf den
psychologischen Zusammenhang von Angst und Schwindel hin. Freud beschrieb 1895
in seinen „Studien über Hysterie“ anhand des Falles der 18-jährigen Katharina sehr
eindrucksvoll den Schwindel als eines der zentralen Symptome bei einem Angstanfall.
Schwindel ist keine Krankheit, sondern ein Symptom, das viele Ursachen haben
kann. Der Neurologe Lempert [54] erläutert in seinem allgemein verständlichen Ratge-
ber „Wirksame Hilfe bei Schwindel. Was dahinter steckt und wie Sie ihn wieder loswer-
den“ die verschiedenen Arten und Ursachen von Schwindelzuständen.
Die engen Verknüpfungen der Zentren der Raumorientierung mit dem limbischen
System begründen auch die Zusammenhänge zwischen Schwindelgefühlen und psychi-
scher Befindlichkeit (Angst oder Depression). Die bei Angst erhöhte Empfindlichkeit
des Gleichgewichtssinns lässt uns jede Körperschwankung besser wahrnehmen.
Schwindel ist eines der häufigsten und lästigsten Symptome bei vielen Angstpatien-
ten, vor allem bei Agoraphobikern mit und ohne Panikstörung. Die Betroffenen geben
an, sie hätten ihr Vermeidungsverhalten nur wegen ihres unerklärlichen Schwindels. Sie
fürchten zumeist ein unangenehmes Schwindelgefühl, verbunden mit der Angst umzu-
fallen, sodass sie ihre Aktivitäten einschränken. Sie leiden in der Regel unter einem
ungerichteten Schwindel. Störungen des Gleichgewichtsorgans im Ohr oder neurologi-
sche Schwindelzeichen sind nicht vorhanden. Es besteht häufig eine chronische musku-
läre Verspannung, die zu Gleichgewichtsproblemen und damit zur Angst zu fallen führt.
Die Eigenwahrnehmung des Körpers ist ein oft unterschätzter Sinn zur Stabilisie-
rung des Gleichgewichts. Über die sensiblen Nerven und die Rückmarksbahnen werden
dem Hirnstamm andauernd die Spannung der Muskeln und die Stellung der Gelenke
gemeldet. Mit Hilfe des sensiblen Systems können wir auch bei geschlossenen Augen
die Position der Körperglieder und alle Bewegungen millimetergenau wahrnehmen.
Eine gestörte Körperwahrnehmung wird anfangs oft als Schwindel erlebt, obwohl es
sich tatsächlich um eine Gangunsicherheit handelt. Die sensible Wahrnehmung der
Haut ist beeinträchtigt, weshalb die Fußsohlen den Boden nicht gut spüren können. Der
Untergrund erscheint als weich, nachgebend oder bewegt. Man hat den Eindruck, als
ginge man auf Watte oder auf Eiern. Im Dunkeln tritt die Gangunsicherheit wegen des
Ausfalls der kompensatorischen Wirkung des visuellen Systems verstärkt auf.
Bei einem Schwankschwindel fühlt man sich unsicher auf den Füßen, die Erde
scheint zu schwanken, das Körpergewicht wird auf eine Seite gezogen. Man glaubt zu
torkeln und möchte sich festhalten oder anlehnen. Derartige Schwindelzustände sind bei
Agoraphobie-Patienten oft anzutreffen und rein psychogen bedingt.
Der typische Angstschwindel ist ein eher diffuser Schwindel, häufig erlebt als Be-
nommenheit, Unsicherheit auf den Beinen, mangelnde Standfestigkeit, Schweben wie
auf Wolken, wie wenn man den Kontakt zum Boden verloren hätte, oft verbunden mit
Unruhe, manchmal auch mit Übelkeit. Haltungsveränderungen beeinflussen diese
Schwindelform kaum. Bei normalem Gang fühlt man sich wie betrunken schwankend.
Viele Agoraphobiker klagen über Schwindel, Ohnmachtsangst und Übelkeit. Sie
wurden im Laufe des Lebens kaum ohnmächtig, haben aber häufig Angst davor. Nur
1% der Agoraphobiker hat früher einmal eine Ohnmacht erlebt. Die Bewältigung eines
Angstschwindels im Rahmen einer Agoraphobie fällt jenen Personen, die früher tatsäch-
lich ohnmächtig geworden sind, besonders schwer, weil sie oft glauben, sie könnten
wieder ohnmächtig werden, obwohl kein Grund dazu vorhanden ist.
Angst als biologisches Geschehen 281

Bei vielen Angstpatienten mit Schwindel ohne neurologische oder vestibuläre Ursa-
chen lassen sich drei relativ gut abgrenzbare Syndrome unterscheiden:
z Phobischer Attacken-Schwankschwindel mit und ohne Paniksymptome in agorapho-
bischen Situationen als Ausdruck des Gefühls, nicht entkommen zu können.
z Psychogene Stand- und Gangstörung. Schreckreaktionen (oft mit Ohnmachtsangst)
führen zu „weichen Knien“ als Folge der Dominanz des parasympathischen Nerven-
systems. Menschen mit chronischer Verspannung als Folge der Dominanz des sym-
pathischen Nervensystems erleben dagegen einen Dauerschwindel. Aus Angst vor
dem Umfallen entwickeln die Betroffenen oft eine Agoraphobie. Zunehmende Ver-
krampfung und ständige Selbstbeobachtung verstärken den Schwindel.
z Schwindel als Benommenheit (engl. dizziness). Das Gefühl der Beeinträchtigung der
Wahrnehmung und der Denkfähigkeit, bedingt durch Ängste, Depressionen und
emotionale Belastungen, löst oft die Furcht vor einem geistigen Kontrollverlust aus.

Bei vielen Menschen mit Agoraphobie steht der phobische Attacken-Schwank-


schwindel mit situativ verstärkter Stand- und Gangunsicherheit ohne subjektiv erlebte
Angstsymptomatik im Mittelpunkt des Erlebens. Phobischer Attacken-Schwank-
schwindel und Agoraphobie stehen in engem Zusammenhang [55]:

„Welche zentrale Rolle die Angst beim psychogenen Schwindel einnimmt, zeigt sich nicht zuletzt an
der häufigsten umschriebenen klinischen Erscheinungsform des psychogenen Schwindels, dem phobi-
schen Attackenschwindel. Diesen erleiden Patienten in bestimmten sozialen Situationen (Kaufhäuser,
Restaurants, Konzerte, Besprechungen, Empfänge) oder angesichts typischer auslösender Sinnesreize
(Brücken, leere Räume, Treppen, Straßen, Autofahren). Der Schwindel entspricht von seiner Erlebnis-
qualität her dem Höhenschwindel und ist durch die Kombination eines Benommenheitsgefühls mit
subjektiver Stand- und Gangunsicherheit sowie einer Crescendo-Vernichtungsangst charakterisiert. Im
Unterschied zur Agoraphobie oder unspezifischen Panikattacken klagen die Patienten mit phobischem
Attackenschwindel nicht in erster Linie über die ‘Angst’, sondern über den ‘Schwindel’, der allenfalls
die schreckliche Angst ausgelöst habe. Sie fühlen sich organisch krank. Zum Schwindel führende
Sinnesreize und Situationen können rasch konditioniert werden und sich generalisieren. Es bildet sich
ein entsprechendes Vermeidungsverhalten aus.“

In der Münchner Spezialambulanz für Schwindel [56] war unter 768 Patienten nach
dem benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel (20,6%) der phobische Schwank-
schwindel (16,8%) als zweithäufigste Schwindelart anzutreffen.
Ein phobischer Schwankschwindel ist durch sechs Kriterien charakterisierbar [57]:

z „Der Patient klagt über Schwankschwindel und subjektive Stand-/Gangunsicherheit bei normalem
neurologischem Befund und unauffälligen Gleichgewichtstests.
z Der Schwindel wird beschrieben als eine fluktuierende Unsicherheit von Stand und Gang mit
attackenartiger Fallangst ohne Sturz, z.T. nur als einzelne unwillkürliche Körperschwankung.
z Während oder kurz nach diesen Attacken werden (häufig erst auf Befragen) Angst und vegetative
Mißempfindungen angegeben, wobei die meisten Patienten auch Schwindelattacken ohne Angst be-
richten.
z Die Attacken treten oft in typischen Situationen auf, die auch als externe Auslöser anderer phobi-
scher Syndrome bekannt sind (Brücken, Autofahren, leere Räume, große Menschenansammlungen
im Kaufhaus oder Restaurant). Im Verlauf entsteht eine Generalisierung mit zunehmendem Ver-
meidungsverhalten auslösender Reize.
z Patienten mit phobischem Schwankschwindel zeichnen sich meist durch zwanghafte Persönlich-
keitszüge und eine reaktiv depressive Symptomatik aus.
z Der Beginn der Erkrankung läßt sich häufig auf eine initiale vestibuläre Erkrankung (z.B. Neuritis
vestibularis) oder besondere Belastungssituationen zurückverfolgen.“
282 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Die illusionäre Wahrnehmungsstörung des Schwankschwindels und der Standunsicher-


heit der Betroffenen wird dadurch zu erklären versucht, dass viele Schwindelpatienten
mit ängstlicher Selbstbeobachtung in übersensibler Weise sensomotorische Regelvor-
gänge registrieren, die normalerweise unbewusst ablaufen, sodass die beim freien auf-
rechten Stand entstehenden feinen Körperschwankungen oder unwillkürlichen Kopfbe-
wegungen als beängstigende Beschleunigungen wahrgenommen werden.
Menschen mit Panikattacken beschreiben verschiedenartige Schwindelzustände:
Benommenheit, Leere im Kopf, schwankende Bewegung des Bodens, der Umwelt oder
des eigenen Körpers, Unsicherheit beim Gehen oder Stehen, Gefühl des drohenden
Sturzes oder einer bevorstehenden Ohnmacht. Eine Begleitperson, Sitzen oder Liegen
bewirkt oft eine Besserung der Schwindelsymptomatik.
Bei Menschen mit Schwindel zeigen sich auffällig oft Angst, Verunsicherung und
Depressionen. Aktuelle Konflikte und psychosoziale Stressfaktoren (partnerschaftliche
oder berufliche Konflikte, Trennungen, Verluste, existenzielle Erschütterungen) bzw.
krisenhafte Zuspitzungen bereits seit langem bestehender Probleme lösen dann in be-
stimmten Situationen recht unangenehme Schwindelattacken aus, die sich die Patienten
anfangs überhaupt nicht erklären können, sodass sie wegen des gefürchteten Schwindels
eine agoraphobische Vermeidungshaltung entwickeln, d.h. den Aktionsradius einengen.
Bei Depressionen äußert sich Schwindel häufig als Leere oder Nebel im Kopf, als
eine Art Schleier über Wahrnehmung und Denken, als Benommenheit oder Unsicher-
heit beim Gehen. Bei einer Depression mit somatischen Symptomen kann Schwindel
ein ständig beklagtes Hauptsymptom sein. Schwindel tritt aber auch im Rahmen einer
Neurasthenie auf, d.h. bei einer „nervösen Erschöpfung“. Schwindel entsteht auch durch
eine Hyperventilation im Rahmen einer angst- oder wutbedingten Erregung. Es kommt
zu einer Verschiebung des Sauerstoff-Kohlendioxidverhältnisses im Blut, in weiterer
Folge zu Gefäßverengungen und mangelhafter Blut- und Sauerstoffversorgung im Ge-
hirn, was als Schwindel oder Benommenheit erlebt wird.
Nichtorganischer Schwindel wird von den Betroffenen oft als Schwäche erlebt, als
öffentliche Demütigung, hilflos auf dem zu Boden, was eine Urangst von uns Zweibei-
nern ist. Das Hauptproblem sind dabei jedoch nicht die vielen situativen Bedrohungs-
möglichkeiten im Sinne einer Agoraphobie, sondern die aktuellen Lebensumstände, die
den Betroffenen oft buchstäblich „den Boden unter den Füßen“ weggezogen haben.
Angesichts einer bestimmten Lebenssituation kann einem richtig „schwindlig“ werden.
In der Stand- und Gangunsicherheit drücken sich symbolisch oft zentrale Lebensfragen
aus: Wie sehr kann man bzw. möchte man auf „eigenen Füßen“ stehen? Was passiert,
wenn man im Leben loslässt und fällt? Wer oder was fängt einen auf?
Psychoanalytiker sehen Schwindel als Angstäquivalent und Symptom für intolerable
Unsicherheit und dahinter eine Furcht vor Schwäche, Kontrollverlust und Bedrohung
des inneren Gleichgewichts. Verhaltenstherapeuten, die diese Aspekte im Rahmen einer
Konfrontationstherapie bei einer Agoraphobie, die durch Schwindel und Fallangst be-
dingt ist, nicht berücksichtigen, gehen am Kern des Problems vorbei. Vielen Betroffe-
nen macht bereits die Visualierungsübung „Auf dem Boden liegen“ Probleme.
Eine symptombezogene Behandlung zu Therapiebeginn ist dann sinnvoll,
z wenn eine derartige Therapie dem Wunsch der Betroffenen entspricht (Psycho-
therapeuten sollen ihren Patienten durchaus in deren Modell begegnen),
z wenn durch eine Konfrontationstherapie rasch das Vertrauen in die körperliche
Funktionsfähigkeit wiedergewonnen werden kann, das die Bewältigung der zugrun-
de liegenden „tieferen“ Probleme ermöglicht.
Angst als biologisches Geschehen 283

Körperliche Schonung bei Angst –


Ein sicherer Weg zur Angstverstärkung
Körperliche Schonung führt zu mangelnder Fitness. Alltägliche Belastungssituationen
lösen bei vielen Angstpatienten bereits übermäßige körperliche Reaktionen aus (Herzra-
sen, Atemnot, Schwitzen, Muskelkater usw.). Wenn Menschen mit ohnehin niedrigem
Blutdruck in Belastungs- und Angstsituationen (z.B. bei einer Agoraphobie) einen wei-
teren Blutdruckabfall erleben und sich deshalb zur Schonung hinlegen, sind sie derarti-
gen Kreislaufreaktionen zukünftig noch stärker ausgeliefert. Ständige körperliche Scho-
nung führt bereits nach einigen Wochen zu einem Muskelschwund. Bereits eine Woche
im Bett liegen wegen Krankheit vermindert die Muskelmasse um ein Zehntel.
Wissenschafter der NASA, der amerikanischen Weltraumbehörde, haben nachge-
wiesen, dass bei Gesunden allein eine Bettruhe von 7 Tagen das Koordinationssystem
des Gleichgewichts und damit die körperlichen Erholungsmöglichkeiten beeinträchtigt.
Forscher [58] studierten den Effekt der kardiovaskulären Dekonditionierung, der in
den bisherigen Erklärungskonzepten von Angststörungen noch zu wenig Beachtung
gefunden hat. Die viel beklagten Herz-Kreislauf-Beschwerden von Angstpatienten
könnten hierin ihre Ursache haben.
Dieser Effekt kann unter folgenden Umständen auftreten:
1. nach Schwerelosigkeitsbedingungen im Weltraum,
2. bei 6°-Kopf-Tieflage (Liegen mit dem Kopf 6° unter der Waagrechten),
3. nach längerer Bettruhe.

Alle genannten Bedingungen führen zu einer Verschiebung der Körperflüssigkeiten in


den Brustbereich und infolgedessen zu einer Zunahme des zentralen Blutvolumens.
Das Kreislaufsystem des Menschen ist hauptsächlich dem aufrechten Gang und den
Bedingungen der Schwerkraft der Erde angepasst, weshalb starke Verschiebungen der
Körperflüssigkeiten heftige körperliche Gegenmaßnahmen hervorrufen, die das Ziel
haben, das Flüssigkeitsvolumen des Körpers wieder zu reduzieren (z.B. verstärktes
Harnlassen und andere Flüssigkeitsverluste bei Bettlegrigkeit).
Diese Effekte entstehen regelmäßig nach längerem Aufenthalt in der Schwerelosig-
keit im Weltraum. Sie lassen sich auf der Erde dadurch provozieren und simulieren,
dass die Versuchspersonen über längere Zeit eine Körperposition einnehmen, bei der ihr
Kopf 6° unter die Horizontale abgesenkt ist. Die Flüssigkeitsverteilung im Körper ent-
spricht bei dieser Lagerung annähernd derjenigen, die unter Schwerelosigkeitsbedin-
gungen vorherrscht.
Diese Simulationsmethode wird außerhalb der Raumfahrt dazu verwendet, um die
nachteiligen Effekte verlängerter Bettruhe auf die Herz-Kreislauf-Funktion zu untersu-
chen. Der einzige Unterschied zwischen der Bettruhe in horizontaler Position und dem
Liegen mit einer Kopfhaltung 6° unter der Horizontalen ist der, dass diese Effekte bei
der abgesenkten Kopfposition rascher eintreten und damit der Untersuchungszeitraum
verkürzt wird.
Kreislaufstabile Versuchspersonen zeigten bereits nach einem Tag eine erhebliche
kardiovaskuläre Dekonditionierung (bestimmt mit Hilfe des Orthostoasetests und der
Fahrrad-Ergometrie), wenn sie sich in dieser Zeit in einer 6°-Kopf-nach-unten-Position
befanden. Innerhalb eines Tages wurde der Kreislauf gesunder Probanden derart intole-
rant gegenüber dem „Stress“ der aufrechten Position, dass 4 von 10 Versuchspersonen
während der Orthostoasetests einen Ohnmachtsanfall erlitten.
284 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Durch die Untersuchung von Agoraphobikern im Vergleich zu anderen Personen


konnte die Hypothese bestätigt werden, dass die bei Agoraphobikern zu beobachtende
kardiovaskuläre Dekonditionierung darauf zurückzuführen ist, dass sich diese aufgrund
übertriebenen Schonverhaltens zu lange in der horizontalen Position aufhalten.
Infolge des Schonverhaltens vermeiden Angstpatienten nicht nur körperliche An-
strengungen und Belastungen, sondern legen sich schon bei den geringsten Anzeichen
von Unwohlsein oder bei noch unklaren Beschwerden hin und verbleiben möglichst
lange Zeit in dieser Position. Bei längerem Stehen tritt dann vermehrt Herzrasen auf.
Beim Übergang vom Liegen in die aufrechte Position kommt es bei vielen Ago-
raphobie-Patienten zu körperlichem Unwohlsein, das durch eine Orthostase-Labilität
oder durch starke Blutdruckschwankungen bedingt sein kann. Die körperlichen Miss-
empfindungen führen zu weiterer Schonung, indem sich die Betroffenen neuerlich in die
Horizontale begeben und sich noch mehr schonen.
Die Befürchtung, an einer undefinierten Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems zu
leiden, verstärkt die Symptomatik, sobald die Betroffenen erkennen, dass Maßnahmen
wie Hinlegen und Schonen nicht die gewünschte Wirkung zeigen. Diese Befunde bestä-
tigen eine amerikanische Untersuchung, wonach bei Panikpatienten verstärkt Tachykar-
dien unter Orthostase-Belastung auftraten.
Aus dem Umstand, dass bei Angstpatienten nach dem Aufstehen oft Anzeichen von
Kreislaufschwäche auftreten (z.B. Herzrasen und Herzklopfen, Schwindelattacken,
Muskelzittern, Übelkeit und Schweißausbrüche), ergibt sich die Schlussfolgerung,
schrittweise die körperliche Leistungsfähigkeit der Betroffenen zu steigern, um eine
Konfrontationstherapie nicht durch mangelnde Kondition zum Scheitern zu bringen.
Viele Angstpatienten klagen nicht nur über Kreislaufprobleme, sondern auch über
eine Schwäche in den Beinen, verbunden mit der Angst umzufallen. Die mangelnde
Bewegung im Rahmen der ständigen Schonhaltung führt rasch zu einem Muskel-
schwund (Atrophie) der Beine. Schon der altgriechische Arzt Hippokrates formulierte
ein Gesetz des Lebens: „Was gebraucht wird, wächst; was nicht gebraucht wird, geht
zugrunde.“
Unbenutzte Beinmuskeln bilden sich bereits innerhalb einiger Wochen zurück, was
Sportler ohne Training, Verunfallte nach einem sechswöchigen Gipsverband, ältere
Menschen nach einer mehrmonatigen Liegephase und Astronauten ohne körperliches
Trainingsprogramm im Weltraum bald zu spüren bekommen.
Ein geeignetes Konditionstraining stärkt die Muskulatur (insbesondere auch die
Waden- und Oberschenkelmuskulatur), verbessert die Knochenfestigkeit (größere Kno-
chendichte als Schutz vor Brüchen), vermehrt die Blutgefäße im Gehirn und fördert
dadurch die geistige Fitness, senkt den Blutdruck und die Herzfrequenz, verbessert die
Sauerstoffversorgung des Körpers und beseitigt das chronische Müdigkeitssyndrom
vieler Angstpatienten. Ständige Müdigkeit wird nicht durch Schonung, Ausrasten und
Energiesparen überwunden, sondern durch häufigeres Ermüden als Folge vermehrten
Energieverbrauchs durch Sport und körperliche Betätigung.
Selbst in der Rehabilitation von Patienten nach einem Herzinfarkt gehört körperliche
Aktivität so früh als möglich zum Standardtherapieprogramm. Die Erkenntnisse der
Sportmedizin werden zunehmend auf die Behandlung von Herzinfarktpatienten übertra-
gen. Strenge Bettruhe, wie sie früher verordnet wurde, schwächt den Patienten zusätz-
lich, besonders, wenn er älter ist. Das Konditionstraining nach einem Herzinfarkt sollte
mit etwa 60-70% der maximalen Leistungsfähigkeit erfolgen.
Angst als biologisches Geschehen 285

Das beste Trainingsprogramm für die Gesamtfitness besteht aus einer Kombination
von Ausdauersportarten und muskelkräftigenden Elementen. Nach dem Kriterium des
Sauerstoffverbrauchs können vier Trainingsmethoden unterschieden werden:
1. Isometrisches Muskeltraining (isometrisch = in gleicher Länge bleibend). Übungen,
die für mehrere Sekunden eine Muskelanspannung bewirken, aber keine Bewegung
verlangen und daher wenig oder keinen Sauerstoff verbrauchen. Meistens handelt es
sich darum, zwei Gliedmaßen kräftig gegeneinander oder gegen ein Objekt zu drük-
ken. Diese Muskelspannung bewirkt einen Druck auf die Blutgefäße, die sich da-
durch entleeren. Das Blut wird in den Venen zum Herz befördert. Die isometrische
Spannung aktiviert den Kreislauf und sichert die Sauerstoffversorgung. Menschen
mit niedrigem Blutdruck lernen auf diese Weise, ihren Blutdruck zu steigern.
Beispiele: kräftiges Gegeneinanderdrücken der Hände, Spreizen der Arme zwischen
zwei Türpfosten, jede Druckverstärkung gegen einen Widerstand, Expander-
übungen, progressive Muskelentspannung nach Jacobson, Übungen zur Kräftigung
der Beckenbodenmuskulatur.
Ein derartiges Krafttraining führt zum Muskelwachstum. Der stärkste Reiz für die
Zunahme der Muskelkraft liegt nicht in häufigen Belastungen, sondern in kurzen,
nur wenige Sekunden anhaltenden, maximalen isometrischen Kontraktionen. Durch
Überschreiten der Reizhäufigkeit ist keine stärkere Muskelkräftigung zu erzielen. Je
dicker der Muskel ist, umso kräftiger ist er. Bei hohem Krafteinsatz unter anaeroben
(sauerstoffarmen) Bedingungen wird der Muskel in einen Spannungszustand ver-
setzt, der das Dickenwachstum bewirken soll. Die hohe Sauerstoffschuld bringt eine
hohe Übersäuerung durch Kohlendioxid, Milchsäure und saure Stoffwechselschlak-
ken mit sich. Sie führt rasch zur Ermüdung. Es ist daher wichtig, dass nach hohem
Krafteinsatz eine Erholungspause von 3-5 Minuten folgt. Es sollen jeweils nur für
kurze Zeit unterschiedliche Muskelgruppen trainiert werden (Prinzip des Circuit-
Training/Zirkeltraining; circuitus = Rundgang).
2. Isotonisches Training: (isoton = gleich bleibender Druck). Beispiel: Gymnastik.
3. Anaerobe Trainingsübungen (anaerob = ohne Sauerstoff lebend). Kurzfristige Ma-
ximalleistungen. Beispiel: Sprint, rasches Stiegensteigen.
4. Aerobes Training (aerob = mit Sauerstoff lebend): Sportarten, die genügend Sauer-
stoff erfordern, lange genug anhalten und somit zu einem Trainingseffekt führen.
Sämtliche Ausdauersportarten: Wandern, Laufen, Geländelauf, Schwimmen, Rad-
fahren, Schilanglauf, Rudern, längeres Stiegensteigen. usw. Laufen ist die billigste
und beste Sportart. Der Sauerstoffbedarf des Körpers ist bereits bei langsamem Lau-
fen relativ hoch. Dadurch werden die Sauerstoff aufnehmenden, transportierenden
und verwertenden Systeme des Körpers intensiv angeregt und entwickelt. Infolge
des Einsatzes großer Muskelgruppen ist auch der Energieaufwand beim Laufen hö-
her als bei anderen Sportarten. Beim Laufen gilt als Faustregel: Man muss sich so
belasten, dass das Herz mindestens um 50% schneller schlägt. Diese Belastung muss
man längere Zeit durchhalten. Für ein effizientes Herz-Kreislauf-Training ist die
Steigerung der Pulsfrequenz um mindestens 50% erforderlich. Man sollte immer nur
so schnell laufen, dass man nicht in Atemnot gerät. Beim langsamen Laufen zu
Trainingsbeginn wird den Muskeln nie mehr Energie abverlangt als der Kreislauf
noch liefern kann. Sauerstoffaufnahme und -verbrauch halten sich die Waage. Aero-
bes Laufen verhindert einen Muskelkater.
286 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Der Effekt der Leistungssteigerung durch Sport lässt sich durch eine Laktatunter-
suchung messen. Aus dem Ohrläppchen werden ein paar Tropfen Kapillarblut gewon-
nen, und der Laktatspiegel (Milchsäure) wird im Labor bestimmt. Dieser Wert gibt
verlässlich Auskunft über die Leistungsfähigkeit.
Sport verbessert die oft depressive Stimmung vieler Angstpatienten, weil dabei die
Ausschüttung von Endorphinen, d.h. körpereigenen Opiaten, bewirkt wird (was bislang
trotz häufiger Behauptungen allerdings nicht ausreichend klar erwiesen ist), steigert den
oft niedrigen Blutdruck und verbessert die Gehirndurchblutung.
Bei Ängsten und Depressionen werden durch Sport Muskelspannungen abgebaut
und intensivere Atemzüge bewirkt. Von Menschen mit belastenden Erlebnissen litten
jene weniger häufig unter verschiedenen Krankheiten, die regelmäßig Sport betrieben.
Ein Forscherteam aus Göttingen [59] untersuchte den Stellenwert von Sport in der
Behandlung psychischer Erkrankungen und fasste den aktuellen Forschungsstand zu-
sammen. Im Folgenden werden diese bedeutsamen Erkenntnisse ausführlich referiert.
Studien an Gesunden haben den positiven Einfluss eines Ausdauertrainings auf Fak-
toren wie Ängstlichkeit, Depressivität, Selbstbewusstsein, Konzentrationsfähigkeit und
Stressbewältigung nachgewiesen. Sport senkt die Eigenschaftsangst (trait anxiety) und
beeinflusst in positiver Weise physiologische Faktoren, die als Ausdruck von Angst und
Spannung angesehen werden. Aerobes Training hat auch günstige Auswirkungen auf
die Schlafqualität (erhöhter Tiefschlafanteil, größere REM-Latenz).
Bei Sportlern mit einer Trainingspause weist das „akute Entlastungssyndrom“, d.h.
eine „Sport-Entzugssymptomatik“, auf die Bedeutung neurobiologischer Adaptations-
prozesse hin. Eine akute Sportpause führt nach 1-2 Wochen bei durchtrainierten Sport-
lern zu Symptomen wie Herzklopfen oder -stichen, Schweißausbrüchen, Beklemmung,
Schwindel, Verdauungsstörungen, Unruhezuständen, Konzentrationsstörungen, Schlaf-
störungen und depressiver Verstimmung. Bei Wiederaufnahme der sportlichen Betäti-
gung verschwinden alle Symptome innerhalb kurzer Zeit. Die Verordnung von Ruhe
und Entspannung ist völlig kontraproduktiv. Die neurobiologischen Ursachen dieses
Phänomens dürften im serotonergen Neuronensystem zu sein.
Die erste größere praktische und wissenschaftliche Bedeutung im psychiatrischen
Kontext erlangte die Sporttherapie Ende der 1970er-Jahre in den USA, wo depressive
Patienten mit Erfolg an einem Ausdauertrainingsprogramm teilnahmen.
Verschiedene Studien an psychisch Kranken belegen mittlerweile eindeutig, dass
Sport bei Depressionen und Angststörungen heilsam wirkt (zu anderen psychischen
Störungen liegen noch wenige Studien vor).
Die Göttinger Arbeitsgruppe legte 1997 die erste voll randomisierte, placebokontrol-
lierte Studie zur therapeutischen Wirksamkeit von Ausdauertraining bei Patienten mit
Panikstörung und/oder Agoraphobie vor. Im Rahmen der 10 Wochen dauernden Studie
wurden die Therapieeffekte bei 49 Panikpatienten untersucht, die drei verschiedenen
Behandlungsbedingungen zugeordnet wurden: Ausdauertraining (3- bis 4-mal wöchent-
lich 30-60 Minuten Laufen), Clomipramin (112,5 mg pro Tag) und Placebo. Clomipra-
min und Ausdauertraining führten im Vergleich zur Placebogruppe zu einer deutlichen
Besserung der Angstsymptomatik, gleichzeitig sank auch das Ausmaß der Depressivität.
Die gemessene Steigerung der körperlichen Fitness bestätigt die Wirksamkeit des Aus-
dauertrainingsprogramms. Diese Studie weist darauf hin, dass bei Panikpatienten be-
reits ein Ausdauertraining ohne spezifische Begleittherapie zu einer deutlichen Besse-
rung der Symptomatik führt. Ein körperliches Fitnesstraining sollte Bestandteil jeder
Angstbehandlungstherapie sein.
Angst als biologisches Geschehen 287

Das Ausdauertraining beeinflusst das autonome Nervensystem und zentrale Neuro-


transmittersysteme. Das Göttinger Forscherteam befasst sich mit verschiedenen mögli-
chen Wirkmechanismen. Vor allem wird die Frage geprüft, ob ein Ausdauertraining die
Reaktionsbereitschaft zentraler serotonerger Neurone verändert und dies wiederum das
psychische Befinden von Gesunden und Angstpatienten beeinflusst.
Nach der Endorphinhypothese führt ein Ausdauertraining akut zu einem Anstieg von
Beta-Endorphinen im Plasma, Trainingswiederholungen bewirken eine potenzierte
Ausschüttung von Beta-Endorphinen. Die häufige Annahme, dass der Anstieg an En-
dorphinen zu einer Stimmungsverbesserung führt, ließ sich bislang durch Korrelations-
studien nicht empirisch bestätigen.
Psychische Zustandsverbesserungen scheinen beim gegenwärtigen Wissensstand
nicht durch die Ausschüttung von Endorphinen aus der Adenohypophyse erklärbar zu
sein, vor allem auch deshalb nicht, weil das Protein Beta-Endorphin die Blut-Hirn-
Schranke nicht überschreiten kann.
Nach der Serotoninhypothese führt eine intensive motorische Aktivität zu einem er-
höhten Umsatz von Serotonin. Möglicherweise kommt es dadurch nach einiger Zeit zu
einer adaptiven Rezeptor-Downregulation in einer Weise, wie dies dem postulierten
Wirkmechanismus von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern entspricht.
Ausdauertraining aktiviert auch das Noradrenalin- und Dopaminsystem. Bei Depres-
siven wurde nach einem körperlichen Training eine erhöhte Zahl von Noradrenalin- und
Serotoninmetaboliten im Liquor cerebrospinalis gefunden.
Nach zahlreichen Untersuchungen weisen Angstpatienten eine reduzierte Belastbar-
keit des Herz-Kreislauf-Systems und der Atmung auf:
z Eine verminderte Leistung bei der Fahrrad-Ergometrie stand mit der Häufigkeit von
Panikattacken in Zusammenhang.
z Herzneurotiker zeigten im Vergleich zu einer Kontrollgruppe eine mangelnde ergo-
metrische Belastbarkeit und lagen mit ihren Werten nur knapp oberhalb der Leistung
von Patienten mit organischen Herzerkrankungen. Der Beta-Blocker Metoprolol
(Beloc®, Lopresor®) bewirkte eine höhere Belastungsfähigkeit.
z Angstpatienten hatten im Vergleich zu Gesunden eine höhere Herzfrequenz im Ste-
hen und bei submaximaler Belastung.
z Bei Patienten mit Panikstörung bzw. Depression war die maximale Sauerstoff-
aufnahme im Vergleich zu einer Kontrollgruppe deutlich erniedrigt, obwohl die
Lungenfunktion unbeeinträchtigt war.

Die verminderte kardiopulmonale Leistungsfähigkeit stellt nach Auffassung des Göttin-


ger Forscherteams eine pathogenetisch wirkende Komponente innerhalb eines multifak-
toriellen Modells zur Genese der Panikstörung dar. Stress in Verbindung mit Bewe-
gungsmangel und einer entsprechenden biologischen Disposition führt zu einem erhöh-
ten Sympathikotonus und infolgedessen zu einer vegetativen Übererregbarkeit.
Die Wahrnehmung von Kreislaufsymptomen (diffuser Schwindel, Ohnmachtsgefühl,
Herzrasen) und deren Bewertung als gefährlich führt bei sensiblen bzw. krankheits-
ängstlichen Personen zu Herzangst, Hyperventilation und Panikattacken. In weiterer
Folge kommt es zu ausgeprägtem Vermeidungsverhalten, psychosozialem Rückzug und
vollständigem Verzicht auf sportliche Betätigung, auch wenn diese früher oft einen
wichtigen Teil des Lebens darstellte. Der Mangel an Bewegung und körperlicher Fitness
verstärkt den Teufelskreis der Angst. In der Psychotherapie muss daher auf den adäqua-
ten Umgang mit bestimmten Angst machenden Körperempfindungen geachtet werden.
288 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Bei Ausdauertrainierten wurden im Vergleich zu anderen Personen folgende positi-


ve Effekte hinsichtlich der körperlichen Fitness festgestellt:
z Nach einem physischen und psychischen Stresstest ergaben sich kürzere Erholungs-
zeiten bezüglich der Herzfrequenz und der elektrodermalen Reaktion.
z Nach Stresstests bestand eine geringere kardiovaskuläre Reaktion, während Untrai-
nierte bei körperlicher Belastung einen stärkeren Anstieg der Herzfrequenz, d.h. eine
Neigung zu Tachykardie, aufwiesen und auch in Ruhe eine höhere Herzfrequenz
zeigten.
z Nach einer sportlichen oder psychischen Belastung war ein geringerer Anstieg des
Kortisolspiegels nachweisbar.
z Die Ausschüttung von Adrenalin war vermindert.
z Sportler weisen – anders als unsportliche Personen – bei Belastung keine wesentli-
che Erhöhung der Herz- und Atemfrequenz auf, vielmehr arbeitet das Herz durch
den Auswurf einer größeren Blutmenge effektiver und die Lunge erreicht eine besse-
re Sauerstoffausbeutung der Einatemluft.
z Bei Trainierten ist ein geringerer Laktatanstieg feststellbar als bei Untrainierten.

Ein Teil der Angstpatienten weist eine erhöhte Laktatsensitivität auf, wie bei experi-
mentellen Panikstudien festgestellt wurde. Bei Laktatinfusionen wird oft geklagt über
Parästhesien (Körpermissempfindungen), Zittern, Schwindel, starkes Herzklopfen,
Kälte, Nervosität und Atemnot. Dieser Umstand könnte auch für das Vermeidungsver-
halten verschiedener Panikpatienten gegenüber sportlicher Betätigung bedeutsam sein.
Ein Ausdauertraining reduziert bei Angstpatienten die vegetative Erregbarkeit, führt
zu einer gesunden Abhärtung des Körpers, stellt eine aktive Bewältigungsstrategie an-
gesichts von unvermeidlichen Härten des Lebens dar und verbessert das allgemeine
körperliche Befinden und Selbstbewusstsein.
Körperliche Betätigung führt zu einer sofortigen Unterbrechung des ängstlichen
und/oder depressiven Grübelns, weil durch die Konzentration auf die Umwelt, in der die
Ausdauersportart ausgeführt wird, eine sofortige Aufmerksamkeitsumlenkung erfolgt,
z.B. Konzentration auf die Natur beim Laufen oder Radfahren, Kontakt mit anderen
Menschen im Schwimmbad oder während des Schiurlaubs.
Ein Ausdauertraining stellt für viele Agoraphobie-Patienten mit und ohne Panikstö-
rung bereits eine Art Konfrontationstherapie dar, sodass sportliche Betätigung in ein
verhaltenstherapeutisch orientiertes Angstbehandlungsprogramm leicht und gut inte-
grierbar ist. Gleichzeitig führt vermehrte körperliche Aktivität zu der oft gewünschten
körperlichen Entspannung, ohne dass zu diesem Zweck Medikamente (vor allem zum
Schlafen) eingenommen werden müssen, wie dies ansonsten häufig der Fall ist.
Die alleinige Anwendung eines Ausdauertrainings ohne weitere Behandlungskom-
ponenten kann nach neuesten Befunden bei bestimmten Panikpatienten mit und ohne
Agoraphobie bereits eine ausreichende Besserung bewirken.
Die Erfahrungen des Göttinger Forscherteams zeigen jedoch auch, dass Angstpatien-
ten eine entsprechende Information, Motivation und Handlungsanleitung benötigen, um
in dieser Weise aktiv zu werden. Die gut gemeinten Ratschläge, sich etwas mehr zu
bewegen und in die frische Luft zu gehen, weil dies gesund sei, bleiben in der Regel so
lange wirkungslos, als sie nicht in ein konkretes Erklärungsmodell zur Wirksamkeit bei
Angststörungen eingebettet werden.
In der Verhaltenstherapie geht es nicht nur darum, etwas gegen Angstzustände zu
unternehmen, sondern auch darum, Körpererleben und körperliche Fitness zu fördern.
Angst als biologisches Geschehen 289

Neurobiologische Aspekte der Panikstörung


Die Erforschung der Ursachen von Panikstörungen begann in den USA mit der Entdek-
kung der zumindest kurzfristigen Wirksamkeit trizyklischer Antidepressiva bei Panikpa-
tienten. Der amerikanische Psychiater Donald Klein [60] veröffentlichte 1962 seine
Erkenntnis, dass Angstpatienten mit Panikattacken wohl auf das damals neue Antide-
pressivum Imipramin (Tofranil®) ansprachen, nicht jedoch auf Tranquilizer, wie diese
bei Angstpatienten mit generalisierten Ängsten erfolgreich eingesetzt wurden. Imipra-
min besserte Angstanfälle, nicht jedoch allgemeine Ängstlichkeit (Erwartungsängste).
Klein entwickelte auf der Grundlage seiner klinischen Beobachtungen ein biologi-
sches Modell der Angst, Panik und Agoraphobie, wonach zwischen der Panikstörung
und den anderen Angststörungen ein fundamentaler Unterschied bestehe. Panikattacken
treten spontan, ohne äußere Auslöser, anfallsartig und mit massiven körperlichen Sym-
ptomen auf. Dies sei bedingt durch eine primär biologische Funktionsstörung mit gene-
tischer Komponente, die weder psychoanalytisch noch lerntheoretisch erklärbar sei.
Eine Panikattacke ist nach Klein das Ergebnis einer pathologisch erniedrigten
Schwelle zur Auslösung angeborener Alarmreaktionen. Als Folge der spontan auftre-
tenden, endogen bedingten Panikattacken entwickeln sich zuerst eine Erwartungsangst,
dann ein begrenztes Vermeidungsverhalten und schließlich eine Agoraphobie. Aus
Angst vor neuerlichen Panikattacken entstehe sekundär eine ausgeprägte, chronisch
verlaufende Erwartungsangst mit agoraphobischen Vermeidungsreaktionen. Wenn man
die auftretenden Panikattacken in den Griff bekomme, habe man auch das Problem der
Agoraphobie gelöst. Für Klein ist dies eine rein medikamentöse Angelegenheit. Psychi-
sche Phänomene werden als sekundär angesehen. Psychotherapie wirke nur bei phobi-
scher Angst, nicht jedoch bei Panikattacken.
Nach einem neueren Modell von Klein [61], der Hypothese vom „falschen Erstik-
kungsalarm“, entstehen Panikattacken aus einer Übersensibilität gegenüber einem leicht
erhöhten zentralen Kohlendioxidpartialdruck, was zu Erstickungsgefühlen führt. Nach
dieser Theorie existiert im Körper ein physiologischer Erstickungsmelder, der bei Pa-
nikpatienten übersensibel reagiert und unter bestimmten Bedingungen fälschlicherweise
eine Luftnot signalisiert, worauf es zu Hyperventilation, Panik und Fluchttendenzen
kommt, z.B. bei chronischer Hyperventilation oder in Ruhe bzw. während des Non-
REM-Schlafes, wo ein erhöhter Kohlendioxidpartialdruck besteht. Dieses Modell ist in
seinem universellen Geltungsanspruch umstritten. Bei vielen Panikpatienten mit Atem-
not stellt eher die ängstliche Bewertung als die Atemnot an sich das Grundproblem dar.
Sheehan und Sheehan [62] entwickelten die wesentlich breitere biologische Theorie
der „endogenen Phobie“, die auch andere Störungen mit Angstkomponente einbezog
(Hypochondrie, Hysterie, Phobien, psychosomatische Störungen usw.). Das Kernsym-
ptom der endogenen Phobie seien Angstanfälle, die durch eine Stoffwechselerkrankung
verursacht würden. Die biologisch fundierten Ängste würden in ihrer weiteren Entwick-
lung von verschiedenen Lernfaktoren beeinflusst.
Die genannten biologisch orientierten Psychiater begründeten die Panikstörung als
biologische Störung mit folgenden Argumenten [63]:
1. Spontaneität der Panikattacken. Panikattacken treten spontan auf, ohne Reaktion auf
bestimmte Umweltreize, was bedeute, dass sie endogen bedingt sein müssen.
2. Behandlungsspezifität. Bestimmte Psychopharmaka (trizyklische Antidepressiva,
MAO-Hemmer und nunmehr auch die SSRI) haben eine spezifische Wirkung bei
Panikangst, nicht jedoch bei Erwartungsangst.
290 Erklärungsmodelle für Angststörungen

3. Panikprovokation durch bestimmte Methoden. Natriumlaktat-Infusionen und Koh-


lendioxid-Inhalation können bei Panikpatienten, nicht jedoch bei gesunden Personen
Panikattacken auslösen, was die spezifische biologische Ansprechbarkeit von Panik-
patienten aufzeige.
4. Vererbung. Es gibt nach verschiedenen Familienstudien einen spezifisch genetischen
Faktor für Angstanfälle, der unabhängig vom Risiko für andere Angststörungen wei-
tergegeben werde. Kindliche Trennungsangst sei biologisch fundiert, und diese sei
eine Vorstufe von Panikattacken. Bei ungefähr der Hälfte der erwachsenen Panikpa-
tienten lasse sich eine kindliche Trennungsangst finden, die sich mit Imipramin (To-
franil®) erfolgreich behandeln lasse.

Diese Argumente gelten heute als widerlegt bzw. nicht ausreichend belegt:
1. Spontane Panikattacken haben zwar keine äußeren Auslöser, wohl aber innere Aus-
löser: internale Reize in Form von Körperempfindungen oder bewussten bzw. „un-
bewussten“ (subliminaren) Wahrnehmungen und Gedanken.
2. Spontane Panikattacken können dauerhaft mit psychologischen Methoden behandelt
werden, lassen sich aber auch durch Tranquilizer behandeln.
3. Angstreaktionen bei Panikprovokationsversuchen werden durch kognitive Faktoren
beeinflusst. Panikpatienten haben bereits vorher eine größere Erwartungsangst und
daher höhere psychophysiologische Ausgangswerte als Kontrollpersonen.
4. Die Vererbung von Panikattacken sowie das regelmäßige Erlebnis kindlicher Tren-
nungsängste sind nicht ausreichend belegt. Die familiäre Häufung von Panikstörun-
gen beweist jedoch, dass eine gewisse Anfälligkeit für Angststörungen vererbt ist.
5. Die Ähnlichkeit spontaner und situationsgebundener Panikattacken rechtfertigt nicht
die Annahme völlig unterschiedlicher Entstehungsbedingungen.

Die Forschungen von Klein haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Panikstörung
1980 in das amerikanische psychiatrische Diagnoseschema (damals DSM-III) aufge-
nommen und als eigenständige Störung von der bislang so genannten „Angstneurose“
abgetrennt wurde.
1987 wurde die Panikstörung im DSM-III-R zumindest implizit als biologische
Grundstörung definiert, obwohl im amerikanischen Diagnoseschema das Prinzip eines
rein phänomenologisch-beschreibenden Ansatzes ohne theoretische Erklärungskonzepte
vertreten wurde. Im Sinne dieser biologisch-kausalen Sichtweise wurde die Panik-
störung der Agoraphobie übergeordnet (Panikstörung mit bzw. ohne Agoraphobie), was
im DSM-IV aufgrund der neuesten Forschungsergebnisse nicht mehr in dieser Form
aufrechterhalten wird.
Die biologisch orientierten Thesen von Klein und Sheehan und Sheehan haben dazu
geführt, dass sich die Pharmaindustrie der Panikstörung sehr intensiv angenommen und
bestimmte Medikamente zur Behandlung entwickelt hat.
In den 1980er-Jahren wurde die Substanz Alprazolam (D: Tafil®, Ö: Xanor®) auf
den Markt gebracht, die von den amerikanischen und deutschen Gesundheitsbehörden
als einziger Tranquilizer die Indikation für Panikstörungen zugesprochen erhielt. Ur-
sprünglich wurde dieses Medikament auch als leichtes Antidepressivum vorgestellt,
während die Abhängigkeitsgefahr unterschätzt wurde.
Die mit großem Aufwand betriebene Propagierung der neuen Diagnose der Panik-
störung hat jedoch auch Verhaltenstherapeuten ein weites Feld eröffnet, als wirksame
verhaltenstherapeutische Behandlungsmethoden zur Verfügung standen.
Angst als biologisches Geschehen 291

Zentrale neurobiologische Grundlagen der Angst, die Rolle des GABAergen Sy-
stems, Neurotransmitterstörungen (Serotonin, Noradrenalin), CRH-Hypersekretion und
eine erhöhte Sensibilität gegenüber bestimmten Substanzen wurden bereits angeführt.
Einen guten Überblick bietet das Buch „Panik und Agoraphobie. Diagnose, Ursachen,
Behandlung“ von Bandelow. Im Folgenden sollen in Bezug auf die Panikstörung die
wichtigsten Aspekte aus neurobiologischer Sicht zusammenfassend präsentiert werden.
Die Vertreter neurobiologischer Sichtweisen gehen davon aus, dass bei Patienten
mit einer Panikstörung eine vererbte Vulnerabilität gegeben ist, die in Verbindung mit
Lernfaktoren in der Kindheit, bestimmten Stressfaktoren im späteren Leben und spezifi-
schen kognitiven Fehlinterpretationen der Symptome als gefährlich das Auftreten von
Panikattacken begünstigt. Bei Menschen mit einer Panikstörung besteht demnach ein
genetisch bestimmtes, dauerhaft erhöhtes Angstbereitschaftspotenzial, das unter be-
stimmten Umständen das Auftreten von Panikattacken begünstigt.
Unerwartete, spontane Panikattacken können bei biologisch vulnerablen Personen
bereits durch geringfügige und inadäquate Reize ausgelöst werden. Die biologische
Grundlage dafür ist die Aktivierung des Nucleus centralis der Amygdala, von der aus
andere Zentren wie etwa Locus coeruleus, periaquäduktales Grau, Hypothalamus und
Nucleus parabrachialis aktiviert werden.
Im Gegensatz zur allgemeinen Ängstlichkeit, wie diese beispielsweise bei Personen
mit einer generalisierten Angststörung gegeben ist, besteht aus neurobiologischer Sicht
bei Menschen mit einer Panikstörung eine spezifische Angstbereitschaft, nämlich eine
selektive Überempfindlichkeit in Bezug auf bestimmte körperliche Sensationen. Im
Bereich von Amygdala und Hippocampus erfolgt bei Panikpatienten rascher als bei
anderen Menschen eine Beurteilung verschiedener viszerosensorischer Reize als be-
drohlich. Die Interpretation harmloser körperlicher Reize als gefährlich führt zur sofor-
tigen Angstreaktion mit zahlreichen körperlichen Symptomen. Häufige Panikattacken
fördern die Entwicklung ausgeprägter Erwartungsängste bezüglich des unkontrollierba-
ren Auftretens weiterer Panikattacken, sodass sich im Laufe der Zeit ein körperlicher
Daueranspannungszustand entwickelt.
Aus neurobiologischer Sicht sind bestimmte Psychopharmaka (selektive Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer, stärker serotonerg wirkende trizyklische Antidepressiva und
Tranquilizer wie etwa die Substanz Alprazolam) die adäquate Behandlungsmethode.
Diese Mittel schwächen die Aktivität jener Hirnstammzentren ab, die von der Amygdala
aus aktiviert werden und dann sofort die vegetativen und neuroendokrinen Reaktionen
bei einer Panikattacke auslösen.
In Ergänzung zu den biologischen Vorgängen wirken kognitive Mechanismen, vor
allem die Befürchtung einer schweren körperlichen Erkrankung, krankheitsverstärkend.
Lernerfahrungen von Hilflosigkeit in bestimmten Situationen begünstigen in Verbin-
dung mit der Interpretation der Symptome als gefährlich sekundär die Entwicklung
eines agoraphobischen Vermeidungsverhaltens.
Psychiater wie Bandelow, die sowohl den neurobiologischen als auch den kognitiv-
verhaltenstherapeutischen Standpunkt vertreten, weisen darauf hin, dass Menschen mit
Panikattacken ihren Symptomen nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern neben der Ein-
nahme von symptomlindernden Medikamenten auch durch eine verhaltenstherapeutisch
orientierte Psychotherapie auf die biologischen Prozesse Einfluss nehmen können. Da-
bei werden durch die Aktivierung höherer kognitiver Zentren (vor allem im präfrontalen
Kortex) die starken Erregungen in niedrigeren Zentren (vor allem der Amygdala) durch
bestimmte Übungen und Einstellungsänderungen zu kontrollieren gelernt.
292 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Neurobiologische Aspekte der sozialen Phobie


Eine genetische Komponente besteht laut Zwillingsstudien bei 30-50% der Sozialphobi-
ker, vor allem bei Menschen mit generalisierter Sozialphobie. Das Erkrankungsrisiko ist
für Verwandte von Sozialphobikern dreimal so hoch wie in unbelasteten Familien. Im
Sinne von Vulnerabilitätsfaktoren begünstigen Verhaltenshemmung und Schüchternheit
die Ausprägung einer Sozialphobie. Nach dem Konzept der „Verhaltenshemmung“
neigen bestimmte Personen in neuen und unbekannten Situationen zu Flucht, Vermei-
dung, Verhaltensblockade („Freeze“) und vegetativer Überaktivierung. Dies wurde vom
amerikanischen Entwicklungspsychologen Jerome Kagan bereits bei 10-20% der Kin-
der ab dem Alter von zwei Jahren nachgewiesen. Verantwortlich dafür sind biologisch
gesteuerte Emotionssysteme und Verhaltensreaktionen (ausgehend von den Arealen
Amygdala, Hippocampus, Septum). Nach dem Konzept der „Schüchternheit“ weisen
bestimmte Menschen im Sinne eines Temperamentsfaktors ein genetisch determiniertes
Persönlichkeitsmerkmal auf, das in sozialen Situationen mit Befangenheit, Hemmung
des Spontanverhaltens und vermehrter Selbstbeobachtung und -bewertung einhergeht.
Sozialphobiker neigen bereits bei geringfügig sozial bedrohlichen Reizen zu einer
Übererregbarkeit neuronaler Angstschaltkreise, vor allem bestimmter subkortikaler
Strukturen (Amygdala, Hippocampus). Der präfrontale Kortex, der für die Emotions-
kontrolle zuständig ist, ist bei ihnen erhöht aktiviert. Studien belegen: Sozialphobiker
zeigen in Angst auslösenden Situationen eine stärkere Aktivierung des rechtsfrontalen
Rückzugs- und Verhaltenshemmsystems und eine stärkere physiologische Aktivierung.
Die erhöhte physiologische Aktivierung bei gleichzeitig geringerer subjektiver Angst
besteht vor allem beim Subtyp der spezifischen Sozialphobie.
Das serotonerge System spielt ebenfalls eine Rolle, ein spezifischer Einfluss des se-
rotonergen Systems auf die Entstehung einer Sozialphobie ist jedoch unwahrscheinlich.
Die von Sozialphobikern besonders gefürchteten Symptome Erröten, Schwitzen und
Zittern werden durch eine verstärkte Aktivierung des sympathischen Nervensystems
bewirkt, speziell durch den Anstieg der Herzfrequenz. In sozialen Situationen besteht
oft eine erhöhte körperliche Anspannung, die bei dafür sensiblen Personen zu einer
ausgeprägten psychophysiologischen Reaktion führt, wie diese bei anderen Personen
nicht in einem derartigen Ausmaß auftritt. Die rasche psychovegetative Ansprechbarkeit
verstärkt bei Sozialphobikern die Angst vor sozialer Auffälligkeit, weil dadurch erst
recht die unerwünschte Situation eintritt, von anderen in unangenehmer Weise beobach-
tet werden zu können. Die erhöhte Auftretenswahrscheinlichkeit, die übermäßige Wahr-
nehmung und die negative Bewertung sichtbarer psychovegetativer unterscheiden Sozi-
alphobiker am besten von anderen Angstpatienten.
Es ist pharmakologisch erwiesen, dass Erröten durch eine sympathisch vermittelte
aktive Hautgefäßerweiterung verursacht wird. Eine lokale beta-adrenerge Blockierung,
d.h. eine Blockierung der beta-adrenergen Erregungsübertragung des sympathischen
Nervensystems (z.B. durch Propranolol), vermindert oder beseitigt die emotionale Errö-
tungsreaktion bei häufigem Erröten (das Mittel vermindert auch Zittern). Eine Stimulie-
rung der beta-adrenergen sympathischen Nervenfasern der Gesichtshaut führt dagegen
zu einer aktiven Hautgefäßerweiterung mit Erröten. Der Unterschied zwischen Sozi-
alphobikern mit und ohne Errötungsfurcht besteht darin, dass die einen das Erröten eher
wahrnehmen, unangenehmer empfinden und negativer bewerten als die anderen. Fazit:
Nicht die vegetativen Symptome an sich, sondern deren Wahrnehmung und Bewertung
als sozial stigmatisierend stehen im Zentrum vieler Sozialphobiker.
Angst als biologisches Geschehen 293

Neurobiologische Aspekte der posttraumatischen Belastungsstörung


Aus neurobiologischer Sicht entsteht ein Trauma in einer Situation der Ausweglosig-
keit, wo die natürliche physiologische Aktivierung fehlgeschlagen ist und eine ungenü-
gende Ausschüttung entsprechender Hormone eine wirksame Reaktion auf eine Bedro-
hungssituationssituation unmöglich macht, sodass anstelle einer Kampf- oder Fluchtre-
aktion ein Zustand der körperlichen Immobilität („Freeze“) und des Schocks entsteht.
Der laterale Amygdala-Kern speichert die Furchtkonditionierung und sendet sie weiter.
Psychotraumaexperten [64] haben ein psychobiologisches Erklärungsmodell der
posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt, das auch lerntheoretische Konzepte
integriert. Die posttraumatische Belastungsstörung wird als Störung des limbischen
Systems beschrieben, wo die Mechanismen des Lernens und Erinnerns defekt sind.
Die Störung beruht auf Veränderungen in den Schaltungen des limbischen Systems:
z Übererregter Mandelkern (Amygdala). Die Symptome der posttraumatischen Bela-
stungsstörung sind der Ausdruck des chronisch übererregten Mandelkerns. Der
Mandelkern enthält die Speicherung der emotionalen Bewertung des traumatischen
Ereignisses, dessen nähere Umstände und situative Gegebenheiten im Hippocampus
festgehalten sind. Die Speicherungen im Mandelkern bleiben aufgrund der starken
psychovegetativen Erregung in der traumatischen Situation und des damit verbunde-
nen emotionalen Bedeutungsgehalts unauslöschlich bestehen und können jederzeit
leicht abgerufen werden. Die Gefühle absoluter Hilflosigkeit in einer zumeist le-
bensbedrohlichen Situation (Vergewaltigung, Überfall, Geiselnahme, Kriegserleb-
nisse, Autounfall, Naturkatastrophe) werden immer wieder erinnert.
z Locus coeruleus als Basis noradrenerger Überaktivität. Der Locus coeruleus im
Hirnstamm bewirkt über Vermittlung der Amygdala die vermehrte Ausschüttung
von Stresshormonen (Adrenalin und Noradrenalin), wodurch es zu einer massiven
Aktivierung des Körpers im Sinne der Kampf-Flucht-Reaktion kommt. Die Betrof-
fenen weisen im Blut einen höheren Adrenalin- und Noradrenalinspiegel auf als an-
dere Patientengruppen. Die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin bewirken
viele der chronischen Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung: Hyper-
vigilanz (Überwachheit), leichte Erregbarkeit, Schreckreaktion, Angstzustände,
Schlaflosigkeit, chronische Muskelverspannung usw. Alkohol, Benzodiazepine und
Opiate dienen oft zur Dämpfung dieser Effekte. Der Locus coeruleus steht in enger
Verbindung mit dem Mandelkern und anderen limbischen Strukturen (Hippocam-
pus, Hypothalamus). Die traumatischen Erinnerungen führen über die Ausschüttung
von Stresshormonen auch zur verstärkten Speicherung der traumatischen Erfahrun-
gen im Gedächtnis. Studien an traumatisierten Vietnam-Kriegskämpfern haben so-
fortige psychovegetative Erregungszustände angesichts visueller oder akustischer
Reize in Zusammenhang mit Kampfsituationen aufgezeigt und bleibende neurobio-
logische Veränderungen gefunden (weniger Katecholamin stoppende Rezeptoren).
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung können die übergeordneten „höheren“
Gehirnstrukturen die „niedrigeren“ Hirnteile nicht mehr ausreichend kontrollieren.
Vielmehr reaktivieren die „niedrigeren“ Gehirnstrukturen wie der Locus Coeruleus,
der das autonome Nervensystem steuert, über ihre Verbindungen zum Kortex die
kognitiven, affektiven und somatischen Gegebenheiten der traumatischen Erfahrung.
z Relativer Verlust an adrenergen alpha2-Rezeptoren, die die Ausschüttung von Nor-
adrenalin hemmen, als Folge der zentralen noradrenergen Überstimulierung. Dies
bewirkt eine vermehrte Noradrenalinausschüttung und eine leichte Erregbarkeit.
294 Erklärungsmodelle für Angststörungen

z Vermehrte CRH-Freisetzung. Das hypothalamische Hormon CRH (Corticotropin-


Releasing-Hormon), das die gesamte Kampf-Flucht-Bereitschaft steuert und bei
chronischen Ängsten und Stresszuständen eine ständige Überreaktion bewirkt,
kommt als Neurotransmitter auch in der Amygdala, im Hippocampus und im Locus
coeruleus vor, wo es in Wechselwirkung mit dem noradrenergen und dopaminergen
System eine wichtige Rolle bei der Angstentstehung spielt.
z Dopaminüberaktivität. Die stressbedingte Überaktivität der dopaminergen Neurone
im mesolimbisch-mesokortikalen System gilt als Ursache bestimmter Symptome der
posttraumatischen Belastungsstörung (generalisierte Angstzustände, Panikattacken,
Hypervigilanz, übermäßige Schreckreaktion). Nach der stressbedingten Mehraus-
schüttung im präfrontalen Kortex kommt es zu einem Dopaminmangel im Gehirn.
z Reduzierte Serotoninaktivität. Dies beeinträchtigt das Funktionieren des Hippocam-
pus. Ankommende Sinneseindrücke werden infolgedessen als bedrohliche und nicht
als neutrale Reize interpretiert.
z Veränderungen im Opioidsystem. Dieses System dient der Ausschüttung der körper-
eigenen Opiate (Endorphine, Enkephaline, Dynorphine) mit dem Ziel, in traumati-
schen Situationen eine Schmerz- und Stressunempfindlichkeit zu bewirken. Endor-
phine sind körpereigene, morphinähnliche Substanzen mit betäubender, schmerzlin-
dernder und euphorisierender Wirkung. Durch die ständige Konfrontation mit trau-
maähnlichen Situationen setzt als Folge der dadurch ausgelösten Veränderungen des
Endorphingehalts eine Betäubung bestimmter Gefühle ein. Dies dürfte die Gefühle
der Anhedonie (Freud- und Lustlosigkeit), der emotionalen Abstumpfung und Taub-
heit sowie der inneren Teilnahmslosigkeit erklären.

Zwei Mechanismen sind von zentraler Bedeutung: die Aktivierung der Amygdala (Fol-
ge: Störung der Informationsverarbeitung im Hypothalamus) und die fehlende Hem-
mung kortikaler Impulse (die Folge: die Übererregungssymptome halten an).
Die neuronalen Grundlagen des Lernens und des Gedächtnisses werden im Kontext
der klassischen und operanten Konditionierung beschrieben, wodurch das Zusammen-
spiel von biologischen und psychologischen Faktoren besonders hervorgehoben wird:
1. Furchtkonditionierung nach dem Modell der klassischen Konditionierung stellt den
Schlüsselbegriff zum Erwerb der Störung dar. Ursprünglich neutrale Reize (be-
stimmte Geräusche, Objekte, Situationen usw.) erlangten durch die zeitliche oder
räumliche Koppelung mit dem unbedingten Reiz (Körperverletzung, Autounfall, Na-
turkatastrophe usw.) die Fähigkeit, jene psychischen und körperlichen Reaktionen
auszulösen, die ursprünglich nur in der traumatischen Situation aufgetreten waren.
Sensorische oder kognitive Reize (konditionierte Stimuli), die in irgendeiner Weise
eine Ähnlichkeit mit den ursprünglichen Angst auslösenden Reizen (unkon-
ditionierten Stimuli) aufweisen, lösen die Symptome der posttraumatischen Bela-
stungsstörung immer wieder neu aus. Amygdala, Locus coeruleus, Thalamus und
Hippocampus stellen die neuroanatomischen Grundlagen dar, noradrenerge und opi-
oide Rezeptoren sowie NMDA-Rezeptoren die wirksamen neurochemischen Syste-
me. Die Stresshormone, die während des traumatischen Erlebnisses ausgeschüttet
wurden, bewirkten eine Verfestigung in den entsprechenden Hirnstrukturen (Amyg-
dala und Hippocampus). Das wiederholte Erinnern der belastenden Erlebnisse setzt
die Schwelle für das weitere schmerzhafte Wiedererleben herab und bewirkt da-
durch eine verstärkte Einprägung im Gehirn. Konditionierungsexperimente bei Tie-
ren und Menschen ergaben einen erhöhten Blutfluss in der Amygdala.
Angst als biologisches Geschehen 295

2. Fehlende Löschung. Ängste, die durch klassische Konditionierung gelernt wurden,


werden durch mangelnde Verstärkung in der Zukunft spontan wieder verlernt oder
können durch systematische Gewöhnung (Habituation) besser ertragen gelernt wer-
den. Experimentelle Löschung einer Furchtreaktion ist definiert durch das fehlende
Auftreten der früher erlernten konditionierten emotionalen Reaktion bei wiederhol-
ter Darbietung des konditionierten Angstreizes ohne jede weitere Verknüpfung mit
dem ursprünglichen traumatischen Ereignis (unkonditionierter Stimulus), d.h. die
ursprüngliche Verknüpfung von unkonditioniertem und konditioniertem Reiz erfährt
keinerlei Verstärkung. Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung führt dagegen
ein einzelnes Erlebnis der neuerlichen Verknüpfung von unkonditioniertem und
konditioniertem Reiz auch noch nach Jahren zum sofortigen Wiederauftreten der ur-
sprünglichen Angstreaktionen, z.B. kann nach einigen Jahren ein neuerlicher Raub-
überfall oder Vergewaltigungsversuch dieselbe schwere Agoraphobie auslösen, die
mit therapeutischer Hilfe als bereits überwunden galt. Bei der posttraumatischen Be-
lastungsstörung finden die spontanen Vorgänge des Umlernens nicht statt, wie sie
bei unbelasteten Menschen festzustellen sind. Die neurobiologischen Grundlagen
dafür liegen im Mandelkern und im sensorischen Kortex, die neurochemischen bei
den NMDA-Rezeptoren, die eine Löschung der Furchtreaktionen verhindern. Die
mangelnde Löschbarkeit der traumatischen Erlebnisse dürfte durch die mit der Stö-
rung verbundenen Hirnveränderungen bedingt sein, die so ausgeprägt sind, dass eine
Mandelkernerregung bei jedem sensorischen Reiz (bestimmten Bildern, Geräuschen,
Gerüchen usw.) und bei jedem kognitiven Reiz (Gedanken, bildhaften Vorstellungen
und Erinnerungen), der an das Trauma erinnert, immer wieder neu mit großer Inten-
sität auftritt, ohne dass eine Mäßigung der Reaktion erfolgt. Löschung setzt nach
neurobiologischen Theorien einen aktiven Lernprozess voraus. Umlernen stellt einen
kortikalen Vorgang dar, bei dem der linke präfrontale Kortex die Furchtreaktionen
aktiv unterdrückt, wenn eine entsprechende emotional-kognitive Verarbeitung er-
folgt ist. Der Mandelkern ist nicht nur beteiligt am Erwerb und an der Aktivierung
der traumatischen Furchtstrukturen, sondern auch bei der Löschung von Verhaltens-
reaktionen. Die im Mandelkern gespeicherte Furcht bleibt zwar lebenslang erhalten,
wie die Erfahrungen von Holocaust-Opfern und Kriegsteilnehmern 50 Jahre später
zeigen, sie kann jedoch durch verstärkte Aktivität des linken präfrontalen Kortex
eingedämmt werden. Eine Löschung bedeutet keine Beseitigung der traumatischen
Erinnerungen, sondern die Speicherung neuer Gedächtnisinhalte, die die ursprüngli-
chen überlagern.
3. Erhöhte Empfindsamkeit für traumarelevante und traumaähnliche Reize. Es besteht
eine besondere Stressempfindlichkeit in Zusammenhang mit dem Trauma. Über den
Weg der Reizgeneralisierung können Reize, die in irgendeiner Weise der traumati-
schen Situation ähnlich sind, dieselben Reaktionen auslösen. Nucleus accumbens,
Corpus striatum, Hypothalamus und Amygdala stellen die neuroanatomischen
Grundlagen dar, dopaminerge und noradrenerge Rezeptoren sowie NMDA-
Rezeptoren die wirksamen neurochemischen Systeme. Psychisch gesunde Menschen
gewöhnen sich mit der Zeit an bestimmte Reize, Menschen mit einer posttraumati-
schen Belastungsstörung zeigen dagegen keine Habituation, sondern rechnen immer
wieder neu mit einer akuten Bedrohung. Es ist mittlerweile gesicherter Erkenntnis-
stand: Überstimulation (übermäßig starke und lange Stimulation) durch ein Trauma
führt zu Veränderungen im Gehirn.
296 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Die Arbeitsgruppe um Ehlert [65] hat im deutschen Sprachraum die Untersuchungsbe-


funde zu endokrinen, psychophysiologischen und neuroanatomischen Abweichungen
bei Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zusammenge-
fasst, die Befunde mit den psychopathologischen Krankheitsmerkmalen in Beziehung
gesetzt und in dem bedeutsamen Artikel „Psychobiologische Aspekte der Posttraumati-
schen Belastungsstörung“ veröffentlicht. Dabei wurde auch die Spezifität der psycho-
biologischen Abweichungen für das Störungsbild der posttraumatischen Belastungsstö-
rung kritisch beleuchtet und in Hinblick auf weitere psychiatrische und psychosomati-
sche Erkrankungen diskutiert. Die wichtigsten Ergebnisse werden jetzt referiert:

1. Endokrine Neurotransmitterabweichungen
z Aktivierung der Hormone der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-
Achse (HHNA). Erhöhte Anzahl an Glukokortikoidrezeptoren auf Lymphozyten,
erhöhter Spiegel des Corticotropin-Releasing-Hormons (CRH) in der Zere-
brospinalflüssigkeit, supprimierte Freisetzung des adrenokortikotropen Hormons
(ACTH), reduzierte Kortisolfreisetzung nach CFR-Stimulation. Entscheidend ist
das Paradoxon: bei PTBS-Patienten geht eine übermäßige Freisetzung von CRH
mit einem erniedrigten Kortisolspiegel einher; die Anzahl und die Sensitivität
der Glukokortikoid-Rezeptoren nehmen zu. Der erniedrige Kortisolspiegel wird
erklärt durch die Theorie der verstärkten negativen Feedbackhemmung. Bei De-
pressionen und chronischem Stress bestehen gegenteilige Verhältnisse (ge-
schwächte negative Feedbackhemmung von Kortisol, Hyperkortisolismus).
z Erhöhte Freisetzung von Noradrenalin. Dieser Umstand erklärt die verstärkte
Reizbarkeit, die Tendenz zu vermehrtem Ärgerausdruck und die erhöhte
Schreckhaftigkeit von PTBS-Patienten. Noradrenalin ist verantwortlich für Ori-
entierungsvorgänge, selektive Aufmerksamkeitsprozesse, Hypervigilanz und au-
tonomes Arousal. Stress führt im Locus coeruleus zu einer erhöhten neuronalen
Feuerungsrate und Freisetzung von Noradrenalin, wobei die Responsivität von
Noradrenalin durch alpha2-adrenerge Rezeptoren gesteuert wird. Bei PTBS-
Patienten fand man einen deutlich erhöhten Noradrenalinspiegel im Urin und ei-
nen nächtlichen Noradrenalinanstieg im Plasma. Dies erklärt die häufigen
Schlafstörungen mit Albträumen. Bei PTBS-Patienten besteht eine 40%ige Re-
duktion der alpha2-adrenergen Rezeptoren. Diese Rezeptor-Downregulation wird
als Folge der exzessiven Katecholaminfreisetzung gesehen.
z Opiatvermittelte Analgesie. Der analgetische Effekt dürfte durch eine Stimulie-
rung im periaquäduktalen Grau bei gleichzeitiger Erhöhung von Beta-Endorphin
und ACTH, gemessen in der Zerebrospinalflüssigkeit, ausgelöst werden.

2. Psychophysiologische Besonderheiten
z In Abhängigkeit von der Spezifität der Stimuli und dem Schweregrad der Krank-
heitssymptome kommt es bei 60-90% der PTBS-Patienten zu einer Erhöhung
der elektrodermalen Aktivität, der Herzrate und des Blutdrucks. Bei PTBS-
Patienten wurde in allen Untersuchungen übereinstimmend eine erhöhte
Schreckhaftigkeit gefunden, die durch die Amygdala gesteuert wird.
z Als weiteres Zeichen einer erhöhten autonomen Arousal-Reaktion gilt eine ge-
ringere elektrodermale Habituation auf die Darbietung von Schreckreizen. Es
besteht eine hohe Konditionierbarkeit autonomer Prozesse auf negative Stimuli
und infolgedessen eine verringerte Habituation.
Angst als biologisches Geschehen 297

3. Morphologische Veränderungen der Hirnaktivität nach Stimulation.


z Wiederholter Stress führt zur Zerstörung von Nervenzellen, was sich neuroana-
tomisch in einer Atrophie des Hippocampus und in einer neuropsychologisch
verringerten Lern- und Gedächtnisleistung widerspiegelt. Ein verkleinertes Hip-
pocampus-Volumen ist jedoch umstritten und nicht ausreichend gesichert, sodass
Verallgemeinerungen bezüglich aller PTBS-Patienten nicht angebracht sind.
z Bei PTBS-Patienten wurde eine Erhöhung des regionalen cerebralen Blutflusses
im Gyrus cinguli und der Amygdala und eine linkslaterale Reduktion, insbeson-
dere in der Broca-Gegend, gefunden. Daraus wird gefolgert, dass limbische und
paralimbische Hirnarareale, insbesondere die rechtsseitige Amygdala, an der
Verarbeitung traumatischer Erfahrungen beteiligt sind.
z Auf Defizite der Konzentrations- und Gedächtnisleistung bei PTBS-Patienten
wird durch EEG-Untersuchungen geschlossen. Die Befunde werden als Hinweis
auf Schwierigkeiten bei der Unterscheidung zwischen relevanten und irrelevan-
ten Reizen interpretiert.

4. Unzureichende Spezifität der Befunde zur Erklärung der psychobiologischen Dysre-


gulation bei PTB-Patienten. Trotz vieler Studien haben die vorliegenden psychobio-
logischen Befunde keinen ausreichenden Erklärungswert zur Entstehung und Auf-
rechterhaltung der Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Die deutsche Arbeitsgruppe zur Erstellung der Leitlinien „Posttraumatische Bela-


stungsstörung“ [67] beschreibt die wichtigsten neurobiologischen Veränderungen:
z Erhöhte Werte von EMG-Tonus, Herzrate, Blutdruck und Hautleitfähigkeit bei der
Konfrontation mit Traumareizen.
z Traumaerinnerungen bewirken einen Rechts-Shift im EEG (Übererregungszeichen).
z Traumareize provozieren eine Analgesie, die durch Naxalon verhindert wird.
z Erhöhte Schreckreaktion auf ein lautes Geräusch (erhöhte Lidschlagamplitude).
z Erniedrigte Kortisol-Werte im Blut, verstärkte Kortisol-Hemmung nach Dexametha-
son, niedrigere ACTH-Werte nach CRH-Gabe Corticotropin-Releasing-Hormon).
z Erhöhte Ruhewerte des CRH im Liquor, das auch als Neurotransmitter in angstrele-
vanten Hirnstrukturen vorhanden ist.
z Erhöhte Glucocorticoidrezeptorsensitivität /-bindung in Lymphozyten.
z Erhöhte Beta-Endorphin-Spiegel.
z Häufig erhöhte Ruhewerte von Herzrate, Blutdruck und Hautleitfähigkeit.
z Durchgehend verminderte P300-Amplitude im EEG. Die Kohärenz innerhalb der
linken Hemisphäre im EEG nimmt bei Traumatisierten zu, d.h. die sprachkompeten-
te linke Hemisphäre zeigt eine geringere Differenziertheit der Verarbeitung.
z Vermehrte Schlafstörungen als Folge motorischer Aktivitäten im Schlaf, häufiger
Schlafunterbrechungen und verlängerter Wachzeiten zwischen den Schlafzyklen
sowie verkürzter und weniger erholsamer Schlaf.
z Widersprüchliche Befunde zur Verringerung des Hippocampus-Volumens.

Die traumareaktive Sensibilisierung nach traumatischen Erlebnissen beruht auf den


engen zentralen Verschaltungen von Strukturen der kognitiven und emotionalen Infor-
mationsverarbeitung und der Gedächtnisbildung einerseits und den Zentren der vegeta-
tiven Steuerung des Körpers andererseits. Neuronale Netzwerkmodelle sind daher zum
Verständnis der posttraumatischen Belastungsstörung von fundamentaler Bedeutung.
298 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Neurobiologische Aspekte der Zwangsstörung


Nach neueren Studien weist ein Teil der Zwangsstörungen eine biologische Grundlage
auf, was im Rahmen des heute gängigen biopsychosozialen Denk- und Behandlungsan-
satzes als Vulnerabilität (Anfälligkeit, Risikofaktor) zu sehen ist. Zwangsstörungen
lassen sich am besten durch ein psychobiologisches Erklärungsmodell verstehen. Die
bisher noch unzureichenden Forschungsergebnisse weisen auf mindestens vier biologi-
sche Aspekte hin, die zumindest für einen Teil der Zwangsstörungen relevant sind:
1. Störung der Neurotransmittersysteme (gestörte Neurotransmitterbalance),
2. Störung des Stoffwechsels in bestimmten Hirnregionen (Störung der Kommunikati-
on zwischen Frontalhirn und Basalganglien, Überaktivierung der Amygdala),
3. Veränderungen der Hirnstruktur,
4. genetische Aspekte.

Diese Aspekte und deren individuell unterschiedliche Bedeutsamkeit erfordern zukünf-


tig der Entwicklung unterschiedlicher Subtypen und Therapien von Zwangspatienten.
Bei Zwangskranken findet sich oft eine Störung der Neurotransmittersysteme [66].
Früher wurde ein Serotoninmangel angenommen, der durch die Serotonin-Wieder-
aufnahmehemmer behoben werden sollte. Nach neueren Erkenntnissen bestehen bei
Zwangskranken eher ein erhöhter als ein verminderter Serotoninumsatz sowie eine gestör-
te Balance zwischen Serotonin und anderen Neurotransmittern (insbesondere Dopamin)
bzw. einigen Peptiden. Serotonin beeinflusst viele Bereiche (z.B. Affektsteuerung, Ar-
beitsgedächtnis, Reiz- und Belohungslernen, Gefahr- und Risikoabschätzung, Unterdrük-
kung von Handlungsimpulsen, abgestufte Steuerung der Reaktionsbereitschaft auf Gefah-
ren), d.h. es wirkt modulierend auf viele Systeme, hat dadurch eine homöostatische Funk-
tion und bringt das Gesamtsystem wieder mehr ins Gleichgewicht.
Wie sich die neu entwickelte Annahme einer ursprünglich erhöhten Serotonin-
konzentration bei vielen Zwangskranken mit der hilfreichen Wirkung der selektiven
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, die die Konzentration des Serotonins im synapti-
schen Spalt weiter erhöhen, verträgt, lässt sich leicht erklären. Die Transmittermenge ist
nicht allein maßgeblich für die Dynamik eines Transmittersystems. Gestörte Stoffwech-
selvorgänge werden von den Zellen mit dem Abbau oder der zusätzlichen Ausformung
von Rezeptoren beantwortet. Weiters können Rezeptoren ihre Sensibilität für einen
bestimmten Transmitter verändern. Durch SSRI wird zwar anfänglich die erhöhte Sero-
toninkonzentration im synaptischen Spalt weiter erhöht, anschließend besteht jedoch
eine verminderte Empfänglichkeit für serotoninvermittelte Reize, d.h. der überhöhte
Serotonineffekt wird gedämpft. Der antidepressive Effekt der SSRI setzt schneller ein
als der zwangsbezogene. Diese klinische Erfahrung passt gut zum Forschungsbefund,
dass die serotonerge Wirksamkeit im lateralen frontalen Kortex schneller auftritt als im
medialen frontalen Kortex, zu dem auch der orbitofrontale Kortex gehört.
Bei vielen Menschen mit Zwangsstörungen wird durch SSRI eine derartige Sym-
ptomlinderung bewirkt, dass die Lebensqualität wesentlich verbessert wird. Bei Abset-
zen der Medikamente ergibt sich eine hohe Rückfallsquote. Trotz der Wirksamkeit der
SSRI stellt eine serotonerge Dysfunktion beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft
keinen spezifischen und zentralen pathogenetischen Faktor bei Zwangsstörungen dar.
Die im klinischen Alltag oft behaupteten Zusammenhänge zwischen Serotoninmangel
und Zwangsstörung sind wissenschaftlich nicht belegt. Die Studien sind inkonsistent
und ermöglichen keine Rückschlüsse auf die Art der Störung im serotonergen System.
Angst als biologisches Geschehen 299

Zusammenfassend gesehen ergibt sich aus der Wirksamkeit der SSRI nicht zwin-
gend die Schlussfolgerung, dass bei Zwangsstörungen das Serotoninsystem gestört sein
muss, vielmehr könnten die SSRI auch über ein normales serotonerges System positiv
in die Pathophysiologie der Zwangsstörung eingreifen. Der Umstand, dass SSRI bei
vielen reinen Zwangsstörungen allein eine ausreichende Besserung bewirken, bei ande-
ren Zwängen (bei Komorbidität mit Tics und Tourette-Syndrom) eher nur in Verbin-
dung mit Dopaminantagonisten (= Neuroleptika) hilfreich sind und bei wieder anderen
Zwängen überhaupt keinen Effekt zeigen, weist darauf hin, dass es pathophysiologisch
gesehen unterschiedliche Formen von Zwangsstörungen geben muss, weshalb zukünftig
schon allein aus diesem Grund bestimmte Subtypen unterschieden werden müssen.
Bei reinen Zwangsstörungen scheint eher die serotonerg beeinflussbare Achse zwi-
schen dem orbitofrontalen Kortex und der Amygdala eine krankheitskausale Bedeutung
zu haben. Bei komorbid auftretenden Störungen wie Tics und Tourette-Syndrom, die
primär mit einer Dysfunktion des Striatums einhergehen, scheint die zusätzliche Verab-
reichung eines Neuroleptikums wie Risperidon eine Wirkungsverbesserung zu bringen,
weil das Striatum stärker dopaminerg beeinflussbar ist. Eine Kombinationstherapie mit
SSRI und dem Neuroleptikum Risperidon ergab im Vergleich zur reinen SSRI-
Medikation sogar auch eine bessere Wirkung bei Zwangspatienten ohne komorbide
Störungen, d.h. ohne Tics und Tourette-Syndrom.
Die Forschung belegt eine gestörte funktionale Interaktion zwischen Frontalhirn,
limbischem System und Basalganglien (limbisch und präfrontal orientierten Abschnit-
ten), die das neuroanatomische Korrelat bestimmter Zwangsstörungen zu sein scheint
(gestörte Filterfunktion der Basalganglien mit der Folge mangelnder Hemmung der vom
Großhirn kommenden Gedanken und Impulse, in Verbindung damit Überaktivität des
Frontalhirns). Alle Modelle gehen davon aus, dass bei Zwangsstörungen eine Funkti-
onsstörung der Regelschleife vorliegt, die den orbitofrontalen Kortex mit dem Nucleus
caudatus (erregend), diesen mit dem Pallidum (hemmend), diesen mit dem Thalamus
(hemmend) und diesen mit dem orbitofrontalen Kortex (erregend) verbindet. Die ur-
sächliche, pathogenetische Wirkung ist damit aber noch nicht geklärt.
Die Störung der kortiko-subkortikalen Regelschleife führt zu einer Störung der inte-
grativen Verarbeitung sensorischer Daten. Viele Zwangspatienten berichten, sie sähen
wohl, dass Herd, Gas- und Wasserhahn abgedreht und Türen und Fenster verschlossen
seien, diese Wahrnehmung komme aber nicht im Kopf an und es stelle sich nicht das
Gefühl ein, dass alles passe. Das neurobiologische Modell der Zwangsstörung beruht
gegenwärtig auf der Annahme einer Funktionsstörung bestimmter Hirnregionen [68]:
1. Überaktivität des vorderen Hirnbereichs (orbitofrontaler Kortex),
2. Überaktivität von Teilen des limbischen Systems (Cingulum, Basalganglien),
3. Überaktivität der Amygdala.

Zur Erledigung automatischer Tätigkeiten, die wenig Konzentration, Aufmerksamkeit


und geistige Anstrengung erfordern, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen dem orbi-
tofrontalen Kortex und den Basalganglien, insbesondere mit dem Striatum, nötig.
Bei Zwangsstörungen findet man oft eine Überaktivität des vorderen Hirnbereichs
(Überfokussierung des orbitofrontalen Kortex, d.h. jener Stirnhirnanteile, die auf dem
Schädelbasisknochen direkt über der Augenhöhle gelegen sind). Mit der PET (Positro-
nenemissionstomographie) wird die Verteilung des Energiestoffes Glukose (Zucker) im
Gehirn gemessen, als Zeichen der Aktivität bestimmter Regionen. Je mehr Glukose in
einem Bereich des Gehirns verbraucht wird, desto stärker wird dieser Teil beansprucht.
300 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Bei Zwangsstörungen wurden in allen Untersuchungen übereinstimmend abnormal


hohe Zuckerstoffwechselprozesse im Frontallappen, vor allem im orbitofrontalen Kor-
tex, gefunden. Ein Hypermetabolismus (übermäßiger Stoffwechsel) wurde auch im
mediofrontalen, rechtsfrontalen und cingulären Kortex festgestellt. Andere Untersu-
chungsmethoden (SPECT, fMRT) weisen ebenfalls auf Abnormitäten hin.
Der orbitofrontale Kortex bildet die Unterseite des Frontalhirns (unmittelbar über
den Augenhöhlen) und stellt jene Hirnregion dar, wo Denken und Fühlen zusammenlau-
fen und die bewusste Kontrolle des Verhaltens erfolgt. Der orbitofrontale Kortex ist
zuständig für die Steuerung der Aufmerksamkeit, die Integration der Informationen von
den Sinnesorganen und inneren Zuständen (Motivation), die Regulation von Bewe-
gungsabläufen und Wahrnehmungsprozessen sowie für die Kontrolle des Sozialverhal-
tens. Störungen (Schädigungen oder Lähmungen) des orbitofrontalen Kortex führen zu
Störungen der Handlungsplanung und der Entscheidungsfähigkeit, vor allem bezüglich
der Beurteilung negativer und positiver Handlungsfolgen.
Der orbitofrontale Kortex als Teil des präfrontalen Kortex, der zahlreiche kognitive
Funktionen wie Reaktionsunterdrückung, Planung, Organisation, Kontrolle und Über-
prüfung komplexer Aufgaben umfasst, besteht aus zwei funktionellen Bereichen:
1. Der posteromediale orbitofrontale Kortex stellt einen Teil des paralimbischen Sy-
stems dar und ist bedeutsam für die Affektregulation und für die Motivation.
2. Der anteriorlaterale orbitofrontale Kortex ist wichtig für die Reaktionsunterdrük-
kung und die Steuerung des Sozialverhaltens.

Der anteriore Gyrus cinguli steht ebenfalls in enger Verbindung mit Handlungsent-
scheidungen und ist zusammen mit dem orbitofrontalen Kortex Teil eines umfangrei-
chen kortikalen Netzwerkes (unter Einschluss des medialen präfrontalen Kortex und des
limbischen Systems), das die emotionalen Bewertungen von äußeren Reizen und die
Auswahl von Verhaltensantworten beeinflusst. Der Gyrus cinguli im Mittelpunkt des
Gehirns, an der tiefsten Stelle der Hirnrinde, steht als Teil des limbischen Systems mit
den Zentren der Gefühlswelt und der Herztätigkeit in Verbindung und dient der Verar-
beitung und Steuerung von Emotionen. Das Cingulum bewirkt Gefühle von Angst und
Schrecken, wenn die Zwangshandlungen nicht ausgeführt werden.
Bei Zwangskranken bewirkt die Überaktivität im orbitofrontalen Kortex (zu viel
Grübeln), eine Überfokussierung und Einengung der Aufmerksamkeit. Die Betroffenen
bleiben am bestehenden Tun oder Denken haften und können sich nicht lösen. Das
ständige Beachten von bedeutungslosen externen oder internen Elementen führt zu
einem Zustand permanenter Überwachheit. Irrelevante Reize können nicht ausgeblendet
werden, alles erscheint gleich wichtig. Spontanverhalten wird gehemmt. Plötzliche
Impulse und lustvolle Bedürfnisse werden zugunsten der fehlerfreien Durchführung
bestimmter Handlungen unterdrückt. Dies ist zwar für die fehlerfreie Durchführung
aller Details einer Routinehandlung wichtig, wirkt sich jedoch störend aus, wenn es um
die Befriedigung von Bedürfnissen geht, die durch Spontaneität, Spaß und Lust charak-
terisiert sind. Die Angst vor Fehlern verstärkt die Prüf-, Kontroll- und Denkroutinen.
Die Überkontrolle des eigenen Denkens und Tuns zeigt sich auch im Umgang mit
den Zwangssymptomen. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen werden mit großer
Kraftanstrengung zu unterdrücken versucht, wodurch die Symptome paradoxerweise
noch stärker werden. Die Unterdrückung von Zwangsgedanken bedeutet, dass man
ständig auf sie achtet, wodurch die Erregung noch verstärkt wird. Die verstärkte Erre-
gung und Unruhe fördert wiederum mehr Rituale zur Verringerung der Anspannung.
Angst als biologisches Geschehen 301

Bei Zwangsstörungen besteht eine ständige Überaktivität von Teilen des limbischen
Systems (anteriorer Gyrus cinguli und Teile der Basalganglien in Verbindung mit ande-
ren Hilfssystemen). Diese Gehirnregionen sind für die Ausführung von Gewohnheits-
verhalten zuständig, d.h. für fertige Verhaltensschablonen.
Das überaktive Vorderhirn wird durch die Überaktivität dieser Gehirnregion, die für
die präzise Ausführung aller Details von Gewohnheitshandlungen verantwortlich ist,
nicht ausreichend gehemmt, sondern noch zusätzlich angefeuert, d.h. es kommt zu einer
noch stärkeren Bremsung des spontanen Verhaltens.
Die Dysfunktion der Basalganglien verstärkt die orbitofrontale Überaktivität. Dies
wiederum führt zu einer ungenügenden Hemmung der medialen Thalamuskerne bzw.
der positiven Rückkoppelung zwischen orbitofrontalem Kortex und Thalamus. Neben
der Überfunktion bestimmter Teile der Basalganglien besteht gleichzeitig eine Unter-
funktion anderer Teile der Basalganglien. Die Basalganglien (Putamen, Nucleus cauda-
tus, Globus pallidus) sind die zentrale Schaltstelle für die Koordination routinemäßig
ablaufender Bewegungsabfolgen wie Gehen, Schreiben oder Autofahren, wodurch die
Großhirnrinde entlastet wird und sich auf wichtigere Aufgaben konzentrieren kann.
Das Corpus Striatum, das den Nucleus caudatus, das Putamen und den Nucleus ac-
cumbens umfasst, prüft im Sinne einer Filterfunktion die eintreffenden Empfindungen
oder Gedanken auf Vorrangigkeit und Bedeutung und dient der Vorbereitung auf Hand-
lungen als angemessene Reaktionen auf diese Empfindungen und Gedanken. Das dorsa-
le Striatum moduliert motorische Funktionen und prozedurales Lernen, das ventrale
Striatum moduliert kognitive, emotionale und motivationale Prozesse. Das Putamen ist
die automatische Übertragungsstelle für jene Gehirnregion, die die motorischen oder
körperlichen Bewegungsabläufe reguliert. Der Nucleus caudatus stellt die automatische
Übertragungsanlage und Filterstation für jenen Frontalteil des Gehirns dar, der die
Denkvorgänge kontrolliert. Das Striatum ermöglicht eine automatische Informations-
verarbeitung ohne Bewusstseinrepräsentation und steuert jene stereotypen, regelhaft
ablaufenden Vorgänge, die kein Bewusstsein erfordern. Es kann ohne Einschaltung
höherer Gehirnzentren motorische Aktionen selbstständig ausführen oder Wahrneh-
mungen unterdrücken und übernimmt den automatischen Ablauf jener Bewegungen, die
zuerst durch bewusste Aufmerksamkeit und Willensanstrengung eingeübt wurden (z.B.
Erlernen eines Instruments, einer Sportart, des Autofahrens oder des Schreibens). Die
Tätigkeit des Striatums erleichtert das Leben und erhöht die Effizienz des Großhirns,
weil dadurch vieles automatisch und unbewusst ablaufen kann. Bei einer Störung des
Striatums werden zu viele Informationen als relevant angesehen und emotional und
motorisch bewertet, sodass das Frontalhirn die Filterung übernehmen muss und dadurch
überaktiviert wird. Automatisch ablaufende Tätigkeiten werden nun durch bewusste
Aufmerksamkeitszuwendung gesteuert, was viel Kraft und Konzentration erfordert.
Fazit: Zwangspatienten müssen aufgrund einer reversiblen Schädigung des Striatums
mehr nachdenken und sich bewusst anstrengen, um unbewusst und automatisch ablau-
fende Verhaltensweisen ausführen zu können und entgegen den vorhandenen störenden
Gedanken und Drangzuständen doch eine Verhaltensänderung bewirken zu können.
Die kortiko-striatalen Regelkreise umfassen zwei Schleifen, die für die Ausprägung
eines Zwangsstörung bedeutsam sind: Vom Striatum geht einerseits eine direkte Schlei-
fe mit erregender Wirkung über den Globus pallidus interna zum Thalamus und von
dort wieder zurück zum frontalen Kortex und andererseits eine indirekte Schleife mit
dämpfender Wirkung über den Globus Pallidus externa zum Globus pallidus interna und
von dort über den Thalamus wieder zurück zum Kortex.
302 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Die direkte Schleife bewirkt ein positives Feedback, die indirekte ein negatives
Feedback. Positive Rückkoppelungsschleifen zwischen Kortex und Thalamus begünsti-
gen Zwangsgedanken, während das Striatum repetitive Handlungsmuster in Form von
Zwangsritualen bewirkt. Die gestörte Interaktion zwischen Basalganglien, limbischem
System und Frontalhirn kann also zu verschiedenartigen Zwängen führen.
Bei Gesunden besteht ein Gleichgewicht zwischen direkten und indirekten kortiko-
striato-thalamischen Regelkreisen, bei Zwangskranken dagegen ein Ungleichgewicht
zugunsten des direkten Systems. Dies bewirkt eine ständige Erregung des Thalamus und
schließlich eine Hochregulation zwischen Kortex und Thalamus.
Schwartz [69], einer der führenden Zwangsforscher in den USA, fasst den Stand der
Hypothesenbildung zur Entwicklung von Zwangshandlungen in seinem allgemein ver-
ständlichen Buch „Zwangshandlungen und wie man sich davon befreit“ aus psychobio-
logischer Sicht folgendermaßen zusammen (und entwickelt in Anschluss daran auch ein
später ausführlich dargestelltes psychotherapeutisches Behandlungskonzept):

„Wir wissen, dass das Corpus striatum bei korrekter Funktion wie ein Filter arbeitet, indem es die ihm
zugehenden Sinnesinformationen ‚durchschleust’ und so die ihm zustehende Rolle im verhaltensbezo-
genen Leistungsnetz des Gehirns spielt. Aller Wahrscheinlichkeit nach passiert nun bei Zwangsstörun-
gen Folgendes: Aus früheren Evolutionsstufen stammende Regelkreise des Kortex, wie die für Wa-
schen und Kontrollieren, durchbrechen die Schleuße, vermutlich aufgrund eines Problems im Nucleus
caudatus. Ohne ein wirksames Schleußensystem jedoch kann der oder die Betroffene von diesen auf-
dringlichen Zwängen überwältigt werden und unvernünftigerweise sein/ihr Handeln von ihnen bestim-
men lassen. Solche Handlungen werden dann ‚behaviorale Perseveration’ genannt, eine Bezeichnung
für Zwangshandlungen, mit der eine Wiederholungstendenz im Verhalten ausgedrückt werden soll.
Besonders solche Zwangshandlungen sind behaviorale Perseverationen, die der oder die Betroffene
durchaus als unsinnig erkennt und die er/sie eigentlich nicht ausführen möchte: Die Zwangsvorstellung
kommt in der Schleuße an, die Schleuße lässt sich nicht schließen, und die Vorstellung dringt immer
wieder ungehindert ein. Die Betroffenen müssen dann ihrer Wiederholungstendenz folgen, sich unauf-
hörlich die Hände waschen oder immer wieder den Herd nachkontrollieren, auch wenn das völlig sinn-
los ist. Solche Handlungen mögen ihnen eine momentane Erleichterung verschaffen, aber weil die
Schleuße sich eben nicht schließen lässt, bricht der Drang zum Waschen oder Kontrollieren gleich
wieder durch. Und um alles noch schlimmer zu machen: Es sieht ganz so aus, als stecke das Schleußen-
tor um so unbeweglicher fest, je mehr Zwangshandlungen jemand begeht. Aufgrund des Fehlens eines
voll funktionsfähigen Corpus striatum muss der Kortex, die Großhirnrinde, mit ganz bewusstem Einsatz
funktionieren, weil ja die unerwünschten Vorstellungen und Antriebe ständig einzudringen versuchen.
Und genau solch ein bewusster Einsatz geschieht in der Verhaltenstherapie, wenn nämlich jemand seine
Reaktionen auf eindringliche Zwänge in den Griff zu bekommen sucht.
Wir haben gute Gründe für die Annahme, dass ein zwangsgestörter Mensch sich deswegen von solchen
aufdringlichen Vorstellungen und Trieben nicht zu befreien vermag, weil der orbitale Kortex, das
‚Frühwarnsystem’ des Gehirns, unzutreffende Informationen von sich gibt, ‚abfeuert’, wie wir sagen.
Der Übeltäter kann sehr wohl die mangelhafte Filterung des Nucleus caudatus sein.“

Die Störung der integrativen Verarbeitung sensorischer Daten zeigt sich z.B. bei Kon-
trollzwängen in dem Umstand, dass der abgedrehte Wasserhahn wohl wahrgenommen,
aber im Kopf dennoch nicht so erlebt wird, sodass durch eine neuerliche Kontrolle eine
innere Beruhigung erwartet wird, was sich bald als Irrtum herausstellt.
Kontrollzwänge lassen sich als spezifische Gedächtnisstörungen interpretieren. Bei
Patienten mit Kontrollzwängen hinterlässt der motorische Vollzug bestimmter Hand-
lungen keine ausreichende Gedächtnisspur, sodass sensorische Informationen (z.B.
ständig hinschauen) zur Kompensation benutzt werden. Die fehlerhafte Verarbeitung
und Speicherung motorischer Handlungsabläufe hängt mit der Störung der Interaktion
zwischen orbitofrontalem Kortex und Basalganglien zusammen.
Angst als biologisches Geschehen 303

Bei der Therapie von Kontrollzwängen ist auf eine optimale sinnliche Repräsentati-
on und Speicherung einer einmaligen Kontrollhandlung zu achten, um Wiederholungen
des Kontrollverhaltens wegen Vergessens der Handlungsausführung zu verhindern (z.B.
mit geschlossenen Augen langsam den Wasserhahn zudrehen bzw. sich ein Kontroll-
verhalten bei geschlossenen Augen vorstellen).
Die durch die bildgebenden Verfahren (PET, SPECT, fMRT) gefundenen Abnorma-
litäten sind vermutlich nicht die Ursache der Zwänge, wie Schwartz und andere For-
scher annehmen, sondern möglicherweise nur das Ergebnis längerer Zwangsstörungen.
Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen gehen ständig mit Veränderungen der Ge-
hirnchemie einher. Der vermehrte Zuckerstoffwechsel stellt nur das physiologische
Korrelat eines primär psychologischen Phänomens dar, nämlich der intensiven kogniti-
ven Aktivität. Die erhöhe orbitofrontale Stoffwechselaktivität kann die neuronale Ab-
bildung des Widerstands gegen die Störgedanken und den Drang zum Ausführen von
Zwangshandlungen sein. Der erhöhte Stoffwechsel im orbitofrontalen, mediofrontalen,
rechtsfrontalen und cingulären Kortex ist keineswegs spezifisch für Zwangsstörungen,
sondern zeigt sich auch bei Depressionen. Bei Angstpatienten finden sich keine Verän-
derungen im Nucleus caudatus, wohl aber im orbitofrontalen Kortex.
Neben der bisherigen Betonung der Rolle des kortiko-striatalen Systems für die Ent-
stehung repetitiver Gedanken und Handlungen wird in letzter Zeit auch die Bedeutung
der Amygdala, d.h. des Mandelkerns, als neuroanatomisches Substrat für die affektive
Symptomatik bei Zwangsstörungen hervorgehoben, und zwar vor allem hinsichtlich des
Aspekts der Angst. Die Amygdala speichert auf kortikaler Ebene Lernvorgänge als
Assoziationen zwischen Reizen. Die Amygdala steht in einer engen Verbindung mit den
kortiko-striato-thalamischen Regelkreisen; auf diese Weise können eintreffende Infor-
mationen schnell weitergeleitet werden. So wie mittels PET- und SPECT-Studien bei
Zwangskranken im Vergleich zu Gesunden durch Symptomprovokation eine erhöhte
Aktivierung von orbitofrontalem Kortex, Nucleus caudatus und Gyrus cinguli gezeigt
werden konnte, wurde mithilfe der funktionellen Kernspintomographie durch Sym-
ptomprovokation auch eine Aktivierung der Amygdala nachgewiesen. Weiters wurde
bei Zwangspatienten im Vergleich zu Gesunden neben einem geringeren Umfang des
orbitofrontalen Kortex auch eine Volumenreduktion der Amygdala gefunden.
Die Amygdala spielt, was bislang völlig vernachlässigt wurde, bei der Pathophysio-
logie der Zwangsstörung eine entscheidende Rolle und muss zukünftig noch genauer
erforscht werden. Konditionierungsprozesse – auch krankheitsunspezifischer Art –
werden bei Zwangspatienten löschungsresistenter gespeichert, sodass es zu einer länger
dauernden Aktivierung der Amygdala kommt als bei anderen Menschen.
Das Faktum der erhöhten inneren Erregung dürfte auch in Interaktion mit psycholo-
gischen Aspekten zu sehen sein. Der Druck, sich angesichts von Situationen irgendwie
verhalten und entscheiden zu müssen, sowie das Vorhandensein unlösbar scheinender
Probleme und die grundlegende Unsicherheit hinsichtlich des richtigen Verhaltens füh-
ren zu einem unspezifischen emotionalen Erregungszustand. Es lassen sich experimen-
telle Erkenntnisse anführen, wie auf diese Weise zwanghaftes Verhalten begünstigt
bzw. überhaupt erst ermöglicht wird.
Bei manchen Zwangspatienten wurden auch hirnmorphologische Unterschiede ge-
genüber Gesunden gefunden. Die überwiegende Mehrzahl der Untersuchungen erbrach-
ten jedoch keine signifikanten cerebralen Strukturveränderungen bei Menschen mit
Zwangsstörungen. Genetische Aspekte dürften ebenfalls relevant sein, weil Zwangsstö-
rungen auch bei getrennt aufgewachsenen Zwillingspaaren gefunden wurden.
304 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Angst als gelerntes Verhalten –


Das Modell der frühen Verhaltenstherapie
Die lerntheoretischen Modelle haben einen für Änderungsstrategien sehr bedeutsamsten
Beitrag zum Verständnis der Entstehung von Angst geliefert. Die ursprünglichen, durch
Tierexperimente fundierten Konzepte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts,
wie sie in den USA entwickelt wurden, waren jedoch sehr einfach und berücksichtigten
nur Teilaspekte des Lernens.
Die zentrale These der frühen lerntheoretischen Modelle besagt, dass fast jedes
menschliche Verhalten (und damit auch das ängstliche Verhalten) erlernt ist und daher
auch wieder verlernt werden kann, was einen großen therapeutischen Optimismus be-
gründete. Ängste werden nach lerntheoretischen Modellen erworben durch wiederholte
Erfahrung mit unangenehmen Situationen. Der genaue Vorgang wird als „Konditionie-
rung“ bezeichnet.
Man unterscheidet zwei Arten von Konditionierung:
z Klassische Konditionierung („Bedingter Reflex“): Konditionierung durch Stimulus-
Lernen.
z Operante oder instrumentelle Konditionierung (Lernen am Erfolg, Versuch-Irrtum-
Lernen): Konditionierung durch Lernen aus den Folgen eines Verhaltens.

Klassische Konditionierung („Bedingter Reflex“)


Klassische Konditionierung ist ein Vorgang des assoziativen Lernens. Ein ursprünglich
neutraler Stimulus (CS: conditioned stimulus, z.B. ein Ton) wird zeitlich verknüpft mit
einem unkonditionierten Stimulus (UCS: unconditioned stimulus, z.B. Futter), der eine
biologisch vorgegebene, d.h. unkonditionierte Reaktion (UCR: unconditioned reaction,
z.B. Speichelfluss) auslöst. Nach mehreren Koppelungen des CS und des UCS bewirkt
die alleinige Darbietung des CS eine konditionierte Reaktion (CR), die der UCR ähnlich
ist. Anstelle einer zeitlichen Koppelung von CS und UCS kann auch räumliche Nähe
die Assoziation herstellen.
Unter „klassischer Konditionierung“ versteht man eine durch zeitliche und/oder
räumliche Nähe erfolgte Koppelung eines unbedingten, biologisch signifikanten Reizes
(z.B. Lärm), der eine unbedingte, d.h. biologisch vorgegebene Reaktion auslöst (z.B.
Schreckreaktion), mit einem bedingten Reiz (z.B. Lichtquelle) in der Form, dass durch
mehrfaches Auftreten dieser Koppelung der bedingte Reiz, der anfangs neutral war,
ausreicht, die unbedingte Reaktion (Angst) auszulösen.
Einfacher ausgedrückt ist die klassische Konditionierung eine Form des Lernens
nach Pawlow, bei der der Organismus eine Verknüpfung zwischen zwei Reizen lernt,
und zwar zwischen einem neutralen (bedingten) Reiz und einem biologisch relevanten
(unbedingten) Reiz (dieser löst eine biologisch festgelegte Reflexreaktion aus). Als
Ergebnis der Konditionierung löst der ehemals neutrale Reiz eine neue (bedingte) Re-
flexreaktion aus, die oftmals der ursprünglichen Reaktion ähnlich ist.
Klassische Konditionierung beruht auf dem Modell der Stimulus-Substitution: durch
eine mehrfache (zufällige) Koppelung eines vorher neutralen Reizes mit einem unkondi-
tionierten, biologisch signifikanten Stimulus gewinnt der neutrale Reiz eine bedingte
Auslösefunktion für die ursprünglich unkonditionierte Reaktion.
Angst als gelerntes Verhalten 305

Bei der klassischen Konditionierung sind verschiedene Vorgänge bedeutsam:


1. Generalisierung. Reize, die dem konditionierten Originalreiz ähnlich sind, lösen
dieselbe Reaktion aus. Die Reaktion wird auf alle ähnlichen Reize ausgeweitet.
2. Extinktion. Dieser Vorgang bezeichnet die Löschung gelernter Zusammenhänge
durch fehlende oder irrelevant gewordene Koppelung von unkonditioniertem und
konditioniertem Reiz. Die Konditionierung wird wieder verlernt, wenn sie z.B. bio-
logisch nicht mehr sinnvoll ist oder der bedingte und der unbedingte Stimulus nicht
mehr im erforderlichen Ausmaß der zeitlichen oder räumlichen Nähe zusammen
auftreten, um die Verbindung zu stärken. Nach einer Erholungsphase kehrt die kon-
ditionierte Reaktion jedoch teilweise zurück, wenn der konditionierte Reiz allein
dargeboten wird. Dies nennt man spontane Erholung.
3. Diskrimination. Die Reizgeneralisierung ist begrenzt durch die Unterscheidung der
Reize als verschieden relevant, d.h. nicht jeder ähnliche Reiz, sondern nur bestimmte
relevante Reize können die konditionierte Reaktion auslösen (z.B. nur bestimmte
hohe Töne bewirken einen Speichelfluss).

Historische Beispiele der klassischen Konditionierung:


z Beim bekannten Hundeexperiment von Pawlow erfolgt aufgrund der zeitlichen Kop-
pelung von Glockenton und anschließender Futtergabe der Speichelfluss nach eini-
gen Wiederholungen bereits aufgrund des bedingten Reizes (Glockenton).
z Dem kleinen Albert (11 Monate alt) wurde in den USA in den 1920er-Jahren zuerst
eine Ratte gezeigt, vor der er sich nicht fürchtete, anschließend ertönte ein lauter,
Furcht einflößender Knall. Nach sieben Versuchsdurchgängen reagierte Albert auf
die Ratte mit Furcht, selbst dann, wenn ihrer Darbietung kein Knall mehr folgte. Al-
berts Furcht übertrug sich auch auf Gegenstände, die einer Ratte ähnelten. Das wei-
ße Fell der Ratte wurde generalisiert auf alle möglichen weißen pelzartigen Gege-
benheiten: weißer Hase, weißer Pelzmantel, weißer Bart des Weihnachtsmannes.
Dieser Befund konnte von anderen Autoren jedoch nicht repliziert werden.

Viele Ängste bei Agoraphobien mit Panikstörung, spezifischen Phobien oder posttrau-
matischen Belastungsstörungen entstanden durch klassische Konditionierung:
z Die Angst eines Kindes vor Männern mit weißem Mantel entwickelte sich zu dem
Zeitpunkt, als es einmal von einem Arzt eine Spritze erhielt, die schmerzvoll in Er-
innerung blieb.
z Die Angst vor Brücken, Höhen, geschlossenen Räumen, öffentlichen Verkehrsmit-
teln usw. stellt die Reaktion auf den Umstand dar, dass dort einmal ein sehr unange-
nehmer Zustand (z.B. Übelkeit, Atemnot, Ohnmachtsneigung) auftrat.
z Ehemalige Soldaten reagierten noch viele Jahre nach dem 2. Weltkrieg auf Schlacht-
feldgeräusche mit starken Emotionen.
z Massive psychosomatische Reaktionen werden oft noch Jahre nach einer Vergewal-
tigung oder einer Flugzeugentführung ausgelöst durch bestimmte Reize, die im Zu-
sammenhang mit der traumatischen Erfahrung auftraten.

Lernen im Sinne der klassischen Konditionierung steht grundsätzlich im Dienste der


Anpassung. Ein bestimmter Reiz stellt ein Signal für Gefahr dar. Studien zeigen, dass
nicht die Stärke einer Konditionierung, sondern die Erwartung von Gefahr und Panik
bzw. die Überschätzung der Furcht der zentrale Faktor für die Entstehung einer Ver-
meidungsreaktion sind. Dies ist auch die zentrale Aussage der Sicherheitssignaltheorie.
306 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Operante Konditionierung (Lernen am Erfolg)


Bei der operanten Konditionierung führen die Konsequenzen eines bestimmten Verhal-
tens zu einer veränderten Auftretenswahrscheinlichkeit des Verhaltens. Wenn z.B.
Flucht aus einer agoraphobischen Situation Angst reduziert, wird sie häufiger erfolgen.
Operantes Konditionieren stellt Lernen aus den Folgen des Verhaltens dar. Nicht
bestimmte Reize (wie beim klassischen Konditionieren), sondern bestimmte Konse-
quenzen eines Verhaltens bewirken, dass dieses zukünftig häufiger oder weniger häufig
auftritt, d.h. die Art der Konsequenzen eines Verhaltens beeinflusst dessen Auftretens-
wahrscheinlichkeit.
Das Erreichen einer operanten Konditionierung lässt sich empirisch durch Verände-
rungen der Verhaltenshäufigkeit feststellen. Die operante Konditionierung ist eine akti-
vere Form des Lernens als die klassische Konditionierung, denn der Organismus lernt,
aktiv auf die Umwelt einzuwirken, anstatt lediglich auf Signale zu reagieren. Die er-
reichten Effekte – die Konsequenzen der Handlung – bestimmen die Wahrscheinlichkeit
ihrer Wiederholung.
Ein historisches Beispiel für die operante Konditionierung stellt das Skinner-Box-
Experiment dar. Eine hungrige Ratte im Käfig erhält bei jedem zufälligen Druck auf
einen Hebel eine Futterpille, sodass die Ratte ihr Verhalten wiederholt, um wieder eine
Futterpille zu erhalten. Innerhalb der ersten Stunde des Experiments drückt die Ratte
den Hebel so oft, dass operantes Lernen angenommen werden muss.
Operante Konditionierung ist durch drei Bestandteile charakterisiert:
1. Verhaltenskontingenzen. Eine Verhaltenskontingenz ist eine konsistente Beziehung
zwischen einer Reaktion und den Reizbedingungen, die ihr folgen. Eine Kontingenz
kennzeichnet eine Beziehung vom Typ „wenn X, dann Y“. Eine Verhaltenskontin-
genz kann die Auftretensrate von Verhalten oder die Reaktionswahrscheinlichkeit
senken oder erhöhen. Dies kann durch einen speziellen Plan zur Verhaltensänderung
therapeutisch festgelegt werden.
2. Verstärker. Als Verstärker gilt all das, was die zukünftige Auftretenswahrschein-
lichkeit eines Verhaltens erhöht. Man unterscheidet primäre Verstärker (z.B. Nah-
rung) und sekundäre Verstärker (z.B. Lob). Als Verstärkung bezeichnet man den
Prozess der Darbietung bzw. Entfernung eines Reizes nach dem Auftreten einer spe-
ziellen Reaktion.
3. Diskriminative Reize. Diese Reize informieren die Person darüber, dass eine be-
stimmte Verstärkerkontingenz wirksam ist. Der diskriminative Reiz löst nicht die
Reaktion aus, sondern signalisiert lediglich, dass eine Verstärkung erhältlich ist, falls
die Reaktion ausgeführt wird.

Bei der operanten Konditionierung werden folgende Verhaltenskontingenzen, d.h. Be-


ziehungen zwischen Verhalten und nachfolgenden Konsequenzen, unterschieden:

Darbietung Entfernung

Positiver Verstärker positive Verstärkung Löschung


(angenehmer Stimulus) (Belohnung) (indirekte Bestrafung)
Aversiver Reiz direkte Bestrafung negative Verstärkung
(unangenehmer Stimulus)
Angst als gelerntes Verhalten 307

Es ergeben sich vier verschiedene Arten der operanten Konditionierung:


1. Positive Verstärkung ist die Belohnung einer Verhaltensweise durch einen positiven
Verstärker materieller oder immaterieller Art (z.B. Süßigkeiten, Geld, gute Note,
Lob, Streicheln).
2. Negative Verstärkung ist die Beseitigung eines aversiven, bestrafenden Ereignisses,
sodass eine Art Belohnung im Sinne der Erleichterung gegeben ist (z.B. Aufhebung
der Ausgangssperre bzw. des Fernsehverbots, Flucht aus einer Angst machenden Si-
tuation).
3. Bestrafung ist die Verabreichung eines aversiven Reizes (z.B. Schimpfen, Schreien),
d.h. die Anwendung einer unangenehmen Konsequenz, um ein Verhalten abzubauen
oder zu reduzieren.
4. Löschung ist die Reduktion eines Verhaltens durch Nichtbelohnung oder Entzug von
positiven Verstärkern/Reizen (z.B. Lob, Geld). Ohne verstärkende positive Folgen
erlischt ein bestimmtes Verhalten.

Operante und klassische Konditionierung können in folgender Hinsicht voneinander


unterschieden werden:
1. Bei der klassischen Konditionierung wird der Reiz vor der Reaktion geboten, die
Reihenfolge der Reize ist, unabhängig von der Art der Reaktion, stets die gleiche,
und die unkonditionierte Reaktion bestimmt, wie die konditionierte ausfällt.
2. Bei der operanten Konditionierung treten die kritischen Reize aus der Umwelt nach
der Reaktion auf und werden durch die Handlung des Lernenden erreicht. Dies steht
im Gegensatz zur klassischen Konditionierung, bei der das Verhalten des Lernenden
keinerlei Einfluss auf irgendwelche Konsequenzen aus der Umwelt hat.
3. Bei der klassischen Konditionierung lernt man, einen Reiz zu nutzen, der etwas
Wichtiges in der Umwelt vorhersagt, d.h. man lernt, Gefahrenzeichen zu erkennen,
bei der operanten Konditionierung lernt man Beziehungen zwischen dem eigenen
Verhalten und dessen externen Bedingungen und Folgen, d.h. man lernt wirksame
Reaktionsweisen zur Bewältigung der Gefahr.

Zwei-Faktoren-Modell der Angstentstehung


Das lerntheoretisch begründete Zwei-Faktoren-Modell der Entstehung und Aufrechter-
haltung neurotischer Angst von Mowrer aus den 1940er-Jahren ist ein einfaches, für
viele Angststörungen unzureichendes, in zahlreichen Fällen jedoch auch heute noch
relevantes und hilfreiches Modell zur Erklärung und Änderung agoraphobischen Ver-
haltens, wie dies in der Verhaltenstherapie erfolgt [70]:
1. Aufgrund traumatischer Bedingungen, die sich zufällig ergeben haben, wird eine
ursprünglich neutrale Situation zu einem aversiven Reiz (= erster Faktor; klassische
Konditionierung). Der erste Angstanfall ereignete sich z.B. in einem Geschäft, Re-
staurant oder öffentlichen Verkehrsmittel, weshalb Einkaufen gehen, Lokalbesuche
oder Bus- bzw. Zugfahrten zukünftig gefürchtet und vermieden wird. Die Angst, die
ursprünglich einer bestimmten Situation oder einem spezifischen Objekt galt, wird
im Laufe der Zeit auf alle ähnlichen Situationen oder Objekte übertragen. Dieser
Vorgang wird Reizgeneralisierung genannt. Dies erklärt, warum eine körperliche
Reaktion (z.B. Übelkeit, Atemnot) plötzlich in vielen Situationen auftritt, die der ur-
sprünglichen Angst machenden Situation ähnlich sind (z.B. in allen Kinos).
308 Erklärungsmodelle für Angststörungen

2. Der Betroffene versucht, dem gefürchteten Reiz zu entfliehen oder überhaupt nicht
mehr zu begegnen, wodurch die Angst sofort beendet oder überhaupt vermieden
wird. Das Vermeidungsverhalten wird durch den Erfolg, nämlich das Ausbleiben der
vermeintlichen, erwarteten aversiven Situation, negativ verstärkt (= zweiter Faktor;
operante Konditionierung, Prinzip der negativen Verstärkung). Es wird zwar Angst
vermieden, jedoch um den Preis, dass man sich zukünftig immer weniger in Ge-
schäften oder öffentlichen Verkehrsmitteln aufhalten kann. Flucht als Problemlö-
sung wird zukünftig häufiger auftreten, weil sie die Angstsymptome beseitigt.

Lerntheoretisch gesehen läuft die Entwicklung einer Agoraphobie folgendermaßen ab:


z Klassische Konditionierung. Angst mit körperlichen Symptomen wird durch das
Auftreten in einer ganz bestimmten Situation (z.B. Luftmangel in einem Reisebus)
erworben, indem eine entsprechende Reiz-Reaktionsverbindung aufgebaut wird.
Viele Phobiker haben jedoch keine derart traumatisierenden Konditionierungen er-
lebt oder können durch beruhigende Informationen und bestimmte Sicherheitssigna-
le rasch angstfei werden. Dies zeigt die Grenzen des Konditionierungsmodells auf.
z Reizgeneralisierung. Das Wiederauftreten der Ängste wird zukünftig nicht nur in
derselben, sondern auch in ähnlichen Situationen gefürchtet (z.B. Luftmangel in je-
dem Bus und Zug). Die ursprüngliche Koppelung eines bestimmten Angst machen-
den Reizes mit unangenehmen körperlichen Beschwerden wird zukünftig in zahlrei-
chen anderen Reizsituationen gefürchtet, sodass Erwartungsängste entstehen.
z Operante Konditionierung in Form der negativen Verstärkung. Durch Vermeidung
der Angst machenden Situationen können Angstzustände wirksam umgangen wer-
den. Die unerwünschten Folgen werden durch Flucht beseitigt, sodass Fluchtverhal-
ten zukünftig häufiger auftreten wird. Eine Realitätstestung auf die tatsächliche Ge-
fährlichkeit der vermiedenen Situationen entfällt, sodass die objektive Ungefährlich-
keit gar nicht mehr erlebt wird. Das Verhalten bei Agoraphobie lässt sich demnach
als „Meidungslernen“ verstehen. Wenn gefürchtete Situationen nicht vermieden
werden können, d.h. für den Bedarfsfall keine Fluchtchance gesehen wird, tritt häu-
fig eine Panikattacke auf. Agoraphobiker sind deshalb immer „auf dem Sprung“.
z Operante Konditionierung in Form der positiven Verstärkung. Das Angstverhalten
wird häufig von der Umwelt positiv verstärkt, indem Angehörige für die agorapho-
bische Person im Sinne gut gemeinter, tatsächlich jedoch schädlicher übermäßiger
Hilfsbereitschaft alles tun, damit sich diese nicht in für sie angstbesetzte Situationen
begeben muss, d.h. die Helfer belohnen letztlich das Angstverhalten. Agoraphobiker
werden auf diese Weise zunehmend von ihren Bezugspersonen abhängig und verlie-
ren ihr Selbstvertrauen.

Lerntheoretische Konzepte wurden auch zur Erklärung von Zwangsstörungen herange-


zogen. Mit dem Prinzip der negativen Verstärkung wurde 1966 von Meyer [71] die
Aufrechterhaltung von Zwängen auf einfache Weise zu erklären versucht. Ein Zwangs-
ritual stellt ein konditioniertes Vermeidungsverhalten dar, das die negativen Konse-
quenzen zwanghaften Denkens und Handeln zu verhindern sucht, wodurch zwar kurz-
fristig eine Angst reduzierende Wirkung erreicht wird, langfristig jedoch die Zwangs-
störung stabilisiert wird. Wenn ein bestimmtes Verhalten (z.B. Türklinken angreifen)
nicht vermeidbar war, erfolgt anschließend ein Wiedergutmachungsritual (z.B. Wa-
schen als Beseitigung vermeintlicher Verschmutzung). Das Zwangsritual wird durch
seine Angst reduzierende Funktion aufrechterhalten und stabilisiert.
Angst als gelerntes Verhalten 309

Zwangshandlungen stellen einen Versuch dar, eine angstbesetzte Situation oder eine
Befürchtung (z.B. eingeschaltete Herdplatte) zu bewältigen, indem Rituale (z.B. Kon-
trollzwänge) eingesetzt werden. Wenn dies zum Erfolg (Angstreduktion) führt, wird das
Zwangsritual wiederholt. Die Zwangshandlung tritt dann an die Stelle der Angst, sodass
den Betroffenen vielfach gar nicht mehr klar ist, dass sie Angst haben.
Das Zwei-Faktoren-Modell ist zwar hilfreich zur Erklärung verschiedener Ängste
und Zwänge sowie zur Begründung der davon abgeleiteten Technik der Reizkonfronta-
tion mit Reaktionsverhinderung, insgesamt jedoch überholt und sehr ergänzungsbedürf-
tig, weil viele Phänomene dadurch nicht erklärt werden können [72]:
z Phobische Objekte und Situationen entstehen nicht einfach durch zufällige klassi-
sche Konditionierungen, sondern nach dem Prinzip der biologisch-evolutionären
Bedeutsamkeit. Nach Martin Seligman reagiert der Organismus vor allem in solchen
Situationen, die für das Überleben der Art wichtig sind, mit raschen und stabilen
Angst- und Vermeidungsreaktionen. Nach dem Modell der biologischen Vorberei-
tung von Ängsten sind bestimmte Ängste eher angeboren (z.B. die Angst vor Dun-
kelheit, Blitz und Donner, Höhen, Tiefen), während andere, viel gefährlichere Situa-
tionen keine unmittelbaren Angstreaktionen hervorrufen (z.B. elektrischer Strom,
Flugzeug, Rennauto). Der Effekt der biologischen Vorgeformtheit bedeutet auch,
dass verschiedene Ängste wesentlich schwerer zu überwinden sind als andere, ob-
wohl sie nach den gleichen Prinzipien zu löschen versucht werden.
z Ängste weisen kulturelle und religiöse Überformungen auf. Sie werden beeinflusst
durch die Bedeutsamkeit bestimmter Handlungen im Rahmen der jeweiligen Kultur
(z.B. religiöse und sexuelle Vorstellungen, Versündigungs- und Schuldthematik).
z Der Angsterwerb nach dem Modell der klassischen Konditionierung kann nicht
erklären, warum traumatische Bedingungen (z.B. Sirenen bei Fliegeralarm im Krieg,
Hundebiss) nicht linear zu einer Phobie führen. Es müssen individuelle Faktoren
(z.B. eine individuell erhöhte Angstsensitivität) berücksichtigt werden, um zu erklä-
ren, warum dies bei manchen Menschen der Fall ist, bei vielen anderen jedoch nicht.
z Angstreaktionen werden nicht einfach wegen ihres erstmaligen Auftretens in zeitli-
cher oder räumlicher Nähe zu einem traumatisierenden Ereignis fixiert („Kontigui-
tät“), sondern durch Konditionierung von zusammengehörigen Reizen (Garcia-
Effekt). Lernen bedeutet nach neueren Konditionierungskonzepten das Lernen von
Beziehungen zwischen Ereignissen, d.h. es werden aufgrund von Erfahrung Erwar-
tungswahrscheinlichkeiten gewonnen. Lernen besteht darin, Konzepte über das ei-
gene Verhalten aufgrund seiner Wechselwirkung mit der Umgebung zu entwickeln.
Es wird gelernt zu erkennen, was gefährlich und was ungefährlich ist. Angst ist ver-
ursacht durch die Wahrnehmung oder Überzeugung, eine Situation nicht bewältigen
zu können. Angst resultiert aus „erlernter Hilflosigkeit“. Bereits eine nur vermeintli-
che Kontrolle einer Bedrohungssituation wirkt Angst mindernd.
z Entgegen den Prinzipien der negativen Verstärkung (das Verlassen der aversiven,
Angst machenden Situation mindert die Angstsymptomatik und verstärkt dadurch
zukünftig die Vermeidungsreaktion als wirksame Methode des Umgangs mit phobi-
schen Situationen) wird laut Studien englischer Verhaltenstherapeuten um Rachman
die Angst nicht größer, wenn Patienten die Angst machenden Situationen zum Zeit-
punkt der größten Angst verlassen. Erfolge treten auch bei Verlassen der Übungssi-
tuation zum Zeitpunkt der größten Angst auf, was sich nach dem Zwei-Faktoren-
Modell nicht erklären lässt. Dies ist nur erklärbar durch kognitive Konzepte (Aus-
maß der wahrgenommenen Kontrolle der Situation versus Ohnmachtserleben).
310 Erklärungsmodelle für Angststörungen

z Das Zwei-Faktoren-Modell kann nicht erklären, warum dieselben agoraphobischen


Situationen einmal leichter, einmal schwerer bewältigt werden können, wie die Er-
fahrung vieler Agoraphobiker zeigt. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Ago-
raphobie mit einer anderen Störung (z.B. Depression) verbunden ist.
z Trotz einer umfangreichen Konfrontationstherapie sind die gemachten negativen
Erfahrungen bei verschiedenen Angst- und Panikpatienten sehr löschungsresistent,
sodass keine ausreichende Habituation erfolgt. Dies kommt oft bei sehr perfektioni-
stisch orientierten Personen mit ausgeprägten Erwartungsängsten vor, deren Bestre-
ben es ist, nie mehr einen Rückfall zu haben, weil sie auf keinen Fall mehr eine Pa-
nikattacke erleiden möchten, sodass eine Restangst und eine Daueranspannung in
bestimmten Situationen bestehen bleiben („Ich möchte das nie wieder erleben“).
z Manchmal erfolgt nach jahrelangem Meidungsverhalten bei der ersten Konfrontati-
on eine sofortige Habituation, was nach dem Paradigma der Lerntheorie nicht er-
klärbar ist (z.B. können glaubhafte Informationen über die Ungefährlichkeit einer
Situation sofort beruhigend wirken).
z Ängste können auf andere Weise erworben werden als durch klassische oder operan-
te Konditionierung (Modelllernen, emotionale Betroffenheit durch Erzählungen an-
derer Personen, falsche Erklärungskonzepte für körperliche Vorgänge).
z Die Konditionierungstheorie kann eine langsame Angstentstehung, wie dies bei
sozialen Ängsten oft der Fall ist, nicht ausreichend erklären.
z Die Anwesenheit oder Abwesenheit bestimmter Sicherheitssignale (andere Men-
schen, Tabletten, Handy, wichtige Telefonnummern) hat stärkere Beruhigungs- oder
Erregungseffekte, als die Situation im Rahmen der Lerngeschichte an sich erworben
hat. Dieselbe Situation, die an sich Angst machend wirkt und deswegen schon oft
fluchtartig verlassen wurde, kann plötzlich ohne Übung nur mit zwei Beruhigungs-
mitteln in der Tasche (und nicht im Körper!) locker bewältigt werden.
z Kognitive Aspekte (Angst machende Denkmuster und dysfunktionale, d.h. ungünsti-
ge kognitive Schemata) sowie Persönlichkeitsfaktoren werden im Zwei-Faktoren-
Modell vernachlässigt. Das Zwei-Faktoren-Modell steht zwar in Einklang mit vielen
tierexperimentellen Befunden, berücksichtigt jedoch zu wenig spezifisch menschli-
che Aspekte. Die primär in Tierexperimenten (Ratten, Hunde) gewonnenen lern-
theoretischen Erkenntnisse können nicht so einfach auf den Menschen übertragen
werden. Bei Panikattacken gibt es oft keine externen, sondern vielmehr starke inter-
ne Angstauslöser (Gedanken, Wahrnehmung körperlicher Vorgänge).
z Bei sonst gleichen Bedingungen wirkt die Anwesenheit von Sicherheitssignalen
(Personen, Medikamenten, Handy, Hund usw.) derart Angst reduzierend, dass keine
Beunruhigung oder Fluchttendenzen vorhanden sind. Ohne Sicherheitssignal besteht
jedoch dieselbe agoraphobische Situation weiter. Der ständige Wechsel der Angst-
symptomatik in Abhängigkeit vom Vorhandensein oder Fehlen eines Sicherheitssi-
gnals kann durch die Konditionierungstheorien nicht erklärt werden.
z Verschiedene Personen mit Phobien erleben auch dann eine Besserung, wenn sie
keine Konfrontation mit den Angst auslösenden Situationen durchführen. Dazu ge-
hören auch viele Patienten, die durch andere Psychotherapiemethoden ohne Kon-
frontationstherapie ihre Ängste überwunden haben. Hier müssen andere Prinzipien
wirksam sein als lerntheoretische, denn nach dem Zwei-Faktoren-Modell können
diese Erfolge nicht erklärt werden. Das Zwei-Faktoren-Modell bietet keine Aufklä-
rung darüber, auf welche Weise viele Angstpatienten mit und ohne Psychotherapie
ihre Ängste ohne Umlernen durch eine Konfrontationstherapie verlieren können.
Angst als gelerntes Verhalten 311

z Eine nach allen Regeln der Kunst durchgeführte Konfrontationstherapie kann später
zu unerklärlichen Rückfällen führen, die durch neuerliche Reizüberflutung nicht in
den Griff zu bekommen sind. Hier sind die funktionalen Bedingungen, unter denen
das Angstverhalten auftritt, zu berücksichtigen (z.B. Partner- oder Berufsprobleme).
z Bei verschiedenen Angstpatienten werden die agoraphobischen oder sozialen Äng-
ste trotz permanenter Konfrontation nicht gelöscht (bei längerer Appetitlosigkeit mit
Zuckermangelsymptomen, bei Schauspielern, Musikern und Radiosprechern trotz
ständiger Auftritte, bei Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung, z.B. bei
Berufskraftfahrern nach einem Unfall oder bei Frauen nach einer Vergewaltigung).
z Die Ängste einer posttraumatischen Belastungsstörung verschwinden oft nicht
durch eine reine Konfrontationstherapie. Hier besteht das Problem gerade darin, dass
trotz oft permanenter kognitiver Konfrontation kein Gewöhnungseffekt einsetzt. Es
erfolgt häufig keine Habituierung, weil die Art der Gedächtnisspeicherung der trau-
matischen Erfahrungen im Gehirn immer wieder neue Angstreaktionen auslöst. Der
verzögerte Störungsbeginn ist lerntheoretisch ebenfalls nicht erklärbar.
z Das Zwei-Faktoren-Modell ist ein Modell zur Erklärung von Handlungen, nicht
jedoch von Gedanken. Sozialphobien und Zwangsstörungen sind vor allem kognitive
Störungen, weshalb lerntheoretische Modelle zu deren Erklärung völlig unzurei-
chend sind. Sie können nicht das Phänomen Angst verstärkender Zwänge erklären.
Viele Zwangspatienten vermeiden die zwangsauslösenden Reize überhaupt nicht,
sondern suchen sie vielmehr. In der Lebensgeschichte von Zwangspatienten kom-
men zudem selten Traumata vor, die konditionierend wirken könnten.

Lernen am Modell (Modelllernen)


Lernen am Modell wurde vor allem von Bandura [73] erforscht. Modelllernen ist Ler-
nen durch Beobachtung und Einprägung ohne Verstärkung. Auf diese Weise werden
komplexe Verhaltensweisen gelernt. Bandura geht davon aus, dass der Mensch einmal
erlernte Verhaltensweisen auf andere Situationen gedanklich überträgt und erwartet,
dass sie dort genauso erfolgreich funktionieren. Wiederholte positive Erfahrungen stär-
ken das Vertrauen und die Erfolgserwartung auch für unbekannte Situationen und be-
gründen eine Selbstwirksamkeitserwartung. Wenn das gewünschte Ergebnis nicht er-
reicht wird, entsteht Angst. Der Mensch erlebt Hilflosigkeit und Kontrollverlust. Als
bedrohlich und Angst auslösend wird nicht die Situation an sich erlebt, sondern die von
der jeweiligen Person angenommene Unfähigkeit, die Situation bewältigen zu können.
Auch Emotionen können über Vorbilder gelernt werden. Das Lernen emotionaler
Reaktionen am Verhalten von Bezugspersonen, z.B. den Eltern, wird dadurch gefördert,
dass Emotionen generell leicht übertragen werden. Emotionen wie Angst sind dabei
vorwiegend durch bildhafte Eindrücke bestimmt, die oft für das gesamte spätere Leben
bedeutsam bleiben. Derartige emotionale Gedächtnisschemata sind z.B. bei der Entste-
hung und Aufrechterhaltung einer posttraumatischen Belastungsstörung wirksam.
Durch Lernen am sozialen Modell wird die Übertragung von Angstneigungen von ei-
nem Elternteil auf ein Kind auf einfache Weise zu erklären versucht.
Eine Untersuchung an Patienten mit Panikstörungen, Patienten mit anderen Störun-
gen und gesunden Kontrollpersonen über ihre Lernerfahrungen in Bezug auf Krankhei-
ten und körperliche Beschwerden, die auch bei Angst auftreten (z.B. Herzrasen, Atem-
not), versuchte zu ergründen, wie Panikreaktionen gelernt werden können [74].
312 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Es zeigte sich, dass die Eltern oder andere Familienmitglieder von Panikpatienten,
nicht jedoch die von anderen Angstpatienten häufiger unter chronischen Krankheiten
oder körperlichen Angstsymptomen gelitten hatten als die Bezugspersonen der Kon-
trollgruppe. Die Beobachtung nahe stehender Personen (z.B. einer Mutter, die wegen
Schwindel viel im Bett liegt) kann bei Panikpatienten zur Überzeugung führen, dass
körperliche Symptome gefährlich sind und es bei Vorliegen solcher Symptome sinnvoll
ist, sich zu schonen und Situationen zu vermeiden, in denen diese Symptome auftreten.

Sozialkognitives Lernen
Nach dem um kognitive Aspekte erweiterten Lernmodell werden vor allem solche Ver-
haltensweisen erlernt und in das Verhaltensrepertoire integriert, die soziale Bestätigung
finden. Kognitive Prozesse steuern dabei die Wechselwirkungen des Verhaltens mit der
Umgebung. Lernen besteht vor allem in der Entwicklung von Konzepten über das eige-
ne Verhalten und dessen soziale Rückwirkungen, sodass Lernprozesse letztlich eine
Form der Selbstregulation darstellen (mit Selbstbeobachtung, Selbstbeurteilung und
Selbstverstärkung) [75].
Angstbewältigung bedeutet, Situationen angemessen einschätzen zu können und
Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu gewinnen. Entscheidend ist die Selbstwirksam-
keitsüberzeugung, d.h. der Glaube daran, in vorher nicht bekannten Situationen sich
wirksam behaupten zu können. Schon eine rein fiktive (vermeintliche) Kontrolle über
eine Situation kann Angst mindernd wirken.
Die negative Einschätzung einer bedrohlichen Situation führt dagegen zu einer stär-
keren Wahrnehmung der negativen Situationsmerkmale, wodurch wiederum die Lö-
sungsbemühungen weniger, stereotyper und auswegloser werden. Ängstliche Personen
malen sich häufig die schlimmsten Folgen oder gar eine unabwendbare Katastrophe aus
(„sich selbst erfüllende Prophezeiung“).
Bei Sozialphobikern bestimmt die Art der sozialen Rückmeldung das Befinden. In
öffentlichen Situationen, wo wenig soziale Rückmeldung erfolgt (z.B. vom Publikum
bei einem Vortrag), bleibt mangels Bestätigung eine größere soziale Unsicherheit beste-
hen als in Situationen, wo bessere Möglichkeiten gegeben sind, unmittelbare positive
Rückmeldungen über das eigene Sozialverhalten durch andere zu erleben und damit
Beurteilungs- und Kontrollmöglichkeiten entwickeln zu können. Es gibt folgende sozi-
alkognitive Erklärungsmöglichkeiten für die Entstehung sozialer Defizite [76]:

a) „Das Individuum hatte im Laufe der Sozialisation keine angemessenen Lernmodelle in seiner
unmittelbaren Umwelt.
b) Die Defizite können eine Folge von bestehenden sozialen Ängsten sein, die das Individuum durch
ausgeprägtes Vermeidungsverhalten an neuen Lernerfahrungen hindern, wodurch wiederum die
Ängste gesteigert und die Defizite vergrößert werden, usw.
c) Viele Personen, die adäquate Skills erworben hatten, können diese aufgrund einer langjährigen
Hospitalisierung wieder verlernt haben.
d) Eine weitere Ursache der Defizite kann darin bestehen, daß das betreffende Verhalten zuvor nicht
erforderlich war und deshalb nicht gelernt wurde, eine gravierende Veränderung der Lebensum-
stände (Umzug, Tod eines Angehörigen) jedoch diese neuen Fertigkeiten notwendig machte.
e) Die Ursache sozial inadäquaten Verhaltens kann auch in der mangelnden sozialen Wahrnehmung
liegen, wobei soziale Reize fehlinterpretiert und daraus falsche Handlungsschritte abgeleitet wer-
den.“
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 313

Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte


„Der Mensch wird nicht durch die Dinge selbst verwirrt, sondern dadurch, wie er sie sieht.“
Epiktet [77]

Bei Angst- und Panikstörungen zeigt sich die Macht der Gedanken. Die Art und Weise,
wie Situationen und Erfahrungen beurteilt werden, kann beruhigend oder Angst ma-
chend wirken. Kognitive Aspekte haben eine große Bedeutung für die Entwicklung von
Angstzuständen. Menschen mit Angststörungen bewerten viele Situationen, die andere
nicht als gefährlich einschätzen, als bedrohlich, häufig sogar als lebensgefährlich.
Oft besteht eine Angst vor dem Herztod, vor dem Ersticken oder vor Krebs, häufig
geprägt durch entsprechende Ereignisse in der sozialen Umwelt vor Ausbruch der
Angststörung sowie durch eine übermäßige Konzentration auf die Thematik von Krank-
heit, Sterben und Tod im Rahmen der Familie. Nach neueren Erkenntnissen werden
behandelte Phobiker bei falscher Einschätzung von Situationen relativ leicht rückfällig.
Kognitive sowie psychophysiologische Modelle stellen zentrale Konzepte bei der
Erklärung und verhaltenstherapeutischen Behandlung der verschiedenen Angststörun-
gen dar. Die kognitiven Angsttheorien verstehen Angst als Emotion im Sinne eines
physiologischen Erregungszustandes und analysieren primär die mit den Ängsten ver-
knüpften Erwartungen und Bewertungen. Kognitive Modelle stellen eine notwendige
Ergänzung der rein lerntheoretisch fundierten Konfrontationstherapien dar.
Der Kern der Angststörungen liegt in dem Umstand, dass sich die Betroffenen als
besonders verletzlich erleben und daher dazu neigen, verschiedene Situationen irrtüm-
lich als gefährlich einzuschätzen und potenzielle Gefahrenzeichen überzubewerten.
Unter Belastung, wie dies in Angst machenden Situationen der Fall ist, ist es für die
Betroffenen sehr schwer, ihre emotionalen Reaktionen auf bestimmte Reize zu kontrol-
lieren und ihre übertriebenen Ängste auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen. Neben der
rascheren Gefahreinschätzung gehen Angstpatienten gleichzeitig davon aus, dass sie zu
wenig Kompetenz (Selbstwirksamkeit) zur Bewältigung der Angstreaktion haben.
Nach dem Modell der kognitiven Schemata von Beck [78] werden Angststörungen
bewirkt und aufrechterhalten durch inadäquate kognitive Schemata, die die Wahrneh-
mung und Interpretation der Umgebung durch die Person steuern. Angst- und Panikstö-
rungen entstehen durch falsche Ursachenzuschreibung von körperlichen Symptomen
sowie durch katastrophisierende Gedanken und Vorstellungen. Angst machende Grund-
überzeugungen bestehen schon vor einer Panikattacke bzw. vor agoraphobischen oder
sozialpbobischen Situationen und werden durch entsprechende Erfahrungen und Bewer-
tungen verstärkt. Empirisch ist noch unklar, ob diese Kognitionen tatsächlich Ursache
oder Folge der Angststörung sind. Typische Angst erzeugende bzw. Angst verstärkende
kognitive Schemata sind z.B.: „Es ist am besten, das Schlimmste zu erwarten“, „Zu
meiner Sicherheit muss ich alle Gefahren vorhersehen und sehr achtsam sein.“
Paniksymptome werden von den Betroffenen folgendermaßen bewertet [79]:
z Herzrasen/Schwitzen/Atembeschwerden: „Ich bekomme einen Herzinfarkt.“
z Schwindel/Schwächegefühl/Benommenheit: „Ich werde in Ohnmacht fallen.“
z Atemnot/Würgegefühl/Kloß im Hals: „Ich ersticke.“
z Kribbeln in den Extremitäten: „Ich werde gelähmt durch einen Gehirnschlag.“
z Derealisations- und Depersonalisationsgefühle (Unwirklichkeits- und Entfrem-
dungsgefühle): „Ich verliere die Kontrolle über mich, ich werde verrückt.“
314 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Die Mechanismen der automatischen Informationsverarbeitungsprozesse führen dazu,


dass viele Angstpatienten oft gar nicht wissen, warum sie Angst haben, und warum sie
sich an keine Angstauslöser erinnern können. Viele kognitive Prozesse laufen gleichsam
„unbewusst“ ab. Nach der Informationsverarbeitungstheorie der Furcht von Lang [80],
einem Netzwerkmodell der Angststörung, werden furchtrelevante Informationen im
Gedächtnis in Form von semantischen „Furchtnetzwerken“ gespeichert. Dabei sind
folgende Faktoren wichtig: Angst auslösende Reize, kognitive, motorische und physio-
logische Reaktionen und die Bedeutung, die diese Reize für das Individuum haben.
Menschen mit Angststörungen haben hoch organisierte und stabile Furchtnetzwer-
ke, die bereits durch die kleinsten Hinweisreize aktiviert werden. Bei Agoraphobikern
z.B. wird die Angststruktur aufgebaut und später ausgelöst durch eine Kombination von
problematischen Erfahrungen, Interpretationen und Erwartungen sowie spezifischen
Reaktionsmustern. Erinnerungen an traumatische Erlebnisse bestehen aus einer Furcht-
struktur, die traumabezogene Reize, damalige Reaktionsweisen und bestimmte Bedeu-
tungen umfassen. Die Netzwerkstruktur phobischer Ängste ist sehr dauerhaft, intern
kohärent (nicht zu widerlegen aufgrund der selektiven Informationsverarbeitung) und
sehr irrational (willkürliche Verknüpfung ohne Realitätstestung).
Nach Foa und Kozak [81] kann eine Änderung des Angstnetzwerkes nur erfolgen,
wenn die Furchtstruktur genügend stark aktiviert wird (im Sinne einer mentalen bzw.
realen Konfrontationstherapie), sodass eine physiologische Habituierung erfolgt und
gleichzeitig neue kognitive und affektive Elemente hinzugefügt werden. Auf diese Wei-
se entsteht eine neue Erinnerung und Erfahrung. Eine Verhaltenstherapie kann nur dann
erfolgreich sein, wenn es zu einer emotionalen Verarbeitung derjenigen Erlebnisse
kommt, die gedanklich und emotional in einem umfassenden „Netzwerk“ von Informa-
tionen gespeichert sind [82]. Diese Auffassung hat eine große Ähnlichkeit mit psycho-
analytischen und humanistischen Konzepten, wonach nicht nur eine kognitive, sondern
auch eine emotionale Bewältigung erfolgen muss. Emotionale Verarbeitung bedeutet,
dass der Patient nicht nur über seine Ängste und Befürchtungen diskutiert, sondern dass
er sich auch mit der Bedeutung seiner Ängste auseinandersetzt.
Kognitive Erklärungsmodelle von Panikattacken betonen, dass bei einer Panikstö-
rung nicht die Körperfunktionen an sich, sondern die Wahrnehmung dieser Funktionen
gestört sind. Die Schematheorie von Beck und die Netzwerkmodelle der Angststörung
weisen darauf hin, dass Menschen mit Angststörungen eine selektive Aufmerksamkeit
für bedrohliche Reize entwickeln. Dies ist durch zahlreiche Studien belegt [83]:
z Angstpatienten interpretieren mehrdeutiges Reizmaterial tendenziell als gefährlich.
z Angstpatienten richten ihre Aufmerksamkeit auf bedrohliche Informationen/Reize.
z Phobische Reize können bei Menschen mit Angststörungen selbst dann Angstreak-
tionen auslösen, wenn diese die Angstauslöser gar nicht bewusst wahrnehmen, d.h.
es erfolgt eine unbewusste automatische Informationsverarbeitung.
z Angstpatienten zeigen eine selektive Speicherung und Aktivierung bedrohlicher
Gedächtnisinhalte.

Die Arbeiten zur kognitiven Verhaltenstherapie bei Angststörungen wurden vor allem
vom Psychiater Aaron T. Beck und vom Psychiater und Psychologen David H. Barlow
in den USA und von den Psychologen David M. Clark, Adrian Wells und Paul M. Sal-
kovskis in England vorangetrieben. Die stärkere Berücksichtigung kognitiver Aspekte
hat ein neues Bild aller Angststörungen ermöglicht. Seit einiger Zeit werden auch inter-
aktionelle und emotionsbezogene Prozesse stärker berücksichtigt als früher.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 315

Ein neueres Angstmodell von Beck und Clark auf der Basis der Informationsverar-
beitungstheorie, das der Angstforschung neue Impulse gibt, geht von drei Stufen aus:
1. Registrieren einer Bedrohung,
2. Aktivierung eines „frühen Alarmmodus“,
3. sekundäres, ausführliches Kontrollieren.

Die Behandlung von Angststörungen zielt auf die Deaktivierung des frühen Alarmmo-
dus ab, d.h. auf die Modifikation dysfunktionaler und verfestigter Reaktionsbereitschaft.
Die kognitiven Theorien berücksichtigen den Umstand, dass Ängste oft durch Kon-
ditionierung und andere Lernvorgänge erworben wurden, betonen jedoch die große
Bedeutung der Interpretation der Ereignisse und Reaktionen. Weil die Stabilität der
Angstreaktionen vor allem auf der Stabilität von fehlangepassten Kognitionen beruht,
lassen sich Ängste dauerhaft und effektiv am besten durch kognitive Analysen und
Umstrukturierung modifizieren.
Es besteht eine allgemeine Übereinstimmung zwischen der eher kognitiv und der
eher behavioral ausgerichteten Verhaltenstherapie, dass die effektivste Einstellungsän-
derung oft am raschesten durch eine Verhaltensänderung zu erreichen ist. Nicht immer
bestimmen die Kognitionen das konkrete Verhalten, oft werden Kognitionen durch
unangemessenes Verhalten bewirkt und aufrechterhalten (z.B. durch Vermeidung bzw.
reales oder mentales Fluchtverhalten), sodass eine Verhaltensänderung zu einer Einstel-
lungsänderung führt. In zahlreichen anderen Fällen lässt sich die Verhaltensänderung
dagegen viel leichter durch eine Änderung der Einstellungen herbeiführen.

Der Teufelskreis der Angst – Ein Stufenmodell der Panikentstehung


Als Reaktion auf die biologischen Erklärungsmodelle für Panikstörungen wurden stär-
ker psychologische (psychophysiologische) Erklärungsmodelle entwickelt, die auch die
körperlichen Faktoren mitberücksichtigen [84]. Menschen mit Agoraphobie weisen eine
besondere Sensitivität gegenüber körperbezogenen Reizen (Empfindungen) auf. Die
Wahrnehmung und Interpretation dieser Körpersignale als gefährlich hat für die Auf-
rechterhaltung agoraphobischer Ängste eine entscheidende Bedeutung.
Während Phobien durch äußere Auslösereize (Räume, Höhen, Lifte, Blut usw.) ent-
stehen, werden Panikattacken meistens durch innere Auslösereize bewirkt [85]:
1. Die eigenen Körperempfindungen und deren Bewertung als bedrohlich, z.B. Atem-
not, Herzrasen, Hitzewallungen, Erstickungsgefühle, Taubheits- und Kribbelgefühle.
Diese Erfahrungen, die in bestimmten Situationen durchaus normal sind, werden
ständig erinnert und in Form von Erwartungsängsten gefürchtet. Die Erfahrung einer
Hyperventilation kann eine bedeutsame Rolle als Auslöser (akute Hyperventilation)
oder als disponierende Bedingung (chronische Hyperventilation) für Panikattacken
spielen. Zwischen den Diagnosen Agoraphobie/Paniksyndrom und Hyperventilati-
onssyndrom besteht eine Überlappung von etwa 60%.
2. Bestimmte Gedanken und bildhafte Vorstellungen (z.B. Gedanken an Krankheit und
Tod). Panikattacken treten häufig dann auf, wenn man Zeit zum Nachdenken hat
(beim ruhigen Sitzen oder abendlichen Im-Bett-Liegen) und nicht in den Phasen der
größten Belastung, wo man abgelenkt ist. Bedrohliche Vorstellungsinhalte sowie
bewusste und/oder unbewusste Erwartungsängste bezüglich des Wiederauftretens
von Panikattacken sind demnach zentrale Auslöser für Panikattacken.
316 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Der englische Psychologe und Verhaltenstherapeut David M. Clark [86] stellte 1986 als
erster ein rein kognitiv ausgerichtetes Modell zur Erklärung von Panikattacken vor. Eine
wahrgenommene Bedrohung durch äußere Reize (Umweltsituationen) oder durch innere
Reize (Gedanken, Vorstellungen, Körperempfindungen) bewirkt eine milde Anspan-
nung, die wiederum körperliche Symptome produziert. Die Interpretation der wahrge-
nommenen körperlichen Symptome als gefährlich führt zu einer weiteren, stärkeren
Anspannung; es kommt zu vermehrten körperlichen Symptomen und Ängsten.
Der beschriebene Teufelskreis führt schließlich zu einer Panikattacke. Fehlinterpre-
tationen von Körperempfindungen als Folge einer wahrgenommenen Bedrohung stellen
die entscheidende Rolle bei der Auslösung, Aufrechterhaltung und Stabilisierung von
Panikattacken dar. Die kognitiven Bewertungsprozesse und Angst steigernden Interpre-
tationen müssen nicht bewusst sein, sondern können auch unbewusst ablaufen.
Die Auslösung der Panikattacken erfolgt nach Clark meist durch innere, körpereige-
ne Reize (z.B. Herzsensationen als Herzinfarktzeichen, Schwindel als Anzeichen für
einen drohenden Kontrollverlust) und viel seltener durch äußere Reize.
Dysfunktionale Fehlinterpretation körperlicher Empfindungen ohne panikartiges
Ausmaß, die zu ständigen Sorgen um die Gesundheit führen, stellen die Grundlage für
die hypochondrische Störung dar, die zukünftig besser „Gesundheitsangststörung“ ge-
nannt werden sollte. Sorgen um die Gesundheit stellen oft auch den Hintergrund einer
chronifizierten Panikstörung dar („Wie lange hält mein Herz das noch aus?“).
Panikattacken lassen sich nach Margraf und Schneider durch ein psychophysiologi-
sches Modell erklären, das eine Weiterentwicklung entsprechender Konzepte aus den
USA (Barlow) und England (Clark) darstellt und im Folgenden näher beschrieben wird.
Panikattacken entstehen in einem mehrstufigen Prozess („Teufelskreis der Angst“ [87]):
1. Physiologische oder kognitive Veränderungen. Auslöser für den Aufschaukelungs-
prozess sind physiologische oder kognitive Veränderungen. Die körperlichen Sym-
ptome (z.B. Herzrasen, Atemnot, Übelkeit) oder kognitiven Veränderungen (z.B.
Wahrnehmungsstörung, Aufmerksamkeitsbeeinträchtigung, Gedankenrasen) können
Ausdruck von Erregung und Angst sein oder Folge verschiedener Faktoren wie kör-
perlicher Anstrengung, Einnahme chemischer Substanzen (z.B. Koffein), situativer
Bedingungen (z.B. Hitze, Enge) oder emotionaler Erregung (z.B. Angst, Wut).
2. Wahrnehmung der Veränderungen. Die körperlichen oder kognitiven Veränderun-
gen werden von der Person wahrgenommen.
3. Assoziation mit Gefahr. Die wahrgenommenen körperlichen oder kognitiven Verän-
derungen werden mit Gefahr verbunden. Besonders Symptome, die mit lebensnot-
wendigen Funktionen (Herz und Atmung) zusammenhängen, sowie plötzlich und
spontan auftretende Symptome werden als Zeichen von Gefahr erlebt.
4. Angst als Folge der wahrgenommenen Bedrohung. Die Person reagiert auf die
wahrgenommene Bedrohung mit Angst.
5. Physiologische Veränderungen als Folge der Angst erzeugenden Bewertung der
registrierten Symptome. Wenn die verstärkt auftretenden Symptome wahrgenom-
men und wiederum mit Gefahr assoziiert werden, kommt es zu einem weiteren An-
stieg der Angst.
6. Symptome der Panikattacke. Der kontinuierliche Aufschaukelungsprozess von kör-
perlichen Veränderungen und deren Bewertung als Gefahrenzeichen führt schließ-
lich zu einer Panikattacke. Dieser Rückkoppelungsprozess kann mehrmals durchlau-
fen werden und geschieht in der Regel so schnell, dass dies den Betroffenen oft gar
nicht bewusst wird.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 317

Weitere Panikattacken entstehen durch unerklärliche körperliche Symptome, deren


Bewertung als Gefahrenzeichen und den daraus resultierenden Angstreaktionen. Die
Wahrnehmung des beschleunigten Herzschlags und der vielfältigen körperlichen Fol-
gewirkungen von Hyperventilation wirkt Angst auslösend. Die Patienten sind diesbe-
züglich beunruhigt, zumal sie meist gar nicht erkennen und wissen, dass sich der Atem-
rhythmus bereits durch geringfügige Angst und Aufregung verändert und infolgedessen
eine Beschleunigung der Herztätigkeit einsetzt.
Schon allein eine erhöhte Aufmerksamkeitsanspannung aus Angst vor Symptomen
bewirkt eine Aktivierung des vegetativen Nervensystems. Die Wahrnehmung dieser
körperlichen Veränderungen verstärkt die Ängste und begünstigt eine Panikreaktion.
Willkürliche Hyperventilation löst bei vielen agoraphobischen Patienten, jedoch kaum
bei gesunden Kontrollpersonen, Angst und Panikanfälle aus.
Bei einem Experiment [88] löste die falsche Rückmeldung von Herzfrequenz-
anstiegen bei Panikpatienten, nicht jedoch bei normalen Kontrollpersonen, einen An-
stieg subjektiver Angst und physiologischer Erregung aus. Dabei wurde den Versuchs-
personen über Lautsprecher zunächst der eigene Puls vorgespielt, anschließend wurde
der Pulsschlag künstlich um 50 Schläge pro Minute erhöht, sodass der Eindruck von
Herzrasen gegeben war. Fast alle Versuchspersonen hielten die Herzrhythmus-
beschleunigung für echt. Alle Panikpatienten entwickelten daraufhin starke Ängste,
jedoch keine der Kontrollpersonen.
Weiters zeigten Panikpatienten mehr selektive Informationsverarbeitung von Gefah-
renreizen und interpretierten körperliche Symptome als gefährlicher im Vergleich zu
Kontrollpersonen oder erfolgreich behandelten Patienten.
Die Körperfixiertheit ist durch Modelllernen erklärbar: Die Eltern und Haushalts-
mitglieder von Panikpatienten litten nach einer Studie häufiger als die anderer Angst-
patienten unter chronischen Krankheiten und körperlichen Angstsymptomen [89].
Panikattacken können auf zweifache Weise beendet werden:
1. Negative Rückkoppelungsprozesse. Der positiven, Panikattacken aufschaukelnden
Rückkoppelung laufen negative, Erregung und Angst reduzierende Rückkoppe-
lungsprozesse entgegen, die allerdings viel träger und langsamer ablaufen. Beispiele
dafür sind: Gewöhnung (Habituation) und Ermüdung.
2. Verfügbarkeit von Bewältigungsstrategien. Die wichtigsten Bewältigungsstrategien
sind Hilfe suchendes Verhalten und Vermeidungsverhalten, aber auch Verhaltens-
weisen wie flaches Atmen, Ablenkung auf äußere Reize und Uminterpretation der
körperlichen Symptome. Ein Versagen der Bewältigungsversuche führt zu einem
weiteren Angstanstieg. Die Vermittlung adäquater Bewältigungsstrategien ist ein
wichtiges Ziel einer symptombezogenen Psychotherapie bei Panikstörungen.

Der Aufschaukelungsprozess bis zu einer Panikattacke wird durch vier Faktorenbereiche


bewirkt und verändert [90]:
1. Momentaner innerer Zustand. Dazu gehören alle aktuellen körperlichen und psychi-
schen Zustände. Beispiele sind: generelles Angstniveau, intensive positive und nega-
tive Gefühlszustände (z.B. manifeste oder unterdrückte Wut bzw. Aggression, un-
verarbeitete Verlusterlebnisse, große Angst vor dem Eintreten eines bestimmten Er-
eignisses, belastende Sorgen wegen familiärer, beruflicher oder wirtschaftlicher
Probleme), körperliche Erschöpfung oder Erkrankung, Verschiebung des Säure-
Basen-Gleichgewichts des Blutes (Hyperventilation), hormonelle Schwankungen,
Kreislaufstörungen.
318 Erklärungsmodelle für Angststörungen

2. Momentane situative Faktoren. Zu den situativen Einflüssen zählen körperliche


Aktivität, Veränderung der Körperposition (Aufstehen, Hinlegen, Niedersetzen),
Rauchen, Einwirkung von Nikotin, Koffein, Medikamenten oder Drogen, Anwesen-
heit oder Abwesenheit von Sicherheitssignalen.
3. Relativ überdauernde situative Einflüsse. Damit sind folgende Einflüsse gemeint:
lang anhaltende belastende Lebenssituationen (Tod oder Krankheit von Angehöri-
gen, Partnerkonflikte oder Trennungssituation, finanzielle Schwierigkeiten usw.),
Reaktionen von anderen (z.B. Angehörige, Freunde, Ärzte), die nahe legen, dass be-
stimmte Symptome gefährlich sind.
4. Individuelle Neigung und Veranlagung. Dazu zählen alle relativ dauerhaften physio-
logischen und psychologischen Faktoren der Betroffenen, die die individuelle Ver-
wundbarkeit für Panikattacken erhöhen: rasche psychovegetative Erregbarkeit,
chronische Erwartungsängste, lebensgeschichtlich erworbene Fixierung auf körper-
liche Vorgänge und deren Bewertung als Gefahr, ständige körperliche Schonung aus
Angst vor Überforderung mit der Folge von Konditionsmangel usw.

Nach einer Untersuchung [91] hatten die Eltern oder Familienmitglieder von Menschen
mit Panikattacken, nicht aber von Menschen mit anderen Angststörungen, häufiger
unter chronischen Krankheiten oder körperlichen Angstsymptomen gelitten als die Be-
zugspersonen der Kontrollgruppen. Die späteren Panikpatienten könnten durch die
Beobachtung der Angehörigen zur Überzeugung gelangt sein, dass körperliche Sym-
ptome gefährlich sind und es bei Vorliegen solcher Symptome sinnvoll ist, sich zu
schonen und Situationen zu vermeiden, in denen diese Symptome auftreten. Die Panik-
neigung könnte also über Prozesse des Modelllernens erworben worden sein.
Eine verstärkte Selbstbeobachtung lässt sich sogar schon bei Kindern von Panikpati-
enten feststellen, die selbst noch keinen Anfall erlebt hatten. Diese zeigten im Vergleich
zu anderen Kindern eine erhöhte Aufmerksamkeitslenkung auf körperliche Zustände
und „gefährliche“ Worte wie Tod, Sarg oder Tränen [92].
Die psychophysiologischen und kognitiven Modelle zur Erklärung von Angst- und
Panikstörungen haben sich in den letzten Jahren derart durchgesetzt, dass die moderne
Verhaltenstherapie mittlerweile weit entfernt ist von den rein lerntheoretischen Konzep-
ten, die jedoch durch eine Neuformulierung in das Gesamtkonzept integriert wurden.

Der Teufelskreis der Angst – Beispiele für seine Entstehung


Jürgen Margraf und Silvia Schneider [93] bieten in ihrem Buch „Panik. Angstanfälle
und ihre Behandlung“, dem Standardwerk zur Verhaltenstherapie bei Panikstörungen,
für Betroffene eine plastische Beschreibung des Teufelskreises der Angst:

„Bei Menschen, die an plötzlichen, scheinbar unerklärlichen Angstanfällen leiden, hat sich in aller
Regel zwischen den verschiedenen Bestandteilen der normalen Angstreaktion ein Teufelskreis heraus-
gebildet. Obwohl dieser Teufelskreis von Mensch zu Mensch verschieden ist, gibt es doch einige wich-
tige Gemeinsamkeiten... einen Kreis mit folgenden Komponenten: Wahrnehmung, Gedanken, physio-
logische Veränderungen, körperliche Symptome.
Der Teufelskreis kann nun an jeder Stelle in Gang gesetzt werden. Meist beginnt er nur mit einer
Komponente. Das folgende Beispiel zeigt Ihnen, wie während eines Angstanfalls der Teufelskreis
abläuft: Stellen Sie sich vor, Sie bemerken plötzlich, wie Ihr Herz schneller zu schlagen beginnt. Sie
haben das Gefühl, Sie können nicht mehr richtig atmen. Sie haben keine Erklärung für diese Symptome
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 319

und werden ängstlich und stellen sich vor, wie Sie nach Luft schnappen müssen. Gleichzeitig denken
Sie, Sie fallen gleich in Ohnmacht. Sie nehmen hier also körperliche Symptome wahr und interpretieren
Sie als gefährlich, als Warnung vor etwas Schrecklichem, das bald geschehen könnte. Diese Vorstel-
lung erzeugt Angst. Durch die Angst werden in Ihrem Körper weitere physiologische Veränderungen
ausgelöst (z.B. Adrenalinausschüttung), und die körperlichen Symptome werden noch intensiver. Ihnen
wird jetzt sehr schwindlig und heiß, und Sie fangen an zu schwitzen und haben das Gefühl zu schwan-
ken. Ihre Gedanken fangen an zu rasen, und Sie fühlen sich völlig verwirrt. Sie denken: ‚Ich verliere
den Verstand und werde vollständig die Kontrolle verlieren.’ Ihr Herz schlägt noch schneller, und Sie
spüren Schmerzen in der Brust. Sie nehmen wiederum die jetzt stärker gewordenen Symptome wahr
und bewerten Sie erst recht als gefährlich, da sie ja wirklich stärker geworden sind und Sie somit Ihre
Befürchtung einer drohenden Gefahr bestätigt sehen. Das Ganze schaukelt sich also auf. Sie denken
jetzt: ‚Ich werde einen Herzanfall bekommen’. Sie werden noch ängstlicher. Sie denken: ‚Dieses Ge-
fühl wird nie wieder weggehen, und niemand wird mir helfen können. Ich habe Angst zu sterben.’ Sie
würden gerne irgendwohin laufen, wo Sie sich sicher fühlen, aber Sie wissen nicht wohin. Sie rufen
jetzt Ihren Arzt an und bitten ihn um Hilfe. Sie spüren sofort, daß nach dem Telefongespräch Ihre Angst
langsam nachläßt. Bis der Arzt bei Ihnen ist, ist Ihre Angst fast verschwunden.
Das Beispiel zeigt unter anderem, daß körperliche Symptome häufig stärker werden, wenn man be-
sonders auf sie achtet. Da die Person in dem Beispiel keine Erklärung für ihre Symptome hatte, wurde
sie ängstlich. Weil sie ängstlich war, bekam sie noch mehr Angst. Je ängstlicher sie wurde, desto stär-
ker wurden die Symptome und umgekehrt. Manche Menschen, die einmal starke Angst erfahren haben,
werden sehr empfindlich gegenüber körperlichen Veränderungen. Sie nehmen sehr schnell körperliche
Veränderungen wahr, sie achten verstärkt auf diese Symptome, bewerten sie als besonders gefährlich
und setzen so den Teufelskreis in Gang.
Noch einmal zusammenfassend kann der Teufelskreis also an jeder Stelle in Gang gesetzt werden:
Er kann sowohl durch Gedanken ebenso wie durch die Wahrnehmung körperlicher Veränderungen
ausgelöst werden. Entscheidend ist dabei, daß diese inneren Reize (vor allem körperliche Veränderun-
gen) als Gefahrensignale interpretiert und somit stärker werden. Erst dadurch kommt der Aufschauke-
lungsprozeß so richtig in Gang. Als Konsequenz der Aufschaukelung wird dann auch Ihr Verhalten
beeinflußt. Angstanfälle entstehen also als eine Reaktion auf die Wahrnehmung und Bewertung innerer
Reize. Obwohl diese Reaktion zunächst meist verständlich und weitgehend natürlich ist, geht sie bei
manchen Menschen zu weit, da sie auf falschen Bewertungen beruht. Ihre Angstreaktion auf die von
Ihnen als gefährlich interpretierten Reize ist dabei ganz natürlich, aber Ihre Bewertungen von Reizen,
für die Sie keine Erklärung haben, als gefährlich, ist in diesem Fall falsch...
Darüber hinaus hängt der Teufelskreis auch von allgemeiner Anspannung bzw. Streß ab... Die mei-
sten Menschen sind ständig mehr oder weniger angespannt. Etwas mehr angespannt sind Sie z.B., wenn
Sie auf einen wichtigen Anruf warten... Manchmal ist die allgemeine Anspannung hoch, d.h. sie liegt
kurz unter der Schwelle, bei der ein Angstanfall ausgelöst wird. Sie kann aber auch niedrig sein, also
weit unter der Schwelle zur Auslösung eines Angstanfalls liegen. Es gibt nun Tage oder auch länger
anhaltende Phasen, an denen Sie angespannter sind, weil Sie z.B. viel Arbeit zu bewältigen haben oder
weil in Ihrem Leben eine einschneidende Veränderung (etwa die Geburt eines Kindes, eine Operation,
ein Umzug) stattgefunden hat, an die Sie sich erst gewöhnen müssen. In solchen Phasen, in denen Sie
also ein hohes Anspannungsniveau haben, kann nun schon eine alltägliche Streßsituation, wie bei-
spielsweise, daß Sie vergessen haben, die Herdplatte abzustellen und Ihnen das Essen angebrannt ist, zu
einem Auslöser für einen Angstanfall werden. Viele Betroffene erleben ihren ersten Angstanfall in
einer solchen Streßsituation. Es kann aber auch sein, daß Ihr allgemeines Anspannungsniveau niedrig
ist und Sie einem starken Stressor, z.B. dem Tod eines nahestehenden Menschen, ausgesetzt sind und so
die Schwelle für einen Angstanfall überschreiten. Es gibt viele Kombinationen von allgemeiner An-
spannung und Stressoren, die zu einem Angstanfall führen können.
Wenn man mehrmals einen Angstanfall hatte, entwickelt man oft eine anhaltende Sorge davor, so
etwas könnte wieder geschehen. Dies erhöht das allgemeine Anspannungsniveau. Auch andere Folge-
probleme von Angstanfällen können zu einer solchen Steigerung des allgemeinen Anspannungsniveaus
führen. Sie können z.B. wegen Ihrer Angstanfälle in Ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt werden.
Vielleicht können Sie aufgrund Ihrer Angstanfälle nicht mehr so gut vor anderen Menschen reden. Dies
ist aber nur ein Teil Ihrer Arbeit. Sie versuchen, diese Situation so oft wie möglich zu vermeiden,
fühlen sich aber ständig unter dem Druck, den Anforderungen Ihrer Arbeit nicht nachkommen zu kön-
nen. Infolgedessen steigt natürlich Ihr allgemeines Anspannungsniveau. Es können nun schon schwache
Stressoren und Belastungen zur Auslösung eines Angstanfalls führen.“
320 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Das Stressmodell – Panikattacken als Nach-Stress-Phänomen


Das Wort Stress kommt aus dem Englischen und bedeutet Beanspruchung, Belastung,
Druck. Stress ist die Reaktion des Körpers auf jede Anforderung, die an ihn gestellt
wird. Stress im Sinne jeder körperlichen oder geistig-seelischen Beanspruchung ist eine
normale und notwendige Reaktion („Eustress“). Unangenehm bzw. gesundheitsschäd-
lich ist auf Dauer nur ein Übermaß an Stress im Sinne einer Überforderung oder eines
ohnmächtigen Ausgeliefertseins an belastende Bedingungen („Disstress“). Umgangs-
sprachlich wird Stress gewöhnlich in diesem negativen Sinn verstanden.
Es gibt zahlreiche Definitionen von Stress, je nach Gesichtspunkt und wissenschaft-
licher Untersuchungsmethode. In seiner allgemeinen und umfassenden, wenngleich
vagen Definition stellt der Stressbegriff heutzutage ein Bindeglied zwischen verschie-
denen Wissenschaften dar.
Im Rahmen einer biologischen Sichtweise bedeutet Stress eine Störung des Gleich-
gewichts (Homöostase) zwischen den verschiedenen Körperfunktionen, namentlich
zwischen den aktivierenden, Energie mobilisierenden Tätigkeiten des sympathischen
Nervensystems und den entspannenden, auf Erholung ausgerichteten Tätigkeiten des
parasympathischen Nervensystems.
Ein Stressor ist das, was Stress auslöst. Stressfaktoren können sehr vielfältig sein:
z körperlich: Krankheit, körperliche Anstrengungen, Leistungssport;
z seelisch: Ärger, Wut, Enttäuschung, chronische Unzufriedenheit, Sorgen, Ängste,
Verlusterlebnisse, freudig-erregte Hochzeits- oder Urlaubsvorbereitungen (auch po-
sitive Emotionen sind Stressoren);
z geistig: hohe Konzentrationsleistung, große Verantwortung;
z soziale Umstände: Beziehungsprobleme, soziale Isolierung;
z sozioökonomische Bedingungen: enger Wohnraum, Berufssituation, Not, Flücht-
lingssituation, Arbeitslosigkeit;
z ökologische Bedingungen: Lärm, Klima, Umweltschadstoffe.

Stress mindernd wirkt das Gefühl der Kontrolle, Stress erhöhend das Gefühl der Nicht-
beeinflussbarkeit und Machtlosigkeit angesichts der Lebensbedingungen. Stress resul-
tiert nicht einfach nur aus dem Auftreten eines Stressors, sondern hängt auch von dessen
subjektiver Bewertung als viel oder wenig belastend ab (transaktionales Stressmodell
von Lazarus). Stress ist das Ergebnis der Wechselwirkungen zwischen Stressor und
betroffener Person in einem bestimmten größeren Zusammenhang (situativer Kontext).
Panikpatienten weisen keine größere Zahl an kritischen Lebensereignissen als Kontroll-
personen auf, sondern bewerten ihre Stressoren nur viel negativer.
Ein und derselbe Stressor kann individuell sehr unterschiedliche Stressreaktionen
auslösen, in Abhängigkeit von Erbanlagen (Konstitution), erworbenen körperlichen
Beeinträchtigungen, Alter, Geschlecht, Persönlichkeitsstruktur, lebensgeschichtlich
erworbener Ansprechbarkeit verschiedener Organe (z.B. Herz- oder Magenfixierung in
der ganzen Familie), Erziehung (z.B. Angst förderndes Milieu oder Unterdrückung von
Emotionen), Lernerfahrungen im Umgang mit bestimmten Stressoren, momentaner
körperlicher und seelischer Belastbarkeit und momentanen kognitiven Bewertungen
(z.B. gefährlich, nicht bewältigbar).
Panikattacken entstehen auf dem Hintergrund einer erhöhten, oftmals bereits chroni-
schen Belastungssituation. Stress spielt eine zentrale Rolle bei der Auslösung des Teu-
felskreises der Angst.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 321

Durch ein allgemein hohes Anspannungsniveau können bereits alltägliche Stresssi-


tuationen, die in anderen Zeiten und Situationen problemlos bewältigt wurden, zum
Auslöser einer Panikattacke werden. Bei einem niedrigen allgemeinen Anspannungsni-
veau ist dagegen eine hohe Stressbelastung (z.B. Tod eines nahen Angehörigen) erfor-
derlich, um entweder eine Panikattacke auslösen zu können oder eine Sichtweise, die
ein bestimmtes Ereignis plötzlich höchst bedrohlich erscheinen lässt (z.B. Vermutung,
dass der Partner fremdgeht, ohne konkrete Hinweise darauf).
Die häufigsten und belastendsten Stressoren bei Panikpatienten hängen mit Krank-
heit, Sterben, Tod, Trennungen, Beziehungsproblemen, beruflichen Überforderungen
und starken Emotionen zusammen. Am Beginn einer Panikstörung steht eine Panikat-
tacke, die zumeist nicht durch bestimmte Ängste ausgelöst wird, sondern durch chroni-
schen Stress, ständige unterdrückte Wut oder unverarbeitete Trauer. Verschiedenen
Patienten hilft die zum Nachdenken anregende Frage: „Sind Sie sicher, dass Ihre erste
Panikattacke wirklich ein Angstanfall und nicht eher ein Wutanfall war?“
Die permanente physiologische Anspannung wird oft durch ein als belanglos ange-
sehenes Ereignis (z.B. heißes Wetter, verspätete Heimkehr des Partners oder eines Kin-
des) zum Höhepunkt, zur Auslösung der ersten Panikattacke, gebracht. Angst entwickelt
sich gewöhnlich erst als Reaktion auf die unerwartet, unkontrollierbar und bedrohlich
auftretenden Panikattacken. Die Betroffenen waren vorher oft keine ängstlichen oder
hypochondrischen Menschen und fürchten sich plötzlich vor ihrem Körper.
In Gesprächen berichten 80% der Panik- und Agoraphobie-Patienten von Stressoren
oder kritischen Lebensereignissen vor Ausbruch der Angststörung, sehen anfangs je-
doch oft keine Zusammenhänge zwischen diesen Umständen und ihrer Angststörung.
Der erste Panikanfall stellt eine große Belastung, einen Stressor, dar und wirkt oft
traumatisierend, ähnlich wie ein Trauma als Auslöser einer posttraumatischen Bela-
stungsstörung. Nach dem Auftreten der ersten Panikattacke reicht oft bereits ein allge-
mein erhöhtes Anspannungsniveau als Folge der ständigen Erwartungsängste vor einem
neuerlichen Angstanfall aus, dass ein bislang eher als belanglos oder ungefährlich ein-
geschätztes Ereignis die nächste Panikattacke auslösen kann (z.B. bevorstehender Aus-
landsaufenthalt aus beruflichen Gründen, Erkrankung eines Kindes).
Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Stress und Immun- bzw. Hormonsy-
stem. Übermäßiger Stress hat negative Auswirkungen auf das Immunsystem. Bereits
akute Belastungen, wie z.B. Schlaflosigkeit, führen innerhalb von 48 Stunden zur
Schwächung der Immunabwehr, wie sich anhand entsprechender Messgrößen nachwei-
sen lässt. Chronischer Stress bewirkt eine Erschöpfung des Organismus und macht den
Körper anfälliger für Kreislaufschwäche und vegetative Übererregbarkeit, womit der
Boden für Panikattacken bereitet ist.
Der neue Forschungszweig der „Psychoneuroimmunologie“ (eigentlich Psychoneu-
roendokrinoimmunologie) beschäftigt sich mit der Einheit des Menschen in Form der
Wechselwirkungen von Zentralnervensystem, Hormonsystem und Immunsystem. Ge-
sundheit und Krankheit des Menschen hängen vom Zusammenspiel dieser drei Systeme
ab, die über biochemische Botenstoffe miteinander kommunizieren.
Angststörungen stellen gleichzeitig psychische, hormonelle und immunologische
Vorgänge dar. Eine erhöhte, vegetativ gesteuerte Herztätigkeit durch Dauerstress kann
zu längerfristigen immunologischen Veränderungen führen.
Menschen, die zu starken sympathikusgesteuerten Herz-Kreislauf-Reaktionen nei-
gen, weisen laut Studien auch eine Steigerung der Stresshormone (CRH, ACTH, Korti-
sol) und entsprechende immunologische Veränderungen auf.
322 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Angst als Folge subliminarer Wahrnehmung


Angst- und Panikzustände, insbesondere Panikattacken „aus heiterem Himmel“, können
die Folge nicht bewusster Wahrnehmung sein. Es handelt sich dabei um eine sublimina-
re (unterschwellige) Wahrnehmung. Subliminare Wahrnehmung besteht in der Wahr-
nehmung von Reizen, die über der physiologischen Erregungsschwelle sind, aber noch
unterhalb der Schwelle von Erkennen und Bewusstheit [94].
Subliminare Wahrnehmung bedeutet, dass ein Reiz (Bild, Wort usw.) eine messbare
physiologische Reaktion hervorruft (z.B. Atem- und Herzbeschleunigung, Veränderung
der Hautleitfähigkeit, Muskelanspannung), während die Person diese Wahrnehmung
überhaupt nicht bewusst registriert. Der Reiz ist entweder zeitlich extrem kurz, weist
eine geringe Intensität auf oder hebt sich von anderen gleichzeitig ablaufenden physio-
logischen Prozessen zu wenig ab (d.h. es besteht ein zu geringes Signal-Rausch-
Verhältnis), wird aber trotzdem unbewusst wahrgenommen, semantisch kodiert und
verarbeitet, sodass eine Speicherung im Langzeitgedächtnis stattfindet, wodurch Aus-
wirkungen auf das körperliche und emotionale Befinden gegeben sein können.
Das Phänomen der subliminaren Wahrnehmung ist durch zahlreiche empirische Ar-
beiten belegt. Bei Experimenten zur subliminaren Wahrnehmung werden Reize (Bilder,
Worte) mit Hilfe eines Tachistoskops an die Wand projiziert. Dabei kann die Projekti-
onsdauer auf Bruchteile einer Sekunde eingestellt werden, sodass messbar ist, wie lange
der Reiz projiziert werden muss, bis er bewusst wahrgenommen werden kann.
Experimente zur subliminaren Wahrnehmung von tachistoskopisch dargebotenem
emotionalem Material (1-5 Millisekunden Projektionsdauer) belegen Einflüsse auf die
Stimmung. Wenn subliminare Reize (z.B. drohende Gesichter) häufig wiederholt wer-
den, können sie starke Emotionen auslösen, obwohl sie weder bewusst erkannt noch
wieder erkannt werden, noch sonst im Gedächtnis verfügbar sind. Diese Befunde wider-
legen die verbreitete Theorie, dass Gefühle wie Angst nur als Folge bestimmter bewusst
wahrgenommener Gedanken auftreten.
Subliminare Wahrnehmung bezieht sich nicht nur auf die nicht bewusste Wahr-
nehmung extrem kurzer oder schwacher Reize der Umwelt, sondern auch auf die Wahr-
nehmung innerer Reize (z.B. bestimmte Angst machende Erinnerungs- und Vor-
stellungsbilder). Mittels Schlaf-EEG ist nachweisbar, dass subliminare Wahrnehmung
auch im Schlaf erfolgt und Auswirkungen auf die Art der Träume hat.
Eine Mutter wird wach beim leisesten Wimmern ihres kleinen Kindes, nicht jedoch
durch den Lärm von Lastwagen oder Güterzügen. Geschmacks- und Geruchsaversio-
nen, von intensiven Gefühlen begleitet, können sogar unter Narkose erlernt werden.
Subliminare Wahrnehmungsprozesse sind auch von persönlichkeitsspezifischen Fak-
toren abhängig. Je nach ihrer inneren Bereitschaft können Menschen bestimmte äußere
Reize schneller oder langsamer wahrnehmen. Menschen mit bestimmten moralischen
Einstellungen können subliminar dargebotene „unmoralische“ Reize abwehren, sodass
sie keinerlei Reaktion darauf zeigen, während etwa ängstliche Menschen auf subliminar
dargebotene Gefahrenreize mit erhöhter Aufmerksamkeit und physiologischer Erregung
reagieren, obwohl sie bewusst gar nicht wissen, dass sie etwas wahrgenommen haben.
Diese Erkenntnisse haben einen hohen Erklärungswert bei Panikattacken am Tag,
wo die Betroffenen angeben, sie hätten sich vorher nichts Bedrohliches vorgestellt, aber
auch bei Panikattacken in der Nacht, wo neben der subliminaren Wahrnehmung ver-
schiedener Reize gleichzeitig auch eine Interpretation als gefährlich erfolgt, sodass ein
panikartiges Erwachen erfolgt.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 323

Das Phänomen der Wahrnehmungsabwehr bedeutet, dass emotional belastende


subliminare Reize über eine Veränderung der Wahrnehmungsschwelle abgewehrt wer-
den können. Das Gehirn verfügt in Form der Wahrnehmungsabwehr über eine primitive
Form der Bewältigung von belastenden Ereignissen. Die bewusste Erfahrung kann auf
diese Weise vor störenden Informationen bewahrt werden, wie diese bei posttraumati-
schen Belastungsstörungen die Betroffenen ständig zu überfluten drohen.

Der Carpenter-Effekt – Von der Vorstellung zur Körperreaktion


„Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie.“ Erich Kästner [95]

Der Carpenter-Effekt [96] bezeichnet das Phänomen der Ideomotorik: Die Vorstellung
einer Bewegung (z.B. einer angstbedingten Kampf- oder Fluchtbewegung) löst die
Tendenz zu ihrer Realisierung aus, d.h. die Wahrnehmung oder Vorstellung einer Be-
wegung bewirkt minimale Mitbewegungen des relevanten Körperteils.
Die motorischen Vorstellungen werden über das limbische System und den motori-
schen Kortex in Handlungsimpulse umgesetzt. Die bei der Wahrnehmung oder Vorstel-
lung einer Bewegung entstehenden Bewegungsimpulse können mit einem Gerät zur
Messung der Muskelspannung (EMG: Elektromyelographie) nachgewiesen werden.
Mit intensiven Bewegungsvorstellungen gehen eine zentrale Erregung des motori-
schen Rindenfeldes des Gehirns sowie minimale Kontraktionen der Muskeln einher. Es
erfolgt eine Intensivierung des Gasstoffwechsels, eine Beschleunigung von Atmung und
Herzschlag, eine Blutdruckerhöhung und eine stärkere Erregbarkeit der peripheren
Nerven. Durch die innere Mitbewegung kommt es im Zentralnervensystem zur Ausbil-
dung von Spuren, die die Bahnung koordinierter Verhaltensmuster beschleunigen.
Der amerikanische Physiologe Jacobson wies bereits 1929 nach, dass die Vorstel-
lung, an einem Marathonlauf teilzunehmen, eine minimale Aktivierung der entspre-
chenden motorischen Nerven bewirkt, was zu einer leichten Stimulierung der Beinmus-
kulatur führt. Der durch eine konkrete Vorstellung ausgelöste ideomotorische Prozess
aktiviert nicht nur die Willkürmuskulatur, sondern erhöht auch die Herzschlagfrequenz
und den Blutdruck, verstärkt die Schweißabsonderung, steigert die Ausschüttung von
Endorphinen usw.
Messungen im Sport haben ergeben, dass 800 Millisekunden vor einer Reaktion der
Muskulatur das Gehirn die Bewegungen des Körpers vorwegnimmt [97]. Elektrische
Impulse bewirken eine Aufladung der Muskeln über das zentrale Nervensystem, in dem
die Bilder gespeichert sind. Die Bewegung ist im Gehirn bereits vollzogen, bevor der
Körper reagiert. Ein systematisch durchgeführtes Vorstellungstraining aktiviert die
gleichen nervalen und muskulären Prozesse wie beim physischen Training im Sport.
Durch den Spitzensport ist mentales Training einem breiten Bevölkerungskreis be-
kannt geworden und der Glaube an dessen psychologische Wirksamkeit gestiegen.
Menschen mit Angst- und Panikstörungen können lernen, sich wie Spitzensportler auf
gefürchtete Situationen vorzubereiten.
Das Prinzip der Ideomotorik ist die Basis vieler Hypnosephänomene und des menta-
len Trainings im Sport. Die praktische Bedeutung des Carpenter-Effekts zeigt sich beim
Training von Spitzensportlern ebenso wie in der Rehabilitation von Körperverletzten,
wo ohne tatsächliche Bewegungsmöglichkeit bzw. Bewegungsfähigkeit bestimmte
Muskelpartien mental gezielt aktiviert werden.
324 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Studien zur Hypnotisierbarkeit von Menschen haben ergeben, dass Phobiker eine
höhere Hypnotisierbarkeit bzw. Suggestibilität haben als die Durchschnittsbevölkerung.
Demnach werden bestimmte Menschen wegen ihrer ausgeprägten Vorstellungsfähigkeit
und kognitiven Beteiligung bei Ereignissen eher zu Phobikern werden als andere.
Wenn nach dem Carpenter-Effekt bestimmte Vorstellungen in körperliche Reakti-
onsweisen umgesetzt werden, wird auch verständlich, warum die phobischen Angst-
inhalte zu belastenden körperlichen Zuständen führen. Aus Angst vor einer bestimmten
Situation am liebsten davonlaufen zu wollen, führt zu einer entsprechenden Aktivie-
rung. Wenn dies jedoch z.B. wegen der Teilnahme an einer Sitzung oder während der
Fahrt in einem Schnellzugabteil unmöglich ist, entsteht eine unangenehme Muskelver-
spannung, die mangels Bewegung nicht abreagiert werden kann.
Eine gute Vorstellungsfähigkeit wirkt sich wohl bei Angstinhalten negativ aus, bleibt
aber dennoch eine Begabung, die für künstlerisch-kreative Tätigkeiten unbedingt erfor-
derlich ist. Die Lektüre eines Romans ohne gute Vorstellungsfähigkeit wird bald an-
strengend und langweilig. Filme versuchen mit gestalterischen Mitteln bewusst eine
innere Anteilnahme zu erzeugen, um den Erlebniswert zu erhöhen.

Alexithymie – Das Unvermögen, Gefühle wahrzunehmen


und auszudrücken
Zur Erklärung von psychosomatischen Störungen (körperlichen Störungen mit gemischt
organisch-psychischen Ursachen), aber auch von funktionellen Störungen (körperlichen
Störungen mit nichtorganischen Ursachen) wurde von französischen Psychoanalytikern
und dem amerikanischen Psychiater Sifneos das Konzept der Alexithymie („keine Worte
für Gefühle“) entwickelt, das durch folgende Aspekte charakterisiert ist [98]:
1. Schwierigkeit, Gefühle wahrzunehmen, zu beschreiben und auszudrücken,
2. Schwierigkeit, Emotionen und körperliche Empfindungen voneinander zu unter-
scheiden,
3. reduzierte imaginative Fähigkeiten, Fantasiearmut, wenig Tagträume,
4. übermäßig konkrete, an äußeren Umständen orientierte Denk- und Sprechweise.

Die Ursachen der Alexithymie sind unbekannt. In neuerer Zeit werden auch neurobiolo-
gische Ursachen vermutet (z.B. eine Unterbrechung der Verbindung zwischen dem
limbischen System und dem Neokortex). Das ursprüngliche Konzept der Alexithymie
als spezifische Persönlichkeitseigenschaft, die zu psychosomatischen Störungen präde-
stiniere, war theoretisch und empirisch nicht haltbar. Defizite in der Verarbeitung von
Gefühlen führen keineswegs automatisch zu psychosomatischen Störungen.
Gegenwärtig wird das Alexithymie-Modell als diagnosenunspezifisches Erklärungs-
konzept für Störungen der kognitiven Verarbeitung emotionaler Vorgänge sowie für das
Defizit an adäquaten Bewältigungsstrategien von emotionaler Hilflosigkeit verwendet,
wodurch der Alexithymie-Begriff seinen Wert behält.
Mit der Entwicklung der Toronto-Alexithymia-Scale, die auch auf Deutsch vorliegt
[99], wurde eine Neufassung des Konzepts versucht, das Alexithymie als mögliche
Reaktion oder Bewältigungsstrategie auf belastende Ereignisse versteht.
Erhöhte Alexithymie-Werte ließen sich empirisch nachweisen bei körperlich Kran-
ken, bei Opfern von Vergewaltigungen (d.h. bei Menschen mit posttraumatischen Bela-
stungsstörungen), bei Personen mit Panikstörungen und bei Frauen mit Anorexie.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 325

Das Konzept der Alexithymie als Reaktionsform auf belastende Ereignisse findet
mittlerweile eine gewisse Bestätigung. Die Tendenz, schwer bewältigbare Erinnerungen
und damit verbundene Emotionen auszublenden, ist mit einer Abschwächung der all-
gemeinen emotionalen Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit verbunden.
Alexithymie hängt oft auch mit den Variablen Depressivität bzw. Demoralisierung
zusammen. Die mangelnde Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit von negativen, un-
erwünschten Gefühlen führt zu einer erhöhten physiologischen Erregung, die sich die
Betroffenen nicht erklären können, sodass sie ständig neue Untersuchungen und medi-
kamentöse Behandlungen verlangen.
Eine typische Alexithymie-Problematik weist z.B. jemand auf, der von Übelkeit,
Herzklopfen, Schwitzen, Benommenheit, Übelkeit und einem flauen Gefühl im Magen
berichtet, aber nicht weiß, dass er Angst empfindet und über diese Symptome seine
Angst ausdrückt. „Alexithymiker“ sind keineswegs gefühlsarme Leute, die nichts emp-
finden können, sie können nur ihre Gefühle nicht richtig wahrnehmen und ausdrücken.
Was ihnen fehlt, ist die „emotionale Intelligenz“, die in dem gleichnamigen Bestsel-
ler des amerikanischen Psychologen Goleman ausführlich beschrieben wird. Es mangelt
ihnen an der richtigen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, soweit es den
Gefühlsbereich betrifft. Selbst die Aussage, man fühle sich „schlecht“, kann nicht näher
erläutert werden. Die mangelnde Gefühlswahrnehmung führt dazu, dass die Betroffenen
oft über körperliche Beschwerden klagen, d.h. sie drücken ihre Gefühle in Form von
somatischen Beschwerden aus. Es handelt sich dabei um keine psychosomatische Stö-
rung im üblichen Sinn, wo emotionale Probleme zu Gesundheitsproblemen führen.
Eine Verbesserung der emotionalen Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit ist vor
allem bei Menschen mit Panikstörungen, Zwangsstörungen und somatoformen Störun-
gen angebracht, die ihrer körperlichen Erregung angstvoll und verständnislos gegenü-
berstehen. Die Betroffenen müssen die zugrunde liegenden Emotionen wahrnehmen und
in ihre Persönlichkeit integrieren lernen, wenn sie mehr Kontrolle über ihren Körper
erlangen wollen. Viele „Angstpatienten“ haben mehr „Wut im Bauch“ als Angstvorstel-
lungen im Kopf. Dies äußert sich oft auch in Form von Magen- und Darmproblemen.
Im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie bei Angststörungen muss auf die
Wahrnehmung und Identifizierung von Emotionen sowie auf deren adäquaten Ausdruck
geachtet werden. Emotionen sind nicht einfach nur die Folge von dysfunktionalen Ko-
gnitionen, wie dies durch die kognitive Therapie nahe gelegt wird, sodass primär nur die
kognitiven Schemata zu ändern wären. Gefühle sind vielmehr ein eigenständiger Be-
reich in jedem Menschen, der aus sich heraus handlungssteuernd wirkt. Dies wird auch
durch neurobiologische Befunde bestätigt.
Ohne Berücksichtigung des emotionalen Erlebens und dessen Auswirkung auf die
physiologische Befindlichkeit bleibt eine Angstbewältigungstherapie unzureichend:
1. Eine rein kognitive Verhaltenstherapie ist in Gefahr, verschiedene Emotionen „weg-
zurationalisieren“, nachdem sie als unberechtigt erkannt worden sind. Insbesondere
die rational-emotive Therapie nach Ellis, die eine Art stoischer Gleichgültigkeit an-
strebt, aber auch eine einseitige kognitive Therapie nach Beck, verhilft zu keinem
adäquaten Umgang mit störenden Emotionen. Dies wird z.B. durch Konzepte und
Techniken aus der Gestalttherapie eher erreicht, wie Butollo und Mitarbeiter in
München durch ihr Konzept einer integrativen Angsttherapie aufgezeigt haben.
2. Eine reine Konfrontationstherapie ist in Gefahr, unerwünschte Emotionen nach dem
Modell der physiologischen Habituierung „wegzutrainieren“, statt deren umfassen-
de Wahrnehmung und Integration in die Gesamtpersönlichkeit zu fördern.
326 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Agoraphobie – Angst vor Situationen ohne Sicherheitssignale


Eine Agoraphobie ist nach den Forschungskriterien des ICD-10 eine starke und anhal-
tende Furcht vor oder Vermeidung von mindestens zwei von vier Situationen (Men-
schenmengen, öffentliche Plätze, allein Reisen, weite Reisen), wobei die Betroffenen
mindestens zwei von 14 körperlichen und kognitiven Angstsymptomen aufweisen.
Die Agoraphobie wird im DSM-IV in engem Zusammenhang mit der Panikstörung
gesehen. Nach dem Konzept des amerikanischen Psychiaters Klein stellt eine Ago-
raphobie die Folge einer Panikattacke dar. Zahlreiche Menschen mit einer Agoraphobie
(vor allem außerhalb der klinischen Behandlungszentren) fürchten keine Panikattacken,
sondern nur einzelne körperliche Symptome im Sinne einer somatoformen Störung
(Schwindel, Übelkeit, Harn- oder Stuhldrang u.a.), was früher oft übersehen wurde.
Menschen mit einer Agoraphobie haben beim Fortgehen und Auswärtssein Angst
umzufallen, einen Herzanfall zu erleiden, keine Luft zu bekommen, „in der Falle zu
sitzen“, die Beherrschung zu verlieren, öffentlich „durchzudrehen“ bzw. herumzu-
schreien oder sonst irgendwie auffällig zu werden. Sie reagieren mit körperlichen
und/oder kognitiven Symptomen, sobald sie die schützende Umgebung der Wohnung
oder die Nähe vertrauter Menschen verlassen oder auch nur daran denken, dies zu tun.
Bei einer ausgeprägten Agoraphobie können die Betroffenen die Wohnung nicht
mehr allein verlassen oder sind in ihrer Bewegungsfreiheit insofern eingeschränkt, als
sie zu ihrer Sicherheit stets auf eine Begleitperson angewiesen sind.
Der Bereich der Agoraphobie stellte nach verschiedenen spezifischen Phobien (z.B.
Tierphobien) eines der ersten Anwendungsfelder der rein lerntheoretisch konzipierten
Verhaltenstherapie der frühen 1960er-Jahre dar. Nach diesem Verständnis ist eine Ago-
raphobie eine konditionierte Furchtreaktion, die durch bestimmte äußere Reize (öffent-
liche Orte, Verkehrsmittel u.a.) als konditionierte Stimuli ausgelöst wird. Die konditio-
nierten Ängste führen im Laufe der Zeit zu einem immer stärkeren Vermeidungslernen,
weil Flucht aus und Vermeiden von agoraphobischen Situationen zur Abnahme der
Angstreaktion führt. Als Therapie wurde anfangs eine allmähliche Annäherung an die
gefürchteten Reize („systematische Desensibilisierung“) vorgenommen.
Bereits 1978 legten Goldstein und Chambless eine Neuformulierung des lerntheore-
tisch orientierten Agoraphobiekonzepts vor und unterschieden zwischen einer einfachen
Agoraphobie (konditionierten Ängsten bezüglich der Phobie auslösenden Reize) und
einer komplexen Agoraphobie (Erwartungsängsten, Angst vor den weiteren Folgen).
In der aufkommenden kognitiven Verhaltenstherapie der 1980er-Jahre gelangte man
immer mehr zur Erkenntnis, dass Menschen mit einer Agoraphobie weniger die ago-
raphobischen Situationen an sich fürchten, sondern vielmehr Angst davor haben, was
ihnen an diesen Orten zustoßen könnte. Dazu passte auch das (allerdings biologisch
orientierte) Konzept von Klein, dass die Agoraphobie nur eine sekundäre Störung und
die Panikstörung das primäre Problem sei.
Nach den biologischen und kognitiven Erklärungsmodellen der Agoraphobie versu-
chen die Betroffenen nicht so sehr äußere Reize (Plätze, Räume, Verkehrsmittel, Men-
schenmassen), sondern vielmehr innere (körperliche und mentale) Reize zu vermeiden,
sodass die agoraphobischen Situationen an sich nicht mehr das Hauptproblem in der
Verhaltenstherapie darstellen, wie dies in der Vergangenheit der Fall war.
Die kognitive Neukonzeption der Agoraphobie ist leicht verständlich dargestellt in
dem Buch „Angst. Diagnose, Klassifikation und Therapie“ von Rachman [100], das
allen Interessierten sehr zu empfehlen ist.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 327

Das lerntheoretisch konzipierte Modell der Agoraphobie als anhaltendes Vermei-


dungsverhalten auf der Basis einer konditionierten Furchtreaktion ist zwar auch gegen-
wärtig noch die plausible Grundlage aller effektiven Konfrontationstherapien (gestuft
und massiert), muss jedoch um wesentliche kognitive Aspekte erweitert werden, um der
psychischen und psychosozialen Situation vieler Betroffener gerecht zu werden.
Die traditionelle Verhaltenstherapie bei einer Agoraphobie, die aus einem geplanten,
kontrollierten Aufsuchen der Orte besteht, vor denen sich der Patient fürchtet, betrachtet
Rachman als „zumindest mäßig erfolgreich“, was im Gegensatz zur herrschenden Mei-
nung steht. Nur wenn die Agoraphobie primär durch ein ängstigendes oder schmerzhaf-
tes Erlebnis an einem öffentlichen Ort oder in einem Verkehrsmittel verursacht ist, d.h.
wo die Symptomentstehung tatsächlich nach dem Konditionierungsmodell erklärbar ist,
sei nach Rachman die bekannte Konfrontationstherapie die Methode der ersten Wahl.
Man müsse heute in der Regel zunächst die Ursache der Angst und die häufig mit
ihr verbundene Neigung zu Panikattacken angehen. Wenn hinter einer Agoraphobie
eine Panikstörung stehe, sollte vor einer Konfrontationstherapie mit äußeren (agorapho-
bischen) Reizen eine „Konfrontationstherapie“ mit den inneren (körperlichen und men-
talen) Panik auslösenden Reizen erfolgen (d.h. Gefühlen wie Ärger, Wut, Traurigkeit,
Überforderung, Einsamkeit, Verlustangst, Realangst nach physischer Bedrohung).
Nach dem Sicherheitssignalkonzept fürchten sich Agoraphobiker primär nicht vor
bestimmten Orten, Situationen oder Menschenansammlungen, sondern davor, was ihnen
dort passieren könnte, wenn sie allein und schutzlos sind, d.h. ohne ein Sicherheitssi-
gnal (vertraute Person, Handy, Medikament, Fluchtweg, etwas zum Anhalten u.a.).
Eine Agoraphobie zu haben bedeutet, ständig auf der Suche nach Sicherheit bzw.
Sicherheitssignalen zu sein, wenn man sich potenziell bedrohlichen Situationen mental
oder real aussetzen soll. Das agoraphobische Vermeidungsverhalten spiegelt ein gestör-
tes Gleichgewicht zwischen subjektiv empfundener Gefahr und Sicherheit wider.
Dies ist oft nur verständlich durch die Lebensgeschichte der Betroffenen. Vor dem
Auftreten der Agoraphobie findet man häufig sehr einschneidende Ereignisse: Tod oder
schwere Erkrankung von Verwandten (Eltern, Partner, Kinder) oder Freunden, eigene
schwere Krankheit mit oft unsicherem Ausgang, Angst vor Tod, Behinderung oder
Krankheit, Ehekrise, Scheidung, Fehlgeburt, Gefährdung des Arbeitsplatzes, Kündi-
gung, Konkurs, finanzielle Notlage, Umzug mit sozialer Isolierung, öffentliche Krän-
kung, bewusste physische und/oder psychische Bedrohung durch jemand, von dem man
abhängig ist, Sinnkrise, Enttäuschung durch einen Bekannten, Drogenerfahrung usw.
Therapeuten müssen sich nach Rachman mit den konkreten Lebensumständen und
Befürchtungen der Patienten beschäftigen und dürfen deren Probleme nicht reduzieren
auf eine Furcht vor agoraphobischen Situationen. Die Angst ohnmächtig zu werden,
physisch zusammenzubrechen, psychisch aus dem Tief nicht mehr herauszukommen,
geistig durchzudrehen, keinen Ausweg mehr zu wissen, buchstäblich „in der Falle zu
sitzen“ u.a. stellt die Reaktion auf reale und nicht nur auf befürchtete Umstände dar.
Konkrete existenzielle Verwundungen haben dazu geführt, dass das früher oft
durchaus gegebene Vertrauen in die Fähigkeiten der eigenen Person verloren gegangen
ist, sodass man sich allen weiteren potenziellen Bedrohungen der eigenen Person
schutzlos ausgeliefert fühlt. Allein gelassen zu sein – eben auch in agoraphobischen
Situationen – aktiviert die fundamentale Erfahrung von Hilflosigkeit, Ausgeliefert-Sein
und Geborgenheitsverlust, sodass Personen mit großer Vertrauenswürdigkeit oder son-
stige Hilfen als Sicherheitssignale zentrale Bedeutung gewinnen. Vorrangige Therapie-
ziele sind die Verbesserung des Sicherheitsgefühls und der Aufbau von Kompetenz.
328 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Generalisierte Angststörung –
Sorgen als kognitive Vermeidungsstrategie
Das bekannte Drei-Faktoren-Modell erklärt die Entstehung einer generalisierten Angst-
störung auf der Basis von Vulnerabilität, auslösenden Faktoren und aufrechterhaltenden
Bedingungen. Eine genetische Komponente (Vulnerabilität) in Form einer allgemeinen
Veranlagung zu erhöhter Ängstlichkeit kann bei bestimmten Personen in Verbindung
mit verschiedenen Lernerfahrungen, psychosozialen Faktoren und Belastungen (auslö-
senden Bedingungen) und speziellen Angst verstärkenden Denkmustern (aufrechterhal-
tenden Bedingungen) zu einer generalisierten Angststörung führen.
Eine generalisierte Angststörung wird in ihrem Wesen nur dann wirklich verstanden,
wenn man die andauernden Sorgen und deren Aufrechterhaltung im Rahmen eines
Teufelskreis-Modells berücksichtigt, wie dies etwa in den deutschen Arbeiten von Mar-
graf, Becker und Hoyer erfolgt. Bei einer gewissen Neigung (Prädisposition) zu erhöh-
ter Ängstlichkeit können äußere Auslöser (Lebensereignisse und -krisen, Stress, Über-
forderung, Krankheit) und/oder innere Auslöser (bestimmte Angst verstärkende Denk-
muster wie hohe Bedrohlichkeit, geringe Kompetenzerwartungen, mangelndes Kon-
trollgefühl oder Gesundheitsängste, aber auch verschiedene körperliche Reize wie Ver-
spannungen oder allgemeine Nervosität) einen Sorgenprozess aufschaukeln und in Gang
halten, der von ängstlichen Gefühlen und körperlichen Symptomen getragen wird. Die
Betroffenen unterschätzen angesichts des Bedrohungsgefühls ihre Möglichkeiten und
Fähigkeiten zu einer konstruktiven Problembewältigung und entwickeln vermehrte
Sorgen. Sie bekommen ihre Sorgen nicht unter Kontrolle, sodass diese vermehrt auftre-
ten, nehmen Zuflucht zu Rückversicherungsstrategien bei Vertrauenspersonen (sie bit-
ten oft um die Bestätigung der Ungefährlichkeit von Situationen), versuchen ihre Sor-
gen zu unterdrücken und durch Ablenkung zu vermeiden und verstärken damit erst recht
ihre Sorgen und Befürchtungen, weil keine Gewöhnung (Habituation) an die bildhaften
Vorstellungen erfolgt. Die Betroffenen verwechseln ihre Bilder mangels anhaltender
Konfrontation damit immer wieder mit vermeintlich bevorstehenden Situationen.
Ständiges Sich-Sorgen gilt vor allem seit dem DSM-IV als das zentrale Merkmal der
generalisierten Angststörung. Es besteht eine besorgte Anspannung, die sehr allgemein
ist (im Gegensatz zu Phobien) und auf multiple Lebensumstände bezogen ist. Die Be-
troffenen machen sich ständig Sorgen um alles Mögliche. Die Sorgen können nicht
kontrolliert werden und beanspruchen deshalb die Aufmerksamkeit in übermäßiger
Weise. Je weniger die ständig wechselnden Sorgen bewältigt werden können, umso
mehr erfolgt eine Aufmerksamkeitseinengung darauf, während gleichzeitig die anfal-
lenden Aufgaben des Alltags immer stärker vernachlässigt werden. Dies führt zum
Eindruck, das Leben nicht bewältigen zu können, was das Gefühl des Kontrollverlusts
verstärkt, sodass eine weitere Einengung auf die Sorgen und die eigene Unfähigkeit
erfolgt. Das Grübeln wird weiterhin als Problemlösungsmittel angesehen, während die
Offenheit für nicht angstbezogene Gegebenheiten völlig verloren geht.
Menschen mit einer generalisierten Angststörung grübeln den ganzen Tag vor sich
hin, mehrheitlich über Kleinigkeiten des Alltags nachdenkend, ohne je zu einem konkre-
ten Ergebnis zu gelangen. Die Entscheidung zu einer bestimmten Bewältigung eines
Problems löst sofort Angst aus, sodass wiederum der Weg zurück in die Unentschie-
denheit des Grübelns gewählt wird, ohne dass eine vollständige kognitive und emotio-
nale Bearbeitung einer tatsächlichen oder vermeintlichen Bedrohung erfolgt. Auf diese
Weise wird der Mechanismus der generalisierten Angststörung aufrechterhalten.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 329

Die Sorgen bei generalisierten Angststörungen sind ständig wechselnd, oft diffus
und wenig bildhaft. Bildhafte Vorstellungen konkreter, negativer Inhalte lösen psycho-
vegetative Symptome aus, die es zu vermeiden gilt. Obwohl die ständigen Sorgen bela-
stend sind, verhindern sie doch noch unangenehmere Zustände. Gedanken und Sätze mit
unangenehmem Inhalt sind emotional weniger belastend als konkrete bildhafte Vorstel-
lungen, die Angst und Unruhe intensivieren. Dies kann durch ein Zu-Ende-Denken
einer ganz bestimmten Sorge auf plastisch-bildhafter Ebene überprüft werden. Wenn bei
ständiger Besorgtheit abstrakt-gedankliche Prozesse dominieren und bildhafte Vorstel-
lungen vermieden werden, werden auf diese Weise körperliche Symptome unterdrückt
oder nur vermindert wahrgenommen. Sich-Sorgen und Grübeln sind kognitive Vermei-
dungsreaktionen angesichts von unerwünschten emotionalen Zuständen (emotionale
Bedrohung und körperliche Angespanntheit), analog zur offenen motorischen Vermei-
dung bei der Agoraphobie. Sie lenken ab von bildhaften Vorstellungen, die große Angst
und emotionale Betroffenheit bewirken. Die Sorgen und Grübeleien dämpfen die emo-
tionale Verarbeitung und verhindern damit körperliche Symptome. Das unaufhörliche
Sich-Sorgen gilt lerntheoretisch als „negative Verstärkung“. Sorgen stellen insofern
negative Verstärker dar, als sie die körperlichen und psychischen Komponenten bei
negativen emotionalen Erfahrungen reduzieren.
Trotz des Leidens unter ihren Befürchtungen halten viele Betroffene ihre Sorgen
nicht für sinnlos, sondern für ähnlich wirksam wie magische, abergläubische Praktiken.
Wenn man sich nur ausreichend über gefürchtete Ereignisse sorgt, werden sie schon
nicht eintreten. Hier ist ebenfalls das Prinzip der negativen Verstärkung wirksam.
Die Betroffenen sind nicht bereit, das geringste Ausmaß an Unsicherheit zu tolerie-
ren. Sie weisen wegen eines minimalen Restrisikos eine erhöhte kognitive und körperli-
che Alarmbereitschaft auf. Aus dem Verständnis der generalisierten Angststörung als
Störung der Emotionsregulierung (Vermeidung intensiver Angst) und als ineffiziente
Kontrollversuche der Sorgen ist therapeutisch eine mentale Konfrontation mit den Sor-
gen im Sinne eines bildhaften Zu-Ende-Denkens der Befürchtungen indiziert.
Fachleute in den USA, Kanada und Großbritannien haben unterschiedliche kognitive
Konzepte ausgearbeitet, die wegen ihrer Bedeutung für eine Verbesserung der (verhal-
tens-)therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten im Folgenden dargestellt werden.
Der amerikanische Psychologe Thomas Borkovec und sein Team [101] entwickeln
seit Jahrzehnten ein umfangreiches, immer weiter ausdifferenziertes kognitives Modell
zur Erklärung der generalisierten Angststörung. Es beruhte ursprünglich auf lerntheore-
tischen Konzepten und betont mittlerweile auch interaktionelle und emotionszentrierte
Aspekte. Sich-Sorgen wird als Bewältigungsstrategie, und zwar als eine kognitive Ver-
meidungsstrategie, verstanden und als Prozess mit vierfacher Funktion gesehen:

z Sich-Sorgen als verbal-gedankliche Aktivität anstelle bildhafter Vorstellungen zur


Vermeidung negativer Emotionen. Borkovec hatte sich mit der Aufrechterhaltung
von Ängsten nach dem lerntheoretischen Modell der Zwei-Faktoren-Theorie von
Mowrer bereits in seiner Dissertation über Schlangenphobien beschäftigt und ver-
wendete dieses Konzept in erweiterter Form schon Ende der 1970er-Jahre als erster
Experte zur Erklärung der Aufrechterhaltung von Ängsten im Rahmen eines kogni-
tiven Ansatzes. Kognitive Vermeidung und Flucht verstärken demnach ängstliches
Denken durch die subjektiv positiven Folgen. Auf dem Hintergrund des DSM-III-R,
das den kognitiven Prozess der Sorgen (worries) als zentrales Merkmal der generali-
sierten Angststörung definierte, verstand er Sich-Sorgen als kognitive Vermeidung.
330 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Sich-Sorgen (Grübeln, Nachdenken) stellt eine kognitive Aktivität dar, die primär
verbal, d.h. mit Worten, erfolgt. Auf diese Weise wird eine stärker emotionale Akti-
vierung (große Angst) vermieden, wie diese durch lebendig-plastische Bilder be-
wirkt wird. Sorgenketten ermöglichen eine relativ emotionslose, wenig konkret-
bildhafte Beschäftigung mit gefürchteten Ereignissen in der nächsten Zukunft. Ver-
bal dominiertes Sich-Sorgen geht mit einer verstärkten Aktivität in der linken (ratio-
nal betonten) Hirnhälfte einher. Nach dem lerntheoretischen Prinzip der negativen
Verstärkung (Ausbleiben stark negativer emotionaler Reaktionen) wird Sich-Sorgen
weiterhin als effiziente Methode zur Vermeidung bzw. Verminderung von Angst
eingesetzt. Die Dominanz gedanklicher Aktivitäten während des Sorgenprozesses
anstelle von Angst machenden lebhaften Vorstellungsbildern entspricht bei der Ago-
raphobie der Fluchtreaktion und der damit verbundenen Angstminderung.

z Sich-Sorgen als Mittel zur Unterdrückung körperlicher Angstsymptome. Lebendige


Vorstellungsbilder lösen massive körperliche Angstreaktionen aus (z.B. Herzrasen,
Atembeklemmung, Schwitzen). Die primär verbale Verarbeitung von Angst ma-
chenden Reizen reduziert dagegen die Aktivität des sympathischen Nervensystems.
Die Verminderung körperlicher Angstsymptome als Folge des verbal dominierten
Grübelns erklärt wiederum nach dem Prinzip der negativen Verstärkung, warum
auch zukünftig bildhaftes Gedankenmaterial tunlichst unterdrückt und vermieden
wird. Dies führt dazu, dass Menschen mit generalisierter Angststörung weniger über
vegetative Beschwerden wie Herzrasen klagen, sondern vielmehr über eine allge-
meine muskuläre Anspannung im Ruhezustand, wie dies den DSM-IV-Kriterien der
generalisierten Angststörung entspricht, die nur Symptome des Zentralnervensy-
stems als charakteristisch für diese Störung ansehen (Ruhelosigkeit, leichte Ermüd-
barkeit, Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit, Muskelanspannung, Schlafstörun-
gen). Die Kopflastigkeit zeigt sich oft auch in Form von ständigen Spannungskopf-
schmerzen. Die ständige Angstabwehrbereitschaft spiegelt sich auch in einer ver-
minderten parasympathischen Aktivität wider, d.h. in einer reduzierten Entspan-
nungsfähigkeit. Aus biologisch-evolutionärer Sicht ergibt sich folgendes Bild. Die
Bedrohungssituationen von Menschen mit generalisierter Angststörung bestehen nur
in deren Vorstellung, beziehen sich auf die Zukunft und sind nicht in der Gegenwart
vorhanden und werden kaum jemals eintreten, sodass anstelle einer Kampf-Flucht-
Reaktion, wie diese bei akuter Bedrohung lebensrettend sein kann, ein permanenter
Zustand der körperlichen Erstarrung („Freeze“) bestehen bleibt. Es gibt weder eine
Entwarnung, weil die Bedrohung erst bevorsteht, noch eine reale Fluchtmöglichkeit
wie bei Phobikern, die äußeren Reizen durch Vermeidung zu entkommen versuchen.

z Sich-Sorgen als Mittel zur Vorwegnahme und Vermeidung negativer Ereignisse in


der Zukunft. Ständige Besorgtheit kann aus der Sicht der Betroffenen auch folgende
sechs positive Funktionen haben: Förderung der Motivation, Dinge zu erledigen;
Hilfestellungen zur Vorbeugung oder Abwehr schlimmer Ereignisse; Vorbereitung
auf das Schlimmste; Problemlöseverhalten; abergläubische Abwehr von Gefahren;
Ablenkung von emotional noch stärker belastenden Situationen und Ereignissen.
Wenn die Betroffenen diesbezüglich positive Erfahrungen in dem Sinn machen, dass
die gefürchteten Ereignisse ausbleiben, werden sie wiederum nach dem Prinzip der
negativen Verstärkung dazu ermutigt, weiterhin viel zu grübeln, weil dies gemäß ei-
nes magischen Denkens möglicherweise das gefürchtete Unheil abwenden kann.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 331

z Sich-Sorgen als Mittel zur Vermeidung interaktionsbezogener und emotionsbetonter


Themen. Diese Funktion von Sorgen ist zwar plausibel, jedoch noch spekulativ und
muss erst empirisch bestätigt werden. Für die Verhaltenstherapie von Menschen mit
generalisierter Angststörung ergeben daraus weit reichende Folgen im Sinne einer
umfassenderen Behandlungsstrategie zur Verbesserung der bislang dürftigen Thera-
pieerfolge (mit den traditionellen verhaltenstherapeutischen Methoden konnte bisher
nur jedem zweiten Betroffenen geholfen werden). Beim gegenwärtigen Stand der
Theorienbildung werden drei tiefer liegende, emotional aufwühlende Themen ange-
führt, die Menschen mit generalisierter Angststörung durch relativ oberflächliches
Grübeln über Alltagsereignisse zu vermeiden versuchen:
- Traumatisierende Lebenserfahrungen. Zahlreiche Angstpatienten haben ein
Trauma erlebt, nicht verkraftet und lenken sich durch andere Sorgen davon ab.
- Negative frühkindliche Beziehungsmuster. Unsichere Bindungen in der Kindheit
beeinträchtigen das Urvertrauen und lassen die Welt gefährlich erscheinen. Oft
bestand auch eine Rollenumkehr: Das Kind muss für einen ineffizienten Eltern-
teil sorgen und entwickelt dann ein sehr fürsorgliches Verhalten mit großer Ein-
fühlungsfähigkeit in die Bedürfnisse anderer Menschen.
- Problematische zwischenmenschliche Beziehungen in der Gegenwart. Interper-
sonelle Themen sind die häufigsten Sorgeninhalte von Menschen mit generali-
sierter Angststörung, die häufig ein überfürsorgliches Verhalten aufweisen.

Nach dem englischen Psychologen Adrian Wells, der sein Konzept in seinem Buch
„Cognitive therapy of anxiety disorder“ darlegt, haben Patienten mit einer generalisier-
ten Angststörung ganz spezifische Annahmen über ihre Sorgen („Meta-Sorgen“: Sor-
gen über die Sorgen). Die Betroffenen sorgen sich zwar um ihre Sorgen („Von den
vielen Sorgen werde ich noch verrückt“), sehen sie aber dennoch als sinnvoll an („Wenn
ich mich nicht mehr sorge, könnte etwas Schlimmes passieren“), sodass sie daran fest-
halten. Meta-Sorgen halten den Sorgenprozess aufrecht, führen aber auch zu weiteren
Ängsten und ineffizienten Unterdrückungsversuchen, die das Sich-Sorgen verstärken.
Interne oder externe Auslöser führen zu Typ-I-Sorgen („Was wäre, wenn …?“), die
ganz normal sind. Die krank machenden Typ-II-Sorgen (Meta-Sorgen) stellen Bewer-
tungen dieser Sorgen dar („Das Sorgen schadet mir“, „Wenn ich meine Ängste und
Sorgen nicht in den Griff bekomme, werde ich noch verrückt“). Die Folgen zeigen sich
im Verhalten (Kontrollieren, Rückversicherung), im Denken (Versuch der Gedanken-
kontrolle, Vermeiden der Gedanken) und im Gefühlsbereich (Panik, Anspannung).
Der Psychologe Stanley Rachman – einer der Gründungsväter der Verhaltensthera-
pie – beschreibt in seinem empfehlenswerten, allgemein verständlichen Buch „Angst.
Diagnose, Klassifikation und Therapie“ die generalisierte Angststörung auf dem Hin-
tergrund des Konzepts der Sicherheitssignale als Zusammenspiel von Gefahrensignalen
und Sicherheitssignalen, als nicht erfolgreiche Suche nach Sicherheit. Die gescheiterten
Bemühungen um Sicherheit vor den Gefahren, die der Familie, Freunden und einem
selbst drohen, verstärken das exzessive Streben nach Sicherheit. Die generalisierte
Angststörung beruht nach dem Sicherheitssignalkonzept auf dem Fehlen von Sicher-
heitsvorkehrungen oder Sicherheitssignalen oder deren Unzulänglichkeit und auf der
Überschätzung der Wahrscheinlichkeit von Gefahren und deren Auswirkungen. Ein
eingetretener oder befürchteter Verlust von Sicherheit erhöht die Angst und Sorge und
intensiviert die Suche nach Sicherheit. Sicherheitssignale bieten für den Moment und an
dem Ort, wo sich der Betroffene aufhält, eine gewisse Sicherheit.
332 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Die kanadischen Psychologen Michel J. Dugas und Melisa Robichaud präsentieren


in ihrem Buch „Cognitive-Behavioral Treatment for Generalized Anxiety Disorder“ als
Resultat ihrer bisherigen umfassenden Forschungsergebnisse das bislang elaborierteste
kognitive Modell, das auch die Erkenntnisse anderer Forscher (z.B. Borkovec, Wells)
integriert. Es umfasst vier Faktoren, die miteinander in Wechselwirkung stehen:

1. Intoleranz von Unsicherheit. Die Unfähigkeit, Unsicherheit im Sinne eines gewissen


Restrisikos ertragen zu können, stellt als Disposition (trait) und Ergebnis frühkindli-
cher Bindungsstörungen (Verlust des Urvertrauens) das zentrale Merkmal von Men-
schen mit einer generalisierten Angststörung dar, ähnlich wie eine erhöhte körperli-
che Angst-Sensitivität bei Patienten mit einer Panikstörung. Die damit verbundenen
Annahmen und Folgen sind für die Ausprägung der Störung wesentlich bedeutsamer
als die drei anderen Aspekte. Die unzureichende Berücksichtigung des subjektiv un-
erträglichen Restrisikos bei Menschen mit generalisierter Angststörung (nur die Ga-
rantie 100%iger Sicherheit könnte ihre Besorgtheit beseitigen) ist einer der Haupt-
gründe für die mangelnde Effizienz der traditionellen kognitiv-behavioralen Thera-
pie (kognitive Umstrukturierung und Änderung der Wahrscheinlichkeitseinschät-
zung in Verbindung mit einem allgemeinen Angstbewältigungstraining und progres-
siver Muskelentspannung). Daraus ergibt sich die klinisch bedeutsame Konsequenz:
Bei besserer Toleranz von Unsicherheit haben die Betroffenen weniger Bedürfnisse
nach Perfektion und Kontrolle. Es ist nicht umgekehrt, wie oft angenommen wird
(Tenor: Hätten die Betroffenen weniger Perfektions- und Kontrollbedürfnis, wären
sie weniger ängstlich). Aus den bisherigen Forschungsbefunden der Autoren ergibt
sich die Bestätigung für ihre Grundannahmen (wenngleich die weitere Forschung
noch weitere Erkenntnisse erbringen wird): Eine ausgeprägte Unsicherheitsintole-
ranz begünstigt eine generalisierte Angststörung, weil die Betroffenen dazu neigen,
z in unsicheren Situationen Gefahr drohende Einschätzungen vorzunehmen, die zu
erhöhter Unsicherheit und ansteigender Angst bezüglich der Folgen dieser Be-
wertungen führen („Was wäre, wenn doch etwas Schlimmes passieren würde?“),
z in unsicheren Situationen zur Absicherung vor Entscheidungen nach mehr In-
formationen zu suchen (Berücksichtigung aller Eventualitäten und Restrisiken),
was erst recht wieder zu erhöhter Besorgnis und Angst in Bezug auf diese Situa-
tionen führt, und in der Folge davon auch zu schlechteren Leistungen,
z im Zustand großer Angst wenig Zuversicht und Vertrauen in ihre Entscheidun-
gen zu haben („Meine Angst zeigt, dass ich nicht gut genug bin“), sodass ihre
Sorgen über mögliche negative Folgen ihrer Entscheidungen verstärkt werden.

2. Positive Funktion der Sorgen. Das ständige Sich-Sorgen wird zwar nicht von allen,
aber doch von zahleichen Menschen mit einer generalisierten Angststörung als posi-
tiv und wichtig angesehen, wie Wells mit seinem Konzept der Meta-Sorgen aufge-
zeigt hat. Die positive Auswirkung von ständigem Sich-Sorgen lässt sich lerntheore-
tisch erklären nach mit dem Prinzip der positiven Verstärkung (erwünschte Folgen
wie etwa Beruhigung treten ein) und dem Prinzip der negativen Verstärkung (das
ständige Sich-Sorgen hat zu keiner der befürchteten Katastrophen geführt, hat sich
somit subjektiv bewährt und wird daher weiter als Problemlösungsstrategie einge-
setzt, weil negative Konsequenzen ausgeblieben sind). Die Autoren möchten fünf
Typen von positiven Annahmen über Sorgen empirisch als relevant für die Entwick-
lung einer generalisierten Angststörung belegen:
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 333

z Sich-Sorgen ermöglicht eine bessere Bewältigung von Problemen.


z Sich-Sorgen verstärkt die Motivation, Dinge zu erledigen statt hinauszuschieben.
z Sich über etwas im Voraus sorgen vermindert Überraschungen und emotional
negative Reaktionen, sollte eine Katastrophe eintreten, weil diese bereits erwartet
wurden. Es handelt sich dabei um eine Pseudokontrolle („Ich hab’s ja gewusst“).
z Sich-Sorgen ist grundsätzlich eine sinnvolle Strategie, um schlimme Ereignisse
zu verhindern. Es handelt sich dabei um magisches Denken bzw. um eine Den-
ken-Handlungs-Konfusion (Denken und Handeln werden vermischt im Sinne ei-
ner Überschätzung der Auswirkungen des Denkens auf das Handeln).
z Sich-Sorgen zeigt, dass man sozial, verantwortungsbewusst und fürsorglich ist.

3. Negative Problemorientierung. Unabhängig von Problemlösefähigkeit, Unsicher-


heitsintoleranz, Depression, Angststörung und Persönlichkeitsstruktur (Neurotizis-
mus, Pessimismus, geringe Selbstwirksamkeit) besteht laut Studien ein enger Zu-
sammenhang zwischen ständigem Sich-Sorgen und negativer Problemorientierung
(wenngleich die angeführten Faktoren die Tendenz zu ständiger Besorgtheit verstär-
ken können). Menschen mit generalisierter Angststörung wissen zwar theoretisch,
wie man Probleme lösen kann, sind jedoch im konkreten Fall oft nicht dazu in der
Lage, weil sie negative Denkmuster haben. Sie erleben Probleme als bedrohlich, be-
zweifeln trotz vorhandener Kompetenzen ihre Problemlösefähigkeiten und sind pes-
simistisch bezüglich des Ausgangs (d.h. sie befürchten Versagen und Katastrophen).
Viele Betroffene stellen sich zur kurzfristigen Spannungsreduktion lieber einen ne-
gativen als einen unsicheren Ausgang vor. Ein Problemlösetraining ist zwar wichtig,
jedoch nur dann erfolgreich, wenn es auf die persönliche Situation und die typischen
Denkmuster der Patienten Bezug nimmt. Menschen mit generalisierter Angststörung
neigen eher als viele andere Angstpatienten zu einer negativen Problemorientierung,
was das Ausufern ihrer Sorgen auf alle möglichen Bereiche erklärt. Die negative
Problemorientierung erklärt in Kombination mit der Unsicherheitsintoleranz am be-
sten von allen Faktoren das Ausmaß der generalisierten Angststörung, d.h. die Un-
fähigkeit der Betroffenen, aktuelle und möglicherweise bevorstehende persönlich re-
levante und emotional stark bewegende Alltagsprobleme zu bewältigen.

4. Kognitive Vermeidung hält die Störung aufrecht, weil die Betroffenen mit den bela-
stenden Sorgen nicht adäquat umgehen lernen, und erfolgt auf zweierlei Wegen:
z Implizite oder automatische Strategien. Die Vermeidung bedrohlicher kognitiver
und emotionaler Inhalte mithilfe stärker kognitiv-verbal dominierter Strategien
(Grübeln) anstelle von stärker bildhaften und damit stärker Angst machenden
Strategien (Visualisieren) hält die Störung aus lerntheoretischer Sicht über den
Mechanismus der negativen Verstärkung im Sinne von Borkovec aufrecht.
z Explizite oder willentliche Strategien (bewusstes Vermeiden) umfasst vier Arten:
- Unterdrücken der Sorgen. Gedankenunterdrückung („Denke nicht an einen
weißen Bären“) führt nach allgemein bekannten psychologischen Erkenntnis-
sen zum vermehrten Auftreten der Sorgen. Die Strategie der bewussten Ver-
meidung verstärkt letztlich die Auffassung der Betroffenen, dass sie mangels
positiver Erfahrungen eine ängstliche Besorgtheit nicht ertragen können.
- Substitution der Sorgen durch neutrale oder positive Gedanken.
- Ablenkung zur Unterbrechung der Sorgen.
- Vermeidung von Situationen, die zu sorgenvollen Gedanken führen könnten.
334 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Soziale Angst – Ständige Beschäftigung mit sich und den anderen


Kognitiv-behaviorale Modelle der Sozialphobie umfassen folgende Komponenten:
z Biologische Vulnerabilität: Vererbung, Konstitution (Verhaltenshemmung, Schüch-
ternheit), Amygdala-Überaktivität mit erhöhter Arousal, Neurotransmitterstörungen.
z Soziale Faktoren: negative familiäre Erfahrungen (fehlende oder unsichere Bindun-
gen, ungünstige Rollenvorbilder, elterlicher Erziehungsstil), negative Umwelterfah-
rungen (Traumatisierung, soziale Kritik, Ablehnung, Isolierung, Stigmatisierung).
z Psychologische Faktoren: dysfunktionale, schwer korrigierbare Überzeugungen und
Angst machende Denkmuster, Überfixierung auf soziale Angstsituationen und Kör-
perreaktionen, erhöhte Selbstaufmerksamkeit, störende Emotionen (Angst vor Ab-
lehnung, Peinlichkeit, Scham), soziales Vermeidungs- und Rückzugsverhalten.

Negative kognitive Schemata, in der Kindheit erworben, werden im späteren Leben


immer wieder aktiviert und verstärkt. Nach den kognitiv-verhaltenstherapeutischen
Konzepten der Amerikaner Beck und Heimberg und der Engländer Wells und Clark
[102] entstehen Sozialphobien bei Menschen, die sich übermäßig mit sich selbst be-
schäftigen. Aus Angst vor Misserfolg in sozialen Situationen sowie vor daraus resultie-
render sozialer Kritik werden potenzielle Gefahren übermäßig beachtet und dadurch
überbewertet. Die übermäßige Empfindlichkeit gegenüber den eigenen körperlichen
Reaktionen (Hitzegefühl, Erröten, Schwitzen, Herzklopfen, belegte Stimme, Zittern)
verstärkt den Prozess der erhöhten Selbstbeobachtung. Sozialphobiker wünschen sich in
einer kleinen Gruppe die unbedingte soziale Akzeptanz durch jeden Teilnehmer.
Geringes Selbstvertrauen und verzerrte Selbstbewertung führen zu einem phobi-
schen Vermeidungsverhalten, um befürchteter kritischer Beurteilung durch andere zu
entgehen. Vermeidung reduziert kurzfristig die Angst, verstärkt sie jedoch langfristig
wegen fehlender andersartiger Erfahrungen. Durch ihren sozialen Rückzug verhindern
Menschen mit unzureichender sozialer Kompetenz gerade jene Lernerfahrungen, die
ihnen für zukünftige soziale Situationen mehr Selbstsicherheit vermitteln würden.
Sozialphobiker haben auf sich selbst gerichtete „Metakognitionen“, d.h. Selbstbe-
obachtungen (Selbstfokussierung) der eigenen kognitiven Aktivitäten. Sie überwachen
ihre kognitiven, wahrnehmenden, physiologischen und motorischen Prozesse, die wäh-
rend einer sozialen Interaktion ablaufen, werden dadurch sozial jedoch noch distanzier-
ter und verlieren jede Spontaneität, was ihre soziale Ängstlichkeit verstärkt. Die Kon-
zentration auf die eigene Person und deren Wirkung auf andere beeinträchtigt die Zu-
wendung zum Interaktionspartner und dessen Äußerungen, was subjektiv als Konzen-
trationsstörung oder gar als Merkfähigkeitsstörung erlebt wird.
Es entwickelt sich ein Teufelskreis: Die Angst vor sozialen Misserfolgen und kriti-
schen Urteilen führt zu einem verkrampften Bemühen um Fehlervermeidung, Unauffäl-
ligkeit und positiver Selbstdarstellung und infolgedessen zu erhöhter Aufmerksamkeit
auf das eigene Tun, alles richtig zu machen. Daraus resultiert eine Beeinträchtigung des
spontanen Verhaltens. Die Art der Aufmerksamkeitszuwendung auf die Interaktions-
partner („Was sehen die anderen an mir?“) verstärkt den Prozess der Selbstbeobachtung.
Die damit einhergehende Gefahr der Auffälligkeit wird durch „Zusammenreißen“ zu
überspielen versucht. Wenn die soziale Auffälligkeit immer wahrscheinlicher erscheint,
erfolgt ein sozialer Rückzug als Vermeidungsstrategie. Die damit verbundene mangeln-
de Erfahrung und fehlende Trainingsmöglichkeit im Umgang mit anderen Menschen
führt zur Verstärkung der sozialen Unsicherheit und rechtfertigt das Rückzugsverhalten.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 335

Zwei Aspekte halten die Dynamik einer Sozialphobie aufrecht:


z Die Person hat das Ziel, auf andere einen guten Eindruck zu machen.
z Die Person bezweifelt ihre Fähigkeiten, dies zu erreichen.

Nach Beck [103] findet man bei Sozialphobikern oft folgende innere Dialoge:

1. In welchem Ausmaß ist dies ein Test meiner Kompetenz oder meines Ansehens? Wie sehr muß ich
mich mir oder anderen etwas beweisen?
2. Wie ist mein Status im Vergleich zu dem der anderen?
3. Wie wichtig ist es, eine Stärkeposition bezüglich des Status oder ein gutes Ansehen im Umgang mit
sozial Bewertenden zu etablieren?
4. Wie ist die Haltung der Bewertenden? Sind sie akzeptierend und verständnisvoll oder zurückwei-
send? Sind ihre Bewertungen objektiv oder hart und bestrafend?
5. In welchem Ausmaß kann ich auf meine Fähigkeiten zählen, um die Bewertung zu überstehen?
6. Mit welcher Wahrscheinlichkeit werde ich von ablenkenden Ängsten und Hemmungen verunsi-
chert?

Studien haben folgende Erkenntnisse über Sozialphobiker erbracht [104]:


z Sozialphobiker weisen ein Übermaß an negativen selbstbezogenen Gedanken auf
und erwarten negative Bewertungen von anderen.
z Die negativen Gedanken von Sozialphobikern beziehen sich eher auf sich selbst als
auf die Reaktion anderer.
z Sozialphobiker berichten im Vergleich zu Agoraphobikern und normalen Kontroll-
gruppen, dass ihre Eltern Sozialkontakte mit anderen Familien weniger unterstütz-
ten, sie von neuen sozialen Erfahrungen eher abhielten, übermäßigen Wert auf die
Meinung anderer legten und eher Scham als Disziplinierungsmethode einsetzten.
z Sozialphobiker überschätzen im Vergleich zu normalen Kontrollgruppen die Wahr-
scheinlichkeit eines negativen Ereignisses und unterschätzen die Wahrscheinlichkeit
eines positiven Ausgangs.
z Sozialphobiker führen einen negativen Ausgang einer sozialen Situation eher auf
interne Faktoren (auf sich selbst und die eigenen Unzulänglichkeiten) zurück, ein
positives Ergebnis dagegen eher auf externe Faktoren (Glück, Schicksal oder wohl-
wollendes Verhalten anderer). Da auch Depressive ähnlich denken, wurde das
Merkmal Depression kontrolliert, dennoch blieb der erwähnte Sachverhalt bestehen.
z Sozialphobiker erleben in sozialen Situationen und bei öffentlichen Reden eine ver-
stärkte physiologische Erregung mit entsprechenden Symptomen, die möglicherwei-
se für andere sichtbar sind (z.B. Erröten, Schwitzen, Zittern).
z Sozialphobiker überschätzen jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass ihre körperlichen
Symptome von der Umwelt wahrgenommen werden („Sie sehen, was ich spüre“).
z Sozialphobiker beachten bei experimentellen Aufgaben im Labor sozial bedrohliche
Reize in übermäßiger Weise, was zu einer Leistungsbeeinträchtigung führt. Dies er-
klärt auch die Leistungsminderung bei Prüfungsangst.
z Sozialphobiker weisen ein schlechteres Erinnerungsvermögen an den Gesprächs-
inhalt einer Unterhaltung mit einem Versuchsleiter auf als nicht ängstliche Men-
schen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Merkfähigkeitsstörung (Speicher-
störung, „Output-Störung“), sondern um eine angstbedingte Aufmerksamkeitsstö-
rung („Input-Störung“). Bei unzureichender Aufmerksamkeit gegenüber Umweltrei-
zen entsteht sekundär das Gefühl einer Merkfähigkeitsstörung.
z Sozialphobiker haben zu perfektionistische Standards, vermutlich zur Kompensation
der vermeintlichen oder tatsächlichen Unzulänglichkeiten.
336 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Nach dem kognitiven Modell von Clark und Wells [105] haben Sozialphobiker eine
negative kognitive Repräsentation ihres Selbst. Aufgrund negativer Erwartungen kon-
struieren Sozialphobiker verzerrte Vorstellungen oder Bilder von sich selbst, wie die
anderen sie angeblich sehen. Die erwarteten negativen Bewertungen des eigenen Ver-
haltens vonseiten der Umwelt werden verstärkt durch fehlerhafte Informationsverarbei-
tung und ungünstige Verhaltensweisen der Betroffenen. Sozialphobiker erschließen ihre
Wirkung auf andere durch die Beobachtung des eigenen Verhaltens nach dem Motto
„Wenn ich mich gut finde, werden mich auch die anderen gut finden; wenn ich mich
nicht okay finde, werden mich auch die anderen nicht okay finden.“ Sie vernachlässigen
die Rückmeldungen durch externe Reize; sie beobachten zu wenig die Reaktionen der
anderen ihnen gegenüber, um daraus mehr Sicherheit und Vertrauen zu gewinnen, son-
dern gehen zu sehr von der eigenen Beurteilung ihres Sozialverhaltens aus. Sozialpho-
biker weisen drei Arten von Annahmen über sich selbst und ihre soziale Umwelt auf:
1. Übertrieben hohe Maßstäbe für das Sozialverhalten, z.B. „Ich darf niemals meine
Angst zeigen“, „Ich muss immer funktionieren, dann bin ich nicht angreifbar.“
2. Dysfunktionale bzw. negative Überzeugungen zur eigenen Person, z.B. „Ich bin
anders, dumm, langweilig, uninteressant, nicht unterhaltsam, nicht liebenswert.“
3. Falsche Überzeugungen zur sozialen Bewertung bzw. zu den vermeintlichen Folgen
des eigenen Verhaltens oder Erscheinungsbildes, z.B. „Wenn ich jemandem wider-
spreche, wird er mich ablehnen“, „Wenn meine Hände zittern, werden sie mich für
nervenkrank halten“, „Wenn ich wenig sage, werden sie mich für langweilig oder
dumm halten“, „Wenn sie mich näher kennen würden, würden sie mich ablehnen.“

Die negativen Erwartungen bewirken eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit, Selbstbeob-


achtung und Selbstbewertung (einseitige Konzentration auf mögliche Fehler, Versagen,
Blamagen und Peinlichkeiten im Verhalten). Sozialphobiker schließen aufgrund ihrer
Angstgefühle oder körperlichen Erregung oft auf eine negative Verhaltensbewertung
durch andere („Die anderen sehen in meiner Aufregung meine Schwäche“). Die Fehlat-
tribuierung von Angstsymptomen als Beweis für die negative Beurteilung vonseiten der
Umwelt schaukelt den Teufelskreis bis zu situativen Panikattacken auf. Der negative
Eindruck der eigenen Person beruht auf drei Quellen internaler Informationen:
1. Die Betroffenen setzen „Sich-ängstlich-Fühlen“ gleich mit „Ängstlich-Aussehen“.
Das subjektive Gefühl, innerlich ganz zittrig und angespannt zu sein, wird als sicht-
bares Zittern fehlinterpretiert.
2. Spontan auftretende Vorstellungsbilder werden so erlebt, als wären diese bereits
Realität, d.h. die Betroffenen erleben sich bereits so, wie in der eingenommenen Be-
obachterperspektive befürchtet. Die Angst, dumm oder nervös zu wirken, wird
durch die Selbstbeobachtung als bereits gegeben angesehen.
3. Ein diffuser „gefühlter Eindruck“ bestärkt den negativen Eindruck des eigenen
Selbst. Der Eindruck, sich nicht wohl zu fühlen und mit den anderen nicht zurecht-
zukommen, verstärkt die Selbstwahrnehmung, dumm und unfähig zu sein.

Ein derartiges „Sicherheitsverhalten“ ist der Grund, warum oft trotz langer Konfronta-
tion mit sozialen Situationen keine Habituation erfolgt. Die Betroffenen sind überzeugt,
nur durch Vermeidung oder Hilfsmittel einer sozialen Auffälligkeit zu entgehen. Be-
stimmte Sicherheitsverhaltensweisen vermindern in unvermeidbaren Situationen die
Ängste und erwarteten negativen Bewertungen, z.B. soll ein Beta-Blocker oder Alkohol
die innere Anspannung reduzieren oder leichte Kleidung das Schwitzen vermindern.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 337

Das Sicherheitsverhalten, wie es für Sozialphobiker charakteristisch ist,


z besteht häufig in mentalen Prozessen (z.B. Nachdenken, wie man durch bestimmte
Strategien einen guten Eindruck erwecken kann),
z ruft manche Symptome paradoxerweise erst recht hervor (z.B. kann das Vorlesen
eines bis ins kleinste Detail vorbereiteten Textes die Anspannung erhöhen),
z bewirkt eine vermehrte Selbstaufmerksamkeit und Selbstbeobachtung (z.B. bei
wahrgenommener innerer Anspannung noch mehr darauf achten, nicht zu zittern),
z bestätigt nicht selten die Befürchtungen der Betroffenen (z.B. kann man wegen der
ständigen Selbstbeobachtung von anderen als distanziert, überheblich, abwesend und
unkonzentriert wahrgenommen werden) und verstärkt die Erwartungsängste.

Die Fehlattribuierung von Körperempfindungen führt dazu, dass sich Körperempfin-


dungen und kognitive Prozesse gegenseitig verstärken und aufschaukeln, ähnlich wie
bei einer Panikstörung. Die Erwartung zu schwitzen oder zu zittern führt zur vermehrten
Selbstbeobachtung, entsprechende Empfindungen fördern die Vorstellung, dass die
anderen dies bereits wahrnehmen, was die sozialen Ängste bis zur Panik verstärkt.
Die Fokussierung auf negative soziale Erfahrungen zeigt sich nicht nur in negativen
Erwartungen und visualisierten Vorwegnahmen der vermeintlichen Katastrophen be-
reits lange vor den gefürchteten sozialen Situationen, sondern auch in der nachträgli-
chen verzerrten Verarbeitung konkreter Sozialkontakte: Unangenehme Körperempfin-
dungen sowie negative Gedanken und Gefühle in der bereits überstandenen sozialen
Situation werden immer wieder intensiv vergegenwärtigt, sodass trotz positiver Erfah-
rungen und positivem Feedback das insgesamt negative Selbstbild verstärkt wird.
Clark und Ehlers [106] haben auf der Basis des kognitiven Erklärungsmodells sozia-
ler Ängste zehn Hypothesen aufgestellt, die bereits großteils empirisch bestätigt sind:
1. Sozialphobiker interpretieren externe soziale Ereignisse in einer übertrieben negati-
ven Weise.
2. Sozialphobiker zeigen eine selbstfokussierte Aufmerksamkeit, wenn sie in sozialen
Situationen Angst haben.
3. Sozialphobiker zeigen eine reduzierte Verarbeitung von externen sozialen Hinwei-
sen, wenn sie ängstlich sind.
4. Sozialphobiker erzeugen verzerrte, aus der Beobachterperspektive gesehene Bilder,
wie sie in Angst auslösenden sozialen Situationen für andere erscheinen.
5. Sozialphobiker benutzen interne Informationen, die durch selbstfokussierte Auf-
merksamkeit zugänglich gemacht werden, um (falsche) Schlussfolgerungen zu zie-
hen, welchen Eindruck sie auf andere machen.
6. Selbstfokussierte Aufmerksamkeit und Sicherheitsverhalten verhindern die Widerle-
gung negativer Überzeugungen und halten die soziale Phobie aufrecht.
7. Sicherheitsverhaltensweisen und selbstfokussierte Aufmerksamkeit können soziale
Interaktionen dadurch beeinträchtigen, dass Sozialphobiker weniger ansprechend für
andere erscheinen.
8. Die Verarbeitung externer sozialer Hinweisreize ist verzerrt zugunsten der Entdek-
kung und Erinnerung von Hinweisreizen, die als Anzeichen einer Abwertung durch
andere interpretiert werden können.
9. Sozialphobiker zeigen eine negativ verzerrte Informationsverzerrung in Erwartung
Angst auslösender sozialer Situationen.
10. Nach angstbesetzten sozialen Ereignissen nehmen Sozialphobiker einen längeren,
verzerrten Rückblick auf das Ereignis vor.
338 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Spezifische Phobien – Falsche Gefahreneinschätzung


Kognitive Erklärungsmodelle berücksichtigen gemäß biopsychosozialem Krankheits-
verständnis drei Aspekte spezifischer Phobien: Prädispositionen, Auslöser, Verstärker.
Der deutsche Psychologe und ausgewiesene Experte Alfons Hamm legt in seinem Buch
„Spezifische Phobien“ ein integratives biopsychosoziales Störungsmodell zur Erklärung
spezifischer Phobien vor. Drei Faktorenbündel (genetische Disposition zur Furchtreak-
tion angesichts bestimmter evolutionsgeschichtlich relevanter bedrohlicher Reize, be-
stimmte kindliche Erfahrungen von Kontrollverlust bzw. Ohnmacht und verschiedene
direkt erlebte oder beobachtete aversive Lernerfahrungen mit dem gefürchteten Objekt
als traumatische, sensibilisierende Erlebnisse) bewirken ein sensitiviertes subkortikales
Furchtsystem. Als Folge davon kommt es zu einer defensiven Reaktionskaskade, begin-
nend mit Bewegungsstarre und gebannter Orientierung, darauf folgend die Vorbereitung
auf eine Handlung (autonome Aktivierung, Adrenalinausschüttung), danach die Panik
und Flucht bzw. Ohnmacht. Positive Lernerfahrungen mit dem potenziell gefährlichen
Objekt bewirken eine Abnahme der Furchtreaktion durch andere Bewertungen.
Wie bereits bei der Darstellung der Angst als vererbter Reaktion erwähnt, wies der
amerikanische Psychologe Martin Seligman mit seiner Preparedness-Theorie schon
1971 auf biologisch vorbereitetes Lernen bei vielen Phobien hin. Auf dem Hintergrund
der Evolution verständlich, fürchten wir eher Höhen, Tiefen, Dunkelheit, Wasser, Ge-
witter, Naturkatastrophen, Feuer, Blitz und Donner, potenziell gefährliche Tiere (z.B.
giftige Schlangen und Käfer und nicht nur große Raubtiere) und plötzlichen Sauerstoff-
verlust als evolutionsgeschichtlich neuere, nicht über die Vererbung vermittelte potenzi-
elle Gefahrenreize wie Schusswaffen, Strom, radioaktive Strahlung, Industrieabgase,
technische Geräte, Chemieprodukte oder schnelle Fahrzeuge. Gelernte Furchtreaktionen
auf evolutionsgeschichtlich bedeutsame äußere Reize lassen sich daher viel schwerer
verlernen (löschen) als erlernte Furchtreaktionen angesichts anderer Umweltreize.
Nach den Lerntheorien werden spezifische Phobien erlernt durch aversive Lerner-
fahrungen (klassische und operante Konditionierung, Zwei-Faktoren-Theorie nach
Mowrer), Beobachtung ängstlicher Menschen (Modelllernen) und Übermittlung negati-
ver Nachrichten und Informationen (semantisches Lernen). Rund 50% der Menschen
mit einer spezifischen Phobie (z.B. die meisten Hundephobiker) können sich nicht an
direkte aversive Lernerfahrungen mit gefürchteten Objekten oder Situationen erinnern.
Die traditionellen Lerntheorien können nicht erklären, wie Personen ohne Lernvorgänge
eine spezifische Phobie entwickeln können, während zahlreiche Menschen laut einer
umfangreichen australischen Längsschnittstudie im Kontakt mit nachweislich aversiven
Reizen keine spezifische Phobie entwickelt haben (nach Stürzen von Treppen, Leitern
und Bäumen entstand keine Höhenphobie, ähnlich wie nach negativen Erfahrungen mit
Wasser keine Phobie auftrat, während andere Menschen ohne aversive Erfahrungen
Höhenangst hatten). Dies weist darauf hin, dass spezifische Phobien nicht einfach durch
negative Erfahrungen erworben werden, vielmehr haben Menschen mit spezifischen
Phobien von Kindheit an nicht ausreichend gelernt, mit der angeborenen Furchtdisposi-
tion umzugehen und ihre Phobie durch positive Lernerfahrungen zu überwinden. Viele
weitaus gefährlichere Situationen (Autofahren, Gebrauch technischer Geräte) werden
aufgrund positiver Erfahrungen von Kindheit an nicht gefürchtet. Dies zeigt den Effekt
von Einfluss, Kontrolle und Selbstwirksamkeit. Phobische Erwartungsängste sind umso
geringer, je mehr Bewältigungserfahrungen und kognitive Neubewertungen bislang
gefürchteter Situationen die Betroffenen gemacht haben.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 339

Furchtreaktionen werden von evolutionsgeschichtlich alten Gehirnstrukturen gesteu-


ert, wie bereits ausführlich dargestellt wurde: Angeborene und gelernte Gefahrensignale
aktivieren das biologisch gesteuerte Furchtsystem (spezielle neuronale Schaltkreise auf
der Basis von Amygdala- und Hippocampus-Reaktionen), das eine defensive Reaktion
(Kampf, Flucht, Erstarrung oder Ohnmacht) bewirkt. Experimente zur subliminaren
Wahrnehmung belegen, dass angesichts bestimmter, nicht bewusst wahrgenommener
phobischer Reize (z.B. Spinnen, Schlangen) automatisch bestimmte Körperreaktionen
auftreten (z.B. Schwitzen, Herzklopfen). Experimente haben aber auch gezeigt, dass
bereits bei der Vorankündigung eines bestimmten aversiven Reizes eine körperliche
Reaktion auftritt – jedoch nur bei Menschen mit spezifischen Phobien, während Perso-
nen ohne derartige Furcht keine körperlichen Symptome als Ausdruck subjektiver Be-
drohung bekommen. Dies bedeutet: Bereits die intensive bildhafte Vergegenwärtigung
des phobischen Reizes in Verbindung mit der Einschätzung als bedrohlich löst die kör-
perliche Furchtreaktion aus und nicht erst der Anblick des gefürchteten Objekts. Insek-
tenphobiker und Menschen mit anderen spezifischen Phobien reagieren demnach nicht
auf die Wirklichkeit, sondern auf ihre inneren Bilder von dieser Wirklichkeit, was
Hoffmann und Hofmann auch bei der Verhaltenstherapie berücksichtigen.
Aus der Sicht der kognitiven Verhaltenstherapie folgt daraus, dass Menschen mit der
Fähigkeit zu lebendig-bildhafter Vergegenwärtigung von aversiven Reizen bei gleich-
zeitiger Einschätzung der phobischen Reize als bedrohlich mithilfe einer mentalen Kon-
frontationstherapie (Exposition in sensu) die aufbauende Erfahrung von Einfluss und
Kontrolle in Bezug auf ihre kognitiven, emotionalen und körperlichen Reaktionen ma-
chen und damit eine deutliche Steigerung ihres Selbstwirksamkeitserlebens erreichen
können. Dies gelingt umso besser, je mehr die Betroffenen bereit sind, ohne Entspan-
nung gefürchtete Körperreaktionen zuzulassen. Es stellt sich die paradoxe Erfahrung
ein: „Je mehr ich meine Gedanken, Gefühle und körperlichen Reaktionen ohne Dage-
gen-Ankämpfen zulasse, desto schneller bekomme ich meine Phobie unter Kontrolle.“
Bei der Konfrontationstherapie in der Realität (Exposition in vivo) ist es wichtig,
dass die Betroffenen die Bedeutung von bildhafter Vorstellung und Bedrohungsein-
schätzung erkennen, indem sie lernen, zu beobachten, was sie mit ihren Sinnesorganen
wirklich wahrnehmen („Was genau sehe, höre, spüre, rieche ich?“). Tierphobiker sehen
gefürchtete Tiere nicht so, wie sie wirklich sind, sondern entsprechend ihren Vorstel-
lungen, und stellen einen Zusammenhang zwischen ihrer Person und den gefürchteten
Tieren hier („Gleich springt diese Spinne auf meine Haut und ich ekle mich“, „Gleich
beißt mich dieser Hund und verletzt mich schwer“). Dies gilt auch von Menschen mit
anderen spezifischen Phobien („Ich sehe diesen gefährlichen Blitz, gleich wird er mich
treffen und töten“, „Ich sehe von diesem Balkon bzw. Turm auf den Boden und werde
gleich hinunterfallen“, „Ich sehe diese Spritze, gleich werde ich ohnmächtig umfallen“).
Die Wirksamkeit von Konfrontationstherapien bei spezifischen Phobien beruht so-
mit nicht einfach auf der Gewöhnung (Habituation) an die bislang gefürchteten Reize
und die ebenfalls gefürchteten körperlichen Reaktionen, sondern auf einer Änderung der
Wahrnehmung der gefürchteten Objekte und Situationen sowie auf einer Änderung der
Bedrohungseinschätzung und der daraus resultierenden vermuteten Beziehung zwischen
Person und gefürchteten Objekten bzw. Situationen.
Bei der Restkategorie der spezifischen Phobien („anderer Typus“) sind andere Kogni-
tionen bedeutsam: sozialphobische Denkmuster (Furcht vor Erbrechen und Umfallen) und
hypochondrische Befürchtungen (Furcht vor Verschlucken und Ersticken). Reine Kon-
frontationstherapien ohne Änderung der Denkmuster sind dabei unzureichend.
340 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Zwangsstörung – Die Angst vor schuldhaften Fehlleistungen


Die französische Psychiater Janet beschrieb die Zwangsstörung 1907 als die „Krankheit
des Zweifelns“. Vic Meyer [107], früher Psychiater in London, verwies bereits 1966
anlässlich der Vorstellung der Reizkonfrontationstherapie bei Zwängen auf die Korrek-
turmöglichkeit der ständigen Erwartung unangenehmer Konsequenzen durch das erlebte
Ausbleiben der befürchteten Konsequenzen nach einer „Reaktionsverhinderung“ (Un-
terlassen der Zwangshandlungen und Zwangsgedanken). Die Realitätstestung des
Wahrheitsgehalts der Befürchtungen stellt in diesem Sinne eine kognitive Intervention
dar. Die Bedeutung von Kognitionen für Verhaltensänderungen wurde bereits damals
erkannt, jedoch noch nicht systematisch ausgearbeitet. Es wurde vielmehr angenommen,
dass ein Realitätstest gleichsam automatisch auch zu einer Änderung der subjektiven
Überzeugungen führen würde, was eine unzutreffende Auffassung darstellt [108]:

„Auch wenn man dieser Argumentation folgt, erweist sie sich für Konsequenzen, die in ferner Zukunft
befürchtet werden, und für Rituale mit Symbolcharakter für wenig stichhaltig. Subjektive Einschätzun-
gen, Bewertungen und Vermutungen haben für die Aufrechterhaltung solcher Zwänge stärkeres Ge-
wicht als die Erfahrung, daß auf die Unterlassung keine unmittelbaren Folgen eintreten. Eine Korrektur
längerfristiger Erwartungen geht damit nicht notwendig einher. Dem entspricht ein reduzierter Behand-
lungseffekt durch Reaktionsverhinderung.“

Grundsätzlich besteht jeder Zwang aus zwei Komponenten:


1. Ein bestimmtes Verhalten, Denken oder Fühlen, das negativ bewertet wird (be-
stimmte Situationen, Personen, Objekte oder Gedanken sind unangenehm, peinlich,
ekelig, belastend, gefährlich). Dies umfasst den Angstaspekt von Zwangsstörungen.
2. Ein verhaltensbezogenes und/oder kognitives (Zwangs-)Ritual, mit dem das negativ
erlebte Verhalten, Denken oder Fühlen auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu
bewältigen bzw. zu neutralisieren versucht wird (Rituale, Vermeidung, Sicherheits-
verhalten). Dies nennt man den Abwehraspekt von Zwangsstörungen.

Die Dynamik einer Zwangsstörung besteht darin, dass die unwillkürlichen, aufdringli-
chen („intrusiven“) Gedanken, Vorstellungen und Impulse, die steigende Angst und
Unruhe verursachen, durch willkürliche verhaltensbezogene und kognitive Zwangsritua-
le zu neutralisieren versucht werden mit dem Ziel, Angst, Unruhe und mögliches Un-
glück zu vermindern bzw. zu verhindern. Zwänge folgen einem vierstufigen Ablauf-
schema, wie dies Salkovskis und Reinecker anschaulich aufgezeigt haben [109]:
1. Belastender, aufdringlicher Gedanke/Reiz: „Ich könnte ein Kind verletzen“, „Das ist
schmutzig“, „Einem Angehörigen könnte etwas passieren.“
2. Bewertung: „Dies ist schlimm“, „Dies ist gefährlich“, „Ich darf nicht so denken“,
„Ich bin verantwortlich, dass nichts passiert“, „Ich bin schuldig, wenn etwas pas-
siert.“ Die Bewertung macht aus dem Gedanken oder Gefühl erst ein richtiges Pro-
blem. Die Betroffenen fühlen sich dafür verantwortlich, dass etwas angeblich Ge-
fährliches von ihnen verhindert werden muss bzw. dass niemand durch sie zu Scha-
den kommen darf. Sie sind ständig darum bemüht, potenzielle Schuld zu vermeiden.
Ohne den Verantwortungs- und Schuldaspekt sind Zwänge nicht zu verstehen.
3. Physiologische Erregung und Unbehagen (Arousal): körperliche Unruhe, Erregung,
Angstzustände, Kontrollverlustangst, Schuldgefühle usw.
4. Neutralisieren: Beseitigen der „gefährlichen“ Sachen, Abwehr des Gedankens durch
ein Ritual (Zwangshandlung, kognitives Ritual). Neutralisieren beruhigt kurzfristig.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 341

Am Beginn eines Zwangs stehen aufdringliche Gedanken, die als gefährlich oder mora-
lisch verwerflich bewertet werden. Dies führt zu Erregung und Unruhe, die man durch
verschiedene Formen der Entschärfung zu reduzieren versucht. Wenn möglich, wird die
zwangsauslösende Situation überhaupt gemieden. Wenn dies unmöglich ist, erfolgt ein
Ritual zur Verhinderung eines vermeintlichen Schadens (z.B. Waschen) bzw. zur Wie-
dergutmachung oder Neutralisierung eines angeblich bereits eingetretenen Schadens
oder Fehlers, für den sich die Betroffenen die Schuld geben. Rituale schaffen Sicherheit.
Zwangskranke tun alles, um nicht schuldig zu sein und niemandem zu schaden. Bei
subjektiv und objektiv unzulänglichen Einflussmöglichkeiten möchten sie eine imaginä-
re Katastrophe um jeden Preis verhindern, da sie sonst daran schuldig wären.
Das Neutralisieren des Gedankens, das Beseitigen eines „gefährlichen“ Objekts und
das Vermeiden einer gefürchteten Situation kann nie vollständig gelingen. Es kommt
daher im Sinne einer Rückkoppelung zu erneuter Erregung und Unruhe, zu erneutem
Auftreten des auslösenden Gedankens, zu intensivierten kognitiven oder verhaltensbe-
zogenen Ritualen. Je stärker die Zwangsgedanken und Zwangsimpulse unterdrückt
werden, desto stärker drängen sie sich auf. Dieses Faktum hat der amerikanische Psy-
chologe Wegner in seinem Buch „Die Spirale im Kopf. Von der Hartnäckigkeit uner-
wünschter Gedanken – Die Psychologie der mentalen Kontrolle“ deutlich aufgezeigt.
Foa und Wilson [110] beschreiben einen sechsstufigen Verlauf von Zwängen:
1. Auslösendes Ereignis. Bei Zwangshandlungen gibt es stets ein auslösendes Ereignis
(vermeintliche Verunreinigung, fehlerhafte Kontrolle, unbefriedigende Ordnung),
bei Zwangsgedanken fehlt meist ein auslösendes Ereignis. Situationen und Ereignis-
se, die großes Unbehagen oder den Drang zu einem Zwangsverhalten auslösen, wer-
den zu vermeiden versucht. Wenn dies nicht möglich ist, dienen Zwangsrituale der
Abwehr befürchteter Konsequenzen bzw. der Wiedergutmachung von vermeintlich
eingetretenem Schaden.
2. Einsetzen von Zwangsgedanken. Es treten wiederkehrende, negative Gedanken,
Bilder oder Impulse auf (z.B. „Durch meine Verunreinigung gefährde ich meine
Angehörigen“, „Ich könnte mein Kind töten“, „Habe ich den Ofen abgedreht?“).
3. Entstehung von Befürchtungen und Ängsten. Es werden bestimmte Konsequenzen
gefürchtet, wenn die vermeintlichen Gefahren nicht vermieden bzw. durch Zwangs-
rituale nicht bewältigt werden können („Wenn ich jetzt nicht XY tue oder denke,
muss meine Mutter sterben“, „Wenn ich mein Kind töte, komme ich in das Gefäng-
nis“, „Wenn der Ofen nicht abgedreht ist, wird unser Haus abbrennen“). Die
Zwangsgedanken werden als sehr quälend und unangenehm erlebt. Sie bewirken
Angst, Unsicherheit, Scham, Ekel und vegetative Symptome.
4. Drang zum Zwangsverhalten. Der seelische und körperliche Druck bewirkt einen
starken Drang zur Ausführung eines Zwangsrituals.
5. Ausführung des Zwangsrituals. Die Zwangsgedanken werden durch verhaltensbezo-
gene oder kognitive Rituale zu bewältigen versucht.
6. Erleichterung und Selbstkritik. Die Ausführung des Zwangsrituals führt zwar einer-
seits zu einer kurzfristigen Reduktion des Unbehagens, verstärkt jedoch andererseits
auch die Selbstkritik über die Ausführung der scheinbar sinnlosen Rituale.

Die Zusammenhänge zwischen äußeren Auslösern (Objekten und Situationen), inneren


Auslösern (Gedanken, Vorstellungen und Impulsen), befürchteten Konsequenzen ohne
Vermeidung bzw. ohne Zwangsritual einerseits und den kognitiven sowie verhaltensbe-
zogenen Zwangsritualen andererseits werden in Tab. 7 veranschaulicht.
342 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Tab. 7: Abläufe bei verschiedenen Zwangsstörungen [111]

Äußere Auslöser: Innere Auslöser: Befürchtete Konsequen- Häufige Zwangsrituale


Situationen, Ereignisse, Gedanken, Bilder, zen ohne Vermeidung
Objekte, Personen Impulse bzw. ohne Ritual

Wasch- und Putzzwänge

Alles, was „Keime“ Ich könnte mich mit Andere werden krank, Desinfizieren der Hän-
enthält (z.B. Abfall, etwas angesteckt haben. wenn ich meine Hände de und aller berührten
öffentliche Toiletten). nicht desinfiziere. Objekte.
Alles, was verseucht Ich bin durch Bazillen Andere könnten ster- Vermehrtes Händewa-
bzw. infiziert sein verseucht. ben, wenn ich ihnen die schen, Duschen, Baden,
könnte (z.B. Objekte, Das Küchenmesser Hand gebe. Die Kinder Wechseln und Waschen
Menschen, Nahrungs- könnte infiziert sein. könnten krank werden, der Kleidung. Messer
mittel). wenn ich Brot ab- mehrfach sterilisieren
schneide. oder wegwerfen.
Alles, was „schmutzig“ Weil ich das jetzt Mit meinem Schmutz Häufiges Waschen der
ist (z.B. Kot, Urin, angegriffen habe, bin verunreinige ich die Hände mit Seife und
Menstruationsblut, ich verunreinigt. ganze Wohnung, wenn Putzen der berührten
Schweiß, Fußboden). ich mich nicht wasche. Wohnungsteile.
Alles, was gesundheits- Die ganze Wohnung Familienmitglieder Übermäßiges Putzen
schädlich sein könnte könnte durch dieses könnten sterben, wenn der Wohnung, um
(z.B. Chemikalien, Putzmittel verseucht die Schadstoffe nicht „gefährliche“ Rück-
Asbest). worden sein. beseitigt werden. stände zu beseitigen.

Kontrollzwänge

Begangene Fehler (z.B. Ich könnte mich beim Der Arbeitgeber, die Mehrfaches Kontrollie-
falschen Geldbetrag Zahleneingeben bzw. Kundschaften usw. ren und Durchlesen von
gebucht, falsches Wort Schreiben geirrt haben. könnten ohne Kontrolle Rechnungen und
geschrieben). zu Schaden kommen. Schriftstücken.
Verlassen des Hauses Habe ich beim Fortge- Ohne (neuerliche) Ständiges Überprüfen
ohne Kontrolle des hen den Ofen, den Kontrolle könnte die des Ofens und des
Ofens, des Wasser- Wasserhahn, das Licht Wohnung abbrennen Wasserhahns durch
hahns, der Lichtschal- wirklich abgedreht? bzw. überschwemmt Rückkehr in die Woh-
ter. werden. nung.
Schlafengehen ohne Habe ich die Türen und Wenn Türen und Fen- Wiederholtes Aufste-
Kontrolle, ob die Türen Fenster wirklich fest ster nicht fest ver- hen, um die Fenster und
und Fenster geschlos- verschlossen? schlossen sind, könnten Türen zu kontrollieren.
sen sind. Einbrecher kommen.
Risiken im Straßenver- Ich könnte mit dem Wenn ich nicht zurück- Mehrfaches Überprüfen
kehr (z.B. einen Rad- Auto einen Radfahrer fahre, werde ich wegen der Fahrstrecke und des
fahrer oder Fußgänger bzw. Fußgänger ange- Fahrerflucht angeklagt. Straßenrands auf Indi-
anfahren). fahren haben. zien. Spitäler anrufen.
Beim Kochen Unsi- Ist das (eben aufgetau- Wenn das Fleisch Ständige Fragen an den
cherheit über die Quali- te) Fleisch nicht schon verdorben ist, könnte Gatten, ob das Fleisch
tät der Nahrungsmittel zu lange in der Küche ich meine Kinder nicht schon verdorben
(z.B. angeblich verdor- gelegen und verdorben? vergiften. sein könnte, sicher-
benes Fleisch). heitshalber Wegwerfen
des Fleisches.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 343

Ordnungszwänge

Handlungen nach Ich muss die Wohnung Wenn ich nicht alles Handlungen so oft
einem bestimmten nach einem bestimmten genau nach Plan mache, „richtig“ wiederholen,
Muster ausführen. Plan reinigen, Gegen- wird ein Unglück bis sie gefühlsmäßig
stände in einer ganz geschehen bzw. einem stimmen.
bestimmten Weise Angehörigen etwas Wiederholtes Zurecht-
anordnen usw. Im zustoßen, und ich rücken von Gegenstän-
Moment passt es nicht. werde schuld sein. den.
Dinge auf den richtigen Es stört mich, wenn Ich kann sonst nicht Dinge ständig hin und
Platz legen. nicht alles richtig lernen und falle bei der her bewegen.
daliegt. Prüfung durch.

Zwangsimpulse

Aggressive Impulse Ich könnte mein Kind Ich könnte mein Kind Nicht mit dem Kind
(z.B. ein Kind verletzen verletzen oder töten, mit dem Messer töten, allein sein. Messer
oder in einer Kurz- und das ist schlimm. ich komme dann in das versperren oder nur in
schlusshandlung töten, Gefängnis und darf nie Anwesenheit des
jemanden überfahren). mehr nach Hause. Gatten verwenden.
Sexuelle Impulse Ich werde gleich etwas Wenn ich sexuell so Sozialkontakte vermei-
(übermäßige Beschäfti- Obszönes herausschrei- unbeherrscht bin, den, versichernde Fra-
gung mit den Ge- en, was pervers ist. werden mich alle für gen, zusammenreißen.
schlechtsorganen, Ich werde jemanden bei unmoralisch halten und Nicht mit den poten-
befürchtetes triebhaftes, den Geschlechtsorga- verachten, sodass mein ziellen Opfern allein
perverses oder sonst nen berühren. Ruf für alle Zeiten sein, krampfhaftes
inakzeptables sexuelles Ich werde jemanden dahin ist. Vermeiden dieses
Verhalten). vergewaltigen. Gedankenganges.
Blasphemische Impulse So ein Gott kann mir Wenn ich nicht Buße Häufige Beichte und
(religiöse Zweifel). gestohlen bleiben, der tue, werde ich in die Stoßgebete, Auferlegen
mir nicht hilft. Hölle kommen. harter Bußen.

Zwangsgedanken

Gedanken an Fehler, Ich bin ein Versager. Wenn ich jetzt nichts Wiederholen von Gebe-
Gefahren und Unglück. Es wird ein Unglück tue, wird etwas ten, Worten, Zahlen.
geschehen. Jemand Schreckliches passie-
könnte sterben. ren, und ich bin schuld.

Zwangsstörungen stellen im Wesentlichen kognitive Störungen dar, die durch das Zwei-
Faktoren-Modell nicht ausreichend erklärt werden können. Dieses Konzept ist ein Er-
klärungsmodell für Handlungen, nicht jedoch für Gedanken. Bei Zwangsstörungen wird
das Verhalten nicht bloß durch einschneidende Lernerfahrungen wie etwa einen Fehler
mit erheblichen Folgen bestimmt, sondern vor allem durch typische Denkmuster in
Bezug auf spezifische Themen. Zwangsstörungen drehen sich meist um die Themen
Verantwortung, Schuld, Zweifel und Unsicherheit, nicht akzeptierbare sexuelle Hand-
lungen, abgelehnte aggressive Impulse, religiös motivierte Gewissensbisse, Befürchtung
negativer Konsequenzen bzw. Katastrophen. Diese können therapeutisch nicht nach
dem lerntheoretischen Paradigma der Habituation überwunden werden.
Das gegenwärtig dominierende kognitiv-behaviorale Erklärungsmodell von Zwangs-
störungen, das kognitive und lerntheoretische Konzepte miteinander verbindet, wurde
von Salkovskis in England in den 1980er- und 1990er-Jahren entwickelt und von Rein-
ecker und Lakatos im deutschen Sprachraum adaptiert [112].
344 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Eine zentrale Annahme ist die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Gedanken:
1. Sich aufdrängende Gedanken (Intrusionen). Bestimmte Gedanken werden als sich
aufdrängend, irrational und ich-dyston (ich-fremd) empfunden. Derartige gelegent-
lich und unwillkürlich auftretende aufdringliche Gedanken sind normal und kom-
men nach einer englischen Untersuchung bei 95% der Menschen vor, z.B. jemanden
beim Autofahren verletzen oder gar überfahren, Krankheitsängste bezüglich Famili-
enangehöriger, aggressive oder sexuelle Fantasien, die dem persönlichen Wertesy-
stem widersprechen, jedoch nicht ausgelebt werden. Solche Gedanken werden von
anderen Menschen, die sich diesbezüglich nicht schämen oder verantwortlich füh-
len, nicht so wichtig genommen wie von Zwangspatienten.
2. Automatische Gedanken. Diese Gedanken werden als relativ autonom, idiosynkra-
tisch, ich-synton und der Vernunft zugänglich erlebt. Automatische Gedanken bein-
halten die Auffassung der Betroffenen über ihre persönliche Verantwortung und im
Falle eines möglichen Versagens über ihre Schuld und begründen das Zwangsver-
halten (z.B. Kontroll- oder Reinigungszwänge), ohne deren Ausübung man sich an
etwas schuldig fühlen könnte. Automatische Gedanken sind die Reaktion auf die
sich aufdrängenden Gedanken und sollen diese neutralisieren. Als Folge der Neutra-
lisierung werden die Zwangsgedanken hartnäckiger und häufiger, wodurch Angst
entsteht, die wiederum durch neuerliche Zwänge neutralisiert werden muss.

Ähnlich wie bei Panikattacken, wo ebenfalls nicht die Symptome an sich, sondern erst
deren Bewertung als gefährlich den Teufelskreis der Angst aufschaukelt, liegt bei
Zwangsstörungen das Grundproblem in der Art und Weise, wie die sich aufdrängenden
Gedanken bewertet werden. Intrusionen hängen mit Kognitionen zusammen:
1. Es besteht das Risiko einer Gefahr für die eigene Person oder andere Menschen.
2. Es besteht ein Verantwortungsgefühl bezüglich Gefahren und deren Verhinderung.

Die Bewertung der sich aufdrängenden Gedanken als negativ und bedrohlich führt in
der Folge zu großer Angst und Unruhe, sodass zahlreiche psychovegetative Symptome
und später oft auch Depressionen auftreten. Durch die Bewertung als schlimm und ver-
werflich erhalten diese Gedanken eine besondere affektive Bedeutung und bewusste
Beachtung, verglichen mit anderen Überlegungen, die nicht aus dem Strom der Gedan-
ken als derart gefährlich hervorgehoben werden. Im Gegensatz zur tatsächlichen Ab-
sicht kommt es zur Fixierung auf die unerwünschten Gedanken, sodass diese im Mittel-
punkt der Aufmerksamkeit bleiben und viel Energie zur Verdrängung erfordern.
Die Aufmerksamkeitsfokussierung auf die Intrusionen und ihre Auslöser in der
Umwelt sowie die ständige Beschäftigung mit den aufdringlichen Gedanken gehen mit
Verhaltensweisen einher, die als „Neutralisieren“ bekannt sind. Dabei versuchen
Zwangspatienten auf der kognitiven und Verhaltensebene Rituale zu entwickeln, deren
Funktion die Verminderung oder Vermeidung von Gefahr, Verantwortlichkeit und mög-
licher Schuld ist. Neutralisieren verringert zwar durch die Druckreduktion kurzfristig
die Gefühle der Angst, Unsicherheit, Unruhe und wahrgenommenen Verantwortlichkeit,
verstärkt diese jedoch langfristig. Die befürchteten negativen Konsequenzen werden
auch nicht widerlegt durch andere Erfahrungen. Es erfolgt eine zunehmende Einengung
des ganzen Lebens auf den Bereich der zwanghaften Gedanken und Verhaltensweisen.
Dieser Stress verstärkt jenen psychosozialen Stress, der zur Ausbildung der Zwänge
geführt hat. Zwänge sind oft misslungene Anpassungsprozesse an die Anforderungen
und Belastungen im Leben, die zu Angst, Unruhe und Bedrohung geführt haben.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 345

Menschen ohne Zwänge können sich aufdrängende Gedanken und Vorstellungen


übergehen und ohne Neutralisierung tolerieren, sodass diese von allein aus dem Mittel-
punkt der Aufmerksamkeit treten, was Zwangspatienten aufgrund der Bedrohlichkeit
der Inhalte und ihres Verantwortungsgefühls nicht gelingt. Zwangspatienten müssen die
ihrem Wertesystem widersprechenden Gedanken, Fantasien und Impulse als gegeben
annehmen und aushalten lernen. Ihre bisherigen Bewältigungsversuche (Unterdrückung,
Vermeidung, Gegenrituale) haben das Ausufern bis zur Zwangsstörung verstärkt.
Zwangskranke überschätzen im Vergleich zu Gesunden die Wahrscheinlichkeit von
Gefahren und haben bei alltäglichen Verhaltensweisen ständig den Eindruck, ein Risiko
einzugehen. Zwangskranke überschätzen neben der Wahrscheinlichkeit einer Gefahr
auch das Ausmaß ihrer persönlichen Verantwortlichkeit für eine befürchtete Katastro-
phe. Zwänge stellen den Versuch dar, alles zu tun, um nicht schuldig oder depressiv zu
werden, weil man drohendes Unheil nicht abwenden konnte. Zwangspatienten fühlen
sich im Vergleich zu anderen überverantwortlich für die Abwehr möglicher Gefahren.
Fünf Arten von dysfunktionalen Kognitionen, die im Rahmen einer kognitiven Ver-
haltenstherapie modifiziert werden, sind typisch für Zwangspatienten:
1. Überschätzung der Bedeutung der Zwangsgedanken („Wenn ich schlechte Gedan-
ken habe, bin ich ein schlechter Mensch“, „Was ich denke, werde ich auch tun“).
Zwangskranke befürchten, dass die sich aufdrängenden Gedanken ihre tatsächlichen
Gedanken und Wünsche widerspiegeln könnten, sonst hätten sie diese Gedanken ja
nicht. Die Intrusionen werden mit einer entsprechenden Handlungsbereitschaft ver-
wechselt. Die unberechtigte Gleichsetzung von Denken und Handeln („Gedanken-
Handlungs-Konfusion“) führt dazu, dass alle unangenehmen Gedanken kontrolliert
und unterdrückt werden müssen, damit sie keinen Schaden anrichten können.
2. Überschätzung der Wahrscheinlichkeit von schweren Folgen eines Ereignisses
(„Wenn ich die Kaffeemaschine nicht abschalte, wird die Wohnung abbrennen“).
Zwangspatienten gehen davon aus, dass sie für die Folgen bestimmter Ereignisse be-
reits verantwortlich sind, nur weil sie diese vermeintlich vorhersehen können, auch
wenn sie erkennen, dass andere Menschen dieselbe Bedrohung ebenfalls nicht
grundsätzlich ausschließen können, sich aber deswegen nicht dafür verantwortlich
fühlen. Die Betroffenen leiten aus ihren Befürchtungen die Verpflichtung ab, ent-
sprechende Vorbeugungsmaßnahmen unternehmen zu müssen.
3. Überschätzung der eigenen Verantwortung für ein Ereignis oder einen Gedanken
(„Ich bin schuld am möglichen Tod meiner Mutter“, „Ich bin für jeden meiner Ge-
danken verantwortlich“). Zwangskranke glauben, dass es in ihrer Macht liegt, sub-
jektiv bedeutsame negative Konsequenzen zu verursachen oder zu verhindern. Sie
fühlen sich für ihre Gedanken in gleicher Weise schuldig, wie wenn sie die entspre-
chende Handlung bereits gesetzt hätten, während sich andere Menschen eher nur für
das verantwortlich und schuldig fühlen, was sie wirklich getan haben. Wenn man
tatsächlich sich selbst oder anderen einen Schaden zufügen könnte, muss man daher
sofort alles nur Mögliche tun, um dies zu verhindern.
4. Bedürfnis nach Perfektion („Wenn ich etwas nicht perfekt kann, mache ich es lieber
überhaupt nicht, damit es nicht falsch sein kann“). Jede Unsicherheit und jedes mi-
nimale Restrisiko wird durch Perfektion zu bewältigen versucht – oder man weicht
der Situation völlig aus, um nicht schuldig werden zu können.
5. Falsches Einschätzen der Konsequenzen der Angst in dem Sinn, dass die durch die
Gedanken verursachte Angst nicht beherrschbar sein könnte („Wenn ich meine Ag-
gressionsimpulse nicht unterdrücken kann, ist jemand durch mich gefährdet“).
346 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Wenn die durchgeführten Zwangsrituale keine ausreichende Sicherheit geben, werden


Vertrauenspersonen (Familienangehörige, Ärzte, Therapeuten) ständig gefragt, ob wirk-
lich kein Unglück passieren kann. Zwanghaftes Absichern durch Fragen (Rückversiche-
rung) zeigt das Ausmaß an, in dem das Vertrauen in die eigene Person verloren gegan-
gen ist, sodass Kontrollen vonseiten anderer erforderlich werden. Wenn die Mitmen-
schen gut gemeint beruhigende Antworten abgeben, verstärken sie die Zwangsstörung,
weil die Betroffenen dadurch nicht lernen, ihren eigenen Kontrollen zu vertrauen. Schon
aus diesem Grund ist bei der Therapie die Einbeziehung der Angehörigen sehr wichtig.
Menschen mit Zwangsstörungen haben vor der Ausführung der Zwangsrituale keine
klar überprüfbaren Kriterien, anhand derer sie hinterher erkennen können, ob sie das
entsprechende Verhalten (z.B. Händewaschen) ausreichend ausgeführt haben. Es be-
steht nur ein nicht näher bestimmbares Gefühl, dass es jetzt passt oder nicht. Die Betrof-
fenen benötigen klare, von Gefühlen unabhängige Beurteilungsmaßstäbe, wenn sie von
starken Emotionen und Unruhezuständen zu neuerlichen Ritualen gedrängt werden.
Zwangspatienten haben oft ein permanentes Gefühl der „Unvollständigkeit“. Alles,
was man angeht, ist nicht fertig, nicht abgeschlossen, sodass man sich von den jeweili-
gen Orten und Objekten der Kontrolle nicht oder nur schwer trennen kann. Die größte
Unruhe tritt gerade dann auf, wenn man das Haus verlässt, um in die Arbeit oder in den
Supermarkt zu gehen bzw. in den Urlaub zu fahren. Das häufige Unvollständigkeitsge-
fühl verstärkt das ständig vorhandene Bedürfnis, alles unter Kontrolle zu haben.
Nach gedächtnispsychologischen Erklärungsmodellen gehen zumindest Kontroll-
zwänge teilweise mit Gedächtnisproblemen einher. Bei Kontrollzwängen fehlt oft die
subjektive Gewissheit, dass bestimmte Aufgaben ausreichend erledigt sind, sodass ein
Gefühl der Unvollständigkeit entsteht. Die Betroffenen sagen z.B.: „Ich war irgendwie
nicht ganz da, als ich den Ofen, den Wasserhahn, die Tür kontrolliert habe, sodass ich
alles nochmals kontrollieren muss“ oder sie fragen sich oft: „Habe ich die Tür wirklich
abgesperrt oder nur daran gedacht, dass ich es tun soll?“ Menschen mit Kontrollzwän-
gen fällt es oft schwer, in der Erinnerung zwischen tatsächlich ausgeführten und nur
vorgestellten Handlungen zu unterscheiden. Die neuerliche Kontrolle stellt dann den
Versuch dar, der unbefriedigend erlebten Erinnerung einen „persönlichen Stempel“
aufzudrücken. Rückmeldungen aus dem motorischen Vollzug der Handlung können nur
unzureichend genutzt werden. Die Betroffenen können sich nicht oder nur unzureichend
auf ihr Körpergefühl und die spezifischen Bewegungserfahrungen bei der Durchführung
von Kontrollvorgängen verlassen (sie rütteln z.B. an den Fenstern, ob sie wirklich ge-
schlossen sind). Es fehlt oft die organische Verknüpfung der Handlung mit der eigenen
Person. Es gibt neurobiologische Hypothesen, warum dies so sein könnte.
Das Zwangsverhalten endet immer häufiger erst mit der körperlich-seelischen Er-
schöpfung oder durch andere Umstände (z.B. kein Warmwasser mehr vorhanden, aufge-
raute und schmerzende Hände, massive Interventionen vonseiten der Umwelt). Das
Gefühl des Unbehagens lässt sich jeweils nur kurzfristig beseitigen. Die Betroffenen
gehen abends oft nicht deswegen schlafen, weil sie mit ihren Zwangsritualen fertig sind,
sondern weil sie physisch und psychisch zu sehr erschöpft sind, um ihre Zwänge weiter
ausführen zu können. Der Verhaltenstherapeut Nicolas Hoffmann [113] beschreibt das
ständige Gefühl des Ungenügens treffend in Hinblick auf Kontrollzwänge:

„In vielen Fällen wissen die Kranken, vor und während der Kontrolle, daß der Sachverhalt in Ordnung
ist. Aber sie sind nicht zufrieden mit ihrem Erleben. Dieses Erleben ist es, das sie durch weitere Kon-
trollen verändern wollen.“
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 347

Zwänge gelten als die „Krankheit des Zweifelns“. Ein permanentes Unvollständigkeits-
gefühl und ein ständiges Unsicherheitsgefühl, das sich trotz aller Bemühungen nicht in
ausreichende Sicherheit umwandeln lässt, bilden das Fundament einer Zwangsstörung,
insbesondere dann, wenn es um Garantien geht, eine von der Umwelt oder meist vom
Patienten ausgehende Bedrohung abwenden zu können. Aus dieser Konfliktsituation
resultieren Angst und Unruhe, was durch die Zwangsrituale zu beseitigen versucht wird.
Viele Zwangspatienten vermeiden nicht die zwangsauslösenden Reize, sondern füh-
len sich geradezu magisch angezogen. Im Gegensatz zu Phobikern fühlen sich Personen
mit Zwangsstörungen verantwortlich, mit den zwangsauslösenden Reizen zurechtkom-
men zu müssen, um nicht durch Fehler und Unterlassungen schuldig zu werden.
Allgemein akzeptierte Erklärungsmodelle für Zwangsstörungen fehlen gegenwärtig,
in der Literatur werden jedoch folgende kognitive Aspekte angeführt [114]:
z Fehlende Ambiguitätstoleranz: Unsicherheit und Zweifel sind unerträglich, eine
fundamentale Verunsicherung wird durch Zwänge kompensiert. Es besteht ein ex-
tremes Sicherheitsbedürfnis und eine Unfähigkeit, angesichts von unwahrscheinli-
chen, aber dennoch nicht sicher ausschließbaren Bedrohungen mit einem Restrisiko
leben zu können. Das Urvertrauen in die eigene Person und in die Zukunft ist massiv
gestört. Der Problemlösungsversuch (100%ige Sicherheit) wird zum Hauptproblem.
z Überschätzung von Gefahren: Eine Intoleranz gegenüber möglicher bzw. minimaler
Gefahr bewirkt ein ständiges Bedrohungsgefühl. Es bestehen dauernd Erwartungen
von Misserfolg und negativen Konsequenzen, die schuldhaft verarbeitet werden.
z Überschätzung der individuellen Verantwortlichkeit. Ein überhöhtes Verantwor-
tungsgefühl führt zu ständigen Sorgen um das Wohl anderer Menschen, um nicht
durch Fehlhandlungen und Unterlassungen Schuld auf sich zu laden. Aus Angst vor
Fehlern und falschen Entscheidungen wird Verantwortung daher oft vermieden, um
nicht schuldig zu werden („Lieber keine Entscheidung als eine Fehlentscheidung“).
z Ständige Schuldgefühle, und zwar auch angesichts unmöglicher Täterschaft („Könn-
te ich nicht doch einen Menschen gefährdet haben, obwohl ich mich nicht daran er-
innern kann?“). Zwänge sind ein Versuch, Schuld zu vermeiden oder abzutragen.
z Entscheidungsschwierigkeiten aufgrund des Gefühls unzureichender Informationen,
sodass durch weitere Informationssammlung mehr Sicherheit erhofft wird, ohne dass
dann tatsächlich eine Entscheidung getroffen wird oder die getroffene Entscheidung
nicht wieder bezweifelt wird. Es fehlt das Vertrauen in die eigene Person.
z Extremes Kontrollbedürfnis, alles im Griff haben zu wollen, auch alle Gefühle und
Gedanken. Jede ängstigende Unsicherheit soll ausgeschaltet werden. Die ständigen
Kontrollbemühungen des letztlich Unkontrollierbaren ermöglichen jedoch keine
Kontrolle, sondern verstärken vielmehr das eigene Ohnmachtsgefühl, was erst recht
zu erneuten Kontrollbemühungen und Sicherheitsbestrebungen führt.
z Gedankenkontrolle durch Unterdrücken und Vermeiden: irrealer Anspruch, gewisse
aufdringliche tabuisierte und als unmoralisch bewertete Gedanken und Gefühle
überhaupt nicht haben zu dürfen, sodass sich Zwänge gerade um die Abwehr sexuel-
ler, aggressiver und gotteslästerlicher Gedanken und Gefühle drehen.
z Angst vor Spontaneität sowie vor Triebhaftigkeit (aus diesem Grund z.B. Ausbil-
dung starker sexueller Hemmschwellen); paradoxes Bestreben, alles, was spontan
auftritt, kontrollieren zu wollen, was zur Aufmerksamkeitsfixierung auf ursprünglich
nur flüchtig auftretende Gedanken, Vorstellungen oder Gefühle führt.
z Emotionale Defizite: Blockierung und Vermeidung von Gefühlen, Gefühlskonfusi-
on, emotionale Defizite und Probleme in der Wahrnehmung der jeweiligen Gefühle.
348 Erklärungsmodelle für Angststörungen

z Soziale Kompetenzdefizite: Soziale Unsicherheit und mangelnde sozialen Fertigkei-


ten begünstigen ein Kontrollbedürfnis aus Angst, von anderen kontrolliert zu wer-
den. Zwänge sind ein Mittel der Kritikvermeidung und der Pseudoselbstsicherheit.
z Perfektionsstreben und extrem hoher Leistungsdruck als Kompensationsversuch von
Minderwertigkeitsgefühlen und Unsicherheit, sodass kaum Zeit für Vergnügen ist.
z Extreme Normenorientierung zur Reduzierung von Unsicherheit im Denken und
Bewerten sowie rigide Strukturen, um ein befürchtetes Chaos zu verhindern.
z Bedürfnis nach Rückversicherung: Die anderen sollen das eigene Denken und Han-
deln bestätigen, was die Unsicherheit mangels eigenständiger Urteilsbildung ver-
stärkt. Zwangspatienten sind beruhigt, wenn andere die Verantwortung übernehmen.
z Angst vor Neuem: Ausprägung unveränderbarer Gewohnheiten, um alles Neue oder
jegliches Entscheiden-Müssen selbst bei trivialen Sachverhalten zu vermeiden.
z Unkorrigierbare negative Erwartungshaltungen: Mangelnde Erfolgserlebnisse im
Umgang mit den Zwängen führen zu ständigen Erwartungsängsten.
z Fehlende Bewertungsmaßstäbe: Unfähigkeit, anstelle von diffusen Gefühlen („Es
passt nicht“) klar operationalisierbare Bewertungskriterien zu entwickeln.
z Externale Regulationsform: Die Kontrolle der Außenwelt dient als Pseudokontrolle
der gefürchteten Innenwelt. Innere Kriterien (Denken als Probehandeln) fehlen.
z Gedanken-Handlungs-Verschmelzung: Aufgrund unzureichender Trennung von
Denken und Handeln fühlt man sich für Gedanken genauso schuldig wie für Taten.
z Unvollständigkeitsgefühle: unerträgliche Empfindlichkeit angesichts „unvollendeter
Gestalten“. Bei Wasch- und Reinigungszwängen besteht ein Bedürfnis nach „Rein-
heit“ im Sinne von Vollkommenheit, bei Kontrollzwängen ein unüberwindliches
Gefühl der Unvollständigkeit und damit der Fehlerhaftigkeit des eigenen Handelns.
z Grundlegender Affekt des Ekels statt der Angst bei zahlreichen Wasch- und Reini-
gungszwängen. Es geht oft nicht um Reinlichkeit, sondern um das Bedürfnis von
moralischer „Reinheit“ und Unbeflecktheit. Was „rein“ ist, verursacht keinen Ekel.
z Störungen der Wahrnehmung, z.B. angst- bzw. erregungsbedingte Aufmerksam-
keitsstörungen bei Kontrollzwängen. Viele Patienten berichten von eingeschränkter
Aufmerksamkeit während der Zwangshandlung, wie wenn sie nicht ganz da wären.
Es besteht ein Misstrauen der eigenen Wahrnehmung gegenüber (z.B. Ofen aus).
z Mangelndes Vertrauen in die Gedächtnisleistung. Patienten mit Kontrollzwängen
haben oft Schwierigkeiten, bestimmte Handlungen zu erinnern („Habe ich wirklich
den Ofen abgedreht bzw. die Tür abgesperrt?“), was Unsicherheit und Zweifel ver-
stärkt. Sie haben ein spezifisches Defizit im Handlungsgedächtnis und kein allge-
meines Gedächtnisdefizit. Sie befürchten, etwas Schlimmes unbewusst getan zu ha-
ben, sodass sie sich nicht mehr daran erinnern können. Die fehlende Erinnerung an
eine vermeintliche Fehlhandlung wirkt nicht beruhigend, sondern extrem irritierend.
z Störungen der Informationsverarbeitung (z.B. alles erscheint gleich wichtig).

Hand [115] betont die intraindividuelle und interaktionelle Funktionalität von Zwängen:

„Zwangsverhalten resultiert nicht primär aus einem gegen den Willen und die Einsicht des Individuums
laufenden unbeherrschbaren Impuls, es ist vielmehr durch subjektiv als positiv erlebte intraindividuelle
und (oder) interaktionelle Funktionen mitbedingt und mit aufrechterhalten (Ausnahme: bestimmte
Denkzwänge ...). Auf einer rational-normangepaßten Ebene mag der Betroffene dieses Verhalten zwar
ablehnen, auf der subjektiven, emotional-kognitiven Ebene ist es für ihn aufgrund dieser Funktionen
aber zugleich unverzichtbar. Dies gilt insbesondere auch für die eher häufig anzutreffende magische
Komponente der Zwänge ...“
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 349

Die Funktionalität von Zwängen unterscheidet sich teilweise sehr stark von jener phobi-
schen Meidungsverhaltens (Ausnahme: bestimmte Wasch- und Reinigungsrituale).
Zwangsstörungen stellen auf intrainvidueller Ebene Bewältigungsversuche bei generali-
sierten vital-bedrohlichen Ängsten, Depressionen, Schuldgefühlen, Ärger, mangelndem
Selbstwertgefühl, Unsicherheit und sozialen Defiziten dar und sind auf interpersoneller
Ebene entweder Ursache oder Folge von Kommunikations- und Beziehungsstörungen.
Zwänge vermitteln eine Pseudoselbstsicherheit gegenüber anderen Menschen. Hand
differenziert Zwangsstörungen mithilfe des Konzepts der Bewältigung oder Hilflosigkeit
angesichts von subjektiver Bedrohung und Gefahr. Patienten können anfangs oft schwer
glauben, dass ihre Zwänge eine persönliche Form der Problemlösung sein sollen.

Tab. 8: Funktionen bestimmter Zwänge [116]

Grad der Gestörtheit


Art der Zwänge leicht/mittel schwer
Waschen/säubern z Analog zu Phobien: Meidung - „Leben“ besteht im wesentli-
von Auslösesituationen. chen aus Meidung von bzw.
Zwangshandlung = Flucht vor Flucht aus Auslösesituation
Auslösesituationen Æ Zwangsverhalten = „Le-
z Gewissheit von eigener Ver- bensinhalt“
haltenseffektivität - Verlust der Gewissheit von
eigener Verhaltenseffektivität
Æ „unbewusstes“ magisches
Denken
Kontrollieren/ordnen z Koping mit mangelndem - Je weniger Bedürfnis-(nach
Selbstwertgefühl; Reduktion Anerkennung)Befriedigung
der Angst vor Ablehnung durch Zwangsverhalten, umso
durch „Erzwängeln von Aner- mehr Zwangsverhalten, umso
kennung“ vermittels Überer- weniger Anerkennung usw.
füllung sozialer Normen - Verlust der Hoffnung auf
z Koping mit psychologisch eigene Verhaltenseffektivität
oder organisch bedingter zere- Æ „unbewusstes“ magisches
braler Leistungsminderung Denken erhält Glauben an
z Hoffnung auf eigene Verhal- eigene Verhaltenseffektivität
tenseffektivität
Zählen/wiederholen/berühren z Abwendung von Unheil von wie leichtere Form, nur verstärkte
(teilweise kombiniert mit anderen oder sich selbst Ausprägung
Zwangsgedanken, sich oder z Glaube an eigene Verhaltens-
anderen Schaden zuzufügen) effektivität (nur über bewuss-
tes magisches Denken)

Grübeln vor/nach Handlun- z wie kontrollieren/ordnen wie kontrollieren/ordnen


gen
Grübeln über eigene Versün- z Angst vor eigener Hilflosigkeit Gewissheit eigener Hilflosigkeit
digung Æ Verlust des Glaubens an
eigene Verhaltenseffektivität

Nach Hoffmann und Hofmann [117] entstehen Zwänge in einem Gefühlschaos, d.h.
angesichts einer Konfusion von intensiven negativen Gefühlen, mit dem Ziel, eine ge-
wisse Struktur zu entwickeln, um handlungsfähig zu werden. Zwangskranke erleben
sich in einer sehr bedrohlich erscheinenden Welt und befinden sich in einer permanen-
ten Alarmbereitschaft mit ständiger Erwartung des Schlimmsten. Die Errichtung eines
Zwangssystems garantiert vorübergehend äußere Sicherheit und innere Entspannung.
350 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Wasch- und Reinigungszwänge

Bei Waschzwängen finden sich meist vier Arten von Auslösereizen:


z ein anhaltendes Gefühl der körperlichen Verschmutzung,
z ein anhaltendes Gefühl der geistig-moralischen Verschmutzung (Waschen dient hier
als symbolisches Wegwaschen von Schuldgefühlen in Zusammenhang mit bestimm-
ten Gedanken, Vorstellungen und Impulsen),
z eine Angst vor Krankheiten, insbesondere durch Ansteckung und Verseuchung,
z ein Gefühl des Ekels gegenüber bestimmten Substanzen bzw. Ausscheidungen.

Wasch- und Reinigungszwänge leichter und mittelstarker Ausprägung ähneln phobi-


schem (Vermeidungs-)Verhalten wesentlich mehr als die anderen Zwangstypen. Es
bestehen phobieähnliche Erwartungsängste, wobei die Auslöser entweder vermieden
oder durch Säuberung nachträglich beseitigt werden (Ungeschehen-Machen). Die in-
traindividuelle Hauptfunktion besteht nach Hand in einer Reduktion der auslöserspezifi-
schen Angst. Durch die Rituale besteht die Gewissheit der eigenen Verhaltenseffektivi-
tät. Bei starken Wasch- und Säuberungszwängen ist die Angst vor dem Sterben bzw.
dem Tod anderer infolge von Verunreinigung so ausgeprägt, dass durch das Ausufern
der Zwänge jede Teilnahme am Leben und jede Lebensqualität verloren gegangen ist.
Hoffmann und Hofmann, die die Hauptursache von Wasch- und Reinigungszwängen
primär in massiven Ekelgefühlen und erst in zweiter Linie in Krankheits- und Todes-
ängsten sehen, stellen in ihrem bedeutsamen Buch „Expositionen bei Ängsten und
Zwängen“ ein Vier-Phasen-Konzept bei Wasch- und Reinigungszwängen vor:
1. Konfusion und Implosion der Gefühle (Auslöser durch starke Emotionen, die zu
emotionaler Verwirrung führen; kein Ausdruck der Gefühle; Grenzverletzungen);
2. Unvollständigkeitsgefühl, Positionsunsicherheit und Kontrollbedürfnis;
3. Symbolbildung und externale Regulation (Symbole statt Realität; reine Innenwelt
und böse Außenwelt); Menschen als Überträger gefährlicher/ekeliger Substanzen;
4. Aktivierung einfacher bis „archaischer“ Abwehrmaßnahmen.

Waschzwänge beruhen nach Hoffmann und Hofmann – im Gegensatz zu Salkovskis –


nicht auf überhöhten und perfektionistischen Sauberkeitsansprüchen, sondern meist auf
einem fundamentalen Ekelgefühl gegenüber allem Unreinen, Schmutzigen und Wider-
wärtigen. Es bestehe ein unerträglicher Ekel gegenüber Substanzen, die auf die Haut
oder unter die Haut gelangen könnten. Die Verweise auf hohe Sauberkeitsstandards
seien als sekundäre Rationalisierungen anzusehen, um nicht als verrückt zu gelten.
Am Anfang von Wasch- und Reinigungszwängen stehen meist Ereignisse oder Ent-
wicklungen, die durch starke Emotionen, wie etwa Ekel, Wut, Angst, Schmerz, Trauer
und Einsamkeit, ausgelöst werden und im Laufe der Zeit zu immer mehr Demütigung,
Hilflosigkeit und Ohnmacht führen. Dabei besteht gleichzeitig oft eine „Konfusion der
Gefühle“. Das für Waschzwänge bedeutsamste Gefühl ist Ekel als fundamentale Abnei-
gung gegenüber bestimmten organischen Stoffen sowie vor bestimmten Menschen als
den Überträgern der Ekel erregenden Substanzen, die so ferngehalten werden können.
Die momentan vorhandenen Gefühle werden weder differenziert wahrgenommen
noch adäquat ausgedrückt, sodass sie in der emotional sehr angespannten Person inner-
lich „stecken bleiben“. Auslöser für die Zwänge sind oft „invasive“ Ereignisse, die die
Grenzen der Person überschreiten: Gefahren, subjektive Todesbedrohung, eklige Sub-
stanzen bzw. Umstände und stark verletzende Erfahrungen.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 351

Weil die Betroffenen in diesen Situationen keinen Zugang zu ihren Gefühlen und
Bedürfnissen finden, können sie die bedrohlichen Ereignisse und inneren Verletzungen
nicht unter Kontrolle bringen und erleben eine „Desintegration des Selbst“. Zur Bewäl-
tigung des Unvollständigkeitsgefühls, der Positionsunsicherheit und der Depersonalisa-
tions- und Derealisationserlebnisse nehmen sie Zuflucht zu Kontrollen der Umwelt, die
die Aufrechterhaltung der inneren und äußeren „Reinheit“ ermöglichen und damit die
innere Sicherheit gewährleisten sollen. Die innerliche Verletzlichkeit, die Demütigung
durch andere und die Angst vor anderen Menschen oder ekeligen bzw. „gefährlichen“
Substanzen wird symbolisch über äußere Regulationen zu bewältigen versucht. Durch
die Verschiebung der inneren Bedrohungsgefühle auf äußere bedrohliche Reize und
Situationen wird ein Gefühl der Pseudokontrolle und Pseudosicherheit entwickelt.
Es handelt sich dabei um „archaische“ Abwehrmaßnahmen: Bestimmte Substanzen
wie Urin, Kot, Blut, Schmutz oder Keime, die durch andere Menschen auf die eigene
Person übertragen werden könnten, werden zum Inbegriff des Ekeligen und zum sicht-
baren Symbol für Gefahr. Gegen diese externen Bedrohungen gelingen aus der Sicht der
Menschen mit Wasch- und Reinigungszwängen leichter verschiedene Schutzmaßnah-
men als gegen die erfolgten inneren Verletzungen und Gefühlsverwirrungen. Durch die
Konkretisierung der Gefahren in der „bösen“ Außenwelt geht es nun ständig darum, die
„reine“ Innenwelt zu schützen und vor Ekel und Gefahren zu bewahren. Vermeidung
dieser externen Bedrohungen bzw. Waschen und Wischen im Falle erfolgter unvermeid-
licher Kontakte sind dann angemessene Bewältigungsstrategien. Auf diese Weise er-
folgt eine Verschiebung der Bedrohlichkeitsebene: Nicht mehr die belastenden und
schmerzlichen Ereignisse im realen Leben wirken bedrohlich, sondern die leichter kon-
trollierbaren Objekte und Situationen auf einem Nebenschauplatz.
Ein Beispiel: Wer mit den Gefühlen bezüglich der Mutter oder mit Konflikten in der
Beziehung mit dem Vater bzw. dem Partner nicht zurechtkommt, kann diese Personen
für verseucht erklären, dadurch eine äußere Distanz herstellen und durch Wasch- und
Reinigungsrituale das Gefühl der Reinheit und den Verlust der Ekelgefühle erreichen.
Ein weiteres Beispiel: Eine Frau überrascht ihren Gatten beim Geschlechtsverkehr
mit seiner Freundin im ehelichen Schlafzimmer. In der Folge davon entwickelt sie einen
Wasch- und Reinigungszwang. Sie muss ständig das Schlafzimmer säubern, die Betten
fast täglich überziehen und anschließend regelmäßig ihre Hände längere Zeit waschen,
um wieder sauber zu sein. Es ekelt ihr vor dem, was sie gesehen hat. Im Laufe der Zeit
weiten sich die Zwänge aus: Sie muss in der Wohnung alles reinigen, was ihr „ver-
schmutzter“ Gatte berührt haben könnte; er muss sich immer sofort nach der Arbeit
duschen und die Kleidung wechseln, um keinen Schmutz nach Hause zu bringen. Wenn
ihr Gatte sie berührt, muss sie sich sofort duschen, um seinen Geruch auf ihrer Haut
wegzuwaschen. Schließlich muss sie ihre drei kleinen Kinder täglich mehrfach baden,
um den Schmutz von ihnen abzuwaschen. Obwohl die Patientin die Zusammenhänge
zwischen ihren Ekel- bzw. Wutgefühlen ihrem Mann gegenüber und ihren Wasch- und
Reinigungszwängen durchaus erkennen kann, ist sie nicht in der Lage, ihr Verhalten
von sich aus zu ändern, denn über den Weg der Zwänge kann sie ihren Mann in einer
Weise einengen, kontrollieren und bestrafen, wie ihr dies bislang nicht möglich war.
Nach Hoffman und Hofmann bestimmen zwei Grundannahmen den Umgang mit
Angst oder Ekel erregenden Substanzen: „Die endlose Übertragbarkeit der Substanz“
durch Menschen (endlose Übertragung von einer Stelle zu anderen bewirkt in der Um-
welt immer mehr Verseuchung) und „Die Substanzen bleiben immer wirksam“ (bei die
Übertragung auf verschiedene Stellen erfolgt im Laufe der Zeit keine „Verdünnung“).
352 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Kontrollzwänge

Kontroll- und Ordnungszwänge dienen nach Hand oft (als Folge primärer und sekundä-
rer sozialer Defizite) der Reduktion von Selbstunsicherheit und Angst vor Ablehnung
durch andere. Die Übererfüllung sozialer Normen in den Bereichen Ordentlichkeit,
Genauigkeit, Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit soll soziale Zustimmung und
Belohnung sicherstellen, geradezu erzwingen („erzwängeln“). Diese Strategie wird im
Alltags- und Berufsleben häufig angewandt und als teilweise wirksam erlebt, kann aber
bei Ausbleiben der erhofften Reaktionen so ausufern, dass die Kontroll- und Ordnungs-
handlungen stark leistungshemmend wirken und dadurch einen Teufelskreis in Gang
setzen: Vermehrtes Zwangsverhalten führt zu verminderter sozialer Anerkennung und
zunehmender Ablehnung, was ein intensiveres Zwangsverhalten bewirkt.
Bei Kontrollzwängen besteht ein übertriebenes Verantwortungsgefühl aus Angst vor
Fehlern und deren Folgen. Oft werden auch Verunsicherungen durch neue Lebenssitua-
tionen mittels Kontrollzwängen zu bewältigen versucht. Kontrollzwänge können der
Versuch der Lebensbewältigung in einer Situation sein, die man auf sich selbst gestellt
ansonsten für kaum bewältigbar hält. Eine bislang eher unselbstständige Mutter mit
zwei Kleinkindern fühlt sich nach dem plötzlichen Tod des Ehemannes völlig überfor-
dert und entwickelt durch übermäßige Kontrollen zumindest in Teilbereichen kompen-
satorisch Sicherheit. Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung hirnorganischen Ur-
sprungs versuchen nicht selten durch Kontrollzwänge mögliche Fehler zu vermeiden.
Die Rituale bei Kontroll- und Ordnungszwängen geben zwar noch Hoffnung auf die
eigene Verhaltenseffektivität, sicherheitshalber werden jedoch – sehr viel früher als bei
anderen Zwängen – magische Elemente (z.B. Zähl- und Wiederholungszwänge) einge-
baut. Magische Verhaltensweisen ermöglichen eine Verkürzung der Zwangshandlun-
gen, weil die Sicherheit nicht mehr durch die eigenen Kontrollen, sondern durch weni-
ger aufwändige magische Rituale (z.B. bestimmte Sprüche bzw. Gesten oder Zählen
nach einem bestimmten System) gewährleistet wird. Magie vermittelt Macht über ande-
re und Einfluss auf das Schicksal angesichts erlebter oder befürchteter Ohnmacht.
Wegen der kategorialen Andersartigkeit von Kontrollzwängen im Vergleich zu den
Kontrollen gesunder Menschen kritisieren Hoffmann & Hofmann die kognitiven Sicht-
weisen, wonach Zwänge als Endpunkt des Kontinuums genau – übergenau – zwanghaft
zu sehen seien. Es bestünden bei Menschen mit Kontrollzwängen bereits Schuldgefühle,
noch bevor diesen richtig klar sei, wodurch sie eigentlich schuldig geworden sein könn-
ten. Die angeführten Gründe für mögliche Schuld stellen nachträgliche sekundäre Ra-
tionalisierungen des zwanghaften Denkens und Handelns dar. Dabei werden als Motive
Ziele und Werte gewählt, die in unserer Gesellschaft hoch angesehen sind, z.B. Verant-
wortungsgefühl, Sorge und Einsatz für andere. Neben starken Schuldgefühlen leiden Pa-
tienten mit Kontrollzwängen auch unter einem ständigen Unvollständigkeitsgefühl ihres
Verhaltens; sie können ihre Kontrolltätigkeiten nicht beenden und müssen zur Verbesse-
rung ihres Vollständigkeitsbedürfnisses „noch etwas dazutun“ und übernehmen die
Kontrolle der Kontrolle der Kontrolle. Es kommt in ihrem Kopf nicht an, was sie mit
ihren Sinneskanälen wahrgenommen haben, nämlich dass alles schon passt, z.B. kein
Schmutz mehr sichtbar ist, der Ofen und der Wasserhahn abgedreht sind. Das Problem
wird verschärft durch fehlende Beurteilungskriterien, wann eine Handlung bzw. Kon-
trolle als beendet angesehen werden kann, sodass „zur Sicherheit“ eine neuerliche Kon-
trolle erfolgt. Es müssen ständig äußere Handlungen (externe Kontrollen) verrichtet
werden, weil das „innere Handeln“ (Denken als Probehandeln) nicht funktioniert.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 353

Andere Zwänge

Zähl-, Wiederholungs-, Berührungs- und Sprechzwänge können nach Hand zur Bewäl-
tigung von stärker generalisierten Ängsten, die oft diffuse Katastrophenängste in Bezug
auf die eigene Person oder auf nahe stehende Menschen darstellen, eingesetzt werden.
Diese Zwänge sind durch ein ausgesprochen magisches Denken charakterisiert (z.B.
„gute“ Zahlen wiederholen, bestimmte objektiv unnütze Bewegungen). Es wird ver-
sucht, durch bestimmte Rituale Unheil von sich oder anderen abzuwenden, obwohl vom
Verstand her klar ist, dass die entsprechenden Vorstellungen und Handlungen unsinnig
sind. Angst und Unsicherheit, dass einem selbst oder den anderen etwas zustoßen könn-
te, können nicht ertragen oder durch eigene Leistung bewältigt werden, sondern werden
durch den Glauben an die magische Kraft der Rituale zu überwinden versucht. Aus dem
Alltagsleben gibt es dafür viele Beispiele (z.B. Geburtsdaten als Lottozahlen).
Zwangsgedanken sind entweder (auf der Bedrohungsebene) Auslöser für Zwangs-
handlungen (bei rund 90% der Zwangskranken) oder (auf der Abwehrebene) kurzfristi-
ge Symptomlinderungsmaßnahmen in Form bestimmter Gegengedanken, die nach dem
DSM-IV als Verhaltensrituale anzusehen sind.
Zwangsgedanken im Sinne von Zwangsbefürchtungen, sich selbst oder anderen
Schaden zuzufügen (z.B. das eigene Kind mit dem Messer zu verletzen oder zu töten),
wirken gerade durch die subjektive Gewissheit der bevorstehenden Katastrophe extrem
belastend und sind oft Ausdruck einer Depression oder ein Ventil zum Ausdruck von
ansonsten verbotenen Aggressionen. Verhaltensrituale sollen diese Ängste reduzieren.
Denk- und Grübelzwänge (z.B. ständiges gedankliches Durchspielen von bevorste-
henden Gesprächen mit wichtigen Personen, Grübeln über vergangene Gespräche und
Ereignisse) können die Funktion haben, Sicherheit zu gewinnen und negative Emotio-
nen oder Kognitionen zu vermeiden (ähnlich wie das ständige Sorgen bei einer generali-
sierten Angststörung).
Die Denkzwänge „Grübeln vor bzw. nach einer Handlung“ haben bei Menschen mit
Selbstunsicherheit und sozialen Defiziten eine ähnliche Funktion wie Ordnungs- und
Kontrollzwänge (Kompensationsversuch von Selbstunsicherheit und sozialer Angst).
Bei Denk- oder Grübelzwängen besteht die unkorrigierbare Erwartung von unver-
meidbaren Katastrophen und infolgedessen die Gewissheit der eigenen Hilflosigkeit.
Denkzwänge verstärken nach Hand die negativen Erwartungen, Ängste, Schuldgefühle
und depressiven Stimmungen und bewirken keine Abschwächung der Symptomatik,
wie dies bei anderen Zwängen der Fall ist. Zwangsgedanken sind deshalb häufiger mit
einer Depression verbunden als die anderen Zwangsstörungen. Manchmal werden die
vermeintlichen Katastrophen sogar als bereits eingetreten erlebt, auch wenn die Umwelt
dies nicht glauben will. In dieser Hinsicht besteht bei Denkzwängen oft eine größere
Ähnlichkeit mit wahnhaften Depressionen als bei anderen Zwangsstörungen. Nach
Hoffmann und Hofmann sind Zwangsgedanken „situationsspezifische und vorüberge-
hende Störungen der Ich-Integrität“. Der spontane Ablauf der Gefühle, Gedanken und
Verhaltensweisen ist unterbrochen, es besteht ein „Riss in der Ich-Kontinuität“. Als
Ursachen gelten schwere persönliche Krisen und pathologische Beziehungsstörungen.
Eine starke innere Verunsicherung soll durch ständiges Nachdenken darüber, ob man
etwas sehr Schlimmes tatsächlich getan haben könnte oder zu tun in der Lage wäre,
bewältigt werden, d.h. primitive externale Regulationsversuche („Ist äußerlich wirklich
nichts passiert?“, „Wie kann ich das Schlimmste noch verhindern, wenn ich doch schon
etwas Böses getan haben könnte?“) sollen den fehlenden inneren Halt kompensieren.
354 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Vierfelderschema zur Erklärung von Ängsten, Zwängen und Depressionen

Man kann Ängste, Zwänge und Depressionen anhand eines Vierfelderschemas charakte-
risieren, das sich aus zwei Dimensionen ergibt (nach Arntz):
1. Verantwortung:
z viel Verantwortung (Ursachenzuschreibung: die Verantwortung liegt bei der Per-
son selbst),
z wenig Verantwortung (Ursachenzuschreibung: die Verantwortung liegt außer-
halb der Person bei anderen Menschen, Umständen, Schicksal u.a.).
2. Zeitdimension:
z Zukunft: Was geschehen könnte.
z Vergangenheit: Was bereits passiert ist oder unterlassen wurde.

Tab. 9: Vier-Felder-Schema zur Erklärung von Ängsten, Zwängen und Depressionen

Vergangenheit Zukunft

viel Verantwortung Depression Zwänge


(„selbst schuld“)
wenig Verantwortung („Suchtprobleme“) Ängste/Phobien
(„andere/anderes schuld“)

Das Vier-Felder-Schema aus der Kombination der beiden Dimensionen „Verantwor-


tung“ und „Zeit“ ermöglicht ein vereinfachtes, therapeutisch jedoch sehr hilfreiches
Verständnis der häufigsten psychischen Störungen:
1. Angststörungen sind charakterisiert durch die Befürchtung einer Katastrophe in der
Zukunft. Die Betroffenen glauben, keinerlei Einfluss darauf zu haben, sodass sie zur
Vermeidung neigen nach dem Motto „Ich kann nichts dagegen tun.“ Es dominiert
die Frage: „Was wäre, wenn dies oder jenes passiert? Ich könnte mir allein nicht hel-
fen, also lasse ich mich lieber gar nicht darauf ein.“
2. Depressionen beruhen oft auf einer übermäßig hohen wahrgenommenen Verantwor-
tung für ein als sehr negativ bewertetes Ereignis in der Vergangenheit. Die Betroffe-
nen glauben, an einem Ereignis in der Vergangenheit mitschuldig geworden zu sein
oder etwas schuldhaft unterlassen zu haben. Es geht ständig um die Frage: „Warum
habe ich nur so gehandelt? Ich hätte anders handeln müssen, doch ich habe versagt.
Jetzt kann ich nichts mehr ändern und deshalb ist meine Zukunft hoffnungslos.“
3. Zwangsstörungen gehen einher mit einer subjektiv empfundenen (übermäßig) hohen
Verantwortung für eine befürchtete Katastrophe. Die Betroffenen tun alles, um sich
nicht durch fehlerhaftes Handeln oder durch Unterlassung schuldig und deshalb de-
pressiv zu werden. Das zentrale Anliegen lautet: „Wie kann ich Misserfolg vermei-
den bei einer Angelegenheit, für die ich mich verantwortlich fühle? Wenn ich etwas
mache, was ich eigentlich machen will bzw. sollte, wird etwas Schreckliches passie-
ren, weil ich der Sache nicht gewachsen sein werde. Ich bin aber dennoch dafür ver-
antwortlich, wenn etwas passieren sollte, sodass ich es perfekt machen möchte, da-
mit niemand durch mich zu Schaden kommt.“ Über den Weg der Zwänge wird das
unerträgliche und depressiv machende Gefühl des Misserfolgs zu verhindern ver-
sucht. Zwangsstörungen stellen in diesem Sinn einen Versuch dar, eine befürchtete
Depression angesichts antizipierter Versagenserlebnisse zu vermeiden.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 355

Posttraumatische Belastungsstörung –
Unverarbeitete Bedrohungserlebnisse
Die Zwei-Faktoren-Theorie der Angstentstehung von Mowrer wurde auch auf die post-
traumatische Belastungsstörung übertragen[118]:
1. Das aufdringliche Wiedererinnern des Traumas wird durch klassisch konditionierte
emotionale Reaktionen erklärt: Alles, was an das traumatische Erlebnis erinnert, löst
ähnliche emotionale Reaktionen aus wie in der traumatisierenden Situation.
2. Die Vermeidung von traumaspezifischen Auslösereizen bzw. die emotionale Ab-
stumpfung nach dem Trauma bewirken eine Erleichterung der emotionalen Überer-
regtheit und stellen daher nach dem Prinzip der operanten Konditionierung eine ne-
gative Verstärkung dar, sodass zukünftig mehr Vermeidungsverhalten auftritt.

Das Gefühl von Gefahr oder Lebensbedrohung wird zur fundamentalen Lebenseinstel-
lung nach dem Trauma. Es wird eine Furchtstruktur aufgebaut, die bewirken kann, dass
sich Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung so lange bedroht fühlen, wie
keine Zeichen der Sicherheit erkennbar sind, während andere Personen sich so lange
sicher fühlen, wie keine Zeichen der Gefahr vorhanden sind. Das Verständnis für diese
Entwicklung wird nur durch die Berücksichtigung kognitiver Aspekte erlangt.
Netzwerkmodelle der posttraumatischen Belastungsstörung [119] können die Fixie-
rung auf potenzielle Gefahren besser erklären als lerntheoretische Modelle. Dabei wer-
den die psychologischen Erkenntnisse und Annahmen zur Informationsverarbeitung und
Gedächtnisspeicherung besonders berücksichtigt. Furchtstrukturen in Form neuronaler
Netzwerke integrieren neben dem traumatischen Stimulus auch alle Informationen über
die Begleitumstände, die sinnlichen, kognitiven und emotionalen Aspekte der Person.
Die Entwicklung einer ängstlichen Aufmerksamkeit für angstbezogene Reize stellt
nach Jones und Barlow [120] das entscheidende Merkmal der posttraumatischen Bela-
stungsstörung dar. Es kommt zu einer chronischen Übererregung und einer Einengung
der Aufmerksamkeit auf bedrohliche Reize mit der Wahrscheinlichkeit der Entdeckung
entsprechender „Gefahren“. Im Sinne eines Teufelskreises kann die Übererregung selbst
wieder zum Auslöser einer falschen Alarmreaktion und damit verbundenen Erinnerun-
gen werden. Die Betroffenen weisen eine selektive Aufmerksamkeit für traumaspezifi-
sche Gefahrenreize und eine selektive Gedächtnisspeicherung von bedrohlichen Infor-
mationen auf. Traumatische Erfahrungen verändern kognitive Schemata im Sinne von
Beck, d.h. Grundüberzeugungen hinsichtlich der eigenen Person und der Umwelt, die
die Wahrnehmung und das Verhalten des Menschen steuern.
Menschen, die nach einem Trauma eine posttraumatische Belastungsstörung ent-
wickeln, unterscheiden sich von Personen, die ähnliche Erfahrungen ohne Störung über-
winden, durch bestimmte kognitive Gesichtspunkte:
z übermäßige selektive Aufmerksamkeit auf Gefahrenreize,
z einseitige Interpretation von Reizen und Situationen als gefährlich,
z kognitive Fehlinterpretationen, die falsche Alarmreaktionen des Körpers auslösen,
z Unterdrückung der traumatischen Erinnerungen und Gedanken aus Angst vor deren
Nicht-Bewältigbarkeit, was einen ständigen biologischen Stressor darstellt,
z Abspaltung der Gefühle bis zur emotionalen Taubheit, wodurch kein Umgang mit
negativen Emotionen erlernt wird, sodass deren Auftreten extrem gefürchtet wird,
z Vermeidung von Situationen und Erinnerungen an das Trauma, die das Gefühl der
erlernten Hilflosigkeit fördert und Kompetenzerfahrungen verhindert.
356 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Nach kognitiven Erklärungsmodellen der posttraumatischen Belastungsstörung haben


traumatische Erfahrungen und deren Folgen die zentralen Grundüberzeugungen zur
eigenen Person sowie zur Verlässlichkeit und Sicherheit der Welt infrage gestellt.
Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Es entwickeln sich unsichere und ängstliche
Erwartungen in Bezug auf die Zukunft. Das Bedürfnis der Betroffenen, angesichts der
traumatischen Erfahrungen das „Wie“, „Warum“ und „Warum gerade ich“ zu ergrün-
den, kann aufgrund der erfolgten Erklärungsversuche zu einer hilfreichen oder pro-
blemverschlimmernden Verarbeitung des traumatischen Geschehens führen.
Die Verhaltenstherapeuten Ehlers und Clark [121] haben unter Berücksichtigung der
von anderen Autoren entwickelten Konzepte ein bedeutsames kognitives Modell der
posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt, das auch eine Erklärung dafür liefert,
warum die posttraumatische Belastungsstörung zu den Angststörungen gezählt werden
soll, wie dies im amerikanischen DSM-IV der Fall ist. Ängste beziehen sich gewöhnlich
auf die Wahrnehmung einer zukünftigen Bedrohung, die posttraumatische Belastungs-
störung dagegen ist eine Störung, die durch die Erinnerung an ein vergangenes trauma-
tisches Ereignis ausgelöst wird. Dieser scheinbare Widerspruch wird dadurch aufgelöst,
dass eine posttraumatische Belastungsstörung als Gefühl der gegenwärtigen Bedrohung
konzipiert wird: Die Betroffenen verarbeiten das traumatische Ereignis und seine Fol-
gen so, als wären sie einer gegenwärtigen Bedrohung ausgesetzt.
Die subjektive Wahrnehmung einer gegenwärtigen Bedrohung wird durch zwei
verschiedene Prozesse bestimmt:
1. Das Trauma und seine Konsequenzen werden unterschiedlich interpretiert.
2. Es bestehen individuelle Unterschiede hinsichtlich des Trauma-Gedächtnisses und
den Verbindungen zu anderen lebensgeschichtlichen Erinnerungen.

Die Wahrnehmung der gegenwärtigen Bedrohung bewirkt die bekannten Symptome:


intrusives Wiedererleben, Symptome körperlicher Erregung, starke Emotionen wie
Angst, Scham, Trauer oder Ärger, Vermeidungsreaktionen auf der Ebene des Verhal-
tens, Fühlens und Denkens. Im Einzelnen beruht das Modell der chronischen posttrau-
matischen Belastungsstörung nach Ehlers und Clark auf folgenden Faktoren:
1. Interpretation des Traumas und/oder seiner Konsequenzen. Menschen mit einer
posttraumatischen Belastungsstörung können im Vergleich zu Menschen ohne psy-
chische Folgestörung nach einem Trauma das belastende Erlebnis nicht als zeitbe-
grenztes Ereignis sehen, sondern fühlen sich auch gegenwärtig stark bedroht. Die
Bedrohung kann von außen kommen („Überall lauern Gefahren“, „Ich bin nirgends
sicher“) oder innerlich sein (z.B. Bedrohung der Selbstwahrnehmung als kompetente
Person, die das Leben meistern kann). Neben dem traumatischen Erlebnis werden
auch die Folgen in Form der auftretenden Symptome sehr negativ bewertet und er-
lebt. Aus kognitiver Sicht bedeutsam ist weniger die ursprüngliche Symptomatik der
Intrusion als vielmehr die Entwicklung bestimmter dysfunktionaler Überzeugungen,
die die Symptomatik aufrechterhalten. Typisch sind etwa folgende Denkmuster: „Ich
bin ein Pechvogel und ziehe das Unglück einfach an“, „Es geschieht mir recht“, „Ich
werde nie mehr jemanden mögen können“, „Die Art und Weise, wie ich auf das Er-
lebnis reagiere, zeigt, dass ich verrückt bin“, „Wenn ich an das traumatische Ereig-
nis denke, werde ich dies nicht aushalten und ertragen können“, „Die anderen wer-
den mich verachten“, „Niemand wird für mich da sein“, „Ich bin für immer erle-
digt“, „Mein Körper und mein Gehirn sind für immer geschädigt“, „Ich kann keine
weitere Belastung mehr ertragen“, „Ich werde nie darüber hinwegkommen.“
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 357

2. Art des Trauma-Gedächtnisses. Die Betroffenen können das traumatische Ereignis


willentlich nicht vollständig erinnern. Ihre Erinnerungen bleiben bruchstückhaft und
ungeordnet. Bestimmte Einzelheiten und der detailgetreue Ablauf der Ereignisse
können nicht vergegenwärtigt werden, obwohl die Betroffenen andererseits von ver-
schiedenen Erinnerungen unkontrollierbar überflutet werden. Diese seltsame Kom-
bination von erschwertem willentlichen Abruf und lebhaft-spontanem ungewollten
Wiedererleben lässt sich durch die Art und Weise erklären, wie das Trauma enko-
diert und im Gedächtnis abgespeichert wurde. Das traumatische Erlebnis ist nur un-
genügend elaboriert (d.h. in seiner Bedeutung nicht ausreichend verarbeitet) und nur
ungenügend in die Struktur des autobiografischen Gedächtnisses eingebettet (d.h.
nicht richtig eingeordnet in den Kontext von Zeit, Raum, vorangegangenen und
nachfolgenden Informationen sowie anderen lebensgeschichtlichen Erinnerungen).
Es bestehen weiters starke assoziative Gedächtnis-Verbindungen nach dem Modell
der klassischen Konditionierung. Die Reize, die mit dem traumatischen Erlebnis und
dem Gefühl der Lebensbedrohung ursprünglich verbunden waren, werden auch spä-
ter immer wieder – meist sogar unbewusst – als Anzeichen einer schweren Bedro-
hung der Person interpretiert (z.B. kann nach einer lebensgefährlichen Schussverlet-
zung jeder Jagd- oder Böller-Schuss eine heftige Reaktion auslösen). Demnach ist
die Unterscheidung zwischen relevanten und nicht relevanten Reizen für eine Be-
drohung, d.h. die Reizdiskriminierung, gestört. Die Symptomatik wird vor allem
auch verschärft durch eine an sich sehr sinnvolle Gedächtnisleistung, nämlich das
Priming als einer Form des impliziten Gedächtnisses (d.h. des unbewussten Wieder-
erinnerns). Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung besteht ein starkes Pri-
ming für traumabezogene Reize.
3. Dysfunktionale Verhaltensweisen und kognitive Verhaltensstile. Verschiedene un-
günstige Bewältigungsstrategien wie Gedankenunterdrückung, kognitive Vermei-
dung, Entwicklung von Sicherheitsverhaltensweisen, Vermeiden von Reizen, Grü-
beln und andere unangemessene Strategien machen die posttraumatische Symptoma-
tik noch schlimmer. Die Unterdrückung der ungewollten Erinnerungsbilder bezüg-
lich des Traumas bewirkt paradoxerweise deren verstärktes Auftreten. Die Ausprä-
gung eines bestimmten Sicherheitsverhaltens, etwa in Form übertriebener Vor-
sichtsmaßnahmen, verhindert die Erfahrung, dass momentan keine Bedrohung gege-
ben ist. Die Vermeidung von traumaassoziierten Reizen verhindert deren adäquate
Verarbeitung in einem neuen und umfassenderen Kontext. Grübeln über das Trauma
und seine Folgen ermöglicht ebenfalls keine Trauma-Verarbeitung (z.B. wenn man
ständig darüber nachdenkt, wie man das Erlebnis hätte verhindern können). Inad-
äquate Bewältigungsstrategien sind auch Alkohol- und Medikamentenmissbrauch,
sozialer Rückzug, zunehmende Inaktivität und anhaltende Dissoziationen (d.h. Ab-
spaltung und mangelnde Integrationsfähigkeit von Denken, Fühlen und Handeln).
4. Kognitive Verarbeitung während des Traumas. Eine ungünstige Art und Weise, wie
dem Trauma zum Zeitpunkt des Geschehens begegnet wurde, verschlimmert die
posttraumatische Störung. Sich-Aufgaben während einer körperlichen und/oder se-
xuellen Gewalttat oder im Zeitraum einer politischen Inhaftierung führt auch später
zu einem Gefühl der Wertlosigkeit und Chancenlosigkeit.
5. Weitere Faktoren, die eine posttraumatische Belastungsstörung begünstigen. Dazu
zählen beispielsweise die Dauer und die Vorhersehbarkeit des Traumas, die Reak-
tionen der Umwelt, das Ausmaß an sozialer Unterstützung, Belastungen bereits vor
dem Trauma sowie andere lebensgeschichtlich bedeutsame Faktoren.
358 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Biopsychologische Erklärungsmodelle, d.h. kognitive Konzepte in Verbindung mit den


aktuellen neurobiologischen Erkenntnissen, stellen die Grundlage der modernen Psy-
chotherapie posttraumatischer Belastungsstörungen dar. Sie werden sowohl von verhal-
tenstherapeutischen als auch von psychodynamischen Behandlungskonzepten berück-
sichtigt. Verschiedene zentrale Symptome stellen während des Traumas hilfreiche Über-
lebensstrategien und einige Zeit danach durchaus angemessene Problemlösungsversu-
che dar, sind langfristig jedoch hinderlich bei der Verarbeitung des Traumas und der
weiteren Lebensbewältigung. Im Folgenden werden einige ausgewählte Aspekte mit
den daraus resultierenden psychotherapeutischen Zielen zusammenfassend dargestellt:

z Freeze als Zustand der totalen Immobilität. In Gefahrensituationen stehen dem


Menschen drei Möglichkeiten zum Schutz seines Lebens zur Verfügung: Kampf,
Flucht, Immobilität (Freeze). Kampf ist dann erforderlich, wenn man sich der Be-
drohung von Leib und Leben unbedingt stellen muss, Flucht ist dann sinnvoll, wenn
man einen Kampf vermeiden möchte oder verlieren würde und gleichzeitig eine ge-
wisse Chance besteht, der Gefahr entkommen zu können. Freeze als Zustand des
„Einfrierens“ aller Reaktionsmöglichkeiten, d.h. als vollständige Lähmungsreaktion,
entspricht dem Totstellreflex in der Tierwelt, wenn Kampf oder Flucht nicht mög-
lich oder aussichtslos sind. Das Erlebnis totaler Hilflosigkeit ohne Chance, entkom-
men zu können, stellt einen traumatisierenden Schockzustand dar. Endorphine als
körpereigene Opiate bewirken in diesem Zustand der Schutzlosigkeit eine Schmerz-
linderung oder gar eine Schmerzunempfindlichkeit für den Fall einer lebensgefährli-
chen Verletzung des Organismus. Gleichzeitig blockiert bei dieser lähmenden
Schreckreaktion Noradrenalin aus der Nebennierenrinde kurzfristig die Wahrneh-
mung („Tunnelblick“) und bewirkt damit eine Entfremdung vom Geschehen, sodass
man gar nicht bewusst mitbekommt, was wirklich los ist. Erst nach der mehr oder
weniger langen Schreckstarre kommt es zum emotionalen Ausbruch (z.B. schreien
oder weinen). Psychotherapie hat in diesem Zusammenhang die Aufgabe, die psy-
chophysische Blockade des traumatisierten Menschen zu überwinden, seine Hand-
lungsfähigkeit wiederherzustellen und das Gefühl einer autonomen und selbstbe-
wussten Persönlichkeit zu stärken.

z Dissoziation als Bewältigungsversuch. Kurzfristige Dissoziation ist eine gesunde


Reaktion zur Ausblendung aktuell störender Informationen, Emotionen und körper-
licher Empfindungen, um eine Überflutung durch interne und externe Reize zu ver-
meiden und sich dadurch auf etwas anderes besser konzentrieren zu können. Chroni-
sche Dissoziationen, wie sie vor allem bei komplex traumatisierten Personen vor-
kommen, stellen dagegen einen krankheitswertigen Zustand dar, weil die Integrati-
on, d.h. die Assoziation (Verknüpfung) der verschiedenen Aspekte der Wahrneh-
mung, des Erlebens und der Erinnerung verloren gegangen ist. Die niederländischen
Experten Ellert Nijenhuis und Onno van der Hart haben ein biologisch fundiertes
Modell der strukturellen Dissoziation zur Erklärung chronischer Traumatisierung
entwickelt. Ein „anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil“ als äußere unscheinba-
re Fassade existiert neben einem „emotionalen Persönlichkeitsanteil“, der mithilfe
von Dissoziation und Schmerzunempfindlichkeit ursprünglich einen Überlebens-
schutz bei massiver Bedrohung dargestellt hat. Es ist das Ziel der Psychotherapie bei
Trauma-Patienten, schrittweise eine Assoziation aller relevanten Erlebnisbereiche
und damit eine Lebensbewältigung ohne Dissoziation zu erreichen.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 359

z Spezielle Stressverarbeitung in den Gedächtnissystemen des limbischen Systems


(Amygdala als unbewusster Gedächtnisspeicher, Hippocampus als bewusster Ge-
dächtnisspeicher). Akute Bedrohungserfahrungen werden in der Amygala als starke
Gefühlsreaktionen in Verbindung mit lebendigen Erinnerungsbildern gespeichert. Es
handelt sich dabei um Furchtkonditionierungen mit hoher Löschungsresistenz. Dabei
werden sensorische Eindrücke über synaptische Verbindungen im lateralen Kern der
Amygdala mit einem unkonditionierten Reiz unauslöschlich verknüpft. Nach dem
Modell der klassischen Konditionierung können später alle möglichen konditionier-
ten Reize eine neuerliche Furchtreaktion auslösen, ohne dass die Betroffenen eine
ausreichende Kontrolle darüber haben. Unverarbeitet stehen Amgygdala-gestützte-
Gedächtnisinhalte nicht in Verbindung mit einem raum-zeitlichen Zusammenhang,
wie er durch das episodische (autobiografische) Gedächtnis im Hippocampus reprä-
sentiert wird. Überwältigende Angst bewirkt durch diese Art der Abspeicherung in
der Amygdala zwar rasches Lernen, das Erlernte wird jedoch viel zu wenig mit den
Lernerfahrungen des autobiografischen Gedächtnisses (Gesamtheit der Lebenserin-
nerungen, Alltagsgedächtnis) im Hippocampus verknüpft (z.B. wird nach einem un-
verarbeiteten schweren Autounfall die Todesangst stärker abgespeichert als die an-
schließende Erfahrung des unversehrten Überlebens). Das ist die Problematik des
Traumagedächtnisses: einerseits stellt es im Sinne einer Warnfunktion eine Schutz-
reaktion für den Fall einer neuerlichen ähnlichen Bedrohung dar (Frühwarnsystem
nach dem Motto: „Das gebrannte Kind fürchtet das Feuer“), andererseits führt es bei
unzureichender Einordnung in den historischen Ablauf des Lebens über die perma-
nente Ausschüttung von Stresshormonen zu einer ständigen psychophysischen An-
spannung des Menschen, weil es eine anhaltende Bedrohung vortäuscht (das gesun-
de Motto wäre: „Das war damals, im Hier und Jetzt ist alles anders“). Reize, die mit
Gefahr und Bedrohung zu tun haben, werden stärker beachtet und im Gedächtnis ge-
speichert als andere Reize, die kein derartiges Alarmsignal darstellen. Nach einem
Trauma ist insbesondere die rechte Amygdala aktiv (bei Rechtshändern, sonst um-
gekehrt) und hemmt die Aktivität des linken Hippocampus. Die Amygdala speichert
traumatische Erfahrungen als Hier-und-Jetzt-Erleben (als ob das Ereignis momentan
neuerlich passieren würde), bruchstückhaft (meist als schreckliche Sinneseindrücke
und bedrohliche Körperempfindungen), abgespalten (dissoziiert von anderen Erfah-
rungen), ohne Verbindung zum Sprachzentrum (d.h. als überflutende Gefühle und
plastisch-lebendige Bilder) und damit ohne Verbalisierungsmöglichkeit und ohne
bewusste Kontrolle darüber. Der Hippocampus speichert Erfahrungen zusammen-
hängend, eingeordnet in den biografischen Kontext des Lebensablaufs (raum-zeitlich
strukturiert), integrativ (assoziativ, d.h. in Verbindung mit anderen Aspekten), in
Verbindung mit dem Sprachzentrum (d.h. als bewusstes Wissen und mit Worten
verarbeitbar) und damit gezielt aktivierbar und kontrollierbar. Das implizite (unbe-
wusste, nonverbale) Gedächtnissystem der Amygdala und das explizite (bewusste,
sprachgebundene) Gedächtnissystems des Hippocampus müssen zu einem Gesamt-
bild der Erinnerung verarbeitet werden und dürfen nicht länger dissoziiert nebenein-
ander stehen. Es ist das Ziel der Psychotherapie bei traumatisieren Menschen, die
über die Amygdala hochgradig emotional und nonverbal vermittelten Erinnerungen
mithilfe der Möglichkeiten des Hippocampus in den Gesamtzusammenhang des Le-
bens einordnen und mithilfe des Kortex kognitiv-verbal verarbeiten und steuern zu
lernen, sodass neue Sichtweisen und Handlungsstrategien möglich werden.
360 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Angst als biopsychosoziales Geschehen


Anstelle reduktionistischer Konzepte im Sinne monokausaler Erklärungsmodelle (z.B.
„Die Störung ist ausschließlich organisch bedingt“, „Die Symptomatik ist rein psycho-
gen bedingt“) werden heutzutage biopsychosoziale Erklärungsmodelle bevorzugt, die
die multifaktorielle Genese psychischer Störungen betonen, ohne dass diese Sichtwei-
sen bereits einen konkreten Erklärungswert für die jeweilige Symptomatik darstellen.
Umfassende kognitiv-behaviorale Modelle berücksichtigen psychologische, soziale und
biologische Aspekte bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Angst- und
Zwangsstörungen, d.h. sie betonen die Körper-Psyche-Umwelt-Interaktionen.
Mit der Unterscheidung von prädisponierenden, auslösenden und aufrechterhalten-
den Faktoren werden drei Arten von Ursachen differenziert, die sowohl in biologischer
als auch in psychologischer und sozialer Hinsicht von Bedeutung sind:

1. Vorbedingungen (Prädispositionen). Bestimmte genetische, somatische, psychische


und soziale Faktoren begünstigen das Auftreten von Angststörungen im Sinne einer
gewissen konstitutionellen Anfälligkeit („Vulnerabilität“, Diathese-Stress-Modell):
z Vererbung und Konstitution. Vererbt werden nicht bestimmte Angststörungen,
sondern ein bestimmtes Temperament und eine rasche psychovegetative Aktivie-
rung (z.B. Nervosität, Ängstlichkeit, Übererregbarkeit, Verhaltenshemmung).
z Frühkindliche Sozialisation (Lernerfahrungen). Verhaltensweisen, Denkmuster
und Erziehungsstil der Eltern, Verwahrlosung, ängstliche Überbehütung, unsi-
chere Eltern-Kind-Bindungen, frühe Trennung von den Eltern, Alkoholabhän-
gigkeit eines Elternteils mit den Folgeerscheinungen und andere Faktoren begün-
stigen Ängstlichkeit, mangelnde Geborgenheitserfahrung und Störung des Urver-
trauens in die eigene Person, in die soziale Umwelt und in die Zukunft.
z Gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Bestimmte Wertvorstellungen, Normen
und religiöse Inhalte in der jeweiligen Gesellschaft und Kultur können eine spä-
tere Angststörung vorbereiten.
z Traumatisierungen. Körperliche und sexuelle Gewalt, Kriegserfahrung, Verfol-
gung, Folter, Verlust zentraler Bezugspersonen, soziale Entwurzelung, schwere
Erkrankungen von nahe stehenden Angehörigen bewirken eine erhöhte Sensibili-
tät gegenüber jeder Form von neuerlicher potenzieller Bedrohung.
z Persönlichkeitsfaktoren. Angststörungen entwickeln sich häufig auf dem Hinter-
grund bestimmter Persönlichkeitsmerkmale: Intoleranz gegenüber Unsicherheit,
Restrisiko und Fehlern, erhöhtes Bedrohungs- bzw. Gefährdungsgefühl mit
Überaufmerksamkeit auf mögliche Gefahrenzeichen, Perfektionsstreben mit aus-
geprägter Fehlervermeidungstendenz, geringes Selbstvertrauen bzw. Selbstbe-
wusstsein, soziale Unsicherheit oder Gehemmtheit, „Neurotizismus“, geringe
Stresstoleranz, plastisch-bildhafte Vorstellungsfähigkeit mit mangelnder Tren-
nung zwischen Vorgestelltem und Realität, überhöhtes Verantwortungsgefühl,
mangelnde Affektwahrnehmung (Alexithymie), übermäßige oder undifferenzier-
te Körperbeobachtung, vermeidend-unsichere oder abhängige Persönlichkeit.
z Grundlegende dysfunktionale Denkmuster. Bestimmte Denkmuster („Ich muss
immer der Beste sein, darf nicht schwach sein oder versagen, muss von allen ge-
liebt werden, darf niemanden enttäuschen usw.“), ständige Sorgen und übertrie-
bene Gesundheitsvorstellungen („Gesund ist man nur dann, wenn man keinerlei
Symptome hat“) erleichtern die spätere Ausprägung einer Angststörung.
Angst als Produkt des Geistes – Kognitive Konzepte 361

2. Auslöser. Angststörungen werden häufig durch verschiedene körperliche, psychi-


sche oder soziale Belastungsfaktoren (Stressoren, Life-Events) ausgelöst:
z Medizinische Faktoren. Neurophysiologische Störungen im Gehirn (Neurotrans-
mitterstörungen, neuroanatomische Störungen), körperliche Krankheiten, Zu-
stand nach einem längeren körperlichen Schwächestand, allergische oder hormo-
nelle Reaktionen, Übergebrauch, Missbrauch oder Nebenwirkungen von Sub-
stanzen, an sich harmlose körperliche Symptome sowie negative Erfahrungen
mit dem Medizinsystem lösen eine fundamentale Verunsicherung aus.
z Veränderungen der Lebenssituation. Kritische Lebensereignisse (z.B. Tod oder
schwere Erkrankung einer zentralen Bezugsperson, Scheitern der Partnerschaft,
Scheitern der Ehe der Eltern, bedeutsame innerfamiliäre Veränderungen, Ar-
beitslosigkeit, mangelnde ökonomische Absicherung, Veränderungen des sozio-
kulturellen Umfeldes) erschüttern das Geborgenheitsgefühl in der Welt.
z Akute Traumatisierung. Akute Bedrohungen durch Unfall, Überfall, sexuelle
oder körperliche Gewalt bewirken ein plötzliches Gefährdungsgefühl.
z Psychosoziale Belastungsfaktoren (interpersonelle Konflikte). Konflikte in Part-
nerschaft, Familie und Beruf, Überforderung in der Ausbildung, am Arbeitsplatz
oder zu Hause (z.B. Burn-out oder Mobbing) führen zu einer erhöhten körperli-
chen und psychischen Anspannung, die Angst auslösend wirkt.
z Intrapsychische Konflikte. Innere Zwiespältigkeiten bzw. Ambivalenzen (z.B.
Konflikte zwischen Bindung und Freiheit, Stabilität und Veränderung u.a.) und
heftige Emotionen (z.B. Wut, Ärger, Erregung) bewirken starke Angstzustände.
z Aktuelle dysfunktionale Denkmuster. Bestimmte Kognitionen, falsche Einschät-
zungen von Situationen und Fehlbewertungen momentan vorhandener, an sich
harmloser körperlicher Symptome als gefährlich bewirken eine Beunruhigung.

3. Verstärker (aufrechterhaltende Faktoren). Bestimmte Reaktionen der Betroffenen


oder der sozialen Umwelt sowie andauernde Belastungsfaktoren halten die sich ent-
wickelnde Angststörung aufrecht und verhindern das Abklingen der Symptomatik,
sodass diese chronisch wird:
z Fehlende oder falsche Bewältigungsstrategien. Mangelnde Kopingmechanismen
im Umgang mit Ängsten, Zwängen und Traumata verschlimmern die Störung,
z.B. äußeres und inneres Vermeidungsverhalten, zunehmendes Krankheitsverhal-
ten mit Schonhaltung, Sicherheitsstrategien (Mitnahme von vertrauten Personen,
Medikamenten, Handy), Rückversicherung bei anderen Menschen zur Beruhi-
gung (z.B. ständige Fragen), Alkohol- und/oder Medikamentenmissbrauch.
z Komorbidität. Organische Störungen, ansteigender Substanzmissbrauch als kurz-
fristig wirksame, langfristig jedoch abhängig machende Bewältigungsstrategie
und mit zunehmender Dauer der Angststörung wahrscheinliche depressive oder
somatoforme Störungen verstärken und perpetuieren die ursprünglichen Ängste.
z Falsche Umweltreaktionen. Fehlendes Verständnis und mangelnde soziale Un-
terstützung oder – im Gegensatz dazu – übermäßige Nachrichtigkeit, andauernde
Hilfestellungen und damit Verstärkung der Ängste vonseiten der sozialen Um-
welt erschweren den Betroffenen die adäquate Bewältigung ihrer Angststörung.
z Psychosoziale Folgen. Die negativen sozialen Auswirkungen einer länger dau-
ernden Angststörung (Verlust des Arbeitsplatzes, Mobbing, sozialer Rückzug,
Trennung des Partners, gesellschaftliche Stigmatisierung als psychisch krank,
häufiger Krankenstand, Frühberentung u.a.) tragen zu deren Chronifizierung bei.
362 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Angst als Bedrohung des Ichs – Das Modell der Psychoanalyse


Sigmund Freud beschrieb drei Arten von Angst:
z frei schwebende oder Erwartungsangst (Angstneurose),
z Angstanfälle (Panikattacken, zur Angstneurose bzw. Hysterie gezählt),
z phobische oder Situationsangst (Phobien).

In ihrer starken und akuten Form wurden Ängste als „traumatische Angst“ und in ihrer
milderen Erscheinung als „Signalangst“ bezeichnet. Die Signalangst entspricht einer
Realangst, die traumatische Angst einer neurotischen Angst.
Realangst ist eine auf eine äußere Gefahr gerichtete Angst, sie ist angemessen und
dient dazu, durch Flucht oder Aggression äußere Gefahr zu beseitigen.
Neurotische Angst ist eine unangemessene, übertriebene und in keiner Weise zweck-
dienliche Angst. Angst stellt nach Freud das Grundproblem der Neurosen dar.
Freud entwickelte zwei Angsttheorien [122]: Angst als Folge eines Triebstaus und
Angst als Signal. Nach der ersten, biologischen („triebhydraulischen“) Angsttheorie ist
Angst die Folge der Blockierung von körperlicher Erregung oder Triebansprüchen, vor
allem von sexuellen und aggressiven Impulsen. Die Stauung libidinöser Triebenergie
setzt sich mangels adäquater körperlicher Abfuhr im psychischen Erleben als Angst um,
wobei es zusätzlich zu körperlichen Begleiterscheinungen kommt. Angst wird von
Freud als pathologische Manifestation nicht abreagierter, primär sexuell verstandener
Triebenergie verstanden. Es handelt sich um eine biologisch orientierte Angsttheorie,
die auf dem überholten physikalischen Triebmodell des 19. Jahrhunderts beruht. Angst
und Aggression (z.B. Wut) bewirken nach heutiger Auffassung dieselbe sympathikoto-
ne Aktivierung, die mangels einer akuten äußeren Gefahr oft zu keiner adäquaten moto-
rischen Aktivität führt.
Die zweite, psychologische Angsttheorie Freuds enthält gegenteilige Aussagen:
1. Angststätte ist nicht das Es (die Triebe), sondern das Ich. Das Ich ist der Ort, wo die
Angst auftritt. Die Angst ist umso größer, je mehr sich das Ich bedroht fühlt. Die
Fähigkeit zur sinnvollen Kontrolle der Angst ist ein Maß für die Ich-Reife.
2. Nicht die Verdrängung erzeugt Angst, sondern die Angst erzeugt Verdrängung.
Angst entsteht, wenn das Ich mit einer Gefahrensituation konfrontiert ist. Triebim-
pulse führen zu Angst, wenn deren Regung durch äußere oder innere Verbote nicht
akzeptiert werden kann. Angst als Signal setzt die Abwehrmechanismen der Ver-
drängung und Unterdrückung in Gang, um damit fertig zu werden. Beim reifen
Abwehrmechanismus der Verdrängung ist völlige Angstfreiheit möglich, weil Af-
fekt- und Vorstellungsanteil eines bedrohlichen Triebimpulses aus dem Bewusstsein
ausgeschlossen werden. Wenn dies nicht gelingt, entstehen neurotische Ängste, die
je nach Art der Abwehrmechanismen unterschiedlich geformt sind. Eine Agorapho-
bie wird von Freud z.B. als Angst vor sexuellen Impulsen interpretiert und als Unfä-
higkeit, damit umzugehen. Durch die Agoraphobie erfolgt die Lösung des sexuellen
Konflikts in dem Sinn, dass keine Versuchungssituation mehr möglich ist.

Man kann in der neueren Psychoanalyse neben dem ursprünglichen Modell (Angst als
Triebstau) drei Modelle der Angstentstehung unterscheiden [123]:
1. Angst als Folge eines Konflikts (Konfliktmodell),
2. Angst als Folge von Ich-Schwäche (Strukturschwächemodell),
3. Angst als Bindungsverlustangst (bindungstheoretisches Modell).
Angst als Bedrohung des Ichs – Das Modell der Psychoanalyse 363

Angst als Folge eines Konflikts (Konfliktmodell)


Die zweite Angsttheorie Freuds kann nur auf dem Hintergrund seiner Vorstellungen zur
Struktur des Psychischen verstanden werden. Demnach wird das Ich von zwei Seiten
her bedrängt, nämlich von den Triebansprüchen (Es) und dem Gewissen (Über-Ich),
wodurch Konflikte entstehen. Angst entwickelt sich auf dem Hintergrund eines Kon-
flikts. Intrapsychische Konflikte sind als zentrale Ursache von Angst anzusehen.
Das psychoanalytische Neurosenkonzept ist ein Drei-Phasen-Modell: Am Anfang
steht ein unlösbarer psychischer Konflikt, dieser wird mit Hilfe bestimmter Abwehrme-
chanismen abgewehrt, das Verdrängte kehrt schließlich im Symptom wieder.
Der Konflikt beginnt mit einer „auslösenden Situation“, die zu einer Stimulation
oder Frustration von Triebimpulsen führt. Diese Triebimpulse müssen vom Bewusstsein
ferngehalten werden, weil sie entweder übermächtig und unkontrollierbar werden könn-
ten (z.B. aggressive Impulse) oder weil sie verboten sind (z.B. sexuelle Impulse).
Die Angst bewirkt im Sinne einer Anpassungsfunktion ein regressives Ausweichen,
was zugleich jedoch zur Wiederbelebung früherer Konfliktsituationen ähnlicher Aus-
prägung führt. Statt der angestrebten Konfliktentlastung wird die innere Konfliktspan-
nung erhöht, was zusätzliche Abwehrbemühungen mobilisiert.
Wenn die Angstabwehr versagt, wird die Gefährdung durch die einbrechenden
Triebimpulse vom Ich bewusst erlebt, was einerseits zu Angst als Symptom führt, ande-
rerseits dem Ich als Signal für eine drohende Reizüberflutung dient. Dadurch schaukelt
sich die Angstentwicklung immer mehr auf, bis sie in einen intensiven Angstanfall
mündet (wenn nicht doch noch eine Flucht aus der Situation möglich ist).
Der Grundgedanke von Freuds zweiter Angsttheorie besteht darin, dass durch Angst
als letztes Mittel eine traumatische Reizüberflutung des Ichs verhindert wird.
Ängste stehen in engem Zusammenhang mit spezifischen Konflikten im Rahmen der
frühkindlichen Entwicklungsphasen. Die phasentypischen Ängste in der kindlichen
Entwicklung sind als normal anzusehen und führen bei entsprechender Bewältigung zur
reifen Ich-Entwicklung.
Entwicklungspsychologisch werden folgende Gruppen von Ängsten unterschieden:
1. Angst vor Verlust des Objekts oder Trennungsangst.
2. Angst vor Verlust der Liebe des Objekts.
3. Angst vor Strafe bei Verstoß gegen äußere Gebote und Verbote.
4. Über-Ich- oder Gewissensangst. Sobald die elterlichen Normen verinnerlicht und in
ein eigenständiges Gewissen integriert sind, entsteht die Angst vor dem eigenen
Gewissen. Bei überstrenger Gewissensinstanz entwickeln sich Gewissensängste.
5. Angst vor dem Verlust der körperlichen Integrität.

Wenn entwicklungsphasenspezifische Konflikte nicht ausreichend gelöst werden,


kommt es zu einer latenten Fixierung im Sinne einer späteren erhöhten Verwundbarkeit.
Im Erwachsenenalter kann dies bei ähnlich gelagerten Konfliktsituationen zu einer
Regression auf infantile Erlebnisse führen. Erwachsene beurteilen im Zuge ihrer Re-
gression den real anstehenden Konflikt als überfordernd und reaktivieren infantile Äng-
ste, wobei sie unter dem Druck dieser Ängste zunehmend hilflos werden.
Ungelöste Ambivalenzen, wie sie in den frühkindlichen Prägephasen erworben wur-
den, können unter den speziellen Anforderungen späterer Reifungsabschnitte wieder
voll durchbrechen und zu Angststörungen führen.
364 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Bei einem aktuellen Konflikt werden über regressive Prozesse unbewusste Inhalte in
der „symptomauslösenden Situation“ aktiviert. Entsprechende Impulse, Wünsche oder
Fantasien werden vom Ich als innere Gefahr gewertet. Dies führt zur Entwicklung von
Angst als Signalangst mit dem Zweck, geeignete Abwehrmaßnahmen zu mobilisieren,
die das Auftreten einer intensiven und überwältigenden Angst verhindern sollen. Im
besten Fall der Angstbewältigung erfolgt eine Verdrängung oder Sublimierung.
Bei Angststörungen sind die Abwehrmechanismen des Ich nicht mehr in der Lage,
den unbewussten Reiz ausreichend abzuwehren, sodass er sich mit dem aktuellen Reiz
in der symptomauslösenden Situation verbindet. Derartige Symptombildungen dienen
dem Zweck, konflikthafte Strebungen bzw. Einstellungen im Individuum durch einen
Kompromiss miteinander zu versöhnen und dadurch das psychische Gleichgewicht um
den Preis einer neurotischen Konfliktlösung zu erhalten.
Die neurotische Konfliktlösung durch Verschiebung auf ein äußeres Objekt führt zu
einer Phobie, die Verschiebung auf den eigenen Körper (Körpersymptome) bewirkt eine
Konversionsstörung bzw. eine Hypochondrie. Wenn die Angstbindung durch Verschie-
bung ausfällt, bricht die Angst als manifeste, frei flottierende Angst im Sinne einer
Angstneurose durch. Das Konfliktmodell dient zur Erklärung phobischer Störungen.
Phobien können auch durch kontraphobische Vermeidung – ähnlich wie bei einer
Zwangsstörung – bewältigt werden. Kontraphobische Patienten suchen gerade jene
Situationen recht häufig auf, die sie in Wahrheit besonders fürchten. Sie leugnen oder
verdrängen jede Angst und wirken nach außen hin sehr mutig, unterschätzen dabei je-
doch reale Belastungs- und Gefahrensituationen.

Abb. 2: Psychoanalytisches Modell der Symptombildung bei Angststörungen [124]

Aktueller Konflikt
È
Regression
È
„Innere Gefahr“
È
Angst
È
Sublimierung Å Abwehr Æ Verdrängung

Ë Ì
Regression Verschiebung der Angst
È È È
Versagen der Abwehr Objekt der Objekte der
Außenwelt (Körper-)
Innenwelt
È È
Angstanfall Vermeidung È
È È
Angstneurose Phobie Hypochondrie

Neuere psychoanalytische Erklärungsmodelle (z.B. das Ätiologiemodell der Panikstö-


rung von Shear) berücksichtigen – ähnlich wie verhaltenstherapeutische – die Wechsel-
wirkungen zwischen der psychologischen Vulnerabilität (Konflikte, Objektbeziehungs-
störung) mit anderen Faktoren wie der neurophysiologischen Vulnerabilität, den aktuel-
len Belastungsfaktoren und der aktuellen körperlichen und psychischen Befindlichkeit.
Angst als Bedrohung des Ichs – Das Modell der Psychoanalyse 365

Angst als Folge von Ich-Schwäche (Strukturschwächemodell)


Die Strukturen von Ich und Selbst können aufgrund von traumatischen frühkindlichen
Erfahrungen, mangelhaften Entwicklungsbedingungen oder konstitutionellen Gegeben-
heiten schwer beeinträchtigt sein, sodass eine „Brüchigkeit des Ichs“, eine „Ich-
Schwäche“, gegeben ist. Eine derartige Ich-Entwicklungsstörung wird nach der neueren
Terminologie der Psychoanalyse als „narzisstische Störung“ bezeichnet.
Den klinischen Extremfall stellt die Borderline Persönlichkeitsstörung dar. Als Fol-
ge der Ich-Struktur-Schwächen können schon kleinere innere oder äußere Bedrohungen
vom Ich nicht mehr gebunden, verarbeitet oder bewältigt werden, sodass es zum unmit-
telbaren Angstaffekt kommt. Die Ängste brechen ungehemmt und scheinbar grundlos
durch, sind meist objektlos, d.h. frei flottierend, oder stark körperbezogen ausgeprägt.
Das Strukturschwächemodell dient in der Psychoanalyse zur Erklärung von angst-
neurotischen Störungen und Panikstörungen.

Angst als Bindungsverlustangst (Bindungstheoretisches Modell)


Unter Bezugnahme auf die Bindungstheorie von Bowlby kann Angst als Reaktion auf
eine Bedrohung der fundamentalen Bindungen im Leben verstanden werden. Die größte
Angst ist die Angst vor dem Verlust des Objekts (d.h. der primären Bezugspersonen)
oder die Angst vor Trennung, die sich in der frühesten Kindheit bei zunehmender Diffe-
renzierung zwischen dem Selbst des Kindes und seinen engsten Bezugspersonen ent-
wickelt. Die Trennungsangst besteht anfangs in der Angst vor dem unmittelbaren Ob-
jektverlust, später mit fortschreitender kognitiver und affektiver Entwicklung in der
Angst vor dem Verlust der Liebe des Objekts.
Ein bindungsunsicherer Mensch hat in der frühen Kindheit keinen stabilen Halt ei-
ner warmherzigen, gewährenden Beziehung zu bestimmten primären Bezugspersonen
erlebt, bedingt durch Trennungserlebnisse oder schwere Deprivationserfahrungen. Die
Betroffenen haben als Erwachsene Schwierigkeiten, Bindungen einzugehen und auf-
rechtzuerhalten, weil das Vertrauen zu anderen Menschen entweder fehlt oder schwer
beeinträchtigt ist. Jede Bindung wird immer wieder auf ihre Verlässlichkeit hin getestet.
Angstsymptome können ein Mittel sein, den Partner intensiv an sich zu binden.
Nach der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie konnten Menschen mit ver-
unsichernden Beziehungserfahrungen keine stabilen bzw. verlässlichen Objekt- und
Selbstrepräsentanzen entwickeln. Sie bleiben daher auf ein „Hilfs-Ich“ angewiesen.
Unsichere Bindungserfahrungen bewirken ein ängstlich-unsicheres Selbstbild und ein
unsicheres Selbstwertgefühl. Alleinsein wird als bedrohlich und gefährlich erlebt.
Bei Angststörungen erscheinen verschiedene gefürchtete Situationen gerade deswe-
gen so bedrohlich, weil in ihr der Schutz einer Sicherheit gebenden Bezugsperson ver-
misst wird. Die Angst von Agoraphobikern, auf offener Straße umzufallen und hilflos
auf dem Boden zu liegen, kann als konkrete Gefahr interpretiert werden, ohne beglei-
tenden Schutz durch eine Bezugsperson sich nicht ausreichend selbst steuern zu können
und hilflos zu werden. In diesem Sinn macht Angst abhängig oder macht Angst Abhän-
gigkeitswünsche realisierbar.
Das bindungstheoretische Modell dient zur Erklärung von Panikstörungen mit und
ohne Agoraphobie sowie zum Verständnis der Herzphobie, die in der neueren Diagno-
stik – zumindest nach dem DSM-IV – zu den Panikstörungen gezählt wird.
366 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Differenzierung von Angststörungen


nach Art und Ausmaß der Angstbindung
Angststörungen werden in der Psychoanalyse durch unterschiedliche Abwehrmecha-
nismen und unterschiedliche Angstbindungskapazität voneinander abgegrenzt.

Phobien – Verschiebung und Vermeidung der Angst


Bei einer Phobie wird der Angstinhalt auf äußere Objekte oder Situationen verschoben,
der Angstaffekt kann durch Ausweichen vor diesen Objekten und Situationen vermie-
den werden. Eine ursprünglich intrapsychische Gefahrenquelle (z.B. eine unbewusste
verpönte Fantasie) wird nach außen verlagert und steht damit in symbolischer Bezie-
hung zur eigentlichen inneren Bedrohung. Gefürchtet werden nicht so sehr die realen
Angst auslösenden Objekte, sondern die unbewussten Fantasien, die sich mit diesen
Objekten assoziativ verbinden [125]. Phobien werden psychoanalytisch durch den Me-
chanismus der Verschiebung erklärt, durch den eine große innere Bedrohung, verursacht
durch einen unbewussten Konflikt, symbolisch auf eine an sich harmlose äußere Bedro-
hung umgelenkt und dann auch auf dieser Ebene zu bewältigen versucht wird, sodass
eine Psychoanalyse notwendig erscheint, um die tieferen Hintergründe aufzudecken.
Durch assoziative Verknüpfungen kann sich eine spezifische Phobie immer mehr
ausweiten. Es werden immer mehr Objekte und Situationen vermieden (Generali-
sierung), insbesondere dann, wenn der bestimmte Phobien auslösende Triebimpuls sehr
bedrängend wirkt und eine deutliche Ich-Schwäche gegeben ist.
Bei einer Phobie besteht nur eine teilweise Beeinträchtigung der Ich-Struktur, sodass
die Abwehr der Verschiebung noch gelingt. Die äußere Situation, die gefürchtet wird,
steht symbolisch für die innere Bedrohung. Es kommt zu einer Verschiebung des Angst-
objekts von innen nach außen. An die Stelle der ursprünglichen Angst machenden In-
halte (bestimmte Triebregungen, Vorstellungen, Gefühle) werden belanglose äußere
Situationen gesetzt. Hinter der phobischen Angst vor harmlosen Messern stehen z.B.
Ängste vor der eigenen Aggression gegenüber der Mutter.
Durch die Vermeidung des äußeren Angstobjekts wird Konfliktfreiheit und damit
Angstfreiheit erreicht. Die Angst als Affekt ist zwar vorhanden, sie kann jedoch durch
die Vermeidung der Angst auslösenden Objekte und Situationen kontrolliert werden.
Phobiker sind nach psychoanalytischer Auffassung weniger stark psychisch gestört
als Angstneurotiker. Sie können durch Vermeidung Beschwerdefreiheit erlangen, was
angesichts der frei flottierenden Ängste bei einer Angstneurose nicht möglich ist. Der
Vermeidungsprozess bei einer Phobie wird durch Lernprozesse eingeübt.
Fazit: Eine Phobie stellt laut Psychoanalyse eine Abwehrform gegen eine bestimmte
Angst dar, die im gefürchteten Objekt nur mehr abgeschwächt und symbolisch zum
Ausdruck kommt. In der Psychoanalyse wird der zugrunde liegende Konflikt aufzudek-
ken und zu bearbeiten versucht. Nach der traditionellen psychoanalytischen Theorie
stehen Phobien vorwiegend mit genitalen bzw. ödipalen Konflikten in Zusammenhang.
Neuere Auffassungen innerhalb der Psychoanalyse betonen immer mehr die Tatsache,
dass Phobien (in ähnlicher Weise wie auch andere Angstreaktionen) sich auf einen
Objektverlust (Liebesentzug) beziehen und somit primär mit einer Gefährdung der
dyadischen Mutter-Kind-Beziehung in Zusammenhang stehen.
Angst als Bedrohung des Ichs – Das Modell der Psychoanalyse 367

Agoraphobie – Die Angst vor der Selbstständigkeit


Als Kernkonflikte bei Agoraphobie gelten bedrohte Bindungen, Verlassenheitsängste,
Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle, ärgerliche Vorwürfe und Abhängigkeit von
Bezugspersonen. Ständiges Angewiesensein auf Vertrauenspersonen ist das zentrale
Problem der Agoraphobie. Es besteht ein unlösbarer Bindungs-Autonomie-Konflikt –
ein Konflikt zwischen dem Wunsch auszubrechen, autonom und erwachsen zu werden,
und dem Wunsch, die damit verbundene Angst zu vermeiden [126]. Im Mittelpunkt
steht das Dilemma von Trennung und Individuation. In der konfliktreichen und ambiva-
lenten Partnerbeziehung spiegelt sich eine ähnlich gelagerte Beziehung wie zu den ei-
genen Eltern wider. Am Beginn einer Agoraphobie stehen oft ein reales oder gefürchte-
tes Verlusterlebnis (Tod, Krankheit oder Trennung des Partners) oder eigene Tren-
nungsabsichten, die letztlich nicht bewältigbar erscheinen. Die agoraphobische Sym-
ptomatik drückt dann eine Bedrohung der zentralen Lebensbeziehung in der Form aus,
dass entweder unbewusste Weglauftendenzen aus der Ehe bestehen oder der Verlust des
Partners gefürchtet wird, der über die Agoraphobie eng an sich gebunden wird.
Agoraphobiker und Panikpatienten weisen ängstlich-anklammernde Beziehungsmu-
ster auf. Die Angst vor Liebesverlust und vor dem Verlust der Beziehung überhaupt
führt zu einer starken Bindung an die Eltern bzw. an den Partner bei gleichzeitig sehr
ambivalenter Einstellung ihnen gegenüber. Der Partner, von dem man sich abhängig
fühlt und dem gegenüber man sich ausgeliefert erlebt, wird über die agoraphobische
Symptomatik in verhüllter Form manipuliert und gegängelt. Oft ist der Partner selbst ein
„latenter Angstneurotiker“. Die Partnerschaft funktioniert dann nur aufgrund der gegen-
seitigen Komplementarität, wie Willi [127] in seinem Kollusionsmodell gezeigt hat. Oft
bestehen bei beiden Partnern unbewusste Emanzipationswünsche und Trennungsängste.
Endlose Machtkämpfe zermürben das aneinander gekettete Paar.

Herzphobie – Existenzangst zwischen Bindungs-


und Trennungswünschen
Psychodynamisch ähneln Herzphobiker eher angstneurotischen Patienten als Panik-
patienten. Im Verhalten zeigen sich Ähnlichkeiten mit Agoraphobikern. Die herzphobi-
sche Trennungsangst ist nicht nur eine Angst vor der Entwicklung zur persönlichen
Unabhängigkeit, sondern auch eine Angst vor den eigenen aggressiven und expansiven
Fantasien und Impulsen. Selbstständiges Handeln mobilisiert Todesangst mit der Be-
fürchtung, das Herz könnte stehen bleiben.
Die massive Abhängigkeit vom Partner oder von der Mutter fördert latente Aggres-
sionstendenzen und verstärkt die unbewusste Ambivalenz. Die erste Herzattacke ent-
wickelt sich oft im Rahmen eines partnerschaftlichen Ambivalenzkonflikts.
Herzphobiker leben häufig in der angstvollen Erwartung der Trennung, die sie zu-
gleich wünschen und fürchten [128]. Bei einer Trennungs-Bindungs-Ambivalenz sind
verschiedene Konflikte Angst auslösend. Bei Zunahme der Bindung steigen die Schwie-
rigkeiten sich abzugrenzen, die unbewussten Weglauf- und Willkürimpulse nehmen zu.
Die Abhängigkeit von Schutz- und Hilfspersonen löst andererseits große Wut und ge-
fährliche Vernichtungsfantasien aus. Die Angst vor der eigenen Trennung bzw. Aggres-
sion wird schließlich in der Herzphobie somatisiert und gebunden.
368 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Angstneurose – Angstüberflutung infolge des Versagens


der Abwehrmechanismen
Bei der früher so genannten „Angstneurose“ versagen die Abwehrmechanismen auf-
grund einer Ich-Schwäche. Der Mensch wird von intensiver Angst und vegetativen
Symptomen überflutet. Ein Meidungsverhalten wie bei der Phobie ist unmöglich, weil
es keine bestimmten gefürchteten Objekte gibt. Es besteht eine ständige große Angst
vor allem und jedem [129].
Angstneurotische Patienten haben keine ausreichend stabilen Ich-Fähigkeiten, um
bei äußeren oder inneren Gefahrensituationen adäquate Signalangst entwickeln und
ertragen zu können. Wenn das Ich die alltäglichen Konflikte nicht ausreichend bewälti-
gen kann, entwickelt es schon bei relativ geringen Belastungen inadäquate Ängste. Bei
ich-strukturell schwer gestörten Personen treten massive Angstzustände auf. Selbst die
eigenen (insbesondere aggressiven) Triebregungen werden als stark bedrohlich erlebt.
Im Laufe des Lebens erfolgte nur eine mangelhafte Differenzierung verschiedener
Ich-Funktionen (Wahrnehmung, Interesse, Gedächtnis, formales Denkvermögen) und
eine unzureichende Differenzierung des Angstaffekts hinsichtlich körpernaher und
diffuser Unlustspannungen einerseits und reiferen Angstformen (Signalangst) anderer-
seits. Diese mangelhafte Ich-Organisation ist darin begründet, dass das Kind in seinen
Beziehungserfahrungen mit der Mutter entweder traumatisch überfordert wurde (z.B.
längere Trennungen) oder umgekehrt eine überfürsorgliche Mutter dem Kind wesentli-
che Erfahrungen mit seinen eigenen Affekten und deren Auswirkungen auf die soziale
Umwelt verunmöglichte. In bestimmten Gefahrensituationen können bei ich-strukturell
gestörten Menschen zwei Regressionsformen auftreten:
z eine Ich-Regression und eine Einschränkung der Ich-Funktionen,
z eine Regression bzw. Entdifferenzierung reiferer Angstformen zugunsten früher
Ängste.

Akute Ängste werden bei angstneurotischen Patienten vor allem dann ausgelöst, wenn
äußere, ich-stützende Mechanismen in Frage gestellt werden, z.B. drohender Verlust
einer nahe stehenden Bezugsperson oder Verlust von sozialer Anerkennung. Ich-
strukturell gestörte Patienten werden dadurch rasch hilflos, weil die Selbststeuerung, die
nur in Verbindung mit einer Sicherheit gebenden Bezugsperson bestand, akut gefährdet
erscheint. Bei angstneurotischen Patienten erfüllt der Partner oft die Rolle eines Hilfs-
Ichs. Der Partner muss stützende Ich-Funktionen übernehmen und so die fehlende stabi-
le Innensteuerung ausgleichen. Für klinische Praktiker ist es oft sehr beeindruckend, wie
gut und subtil gerade angstneurotische Patienten ein soziales Arrangement herstellen
können, das ihnen diese Außensteuerung gewährleistet. Auch Verhaltenstherapeuten
sind bei vielen Angstpatienten mit der Dynamik einer angstneurotischen Symptomatik
konfrontiert, z.B. wenn diese nicht bereit sind, nach den Regeln der Konfrontationsthe-
rapie vorzugehen, weil sie sich dann allein und verlassen fühlen, haben jedoch anderer
Erklärungsmuster dafür (z.B. Intoleranz von Unsicherheit, „Persönlichkeitsstörung“).
Die Unangemessenheit der neurotischen Angstreaktion beruht darauf, dass der be-
wusst wahrgenommene Reiz durch einen unbewussten, dem Patienten nicht erkennba-
ren Reiz verstärkt, modifiziert oder ersetzt wird. Die unbewussten Reize (frühkindliche
Fantasien, bestimmte Wünsche und Vorstellungen, aggressive oder sexuelle Impulse,
traumatische Erlebnisse) sind aufgrund von Abwehrmechanismen des Ichs nicht be-
wusstseinsfähig und sollen durch eine psychoanalytische Therapie aufgedeckt werden.
Angst als Bedrohung des Ichs – Das Modell der Psychoanalyse 369

Bei einer Angstneurose besteht eine Ich-Regression aufgrund von Defekten in der
Ich-Struktur. Die Ich-Schwäche zeigt sich darin, dass keinerlei Angst ertragen werden
kann, nicht einmal die Angst vor der Angst. Angstneurotische Patienten erleben auch
ohne Auslöser immer wieder das Angst machende Gefühl der inneren Brüchigkeit und
Verletzlichkeit als Folge ihrer Ich-Schwäche. Generalisierte Ängste können wegen der
Ich-Schwäche nur unzureichend bewältigt werden und kommen in bestimmten konkre-
ten Ängsten immer wieder zum Ausdruck. Das ständige Versagen bei der Bewältigung
von selbst sehr unwesentlichen Ängsten kann zu einer schweren chronifizierten Angst-
störung führen, die eine stationäre Behandlung erfordert.
Neben Bassler und Hoffmann [130], deren Ausführungen hier wiedergegeben wur-
den, haben auch Mentzos et al. [131] die Angstneurose sehr anschaulich beschrieben.
Die Ursachen einer schweren Angstneurose liegen auch nach diesen Autoren in einer
Pathologie der Objektbeziehungsfähigkeit, d.h. in einer fundamentalen Beziehungsstö-
rung. Menschen mit einer ausgeprägten Angstneurose haben eine Unzuverlässigkeit in
den zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt mit der Folge, letztlich niemand mehr
vertrauen zu können. Sie provozieren in Sozialbeziehungen immer wieder Ablehnung,
weil sie sich aufgrund ihrer Lebensgeschichte so verhalten, dass sie Zurückweisung
erwarten. Wichtige Bezugspersonen werden immer wieder auf die Probe gestellt, ob sie
tatsächlich vertrauenswürdig sind.
In der therapeutischen Übertragungsbeziehung werden die ursprünglichen Bezie-
hungsmuster aktiviert und aufgearbeitet, deren Ursachen näher analysiert und anschlie-
ßend vertrauensvollere Interaktionsmuster aufgebaut. Vorübergehend lässt der Analyti-
ker aus therapeutischen Gründen eine starke Regression zu, d.h. eine starke Abhängig-
keit des Patienten von ihm, in der Hoffnung, dass der Patient danach reifere Bezie-
hungsformen entwickeln lernt.
Der angstneurotische Anfall ist ein akuter Zustand intensiver Angst, der sich im Ge-
gensatz zu den Phobien weniger auf konkrete Objekte oder Situationen bezieht. Im
Vordergrund steht eine diffuse Angst. Die Betroffenen werden körperlich von Angst
buchstäblich überflutet. Hinter der Angst vor Beeinträchtigung oder Versagen eines
Organs (z.B. das Herz bei der Herzphobie) steht eine fundamentale Angst vor dem
schwer vorstellbaren und sehr bedrohlichen Selbstverlust mit den damit verbundenen
Gefühlen der Hilflosigkeit, absoluten Verlassenheit und Verzweiflung.
Der angstneurotische Bewältigungsmechanismus besteht darin, dass aus der ur-
sprünglichen Selbstverlustangst (Angst vor dem Sterben) eine Angst vor dem Versagen
körperlicher Funktionen oder vor dem Angstanfall selbst wird, und zwar in der Art einer
phobischen Symptombildung (Angst vor einer neuerlichen Panikattacke). Hinter der
erlebten Todes- oder Vernichtungsangst des Angstneurotikers steht verhüllt eine Le-
bensangst, die auf die Angst vor den körperlichen Symptomen verschoben wurde.
Faktische oder symbolische Trennungssituationen sind die häufigsten Auslöser einer
angstneurotischen Symptomatik. Nach psychoanalytischer Auffassung stehen hinter
angstneurotischen Zuständen stets Verlustängste bezüglich wichtiger Bezugspersonen
und/oder bezüglich der eigenen Existenz und des eigenen Selbst. Eine Plananalyse im
Rahmen einer Verhaltenstherapie, d.h. eine Analyse der hierarchisch geordneten Le-
benspläne eines Patienten, führt häufig zu denselben Erkenntnissen.
Beim Mechanismus der Verschiebung auf oberflächlichere Gegebenheiten wie bei
einer Phobie (Furcht vor Messern, Höhen, bestimmten körperlichen Erkrankungen
usw.) sind die zugrunde liegenden Existenzängste häufig nicht sofort zu erkennen, wes-
halb Psychoanalytiker eine „aufdeckende“ Therapie anbieten.
370 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Die typische Angst des Angstneurotikers ist die Angst vor Bindungsverlust und da-
mit die Angst vor Verlust des eigenen Halts. Angstneurotiker haben ein Bedürfnis nach
starken Schutzfiguren. Sie sind für ihr Wohlergehen auf die konkrete Anwesenheit ihres
Partners angewiesen, beklagen jedoch zugleich, dass der Partner sie krank mache, ab-
werte oder in ihren Selbstständigkeitsbestrebungen entmutige.
Der angstneurotische Mensch hat nur vordergründig Angst, andere zu verlieren. Im
tiefsten Inneren steht hinter der Angst vor dem Verlust der wichtigsten Bezugspersonen
die Angst, sich selbst zu verlieren, sich selbst ausgeliefert zu sein in allen unberechenba-
ren Situationen des Lebens. Angstneurotiker fürchten nichts so sehr wie das Alleinsein
mit sich selbst. Sie spüren ihre innere Leere und Haltlosigkeit und fürchten sich extrem
vor diesen Erfahrungen. Durch die Verschiebung auf die Besorgtheit um ihre körperli-
che Gesundheit, wie dies im Falle einer extremen Agoraphobie der Fall ist (z.B. nicht
allein zu Hause bleiben zu können), verbergen Angstneurotiker sich und anderen das
Erleben dieser existenziellen Grundängste.

Zwangsneurose – Isolierung und Abspaltung des Angstaffekts


Die Zwangsneurose beruht nach Sigmund Freud auf dem Konflikt zwischen einem auf
Befriedigung drängenden Es (Trieben) und einem extrem harten Über-Ich (internali-
sierte Normen der Umwelt), das alle aggressiven und sexuellen Triebregungen verbietet,
sodass Trieb- und Gewissensängste entstehen [132]. Bei der Zwangsneurose besteht ein
Kampf gegen alle Triebansprüche bzw. ein Konflikt zwischen Triebwünschen und Hy-
permoralität. In bestimmten Situationen ist die Triebabwehr geschwächt, sodass es zur
Wiederkehr der verdrängten Impulse kommt. Zwänge stellen nach Freud einen Ab-
wehrversuch von bedrohlichen, destruktiven Impulsen dar. Die Art der Zwänge drückt
die jeweilige Kompromissbildung zwischen dem Es und dem Über-Ich, zwischen dem
abgewehrten und dem abwehrenden Teil, aus. Ein innerpsychisches Problem (Schuldge-
fühl, Ekel) wird auf ein äußeres Problem verschoben (z.B. Schmutz, daher Waschen).
Die Zwangsneurose stellt nach Freud eine Regression auf die „anale“ Phase dar, in
der es um folgende Konfliktthemen geht: Aggressivität und Unterwerfung, Schmutz und
Sauberkeit, Ordnung und Unordnung. Es bestehen anal-lustvolle Impulse (Wünsche,
sich zu beschmutzen), anal-sadistische Impulse (antisoziale, aggressive Wünsche) und
genitale Impulse. Durch übertriebene Reinlichkeitserziehung des Kleinkindes und Ver-
pönung aggressiver und sexueller (vor allem ödipaler) Regungen mit Strafandrohung
und Frustration der kindlichen Triebbedürfnisse wird die Libido in der analen Phase
verdrängt und fixiert. Freud beschrieb die „anale Trias“ von Ordnungsliebe, Sparsam-
keit und Eigensinn sowie die pathologischen Varianten von Pedanterie, Geiz und Trotz.
Nach der klassischen psychoanalytischen (Trieb-)Theorie besteht die Zwangsneuro-
se in einer Regression der Libido von der phallisch-narzisstischen auf die anal-
sadistische Stufe der psychosexuellen Entwicklung, weil eine Überforderung durch den
ödipalen Konflikt und die genitale Komponente dieser Entwicklungsstufe gegeben ist.
Genitale Triebansprüche werden unterdrückt. Auch die anal-sadistischen Impulse wer-
den meist nicht offen ausgedrückt, sondern sind gebunden durch eine Fülle von Geset-
zen, Vorschriften und überkorrekte Vorgangsweisen, die jede Spontaneität verhindern.
Durch den Mechanismus der Reaktionsbildung werden alle aggressiven und sadisti-
schen Impulse von einem überstrengen Über-Ich unterdrückt und tadellose Charakterei-
genschaften zu verwirklichen versucht.
Angst als Bedrohung des Ichs – Das Modell der Psychoanalyse 371

Angst zeigt sich bei der Zwangsneurose nicht als Objektverlustangst, wie dies bei
der Angstneurose der Fall ist, sondern als Straf- und Vergeltungsangst. Die Regression
in die anale Phase erscheint als Rückkehr zum magischen Denken. Die magisch anmu-
tenden Zwangshandlungen sollen jene Bedrohung und Angst abwehren, die aus nicht
eingestandenen und verdrängten sexuellen und aggressiven Impulsen entstanden sind. In
einer Messerphobie stellt sich nach Freud verhüllt die verdrängte Feindseligkeit gegen-
über einem nahe stehenden Menschen dar, ein Waschzwang symbolisiert die Reinigung
bei einem Sexualkomplex und das Reinwaschen von schuldhaft erlebten Aggressions-
tendenzen oder auch beides zugleich.
Die bevorzugten Abwehrmechanismen des Ichs sind: Isolierung, Ungeschehen-
Machen, magisches Denken, Zweifel, Unentschlossenheit, Intellektualisierung, Rationa-
lisierung, Verleugnung, Verdrängung, Reaktionsbildung. Diese Abwehrorganisation
von Menschen mit Zwangsstörungen ist mit den traditionellen Mitteln der Psychoanaly-
se oft nur schwer zu verändern. Die bei der Zwangsentstehung wirksamen Impulse sind
kaum völlig unbewusst. Die neurotische Abwehr beruht weniger auf einer Verdrängung
als auf einer inhaltlichen und affektiven Isolierung (Versachlichung, Gefühlsvermei-
dung). Bei Zwängen dominiert der Abwehrmechanismus der Isolierung. Die Gedanken
bleiben im Bewusstsein erhalten, werden aber von den zugehörigen Affekten isoliert.
Bei der Hysterie gelingt es, die bedrohlichen Fantasien zu verdrängen, während die
zugehörigen Affekte wahrnehmbar sind, bei der Zwangsneurose lassen sich dagegen die
belastenden Gedanken und Impulse nicht verdrängen, sondern brechen in beängstigen-
der Weise durch, sodass sie durch andere Abwehrmechanismen kontrolliert werden
müssen (Affektisolierung, Ungeschehen-Machen, Verschiebung auf das Kleinste).
Die aggressiven Regungen richten sich gegen die für die Versagung (Frustration)
der kindlichen Triebbedürfnisse verantwortliche, gleichzeitig geliebte und gehasste
Person. Ein sehr stark ausgeprägtes Über-Ich, das sich durch Identifikation mit der
versagenden und verbietenden Instanz entwickelt und deren Funktion übernimmt, er-
klärt manche Zwangshandlungen als Selbstbestrafungstendenzen.
Die ausgeprägte Über-Ich-Strenge und die übermäßige Gewissenhaftigkeit stellen
einen lebenswichtigen Gegenpol zu den bedrängenden, als antisozial erlebten Trieb-
wünschen dar. Zwangsneurotiker weisen eine ausgeprägte Ambivalenz auf, die mit ei-
nem ständigen Zweifeln und einer eigenartigen Handlungsstörung verbunden ist. Eigen-
ständiges Handeln ist kaum möglich, weil alle andrängenden Impulse als sehr gefährlich
und alle Abwehrhandlungen als recht unsicher erscheinen. Die Betroffenen haben in der
Kindheit kein probierendes Handeln erlernt, um die Folgen ihres Denkens überprüfen zu
können. Sie mussten sich mit Fantasien und Wünschen anstelle des Tuns behelfen.
Im Laufe der Zeit erfolgte eine magische Gleichsetzung von Denken und Tun. Ein
böser Gedanke ist bereits ein böses Tun und muss daher unterdrückt oder durch Kon-
trollen eingegrenzt werden. Das Zulassen bestimmter Gedanken erhöht die Wahrschein-
lichkeit für deren Ausführung. Dies führt zu einem derart hohen Abwehraufwand der
gefährlichen Gedanken, dass immer mehr Ich-Funktionen beeinträchtigt werden und
eine zunehmende kognitive und psychosoziale Beeinträchtigung erfolgt.
Das Triebabwehr-Konzept wurde später von Psychoanalytikern wie E. H. Erikson
erweitert durch den Aspekt Entwicklung bzw. Unterdrückung des Autonomiebedürfnis-
ses. Als zentrales Thema gilt nach neueren Auffassungen der Konflikt „Autonomie
versus Fügsamkeit“, anders formuliert der Konflikt zwischen Sich-Auflehnen und Ge-
horsam. Der Zwangsneurotiker unterwirft sich aufgrund seiner mangelnden Ich-
Autonomie seinem strengen Über-Ich, opponiert aber untergründig dagegen.
372 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Benedetti stellt in seinem Buch „Psychodynamik der Zwangsneurose“ die verschie-


denen analytischen Modelle dar. Mentzos [133] beschreibt die neueren psychoanalyti-
schen Erklärungskonzepte der Zwangsneurose:

„Diese ursprünglich einseitige Betonung der Triebproblematik wurde in den letzten Jahrzehnten zugun-
sten des allgemeineren Konfliktes ‚Gehorsam versus Sich-Auflehnen’ modifiziert. Es handelt sich also
um eine Variation des Abhängigkeits-Autonomie-Konfliktes ... Der abzuwehrende Konflikt ist also (mit
Hilfe des Dreiinstanzenmodells ausgedrückt) ein Konflikt zwischen Ich und Über-Ich, wobei man von
einem ausgesprochen rigiden und übermoralischen Über-Ich ausgeht. Was in der analen Phase noch ein
externer Konflikt mit der Mutter oder den Eltern war, wird später zu einem inneren Konflikt zwischen
Über-Ich und dem nach Autonomie tendierenden Ich (sowie dem nach Abfuhr drängenden Es). Die
ursprüngliche Angst vor Strafe verwandelt sich zum Teil in Schuldgefühl. Das Ich ist ständig bemüht,
in oft fast hoffnungslosen Anstrengungen seine Schuldgefühle abzubauen (Wiedergutmachungsaktio-
nen). Zum anderen bemüht es sich um Zurückdrängen der Es-Impulse, um erneute Strafsanktionen des
Über-Ichs zu vermeiden. Daraus entsteht das, was man den ‚Zweifrontenkrieg’ genannt hat.“

Sozialphobie – Die narzisstische Dynamik


Die Psychoanalyse hat in ihren theoretischen und therapeutischen Überlegungen das für
sie neue und nicht aus ihren Modellen abgeleitete Konzept der sozialen Phobie noch
nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Der interaktionelle Aspekt, der bei dieser dia-
gnostischen Kategorie angesprochen wird, zeigt sich in der Psychoanalyse gegenwärtig
nicht einmal durch eine angemessene Wortwahl für die sozialen Bezugspersonen. Noch
immer wird – entsprechend den früheren triebpsychologischen Konzepten – vom Inter-
aktionspartner als „Objekt“ gesprochen. Die engsten Anknüpfungspunkte an das Kon-
zept der Sozialphobie ergeben sich aus dem psychoanalytischen Verständnis des Nar-
zissmus und des Schamaffekts. Der Schamaffekt als ständiges Sicherheitssystem schützt
den Menschen vor Grenzüberschreitungen und Übergriffen vonseiten der sozialen Um-
welt und bewahrt sein Innerstes und Intimstes davor, entblößt und in die Öffentlichkeit
gezerrt zu werden. Der renommierte Psychoanalytiker S. O. Hoffmann [134] ist bislang
einer der wenigen, der zur Psychodynamik der sozialen Phobie Überlegungen angestellt
hat. Er arbeitet sechs Perspektiven der Psychodynamik sozialer Ängste heraus:
1. Die narzisstische Dynamik I: Die defizitäre Konzeption des eigenen Selbst. Das
Individuum hat eine defizitäre Selbstsicht und erlebt sich als Zumutung für die so-
ziale Umwelt. Soziale Niederschläge im Menschen („Internalisierungen“) beeinflus-
sen seine allgemeinen und sozialen Funktionen und seine Kompetenzen.
2. Die narzisstische Dynamik II: Die kompensatorisch überhöhte Selbstsicht. Aus dem
Erleben der Minderwertigkeit entwickelt sich kompensatorisch eine überhöhte Sicht
des eigenen Selbst im Sinne eines Größenselbst. Der Sozialphobiker strebt unbe-
wusst eine Erhöhung seiner Ansprüche an sich selbst an, um sich dem überhöhten
Selbstbild anzupassen. Die überhöhten Erwartungen und Perfektionsansprüche füh-
ren zu erhöhten Erwartungsängsten, erhöhter Anspannung und Unsicherheit.
3. Die narzisstische Dynamik III: Der Affekt der Scham. Scham als eminent sozialer
Affekt drückt eine Beschämung vor anderen Menschen aus. Dies spiegelt die Dy-
namik von Sich-Zeigen und Gesehenwerden in sozialen Situationen wider. Es geht
um Fragen wie „Wie viel Intimität steht mir zu?“ oder „Wie viel muss ich öffentlich
zulassen?“ Als Folge körperlicher und sexueller Gewalt zeigen sich oft eine große
soziale Unsicherheit und soziale Ängste.
Angst als Bedrohung des Ichs – Das Modell der Psychoanalyse 373

4. Die Triebdynamik. Sexuelle Triebkonflikte als Ursache des Errötens (ein sexuelles
Bedürfnis kann nicht zugelassen werden, muss daher abgewehrt werden und äußert
sich dann in Form der Erythrophobie) kommen nach S. O. Hoffmann bei der Psy-
chodynamik von Sozialphobien so selten vor, dass umfassendere psychodynamische
Konzepte entwickelt werden müssen, wenn das triebtheoretische Modell aufrecht
erhalten werden soll.
5. Die Schicksale des Bindungsverhaltens (Attachment-Theorie von Bowlby). Die Be-
drohung der Bindungssicherheit führt automatisch zum Affekt der Angst und löst in
weiterer Folge eine soziale Phobie aus. Bei nicht erfüllter Bindungssicherheit erfol-
gen zum Selbstschutz ein sozialer Rückzug und eine ängstliche Vermeidung sozialer
Situationen. Soziale Ängste entstehen oft als Folge früherer negativer Beziehungser-
fahrungen. Bei einer Trennungsangst zeigt sich ein bedrohtes Bindungserleben.
6. Die Schicksale des Abwehr-/Sicherheitsverhaltens. Das Abwehr-/Sicherheitsmodell,
das in fast komplementärer Ergänzung zum Attachment-Modell steht, berücksichtigt
auch ethologische und biologische Aspekte in sozialen Beziehungen.

Posttraumatische Belastungsstörung –
Überflutung des informationsverarbeitenden Systems
Im Bereich der posttraumatischen Belastungsstörung hat sich in den letzten Jahrzehnten
am deutlichsten die Entwicklungs- und Integrationsfähigkeit der modernen Psychoana-
lyse gezeigt. Der amerikanische Psychiater und Psychoanalytiker Mardi Horowitz, der
sich bezüglich der Etablierung der posttraumatischen Belastungsstörung im amerikani-
schen psychiatrischen Diagnoseschema DSM aufgrund seiner Forschungen an Vietnam-
Kriegsveteranen (Standardwerk „Stress response syndromes“) große Verdienste erwor-
ben hat, trug zur Weiterentwicklung der psychodynamischen Modelle wesentlich bei,
indem er spezifische Bewusstseinszustände postulierte, so genannte „states of mind“.
Im Mittelpunkt des Konzepts von Horowitz steht die Überforderung der Informati-
onsverarbeitung durch die traumatischen Erfahrungen, die von den Betroffenen nicht in
ihre bisherigen Ordnungsschemata integriert werden können. Als Folge davon kommt
es zu einem oszillierenden Prozess zwischen Überflutung und Verleugnung der trauma-
tischen Inhalte. Das psychische System hat grundsätzlich eine Tendenz zur Vervollstän-
digung der Informationsverarbeitung. Der phasisch ablaufende psychotraumatische
Prozess kommt daher erst dann zur Ruhe, wenn die traumatischen Erfahrungen von den
Betroffenen vollständig in ihre Erlebens- und Bewertungsschemata integriert werden
können. Horowitz beschreibt als typische Schritte der Traumabewältigung die Phasen
des Aufschreis, der Verleugnung und der Intrusion, die in die Phase des Durcharbeitens
und der Integration münden, wenn die Betroffenen dazu bereit sind. Dieser Prozess wird
als normal und adaptiv angesehen. Die posttraumatische Symptombildung resultiert
nach Horowitz aus einer Intensivierung und Verlängerung bzw. Blockade des natürli-
chen Ablaufs. Neben den Merkmalen des Traumas haben Risikofaktoren (z.B. erhöhte
Vulnerabilität in Kindheit und Jugend oder vorbestehende Belastungen) und Schutzfak-
toren (z.B. individuelle Ressourcen, psychosoziale Unterstützung, Sinn- und Bewer-
tungskonzepte) großen Einfluss auf die weitere Krankheitsentwicklung. Nach Horowitz
ist die Bewältigung der traumatischen Störung dann erfolgt, wenn die Betroffenen das
Trauma willentlich erinnern können, ohne davon überflutet werden, sodass sie in der
Lage sind, sich wieder anderen Dingen zuzuwenden.
374 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Fischer und Riedesser haben mit ihrem bedeutsamen Werk „Lehrbuch der Psycho-
traumatologie“ aus der Sicht einer modernen Psychoanalyse die konzeptionellen und
therapeutischen Schritte weiter ausgearbeitet und schließlich in Form der Mehrdimen-
sionalen Psychoanalytischen Traumatherapie (MPTT) einen integrativen Behandlungs-
ansatz auf psychoanalytischer Grundlage vorgelegt, der auch verhaltenstherapeutische
Konzepte berücksichtigt.
Luise Reddemann hat sich mit ihrer psychodynamisch imaginativen Traumatherapie
(PITT) ebenfalls sehr intensiv bemüht, neben biologischen auch andere therapeutische
Konzepte zu berücksichtigen. Neben der Betonung des zentralen Aspekts der therapeu-
tischen Beziehung werden auch zahlreiche Techniken eingesetzt, wie dies Standard ist
bei verhaltenstherapeutisch und humanistisch orientierten Vorgangsweisen. Reddemann
weist allerdings darauf hin, dass traumatherapeutische Techniken bei komplexen post-
traumatischen Belastungsstörungen wenig effektiv sind, weil die Betroffenen aufgrund
ihrer Bindungs- und Entwicklungspathologie stärker beziehungsorientierte Behand-
lungsangebote benötigen, die den (Wieder-)Aufbau der Bindungsfähigkeit fördern.
Anstelle einseitiger Traumaarbeit wird auch die Selbstbegegnung gezielt gefördert.
Die Psychotherapie bei Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen ist
das beste Beispiel dafür, wie eine integrative Psychotherapie zukünftig auch bei vielen
anderen psychischen Störungen zum Wohle der Patienten eingesetzt werden könnte.

Angst als Beziehungsmuster – Das interaktionell-systemische Modell


Bereits in der Psychoanalyse wird die Angstneurose als Störung der sozialen Bezie-
hungsfähigkeit verstanden. Jürg Willi [135] verband das psychoanalytische Modell mit
systemischen Sichtweisen in Form des Kollusionsmodells. Neurotische Beziehungsmu-
ster von Partnern würden sich komplementär ergänzen. Über eine Angststörung kann
z.B. ein Beziehungsmuster nach dem Pfleger-Pflegling-Modell etabliert werden.
In der systemischen Therapie wurde bislang weder ein einheitliches theoretisches
Konzept noch eine verbindliche therapeutische Vorgangsweise entwickelt. Systemische
und auch interaktionell-verhaltenstherapeutisch fundierte Erklärungskonzepte betonen,
dass die Art der Partner- und Familienbeziehung einen Einfluss auf die Entstehung und
Aufrechterhaltung von Angststörungen hat. Andererseits beeinflusst die Art der Angst-
störung die Art der Interaktionen in der Familie und in der Partnerschaft.
Ob eine Angstsymptomatik tatsächlich zu einer unerträglichen Belastung für eine
Partnerschaft wird, hängt von der Sichtweise der Partner und der Qualität der Beziehung
ab. Bei enger symbiotischer Beziehung und gegenseitiger Ergänzung des Angstpatien-
ten und seines Partners kann eine Angststörung über Jahre und Jahrzehnte ohne subjek-
tive Behinderung in der Lebensführung bestehen bleiben. Aus systemischer Sicht könn-
te eine Angststörung z.B. dazu dienen, Nähe zwischen den Partnern herzustellen oder
die Ehe zusammenzuhalten. Ängste von Jugendlichen können dazu führen, dass nötige
Ablösungsprozesse nicht bzw. nicht ausreichend erfolgen. Aus systemischer Sicht ha-
ben Symptome eine Funktion im Rahmen der Sozialbeziehungen. Häufig bewirken
Symptombildungen eine Reduktion vorhandener partnerschaftlicher Konflikte und eine
Schonung des Kranken aufgrund seiner aktuellen Störung. Angstsymptome bedeuten in
diesem Sinn eine Konfliktumleitung auf eine für beide Partner unlösbare Störung, sodass
ein Experte (Arzt, Psychotherapeut) aufgesucht werden muss.
Angst als Beziehungsmuster – Das interaktionell-systemische Modell 375

Bei Menschen mit Agoraphobie wird von Psychotherapeuten unterschiedlicher


Schulen häufig eine Abhängigkeitsproblematik angenommen. Iver Hand [136], der eine
kombiniert verhaltenstherapeutisch-systemisch orientierte Sichtweise vertritt, fasst die-
sen Aspekt folgendermaßen zusammen:

„Insbesondere den Agoraphobikerinnen wird in analytisch wie systemisch orientierter, aber auch in der
Verhaltenstherapie ein aus der Kindheit herrührendes ‚Abhängigkeitsbedürfnis’ unterstellt. Dabei wird
meist von einer ambivalenten Einstellung der Agoraphobikerinnen zu ihrem Partner ausgegangen: der
Wunsch fortzulaufen, würde durch die Selbsteinsperrung über die Agoraphobie nicht realisierbar; in
Abwesenheit des Partners bliebe die Betroffene im selbstgewählten Gefängnis der Wohnung – nur im
Beisein des Partners, unter seiner ständigen Kontrolle, wage sie sich hinaus. Die Agoraphobie soll so
vor gefürchteten Konsequenzen (z.B. Angst vor dem Alleinsein) der Ausbruchstendenzen schützen.
Auf der Ebene partnerschaftlicher Funktionalitäten könnte die Agoraphobie aber auch die Funktion
gewinnen, einen befürchteten Ausbruchsversuch des Partners zu verhindern – besonders in der Kombi-
nation mit einer ‚Angst vor dem Alleinsein in der Wohnung’. Hier würde der Partner, über den Appell
an altruistische Helfergefühle, außerhalb seiner Berufstätigkeit ‚an die Kette gelegt’. Eine Reihe weite-
rer Funktionalitäten sind denkbar, werden hypothetisch aus Verhaltensanalysen häufig abgeleitet und
auch für die Therapieindikation und -prognose verwandt ...“

Verschiedene Agoraphobiker beschreiben bereits vor Therapiebeginn Partnerschafts-


probleme, sodass interaktionelle Aspekte von Angststörungen auch im Rahmen einer
verhaltenstherapeutisch orientierten Behandlung unbedingt beachtet werden müssen.
Butollo und Mitarbeiter weisen in ihrem Buch „Integrative Psychotherapie bei
Angststörungen“ mehrfach auf die frühen bahnbrechenden interaktionistischen Sicht-
weisen in dem Artikel „A reanalysis of agoraphobia“ der beiden Verhaltenstherapeuten
Goldstein und Chambless hin. Diese Autoren legten bereits 1978 eine Neuformulierung
der Agoraphobie-Thematik vor, bei der interaktionelle Aspekte eine große Rolle spie-
len. Sie trugen wesentlich dazu bei, dass neben dem einfachen, rein lerntheoretisch
konzipierten Agoraphobie-Konzept (Zwei-Faktoren-Modell: Angstentstehung durch
klassische Konditionierung, Aufrechterhaltung durch operante Konditionierung) im
Rahmen der Verhaltenstherapie komplexere Angstmodelle entwickelt wurden.
Die Autoren machten darauf aufmerksam, dass agoraphobische Situationen gewöhn-
lich Orte sind, in denen sich Agoraphobiker irgendwie gefangen fühlen, was symbolisch
ihr Gefangensein in einer aktuellen psychosozialen Konfliktsituation widerspiegelt. Oft
geht es um den Konflikt zwischen dem Wunsch nach Individuation und Selbständigkeit
einerseits und dem Verbleiben-Wollen in der gewohnten und vorhersehbaren familiären
Umgebung andererseits. Typische Ereignisse, die diesen Konflikt aktivieren, sind Wün-
sche des Partners nach einer Veränderung der Beziehung sowie Veränderungen in der
sozialen Umwelt (Auszug von zu Hause, Geburt eines Kindes usw.).
Agoraphobiker sind nach diesem Konzept letztlich nicht in agoraphobischen, son-
dern in sozialen Situationen gefangen, die sie aufgrund von Trennungsängsten, unzurei-
chender Problemlösefähigkeit, mangelnder Konfliktfähigkeit und Schuldgefühlen nicht
verlassen können.
Es ist das Verdienst von Goldstein und Chambless, als erste Verhaltenstherapeuten
auf die zentrale Bedeutung interner Stimuli bei der Entstehung und Aufrechterhaltung
der Agoraphobie hingewiesen zu haben. Sie unterschieden zwischen einfacher Ago-
raphobie (Angst vor den typischen agoraphobischen Reizen als konditionierte Angst-
auslöser) und komplexer Agoraphobie (Angst vor der Angst, Angst vor den Folgen, vor
allem für den eigenen Körper).
376 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Bei einer komplexen Agoraphobie werden weniger externe (agoraphobische), son-


dern vielmehr interne (körperliche) Reize gefürchtet. Agoraphobische Situationen sind
letztlich der Auslöser dafür, sich vor seinem eigenen Körper zu fürchten sowie vor den
Folgen, wenn man die körperlichen Symptome nicht in den Griff bekommt.
Durch Konditionierung interner Reize (Herzrasen, Hitzegefühle, Schwitzen, Übel-
keit u.a.) werden körperliche Empfindungen zu konditionierten Auslösern von Panikat-
tacken. Durch Konditionierung höherer Ordnung kommt es schließlich zu weiteren
Generalisierungen auf viele ursprünglich neutrale Situationsmerkmale.
Diese Entwicklung erhöht auf interaktioneller Ebene die Abhängigkeit von anderen
Menschen und stabilisiert die bisherige psychosoziale Situation, d.h. sie erzwingt das
Verbleiben in der vorher als sehr belastend empfundenen Lebenssituation, was erst recht
die Entwicklung von Panikattacken begünstigt. Die betreffenden Agoraphobiker be-
schäftigen sich dann mehr mit der Vermeidung von agoraphobischen Situationen anstatt
mit der Bewältigung ihrer psychosozialen Probleme.
Bei vielen Betroffenen wird durch eine operante soziale Verstärkung die Symptoma-
tik noch zusätzlich aufrechterhalten, d.h. die Interaktionspartner haben oft kein Interesse
an mehr Selbstständigkeit des agoraphobischen Familienmitglieds und fördern direkt
oder indirekt die Abhängigkeit über den Weg der Verstärkung der Symptomatik.
Hafner [137], ein australischer Psychiater und Verhaltenstherapeut, entwickelte auf
der Basis seiner langjährigen klinischen Erfahrungen interessante Hypothesen zur inte-
raktionellen Erklärung von Angststörungen. Seine Auffassungen sind wissenschaftlich
zwar nicht ausreichend belegt, können für die klinische Praxis jedoch recht fruchtbar
sein, weshalb sie im Folgenden dargelegt werden.
Frauen mit einfacher Agoraphobie (ohne weitere Störungen) sind nach Hafner oft
durchaus kraftvolle, dynamische, aktive Persönlichkeiten. Sie wollen daher auch ihre
Ängste überwinden, indem sie sich den entsprechenden Situationen aussetzen. Die auf-
tretende Angst mit unangenehmen psychovegetativen Begleiterscheinungen führt je-
doch zu Flucht- und Vermeidungsverhalten, was letztlich Angst verstärkend wirkt.
Ein vorhandener intrapsychischer Konflikt zwischen Autonomie und Abhängigkeit
wird durch eine Agoraphobie reduziert. Es gibt trotz des Wunsches nach einer Berufstä-
tigkeit gar keine andere Wahl, als zu Hause zu bleiben. Dies entschärft auch eventuelle
Partnerkonflikte, wenn die Frau vorher mehr Autonomie angestrebt hatte, die der Gatte
ihr eigentlich nicht gewähren wollte.
Bei Frauen mit komplexer Agoraphobie (mit anderen Störungen wie z.B. Zwänge,
Depression, hypochondrische Ängste, soziale Defizite, Persönlichkeitsstörung) zeigt
sich ebenfalls ein Geschlechtsrollenkonflikt. Diese Frauen richten sich nach dem Bild
vom „typisch weiblichen Verhalten“: vom Mann abhängig, für Kinder und Küche da.
Viele Frauen mit einer Agoraphobie heiraten nach den Beobachtungen von Hafner
oft noch sehr jung, um der unbefriedigenden Situation in der Herkunftsfamilie zu ent-
kommen. Die Ehe stellt dann gewöhnlich eine Übertragung der ambivalenten Abhän-
gigkeit von der Mutter auf den Gatten dar.
Der „ideale Mann“, der aufgrund der traditionellen Geschlechtsrollenstereotypien
ausgewählt wurde, kommt seinerseits häufig aus einer Familie, die der agoraphobische
Frau sehr ähnlich ist: Fehlen oder unzureichendes Vorhandensein einer väterlichen
Leitfigur, die ein männliches Geschlechtsrollenmuster bietet. Aufgrund unzureichender
eigener männlicher Identität wird das gesellschaftlich-traditionelle männliche Ge-
schlechtsrollenstereotyp gewählt, von dem man ohne Krise nicht abweichen kann.
Angst als Beziehungsmuster – Das interaktionell-systemische Modell 377

Wegen der Probleme in der Herkunftsfamilie entwickeln diese Frauen gewöhnlich


wenig Selbstbewusstsein, wenig Durchsetzungsvermögen und wenig Ausdrucksfähig-
keit für ihre Wünsche. Sie sind innerlich voll unterdrückter Wut bezüglich ihres Ein-
gesperrtseins, was sie nicht direkt, sondern nur in Form der Panikattacken ausdrücken
können. In schweren Fällen können diese Frauen nicht mehr allein zu Hause sein, weil
sie fürchten, das Bewusstsein zu verlieren, sich zu verletzen oder an Panikattacken zu
sterben. Viele Eheprobleme entstehen aus der Angst der Frau vor dem Alleinsein.
Nach der Bewältigung der Angststörung treten die Partnerprobleme wieder in den
Vordergrund. Die Symptome der Frau schufen eine Pseudointimität, die durch eine
echte abgelöst werden muss, wenn nicht eine emotionale Beziehungslosigkeit eintreten
soll. Häufig unterlaufen die Männer Fortschritte der Therapie, indem sie bewusst oder
unbewusst die Symptome der Frau verstärken. Die Männer haben oft Trennungsängste,
dass die Frau sie verlassen könnte, wenn sie ohne Agoraphobie ist. Die Agoraphobie
verstärkt in ihrer Pathologie den ehelichen Zusammenhalt.
Die Symptome agoraphobischer Männer sind nach Hafner verschieden von denen
agoraphobischer Frauen. Jene Männer, bei denen eine Konfrontationstherapie versagt,
sind zu charakterisieren durch das zusätzliche Vorhandensein von Zwängen, hohes
Ausmaß an Angst bezüglich Krankheit und Gefährdung, ständige Beschäftigung mit
Körpersymptomen in Zusammenhang mit Atmung und Herz/Kreislauf und eine starke
Angst vor dem Alleinsein.
Fast alle Männer mit komplexer Agoraphobie kommen aus Familien mit dominie-
render Mutter, während die Väter durch Arbeit oder Krankheit häufig am Rand der
Familie stehen. Ein Drittel der Männer verloren als Kind ihren Vater durch Tod, Tren-
nung oder Scheidung. Diese Männer identifizieren sich stark mit ihrer Mutter und lern-
ten nicht, ein väterliches Vorbild nachzuahmen.
Die Ehe von Männern mit komplexer Agoraphobie schaut nach Hafner folgender-
maßen aus: die Frauen sind stark und fürsorgend in Bezug auf die Panikattacken der
Männer und deren andere Symptome, die Männer kontrollieren ihre Frauen, indem sie
das ganze Familienleben um ihre Symptome herum organisieren. Sie brauchen das
Alleinsein nicht zu fürchten, weil die Frau immer anwesend ist, und sie brauchen eigen-
ständige Schritte der Frau nicht zu fürchten, weil die Frau, bevor sie allein aus dem
Haus geht, immer mitteilen muss, wohin sie geht, weil der Mann sie eventuell wegen
seiner Symptome anrufen können muss.
Der Umstand, dass sich trotz zahlreicher klinischer Beobachtungen bislang empi-
risch kaum Zusammenhänge zwischen Angststörungen und Eheproblemen nachweisen
ließen, könnte damit zusammenhängen, dass die bisherigen Erhebungen zur Partner-
schaft auf Selbsteinschätzungsskalen beruhten.
Wenn eine Agoraphobie tatsächlich dazu dient, eine tabuisierte und verdeckte Part-
nerproblematik zu kompensieren, dann ist aufgrund dieser theoretischen Überlegungen
zu erwarten, dass Eheselbstbeurteilungen die Ehequalität beschönigen und bestehende
Probleme gar nicht zum Vorschein kommen werden, weil sie nicht bewusst wahrge-
nommen werden.
Unter Verwendung eines Fremdbeurteilungsinstruments zur Einschätzung von Part-
nerbeziehungen konnten Hand und sein Team Zusammenhänge zwischen der Partner-
beziehung und der Agoraphobiesymptomatik ermitteln, wie anderswo dargestellt wird.
Es scheint kaum spezielle Arbeiten von systemischen Therapeuten zur Thematik
„Angststörungen und Interaktionsmuster“ zu geben.
378 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Der italienische Familientherapeut Nardone [138] hat eine „Systemische Kurzzeit-


therapie bei Zwängen und Phobien“ entwickelt, die die strategisch-lösungsorientierte
Therapie der Palo Alto Schule (bekannt geworden durch die Publikationen von Paul
Watzlawick) mit der Hypnotherapie nach Milton H. Erickson verbindet. Die Eskalation
von Ängsten und Zwängen beruht auf falschen Problemlösungsversuchen („Lösungen
erster Ordnung“, d.h. Lösungen innerhalb des Problemsystems), die mit Hilfe bestimm-
ter Strategien (z.B. Symptombeobachtungen, Umdeutungen, Verhaltensverschreibun-
gen, Suggestionen mit Hilfe von Metaphern, hypnotische Elemente ohne Tranceinduk-
tion) zu korrigieren versucht werden („Lösungen zweiter Ordnungen“, d.h. Entwicklung
neuer, das Problemsystem transzendierender Sicht- und Handlungsweisen). Im Rahmen
der Therapie gelangen auch verhaltenstherapeutische Techniken zum Einsatz.
Bei Zwangsstörungen sind nach Hand [139] folgende systemische Aspekte wichtig:
z Interaktionelle Funktion der Beziehungssteuerung. Zwangspatienten haben funda-
mentale soziale Defizite (mangelnde Kommunikations-, Problemlösungs- und
Durchsetzungsfähigkeit), die zu geringem Selbstbewusstsein und zu starker Ver-
wundbarkeit in Sozialkontakten führen, weshalb zur Pseudokompensation Zwänge
als Mittel der Durchsetzung eingesetzt werden („Ich kann nicht“ statt „Ich will
nicht“). Da effektivere Mittel der Selbstbehauptung fehlen, entwickelt sich der typi-
sche, durch die Zwangssymptomatik bestimmte Interaktionsstil mit latenter Aggres-
sivität, wo der Betreffende umso zwanghafter wird, je mehr er sich durchsetzen
möchte. Dies führt bei der Umwelt zur Meidung seiner Person, was seinen Eindruck
verstärkt, dass ihn keiner mag, sodass ihm nur der soziale Rückzug bleibt. Das so-
ziale Vermeidungsverhalten wiederum führt zu noch größeren Defiziten im Sozial-
verhalten, da entsprechende Übungssituationen fehlen.
z Nicht der vom Ehepaar designierte Zwangskranke, sondern der anfangs als gesund
vorgestellte Partner ist oft der eigentlich schwer Zwangskranke.
z Latent-aggressive Kontrolle des sozialen Umfeldes durch die Unterwerfung aller
Familienmitglieder unter den „Zwang der Zwänge“ (die Angehörigen müssen auf
Anordnung des Patienten dessen Zwänge ausüben, z.B. übertriebenes Waschen).
z Zwangsstörung als „Aggressionskrankheit“ im Sinne einer konstant vorhandenen
latenten Aggressivität zur Pseudokompensation einer früh begonnenen, sozial defizi-
tären Entwicklung. Statt für sich etwas anzustreben, versucht der Zwangskranke ge-
gen jemanden etwas zu erreichen.
z Entwicklung von Zwangshandlungen („Gegenzwänge“) als „Gegenwehr gegen
Unterdrückung“ durch Zwänge eines anderen Familienmitgliedes (z.B. entwickelt
die Frau einen Reinlichkeitszwang in der Küche als Reaktion auf einen sich auf die
ganze Wohnung ausbreitenden Sammel- und Hortungszwang des Mannes, der durch
seine Sachen alles verschmutzt, d.h. der Reinigungszwang ermöglicht der Frau ein
eigenes Reich wenigstens in der Küche, das der Mann nicht betreten darf).
z Erzwingung von körperlicher und emotionaler Distanz, insbesondere aus bewusst
gar nicht wahrgenommenen sozialen Ängsten und Defiziten heraus. Aus Angst vor
zu viel Nähe im Umgang mit der sozialen Umwelt werden Machtspiele durchge-
führt, deren Ziel es ist, aus jeder Begegnung als Sieger hervorzugehen, da von ande-
ren grundsätzlich nur Böses erwartet wird. Dieses Muster zeigt sich oft auch in der
Beziehung zum Therapeuten und ist häufig Ursachen für therapeutische Misserfolge.
Angst als Folge bedrohter Selbstverwirklichung 379

Die angeführten Hypothesen sind bislang zwar noch nicht empirisch überprüft und
bestätigt, bewähren sich jedoch häufig in der klinischen Praxis.
Die Interaktionsstörungen sind bei den verschiedenen Zwangstypen unterschiedlich
stark ausgeprägt: bei Wasch- und Reinigungszwängen weniger stark, bei Zwangsgedan-
ken dagegen ganz massiv, mit sehr rigid-zähen, nur schwer veränderbaren Interaktions-
mustern, weil hier die sozialen Defizite am fundamentalsten sind.
Aufgrund des häufig großen Ausmaßes der interaktionellen Funktionalität der
Zwänge fordert Hand die Einbeziehung systemischer Elemente in den Gesamtbehand-
lungsplan (zumindest teilweise auch Familiensitzungen).
Zwangspatienten können ihre Zwänge nur sehr schwer aufgeben, weil sie dann nicht
nur mit ihren Ängsten, sondern auch mit ihren sozialen Defiziten konfrontiert würden,
wenn ihnen die „Waffe“ der Zwänge fehlt. Der zu Therapiebeginn angeführte Wunsch
nach primärer Symptombeseitigung entspricht oft nicht der tatsächlichen Motivation der
Patienten. Diese Beurteilung bezüglich einer großen Ambivalenz hinsichtlich von Ände-
rungswünschen gilt so lange, als über den Weg der Zwänge Ziele erreichbar sind, die
anders nicht realisierbar erscheinen.
Der Versuch, Zwangssymptome in ähnlicher Weise wie Phobien zu löschen, gelingt
aufgrund der verschiedenen, sich überschneidenden Funktionalitäten von Zwangssym-
ptomen oft nur schwer. Es braucht sehr viel Zeit, bis Menschen mit Zwangsstörungen
bereit sind, ihre mangelnden sozialen Fertigkeiten anzuerkennen und adäquatere Bewäl-
tigungsstrategien und Beziehungsmuster zu entwickeln.
Psychotherapeuten müssen auch den Partnern von Zwangspatienten bei der Beseiti-
gung ihrer ebenfalls vorhandenen Defizite helfen, denn nur so ist es erklärbar, dass
diese so lange die Zwangssymptomatik als Mittel der Beziehungssteuerung hingenom-
men haben. Die Partner haben in der Regel durch ihr Nachgeben zwecks Konfliktver-
meidung die Symptomatik des Patienten massiv verstärkt.

Angst als Folge bedrohter Selbstverwirklichung –


Das humanistische Modell
Rogers, der Begründer der klientenzentrierten Psychotherapie, versteht Angst als ge-
fühlsmäßige Bedrohung der Selbst-Struktur, die eine Abwehrreaktion des Organismus
zur Folge hat [140]. Angst resultiert aus dem Erleben einer Inkongruenz zwischen
Selbstkonzept und dem Gesamt der Erfahrungen.
Wenn der Mensch erkennt, dass das, was für die Entwicklung seines Selbst wesent-
lich ist, und das, was er an aktuellen Gegebenheiten und realer Lebenssituation vorfin-
det, nicht zusammenpassen, entwickelt er Angst. Je plötzlicher ihm dies bewusst wird,
umso eher kann eine Panikattacke auftreten.
Panikattacken sind die Symptome eines Konflikts zwischen dem Selbstkonzept und
den organismischen Erfahrungen. Im Zuge der Aufrechterhaltung des Selbstkonzepts
wird jedoch eine adäquate Darstellung der Problematik verhindert, sodass die Betroffe-
nen Panikattacken erleben, ohne die zugrunde liegenden Konflikte zu erkennen.
Der Grundkonflikt bei Angststörungen, insbesondere bei Panikattacken, besteht in
einem unausgewogenen Verhältnis zwischen dem Bedürfnis nach Autonomie und dem
Bedürfnis nach bzw. der Tatsache von Abhängigkeit. Hinter Panikattacken steht das
Leitthema „Abhängigkeit versus Unabhängigkeit“.
380 Erklärungsmodelle für Angststörungen

Panikattacken mit ihrer Dramatik schützen den Menschen vor der vollständigen
Wahrnehmung seiner inneren Befindlichkeit, die einen Zusammenbruch der Selbst-
struktur zur Folge hätte. Man möchte z.B. gerne eine gute Ehe führen bzw. eine berufli-
che Erfüllung erleben, muss jedoch erkennen, dass dies nicht (mehr) möglich ist.
Panikpatienten können ein von hohen selbstgesetzten Idealen (Anständigkeit, Moral,
Eigenständigkeit, Tüchtigkeit, Perfektion) abweichendes Selbst nicht akzeptieren und
erleben dies als Schwäche und Peinlichkeit und leiden darunter, wenn sie ihre Gefühle
nicht kontrollieren können. Jede Abhängigkeit von der Anwesenheit anderer Personen
erzeugt Wut und Ärger und widerspricht dem Selbstideal völliger Autonomie.
Angstpatienten weisen aufgrund ihrer Sozialisationsbedingungen eine gestörte Au-
tonomieentwicklung mit mangelndem Selbstvertrauen auf. Das im Rahmen der Familie
nicht ausreichend erfüllte Grundbedürfnis nach Anerkennung und Geborgenheit führt zu
einem großen Bedürfnis nach Geborgenheit bzw. zur Angst vor dem Verlassenwerden,
was im Erwachsenenalter einen Widerspruch zu dem Selbstideal von Ungebundenheit
und freier Entfaltung darstellt.
Die Therapie soll in der Symptomphase das Vertrauen zum eigenen Körper stärken
und in der Beziehungs- und Konfliktphase eine Beziehungsklärung gegenüber der sozia-
len Umwelt fördern.

Angst im Lebenslauf – Entwicklungspsychologische Aspekte


Die Erscheinungsformen von Ängsten sind alters- und entwicklungsabhängig. Bei Ba-
bys findet man die Achtmonatsangst als Folge der Unterscheidungsfähigkeit zwischen
vertrauten und fremden Gesichtern.
Bei Kindern ab zwei Jahren entwickeln sich oft massive Trennungsängste, später
kommen nächtliche Ängste (Pavor nocturnus) im eigenen Zimmer hinzu. Diese Ängste
entsprechen von der Heftigkeit der Symptomatik her dem, was bei Erwachsenen als
Panikattacken bezeichnet wird, es handelt sich dabei um keine spontanen Panikattacken
im Sinne der modernen Diagnoseschemata. Bei Kindern unter 8 Jahren findet man noch
keine spontanen Panikattacken, weil die kognitiven Voraussetzungen (katastrophisie-
rende Erklärungsmöglichkeiten für die Symptome) noch fehlen, sondern um situations-
abhängige Attacken, die das Ausmaß einer bestimmten Angst oder Phobie anzeigen.
Ab etwa 5 Jahren zeigen sich bestimmte Umweltängste (Dunkel-, Gewitter-, Ge-
spenster- und Tierphobien), die mit der falschen Einschätzung der Gefährlichkeit von
Objekten und Situationen zusammenhängen.
Im Volksschulalter treten Sozialisationsängste auf (Schulverweigerung, Schulangst,
Schulphobie).
In der Pubertät findet man oft Reifungsängste (Pubertätskrisen, Magersucht) und
soziale Ängste als Ausdruck der Unsicherheit gegenüber der Umwelt.
Bei 15-18-Jährigen äußern sich Existenzängste oft in Form von Depressionen und
Selbstmordversuchen [141].
Bei älteren Menschen wurde lange Zeit die Todesangst als die zentrale Angst ange-
sehen. Laut Studien kommt die Todesangst bei älteren Menschen nicht häufiger vor als
bei anderen Altersgruppen. Ältere Menschen haben vor allem Ängste, wegen des Alters,
der nachlassenden körperlichen und geistigen Kräfte oder einer Krankheit von anderen
Menschen abgelehnt zu werden, aber auch Ängste vor Isolation und Einsamkeit durch
den Verlust nahe stehender Menschen [142].
Angst in Zusammenhang mit dem Geschlecht 381

Aus der Befürchtung schwerer chronischer Erkrankungen resultiert die Angst, von
anderen Menschen abhängig zu werden und die Lebenssituation nicht mehr kontrollie-
ren und nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können. Angststörungen im Alter sind
häufig durch ein geringes Selbstvertrauen bezüglich alltäglicher Verrichtungen bedingt
und hängen oft mit Einschlafschwierigkeiten und/oder Depressionen zusammen.
Ängste können auch aus einer beginnenden Demenz resultieren, die das Zurechtfin-
den in der Welt sehr erschwert. Entsprechende Ängste äußern sich oft in Form von
Agitiertheit (Aufgeregtheit), motorischer Anspannung oder Angriffsverhalten.
Eine Agoraphobie beginnt bei älteren Menschen meistens nach dem 60. Lebensjahr,
nur bei einigen bestand schon im Erwachsenenalter eine Agoraphobie. Als Auslöser
fungiert meist ein alterstypisches Ereignis (Sturz, Unfall, Bewegungsunsicherheit, be-
stimmte Krankheiten). Die Agoraphobie dient oft dazu, eine Wiederholung des bela-
stenden Erlebnisses zu vermeiden.

Angst in Zusammenhang mit dem Geschlecht


Aufgrund der vorhandenen Rollenstereotypien dürfen Frauen in unserer Gesellschaft
viel eher schwach und ängstlich sein, während Männer stark und furchtlos sein sollen.
Sie gehen eher zu Ärzten und Behandlungseinrichtungen, weshalb sie unter den behan-
delten Patienten noch stärker vertreten sind als in der Grundgesamtheit der Angstpatien-
ten. Frauen suchen bereits bei „leichteren“ Störungen wie Angstzuständen fachliche
Hilfe, sie nehmen eher Psychopharmaka und gehen bereitwilliger in Psychotherapie,
während Männer oft erst bei „härteren“ Störungen, z.B. bei psychosomatischen Störun-
gen oder Alkoholabhängigkeit, zu einer Behandlung bereit sind.
Unter Angstpatienten sind zwei- bis dreimal mehr Frauen als Männer anzutreffen.
Dies hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen:
z kulturell geformtes geschlechtsspezifisches Rollenverhalten,
z bestimmte Lebenserfahrungen,
z hormonelle Faktoren.

Die größere Anfälligkeit von Frauen für Angststörungen wird derart begründet [143]:
z Frauen sind ab der Pubertät biologisch anfälliger. Hormonelle Schwankungen, Men-
struation, Schwangerschaft, Geburt, Menopause und Hormonstörungen stellen starke
körperliche und psychische Belastungen dar.
z Angststörungen sind oft eine Reaktion auf die Erfahrung häuslicher Gewalt.
z Frauen erleben andere Sozialisationsbedingungen mit anderen Zielen als Männer.
Frauen wurden oft nicht so selbstbewusst und selbstständig wie Männer erzogen,
sodass sie entsprechende Verhaltensweisen nicht ausreichend erwerben konnten.
Frauen wurden von klein auf dazu angehalten, nett und freundlich zu sein, während
Männer von klein auf eher aggressiv sein durften. Frauen neigen daher eher dazu,
Ärger hinunterzuschlucken. Sie dürfen und können ihre Angstgefühle oft nicht in
Wut umkehren und ausdrücken.
z Berufstätige Mütter sind durch die Mehrfachbelastung von Haushalt, Kinder und
Beruf oft überlastet, sodass sie unter Dauerstress leiden. Die Wahrscheinlichkeit ei-
ner Angsterkrankung steigt mit der Zahl der Familienmitglieder, insbesondere wenn
es Pflegefälle oder andere Belastungen in der Familie gibt.
382 Erklärungsmodelle für Angststörungen

z Das häufigere und stärkere Auftreten von Agoraphobien bei Frauen kann damit
zusammenhängen, dass Frauen im Laufe ihrer Entwicklung (Heirat, Geburt von
Kindern, Unterbrechung der Berufstätigkeit usw.) die für die Bewältigung schwieri-
gerer Situationen notwendigen Fertigkeiten nicht mehr üben konnten. Durch die feh-
lende Berufstätigkeit waren sie nicht mehr gezwungen, die Angst machenden Situa-
tionen besser aushalten zu lernen.

Hafner [144] fand bei Frauen mit einfacher Agoraphobie (keine weiteren psychischen
Auffälligkeiten) einen intrapsychischen Konflikt, und zwar einen ausgesprochen starken
Geschlechtsrollenkonflikt zwischen beruflicher bzw. privater Selbstverwirklichung ei-
nerseits und Hausfrauen- und Mutter-Dasein andererseits. Diese Frauen waren früher
in ihrem Beruf kompetent und erfüllt, können sich nun jedoch schwer auf das Hausfrau-
en-Dasein umstellen und leiden unter der ökonomischen Abhängigkeit vom Mann und
der Einschränkung ihrer Freiheit durch die Kinder.
Agoraphobien mit Panikattacken entstehen oft aus dem intrapsychischen Konflikt,
einerseits unabhängig und lebenszufrieden sein zu wollen, andererseits abhängig und
eingeschränkt zu sein sowie für und durch die Kinder und den Gatten leben zu müssen,
angewiesen auf stellvertretende Erfüllung der Bedürfnisse nach Leistung und Anerken-
nung. Der Zusammenhang zwischen Familienstatus und Agoraphobie ist empirisch
erwiesen [145]. Die Mehrzahl der Frauen mit Agoraphobie ist verheiratet, eine Ago-
raphobie tritt bei vielen Frauen erst nach der Heirat auf.

Angst in der Zeit der Globalisierung – Angst um den Arbeitsplatz


Phasen von wirtschaftlichen Rezessionen und das Zeitalter der Globalisierung mit den
Schlagworten Rationalisierung, Umstrukturierung, Auslagerung in Billigländer usw.
führen zur Angst um den Arbeitsplatz. Weniger Arbeitnehmer müssen immer mehr
Arbeit bei stagnierenden Löhnen verrichten, sodass der Arbeitsdruck steigt und Panikat-
tacken zunehmen. Die Veränderungen in der Arbeitswelt (z.B. fehlende Arbeitsplatzsi-
cherheit) und der zunehmende berufliche Stress am Arbeitsplatz zählen zu den wichtig-
sten Ursachen für das Ansteigen von Angststörungen und Depressionen. Die Vorgänge
auf dem Arbeitsmarkt führen bei vielen Menschen zu erhöhter Unsicherheit und gerin-
gem Kontrollerleben, was Angst machend wirkt. Der ständige Druck, auf keinen Fall zu
versagen, und das subjektive Bedrohtheitsgefühl der materiellen Existenz sind zentrale
Stressoren, die zahlreiche körperliche und psychische Symptome auslösen.
Die mehr oder weniger normale Angst, in der Leistungsgesellschaft zu versagen,
wird häufig durch übermäßiges berufliches Engagement zu bewältigen versucht, sodass
im Laufe der Zeit eine krankhafte Angst im Sinne einer Panikstörung mit oder ohne
Agoraphobie, einer generalisierten Angststörung oder einer sozialen Angststörung auf-
tritt – oder ein Burn-out. Es besteht häufig eine paradoxe Situation: Menschen, die ihre
Angst zu versagen, durch überhöhten Leistungseinsatz zu bewältigen versuchen, zahlen
einen hohen Preis in Form einer Angststörung. Krank machend sind somit nicht allein
die Arbeitsbedingungen an sich, sondern vielmehr auch die überfordernden Bemühun-
gen von Arbeitnehmern, ihre existenziellen Ängste durch maximalen Leistungseinsatz
in den Griff zu bekommen, d.h. letztlich zu vermeiden. Die Betroffenen müssen lernen,
diese Situation zu reflektieren, um aus dem Teufelskreis der Überforderung aussteigen
zu können.
6. Verhaltenstherapie bei Angststörungen
Die Behandlung von Angst- und Zwangsstörungen gehört zum „klassischen“ Repertoire
der Verhaltenstherapie. In der Fachliteratur wird oft selbst von Ärzten, die primär biolo-
gisch-pharmakotherapeutisch ausgerichtet sind, auf die Notwendigkeit einer zusätzli-
chen Verhaltenstherapie bei Angst- und Zwangsstörungen hingewiesen, um die hohen
Rückfallsquoten (bis zu 90%) beim Absetzen der Medikamente zu reduzieren.
Bei der Psychotherapie von Menschen mit Angststörungen vertrete ich einen inte-
grativen Behandlungsansatz auf der Basis der Verhaltenstherapie. Dabei werden auch
andere psychotherapeutische Methoden berücksichtigt:
z systemisch-interaktionelle Sichtweisen von Angststörungen,
z psychoanalytische Erklärungskonzepte für Angststörungen,
z humanistisch-erlebnisorientierte Konzepte,
z atem- und körpertherapeutische Konzepte.

Bei schweren Angststörungen (insbesondere in Verbindung mit einer depressiven Epi-


sode, aber auch bei Zwangsstörungen) befürworte ich neben der Psychotherapie den
mittelfristigen Einsatz bestimmter Antidepressiva (so genannter selektiver Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer). In speziellen Fällen (bei sonst vermiedenen wichtigen Le-
benssituationen, bei entscheidenden Vorstellungsgesprächen, zur Sicherung der Berufs-
fähigkeit, zur Ermöglichung von Urlaubsreisen usw.) kann auch der kurzfristige Einsatz
von Tranquilizern wie Alprazolam (D: Tafil®, Ö: Xanor®) oder von Beta-Blockern wie
Propranolol (D: Dociton®, Ö: Inderal®) hilfreich sein. Durch meine berufliche Soziali-
sation in einer Nervenklinik habe ich es akzeptiert, dass meine Patienten Medikamente
erhalten. Als Idealziel gilt die möglichst rasche, medikamentenfreie Angstbewältigung.
Vor der Darstellung der verhaltenstherapeutisch orientierten Angstbehandlung sol-
len einige Grundzüge der modernen Verhaltenstherapie dargestellt werden.

Therapeutische Grundprinzipien der Verhaltenstherapie

Der Selbstmanagement-Ansatz in der Verhaltenstherapie


Das von Margraf und Schneider [1] herausgegebene „Lehrbuch der Verhaltensthera-
pie“ bietet einen ausgezeichneten Überblick über die Verhaltenstherapie der Gegenwart.
Die Verhaltenstherapie beruht auf den Prinzipien der Selbstmanagement-Therapie,
wie diese in dem grundlegenden Werk von Kanfer, Reinecker und Schmelzer [2] detail-
liert beschrieben wird. Die Selbstmanagement-Therapie ist zielgerichtet, problemorien-
tiert, zeitlich begrenzt, methodenoffen und empirisch-wissenschaftlich orientiert (Be-
rücksichtigung der Erkenntnisse der Psychologie, der Sozial- und Biowissenschaften).
Die Hauptaufgabe des Therapeuten besteht darin, den Patienten möglichst schnell
zu befähigen, mit seinen Problemen alleine fertig zu werden, also dessen Selbsthei-
lungskräfte zu mobilisieren und sich selbst überflüssig zu machen. Die Therapie ist zu
Ende, sobald der Patient sich ausreichend selbst helfen kann.
Ziel ist die Autonomie des einzelnen und seine Fähigkeit, mit den Problemen des
Lebens besser umgehen zu können. Dementsprechend pragmatisch sind auch die einzel-
nen Schritte der Selbstmanagement-Therapie.
384 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Patienten werden darin unterstützt,


z verhaltensorientiert zu denken, z in kleinen Schritten zu denken,
z lösungsorientiert zu denken, z flexibel zu denken,
z positiv zu denken, z zukunftsorientiert zu denken.

z Verhaltensorientiert denken besteht in der Erkenntnis, dass für die Lösung von Pro-
blemen aktives Handeln und eine Verhaltensänderung notwendig sind. Das alleinige
Wissen über die Ursachen bestimmter Probleme („Ich habe Angst, weil ich als Kind
keine stabilen Beziehungen erlebt und kein ausreichendes Selbstvertrauen erworben
habe“) verändert nichts am Problem. „Verhalten“ wird in einem sehr umfassenden
Sinn verstanden (sichtbares Verhalten, Kognitionen, Emotionen, körperlich-
physiologische Befindlichkeit). Verhalten passiert nicht einfach, sondern erfolgt
zielorientiert im Sinne von Handeln (Absicht, Motivation) und findet statt in einem
ganz bestimmten sozialen Kontext (Partner- und Familiensituation, Berufswelt, so-
zioökonomische und ökologische Bedingungen). Das Problem- und Zielverhalten
wird in der Verhaltenstherapie möglichst konkret beschrieben. Man spricht von ei-
ner „Operationalisierung“ und meint damit beobachtbare Veränderungskriterien.
Typische Fragen dazu sind: An welchen Verhaltensweisen erkennen Sie, dass Ihre
Angst (Unsicherheit usw.) abnimmt? Was genau stellt für Sie eine erste kleine Bes-
serung dar? Woran werden die anderen Menschen erste Erfolge erkennen? Woran
erkannt man, dass Ihre Angst noch größer geworden ist?

z Lösungsorientiert denken bedeutet, dass der Schwerpunkt auf der Entwicklung von
Problemlösungen liegt. Die Konstruktion von Lösungen ist wichtiger als die lang-
wierige Analyse der Lebensgeschichte, so wichtig diese auch zum Verständnis der
aktuellen Symptome und Probleme sein mag. Es werden primär jene lebensge-
schichtlichen Aspekte erfasst, die zum Verständnis der aktuellen Beschwerden und
deren Bewältigung von Bedeutung zu sein scheinen. Patienten werden dabei ermu-
tigt, bereits kleinste Initiativen als eigenständigen Beitrag zur Problemlösung anse-
hen zu lernen und nicht endlos lange im Erörtern der Probleme und des negativen
Ist-Zustandes zu verharren. Die genaue Erforschung der Entstehung und Aufrechter-
haltung der Probleme („Verhaltensanalyse“ bzw. „Problemanalyse“) dient dazu,
Schlussfolgerungen für eine konkrete Problembewältigung ableiten zu können.

z Positiv denken bedeutet, den Patienten zu ermutigen, seine eigenen Stärken und
Fähigkeiten („Ressourcen“) zu entdecken und ihn aus dem Teufelskreis negativer
Gedanken zu befreien. Positiv denken heißt nicht, berechtigte Sorgen und Ängste zu
leugnen und die Patienten an die Missstände und negativen Lebenssituationen anzu-
passen. Der Therapieansatz ist klar auf aktive Veränderung angelegt. Positives Den-
ken bei Angstzuständen entspricht nicht der Haltung „Es wird schon nichts passie-
ren“, sondern umfasst Vorstellungen, wie es nach einer vermeintlichen Katastrophe
einigermaßen gut oder erträglich weitergehen kann.

z In kleinen Schritten denken bedeutet, dass der Patient sich zusammen mit dem The-
rapeuten kleine, begrenzte Ziele setzt, die wirklich erreichbar sind. Große Ziele wer-
den in Zwischenziele zerlegt, um die Erfolgschancen zu erhöhen. Viele Patienten
haben anfangs zu große Ziele, die nicht schnell genug realisierbar sind, sodass bald
eine Resignation eintritt. Dies ist oft bei depressiven Angstpatienten der Fall.
Therapeutische Grundprinzipien der Verhaltenstherapie 385

z Flexibel denken bedeutet, dass die Therapie nicht gescheitert ist, wenn eine Pro-
blemlösungsstrategie nicht erfolgreich war. In der Selbstmanagement-Therapie gibt
es prinzipiell verschiedene Wege, ein Ziel zu erreichen. Wenn Methoden und Tech-
niken anderer Psychotherapiemethoden erwiesenermaßen wirksam sind, können die-
se innerhalb eines verhaltenstherapeutisch orientierten Grundkonzepts problemlos
eingesetzt werden. Die Anwendung systemischer, gestalttherapeutischer oder kör-
pertherapeutischer Techniken erfordert nicht den Ausstieg aus einer verhaltensthera-
peutisch angelegten Behandlungsweise.

z Zukunftsorientiert denken bedeutet, nicht unnötig lange in der Vergangenheit zu


wühlen. Die Selbstmanagement-Therapie beschränkt die Vergangenheitserforschung
auf das notwendige Maß und legt mehr Wert auf ein zukunftsorientiertes Vorgehen.
Auf dem Weg der Realisierung bestimmter Ziele werden dabei auch die konkreten
Probleme aus der Vergangenheit sichtbar und vorwärts orientiert statt rückwärts ge-
richtet bearbeitet. Konkret bedeutet dies z.B., dass ständige Verlustängste, die die
Vergangenheit geprägt haben, primär in der Wiederholung im Rahmen der aktuellen
Beziehungen bearbeitet werden. Verhaltensänderungen sind nur in der Gegenwart
durchführbar. Bezüglich der Vergangenheit sind nur neue, hilfreichere Sichtweisen
des Erlebten möglich.

Prinzipien einer verhaltenstherapeutischen Kurzzeittherapie


Psychotherapie wird in der Verhaltenstherapie als zeitlich begrenzte Beziehung zwi-
schen Therapeut und Patient zur Erreichung bestimmter Ziele verstanden. Die Psycho-
therapie soll so kurz wie möglich, jedoch so lange wie notwendig sein. In diesem Sinne
bevorzugen Verhaltenstherapeuten eher kürzere Therapien. Eine Verhaltenstherapie
umfasst durchschnittlich 20-80 Stunden, ähnlich wie eine Fokaltherapie im Rahmen
einer Psychoanalyse.
Eine erfolgreiche Angstbewältigungstherapie dauert meistens nicht länger als 15-50
Stunden. Wenn eine Verhaltenstherapie, die ursprünglich wegen verschiedener Angst-
zustände begonnen wurde, doch über einen längeren Zeitraum fortgeführt wird, hängt
dies oft mit einer Ausweitung der Problem- und Zieldefinition zusammen. Als Kriteri-
um der Therapiebeendigung gilt nicht eine bestimmte Stundenanzahl, sondern die Ziel-
erreichung auf möglichst raschem und effektivem Weg. In diesem Sinne kann eine
„Kurzzeittherapie“ auch über einen längeren Zeitraum andauern (z.B. 50 Stunden inner-
halb von 2-3 Jahren).
Es soll ausdrücklich betont werden, dass Verhaltenstherapeuten bei Bedarf sehr
wohl auch Langzeittherapien mit einer wesentlich höheren Stundenzahl anbieten, z.B.
Therapien bei chronischen Krankheiten (Krebs, Schizophrenie, Angststörungen mit
Substanzabhängigkeit), zur Stützung in schwierigen Lebenssituationen oder zur Förde-
rung einer günstigen Persönlichkeitsentwicklung bei Persönlichkeitsstörungen.
Die Kriterien einer verhaltenstherapeutisch orientierten Kurzzeittherapie stimmen
mit denen einer systemisch orientierten Kurzzeittherapie im Wesentlichen überein und
sollen im Folgenden anhand von 6 Punkten näher beschrieben werden. Dabei wird Be-
zug genommenen zur Thematik der Angststörungen. An einer Psychotherapie Interes-
sierten soll durch bestimmte Fragestellungen eine gewisse Vorbereitung auf eine Ver-
haltenstherapie ermöglicht werden.
386 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

1. Unterbrechung negativer Muster. Oft reicht als Therapieziel die Unterbrechung


negativer Muster. Dies kann erfolgen auf der Ebene des individuellen Verhaltens,
des körperlichen Geschehens, der Gedanken oder der Interaktionsmuster. Eine lang
anhaltende Störung braucht zwar häufig auch längere Zeit zur Korrektur als eine
kurzzeitige Krise oder eine plötzlich auftretende Symptomatik ohne Chronifizie-
rung, die Therapie muss aber dennoch nicht immer bis zur vollständigen Symptom-
beseitigung fortgeführt werden. Häufig reicht es, einen Teufelskreis zu durchbre-
chen, in dem man schon seit Jahren gefangen ist. Dann gibt es neue Entwicklungs-
möglichkeiten, die man alleine weiterverfolgen kann. Persönlichkeitsveränderung ist
zudem ein lebenslänglicher, nie abgeschlossener Prozess. Die eigentliche Therapie
kann oft kurz sein. Typische Fragen sind: Wenn Ihr Problemverhalten wiederum
auftritt, was können Sie dann tun, damit ein anderer Ablauf als bisher gegeben ist?
Was haben Sie vielleicht unabsichtlich getan, als es Ihnen einmal ausnahmsweise
etwas besser ging, um Ihr Problemverhalten zu unterbrechen? Wie können Sie im
Umgang mit Ihren Bezugspersonen anders reagieren, damit sich diese Ihnen gegen-
über anders als bisher verhalten? In der Therapie von Angststörungen wird dieses
Prinzip durch eine Konfrontationstherapie zu verwirklichen versucht, wo der Teu-
felskreis des Angst vermeidenden Verhaltens durchbrochen wird und rasch neue
Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden. Panikstörungen können oft innerhalb ei-
nes Programms von 15 Stunden, Agoraphobien durch ein gezieltes Therapiekonzept
innerhalb einiger Wochen erfolgreich bewältigt werden. Die Bewältigung „dahinter
liegender“ Probleme wird jedoch länger dauern, wenn der Patient nach der Beseiti-
gung der Angstsymptome dazu selbst nicht in der Lage ist. Generalisierte Angststö-
rungen oder Zwangsstörungen erfordern eine wesentlich längere Behandlung, eben-
so die Persönlichkeit umstrukturierende Vorgangsweisen (z.B. Aufbau von sozialer
Kompetenz bei ängstlich-vermeidenden Persönlichkeiten).

2. Einführung von etwas Neuem: Vermittlung neuer Sichtweisen, Erlernung neuer


Verhaltensmöglichkeiten, Entwicklung neuer Interaktionsmuster und konkreter Pro-
blemlösungsstrategien. Kurzzeittherapien versuchen neben der Unterbrechung nega-
tiver Denk- und Verhaltensmuster rasch einige wenige positive Veränderungen ein-
zuleiten, die die Hoffnung auf weitere Veränderungen stärken. Einerseits eröffnen
neue Sichtweisen neue Verhaltensmöglichkeiten, andererseits führen rasche Verhal-
tensänderungen oft zu neuen Erkenntnissen und Einsichten ohne tief schürfende
Analysen. Tiefenpsychologische Konzepte streben Verhaltensänderungen durch
lang dauernde kognitiv-emotionale Umstrukturierungsprozesse an, stärker aktions-
orientierte Therapien möchten über die rasche Herbeiführung neuer Verhaltenswei-
sen auch neue Einsichten und Emotionen bewirken. Wenn es aussichtsreich er-
scheint, erfolgt auch in der Verhaltenstherapie eine rein kognitive Therapie mit der
Erwartung, dass daraus entsprechendes Verhalten resultiert. Doch selbst stark kogni-
tiv ausgerichtete Verhaltenstherapeuten unterstützen den Veränderungsprozess
durch eine gezielte Handlungsanleitung, weil aufgrund von langjährigen Gewöh-
nungsprozessen Verhaltensänderungen oft nur schwer und langsam möglich sind.
Lerntheoretisch wird dies so begründet: „Umlernen ist schwieriger als Neulernen.“
Typische Fragen hinsichtlich Panikattacken: Wenn Ihr Leben durch die Erwartung
von Panikattacken eingeschränkt ist, wie könnten Sie dann lernen, mit diesen durch
gezielte Provokation besser umzugehen? Was fürchten Sie eigentlich, wenn Sie
durch eine Panikattacke sicher nicht sterben?
Therapeutische Grundprinzipien der Verhaltenstherapie 387

3. Orientierung auf positive Ziele statt Fixierung auf die Probleme. Wichtige ziel-
orientierte Fragen sind: Angenommen, Sie würden über Nacht gesund, was hätte
dies für Folgen für Ihr Leben? Woran werden Sie und andere erkennen, dass Sie ge-
sund sind? Was werden Sie tun, wenn Sie gesund sind? Wenn sich Ihr Problem in
der nächsten Zeit nicht wesentlich verändern lässt, wie könnten Sie dann Ihr Leben
doch erträglicher gestalten? Wenn das Symptom weg ist (z.B. Ängste, Depression,
Alkoholmissbrauch), was tritt dann an dessen Stelle und was können Sie dann mehr
tun als vorher? Was davon könnten Sie bereits jetzt trotz der Probleme zu tun versu-
chen? Wenn absolut nichts möglich ist, kann dies ein Hinweis darauf sein, dass das
Symptom ein wichtiger Schutz vor etwas ist, das mehr Probleme bereiten würde als
das gegenwärtige Symptom. Die mangelnde Veränderbarkeit einer Symptomatik
wird dann zum Thema der Therapie gemacht.

4. Vorhandene Fähigkeiten nutzen („Ressourcen aktivieren“). Eine Veränderung


kommt immer aus der Person des Patienten, der Therapeut kann nur einen Anstoß
dazu geben. Ein Psychotherapeut kann seelische Störungen nicht reparieren wie ein
Kfz-Mechaniker ein Auto oder ein Arzt eine rein organisch bedingte Krankheit,
sondern ist auf die aktive Mitarbeit des Patienten angewiesen. Welche Möglich-
keiten und Fähigkeiten können genutzt werden? Was ist jetzt trotz allem positiv, was
geht gut? Was waren Ihre Stärken vor der Angststörung? Daraus entsteht die Kraft
zur Veränderung.

5. Konkrete, überprüfbare Erfolgskriterien beschleunigen die Veränderung, weil das


Ziel klarer wird. Die oft so beliebten globalen Therapieziele (kontakt-, durchset-
zungs-, leistungsfähig, selbstsicher, weniger ängstlich, harmonische Ehe ohne Streit)
sind so umfassend, manchmal utopisch, dass nicht erkannt werden kann, wann ge-
nau ein Anfangserfolg und wann genau der Gesamterfolg erreicht ist. Dies führt zu
chronischer Unzufriedenheit und schließlich zur Resignation, dass sich ohnehin
nichts ändern wird, weil man keine Fortschritte sieht. Es wird daher Wert darauf ge-
legt, dass die Erfolge schon vorher ganz konkret als sichtbare Verhaltensweisen und
überprüfbare innere Zustände und Einstellungen beschrieben werden können, und
zwar in Form einer schrittweisen Änderungsabfolge: Woran genau erkennen Sie er-
ste Fortschritte, woran genau weitere Erfolge? Woran erkennen andere bei Ihnen ei-
ne Besserung?

6. Weg der kleinen Schritte. Die Zerlegung eines Traumziels in realisierbare und kon-
kret überprüfbare Teilziele ist für viele Patienten eine der schwersten, zugleich aber
auch wichtigsten Aufgaben, denn es erfordert Bescheidenheit und Geduld mit sich
selbst. Menschen mit Angststörungen streben oft das völlig unrealistische Therapie-
ziel an, alles ohne Angst bewältigen zu können. Ängstlich-vermeidende Persönlich-
keiten möchten so schnell wie möglich in jeder Hinsicht selbstsicher auftreten kön-
nen. Bei resignativen Patienten mit langjähriger Symptomatik ist es das erste und
entscheidende Therapieziel, kleine, aber sichtbare Anfangserfolge zu erreichen. Was
ist die kleinstmögliche Veränderung, die bereits einen Fortschritt bedeuten würde?
Welche konkreten Verbesserungen sind bei einer Kurzzeittherapie von 10-20 Stun-
den realistischerweise zu erwarten? Welche Probleme sollte man vorerst einmal oh-
ne Änderungsversuche besser als bisher annehmen und aushalten lernen? Welche
Ängste müssen in den nächsten 3-6 Monaten unbedingt bewältigt werden?
388 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Berücksichtigung allgemein therapeutischer Wirkprinzipien


Eine erfolgreiche Psychotherapie umfasst auf Patientenseite vier Aspekte:
1. Verstehen der Lebenssituation, der aktuellen Störung und deren Funktion,
2. Kontrolle belastender Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen und Symptome,
3. Kontrolle belastender Lebenssituationen und Umweltbedingungen,
4. Realisierung kurzfristiger positiver Ziele und längerfristiger Lebensentwürfe.

In der Verhaltenstherapie werden jene Grundprinzipien berücksichtigt, die Frank [3] in


seinem Buch „Die Heiler“ als Basis jeder wirksamen Psychotherapie beschreibt:
1. Eine intensive, emotional betonte, vertrauensvolle Beziehung zu einem Helfer, häu-
fig mit Beteiligung einer Gruppe (Lernen durch Beobachtung anderer sowie durch
Interaktion mit anderen, Gefühl der Zugehörigkeit und des Verstandenwerdens, Er-
fahrung, für andere wertvoll und hilfreich zu sein, tröstliche Erkenntnis, dass andere
ähnliche Probleme haben).
2. Eine Theorie oder ein Mythos, der eine Erklärung über die Ursachen der Störung
und die Art und Weise, wie sie zu beseitigen ist, enthält. Zur Erhöhung der Wirk-
samkeit ist eine Abstimmung auf das Weltbild des Patienten erforderlich. Wenn der
Patient sich selbst und seine Beschwerden besser verstehen kann, werden Verände-
rungsstrategien erleichtert.
3. Die Vermittlung neuer Informationen über das Wesen und die Quelle des konkreten
Problems sowie neue oder alternative Bewältigungsstrategien. Angstpatienten benö-
tigen mehr Störungswissen und konkrete Hilfestellungen zur Veränderung.
4. Die Stärkung der Erwartungen des Patienten, dass ihm durch die persönlichen Qua-
litäten des Therapeuten, der einen gesellschaftlichen Status genießt und in einem be-
sonderen Setting arbeitet, geholfen wird. Je konkreter und transparenter der Thera-
pieplan ist, umso mehr verstärkt dies die Veränderungsmotivation des Patienten.
5. Die Vermittelung von Erfolgserlebnissen, die Hoffnung auf Besserung und Gefühle
von Selbstvertrauen, eigener Fähigkeit und interpersonaler Kompetenz ermöglichen.
6. Die Erleichterung des Ausdrucks emotionaler Erregung, die eine Voraussetzung für
Einstellungs- und Verhaltensänderungen ist. Bei Angstbewältigungsübungen bedeu-
tet dies die bewusste Wahrnehmung und Akzeptanz von Angstreaktionen.

Der verstorbene Psychotherapieforscher Klaus Grawe [4], der die Effizienz verschiede-
ner Methoden untersucht hat, betont vier Merkmale wirksamer Psychotherapien:
1. Ressourcenaktivierung (durch eine unterstützende Therapeut-Patient-Beziehung),
2. Problemaktualisierung (Prinzip der realen Erfahrung, erfahrungsorientiertes Lernen),
3. Bewältigungsperspektive (aktive Hilfe bei der Problembewältigung),
4. Klärungsperspektive (Klärung der Störungsursachen und der Motivation).

Die Verhaltenstherapie berücksichtigt diese vier Wirkprinzipien folgendermaßen [5]:

1. „Orientierung der Therapie auch an den Stärken (Ressourcen) des Patienten. Der Patient wird
nicht nur als Leidender und mit Problemen und Störungen belasteter Mensch begriffen, sondern
auch als jemand, der über Fähigkeiten und (verborgene) Stärken verfügt, die für den Therapiever-
lauf genutzt werden können. Die Verhaltenstherapie berücksichtigt diese Ressourcen-Orientierung,
indem sie ausdrücklich die sogenannten Verhaltensaktiva (=Stärken und Fähigkeiten) des Patienten
herausstellt und ihn auch als aktiven und verantwortlichen Partner bei der Therapiedurchführung
begreift.
Therapeutische Grundprinzipien der Verhaltenstherapie 389

2. Problemaktualisierung in der Therapie. Das heißt, das Problem, um das es geht, sollte nicht nur
besprochen, sondern auch auf der Ebene der Gefühle, der Körperreaktionen und des beobachteten
Verhaltens erfahrbar werden. Mit ihren Übungsangeboten und dem direkten Aufsuchen von Angst-
situationen ist es seit jeher ein Wesensmerkmal der VT, die Probleme direkt und – wenn möglich –
‚live’ zu analysieren und zu bearbeiten. Wenn, wie das Sprichwort lautet, ein Bild mehr sagen kann
als tausend Worte, so kann eine konkrete positive Erfahrung oft mehr ändern als viele Gespräche.
3. Die Bewältigungsperspektive. Unter dem Gesichtspunkt des ‚Noch-nicht-Könnens’ des Patienten
kann die VT konkrete Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln. So finden konkrete Anleitungen und
Übungen z.B. zur Streßbewältigung ebenso ihren Platz wie Übungen zum sicheren Verhalten in der
Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz.
4. Die Klärungsperspektive. Fast jeder Patient hat das Bedürfnis zu erkennen, warum er ein Problem
oder eine Störung hat. Unter dem Gesichtspunkt der Klärung geht es auch in der VT darum, ge-
meinsam herauszufinden, wie aus den Lebenserfahrungen des Patienten und seinen aktuellen Kon-
flikt- und Lebensproblemen die Störung entstehen konnte (‚Ursachenforschung’). Ein Patient kann
so z.B. erkennen, daß seine Kopfschmerzen Signal für Überforderungen am Arbeitsplatz sind, oder
aber, daß er ‚unbewußt’ versucht, durch die Schmerzen die Zuwendung seiner Partnerin zu erhal-
ten, da er sich nicht traut, diese ‚direkt’ zu erbitten.“

Auf diese vier Wirkprinzipien soll im Folgenden detaillierter eingegangen werden:

1. Ressourcenorientierung. Therapeuten helfen Patienten dann am schnellsten und


besten, wenn sie an den Möglichkeiten, Fähigkeiten, Eigenarten, Motiven und Zie-
len der Patienten ansetzen. Die Aktivierung von Ressourcen innerhalb und außer-
halb der Person, die Erkenntnis und Wiederentdeckung der eigenen Stärken anstelle
der Fixierung auf die Probleme, Symptome und Defizite und die Bestärkung der ei-
genen Potenziale zur Lösung von Problemen fördern den Prozess der Heilung. Die
Entwicklung von Vertrauen in die eigene Person und die Hoffnung auf die Wirk-
samkeit des eigenen Verhaltens unterstützen die Veränderungsmotivation. Effiziente
therapeutische Strategien sind nur dann voll wirksam, wenn sie an die spezielle Si-
tuation des Patienten angepasst werden, d.h. der Psychotherapeut muss das Thera-
piekonzept auf den Patienten abstimmen. Die Art der Motivation und der Umfang
der Ressourcen des Patienten sind von zentraler Bedeutung für eine erfolgreiche the-
rapeutische Beziehungsgestaltung und eine Gewinn bringende Auswahl der thera-
peutischen Strategien. Der Ansatz bei den positiven Ressourcen bezieht sich nicht
nur auf die Aktivierung dessen, was der Patient bereits kann, sondern auch auf die
Förderung dessen, was er gerne lernen möchte, und auf die Berücksichtigung des-
sen, wozu er motiviert ist und wozu nicht. Eine optimale Ressourcenaktivierung
nutzt auch die zwischenmenschlichen Beziehungen des Patienten. Soziale Unterstüt-
zung durch die Angehörigen bestärkt den Selbstwert, erleichtert die Bewältigung
von Problemen und fördert veränderungsorientierte therapeutische Interventionen.

2. Problemaktualisierung (erlebnisorientierte Therapie). Psychotherapien sind dann


besonders wirksam, wenn Patienten ihre Probleme in der Therapie realitätsnahe und
unmittelbar durchleben und nicht nur besprechen und analysieren. Patienten sollen
über ihre Probleme nicht nur diskutieren, sondern diese im Rahmen einer vertrau-
ensvollen Beziehung zum Therapeuten auf der Ebene der Gefühle, der Körperreak-
tionen und des beobachtbaren Verhaltens aktuell erleben und auf allen Sinneskanä-
len möglichst lebendig erfahren, um eine andere und bessere Bewältigung ihrer Pro-
bleme zu erreichen. Es geht um die Vermittlung neuer, korrigierender emotionaler
390 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Erfahrungen durch die Auseinandersetzung mit den konkreten Problemen auf der
Ebene intensiver Vorstellungen und lebendiger Vergegenwärtigungen von Problem-
situationen (z.B. „Stellen Sie sich die gefürchtete Situation ganz intensiv vor“) oder
in Form von emotionsaktivierenden Konfrontationen mit realen Situationen. Auf
diese Weise werden Auslöser, Abläufe und Konsequenzen der Probleme erfahrbar
und bewältigbar. Erlebnisaktivierende Psychotherapien beschleunigen die Lösung
von Problemen, weil durch konkrete Erfahrungen die problemerzeugenden Situatio-
nen wiederhergestellt und dadurch leichter bewältigbar werden. Aktivierung und
Bewältigung emotional belastender Situationen erfordern beispielsweise eine Grup-
pentherapie bei generalisierten sozialen Ängsten, eine Paartherapie bei Verlustäng-
sten angesichts von Partnerproblemen, eine Familientherapie oder die Einbeziehung
relevanter Familienmitglieder, wenn die Angststörung eng mit familiären Problemen
zusammenhängt, eine Konfrontation mit der konkreten Alltagsrealität durch Aufsu-
chen relevanter Orte bei Agoraphobie oder Waschzwängen.

3. Störungsperspektive (aktive Problembewältigung). Neben der Wiederbelebung der


Probleme, der intensiven Aktivierung alter Gefühle, der vertieften Einsicht und bes-
seren Selbsterkenntnis benötigen viele Patienten konkrete Anleitungen und Hilfe-
stellungen. Bestimmte Strategien, Techniken und Übungen dienen zur Überwindung
der anstehenden Probleme und zur Verbesserung von Fähigkeiten und Fertigkeiten
(z.B. Konfrontationstherapie, soziales Kompetenztraining). Eine Verhaltenstherapie
unterstützt die Patienten aktiv und konkret bei der Bewältigung ihrer Probleme und
Symptome durch die gemeinsame Entwicklung von Problemlösestrategien, jedoch
in einer Weise, dass dadurch ihre Selbsthilfekompetenz gestärkt wird. Störungsspe-
zifisches Wissen und bewährte störungsspezifische Vorgangsweisen sind erforder-
lich, um die Eigendynamik von Symptomen wie Ängsten und Zwängen zu durch-
brechen. Oft sind erst danach die zugrunde liegenden Probleme bearbeitbar.

4. Klärungsperspektive (motivationale Klärung, Konfliktperspektive). Patienten benö-


tigen plausible Erklärungsmodelle (Psychoedukation) bezüglich der Entstehung und
Aufrechterhaltung ihrer Probleme, um mehr Einsicht in die Ursachen und Zusam-
menhänge ihrer Probleme bzw. Symptome zu gewinnen und mehr Selbsterkenntnis
und eine bessere Therapiemotivation zu erlangen. Patienten fragen oft: „Warum bin
ich so, wie ich bin? Warum verhalte ich mich so und nicht anders? Der Prozess der
Selbstreflexion ermöglicht den Patienten, sich auf dem Hintergrund ihrer Lebensge-
schichte besser zu verstehen. Symptome sind oft Lösungsversuche bei zentralen in-
trapsychischen und interaktionellen Konflikten. Die Bereitschaft zur aktiven Pro-
blembewältigung ist erst möglich, wenn die Patienten ihr Erleben und Verhalten in
Zusammenhang mit bewussten und unbewussten Zielen und Werten sowie in Bezug
auf ihre Lebensgeschichte verstehen und ihre Grundannahmen und Befürchtungen
verändern. Die Unterscheidung zwischen klärungs- und bewältigungsorientierten
Vorgangsweisen und deren Beachtung in der Psychotherapie ist von großer Bedeu-
tung für den guten Verlauf der Therapie. Der Versuch einer raschen Problembewäl-
tigung mit an sich hilfreichen Methoden wird zumindest bei jenen Patienten schei-
tern, die hohen Klärungsbedarf bezüglich Herkunft, Hintergründen und Zusammen-
hängen ihrer Probleme und Beschwerden haben. Konkret heißt dies, dass die bewäl-
tigungsorientierte Durchführung einer verhaltenstherapeutischen Konfrontationsthe-
rapie bei Agoraphobie im Sinne der Konzentration auf die Störungsperspektive zum
Therapeutische Grundprinzipien der Verhaltenstherapie 391

Scheitern verurteilt ist, wenn der Patient im Sinne einer motivationalen Klärung vor-
erst einmal das Bedürfnis hat, sich auf dem Hintergrund seiner früheren und aktuel-
len Lebenssituation besser verstehen und seine momentanen Gefühle besser wahr-
nehmen zu lernen. Vielen Patienten ist das vorherige Verstehen ihrer Person und ih-
rer Lebensgeschichte wichtiger als ein rascher Änderungsversuch.

Die früher übliche Gegenüberstellung von einsichtsorientierten „aufdeckenden“ Thera-


pieverfahren (Psychoanalyse) und übenden „zudeckenden“ Verfahren (Verhaltensthera-
pie) im Sinne einer Entweder-Oder-Haltung sollte laut Grawe einer „Sowohl-als-auch-
Einstellung“ Platz machen. Die meisten Patienten benötigen sowohl die Klärungsper-
spektive als auch die Bewältigungsperspektive als einander ergänzende Perspektiven
zur erfolgreichen Behandlung ihrer Störung. Nach Grawe ist es eine überholte Vorstel-
lung, in der Psychoanalyse nur die Einsicht (motivationale Klärung) zu suchen, bei
Humanistischer Psychotherapie (z.B. Klientenzentrierter Psychotherapie oder Gestalt-
therapie) nur die Gefühlsaktivierung (Problemaktualisierung) und in der Verhaltensthe-
rapie nur die konkrete Handlungsanleitung (Problembewältigung).

Grundprinzipien verhaltenstherapeutischer Angstbehandlung


Die Verhaltenstherapie bei Angststörungen folgt den Grundsätzen der Selbstmanage-
ment-Therapie nach Kanfer, Reinecker und Schmelzer. Verhaltenstherapeuten legen
mehr Wert auf eine umfassende Strukturierung der Therapie als andere Psychotherapeu-
ten. Dabei wird die Bedeutung der Beziehung zwischen Therapeut und Patient für den
Therapieprozess ebenso beachtet wie bei anderen Therapiemethoden. Das verhaltens-
therapeutische Vorgehen beruht (neben dem Aufbau der Therapiebeziehung, der Ände-
rungsmotivation, der Erfolgsüberprüfung u.a.) auf drei Säulen [6]:
1. Detaillierte Problemanalyse.
z Genaue Erfassung der Probleme und Störungen.
z Analyse der möglichen Ursachen (Wie ist es dazu gekommen?)
z Analyse des Umfeldes (Was hält die Probleme aufrecht?), der intrapsychischen
und interpersonellen Funktionalitäten der Störung (Welchen Zweck erfüllt sie?)
2. Individuelle Zielbestimmung (global und spezifisch).
z Negative Formulierung: Was soll nicht mehr sein?
z Positive Formulierung: Was genau soll erreicht werden? Als Ziel gilt das, was
der Patient anstrebt, und nicht das, was der Therapeut gerne erreicht hätte. Über
die vorher möglichst konkret definierten Therapieziele ist der Verlauf einer Ver-
haltenstherapie jederzeit auf seine Effizienz hin überprüfbar.
3. Konkrete Therapieplanung gemeinsam mit dem Patienten bei möglichst großer
Transparenz des Vorgehens und abgestimmter Auswahl der in Frage kommenden
Methoden. Über den Erfolg der Therapie bestimmt der Patient aufgrund seiner Ziele.

In der Verhaltenstherapie werden bei verschiedenen Angststörungen ganz spezifische


Behandlungskonzepte angewandt [7]. Bei der Behandlung von Agoraphobie und/oder
Panikstörungen ist ein Vorgehen in drei Phasen angezeigt [8]:
z Vorbereitung: Beziehungsaufbau, Informationsphase, Verhaltensanalyse.
z Symptomtherapie: symptombezogene Therapie (Konfrontationstherapie).
z „Hintergrundsarbeit“: Klärung psychodynamischer und systemischer Aspekte.
392 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Tab. 10: Spezifische Therapieansätze bei einzelnen Angststörungen [9]

Panikattacken Agoraphobie Generalisierte Angst Soziale Ängste


– Exposition an – Exposition an – Entspannungs- – Selbstsicherheits-
körpereigene Si- externe Auslöser verfahren training
gnale (z.B. Hyper-
ventilationstest)
– Kognitive Um- – Abbau von Ver- – Biofeedback – Kommunikations-
strukturierung meidungsverhalten training

– „Sorgen- – Rollenspiele
Exposition“ – In-vivo-Exposition
– Kognitive Stra-
tegien zur Beru-
higung

Tab. 11: 3-Phasen-Modell der Behandlung von Agoraphobie und Panikattacken [10]

1. Phase 2. Phase 3. Phase


Vorbereitung Symptomorientierte Erweiterte Therapie zur
Therapie psychischen Stabilisierung
z Diagnostik und Beziehungs- z Exposition an innere Auslö- z Selbstsicherheit und
aufbau ser soziale Kompetenz
z Exploration der „inneren z Exposition an äußere z Steigerung des
Welt“ Auslöser Selbstwertgefühls
z Krankheitsmodell des Pati- z Kognitive Neubewertung z Klärung familiärer
enten Beziehungen
z Information vermitteln z Biographische
Aufarbeitung
z Gemeinsames Störungs- z Auseinandersetzung
modell erarbeiten mit Traumata
z Therapie-Rational ableiten

Rief [11] beschreibt das konkrete Vorgehen am Beispiel von Panikstörungen und Ago-
raphobien (die Ausführungen gelten analog auch für andere Angststörungen):

„Das typische Vorgehen in der Behandlung von Personen mit Angst- und Panikstörungen läßt sich in
der Regel in drei Phasen untergliedern.
Die erste Phase stellt die Eröffnungsphase dar, in der die medizinische und psychologische Diagno-
stik im Vordergrund steht. Ziel ist es, die ‚innere Welt des Patienten’ zu explorieren, seine Ängste,
seine Kognitionen, seine körperlichen Reaktionen. Dem Patienten werden zahlreiche Informationen zur
Entstehung von Angstattacken vermittelt und mit ihm wird ein gemeinsames psychologisches Stö-
rungsmodell erarbeitet... Das Ende der ersten Behandlungsphase stellt in der Regel die Ableitung des
Therapierationals dar, das festlegt, wie ein sinnvolles weiteres Vorgehen aussehen soll. Insgesamt liegt
somit ein Schwerpunkt auf der Informationsgewinnung, Informationsvermittlung sowie Motivierung
zur Verhaltensänderung. Verschiedene Provokationstests (z.B. Hyperventilation) mit entsprechenden
Auswertungen werden unterstützend eingesetzt in dieser Phase.
Die zweite Therapiephase stellt das Kernstück der Behandlung dar. In ihr erfolgt eine Auseinander-
setzung mit angstbesetzten Reizen, welche sowohl verinnerlichte Reize als auch äußere Angstauslöser
sein können. Hauptziel dieser Auseinandersetzung ist nicht das Bewältigen als solches, sondern eine
kognitive Neubewertung der Situation, der eigenen Fähigkeiten und der persönlichen körperlichen
Reaktionen. So trivial das Expositionsverfahren in der theoretischen Darstellung oftmals wirkt, so viel
Erfahrung ist doch andererseits in der praktischen Durchführung nötig...
Therapeutische Grundprinzipien der Verhaltenstherapie 393

Die dritte Behandlungsphase sollte aus Interventionen bestehen, die der allgemeinen psychischen
Stabilisierung dienen. Hierzu stehen verschiedenste Möglichkeiten zur Auswahl, die je nach Problem-
lage des Patienten und persönlichen Vorlieben des Therapeuten gestaltet werden können. So wäre hier
durchaus auch an eine biographische Aufarbeitung zu denken, die versucht, dem Patienten Sinnzusam-
menhänge seiner Angststörung zu vermitteln bzw. solche mit ihm zu erarbeiten, wie dies üblicherweise
eher in psychodynamischen Therapien geschieht. Allgemeine Stabilisierungsmaßnahmen können gene-
rell alle Maßnahmen zur Steigerung des Selbstwertgefühls darstellen oder zur Aneignung von adäqua-
tem sozialem Kommunikationsverhalten und sozialer Kompetenz. Hierzu zählt zu lernen, Emotionen zu
äußern, Kontakte aufzunehmen und aufrechtzuerhalten, berechtigte Forderungen zu stellen und unbe-
rechtigte Forderungen zurückzuweisen und vieles mehr. Auch kann zu diesem Zeitpunkt eine Klärung
familiärer Beziehungen sowie die Übernahme von Selbstverantwortung in der Familie, am Arbeitsplatz
und in weiteren Lebenssituationen erfolgen. Auch eine Auseinandersetzung mit früheren Traumata mag
angezeigt sein.
Die Regel der zeitlichen Anordnung ‚symptomorientierte Therapie vor allgemein psychisch stabili-
sierenden Maßnahmen’ hat sich nicht nur in wissenschaftlichen Studien bewährt, sondern zeigte sich
auch im praktischen Vorgehen als überzeugend. Gerade die biographische Aufarbeitung von traumati-
schen Ereignissen oder andere Interventionen der dritten Phase lösen in der Regel erneute Ängste aus,
die zu ständigen Unterbrechungen und Abweichungen vom Therapieplan führen. Mit solchen Krisen
kann der Patient deutlich besser umgehen, wenn ihm zuvor Hilfsmittel zum Umgang an die Hand
gegeben und mit ihm eingeübt wurden. Oftmals bekommen Patienten erst durch die symptomorientierte
Therapie ausreichend Vertrauen zum Therapeuten, um anschließend auch weitere psychotherapeutische
Maßnahmen durchführen zu wollen und das nötige Vertrauen hierzu zu entwickeln.“

Vorgehen bei kombinierten Angststörungen


Bei gleichzeitigem Vorhandensein mehrerer Störungen und Probleme (andere Angststö-
rung, Depression, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch, Substanzabhängigkeit,
berufliche Überlastung, familiäre Probleme) sind zuerst deren Beziehungen zueinander
zu bestimmen, die positiven oder negativen Effekte von Psychopharmaka zu beurteilen
und danach folgende Behandlungsgrundsätze zu beachten [12]:
1. Bei primärer Angststörung mit psychosozialen (Folge-)Problemen sollte zuerst eine
gezielte Symptomtherapie erfolgen, bevor die anderen Probleme zu bewältigen ver-
sucht werden. Der bessere Umgang mit bisher unkontrollierbaren Ängsten erleich-
tert die Lösung anderer Probleme (Probleme am Arbeitsplatz, in der Partnerschaft,
bei der selbstständigen Lebensführung, bei der Berufswahl, bei Ortsveränderungen).
2. Bei primärer Angststörung mit sekundärer Depression reicht meistens eine Kon-
frontationstherapie, ohne dass eine antidepressive Medikation erfolgen muss.
3. Bei primärer Depression sollten zuerst eine medikamentöse Therapie und ein an-
dersartiges psychotherapeutisches Vorgehen (z.B. kognitive Therapie) erfolgen, be-
vor eine Konfrontationstherapie stattfindet (falls diese noch notwendig sein sollte).
4. Bei Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch sollte zuerst die Substanz abgesetzt
(ausgeschlichen) werden, bevor eine Konfrontationstherapie sinnvoll ist. Anderen-
falls werden alle erreichten Erfolge der Substanzwirkung und nicht dem eigenen
Bemühen zugeschrieben. Tranquilizer verhindern bzw. beeinträchtigen das heilsame
Erleben der körperlichen und emotionalen Reaktionen bei der Konfrontation mit den
Angst machenden Situationen.
5. Bei Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit ist zuerst eine Entzugsbehandlung
durchzuführen. Wenn im Verlauf der Suchttherapie deutlich wird, dass die Abhän-
gigkeit ihren Ausgang von einer primären Angststörung genommen hat, sollte an-
schließend eine Angstbehandlung erfolgen.
394 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

6. Bei Beziehungsproblemen, die eine Partnertherapie nahe legen, empfiehlt sich in


vielen Fällen eine vorherige individuelle Behandlung der Angststörung, damit Art
und Ausmaß der Beziehungsproblematik deutlicher werden können. Partnerproble-
me können Ursache oder Folge einer Angststörung sein. Erst eine Bewältigung der
Angststörung im Rahmen einer Einzeltherapie ermöglicht in vielen Fällen die Been-
digung einer frustrierenden Partnerschaft, weil anderenfalls erst wieder der Partner
eine Angstschutz-Rolle übernehmen würde und damit die Gefahr einer Pseudointi-
mität ohne echte innere Nähe gegeben wäre. Dasselbe gilt auch bei beruflichen Ver-
änderungswünschen, wo Angst und Panik plötzlich eine Pattsituation schaffen.

Laut Hand [13] entscheiden sich etwa 75% der phobischen Patienten auch bei gleichzei-
tigem Vorliegen anderer Probleme (z.B. in der Partnerschaft) vorerst einmal für eine
Symptomtherapie. Die Entscheidung für eine symptombezogene Therapie sollte nicht
routinemäßig aufgrund der Diagnose, sondern erst aufgrund der Problemanalyse erfol-
gen. Es kann auch mit einer „Therapie am Symptom vorbei“ begonnen werden. Thera-
peut und Patient können unterschiedliche Sichtweisen der Problementstehung und The-
rapieplanung aufweisen. Einem Beispiel von Hand [14] folgend, beschreibt ein Phobi-
ker folgende Problementwicklung: Phobie – Depression – Arbeitsplatzprobleme –
Eheschwierigkeiten. Der Therapeut vermutet aufgrund seiner Analysen dagegen folgen-
de Entwicklung: Ehekonflikt – Depression – Phobie – Schwierigkeiten am Arbeitsplatz.
Hier sollte der Therapeut dem Patienten die Chance geben, in der Therapie sein eigenes
Modell zu überprüfen. Der Therapiegrundsatz „Den Patienten dort abholen, wo er
steht“ bedeutet in diesem Fall, mit einer Symptomtherapie zu beginnen. Erst nach einer
Symptombehandlung wird vielen Patienten ihr Partner- oder Berufskonflikt deutlich.
Im Folgenden wird die Verhaltenstherapie der verschiedenen Angststörungen aus-
führlich dargestellt. Zur Diagnostik wird auf das von den Psychologen Jürgen Hoyer
und Jürgen Margraf herausgegebene Buch „Angstdiagnostik. Grundlagen und Testver-
fahren“ verwiesen, das zu jeder Angststörung zahlreiche Fragebögen vorstellt.

Agoraphobie
In der Verhaltenstherapie wurden im Laufe der Zeit zwei verschiedene Strategien zur
Behandlung von phobischen Ängsten entwickelt:
1. Systematische Desensibilisierung: Aushalten immer schwierigerer Angst machender
Situationen in der Vorstellung unter Angst dämpfenden Entspannungsbedingungen
und anschließend in der Realität bei dosierter, leicht erträglicher Angst („gestufte
Reizkonfrontation“ oder „Angstbewältigungstraining“).
2. Reizkonfrontation mit Reaktionsverhinderung („massierte Reizkonfrontation“ im
Sinne von Reizüberflutung/Flooding): intensive Konfrontation mit den Angst ma-
chenden Situationen in der Realität ohne Entspannung, sondern bei bewusster
Angst- und Panikprovokation mit dem Ziel der Erlernung von Bewältigungsstrategi-
en bei erlebten Panikreaktionen.

Die verschiedenen verhaltenstherapeutischen Behandlungsansätze bei Angststörungen


lassen sich anhand von zwei Kategorien klassifizieren [15]:
z Art der Angstkonfrontation: graduell oder massiert,
z Realitätsgrad der Angstkonfrontation: in der Vorstellung oder in der Realität.
Agoraphobie 395

Tab. 12: Angstbehandlung in der Verhaltenstherapie [16]

Art der Angstkonfrontation In der Vorstellung (in sensu) In der Realität (in vivo)
Graduiert Desensibilisierung Habituationstraining
(allmählich, gestuft) (Annähern) (Gewöhnung)
Massiert Implosion Flooding
(plötzlich und intensiv) (Löschen durch Übertreiben) (Reizüberflutung)

Systematische Desensibilisierung – Die Angst erfolgreich meiden


1958 stellte der Psychiater Joseph Wolpe in Südafrika die systematische Desensibilisie-
rung zur gezielten Behandlung von Angst vor. Er übertrug konsequent die Prinzipien
der Lerntheorien auf den klinischen Bereich und wurde damit Ende der 1950er-Jahre
einer der Mitbegründer der Verhaltenstherapie, die sich aus lerntheoretischen Wurzeln
gleichzeitig in Südafrika, in den USA und in England entwickelte. Die Patienten lernen,
Angst machende Situationen sukzessive (gestuft nach Schwierigkeitsgrad) unter Angst
dämpfenden Bedingungen zu ertragen. Ziel ist die angstfreie Angstbewältigung [17]:

„Wenn es gelingt, eine mit Angst unvereinbare Reaktion bei Anwesenheit eines angsterzeugenden
Stimulus auftreten zu lassen, so daß es zu einer vollständigen oder teilweisen Unterdrückung der Angst-
reaktion kommt, wird die Verbindung zwischen dem Stimulus und der Angstreaktion abgeschwächt.“

Entspannung wird als die gesuchte Angst dämpfende Bedingung angesehen, weshalb
die rasch erlernbare Technik der progressiven Muskelentspannung nach Jacobson ein-
geübt wird. Es können aber auch andere Entspannungstechniken eingesetzt werden
(Atemtechniken, autogenes Training, Biofeedback, Hypnose).
Bei der systematischen Desensibilisierung werden zuerst konkrete Situationen hin-
sichtlich eines phobischen Objekts oder Ereignisses gesammelt, dann in eine nach
Schwierigkeitsgrad abgestufte Rangfolge gebracht (d.h. es wird eine Angsthierarchie
erstellt) und anschließend von der leichtesten bis zur schwersten Aufgabe unter Ent-
spannungsbedingungen in der Vorstellung ertragen gelernt, bis Angstfreiheit gegeben
ist. Die jeweils schwierigere Situation wird erst dann angegangen, wenn die leichtere
wiederholt ohne Angst durchgestanden werden kann [18].
Die Desensibilisierung kann nicht nur in der Vorstellung, sondern auch in der Reali-
tät erfolgen. In der Realität werden nur jene Situationen aufgesucht, die in der Vorstel-
lung bereits sicher ertragen werden können. Es handelt sich dabei um eine Angstbe-
handlung nach dem Modell der gestuften Reizkonfrontation. Auf diesem Prinzip beru-
hen die verschiedenen Selbsthilfeprogramme.
Ein Beispiel für eine Angstbehandlung nach dem klassischen Desensibilisierungs-
modell ist die Behandlung von Tierphobien. Während zuerst Bilder und Filme der ge-
fürchteten Tiere oder Objekte gezeigt werden (vielleicht auch gezeichnet werden), er-
folgt im Laufe der Zeit eine immer stärkere Annäherung an die realen Angstauslöser,
bis schließlich eine Berührung der Tiere bei erträglicher Erregung möglich wird oder
die Tiere auf der Haut ertragen werden (z.B. bei Käfer- oder Spinnenphobien). Oft müs-
sen gar keine Ängste, sondern vielmehr Ekelgefühle ausgehalten werden.
Das Desensibilisierungskonzept stellte in den 1960er- und 1970er-Jahren weltweit
die zentrale Angstbehandlungsmethode der Verhaltenstherapie dar, vielfach galt sogar
die formelhafte Gleichsetzung „Verhaltenstherapie = systematische Desensibilisierung“.
396 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

In den 1980er-Jahren wurde die systematische Desensibilisierung durch die Kon-


frontationsverfahren ersetzt. Heutzutage gilt das Konzept in Theorie und Praxis allge-
mein als überholt und wird nur mehr in bestimmten Fällen angewandt. Selbst bei Wirk-
samkeit verlängert ein derart langsames, weil Angst meidendes Vorgehen die Behand-
lungsdauer erheblich, ohne den Behandlungseffekt zu erhöhen.
Studien zur systematischen Desensibilisierung haben Folgendes ergeben [19]:
z Entspannung ist keine notwendige Voraussetzung für die Wirksamkeit der systema-
tischen Desensibilisierung, d.h. erfolgreiche Angstbewältigung setzt nicht unbedingt
eine vorherige Entspannung voraus.
z Sichere Angstbewältigung erfordert kein Vorgehen nach dem Prinzip einer Angst-
hierarchie, d.h. ein schrittweises Vorgehen in einer bestimmten Reihenfolge (von
leichteren zu schwierigeren Übungen) ist keinesfalls nötig.

Das Modell der systematischen Desensibilisierung bedeutet nach Iver Hand [20] ein
problematisches Angst-Meidungs-Training („Meidungs-Management“). Eine stärker
emotional-physiologische Erregung durch intensivere Angstzustände wird gezielt zu
vermeiden versucht. Es wird trainiert, wie man den bisher phobisch gemiedenen Situa-
tionen ohne große Angst und Panik begegnen kann. Dies kommt dem Bedürfnis vieler
Patienten sehr entgegen, bisher Angst machende Situationen mit Hilfe bestimmter
Techniken garantiert ohne Angst bewältigen zu können.
Das Modell der massierten Reizkonfrontation in der Realität (Reizüberflutung oder
Flooding) stellt ein Angst-Management-Training dar, dessen Charakteristika im Ver-
gleich zum Desensibilisierungsmodell gut aufgezeigt werden können.

Tab. 13: Angst-Meidungs-Training und Angst-Management-Training [21]

Angst-Meidungs-Training Angst-Management-Training
(Desensibilisierungs-Modell) (Flooding-Modell)
z Konfrontation sehr gestuft (Prinzip der klei- z Konfrontation rasch und intensiv (Prinzip
nen Schritte) „Wer wagt, gewinnt“)
z Meidung von Angst/Panik z Induktion von Angst/Panik
z Entspannungstraining zur Meidung der Angst z Managementtraining von induzierter
Angst/Panik führt indirekt zur Entspannung
z Antidepressiva, Anxiolytika oder Beta- z Anxiolytika behindern den Therapieprozess;
Blocker können den Beginn von Selbsthilfe- Antidepressiva gelegentlich anfangs hilf-
übungen erleichtern reich, meist verzichtbar, mitunter hinderlich
z Durchführung in der Regel in angeleiteter z Durchführung in der Regel therapeuten-
Selbsthilfe geleitet (bevorzugt in Gruppen)

Das Desensibilierungsmodell als Angst-Meidungs-Training (im Gegensatz zur systema-


tischen Desensibilisierung erfolgt dabei jedoch keine Entspannungsinstruktion) wird
heute praktisch nur mehr bei Selbsthilfeprogrammen im Sinne einer gestuften Reizkon-
frontation in der Realität eingesetzt, weil hier die Risiken im Falle fehlerhafter Anwen-
dung minimiert werden und diese Vorgangsweise den meisten Angstpatienten erträglich
erscheint, sowie bei bestimmten Personengruppen, denen aufgrund ihrer Probleme und
Störungen eine massierte Konfrontationstherapie nicht zumutbar ist.
Das Modell der massierten Reizkonfrontation in der Realität (Flooding) ist als
Selbsthilfemethode vielen Agoraphobie-Patienten mit Panikstörung nicht zumutbar,
weil deren Problematik gerade darin besteht, dass sie intensive Angstzustände vermei-
den. Mutige Angstpatienten können auf diese Weise jedoch rasch ihre Ängste verlieren.
Agoraphobie 397

Für bestimmte Patienten bleibt eine gestufte Reizkonfrontation angezeigt [22]:


1. Menschen mit Situationsängsten im Rahmen einer generalisierten Angststörung;
2. Menschen mit geringer Stresstoleranz und übermäßig großen Belastungen (vor allem
auch in Verbindung mit gleichzeitig vorhandenen anderen Störungen wie depressi-
ver Episode, Erschöpfungsdepression, Kreislaufinstabilität, hormonellen Störungen);
3. Menschen mit psychotischen Episoden in der Vorgeschichte;
4. Menschen mit Substanzmissbrauch (besonders jene, die die Übungen nur bei heimli-
cher Alkohol- oder Tranquilizereinnahme durchführen würden);
5. Menschen mit zwanghaft-rigider Persönlichkeitsstruktur, die auf ihre Unabhängig-
keit bedacht sind und durch derartige Übungen in einen Machtkampf mit dem The-
rapeuten geraten würden;
6. Menschen mit der Unfähigkeit, emotionale Durchbrüche zulassen und sich fallen
lassen zu können (diese Personen bleiben auch beim Flooding verspannt);
7. Menschen mit ständiger Leistungshaltung, alles schaffen zu müssen, sogar schwie-
rigste therapeutische Übungsaufgaben (das Motto „Man muss sich nur zusammen-
reißen“ ist gerade bei einer Reizüberflutungstherapie nicht erwünscht);
8. Menschen mit Traumatisierung in Kindheit und Jugend durch einen überwiegend
leistungsbezogenen, zuwendungsarmen Erziehungsstil der Eltern (eine massierte
Reizkonfrontationstherapie könnte hier zu einer unkontrollierten Wiederholung
traumatischer Situationen führen);
9. Menschen mit einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung, um sie anfangs
vor einer unerträglich erscheinenden Überflutung der angstvollen Erinnerungen zu
bewahren;
10. Menschen, denen beim Vorgehen nach dem Selbsthilfeprinzip ausreichend geholfen
werden kann, indem ihnen ein Therapiemanual zur Verfügung gestellt wird;
11. Menschen, die im Rahmen einer massierten Konfrontationstherapie Leistungen
erbringen müssen, zu denen sie körperlich oder kognitiv nicht in der Lage sind (z.B.
Bergsteigen oder einen Vortrag halten).

Konfrontationstherapie – Der Angst begegnen


Die Reizkonfrontationstherapie wurde in den 1960er-Jahren in England entwickelt, wo
sie „exposure“ genannt wird, weshalb man im deutschen Sprachraum auch von „Expo-
sition“ oder „Expositionstherapie“ spricht. In der letzten Zeit hat sich anstelle der Be-
zeichnung „Reizkonfrontationstherapie“ der Begriff „Konfrontationstherapie“ durchge-
setzt, weil damit nicht nur die Konfrontation mit dem Reizaspekt der Situation („äußere
Reize“), sondern auch die Konfrontation mit den eigenen (Angst-)Reaktionen („innere
Reize“) erfasst wird. Über eine Konfrontationstherapie erfolgt vor allem auch eine Dif-
ferenzierung, Neuordnung und Integration der gesamten kognitiv-emotionalen Struktu-
ren und nicht nur eine Auseinandersetzung mit der gefürchteten Außenwelt.
Als Begründer der Konfrontationstherapie gilt Isaac Marks [23], ehemaliger Profes-
sor für Psychiatrie an der Universität von London und seit Jahrzehnten die bedeutsamste
Persönlichkeit in der Erforschung und verhaltenstherapeutischen Behandlung von
Angststörungen in Großbritannien. Konfrontationstherapien beruhen auf dem Prinzip
der Konfrontation mit den Angst machenden Situationen oder Objekten ohne Entspan-
nung. Die Konfrontation im Sinne einer massierten Reizkonfrontation bezeichnet man
als „Reizüberflutung“ (englisch „Flooding“).
398 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Die Konfrontationstherapie beruht auf drei charakteristischen Prinzipien [24]:


1. Massierte Reizkonfrontation. Es erfolgt eine direkte, sofortige und intensive Kon-
frontation mit den am meisten Angst machenden Situationen in der realen Umwelt.
2. Ununterbrochene und nicht ablenkende Konfrontation mit der Angstsituation bis
zum Zeitpunkt eines deutlichen Absinkens der Angstreaktionen auf ein erträgliches
Ausmaß. Die intensive Zuwendung zu den Angst machenden Reizen kann entweder
durch inneres Verbalisieren und Kommentieren der momentanen Vorgänge oder
durch lautes Sprechen über die aktuellen Vorgänge (z.B. in Begleitung des Thera-
peuten) aufrechterhalten werden.
3. Reaktionsverhinderung. Die Betroffenen sollen die gefürchtete Situation im Zeit-
punkt der größten Angst nicht verlassen, sondern darin ohne Fluchtreaktion aushar-
ren, um das Erlebnis der Bewältigung zu erfahren.

1980 veröffentlichten die Marburger Forscher Bartling, Fiegenbaum und Krause [25]
das Standardwerk „Reizüberflutung. Theorie und Praxis“. Die Autoren bezogen sich
zur theoretischen Fundierung auf die Zwei-Faktoren-Theorie von Mowrer, die sie je-
doch als unzulänglich hinstellten, weil dieses Konzept das Anhalten phobischen Verhal-
tens trotz einer Konfrontationstherapie nicht erklären könne. Neben den lerntheoreti-
schen Konzepten von Stimulus (Reiz) und Response (Reaktion) als Grundeinheiten des
Verhaltens wurden bereits damals kognitive Konzepte betont, die die psychischen Ver-
arbeitungsprozesse berücksichtigen, die während einer Konfrontationstherapie ablaufen:
Durch positive Erfahrung werden negative Erwartungen widerlegt (kognitive Diskre-
panz zwischen Befürchtungen und erlebter Realität) und ein Gefühl der Selbstwirksam-
keit erzeugt. Die Wirkmechanismen der Konfrontationstherapie beruhen nach traditio-
neller Auffassung auf den Vorgängen der „Löschung“ und der „Habituation“ [26]:

„Durch wiederholte Konfrontation mit dem konditionierten Stimulus bei gleichzeitiger völliger Verhin-
derung der Vermeidungsreaktion soll die Angstreaktion gelöscht werden. Für eine effektive Löschung
sollten möglichst alle Reize, die zu konditionierten Stimuli für die (potentielle) Angstreaktion geworden
sind, dargeboten werden. Ein Generalisierungseffekt ist jedoch zu erwarten.“

Löschung bedeutet, dass die Angstreaktion auf einen phobischen Auslöser hin nicht
durch Flucht oder Vermeidung beendet wird, sondern durch Gewöhnung (Habituation)
an den phobischen Reiz in Form von regelmäßiger Konfrontation.
Habituation bedeutet eine Gewöhnung an bislang Angst machende Reize und Situa-
tionen, sodass die physiologische Erregung nachlässt. Anders formuliert ist Habituation
„das Absinken der Reaktionswahrscheinlichkeit zentralnervöser und peripherer Struktu-
ren bei wiederholter Reizdarbietung“ [27]. Bei neuen, ungewohnten, unerwarteten,
gefährlich und unerträglich erscheinenden Reizen und Situationen erfolgt eine 3-5 Mi-
nuten dauernde arousal reaction, d.h. eine massive körperliche und geistige Aktivierung
im Sinne der Kampf-Flucht-Reaktion nach Cannon und der Alarmreaktion nach Selye.
Bei Angst- und Zwangspatienten hält jedoch die psychophysiologische Aktivierung
dauerhaft an, weil durch das ständige Restrisikodenken und Vermeidungsverhalten
keine Gewöhnung an die entsprechenden Auslösereize erfolgt.
Die verhaltenstherapeutischen Experten [28] weisen auf die Ähnlichkeit der Reiz-
konfrontationstherapie mit paradoxen Therapieverfahren hin:

„Die Aufforderung, die Angst zuzulassen, beinhaltet nach unserer Erfahrung erhebliche Anteile einer
paradoxen Instruktion und sollte vor und während des Intensivtrainings häufiger wiederholt werden.“
Agoraphobie 399

Die Effektivität eines derartigen Vorgehens hatte bereits in den 1930er-Jahren der Wie-
ner Psychiater Viktor Frankl mit seiner Technik der „paradoxen Intention“ aufgezeigt.
Die Reizüberflutungstherapie beginnt genau mit dem, was die systematische Desensibi-
lisierung bzw. gestufte Reizkonfrontationstherapie gezielt zu verhindern sucht, nämlich
mit der Provokation von Emotionen und körperlichen Angstreaktionen.
Durch rasche und massive Konfrontation mit den am meisten Angst machenden Si-
tuationen unter realistischen Bedingungen, d.h. in Alltagssituationen, werden die bisher
gefürchteten körperlichen, emotionalen und kognitiven Reaktionen in Anwesenheit des
Therapeuten provoziert und bewältigt. Die Patienten werden ermutigt, die Angst ma-
chenden Situationen zum Zeitpunkt der größten vegetativen Erregung nicht zu verlas-
sen, sondern in einer Art Beobachterposition aushalten zu lernen [29]. Nach dem Acht-
samkeitskonzept werden psychophysiologische Zustände dagegen nicht zuerst provo-
ziert und dann toleriert, sondern als Kommen-und-Gehen ohne Bewertung zugelassen.
Bereits vor rund drei Jahrzehnten warnten die erwähnten Experten vor dem Automa-
tismus „Angst in verschiedenen Situationen, daher Konfrontationstherapie“ und beton-
ten die Notwendigkeit einer umfassenden Verhaltensanalyse unter Berücksichtung ko-
gnitiver Aspekte. Angst könne die Folge eines anderen Problems sein. Nur bei einer
sich verselbstständigenden Angstsymptomatik sei eine Konfrontationstherapie indiziert.
Verhaltenstherapeuten gehen – im Gegensatz zu anderen Psychotherapeuten – bei
Bedarf zusammen mit ihren Patienten aus dem Therapieraum in Angst machende Situa-
tionen des Lebensalltags, um ihnen diese in Form eines intensiven Erlebens besser be-
wältigen zu helfen als durch ein „Darüber-Reden“. Heutzutage erfolgt eine massierte
Konfrontationstherapie nur mehr bei einer sehr schweren Agoraphobie gemeinsam mit
dem Therapeuten, der sich später immer mehr ausblendet, meistens erfolgt die Expositi-
on von Beginn an alleine oder in Begleitung einer gut instruierten Vertrauensperson.
Bei vielen agoraphobischen Patienten ist eine Reizüberflutung in Begleitung des
Therapeuten wenig sinnvoll, weil der anwesende Therapeut eine Sicherheitsgarantie
darstellt („Wenn etwas passiert, werden Sie mir helfen“, „Auf Ihre Verantwortung hin
mache ich alles“), aber auch das unerträgliche Gefühl des Alleinseins mildert („Mit
Ihnen mache ich gerne alle Übungen, allein freut es mich nicht“) [30]. Viele Agorapho-
bie-Patienten können die Übungen in Anwesenheit des Therapeuten sogar genießen,
während sie erst beim Üben allein richtiggehend Angst bekommen.
Reizüberflutung bedeutet nach einem Bild von Marks [31], in das tiefe Wasser der
Angst zu springen, Desensibilisierung ist dagegen ein zentimeterweises Hineinwaten
vom seichten Ende her. Bei Therapiebeginn erfolgt sofort eine Konfrontation mit den
am stärksten Angst machenden Situationen im Sinne einer „Überflutung“ (Flooding),
um rasch einen Durchbruch zu erreichen und tage- bzw. wochenlanges Üben überflüssig
zu machen. Dabei wird anfangs mindestens 1-3 Tage lang zusammen mit dem Thera-
peuten intensiv geübt, und zwar den ganzen Tag lang (mindestens jedenfalls 4-6 Stun-
den), oder es finden 1-5 Übungstage innerhalb von 2 Wochen statt, während eine ge-
stufte Reizkonfrontation im Sinne eines Angst-Meidungs-Trainings 6 Wochen bis 6
Monate Zeit erfordert, bis sich ein ausreichender Therapieerfolg einstellt.
Bei einem zeitlich besonders massierten Vorgehen werden in ca. 5-10 aufeinander
folgenden Tagen bis zu 8-10 Stunden täglich die symptomauslösenden Situationen
aufgesucht [32]. Trainiert wird die Konfrontation mit Angst machenden Situationen,
wie sie für den Patienten typisch sind, aber auch wie sie in der Alltagswelt des Durch-
schnittsbürgers auftreten können. Nach den Intensivtagen zusammen mit dem Therapeu-
ten soll der Patient die Übungen täglich allein fortsetzen.
400 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Durch die massierte Reizkonfrontation soll möglichst rasch und intensiv eine Kon-
frontation mit den gefürchteten körperlichen, kognitiven und emotionalen Reaktionen
erreicht werden. Ohne Bereitschaft zur intensivsten Reaktionsmöglichkeit (Panikattak-
ke), besteht eine potenzielle Rückfallsgefahr und eine große Erwartungsangst vor dem
Schlimmsten, dem man sich nicht gewachsen sieht [33]. Erwartungsängste sollen da-
durch abgebaut und zukünftig vermindert werden. Bei der Reizüberflutungstherapie
besteht die Bereitschaft, Angst- und Panik-Reaktionen in der realen phobischen Umwelt
auszulösen und zugleich adäquate Bewältigungsstrategien einzuüben. Dieses Ziel wird
durch ein gestuftes Vorgehen oder durch eine parallel laufende Medikation nicht so
leicht erreicht, weil die typische „Angst vor der Angst“ nicht überwunden wird.
Die Erfahrung, dass auch die stärkste Angst aushaltbar ist und nach einiger Zeit
(5-20 Minuten) zurückgeht, bewirkt nicht nur eine Habituation, sondern eine „kognitive
Umstrukturierung“, die durch eine rein kognitive Therapie (Analyse und Änderung der
Denkmuster) nicht so effektiv erreicht wird (Motto: „Ich erlebe, dass ich Angst aushal-
ten kann, daher glaube ich auch zukünftig, dass ich Angst aushalten kann“). Eine Kon-
frontationstherapie bewirkt über die Habituation hinaus eine Verbesserung der Selbst-
wirksamkeit. Faktum ist: Das beste Lernen erfolgt bei einem mittleren Angstausmaß.
Daher gehen immer mehr Verhaltenstherapeuten davon aus, dass es bei der Konfronta-
tionstherapie nicht primär um die Provokation und Bewältigung von Panikattacken geht,
sondern vielmehr um die Ermöglichung von Erfolgserlebnissen und Bewegungsfreiheit.
Durch eine Expositionstherapie ist oft schon nach einer Woche eine jahrelange Ago-
raphobie bewältigbar. Dies bringt zwar die schnellsten und sichersten Erfolge, scheint
jedoch nur Mutigen und gut Belastbaren vorbehalten zu sein. Eine massierte Konfronta-
tionstherapie ist besonders bei Phobien mit Panikattacken und Vermeidungsverhalten
(Kleintierphobie, Agoraphobie, soziale Phobie) angezeigt, weil die Betroffenen dazu
neigen, Panikattacken durch Vermeidungsstrategien zu bewältigen, die in weiterer Fol-
ge die Angst vor der Angst nur verstärken und langfristig die Gefahr einer sekundären
Depression oder eines Alkohol- bzw. Medikamentenmissbrauchs in sich bergen.
Bei unüberwindlichem chronischen Vermeidungsverhalten ist eine gestufte Reizkon-
frontation sinnvoll, wenngleich therapieverlängernd. Nützlich sind dabei auch Selbsthil-
febücher wie das altbekannte Agoraphobie-Selbsthilfeprogramm von Mathews, Gelder
und Johnston [34] aus London, das von Hand und Fisser-Wilke in Hamburg übersetzt
und seit den 1980er-Jahren erfolgreich eingesetzt wird. Hausübungen in Form einer
eigenständigen, gestuften Angstkonfrontation entsprechen dem Prinzip der Verhaltens-
therapie, dass sich Veränderungen nicht so sehr in den therapeutischen Sitzungen, son-
dern vielmehr in den Zeiträumen zwischen den Therapiestunden ereignen.
Meine Erfahrung ist: Erwartungsängste bezüglich Panikattacken sind bei bereitwil-
ligen Patienten am schnellsten mittels Provokation einer solchen durch mentale Verge-
genwärtigung im Therapieraum zu behandeln, weil als Folge der Erfahrung, dass keine
Katastrophe eintritt, die falschen Denkansätze der Patienten am überzeugendsten korri-
giert werden können. Das Grundprinzip lautet: Realitätstestung statt Fantasieren [35].
Ziel ist eine realistischere Einschätzung von Situationen und körperlichen Reaktionen.
Durch Konfrontationen mit gefürchteten Situationen, deren konkrete Angstauslöser
vorher oft gar nicht angegeben werden können, wird deutlich, ob eher eine Angst vor
den eigenen körperlichen Reaktionen besteht (wie dies bei einer Panikstörung der Fall
ist) oder eher eine Angst vor der Reaktion der Umwelt (wie dies bei einer sozialen Pho-
bie zutrifft). Verschiedene Agoraphobiker mit Panikstörung haben keine Angst zu ster-
ben, sondern eine Angst, unangenehm aufzufallen oder für verrückt gehalten zu werden.
Agoraphobie 401

Isaac Marks [36] beschreibt in seinem populärwissenschaftlich verfassten Buch


„Ängste. Verstehen und bewältigen“ einem großen Leserkreis durch Beispiele, warum
das Prinzip der Konfrontation ohne Flucht so wichtig ist:

„Um Phobien im Keim zu ersticken, lautet die goldene Regel: Vermeiden Sie Flucht! Fördern Sie die
Konfrontation mit der Angst. Nach einem plötzlichen Unfall vergeht oft eine gewisse Zeit, bevor eine
Phobie entsteht. Wenn der Betreffende in diesem Zeitraum der ursprünglichen Situation noch einmal
unmittelbar ausgesetzt wird, bewahrt ihn das davor, sich vor ihr zu fürchten. Es ist eine alte Erkenntnis,
daß Menschen unmittelbar nach dem ursprünglichen Trauma die traumatische Situation noch einmal
durchleben sollten. Piloten wird geraten, nach einem Flugunfall absichtlich sobald als möglich wieder
zu fliegen, und Autofahrern wird empfohlen, sich nach einem Zusammenstoß sobald wie möglich
wieder ans Steuer zu setzen. Wenn man von einem Pferd stürzt, ist es das Beste, gleich wieder aufzu-
steigen.“

Der Erfolg von Konfrontationstherapien hängt sehr davon ab, dass die Betroffenen
durch ein plausibles Erklärungsmodell von der Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens über-
zeugt werden können. Dies setzt nicht nur eine optimale Vermittlung von Sachinforma-
tionen und technischen Anleitungen voraus, sondern auch eine gute Therapeut-Patient-
Beziehung, durch die ein Angstpatient erst Vertrauen und Zuversicht entwickeln kann.
Die meisten phobischen Patienten wissen im Prinzip, auf welche Weise sie ihre
Ängste überwinden könnten, nämlich durch etwas mehr Mut und Konfrontation mit den
Angst machenden Situationen, doch gerade dazu sind sie nicht in der Lage. Angst vor
bestimmten Situationen zu haben, bedeutet, sich selbst nicht vertrauen zu können, aber
auch sonst niemandem. Konfrontationstherapien sind daher Übungen des Vertrauens.
Es ist eine paradoxe Situation: Trotz ihrer häufigen Abhängigkeit von Verwandten und
Bekannten, ohne die sie das Haus nicht mehr verlassen können, haben viele Agorapho-
biker das irreale Ziel, sich immer auf sich selbst zu verlassen, während andere Men-
schen eher darauf vertrauen, dass ihnen im Bedarfsfall schon jemand helfen wird.
Zahlreiche Angstpatienten benötigen gerade zu Beginn der Therapie eine emotionale
Unterstützung, Motivierung und Handlungsanleitung durch den Therapeuten. Die Ent-
scheidung zu einer Konfrontationstherapie zusammen mit dem Therapeuten stellt einen
Ausdruck des Vertrauens zum Therapeuten dar. Entsprechende Übungen innerhalb und
außerhalb des Therapieraumes führen im Falle einer gemeinsamen Therapie zu einer
Intensivierung der Therapeut-Patient-Beziehung, sodass es später möglich wird, ver-
schiedene persönliche Themen in die Therapie einzubringen [37]. Die therapeutische
Beziehung ist in der Verhaltenstherapie ebenso wichtig wie bei anderen Psychothera-
piemethoden. Die „Verhaltens“-Therapie wird durch die Übungen auch zu einer „Erle-
bens“-Therapie, wie der Angst- und Zwangsexperte Reinecker formuliert hat.
Die meisten Patienten machen durch eine Konfrontationstherapie die bisher für un-
möglich gehaltene Erfahrung, dass sie auch die größte körperliche Erregung ertragen
können. Wiederholte Erlebnisse dieser Art bewirken eine kognitive Umstrukturierung:
neue Erfahrungen führen zu neuen Einstellungen. In vielen Therapien sowie auch bei
rein kognitiv orientierter Verhaltenstherapie läuft es umgekehrt: neue Sichtweisen sol-
len zu neuen Erfahrungen führen. Dies ist zwar oft der elegantere Weg, scheitert bei
Angststörungen jedoch häufig an den unkontrollierbar erscheinenden körperlichen
Symptomen und dem seit Jahren eingeschliffenen Vermeidungsverhalten.
Aufgrund ihrer relativ stabilen Persönlichkeitsstruktur gelingt es reinen Agorapho-
bikern oft recht leicht, nach einer Konfrontationstherapie weitere anstehende Probleme
selbst zu lösen (z.B. partnerschaftliche, familiäre oder berufliche Probleme).
402 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Menschen mit generalisierter Angststörung, schwerer Zwangsstörung und ängstlich-


vermeidender Persönlichkeitsstörung benötigen dagegen aufgrund ihrer frühkindlichen
Beeinträchtigungen bzw. schweren sozialen Defizite meistens eine längere Therapie.
Psychoanalytiker sprechen hier von ich-stärkenden Maßnahmen und „Nachreifung“.
Die Alternative „kurz dauernde und oberflächliche Verhaltenstherapie oder „lang dau-
ernde und tief schürfende Psychoanalyse“ ist heutzutage als überholt anzusehen.
Agoraphobiker mit Panikattacken fürchten letztlich nicht verschiedene äußere Ge-
gebenheiten, sondern ihre eigenen unkontrollierbaren körperlichen Reaktionen in die-
sen Situationen. Eine Konfrontationstherapie soll Angstpatienten helfen, ihre Symptome
besser auszuhalten. Den Betroffenen kann es anfangs manchmal so vorkommen, als
sollten sie in der Therapie dasselbe nochmals versuchen, das sie selbst schon oft erfolg-
los probiert haben, nämlich Angst und Panik mutiger zu ertragen. Ein typisches Beispiel
dafür ist die Frage: „Ich weiß, ich habe die Panikattacken bisher immer ausgehalten und
überlebt, aber geht es nicht doch irgendwie ohne diese Attacken?“ Bei der Konfrontati-
onstherapie geht es nicht darum, schnell etwas „wegzumachen“, sondern das Erlebte
vorerst einmal besser annehmen und aushalten zu lernen, um über diese Erfahrungen
einen besseren Zugang zu sich selbst zu erhalten. Dies entspricht gestalttherapeutischen
Konzepten („awareness“, „experiencing“) und der Achtsamkeitstherapie.
Oft reicht schon eine einmalige (zweistündige) Realitätstestung aus, um das weitere
Vermeidungsverhalten zu beenden und den Betroffenen vor Augen zu führen, welche
anderen Probleme vielleicht zum Vorschein kommen (berufliche oder partnerschaftliche
Probleme, Konflikte zwischen Mutterschaft und Berufswunsch bei Frauen bzw. zwi-
schen Autonomiewünschen der Ehefrau und Dominanzstreben des Gatten usw.). Wo
dies der Fall ist, werden bereits durch eine kurze Konfrontationstherapie die „dahinter
liegenden“ Probleme auch für den Patienten deutlich, ohne dass der Therapeut den Be-
troffenen des Widerstands gegen diese Erkenntnis beschuldigen muss.
Eine Konfrontationstherapie verhindert Depression und Dauerstress und kann nach
Iver Hand [38] bei Phobikern als antidepressive Therapie angesehen werden. Ago-
raphobiker entwickeln oft als Folge der nicht bewältigbar erscheinenden, lebenseinen-
genden Ängste eine ausgeprägte Depression mit reduziertem Selbstwertgefühl. Beein-
druckende Anfangserfolge durchbrechen die depressiv gefärbten Versagensängste,
stärken das Selbstvertrauen und die Hoffnung auf einen erfolgreichen Therapieab-
schluss. Viele Phobiker haben so starke Erwartungen des eigenen Versagens in phobi-
schen Situationen, dass sie die ersten Erfolgserlebnisse bald entwerten durch die neuer-
liche Vorstellung möglicher Gefahren. Dies erfordert weitere Übungen, um die Erwar-
tung von Erfolgserlebnissen aufzubauen.
In England wurden im Laufe der Zeit durch verschiedene Studien einige Konzepte
der verhaltenstherapeutischen Angstbehandlung revidiert. Demnach schadet das Verlas-
sen der Situation bei Angst dem Therapieerfolg ebenso wenig wie die Anwesenheit des
Therapeuten nützt. Stanley Rachman [39], einer der Mitbegründer der Verhaltensthera-
pie, stellte ein zentrales Prinzip der traditionellen verhaltenstherapeutischen Angstbe-
wältigung in Frage. Die Reaktionsverhinderung, d.h. das Prinzip, Angst machende Si-
tuationen zum Zeitpunkt größter Angst nicht zu verlassen, ist nach 1986 publizierten
Forschungsergebnissen für den Therapieerfolg nicht unbedingt notwendig. Die Rach-
man-Gruppe stellte gleich hohe Therapieerfolge fest, wenn den Patienten erlaubt wurde,
die phobischen Situationen zu verlassen, sobald sie ein hohes Angstniveau erreicht
hatten. Ähnliche Erkenntnisse wurden in den Niederlanden gewonnen. Therapeutisch
hilfreich ist das Gefühl von Situationskontrolle, auch wenn diese in der Flucht besteht.
Agoraphobie 403

Die Therapieerfolge nach dem Hamburger Konzept, das Flucht grundsätzlich „er-
laubt“, scheinen diese Befunde indirekt zu bestätigen. Nach verschiedenen Autoren ist
als gemeinsamer Nenner aller erfolgreichen Angstbehandlungen die Konfrontation mit
den Angst machenden äußeren und inneren Reizen anzusehen, die zu einer kognitiven
Neubewertung körperlicher Reaktionen und situativer Gegebenheiten führt.
Die Forderung, in der Angst machenden Situation unbedingt auszuharren und erst
nach Abklingen der Angst den jeweiligen Aufenthaltsort zu verlassen, weist auf die
lerntheoretischen Wurzeln der Konfrontationstherapie hin: Durch das Vermeidungsver-
halten erfolge keine ausreichende „Löschung“ des Angstverhaltens, weil dieses durch
die erfolgreiche Aktion der Flucht immer wieder verstärkt werde. Dies trifft zwar oft zu,
eine Verallgemeinerung ist daraus jedoch nicht ableitbar. Die Möglichkeit zur Flucht
kann ein Gefühl der Souveränität vermitteln und das Aushalten der Angst erleichtern.
Das Team um Isaac Marks [40] in London bestätigte im Rahmen einer großen Stu-
die an 99 phobischen Patienten die Ergebnisse anderer Untersuchungen, dass sich die
meisten Phobiker wesentlich verbessern durch systematische Selbstkonfrontation und
wenig profitieren von zusätzlicher therapeutengeleiteter Exposition. Die in der klini-
schen Praxis oft anzutreffende Konfrontationstherapie in Begleitung eines Therapeuten
scheint demnach unter dem Gesichtspunkt von Aufwand und Ertrag nicht erforderlich
zu sein. Amerikanische Studien [41] zur Behandlung von Panikattacken weisen eben-
falls darauf hin, dass ein reduzierter Therapeutenkontakt oft schon einen ausreichenden
Therapieerfolg garantiert. Die Erkenntnisse der englischen und amerikanischen Studien
haben zur Folge, dass der Stundenaufwand für Therapeuten bei Angstbehandlungen
deutlich reduziert werden kann, weil das gemeinsame Üben in Alltagssituationen ent-
fällt. Zumindest in günstigen Fällen können körperbezogene Übungen und Erfahrungen
in Gegenwart des Therapeuten auf den Therapieraum begrenzt werden, ähnlich wie
dies z.B. in der Gestalttherapie erfolgt [42].
Fazit: Bei Konfrontationstherapien geht es nicht primär darum, die Patienten mit den
gefürchteten Situationen oder Orten zu konfrontieren, sondern mit den dabei auftreten-
den, als gefährlich und unkontrollierbar erlebten Körpersymptomen. Wenn dies im
Therapieraum durch bestimmte Provokationsübungen gelingt, wird das selbstständige
Aufsuchen der gefürchteten Situationen erleichtert. Sollte dies nicht möglich sein, wer-
den jene Situationen, in denen die gefürchteten körperlichen Zustände auftreten könn-
ten, sukzessive aufgesucht. Bei einer Konfrontationstherapie geht es weniger um Bewäl-
tigungserfahrungen im Sinne von „Sie sehen, was Sie alles aushalten können“, als viel-
mehr darum, den Patienten im Rahmen einer verbesserten Selbstwahrnehmung zu zei-
gen, wie sie selbst den gefürchteten Angstkreislauf aufschaukeln.
Im Sinne eines zeitökonomischen Vorgehens sind keine stunden- oder tagelangen
gemeinsamen Übungen erforderlich, um dem Patienten in jeder nur denkbaren Situation
das Gefühl der Kontrolle zu vermitteln, sondern lediglich eine gezielte Auswahl von
möglicherweise Panik provozierenden Situationen. Die Verfechter einer massierten
Konfrontationstherapie sind überzeugt: Ohne Bereitschaft zum Erleben einer Panikat-
tacke ist eine massierte Konfrontationstherapie bei Agoraphobie mit Panikstörung we-
nig sinnvoll, weil die Betroffenen dann alle unkontrollierbar erscheinenden Situationen
vermeiden werden. Die massierte Reizkonfrontation mit anschließender Reaktionsver-
hinderung (Bereitschaft der Patienten, die Angst machende Situation nicht zu verlassen,
und zwar nicht durch therapeutischen Druck, sondern durch eigene Entscheidung) sei
aus zeit- und geldökonomischen Gründen sowie aufgrund der Forschungsergebnisse das
Mittel der Wahl bei Agoraphobie mit Panikstörung.
404 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Im deutschen Sprachraum haben neben verschiedenen psychosomatischen Fachkli-


niken verhaltenstherapeutischer Ausrichtung und zahlreichen anderen Behandlungsstät-
ten zwei Therapiezentren eine große historische Bedeutung erlangt, an denen seit vielen
Jahren Konfrontationstherapien durchgeführt und empirisch überprüft wurden:
z Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie mit dem Hauptsitz in Münster
und verschiedenen Außenstellen.
z Verhaltenstherapie-Ambulanz der psychiatrischen Universitätsklinik in Hamburg.

Daneben gibt es ein integratives Behandlungskonzept des Münchner Psychologie-


Professors Willi Butollo, das die Expositionstherapie mit einer gestalttherapeutischen
Gruppentherapie verbindet. Dabei steht das emotionale Erleben im Vordergrund.

Das Modell der Christoph-Dornier-Stiftung


für Klinische Psychologie
Die Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie wurde 1989 durch den
Schweizer Kunstmaler Dornier gegründet mit dem Ziel, den Fortschritt der Psychologie
als Wissenschaft und deren Anwendung zur Lösung konkreter Lebensprobleme zu för-
dern. Die Stiftung hat ihren Hauptsitz in Münster und bietet – neben zahlreichen ande-
ren psychischen Störungen – bei Angst- und Zwangsstörungen eine verhaltenstherapeu-
tisch orientierte Intensivtherapie an in Münster im Rahmen eines hotelartigen Aufent-
halts (das Behandlungszentrum umfasst 48 Einzelzimmer) sowie an den Ambulanzen
ihrer Institute in Berlin und an den Universitäten Bielefeld, Braunschweig, Düsseldorf,
Köln, Marburg, Siegen und Tübingen (an diesen Behandlungsorten erfolgt die Unter-
bringung in einem Hotel). Für Interessierte wird die informative Homepage der Stiftung
angeführt: www.christoph-dornier-stiftung.de [43].
Der private Charakter der Stiftung ermöglicht unkonventionelle Behandlungs-
konzepte und Forschungsvorhaben, es besteht jedoch immer auch eine enge Zusam-
menarbeit mit der jeweiligen Universität. Therapieanfragen stammen aus ganz Deutsch-
land sowie auch aus dem Ausland. Alle Therapieteilnehmer müssen einer begleitenden
Effizienzuntersuchung zustimmen, d.h. die erreichten Erfolge werden durch eine Beob-
achtung über einen mehrjährigen Zeitraum wissenschaftlich dokumentiert. Die Nachun-
tersuchungen erfolgen 6 Wochen, 1 Jahr und 5 Jahre nach Abschluss der Behandlung.
Die Therapiekosten werden – im Gegensatz zu den verschiedenen psychosomati-
schen Fachkliniken mit verhaltenstherapeutischem Schwerpunkt – in der Regel nicht
von den Krankenkassen übernommen. Die Therapie erfolgt ohne medikamentöse Unter-
stützung, um den Therapieerfolg der eigenen Leistung zuschreiben zu können. Medika-
mente gegen die Angst sollen vorher in Absprache mit dem behandelnden Arzt ausge-
schlichen werden. Der Therapeut verhindert nach entsprechender vorheriger Vereinba-
rung jedes Fluchtverhalten des Patienten, weil dies die Agoraphobie verstärken könnte.
Das ganze Behandlungskonzept soll eine Alternative darstellen zur traditionellen
Einzeltherapie in der freien Praxis, wo höchstens mehrstündige Sitzungen möglich sind,
aber auch zu einem oft mehrmonatigen Klinikaufenthalt, der die Betroffenen zu lange
aus ihrer Alltagsrealität herausnimmt. Nach einem eintägigen ambulanten Diagnostik-
und Informationstag haben die Betroffenen mehrere Tage Bedenkzeit, um sich für oder
gegen den erstellten Behandlungsvorschlag entscheiden zu können.
Agoraphobie 405

Die Expositionstherapie umfasst eine gewöhnlich 2-3 Wochen dauernde Intensivthe-


rapie, wobei täglich 6-10 Stunden lang (anfangs täglich bis zu 12 Stunden) in Alltagssi-
tuationen außerhalb der Therapieeinrichtung die Bewältigung Angst machender Situa-
tionen geübt wird. Die Behandlung besteht aus einer reinen Einzeltherapie, die aufgrund
einer vorherigen intensiven Verhaltensanalyse genau auf die Bedürfnisse der Betroffe-
nen zugeschnitten wird. Es werden möglichst viele verschiedene Situationen ausgewählt
(Fahrten mit Privatauto, Schnellzug, Bus, Straßenbahn, U-Bahn, Taxi, Lift, Boot, Seil-
bahn, Stadtrundfahrt, Flug in eine andere Stadt mit Übernachtung in einem Hotel, Essen
in einem überfüllten Lokal sowie in einem Zugrestaurant, Theaterbesuch, Saunabesuch,
Aufenthalt in Großkaufhäusern, Bummeln in überfüllten Fußgängerzonen, Besteigung
von Türmen, Spaziergang im Wald, Sprechen in der Öffentlichkeit usw.). Von Beginn
an erfolgt eine Konfrontation mit den am stärksten Angst machenden Situationen.
Die Angst machenden Situationen werden stets erst nach vollständigem Abklingen
der Angst verlassen. Die Therapie erfolgt anfangs zusammen mit einem Therapeuten, so
bald als möglich allein, d.h. die Therapeut-Patient-Beziehung wird nach einigen Tagen
auf die tägliche Vorbereitung und Auswertung der Expositionsübungen beschränkt.
Eine spätere Eigentherapie bei Bedarf am Heimatort wird vorbereitet und durch telefo-
nische Kontakte unterstützt.
Die Angstbewältigungstherapie beschränkt sich nach dem Prinzip der minimalen In-
tervention in der Regel auf die Expositionsbehandlung und verzichtet bewusst auf die
Durchführung komplexer Therapieprogramme im Sinne einer Breitbandtherapie. Die
über die Angst hinausgehenden Störungen werden durch ambulante Therapieeinrichtun-
gen in der Wohngegend der Patienten behandelt.

Das Hamburger Modell


In der Verhaltenstherapie-Ambulanz der psychiatrischen Universitätsklinik in Hamburg
(Infos: www.uke.uni-hamburg.de/kliniken/psychiatrie) wird folgende Anleitung zur
massierten Reizkonfrontation gegeben, die primär in Form einer Gruppentherapie er-
folgt [44]:

„Lassen Sie alle aufkommenden Gefühle zu, beobachten und beschreiben Sie (anfangs bei therapeuten-
begleiteten Übungen oft lautes Verbalisieren erforderlich, später in innerer Selbstsprache) die Realität
Ihrer Umgebung und die Reaktionen Ihres Körpers; gehen Sie nicht Ihren Phantasien über möglicher-
weise gleich eintretende schreckliche oder katastrophale Ereignisse nach – versuchen Sie aber auch
nicht, Ihre Angst oder andere unangenehme Gefühle durch irgendwelche Gedanken oder Verhaltens-
manöver zu unterdrücken; wenn auf diese Weise die Situation für Sie scheinbar unerträglich wird,
versuchen Sie, sich weitere 10 Sekunden zu geben, um in der Situation zu bleiben und mit der Be-
schreibung der äußeren und inneren Realität fortzufahren; vergleichen Sie dann, ob die eingetretenen
Reaktionen Ihren Erwartungen entsprechen und entscheiden Sie, ob Sie noch weitere 10 Sekunden
ausharren können (usw. usw.).“

Die Konzentration auf die unmittelbare Gegenwart durch Beobachtung des Körpers und
Verbalisierung der aktuellen Erfahrungen soll Katastrophenfantasien verhindern.
Die fortlaufende Selbstbeschreibung der äußeren und inneren Realität (anfangs laut
in Anwesenheit des Therapeuten) soll vor allem auch die kontinuierliche Konzentration
auf die Angst machenden Reize sowie auf die aktuelle Körperwahrnehmung sicherstel-
len und die gewohnten Vermeidungsmanöver unterbinden.
406 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Eine Langzeittherapeutenbegleitung bei der Reizkonfrontation wird abgelehnt [45]:

„Im allgemeinen genügen 2 jeweils 2- bis 5stündige Sitzungen, um eine Symptomreduktion zu errei-
chen und weitere Expositionen vom Patienten durchführen zu lassen. Ist diese bis dahin nicht eingetre-
ten, liegt meist eine von 2 denkbaren Komplikationen vor: Die erste besteht in Motivationsproblemen
hinsichtlich eines Abbaus der Symptomatik oder eines Aufbaus alternativer Verhaltensweisen. In so
einem Falle werden fortgesetzte Expositionsübungen Ersatzrituale für Symptomrituale oder auch kurz-
fristiger Lebensinhalt; der Therapeut unterstützt mit dieser Scheinlösung nur die Ambivalenz des Pati-
enten im Hinblick auf Veränderungen in relevanten Problembereichen. Die zweite denkbare Komplika-
tion besteht im Ausbleiben der psycho-physiologischen Habituation trotz voller Kooperation des Pati-
enten. Längeres Fortsetzen der Übungen wird dann eher die allgemeine Irritierbarkeit im Alltagsleben
erhöhen, als einen späteren Erfolg bringen.“

Im Hamburger Modell der Reizüberflutung ist die Konfrontation mit den Angst auslö-
senden realen oder imaginären Reizen lediglich Mittel zum Zweck der Konfrontation
mit den eigenen Reaktionen, den dadurch ausgelösten Gedanken, Gefühlen und körper-
lichen Reaktionen des Betroffenen (Reizüberflutung zur Herbeiführung einer Reakti-
onsüberflutung). Dabei wird nicht selten erkannt, dass andere Affekte als Angst die
körperliche Symptomatik bewirken (z.B. Ekel, Ärger, Aggression, Depression, Leerege-
fühl, traumatische Erfahrungen, die bislang verdrängt wurden). Eine derartige Konfron-
tationstherapie berücksichtigt Elemente aus anderen Psychotherapiemethoden: Psycho-
analyse, Gestalttherapie, Psychodrama und bestimmte Gruppentherapien [46].
Bei guter Mitarbeit des Patienten kann die Konfrontation mit den Angst auslösenden
Reizen in der Realität reduziert oder gar überflüssig werden. Wenn im Therapieraum
durch Gespräche, Vorstellungsübungen oder Provokationstechniken (z.B. Hyperventila-
tion, Einleitung eines Drehschwindels, bestimmte Bewegungen) eine panikähnliche
Symptomatik auch ohne Konfrontation mit den realen Reizen ausgelöst und deren Be-
wältigung vermittelt werden kann, ist dem Patienten anschließend häufig die eigenstän-
dige Angstbewältigung möglich, da auch dort der kompetente Umgang mit den eigenen
Reaktionsmustern entscheidend ist. Oft provozieren und bewältigen die Betroffenen
bereits im Therapieraum jene psychovegetativen Reaktionen (z.B. Herzrasen, Atemnot,
Schwindel, Ohnmachtsangst), die in Realsituationen gefürchtet werden. Durch derartige
Übungen wird auch die Patient-Therapeut-Beziehung intensiviert, was nach der Sym-
ptombehandlung den Einstieg in emotional schmerzhafte Problembereiche erleichtert.
Iver Hand [47] weist darauf hin, dass die möglichen Auswirkungen einer raschen
Symptombeseitigung auf die eheliche Beziehung rechtzeitig beachtet werden müssen:

„Von großer Bedeutung kann allerdings die Vorbereitung der Partner von Agoraphobikern auf einen
raschen Symptomabbau sein. Besonders nach jahre- oder jahrzehntelangem Krankheitsverlauf mit
starker Einengung der Beweglichkeit auch des Partners, kann der in der Regel innerhalb von 3- bis
5tägiger Expositionsbehandlung eintretende starke Symptomabbau bei dem Partner zu aggressiven
Reaktionen statt zur Entlastung führen: wenn es so leicht war, die Krankheit zu beheben, dann kann
diese auch lange nicht so ‚schwer’ gewesen sein, wie es all die Jahre den Anschein hatte. Der Partner
fühlt sich im nachhinein getäuscht und mißbraucht und sinnt nun auf ‚Wiedergutmachung’...“

Hoffmann und Hofmann vertreten in ihrem bedeutsamen Werk „Expositionen bei Äng-
sten und Zwängen. Ein Praxishandbuch“ einen ähnlichen Therapieansatz wie die Ham-
burger Therapeuten. Nach ihrem Modell der „Subjektkonstituierung“ dienen Expositio-
nen dazu, dass der Patient wieder zum Subjekt wird und nicht länger Objekt bleibt. Es
geht dabei mehr um den Aufbau von Selbstvertrauen als um den Abbau von Ängsten.
Die Provokation von Panikattacken wird als schädliche Überaktivierung abgelehnt.
Agoraphobie 407

Das von Iver Hand entwickelte Hamburger Modell unterscheidet sich in verschiede-
nen Punkten vom Modell der Christoph-Dornier-Stiftung [48]:
1. Geographischer Umfang der durchgeführten Konfrontationstherapie. Den Hambur-
ger Therapeuten reicht im Kontext des beschriebenen Angst-Managements eine
Reizüberflutung in und um Hamburg bzw. am Wohnort, bevorzugt also in der natür-
lichen Umwelt des Patienten, während in der Christoph-Dornier-Stiftung auf große
Entfernungen und möglichst viele, auch eher seltene Lebenssituationen (hohe Berge,
Fliegen, Ausland) Wert gelegt wird, d.h. auf Reisen über hunderte von Kilometern
in kurzer Zeit. Die Hamburger Verhaltenstherapeuten halten dagegen nichts von the-
rapeutenbegleiteten Fernreisen (außer vielleicht bei einer massiven Flugphobie). Am
Therapiekonzept der Christoph-Dornier-Stiftung kann kritisiert werden, dass nicht
jede Angst, die in allen nur möglichen und unmöglichen Situationen auftreten kann,
vorbeugend behandelt werden muss. Es reicht, dass Angstpatienten jene Situationen
meistern lernen, die im alltäglichen Leben zu erwarten sind.
2. Art der Aktivierung emotionaler und physiologischer Angstkomponenten bei der
Reizkonfrontation. Nach dem Konzept der Christoph-Dornier-Stiftung kommt es bei
der Angstbewältigung primär darauf an, durch ausreichend lange Dauer der Reiz-
konfrontation den Patienten den Effekt der Gewöhnung (Habituation) an die Angst
machende Situation erfahrbar zu machen. Die Betroffenen sollen die körperlichen
Alarmreaktionen erleben und besser ertragen lernen. Das Hamburger Konzept ver-
wendet die Reizkonfrontation auch gezielt zu einer erweiterten Selbsterforschung
und Problemanalyse der Patienten im Zustand hoher emotionaler Erregung. Dies
kann manchmal eine „kathartische Entblockung“, d.h. eine heilsame emotionale
Entladung, bewirken. Frühere, dem Bewusstsein bislang nicht mehr zugängliche
traumatische Erlebnisse und Erfahrungen können bewusst werden. Nach dem Mo-
dell der Christoph-Dornier-Stiftung werden derartige Aspekte nach der Durchbre-
chung des Vermeidungsverhaltens bei Bedarf von Psychotherapeuten am Heimatort
behandelt.
3. Art der Reaktionsverhinderung. Im Hamburger Modell behält der Patient die volle
Entscheidung darüber, ob er die Angst machende Situation verlassen will oder nicht,
wenngleich er zum Durchhalten ermutigt wird. In der Christoph-Dornier-Stiftung
unterschreiben die Patienten, dass sie bei Fluchtverhalten vom Therapeuten daran
gehindert werden dürfen. Nach Hand widerspricht dies dem Selbstmanagement-
Konzept und stellt eine passagere Entmündigung des Patienten dar. Dies sei ethisch
bedenklich und therapeutisch unnötig (weit über 90% derer, die die Angst machende
Situation kurz verlassen haben, nehmen die Übung wieder auf).
4. Art des Settings (Einzel- oder Gruppentherapie). Im Hamburger Modell erfolgt die
Reizkonfrontationstherapie vorwiegend in Gruppen, in der Christoph-Dornier-
Stiftung dagegen stets in Form einer Einzeltherapie.

Integrative Angstbewältigungstherapie nach Butollo


Das Team um Butollo in München arbeitet nach einem integrativen, methodenübergrei-
fenden Behandlungsmodell, das in seiner Wirksamkeit überprüft wird (empfehlenswer-
tes Buch „Integrative Psychotherapie bei Angststörungen“). Es handelt sich dabei um
eine Integration von Verhaltenstherapie und Gestalttherapie unter Berücksichtigung
systemischer Aspekte [49]:
408 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

1. Zu Therapiebeginn wird mit Hilfe einer Reizkonfrontationstherapie die agoraphobi-


sche Symptomatik im Rahmen einer Einzeltherapie durchbrochen. Dabei wird von
Anfang an großer Wert auf „awareness“ gelegt, d.h. auf das „Gewahr-Sein“ der ak-
tuell ablaufenden Prozesse. Im Mittelpunkt steht die Wahrnehmung der momentanen
körperlichen und emotionalen Reaktionen sowie die Wahrnehmung von Beziehun-
gen (ähnlich wie dies auch im Konzept von Hand erfolgt). Es geht um eine Schulung
der Selbstwahrnehmung ohne sofortige Beeinflussung der ablaufenden Prozesse.
Das Therapieziel ist nicht einfach, die Angst besser aushalten zu lernen, sondern
sich selbst besser wahrnehmen und erleben zu lernen. Die bewusste Hinwendung auf
die körperlichen und emotionalen Vorgänge vor und während eines Angstzustandes
verhindert die ständigen Kraft raubenden Abwehrversuche von befürchteten Zustän-
den, die nicht erträglich erscheinen und daher ständige Erwartungsängste vor etwas
nicht Bewältigbarem aufrechterhalten.
2. Nach der Konfrontationstherapie wird die Behandlung für Interessierte nach den
Methoden der Gestalttherapie fortgesetzt (individuelle Gestaltarbeit in der Gruppe).
Es handelt sich dabei um eine gestalttherapeutische Gruppentherapie von 10 Sitzun-
gen, die nach einer Therapiepause von 3-4 Monaten durch einen weiteren Block von
10 Sitzungen ergänzt wird. Im Mittelpunkt steht dabei die „emotionale Exposition“,
d.h. der Kontakt mit Angst und allen Arten von Emotionen (Aggression, Trauer,
Depression usw.). Menschen mit Angststörungen können gut umgehen mit „Angst-
Vermeiden“, nicht jedoch mit „Angst-Haben“. Die Überzeugung, Angst aushalten
zu können, statt sie durch „Löschen“ überwinden zu müssen, soll gestärkt werden.
Bei der Konfrontationstherapie sei das lerntheoretische Paradigma der Löschung von
Angst im Vordergrund gestanden statt das Wahrnehmen, Erleben und Ausdrücken
von Emotionen, wie dies besonders von der Gestalttherapie betont werde.
3. Durch die Gruppentherapie werden auch systemische Aspekte berücksichtigt, denn
Ängste stellen versteckte Beziehungsbotschaften dar. Wenn die Angststörung nicht
mehr im Vordergrund steht, wird die Kontaktstörung deutlicher sichtbar und behan-
delbar. Dann zeigt sich, dass die Angst die Funktion hatte, die Beziehungsstörung zu
verdecken. Nach Butollo weisen viele Menschen mit Angststörungen eine depen-
dente Persönlichkeitsstruktur auf, d.h. eine starke Abhängigkeit von Bezugsperso-
nen. Dies wiederum hängt oft mit einer lebensgeschichtlichen Entwicklung zusam-
men, die durch frühkindliche Traumata geprägt wurde. Verlusterfahrungen und Be-
ziehungsabbrüche haben zu einer großen Unsicherheit und Beeinträchtigung des
Vertrauens in die Welt geführt. Der Gegenpol von Angst ist Vertrauen, das gerade
Angstpatienten nach negativen Lebenserfahrungen erst wieder aufbauen müssen.
4. Im Einzelfall werden auch unbewältigte traumatische Erfahrungen bearbeitet. Häu-
fig stellt Angst die Folge eines Traumas dar (z.B. einer schweren seelischen Ver-
wundung in der Kindheit). Zur Bewältigung posttraumatischer Störungen hat Butol-
lo 1998 das „Münchner Institut für Traumatherapie“ gegründet, das er auch gegen-
wärtig leitet (siehe dazu www.traumatherapie-institut.de).

Butollo und Höfling [50] veröffentlichten bereits im Jahr 1984 einen Therapieleitfaden
zur Behandlung chronischer Ängste und Phobien, wo die verhaltenstherapeutisch fun-
dierte Angstbewältigung (Konfrontationstherapie und kognitive Therapie) mit einer
„Angstlösung durch Erfahrungsorientiertes Lernen“ verbunden wird, die auf gestaltthe-
rapeutischen Prinzipien beruht. Das Anliegen von Butollo lässt sich heutzutage im
Rahmen des Selbstmanagementkonzepts genuin verhaltenstherapeutisch realisieren.
Agoraphobie 409

Weitere Verbesserungen der verhaltenstherapeutischen


Angstbewältigungstherapie
Zur weiteren Effizienzsteigerung der Angstbewältigungstherapie werden neben der
kognitiven Therapie nach Beck immer häufiger auch systemische (familien- und part-
nerbezogene) Sichtweisen berücksichtigt – ein Trend, der in der Verhaltenstherapie
ganz allgemein festzustellen ist. Dies kann auf vier verschiedene Arten erfolgen:
1. Stärkere Berücksichtigung interaktioneller bzw. partnerschaftlicher Aspekte im
Rahmen einer Einzeltherapie (wie bei einer systemisch orientierten Einzeltherapie).
Eine Beziehungsklärung zum Partner erfordert zuerst eine bessere Beziehung zu sich
selbst, weshalb anfangs oft eine symptomzentrierte Einzeltherapie zielführender ist.
2. Partnerunterstützte Einzeltherapie. Einbeziehung des Partners im Rahmen einer
primär am Patienten ausgerichteten Therapie. Der Einsatz des „gesunden“ Partners
als Kotherapeut ist dann unproduktiv, wenn dieser selbst an der Entstehung oder Es-
kalation der Angststörung beteiligt ist. Das Hamburger Team hat mit der Einbezie-
hung des Partners in das Selbsthilfeprogramm oft schlechte Erfahrungen gemacht.
3. Verhaltenstherapeutische Partnertherapie (Kommunikations- und Problemlösetrai-
ning) nach einer erfolgreichen Einzeltherapie (Konfrontationstherapie).
4. Partnertherapie anstelle einer Konfrontationstherapie oder als zusätzliche Behand-
lungskomponente. Aufgrund der zunehmenden Bedeutung systemischer Sichtweisen
innerhalb der Verhaltenstherapie erfolgt oft eine kombiniert verhaltenstherapeutisch-
systemisch ausgerichtete Partnertherapie.

Bei der Behandlung von Menschen mit Angst- und Panikzuständen, die zu einer körper-
lichen Schonhaltung neigen, ist oft auch eine körperbezogene Therapie mit dem Ziel der
physiologischen Aktivierung und Symptomprovokation angezeigt.
Das traditionelle Erlernen von Entspannungstechniken (z.B. autogenes Training) zur
Dämpfung von chronischer Anspannung ist zwar durchaus wichtig und wertvoll, dient
bei dieser Patientengruppe jedoch zu sehr dem Zweck, jede Form von Anspannung
wegen des Angst erzeugenden Effekts weg entspannen zu wollen. Wenn die körperliche
Ebene bei einer starken Somatisierung zur stellvertretenden Konfliktebene geworden ist,
wird nicht nur durch Medikamente, sondern auch durch reine Entspannungstechniken
keine Sensibilisierung dafür entwickelt, was wirklich körperlich so bedrängend ist.
In der Verhaltenstherapie war ein körperorientiertes Vorgehen früher zu sehr auf an-
spannungsreduzierende Methoden bezogen oder sollte durch eine Konfrontationsthera-
pie nur eine Habituation an die Angst machenden Reize bewirkt werden. Zukünftig sind
vermehrt Konzepte und Techniken zu berücksichtigen, die anderswo unter folgenden
Bezeichnungen bekannt sind: emotionszentrierte Psychotherapie, Awareness-Training
(Wahrnehmung, was ist), körperorientierte Psychotherapie, Leibtherapie, Sporttherapie.
Körperliche Aktivierung und körperbezogene Erfahrungen dienen nicht nur im Sin-
ne von Belastungstraining, Sport, Turnen, Langsamlauftherapie oder Schwimmtherapie
dazu, chronische Verspannungszustände als Folge des ständigen ängstlichen Denkens
abzureagieren oder körperliche Fitness anstelle der ausgeprägten hypochondrischen
Schonhaltung aufzubauen, sondern haben vielmehr auch den Zweck, den Körper im
buchstäblichsten Sinn als Ausdruck der Seele wahrnehmen zu lernen.
Psychotherapie als geplante Intervention zur Veränderung des Verhaltens, Erlebens
und Denkens bedarf auch in der Verhaltenstherapie stärker als bisher eines Verständnis-
ses, das den Körper als Ort und Mittel für den Zugang zur Seele ernst nimmt.
410 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Anleitung zur Konfrontationstherapie für Psychotherapeuten


Potenzielle Verhaltenstherapiepatienten werden in diesem Abschnitt darüber informiert,
welche Behandlungsprinzipien ein Verhaltenstherapeut beachtet bzw. beachten sollte.
Folgende Anleitung ermöglicht Psychotherapeuten aller Methoden die Durchführung
einer Konfrontationstherapie bei Agoraphobie mit und ohne Panikstörung:
1. Führen Sie eine detaillierte Motivations-, Bedingungs-, Verhaltens- und Funktions-
analyse des Angstverhaltens durch, bevor Sie aktionsorientiert vorgehen. Lassen
Sie sich auf keinen blinden Aktionismus ein! Eine Konfrontationstherapie erfordert
stets die Einbettung in eine therapeutische Gesamtstrategie. Welche familiären, be-
ruflichen und sonstigen Belastungen und welche Denkmuster haben die Entwick-
lung einer Agoraphobie mit oder ohne Panikstörung begünstigt? Wie oft sind wirk-
lich Panikattacken aufgetreten und wie oft „nur“ verschiedene unangenehme Sym-
ptome wie Schwindel, Übelkeit, Harn- oder Stuhldrang? Wie und durch welche
Denkmuster kommt es zu den vom Patienten am meisten gefürchteten Symptomen?
Welche Erklärungsmodelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung hat
der Patient entwickelt? Unter welchen Bedingungen treten die Symptome besonders
häufig auf, wo dagegen überhaupt nicht? Welche Situationen meidet der Patient auf
jeden Fall, welche kann er unter bestimmten Umständen aufsuchen? Mit welchen
Sicherheitssignalen (Handy, Medikamente, Begleiter) kann der Patient sofort ver-
schiedene Situationen problemlos aufsuchen? Welche subtilen Vermeidungsformen
setzt der Patient ein? Wie sehr sind die Ängste Ausdruck einer Hemmung und
Vermeidungshaltung und wie sehr Ausdruck mangelnder sozialer Kompetenz? Wie
entschlossen ist der Patient, eine Panikattacke um jeden Preis zu vermeiden? War-
um will der Patient gerade jetzt sein Verhalten ändern? Welche attraktiven Ziele hat
er nach der Angstbewältigung vor Augen? Welche sonstigen Ressourcen können
bei der Angstbewältigung genutzt werden?
2. Klären Sie alle Kontraindikationen ab (Psychose in der Anamnese, gegenwärtig
primäre Depression, Herzerkrankung, Epilepsie, Entzugssymptomatik, aktuell not-
wendige hohe medikamentöse Dosierung). Vermeiden Sie auf diese Weise gefährli-
che Situationen (z.B. Provokation eines Herzanfalls, epileptischen oder psychoge-
nen Anfalls, Durchbruch psychotischer Ängste, Risiken bei Borderline-Störung,
depressiver Zusammenbruch, verstärkte Angstabwehr durch Zwangssymptome,
Misserfolgserlebnis bzw. noch mehr Angst bei geringer Übungsmotivation). Halten
Sie den Patienten auch für fähig, nach einer intensiven Konfrontationstherapie ei-
nen längeren Heimweg gefahrlos allein mit dem Auto antreten zu können?
3. Achten Sie genau auf das Ausmaß der Eigen- bzw. Fremdmotivation für eine Kon-
frontationstherapie. Will der Betroffene seine Störung wegen sich oder primär we-
gen des ständigen Drängens anderer (z.B. Kritik vonseiten des Partners) loswerden?
Im Falle eines ambivalenten Verhaltens des Patienten sollten Sie anfangs noch
mehr an der Motivations- und Zielklärung arbeiten und nicht vorschnell aus Ihrer
Verantwortung heraus oder auf Druck eines Angehörigen mit einer Konfrontations-
therapie beginnen, ohne dass der Patient echt Ja dazu gesagt hat. Zur Klärung des
Sachverhalts sollten Sie in den ersten Sitzungen zentrale Bezugspersonen einladen,
um deren Einstellungen und Erwartungen kennen zu lernen. Eine gute Vorbereitung
und eine Stärkung der Eigenmotivation vermindern spätere Fehler und Misserfolge.
Bedenken Sie, dass eine Konfrontationstherapie nicht an sich therapeutische Wir-
kung zeigt, sondern nur deshalb, weil der Patient sich seinen Ängsten stellen will.
Agoraphobie 411

4. Erfassen Sie möglichst genau den bisherigen sekundären Krankheitsgewinn, den


der Patient aus seiner Störung bezogen hat, denn in diesem Fall stellen die Ängste
einen vorläufigen Problemlösungsversuch angesichts einer Situation dar, für die er
noch keine anderen Bewältigungsstrategien entwickelt hat. Hält die Agoraphobie
die Partnerschaft zusammen, verhindert sie die Wiederaufnahme einer Arbeit oder
stellt sie die Begründung dafür dar, dass der Untersuchte nicht allein sein möchte
und nichts allein machen muss? Was verliert der Patient im Falle der Angstfreiheit?
5. Verschaffen Sie sich einen Überblick darüber, welche anderen Probleme und Stö-
rungen neben der Agoraphobie mit oder ohne Panikattacken noch gegeben sind.
Sind die Angstsymptome die primäre Störung oder die sekundäre Folge anderer Be-
schwerden (Depression, Alkoholmissbrauch, beruflicher oder familiärer Stress)?
Besteht letztlich gar eine Sozialphobie, die vom Patienten nicht wirklich erkannt
und als „Platzangst“ missverstanden wird?
6. Achten Sie anfangs nur darauf, wie Sie die aktuellen, problemerhaltenden Bedin-
gungen der Agoraphobie am besten unterbrechen können. Benutzen Sie dabei Ihr
Wissen, wie die Angststörung entstanden ist und durch welche Bedingungen sie ge-
genwärtig aufrechterhalten wird. Sie können dann vielleicht zum Schluss kommen,
dass derzeit eine Konfrontationstherapie nicht die beste Behandlungsstrategie ist,
sondern einige berufsbezogene, partnerorientierte bzw. partnergestützte Gespräche
sinnvoller wären.
7. Berücksichtigen Sie die intraindividuellen und interaktionellen Funktionen der
Angstsymptome. Ohne die Berücksichtigung der verschiedenen Funktionalitäten
wird eine Konfrontationstherapie auf Dauer scheitern. Die Ängste waren bisher ein
immerhin vorläufiger, wenngleich wenig konstruktiver Problemlösungsversuch an-
gesichts oft vieler Schwierigkeiten des Lebens. Weisen Sie den Patienten daher vor
und bei Bedarf auch während der Konfrontationstherapie immer wieder auf die er-
arbeiteten Zusammenhänge zwischen seinen Ängsten und seiner psychosozialen
Befindlichkeit hin. Wenn Sie eine Konfrontationstherapie im Rahmen einer Indivi-
dualtherapie durchführen, sollten Sie auch die möglichen Auswirkungen auf die
Partner- und Familiensituation beachten und thematisieren.
8. Sprechen Sie (wenn möglich) mit dem Partner über die Konsequenzen einer
schnellen Symptomreduktion für die Partnerschaft. Welche Auswirkungen hätte die
plötzliche Angstfreiheit auf die Partnerschaft? Der Partner ist auf eine rasche Ände-
rung oft nicht vorbereitet, sodass eventuell Partnerschaftsprobleme resultieren
könnten, die durch rechtzeitige Vorbeugung zumindest gemildert werden könnten.
Oft kann der „gesunde“ Partner mit der plötzlichen Symptomfreiheit des ehemali-
gen Angstpatienten nicht umgehen. Erklären Sie dem Patienten vor Übungsbeginn
das Konzept von Angst und ihrer Reduktion. Die Entwicklung eines adäquaten Ge-
sundheitsmodells im Sinne des Wissens darum, wie man gesund wird, beschleunigt
und stabilisiert Erfolge, die oft falschen Erklärungskonzepte der Patienten für ihre
psychovegetativen Symptome verstärken die Ängste (Herzinfarkt, „Nervenzusam-
menbruch“, Verrücktwerden). Wenn das agoraphobische Vermeidungsverhalten
voll und ganz mit der Angst vor Panikattacken begründet wird, empfehlen Sie dem
Patienten nützliche Selbsthilfebücher wie etwa „Wenn plötzlich die Angst kommt.
Panikattacken verstehen und überwinden“ von Baker, „Angstfrei leben. Das erfolgrei-
che Selbsthilfeprogramm gegen Streß und Panik.“ von Bassett oder „Die zehn Gesichter der
Angst. Ein Selbsthilfe-Programm in 7 Schritten“ von Morschitzky und Sator.
412 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

9. Achten Sie darauf, dass Psychopharmaka nur allmählich abgesetzt (ausge-


schlichen) werden. Der plötzliche Verzicht auf Tranquilizer und Antidepressiva
kann zu Panikattacken führen. Benzodiazepine sollten wenigstens 2 Wochen vor
Beginn der Konfrontationstherapie abgesetzt werden, weil sonst der Erfolge den
Medikamenten zugeschrieben und die eigene Leistung geschmälert wird (diese Be-
hauptung ist jedoch umstritten und empirisch nicht ausreichend abgesichert, sodass
auch eine Kombinationstherapie möglich ist). Antidepressiva können bei entspre-
chender Indikation weiter eingenommen werden. Nach verschiedenen Studien
bringt die Kombination von Verhaltenstherapie und Pharmakotherapie (Angst
dämpfende Antidepressiva wie die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer)
bei schweren Angststörungen die raschesten Erfolge.
10. Beginnen Sie die Konfrontationstherapie zumindest in bestimmten Fällen mit einem
„mentalen Training“, wo der Patient wie Spitzensportler in der Vorstellung alles
bewältigen soll, was in der Wirklichkeit auf ihn wartet. Dabei können Sie unter
Umständen auf wichtige Probleme aufmerksam werden, z.B. dass sich der Patient
nicht einmal in der Verstellung in eine Angstsituation begeben möchte oder dass er
falsche Bewältigungsstrategien wie permanente Ablenkungstechniken einsetzt, oh-
ne die aufkommende Angst wirklich zuzulassen, obwohl Sie ihn auf die Bedeutung
eines derartigen Vorgehens mehrfach hingewiesen haben.
11. Verwenden Sie für die Beschreibung und die Protokollierung des Angstausmaßes
eine Angst-Skala (von 0-10), um ein einfaches Veränderungsmaß zu haben, das oh-
ne lange Erklärungen eine rasche Therapeut-Patient-Kommunikation über die aktu-
elle Befindlichkeit ermöglicht.
12. Begleiten Sie den Patienten anfangs nur bei echtem Bedarf in angstbesetzte Situa-
tionen und unterstützen Sie ihn bei der Konfrontation mit den wichtigsten Angst
auslösenden Situationen, und zwar entweder gestuft (üben Sie von leichten bis
schweren Situationen) oder massiert (beginnen Sie mit den am meisten Angst ma-
chenden Situationen). Der Patient soll die für ihn passende Vorgangsweise auswäh-
len. Blenden Sie sich möglichst bald aus dem Übungsprogramm aus, damit der Pa-
tient – auf sich selbst gestellt – alle Erfolge sich selbst zuschreiben lernt.
13. Wenn der Patient die Konfrontationstherapie von Anfang an ohne Ihre Anwesenheit
durchführt, was in den meisten Fällen die sinnvollste Vorgangsweise ist, empfehlen
Sie ihm ein gutes Selbsthilfebuch wie etwa das Buch „Platzangst“ von Mathews,
Gelder und Johnston, das Hand und Fisser-Wilke für den deutschen Sprachraum
adaptiert haben, oder das Angst-Selbsthilfe-Buch „Die zehn Gesichter der Angst.
Ein Selbsthilfe-Programm in 7 Schritten“ von Morschitzky und Sator.
14. Wenn Sie den Patienten anfangs begleiten, sind folgende Vorgangsweisen zu be-
achten. Bauen Sie durch Ihre wohlwollende Unterstützung die Motivation des Pati-
enten ständig immer weiter auf. Sie verhindern dadurch eine manchmal auftretende
Resignationsneigung. Verstärken Sie das Verbleiben in der angstbesetzten Situati-
on, bis die Angst deutlich abgenommen hat. Ein Verlassen der Angstsituation zum
Zeitpunkt der größten psychovegetativen Erregung kann dazu führen, dass der
Misserfolg am Ende der Übung emotional stärker erinnert wird als der anfängliche
Erfolg, was zur Folge haben kann, dass entsprechende Angst machende Situationen
zukünftig immer weniger aufgesucht werden. Üben Sie keinen Druck aus, dass der
Patient die Situation nicht verlässt. Wenn ein Meidungsverhalten auftritt, schlagen
Sie dem Patienten etwas später, jedoch noch im Rahmen desselben Übungstages,
das Wiederaufsuchen der gemiedenen Situation vor.
Agoraphobie 413

15. Der Patient darf die Situation jederzeit verlassen – in Abweichung vom „klassi-
schen“ Vorgehen und in Übereinstimmung mit Experten wie Rachman, Hand,
Hoffmann und Hofmann. Dies muss keineswegs einen Rückschlag für die Therapie
bedeuten, wie früher immer behauptet wurde. Die Entscheidung zum (Wieder-)
Aufsuchen oder Verlassen einer Situation verbleibt immer beim Patienten. Schrän-
ken Sie den Patienten keinesfalls durch einen entmündigenden Therapievertrag ein.
Der Patient ist für sein Leben und Verhalten selbst verantwortlich. Das oberste Ziel
ist die Selbstbestimmung und Freiheit des Patienten, der auch in der Therapie zu
nichts gezwungen wird, sondern sich selbst für jenen Weg entscheidet, der ihm der
beste zu sein scheint. Im Falle Ihrer Anwesenheit diskutieren Sie mit dem Patienten
jedoch vor dem gewünschten Abbruch einer Übung die möglichen Folgen seines
Verhaltens, um ihn dadurch vielleicht zum Durchhalten ermutigen zu können.
16. Der Patient soll in der Angstsituation seine Wahrnehmungen der Innen- und Au-
ßenwelt verbalisieren, um seine Gedanken, Gefühle und körperlichen Zustände be-
wusst und ohne jegliche Vermeidung zu registrieren. Er sagt innerlich bzw. laut vor
dem Therapeuten: „Ich sehe … spüre … höre … denke jetzt …“ Er spürt und be-
nennt vor allem auch die Angstreaktionen seines Körpers: „Mein Herz schlägt jetzt
schneller, mir wird etwas übel, mein Mund ist ganz trocken, ich bin leicht schwind-
lig, meine Beine sind wackelig.“ Er akzeptiert alle körperlichen Empfindungen oh-
ne Ablenkungs- oder Unterdrückungsversuche und wendet sich seinen Zielen zu.
17. Der Patient soll sich dann, wenn er sich vor seinen Angstsymptomen und bestimm-
ten äußeren Situationen nicht mehr so stark fürchtet wie früher, bewusst auf die
Umwelt konzentrieren und das tun, was er gerne tun möchte. Das primäre Therapie-
ziel des Patienten soll nicht nur die Angstbewältigung sein, sondern vielmehr auch
die intensivere Teilnahme am Leben und an der Welt um ihn herum. Es soll wieder
Spaß machen, sich überallhin bewegen zu können. Deshalb ist es wichtig, Ziele zu
entwickeln, deretwegen es sich lohnt, die Wohnung zu verlassen und nicht einfach
nur wegen der Angstbewältigung fremde Umgebungen aufzusuchen.
18. Die folgenden zusätzlichen Empfehlungen für Sie bzw. den Patienten haben sich in
der Praxis vielfach bewährt. Der Patient soll bereits gemeisterte leichtere Situatio-
nen später wiederholen, um dadurch sein Erfolgserleben zu verstärken. Dies gilt
insbesondere auch angesichts von mit großem Energieaufwand bewältigten schwie-
rigeren Übungen, die erste Selbstzweifel des Patienten über den Gesamterfolg der
Therapie bewirkt haben könnten. Überprüfen Sie den Erfolg jeder Sitzung und dis-
kutieren Sie Fortschritte und Konsequenzen des neuen Verhaltens. Vereinbaren Sie
zwischen den Therapieterminen Übungsaufgaben, die der Patient allein erledigt,
und ermutigen Sie den Patienten zum täglichen Üben. Betonen Sie die Notwendig-
keit regelmäßigen Übens für den langfristigen Erfolg. Verweisen Sie auf die Mög-
lichkeit von zwischenzeitlichen Rückschritten und die Chance, daraus zu lernen.
Vereinbaren Sie nach der Kurzzeittherapie gemeinsame Auffrischungssitzungen.
Halten Sie den Termin auch dann ein, wenn es dem Patienten gut geht.
19. Ziehen Sie sich im Laufe der Sitzungen zunehmend zurück, falls Sie aus bestimmten
Gründen mehrfach an der Konfrontationstherapie teilgenommen haben, und lassen
Sie den Patienten das Konzept ohne Hilfestellung anwenden. Der Patient soll die
Begegnung mit den gefürchteten Situationen möglichst oft allein üben bzw. anfangs
mit Unterstützung durch einen Partner, eine andere Bezugsperson oder einen ande-
ren Angstpatienten, wenn er doch noch nicht in der Lage ist, alles ohne Hilfestel-
lung zu bewältigen. Als antidepressives Motto gilt: „Lieber mit Hilfe als gar nicht!“
414 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

20. Die Provokation von heftigen Panikattacken ist für die Bewältigung einer Ago-
raphobie nicht unbedingt erforderlich. Bei dieser Form der Konfrontationstherapie
kommt es nicht darauf an, dass der Patient möglichst viele und starke Panikattacken
erlebt. Wenn er die Bereitschaft zu einer Panikattacke mitbringt bzw. diese zumin-
dest nicht vermeidet, falls sie doch auftreten sollte, sind Angst und Schrecken vor
Panikattacken ohnehin bald Vergangenheit. Das Ertragen eines massiven Kontroll-
verlusts in Form einer heftigen Panikattacke ist für viele Agoraphobiker keine heil-
same Erfahrung. Das optimale Lernen und Einüben neuer Erfahrungen wie etwa die
Rückeroberung der Umwelt durch einen erweiterten Bewegungsradius erfolgt am
besten auf einem mittleren Angstniveau und wird im Falle einer psychovegetativen
Überaktivierung sogar gestört. Der Patient soll nicht primär seine Angst durch Ha-
bituation verlieren, sondern vielmehr neue Lebensmöglichkeiten entwickeln.
21. Akzeptieren Sie es, wenn der Patient nach reiflicher Überlegung und mehrfachem
Üben erklärt, dass er zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestimmte Ängste
nicht ändern kann oder will. Der Patient ist für sein Leben selbst verantwortlich und
hat ein Recht darauf, so sein zu dürfen, wie er ist. Vielleicht braucht er jedoch Ihre
Hilfe, sich mit seinen Ängsten besser annehmen zu lernen, ohne ständig das Ziel ei-
nes möglichst angstfreien Lebens vor Augen zu haben. Die Einstellung „Ich darf
Angst haben“ bzw. „Ich bin auch trotz meiner Ängste ein liebenswerter Mensch“
kann bereits neue Verhaltensmöglichkeiten eröffnen.
22. Greifen Sie nach der Konfrontationstherapie bei Bedarf die dem Patienten bewusst
gewordenen Themen und Problembereiche auf (z.B. Verlustängste, Todesängste,
Angst vor Eigenständigkeit, Schwierigkeiten im Umgang mit Gefühlen, mangeln-
des Vertrauen in sich und andere, Partner- und Familienkonflikte). Bieten Sie eine
„Hintergrundsarbeit“ an, drängen Sie diese dem Patienten jedoch nicht auf.

Panikstörung
Panikartige Ängste galten bis vor etwa 20 Jahren als schwer behandelbar. Selbst in der
Verhaltenstherapie wurden im Vergleich zur Agoraphobie erst relativ spät spezifische
Behandlungsansätze entwickelt. Man beschäftigte sich lange Zeit nur mit der Behand-
lung von Ängsten als Folge externer Reize, d.h. mit phobischen Störungen und dem
damit verbundenen Vermeidungsverhalten. Die Behandlung von Panikstörungen inner-
halb der Verhaltenstherapie wurde erst möglich durch eine stärkere Berücksichtigung
kognitiver Konzepte, die bei den lerntheoretisch orientierten Ansätzen der frühen Ver-
haltenstherapie vernachlässigt wurden. Die kognitive Verhaltenstherapie bietet mittler-
weile das erfolgreichste Behandlungskonzept für Panikpatienten mit und ohne Ago-
raphobie an.
Im deutschen Sprachraum haben Jürgen Margraf und Silvia Schneider [51] 1989 auf
der Grundlage der kognitiven Therapie von David M. Clark und Aaron T. Beck mit
ihrem Standardwerk „Panik. Angstanfälle und ihre Behandlung“ ein umfangreiches
und empirisch gut abgesichertes Behandlungsprogramm für Panikstörungen vorgelegt.
Kognitive Techniken werden dabei nicht global eingesetzt, sondern stellen die veränder-
te Bewertung körperlicher Symptome in den Mittelpunkt. Daneben werden die bewähr-
ten Techniken der Konfrontationstherapie angewandt, um kognitive Änderungen zu
erleichtern. Das Programm ist zugeschnitten auf die Behandlung von Panikstörungen
ohne Agoraphobie, ist aber auch bei Agoraphobie mit Panikstörung verwendbar.
Panikstörung 415

Anders formuliert: Die Techniken der Konfrontationstherapie werden durch kogniti-


ve Konzepte und Techniken erweitert, was eine effizientere Behandlung einer Ago-
raphobie mit Panikstörung ermöglicht. Das Programm besteht aus insgesamt 15 Sitzun-
gen von jeweils einer Stunde Dauer in Form einer Einzeltherapie, wobei die individuel-
len Gegebenheiten des Patienten zur Erhöhung der Effektivität maximal berücksichtigt
werden können. Die ersten 10 Sitzungen erfolgen zweimal wöchentlich, die letzten fünf
Sitzungen einmal wöchentlich. Alle Sitzungen werden auf Tonband aufgenommen. Als
Hausaufgabe sind die Bänder anzuhören, um die therapeutischen Effekte zu festigen.
Die Patienten erhalten auch schriftliche Unterlagen zur Bearbeitung.
Anstelle eines Frontalunterrichts wird das Therapiemodell durch „geleitetes Entdek-
ken“ vermittelt, d.h. die Patienten lernen durch gezielte Fragen, das therapeutische
Konzept selbst zu erkennen. Im Rahmen eines dialogischen Prozesses lernen die Patien-
ten, ihre Fehlinterpretationen körperlicher Symptome zu identifizieren, durch Argumen-
te zu begründen und mit alternativen Erklärungskonzepten und den dafür sprechenden
Argumenten zu vergleichen, um schließlich durch Abwägen des Für und Wider neue
Sichtweisen und damit auch neue Handlungsmöglichkeiten entwickeln zu können. Die-
se Strategie ist als sokratischer Dialog bekannt.
Die ursprünglichen Vermutungen (z.B. „Schwindel führt zu Ohnmacht“) und die
gewonnenen Erkenntnisse (z.B. „Bei Herzrasen und steigendem Blutdruck kann man
nicht mehr ohnmächtig werden“) werden durch Verhaltensexperimente überprüft.
Das gesamte Therapieprogramm umfasst folgende Aspekte:
1. Diagnostische Phase. Zu Beginn erfolgt eine gezielte Suche nach möglichen Auslö-
sern für Panikattacken sowie nach Bedingungen, die die Wahrscheinlichkeit des
Auftretens erhöhen (z.B. Kognitionen, Hyperventilation, interpersonelle Situation).
Im Mittelpunkt stehen die Grobdiagnostik und die Analyse des Problemverhaltens.
2. Vermittlung eines Erklärungsmodells für Panikattacken (Psychoedukation). Infor-
mationen und Erklärungen zu Beginn der Therapie vermitteln den Betroffenen eine
neue und erleichternde Sichtweise ihrer Störung, erhöhen die Wirksamkeit und Ak-
zeptanz des therapeutischen Vorgehens und sind auch hilfreich zur Vorbeugung von
Rückfällen. Vermittelt und erklärt werden folgende Konzepte: Natur der Angst, Teu-
felskreis der Angst, Komponenten der Angst (physiologisch, kognitiv, Verhalten),
Typen von Angstanfällen, Vermittlung des Stressmodells, psychophysiologisches
Modell der Angst, Genesemodell der Angst (Auslösefaktoren, Prädispositionen, auf-
rechterhaltende Faktoren), Information über den typischen Angstverlauf, Vermitt-
lung des Konfrontationskonzepts als Behandlungsprinzip. Die Vermittlung eines ad-
äquaten Erklärungsmodells stellt einen Schwerpunkt der Behandlung dar. Dabei
werden Alternativen angeboten zu der Befürchtung vieler Panikpatienten, an einer
(unerkannten) schweren körperlichen oder psychischen Krankheit zu leiden. Die Er-
läuterungen beruhen auf dem beschriebenen psychophysiologischen Erklärungsmo-
dell für Panikstörungen. Sowohl spontan auftretende Panikattacken als auch starke
Angstreaktionen in phobischen Situationen werden als Ergebnis eines Teufelskreises
aus den individuell relevanten körperlichen Symptomen (z.B. Herzrasen, Schwin-
del), Kognitionen (z.B. „Ich könnte ohnmächtig werden“) und Verhaltensweisen
(z.B. Hyperventilation) dargestellt.
3. Imaginative Auseinandersetzung mit verschiedenen befürchteten Katastrophen
(„Entkatastrophisieren“). „Was wäre, wenn“-Vorstellungsübungen als bewusstes
Zu-Ende-Denken von befürchteten Ereignissen/Situationen, z.B. Vorstellung eines
Ohnmachtsanfalls mit den am meisten gefürchteten Konsequenzen (außer Sterben).
416 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

4. Konfrontation mit internen Auslösern der Angstanfälle („interozeptve Konfrontati-


on“: besseres Umgehen mit unangenehmen, bewusst provozierten Körpersensatio-
nen). Die Patienten lernen durch Verhaltensexperimente, ihre Aufmerksamkeit auf
unangenehme Körpersensationen zu lenken und ihre Hypothesen bezüglich gefürch-
teter körperlicher Zustände zu überprüfen. Es wird z.B. zwei Minuten lang ein Hy-
perventilationstest durchgeführt, um die eventuelle Auslösbarkeit von Panikattacken
durch Hyperventilation zu testen und gleichzeitig die gefürchteten psychovegetati-
ven Symptome besser ertragen zu lernen. Daneben werden auch andere Provokati-
onsverfahren eingesetzt: körperliche Belastung zur Provokation von Herzrasen und
Hitzegefühlen, schnelle Drehungen des Kopfes und des Körpers zur Schwindelpro-
vokation, visuelle Effekte zur Provokation optisch-räumlicher Täuschungen, fünf-
minütige Konzentration auf den Herzschlag zur Erhöhung des Angstniveaus.
5. Konfrontation mit externen Auslösern (Vermeidungsverhalten überwinden durch
Exposition in vivo). Die Patienten stellen sich allein subjektiven Bedrohungssitua-
tionen ohne Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten. Sie üben in der Alltagsrealität
die Konfrontation mit Angst machenden Situationen ohne Ablenkung, überprüfen
und widerlegen dadurch ihre Angst machenden Gedanken und Hypothesen.
6. Spezielle kognitive Techniken (in Anlehnung an Beck). Im Rahmen einer kognitiven
Therapie werden die typischen Angst machenden Gedanken, die dysfunktionalen
kognitiven Schemata sowie die Fehlinterpretationen der körperlichen Symptome
(Gedanken, Vorstellungsbilder, Einschätzungen der Wahrscheinlichkeit von Ereig-
nissen) systematisch erarbeitet, die während eines Angstanfalls auftreten (z.B. „Ich
bekomme einen Herzinfarkt“, „Ich könnte verrückt werden“, „Zu starkes Herzklop-
fen schadet meiner Gesundheit“), wobei auf die individuellen Gegebenheiten einge-
gangen wird. Zuerst wird ausführlich analysiert, welche Gründe aus der Sicht der
Patienten für ihre Angst erzeugende Interpretation sprechen, anschließend werden
alternative Erklärungen für die Symptomatik, d.h. andere Ursachenzuschreibungen
(Reattribuierungen), erarbeitet. Die übermäßige Konzentration auf den Körper, das
bewusste Bemühen, normal zu denken, zu fühlen, zu atmen usw. und das Unter-
drücken negativer Gedanken werden als potenzielle Panikverstärkung dargestellt.
Die Patienten lernen, ihr Bedürfnis nach 100%iger Sicherheit als eine Quelle ihrer
Störung zu erkennen, und werden angeleitet, mit einem Restrisiko leben zu können.
7. Weitere Strategien. Bei Bedarf erfolgen auch andere Maßnahmen: Selbstinstrukti-
ons-, Problemlöse-, Stressbewältigungs-, Atem-, Entspannungs- und soziales Kom-
petenztraining, Generalisierung der Lernerfolge, Rückfallsprävention.

Der effiziente Einsatz des Programms im Rahmen einer Gruppentherapie an der psych-
iatrischen Ambulanz der Wiener Universitätsklinik erforderte eine Erweiterung im Sin-
ne einer stärkeren individuellen Zuwendung und eine stärkere Berücksichtigung lebens-
geschichtlicher Bedingungen im Sinne der „Interpersonellen Psychotherapie“.
Schmidt-Traub [52] legte mit ihrem empfehlenswerten Buch „Panikstörung und
Agoraphobie. Ein Therapiemanual“ ein Konzept vor, das eine halbstandardisierte, fle-
xibel konzipierte Gruppentherapie von 8 Sitzungen im Ausmaß von jeweils einer Dop-
pelstunde effizient mit Einzelgesprächen nach individuellem Bedarf (im Durchschnitt
8 Sitzungen), vom gleichen Therapeuten durchgeführt, verbindet. Die Gruppentherapie
dauert 5 Monate, die Einzeltherapie je nach der Zahl der Therapiestunden 5-9 Monate.
Die Einzeltermine erfolgen zwischen den Gruppensitzungen, die in immer größeren
Abständen erfolgen.
Panikstörung 417

Das Konzept, das auf ambulante Panikpatienten mit und ohne Agoraphobie zuge-
schnitten ist, lässt sich bei engeren Sitzungsabständen auch auf den stationären Bereich
übertragen. Die Gruppenteilnehmer werden aufgrund der Ergebnisse eines mindestens
einstündigen Vorgesprächs zur differenzialdiagnostischen Abklärung ausgewählt. Dabei
werden auch Angst-Fragebögen eingesetzt. Die sorgfältige Auswahl der Gruppenthera-
pieteilnehmer bewirkt, dass während der Therapie nur wenige Ausfälle zu verzeichnen
sind. Das halbstandardisierte Therapieprogramm umfasst fünf Interventionsbereiche:
1. Psychologische und medizinische Edukation. Umfangreiche Informationen und
Patienten-Informationsblätter, die in jeder Stunde verteilt werden, geben Hinweise
über Entstehung, Verlauf und Behandlung einer Panikstörung bzw. Agoraphobie.
2. Kognitive Schritte. Vermittelt werden ein individuell relevantes Störungsmodell und
Strategien zur kontinuierlichen funktionalen Verhaltens- und Bedingungsanalyse,
zur Konzentrationslenkung mit dem Ziel der Angstkontrolle, zur besseren Problem-
lösefähigkeit und zur positiven Selbstinstruktion in Angstsituationen.
3. Konfrontation in vivo und in sensu. Es werden reale und mentale Expositionen mit
den gefürchteten Situationen ebenso durchgeführt wie interozeptive Konfrontationen
zur besseren Symptomtoleranz. Die Konfrontationstherapie erfolgt von Beginn an
ohne Therapeutenbegleitung in gestufter Form, um Erfolgserlebnisse sicherzustellen.
Therapeutengeleitete Konfrontationstherapien erfolgen nur in einigen hartnäckigen
Fällen. Bei Panikattacken werden im Sinne eines aktiven Handels statt eines passi-
ven Erleidens Konzentrationslenkungsübungen (intensive Konzentration auf externe
Reize), Atem-, Entspannungs- und Bewegungsübungen empfohlen, obwohl diese
Strategien grundsätzlich als Sicherheitsverhaltensweisen gelten.
4. Körperbezogene Verfahren, die eine Angstkontrolle bewirken, und Gesundheitsver-
haltenstraining (Ernährung, dosierter Alkohol-, Kaffee-, Nikotin-, Zucker-Konsum,
Sport, Schlaf, Genießen), das eine psychoimmunologische Stärkung ermöglicht.
5. Gruppendynamik und Modellverhalten der Gruppenteilnehmer erleichtern aufgrund
der motivierenden Wirkung das Angstbewältigungstraining.

Das Gruppentherapiekonzept enthält für jede Sitzung einen therapeutischen Leitfaden,


spezielle Hinweise für den Therapeuten sowie umfangreiche und recht nützliche Patien-
teninformationen. Den Gruppentherapieteilnehmern werden zahlreiche Bewältigungs-
strategien angeboten, aus denen sie die passenden auswählen können. Das breite Ange-
bot an Interventionsmöglichkeiten berücksichtigt den Umstand, dass nicht vorherseh-
bar ist, auf welche Techniken die Betroffenen am besten ansprechen werden.
Bei Menschen mit Panikattacken, die einigen Mut aufbringen und rasch Erfolge er-
zielen möchten, kann nach einem Vorschlag von Hand gleich zu Therapiebeginn im
Rahmen der Diagnostikphase die Methode der paradoxen Intervention eingesetzt wer-
den. Der Klient soll in einer Alltagssituation oder im Therapieraum bewusst einen Pa-
nikzustand provozieren oder zulassen, um eine genaue Beschreibung des Ablaufs geben
zu können. Die Neigung von Panikpatienten zu erhöhter Körperbeobachtung wird the-
rapeutisch zu nutzen versucht.
Als Folge der Bereitschaft zu einer Panikattacke machen die Betroffenen die Erfah-
rung, dass der erwartete Panikzustand entweder nicht so leicht auszulösen ist wie erwar-
tet oder nicht so schwer ausfällt wie befürchtet. Auf diese Weise kann das Meidungs-
verhalten, das den zentralen Faktor phobischen Verhaltens darstellt, rasch durchbrochen
werden. Der Mut bezüglich einer Panikattacke vermittelt insofern ein Gefühl der Situa-
tionskontrolle, als man sich freiwillig auf die gefürchtete Situation einzulassen bereit ist.
418 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Generalisierte Angststörung
Die generalisierte Angststörung war früher ein Stiefkind der Forschung und Behandlung
im Bereich der Angsterkrankungen. Die Verhaltenstherapie bei generalisierten Angst-
störungen ist im Vergleich zu anderen Angststörungen auch gegenwärtig noch immer
unzureichend entwickelt und zu wenig effizient (nur bei jedem zweiten Betroffenen
wirksam) in den letzten Jahren wurden jedoch spezifischere und effektivere Behand-
lungsmethoden vorgestellt. Das umfangreiche Behandlungskonzept besteht aus einer
Verbindung verschiedener nachweislich erfolgreicher Strategien:
1. Informationsvermittlung über die Störung und den Kreislauf der Angst.
2. Selbstbeobachtung zur Sensibilisierung für die Mechanismen der Angstentstehung.
3. Hier-und-Jetzt-Wahrnehmungsübungen („Awareness“): Konzentration der Wahr-
nehmung und des Erlebens auf aktuelle Sinneseindrücke und Erfahrungen und nicht
auf vergangene oder zukünftig befürchtete Ereignisse. Die Betroffenen beseitigen
dagegen die aktuellen Angstgedanken durch Ablenkung oder Aufmerksamkeitsum-
lenkung auf andere noch gefährlichere Situationen, die zukünftig eintreten könnten.
4. Entspannungstechniken zur Reduktion des erhöhten Anspannungsniveaus (bevor-
zugt wird die progressive Muskelentspannung nach Jacobson).
5. Einbeziehung kognitiver Techniken aus der kognitiven Therapie nach Aaron Beck:
Identifizierung, Analyse und Veränderung von kognitiven Verzerrungen mit dem
Ziel der kognitiven Umstrukturierung zugunsten alternativer und hilfreicherer
Sichtweisen. Angesichts der ständigen Suche nach Sicherheit ist es vor allem auch
wichtig, mehr Toleranz von Unsicherheit und Restrisiko zu entwickeln. Das ständige
Sich-Sorgen resultiert entscheidend aus der Intoleranz gegenüber Unsicherheit.
6. Intensive Konfrontation mit den ständigen Sorgen („Sorgen-Exposition“) im Sinne
einer kognitiv-emotionalen Konfrontation in der Vorstellung (Konfrontation in sen-
su). Der Patient soll sich zur besseren Toleranz von Unsicherheit und unlösbaren
Problemen täglich mindestens 25-30 Minuten lang eine typische Sorgensituation
vorstellen, diese Sorge mit allen möglichen negativen Konsequenzen ausmalen, die
dabei auftretenden Kognitionen registrieren und die damit verbundenen Emotionen
und körperlichen Zustände aushalten lernen. Es ist das Ziel, sich der größtmöglichen
Angst ohne kognitive Vermeidungsstrategien zu stellen. Die Furcht erregende Szene
wird so lange möglichst bildhaft mit dem allerschlimmsten denkbaren Ausgang
durchgespielt, bis sie nur noch wenig Angst auslöst, d.h. bis eine Gewöhnung (Habi-
tuation) einsetzt. Erst danach sollen weniger sorgenvolle Alternativen erwogen wer-
den. Anschließend werden weitere Sorgen in ähnlicher Weise behandelt. Die Tech-
nik des bildhaften Zu-Ende-Denkens wird auch in der Behandlung von Zwangsge-
danken eingesetzt. Wenn sie wirkt, beruht sie teilweise auf einem paradoxen Effekt:
Was man absichtlich auslöst, wird nicht mehr als unkontrollierbar erlebt.
7. Konfrontationstherapie (Konfrontation in vivo) zur realen Überprüfung der Sorgen.
8. Problemlösetraining bei intrapsychischen und interaktionellen Konflikten.

Die emotionale Bewältigung von Sorgen im Rahmen einer Konfrontationstherapie ist


mit einer starken, unangenehmen psychovegetativen Aktivierung verbunden, stellt je-
doch in Verbindung mit einer kognitiven Therapie (Änderung der Denkmuster) und (bei
Bedarf) einer emotions- und interaktionszentrierten Therapie die wirksamste Behand-
lungsmethode bei generalisierten Ängsten dar. Ängste können nur überwunden werden,
indem sie sowohl kognitiv als auch emotional ohne Vermeidung bewältigt werden.
Generalisierte Angststörung 419

Der fast rein kognitive Ansatz von Adrian Wells in England konzentriert sich neben
der kognitiven Umstrukturierung dysfunktionaler Denkmuster auf die von ihm betonten
Meta-Sorgen (Sorgen über die Sorgen), die zumindest bei bestimmten Angstpatienten
eine wichtige Rolle spielen. Derartige Meta-Kognitionen beinhalten positive Annahmen
(„Sorgen ist gleich Vorsorgen“, „Sich-Sorgen zeigt von Verantwortungsbewusstsein“)
sowie auch negative („Die ständigen Sorgen schaden mir“, „Wenn ich mich zu sorgen
anfange, kann ich nicht mehr aufhören und schaffe die Arbeit nicht mehr“). Je länger
die Sorgen andauern, umso mehr überwiegen die negativen Aspekte die positiven.
Das bislang umfassendste deutschsprachige Behandlungskonzept, das die genannten
Ansätze integriert und erweitert, haben Eni Becker und Jürgen Margraf in ihrem Buch
„Generalisierte Angststörung“ vorgestellt. Die Methode der Konfrontationstherapie,
die sich bei der Therapie spezifischer und sozialer Phobien sowie der Agoraphobie
bewährt hat, wird auf den Bereich der generalisierten Angststörung übertragen. Im Mit-
telpunkt der Behandlung steht die Sorgenkonfrontation in sensu sowie in vivo ohne jede
Entspannung, weil diese eine Habituation verhindert. Anschließend erfolgt eine kogniti-
ve Therapie. Die Behandlung wird als Einzeltherapie durchgeführt, weil dadurch am
besten auf die individuell recht unterschiedlichen Sorgen und Komorbiditäten einge-
gangen werden kann, beruht auf einem sehr hilfreichen und konkreten Therapieleitfa-
den, dauert etwa 15-20 Stunden (empfohlen werden Doppelstunden zur Erleichterung
der Habituation bei der Sorgenkonfrontation) und umfasst im Detail folgende Schritte:
1. Allgemeine Informationsvermittlung. Informationen über Angst und Angststörungen
im Allgemeinen sowie über die generalisierte Angststörung im Besonderen sollen
den Betroffenen ein besseres Verständnis ihrer Störung ermöglichen. Anschließend
werden mit den Patienten gemeinsam die Entstehungsbedingungen (auslösende und
aufrechterhaltende Faktoren) ihrer Ängste erforscht, damit die Betroffenen die all-
gemeinen Informationen auf ihre spezielle Situation übertragen und das daraus fol-
gende Therapiekonzept nachvollziehen können. Wichtige Informationen für die The-
rapie stammen aus der regelmäßigen Selbstbeobachtung der Patienten, weshalb die-
se angeleitet werden, ein Sorgen-Tagebuch zu führen, um auf diese Weise die typi-
schen Inhalte und Auslöser der Sorgen, den Verlauf der Sorgenepisoden und der
sorgenfreien Zeiten zu dokumentieren und Zusammenhänge zwischen Sorgen und
Aktivitäten, Zeiten oder Personen zu erkennen.
2. Sorgenkonfrontation in sensu. Die Patienten erhalten eine Einführung in die Art und
Wirkungsweise einer Konfrontationstherapie, um den Effekt der Angstreduktion
durch Habituation zu verstehen. Ablenkung, Unterdrückung und Vermeidung der
Sorgen sowie Rückversicherungsfragen werden als nur kurzfristig wirksam und
langfristig Angst verstärkend dargestellt. Die zahlreichen unkontrollierbaren Sorgen
werden in der Therapie isoliert und nacheinander bewältigt, um die Sorgenkette zu
durchbrechen. Die rasch wechselnden Gedankenketten werden in lebendige Vorstel-
lungsbilder übersetzt, wobei alle Sinnesqualitäten angesprochen werden, um ein
konkretes Bild zum schlimmstmöglichen Ausgang zu entwickeln. Das ständige
„Was wäre, wenn…?“ soll bei geschlossenen Augen bildhaft zu Ende gedacht wer-
den. Dabei werden bewusst auch die bisher gefürchteten und daher vermiedenen ve-
getativen Symptome provoziert. Die Betroffenen sollen die Erfahrung machen, dass
Ängste am besten und raschesten durch mentales und körperliches Zulassen ohne
jeden Kampf dagegen überwunden werden können. Sie erhalten dann die Aufgabe,
sich täglich eine Stunde lang sehr lebendig mit ihren Angst machenden Sorgen zu
konfrontieren. Positive Erlebnisse führen dann auch zu neuen Denkmustern.
420 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

3. Konfrontation in vivo. Bei ausschließlicher Konfrontation in sensu besteht hohe


Rückfallsgefahr, weshalb Therapierfolge durch eine Konfrontationstherapie in vivo
abgesichert werden müssen, soweit dies von der Art der Angst her möglich ist. Emp-
fohlen wird eine massierte Konfrontationstherapie, nur in Ausnahmefällen eine ge-
stufte, wo mit langsam ansteigendem Schwierigkeitsgrad zu üben begonnen wird.
Die Konfrontation soll vom Patienten alleine so lange ohne Vermeidungs- und
Rückversicherungsverhalten durchgeführt werden, bis eine Habituation eintritt. Ty-
pische Beispiele dafür sind etwa folgende ängstliche Verhaltensweisen: ein Kind
ständig über das Handy kontrollieren; lieber zu früh als zu knapp bei einem Termin
erscheinen; alleine etwas unternehmen ohne ängstliche Vorsorgemaßnahmen.
4. Kognitive Interventionen. Die Analyse und Änderung der Denkmuster („kognitive
Umstrukturierung“) stellt eine weitere Therapiemaßnahme dar. Die zwei wichtigsten
kognitiven Techniken sind die Realitätsüberprüfung (genaue Analyse, wie berech-
tigt die Sorgen tatsächlich sind, mit Einschätzung von realistischen Wahrscheinlich-
keiten und Pro- und Kontra-Argumenten, sowie Verhaltensexperimente als Reali-
tätstest, d.h. Auswertung der Verhaltensbeobachtung der eigenen Person sowie an-
derer Personen) und das Entkatastrophieren (eine vermeintliche Katastrophe durch
„Was wäre, wenn“-Fragen realistisch einschätzen lernen, d.h. Vorstellungen und
Szenarien entwickeln lernen, wie es nach der vermeintlichen Katastrophe weiterge-
hen könnte). Hausaufgaben stabilisieren die Therapiefortschritte. Beim Umgang mit
Sorgen werden zwei Arten von Problemen unterschieden: lösbare Probleme (z.B.
partnerschaftliche oder berufliche Probleme), die ein Problemlösetraining erfordern,
und unlösbare Probleme (z.B. Krankheiten oder Tod von Familienmitgliedern), die
eine mentale Konfrontationstherapie zur besseren Toleranz von Unsicherheit erfor-
dern. Bei Bedarf werden auch Meta-Sorgen als Grundannahmen bezüglich der Sor-
gen (z.B. „Meine Sorgen sind unkontrollierbar“, „Ich werde von den vielen Sorgen
noch verrückt“, „Meine Sorgen helfen mir, etwas Schlimmes zu verhindern“) einer
Bearbeitung unterzogen. Meta-Sorgen und positive Annahmen über das Sorgen
werden infrage gestellt, weil diese sonst therapeutische Fortschritte verhindern.
5. Angewandte Entspannung. Bei erheblicher muskulärer Verspannung kann auch die
so genannte „angewandte Entspannung“ nach Öst eingesetzt werden, die auf der
progressiven Muskelentspannung nach Jacobson beruht. Es wird zuerst die Lang-
form und anschießend die Kurzform des Verfahrens vermittelt. Diese Technik wird
auch bei Patienten eingesetzt, die Ängste nicht allein durch Zulassen ohne Entspan-
nung bewältigen können oder wollen, und zwar zur Erleichterung des Durchhaltens
in Angst- und Stresssituationen sowohl in sensu als auch in vivo.

Neuere verhaltenstherapeutische Behandlungsmodelle berücksichtigen neben einem


„bewältigungsorientierten“ Vorgehen (nach Klaus Grawe) auch „klärungs- und ressour-
cenorientierte“ Konzepte, die stärker motivationsfördernd wirken. Nach dem Konzept
der generalisierten Angststörung als interpersoneller Störung sowie als Störung der
Emotionsverarbeitung werden zunehmend zwischenmenschliche Aspekte in den Vor-
dergrund gestellt, da diese gleichzeitig auch der Kontext sind, in dem die Störung ent-
standen ist als Störung des Urvertrauens und als Folge mangelnder Bindungssicherheit.
Neben der Änderung der Denkmuster und der Bewältigung unangenehmer Emotionen
lernen die Patienten neue und effektivere Formen interpersoneller Beziehungen. Es geht
um die Änderung interpersoneller Schemata und einen vertieften Zugang zu zentralen
Emotionen. Dabei hat auch die Therapeut-Patient-Beziehung eine besondere Bedeutung.
Generalisierte Angststörung 421

Seit Ende der 1990er-Jahre werden von einem Team um Thomas Borkovec psycho-
dynamische und humanistische Konzepte, vor allem die interpersonelle Therapie nach
Jeremy Safran (interpersonelle Schemata) und die emotionszentrierte Therapie nach
Leslie Greenberg, in die kognitive Verhaltenstherapie bei generalisierter Angststörung
integriert, um die Effektivität zu erhöhen, die nach den traditionellen Behandlungsme-
thoden (kognitive Umstrukturierung, Änderung der Erwartungswahrscheinlichkeiten,
Entspannungstechniken wie progressive Muskelentspannung) nur bei jedem zweiten
Patienten gegeben ist. Nach dem Furchtkonzept von Foa und Kozak kann die Änderung
eines Angstnetzwerkes nur erfolgen, wenn die gesamte Furchtstruktur (externe bzw.
interne Reize, Reaktionsmuster, Bedeutungszuschreibungen bei bestimmten Angstinhal-
ten) genügend stark aktiviert ist. Ständiges Sich-Sorgen ist eine primär verbal-kognitive
Aktivität, die stark emotionale Prozesse bewusst verhindern soll, sodass keine wirkliche
Emotionsverarbeitung angesichts von Angst machenden bildhaften Vorstellungen erfol-
gen kann. Ohne adäquate Berücksichtigung der vermiedenen schmerzhaften emotiona-
len Prozesse kann chronisches Sich-Sorgen durch die Überaktivität des sympathischen
Nervensystems und die gestörte Funktion des parasympathischen Nervensystems auch
zu erheblichen Problemen der körperlichen Gesundheit führen, die die berufliche und
soziale Funktionsfähigkeit in unserer Leistungsgesellschaft gefährden.
Menschen mit generalisierten Ängsten müssen einen besseren Umgang mit stören-
den Emotionen erlernen, d.h. eine bessere Wahrnehmung und Verarbeitung zentraler
Gefühle, um diese in zwischenmenschlichen Beziehungen zum Ausdruck bringen zu
können. Die ständigen Befürchtungen bezüglich alltäglicher Dinge stellen nur die Ober-
fläche dar, dahinter steht oft die Angst vor sich selbst – vor Gefühlen wie Wut, Ärger,
Aggression, Enttäuschung, Traurigkeit, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Verlassen-Werden.
Im Umgang mit befürchteten negativen Ereignissen geht es nicht nur darum, die
jeweils schlimmstmögliche Katastrophe in der Vorstellung zuzulassen, sondern viel-
mehr darum, erfolgreiche Problembewältigungsstrategien (vor allen in zwischen-
menschlichen Situationen) mindestens ebenso erfolgreich visualisieren zu können wie
unerwünschte Situationen. Es ist das Ziel, die Angst machenden Bilder von unwahr-
scheinlichen (katastrophalen) Entwicklungen durch lebendige Bilder von den wahr-
scheinlichen (positiven) Handlungsabläufen als Folge gezielter Aktivitäten der Betrof-
fenen zu ersetzen. Angesichts des Grundthemas der Betroffenen „Die Welt und die
Zukunft sind gefährlich“ ist der Aufbau von mehr Selbstvertrauen und Selbstwirksam-
keit erforderlich, wie dieser durch ein erfolgreiches Problemlösetraining möglich ist, das
auf die konkrete Situation und Bedürfnisstruktur der Betroffenen zugeschnitten ist.
Patienten mit generalisierter Angststörung leben nicht voll und ganz im Hier und
Jetzt. Aufgrund der ständigen inneren Beschäftigung mit möglichem zukünftigen Un-
heil übersehen sie das Naheliegende, nämlich die Gegenwart, ihre aktuelle Lebenssitua-
tion und ihre momentanen Bedürfnisse. Die Therapie hat daher vor allem das Ziel, dass
die Betroffenen besser als bisher ihr momentanes Leben genießen lernen. Das Leben im
Augenblick ohne Blick auf die Zukunft ist allein schon deswegen Angst reduzierend,
weil jede Angst definitionsgemäß auf mögliche zukünftige Ereignisse bezogen ist.
Zur Einschränkung der ständigen Sorgenprozesse, die ein befriedigendes Leben in
der Gegenwart verhindern, empfiehlt Borkovec ein Sorgentagebuch – eine Methode zur
so genannten Stimuluskontrolle. Sich-Sorgen wird auf einen ganz bestimmten Zeitpunkt
jeden Tages verschoben, zu dem man alle Befürchtungen eine ganze Stunde lang auf-
schreibt und später mit dem tatsächlichen Geschehensablauf vergleicht. Es handelt sich
dabei um eine bewusst eingesetzte mentale Konfrontationstherapie.
422 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Während der Behandlung erfolgt eine mentale Konfrontationstherapie in Form einer


Desensibilisierung (Vergegenwärtigung Angst machender Bilder unter Entspannungs-
bedingungen). Wenn die Betroffenen ihre Vorstellungen von unwahrscheinlichen (kata-
strophalen) Ereignissen ertragen können, werden in ähnlicher Weise Imaginationen mit
wahrscheinlichen (gewünschten) Ereignissen und Verhaltensabläufen entwickelt. Wäh-
rend des Tages sollen sich die Patienten dann bewusst diese positiven Bilder vergegen-
wärtigen lernen, die psychisch und körperlich beruhigend wirken. Die einseitige Verge-
genwärtigung einer unwahrscheinlichen, aber dennoch möglichen Katastrophe wirkt
über die Einspeicherung in das Gedächtnis zukünftig erst recht Angst machend. Nur die
Vorstellung der Bewältigbarkeit zukünftiger Situationen und Ereignisse wirkt langfri-
stig entspannend. Denn bei Menschen mit generalisierter Angststörung erfolgt durch
eine Konfrontationstherapie aufgrund ihrer Intoleranz gegenüber jedem Restrisiko nicht
jene Habituation an Horrorvorstellungen, wie sie von vielen Verhaltenstherapeuten
immer wieder behauptet wird. In diesem Kontext ist es auch zu verstehen, dass die
mentale Konfrontation mit möglichen Katastrophen unter Entspannung erfolgt, damit
sich die erzeugten Bilder nicht zu heftig in das Gedächtnis eingraben, denn diese könn-
ten sonst bei der Erinnerung daran Angst machen wie reale traumatisierende Ereignisse.
Das Team um Borkovec [53] berücksichtigt vier Aspekte, die in der Verhaltensthe-
rapie bei Menschen mit generalisierter Angststörung bislang vernachlässigt wurden,
weil traditionellerweise intrapsychische Aspekte (z.B. die Beziehung zwischen Kogni-
tionen und Emotionen) im Vordergrund standen:
z Gegenwärtige Interaktionsmuster in Beziehungen. Patienten mit generalisierter
Angststörung sorgen sich mehr um zwischenmenschliche als um andere Themen.
Beziehungsprobleme können eine generalisierte Angststörung erheblich verschärfen.
Ein übertriebenes Verantwortungsgefühl für das Wohl der Angehörigen kann bei
Familienmitgliedern wegen der damit verbundenen Überfürsorglichkeit und Kon-
trolle großen Ärger auslösen, sodass Konflikte wahrscheinlich sind.
z Ursachen der gegenwärtigen Beziehungsprobleme. Mangelnde Bindungssicherheit,
Vernachlässigung, körperliche und sexuelle Traumatisierung in der frühen Kindheit
und im späteren Leben erschüttern das Urvertrauen in andere Menschen, in die Welt
und in die Zukunft. Häufig sind auch Ärger und Enttäuschung über zentrale Bezugs-
personen in der Vergangenheit bzw. Gegenwart noch nicht überwunden.
z Interpersonelle Probleme in der therapeutischen Beziehung. Die therapeutische
Beziehung wird stärker für Veränderungszwecke genutzt, wobei verschiedene Tech-
niken aus den humanistischen und interaktionellen Therapiemethoden übernommen
werden. Eine gute Therapeut-Patient-Beziehung wird ebenfalls intensiver erarbeitet.
z Vertiefung und Verarbeitung statt Vermeidung von Emotionen. Früher wurde mehr
auf die Kontrolle von Emotionen wie etwa Angst geachtet als auf deren Vertiefung
und intensive Erfahrung. Auf diese Weise lernen Menschen mit generalisierter
Angststörung nicht mit ihren Emotionen umgehen, die ohnehin dazu neigen, durch
ständiges Sich-Sorgen starke Emotionen zu vermeiden. Die Fähigkeit, Gefühle
wahrzunehmen, zu verarbeiten, zu vertiefen und auszudrücken, wird mithilfe ver-
schiedener Techniken aus den humanistischen Therapiemethoden gezielt geschult.
Aufgrund negativer Erfahrungen haben viele Betroffene gelernt, ihre Gefühle zu un-
terdrücken und – um Verwundungen zu vermeiden – vor anderen zu verbergen. Die
Patienten sollen in der Therapie im Sinne eines Skills-Trainings lernen, ihre Gefühle
wahrzunehmen, zuzulassen und offen auszudrücken, um neue Erfahrungen im Um-
gang mit anderen Menschen machen zu können.
Spezifische Phobie 423

Spezifische Phobie
Spezifische Phobien stellten seit den frühen 1960er-Jahren ein beliebtes Anwendungs-
gebiet der neu entwickelten verhaltenstherapeutischen Methoden dar (insbesondere der
systematischen Desensibilisierung, z.B. bei einer Spinnenphobie). Dabei ging man lan-
ge Zeit rigide nach bestimmten Techniken vor, ohne die funktionale Bedeutung der
jeweiligen Phobie ausreichend zu berücksichtigen. Ein derartiges „Wegtrainieren“ von
Symptomen hat in vielen Fällen zwar durchaus gut funktioniert, insgesamt jedoch dem
Image der Verhaltenstherapie so schwer geschadet, dass viele Kritiker auch heute noch
dieser Psychotherapiemethode ihre Vergangenheit vorwerfen.
Heutzutage wird stärker als früher beachtet, dass auch die scheinbar einfachen spezi-
fischen Phobien vor Behandlungsbeginn eine individuelle und differenzierte Verhal-
tensanalyse sowie eine funktionale Analyse ihrer Bedeutung erfordern. Misserfolge in
der Therapie sind oft durch die Vernachlässigung dieser Aspekte erklärbar.
Spezifische Phobien sind oft sehr subtil in den beruflichen, familiären oder privaten
Bereich eingebettet:
z Eine sich plötzlich entwickelnde Flugphobie eines erfolgreichen, weltweit tätigen
Managers kann Ausdruck dafür sein, dass er als Familienvater mit vier Kindern und
einer überforderten bzw. chronisch kranken Frau unbewusst nicht mehr ständig Au-
ßendienste, noch dazu in Übersee, machen möchte, obwohl er vielleicht bewusst
nach einer entsprechenden Lösung sucht und daher eine reine Flugphobie-
Behandlung erwartet.
z Die Angst vor Blitz und Donner kann zwar ausdrücken, dass eine Frau sich während
eines heftigen Gewitters ohne ihren Mann zu Hause fürchtet, aber auch signalisieren,
dass sie eigentlich nicht mehr länger im entlegenen Haus am Waldrand wohnen
möchte, abgeschnitten vom früheren Bekanntenkreis.
z Eine sich plötzlich entwickelnde Blutphobie einer Krankenschwester kann symboli-
sieren, dass sie wegen der Kinder nicht mehr länger berufstätig sein möchte, obwohl
sie dies aus finanziellen Gründen (Kreditrückzahlung) eigentlich sein müsste.
z Eine Hundephobie kann der Rechtfertigung eines sozialen Rückzugs dienen.

Bei den häufigen Tierphobien (Spinnen, Schlangen, Hunde usw.) wurde zumeist die
systematische Desensibilisierung eingesetzt. Der schwedische Verhaltenstherapeut Öst
[54] entwickelte eine Behandlungsmethode, mit der spezifische Phobien in einer Sit-
zung behandelt werden können. Es handelt sich dabei um eine Kombination von Kon-
frontation und teilnehmender Beobachtung. Der Phobiker beobachtet zuerst den Thera-
peuten als Modell und setzt sich anschließend der Konfrontation mit dem gefürchteten
Tier aus. Die Sitzung ist beendet, wenn der phobische Patient im Rahmen einer gestuf-
ten Angstbewältigung entweder gelernt hat, dem Tier mit keiner bzw. wenig Angst zu
begegnen oder wenn drei Stunden vorbei sind. Die ganze Konfrontation wird auf Video
aufgenommen, sodass sich der Patient noch einmal alle Therapieelemente vergegenwär-
tigen kann. Anschließend stärkt der Patient zu Hause seine Erfolgserlebnisse durch
Selbstkonfrontationsübungen auf der Basis eines Selbstbehandlungsmanuals.
Bei Insektenphobien, die sich vordergründig meist um die „Angst“ vor Spinnen und
Käfern drehen, geht es tatsächlich meist um Ekelgefühle, die es besser auszuhalten gilt,
sowie um die Überprüfung der fantastischen Vorstellungsbilder, die nichts mit der Rea-
lität der entsprechenden Kleintiere zu tun hat. Es erfolgt eine Überprüfung der Wahr-
nehmung (Was sehe ich wirklich?) und der Gefühle (Was spüre ich wirklich?).
424 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Bei Blut-, Verletzungs- und Spritzenphobien wird angesichts der dabei auftretenden
physiologischen Besonderheiten (plötzlicher Blutdruckabfall mit Schwindel und Ohn-
machtsneigung) vom schwedischen Team um Öst eine spezielle Vorgangsweise ge-
wählt, die ursprünglich im Rahmen von fünf Sitzungen zur Anwendung gelangte [55]:
z In der ersten Sitzung wird nach einer kurzen Verhaltensanalyse eine Anspannungs-
technik zur Hebung des Blutdrucks gelernt (jede muskuläre Anspannung führt zur
Hebung des Blutdrucks und verhindert damit wirksam die befürchtete Ohnmachts-
reaktion). Dabei werden die großen Skelettmuskeln (Arme, Brust und Beine) für
15-20 Sekunden angespannt, was nach einer Pause von 30 Sekunden wiederholt
wird. Diese Übung soll zu Hause täglich 5-mal zu jeweils fünf Zyklen von Anspan-
nung und Entspannung durchgeführt werden.
z In der zweiten und dritten Sitzung werden dem Betroffenen 30 Dias von Verletzten
gezeigt. Der Patient soll dabei auf die ersten Zeichen einer nahenden Ohnmacht ach-
ten lernen. Als Vorzeichen können verschiedene Symptome auftreten: kalter
Schweiß auf der Stirn, bestimmte Empfindungen im Magen (Übelkeit), Ohrensausen
usw. Bei Registrierung der ersten Frühwarnsymptome soll der Patient die erlernte
Anspannungstechnik zur Hebung des Blutdrucks einsetzen, während er weiterhin die
Bilder von Verletzten betrachtet.
z Die vierte Sitzung erfolgt in einer Blutspendezentrale, wo der phobische Patient
andere Personen beim Blutspenden beobachtet und sich anschließend selbst Blut ab-
nehmen lässt. Bei Bedarf wird wiederum die Anspannungstechnik eingesetzt.
z Die fünfte und letzte Sitzung erfolgt auf einer chirurgischen Station, wo der Patient
eine Operation mitverfolgt. Die weitere Therapie besteht in einem sechs Monate
dauernden Selbstbehandlungsprogramm.

Menschen mit Klaustrophobie haben eine große Ähnlichkeit mit Agoraphobikern mit
Panikattacken, weil sie wie diese befürchten, in einer Situation, in der sie sich festgehal-
ten fühlen, eine Panikattacke zu bekommen, sodass sie sich in ständiger Fluchtbereit-
schaft und starker Anspannung befinden. Die Betroffenen haben in geschlossenen Räu-
men ein Engegefühl in der Brust mit der Schwierigkeit durchzuatmen, sodass sie am
liebsten das Weite suchen würden, aber ausharren müssen. Von der englischen Gruppe
um Rachman [56] wurde ein Programm entwickelt, das aus einer Kombination von drei
Therapieelementen besteht:
z Konfrontation mit Angst auslösenden Situationen,
z Konfrontation mit den körperbezogenen Reaktionen,
z kognitive Therapie.

Eine wegen der Gefahr kaputter Zähne folgenreiche Oralo- oder Dentalphobie (früher
„Zahnarztphobie“ genannt), die bei mindestens 15% der Bevölkerung vorkommt, lässt
sich effizient behandeln durch ein Breitband-Therapieprogramm mit folgenden Elemen-
ten [57]:
z systematische Desensibilisierung,
z EMG-Biofeedback (Entspannungstraining für die Kopfmuskulatur),
z Modelllernen durch Video (Betrachtung von Filmen über Zahnbehandlungen),
z Einsatz hypnotherapeutischer Methoden im Rahmen eines verhaltenstherapeutischen
Behandlungskonzepts (durch die Verringerung der Schmerzempfindlichkeit über
den Weg der Suggestion angenehmer Vorstellungsbilder kann die zahnärztliche Be-
handlung sehr erleichtert werden).
Spezifische Phobie 425

Bei einer Flugphobie (Aviophobie) werden verschiedene Therapiemethoden einzeln


oder kombiniert eingesetzt: systematische Desensibilisierung, Konfrontationstherapie,
kognitive Therapie, Selbstinstruktionstraining nach Meichenbaum, mentales Training
[58]. Auf vielen Flughäfen werden Seminare zur Bewältigung der Flugangst angeboten
(siehe z.B. www.flugangst.de oder www.flugangst-coaching.de). Neuerdings werden die
Möglichkeiten der Computertechnik genutzt, indem mit Hilfe einer Spezialbrille wirk-
lichkeitsnahe Flüge simuliert werden („virtual reality“).
Die Therapie der Flugphobie muss sich auf die speziell gegebene Angst beziehen:
z Todesangst aus Angst vor einem Absturz,
z Flugphobie als Höhenphobie,
z Angst vor einer Panikattacke wegen fehlender Fluchtmöglichkeit (Flugangst als
Extremvariante einer Agoraphobie),
z klaustrophobische Angst (agoraphobische Angst vor der Beengtheit durch Flugzeug-
inneres, Angeschnalltsein oder Sauerstoffmangel),
z Kontrollverlustangst in Verbindung mit der Angst vor sozialer Auffälligkeit,
z Kontrollverlustangst im Sinne des Umstands, anderen Menschen (den Piloten) ver-
trauen zu müssen,
z Kontrollverlustangst im Sinne des Umstands, einer unbekannten Technik vertrauen
zu müssen,
z Angst vor der Ferne, agoraphobische Angst, am Urlaubsort bis zum Rückflug fest-
zusitzen („in der Falle sitzen“, nicht jederzeit nach Hause fliegen zu können).

Wenn eine Höhenphobie nur durch den Blick aus Höhen (Brücken, Hochhaus-Balkon,
Turm, Leiter, Seilbahn) ausgelöst wird, beruht sie möglicherweise nur auf einem ganz
normalen Höhenschwindel. Die Betroffenen müssen vor einer Konfrontationstherapie
über den Umstand aufgeklärt werden, dass ein Höhenschwindel einfach nur durch den
Blick in die Tiefe ausgelöst wird, weil das Auge in der Nähe keinen festen Punkt zur
Orientierung findet, sodass man mangels Halt einen Absturz fürchtet. Tatsächlich je-
doch hat der Höhenschwindel weniger mit einer Angst an sich zu tun, sondern vielmehr
mit dem Umstand, dass in größeren Höhen die Entfernung zum nächsten Objekt zu groß
ist und daher durch die fehlende Auge-Körper-Koordination ein Schwindelgefühl auf-
tritt. Erst in weiterer Folge entwickeln sich Vorstellungen, jederzeit abstürzen zu kön-
nen, sodass man sich dagegen wehrt und in der Folge davon stark verspannt. Die Be-
troffenen sollen unterscheiden lernen zwischen ihren inneren Vorstellungen und ihren
äußeren Wahrnehmungen (Was genau stelle ich mir vor, was sehe ich wirklich vor
mir?). Anschließend sollen sie den Wahrheitsgehalt der aktivierten Vorstellungen in der
Realität überprüfen und die Situation neu bewerten lernen. Allein schon durch eine
Verbesserung der Wahrnehmung können die Mikroauslöser der Höhenphobie identifi-
ziert werden. Im Laufe der Zeit soll sich der Patient nicht einfach nur an die Situation
gewöhnen, sondern ein Sicherheitsgefühl gewinnen, das zu einem besseren Wohlgefühl
in größeren Höhen führt.
Grundsätzlich wird bei der Behandlung von spezifischen Phobien auf dieselben
Techniken zurückgegriffen, wie sie bei der Behandlung der Agoraphobie bereits darge-
stellt wurden. Es bewähren sich auch Techniken aus dem mentalen Training. Bei ent-
sprechender Ausbildung des Psychotherapeuten kann eine Hypnotherapie sehr hilfreich
sein. Bei manchen spezifischen Phobien müssen Vorstellungsübungen oder eine Cyber-
brille eingesetzt werden, weil eine Konfrontation in der Realität nicht möglich ist oder
die phobische Auslösesituation nicht willkürlich hergestellt werden kann.
426 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Durch die Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten werden Menschen mit


spezifischen Phobien zumindest in bestimmten Zentren immer häufiger mit virtuellen
Techniken behandelt. Es handelt sich dabei um eine Art „virtuelle Konfrontationsthera-
pie“. Mithilfe der Cyberbrille, die verschiedene gefürchtete Situationen möglichst reali-
stisch wiedergibt, erfolgt die Konfrontation mit den Auslösereizen (Spinnen, Höhen,
Flugzeug, Aufzug u.a.), die Angst, Panik, Beklemmung oder Ekel hervorrufen. Ein
computergesteuerter Helm, in dem kleine Bildschirme eingebaut sind, versetzt den
Phobiker in eine virtuelle Scheinwelt, wo er sich mit dem Blick aus einem hohen
Stockwerk, dem Aufenthalt in einem Flugzeug, der Fahrt in einem Aufzug oder dem
Anblick einer Spinne konfrontiert. Dabei kann auch eine Überwachung der körperlichen
Funktionen (Herzschlag, Kreislauf, Schweißabsonderung, Stresshormon-Ausschüttung)
erfolgen. Menschen mit spezifischer Phobie ohne weitere psychische Störungen können
dabei oft schon nach 5-10 Therapiestunden anhaltende Erfolge verbuchen. Das Üben in
realen Situationen wird dadurch jedoch keinesfalls ersetzt, sondern im Anschluss an die
Cybertherapie nur erleichtert. Derartige, zumindest bei bestimmten Menschen mit spezi-
fischen Phobien Erfolg versprechende virtuelle Konfrontationstechniken können erwei-
tert werden, indem Caves mit virtuellen Umgebungen aus Leinwänden und Kamera-
Projektionen eingerichtet werden, die man betreten kann, um sich dort mit bestimmten
Angst auslösenden Reizen zu konfrontieren.
Neben der Konfrontationstherapie in der Vorstellung und in der Realität mit der
Erwartung einer Habituation und einer damit verbundenen Einstellungsänderung auf-
grund positiver Erfahrungen werden auch bei spezifischen Phobien immer häufiger
kognitive Interventionen mit anregenden Fragen eingesetzt:
z Wahrnehmungsschulung. Was nehmen Sie äußerlich wahr? (Was genau sehen, hö-
ren, spüren, riechen Sie? Beschreiben Sie genau, was Sie in Hinblick auf das Objekt
bzw. die Situation gerade wahrnehmen. Entspricht diese Wahrnehmung Ihren Er-
wartungen und inneren Bildern?). Was nehmen Sie innerlich war? (Welche Gedan-
ken, bildhaften Vorstellungen, Gefühle, körperlichen Empfindungen haben Sie ge-
rade? Haben Sie Angst- und Bedrohungsgefühle oder eher ein Ekelgefühl? Reagie-
ren Sie wirklich auf das Objekt vor Ihnen oder auf ein erinnertes, als sehr bedrohlich
erlebtes Objekt in Ihrer Vorstellung? Lassen Sie Ihre Gefühle und körperlichen
Empfindungen gerade zu oder möchten Sie diese unterdrücken bzw. wegschieben?
Beschreiben Sie genau, was in Ihnen vorgeht, verbalisieren Sie Ihre Gefühle und
lassen Sie alle Empfindungen weiterhin zu, ohne dagegen anzukämpfen).
z Analyse und Änderung der zentralen Denkmuster und bildhaften Vorstellungen in
Bezug auf gefürchtete Objekte und Situationen. Welche zentralen Gedanken und
bildhaften Vorstellungen haben Sie regelmäßig in Bezug auf die befürchteten Objek-
te und Situationen? Welche Vorhersagen machen Sie vor einer Konfrontationsthera-
pie? (Was glauben Sie, wird passieren? Vergleichen Sie dies dann mit den tatsäch-
lich gemachten Erfahrungen nach der Konfrontation. Wie sehr sind Ihre Fantasien
von der Realität entfernt?).

Obwohl spezifische Phobien der erste therapeutische Einsatzbereich der Verhaltensthe-


rapie waren, ist nach dem zunehmenden Ersatz der systematischen Desensibilisierung
durch die Exposition in der Vorstellung und in der Realität (gestuft und massiert) – auch
unter Berücksichtigung kognitiver Aspekte – noch viel zu tun, soweit es um die Ent-
wicklung besserer verhaltenstherapeutischer Strategien für zahlreiche spezifische Pho-
bien geht (z.B. für viele Phobien vom „Umwelttypus“ und „anderer Typus“).
Soziale Phobie 427

Soziale Phobie
Bei sozialen Phobien sind je nach Diagnose (spezifische oder generalisierte Sozialpho-
bie) und Verhaltensanalyse (reine Sozialphobie oder komorbide Störung) unterschiedli-
che therapeutische Vorgangsweisen angezeigt [59]:
1. Kognitive Therapie als grundlegender Therapiebaustein bei allen sozialen Ängsten.
Aus der kognitiven Theorie der Sozialphobie der englischen Psychologen David M.
Clark und Adrian Wells resultieren ganz bestimmte Behandlungsansätze. Es geht
dabei um die Änderung der zentralen aufrechterhaltenden Faktoren der Sozialpho-
bie, nämlich der selbstfokussierten Aufmerksamkeit, der negativen Verarbeitung des
Selbst und des Sicherheitsverhaltens. Die Modifikation dieser Faktoren bietet den
Betroffenen die Möglichkeit, ihre negativen Überzeugungen bezüglich ihrer Wir-
kung auf andere Menschen durch direkte Beobachtung zu verändern, statt sie durch
ständige Selbstbeobachtung zu erschließen.
2. Konfrontationstherapie in der Vorstellung (in sensu) und in der Realität (in vivo) bei
einer spezifischen Sozialphobie, wo aus Angst vor sozialer Kritik vorhandene sozia-
le Kompetenzen nicht genutzt werden. Spezifische Sozialphobien beruhen gerade
auf der Angst vor ganz bestimmten Situationen, die durch Sicherheits- und Vermei-
dungsverhalten zu umgehen versucht werden. Auf diese Weise werden die soziale
Phobie und soziale Defizite aufgrund mangelnder Übung verstärkt. Das Hamburger
Therapiekonzept von Wlazlo geht bei sozialen Ängsten stärker im Sinne einer Kon-
frontationstherapie vor (Übungen in realen Situationen und weniger im Therapie-
raum). Dies ist gerade bei Menschen mit einer spezifischen Sozialphobie wichtig,
die bei ausreichenden sozialen Kompetenzen ständig Angst vor Beurteilung haben.
Für einen dauerhaften Therapieerfolg ist es erforderlich, eine Veränderung des zen-
tralen Aspekts der sozialen Phobie, nämlich der Angst vor negativer Bewertung
durch andere, zu erreichen. Sozialphobiker, die Kontaktprobleme eher wegen ihrer
Hemmung aus Angst vor sozialer Kritik und nicht wegen eines fundamentalen Man-
gels an sozialer Kompetenz haben, benötigen Angst provozierende Übungssituatio-
nen zur Stärkung des Selbstvertrauens. Über Erfolge im Rahmen einer Konfrontati-
onstherapie finden dabei indirekt auch Einstellungsänderungen statt. Es erfolgt dabei
einerseits eine externe Realitätsüberprüfung („Die anderen tun nichts, was negativ
oder bedrohlich wäre“), andererseits eine interne Realitätsüberprüfung („Ich kann
mit den negativen Urteilen anderer besser leben, als ich geglaubt habe“).
3. Training zur Verbesserung der sozialen Kompetenz bei generalisierten Sozialphobi-
en und vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörungen. Ein früher Erklä-
rungsversuch sozialer Phobien ging nach dem Modell sozialen Lernens von unzurei-
chenden sozialen Fertigkeiten aus, bedingt durch fehlende effektive Modelle und
mangelnde Verstärkung selbstsicherer Verhaltensweisen. Die Beseitigung sozialer
Defizite erfolgte traditionellerweise durch soziale Kompetenztrainings, die früher
häufig „Selbstsicherheitstraining“ genannt wurden. Nach, neben oder anstelle einer
kognitiv orientierten Einzeltherapie kann bei einem Defizit an sozialer Kompetenz
auch nach den neueren primär kognitiven Therapiekonzepten eine kognitiv-
behaviorale Gruppentherapie erfolgen. Das kognitive Modell der Sozialphobie nach
Clark und Wells geht – im Gegensatz zu früheren Erklärungsmodellen sozialer Äng-
ste – nicht von der Annahme erheblicher sozialer Kompetenzdefizite aus, wonach
diese erst aufgebaut und entwickelt werden müssten, sondern sieht diese eher als
Folgezustände des chronischen Sicherheits- und Vermeidungsverhaltens.
428 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

4. Training zusätzlicher Kompetenzen. Neben der Verbesserung sozialer Kompetenzen


kann für Sozialphobiker mit ständig erhöhtem körperlichen Anspannungsniveau ein
Entspannungstraining (progressive Muskelanspannung, Atemtechniken) sinnvoll
sein. Bei Patienten mit gleichzeitig gegebener generalisierter Angststörung, d.h. mit
ständigem Sich-Sorgen mangels effizienter Problemlösungsstrategien, sowie bei Pa-
tienten mit vermeidend-selbstunsicherer Persönlichkeitsstörung, d.h. mit chroni-
schen Flucht- und Vermeidungstendenzen aufgrund mangelnder interaktioneller
Kompetenzen, kann ein Problemlösetraining hilfreich sein, um die bisherigen inef-
fizienten Problemlösungsroutinen durch effizientere Strategien zu ersetzen.
5. Behandlung komorbider Störungen. Soziale Phobien gehen häufig mit Substanz-
missbrauch (Alkohol, Tranquilizer) und depressiver Störung (bis hin zu Selbstmord-
gedanken) als Folgeprobleme einher. Die Behandlung von Menschen mit sozialen
Phobien ist nur dann ausreichend wirksam, wenn vorher oder gleichzeitig auch die
psychischen Begleitstörungen behandelt werden (Entzugsbehandlung, Psychophar-
makotherapie, kognitiv-behaviorale Therapie der depressiven Störung). Ein derarti-
ges Vorgehen ist vor allem auch dann angezeigt, wenn der seltenere Fall gegeben
ist, dass die soziale Phobie die Folge der sozialen Stigmatisierung bei ausgeprägter
Substanzstörung ist oder die Umsetzung vorhandener sozialer Fertigkeiten nur durch
eine starke Depression blockiert wird. Bei Bedarf ist auch die Behandlung von Pa-
nikattacken angezeigt, da viele Sozialphobiker in sozialen Situationen oft auch pa-
nikartige Zustände erleben. Außer im Falle einer Entzugsbehandlung kann bei de-
pressiven Störungen auch eine stationär-psychiatrische Behandlung erforderlich
sein, ebenso wie bei verschiedenen Sozialphobikern mit anhaltenden somatoformen
Störungen eine psychosomatische Behandlung sinnvoll sein kann.

Die verhaltenstherapeutische Behandlung von Menschen mit sozialen Phobien wird in


einigen deutschen und englischen Fachbüchern ausgezeichnet dargestellt. Im Buch
„Soziale Phobien“ von Stangier, Heidenreich und Peitz [60] wird ein kognitiv-
verhaltenstherapeutisches Behandlungsmanual vorgestellt, das auf dem kognitiven Er-
klärungsmodell und Therapiekonzept von Clark und Wells beruht. Sehr detailliert wird
– ähnlich wie im Buch „Soziale Phobie“ von Stangier, Clark und Ehlers – die kognitive
Verhaltenstherapie der Sozialphobie als Einzeltherapie in fünf Phasen beschrieben:
1. Eingangsdiagnostik und Modellableitung. Im Erstgespräch und in der Anfangsphase
der Behandlung werden Anlass, Motivation und Ziele für die Therapie, aktuelle Le-
benssituation, Entstehung und Verlauf der Sozialphobie, eventuelle weitere Störun-
gen, frühere Behandlungsversuche, Störungs- und Erklärungsmodelle des Patienten
erhoben, Rahmenbedingungen geklärt und auf der Basis der eingeholten Informatio-
nen das weitere Vorgehen vereinbart. Gemeinsam mit dem Patienten werden die ne-
gativen Denkmuster (z.B. „Ich bin unattraktiv und dumm“), die körperlichen Angst-
symptome (z.B. feuchte Hände, Händezittern, Rotwerden), die Sicherheitsverhal-
tensweisen (z.B. schweigen, um nicht aufzufallen), die Art der erhöhten Selbstauf-
merksamkeit und der selbstbezogenen Gedanken, Gefühle und Bilder sowie deren
Zusammenhänge mit dem Sicherheitsverhalten und den Angstsymptomen identifi-
ziert. Die gewonnenen Erkenntnisse nach dem Prinzip des „geleiteten Entdeckens“
vertiefen beim Patienten das Verständnis für das kognitiv-behaviorale Erklärungs-
modell und festigen die Motivation für das daraus folgende Behandlungskonzept mit
vorläufigen Therapiezielen. Der Patient erhält zur Förderung des Therapieprozesses
zahlreiche Arbeitsunterlagen (Informations- und Arbeitsblätter bzw. Fragebögen).
Soziale Phobie 429

2. Kognitive Vorbereitung auf die Exposition. Im Zentrum steht die Änderung der
Faktoren der Informationsverarbeitung, die die unrealistischen Bewertungen stabili-
sieren und aufrechterhalten, nämlich die Art der Selbstaufmerksamkeit, der bildhaf-
ten Vorstellungen und des Sicherheitsverhaltens. Dabei werden innerhalb des The-
rapieraums Rollenspiele und Videofeedback eingesetzt, um Angstreaktionen zu ak-
tivieren und bewältigen zu lernen. Videoaufnahmen ermöglichen eine Sicht von au-
ßen, aus der Beobachterperspektive, wie einen die anderen sehen, was die falschen
Bewertungen auf der Basis des überkritischen inneren Erlebens korrigieren soll. Das
bisherige Sicherheits- und Vermeidungsverhalten soll aufgegeben werden (z.B. kei-
ne Symptomunterdrückung, keine übermäßige Vorbereitung, kein Alkoholkonsum).
Verhaltensexperimente als Hausaufgaben zur Überprüfungen der bisherigen Be-
fürchtungen und zur Vermittlung neuer Denk- und Verhaltensweisen sollen den the-
rapeutischen Prozess zwischen den Sitzungen fördern.
3. Exposition in vivo und Verhaltensexperimente. Nach den Erfahrungen und Erfolgen
im Therapieraum erfolgt eine Konfrontation mit Angst aktivierenden Situationen in
der realen Umwelt. Durch derartige Verhaltensexperimente in der Realität werden
die negativen Überzeugungen überprüft und als unzutreffend erkannt. Dabei werden
auch Mittelpunktsübungen durchgeführt, wo die Betroffenen bewusst auf sich auf-
merksam machen nach dem Prinzip der paradoxen Intention, z.B. absichtlich zittern
oder laut reden. Der Therapieeffekt beruht nicht einfach auf ausreichend langen und
wiederholten Konfrontationen, bis eine Habituation einsetzt, sondern auf der reali-
tätsadäquaten Informationsverarbeitung, dass nichts Schlimmes passiert. Eine Schu-
lung der sozialen Wahrnehmung ist unbedingt angezeigt, damit Sozialphobiker die
Reaktionen anderer Menschen richtig einschätzen lernen. Die Betroffenen sollen ih-
re Befürchtungen im Rahmen der Konfrontationstherapie nicht einfach besser aus-
halten, sondern überhaupt als unberechtigt erkennen lernen. Es wird daher eine ad-
äquatere Form der Informationsverarbeitung trainiert. Bei den Expositionen in vivo
sollen die Patienten ihre Wahrnehmung auf die soziale Umwelt und nicht ständig auf
sich selbst richten, um eine angemessene Realitätsprüfung zu erreichen, sowie alle
Sicherheitsverhalten unterlassen, die eine negative Bewertung verhindern könnten.
4. Verbale Überprüfung negativer Kognitionen. Nach der behavioralen, d.h. verhal-
tensbezogenen Überprüfung negativer Gedanken und Erwartungen, erfolgt in einem
weiteren Schritt nach dem therapeutischen Grundprinzip des geleiteten Entdeckens
und mithilfe der Methode des Sokratischen Dialogs eine verbale Überprüfung dys-
funktionaler Gedanken und Grundüberzeugungen mit dem Ziel, angemessenere Ko-
gnitionen zu entwickeln. Dabei werden auch zwei typische Mechanismen falscher
Informationsverarbeitung identifiziert und verändert: ständige Erwartungsängste
(Worst-Case-Szenarien) und nachträgliche Umbewertungen (verzerrte Verarbeitung
im Nachhinein). In dieser Therapiephase werden zahlreiche Strategien und Techni-
ken der kognitiven Therapie eingesetzt. Die direkte Analyse und Änderung der vor-
handenen Denkmuster (z.B. Annahme der sozialen Ablehnung) ist von zentraler Be-
deutung, weil viele Sozialphobiker im Gegensatz zu Agoraphobikern ohnehin die
meisten sozialen Situationen aufsuchen (wenngleich oft mit einem unguten Gefühl),
ohne jedoch dadurch eine Symptomreduktion zu erreichen.
5. Therapieabschluss und Rückfallprophylaxe. Am Therapieende werden die Erkennt-
nisse und Fortschritte zusammengefasst, vom Patienten in Form einer „Therapiege-
schichte“ schriftlich festgehalten, mögliche Auslöser für Rückfälle besprochen so-
wie Vereinbarungen für eventuelle Auffrischungs- oder Krisensitzungen getroffen.
430 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Das Gruppentherapiekonzept des amerikanischen Verhaltenstherapeuten Heimberg [61]


legt zu Therapiebeginn den Schwerpunkt auf die Analyse und Veränderung negativer
kognitiver Muster, die den sozialen Ängsten zugrunde liegen. Nach der kognitiven Um-
strukturierung erfolgen Konfrontationsübungen in Form von Rollenspielen in der Grup-
pe sowie als Hausaufgaben. Die Behandlung erfolgt in mehreren Therapiephasen:
1. Aufbau von Therapiemotivation (Patienten mit ausgeprägter Sozialphobie können
sich trotz Änderungswunsches eine Verhaltensänderung oft nicht vorstellen), Ent-
wicklung einer guten Therapeut-Patient-Beziehung (viele Patienten halten anfangs
kaum Kritik vonseiten des Therapeuten aus), Aufbau von Gruppenkohäsion (im Fal-
le einer Gruppentherapie) sowie Vermittlung eines hilfreichen Störungsmodells.
2. Konfrontation mit den phobischen Situationen: in der Gruppe (Rollenspiele), als
Konfrontation in sensu (Vorstellungsübungen), als Konfrontation in vivo (gestufte
oder massierte Konfrontationstherapie) sowie über ein Selbstinstruktionstraining.
3. Übertragung der Lernerfahrungen auf den Alltag des Patienten. Durch entsprechen-
de Hausaufgaben ist der Transferprozess auf die Lebenswelt des Patienten einzulei-
ten und abzusichern, da dieser sonst oft nur unzureichend erfolgt. Dabei ist neben
neuen Handlungsweisen auch die Entwicklung neuer Sichtweisen wichtig.
4. Kognitive Umstrukturierung: direkte oder indirekte Änderung von Denkmustern.

Exkurs: Soziales Kompetenztraining

Im Bereich des Trainings sozialer Fertigkeiten werden verschiedene Begriffe verwen-


det, die unterschiedliche Aspekte erfassen:
z Selbstsicherheit (englisch „Assertiveness“), wird verstanden als Einheit von Hand-
lung, Kognition und Emotion. Auf diese Weise werden einseitige Konzeptionen
vermieden, wie z.B. die Beschränkung auf „Selbstvertrauen“ im Sinne der stärker
emotionalen Komponente oder die Einengung auf „Selbstbehauptung“ im Sinne der
Komponente aggressiven Durchsetzungsverhaltens. „Selbstsicherheit“ verstand man
früher als überdauernde, relativ situationsunabhängige Persönlichkeitseigenschaft.
z Soziale Kompetenz bezeichnet das potenzielle Handlungsrepertoire, d.h. die grund-
sätzliche Verfügbarkeit von günstigen kognitiven, emotionalen und motorischen
Verhaltensweisen in sozialen Situationen. Der Begriff „soziale Fertigkeiten“ (social
skills) beschreibt die manifeste Umsetzung in konkrete Verhaltensweisen. „Soziale
Kompetenz“ gilt heute als Oberbegriff für ältere Konzepte wie Selbstbehauptung,
Durchsetzungsfähigkeit, Selbstsicherheit, soziale Fertigkeiten oder Selbstvertrauen.
Soziale Kompetenztrainings umfassen einen weiteren Gegenstandsbereich als die
herkömmlichen Durchsetzungs- oder Selbstbehauptungstrainings, die in der Ver-
gangenheit häufig ohne individuelle Verhaltensanalyse durchgeführt wurden. Der
Begriff der sozialen Kompetenz beschreibt keine situationsübergreifende Persön-
lichkeitseigenschaft, sondern umfasst unterschiedliche Verhaltensaspekte in Abhän-
gigkeit von bestimmten sozialen Situationen und ihren Anforderungen.
z Soziale Performanz umschreibt das in sozialen Situationen tatsächlich gezeigte und
beobachtbare Verhalten umschreibt. Viele Sozialphobiker werden trotz vorhandener
sozialer Kompetenzen wegen unzureichender sozialer Performanz als auffällig, selt-
sam, befremdend, abweisend oder kühl erlebt. Nach maßgeblichen Autoren wie
Hinsch und Pfingsten gehört zur Definition sozialer Kompetenz beides: die Verfüg-
barkeit und die Anwendung sozial günstiger Verhaltensweisen.
Soziale Phobie 431

Soziale Defizite wurden früher überbetont. Die Modelle zur Erklärung sozialer Ängste
und Phobien haben in der Vergangenheit die Defizite hinsichtlich sozialer Performanz
zu wenig berücksichtigt und Sozialphobikern oft vorschnell einen Mangel an sozialer
Kompetenz unterstellt. Die Mehrzahl der Sozialphobiker setzt die vorhandenen sozialen
Fertigkeiten nicht ein. Die unzureichende Unterscheidung zwischen sozialer Kompetenz
und sozialer Performanz kann zu einem falschen therapeutischen Vorgehen führen. Es
wird dann etwas trainiert, was die Betroffenen bereits können, jedoch nicht einsetzen.
Exposition anstelle von Vermeidung ist sehr wichtig. Eine massive Form der sozia-
len Konfrontation ist die Symptomprovokation, auch paradoxe Intention genannt, d.h.
der Vorsatz bzw. Ratschlag, genau das zu tun, was man am meisten fürchtet: Rotwerden
oder Schwitzen von sich aus ansprechen, absichtlich zittern, bei Sprechangst die Nervo-
sität öffentlich bekannt geben, durch auffälliges Verhalten auf sich aufmerksam machen
oder bestimmte gefürchtete Personen bewusst ansprechen. Es wird auf alle Vermei-
dungsreaktionen und Sicherheitsverhaltensweisen verzichtet. Bei derartigen Mittel-
punktsübungen machen die Betroffenen nach einem bestimmten Plan auf sich aufmerk-
sam und riskieren eine bislang gefürchtete Kritik vonseiten der Umwelt. Symptompro-
vokationen können bei vielen Menschen mit chronischem Vermeidungsverhalten sinn-
voll sein, wenn es gilt, unberechtigte Ängste vor sozialer Ablehnung durch Erfahrung zu
widerlegen, können aber ohne Berücksichtigung der Lebenserfahrungen und der Persön-
lichkeit des Patienten zu symptomverstärkenden Retraumatisierungen führen.
Der Effekt der erhofften Habituation kann außerdem durch bestimmte Interpretatio-
nen zunichte gemacht werden, z.B. „Bei einer solchen Übung kann ich mich durchaus
auffällig verhalten, in bestimmten für mich wichtigen Situationen darf ich mich aber
nicht blamieren, weil ich sonst erledigt bin.“ Dies zeigt die Kontextabhängigkeit von
sozialen Phobien: In einem irrelevanten Kontext gelingt es leicht, furchtlos zu handeln.
Therapeutisch sinnvolle Verhaltensexperimente unterscheiden sich von therapeu-
tisch kontraindizierten übertriebenen„Shame-attack-Übungen“ dadurch, dass es sich um
keine übermäßig peinlichen oder ungehörigen Verhaltensweisen außerhalb der gesell-
schaftlichen Verhaltensnormen und auch um keine traumatisierende Bloßstellung der
Betroffenen handelt. Manche Verhaltenstherapeuten halten solche Peinlichkeitsübungen
(z.B. mit erhobenen Händen gehen, laut mit sich selbst reden) jedoch für hilfreich.
Die kognitiven Verhaltenstherapeuten Clark und Wells kritisieren den unreflektier-
ten Einsatz von sozialen Kompetenztrainings, denn es sind bestimmte Kognitionen, die
die Umsetzung der vorhandenen Fähigkeiten blockieren, z.B. „Ich könnte mich zwar
durchsetzen, aber dann ist mein Partner beleidigt, und das halte ich nicht aus, wenn ich
nicht jederzeit geliebt werde.“ Das Vermeidungsverhalten von Menschen mit sozialen
Ängsten und Phobien hat den Charakter eines Sicherheitsverhaltens, das die Betroffenen
vor unangenehmen Erfahrungen wie Peinlichkeit und Abgelehnt-Werden bewahren soll.
Bei einem Training sozialer Fertigkeiten sind folgende Aspekte zu berücksichtigen:
z Interaktionelle Sichtweise bestimmter Verhaltensweisen im Gesamtkontext. Es muss
der Kontext von Partnerschaft, Berufssituation u.a. berücksichtigt werden. Welche
Bedeutung hat ein bestimmtes Verhalten in einer konkreten Situation? Jedes Verhal-
ten hat eine unterschiedliche Bedeutung und Funktion, je nach Situation, Kontext,
Art und Stadium der Interaktion, Art und Anzahl der Personen und ihren Zielen.
z Individuelle Anpassung an den Patienten. Was ist „echt“, was nur „antrainiert“?
z Reflexion der impliziten Ziel- und Wertvorstellungen. Wer bestimmt, was „sozial
angepasst“ und „sozial kompetent“ ist? Erwünschte Standards in unserer Gesell-
schaft dürfen nicht unkritisch als Therapieziele übernommen werden.
432 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Alle Therapiekonzepte zum Abbau sozialer Ängste müssen deren mögliche Funktionen
im Rahmen der aktuellen Sozialbeziehungen berücksichtigen. Einige Beispiele sollen
mögliche systemische Funktionen einer Sozialphobie vergegenwärtigen:
z Eine junge Frau mit sozialen Ängsten bleibt partnerlos an die Mutter gebunden, die
seit dem Tod ihres Gatten allein nicht ausreichend lebensfähig ist.
z Ein Mann mit sozialen Ängsten verbringt sein Leben in überenger Beziehung mit
seiner Gattin und schränkt dadurch deren Freiheitsraum ein („Ich lebe ganz für Ehe
und Familie, sie soll es auch tun“).
z Ein Jugendlicher mit sozialen Ängsten möchte sich von den Eltern erhalten lassen.

Soziale Kompetenztrainings werden heutzutage nicht nur bei Menschen mit Angststö-
rungen und Selbstunsicherheit, sondern auch bei Patienten eingesetzt, die ganz unter-
schiedliche Diagnosen aufweisen (z.B. Depression, Zwangsstörung, Schizophrenie,
sexuelle Störung, Essstörung, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch, psychosomati-
sche Störungen, Behinderungen verschiedener Art).
Der amerikanischen Psychologen Arnold Lazarus definierte in den frühen 1970er-
Jahren soziale Kompetenz anhand von vier Fertigkeiten, was für die therapeutische
Praxis große Auswirkungen hatte: Nein sagen können, Wünsche und Forderungen stel-
len können, Sozialkontakte beginnen und beenden können, positive und negative Ge-
fühle offen ausdrücken können.
Das Assertiveness-Training-Programm (ATP) von Rüdiger Ullrich und Rita de
Muynck [62] aus den 1970er- und 1980er-Jahren fand im deutschen Sprachraum, aus-
gehend von München, vor allem auch im klinischen Bereich weite Verbreitung. Eine
Gruppentherapie mit einer Dauer von rund 10 Monaten (35 Doppelstunden) wird mit
Einzelsitzungen kombiniert. Eine komplette Therapie dauert 1-2 Jahre.
Das Therapiekonzept bezieht sich auf vier Generalisationsbereiche sozialer Ängste:
z Angst vor Ablehnung beim Äußern eigener Bedürfnisse,
z Angst vor Ablehnung bei der Abgrenzung gegen Übergriffe von anderen,
z Angst vor Kritik oder Fehlschlägen,
z Angst vor sozialen Kontakten.

Die Verbesserung sozialer Fertigkeiten wird über folgende Therapieziele angestrebt:


z Berechtigte Forderungen stellen lernen: Auskünfte erfragen, sich beschweren, auf
etwas bestehen, jemanden um etwas bitten, etwas für sich oder für andere verlangen,
gegen Unrecht protestieren. Das Verhalten soll energisch und bestimmt sein.
z Unbillige Forderungen oder Bitten anderer abschlagen und Nein sagen lernen: sich
nicht ausnutzen lassen, es nicht allen recht machen wollen, auf die eigenen Bedürf-
nisse achten und es aushalten lernen, dass andere deswegen verärgert sein könnten,
Auseinandersetzungen nicht konfliktscheu ausweichen, etwas ablehnen, eine Bitte
abschlagen, einen Vorschlag zurückweisen. Das Verhalten soll nicht aggressiv, son-
dern freundlich-bestimmt sein.
z Kritik äußern und ertragen sowie öffentliche Beachtung aushalten lernen: Kritik
offen, bestimmt und in akzeptabler Form ausdrücken, berechtigte Kritik annehmen,
absichtlich einen Fehler machen, im Mittelpunkt stehen (z.B. Vortrag, laut reden).
z Kontakte herstellen und aufrechterhalten lernen: Gespräche beginnen und aufrecht-
erhalten, eigene Gefühle mitteilen, auf andere eingehen, körperliche Nähe ertragen,
Verabredungen treffen, nonverbale Kontaktfähigkeit entwickeln (Blickkontakt, Lä-
cheln, bestimmte Körperhaltung, Stimme usw.).
Soziale Phobie 433

Beim Selbstsicherheitstraining folgt auf die „Grundstufe“ eine „Fortgeschrittenen-


Stufe“, wo eine differenzierende Anwendung selbstsicheren Verhaltens im Freundes-
kreis, am Arbeitsplatz und in der Familie bzw. Partnerschaft angestrebt wird.
Als Methoden werden Verhaltensübungen, Rollenspiele, Modelllernen, Feedback,
Videotraining und Hausaufgaben eingesetzt. Das Programm wird im Regelfall unter
Teilnahme von zwei Therapeuten, die als Modell für das einzuübende Verhalten dienen,
in Form einer Gruppentherapie mit Einzelbehandlungen kombiniert, kann aber auch als
reine Einzel- oder Gruppentherapie zum Einsatz kommen. Die sehr detailliert und diffe-
renziert ausgearbeiteten und nach steigender Schwierigkeit aufeinander aufbauenden
Übungen sollten nicht einfach – wie dies leider oft genug erfolgte – als reines Übungs-
programm zum Eintrainieren von erwünschten Standardverhaltensweisen eingesetzt
werden und auch nicht sklavisch genau in der vorgegebenen Reihenfolge absolviert
werden, sondern (was die Autoren stets betont haben) sehr individualisiert erfolgen auf
der Basis einer exakten Verhaltens- und Zielanalyse bei jedem Therapieteilnehmer.
Die starke Durchstrukturierung des Selbstsicherheitstrainings hängt mit dem Be-
dürfnis nach Standardisierung für Forschungszwecke zusammen, d.h. man wollte das
seinerzeit neue Programm an größeren Patientenzahlen empirisch überprüfen. Gegen-
über simplifizierenden Anwendungsformen stellen die Autoren fest [63]:

„Konfrontation ohne Berücksichtigung von Abwehrstrategien oder ‚reines Üben’ ohne Beseitigung der
Bedingungen, die zur Vermeidung geführt haben, kann nicht als bedingungsanalytische Psychotherapie
oder Verhaltenstherapie gelten.“

Das im deutschen Sprachraum weit verbreitete, seit über 25 Jahren ständig erweiterte,
verhaltenstherapeutisch fundierte und als effizient evaluierte „Gruppentraining sozialer
Kompetenzen (GSK)“ der deutschen Psychologen Rüdiger Hinsch und Ulrich Pfingsten
[64] fördert im Rahmen von sieben Sitzungen, unterstützt durch zahlreiche Fragebögen,
Informations- und Arbeitsblätter, drei Arten von Skills:
z die Fertigkeit, ein (mehr oder minder) formales Recht durchzusetzen,
z ein kompetentes Verhalten in Beziehungen,
z die Fertigkeit, um Sympathie zu werben.

Auf der Basis dieses Programms wurde von Rüdiger Hinsch und Simone Wittmann das
Selbsthilfebuch „Soziale Kompetenz kann man lernen“ verfasst.
Das neueste, 2006 veröffentlichte und ebenfalls sehr umfangreiche deutsche Thera-
piekonzept „Soziales Kompetenztraining. Gruppentherapie bei sozialen Ängsten und
Defiziten“, herausgegeben von Heike Alsleben und Iver Hand [65], stellt die Entwick-
lung eines verhaltenstherapeutisch orientierten Autorenteams großteils aus Hamburg
dar. Es umfasst im Rahmen von 12 Sitzungen im Umfang von 150-480 Minuten (inklu-
sive Exposition in vivo) und zwei Terminen vor sowie drei Terminen nach der Behand-
lung (nach 3, 6 und 12 Monaten) drei Therapiebausteine zu den Themen
z Angstbewältigung (Motivationsaufbau, psychoedukative Phase zur Thematik der
sozialen Phobie, Schulung der adäquaten Wahrnehmungs- und Diskriminationsfä-
higkeit, Angstmanagement, Mittelpunktsübungen),
z Erhöhung der sozialen Kompetenz (allgemeine Grundlagen und spezielle Fertigkei-
ten der Kommunikation),
z Bearbeitung zugrunde liegender Problembereiche (individuelles Problemlösevorge-
hen in sieben Schritten, Aktivitätsaufbau, Entwicklung eines individuellen Stö-
rungsmodells).
434 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Exkurs: Prüfungsängste

Prüfungs- und Sprechängste sowie Lampenfieber in Präsentationssituationen sind nor-


male Leistungs- und Versagensängste, gelten jedoch als krankhaft im Sinne einer sozia-
len Phobie, wenn sie eine erhebliche Beeinträchtigung der Betroffenen darstellen, zu
Problemen im sozialen Umfeld führen und – besonders im Kindesalter – die normale
Entwicklung der Person verhindern. Bei prüfungsängstlichen Personen sind grundsätz-
lich ähnliche Interventionen hilfreich wie bei anderen Sozialphobikern [66]:
z Besserer Umgang mit Emotionen und körperlicher Erregung. Es erfolgt kein Kampf
gegen negative Gefühle und körperliche Verspannung, weil Unterdrückungsversu-
che die Probleme verschärfen. Die Betroffenen nehmen ihre emotionale und physi-
sche Befindlichkeit einfach an und haben dann mehr Kraft, sich zu Hause voll und
ganz auf das Erlernen des Wissensstoffes und in der Schule bzw. auf der Universität
intensiv auf die Aktivierung ihres Wissens zu konzentrieren, weil sie sich von nichts
mehr ablenken lassen. Bestimmte Atem-, Entspannungs- und Selbsthypnoseübungen
können bei Bedarf die körperliche Erregtheit vermindern.
z Aufmerksamkeitslenkung. Gefördert wird die Konzentration auf die Aufgabenstel-
lung und nicht auf die eigene Person – auch nicht auf den Prüfer, was er denken
könnte, oder auf die nächste Zukunft, wie die Prüfung ausgehen könnte. Es geht um
die Konzentration darauf, was man jetzt tun kann und erreichen möchte (Erfolg),
und nicht um die Konzentration darauf, was man vermeiden möchte (Misserfolg).
z Änderung von Gedanken und inneren Bildern. Bei Prüfungsängsten ist eine stärker
kognitive Therapie erforderlich und nicht einfach nur eine Änderung von Verhal-
tensweisen wie etwa häufigeres Melden im Unterricht, größere Bereitschaft zu Vor-
trägen und häufigeres Antreten zu Prüfungen. Die Betroffenen müssen ihre Denk-
muster mit den ständigen Katastrophenfantasien, ihr geringes leistungsbezogenes
Selbstvertrauen, ihren niedrigen Selbstwert und ihre permanente Selbstabwertung
erkennen und durch andere Sichtweisen ersetzen lernen. Sie müssen mehr Sicherheit
von innen heraus entwickeln und nicht einfach nur äußere Kontrollstrategien an-
wenden, um selbstsicherer zu wirken. Anstelle des früheren Perfektionsstrebens, al-
les lernen und wissen zu müssen, um auf diese Weise jede Kritik vermeiden zu kön-
nen, wird der „Mut zur Lücke“ trainiert, d.h. die Bereitschaft zur Unvollkommenheit
und Schwäche. In Form eines mentalen Trainings (Exposition in sensu) sollen sich
die Betroffenen die Prüfungssituation möglichst plastisch und im Zeitlupentempo
vorstellen lernen; sie sollen sich die gesamte Prüfungssituation möglichst realistisch
vergegenwärtigen und sehr lebendig durchleben. Sie sollen vor allem auf die auftre-
tenden Gefühle achten, sodass sie diese verbalisieren können, z.B. „Ich fürchte mich
vor dem Prüfer; ich habe Angst, dass mir nichts einfällt; mir ist das ganz peinlich;
ich fürchte, dass die anderen negativ über mich denken könnten wegen meines
schlechten Abschneidens.“ Hilfreiche Selbstinstruktionstechniken und Bilder des
Gelingens erleichtern eine selbstsichere Präsentation.
z Veränderung des Verhaltens (Verhaltenstraining, Exposition). Bevorstehende Prü-
fungen und Präsentationen werden in Rollenspielform vor Zuschauern probeweise
durchgespielt und hinterher besprochen. Die Betroffenen trainieren dabei, einen gu-
ten Kontakt mit den Zuhörern zu halten, anstatt ständig eine verunsichernde Selbst-
beobachtung zu betreiben. Ein Videotraining als positives Feedback kann sehr hilf-
reich sein, weil die Betroffenen sich dann aus der Außenperspektive wahrnehmen
lernen, aus der sie oft kompetenter und sicherer wirken, als sie sich innerlich fühlen.
Zwangsstörung 435

Zwangsstörung
Die Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen hat sich aus dem Verständnis der Zwangs-
rituale als Vermeidungsreaktionen entwickelt. Lerntheoretisch stellt ein Zwangsritual
eine operante Konditionierung (negative Verstärkung) dar: Das Ausbleiben der gefürch-
teten Konsequenzen (Unglück, Katastrophe) infolge der als wirksam angesehenen
Zwangsrituale verstärkt die Tendenz zu deren neuerlichem Einsatz. Den Betroffenen
muss daher in der Therapie durch mühevolle Kleinarbeit immer wieder die Erfahrung
vermittelt werden, dass nichts passiert, wenn sie ihre Zwangsrituale unterbrechen. Auf
dieser an sich simplen Überlegung beruhen die ersten erfolgreichen Behandlungsmaß-
nahmen der Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen.

Zwangshandlungen
Die Exposition bei Zwängen wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts vom Pariser Psy-
chiater Janet eingesetzt. Die 1966 von Meyer [67] in London beschriebene Technik der
Reizkonfrontation mit Reaktionsverhinderung gilt bei Zwangsstörungen (wie bei der
Agoraphobie und den spezifischen Phobien) als das verhaltenstherapeutische Standard-
programm für das zumeist notwendige symptomorientierte Vorgehen:
z Reizkonfrontation. Der Patient wird ermutigt, sich den gemiedenen äußeren Reizen
(bestimmten Situationen und Objekten) bzw. inneren Reizen (Gedanken, Bildern,
Impulsen), die Angst oder andere negative Emotionen provozieren, in der Vorstel-
lung und in der Realität so lange und wiederholt auszusetzen, bis durch Gewöhnung
(Habituation) und Erleben des Ausbleibens der gefürchteten Konsequenzen ein bes-
seres Aushalten der entsprechenden Situationen gelingt. Die Konfrontation wird erst
nach einer deutlichen Reduktion von Angst und Unbehagen beendet. Alle auftreten-
den Gefühle sollen zugelassen werden. Das Wahrnehmen und Erleben der Gefühle
wird durch fortlaufendes Verbalisieren ohne Rituale verstärkt. Die Reizkonfrontati-
on kann ähnlich wie bei der Angstbehandlung gestuft oder massiert (Reizüberflu-
tung) erfolgen. Am effektivsten ist die rasche und massierte Konfrontation mit den
zwangsauslösenden Reizen. Für viele Zwangspatienten ist jedoch nur eine gestufte
Behandlung erträglich, beginnend mit leichteren oder mittelschweren Aufgabenstel-
lungen, weil sonst die Gefahr eines Abbruchs droht. Die Sitzungen können anfangs
1½ bis 2 Stunden oder länger dauern und sollen in eher kurzen Abständen erfolgen.
z Reaktionsverhinderung (Verzicht auf Neutralisierung). Nach der Konfrontation mit
den zwangsauslösenden Reizen und Situationen (Blut, Urin, Vaginalsekret,
Schmutz, chemische Stoffe, Glassplitter, Türklinken, Benutzung fremder Toiletten)
wurden Vermeidungs- und Wiedergutmachungsrituale ursprünglich vom Klinikper-
sonal mittels „Reaktionsverhinderung“ unterbunden (eine bestimmte Zeit lang nicht
waschen, putzen, kontrollieren). Der Patient soll nach der realen bzw. mentalen
Konfrontation mit den zwangsauslösenden Reizen auf reale oder gedankliche Flucht
verzichten, d.h. dem Drang zur Ausführung offener oder kognitiver Rituale wider-
stehen. Vermeidungsreaktionen und Zwangsrituale werden heute keinesfalls durch
Fremdkontrolle, wie dies anfangs bei Meyer üblich war, sondern nur durch Selbst-
kontrolle beseitigt. Der Patient darf die Situation jederzeit verlassen, soll jedoch
durch den Therapeuten ermutigt werden durchzuhalten, um die auftauchenden Ge-
fühle, Bilder und Gedanken besser wahrnehmen und bewältigen zu lernen.
436 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Idealerweise nimmt der Therapeut zu Beginn an den Konfrontationsübungen teil und


blendet sich im Laufe der Zeit immer mehr aus. Bei einer ambulanten Therapie sind
anfangs 2-3 Sitzungen pro Woche sinnvoll. Weil die belastendsten Zwänge oft im natür-
lichen Lebensraum des Patienten auftreten, wird der Therapiefortschritt beschleunigt,
wenn der Therapeut mit dem Patienten zusammen in seiner realen Umwelt übt (z.B. in
der Wohnung). Der Therapeut widersteht der Tendenz des Patienten nach Rückversi-
cherung und Beruhigung (z.B. „Ist jetzt wirklich alles sauber? Wenn Sie Ja sagen, könn-
te ich sofort aufhören zu putzen“). Beruhigende Worte („Es kann Ihnen dabei gar nichts
passieren“, „Es wird bestimmt kein Unglück geschehen“, „Es ist alles in Ordnung“)
helfen dem Patienten nicht, sich selbst beruhigen zu lernen, und kommen nur dem Absi-
cherungsbedürfnis des Patienten entgegen, andere in die Verantwortung einzubinden,
wenn doch etwas schief gehen sollte. Der Patient wird zu nichts gezwungen.
Die verhaltenstherapeutische Behandlung von Zwängen strebt nach einem genauen,
mit dem Patienten vereinbarten Therapieplan die größtmögliche Konfrontation bei
gleichzeitig völliger Verhinderung von Vermeidung und Neutralisierung an. Jede Neu-
tralisierung, d.h. Ausführung von Zwangsritualen, stellt eine vorzeitige Beendigung der
Konfrontation mit den zwangsauslösenden Reizen dar und verhindert die Erfahrung,
dass Angst und Unruhe erträglich sind (die Anspannung muss nicht ganz weg sein).
Nach ersten Erfolgen führt der Patient die Konfrontationsübungen als Hausaufgaben
eigenständig durch, um die Therapieerfolge zu verbessern und zu stabilisieren.
Die Konfrontationsübungen sollten über einen Zeitraum von mehreren Wochen je-
weils mindestens 2 Stunden lang durchgeführt werden. Wegen der oft nur mangelhaften
Generalisierung der Erfolge in der Bewältigung eines Zwangs auf einen anderen Zwang
ist eine viel längere Konfrontationstherapie nötig als bei Ängsten.
Die symptombezogene Therapie soll möglichst rasch zu konkreten Verbesserungen
der Lebenssituation des Patienten führen. Mehr als eine Reduktion des Leidensdrucks
ist bei Menschen mit schweren Zwangsstörungen realistischerweise oft nicht erreichbar.
Die Erkenntnis der intraindividuellen und interaktionellen Funktionalität von Zwän-
gen bedeutet, dass nicht nur die Technik der Reizkonfrontation mit Reaktionsverhinde-
rung zur Durchbrechung der Zwänge angewendet werden darf, sondern je nach Bedarf
auch auf der partnerschaftlichen, familiären, sozialen und beruflichen Ebene interveniert
werden muss, um positive Entwicklungsprozesse einzuleiten. Das Hauptziel bei
Zwangsstörungen ist nicht einfach nur die Symptombeseitigung, sondern der Aufbau
von sozial adäquatem und effektivem Alternativverhalten.
Menschen mit Zwangsstörungen weisen oft mehr Sozialangst und Unsicherheit auf,
als durch ihr pseudoselbstsicheres Verhalten zu vermuten wäre. Ohne das Mittel der
Zwänge fehlt ihnen oft die soziale Durchsetzungsfähigkeit. Die Betroffenen können die
„Waffe der Zwänge“ gewöhnlich erst dann aufgeben, wenn sie alternative und effizien-
tere Formen der sozialen Durchsetzung entwickelt haben. Die ständige latente Aggres-
sionsbereitschaft stellt häufig nicht nur in den Sozialbeziehungen, sondern auch im
therapeutischen Kontext ein großes Problem dar. Zwänge halten andere Menschen ent-
weder auf Distanz aus Angst vor Nähe oder zwingen diese zur Unterwerfung unter das
Diktat der Zwänge, wenn ständige soziale Spannungen vermieden werden sollen.
Foa und Wilson [68] haben in den USA ein sehr radikales Therapiekonzept bei
Zwängen vorgelegt, das innerhalb eines 3-Wochen-Intensivprogramms einen entschei-
denden Durchbruch und eine wesentliche Symptomlinderung zu erreichen versucht.
Fachleuten wird dieses Programm in dem Buch „Zwangsstörungen bewältigen. Ein
kognitiv-verhaltenstherapeutisches Manual“ von Kozak und Foa vorgestellt.
Zwangsstörung 437

Bei Waschzwängen wird selbst die übliche Hygiene auf ein Mindestmaß einge-
schränkt, um den Kontakt mit Wasser möglichst zu vermeiden (in der ersten Woche
keinerlei Kontakt mit Wasser), das Ausbleiben von Erkrankungen zu erleben und da-
durch Schmutz und Verunreinigung besser und rascher ertragen zu lernen. Das Pro-
gramm umfasst 15 Konfrontationen von jeweils 2 Stunden Dauer in Anwesenheit des
Therapeuten sowie 2-4 Stunden tägliche Hausaufgaben. Die Konfrontation erfolgt zu-
erst jeweils in der Vorstellung, anschließend in der Realität. Im erwähnten Fachbuch
heißt es in Bezug auf Waschzwänge recht autoritär [69]:

z Bis Abschluss der Behandlungssitzungen ist es Ihnen nicht erlaubt, Wasser an den Körper zu las-
sen: kein Händewaschen, kein Abspülen, keine nassen Tücher oder Waschlappen sind erlaubt.
z Der Gebrauch von Cremes und anderen Toilettenartikeln (Badepuder, Deodorant etc.) ist nur dann
erlaubt, wenn das Ihr Gefühl von Verunreinigung nicht verringert.
z Rasieren Sie sich nur noch elektrisch.
z Sie können Wasser zum Trinken oder Zähneputzen benutzen, aber achten Sie darauf, dass Sie es
nicht ins Gesicht oder auf die Hände bekommen.
z Das Duschen soll durch jemanden überwacht werden; es ist nur alle drei Tage und nur jeweils 10
Minuten lang erlaubt, einschließlich Haarewaschen. Rituelles oder wiederholtes Waschen von be-
stimmten Körperregionen (Genitalien, Haare) ist während des Duschens verboten. Die Duschzeit
sollte von Ihrer Bezugsperson registriert werden, aber er oder sie muss Sie nicht direkt beobachten.
z Nur unter außergewöhnlichen Umständen dürfen Ausnahmen von diesen Regeln gemacht werden,
z.B. bei medizinischen Erkrankungen, die eine bestimmte Art der Reinigung notwendig machen.
Besprechen Sie das mit Ihrem Therapeuten.
z Wenn Sie zu Hause den Drang zum Waschen oder Säubern verspüren und befürchten, dass Sie ihm
nicht widerstehen können, sprechen Sie mit Ihrer Bezugsperson und bitten Sie sie, solange bei Ih-
nen zu bleiben, bis der Drang so weit abgesunken ist, dass Sie ihn allein unter Kontrolle halten
können.
z Ihre Bezugsperson soll Verletzungen der Reaktionsverhinderung an Ihren Therapeuten melden. Sie
oder er soll versuchen, solche Regelverletzungen durch feste Ermahnungen zu verhindern, aber
nicht durch körperliche Maßnahmen oder durch Streit. Wasserhähne dürfen von der Bezugsperson
abgedreht werden, wenn Sie das zuvor mit ihr vereinbart haben.

Die Autoren geben eine hohe Wirksamkeit des Therapieprogramms an, bei etwa 20%
komme es jedoch zu einem Rückfall. Etwa 25% der Zwangspatienten verweigern die
Teilnahme an einer derartigen Therapie, was durchaus verständlich ist.
Das Verbot, sich einige Wochen nicht zu duschen, eine Woche nicht die Hände zu
waschen, auch nicht vor dem Essen oder nach der Toilette, entspricht nicht den Sauber-
keitsstandards der westlichen Gesellschaft. Eine derartige Anweisung ist auch therapeu-
tisch sinnlos. Der Patient soll nichts eintrainieren, was er nicht auch nach der Therapie
weiter ausführen kann. Das Ziel einer Konfrontationstherapie bei Zwangsstörungen
besteht darin, die Wasch- und anderen Zwangsrituale auf ein kulturell übliches und das
sonstige Leben nicht einschränkende Ausmaß zu reduzieren.
Der Psychologe Hans Reinecker weist in seinem Buch „Zwänge“ auf ethisch-
normative Aspekte bei derartigen Konfrontationstherapien hin. Der bessere Umgang mit
Schmutz, Staub usw. bei Waschzwängen erfordert wohl, dass sich der Patient mit den
entsprechenden, bisher gemiedenen Gegenständen und Situationen auseinandersetzt, die
Konfrontation muss jedoch keineswegs das Wühlen in Mülltonnen oder einen langen
Aufenthalt in einer stark verschmutzten Autobahntoilette beinhalten. Es reicht, wenn der
Patient mit jenen Situationen konfrontiert wird, deren adäquate Bewältigung die Vor-
aussetzung für eine bessere soziale Integration darstellt. Für die Reaktionsverhinderung
gelten ähnliche Überlegungen.
438 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Eine Konfrontationstherapie bei Zwangsstörungen kann nur dann erfolgreich sein,


wenn folgende Aspekte beachtet werden [70]:
z Aufbau von Therapiemotivation. Zwangspatienten leiden zwar stark unter ihrer Stö-
rung, stehen einer Psychotherapie aber dennoch oft recht ambivalent gegenüber.
Hier drückt sich die allgemeine Schwierigkeit der Betroffenen aus, klare Entschei-
dungen zu treffen, das Wagnis zu etwas Neuem einzugehen, sich vertrauensvoll auf
eine neue Beziehung (zum Therapeuten) einzulassen u.a. Oft spiegelt dies auch die
Demoralisierung und Resignation als Folge verschiedener gescheiterter Behand-
lungsversuche wider. Zwangskranke brauchen lange, bis sie sich zu einer Therapie
im Sinne geplanter Änderungen entscheiden. Drängen vonseiten des Therapeuten
wäre die falsche Lösung, weil der Therapeut gerade dann die weitere Verantwortung
übernimmt und der Patient keine eigenständige Entscheidung trifft. In diesen Fällen
kommt es nicht selten bald zu unnötigen Machtkämpfen, weil sich der Zwangskran-
ke plötzlich fremdgesteuert erlebt. Eine Konfrontationstherapie setzt den freien Ent-
schluss des Patienten voraus und darf nicht durch Drängen oder Überrumpelungs-
techniken eingeleitet werden. Autoritär anmutende Therapieprogramme wie das aus
der Arbeitsgruppe um Foa widersprechen dem Selbstmanagementkonzept.
z Entwicklung einer tragfähigen und vertrauensvollen Therapeut-Patient-Beziehung
ohne gegenseitige Machtausübung, d.h. ohne Versuche, den anderen zu etwas zwin-
gen zu wollen. Eine gute Beziehung zwischen Patient und Therapeut ist für eine
Konfrontationstherapie unbedingte Voraussetzung. Der Therapeut zeigt eine emo-
tional unterstützende Haltung, lobt und verstärkt den Patienten für alle Erfolge und
ermutigt ihn bei Misserfolgen. Verhaltenstherapeuten arbeiten emotional engagiert.
z Vermittlung eines Erklärungsmodells für die Entstehung und Aufrechterhaltung von
Zwangsstörungen, sodass eine Konfrontationstherapie sinnvoll erscheint.
z Erstellung einer detaillierten Verhaltensanalyse auf der individuellen und syste-
misch-interaktionellen Ebene. Symptombezogene Übungen erfolgen erst nach einer
organischen und psychiatrischen Abklärung sowie nach einer genauen Verhaltens-,
Funktions- und Problemanalyse des Patienten und einer Analyse seines privaten und
beruflichen Umfeldes. Zur Diagnostik und Therapie wird so weit als möglich auch
der natürliche Lebensraum des Patienten aufgesucht.
z Entwicklung klarer und spezifischer Therapieziele. Viele Zwangspatienten möchten
alle Zwänge überwinden und sind resigniert, dass sie keine konkreten Veränderun-
gen erleben. Sie haben Schwierigkeiten, sich so kleine Ziele zu setzen, dass deren
Verwirklichung täglich, wöchentlich und monatlich mehr Selbstvertrauen, Zuver-
sicht und Hoffnung bewirkt. Das anfängliche Behandlungsziel besteht in einer Ver-
änderung der emotionalen und kognitiven Reaktionen auf die Zwänge. Dabei erfolgt
eine kognitive Umstrukturierung und Neubewertung der Zwangsgedanken, wodurch
eine stärkere Distanzierung und verbesserte Selbstkontrolle erreicht werden soll.
z Behandlung einer aktuell gegebenen Depression. Eine Konfrontationstherapie sollte
erst nach Beseitigung einer vorhandenen depressiven Symptomatik erfolgen.
z Verzicht auf alle Rituale – auch auf die nicht sichtbaren kognitiven Rituale.
z Betonung von Hausaufgaben. Nach einer ersten und einigermaßen dauerhaften
Durchbrechung verschiedener Zwänge soll der Patient die Konfrontationsübungen
möglichst schnell in Form von Hausaufgaben eigenständig durchführen lernen, um
die Therapieerfolge zu verbessern und zu stabilisieren. Die Konfrontationsübungen
sollten möglichst über einen Zeitraum von mehreren Wochen jeweils mindestens
zwei Stunden lang durchgeführt werden.
Zwangsstörung 439

Zusätzliche Behandlungsmethoden als Ergänzung des Standardprogramms der Reizkon-


frontation mit Reaktionsverhinderung stärken und fördern den Therapieerfolg [71]:
z Vorstellungsübungen (mentales Training). Vorherige Konfrontation in der Vorstel-
lung kann die reale Auseinandersetzung mit den gefürchteten Situationen erleich-
tern, weil das zwangsauslösende Ereignis für bewältigbar gehalten wird.
z Modelllernen. Der Therapeut bietet sich als Modell für die entsprechenden Aufga-
benstellungen an und zeigt Bewältigungsstrategien zum Nachahmen vor (z.B. Kon-
frontation mit Schmutz oder Blut ohne Waschen). Die Möglichkeit zum Modelller-
nen verbessert anfangs die Therapiemotivation. Das Modelllernen muss jedoch im
Laufe der Therapie wieder ausgeschlichen werden, um den unerwünschten Nebenef-
fekt der Beruhigung des Patienten zu vermeiden.
z Kognitive Therapie. Es erfolgt eine detaillierte Analyse und kognitive Umstrukturie-
rung von zwangsfördernden Denkmustern. Die Betroffenen sollen erkennen lernen,
wie sie durch den ständigen Kampf gegen ihre Zwangsgedanken diese erst recht in
den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellen (nach dem Motto „Denke nicht an ei-
nen Eisbären!“), und wie sehr sie durch den unberechtigten Glauben gesteuert sind,
dass die Häufigkeit und Intensität bestimmter Gedanken die Wahrscheinlichkeit er-
höht, diese in Taten umzusetzen (z.B. „Wenn ich öfter daran denke, dass ich mein
Kind töten könnte, werde ich dies irgendwann einmal tatsächlich tun“). Im Mittel-
punkt einer kognitiven Therapie stehen weniger die Zwangsgedanken an sich als
vielmehr deren Bewertung als gefährlich, die erst Angst und Unruhe bewirkt. Als
Ziele gelten die Erarbeitung realistischer Wahrscheinlichkeiten von potenziellen Ge-
fährdungen, die Änderung dysfunktionaler Annahmen (z.B. überhöhte Verantwor-
tung, Schuldbereitschaft) sowie das bessere Ertragen einer unauflöslichen Restunsi-
cherheit. Die Korrektur unrealistischer Zieldefinitionen (z.B. absolute Sicherheit,
kein Restrisiko und kein weiteres Zweifeln) dient auch der Rückfallsprophylaxe.
z Bearbeitung von Schuldgefühlen. Schuldgefühle, die ein Patient durch seine Zwänge
zu bewältigen versucht, können nicht durch eine Konfrontationstherapie überwun-
den werden, sondern nur durch eine Diskussion über die moralischen Standards des
Patienten. Auf diese Weise werden auch normative und weltanschauliche Fragen in
der Therapie angesprochen. Die Aspekte von Schuld und Verantwortung müssen in
der kognitiven Therapie speziell bearbeitet werden (Welche Bedeutung hat es für
den Patienten, wenn seine Befürchtungen tatsächlich eintreten würden?).
z Emotionales Training (Emotionsbewältigung). Zwangspatienten können mit Gefüh-
len nicht adäquat umgehen. Als Auslöser einer Zwangsstörung gelten oft Ereignisse,
die mit starken Gefühlen wie Wut, Angst, Ekel, Trauer, Enttäuschung oder Schmerz
einhergehen. Die Betroffenen erleben eine Gefühlsverwirrung und werden in ihrem
Handeln blockiert. Aufgrund der unzureichenden Wahrnehmung und Verarbeitung
ihrer Gefühle sind sie nicht in der Lage, ihre innere Befindlichkeit anderen Men-
schen zu kommunizieren. Sie versuchen vielmehr, ihre durch die emotionale Ver-
wirrung entstandene innere Bedrohung durch Regulationsversuche der Umwelt, also
durch externale Kontrollen, zu beseitigen. Techniken der emotionalen Aktivierung
können Zugangswege zur häufig blockierten Gefühlswelt eröffnen. Dann wird klar:
Hinter Angst und Unruhe stehen z.B. Ärger, Trauer, Enttäuschung, Hilflosigkeit.
z Kommunikationstraining. Eine Verbesserung des kommunikativen Verhaltens von
Zwangspatienten ist in Anschluss an die innere Gefühlsklärung unbedingt erforder-
lich. Menschen mit Zwangsstörungen müssen ganz allgemein lernen, mit dem Part-
ner und der Familie direkt und nicht über den Zwang zu kommunizieren.
440 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

z Training sozialer Kompetenz (Selbstsicherheitstraining). Zwangskranke können in


der Beziehung zum Partner und zu anderen Menschen mithilfe der Symptome oft
nur „Ich kann nicht“ statt „Ich will nicht“ sagen. Sie müssen lernen, ihre berechtig-
ten Wünsche und Bedürfnisse anders zu erreichen als durch das Mittel der Zwänge.
Die Beseitigung der Zwänge führt in vielen Fällen noch nicht zu einem besseren So-
zialverhalten. Häufig ist der Aufbau neuer Verhaltensmuster erforderlich, insbeson-
dere bei Patienten mit frühem Erkrankungsbeginn und langer Krankheitsdauer. So-
ziale Fertigkeiten waren entweder nie in ausreichendem Maß vorhanden oder sind
durch den sozialen Rückzug infolge der ausufernden Zwänge verloren gegangen.
Bei massiven Wasch- und Kontrollzwängen imponiert auch das Fehlen angemesse-
ner Standards (z.B. für Reinlichkeit, Körperpflege, notwendige Kontrollen usw.), die
im Vergleich mit der sozialen Umwelt erst entwickelt oder wieder entdeckt werden
müssen. Der Entwicklung von Verhaltensweisen, die mit dem Zwang nicht kompa-
tibel sind, kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Neue Verhaltensmuster können
möglicherweise nur bei gleichzeitiger kontinuierlicher Einnahme eines selektiven
Serotonin-Wiederaufnahmehemmers aufgebaut werden, weil bei schweren Störun-
gen oft erst dadurch eine grundsätzliche Handlungsfähigkeit erreicht wird.
z Einbeziehung der Angehörigen (psychopädagogisch orientierte Angehörigenarbeit).
Die Angehörigen werden über die Störung informiert und instruiert, wie sie dem
Zwangskranken helfen können. Sie sollen die Zwänge nicht mehr unterstützen durch
beruhigende Worte oder durch die Übernahme der Rituale des Zwangskranken. Die
Angehörigen geben oft entlastende Antworten auf Rückversicherungsfragen des Be-
troffenen und spielen in gut gemeinter Weise mit den Zwängen des Patienten mit,
indem sie sich z.B. oft ebenfalls ständig waschen, um einen anderenfalls zu erwar-
tenden Streit zu vermeiden. Der Einsatz von Angehörigen als Kotherapeuten ist
durch den Umstand erschwert, dass diese oft selbst psychische Probleme haben, ei-
nen Gewinn aus der Störung des Patienten beziehen oder seit langem in unfruchtbare
Kämpfe mit dem Zwangskranken verstrickt sind.
z Partner- oder Familientherapie. Aktuelle Konflikte werden durch partner- und fa-
milienbezogene Strategien unter Berücksichtigung systemischer Aspekte zu bewäl-
tigen versucht. Eine reine Partnertherapie ist bei Zwangskranken noch weniger aus-
reichend als bei Panikpatienten mit und ohne Agoraphobie.
z Berufsbezogene Interventionen. Zum Erhalt bzw. zur Wiedererlangung der Berufs-
fähigkeit sind oft Hilfestellungen im Bereich der Arbeitswelt erforderlich. Die klini-
sche Erfahrung zeigt, dass verschiedene Zwangspatienten wegen einer Erschöp-
fungsdepression pensioniert wurden und die seit Jahren vorhandene Zwangsstörung
oft gar nicht richtig erkannt und beachtet wurde.
z Aufbau von positiven Aktivitäten und erfüllenden Freizeitinteressen. Der Aufbau von
Alternativverhalten ist sehr wichtig. Bei Wegfall der Zwänge steht viel Zeit zur Ver-
fügung, die sinnvoll genützt werden muss, um die Rückfallsgefahr zu reduzieren.
z Bewältigung von Alkoholmissbrauch. Zahlreiche Menschen mit einer Zwangs-
störung haben durch vermehrten Alkoholkonsum eine Erleichterung der Zwangs-
symptomatik zu erreichen versucht, diese dadurch langfristig jedoch noch verstärkt,
sodass zumindest eine gewisse Zeitlang eine Alkoholkarenz angezeigt ist.
z Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe für Zwangskranke. Die Unterstützung durch
gleichfalls Betroffene kann eine sinnvolle Ergänzung der Einzel-, Partner- und Fa-
milientherapie sein, stellt jedoch keinen Ersatz dafür dar. Eine derartige „Selbsthil-
fegruppe“ funktioniert erfahrungsgemäß nur mithilfe fachmännischer Unterstützung.
Zwangsstörung 441

Süllwold und Herrlich [72] weisen u.a. auf folgende wichtige Therapieaspekte hin:

z „Es geht nicht nur darum, Handlungen zu unterlassen (z.B. Händewaschen vor dem Toilettengang
oder nach einzelnen Teilschritten beim Anziehen, stereotype Wiederholung des Anklammerns beim
Wäscheaufhängen, mehrmaliges Zuschlagen der Tür zur ‚Kontrolle’, daß sie verschlossen ist), son-
dern vor allem um die Möglichkeit, die Selbstkontrolle über das Verhalten wiederzugewinnen. Aus
individuellen Beispielen ist abzuleiten, wie Wahrnehmungen der Relevanz eines Reizes über das
Ingangsetzen von Handlungen entscheiden und deren Beendigung bewirken können. Die Beach-
tung hierfür notwendiger Hinweisreize muß eingeübt werden. Das automatisierte Verhalten soll
wieder durch Einsicht und rationale Kriterien steuerbar und situationsangemessen werden. Bei
Ordnungszwängen z.B. können die individuellen Standards so lange akzeptiert werden, wie sie die-
ser Anpassung dienen.
z Handlungen, die nicht gestoppt werden können oder durch Zählrituale o.ä. begrenzt werden sollen,
müssen zusätzlich durch Lenkung der Aufmerksamkeit auf relevante Stimuli und deren bewußte
Wahrnehmung trainiert werden...
z Es wird eine Schwierigkeitshierarchie sowohl für das Unterlassen von Kontrollen o.ä. als auch für
die Berührung gemiedener (‚kontaminierter’) Objekte erarbeitet. Bereits bewältigte Teilschritte
müssen vom Patienten möglichst täglich wiederholt werden. Entsprechendes gilt bei Patienten mit
Zwangsgedanken für die Aufhebung der Vermeidung.
z Da es prinzipiell um den Ersatz und Neuaufbau von adaptiven Verhaltensweisen an Stelle des
Zwangs geht, sind wir der Auffassung, daß unrealistische Übertreibungen, wie z.B. Forderungen,
der Patient solle Kot anfassen und sich damit beschmieren, auf falschen Konzepten beruhen.
z Das Tempo muss individuell bestimmt werden. Zu langsames Vorgehen kann die Motivation
schwächen, zu rasches Tempo überfordern. Das angemessene Verhalten muß durch Wiederholung
gefestigt werden und benötigt ebenfalls Zeit bis zum Stadium der Routine.
z Die Zieldefinitionen für das neue Verhalten schließen als wesentliche Elemente kognitive Behand-
lungsstrategien ein. Dies gilt u.a. für Erörterungen wie: ‚was ist richtiges Zähneputzen’, ‚wie häufig
putzt eine ordentliche Hausfrau das Bad’ etc. Die Standards werden nicht verordnet, sondern durch
entsprechende Frage- und Gesprächstechniken (z.B. sokratischer Dialog) im Gespräch festgelegt.
Der Rückgriff auf Modelle in der unmittelbaren Umgebung der Patienten hat sich in diesem Zu-
sammenhang bewährt.
z So müssen mit dem Patienten Standards z.B. für ein angemessenes Wasch- oder Kontrollverhalten
vereinbart werden. Der Patient benötigt ein Konzept für das nicht-zwanghafte Verhalten und muß
erneut lernen, auf relevante Merkmale, die z.B. das Ende eines Handlungsvollzuges signalisieren,
zu achten. Aufgrund der für Zwangskranke offenbar charakteristischen Überfokussierung der Auf-
merksamkeit hat es sich bewährt, die Aufmerksamkeitslenkung auf handlungsrelevante Abläufe
durch eine vorübergehende verbale Kodierung der Vorgänge zu erleichtern. Der Einsatz unter-
schiedlicher Sinnesmodalitäten kann die Prägnanz der Wahrnehmung zusätzlich erhöhen.
z Es wird darauf hingewiesen, daß der bewußte, willentlich gesteuerte Ablauf von Routinehandlun-
gen einen Übergang darstellt, bis die neue Gewohnheit ohne große Aufmerksamkeitszuwendung
stabil bleibt. Die ausgehandelten und in Form eines Kontraktes fixierten Standards dienen der
Selbstinstruktion für die Bearbeitung der ‚Hausaufgaben’.
z Wenn irrationale Überzeugungen (z.B. durch das Aussprechen bestimmter Worte oder Zahlen,
impotent zu werden oder durch den Anblick von Knochen oder das Denken an den Tod, verunrei-
nigt zu sein) vorhanden sind, müssen sie therapiebegleitend immer wieder einer Realitätsprüfung
unterzogen und ad absurdum geführt werden. Durch Fragetechniken kann dem Patienten ermög-
licht werden, Inkonsistenzen seiner Überzeugungen zu erkennen, Alternativhypothesen zu entwik-
keln und einer Selbstüberprüfung zu unterziehen...
z Notwendige Ergänzungen der Zwangsbehandlung sind häufig ein therapiebegleitender Ausbau
allgemeiner Aktivitäten, das Anregen von Interessen sowie die Normalisierung sozialer Beziehun-
gen. Hierbei kommen alle verhaltenstherapeutischen Methoden zur Anwendung, die sich bewährt
haben.
z Bei Zwangsvorstellungen ohne Handlungsteil hat es sich nach unserer Erfahrung bewährt, neben
der einleitend beschriebenen kognitiven Strategie der Etikettierung, Neubewertung und Distanzie-
rung von den Zwangsgedanken, die Methode der Sättigung anzuwenden. Der Patient wird aufge-
fordert, mit dem Vorspann: ‚Meine Zwangsvorstellung lautet...’ diese so lange zu verbalisieren, bis
442 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

das Aussprechen kaum mehr gelingt und ein Gefühl des Überdrusses aufkommt. Solche Sitzungen
können Stunden in Anspruch nehmen, der Therapeut muß anwesend sein, um darauf zu achten, daß
der Patient die Zwangsvorstellung bewußt und konzentriert wiederholt... Entgegen der in der Lite-
ratur immer wieder zu findenden Kritik, haben wir in Einzelfällen auch mit dem gezielten Einsatz
von Ablenkungstechniken (z.B. auf Umgebungsreize) und Entspannung beim Auftreten der
Zwangsvorstellung Fortschritte erzielt...
z Wir legen viel Wert auf die genaue Festlegung der Standards für das adaptive Verhalten sowie die
veränderten Bewertungskriterien beim Auftreten von Zwangsvorstellungen, da wir darin einen we-
sentlichen Faktor für die Rückfallsprophylaxe sehen.“

Das Hamburger Behandlungskonzept von Hand

Hand [73] unternahm eine Modifikation und Erweiterung der Konfrontationstherapie,


indem er diese mit kognitiven und systemischen Konzepten sowie mit einem radikalen
Selbstkontrollansatz verband. Zwänge haben intraindividuelle Funktionen (Angst- und
Spannungsreduktion) und interindividuelle Funktionen (Beziehungsregulierung). Dort,
wo Zwänge gezielt als Mittel der Beziehungssteuerung eingesetzt werden, entweder
weil der Klient keine andere Form der Durchsetzungsfähigkeit hat oder sein Partner ihm
überhaupt keine Autonomie zubilligt, ist der Versuch der Durchbrechung der Zwänge
wenig Erfolg versprechend. Bei sozialen Defiziten ist die Entwicklung sozialer Fertig-
keiten sowie besserer partnerschaftlicher bzw. familiärer Beziehungsmuster neben der
Konfrontationstherapie unabdingbar. Zwangskranke mit ihrer großen Angst vor Nähe
und ihrem interpersonellen Misstrauen, ständig abgewertet zu werden, müssen auch
lernen, zwischenmenschliche Nähe und eine gefühlsbetonte Beziehung zu ertragen.
Wenn Zwänge bestimmte Schutzfunktionen aufweisen oder mit einer bestimmten
Persönlichkeitsstruktur verbunden sind, können nach einer genauen Analyse des gesam-
ten Bedingungsgefüges durch symptombezogene Interventionen doch stabile Besserun-
gen der Lebensbedingungen erreicht werden, wenn die Grundstörung aus irgendwelchen
Gründen nicht therapierbar sein sollte (z.B. weil der Patient einen Teil seiner Zwänge
noch braucht, um nicht zu dekompensieren). Hand entwickelte aufgrund der ständigen
latenten Aggressionsbereitschaft und der Machtkampf-Neigung von Zwangspatienten,
der letztlich ein großes Bedürfnis nach Autonomie zugrunde liegt, einen bestimmten
partnerschaftlichen Interaktionsstil während der Konfrontationstherapie:
z Die Therapie beginnt erst dann, wenn der Patient sein klares Einverständnis dafür
gibt, die Zwänge zu durchbrechen, mit der Bereitschaft zu allen möglichen Risiken.
Dies bedeutet, dass der Patient die volle Verantwortung für die in seinen Folgen
nicht vorhersehbare Veränderung übernimmt. Jedes Drängen zum vermeintlichen
Wohl des Zwangspatienten rächt sich bald und führt zu dessen Widerstand.
z Der Patient kann während der Reizkonfrontation jederzeit damit aufhören und zu
seinen Ritualen zurückkehren. Vorher jedoch erfolgen eine nochmalige Überprüfung
seiner Entscheidung und eine Diskussion über die Konsequenzen. Der Therapeut in-
formiert den Patienten vorher über alle geplanten Schritte und unternimmt nichts
ohne sein Einverständnis. Dies gibt dem Patienten Sicherheit und das Gefühl der
Autonomie trotz seines Bedürfnisses nach Hilfestellung.
z Im Gegensatz zu früheren Behandlungsansätzen erfolgt zu Beginn keinerlei Fremd-
kontrolle, es besteht vielmehr ein strikter Selbstkontrollansatz, um jeden Macht-
kampf mit dem Patienten zu vermeiden. Der Therapeut ist nur als Experte, Berater
und Diskussionspartner anwesend. Dies reduziert die Abbruchquote beträchtlich.
Zwangsstörung 443

In der Hamburger Verhaltenstherapie-Ambulanz [74] erfolgt keine „Exposition mit


Reaktionsverhinderung“, sondern eine „Exposition mit Reaktions-Management“. Dabei
besteht das Ziel, den Patienten zu einer maximalen Konfrontation mit den Angst ma-
chenden Reizen zu ermutigen und ihm zu helfen, auftretende Reaktionen (mit Ausnah-
me der motorischen Meidungsreaktion) nicht zu unterbinden, sondern voll zuzulassen
und deren Bewältigung zu erlernen, egal ob es sich dabei um unangenehme körperliche
Zustände, schwer aushaltbare Gefühle oder Angst machende bzw. beunruhigende Ge-
danken handelt. Die Konfrontation erfolgt (wenn möglich) im Therapieraum sowie
(idealerweise) im realen Lebensumfeld des Patienten.
Die klassische Behandlungstechnik wird von Hand [75] nicht nur als Mittel der
Symptomreduktion gesehen, sondern kann auch der Erreichung anderer Ziele dienen:
1. Die Konfrontation mit den zwangsauslösenden Reizen lässt den Patienten bisher
gemiedene Emotionen und Kognitionen erleben bzw. überhaupt erst entdecken.
Während er bisher bei einer Konfrontation mit bestimmten Situationen vielleicht
Ängste befürchtete, kann er nun tatsächlich Ärger, Wut, Schuldgefühle, Trauer, De-
pression, innere Leere oder aus dem Bewusstsein bislang verdrängte traumatische
Erlebnisse wahrnehmen bzw. wiedererinnern. Diese erhöhte Selbstexploration er-
weitert die Bedingungs- und Funktionsanalyse.
2. Eine effiziente Konfrontationstherapie mit der Folge einer Symptomreduktion be-
ruht auf der besseren Bewältigungsfähigkeit der auftretenden Kognitionen und Emo-
tionen. Die Konfrontation mit den zwangsauslösenden externen Reizen und Situa-
tionen führt zur Konfrontation mit den internen physiologischen, kognitiven und
emotionalen Zuständen, die sonst vermieden werden, und die es zu bewältigen gilt.
Der Patient lernt, dass letztlich nicht der ursprüngliche, äußere Auslösereiz (der
„verschmutzte“ Gegenstand u.a.), sondern die durch diesen ausgelöste Reaktion (in-
tensive Unruhe, Anspannung, psychovegetative Missempfindungen, dysfunktionale
Kognitionen), die zu Zwangshandlungen führen würde, zu bewältigen ist.
3. Wenn die Durchführung der Reizkonfrontation in interaktionell geeigneter Weise
erfolgt, verbessert dies auch die Therapeut-Patient-Beziehung. Das Vertrauen in den
Therapeuten kann durch die gemeinsamen Erfahrungen während der symptomzen-
trierten Therapiephase derart zunehmen, dass der Patient bisher bewusst verschwie-
gene oder bisher unbewusste, selbst nicht wahrgenommene Sachverhalte ansprechen
kann. Häufig werden zu Beginn der Therapie latente oder offene Partnerkonflikte
bzw. Symptome des Partners nicht mitgeteilt.

Hand regt die Entwicklung und Evaluierung von Therapeutenmanualen an, die neben
individualpsychologischen und symptomtechnischen Aspekten auch den systemischen
Aspekten von Zwangsstörungen durch entsprechende Strategien gerecht werden.
In Hamburg und anderen Orten werden auch Gruppentherapien für Zwangskranke
und deren Angehörige angeboten sowie Selbsthilfegruppen gefördert [76]. Reine
Selbsthilfegruppen wie bei anderen Störungen sind bei Zwangskranken unzureichend.
Viele Menschen mit Zwangsstörung haben aufgrund früher sozialer Defizite und Ängste
große Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Kontakt. Der Gruppenzusammenhalt
und die Verbesserung der sozialen Kontaktfähigkeit der einzelnen Teilnehmer muss
anfangs durch gezielte therapeutische Hilfestellungen gefördert werden. In diesem Sinn
hat es sich nach wissenschaftlichen Untersuchungen bewährt, die Effizienz von Selbst-
hilfegruppen bei Zwangsstörungen durch die Vorschaltung einer expertenangeleiteten
Gruppe über einen längeren Zeitraum zu erhöhen.
444 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Das Berliner Behandlungskonzept von Hoffmann und Hofmann

Die Berliner Experten Nicolas Hoffmann und Birgit Hofmann vermitteln in ihrem Buch
„Expositionen bei Ängsten und Zwängen. Ein Praxishandbuch“ ein umfassendes und
fundiertes kognitiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungskonzept von Zwangsstörun-
gen, das aus einem sehr differenzierten Verständnis der verschiedenen Zwänge resul-
tiert. Dabei legen die Autoren in kritischer Auseinandersetzung mit kognitiven Verhal-
tenstherapeuten wie Salkovskis Wert auf den Nachweis, dass schwere Zwangsstörungen
qualitativ völlig andere Zustände sind als nur der Endpunkt auf einem Kontinuum von
„genau – übergenau – zwangskrank“ und mehr sind als nur eine falsche und damit
Angst machende Bewertung bestimmter „intrusiver“ (aufdringlicher ) Gedanken. Die
Autoren weisen auf die zentrale Bedeutung bestimmter Aspekte hin, und zwar auf
z eine fundamentale Konfusion und Blockierung der Gefühle,
z ein quälendes Unvollständigkeitsgefühl (als passend Wahrgenommenes wird vom
Gefühl und von der Vernunft nicht so erlebt),
z ein ständiges Schuldgefühl ohne konkrete Auslöser,
z ein uneinfühlbares permanentes Bedrohungsgefühl,
z eine Unfähigkeit, die Zwänge aufgrund fehlender Beurteilungskriterien für „sauber“,
„ungefährlich“, „ordentlich“ usw. zu beenden,
z ein massives Unsicherheitsgefühl (bei Kontrollzwängen),
z ein starkes Ekelgefühl in Verbindung mit „Reinheit“ und nicht so sehr ein Reinlich-
keitsbedürfnis im Sinne von Sauberkeit (bei Wasch- und Reinigungszwängen),
z ein andauerndes externales Regulationsbedürfnis im Sinne äußerer Sicherheit und
Stabilität zur Kompensation einer großen inneren Unsicherheit, Haltlosigkeit und
chaotischen Erlebniswelt,
z eine Verschiebung der wahren und zentralen Probleme des Lebens von der Haupt-
bühne auf den Nebenschauplatz der Zwänge, wo diese verzerrt, übertrieben und
klamottenhaft nachgespielt werden,
z eine sekundäre Rationalisierung der Zwänge im Sinne gesellschaftlich erwünschter
Verhaltensweisen wie Sauberkeit und Ordentlichkeit (nur in bestimmten Bereichen),
z eine gestörte, oft schwer defizitäre Ich-Struktur.

Ähnlich wie bei Hand werden von Hoffmann und Hofmann im Rahmen einer Verhal-
tensanalyse die intraindividuellen und interpersonellen Funktionalitäten von Zwangsstö-
rungen herausgearbeitet, ohne die die verschiedenen Zwänge weder umfassend verstan-
den noch therapiert werden können. Als allgemeine Therapieziele gelten:
z „Subjektkonstituierung“, d.h. der Patient als Handelnder und nicht als Getriebener,
z eine zunehmende Distanz zu den Inhalten der Zwänge,
z eine Stärkung der Ich-Funktionen und eine Etablierung des eigenen Ichs als zentrale
Steuerungsinstanz,
z eine Fokussierung auf die normalen zentralen Bereiche des persönlichen Lebens,
z ein fundierter, organisch ablaufender und zum Ziel führender Handlungsanlauf an-
stelle des verwaschenen und zwanghaft pseudostrukturierten Verhaltens,
z eine Neuetablierung zentraler Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenle-
bens in einer durch die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Werte strukturierten Welt,
z eine Problemlösung auf der realen und nicht auf der symbolisch-magischen Ebene,
z eine Gefühlsdifferenzierung in Bezug auf die relevanten Sachverhalte statt der bis-
herigen Konfusion der Gefühle.
Zwangsstörung 445

Bei Kontrollzwängen wird die imaginative Konfrontation mit Katastrophen, wie dies
etwa von Foa empfohlen wird, als nicht zielführend abgelehnt. Es könne niemals zu
einer Gewöhnung an Katastrophen durch permanente Konfrontation kommen, weil stark
Angst machende Vorstellungen nicht einfach durch In-sensu-Konfrontation habituieren
und daher auf diese Weise auch nicht gelöscht werden können. Die Autoren stellen
nicht die Arbeit an den Katastrophenängsten und die Unterbindung von Kontrollen in
der Vordergrund der Therapie, sondern vielmehr die Entwicklung der Fähigkeit einer
„normalen“ Kontrolle. Zwangskranke sollen – wie andere Menschen auch – bei Bedarf
ein einziges Mal kontrollieren ohne weitere Kontrollen. Es geht bei Kontrollzwängen
nicht nur um eine Verminderung von Angst, Unsicherheit und mangelnder Ich-Stärke,
sondern vielmehr auch um die aktive Etablierung eines neuen Realitätsbezugs, wo das
eigene gesunde Ich die Umwelt gemäß seinen Überzeugungen, Werten, Bedürfnissen,
Gefühlen und Gedanken steuert, anstatt weiterhin der ständigen Diktatur des Fremdsy-
stems des Zwangs zu unterliegen.
Im Rahmen der Therapie werden konkrete Beurteilungskriterien erarbeitet für jene
Objekte, die „normal“ kontrolliert werden sollen, denn ohne vorherige klare Kriterien
würden die Betroffenen nach einer eventuell einmaligen (zugelassenen) Kontrolle stän-
dig weiter kontrollieren. Dabei lernen die Zwangskranken aktiv und energisch zu han-
deln anstelle des bisher ängstlich-zauderhaften Verhaltens, um das „Klebenbleiben“ an
einem Objekt wie etwa dem Ofen zu verhindern.
Die Erreichung der nötigen hohen mentalen Spannkraft wird durch eine Art „Selbst-
instruktionstraining“ garantiert. Dabei verbalisiert der Patient sein Vorhaben zielorien-
tiert, indem er etwa innerlich zu sich sagt: „Ich stehe jetzt vor der Küchentür, spüre
meinen Körper, stehe sicher da, gehe jetzt in die Küche hinein, stelle mich vor den Ofen
hin und kontrolliere diesen mit einem Blick. Wenn alles passt, lasse ich ihn, wenn nicht,
werde ich ein einziges Mal kontrollieren.“ Danach erfolgt vor dem Ofen die entschlos-
sene Umsetzung dieser Absichtserklärung. Bei jeder Teilkontrolle stellt der Patient klar
und deutlich fest: „Der Ofen ist in Ordnung.“ Abschließend bestätigt er sich alles noch-
mals aufgrund der vorher etablierten Beurteilungskriterien und verlässt den Ort der
Handlung. Die Bestärkung der klaren und eindeutigen Handlungsabsicht und die Ent-
wicklung eines präzisen, organischen Handlungsablaufs sind von zentraler Bedeutung.
Die Betroffenen müssen die anschließend oft auftretende Restspannung durch ein
gezieltes Training besser aushalten lernen und dürfen diese nicht als Beweis für Fehler
und Unordentlichkeit werten. Bei schwer gestörten Kontrollzwangpatienten ist dabei
eine Unterstützung vonseiten des Therapeuten erforderlich, d.h. bei diesen Patienten
sind Hausbesuche und Telefonkontakte unumgänglich notwendig. Zur Vermeidung
unnötiger Misserfolge wird der Patient nicht überfordert und in seiner erhöhten An-
spannungshaltung nicht verstärkt, vielmehr wird die sukzessive und regelmäßige (tägli-
che) Arbeit gefördert. Bei entsprechender Zeitkapazität des Therapeuten werden in den
ersten Wochen sogar fast tägliche Treffen in der Wohnung des Patienten als ideal ange-
sehen, zusätzlich unterstützt durch Telefonate mit dem Therapeuten zum Zeitpunkt der
Übung des Patienten allein zu Hause. Dem richtigen Kontrollverhalten dient auch ein
vorheriges mentales Training („mentale Probe“), bei dem das richtige Verhalten imagi-
nativ eingeübt wird (In-sensu-Übungen). Die Anleitung der Angehörigen zum richtigen
Umgang mit ihrem zwangskranken Familienmitglied ist ebenfalls von großer Bedeu-
tung, damit sich diese sukzessive von dessen zwanghaften Absicherungstendenzen
distanzieren lernen. Nach der symptombezogenen Therapie erfolgt die Bearbeitung der
intrapsychischen und interpersonellen Funktionalitäten.
446 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Wasch- und Reinigungszwänge (Berührungsvermeidungszwänge), die durch den


Kontakt mit bestimmten Substanzen ausgelöst werden, haben nach Hoffmann und Hof-
mann im Gegensatz zur allgemeinen Meinung nicht primär mit Verseuchungsängsten zu
tun, sondern vielmehr mit massiven Ekelgefühlen. Die Betroffenen würden jedoch selbst
gerne Krankheitsängste als Begründung für ihr Verhalten anführen, was nur eine sekun-
däre Rationalisierung darstelle. Die verschiedenen Wasch- und Reinigungszwänge, die
ihre tiefere Ursache u.a. in einer starken Konfusion und Unterdrückung der Gefühle
sowie in einem ständigen Unvollständigkeits- und Unsicherheitsgefühl haben, stellen
einen Versuch dar, das innere Unwohlsein durch ein äußeres Wohlbefinden in Form von
Sauberkeit und Reinlichkeit zu kompensieren.
Die Autoren betonen den Aspekt der Reinheit, Unversehrtheit und Unbeflecktheit im
Gegensatz zum unerträglichen Ekelgefühl, halten nichts von einer Konzentration auf
vermeintliche Katastrophenfantasien des Patienten und stellen daher die Bearbeitung
der Ekelgefühle und der damit einhergehenden Beziehungsprobleme (andere Menschen
als Überträger der ekeligen Substanzen) in den Mittelpunkt der Behandlung. Dabei
werden auch die anderen mit der Störung zusammenhängenden Gefühle, die von den
Patienten nicht differenziert wahrgenommen werden können, sowie die vorhandenen
Beziehungsprobleme herausgearbeitet und anschließend bewältigen gelernt.
In der Phase der symptombezogenen Therapie erfolgt über eine Expositionstherapie
die Konfrontation mit den Ekel erregenden Substanzen ohne Vermeidungstendenzen,
d.h. die entsprechenden Substanzen, „verseuchten“ Gegenstände und Menschen als
Überträger werden ohne Vermeidungsreaktionen so lange berührt, bis das Ekelgefühl
erträglich wird. Vor der Konfrontation erfolgt eine genaue Absprache über den geplan-
ten Handlungsablauf, d.h. wie und wie lange welche Substanzen und Objekte berührt
werden und welche anderen Tätigkeiten (z.B. Essen zubereiten, andere Menschen be-
rühren, die Wohnung verlassen) anschließend nach einem vorher genau vereinbarten
und auch gut eingeübten Wasch- und Reinigungsvorgang ausgeführt werden. Die Kon-
frontation soll dabei in angemessenem Tempo ohne Überhastung durchgeführt werden.
Die Betroffenen werden bei der Expositionstherapie zu nichts gezwungen (auch
Vermeiden ist erlaubt), sondern nach dem Modell der Subjektkonstituierung angehalten,
entsprechend ihren Möglichkeiten in kleinen Schritten vorzugehen. Es geht um eine
neue Beziehung zur realen Umwelt, die nicht mehr wie früher dadurch definiert ist, dass
das Gute in der Person und das Böse (in Form ekeliger Substanzen) in der Außenwelt
vorhanden ist. Die Betroffenen werden dabei auch angeleitet, in Form eines „Gesprä-
ches“ mit dem Zwang herauszufinden, was der Zwang ihnen eigentlich mitteilen will.
Bei den Konfrontationsübungen machen die Betroffenen die Erfahrung, dass ihre
Ekelgefühle erträglich sind und „dahinter“ noch andere Gefühle stehen, z.B. Wut, Ärger
oder Enttäuschung über den Partner oder einen Elternteil, den man bislang nicht berüh-
ren konnte. Oft ist erst über die hochgradige emotionale Aktivierung im Rahmen der
Konfrontationstherapie eine biografische Einordnung der bislang verdrängten Affekte
möglich. Danach erfolgt eine Beziehungsklärung und Abgrenzung im Sinne eines an-
gemessenen Nähe-Distanz-Verhältnisses zu bestimmten Personen der sozialen Umwelt,
die nicht mehr über externalisierte Ekelgefühle mit der Begründung, dass sie Ekel erre-
gende Substanzen auf der Haut oder Kleidung haben, vom eigenen sonst ebenfalls Ekel
erregenden Körper ferngehalten werden. Die Auseinandersetzung mit dem, worum es
wirklich geht, nämlich mit bestimmten Gefühlen und Beziehungsthemen, wird bei vie-
len Menschen mit hartnäckigen Wasch- und Reinigungszwängen leider erst über eine
derartige, oft langwierige Expositionstherapie möglich.
Zwangsstörung 447

Zwangsgedanken
Zwangsstörungen ohne sichtbare Zwangsrituale stellten bis vor kurzem eine schwer
behandelbare Art von Zwängen dar, weil Vermeidung und Neutralisierung nicht sicht-
bar ablaufen und eine offene Konfrontation mit Unterlassung der kognitiven Zwangs-
rituale schwer durchführbar und hinsichtlich seines Effekts nicht klar überprüfbar ist.
Die Kombination von Reizkonfrontation und Reaktionsverhinderung wurde erfolg-
reich auf die Behandlung von Zwangsgedanken und Gedankenzwänge übertragen [77]:
z Massierte Konfrontation in der Vorstellung, d.h. Zu-Ende-Denken der Zwangsge-
danken, die durch Denkzwänge zu neutralisieren versucht werden, sobald sie auftre-
ten. Die Betroffenen lernen, sich die fürchterlichsten Konsequenzen auszumalen und
ohne gedankliche Vermeidungsreaktionen auszuhalten. Vorstellungsübungen kön-
nen auch das Streben nach 100%iger Sicherheit problematisieren.
z Regelmäßiges Protokollieren der Gedankenzwänge als Form der Konfrontation. Alle
Zwangsgedanken werden möglichst sofort nach dem Auftreten in einem Tagebuch
festgehalten und ohne Vermeidung zugelassen und ertragen.
z Anlegen von Tonbandschleifen. Die Zwangsgedanken werden in ihrer ärgsten Form
30-60 Sekunden lang auf ein Endlosband gesprochen (z.B. „Ich könnte meine kleine
Tochter mit dem Küchenmesser töten, anschließend ins Gefängnis kommen und we-
gen meiner Gefährlichkeit nie mehr bei meiner Familie wohnen“). Die Endloskasset-
te wird über einen mehrwöchigen Zeitraum täglich an zwei verschiedenen Zeitpunk-
ten für einen längeren Zeitraum (z.B. eine Stunde) ohne Ablenkungsversuche ange-
hört. Auf dem Tonband dürfen keine neutralisierenden Gedanken enthalten sein, so-
dass das Prinzip der Konfrontation mit Reaktionsverhinderung gewahrt bleibt.
Durch diese Form der Konfrontation erfolgt im Laufe der Zeit eine bessere Toleranz
der Zwangsgedanken ohne stets neue emotionale und körperliche Beunruhigung.
z Paradoxe Intervention (Symptomverschreibung). Verschreibung der Gedanken-
zwänge in Form ritualisierter Beschäftigung damit (z.B. alle 30 Minuten 5 Minuten
lang alles aufschreiben, bis dies in einer Gegenreaktion zu mühsam erscheint). Diese
Strategie ist nur bei einer guten Therapeut-Patient-Beziehung akzeptabel.
z Achtsamkeitstherapie. Zwangsgedanken werden registriert und ohne Beurteilung
zugelassen. Stellen Sie sich vor, wie Ihre Zwangsgedanken an Ihnen vorbeiziehen
wie die Wolken am Himmel und wie die Umwelt beim Autofahren.
z Kognitive Therapie. Das Hauptproblem stellt nicht der Zwangsgedanke an sich dar,
sondern die nachfolgende negative Bewertung, die eine Aufmerksamkeitsfixierung
darauf bewirkt. Zwanghafte Gedanken, Impulse und Bilder erfahren durch kognitive
Strategien eine andere Bewertung und damit auch eine andere Bedeutung, sodass sie
weniger bedrohlich wirken. Wichtig sind auch der Abbau des erhöhten Verantwor-
tungsgefühls und das bessere Ertragen von Unsicherheit.
z Zwangsgedanken konkretisieren und in autobiografischem Kontext sehen. Nach
Hoffmann und Hofmann sollen die Betroffenen ihre Zwangsgedanken ganz konkret
identifizieren (diese sind oft sehr abstrakt und diffus), in ihrer Bedeutung einordnen
(„Das ist nur ein Zwangsgedanke“), dann aus dem Gedanken aussteigen lernen (oh-
ne sich von den auftretenden starken Emotionen abzulenken, sondern zu lernen, die-
se zu ertragen) und erst danach den Zwangsgedanken abschließen durch Umlenkung
der Aufmerksamkeit auf andere Dinge. Über die Konfrontation mit den Zwangsge-
danken sollen die Patienten auch die Erkenntnis gewinnen, dass diese mit ihren
komplexen und schwierigen Sozialbeziehungen zusammenhängen.
448 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Posttraumatische Belastungsstörung
Die Psychotherapie bei Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen wird seit
Judith Hermann in drei Phasen eingeteilt, die sich teilweise überlappen [78]:
1. Stabilisierung (Sicherheit). Ein Trauma bewirkt ein Gefühl der Ohnmacht, des Kon-
trollverlusts und oft auch der realen Angst vor weiterer Bedrohung. Psychotherapeu-
ten müssen anfangs die Betroffenen darin unterstützen, Lebensbedingungen herzu-
stellen, die ein Gefühl der Sicherheit und der Kontrolle über ihr Leben vermitteln.
Bereits bei einfachen, noch viel mehr aber bei komplexen posttraumatischen Bela-
stungsstörungen ist der Aufbau einer guten und vertrauensvollen Therapeut-Patient-
Beziehung noch wichtiger als bei anderen Angstpatienten, die oft weniger massive
Bindungsstörungen erlebt haben. Nur im Rahmen eines sicheren und verlässlichen
Arbeitsbündnisses können die Betroffenen ihre bedrohlichen Erfahrungen mitteilen,
emotional verarbeiten und kognitiv neu bewerten lernen. Vorschnelle Erforschungen
und zu frühe plastische Schilderungen der traumatischen Ereignisse können zu einer
Retraumatisierung, d.h. zu einer Wiederholung des Traumas, führen. Ein unkontrol-
lierbarer Durchbruch von Emotionen ist zu vermeiden, weil dadurch weitere Ängste
sowie auch suizidale Reaktionen ausgelöst werden können. Bei Überflutung durch
bedrängende Vorstellungen und Gefühle ist eine stärkere Beruhigung und emotiona-
le Unterstützung der Patienten sowie eine größere Strukturierung der Therapiesitua-
tion erforderlich. Konfrontative Strategien (z.B. Reizüberflutung in der Vorstellung)
zur Aufhebung von Meidung und Abspaltung (Dissoziation) sind oft erst nach län-
gerer Therapie und Entwicklung einer tragfähigen Beziehung angezeigt.
2. Traumabearbeitung (Konfrontation, Wiedererinnern, Trauern). In der zweiten Phase
erfolgt eine Rekonstruktion der traumatischen Erinnerungen mit dem Ziel einer bes-
seren Integration in die Lebensgeschichte des Betroffenen. Bei einer stärkeren Läh-
mung, Abspaltung und Vermeidung von Gefühlen ist eine Intensivierung des emo-
tionalen Erlebens sowie des Gefühlsausdrucks angebracht. Bei einer unbewältigbar
erscheinenden Überflutung durch die traumatischen Ereignisse muss die Erfahrung
der erträglichen, wenngleich belastenden Vergegenwärtigung der traumatischen Er-
eignisse im Rahmen einer schützenden Therapiebeziehung gemacht werden.
Schließlich muss die zumeist verdrängte tiefe Trauer über die schweren Verluste an
Lebensqualität, Gesundheit, materiellen und ideellen Werten usw. zugelassen und
durchlebt werden, die mit einem Trauma stets verbunden sind. Mithilfe der Konfron-
tation in der Vorstellung wird das traumatische Erlebnis besser bewältigbar, die Pro-
bleme und Defizite des Patienten im Rahmen seiner Persönlichkeit, Familie, Sozial-
beziehungen und Berufssituation werden dadurch jedoch nicht verändert.
3. Rehabilitation und Reintegration (Wiederanknüpfen). Nach der Bewältigung der
traumatischen Vergangenheit erfolgen die Wiederherstellung der Verbindungen zum
normalen Leben und die Entwicklung neuer Verhaltensmuster, um eine befriedigen-
de Gegenwart und hoffnungsvolle Zukunft zu ermöglichen. Die Verbesserung der
Beziehung zu sich selbst und zur sozialen Umwelt ist dabei von entscheidender Be-
deutung. Viele Betroffene müssen erst lernen, ihre Wünsche, Neigungen, Ziele und
körperlichen Bedürfnisse zu entdecken und neue soziale Beziehungen einzugehen in
der Gewissheit, dass sie liebenswert sind, verbunden mit der Zuversicht, dass sie un-
terscheiden können, wem sie vertrauen können und wem nicht. Wichtig ist die Er-
fahrung von Kontrolle, Selbstbestimmung, Vorhersagbarkeit und Beeinflussbarkeit
sozialer Beziehungen.
Posttraumatische Belastungsstörung 449

Pieper und Bengel [79] beschreiben detailliert ihre siebenstufige kognitiv-behaviorale


Therapie bei einer einfachen posttraumatischen Belastungsstörung (Monotrauma):
1. Exploration, Diagnostik und Stabilisierung: Diagnosestellung, Beziehungsaufbau.
2. Vermittlung des Therapierationals: Informationen stärken die Therapiemotivation.
3. Kontrollierte Traumaexposition: detaillierter Überblick über das Traumaerlebnis auf
der Fakten-, Symptom-, Verhaltens- und Bewertungsebene, anschließend Rollen-
wechsel (der Therapeut fasst das Trauma aus seiner Sicht zusammen) sowie Erfas-
sung des Schlimmsten beim Trauma (individuelle Bedeutung des Traumas).
4. Exposition in sensu: imaginative Konfrontation anhand eines „Traumadrehbuches“.
5. EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing Therapy): Zusatzelement.
6. Exposition in vivo: zur Beseitigung des ausgeprägten Vermeidungsverhaltens.
7. Nachbesprechung, Traumaintegration und Follow-up (bei Bedarf auch Einbeziehung
weiterer Therapiebausteine zur Bearbeitung einer eventuellen Restsymptomatik).

Die Verhaltenstherapie traumatischer Erfahrungen umfasst drei zentrale Strategien:


z Aktivierung der Angsterfahrung (Konfrontationstherapie). Die beste Möglichkeit zur
Verarbeitung unbewältigter Erfahrungen besteht in der direkten Auseinandersetzung
mit dem Trauma, wodurch die abgespaltenen bzw. bislang nicht bewältigbar er-
scheinenden Erinnerungen an das Trauma mithilfe bestimmter Techniken aktiviert
werden, und zwar mit dem Ziel der Integration in die Persönlichkeit der Betroffenen,
sodass diese wieder die Kontrolle darüber gewinnen. Ohne Aktivierung der trauma-
tischen Ereignisse, der damit verbundenen körperlichen, emotionalen und kognitiven
Zustände und der relevanten Gedächtnisstrukturen gelingt keine vollständige Neuor-
ganisation der traumatischen Erfahrungen. Die bisherigen Problemlösungsversuche
durch mentale Vermeidungsstrategien wie Dissoziation, Vergessen und Verdrängen
der aufkommenden Erinnerungen kosten viel Energie und sind wenig wirksam. Bei
starkem Vermeidungsverhalten ist eine Konfrontation mit den Angst machenden
Reizen in der Vorstellung und/oder in der Realität erforderlich, um die Furchtstruk-
tur zu aktivieren und durch neue Erfahrungen und Sichtweisen zu modifizieren.
z Kognitive Therapie. Zur ursprünglichen Angsterfahrung werden neue kognitive und
emotionale Elemente hinzugefügt, die mit dieser unvereinbar sind, sodass eine neue
Erinnerung und Erfahrung entsteht, die die Betroffenen weniger ohnmächtig und
ausgeliefert erscheinen lässt. Die Neuinterpretation der traumatischen Erfahrung
dient der Wiederherstellung von Würde, Selbstvertrauen und Selbstkontrolle des Pa-
tienten. Allein ein Blick zurück unter Vergegenwärtigung der momentanen Ressour-
cen und Fähigkeiten verändert bereits das Bild von ständiger Schwäche und Hilflo-
sigkeit der Person. Die chronische Überaktivität der Stammhirnzentren wird durch
kortikale Kontrollstrategien bewältigt. Kognitionspsychologisch gesehen werden die
nichtsprachlich symbolisierten Erinnerungen durch die Symbolisierung auf der
sprachlichen Ebene dem Bewusstsein zugänglich gemacht. Die daraus resultierende
massive Erregung wird in der entängstigenden Therapiesituation als kontrollierbar
erlebt. Eine reine Konfrontationstherapie ist vor allem dann unzureichend und durch
kognitive Strategien zu ergänzen, wenn sich die Betroffenen während des Traumas
aufgegeben haben bzw. von Wut oder anhaltenden Schuldgefühlen geplagt werden.
z Angstbewältigungstraining. Wenn der Lebensalltag der Betroffenen von ständiger
Unruhe und Angst beherrscht wird, besteht oft nicht die Notwendigkeit, die Furcht
zu aktivieren, sondern vielmehr das Bedürfnis, die chronisch erhöhte physiologische
und mentale Erregung mit Hilfe bestimmter Techniken zu bewältigen.
450 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Im Folgenden werden zentrale Strategien bei einfachen und komplexen posttrauma-


tischen Belastungsstörungen vorgestellt (je komplexer die Störung, umso mehr The-
rapieelemente sind nach einem bestimmten Therapieplan zu berücksichtigen):

z Systematische Desensibilisierung. Das Trauma wird unter Entspannungsbedingun-


gen vergegenwärtigt, um die physiologische Erregung als Folge der traumabezoge-
nen Gedanken zu reduzieren. Es handelt sich dabei um ein Habituationstraining oh-
ne erhöhte körperliche Erregung. Als Variante der systematischen Desensibilisie-
rung erfolgt mit Hilfe eines Biofeedbackgerätes die Förderung von Entspannung an-
gesichts der physiologisch erregenden Wiedererinnerung an das Trauma.

z Konfrontation in sensu (gestufte oder massierte Reizkonfrontation in der Vorstel-


lung). Nach einem von Therapeut und Patient gemeinsam erstellten „Drehbuch“ er-
folgt eine mentale Konfrontation mit zunehmender Affektbeteiligung. Zur Intensi-
vierung des emotionalen Erlebens wird das Trauma über alle Sinneskanäle und Ver-
haltensaspekte vergegenwärtigt durch bestimmte anregende Fragen: Welche Bilder
und Szenen, welche Stimmen und Geräusche, welche körperlichen Empfindungen,
welche Gerüche und welche Geschmacksempfindungen treten auf? Welche Gedan-
ken, Gefühle und körperlichen Zustände werden wahrgenommen? Die Rekonstruk-
tion des Traumas verfolgt das Ziel, alle Erfahrungen in Worte zu fassen und damit in
den Griff zu bekommen. Dies erfolgt durch freies Erzählen, Niederschreiben, Malen
und wiederholtes Durchspielen der gefürchteten Szenen in der Ich-Form („Ich sehe
jetzt ... höre nun ... spüre momentan ...“). Der Ablauf der traumatischen Ereignisse
wird häufig in Form eines imaginierten Videofilms vergegenwärtigt, wobei der Pati-
ent gleichsam als Zuschauer im Fernsehstuhl sitzt und die Ereignisse auf dem Moni-
tor betrachtet, mit sich selbst im Bild. Am Anfang des Bewältigungstrainings steht
eine Dissoziationstechnik, d.h. die Affekte werden dissoziiert: Die Betroffene erle-
ben sich im Hier und Jetzt und betrachten die Vergangenheit distanziert von außen
wie in einem Film, ohne darin aufzugehen. Anschließend wird zunehmend die Emo-
tion durch Hineingehen in den Film hinzugeschaltet, und zwar in einem Ausmaß,
wie es für den Patienten erträglich ist. Sich selbst im Bild zu sehen stellt eine Disso-
ziation dar, sich selbst nicht mehr im Bild zu sehen ist dagegen eine Assoziation, ein
Übergang in die „Als-ob-Realität“, d.h. es erfolgt ein imaginativ-emotionales Wie-
dererleben eines erinnerten Erlebnisses. Die emotionale Bewältigung traumatischer
Erfahrungen, die die Betroffenen im Laufe der Zeit über selbst erlernte Dissoziation-
stechniken (Abspaltungs- und Verdrängungsmethoden) vergeblich zu erreichen ver-
suchten, erfolgt in der Psychotherapie durch Assoziationstechniken. Die Betroffenen
müssen lernen, das über alle Sinneskanäle ungewollt wiedererinnerte Trauma hin-
sichtlich der dabei auftretenden Gefühle und körperlichen Zustände besser zu bewäl-
tigen, indem sie sich mental voll auf eine Konfrontation einlassen, ehe sie in be-
stimmten Situationen sinnvollerweise weiterhin Dissoziationstechniken einsetzen.
Kurze Erläuterung der Begriffe Dissoziation und Assoziation: „Dissoziation“ besteht
in der Trennung von sinnlicher Repräsentation einer bestimmten Erfahrung (was
man innerlich sieht, hört, spürt usw.) und den dabei auftretenden Gefühlen, d.h. die
Intensität des Erlebens wird bewusst abgeschwächt; „Assoziation“ bezeichnet die
Verknüpfung der beiden Aspekte mit dem Ziel der besseren Integration in die Per-
sönlichkeit, d.h. das Erleben wird gezielt intensiviert. Etwas ist dann emotional und
kognitiv bewältigt, wenn man es in einen Gesamtzusammenhang einordnen kann.
Posttraumatische Belastungsstörung 451

Das in der Sprache des Patienten formulierte Traumadrehbuch wird vom Therapeu-
ten und Patienten wechselweise in mehreren Durchgängen in der Therapiestunde in
der Gegenwartsform vorgelesen, als ob das Trauma gerade jetzt stattfinden würde.
Der Ablauf beginnt mit einem Ausgangspunkt, als alles noch normal war, konzen-
triert sich dann auf einen oder mehrere „Hot Spots“ (zentrale Erfahrungen von ex-
tremem Stress, Hilflosigkeit und Todesangst) und endet dann an einem Punkt, wo
sich der Patient in Sicherheit fühlt. Meist erfolgt nach 6-10 Durchgängen im Aus-
maß von jeweils etwa einer Stunde eine deutliche psychophysische Habituation.
Nach der mentalen Exposition werden die auftretenden Gefühle und Gedanken be-
arbeitet. Der Patient setzt zur Festigung der Therapiefortschritte die mentale Kon-
frontation mit den traumatischen Erinnerungen in Form von Hausübungen fort. Er
spricht bzw. hört auf einem Tonträger den traumabezogenen Text immer wieder bis
zur emotionalen Erleichterung. Das intensive emotionale Erleben des gesamten
Traumas in einer sicheren Umgebung ermöglicht einen entspannenden Abschluss.
Die mentale Konfrontationstherapie der amerikanischen Traumaexpertin Edna Foa,
einer der zentralen Fachleute auf diesem Gebiet, hat folgenden Aufbau:
- Lebendig-plastische Vergegenwärtigung der traumatischen Erfahrung durch
mentale Repräsentation auf allen Sinneskanälen für die Dauer einer Stunde.
- Situationsbeschreibung in der Gegenwartsform („Ich sehe ... höre ... spüre ...“).
- Mehrfache Wiederholung dieser lebendigen Vorstellungen.
- Hausaufgaben zur rascheren emotionalen Bewältigung: Anhörung der Tonbänder
aus den Therapiestunden, Konfrontation mit externen Angst auslösenden Reizen,
die an das Trauma erinnern (eigenständige Konfrontation in vivo).
Nach Foa ist laut Studien die alleinige prolongierte Exposition in sensu und in vivo
sehr wirksam. Festzuhalten ist jedoch: Aus kognitiver Sicht geht es nicht nur darum,
durch eine verlängerte Konfrontation in der Vorstellung (umfassende Vergegenwär-
tigung des Traumas durch alle Sinneskanäle) eine Habituation zu erreichen, sondern
auch die persönliche Bedeutung des Traumas und seiner Folgen für die betroffene
Person genauestens zu erfassen und im spezifischen Kontext ihrer Persönlichkeit
kognitive Veränderungen („kognitive Umstrukturierungen“) vorzunehmen.

z Konfrontation in vivo (gestufte oder massierte Reizkonfrontation in der Realität). Es


erfolgt eine reale Konfrontation mit Reizen, die an das Trauma erinnern (z.B. ein be-
stimmter Raum, Ort, Gegenstand), um eine Generalisierung konditionierter Reize zu
verhindern und das zunehmende Vermeidungsverhalten des Patienten zu unterbre-
chen. Alleinsein zu Hause, Dunkelheit bei abendlichen Ausgängen, Zugreisen im
Liegewagenabteil, Liftfahrten, Spazierengehen durch einen Park u.a. sollen nicht
mehr als Auslöser stets neuer Ängste dienen, nur weil in der traumatischen Situation
(z.B. Vergewaltigung) diese Bedingungen gegeben waren. Die Konfrontation mit
den traumabezogenen Orten und Situationen bis zum Abfall der Erregung erfolgt zur
Sicherung eines Erfolgserlebnisses zuerst ohne Druck in Anwesenheit des Therapeu-
ten und später allein. Oft führt erst die Konfrontationstherapie in vivo zur vollen Re-
präsentation der bisher nur bruchstückhaft und zusammenhangslos erinnerten trau-
matischen Erfahrungen. Eine Konfrontationstherapie in der Realität ist jedoch nicht
in allen Fällen sinnvoll und kann daher auch kontraproduktiv sein (z.B. wenn unter
bestimmten Umständen nach wie vor Gefahr droht). Durch eine derartige Exposition
in vivo werden allerdings nur die Angst-, Schock- und Panikzustände bewältigt, die
anderen Emotionen wie Trauer, Wut oder Ekel werden später bearbeitet.
452 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

z Kognitive Umstrukturierung und Neubewertung. Von zentraler Bedeutung sind die


Identifizierung und Bearbeitung negativer Gedanken sowie die Entwicklung alterna-
tiver, hilfreicherer Kognitionen. Von zentraler Bedeutung sind die Erfassung und
Veränderung der dysfunktionalen prä-, peri- und posttraumatischen Denkmuster, die
Bearbeitung katastrophisierender Befürchtungen und depressiver Überzeugungen
(z.B. „Ich werde verrückt“, „Ich hasse mich“, „Ich bleibe für immer unglücklich“,
„Mein Leben ist verpfuscht“) sowie die Erfassung und Änderung der nicht auf Angst
und Furcht bezogenen Emotionen wie Schuld-, Scham-, Ekel-, Wut- und Ärgerge-
fühlen, die die Störung aufrechterhalten und durch eine Exposition in sensu und in
vivo nicht verschwinden. Viele Frauen erleben sich z.B. nach einer Vergewaltigung
als unzulänglich, unfähig, entehrt, hilflos und sogar schuldig am Ereignis. Schuldge-
fühle werden nach einer Vergewaltigung aufrechterhalten durch die Zuschreibung
von Verantwortlichkeit („Ich bin selbst schuld daran, weil ich dorthin gegangen
bin“), subjektiv fehlende Rechtfertigung („Ich hätte mich mehr wehren sollen“),
subjektive Verletzung eigener Normen bzw. vermeintliche moralische Verfehlung
(„Ich hätte den Mann anfangs nicht küssen sollen“) und rückblickend gesehen an-
gebliche Vorhersehbarkeit des Ereignisses („Das hätte ich ahnen können“). Scham-
und Ekelgefühle beziehen sich bei sexuell traumatisierten Personen auf den eigenen
Körper und oft auch auf andere Personen. Die Erfahrung von Ohnmacht und Hilflo-
sigkeit während des traumatischen Ereignisses stellt eine fundamentale Erschütte-
rung des Vertrauens in die eigene Person bzw. in andere Menschen dar. Nichts ist
mehr so, wie es einmal war. Die Entwicklung von mehr Vertrauen im Rahmen der
geschützten Therapiebeziehung ist eine fundamentale Voraussetzung für die weitere
Beziehungsfähigkeit. Strategien zur Stärkung des Selbstwertgefühls und der besse-
ren Selbstfürsorge dienen der Überwindung selbstabwertender Kognitionen.

z Stabilisierungstechniken. Vor allem zu Beginn, aber auch im weiteren Verlauf der


Therapie ist immer wieder eine kürzere oder längere Phase der Stabilisierung der Pa-
tienten erforderlich, die die Erfahrung von Einfluss und Kontrolle über Intrusionen
ermöglichen. Ein typisches Beispiel ist die Imaginationsübung „Sicherer Ort“. Die
Betroffenen sollen sich imaginativ einen Ort vorstellen, an dem sie sich vollkommen
sicher und entspannt fühlen können. Dieser Ort soll in späteren Belastungssituatio-
nen zur rascheren Beruhigung in der Fantasie immer wieder aufgesucht werden.
Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere, vor allem von Luise Reddemann entwik-
kelte Stabilisierungsübungen. Sehr hilfreich ist die „Tresorübung“: bewusst hervor-
gerufene bildhafte Erinnerungen an das Trauma werden imaginativ auf einer Video-
kassette oder – moderner – auf einer DVD gespeichert und in einen sicheren Tresor
weggesperrt; spätere ungewollte Erinnerungen werden auf das Speichermedium hin-
zugefügt, indem dieses neuerlich hervorgeholt und anschließend wieder im Tresor
verschlossen wird. Die wohl meistverwendete Stabilisierungstechnik ist die Bild-
schirmtechnik, bei der die Betroffenen die traumatischen Ereignisse distanziert wie
in einem Film vor sich sehen, ohne darin aufzugehen, und die Bilder verändern kön-
nen (z.B. kleinere, weniger farbige Bilder, leisere Geräusche, andere Gerüche). Die
Bedeutung der Stabilisierung wird insbesondere auch von psychodynamischen The-
rapeutinnen wie Luise Reddemann betont, die entsprechend der analytischen Tradi-
tion neben traumabezogenen Techniken immer stärker die therapeutische Beziehung
als heilenden Faktor hervorheben. Stark konfrontationsorientierte verhaltensthera-
peutische Expertinnen wie Edna Foa vernachlässigen die Stabilisierung.
Posttraumatische Belastungsstörung 453

z EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing Therapy). Diese imagina-


tive Technik, die keine eigene Therapiemethode darstellt, sondern im Rahmen einer
verhaltenstherapeutischen, psychodynamischen oder sonstigen therapeutischen Vor-
gangsweise gleichermaßen eingesetzt werden kann, wurde von der amerikanischen
Psychologin Francine Shapiro in den Jahren 1987-1991 als rasch wirksame und auch
empirisch als effizient erwiesene traumabearbeitende Methode mit acht umschriebe-
nen Phasen entwickelt. Während der imaginativen Konfrontation mit dem Trauma
folgt der Patient mit seinen Augen dem sich schnell und gleichmäßig bewegenden
Finger des Therapeuten. Die Augenbewegungen werden solange fortgesetzt, bis die
psychische Anspannung nachlässt. Abschließend wird die früher belastendste Trau-
ma-Erinnerung mit einer positiven und hilfreichen Kognition verbunden. Die Wirk-
samkeit von EMDR wurde ursprünglich erklärt durch eine raschere Informations-
verarbeitung und bessere Kopplung von rechter und linker Gehirnhälfte, mittlerweile
ist jedoch erwiesen, dass der sich bewegende Finger des Therapeuten und die Au-
genbewegungen des Patienten keine notwendige Voraussetzung für den Therapieer-
folg sind. Derselbe Verarbeitungsmechanismus ist auch auslösbar durch rhythmi-
sches Berühren beider Hände oder durch wechselseitige Beschallung beider Ohren.
Der neurobiologische Wirkmechanismus ist noch ungeklärt. Es liegen vermutlich
Mechanismen zugrunde, die mit der nichtsprachlichen Verarbeitung von traumarele-
vanten impliziten Gedächtnisinhalten zu tun haben (verbalen Therapien sind hier
enge Grenzen gesetzt).

z IRRT (Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy). Dieses manualisierte, aus


mehreren Phasen bestehende kognitiv-behaviorale Verfahren von Mervin Smucker
für komplexe posttraumatische Belastungsstörungen (nach sexueller und körperli-
cher Gewalt in der Kindheit) konzentriert sich auf die Konfrontation in sensu zum
Abbau der intrusiven Symptomatik, die Veränderung traumarelevanter kognitiver
Vermeidungsverhaltensweisen, die Modifikation traumarelevanter dysfunktionaler
Schemata und den Aufbau von Stärke- und Überlegenheitsimaginationen bzw.
Selbstberuhigungs- und Selbstfürsorglichkeitsimaginationen. Es wird eine Modifika-
tion des Traumagedächtnisses angestrebt. Die imaginierte Täterkonfrontation soll zu
einer Modifikation des Erlebens von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Kontrollverlust
während der Traumatisierung führen. Der heutige Erwachsene lernt sich selbst als
traumatisiertem Kind fürsorglich begegnen und überwindet die Selbstabwertung.

z Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT). Dieses aus der kognitiven Verhaltens-


therapie stammende neue amerikanische Behandlungskonzept, das Steven Hayes mit
Mitarbeitern Ende der 1990er-Jahre entwickelt hat, fördert die Akzeptanz der eige-
nen Lebensgeschichte (einschließlich traumatischer Erfahrungen und Erinnerungen)
und damit die Reduktion jeder Form von Vermeidung und strebt eine Veränderung
der Verhaltensweisen in dem Sinn an, dass diese mit den Werten des Patienten über-
einstimmen und ein sinnvolles Leben ermöglichen. Es geht darum, den Schmerz als
Folge des Traumes zu akzeptieren und zu bewältigen, sodass nicht durch ständige
Vermeidungsstrategien ein andauerndes Leiden daraus wird. Der Ansatz beruht auf
drei Phasen: Herausarbeiten einer kreativen Hoffnungslosigkeit (Analyse des Ver-
meidungsverhaltens), Defusion und Finden eines Selbstkontexts (Wörter und Ge-
danken nicht als Tatsachen sehen, nicht mit dem verbal definierten Selbst ver-
schmelzen, ein neues Selbstgefühl entwickeln), Akzeptanz und Arbeit an Werten.
454 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

z Hypnosetherapie. Hypnose kann die Effekte der kognitiv-behavioren und der psy-
chodynamischen Therapie verbessern. Eine Hypnotherapie nach Milton H. Erickson
ist eine sehr effektive Methode der Traumabewältigung, weil dabei auf sanfte und
subtile Weise eine kognitive und emotionale Umstrukturierung erfolgt. Zahlreiche
hypnotherapeutische Techniken und Strategien können auch ohne formale Trance-
Induktion als therapeutengeleitete Imaginationsübungen eingesetzt werden, wie dies
etwa in der psychodynamischen Therapie bei Reddemann in Form von Stabilisie-
rungsimaginationen erfolgt (z.B. Vorstellungsbild des sicheren Ortes, Einnahme ei-
ner Beobachterposition zur affektiven Distanzierung). Hypnose ermöglicht eine
wirksame Symptomreduktion, aber auch die Konstruktion einer alternativen Wirk-
lichkeit (z.B. im Rahmen von Altersregressionen oder Zukunftsprogressionen), in-
dem bestimmte hilfreiche Elemente hinzugefügt werden. Ein Hinweis: Mithilfe von
Hypnose ist keine Unterscheidung zwischen historischen und imaginierten bzw. sug-
gerierten Vorstellungsinhalten möglich.

z Emotionsregulierung. Vor allem bei komplexen posttraumatischen Belastungsstö-


rungen, die mit einer massiven Störung der Emotionsregulierung einhergehen, wer-
den in Form einer Gruppen- und/oder Einzeltherapie verschiedene Möglichkeiten
der emotionalen Stabilisierung und des besseren Umgangs mit Gefühlen (Identifizie-
rung, Akzeptierung, Bewältigung) angeboten. Die bekanntesten Strategien sind: ein
adaptiertes Skills-Training aus der Dialektisch-Behavioralen Therapie nach Linehan
zur Verbesserung der Belastungstoleranz, verschiedene Achtsamkeitsübungen nach
Kabat-Zinn zur besseren Verankerung im Hier und Jetzt sowie ein Diskrimination-
straining zur Unterscheidung zwischen tatsächlichen Bedrohungsreizen und kondi-
tionierten Reizen (Welche Reize sind tatsächlich Zeichen von Gefahr und welche
Reize haben nur die Funktion eines unnötigen Gefahrensignals erlangt?).

z Training sozialer Kompetenz. Bei Bedarf erfolgt ein Training der sozialen Kompe-
tenz und der interpersonellen Kommunikation, um anderen Menschen gegenüber
mehr Selbstsicherheit zu entwickeln und mit Gefühlen wie Angst, Misstrauen, Ärger
und Wut in Sozialkontakten besser umgehen zu lernen. Ein Selbstsicherheitstraining
kann jene sozialen Ängste überwinden helfen, die durch die Angst vor der Wieder-
holung eines traumatischen Ereignisses (z.B. einer Vergewaltigung) entstanden sind.
Traumatisierte Menschen sollen wieder das Gefühl der Kontrolle über verschiedene
Situationen erlangen, denen sie sich hilflos ausgeliefert fühlen. Die Teilnahme an ei-
ner Gruppentherapie ermöglicht auch die Erfahrung sozialer Akzeptanz und des
Verstandenwerdens durch andere, vor allem durch Teilnehmer, die ähnliche trauma-
tisierende Erfahrungen gemacht haben.

z Bewältigung von Albträumen (Imagery Rehearsal Therapy). Viele Menschen mit


einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden unter Albträumen. Bei Albträu-
men handelt es sich um unabgeschlossene Handlungen und Erlebnisse, die durch
Flucht in den Wachzustand zu bewältigen versucht werden. Albträume mit plötzli-
chem Munterwerden sind wie viele Angstreaktionen bei Tag als Vermeidungsver-
halten zu verstehen, sodass durch eine kognitive und emotionale Auseinanderset-
zung damit im Wachzustand eine Bewältigungsreaktion eintrainiert wird (Zu-Ende-
Träumen in Form eines Tagtraums mit irgendeiner Form des Überlebens).
Posttraumatische Belastungsstörung 455

z Entspannungsübungen. Zum Abbau chronischer Verspannung sind hilfreich:


- Progressive Muskelentspannung nach Jacobson. Muskuläre Entspannung wird
erlernt durch kurze maximale Anspannung mit anschließender Entspannung aller
Hauptmuskelgruppen, die nacheinander durchgegangen werden. Die Muskelent-
spannung bewirkt über reflektorische Mechanismen eine Dämpfung des sympa-
thischen Nervensystems (Reduktion von Herzschlag, Blutdruck, Atmungsfre-
quenz). Die Patienten gewinnen durch diese aktive Entspannungsmethode das
Gefühl von Einfluss und Kontrolle über ihren Körper. Das autogene Training mit
der Instruktion, die Augen zu schließen, ist zumindest anfangs nicht indiziert,
weil sich die Betroffenen dabei zu passiv erleben und leicht Flashbacks erleben.
- Atemtechniken. Ein Training der Zwerchfellatmung dient der Entspannung und
der richtigen Atmung, die bei Ängsten oft im Sinne einer übermäßigen Brustat-
mung oder gar Hyperventilation gestört ist. Die Beobachtung der Atmung ist die
einfachste Form der Selbstzuwendung.
- Fernöstliche Entspannungstechniken (Tai Chi, Qi Gong, Yoga).

z Modelllernen in der Vorstellung („Verdecktes Modelllernen“). Im Sinne eines men-


talen Trainings stellen sich die Betroffenen möglichst plastisch Angst machende Si-
tuationen und deren erfolgreiche Meisterung vor. Die Bewältigung gefürchteter Er-
eignisse durch realitätsnahe Vorstellungsübungen dient dem Aufbau von mehr Zu-
versicht und Selbstvertrauen angesichts von möglichen Situationen, die weder be-
wusst hergestellt werden können noch real (wieder-)erlebt werden sollen. Oft hilft
auch die Erinnerung an Situationen, wo man etwas problemlos bewältigt hat, um
wieder das Gefühl von Einfluss und Kontrolle zu bekommen. Techniken zur Akti-
vierung von Ressourcen sind eine wichtige Ergänzung traumazentrierter Strategien.
Angesichts möglicher Bedrohungsszenarien geht es nicht darum, einen negativen
Ausgang zu unterdrücken (an etwas nicht denken bedeutet eine Fixierung darauf),
sondern über Imaginationen neue Bewältigungsmöglichkeiten zu entwickeln.

z Rollenspiele. Rollenspiele (z.B. Techniken aus dem Psychodrama oder der Gestalt-
therapie) ermöglichen neue Erfahrungen. Angst auslösende Situationen werden im
Rahmen einer Einzeltherapie zusammen mit dem Therapeuten, in einer Gruppenthe-
rapie zusammen mit anderen Teilnehmern, aber auch in Form von Hausaufgaben zu-
sammen mit Angehörigen bzw. Freunden durchgespielt, um ein adäquates Bewälti-
gungsverhalten einzutrainieren. Durch das Gefühl erfolgreicher Bewältigungsstrate-
gien im Falle der Wiederholung ähnlicher Ereignisse entwickelt sich ein positiveres
Selbstbild (Motto: „Nochmals kann mir das Gleiche nicht passieren!“). Die Betrof-
fenen lernen, vergangene Erlebnisse zu verarbeiten und mit befürchteten Wiederho-
lungen derartiger Erfahrungen in der Zukunft besser umzugehen.

z Körperorientierte Therapie. Übungen aus der Leibtherapie, der Gestalttherapie und


der Körperpsychotherapie (z.B. Bioenergetik) ermöglichen körperlich traumatisier-
ten Menschen positive Körpererfahrungen. Tanztherapie und Konzentrative Bewe-
gungstherapie vermitteln das Gefühl körperlicher Kompetenz und dienen der Stär-
kung der persönlichen Ressourcen. Körperliche Selbstverteidigungsmethoden dienen
der Handlungsaktivierung und stärken z.B. bei vergewaltigten Frauen das Gefühl
von Einfluss und Kontrolle über die Umwelt anstelle der bisherigen Erfahrung von
Ohnmacht und Hilflosigkeit.
456 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

z Symbolische oder sinnliche Repräsentationstechniken (Foto, Zeichnung, mentales


Training, Spielmaterial im Rahmen einer Spieltherapie). Künstlerisch-kreative Dar-
stellungen (Malen, Theaterspielen, musikalischer Ausdruck) in Form der Kunstthe-
rapie und der Musiktherapie beschleunigen die emotionale Heilung.

z Interapy (Internet-basierte Selbstbehandlung per Email-Kontakt: www.interapy.nl;


auf Deutsch: www.veid.de/891.0.html). Diese kostenlose internetgestützte kognitiv-
behaviorale Selbstbehandlungsmethode und Psychoedukation von Menschen mit
posttraumatischen Belastungsstörungen wurde ursprünglich von Alfred Lange in
Amsterdam Ende der 1990er-Jahre entwickelt. Interapy ist eine fünfwöchige proto-
kollbasierte Schreibtherapie zur Selbstkonfrontation und erfolgt ausschließlich per
E-Mail. Protokollbasiert heißt, dass die Behandlung anhand einer festgelegten Ab-
folge stattfindet. Die Teilnehmer schreiben zehn Texte, also zwei pro Woche, je-
weils eine dreiviertel Stunden lang. Hierbei planen die Klienten selbst zu welchen
Zeitpunkten sie schreiben möchten. Nach jeweils zwei Texten, erhalten die Teil-
nehmer von ihrem individuellen Therapeuten Rückmeldung auf ihr Geschriebenes
und Instruktionen für die folgenden Texte. Die Wirksamkeit von Schreibtherapien
ganz allgemein ist bereits seit 20 Jahren durch die Arbeiten von Pennebaker belegt.

Die gesellschaftliche Bedeutung der verhaltenstherapeutischen Konfrontationstherapie


zeigt sich in den USA seit langem nicht nur in der Therapie von Frauen mit sexueller
Gewalterfahrung, sondern auch bei der Behandlung ehemaliger Vietnam-Soldaten mit
(nicht komplexer) posttraumatischer Belastungsstörung [80]:

„Die Reizkonfrontation ist Bestandteil eines vom amerikanischen Bundesamt für Kriegsveteranen
entwickelten Intensivprogramms zur Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen. Mit Hilfe
dieser verhaltenstherapeutischen Technik versucht man dem traumatischen Ereignis seinen Schrecken
zu nehmen, indem man den Patienten erneut damit konfrontiert und ihn die traumatische Erfahrung
kontrolliert noch einmal durchleben läßt. Bevor das Verfahren der Reizüberflutung angewandt wird,
lernt der Patient, wie er seine Angst durch Entspannung und beruhigendes Bilderleben unter Kontrolle
bekommen kann. Dann bereiten Patient und Therapeut gemeinsam ein ‚Drehbuch’ vor, in dem der
traumatische Vorfall detailliert beschrieben wird. Das Drehbuch umfaßt vier Aspekte des Traumas: den
Kontext, die Fakten, die Gefühle und die Bedeutung. Falls mehrere traumatische Ereignisse stattgefun-
den haben, wird für jedes einzelne ein gesondertes Drehbuch erstellt. Wenn die Drehbücher fertig sind,
wählt der Patient selbst aus, welchen Situationen er im Rahmen der Reizüberflutung ausgesetzt werden
will und ordnet sie dabei auch nach dem Grad der Belastung. Angefangen mit der leichtesten werden
alle Erfahrungen bis hin zur schwerwiegendsten nacheinander durchgearbeitet. Bei der Reizüberflutung
liest der Patient die Geschichte im Präsens vor, der Therapeut fordert ihn unterdessen beständig dazu
auf, die jeweils empfundenen Gefühle so genau wie möglich zum Ausdruck zu bringen. Die Behand-
lung wird jede Woche wiederholt und dauert durchschnittlich zwölf bis vierzehn Sitzungen.“

Die Methode der massierten mentalen Konfrontationstherapie nach traumatischen Er-


fahrungen wurde innerhalb der Verhaltenstherapie auch kritisiert, vor allem der von Foa
vorgeschlagene therapeutische Umgang mit sexuell traumatisierten Frauen [81]:

„Die klassisch-verhaltenstherapeutischen Angebote zur Traumabewältigung (z.B. Rothbaum & Foa,


1995) wirken in ihrer ausschließlich technik- und trainingsorientierten Vorgehensweise häufig allzu
mechanistisch und scheinen dem Leiden der Betroffenen nicht gerecht zu werden. Wenn z.B. Psycho-
loginnen wie Foa et al. (1991) Vergewaltigungsopfer anweisen, sich bis zu einer Stunde lang immer
wieder die Vergewaltigungsszene vorzustellen ohne weitere Bewältigungshilfen anzubieten und ohne
die individuelle Verarbeitung des Traumas zu begleiten, erscheint dieses Vorgehen ethisch wie thera-
peutisch fragwürdig.“
Posttraumatische Belastungsstörung 457

Anke Ehlers [82] hat mit ihrem Buch „Posttraumatische Belastungsstörung“ eine be-
eindruckende kognitiv-verhaltenstherapeutische Traumatherapie vorgestellt, die Ge-
dächtnis-Aspekte stärker berücksichtigt als andere Konzepte. Das Basiskonzept lautet:
Das Trauma-Gedächtnis wurde von den Betroffenen nur ungenügend elaboriert, d.h. in
seiner Bedeutung verarbeitet, und völlig unzureichend in den Kontext von Zeit, Raum,
vorangegangenen und nachfolgenden Informationen und anderen autobiografischen
Erinnerungen integriert, d.h. es blieb gleichsam im Rohzustand erhalten, sodass sich die
jeweiligen Inhalte immer wieder aufdrängen können, als wären sie Jetzt-Situationen.
Die Therapie besteht in einer Kombination von Konfrontationstherapie und kognitiver
Therapie und umfasst nach der umfangreichen Diagnostik u.a. folgende Aspekte (alle
Sitzungen werden auf Tonband aufgenommen, späteres Anhören unterstützt den Fort-
schritt; Hausaufgaben tragen ebenfalls zur Festigung der Veränderungen bei):
z Symptome normalisieren: Erklärungen der Symptomatik vermitteln ein Modell der
Störung und ermöglichen dadurch ein besseres Therapieverständnis. Die Patienten
müssen durch eine vertrauensvoll strukturierte Therapiebeziehung und durch eine
umfassende Information für ein derartiges Behandlungskonzept gewonnen werden,
um die zu erwartende, vorübergehende Mehrbelastung akzeptieren zu können.
z Experimente zur Gedankenunterdrückung: Unterdrückungsstrategien bezüglich der
ungewollten Erinnerungen an das Trauma werden als unwirksam aufgezeigt.
z Interpretation des Traumes und seiner Konsequenzen: Die Betroffenen lernen die
Zusammenhängen zwischen Symptomen, Gedanken und Gefühlen erkennen.
z Das Leben zurückerobern: Wiederaufnahme früherer Kontakte und Aktivitäten.
z Imaginatives Nacherleben des Traumas: Das Trauma wird in den Sitzungen und zu
Hause möglichst lebendig in der Ich-Form und in der Gegenwartsform nacherlebt, um
durch die Elaboration des Trauma-Gedächtnisses eine bessere emotionale und kogniti-
ve Verarbeitung als bisher zu erreichen. Veränderungen erfolgen nicht durch bloße
mentale Exposition, sondern vielmehr durch kognitive und emotionale Neubewertung
der Erinnerungen. Die negative Bedeutung des Traumas und der Intrusionen bestim-
men das Ausmaß der erlebten Belastung und der körperlichen Erregung.
z Identifikation und Diskrimination von Auslösern des intrusiven Wiedererlebens: Die
Betroffenen sollen eine bessere Kontrolle über die „Schlüsselreize“ gewinnen.
z In-vivo-Exposition: Konfrontation mit bisher gemiedenen Reizen und Orten.
z Kognitive Umstrukturierung: Änderung dysfunktionaler Interpretationen und Kogni-
tionen (Übergeneralisierung von Gefahr, irreale Befürchtungen, anhaltender Ärger,
Imaginationstechniken als Möglichkeiten der Integration des Traumas, Umstruktu-
rierung fundamentaler Überzeugungen über das Selbst und die Welt). Viele Opfer
betreiben ein exzessives Grübeln („Warum gerade ich?“, „Warum konnte ich das
nicht verhindern?“), werden von Schuldgefühlen gequält („Bin ich mitschuldig, weil
ich den Täter in die Wohnung gelassen habe?“), entwickeln falsche Erklärungsmu-
ster („Mein Leben ist ruiniert“, „Wenn es so weitergeht, werde ich noch verrückt“,
„Das werde ich nie überwinden“), reagieren mit Wut und Hass oder setzen Alkohol
und Drogen als Bewältigungsmittel ein. Diese Reaktionsweisen stellen insofern eine
kognitive Vermeidung dar, als sie von den durch das Trauma ursprünglich ausgelö-
sten, nicht bewältigten negativen Emotionen (z.B. völlige Hilflosigkeit und massive
Angst) ablenken. Eine Konfrontationstherapie mit kognitiver Umstrukturierung in
Bezug auf das ursprüngliche Erleben und Bewerten des Traumas ist daher von ent-
scheidender Bedeutung für eine dauerhafte Bewältigung.
z Rückfallsprophylaxe: Vorkehrungen bezüglich Rückschlägen.
458 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Zusammenfassend gesehen umfassen kognitive Therapiekonzepte folgende Aspekte:


1. Trauma-Exposition dient der Trauma-Synthese und Trauma-Integration. Heilsam ist
nicht einfach das neuerliche Durchleben des Traumas in der Therapie (das kann
möglicherweise eine Retraumatisierung auslösen), sondern die therapeutisch gesteu-
erte Synthese aus Wort, Bild, Affekt und Körpersensationen zu einem Gesamtbild.
Das Hauptziel bei kognitiv ausgerichteten Therapiekonzepten, wie sie von Steil, Eh-
lers und Clark vertreten werden, ist weniger die Reduktion der Intrusionshäufigkeit,
sondern vielmehr die Reduktion der mit den Intrusionen verbundenen physischen
und psychischen Belastung. Die Erinnerung an das Trauma soll weniger belasten.
2. Vergegenwärtigung des Traumas in der Ich- und Gegenwartsform. Das traumatische
Geschehen wird bei geschlossenen Augen möglichst lebendig erinnert, wie wenn es
jetzt stattfinden würde. Es erfolgt eine Konzentration auf die am meisten belasten-
den Erinnerungen. Der Patient berichtet detailliert und lückenlos das Trauma. Die
Schilderung des Patienten wird auf Tonband oder Video festgehalten und zu Hause
im Sinne einer weiteren Konfrontation abgespielt. Die Vergegenwärtigung des
traumatischen Ereignisses kann auch durch eine detaillierte schriftliche Darstellung
mit sensorischen Einzelheiten erfolgen, die in der Therapiestunde vorgelesen wird.
Ein möglichst lebendiges Wiedererleben des Traumas im Sinne einer mentalen Kon-
frontation bietet auch die Grundlage für eine umfassende Diagnostik (Erfassung der
Zusammenhänge zwischen den auftretenden Intrusionen, den damit verbundenen
Kognitionen und Emotionen und den sich daraus ergebenden Reaktionen).
3. Erfassung der Gefühle und Gedanken während und kurz nach dem Trauma. Ent-
scheidend ist nicht der objektive Ablauf des Traumas, sondern das subjektive Erle-
ben und Bewerten des Vergewaltigungsopfers.
4. Erfassung der Auslöser der Intrusionen. Es werden alle Auslöser erfasst, die im
Laufe der Zeit Erinnerungen und Gedanken an das Trauma wachgerufen haben.
5. Erfassung der mit den Intrusionen verbundenen Kognitionen und Emotionen. Die
Erhebung der mit den traumatischen Erinnerungen verbundenen Gedanken und Ge-
fühle, d.h. die Bedeutung der Vergewaltigung für die Patientin, dient dem Zweck,
die subjektive Belastung durch spätere negative Bewertungen („Ich hätte anders rea-
gieren sollen“, „Ich bin selbst schuld an allem“, „Ich traue niemandem mehr“) bes-
ser verstehen zu können. Diese Bewertungen erschweren die Verarbeitung des
Traumas und müssen im Laufe der Therapie verändert werden. Dazu zählen auch die
anderen Personen zugeschriebenen Kognitionen (z.B. „Alle verachten mich“).
6. Erfassung kognitiver Vermeidung. Ineffiziente Bewältigungsversuche wie Grübeln,
Gedankenunterdrückung, Abspaltung (Dissoziation), Ablenkung, Selbstvorwürfe
und Alkoholkonsum müssen identifiziert und zugunsten einer Konfrontation mit
dem Trauma aufgegeben werden.
7. Erfassung der Vermeidung intrusionsauslösender Situationen und Verhaltensweisen.
Lerntheoretisch gesehen wird die Störung durch die Vermeidung von Auslösern von
Intrusionen aufrechterhalten, sodass die Kenntnis der Vermeidungsstrategien von
großer Bedeutung für die Interventionsplanung ist.
8. Kognitive Interventionen. Die kognitive Therapie nach Beck stellt eine wichtige
Ergänzung der Konfrontationstherapie dar. In Form des sokratischen Dialogs lernen
die Betroffenen, ungünstige Kognitionen (Schemata) zu analysieren und zugunsten
hilfreicherer Gedanken und Erwartungen zu verändern. Gestörte Selbstkonzepte und
Konzepte von anderen Menschen zeigen sich typischerweise in fünf Bereichen: Si-
cherheit, Vertrauen, Macht/Einfluss, Selbstachtung und Intimität.
Posttraumatische Belastungsstörung 459

9. Hausaufgaben. Bestimmte Aufgaben (z.B. Anhören der aufgenommenen Therapie-


stunde, Aufschreiben der Intrusionen, der damit verbundenen Gedanken und Gefüh-
le usw.) dienen der laufenden Diagnostik und der Therapie.
10. Spezielle Interventionen (z.B. Entwicklung eines positiven Körpererlebens, Beendi-
gung selbstdestruktiven Verhaltens, Behandlung einer sexuellen Funktionsstörung).

Die neueren verhaltenstherapeutischen und auch psychoanalytischen Strategien zur


Bewältigung traumatischer Erinnerungen berücksichtigen die neurobiologischen Netz-
werkmodelle der Informationsverarbeitung und der Gedächtnisabspeicherung. Krank
machen traumatische Erinnerungen dann, wenn sie immer wieder in der fixierten und
stabilisierten Form aufgerufen werden. Therapeutisch heilsam ist das Wiedererinnern
und Wiedererleben dann, wenn es in einem neuen emotionalen und kognitiven Kontext
erfolgt. Voraussetzung für ein erfolgreiches Vorgehen ist jedoch die Vermittlung von
Sicherheit und Stabilität in der Gegenwart, die erst neuerliches Vertrauen ermöglicht.
Verhaltenstherapeutische Konzepte der Trauma-Konfrontation mit dem Ziel der
kognitiven und emotionalen Neubewertung ähneln der Vorgangsweise von Psychoana-
lytikern. Freud und Breuer beschrieben bereits 1892 in ihrem Artikel „Über den psychi-
schen Mechanismus hysterischer Phänomene“ die Bedeutung eines emotionszentrierten
Vorgehens bei traumatischen Erlebnissen. Sie empfahlen die Methode der kathartischen
Abreaktion. Durch eine Intensivierung der Erinnerung (über Hypnose) würden die blok-
kierten Affekte frei, sodass eine Bearbeitung der jeweiligen Thematik erfolgen könne.
Später entwickelte Freud anstelle der Methode der Abreaktion die Psychoanalyse.
Horowitz [83], der bedeutendste amerikanische Psychoanalytiker im Bereich der
Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen, dessen Untersuchungen über Viet-
nam-Kriegsveteranen maßgeblich zur Etablierung dieser Störung im amerikanischen
Diagnoseschema beigetragen haben, vertritt die Auffassung, dass nur über ein dosiertes,
gestuftes emotionales Nacherleben des Traumas und seiner Folgen eine Überwindung
der traumatischen Erfahrung durch Integration in die Persönlichkeit erfolgen könne. Das
zentrale Prinzip jeder Traumatherapie ist die Traumasynthese durch Traumaexposition.
Bei Traumatherapien sind bestimmte Kontraindikationen zu beachten:
1. Relative Kontraindikationen: fehlende Bereitschaft zur Trauma-Konfrontation, star-
ke Affektinstabilität bzw. mangelnde Affekttoleranz, ständige Dissoziationsneigung,
unkontrollierbare autoaggressive Impulse, mangelnde Distanzierungsfähigkeit zum
Trauma, psychosoziale und körperliche Belastungsfaktoren.
2. Absolute Kontraindikationen: psychotisches Erleben, akute Suizidalität, anhaltender
Täterkontakt, erheblicher Substanzmissbrauch, Herz-Kreislauferkrankungen.

Ein Trauma ist bewältigt, wenn folgende Kriterien erfüllt sind [84]:
1. Alle körperlichen Symptome der Störung sind erträglich.
2. Die Betroffenen können die mit dem Trauma verbundenen Gefühle ertragen.
3. Die Betroffenen haben ihre Erinnerungen unter Kontrolle, d.h. sie können selbst
entscheiden, wann sie sich an das Trauma erinnern wollen und wann nicht.
4. Die Betroffenen können die Geschichte ihres Traumas zusammenhängend erzählen,
und zwar ohne ihre Gefühle dabei auszuschalten.
5. Das stark beschädigte Selbstwertgefühl ist wiederhergestellt.
6. Die Betroffenen haben alle wichtigen Beziehungen wieder aufgenommen.
7. Den Betroffenen ist es gelungen, das Trauma in ein neu aufgebautes, eigenes Werte-
system zu integrieren.
460 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Erfolge der Verhaltenstherapie bei Angststörungen


Therapieerfolge bei Angststörungen können durch fünf Faktoren bedingt sein [85]:
1. Spezifischer Effekt. Eine bestimmte Psychotherapiemethode sowie die Anwendung
bestimmter Techniken sind verantwortlich für den Erfolg. Dies wird im Vergleich zu
mindestens einer anderen Psychotherapiemethode nachgewiesen.
2. Unspezifischer Effekt. Laut dieser Annahme sind alle Psychotherapiemethoden letzt-
lich aufgrund derselben Effekte wirksam (z.B. Zuhören, Verstehen, Unterstützen,
Wärme, irgendein Erklärungsmodell vermitteln, die Persönlichkeit des Therapeuten,
unabhängig von einer bestimmten Methode oder Technik). Dies wird dadurch unter-
sucht, dass ein angenommener spezifischer Effekt in einer Gruppe Therapiebestand-
teil ist, in einer anderen Gruppe dagegen nicht.
3. Spontanheilung. Die Heilung im Rahmen der Therapie wäre vielleicht auch ohne
Therapie erfolgt. Verschiedene Störungen klingen nach einiger Zeit auch ohne Be-
handlung ab. Dieser Effekt wird durch eine Kontrollgruppe von Patienten mit glei-
cher Störung, jedoch ohne Behandlung überprüft (so genannte Wartelistenpatienten
oder Wartelistenkontrollgruppe). Die Heilungsraten bei unbehandelten Angstpatien-
ten auf einer Warteliste betragen laut Studien bis zu 30%.
4. Tendenz zum Mittelwert. Die meisten Patienten mit einer bestimmten Störung (Pa-
nikstörung, Depression) melden sich zur Psychotherapie an, wenn die Symptomatik
besonders ausgeprägt ist. Wegen der natürlichen Schwankungen des Störungs-
ausmaßes wird in den nächsten Wochen auch ohne Therapie eine Besserung eintre-
ten. Es vollzieht sich eine Angleichung der extrem schlechten Skalenwerte an den
Durchschnitt, sodass der Eindruck eines Therapieeffekts gegeben ist.
5. Placeboeffekt. Es kann eine Scheinwirkung der Therapie durch den Glauben an
deren Wirksamkeit bestehen. Allein die Vorspiegelung des Umstands, dass man an
einer wirksamen Therapie teilnehme, kann bereits zu einer Besserung führen. Dies
wird mit Hilfe einer Pseudotherapie überprüft, die eine Wirkung vorspiegelt, jedoch
gar keine haben kann. Wenn dann doch eine Wirkung eintritt, bezeichnet man dies
als Placeboeffekt. Bei Psychotherapie- und Psychopharmakotherapiestudien muss
der Placeboeffekt unbedingt berücksichtigt werden. Vergleiche zwischen einer Be-
handlungsgruppe, einer Placebo-Gruppe und einer Wartekontrollgruppe ergaben,
dass die Behandlungsgruppe erwartungsgemäß die höchste Wirksamkeitsrate auf-
wies. Bis zu 66 % der Placebo-Patienten erreichten in Medikamentenstudien positive
Veränderungen, verglichen mit unbehandelten Patienten. Dies lässt sich dadurch er-
klären, dass eine unspezifische (Placebo-)Behandlung auf die Wirksamkeit des Pla-
ceboeffekts zurückgeht. Die Teilnahme an der Placebogruppe aktiviert allgemeine
Therapiefaktoren, wie etwa heilsame persönliche Zuwendung durch einen Fach-
mann, Kontakt mit anderen Patienten, Abbau von Demoralisierung, Aktivierung von
Hoffnung, Anwendung von an sich unspezifischen Möglichkeiten zur Symptombe-
einflussung, Verstärkung des Selbstwirksamkeitsglaubens (Bestärkung des Glaubens
an die persönliche Beeinflussbarkeit der aktuellen Symptomatik). Auch in der Psy-
chotherapie ist der Placeboeffekt Ausdruck der Selbstheilungskräfte der Menschen.

Wirksamkeitsstudien werden in der Verhaltenstherapie meist ähnlich angelegt wie in


der Medizin, d.h. als kontrollierte Studien. Kontrollierte Studien werden primär in For-
schungseinrichtungen durchgeführt. Die oft sehr positiven Ergebnisse unter idealen
Bedingungen lassen sich aber nicht ohne weiteres auf den klinischen Alltag übertragen.
Erfolge der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 461

Kontrollierte Studien sind das Forschungsdesign bei Medikamentenwirksamkeits-


studien und überprüfen in der Psychotherapie spezifische technische Faktoren auf ihre
Wirksamkeit, und zwar so, dass Veränderungen eindeutig diesen spezifischen Faktoren
zugeschrieben werden können. Laut Fachsprache prüfen kontrollierte Studien („Labor-
studien“: mit Vergleichsgruppen) die Effizienz und naturalistische Studien (Praxisstudi-
en: ohne Vergleichgruppen) die Effektivität einer Therapiemaßnahme. Die Kriterien der
evidenzbasierten Medizin mit ihrem „Goldstandard“ der randomisierten (zufallsausge-
wählten), kontrollierten Doppelblindstudien (Patient und Behandler sind „blind“, d.h.
uninformiert) werden auf die Psychotherapie übertragen.
Bei Medikamentenstudien der Pharmaforschung werden zur Vermeidung von Ver-
fälschungseffekten alle Patienten nach Zufall ohne deren Wissen (und auch ohne Wis-
sen des behandelnden Arztes) auf eine Behandlungsgruppe mit dem wahren Medika-
ment und eine oder zwei Kontrollgruppen mit einem Scheinmedikament (Placebo) bzw.
einem bereits eingeführten Standardpräparat aufgeteilt. Über einen längeren Zeitraum
erfolgen dann Vergleichsuntersuchungen bezüglich der Wirksamkeit des neuen Mittels
gegenüber dem Scheinmittel bzw. dem bereits eingeführten Medikament. Wenn die
Versuchspersonen in der Psychotherapie nicht nach Zufall auf verschiedene Gruppen
aufgeteilt werden können, wie dies bei Medikamentenstudien gefordert wird, werden
die Patienten in der Therapiegruppe zumindest mit den Patienten einer Warteliste, einer
unspezifischen Behandlungsgruppe (Placebogruppe) oder einer anderen Kontrollgruppe
verglichen. Der Vergleich (z.B. mit einer unbehandelten Wartekontrollgruppe) doku-
mentiert dann den Effekt der untersuchten psychotherapeutischen Behandlungsmethode.
Kritiker von Effizienzstudien weisen darauf hin, dass durch ein derartiges Vorgehen
die Verhaltenstherapie bevorzugt werde, weil deren klinische Praxis diesem Vorgehen
am nächsten komme. Nicht-verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapeuten beto-
nen, dass Effizienzstudien dem Charakter ihrer Methode nicht gerecht werden, weil
durch die Notwendigkeit einer Vergleichsgruppe eine vollständige Standardisierung des
therapeutischen Vorgehens erforderlich sei und damit eine Verkürzung ihrer Methode
erfolge, die weniger auf bestimmten Techniken aufbaue und auch weniger auf klar ope-
rationalisierbare Erfolgskriterien ausgerichtet sei. Selbst Verhaltenstherapeuten fordern
mehr Effektivitätsstudien (vorher-nachher-Vergleiche) aus der klinischen Praxis.
Zusammenfassende Studien über die Wirksamkeit bestimmter Therapiemethoden
beruhen auf Meta-Analysen, die bei kritischer Betrachtung sicherlich verschiedene, hier
nicht weiter dargelegte Schwächen aufweisen. Dabei werden die einzelnen Untersu-
chungen nach den erzielten Effektstärken für eine bestimmte Methode gemittelt und
nach der Anzahl der Studienteilnehmer gewichtet. Unter „Effektstärke“ versteht man
ein standardisiertes statistisches Maß, das die relative Größe eines Effektes angibt. Es
werden die Unterschiede zwischen den Werten vor und nach einer Behandlung ins Ver-
hältnis zur Standardabweichung der Unterschiede gesetzt. Prä-Post-Effektstärken
(Cohen’s d) ab 0,50 gelten als mittlere, ab 0,80 als große Effekte. Eine Effektstärke (ES)
von 1,0 bedeutet, dass sich eine Behandlungsgruppe im Vergleich zu einer Kontroll-
gruppe um eine Standardabweichungseinheit verbessert hat, was als guter Effekt der
Methode gilt. Kognitiv-behaviorale Behandlungsmethoden ergeben bei allen Angststö-
rungen mindestens mittlere Effektstärken und gelten als die wissenschaftlich am besten
abgesicherte Psychotherapiemethode bei krankhaften Ängsten (öfter sogar d>2,0, d.h.
mehr als zwei Standardabweichungen). Die Verhaltenstherapie bei Angststörungen ist
das wissenschaftlich am besten fundierte Verfahren in der ganzen Psychotherapie. Dies
soll im Folgenden differenziert nach der Art der Angststörung belegt werden.
462 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Agoraphobie
Der Therapieforscher Klaus Grawe und seine Mitarbeiter [86] fassten die Ergebnisse
ihrer Literaturauswertung zur Psychotherapieforschung hinsichtlich der Konfrontations-
therapie im Rahmen einer verhaltenstherapeutisch fundierten Angstbehandlung in ihrem
Buch „Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession“ bereits im Jahr
1994 in einer Weise zusammen, wie dies auch heute noch immer gilt, wenngleich diese
Ausführungen von Vertretern anderer Psychotherapiemethoden heftig kritisiert wurden:

„Die massierte Reizkonfrontation muß nach dieser Faktenlage als ein außerordentlich wirksames Ver-
fahren zur Reduktion von Ängsten und Zwängen angesehen werden... Während Agoraphobie und
Zwänge noch vor dreißig Jahren zu den schwer behandelbaren Störungen zählten und Patienten mit
diesen Störungen in großer Zahl die psychiatrischen Kliniken bevölkerten, hat sich dieses Bild heute
dramatisch gewandelt. Patienten mit solchen Störungen haben heute eine eher günstige Prognose, und
dies ist fast gänzlich den Reizkonfrontationstherapien zu verdanken... Man kann jedoch ohne Übertrei-
bung feststellen, daß die Reizkonfrontationsverfahren sich inzwischen immer mehr als die Methode der
Wahl zur Behandlung von Zwängen und agoraphobischen Störungen erwiesen haben.“

Viele Studien zur Reizkonfrontationstherapie [87] haben folgende Befunde ergeben:


z Rund 75% der Agoraphobie-Patienten können dauerhaft geheilt werden. Nachunter-
suchungen zeigen stabile Erfolgsergebnisse auch nach 13 Jahren.
z Es wurden ähnliche Therapieergebnisse erzielt, egal ob die Behandlungen in Groß-
britannien, Deutschland, Holland, Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland, der
Türkei, den USA, Kanada oder Australien durchgeführt wurden.
z Die vom Betroffenen selbst durchgeführte Reizkonfrontation ist die zuverlässigste
und am längsten wirksame Behandlungsmethode. Die Reizkonfrontation in Beglei-
tung eines Therapeuten ist nicht wirksamer als die allein durchgeführte.
z Die Therapieerfolge sind gleichermaßen gut, unabhängig davon, ob die Reizkon-
frontation von einem Psychiater, einem Psychologen, einer Krankenschwester oder
vom Betroffenen allein durchgeführt wurde.
z Die massierte Reizkonfrontation ist der gestuften überlegen bei reiner Agoraphobie,
nicht jedoch bei einer Mehrfacherkrankung.
z Bei vielen Patienten ist die symptombezogene Therapie (Konfrontationstherapie)
ausreichend, ohne dass andere Probleme behandelt werden müssen.

Nach der viel zitierten Marburger Untersuchung von Fiegenbaum [88] aus den 1980er-
Jahren waren 78% von 104 Agoraphobikerinnen 5 Jahre nach Abschluss einer massier-
ten Reizkonfrontationstherapie völlig symptomfrei. Nach einer neueren Untersuchung
des Teams um Fiegenbaum [89] bei 61 Patienten bewerteten 74,2% der Patienten ihren
Zustand als „sehr viel besser“ bzw. „viel besser“. Die Nachuntersuchung fünf Jahre
nach der Konfrontationstherapie [90] ergab bei 30% der ehemaligen Patienten eine
Verschlechterung der Partnerschaft bis hin zur Trennung. Angesichts des Umstands,
dass in der gesunden Vergleichsgruppe eine ähnlich hohe Rate an Partnerschaftspro-
blemen und Trennungen gefunden wurde, ist dieses Ergebnis nach Auffassung der Au-
toren nicht als negativer Therapieeffekt zu werten. Ein Drittel an Beziehungsverschlech-
terungen bzw. Trennungen erscheint bedauerlich hoch, wenngleich im Einzelfall eine
klare Trennung bzw. Scheidung als sinnvolle Problemlösung angesehen werden kann.
Dies sollte Anlass sein, die aktuelle Partnerbeziehung von Therapiebeginn an stärker zu
berücksichtigen.
Erfolge der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 463

Hand [91] fand bei 199 Agoraphobie-Patienten aus zwei Studien in Hamburg bei ei-
ner durchschnittlichen Nachuntersuchungszeit von 5,3 Jahren eine Erfolgsrate von 75%.
10-25% der Patienten lehnten eine Reizkonfrontation ab. 83-85% der Patienten hielten
die Therapie durch. Agoraphobiker mit Panikattacken haben die besten Therapieergeb-
nisse, wenn sie gleich an den ersten Übungstagen wiederholt Panikzustände erleben und
deren Bewältigung erlernen. Dies lässt sich durch die sofort einsetzende kognitive Um-
strukturierung im Rahmen dieser „Realitätstestung“ erklären. Hand [92] stellt dazu fest:

„Am erfolgreichsten unter den phobischen Patienten scheinen jene aus den Phobieübungen hervorzuge-
hen, die bereits am ersten Übungstag ein bis mehrere akute Panikattacken erleben und an ihnen eine
erfolgreiche Bestätigung des ihnen vermittelten Therapieprinzips erfahren konnten. Patienten, die
emotionale Reaktionen durchgängig ängstlich-gespannt unterdrücken, scheinen, wenn es dem Thera-
peuten nicht gelingt, diese Haltung zu lockern, kaum zu profitieren und die Therapie als ausgesprochen
unangenehm zu erleben.“

Nach einer Studie sind 10 Übungstermine täglich hintereinander wesentlich wirkungs-


voller als 10 Übungstermine über 10 Wochen verteilt. Eine intensive, engmaschig ange-
legte Angstbehandlung führt somit zu einem viel größeren Gesamteffekt. Auf derartigen
Erkenntnissen beruht letztlich der Erfolg von Kurzzeit-Intensivtherapien wie z.B. in der
Christoph-Dornier-Stiftung oder bei stationären Aufenthalten [93].
Eine andere Untersuchung [94] ergab den überraschenden Befund, dass ein standar-
disiertes Vorgehen bessere Erfolge erzielen kann als das individuelle Eingehen auf die
Problemlage der Patienten. Dies hängt wohl damit zusammen, dass es bei Agoraphobi-
kern zentral darauf ankommt, das Vermeidungsverhalten zu unterbrechen, wie dies im
Standardprogramm vorgesehen ist, während in individualisierten Therapien zwar alle
möglichen Probleme angesprochen werden, Patient und Therapeut jedoch leicht die
Notwendigkeit eines direkten Unterbrechens des Vermeidungsverhaltens übersehen
können. Ansonsten spricht diese Studie natürlich nicht gegen das Grundprinzip der
individuellen Problemanalyse und Behandlungsplanung.
Vergleichende Studien hinsichtlich gestufter und massierter Reizkonfrontation bele-
gen, dass in der Regel eine Reizüberflutungstherapie (Flooding) rascher, effizienter und
dauerhafter wirkt [95]. Zumindest gilt dies für Menschen mit Agoraphobie ohne weitere
Störungen (Depression, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch).
Im klinischen Alltag findet man viele Patienten mit psychischer Mehrfacherkran-
kung, die oft nicht allein durch eine Konfrontationstherapie erfolgreich behandelt wer-
den können. Wenn eine Agoraphobie mit einer anderen psychischen Störung (z.B. De-
pression) verbunden ist, sinkt die Erfolgsrate der Therapie von 75-80% auf 50-60% ab.
Bei komorbiden Agoraphobikern ist eine gestufte Reizkonfrontation bei der Hälfte
erfolgreich, sodass seine Anwendung im Rahmen von Selbsthilfeanleitungen gerechtfer-
tigt ist. Das gestufte Vorgehen nach dem Selbsthilfemanual von Mathews u.a. [96] er-
brachte in Hamburg immerhin einen Erfolg bei 54% der Fälle (schwere Agoraphobien).
Das Agoraphobie-Behandlungsprogramm von Sigrun Schmidt-Traub setzt grundsätz-
lich auf eine gestufte Konfrontationstherapie. Den Therapeuten der Christoph-Dornier-
Stiftung sind dagegen die Erfolge der gestuften Angstbehandlung zu gering und die
Rückfallsrate zu hoch. In einer Untersuchung von Hand et al. [97] war eine Gruppenbe-
handlung mit intensiver therapeutenbegleiteter Konfrontation einer Konfrontationsthe-
rapie nach einem Selbsthilfemanual nur dann effektiver, wenn eine besonders schwere
Agoraphobie und/oder eine zusätzliche sekundäre Depression vorhanden war.
464 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Verschiedene Studien konnten nachweisen, dass eine therapeutengeleitete Konfron-


tationstherapie der Selbstkonfrontation nur wenig oder überhaupt nicht überlegen ist.
Eine umfangreiche Studie des Teams um Marks in London [98] verglich die Therapieef-
fekte bei phobischen Patienten (Agoraphobie, soziale oder spezifische Phobie) unter
drei Bedingungen: therapeutenbegleitete Konfrontationstherapie mit anschließender
Selbstexpositionstherapie, reine Selbstexpositionstherapie, Entspannungstraining ohne
Konfrontationstherapie. Nach achtwöchiger Therapie sowie 14 und 26 Wochen später
waren beide Formen der Konfrontationstherapie der reinen Entspannungstechnik deut-
lich überlegen. Die tägliche sechsstündige, eigenständige Konfrontationstherapie hatte
den größten und anhaltendsten Effekt. Eine zusätzliche neunstündige, therapeutenbe-
gleitete Konfrontationstherapie führte zu keinen besseren Therapieeffekten, außer bei
einigen Patienten mit sozialer Phobie.
Unter dem Aspekt von Aufwand und Ertrag („ökonomisches Prinzip“ der Verhal-
tenstherapie) ist die vom Patienten allein durchgeführte Konfrontationstherapie die
effektivste Behandlungsmethode bei Agoraphobie. Nach den Erfahrungen von Marks
ergaben sich bei zahlreichen Patienten, die stundenlange therapeutenbegleitete Konfron-
tationstherapien erlebt, jedoch keine eigenständige Konfrontationstherapie unternom-
men hatten, rasch Rückfälle, wenn die Therapeutenbegleitung beendet wurde.
In einer Studie [99] wurden Agoraphobiker unter drei Bedingungen behandelt:
1. vierwöchige intensive Selbstkonfrontation über täglich 2-5 Stunden ohne Begleit-
person, jedoch mit Unterrichtung über gestufte und massierte Konfrontation sowie
mit 5 zweistündigen Gesprächskontakten,
2. Partnergeleitete gestufte Konfrontation mit Erlaubnis zur Angstvermeidung,
3. Therapeutenbegleitete verlängerte Reizkonfrontation in der Gruppe.

Die Selbstkonfrontationsgruppe erbrachte mindestens so gute Resultate wie die beiden


anderen Behandlungsmethoden. Insgesamt waren 62% aus der Gruppe der Selbstkon-
frontation deutlich gebessert oder völlig symptomfrei.
Marks [100] fasste 1993 den Forschungsstand noch immer gültig derart zusammen:

„Die Reizkonfrontation ist die Methode der Wahl bei der Behandlung der Agoraphobie/Panik, von
sozialen, spezifischen und anderen Phobien, der Zwangskrankheit und vermutlich auch der posttrauma-
tischen Streßerkrankung... Es ist unnötig, die Angst des Patienten während der Reizkonfrontation auf
ein Maximum zu erhöhen, etwas Unbehagen scheint jedoch notwendig zu sein. Dies bezeichnet man als
emotionale Beteiligung am Prozeß der Reizkonfrontation. Wenn sich der Patient während der Reizkon-
frontation zurückzieht, ohne das Gefühl des üblichen Unbehagens als Merkmal seiner Angststörung zu
erleben, ist eine Besserung unwahrscheinlich. Verläuft die Reizkonfrontation zu langsam, dann wird es
zu lange dauern, bis eine deutliche Besserung eintritt...
Früher war es üblich, die Reizkonfrontation in Gegenwart des Therapeuten durchzuführen; zahlrei-
che kontrollierte Studien haben jedoch gezeigt, daß seine Anwesenheit nicht unbedingt notwendig ist.
Die Angst vermindert sich bei der Reizkonfrontation mit derselben Geschwindigkeit, unabhängig
davon, ob der Therapeut anwesend ist oder nicht. Keine kontrollierte Studie hat bisher nachweisen
können, daß die therapeutenbegleitete Reizkonfrontation signifikant überlegen ist. Entscheidend ist die
vom Patienten selbst durchgeführte Reizkonfrontation. Wenn der Patient selbst keine Reizkonfrontation
durchführt, dann ist es eher unwahrscheinlich, daß die Fortschritte, die mit Hilfe des Therapeuten erzielt
werden, langfristig aufrechterhalten werden können. Die Rolle des Therapeuten besteht hauptsächlich
in der eines Anleiters, Trainers und Überwachers. Diese Anleitung muß individuell auf den Patienten
abgestimmt sein, wenn sie etwas bewirken soll... Die Erkenntnis der Bedeutung der vom Patienten
selbst durchgeführten Reizkonfrontation und der Redundanz einer therapeutisch begleiteten Reizkon-
frontation ist für die Behandlung wichtig. Sie hat den Zeitaufwand für den Therapeuten verkürzt, je-
doch nicht für den Patienten, der hart arbeiten muß, um Verbesserungen zu erzielen...
Erfolge der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 465

Die vom Patienten durchgeführte Reizkonfrontation ist eine selbstregulierende Behandlungsart. Es


wird den Patienten empfohlen, ein Selbstkonfrontationsmanual ... zu lesen, bevor sie mit der Behand-
lung beginnen, damit sie ein gutes Verständnis dafür bekommen, was notwendig ist, und zum Partner
des Therapeuten werden, indem sie ihre eigene Behandlung gestalten, bewerten und ausführen. Ihnen
wird erklärt, daß ihre eigenen Vorschläge und Initiativen zur Durchführung der Reizkonfrontation zu
Hause wichtiger sind als die des Therapeuten. Sie werden unterwiesen, mit Rückfällen umzugehen,
Rückschläge zu erwarten, und es wird vorher eingeübt, wie ein Rückfall im Keim erstickt werden kann.
Hierzu werden geeignete Reizkonfrontationsaufgaben vorbereitet, um dem unverzüglich und schnell
entgegenzuwirken. Die Patienten lernen, die Selbstkonfrontation als ständige Bewältigungsstrategie
anzuwenden... Kurz gesagt, die vom Patienten selbst durchgeführte Reizkonfrontation ist die zuverläs-
sigste und die am längsten wirksame Behandlungsmethode für die meisten Angsterkrankungen. Sie
wird von den meisten Kranken akzeptiert und wird zu einer ständigen Bewältigungsstrategie... Die
Reizüberflutungsform der Konfrontationsbehandlung ist üblicherweise unnötig, ebenfalls die Entspan-
nungstechnik und die vom Therapeuten begleitete Reizkonfrontation.“

Marks fasste bereits im Jahr 2000 in seinem Artikel „Fear reductions by psychothera-
pies. Recent findings, future directions“ die Forschungsbefunde der 1990er-Jahre zu-
sammen, wonach neben der Konfrontationstherapie auch nicht-konfrontative Behand-
lungsmethoden wirksam sind (d.h. das Dogma unbedingter Konfrontation ist veraltet):
z Muskelanspannung bei Blutphobie zur Hebung des Blutdrucks.
z Kognitive Therapie: bei Panikstörung mit und ohne Agoraphobie, Zwangsstörung,
posttraumatischer Belastungsstörung, Hypochondrie.
z Selbst-Reflexions-Training als eine bestimmte Form des Problemlösens bei generali-
sierter Angststörung.
z Achtsamkeitsmeditation nach Kabat-Zinn: differenzierte Körperwahrnehmung (Bo-
dy Scan), Hatha Yoga, Instruktion, alle während des Meditierens auftretenden Ge-
danken nur als Gedanken zu verstehen und bei diesen Gedanken zu verweilen, bis
sie verschwinden, was man als eine Art der Konfrontationstherapie verstehen kann.

Reinecker [101] stellt aufgrund der Studienergebnisse folgende Überlegungen an:

„Als Resümee zu dem Problem der Konfrontation, Vermeidung und Angstreduktion kann man festhal-
ten, daß Konfrontation praktisch in allen Fällen eine hinreichende Bedingung für die Angstreduktion
darstellt. So gesehen steht die Bedeutung dieses Prinzips für die Behandlung von Phobien außer Frage.
Auf der anderen Seite zeigen die verschiedenen Argumente, daß die Technik der Konfrontation offen-
bar nicht in jedem Falle notwendig ist, um einen Prozeß der Angstreduktion in Gang zu setzen.“

Die 2001 veröffentlichte Meta-Analyse von Ruhmland und Margraf [102] bezüglich
psychologischer Studien bei Panikstörung mit Agoraphobie erbrachte im Vergleich zur
Wartelistenkontrollgruppe große Effekte am Therapieende bezüglich der Konfrontation
in vivo (ES = 1,64) und der kognitiv-behavioralen Therapie (ES = 1,19). Hinsichtlich
der Reduktion der Lebensbeeinträchtigung und der Panikattacken war die Konfrontati-
onstherapie in vivo die effektivste Therapiemethode (ES = 2,11 bzw. ES = 1,32), vergli-
chen mit kognitiv-behavioraler Therapie, kognitiver Therapie und nondirektiver Thera-
pie. 7-24 Monate später ergab sich hinsichtlich der Hauptsymptomatik der Panikstörung
mit Agoraphobie bei der Konfrontation in vivo sogar eine sehr hohe Effektstärke von
3,23, d.h. eine wesentlich größere Wirksamkeit als am Therapieende, was die Stabilität
der Therapieerfolge von Konfrontationstherapien in beeindruckender Weise aufzeigt.
Bei der Auswertung von Langzeiteffekten einer Kurzzeit-Verhaltenstherapie im
Rahmen von 11 Studien aus verschiedenen Ländern mit insgesamt 474 Agoraphobie-
Patienten konnte eine durchschnittliche Erfolgsrate von 76% ermittelt werden [103].
466 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Trotz der hohen Erfolgswahrscheinlichkeit wird die Expositionstherapie im deut-


schen Sprachraum viel zu wenig und selbst von deutschen Verhaltenstherapeuten zu
selten eingesetzt. Eine mögliche Erklärung dafür sind die ungünstigen Bedingungen im
Rahmen von Verhaltenstherapien, wenn sie von den Krankenkassen bezahlt werden
(wie in Deutschland) oder zumindest bezuschusst werden (wie in Österreich). Eine
Studie der italienischen Arbeitsgruppe um Fava belegt in beeindruckender Weise, wie
erfolgreich ein Behandlungszyklus von 12 halbstündigen Selbst-Expositionen sein kann.
Von 93 Patienten erreichten 81 eine vollständige Remission ihrer panischen und ago-
raphobischen Symptome, 76 waren nach 5 Jahren und 67 nach 7 Jahren noch symptom-
frei. Von insgesamt 132 Panikpatienten mit Agoraphobie hatten nur 23% einen Rück-
fall, 77% der Patienten blieben durch die Konfrontation in vivo symptomfrei.
Eine Konfrontationstherapie kann Auswirkungen auf die Partnerschaft haben:
1. bei Erfolg eine positive Veränderung der Ehequalität;
2. bei einem Teil der Patienten eine Irritation der Beziehung, ohne dass sich dies nega-
tiv auf den Therapieerfolg auswirken muss;
3. Auslösung von Störungen in der Zweierbeziehung, begleitet von Rückfällen.

Nach einer Hamburger Untersuchung [104] ging eine erfolgreiche Konfrontationsthera-


pie bei Patienten mit Eheproblemen – ähnlich wie bei der Marburger Studie – gehäuft
mit Trennung oder Veränderung der Partnerschaft einher, sofern die Agoraphobie bei
den Patienten nicht mit primären sozialen Ängsten und Defiziten verbunden war. Die
Partner von Agoraphobikern müssen auf den raschen Symptomabbau vorbereitet wer-
den. Wenn nach jahrelanger Krankheit eine Konfrontationstherapie die Symptomatik in
3-5 Tagen zu beseitigen vermag, kann dies beim Partner zu aggressiven Reaktionen statt
zur Entlastung führen, weil er sich hinterher getäuscht und missbraucht fühlen kann.
Innerhalb der verhaltenstherapeutisch orientierten Studien zeigte sich, dass die the-
rapeutische Arbeit an Bewältigungsstrategien eine geringere Zahl an Abbrechern, höhe-
re Erfolgsquoten und geringeres Wiederauftreten an Panikattacken bewirkte als eine
reine Konfrontationstherapie. 10-25% der Agoraphobiker lehnen aus unterschiedlichen
Gründen eine Konfrontationstherapie ab.
Zur Thematik aller Angststörungen gibt es mehrere Meta-Analysen der Therapieef-
fekte bei Kombinationsbehandlungen von Verhaltenstherapie und Psychopharmakothe-
rapie. Die Studienergebnisse und Überblicksstudien sind jedoch widersprüchlich, sodass
erst weitere Studien endgültige Klarheit bringen werden. Grundsätzlich fällt auf, dass
Psychologische Psychotherapeuten eher die Vorteile einer rein verhaltenstherapeuti-
schen Behandlung betonen (vor allem die Zuschreibung der Erfolge auf das eigene
Bemühen und nicht auf die Medikamente), während Psychiater, auch wenn sie Verhal-
tenstherapeuten sind, eher die Vorteile einer Kombinationstherapie hervorheben. Aus
der Sicht von Psychiatern gibt es keine ausreichenden Studienbelege für die Behaup-
tung, dass bei einer gleichzeitigen Pharmakotherapie die erreichten Behandlungserfolge
langfristig gefährdet würden, weil die Erfolge der Konfrontationstherapie von den Pati-
enten auf die Medikamente und nicht auf ihre eigenen Bemühungen zurückgeführt wür-
den. In der Praxis sollte zumindest in der akuten Behandlungsphase eine Kombinations-
therapie erfolgen, die in verschiedenen Studien deutliche Erfolgssteigerungen bewirkte.
Zur Kombination von Konfrontations- und Benzodiazepin-Therapie gibt es nur
einige wenige gute kontrollierte Studien aus den 1990er-Jahren, die laut Cochrane Col-
laboration (www.cochrane.org) zur Feststellung führen, dass die Kombinationstherapie
nicht wirksamer ist als eine reine Psychotherapie.
Erfolge der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 467

1993 wurde eine umfangreiche Studie veröffentlicht, die unter Leitung von Marks
[105] in London und Toronto bei Patienten mit Panikstörung mit Agoraphobie den
Effekt einer Konfrontationstherapie im Vergleich zu Tranquilizer Alprazolam (Tafil®,
Xanor®) im Rahmen einer achtwöchigen Therapie erhoben. Die Expositionsbehandlung
hatte einen doppelt so hohen Effekt wie Alprazolam. Schrittweises Reduzieren und
anschließendes Absetzen von Alprazolam führte bei der rein pharmakotherapeutisch
behandelten Gruppe zu einem Rückfall auf das Ausgangsniveau. Bei der Gruppe mit
Reizkonfrontation blieben die Erfolge stabil. Die Kombination von Alprazolam und
Expositionsbehandlung bewirkte während der Behandlung kurzfristig sehr gute Effekte,
bei der späteren Nachuntersuchung hatte die Gruppe mit nur Reizkonfrontation bessere
Erfolge als die Gruppe mit der Kombination von Reizkonfrontation und Alprazolam.
Mehrere Studien [106] weisen darauf hin, dass die Verringerung der Angst vor den
Paniksymptomen die entscheidende Komponente ist, ob Panikpatienten die einmal
eingenommenen Medikamente wie Alprazolam leicht wieder absetzen können oder
langfristig beibehalten. Die kognitive Verhaltenstherapie und die Konfrontationsthera-
pie verhelfen zur Erfahrung der Bewältigbarkeit von Panikattacken, sodass die Erwar-
tungsängste geringer werden. Dieser Umstand scheint ausschlaggebend dafür zu sein,
dass bei verschiedenen Studien die Kombinationstherapien nicht nur eine raschere,
sondern auch eine bleibend bessere Wirksamkeit aufweisen als die Monotherapien.
Neueste Tendenzen aus den USA erwecken den Eindruck, als wäre bei klarer Fest-
legung einer kurzen Einnahmezeit (z.B. zwei Wochen) und bei fixer Vereinbarung einer
anschließenden Verhaltenstherapie die regelmäßige Einnahme einer niedrigen Dosis
von Alprazolam keineswegs schädlich, wenn auf das anschließende Ausschleichen der
Medikation geachtet wird [107].
Nach einer 1995 veröffentlichten niederländische Studie [108] zur Behandlung von
Panikstörung mit Agoraphobie war die Kombination von Fluvoxamin (Fevarin®, Floxy-
fral®) und Expositionstherapie den drei anderen Therapiebedingungen (Exposition +
Placebo, psychologisches Management + Exposition, reine Exposition) deutlich überle-
gen, zumindest kurzfristig. Eine weitere 1995 vorgelegte Studie [109] bestätigte die
Überlegenheit einer gleichzeitigen Psycho- und Pharmakotherapie. Die Kombination
Paroxetin (Seroxat®, Tagonis®) und kognitive Therapie war bei der Behandlung von
Panikstörungen wirkungsvoller als die Kombination von kognitiver Therapie und Pla-
cebo. Eine umfangreiche amerikanische Therapiestudie zur Behandlung von Panikstö-
rungen mit Agoraphobie weist darauf hin, dass die Kombination von Imipramin (Tofra-
nil®) und Verhaltenstherapie (Reizkonfrontation und kognitive Therapie) wesentlich
effektiver ist als die jeweilige Monotherapie [110].
Eine Analyse von 11 Studien [111] zur Kombinationstherapie bei Panik- und Ago-
raphobie-Patienten ergab, dass die Kombinationsbehandlungen den jeweiligen Mono-
therapien (Konfrontationstherapie bzw. Psychopharmakotherapie mit Antidepressiva
oder Benzodiazepinen) bei Abschluss der Behandlung zumindest leicht überlegen war,
soweit es die Beseitigung von phobischer Angst, phobischem Vermeidungsverhalten,
Depression und psychosozialen Funktionsbeeinträchtigungen betraf. Die Kombinations-
therapie erwies sich auch bei der Reduktion von Panikattacken der reinen Verhaltens-
therapie leicht überlegen, der reinen Psychopharmakotherapie mit Imipramin jedoch
nicht. Eine weitere Analyse zahlreicher Studien [112] zur Effizienz der Behandlung von
Panikattacken und Agoraphobie mittels Verhaltenstherapie und Psychopharmakothera-
pie ergab, dass die Verhaltenstherapie und die Kombinationstherapie einen größeren
Effekt aufwiesen als eine ausschließliche Psychopharmakotherapie.
468 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Nach einer anderen Zusammenfassung der Forschungsergebnisse [113] ist bei Be-
rücksichtigung verschiedener Kriterien (Abbrecherquote, Erfolgs- und Rückfallsraten,
kurz- und langfristige Effekte) die reine Verhaltenstherapie am effektivsten, während
die Kombination von Verhaltenstherapie und Pharmakotherapie keinen entscheidenden
Vorteil bei der Behandlung von Panikstörungen und Agoraphobie bringt. Die bedeut-
samste, umfangreichste und aussagekräftigste Zusammenfassung des Forschungsstands
zur Kombinationstherapie (23 Studien) wurde von der Cochrane Collaboration
(www.cochrane.org) vorgenommen. Demnach ist die Kombinationstherapie von Psy-
chotherapie und Antidepressiva bei der Behandlung von Panikpatienten mit und ohne
Agoraphobie der jeweiligen Monotherapie in der akuten (anfänglichen) Behandlungs-
phase eindeutig überlegen. Langfristig gesehen ist die Kombinationstherapie gleich
effektiv wie die Psychotherapie und besser wirksam als eine reine Antidepressivathera-
pie. Die Kombinationstherapie führte in der akuten Behandlungsphase zu mehr Ausfäl-
len, bedingt durch die für verschiedene Patienten unerträglichen Nebenwirkungen der
Antidepressiva. Die Überlegenheit der Kombinationstherapie blieb so lange bestehen,
als Antidepressiva eingenommen wurden. Die reine Psychotherapie war langfristig nicht
wirksamer als die Kombinationstherapie. Von den verschiedenen Psychotherapiemetho-
den zeigten die behavioralen und kognitiv-behavioralen Therapien die beste Wirksam-
keit. Die Studienautoren geben bei Panikstörungen mit und ohne Agoraphobie folgende
Behandlungsempfehlungen ab: Die Therapie der ersten Wahl ist entweder die Kombina-
tionstherapie oder eine reine (primär verhaltenstherapeutisch orientierte) Psychothera-
pie. Das Vorgehen hängt einerseits von den Wünschen der Patienten und andererseits
von den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ab. Eine reine Antidepressivatherapie
ist nicht die Methode der ersten Wahl, wenn eine wirksame Psychotherapie möglich ist
Wenn dies jedoch nicht der Fall ist, bleibt die Antidepressivatherapie leider als einzige
Behandlungsform übrig. Ohne ausreichende Absicherung durch entsprechende Studien
empfehlen die Autoren auch die Psychotherapie als einzige Methode der ersten Wahl
und schlagen bei deren Scheitern eine anschließende Kombinationstherapie vor.
Angesichts der vorliegenden Studien müssen jene Verhaltenstherapeuten umdenken,
die bisher gegen jede begleitende Psychopharmakotherapie eingestellt waren. Der Ge-
sichtspunkt, dass die Bewältigung einer Panikstörung mit Agoraphobie ausschließlich
aus eigenen Kräften gelingen sollte, weil die Selbstzuschreibung des Erfolgs entschei-
dend sei für den Abbau von Erwartungsängsten hinsichtlich des Auftretens neuerlicher
Panikattacken, scheint nicht im Widerspruch zu stehen mit einer gleichzeitig gegebenen
medikamentösen Therapie. Auf der anderen Seite empfehlen biologisch orientierte
Psychiater heute oft auch eine gleichzeitige Verhaltenstherapie, um bei einer Medika-
mentenreduktion die ansonsten häufig gegebene hohe Rückfallsgefahr zu vermindern.

Panikstörung
Die Behandlung von Panikstörungen ohne Agoraphobie nach dem 15 Sitzungen umfas-
senden Therapiekonzept von Margraf und Schneider [114] brachte bei 80% eine dauer-
hafte Beseitigung der Panikattacken. Nach Studien in den USA, England, Deutschland
und Italien sind zwei Jahre nach der Behandlung ebenfalls rund 80% der Panikpatienten
nicht nur symptomfrei, sondern zeigten auch wesentliche Verbesserungen hinsichtlich
allgemeiner Ängstlichkeit, panikrelevanter Denkmuster, phobischem Vermeidungsver-
halten und Depression [115].
Erfolge der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 469

Nach der von Ruhmland und Margraf [116] 2001 veröffentlichten Meta-Analyse
von sechs Studien zur kognitiv-behavioralen Therapie bei Panikstörung ohne Ago-
raphobie ergab sich in der Hauptsymptomatik und der Anzahl der Panikattacken eine
Effektstärke von 1,32 bzw. von 1,24, d.h. ein sehr guter Therapieeffekt, verglichen mit
einer Wartelistenkontrollgruppe. Bei zusätzlicher agoraphobischer Vermeidung ist, wie
bereits erwähnt, eine Konfrontationstherapie am effektivsten.
Gegenwärtig (2006-2009) läuft im Rahmen des Forschungsverbunds Psychotherapie
eine Studie zur Verbesserung der Behandlung der Panikstörung. In einer Gruppe erfol-
gen Expositionen im Beisein des Therapeuten, in der anderen Gruppe führen die Patien-
ten die Expositionen eigenständig durch. Daneben gibt es eine Wartekontrollgruppe.
Eine Zusammenfassung [117] von 12 Kombinationsstudien (Imipramin und Kon-
frontationstherapie) bei Panikpatienten mit zumindest leichter zusätzlicher depressiver
Symptomatik ergab eine deutliche Überlegenheit der Kombinationstherapie in Bezug
auf die Verbesserung der phobischen Symptomatik im Vergleich zur reinen Psy-
chopharmakotherapie. Die reine Konfrontationstherapie war zwar kurzfristig genauso
wirksam wie die Kombinationsbehandlung, bei der Untersuchung der Langzeiteffekte
zeigte sich jedoch eine Überlegenheit der Kombinationstherapie bei der Reduzierung
der phobischen Symptomatik, der allgemeinen Ängstlichkeit und der Depressivität.
Eine Studie von Margraf und Schneider [118] an 66 Patienten, die durchschnittlich
seit sieben Jahren an Panikstörungen litten, ergab einen beträchtlichen Kosteneinspa-
rungseffekt im Gesundheitssystem allein durch die Teilnahme an 15 Sitzungen der be-
schriebenen Gruppentherapie. Eine amerikanische Studie belegte, dass die kognitive
Verhaltenstherapie wesentlich kostengünstiger ist als eine Psychopharmakotherapie.

Generalisierte Angststörung
Die Erfolge der Verhaltenstherapie bei generalisierten Angststörungen sind noch unzu-
reichend, wie Meta-Analysen von Ruhmland und Margraf aufzeigen (mittlere Prä-post-
Effektstärken zwischen 0,46 und 1,43). Die kognitiv-behaviorale Therapie (ES = 1,43)
und die kognitive Therapie (ES = 1,20) erzielten die größten Erfolge bezüglich der
Hauptsymptomatik der generalisierten Angststörung. Eine bedeutsame Studie erbrachte
nach einem Jahr bei 57,9% der Behandelten nahezu eine Heilung [119]. Nach einem
Studienüberblick durch die Cochrane Collaboration (www.cochrane.org) war die kogni-
tiv-behaviorale Therapie bei 46% der Patienten erfolgreich. Die langfristigen Behand-
lungserfolge sind dagegen noch unzureichend belegt. Die Studienautoren plädieren für
die Berücksichtigung erfolgreicher Konzepte aus der kognitiv-analytischen Therapie
und der interpersonellen Therapie, um die Therapieerfolgsrate zu erhöhen.
Die niedrigere Erfolgsrate hängt damit zusammen, dass bei dieser Störung der As-
pekt der Vermeidung bestimmter Situationen nur eine geringe Rolle spielt und daher
über Konfrontationstechniken allein kein ausreichender Therapieerfolg gesichert wer-
den kann. Mangels umschriebener phobischer Symptomatik ist in vielen Fällen eine
kognitive Therapie von zentraler Bedeutung. Die im Vergleich zu anderen Angststörun-
gen unbefriedigenden Erfolgsraten im Rahmen der traditionellen verhaltenstherapeuti-
schen Behandlungsmethoden können nur durch die Einbeziehung neuer Strategien er-
höht werden. Unspezifische kognitive Therapien in Verbindung mit Entspannungstech-
niken zur Reduzierung des erhöhten Anspannungsniveaus sind unzureichende Behand-
lungsansätze.
470 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Effektiver ist die Konzentration auf den Prozess des ständigen Sich-Sorgens, dessen
Provokation und Bewältigung. Neuere, spezifischere Konzepte von Dugas und Robi-
chaud [120] führten bei 60-77% der Patienten zu Behandlungserfolgen und bei 62-65%
zu wesentlich besserer Lebensqualität.
Gegenwärtig (2009) läuft eine Vergleichsstudie zwischen kognitiver Verhaltensthe-
rapie und analytischer Kurztherapie (25 Stunden) bei generalisierter Angststörung.

Spezifische Phobie
Die erfolgreiche Behandlung monosymptomatischer Phobien begründete den Ruf der
Verhaltenstherapie als effiziente Therapiemethode. Die meisten Therapiestudien der
1960er- und 1970er-Jahre belegten die Wirksamkeit der systematischen Desensibilisie-
rung bei spezifischen Phobien. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich die gestufte
bzw. massierte Reizkonfrontation als weitaus effizienter erwiesen. Die meisten Wirk-
samkeitsstudien beziehen sich auf folgende spezifische Phobien: Tierphobien, Blut-,
Spritzen- und Verletzungsphobien, Dentalphobie, Klaustrophobie, Höhenphobie, Flug-
phobie. Insgesamt ergaben sich in 80-95% der Fälle klinische Verbesserungen [121].
Die Prä-post-Effektstärken für die Konfrontationsverfahren waren nach den Meta-
Analysen von Ruhmland und Margraf durchwegs hoch (ES zwischen 1,42 und 2,06).

Soziale Phobie
Die Kombination von sozialem Kompetenztraining, Reizkonfrontation in der Realität
und kognitiver Umstrukturierung führt bei 80-85% der Sozialphobiker zu Besserungen.
Nach amerikanischen Studien der Gruppe um Heimberg [122] ist die Kombination
von kognitiver Therapie (Analyse und Änderung negativer Denkmuster in sozialen
Situationen) und Konfrontationsübungen (Verhaltenstraining in der Gruppe und zu
Hause) wirksamer als jedes der beiden Therapiekonzepte allein (Erfolgsraten: 60-80%).
Während frühere Studien Gruppen- und Einzeltherapie als gleich wirksam ansahen,
weisen neuere Studien auf größere Therapieeffekte bei Einzeltherapien hin.
Nach den Meta-Analysen von Ruhmland und Margraf [123] ergaben sich mit einer
durchschnittlichen Effektstärke von 1,0 gute und dauerhafte Verbesserungen der sozi-
alphobischen Symptomatik durch Konfrontation und kognitiv-behaviorale Therapie. Im
Einzelnen wurden folgende Effektstärken für die verschiedenen Behandlungsmethoden
eruiert: kognitive Umstrukturierung + Exposition: 1,07; Exposition alleine: 1,76; kogni-
tive Umstrukturierung alleine: 1,13; soziale Kompetenmztrainings: 0,85; Entspannungs-
training: 0,44. Eine reine Konfrontationsbehandlung führt zu ebenso guten Ergebnissen
wie deren Kombination mit kognitiver Umstrukturierung, doch auch eine reine kogniti-
ve Therapie ohne Konfrontation war sehr erfolgreich. Ein soziales Kompetenztraining
verringert eine Sozialphobie nur dann, wenn es mit kognitiver Therapie verbunden wird.
Neuere Studien zeigen eine beachtliche Effizienzsteigerung durch die kognitiv-
behaviorale Therapie von Clark und Wells [124]. Die Effektstärken für die kognitive
Therapie generalisierter sozialer Ängste betrugen in einer ersten Therapiestudie am
Therapieende ES = 2,14 und drei Monate danach ES = 2,57. Nach einer weiteren Studie
war die kognitive Therapie (ES = 2,39 am Therapieende und ES= 2,41 drei Monate
später) der Expositionstherapie überlegen (ES = 1,25 und ES = 1,28).
Erfolge der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 471

Zwangsstörung
Die Cochrane Collaboration (www.cochrane.org) bestätigt in einer differenzierten Un-
tersuchung der vorhandenen Studien die Wirksamkeit der behavioralen, kognitiven und
kognitiv-behavioralen Therapiemethoden bei Zwangsstörungen [125].
Eine Meta-Analyse von 24 Studien zur Expositionstherapie mit Reaktionsverhinde-
rung (Verzicht auf Rituale) durch Abramowitz belegte die Wirksamkeit der Therapie
am Ende (ES = 1,16 nach Selbstbeurteilung, ES = 1,41 nach klinischer Beurteilung)
ebenso wie zu einem späteren Zeitpunkt (ES = 1,10 bzw. 1,57).
Eine zusätzliche kognitive Therapie verbessert den Therapieerfolg, sodass die kogni-
tiv-behaviorale Therapie die wirksamste Psychotherapie bei Zwangsstörungen ist. Laut
einer holländischen Studie ist die kognitive Therapie bei Patienten mit Zwangsstörun-
gen mindestens so effektiv wie die Konfrontationstherapie mit Reaktionsverhinderung.
Es finden sich immer mehr Hinweise darauf, dass – im Gegensatz zu früheren Auffas-
sungen – in der Behandlung von Denkzwängen ähnliche Erfolge möglich sind wie bei
der Behandlung von Handlungszwängen [126].
Nach der Analyse von 16 Effizienzuntersuchungen [127] weist die Verhaltensthera-
pie bei Zwangsstörungen eine Erfolgsquote von 50-80% auf (durchschnittlich 75%).
Nach einer amerikanischen Meta-Analyse bewirkt die Expositionstherapie mit Reakti-
onsverhinderung bei drei Drittel der Zwangspatienten eine Besserung oder Heilung.
Nach der 2001 veröffentlichten Meta-Analyse relevanter Studien von Ruhmland und
Margraf ist mit kognitiv-behavioraler Therapie und Konfrontation eine deutliche Ver-
besserung der Zwangssymptomatik erreichbar, die analysierten Studien stammten je-
doch aus dem Forschungsbereich (besondere Patientenselektion, Randomisierung und
somit keine Wahl einer spezifischen Behandlung), weshalb auf die Notwendigkeit von
mehr Studien aus der klinischen Praxis hingewiesen wurde.
Es ist ein Faktum: Hohe Erfolgsquoten zwischen 70 und 80% stammen meist oft aus
Universitätskliniken und Forschungseinrichtungen mit ausgelesenen Stichproben (vor-
wiegend isolierte Wasch- und Kontrollzwänge ohne Komorbidität). In der klinischen
Praxis (stationär und ambulant) ergibt sich ein jahrelang anhaltender Behandlungserfolg
nur bei etwa der Hälfte der Zwangskranken. Bei 39 Zwangspatienten der Hamburger
Verhaltenstherapie-Ambulanz ergab sich eine Erfolgsrate von 66% (großteils Wasch-
und Reinigungszwänge). Bei einer Gruppe von Zwangskranken im Rahmen des Versor-
gungsauftrags, die oft eine psychische Mehrfacherkrankung aufwiesen, konnte in der
Hamburger Klinik gar nur eine Erfolgsquote von 49% erreicht werden [128].
Die Ergebnisse einer Langzeitverlaufsbeobachtung aller seit 1992 in der Klinik Win-
dach bei München mit verhaltenstherapeutischen Methoden stationär behandelten
Zwangspatienten [129] belegen die Grenzen der Therapie bei schweren Störungen. Von
148 untersuchten Patienten zeigten nach jeweils knapp vier Monaten stationärem Auf-
enthalt 70-85% eine Besserung. 3-8 Jahre (durchschnittlich 5,8 Jahre) nach der Entlas-
sung wiesen nur mehr 51,5% eine deutliche oder leichte Besserung auf (3,3% sehr deut-
lich, 16,5% signifikant, 31,9% leicht gebessert, dagegen 37,3% gleich schlecht, 11%
verschlechtert).
Nach Reinecker [130] bestehen bei der Verhaltenstherapie von Zwangsstörungen
folgende Misserfolge: 5-25% Therapieverweigerer, 0-12% Ausfälle während der Thera-
pie (Drop-outs vor Zielerreichung), 15-40% Misserfolge in der Behandlung (d.h. keine
Besserung um mehr als 30% der Problematik auf verschiedenen Messebenen), 20-30%
Rückfälle nach 1-2 Jahren (oft durch psychosozialen Stress bedingt).
472 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Die Einbeziehung der Angehörigen verbessert die Ergebnisse, doch zeigen die Er-
fahrungen von Iver Hand [131], dass symptomzentrierte Interventionen zu Therapiebe-
ginn den Therapieprozess beschleunigen. Eine Partnertherapie ist selten ausreichend.
Eine partnerunterstützte Therapie brachte nach einer niederländischen Studie keine
Verbesserung gegenüber einer Einzeltherapie.
Nur wenige Patienten können als völlig geheilt bezeichnet werden. Häufig bleiben
einige Reste an zwanghaften Gedanken oder Ritualen bestehen. An diesen halten die
Betroffenen weiterhin fest, im Unterschied etwa zu Patienten mit Phobien und Panikstö-
rungen. Dies weist auf die Massivität der verursachenden Bedingungen (kognitive Fak-
toren, soziale Defizite, biologische Komponenten) sowie auf die Bedeutung der Persön-
lichkeitsprägung durch die oft jahrzehntelangen Zwänge hin. Die Annahme einer
zugrunde liegenden anankastischen Persönlichkeitsstörung stellt dagegen keine ausrei-
chende Erklärung für den zwanghaften Rest dar. Rückfälle sind vor allem dann zu er-
warten, wenn keine positiven Alternativen zu den früheren Zwängen aufgebaut werden.
An der bleibenden Restsymptomatik zeigt sich die Bedeutung gesellschaftlich-
normativer Aspekte für Zwänge. Was aus Überzeugung vertreten wird, lässt sich thera-
peutisch oft nur schwer ändern (wenn z.B. bestimmte Zwangsgedanken als berechtigt
anerkannt werden). Es zeugt von Respekt gegenüber dem Wertesystem des Patienten,
wenn der Therapeut es akzeptiert, dass der Patient mit den erreichten Erfolgen zufrieden
ist, obwohl sich aus therapeutischer Sicht daraus ein erhöhtes Rückfallsrisiko ergibt.
Die Kombination von Verhaltenstherapie und Psychopharmakotherapie hat sich
auch bei der Behandlung der oft nur schwer therapierbaren Zwangsstörungen bewährt.
Aufgrund der relativ bescheidenen Wirksamkeit der Pharmakotherapie (nur bei etwa
40%) ist eine zusätzliche Verhaltenstherapie unbedingt erforderlich; deren Wirksamkeit
kann wiederum – zumindest in bestimmten Fällen – durch Medikamente erhöht werden.
Nach einer englischen Studie [132] aus den 1980er-Jahren war die Kombination von
Clomipramin und Verhaltenstherapie nach 8 Wochen wirksamer in der Behandlung von
Zwangsstörungen als die Kombination von Placebo und Verhaltenstherapie.
Eine amerikanische Studie [133] verglich die Behandlungserfolge unter vier Thera-
piebedingungen (Verhaltenstherapie, Clomipramin-Behandlung, Verhaltenstherapie +
Clomipramin, Placebobehandlung) und fand bei der Konfrontationstherapie mit Reakti-
onsverhinderung die stärksten und dauerhaftesten Erfolge. Bei derartigen Studien ist
sicherlich zu bedenken, dass es sich dabei um einen extrem hohen verhaltenstherapeuti-
schen Aufwand durch Topexperten bei einer hoch selektiven Stichprobe handelt, sodass
die Ergebnisse nicht einfach auf die klinische Praxis übertragen werden können.
Eine neuere deutsche Multicenter-Studie (Freiburg, Hamburg, Mannheim) an 60
schweren, 10 Wochen stationär behandelten Zwangspatienten [134] brachte folgende
Befunde zum Verhältnis von Verhaltenstherapie (graduierte Konfrontation) und Psy-
chopharmakotherapie (Fluvoxamin) bei Zwangsstörungen:
z Psychotherapie und Pharmakotherapie waren gleichermaßen erfolgreich.
z Die Kombination von Verhaltenstherapie und Fluvoxamin (Fevarin®, Floxyfral®)
erhöht den Erfolg (durchschnittlich verabreichte Dosis: 288 mg Fluvoxamin).
z Leidet der Patient primär an Zwangshandlungen, ist eine Verhaltenstherapie ausrei-
chend, die Gabe eines Serotonin-Wiederaufnahmehemmers bringt keinen zusätzli-
chen Effekt. Bei einem Überwiegen der Zwangsgedanken ist die Kombination mit
einem Serotonin-Wiederaufnahmehemmer der reinen Verhaltenstherapie überlegen.
z Bei einer sekundären Depression verbessert ein Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
den Effekt einer Verhaltenstherapie. Antidepressiva sind in diesem Fall bedeutsam.
Erfolge der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 473

Posttraumatische Belastungsstörung
Eine Meta-Analyse belegt die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie bei post-
traumatischen Belastungsstörung (ES = 1,66). Die in den letzten Jahren immer häufiger
eingesetzte Methode EMDR ist ebenfalls erfolgreich (ES = 1,43). Die Behandlungser-
folge sind bei beiden Therapiemethoden auch nach einem Jahr noch aufrecht. 30% der
Behandelten haben nach der Therapie jedoch noch immer eine posttraumatische Bela-
stungsstörung. Unter Berücksichtigung der Abbrecherquoten haben nur 54-60% der
Behandelten nach der Verhaltenstherapie keine posttraumatische Belastungsstörung
mehr. Trotz dieser im Vergleich zu anderen Angststörungen begrenzten Therapierfolge
ist die kognitive Verhaltenstherapie der Pharmakotherapie eindeutig überlegen. Bei
einfachen posttraumatischen Belastungsstörungen sind naturgemäß größere Heilungsra-
ten zu erwarten als bei komplexen Traumastörungen.
Nach vielen Studien besteht die bei allen möglichen posttraumatischen Belastungs-
störungen wirksamste Therapie in der Kombination von Exposition in sensu und Expo-
sition in vivo, d.h. in der Verbindung von imaginativer Konfrontationstherapie mit rea-
ler Konfrontation ohne Vermeidungsverhalten (soweit diese angesichts des erlittenen
Traumas und der realen Umstände möglich und sinnvoll ist). In bestimmten Fällen (z.B.
bei komplexer Traumatisierung) kann die Wirksamkeit noch gesteigert durch die Kom-
bination von Expositionstherapie und kognitiver Therapie (z.B. Erkennen und Verän-
dern dysfunktionaler Annahmen, veränderte Zuschreibung von Schuld und Verantwor-
tung, Umgang mit Wut und Ärger, Neustrukturierung des negativen Selbstbildes). In
anderen Studien zeigte die alleinige mentale Konfrontationstherapie eine gute Wirkung.
Nach Studien aus der amerikanischen Arbeitsgruppe um Foa führte die Einbezie-
hung kognitiver Strategien zu keiner wesentlichen Effizienzsteigerung der Kombination
von imaginativer Konfrontationstherapie und Exposition in vivo.
Nach Ehlers weist der von ihr entwickelte Behandlungsansatz die höchsten Erfolgs-
quoten auf, verglichen mit einer Wartelistengruppe (ES = 2,25 in der Selbstbeurteilung,
ES = 2,18 in der Fremdbeurteilung). Dies hänge möglicherweise damit zusammen, dass
bei ihrem Ansatz die kognitiven Methoden eng verzahnt seien mit dem imaginativen
Nacherleben, während in anderen Studien die kognitiven Interventionen stets nach ca.
einer Stunde Nacherleben durchgeführt wurden. Das Stressinokulationstraining nach
Meichenbaum (eine Mehrkomponententherapie) ist ebenfalls erfolgreich.
Nachgewiesen ist auch die Effizienzsteigerung durch die Integration anderer Thera-
pieelemente. Angstmanagementtraining, Affektregulierungstechniken, Biofeedback,
Stressbewältigungs-, Selbstsicherheits- und Entspannungstrainings haben sich jedoch
nur als zusätzliche, nicht jedoch als eigenständige Behandlungskonzepte bewährt.
Die Technik der mentalen Reizüberflutung ergab bei Vietnam-Kriegsteilnehmern
nach mehreren Studien [135] eine deutliche Verringerung der typischen Symptome der
Übererregbarkeit und der unkontrollierbaren Überflutung durch die traumatisierenden
Ereignisse. Albträume, belastende Flashbacks, Konzentrationsstörungen, Angstgefühle,
Depressionen und psychosomatische Störungen gingen dauerhaft zurück. Bei komple-
xer Traumatisierung war die reine Expositionstherapie dagegen nicht so erfolgreich.
Gestufte und massierte Konfrontationstherapien in der Vorstellung bei Vergewalti-
gungsopfern und Opfern nichtsexueller Gewalt, wie sie von der amerikanischen Gruppe
um Foa [136] durchgeführt wurden, waren gleichermaßen wirksam. Dreieinhalb Monate
später machten sich jedoch die positiven Auswirkungen der Konfrontationstherapie als
wesentlichster Therapiebestandteil bemerkbar.
474 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Perspektivenerweiterung in der Verhaltenstherapie


bei Angststörungen: Achtsamkeit und Akzeptanz
als Ergänzung zur Veränderungsorientierung
In der Verhaltenstherapie liegt der Schwerpunkt der Behandlung traditionellerweise auf
der Veränderung bzw. Kontrolle des körperlichen Befindens, des sichtbaren Verhaltens,
der Einstellungen und der Gefühle sowie auf der Beseitigung von Symptomen. Es ist
daher auf den ersten Blick sehr verwunderlich, dass gerade in der Verhaltenstherapie die
Thematik von Achtsamkeit und Akzeptanz zuerst in den USA seit der Mitte der 1990er-
Jahre und später auch in Deutschland seit den frühen 2000er-Jahren eine derartige Be-
deutung gewonnen hat. In Deutschland wurde diese Entwicklung von Experten wie
Martin Bohus, Thomas Heidenreich und Johannes Michalek vorangetrieben. Die beiden
letztgenannten Verhaltenstherapeuten haben das Grundlagenwerk „Achtsamkeit und
Akzeptanz in der Psychotherapie“ herausgegeben. Welche konkreten Auswirkungen
diese Entwicklung auf die Behandlung der verschiedenen Angststörungen nach dem
DSM-IV zukünftig haben wird, ist derzeit (2009) noch nicht absehbar. Erst die For-
schung der Zukunft wird herausarbeiten, wann eher veränderungsorientierte und wann
eher achtsamkeits- bzw. akzeptanzbasierte Strategien angezeigt sind. Die Dialektik von
Achtsamkeit/Akzeptanz einerseits und Veränderung andererseits wird von Fachleuten
wie Marsha Linehan als die zentrale Dynamik in der Psychotherapie bezeichnet.
Die Einstellungen und Verhaltensweisen, die mit Achtsamkeit und Akzeptanz ver-
bunden sind, ermöglichen Menschen mit Angststörungen den Ausstieg aus der Angst-
spirale, ohne ständige Kontrollversuche durch Unterdrückungs-, Ablenkungs- und Ver-
meidungsstrategien. Bei Angststörungen geht es immer um subjektive Bedrohungssze-
narien: „Angst“ bezeichnet das Gefühl einer unbestimmten Bedrohung, „Furcht“ das
Gefühl einer Bedrohung durch bestimmte äußere Reize, „Panik“ das Gefühl der Bedro-
hung durch plötzlich auftretende, unkontrollierbar erscheinende körperliche und geistige
Vorgänge. Die Betroffenen leben mental immer in der Zukunft, in ständiger Befürch-
tung unkontrollierbarer Ereignisse. Ihre Bedrohungsszenarien werden verstärkt durch
die Erinnerung an reale oder vermeintliche Bedrohungen in der Vergangenheit.
Achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Konzepte wurden in der Verhaltenstherapie –
wie auch von psychodynamischen, humanistischen und körpertherapeutischen Metho-
den – explizit oder zumindest implizit berücksichtigt, jedoch nicht sehr systematisch:
z Bei der Exposition in sensu und in vivo sollen Menschen mit Panikstörung, Ago-
raphobie, spezifischer Phobie und generalisierter Angststörung ihre Gedanken und
körperlichen Zustände ohne reale oder kognitive Vermeidung zulassen lernen, ohne
die Angstsymptomatik durch ständige Kontroll- und Vermeidungsstrategien aufzu-
schaukeln. Verhaltensbezogene Strategien wie die Konfrontationstherapie ermögli-
chen die unmittelbare Erfahrung, dass die Befürchtungen der Patienten unberechtigt
sind, sodass die chronischen Erwartungsängste sukzessive abnehmen. Kognitive
Strategien dienen der Identifizierung dysfunktionaler Denkmuster, sodass durch de-
ren Umstrukturierung zugunsten hilfreicherer Sichtweisen das ständige Gefühl der
Bedrohtheit verschwindet oder tolerierbarer erscheint.
z In der Traumatherapie sollen die Betroffenen lernen, ihre traumatisierenden Erfah-
rungen durch Zulassen zu bewältigen.
z In der kognitiven Verhaltenstherapie von Zwangsstörungen sollen die Betroffenen
ihre Gedanken und Vorstellungen zulassen lernen, ohne dagegen anzukämpfen.
Perspektivenerweiterung in der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 475

Achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Konzepte vermitteln durch die Förderung des


Hier-und-Jetzt-Erlebens zentrale Grundhaltungen des Mensch-Seins (und damit einen
neuen Lebensstil) und nicht einfach nur wirksame Techniken der Angstbewältigung im
Sinne der effizienten Kontrolle von Symptomen. Zum besseren Verständnis werden im
Folgenden die Achtsamkeitstherapie nach Kabat-Zinn sowie die Akzeptanz- und Com-
mitmenttherapie nach Steven Hayes und Mitarbeitern vorgestellt. Beide Therapierich-
tungen wenden sich vor allem an Menschen mit chronischen körperlichen und psychi-
schen Störungen und möchten einen hilfreichen Umgang damit ermöglichen, ohne eine
Heilung durch Symptomkontrolle oder -beseitigung zu versprechen, wie dies etwa dem
traditionellen Machbarkeitsanspruch der klassischen Verhaltenstherapie entspricht.

Achtsamkeitsbasierte Stressbewältigung nach Kabat-Zinn


Der Verhaltensmediziner Jon Kabat-Zinn, studierter Molekularbiologe und Anatomie-
professor, entwickelte in den USA in den späten 1970er-Jahren das Konzept der Mind-
fulness-Based Stress Reduction (MBSR), das seit vielen Jahren in zahlreichen amerika-
nischen und mittlerweile auch europäischen Kliniken zur Behandlung von Menschen
mit Stress- und Schmerzstörungen eingesetzt wird.
In seinem Buch „Gesund durch Meditation“ beschreibt Kabat-Zinn das Konzept des
achtwöchigen Kursprogramms in der von ihm 1979 gegründeten und früher auch von
ihm geleiteten Stress- und Schmerzklinik in Massachusetts (www.umassmed.edu/cfm).
Die achtsamkeitsbasierte Stressreduktionsmethode kann als „säkularisierter Buddhis-
mus“ in Kombination mit westlicher Medizin und Psychologie bezeichnet werden, d.h.
sie erfordert keine buddhistische Grundhaltung, Es handelt sich um die Kombination
der Achtsamkeitsmeditation mit dem Schwerpunkt auf der Vipassana-Tradition und des
Hatha-Yoga. Als früherer Anatomieprofessor lernte Kabat-Zinn das Leiden chronischer
Schmerzpatienten trotz aufwändiger medizinischer Behandlung kennen und entwickelte
daher sein auf der Achtsamkeitsmeditation und dem Hatha-Yoga beruhendes stationä-
res, teilstationäres und ambulantes Trainingsprogramm als Zusatzbehandlung. Es ist
mittlerweile für zahlreiche Störungen als erfolgreich nachgewiesen. Entsprechend der
buddhistischen Denkweise werden leidvolle körperliche und psychische Zustände nicht
bekämpft, kontrolliert, unterdrückt oder verleugnet, sondern mit Achtsamkeit ange-
nommen und in jene Kraft umgewandelt, die wieder mehr Lebensqualität ermöglicht.
Das können sich Angstpatienten anfangs nicht vorstellen, ist aber sehr wirksam.
Das Programm besteht – neben der Vermittlung störungsspezifischen Wissens (Psy-
choedukation) – aus vier formellen Hauptübungen und einer informellen Übung für
mehr Achtsamkeit im Alltag, die allesamt einen liebevolleren Umgang mit sich selbst
(mehr Achtung und Mitgefühl für sich selbst) und mehr Vertrauen in den eigenen Kör-
per zum Ziel haben, das durch langjährige negative Erfahrungen verloren gegangen ist:
1. Body-Scan: achtsame Körperwahrnehmungen (sukzessive Wahrnehmung und Erfor-
schung jedes einzelnen Körperteils) und Beobachtung der Atmungsbewegungen.
2. Sanfte Hatha-Yoga-Übungen: achtsame Körperarbeit zur Vermittlung neuer und
angenehmer Körpererfahrungen.
3. Sitzmeditation: „Da-Sein“ (Da-Sitzen) ohne Aktivität, achtsame Atembeobachtung;
Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedanken, Bilder, Gefühle kommen und gehen.
4. Gehmeditation: volle Achtsamkeit bei jedem Schritt bzw. beim Spazierengehen.
5. Achtsamkeit im Alltag: mehr Achtsamkeit bei alltäglichen Routinehandlungen.
476 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Die Achtsamkeitspraxis nach Kabat-Zinn umfasst sieben Faktoren, die gerade auch für
Menschen mit Angststörungen im Umgang mit ihren Körperempfindungen, Denkmu-
stern, Vorstellungen und Gefühlen sehr hilfreich sind:
1. Nicht-Beurteilen. Achtsamkeit ist dann gegeben, wenn man die inneren und äußeren
Erfahrungen, d.h. die eigenen Empfindungen, Gedanken, Vorstellungen und Gefühle
ebenso wie die äußeren Reize und Ereignisse bewusst beobachten kann, ohne diese
zu bewerten. Man nimmt dabei die gewährend-akzeptierende Haltung eines neutra-
len unvoreingenommenen Beobachters ein, der alles registriert, jedoch nichts bewer-
tet und daher auch nicht entsprechend reagiert. Es ist eine menschliche Eigenschaft,
alles schnell zu beurteilen und zu kategorisieren. Dies hat Vor- und Nachteile. Men-
schen mit Angststörungen neigen dazu, alles Mögliche, das andere Personen beden-
kenlos tolerieren können, als bedrohlich zu bewerten, aktivieren infolgedessen oft
vorschnell ihren Körper und verharren dann mangels Entwarnung lange Zeit in ei-
nem körperlich und geistig angespannten Zustand. Es geht nicht darum, das vor-
schnelle Beurteilen und negative Bewerten zu verurteilen, zu vermeiden oder zu un-
terdrücken, sondern nur wahrzunehmen, dass es passiert. Die bewusste Wahrneh-
mung der oft unbewusst vorgenommenen Bewertungen ist die Voraussetzung für ei-
ne spätere Änderung. Wenn man eine Bedrohungseinschätzung akzeptieren und zu-
lassen kann, ist bereits eine erste Änderung eingetreten, nämlich die Erkenntnis, dass
es sich dabei nur einen Gedanken und nicht um die Realität handelt.
2. Geduld. Der Aspekt der Geduld betont den Umstand, dass Dinge Zeit brauchen, sich
zu entfalten, und dass jeder Druck nur Anspannung erzeugt. Ungeduld zeigt sich
beispielsweise in dem Umstand, dass unangenehme Dinge nicht schnell genug ver-
schwinden oder dass man schon weiter (anderswo oder in der Zukunft) sein möchte,
als noch länger im Hier und Jetzt verweilen zu müssen. Geduld ist die Fähigkeit,
Probleme mit innerer Ruhe und Selbstbeherrschung hinzunehmen. In Verbindung
mit Vertrauen und Mut lässt sich manches geduldiger ertragen.
3. Den Geist des Anfängers bewahren. Aufgrund vorgefasster Meinungen können wir
uns oft schwer auf den jeweiligen Augenblick einlassen, weil wir glauben, über die
aktuelle Situation und Befindlichkeit schon alles zu wissen. Dabei gleicht kein Au-
genblick dem anderen. Das Staunen des Kindes, das alles wie zum ersten Mal erlebt,
und die Neugierde des Forschers, der stets mit Neuem rechnet, ermöglichen andere
Sicht- und Erlebnisweisen angesichts altbekannter Sachverhalte. Die Bereitschaft
zur Beobachtung und Erfahrung des Bekannten wird erleichtert durch die Neugier-
de, d.h. durch die Erwartung von etwas Neuem und Unbekannten.
4. Vertrauen. Durch die Achtsamkeitspraxis entwickelt sich Vertrauen zum eigenen
Körper, in die eigenen Gefühle und Fähigkeiten. Das zunehmende Vertrauen in die
eigene Autorität macht uns von anderen Menschen und von Autoritäten unabhängig.
5. Nicht-Greifen (Nicht-Streben). Jede Handlung verfolgt ein Ziel und erfüllt einen
bestimmten Zweck. Bei der Achtsamkeitspraxis geht es dagegen um aktives Nicht-
Tun und Nichts-Erreichen-Wollen. Im Mittelpunkt steht die Gegenwart, ohne An-
strengungen zu unternehmen, etwas erreichen oder vermeiden zu wollen.
6. Akzeptanz. Annehmen, was in und um uns ist, bedeutet nicht, alles gut zu finden und
in Passivität zu verharren, sondern alles nur als momentan vorhanden zu akzeptie-
ren. Innere und äußere Störgeräusche, Symptome und Schwächen werden nicht
Energie raubend bekämpft, sondern als momentan gegeben hingenommen.
7. Loslassen. Anhaften an Vergangenem und bestimmten Problemen führt zur Vermei-
dung der Gegenwart. Loslassen ermöglicht erst Einlassen auf das Hier und Jetzt.
Perspektivenerweiterung in der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 477

Fazit: Die achtsamkeitsbasierte Stressbewältigung stellt dem Motto der Angstpatienten


„Augen zu und durch“ bzw. „Wegschauen, um sich nicht zu fürchten“ das Motto ge-
genüber: „Augen auf und dabei bleiben“ bzw. „Hinschauen und alle Erfahrungen zulas-
sen“. Im Gegensatz zur Verhaltenstherapie sollen Patienten nicht lernen, ihre Gedanken
zu verändern, sondern vielmehr ihre Einstellungen zu ihren Gedanken, d.h. sie sollen
ihre Gedanken, Vorstellungen und Gefühle als flüchtige geistige Ereignisse betrachten
und auf diese Weise akzeptieren lernen, ohne sich mit ihnen zu identifizieren.
Patienten mit Schulung in Achtsamkeit können aversive Emotionen besser wahr-
nehmen und tolerieren, sodass sie nicht zu mentalen und realen Vermeidungsstrategien
greifen müssen. Erlebnisvermeider bekommen wahrscheinlicher eine Panikattacke als
jene Menschen, die bereit sind, ihre Angst anzunehmen, und zwar vor allem dann, wenn
sie aktiv versuchen, ihre Angstempfindung zu kontrollieren. Zehn Minuten Achtsam-
keitstraining halfen bei Panikattacken mehr als Ablenkungsstrategien. Laut einer Studie
des Psychologen Zeidler führt die Achtsamkeitsmeditation dazu, dass Menschen bei
gefühlsbetonten Bildern weniger schreckhaft reagieren und sich weniger bedroht fühlen,
obwohl sie ihre Gefühle intensiver wahrnehmen als Personen einer Vergleichsgruppe.
Leider gibt es derzeit (2009) noch wenig Bücher und Artikel, die die Prinzipien der
Achtsamkeitstherapie systematisch in die verhaltenstherapeutische Behandlung von
Menschen mit Angststörungen integrieren. Am ehesten trifft dies gegenwärtig auf den
Bereich der generalisierten Angststörung zu. In den USA sind Orsillo und Roemer füh-
rend bei der Integration der Achtsamkeitstherapie (und auch der Akzeptanz- und Com-
mitmenttherapie) in die kognitiv-behaviorale Therapie bei generalisierter Angststörung,
in Deutschland hat sich Jürgen Hoyer als erster dafür eingesetzt. Auf diese Weise soll
die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie bei generalisierter Angststörung
erhöht werden, die im Vergleich zu anderen krankhaften Ängsten noch immer eine
geringere Wirksamkeit aufweist. Viele Angstpatienten haben eine Störung der emotio-
nalen Wahrnehmungsfähigkeit, die trainiert werden soll.
Am weitesten fortgeschritten ist die erfolgreiche Integration der Achtsamkeitsthera-
pie in die Behandlung von Menschen mit komplexer posttraumatischer Belastungsstö-
rung nach der dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) nach Marsha Linehan. Im deut-
schen Sprachraum hat die Arbeitsgruppe um Regina Steil ein Behandlungskonzept für
Menschen mit komplexer posttraumatischer Belastungsstörung entwickelt, das die
Achtsamkeitstherapie integriert.
Das Selbsthilfe-Buch „Der Angst den Schrecken nehmen. Achtsamkeit als Weg zur
Befreiung von Ängsten“ von Jeffrey Brantley geht neben der Darstellung der Achtsam-
keitstherapie auch auf den Umgang mit Angst, Furcht und Panik ein. Bei Panikattacken
sollen sich die Betroffenen achtsam auf die Ein- und Ausatmung konzentrieren und trotz
der Intensität der Erfahrung den körperlichen Ablauf der Panikattacke neutral beobach-
ten und den bewussten Kontakt zum Körper aufrechterhalten, ohne sich mit der Attacke
zu identifizieren oder sich von ihr absorbieren zu lassen. Das Erleben einer Panikattacke
wird genauso zum Objekt achtsamer Aufmerksamkeit, wie dies auch bei jeder Body-
Scan-Übung der Fall ist, indem man achtsam in das körperliche Erleben hineinatmet.
Die nicht-beurteilende, neugierige Aufmerksamkeit in der Beobachter-Position schafft
die nötige Distanz, um sich vom Panikgeschehen nicht mitreißen zu lassen. Man kann
bei einer starken Panikattacke die Aufmerksamkeit auch auf andere Körperteile oder auf
Geräusche der Umwelt verlagern. Die Betroffenen werden zudem angeleitet, die Furcht
erregenden Gedanken in Bezug auf die Panikattacke achtsam wahrzunehmen und zuzu-
lassen, ohne sich von ihnen bestimmen zu lassen (Einstellung „Komm her, Angst“).
478 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Akzeptanz- und Commitmenttherapie von Hayes und Mitarbeitern


Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) wurde in der zweiten Hälfte der
1990er-Jahre in den USA vom Psychologen Steven Hayes und seinen Mitarbeitern auf
dem Hintergrund der Verhaltenstherapie entwickelt und versteht sich als dritte Welle
der Verhaltenstherapie (nach der lerntheoretischen und der kognitiven Phase). Es geht
primär darum, jede Vermeidung unangenehmer Erlebnisweisen abzubauen und ein
engagiertes, wertebezogenes Handeln aufzubauen. Das Grundkonzept wirkt auf den
ersten Blick sehr theoretisch und abstrakt, ist aber bei einiger Mühe bald verstehbar.
Angesichts der vielen chronischen körperlichen und seelischen Störungen wird kei-
ne Heilung, sondern nur ein anderer Umgang mit den Beschwerden zur Verbesserung
der Lebensqualität angestrebt. Die klassische Verhaltenstherapie mit ihrer Machbar-
keitsideologie (maximale Kontrolle und Beseitigung der Symptome) kommt der Sehn-
sucht vieler Angstpatienten nach totaler Kontrolle und vollständiger Beseitigung ihrer
krankhaften Ängste sehr entgegen und verstärkt oft das Leiden der Betroffenen, wenn
keine vollständige Heilung gelingt. Als bestes Arbeitsbuch für Therapeuten gilt das
Werk „ACT-Training. Handbuch der Acceptance & Commitment Therapie. Ein Lern-
programm in 10 Schritten“ von Luoma, Hayes und Walser.
Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie, die mit der kognitiv-behavioralen Thera-
pie durchaus kombinierbar ist, beruht auf sechs zentralen therapeutischen Prozessen:
1. Akzeptanz (als Alternative zur Kontrolle). „Akzeptanz“ bezeichnet die Haltung,
Ereignisse, Situationen, Empfindungen, Gedanken, Vorstellungen, Gefühle und
Symptome aktiv und offen anzunehmen, anstatt diese vermeiden zu wollen. Körper-
liche und seelische Schmerzen und negative Erlebnisse sollen akzeptiert anstatt be-
kämpft werden, damit kein chronisches Leiden daraus entsteht. Akzeptieren, das
nichts mit Resignieren zu tun hat, führt zur Veränderung der Beschwerden. Schmer-
zen werden als normale Erfahrungen im Leben betrachtet und entwickeln sich erst
durch die Nicht-Bewältigung und die ständigen Unterdrückungs- und Vermeidungs-
strategien der Betroffenen zu krankhaften Leidenszuständen. Die ständigen Kon-
trollversuche werden den Betroffenen als nicht zu gewinnendes Spiel vor Augen ge-
führt. Während der Fortschritt unserer Gesellschaft auf der Kontrolle der Umwelt
beruht, lässt sich unsere Innenwelt nicht in gleicher Weise kontrollieren. Chronische
Beschwerden entstehen oft erst durch den falschen Problemlösungsversuch der
Vermeidung. Die Vermeidung negativer emotionaler Erfahrungen für den Fall, dass
Kontrolle nicht möglich erscheint, gilt als eine der zentralen Ursachen für psychi-
sche Störungen. Gegenüber dem Achtsamkeitsbegriff von Kabat-Zinn wird der Ak-
zeptanzbegriff stärker als Gegensatz zur (emotionalen) Vermeidung gesehen.
2. Kognitive Defusion (aus sprachlichen Verstrickungen lösen: Abstand zu Gedanken).
Menschen sind oft mit ihren Gedanken über die Realität verschmolzen („fusio-
niert“), ohne kritischen Abstand dazu, sodass sie ihre Gedanken und Sprachmuster
mit der Realität gleichsetzen. Die Gedanken und die unmittelbar damit verbundenen
Verhaltensweisen sollen voneinander gelöst (entkoppelt, „defusioniert“) werden.
Die Betroffenen lernen, sich von ihren Gedanken zu distanzieren, ihre Sichtweisen
als auswechselbar zu betrachten und nicht mit der Realität gleichzusetzen. Im Ge-
gensatz zur kognitiven Verhaltenstherapie ist es nicht erforderlich, verzerrte und un-
realistische Denkmuster zu ändern, bevor Änderungen im Verhalten möglich sind.
Es reicht, durch verschiedene Defusionstechniken (z.B. die Gedanken beobachten,
benennen und kategorisieren) auf Distanz zum Verstand gehen zu können.
Perspektivenerweiterung in der Verhaltenstherapie bei Angststörungen 479

3. Achtsamkeit entwickeln (präsent/gegenwärtig sein, den Augenblick leben). Wie bei


Kabat-Zinn geht es um die nicht-wertende, akzeptierende Einstellung gegenüber den
eigenen inneren Reaktionen (Empfindungen, Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen
und Handlungsimpulsen), um die Lenkung der Aufmerksamkeit auf den gegenwär-
tigen Moment, um das Nicht-Reagieren und Zulassen von Gedanken und Gefühlen,
sodass im Hier und Jetzt neue Erfahrungen mit sich und der Umwelt möglich sind.
4. Kontakt zum Selbst. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen dem Selbst als Kon-
zept (verbale Selbstbild-Annahmen; inhaltliches Selbst: Wer bin ich?) und dem
Selbst als Kontext (Beobachter- oder „transzendentes“ Selbst, Kontinuität des Be-
wusstseins). Die Identifizierung/Verschmelzung mit den Selbstbild-Annahmen
schränkt die Handlungsmöglichkeiten ein. Der bessere Kontakt mit dem Beobachter-
Selbst schafft eine Distanzierung und ermöglicht mehr Flexibilität.
5. Formulierung von persönlichen Werten. Werte helfen, nicht nur gefühlsbetont und
stimmungsabhängig zu handeln. Die Patienten sollen sich nicht auf ihre Probleme
und Beschwerden, sondern auf ihre zentralen Werte konzentrieren, bestimmte Werte
als momentan relevant auswählen, daraus ganz konkrete Ziele ableiten und dement-
sprechende Handlungsplanungen vornehmen. Die Verbesserung der Lebensqualität
erfordert ein Mehr des Guten und nicht einfach nur ein Weniger des Schlechten.
6. Engagiertes Handeln („Commitment“: Engagement/Verpflichtung zu notwendigen
Verhaltensänderungen). Wertegeleitete Ziele sollen konsequent und engagiert reali-
siert werden, um die Vorstellungen von einem erfüllten Leben zu verwirklichen.
Dabei können alle Strategien der kognitiv-behavioralen Therapie genutzt werden,
vor allem auch die mentale, gestufte und massierte Konfrontationstherapie.

Achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Therapiekonzepte sind auch auf dem Hintergrund


eines neurobiologischen Verständnisses von Angststörungen sehr hilfreich. Ausgehend
vom limbischen System oder unbewussten kognitiven Prozessen erfolgt bereits eine
körperliche Aktivierung, noch bevor die Betroffenen von bewussten Ängsten geplagt
werden. Eine kognitive Umstrukturierung, wie dies in der kognitiven Therapie nach
Aaron Beck erfolgt, greift bei Angststörungen oft zu kurz, was auch bei Depressionen
zunehmend deutlich wird. Nach dem Abklingen der Depression waren die angeblich
bereits prämorbid vorhandenen depressiven Denkmuster plötzlich verschwunden.
Die kognitive Therapie geht davon aus, dass dysfunktionale Denkmuster und falsche
Bedrohungseinschätzungen zu körperlichen Symptomen führen, sodass durch eine Än-
derung der Denkmuster eine emotionale und körperliche Beruhigung einsetzt. Es ist
jedoch nach wie vor eine unentschiedene Frage, ob die typischen Denkfehler die Ursa-
che oder die Begleiterscheinung von psychischen Erkrankungen wie Angststörungen
und Depressionen sind. Ähnlich, wie man bei Depressionen fragen kann, ob Menschen
depressiv werden, weil sie negativ denken, oder ob sie aus anderen Ursachen depressiv
werden und dann negative Denkmuster entwickeln, kann man auch bei Angststörungen
fragen, ob Menschen wirklich immer durch ihre ängstlichen Denkmuster massive kör-
perliche Symptome entwickeln oder ob sie nicht angesichts andersartig bedingter kör-
perlicher Symptome ängstliche Denkmuster und Bedrohungsszenarien entwickeln.
Angstpatienten können lernen, mit ihren körperlichen, kognitiven und emotionalen
Problemen zurechtzukommen, ohne dass sich zuerst ihr inneres Erleben oder ihre Um-
welt ändern muss, bevor sie ein zufrieden stellendes Leben führen können. Oft reichen
bereits andere Einstellungen zu den wahrgenommenen Symptomen und Beschwerden,
wie sie durch achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Therapiekonzepte vermittelt werden.
480 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Angstbewältigungstherapie bei ängstlichen Persönlichkeiten


Trotz der nach zahlreichen Studien durchschnittlichen Erfolgsquote von etwa 75% bei
einer Konfrontationstherapie ist ein dementsprechender therapeutischer Optimismus
durch die Erfahrungen der klinischen Praxis nicht gedeckt. Die Angstpatienten vieler
Studien dürften für die klinische Praxis oft nicht ausreichend repräsentativ sein. Außer-
dem lehnen 10-25% der Agoraphobie-Patienten eine Konfrontationstherapie ab.
Möhlenkamp [137] hat in der Zeitschrift „Verhaltenstherapie und psychosoziale
Praxis“ Vorschläge zur Einbeziehung psychoanalytischer Konzepte bei der Behandlung
einer Agoraphobie von Menschen mit einer ängstlichen Persönlichkeitsstruktur vorge-
legt. Möhlenkamp geht es im Wesentlichen darum, dass nicht einfach nur Symptome
behandelt werden können, unabhängig von der Persönlichkeitsstruktur, vor allem wenn
es sich um Agoraphobie-Patienten mit einer ängstlichen oder abhängigen Persönlich-
keitsstörung handelt. Die erfolgreichen Methoden der verhaltenstherapeutischen Angst-
behandlung, die auf einer Kombination von Konfrontationstherapie und kognitiver
Neubewertung phobischer Signale beruhen, beinhalten ihren Wert, werden jedoch durch
stärker persönlichkeitsbezogene Konzepte aus der Psychoanalyse ergänzt.

Berücksichtigung einer ängstlichen Persönlichkeitsstörung


Bei 45% der Phobiker wurden Persönlichkeitsstörungen gefunden. 40-60% aller Patien-
ten mit einer Panikstörung mit und ohne Agoraphobie weisen eine oder mehrere Persön-
lichkeitsstörungen auf [138]. Am häufigsten sind die dependente Persönlichkeitsstörung
(12-25%) und die ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung (19-25%).
In einer englischen Studie [139] über den Zusammenhang von Neurosen und Per-
sönlichkeitsstörungen fand man bei Phobikern 18% mit einer zwanghaften Persönlich-
keit und fast ebenso viele Menschen mit einer abhängigen Persönlichkeitsstörung. Unter
Patienten mit einer generalisierten Angststörung fand man bei einem Viertel eine ab-
hängige Persönlichkeitsstörung.
Psychoanalytiker erklären die Verbindung von zwanghaften und dependenten Per-
sönlichkeitsanteilen bei Angstpatienten folgendermaßen [140]:
z Die Angst vor Bindungsverlust begründet eine starke Abhängigkeit von emotional
wichtigen Bezugspersonen.
z Das Zwanghafte dient dazu, Bindungen aktiv abzusichern, indem ein kontrolliertes
und kontrollierendes Verhalten entwickelt wird. Phobiker sind affektiv beherrscht,
harmonisierend und verzichtbereit, um Beziehungsprobleme zu vermeiden.

Die Verbindung von Abhängigkeit und zwanghafter Kontrolliertheit zeigt sich beson-
ders beim B-Typus des Herzphobikers nach Richter und Beckmann. Der Herzphobiker
kann nur während akuter herzphobischer Krisen Hilflosigkeit, Angst und Abhängigkeit
zulassen. Im Rahmen einer rein organisch wirkenden Erkrankung kann Hilfe angenom-
men werden, wenngleich nur von neutralen professionellen Instanzen (Arzt, Kranken-
haus), was sonst als Schwäche und Kontrollverlust mit dem Selbstbild unvereinbar
wäre.
Angstbewältigungstherapie bei ängstlichen Persönlichkeiten 481

In der Verhaltenstherapie wurde zumindest in der Vergangenheit bei den bekannten


Therapieprogrammen die Bedeutung spezifischer Klientenmerkmale stark unterschätzt.
In einer englischen Studie [141] konnte bei Angststörungen, wie sie in psychiatrischen
Praxen und bei Hausärzten vorkommen, nur eine Erfolgsquote von 50% erreicht wer-
den. Wenn phobische Symptome im Rahmen einer Persönlichkeitsstörung auftreten, ist
die Prognose ebenfalls ungünstiger, wie eine andere englische Studie gezeigt hat [142].
Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung haben schwerwiegendere Symptome (ge-
neralisierte Angststörungen und Panikstörungen) und profitieren von einer Konfron-
tationstherapie deutlich weniger als Patienten ohne Persönlichkeitspathologie.
Im Rahmen der Überprüfung der Langzeiteffekte von kognitiver Verhaltenstherapie
bei Agoraphobikern wurde festgestellt, dass bei Personen mit einer gleichzeitigen Per-
sönlichkeitsstörung fünf Jahre später nur 53%, sieben Jahre später gar nur mehr 32%
gebessert waren, während bei Patienten ohne Persönlichkeitsstörung fünf Jahre später
86% und sieben Jahre später noch 78% gebessert waren [143].
Der Stand der Forschung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen [144]:

„Nahezu alle Studien, die Patienten mit Angststörungen mit und ohne Persönlichkeitsstörungen nachun-
tersucht haben, konnten eine schlechtere Prognose bzw. eine geringere therapeutische Ansprechbarkeit
der Gruppe von Angststörungen mit pathologischen Persönlichkeitszügen oder Persönlichkeitsstörun-
gen gegenüber der Gruppe ohne solche Züge feststellen...“

Persönlichkeitsstörungen wurden in der Vergangenheit den beiden anderen Hauptkate-


gorien psychischer Störungen (Neurosen und Psychosen) als kategoriell völlig andersar-
tig gegenübergestellt. Diese letztlich auf ein biologistisches Krankheitsverständnis zu-
rückgehende starre Abgrenzung beginnt sich in den neuen Diagnoseschemata DSM-IV
und ICD-10 zu lockern zugunsten einer deskriptiven, atheoretischen Unterscheidung
von Störungsbildern. Es erfolgt eine unvoreingenommene Beschreibung des Problem-
verhaltens ohne Bewertung und Ursachenerklärung, wodurch die Grenzen zwischen
pathologischem und normalem Verhalten wieder fließend werden.
Persönlichkeitsstörung und Persönlichkeitseigenschaft können verstanden werden
als unterschiedliche Ausprägungsgrade auf einem Kontinuum. Die Persönlich-
keitspathologie wird auf diese Weise wieder zu einem persönlichkeitspsychologischen
Gegenstand. Dies ist auch für die Verhaltenstherapie relevant, die in ihrer Frühphase
sehr kämpferisch gegen alle als stabil angesehenen Person-Eigenschaften („traits“)
aufgetreten war und das situativ bedingte Verhalten („states“) überbetont hatte.
Eine Änderung dieser Sichtweise zeigt sich auch darin, dass eines der besten Bücher
über Persönlichkeitsstörungen von einem deutschen Verhaltenstherapeuten, Peter Fied-
ler [145], stammt, der Persönlichkeitsstörungen als interaktionell verfestigte, grund-
sätzlich jedoch änderbare Handlungstendenzen versteht. Die verhaltenstherapeutische
Bedingungsanalyse wird um den persönlichkeits-psychologischen Aspekt erweitert. Der
dispositionelle Faktor (Anlage, Charakter) ermöglicht ein besseres Verständnis für die
großen interindividuellen Unterschiede in der Reaktion auf phobische Situationen und
in der psychophysiologischen Störbarkeit.
Durch die Berücksichtigung einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstruktur
können neben einer Konfrontationstherapie noch andere Aspekte in den Mittelpunkt der
Therapie gestellt werden.
482 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Agoraphobiker mit ängstlicher Persönlichkeitsstruktur zeigen ein besonderes Stre-


ben nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, obwohl sie durch ihre Symptomatik
faktisch relativ abhängig leben. Aufgrund ihres Bedürfnisses nach autonomer Selbst-
und Situationsbeherrschung reagieren Phobiker auf Hilflosigkeitserfahrungen und nicht
unmittelbar kontrollierbare vegetative Stressreaktionen besonders empfindlich. Studien
über die Persönlichkeitsmerkmale von Phobikern vor der Erkrankung bestätigen das
auffallende, fast zwanghafte Bemühen um vorausschauende Absicherung gegenüber
Hilflosigkeit.
Bei phobischen Personen ist das Streben nach Unabhängigkeit Ausdruck der Moti-
vation, Hilflosigkeitserfahrungen zu vermeiden. Es ist auch Ausdruck der Unfähigkeit,
auf Unterstützung von außen (z.B. vom Partner) zu vertrauen, obwohl man gleichzeitig
darauf angewiesen ist. Phobiker legen großen Wert darauf, sich selbst und ihre Bezo-
genheit auf andere unter Kontrolle zu haben.
„Bezogenheit“ meint weniger die persönliche Abhängigkeit von einer ganz be-
stimmten Person, sondern vielmehr die Sicherheit und Geborgenheit, die der gewohnte
Lebensrahmen vermittelt. Gesucht wird das „warme Nest“, der „sichere Hafen“.
Phobiker sehnen sich in Notlagen nicht unbedingt nach ihrem Partner, sondern su-
chen den sicheren Ort, die rettende Zuflucht. Bezugspersonen können durchaus aus-
tauschbar sein, wenn sie Sicherheit gewähren.
Möhlenkamp [146] formuliert folgende interessante Hypothesen zur Persönlich-
keitsstruktur von Phobikern:

1. „Phobiker reagieren auf Störungen der Beziehungssicherheit habituell mit Angst, bzw. erhöhtem
autonomen Erregungsniveau. Ein typischer angstinduzierender situativer Kontext ist z.B. die Ablö-
sung von den Eltern, eine partnerschaftliche Krise oder der Verlust einer beruflich-kollegialen Bin-
dung.
2. Zur Sicherung von Bindungsunsicherheit haben Phobiker dispositionelle Kontroll- und Anpas-
sungsstrategien entwickelt:
- Affektive Selbstkontrolle: Sie unterdrücken Empfindungen von Ärger und Enttäuschung. An-
sprüche und Bedürfnisse, z.B. bezogen auf eine intensive partnerschaftliche Beziehung, werden
wegen ihres Konfliktpotentials nicht offen zum Ausdruck gebracht. Die Grundeinstellung ist
konfliktvermeidend.
- Sicherung der Bindung durch Übernahme wichtiger Funktionen für den Partner (‚der Verdie-
ner’, ‚der Organisator’, ‚der Versorger’, ‚der Helfer’). Die Grundeinstellung ist leistungsbetont.
- Absicherung gegenüber Hilflosigkeitserfahrungen, die zu einer passiven Abhängigkeit führen
könnten. Angewiesensein wird als Ausgeliefertsein erlebt und gefürchtet. Die Grundeinstellung
ist defensiv-vorsichtig.
- Rückversicherungstendenz, ob Bezogenheit gesichert ist, z.B. im Sinne von Besorgtheit, dem
Partner/den Kindern etc. könnte etwas Schlimmes passieren. Der Drang nach Rückversiche-
rung kann auch in der Gewohnheit zum Ausdruck kommen, in bestimmten Zeitabständen Kon-
takt aufzunehmen und sei es nur ein kurzes Telefonat. Gedanklich und in Phantasiebildern er-
folgt auffallend oft eine Bezugnahme auf das Zuhause oder einen anderen wichtigen Bezugsort.
Die Grundeinstellung ist kontrollierend-absichernd.“

Dieser Beziehungsstil spiegelt die reale kindliche Erfahrung wider, dass Zuwendung
und Zugehörigkeit aktiv abgesichert werden mussten und nicht geschenkt wurden, wie
dies unter günstigen Familienverhältnissen der Fall ist. Die erlebten Frustrationen blei-
ben unverarbeitet, eine kleine, beständige soziale Umwelt soll als Ersatz dienen.
Angstbewältigungstherapie bei ängstlichen Persönlichkeiten 483

Der Zusammenhang von demonstrierter Unabhängigkeit und aktiver Bindungskon-


trolle einerseits und von Abhängigkeit und Angst vor Bindungsverlust andererseits kann
durch die Persönlichkeitsdimension einer „kontrollierten Bezogenheit“ erklärt werden.
Dieses Persönlichkeitsmerkmal macht nach Möhlenkamp [147] die Panik in den typisch
phobischen Auslösesituationen verständlich:

1. „Unerwartet auftretende psychovegetative Streßreaktionen führen zu einer relativ starken Verunsi-


cherung, da überraschend auftretende ungewohnte körperliche Sensationen und Affekte dem
Selbstkontrollanspruch und Absicherungsbedürfnis des Phobikers zuwiderlaufen. ‚Das hatte ich
doch früher nie’, lautet der erschrockene Kommentar.
Verstärkt wird der erste Schrecken durch das Versagen der dispositionellen Copingstrategie, sich
über aktiv-willentliche Kontrolle wieder ‚in den Griff’ zu bekommen. Psychovegetative Reaktionen
wie Herzklopfen, hyper- oder hypotonische Symptome, orthostatische Störungen, Zittern, etc. las-
sen sich nicht ‚bezwingen’. Verstärkte Atmung zur Beseitigung von subjektiv empfundener Luftnot
führt zum Beispiel zu zusätzlichen tetanischen Symptomen.
Die unmittelbar nicht kontrollierbaren Symptome konfrontieren den Phobiker unvermittelt mit ei-
nem Ohnmachts- und Hilflosigkeitserleben, mit dem er nicht gelernt hat umzugehen.
2. Die Ohnmacht wird weiter verstärkt durch die besonderen Merkmale phobischer Situationen. Wenn
von den objektiven Gegebenheiten her ein unmittelbares Fluchtverhalten, das Erreichen eines si-
cheren Ortes oder die Absicherung von Notrettungsmöglichkeiten (Erreichbarkeit eines Telefons,
eines Arztes, einer Klinik) nicht möglich ist, erlebt sich der Phobiker unvermittelt abgetrennt und in
seiner ständig sichernden Hinbewegung zum ‚sicheren Hafen’ blockiert. Der dispositionelle Drang,
Bezogenheit abzusichern und sich jederzeit eines sicheren Fluchtpunktes vergewissern zu können,
gibt dem räumlichen Blockiertsein eine besondere aversive Qualität.
Blockiert wird die habituelle Tendenz, sich auf rettende Fluchtpunkte hin zu orientieren, z.B. im
Verkehrsstau oder in der Warteschlange vor der Kasse, auf der Autobahn oder Schnellstraße ohne
Umkehr- und Stoppmöglichkeit, in geschlossenen und engen Räumen wie Fahrstuhl oder Straßen-
bahn, in einer großen Menschenmenge, bei schutzloser Weite oder zu großer Entfernung vom ret-
tenden Ort.“

Phobisches Verhalten kann bei jeder Angststörung ein bewährtes Instrument der Bezie-
hungskontrolle, der Bindung und Steuerung von Bezugspersonen sein. Der Partner darf
nichts allein unternehmen, muss ständig erreichbar sein und soll sich gegen diesen
Zugriff in keiner Weise wehren, um Streit zu vermeiden.
Der Phobiker kann über seine Störung eine Bindung absichern, ohne sich selbst da-
bei als abhängig zu erleben bzw. zu definieren. Er fühlt sich für seine Manipulation
nicht verantwortlich, weil er sein Verhalten einer krankhaften Not zuschreibt, und kann
sein Selbstbild und Selbstideal von persönlicher Autonomie und Unabhängigkeit auf-
rechterhalten, weil er die tatsächliche Abhängigkeit als fremdbestimmt (krankheits-
bewirkt) erlebt.
Der Phobiker baut Bindungen auf, ohne sich und anderen eingestehen zu müssen,
dass er andere nötig hat, unabhängig von jeder Phobie. Dieser Mechanismus spielt bei
den meisten Phobien eine mehr oder weniger bedeutsame Rolle, kann jedoch zum be-
herrschenden funktionalen Prinzip werden, wenn die durchgängige Bezogenheitsabsi-
cherung zum zentralen Motiv wird.
Lebensgeschichtlich zeigen sich bei persönlichkeitsgestörten Phobikern frühe Ver-
lassenheits- und Vernachlässigungserfahrungen, häufiger Wechsel von Bezugspersonen
oder auch traumatische Vertrauensbrüche, z.B. durch sexuellen Missbrauch, die eine
derartige Tendenz verständlich erscheinen lassen. Die Angst vor dem Verlassenwerden
ist eines der zentralen Merkmale bei Menschen mit einer Borderline-Persönlich-
keitsstörung. Eine differenzialdiagnostische Abklärung ist daher sehr wichtig.
484 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Eine phobische Persönlichkeitsstörung ist nach Möhlenkamp dann zu vermuten,


z wenn unabhängig von aktuellen Verunsicherungen eine durchgängige Tendenz be-
steht, sich über phobisches Verhalten Bezogenheit zu sichern,
z wenn eine so große Angst vor Bezogenheitsverlust besteht, dass diese selbst in ab-
geschwächter Form nicht toleriert wird und zu generalisierten und anhaltenden Ab-
sicherungs-, Vermeidungs- und Rückversicherungsstrategien führt,
z wenn eine „modulierte Angstabwehr“ nicht möglich ist.

Modulierte Angstabwehr setzt nach Möhlenkamp die Fähigkeit voraus, auf eine poten-
ziell bedrohliche Situation nicht sofort zu reagieren und sich für die Situationseinschät-
zung und Reaktionsweise Zeit lassen zu können. Der damit verbundene Zustand kogni-
tiver Unsicherheit kann durch fundamentale Verunsicherungen in der Kindheit und
fehlende positive Lernerfahrungen in der späteren Entwicklung nicht ertragen werden.
Bei der Beurteilung subjektiver Gefährdung dominiert ein Entweder-oder-Muster. Dif-
ferenzierungsmöglichkeiten nach dem Ausmaß der Bedrohlichkeit von Situationen und
der Notwendigkeit entsprechender Reaktionen sind nicht vorhanden.
Alles bedeutet höchste Gefahr und führt zu entsprechenden körperlichen Alarm-
reaktionen. Die spezifische Verletzbarkeit phobischer Persönlichkeiten liegt in ihrer
Unsicherheit im Hinblick auf Bezogenheit und Zugehörigkeit.
Nach der psychoanalytischen Ich-Psychologie handelt es sich dabei um strukturell
ich-schwache Persönlichkeiten, die aufgrund früher Störungen keine ausreichende „Ob-
jektkonstanz“ entwickeln konnten. Sie haben zu wenig Beziehungsstabilität erlebt, um
auf die ständige Rückversicherung von Bezogenheit verzichten zu können.
Der innerlich ständig fantasierte Kontakt zu rettenden Personen und Orten stellt eine
notwendige Beruhigung dar, wenn man äußerlich ganz allein ist. Der Partner dient als
Hilfs-Ich, auch wenn er nicht da ist, ein Medikament als Hilfe, wenn man sich nicht
mehr selbst helfen kann, ein sicherer Ort (z.B. eine Arztpraxis oder ein Krankenhaus)
als rettende Zuflucht, wenn man sich äußerlich ausgeliefert fühlt.
Phobische Persönlichkeiten konstruieren sich auf der Fantasieebene ständig eine
Beziehungssicherheit und sind damit immer „in Kontakt“. Sie können, wenn schon
äußerlich allein, niemals innerlich allein sein. Massives Unbehagen und Panikattacken
entstehen, wenn sich die Betroffenen plötzlich ganz allein fühlen und jede Fluchtmög-
lichkeit zu einem rettenden Ort abgeschnitten ist. Die Angst, bei einer Panikattacke zu
sterben, legitimiert den ständigen inneren Kontakt mit einem Hilfs-Ich.
Ängstliche Persönlichkeiten vermeiden unerträgliche Gefühle von Leere und Allein-
sein. Auch wenn sie den Partner nicht mehr mögen, können sie sich doch nicht von ihm
trennen, weil sie nichts mehr fürchten als das Alleinsein.
Fehlende Beziehungssicherheit bewirkt ein tiefes Verlassenheitsgefühl, ein unerträg-
liches Gefühl innerer Leere und ein diffuses Bedrohungserleben. Die Betroffenen sind
in der Fantasie ständig damit beschäftigt, die Nähe wichtiger Personen oder rettender
Institutionen zu sichern, auch dann, wenn aktuell gar keine konkreten Erwartungsängste
vorhanden sind, die ein solches Verhalten verständlich machen würden.
Zusammenfassend gesehen, besteht das Problem phobischer Persönlichkeiten nach
Möhlenkamp in ihrer Einengung auf eine aktiv-kontrollierende Selbstorganisation von
Hilfe, Rettung und Bezogenheit. Lernziel wäre eine abwartend-gelassene Haltung auf
Hilfe von außen bzw. der Aufbau von Vertrauen in die eigene Selbsthilfekompetenz.
Angstbewältigungstherapie bei ängstlichen Persönlichkeiten 485

Modifikation der Angstbewältigungstherapie


bei ängstlicher Persönlichkeitsstruktur
Die Konfrontationstherapie ist auch für phobische Persönlichkeiten die angemessene
Behandlungsmethode. Die Betroffenen lernen, dass die befürchtete Katastrophe auch
ohne die gewohnten Ausweich-, Kontroll- und Vorsichtsstrategien ausbleibt. Eine Ex-
positionstherapie darf jedoch nicht am Anfang der Behandlung stehen.
Ein zu großer Veränderungsdruck vonseiten des Therapeuten kann vom Patienten
als Bestätigung seines negativen Selbstbildes aufgefasst werden, nicht zu genügen. Der
Patient verändert sich bereits positiv, wenn er sich selbst besser annehmen lernt. Be-
ginnt man mit einer unmittelbaren Verhaltensänderung, kommt es oft zum Therapieab-
bruch, oder man gerät in eine unendliche Konfrontationstherapie. Nach anfänglichen
Erfolgen kommt es regelmäßig „wie aus heiterem Himmel“ zum Rückfall.
Viele ängstliche Persönlichkeiten lassen sich auf konfrontierende Übungen und
Hausaufgaben nicht oder nur vordergründig ein. Sie üben zwar gerne zusammen mit
dem Therapeuten, machen jedoch dann allein kaum weiter. Zwischendurch zeigen sie
immer wieder ihren guten Willen, um den Therapeuten nicht zu entmutigen, sodass
solche Angstbehandlungen wegen ausbleibender Fortschritte sehr lange dauern können.
Die Betroffenen streben häufig keine Reduktion ihres Vermeidungsverhaltens an,
sondern die Sicherung und Kontrolle der für sie wichtigen Beziehung zum Therapeuten.
Der Therapeut hat oft eine unentbehrliche Hilfs-Ich-Funktion, die im Laufe der Therapie
durchaus im Sinne von Veränderungen genutzt werden kann. Die Hauptmotivation für
eine Konfrontationstherapie besteht oft darin, den Änderungswünschen der Angehöri-
gen entgegenzukommen und Behandlungsbereitschaft zu demonstrieren.
Am Beginn der Therapie steht der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Bezie-
hung. Chronische Angstpatienten haben chronische Vertrauensprobleme. Die Therapie-
beziehung ist nach den zahlreichen Enttäuschungen im Leben eine Möglichkeit, sich
und jemand anderem (der Person des Therapeuten) wieder mehr vertrauen zu lernen.
Vertrauen ist nicht machbar, sondern nur riskierbar. Es ist daher ein wichtiges The-
rapieziel, sich vertrauensvoll fallen lassen zu können und eine größere Toleranz gegen-
über Kontrollverlust aufzubauen. Es geht auch um ein besseres Kennenlernen der per-
sönlichkeitsspezifischen Ängste, die durch Verunsicherungen im Beziehungsbereich
entstehen. Phobiker müssen diese Ängste aushalten lernen und kompensatorische Absi-
cherungsstrategien aufgeben, wenn sie mehr Vertrauen entwickeln möchten.
Zu den ersten Therapieerfolgen zählt das bessere Annehmen des aktuellen Soseins.
Die Methode der systematischen Selbstbeobachtung im Sinne von „awareness“-
Übungen (Selbstwahrnehmungsübungen) stellt eine der wirksamsten Aufgaben bei
ängstlich-phobischen Persönlichkeiten dar. Das bewusste Registrieren und Protokollie-
ren von Verhaltensabläufen und zugehörigen Kognitionen und Emotionen enthält kei-
nen Veränderungsdruck, motiviert aber durch die dabei erlangten Erkenntnisse doch
dazu, ein Mehr an Selbstkontrolle und Selbstwirksamkeit zu erreichen.
Ein Beispiel für eine Selbstwahrnehmungsübung ist die Aufgabe, sich zu beobach-
ten, wie lange man das Alleinsein ertragen kann, ohne real oder in der Fantasie Bezo-
genheit durch Kontaktaufnahme oder zwanghafte Rettungsfantasien herzustellen. Der
Patient erkennt, dass er das Alleinsein ohne ängstliches Denken nicht aushält. Alleinsein
wird aufgrund der Lebensgeschichte oft als „nicht geliebt werden“ interpretiert.
486 Verhaltenstherapie bei Angststörungen

Hilfreich ist auch die Vorstellung, nach der Bewältigung der Ängste allein kleine
Reisen und Aktivitäten zu unternehmen. Dabei stellt sich häufig heraus, dass die Betrof-
fenen auch ohne Angst gar keine Lust auf Aktivitäten ohne andere Menschen haben.
Wenn das phobische Denken als unverzichtbarer Schutz vor dem belastenden Ge-
fühl des Alleinseins akzeptiert wird, kommt es nach Möhlenkamp [148] „zu einer Pro-
blemverschiebung zum Thema Alleinsein und den damit verbundenen Gefühlen des
Abgeschnittenseins, der Leere und des Schreckens“. Dies wird üblicherweise Trauerar-
beit genannt. Im Wiedererleben und Nacherleben (diesmal allerdings als Erwachsener)
können die Katastrophenfantasien aus der Zeit der kindlichen Abhängigkeit und des
existenziellen Angewiesenseins auf eine unverlässliche Umwelt bearbeitet und abgebaut
werden. Man erlebt vielleicht mit großer Traurigkeit, dass man in der Kindheit keine
Beziehungssicherheit gehabt hat und spürt auch jetzt noch schmerzhaft, dass man etwas
vermisst. Das ständige Streben nach Beziehungssicherheit wird hinfällig, wenn der
Verlust von Bezogenheit seinen Schrecken verliert und die Traurigkeit über einen even-
tuellen Geborgenheitsverlust besser ertragen werden kann.
Möhlenkamp [149] weist auf die Gefahren einer Verhaltenstherapie hin, die zu sehr
einem „Macher-Image“ nach dem Motto „Das haben wir bald im Griff“ zu entsprechen
versucht:

„Verhaltenstherapeutische Übungen und kognitive Strategien, die primär eine perfekte Selbstkontrolle
zum Ziel haben und die Einstellung verstärken, daß Selbst- und Situationskontrolle aktiv erreicht und
Hilflosigkeit überwunden werden können, wenn man nur richtig denkt und sich rational verhält, weisen
vor diesem Hintergrund in die falsche Richtung. Das wäre nur mehr desselben, aber keine neue Lerner-
fahrung.
Diese Zielsetzung, die Angst gleichsam zu besiegen und als irrational-krankhaften Kurzschluß
möglichst schnell wieder zu reparieren, deckt sich mit der Wunschvorstellung, die Phobiker zu Beginn
der Behandlung äußern.
Sich hier nicht versuchen zu lassen, einem zum Zeitgeist passenden Kontroll- und Machbarkeits-
mythos zu folgen, ist gerade für Verhaltenstherapeuten schwierig, da der Behaviorismus einschließlich
seiner kognitiven Varianten mit einer solchen Einstellung ideologisch im Grunde d’accord geht.“

Möhlenkamp [150] zeigt auf, dass die kognitive Verhaltenstherapie, die eine notwendi-
ge Ergänzung zur Konfrontationstherapie darstellt, bei phobischen Persönlichkeiten erst
dann voll wirksam werden kann, wenn zentrale affektive und interaktionelle Probleme
bearbeitet sind:

„Die kognitive Umstrukturierung der negativen Selbstbewertungen ist hier keine Frage übender Falsifi-
kation sogenannter dysfunktionaler automatischer Gedanken. Das Angewiesensein auf Beziehungskon-
trolle, das Vermeiden bestimmter phobischer Situationen und das ständige ‚Funken’ in Richtung retten-
der Instanzen ist weniger durch erlernte Denkfehler bestimmt als durch tief eingeprägte aversive Affek-
te, die über informierendes Lernen nicht direkt beeinflußbar sind. Kognitives Training greift wahr-
scheinlich erst dann, wenn sich durch ein konsistent positives affektives Klima innerhalb der therapeu-
tischen Beziehung die vorherrschende Alarmbereitschaft gelegt hat und Raum für kognitives Lernen
und Gewöhnungsprozesse entsteht.“

Eine solche Therapie erfordert einen längeren Zeitraum als eine Kurzzeittherapie von
10-15 Stunden. Nach Möhlenkamp ist es wenig wahrscheinlich, dass bei Angstpatienten
mit Persönlichkeitsstörung eine Behandlung unter zwei Jahren zu dauerhaften Verände-
rungen führt. Nach einer Intensivphase kann die Therapie später mit größeren Sitzungs-
abständen fortgeführt werden. Auf diese Weise kann verhindert werden, dass der Patient
vom Psychotherapeuten abhängig wird.
7. Psychoanalyse bei Angststörungen
Psychoanalytische Konzepte bei Angststörungen
Die Langzeit-Psychoanalyse versteht sich als aufdeckendes und persönlichkeitsumstruk-
turierendes Verfahren. Ziel ist die Änderung der Persönlichkeit in einer Weise, dass den
Angstsymptomen der Boden entzogen wird. Das allgemeine Behandlungsziel einer
Langzeit-Psychoanalyse ist nur in geringem Umfang oder gar nicht auf bestimmte Sym-
ptome gerichtet, sondern auf die psychische Struktur und die unverarbeitete Lebensge-
schichte des Patienten. Das Hauptziel bei der Behandlung angstneurotischer Patienten
besteht in der Ich-Stärkung bzw. Nachreifung angesichts ihrer ich-strukturellen Störung.
Die Art des psychoanalytischen Behandlungsansatzes bei Angststörungen hängt
vom Ausmaß der Ich-Schwäche des Patienten ab. Schwer ich-gestörte Patienten geraten
durch das klassische Setting der Psychoanalyse in eine für sie bedrohliche Regression
und werden in ihrer ohnehin brüchigen Ich-Struktur noch zusätzlich erschüttert. Im
ungünstigsten Fall kann dies bis zur psychotischen Entgleisung führen. Es geht bei
diesen Personen zunächst nicht um das rasche Aufdecken von Konflikten, den dabei
beteiligten Triebstrebungen und eingesetzten Widerstandsmustern, sondern um die
Verbesserung der Angstbewältigungsmöglichkeiten. Dies kann im Rahmen einer psy-
choanalytisch orientierten Krisenintervention oder Kurzzeittherapie erfolgen.
Bassler und Hoffmann [1] erstellten folgende Richtlinien für die psychoanalytische
Behandlung angstneurotischer Patienten:
1. Bei somatisierten Angstzuständen (z.B. Herzphobie), wo aufgrund des fehlenden
Angstaffekts die somatischen Angstäquivalente, d.h. die körperlichen Beschwerden,
im Vordergrund stehen, ist anfangs eine organische Untersuchung angezeigt.
2. Psychopharmaka sollten nur langsam abgesetzt werden. Viele angstneurotische
Patienten wünschen weniger eine innere Veränderung als eine rasche Entlastung von
ihrer Angst. Ihre mangelhafte Angsttoleranz als Folge ihrer Ich-Schwäche führt häu-
fig zu Alkohol- und Medikamentenmissbrauch. Diese Patienten sind daher stark
suchtgefährdet. Bei schwer ich-gestörten Patienten wäre die Forderung nach Ver-
zicht auf Beruhigungsmittel vor Therapiebeginn eine starke Überforderung.
3. Zunächst sollte der Aufbau einer vertrauensvollen Therapeut-Patient-Beziehung im
Vordergrund stehen. In der psychoanalytischen Literatur gibt es wenig systemati-
sche Überlegungen zur Behandlung angstneurotischer Patienten. Es wird häufig nur
die Empfehlung abgegeben, die mangelhaften Ich-Funktionen in der therapeutischen
Beziehung nachreifen zu lassen.
4. Bei angstneurotischen Patienten ist ein strafferes psychoanalytisches Setting erfor-
derlich als bei anderen Patienten. Angstneurotiker leiden sehr unter ihren starken
Ängsten und möchten beruhigt werden. Sie klammern sich stark an den Therapeuten
an und verlangen oft seine räumliche Nähe und ständige Verfügbarkeit. Der Thera-
peut wird wie der Partner oder andere nahe Bezugspersonen zu einer ständig stüt-
zenden Person degradiert, die den Patienten immer wieder neu beruhigen und er-
muntern muss. Psychoanalytische Deutungen bleiben in dieser Phase meist wir-
kungslos, müssen aber dennoch begonnen werden, um den Patienten auf die Art der
von ihm gewünschten „nährenden“ Beziehung hinzuweisen und ihn langsam an rei-
fere Interaktionsmuster heranzuführen. Im Laufe der Nachreifungszeit sollte auch
eine stärkere Angsttoleranz gelingen.
488 Psychoanalyse bei Angststörungen

Das Ausmaß der Angst stellt nicht notwendigerweise einen Hinweis auf das Ausmaß der
Ich-Störung dar. Früher so genannte „hysterische“ Patienten mit relativ guter Ich-
Struktur können mit massiven Angstzuständen reagieren, wenn diese Angstanfälle einer
bestimmten Konfliktlösung dienen (den Partner zu binden, sich selbst am Ausscheren
aus der Ehe zu hindern usw.). Bei phobischen und zwangsneurotischen Patienten be-
steht im Gegensatz zu angstneurotischen Patienten meistens eine relativ gute Ich-
Struktur, sodass eine klassische Psychoanalyse laut Experten ohne größere Probleme
durchgeführt werden kann. Bei Bedarf kann eine ich-stützende, Autonomie fördernde
Einzeltherapie durch eine analytische Gruppenpsychotherapie hilfreich ergänzt werden.
Die oft vorhandenen sozialen Defizite können dadurch überwunden und die typischen
Abwehrmechanismen durch die Reaktion der Gruppenmitglieder abgebaut werden.
Früher wurde der psychoanalytische bzw. psychodynamische Ansatz der Verhal-
tenstherapie gegenübergestellt, die zudeckend und symptomzentriert arbeite, was zwar
momentan wirke, jedoch wegen fehlender Behandlung der Grundstörung nicht lange
anhalte oder nur zu einer Symptomverschiebung führe. Die Polemiken zwischen Psy-
choanalyse und Verhaltenstherapie sind als überholt anzusehen. Beide Psychotherapie-
methoden haben sich weiterentwickelt und sind bereit, voneinander zu lernen. Das Buch
„Praxis der Psychotherapie. Ein integratives Lehrbuch für Psychoanalyse und Verhal-
tenstherapie“ von Senf und Broda dokumentiert diese Tendenzen ebenso wie das von
Bassler und Leidig herausgegebene Buch „Psychotherapie der Angsterkrankungen.
Krankheitsmodelle und Therapiepraxis – störungsspezifisch und schulenübergreifend“.
Psychoanalytiker erkennen immer häufiger die Notwendigkeit, die Dynamik der je-
weiligen Angststörung zu unterbrechen, bevor deren Hintergründe (Ursachen, Funktio-
nalitäten) bearbeitet werden können. Eine monate- oder gar jahrelange Psychoanalyse
bei Angstpatienten ohne Reduktion des phobischen Vermeidungsverhaltens wird zu-
nehmend als problematisch angesehen. Die klassische Psychoanalyse ist bei vielen
Angstpatienten überhaupt nicht bzw. jedenfalls nicht zu Beginn anwendbar, wie viele
psychoanalytische Theoretiker und Praktiker offen zugeben (z.B. Mentzos, S. O. Hoff-
mann, Bassler). Eine analytische Kurz- oder Fokaltherapie bei Angststörungen ist ähn-
lich stützend und symptomzentriert wie eine Verhaltenstherapie.
Psychodynamische Therapiekonzepte in manualisierter Form werden für verschie-
dene Angststörungen in Deutschland und Amerika immer häufiger befürwortet und
erstellt (z.B. von Autoren wie S. O. Hoffmann, Leichsenring, Luborsky, Shear, Crits-
Christoph, Milrod). In Deutschland haben Leichsenring und Mitarbeiter eine manuali-
sierte, psychoanalytisch orientierte Fokaltherapie der generalisierten Angststörung und
der sozialen Phobie für die psychotherapeutische Versorgung entwickelt, basierend auf
der supportiv-expressiven Therapie von Luborsky, der das psychodynamische Konflikt-
konzept auf Beziehungskonfliktthemata ausweitet. Generalisierte Ängste weisen inter-
aktionelle Bezüge auf (unsichere Bindungen). Es handelt sich um Kurztherapien im
Ausmaß von jeweils 25 Sitzungen (plus 5 probatorischen Sitzungen), die von der Deut-
schen Forschungsgemeinschaft gefördert sind (Verbund Psychotherapie).
Verhaltenstherapeuten anerkennen zunehmend die Problem- und Sachlage, auf die
Psychoanalytiker hinweisen (ein Konflikt als Grundlage bei vielen Angststörungen,
Angst als Symptom für etwas „tiefer Liegendes“, wie dies z.B. bei vielen Panikstörun-
gen augenfällig ist, die Bedeutung von Persönlichkeitsfaktoren, lebensgeschichtliche
Aspekte, Ausbau von Ressourcen), formulieren sie jedoch in einer Sprache, die mehr
aus der Welt der wissenschaftlichen Psychologie stammt, und verwenden andere Strate-
gien, um eine Bewältigung zu erreichen.
Psychoanalytische Konzepte bei Angststörungen 489

Seit den 1990er-Jahren berücksichtigen psychoanalytisch orientierte psychosomati-


sche Abteilungen in Deutschland den Ansatz der verhaltenstherapeutischen Konfronta-
tionstherapie zur Musterunterbrechung. Freud forderte bereits 1919 in „Wege der Psy-
choanalytischen Therapie“, dass sich Phobiker den Angst auslösenden Situationen
stellen müssten, anderenfalls könnte mit der psychoanalytischen Methode der freien
Assoziation kein konfliktrelevantes Material zutage gefördert werden. Die in der phobi-
schen Situation tatsächlich auftretende Angst und die sie begleitenden Fantasien seien
dann in den Analysestunden zu besprechen.
Freud musste es wissen, hatte er doch seine eigenen Ängste in seinem vierten Le-
bensjahrzehnt auf eine Weise behandelt, wie dies heutzutage Verhaltenstherapeuten
nicht besser vorschlagen könnten. Auch die Begründung für eine derartige Konfronta-
tion mit den gefürchteten Reizen, wie sie am Ende des folgenden Zitats von Freud [2]
gegeben wird, trifft genau die Intentionen einer Verhaltenstherapie:

„Unsere Technik ist an der Behandlung der Hysterie erwachsen und noch immer auf diese Affektion
eingerichtet. Aber schon die Phobien nötigen uns, über unser bisheriges Verhalten hinauszugehen. Man
wird kaum einer Phobie Herr, wenn man abwartet, bis sich der Kranke durch die Analyse bewegen läßt,
sie aufzugeben. Er bringt niemals jenes Material in die Analyse, das zur überzeugenden Lösung der
Phobie unentbehrlich ist. Man muß anders vorgehen. Nehmen Sie das Beispiel eines Agoraphoben; es
gibt zwei Klassen von solchen, eine leichtere und eine schwerere. Die ersteren haben zwar jedesmal
unter Angst zu leiden, wenn sie allein auf der Straße gehen, aber sie haben darum das Alleingehen noch
nicht aufgegeben; die anderen schützen sich vor der Angst, indem sie auf das Alleingehen verzichten.
Bei diesen letzteren hat man nur dann Erfolg, wenn man sie durch den Einfluß der Analyse dazu bewe-
gen kann, sich wieder wie Phobiker ersten Grades zu benehmen, also auf die Straße zu gehen und
während dieses Versuches mit der Angst zu kämpfen. Man bringt es also zunächst dahin, die Phobie so
weit zu ermäßigen, und erst wenn dies durch die Forderung des Arztes erreicht ist, wird der Kranke
jener Einfälle und Erinnerungen habhaft, welche die Lösung der Phobie ermöglichen.“

Die Psychoanalytiker S. O. Hoffmann und Markus Bassler [3] haben in Deutschland


großen Anteil an der Integration der Konfrontationstherapie in ein psychoanalytisch
orientiertes stationäres Gesamtkonzept zur Unterbrechung der Vermeidungshaltung:

„Wir sind davon überzeugt, daß für eine erfolgreiche psychoanalytische (stationäre) Behandlung von
Angsterkrankungen angstexponierende Therapieelemente unabdingbar sind (Freud empfahl bereits
1919 eine solche Vorgehensweise bei der Psychoanalyse von Phobien).“

Sie beschreiben das von ihnen entwickelte Konzept der integrativ, primär psychoanaly-
tisch ausgerichteten psychosomatischen Fachklinik in Mainz folgendermaßen [4]:

„Speziell für Angstpatienten haben wir seit 1992 ein Angstkonfrontationstraining eingeführt, das abge-
stimmt auf den einzelnen Patienten die aktive Auseinandersetzung mit der angstauslösenden Situation
bzw. Stimulus intendiert. Dabei wird mit dem Patienten intensiv in Einzel- und Gruppengesprächen
über seine dabei gemachten Erfahrungen, Eindrücke bzw. Phantasien gesprochen. Insgesamt bleibt also
die Grundorientierung am Angstsymptom als Ausdruck bzw. Folge unbewußter Konflikte weiterhin
ohne Einschränkungen erhalten, jedoch erscheint es uns unerläßlich, für Angstpatienten auch übende
verhaltenstherapeutische Elemente in das Konzept von stationärer Psychotherapie zu integrieren.“

Nach psychoanalytischer Auffassung hängt es entscheidend von der Ich-Stärke ab,


wann bei einer Agoraphobie eine Konfrontationstherapie durchgeführt werden kann.
Bei ich-schwachen Agoraphobikern sollte zuerst ein ressourcenorientiertes Vorgehen
gewählt werden, das ganz allgemein eine bessere Angstbewältigung ermöglicht.
490 Psychoanalyse bei Angststörungen

Der Einfluss des Partners und naher Bezugspersonen auf die Aufrechterhaltung der
Agoraphobie muss ebenfalls beachtet werden, was im Rahmen einer psychoanalytisch
orientierten Einzel- oder Gruppentherapie oft zu wenig erfolgt. Partner und Angehörige
haben oft ein unbewusstes Bedürfnis, die Angstsymptomatik aufrechtzuerhalten, weil
dann ihre eigenen Probleme in den Vordergrund treten würden.
Bei Panikstörungen ohne Agoraphobie sollte laut Bassler die psychoanalytische
Therapie anfangs so gestaltet werden wie eine kognitive Verhaltenstherapie, bei der
dem Patienten das „Teufelskreis-Modell“ erklärt und ein hilfreicher Umgang mit dem
Körper trainiert wird, um ein Übermaß an Medikamenten bzw. Alkohol zu verhindern.

Psychoanalytische Konzepte bei Zwangsstörungen


Analytische Konzepte zur Zwangsstörung beinhalten folgende Therapieziele [5]:
z Bearbeitung der emotionalen Ambivalenz in der therapeutischen Beziehung auf der
Ebene von Übertragung und Gegenübertragung (Macht-Ohnmacht- bzw. Autono-
mie-Abhängigkeitskonflikte).
z Veränderung des rigiden Über-Ichs zugunsten von mehr Autonomie, Lebensentfal-
tung, Genussfähigkeit, Annahme und Befriedigung zentraler (Trieb-)Bedürfnisse,
Selbstsicherheit gegenüber äußeren Normen und Autoritäten, persönliche Gewis-
sensbildung ohne skrupulöse Einengung, Integration schwer akzeptabler Impulse
bzw. widersprüchlicher Anteile im Denken, Fühlen und Handeln in die Person.
z Hilfestellung bei der Bewältigung der subjektiv oft recht belastenden Schuldgefühle
und beim Abbau der masochistischen Büßerhaltung.
z Klärung von Autonomie-Abhängigkeitskonflikten in der aktuellen Lebenssituation.
Dies kann die Einbeziehung des Partners in die Therapie erforderlich machen.
z Konfrontation mit dem Abwehrmechanismus der Gefühlsisolierung mit dem Effekt
von mehr emotionaler Spontaneität. Das affektzentrierte konfrontative Vorgehen soll
ein besseres Erleben und Durcharbeiten der aktuellen Gefühle und Triebe (aggressi-
ve und libidinöse Impulse) ermöglichen. Zielgerichtete Wut und Ärgergefühle sollen
ebenso wahrgenommen und zugelassen werden wie sexuelle Wünsche und Gefühle.
z Toleranz einer Restunsicherheit im Denken und Handeln (bessere Ambiguitätstole-
ranz) sowie Erhöhung der Risikobereitschaft.

Rationale Rekonstruktionen von Kindheitskonflikten sind oft wenig hilfreich, was auch
von Psychoanalytikern zugegeben wird. Deutungen werden von den Patienten zwar oft
eingesehen, bewirken jedoch mangels intensiven Erlebens aktueller Gefühlszustände
häufig keine Änderungen des konkreten Verhaltens. Die Gefahr des Intellektualisierens
wird durch das psychoanalytische Setting geradezu verstärkt [6]. Psychoanalytiker wie
Joraschky zeigen eine zunehmende Offenheit gegenüber verhaltenstherapeutischen
Konfrontationskonzepten bei der Behandlung von Zwangsstörungen [7]:

„Als Stärke der Verhaltenstherapie kann die konfrontative Bearbeitung symptomaufrechterhaltender


Faktoren etwa durch Expositionsbehandlung angesehen werden. Im Anschluß daran wären an der
Persönlichkeit orientierte, längerfristige analytische Behandlungsformen und die Einbeziehung des
Partners wichtige Ergänzungen. Gerade die mit Hilfe der Konfrontationstherapie erreichte verbesserte
Selbstwertsituation macht ein konfliktzentriertes Arbeiten in vielen Fällen im Anschluß sinnvoll. Aller-
dings muß hier noch ein ausreichendes Verständnis und Flexibilität bei den Therapeuten der unter-
schiedlichen Schulen erreicht werden.“
Psychoanalytische Konzepte bei posttraumatischen Belastungsstörungen 491

Psychoanalytische Konzepte bei


posttraumatischen Belastungsstörungen
Freud verstand bereits 1920 ein psychisches Trauma als Folge einer Reizüberüberflu-
tung. In Erweiterung der traditionellen Konzepte interpretierte der amerikanische Psy-
choanalytiker Horowitz die Kernsymptome der posttraumatischen Belastungsstörung
(Intrusion und Vermeidung) als bi-phasischen Versuch, das Trauma zu überwinden.
Traumatisierte Patienten müssen sich – ähnlich wie in der Verhaltenstherapie – im the-
rapeutischen Kontext neuerlich der traumatischen Erfahrung aussetzen, diese Schritt für
Schritt durcharbeiten und durch die Integration der bisher unbewältigten Erfahrungen in
die bewusstseinsfähige Erlebniswelt Kontrolle darüber gewinnen in einer Weise, dass
die Erinnerungen bewusst zugelassen werden können und gleichzeitig wieder ein nor-
males Leben möglich ist.
Es gehört seither zu den grundlegenden Strategien psychoanalytischer Traumabear-
beitung, in Abweichung von den traditionellen Behandlungskonzepten in einem aktiven
Prozess das traumatisierende Geschehen sukzessive wieder zu erinnern, die damit ein-
hergehenden Gefühle wieder zu erleben und mit Hilfe des Therapeuten auf einem kon-
trollierbaren Niveau zu verarbeiten. Die Integration der abgespaltenen Erinnerungen
ermöglicht wieder eine biografische Kontinuität der Betroffenen. Für derartige Vor-
gangsweisen gibt es auch bereits erste erfolgreiche Therapieevaluierungsstudien.
Der deutsche Psychoanalytiker Fischer, Mitautor des grundlegenden Werkes „Lehr-
buch der Psychotraumatologie“, entwickelte ein integratives Behandlungskonzept für
posttraumatische Störungen unter Einschluss verhaltenstherapeutischer Strategien, das
in seiner manualisierten Form als Mehrdimensionale Psychodynamische Traumathera-
pie (MPTT) bekannt geworden ist und auch bereits gute Behandlungserfolge nachwei-
sen kann. Das Manual berücksichtigt die verschiedenen Anforderungsprofile der Kri-
senintervention, der Akuttherapie und der Therapie komplexer chronischer psychischer
Traumatisierungen. Diese individuumspezifische Therapie orientiert sich an vier Di-
mensionen, und zwar an den drei natürlichen Verarbeitungsphasen Schock-, Einwir-
kungs- und Erholungsphase und der traumatischen Reaktionsphase, in der an die vor-
handenen Bewältigungsmechanismen der Betroffenen angeknüpft wird. Eine Akuttrau-
matherapie dauert nur 10 Sitzungen. Das Deutsche Institut für Psychotraumatologie in
Köln, das Fischer 1991 gründete und deren Leiter er ist, gilt bundesweit als federfüh-
rend in der Hilfe für Gewalt- und Unfallopfer.
Ein weiteres, sehr bedeutsames Verfahren stellt die Psychodynamisch Imaginative
Traumatherapie (PITT) der deutschen Nervenfachärztin Luise Reddemann dar, die für
Menschen mit einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung gedacht ist. In
dem sehr anschaulichen Behandlungsmanual werden neben der ausführlichen Beschrei-
bung der drei Phasen der Stabilisierung, der Traumakonfrontation und der Integration
auch andere wichtige Aspekte angesprochen. Die Autorin hat zahlreiche, sehr hilfreiche
Imaginationstechniken entwickelt und in ihrem viel gelesenen Buch „Imagination als
heilsame Kraft“ einem breiten Leserkreis bekannt gemacht. Sie berücksichtigt in ihrer
Arbeit auch zentrale Aspekte der kognitiven Verhaltenstherapie, betont jedoch als Ana-
lytikern viel stärker den Aspekt der Beziehung und die Notwendigkeit einer ausgedehn-
ten Stabilisierungsphase. Die Expertin weist darauf hin, dass die Bedeutung der Trau-
makonfrontation zumindest bei komplexen Traumafolgestörungen oft überschätzt wird
und legt großen Wert auf die Beziehungsarbeit und die Ressourcenentwicklung. Mit
ihrem sehr informativen Buch „Trauma“ wendet sie sich auch an Betroffene.
492 Psychoanalyse bei Angststörungen

Erfolge der Psychoanalyse bei Angststörungen


Es gibt bislang nur wenig befriedigende empirisch-statistische Wirksamkeitsbelege zur
psychoanalytischen Behandlung von Menschen mit Angststörungen, was auch Psycho-
analytiker zugeben. Es fehlen Vergleiche mit unbehandelten oder anders behandelten
Kontrollgruppen, bedingt durch die Art des therapeutischen Settings. Wenn Psychothe-
rapie wissenschaftlich fundiert sein soll, wie dies im österreichischen und deutschen
Psychotherapiegesetz verankert ist, haben alle Psychotherapiemethoden außer der Ver-
haltenstherapie noch einen Nachholbedarf, um die Wirksamkeit ihrer Behandlungsweise
bei Angstpatienten empirisch zu belegen.
Erste Erfolgsnachweise stellen zahlreiche Berichte von positiv abgeschlossenen
Fällen dar. Amerikanische Psychoanalytiker weisen auf Erfolge bei der Behandlung der
Panikstörung hin, dokumentiert allerdings nur durch Fallvignetten. Die untersuchten
Panikpatienten waren starken psychosozialen Stressfaktoren ausgesetzt, die ein hohes
Konfliktpotenzial zur Folge hatten. Als zentrale Konflikte zeigten sich folgende The-
men: bedrohte Bindung, Verlassenheitsangst, Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle,
verärgerte Vorwürfe, furchtsame Abhängigkeit. Die amerikanische Arbeitsgruppe um
Shear berichtete von Erfolgen mit einer Kombination von psychodynamisch orientierter
Einsichtstherapie und verhaltenstherapeutisch orientierter Konfrontationstherapie.
Hoffmann und Bassler dokumentierten die Erfolge einer Manual-gestützten Fokal-
therapie. An der psychosomatischen Fachklinik der Universität Mainz [8] wurde bei
primär psychoanalytischer Ausrichtung (jedoch zunehmend ergänzt durch die Expositi-
onstherapie aus der Verhaltenstherapie) der Erfolg bei verschiedenen Angststörungen
überprüft. Die Erfolge waren am besten bei Agoraphobie (61,4% Besserung, 6,3% Ver-
schlechterung) und bei Panikstörungen (52,5% Besserung, 6,5% Verschlechterung),
während sie bei der generalisierten Angststörung (der früheren „Angstneurose“) wesent-
lich bescheidener ausfielen (nur 40,0% Besserung und 21,2% Verschlechterung).
In den letzten Jahren haben sich auch Psychoanalytiker zunehmend bemüht, die
Wirksamkeit psychodynamischer Methoden bei der Behandlung von Angst- und Panik-
störungen zu dokumentieren auf der Basis der üblichen Forschungsstandards. Eine ma-
nualisierte psychodynamisch orientierte Therapie bei Menschen mit Panikstörungen,
wie sie vom Team um Milrod eingesetzt wurde, konnte mithilfe eines randomisierten
und kontrollierten Designs eine gute Wirksamkeit nachweisen und bestätigte damit die
Ergebnisse aus offenen Studien zur panikfokussierten psychodynamischen Therapie.
Nach der Meta-Analyse von Ruhmland und Margraf waren zwei psychodynamische
Studien ebenso erfolgreich wie die kognitive Therapie (ES = 1,13), jedoch nicht stabil.
Die Göttinger Psychoanalytiker Leichsenring und Leibing haben mit ihrem Team
durch eine umfangreiche Meta-Analyse psychoanalytischer Studien zu allen möglichen
psychischen Störungen die Wirksamkeit der Psychoanalyse aufgezeigt und möchten
diese durch eigene Studien im Bereich der Angststörungen belegen. Leichsenring und
Mitarbeiter evaluieren gegenwärtig im Rahmen des Forschungsverbunds SOPHO-NET
(Social Phobia Psychotherapy Research Network) in fünf deutschen Forschungszentren
(Göttingen, Bochum, Dresden, Jena, Mainz) die psychodynamische Kurzzeittherapie bei
Menschen mit sozialer Phobie in Form einer randomisierten und kontrollierten Multi-
center-Studie im Vergleich mit kognitiver Verhaltenstherapie. Die Autoren evaluieren
auch eine manualisierte psychoanalytisch orientierte Fokaltherapie der generalisierten
Angststörung in Form der supportiv-expressiven Therapie nach Luborsky im Vergleich
zu kognitiver Verhaltenstherapie.
8. Selbsthilfe bei Angststörungen
Bibliotherapie – Selbstheilung durch angeleitetes Lesen
Bibliotherapie bezeichnet eine Selbstbehandlung durch angeleitetes Lesen, d.h. die
Heilung von psychischen Störungen durch geeignete Behandlungsanleitungen. Es han-
delt sich dabei meist um Patientenratgeber und Selbsthilfemanuale, die von Fachleuten
speziell für Betroffene und deren Angehörige verfasst wurden, aber auch um Betroffe-
nenberichte und Autobiographien nach dem Motto „So habe ich mein Symptom XY
überwunden“, häufig kommentiert von Fachleuten. Mittlerweile gibt es Selbsthilfe-
Ratgeber zu allen Angststörungen nach dem ICD-10 sowie auch zu Zwangsstörungen
und posttraumatischen Belastungsstörungen. Es handelt sich meist um eine Kombinati-
on von Psychoedukation (Informationen über die Störung) und konkrete Handlungsan-
leitungen. Die bewährten Prinzipien der verhaltenstherapeutischen Angstbehandlung
durch Fachleute werden dabei in Form von Selbsthilfeprogrammen präsentiert.
Selbsthilfebücher stellen auch eine sinnvolle, oft sogar notwendige Ergänzung der
traditionellen psychotherapeutischen oder ärztlichen Behandlung dar. Auf diese Weise
können die Betroffenen Therapiekosten sparen, während Ärzte und Psychotherapeuten
bei weniger Zeitaufwand dennoch sehr effizient tätig sein können. Kurzzeittherapien in
meiner Praxis leben oft von den positiven Effekten der Bibliotherapie.
Verhaltenstherapeutisch orientierte Selbsthilfebücher können auch im Rahmen einer
anderen Psychotherapiemethode Gewinn bringend eingesetzt werden. Wenn es gelingt,
über ein Selbstbehandlungsmanual einen Durchbruch auf der Symptomebene zu errei-
chen, können die anderen Probleme (Partnerprobleme, berufliche Konflikte, unverarbei-
tete Erlebnisse aus der Vergangenheit, emotionale Probleme wie unterdrückte Aggres-
sionen usw.) durchaus nach einer anderen Psychotherapiemethode bearbeitet werden.
Studien belegen die heilende Wirkung von gedruckten, über Computer verfügbaren
oder audiovisuellen Anleitungen zur Selbsttherapie bei Angst-, Panik-, Zwangs- und
posttraumatischen Belastungsstörungen [1]. Eine Meta-Analyse von Studien zur Wirk-
samkeit von Selbsthilfemanualen ergab eine mittlere Effektstärke (ES = 0,68) [2]. Die
Wirksamkeit von Selbsthilfeprogrammen wird erhöht, wenn diese durch einen minima-
len Therapeutenkontakt unterstützt werden können. Immer größere Bedeutung werden
jene Unterweisungen gewinnen, die die Möglichkeiten des Computers und des Internets
nutzen. Selbst bei so schweren Störungen wie der posttraumatischen Belastungsstörung
sind Internet-gestützte Selbstbehandlungsanleitungen als wirksam nachgewiesen.
Wegen der positiven Wirkungen von Selbsthilfebüchern schreibe ich zusammen mit
Journalisten derartige Patientenratgeber. Einen guten Überblick über zehn Angststörun-
gen mit vielen Ratschlägen bietet mein Selbsthilfebuch „Die zehn Gesichter der Angst.
Ein Selbsthilfe-Programm in 7 Schritten“, das ich mit der Journalistin Sigrid Sator als
Koautorin verfasst habe, mit der ich anschließend auch das Buch „Wenn die Seele durch
den Körper spricht. Psychosomatische Störungen verstehen und heilen“ veröffentlicht
habe. Zur Thematik der hypochondrischen Ängste habe ich mit dem Journalisten Tho-
mas Hartl das Selbsthilfebuch „Die Angst vor Krankheit verstehen und bewältigen“
geschrieben. Meinen Ratgeber „Die Angst zu versagen und wie man sie besiegt“ habe
ich von einer Wiener Journalistin in eine leichter lesbare Form bringen lassen. Als näch-
stes Buch plane ich einen Selbsthilfe-Ratgeber mit dem Arbeitstitel „Wenn Angst zur
Furcht wird. Spezifische Phobien verstehen und überwinden“.
494 Selbsthilfe bei Angststörungen

Angst-Fragebogen – Angststörungen selbst erkennen


Der folgende Angst-Fragebogen stammt aus der von Wittchen und anderen Experten [3]
erstellten, kostengünstigen und empfehlenswerten Patienten-Informationsbroschüre
„Hexal-Ratgeber Angst“. Es handelt sich um Fragen zu den fünf Angststörungen nach
dem ICD-10. Der Fragebogen soll Sie auf eine eventuell vorhandene Angststörung
hinweisen und anregen, die Selbstdiagnose durch die Diagnose eines Arztes oder Psy-
chotherapeuten überprüfen zu lassen. Die Lektüre der Forschungskriterien nach dem
ICD-10, wie sie bei den jeweiligen Angststörungen angeführt sind, kann Ihnen eine
weitere Bestätigung bringen. Die Fragen sind jeweils durch Ankreuzen von „Ja“ oder
„Nein“ zu beantworten. Bei manchen Fragen werden Sie – falls Sie mit „Nein“ geant-
wortet haben – angewiesen, einige der folgenden Fragen zu überspringen.

Tab. 14: Angst-Fragebogen nach Wittchen u.a [4]

Fragen zur Panikstörung

1. Hatten Sie schon einmal einen Angstanfall, d.h., wurden Sie ganz plötzlich und ja nein
unerwartet von starker Angst oder Beklommenheit überfallen, und zwar in È
Situationen, in denen die meisten Menschen nicht ängstlich sind? Frage 9
2. Solche Angstanfälle treten manchmal auf, wenn man wirklich in ernster Gefahr ja nein
ist oder wenn man im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit anderer steht. Treten Ihre È
Angstanfälle auch unabhängig von solchen Situationen auf? Frage 9
3. Versuchen Sie, sich an einen Ihrer schwersten Angstanfälle zurückzuerinnern!
Hatten Sie während dieses Angstanfalls
z Atemnot oder Schwierigkeiten, Luft zu bekommen? ja nein
z Herzklopfen? ja nein
z Schwindel, Benommenheitsgefühle? ja nein
z ein Engegefühl oder Schmerzen in Brust oder Magen? ja nein
z Kribbeln oder Taubheitsgefühle? ja nein
z Erstickungsgefühle? ja nein
z das Gefühl, einer Ohnmacht nahe zu sein? ja nein
z geschwitzt? ja nein
z gezittert oder gebebt? ja nein
z Hitzewallungen oder Kälteschauer? ja nein
z die Dinge um Sie herum als unwirklich empfunden? ja nein
z die Befürchtung, dass Sie sterben könnten? ja nein
z die Befürchtung, verrückt zu werden? ja nein
z einen Brechreiz verspürt? ja nein
z Beklemmungsgefühle? ja nein
z einen trockenen Mund? ja nein
4. Traten diese Beschwerden sehr plötzlich auf, und verschlimmerten sie sich dann
innerhalb von Minuten? ja nein
5. Hatten Sie jemals vier Angstanfälle innerhalb von 4 aufeinander folgenden
Wochen? ja nein
6. Hatten Sie nach einem solchen Angstanfall wochenlang ständig Angst davor,
wieder einen solchen Angstanfall zu bekommen? ja nein
7. Wann hatten Sie zum ersten Mal einen Angstanfall?
8. Wann hatten Sie zum letzten Mal einen Angstanfall?

 Haben Sie die Fragen 1, 2, mindestens eine Beschwerde von Frage 3 sowie die
Fragen 4 (oder 5) und 6 mit Ja beantwortet?
Wenn dies zutrifft, haben Sie möglicherweise eine Panikstörung!
Angst-Fragebogen – Angststörungen selbst erkennen 495

Fragen zur generalisierten Angststörung

9. Nun fragen wir nach lang andauernden Angstzuständen! ja nein


Haben Sie sich jemals 6 Monate oder länger fast unablässig ängstlich, ange- È
spannt und besorgt gefühlt? Frage 17
10. Wie lange hielt die längste Phase an, während der Sie sich ängstlich und besorgt
fühlten? Monate
11. Machten Sie sich ständig Sorgen über Dinge, die mit großer Wahrscheinlichkeit
gar nicht eintreten würden? ja nein
12. Machten Sie sich ständig Sorgen über Dinge, die eigentlich gar nicht so schwer-
wiegend sind? ja nein
13. Machten Sie sich über verschiedene Dinge (Kinder, Familie, Gesundheit) Sor-
gen? ja nein
14. In diesen Zeiten, wenn Sie sich ängstlich und besorgt fühlten, ja nein
z waren Sie da leicht ermüdbar? ja nein
z waren Sie sehr aufgeregt, nervös und schreckhaft? ja nein
z zitterten Sie oder bebte Ihr Körper? ja nein
z fühlten Sie sich rast- und ruhelos? ja nein
z hatten Sie Muskelverspannungen oder -schmerzen? ja nein
z hatten Sie große Konzentrationsprobleme? ja nein
z waren Sie besonders leicht reizbar? ja nein
z schwitzten Sie sehr stark? ja nein
z litten Sie unter Herzklopfen oder Herzrasen? ja nein
z hatten Sie kalte, feuchte Hände? ja nein
z fühlten Sie sich schwindelig oder benommen? ja nein
z hatten Sie einen trockenen Mund? ja nein
z litten Sie unter Übelkeit oder Durchfall? ja nein
z mussten Sie zu oft Wasser lassen? ja nein
z hatten Sie Hitzewallungen oder Kälteschauer? ja nein
z hatten Sie Atemnot oder das Gefühl zu ersticken? ja nein
z hatten Sie Schluckbeschwerden? ja nein
z hatten Sie Ein- oder Durchschlafschwierigkeiten? ja nein
z hatten Sie Magenbeschwerden? ja nein
z fühlten Sie sich einer Ohnmacht nahe oder unwirklich? ja nein
z hatten Sie das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren? ja nein
15. Wann hatten Sie solche Angstzustände zum ersten Mal?
16. Wann hatten Sie solche Angstzustände zum letzten Mal?

 Haben Sie die Fragen 9, 13 und fünf oder mehr Beschwerden von Frage 14 mit
Ja beantwortet? Wenn ja, haben Sie möglicherweise eine generalisierte Angst-
störung!

Fragen zur Agoraphobie

17. Einige Menschen haben ohne klaren Grund eine solch starke Angst vor Men-
schenmengen, alleine das Haus zu verlassen oder Bus, Auto oder Eisenbahn zu
benutzen, dass sie solche Situationen vermeiden oder nur unter großer Angst
ertragen können. Hatten Sie jemals eine derart unbegründet starke Angst,
z vor Menschenmengen oder Schlange zu stehen? ja nein
z das Haus zu verlassen oder außerhalb des Hauses allein zu sein? ja nein
z sich auf öffentlichen Plätzen (Markt, Kino) aufzuhalten? ja nein
z sich im Auto, Zug, Bus oder Flugzeug zu befinden? ja nein
z oder eine Brücke zu überqueren? ja nein

 Wenn Sie alle diese Fragen verneint haben, springen Sie zu Frage 28!
496 Selbsthilfe bei Angststörungen

18. Haben Sie in solchen Situationen


z geschwitzt oder gebebt? ja nein
z einen trockenen Mund gehabt? ja nein
z Herzklopfen oder Herzrasen gehabt? ja nein
z Atemnot oder Erstickungsgefühle gehabt? ja nein
z sich benommen oder einer Ohnmacht nahe gefühlt? ja nein
z befürchtet, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren? ja nein
19. Hatten Sie Angst, „verrückt“ zu werden? ja nein
z oder dass Ihnen etwas Peinliches passiert? ja nein
z oder dass Sie hilflos werden? ja nein
20. Vermeiden Sie solche Situationen wegen Ihrer Angst? ja nein
21. Haben Sie mit einem Arzt über diese Ängste gesprochen? ja nein
22. Haben Sie wegen dieser Ängste Medikamente eingenommen? ja nein
23. Haben diese Ängste oder das Vermeiden dieser Situationen wesentlich in Ihr
normales Leben eingegriffen? ja nein
24. Konnten Sie wegen dieser Ängste irgendwann einmal nicht verreisen, obwohl
Sie dies gerne getan hätten? ja nein
25. Waren Sie wegen dieser Ängste einmal einen ganzen Tag lang nicht in der Lage,
Ihr Haus oder Ihre Wohnung zu verlassen? ja nein
26. Wann hatten Sie zum ersten Mal eine solche Angst?
27. Wann hatten Sie zum letzten Mal eine solche Angst?

 Haben Sie zumindest eine der Beschwerden der Fragen 18 oder 19 sowie die
Fragen 23-25 mit Ja beantwortet? Dann liegt bei Ihnen möglicherweise eine
Agoraphobie vor!

Fragen zur sozialen Phobie

28. Manche Menschen haben eine solche unbegründet starke Angst davor, etwas in
Gegenwart anderer Menschen zu tun, dass Sie solche Situationen meiden oder
Sie nur unter großer Angst durchstehen. Hatten Sie jemals solch starke Ängste
z vor anderen Ihnen bekannten Personen zu sprechen? ja nein
z auf die Toilette gehen zu müssen (Restaurant, Kino)? ja nein
z in der Öffentlichkeit zu essen oder zu trinken? ja nein

z mit anderen zu sprechen, weil Sie möglicherweise nichts zu sagen hätten


oder „Unsinn“ von sich geben könnten? ja nein
z zu schreiben, wenn Ihnen jemand zuschaut? ja nein

 Wenn Sie eine, mehrere oder alle dieser Fragen mit Ja beantwortet haben, gehen
sie weiter zu Frage 29! Haben Sie alle Fragen verneint, gehen Sie zu Frage 40!

29. Haben diese Ängste monatelang angedauert? ja nein


30. Haben Sie mit einem Arzt über diese Angst gesprochen? ja nein
31. Haben Sie wegen dieser Angst Medikamente eingenommen? ja nein
32. Hat diese Angst oder das Vermeiden dieser Situation wesentlich in Ihr normales
Leben eingegriffen? ja nein
33. Hat diese Angst Sie jemals sehr belastet? ja nein
34. Hat diese Angst Sie jemals daran gehindert, eine berufliche Aufgabe zu bewälti-
gen, neue Verantwortlichkeiten an Ihrem Arbeitsplatz zu übernehmen oder eine
neue Stelle anzutreten? ja nein
35. Hat diese Angst Sie jemals daran gehindert, zu einer Feier oder einer sonstigen
gesellschaftlichen Veranstaltung oder zu einem Treffen zu gehen? ja nein
36. Wenn Sie sich in einer Angstsituation befanden oder sich vorstellten, in einer
solchen Situation zu sein, wurden Sie da fast immer extrem nervös, z.B. schwitz-
ten Sie, hatten Herzklopfen oder waren kurzatmig? ja nein
Angst-Fragebogen – Angststörungen selbst erkennen 497

37. Oder erröteten oder zitterten Sie? ja nein


z hatten Sie die Befürchtung, erbrechen zu müssen? ja nein
z oder dass Ihnen etwas sehr Peinliches passieren könnte? ja nein
38. Wann hatten Sie solche Ängste zum ersten Mal?
39. Wann hatten Sie solche Ängste zum letzten Mal?

 Haben Sie die Fragen 29 oder 35-37 mit Ja beantwortet?


Dann haben Sie möglicherweise eine soziale Phobie!

Fragen zur spezifischen Phobie

40. Es gibt noch andere Situationen, in denen manche Menschen eine solche unbe-
gründet starke Angst verspüren, dass sie sie zu vermeiden versuchen.
Hatten Sie jemals eine unbegründet starke Angst
z vor Höhen? ja nein
z vor dem Fliegen? ja nein
z davor, Blut zu sehen? ja nein
z vor Stürmen, Donner oder Blitz? ja nein
z vor Schlangen, Vögeln, Insekten oder anderen Tieren? ja nein
z vor geschlossenen Räumen (z.B. Aufzugkabinen)? ja nein
z vor Blut oder eine Spritze zu bekommen? ja nein
z davor, im Wasser (z.B. Swimmingpool, Meer) zu sein? ja nein
z vor irgendwelchen anderen Situationen? ja nein
Welche?
_______________________________________________________________

 Wenn Sie eine, mehrere oder alle dieser Fragen mit Ja beantwortet haben, gehen
Sie weiter zu Frage 41! Haben Sie alle Fragen verneint, beenden Sie den Frage-
bogen!

41. Hat eine dieser Ängste Monate oder gar Jahre angedauert? ja nein
42. Haben Sie mit einem Arzt über diese Ängste gesprochen? ja nein
43. Haben Sie wegen dieser Angst Medikamente genommen? ja nein
44. Hat diese Angst oder das Vermeiden dieser Situation wesentlich in Ihr normales
Leben eingegriffen? ja nein
45. Hat diese Angst Sie jemals sehr belastet? ja nein
46. Hat die Angst Sie jemals daran gehindert, eine berufliche Aufgabe zu überneh-
men oder eine neue Stelle anzutreten? ja nein
47. Hat die Angst Sie jemals daran gehindert, zu einer Feier oder einer sonstigen
gesellschaftlichen Veranstaltung zu gehen? ja nein
48. Wenn Sie sich in einer Angstsituation befanden oder wenn Sie an eine solche
Situation dachten, wurden Sie da fast immer nervös oder „panisch“? Schwitzten
Sie? Hatten Sie Herzklopfen? Waren Sie kurzatmig? ja nein
49. Wann hatten Sie zum ersten Mal eine solche Angst?
50. Wann hatten Sie zum letzten Mal eine solche Angst?

 Haben Sie die Fragen 41, 44-46 oder 47 und 48 mit Ja beantwortet?
Dann haben Sie möglicherweise eine spezifische Phobie!

Auf der Grundlage der Forschungskriterien des ICD-10 habe ich den nachfolgenden
Fragebogen zur Erfassung von Angststörungen erstellt. Markieren Sie alle Symptome,
die gegenwärtig auftreten, entweder plötzlich in Form von Panikattacken oder als
Angstattacken in phobischen Situationen oder als Dauerzustand im Sinne einer generali-
sierten Angststörung. Geben Sie zusätzlich durch einen Vermerk an, falls Sie früher
eine der Angststörungen 1.-4. hatten.
498 Selbsthilfe bei Angststörungen

Tab. 15: Angst-Fragebogen nach den ICD-10-Forschungskriterien (vom Autor erstellt)

Treten die folgenden Symptome attackenartig (akut-plötzlich) attacken- länger


oder länger dauernd auf? Sie können auch beides markieren. artig, akut dauernd
1. Herzrasen oder störendes Herzklopfen O O
2. Schweißausbrüche O O
3. fein- oder grobschlägiges Zittern O O
4. Mundtrockenheit (nicht als Medikamentennebenwirkung) O O
5. Atembeschwerden O O
6. Beklemmungsgefühl O O
7. Schmerzen oder Missempfindungen in der Brust O O
8. Übelkeit oder sonstige Magenbeschwerden O O
9. Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit O O
10. Depersonalisation (sich weit weg, nicht ganz da fühlen)
oder Derealisation (die Objekte erscheinen unwirklich) O O
11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden, auszuflippen O O
12. Angst zu sterben (als Folge attackenartiger Symptome) O O
13. Hitzewallungen oder Kälteschauer O O
14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle O O
15. Muskelverspannung, akute und chronische Schmerzen O O
16. Ruhelosigkeit und Unfähigkeit sich zu entspannen O O
17. Aufgedrehtsein, Nervosität, psychische Anspannung O O
18. Kloßgefühl im Hals oder Schluckbeschwerden O O
19. Übertriebene Reaktionen auf Überraschung/Erschrecktwerden O O
20. Konzentrationsschwierigkeiten, Leeregefühl im Kopf
wegen der ständigen Sorgen oder Ängste O O
21. anhaltende Reizbarkeit O O
22. Einschlafstörung wegen der ängstlichen Besorgtheit O O
23. Erröten oder Zittern (Angst, dadurch negativ aufzufallen) O O
24. Angst zu erbrechen (Angst, dadurch negativ aufzufallen) O O
25. Harn-/Stuhldrang bzw. Angst davor (wegen der Auffälligkeit) O O

1. Verdacht auf Panikstörung: gleichzeitiges Auftreten von mindestens 4 Symptomen


aus 1.-14. (davon 1 Symptom aus 1.-4.) – attackenartig und spontan auftretend, nicht
auf bestimmte Situationen oder Objekte bezogen (nicht vorhersagbar, weil nicht
durch bestimmte Situationen bedingt); diese Symptome werden als gefährlich oder
lebensbedrohlich erlebt (ohne körperliche Anstrengung und ohne sichtbare Ursa-
che). Eine Panikstörung erfordert spontane, nicht-situationsbedingte Panikattacken.
2. Verdacht auf generalisierte Angststörung: mindestens 4 Symptome aus 1.-22. (da-
von ein Symptom aus 1.-4.) – mindestens 6 Monate lang in einem Zeitraum mit vor-
herrschender Anspannung, Besorgnis und Befürchtungen in Bezug auf alltägliche
Ereignisse und Probleme. Im Laufe der Zeit entsteht daraus oft eine Depression.
3. Verdacht auf Agoraphobie (Platzangst): mindestens 2 Symptome aus 1.-14. (davon
1 Symptom aus 1.-4.) – auftretend in mindestens 2 von 4 Situationen: Menschen-
mengen, öffentliche Plätze, allein Reisen, Reisen mit weiter Entfernung von Zuhau-
se. Wenn Panikattacken nur in phobischen Situationen auftreten, haben Sie keine
Panikstörung, sondern eine ausgeprägte Agoraphobie oder spezifische Phobie.
4. Verdacht auf soziale Phobie: mindestens 2 Symptome aus 1.-14. sowie mindestens
1 Symptom aus 23.-25. – auftretend jeweils in sozialen Situationen. Wenn Panikat-
tacken nur in sozialen Situationen auftreten, haben Sie keine Panikstörung, sondern
eine ausgeprägte soziale Phobie. Diese wird durch Symptome wie Erröten verstärkt.
Problem- und Zielanalyse bei Angststörungen 499

Problem- und Zielanalyse bei Angststörungen


Zur Erfassung der verschiedenen Angststörungen gibt es zahlreiche Fragebögen, die
meist nur Fachleuten zugänglich sind. Vor allem Verhaltenstherapeuten legen einige
davon ihren Patienten zur Beantwortung vor, um rasch einen Eindruck von der Art und
dem Ausmaß der Störung zu bekommen. Bei Vorgabe derselben Verfahren zu Beginn
und am Ende der Psychotherapie kann auf diese Weise der Therapieerfolg überprüft
werden. Das von Hoyer und Margraf herausgegebene Buch „Angstdiagnostik. Grundla-
gen und Testverfahren“ beschreibt zu jeder Angststörung zahlreiche Fragebögen, die
aus Platzgründen in diesem Buch nicht ausführlicher dargestellt werden können.
Zu Beginn einer Psychotherapie erfolgen auch ohne Vorlage spezieller Fragebögen
eine genaue Analyse des Problemverhaltens (in der Verhaltenstherapie „Verhaltensana-
lyse“ bzw. „Problemanalyse“ genannt) sowie eine Auflistung der konkreten Therapie-
ziele. Wenn Sie die folgenden Fragen möglichst konkret beantworten können, haben Sie
nicht nur ein besseres Verständnis Ihrer Angststörung erlangt, sondern auch eine gute
Vorbereitung für eine eventuelle Psychotherapie getroffen.
Bei Verhaltenstherapeuten werden Ihnen derartige Fragen möglicherweise als
Hausaufgabe übermittelt, um die Art und den Kontext Ihrer Angststörung rasch zu erar-
beiten. Eine detaillierte Problem- und Symptomerfassung ist die Voraussetzung für eine
individuell abgestimmte Verhaltenstherapie.

Individuelle Verhaltensanalyse

z Können Sie Ihre Ängste aufzählen, genau beschreiben und nach der Stärke reihen?
z Welche körperlichen Zustände, Verhaltensweisen und Gedanken treten auf, wenn
Sie Angst haben? Was sind für Sie die schlimmsten Angstsymptome?
z Seit wann – wann – wo – wie – mit welchem Ablauf – wie oft – wie stark – mit wem
zusammen – mit welchen unterschiedlichen Erscheinungsformen und Schwan-
kungsbreiten treten Ihre Ängste auf?
z In welchen Situationen treten Ihre Ängste derzeit vorwiegend auf?
z Gibt es auch Ausnahmen? Gibt es Zeiten und Umstände, wo Ihre Ängste nicht oder
kaum auftreten? Wenn ja, wie erklären Sie sich das?
z Unter welchen Umständen sind Ihre Ängste entstanden?
z Welche damaligen Umstände sind auch heute noch vorhanden? Welche davon haben
auch jetzt noch eine ursächliche Bedeutung, welche dagegen nicht mehr?
z Durch welche gegenwärtigen Umstände werden Ihre Ängste aufrechterhalten?
z Durch welche Einstellungen werden Ihre Ängste geprägt und verstärkt?
z Angenommen, Sie möchten Ihre Ängste schlimmer machen, was müssten Sie da
tun? Wenn dies tatsächlich möglich ist, was können Sie daraus lernen?
z Vermeiden ist das zentrale Symptom bei einer Agoraphobie. Was genau möchten
Sie am liebsten vermeiden? Welche Symptome Ihres Körpers fürchten Sie am mei-
sten? Was haben die gefürchteten Situationen miteinander gemeinsam?
z Wenn Sie sich einmal entschlossen haben, eine Angst machende Situation durchzu-
stehen, was führt schließlich doch dazu, dass Sie die betreffende Situation verlassen?
Welche körperlichen Zustände, Gedanken und Gefühle haben Sie da?
z Falls Sie Ihre Ängste schon längere Zeit haben, was genau macht die Situation gera-
de jetzt so belastend, dass Sie eine Psychotherapie beginnen möchten?
500 Selbsthilfe bei Angststörungen

Kontextuelle (systemische) Verhaltensanalyse

z Welche Zusammenhänge könnten zwischen Ihren Ängsten und Ihrer familiären bzw.
partnerschaftlichen Situation bestehen?
z Welche Zusammenhänge könnten zwischen Ihren Ängsten und Ihrer beruflichen
oder schulischen Situation bestehen?
z Hat ein Elternteil auch Ängste? Wenn ja: dieselben wie Sie oder andere?
z Hat Ihr Partner auch Ängste? Wenn ja: dieselben wie Sie oder andere?
z Haben andere Verwandte oder Bekannte ähnliche Ängste wie Sie selbst?
z Wenn die Eltern oder der Partner auch Ängste haben: Sehen Sie einen Zusammen-
hang zwischen den Ängsten eines Elternteils bzw. des Partners und Ihren Ängsten?
Wenn ja, welchen?
z Was sind die wichtigsten Einstellungen, Lebensregeln und Wertvorstellungen, die
Ihnen Ihre Eltern im Laufe der Erziehung vermittelt haben? Welche gelten für Sie
auch jetzt noch? Wie könnten diese mit Ihren Ängsten zusammenhängen?
z Welche Umstände, die mit Ihren Ängsten zusammenhängen, können weder durch
Sie noch durch eine Psychotherapie verändert werden, sodass Sie besser damit leben
lernen müssen?
z Welche Folgen hätte die Angstbewältigung für Ihre Eltern bzw. Ihren Partner?
z Wären Ihre Eltern bzw. Ihr Partner bereit, bei Bedarf an einer Psychotherapie teilzu-
nehmen? Warum möchten Ihre Angehörigen vielleicht doch nicht teilnehmen?

Auswirkungen

z Wie beeinträchtigen Ihre Ängste ganz konkret Ihr Leben? Welche Einschränkungen
und Behinderungen sind damit verbunden? Nehmen Sie eine Rangreihung Ihrer
Ängste nach dem Ausmaß der Belastungen und der negativen Auswirkungen vor.
z Was sind die derzeit negativsten Folgen Ihrer Ängste für Ihre Lebenssituation?
z Welche Folgen hätte es für Ihre Lebenssituation, wenn Ihre Ängste bestehen bleiben
sollten? Worauf müssten Sie verzichten? Was wären die negativsten Konsequenzen?
z Was könnte ohne Psychotherapie schlimmstenfalls passieren, wenn es so weiter
ginge wie bisher? Wie nahe sind Sie dieser Situation im Moment schon?
z Angenommen, es geschieht über Nacht ein Wunder: Sie wachen am Morgen auf und
haben keinerlei Ängste mehr. Welche positiven und negativen Auswirkungen hätte
dies auf Ihr Leben? Was würden Sie dann tun (sofort, in der nächsten Zeit, mittelfri-
stig)? Woran würden die anderen erkennen, dass ein Wunder geschehen ist?

Reaktion der Umwelt

z Welche Personen Ihrer Umwelt wissen von Ihrer Angststörung? Wenn kaum jemand
darüber Bescheid weiß, was fürchten Sie, wenn andere davon wüssten?
z Wie reagieren Ihre Angehörigen und Arbeitskollegen auf Ihre Ängste?
z Was tun Ihre Angehörigen, um Ihre Ängste zu reduzieren bzw. im Gegenteil be-
wusst oder unbewusst zu verstärken?
z Welche Reaktionen der Umwelt haben Ihnen bisher am meisten geholfen, welche
am meisten geschadet?
Problem- und Zielanalyse bei Angststörungen 501

Positive Aspekte der Angststörung

z Können Sie an Ihren Ängsten auch irgendetwas Positives sehen? Wofür können sie
vielleicht ganz gut sein? Welche Funktion könnten Ihre Ängste haben?
z Wer hat mehr Vorteile von Ihrer Angststörung: Sie oder Ihre Umgebung?
z Warum haben Sie es in der Vergangenheit – vielleicht nach mehrfachem Bemühen –
aufgegeben, Ihre Angststörung zu überwinden? Können Sie darin auch etwas Gutes
sehen? Welche Überlegungen haben Sie angestellt, dass Sie es trotz des Leidens un-
ter Ihren Ängsten leichter finden, mit Ihrer Angststörung zu leben als ohne sie?
z Welche schönen Dinge des Lebens können Sie trotz Ihrer Ängste derzeit noch erle-
ben und genießen? Was davon baut Sie gegenwärtig am meisten auf?

Bisherige Problemlösungsstrategien

z Welche Vermeidungsstrategien angesichts von Angstsituationen haben Sie bisher


gewählt? Was tun Sie, um Ängste und Panikattacken möglichst zu vermeiden?
z Verwenden Sie Alkohol oder Beruhigungsmittel zur Angstbewältigung? Wenn ja,
welche Mittel in welcher Menge? Welche Folgen hatte die Einnahme dieser Mittel?
z Was haben Sie bisher bereits selbst unternommen, um Ihre Ängste zu bewältigen?
z Was davon hat Ihnen am meisten geholfen, was am wenigsten, was geschadet?
z Welche Ratschläge und Warnungen würden Sie gleichfalls Betroffenen erteilen?
z Was sollten Sie aufgrund zumindest vorübergehender Erfolge weiterhin tun?
z Falls Sie bisher bereits ärztliche oder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch ge-
nommen haben, was davon hat Ihnen am meisten geholfen, was war wirkungslos?

Erklärungsversuche

z Welche Erklärungsversuche für Ihre Ängste haben Sie bisher selbst entwickelt?
z Was genau halten Sie für die zwei oder drei wesentlichsten Ursachen Ihrer Ängste?
z Was glauben Sie, warum Ihre Ängste auch jetzt noch, vielleicht nach vorübergehen-
der Besserung, bestehen bleiben?
z Wenn Sie einigermaßen überzeugende Erklärungsversuche für Ihre Ängste entwik-
kelt haben, können Sie dann vorhersagen, unter welchen Bedingungen Ihre Ängste
nach vorübergehender Besserung wieder stärker auftreten müssten?
z Wie sehr erwarten Sie von einer Psychotherapie (weitere) Erklärungsversuche, wie
sehr konkrete Hilfestellungen zur Veränderung?
z Falls Sie schon einmal ähnliche Ängste gehabt und vollständig überwunden haben,
wie erklären Sie sich, dass diese Ängste jetzt wieder verstärkt auftreten und von Ih-
nen nicht mehr allein erfolgreich bewältigt werden können?
z Welche Erklärungsversuche und Änderungsvorschläge für Ihre Ängste kommen
vonseiten Ihrer Angehörigen und Bekannten? Wie stehen Sie dazu?
z Welche Erklärungsversuche und Änderungsvorschläge für Ihre Ängste haben Sie
bisher von Fachleuten (Ärzten, Psychologen, Psychotherapeuten) erhalten?
z Welche Erklärungsversuche haben Sie in Büchern als für Sie relevant erkannt?
z Glauben Sie, dass bessere Erklärungsversuche als bisher irgendetwas an Ihren aktu-
ellen Ängsten ändern können?
502 Selbsthilfe bei Angststörungen

Globale Therapieziele

z Welche positiven Dinge oder Verhaltensweisen müssen zusätzlich zur Angstbewäl-


tigung noch erreicht werden, damit es Ihnen auf Dauer gut gehen kann?
z Welche positiven Auswirkungen auf Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen er-
warten Sie sich durch die Beseitigung Ihrer Ängste?
z Was alles möchten Sie tun, wenn Sie Ihre Ängste nicht mehr haben?
z Was davon könnten Sie eigentlich bereits jetzt zu tun versuchen, was müssen Sie bis
zur Überwindung Ihrer Ängste aufschieben?
z Was möchten Sie in absehbarer Zeit erreichen (a) in privater Hinsicht, (b) in familiä-
rer bzw. partnerschaftlicher Hinsicht, (c) in beruflicher Hinsicht?
z Können Sie alle Ihre Ziele in kurz-, mittel- und langfristige Ziele einteilen, sodass
Sie im Laufe der Zeit die Effektivität Ihrer Veränderungsbemühungen beurteilen
können?

Spezifische Therapieziele

z Wenn Sie wählen können, in welcher Reihenfolge möchten Sie Ihre Ängste über-
winden (welche zuerst, welche später)? Erstellen Sie eine Rangreihe Ihrer Ängste
nach dem Ausmaß der Dringlichkeit ihrer Bewältigung.
z Was genau soll anders werden (Denkmuster, Gefühle, Verhaltensweisen, körperliche
Reaktionsweisen, Lebensbedingungen, Sozialbeziehungen)?
z Möchten Sie bestimmte Fähigkeiten und Verhaltensweisen entwickeln bzw. ausbau-
en, wenn Sie Ihre Ängste überwunden haben (z.B. sich besser durchsetzen lernen,
bestimmte Dinge erleben und genießen lernen)?
z Was von den geliebten Dingen, die Sie gerne tun möchten, aber derzeit nicht tun
können, geht Ihnen am meisten ab? Was möchten Sie daher möglichst schnell wie-
der tun? Worauf freuen Sie sich schon jetzt?
z Wenn Sie eine Psychotherapie machen, welche konkreten Ziele müssen dabei auf
jeden Fall erreicht werden? In welchem Zeitraum?
z Welche Verbesserungen erwarten Sie ganz konkret bereits für die nächsten drei
Monate?
z Wie wichtig ist Ihnen eine konkrete Zielvereinbarung mit einem Therapeuten?

Kriterien für Therapiefortschritte

z An welchen vielleicht unscheinbar kleinen Dingen würden Sie zuerst erkennen, dass
Ihre Ängste geringer werden?
z Woran, an welchen Verhaltensweisen würden Ihre Angehörigen zuerst erkennen,
dass Ihre Ängste zurückgehen?
z Woran würden Sie zuerst erkennen, dass sich Ihre Ängste nach anfänglicher Besse-
rung wieder zu verschlechtern beginnen?
z Wenn die Bewältigung Ihrer Ängste nur stufenweise möglich sein sollte, welche
kleinen Teilschritte und Teillösungen können Sie sich vorstellen?
z Mit welchen konkreten Verbesserungen könnten Sie bereits zufrieden sein, falls
keine optimale Problemlösung möglich sein sollte?
Problem- und Zielanalyse bei Angststörungen 503

Motivationsanalyse

z Warum streben Sie gerade jetzt eine Bewältigung Ihrer Ängste an und wie wichtig
ist Ihnen diese Änderung?
z Wie weit möchten Sie selbst etwas ändern und wie weit, damit andere (Partner,
Eltern, Bekannte) zufrieden sind?
z Wie viel Aufwand sind Sie bereit zu erbringen? Wann würden Sie den Aufwand für
die in diesem Buch vorgeschlagene Therapie lohnenswert finden?
z Versuchen Sie, sich mit Ihrer Situation ohne Änderung irgendwie zu arrangieren?

Verhaltensanalyse bei Panikattacken


Panikattacken gelten als die „Angst aus heiterem Himmel“. Durch kontinuierliche Be-
obachtung und Analysen können Sie oft selbst Licht ins Dunkel bringen, wenn aus den
oben angeführten Fragen noch immer keine Klarheit resultieren sollte.
Dokumentieren Sie alle Panikattacken möglichst genau, um später daraus Schluss-
folgerungen ziehen zu können. Legen Sie ein Angst-Tagebuch an und protokollieren Sie
jede auftretende Panikattacke nach folgenden Kriterien:
z An welchem Tag und über welchen Zeitraum tritt die Panikattacke auf?
z Welche Situation ist auslösend für die Panikattacke? War vorher Ruhe oder Stress?
z Welche Paniksymptome treten auf? Was sind die häufigsten Symptome?
z Mit welchen Symptomen beginnt die Panikattacke?
z Welche Symptome sind für Sie besonders belastend?
z Wie stark ist für Sie eine Panikattacke (subjektive Bewertung von 0-10)?
z Welche negativen Gedanken haben Sie während der Panikattacke gehabt?
z Welche Gedanken und Gefühle haben Sie vorher gehabt?
z Welche körperliche Befindlichkeit haben Sie vorher gehabt?
z Wie haben Sie auf die Panikattacke reagiert? Was tun Sie gewöhnlich?

Tab. 16: Angst-Tagebuch [5]

Datum Zeit Situation/ Panik- Intensität Negative Folgen


Auslöser symptome 0-10 Gedanken

15.6.2009 17.45-17.55 Geschäft, Schwindel, 8 Ich falle um. Ich renne


noch rasch Atemnot, Alle schau- aus dem
Einkaufen. Herzrasen en mich an. Geschäft.

Ein derart standardisiertes Angst-Tagebuch kann neben der dadurch erlangten Selbster-
kenntnis auch eine wichtige Unterlage für eine Psychotherapie sein. Die Verwendung
eines Angst-Tagebuches drückt einen aktiven Bewältigungsprozess im Umgang mit
Panikattacken aus und spiegelt die Bereitschaft zur Selbstverantwortung wider.
Möglichst bald nach einer Panikattacke erfolgte Eintragungen liefern einem Psycho-
therapeuten konkretere Informationen als spätere retrospektive Darstellungen. Auf diese
Weise gelingt es leichter, die Entstehung und Aufrechterhaltung von Panikattacken zu
verfolgen und effiziente Veränderungsschritte einzuleiten.
Konkrete Eintragungen nach einer Panikattacke stellen bereits eine erste Form der
Konfrontationstherapie dar, weil sie ein Vermeidungsverhalten (Ablenkung) verhindern.
504 Selbsthilfe bei Angststörungen

Zum Verständnis und zur Bewältigung von Panikattacken reicht es oft aus, wenn Sie
erkennen, wie Sie durch Ihre Denkmuster und Verhaltensweisen eine Panikattacke un-
gewollt auslösen oder verstärken. Die ursprünglichen Ursachen von Panikattacken kön-
nen ganz unterschiedlich sein (z.B. Grübeln, körperliche Befindlichkeitsstörung ohne
Krankheitswertigkeit, ungewohnte Ruhe und Entspannung, Konflikte in Beruf, Familie
oder Partnerschaft). Wahrscheinlich hätten Sie die früheren Umstände ebenso wenig
beeinflussen können wie die späteren Auslöser (z.B. schlechter Schlaf, Überlastung).
Viele Betroffene fragen sich, ob sie von Panikattacken dauerhaft geheilt werden
können, wenn sie niemals die wahren Ursachen herausfinden sollten. Die frohe Bot-
schaft der Verhaltenstherapie lautet: Sie können lernen, mit Panikattacken so umzuge-
hen, dass Sie sich nicht mehr so davor fürchten wie bisher. Die Bewältigung von Panik-
attacken erfordert nicht immer das Verständnis der tieferen Ursachen, wenngleich dies
sehr hilfreich sein kann.
Vergegenwärtigen Sie sich eine frühere Panikattacke oder stellen Sie sich den näch-
sten Angstanfall so vor, wie Sie glauben, dass er ablaufen wird. Welche Gedanken,
Gefühle und Verhaltensweisen stellen Sie bei sich fest? Wie gehen Sie mit einer auf-
kommenden Panikattacke um? Kämpfen Sie gegen die Panikattacke an? Versuchen Sie
sich abzulenken? Reden Sie sich ein, die Panikattacke sei nicht gefährlich, können es
aber doch nicht glauben?
Panikattacken sind oft Ausdruck starker Gefühle oder Gefühlskonflikte (Ambivalen-
zen, z.B. „Ich liebe meinen Partner, aber oft bin ich wütend auf ihn“). Wie gut können
Sie mit Gefühlen und emotionalen Zwiespältigkeiten umgehen? Diese bewirken oft eine
massive körperliche Anspannung und gelangen irgendwann einmal in Form einer Pa-
nikattacke zur Entladung. Bekommen Sie bei Panikattacken die Angst, verrückt zu
werden? Dahinter steht oft die falsche Vorstellung, dass „angespannte Nerven“ irgend-
wann einmal „reißen“ könnten, also die Befürchtung, einen hohen emotionalen Anspan-
nungszustand auf Dauer nicht aushalten zu können, ohne verrückt zu werden, ähnlich
wie andere Panikpatienten glauben, ihr Körper könnte längeres Herzrasen nicht ohne
Schaden aushalten.
Bedenken Sie, dass die ursprünglichen Ursachen von Panikattacken oft nicht Ängste
sind, wie dies etwa der Fall sein kann bei Verlustängsten, sondern andere Gefühle wie
Wut, Ärger, Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühle. Welche dieser Gefühle könnten bei
Ihnen mitspielen? Ängste werden oft erst später zu Auslösern von Panikattacken, wenn
zunehmend die „Angst vor der Angst“ den Körper zu Angstanfällen aktiviert.
Können Panikattacken bei Ihnen auch ausgelöst oder verstärkt werden durch ein
Burnout, eine Depression oder Substanzmissbrauch (Alkohol, Drogen, Kaffee)?
Fürchten Sie als Folge einer Panikattacke eher die soziale Auffälligkeit oder schrän-
ken Sie in Reaktion darauf Ihren Bewegungsradius ein? Im ersten Fall sollten Sie an die
Möglichkeit einer zusätzlichen sozialen Phobie denken, im zweiten Fall an die Wahr-
scheinlichkeit einer zusätzlichen Agoraphobie. Viele Menschen mit Panikattacken ha-
ben im Laufe der Zeit zwar immer weniger Panikattacken, jedoch um den hohen Preis
der Vermeidung aller Situationen, die dazu führen könnten. Erkaufen auch Sie die Ver-
minderung Ihrer Panikattacken durch die massive Einschränkung Ihrer Lebensmöglich-
keiten?
Hängen Ihre Panikattacken mit ständigen Krankheitsängsten zusammen, die bei ei-
nem Angstanfall übersteigert zum Ausdruck kommen? Dann sollten Sie zum besseren
Verständnis Ihrer Krankheitsängste mein Buch „Die Angst vor Krankheit verstehen und
bewältigen“ lesen.
Verhaltensanalyse bei Panikattacken 505

Aus der Beschreibung der Panikattacken können Sie im Idealfall erkennen, welche
Zusammenhänge zwischen den Umständen bzw. Auslösern der Panikattacke, den Pa-
niksymptomen, den negativen Gedanken und den Folgen der Panikattacke bestehen.
Unterscheiden Sie zwischen den Ursachen der ersten Panikattacke (z.B. chronischer
Stress, Verlusterlebnisse) und den späteren Auslösern (z.B. Hitze, Alkohol, Spannungs-
abfall). Auf diese Weise können Sie bereits selbst ein Erklärungsmodell für Ihre Panik-
attacken entwickeln und bei Bedarf viel zielstrebiger eine Psychotherapie angehen.
Zur detaillierten Dokumentation der körperlichen Symptome bei einer Panikattacke
können Sie eine Symptomliste (Tab. 17) verwenden.

Tab. 17: Liste der möglichen Symptome bei einer Panikattacke [6]

Symptome und deren Ausprägung überhaupt leicht, mittel- stark,


zur Selbstbeantwortung nicht aushaltbar stark kaum
(Zutreffendes ankreuzen) aushaltbar
1 2 3 4
Symptome nach dem ICD-10

Herzklopfen, Herzrasen
Schweißausbrüche
Zittern
Mundtrockenheit
Atembeschwerden
Beklemmungsgefühl
Schmerzen oder Missempfindungen in der Brust
Übelkeit oder Bauchbeschwerden
Schwindel, Schwäche, Benommenheit
Entfremdungsgefühle/Unwirklichkeitsgefühle
Angst vor Kontrollverlust oder Verrücktwerden
Angst zu sterben
Hitzewallungen oder Kälteschauer
Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle

Zusätzliche Symptome

Ohnmachtsangst
Druckgefühl im Kopf
Kopfschmerzen
Ohrensausen
Taubheit/Kribbeln/Pelzigkeit im Gesicht
Muskelzucken im Gesicht
Rotwerden im Gesicht
Sehstörungen
Engegefühl im Hals („Kloßgefühl“)
Erstickungsgefühl
Verspannung/Schmerzen im Nacken
Brechreiz
Durchfall
Harndrang
Taubheit/Kribbeln in den Armen
Taubheit/Kribbeln in den Beinen
506 Selbsthilfe bei Angststörungen

Panikpatienten glauben oft, ihre Anfälle seien grundlos. Tatsächlich bestehen zahlreiche
Angst machende „Was wäre, wenn“-Fragen ohne Antwort, d.h. ohne konkret vorstell-
bare Lösungsmöglichkeiten. Dies führt zu anhaltender Beunruhigung und körperlicher
Anspannung, sodass derartige Gedanken und Vorstellungsbilder unterdrückt werden.
Das Zulassen aller Gedanken, Gefühle und Empfindungen fördert dagegen die Selbst-
wahrnehmung und erleichtert die Panikbewältigung.
Analysieren Sie, welche Faktoren bei Ihnen eine Panikattacke auslösen können:
z Körperliche Beschwerden: Herzrasen, Atemnot, Schwindel, Übelkeit, Hitze usw.
z Verhalten: Aufsuchen einer Angstsituation, z.B. Betreten eines Supermarkts.
z Bildhafte Vorstellungen: Fantasien über bevorstehende Angstsituationen.
z Gedanken: bestimmte Angst machende Denkmuster.

Folgende Denkmuster sind oft Auslöser oder Verstärker von Panikattacken [7]:
z Mein Herz beginnt schon wieder zu rasen, gleich bekomme ich einen Anfall.
z Ich bekomme keine Luft mehr, alles schnürt sich zusammen, jetzt muss ich sterben.
z Mir wird so schwindlig, gleich falle ich bewusstlos um und wache nicht mehr auf.
z Ich habe auf einer Körperseite unerklärliche Empfindungen, gleich bekomme ich
einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt – oder ich habe Multiple Sklerose.
z Wenn die Ärzte nicht bald herausfinden, woher meine Attacken kommen, dauert
mein Leben bestimmt nicht mehr lange, denn lange hält dies mein Körper nicht aus.
z Ich habe Angst zu sterben, Angst vor den Symptomen eines qualvollen Todes.
z Wenn ich nochmals solche Symptome bekomme, sterbe ich bestimmt, weil mein
Körper dies nicht mehr aushält.
z Es wäre schlimm, wenn ich ähnlich schnell und unerwartet sterben sollte wie ein
Bekannter oder Verwandter, der bis zuletzt völlig gesund war.
z Ich habe Angst, wie mein Vater zu früh an einem Herzinfarkt zu versterben.
z Ich bekomme bestimmt Brustkrebs (Magenkrebs), so wie meine Mutter.
z Ich darf jetzt auf keinen Fall sterben, weil mich meine Kinder unbedingt brauchen.
z Wenn mich mein Partner verlassen/betrügen würde, würde ich das nicht aushalten.
z Wenn mein Partner stirbt (durch Unfall oder Krankheit), ist alles sinnlos.
z Ich könnte es nicht überleben, wenn meinem Kind etwas passieren würde.
z Mein Partner (Kind) ist noch immer nicht zu Hause. Ist ihm etwas passiert?
z Ich wäre verzweifelt, wenn ein Elternteil sterben sollte.
z Es wäre alles aus, wenn ich meinen Beruf verlieren sollte.
z Wenn ich allein bin, dann heißt das, dass mich niemand mag.
z Ich darf nie die Kontrolle verlieren, weil ich sonst nicht weiß, was mit mir passiert.
z Wenn ich die Kontrolle verliere und etwas Schlimmes tue (ein Familienmitglied
unabsichtlich verletze), komme ich in die Psychiatrie oder ins Gefängnis.
z Wenn ich jetzt beim Autofahren wieder so einen Anfall bekomme wie zuletzt, könn-
te ich leicht einen Unfall verursachen und alle Mitfahrer gefährden.
z Ich muss jede Situation fest im Griff haben, weil ich für alles verantwortlich bin.
z Ich muss immer alle Aufgaben bewältigen können und muss immer der Beste sein.
z Wenn ich etwas nicht kann, bin ich ein Versager. Niemand wird mich mehr mögen.
z Wenn ich diese Prüfung nicht schaffe, sind alle meine Chancen dahin.
z Ich muss mich zusammenreißen, damit niemand bemerkt, wie schlecht es mir geht.
z Wenn die anderen um meine Panikattacken wissen, halten sie mich für verrückt.
z Wenn ich neuerlich einen Anfall bekomme, muss ich wieder in ein Krankenhaus,
werde ich krankgeschrieben, mache ich mich lächerlich, verliere ich meine Arbeit.
Entspannungstraining 507

z Wenn ich umfalle, schauen alle auf mich her, stehen alle um mich herum und holen
die Rettung, die mich in ein Krankenhaus bringt, obwohl ich dies nicht will.
z Wenn ich umfalle, bleibe ich liegen und keiner hilft mir.
z Wenn ich durch meine Symptome unangenehm auffalle, kann ich mich bei meinen
Verwandten, Freunden, Nachbarn, Arbeitskollegen usw. nicht mehr blicken lassen.
z Ich darf an keinen Anfall denken, sonst geht es gleich los wie immer.
z Ich bin voller Wut über meinen Partner, ich sage jedoch lieber nichts, sonst zahlt er
es mir wieder zurück, weil er keine Kritik verträgt.
z An meiner Arbeitsstelle fühle ich mich ausgenützt, mich ärgert das alles sehr, aber
aufbegehren bringt nichts, weil dann alles nur noch schlimmer wird, sodass ich mei-
nen Ärger hinunterschlucken muss.
z Meine Schwiegermutter ärgert mich sehr, aber das kann ich ihr nicht sagen, sonst ist
sie mir wieder böse oder ich bekomme Spannungen mit meinem Partner.

Entspannungstraining
Sind Sie durch Ihre Ängste körperlich und geistig sehr angespannt? Sie können lernen,
Entspannung genauso zu konditionieren wie Ihre Angstzustände. In der Fachsprache
wird dies die Ausbildung eines bedingten Reflexes („klassische Konditionierung“) ge-
nannt. Die Entspannungsreaktion in Angstsituationen wird durch bestimmte, von Ihnen
festgesetzte Signale ausgelöst, die vorher im Rahmen eines Trainings mit Ruhe, Ent-
spannung, Selbstsicherheit oder Erfolg gekoppelt wurden [8]:
z Worte oder kurze Sätze. „Ruhe“, „Entspannung“, „warm“, „ich bin okay“. Alle
Formeln und formelhaften Vorsatzbildungen aus dem autogenen Training können
hier Anwendung finden. Sagen Sie sich das entscheidende beruhigende Wort in der
Phase der Ausatmung innerlich vor, um den Entspannungseffekt zu verstärken.
z Bilder oder Vorstellungen. Stellen Sie sich einen Ort oder eine Szene vor, die Sie
mit angenehmen körperlichen Empfindungen, Gefühlen und Gedanken verbinden
(„Ruhebild“), z.B. eine angenehme Urlaubserinnerung, einen ruhigen See, das weite
Meer, einen Berggipfel, eine blühende Wiese, ein wohlig warmes Bad, ein großes
Erfolgserlebnis (Erleben höchster Kompetenz), das Gefühl, geliebt zu sein.
z Zählen. Zählen Sie zur Einleitung einer Tiefenentspannung bei jedem langsamen
Ausatmen eine Zahl von 1 bis 10 und vergegenwärtigen Sie sich bei 10 Ihr wirksam-
stes Ruhebild und verbinden Sie die Entspannung mit einem bestimmten Wort, Satz
oder Symbol, um sie noch besser zu verankern und später rascher abrufen zu können
(z.B. „Ich fühle mich wohl und bin ganz entspannt“ oder Meeresrauschen). Am En-
de der Übung zählen Sie bei jeder Einatmung eine Zahl von 10 bis 1, bei 1 öffnen
Sie Ihre Augen, schütteln Ihre Arme und Beine und sagen sich: „Ich bin jetzt wieder
ganz im Hier und Jetzt und gehe gestärkt meine nächsten Aufgaben an.“
z Symbole. Symbole von Kraft, Stärke, Überlegenheit oder Distanziertheit können
Selbstsicherheit verleihen, z.B. ein Baum, der fest verwurzelt ist, ein Fels in der
Brandung, ein Adler, der über den Dingen kreist, eine Blume, die aufblüht.
z Positive Körpersignale. Berühren oder halten Sie einen beruhigenden Gegenstand
mit der rechten Hand, halten Sie die Hand des Partners, legen Sie die dominante
Hand auf Ihre Bauchdecke, stellen Sie sich ein intensives Wärmegefühl im Magen
vor (z.B. die Empfindung von warmem Tee oder warmer Suppe). Sie überlagern auf
diese Weise die negativen Empfindungen.
508 Selbsthilfe bei Angststörungen

z Düfte. Atmen Sie einen beruhigenden Duft ein (z.B. ätherisches Öl, Blumenduft,
Wald-, Berg- oder Meeresluft, Geruch des Partners, Duft des Badewassers).
z Musik. Vergegenwärtigen Sie sich oder hören Sie Ihre Lieblingsmusik, singen oder
summen Sie dazu. Spielen Sie, falls Sie dazu in der Lage sind, auf einem Instrument.

Die entspannende Wirkung durch die totale Konzentration auf das Hier und Jetzt wurde
durch die Bücher des Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi als „Flow“-Erlebnis be-
kannt. Es handelt sich dabei um das völlige Aufgehen in einer Tätigkeit (Spiel, Sport,
Musik, Hobby). Jedes Sinnesorgan und jede Tätigkeit kann genutzt werden, um Flow
auszulösen. Die volle Konzentration auf Dinge, die man gerne tut, wirkt entspannend.
Dies gilt auch für Tätigkeiten, die durchwegs anstrengend sein können und von anderen
Menschen, die diese Beschäftigungen nicht mögen, als Belastung angesehen werden.
Verschiedene Entspannungstechniken bei Angst- und Spannungszuständen werden
im Folgenden näher beschrieben: Benson Meditation, autogenes Training, progressive
Muskelentspannung nach Jacobson, Atemtechniken in Ruhe, Atemtechniken bei Bewe-
gung, Nasenatmung über Duftanregung (Aromatherapie), Entspannung durch die Kör-
perzuwendung nach der Achtsamkeitstherapie von Kabat-Zinn („Body-Scan“).

Benson Meditation (Relaxation Response)


Der amerikanische Kardiologe Herbert Benson hat durch seine Studien den gemeinsa-
men Nenner aller östlichen und westlichen Entspannungstechniken herausgefunden. Zur
Auslösung der Entspannungsreaktion sind zwei mentale Haltungen nötig, die auch bei
der Achtsamkeitsmeditation nach Kabat-Zinn von zentraler Bedeutung sind:
1. Mentaler Fokus auf einen ganz bestimmten „Punkt“, d.h. Aufmerksamkeit auf einen
Gedanken, ein Wort, einen Ton, ein Bild, ein Mantra oder auf den Atem, wodurch
der ständige Strom der Alltagsgedanken unterbrochen wird. Die Konzentration auf
einen bestimmten Körperteil, ein inneres Bild oder einen bestimmten Punkt („Focal-
Point-Technik“) führt zur Ausblendung der Umwelt. „Konzentration“ ist eine geziel-
te Einengung der Aufmerksamkeit, „Unkonzentriertheit“ bedeutet Ablenkbarkeit.
2. Ausgesprochen passive Haltung gegenüber Ablenkungen und eindringenden Ge-
danken. Stressoren der Umwelt und belastende Gedanken werden durch die immer
neue Konzentration auf den gewählten Fokus ausgeblendet. Jeder direkte Kampf ge-
gen unerwünschte Gedanken bedeutet ein Festhalten derselben.

Entspannung wird also durch folgende Vorgangsweise erleichtert und beschleunigt:


z Wahl eines bestimmten Fokus (ein bestimmtes Wort oder Bild), visuelle oder akusti-
sche Konzentration auf einen Reiz, Konzentration auf die Ein- und Ausatmung,
z bequeme und ruhige Körperhaltung oder rhythmische, monotone Bewegung,
z Geschlossenhalten der Augen (um visuelle Ablenkungen auszublenden),
z Entspannung der Muskeln (oft leicht erreichbar durch langsame Ausatmung),
z langsame und natürliche Atmung, bei jeder Ausatmung Wiederholung des Fokus-
Wortes bzw. Vergegenwärtigung des Fokus-Bildes,
z Ignorieren abschweifender Gedanken (kein Ankämpfen gegen störende Nebenge-
danken), ständig neue Konzentration auf den Fokus bei völlig passiver Haltung,
z meditative Konzentration auf das Hier und Jetzt (nur der Augenblick zählt),
z Übungsdauer zwischen 10 und 20 Minuten, am besten täglich.
Entspannungstraining 509

Autogenes Training
Das autogene Training wurde vom Berliner Nervenarzt Johannes H. Schultz in den
1920er- und 1930er-Jahren aus der Hypnose entwickelt mit dem Ziel, die Fremdsugge-
stion der Hypnose durch eine Form der Selbstsuggestion zu ersetzen. Das autogene
Training ist eine standardisierte Form der Selbsthypnose. Es handelt sich dabei um eine
konzentrative Selbstentspannung durch Körperzuwendung und Verbalsuggestionen. Das
autogene Training sollte unbedingt in einem fachlich gut geleiteten Kurs (in der Regel
6-7 Termine) und nicht nur aus Büchern erlernt werden, um fehlerhafte Einübungen zu
vermeiden. Zudem ist die Aufmunterung durch eine Gruppe oft sehr hilfreich.
Die Unterstufe des autogenen Trainings besteht aus sechs Übungen, die nach länge-
rem Training einen Ruhe- und Entspannungszustand herbeiführen. Die Übungen, die in
Tab. 18 anschaulich dargestellt sind, werden nacheinander im Abstand von mindestens
einer Woche gelernt, wobei zu Hause täglich geübt werden soll.
Die Übungsformeln sollen jeweils 6-mal wiederholt werden. Zwischen den Übungen
schaltet man immer wieder die Ruhetönung ein, deren Formel zweimal wiederholt wird.

Tab. 18: Die Übungen des autogenen Trainings [9]

Übungsart Übungsformel Wirkung Begleiterscheinungen


Ruhetönung „Ich bin ganz ruhig.“ Allgemeine Beruhigung
von Körper und Psyche
1. Schwereübung „Der rechte Arm ist Muskelentspannung, Autogene Entladungen
ganz schwer.“ allgemeine Beruhigung in Form von Muskel-
(später auch der linke zucken, was die begin-
Arm und die Füße) nende Entspannung
anzeigt
2. Wärmeübung „Der rechte Arm ist Entspannung der Blut- Autogene Entladungen,
ganz warm.“ gefäße, vermehrte Kribbelempfindungen
(später auch der linke Durchblutung, Wärme-
Arm und die Füße) gefühl, Beruhigung
3. Herzübung „Das Herz schlägt ganz Normalisierung der Bei organspezifischen
ruhig und regelmäßig.“ Herzarbeit, Beruhigung Problemen eventuell
ungute Empfindungen
4. Atemübung „Die Atmung ist ganz Harmonisierung und Bei organspezifischen
ruhig (und gleichmä- Passivierung der At- Problemen eventuell
ßig).“ mung, Beruhigung ungute Empfindungen
5. Sonnengeflecht- „Sonnengeflecht strö- Entspannung und Magengeräusche als
Übung (Leibübung, mend warm.“ Harmonisierung aller Entspannungszeichen,
Regulierung der Bauchorgane, Beruhi- bei organspezifischen
Bauchorgane) gung Problemen eventuell
ungute Empfindungen
6. Kopfübung „Stirn angenehm kühl.“ Kühler, klarer Kopf, Autogene Entladungen,
Entspannung der Blut- gelegentlich Kopf-
gefäße im Kopfgebiet, schmerzen und
Beruhigung Schwindel

Am Ende des Trainings ist das „Zurücknehmen“ sehr wichtig (leichtes Anspannen und
Entspannen der Muskulatur, insbesondere der Arme), um den normalen physiologischen
Spannungszustand des Wachbewusstseins wiederzuerlangen, anderenfalls können ver-
schiedene Missempfindungen auftreten.
510 Selbsthilfe bei Angststörungen

Nach dem Erlernen aller Übungen werden die sechs Organbereiche in der angeführ-
ten Reihenfolge durchgegangen. Regelmäßiges Üben beschleunigt den Prozess der
Entspannung. Untersuchungen haben gezeigt, dass für Entspannungszwecke die Schwe-
re-, Wärme- und Atemübung völlig ausreichend sind, weil ein Generalisierungseffekt
eintritt. Die mentale Wiederholung der bildhaft vorgestellten Kurzformeln führt zur
Empfindung der Schwere (Ausdruck der Muskelentspannung) und der Wärme (Aus-
druck der erfolgten Gefäßerweiterung). Die Atemübung verstärkt das Entspannungsge-
fühl (Ausatmen geht mit Muskelentspannung einher).
Die monotone Wiederholung der Verbalsuggestionen, die plastische Vergegen-
wärtigung entsprechender Körpererfahrungen (z.B. Vergegenwärtigung der Schwerkraft
bei der „Schwere“-Übung durch ein Hinunter-Gezogenwerden der Arme, bei der Wär-
meübung Vorstellung eines warmen Bades, bei der Atemübung Vorstellung, in einem
schaukelnden Boot zu liegen, das sich im Rhythmus der Wellen bewegt) und die passi-
ve Konzentration auf die sich sukzessiv einstellenden körperlichen Empfindungen be-
schleunigen die neurovegetative Umschaltung auf die körperliche Entspannung.
Die formelhaften Vorsatzbildungen beim autogenen Training sollen bestimmte Ein-
stellungs- und Verhaltensänderungen bewirken, ähnlich wie dies bei der Hypnose durch
posthypnotische Aufträge in Form länger wirkender Suggestionen erfolgt.
Im entspannten Zustand werden die ausgewählten Formeln im Unterbewusstsein ge-
speichert, sodass sie später auch ohne bewusste Erinnerung wirksam sein sollen.
Einige Beispiele dafür sind die folgenden Formeln:
z Ich glaube an mich, ich schaffe es.
z Ich schaffe, was ich mir vornehme.
z Ich kann die Angst aushalten.
z Ich bin mutig und wage das Neue.
z Ich bin ruhig und gelassen.
z Ich kann mich voll Vertrauen fallen lassen.
z Meine Atmung gibt mir Kraft und Energie.

Schultz [10] verweist ausdrücklich auf das autogene Trainings bei Angststörungen:

„Beherrscht ein Mensch die konzentrative Selbstentspannung, so kann er im Angstaugenblick sich


selbst innerlich lösen. Aus dem überwältigenden Organismussturm des Angstgefühls wird ein blasser
Angstgedanke, mit dem man fertig werden kann, es hat eine Selbstruhigstellung durch Resonanzdämp-
fung des Affekts, der Gemütsbewegung stattgefunden.“

Bei der Erlernung des autogenen Trainings durch Menschen mit Angststörungen kön-
nen im Einzelfall folgende Probleme auftreten, die zu beachten sind:
z Bestimmte (hypochondrische) Angstpatienten haben Schwierigkeiten mit der Zu-
wendung auf sich selbst bzw. auf bestimmte Körperorgane und werden vorüberge-
hend durch das autogene Training noch unruhiger. Dies weist auf die Notwendigkeit
einer verbesserten Selbstwahrnehmung hin. Herzphobische Patienten geraten leicht
in Unruhe, wenn sie sich auf ihren Herzschlag konzentrieren sollen. Autogenes
Training hilft Panikpatienten erst nach einer besseren Selbstaufmerksamkeit.
z Stark verspannte Menschen können durch bestimmte Symptome als Folge einer sich
plötzlich einstellenden Entspannung in Unruhe und Panik versetzt werden (z.B.
Muskelzuckungen als Ausdruck elektrischer Muskelentladungen, Kribbelgefühle als
Zeichen verstärkter Durchblutung der Kapillargefäße der Haut, Gefühl des mentalen
Kontrollverlusts durch Verfließen der Ich-Grenzen).
Entspannungstraining 511

z Nicht selten wird anfangs in den besonders stark verspannten Körperteilen eine noch
größere Anspannung bis hin zu Schmerzen erlebt, was durch die Kontrastwirkung
(überall sonst im Körper ist Entspannung eingetreten) erklärt werden kann. In ähnli-
cher Weise können anfangs durch einen sich ausbreitenden Wärmeeffekt schlecht
durchblutete und daher als kalt erlebte Körperteile noch kälter empfunden werden.
z Bei bestimmten Menschen mit chronischen Erwartungsängsten, körperlichen An-
spannungszuständen, Schlafstörungen oder dem Bedürfnis, alles im Griff haben zu
wollen, besteht das Grundproblem oft darin, loszulassen, sich fallen zu lassen, Ver-
trauen zu sich und zur Umwelt zu haben. Diese Personen tun sich zumindest anfangs
häufig auch mit dem autogenen Training sehr schwer und profitieren mehr durch die
aktivere Technik der progressiven Muskelentspannung, bestätigen mit diesen Pro-
blemen jedoch die Sinnhaftigkeit des autogenen Trainings.
z Bestimmte Menschen mit Panikattacken oder einer Agoraphobie mit Schwindelzu-
ständen, die einen chronisch niedrigen Blutdruck haben und bei einem weiteren Ab-
fall eine Panikattacke zur Hebung des Blutdrucks erleben, sollten eher ein körperlich
aktivierendes als ein entspannendes Trainingsprogramm durchführen oder die Tech-
nik der progressiven Muskelentspannung anwenden. Hilfreich ist auch der Einsatz
einer Blutdruck stabilisierenden Formel (z.B. „Ich bin ruhig und frisch“).

Progressive Muskelentspannung nach Jacobson


Der amerikanische Physiologe Edmund Jacobson veröffentlichte nach 20-jähriger For-
schungsarbeit 1929 sein Konzept der progressiven Muskelentspannung. Dieses Verfah-
ren wurde Ende der 1950er-Jahre von Wolpe als bevorzugte, weil rasch erlernbare Ent-
spannungsmethode im Rahmen der systematischen Desensibilisierung eingesetzt und
von den Verhaltentherapeuten in den USA populär gemacht. Im deutschen Sprachraum
erreichte diese Methode erst Ende der 1960er-Jahre einen größeren Bekanntheitsgrad.
Jacobson hatte aufgrund seiner Forschungen erkannt, dass sich ein Muskel gründli-
cher entspannt, wenn er vorher kräftig angespannt war. Die progressive Muskelentspan-
nung bringt die chronische Anspannung von Angstpatienten durch eine kurzfristige
maximale Muskelanspannung auf einen nicht mehr überbietbaren Höhepunkt, sodass
die darauf folgende Muskelermüdung als Entspannung erlebt wird. Dieser Vorgang
muss mehrfach wiederholt werden, um eine länger anhaltende Wirkung zu erreichen.
Nacheinander werden jeweils verschiedene Muskelgruppen zuerst kurz und maximal
angespannt und anschließend langsam entspannt. Dabei wird gelernt, auf den Unter-
schied zwischen Anspannung und Entspannung zu achten, und im Laufe der Zeit durch
die Konzentration auf das Gefühl der muskulären Entspannung ein gesamtkörperliches
Wohlbefinden zu erzeugen.
Das Grundprinzip der progressiven Muskelentspannung beruht auf der Annahme
von Wechselwirkungen zwischen Psyche und Muskulatur. Durch die Konzentration auf
bestimmte Muskeln erfolgt eine Wahrnehmungseinengung und damit eine Ablenkung
von irritierenden und ängstigenden Gedanken. Jacobson erkannte durch seine physiolo-
gischen Untersuchungen, dass Gefühle von Unruhe und Angst eine Erhöhung der Mus-
kelspannung bewirken und umgekehrt die Entspannung der Muskulatur ein vorhandenes
Angstgefühl reduziert. Das Jacobson-Training ermöglicht eine Sensibilisierung für die
vorhandene chronische Anspannung, wenn diese im Vergleich zur erlebten Entspan-
nung erfahren wird.
512 Selbsthilfe bei Angststörungen

Bernstein und Borkovec [11] haben in den frühen 1970er-Jahren in den USA aus
dem langwierigen Verfahren von Jacobson ein Grundverfahren mit 16 Muskelgruppen
entwickelt, die in vorgegebener Reihenfolge angespannt und entspannt werden:
1. Rechte Hand und rechter Unterarm (Linkshänder beginnen links). Formen Sie mit
der Hand eine feste Faust und spannen Sie dadurch die Muskeln von Hand und Un-
terarm an.
2. Rechter Oberarm. Spannen Sie die Muskeln des rechten Oberarms an, ohne dabei
die Muskeln des Unterarms und der Hand anzuspannen. Dies erreichen Sie am be-
sten, wenn Sie den Ellbogen fest auf eine Unterlage (Armlehne) drücken.
3. Linke Hand und linker Unterarm. Üben Sie denselben Vorgang wie bei (1).
4. Linker Oberarm. Üben Sie denselben Vorgang wie bei (2).
5. Stirn. Ziehen Sie Ihre Augenbrauen so stark wie möglich hoch und spannen Sie
dabei gleichzeitig die Stirn- und Scheitelregion an.
6. Obere Wangenpartie und Nase. Kneifen Sie die Augen fest zu, rümpfen Sie gleich-
zeitig die Nase und spannen Sie den gesamten mittleren Gesichtsbereich an.
7. Untere Wangenpartie und Kiefer. Beißen Sie die Zähne fest zusammen und ziehen
Sie die Mundwinkel stark zurück, sodass die Muskulatur des unteren Gesichtsdrit-
tels angespannt wird.
8. Nacken und Hals. Ziehen Sie das Kinn möglichst weit zur Brust, ohne die Brust
tatsächlich zu berühren, während Sie gleichzeitig die Nackenmuskulatur anspannen.
9. Brust, Schultern und obere Rückenpartie. Atmen Sie tief ein, halten Sie die Luft an,
ziehen Sie die Schultern zurück und pressen Sie dabei die Schulterblätter möglichst
weit zusammen, sodass eine starke Anspannung von Brust, Schultern und oberer
Rückenpartie entsteht.
10. Bauchmuskulatur. Spannen Sie den Bauch fest an und machen Sie diesen ganz hart,
wie wenn Sie sich vor einem Schlag schützen müssten.
11. Rechter Oberschenkel. Spannen Sie den großen Muskel an der Vorderseite des
Oberschenkels an, während Sie den hinteren Muskel gegenhalten.
12. Rechter Unterschenkel. Ziehen Sie die Zehen in Richtung Kopf hoch, sodass eine
Anspannung entsteht.
13. Rechter Fuß. Strecken Sie den Fuß, drehen Sie ihn nach innen und beugen Sie
gleichzeitig die Zehen. Verkrampfen Sie dabei die Muskeln nicht zu stark.
14. Linker Oberschenkel. Üben Sie denselben Vorgang wie bei (11).
15. Linker Unterschenkel. Üben Sie denselben Vorgang wie bei (12).
16. Linker Fuß. Üben Sie denselben Vorgang wie bei (13).

Bei jeder Muskelgruppe müssen folgende Abläufe eingehalten werden:


1. Konzentrieren Sie sich auf die jeweilige Muskelgruppe.
2. Spannen Sie die betreffende Muskelgruppe an. Atmen Sie dabei gleichzeitig ein, um
die Anspannung zu verstärken.
3. Halten Sie die Spannung 5-7 Sekunden aufrecht (besonders beim Unterschenkel
keinesfalls länger wegen der Krampfgefahr).
4. Lösen Sie die Spannung in den betreffenden Muskelgruppen. Atmen Sie beim lang-
samen Loslassen der Muskelspannung langsam aus, sodass das Gefühl der Muskel-
entspannung verstärkt wird.
5. Konzentrieren Sie sich während des Lösens der Spannung auf die jeweilige Muskel-
gruppe und genießen Sie die Entspannung.
Atemtraining 513

Wenn Sie das Grundverfahren ausreichend beherrschen, können Sie eine zeitökonomi-
sche Kurzform mit vier Muskelgruppen als Standardprogramm wählen:
1. Anspannung von beiden Händen, Unterarmen und Oberarmen,
2. Anspannung der Gesichts- und Nackenmuskulatur,
3. Anspannung der Muskeln der Brust, der Schultern, des Rückens und des Bauches,
4. Anspannung der Muskeln von beiden Füßen, Unterschenkeln und Oberschenkeln.

Bei gutem Übungsstand können Sie sich die erlebte Muskelentspannung durch reine
Vorstellung vergegenwärtigen. Zur Intensivierung zählen Sie dabei im Rhythmus des
Ausatmens von 1 bis 10, um bei 10 eine tiefe Muskelentspannung zu erleben.

Atemtraining
Von allen vegetativ gesteuerten Körperfunktionen nimmt die Atmung eine Sonderstel-
lung ein, weil sie willkürlich leicht beeinflussbar ist. Indirekt lässt sich dadurch auch der
Herzschlag steuern (verlangsamen). Die Atmung in Ruhe soll 8-12 Atemzüge pro Minu-
te betragen (5-6 pro Minute wirken sehr dämpfend, 3-4 noch mehr). Schneller atmen
beschleunigt den Herzschlag, langsamer atmen vermindert die Herzschlagfrequenz.
Verstärktes Einatmen fördert Anspannung und Verkrampfung, tief ausatmen entspannt,
lockert und schafft Unterdruck in der Lunge, sodass das Einatmen von selbst erfolgt.
Die verschiedenen Atemtherapien legen großen Wert auf eine frei fließende, mög-
lichst ausgedehnte Ausatmungsphase, um die Blockierung des Ausatmens zu überwin-
den und den spontan einsetzenden Einatmungsreflex zu ermöglichen. Sportler achten
auf die intensive Ausatmung durch den Mund (z.B. beim Laufen und Schwimmen),
ungeübte Läufer und ängstliche Schwimmer konzentrieren sich auf die Einatmung mit
dem Mund und bekommen bald Seitenstechen, Schwächezustände und Muskelkater.
Das Einatmen in Ruhe sollte stets über die Nase erfolgen, und zwar möglichst laut-
los. Bei der Nasenatmung wird die Luft gereinigt, befeuchtet und erwärmt. Bei der
Einatmung durch die Nase werden die Nasenflügel durch den Atemsog vorne leicht
angesaugt. Die Nase verschmälert sich beim Einatmen, und die Grübchen über den
Nasenflügeln werden tiefer. Durch die Schmalstellung der Nasenöffnung (z.B. beim
intensiven Einatmen eines angenehmen Geruchs) erhält die einströmende Luft einen
Widerstand, wodurch die Einatmung verlangsamt und verlängert und die Zwerchfellat-
mung angeregt wird. Die Luft bleibt länger in der Lunge, die Durchblutung und die
Lüftung von Lunge und Herz werden verbessert, die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn er-
höht. Der Atem hat genügend Zeit, sich in den Lungenbläschen auszubreiten und in das
Blut der Kapillargefäße einzudringen.
Das Blut wird bei der langsamen, tiefen und längeren Atmung mit mehr Sauerstoff
gesättigt und gleichzeitig vermehrt vom Abfallprodukt Kohlendioxid befreit. Dem Blut
verbleibt mehr Zeit, bis in die Zellen der entferntesten Körperstellen zu gelangen und zu
wirken. Eine intensive Zwerchfellatmung bewirkt auch eine bessere Durchblutung der
Bauchorgane und erleichtert den venösen Rückstrom des Blutes zum Herzen.
Einatmen durch den Mund führt zu übermäßiger Brustatmung, Verspannungen im
Brustbereich (infolge der übermäßigen Atmung) und zu einem trockenen Mund, oft
verbunden mit einem Hustenreiz. „Einschnüffeln“ von Luft bei geschlossenem Mund
(z.B. sich einen angenehmen Geruch vorstellen und bewusst einatmen) erleichtert die
Nasenatmung und lässt die Bewegungen des Zwerchfells besonders gut spürbar werden.
514 Selbsthilfe bei Angststörungen

„Lufteinschnüffeln“ (Schnuppern, Riechen) verlagert den Atemschwerpunkt vom


Brustkorb in den Bauch. Beim Schnüffeln wird die Nase verengt (tiefere Grübchen über
den Nasenflügeln), was die einströmende Luft bremst, eine gute Lüftung des obersten
Nasengangs bewirkt, die Zwerchfellbewegungen intensiviert und sogar die Lippen-
bremse überflüssig macht. Einschnüffeln ermöglicht das Gefühl, ganz durchatmen zu
können. Pflanzliche Duftstoffe und ätherische Öle wirken zusätzlich beruhigend.
Das Ausatmen soll in Ruhe ebenfalls über die Nase erfolgen oder (bei Angst und in-
nerem Druck) über die „Lippenbremse“: bei leicht geschlossenen oder lediglich durch
einen kleinen Spalt geöffneten Lippen lässt man den Atemstrom ganz langsam und
lange ausströmen, bis das Einatmen durch die Nase ganz von allein reflexhaft erfolgt.
Die Lippenbremse stellt einen Ausatmungswiderstand dar und verlangsamt damit die
Ausatmung. Nach einiger Zeit des Ausatmens über die Lippenbremse tritt ein intensiver
Entspannungsprozess ein. Der Ausatemstrom klingt langsam und stetig immer mehr ab,
die anschließende Atemstille dauert so lange, bis der Körper von selbst nach der Einat-
mung verlangt. Der Schwerpunkt des Atmungsvorgangs ist immer auf die Ausatmungs-
phase zu legen. Vollständiges Ausatmen ermöglicht erst intensives Einatmen.
Das Ausatmen soll langsam erfolgen. Bei zu starker und zu rascher Ausatmung ver-
schließen sich die kleinen Bronchien, wodurch die verbrauchte Luft in den Lungenblä-
schen zurückgehalten wird. Jedes weitere Einatmen behindert dadurch die Zufuhr sauer-
stoffreicher Luft. Selbst bei sportlicher Betätigung sollte man ruhig ausatmen.
Der Ausatmungsstrom kann durch einen Laut oder Ton hörbar gemacht werden:
z Zischlaute wie „SSS“ oder ein sanftes „SCH“,
z Konsonanten wie „TT“, „MM“, „FF“, „PP“ oder „PFFF“,
z Vokale wie „UU“, „OO“, „AA“,
z Vokale und Konsonanten wie „OOOUUUMMM“.

Das Atmen soll nicht erzwungen werden, sondern der Atem kommt und geht in rhyth-
mischer Weise. Nach dem Einatmen soll die Luft nicht angehalten werden (dies darf nur
bei Yoga-Übungen gemacht werden, die unter Anleitung gelernt werden), sondern es
soll sofort ausgeatmet werden. Atemanhalten empfiehlt sich dagegen nach der vollstän-
digen Ausatmung, um zu sehen, was passiert. Nach kurzer Zeit erfolgt ein wohltuender,
intensiver Einatemreflex, gesteuert durch das Zwerchfell (vorausgesetzt, der Mund
bleibt bei der Einatmung geschlossen), weil die Ansammlung von Kohlendioxid im Blut
die Einatmung einfach erzwingt.
Die Zwerchfellatmung lernen Sie am leichtesten im Liegen. Bei jeder Einatmung
hebt sich die Bauchdecke, bei jeder Ausatmung senkt sich die Bauchdecke infolge der
Schwerkraft. Dieses Auf und Ab entfällt beim Sitzen oder Stehen, weshalb hier die
Zwerchfellatmung etwas schwerer zu erlernen ist. Wenn Ihnen die Bauchatmung
schwer fällt, spannen Sie vorerst einmal Ihre Bauchmuskeln an und heben bzw. senken
Sie auf diese Weise die Bauchdecke. Es fällt Ihnen dann vielleicht leichter, die Bauch-
decke allein über die Zwerchfellatmung zu bewegen. Eine weitere Erleichterung: im
Sitzen verschränken Sie zuerst Ihre Hände hinter dem Kopf, dann atmen Sie durch die
Nase ein, anschließend werden Sie spüren, wie Sie locker aus dem Bauch heraus atmen.
Die Intensivierung der Zwerchfellatmung bewirkt ein Weiterwerden der ganzen
Taille und des ganzen Rumpfes beim Einatmen und ein Schmalwerden der Taille bei
der Ausatmung. Beim Einatmen weiten sich neben der Bauchdecke auch die unteren
Rippen (Flanken), an denen das Zwerchfell festgewachsen ist, und der untere Rücken-
teil (Kreuzbereich).
Atemtraining 515

Viele Menschen mit einer Zwerchfellschlaffheit, d.h. mit einer völligen Verkümme-
rung der Zwerchfellmuskulatur (als „Zwerchfellhochstand“ diagnostiziert), können
nicht gut waagrecht liegen, weil der Bauchinhalt nach oben drückt und die Herztätigkeit
behindert. Dies könnte gelegentlich bei jenen Panikpatienten der Fall sein, die Panik-
attacken bevorzugt im Liegen als Ausdruck der Behinderung der Herztätigkeit erleben.

Atemübungen in Ruhe
1. Kerzenflamme ausblasen. Stellen Sie eine Kerze einen Meter entfernt vor Ihnen auf
und versuchen Sie, die Kerzenflamme auszublasen. Gelingt Ihnen dies nicht beim
ersten oder zweiten Mal, sollten Sie unbedingt ein Atemtraining durchführen.

2. Atmung beobachten. Legen Sie Ihre rechte Hand nacheinander auf verschiedene
Körperpartien, um die Atembewegung zu spüren: Schlüsselbein – Achselhöhle –
Brustbein – seitlicher Brustkorb – Bauchdecke – Leistenbeuge. Wo ist viel, wo ist
wenig Bewegung? Wenn sich Ihr Brustkorb mehr hebt als Ihre Bauchdecke, benöti-
gen Sie ein Atemtraining.

3. Atemstrom spüren. Verfolgen Sie beim Einatmen den Atemstrom, wie dieser durch
die Nase über den Rachenraum und die Luftröhre bis in den unteren Teil der Lunge
gelangt. Spüren Sie, wie sich die Lunge beim Atmen ganz von alleine füllt und sich
beim Ausatmen durch die Nase oder durch den Mund wieder leert.

4. Kerzenflamme bewegen. Atmen Sie durch die Nase ein und bei leicht geschlossenen
Lippen aus („Lippenbremse“). Stellen Sie sich beim Ausatmen vor, möglichst lange
eine 20 cm entfernte Kerzenflamme in Bewegung zu versetzen (ohne Ausblasen).

5. Suppe kühlen. Atmen Sie durch die Nase ein und durch die wie zum Pfeifen ge-
spitzten Lippen aus, mit der Vorstellung, möglichst lange einen Löffel heißer Suppe
blasend zu kühlen. Sie können imaginativ auch ein Fenster im Winter anhauchen
oder durch einen Strohhalm in ein Wasserglas ausatmen, sodass Luftbläschen im
Wasser aufsteigen.

6. Ausatmend zählen. Atmen Sie durch die Nase ein und zählen Sie beim Ausatmen
im Rhythmus des Herzschlags bzw. jede Sekunde eine Zahl. Bis zu welcher Zahl
kommen Sie?

7. Ausatmungslänge in Sekunden ermitteln. Stellen Sie eine Uhr mit Sekundenfunkti-


on vor sich auf und achten Sie auf eine möglichst lange Ausatmungsphase. Wie vie-
le Sekunden maximal dauert Ihre Ausatmung? Versuchen Sie durch etwas Übung
die erreichte Sekundenzahl zu erhöhen. Atmen Sie anschließend bei geschlossenem
Mund durch die Nase ein.

8. Doppelte Ausatmungslänge. Atmen Sie doppelt so lang aus als ein. Zählen Sie beim
Einatmen innerlich 1-2 und beim Ausatmen 1-2-3-4, beim Gehen zusätzlich in Ver-
bindung mit den Schritten (d.h. „1-2 ein“, „1-2-3-4 aus“). Diese Übung ist hilfreich
für Agoraphobiker.
516 Selbsthilfe bei Angststörungen

9. Dreifache Ausatmungslänge. Atmen Sie 3-mal so lang aus als ein. Zählen Sie beim
Einatmen innerlich 1-2-3 und beim Ausatmen 1-2-3-4-5-6-7-8-9 (dies ergibt rund
fünf Atemzüge pro Minute, was sehr beruhigend wirkt).

10. Sinken lassen (Schwerkraft spüren). Lassen Sie sich im Liegen auf die Unterlage
sinken. Stellen Sie sich dabei vor, Sie würden langsam in Ihr Bett, in eine Schaum-
gummimatte oder in weichen Sand am Strand einsinken und einen Abdruck hinter-
lassen. Bei jedem Ausatmen spüren Sie, wie die Schwerkraft Sie nach unten zieht
und Ihr Körper schwerer und entspannter wird. Spüren Sie, welche Stellen Ihres
Körpers besonders gut auf der Unterlage aufliegen, und welche Stellen bei mehr
Entspannung ebenfalls noch besser auf der Unterlage aufliegen könnten. Sagen Sie
sich: „Ich lasse mich jetzt ganz fallen, mit jeder Ausatmung immer mehr.“ Spüren
Sie, wie beim Ausatmen die Spannung aus Ihrem Körper in die Unterlage fließt und
die Muskeln Ihres Körpers ganz entspannt werden.

11. Hände auf Bauch und Brust legen. Legen Sie Ihre rechte Hand auf den Bauch un-
terhalb des Nabels und Ihre linke Hand auf die Brust (Linkshänder umgekehrt). Bei
richtiger Zwerchfellatmung hebt und senkt sich fast nur die rechte Hand auf der
Bauchdecke, während die linke Hand fast ruhig auf der Brust liegen bleibt. Bei
richtiger Zwerchfellatmung weitet sich bei der Einatmung auch die Taille, bei der
Ausatmung verengt sie sich wieder, wie Sie durch seitliches Händeauflegen fest-
stellen können.

12. Beide Hände auf den Bauch legen. Legen Sie beide Hände auf den Unterbauch und
beobachten Sie, wie sich diese beim Einatmen heben und beim Ausatmen senken
(Einschnüffeln eines angenehmen Dufts erleichtert die Bauchatmung). Die Hände
auf der Bauchdecke fördern die Konzentration auf die Bauchatmung und bewirken
ein Wärmegefühl (zusätzlich warm in den Bauch hineinatmen). Durch die Berüh-
rung Ihrer Körpermitte finden Sie sozusagen Halt in Ihrer Mitte.

13. Druck auf die Bauchdecke beim Ausatmen. Legen Sie beide Hände auf den Unter-
bauch (knapp unterhalb des Nabels) und drücken Sie die Bauchdecke beim Ausat-
men sanft hinein, sodass Sie beim Einatmen durch die Nase den Gegendruck Ihrer
Hände überwinden müssen, um die Bauchdecke heben zu können.

14. Partner drückt auf die Bauchdecke beim Ausatmen. Wenn Ihnen die letzte Übung
schwer fällt, ersuchen Sie Ihren Partner oder einen Bekannten, mit seiner Hand Ihre
Bauchdecke beim Ausatmen langsam, jedoch relativ fest hineinzudrücken, sodass
Sie beim Einatmen einen stärkeren Gegendruck ausüben müssen, um die Bauch-
decke heben zu können.

15. Gegenstand auf die Bauchdecke legen. Legen Sie im Liegen eine Wärmeflasche
(Wärme entspannt), einen 0,5-1 kg schweren Sack oder ein Buch auf Ihre Bauch-
decke und bewegen Sie den Gegenstand durch die Bauchatmung auf und ab. Bei
Problemen spannen Sie zuerst Ihre Bauchmuskulatur willkürlich an, um Ihren Un-
terbauch besser spüren zu lernen. Bei richtiger Zwerchfellatmung erfolgt dann je-
doch kein Einsatz der Bauchmuskeln.
Atemtraining 517

16. Schaukelndes Boot. Stellen Sie sich vor, Sie liegen in einem kleinen Boot oder auf
einer breiten Luftmatratze auf einem See oder im Meer bei leichtem Wellengang.
Beobachten Sie, wie sich Ihre Bauchdecke beim Einatmen mit der Welle hebt und
beim Ausatmen mit der Welle senkt. Die Vorstellung einer rhythmischen Bewe-
gung wirkt entspannend. Die Vergegenwärtigung eines erholsamen Urlaubs bzw.
wärmender Sonnenstrahlen kann zusätzlich entspannend wirken.

17. Atmung im Rhythmus der Meereswellen. Stellen Sie sich vor, Sie liegen wohlig ent-
spannt am Ufer des Meeres. Beim Heranströmen und Hochspülen des Wassers am
Ufer atmen Sie ein, wobei sich Ihre Bauchdecke hebt, beim Zurückfließen des Was-
sers atmen Sie aus, wobei sich Ihre Bauchdecke senkt.

18. Atem als Welle. Lassen Sie den Atem beim Einatmen wie eine Welle von unten
nach oben „schwingen“ und beim Ausatmen von oben nach unten gehen.

19. Bauch wie einen Ballon aufblasen. Stellen Sie sich beim Einatmen vor, die Luft von
unten (zwischen den Beinen) anzusaugen und Ihren Bauch wie einen Ballon aufzu-
blasen, atmen Sie dann nach unten hin aus mit der Vorstellung, dass Ihr Bauch wie-
der kleiner wird. Spüren dabei, wie sich Ihre Bauchdecke beim Einatmen hebt.

20. Imaginative Einatmung durch den Unterleib bzw. (bei Frauen) durch die Scheide.
Frauen stellen sich vor, durch die Scheide einzuatmen, d.h. den Luftstrom von un-
ten anzusaugen, während sich die Bauchdecke mühelos hebt, und durch den Körper
bis zur Nase hinaufzuziehen und anschließend den Atemstrom wieder abwärts
durch die Scheide hindurch auszuatmen. Diese Übung bewährt sich bei Unterleibs-
schmerzen und sexuellen Problemen.

21. Energie einatmen. Stellen Sie sich vor, beim Einatmen Kraft und Energie einzuat-
men (Sauerstoff, biochemisch gesehen) und beim Ausatmen alles Verbrauchte, Be-
lastende und Ängstigende auszuatmen (Kohlendioxid oder Schlacken, biochemisch
gesehen). Formelhafte Vorsatzbildungen in Verbindung mit der Atmung sind hilf-
reich („Mit jedem Atemzug gewinne ich mehr Energie und Selbstvertrauen“, „Mit
jedem Mal Ausatmen gebe ich etwas Angst, Anspannung, Schmerz usw. ab“).

22. Geruch einatmen. Stellen Sie sich intensiv einen angenehmen Geruch vor: Wald-,
Berg-, Meeres- oder Frischluft, Blumenduft (z.B. Rose), Parfum, Inhalationsmittel,
ätherisches Öl (z.B. Minze, Orange), Gewürzkraut oder Räucherstäbchen. Atmen
Sie diesen Duft durch die Nase ein und ziehen Sie ihn hoch (d.h. „schnüffeln“ Sie
diesen ein) und atmen Sie dann durch die Lippenbremse aus. Konditionieren Sie
sich auf einen bestimmten entspannenden und beruhigenden Duft, den Sie sich dann
in jeder Angstsituation vergegenwärtigen. Anfangs können Sie vielleicht ein Duft-
fläschchen bei sich tragen und bei Bedarf daran riechen. Die Konzentration auf ei-
nen angenehmen Duft lenkt Sie von der im Rahmen des Atemtrainings vielleicht er-
folgten übermäßigen Fixierung auf die richtige (Bauch-)Atmung ab.

23. Schaukel. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einer Schaukel oder einem Schaukel-
stuhl und atmen bei der Vorwärtsbewegung aus und bei der Rückwärtsbewegung
ein. Die Vorwärtsbewegung erfolgt mit Kraft, die Rückwärtsbewegung ohne.
518 Selbsthilfe bei Angststörungen

24. Rückenatmung. Legen Sie Ihre rechte Hand auf die Bauchdecke und Ihre linke
Hand in den Rücken. Versuchen Sie die Einatemluft in den unteren Rücken zu diri-
gieren, sodass sich dieser etwas weitet, und atmen Sie dann entspannt aus.

25. Atmen durch das imaginierte Atemloch. Stellen Sie sich vor, dass die Luft bei der
Einatmung durch das so genannte Atemloch in die Beckenschale hineinströmt und
bei der Ausatmung wieder aus ihr hinausströmt. Das „Atemloch“ bezeichnet den
Akupunkturpunkt „Hui-Yin“ auf der Mitte des Dammes zwischen After und Ge-
schlechtsorgan. Der Unterleib wird dabei gut durchblutet. Sie stellen sich also vor,
Sie würden die Luft von unten durch den Körper ansaugen und wieder so abgeben.

26. Erhobene Arme. Heben Sie beide Arme hinter Ihrem Kopf in die Höhe oder ver-
schränken Sie die Hände hinter Ihrem Kopf und atmen Sie in dieser Haltung ein
und aus. Die Brustmuskulatur wird dadurch gestreckt, sodass Sie nicht mit dem
Brustkorb atmen können und die Zwerchfellatmung leichter erlernen.

27. Erden. Stellen Sie sich locker so hin, dass die Füße etwas auseinander und flach
und sicher auf dem Boden stehen. Die Beine sind dabei nicht steif durchgestreckt,
sondern minimal geknickt und dadurch leicht federnd (wie beim Schifahren). Spü-
ren Sie die Schwerkraft der Erde, indem Sie beim Ausatmen erleben, wie das Ge-
wicht Ihres Körpers über die Füße auf den Boden drückt. Ihre Füße sind fest auf
dem Boden verankert, sie gleichen den Wurzeln eines Baumes, die bei allen Stür-
men sicheren Halt geben. Stellen Sie sich mit geschlossenen Augen vor, beim Ein-
atmen Kraft und Energie aus der Erde aufzunehmen, und erleben Sie dabei die tra-
gende Kraft der Erde. Diese Übung ist sehr hilfreich bei Schwindelgefühlen und
Ohnmachtsängsten, wie sie oft im Rahmen einer Agoraphobie vorkommen.

28. Tiefenatmung bewirkt ein Sich-Spüren. Spüren Sie beim Atmen Ihren momentanen
körperlichen Zustand. Wenn Sie langsam tief ein- und ausatmen, können Sie even-
tuell nicht geahnte Gefühle provozieren, z.B. können Ihnen beim entspannten Aus-
atmen Tränen in die Augen kommen als Zeichen des Loslassens. Wenn Sie dagegen
Ihre Gefühle bzw. Schmerzzustände unterdrücken, werden Sie auch tiefes Atmen
unterdrücken. Viele Menschen haben sich wegen Schmerzen im Unterleib eine fal-
sche Atmung angewöhnt.

29. Warmer Bauch. Stellen Sie sich beim Ausatmen vor, eine warme Flüssigkeit (Tee,
Suppe usw.) aufzunehmen und verfolgen Sie den Weg bis in den Magen. Spüren
Sie, wie diese Flüssigkeit Ihren Magen erwärmt. Vergegenwärtigen Sie sich eine
konkrete Erfahrung oder trinken Sie einen warmen Tee und prägen Sie sich diese
Erfahrung ein. Vom Magen strömt die Wärme weiter in Ihren Unterleib und in Ihr
Becken und breitet sich wohltuend aus bis in Ihre Geschlechtsorgane. Diese Übung
ist oft recht hilfreich bei Magen- und Darmproblemen sowie bei sexuellen Ängsten
und Verspannungen.

30. Warmer Unterleib. Schicken Sie beim Ausatmen im Sitzen oder Liegen Ihren Atem
warm in den Unterleib. Spüren Sie, wie Ihr Unterleib warm wird, und genießen Sie
die Entspannung. Sie fühlen, wie mit dem Atem Kraft und Energie in den Unterleib
strömen. Sie atmen ruhig ein und aus und denken „Ich lasse ganz los“.
Atemtraining 519

31. Konsonanten-Atmung. Verwenden Sie die Ausatmung auf Konsonantenbasis (mit


„M“, „N“, „S“, „SCH“, „FF“, „PF“, „T“ usw.), wenn Sie den Körper durch Vibrie-
ren zur Entspannung bringen möchten bzw. wenn Sie Druck ablassen möchten.

32. Vokalatmung. Singen Sie laut und lang gezogen Töne mit den Vokalen A-E-I-O-U.
Die Vokalatmung fördert optimales Ausatmen. Vokale sind Klangträger, bei denen
die Luft am strömungsfreiesten abgegeben wird, sodass eine Kerze im Abstand von
einem halben Meter während des Tönens nicht flattern dürfte, wenn es einwandfrei
gelingt. Beim Tönen der Vokale bleibt die Zunge locker, während bei den meisten
Mitlauten das Ansatzrohr durch Zungenbewegungen verengt wird.

33. Mit einem Ton ausatmen. Atmen Sie langsam und lang mit einem bestimmten Ton
aus, am besten mit „UU“ oder „OOUUMMOOUUMM“ (ein bekanntes Mantra),
weil ein tiefer Ton seine Schwingungen mehr im Unterleib entfaltet und der Vokal
„U“ beruhigend wirkt. Schließen Sie dabei die Augen und genießen Sie die Erfah-
rung einer derartigen Ausatmung.

34. Gesichtsschlottern auf „U-U-U“. Beugen Sie sich im Sitzen oder Stehen leicht vor
und schütteln Sie Ihre Gesichtsmuskulatur locker schlotternd auf „U-U-U“ aus. Der
Ton soll aus dem Unterleib kommen, während alle Muskeln gelockert sind.

35. Lieblingslied. Singen, summen oder pfeifen Sie Ihr Lieblingslied. Der Rhythmus
des Liedes normalisiert Ihre Atmung und verhindert die Hyperventilation. Singen
und Sprechen ist Ausatmen. Beides ist bei starker Anspannung beeinträchtigt.

36. Keuchen. „Keuchen“ Sie beim Ausatmen den Atem in kleinen Stößen heraus, bis
sich Ihre Lunge leer anfühlt. Sie keuchen wie eine Lokomotive, die den Dampf in
kurzen Abständen ablässt. Stoßweises Ausatmen ist die Ausatmung beim Joggen.

37. Seufzen und Stöhnen. Lernen Sie entspannendes Stöhnen. Stellen Sie sich locker in
leichter Grätsche hin und lassen Sie Ihre Arme entspannt seitlich am Körper hän-
gen. Atmen Sie durch die Nase ein und stöhnen Sie beim Ausatmen, indem Sie Ih-
ren Oberkörper locker vornüber hängen lassen. Stöhnen Sie alles weg, was Sie
hemmt, belastet, blockiert.

38. Durch ein Nasenloch atmen (Nasenenge). Verschließen Sie beim Sitzen oder Lie-
gen mit dem rechten Zeigefinger das rechte Nasenloch, atmen Sie langsam durch
das linke Nasenloch ein, verschließen Sie nach der Einatmung mit dem linken Zei-
gefinger das linke Nasenloch und atmen Sie durch das rechte Nasenloch aus. Atmen
Sie anschließend in derselben Weise durch das rechte Nasenloch ein und durch das
linke Nasenloch aus. Die Nasenenge öffnet Ihre Bronchien und regt Ihr Zwerchfell
zu kräftigerer Arbeit an. Wiederholen Sie mehrfach diesen Wechsel (links einat-
men, rechts ausatmen und rechts einatmen, links ausatmen).

Empfehlenswert ist das Taschenbuch „Atme richtig“ von Hiltrud Lodes, aus dem viele
der angeführten Übungen modifiziert übernommen wurden. Gute Atemtechniken findet
man auch in Atemtherapie-Büchern für Asthmatiker. Die Atemblockade soll bei Asth-
matikern durch die Forcierung der Ausatmung durchbrochen werden.
520 Selbsthilfe bei Angststörungen

Atemübungen bei Bewegung


Die Atmung wird durch mechanische Atemantriebe über eine Art mechanischer Emp-
fangsapparate (Mechanorezeptoren) in der Nähe der Gelenke angeregt, die mechanische
Reize aufnehmen und zum Zentralnervensystem weiterleiten. Viele Bewegungsübungen
können daher auch als Atemübungen angesehen werden.
Atemübungen bei Bewegung erfolgen ebenfalls durch Einatmen über die Nase und
Ausatmen durch die Lippenbremse bzw. über die Nase (wenn möglich). Bei körperli-
cher und seelischer Belastung ist es nicht notwendig, durch den Mund viel Luft einzu-
atmen, sondern im Bereich des Zwerchfells und der unteren Rippen zu atmen, wo Be-
lüftung und Durchblutung der Lunge optimal sind (aufgrund der Schwerkraft ist im
unteren Drittel der Lunge das meiste Blut, in das der Sauerstoff übergeht).
Atmen Sie im Moment der stärksten Bewegung bzw. Anstrengung durch die Lip-
penbremse aus (z.B. auf „SCH“), anschließend atmen Sie durch die Nase ein. „Tief
einatmen“ zur maximalen Sauerstoffaufnahme bei Bewegung ist irreführend und falsch,
wenn es als intensive Mundatmung, als „tief Luft holen“ und „nach Luft schnappen“
verstanden wird, wo sich die Schultern in Richtung der Ohren heben und die Bauchdek-
ke kaum bewegt. Wenn Sie gründlich ausatmen, geschieht die Einatmung ganz von
allein, mit ausreichender Sauerstoffversorgung durch die Nasenatmung auch bei körper-
licher und seelischer Belastung.
Üben Sie nicht nur die Kombination von Atmung und Bewegung, sondern beginnen
Sie jedes Atemübungsprogramm mit Lockerungsübungen. Sie können sich im Stehen,
Sitzen oder bequem im Liegen rekeln, strecken und dehnen. Sie werden dadurch auch
empfindungsfähiger und sensibler. Schütteln Sie dann Arme und Beine und den ganzen
Körper. Übungen zur Beweglichmachung sind am Anfang einer Übungseinheit empfeh-
lenswert, um die Gelenke, Bänder, Sehnen und Muskeln einzustimmen und auf alle
möglichen Übungen vorzubereiten. „Nachgeben“ (in den verspannten Körperbereichen)
ist dabei das oberste Gebot.
Lassen Sie alles schwer sein, lassen Sie alles in den Boden bzw. auf die Unterlage
sinken. Spüren Sie die Schwerkraft, die Anziehungskraft der Erde. Wenn Sie können,
gähnen Sie dazu, da Ihre Atmungsorgane oder Atemmuskeln dadurch noch mehr ent-
spannt werden und die Atmung tiefer wird.

1. Kreuz wölben. Ziehen Sie beim Liegen auf dem Rücken Ihre Beine so an, dass die
Fußsohlen flach aufstehen, während die Arme seitlich liegen. Wölben Sie beim
Einatmen das Kreuz und drücken Sie beim Ausatmen das Kreuz wieder flach auf
den Boden. Diese Übung fördert das Erlernen der Zwerchfellatmung. Wenn Sie
einatmen und das Kreuz leicht wölben, zieht sich das Zwerchfell nach unten zum
Bauchraum zusammen, und wenn Sie ausatmen, wölbt sich das Zwerchfell kuppel-
förmig zum Brustraum nach oben.

2. Kreuz wölben mit Drehung der Arme. Ziehen Sie beim Liegen auf dem Rücken Ihre
Beine so an, dass die Fußsohlen flach aufstehen, und strecken Sie Ihre Arme aus,
sodass der Körper ein T bildet, wobei die Handflächen nach unten zeigen. Wölben
Sie beim Einatmen durch die Nase das Kreuz und drehen Sie gleichzeitig die Arme
am Boden nach oben, sodass die Handflächen nach oben zeigen. Beim Ausatmen
drücken Sie das Kreuz wieder auf den Boden und drehen Sie die Arme so, dass die
Handflächen wieder nach unten zeigen.
Atemtraining 521

3. Beckenschaukel. Ziehen Sie beim Liegen auf dem Rücken Ihre Beine an, heben Sie
Ihr Becken von der Unterlage so weit als möglich ab, während Sie dabei durch den
Mund ausatmen (z.B. mit „PFF“) und senken Sie es beim Einatmen durch die Nase.
Die Arme liegen dabei seitlich ausgestreckt.

4. Beckenbodenübung. Ziehen Sie in Rückenlage Ihre Beine zum Gesäß an, sodass die
Fußsohlen aufstehen. Lassen Sie nun Ihre Knie nach außen-seitwärts sinken, bis die
Fußsohlen aneinander liegen und atmen Sie dabei ein. Dann schließen Sie Ihre Bei-
ne wieder, indem Sie Ihre Knie wieder anheben und einander annähern, während
Sie dabei ausatmen.

5. Körper beugen im Stehen. Grätschen Sie die Beine hüftbreit und führen Sie die et-
was auseinander gehaltenen Arme ausgestreckt nach vorne und dann nach oben.
Atmen Sie dabei ein, bis Ihre Arme ganz hochgehalten sind. Dann beugen Sie sich
mit geradem Rücken langsam nach unten, die Arme weiterhin gestreckt, atmen da-
bei aus und versuchen, mit den Händen den Boden zu berühren. Nach einer kurzen
Atempause richten Sie sich mit geradem Rücken auf und atmen dabei ein, während
Sie die Arme wieder nach oben strecken.

6. Brustschwimmen. Machen Sie im Stehen oder Sitzen dieselben Armbewegungen


wie beim Brustschwimmen. Strecken Sie beim Ausatmen durch den Mund Ihre
Arme nach vorne hin aus mit der Vorstellung, lange auf dem Wasser dahinzuglei-
ten, und atmen Sie anschließend durch die Nase ein, während Sie die Arme krei-
send zurückziehen, dann strecken Sie Ihre Arme beim Ausatmen wieder aus usw.
Stellen Sie sich einige Zeit das ruhige Dahingleiten im Wasser vor.

7. Vogelschwingenatmen. Heben Sie beim Einatmen Ihre Arme seitlich ausgestreckt


nach oben (mit den Handflächen nach unten) und senken Sie beim Ausatmen Ihre
Arme wieder. Bewegen Sie im Atemrhythmus Ihre Arme wie Flügel eines großen
Vogels, der ganz ruhig seine Schwingen beim Fliegen bewegt.

8. Jogging-Atmung. Beim Langsam-Laufen atmen Sie stoßweise aus mit einem hörba-
ren Laut und lassen das Einatmen von alleine geschehen (ungeübte Läufer betonen
die Einatmung, überdehnen dadurch den Brustkorb und bekommen Seitenstechen).

9. Sitzend nach vorne beugen. Sitzen Sie aufrecht auf einem Sessel und ziehen Sie
beim Einatmen durch die Nase das Kinn nach oben, sodass sich die Vorderseite Ih-
res Körpers streckt und die Bauchdecke hebt. Anschließend beugen Sie sich beim
Ausatmen langsam nach vorne, gleichsam um die ganze Luft aus Ihrem Bauch her-
auszupressen, während Sie durch die Lippen so ausatmen, als ob Sie eine Kerze
ausblasen wollten.

10. Sitzend nach vorne beugen mit gestreckten Armen. Auf einem Sessel sitzend heben
Sie langsam beide Arme ausgestreckt, bis sie waagrecht sind, und atmen dabei
durch die Nase ein, dann beugen Sie den Rumpf möglichst weit vorne hinunter,
strecken die Arme nach rückwärts und atmen dabei durch den Mund aus.
522 Selbsthilfe bei Angststörungen

11. Zum gestreckten Knie hin ausatmen. Knien Sie sich mit dem linken Bein nieder und
strecken Sie das rechte Bein aus. Heben Sie beide Arme hoch und beugen Sie dann
Ihren Oberkörper zum ausgestreckten Fuß hin aus, gleichzeitig senken Sie Ihre aus-
gestreckten Arme und versuchen Sie damit die Fußspitze des ausgestreckten Beins
zu erreichen, während Sie ausatmen. Anschließend machen Sie dieselbe Übung mit
dem ausgestreckten linken Fuß.

12. Zur rechten Fußsohle einatmen, zur linken ausatmen. Verlagern Sie in leichter
Grätsche bei lockeren Kniegelenken Ihr Körpergewicht auf den rechten Fuß. Atmen
Sie in der Vorstellung zur Mitte der rechten Fußsohle ein und lassen Sie den Atem
beinwärts Richtung Kopf strömen, dann verlagern Sie Ihr Gewicht auf den linken
Fuß und lassen die Ausatmung in gegenläufiger Bewegung zur Mitte der linken
Fußsohle wieder ausströmen. Nach der Atempause atmen Sie zur linken Fußsohle
ein und zur rechten aus usw.

13. Kniebeugen und Liegestütz. Beim Beugen atmen Sie jeweils durch den Mund aus,
beim Aufrichten durch die Nase ein.

14. Stiegensteigen. Am Fuß der Treppe holen Sie über die Nase tief Luft und steigen
dann so lange die Stufen hinauf, wie Sie auf „SCH“ ausatmen können. Wenn das
„SCH“ leiser wird, bleiben Sie sofort stehen, schöpfen erneut Atem über die Nase
und steigen mit „SCH“ weiter voran usw.

15. Schrittatmung (rhythmisches Ein- und Ausatmen durch Schritte zählen beim Gehen,
Laufen oder Stiegensteigen). Koppeln Sie Ihren Atemrhythmus mit Ihren Schritten,
insbesondere bei körperlicher Anstrengung, aber auch bei Angst und Stress. Dies
bringt ein Maximum an Sauerstoff und spart Kraft. Auch Leistungssportler oder
Dauerläufer sind bestrebt, Bewegung und Atem zu rhythmisieren, denn jede rhyth-
mische Bewegung spart Kraft. Beispiele: (a) 1-2-3 Schritte ausatmen, anschließend
1-2-3 Schritte einatmen; (b) 1-2-3-4 ausatmen, anschließend 1-2 einatmen beim
Gehen, Laufen oder Stiegensteigen. Bei guter Kondition sind jeweils 4-5 Schritte
ein- und ausatmen möglich. 6 Schritte sind für einen normalen Menschen das
Höchstmaß, das nicht überschritten werden sollte, weil es sonst zu Verkrampfungen
der Muskeln in den Atemwegen kommen kann.

16. Schlag mit beiden Händen. Schlagen Sie mit verschränkten Händen auf eine weiche
Unterlage und atmen Sie dabei fest mit einem Ton aus (z.B. „HUUH“, „PUUH“).

17. Holzhacken. Stehen Sie mit gespreizten Beinen da. Strecken Sie beim Einatmen die
verschränkten Hände nach oben und biegen Sie sich so weit als möglich zurück.
Beim Ausatmen schlagen Sie mit den verschränkten Händen nach unten durch die
Beine, wie beim Holzhacken, Ihr Atem strömt hörbar durch den Mund heraus.

Atemübungen in Verbindung mit Bewegung sind bei Panikpatienten anfangs bessere


Hilfsmittel, um einerseits den Aktivierungsschub durch einen Adrenalinstoß abzubauen
und andererseits eine effiziente Ablenkung von der gefürchteten Panikattacke zu errei-
chen. Später sind dann auch durch Atemtechniken in Ruhe möglich, wenn die Zuwen-
dung besser gelingt.
Atemtraining 523

Atemübungen mit Düften (Aromatherapie)


Aromatherapie, Heilen mit Düften, ist „in“. Sie kann bei Menschen mit Angststörungen
hilfreich eingesetzt werden. Düfte können in Verbindung mit angenehmen Erlebnissen,
Musik und Entspannungsübungen Ängste reduzieren [12]. Bei Angst- und Spannungs-
zuständen mit flacher und rascher Atmung fördert der Duft ätherischer Öle die Einat-
mung durch die Nase und bewirkt dadurch eine intensivere Atmung sowie eine Beruhi-
gung. Verschiedene Angstpatienten nehmen gerne ein Duftfläschchen mit, wenn sie das
Haus verlassen, um daran zu riechen und sich durch den Duft gestärkt zu fühlen, wenn
sie Probleme befürchten. Viele agoraphobische (klaustrophobische) Situationen haben
mit Enge und Beengung zu tun. Die Anregung der Atmung durch einen Duftstoff ver-
hindert die gefürchteten Beklemmungsgefühle. Ein Tipp: Nehmen Sie bei Agoraphobie
mit Beklemmungsgefühlen ein Duftfläschchen mit, an dem Sie bei Bedarf riechen.
Düfte lösen bestimmte körperliche und seelische Reaktionen aus. Der Geruchssinn
steht wie kein anderes Sinnesorgan in direkter Verbindung zu jenen Gehirnzentren, die
für die Auslösung emotionaler Reaktionen verantwortlich sind. Die entsprechenden
Gehirnregionen haben sich phylogenetisch aus dem Riechhirn entwickelt. Duftreize
gelangen über die Nase in das Riechhirn und von dort zum limbischen System (Zentrum
der Emotionen), wo sie verarbeitet werden, und lösen über das autonome Nervensystem
eine physiologische Aktivierung (sympathisches Nervensystem) oder eine Beruhigung
(parasympathisches Nervensystem) aus. Die Duftinformationen werden zur Hypophyse
geleitet, die den Hormonhaushalt reguliert und alle ihr untergeordneten endokrinen
Drüsen steuert, die jeweils eine bestimmte Menge eines Hormons produzieren.
Bei unangenehmen Gerüchen wird der Atem flacher. Bei angenehmen Düften rea-
giert das autonome Nervensystem mit einer Vertiefung der Atmung. Angenehme Düfte
mobilisieren schöne Erinnerungen, die im Gehirn positive Gefühle, Entspannung und
Wohlbefinden auslösen. Düfte führen zur vermehrten Produktion stimmungsverändern-
der Neurotransmitter und wirken belebend [13]. Der Duft von Ylang-Ylang bremst
angeblich die Adrenalinproduktion und soll beruhigend wirken. Bei Kurzatmigkeit kön-
nen bestimmte Düfte eingesetzt werden, um die Atmung zu vertiefen oder anzuregen,
und zwar alle frischen oder minzigen, eukalyptolhaltigen ätherischen Öle: Latschenkie-
fer, Fichtennadel, Zirbelkiefer, Tanne, Pinie, Cajaput, Eukalyptus, Minze, Myrte.
Bestimmte ätherische Öle sollen bei Angstzuständen wirksam sein: Basilikum, Ben-
zoe, Bergamotte, Geranie, Jasmin, (Römische) Kamille, Lavendel, Mandarine, Melisse,
Muskatellersalbei, Neroli (Bitterorangenblüten), Orange, Patchouli, Pampelmuse, Rose,
Sandelholz, Vetiver, Weihrauch, Ylang-Ylang, Weihrauch, Ysop, Zeder, Zypresse [14].
Eine Mischung aus mehreren Ölen kann wirkungsvoller sein als ein einzelner Duft. Der
Duft von Lavendel, Orange und Neroli wird bei Ängsten am häufigsten empfohlen.
Nach EEG-Messungen löst Lavendel im Gehirn Alpha-Wellen aus, die für einen
entspannten Zustand typisch sind. Nach einer österreichischen Studie wirkt Lavendel
beruhigend, nach einer englischen Studie vermindert Lavendel Ängste vor der Zahnbe-
handlung. Nach einer österreichischen Studie wirkt Orangenduft in Zahnarztpraxen
entspannend und angstmindernd. Nach dem deutschen Duft-Forscher Hanns Hatt, der
bei Mäusen die schlaffördernde Wirkung von Jasmin nachgewiesen hat (Jasmin dockt
an GABA-Rezeptoren an), spricht vieles dafür, dass Duftstoffe eine ähnliche Wirkung
auf das Gehirn ausüben wie Psychopharmaka. Lavendel wirkt vermutlich dämpfend auf
die wichtigsten erregenden Rezeptoren (NMDA-Kanäle). Nach einer österreichischen
Studie wirkt Lavendel über die Haut sogar stärker auf das Gehirn als über die Nase.
524 Selbsthilfe bei Angststörungen

Achtsamkeitstraining
Die systematische Schulung der Achtsamkeit gilt als Herzstück der buddhistischen Me-
ditation. Achtsamkeit bedeutet, jeden Augenblick bewusst zu erfassen. Meditation ist
eine bewusste Beobachtung von Körper und Geist, bei der man alle auftauchenden Er-
fahrungen zulässt, ohne einzugreifen. Gedanken und Vorstellungen werden nicht unter-
drückt oder verändert. Es geht darum, da zu sein, wo man gerade ist, und nicht darum,
irgendwo anders hinzukommen. Das primäre Ziel ist nicht die Entspannung, sondern
vielmehr die Wahrnehmung des aktuellen Erlebens (z.B. der Atmung), wobei Entspan-
nung durchaus ein Nebenprodukt sein kann.
Achtsamkeit fördert keine Passivität im Leben, sondern führt vielmehr zu einer neu-
en Form von Aktivität. Die bewusstere Wahrnehmung dessen, was in uns vorgeht, hat
einen positiven Einfluss auf unser ganzes Leben und Handeln. Eine größere Achtsam-
keit im Sinne einer besseren Selbstwahrnehmung führt zu einer größeren Selbstkontrol-
le. Achtsamkeit kann durchaus auch bedeuten, dass die anfangs störenden Gedanken,
Gefühle und Empfindungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt werden.
Alles Störende wird dabei jedoch passiv angenommen und nicht bewertet, sodass im
Laufe der Zeit die Unruhe verschwindet. Ängstliche Gedanken und Vorstellungen dür-
fen vorhanden sein und wirken aufgrund dieser Einstellung bereits weniger bedrohlich.
Das empfehlenswerte Buch „Gesund durch Meditation“ des amerikanische Verhal-
tensmediziners Jon Kabat-Zinn beschreibt das Programm der von ihm früher geleiteten
amerikanischen Stressklinik, das auf einem systematischen Training der Achtsamkeit
beruht, einer Form der Meditation, die auf buddhistische Traditionen zurückgeht. Men-
schen mit Angststörungen werden von Kabat-Zinn ermutigt, der Angst nicht auszuwei-
chen, sondern alle auftretenden Gedanken und Zustände durch bewusste Wahrnehmung
und Methoden der Achtsamkeit besser ertragen zu lernen. Interessierte sollten unbedingt
eine einschlägige Veranstaltung besuchen und nicht nur eigenständig üben.
Die sieben zentralen Aspekte der Achtsamkeitspraxis sind:
z Nicht-Beurteilen: Verzicht auf ständige Bewertung der körperlichen Empfindungen.
z Geduld: Warten-Können, denn jedes Ding hat seine eigene Zeit.
z Den Geist des Anfängers bewahren: für alles offen sein, wie wenn es neu wäre.
z Vertrauen: Vertrauen in das eigene innere, grundlegendes Ganz-Sein.
z Nicht-Greifen (Nicht-Streben): nichts direkt anstreben oder erzwingen wollen.
z Akzeptanz: alle Zustände annehmen (dies bedeutet nicht, alles gut zu finden).
z Loslassen: auch nichts Schönes festhalten wollen, um es zu bewahren.

Verschiedene Methoden der Achtsamkeit wie Atemtechniken (Konzentration auf die


Zwerchfellatmung), Body-Scan (bewusste Wahrnehmung aller Körperpartien) und sanf-
te Yoga-Übungen helfen zu einer besseren Wahrnehmung und Akzeptanz der momenta-
nen Befindlichkeit und passen gut zum Konzept der Angstbewältigung. Entspannung
resultiert aus Körperwahrnehmungsübungen, Atemtechniken und Vorstellungsübungen,
wird aber nicht bewusst angestrebt, wodurch bei chronisch verspannten und ängstlichen
Patienten Leistungsdruck und Versagensgefühle vermieden werden. Körperwahrneh-
mungsübungen („Body-Scan“) gelten als Übungen, sich besser kennen zu lernen.
Panikpatienten erleben bei Zuwendung zum eigenen Körper anfangs oft eine Beun-
ruhigung, die erst nach längerer Konzentration auf die körperlichen Vorgänge zur Ent-
spannung führt. Panikpatienten beobachten sich nicht zu viel, sondern zu wenig; sie
wenden sich bei Missempfindungen ängstlich ab, um Beunruhigung zu vermeiden.
Achtsamkeitstraining 525

Führen Sie täglich für 5-10 Minuten folgende einfache Körperwahrnehmungsübung


durch. Setzen Sie sich bequem hin und fragen Sie sich: Was geht gerade in mir vor?
Wie fühle ich mich? Was spüre ich? Sie brauchen nur wahrzunehmen, was Sie im Mo-
ment erleben, ohne irgendetwas zu ändern.
Führen Sie öfter folgende Body-Scan-Übung durch. Legen Sie sich hin, die Beine
leicht gespreizt, die Arme entspannt neben dem Körper. Konzentrieren Sie sich auf den
Atem, ohne diesen zu kontrollieren, und beobachten Sie, wie Sie durch die Nase ein-
und ausatmen, und wie sich die Bauchdecke beim Einatmen hebt und beim Ausatmen
senkt. Konzentrieren Sie sich dann bei jeder Einatmung auf eine bestimmte Muskelpar-
tie Ihres Körpers und entspannen Sie diesen Bereich beim Ausatmen. Konzentrieren Sie
sich so lange auf diese Körperregion, bis ganz von allein eine Entspannung eintritt, d.h.
ohne diese bewusst anzustreben. Lassen Sie sich durch abschweifende Gedanken nicht
beunruhigen und kämpfen Sie nicht dagegen an, sondern konzentrieren Sie sich wieder
auf den Rhythmus des Ein- und Ausatmens. Gehen Sie beim Body-Scan Ihren Körper
vom Kopf bis zum Fuß durch, indem Sie sich mit Ihren inneren Augen auf den jeweili-
gen Körperteil konzentrieren, z.B. Stirn – Schläfen – Wangen – Augen – Nase – Mund
– Kinn – Nacken – Hals – Schultern – Arme – Brustkorb – Bauch – Rücken – Gesäß –
Beine – Füße. Sie können Ihren Körper auch von unten oben wahrnehmen. Erspüren Sie
beim Einatmen den momentanen Zustand der jeweiligen Körperpartie und lassen Sie
über den Ausatemstrom alle Spannungen dahinfließen. Bleiben Sie so lange bei jedem
Körperregion, bis die Anspannung schwindet. Hilfreich ist auch die Vorstellung, durch
bestimmte Körperteile auszuatmen, d.h. lassen Sie den Ausatemstrom austreten durch
die Zehen, die Finger, die Augen, die Stirn, den Unterleib und andere Körperteile.
Die folgende Körperwahrnehmungsübung in Verbindung mit einer gewissen Ent-
spannungsinstruktion ist in der Ich-Form formuliert und ist kein reiner Body-Scan nach
Kabat-Zinn. Sie können diesen oder einen ähnlichen Text auf Tonband sprechen und
anfangs zur Erleichterung der Wahrnehmung der verschiedenen Körperregionen und
Körpervorgänge einsetzen. Sprechen Sie den Text ganz langsam, wiederholen Sie einige
Ihnen besonders wichtig erscheinende Sätze und machen Sie zwischen den Sätzen eine
Pause von mehreren Sekunden, um die Konzentration zu vertiefen. Entwickeln Sie nach
einiger Zeit einen persönlichen Text, wenn die Entspannung rascher eintritt.

Ich liege da auf dem Rücken, meine Arme sind ausgestreckt neben meinem Körper. Ich nehme mir jetzt
eine halbe Stunde Zeit, um bewusst wahrzunehmen, wie ich mich körperlich fühle. Ich schließe meine
Augen und bemerke, wie sich mein körperliches Erleben verändert, wenn ich das Sehen und damit die
Umwelt ausschalte und mich ganz auf meine momentanen körperlichen Empfindungen einlasse. Was
empfinde ich gerade jetzt? Welche körperlichen Zustände nehme ich momentan wahr? Welche inneren
Bilder tauchen gerade auf? Ich wende mich meinem Körper zu und beobachte ihn ganz bewusst. Ich
registriere alles, was kommt, lasse alles zu und möchte nichts Besonderes erreichen. Ich bleibe ganz im
Hier und Jetzt, lebe von Augenblick zu Augenblick. Wenn ich mich vor dieser Übung etwas fürchte, ist
es okay. Ich möchte nichts als negativ bewerten und unterdrücken und auch nichts direkt anstreben,
weil beide Bemühungen nur meine Anspannung erhöhen und vom Erleben der unmittelbaren Gegen-
wart ablenken. Ich weiß, dass ich bisher meinen Körper oft ängstlich und kritisch beobachtet habe. Ich
neige dazu, alles, was ich erlebe, kritisch zu bewerten. Ich brauche aber auch dieses Beurteilen und
Interpretieren meiner körperlichen Empfindungen nicht zu unterdrücken. Ich mache mir bewusst, alles,
was geschieht, lediglich zu beobachten und zu registrieren, ohne es als negativ oder positiv zu bewerten
oder in irgendeiner Form darauf zu reagieren. Ich kann Anspannung genauso zulassen wie Angst oder
Schmerz. Ich lasse störende Gedanken vorbeiziehen wie die Wolken am Himmel und konzentriere mich
immer auf das, was gerade ist, was ich gerade spüre, und lasse mich überraschen, was kommen wird,
ohne Vorausahnungen anzustellen. Wenn ich unruhiger werde, bin ich eben unruhiger, wenn ich ent-
spannter bin, bin ich eben entspannter. Ich spüre mich, ohne etwas zu vermeiden oder anzustreben.
526 Selbsthilfe bei Angststörungen

Ich konzentriere mich jetzt auf meine Atmung, spüre den Rhythmus des Aus- und Einatmens und
lebe dadurch ganz im Augenblick, in der Gegenwart. Ich spüre, wie ich ganz von allein durch die Nase
einatme und wie der Atemstrom in die Lunge hineinfließt, dann in den Bauchraum hinunterströmt und
bis in das linke Bein, in den linken Fuß und in die Zehen des linken Fußes gelangt und durch in die
Umwelt austritt. Ich stelle mir vor, wie ich durch die Zehen des rechten Fußes einatme und der Atem-
strom durch das rechte Bein in den Körper herauf gelangt, in den Bauchraum und in die Lunge hinein-
fließt, bis hinauf zum Kopf weiterströmt und bei der Nase austritt. Ich lasse den warmen Atemstrom in
meinen Bauch- und Beckenraum fließen und beobachte meine Empfindungen im Unterleib. Ich spüre,
was mich gefühlsmäßig bewegt, in meinem Ober- und Unterbauch und lasse alles zu, was kommt. Ich
kann in jeden Körperteil hineinatmen, der angespannt ist oder der mich ängstigt, und alles zulassen, was
ich im momentan spüre. Wenn mich unangenehme Erinnerungen oder Befürchtungen überfallen, lasse
ich sie zu, ohne dagegen anzukämpfen oder schönere Vorstellungen produzieren zu wollen. Ich darf
mich fürchten, ärgern, traurig fühlen, egal ob es dafür einen Grund gibt oder nicht.
In der Veränderung meines Atmens nehme ich wahr, dass Veränderungen ein natürlicher Bestand-
teil des Lebens sind. Wenn ich mich ärgere oder ängstigende, wird mein Atem schnell, wenn ich mich
beruhe, wird mein Atem langsamer. Ich erlebe, wie meine Anspannung nachlässt, wenn ich langsam
und vollständig durch den leicht geschlossenen Mund ausatme, und wie sich mein Körper mit Sauer-
stoff und Energie auftankt, wenn ich tief durch die Nase einatme. Ich spüre, wie beim Ausatmen ein
angenehmes Gefühl der Entspannung und beim Einatmen ein natürliches Gefühl der Anspannung
entsteht. Wenn mich etwas ablenkt und ich es merke, komme ich immer wieder zurück auf meinen
Körper, konzentriere mich auf meine Atmung und erlebe das Auf und Ab der Bauchdecke als Ausdruck
meiner ruhigen Zwerchfellatmung. Ich spüre die Atmung wie eine Welle, die meinen Körper durchflu-
tet. Ich finde immer wieder meine Mitte, indem ich mich auf meinen Bauch konzentriere, wenn ich das
Gefühl habe, verloren zu gehen oder unruhig zu werden. Die Lebendigkeit der Atmung zeigt mir, dass
alles in Ordnung ist. Ich kann alles Unangenehme genau so registrieren wie alles Schöne, denn ich
finde Beruhigung durch den Rhythmus meiner Atmung.
In den Phasen, in denen ich ausatme, wird mein Körper immer schwerer, bedingt durch die nach-
lassende Muskelspannung. Ich kann jeden Teil meines Körpers spüren, der auf der Unterlage aufliegt,
und ich lasse mich beim Ausatmen buchstäblich immer mehr fallen, im Vertrauen auf den festen Halt
der Unterlage. Beim Ausatmen entspannen sich die Muskeln meiner Blutgefäße, sodass mehr Blut
hindurchfließen kann und mein Körper warm wird. Ich spüre die zunehmende Wärme und Entspannung
meines Körpers, aber auch jene Stellen, die vielleicht andere Empfindungen vermitteln. Je wärmer ich
mich fühle, umso mehr vertieft sich meine Entspannung. Ich spüre die Berührungswärme an den Stellen
meines Körpers, die auf der Unterlage aufliegen. Wenn ich mich jetzt in bestimmten Bereichen meines
Körpers unwohl fühle, nehme ich das wahr und lasse es zu, ohne irgendetwas ändern zu wollen. Ich
muss nichts erreichen, ich muss nichts vermeiden, ich bleibe ganz im Hier und Jetzt, in der Gegenwart,
im Moment, und lasse mich überraschen was kommt, ohne ständig voraus denken zu müssen.
Ich gehe in Gedanken meinen ganzen Körper durch und stelle mir alle Körperteile möglichst genau
und plastisch vor. Meine Aufmerksamkeit ist ganz auf die jeweilige Körperstelle gerichtet, sodass ich
die momentanen Empfindungen wahrnehmen kann. Ich brauche nichts zu ändern, sondern nur zu beo-
bachten, wie warm oder kühl, wie entspannt oder angespannt, wie wohlig oder unbehaglich ich die
verschiedenen Körperteile erlebe. Vom Fuß bis zum Kopf versuche ich in der Reihenfolge und in der
Art, wie es mir gerade gefällt, jeden Teil meines Körpers zu spüren und bewusst als Teil von mir zu
erleben. Das alles kann ich wahrnehmen: den rechten Fuß, den linken Fuß, die momentane Temperatur
und Empfindung in den Füßen, die Zehen, die Durchblutung bis in die Zehen hinein, die Fußsohlen, das
Aufliegen der Fersen, die momentane Anspannung oder Entspannung der Muskeln in den Unterschen-
keln, die Kniegelenke, die Oberschenkel und die dabei vorhandenen Empfindungen, das Übergehen der
Oberschenkel in den Körper, das Gesäß, das Becken, den Bauch mit seinen Organen, das Heben und
Senken der Bauchdecke im Rhythmus der Atmung, ein eventuelles Geräusch im Darm als Zeichen
zunehmender Entspannung, den Brustkorb, das momentane Schlagen des Herzens, den Schulterbereich,
die Ober- und Unterarme bis hinein in jedes einzelne Fingerglied, die Schwere der Arme beim Ausat-
men und die Berührung der Unterlage, das Aufliegen des Kopfes, die Empfindungen im Nacken, die
Temperatur in den Ohren und in der Haut des Gesichts, den Mund, die Zunge, die Kiefermuskulatur,
wie entspannt oder angespannt diese ist, die Temperatur in den Wangen, die Empfindungen in der Nase
bei der Ein- und Ausatmung, die geschlossenen Augenlider mit den Augen darunter, die Stirn mit den
momentanen Empfindungen. Wenn mein Kiefer angespannt ist, lasse ich beim Ausatmen los und spüre,
wie sich mein Gesicht entspannt.
Achtsamkeitstraining 527

Ich verweile überall dort, wo ich Anspannung oder Verkrampfung verspüre. Mit jedem Mal Aus-
atmen löst sich die Verspannung, und ich genieße die zunehmende Entspannung. Ich atme langsam und
vollständig aus und atme dabei alles hinweg, was mich belastet und schmerzt. Wenn Anspannung oder
Schmerzen an einer bestimmten Stelle zurückbleiben, während sich rundherum Entspannung breit
macht, stelle ich mir vor, wie der kühlende Ausatemstrom dorthin geht und lindernd wirkt. Es mag
mich eigenartig berühren, durch bestimmte Körperteile auszuatmen, ich stelle mir jetzt vor, durch
verspannte oder schmerzende Körperteile auszuatmen: durch die Zehen, durch die Finger, durch den
Unterleib, durch die Augen, durch die Stirn, durch die Schädeldecke, durch den Nacken.
Beim Ein- und Ausatmen erlebe ich die Lebendigkeit meiner Person, den Rhythmus des Auf und
Ab der Bauchdecke, bewirkt durch meine Zwerchfellatmung. Beim Einatmen durch die Nase spüre ich
die Mitte meines Körpers, wie sich meine Bauchdecke hebt. Beim Ausatmen erlebe ich, wie meine
Bauchdecke durch die Schwerkraft nach unten gezogen wird. So wie ich meine Atemmuskeln bei der
Sauerstoffaufnahme beobachten kann, kann ich auch meinen Herzmuskel bei der Arbeit wahrnehmen.
Ich spüre die Stelle in meiner Brust, wo sich mein Herz befindet, und konzentriere mich für einige Zeit
ganz auf mein Herz, wie es gerade schlägt. Ich kann es aushalten, wenn ich mich dabei vielleicht etwas
beunruhigt fühlen sollte. Ich weiß, dass nach einiger Zeit wieder Ruhe in meinen Körper einkehrt.
Ich stelle mir vor, wie mein Herz das Blut aus dem Körper ansaugt, sich kräftig zusammenzieht und
das warme Blut wieder in den Kreislauf auswirft. Der warme Blutstrom fließt durch die weit geöffneten
Arterien bis in die letzten Verästelungen, die Kapillargefäße, wo der vermehrte Blutfluss ein Kribbelge-
fühl bewirkt. Die vermehrte Durchblutung der feinen Blutgefäße der Haut bewirkt ein angenehmes
Wärmegefühl, ich kann aber auch spüren, an welchen Stellen meines Körpers die Wärme der Durchblu-
tung vielleicht weniger gut ist. Ich stelle mir vor, wie das Blut vom Herzen weg in alle Stellen meine
Körpers fließt und diesen mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt und wie das Kohlendioxid durch die
Venen zum Herzen zurück transportiert wird, von dort in die Lunge gepumpt und beim Ausatmen
ausgeschieden wird. Ich genieße die wohlige Wärme des Körpers. Wenn andere Empfindungen auftre-
ten, die ich eigentlich nicht will, lasse ich sie zu, denn ich muss auch im Laufe der Zeit nichts erreichen.
Wichtig ist nur zu spüren, wie der Blut- und Atemstrom meinen Körper durchfließen und mich lebend
und gesund erhalten.
Ich habe meinen Körper nun ausreichend beobachtet und gespürt und präge mir den angenehm ent-
spannten Zustand ein, sodass ich beim nächsten Mal nur daran zu denken brauche und leichter in diesen
Zustand gelange. Ich zähle jetzt im Rhythmus des Ausatmens langsam von 1 bis 10 und spüre, wie mit
jeder Zahl und jeder Ausatmung meine Entspannung immer tiefer wird, sodass ich beim nächsten Mal
auf diese Weise gleich zu Beginn in eine tiefere Entspannung als bisher gelangen kann. Bei 10 verge-
genwärtige ich mir noch zusätzlich durch ein Wort oder Bild den Zustand der Entspannung und genieße
es noch eine Weile, in diesem Zustand zu sein. Danach zähle ich langsam im Rhythmus des Einamtens
von 10 bis 1 und spüre, wie dadurch Energie und Kraft in meinen Körper gelangt.
Ich beende jetzt die Übung und spanne meine Gliedmaßen, die Hände und Füße, zwei- bis dreimal
kurz und fest an. Ich rekle und strecke mich, atme ein paar Mal kräftig durch und öffne die Augen. Ich
fühle mich frisch und erholt, ganz im Hier und Jetzt, gestärkt für die Aufgaben, die mich bald erwarten.

Die Botschaft der Achtsamkeitstherapie nach Jon Kabat-Zinn lautet: Menschen mit
Angststörungen kämpfen nicht zu wenig, sondern zu viel gegen ihre ängstlichen Be-
fürchtungen, unangenehmen Gefühle, körperlichen Verspannungen und negativen Erin-
nerungen. Die formale Achtsamkeitspraxis strebt auch nicht bewusst das Gegenteil
(Beruhigung und Entspannung) an, sondern lehrt die Betroffenen im Rahmen eines
achtwöchigen Kurses die Erfahrung, dass jede körperliche, emotionale und geistige
Befindlichkeit durch einfaches Gewahr-Werden und Zulassen bewältigbar ist – ohne
jede Anstrengung und ohne jeden Kampf, der die vorhandene Anspannung nur weiter
verstärkt. Die Konzentration auf die Atmung strebt keine bewusste Entspannung an,
sondern eine bessere Zentrierung und vertiefte Körperwahrnehmung. Das heilsame
Motto lautet gleichsam: „Kontrolle durch Nicht-Kontrolle“. Dies ist nur möglich durch
die Stärkung des Vertrauens in den eigenen Körper und in die eigenständige Handlungs-
fähigkeit ohne Sicherheitssignale und Vermeidungsstrategien, d.h. ohne Unterstützung
durch andere Menschen oder bestimmte Hilfsmittel wie Medikamente oder Handy.
528 Selbsthilfe bei Angststörungen

Akzeptanz- und Commitmenttraining


Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie von Hayes und Mitarbeitern wird durch das
allgemein verständliche, sehr empfehlenswerte, im Jahr 2008 erschienene Buch „Das
Leben annehmen. So hilft die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT)“ des Psycho-
logen Matthias Wengenroth erstmals im deutschen Sprachraum einem breiten Leser-
kreis bekannt gemacht. Diese neue Therapiemethode, die sich auf dem Boden der Ver-
haltenstherapie entwickelt hat, verwendet neben Akzeptanz- und Achtsamkeitsstrategien
auch Strategien des engagierten, wertegeleiteten Handelns (Commitment). Sie lernen
dabei, Ihre Flexibilität zu erhöhen, indem Sie sich in vollen Kontakt mit dem gegenwär-
tigen Moment begeben und je nach dem Erfordernis der aktuellen Situation Ihr Verhal-
ten ändern oder beharrlich beibehalten. Ihr Verhalten wird nicht mehr einseitig gesteuert
von Ihren Gefühlen, Stimmungen, Gedanken und körperlichen Zuständen, sondern von
jenen Werten, die Sie ausgewählt haben, um Ihrem Leben Sinn und Halt zu geben.
Wenn sich diese neue Richtung in der Verhaltenstherapie stärker durchsetzen sollte,
werden in Zukunft andere Aspekte im Vordergrund stehen als jene, die gegenwärtig im
Mittelpunkt der Behandlung stehen. Demnach müssen körperliche Anspannungen nicht
mehr „wegentspannt“ oder durch körperliche Aktivität abgebaut werden, um das Auf-
kommen einer Panikattacke zu verhindern, „dysfunktionale Denkmuster“ nicht mehr
„kognitiv umstrukturiert“ und weit überhöhte Erwartungswahrscheinlichkeiten bezüg-
lich Gefahr und Bedrohung nicht mehr logisch analysiert und verändert werden. Logi-
sche Analysen, rationale Erklärungen und neue Einsichten reichen oft nicht aus, um
therapeutische Veränderungen bewirken zu können. Sie werden angeleitet, im Rahmen
einer Konfrontationstherapie weniger eine Gewöhnung (Habituation) an unangenehme
Körpererfahrungen zu erwarten, die Ihre Angst erträglicher macht, sondern vielmehr
trotz Angst jene Ziele anzustreben, die Ihr Leben sinnvoll und befriedigend machen.
Ein alter Spruch lautet: „Gott, gib’ mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die
ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weis-
heit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie
möchte genau dazu verhelfen. Ein großer Teil seelischen Leidens entsteht durch die
mangelnde Bereitschaft, unerwünschte Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und körperli-
che Empfindungen zu erleben. Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie möchte nicht
Ihre Gedanken und Gefühle ändern, sondern Ihre Beziehung zu diesen subjektiven,
inneren Erlebnissen, indem Sie mehr Distanz dazu bekommen und sich nicht davon
diktieren lassen (Motto: „Das sind nur Gedanken und Gefühle, das ist nicht die Reali-
tät“). Sie werden in typisch verhaltenstherapeutischer Manier aktiviert, nach Ihren per-
sönlichen Zielen und Werten zu handeln. Sie können etwas tun, weil Ihnen eine Sache
wichtig ist, auch wenn Sie das gerade nicht freut, und Sie können Dinge unterlassen,
weil Sie sich entschlossen haben, etwas anderes zu tun, und nicht weil Sie keine Lust
dazu haben. Der kontraproduktive Umgang mit Ihren inneren Erlebnissen soll zugun-
sten einer Handlungsorientierung und neuer Erfahrungen unterbrochen werden.
Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie widerspricht radikal einem Grundsatz, der
in unserer Kultur und in vielen Psychotherapiemethoden als zentrales Credo gilt, näm-
lich dass man sich immer gut fühlen müsse, wenn man das Richtige tut. Es heißt, „gute“
Gefühle sollten vermehrt und „schlechte“ Gefühle überwunden werden, wenn man nicht
psychisch krank werden möchte. Angst, Wut und Traurigkeit müssen nach dieser Ideo-
logie aufgelöst und beseitigt werden, sonst stimmt mit der betreffenden Person angeb-
lich etwas nicht. Versuchen Sie ständig, Ihre Ängste durch Vermeiden zu vermindern?
Akzeptanz- und Commitmenttraining 529

Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie möchte zuerst einmal Ihr Vermeidungsver-


halten in Bezug auf Angst und Angstsituationen unterbrechen. Sie geht davon aus, dass
seelische Schmerzen ganz normal sind und zum Leben dazugehören. Aus Ihren Ängsten
wird erst dann ein Leiden im belastenden Sinn, wenn Sie damit nicht umgehen können,
indem Sie zu ständigem Vermeidungsverhalten neigen oder sonstige, auf Dauer nicht
wirksame Strategien einsetzen.
Überlegen Sie doch einmal, welche der folgenden Vermeidungsstrategien Ihr Leben
bisher in welchem Ausmaß bestimmt haben:
z Ablenkung. Wie häufig lenken Sie sich ab, wenn unangenehme Gefühle, Gedanken,
Erinnerungen und körperliche Zustände hochkommen und längere Zeit anhalten?
z Positives Denken. Wie häufig möchten Sie angesichts von Befürchtungen positiv
denken und auf diese Weise das Schlimmstmögliche in Gedanken nicht zulassen?
z Vermeidung von Angst machenden Gedanken und Erinnerungen. Wie häufig ver-
meiden oder unterdrücken Sie Angst machende Gedanken und innere Bilder?
z Rückversicherung vonseiten der Ärzte und der Angehörigen. Wie häufig fragen Sie
zu Ihrer Beruhigung Ärzte und Angehörige, wenn Sie unsicher und ängstlich sind?
z Vermeidung von Orten, Situationen, Personen und Objekten. Wie häufig weichen
Sie gefürchteten Situationen aus, weil Sie glauben, diese nicht aushalten zu können?
z Flucht aus Angst auslösenden Situationen. Wie häufig und entschieden ergreifen Sie
die Flucht in Situationen, in denen Angst, Unsicherheit und Unruhe aufkommen?
z Ständiges Grübeln und Sich-Sorgen. Wie häufig neigen Sie zum Grübeln und Sor-
gen-Machen, wenn Sie die Ungewissheit der Zukunft vor Augen haben?
z Unterdrückungsversuche von Angst durch Alkohol und Medikamente. Wie häufig
setzen Sie verschiedene Substanzen ein, um Ängste zu vermeiden oder zu mildern?
z Ergreifen von Sicherheitsmaßnahmen. Wie häufig greifen Sie bei Angst und Furcht
zu Sicherheitsstrategien (Handy, Medikamente, eine andere Person mitnehmen)?
z Einsatz von beruhigenden Ritualen. Wie häufig müssen Sie etwas kontrollieren,
waschen oder reinigen, wenn Sie Angst vor einem schuldhaften Verhalten haben?
z Ständige Suche nach den Ursachen der Ängste. Wie häufig fragen Sie nach dem
Woher und Warum Ihrer Ängste, anstatt wertegeleitet situationsbezogen zu handeln?

Faktoren wie Kontrolle, Rationalität, Planung, Vorbeugung gegenüber Gefahren und


das Bestreben, alles Ungewisse „im Griff“ haben zu wollen, machen den Erfolg unserer
westlichen Leistungsgesellschaft aus und tragen in vielfacher Weise auch positiv zu
unserer persönlichen Lebensentwicklung bei. Diese gegenüber der Außenwelt wirksa-
men Strategien versagen jedoch angesichts der Innenwelt unserer Gefühle, irrationalen
Ängste und ständig wiederkehrenden Erinnerungen und Befürchtungen. Wir sind stolz
darauf, äußere Gegebenheiten unter Kontrolle zu haben, und können es einfach nicht
ertragen, unser Inneres nicht in dieser Weise kontrollieren zu können. Wenn Menschen
mit belastenden Ängsten keine Kontrolle darüber haben, erwarten sie die anhaltende
Beseitigung ihrer Angst und Furcht vom Arzt mithilfe von Medikamenten und vom
Psychotherapeuten mithilfe rasch wirksamer „Psycho-Tricks“.
Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie wird auf Personen mit Angststörungen
vorerst einmal enttäuschend wirken, wenn es heißt, dass man Ängste erstens nicht kon-
trollieren kann und zweitens durch den Versuch der Kontrolle langfristig nur ver-
schlimmert. Die anfangs oft frustrierende, letztlich jedoch heilsame Botschaft lautet:
Man kann den Kampf gegen die Angst nicht gewinnen durch Kontrolle, sondern nur
durch Annehmen der Angst. Angst zeigt, dass man ein Mensch und keine Maschine ist.
530 Selbsthilfe bei Angststörungen

Es ist ganz normal, Angst zu haben. Es kommt darauf an, wie man damit umgeht.
Die sechs Behandlungsprinzipien der Akzeptanz- und Commitmenttherapie werden im
Folgenden in Form von Handlungsanleitungen dargestellt:
1. Akzeptanz und Bereitschaft: Akzeptieren Sie Ihre Ängste und lassen Sie sich bereit-
willig auf Angst machende Erfahrungen ein, ohne sie zu vermeiden. Versuchen Sie
nicht ständig, Ihre Ängste kontrollieren und beseitigen zu wollen. Wir vermeiden
und fliehen Angst machende Situationen nicht deshalb, weil wir Angst haben, son-
dern weil wir nicht bereit sind, unsere Angst zuzulassen und zu spüren – aus Angst,
die Kontrolle darüber zu verlieren. Wenn Ihnen etwas wichtig ist, dann tun Sie es –
mit Angst und trotz Angst! Lassen Sie Ihre Angstgefühle zu, ohne ständig dagegen
anzukämpfen, weil dies Ihre Anspannung nur verstärkt nach dem Motto: „Alles, was
man unterdrücken möchte, verharrt länger und stärker im Bewusstsein – und kostet
viel Energie.“ Diese Energie fehlt Ihnen dann bei der Umsetzung Ihrer Lebensziele.
Durch den Kampf gegen unangenehme Gefühle, schmerzliche Erinnerungen und
beunruhigende Zukunftsvorstellungen beschränken wir unser Leben auf die hartnäk-
kige Kontrolle der letztlich unkontrollierbaren Gefühle. Wir verlieren dabei alles aus
den Augen, was uns im Leben wichtig ist. Während wir ständig dabei sind, die
Angst als Beschränkung der Lebensmöglichkeiten beseitigen zu wollen, vergessen
wir darauf, ein befriedigenden Leben bereits zu Zeiten großer Angst zu beginnen.
Angstvermeidung ist Gefühls- und Erlebensvermeidung. Wer Angst machenden Si-
tuationen ausweicht, bringt sich um die Chance bereichernder Erfahrungen. Sind Sie
bereit, sich auf neue und unsichere Situationen einzulassen, weil Sie etwas ganz Be-
stimmtes erreichen und erleben möchten? Sobald Sie dazu bereit sind, ist Angst
nicht mehr das entscheidende Gefühl, das Ihr Erleben und Verhalten in verschiede-
nen Situationen bestimmt und Sie zu Vermeidung bzw. Flucht drängt. Hindert Sie
Ihr irreales Ziel, zuerst keine Angst mehr zu haben und dann alles tun zu wollen, bei
der Bewältigung derzeit Angst machender Situationen? Dann leben Sie nach dem
schädlichen Motto: „Man muss sich bei allem, das im Leben gut ist, auch immer gut
fühlen.“ Sie kennen diese Ratschläge: „Don’t worry, be happy“; „Sorge dich nicht,
lebe“; „denke positiv, sei gelassen und locker; sei selbstbewusst und glaub’ an dich;
sag’ dir, du brauchst keine Angst zu haben.“ Diese gut gemeinten Empfehlungen
machen Ihnen nur Stress und verstärken Ihr Gefühl der Unfähigkeit, wenn Sie ohne-
hin schon lange genug nach dem Motto „Reiß’ dich mehr zusammen“ gelebt haben.
Sie sind nicht willensschwach oder gar psychisch krank, weil Sie bestimmte Gefühle
wie Angst, Traurigkeit oder Ärger haben. Sie machen deswegen alles noch schlim-
mer, weil Sie immer wieder dieselben unwirksamen Problemlösungsversuche an-
wenden, nämlich Ihre Gefühle unter Kontrolle („in den Griff“) zu bekommen und
allen unangenehmen Empfindungen auszuweichen, anstatt diese durch Zulassen zu
verarbeiten. Gefühle wie Angst können Sie nicht durch logische Analysen und gro-
ßen Willenseinsatz „wegmachen“. Stellen Sie sich Angst machenden Situationen
nicht mit dem Bedürfnis nach Kontrolle der Angst, auch nicht mit der Einstellung,
dass nach einiger Zeit der Konfrontation ein Gewöhnungseffekt (Habituation) ein-
treten wird, sondern weil Ihnen ein bestimmtes Ziel sehr wichtig ist. Kämpfen Sie
nicht gegen die Angst, sondern für ein besseres Leben. Begrüßen Sie Ihre Angst und
treten Sie in einen Dialog mit der Angst, sagen Sie ihr: „Da bist du wieder, ich ken-
ne dich schon. Jetzt gehen wir ein Stück gemeinsam weiter, dorthin, wo ich hinge-
hen möchte. Du darfst mich begleiten wie mein Schatten, du darfst dabei sein, wenn
ich jetzt mehr vom Leben haben möchte.“
Akzeptanz- und Commitmenttraining 531

2. Entkoppelung von Gedanken und Realität (Defusion): Schaffen Sie einen Abstand zu
Ihren Gedanken und Gefühlen. Wir sind oft mit unseren Gedanken und Vorstellun-
gen verschmolzen (fusioniert) und fürchten uns dann vor dem, was wir uns denken
und vorstellen. Wenn wir keinen Abstand zu unseren Gedanken und Gefühlen ha-
ben, sondern diese für hundertprozentig richtig halten, bekommen unsere inneren
Erlebnisse große Macht über uns, sodass wir ständig ein Kontrollverlustgefühl ha-
ben. Unterscheiden Sie zwischen Ihren Gedanken und Gefühlen einerseits und der
Realität andererseits. Nehmen Sie Ihre Gedanken nicht so wörtlich, betrachten Sie
Ihre Gedanken, Gefühle und körperlichen Empfindungen als vorübergehend (als
kommend und gehend, wie eine Welle oder wie die Wolken am Himmel). Sagen Sie
sich: „Das sind nur meine momentanen Gedanken und Gefühle. Sie sind jetzt da und
werden vorübergehen. Ich habe momentan diese Gedanken über die Wirklichkeit,
aber meine Gedanken sind nicht die Realität.“ Sie sollten in bestimmten Situationen
auch gar nicht versuchen, „positiv“ zu denken oder Ihre „falschen“ (dysfunktiona-
len) Gedanken durch „richtige“ (angemessenere) zu ersetzen, wie dies in der kogni-
tiven Verhaltenstherapie im Sinne einer „kognitiven Umstrukturierung“ angestrebt
wird. Negative und unrealistische Gedanken an sich (z.B. „Jetzt muss ich sterben“,
„Gleich werde ich verrückt“, „Bald liege ich ohnmächtig da“, „Ich bin ein Versa-
gern“, „Alle werden mich ablehnen“, „Ohne meinen Partner kann ich nicht überle-
ben“) sind nicht wirklich das Problem; sie führen erst dann zur Beeinträchtigung un-
seres Lebens, wenn wir sie wörtlich nehmen, für die Wahrheit halten, und unser Le-
ben danach ausrichten. Wenn bestimmte Gedanken, Gefühle und Empfindungen zur
Belastung werden, geht es nicht darum, die jeweiligen Inhalte als falsch oder bewäl-
tigbar anzusehen, sondern zu den Gedanken als solchen eine innere Distanz, einen
Abstand, dazu zu schaffen nach dem Motto: „Ich bemerke, wie ich Angst bekomme
durch die Identifizierung und Verschmelzung mit meinen momentanen Gedanken
und Gefühlen. Doch das sind nur Gedanken, die nicht die Realität wiedergeben, das
sind nur Gefühle, die vorübergehen werden.“ Lassen Sie Ihre Gedanken und Gefüh-
le in bestimmten Situationen ebenso zu wie Ihre körperlichen Zustände, ohne dage-
gen anzukämpfen, denn diese sind nur momentan vorhanden und werden von allein
wieder verschwinden. Werden Sie zum distanzierten Beobachter Ihres inneren Erle-
bens, ohne sich davon überwältigen zu lassen. Bleiben Sie nicht in Ihren Gedanken,
Gefühlen und Empfindungen stecken, treten Sie vielmehr heraus und schauen Sie
sich diese aus einer gewissen Distanz wie ein interessierter Beobachter oder Wissen-
schafter an. Sagen Sie sich: „Ich habe jetzt einen bestimmten Gedanken, aber ich bin
nicht mein Gedanke, ich und mein Gedanke sind nicht eins. Ich denke, das ist jetzt
so, aber das ist nur mein momentaner Eindruck von der Realität.“ Sagen Sie sich in-
nerlich Ihre Gedanken ganz bewusst vor und schreiben Sie diese auch auf (z.B.
„Mein Partner wird mich verlassen“, „Ich glaube, dass mich dieses Herzrasen um-
bringen wird“, „Ich falle bei diesem Schwindel bewusstlos um“). Lassen Sie Ihre
Gedanken (z.B. an ein negatives Erlebnis oder an die nächste Panikattacke mit To-
desangst) zu, als wären Sie ein Zuschauer in einem Kino und lassen Sie diese Bilder
wie einen Film an Ihnen vorüberziehen, ohne sich damit zu identifizieren und ohne
sich in das Geschehen hineinzuversetzen. Beschreiben Sie auch Ihre momentan ge-
fürchteten Impulse (z.B. „Ich könnte sie/ihn anschreien oder würgen“) und machen
Sie die Erfahrung, dass Sie davon nicht überwältigt werden. Humor (über sich selbst
lachen können) ist ebenfalls eine hilfreiche Distanzierungstechnik (z.B. „Ich lasse
mich überraschen, woran ich bei der nächsten Panikattacke sterben werde“).
532 Selbsthilfe bei Angststörungen

3. Achtsamkeit (englisch „Mindfulness“): Leben Sie achtsam im Augenblick. Wir leben


gedanklich oft in der Vergangenheit oder in der Zukunft und viel zu wenig im Hier
und Jetzt, im gegenwärtigen Augenblick. Der Begriff der Achtsamkeit ist von der
buddhistischen Meditationspraxis geprägt und umfasst eine nicht-analysierende,
nicht-beurteilende, bewusst annehmende Haltung gegenüber den eigenen inneren
Reaktionen, die Lenkung der Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment und
das Nicht-Reagieren auf Gedanken und Gefühle (nichts erreichen und nichts be-
kämpfen wollen). Nehmen Sie Ihr ganzes Befinden (Gefühle, Gedanken, Vorstel-
lungen, Erinnerungen, Befürchtungen, Impulse und körperliche Empfindungen)
achtsam wahr, ohne dieses zu bewerten, und begrüßen Sie Ihre Gefühle, Gedanken,
Empfindungen und Vorstellungen (z.B. „Da bist du wieder, mein Herzrasen, mein
Schwindel, meine Furcht, meine Angst vor der Angst, mein Selbstzweifel, meine
Traurigkeit, mein Ärger, mein Schmerz“). Richten Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit
auf die Wahrnehmung des aktuellen Befindens: Wie ist gerade Ihre Atmung? Wel-
che Empfindungen haben Sie in den verschiedenen Körperregionen? Was sehen, hö-
ren, spüren, riechen, schmecken, denken Sie gerade in diesem Moment? Bemerken
Sie verschiedene Veränderungen Ihres Befindens von Augenblick zu Augenblick?
Verzichten Sie darauf, Ihr inneres Erleben in irgendeine Richtung beeinflussen und
einen unerwünschten Ist-Zustand in einen erstrebenswerten Soll-Zustand umwan-
deln zu wollen. Achtsamkeit will nichts Bestimmtes erreichen, nicht einmal Ent-
spannung (wenn innere Ruhe eintritt, ist dies genauso okay wie vermehrte Unruhe
als Folge der ungewohnten Selbstzuwendung). Führen Sie ein Tagebuch, in dem Sie
Ihre Gedanken, Gefühle und Empfindungen zu bestimmten Ereignissen und Um-
ständen in Form der wörtlichen Rede festhalten (z.B. „Ich befürchte eine Blamage
beim nächsten Auftritt“, „Ich habe Angst vor dem Gespräch mit meiner Partnerin
bzw. meinem Chef“, „Ich fühle mich meinem Mann ausgeliefert“, „Ich spüre den
Druck auf der Brust, das starke Klopfen meines Herzens, die Schmerzen in meinem
Nacken, das flaue Gefühl im Magen, die Enge im Hals, das Ziehen in meinen Bei-
nen“). Sie können Achtsamkeitsübungen auch in Bezug auf vergangene, gegenwär-
tige oder zukünftige Situationen durchführen, indem Sie eine Tabelle mit vier Spal-
ten verwenden. In der ersten Spalte beschreiben Sie die Situation bzw. das Ereignis
möglichst genau, in der zweiten Spalte führen Sie Ihre körperlichen Empfindungen
zu diesem Zeitpunkt an, in der dritten Spalte formulieren Sie Ihre Gedanken und Ge-
fühle in dieser Situation, in der vierten Spalte vermerken Sie Ihre Gedanken und
Empfindungen, die Sie gerade jetzt beim Aufschreiben haben. Achtsamkeitsübungen
im Alltag können sich auch drehen um achtsam essen und trinken, achtsam sich be-
wegen, achtsam Routinehandlungen ausführen, achtsam andere Menschen beobach-
ten. Für Menschen mit Angststörungen sehr hilfreich sind die Beobachtung der At-
mung (ohne Einflussnahme darauf) und die „Körperreise“ (Body-Scan), die im Lie-
gen oder Sitzen durchgeführt werden kann. Richten Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit
auf Ihren Körper, indem Sie der Reihe nach die verschiedenen Stellen und Bereiche
achtsam (ohne Bewertung und Vermeidung) wahrnehmen. Nehmen Sie bei jedem
Körperteil die einzelnen Stellen und die momentanen Empfindungen wahr: linker
Fuß (Zehen, Sohle, Ferse) – linkes Bein (Unter- und Oberschenkel) – rechter Fuß
(Zehen, Sohle, Ferse) – rechtes Bein (Unter- und Oberschenkel) – Becken und Ge-
säß – Rumpf (Bauch, unterer und oberer Rücken, Brust, Schultern) – Hände (Finger,
Innenflächen, Handrücken, Handgelenke) – Arme (Unter- und Oberarme, Ellenbo-
gen) – Schultern und Nacken – Hals – Kopf (Gesicht, Stirn, Hinterkopf, Mund u.a.).
Akzeptanz- und Commitmenttraining 533

4. Trennen Sie Ihr Selbst (als Kontext) von Ihren Gedanken und Erfahrungen (Inhalt).
Jeder Mensch stellt sich die Fragen: „Wer bin ich?“ und „Was halten die anderen
von mir?“ Das Bild, das wir von uns selbst haben, besteht aus einer Fülle von positi-
ven und negativen Aussagen, die wir im Laufe der Zeit aufgrund der Erfahrungen
mit uns selbst und mit der Umwelt gemacht haben. Vervollständigen Sie doch ein-
mal rasch und spontan folgende Sätze: „Ich bin …“, „Ich bin nicht der Typ, der …“,
„Ich habe schon immer …“, „Ich war noch nie …“, Ich war auch früher schon …“,
„Ich werde auch in Zukunft …“, „Es fällt mir schwer, …“, „Es ist wieder einmal ty-
pisch, dass ich …“, „Wenn mir alles zu viel wird, dann …“, „Wenn ich vor neuen
Situationen stehe, möchte ich am liebsten …“, „Wer mich näher kennt, der …“,
„Mir liegt …“, „Ich mag an mir …“, „Drei typische Merkmale von mir sind …“. Er-
stellen Sie eine Hitliste der zehn häufigsten negativen Selbstaussagen. Lassen Sie
diese dann wie auf einem Monitor an Ihnen vorbeiziehen und gehen Sie dazu auf
Distanz. Je mehr wir uns mit den Aussagen über uns selbst identifizieren und mit
diesen verschmelzen, desto rigider und unveränderlicher ist unser Selbstbild und
umso weniger sind wir offen für neue Sichtweisen, Erfahrungen und Verhaltenswei-
sen. Eine derartige Einstellung uns selbst gegenüber hält uns im Gefängnis unseres
momentanen Selbstkonzepts fest und schränkt unsere Lernmöglichkeiten erheblich
ein. Die Summe unserer Vorstellungen über uns selbst ist nicht endgültig festste-
hend, sondern ständig wechselnd je nach Sichtweise und Lernerfahrung. Neue Er-
fahrungen mit uns selbst und unserer Umwelt ermöglichen ein neues Selbstkonzept,
das weitere Verhaltensmöglichkeiten eröffnet. So wie wir uns von unserem momen-
tanen Befinden distanzieren können, ohne damit zu verschmelzen, können wir uns
auch von unserem aktuellen Selbstbild als der Summe der gegenwärtigen Aussagen
über uns selbst distanzieren. Wir sind mehr als das, was wir von uns halten. Wir sind
mehr als unser momentanes Selbstkonzept und gehören nicht auf Dauer in eine be-
stimmte Schublade oder Diagnosekategorie. Die Aussage „Ich bin ein ängstlicher
Typ“ legt unser weiteres Verhalten fest. Wir können auf Distanz zu unserem einen-
genden Selbst-Konzept gehen, indem wir uns aus einer Beobachter-Perspektive an-
schauen. Wir sind der Mensch, der Beobachter, der hinter den jeweiligen sich än-
dernden Befindlichkeiten und Selbstkonzepten steht, der sich durch seine Erfahrun-
gen in der Vergangenheit und in der Zukunft von dem abhebt, was im gegenwärti-
gen Moment als Bild der Persönlichkeit sichtbar wird. Es ist nicht notwendig, unsere
negativen und schädlichen Selbstaussagen durch positive und nützlichere zu erset-
zen, damit wir anders handeln können. Es reicht, auf Distanz zu unseren einengen-
den Selbstkonzepten zu gehen und unser bisheriges Selbstbild mit neuen Sichtwei-
sen zu verknüpfen – und zwar durch das Wort „und“. Die Feststellung: „Ich reagiere
in unbekannter Umgebung rasch mit Angst und möchte jetzt doch einmal neue Orte
und Situationen aufsuchen“ erweitert Ihren Handlungsspielraum. Die Sichtweise
„Ich bin ein schüchterner Mann und kann bei der nächsten Gelegenheit eine Frau
ansprechen“ ermutigt Sie zu einem neuen Verhalten, das Ihr momentanes Selbstbild
aufgrund der gemachten Erfahrungen verändern wird. Eine Flugangst lässt sich
möglicherweise durch folgende Aussage überwinden: „Ich bin nicht gerne abhängig
von fremden Menschen und unbekannter Technik und ich lasse mich trotzdem auf
einen Flug ein, weil ich gerne einmal mit meiner Familie in die Türkei fliegen
möchte.“ Ihr Bewegungsspielraum kann sich auch durch folgende Sichtweise erwei-
tern: „Hunde machen mir Angst und ich suche trotzdem Orte auf, wo ich bestimmt
Hunde antreffe, weil ich mit meinen Kindern überall hingehen möchte.“
534 Selbsthilfe bei Angststörungen

5. Entscheiden Sie sich für bestimmte Werte und daraus abgeleitete Richtungsziele im
Leben. Die Entscheidung für bestimmte Werte gibt unserem Leben die nötige Orien-
tierung und ermöglicht uns aufgrund der damit verbundenen Handlungsrichtlinien
Einflussnahme und Kontrolle. Unsere Gedanken, Gefühle und körperlichen Empfin-
dungen haben wir dagegen oft nicht unter Kontrolle. Unser Verhalten ausschließlich
nach unserem Befinden steuern zu wollen, würde zu einer erheblichen Erschränkung
unserer Handlungsmöglichkeiten führen. Wenn Gedanken (z.B. die Überzeugung,
körperlich nicht attraktiv zu sein oder etwas nicht zu schaffen), Gefühle (z.B. Angst,
Ekel oder Lustlosigkeit) und körperliche Zustände (z.B. Schwindel, Übelkeit oder
Schmerzen) die entscheidenden Ursachen für unser Handeln wären, würden wir bald
ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten und resignative Tendenzen entwickeln.
Werte als Aussagen darüber, was unser Leben sinnvoll und lebenswert macht, er-
möglichen die Ausrichtung unseres Verhaltens an den daraus abgeleiteten kurz-,
mittel- und langfristigen Lebenszielen, unabhängig von unserem aktuellen Befinden.
Es mag sein, dass wir unsere Ziele oft nicht oder nicht ausreichend erreichen, den-
noch bleiben Werte als allgemeine Vorstellungen über die Gestaltung unseres Le-
bens weiterhin bestehen. Ein befriedigendes Leben erfordert mehr als die Beseiti-
gung oder Linderung von Angststörungen, Depressionen, Schmerzen oder körperli-
chen Beschwerden. Oft können wir weder unerwünschte Zustände wie Angst, Trau-
rigkeit oder Lustlosigkeit rasch und anhaltend überwinden noch angenehme Zustän-
de wie Glück, Zufriedenheit oder Freude herbeiführen. Durch die Orientierung an
unseren Werten und den daraus resultierenden Zielen können wir jedoch mehr Sinn
in unser Leben bringen. Ein gutes Leben in Einklang mit unseren Werten, mit dem,
was uns „lieb und teuer“ ist, ist auch dann möglich, wenn wir mit unserer körperli-
chen, seelischen und sozialen Befindlichkeit nicht zufrieden sind. Definieren Sie
sich nicht einseitig nach Ihrem aktuellen Befinden (Denken, Gefühle, Empfindun-
gen), sondern vielmehr nach dem, was Sie wichtig und wertvoll finden. Was sind Ih-
re zentralen Werte, Ihre kurz-, mittel- und langfristigen Lebensziele? Was motiviert
Sie trotz Angst, Schmerzen, Lust- und Antriebslosigkeit? Welche Werte sind Ihnen
so hoch und heilig, welche Ziele so attraktiv, dass Sie auch mit und trotz Angst und
Furcht bemüht sind, entsprechend Ihren Wert- und Zielvorstellungen zu handeln?
Sind Sie derzeit bereit, Ihre wertebasierten Ziele auch mit größerer Angst und unan-
genehmen körperlichen Zuständen zu realisieren? Was könnten Sie schon jetzt und
nicht erst nach Überwindung Ihrer Ängste und sonstigen Beschwerden in Angriff
nehmen? Treffen Sie die Entscheidung, welche Schritte zu einem besseren Leben
Sie wann ganz konkret unternehmen möchten.
6. Handeln Sie engagiert entsprechend Ihren Wert- und Zielvorstellungen. Nehmen Sie
sich das Versprechen ab und treffen Sie eine innere Festlegung (englisch „Commit-
ment“) bezüglich der konsequenten Umsetzung Ihrer wertegestützten Ziele. Wenn
die bisherigen Werte ihre Bedeutung verlieren, entscheiden Sie sich für neue Werte
und lohnenswertere Ziele. Ängste lassen sich leichter überwinden, wenn die Ziele
attraktiv genug sind. Es geht nicht einfach darum, weniger Angst zu haben, sondern
mehr Motivation und Einsatz für das, was Ihnen wichtig ist. Konfrontieren Sie sich
ohne Sicherheitsstrategien (Handy, Medikamente u.a.) und ohne Vermeidungsver-
halten mit allem, was Ihnen Angst macht, um besser damit umgehen zu lernen. Be-
herzigen Sie den Spruch „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ (Erich Kästner)
und den Ratschlag „Es ist nicht genug zu wissen, man muss es auch anwenden; es ist
nicht genug zu wollen, man muss es auch tun“ (Johann Wolfgang von Goethe).
Akzeptanz- und Commitmenttraining 535

Nach dem Akzeptanz- und Commitmentkonzept ergeben sich zusammenfassend gese-


hen folgende Ratschläge im Umgang mit verschiedenen Angststörungen:
z Jede Angst und Befürchtung lebt von „Was wäre, wenn …“-Gedanken. Was wäre,
wenn ich an der nächsten Panikattacke doch sterbe, vor Schwindel im Supermarkt
umfalle, im Flugzeug abstürze, von einem Hund gebissen werde, meinen Partner
verliere, von anderen Menschen abgelehnt werde, von der Firma gekündigt werde?
Lassen Sie diese Gedanken und Vorstellungen zu, ohne sie mit der Realität gleich-
zusetzen, weil Sie sonst Ihren Körper ständig im Sinne einer Kampf-Flucht-Reaktion
aktivieren und mangels Entwarnung angespannt bleiben. Vergegenwärtigen Sie sich,
dass es sich dabei um Ihre inneren Bilder und nicht um die äußere Realität handelt.
z Akzeptieren Sie alle Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, Befürchtungen, Im-
pulse, Gefühle und körperlichen Empfindungen während einer Panikattacke, in einer
agoraphobischen oder sozialphobischen Situation, im Rahmen einer spezifischen
Phobie, einer generalisierten Angststörung, einer Zwangsstörung oder einer post-
traumatischen Belastungsstörung. Es kostet viel Energie, ständig damit beschäftigt
zu sein, unangenehme innere Zustände oder subjektiv bedrohliche äußere Umstände
vermeiden, fliehen oder vermindern zu wollen, andauernd sich ablenken zu müssen,
negative Gedanken durch positive Bilder zu ersetzen, mithilfe bestimmter Strategien
(Atem-/Entspannungstechniken, Bewegung, Bedarfsmedikation) belastende Zustän-
de „wegmachen“ zu müssen. Treten Sie in eine beobachtende, nicht-wertende Di-
stanz zu Ihren Gedanken, Gefühlen und Empfindungen und lassen Sie in achtsamer
Weise alles zu, was in Ihrem Geist und mit Ihrem Körper passiert. Ihre innere Be-
findlichkeit ohne Bewertung und ohne bewusste Veränderungsabsicht zu akzeptie-
ren stellt keine Resignation dar, sondern ermöglicht Ihnen die Konzentration auf je-
ne Werte und Lebensziele, deren Realisierung erst ein besseres Leben ausmachen.
z Verwenden Sie regelmäßig Strategien wie die reale Konfrontation mit gefürchteten
Situationen bzw. Objekten und die mentale Konfrontation mit inneren Zuständen
(negativen Erinnerungen, Katastrophenfantasien) ohne jede Form der Ablenkung
oder Vermeidung, jedoch nicht mit dem Ziel, dass dadurch eine Panikattacke, ein
subjektives Bedrohungsszenario, ein phobisches Objekt, ein Zwangsgedanke oder
die Erinnerung an ein traumatisches Erlebnis im Laufe der Zeit mehr oder weniger
gleichgültig werden, sodass eine Gewöhnung (Habituation) eintritt, wie dies in der
klassischen Verhaltenstherapie angestrebt wird. Jedes Bemühen, etwas kontrollieren
zu wollen, das letztlich unkontrollierbar ist, wie dies bei Gedanken, Gefühlen, Vor-
stellungen, Erinnerungen und körperlichen Empfindungen der Fall ist, erzeugt wie-
derum Stress. Kämpfen Sie nicht gegen Ihre innere Befindlichkeit, sondern verge-
genwärtigen Sie sich Ihre Ziele, deretwegen es sich lohnt, Angst machende Situatio-
nen aufzusuchen. Lassen Sie sich auf bestimmte Situationen nicht deswegen ein,
weil Sie hoffen, dass nach einiger Zeit der körperlichen und emotionalen Erregung
eine Gewöhnung einsetzt, sondern weil Ihnen bestimmte Lebensziele so wichtig
sind, dass Sie diese auch unabhängig von Ihrer Befindlichkeit anstreben sollten. Es
geht nicht darum, sich zuerst besser zu fühlen, um danach ein besseres Leben anfan-
gen zu können, sondern darum, ein besseres Leben schon jetzt zu beginnen, obwohl
Sie sich körperlich und emotional öfter unwohl fühlen. Zustände wie belastende
Angst und unangenehme Körpersensationen sind tolerierbare Hürden, wenn Ihnen
ein Ziel sehr wichtig ist. Kennen Sie Beispiele aus Ihrem Leben, wo Sie plötzlich
Dinge umsetzen konnten, obwohl Sie vorher Angst davor hatten? Was glauben Sie,
hat Ihnen in diesen Situationen geholfen, Ihre Ängste zu überwinden?
536 Selbsthilfe bei Angststörungen

Angstbewältigungstraining

Systematische Desensibilisierung
Bei Experten gilt das ursprüngliche Modell der systematischen Desensibilisierung, d.h.
die Angstbewältigung in der Vorstellung unter Angst dämpfender Entspannung, als
überholte, weil zu langsame und nur unzureichend wirksame Strategie, verglichen mit
den Methoden der Konfrontationstherapie. Es handelt sich um eine Vorgangsweise nach
dem Motto „Wasch’ mich, aber mach’ mich nicht nass!“
Wenn Sie gute Gründe haben, warum Sie unbedingt die Technik der systematischen
Desensibilisierung einsetzen möchten, die früher als die Methode der Angstbewältigung
in der Verhaltenstherapie galt, können Ihnen vielleicht folgende Ratschläge helfen:
1. Erstellen Sie in Zusammenhang mit Ihrer Phobie (z.B. Hundephobie, Flugphobie,
Sexualphobie, Sozialphobie) eine Liste von ganz konkreten Situationen rund um das
phobische Objekt oder Ereignis. Die Angstsituationen müssen so klar und präzise
sein, dass sie ähnlich beobachtbar sind wie eine vorgestellte Filmszene.
2. Erstellen Sie eine Angsthierarchie, d.h. reihen Sie diese Situationen nach dem Aus-
maß des angenommenen Angsterlebens, indem Sie Punktewerte von 0-100 als sub-
jektive Belastungswerte vergeben. Eine Angsthierarchie sollte mindestens 10 Situa-
tionen umfassen, und zwar möglichst für jede Zehnerstufe eine Vorstellungsübung.
3. Entspannen Sie sich mit Hilfe einer Methode, die Sie gut beherrschen (autogenes
Training, progressive Muskelentspannung, Atemtechniken, Meditation, Selbsthyp-
nose) und beschleunigen Sie die Entspannung durch ein bestimmtes Ruhebild (z.B.
angenehme Urlaubsszene, warme Badewanne, aufbauendes Erfolgserlebnis).
4. Stellen Sie sich unter Entspannungsbedingungen die leichteste Situation in Bezug
auf das phobische Objekt oder Ereignis möglichst plastisch vor, und zwar minde-
stens 30 Sekunden lang. Lassen Sie die Situation zuerst als Betrachter von außen auf
sich wirken (wie bei einem Videofilm) und versetzen Sie sich dann in die Szene, wie
wenn Sie das Ereignis gerade real erleben würden, indem Sie eine Vergegenwärti-
gung auf allen Sinneskanälen anstreben. Entspannen Sie sich verstärkt und kehren
Sie zu Ihrem angenehmen Ruhebild zurück. Setzen Sie sich dann derselben Vorstel-
lung noch zweimal aus, sodass Sie ein sicheres Bewältigungserlebnis haben.
5. Wenn Sie sich eine Situation angstfrei bzw. bei erträglicher Angst vorstellen kön-
nen, gehen Sie zur nächsten Situation in Ihrer Angsthierarchie weiter, bis Sie die
schwierigsten Situationen zumindest in der Vorstellung aushalten können.
6. Bei aufkommender Angst konzentrieren Sie sich auf die langsame Ausatmung. So-
lange Sie ausatmen, können Sie sich nicht reflexhaft anspannen. Wenn die Angst
dennoch zu groß wird, lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit von der Angstsituation ver-
stärkt auf das Ruhebild, um die Entspannung sicherzustellen. Von der Ruheszene
aus wenden Sie sich dann anfangs der zuletzt bewältigten Vorstellung zu, bevor Sie
die schwierigere Situation erneut angehen.
7. Die Übung sollte maximal 30 Minuten dauern, um Überforderungen zu vermeiden.
8. Aufgrund der Übungen kann eine Umstellung der Angsthierarchie erforderlich sein,
weil einige Situationen leichter oder schwieriger sind als angenommen.
9. Wenn Sie die leichteren Angstsituationen in der Vorstellung gut ertragen können,
sollten Sie diese Situationen in der Realität aushalten lernen nach dem Modell der
gestuften Angstbewältigung. Auch hier können Sie durch Entspannungstechniken
die jeweiligen Situationen erträglicher gestalten.
Angstbewältigungstraining 537

Konfrontationstherapie

Grundregeln der Angstbewältigung bei Agoraphobie


Stellen Sie sich allen Angstsituationen, ohne auszuweichen! Wenn Sie Angst machen-
den Situationen ausweichen, wird Ihre Angst für die Zukunft fixiert, Ihr Selbstvertrauen
reduziert, Ihr Bewegungsspielraum eingeengt und Ihre Abhängigkeit von anderen Men-
schen bzw. von Medikamenten verstärkt. Verzichten Sie auf das irreale Ziel eines angst-
freien Lebens und nehmen Sie sich vor, alles trotz Ihrer Ängste anzugehen, was Ihnen
wichtig erscheint. Es ist verständlich, dass Sie nach Ihren Gefühlen handeln wollen. Bei
Angstzuständen werden Sie dadurch jedoch ebenso zum Sklaven Ihrer momentanen
Gefühle wie bei Depressionen, die gerade darin bestehen, dass Sie sich aus Lustlosigkeit
zu nichts aufraffen können, was Sie früher im Leben gerne getan haben. Bei der verhal-
tenstherapeutisch orientierten Depressionsbehandlung lautet das Motto: Aktivität ver-
bessert die Stimmung. Dasselbe gilt bei der Behandlung der Agoraphobie. Die Betroffe-
nen können nach den Grundprinzipien der Konfrontationstherapie allein vorgehen.
Das Agoraphobie-Selbsthilfebuch „Platzangst“, von Mathews, Gelder und Johnston
[15] in London erstellt und von Hand und Fisser-Wilke in Hamburg übersetzt und als
erfolgreich überprüft, enthält 10 Regeln zur Bewältigung von Angst und Panik:

1. Denken Sie immer daran, daß Ihre Angstgefühle und die dabei auftretenden körperlichen Sym-
ptome nichts anderes sind als eine „Übersteigerung“ der normalen Körperreaktion in einer Streß-
situation.
2. Solche Gefühle und Körperreaktionen sind zwar sehr unangenehm, aber weder gefährlich, noch in
irgendeiner Weise schädlich. Nichts Schlimmes wird geschehen!
3. Steigern Sie sich in Angstsituationen nicht selbst durch Gedanken wie: „Was wird geschehen“
und „Wohin kann das führen“ in noch größere Ängste hinein.
4. Konzentrieren Sie sich nur auf das, was um Sie herum und mit Ihrem Körper wirklich geschieht –
nicht auf das, was in Ihrer Vorstellung noch alles geschehen könnte.
5. Warten Sie ab und geben Sie der Angst Zeit, vorüberzugehen. Bekämpfen Sie Ihre Angst nicht!
Laufen Sie nicht davon! Akzeptieren Sie die Angst.
6. Beobachten Sie, wie die Angst von selbst wieder abnimmt, wenn Sie aufhören, sich in Ihre Ge-
danken (Angst vor der Angst) weiter hineinzusteigern.
7. Denken Sie daran, daß es beim Üben nur darauf ankommt zu lernen, mit der Angst umzugehen –
nicht, sie zu vermeiden. Nur so geben Sie sich selbst eine Chance, Fortschritte zu machen.
8. Halten Sie sich innere Ziele vor Augen, welche Fortschritte Sie schon – trotz aller Schwierigkei-
ten – gemacht haben. Denken Sie daran, wie zufrieden Sie sein werden, wenn Sie auch dieses Mal
Erfolg haben.
9. Wenn Sie sich besser fühlen, schauen Sie sich um und planen Sie den nächsten Schritt.
10. Wenn Sie sich in der Lage fühlen weiterzumachen, dann versuchen Sie, ruhig und gelassen in die
nächste Übung zu gehen.

Die Autoren [16] empfehlen folgende Selbstinstruktionen in Angstsituationen:

1. Meine Angstgefühle und die dabei auftretenden körperlichen Symptome sind verstärkte normale
Streßreaktionen.
2. Ich bin und bleibe körperlich gesund trotz der Angstreaktionen.
3. Ich schwäche meine Angstreaktionen, wenn ich an etwas anderes denke.
4. Ich bleibe trotz Panikgefühlen in der Realität. Ich beobachte und beschreibe, was ich momentan
wirklich erlebe.
5. Ich warte in der Situation, bis die Angst vorübergeht.
6. Ich beobachte, wann und wie die Angst von alleine wieder abnimmt.
538 Selbsthilfe bei Angststörungen

7. Ich gebe mir eine Chance, einen Fortschritt zu machen und stelle mich jeder Angstsituation ohne
Vermeidung.
8. Ich führe jede Übung bis zum Abschluß durch.
9. Ich kann stolz sein auf meine bisherigen Bemühungen und Erfolge, auch die kleinsten.
10. Ich nehme mir Zeit für die Übungen.

Die verhaltenstherapeutisch orientierte Angstbehandlung beruht auf einem einfachen


Grundsatz: Angstbewältigung kann nur erfolgen über ein intensives Erleben und Aus-
halten-Lernen von Angst. „Das Wesentliche im Umgang mit der Angst besteht darin,
mit ihr mitzugehen, bis der Sturm vorüber ist“ (Marks [17]).
Eine Panikattacke ist vergleichbar einer Meereswelle, die einen überflutet. Es ist
besser, mit der Welle mitzuschwimmen, als gegen sie anzuschwimmen. Wenn Sie Ihre
Angst unterdrücken oder stoppen wollen, anstatt sie zu akzeptieren und anzunehmen,
bleiben Sie unnötig lange angespannt. Der ständige Kampf gegen die Angst kostet sehr
viel Kraft und führt zu chronischer Erschöpfung. Lassen Sie Ihre Angst daher zu wie
Ihre Tränen in Phasen der Trauer.
Wenn Ihre Angst bei einer Konfrontationstherapie nach spätestens einer halben
Stunde nicht abklingt, ist dies oft dadurch bedingt, dass Sie gegen das Auftreten einer
Panikattacke ständig aktiv ankämpfen. Eine Konfrontationstherapie ist dann am wirk-
samsten, wenn Sie bewusst gerade jene Situationen aufsuchen, die zu einer Panikattacke
führen können. Ihr unerschrockenes Verhalten wird Ihnen zeigen, dass es gar nicht so
leicht ist, eine Panikattacke zu provozieren, wenn Sie bereit sind, diese voll zuzulassen.
Verzichten Sie in Angstsituationen von sich aus auf jede Fluchtmöglichkeit und be-
stärken Sie sich darin immer wieder („Ich halte durch, was auch immer passiert!“), denn
jeder Fluchtgedanke („Nichts wie weg!“) führt zu einer körperlichen Aktivierung.
Sie erleben in allen Angstsituationen letztlich die Angst vor den eigenen unkontrol-
lierbaren Körperreaktionen, die Sie aushalten lernen. Je mehr Sie sich in Angst machen-
den Situationen auf sich selbst verlassen und auf niemanden sonst (keinen Angehörigen
oder anderen Helfer) und auch auf nichts anderes (kein Medikament oder anderes Hilfs-
mittel), umso schneller werden Ihre Ängste durch mehr Selbstvertrauen nachlassen.
Lassen Sie sich am besten täglich auf eine Konfrontation mit der Angst ein, indem
Sie sich in angstbesetzte Situationen begeben und so lange darin bleiben, bis Ihre Angst
sinkt oder überhaupt verschwindet. Ihre anfängliche Angst bewirkt zuerst durch eine
Adrenalinausschüttung eine Alarmreaktion Ihres Körpers, die nach 3-5 Minuten nach-
lässt, weil Sie sich an die Situation gewöhnt haben. Die weiteren Zustände Ihres Kör-
pers sind leichter erträglich, wenn Sie nur die ersten fünf Minuten durchgehalten haben.
Verlassen Sie die Situation erst dann, wenn keine Angstreaktion Sie dazu treibt.
Dieses Vorgehen stärkt rasch Ihr Selbstvertrauen. Bedenken Sie: Es ist nicht das Ziel,
keine Angst mehr zu haben, sondern jede Angst besser aushalten zu lernen.
Die Konfrontation mit der Angst kann auf zweifache Weise erfolgen:
1. Gestufte Reizkonfrontation: In kleinen Schritten werden immer schwierigere Aufga-
ben bewältigt, sodass das Selbstvertrauen langsam wachsen kann.
2. Massierte Reizkonfrontation (Reizüberflutung): Es werden von Beginn an die größ-
ten Ängste provoziert, erlebt und ausgehalten, um Erwartungsängste zu verhindern.

Die gestufte und die massierte Reizkonfrontation mit „Reaktionsverhinderung“ (Aus-


harren in den Angst machenden Situationen ohne Flucht und Erleben der jeweiligen
Angstreaktionen ohne Unterstützung durch Entspannungstechniken oder Medikamente)
führen zu einer raschen und dauerhaften Beseitigung der lebenseinengenden Ängste.
Angstbewältigungstraining 539

Agoraphobie-Patienten mit Panikstörung sollten zu einer Kontrollverlusterfahrung


im Sinne einer Panikattacke bereit sein, um besser mit ihrer Angst vor einer neuerlichen
Panikattacke umgehen zu lernen. Die Angst vor einer Panikattacke ist meistens der
Grund der Entscheidung für eine gestufte Angstbewältigung.
Ich gebe meinen Panikpatienten mit Agoraphobie folgende Informationen:
„Wenn Sie zu jenen Menschen gehören, die früher sehr selbstbewusst und ohne Zögern
überall hingehen und hinfahren konnten und auch keinerlei Angst vor dem Alleinsein
hatten, haben Sie Ihren Aktionsradius ziemlich sicher als Reaktion auf eine Panikattacke
eingeschränkt. Sie fürchten nicht wirklich weite Plätze, enge Räume, Verkehrsmittel auf
der Erde, unter der Erde oder in der Luft, große Entfernungen von zu Hause, Alleinsein
zu Hause, Menschenmassen, die Abwesenheit von Vertrauenspersonen usw., sondern
Sie fürchten, dass in diesen Situationen Ihr Körper verrückt spielen könnte und Sie ihn
nicht in den Griff bekommen, sodass Sie sich aus Angst vor Ihrem Körper (Angst vor
einer Panikattacke) und Ihrem Geist (Angst vor dem „Durchdrehen“) auf die Anwesen-
heit bestimmter Sicherheit gebender Personen (z.B. Partner) oder Mittel (z.B. Tabletten
oder Handy) verlassen. Ein gestuftes Angstbewältigungstraining stellt für Sie keine
wirklich neue Erfahrung dar, denn die dazu nötigen Fähigkeiten haben Sie früher schon
oft genug gezeigt. Verhalten Sie sich wie vor der ersten Panikattacke, denn es kann
Ihnen nichts passieren. Wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, wissen Sie, dass Sie zu-
erst lernen müssen, mit Ihrem Körper umzugehen, dann werden Sie auch mit den jewei-
ligen Situationen zurechtkommen, denn Sie fürchten sich nur vor sich selbst. Wenn Sie
vor sich selbst keine Angst mehr haben, wird Ihre Agoraphobie bald verschwinden.“

Gestufte Reizkonfrontation
Es erfolgt ein schrittweises Vorgehen von leichteren zu schwierigeren Situationen, um
langsam Selbstvertrauen aufzubauen. Spontan wird dieses Vorgehen von den meisten
Betroffenen gewünscht, auch wenn sie oft nur langsam vorankommen und den nächst-
schwierigeren Aufgabenstellungen vielleicht mit Erwartungsängsten entgegenblicken.

Erstellung von Angsthierarchien


Erstellen Sie eine Liste Ihrer Ängste und reihen Sie diese nach dem Grad ihrer Bedroh-
lichkeit (Bewertung von 0-100). Nach der Erstellung einer Angsthierarchie werden die
Ängste nach steigendem Schwierigkeitsgrad zu bewältigen versucht.
Man unterscheidet zwei Arten von Angsthierarchien (Auflistung der Ängste nach
dem Schwierigkeitsgrad):
1. Annäherungshierarchien. Das Angstausmaß wird durch das Ausmaß der zeitlichen
oder räumlichen Nähe zu bestimmten Dingen oder Situationen bestimmt. Die Angst
steigt, je näher man einem gefürchteten Reiz kommt, und sinkt, je größer der Ab-
stand ist.
2. Objekthierarchien. Die Ängste werden als unterschiedliches Ausmaß an Ängsten
vor bestimmten Gegenständen, Lebewesen oder Situationen bestimmt. Vor be-
stimmten Objekten besteht eine größere Angst als vor anderen. Objekthierarchien
sind sinnvoll, um die unterschiedlichen Angstsituationen nach dem Ausmaß ihrer
Bedrohlichkeit darzustellen.
540 Selbsthilfe bei Angststörungen

Grundprinzipien der gestuften Reizkonfrontation


Eine gestufte Reizkonfrontation ist dann sinnvoll, wenn Sie trotz der beruhigenden und
entängstigenden Informationen in diesem Buch eine massierte Konfrontation allein
nicht wagen. Bei gestufter Reizkonfrontation sind folgende Punkte zu beachten [18]:
1. Legen Sie klare und konkrete Übungsziele auf einer Liste fest und reihen Sie diese
der Schwierigkeit nach. Die Beschreibungen müssen so exakt sein, dass bei den ver-
schiedenen Übungen Missverständnisse ausgeschlossen sind.
2. Gehen Sie schrittweise vor, indem Sie mit den leichtesten Übungen beginnen. Auf
diese Weise sichern Sie sich Erfolgserlebnisse, die Ihnen Mut und Zuversicht zum
weiteren Üben geben. Ein gewisses Ausmaß an Angst ist notwendig, um Angst ma-
chende Situationen bewältigen zu lernen. Keine Angstbewältigung ohne Angst!
3. Wiederholen Sie die einzelnen Übungen regelmäßig mit ansteigender Schwierigkeit,
um Ihre Erfolge zu sichern und auszubauen. Wiederholen Sie die einzelnen Übun-
gen zur Stärkung Ihres Selbstvertrauens bis zu dreimal täglich und steigern Sie den
Schwierigkeitsgrad. Rechnen Sie damit, dass Sie gute und schlechte Tage haben und
Ihnen die Übungen einmal leichter und einmal schwerer fallen werden.
4. Üben Sie in den nächsten Wochen so oft als möglich täglich mindestens 2-5 Stunden
lang. Regelmäßiges Üben schafft rasch neue Gewohnheiten, während gelegentliches
Üben stets neue Aufregung verursacht. Je öfter Sie etwas tun, umso selbstverständli-
cher wird es. Das ist das Wesen von Gewohnheitsverhalten.
5. Machen Sie „Zwischenübungen“ als Brücken zu schwierigeren Übungszielen. Wenn
Sie einmal keine Fortschritte machen sollten, weil die Ziele zu hoch waren, wählen
Sie Zwischenziele, um doch Erfolgserlebnisse zu haben.
6. Lassen Sie alle Angstsymptome zu, ohne dagegen anzukämpfen. So vermeiden Sie
einen Anstieg der körperlichen und geistigen Anspannung. Beschreiben Sie Ihren
inneren Zustand („Mein Herz rast, mir wird schwindlig, meine Brust wird eng“).
7. Wenn Sie aus Angst eine Situation verlassen haben, führen Sie dieselbe Übung noch
am gleichen Tag erfolgreich durch. Auf diese Weise überwinden Sie Misserfolge.
8. Bei übermäßiger Angst entfernen Sie sich nur ein kleines Stück vom angstbesetzten
Ort. Vermeiden Sie Flucht – und wenn, dann kehren Sie wieder in die Situation zu-
rück, sobald Sie sich erholt haben. Ermutigen Sie sich durch aufmunternde Selbstge-
spräche („Ich schaffe es“, „Nach einer kleinen Erholungspause mache ich weiter“).
9. Verlassen Sie die Angst auslösende Situation erst dann, wenn Ihre Angst auf ein
erträgliches Ausmaß gesunken ist. Verwenden Sie eine Angstskala von 0 (keine
Angst) bis 10 (unerträgliche Angst) als „Angstthermometer“. Es ist kein Ziel, keine
Angst mehr zu haben, sondern aufkommende Angst zu ertragen (z.B. Stufe 3-4).
10. Üben Sie auch an „schlechten Tagen“, dann vielleicht etwas weniger lang. Stim-
mungsschwankungen sind normal. Führen Sie Ihr Trainingsprogramm unabhängig
von Ihrer Befindlichkeit durch. Sie benötigen die Erfahrung, dass Sie Ihre Ängste
auch dann bewältigen können, wenn diese nach vorübergehender Besserung in ei-
nem Stimmungstief wieder vermehrt auftreten sollten. Sie müssen nicht topfit sein.
11. Üben Sie schwierigere Situationen zuerst zusammen mit einem Angehörigen oder
einer Vertrauensperson. Wenn möglich, schließen Sie sich mit einer anderen, eben-
falls agoraphobischen Person zusammen oder trainieren Sie die Angstbewältigung
im Rahmen einer Selbsthilfegruppe. Bewältigungserfahrungen zusammen mit ande-
ren Menschen stärken Ihr Selbstvertrauen. Betrachten Sie jede aufgesuchte Situation
jedoch erst dann als bewältigt, wenn Sie sich dieser auch allein auszusetzen wagen.
Angstbewältigungstraining 541

12. Rechnen Sie mit Rückschlägen, ohne sich davor zu fürchten, und nutzen Sie diese als
Chance, etwas daraus zu lernen. Die stärksten Rückschläge erfolgen oft aus einer
Panikattacke heraus. In diesem Fall sollten Sie erkennen, dass eine gestufte Angst-
bewältigung allein unzureichend ist, weil Sie dabei nicht lernen, mit extrem starken
Ängsten umzugehen, wie diese bei Panikattacken auftreten.
13. Überlegen Sie bei Erfolgen durch eine gestufte Reizkonfrontation eine massierte
Reizkonfrontation. Anstelle der Methode „Wasch’ mich, aber mach’ mich nicht
nass“ sollten Sie direkt in das „kalte Wasser“ der Angst springen und eine massierte
Reizkonfrontation allein, mit Hilfe einer vertrauten Person oder eines Psychothera-
peuten beginnen. In diesem Fall lernen Sie, Ihre stärksten Ängste zu provozieren
und damit umzugehen. Was fürchten Sie bei einer Panikattacke wirklich, wenn Sie
glauben können, dass Sie dabei nicht sterben?
14. Nehmen Sie weder vor der Übung Beruhigungsmittel ein noch führen Sie diese wäh-
rend der Übungen mit sich, auch wenn Sie vorhaben, keine einzunehmen. Lernen
Sie von Beginn an, sich ausschließlich auf sich selbst zu verlassen und nicht auf Be-
ruhigungsmittel, die Sie wie einen Talisman mit sich führen. Sie schaffen damit die
Voraussetzungen, dass Sie alle erreichten Erfolge sich selbst und nicht den Tabletten
zuschreiben. Lassen Sie bei allen Übungen auch Ihr Handy zu Hause.
15. Wenn Sie derzeit Beruhigungsmittel nehmen, setzen Sie diese in Absprache mit Ih-
rem Arzt langsam ab, bevor Sie mit den Übungen beginnen. Eine Woche vor Beginn
der Übungen sollten Sie frei von Beruhigungsmitteln sein. Wenn Sie sich gegenwär-
tig dazu nicht in der Lage fühlen, sollten Sie wenigstens alle Übungsaufgaben inklu-
sive der schwierigsten mit Hilfe der Beruhigungsmittel bewältigen können, ohne
dass Sie diese wegen der Übungen in verstärktem Ausmaß einnehmen. Anderenfalls
geben Sie letztlich zu, dass Sie sich nicht einmal unter dem Schutz Ihrer Medika-
mente in Angst machende Situationen zu begeben wagen.
16. Wenn Sie derzeit Angst dämpfende Antidepressiva einnehmen, insbesondere solche,
die nachweislich gegen Panikattacken wirken (so genannte Serotonin-Wiederauf-
nahmehemmer), nehmen Sie diese in der verordneten Weise weiterhin ein, weil de-
ren Wirksamkeit eine mehrmonatige kontinuierliche Einnahme erfordert. Wenn Sie
zur mittelfristigen Unterstützung auf Anraten des Arztes diese Medikamente ein-
nehmen sollen, beginnen Sie mit der Einnahme nicht gerade am Anfang der Kon-
frontationstherapie, zumindest nicht sofort mit der Zieldosis, sondern mit einer nied-
rigeren Dosis, d.h. nehmen Sie diese Medikamente in Absprache mit dem Arzt „ein-
schleichend“ in wöchentlich steigender Dosis bis zur Zieldosis ein, weil diese Medi-
kamente in den ersten zwei Wochen Nebenwirkungen haben können, wenngleich
wesentlich geringere als ältere Antidepressiva. Sie könnten die Nebenwirkungen an-
derenfalls leicht als Angstsymptome im Rahmen Ihres Übungsprogramms interpre-
tieren und wären dann gefährdet, Ihre Konfrontationstherapie einzustellen.
17. Achten Sie von Beginn Ihrer Konfrontationstherapie an darauf, dass Sie nicht so
sehr gegen Ihre Ängste kämpfen, sondern vielmehr für Ihre Freiheit, tun und lassen
zu können, was Sie wollen, d.h. üben Sie nicht nur das Aushalten unangenehmer Si-
tuationen, die auch weniger ängstliche Menschen ungern erleben, sondern unter-
nehmen Sie viele Dinge, die Sie eigentlich gerne tun möchten. Dies stärkt Ihre Mo-
tivation zum Durchhalten. Vergegenwärtigen Sie sich, was Sie früher gerne getan
haben, und malen Sie sich in der Fantasie möglichst plastisch aus, wie Sie jene Si-
tuationen aufsuchen können, deren Bewältigung Sie in der nächsten Zeit erst noch
üben müssen. Hauptziel ist nicht, weniger Angst, sondern mehr Freude zu erleben.
542 Selbsthilfe bei Angststörungen

Übungsvorschläge für eine gestufte Reizkonfrontation


Die folgenden Übungsvorschläge sollen eine Anregung darstellen, Ihre Ängste im Sinne
einer Objekthierarchie darzustellen. Die einzelnen Aufgabenstellungen können Sie dann
im Sinne einer Annäherungshierarchie je nach Bedarf leichter bzw. schwieriger gestal-
ten. Führen Sie alle Übungen allein durch, um Ihr Selbstvertrauen zu stärken.
z Gehen Sie mindestens 20 Minuten lang in einem Supermarkt umher.
z Stellen Sie sich bei der Kasse in einer Schlange mit mindestens sechs Leuten an.
z Schauen Sie 15 Minuten lang in einem Kleidergeschäft die neue Mode an.
z Probieren Sie in Geschäften Kleidung oder Schuhe, ohne etwas zu kaufen.
z Bleiben Sie eine halbe Stunde lang in einem Lokal oder Café in der Mitte sitzen.
z Nehmen Sie ein Menü in einem überfüllten Restaurant ein.
z Gehen Sie in ein Konzert, Theater, Kino, in eine öffentliche Versammlung oder in
einen Gottesdienst und bleiben Sie bis zum Ende.
z Setzen Sie sich im Kino oder bei einer Veranstaltung in die Mitte einer Reihe.
z Leisten Sie sich beim Friseur einen zeitaufwändigen Haarschnitt.
z Gehen Sie zum Zahnarzt, wenn Sie dies schon lange nicht mehr getan haben.
z Besuchen Sie eine Sportveranstaltung oder eine Freiluftveranstaltung mit vielen
Zuschauern und üben Sie dabei auch das Stehen in einer Menschenschlange.
z Besuchen Sie einen Jahrmarkt oder Unterhaltungspark mit vielen Leuten.
z Fahren Sie auf dem Rummelplatz mit bisher stets gemiedenen Fahrzeugen (z.B. mit
dem Riesenrad oder der Hochschaubahn).
z Gehen Sie für mindestens eine Stunde in ein überfülltes Hallenbad bzw. Freiluftbad.
z Gehen Sie für eine Stunde in eine öffentliche Sauna (mit Aufguss).
z Gehen Sie in einem Krankenhaus mindestens eine Stunde lang durch alle möglichen
Abteilungen und fahren Sie möglichst oft mit dem Lift.
z Fahren Sie mit der Straßenbahn eine halbe Stunde sitzend in einem Viererabteil.
z Fahren Sie mindestens eine halbe Stunde lang stehend in einem Bus.
z Fahren Sie eine Stunde lang in der Stoßzeit mit einem öffentlichen Verkehrsmittel.
z Gehen Sie in einer überfüllten Straßenbahn von einem Ende bis zum anderen durch.
z Machen Sie mit dem Bus einen Tagesausflug zu einem Ort, an dem Sie noch nie
waren, und schicken Sie Verwandten oder Bekannten eine Grußkarte.
z Fahren Sie mit dem Auto auf der Autobahn mindestens 100 km in eine Richtung.
z Fahren Sie mit einem Schnellzug mindestens 200 km weit weg.
z Besuchen Sie mindestens 100 km entfernte Verwandte oder Bekannte.
z Fahren Sie mit einem Schiff oder Boot über einen See bzw. machen Sie eine See-
rundfahrt.
z Fahren Sie mit einer Seilbahn bis zur Endstation hinauf.
z Fahren Sie mit dem Auto durch einen längeren Tunnel.
z Fahren Sie in einem Hochhaus dreimal mit dem Lift auf und ab, ohne auszusteigen.
z Machen Sie beim nächsten Flughafen einen mindestens halbstündigen Rundflug.
z Gehen Sie durch einen langen düsteren oder unterirdischen Gang.
z Nehmen Sie an einer unterirdischen Führung teil (Bergwerk, Katakomben).
z Besteigen Sie einen Turm (z.B. den Dom oder Fernsehturm einer größeren Stadt).
z Gehen Sie eine offene Wendeltreppe (z.B. einen Notausgang) hinauf und wieder
hinunter, während Sie in die Tiefe hinabblicken.
z Schauen Sie von einem mindestens sechs Stockwerke hohen Haus bei offenem Fen-
ster oder vom Balkon hinunter, um Schwindelgefühle aushalten zu lernen.
Angstbewältigungstraining 543

z Gehen Sie über eine gefürchtete Brücke und schauen Sie in der Mitte auf den Fluss
hinunter.
z Gehen oder laufen Sie mindestens eine Stunde lang durch einen Wald.
z Gehen Sie bei Nacht mindestens eine halbe Stunde lang in einer belebten Straße
spazieren.
z Gehen Sie Blutspenden bei einer öffentlichen Blutsammelstelle.
z Machen Sie einen dreistündigen Stadtbummel ohne Mitnahme von Beruhigungsmit-
teln und lassen Sie auch Ihr Handy zu Hause.
z Fahren Sie in eine größere Stadt oder in eine Gegend, in der Sie sich nicht gut aus-
kennen, und fragen Sie Leute auf der Straße nach einem bestimmten Ort.
z Verreisen Sie über Nacht in eine Stadt, in der Sie noch nie waren, ohne jemanden zu
informieren, wo Sie sind, und übernachten Sie dort allein in einem Hotel.
z Übernachten Sie in einer voll belegten Jugendherberge.
z Bleiben Sie Ängsten vor dem Alleinsein mindestens vier Stunden lang allein in der
Wohnung, ohne mit jemandem Kontakt aufzunehmen (auch nicht telefonisch).
z Bleiben Sie allein zu Hause und machen Sie bewusst etwas, wovor Sie sich bisher
stets gefürchtet haben, z.B. Lesen eines Buches, in dem viel über gefürchtete Krank-
heiten steht, Vorstellung einer früheren oder zukünftig gefürchteten Panikattacke bei
geschlossenen Augen, während Sie im Bett liegen.

Massierte Reizkonfrontation (Reizüberflutung)


Mutigen und Ungeduldigen ist eine massierte Reizkonfrontation (Flooding) zu empfeh-
len. Nach Ausschluss organischer Ursachen für Ihre Angstzustände sollten Sie sich
täglich mindestens 4-6 Stunden lang mit den stärksten Angstreizen überfluten. Binnen
weniger Tage bzw. weniger Wochen werden Sie Ihren früheren Bewegungsspielraum
wiedererlangen und das Vertrauen in Ihren Körper wiedergewinnen.
Der bewusste Verzicht auf jede Fluchtmöglichkeit bei der Konfrontation mit den
Angst auslösenden Reizen führt dazu, dass der Kampf-Flucht-Mechanismus nicht aus-
gelöst wird bzw. rasch wieder gedämpft wird. Die Fluchttendenz mit der entsprechen-
den körperlichen Aktivierung ist immer dann am größten, wenn noch eine reale Chance
zu entkommen besteht (kurz vor der Abfahrt der Straßenbahn, des Zuges, des Lifts, des
Flugzeugs, d.h. unmittelbar bevor die Tür zugeht).
Wie rasch möchten Sie Ihre belastenden Ängste loswerden? Wenn Sie Ihre Ängste
und Panikattacken schnell überwinden wollen, was hindert Sie dann eigentlich daran, zu
den Mutigen zu gehören, wenn Sie glauben können, dass Sie körperlich gesund sind und
durch eine intensive Konfrontation keinen körperlichen Schaden erleiden?
Wenn Sie den Mut haben, die stärksten Angstsituationen gleich zu Beginn aufzusu-
chen, dies anfangs jedoch nicht allein zu tun wagen, wählen Sie eine Person Ihres Ver-
trauens aus, die Sie anfangs dabei begleitet, bis Sie das Vertrauen zu sich gefunden
haben, die entsprechenden Situationen auch alleine bewältigen zu können. Dieses Vor-
gehen bringt die schnellsten und anhaltendsten Erfolge.
Üben Sie die massierte Konfrontationstherapie vorher in der Vorstellung: Malen Sie
sich die stärksten Belastungen aus – und auch, wie Sie darüber hinwegkommen. Es gilt
das Motto: „Was man sich nicht als bewältigbar vorstellen kann, kann man auch nicht
oder nur schwer tun.“ Stärken Sie Ihre Erfolgserwartung, indem Sie die gefürchteten
Situationen zuerst mental bewältigen lernen, wie dies auch Spitzensportler tun.
544 Selbsthilfe bei Angststörungen

Wenn die Angstbewältigung trotz der richtigen Technik nicht gelingt


Mangelhafte oder ausbleibende Übungserfolge bei der Bewältigung der Agoraphobie,
insbesondere wenn diese in bester Absicht und „technisch“ richtig durchgeführt wurden,
sollten Anlass sein, nach den Gründen zu suchen. Folgende Fragen sind hilfreich:
z Welche Vorteile könnten Sie mit dem Verlust der Agoraphobie ebenfalls verlieren?
z Welche anderen Probleme vermeiden Sie durch Ihre Agoraphobie?
z Welche Auswirkungen hätte die Bewältigung Ihrer Ängste auf Ihr Leben, insbeson-
dere auf Ihre familiäre, partnerschaftliche und berufliche Situation?
z Was möchten Sie nach Beseitigung Ihrer Ängste tun und wie wichtig ist Ihnen dies?

Ihre Ängste können die Funktion haben, Sie vor noch größeren Problemen als Ihre Ago-
raphobie oder Panikattacken zu bewahren. Werden Sie die wiedergewonnene Freiheit
auf Anhieb tatsächlich nützen können? Hinter einer Agoraphobie kann die Angst vor
Verantwortung und Freiheit stehen. Wenn Sie die Fesseln und Ketten Ihrer Ängste
abgeworfen haben, können eventuell die Bürde der Verantwortung und der Freiheit
sowie der Zwang zur Entscheidung zwischen verschiedenen Alternativen auf Sie war-
ten. Nach der Beseitigung Ihrer Ängste können Sie vielleicht vor der Situation stehen,
z Annehmlichkeiten zu verlieren (Umsorgtwerden, viel Zuwendung und Nachsicht,
Unterstützung bei der Arbeit) und vieles wieder selbst erledigen zu müssen;
z als Mutter weiterhin bei den Kindern zu Hause zu bleiben oder berufstätig zu wer-
den, wo Sie doch beides in bestmöglicher Weise miteinander verbinden möchten;
z den Arbeitsplatz wegen Unzufriedenheit zu wechseln und dabei das Risiko einzuge-
hen, dies hinterher zu bereuen;
z sich vom Partner zu trennen, dann aber die Vorteile der Beziehung zu verlieren;
z sich dem Partner gegenüber zwar besser als früher durchsetzen zu können, aber
deswegen auch Angst haben zu müssen, seine Zuwendung und Liebe zu verlieren;
z als Jugendlicher von zu Hause auszuziehen und ein selbstständiges Leben zu begin-
nen oder weiter unter den Einschränkungen im Elternhaus zu leiden.

Konfrontationstherapien können aus folgenden Gründen fehlschlagen:

1. Fehlende Bereitschaft zu einer Panikattacke

Die Betroffenen stellen sich zwar allen Situationen, jedoch nur so, dass sie dabei auf
keinen Fall eine Panikattacke erleben. Dies allein hält bereits eine Daueranspannung
aufrecht. Ohne die innere Bereitschaft zu einer Panikattacke bleibt ein Dauerstress be-
stehen, weil man ja ständig Vermeidungs- und Unterdrückungsmechanismen anwenden
muss oder mental oder real auf der Flucht ist und damit angespannt bleibt. Die Angst
vor der Angst („Was wäre, wenn ...“) hält ständige Erwartungsängste aufrecht. Jede
Vermeidungsreaktion verstärkt den Eindruck, einer bestimmten Erfahrung nicht ge-
wachsen zu sein, sodass das weitere Vermeidungsverhalten bereits vorgezeichnet ist.

2. Die Art der körperlichen Symptome wirkt sich negativ aus

Eine Gewöhnung (Habituation) erfolgt leichter bei Herz-Kreislauf- und Atmungs-


bezogenen Symptomen als bei chronischem Schwindel (bedingt durch Verspannung
oder subklinische vestibuläre Missempfindungen) oder bei ständiger Durchfallangst.
Angstbewältigungstraining 545

3. Unkenntnis oder Unterdrücken der ärgsten Angst

Die wichtigsten Fragen bei einer Konfrontationstherapie lauten:


z Was ist Ihre größte Angst bei einer Konfrontation mit gefürchteten Situationen?
z Was fürchten Sie am meisten, wenn Sie sich allen Situationen stellen?
z Welche Situationen fürchten Sie am meisten, sodass Sie diese vermeiden?
z Welches Symptom fürchten Sie am meisten, welches darf auf keinen Fall auftreten?

4. Perfektionismus als Mittel der Angstbewältigung

z Jeder Perfektionismus („Wenn schon, dann muss ich alles super schaffen“) ist bei
einer Konfrontationstherapie schädlich, weil er den Stress erhöht.
z Der Versuch, erlebte positive Erfahrungen bei einer Konfrontationstherapie zu gene-
ralisieren auf andere Situationen scheitert öfter an der mangelnden Fähigkeit zur
Generalisierung von Erfahrungen. Der Grund liegt im Perfektionismus: „Es ist jetzt
schon 20-mal gut gegangen, doch wird es auch beim 21. Mal gut gehen?“
z Intoleranz gegenüber jeder Form von Unsicherheit und Kontrollverlust verhindert
jedes vertrauensvolle Sich-Einlassen auf neue oder unangenehme Situationen.

5. Eine Sozialphobie als Verstärkung der Agoraphobie

Eine Sozialphobie, bei der es um das Sozialprestige und nicht um Leib und Leben geht,
hält trotz erfolgreicher Konfrontationstherapie eine ständige Anspannung aufrecht:
z Was werden die anderen über mich denken, wenn sie meine Symptome bemerken?
z Wenn ich in irgendeiner Weise negativ auffalle, bin ich dann „nervenschwach“,
„psychisch nicht belastbar“, ein Schwächling, weniger liebenswert, weil schwach?

6. Die Einnahme bestimmter Mittel als Schwächung des Selbstvertrauens

Folgende Ratschläge können helfen:


z Keine Tranquilizer einnehmen oder mitführen!
z Keinen Alkohol als Pillenersatz verwenden!
z Keine Notfallstropfen mitnehmen, denn es besteht kein Notfall!
z Kein Handy verwenden, denn es besteht keine Lebensgefahr!
z Nicht auf andere Personen verlassen, nicht das Vertrauen auf sich selbst durch das
Vertrauen auf andere ersetzen!

7. Ständige Ablenkungsversuche statt Zuwendung

Viele Angstpatienten möchten ihre Zustände durch Abwendung und Ablenkung bewäl-
tigen. Man wird jedoch eher ruhig, wenn man sich nicht pausenlos abzulenken versucht,
sondern sich seinen Symptomen zuwendet und diese akzeptiert: „Ich spüre jetzt meinen
Schwindel, mein Herzklopfen, meine weichen Knie usw., und ich gehe dennoch in die
gefürchtete Situation und bleibe so lange, wie ich will, und nicht so lange, wie die Sym-
ptome diktieren möchten. Meine Symptome begleiten mich wie mein Schatten, doch ich
bestimme den Weg.“ Laut Untersuchungen scheitert eine Konfrontationstherapie, wenn
Patienten eine zu geringe emotionale Aktivierung aufweisen oder während der Exposi-
tionstherapie dissoziieren, d.h. sich ablenken und ihre Gefühle abspalten/unterdrücken.
546 Selbsthilfe bei Angststörungen

8. Sekundärer Krankheitsgewinn

Symptome können zwar das Leben einschränken, aber auch verschiedene Vorteile ha-
ben, die von Psychoanalytikern „sekundärer Krankheitsgewinn“ genannt werden:
z Gibt es letztlich auch Vorteile aus der Agoraphobie?
z Was möchten Sie eigentlich vermeiden? Was steckt hinter Ihren Ängsten?
z Welchen anderen Konflikten gehen Sie aus dem Weg, die sofort und unweigerlich
auftreten, wenn Sie alle gefürchteten Situationen problemlos meisten können?

9. Aktuelle depressive Symptomatik

Eine depressive Symptomatik ist u.a. charakterisiert durch eine körperliche und psychi-
sche Kraftlosigkeit. Man sollte daher in einer depressiven Phase gar nicht versuchen,
durch eine derartige Aktivierung, wie sie bei einer gestuften oder massierten Konfronta-
tionstherapie erforderlich ist, sein Selbstwertgefühl aufzubauen, denn es kann nur zu
einem Misserfolg kommen, der die depressive Symptomatik noch weiter verstärkt.
Eine Konfrontationstherapie ist ungeeignet, das schwache Selbstbewusstsein in der
Depression aufzubauen, weil wieder alles auf Leistung und Durchhalten ausgerichtet ist.
Ein derartiges Denkmuster ist oft der Grund für eine „Erschöpfungsdepression“.

10. Psychosoziale Konfliktsituationen (Probleme in der Ehe, Familie oder Arbeit)

Oft stehen hinter einer Agoraphobie mit Panikstörung latente oder offene Partnerpro-
bleme, die anfangs häufig nicht in Zusammenhang mit der Angststörung gesehen wer-
den. Eine Agoraphobie stellt dann eine Pattsituation dar, die den unbefriedigenden ge-
genwärtigen Zustand aufrechterhält. Dies ist so lange eine durchaus sinnvolle Problem-
lösung auf der Symptomebene, als man noch keine Entscheidung darüber getroffen hat,
wie es mit der Partnerschaft weitergehen soll, wenn die Agoraphobie überwunden ist.
Neben Partnerproblemen sind sonstige familiäre Probleme (Konflikte mit den Eltern
oder mit einem Kind) sowie Arbeitsplatzprobleme Panik begünstigende Stressfaktoren.
Eine zu rasche Symptombeseitigung kann manchmal zu psychosozialen Problemen
führen, mit denen die Betroffenen und deren Angehörige oft nicht gerechnet haben.

11. Mangelnde Veränderungsziele nach der Konfrontationstherapie

Die „Wunder-Frage“ in der Psychotherapie nach Steve DeShazer lautet: „Stellen Sie
sich vor, Sie wachen morgen in der Früh auf und Sie sind völlig gesund. Was würden
Sie da tun? Was würde sich in Ihrem Leben dann ändern?“
Viele Angstpatienten haben vordergründig oft keine anderen Ziele, als ständig nur
gegen ihre Ängste zu kämpfen. Beantworten Sie zur Abklärung folgende Fragen:
z Was wollen Sie eigentlich im Leben erreichen, wenn Sie keine Symptome haben?
Wenn es Ihnen nicht mehr schlecht geht, muss es Ihnen noch lange nicht gut gehen!
z Wofür lohnt sich der ganze Aufwand der Angstbewältigung? Was motiviert Sie?
z Was würden Sie sofort, in einem Monat, in sechs Monaten, in einem Jahr tun, wenn
Sie keine krankhaften Ängste (Agoraphobie, Panikattacken) mehr hätten?
z Wie gerne sind Sie allein, wenn Sie nach gelungener Konfrontationstherapie allein
sein können? Aktivitäten unternehmen bedeutet auch, allein etwas tun können. Was
können Sie mit sich selbst anfangen, wenn Sie allein sind?
Kognitive Strategien der Angstbewältigung 547

Kognitive Strategien der Angstbewältigung

Mentales Training
Der abstrakte Wille und Vorsatz allein ist auf Dauer für eine Verhaltensänderung einge-
fahrener Reaktionsmuster zu wenig. Plastisch-konkrete Vorstellungen des Gelingens
stärken die Motivation in schwierigen Zeiten und richten den Blick auf die positiven
Möglichkeiten statt auf die Fehler und Schwächen, die in vielen Psychotherapien oft zu
einseitig im Mittelpunkt stehen.
Angstpatienten können sich das, was sie fürchten, sehr bildhaft vorstellen, nicht aber
die Art und Weise, wie es nach der Angstreaktion gut oder zumindest erträglich weiter-
gehen könnte. Menschen mit Panikattacken beschäftigen sich in der Fantasie oft mit
dem Eintreffen gefährlicher Ereignisse nach dem Motto „Was wäre, wenn …“. Sie
grübeln ständig, sorgen sich um die Zukunft, malen sich schreckliche Bilder aus und
brechen kurz vor dem Höhepunkt, vor dem negativsten Ereignis, ihre Fantasien ab, weil
sie in Panik geraten. Sie begehen den Fehler, nicht weiterzudenken und nach Bewälti-
gungsstrategien zu suchen, sondern bleiben bei der Hilflosigkeit und Ohnmacht stehen.
Solange man nicht stirbt, gibt es immer mehrere Möglichkeiten, wie es weitergehen
könnte. Das Durchspielen verschiedener Bewältigungsstrategien soll im Rahmen des
mentalen Trainings gelernt werden. Angst ist immer Angst vor etwas. Genau das, was
man real nicht erleben möchte, muss man zuerst einmal mental bewältigen lernen.
Mentales Training dient bei Angststörungen dazu, in Gedanken bzw. durch mög-
lichst bildhafte Vorstellung eine positive bzw. bewältigbare Lösung jener Situation
durchzuspielen, vor der man Angst hat [19]. Was man sich nicht einmal vorstellen kann,
kann man oft auch nur schwer tun. In diesem Sinn erleichtert jede anschauliche Vorstel-
lung einer Bewältigungsreaktion die tatsächliche Handlungsbereitschaft.
Die typischen Katastrophenvorstellungen von Angstpatienten sind negative Vorstel-
lungsbilder (Worst-Case-Szenarien), die durch alternative oder positiv-kreative Visuali-
sierungen ersetzt werden sollen. Der Begriff des mentalen Trainings ist sehr breit, theo-
retisch nicht eingeengt und aus dem Spitzensport gut bekannt, weshalb diese Bezeich-
nung in diesem Buch bevorzugt wird gegenüber Ausdrücken wie Visualisierung, Imagi-
nation, gelenkter Tagtraum, Selbsthypnose, hypnotische Trance.
Visualisieren bezeichnet ein Denken in inneren Bildern. Ein entspannter Zustand er-
leichtert die Entwicklung von inneren Bildern und Vorstellungen, ist jedoch nicht unbe-
dingt notwendig. Entscheidend ist vielmehr die intensive, durch alle Sinne erleichterte
Konzentration auf einen bestimmten Sachverhalt im Sinne einer Wahrnehmungseinen-
gung, wie dies auch bei einer Hypnose der Fall ist.
Nach dem Carpenter-Effekt führt jeder Gedanke an eine bestimmte Tätigkeit zu ent-
sprechenden Muskelstimulierungen. Dies gilt auch für Menschen mit Angststörungen.
Der Gedanke, aus einer gefürchteten Situation am liebsten fliehen zu wollen, führt zu
entsprechender muskulärer Aktivierung. Wenn Sie bei Ihren Konfrontationsübungen
bewusst auf Flucht verzichten, werden Sie nicht jeden Moment, wo diese (noch) mög-
lich ist, Ihren Körper im Sinne einer Kampf-Flucht-Reaktion aktivieren.
Positive Vorstellungen (ein bestimmtes Ruhebild) sowie die Vorstellung des Gelin-
gens einer Handlung (lebendige Vorstellung vom Ziel einer Übung bei Agoraphobie)
bewirken angenehme körperliche Zustände. Die Vorstellung einzelner Körperpartien
sowie deren momentane Befindlichkeit und Tätigkeit verbessert die Wahrnehmung und
die Funktionen des eigenen Körpers und führt zu einem besseren Körpererleben.
548 Selbsthilfe bei Angststörungen

Mentales Training wird in den verschiedensten Bereichen eingesetzt [20]:


z Die Astronauten der NASA werden auf Weltraumflüge vorbereitet, indem gefährli-
che, real nicht trainierbare Situationen mental simuliert werden, um die Reaktions-
geschwindigkeit in Notsituationen zu beschleunigen. Sie müssen „wie im Schlaf“
reagieren können bei Situationen, die sie noch nie erlebt haben.
z In der Wirtschaft und im Verkauf kann mentales Training in Form einer Motivati-
onsstärkung bei schwieriger Marktlage erfolgen. Auch ein erfolgreicher Verkäufer
kann nicht jederzeit den Umsatz steigern, er wird jedoch daran glauben, dass er z.B.
bei der Aufschließung eines neuen Marktes letztlich erfolgreich sein wird.
z Bei Krebspatienten haben Visualisierungsübungen großen Anklang gefunden, die
durch die plastisch-realistische Vorstellung der heilenden physiologischen Prozesse
das Immunsystem und damit die Genesung unterstützen sollen. Diese Strategien ver-
längern nicht unbedingt das Leben, verbessern jedoch oft die Lebensqualität.
z In der Rehabilitation lernen Menschen, sich ihre geschädigten Körperteile intensiv
zu vergegenwärtigen, wie diese früher gesund in Bewegung waren, um dadurch de-
ren zukünftiges Funktionieren zu fördern.
z Im Sport wird das körperliche Training durch das mentale Training ergänzt, um die
prinzipiell mögliche körperliche und psychische Leistungsfähigkeit zu mobilisieren.

Mentales Training wird seit Jahrzehnten im Sport zur Leistungssteigerung eingesetzt.


Sportler spielen die Aufgabenstellung im Geiste x-mal durch, um sie besser bewältigen
zu lernen. Mentales Training bezeichnete ursprünglich ein mentales Bewegungstraining,
d.h. ein planmäßig wiederholtes Sich-Vorstellen des zu erlernenden Bewegungsablaufs,
und wird heute durch die Berücksichtigung kognitiver, emotionaler und motivationaler
Aspekte im Sport viel umfassender eingesetzt.
Einige typische Einsatzmöglichkeiten des mentalen Trainings im Sport [21]:
z Zeit- und energiesparendes Leistungstraining. Auf dem Weg der oftmaligen Vor-
stellung erfolgt eine Automation und Verbesserung bestimmter Verhaltensweisen,
ohne dass durch ständiges Training in der Realität die Leistungsreserven vorschnell
ausgebeutet werden. Ein typisches Beispiel ist die vielfache mentale Bewältigung
einer Lauf- oder Schwimmstrecke.
z Rasche Einübung komplexer motorischer Bewegungen. Die Vergegenwärtigung von
Bewegungsabläufen bei bestimmten Sportarten und die plastische Vorstellung des
Ablaufs eines ganzen Wettkampfs ermöglichen das Eintrainieren neuer bzw. ad-
äquaterer Verhaltensweisen: den Speer oder die Kugel im richtigen Moment werfen,
den Rückhandschlag beim Tennis verbessern, die Wurfgenauigkeit bei Korbball-
Freiwürfen erhöhen, eine ungewohnte Sprungschanze überfliegen.
z Mentale Bewältigung von Krisensituationen. Die innere Vorbereitung auf einen
Ernstfall bzw. Notfall verhindert eine Verletzung oder Katastrophe: mentale Bewäl-
tigung einer Sturzgefahr beim Slalom wegen eines eisigen Streckenteils oder Vor-
stellung einer gefährlichen Situation im Motorsport.
z Bestärkung des Glaubens an die Erreichbarkeit des Ziels. Ein Hochspringer sieht
sich über eine bestimmte Marke springen, die er bisher noch nicht geschafft hat. Ein
Slalomfahrer stärkt sein Selbstvertrauen, indem er eine schwierige Strecke im Geiste
erfolgreich bewältigt. Ein Läufer sieht sich bei einem Wettlauf als erster im Ziel.
z Besseres Durchhalten während der sportlichen Leistung. Bevor der Körper nach-
lässt, hat der Geist schon aufgegeben. Es gilt daher, das Durchhalten zu stärken.
Kognitive Strategien der Angstbewältigung 549

z Bessere Wettkampfvorbereitung von so genannten „Trainingsweltmeistern“, d.h. von


Sportlern, die im Training oft erster werden, unter den Stressbedingungen des Wett-
kampfs jedoch versagen. Dies kann verschiedene Gründe haben: die Sportler können
im Wettkampf mit dem Druck des Beobachtet-Werdens nicht umgehen; sie sind zu
wenig spontan und locker, sondern bemüht-verkrampft; sie kämpfen mehr gegen das
Versagen (und stellen sich dieses bereits sehr lebhaft vor) als für den Erfolg.

Zahlreiche sportliche Erfolge und wissenschaftliche Untersuchungen belegen die Wirk-


samkeit des mentalen Trainings. Durch die revolutionären Entwicklungen in der Hirn-
forschung können mittlerweile mentale Bewegungsprozesse (z.B. bildhafte Vorstellun-
gen) auf dem Computerbild festgehalten werden.
„Einbildungen“ haben eine reale Grundlage im Gehirn und führen zu bestimmten
physiologischen Befindlichkeiten. Mit der Positronen-Emissions-Tomographie (PET)
kann man Schnittbilder gewinnen, deren Farbgebung die örtliche Versorgung des Ge-
hirns mit Blut und dem Energieträger Traubenzucker (Glukose) erkennen lassen.
Mentales Training bei Angstzuständen umfasst vier Abschnitte [22]:
1. Entspannungsinduktion. Entspannung soll eine Sammlung der Aufmerksamkeit nach
innen bewirken und die Lebendigkeit der Vorstellungen steigern.
2. Mentale Reizkonfrontation (Exposition in sensu). Intensive, plastisch-lebendige
Begegnung mit den Angst machenden Situationen in der Vorstellung unter Einbe-
ziehung aller Sinnesorgane, wodurch auch die bekannten körperlichen Angstreaktio-
nen ausgelöst und toleriert werden.
3. Bewältigung. Bestimmte Angstbewältigungsstrategien werden mental durchgespielt.
4. Erfolgsinduktion (realistischer Erfolg). Die vorstellungsmäßige Vermittlung von
realistischen Erfolgserlebnissen sichert die Motivation und bestärkt den Glauben an
die Angstbewältigung in der Realität.

Nach einer Untersuchung zur Behandlung von Prüfungsängsten mittels Hypnose ist die
Konfrontation mit Angst machenden Situationen allein wenig Erfolg versprechend,
entscheidend ist vielmehr das mentale Eintrainieren von Bewältigungsreaktionen.
In ähnlicher Weise erreichten vergewaltigte Frauen, die mit Hilfe einer mentalen
Konfrontationstherapie einen besseren Umgang mit den traumatischen Erinnerungen
erlernt hatten, durch ein zusätzliches mentales Bewältigungstraining in Hinblick auf
zukünftige ähnliche Situationen einen noch besseren Therapieerfolg.
Menschen mit Agoraphobie und sozialer Phobie können durch mentale Strategien
dazu ermutigt werden, sich der gefürchteten Realität zu stellen. Durch ein derartiges
Vorgehen wird die Erfolgserwartung gestärkt und die Erwartungsangst abgebaut. Es
kommt darauf an, sich zukünftige Problemsituationen durch mehrere konkret ausgestal-
tete Handlungsmöglichkeiten als lösbar vorstellen zu können.
Angstkonfrontationen in der Vorstellung können folgenden Sinn haben:
z Klärung und Identifizierung der konkreten Ängste: wahrnehmen und erkennen ler-
nen, wovor man sich tatsächlich fürchtet, z.B. vor einer bestimmten körperlichen
Reaktion, vor dem Blick der Leute, vor deren Nachrede.
z Differenzierung von Gefühlszuständen in bestimmten Situationen: viele Angstpatien-
ten neigen dazu, jede Erregung gleich mit Angst zu assoziieren, tatsächlich könnte
es sich z.B. auch um eine wutbedingte Erregung handeln.
z Vorstellung der katastrophalen Folgen, die man in realen Situationen noch nicht
zulassen kann und daher meidet bzw. flieht.
550 Selbsthilfe bei Angststörungen

z Stärkung des Glaubens, dass man eine bestimmte Situation bewältigen kann, indem
man sich diese einfach als bewältigbar vorstellt. Oft liegt das Problem gerade darin,
dass man etwas tun soll, das man sich nicht einmal als bewältigbar vorstellen kann.
z Gewöhnung an Angst machende Situationen durch besseren Umgang mit Erwar-
tungsängsten.
z Mentale Einübung neuer Fertigkeiten und Vorbereitung auf das Üben in einer un-
gewohnten oder gefürchteten Realsituation.

Mentales Training ermöglicht nicht nur die Etablierung positiver Sichtweisen und Be-
wältigungsreaktionen, sondern auch die Klärung von Einstellungen, Empfindungen und
Konflikten, indem durch inneres Probehandeln ohne Risiko Alternativen abgewogen
und innere Barrieren überwunden werden können.
Beim mentalen Training ist es wichtig, das Vorgestellte immer als gegenwärtig bzw.
als bald, aber sicher eintretend zu visualisieren, auch wenn es sich um unsichere Situa-
tionen und zukünftige Ereignisse handelt. Hypnose, autogenes Training oder andere
Entspannungstechniken verwenden ähnliche Vorgangsweisen.
Typische Beispiele sind:
z „Der rechte Arm ist ganz schwer.“
z „Die Atmung ist ruhig und regelmäßig.“
z „Der ganze Körper wird angenehm warm.“
z „Ich spüre, wie das langsame Ausatmen meinen Körper entspannt.“
z „Wenn mein Herz rast, wird es durch ruhiges Atmen wieder langsamer schlagen.“
z „Wenn mir beim Gehen schwindlig wird, bleibe ich aufrecht und gehe weiter.“

Grundsätzlich gibt es zwei Arten des Visualisierens [23]:


1. Beobachterposition (sich von außen sehen). Man erlebt das Vorgestellte wie in ei-
nem Film, d.h. man sieht sich selbst im Bild und beobachtet sich aus sicherer Di-
stanz. In der Fachsprache bezeichnet man diesen Zustand als „Dissoziation“. Man
sieht sich selbst wie auf einem Monitor oder einer Leinwand und spürt sich körper-
lich und gefühlsmäßig in der Rolle des Beobachters und nicht des Akteurs. Ein der-
artiges Vorgehen empfiehlt sich bei traumatisierenden Erfahrungen von Gewalt (z.B.
körperliche Züchtigung, Vergewaltigung, schwerer Unfall), um eine unkontrollier-
bare emotionale Überwältigung und Retraumatisierung zu vermeiden, aber auch bei
Ängsten, die die Betroffenen nicht frontal angehen möchten. Die Beobachterposition
ermöglicht eine Distanzierung und erleichtert die Distanzierung gegenüber sich auf-
drängenden Erinnerungen, die wie gegenwärtige Geschehnisse wirken.
2. Teilnehmerposition (sich von innen erleben: Einheit als Handelnder und Beobach-
tender). Man erlebt sich als Handelnder, als ob das Ereignis gerade jetzt stattfinden
würde, vergegenwärtigt durch alle Sinneskanäle. In der Fachsprache wird dieser
Vorgang „Assoziation“ genannt. Es entsteht ein intensives emotionales Erleben, das
überall dort angezeigt ist, wo es gefördert werden soll (z.B. Erleben von Wut, Trauer
oder sexueller Erregung) oder zumindest besser ertragen werden soll (bei Angstzu-
ständen und unvermeidlichen körperlichen Missempfindungen). Jede schöne Ur-
laubserinnerung und jede intensive Angstvorstellung stellt eine Assoziation dar, d.h.
ein Empfinden, als ob das Vorgestellte gegenwärtig Realität wäre. Bei sexuellem
Missbrauch müssen es die Betroffenen wieder lernen, eine Assoziation zur aktuellen
Situation mit ihrem Partner und ihren eigenen körperlich-sexuellen Empfindungen
herzustellen. Dies kann anfangs auch mental trainiert werden.
Kognitive Strategien der Angstbewältigung 551

Wichtige Übungen können vorher auf Tonband gesprochen werden und dann immer
wieder angehört werden. Die lebendige Vorstellung der Bewältigbarkeit einer Situation
stärkt den Glauben daran, ähnlich wie die Vorstellung einer bevorstehenden Katastro-
phe die Angst vor deren Eintreten und damit das Vermeidungsverhalten bestärkt. In
beiden Fällen ist es die plastisch-lebendige Vergegenwärtigung des Ausgangs eines
Ereignisses in Form eines bestimmten Bildes oder einer Filmsequenz, die das vorherige
Empfinden bestimmt (Angst oder Zuversicht).
Menschen mit Ängsten betreiben ständig eine „negative Selbsthypnose“. Sie haben
die Fähigkeit zu sehr bildhaftem Denken, was bei Ängsten zur Belastung wird. Die
imaginativen Fähigkeiten werden in der Therapie positiv genutzt. Zur Entspannung
können bestimmte Techniken eingesetzt werden, die einen leichten Trancezustand be-
wirken. Eine vorherige Entspannung ist jedoch nicht nötig, wenn durch die Vorstel-
lungsübung eine konzentrierte Aufmerksamkeit auf die gewünschte Situation gelingt.
Die möglichst plastisch-lebendige Vorstellung einer Angst machenden Situation (er-
lebte oder erwartete Panikattacke, realer oder gefürchteter Verlust eines geliebten Men-
schen, traumatisches Erlebnis, bevorstehendes Ereignis, phobische Situation) und deren
Bewältigung kann durch folgendes Vorgehen gefördert werden:
1. Setzen Sie sich zu Hause in einen bequemen Lehnstuhl und schließen Sie die Augen.
Stellen Sie sich vor, Sie schalten Ihren Fernsehapparat ein und schauen sich einen
„Angstfilm“ an, einen Videofilm einer für Sie typischen Angstsituation (ähnlich wie
Sie sich auch ein Urlaubsvideo anschauen würden). Sie haben dabei die Fernsteue-
rung in der Hand, um den Film je nach Bedarf steuern zu können.
2. Lassen Sie diesen Film mehrfach vor Ihren Augen ablaufen, bis zum Ende. Mit der
Fernsteuerung können Sie diesen Film jederzeit vor- und zurückspielen bzw. anhal-
ten, um ein Standbild zu erhalten. Sehen Sie sich selbst im Film, d.h. erleben Sie
sich als distanzierter Beobachter. Entdecken Sie, dass Sie nur dann intensive Angst
bekommen, wenn Sie sich selbst nicht mehr im Film sehen, sondern plötzlich als
mitten drin im Geschehen erleben, wie wenn der Film gerade jetzt gedreht würde.
3. Vergegenwärtigen Sie sich bei aufkommender Angst beim Anschauen des „Angst-
films“, dass Sie zu Hause sitzen und sich das Angstgeschehen nur im Film ereignet.
Nehmen Sie Ihre Körperposition im Lehnstuhl wahr und spüren Sie die Sitz- oder
Liegefläche, die Lehne, die Ihren Rücken abstützt, den Stoff, den Ihre Hände berüh-
ren. Beobachten Sie den Raum, in dem Sie sich befinden, um das Hier und Jetzt zu
betonen gegenüber vergangenen oder zukünftigen Angstsituationen.
4. Definieren Sie irgendeine Schlüsselerfahrung, die Sie zumindest durch ein Sinnes-
organ sicher in der Gegenwart verankert, z.B. Ballen der Hand zu einer Faust, Blick
auf ein bestimmtes Wohnzimmerbild, Hören Ihrer Lieblingsmusik im Hintergrund
oder der Stimme einer vertrauten Person, Summen einer bestimmten Melodie,
Zwerchfellatmung mit Heben und Senken Ihrer Hände auf der Bauchdecke, Spüren
des Lehnstuhls, in dem Sie sitzen, Riechen des Geruchs des Partners oder des
Wohnzimmers, Schmecken des Getränks, das Sie gerade trinken.
5. Wenn starke Angst aufkommt, können Sie den Film vorübergehend leiser oder
dunkler drehen bzw. kurz ausschalten, jedoch nur dann, wenn Sie vorher bereit sind,
nach kurzer Erholung den Film wieder einzuschalten, als Ausdruck dafür, nicht zu
flüchten. Wenn Sie einen bestimmten „Angstfilm“ sehr bildhaft ablaufen lassen
können, können Sie die Szenen auch laut kommentieren, wie wenn Sie diese einem
Zuseher neben Ihnen beschreiben würden. Das Sprechen kann Ihnen während des
Sitzens helfen, starke Anspannungen über die Mundbewegungen abzuführen.
552 Selbsthilfe bei Angststörungen

6. Wenn Sie diese Technik einigermaßen beherrschen, können Sie sich vorstellen, wie
der vorher gesehene „Angstfilm“ gerade gedreht wird, mit Ihnen als Hauptdarstel-
ler(in), d.h. Sie wechseln in die Teilnehmerposition über.
7. Vergegenwärtigen Sie sich Ihren Körper, wie Sie ihn bisher im „Angstfilm“ gesehen
haben, und erleben Sie sich so, als ob die Ereignisse gerade jetzt stattfinden würden.
Bei bestimmten traumatischen Erlebnissen (z.B. Vergewaltigung, Verbrechen, Un-
fall) sollten Sie dieses Vorgehen jedoch nicht allein anwenden, sondern nur in An-
wesenheit eines Therapeuten oder zumindest einer vertrauten Person, um bei Bedarf
Unterstützung zu haben. Dann können Sie Ihr Erleben noch vertiefen, indem Sie die
Ereignisse in der Ich-Form beschreiben („Ich sehe ... höre ... spüre jetzt ...“).
8. Sie können diese Schilderung auch auf Tonband festhalten und später immer wieder
anhören, um sich besser daran zu gewöhnen. Oft geht es dabei um die Bewältigung
der Erfahrung des möglichen Todes oder einer schweren Demütigung, die als völlige
Hilflosigkeit und Ohnmacht erlebt wurde und anhaltend das Vertrauen in eigene
Person und in die Umwelt erschüttert hat. Das ungewollte Wiedererleben des völli-
gen Ausgeliefertseins stellt später ein Problem dar, wenn die Betroffenen nicht ler-
nen, diese Erfahrung in ihre Person und den Kontext ihrer Erinnerungen zu integrie-
ren, wie dies etwa bei einer Verhaltenstherapie von Personen mit einer posttraumati-
schen Belastungsstörung gelernt wird.
9. Bei Bedarf wechseln Sie wieder in die Beobachterposition über und verankern Sie
Ihr Erleben im Hier und Jetzt. Wenn Sie in mutiger Weise neuerlich in das Wieder-
erleben des belastenden Ereignisses einsteigen, tun Sie dies mit den seither gewon-
nenen Sichtweisen und Erfahrungen, d.h. Sie fügen den sich aufdrängenden Angst-
vorstellungen neue Elemente hinzu, sodass Sie trotz der realen Hilflosigkeit dennoch
irgendwie stärker wirken.
10. Zur weiteren Stärkung Ihres Selbstvertrauens können Sie abschließend den Film in
der Beobachter- und Teilnehmerposition wiederholt so ablaufen lassen, als würden
Sie eine ähnliche Situation in der Zukunft erleben, wo es Ihnen allerdings gelingt,
eine andere, positivere Bewältigungsstrategie anzuwenden und eine Wiederholung
der traumatischen Ereignisse der Vergangenheit zu verhindern.

Im Folgenden werden Übungsvorschläge zum mentalen Training bei Agoraphobie bzw.


Panikstörung vorgestellt, die je nach Bedarf individuell abgewandelt werden können.

Vorstellung einer real bewältigten Angstsituation (Blick zurück). Erinnern Sie sich an
eine Situation, die Sie früher gefürchtet haben, nunmehr jedoch bewältigen können, weil
Sie diese bereits mehrfach intensiv erlebt haben. Vergegenwärtigen Sie sich diese Er-
fahrung vom anfänglichen Unbehagen an bis zur gelungenen Bewältigung.

Vorstellung einer erfolgreichen, in dieser Weise bisher noch nie gelungenen Angstbe-
wältigung („Ein schöner Tagtraum“). Vermitteln Sie sich in Form eines Tagtraums die
mentale Erfahrung der Bewältigung einer in der Realität noch nicht erfolgreich erlebten
Situation. Was Sie sich konkret vorstellen können, wird Sie stärker motivieren.

Vorstellung der erfolgreichen Angstbewältigung durch eine Modellperson. Stellen Sie


sich vor, wie eine für Sie attraktive Modellperson die gefürchteten Angstsituationen
meistert. Was würde diese Person in derselben Angstsituation denken und tun? Was tut
diese Person, wozu Sie derzeit noch nicht in der Lage sind? Was lernen Sie daraus?
Kognitive Strategien der Angstbewältigung 553

Lautes Verbalisieren der Angst machenden Vorstellungen. Die Wirkung der imaginier-
ten Reizkonfrontation wird erhöht, wenn Sie bei geschlossenen Augen alles, was Sie
sich vorstellen, laut aussprechen, um auf diese Weise in der Angstsituation zu verblei-
ben. Sprechen Sie dabei in der Ich-Form und in der Gegenwartsform, als ob die Erei-
gnisse jetzt passieren würden. Nehmen Sie Ihre Angstgedanken bis zur vermeintlichen
Katastrophe, aber auch Ihre Gedanken nach der überlebten Katastrophe, auf Tonband
auf und hören Sie diese Ausführungen später immer wieder an. Besprechen Sie das
Tonband, als würden Sie die Panikattacke oder die traumatisierende Situation momen-
tan erleben und hören Sie das Band dann zusammen mit einer Vertrauensperson an.

Intensives Wiedererleben der letzten Panikattacke. Schließen Sie die Augen und stellen
Sie sich die Situation rund um die letzte Panikattacke ganz konkret vor. Erleben Sie die
Panikattacke im Zeitlupentempo noch einmal mental durch, und zwar in der Ich-Form
und in der Gegenwartsform, z.B. „Ich atme jetzt schneller, mein Herz beginnt zu rasen,
mir wird leicht übel, ich zittere leicht usw.“ Wie fängt die Panikattacke an, was macht
sie ärger? Was ist das Schlimmste? Erinnern Sie sich dabei auch, wie Sie diesen Angst-
anfall überlebt haben. Wenn Sie vom gegenwärtigen Standpunkt aus auf die Panikattak-
ke zurückblicken, stärken Sie Ihren Glauben an deren Bewältigbarkeit.

Bewusstes und intensives Erleben der bei einer Panikattacke ablaufenden Kreislaufre-
aktionen. Üben Sie folgende gelenkte Vorstellungsübung („Ohnmachtsangst“), um
durch bewusste Konzentration auf die gefürchteten körperlichen Vorgänge diese besser
ertragen zu lernen. Sprechen Sie den folgenden oder einen ähnlichen Text langsam und
mit Pausen auf Tonband und hören Sie sich die Geschichte immer wieder an, bis Sie
damit keine Probleme mehr haben.

Ich stehe da und habe Angst, bald umzufallen. Ich weiß nicht warum und lasse diese Erfahrungen
dennoch zu. Meine Blutgefäße erweitern sich und mein Blutdruck sackt ab. Ich erlebe Schwindel,
Druck auf der Brust, Schweißausbruch, Übelkeit, weiche Knie und Kribbeln in den Händen. Ich fürchte
mich davor, ohnmächtig zu werden. Rundherum sind Leute, die mich sehen könnten, wie ich zu Boden
sinke. Was werden die Umstehenden tun? Mich anstarren, mich angreifen oder die Rettung rufen? Ich
kenne meine Zustände und werde es ablehnen, mich von einem Rettungswagen in ein Krankenhaus
bringen zu lassen. Und wenn ich doch mitfahren muss, werde ich dem Aufnahmearzt im Krankenhaus
sagen, dass ich nicht aufgenommen werden möchte. Ich bin bereit, kurz ohnmächtig zu werden, die
Kontrolle zu verlieren und mich den anderen Menschen hilflos auszuliefern. Ich möchte das wirklich
einmal erleben, was ich die ganze Zeit fürchte, um die Erfahrung zu machen, dass ich es überlebe. Ich
vergegenwärtige mir jene Situation, in der ich am ehesten umfallen oder eine Panikattacke erleben
könnte. Ich stelle mir vor, wie sich in der Ohnmacht mein Blutdruck wieder normalisiert, sodass ich
bald zu mir komme, sollte ich überhaupt ohnmächtig werden. Ich fürchte mich vor diesen Vorgängen,
habe Angst umzufallen, möchte mich daher im Stehen am liebsten nicht bewegen oder zur Sicherheit
hinlegen. Wenn ich mich jedoch nicht bewege, um den Blutdruck durch die Verengung meiner Blutge-
fäße rasch wieder zu heben, muss ich es aushalten lernen, wenn mein Herz durch einen Adrenalinstoß
angekurbelt wird, um den Blutdruck zu heben. Ich spüre bereits, wie mein Herz zu rasen beginnt, um
meinen Kreislauf wieder anzukurbeln. Das Pochen und Rasen meines Herzens macht mir Angst, dass
mir etwas Gefährliches zustoßen könnte. Ich bewege mich intensiv, schüttle meinen Körper so, wie ein
nasser Hund das Wasser abschüttelt, und erhöhe damit den Blutdruck derart, dass ich nicht mehr ohn-
mächtig umfallen kann. Die körperlichen Reaktionen zeigen mir, dass mein Körper richtig funktioniert
und bemüht ist, mich vor einer Ohnmacht zu bewahren. Ich bin ganz gesund, wenn ich so dastehe und
mein Herz und meinen Kreislauf bei der Arbeit erlebe. Ich beruhige mich, indem ich langsam durch den
Mund ausatme und durch die Nase einatme. Was sich die Leute über mich denken, wenn Sie mich so
sehen, ist mir egal. Jedem kann es einmal schlecht gehen. Doch nicht jeder hat den Mut, dies zu zeigen.
554 Selbsthilfe bei Angststörungen

Zu-Ende-Denken der Angst machenden Gedanken im Sinne einer massierten Reizüber-


flutung („Die Katastrophe“: Das Allerschlimmste außer Sterben). Die negativen Ge-
danken, was alles passieren könnte, kehren immer wieder, ohne jemals richtig zu Ende
gedacht zu werden (z.B. „Was wäre, wenn ich einen Herzanfall bekomme, wenn ich
umfalle, wenn ich keine Luft bekomme, wenn ich am ganzen Körper zittere?“). Das
ständige Grübeln über Angstsituationen, ohne wirklich eine genaue Vorstellung davon
zu haben, was im Extremfall passieren könnte (außer sterben), stellt letztlich eine Mei-
dung der gefürchteten Situationen und Zustände dar und ermöglicht infolgedessen auch
keine mentale Bewältigung. Oft verhindert gerade der Gedanke an den Tod die mentale
Bewältigung von Vorstellungen des Zweitschlimmsten. Lassen Sie in Ihrer Vorstellung
einen Film ablaufen, der nicht kurz vor bzw. während der größten Angst durch einen
„Filmriss“ endet, sondern mit einem Katastrophenschluss (außer Sterben), egal welcher
Art, denn jeder Schluss vermittelt die Botschaft: „Das Überleben ist allemal gewiss.“
Stellen Sie sich danach vor, wie es nach der „Katastrophe“ weitergehen könnte und
entwickeln Sie mindestens drei Schlussversionen dieses Katastrophenfilms. Positives
Denken bedeutet nicht, das Negative zu leugnen oder auszublenden, sondern real mögli-
che Gefahren und Probleme für bewältigbar zu halten.
Die Technik der Katastrophenfantasien wird auch von P. Watzlawick in dem Buch
„Die Möglichkeit des Andersseins“ empfohlen: Klienten sollten mit dem Therapeuten
nicht einfach nur darüber sprechen, wovor sie sich fürchten, sondern sich die katastro-
phalsten, unwahrscheinlichsten Folgen ausdenken, die ihr Problem haben könnte.

Vergegenwärtigung des eigenen Todes. Panikattacken lassen sich sehr schnell überwin-
den, wenn man sich in mutiger Weise der Unausweichlichkeit des Todes stellt.
Stellen Sie sich vor, Sie liegen auf dem Totenbett, noch voll bei Bewusstsein, aber
in der Gewissheit, dass der Tod unmittelbar bevorsteht und vielleicht schon in der näch-
sten halben Stunde eintreten wird. Woran werden Sie sterben? Wie stellen Sie sich das
Sterben vor? Wer soll nach Ihrem Wunsch an Ihrem Totenbett stehen? Von welchen
Menschen fällt Ihnen der Abschied besonders schwer? Was möchten Sie den Umste-
henden in Ihren letzten Worten mitteilen? Welches Testament werden Sie Ihren Ange-
hörigen hinterlassen? Was kann Ihnen Hoffnung geben, dass die anderen nach einer
Phase der Trauer ohne Sie gut weiterleben können? Von welchen nicht verwirklichten
Lebensträumen müssen Sie Abschied nehmen? Auf welche der nicht gelebten Möglich-
keiten können Sie am schwersten verzichten? Wie stellen Sie sich das „Sein nach dem
Tode“ vor, z.B. als „Weiterleben“ in einer bestimmten Form oder als völlige Auslö-
schung Ihrer Person? Es gibt viele Beispiele dafür, dass Ruhe und Frieden in Sterbende
und Todgeweihte einkehrt, wenn sie die Unvermeidbarkeit des Todes akzeptiert haben.
Wenn Sie diese Übung nicht allein durchführen können, weil Sie die „totale Panik“
fürchten, dann sollte Ihnen bewusst werden, dass Unmengen von Beruhigungsmitteln
nicht ausreichen werden, die mit den Panikattacken verbundenen Todesängste zu besei-
tigen. Brauchen Sie wirklich auch dann noch abhängig machende Beruhigungsmittel
und/oder eine lange Psychotherapie, wenn Sie die Todesangst als das schmerzliche
Bewusstwerden der Endlichkeit Ihrer Existenz akzeptiert haben? Brauchen Sie viel-
leicht gerade deshalb eine zumindest kürzere Psychotherapie, weil Sie mit diesen exi-
stenziellen Ängsten gegenwärtig nicht umgehen können? Wie groß ist – in einem Pro-
zentwert angegeben – der Anteil der Todesangst an Ihren krankhaften Ängsten? Oder
leiden Sie unter einer Hypochondrie? Im Falle von Krankheitsängsten empfehle ich
Ihnen meinen Selbsthilfe-Ratgeber: „Krankheitsängste verstehen und überwinden.“
Kognitive Strategien der Angstbewältigung 555

Durchspielen der gefürchteten Situation in Form eines Rollenspiels, wobei Sie bei ent-
sprechenden technischen Möglichkeiten auch eine Videoaufzeichnung vornehmen kön-
nen. Stellen Sie sich zu Hause vor, wie Sie sich gerade in der Ernstsituation befinden.
Wenn es Ihnen hilft, sich eine Situation möglichst realistisch zu vergegenwärtigen,
können Sie dabei auch die Augen schließen. Spielen Sie dann buchstäblich in Form
eines kleinen Stückes alles durch, was Ihnen real passieren könnte: Sie werden schwind-
lig, Sie schwanken, Sie wollen sich anhalten, tun es aber nicht, Sie beginnen vermehrt
zu atmen oder halten die Luft an, Sie spüren, wie weich oder angespannt Ihre Knie sind,
und lassen es zu, dass Sie umfallen, bleiben eine Weile liegen und versuchen sich dann
langsam wieder zu erheben. Sie können den ganzen Ablauf auch so gestalten, dass Sie
sich vorstellen, Sie seien eine Schauspielerin, die für die Zuschauer des Films genau das
spielt und ausagiert, was Sie denken und fürchten.

Vorstellen der nächsten Panikattacke mit erträglichem Ausgang. Vorhandene Ängste


werden gerade dadurch panikartig gesteigert, dass am Höhepunkt der Angstvorstellung
(bildhafte Vergegenwärtigung von Herzinfarkt, Ohnmacht, Erbrechen, soziale Auffäl-
ligkeit wie Zittern usw.) ein „Filmriss“ erfolgt. Die Panikvorstellung ist das Ende, es
geht nicht mehr weiter. Lernen Sie, diesen „Film“ innerlich fortlaufen zu lassen, sodass
es zu einem erträglichen Ausgang kommt. Entwickeln Sie mindestens drei Varianten,
wie Sie die für Sie bedrohliche Situation einigermaßen gut überstehen können.
In ähnlicher Weise lernen Menschen, wie sie mit Albträumen umgehen können, die
sie nachts am Höhepunkt des Dramas, kurz vor dem vermeintlichen Ende, immer wie-
der munter werden lassen. In Tagträumen spielt man die Szene immer wieder durch und
entwickelt ein Traumende mit konkreten Überlebensvorstellungen.

Zwei Beispiele zur Imagination einer bevorstehenden Panikattacke:


z Sie fürchten eine Panikattacke in der Straßenbahn oder im Bus. Sie bekommen bei
geschlossenen Fenstern zu wenig Luft, Sie atmen verstärkt und spüren Ihren raschen
Herzschlag. Es wird Ihnen übel und Sie haben Angst zu erbrechen. Sie fürchten sich
davor, auffällig zu werden. Sie steigen jedoch nicht aus dem Verkehrsmittel aus,
sondern setzen die Bauchatmung ein (zur Erleichterung Lufteinschnüffeln durch die
Nase), während Sie Ihre Hand auf Ihre Bauchdecke legen und durch den Mund aus-
atmen. Nach einiger Zeit können Sie zwar erschöpft, jedoch mit einem Erfolgserleb-
nis an Ihrem Ziel aussteigen.
z Sie fürchten eine Ohnmacht in einem Geschäft. Sie fühlen sich im Supermarkt plötz-
lich schwindlig und der Ohnmacht nahe. Sie möchten bei vollem Einkaufswagen
flüchten, sehen jedoch die lange Warteschlange bei der Kasse, sodass Sie nicht hi-
nauskommen. Sie sind in der Falle, Ihre Angst steigt dadurch. Sie spüren, dass Sie
keine Luft mehr bekommen, Ihr Herz schlägt bis zum Hals, Sie beginnen zu schwit-
zen und zu zittern. Sie erinnern sich an Ihre letzte Panikattacke, wo Sie Angst zu
sterben gehabt haben. Sie möchten sich am liebsten am Einkaufswagen festhalten,
tun dies jedoch bewusst nicht, sondern stehen frei und sind bereit umzufallen und
auffällig zu werden. Sie haben den Eindruck, dass jemand etwas bemerkt haben
könnte. Sie schütteln Arme und Beine kräftig durch (mutig vor anderen oder in einer
Ecke), atmen intensiv über die Lippenbremse aus und durch die Nase ein („Ein-
schnüffeln“ bewirkt Zwerchfellatmung). Sie bleiben aufrecht, gehen umher und be-
schließen, noch mindestens eine Viertelstunde zu bleiben, um Ihre ständige Flucht-
bereitschaft zu überwinden. Abschließend loben Sie sich kräftig.
556 Selbsthilfe bei Angststörungen

Negative Vorstellungen bei einer beginnenden Panikattacke durch positive überlagern.


Vergegenwärtigen Sie sich die Empfindungen einer beginnenden Panikattacke und
koppeln Sie diese mit einer anderen, positiven Körpererfahrung, z.B. mit einer gelunge-
nen sportlichen Betätigung, einem schönen Urlaubserlebnis oder einer liebevollen Um-
armung des Partners. Entwickeln Sie ganz konkrete, positive Vorstellungsbilder und
damit verbundene angenehme Gefühle, die Ihre negativen Gedanken und Körperemp-
findungen überlagern. Setzen Sie dabei alle Sinneskanäle genauso ein, wie Sie dies
unbewusst bei der Vorstellung von Angstsituationen tun. Trainieren Sie die vorstel-
lungsmäßige Entwicklung wunderschöner Situationen, wo Sie sich grenzenlos wohl und
geborgen fühlen, und überlagern Sie damit die aktuelle negative Befindlichkeit. Beson-
ders hilfreich ist die Vergegenwärtigung schöner Erlebnisse. Mit dieser Übung sollen
Sie lernen, einerseits negative Erinnerungen und Angst machende Vorstellungen be-
wusst zuzulassen, um sie dann durch einen positiven Fortgang zu bewältigen. Auf diese
Weise machen Sie die Erfahrung, dass Sie nichts unterdrücken müssen.

Einige Beispiele zur Imagination positiver Erlebnisse sollen zu eigenen Ideen anregen:
z Urlaub am Meer. Sie liegen am Meer, lassen sich mit jeder Ausatmung angenehm
schwer in Ihren Liegestuhl fallen, sehen die Weite des blauen Meeres, hören das
Rauschen der Wellen, riechen den salzigen Seetang, spüren die warmen Sonnen-
strahlen auf Ihrer Haut und die angenehm kühlende Wirkung der Meerestropfen in
Ihrem Gesicht und genießen die Urlaubsstimmung. Was die Leute um Sie herum re-
den, ist Ihnen egal, auch wenn es über Sie sein sollte, denn Sie verstehen ihre Spra-
che überhaupt nicht.
z Bergerlebnis. Sie stehen sicher und fest auf einem Berggipfel, schauen auf das ein-
zigartige Panorama hinab, erleben das beruhigende Grün der Berghänge, blicken auf
den blauen Himmel, hören den heißeren Schrei einer Krähe, spüren einen angeneh-
men Lufthauch über Ihr Gesicht streichen, atmen die frische Bergluft ein und tanken
sich dadurch auf mit neuer Energie, fühlen sich abgehoben vom Lärm des Tales, al-
les schaut so weit weg aus. Sie stehen souverän über den Dingen und können ent-
scheiden, wann Sie sich wieder auf das Gewühl im Tal einlassen. Wenn auf Sie et-
was bedrückend wirkt wie ein dominierender Berg in einem engen Tal, dann stellen
Sie sich vor, Sie sehen alles vom Gipfel aus und blicken hinunter von der Weite des
Bergkamms.
z Erfolgserlebnis. Vergegenwärtigen Sie sich eines Ihrer größten Erfolgserlebnisse
und spüren Sie die dabei auftretenden körperlichen Empfindungen. Sehen Sie Ihr
Verhalten wie in einem Videofilm vor sich und schlüpfen Sie in diesen Körper, wo
Sie sich dann selbst nicht mehr sehen und plötzlich alles so erleben, als wäre es ge-
genwärtig. Spüren Sie mit allen Fasern Ihres Körpers die Kompetenz und den Wert
Ihrer Person. Mit jeder Einatmung tanken Sie sich auf mit jener Kraft und Energie,
die Sie aus diesem Erfolgserlebnis beziehen. Mit diesem Körpergefühl gehen Sie ge-
lassen auf gefürchtete Situationen oder Personen zu.
z Lieblingsmusik. Schließen Sie Ihre Augen und vergegenwärtigen Sie sich mental
Ihre Lieblingsmusik. Stellen Sie sich vor, Sie haben erstklassige Kopfhörer auf, ver-
sinken tief in der Welt der Musik und blenden die ganze Umwelt für einen bestimm-
ten Zeitraum aus, um sich aufzutanken. Hören Sie die Melodie, erleben Sie den
Rhythmus, der Sie mitreißt, bewegen Sie Ihren Körper bzw. Ihre Lippen, um Ihre
lebendige Teilnahme zu verstärken, spüren Sie das angenehme Kribbeln in Ihrem
Körper und lassen Sie angenehme Bilder aufkommen, die zu dieser Musik passen.
Kognitive Strategien der Angstbewältigung 557

Verknüpfung bestimmter Körperempfindungen bei Panikattacken mit anderen Erlebnis-


sen. Körperliche Zustände wie Herzrasen, Atembeschleunigung, Heißwerden, Schwit-
zen, Schwindel usw. treten in zahlreichen anderen Situationen auf, die üblicherweise
nicht mit Angst und Panik verbunden sind.
z Ein Saunabesuch. Stellen Sie sich die geschlossene Sauna kurz nach einem Aufguss
vor und spüren Sie, wie Ihr Körper zu schwitzen beginnt und Sie so gut als möglich
durchatmen. Vergegenwärtigen Sie sich, wie Ihr Herz dies aushält, auch die an-
schließende Abkühlung im kalten Wasser.
z Unmittelbar nach einer sportlichen Höchstleistung. Stellen Sie sich vor, Sie sind
gerade ein längeres Stück so schnell wie möglich gelaufen, die Stiegen bis zum ach-
ten Stock eines Hochhauses rasch hinaufgegangen usw. Spüren Sie das Herzrasen,
die Atemnot, den Schweiß und die Erschöpfung.
z Vorstellung eines großen Erfolgserlebnisses. Stellen Sie sich vor, Sie haben etwas
geschafft und sind ganz aufgeregt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen,
z.B. Überreichung des Abschlusszeugnisses nach einer längeren Ausbildung.
z Ein schönes sexuelles Erlebnis. Stellen Sie sich vor, wie Ihr Herz schlägt, Ihre At-
mung hörbar und schnell geht, Ihr Körper ganz angespannt und heiß wird und
schließlich von Schweiß überzogen ist, bis Sie schließlich im Orgasmus das Gefühl
bekommen, ganz weggetreten zu sein. Nicht selten haben Panikpatienten wegen der
dabei erlebten körperlichen Zustände auch Angst vor sexueller Erregung.

Die Konzentration auf die Inhalte des mentalen Trainings wird oft durch Störgedanken
oder Abschweifen beeinträchtigt. Ein direktes Dagegen-Ankämpfen führt jedoch oft zur
Fixierung darauf. Hilfreich sind Vorstellungen, wie unerwünschte Gedanken von allein
wieder so verschwinden werden, wie sie gekommen sind.
Störende Gedanken
z ziehen dahin wie die Wolken am Himmel,
z taumeln weg wie die Blätter im Herbstwind,
z werden weggetrieben wie Abfälle in einem Fluss,
z lösen sich auf wie der Nebel, der eine schöne Landschaft freigibt,
z werden in Kisten eingepackt wie Objekte und im Keller oder Dachboden abgestellt.

Viele Menschen glauben, sie müssten ihre negativen und ängstlichen Vorstellungen
durch positives Denken ersetzen. Einseitig positives Denken und übertrieben positive
Tagträume („Luftschlösser“) führen zur Entfernung von der Alltagswelt und bewirken
keine Verbesserungen im Leben, weil sie die Schattenseiten des Lebens ausblenden.
Nach neueren psychologischen Forschungsbefunden sind positive Fantasien anfangs
zwar sehr wichtig, um überhaupt Veränderungswünsche entstehen zu lassen, in weiterer
Folge sind jedoch realistisch-negative Vorstellungen hilfreicher, um mit möglichen
Problemen, Schwächen, Gefahren und Rückfällen besser umgehen zu lernen. Nur die
Vorstellung der konkreten Bewältigbarkeit hilft uns, daran zu glauben, dass unsere
Träume Wirklichkeit werden können und die befürchteten Probleme lösbar sind.
In dem Buch „Psychologie des Zukunftsdenkens“ von Gabriele Oettingen werden
verschiedene Studien beschrieben, die belegen, dass problemorientierte, realistische und
damit auch negative Fantasien zu produktiveren Ergebnissen führen, als allzu positive
Vorstellungen und Hoffnungen, die sich nicht mit konkreten Schritten beschäftigen, wie
befürchtete Situationen bewältigt werden können. Die vorstellten mentalen Übungen zur
Angstbewältigung entsprechen diesen psychologischen Erkenntnissen.
558 Selbsthilfe bei Angststörungen

Tagebuchschreiben und Tonbandgespräche –


Therapeutischer Dialog mit der Angst
Das regelmäßige Tagebuchschreiben und Besprechen eines Tonbandes bei starkem
innerem Druck hat einen großen therapeutischen Effekt [24]. Der verbale Ausdruck von
Gefühlen führt zu einer ersten emotionalen Entlastung, das Reden über traumatische
Erfahrungen kann vor psychovegetativen Störungen bewahren.
Das Schreiben über ein früheres traumatisches Ereignis an vier aufeinander folgen-
den Tagen führt zu einem Rückgang der Arztbesuche in den nächsten sechs Monaten.
Jene Personen, die nicht nur über die Fakten des traumatischen Ereignisses, sondern
auch über ihre Gefühle schreiben, profitieren vom Niederschreiben ihrer Erfahrungen
am meisten. Diese Erkenntnisse hat der amerikanische Psychologe Pennebaker [25]
durch mehrere Studien gewonnen.
Belastende emotionale Zustände in Worte fassen zu können hat eine therapeutische
Wirkung. Psychovegetative und psychosomatische Störungen sind oft ein sprachloser
Ausdruck dafür, dass es irgendwo drückt. Mit dem Begriff „Alexithymie“ wird der
Umstand bezeichnet, dass die betroffenen Patienten ihre Gefühlszustände nicht wahr-
nehmen, differenzieren und sprachlich ausdrücken können, sodass sich diese in körper-
lichen Zuständen einen Weg bahnen.
Manchmal kann man eine bestimmte Situation nicht in den Griff bekommen, wohl
aber seine Gedanken und Gefühle dazu formulieren und auf diese Weise die Erfahrung
machen, dass dies eine gewisse Kontrolle ermöglicht, nämlich über den eigenen Körper.
Nehmen Sie sich für Ihre Angstgedanken täglich etwas Zeit (10 Minuten sind oft
ausreichend) und schreiben Sie in Tagebuchform auf, was Sie gerade beschäftigt.
Schreiben Sie in Angstsituationen oder kurz danach alles auf, was Sie gerade denken,
fühlen und zu sich sagen. Sprechen Sie Ihre Gedanken und Gefühle auch nach freiem
Einfall auf ein Tonband. Lesen und hören Sie Ihre Aufzeichnungen immer wieder, um
sich damit auseinanderzusetzen, bis die entsprechenden Dinge für Sie „erledigt“ sind.
Beim Schreiben oder Reden zwingen Sie sich dazu, konfuse Gedanken zu ordnen,
vage Befürchtungen zu Ende zu denken und damit irgendeinen Lösungsweg anzupeilen.
Beim bloßen Nachdenken besteht die Gefahr, dass Sie ständig „im Kreis“ denken. Die
Wirkung von Therapiegesprächen beruht zum Teil auf einem ähnlichen Effekt wie das
Tagebuch- oder Briefschreiben und das Besprechen eines Tonbandes. Analysieren Sie
später, wenn Sie einen gewissen Abstand dazu haben, Ihre Gedanken und Befürchtun-
gen, die Sie auf Papier bzw. Tonband gebracht haben, um daraus zu lernen, was Sie
ändern müssen, wenn es Ihnen besser gehen soll.
Zu Beginn des Schreibens oder Sprechens auf Tonband kann es sein, dass es Ihnen
seelisch und körperlich nicht besser, sondern schlechter geht, weil Sie Ihre bislang ge-
miedenen Gefühle bewusst provozieren, um damit umgehen zu lernen. Dies weist dar-
auf hin, dass nicht Verdrängen, sondern Bewältigen von schmerzvollen Gefühlen zu
dauerhaften Zustandsverbesserungen führt. Führen Sie einen Dialog mit Ihrer Angst:
z Stellen Sie sich vor, Ihre Angst wäre eine menschliche Person, mit der Sie reden
könnten oder der Sie einen Brief schreiben könnten („Meine liebe Angst!“).
z Stellen Sie sich Ihre Angst als personifizierten Teil in Ihnen vor, der zu Ihnen gehört
und mit dem Sie auch in Zukunft leben und zusammenarbeiten müssen. Stellen Sie
sich daneben auch einen personifizierten Teil der Stärke und des Selbstvertrauens in
Ihnen vor und lassen Sie diese beiden Teile oft miteinander in Dialog treten, mit al-
lem Respekt voreinander, wie auch sonst Gespräche geführt werden sollen.
Kognitive Strategien der Angstbewältigung 559

Selbstinstruktionstraining
Wir führen ständig bewusst und unbewusst innere Dialoge. Wir sprechen mit uns selbst
und instruieren uns, was wir tun und lassen sollen. Bei Versagensangst demotivieren
wir uns durch negative Selbstinstruktionen („negative Selbsthypnose“). Das Gehirn
reagiert auf Bedrohungsvorstellungen ähnlich rasch wie auf äußere Gefahren. Bei der
Behandlung von Ängsten kommt der Veränderung von Selbstgesprächen, inneren Mo-
nologen und Selbstinstruktionen eine große Bedeutung zu. Innerlich anders mit sich
reden können schafft die Voraussetzung dafür, äußerlich anders handeln zu können.
Butollo und Höfling [26] weisen in ihrem Buch zur Behandlung chronischer Ängste
und Phobien auf das Gefühl der Kompetenz durch ein Selbstinstruktionstraining hin:

„Nicht was man sich in diesen Augenblicken sagt ist wichtig, sondern daß man sich etwas sagt, und daß
man an die Wirkung dieser Aussagen glaubt. Wenn man an die angstreduzierende Wirkung einer
Selbstinstruktion, einer Bewältigungsstrategie, einer Ablenkung oder eines Stoßgebetes glaubt, tut man
kognitiv etwas fundamental anderes als sich Angst-Machen durch Zweifeln an der eigenen Kompe-
tenz... Letztlich scheint eine kognitive Bewältigungsstrategie die Bedeutung der Kontrollierbarkeit der
Aversivität eines Ereignisses ... zu vermitteln. Die Kontrolle muß nicht unbedingt ausgeübt werden, um
zu beweisen, daß sie effektiv ist, sie muß nicht einmal realistisch sein, es kann schon genügen, daß sie
als effektiv bewertet wird.“

Die inneren Dialoge von Angstpatienten können durch ein Selbstinstruktionstraining


gezielt verändert werden. Das Selbstinstruktionstraining geht auf die Forschungsergeb-
nisse und Trainingsprogramme des kanadischen Psychologen Donald Meichenbaum in
den 1970er-Jahren zurück. Selbstinstruktionsverfahren können gut mit den verschiede-
nen Methoden der Angstbehandlung (Konfrontationstherapie, Selbstsicherheitstraining)
verbunden werden. Das Stressimpfungstraining nach Meichenbaum [27] ist ein auf
Selbstinstruktionen aufgebautes Verfahren zur Bewältigung der verschiedensten Stress-
und Angstsituationen. Diese Technik zählt zu den Methoden der kognitiven Umstruktu-
rierung und besteht aus vier sich zeitlich überlappenden Schritten:
1. Vorbereitung auf ein Angst auslösendes Erlebnis. Der Betroffene versucht sich zu
orientieren, stellt klar, was zu tun ist, und versichert sich der einzelnen Verhaltens-
möglichkeiten („Was muss ich jetzt zuerst tun?“, „Was genau erwartet mich jetzt?“,
„Überlege Dir, was du machen kannst. Das ist besser, als ängstlich zu werden. Was
du für Angst hältst, ist nur die Anspannung vor dem bevorstehenden Ereignis“).
2. Begegnung mit der Angstsituation und Umgang mit ihr. Der Betroffene erinnert
sich, was er angesichts einer belastenden oder Angst machenden Situation ganz
konkret tun sollte und vergegenwärtigt sich die vorher erarbeiteten Selbstinstruktio-
nen („Ich gehe in kleinen Schritten vor“, „Ich lenke mich während einer Panikattak-
ke ab“, „Ich atme durch“).
3. Bewältigung des Gefühls, überwältigt zu werden. Der Ernstfall und die drohende
Panikattacke werden vorweggenommen. Entsprechende Selbstinstruktionen dienen
der Verhinderung von Panikreaktionen („Es ist belastend, aber aushaltbar“, „Es geht
bald vorbei, wie es bisher immer der Fall war“, „Ich konzentriere mich jetzt ganz auf
die Umwelt“, „Ich bewege mich, um das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden“).
4. Phase der Selbstverstärkung. Verstärkende Selbstaussagen im Sinne der Selbstbe-
lohnung sollen das Bewältigungsverhalten aufrechterhalten. Der Patient soll sich da-
für loben, dass er sich der Angst gestellt und neue Verhaltensweisen eintrainiert hat
(„Ich habe es geschafft“, „Das habe ich jetzt gut gemacht“, „Ich kann stolz sein“).
560 Selbsthilfe bei Angststörungen

Je nach der Art der Erwartungen können verschiedene Angst verstärkende Selbstin-
struktionen in Angstsituationen unterschieden werden:
z Selbstinstruktionen über Situationserwartungen beziehen sich auf die momentane
Situation und deren Veränderungen, die ohne das eigene Verhalten zu erwarten sind:
„Die morgige Prüfung wird bestimmt schwer.“
z Selbstinstruktionen über Kompetenzerwartungen beziehen sich darauf, inwieweit
sich eine Person ein bestimmtes Verhalten zutraut (z.B. „Ich schaffe es bestimmt
nicht, in dieser Situation auszuharren“, „Ich bleibe so lange in der Situation, bis ich
es vor lauter Angst nicht mehr aushalten kann“, „Das schaffe ich nie“, „Ich werde
kein Wort herausbringen“, „Ich werde bei der Prüfung bestimmt durchfallen“) bzw.
inwieweit sie ein Gefühl der Kontrolle über ein unerwünschtes Verhalten zu haben
glaubt (z.B. „Bestimmt gerate ich außer Kontrolle“, „Gleich werde ich ohnmächtig“,
„Wenn die Panik kommt, muss ich sofort weg von hier“, „Wenn das Herz wieder zu
rasen beginnt, halte ich das nicht mehr lange aus“, „Ich werde bestimmt rot“,
„Gleich werde ich wieder stottern“).
z Selbstinstruktionen über Folgeerwartungen haben das eigene Verhalten und seine
Folgen und Auswirkungen zum Inhalt (z.B. „Wenn ich nicht rechtzeitig aus der
Angstsituation flüchten kann, wird mir etwas passieren“, „Wenn ich zittere oder rot
werde, bin ich bei den anderen erledigt“, „Die anderen merken, dass ich rot werde“,
„Wenn ich jetzt versage, werde ich diese Situation nie mehr aufsuchen“).

Verschiedene Anregungen für hilfreiche Selbstinstruktionen stammen aus folgenden


zwei Büchern:
z „Umarme Deine Angst“ von Kaestele (vergriffen)
z „Angst, Panik und Phobien. Ein Selbsthilfeprogramm“ von Peurifoy.

Positive Selbstinstruktionen
Aus dem Sport ist bekannt, dass bereits vor dem Aufgeben und dem tatsächlichen Ver-
sagen die Selbstgespräche kippen in die Richtung: „Das schaffe ich nicht.“ Psychologi-
sche Trainingsmethoden im Spitzensport zielen darauf ab, den Kampf um das Durchhal-
ten über positive Selbstgespräche zu stärken. Dabei werden keine unrealistischen Ziele
angepeilt, sondern realistische Leistungsmöglichkeiten vergegenwärtigt.
Wenn Sie angesichts einer bestimmten Situation Angst haben und mit Problemen
rechnen, heißt dies noch lange nicht, dass eine Katastrophe eintreten muss. Positives
Denken bedeutet nicht unbedingt, einen problemlosen Ausgang zu erwarten, sondern
sich mögliche Probleme als bewältigbar vorstellen zu können. Statt „Es wird schon
nichts passieren“ lautet das Motto „Was auch immer passiert, ich werde damit zurecht-
kommen, weil ich noch alles irgendwie geschafft habe“; statt „Ich habe keine Angst“
oder „Wenn ich Angst bekomme, lenke ich mich schnell ab“ sagen Sie sich „Diese
Angst kann ich ertragen“. Das positive Denken, wie es oft verstanden wird, birgt die
Gefahr in sich, die negativen Aspekte des Lebens zu leugnen und nicht ausreichend
darauf vorzubereiten. Die Akzeptanz von Gefahr lenkt den Blick auf das Mögliche.
Positive Selbstinstruktionen werden unter verschiedenen Bezeichnungen eingesetzt:
z als „Affirmationen“ (Selbstbestärkungen),
z als „formelhafte Vorsatzbildungen“ im autogenen Training,
z als „Selbstsuggestionen“ im Bereich der Selbsthypnose.
Kognitive Strategien der Angstbewältigung 561

Positive Selbstinstruktionen sollten nach folgenden Richtlinien gestaltet werden:


z kurze, einfache und prägnante Sätze („Ich schaffe das“);
z konkrete und klare Aussagen („Ich trete morgen auf jeden Fall zur Prüfung an“);
z positive Formulierungen (z.B. „Ich kann in Geschäften ruhig und sicher umherge-
hen“ statt „Ich habe in Geschäften keine Angst mehr“);
z immer in der Gegenwart formuliert, und zwar möglichst so, als sei das gewünschte
Verhalten bereits eingetreten („Ich bin ganz ruhig und entspannt“, „Ich atme ruhig
und gleichmäßig“, „Ich kann die Angst aushalten“).

Mit Hilfe der Spaltentechnik können Sie Ihre Angst machenden Gedanken und negati-
ven Selbstgespräche analysieren, in positive Selbstinstruktionen umformen und sich
innerlich vorsagen lernen [28]. Jede positive Selbstaussage stärkt Ihre Selbstsicherheit,
jede ängstliche Selbstinstruktion schwächt Ihre Handlungsfähigkeit.
Unter großem Stress neigt man leicht zu „primitiveren“ Bewältigungsstrategien und
fällt man schnell auf die früheren negativen Denkmuster zurück, sodass die neuen Ein-
stellungen intensiv eintrainiert werden müssen, bevor sie aus dem Unterbewussten her-
aus wirksam werden können.

Tab. 19: Spaltentechnik: Negative und positive Selbstinstruktionen

Symptom Negative Selbstinstruktion Positive Selbstinstruktion


Schwindel Ich werde ohnmächtig. Wenn der Blutdruck steigt, bleibe ich
sicher bei Bewusstsein.
Herzrasen Gleich bekomme ich einen Herzin- Eine Panikattacke überlebt man im-
farkt und sterbe. mer. Ich habe sie bisher auch immer
überstanden.
Atemnot Ich muss grauenvoll ersticken. Ich atme zuerst langsam und vollstän-
dig durch den Mund aus und dann
langsam durch die Nase ein.
Zittern Alle werden auf mich schauen. Bisher habe ich noch immer alles
unauffällig geschafft.
Ohnmacht Ich liege da und keiner hilft mir. Ich komme ganz von allein wieder zu
mir.
Unwirklichkeit Gleich werde ich verrückt. Ich fühle mich anders und bin dabei
trotzdem normal.
Prüfungsangst Ich werde bestimmt versagen. Ich probiere es auf jeden Fall,
vielleicht geht es doch gut.
Angst vor Leuten Alle werden mich ablehnen. Ich möchte mich trotzdem so geben,
wie ich mich fühle.
Zittern Jeder wird meine Unsicherheit bemer- Alle Zuschauer haben Probleme, nur
ken. andere als ich.
Sprechhemmung Ich werde bestimmt stottern. Lieber spontan, echt und gesellig als
schweigsam, verstellend und einsam.
Unsicherheit Jeder wird meine Unsicherheit bemer- Lieber unsicher handeln als sicher
ken. schweigen.
Angst vor Kritik Bestimmt werden mich einige kritisie- Ich gehe meinen Weg. Irgendjemand
ren. wird mich immer kritisieren, egal was
ich tue.
Kontaktangst gegen- Mit mir wird bestimmt keine Frau Für den Anfang reicht es, dass ich
über dem anderen längere Zeit reden wollen. eine Frau 10 Minuten lang in ein
Geschlecht Gespräch verwickeln kann.
562 Selbsthilfe bei Angststörungen

Die wichtigsten Selbstinstruktionen können Sie auf ein kleines Kärtchen schreiben, stets
bei sich tragen und bei Bedarf vorher durchlesen [29]. Die positiven Selbstinstruktionen
sollten Sie auch im Rahmen von Entspannungsübungen gleichsam tief in Ihrem Unter-
bewusstsein verankern. Ein in „guten Tagen“ besprochenes Tonband oder bereitliegen-
des Tagebuch mit Ihren ermutigenden Selbstsuggestionen kann Ihnen gute Dienste
leisten in “schlechten Tagen“. Sie werden dadurch wieder an Ihre positiven Kräfte erin-
nert. Entscheiden Sie sich nach einigem Herumprobieren für einige wenige, besonders
passende Affirmationen, die Sie sich täglich innerlich mehrfach vorsagen, vielleicht
sogar auch laut aussprechen, um dadurch Ihre Kraft und Energie zu spüren. Sie können
diese Sätze eingebettet in einen umfassenderen Text auch auf Tonband sprechen, mit
Musik untermalen und täglich in einem Entspannungszustand anhören. Auf diese Weise
erstellen Sie Ihre eigene individuelle Kassette „Mentale Angstbewältigung“, wie Sie
derartige Produkte in recht allgemein formulierter Weise als CD zu kaufen bekommen.
Sie können einen passenden Satz auch im Sinne einer formelhaften Vorsatzbildung
während des autogenen Trainings verwenden.
Die folgenden Beispiele dienen als Anregung zur Entwicklung positiver Selbstin-
struktionen in Angstsituationen bzw. zur Stärkung vor Angstsituationen:
z Ich kann überall hingehen trotz meiner Angst vor Ohnmacht.
z Ich habe einen mutigen Teil in mir, den ich durch jedes mutige Verhalten stärke.
z Ich vertraue auf mich und kann Neues erleben.
z Ich schaffe, was ich mir vornehme.
z Was mir wirklich wichtig ist, erreiche ich bestimmt.
z Ich nehme meine Angst an und begegne mutig meinen Angstsymptomen.
z Ich akzeptiere meine Angstsymptome und tue, was zu erledigen ist.
z Ich akzeptiere Unsicherheit und Restrisiko angesichts der Zukunft als normal.
z Ich kann mich auf andere Menschen einlassen trotz meiner Angst.
z Ich kann Angst haben und meine Sachen trotzdem erfolgreich erledigen.
z Ich habe Angst, aber es wird trotzdem alles gut gehen.
z Angst ist nicht gefährlich – nur unangenehm. Ich habe sie schon oft ausgehalten.
z Meine Angst ist nur ein Adrenalinschub, und der ist bald vorbei.
z Meine Angstreaktionen sind alte Gewohnheitsmuster. Ich werde sie bald los sein.
z Ich tue alles, was mir wichtig ist, wenn es sein muss, auch mit Angstgefühlen.
z Mein Motto lautet: „Alles mit der Angst, nichts gegen die Angst.“
z Meine Angst zeigt, dass mir die Sache wichtig ist, ich tue, was ich kann.
z Ich kann die Angst nicht verhindern, ich kann ihr aber widerstehen.
z Ich muss nicht perfekt sein, ich kann das aber aushalten.
z Jetzt halte ich alles aus, was später kommt, werden wir sehen.
z Ich mache etwas nicht gerne allein, aber ich kann es, wenn es sein muss.
z Ich darf so sein wie ich bin. Ich darf auch schwach sein.
z Es ist ein Zeichen von Stärke, seine Schwäche zuzulassen.
z Angst macht mich gefühlvoll und menschlich.
z Ich nehme alle aufkommenden Gefühle wahr und kann sie aushalten.
z Meine Schwächen machen mich menschlich und liebenswert.
z Ich mag mich, auch wenn ich mich ängstlich und hilflos fühle.
z Ich akzeptiere mich im Moment so wie ich bin, egal wie viel Angst ich habe.
z Die anderen mögen mich auch dann, wenn ich Angst habe.
z Wenn ich durch Zittern, Schwitzen usw. auffalle, sehen die anderen wenigstens, dass
ich mir nichts einbilde.
Kognitive Strategien der Angstbewältigung 563

Alternative Selbstinstruktionen
Menschen mit Ängsten rechnen in jeder Situation gleich mit dem Schlimmsten. Tat-
sächlich sind jedoch mindestens drei Möglichkeiten gegeben:
z ein negativer Ausgang (das Allerschlimmste, die Katastrophe),
z ein positiver Ausgang (das Allerbeste, die Wunschlösung),
z ein erträglicher Ausgang (belastend, jedoch aushaltbar).

Tab. 20: Spaltentechnik: Alternative Selbstinstruktionen [30]

Das Allerschlimmste Erträglicher Ausgang Das Allerbeste


(Die Katastrophe) (Erleichterungsaussagen) (Positive Selbstinstruktion)
Mein Herz beginnt zu rasen. Das Herzrasen ist lästig, in drei Mein Herz ist gesund und
Ich bekomme einen Herzinfarkt. Minuten lässt es jedoch nach. schlägt ruhig.
Diese Prüfung schaffe ich nie. Wenn ich durchfalle, schaffe Ich habe so viel gelernt, dass
ich es beim zweiten Mal. ich die Prüfung sicher schaffe.
Gleich falle ich ohnmächtig um. Mir wird schwindlig, vielleicht Ich bewege mich kräftig, atme
falle ich auf, aber ich bleibe tief durch und fühle mich wohl.
stehen.

Ein Spruch lautet: „Die Freiheit beginnt bei drei Möglichkeiten.“ Bei einer Möglichkeit
steht man unter Zwang, bei zwei Möglichkeiten befindet man sich in einem Dilemma.

Negative Selbstinstruktionen in einen positiven Kontext einbetten


Angstgedanken sind häufig strukturiert nach einem „Wenn-dann-Muster“, z.B. „Wenn
ich mit dem Bus fahre, dann wird mir übel werden.“ Für bestimmte Situationen werden
spezifische, belastende Reaktionen vorhergesagt, die im Sinne einer sich selbst erfüllen-
den Prophezeiung tatsächlich einzutreten drohen. Diese starr und automatisch ablaufen-
den negativen Gedanken lassen sich durch direktes Ankämpfen dagegen oft nicht über-
winden, sodass es besser erscheint, sie anzunehmen und durch neue Gedankenverknüp-
fungen zu entschärfen, und zwar durch solche, die einen bewältigbaren Fortgang der
befürchteten Ereignisse enthalten.

Tab. 21: Spaltentechnik: Verknüpfung mit neuen Gedanken [31]

Wenn-dann Verknüpfung (und, aber) neuer Gedanke


Wenn ich vor Leuten reden muss, und ich werde mich kräftig bewegen,
dann werde ich zittern, damit es nicht so auffällt.
Wenn ich allein auf der Straße und ich atme tief durch die Nase ein,
gehe, dann wird mir schwindlig, sodass ich Sauerstoff bekomme.
Wenn ich mit anderen in einem und ich gehe kurz hinaus und komme
Lokal sitze, dann halte ich es nicht dann wieder auf meinen Platz
lange aus, zurück.
Wenn mein Mann nicht rechtzeitig und ich weiß, dass dies immer mein
nach Hause kommt, dann könnte erster Gedanke ist, bis ich mich
ihm etwas passiert sein, wieder beruhige.
Wenn ich mit dem Bus fahre, dann und ich atme durch die Nase tief ein,
wird mir übel, stehe auf und öffne ein Fenster.
564 Selbsthilfe bei Angststörungen

Selbstinstruktion als Entscheidungsdialog


Wählen und Entscheiden-Können sind zentrale Merkmale menschlicher Freiheit. Jeder
Zwang, etwas tun zu müssen, und jedes Ohnmachtsgefühl, nichts anderes tun zu können
bzw. zu dürfen, beeinträchtigt die Lebensqualität. Analysieren Sie, wie sehr Sie sich
bereits durch Ihre Sprache in Ihren Handlungsmöglichkeiten einengen, und entwickeln
Sie Sprachmuster, die Ihren Handlungsspielraum und Ihre Entscheidungskompetenz
betonen. Das Gefühl der Wahlfreiheit verbessert die aktuelle Befindlichkeit.
Sie müssen selbst im Rahmen einer Psychotherapie nicht alle Ängste überwinden.
Sie können frei entscheiden, bestimmte Ängste lieber zu behalten, als den Aufwand zu
ertragen, der zu deren Beseitigung erforderlich ist. Wenn Sie sich jedoch entschlossen
haben, alle Ängste zu überwinden, die Ihre Bewegungsfreiheit einengen, sollten Sie Ihre
alten Sprachmuster, die nur Angst- und Ohnmachtgefühle erzeugen (z.B. „Dieses Herz-
rasen ist nicht zu ertragen“), durch neue Selbstinstruktionen ersetzen, die Ihre Freiheit
und Risikobereitschaft betonen (z.B. „Ich entscheide mich dafür, die gefürchtete Situa-
tion trotz Herzrasen auszuhalten“).

Tab. 22: Handlungseinengende und handlungserweiternde Sprechweise [32]

Handlungseinengende Sprechweise Handlungserweiterernde Sprechweise


(Zwänge: „müssen“, „nicht anders können“) (Freiheit: „entscheiden“, „lieber tun wollen“)
Ich kann nicht mit dem Bus fahren. Ich möchte jetzt noch nicht Busfahren lernen.
Ich muss im Kino immer am Rand einer Reihe Ich entscheide mich, heute im Kino in der Mitte
sitzen. einer Reihe zu sitzen.
Ich muss den Raum verlassen, wenn ich meine Ich kann es einmal versuchen, alle körperlichen
Angstzustände bekomme. Zustände vor anderen Leuten zuzulassen.
Ich kann keine unbekannten Personen des ande- Aus Angst vor Ablehnung entscheide ich mich,
ren Geschlechts ansprechen. vorläufig noch keine unbekannten Personen des
anderen Geschlechts anzusprechen.
Aus Angst vor einem Ohnmachtsanfall kann ich Ich probiere es heute, allein fortzugehen, auch
nicht alleine unterwegs sein. wenn ich dabei ohnmächtig umfallen sollte.

Panikbewältigungstraining
Als Therapieziel bei Panikstörungen gilt der bessere Umgang mit Panikattacken, sodass
die belastenden Erwartungsängste geringer werden. Ein sicheres Ausbleiben der gefürch-
teten Panikattacken kann dagegen nicht garantiert werden. Können Sie als Betroffener mit
diesem Ziel zufrieden sein? Wenn Sie ein gewisses Restrisiko einer Panikattacke nicht
ertragen möchten, zeigt Ihr Bedürfnis nach 100%iger Garantie, dass Sie vermutlich starke
Todesängste oder ausgeprägte Krankheitsängste haben, auf keinen Fall sozial auffällig
werden wollen oder zwanghaft-perfektionistische Tendenzen aufweisen.
Weder viele Medikamente noch lange und tief schürfende Psychotherapien können
Ihnen die Garantie geben, dass Sie keine der gefürchteten Panikattacken mehr erleben
werden. Wenn eine verhaltenstherapeutisch orientierte Kurzzeittherapie bei einer seit
Jahren vorhandenen Panikstörung mit Agoraphobie wirksam ist, dann oft deshalb, weil
man nach zahlreichen Erfolgserlebnissen mit einem Restrisiko besser umgehen lernt.
Ohne Bewältigungserfahrungen führt jede Angst vor einer neuerlichen Panikattacke zu
ständigen Vermeidungsreaktionen und im Laufe der Zeit zu einer Daueranspannung.
Panikbewältigungstraining 565

Allgemeine Ratschläge zur Panikbewältigung


Panikattacken bewältigt man am besten durch Zulassen, weil der Kampf dagegen die
Anspannung nur erhöht, ähnlich wie dies auch beim Rotwerden oder bei unterdrückten
Tränen der Fall ist. Oft machen Panikattacken zentrale Fragen und Probleme des Lebens
deutlich, die sich nicht mehr länger verdrängen und auch durch Übungen nicht einfach
wegtrainieren lassen, sondern einer zumindest vorläufigen Bewältigung bedürfen.
Einige Anregungen sollen als Hilfestellung dienen:
z Wenn Sie merken, dass Ihre Panikattacken immer mit Todesangst gekoppelt sind,
sollten Sie sich der Endlichkeit Ihres Lebens stellen und besser damit umgehen ler-
nen. Was bedeutet der Tod für Sie, wenn er z.B. morgen eintreten würde? Hat Ihre
Todesangst etwas mit religiösen Vorstellungen und Befürchtungen zu tun?
z Warum dürfen Sie jetzt noch nicht sterben? Welche Mission müssen Sie noch erfül-
len, welche Träume möchten Sie unbedingt noch im weiteren Leben verwirklichen,
wer braucht Sie so dringend, dass Sie jetzt nicht dauerhaft fehlen dürfen?
z Wenn Sie Angst vor einer bestimmten Krankheit haben, lassen Sie sich umfassend
untersuchen (jedoch nicht ständig) und leben Sie entsprechend (z.B. Nikotinverzicht
bei Lungenkrebsangst, Stressabbau und Gesundheitsverhalten bei Herzinfarktangst).
z Wenn Sie Angst vor dem Ende Ihrer Partnerschaft haben, tun Sie etwas, um die
Beziehung zu verbessern, oder stellen Sie sich einmal ganz konkret vor, wie es ohne
den Partner einigermaßen erträglich weitergehen könnte.
z Wenn Sie erkennen, dass die Paniksymptome mit Ihren Eltern oder Schwiegereltern
zusammenzuhängen, widmen Sie sich der Lösung der anstehenden Probleme.
z Wenn Sie merken, dass Ihre Angst- und Panikzustände immer dann verstärkt auftre-
ten, wenn die Probleme im Beruf besonders groß sind (z.B. Überforderung, Krän-
kung durch Vorgesetzte, unerträglicher Konkurrenzkampf mit Arbeitskollegen, wirt-
schaftlich schlechte Situation Ihres Betriebes), sollten Sie die Klärung Ihrer berufli-
chen Probleme angehen, damit Sie nicht ständig deswegen in Krankenstand gehen.
z Wenn Sie durch Unterdrückung von Ärger und Aggression Panikattacken bekom-
men, sprechen Sie Ihre Gefühle den Betroffenen gegenüber klar und deutlich aus.
z Wenn Sie aus Angst vor Liebesverlust Ihrem Partner oder einem Elternteil Ihre
Gedanken und Empfindungen nicht mitteilen können, stellen Sie sich vor, Sie hätten
dies doch getan, und lernen Sie, die Folgen gedanklich besser auszuhalten.
z Wenn Sie merken, dass Sie bei Panikattacken hauptsächlich Angst davor haben,
negativ aufzufallen, sollten Sie sich Ihre positiven Seiten vor Augen halten, die auch
andere kennen, damit Sie sich nicht so sehr vor Ablehnung fürchten.
z Wenn Sie ständig Angst vor einer bestimmten Erfahrung haben, führen Sie diese
bewusst herbei, um zu erleben, was passiert. Nehmen Sie anstelle von Fantasien eine
gezielte Realitätstestung vor. Lassen Sie sich vor anderen Menschen absichtlich zu
Boden sinken, beginnen Sie zu zittern, ringen Sie um Luft, greifen Sie an Ihr Herz,
sagen Sie, es sei Ihnen übel oder es sei zu heiß im Raum, erzählen Sie anderen be-
wusst von Ihren Panikattacken, fragen Sie andere nach ähnlichen Erfahrungen.
z Wenn Sie Angst vor Auffälligkeit durch bestimmte Symptome einer Panikattacke
haben und den Beobachtern keinesfalls von Ihrer Störung erzählen wollen, legen Sie
sich bestimmte Äußerungen zurecht, die etwas, aber nicht alles verraten (z.B. „Wenn
ich zu viel arbeite und zu wenig schlafe, geht es mir immer so schlecht“).
z Wenn Sie aus Angst vor Panikattacken bestimmte Situationen und Orte meiden,
suchen Sie diese gezielt auf, um besser damit umgehen zu lernen.
566 Selbsthilfe bei Angststörungen

Die ständige Beschäftigung mit Ihren Symptomen und irrealen Ängsten kann eine neu-
rotische Vermeidungsstrategie derart sein, dass Sie sich vor den eigentlichen privaten,
familiären, sozialen, beruflichen, ökonomischen oder gesundheitlichen Problemen ab-
lenken. Je mehr Sie sich durch innere Anspannung und Angst gegen Ihre Katastrophen-
fantasien wehren, umso weniger sind Sie in der Lage, dort zeit- und sachgemäß ein-
zugreifen, wo dies realistisch und sinnvoll ist. Das Hauptproblem irrationaler Ängste
besteht darin, dass Sie sich auf real nicht relevante Bedrohungen fixieren und gerade
dadurch realitätsangemessenes Handeln bei wirklichen Gefahren behindern.
Die Verhaltenstherapeutin Schmidt-Traub [33] betont in ihrem Buch „Angst bewäl-
tigen. Selbsthilfe bei Panik und Agoraphobie“, einem guten Selbsthilferatgeber bei
Panikattacken und Agoraphobie, folgende Aspekte zur Bewältigung von Panikattacken:
z Schärfung der Wahrnehmung: Beobachten und Analysieren der Ängste.
z Motivation: Mut machen zur Angstbekämpfung durch Sammeln von Informationen.
z Umbewertung der körperlichen Symptome: Angst als sinnvolles Alarmsignal.
z Konfrontation: Aufsuchen der Angstsituationen ohne Meidungsverhalten.
z Konzentrationslenkung als Angstkontrolle: von negativer Selbstbeobachtung und
Angst machenden Gedanken zu angenehmen oder neutralen Dingen schwenken.
z Besseres Gesundheitsverhalten: mehr Sport, Entspannung, bessere Ernährung.
z Lebensplanung: persönliche Herausforderungen für mehr Sinn im Leben suchen.
z Stressmanagement: Belastungen früher erkennen und planvoll mildern.
z Selbstbehauptung: bessere Durchsetzung und Abgrenzung gegenüber anderen.

Folgende Ratschläge können bei der Bewältigung von Panikattacken nützlich sein:
z Lassen Sie sich körperlich untersuchen, jedoch nur einmal.
z Analysieren Sie nach jedem Anfall Ihre Angst und Panik.
z Bleiben Sie bei einer akuten Panikattacke nicht ruhig, sondern bewegen Sie sich.
z Verwenden Sie bei einer Panikattacke Atemtechniken mit Bewegung.
z Beobachten Sie bei einer Panikattacke nicht den Körper, sondern die Umgebung.
z Bleiben Sie bei einer Panikattacke im Hier und Jetzt, ohne negative Erwartungen.
z Akzeptieren Sie Ihre Ängste und Symptome, ohne dagegen anzukämpfen.
z Lassen Sie die Panikattacke vorbeiziehen wie ein heftiges Gewitter.
z Stellen Sie sich Ihren größten Ängsten, die Sie in Panik versetzen.
z Motivieren Sie sich durch Ziele jenseits von Angst und Panik.
z Spielen Sie Panik erzeugende Situationen in der Vorstellung durch.
z Betreiben Sie regelmäßig mentales Training mit der Vorstellung von Panik.
z Stellen Sie sich allen Angstsituationen mit Panikgefahr, ohne auszuweichen.
z Lernen Sie, Ihre Panikattacken durch Provokation zu kontrollieren.
z Lernen Sie, besser mit Herzrasen, Schwindel und Fallangst umzugehen.
z Stellen Sie sich bei Bedarf Ihrer unbegründeten Angst verrückt zu werden.
z Schonen Sie Ihren Körper nicht ständig, sondern trainieren Sie ihn.
z Machen Sie neben Ihrer Angst und Panik viele positive körperliche Erfahrungen.
z Lernen Sie, sich zu entspannen und besser mit Stress umzugehen.
z Leben Sie gesund bzw. entwickeln Sie ein verstärktes Gesundheitsverhalten.
z Werden Sie selbstbewusster gegenüber anderen. Lernen Sie, Nein zu sagen.
z Nehmen Sie trotz Angst vor Panikattacken möglichst wenig Beruhigungsmittel.
z Vermeiden Sie längere Krankenstände und zu lange Krankenhausaufenthalte.
z Vergegenwärtigen Sie sich während einer Panikattacke, dass Sie gesund sind und
auch gesund bleiben und dass Ihre momentanen Todesängste nur Gedanken sind.
Panikbewältigungstraining 567

Aufmerksamkeitslenkung

Konzentration auf die Umwelt statt auf den Körper bei akuter Panik
Beobachten Sie bei akuter Angst und Panik nicht den Körper, sondern die Umgebung!
Die ständige Selbstbeobachtung und Konzentration auf die vorhandenen Symptome
verstärkt bei vielen Betroffenen die Angstbereitschaft, wodurch die Beschwerden größer
und die Panikattacken wahrscheinlicher werden. Wenden Sie sich daher bei beginnen-
der Panikattacke vom Beobachten und Erleben des eigenen Körpers ab und konzentrie-
ren Sie sich auf die Umgebung. Verzichten Sie auf jeden direkten Kampf gegen die
Paniksymptome. Wenn Sie mit Ihren Panikattacken besser umgehen können, werden
Sie eine Panikattacke auch durch Zuwendung auf Ihren Körper bewältigen lernen, in-
dem Sie Achtsamkeitsübungen und Atemtechniken ohne Bewegung anwenden.
Je mehr Sie gegen etwas direkt ankämpfen, umso stärker bleibt dies im Gedächtnis
haften. Dies lässt sich anhand eines Beispiels demonstrieren. Stellen Sie sich eine Minu-
te lang eine grüne Wiese vor, auf der ein weißer Elefant steht. Dann stellen Sie sich
dieselbe grüne Wiese eine Minute lang ohne den weißen Elefanten vor. Wie können Sie
das beharrliche Bild des weißen Elefanten am ehesten zum Verschwinden bringen?
Ein Training der Konzentrationslenkung kann Ihnen helfen, beginnende Panikattak-
ken zu beenden, indem Sie sich auf etwas anderes konzentrieren, solange Sie über keine
distanzierte Selbstbeobachtungsfähigkeit verfügen. Verwenden Sie Konzentrationshil-
fen, die eine bessere Wahrnehmung der Umwelt über alle Sinne ermöglicht:
z Was sehen und hören Sie jetzt gerade, wenn Sie sich auf die Umwelt konzentrieren?
z Was riechen und schmecken Sie gegenwärtig, wenn Sie mehr darauf achten?
z Was tasten und spüren Sie im Moment, soweit es die konkrete Umgebung betrifft?

Sorgen Sie für den Notfall vor und überlegen Sie, welche der folgenden Anregungen für
Sie nützlich sein könnten [34]:
z Konzentrieren Sie sich auf etwas, das fünf Minuten lang Ihre ganze Aufmerksamkeit
erfordert. Damit fangen Sie oft bereits die ärgste Panik ab.
z Denken Sie an etwas, das Sie in der nächsten Zeit unbedingt tun müssen, wenn Sie
nicht Nachteile in Kauf nehmen wollen, oder gehen Sie im Geist verschiedene Auf-
gaben durch, die Sie erledigen müssen (bestimmte Reparaturen, Speiseplanerstel-
lung, Behördenwege, Ausflugsplanung u.a.).
z Fixieren Sie einen Punkt oder Gegenstand, wodurch Sie ruhiger werden.
z Beobachten Sie Häuser, Bäume, Pflanzen, Tiere, Autos, Nummernschilder, Plakate,
Bilder, Schaufenster usw. und prägen Sie sich alles möglichst gut ein.
z Beobachten Sie (z.B. in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Geschäften) andere Men-
schen, ihre Haltung, Mimik, Kleidung usw. und versuchen Sie über diese Menschen
etwas zu erraten (Alter, Beruf, Herkunftsland usw.).
z Beobachten Sie beim Autofahren die Umgebung, hören Sie Radio, verwenden Sie
einen MP3-Player und summen bzw. singen Sie laut zur Musik mit.
z Drehen Sie den Fernsehapparat auf und suchen Sie den interessantesten Film aus.
z Hören Sie Ihre Lieblingsmusik bzw. das, was Sie noch kaum gehört haben.
z Verwenden Sie unterwegs einen MP3-Player wie Jugendliche mit Ihrer Lieblings-
musik und summen bzw. bewegen Sie sich dazu.
z Klatschen Sie rhythmisch mit den Händen zu einem bestimmten Lied, das Sie
gleichzeitig singen, vielleicht mit Unterstützung durch einen Tonträger.
568 Selbsthilfe bei Angststörungen

z Schauen Sie Ihre Fotos oder Videoaufnahmen an (z.B. vom letzten Urlaub).
z Lesen Sie ein spannendes Buch, eine Zeitung oder Zeitschrift, am besten laut.
z Wenn Sie zu Hause eine Panikattacke im Sitzen oder Liegen überfällt, stehen Sie auf
und gehen Sie in der Wohnung umher.
z Beginnen Sie mit einer Hausarbeit oder Gartenarbeit, die eine natürliche Form der
Bewegung und Ablenkung darstellt.
z Schreiben Sie einen Brief, machen Sie Notizen für bestimmte Planungen oder
schreiben Sie auf, was Sie einkaufen müssen.
z Konzentrieren Sie sich auf Rechenaufgaben, auf die Berechnung Ihrer wöchentli-
chen Haushaltsausgaben oder auf das Lösen von Kreuzworträtseln.
z Spielen Sie etwas, das Sie fordert (z.B. Computerspiele, Gameboy, mit Tieren).
z Gehen Sie in Ihr Bad und nehmen Sie eine Wechseldusche, mit warmem Wasser
beginnend, mit kaltem Wasser endend.
z Telefonieren Sie mit jemandem, wenn Sie allein zu Hause sind, ohne von Ihrer mo-
mentanen Panikattacke zu berichten, und warten Sie ab, ob Ihr Telefonpartner Ihre
Unruhe überhaupt erkennt. Rufen Sie nur in Ausnahmefällen Ihren Partner, Arzt
oder Psychotherapeuten an, ein Telefonat mit Verwandten, Bekannten, Behörden
oder Firmen (z.B. Reisebüro wegen Urlaubsangeboten) tut es auch.
z Wenn Sie allein zu Hause sind, verlassen Sie die Wohnung und gehen Sie spazieren,
wenn nötig unter Menschen, ohne jemanden wegen Ihrer Zustände anzureden.
z Wenn Sie allein unterwegs sind, sprechen Sie andere Menschen an und fragen Sie
nach etwas, ohne von Ihrer Panik zu erzählen.
z Lesen Sie im Geschäft die Aufschrift bei verschiedenen Produkten, suchen Sie nach
ausgefallenen Artikeln oder beginnen Sie ein Gespräch mit einer Verkäuferin.
z Genießen Sie etwas: Nahrungsmittel, Obst, Süßigkeit, Kaugummi, Getränk.
z Riechen Sie einen angenehmen Geruch, den Sie in Ihrer Wohnung verbreiten (z.B.
ein ätherisches Öl).
z Betasten Sie mit Ihren Händen Dinge, die Sie mögen, um sich wohl zu fühlen. Strei-
cheln Sie ein Tier oder Stofftier, um andere Empfindungen zu bekommen.
z Wenn Sie sich von Ihrer Umwelt nicht verstanden fühlen oder diese in Ihre Proble-
me nicht einweihen möchten, benutzen Sie das Internet als Kontaktmöglichkeit mit
gleichfalls Betroffenen, um auf diese Weise Verständnis und Hilfe zu erfahren.

Konzentration auf die Gegenwart statt auf die Zukunft


Bleiben Sie bei Panik im Hier und Jetzt, ohne negative Erwartungen! Panikattacken
sind nicht gefährlich; sie sind die normalen Körperreaktionen der Kampf-Flucht-Phase –
nur zum falschen Zeitpunkt (meist in Ruhe). Akzeptieren Sie ohne negative Bewertung
und ohne Dagegen-Ankämpfen das körperliche Geschehen und beobachten Sie das
Kommen und Gehen der Symptome. Werden Sie zum distanzierten Beobachter des
Geschehens und bleiben Sie ganz im momentanen Augenblick. Spätere Panikattacken
werden oft ausgelöst durch bildhaft-konkrete Vorstellungen der ersten, letzten oder
nächsten Panikattacke. Beim Auftreten harmloser körperlicher Symptome (leichtes
Herzklopfen, Schwitzen, Kribbeln, Schwindel usw.) läuft gleichsam ein innerer Film bis
zur befürchteten Panikattacke ab. Bei einer generalisierten Angststörung und einer so-
zialen Phobie werden ebenfalls negative Zukunftsvorstellungen entwickelt, die sich auf
befürchtete Katastrophen bzw. soziale Kritik oder Ablehnung beziehen.
Panikbewältigungstraining 569

Sie können lernen, Ihre Angstreaktionen nicht durch Furcht erregende Fantasievor-
stellungen zu verstärken, sondern durch die Konzentration auf die aktuelle Situation
erträglicher zu gestalten. Folgende Tipps können Ihnen dabei helfen:
1. Widerstehen Sie negativen Bewertungen und Angst machenden Zukunftsvorstellun-
gen. Bleiben Sie mental ganz in der Gegenwart, in der Realität, im Hier und Jetzt.
Konzentrieren Sie sich auf den Augenblick, keine Sekunde früher oder später.
2. Beobachten Sie, was im Moment um Sie herum geschieht. Beobachten Sie, wie sich
die heftige Erregung aufschaukelt und von allein wieder abklingt ohne Eingreifen.
3. Sprechen Sie mit sich selbst, indem Sie kommentieren, was Sie jetzt spüren.
4. Sagen Sie sich wiederholt, dass Sie das aushalten können, was Sie jetzt spüren.
5. Sagen Sie sich, dass Sie sich jetzt in einem Zustand befinden, den Sie schon x-mal
überlebt haben und daher auch zukünftig aushalten können.
6. Konzentrieren Sie sich auf Ihre Atmung und stellen Sie sich vor, wie Sie mit jeder
Einatmung durch die Nase mehr Kraft und Zuversicht bekommen und mit jeder
Ausatmung durch die leicht geschlossenen Lippen immer mehr Druck und Anspan-
nung von sich geben. Während Sie Ihre Atmung beobachten, werden negative Ge-
danken ausgeblendet. Die Tiefenatmung bewirkt eine Verlangsamung der Atmung.

Untersuchungen über die Effekte von Zuwendung bzw. Abwendung der Aufmerksam-
keit auf bestimmte Stressreize haben ergeben, dass die Abwendung vom Stressor kurz-
fristig bessere Resultate erbringt (in Akutsituationen wie starken Schmerzzuständen),
die Zuwendung zum Stressor jedoch langfristig wirksamer ist (bei länger andauernden
psychischen und physischen Stresssituationen). Daraus lässt sich ableiten, dass in aku-
ten Paniksituationen eine wirksame Ablenkungstechnik hilfreich ist, während angesichts
der chronischen Erwartungsängste und der erhöhten psychovegetativen Erregbarkeit
eine Zuwendung zum Körper mit dem Ziel der besseren Wahrnehmung und Erträglich-
keit der Symptome sinnvoller ist. Ablenkungstechniken sind wirksam, wenn man ganz
in den alternativen Vorstellungen oder Tätigkeiten aufgehen kann, d.h. sie müssen fes-
selnd sein. Man muss dann auch nicht fürchten, dass der unerwünschte Gedanke doch
auftreten könnte. Er verblasst angesichts der Attraktivität der Alternativen. Jedes so
genannte Flow-Erlebnis (fasziniertes Aufgehen im Tun) ist demnach eine Ablenkung.
Die genaue Beobachtung des Ist-Zustandes macht die Abwehr von etwas noch
Schlimmerem überflüssig, weil der aktuelle Zustand aushaltbar ist. Die Zuwendung auf
die eigene Person in Form der Selbstwahrnehmung der momentanen körperlichen, emo-
tionalen und geistigen Befindlichkeit verhindert die drohende Entfremdung vom aktuel-
len Erleben und den gegenwärtigen Bedürfnissen. Das Gewahr-Werden bzw. Gewahr-
Sein der inneren und äußeren Ereignisse, die im Hier und Jetzt auftreten, ist die Voraus-
setzung für jede Veränderung von Problemen im Verhalten und Erleben. Das bessere
Wahrnehmen und Zulassen der Ist-Situation ist erlernbar durch ein Training der Auf-
merksamkeit auf die von außen einströmenden Informationen und die im Inneren ent-
stehenden körperlichen, emotionalen und kognitiven Prozesse.
Menschen mit Angst- und Panikzuständen fällt es schwer, sich ihrem Körper voll
und ganz zuzuwenden, weil sie durch die Wahrnehmung der aktuellen Befindlichkeit
(beginnende Angstsymptomatik) befürchten, die Symptomatik im Sinne des Teufels-
kreises der Angst bis zu einer Panikattacke aufzuschaukeln. Sie brechen daher den
Wahrnehmungsprozess ab und können im Erstgespräch oft nicht einmal berichten, wie
sich die körperliche Erregung genau entwickelt („Es kommt alles ganz plötzlich über
mich“), weil die ersten Anzeichen gar nicht bewusst wahrgenommen wurden.
570 Selbsthilfe bei Angststörungen

Angstpatienten fürchten auch die bei Entspannungsübungen öfter auftretenden un-


angenehmen Zustände wie Schwindel, Übelkeit, starkes Herzklopfen, Schweißausbrü-
che, Kribbelgefühle und Zucken der Muskeln als Ausdruck eines Kontrollverlusts. Sie
vermeiden daher häufig Entspannungszustände oder fürchten sich vor dem Schlafenge-
hen, weil in diesen Situationen nicht selten Panikattacken oder panikähnliche Zustände
auftreten. Diese körperlichen Zustände werden bei geschlossenen Augen noch intensi-
ver erlebt als bei offenen Augen. Entsprechende Situationen sollten daher gezielt aufge-
sucht werden, um besser damit umgehen zu lernen.
Die Technik des „konstatierenden Beobachtens“ des aktuellen Geschehens anstelle
Angst machender Zukunftsfantasien oder Ablenkungstechniken soll modellhaft bei
einer beginnenden Panikattacke im Rahmen einer Agoraphobie dargestellt werden:

Ich merke, wie sich meine Beine zu verkrampfen beginnen und wie ich unsicher dastehe. Ich habe
Angst umzufallen, aber noch stehe ich. Meine Knie beginnen zu zittern, ich halte die Luft an, mir wird
ganz schwindlig, jetzt glaube ich, dass ich gleich umfallen werde, am liebsten möchte ich mich irgend-
wo anhalten, aber ich stehe noch immer da. Mir wird etwas übel, ich atme einmal tief durch, vielleicht
wird es dann besser. Mir wird vom Bauch aus bis zum Kopf ganz heiß, das kenne ich schon, ich öffne
zwei Knöpfe meiner Kleidung, jetzt ist es etwas erträglicher. Mein Herz schlägt wie verrückt, das
macht mir Angst, jetzt spüre ich das Pochen auch in den Adern. Das muss ich jetzt aushalten, warum
muss mein Herz immer gleich so zu rasen beginnen. Jetzt fängt auch wieder dieser lästige Druck auf
der Brust an. Ich schnaufe jetzt am besten einige Male tief durch, auch wenn mir dies etwas schwer
fällt, am besten durch die Nase, nicht durch den Mund. Aber einmal muss ich noch durch den Mund tief
Luft holen, sonst halte ich das nicht aus. Ich atme dafür auch ganz fest durch den Mund aus. Es wird
leichter, wenn ich mich zu bewegen beginne. Nur nicht ruhig stehen bleiben, ich beuge meine Knie ein
paar Mal etwas federnd durch und schüttle dabei meine Hände und meinen Kopf. Jetzt weiß ich, ich
habe es wieder einmal geschafft, ich stehe noch immer aufrecht da und kann meinen Weg weitergehen.
Es ist mir peinlich, wenn mich jetzt jemand beobachtet hat, aber eigentlich kann es jedem einmal
schlecht gehen. Ich bin schon froh, wenn ich mich nicht mehr so unterkriegen lasse wie früher.

Die Achtsamkeitsmeditation nach Kabat-Zinn ist eine ausgezeichnete Vorgangsweise,


wie man durch Zuwendung auf den Körper eine Panikattacke bewältigen lernen kann.
Das leider vergriffene Taschenbuch „Die Spirale im Kopf. Von der Hartnäckigkeit
unerwünschter Gedanken – Die Psychologie der mentalen Kontrolle“ des amerikani-
schen Psychologen Daniel Wegner [35] zeigt unter Hinweis auf psychologische Expe-
rimente eindrucksvoll auf, wie durch Unterdrückung unerwünschter Gedanken und
Gefühle (Angst- und Zwangsgedanken, Erinnerungen an traumatische Erfahrungen,
depressive Gedanken und Stimmungen, impulshaftes Verlangen nach Suchtmitteln
usw.) die innere Unruhe noch stärker statt schwächer wird.
Das bewusste Unterdrücken von Gedanken und Gefühlen, denen man sich vorher
ausgiebig gewidmet hat, führt zu messbarer Anspannung, auch wenn diese subjektiv
nicht erlebt wird. Kurzfristiges Zulassen der entsprechenden Gedanken und Empfindun-
gen und gleichgültige Gelassenheit vertreiben die unerwünschten Zustände sehr schnell,
während sie durch aktive Zuwendung und Bekämpfung fixiert werden. Das Geheimnis
der mentalen Kontrolle besteht im Verzicht auf die permanenten, auf Dauer unwirksa-
men Unterdrückungsversuche unliebsamer Vorstellungen und Empfindungen zugunsten
des kognitiven und emotionalen Einlassens auf die unerwünschten Inhalte. Der relativ
kurze, wenngleich intensive Aufwand für die Auseinandersetzung mit den gefürchteten
„Was wäre, wenn“-Inhalten steht in keinem Verhältnis zu den ständigen Unterdrük-
kungsversuchen, die sehr viel Energie kosten. Die Achtsamkeits- und Commitmentthe-
rapie in der neueren Verhaltenstherapie betont die nicht-wertende Körperzuwendung.
Panikbewältigungstraining 571

Bewegungstraining
Bleiben Sie bei einer akuten Panikattacke nicht ruhig, sondern bewegen Sie sich! Eine
Panikattacke entsteht durch einen heftigen Adrenalinstoß (oft aus emotionalen Grün-
den). Bei einer bereits eingetretenen Panikattacke helfen ohne ausreichendes Training
keine Atem- und Muskelentspannungsübungen mehr, sondern nur intensive körperliche
Bewegung, weil der Körper auf Aktivität, Kampf oder Flucht vorbereitet wird, wie bei
einem Notfall. Umhergehen, auch wenn Sie oder andere Menschen dies bisher als Zei-
chen von Nervosität erleben, ist eine adäquate Reaktion, um die erlebte muskuläre An-
spannung abzureagieren. Reine Atemtechniken, wie sie als Hilfe bei beginnender Pa-
nikattacke beschrieben werden, sind bei einer akuten Panikattacke oft ineffizient:
z Die körperliche Anspannung erfordert körperliche Bewegung zur Abreaktion.
z Atemtechniken fördern die Konzentration auf den eigenen Körper, was bei akuten
Panikattacken nur die Wahrnehmung der Symptome intensiviert und bei vielen Be-
troffenen, die mit Zuwendung nicht umgehen können, die Panikreaktion verstärkt.

Hilfreich sind folgende körperliche Betätigungen:


1. Jede Form von Gymnastik (wenn möglich bei offenem Fenster wegen der Frisch-
luft): Kniebeugen, Liegestütz, Rumpfkreisen, Schnurspringen, Schigymnastik usw.
2. Laufen, Stiegensteigen oder in der Wohnung fünf Minuten auf der Stelle treten.
3. Verwendung eines Hometrainers oder liegend Rad fahrende Bewegungen machen.
4. Übung „nasser Hund“: den Körper im Stehen kräftig durchschütteln (Arme und
Beine fest ausschütteln).
5. Tanzen bzw. laut singen, besonders zur Lieblingsmusik.
6. Körperlich arbeiten bis zur Erschöpfung.
7. Bewegung in Verbindung mit den beschriebenen Atemtechniken.

Machen Sie auch dann intensive körperliche Bewegungen, wenn Sie meinen, Sie müss-
ten sich aus Sicherheitsgründen ganz ruhig verhalten und schonen. Durch die intensive
Körperarbeit werden die ausgeschütteten Stresshormone rascher abgebaut. Bewegung
bietet Ihnen vor allem auch eine einfache Erklärung für die vegetative Aktivierung, die
Ihnen bei einer Panikattacke in Ruhe oft unerklärlich erscheinen mag. Wenn Sie sich bei
Panikattacken, die durch Hyperventilation ausgelöst werden, rhythmisch zu bewegen
beginnen, zwingen Sie Ihre Atmung einfach durch die Art der Bewegung zu einem
langsameren Tempo. Bei Bewegung verschwinden vor allem auch die typischen Hyper-
ventilationssymptome, die stets nur bei körperlicher Bewegungslosigkeit auftreten.
Wenn bei niedrigem Blutdruck in einer Schrecksekunde bzw. in einer Phase der
Hilflosigkeit Ihr Blutdruck noch weiter absinkt (Schwindelgefühl, Ohrensausen, kalter
Schweiß auf der Stirn, ein bestimmtes Gefühl im Magen) und Sie Angst vor Ohnmacht
oder einer Panikattacke haben, können Sie außer Bewegung auch eine bestimmte Form
der Muskelanspannung praktizieren, die sich bei Blut- und Verletzungsphobien bewährt
hat, um eine rapide Absenkung des Blutdrucks zu verhindern:
Spannen Sie die großen Skelettmuskeln (Brust, Arme, Oberschenkel) an und halten
Sie diese Spannung 15-20 Sekunden lang an (d.h. länger als bei der progressiven Mus-
kelanspannung). Dann lösen Sie die Spannung wieder bis auf das Ausgangsniveau, aber
nicht bis zur Entspannung. Nach 30 Sekunden spannen Sie diese Muskeln wiederum an.
Wenn Sie diesen Vorgang fünfmal wiederholen, steigt Ihr Blutdruck ganz bestimmt und
verhindert wirksam eine Ohnmacht, wie dies bei Blutphobien nachgewiesen wurde.
572 Selbsthilfe bei Angststörungen

Panikprovokationstraining
Lernen Sie, Ihre Panikattacken durch Provozieren zu kontrollieren! Wenn Sie sehr
sensibel sind, unter großem Stress stehen und sich übermäßig fürchten vor Krankheit
und Tod, dann bekommen Sie bei einem Anfall mit Kollapsneigung oder bei heftigen
vegetativen Symptomen (Herzrasen, Atemnot, Schwindel, Übelkeit, Zittern, Hitze- oder
Kältegefühle) starke Angst vor Ohnmacht, Tod oder Kontrollverlust, ohne dass Sie die
Ursachen der Angst sofort erkennen können.
Eine schlimme Panikattacke kann Sie bereits traumatisieren, d.h. so in Angst und
Schrecken versetzen, dass Sie gar keinen zweiten oder weiteren Angstanfall zur Festi-
gung und Verstärkung Ihrer Ängste benötigen. Sie fürchten dann schon eine weitere
Attacke, wenn Sie nur leichte Symptome spüren. Die ängstliche Selbstbeobachtung
führt zu vermehrten vegetativen Beschwerden und verstärkten Alarm- oder Panikreak-
tionen. Denn das ängstlich-misstrauische Beobachten des eigenen Körpers wirkt selbst-
hypnotisch im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.
Durch die bewusste Provokation von anfangs leichteren, später stärkeren Sympto-
men können Sie lernen, mit den belastenden Körperreaktionen besser umzugehen, in-
dem Sie diese unter Kontrolle bekommen und die Erwartungsängste dadurch geringer
werden. Dies nennt man paradoxe Reaktion. Wenn man etwas tut, was man eigentlich
fürchtet, fürchtet man es nicht mehr, sodass man dabei immer ruhiger wird.
Die bewusste Auslösung von Symptomen, die bisher mit unkontrollierbarer Panik
verbunden schienen, fällt vielen Betroffenen jedoch sehr schwer. Dies zeigt, wie groß
die Angst selbst unter Therapiebedingungen ist, die Symptome letztlich doch nicht in
den Griff zu bekommen, weshalb man sie lieber nicht auslösen möchte. In diesem Sinn
ist die häufig gestellte Frage, ob es nicht doch ohne derartige Provokationsversuche
gehe, sehr verständlich.
Ein Teil der Betroffenen lehnt die Provokation panikähnlicher Symptome selbst
nach „gelungener“ Agoraphobie-Behandlung ab, d.h. sie entscheiden sich, mit einer
gewissen Erwartungsangst weiterzuleben, und sind mit folgenden Teilzielen zufrieden:
z Zuversichtliche Gewissheit, dass man an Panikattacken nicht sterben kann.
z Hoffnung, Panikattacken durch die gelernten Atem- und Bewegungsübungen abfan-
gen zu können.
z Erkenntnis der Auslöser (massive Verlustängste aufgrund entsprechender Erfahrun-
gen, nicht bewältigte Trennung, nicht bewältigte Todesängste nach einer Krankheit).

Bei Menschen mit Kontrollverlustängsten gelten folgende ideale Therapieziele:


z Kontrolle durch Provokation der gefürchteten Symptome.
z Wiederholte Erfahrung der Kontrollierbarkeit der Symptome anstelle von ständigem
Einreden, dass nichts passieren kann, oder von anhaltenden Versicherungen von
Ärzten und Psychotherapeuten, dass Panikattacken ungefährlich sind.
z Erfahrungsorientiertes Lernen statt bloße Einsicht und Wissenserweiterung.

Eine Konfrontation mit den körperlichen Symptomen der Angst kann am besten durch
folgende Provokationstechniken erreicht werden:
z Beschleunigung der Atmung (Hyperventilation),
z Provokation von Herzsensationen: Beobachtung und Beschleunigung des Herz-
schlags,
z Provokation von Schwindelzuständen.
Panikbewältigungstraining 573

Provokation von Atembeschleunigung (Hyperventilation)


Hyperventilation gilt als einfacher Provokationstest zur Überprüfung, ob auf diese Wei-
se Panikattacken auslösbar sind. Menschen ohne Panikattacken haben vor einer Hyper-
ventilation keine derartigen Ängste wie viele Panikpatienten. Durch die Überprüfung
auf hyperventilationsbedingte Panikattacken könnten viele teure Untersuchungen und
stationäre Aufenthalte, aber auch viele der häufigen Fehldiagnosen wie Depression oder
psychovegetative Erschöpfung sowie unnötige Medikamente vermieden werden. Ein
Tipp: Hyperventilieren Sie einmal bewusst, wenn Sie laut Arzt körperlich gesund sind.
Setzen Sie sich aufrecht hin bzw. legen Sie sich hin und atmen Sie zwei Minuten
lang so tief wie möglich mit dem Mund und über die Brust. Machen Sie 60 Atemzüge
pro Minute, d.h. atmen Sie einmal pro Sekunde ein und aus. Dies ist mehr als 3-mal so
schnell wie in Ruhe. Sie werden dabei vielleicht (allerdings in schwächerem Ausmaß)
dieselben Symptome auslösen wie bei einer spontanen Panikattacke. Achten Sie im
Rahmen der Hyperventilation auf eine schnelle und kräftige Ausatmung, ohne dass Sie
sich dabei bewegen, denn dies führt rasch zu einem Kohlendioxidmangel mit den be-
kannten Symptomen. Beobachten Sie anschließend, was in Ihrem Körper vorgeht.
Atmen Sie dann in Ruhe 8- bis 12-mal pro Minute ein und aus, und zwar doppelt so
lang aus als ein, wodurch Sie wieder ruhiger werden. Schreiben Sie hinterher auf, wel-
che Symptome dabei aufgetreten sind, und vergleichen Sie diese mit den Symptomen
einer Panikattacke. Bereits zwei Atemzüge pro Minute mehr, als der Körper braucht
(d.h. leichtes Hyperventilieren in Ruhe), führen zu unangenehmen Körpersensationen.
Die Entwicklung einer Panikattacke hängt dabei jedoch nicht von der Atem- und Herz-
frequenz ab, sondern von der Art, wie Sie diese bewerten.
Wagen Sie es, in einem Selbstversuch (zumindest in Anwesenheit einer vertrauten
Person) einen derartigen Zustand öfter auszulösen, in der Absicht, ihn anschließend
kontrollieren zu lernen (durch Atemtechniken oder Bewegung). Solange Sie sich vor
dem absichtlichen Hyperventilieren fürchten, dürfen Sie sich nicht wundern, dass Sie
Ihre Erwartungsängste vor Panikattacken nicht verlässlich genug in den Griff bekom-
men. Mit jeder Vermeidung bewussten Hyperventilierens bestätigen Sie sich schließ-
lich, dass ein derartiger Zustand vielleicht doch nicht ganz ungefährlich sein könnte.
Eine niederländische Studie mit 20 Freiwilligen hat ergeben, dass man bei einer Hy-
perventilation nicht einmal für einige Sekunden ohnmächtig werden kann.
Wenn Ihre Panikattacken durch Hyperventilation ausgelöst oder verstärkt werden,
sollten Sie entsprechende Hyperventilationsübungen regelmäßig allein durchführen, bis
Sie sich an diesen Zustand gewöhnt haben. Nicht wenige Patienten haben Angst, durch
derartige Übungen den Verstand zu verlieren und „verrückt“ zu werden, weil sie eine
Panikattacke in Erinnerung haben, bei der sie einigermaßen „weggetreten“ waren. Dies
hängt mit den Symptomen der Hyperventilation oder mit einem veränderten Selbst- und
Umwelterleben (Depersonalisation und Derealisation) zusammen. Diese Zustände sind
völlig ungefährlich, obwohl sie bedrohlich erscheinen.
Bei einem Provokationstest treten meist keine Brustschmerzen auf. Hyperventilation
wird oft durch die Angst zu ersticken ausgelöst. Bei einer Panikattacke ziehen sich zwar
die Hals- und Brustmuskeln zusammen, was vorübergehend die Atmung behindert, Sie
können dabei jedoch nicht ersticken. Machen Sie dazu einen einfachen Test (wenn Sie
körperlich gesund sind): Halten Sie länger als eine Minute die Luft an, stellen Sie sich
dabei vor, wie sich Ihr Hals zusammenzieht und beobachten Sie, was passiert. Der
Atemreflex wird nach einer gewissen Zeit mit aller Macht die Einatmung erzwingen.
574 Selbsthilfe bei Angststörungen

Provokation von Herzsensationen


Herzphobiker sind ständig besorgt um ihr Herz, letztlich aus Angst vor einem Herzin-
farkt, auch angesichts negativer EKG-Befunde (erhöht ist oft lediglich der Puls als Aus-
druck des Stresszustandes). Dahinter stehen bestimmte Lebens- und Todesängste.
Folgende herzbezogene Übungen sind hilfreich:
z Konzentrieren Sie sich fünf Minuten lang auf Ihren Herzschlag. Solange Sie bei
dieser Übung unruhig sind, sollten Sie sie wiederholen. Es ist das Ziel, angst- und
sorgenfrei auf Ihre Herztätigkeit achten zu können.
z Stellen Sie sich anhand von Unterlagen das Herz- und Kreislaufsystem ganz konkret
vor. Visualisieren Sie das Pumpen des Herzens und den vom Herzen ausgeworfenen
Blutstrom bis hin in die verschiedenen Organe des Körpers.
z Messen Sie Ihren Puls und versuchen Sie, diesen durch Hyperventilation zu be-
schleunigen. Eine Uhr mit Pulsmesser-Funktion erspart das Pulszählen. Erleben Sie
anschließend, wie Sie über eine langsame Ausatmung oder eine andere Entspan-
nungstechnik rasch eine Verlangsamung des Herzschlags herbeiführen können.
z Lösen Sie Herzrasen durch intensive Bewegung und anstrengende körperliche Betä-
tigung aus, die dem Körper kurzfristig eine hohe Leistung abverlangt: Laufen, Stie-
gensteigen, Kniebeugen usw. Der Puls soll bei Gesunden eine Zeitlang zwischen
140 und 160 liegen. Verwenden Sie auch einen Hometrainer, wenn Sie die Möglich-
keit dazu haben, und lernen Sie, den rückgemeldeten höheren Puls auszuhalten.
z Versuchen Sie bewusst, Ihr Herz zu beschleunigen, indem Sie ganz konkrete Angst-
vorstellungen entwickeln.
z Beschleunigen Sie auf irgendeine Weise Ihren Herzschlag, stellen Sie sich eine
Panikattacke vor und denken Sie dann ganz bewusst jene Gedanken, die Ihnen bis-
her bei einer Panikattacke gekommen sind (z.B. „Jetzt muss ich sterben, gleich ist es
aus“; „Jetzt werde ich verrückt“; „Gleich falle ich um und alle schauen mich an“).
z Stellen Sie sich vor, was bei einem Herzinfarkt passiert. Wenn Ihnen dies schwer
fällt, lesen Sie darüber in einem Buch, um sich bewusst damit auseinanderzusetzen.
z Vergegenwärtigen Sie sich – wenn möglich – den Herzinfarkt eines Verwandten
oder Bekannten. Was genau ist da passiert bzw. was glauben Sie, ist da passiert?
z Stellen Sie sich vor, woran Sie einmal sterben werden. Wenn Sie glauben, an einem
Herzinfarkt zu sterben, malen Sie sich die näheren Umstände detailliert aus: in wel-
chem Alter, an welchem Ort, durch welche Faktoren bewirkt?
z Trinken Sie mehr Kaffee, als Sie normalerweise vertragen, wenn bei Ihnen einmal
durch vermehrtes Kaffeetrinken eine Panikattacke ausgelöst wurde.
z Trinken Sie ein anderes koffeinhaltiges Getränk, wenn Sie dies bisher aus Angst vor
Herzrasen vermieden haben.
z Wenn Sie glauben, dass Sie durch mäßigen Alkoholkonsum Herz-Kreislaufprobleme
bekommen könnten, wagen Sie (wenn Sie keine Alkoholprobleme haben!) einen
Selbstversuch.
z Halten Sie sich längere Zeit in einem überhitzten Raum auf.
z Gehen Sie in die Sauna und machen Sie alle damit verbundenen Erfahrungen.
z Ziehen Sie sich übermäßig warm an, um das Hitzegefühl besser ertragen zu lernen.
z Wenn Sie wegen des Angst machenden Herzklopfens bzw. aus Angst vor einem
Herzinfarkt jede sexuelle Betätigung und einen Orgasmus zu vermeiden suchen, zei-
gen Sie Ihrem Partner bewusst Ihre Zuneigung auch wieder vermehrt in Form einer
sexuellen Beziehung.
Panikbewältigungstraining 575

Wenn diese Übungen für Sie nicht durchführbar sind und Sie gerade wegen derartiger
Befürchtungen eine Panikattacke bekommen, sollten Sie unbedingt eine Psychotherapie
beginnen. Medikamente stellen keine Lösung dar, wenn es gilt, die Angst vor einer
Panikattacke, die völlig ungefährlich ist, in den Griff zu bekommen. Es ist nicht sinn-
voll, mit Medikamenten Herzsensationen nur deswegen zu unterdrücken, weil letztlich
der Gedanke an den Tod unerträglich erscheint. Wegen ganz normaler Todesängste sind
Sie auch nicht depressiv und brauchen deswegen keine Antidepressiva.

Provokation von Schwindel und Fallangst


Lernen Sie, besser mit Schwindel und Fallangst umzugehen! Der bei Menschen mit
Agoraphobie bzw. Panikattacken so häufige Schwindel ist oft bedingt durch eine Schul-
ter-Nacken-Verspannung oder eine Ganzkörperverspannng, manchmal auch durch un-
zureichende Sauerstoffzufuhr zum Gehirn infolge von niedrigem Blutdruck, Blutdruck-
abfall oder Hyperventilation, nur selten durch ein übersensibles Gleichgewichtsorgan im
Ohr oder durch Verschwommensehen. Der medizinisch meist nicht klärbare und behan-
delbare Schwindel hängt häufig mit falscher Körperhaltung im Stehen bzw. mit man-
gelndem Kontakt der Füße zum Boden zusammen. Deswegen sind Bewegungsübungen
und keine Liege- und Entspannungsübungen angezeigt. Bei Angstpatienten ist die
Schwindelsymptomatik oft durch eine Störung im sensiblen System begründet (Störung
in der Körperwahrnehmung). Empfehlenswert sich Übungen bei geschlossenen Augen,
die diese Störung provozieren und bewältigen helfen. Mit geschlossenen Augen gehen
und stehen fördert das Vertrauen in den eigenen Körper und in den Gleichgewichtssinn.
Der bekannte Schwankschwindel drückt oft eine durch Angst und Verspannung
bedingte Unsicherheit im Stehen aus:
z Die Fußsohlen liegen nicht voll und entspannt auf dem Boden auf.
z Die Beine sind angespannt, ohne federndes Sich-Durchbeugen und Ausbalancieren.
z Das Rückgrat ist steif und unelastisch (wie wenn ein „Stock im Kreuz“ wäre).
z Aus Angst vor dem Fallen wird der Schwerpunkt gehoben statt gesenkt.

Viele Panikpatienten haben Angst umzufallen, verhalten sich daher ruhig und beobach-
ten ständig ihren Körper. Die Betroffenen befürchten einen Blutdruckabfall und daraus
resultierende Ohnmacht. Sie sollten sich vielmehr bewegen, denn dadurch würde der
Blutdruck ansteigen, sollte er tatsächlich absinken. Aus Angst vor dem Fallen spannen
viele ängstliche Schwindelpatienten die Beine an, drücken ihre Knie fest zusammen und
stehen mit steif durchgestreckten Beinen da, was die Unsicherheit im Stehen verstärkt.
Die Beine elastisch etwas durchzubeugen und den Körperschwerpunkt zu senken
(wie beim Schifahren), gibt Sicherheit vor dem Fall. Beobachten Sie Kinder und Er-
wachsene, die gerade das Schifahren lernen. Wie elegant fahren doch Kinder den Hang
hinunter, mit tiefer Hocke bzw. Rückenlage, ohne in den Schnee zu fallen. Kinder ha-
ben meist keine Angst vor dem Fall und verspannen sich daher auch nicht. Wie steif
stehen dagegen viele Erwachsene auf den Brettern. Aus Angst vor dem Fall strecken sie
ihre Beine zu stark durch und heben den Körper zu hoch. Je höher der Körperschwer-
punkt, desto leichter fällt man bei einer kleinen Unebenheit hin. Menschen mit Falläng-
sten sind wie unsichere Schifahrer. Aus Angst vor dem Fallen strecken sie die Beine
durch und heben den Körperschwerpunkt. Sie sind dadurch unelastisch und fühlen sich
unsicher auf den Beinen.
576 Selbsthilfe bei Angststörungen

Wenn Sie zu wenig Bodenkontakt und Erdverbundenheit spüren, verlieren Sie den
„Boden unter den Füßen“ und das Gefühl für Ihren Körperschwerpunkt. Sie geraten
dann aus dem Gleichgewicht und bekommen Angst vor dem Fallen. Beim Schifahren
kommt es gerade dann zu Knochenbrüchen, wenn man die Beinmuskeln anspannt und
sich gegen den Fall wehrt (trifft auf über 90% der Brüche zu). Die Knie durchzubeugen,
mit dem Fall mitzugehen und sich dann wieder aufzurichten, verhindert dagegen einen
Sturz. Wehren Sie sich nicht gegen den Fall, wenn er unvermeidlich sein sollte, machen
Sie bewusst Fallübungen, indem Sie sich fallen lassen. Üben Sie aber auch, mit dem
Körper bei offenen und geschlossenen Augen hin und her zu schwanken wie ein Baum
im Wind. Machen Sie die Erfahrung, dass Sie fest am Boden aufstehen und Halt finden.
Bewegen Sie sich so, dass Sie den Körper vom Becken aus bewegen wie beim Tanz.
Die psychotherapeutische und physiotherapeutische Technik des „Erdens“ (besserer
Kontakt mit dem Boden unter den Füßen) ist eine nützliche Hilfe. Das Verständnis für
den bedeutsamen Vorgang des Kontaktnehmens zum Boden lässt sich auch über die
„Fußreflexzonen“ noch vertiefen. Im Fuß haben alle Organe ihre zugeordneten Stellen,
die so genannten Reflexzonen. Durch Druck auf Zehen-, Ballen-, mittleren oder Fersen-
bereich des Fußes belebt sich analog der Zuordnung der „Reflexzonen“ des Fußes die
Atmung im oberen, mittleren oder unteren Körperbereich. Durch Lockern, Massieren
und Bewegen der Füße kann dieser Kontakt zum Boden verstärkt werden.
Bei akuten Schwindelbeschwerden schützt Hinlegen vor unkontrollierten Reaktio-
nen. Langfristig hemmt die mit der ständigen Bettruhe verbundene Inaktivität die Koor-
dinationszentren des Gleichgewichtssystems und beeinträchtigt so die körperlichen
Erholungsmöglichkeiten. Wissenschafter der NASA konnten zeigen, dass bei Gesunden
schon allein durch eine siebentägige Bettruhe das Koordinationssystem des Gleichge-
wichts empfindlich gestört werden kann.
Ein Trainingsprogramm gegen Schwindel ist sehr hilfreich:
z Bestimmte sportliche Aktivitäten wie Waldlauf oder Tischtennisspielen haben eine
positive Wirkung auf das Gleichgewichtssystem.
z Fixationsübungen benutzen die von Tänzern bekannte Erfahrung, dass man beim
Drehen des Körpers durch Fixieren eines festen Punktes während einer Halbkreis-
drehung den Schwindel weitgehend unterdrücken kann.
z Augenfolgeübungen (mit den Augen einen sich langsam bewegenden Gegenstand
verfolgen) fördern einen besseren Umgang mit Bewegungsreizen.
z Rasche Dreh- und Bewegungsübungen sind gut geeignet zur Behandlung des Lage-
rungsschwindels. Bestimmte Ringelspiele auf dem Rummelplatz stellen eine ideale
Schwindelprovokation dar.
z Balancierungsübungen fördern einen besseren Gleichgewichtssinn.
z Das Fixieren von Mustern, die sich bei längerem Hinschauen zu bewegen beginnen,
provoziert einen Schwindelreiz und führt im Laufe der Zeit zur Gewöhnung.

Übungen zum Balancieren, Fallen und Pendeln


z fördern den ausgewogenen Einsatz der Schwer- und Muskelkraft,
z verhindern Verspannungen und Verkrampfungen,
z verbessern das Gefühl für den Körperschwerpunkt, der mit dem Organ-, Muskel-
sowie Atemzentrum im Unterleib zusammenfällt,
z bewirken eine Spannungsbalance beim Stehen, Atmen, Singen und Sprechen,
z fördern die Fähigkeit, sich fallen lassen zu können, und stärken dadurch das Selbst-
vertrauen und (bei Partnerübungen) das Vertrauen anderen gegenüber.
Panikbewältigungstraining 577

Klinische Untersuchungsverfahren, wie sie von Neurologen regelmäßig vorgenommen


werden, können im Selbstversuch erprobt werden:
1. Romberg-Stehversuch. Stellen Sie sich aufrecht so hin, dass sich die Füße innen
berühren, und halten Sie beide Hände waagrecht ausgestreckt, während die Augen
geschlossen sind. Bei Gleichgewichtsstörungen kommt es dabei zu auffälligen Kör-
perschwankungen, manchmal auch mit Fallneigung in eine bestimmte Richtung.
2. Unterberger-Tretversuch. Treten Sie mit geschlossenen Augen und waagrecht erho-
benen Armen kräftig auf der Stelle.
3. Blindgang. Gehen bzw. laufen Sie mit geschlossenen Augen und waagrecht ausge-
streckten Armen auf einer gedachten Linie.

Einige der folgenden Gleichgewichtsübungen stellen Variationen der Übungen aus dem
Buch „Atme richtig“ von Hiltrud Lodes [36] dar und können nach Belieben abgewan-
delt werden, um Schwindelzustände auszulösen und das Vertrauen in die Körperfunk-
tionen Gleichgewicht, Stehen und Gehen wiederzuerlangen (bei vielen Angst- und Pa-
nikpatienten löst allein bereits Schwindel eine Panikattacke oder Ohnmachtsangst aus):
1. Balancieren. Balancieren Sie auf Baumstämmen, Balken usw. Spannen Sie dabei
plötzlich Ihren rechten Arm an und machen Sie mit der Hand eine Faust, um das
Gleichgewicht halten zu müssen.
2. Kontaktnehmen zum Boden. Stehen Sie mit den Füßen fest am Boden, strecken Sie
die Zehen aus und achten Sie auf einen guten Kontakt zum Boden. Spüren Sie den
Boden unter Ihren Füßen und die Teile Ihrer Fußsohlen, die den Boden berühren.
Gehen Sie dann mit gutem Kontakt Ihrer Füße zum Boden durch den Raum.
3. Atmung als Bewegung. Atmen Sie im Stehen bei geschlossenen Augen tief ein, ach-
ten Sie dabei auf eine gute Zwerchfellatmung und beobachten Sie, wie Ihre Atmung
Ihren Körper in leichtem Ausmaß schwanken lässt.
4. Pendeln und Kreisen über den Füßen. Stellen Sie Ihre Füße knapp nebeneinander
und kreisen Sie mit Ihrem Oberkörper. Stellen Sie sich vor, auf Ihrem Kopf einen
Teller zu jonglieren. Bemerken Sie einen Unterschied bei geschlossenen Augen?
5. Verlagern des Körperschwerpunkts nach vor und zurück. Verlagern Sie den Körper-
schwerpunkt möglichst weit vor auf die Zehen und anschließend möglichst weit zu-
rück auf die Fersen. Spüren Sie dabei die Atemanregung.
6. Über den Füßen vor- und zurückschaukeln. Schaukeln Sie in leichtem Grätschstand
auf Ihren Füßen vor und zurück, indem Sie beim Einatmen Ihre Fersen anheben und
dabei das Körpergewicht auf die Vorderfüße verlagern, beim Ausatmen die Fersen
wieder sinken lassen und dabei das Körpergewicht bei gutem Bodenkontakt auf die
Fersen verlagern. Die Kniegelenke bleiben dabei immer in lockerer Bereitschafts-
stellung.
7. Verlagern des Körperschwerpunkts nach rechts und links im Wechsel. Verlagern Sie
Ihr Körpergewicht abwechselnd auf die rechte und die linke Fußsohle. Vom belaste-
ten Fuß aus soll der Körper durchgehend bis zum Kopf gestreckt sein. Heben Sie
dabei den nicht belasteten Fuß ein wenig vom Boden ab. Zur Unterstützung der Be-
wegung heben Sie die Arme etwas an und balancieren Sie Ihren Körper, während
das ganze Gewicht auf einem Fuß ruht.
8. Wippen aus dem Stand. Stehen Sie mit den Händen in den Hüften aufrecht da und
heben Sie schwunghaft beide Fersen, und zwar so hoch wie möglich. Nach 3 Sekun-
den stellen Sie Ihre Füße wieder flach auf den Boden. Wiederholen Sie diese Übung
20-mal. Diese Übung bewirkt auch eine Kräftigung der Waden.
578 Selbsthilfe bei Angststörungen

9. In die Hocke gehen. Stehen Sie mit den Händen in den Hüften aufrecht da und gehen
Sie langsam in die Knie. Wenn die Oberschenkel parallel zum Boden sind, halten
Sie diese Position 3 Sekunden lang. Kehren Sie dann langsam in die Ausgangsposi-
tion zurück und wiederholen Sie die Übung 10-mal. Diese Übung kräftigt den Qua-
drizeps, den Muskel an der Vorderseite des Oberschenkels.
10. Anspannung des Körpers. Spannen Sie Ihren ganzen Körper eine Minute lang an, in
dem Sie im Stehen Ihre Arm-, Bein-, Bauch-, Rücken-, Schulter- und Gesichtsmus-
keln anspannen und beobachten Sie, welche Gefühle dies in Ihnen auslöst.
11. Gehen mit einem Krug oder Buch auf dem Kopf. Gehen Sie mit einem Krug, Buch
oder ähnlichem Gegenstand auf dem Kopf durch den Raum. Halten Sie dabei nicht
den Atem an vor lauter Konzentration! In Sammlung auf die zu lösende Aufgabe be-
lebt sich die Atmung. Der Atemraum weitet sich durch das Aufrichten der Wirbel-
säule. Lassen Sie beim Gehen die Beine locker aus der Hüfte schwingen, wobei die
Leiste gestreckt ist. Die Füße spüren den Boden und rollen bei jedem Schritt auf den
Fußsohlen ab. Um den Gegenstand gut auszubalancieren, richten Sie sich unwillkür-
lich auf, die Haltung korrigiert sich von selbst. Sobald Sie den Nacken einknicken
oder ins Hohlkreuz gehen, fällt der Gegenstand vom Kopf.

Bestimmte Augenübungen können leicht eine Schwindelsymptomatik auslösen:


1. Augenkreisen. Lassen Sie Ihre offenen Augen Kreisbewegungen ausführen und
betrachten Sie dabei Ihre Umgebung ganz genau. Dann führen Sie das gleiche mit
geschlossenen Augenlidern aus und entspannen sich wieder.
2. Spirale. Machen Sie mit geschlossenen Augen die Bewegungen einer Spirale, die
sich vom Mittelpunkt nach außen hin erweitert. Dann gehen Sie wieder den umge-
kehrten Weg von außen nach innen bis zum Mittelpunkt zurück. Beobachten Sie da-
bei Ihre Atmung. Die Atembewegung folgt der Augenbewegung, indem sie sich
einmal erweitert, dann wieder sammelt.
3. Die Atembewegung folgt den Augen. Schauen Sie mit geschlossenen Augen nach-
einander eine Weile nach unten, nach oben, nach rechts und nach links, wobei Sie
zwischendurch immer wieder zur Mitte zurückkehren. Beobachten Sie dabei, wo Ih-
re Atembewegung jeweils spürbar wird. Sie werden feststellen, dass Ihr Atem dahin
geht, wohin Ihre Augen schauen: in den unteren, in den oberen Raum, in den Flan-
kenbereich rechts und links.
4. Fixieren eines Punktes. Wenn Sie längere Zeit einen bestimmten Punkt fixieren,
beginnt dieser zu verschwimmen bzw. sich zu bewegen, weil Sie rundherum auf
keinen Bezugspunkt achten.
5. Fixieren konzentrischer Kreise, paralleler Linien oder auf einen Mittelpunkt zu-
sammenlaufender Streifen. Die Vorlagen scheinen bald in Bewegung zu geraten.
6. Bilder mit sich bewegenden Mustern betrachten. Schauen Sie bestimmte Bilder (z.B.
des Malers Escher) bzw. Muster so lange an, bis sich diese scheinbar bewegen.
7. Nachbilder erzeugen. Schauen Sie für 30 Sekunden in eine Lichtquelle und richten
Sie anschließend Ihren Blick auf eine weiße Wand. Dies erzeugt ein Bild auf dem
Augenhintergrund bzw. auf der Netzhaut.
8. Betrachten dahinziehender Wolken. Wenn Sie im Stehen auf sich relativ rasch be-
wegende Wolken blicken, entsteht die Illusion, in die entgegengesetzte Richtung zu
kippen, doch erst die vermeintliche Ausgleichsbewegung führt zum Sturz.
Panikbewältigungstraining 579

Drehen bzw. schnelles Bewegen des Kopfes kann rasch einen Schwindelzustand („Lage-
rungsschwindel“) und Benommenheit herbeiführen. Längeres Üben bewirkt eine Ge-
wöhnung an den Schwindel, sodass er nicht mehr so belastend ist (diese Übungen soll-
ten Sie nur machen, wenn Sie keine neurologischen Probleme haben):
1. Drehen Sie den Kopf für 30 Sekunden hin und her.
2. Legen Sie den Kopf für 30 Sekunden zwischen die Beine und bewegen Sie dann den
Kopf ganz schnell wieder nach oben.
3. Drehen Sie sich bei geschlossenen Augen längere Zeit stehend im Kreis, bis Sie
schwindlig werden.
4. Setzen Sie sich in einen Drehstuhl, drehen Sie sich eine Minute lang und halten Sie
dann plötzlich an.

Agoraphobiker mit Schwindel profitieren von einer Konfrontationstherapie oft weniger


als andere Angstpatienten, weil sie anhaltende Ängste vor dem Fall haben. Der ago-
raphobische Schwindel hängt mit der Angst zu fallen zusammen. Die Fallangst lässt
sich nicht einfach nur durch körperliche Übungen wegtrainieren, weil es sich dabei oft
um ein ganz zentrales Persönlichkeitsmerkmal handelt. Die Betroffenen können sich
häufig nicht fallen lassen, weil ihnen das Vertrauen fehlt, dass sie aufgefangen werden,
was oft durch die Lebensgeschichte verständlich ist. Gibt es reale Auslöser für Ihre
Fallangst? Haben Sie Ohnmacht bei sich oder anderen erlebt? Ist ein Verwandter oder
Bekannter umgefallen und gestorben? Spiegelt sich in Ihrer Fallangst eine ganz reale
Überforderung durch die Lebenssituation wider?
In der Fallangst äußert sich oft der beharrliche Wunsch, stets die Standfestigkeit und
Kontrolle über sich selbst zu behalten, was gerade angesichts der Erfahrung, dass man –
bildlich gesehen – nur ungenügend auf seinen eigenen Füßen stehen kann, ein besonde-
res Bedürfnis ist. In der Fallangst zeigt sich neben der Angst vor Kontrollverlust und
hilflosem Ausgeliefertsein auch die mangelnde Bereitschaft, von anderen Menschen im
Bedarfsfall Hilfe annehmen zu wollen. Übungen des Fallens können als Übungen des
Vertrauens gegenüber anderen, aber auch des Loslassens gegenüber sich selbst ver-
standen werden. Wenn Sie Angst haben, in der Öffentlichkeit umzufallen, trainieren Sie
zu Hause, wie Sie fallen möchten, sollten Sie tatsächlich einmal umfallen.
Machen Sie ein Falltraining mit sich selbst, indem Sie fünf Minuten lang bei ge-
schlossenen Augen stehen bleiben, in der ständigen Erwartung bzw. in der fixen Ab-
sicht, danach umzufallen. Stellen Sie die Füße eng nebeneinander, strecken Sie die
Beine durch, schwanken Sie mit dem Oberkörper leicht hin und her und sagen Sie sich:
„Ich falle gleich um, gleich falle ich um“, verstärken Sie das Schwanken des Körpers,
beobachten Sie Ihre Atmung, Ihren Herzschlag, die Spannung der Muskulatur in Ihren
Beinen, achten Sie auf die momentanen Empfindungen und lernen Sie, die dabei auftre-
tenden Gefühle besser auszuhalten. Stellen Sie sich möglichst konkret vor, wie Sie
fallen werden, wenn Sie umfallen. Üben Sie danach, sich auf verschiedene Arten fallen
zu lassen: rasch und plötzlich, langsam zusammensinkend, seitlich hinfallend auf der
Suche nach einem Halt. Bleiben Sie dann einige Zeit liegen und lassen Sie alle Gedan-
ken und Gefühle aufkommen bei der Vorstellung, andere Menschen würden miterleben,
wie Sie umgefallen sind und nun daliegen. Wie geht es Ihnen dabei? Was sind Ihre
stärksten Eindrücke? Warum wehren Sie sich so gegen den Fall? Was kann im
schlimmstenfalls passieren, wenn Sie nicht bewusstlos werden und sich beim Fallen
auch nicht verletzen? Üben Sie anschließend das Aufstehen, um die Erfahrung zu ver-
stärken, dass Sie jederzeit wieder von allein auf die Füße kommen.
580 Selbsthilfe bei Angststörungen

Alexander Lowen [37], der Begründer der Bioenergetik, setzte Fallübungen thera-
peutisch ein, um die Hemmungen aufzudecken, die einen Menschen verkrampfen, ihm
den Boden unter den Füßen wegziehen und dadurch eine Fallangst auslösen:

„Dann fordere ich den Patienten auf, sein ganzes Gewicht auf ein Bein zu verlagern und dessen Knie
vollständig zu beugen. Der Fuß des anderen Beins darf den Boden leicht berühren, dient aber nur zur
Balance. Die Anweisungen sind sehr einfach. Der Patient soll so lange in dieser Lage verharren, bis er
hinfällt; er darf sich jedoch nicht mit Absicht fallen lassen. Wenn man sich bewußt löst oder lockert,
fällt man nicht richtig, weil man den Sturz kontrolliert. Ein ‚wirksamer’ Fall muß ungesteuert und
unwillkürlich sein. Wenn man seinen Geist darauf konzentriert, die eingenommene Position zu halten,
stellt der Fall die Loslösung des Körpers von der bewußten Kontrolle dar. Da sich die meisten Men-
schen davor fürchten, die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren, erzeugt schon dieser Vorgang
Angst.“

Viele Menschen haben nach Lowen Angst, dass sie nicht mehr aufstehen könnten, wenn
sie fallen würden. Hilflos am Boden liegen zu müssen, ist oft ein unerträglicher Gedan-
ke. Lowen verweist in Anlehnung an Wilhelm Reich auf den Zusammenhang von Fall-
angst und falscher Atmung. Der Abfluss von Energie aus Füßen und Beinen, der durch
die fehlende Zwerchfellatmung und die Blockade der unteren Körperhälfte bewirkt
wird, führt nach Lowen zu einem Verlust des Bodenkontakts.
Sich buchstäblich fallen lassen zu können, stellt auch eine Vertrauensübung gegen-
über anderen Menschen dar. Ersuchen Sie eine Person, sich einen Meter hinter Ihnen
aufzustellen und lassen Sie sich steif durchgestreckt zurückfallen. Wie viel Vertrauen
haben Sie, dass der andere Sie sicher auffängt?

Paradoxe Intention – Gefürchtete Symptome bewusst provozieren


Tun Sie absichtlich, was Sie bisher am meisten gefürchtet haben! Man spricht von Sym-
ptomverschreibung oder paradoxer Intention, wenn ein Psychotherapeut die bewusste
Ausführung bislang unkontrollierbar erscheinender und daher gefürchteter Symptome
und Verhaltensweisen als Hausaufgabe verschreibt.
Die Methode der paradoxen Intention, die bereits vor Jahrzehnten von Viktor Frankl
beschrieben wurde, ist eine der besten und am raschesten wirkenden Techniken bei
sozialen Ängsten in Zusammenhang mit Panik und Agoraphobie. Es werden absichtlich
jene Symptome provoziert oder zumindest simuliert, die Menschen mit sozialer Phobie
aus Angst vor Auffälligkeit am meisten fürchten.
Paradoxe Interventionen durchbrechen das Muster des Nicht-Auffallen-Wollens, was
oft den Hauptgrund für ständige Anspannung in sozialen Situationen darstellt. Viele der
bisherigen Provokationsübungen waren bereits paradoxe Aufgaben. Das Konzept der
Konfrontationstherapie weist ebenfalls Elemente einer paradoxen Intervention auf.
Angstpatienten vergeuden sehr viel Kraft und Energie durch das ständige Unter-
drücken der gefürchteten Symptome. Das Unterdrücken von Angst ist auf die Dauer
anstrengender als die innere Akzeptanz oder die Bekanntgabe der damit verbundenen
Gedanken und körperlichen Zustände. Wenn Sie den Mut zu derartigen „Offenbarungs-
übungen“ aufbringen, können Sie den Angstkreislauf blitzartig durchbrechen.
Setzen Sie bei der paradoxen Intention anfangs nur Ihren Willen ein, das zu tun, was
Sie bisher nicht tun wollten, ohne lebhafte Vorstellungen über das Gefürchtete zu ent-
wickeln, weil dieses sonst überhand gewinnen könnte.
Panikbewältigungstraining 581

Folgende Übungen können für Sie hilfreich sein (selbstverständlich sollten Sie dar-
auf achten, wo und vor wem Sie es wagen, sich derart auffällig zu verhalten):
z Händezittern. Zittern Sie absichtlich so lange mit den Händen, während Sie ein Glas
oder eine Tasse halten bzw. etwas unterschreiben, bis es jemand merkt, oder spre-
chen Sie den Sachverhalt selbst in humoriger Weise an (z.B. „Ich komme mir heute
vor wie bei einem Alkoholentzug“, „Glauben Sie, dass ich schon die Parkinson-
Krankheit bekomme?“, „Ich zittere heute so, dabei ist mir gar nicht kalt“).
z Erröten. Versuchen Sie, möglichst schnell rot zu werden, und achten Sie darauf, ob
es jemand bemerkt, anderenfalls sprechen Sie den Sachverhalt selbst an („Merkst
Du, wie rot ich bin?“, „Immer, wenn ich einen Menschen mag, werde ich so rot“).
z Schwitzen. Wischen Sie sich demonstrativ mit der Hand über die Stirn, um einen
tatsächlichen oder vorgegebenen Schweiß wegzuwischen, und machen Sie selbst ei-
ne Bemerkung dazu (z.B. „Ich komme jetzt richtig ins Schwitzen“).
z Ohnmachtsangst. Lassen Sie sich vor anderen Menschen demonstrativ zusammen-
sinken, sagen Sie, dass es Ihnen körperlich nicht gut gehe, weil Sie Übelkeit,
Schwindel oder Kreislaufprobleme hätten, geben Sie aber gleichzeitig zu verstehen,
dass Sie deswegen auf keinen Fall einen Arzt benötigen.
z Herzrasen. Greifen Sie mit der Hand demonstrativ zum Herzen und sagen Sie, dass
es Ihnen jetzt einen komischen Stich gegeben habe.
z Seufzen. Atmen Sie vor anderen laut ein und aus in Form einer Seufzeratmung.
z Atemnot. Fragen Sie die Anwesenden im Raum, ob Sie kurz das Fenster oder die Tür
aufmachen könnten, weil Sie im Moment zu wenig Luft bekommen würden.
z Stottern. Verhalten Sie sich etwas nervös und stottern Sie beim Reden ein wenig, um
die Reaktionen der anderen zu beobachten.
z Klagen. Klagen Sie vor anderen Menschen laut über verschiedene Beschwerden, die
Sie im Moment plagen, und beobachten Sie, wie die anderen darauf reagieren.
z Angstbuch lesen. Lesen Sie vor anderen Leuten demonstrativ ein Buch über Ängste,
das Ihren Namen enthält, bzw. lassen Sie es ganz offen liegen, sodass andere darauf
aufmerksam werden, und warten Sie auf deren Reaktionen.
z Angst vor einem Fehler offenbaren. Sprechen Sie Ihre Erwartungsängste in be-
stimmten Situationen offen und direkt an („Ich glaube, vor so vielen Leuten werde
ich bald rot werden, stottern, zu schwitzen beginnen usw.“, „Ich habe Angst, dass
ich jetzt einen Fehler mache, und alle lachen dann laut“, „Ich fürchte mich vor Kri-
tik“).
z Angstzustände offenbaren. Sagen Sie vor Bekannten oder fremden Menschen, mit
denen Sie in Lokalen, öffentlichen Verkehrsmitteln oder anderen Orten ins Gespräch
kommen: „Ich leide unter Ängsten. Ich bekomme alle Zustände, wenn ich irgendwo
bin und nicht jederzeit weggehen kann. Ich fühle mich dann richtig eingeengt und
glaube, dass ich keine Luft mehr bekomme. Manchmal bekomme ich auch aus uner-
klärlichen Gründen starkes Herzrasen, das mir große Angst einjagt. Ich war schon
bei mehreren Ärzten, die alle gesagt haben, dass ich körperlich ganz gesund bin.
Können Sie mir raten, was ich da tun soll? Wissen Sie, wie das ist? Kennen Sie je-
mand, der so etwas hat? Können das Panikattacken sein?“

Paradoxe Übungsaufgaben stellen eine Gelegenheit dar, unter bestimmten Umständen


(sicherlich nicht jederzeit und überall) Schwäche zeigen zu können (nach dem Motto:
„Es ist ein Zeichen von Stärke, seine Schwächen zeigen zu können“) und dabei die
Erfahrung zu machen, dass man trotzdem liebenswert und sozial akzeptiert ist.
582 Selbsthilfe bei Angststörungen

Konditionstraining
Betreiben Sie (wieder) regelmäßig Sport und achten Sie auf ausreichende Bewegung,
besonders bei einem sitzenden Beruf! Beginnen Sie mit einem Aufbautraining und üben
Sie möglichst regelmäßig anstelle einer gelegentlichen exzessiven sportlichen Betäti-
gung. Viele Panikpatienten waren früher oft überdurchschnittlich sportlich, haben je-
doch nach Beginn der Panikstörung alle sportlichen Tätigkeiten eingestellt aus Angst,
die Symptomatik dadurch zu provozieren. Sport ist eines der wirksamsten Mittel der
Angstbewältigung für Menschen mit Panikstörung, Phobien und generalisierter Angst-
störung. Angstpatienten schonen sich oft mehr als Menschen nach einem Herzinfarkt,
denen vom Arzt relativ rasch ein dosiertes körperliches Training verordnet wird. Erkun-
digen Sie sich, welches Trainingsprogramm Herzinfarktpatienten in REHA-Zentren
absolvieren müssen. Die ständige Schonhaltung führt zu mangelnder körperlicher Fit-
ness und verstärkt dadurch erst recht die Panikneigung. Wenn dies auch auf Sie zutrifft,
werden Sie durch die regelmäßige Sportausübung und das damit verbundene körperli-
che Erfolgserlebnis rasch Ihr früheres Selbstbewusstsein wiedergewinnen.
Für Menschen mit Schwindelzuständen und/oder Agoraphobie ist Gehen über länge-
re Strecken die einfachste und gesündeste Form der körperlichen Aktivität. Unser Kör-
per ist auf die Fortbewegung auf zwei Beinen angewiesen.
Gehen (vor allem „Walking“) ist ein natürliches Training des Gleichgewichtssinns
und fördert als aerobe Übung die Ausdauerbelastbarkeit. Gehen Sie täglich 5 km in 45
Minuten. Wenn Herz- und Atemfrequenz nach 45 Minuten langem Gehen nicht erhöht
sind, gehen Sie schneller oder auf einer Strecke mit einer leichten Steigung.
Die Gleichgewichtsregulierung ist eine wichtige Komponente beim Gehen. Beim
Gehen erfolgt im Gehirn eine Verknüpfung von visueller, taktiler und propriozeptiver
Stimulation. Visuelle Reize beim Stehen und Gehen helfen zur Lageorientierung. Tast-
rezeptoren melden den Kontakt mit der Erde. Propriorezeptoren in den Muskeln, Seh-
nen und Gelenken informieren das Gehirn über die exakte Position der Körperteile im
Raum. Störungen in einem dieser Kanäle führen zu einem Gefühl des Schwankens.
Schonen Sie Ihren Körper nicht ständig, sondern trainieren Sie ihn! Bewegung und
Atmung spielen rhythmisch und harmonisch zusammen. Wie immer Sie sich bewegen,
atmen Sie stets mit Bewegungsbeginn aus, am besten mit einem Stimmlaut („HUH“,
„HA“ usw.). Das Prinzip der Ausatmung während der Belastung ist vom Sport her be-
kannt (das Ausatmen erfolgt z.B. im Tennis beim Schlag, beim Speerwerfen während
des Abwurfs). Beim Radfahren, Schiwandern, Schwimmen, Laufen usw. gilt immer das
gleiche Prinzip: die Koppelung von Bewegung und Atmung spart Kraft und bewirkt
eine maximale Ausschöpfung des eingeatmeten Sauerstoffs.
Vermehrte Bewegung baut überschüssige Energie ab, kräftigt den Herzmuskel (das
Herz muss bei gleicher Arbeitsleistung weniger schlagen, weil die Pumpkraft erhöht
wird), verbessert die Durchblutung, erhöht die Sauerstoffzufuhr, bewirkt eine schnellere
Erholung nach Belastungen und bedeutet einen Reiz zur Bildung neuer Blutgefäße (Ka-
pillargefäße). Sport verbessert die Gesundheit und das allgemeine Wohlbefinden.
Beim Konditionstraining soll der Puls zwischen 140 und 160 betragen. In Bezug auf
das Alter ist folgende (grobe) Formel für den oberen Pulswert bekannt: 180 Schläge pro
Minute minus Lebensalter, d.h. 150 für einen 30-Jährigen. Ein echter Trainingseffekt
ergibt sich nur bei regelmäßigem Training (3-mal pro Woche jeweils 30-45 Minuten).
Die Leistungsfähigkeit wird durch ein derartiges Trainingsprogramm im Laufe der Zeit
um 30-50% gesteigert.
Panikbewältigungstraining 583

Aktivitätsaufbau
Viele Menschen mit Agoraphobie schränken ihre Aktivitäten, Freizeitinteressen und
Sozialkontakte zunehmend ein, weil dies zumeist erfordert, das Haus zu verlassen und
sich Angst machenden Situationen zu stellen. Sie ziehen sich immer mehr vom bisheri-
gen Bekanntenkreis zurück und werden sozial isoliert. Alle Tätigkeiten, die früher Spaß
gemacht haben, werden aus Angst vor Panikattacken vermieden.
Aus diesem Meidungsverhalten entwickelt sich häufig eine sekundäre Depression,
in deren Rahmen noch weniger Aktivitäten erfolgen. Viele Betroffene wissen oft gar
nicht mehr, ob sie aus Angst oder depressiver Lustlosigkeit frühere Aktivitäten nicht
mehr ausüben. Zur Verhinderung einer depressiven Entwicklung sollten Sie Ihre frühe-
ren Freizeitaktivitäten außer Haus wieder aufnehmen bzw. entsprechende Interessen
ausbauen. Besuchen Sie wieder Freunde und Verwandte, rufen Sie alte Bekannte an und
vereinbaren Sie ein Treffen, nehmen Sie teil an gesellschaftlichen Ereignissen, unter-
nehmen Sie nach der Arbeit wieder etwas mit Ihren Arbeitskollegen, gehen Sie in Clubs
und Sportvereine, die Ihnen früher wichtig waren.
Wenn Sie derzeit nicht berufstätig sind (was für viele Frauen zutrifft), überlegen Sie
eine außerhäusliche Tätigkeit (z.B. eine Halbtagsarbeit, die Teilnahme an Frauen- und
Mütterrunden sowie an Kursen zur Verbesserung Ihrer sportlichen, künstlerischen,
geistigen oder beruflichen Fähigkeiten). Was haben Sie früher gerne getan, was würde
Ihnen auch jetzt noch Spaß machen, wenn Sie nur Ihre Ängste überwinden könnten?
Kämpfen Sie nicht so sehr gegen Ihre Ängste, sondern vielmehr für ein befriedigenderes
Leben, indem Sie alles tun, was Ihnen gefällt.
Angenommen, es geschieht ein Wunder, und Sie wachen morgen in der Früh auf
und haben keine lebenseinengenden Ängste, keine Agoraphobie oder Panikattacken
mehr, was würden Sie da tun? Erstellen Sie eine Liste aller gewünschten Tätigkeiten.
Was davon könnten Sie schon jetzt tun, was erst nach Überwindung Ihrer Ängste?
Viele Angstpatienten sind an „guten Tagen“ durchaus erfolgreich in ihren Bemü-
hungen und werden inaktiv an „schlechten Tagen“. Nehmen Sie eine Tagesplanung
unabhängig von Ihren Stimmungen und Ängsten vor. Erstellen Sie einen Tages- und
Wochenplan, was Sie tun müssen und was Sie gerne tun wollen, und führen Sie diese
Tätigkeiten zum gegebenen Zeitpunkt unabhängig von Ihrer Stimmung aus. Diese Vor-
gangsweise wird auch depressiven Patienten empfohlen (Motto: „Aktivität verbessert
die Stimmung“).
Bei Angstpatienten tritt die größte Angst immer erst dann auf, wenn sie etwas tun
sollen oder wollen. Rechnen Sie damit, dass dies auch bei Ihnen so sein wird. Ihre rela-
tive Angstfreiheit ist erkauft um den Preis, dass Sie sich zu einer Meidung Angst ma-
chender Situationen entschlossen haben. Die Einstellung, verschiedene Aktivitäten erst
dann zu unternehmen, wenn die Angst weg ist, ist ebenso handlungsblockierend wie der
Vorsatz depressiver Patienten, wieder aktiv zu werden, wenn die Stimmung besser ist.
Bei bestimmten Menschen ufern die Angst- und Panikzustände aufgrund eines unzu-
reichend strukturierten Tagesablaufs stärker aus als bei anderen Personen. Hausfrauen,
Studenten, Selbstständige, Arbeitslose und Rentner können Angstsituationen leichter
vermeiden, weil sie nicht so sehr den Zwängen der Fremdbestimmung ausgesetzt sind,
sondern sich den Tag je nach Stimmung einteilen können.
Zu lange Krankenstände bei Angststörungen führen oft ebenfalls dazu, dass die
Ängste nicht weniger werden, sondern nur vermieden werden, um dann umso heftiger
aufzutreten, wenn die Gesundschreibung erfolgt.
584 Selbsthilfe bei Angststörungen

Gesundheitsmaßnahmen
Menschen mit einer Panikstörung leben oft ziemlich ungesund, was Panikattacken be-
wirken oder verstärken kann. Folgende Ratschläge können weiterhelfen:
1. Ernähren Sie sich gesund! Richtige Ernährung in Verbindung mit den notwendigen
Vitaminen, Mineralstoffen (z.B. Calcium, Natrium, Phosphor, Magnesium) und
Spurenelementen (z.B. Eisen, Chrom, Kobalt, Fluor, Jod) stärkt Ihren Körper. Holen
Sie bei Bedarf entsprechende Informationen ein oder nehmen Sie eine Ernährungs-
beratung in Anspruch. Hungerkuren (Blutzuckerabfall) können ebenso Panikattak-
ken auslösen wie größere Mengen von Süßigkeiten (vermehrte Adrenalinausschüt-
tung zur Aktivierung der Zuckerneubildung).
2. Schränken Sie das Rauchen und übermäßige Kaffeetrinken ein! Viele Panik-
patienten rauchen zu viel und/oder trinken zu viel Kaffee bzw. koffeinhaltige Ge-
tränke. Suchen Sie andere Möglichkeiten, wie Sie Stress begegnen können, ohne auf
diese Genussmittel gänzlich verzichten zu müssen, wenn Sie damit kontrolliert um-
gehen können.
3. Vermeiden Sie übermäßigen Alkoholkonsum! Wenn Sie früher gerne Alkohol ge-
trunken haben, ohne dabei Probleme von Missbrauch oder Abhängigkeit zu bekom-
men, können Sie dieses Genussmittel weiterhin in Maßen zu sich nehmen.
4. Vermeiden Sie übermäßige Schonung und Bettruhe tagsüber! Viele Panikpatienten
schonen sich zu sehr und verlieren jene körperliche Fitness, die sie früher oft ausge-
zeichnet hat. Mangelnde körperliche Kondition begünstigt Panikattacken.
5. Achten Sie auf ausreichenden Schlaf! Zu wenig Schlaf sowie Ein- und Durchschlaf-
störungen verhindern die Regeneration und führen zu psychischer Überlastung.
Schlafdefizite beeinträchtigen die Leistungsfähigkeit Ihres Immunsystems.

Schlafgestörte Angstpatienten können von folgenden Hilfestellungen profitieren:


z ein Glas warme Milch mit Honig vor dem Schlafengehen,
z ein warmes Bad, kalte Armbäder (10-30 Sekunden) und kalte Fußwickel,
z Baldrian- oder Baldrian-Hopfen-Präparate (z.B. Hova®, Hovaletten® N),
z Lavendelgeruch (getrocknete Blüten oder ätherisches Öl) oder ein anderer Duft,
z Schlafengehen erst bei Müdigkeit oder eine Stunde später als gewohnt,
z morgens stets zur gleichen Zeit aufstehen, auch bei Schlaflosigkeit,
z möglichst lange munter bleiben, was zum gegenteiligen Effekt führt,
z mit offenen Augen im Finstern im Bett liegen (dies bewirkt eine Müdigkeit),
z im Bett nicht essen, lesen oder fernsehen (Konditionierung: liegen = schlafen),
z nach 15 Minuten Schlaflosigkeit aufstehen und etwas Ermüdendes tun,
z bei weiterer Einschlafstörung wiederum nach 15 Minuten aufstehen,
z Anwendung des autogenen Trainings oder von Atemübungen,
z bewusste Anwendung von Körperwahrnehmungsübungen ohne Einschlafintention,
z Achtsamkeitsmeditation nach Kabat-Zinn (dabei nichts erreichen wollen),
z Verzicht auf Schlaf während des Tages trotz Müdigkeit,
z ein ausgedehnter Spaziergang 4-5 Stunden vor dem Schlafengehen,
z gute Durchlüftung des Schlafzimmers und Temperatur nicht höher als 16 Grad,
z kein Alkoholkonsum (erleichtert zwar das Einschlafen, stört dann aber den Schlaf),
z möglichst keine Benzodiazepinschlafmittel (Tranquilizer verändern die Schlafarchi-
tektur und bewirken langfristig erst recht eine schwere Schlafstörung).
Panikbewältigungstraining 585

Emotionstraining
Viele Menschen mit Angststörungen können weder mit Angst noch mit anderen Gefüh-
len umgehen. Panikattacken entstehen oft aus unterdrückten Gefühlen (z.B. Wut, Ver-
lustangst). Viele Panikpatienten versuchen, störende Emotionen zu ignorieren oder zu
verdrängen, wodurch diese erst recht außer Kontrolle geraten. Die Betroffenen befürch-
ten, durch die Beschäftigung mit ihrer Angst eine unkontrollierbare Angstüberflutung
zu provozieren, und bevorzugen daher Angstmeidungs- und Unterdrückungsstrategien.
Starker Gefühlsdruck wird oft als geistige Störung („verrückt“) fehlinterpretiert. Nur ein
besseres Wahrnehmen, Erleben und Annehmen der dem Verhalten zugrunde liegenden
Gefühle kann neben der Änderung des Denkens zu dauerhaften Verhaltensänderungen
bei Angstpatienten führen. Das Akzeptieren von Angst-, Verlassenheits- und Hilflosig-
keitsgefühlen bewirkt bereits eine Veränderung. Nehmen Sie Ihre Angst bzw. Furcht an,
und sie wird sich wandeln vom Feind zum Freund. Wenn Sie Ihrer Angst ausweichen
oder gegen sie kämpfen mit dem Ziel, dass sie verschwindet, werden Sie sich laufend
bedroht fühlen und damit den Angstkreislauf nur schwer verlassen können.
Analysieren Sie, welche Gefühle Sie haben Situationen, die Sie mit Angst oder bela-
stenden körperlichen Beschwerden verbinden. Menschen mit Angststörungen bezeich-
nen verschiedene Gefühlszustände mit dem Begriff „Angst“, ähnlich wie zahlreiche
depressive Patienten jedes unangenehme Gefühl mit depressiver Stimmung verbinden.
Achten Sie darauf, ob statt oder neben einem Angstgefühl auch folgende Gefühle auf-
treten: Hilflosigkeit, Schwäche, Lustlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Traurigkeit, Ohn-
machts- und Sinnlosigkeitsgefühle, Bedürfnis zu weinen, Enttäuschung, Wut, Ärger,
Unruhe, Abneigung (Aversion), Ekel, Einsamkeit, Verlassenheitsgefühl, Sehnsucht
nach Geborgenheit, Wunsch nach Gehalten-Werden. Oft besteht eine ausgeprägte Ge-
fühlsambivalenz (z.B. Liebe und Hass, Ärger und Mitleid, Wut und Ohnmacht), die
einen starken inneren Druck bewirkt, sodass eine große körperliche und geistige An-
spannung entsteht und in sehr unangenehmer Weise bestehen bleibt.
Welche Gefühle lehnen Sie bei sich eigentlich ab? Besteht Ihre Angst dann nicht
einfach darin, diese Gefühle doch zu bekommen bzw. einfach zuzulassen (z.B. Angst
vor Hilflosigkeit, Schwäche, Weinen oder Wutausbruch)? Wenn Sie Angst haben, ist
dies ein ganz normales Gefühl. Was genau gibt Ihnen den Eindruck, dass es sich dabei
um etwas Abnormales handelt? Aus welchen früheren Lebenserfahrungen kennen Sie
derartige Bewertungen? Warum wollen Sie immer stark sein? Wer sagt, dass Sie immer
stark sein müssen? Es ist ein Zeichen von Stärke, seine Schwächen zulassen und zeigen
zu können in dem Vertrauen, dass „Echtheit“ mehr Beziehung, Nähe und Anerkennung
bewirkt als das Aufsetzen einer Maske und die Übernahme einer Rolle.
Können Sie unterscheiden, wann Sie aufgrund der Umstände verständliche und
normale, wenngleich unangenehme Gefühle haben, und wann Sie krankhafte Zustände
von Angst oder depressiver Antriebs- und Lustlosigkeit haben? Diese Unterscheidungs-
fähigkeit ist Voraussetzung für den sinnvollen Umgang mit Medikamenten. Es ist nicht
sinnvoll, jedes unangenehme Gefühl gleich mit einem Medikament dämpfen oder besei-
tigen zu wollen. Wann sind Sie verärgert und wann einfach nur angespannt?
Das bessere Wahrnehmen und Ausdrücken Ihrer Gefühle wird erleichtert durch re-
gelmäßige Tagebuch-Aufzeichnungen, die neben den Tagesereignissen auch eine Dar-
stellung Ihrer Gefühlszustände enthalten. Wenn bei Angststörungen unterschiedliche
Psychotherapiemethoden wirksam sind, dann oft deshalb, weil sie helfen, mit unange-
nehmen, diffusen und zwiespältigen Gefühlszuständen besser umgehen zu lernen.
586 Selbsthilfe bei Angststörungen

Stressbewältigungstraining
Strategien zur Stressbewältigung sind nach zahlreichen Studien dann erfolgreich, wenn
sie Vorhersagbarkeit, Verständnis für Zusammenhänge, Wissen und Gefühle von Kon-
trollierbarkeit und Bewältigbarkeit von Situationen vermitteln. Stress hängt oft mit den
Aspekten Unsicherheit und mangelnde Kontrolle von Situationen zusammen.
Manchmal gelingt es schon, die übermäßige Ausschüttung des Stresshormons Korti-
sol zu stoppen, wenn man in belastenden und überfordernden Situationen als Ausdruck
der Handlungsbereitschaft irgendetwas tut bzw. etwas, das man noch nicht versucht hat.
Menschen mit Panikstörungen leben oft unter großem Stress, der Panikattacken be-
günstigt. Panikstörungen mit und ohne Agoraphobie bestehen in einer Kontrollverlust-
angst. Viele Verhaltensweisen, die die Betroffenen oft bis zu einer Erschöpfungsdepres-
sion überfordern, stellen den Versuch dar, die Dinge und den eigenen Körper immer
und überall „im Griff“ zu haben (Motto: „Alles unter Kontrolle“).
Folgende Ratschläge zur Stressbewältigung können nützlich sein [38]:
z Analysieren Sie Ihren privaten und beruflichen Stress, indem Sie Ihre Stressfaktoren
auf einer Liste festhalten und nach dem Ausmaß der Belastung reihen.
z Unterscheiden Sie zwischen jenem Stress, der durch Ihre Lebenssituation gegeben
ist, und jenem Stress, der letztlich durch Ihre Denkmuster und Einstellungen bewirkt
wird, völlig unabhängig von situativen Gegebenheiten.
z Unterscheiden Sie zwischen dem Stress, den Sie sich selbst machen, und dem Stress,
den Ihnen andere Menschen und bestimmte Umstände bereiten.
z Erstellen Sie eine Prioritätenliste Ihrer Aktivitäten. Treffen Sie eine Unterscheidung
zwischen dem, was wichtig ist und deshalb getan werden sollte, und dem, was wohl
auch wünschenswert wäre, jedoch momentan eine Überforderung darstellt, sodass
Sie in der nächsten Zeit bewusst darauf verzichten.
z Erstellen Sie Ihren Terminkalender so, dass Sie nicht bereits durch zu viele Termine
und fehlende Pausen in Stress geraten, noch dazu, wenn unvorhersehbare Ereignisse
eintreten. Planen Sie im Tagesablauf bewusst Pausen von einer Viertelstunde ein.
z Analysieren und ändern Sie jene Denkmuster, die den größten Stress erzeugen und
das Risiko von Panikattacken erhöhen (z.B. ständige „Was wäre, wenn“-Gedanken,
alles „im Griff“ haben wollen, sich für alle und alles verantwortlich fühlen, perma-
nente Überforderung durch überhöhte Ziele, alles perfekt machen wollen, Perfektio-
nismus zur Vermeidung von Kritik oder Minderwertigkeitsgefühlen, jedem alles
recht machen wollen, sich nicht abgrenzen und nicht Nein sagen können, alles lieber
„hinunterschlucken“ statt Ärger offen aussprechen und Konflikte riskieren).
z Achten Sie auf Entspannungsmöglichkeiten und Zeiten der Ruhe und Erholung.
z Verbessern Sie Ihre persönliche Stresstoleranz, indem Sie Phasen der Anspannung
mit einem körperlichen Bewegungsprogramm ausgleichen.
z Lernen Sie, die ersten körperlichen, seelischen und gedanklichen Anzeichen von
überforderndem Stress zu erkennen, um Panikattacken vermeiden zu können.
z Treffen Sie bei Bedarf eine vielleicht schon seit längerem hinausgeschobene Neu-
orientierung Ihres Lebens, z.B. die Klärung einer belastenden familiären, partner-
schaftlichen oder beruflichen Situation. Belastend ist oft nicht der Stress an sich,
sondern der hilflos und ohnmächtig machende Stress.
z Wenn Sie durch die soziale Situation in chronischen und übermäßigen Stress gera-
ten, achten Sie auf emotionale Unterstützung durch Menschen Ihres Vertrauens.
Bewältigungsstrategien bei sozialen Ängsten 587

Bewältigungsstrategien bei sozialen Ängsten


Haben Sie schon einmal das Folgende bedacht? Panikattacken resultieren oft aus unter-
drücktem Ärger oder Konflikten in zwischenmenschlichen Situationen.
Folgende Empfehlungen können hilfreich sein:
1. Äußern Sie Ihre Wünsche und berechtigte Kritik! Sagen Sie im Umgang mit anderen
Menschen klar, was Sie wollen und was Sie stört.
2. Lernen Sie, Nein zu sagen, und grenzen Sie sich ab gegenüber unberechtigten For-
derungen! Wo sagen Sie aus Angst Ja, wo Sie lieber Nein sagen sollten?
3. Werden Sie selbstständiger gegenüber den Eltern und dem Partner! Angstpatienten
hängen oft zu sehr am Partner und an den Eltern. Neben den schönen Seiten einer
(über-)engen Beziehung zeigen sich hier auch die Schattenseiten: Sie behindern die
Entwicklung eines eigenständigen Lebens, sodass latente oder offene Angst vor dem
Alleinsein besteht, mit dem man nicht umgehen kann. Die Angehörigen möchten
den Betroffenen ihre Ängsten dadurch erleichtern, dass sie ihnen alle möglichen
Aufgaben abnehmen (Einkäufe, Autofahrten, Behördenwege u.a.). Angstpatienten
werden dadurch noch abhängiger von ihren Angehörigen, noch ängstlicher und hilf-
loser. Dies führt zu reduziertem Selbstwertgefühl und wiederholten Depressionen.
4. Leben Sie auch dann ein selbstständigeres Leben, wenn sich Angehörige plötzlich
darüber beschweren sollten, dass Sie seit Ihrer Angstbewältigung weniger verfügbar
sind. Langfristig wird Ihre größere Freiheit und Zufriedenheit auch Ihren Angehöri-
gen zugute kommen.

Zahlreiche Menschen mit Panikstörung mit und ohne Agoraphobie haben auch soziale
Ängste, ähnlich wie Menschen mit sozialen Ängsten und Phobien oft zu situationsspezi-
fischen Panikattacken neigen. Neben dem effizienten Umgang mit sich selbst müssen
viele Angstpatienten auch einen besseren Umgang mit anderen Menschen erlernen.
Es gibt zahlreiche Selbsthilfebücher zur Bewältigung sozialer Ängste und Phobien.
Eines der hilfreichsten Bücher für Betroffene und deren Angehörige, das nicht nur die
Aspekte Schüchternheit, Selbstsicherheit, Selbstbehauptung und ähnliche Aspekte,
sondern den vollen Begriffsumfang der Diagnose „soziale Phobie“ thematisiert, stammt
von der englischen Psychologin und Verhaltenstherapeutin Gillian Butler und heißt in
deutscher Übersetzung „Schüchtern – na und? Selbstsicherheit gewinnen“. Es berück-
sichtigt die kognitiven Konzepte und erfolgreichen Behandlungsmethoden der engli-
schen Psychologen und Verhaltenstherapeuten Clark und Wells, wie sie in den entspre-
chenden Abschnitten dieses Buches dargelegt wurden.
Kurz zusammengefasst bedeutet dieses Erklärungsmodell sozialer Ängste und Pho-
bien für Ihr Sozialverhalten Folgendes: In einer bestimmten sozialen Situation werden
bei Ihnen lebensgeschichtlich bedingte grundlegende Überzeugungen (z.B. „Ich bin
nicht okay, nicht liebenswert“) und negative automatische (unbewusste) Gedanken bzw.
Annahmen (z.B. „Die anwesenden Personen werden mich ablehnen“) aktiviert, die
z eine erhöhte Aufmerksamkeit auf Ihre Person bewirken (ständige Selbstaufmerk-
samkeit mit mangelnder Konzentration auf die Aufgaben und Interaktionspartner),
z ein Sicherheitsverhalten auslösen (anhaltende Vermeidungs-, Flucht-, Unterdrük-
kungs- und Kompensationstendenzen, z.B. soziale Situationen vermeiden, Unsicher-
heit durch Perfektion überspielen wollen, lange im Voraus über die bevorstehende
Situation nachdenken, Alkohol oder Beruhigungsmittel einnehmen),
z körperliche Symptome erzeugen (z.B. Schwitzen, Erröten, Zittern, Herzklopfen).
588 Selbsthilfe bei Angststörungen

Schließlich beeinflussen sich die genannten Faktoren wechselseitig in negativer Weise.


Im Rahmen einer „Selbstbehandlung“ können Sie lernen, diesen Teufelskreis zu unter-
brechen, ohne dass Sie zuerst ein anderer Mensch werden und jahrelang an Ihrem
Selbstbewusstsein und Ihrer Selbstbehauptung arbeiten müssen – wenngleich es natür-
lich Ihre Aufgabe ist, im Laufe des Lebens Ihre Ressourcen auszubauen und alle Chan-
cen zur Verbesserung Ihrer sozialen Lebensmöglichkeiten zu nutzen.
Das empfohlene Selbsthilfebuch bietet zur Unterstützung verschiedene Arbeitsblät-
ter an und beschreibt im Detail vier Hauptmethoden zur Überwindung sozialer Ängste:
1. Denkmuster ändern. Erkennen und hinterfragen Sie Ihre Denkmuster im Umgang
mit anderen Menschen. Sind Sie aus Angst vor Kritik und Ablehnung zu sehr darauf
fixiert, was andere über Sie denken könnten? Dann sollten Sie Ihre negativen
Denkweisen über die vermutete Beziehung der anderen Menschen Ihnen gegenüber
ändern, weil sonst Ihr Denken Ihre Gefühle und Verhaltensweisen ständig ungünstig
beeinflusst. Analysieren Sie zuerst schriftlich anhand eines Protokolls Ihre Gefühle
und Gedanken in bedeutsamen sozialen Situationen, um Ihre verzerrten Denkmuster
detailliert zu erfassen, und suchen Sie anschließend nach alternativen Denkweisen.
2. Verhaltensweisen ändern. Verzichten Sie auf jedes Sicherheits- und Vermeidungs-
verhalten, weil Ihre sozialen Ängste dadurch langfristig verstärkt werden und nur
kurzfristig eine Entlastung von unangenehmen körperlichen und mentalen Zustän-
den erfolgt. Verwenden Sie alle möglichen Tricks, wie Sie einer befürchteten Bla-
mage entkommen oder möglichst unauffällig soziale Situationen überstehen könn-
ten? Dann wagen Sie verschiedene Experimente, um neue positive Erfahrungen oh-
ne Sicherheits- und Vermeidungsverhalten zu machen, die Ihre negativen Erwartun-
gen und lebendig-plastischen Katastrophenfantasien widerlegen. Machen Sie Vor-
hersagen, was ohne Sicherheitsverhaltensweisen schief gehen könnte (Was wäre das
Schlimmste, das passieren könnte?) und vergleichen Sie diese Befürchtungen dann
später mit den tatsächlich gemachten Erfahrungen (Was geschieht wirklich, wenn
Sie sich „ungeschützt“ in gefürchtete Situationen begeben?).
3. Selbstaufmerksamkeit und Befangenheit abbauen. Konzentrieren Sie sich in sozialen
Situationen ganz bewusst auf andere Menschen bzw. auf Ihre Aufgaben, weil die
ständige Selbstbeobachtung aus Angst vor sozialer Auffälligkeit nur zu mangelnder
Spontaneität in Sozialkontakten und zu mangelnder Konzentration in Leistungssitua-
tionen führt. Betreiben Sie in sozialen Situationen eine ständige Beobachtung Ihrer
körperlichen Reaktionen und Ihres verbalen und nonverbalen Verhaltens? Dann soll-
ten Sie Ihre Aufmerksamkeit ganz auf das richten, was um Sie herum geschieht,
damit Sie in sozialen Situationen möglichst viele Informationen von außen erhalten,
anstatt ständig um Ihre eigenen Gedanken und körperlichen Empfindungen zu krei-
sen. Blicken Sie andere Menschen 100%ig an, anstatt sich selbst so zu beobachten,
wie Sie glauben, dass die anderen Menschen Sie wahrnehmen und beobachten.
4. Vertrauen in sich selbst aufbauen. Wenn Ihr Selbstvertrauen in sozialen Situationen
trotz Umsetzung der ersten drei Strategien nur unzureichend oder nur sehr langsam
ansteigt, sollten Sie als vierten Schritt die zugrunde liegenden negativen Überzeu-
gungen in Bezug auf Ihre Person analysieren und verändern. Sind Sie sich selbst ge-
genüber kritischer, als andere Menschen dies Ihnen gegenüber jemals sein könnten?
Dann spiegelt Ihre Angst vor sozialer Ablehnung letztlich nur Ihre übertriebene
Selbstkritik wider. Neue Erfahrungen mit sich selbst durch verschiedene erfolgrei-
che Aktivitäten und eine positivere Einstellung sich selbst gegenüber fördern Ihr
Selbstvertrauen und vermindern Ihre Angst vor sozialer Bewertung und Ablehnung.
Bewältigungsstrategien bei sozialen Ängsten 589

Bei Bedarf: Soziale Kompetenzen verbessern lernen

Lernen Sie, selbstbewusster und unabhängiger gegenüber anderen Menschen zu wer-


den! „Selbstbewusstsein“ ist mehr als sicheres Auftreten, Durchsetzungskraft und psy-
chische Stärke. „Sich seiner selbst bewusst zu sein“ bedeutet, seine eigenen Bedürfnis-
se, Gefühle und körperlichen Zustände voll wahrnehmen und annehmen zu können,
sodass man deswegen nicht die Ablehnung durch andere fürchten muss. Wer sich in
seiner momentanen Befindlichkeit selbst ablehnt, kann der befürchteten oder tatsächli-
chen Kritik durch die soziale Umwelt kaum etwas entgegensetzen. Sich selbst in seinem
Sosein besser anzunehmen, stellt bereits die erste positive Veränderung dar. Überlegen
Sie, ob Sie aus Angst vor Kritik bzw. Ablehnung oder wegen mangelnder sozialer Fer-
tigkeiten nach dem Motto „Wie gehe ich auf andere zu?“ Kontaktprobleme haben. Viele
Menschen mit Sozialphobie streben primär deshalb bessere Kommunikationsstrategien
an, weil sie hoffen, dadurch die belastende Angst vor Ablehnung überwinden zu kön-
nen. In diesem Fall ist anfangs eher ein Ablehnungstraining (Ablehnung provozieren
und besser ertragen lernen) als ein Kommunikationstraining angezeigt. Wer die mögli-
chen Folgen sozialer Kompetenz (z.B. Kritik vonseiten anderer) nicht ertragen kann,
wird eher zum Nachgeben neigen. Die folgenden Übungsvorschläge – aus einschlägigen
populären und Fachbüchern entnommen – bieten Hilfen für beide Bereiche an.
Lernen Sie, andere Menschen bewusst wahrzunehmen und zu beobachten. Jemanden
anzusprechen gelingt Ihnen leichter, wenn Sie zuerst einmal nonverbal eine Beziehung
zu jemandem aufgebaut haben. Die genaue Beobachtung anderer Personen ist die erste
und einfachste Methode, ihnen gegenüber sicherer zu werden. Die Konzentration auf
die beobachtbaren Reaktionen anderer Menschen ist in Angstsituationen auch eine hilf-
reiche Ablenkung von der ständigen ängstlichen Selbstbeobachtung und den Befürch-
tungen über das unmittelbar Bevorstehende. Folgende Tipps sind hilfreich:
z Beobachten und beschreiben Sie innerlich für sich die äußeren Merkmale vorbeige-
hender oder Ihnen gegenübersitzender Personen: Kleidung, Gesicht, Augen, Frisur,
Figur, Körperhaltung, Bewegungen.
z Nehmen Sie eine persönliche Einschätzung dieser Personen vor, d.h. wie diese auf
Sie wirken (deprimiert, aggressiv, gehetzt, lustig, freundlich, sympathisch, unsympa-
thisch, ablehnend, Angst einflößend, selbstbewusst, unsicher, ängstlich usw.).
z Nehmen Sie Ihre Gefühle, Gedanken und körperlichen Reaktionen wahr und be-
schreiben Sie diese innerlich, während Sie anderen gegenübersitzen oder -stehen.
Welche Verhaltensweisen anderer Menschen bewirken bei Ihnen welche Zustände?
z Wenn Ihnen die Nähe anderer Menschen unangenehm ist, weichen Sie aus Übungs-
zwecken dennoch nicht aus, sondern beobachten Sie, welche Gefühle und Gedanken
auftreten. Nennen Sie nicht alles gleich „Angst“, wenn Sie vielleicht andere Gefühle
haben (z.B. Einsamkeitsgefühle, Wunsch nach Kontakt, Ärger über andere).

Lernen Sie, mit anderen Menschen nonverbal in Kontakt zu treten:


z Üben Sie in Straßenbahnen, Bussen, Zügen, Lokalen usw. den Blickkontakt mit
anderen, ohne dabei um die Länge des Blickkontakts zu kämpfen, sondern überprü-
fen Sie nur die Wirkung eines direkten, verlängerten Blicks.
z Lächeln Sie Ihrem Gegenüber zu und beobachten Sie die Reaktion des anderen.
z Lächeln Sie eine sympathische Person des anderen Geschlechts an.
z Gehen Sie aufrecht und selbstbewusst auf eine unbekannte Person zu, mit direktem
Blickkontakt, und beobachten Sie, ob diese ausweicht.
590 Selbsthilfe bei Angststörungen

Lernen Sie, körperliche Nähe zu ertragen:


z Lernen Sie, in einem überfüllten Bus, Lift, Kaufhaus, Lokal, Kino, Schwimmbad,
Wartezimmer oder Veranstaltungssaal die Nähe fremder Menschen zu ertragen.
z Besuchen Sie eine Sauna oder lassen Sie sich bei Verspannungen massieren.
z Fragen Sie in einem vollen Speiselokal an einem Tisch die Anwesenden, ob Sie sich
dazusetzen dürfen, und halten Sie sich dort mindestens eine Stunde lang auf.
z Nehmen Sie an Kursen teil, wo Sie mit fremden Menschen in Interaktion treten
müssen (z.B. bestimmte Kurse in Einrichtungen der Erwachsenenbildung).
z Nehmen Sie an Selbsterfahrungs- bzw. Selbstsicherheitsgruppen oder ähnlichen
Veranstaltungen teil, wo über den verbalen Ausdruck innerer Zustände gezielt die
Nähe unter den Kursteilnehmern gefördert wird.
z Nehmen Sie an einer mehrtägigen Gruppenreise mit unbekannten Personen teil.
z Organisieren Sie eine Party, zu der Sie mehr Leute einladen als bisher.

Lernen Sie, andere Menschen anzusprechen:


z Fragen Sie Passanten nach einer Straße, nach einem komplizierten Weg, nach der
Uhrzeit, nach einem Geschäft oder Gebäude.
z Stellen Sie sich vor eine Telefonzelle hin und fragen Sie Passanten, ob sie Ihnen eine
Münze wechseln können.
z Begrüßen Sie freundlich eine unbekannte Person und fragen Sie diese, ob es sein
kann, dass Sie sich von irgendwoher kennen.
z Reden Sie im Bus, Zug oder Lokal sowie auf einer Parkbank fremde Personen an.
z Erheben Sie neben verschiedenen anderen Informationen auch die persönliche Mei-
nung der Befragten (z.B. „Welches Lokal würden Sie mir empfehlen?“).
z Sprechen Sie im Freien verschiedene Verkäufer an (Zeitungs-, Blumen-, Würstel-
verkäufer) und führen Sie ein kurzes Gespräch mit ihnen.
z Sprechen Sie in Geschäften Verkäufer an, um sich beraten zu lassen, ohne etwas zu
kaufen. Reden Sie dabei jene Menschen an, die Sie aus verschiedenen Gründen
spontan eher nicht ansprechen würden.

Lernen Sie, Forderungen zu stellen:


z Versuchen Sie, in Geschäften die Verkäufer über Sachfragen zu bestimmten Produk-
ten (z.B. elektrische Geräte) möglichst lange in Gespräche zu verwickeln, ohne et-
was zu kaufen. Stellen Sie bestimmte Anforderungen an die Qualität der Waren.
z Gehen Sie in ein Schuhgeschäft und probieren Sie mindestens drei Paar Schuhe,
ohne welche zu kaufen. Handeln Sie ähnlich in einem Kleidergeschäft.
z Wenn es irgendwo laut zugeht, sagen Sie den betreffenden Personen, sie mögen
leiser sein.
z Stellen Sie eine Forderung an Ihren Partner, die Ihnen wichtig ist, ihn aber vielleicht
verärgern könnte.
z Äußern Sie in Ihrer Wohnumwelt gegenüber bestimmten Menschen eine Beschwer-
de zu einem Sachverhalt, der Sie innerlich schon lange beschäftigt.
z Richten Sie Forderungen an Verwandte, deren Verhalten Sie schon lange ärgert.
z Äußern Sie an Ihrer Arbeitsstelle bei Ihrem Vorgesetzten oder bei einem Arbeitskol-
legen einen berechtigten Wunsch, auch wenn wenig Aussicht auf Erfüllung besteht.
Es ist nicht immer möglich, alles gleich durchzusetzen, doch bietet erst ein beharr-
lich vorgetragenes Anliegen die Chance dazu.
z Sagen Sie Freunden und Arbeitskollegen, was Sie stört, und was Sie sich wünschen.
Bewältigungsstrategien bei sozialen Ängsten 591

Lernen Sie, soziale Auffälligkeit zu ertragen und machen Sie Mittelpunktsübungen:


z Verstreuen Sie in einem Café etwas Zucker oder lassen Sie den Teelöffel fallen.
z Gehen Sie in einem Lokal langsam bis zum Ende und tun Sie so, als würden Sie
jemanden suchen.
z Rufen Sie in einem öffentlichen Verkehrsmittel, in einem Lokal oder auf der Straße
einem weiter entfernt stehenden Bekannten etwas so laut zu, dass Sie auffallen.
z Rufen Sie in einem vollen Lokal dem Kellner zu, der fünf Meter entfernt ist.
z Husten oder schnäuzen Sie sich so laut, dass sich jemand umdreht.
z Stellen sich an einem sehr frequentierten Platz in auffälliger Weise hin.
z Versuchen Sie sich absichtlich in einer Sportart, die Sie nicht gut können, während
Ihnen andere Leute dabei zuschauen.
z Verhalten Sie sich in einem Geschäft der Verkäuferin gegenüber so aufgeregt, dass
Sie dabei etwas stottern und nicht so recht herausbringen, was genau Sie eigentlich
kaufen möchten. Provozieren Sie genau das, was Sie eigentlich fürchten.
z Legen Sie im Geschäft bei der Kasse einige Gegenstände zurück mit der Begrün-
dung, dass Sie nicht so viel Geld mithaben.
z Lassen Sie im Supermarkt bei der Kasse, wo hinter Ihnen eine längere Schlange
steht, den ganzen Einkaufswagen beiseite stellen, weil Sie plötzlich „entdecken“,
dass Sie Ihre Geldbörse vergessen haben.
z Versuchen Sie in einem Supermarkt, wo eine längere Schlange bei der Kasse steht,
mit der Begründung, dass Sie nur einen einzigen Gegenstand gekauft haben, zur
Kasse vorgelassen zu werden.
z Tragen Sie einmal eine bestimmte Kleidung, mit der Sie sicher Aufsehen erregen.
z Gehen Sie in einem großen Lokal langsam umher, blicken Sie die Gäste an und
verhalten Sie sich so, also würden Sie einen Bekannten suchen.

Lernen Sie, Ihre Ablehnungsangst zu bewältigen. Verhalten Sie sich bestimmten Men-
schen gegenüber absichtlich so, dass Sie mit einer Ablehnung rechnen müssen:
z Ersuchen Sie jemand, Ihnen Kleingeld zum Telefonieren zu schenken.
z Fragen Sie eine unbekannte Dame, ob Sie ihr den Koffer tragen dürfen.
z Fragen Sie einen eilig vorbeigehenden Passanten, der wenig Zeit zu haben scheint,
nach einem komplizierten Weg.
z Fragen Sie einen streng und seriös wirkenden Herrn, ob er Ihnen ein gutes Speiselo-
kal in der Nähe empfehlen kann.
z Fragen Sie in einem Lokal ein Paar, ob Sie sich dazusetzen dürfen, weil sonst nichts
mehr frei sei.
z Reden Sie, wenn Sie allein unterwegs sind, eine Person des anderen Geschlechts an
und versuchen Sie, sich fünf Minuten mit ihr zu unterhalten, obwohl Sie den Ein-
druck haben, dass diese Person nicht mit Ihnen reden wird.
z Bewerben Sie sich, wenn Sie derzeit arbeitslos sind, absichtlich bei einer Stelle, wo
Sie mit einer Absage rechnen müssen.
z Setzen Sie sich in einem Lokal oder Zugsabteil auf einen reservierten Platz, um die
Erfahrung des Aufstehen-Müssens ertragen zu lernen.
z Versuchen Sie, in einem Geschäft bei einem Produkt einen um 5% niedrigeren Preis
auszuverhandeln, obwohl dies ziemlich unwahrscheinlich erscheint.
z Verhandeln Sie in einem Geschäft mit einem Verkäufer, etwas billiger zu bekom-
men, weil es leicht beschädigt sei, obwohl dies nur unwesentlich der Fall ist.
z Interviewen Sie Passanten mit einem Mikrofon zu einem bestimmten Thema.
592 Selbsthilfe bei Angststörungen

Zwanzig Tipps zur Bewältigung von Versagensängsten

Soziale Ängste stehen häufig in Zusammenhang mit Versagensängsten, die auch unab-
hängig von sozialer Bewertung, Kritik und Ablehnung in jedem von uns vorhanden
sind. Wir möchten etwas gut machen und fürchten uns manchmal gerade deswegen, es
schlecht zu machen. Wenn wir uns selbst übermäßig kritisieren, brauchen wir uns nicht
zu wundern, dass wir uns oft auch vor dem Urteil anderer Menschen fürchten.
Von normalem Lampenfieber bis hin zu krankhaften Versagensängsten gibt es un-
terschiedliche Formen, wie Menschen mit Leistungsanforderungen in Ausbildung, Be-
ruf und Sozialbeziehungen umgehen. Die Angst zu versagen zeigt sich in vielfältiger
Weise als Leistungs- und Prüfungsangst in Schule und Ausbildung, als Versagensangst
im Beruf, als Präsentationsangst in beruflichen und privaten Situationen, als Angst vor
Minderleistung in den Bereichen von Sport, Kunst, Kultur und Wissenschaft, als Furcht
vor Blamage in vielen an sich angenehmen Freizeitsituationen, als sexuelle Versagens-
angst in der Partnerschaft, als Angst vor Versagen angesichts familiärer Rollen und
Verpflichtungen, als Angst vor Statusverlust bei finanzieller Notlage.
Psychologen unterscheiden zwei Komponenten von Prüfungs- und Versagensäng-
sten: Erregung, soweit es die körperlichen und emotionalen Aspekte betrifft, und Be-
sorgtheit, soweit es die gedanklichen Aspekte betrifft. Die unkontrollierbare Besorgtheit
angesichts von subjektiv schwierigen Leistungssituationen ist das Hauptproblem. Die
körperlichen Erregungssymptome werden durch die Angst im Kopf verschlimmert. Die
Erregung verstärkt die Befürchtung zu versagen – ein Teufelskreis. Wenn die körperli-
che Erregung subjektiv zum Hauptproblem wird, beruht dies gewöhnlich auf dem unan-
genehmen Gefühl von dauernder körperlicher Anspannung.
Ich habe zur Thematik der Versagensängste ein Selbsthilfebuch verfasst: „Die Angst
zu versagen und wie man sie besiegt“. Besiegen kann man die Versagensangst nicht,
man kann nur lernen, besser mit ihr zurechtzukommen – für den Titel ist der Verlag
verantwortlich. In Form von 20 Schritten vermittle ich darin Strategien im Umgang mit
Versagensängsten, die im Folgenden zusammenfassend dargestellt werden:

1. Motivieren Sie sich durch attraktive Ziele und lassen Sie sich nicht erst durch äuße-
re Notwendigkeit anspornen. Das Motto lautet: Wollen statt müssen. Der Erfolg ge-
lingt Ihnen leichter, wenn Sie etwas tun wollen – statt es tun zu müssen. Sie errei-
chen mehr, wenn Sie eine starke Triebfeder für Ihr Tun haben. Entwickeln Sie eine
Zug-Motivation („Ich will etwas verwirklichen“, „Ich freue mich darauf, dieses Ziel
zu erreichen“) anstatt einer Druck-Motivation („Ich muss eine Sache angehen“, „Ich
sollte endlich etwas tun, damit nicht alles noch schlimmer wird“).

2. Streben Sie nach Erfolg und nicht so sehr nach der Vermeidung von Misserfolg. Das
Motto lautet: Maximierung der Erfolgswahrscheinlichkeit statt Minimierung der
Misserfolgswahrscheinlichkeit. In Leistungssituationen unterscheiden sich Men-
schen dadurch, ob sie getragen sind von der Hoffnung auf Erfolg, den sie erreichen
wollen, oder von der Furcht vor Misserfolg, den sie vermeiden möchten. Bemühen
Sie sich weniger darum, Misserfolge zu verhindern, denn Scheitern ist immer mög-
lich, sondern konzentrieren Sie sich vielmehr darauf, die Wahrscheinlichkeit des Er-
folgs zu erhöhen. Sich selbst erfüllende Prophezeiungen veranschaulichen anhand
der Folgen, wie sehr es darauf ankommt, das Gute zu erwarten und anzustreben, statt
ständig das Negative zu fürchten.
Bewältigungsstrategien bei sozialen Ängsten 593

3. Formulieren Sie Ihre Ziele positiv und setzen Sie sich keine negativ formulierten
Ziele, bei denen es nur darum geht, einen Misserfolg zu vermeiden. Das Motto lau-
tet: Kampf für etwas statt gegen etwas. Das Unbewusste kennt keine Verneinung.
Etwas nicht zu wollen, z.B. keinen Fehler zu machen, stellt dies erst recht in den
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Machen Sie sich klar: Sie möchten etwas errei-
chen. Anstrebungsziele sind positiv formuliert; sie gewinnen dadurch ihre Anzie-
hungskraft. Verzichten Sie auf negativ formulierte Ziele. Es geht nicht primär dar-
um, etwas zu vermeiden. Vermeidungsziele sollen Sie nur vor einem unangenehmen
Zustand bewahren; sie helfen Ihnen nicht, einen erwünschten Zustand zu erreichen.

4. Setzen Sie sich realistische, erreichbare Ziele und provozieren Sie nicht Ihr Versa-
gen durch unrealistische Ziele. Das Motto lautet: Den Erfolg in Teilschritten an-
streben. Verzichten Sie auf unerreichbare Ideale, die Sie von Anfang an nur entmu-
tigen. Halten Sie durchaus an hohen, prinzipiell erreichbaren Endzielen fest, setzen
Sie sich jedoch klare und vernünftige Zwischen- bzw. Teilziele. Sind Ihre Teil- und
Endziele konkret formuliert, können Sie später Erfolg oder Misserfolg überprüfen.

5. Visualisieren Sie den Erfolg und produzieren Sie keine abschreckenden Horrorvi-
sionen. Das Motto lautet: Mentales Training wie im Spitzensport. Nutzen Sie die
Kraft Ihrer Vorstellungen. Dieselbe „Einbildung“, die Ihre Versagensängste produ-
ziert, hilft Ihnen auch, sich erfolgreiche Lösungswege auszumalen. Sie glauben mit
Hilfe positiver Bilder stärker an Ihren Erfolg. Stellen Sie sich genau vor, was Sie er-
reichen möchten. Sie werden an den Erfolg Ihrer Bemühungen umso eher glauben,
je mehr Sie ihn in Ihrer Vorstellung vorwegnehmen. Was Sie sich nicht einmal vor-
stellen können, können Sie nur schwer tun. Beim mentalen Training handeln wir
geistig „auf Probe“: Wir spielen Situationen und unser Verhalten gedanklich durch.

6. Bleiben Sie in Leistungssituationen im Hier und im Jetzt und verzichten Sie auf ne-
gative Gedanken an Vergangenheit oder Zukunft. Das Motto lautet: Tu’, was genau
jetzt zu tun ist. Konzentration ist eine Einengung der Aufmerksamkeit auf die unmit-
telbare Gegenwart. Konzentrieren Sie sich ganz auf das, was Sie gerade jetzt tun. Sie
leben dann ganz für den Augenblick. Beschäftigen sich aufmerksam mit der aktuel-
len Aufgabe – und mit sonst nichts. Sie werden unkonzentriert, wenn Sie sich auf zu
vieles gleichzeitig konzentrieren. Ihre Konzentration lässt nach, sobald Sie an etwas
anderes denken: sei es der soeben begangene kleine Fehler oder eine zukünftige
Hürde. Blicken Sie nicht in die Vergangenheit oder in die Zukunft. Denken Sie auch
nicht zu sehr an das Ziel, während Sie gerade eine Leistung erbringen.

7. Konzentrieren Sie sich intensiv auf die gegenwärtige Aufgabe und achten Sie nicht
ständig auf Ihre Mitmenschen oder Ihre körperlichen Reaktionen. Das Motto lautet:
Bleiben Sie im Tun, anstatt die Beobachter-Perspektive einzunehmen. Wenn Sie sich
einer Herausforderung stellen, dann ignorieren Sie Ihre Umgebung. Achten Sie nicht
auf die anderen Menschen, die Sie beobachten oder mit denen Sie im Wettbewerb
stehen. Kontrollieren Sie auch nicht ständig Ihren Körper nach Symptomen, die an-
dere wahrnehmen könnten. Konzentrieren Sie sich stattdessen voll und ganz auf die
Tätigkeit, auf die es gerade ankommt. Ruhen Sie in Leistungssituationen in sich und
stehen Sie nicht ständig neben sich. Begleiten Sie bei Bedarf Ihr Handeln durch ein
inneres Sprechen, denn so können Sie sich besser auf Ihre Aufgabe konzentrieren.
594 Selbsthilfe bei Angststörungen

8. Lernen und trainieren Sie sich gezielt und vermeiden Sie reine Absichtserklärungen
und unkoordinierte Aktionen. Das Motto lautet: Erfolg durch ein detailliertes Trai-
ningsprogramm. Bereiten Sie sich auf alle Leistungssituationen so gut wie möglich
vor. Sie verunsichern sich unnötig, wenn Sie sich überhaupt nicht oder nur schlecht
vorbereiten. Wenn Sie eine Situation immer wieder vermeiden, lernen Sie nicht,
damit umzugehen. Erstellen Sie einen konkreten Lern- und Trainingsplan mit Teil-
zielen, die Sie der Reihe nach umsetzen. Sie bestärken sich mit den erreichten Zwi-
schenzielen und glauben fester an Ihren endgültigen Erfolg. Ihre Fortschritte werden
Sie zu weiteren Aktivitäten anspornen. Für Motivationskrisen gilt: Warten Sie nicht
zu lange auf den richtigen Schwung. Just do it – tun reicht, es muss nicht immer
Spaß machen. Beginnen Sie Ihre Aufgabe mit einem Teil, der Sie weiter anspornt
und in Schwung hält. Wenn Sie sich wenigstens für kurze Zeit mit bestimmten Auf-
gaben beschäftigen, werden Sie leichter damit fortfahren. Gestehen Sie sich ein: Ihr
Interesse an einer Sache entsteht häufig erst durch Ihre Beschäftigung damit – nicht
durch den häufig vergeblichen Versuch, sich schon vorher dafür zu begeistern.

9. Erinnern Sie sich an Ihre Erfolge und starren Sie nicht ständig auf Ihre Misserfolge.
Das Motto lautet: Rufen Sie in Ihrem Gehirn Ihre Erfolgsfilme ab. Wenn Sie sich
unsicher und verzagt fühlen, vergegenwärtigen Sie sich möglichst anschaulich Ihre
bisherigen Erfolge. Sie werden sich beim Gedanken daran gleich kompetenter füh-
len und sich mehr zutrauen. Spielen Sie vor Ihrem inneren Auge einen Erfolgsfilm
bezüglich einer früheren Tätigkeit ab, dann werden diese angenehmen Erfahrungen
erneut in Ihnen lebendig. Ihre Angst zu versagen lässt nach, sobald Sie erkennen,
was Sie in Ihrem Leben bereits geleistet haben. Sagen Sie sich: „Ich habe eine ähnli-
che Aufgabe schon öfter geschafft, es kann mir auch heute gelingen.“

10. Akzeptieren Sie Ihre Versagensangst und Fehleranfälligkeit und fürchten Sie sich
nicht ständig vor Misserfolgen. Das Motto lautet: Aus jedem Fehler können Sie et-
was lernen. Erlauben Sie sich ausdrücklich, Fehler zu machen. Wenn Sie sich diese
Möglichkeit zugestehen, brauchen Sie Misserfolge nicht mehr zu fürchten. Sagen
Sie sich: „Irren ist menschlich und macht menschlich.“ Nehmen Sie Ihre Angst zu
versagen an. Akzeptieren Sie sich selbst mit Ihren Schwächen. Mit diesem Schritt
haben Sie sich bereits verändert. Dies ist Ihr bestes Mittel gegen ständige
Versagensängste. Die Bereitschaft zu einem Versuch-Irrtum-Lernen bietet Ihnen die
Chance, etwas Neues dazuzulernen, anstatt aus Angst vor Fehlern immer nur im
Gewohnten zu verharren. Bedenken Sie: Sie sind oft kritischer als Ihre Umwelt.

11. Stärken Sie Ihr Selbstwertgefühl und entwerten Sie sich nicht ständig selbst. Das
Motto lautet: Sie sind schon etwas und müssen nicht erst etwas werden. Vertrauen
Sie bei einer Herausforderung auf sich und Ihr Können. Machen Sie sich Ihre Stär-
ken und Fähigkeiten bewusst. Halten Sie sich nicht für unfähig und minderwertig.
Erkennen Sie den Wert Ihrer Person. Sie werden auf diese Weise unabhängig von
Lob und Anerkennung anderer Menschen. Sie sind dann frei, zu tun und zu lassen,
was Ihnen beliebt. Ständige Selbstkritik macht Sie dagegen anfällig für Fremdkritik.
Menschen mit Selbstbewusstsein sind sich ihrer selbst bewusst. Sie kennen ihre Fä-
higkeiten ebenso wie ihre Schwächen. Wenn Sie Ihre Wünsche, Ihre Bedürfnisse
und Ihre momentane Leistungsfähigkeit wahrnehmen und akzeptieren, schaffen Sie
sich damit eine ideale Basis für ein gesundes Selbstwertgefühl.
Bewältigungsstrategien bei sozialen Ängsten 595

12. Führen Sie aufbauende Selbstgespräche und machen Sie sich innerlich nicht ständig
runter. Das Motto lautet: Innere Dialoge zur positiven Selbstinstruktion nutzen. Re-
den Sie mit sich selbst so, wie Sie möchten, dass andere mit Ihnen sprechen. Spre-
chen Sie nett und aufbauend mit sich. Spornen Sie sich durch Ihre inneren Dialoge
an, als wären Sie Ihr eigener Trainer. Schreiben Sie auf, wie Sie vor, in und nach
Leistungssituationen denken und mit sich reden. Verändern Sie anschließend Ihre
Selbstgespräche so, dass diese Sie auf dem Weg zum Erfolg unterstützen statt hem-
men. Wenn Sie innerlich anders mit sich reden, werden Sie anders handeln.

13. Gestalten Sie Ihr Leben und fühlen Sie sich nicht als Opfer der Umstände. Das Mot-
to lautet: Handeln statt jammern. Betrachten Sie sich nicht stets als armes Opfer un-
günstiger Umstände oder einer schlechten Kindheit. Nutzen Sie Ihre Chancen. Neh-
men Sie Ihr Leben aktiv in die Hand. Gestalten Sie Ihre Zukunft. Gehen Sie Ihre
Aufgaben aktiv an und handeln Sie gezielt. Verfallen Sie bei einer Herausforderung
nicht in das Verhalten Ihrer Kindheit mit ihren unangenehmen Erfahrungen. Halten
Sie sich lieber Ihre Möglichkeiten als erwachsener Mensch bewusst vor Augen.

14. Konfrontieren Sie sich mit Ihren Versagensängsten und körperlichen Symptomen
und fliehen Sie nicht ständig vor allen Belastungen. Das Motto lautet: Der Angst ins
Angesicht blicken statt davonlaufen und sich ihr ausliefern. Angst lebt vom Vermei-
den und Ausweichen. Stellen Sie sich Ihren Versagensängsten. Konfrontieren Sie
sich bewusst mit Gedanken, Situationen, Symptomen und Personen, die Ihnen Angst
einflößen. Suchen Sie alle Situationen ohne äußere oder innere Vermeidung auf.
Wenn Sie der Angst ausweichen, wird sie nur immer stärker. Bleiben Sie mindestens
so lange in jeder Angstsituation, bis Sie spüren, wie Ihre Angst nach einiger Zeit
nachlässt. Je öfter Sie sich in eine Angst machende Situation begeben, umso schnel-
ler gewöhnt sich Ihr Körper daran. Führen Sie einen inneren Dialog mit Ihrer Angst.

15. Treten Sie echt und glaubwürdig auf und spielen Sie anderen keine unechten Rollen
vor. Das Motto lautet: Bleiben Sie authentisch. Bleiben Sie bei allen Auftritten echt.
Zeigen Sie sich nach außen so, wie Sie sind und sich fühlen. Bleiben Sie Ihrem We-
sen treu und spielen Sie keine Rollen, die nicht zu Ihnen passen. Verstellen Sie sich
nicht aus lauter Angst vor dem Publikum. Klammern Sie sich bei Ihren Auftritten
nicht an vorgefertigte Verhaltensmuster. Verlassen Sie sich nicht zu sehr auf Tech-
niken, sondern vielmehr auf Ihre individuellen Fähigkeiten. Handeln Sie aus der
Kraft Ihrer Spontaneität. Vertrauen Sie darauf, dass Ihre persönliche Note Sie bei je-
dem Auftritt sympathisch und überzeugend macht.

16. Wechseln Sie Stress und Erholung ab und powern Sie sich nicht mit ununterbroche-
ner Arbeit aus. Das Motto lautet: Systematischer Wechsel zwischen Anspannung
und Entspannung. Spitzensportler und Führungskräfte sind auf Dauer nur erfolg-
reich durch den systematischen Wechsel zwischen überdurchschnittlicher Lei-
stungsbereitschaft und maximalem Stress einerseits und angemessenen Erholungs-
pausen andererseits. Bauen Sie sich einen Lebens- und Leistungsrhythmus auf, der
Ihnen gut tut. Wechseln Sie regelmäßig und zeitgerecht zwischen Anspannung und
Entspannung. Geben Sie vollen Einsatz, gönnen Sie sich anschließend entsprechen-
de Erholungsphasen. Andauernde Anspannung erschöpft Sie und macht Sie krank.
Zu viel Muße und Entspannung verhindert den nötigen Energieaufbau.
596 Selbsthilfe bei Angststörungen

17. Achten Sie auf Ihre körperliche Entspannung und vermeiden Sie ständige Anspan-
nung mit der Folge psychosomatischer Störungen. Das Motto lautet: Lernen Sie
passende Entspannungstechniken. Verringern Sie Ihre körperliche Anspannung, in-
dem Sie in einem Kurs bestimmte Entspannungstechniken erlernen. Überprüfen Sie
bei ständiger innerer Angespanntheit, ob Sie sich eher durch körperliche Aktivität
oder eher durch passive Übungen entspannen können. Die wichtigsten Entspan-
nungstechniken sind Atemübungen, autogenes Training, progressive Muskelent-
spannung nach Jacobson, Yoga und Zen-Meditation; immer mehr Bedeutung ge-
winnen auch Tai chi und Qi Gong.

18. Stellen Sie keine zu hohen Ansprüche an sich selbst und vermeiden Sie jede länger
dauernde Überforderung. Das Motto lautet: Beugen Sie einem Burn-out vor. Erfolg
und Versagen hängen damit zusammen, wie Sie mit sich selbst umgehen. Überprü-
fen Sie, ob Sie zu hohe Anforderungen an sich selbst stellen und relativieren Sie Ihre
Ansprüche – spätestens wenn ein körperlicher und seelischer Zusammenbruch droht.
Seien Sie realistisch in Bezug auf die Leistungen, die Sie von sich selbst erwarten.
Berücksichtigen Sie Ihre Möglichkeiten und die gesamten Umstände. Stellen Sie ei-
ne gesunde Balance her zwischen Ihren beruflichen, familiären und individuellen
Bedürfnissen. Geben Sie durchaus Ihr Bestes in Ihrem Beruf, für Ihre Familie, Ihre
Ideale und die Entwicklung Ihrer Fähigkeiten. Achten Sie dabei jedoch mehr als
bisher auf sich selbst, auf Ihre Wünsche und Bedürfnisse. Engagieren Sie sich wie
bisher mit Feuereifer für Ihre Mitmenschen und Ihre Ziele. Schützen Sie sich jedoch
davor, auszubrennen oder innerlich zu verbrennen.

19. Legen Sie Ihre Überverantwortung ab und vermeiden Sie ein Helfersyndrom. Das
Motto lautet: Schauen Sie auf sich so, dass Sie auch weiterhin anderen helfen kön-
nen. Handeln Sie verantwortungsbewusst, jedoch nicht überverantwortlich. Sie sind
nicht für alles und jeden verantwortlich. Es ist nicht Ihr Versagen, wenn andere ihre
Verantwortung nicht wahrnehmen oder Fehler begehen. Fühlen Sie sich nicht schul-
dig, wenn andere Menschen ihren Verpflichtungen nicht gerecht werden. Auch
wenn Sie anderen Menschen helfen, müssen sich diese für ihr Handeln selbst ver-
antworten. Erkennen Sie den gefährlichen Teufelskreis der Verantwortungsfalle: Je
mehr Hilfe Sie leisten, desto hilfloser verhalten sich die Menschen rundherum. Je
mehr Sie sich als Retter anbieten, umso mehr verlassen sich andere auf Sie. Tun Sie
nichts, was die anderen selbst tun können.

20. Treten Sie kompetent auf und verkaufen Sie nicht unter Ihrem Wert. Das Motto lau-
tet: Verbessern Ihre soziale Kompetenz. Entwickeln Sie Ihre sozialen Fertigkeiten,
um vor anderen Menschen kompetenter aufzutreten. Es ist heute zunehmend wich-
tig, sich selbst besser präsentieren und „verkaufen“ zu können. Dazu sollten Sie Ihre
Angst vor Blamage und Kritik überwinden. Angst hemmt nur Ihre Spontaneität und
Kreativität. Treten Sie selbstbewusster auf als bisher. Machen Sie durch Ihr Verhal-
ten auf sich aufmerksam. Stellen Sie sich bewusst in den Mittelpunkt der Aufmerk-
samkeit anderer Menschen. Stehen Sie zu Ihren Auffassungen und vertreten Sie Ihre
Werte. Äußern Sie notwendige Kritik. Wagen Sie zu widersprechen. Stellen Sie be-
rechtigte Forderungen. Schlagen Sie überzogene Bitten ab. Sagen Sie Nein zu allem,
was gegen Ihre Interessen ist. Tolerieren Sie öffentliche Beachtung. Schauen Sie an-
deren direkt in die Augen. Nehmen Sie eine selbstsichere Körperhaltung ein.
Bewältigungsstrategien bei generalisierten Ängsten 597

Bewältigungsstrategien bei generalisierten Ängsten


Es ist ganz normal, wenn Sie sich im Vergleich zu anderen Menschen etwas mehr Sor-
gen machen über alltägliche Dinge des Lebens und über mögliche zukünftige Bedro-
hungen – solange Ihnen und Ihren Angehörigen Ihre ständigen Befürchtungen und Vor-
ahnungen nicht selbst zur Belastung werden. Wenn jedoch eine Sorge die nächste jagt,
Sie unter ständiger Anspannung und ängstlichem Grübeln leiden, ohne dieses abstellen
zu können, und Ihre Sorgen keine sinnvolle Vorbereitung auf mögliche Lösungen dar-
stellen, lesen Sie das Selbsthilfe-Buch „Gut leben – mit kleinen und großen Sorgen. Das
Übungsbuch“ von Chad Lejeune und versuchen Sie das folgende Selbsthilfeprogramm:
1. Erstellen Sie in einem Sorgen-Tagebuch, das Sie immer bei sich tragen, eine Liste
z der häufigsten Sorgen-Themen und reihen Sie diese nach dem Ausmaß der Be-
deutung für Sie (Was sind die belastendsten Sorgen?);
z der häufigsten körperlichen Symptome, die Sie gegenwärtig belasten (Waren Sie
schon einmal oder mehrfach bei Ärzten wegen Symptomen wie Einschlafstörun-
gen, rasche Erschöpfung, Reizbarkeit, Kopfschmerzen, Durchfall oder Schwin-
del, bei denen keine organischen Ursachen zu finden waren, sodass diese Be-
schwerden als Ausdruck Ihrer ängstlichen Angespanntheit zu betrachten sind?);
z der Vermeidungsstrategien (bestimmte Informationen nicht wissen wollen, über-
haupt nicht mehr an die Sorgen denken wollen, unangenehme Gedanken vermei-
den, das mögliche Unglück keinesfalls bildlich vorstellen, von einer Sorge zur
nächsten springen, um durch längeres Verweilen nicht beunruhigt zu werden);
z der Rückversicherungen (z.B. bei Angehörigen nachfragen, um sich abzusichern,
dass alles passt, sich von anderen beruhigen lassen, dass nichts Gefährliches ge-
schehen wird, übermäßige Arztgesuche aus Sorge um das Kind);
z der Kontrollen von Angehörigen(z.B. die Tochter überall hin begleiten, damit ihr
nichts zustößt, die Kinder per Handy kontrollieren, wo sie sich gerade aufhalten);
z der besorgten Ermahnungen (z.B. den Partner erinnern, dass er vor dem Auto-
fahren keinen Alkohol trinken solle, dem Sohn ständig sagen, dass er beim Auto-
oder Motorradfahren aufpassen solle, um einen Unfall zu vermeiden).
2. Analysieren Sie
z die Eigenart Ihrer Sorgen und Befürchtungen: Was löst Ihre Sorgen aus und was
hält sie aufrecht? Wann und mit welchen Schwankungen treten sie auf? Wie und
wodurch verschwinden sie wieder? Wann haben Sie eigentlich keine oder fast
keine Sorgen? Versuchen Sie ständig, Ihre Sorgen zu unterdrücken, und erken-
nen Sie allmählich, dass Sie dadurch noch schlimmer werden? Verdrängen und
Ablenken kostet viel Kraft und verstärkt die Sorgen, weil Sie nicht damit umge-
hen lernen. Werden Ihre Sorgen schlimmer, wenn Ihre Stimmung in ein depres-
sives Tief übergeht? In diesem Fall sollten Sie auch ein Antidepressivum erwä-
gen. Das Verstehen von Ursachen und Zusammenhängen erleichtert die spätere
Änderung. Was sind realistische Sorgen, wo Sie später Problemlösungen finden
sollten (z.B. zunehmende Verschlechterung der Partnerschaft, sich verschärfende
Konflikte am Arbeitsplatz)? Was sind völlig unrealistische Sorgen bzw. unlösba-
re Probleme, wo weiteres Nachdenken unproduktiv ist (z.B. ein naher Angehöri-
ger könnte schwer krank werden, einen Unfall haben oder gar sterben)?
z die situativen (umweltbedingten) Auslöser Ihrer Befürchtungen: Welche familiä-
ren, partnerschaftlichen, beruflichen oder schulischen Stressfaktoren bewirken
bzw. verstärken Ihre Besorgtheit? Oft sind Lebensveränderungen ein Auslöser.
598 Selbsthilfe bei Angststörungen

z die Grundstrukturen Ihrer ängstlichen Denkmuster: Was sind Ihre zentralen Ge-
danken (z.B. „Das schaffe ich nie“, „In der nächsten Zeit wird etwas Schlimmes
passieren“, „Ich bin ein Pechvogel“, „Ich muss jede Unsicherheit beseitigen“)?
Finden Sie auch heraus, was der positive Sinn Ihrer Sorgen und Befürchtungen
ist. Was hilft es Ihnen, über eine befürchtete Katastrophe nachzudenken, wenn
Sie glauben, darauf ohnehin keinen Einfluss zu haben? Glauben Sie etwa in einer
Art magischem Denken, durch intensives Grübeln ein mögliches Unglück viel-
leicht verhindern bzw. durch zu positive Erwartungen gar heraufbeschwören zu
können? Leben Sie nach dem Motto: „Wenn ich mögliches Unglück schon nicht
verhindern kann, kann ich wenigstens etwas tun, nämlich darüber nachdenken“?
Bekommen Sie auf diese Weise das Gefühl der Kontrolle über die Situation der-
art, dass Sie wenigstens das Unheil vorhergesehen haben, sodass Sie dann nicht
überrascht sind und sagen können: „Ich hab’s ja gewusst“? Wenn Sie Ihre Sor-
gen letztlich als hilfreich erleben, um mit der Ungewissheit der Zukunft besser
zurechtzukommen, werden Sie diese nur schwer abstellen können.
3. Betreiben Sie eine intensive Sorgen-Konfrontation. Nehmen Sie sich öfter eine gan-
ze Stunde Zeit für Ihre Sorgen und denken Sie jede Sorge möglichst bildhaft bis zum
schlimmstmöglichen Ausgang zu Ende, ohne sich dabei abzulenken. Halten Sie die-
ses Worst-Case-Szenario in Ihrem Sorgen-Tagebuch fest, denn reines Nachdenken
führt rasch zu unproduktiven Sorgenketten. Bleiben Sie stets bei einem Sorgenthema
und einem schlimmen Ausgang, ohne sich durch andere gefürchtete Katastrophen
abzulenken, wie Sie dies zu Ihrer kurzfristigen Entlastung bei Ihren ständigen Sor-
genketten tun, wo Sie von einer Sorge zur nächsten springen und dabei keine wirk-
lich bewältigen. Schreiben Sie in dieser Weise im Laufe der Zeit eine Sorgenge-
schichte nach der anderen auf. Lassen Sie alle Gefühle und körperlichen Empfin-
dungen zu und notieren Sie diese ebenfalls in Ihrem Sorgen-Tagebuch. Vergegen-
wärtigen Sie sich, dass es sich bei Ihren Befürchtungen nur um bildhafte Vorstellun-
gen und nicht um die Realität handelt. Sie überwinden Ihre belastendsten Ängste
dann am schnellsten, wenn Sie sie einfach zulassen und darauf warten, bis sie von
alleine vergehen, ohne dass Sie aktiv eingreifen. Ihre Sorgen werden erst abnehmen,
wenn Sie sich nicht mehr vor ihnen fürchten, d.h. wenn Sie sich diese möglichst
bildhaft und emotional bewegt vergegenwärtigen. Das Motto lautet: Blicken Sie Ih-
ren Sorgen ins Angesicht und sie werden ihren Schrecken verlieren.
4. Praktizieren Sie das Achtsamkeitstraining, wie es im entsprechenden Abschnitt
dieses Buch beschrieben ist. Lassen Sie dabei alle Sorgen ohne Bewertung zu.
5. Reduzieren Sie sukzessive Ihr Vermeidungs-, Rückversicherungs- und Kontrollver-
halten. Stellen Sie sich auch real allen Situationen, die Ihnen Angst machen, und ler-
nen Sie, Ihre Gefühle und bildhaften Vorstellungen ohne Ablenkung und Verdrän-
gung wahrzunehmen und Ihre Unsicherheit auszuhalten, ohne sich ständig bei ande-
ren Menschen absichern zu müssen.
6. Entwickeln Sie Problemlösungsstrategien, statt ständig unproduktiv über Ihre Pro-
bleme zu grübeln. Entwickeln Sie verschiedene Lösungswege, nehmen Sie Bewer-
tungen vor, treffen Sie dann eine Entscheidung und setzen Sie die beste Lösung um.
7. Verbessern Sie Ihre körperliche Befindlichkeit und Ihr Gesundheitsverhalten. Erler-
nen und pflegen Sie regelmäßig verschiedene Entspannungstechniken (z.B. progres-
sive Muskelentspannung, Gi Gong). Entwickeln Sie ein sportliches Aktivitätspro-
gramm (z.B. Gymnastiktraining und Ausdauersportarten wie Walking, Radfahren
oder Schwimmen) und ändern Sie bei Bedarf auch Ihr Ernährungsverhalten.
Bewältigungsstrategien bei Zwangsstörungen 599

Bewältigungsstrategien bei Zwangsstörungen

Allgemeine Ratschläge
Bei Zwängen sind aufgrund der Hartnäckigkeit der Symptomatik Selbsthilfeprogramme
ohne begleitende Psychotherapie weniger erfolgreich als bei einer Agoraphobie oder
Panikstörung, sodass auch eine Verhaltenstherapie nötig wird. Die Selbsthilfetipps be-
ruhen auf Fachbüchern und Selbsthilfebüchern: „Hör endlich auf damit“ (vergriffen)
von Foa und Wilson [39], „Alles unter Kontrolle“ von Baer [40], „Wenn Zwänge das
Leben einengen“ von Hoffmann [41], „Wege aus dem Zwang. Wie Sie Zwangsrituale
verstehen und überwinden“ von Ambühl [42], „Die Krankheit des Zweifelns. Wege zur
Überwindung von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen“ von Ecker.
Das Selbsthilfeprogramm zur Überwindung Ihrer Zwänge besteht aus vier Teilen:
1. Konfrontation in der Vorstellung. Stellen Sie sich vor, wie Sie sich einer bisher
gemiedenen Situation (Ekel, „Schmutz“, „Unordnung“ usw.) aussetzen.
2. Konfrontation in der Realität. Konfrontieren Sie sich gestuft oder massiert mit ge-
fürchteten Situationen Ihrer Umwelt (z.B. Verunreinigung Ihres Körpers, Ihrer Klei-
dung, Ihrer Lieblingsgegenstände und Wohnungseinrichtung mit Blut oder Staub).
3. Ritualverhinderung. Verzichten Sie auf die Ausführung von kognitiven und verhal-
tensbezogenen Ritualen (z.B. Waschen, Reinigen, Kontrollieren, zwanghaftes Zäh-
len). Lernen Sie, alle auftretenden Gedanken, Gefühle und körperlichen Empfindun-
gen wahrzunehmen und besser als bisher auszuhalten. Begrenzen Sie vor allem auch
das Ausmaß Ihres Verantwortungsgefühls für ein mögliches Unglück.
4. Änderung der Denkmuster. Bewerten Sie realistischer als bisher, wie gefährlich be-
stimmte Situationen und Objekte wirklich sind. Analysieren Sie Ihre perfektionisti-
schen Bewältigungsversuche, die jedes Restrisiko ausschließen sollen. „Alles unter
Kontrolle“ bedeutet, keine Angst haben zu müssen, statt Angst aushalten zu lernen.

Für Ihr Trainingsprogramm beachten Sie folgende hilfreiche Vorgangsweisen:


1. Analysieren Sie Ihre Zwänge. Stellen Sie Ihre Zwänge anhand einer Liste mit vier
Spalten dar. In der ersten Spalte beschreiben Sie die Art des Handlungs- bzw. Ge-
dankenzwangs möglichst präzise, in der zweiten Spalte vermerken Sie Ihre Gedan-
ken und Gefühle in Zusammenhang mit dem Zwang, in der dritten Spalte führen Sie
an, welche Konsequenzen Sie im Falle der Nichtausführung des Zwangs fürchten,
in der vierten Spalte charakterisieren Sie jeden Zwang hinsichtlich des Ausmaßes
von Angst, Unruhe oder Unbehagen durch einen Punktewert von 0-10 als subjekti-
ven Belastungswert. Versuchen Sie auf diese Weise, Ihre Zwänge besser zu verste-
hen, und forschen Sie nach den Auslösern und Ursachen, die es dafür geben könnte.
Welche Gedanken, Vorstellungen, Impulse, äußere Reize und Situationen lösen Ihre
Zwänge aus? Was genau fürchten Sie, wenn Sie Ihre Zwänge nicht ausführen? Was
möchten Sie ohne Zwänge wieder tun? Das motiviert Sie zu deren Überwindung.
2. Reihen Sie alle Zwänge nach dem Schweregrad (Erstellung einer Situationshierar-
chie), beschreiben Sie die Hauptsymptome und beginnen Sie Ihr Übungsprogramm
mit Zwängen mittelstarker Belastung (gering zwangsauslösende Situationen stellen
kein Belastungstraining dar), und konfrontieren Sie sich im Laufe der Zeit systema-
tisch mit den stärker ausgeprägten Zwängen ohne Rituale und ohne Vermeidung.
3. Lernen Sie, sich vom Druck der Zwänge emotional zu distanzieren. Wenn der
Druck zu stark wird, sagen Sie sich: „Das bin nicht ich, das ist mein Zwang.“
600 Selbsthilfe bei Angststörungen

4. Prüfen Sie, wie realistisch der jeweilige Zwangsinhalt ist, und geben Sie einen
Wahrscheinlichkeitsgrad an (z.B. 1:10000), um das wahre Risiko zu verdeutlichen.
5. Konfrontieren Sie sich bei Bedarf mit den gefürchteten inneren und äußeren Reizen
bzw. Situationen zuerst in der Vorstellung, anderenfalls gleich in der Realität.
6. Konfrontieren Sie sich mit den zwangsauslösenden Reizen und Situationen in der
Vorstellung („in sensu“) und in der Realität („in vivo“) so lange, bis Angst, Unruhe
oder Unbehagen um mindestens das halbe Ausmaß abnehmen. Es ist nicht das Ziel,
die Konfrontation erst dann zu beenden, wenn Sie keine negativen Gedanken und
Gefühle mehr aufweisen, sondern wenn die zwangsauslösenden Reize und Reaktio-
nen erträglicher werden als bisher, ohne dass Sie dabei ein Zwangsritual einsetzen.
7. Verzichten Sie so gut als möglich auf jede Form von Vermeidung der bislang
zwangsauslösenden Reize sowie auf die Ausführung von Ritualen jeder Art.
8. Verstärken Sie das Wahrnehmen und Erleben der momentanen Gefühle, indem Sie
diese während der Konfrontation laut aussprechen bzw. auf Tonband aufnehmen.
Machen Sie die Erfahrung, dass Sie die aufkommenden Gefühle ertragen können.
9. Wenn Angst und Unbehagen in der Vorstellung bzw. in der Realität angesichts ei-
nes bestimmten Reizes nicht absinken, stellen Sie sich dieser Situation einige Zeit
später oder am nächsten Tag erneut bzw. verlängern Sie die Dauer der Konfrontati-
on um eine weitere Stunde, bis Sie ein Erfolgserlebnis haben.
10. Üben Sie täglich mindestens 1-2 Stunden lang, da regelmäßige Konfrontationen
mehr Effekt haben als nur gelegentliche Expositionen.
11. Wenn Sie die geübte Situation dauerhaft ertragen können, steigern Sie den Schwie-
rigkeitsgrad der Konfrontationsübungen gemäß der Auflistung Ihrer Zwänge nach
dem Ausmaß der Belastung. Lassen Sie sich dabei durch Tagesschwankungen Ihrer
Erfolge nicht entmutigen, denn kleine Rückfälle (neuerliche Rituale) sind normal.
12. Wenn Sie bezüglich Ihres Verhaltens unsicher geworden sind, erlauben Sie sich zu
Beginn Ihres Selbsthilfeprogramms die Ausführung Ihres Zwangsrituals maximal
einmal, und zwar nach einer vorher festgesetzten Zeitspanne (z.B. frühestens nach
einer Stunde) für einen bestimmten Zeitraum (z.B. drei Minuten waschen), d.h. Sie
dürfen nur einmal nach Abschluss einer Handlung neuerlich waschen, kontrollieren,
ordnen usw. Sie sollen lernen, einer einzigen Kontrolle zu vertrauen und sich bei
einer späteren Unsicherheit an diese Kontrolle zu erinnern. Wenn Sie Ihrer eigenen
Kontrolle nicht mehr vertrauen, wird Ihr Zwangsverhalten bald extrem ausufern.
Sie werden nach vielen Kontrollen vielleicht sogar andere fragen müssen, ob alles
in Ordnung ist und nichts passieren kann. Dies kann Ihnen zwar kurzfristig Erleich-
terung bringen, untergräbt jedoch langfristig Ihr Selbstvertrauen völlig.
13. Erstellen Sie vor der einmaligen Ausführung Ihres Zwangsrituals verlässliche Kri-
terien, anhand derer Sie danach genau erkennen können, ob Ihr Ritual den er-
wünschten Effekt erbracht hat. Ihr Zwangsverhalten beruht teilweise darauf, dass
Sie vorher keine ausreichend klar überprüfbaren Maßstäbe entwickelt haben, die
Ihnen hinterher helfen, dem Druck Ihrer Angst und Unruhe standzuhalten. Wie er-
kennen Sie, dass Ihre Hände nicht mehr verseucht sind? Legen Sie vor dem Wa-
schen fest, was Ihre Sauberkeit ausmacht. Überlegen Sie bei Wasch- und Reini-
gungszwängen, wann Ihre Ekelgefühle beseitigt sind. Bestimmen Sie vor dem Kon-
trollieren, was „ausreichend kontrolliert“ bedeutet. Achten Sie dabei auf Ihre sinnli-
che Wahrnehmung (Sehen, Hören, Spüren, Riechen) und damit auf Tatsachen, statt
sich nur von Ihrem Gefühl „Es passt noch nicht“ bestimmen zu lassen.
Bewältigungsstrategien bei Zwangsstörungen 601

14. Zur Sicherung des Effekts der einmaligen Ausführung Ihres Zwangsrituals (Wa-
schen, Kontrolle, Ordnen, Zählen usw.) in Hinblick auf Ihre spätere Beruhigung un-
ternehmen Sie alles, um die oft durch Angst und Unruhe beeinträchtigte Aufmerk-
samkeit während der Ausführung des Rituals zu verbessern. Bei einem Kontroll-
zwang des Ofens atmen Sie z.B. während der Kontrolle der verschiedenen Schalter
aus, um in Entspannung das Ergebnis Ihrer Kontrolle aufmerksam zu registrieren.
Zur Sicherung der geschlossenen Fenster und Türen erstellen Sie eine Liste der zu
kontrollierenden Objekte und haken Sie den entsprechenden Punkt erst dann ab,
wenn Sie sicher sind, dass alles passt.
15. Bei späterer Verunsicherung erinnern Sie sich an Ihre einmalige Kontrolle oder be-
trachten Sie Ihre Liste. Bei Besserung verzichten Sie wieder auf die Kontrolle mit-
tels einer Liste. Vergegenwärtigen Sie sich möglichst konkret und bildhaft Ihre letz-
te Kontrolle bzw. Ihr letztes Waschritual, um das Vertrauen in Ihr Tun zu stärken.
16. Bedenken Sie, dass Ihre Zwänge oft durch ein übermäßiges Verantwortungsbe-
wusstsein geprägt sind, und lernen Sie, ein gewisses Restrisiko zu ertragen. Verge-
genwärtigen Sie sich, welche Verantwortung Sie nicht einzugehen wagen, weil Sie
im Falle von Fehlern unerträgliche Schuldgefühle befürchten.
17. Setzen Sie vor der Handlung bzw. Kontrolle Selbstinstruktionstechniken ein, z.B.
„Ich gehe jetzt zur Tür, kontrolliere sie einmal und gehe dann sofort zum Bus.“
18. Setzen Sie zur Unterstützung Ihres Sicherheitsgefühls nach der Handlung Selbstin-
struktionstechniken ein. Sagen Sie sich vor, was Ihnen mehr Sicherheit geben kann
(„Vor einer Stunde war ich unsicher, ob der Ofen, Wasserhahn, Lichtschalter usw.
abgedreht ist. Ich habe genau kontrolliert und kann meiner Kontrolle vertrauen“,
„Ich habe meine Hände vor 10 Minuten gründlich mit Seife gewaschen. Es reicht
jetzt, sonst werden meine Hände durch das ständige Waschen noch ganz trocken,
spröde und aufgeraut und machen mich erst recht anfällig für Infektionen“).
19. Nehmen Sie bei Bedarf die Hilfe von Personen Ihres Vertrauens in Anspruch, um
die Konfrontation zu erleichtern und den Verzicht auf Zwangsrituale durchzuhalten,
verwenden Sie diese Hilfspersonen jedoch nicht zur Absicherung (keine Einbin-
dung in Zwangsrituale wie Kontrollieren, Fragen um Bestätigung u.a.). Nutzen Sie
andere Personen auch zur Orientierung dafür, was „normales“ Verhalten ist.
20. Akzeptieren Sie, dass Sie mit diesem Selbsthilfeprogramm vorerst nur Ihr Verhal-
ten besser in den Griff bekommen können. Ihre Gedanken, Gefühle und Impulse
werden anfangs noch gleich belastend und unkontrollierbar erscheinen. Das Gefühl,
dass Ihre Hände noch immer schmutzig sind bzw. dass irgendetwas passieren könn-
te, wird noch immer da sein. Dies wird sich erst später ändern. Neues Verhalten
schafft mit der Zeit neues Denken und Fühlen.
21. Verlassen Sie anfangs nach der Konfrontation die Situation für 1-4 Stunden, um der
Gefahr von Zwangshandlungen zu entkommen (z.B. neuerliches Waschen und
Kontrollieren). Eine Ortsveränderung zwingt Sie zum Aushalten von Unsicherheit.
22. Protokollieren Sie alle Übungen hinsichtlich Art, Zeitpunkt und Dauer und ver-
zeichnen Sie das Ausmaß von Angst und Unbehagen anhand einer Skala von 0-10.
23. Treffen Sie bei Handlungszwängen, vor allem bei Kontrollzwängen, Vorkehrungen
dafür, dass Sie sich richtig erinnern können, was Sie getan bzw. wie genau Sie kon-
trolliert haben. Zur besseren Nutzung der motorischen Informationen aus dem
Handlungsvollzug sollten Sie daher die jeweiligen Kontrollen auch mit geschlosse-
nen Augen durchführen, um auf Weise die motorischen Vollzüge besser in Ihrem
Gedächtnis zu speichern und später abrufen zu können.
602 Selbsthilfe bei Angststörungen

24. Finden Sie heraus, welche intrapsychischen und interaktionellen Funktionen Ihre
Zwänge könnten. Welche an sich guten Ziele verfolgen Ihre Zwänge? Was können
Sie damit bei Ihrer Umwelt erreichen, was Ihnen sonst nicht so leicht gelingen wür-
de (z.B. die Durchsetzung bestimmter Wünsche)? Welche Sicherheit in Beziehun-
gen gewinnen Sie durch die Ausführung von Kontroll- und Reinigungszwängen
(z.B. Verhinderung von Kritik wegen fehlerhafter Arbeitsweise)? Wie können Sie
in Beziehungen mehr Vertrauen lernen, ohne ständig Kontrolle ausüben zu müssen?
25. Lassen Sie im Zusammenhang mit der Konfrontation und Reaktionsverhinderung
(Verzicht auf Rituale) bei jeder Übung alle Gefühle zu, auch die unangenehmsten.
Auf diese Weise können Sie vielleicht erkennen, welche Gefühle Sie innerlich
wirklich beschäftigen, z.B. Ärger, Wut, Traurigkeit. Je mehr Sie Ihre Gefühle und
Gedanken unterdrücken, umso häufiger und bedrängender werden sie auftreten.
26. Machen Sie bei Zwangsbefürchtungen („Was wäre, wenn“-Gedanken) eine „Expo-
sition in sensu“, indem Sie alles bis zum Ende durchdenken und zulassen. Die emo-
tionale Auseinandersetzung mit den auftauchenden Themen (z.B. Tod, Schuldge-
fühle, Ohnmachtserleben) ist heilsam.
27. Überprüfen Sie, welche Erwartungen und Befürchtungen sich nach der Konfronta-
tion mit Reaktionsverhinderung als unberechtigt herausgestellt haben. Erstellen Sie
dann auch für alle anderen zwangsauslösenden Gedanken eine Tabelle, wo Sie die
Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens angeben (z.B. brennender Ofen bei nicht abge-
drehter Herdplatte: 1:100). Diskutieren Sie diese Erwartungswahrscheinlichkeiten
mit Ihren Bekannten, um eine realistischere Einschätzung zu gewinnen, und über-
prüfen Sie diese Befürchtungen durch weitere Verhaltensexperimente.
28. Analysieren und verändern Sie Ihre Denkmuster, die bestimmte Zwänge begünsti-
gen. Andere Menschen haben oft ähnliche Gedanken, bewerten sie jedoch nicht als
so gefährlich und moralisch bedenklich, sodass sie sich auch nicht ständig damit
beschäftigen müssen. Typische Denkmuster in Verbindung mit Zwängen sind z.B.:
z „Ich bin für jeden Gedanken verantwortlich, der mir unterkommt.“
z „Ich muss meine Gedanken jederzeit unter Kontrolle haben.“
z „Wenn ich daran denke, dass ich etwas tun könnte, dann ist dies moralisch ge-
nauso verwerflich wie die Tat selbst.“
z „Wenn mir ein Gedanke kommt, dass ich jemand anderem etwas antun könnte,
muss ich unbedingt etwas dagegen unternehmen, damit nichts passiert.“
z „Wenn ich nichts dagegen unternehme, bedeutet dies, dass ich das Betreffende
eigentlich wünsche, und ich meine Befürchtungen zu wenig erst nehme.“
z „Wenn ich an etwas gedacht habe, das später tatsächlich passiert ist, bin ich
schuld daran, dass ich es nicht verhindert habe.“

Wenn dieses Vorgehen nicht zum Erfolg führt, beantworten Sie folgende Fragen:
z Welche positive Bedeutung und welche Funktion könnten Ihre Zwänge haben, so-
dass Sie sie derzeit noch nicht aufgeben können?
z Welche Verhaltensweisen müssten Sie entwickeln, um Ihre Ziele zu erreichen?
z Wo müssten Sie zukünftig sagen „Ich will nicht“ statt „Ich kann nicht“?
z Fürchten Sie die Folgen eines zwangsfreien Lebens? Welche möglichen Konsequen-
zen der Durchbrechung Ihrer Zwänge möchten Sie auf keinen Fall riskieren? Möch-
ten Sie deshalb bestimmte Zwänge lieber beibehalten als aufgeben?
z Welche Gedanken und Wertvorstellungen verhindern die Durchbrechung Ihrer
Zwänge? Welche zentralen Glaubenssätze vereiteln jeden Fortschritt?
Bewältigungsstrategien bei Zwangsstörungen 603

Selbsthilfeprogramm bei Wasch- und Reinigungszwängen


Einige Informationen und Empfehlungen sollen Ihnen das Einhalten eines vernünftigen
Ausmaßes an Sauberkeit erleichtern. Der Wiener Dermatologe Jurecka [43] weist auf
folgende dermatologisch relevante Fakten hin, die von Menschen mit Waschzwängen
unbedingt beachtet werden sollten:

„Die Haut ist unter normalen Umständen relativ undurchlässig für chemische Substanzen bzw. krank-
machende Keime. Der Schutz gegen diese Substanzen ist vorwiegend in der Hornzellschicht der Ober-
haut (Epidermis) gelegen und wird vor allem durch den Säurefettschutzmantel der Haut erzeugt. Dies
ist ein dünner Film von Lipiden (Fetten), der durch die Talgdrüsen an die Hautoberfläche gelangt. Das
saure Milieu an der Hautoberfläche mit einem pH-Wert von ungefähr 5,5 entsteht einerseits durch das
Sekret der Schweißdrüsen, andererseits durch Spaltung von Lipiden wie Triglyzeriden in freie Fettsäu-
ren und Cholesterin. Dieser sogenannte Säurefettschutzmantel der Haut hat eine doppelte Funktion:
Zum einen sorgen die Fette dafür, daß die Haut geschmeidig bleibt und keine wesentlichen Risse oder
Rauhigkeiten an der Hautoberfläche entstehen. Zum anderen sorgt das saure Milieu an der Hautoberflä-
che dafür, daß verschiedene chemische Substanzen neutralisiert werden bzw. daß verschiedene patho-
gene Keime an der Hautoberfläche ein schlechtes Milieu für ihr Wachstum vorfinden, da die meisten
dieser Keine eher ein neutrales Milieu bevorzugen. Durch einen verstärkten Waschzwang kommt es vor
allem zu einer Zerstörung der Säureschutzschicht der Haut. Der intensive Gebrauch von Wasser be-
wirkt ein Aufquellen der Hornschicht an der Hautoberfläche, so daß der feste mechanische Verband der
Hornzellen zerstört und damit das Eindringen von chemischen Substanzen bzw. krankmachenden
Keimen in die Haut erleichtert wird. Seifen erfüllen ihre Waschfunktion vor allem dadurch, daß sie zu
einer massiven Entfettung der Haut führen. Die meisten konventionellen Seifen sind mit ihrem pH-
Wert im basischen Bereich angesiedelt. Somit ist es gut verständlich, daß häufiger Gebrauch von Seifen
zu einer Zerstörung des Säurefettschutzmantels der Haut führen kann. Eine so geschädigte Haut impo-
niert meistens als eine sehr trockene, teilweise rissige und rauhe Haut. Auch können mehr oder weniger
diskrete Rötungen, Entzündungen und Schuppungen entstehen. Sind diese aufgetreten, spricht man von
einem Exsikkations- oder Austrocknungsekzem. Diese vorgeschädigte Haut ist prädestiniert für die
Entwicklung weiterer Hautprobleme. Die harmlosesten sind sicherlich die Entstehung verschiedener
Ekzeme, die nach Kontakt mit chemischen Substanzen auftreten können und meist toxisch (giftig)-
irritativer Natur sind. Es kann jedoch auch zu einer leichteren Sensibilisierung gegenüber allergieauslö-
senden Substanzen kommen, so daß es nicht verwundert, wenn Patienten mit Waschzwang auch ge-
häuft unter allergischen Hauterkrankungen leiden. Wesentlicher jedoch dürfte das erhöhte Risiko für
infektiöse Hauterkrankungen sein. Besonders zu erwarten ist das vermehrte Auftreten von verschiede-
nen Pilzerkrankungen. Aber auch das Auftreten einer Impetigo contagiosa (oberflächliche bakterielle
Infektion der Haut) oder einer tieferen Infektion der Haut unter Mitbeteiligung der Weichteile sind zu
erwarten.“

Beachten Sie beim Waschen grundsätzlich folgende Richtlinien:


1. Stellen Sie sich allen Situationen, die einen Waschzwang auslösen könnten. Ver-
meiden Sie keine Gelegenheit nur deshalb, weil Sie sich selbst sonst mehrfach wa-
schen oder die Wohnung stundenlang putzen müssten. Je mehr Sie zu jeder Kon-
frontation bereit sind, umso eher werden Sie Ihre Zwänge überwinden.
2. Waschen Sie Ihre Hände nur nach dem Benutzen der Toilette, vor dem Essen, vor
dem Umgang mit Lebensmitteln oder wenn Ihre Hände sichtbar schmutzig sind.
3. Legen Sie Ziele und Kriterien fest. Waschen Sie sich (auch unter Berücksichtigung
von Punkt 2) die Hände nicht öfter als 5-mal am Tag, jedes Mal nur 1-2 Minuten
lang, und baden bzw. duschen Sie täglich nur einmal für höchstens 10 Minuten.
4. Verwenden Sie Seife nur bei sichtbarem Schmutz.
5. Vermeiden Sie es, Ihre Angehörigen in Ihren Waschzwang einzubeziehen. Auf diese
Weise lernen Sie, sich mit den gefürchteten Situationen auseinanderzusetzen und aus
sich selbst heraus Vertrauen in Ihr Handeln zu gewinnen.
604 Selbsthilfe bei Angststörungen

Gehen Sie zur Selbstbehandlung von Wasch- und Reinigungszwängen derart vor:
1. Wählen Sie aus der Liste Ihrer Waschzwänge, die Sie nach den oben angeführten
Kriterien erstellt haben, einen Waschzwang mittleren Schwierigkeitsgrades aus und
erstellen Sie vor der Konfrontation klare Beurteilungskriterien für „sauber“.
2. Sagen Sie sich aufgrund der Selbstanalyse innerlich vor, was Sie bei der Konfronta-
tion fürchten und stehen Sie dazu, z.B. „Ich habe Angst, dass ich mich verschmutze.
Wenn ich mich dann nicht gleich wasche, habe ich die Befürchtung, meine Tochter
anzustecken, sodass sie krank wird oder gar stirbt, weil sie noch so klein ist.“ Ver-
wenden Sie während der Übung keine kognitiven und Verhaltensrituale.
3. Berühren Sie mit Ihren Händen intensiv einen „verschmutzten“ Gegenstand (Tür-
griff mit den Bazillen anderer Menschen, Fleischmesser mit Blut, Schuhsohle mit
dem Schmutz der Straße, Verpackungsmaterial für bestimmte chemische Produkte
usw.), eine „verseuchte“ Oberfläche (Abfallkübel, Mülltonne, Klobrille, Boden
usw.) oder mit Ihren Fingern eine Körperausscheidung (Schweiß, Urin, Vaginalse-
kret, Menstruationsblut). Halten Sie die Berührung so lange durch, bis Angst, Unru-
he und Unbehagen deutlich abnehmen und erträglich erscheinen.
4. Erleichtern Sie sich bei großem Unbehagen das Durchhalten durch entspannende
Atemübungen mit Betonung der verlängerten Ausatmung (später ohne Atemtechni-
ken) sowie durch bestimmte Selbstinstruktionen („Das ist ekelig, aber nicht gefähr-
lich“, „Es muss mir nicht gut gehen, ich muss es nur aushalten“). Rechnen Sie da-
mit, dass Sie anfangs vielleicht längere Zeit und wiederholtes Üben benötigen.
5. „Verseuchen“ Sie mit Ihren „verschmutzten“ Händen Ihren ganzen Körper (Ge-
sicht, Haar, Arme, Beine, Kleidung), weiters Ihre Angehörigen, alle Wohnräume
und Gegenstände (Türgriffe, Polstermöbel, Sesseln, Schreibtisch, Esstisch, Ess-
besteck, Lichtschalter, Elektrogeräte, Bettzeug, Handtücher, saubere Kleidung im
Schrank, Arbeitsplatte in der Küche usw.). Über ein intensiv berührtes Tuch können
Sie auch gefürchteten Schmutz von außerhalb Ihrer Wohnung mit nach Hause neh-
men, Ihre Angehörigen damit „anstecken“ und durch Wischen überall verteilen.
6. Verzichten Sie hinterher auf alle Reinigungsrituale (Waschen, Putzen, Desinfizie-
ren), kognitive Rituale (Stoßgebete, magisches Zählen usw.) oder Absicherungsfra-
gen an Ihre Angehörigen („Kann wirklich nichts passieren?“). Ihre Hände waschen
Sie frühestens nach drei Stunden maximal 1-3 Minuten lang ohne spätere Wiederho-
lung, probeweise waschen Sie sich die Hände einmal den ganzen Tag nicht. Tolerie-
ren Sie die Verschmutzung und provozieren Sie bewusst ein mögliches Unglück
(„Wer wird schwer krank werden oder gar sterben müssen?“). Die Wohnung reini-
gen Sie frühestens erst nach 3-7 Tagen, das „verschmutzte“ Bettzeug wechseln Sie
ebenfalls erst nach diesem Zeitraum. Vielleicht kann ein anderes Familienmitglied
den nächsten Wohnungsputz übernehmen, damit nicht alles so ordentlich gereinigt
ist, wie Sie dies tun würden. Sie müssen aber nicht so radikal und schnell vorgehen.
7. Konfrontieren Sie sich am besten durch ein 2- bis 4-wöchiges Intensivprogramm mit
allen Reizen, die Wasch- und Reinigungszwänge auslösen können.
8. Wenn Sie Schwierigkeiten haben, derartige Übungen sofort in der Realität auszufüh-
ren, üben Sie die Konfrontation mehrfach in der Vorstellung, beschreiben Sie mit
geschlossenen Augen den ganzen Vorgang in der Ich-Form und in der Gegenwart
(z.B. „Ich berühre jetzt mit der Hand einen ‘verschmutzten’ Gegenstand und an-
schließend den Fußboden und die Wohnungstür“), diktieren Sie den Ablauf auf
Tonband (ohne kognitive Rituale) und hören Sie den Text mehrfach täglich an, bis
Sie eine Konfrontation in der Realität wagen.
Bewältigungsstrategien bei Zwangsstörungen 605

9. Denken Sie die unangenehmen Szenen möglichst bildhaft bis zum Ende durch, las-
sen Sie einen inneren Film ablaufen mit der größtmöglichen Katastrophe, bewerten
Sie die Wahrscheinlichkeit eines derartigen Endes und wägen Sie ab, ob Sie ange-
sichts des möglichen Gewinns (mehr Lebensqualität und innere Freiheit) dieses Ri-
siko eigenverantwortlich (ohne Absicherung bei anderen) eingehen möchten.
10. Bei Schwierigkeiten, mit verschiedenen Übungen zu beginnen oder durchzuhalten,
denken Sie daran, dass Sie öfter vielleicht mehr ein Gefühl von Ekel als von Angst
und Unbehagen haben werden (z.B. im Kontakt mit den eigenen Körperausschei-
dungen). Ekel führt oft zu Übelkeitsgefühlen. Das ist ganz normal. Sie müssen
Ekelgefühle nicht überwinden, sondern nur besser aushalten lernen.

Selbsthilfeprogramm bei Kontrollzwängen


1. Wählen Sie für die erste Konfrontationsübung einen Kontrollzwang mittlerer
Schwierigkeit aus bzw. einen, der sich gegenwärtig als recht störend erweist, sodass
Sie eine hohe Motivation haben, ihn zu überwinden.
2. Machen Sie sich bewusst, durch welche Motive Ihr Kontrollzwang bedingt ist. Was
möchten Sie verhindern? Was möchten Sie erreichen? Treffen Sie Vorkehrungen da-
für, dass die jeweilige Arbeit mit maximaler Aufmerksamkeitsleistung erfolgt.
Wenn Sie sich während der Kontrolltätigkeit recht bildhaft vergegenwärtigen, was
passieren kann, falls Sie nicht ausreichend kontrollieren, vermindern Sie durch die
dabei auftretenden Angstzustände Ihre Aufmerksamkeit für die jeweilige Handlung.
Die angstbedingte Unkonzentriertheit während des Kontrollverhaltens ist ein Grund
dafür, dass Sie bald den Zwang zu neuerlicher Kontrolle verspüren werden. Viele
Zwangspatienten haben das Gefühl, während der Kontrollen nicht ganz da zu sein,
alles verschwommen zu sehen, irgendwie den eigenen Augen nicht trauen zu kön-
nen, später auch nicht dem Gedächtnis, sodass sie bei einer neuerlichen Kontrolle al-
les besser machen wollen. Halten Sie sich an klare Beurteilungskriterien, die Sie be-
reits vorher erstellt haben, um dem Gefühlsdruck widerstehen zu können.
3. Erlauben Sie sich bei Unsicherheit eine einmalige Kontrolle jeder Tätigkeiten, und
zwar erst nach einem bestimmten, vorher festgelegten Zeitraum für eine bestimmte
Dauer. Legen Sie bereits vor der Kontrolle die Kriterien für eine zuverlässige Prü-
fung fest, um dadurch die spätere Tendenz zu neuerlicher Kontrolle zu mildern.
4. Prägen Sie sich den jeweiligen Kontrollvorgang ganz fest ein, u.a. auch bei ge-
schlossenen Augen. Atmen Sie während des Kontrollierens von jedem Ofen- oder
Lichtschalter, jedem Fenstergriffes usw. entspannt aus, schließen Sie anschließend
die Augen und stellen Sie sich vor, wie Sie die jeweilige Aufgabe richtig erledigt
haben. Gehen Sie erst dann zur Kontrolle des nächsten Objekts bzw. weiteren Sach-
verhalts über, wenn Sie sich die zuletzt vorgenommene Kontrolle bildlich verge-
genwärtigen können. Verlassen Sie nach der Kontrolle die jeweiligen Situationen,
Orte und Objekte, um nicht der Versuchung zu erneuten Kontrollen zu unterliegen.
5. Wenn Sie später neuerlich ein Kontrollbedürfnis überfällt, verzichten Sie auf jede
weitere Kontrolle und lassen Sie auch keine andere Person die Kontrolle vornehmen,
auch wenn Ihnen dies sehr schwer fällt. Vergegenwärtigen Sie sich ganz intensiv die
durchgeführten Kontrollen. Eine neuerliche Kontrolle entwertet Ihr letztes Kontroll-
verhalten völlig und untergräbt dadurch systematisch Ihr Selbstvertrauen. Lernen
Sie, das dabei auftretende Unbehagen und Angstgefühl auszuhalten.
606 Selbsthilfe bei Angststörungen

6. Zur Sicherung einer einzigen Kontrolle erstellen Sie zu Beginn der Konfronta-
tionsübungen eine Liste der zu kontrollierenden Objekte bzw. Sachverhalte. Bei
Kontrollzwängen in der Wohnung schreiben Sie jedes zu kontrollierende Objekt auf
und haken es erst dann als erledigt ab, wenn Sie dies bei voller Aufmerksamkeit un-
ter Entspannungsbedingungen (entspannte Ausatmung) geprüft haben.
7. Wenn Sie später doch unsicher werden sollten, betrachten Sie den entsprechenden
Vermerk auf Ihrer Liste und lernen Sie auf diese Weise, Ihrer Prüftätigkeit zu ver-
trauen. Lernen Sie, im Laufe der Zeit ohne derartige Listen auszukommen, indem
Sie Ihr Gedächtnis entsprechend trainieren.
8. Geben Sie Ihr Absicherungsdenken auf und fragen Sie niemanden, ob Sie ausrei-
chend kontrolliert haben. Lernen Sie, selbst die Verantwortung für Ihr Verhalten zu
übernehmen. Sie werden anderenfalls völlig von Ihrer Umwelt abhängig.
9. Verzichten Sie auf magische Rituale, die Sie zur Vereinfachung und Abkürzung
Ihrer Kontrollen entwickelt haben, und lernen Sie, mit einem Restrisiko zu leben.
10. Zögern Sie bei großem Kontrollbedürfnis dieses zumindest zeitlich etwas hinaus,
um mit dem Druck besser umgehen zu lernen, und lenken Sie sich dabei ab, indem
Sie sofort nach der Kontrolle etwas anderes machen, z.B. Einkaufen gehen.

Wichtiger als der Kampf gegen alle Zwänge ist der (Wieder-)Aufbau von Vertrauen:
z Vertrauen zum eigenen Gedächtnis, dass Sie alles richtig erinnern können.
z Vertrauen zu Ihren Sinnesorganen, dass Sie alles richtig wahrgenommen haben.
z Vertrauen zu Ihren Impulsen, dass Sie nichts gegen Ihre Moral unternehmen.
z Vertrauen zu Ihren Gedanken, dass diese Sie zu nichts bewegen können, was Sie
nicht wollen, und dass Sie auch etwas denken können, was Sie dann doch nicht tun
werden, wenn Sie es nicht wirklich tun möchten.
z Vertrauen darauf, dass Sie in jeder Situation zumindest für den Moment spontan
richtig denken, fühlen und handeln können, ohne ständig darauf achten zu müssen.
z Vertrauen darauf, dass Sie in allen Situationen Ihrer Verantwortung jederzeit gerecht
werden können und nicht ständig Schuldgefühle haben müssen.
z Vertrauen darauf, dass Sie alle körperlichen, geistigen und emotionalen Anspannun-
gen aushalten, die mit der Nicht-Ausführung von Zwangsritualen verbunden sind.
z Vertrauen darauf, dass Sie sich in zwischenmenschlichen Situationen angemessen
durchsetzen können und nicht ständig zur Waffe der Zwänge greifen müssen.

Selbsthilfeprogramm bei Zwangsbefürchtungen


Viele Menschen mit Ängsten und/oder Zwängen leiden unter Zwangsbefürchtungen und
Zwangsimpulsen. Dies steht gewöhnlich in Zusammenhang mit den nicht bewältigbar
erscheinenden Kontrollverlustängsten als Folge der erlebten Panikattacken.
Die Betroffenen haben Angst, das eigene Kind zu töten, jemanden mit einem Messer
zu verletzen, sich selbst mit einem Messer oder einem Glassplitter zu verletzen, sich
durch Umweltgifte zu schädigen, mit dem Auto gegen einen Baum zu fahren, von einer
Brücke oder einem hohen Haus hinunterzuspringen, einen Unfall zu verursachen, ohne
es zu bemerken, in einem Geschäft ungewollt etwas zu stehlen, unabsichtlich einen
Schaden anzurichten (z.B. Feuer zu legen), laut etwas Peinliches zu sagen oder zu tun.
Rituale (z.B. Gegengedanken, ständige Bitten um Beruhigung durch andere, Kontroll-
zwänge) können diese Zwangsbefürchtungen jeweils nur kurz beseitigen.
Bewältigungsstrategien bei Zwangsstörungen 607

Hilfreich ist oft folgendes Vorgehen, das Ihre Zwangsgedanken provoziert:


1. Erstellen Sie eine Liste Ihrer Zwangsgedanken und Zwangsbefürchtungen, bewerten
Sie diese nach der subjektiven Belastung von 0-10 und beginnen Sie das folgende
Übungsprogramm mit einer Zwangsbefürchtung mittlerer Belastung.
2. Rufen Sie Ihre zwanghaften Gedanken und Befürchtungen bewusst hervor und den-
ken Sie diese bis zum bitteren Ende durch, ohne Ablenkung und kognitive oder ver-
haltensbezogene Rituale. Erzeugen Sie durch sehr lebendige Vorstellungen im Sinne
eines mentales Trainings die zwangsauslösenden Situationen und erleben Sie diese
kognitiv, emotional und körperlich voll durch. Es sind ja nur Gedanken!
3. Sprechen Sie Ihre Zwangsgedanken und quälenden Zwangsbefürchtungen auf Ton-
band, schreiben Sie sie in ein Heft, gestalten Sie sie in Form eines Drehbuches für
einen Film, lassen Sie sie als Film vor Ihren Augen ablaufen, schreiben Sie sie in
Form eines Briefes an einen fiktiven Freund, zeichnen Sie sie auf ein Blatt Papier
oder singen Sie sie in Form einer bestimmten Melodie. Tun Sie dies regelmäßig zu
festgesetzten Zeitpunkten (am besten täglich für eine Stunde, um eine rasche Wirk-
samkeit zu erreichen), ohne dabei ein Ritual auszuführen. Weichen Sie nicht aus!
4. Setzen Sie sich den diktierten, geschriebenen oder gezeichneten Zwangsbefürchtun-
gen täglich mindestens zweimal für eine bestimmte Zeitdauer aus, um diese neuer-
lich intensiv zu provozieren und ohne Rituale besser ertragen zu lernen.
5. Bleiben Sie bei jeder Übung, die Sie mit steigendem Schwierigkeitsgrad durchfüh-
ren, mental voll und ganz in der jeweiligen Angst machenden Situation, ohne Rituale
einzusetzen, und beenden Sie jede Übung erst dann, wenn das Ausmaß Ihrer Angst
und Unruhe um mindestens 50% abgenommen hat.
6. Lassen Sie nach dem Prinzip der Achtsamkeit alle Gedanken und Vorstellungen
ohne Bewertung und ohne Dagegen-Ankämpfen zu. Lassen Sie Zwangsgedanken
vorbeiziehen wie Wolken am Himmel oder wie die Landschaft beim Autofahren.
7. Machen Sie die Erfahrung, dass spontane oder absichtlich provozierte Gedanken
nicht dazu führen, in die Wirklichkeit umgesetzt zu werden. Sie können etwas den-
ken und müssen es deswegen keinesfalls ausführen. Der Gedanke, jemandem etwas
anzutun, fremdzugehen, etwas zu stehlen usw. stellt immer eine Möglichkeit dar, ob
Ihnen das nun passt oder nicht. Etwas zu denken, ist eine Sache, etwas auszuführen,
eine andere Sache. Lösen Sie die Vermischung von Denken und Handeln auf. Da-
zwischen liegt der Bereich der menschlichen Freiheit. Sie unterliegen der „Magie
des Denkens“, wenn Sie glauben, dass Gedachtes gleich Wirklichkeit wird.
8. Wiederholen Sie eine Übung am nächsten Tag und verlängern Sie die Zeit der men-
talen Konfrontation, wenn eine bestimmte Zwangsbefürchtung in ihrem bedrängen-
den Effekt nicht geringer werden sollte. Der Gedanke muss nur erträglicher werden.
9. Konfrontieren Sie sich im Laufe der Zeit auch mit den ärgsten Zwangsbefürchtun-
gen, ohne Rituale einzusetzen. Wenn Sie dies nicht tun und mit teilweisen Erfolgen
bei weniger belastenden Zwangsbefürchtungen zufrieden sind, besteht die Gefahr,
dass Ihre Störung bald wieder stärker auftreten und schließlich doch zu zeitaufwän-
digen Zwangshandlungen und gedanklichen Ritualen führen wird.
10. Verwenden Sie dieses Selbsthilfeprogramm für Zwangsgedanken auch dann, wenn
Sie primär unter Zwangshandlungen leiden, weil Zwangshandlungen aus der Sicht
der kognitiven Verhaltenstherapie durch Zwangsgedanken ausgelöst werden.
11. Anstelle von kognitiven Ritualen können Sie bei anfänglichen Schwierigkeiten in
der Konfrontation mit Ihren Zwangsbefürchtungen entspannendes Ausatmen einset-
zen, um diese ohne körperliche Verspannungen besser ertragen zu lernen.
608 Selbsthilfe bei Angststörungen

Selbsthilfe angesichts des Modells von Zwangsstörungen


als neurobiologische Störungen
Die angeführten Selbsthilfeprogramme beruhen auf Konzepten, die Zwangsstörungen
als rein psychogen bedingt verstehen. Angesichts der neuen Erkenntnisse über die neu-
robiologischen Ursachen von Zwangsstörungen wurden von Verhaltenstherapeuten
neue Behandlungsmethoden entwickelt, die die bisherigen nicht ersetzen, sondern er-
gänzen sollen. Der amerikanische Psychiater und Verhaltenstherapeut Jeffrey Schwartz
[44] versteht in seinem (vergriffenen) Selbsthilfebuch „Zwangshandlungen und wie
man sich davon befreit“ Zwangsstörungen als bewirkt durch ein biochemisches Un-
gleichgewicht im Gehirn. Er zeigt durch sein Konzept der „kognitiv-biobehavioralen
Selbstbehandlung“ auf, wie ein verhaltenstherapeutisches Selbsthilfeprogramm in vier
Schritten oft ohne Einnahme von Medikamenten diese Störungen im Gehirn dauerhaft
zu beheben vermag:
1. Neu-Benennen. Es geht anfangs um das Erkennen der Gedanken- und Handlungs-
zwänge und deren Bewertung als biologisch bedingte, krankhafte Beeinträchtigung
(„Dieser Gedanke ist eine Zwangsvorstellung“, „Dieser Drang ist eine Zwangshand-
lung“). Eine derartige Selbstbeobachtung unterbricht den spontanen Zwangsimpuls.
Durch eine Art Selbstinstruktionstraining sollen die zwanghaften Gedanken oder
Drangzustände mit ihrem wirklichen Namen genannt werden („Ich glaube oder emp-
finde überhaupt nicht, dass meine Hände schmutzig sind. Ich habe die Zwangsvor-
stellung, meine Hände seien schmutzig“, „Ich muss mir jetzt nicht die Hände wa-
schen. Ich habe den Handlungszwang, mir die Hände waschen zu müssen“, „Ich ha-
be den Drang, den Ofen nochmals zu kontrollieren. Dies ist jedoch kein Wunsch,
sondern ein Kontrollzwang, der mich quält“). Der Hinweis auf hirnorganische Ursa-
chen der Zwangsstörung soll den Betroffenen alle Schuldgefühle nehmen, für die
Störung irgendwie verantwortlich zu sein, wodurch auch der moralische Druck ent-
fällt, durch mehr Engagement die persönlichen Schwächen überwinden zu müssen.
Bei der Behandlung von Zwangsstörungen wird damit ähnlich vorgegangen wie bei
organischen Krankheiten (z.B. bei Zuckerkrankheit, die durch einen Diätplan kon-
trolliert werden kann) oder bei bestimmten psychiatrischen Störungen (z.B. bei
Schizophrenie, die als Stoffwechselstörung im Gehirn nicht nur durch Medikamente,
sondern zusätzlich auch durch psychoedukative Programme erfolgreich behandelt
werden kann). Obwohl Zwangsstörungen nicht als psychisch, sondern hirnorganisch
bedingt verstanden werden, können die persönlichen Reaktionen auf die Zwangsge-
danken und -handlungen so verändert werden, dass die Betroffenen widerstehen
können und die biochemischen Fehlfunktionen innerhalb einiger Monate positiv be-
einflusst und nachweisbar sogar beseitigt werden.
2. Neu-Zuordnen. Aus dem ersten Schritt des Selbstbehandlungsprogramms ergibt sich
der zweite Schritt in Form der Selbstinstruktion: “Das bin nicht ich – das ist meine
Zwangsstörung.“ Dies wirkt entlastend und stressreduzierend. Zwangsgedanken und
Zwangshandlungen werden zu falschen Botschaften des Gehirns erklärt, damit zu
ignorieren und schließlich zu überwinden gelernt („Dieser Gedanke oder Drangzu-
stand hört nicht auf, weil es sich dabei um eine biochemische Störung im Gehirn
handelt“). Die Fehlfunktionen in den entsprechenden Gehirnarealen (Nucleus cauda-
tus, Putamen, orbitaler Kortex) werden durch allgemein verständliche medizinische
Informationen vor Augen geführt und durch PET-Bilder des Gehirns anschaulich
dargestellt. Die biologische Bedingtheit von Zwangsstörungen wird als Begründung
Bewältigungsstrategien bei Zwangsstörungen 609

dafür angeführt, dass der direkte Kampf dagegen sinnlos ist, sondern vielmehr eine
Ablenkung und Konzentration auf andere Denk- und Verhaltensweisen erfolgen
sollte. Das deprimierende Gefühl, den Kampf gegen die Zwänge ständig zu verlie-
ren, auch bei größtem Willenseinsatz, wird damit vermieden. Zwänge werden durch
den Versuch, direkt dagegen anzukämpfen, erst recht in den Mittelpunkt gestellt.
Diese Sicht entspricht dem Konzept der Achtsamkeits- und Commitmenttherapie.
3. Neu-Einstellen. Nach der kognitiven Umstrukturierung der ersten beiden Schritte,
die die verschiedenen Zwangsstörungen als biochemische Ungleichgewichte im Ge-
hirn versteht und damit von einem sinnlosen Kräfte raubenden Kampf dagegen ab-
halten soll, werden schließlich im dritten Schritt aktive Ablenkungsmethoden einge-
setzt: Hobbys, Musik hören, lesen, Spazierengehen, sportliche Betätigung, Fernse-
hen, Computerspiele usw. Konzentration erfordernde Betätigungen unterbrechen die
Fixierung auf die Zwänge am schnellsten. Bestimmte Selbstinstruktionen sollen dies
erleichtern („Ich habe gerade wieder einen Zwangsgedanken bzw. Handlungszwang.
Als Alternative muss ich gleich ein anderes Verhalten dagegensetzen“). Ablen-
kungsmethoden bewirken genau das, was gesunden Personen bei ähnlichen Gedan-
ken ohne Schwierigkeiten gelingt: Sie konzentrieren sich nicht auf die „blöden“ Ge-
danken und Impulse, weil sie diese nicht für bedeutungsvoll und handlungsleitend
halten. Die Fünfzehn-Minuten-Regel soll dazu verhelfen, einen Zwangsgedanken
oder eine Zwangshandlung mindestens 15 Minuten hinauszuschieben, wenngleich
den Betroffenen anfangs oft nur ein Aufschub von 5 Minuten gelingen wird. Als
Grundsatz gilt jedenfalls, keine Zwangshandlung auszuführen, ohne eine Zeitlang
gewartet zu haben und die beiden ersten Schritte angewandt zu haben. Dieses Vor-
gehen führt rasch zu der Erfahrung, dass der jeweilige Zwang umso stärker nach-
lässt, je länger er hinausgeschoben wurde. Ähnlich wirksam ist auch das Verschie-
ben der Ausführung eines Drangzustandes bei Alkoholabhängigkeit oder Bulimie. In
der Zwischenzeit etwas anderes zu tun, führt rasch zur Ablenkung von den unange-
nehmen Gefühlen. Was zählt, ist nicht, wie man sich fühlt, sondern was man tut.
Wenn man etwas Hilfreiches und Angenehmes tut, werden sich im Laufe der Zeit
auch die Gefühle ändern. Dies ist ein bekanntes Prinzip aus der Behandlung von
Depressiven nach dem Motto: „Aktivität verbessert die Stimmung.“ Bei Zwangsstö-
rungen gilt derselbe Grundsatz: „Ändere zuerst dein Verhalten, und es wird sich im
Laufe der Zeit auch dein Denken und Fühlen ändern.“ Eine Veränderung des Ver-
haltens führt zu einer Veränderung des Gehirns.
4. Neu-Bewerten. Nach erfolgreicher Durchführung der ersten drei Schritte wird es
eher leicht fallen, die Gedanken- und Handlungszwänge neu zu bewerten. Den
Zwängen wird nicht mehr jenes Gewicht beigemessen, wie dies früher der Fall war.

Schwartz [45] fasst seine über langjährigen Forschungsbemühungen und die Ergebnisse
seines Vier-Schritte-Therapiekonzepts bei über 1000 Zwangspatienten, die einzeln oder
in allwöchentlichen Therapiegruppen behandelt wurden, folgendermaßen zusammen:

„Zum allerersten Mal im gesamten Bereich der Psychiatrie und psychotherapeutischen Technik haben
wir wissenschaftliche Beweise dafür, daß kognitive Verhaltenstherapie tatsächlich biochemische Ver-
änderungen in den Gehirnfunktionen der Betroffenen schafft. Wir konnten deutlich machen, daß Sie
sich durch eine Änderung Ihres Verhaltens von der Gehirnblockade frei machen, die biochemischen
Funktionen Ihres Gehirns beeinflussen und die Erlösung von den schrecklichen Zwangssymptomen
erlangen können. Das Endresultat ist: Vermehrte Selbstkontrolle und verstärkte Selbstbestimmung,
dadurch eine erhöhte Selbstachtung.“
610 Selbsthilfe bei Angststörungen

Aus dem kognitiv-behavioralen Therapiekonzept von Schwartz [46] ergeben sich fol-
gende Konsequenzen:
„Sobald jemand gelernt hat, die vier Schritte den Regeln entsprechend nachzuvollziehen, ereignen sich
zwei äußerst positive Dinge. Zunächst gewinnt man eine bessere Kontrolle über Verhaltensreaktionen
auf Gedanken und Empfindungen, wodurch das ganze Leben weitaus glücklicher und gesünder wird.
Sodann verändert man durch den Wandel der Verhaltensreaktionen die schadhafte Biochemie des
Gehirns, die Ursache der heftigen Beschwerden durch die Zwangssymptome war. Nachdem es wissen-
schaftlich erwiesen ist, daß die biochemischen Gehirnabläufe bei diesem psychiatrisch schwerwiegen-
den Leiden durch die Anwendung der vier Schritte verändert wird, ist es durchaus wahrscheinlich, daß
man seine biochemischen Gehirnabläufe durch neue Reaktionen auf Verhaltensprobleme oder schlechte
Gewohnheiten mit Hilfe der Vier-Schritte-Methode verändern kann. Das Ergebnis könnte eine Verrin-
gerung der Intensität und Aufdringlichkeit der unerwünschten Gewohnheiten und Verhaltensweisen
sein, so daß sie leichter aufzubrechen sind.“

Der Therapieansatz von Schwartz ist insofern kritisch zu betrachten, als die unzutref-
fende Annahme einer rein biologischen Fundierung der Zwangsstörung dafür herhalten
muss, dass Zwangspatienten den permanenten Kampf gegen ihre Zwänge aufgeben
können. Die paradoxe Intervention, die Konfrontationstherapie und die Achtsamkeits-
und Commitmenttherapie beruhen ebenfalls auf dem Verzicht der willentlichen Kon-
trolle von Angst und Unruhe erzeugenden Gedankenmustern.

Selbsthilfegruppen für Angst- und Zwangskranke


In Deutschland und Österreich gibt es verschiedene Selbsthilfegruppen für Betroffene
mit Angststörungen (zumeist für Panikpatienten mit und ohne Agoraphobie). Für Men-
schen mit Zwangsstörungen werden Selbsthilfegruppen aufgebaut. Entsprechende In-
itiativen durch Ärzte und Psychotherapeuten können diese Entwicklung fördern. Die
wissenschaftliche Überprüfung des Erfolgs von Selbsthilfegruppen im Bereich der
Angst- und Zwangsstörungen bestätigt die Sinnhaftigkeit derartiger Bemühungen.
Erkundigen Sie sich über Selbsthilfegruppen in Ihrer Gegend. Für die Teilnahme an
einer Selbsthilfegruppe sprechen folgende Punkte:
1. Emotionale Wärme und Annahme in einer Gruppe gleichfalls Betroffener, was dazu
führt, dass man sich selbst besser annehmen kann. Vor jeder Veränderung ist es auch
wichtig, sich selbst so annehmen zu können, wie man eben gerade ist.
2. Bessere Selbsterkenntnis und Möglichkeit des Vergleichs durch die kontinuierliche
Begegnung mit anderen Betroffenen.
3. Gemeinsame Problemlösungsversuche durch die Möglichkeiten einer Gruppe, die
oft Ratschläge, relevantes Informationsmaterial und bestimmte Aktivitäten anzubie-
ten vermag.

Wenn in Ihrer Gegend keine Selbsthilfegruppe existiert, werden Sie durch ein Inserat in
Ihrer Regionalzeitung möglicherweise bald Leidensgenossen finden, die froh sind,
durch Ihre Initiative aus ihrer Isolierung heraustreten zu können. Aus organisatorischen
Gründen empfiehlt sich der Anschluss an einen bestehenden Dachverband der Selbsthil-
fegruppen, der Sie auch über bereits bestehende Gruppen informieren kann.
Die Erfahrung zeigt, dass Selbsthilfegruppen von Zwangskranken stärker der Unter-
stützung durch Fachleute bedürfen als Angst- und Panik-Selbsthilfegruppen.
9. Ratschläge für Angehörige
Ratschläge für Angehörige von Angstpatienten
Die folgenden Fragen und Anregungen sollen Ihnen, wenn Sie Angehöriger sind, Hilfe-
stellungen bieten, wie Sie mit Ihrem angstkranken Partner (bzw. Elternteil oder Kind)
besser umgehen können. Die einzelnen Punkte beziehen sich auf eine angstkranke Frau
[1]. Dieselben Hinweise gelten auch für einen angstkranken Mann.

Analysieren Sie, ob Sie vielleicht die Angstsymptomatik Ihrer Partnerin verstärken

1. Überlegen Sie, ob Sie bislang in irgendeiner Form bewusst und/oder unbewusst die
Angstsymptomatik Ihrer Partnerin unterstützt haben.
2. In welchen Bereichen haben Sie eine bestimmte Unterstützung aus sich heraus an-
geboten, wo und wann nur deshalb, weil Sie Ihre Partnerin dazu gedrängt hat?
3. Haben Sie sich den angstbedingten Wünschen Ihrer Partnerin gefügt, um Streit zu
vermeiden (z.B. keine Ausflüge allein machen, weil die Partnerin aus Angst nicht al-
lein zu Hause bleiben möchte)?
4. Haben Sie gelernt, die Ängste Ihrer Partnerin als unveränderlich hinzunehmen und
damit eine neue Lebensaufgabe zu entwickeln, für sie da zu sein?
5. Haben Sie irgendein Interesse daran, dass Ihre Partnerin nicht zu selbstständig wird,
wenn sie alle ihre Ängste verliert?
6. Haben Sie selbst Ängste, die den Ängsten Ihrer Partnerin ähnlich sind?
7. Haben Sie früher Ängste gehabt, die Sie vielleicht dadurch verloren haben, dass Sie
durch die Beziehung zu einer ebenfalls eher ängstlichen Partnerin an Stärke gewin-
nen konnten?
8. Haben Sie Probleme, Dinge ohne Ihre Partnerin zu tun? Machen Sie Ausflüge und
bestimmte Aktivitäten auch allein, wenn Ihre Partnerin wegen ihrer Ängste nicht
daran teilnehmen möchte? Können Sie sich zu Hause ohne Partnerin wohl fühlen?
9. Wären Sie bereit, auf Wunsch Ihrer Partnerin oder eines Psychotherapeuten an einer
Therapie teilzunehmen? Oder legen Sie großen Wert darauf, dass Ihre Partnerin eine
rein individuelle Störung hat, die nichts mit Ihrer Beziehung zu tun hat?
10. Wie hat sich Ihre Partnerbeziehung verändert, seit Ihre Partnerin Ängste hat?

Fragen Sie sich, was sich ändern würde, wenn Ihre Partnerin keine Ängste mehr hätte

1. Welche Folgen hätte es für Sie, wenn Ihre Partnerin keine Ängste mehr hätte?
2. Welche Auswirkungen hätte eine Angstfreiheit Ihrer Partnerin für Ihre Beziehung?
3. Was würde sich vielleicht hinsichtlich der ganzen Lebensgestaltung ändern (z.B.
andere Arbeit, mehr soziale Aktivitäten)?
4. Angenommen, Ihre jetzt nicht berufstätige Partnerin möchte nach der Überwindung
ihrer Angststörung (wieder) berufstätig werden, wie stehen Sie dazu?
5. Stellen Sie sich vor, Ihre Partnerin wäre bereits in drei Wochen frei von allen le-
benseinengenden Ängsten, was würde dies für Ihre Beziehung bedeuten? Was wäre
endlich möglich? Welche Konflikte und Gefahren könnten drohen?
612 Ratschläge für Angehörige

Unterstützen Sie das Angstbewältigungstraining Ihrer Partnerin

1. Sagen Sie Ihrer Partnerin von Anfang an klar und bestimmt, dass Sie unbedingt eine
Beseitigung ihrer Ängste wünschen, zumindest soweit Sie selbst dadurch betroffen
sind. Lassen Sie sie jedoch die Art der Angstbewältigung selbst auswählen: eigen-
ständig mit Hilfe von Selbstbehandlungsliteratur – gemeinsam mit Ihnen – Psycho-
therapie allein oder mit Ihnen zusammen.
2. Anerkennen und loben Sie jedes eigenständige Bemühen Ihrer Partnerin, mit Angst
machenden Situationen umzugehen. Kritisieren Sie sie nicht bei Rückfällen, son-
dern ermutigen Sie sie, ihr Übungsprogramm fortzusetzen.
3. Übergehen Sie geduldig die klagenden und deprimierten Äußerungen Ihrer Partne-
rin, statt sie durch übermäßige Beachtung und Zuwendung zu verstärken.
4. Unterstützen Sie ein Angstbewältigungstraining durch möglichst attraktive Ziele,
wo Ihre Partnerin auf jeden Fall gerne hingehen würde, wenn sie sich nur irgendwie
dazu überwinden könnte.
5. Planen Sie in einem bestimmten zeitlichen Abstand Urlaubsreisen, die Ihre Gattin
auch gerne mitmachen würde, derzeit aus Angst vor dem Fliegen, der weiten Ent-
fernung u.a. jedoch nicht zu unternehmen wagt. Schränken Sie sich nicht auf den
Radius Ihrer Partnerin ein, weil sie dann keinen Anreiz zur Änderung verspürt.
6. Übernehmen Sie keine Aufgabe, die Ihre Partnerin bereits selbst erledigen kann
bzw. könnte. Ihre Zurückhaltung bewirkt, dass Ihre Partnerin rasch selbstständig
und selbstbewusst wird.
7. Überlegen Sie, ob Sie Ihrer Partnerin durch Ihre Unterstützung wirklich helfen,
angstfreier und eigenständiger zu werden oder ob Sie damit nicht eher ihre Be-
quemlichkeit unterstützen. Ist es wirklich Angst, wenn Ihre Partnerin nicht mit dem
öffentlichen Verkehrsmittel in die Arbeit fahren kann oder ist es einfach nur be-
quemer, von Ihnen mit dem eigenen Auto dorthin gebracht zu werden? Nicht alles,
was man nicht allein tun möchte, hängt mit Angst zusammen. Im Rahmen der
Angstzustände hat Ihre Partnerin oft nur gelernt, dass es einfacher und angenehmer
ist, sich auf die Hilfe anderer Menschen verlassen zu können.
8. Fragen Sie Ihre Partnerin, wo sie zur besseren Angstbewältigung Ihre Hilfe wünscht
(z.B. Begleitung in anfangs allein nicht bewältigbar erscheinenden Situationen) und
überlegen Sie gemeinsam, wo dies eher schädlich wäre (z.B. Begleitung in Situa-
tionen, wo Ihre Partnerin zwar ein ungutes Gefühl hat, jedoch bereits auf Bewälti-
gungserfolge zurückblicken kann).
9. Selbst wenn Sie gemeinsame Übungen planen, überlegen Sie, wie Ihre Partnerin
dabei zumindest zeitweise allein üben kann (z.B. allein in das gefürchtete Geschäft
hineingehen; gemeinsame Fahrt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel, jedoch oh-
ne Nebeneinandersitzen; im Kino ebenfalls getrennt voneinander sitzen; eine Vier-
telstunde vor Ihnen allein in ein Lokal gehen).
10. Sagen Sie Ihrer agoraphobischen Partnerin nicht, was sie tun soll, sondern unter-
stützen und ermutigen Sie sie bei der Erreichung der selbstgesteckten Ziele. Kon-
trollieren und diktieren Sie Ihre Partnerin nicht, sondern bieten Sie Hilfe zur Selbst-
hilfe im gewünschten Ausmaß an.
11. Schlagen Sie spontan gemeinsame Aktivitäten ohne lange vorherige Planungen vor,
weil dadurch rasch Erfolgserlebnisse vermittelt werden können. Lange Planungen
verstärken nur die Erwartungsängste und die Vermeidungstendenz Ihrer Partnerin,
weil sie viel Zeit zum Nachdenken hat.
Ratschläge für Angehörige von Angstpatienten 613

12. Achten Sie darauf, dass Ihre Partnerin Angst machende Situationen möglichst oft
auch ohne Ihre Begleitung aufsucht und bei Angst vor dem Alleinsein zu Hause in
zunehmendem Ausmaß allein in der Wohnung verbleibt. Vereinbaren Sie, wann
und wie oft Ihre Partnerin mit Ihnen telefonischen Kontakt aufnehmen darf, um der
Gefahr vorzubeugen, ständig angerufen zu werden, weil Ihre Partnerin das zeitwei-
se Alleinsein nicht ertragen kann.
13. Wenn Ihre Partnerin bei Aktivitäten in Ihrer Anwesenheit eine Panikattacke be-
kommt, ermutigen Sie sie, die angstbesetzte Situation nicht zu verlassen, bevor die
Angst abgeklungen ist. Bringen Sie Ihre Partnerin weder nach Hause noch zu einem
Arzt oder in ein Krankenhaus, sondern ermutigen Sie sie durchzuhalten, bis der
Angstzustand vorbei ist, ohne dass eine Flucht aus der jeweiligen Situation erfolgt.
Ermutigen Sie sie, höchstens ein wenig Luftschnappen zu gehen und dann wieder
gestärkt in die Angst machende Situation zurückzukommen, um das Erfolgserlebnis
des Durchhaltens genießen zu lernen. Fragen Sie Ihre Partnerin in dieser Zeit nicht
ständig nach ihrem Befinden, weil Sie sie dadurch auf ihre Symptomatik fixieren,
sondern lassen Sie sie etwas in Ruhe oder suchen Sie nach Ablenkungsmöglichkei-
ten (z.B. ein anderes Gesprächsthema).
14. Ermutigen Sie Ihre Partnerin, zu ihren Ängsten zu stehen und diese öffentlich be-
kannt zu geben, wenn dadurch der innere Druck und das Versteckenspielen vor der
Umwelt reduziert werden können. Die vielen „Notlügen“ sollten ein baldiges Ende
finden. Die Angst vor sozialer Kritik bei Bekanntwerden der Ängste kann am be-
sten durch Ihre emotionale Unterstützung überwunden werden.

Was Sie bei anderen Ängsten Ihrer Partnerin tun können

z Wenn Ihre Partnerin an einer reinen Panikstörung (ohne Agoraphobie) leidet, lassen
Sie Ihre Partnerin zeitweise auch allein. Die irrationale Angst, ohne Ihre Anwesen-
heit und Hilfe im Falle einer Panikattacke vielleicht sterben zu müssen, führt anson-
sten zu einer immer größeren Abhängigkeit von Ihnen. Achten Sie darauf, dass Sie
aus diesem Grund auch nicht jede Minute des Tages über das Telefon oder das Han-
dy erreichbar sind. Vereinbaren Sie Zeiten, in denen Ihre Gattin Sie keinesfalls anru-
fen soll, damit sie lernt, auf sich selbst gestellt zurechtzukommen. Lassen Sie sich
nicht ständig durch Anrufe bei der Arbeit stören.
z Wenn Ihre Partnerin unter einer Sozialphobie leidet, reduzieren Sie deswegen weder
Einladungen von Bekannten und Verwandten in Ihrer Wohnung noch schränken Sie
Ihre außerhäuslichen sozialen Aktivitäten ein. Laden Sie Ihre Partnerin immer wie-
der zu sozialen Aktivitäten ein, zwingen Sie sie jedoch nicht dazu, sondern nehmen
Sie alleine an den geplanten Treffen mit anderen Leuten teil.
z Wenn Ihre Partnerin unter einer generalisierten Angststörung mit vielen verschiede-
nen Ängsten leidet, sagen Sie ihr klar und bestimmt Ihre Meinung dazu, geben Sie
jedoch nicht immer wieder dieselben Antworten auf die gleichen Fragen. Dies wird
Sie mit der Zeit immer mehr ärgern und Ihre Partnerin von Ihrer Beruhigung abhän-
gig machen. Sagen Sie Ihrer Partnerin z.B. „Du weißt, wenn ich dich jetzt wieder
beruhige, wird es nur so lange halten wie zuletzt. Meine Meinung kennst du ja.
Wenn du dich sorgst, tue etwas dagegen, reden allein hilft dir nicht.“
z Wenn Ihre Partnerin unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, helfen
Sie ihr angesichts der traumatischen Erinnerungen bei der Verankerung im Jetzt.
614 Ratschläge für Angehörige

Ratschläge für Angehörige von Zwangspatienten


Die Anweisungen für Angehörige von Angstkranken gelten analog auch für Angehörige
von Zwangskranken. Auf einige spezielle Aspekte soll jedoch hingewiesen werden [2]:
1. Lernen Sie Zwangsstörungen verstehen durch Bücher wie „Der Zwang in meiner
Nähe. Rat und Hilfe für Angehörige von zwangskranken Menschen“ von Rufer und
Fricke, „Wege aus dem Zwang“ von Ambühl und „Zwangsstörungen. Wenn die
Sucht nach Sicherheit zur Krankheit wird“ von Althaus, Niedermeier und Niescken.
Reden Sie mit Ihrem zwangskranken Angehörigen über diese Informationen.
2. Sprechen Sie Ihren Angehörigen auf seine Zwangsstörung hin an. Sagen Sie ihm,
Sie könnten sich viele seiner Verhaltensweisen nur so erklären, dass er unter Zwän-
gen leide. Zwangskranke versuchen ihre Störung so lange als möglich zu verbergen,
auch vor den Angehörigen, weil sie letztlich wissen, dass ihr Verhalten nicht nor-
mal ist. Vermitteln Sie Ihrem Angehörigen das Gefühl, dass Sie seine Person mö-
gen, seine Zwänge jedoch nicht akzeptieren können.
3. Verzichten Sie auf moralische Appelle an den Zwangskranken, sich mehr zusam-
menzunehmen, seine Zwänge zu unterdrücken und vernünftig zu denken. Appelle
an den Verstand können bei einem Problem, das mit unerträglichen Gefühlen
(Angst oder Unbehagen) zusammenhängt, nichts ausrichten. Verweisen Sie viel-
mehr darauf, dass der Betroffene Ihrer Meinung nach eine medizinische Abklärung
und eine psychotherapeutische Behandlung benötigt. Wenn Sie Ihren Angehörigen
schon zu keiner Psychotherapie bewegen können, legen Sie ihm die regelmäßige
Einnahme bestimmter Antidepressiva nahe, die auch bei Zwängen wirken.
4. Verzichten Sie auf Ursachendiskussionen. Es bringt nichts außer Streit und Enttäu-
schung, wenn Sie sich auf die Suche nach dem Schuldigen (Sie selbst, der Angehö-
rige selbst, seine Eltern) begeben. Zwänge haben nicht eine Ursache und daher auch
nicht einen Schuldigen, sondern können durch eine Vielfalt von Faktoren bedingt
sein. Entscheidend ist für den Anfang vielmehr, den falschen Problemlösungsver-
such zu unterbrechen, eine durch zwangsauslösende Reize bedingte Angst und Un-
ruhe letztlich doch wieder durch ein Zwangsritual zu beseitigen, das nur kurzfristig
hilft und die Zwangssymptomatik langfristig verstärkt.
5. Unterstützen und ermutigen Sie den Zwangskranken in jeder nur erdenklichen Wei-
se, ausgenommen die Ausführung seiner Zwänge. Schlagen Sie gemeinsame Akti-
vitäten vor (z.B. Spaziergänge, sportliche Betätigung, Spiele, Kinobesuche, Ein-
kaufsfahrten, Ausflüge, Verwandtenbesuche), um den Angehörigen von der Aus-
führung seiner Zwänge abzulenken. Sie stärken dadurch die gesunden Persönlich-
keitsanteile des Zwangskranken und beleben Ihre Beziehung.
6. Helfen Sie dem Zwangskranken nicht bei der Ausführung seiner Zwänge, weil er
selbst nicht mehr damit zurechtkommt (z.B. Hilfestellung bei bestimmten Kontrol-
len, damit der Betroffene schneller fertig wird). Sie geraten dadurch unvermeidlich
in den starken Sog der Zwangsstörung. Nehmen Sie dem Betroffenen auch keine
Routinehandlungen ab, die er vermutlich wegen seiner zwanghaften Langsamkeit
nicht zeitgerecht ausführen kann (z.B. Einkäufe, Kochen, Wohnungsreinigung, Be-
hördenwege). Erst dadurch wird dem Betroffenen richtig bewusst, dass seine Ge-
nauigkeit letztlich nur dazu führt, dass nichts mehr rechtzeitig fertig wird. Lassen
Sie sich auf keinen Fall in die Zwangssymptomatik Ihres Angehörigen einbinden,
auch nicht auf größtes Drängen hin, weil dadurch nur die Zwangsstörung fixiert und
verstärkt wird. Helfen Sie durch Nicht-Helfen!
Ratschläge für Angehörige von Zwangspatienten 615

7. Führen Sie selbst keinerlei Zwangshandlungen aus, um den Zwangskranken da-


durch zu beruhigen. Übernehmen Sie auf keinen Fall die Standards zwangsbeding-
ter Sauberkeit, Ordnung und Kontrolle. Weigern Sie sich, Türen, Fenster, Elektro-
geräte, Gasherd, Wasserhahn, Türklinken, Fußboden, Kleidung, Nahrung u.a. im-
mer wieder zu überprüfen oder bestimmte Reinigungsrituale zur Angstreduktion
des Zwangspatienten auszuführen. Waschen Sie Ihre Hände nicht mehr als nötig,
wechseln Sie auch nicht die Kleidung, wenn sie noch sauber ist. Wenn Sie nach
Hause kommen, setzen Sie sich im Wohnzimmer mit der momentanen Straßenbe-
kleidung nieder, ohne dass Sie sich vorher umziehen oder duschen. Wenn Sie von
der Arbeit heimkommen, greifen Sie weiterhin die Tür mit der bloßen Hand und
nicht mit einem Taschentuch an, das Sie nachher sofort in den Mülleimer werfen
müssen. Verweigern Sie eine übertriebene Reinigung Ihrer Schuhe, wenn Sie nach
Hause kommen. Wischen Sie nichts in der Wohnung stärker und häufiger ab, als
Ihnen nötig erscheint. Werfen Sie keine Lebensmittel weg, die Ihnen noch schmek-
ken, auch wenn sie nach Auffassung Ihres Angehörigen mit irgendetwas infiziert
sein könnten. Ein derart hartes Vorgehen steht in scheinbarem Widerspruch zu
menschlicher Wärme und partnerschaftlicher Liebe, ist jedoch im Interesse des
Zwangskranken sowie zur Vermeidung der Eskalation der Zwänge auf das ganze
Familienleben unbedingt erforderlich. Übernehmen Sie auch nicht die typischen
Ausdrücke des Zwangskranken („verseucht“, schmutzig“, „ekelig“ „gefährlich“).
8. Achten Sie darauf, dass auch die anderen Familienmitglieder (insbesondere kleine-
re Kinder) die Zwänge nicht ausführen. Der Zwangskranke muss durch eine klare
„Gegenwelt“ erfahren, dass seine Welt nicht normal ist, anderenfalls entsteht kein
Veränderungsdruck. Es ist unvermeidlich, dass vorübergehend mehr familiäre
Spannungen auftreten werden, als vorher bestanden haben.
9. Achten Sie darauf, dass alle Familienmitglieder die Fragen des Zwangskranken
nach Rückversicherung nicht beantworten. Fragen wie „Ist die Klobrille jetzt sau-
ber?“, „Sind nun wirklich alle Reste des chemischen Mittels beseitigt?“, „Sind alle
Fenster tatsächlich fest verschlossen?“, „Habe ich den Ofen garantiert abgedreht?“,
„Kann mir wirklich nichts passieren, wenn ich mich jetzt nicht (mehr) wasche?“
sollten vereinbarungsgemäß (und dem Zwangskranken vorher angekündigt) folgen-
dermaßen beantwortet werden: „Du weißt, wir haben ausgemacht, dass du diese
Frage selbst beantworten musst“, „Du sollst lernen, auf dich selbst zu vertrauen,
daher werde ich deine Frage nicht beantworten, weil dir das nicht hilft“, „Ich rede
mit dir jetzt gerne weiter, aber nicht über deine zwanghaften Fragen“, „Erinnere
dich an die Therapieprinzipien, die wir gemeinsam in der Therapiestunde gehört
haben.“ Wenn Ihnen derartige Antworten schwer fallen, dürfen Sie sich auch auf
die Anweisungen des Psychotherapeuten ausreden: „Du weißt, dass ich dir auf diese
Frage bisher immer eine Antwort zu deiner Beruhigung gegeben habe. Der Thera-
peut hat jedoch gesagt, dass das für dich nicht gut ist, und daran halte ich mich
jetzt.“ Bedenken Sie: Wenn Sie sich verändern, wird sich auch Ihr Angehöriger
leichter verändern, weil er durch Ihre Änderung einfach dazu gezwungen wird.
10. Vertreten Sie Ihre Prinzipien freundlich und bestimmt, ohne dass Sie sich auf ge-
hässige Streitereien einlassen. Rechnen Sie jedoch damit, dass der Zwangskranke
durch Ihr konsequentes Verhalten in großen Druck geraten und zu einer aggressiven
Entlastungsreaktion neigen kann, manchmal sogar zu Tätlichkeiten, die sonst nie
vorkommen, weil Zwangskranke typischerweise recht aggressionsgehemmt sind
(die Aggression ist jedoch unterschwellig oft deutlich spürbar).
616 Ratschläge für Angehörige

11. Hindern Sie den Zwangskranken nie direkt oder gar mit Druckmitteln bzw. Bra-
chialgewalt an der Ausführung seiner Zwänge. Ihr Angehöriger ist ein freier
Mensch wie Sie und hat das Recht zur Ausführung seiner Zwänge, so wie Sie das
Recht haben, nicht nach diesen Zwängen leben zu müssen. Loben Sie ihn für jede
noch so kleine Verbesserung und schimpfen Sie nicht bei Rückfällen.
12. Wenn Sie hinsichtlich der sexuellen Beziehung mit Ihrem zwangskranken Partner
unzufrieden sind, bedenken Sie, dass sich eine Zwangsstörung oft auch in Form se-
xueller Ängstlichkeit, Verklemmtheit und mangelnder Spontaneität äußert. Legen
Sie schon auch in Ihrem Interesse auf eine Therapie der Grundstörung Ihres Part-
ners großen Wert. Unternehmen Sie zusammen vieles andere, das Sie verbindet.
Zunehmende Aktivitäten verhindern auch eine depressive Entwicklung.
13. Verweisen Sie bei anhaltenden Spannungen immer wieder auf die Notwendigkeit
einer Psychotherapie, wenn sich die familiären und partnerschaftlichen Bezie-
hungsstrukturen bessern sollen. Sie können die Anweisungen für den Umgang mit
Zwangskranken auf Dauer nur schwer allein durchhalten, weil Sie der Zwangskran-
ke ständig bezichtigen wird, dass Sie ihn nicht mehr lieben, sonst würden Sie auf
seine (zwanghaften) Bedürfnisse mehr Rücksicht nehmen. Die Dynamik einer
Zwangsstörung besteht wesentlich darin, dass der Betroffene versucht, seine Ängste
so gering wie möglich zu halten und daher alle Familienmitglieder in die Zwangs-
störung einzubeziehen. Angehörige von Zwangskranken können niemals die Thera-
peutenrolle übernehmen, weil sie damit den familiären Machtkampf extrem ver-
schärfen. Der Hilferuf der Angehörigen an Außenstehende wie Ärzte oder Psycho-
therapeuten stellt daher eine oft schon längst fällige Entlastung für das familiäre
Klima dar. Geben Sie Ihrem Angehörigen zu verstehen, dass Sie ihn deshalb nicht
verachten, sondern eine Hilfe in dieser Situation als etwas durchaus Normales be-
trachten, wobei Sie auf Wunsch des Therapeuten sogar an der Psychotherapie teil-
nehmen würden (dies ist tatsächlich oft sinnvoll bzw. sogar notwendig).
14. Bei der Überlegung einer stationären Behandlung sollten Sie folgende Aspekte be-
denken. Selbst im Falle einer sehr schweren Zwangsstörung ist gegen den Willen
Ihres Angehörigen keine „Unterbringung“ (Zwangseinweisung) in eine psychiatri-
sche Anstalt möglich, sofern nicht eine akute Selbst- und Fremdgefährdung gege-
ben ist. Eine stationär-psychiatrische Behandlung kann sinnvoll sein zum Zweck
einer möglichst nebenwirkungsarmen Einstellung auf bestimmte Medikamente,
wird jedoch noch viel effektiver sein, wenn so rasch als möglich eine stationär be-
ginnende und ambulant fortgeführte Psychotherapie eingeleitet wird. Oft wird dabei
eine symptombezogene Therapie im Sinne der Verhaltenstherapie den Anfang dar-
stellen. Eine stationäre Behandlung wird dann wenig hilfreich sein, wenn die wich-
tigsten zwangsauslösenden Reize im Krankenhausumfeld nicht oder kaum auftre-
ten. Erwarten Sie in diesem Fall nicht zu viel von einer stationären Behandlung.
15. Bereiten Sie sich auf die Besserung Ihres zwangskranken Angehörigen durch fol-
gende Fragen vor: Was möchten Sie zusammen mit Ihrem Angehörigen unterneh-
men, wenn er durch die Reduktion seiner Zwänge mehr Zeit für andere Dinge hat?
Welche positiven und negativen Änderungen in Ihrer Beziehung könnten durch die
Beseitigung der Zwänge eintreten? Haben Sie selbst perfektionistische Tendenzen,
deretwegen Ihr Angehöriger vielleicht wieder stärkere Zwänge entwickeln könnte,
z.B. verstärkte Reinigungszwänge, um Ihrer Kritik zu entgehen? Sind Sie recht do-
minant, sodass sich Ihr Angehöriger in bestimmten Situationen wiederum durch
Zwänge Ihnen gegenüber durchsetzen müsste?
10. Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen
Dieses Kapitel informiert über Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren der Pharmakothe-
rapie bei Angststörungen, differenziert nach Medikamentengruppen und der Art der
Angststörungen. Der Text beruht auf zahlreichen Büchern und Artikeln von Fachleuten
[1] sowie auf den offiziellen Verzeichnissen aller Arzneimittel; wichtige Datenquellen:
z „Kompendium der Psychiatrischen Pharmakologie“ von Benkert und Hippius,
z „Psychopharmakologischer Leitfaden für Psychologen und Psychotherapeuten“ von
Benkert, Hautzinger und Graf-Morgenstern,
z „Medikamentöse Behandlung von Angst- und Zwangs- und posttraumatischen Bela-
stungsstörungen. Behandlungsleitlinien der World Federation of Societies of Biolo-
gical Psychiatry (WFSBP)”, bearbeitet von Bandelow u.a.,
z Datenbanken: Austria Codex (österr. Med.), www.rote-liste.de (deutsche Med.),
www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed (Medline), www.cochrane.org, www.netdoktor.de.

Anxiolytika (Tranquilizer)
Anxiolytika („Angstlöser“) oder Tranquilizer („Beruhigungsmittel“) sind Psychophar-
maka zur Behandlung von Angst- und Spannungszuständen. Als klinischen Tranquili-
zer-effekt bezeichnet man die Angst lösenden, beruhigenden und emotional entspan-
nenden Wirkungen. Nach der chemischen Struktur unterscheidet man folgende Gruppen:
1. Benzodiazepine. Mit den Benzodiazepinen begann in den frühen 1960er-Jahren der
Siegeszug der Tranquilizer (1960 Librium®, 1963 Valium®). Benzodiazepine sind
aufgrund ihrer pharmakologischen Vorzüge trotz Abhängigkeitsgefahr unersetzbar.
2. Chemisch andersartige Tranquilizer ohne Abhängigkeitseffekt (häufig bei generali-
sierter Angststörung eingesetzt):
z Buspiron (Bespar®, Buspar®), ein partieller Agonist an 5-HT1A-Rezeptoren, hat
abnehmende Bedeutung wegen SSRI, Venlafaxin, Pregabalin u.a.
z Opipramol (Insidon®) ist den trizyklischen Antidepressiva nahestehend.
z Hydroxyzin (Atarax®) wirkt als Antihistaminikum über die Histaminblockade se-
dierend und wird eingesetzt bei Angst, Anspannung und Schlafstörungen.
z Pregabalin (Lyrica®), ein Antiepileptikum, hat sich bei generalisierter Angststö-
rung als wirksam erwiesen (auch bei sozialen Angststörungen).
3. Niedrig dosierte Neuroleptika. Der Einsatz klassischer Neuroleptika (Schizophrenie-
Medikamente) in niedriger Dosierung als Tranquilizerersatz bei Angstpatienten ist
obsolet, atypische Neuroleptika werden in bestimmten Fällen zusätzlich eingesetzt.
4. Beta-Rezeptoren-Blocker. Beta-Blocker (Propanolol, Atenolol u.a) gelten bei kör-
perlichen Angstsymptomen als kurzfristige Alternative zu Benzodiazepinen.
5. Phytopharmaka: Baldrian, Hopfen, Melisse, Passionsblume, Kava-Kava (verboten).

Meprobamat (Microbamat®, Miltaun®, Visano N® u.a.) und Barbiturate (Sedativa und


Schlafmittel) sollten wegen der weniger spezifischen Wirkung, der ungünstigen Wech-
selwirkungen mit anderen Medikamenten, des hohen Missbrauchspotentials, der raschen
Abhängigkeit und der Toxizität (Schädlichkeit) nicht mehr als Beruhigungsmittel einge-
setzt werden. Sie wirken stärker auf den Organismus ein als Tranquilizer; sie dämpfen
unspezifisch das Zentralnervensystem, was eher einer Betäubung gleichkommt.
618 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Benzodiazepine

Wirkungen und Einsatzbereiche


Benzodiazepine schirmen das limbische System gegen übermäßige Reize ab und dämp-
fen die Reaktion darauf. Der Begriff „Tranquilizer“ charakterisiert nur sehr unvollstän-
dig den Wirkungs- und Anwendungsbereich der darunter zusammengefassten Substan-
zen. Tranquilizer dienen nicht einfach nur zur Beruhigung, sondern zur Linderung von
Angstzuständen jeglichen Ursprungs mit Ausnahme psychotischer Ängste.
Alle Benzodiazepintranquilizer wirken mehr oder weniger gleich:
z angstlösend (anxiolytisch): Angstlösung, Reduktion von Konfliktspannung,
z antipanisch: Kupierung typischer Paniksymptome,
z antiaggressiv,
z emotional dämpfend und sedierend: vegetative und hormonale Reaktionen auf emo-
tionale Reize werden gedämpft, was stressreduzierend wirkt,
z hypnotisch: schlafanstoßend,
z muskelentspannend: zentrale Verminderung des Skelettmuskeltonus,
z krampflösend (antikonvulsiv, antiepileptisch): Erhöhung der zerebralen Krampf-
schwelle.

Eine Trennung dieser Wirkungen ist bisher nicht gelungen. Bei den einzelnen Substan-
zen stehen jedoch unterschiedliche Effekte im Vordergrund. Manche Benzodiazepine
wie Alprazolam (D: Tafil®, Ö: Xanor®), Clobazam (Frisium®) und Prazepam (Deme-
trin®) haben eine relativ geringe sedierende Wirkung, bei anderen Benzodiazepinen wie
Diazepam (D: Valium®, Ö: Valium®, Gewacalm®, Psychopax®) ist die Sedierung dage-
gen stark ausgeprägt. Das Ausmaß der Dämpfung ist hierbei von der einzelnen Sub-
stanz, insbesondere von der Dosierung abhängig.
Viele Tranquilizer wirken in höherer Dosierung schlafanstoßend (hypnogen). Man-
che Benzodiazepine sind deshalb als Hypnotika (Schlafmittel) im Handel, z.B. Nitraze-
pam (D: Mogadan®, Ö: Mogadon®), Flunitrazepam (Rohypnol®), Triazolam (Halcion®).
Einige Benzodiazepine haben durch die Erhöhung der Krampfschwelle im Hippocam-
pus eine ausgeprägte krampflösende Wirkung, z.B. Diazepam (Valium®) oder Clonaze-
pam (Rivotril®), weshalb sie zur Epilepsiebehandlung eingesetzt werden.
Als Zielsymptome für die Verordnung von Tranquilizern gelten: Angst, Unruhe, mo-
torische Spannung, Hypervigilanz, Gereiztheit, vegetative Übererregbarkeit und Schlaf-
störungen. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Affekten und vegetativen
Funktionen äußert sich die emotional entspannende Wirkung der Benzodiazepine auch
in der Dämpfung psychovegetativer Symptome, wie dies bei Ängsten der Fall ist.
Benzodiazepine wirken rasch und zuverlässig nach ca. 20 Minuten. Den Spitzenwert
ihrer Plasmakonzentration erreichen sie (je nach Medikament) nach 0,5-2 Stunden.
Durch Injektionen und Infusionen tritt die Wirkung schneller ein [2].
Bei der Substanz Oxazepam (Adumbran®, Praxiten®), die einen mittellang wirksa-
men Tranquilizer und das Endprodukt des Abbaus zahlreicher Benzodiazepine darstellt,
wird der maximale Blutspiegel erst nach 2-4 Stunden erreicht. Die langsame Resorption
bewahrt vor einer raschen Abhängigkeit, das Fehlen aktiver Metaboliten verhindert eine
unerwünschte Langzeitwirkung. Aus diesem Grund wird Oxazepam von Ärzten häufig
verschrieben. Bei längerer und regelmäßiger Einnahme tritt jedoch auch bei Oxazepam
ein Abhängigkeitseffekt auf. Oxazepam wird oft als Schlafmittel eingesetzt.
Anxiolytika (Tranquilizer) 619

Benzodiazepine haben aufgrund ihres breiten Wirkungsspektrums, ihrer rasch ein-


setzenden Wirkung sowie ihrer im Vergleich zu Barbituraten geringeren Nebenwirkun-
gen folgende Einsatzbereiche:
z Angststörungen (Phobien, Panikstörungen, generalisierte Angststörungen, soziale
Phobien; bei Zwangsstörungen besteht keine Wirksamkeit, Ausnahme: Rivotril®);
z Angst- und Spannungszustände im Rahmen von akuten Belastungsstörungen und
angstgefärbten Anpassungsstörungen (bei psychosozialen Konfliktsituationen sollte
der Einsatz nur als kurzfristige Notmaßnahme erfolgen, bis problemlösungsorientier-
te Maßnahmen greifen);
z akute Dekompensation im Rahmen psychischer Krisen (vor allem auch zur Redukti-
on einer Selbstmordgefahr);
z akute Angst- und Erregungszustände bei anderen psychischen Störungen: ängstliche
Depressionen, angsterfüllte Zustände bei akuten schizophrenen Psychosen, massive
Aggressionszustände unter Alkoholeinwirkung (in der psychiatrischen Akutsituation
erfolgt durch eine Valium®-Injektion eine besonders schnelle Wirkung);
z psychosomatische und psychovegetative (funktionelle, somatoforme) Störungen;
z Behandlung von Entzugssyndromen;
z Schlafstörungen (die entsprechenden Tranquilizer werden „Hypnotika“ genannt);
z neurologische Syndrome: zur Muskelentspannung bei Epilepsien und Muskelspas-
men;
z Anästhesiologie: Einleitung von Narkosen und begleitende Analgesie;
z kombinierte Schmerzbehandlung (Schmerz- und Beruhigungsmittel);
z Bereiche außerhalb der Psychiatrie (z.B. innere Medizin, Frauenheilkunde, Pädia-
trie, Orthopädie, Chirurgie), wo allerdings besonders strenge Indikationskriterien
eingehalten werden sollten, d.h. keine leichtfertige Verschreibung (anders als der
gängigen Praxis entspricht).

Bei Tranquilizern ist die Einnahme nach Bedarf (z.B. bei Panikattacken) aus lern-
theoretischer Sicht nicht unproblematisch. Nach dem Prinzip der operanten Konditionie-
rung (Mechanismus der positiven Verstärkung) wird das Auftreten von Angst durch die
Einnahme eines Tranquilizers „belohnt“. Wegen der raschen Wirksamkeit wird später
wiederum ein Beruhigungsmittel eingenommen, sodass die Entwicklung einer Abhän-
gigkeit gefördert wird. Zahlreiche Panikpatienten, die Psychopharmaka gegenüber eher
kritisch eingestellt sind und ein Benzodiazepin-Medikament aus Angst vor Abhängig-
keit so wenig wie möglich einnehmen möchten, nehmen dann in bestimmten Situatio-
nen aus Angst vor einer Panikattacke gleich zwei Stück davon, was bedeutet, dass sie
bei einem schnell wirksamen Mittel wie Alprazolam die Spiegelschwankungen durch
den raschen Anstieg und den relativ raschen Abfall der Wirksamkeit in unangenehmer
Weise spüren werden. In Krisensituationen kann daher die kurzzeitige Einnahme eines
Tranquilizers in regelmäßigen Intervallen (panikunabhängig) sinnvoller sein, z.B. 1-2
Wochen lang dreimal täglich eine halbe Tablette Alprazolam 0,5 mg, d.h. über den Tag
verteilt insgesamt 1,5 mg Tafil® (in Österreich Xanor®).
Ehemalige Alkoholiker betreiben nicht selten einen Tranquilizermissbrauch. Die
Benzodiazepineinnahme erfolgt entweder, weil der Alkoholkonsum problematisch ge-
worden ist und daher durch die unauffällige und weniger kontrollierbare Tablette ersetzt
werden soll oder weil die Alkoholentzugssymptome damit beseitigt werden sollen.
Manche Patienten mit Alkoholabhängigkeit, die sich ihr Problem nicht gerne eingeste-
hen, missdeuten Entzugssymptome als „Panikattacken“.
620 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Pharmakologischer Wirkmechanismus der Benzodiazepine


Benzodiazepine wirken über einen spezifischen Rezeptor im Gehirn, der 1977 entdeckt
wurde. Ein Rezeptor (Empfänger) ist ein hoch spezialisiertes Eiweißmolekül in der
Zellmembran einer Effektorzelle, mit dem eine Substanz in Kontakt kommen muss, um
ihre Wirkung ausüben zu können. Es gibt unterschiedliche Rezeptoren für Benzodiaze-
pine (dieselbe Unterscheidung gilt auch für andere Psychopharmaka):
z Agonisten sind Substanzen, die analog zum natürlichen Mediator den Rezeptor in
die aktivierte Konformation überführen, d.h. sie verstärken die Rezeptorwirkung.
Benzodiazepine sind wie Alkohol und Barbiturate GABA-Rezeptor-Agonisten.
z Antagonisten sind Substanzen, die durch die Art der Rezeptorbindung dessen akti-
ven Zustand verhindern, d.h. sie hemmen die Rezeptorwirkung.

Der körpereigene Agonist des Benzodiazepinrezeptors ist bis jetzt unbekannt. Es muss
in der Natur eine Substanz geben, die auf diesen Rezeptor anspricht und dadurch starke
Angst verhindert, beruhigend wirkt, das Einschlafen ermöglicht, überstarke Muskel-
spannungen reduziert und Krampfanfälle verhindert. Bis jetzt wurden 8 natürliche Ben-
zodiazepine aus Kartoffeln und Weizenkörnern isoliert.
Benzodiazepine wirken auf der Rezeptorebene nicht selbst, sondern verstärken den
Effekt der natürlichen Substanz Gamma-Aminobuttersäure (GABA), der in einer Hem-
mung der noradrenergen, serotonergen und dopaminergen Neuronensysteme besteht.
GABA ist der wichtigste hemmende Neurotransmitter im Zentralnervensystem.
Der Benzodiazepinrezeptor bildet mit dem GABAA-Rezeptor einen Komplex, der
über den Weg des Chloridionen-Kanals den Chloridionen-Einstrom in die Zelle steuert
und diese dadurch weniger erregbar macht (Hyperpolarisierung).
Aufgrund der funktionellen Einheit zwischen Benzodiazepinrezeptoren und postsy-
naptischen GABA-Rezeptoren bewirkt eine Besetzung der Benzodiazepinrezeptoren
durch Benzodiazepine eine verbesserte Koppelung zwischen dem GABA-Rezeptor und
dem Chloridionen-Kanal, was zu einer zusätzlichen Öffnung der durch GABA gesteuer-
ten Chloridionen-Kanäle und damit zu einer verstärkten Hemmung am Neuron führt.
Experten [3] beschreiben die GABA-Mechanismen für Nichtmediziner:

„Wird GABA an einer Synapse freigesetzt, wird das nachgeschaltete Neuron kurzfristig für erregende
Überträgerstoffe unempfindlich. Damit können z.B. bestimmte von außen auf das Gehirn einwirkende
Reize oder Empfindungen, die momentan bedeutungslos sind, besser gedämpft und biologisch sinnvoll
verarbeitet werden.
Die Benzodiazepin-Rezeptoren bilden – mit den postsynaptischen GABA-Rezeptoren gleichsam
verkoppelt – eine funktionelle Einheit. Werden diese Benzodiazepin-Rezeptoren von ihren Agonisten –
den Benzodiazepinen – besetzt, kommt es zu einer verbesserten Koppelung zwischen dem GABA-
Rezeptor und dem Chlorid-Ionen-Kanal. Dies führt zu einer zusätzlichen Öffnung der durch GABA
gesteuerten Chloridkanäle und damit zu einer verstärkten Hemmung am Neuron. Auf diese Weise
bewirken die Benzodiazepine einen verstärkten (natürlichen) ‚Bremseffekt’ auf das ZNS... Eine Frage
bleibt noch offen: Warum hat sich der Organismus einen spezifischen Benzodiazepin-Rezeptor geschaf-
fen, ohne daß er wußte, dass eines Tages Medikamente – die Benzodiazepine – Verwendung finden, die
in ihrer Struktur diesem Rezeptor angepaßt sind? Es liegt nahe anzunehmen, daß es, ähnlich wie beim
Opiat-Rezeptor die Endorphine, auch beim Benzodiazepin-Rezeptor endogene, also körpereigene Stoffe
gibt, die mit diesem Rezeptor interferieren.“

Nach einer nicht ausreichend belegten Hypothese ist bei Angststörungen der GABA-
Benzodiazepinkomplex verändert und in seiner Empfindlichkeit gestört.
Anxiolytika (Tranquilizer) 621

GABAA-Rezeptoren werden ausschließlich im Zentralnervensystem (Gehirn und


Rückenmark) gefunden, besonders in der Großhirnrinde, in Teilen des limbischen Sy-
stems und im Kleinhirn. Dies erklärt die zentralnervöse Organspezifität der Benzodia-
zepinwirkung, die ein weiterer Experte [4] folgendermaßen charakterisiert:

„Aus der jeweiligen neuroanatomischen Lokalisierung wird auch die Vielzahl der unter Benzodiazepi-
nen registrierbaren Effekte verständlicher: der ataktische Effekt durch Vermittlung von Benzodiazepin-
rezeptoren im Kleinhirn, der sedative im Hirnstamm oder Cortex, der neuroendokrine (Verringerung
von ACTH und Cortisol, Erhöhung von HGH) im Hypothalamus, der amnestische im Hippocampus,
der konfliktlösende und anxiolytische in der Amygdala, im Hippocampus und anderen limbischen
Hirnstrukturen ...“

Julien [5] beschreibt in seinem für Nichtmediziner verfassten Buch „Drogen und Psy-
chopharmaka“ die pharmakologische Wirkungsweise der Benzodiazepine:

„Die klinischen und psychischen Wirkungen der Benzodiazepine entstehen alle als Folge der GABA-
induzierten neuronalen Hemmung in den verschiedenen Regionen des Zentralnervensystems, in denen
GABAA-Rezeptoren vorkommen. Geringe Dosen vermindern durch ihre Effekte auf die im Hippocam-
pus und im Corpus amygdaloideum (Amygdala, Mandelkern) lokalisierten Rezeptoren Angst, Erregung
und Furcht. Geistige Verwirrung und Amnesie scheinen mit den Wirkungen auf die GABA-Neuronen
in der Großhirnrinde und im Hippocampus zusammenzuhängen. Die sedativ-hypnotischen Wirkungen
werden offenbar durch Effekte auf Rezeptoren in der Großhirnrinde ausgelöst. Die leicht muskelent-
spannenden Eigenschaften der Benzodiazepine werden vermutlich durch ihre anxiolytische Wirkung
und durch gewisse Effekte auf GABA-Rezeptoren im Rückenmark, Kleinhirn und Hirnstamm hervor-
gerufen und ihre antiepileptischen Wirkungen sind wahrscheinlich durch gewisse Effekte auf GABA-
Rezeptoren unter anderem im Neocortex und im Hippocampus bedingt. Das Mißbrauchspotential und
die psychische Abhängigkeit schließlich entstehen möglicherweise infolge der Wirkungen auf GABA-
Rezeptoren, welche die Erregung solcher Neuronen modulieren, die am verhaltensverstärkenden Sy-
stem im Gehirn beteiligt sind und Belohnungsgefühle vermitteln ...“

Die Angst lösende Wirkung der Benzodiazepine entsteht wahrscheinlich nicht als unmit-
telbare Folge der Vorgänge am GABAA-Rezeptor, sondern über die Zwischenschaltung
anderer Transmitter, deren Wirkungen durch GABA modifiziert werden. Benzodiazepi-
ne können den GABA-Effekt nicht über einen bestimmten Schwellenwert hinaus ver-
stärken. Barbiturate können dagegen eine Öffnung des Chloridionen-Kanals auch ohne
GABA bewirken, was bei Missbrauch und Überdosis ihre Gefährlichkeit ausmacht.
Benzodiazepine wirken auf fast alle GABAA-Rezeptoren im Gehirn und nicht angst-
spezifisch. Sie aktivieren stets alle vier GABAA-Rezeptoren (alpha1, alpha2, alpha3,
alpha5). Neben den erwünschten Wirkungen (Angst lösend, muskelentspannend) kommt
es dadurch auch zu unterwünschten Nebenwirkungen (Sedierung, Abhängigkeit).
Aufgrund der Wirkungsweise der Benzodiazepine führt selbst eine in suizidaler Ab-
sicht eingenommene hohe Benzodiazepindosis zu keiner Selbsttötung. Schwere Kom-
plikationen können jedoch in Verbindung mit Alkohol auftreten. In Selbstmordabsicht
eingenommene trizyklische Antidepressiva sind viel lebensbedrohlicher, weil sich diese
stark auf die Herz- und Kreislauftätigkeit auswirken.
Die verschiedenen Rezeptoren im Zentralnervensystem sind durch eine hohe (jedoch
nicht absolute) Spezifität oder Affinität für die Moleküle der passenden Wirksubstanz
charakterisiert. Das am besten zum Rezeptor passende Molekül löst die stärkste Reakti-
on in der Zelle aus. Die Wirkpotenz wird durch die Rezeptoraffinität bestimmt. Man
unterscheidet Präparate mit hoher Wirkpotenz (Tagesdosis unter 1 mg) und geringer
Wirkpotenz (Tagesdosis über 20 mg).
622 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Die Selektivität (Spezifität) der Wirkung einer Substanz beruht auf folgenden Faktoren:
z Spezifität der betreffenden Substanz für bestimmte Rezeptoren,
z selektive Verteilung der Rezeptoren,
z Stärke der Bindung an den Rezeptor („Affinität“), d.h. passendere Moleküle anderer
Substanzen können verdrängend wirken (Lorazepam, Triazolam, Lormetazepam
Flunitrazepam und Alprazolam haben die höchste Rezeptoraffinität, Diazepam,
Bromazepam, Oxazepam und Clobazam haben eine geringere Rezeptoraffinität),
z Folgen der Wechselwirkung zwischen Substanz und Rezeptor.

Für die Tranquilizerwirksamkeit entscheidend ist die Konzentration am Wirkort (Ben-


zodiazepinrezeptor) und nicht im Plasmaspiegel. Wirkungen am Benzodiazepin-
rezeptor können den nachweisbaren Plasmaspiegel weit überdauern und zu klinisch
relevanten Effekten führen. Gegenwärtig werden partielle Agonisten entwickelt und
geprüft, die die positiven Wirkungen der Benzodiazepine (Angstlösung), nicht jedoch
deren unerwünschte Wirkungen (Abhängigkeit, Nebenwirkungen wie z.B. Sedierung)
aufweisen. Zu diesen Substanzen, die ebenfalls am Benzodiazepinrezeptor ansetzen,
zählen Anxiolytika wie Abecarnil, Bretazenil, Divaplon und Suriclon. In der nächsten
Zeit ist jedoch noch nicht mit der Marktreife zu rechnen.
Es gibt mittlerweile auch bereits Benzodiazepinantagonisten, z.B. Flumazenil (Ane-
xate®), die durch die Besetzung der Benzodiazepinbindungsstelle des GABAA-
Rezeptors die Wirkung der Benzodiazepine sofort aufheben, d.h. diese beseitigen eine
Benzodiazepinwirkung im Rahmen einer Operation oder eines Selbstmordversuchs.
Die Entdeckung verschiedener Subtypen des Benzodiazepinrezeptors und die Ent-
wicklung hochspezifischer Liganden für die jeweiligen Rezeptorsubtypen führte nicht
nur zu einem besseren Verständnis der Wirkungsweise der Benzodiazepine, sondern
auch zur Entwicklung neuer Hypothesen zur Neurobiologie von Angststörungen.
Eine Forschergruppe der Universität und der ETH Zürich ist in der Erforschung und
besseren medikamentösen Behandlung einen wesentlichen Schritt weitergekommen.
Die Forscher haben durch Studien an Mäusen erkannt, dass Diazepam (Valium®) die
Nebenwirkungen Schläfrigkeit und Vergesslichkeit über den alpha1-Subtyp und die
Angst lösende Wirkung über den alpha2-Subtyp entfaltet.
Alpha2-GABAA-Rezeptoren finden sich hauptsächlich im limbischen System (z.B.
dem Hippocampus), von wo aus der Hormonhaushalt und das vegetative Nervensystem
gesteuert werden. Sie sind dort an strategischen Stellen lokalisiert, vor allem dem An-
fangssegment von Axonen erregender Nervenzellen. Auf diese Weise werden über
alpha2-Rezeptoren bestimmte erregende Zellen an der Weitergabe Ihrer Information
gehindert. Dies dürfte nach neuestem Erkenntnisstand der neuronale Mechanismus der
Angst lösenden Wirkung der Benzodiazepine sein. Es ist das Ziel, Tranquilizer zu ent-
wickeln, die selektiv an den alpha2-Subtyp der GABAA-Rezeptoren binden und damit
anxiolytisch wirken mit möglichst wenigen Nebenwirkungen.
Fazit: Zukünftige Anxiolytika werden einerseits aus der Gruppe jener Substanzen
stammen, die als subtypische Agonisten und Partialagonisten am GABAA-Rezeptoren
bekannt sind, aber auch aus anderen, völlig unterschiedlichen Substanzgruppen:
z Azapirone (vorwiegend 5-HT1A-Agonisten, wie Buspiron): Gepiron, Ipsapiron u.a.
z Antikonvulsiva (wie Pregalin): Gabapentin, Vigabatrin, Levetiracetam, Tiagabin.
z Deramciclan (5-HT2A-Antagonist und inverser Agonist am 5-HT2C-Rezeptor und
Agomelatin (5-HT2C-Antagonist).
z CRH-1-Rezeptorantagonisten (Aktivierung des CRH-1-Rezeptors).
Anxiolytika (Tranquilizer) 623

Einteilung der Benzodiazepine nach der Eliminationshalbwertszeit


Die Plasmaeliminationshalbwertszeit (t1/2) als Maß für die Verweildauer der jeweiligen
Substanz im Organismus ist für jedes Arzneimittel wichtig und wird daher in jedem
Medikamentenverzeichnis angeführt. Die Eliminationshalbwertszeit ist jene Zeit, in der
die Konzentration des Medikaments im Blutplasma um die Hälfte reduziert wird, in
Abhängigkeit von Clearance (Plasmavolumen) und Verteilungsvolumen (scheinbares
Volumen als Quotient von Pharmakonmenge im Körper zu Plasmakonzentration des
Pharmakons). Die zweite Hälfte der eingenommenen Dosis wird viel langsamer abge-
baut, sodass bestimmte Substanzen oft noch nach einigen Tagen im Körper nachweisbar
sind. Die Halbwertszeit ist entscheidend für die Wirkdauer eines Stoffes oder möglicher
Substanzen, die im jeweiligen Stoffwechsel aus ihnen hervorgehen.
Psychopharmaka zerfallen während des biologischen Stoffwechsels in verschiedene
Zwischen-, Abbau- oder Endprodukte. Die Stoffwechselzwischenprodukte nennt man
Metaboliten. Diese können therapeutisch unwirksam, teilweise oder voll wirksam sein.
Zur Halbwertszeit des eigentlichen Medikaments muss man auch noch die Halbwerts-
zeit der wirksamen Metaboliten hinzuzählen, wodurch die Gesamtwirkungsdauer der
eingenommenen Substanz oft erheblich verlängert wird. Dies erklärt, warum Tranquili-
zer oft länger wirken als gewünscht.
Die unterschiedliche Wirkdauer der verschiedenen Benzodiazepine hängt vor allem
zusammen mit Unterschieden in der Plasmaeliminationshalbwertszeit, der Verteilung
und der Verstoffwechselung (aktive Metaboliten).
Man unterscheidet kurz, mittellang und lang wirksame Benzodiazepine. Die unter-
schiedlich lange Wirkungsdauer von Benzodiazepinen hat Vor- und Nachteile. Die in
der Literatur zu findenden Halbwertszeiten stellen Mittelwerte mit teilweise erheblichen
interindividuellen Streuungen dar.
Die Eliminationshalbwertszeit (und damit die in therapeutischer Hinsicht bedeutsa-
me Wirkdauer) wird durch bestimmte Substanzen beträchtlich verlängert (z.B. Ethanol,
Propranolol, Fluoxetin, orale Kontrazeptiva, Cimetitin), bedingt durch die Art der Ver-
stoffwechselung.
Zwischen Halbwertszeit und klinischer Wirkdauer besteht kein direkter Zusammen-
hang. Die Betroffenen erleben öfter keine Medikamentenwirkung mehr, obwohl das
Mittel im Organismus noch nachweisbar ist.

Tab. 23: Benzodiazepine nach Eliminationshalbwertszeit und sedierender Wirkung [6]

Eliminations- Sedative (beruhigende) Wirkung


halbwertszeit leicht mittel stark
kurz: Brotizolam (D: Lendormin®, Triazolam (D/Ö: Halcion®)
2-5 Stunden Ö: Lendormin®)
mittellang: Alprazolam Oxazepam (D/Ö: Adumbran®, Flunitrazepam (D/Ö: Ro-
< 24 Stunden (D: Tafil®, Praxiten®, Ö: Anxiolit®) hypnol®, Ö: Somnubene®)
Ö: Xanor®) Lorazepam (D: Tavor®, Ö: Temesta®) Temazepam (D: Remestan®)
Bromazepam (D/Ö Lexotanil®)
lang: Clobazam Dikaliumclorazepat Diazepam (D/Ö: Valium®,
> 24 Stunden (D/Ö: Frisium®) (D/Ö: Tranxilium®), Ö: Gewacalm®, Psycho-
Prazepam Chlordiazepoxid (D: Librium®, pax®)
(D/Ö: Demetrin®) Ö: nicht mehr auf dem Markt) Flurazepam (D: Dalma-
dorm®, Staurodorm®)
624 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Kurz wirksame Benzodiazepine

Kurz wirksame Benzodiazepine (weniger als 5 Stunden), die gleichzeitig auch keine
wirksamen Metaboliten aufweisen, lassen sich in der Wirkung gut steuern. Es kommt zu
keiner Anhäufung (Kumulation) des Stoffes im Organismus und damit zu keinem oder
nur geringem Überhang („hang-over“). Nachwirkungen am nächsten Morgen bzw. in
den kommenden Tag hinein werden vermieden. Der Wirkungseintritt wird als rascher
empfunden und deshalb gerne bei akuten oder situationsbedingten Störungen genutzt
(z.B. Trauer- oder Konfliktreaktionen, auf Reisen usw.). Dafür kann die Wirkung gele-
gentlich weniger konstant ausfallen. Als Beruhigungsmittel am Tag sind diese Medika-
mente weniger geeignet.
Substanzen mit einer kurzen Halbwertszeit wie Triazolam (Halcion®) besitzen we-
gen des geringen Kumulationsrisikos Vorteile beim Einsatz als Schlafmittel sowie bei
älteren Patienten, sie führen jedoch oft zu einem Rebound-Effekt (überschießende Ge-
genreaktion nach dem Absetzen, z.B. Angstzustände, noch größere Schlafstörung).
Bereits nach 1-2 Tagen spüren verschiedene Menschen vermehrte Unruhe und
Angst, nach einiger Zeit kann ein Gedächtnisverlust für die Zeit vor dem Zubettgehen
auftreten. Es besteht auch eine größere Abhängigkeitsgefahr. Der Körper ist nach der
raschen Ausscheidung sehr sensibel für die dabei auftretenden Stoffwechselver-
änderungen und recht aufnahmebereit für die als angenehm erlebte Substanz.
Triazolam wird vom Zentralnervensystem sehr schnell aufgenommen und kann kurz
nach der Einnahme euphorische Zustände auslösen. Das Präparat Halcion® wurde we-
gen häufiger Gedächtnisstörungen in England bereits verboten.

Mittellang wirksame Benzodiazepine

Mittellang wirksame Benzodiazepine (5-24 Stunden) haben als Nachteil eine mehr oder
weniger ausgeprägte Kumulationsgefahr. Besonders bei mehrfacher Einnahme pro Tag
ist die Zufuhr zunächst größer als die Abbaurate im Organismus. Die Folge ist eine
Wirkungserhöhung, vielleicht sogar drohende Überdosierung. Es kann sich um eine
unerwünschte Dämpfung als Nacheffekt eines Schlafmittels oder um eine zunehmende
Müdigkeit und Mattigkeit als Folge der regelmäßigen Einnahme eines Tagestranqui-
lizers handeln. Als Gegenmittel zur medikamentösen Dämpfung dienen häufig Kaffee,
Schwarztee, Cola-Getränke oder Rauchen. Anstelle einer Überdosierung gilt es, bei
Bedarf die individuelle Dosis eines Benzodiazepinhypnotikums herauszufinden, bei der
die Nachwirkung am nächsten Morgen erträglich ist, ohne dass der schlaffördernde
Effekt darunter leidet.
Die Benzodiazepine Alprazolam (D: Tafil®, Ö: Xanor®), Bromazepam (Lexotanil®),
Lorazepam (D: Tavor®, Ö: Temesta®) und Oxazepam (D/Ö: Adumbran®, Praxiten®, in
Ö auch Anxiolit®) zählen zu den im klinischen Alltag am meisten verschriebenen Tran-
quilizern. Das Benzodiazepinschlafmittel Flunitrazepam (Rohypnol®) steht in der Miss-
brauchsstatistik an oberster Stelle. Die Substanz ist rasch spürbar, was den bekannten
„Kick“ ausmacht, lässt in der Wirkung jedoch bald nach, sodass der Körper nach einer
neuerlichen Einnahme verlangt. Das Präparat lässt sich auch auflösen, sodass der Wirk-
stoff gespritzt werden kann, was besonders von ehemaligen Drogenabhängigen als billi-
ge und legale Form der Bewusstseinsveränderung eingesetzt wird.
Anxiolytika (Tranquilizer) 625

Lang wirksame Benzodiazepine

Lang wirksame Benzodiazepine (über 24 Stunden) haben meist aktive Stoffwechselpro-


dukte, die im Einzelfall bis zu 75 Stunden nachwirken können (bei Tranxilium®), sodass
eine Kumulationswirkung mit verstärkten Nebenwirkungen und möglichen Komplika-
tionen besteht. Die möglichen Kumulationsgefahren müssen bedacht werden, wenn-
gleich ernstere Nebenwirkungen erstaunlich selten auftreten. Leichtere Begleiterschei-
nungen, die nicht gleich auffallen, dürfen keineswegs verharmlost werden. Dazu gehö-
ren leichtere Benommenheit, kurzfristige Orientierungs-, Merk- und Konzentrationsstö-
rungen, Erinnerungslücken, Reaktionszeitverlängerungen durch geistig-körperliche
Verlangsamung, Einschränkung der Aufmerksamkeit, vorübergehende Bewegungsunsi-
cherheit, gegebenenfalls länger anhaltende Muskelerschlaffung mit erhöhtem Unfallri-
siko (Sturzgefahr vor allem nachts beim Toilettengang, aber auch tagsüber).
Abends zur Behandlung von Schlafstörungen eingesetzte Benzodiazepine mit langer
Halbwertszeit (länger als 24 Stunden) bewirken zumeist einen unerwünschten morgend-
lichen Hang-over (Tagesrestwirkung, Residualeffekt). Benzodiazepine mit langer
Halbwertszeit führen bei längerer Einnahmedauer zu Tagessedierung, Kumulations- und
Toleranzentwicklung mit negativen Auswirkungen auf Verkehrstauglichkeit und Reak-
tionsvermögen.
Tranquilizer mit längerer Halbwertszeit sind – wenn schon – vorwiegend bei chroni-
schen Angstzuständen indiziert. Sie besitzen Vorteile bezüglich der Einnahme-
Bequemlichkeit. Oft reicht schon eine Einmaldosis, um die erwünschte Wirkung zu
erzielen. Bei kürzer wirksamen Tranquilizern wird im Falle einer Bedarfsmedikation
anschließend oft ein plötzliches und unangenehmes Ausbleiben der Wirkung erlebt, was
bei länger wirksamen Tranquilizern nicht in dieser Weise der Fall ist.
Von relativ kurz wirksamen und hoch potenten Tranquilizern wie Alprazolam (D:
Tafil®, Ö: Xanor®) wird man als Folge einer Bedarfsmedikation, die noch dazu oft in höhe-
rer Dosis erfolgt, schneller abhängig als von einem länger wirksamen und nicht so hoch
potenten Tranquilizer in niedriger Dosierung wie Diazepam (Valium®).
Zur Vermeidung der unerwünschten Wirkungen von Benzodiazepinschlafmitteln er-
halten Schlafgestörte seit einiger Zeit neu entwickelte Substanzen: Zolpidem (Stilnox®,
Bikalm®) und Zopiclom (Ximovan®). Diese Mittel haben zwar ein günstigeres Wir-
kungsprofil, wegen ihrer Ähnlichkeit mit Benzodiazepinen ist jedoch mit ähnlichen
Nebenwirkungen (insbesondere Abhängigkeitsgefahr, wenngleich bei geringerer Wahr-
scheinlichkeit) zu rechnen.
Es bleibt ein Faktum: Schlafstörungen können mit chemischen Schlafmitteln nicht
geheilt werden, sondern nur kurzfristig gelindert werden, bei einer regelmäßigen Ein-
nahme über 4 Wochen wird die Schlafstörung sogar verstärkt.
Zur Orientierung werden in Tab. 24 die wichtigsten Benzodiazepintranquilizer mit
der Wirksubstanz, den Handelsnamen in Deutschland und Österreich, der Halbwertszeit
von Wirksubstanz und Metaboliten (Stoffwechsel-Zwischenabbausubstanzen) sowie der
Äquivalenzdosis angeführt.
10 mg Diazepam Referenzdosis entsprechen 1 mg Alprazolam, 2 mg Lorazepam,
1 mg Flunitrazepam, 0,25 mg Triazolam, 4,5 mg Bromazepam, 40 mg Oxazepam, d.h.
niedrige Werte weisen auf eine hohe Potenz und eine große Abhängigkeitsgefahr hin.
626 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Tab. 24: Die häufigsten Benzodiazepine in Deutschland und Österreich [7]

Wirkungsdauer Wirksubstanz Handelsname Halbwertszeit/ Äquiva-


(H = Hypnotikum, des aktiven lenz-
primär Schlafmittel) Metaboliten dosis
in Stunden (in mg)

Kurz wirksam: Brotizolam (H) Lendormin® (D), Lendorm® (Ö) 4-7 / - 0,25

Weniger als Cinolazepam (H) Gerodorm® (Ö) 4-6 / - 40


5 Stunden
®
Midazolam (H) Dormicum (D/Ö) 1,5-2,5 / - 7,5

(keine Kumu- Triazolam (H) Halcion® (D/Ö) 2-4 / - 0,25


lation) Halcion® mite (D)

Mittellang Alprazolam Tafil® (D) 12-15 / - 1


wirksam: Cassadan® (D)
5-24 Stunden Xanor® (Ö)
Alprazolam Firmenname (D/Ö)
Alprastad® (Ö)

(aktive Meta- Bromazepam Lexotanil®(D/Ö), Gityl® (D) 15-28 / - 4,5


boliten, d.h. Bromazepam Firmenname (D/Ö)
Stoffwechsel- Bromazanil® (D),
abbaupro- Normoc® (D)
dukte: kaum) Bromazep-CT (D),
neo-OPT® (D)
Lexostad® (D)

vorhanden) Clonazepam Rivotril® (D/Ö) 39-40 / - 2

Flunitrazepam (H) Rohypnol® (D/Ö), Fluninoc® 1 (D) 18 / - 1


Flunitrazepam Firmenname (D)
Somnubene® (Ö)

Lorazepam Tavor® (D), Tolid® (D) 13-14 / - 2


Temesta® (Ö), Merlit® (Ö)
Lorazepam Firmenname (D/Ö)

Lormetazepam (H) Noctamid® (D/Ö), 10-14 / - 1


Ergocalm® (D)
Lormetazepam Firmenname (D)
Loretam® (D)

Nitrazepam (H) Mogadan® (D), Mogadon® (Ö) 20-40 / - 2,5


Nitrazepam Firmenname (D)
Radedorm® (D), Novanox® (D)
Dormo-Puren® (D), imeson® (D)

Oxazepam (H) Praxiten® (D/Ö), 5-15 / - 40


Praxiten® forte (D/Ö)
Adumbran® (D/Ö)
Anxiolit® (Ö)
oxa-CT (D)
Oxazepam Firmenname (D)
Anxiolytika (Tranquilizer) 627

Wirkungsdauer Wirksubstanz Handelsname Halbwertszeit/ Äqui-


(H = Hypnotikum, des aktiven valenz-
primär Schlafmittel) Metaboliten Dosis
in Stunden (in mg)

Lang wirksam: Chlordiazepoxid Librium® (D), Multum® (D) 10-15 / 50-90 20


über 24 Stun- Radepur® (D)
den Limbitrol® (Ö): Mischpräparat

(Bildung von
langlebigen, Clobazam Frisium® (D/Ö) 18-42 / 36-80 20
aktiven Meta-
® ®
boliten, z.B. Diazepam Valium (D/Ö), Gewacalm (Ö) 24-48 / 50-80 10
Desmetyl- Psychopax® (Ö)
diazepam, Diazepam Firmenname (D/Ö)
wodurch die Faustan® (D) Stesolid® (D/Ö)
Halbwertszeit Valiquid® (D), Diazep® (D)
und damit die Valocordin®-Diazepam (D)
Wirksamkeit
verlängert Betamed® (Ö): Mischpräparat
wird, d.h. Harmomed® (Ö): Mischpräparat
starke Kumu- Harmomed® forte (Ö): Mischpräp.
lationsneigung
bei wiederhol- Dikaliumclorazepat Tranxilium® (D/Ö) - / 25-80 20
ter Anwendung
Flurazepam (H) Dalmadorm® (D) 1,5 / 50-100 30
Staurodorm® Neu (D)
Flurazepam Firmenname (D)

Medazepam Rudotel® (D), Rusedal® (D) 2-5 / 50-80 20

Prazepam Demetrin® (D/Ö) 0,6 / 50-90 20


Mono Demetrin® (D)

Benzodiazepine in der Angstbehandlung


Faust [8] stellt in seinem Psychopharmaka-Führer „Medikament und Psyche“ fest:

„Beruhigungsmittel sind die am häufigsten verlangten und verordneten Psychopharmaka. Das war so,
das ist so, das wird vermutlich noch einige Zeit so bleiben. Überforderung, Anspannung, Streß, innere
Unruhe, Nervosität, Angstzustände und Einschlafstörungen sind die häufigsten Befindensschwankun-
gen an der Grenze zur seelischen Störung. Sie münden über die psychosozialen Folgen (Partnerschaft,
Familie, Beruf) in einen Teufelskreis, der irgendwann einmal medikamentös unterbrochen werden soll,
weil die nichtmedikamentöse Eigeninitiative zu wünschen übrig läßt und Arzneimittel einen schnelleren
und scheinbar problemloseren Behandlungserfolg garantieren.“

Faust [9] weist auf die Grenzen der Beruhigungsmittel bei seelischen Konflikten hin:

„Eine medikamentöse Konfliktlösung ist durch Tranquilizer in der Regel nicht möglich. Zwar werden
die anstehenden Probleme ggf. ‚entaktualisiert’ und dadurch leichter bearbeitbar bzw. überstehbar.
Doch dies setzt eine konsequente Eigenleistung voraus: Aussprache, Korrekturversuche (Partnerschaft,
Beruf usw.), Entspannungsverfahren lernen, Genußgifte einschränken, regelmäßige körperliche Aktivi-
tät usw. Nur so läßt sich auf Dauer die Krise überwinden und die Gefahr eindämmen, immer wieder zu
einer ‚medikamentösen Krücke’ Zuflucht nehmen zu müssen, bis man hängenbleibt.“
628 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Benzodiazepine sind nach wie vor bei akuten Angstzuständen das Mittel der ersten
Wahl für einen Zeitraum von 1-2 Wochen. Benzodiazepine können bei Angststörungen
kurzfristig in zweifacher Weise sinnvoll sein:
z bei der Erstmanifestation einer Angststörung: Beschränkung auf wenige Wochen in
möglichst niedriger Dosierung (3-4, höchstens 6 Wochen lang regelmäßig),
z in der Einstellphase einer antidepressiven Therapie bei Panikstörung und generali-
sierter Angststörung (1-2 Wochen lang, bis die Antidepressiva voll wirken).

Bei kritischer Beurteilung ist der Einsatz von Tranquilizern nur dort gezielt und hilf-
reich, wo Angstpatienten ihre Angstsituationen nur sehr selten aufsuchen bzw. aufsu-
chen müssen, wenn sie nicht bestimmte Nachteile in Kauf nehmen wollen, oder wo eine
akute Erregung besteht.
Beispiele für den kurzfristigen Tranquilizereinsatz sind:
z rasch wirksame Dämpfung bei akuter Erregung, insbesondere auch im Rahmen einer
schweren psychischen Störung, die einen stationären Aufenthalt erfordert,
z akute psychosoziale Belastungssituation,
z kurzfristiger beruflicher Stress mit Kündigungsgefahr bei Versagen,
z entscheidende Bewerbungssituation,
z unerwünschte Auffälligkeit in einer wichtigen sozialen Situation,
z Prüfungsangst,
z negative Folgen bei einer wichtigen, nicht bestandenen Prüfung,
z Flugangst bei nur gelegentlichen Flügen.

Anstelle eines routinemäßigen Einsatzes von Benzodiazepinen wegen Überanspannung,


Stress usw. sollte eine spezifische Behandlung aufgrund einer genauen Analyse bzw.
Diagnose des jeweiligen Beschwerdekomplexes erfolgen. Gesunde Personen mit le-
benssituativen Belastungen sollten nur in bestimmten wohlüberlegten Fällen Tranquili-
zer erhalten. Die psychosoziale Belastung hält in der Regel länger an, als Beruhigungs-
mittel wegen der Gefahr der Abhängigkeit eingenommen werden können. Entscheidend
ist hier die Unterstützung durch ärztliche oder psychotherapeutische Gespräche.
Wo eine regelmäßige Wiederholung der Angst machenden Situationen ohne gleich-
zeitige Erlernung von Bewältigungsstrategien zu erwarten ist, sind die ärztlichen Emp-
fehlungen, Tranquilizer „nur bei Bedarf“ zu nehmen, nichts als leere Worte. Ohne Zu-
versicht hinsichtlich der Bewältigbarkeit der Ängste werden Benzodiazepine immer
mehr auch vorbeugend eingenommen, um Angst- und Panikzustände zu verhindern. Bei
einer generalisierten Angststörung sind Benzodiazepine als einzige Behandlungsmittel
wegen der Abhängigkeitsgefahr unbedingt zu vermeiden.
Bei Bedarf sollen Benzodiazepine in der Akutphase je nach Halbwertszeit 1-3-mal
täglich in der jeweils niedrigstmöglichen Dosis verordnet werden. Bei unzureichender
Linderung der Beschwerden kann die Dosis innerhalb der ersten Behandlungswoche
gesteigert werden. Die Medikation ist immer individuell zu bestimmen und in den Kon-
text einer umfassenden Arzt-Patient-Beziehung zu stellen.
Bei Besserung der Symptome wird eine allmähliche Dosisreduktion versucht, diese
kann auch in Form einer Intervallbehandlung (Einnahme bei Bedarf) stattfinden. Eine
wiederholte Überprüfung der weiteren Notwendigkeit der ursprünglich etablierten Do-
sishöhe erfolgt durch vorsichtiges Reduzieren und schließlich probeweises Absetzen.
Tranquilizer sollten nach einigen Wochen ausschleichend abgesetzt werden, um unan-
genehme Effekte zu vermeiden.
Anxiolytika (Tranquilizer) 629

Patienten mit früherem oder aktuellem Alkohol- bzw. Drogenmissbrauch sollten keine
Benzodiazepine einnehmen, sondern Antidepressiva mit Angst dämpfendem Effekt. Bei
akutem und kurzfristigem Einsatz ist die Wirksamkeit, gute Verträglichkeit und Sicher-
heit von Benzodiazepinen unbestritten. Bei länger dauernden Angstzuständen sind ande-
re medikamentöse sowie psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten anzustreben.
Laux [10] erstellte 1995 in der Fachzeitschrift „Nervenarzt“ folgende Richtlinien
und Empfehlungen für den Einsatz von Benzodiazepinen:

„Als Grundlage für eine adäquate Therapie mit Benzodiazepinen ist das Vorliegen einer klaren Indika-
tion anzusehen... Die Behandlung muß eingebettet sein in eine ‚psychologische Basisberatung/-
behandlung’. Lassen sich psychodynamische Faktoren für die Entstehung oder Aufrechterhaltung der
vorliegenden Störung eruieren, sollte der Patient einer psychotherapeutischen Behandlung zugeführt
werden. In vielen Fällen hat sich die Kombination einer (intermittierenden) Pharmakotherapie mit
(kognitiver) Verhaltenstherapie bewährt. Benzodiazepine sollten initial niedrig, aber ausreichend do-
siert werden, Ziel ist eine kurzfristige Verordnung (z.B. Überbrückung der Wirklatenz von Antidepres-
siva). Bei Patienten mit intermittierend auftretenden, situativ bedingten Symptomen sollte primär eine
diskontinuierliche Therapie im Sinne einer Bedarfsmedikation erfolgen. Es ist unbedingt darauf zu
achten, daß nur ein Benzodiazepin verordnet wird (nicht gleichzeitig ‚Tagestranquilizer’ und Benzodia-
zepinhypnotikum; Benzodiazepine zusätzlich in Kombinationspräparaten; Parallelverordnungen durch
Simultankonsultationen). Benzodiazepine bedürfen wie alle Psychopharmaka einer persönlichen Ver-
ordnung durch den Arzt, insbesondere bei Wiederholungsrezepturen...
Benzodiazepine sollten in der Regel nicht länger als 4 Wochen – nach der Empfehlung der FDA
nicht länger als 4 Monate – kontinuierlich verordnet werden. Allerdings kann für einige Patienten mit
chronischen Angsterkrankungen eine Langzeitbehandlung mit Benzodiazepinen indiziert sein. Dies
impliziert aber, daß eine engmaschige ärztliche Führung mit regelmäßigen Absetzversuchen und Initiie-
rung anderer Therapien durchgeführt wird.
Klinische Erfahrungen der zurückliegenden Jahre haben gezeigt, daß das Absetzen, die Dosisreduk-
tion von Benzodiazepinen sehr langsam vorgenommen werden muß. Als Richtlinie kann gelten, maxi-
mal ca. ¼ der Tagesdosis pro Woche zu reduzieren. Offenbar sind insbesondere Patienten mit Paniker-
krankungen sensibel für die Dosisreduktion...
Langzeitbehandlungen mit Benzodiazepinen sollten nach Möglichkeit vermieden werden und auf
schwere, chronische Störungen beschränkt bleiben, die ohne Medikamente nicht hinreichend gebessert
werden können. Regelmäßig muß deren Notwendigkeit durch langsame Absetzversuche überprüft
werden. Als Alternative zu einer Benzodiazepinlangzeitbehandlung gilt im allgemeinen die Medika-
mentenfreiheit.“

Laux et al. [11] beschreiben in ihrem Buch „Psychopharmaka. Ein Leitfaden“ die Mög-
lichkeiten und Gefahren der Tranquilizereinnahme folgendermaßen:

„Tranquilizer bieten die Möglichkeit, psychovegetative Krisen, den ‚psychovegetativen Störkreis’ zu


durchbrechen (hierbei verstärkt Angst psychovegetative und psychosomatische Störungen, welche
ihrerseits zu neuen Ängsten führen). Auch zur Dämpfung überschießender Emotionen sind sie gut
geeignet. Pathologische Ängste, die adäquates Konfliktverhalten blockieren, können somit gemindert
und der Weg zu einer Psychotherapie – falls erforderlich – kann geebnet werden. Der behandelte Pati-
ent empfindet rasch eine spürbare Erleichterung von vorher oft sehr quälenden Symptomen. Dies kann
jedoch Gefahren in sich bergen: Tranquilizer können so bei manchen Patienten dazu führen, daß sie
sich der Auseinandersetzung mit ihren Problemen nicht mehr stellen oder daß sie die Seele ‚wie in einer
temperierten Glasglocke’ vor dem Alltagsstreß medikamentös abschirmen. Beruhigungsmittel dürfen
deshalb niemals das ärztliche Gespräch ersetzen; bei allen Patienten, die Benzodiazepine erhalten, ist es
von vornherein notwendig, einen Gesamtbehandlungsplan zu erstellen, in welchem der Medikamente
verordnende Arzt nicht als ‚bloßer Lebenserleichterer’ fungieren darf.
Die medikamentöse Therapie soll nur kurzzeitig erfolgen (in der Regel nicht länger als 2 Monate),
der Patient darf mit dem Medikament nicht allein gelassen werden...“
630 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Studien zur Tranquilizerwirksamkeit haben Folgendes ergeben:


z Benzodiazepine reduzieren rasch und wirksam ängstliche Sorge, innere Unruhe und
eine Fülle körperlicher Angstäquivalente, speziell bei Panikattacken.
z Benzodiazepine waren in verschiedenen Untersuchungen am Ende der Studiendauer
kaum wirksamer als Placebomedikamente (Scheinmedikamente, d.h. nicht wirksame
Substanzen), wenngleich sie zu Behandlungsbeginn unverkennbar besser wirksam
waren. Der oft nur verschwindende Unterschied von Placebo gegenüber Benzodia-
zepinen mahnt dazu, die Indikationsstellung auf klinisch bedeutsame Angstsyndro-
me einzuschränken.
z Nach dem Absetzen des Tranquilizers treten die ursprünglichen Angstsymptome
meist wieder auf (je nach Medikament in 35-90% der Fälle, wie Übersichtsstudien
eindeutig belegen). Bei etwa 50-75% der Patienten ist bereits einige Wochen nach
dem Absetzen der Benzodiazepine langsam mit einem Wiederauftreten des ur-
sprünglichen Beschwerdebildes zu rechnen. Dies zeigt, dass die alleinige Verord-
nung von Tranquilizern ohne psychosoziale Konfliktbewältigung bzw. ohne Psycho-
therapie keine Problemlösung darstellt und nur zur Dauermedikation und Abhängig-
keit führt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, bei allen Patienten, die Benzodia-
zepine erhalten, vorher einen Gesamtbehandlungsplan zu erstellen.
z Bei Panikstörung mit und ohne Agoraphobie hat Alprazolam (D: Tafil®, Ö: Xanor®) in
den ersten Wochen eine recht gute Wirkung, die nach mehrwöchiger Einnahme auch
durch bestimmte Antidepressiva erreicht wird, bei mehrmonatiger Einnahme beste-
hen große Absetzschwierigkeiten und Abhängigkeitsgefahren. Ähnlich gute Wir-
kungen werden mit den Benzodiazepinen Lorazepam (Tavor®) und Clonazepam (Ri-
votril®) erreicht, doch nur Alprazolam hat weltweit die Anerkennung als Mittel zur
Behandlung von Panikstörungen erlangt. Die Retard-Form von Alprazolam (Alpra-
zolam XR) ist in Europa noch nicht erhältlich, ermöglicht die lediglich einmalige
tägliche Einnahme, hat dadurch ein günstigeres Nebenwirkungsprofil, das Risiko der
Abhängigkeitsentwicklung bleibt dabei jedoch unverändert bestehen. In den USA
wurde eine Tagesdosis bis zu 10 mg verordnet, in Deutschland ist eine Tagesdosis
von mehr als 4 mg den Psychiatern vorbehalten.
z Bei generalisierten Angststörungen, die neben Panikstörungen traditionellerweise
den Haupteinsatzbereich der Benzodiazepine darstellen, wird nach ca. 6 Wochen ei-
ne maximale Wirkung erreicht, die sich nicht mehr steigern lässt, bis zu sechs Mona-
ten anhält und danach nachlässt bzw. überhaupt verschwindet. Aus diesem Grund
sollte bei längerer Medikamentenverordnung anstelle eines Benzodiazepins eine
Substanz wie Buspiron (D: Bespar®, Busp®, Ö: Buspar®), ein Antidepressivum (ein
SSRI, Venlafaxin oder ein trizyklisches Antidepressivum), Opipramol, Hydroxin
oder Pregabalin eingenommen werden.
z Bei sozialen Phobien erwies sich ebenfalls Alprazolam, jedoch nur in relativ hoher
Dosis (6 mg Tagesdosis), sowie Clonazepam (Rivotril®), und zwar ebenfalls in hö-
herer Dosis (3 mg Tagesdosis) als wirksam, ähnlich wie bei der Panikstörung. Bei
längerer Einnahme bedeutet dies ein hohes Abhängigkeitsrisiko. Gegenwärtig wird
neben verschiedenen SSRI der MAO-Hemmer Moclobemid (Aurorix®) als hilfrei-
ches Medikament bei sozialen Phobien angesehen.
z Bei spezifischen Phobien ist höchstens eine kurze Tranquilizereinnahme angebracht,
ansonsten eine Verhaltenstherapie. Aus diesem Grund gibt es daher kaum entspre-
chende Medikamentenstudien.
Anxiolytika (Tranquilizer) 631

Alprazolam (Tafil®, Xanor®) – Bei Panikattacken am wirksamsten?


Alprazolam (D: Tafil®, Ö: Xanor®), ein hoch potenter, weder dämpfender noch muskelent-
spannender Tranquilizer, gilt als wirksamster Tranquilizer bei Panikstörungen. Das
Mittel dient auch zur symptomatischen Behandlung von akuten und chronischen Angst-,
Erregungs- und Spannungszuständen. Wegen der kurz- bis mittellangen Wirksamkeit ist
eine Tagesdosis von 3-mal 0,5 mg üblich, bei schwerer Panikstörung von 3-mal 1 mg
(USA: bis zu 10 mg/Tag). In Deutschland darf eine Tagesdosis über 4 mg nur von Psy-
chiatern verschrieben werden. Die Halbwertszeit beträgt 10-15 Stunden. Ein zu 50%
aktiver Metabolit hat eine Halbwertszeit von 11-15 Stunden. Der maximale Plasmaspie-
gel wird nach 1-2 Stunden erreicht (Retard-Form: 5-11 Stunden). In den USA und in
Deutschland wurde Alprazolam als einziges Benzodiazepin mit der Indikation für Pa-
nikstörungen zugelassen. In Deutschland wurde die Zulassung von Alprazolam für
Panikstörungen und deren längerfristige Verschreibung folgendermaßen formuliert [12]:

z „Panikstörungen mit und ohne Agoraphobie, sofern therapeutische Alternativen nicht erfolgreich
waren oder nicht geeignet sind.“
z „Die längerfristige Behandlung und die Verordnung höherer Dosierungen (über 4 mg täglich hin-
aus) darf nur durch einen Psychiater erfolgen.“

Die Wirkungsweise von Alprazolam lässt sich folgendermaßen erklären [13]:

„Unter der Dosierung von 2-6 mg, und in wenigen Fällen auch bis 10 mg bessert sich die Paniksym-
ptomatik häufig innerhalb von wenigen Tagen. Als therapeutischer Wirkmechanismus wird dabei die
Bildung des GABA-Benzodiazepin-Rezeptorkomplexes mit einer Verstärkung der inhibitorischen
Neurotransmission angenommen. Dadurch wird jedoch die körpereigene Produktion der GABA gedros-
selt. Die Kenntnis dieses psychophysiologischen Vorganges ist deswegen von Wichtigkeit, da das
Absetzen des Benzodiazepins nur in langsamen Schritten (über mehrere Wochen) erfolgen sollte, da
ansonsten schwerwiegende Absetzerscheinungen auftreten, die meistens zu einer Fortsetzung der Ben-
zodiazepinmedikation führen. Neben Alprazolam liegen auch Untersuchungen über andere Benzodia-
zepine wie Diazepam, Oxazepam bzw. Lorazepam vor, die jeweils eine günstige Wirkung bei Angststö-
rungen erkennen lassen. Da Alprazolam jedoch keine sedierende bzw. muskelrelaxierende Wirkung hat,
ist es den anderen Medikamenten wegen der geringeren Nebenwirkungen und daraus folgenden besse-
ren Compliance vorzuziehen.“

Deutsche Experten [14] beschreiben die Vor- und Nachteile von Alprazolam:

„Mit den Benzodiazepinen Alprazolam, Clonazepam und Lorazepam ist eine Therapie der Panikattak-
ken möglich. Für Alprazolam ist in groß angelegten Studien der Wirksamkeitsnachweis bei Panikattak-
ken erbracht worden ... Alprazolam soll auch das Vermeidungsverhalten reduzieren ... Der Wirkungs-
eintritt ist schneller und die Compliance aufgrund des geringer ausgeprägten Nebenwirkungsprofiles
besser als bei einem trizyklischen Antidepressivum, z.B. Imipramin ... Es sind allerdings recht hohe
Dosen notwendig, um einen antipanischen Effekt zu erzielen, z.B. für Alprazolam durchschnittlich 6
mg ... Kurze Halbwertszeiten von Alprazolam können zur Zunahme der Angst zwischen den Einnah-
mezeiten führen und damit zu einer unkontrollierten Dosissteigerung. Dies wurde für Clonazepam mit
seiner langen Halbwertszeit nicht berichtet. Mehrere Faktoren sind als Risiken der oft langjährigen
Einnahme durch die Patienten und die Verschreibungspraxis des Arztes anzusehen: auf der einen Seite
die akute Wirksamkeit und gute Verträglichkeit ..., auf der anderen Seite aber auch Benzodiazepin-
rebound- und Entzugsphänomene und Rückfälle nach Absetzen ... Wegen der damit bestehenden dop-
pelten Problematik bei Beendigung einer Benzodiazepinbehandlung ist es in vielen Fällen nicht mög-
lich, die Benzodiazepine über einen Zeitraum von 4 Wochen abzusetzen ... Oft ist nach langfristiger
Gabe ein langsames, schrittweises Absetzen über mehrere Monate notwendig ... Das Absetzen von
Benzodiazepinen kann durch zusätzliche Gabe von Carbamazepin erleichtert werden ...“
632 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Zur Einnahme von Alprazolam ist zusammenfassend festzustellen [15]:


1. Alprazolam wirkt in der Akutsituation rasch und verlässlich. Die meisten Studien
beschränken sich jedoch auf einen kurzen Beobachtungszeitraum (mehrere Wochen
oder Monate) und vernachlässigen die Langzeiteffekte (Abhängigkeit).
2. Alprazolam verstärkt zwar die hemmende Wirkung des natürlichen Neurotransmit-
ters GABA, führt aber nach 2-3 Monaten dazu, dass die Produktion der körpereige-
nen hemmenden Substanz reduziert wird, wodurch eine Abhängigkeit entsteht.
3. Aufgrund seines Wirkungsprofils (rasche Aufnahme im Körper, relativ kurze Wirk-
samkeit, stärkere Wirksamkeit der Einzelsubstanz als bei anderen Benzodiazepinen,
auf Milligrammebene 10-mal wirksamer im Vergleich zu Diazepam – alles an sich
wünschenswerte Effekte bei kurzfristigem Einsatz) führt Alprazolam schneller zur
Abhängigkeit als andere Tranquilizer, insbesondere bei hoher Dosis, wie diese bei
Panikattacken in den USA empfohlen wird. Nach einer Studie bevorzugen Benzo-
diazepinabhängige Alprazolam gegenüber Diazepam bei einer Äquivalenzrelation
von 1:10, nicht jedoch bei einer weniger effektiven Relation von 1:14. Die fortge-
setzte Einnahme einer niedrigeren Dosis macht ebenfalls bald abhängig, weil es
sich bei Alprazolam um einen hoch potenten Tranquilizer handelt. Es gehört zu den
typischen Folgen von Panikattacken, dass die Betroffenen nach einem Dauermedi-
kament zur Bewältigung ihrer chronischen Erwartungsängste suchen. Aufgrund der
Wirksamkeit zu Beginn der Einnahme wird von diesem Medikament ein Daueref-
fekt erwartet, was sich bald als Irrtum herausstellt.
4. Alprazolam hat keine antidepressive Wirkung, wie früher oft behauptet wurde.
5. Die ursprüngliche Vorstellung, dass Alprazolam eine besondere antipanische Wirk-
samkeit aufweist, musste in Vergleichsstudien relativiert werden, wo die Tranquili-
zer Diazepam (Valium®, Gewacalm®, Psychopax®), Clonazepam (Rivotril®) und
Lorazepam (Tavor®, Temesta®) eine ähnliche Wirkung aufwiesen. Die übliche Ver-
ordnungsdosis von Alprazolam in niedriger Dosis (0,5 mg 3-mal täglich) ist kein
generell wirksameres Panikmittel als andere Tranquilizer.
6. Alprazolam wurde in den USA nur in sehr hohen Dosen als wirksamster Tranquili-
zer bei Panikattacken nachgewiesen. In vielen Fällen erforderte die vollständige
Kontrolle von Panikanfällen nicht eine Tagesdosis von 1-2 mg, wie diese in Europa
verordnet wird, sondern von 6 mg bzw. sogar von 10 mg pro Tag. Die meisten ame-
rikanischen Studien beruhen auf einer Alprazolamdosis von durchschnittlich 4-6
mg. Der Preis von derart hohen Dosen, wie sie von amerikanischen Ärzten beden-
kenloser verordnet werden als von europäischen, besteht in einer raschen Abhän-
gigkeitsgefahr bei längerer Einnahme. Alprazolam hat eine relativ kurze Halbwerts-
zeit und kann daher nach einem mehrstündigen Intervall vor der nächsten Einnahme
„Durchbruchs“-Angstsymptome bewirken. Deshalb muss die Tagesdosis auf 3-4
Einnahmezeitpunkte verteilt werden. Die gut gemeinte Einnahme von Alprazolam
nur bei Bedarf, dafür dann aber in höherer Dosis, rächt sich bald mit Symptomen
als Folge der relativ kurzen Wirkungsdauer. Manchmal ist daher die Umstellung auf
das länger wirksame Clonazepam (Rivotril®) vorteilhaft.
7. Eine US-Studie fand nach anfänglicher Besserung der Panikzustände und dem spä-
teren Absetzen von Alprazolam innerhalb eines Zeitraums von 8-12 Monaten eine
Rückfallsrate von ca. 80%. Eine andere US-Studie fand bei 55% ein Wiederauftre-
ten der Panikzustände nach Absetzen des Medikaments, nur 14% konnten das Me-
dikament überhaupt absetzen und symptomfrei bleiben. Nach längerer Alprazolam-
einnahme bestehen somit beträchtliche Absetzschwierigkeiten.
Anxiolytika (Tranquilizer) 633

8. Die bislang größte internationale Studie an 1168 Panikpatienten aus 11 Ländern


verglich die Wirksamkeit von Alprazolam, Imipramin und Placebo und kam zum
Ergebnis, dass Imipramin nach 4 Wochen Alprazolam noch unterlegen war, nach 8
Wochen jedoch gleich wirksam war. Andere Untersuchungen bestätigen den Be-
fund gleicher Wirksamkeit von Imipramin und Alprazolam am Studienende, sogar
auch bei Patienten mit generalisierter Angststörung. Warum sollten Angstpatienten
dann bei längerer Medikamenteneinnahme einen abhängig machenden Tranquilizer
einnehmen? Durch selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (z.B. Paroxetin,
Sertralin, Escitalopram) werden Nebenwirkungen wie bei Imipramin vermindert.
9. Bei einer Nachuntersuchung der erwähnten internationalen Studie an einer Teil-
gruppe von 423 Panikpatienten, die in der Behandlungsphase von mehreren Wo-
chen Alprazolam bzw. Imipramin erhalten hatten, nahmen 3-6 Jahre später 55%
weiterhin Psychopharmaka, und zwar 23,4% Benzodiazepine, 11,7% Antidepressi-
va, 9% beide Substanzgruppen und 11,2% andere Medikamente. Nur 18,2% der
Gesamtgruppe waren nach der kurzen Behandlungsphase durchgehend völlig sym-
ptomfrei geblieben, weitere 12,7% wurden im Rahmen der Beobachtungszeit ge-
sund. Von der nicht ausreichend genesenen Restgruppe (über zwei Drittel) waren
23,6% nur phasenweise symptomfrei, 26,8% wiesen anhaltende subklinische Sym-
ptome auf, 18% litten an einer dauerhaft schweren Panikstörung.
10. Die klinische Erfahrung zeigt, dass Panikpatienten mit einer Alprazolam-Langzeit-
einnahme von 8-12 Monaten eine höhere Dosis langsam reduzieren können. Das
letzte Milligramm Alprazolam bzw. Lorazepam ist jedoch schwer absetzbar. Oft
kommt es schon nach geringer Dosisreduktion zur heftigen Wiederkehr der Panik-
attacken. Manchmal handelt es sich dabei nicht um eine Entzugssymptomatik, son-
dern um ein Rebound-Phänomen, das nach 1-2 Wochen abnimmt.

Vor der Einnahme von Alprazolam sollten Sie folgende Hinweise beachten:
z Nehmen Sie aus Erwartungsangst vor einer Panikattacke möglichst keine oder nur
wenig Medikamente! Panikattacken beruhen auf einem Adrenalinstoß, der oft durch
harmlose körperliche Reaktionen und deren Bewertung als gefährlich ausgelöst
wird. Wenn Sie schon Alprazolam einnehmen, suchen Sie alle Situationen auf, die
Sie bisher gemieden haben. Wenn Sie Ihr Vermeidungsverhalten dennoch beibehal-
ten, zeigen Sie offensichtlich wenig Vertrauen in die Wirksamkeit des Mittels.
z Die erlebte Benzodiazepinwirkung sofort nach der Einnahme ist als Placeboeffekt zu
erklären. Die Wirkung setzt erst nach ca. 20 Minuten, die volle Wirksamkeit erst
nach 30-60 Minuten ein. Der Glaube an die Wirksamkeit ist bereits Angst lindernd.
Die Placebowirkung von Tranquilizern zeigt sich auch in dem Umstand, dass viele
Angst- und Panikpatienten das Mittel überall mitführen, ohne es einzunehmen.
z Wenn Sie in einer chronischen Stresssituation ständig an der Grenze zur Überforde-
rung leben, nehmen Sie eine Änderung Ihrer Lebensumstände vor! Wenn dies nicht
möglich ist, nehmen Sie regelmäßig ein anderes Medikament zur längerfristigen
Stabilisierung ein, das nicht abhängig macht und wenige Nebenwirkungen aufweist,
wie dies bei einem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer der Fall ist. Bei
einer in absehbarer Zeit unveränderlichen Belastungssituation, die immer wieder zu
Panikattacken führt und auch durch eine Psychotherapie nicht kurzfristig änderbar
ist, wird ein Medikament „bei Bedarf“ in der Art des Alprazolam Ihre Leistungsfä-
higkeit und Ihre psychische Befindlichkeit auf Dauer mehr beeinträchtigen als ein
regelmäßig eingenommener Serotonin-Wiederaufnahmehemmer.
634 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

z Wenn Sie schon einen hoch potenten Tranquilizer wie Alprazolam bei Bedarf neh-
men, nehmen Sie nicht plötzlich zwei oder gar drei Tabletten, weil Sie dann nach ei-
nigen Stunden die nachlassende Wirkung erst recht in Form von unangenehmen
Symptomen erleben und den Griff zur nächsten Tablette tun könnten.
z Wenn Sie Ihren Arzt um ein rasch wirksames Mittel gegen Ihre Panikattacken bzw.
gegen Ihre Ängste davor ersuchen, wird er Ihnen einen Tranquilizer in der Art von
Alprazolam verschreiben. Können Sie sich vorstellen, dass Ihnen ein aufklärendes
Gespräch Ihres Arztes bzw. allein die Empfehlung einer Psychotherapie hilft, ohne
dass Sie von Ihrem Arzt gleichzeitig die Verschreibung eines rasch wirksamen Me-
dikaments erwarten? Ärzte erfüllen oft nur die Rollenerwartungen ihrer Patienten.

Störungen durch Substanzkonsum


Das ICD-10 [16] unterscheidet folgende Störungen durch Substanzkonsum:
z Akute Intoxikation (Substanzintoxikation): vorübergehendes Zustandsbild nach Auf-
nahme von Alkohol oder anderen psychotropen Substanzen mit Störungen des Be-
wusstseins, kognitiver Funktionen, der Wahrnehmung, des Affektes, des Verhaltens
oder anderer psychophysiologischer Funktionen und Reaktionen.
z Schädlicher Gebrauch (Substanzmissbrauch): ein Konsummuster psychotroper Sub-
stanzen mit der Folge einer Gesundheitsschädigung, entweder in Form einer organi-
schen Störung (Hepatitis) oder einer psychischen Störung (depressive Episode).
z Entzugssyndrom (Substanzentzug): Symptomkomplex von unterschiedlicher Zu-
sammensetzung und wechselndem Schweregrad, bei absolutem oder relativem Ent-
zug einer Substanz, die wiederholt und zumindest über einen längeren Zeitraum oder
in hoher Dosierung konsumiert wurde. Beginn und Verlauf des Entzugssyndroms
sind zeitlich begrenzt und abhängig von der Substanzart und der Dosis, die unmittel-
bar vor dem Absetzen verwendet worden ist.
z Abhängigkeitssyndrom (Substanzabhängigkeit). Gleichzeitiges Vorhandensein von
mindestens drei der folgenden ICD-10-Kriterien während des letzten Jahres [17]:
1. Übermächtiger Wunsch, Substanzen oder Alkohol zu konsumieren.
2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Konsums.
3. Substanzgebrauch zur Milderung von Entzugssymptomen.
4. Körperliches Entzugssyndrom.
5. Toleranzentwicklung (Dosissteigerung, um die gleiche Wirkung zu erreichen).
6. Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Substanzkonsums.
7. Anhaltender Substanz- oder Alkoholkonsum trotz Nachweises schädlicher Fol-
gen (körperlich, psychisch, sozial).

Man unterscheidet zwei Arten von Abhängigkeit:


z Psychische Abhängigkeit: kaum widerstehliches Verlangen, den bekannten Effekt
des Suchtstoffs erneut zu erfahren und den Konsum fortzusetzen. Die psychische
Abhängigkeit ist die Triebfeder jeder süchtigen Entwicklung. Bei bestimmten psy-
chotropen Substanzen (z.B. Kokain, Cannabis) entwickelt sich nur eine psychische
Abhängigkeit, die aber deswegen nicht weniger belastend ist.
z Physische Abhängigkeit: Auftreten von körperlichen Entzugserscheinungen bei
plötzlichem Absetzen. Der Begriff der „Abhängigkeit“ wird heute allgemein anstelle
von „Sucht“ verwendet. „Substanz“ bezeichnet das Mittel der Abhängigkeit.
Anxiolytika (Tranquilizer) 635

Negative Effekte von Benzodiazepinen


Die Einnahme von Benzodiazepinen kann folgende negative Auswirkungen haben:
z Hang-over-Effekt. Nachwirkungen der Einnahme: ein Benzodiazepinschlafmittel
kann z.B. Müdigkeit und Unkonzentriertheit am nächsten Morgen bewirken.
z Kurz- und langfristige Nebenwirkungen bei regelmäßiger Einnahme.
z Überdosierungserscheinungen bzw. Vergiftungserscheinungen. Überhöhte Dosis.
z Paradoxer Effekt. Gegenteilige Wirkung: Erregung, Aggressivität, Schlaflosigkeit.
z Rebound-Phänomen. Beim Absetzen des Benzodiazepins zeigt sich eine gegen-
regulatorisch wirkende Anpassungsreaktion, die zu einem verstärkten Wiederauftre-
ten der ursprünglichen Symptomatik vor Medikamenteneinnahme führt. Dies ist kei-
ne Entzugssymptomatik!
z Entzugssymptome. Auftreten von Symptomen, die vor der Medikamenteneinnahme
noch nicht vorhanden waren, d.h. Folgezustände des Absetzens des Benzodiazepins.

Nebenwirkungen von Benzodiazepinen


Ohne Überdosierung oder Abhängigkeit sind die Nebenwirkungen bei Tranquilizern
vergleichsweise gering. Bei älteren Menschen treten Nebenwirkungen etwa viermal
häufiger auf als bei jüngeren. Folgende Nebenwirkungen sind möglich [18]:

Psychisch/psychosozial:
z Sedierung: Müdigkeit, Schläfrigkeit, Benommenheit,
z reduzierte Bewusstseinshelligkeit,
z Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung, was sich gerade in Leistungssituatio-
nen (z.B. bei Prüfungen) ungünstig auswirken kann,
z paradoxe Reaktionen: Unruhe, akute Erregungszustände, Wutanfälle,
z Gedächtnisstörungen: bereits geringe Mengen (z.B. 5 mg Diazepam) beeinträchtigen
das Kurzzeitgedächtnis, bei hohen Mengen kommt es zu einer anterograden Amne-
sie (Vergesslichkeit für Informationen nach der Benzodiazepineinnahme; wegen der
Gefahr von Gedächtnislücken wurde das Benzodiazepinschlafmittel Halcion® in ei-
nigen Ländern bereits eingezogen),
z „Maskierungseffekt“, Realitätsflucht (Verdecken der Probleme),
z geistig-seelische „Bindung“, psychische Abhängigkeit,
z affektive (depressive) Verstimmungen.

Körperlich:
z Blutdruckabfall (insbesondere bei schneller intravenöser Verabreichung, was bei
Panikpatienten mit ohnehin recht niedrigem Blutdruck erneute Panikattacken begün-
stigen und bei Menschen mit Herz-Kreislauf-Problemen zu gefährlichen Komplika-
tionen führen kann),
z Atembeschwerden (aus einer zentralnervös bedingten Abflachung der Atemzüge
kann insbesondere bei zu schneller intravenöser Verabreichung leicht eine Atem-
depression, d.h. ein Atemstillstand, entstehen, vor allem bei Patienten mit Lungen-
krankheiten),
z Schwindel,
z Mundtrockenheit,
636 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

z Magen-Darm-Beschwerden,
z Appetitstörungen, Appetitzunahme,
z Muskelschwäche (Ataxie), z.B. „weiche Knie“ und allgemeine Kraftminderung,
z Koordinationsstörungen: Beeinträchtigung der visuomotorischen Koordination,
z psychomotorische Verlangsamung: verlängerte Reaktionszeit im Straßenverkehr
(Fahruntüchtigkeit) und Gefährdung bei der Arbeit mit Maschinen,
z Artikulationsstörungen (verwaschene Sprache),
z Sexualstörungen und Minderung des sexuellen Verlangens (nur bei sexuell Ge-
hemmten führen geringe Dosen zur Minderung der Sexualängste und damit zu be-
friedigender Sexualität),
z Menstruationsstörungen.

Auswirkungen von Benzodiazepin-Langzeitgebrauch


Bei Langzeiteinnahme (regelmäßig über mehr als 4 Monate) muss mit folgenden Zu-
ständen und Beschwerden gerechnet werden [19]:

Psychisch/psychosozial:
z Persönlichkeitswandel: Gleichgültigkeit, Antriebsverlust, dysphorische Verstim-
mung,
z gleichgültige bis euphorische Grundstimmung (inhaltloses Glücksgefühl),
z fehlende Belastungs- und Konfliktfähigkeit,
z fehlende Vorausplanung („in den Tag hinein leben“),
z Dauersedierung: Benommenheit, Müdigkeit und Schläfrigkeit, sodass Unmengen
von Kaffee, Coca-Cola, Red Bull und Aufputschmittel zur Aufmunterung eingesetzt
werden,
z Einschränkung der Aufmerksamkeit, Konzentrationsstörung,
z allgemeine seelisch-körperliche (psychomotorische) Verlangsamung,
z Reaktionszeitverlangsamung mit potenziell gefährlichen Folgen im Verkehr, Beruf
und Haushalt,
z Vergesslichkeit (Erinnerungslücken): Gedächtniseinbußen hinsichtlich der Aufnah-
me neuer Informationen in den Langzeitspeicher, nicht dagegen hinsichtlich der Er-
innerungsfähigkeit an früher (vor dem Missbrauch) gelernter Inhalte,
z hirnorganisches Psychosyndrom bzw. substanzbedingte Demenz bei älteren Perso-
nen, deren Stoffwechsel lang wirkende Benzodiazepine und ihre aktiven Zwischen-
produkte nur sehr langsam abbauen kann (bei unerklärlichem Demenzverdacht kann
das langsame Absetzen der Tranquilizerschlafmittel einen Medikamenteneffekt auf-
zeigen und anschließend eine Besserung der „Demenz“ bewirken),
z mangelnde Belastbarkeit mit Leistungsabfall, nicht zuletzt bei plötzlichem Aufga-
benzuwachs oder krankheits- bzw. urlaubsbedingten Versetzungen, bei denen die
bisherige Routine nicht mehr kompensatorisch wirken kann,
z dysphorisch-depressive Verstimmung, wechselnde Verstimmungszustände,
z gemütsmäßiger Kontrollverlust mit Reizbarkeit und eventuell aggressiven Durch-
brüchen, manchmal regelrecht feindseliges Verhalten,
z innere Unruhe, Nervosität, Fahrigkeit, unerklärliche und unbestimmte Angstzustän-
de: Tranquilizer verstärken langfristig die ursprünglich vorhandene Angst (nach spä-
testens 4 Monaten bleiben Angst dämpfende Effekte überhaupt aus),
Anxiolytika (Tranquilizer) 637

z zunehmende Furchtbereitschaft (vor Situationen, Personen, Dingen),


z Flucht vor der Realität (Vermeidungsverhalten),
z gelegentlich Orientierungsstörung (örtlich, zeitlich, zur eigenen Person, im Extrem-
fall Verwirrtheitszustände),
z unerklärliche Bewusstseinstrübungen, delirähnliche Zustände, wahnhafte Reaktio-
nen mit Trugwahrnehmung.

Körperlich:
z wenig erholsamer Schlaf,
z EEG-Veränderungen (Zunahme der langsamen Beta-Wellen, Abnahme der Alpha-
Wellen),
z Schlafstörungen mit Albträumen (insbesondere bei Absetzversuchen),
z Appetit- und Gewichtszunahme bzw. Appetitlosigkeit,
z Juckreiz,
z Störungen der Monatsblutung,
z Libidostörung: Nachlassen von sexuellem Verlangen und Potenz,
z Kopfschmerzen,
z Herzrasen, unklare Herzschmerzen,
z Zittern,
z Gefühlsstörungen,
z Schwindel,
z Bewegungsunsicherheit bis zur Kollapsgefahr (durch die Muskelerschlaffung, was
besonders im höheren Lebensalter ein Problem ist),
z uncharakteristische Sehstörungen (Unscharfsehen bis flüchtige Doppelbilder),
z Gefahr der Abhängigkeit (Suchtgefahr),
z paradoxe Reaktionen (Unruhe, Gespanntheit, Überdrehtheit, Erregung, Reizbarkeit,
Aggression, Angst, Panik, Ein- und Durchschlafstörungen, Umkehr des Wach-
Schlaf-Rhythmus), besonders im Alter,
z besondere Nebenwirkungen im höheren Lebensalter: allgemeine Verminderung der
Bewusstseinslage, apathisch, verlangsamt, schläfrig, Verwirrtheitszustände, Delir-
Gefahr, Schwindel, Kollapszustände (besonders bei ohnehin niedrigem Blutdruck
und häufigem Liegen), Gehstörungen, erhöhte Unfallgefahr wegen Muskelerschlaf-
fung (Oberschenkelhalsfraktur, Schädelprellung), paradoxe Reaktionen.

Tranquilizer verkürzen die Einschlafzeit, verlängern die Gesamtschlafdauer, vermindern


das nächtliche Wachliegen, vermehren den Anteil des leichteren Schlafs (Stadium 2),
vermindern jedoch sehr stark den Tiefschlaf (Stadium 3 und 4). Sie reduzieren nicht nur
den Tiefschlafanteil (Deltaschlafanteil), sondern in hoher Dosis auch den Anteil des
REM-Schlafs, d.h. sie unterdrücken die Traumphasen. Tiefschlaf und REM-Schlaf stel-
len die erholsamsten Schlafphasen dar, sodass man sich morgens oft trotz schlafansto-
ßender Wirkung der Benzodiazepine nicht erholt, sondern wie gerädert fühlt. Nach dem
Absetzen erfolgt vor allem bei Benzodiazepinen mit kurzer Halbwertszeit eine Re-
bound-Schlafstörung mit der Gefahr einer weiteren Einnahme und einer Niedrigdosis-
abhängigkeit. Die negativen Auswirkungen der Benzodiazepinschlafmittel (Hypnotika)
auf das Schlafverhalten werden in der Bevölkerung noch immer zu wenig beachtet.
Viele Angstpatienten geraten gerade wegen einer Schlafstörung als Folge der ständigen
Anspannung in eine Schlafmittelabhängigkeit. Benzodiazepinschlafmittel sollten nicht
länger als vier Wochen regelmäßig eingenommen werden.
638 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Angstpatienten mit Schlafstörung, die Benzodiazepine gewohnheitsmäßig als Ein-


schlafhilfe verwenden, stellen in der klinischen Praxis eine der schwierigsten Patienten-
gruppen dar. Einschlafstörungen sind Abschaltstörungen, die die psychische und kör-
perliche Regeneration beeinträchtigen.
Viele Angstpatienten hätten ohne Schlafstörung wesentlich mehr Kraft, die vielfälti-
gen Ängste am Tag durch eigenständige Konfrontation zu überwinden. Eine Entzugsbe-
handlung und eine Beseitigung der Schlafstörung sind vorrangige Behandlungsziele.

Überdosierungseffekte und schleichende Vergiftung


bei Langzeiteinnahme
Überdosierungen sind auch bei gleich bleibend niedriger Dosierung möglich, weil viele
Benzodiazepine nur langsam ausgeschieden werden. Im Extremfall können Vergif-
tungserscheinungen auftreten.
Bei einer Überdosierung sind folgende Symptome typisch [20]:
z Schläfrigkeit und allgemeine Apathie,
z seelische und körperliche Verlangsamung,
z Gedächtnisstörung (anterograde Amnesie): „Zerstreutheit“,
z Muskelschwäche/-erschlaffung (Ataxie): matt, unsicher,
z Gangunsicherheit,
z ernstere Schwindelzustände,
z verstärkte Übelkeit,
z wachsende Kopfschmerzen,
z verwaschene („schleifende“) Aussprache (Dysarthrie),
z Augenmuskelstörungen (Doppelbilder),
z scheinbar erfreuliche Gelassenheit, die eine Gleichgültigkeit (Wurstigkeit) darstellt
(oft nicht erkannt von den Betroffenen, wohl aber von den Angehörigen),
z zunehmendes Desinteresse an Hobbys, Aufgaben, Umwelt, Familie, Beruf,
z „Einebnung“ der Persönlichkeit (Persönlichkeitsveränderungen/-verlust),
z missgestimmt-depressive Dauerzustände,
z Appetitlosigkeit.

Benzodiazepinabhängigkeit
Im Wirkprofil der Benzodiazepine zeigen die einzelnen Wirkkomponenten eine unter-
schiedlich schnelle Toleranzentwicklung. Während die dämpfende Komponente schon
nach wenigen Tagen spürbar abnehmen kann, die muskelentspannende und krampflö-
sende Wirkung nach Wochen bis wenigen Monaten deutlich nachlässt, ist die Angst
lösende Komponente meist noch nach Monaten nachweisbar. Doch auch sie führt all-
mählich zu einer Toleranzentwicklung, sodass eine Dosissteigerung nötig ist.
Während verschiedene Angstpatienten auch von einer Langzeittherapie mit Benzo-
diazepinen profitieren, sprechen einige Studien dafür, dass Therapieeffekte nicht über
ein halbes Jahr gegeben sind. Nach spätestens 4 Monaten bleiben die Angst lösenden
Effekte aus, es treten dann oft gegenteilige bzw. unerwünschte Effekte auf. Nach späte-
stens viermonatiger Einnahme führt ein plötzliches Absetzen zu Entzugssymptomen.
Anxiolytika (Tranquilizer) 639

Angesichts der Toleranzentwicklung ist es sinnlos, verschiedene Benzodiazepinprä-


parate zu kombinieren oder auf ein „stärker wirksames“ Benzodiazepin umzusteigen.
Klinisch bedeutsam ist auch, dass die auffälligen EEG-Veränderungen bei Langzeit-
einnahme kaum oder gar nicht abnehmen, sondern dass sie bei einer Dosissteigerung
noch ausgeprägter werden.
Benzodiazepine machen abhängig [21]:
z nach 3- bis 6-monatiger Einnahme bei 60%, nach einjähriger Einnahme bei 80-90%
(bereits nach 4-6 Wochen können Entzugssymptome auftreten),
z in jeder Anwendungsform (Tabletten, Bruchrillentabletten, Dragees, Zäpfchen,
Tropfen, Injektionsflüssigkeit für intramuskuläre oder intravenöse Gabe),
z bei länger eingenommener höherer Dosis,
z selbst in gering erscheinender Dosierung (Niedrigdosisabhängigkeit),
z auch in gleich bleibender (niedriger) Dosierung ohne Dosiserhöhung,
z auch in Kombinationspräparaten als Beimischung zu Antidepressiva, Schmerzmit-
teln, herzstützenden und krampflösenden Mitteln u.a.

Die körperliche Abhängigkeit (Toleranzentwicklung) entsteht durch die Induktion ab-


bauender Enzyme in der Leber und durch die Anpassung der Gehirnzellen an die Sub-
stanz. Die Toleranzentwicklung beruht auf der Anpassung der Rezeptoren im Sinne
einer Gegensteuerung sowohl hinsichtlich der Bindungsaktivität als auch hinsichtlich
der Funktion der Benzodiazepin-GABAA-Rezeptoren [22].
Beim Benzodiazepinentzug macht sich die Abwesenheit der Substanz an den Benzo-
diazepinbindungsstellen ebenso bemerkbar wie die infolge des chronischen Substanzge-
brauchs erhöhte Anzahl der Rezeptoren (regelmäßige Benzodiazepineinnahme erhöht
die Zahl der Benzodiazepinrezeptoren).
Das Abhängigkeitsrisiko steigt durch folgende Faktoren:
1. Einnahme höherer Dosen. Am höchsten ist das Abhängigkeitsrisiko bei Einnahme
höherer Dosen von relativ kurz wirksamen Benzodiazepinen, insbesondere von Al-
prazolam (D: Tafil®, Ö: Xanor®), Lorazepam (D: Tavor®, Ö: Temesta®) oder Bromaze-
pam (Lexotanil®), wie dies bei Panikpatienten oft der Fall ist. Bei lang wirksamen
Substanzen wie Diazepam (Valium®) oder Clonazepam (Rivotril®) dauert es länger
bis zur Abhängigkeit. Entzugssymptome treten bei Benzodiazepinen mit kurzer
Halbwertszeit abrupter auf und verlaufen häufig auch schwerer als bei länger wirk-
samen Benzodiazepinen.
2. Rasche Anflutungsgeschwindigkeit an die Rezeptoren im Gehirn. Je schneller die
Wirkung einsetzt, desto größer ist das Abhängigkeitspotential. Die kürzer wirksa-
men Benzodiazepine Alprazolam und Lorazepam zählen zu den Substanzen mit der
kürzesten Anflutungsgeschwindigkeit.
3. Einnahme über einen längeren Zeitraum. Spätestens nach 3-4-monatiger Einnahme
muss mit Entzugssymptomen gerechnet werden. Leichtere Entzugssyndrome und
Rebound-Symptome können auch schon nach wesentlich kürzerer Zeit auftreten.

Zur Verringerung der Abhängigkeitsgefahr sollten Benzodiazepine bei regelmäßiger


Verordnung nur über einen möglichst kurzen Zeitraum (4-6 Wochen) eingenommen
werden, und zwar in möglichst geringer Dosis. Bei Substanzen mit kürzerer Halbwerts-
zeit sind 2-4 geringe Dosierungen pro Tag zu wählen. Wenn schon, dann sollte stets nur
ein Benzodiazepin eingenommen werden. Anderenfalls treten nur verstärkte Nebenwir-
kungen ohne bessere Wirksamkeit auf.
640 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Früher galt die Toleranzentwicklung (Gewöhnung: Dosissteigerung zur Erreichung


der gleichen Wirkung) als unbedingtes Definitionsmerkmal für eine Substanzabhängig-
keit. Mittlerweile wird auch das Phänomen der Niedrigdosisabhängigkeit stärker beach-
tet. Tranquilizer und Schlafmittel können auch abhängig machen, ohne dass die Dosis
stetig erhöht werden muss. Die Betroffenen bleiben bei einer relativ niedrigen Dosie-
rung, ohne dass sie selbst oder die Umwelt die eingetretene Abhängigkeit erkennen.
Die größte Gruppe mit einer derartigen Abhängigkeit sind Menschen über 50 Jahre,
insbesondere Frauen, die ein Benzodiazepin zum Einschlafen verwenden. Die eingetre-
tene Abhängigkeit ist durch einen Absetzversuch leicht zu überprüfen. Der ein- bis
zweiwöchige Verzicht auf das Beruhigungsmittel führt innerhalb von 1-2 Tagen bzw.
erst nach 3-6 Tagen (je nach Substanz) zu Entzugserscheinungen.
Eine US-Studie [23] unterscheidet vier Typen von Benzodiazepinabhängigen:
1. Körperlich Kranke, die Benzodiazepine im Rahmen der Therapie nehmen. Sie erhal-
ten Benzodiazepine von Nicht-Psychiatern (z.B. Internisten) und steigern die Dosis
nicht.
2. Angstkranke mit Agoraphobie und/oder Panikstörung. Sie erhalten Benzodiazepine
von einem Psychiater oder Allgemeinarzt und steigern die Dosis nur selten.
3. Patienten mit wiederholten Dysthymien (Verstimmungszuständen). Sie erhalten
Benzodiazepine von vielen Ärzten und steigern die Dosis oft, auch in Kombination
mit Alkohol, was zur Wirkungspotenzierung führt.
4. Patienten mit chronischen Schlafstörungen. Trotz der Problematik der Langzeitbe-
handlung mit Hypnotika bestehen die Betroffenen oft auf der fortgesetzten Ver-
schreibung. Die Schlafmittelabhängigkeit entwickelt sich oft aus einer Rebound-
Insomnie, d.h. aus dem Umstand, dass bei Absetzen des Mittels eine Schlafstörung
auftritt, die durch die weitere Einnahme beseitigt wird.

Bei der Mehrzahl der Benzodiazepinabhängigen wurden bereits vor der Abhängigkeits-
entwicklung bestimmte Krankheiten vorhanden [24]:
z Angsterkrankungen aller Art,
z affektive Psychosen (Zyklothymien, monopolare Depressionen),
z depressive Reaktionen,
z chronische Schlafstörungen, insbesondere Einschlafstörungen,
z chronische Schmerzzustände.

Die psychische Abhängigkeit einer Substanz entsteht durch ihre verhaltensverstärkende


Wirkung auf das Belohnungssystem im Gehirn. Es handelt sich dabei um das in den
letzten Jahren erforschte mesolimbische Suchtsystem im Zentralnervensystem, das aus
folgenden Gehirnbereichen besteht: Area tegmentalis ventralis, medialer Vorderhirnbü-
gel, Nucleus accumbens und zugehörige Teile der Rinde des Vorderhirns (präfrontaler
Kortex). Das mesolimbische Belohnungssystem hat eine physiologische Funktion bei
der positiven, affektiven Färbung von Belohnungen und kann durch viele Suchtstoffe
aktiviert werden [25]. Suchtmittel aktivieren oder intensivieren je nach Substanz unter-
schiedlich stark (am stärksten Kokain und Amphetamine) im Gehirn vorhandene neuro-
nale Schaltkreise, die Gefühle wie Lust und Belohnung erzeugen. Das mesolimbische
System bewirkt die positiven (Abhängigkeit erzeugenden) Wirkungen von Suchtstoffen,
nicht jedoch die Entzugserscheinungen. Dabei haben die dopaminergen und endorphi-
nergen Neurone eine große Bedeutung, die durch die verschiedenen Suchtstoffe in un-
terschiedlichem Ausmaß aktiviert werden.
Anxiolytika (Tranquilizer) 641

Entzugssymptome im eigentlichen Sinne schließen das Auftreten von neuen Sym-


ptomen ein, die noch keinen integralen Bestandteil des ursprünglichen Beschwerdebil-
des darstellen. Entzugserscheinungen entwickeln sich 1-4 Halbwertszeiten nach dem
plötzlichen Absetzen von Benzodiazepinen, d.h. sie treten innerhalb einiger Tage nach
abruptem Abbruch der Benzodiazepinmedikation auf und sind im Extremfall erst nach
2-3 Monaten restlos beseitigt. Die Entzugssymptome setzen gewöhnlich am 2. oder 3.
Tag nach dem Absetzen ein, erreichen am Ende der ersten Woche ihren Höhepunkt und
sind gewöhnlich nach frühestens 3-4 Wochen beseitigt.
Die Entzugssymptome sind lästig bzw. unangenehm und beeinträchtigen die allge-
meine Stimmung und Leistungsfähigkeit. Das Risiko eines Entzugssyndroms hängt von
der eingenommenen Dosis, der Dauer der Einnahme, vom Typ des Präparats, vor allem
bei relativ kurzer Halbwertszeit, von der Abruptheit des Absetzvorgangs, aber auch von
Persönlichkeitsfaktoren ab. Die Entzugssymptome werden mehr durch die Länge der
Einnahmedauer als durch die Dosishöhe bestimmt.
Die Entzugssymptome können in fünf Gruppen eingeteilt werden: psychische Ent-
zugserscheinungen, Wahrnehmungsstörungen, vegetative Entzugserscheinungen, Ent-
zugspsychosen, Entzugskrampfanfälle. Die häufigsten Entzugssymptome sind Ein-
schlafstörungen, Angst- und Unruhezustände.
Die Absetzprobleme bei Benzodiazepinen kann man nach drei verschiedenen Arten
von Symptomen kategorisieren (Rebound- und Rückfallsymptome sind an die Grund-
krankheit gebunden, bei Entzugssymptomen ist dies nicht der Fall [26]):
z Rebound-Symptome (Rebound-Effekt). Es handelt sich dabei um das akute und ver-
stärkte Wiederauftreten der ursprünglichen Symptome (Angst, Unruhe, Schlaflosigkeit
u.a.) vor Einnahme des Tranquilizers nach 4- bis 6-wöchiger regelmäßiger Einnahme,
d.h. nach dem Absetzen der Benzodiazepine entsteht ein Effekt der GABA-ergen Ge-
genregulation. Rebound-Symptome sind zumeist von vorübergehender Natur. Die
Angstsymptome können dabei kurzfristig eine stärkere Intensität als vor Behandlungs-
beginn annehmen. Rebound-Phänomene dürfen nicht automatisch als Anzeichen einer
bestehenden Abhängigkeit gewertet werden. Die fortgesetzte Benzodiazepineinnahme
zur Vermeidung von Rebound-Effekten führt oft zur Abhängigkeit.
z Rückfallsymptome. Es handelt sich dabei um anhaltende Angstsymptome nach dem
Absetzen der Benzodiazepine.
z Entzugssymptome. Es handelt sich dabei um Symptome, die vor der Einnahme von
Benzodiazepinen nicht vorhanden waren:
- Leichte Entzugssymptome. Vegetative Störungen, die bei etwa 50% der Abhän-
gigen auftreten: vermehrte Angst, verstärkte innere Unruhe, Schlafstörungen, er-
höhte Reizbarkeit und Affektinstabilität, Dysphorie, Herzrasen, Zittern (Tremor),
Schwitzen, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Muskelverspannungen.
- Schwere Entzugssymptome (nach hohen Dosen). Bei ca. 20% der Patienten treten
schwere Absetzsymptome auf: epileptische Anfälle meist vom Grand-mal-Typ,
Delire, Verwirrtheitszustände, Depersonalisation und Derealisation, schwere de-
pressiv-ängstliche Verstimmungen, paranoid-halluzinatorische Psychosen, Über-
empfindlichkeit auf allen Sinneskanälen (z.B. Hyperakusis), Muskelzittern, Kör-
permissempfindungen (Dysästhesien), übermäßiges Schlafen (Hypersomnie).
- Spezifische Entzugssymptome. Sensorische Wahrnehmungsstörungen (Liftgefühl,
Lichtempfindlichkeit, optische Verzerrungen), Depersonalisations- und Dereali-
sationsphänomene (gestörtes Erleben der eigenen Person und der Umwelt), ge-
störter Umweltbezug, sexuelle Fantasien, Fahrigkeit, Zerstreutheit.
642 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Nach einer anderen Einteilung gibt es folgende Entzugserscheinungen [27]:

Psychisch/psychosozial:
z Affektlabilität,
z Passivität oder Lustlosigkeit (Dysphorie),
z Stimmungsschwankungen: Wechsel zwischen inhaltslosem Glücksgefühl und de-
pressiv-weinerlich-ängstlich-zurückgezogen leben,
z depressive Verstimmungen,
z reizbar-aggressive Reaktionsbereitschaft,
z Überempfindlichkeit, leichte Verletzbarkeit,
z Angstanfälle/Panikattacken: „Rückschlag-Angst“ (Rebound-Phänomen), nachdem
die Ängste früher nur chemisch unterdrückt waren,
z phobische Ängste: klassische Phobien, Lärmphobien, Sexualphobien, Krankheits-
phobien (z.B. Angst vor Herzstillstand),
z diffuse Ängste (Ängstlichkeit),
z Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen: hirnorganisches Psychosyndrom,
z abnorme Bewegungswahrnehmung,
z Desorientierung (örtlich, zeitlich, gegenüber sich selbst),
z Fremdheitsgefühl gegenüber sich selbst (Depersonalisation) und der Umwelt (De-
realisation),
z Halluzinationen (Hör-, Seh-, Gefühls-, Geschmacks- und Geruchs-Trugwahr-
nehmung), wobei die Betroffenen wissen, dass die Wahrnehmungsstörungen irreal
sind, weshalb sie oft die Angst haben, verrückt zu werden,
z Verwirrtheit, Delir-Gefahr: wie bei Alkoholikern, wobei aber häufiger Veränderun-
gen der Sinneswahrnehmungen auftreten, der Tremor ist nur feinschlägig,
z psychotische Symptomatik: nur sehr selten psychotische Zustände mit Wahn und
Stupor, noch seltener paranoide Psychosen und Halluzinosen.

Körperlich:
z Schweißausbrüche,
z Muskelanspannung: Zittern (Tremor),
z Muskelschmerzen (Myalgien) oder Muskelzucken,
z Kopfschmerzen bzw. Dröhnen im Kopf,
z Herzrasen, „Herzschlag bis zum Hals“,
z Blutdruckänderungen: im Gegensatz zu Alkoholabhängigen meist Blutdruckabfall,
z Schwindel,
z Übelkeit, Brechreiz oder Erbrechen,
z Appetitmangel bzw. Appetitlosigkeit,
z innere Unruhe,
z allgemeines Schwächegefühl,
z verschwommenes Sehen bzw. Sehstörung (Mikropsie, Makropsie),
z Berührungs- und Schmerzüberempfindlichkeit,
z Licht- oder Gehörüberempfindlichkeit (sensorische Hypersensitivität),
z Geruchsüber- oder -unterempfindlichkeit,
z Schlafstörungen mit belastenden Träumen: „Rückschlag-Schlafstörung“, weil der
Schlaf zuvor nur chemisch erzwungen wurde (Schlafgestörte erleben während der
Entzugsphase größere Schlafstörungen als vor der Benzodiazepineinnahme),
z Gefahr von Krampfanfällen (epileptische Anfälle): EEG-Veränderungen.
Anxiolytika (Tranquilizer) 643

Arzneimittel-Wechselwirkungen
Die Kombination von Benzodiazepinen und zentral dämpfenden Psychopharmaka (Al-
kohol, Hypnotika/Barbiturate, Neuroleptika, Antihistaminika) bewirkt eine verstärkte
Sedierung. Benzodiazepine haben bei anderen Substanzen mit GABA-erger Wirkung
(Alkohol, Antikonvulsiva) eine stärker dämpfende und muskelerschlaffende Wirkung.
Es kommt nicht nur zur Summierung, sondern zur Potenzierung, d.h. zur Vervielfa-
chung der Wirkung. Dies gilt sowohl für den Wirkeffekt als auch für die unerwünschten
Begleiterscheinungen. Bereits geringer Alkoholkonsum kann zu ungeahnten Beeinträch-
tigungen führen, die man bisher anderen Ursachen zuschrieb (Wetter, Stress, Überforde-
rung). Die gleichzeitige Einnahme von Benzodiazepinen und Alkohol kann folgende
Symptome bewirken [28]:
z Müdigkeit, Mattigkeit, Abgeschlagenheit,
z Gedämpftheit,
z Blutdruckabfall mit Schwindel,
z Übelkeit,
z Schwung- und Initiativelosigkeit,
z Merkfähigkeitsstörung,
z Konzentrationsstörung,
z psychomotorische Verlangsamung (Beeinträchtigung im Straßenverkehr),
z Koordinationsstörungen, insbesondere Gehstörungen,
z Stimmungslabilität,
z fehlende Frische am Morgen: kein erholsamer Schlaf durch Veränderung der Schlaf-
stadien infolge von Alkohol- und Benzodiazepineinnahme am Vorabend.

Bei Einnahme von Benzodiazepinschlafmitteln (insbesondere von lang wirkenden Ben-


zodiazepinen) wirkt sich schon relativ geringer abendlicher Alkoholgenuss bis in den
folgenden Tag hinein aus. Alkohol und Benzodiazepinschlafmittel bewirken keinen
natürlichen und erholsamen Schlaf, sondern einen flachen und unruhigen Schlaf und
einen Hang-over-Effekt am nächsten Tag. Tranquilizer verändern die Schlafarchitektur:
leichte Reduzierung der erholsamen Traum-(REM-)Phasen, starke Beeinträchtigung der
Tiefschlafstadien. Es entsteht nach Faust [29] eine schnell einsetzende und (etwas redu-
ziert auch) traumaktive, jedoch unnatürliche und belastende „Miniatur-Narkose“.
Die langzeitige Einnahme von Tranquilizern bzw. Tranquilizerschlafmitteln führt zu
einer starken Dämpfung (besonders auch am Morgen), die nur durch Kaffee, Coca-Cola,
Red Bull, Nikotin, Kokain und verschiedene Psychostimulanzien (koffeinhältige Präpa-
rate und legal nicht mehr erhältliche Amphetamine) überwunden werden kann.
Es entsteht ein Dämpfungs-Aktivierungs-Dämpfungs-Kreislauf: immer stärkere Se-
dierung erfordert eine immer stärkere Stimulierung, um überhaupt noch zeitweise lei-
stungsfähig sein zu können. Die erreichte Stimulierung kann abends nur durch eine
starke Dämpfung beseitigt werden, die am nächsten Morgen wiederum durch starke
Aufputschmittel überwunden werden muss.
Benzodiazepine können auch die Wirkung von Antidepressiva verstärken. Möglich
ist vor allem auch durch die geringere Verstoffwechselung ein höherer Plasmaspiegel
bestimmter Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (Fluoxetin, Fluvoxamin), weshalb si-
cherheitshalber bei einer Kombinationstherapie oft andere SSRI (Sertralin oder Escita-
lopram) verordnet werden, bei denen kaum Interaktionseffekte zu befürchten sind.
644 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Nicht-Benzodiazepintranquilizer
Buspiron

Buspiron (D: Bespar®, Busp®, Ö: Buspar®) ist ein Anxiolytikum aus der Substanzklasse
der Azapirone. Die Substanz dient zur Behandlung von Angst, innerer Unruhe und
Spannungszuständen im Rahmen einer Angststörung. Buspiron bindet nicht an den
Benzodiazepinrezeptoren und hat keinen Einfluss auf das GABA-erge Neurotransmit-
tersystem. Buspiron wirkt stark auf das serotonerge System und nur mäßig (im Gegen-
satz zu früheren Auffassungen) auf das dopaminerge System. Während bei den Benzo-
diazepinen die Angst lindernde Wirkung mit der Bindung an GABAA-Rezeptoren zu-
sammenhängt, beruht die Wirkung von Buspiron darauf, dass diese Substanz selektiv an
eine bestimmte Untergruppe der Serotoninrezeptoren bindet. Buspiron bindet spezifisch
an den 5-HT1A-Rezeptor, der sowohl prä- als auch postsynaptisch vorkommt. Buspiron
wirkt postsynaptisch an 5-HT1A-Rezeptoren als partieller Agonist und hat dadurch eine
serotonerge Wirkung. Durch die spezifische Wirkung am 5-HT1A-Rezeptor bleiben auch
bei starker Anxiolyse Müdigkeit, Konzentrations- und Reaktionsstörungen aus. Buspi-
ron ist auch noch bei weiteren Interaktionen zentralnervöser Neurotransmitter beteiligt.
Es besteht keine Sedierung (auch nicht in höherer Dosis), keine Müdigkeit, keine
schlafanstoßende Wirkung, keine Muskelentspannung, keine psychomotorische Beein-
trächtigung, keine Euphorisierung, keine Alkoholpotenzierung, keine Kreuztoleranz mit
Benzodiazepinen, keine Abhängigkeitsgefahr, keine Beeinträchtigung der Gedächtnis-
leistung, keine Beeinträchtigung der kognitiven Funktionen, kein Rebound-Effekt.
Buspiron hat nur wenige mögliche Nebenwirkungen zu Behandlungsbeginn: Unruhe,
Erregung, erhöhte Nervosität, Schwindel, Kopfschmerzen, Sedierung, Benommenheit,
Übelkeit, Durchfall, Magenbeschwerden, Schweißausbrüche, Herzrasen.
Laut Studien ist der Angst lösende Effekt gegenüber Benzodiazepinen geringer aus-
geprägt. Es besteht ein verzögerter Wirkungseintritt. Der maximale Therapieeffekt wird
erst nach 3-6 Wochen kontinuierlicher Einnahme erreicht. Aus diesem Grund kann in
der Akutphase der Angst eine zweiwöchige Benzodiazepin-Einnahme sinnvoll sein.
Die Eliminationshalbwertszeit liegt bei nur 2,5 Stunden. Erforderlich ist daher eine
Tagesdosis von 3-mal 5 mg bzw. 3-mal 10 mg (maximale Tagesdosis: 60 mg).
Buspiron galt früher als das Mittel der ersten Wahl bei generalisierten Angststörun-
gen. Bei Panikstörungen ergaben sich keine überzeugenden Behandlungsergebnisse.
Durch die Zulassung bestimmter Antidepressiva (Paroxetin, Sertralin, Escitalopram,
Venlafaxin), Opipramol und Pregabalin als Mittel bei generalisierten Angststörungen
hat Buspiron an Bedeutung verloren. Eine Langzeiteinnahme wie bei einem SSRI ist
zudem nicht ratsam, die dreimal tägliche Einnahme für viele Patienten unbequem.

Opipramol

Opipramol (Insidon®), ein trizyklisches Piperazinylderivat, ist ein Anxiolytikum zur


Behandlung generalisierter Angststörungen und somatoformer Störungen. Die Substanz
hat eine milde antagonistische Wirkung auf Dopaminrezeptoren, hemmt aber die neuro-
nale Rückaufnahme von Serotonin und Noradrenalin nicht. Klinisch hat die Substanz
neben beruhigend-entspannenden und Angst lösenden Wirkeigenschaften eine leicht
antidepressive, stimmungsaufhellende Wirkung.
Neuroleptika 645

Die thymoleptische Wirkung des Mittels dürfte auf dem selektiven Dopaminantagonis-
mus beruhen. Im Vergleich zu Benzodiazepinen fehlen ein muskelentspannender sowie
ein direkter schlafanstoßender Effekt. Ähnlich wie bei Antidepressiva ist der Wirkungs-
eintritt nicht so rasch wie bei Benzodiazepinen.
Die Tagesdosis ist je nach Bedarf 50-200 mg (Hauptdosis abends). Die Elimina-
tionshalbwertszeit beträgt 6-9 Stunden. Häufige Nebenwirkungen sind: Müdigkeit,
Mundtrockenheit, Schwindel, allergische Hautreaktionen, Benommenheit, Kopfschmer-
zen, Appetitmangel, Unruhe, Verstopfung, Übelkeit, verschwommenes Sehen.

Hydroxyzin

Hydroxyzin (Atarax®), ein bereits älteres Antihistaminikum (blockierende Wirkung an


H1-Rezeptoren), wird aufgrund seiner anxiolytischen und sedierenden Wirkung auch bei
Angst- und Spannungszuständen, emotional bedingten Unruhezuständen sowie Ein- und
Durchschlafstörungen eingesetzt. Es gibt Hinweise auf Wirksamkeit bei der generali-
sierten Angststörung. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt ca. 20 Stunden, der maxi-
male Plasmaspiegel wird nach 2 Stunden erreicht. Die Tagesdosis beträgt je nach Be-
darf 37,5-75 mg bzw. 50-150 mg, aufgeteilt auf 2-3 Einzelgaben (mit der höchsten
Dosis abends). Alkohol verstärkt die Wirkung. Häufige Nebenwirkungen sind: Benom-
menheit, Schwindel, Müdigkeit, Mundtrockenheit, Kopfschmerzen.

Pregabalin

Aus der Gruppe der Antiepileptika wird hier nur kurz auf den später ausführlicher be-
schriebenen Kalziumkanalmodulator Pregabalin (D/Ö: Lyrica®) hingewiesen, der in
den letzten Jahren als Anxiolytikum anerkannt wurde (zur Behandlung der generalisier-
ten Angststörung). Es bestehen auch Hinweise auf Wirksamkeit bei sozialen Phobien.

Neuroleptika
Klassische Neuroleptika wirken auf das dopaminerge System ein und blockieren einen
bestimmten Subtyp der postsynaptischen Dopaminrezeptoren (Dopamin2-Rezeptoren).
Sie üben dadurch eine antipsychotische Wirkung aus und sind daher wirksame Medi-
kamente zur Behandlung schizophrener Psychosen. Niedrig potente Neuroleptika oder
hoch potente Neuroleptika in niedriger Dosierung wurden und werden nach wie vor von
zahlreichen Psychiatern in Deutschland und Österreich (im Gegensatz zu den USA) –
begründet mit der Abhängigkeitsgefahr bei suchtgefährdeten Personen – als Alternative
zu Tranquilizern verordnet, da sie dämpfend wirken und nicht abhängig machen. Die
klassischen Neuroleptika besitzen keine unmittelbar Angst lösende Wirkung. Angstge-
tönte motorische Unruhezustände können durch dämpfende Neuroleptika zwar rasch
gemildert werden, die subjektiv erlebbare Angst lösende Wirkung bleibt jedoch erheb-
lich hinter derjenigen von Benzodiazepinen und Antidepressiva zurück, während das
Risiko von Nebenwirkungen größer ist. Die im deutschen Sprachraum weit verbreitete
Neuroleptanxiolyse mithilfe klassischer Neuroleptika ist wegen der Nebenwirkungen
und wegen des Vorhandenseins zahlreicher besserer Möglichkeiten obsolet.
646 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Tab. 25: Häufige klassische Neuroleptika nach Potenz (Ausmaß der D2-Blockade) [30]

Neuroleptische Potenz Chemische Bezeichnung Handelsname


Niedrig potente Neuroleptika Chlorprothixen Truxal® (D/Ö)
schwächere D2-Blockade Levomepromazin Nozinan® (Ö), Neurocil® (D)
geringe antipsychotische Melperon Buronil® (Ö), Eunerpan® (D)
Wirkung bei starker Sedierung Thioridazin Melleril® (D/Ö)
Mittel potente Neuroleptika Perazin Taxilan® (D)
Triflupomazin Psyquil® (D/Ö)
Zuclopenthixol Ciatyl-Z® (D), Cisordinol® (Ö)
Hoch potente Neuroleptika Flupentixol Fluanxol® (D/Ö)
starke D2-Blockade Fluphenazin Dapotum® (D/Ö), Lyogen® (D)
antipsychotische Wirkung Fluspirilen Imap® (D) (niedrige Dosis: Imap® 1,5)
ohne Sedierung Haloperidol Haldol® (D/Ö)
(bei Angstpatienten Perphenazin Decentan® (D/Ö)
in niedriger Dosis) Pimozid Orap® (D/Ö)

Die klassischen Neuroleptika sind bei Angstpatienten nicht angezeigt wegen der auch in
niedriger Dosis größeren Nebenwirkungen als bei Tranquilizern (z.B. extrapyramidale
Symptomatik, d.h. Parkinson-Syndrom, weiters Bewegungsstörungen, Krämpfe, Sitz-,
Steh- und Gehunruhe, erhebliche Gewichtszunahme, Speichelfluss, Libidoverlust, funk-
tionelle Sexualstörungen, Blutbildschäden, hormonelle Störungen, ständige Müdigkeit,
psychomotorische Verlangsamung, Konzentrationsstörung) und wegen der bei einer
Langzeittherapie nicht ausschließbaren negativen Folgen (irreversible Spätdyskinesien,
d.h. unwillkürliche Bewegungen der Zungen-, Mund- und Gesichtsmuskulatur, Grimas-
sieren, bizarre Körperbewegungsstörungen). Die Arzneimittelkommission der Deut-
schen Ärzteschaft rät vom Neuroleptikaeinsatz bei Angst- und Spannungszuständen ab.
Selbst in der Schizophrenie-Behandlung werden die besser verträglichen atypischen
Neuroleptika bevorzugt: Amisulpirid (Solian®), Aripiprazol (Abilify®), Clozapin (Le-
ponex®), Olanzapin (Zyprexa®), Quetiapin (Seroquel®), Risperidon (Risperdal®), Ser-
dintol (Serdolect®), Ziprasidon (Zeldox®), Zotepin (Nipolept®). Die klassische Substanz
Sulpirid (Dogmatil®, Meresa®) hat Ähnlichkeiten mit den atypischen Neuroleptika.
Nach ersten Hinweisen können die Präparate Zyprexa®, Seroquel® und Risperdal® bei
Zwangsstörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen als Zusatztherapie neben
den primär indizierten Antidepressiva hilfreich sein (Zyprexa® ist auch wirksam bei
generalisierter Angststörung, Seroquel® bei generalisierter Angststörung und Panikstö-
rung). Die Wirksamkeit von Olanzapin (Zyprexa®), Quetiapin (Seroquel®) und Risperi-
don (Risperdal®) bei Angststörungen beruht auf der Blockade von 5-HT2A-Rezeptoren.
Benkert und Hippius weisen in ihrem Standardwerk „Kompendium der Psychiatri-
schen Pharmakotherapie“ darauf hin, dass man auch bei den atypischen Neuroleptika
das Nebenwirkungsrisiko berücksichtigen müsse, z.B. die Gewichtszunahme unter Zy-
prexa®. Es seien primär Antidepressiva und zusätzlich therapeutische Alternativen (Psy-
chotherapie, Pregabalin) zu bevorzugen; erst bei Nicht-Ansprechen seien atypische
Neuroleptika indiziert. Konventionelle Neuroleptika sollten wegen ihrer typischen Ne-
benwirkungen keine routinemäßige primäre Verwendung bei der Behandlung von Men-
schen mit Angststörungen finden. Wörtlich schreiben die Autoren [31]:
„Hochpotente, nicht oder kaum sedierende Antipsychotika wie Fluspirilen, Flupentixol oder Fluphena-
zin als „Minor Tranquilizer“ sollten bei Angststörungen wegen der Gefahr von EPS (Anmerkung:
extrapyramidale Symptomatik) und Spätdyskinesien nicht mehr gegeben werden.“
Antidepressiva 647

Antidepressiva
Angstpatienten mit depressiver Symptomatik als Folge der Angststörung werden durch
eine längerzeitige (mehrmonatige) Einnahme von Antidepressiva oft handlungsfähiger.
Antidepressiva sind bei der Behandlung von Angststörungen überhaupt die bedeutsam-
ste medikamentöse Alternative zu Benzodiazepinen. Sie haben einen Angst und An-
spannung lösenden Effekt und machen nicht abhängig. Sie können in geringeren oder
höheren Dosen 3-12 Monate oder länger als Dauermedikation verwendet werden. Sie
sind nicht sporadisch oder punktuell, sondern kontinuierlich einzunehmen. Antidepres-
siva wirken erst nach 1-3 Wochen regelmäßiger Einnahme Angst lösend, stimmungs-
aufhellend bzw. dämpfend. Im stationären Bereich können Infusionen den Wirkungsein-
tritt mitunter beschleunigen.
Während der ersten 2-3 Wochen treten bei 25-30% der Patienten Nebenwirkungen
auf, die insbesondere Panikpatienten an ihre gefürchteten Symptome erinnern, weshalb
die Medikamente nicht selten abgesetzt werden: Übelkeit, Kopfschmerzen, Schwindel,
Schlafstörungen, Zittern, Herzrasen, Angstgefühle, Unruhe, Nervosität u.a.
Nebenwirkungen treten bei empfindlichen Personen, zu denen viele Panikpatienten
gehören, insbesondere auch dann auf, wenn die angestrebte Wirkdosis nicht langsam
steigend eingenommen wird. Eine „einschleichende Medikation“ ist unbedingt zu emp-
fehlen, z.B. alle 3-4 Tage Steigerung in Schritten von 5, 10 bzw. 25 mg (je nach SSRI-
Medikament unterschiedlich). Im weiteren Behandlungsverlauf können medikamenten-
spezifische Nebenwirkungen auftreten. Die Nebenwirkungen sind am stärksten bei den
trizyklischen Antidepressiva (TZA) und am geringsten bei selektiven Serotonin-
Wiederaufnahmehemmern (SSRI). Zur Verminderung der möglichen Nebenwirkungen
(z.B. übermäßige Sedierung) sollten trizyklische Antidepressiva zur Angstbehandlung
am besten täglich nur einmal, und zwar abends, eingenommen werden, da sie wegen der
relativ langen Halbwertszeit auch am nächsten Tag noch voll wirksam sind. Wegen der
Vorteile der SSRI sind die für Krankenkassen relativ billigen Trizyklika nicht mehr die
Mittel der ersten Wahl bei Angststörungen (auch nicht mehr bei Depressionen).
Das spätere Absetzen der Antidepressiva muss langsam-stufenweise erfolgen („aus-
schleichend“ über mehrere Wochen), um panikähnliche Nebenwirkungen zu vermeiden.
Antidepressiva machen nicht abhängig, daher treten auch keine Entzugserscheinungen
auf, bei plötzlichem Absetzen (z.B. wegen vermeintlicher Unwirksamkeit oder wegen
des Beginns einer Psychotherapie) ist jedoch mit folgenden Absetzerscheinungen zu
rechnen: innere Unruhe und Anspannung, Reizbarkeit, Missgestimmtheit, Angstzustän-
de, vegetative Symptome (z.B. Übelkeit, Magen-Darm-Störungen, Schwindel, Bewe-
gungsstörungen, Schlafstörung).
Angstpatienten erhalten folgende Antidepressiva (chemische Substanz in Klammer):
1. Trizyklische Antidepressiva (Amitriptylin, Imipramin, Clomipramin)
2. MAO-Hemmer: Reversible Monoaminoxidase-A-Hemmer (RIMA: Moclobemid)
3. SSRI Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxe-
tin, Sertralin, Citalopram, Escitalopram)
4. NaSSA Noradrenalin-Serotonin-selektive Antidepressiva (Mirtazapin)
5. SNRI Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (Venlafaxin, Duloxetin,
Milnacipran)
6. NARI Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (Reboxetin)
7. SRE Serotonin-Wiederaufnahmeverstärker (Tianeptin)
8. Serotonin-Modulatoren (Trazodon)
648 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Tab. 26: Antidepressiva zur Behandlung von Angststörungen [32]

Antidepressiva- Chemische Handelsname Indikation und Mögliche Nebenwirkungen


klasse Substanz (Markenpräpa- Wirkung
rat fett)

Trizyklische Amitriptylin Deutschland: Agitiert- Mundtrockenheit, Müdigkeit,


Antidepressiva Saroten® ängstliche Benommenheit, Schwindel,
(Halbwertszeit: Amineurin® Depressionen Hypotonie, orthostatische
10-21 Stunden; Amioxid- zuerst dämp- Dysregulation, Herzrasen,
Metabolit: neuraxpharm® fend und Angst Schwitzen, Zittern, Übelkeit,
30 Stunden) Amitriptylin lösend, später Verstopfung, Kopfschmerzen,
Firmenname stimmungs- Verschwommensehen, Harn-
Equilibrin® aufhellend verhalten, Appetitsteigerung,
Syneudon® Gewichtszunahme, Sexualstö-
rungen, Libidoverlust, Men-
Österreich: struationsstörungen, reduzier-
Saroten® tes Reaktionsvermögen
Tryptizol®

Doxepin Deutschland: agitiert- Müdigkeit, Schwindel,


Sinquan® ängstlich- Benommenheit, Zittern,
(Halbwertszeit: Aponal® depressive Hypotonie, orthostatische
12 Stunden; Doneurin® Syndrome Dysregulation, Herzrasen,
Metabolit: Doxepin Depressionen Schwitzen, Mundtrockenheit,
25-51 Stunden) Firmenname Angstneurosen Verstopfung, Appetitsteige-
Doxe TAD® Angst- und rung, Gewichtszunahme,
Mareen® Spannungszu- Störungen beim Harnlassen,
stände, psycho- Kopfschmerzen, Gangun-
Österreich: somatische sicherheit, Beinödeme,
Sinequan® Beschwerden Verschwommensehen,
Doxepin zuerst dämp- reduziertes Reaktionsver-
Firmenname fend und Angst mögen, Sexualstörungen,
lösend, später Menstruationsstörungen
stimmungsauf-
hellend

Imipramin Deutschland: gehemmt- Mundtrockenheit, Müdigkeit,


Tofranil® depressive Schwindel, Kopfschmerzen,
(Halbwertszeit: Imipramin- Syndrome Hypotonie, Herzrasen, Schwit-
7-26 Stunden) Firmenname Depressionen zen, Verstopfung, Gewichts-
Panikattacken zunahme, Zittern, Ver-
Österreich: generalisierte schwommensehen,
Tofranil® Angststörung Mundtrockenheit, Gang-
zuerst akti- unsicherheit, Blasenstörung,
vierend und reduziertes Reaktionsver-
antriebsstei- mögen, Libidoverlust,
gernd, später Menstruationsstörungen
stimmungs-
aufhellend
Antidepressiva 649

Antidepressiva- Chemische Handelsname Indikation und Mögliche Nebenwirkungen


klasse Substanz (Markenpräpa- Wirkung
rat fett)

Trizyklische Clomipramin Deutschland: gehemmt- Mundtrockenheit, Zittern,


Antidepressiva Anafranil® depressive Benommenheit, Müdigkeit,
(Halbwertszeit: Clomipramin Syndrome Schwindel, Übelkeit, Brech-
16-36 Stunden Firmenname Depressionen reiz, Appetitsteigerung, Ge-
Metabolit: mit Angstzu- wichtszunahme, Verstopfung,
etwas länger) Österreich: ständen oder Harnverhalten, Schwitzen,
Anafranil® Agitiertheit Hypotonie, Herzrasen,
Clomicalm® Panikattacken Verschwommensehen,
Zwangs- Kopfschmerzen, Schlafstö-
störungen rungen, Gangunsicherheit,
Phobien Menstruationsstörungen,
zuerst aktivie- Libidoverlust, funktionelle
rend und an- Sexualstörungen
triebssteigernd
später stim-
mungsaufhel-
lend

MAO-Hemmer Tranylcypromin Deutschland: Depressionen Müdigkeit, Benommenheit,


(MAO- Jatrosom N® Angst, Hem- orthostatische Hypotonie,
Hemmer, mung und Schwindel, Kopfschmerzen,
1. Generation) Organbe- Unruhe- und Erregungszustän-
Österreich: schwerden de, Schwitzen, Zittern, Schlaf-
(Halbwertszeit: nicht mehr ängstlich- störung, Appetitsteigerung,
1-3 Stunden; im Handel gehemmte Unverträglichkeit mit vielen
jedoch längere Depressionen Medikamenten, Unverträg-
Wirkung) Zwangsstörung lichkeit von Tyramin-hältigen
soziale Phobie Nahrungsmitteln (bei Missach-
psychomoto- tung Gefahr einer hypertonen
risch aktivie- Blutdruckkrise)
rend, Angst
lösend

Moclobemid Deutschland: Depressionen Übelkeit, Schlafstörung,


(MAO- Aurorix® soziale Phobie Angst, Unruhe, Mundtrocken-
Hemmer, Moclobemid hebt die Stim- heit, Verstopfung, Herzrasen,
2. Generation) Firmenname mung und die Blutdruckabfall, Hautaus-
Moclobeta® psychomoto- schläge, Magen-Darm-
(Halbwertszeit: rische Aktivität Beschwerden, Kopfschmerzen,
16 Stunden) Österreich: lindert Dyspho- Schwindel, Müdigkeit,
Aurorix® rie, Erschöp- Schwitzen, wegen möglicher
Moclobemid fung, Antriebs- Komplikationen (hypertone
Firmenname und Konzentra- Blutdruckkrise, Hautreaktio-
tionsprobleme nen) sollte keine Kombination
mit Serotonin-Wiederauf-
nahmehemmern erfolgen
650 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Antidepressiva- Chemische Handelsname Indikation Mögliche Nebenwirkungen


klasse Substanz (Markenpräpa-
rate fett)

Selektive Citalopram Deutschland: Depressionen Übelkeit, Brechreiz,


Serotonin- Cipramil® Panikstörung Völlegefühl, Kopfschmerzen,
Wiederauf- (Halbwertszeit: Citalopram mit und ohne Schwitzen, Mundtrockenheit,
nahmehemmer 19-45 Stunden) Firmenname Agoraphobie Durchfall, Verstopfung,
CitaLich® soziale Phobie Schwächegefühl,
Citalon® Zwangsstörung Schläfrigkeit, innere Unruhe,
Citalogamma Bewegungsunruhe, Schwindel,
Futuril® Angst- und Erregungszustand
Schlafstörung
Österreich:
Seropram®
Citalopram
Firmenname
Citalostad®
Eostar®
Pram®

Escitalopram Deutschland: Depressionen Übelkeit, Schwindel,


Cipralex® Panikstörung Appetitlosigkeit, Durchfall,
(Halbwertszeit: mit und ohne Verstopfung, vermehrtes
30 Stunden) Agoraphobie Schwitzen, Einschlafstörung,
Österreich: soziale Phobie Sexualstörungen (Ejakulati-
Cipralex® generalisierte onsstörungen, Libidominde-
Escitalopram Angststörung rung, Orgasmusstörungen und
Firmenname Zwangsstörung bei Frauen)

Fluoxetin Deutschland: Depressionen Übelkeit, Mundtrockenheit,


Fluctin® Zwangsstörung Brechreiz, innere Unruhe,
(Halbwertszeit: Fluoxetin Panikstörung Bewegungsunruhe,
2-3 Tage; Firmenname posttraumati- Angst- und Erregungszustand,
Metabolit: Fluoxe Q sche Bela- Nervosität, Herzklopfen,
7-9 Tage) LuoxeLich® stungsstörung Bauchschmerzen, Durchfall,
Fluoxgamma® Bulimie Verstopfung, Appetitverlust,
Fluox-Puren® Gewichtsabnahme,
Fluxet® Schwächegefühl,
Benommenheit, Schwindel,
Kopfschmerzen,
Österreich: Sehstörungen,
Fluctine® Schlafstörungen,
Fluoxetin allergische Hautausschläge,
Firmenname Schwitzen, Zittern,
Felicium® sexuelle Funktionsstörungen
Floccin®
Fluoxibene®
Fluoxistad®
Flux®
Fluxomed®
Mutan®
Nufluo®
Positivum®
Antidepressiva 651

Antidepressiva- Chemische Handelsname Indikation Mögliche Nebenwirkungen


klasse Substanz (Markenpräpa-
rate fett)

Selektive Fluvoxamin Deutschland: Depressionen Übelkeit, Brechreiz, Müdig-


Serotonin- Fevarin® Zwangsstörung keit, Benommenheit, Schwin-
Wiederauf- (Halbwertszeit: Fluvoxamin Panikstörung del, innere Unruhe, Bewe-
nahmehemmer 17-22 Stunden) Firmenname soziale Phobie gungsunruhe, Angst- und
FluxoHEXAL Binge-Eating- Erregungszustände, Kopf-
Störung schmerzen, Zittern, Blutdruck-
Österreich: Bulimie abfall, Mundtrockenheit,
Floxyfral® Schwitzen, Durchfall, Verstop-
fung, verzögerte Ejakulatio-
nen, Schlafstörungen, Konzen-
trationsstörungen, Reaktions-
zeitbeeinträchtigung

Paroxetin Deutschland: Depressionen Übelkeit, Brechreiz, Schwin-


Seroxat® Panikstörung del, Unruhe, Bewegungsunru-
(Halbwertszeit: Paroxetin mit und ohne he, Angst- und Erregungszu-
24 Stunden) Firmenname Agoraphobie stände, Zittern, Schlafstörun-
Paraxalon® soziale Phobie gen, Müdigkeit, Kopfschmer-
ParoLich® generalisierte zen, Durchfall, Verstopfung,
Paroxat® Angststörung Schwitzen, Sexualstörungen
Tagonis® posttraumati-
sche Bela-
Österreich: stungsstörung
Seroxat® Zwangs-
Paroxetin störungen
Firmenname
Allenopar®
Dropax
Ennos®
Parocetan®
Paroxat®
Stiliden®

Sertralin Deutschland: Depressionen Übelkeit, Brechreiz, Durchfall,


Zoloft® Panikstörung Mundtrockenheit, Schlafstö-
(Halbwertszeit: Sertralin mit und ohne rungen, Kopfschmerzen,
25-28 Stunden) Firmenname Agoraphobie Müdigkeit, Benommenheit,
Sertra-ISIS® soziale Phobie Schwindel, Zittern, Schwitzen,
Sertralon® generalisierte Ejakulationsverzögerungen
Sertra-Q 50 Angststörung
Zwangsstörung
Österreich: posttrauma-
Gladem® tische Belas-
Tresleen® tungsstörung
Sertralin
Firmenname
Adiuvin
Sertrapel
652 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Antidepressiva- Chemische Handelsname Indikation Mögliche Nebenwirkungen


klasse Substanz (Markenpräpa-
rate fett)

Noradrenalin- Mirtazapin Deutschland: Depressionen Mundtrockenheit,


Serotonin- Remergil® soziale Phobie Schläfrigkeit, Sedierung,
selektive (Halbwertszeit: Mirtazapin Zwangsstörung Verstopfung, Appetit- und
Antidepressiva 20-40 Stunden) Firmenname Angstsyndrome Gewichtszunahme
(NaSSA)
Österreich:
Remeron®
Mirtrazapin
Firmenname
Mirtabel®
Mirtabene®
Mirtaron®
Mirtel®

Serotonin- Venlafaxin Deutschland: Depressionen Übelkeit, Schwindel, Müdig-


Noradrenalin- Trevilor® mit und ohne keit, Verstopfung, Durchfall,
Wiederaufnah- (Halbwertszeit: Trevilor® begleitende Verdauungsbeschwerden,
mehemmer 3-12 Stunden) retard Angstzustände dosisabhängiger Blutdruckan-
(SNRI) Venlafaxin soziale Phobie stieg, Asthenie, Kopfschmer-
Firmenname generalisierte zen, Schlaflosigkeit, Agitiert-
Venlasan® Angststörung heit, Zittern, Mundtrockenheit,
Panikstörung Sexualstörungen (Ejakulati-
Österreich: mit und ohne onsstörungen, Impotenz,
Efectin® Agoraphobie Libidoverlust)
Efectin® ER Zwangsstörun-
Venlafaxin gen, posttrau-
Firmenname matische Bela-
Venaxibene stungsstörungen
Venlafab

Milnacipran Deutschland: Depressionen Schwindel, Schwitzen, Angst,


Nicht erhältlich möglicherweise Übelkeit, Dysurie, Kopf-
(Halbwertszeit: auch bei Äng- schmerz, Mundtrockenheit,
8 Stunden) Österreich: sten Magen-Darmbeschwerden,
Dalcipran® Verstopfung
Ixel®

Duloxetin Deutschland Depressionen Übelkeit, Appetitverminde-


Cymbalta generalisierte rung, Schlaflosigkeit, Schläf-
Angststörung rigkeit, Kopfschmerzen,
Österreich: Schmerzen bei Durchfall, Angst, Nervosität,
Cymbalta diabetischer Agitiertheit, Schwindel, Tre-
Polyneuropa- mor, Durchfall, Verstopfung,
thie Hitzewallungen, vermehrtes
Fibromyalgie Schwitzen, Muskelsteifigkeit,
sexuelle Funktionsstörungen
Noradrenalin- Reboxetin Deutschland: Depressionen Mundtrockenheit, Schwindel,
Wiederaufnah- Edronax® Panikstörung Verstopfung, Schwitzen,
mehemmer (Halbwertszeit: Solvex® soziale Phobie Kopfschmerz, Schlaflosigkeit,
(NARI) 12 Stunden) Fibromyalgie Übelkeit, Tachykardie
Österreich:
Edronax®
Antidepressiva 653

Antidepressiva- Chemische Handelsname Indikation Mögliche Nebenwirkungen


klasse Substanz (Markenpräpa-
rate fett)

Serotonin- Tianeptin Deutschland: Depressionen Müdigkeit, Schlaflosigkeit,


Wiederauf- Nicht erhältlich ängstlich- Somnolenz, Angst, Übelkeit,
nahme- (Halbwertszeit: depressive Mundtrockenheit, Schwindel,
verstärker 2,5 Stunden) Österreich: Zustandsbilder Verstopfung, Kopfschmerzen,
(SRE) Stablon® Somatisierung Bauchschmerzen, Rücken-
von Depression schmerzen
und Angst

Serotonin- Trazodon Deutschland: Ängstlich- Dämpfung, Müdigkeit,


Modulatoren Thombran® depressive Schwindel, Blutdrucksenkung,
(Halbwertszeit: Trazodon Syndrome orthostatische Hypotonie,
4-14 Stunden) Firmenname Angstsyndrome ventrikuläre Extrasystolen,
im Rahmen von „weiche Knie“, Kopfschmer-
Österreich: Depressionen zen, Mundtrockenheit, Unru-
Trittico® sedierend he, Übelkeit, Verdauungsbe-
Trittico® Angst lösend schwerden, Libidosteigerung
retard

Trizyklische Antidepressiva
Bis zu 90% aller depressiven Patienten leiden unter Angstzuständen. Zu ihrer Behand-
lung wurden früher trizyklische Antidepressiva eingesetzt, in den letzten Jahren haben
sich jedoch die nebenwirkungsärmeren Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)
durchgesetzt, sodass der Einsatz der Trizyklika gegenwärtig immer mehr auf Spezialfäl-
le (z.B. Therapieresistenz unter SSRI) beschränkt ist.
Die Bezeichnung „trizyklisch“ weist auf die Drei-Ring-Struktur dieser Antidepres-
siva hin. Alle trizyklischen Antidepressiva („Trizyklika“) hemmen bzw. reduzieren die
Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin in die präsynaptischen Nervenendi-
gungen und bewirken zusätzlich in therapeutischer Dosierung durch ihre Affinität zu
synaptischen Rezeptoren wie den Histamin-H1-Rezeptoren, den adrenergen (alpha1)-
Rezeptoren und cholinergen Rezeptoren relativ starke Nebenwirkungen.
Trizyklika hemmen eher die Noradrenalin-Wiederaufnahme in den präsynaptischen
Rezeptor. Die Noradrenalinerhöhung in den Synapsen bewirkt eine Stimmungs- und
Antriebssteigerung sowie eine Verstärkung der blutdruckerhöhenden Noradrenalinef-
fekte, aber auch Nebenwirkungen wie z.B. Erektions- und Ejakulationsstörungen, Zit-
tern und Vigilanzveränderungen. Wegen der Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung
können in den ersten zwei Wochen Unruhe, Erregung und panikähnliche Zustände auf-
treten. Unter den Trizyklika hat Clomipramin (Anafranil®) die stärkste Serotonin-
Wiederaufnahmehemmung. Die neueren Antidepressiva (SSRI) wirken selektiver und
führen zu einer stärkeren Hemmung der Serotonin-Wiederaufnahme.
Von allen trizyklischen Antidepressiva haben die Substanzen Amitriptylin und Do-
xepin den stärksten sedierenden Effekt, weshalb sie oft zur dämpfenden Behandlung bei
Ängsten, Erregtheit und Unruhe eingesetzt werden. Die frühere Annahme, stärker sedie-
rende Substanzen hätten eine bessere Angst lösende Wirkung, hat sich nicht bestätigt.
654 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Je nach Art der Angststörung werden unterschiedliche Trizyklika verordnet:


1. Clomipramin (Anafranil®). Unter den trizyklischen Antidepressiva hat sich Clomi-
pramin seit Jahrzehnten in der Behandlung von Panik- und Zwangsstörungen be-
währt, insbesondere wegen der im Vergleich zu den anderen Trizyklika deutlich hö-
heren Serotonin-Wiederaufnahmehemmung. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt
16-60 Stunden, der maximale Plasmaspiegel wird nach 3-4 Stunden erreicht (Retard-
Präparat: 5-8 Stunden). Die Tagesdosis beträgt 100-150 mg (zu Beginn 25-75 mg),
bei Zwangsstörungen bis zu 300 mg.
2. Imipramin (Tofranil®). Der amerikanische Psychiater Donald Klein erkannte 1962
die Wirksamkeit von Imipramin in der Behandlung von Panikattacken. Es besteht
eine etwa gleich starke Wiederaufnahmehemmung von Serotonin und Noradrenalin.
Der antipanische Effekt setzt nach etwa 3-5 Wochen, der antiphobische Effekt nach
ca. 2-3 Monaten ein. Laut Studien sollte bei Panikstörungen Imipramin der Vorzug
gegenüber Clomipramin gegeben werden. In Vergleichsstudien erreichte Imipramin
nach einigen Wochen die gleiche Wirksamkeit wie der Tranquilizer Alprazolam
(D: Tafil®, Ö: Xanor®), die Nebenwirkungsrate war jedoch höher. Es bestehen die-
selben Nebenwirkungen wie bei anderen Trizyklika. Daher empfiehlt sich zu Be-
handlungsbeginn eine Tagesdosis von 10 oder 25 mg und eine langsame Steigerung
(täglich um 10 mg oder alle 2-4 Tage um 25 mg). Die Tagesdosis ist 100-150 mg
(bei Zwängen bis 300 mg). In einer Studie bewirkte Imipramin 150 mg/Tag nach
8 Wochen bei Panikpatienten eine Erhöhung der Herzfrequenz und des Blutdrucks,
was bei sensiblen Patienten zu beachten ist. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt
11-25 Stunden, der maximale Plasmaspiegel wird nach 2,2 Stunden erreicht.
3. Amitriptylin (D: Saroten®, Amineurin®, Syneudon®, Ö: Saroten®, Tryptizol®). Die
Substanz wirkt bei Agitiertheit und Unruhe und wird auch bei generalisierten Angst-
störungen verschrieben. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt 10-28 Stunden, der
maximale Plasmaspiegel wird nach 1-5 Stunden erreicht. Die anxiolytisch-
sedierende Wirkung tritt daher oft schon nach 1-2 Stunden ein, spätestens nach einer
Woche. Wenn dies – wie bei vielen Patienten – nicht der Fall ist, ist auch später kei-
ne Wirkung zu erwarten. Die Tagesdosis beträgt je nach Bedarf 50-150 mg (anfangs
3-mal 10 bzw. 25 mg pro Tag), bei höherer Dosis treten meist die typischen Neben-
wirkungen der trizyklischen Antidepressiva auf.
4. Doxepin (D: Sinquan®, Mareen®, Aponal®, Doneurin®, Ö: Sinequan®). Chemisch
dem Amitriptylin ähnlich, wird bei 50-150 mg/Tag eine Angst lösende Wirkung er-
wartet. Nach Vergleichsstudien besteht eine Gleichwertigkeit mit Benzodiazepinen.

Niedrig dosierte Trizyklika (vor allem Amitriptylin und Doxepin) werden öfter (ohne
entsprechende Studienbelege) bei generalisierter Angststörung eingesetzt. Bei Panikstö-
rungen wurde aus der Gruppe der Trizyklika vor allem die Wirkung von Imipramin
(Tofranil®) belegt. Bei spezifischen und sozialen Phobien ohne Begleitdepression sind
trizyklische Antidepressiva nicht indiziert, es liegen daher kaum Studien vor. Trizyklika
müssen mindestens 4-8 Wochen lang eingenommen werden, bevor ihre Wirkung ver-
lässlich beurteilt werden kann. Laut Studien besteht ohne gleichzeitige Verhaltensthera-
pie bei Absetzen des Mittels – ähnlich wie bei SSRI – eine hohe Rückfallsgefahr.
Alle trizyklischen Antidepressiva binden mehr oder weniger stark an serotonerge,
histaminerge, adrenerge und cholinerge Rezeptoren und weisen dadurch typische Ne-
benwirkungen auf. In Abhängigkeit von der jeweiligen Rezeptorblockade finden sich
folgende typische Nebenwirkungen:
Antidepressiva 655

z Antiserotonerge Nebenwirkungen. Die Blockade der Serotonin-Wiederaufnahme in


die präsynaptischen Nervenendigungen bewirkt vermehrte Angst- und Unruhezu-
stände, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Durchfall, Verstopfung, Völlegefühl,
Schlafstörungen, Gewichtszunahme und Sexualstörungen.
z Antinoradrenerge Nebenwirkungen. Die Blockade der Noradrenalin-Wiederauf-
nahme in die präsynaptischen Nervenendigungen kann zu Sedierung, Zittern, Unru-
he, niedrigem Blutdruck, Herzrasen, Erektions- oder Ejakulationsstörungen führen.
z Antiadrenerge Nebenwirkungen. Die Blockade von alpha1-adrenergen Rezeptoren
verstärkt die Wirkung von Antihypertonika (blutdrucksenkenden Medikamenten)
und bewirkt oft Schwindel, orthostatische Hypotonie und Reflex-Tachykardie.
z Antihistaminerge Nebenwirkungen. Die Blockade von Histamin-H1-Rezeptoren ver-
stärkt die Wirkung zentralnervös dämpfender Wirkstoffe und führt zu Benommen-
heit, Sedierung (Dämpfung therapeutisch oft erwünscht), Gewichtszunahme und
Hypotonie. Die dämpfenden trizyklischen Antidepressiva (z.B. Amitriptylin, Doxe-
pin, Mianserin) sind starke Antagonisten der Histamin-H1-Rezeptoren.
z Anticholinerge Nebenwirkungen. Die Blockade von Acetylcholinrezeptoren (Muska-
rinrezeptoren) hat Nebenwirkungen auf das periphere Nervensystem: Mundtrocken-
heit (Durstgefühl), Austrocknung der Schleimhäute, Schwitzen, Schwindel (insbe-
sondere am Morgen nach dem Aufstehen), Sehstörungen (Verschwommensehen),
Erhöhung des Augeninnendrucks, Appetit- und Gewichtszunahme, Verstopfung,
Harnverhalten, besonders gefährlich ist jedoch die Dämpfung der Herztätigkeit in
Verbindung mit einer Blutdrucksenkung (kann bei ohnehin niedrigem Blutdruck Pa-
nikattacken begünstigen), Verlangsamung der Überleitung im Herzen (Herzrhyth-
musstörungen als Folge der verlangsamten Erregungsüberleitung) und Herzrasen
(Sinustachykardie). Bedenklich sind die anticholinergen Nebenwirkungen auf das
Zentralnervensystem, die sich in Form von kognitiven Störungen äußern können
(Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit, der Konzentration und des Gedächtnisses,
besonders problematisch im Verkehr und Beruf sowie bei älteren Personen, die oft
ohnehin bereits leichte Merkfähigkeitsstörungen aufweisen), aber auch in Form von
Müdigkeit, Unruhe, feinschlägigem Fingerzittern und verwaschener Sprache.
z Antidopaminerge Nebenwirkungen. Die Blockade von Dopamin-D2-Rezeptoren
bewirkt möglicherweise Parkinson-ähnliche Bewegungsstörungen (Zittern), endo-
krine Veränderungen und bei Männern sexuelle Funktionsstörungen.

Trizyklische Antidepressiva können zur Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit, der


Reaktionsgeschwindigkeit und des Gedächtnisses führen. Dies hängt einerseits mit den
anticholinergen Effekten und andererseits mit dem sedierenden Effekt bestimmter Sub-
stanzen wie Amitriptylin und Doxepin zusammen. Trizyklika können auch das Blutbild
ungünstig verändern, sodass regelmäßige Blutbildkontrollen angezeigt sind; sie können
allergische Ausschläge, Juckreiz und Ödeme verursachen, haben nicht selten potenziell
gefährliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten und verstärken die Alko-
holwirkung. Trizyklische Antidepressiva haben folgende Vor- und Nachteile [33]:

„Ein Vorteil der Trizyklika gegenüber Benzodiazepinen und Neuroleptika besteht darin, dass sie nicht
zu Abhängigkeitsentwicklungen und Spätdyskinesien führen. Gleichwohl müssen mögliche andere
unerwünschte Wirkungen bedacht werden. Zu erwähnen sind vor allem Blutzellschädigungen, Leber-
und Nierenfunktionsstörungen sowie vor allem vielfältige zentrale und periphere vegetative Begleitwir-
kungen. Die bisweilen kritiklose Anwendung von Benzodiazepinen und Neuroleptika darf daher nicht
durch eine kritiklose Anwendung von Trizyklika bei generalisierten Angststörungen ersetzt werden.“
656 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Autoren wie Laux [34] warnen ebenfalls davor, eine problematische Langzeitbehand-
lung mit Benzodiazepinen unkritisch durch eine solche mit Antidepressiva oder Neuro-
leptika zu ersetzen, da auch diese oft unerwünschte Effekte haben können.
Wegen der anticholinergen Nebenwirkungen und der möglicherweise gefährlichen
Folgen für das Herz-Kreislauf-System (vor allem bei Überdosierung und gezielten
Selbstmordversuchen, die wegen der kardialen Nebenwirkungen oft tödlich ausgehen
können) werden die trizyklischen Antidepressiva bei der Behandlung von Angststörun-
gen zunehmend durch die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) ersetzt.
Sie behalten jedoch in speziellen Fällen weiterhin ihre Bedeutung, z.B. bei erwünschter
stärkerer Dämpfung im stationären Rahmen sowie als Einschlafhilfe, da die Serotonin-
Wieder-aufnahmehemmer keinen ausreichend sedierenden Effekt haben. Namentlich
handelt es sich dazu um die Substanzen Amitriptylin (Saroten®) und Doxepin (D: Sin-
quan®, Ö: Sinequan®), die jedoch zunehmend durch andere, neuere dämpfende Antide-
pressiva ersetzt werden, vor allem Trazodon (D: Thombran®, Ö: Trittico®) und Mirtaza-
pin (D: Remergil®, Ö: Remeron®).

MAO-Hemmer (Monoaminooxydase-Hemmer)
Monoaminooxydase-Hemmer hemmen das Enzym Monoaminooxydase (MAO), insbe-
sondere den Typ MAO-A, der die Neurotransmitter Noradrenalin, Dopamin und Sero-
tonin metabolisiert (verstoffwechselt) und steigern dadurch die Mengen dieser Trans-
mitter in den präsynaptischen Nervenendigungen. Infolgedessen können mehr Transmit-
termoleküle in den synaptischen Spalt freigesetzt werden, wenn die Nerven stimuliert
werden. Man unterscheidet zwei Typen von MAO-Hemmern:
1. Irreversible, nicht-selektive MAO-Hemmer (MAO-Hemmer der 1. Generation) mit
der Substanz Tranylcypromin (D: Jatrosom®; in Ö nicht mehr im Handel).
2. Reversible, selektive MAO-A-Hemmer (MAO-Hemmer der 2. Generation, RIMA)
mit der Substanz Moclobemid (Aurorix®).

Irreversible, nicht-selektive MAO-Hemmer

Irreversible, nicht-selektive Hemmer der Monoaminoxidase A und B wie Tranylcypro-


min (D: Jatrosom N® , Ö: nicht mehr auf dem Markt) sind heutzutage praktisch bedeu-
tungslos, weil aufgrund verschiedener Einschränkungen nur ein enggesteckter klinischer
Einsatzbereich möglich ist: strenge Diätvorschriften (keine Tyramin-hältigen Nah-
rungsmittel und Getränke, d.h. Verbot von gereiftem Käse, fermentierten Würsten,
getrockneten Früchten, Schokolade, Alkohol), keine Zusatzmedikation wegen mögli-
cher Wechselwirkungen (z.B. bei Sympathomimetika), Einhaltung von Umstellungszei-
ten nach anderen Medikamenten. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer dürfen wegen der
potenziell tödlichen Interaktion keinesfalls gleichzeitig oder unmittelbar davor einge-
nommen werden. Die Nichtbeachtung dieser Umstände führt zu einem lebensbedrohli-
chen Blutdruckanstieg (hypertensive Krise).
Die ambulante Tagesdosis beträgt 20-40 mg (verteilt auf 1-3 Einnahmezeitpunkte),
stationär bis 60 mg. Empfohlen wird am Anfang eine einschleichende und am Ende eine
ausschleichende Dosierung. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt 1,5-3 Stunden, der
maximale Plasmaspiegel wird nach 0,5-3 Stunden erreicht.
Antidepressiva 657

Reversible, selektive MAO-A-Hemmer

Reversible, selektive MAO-A-Hemmer (RIMA: Reversible Inhibitoren der Monoami-


nooxidase A) sind derzeit nur in Form der Substanz Moclobemid (D/Ö: Aurorix®) auf
dem Markt. Moclobemid hemmt hochselektiv und in reversibler Weise die MAO-A und
macht Diätvorschriften wegen der normalen Tyramin-Verstoffwechselung überflüssig
(außer dem Verzicht auf ein Übermaß an gereiftem Käse und der empfohlenen Einnah-
me am Ende der Mahlzeiten). Es bestehen auch nur mehr wenige Wechselwirkungen
mit anderen Medikamenten. In der Praxis ist Folgendes wichtig: MAO-Hemmer dürfen
nicht in Kombination mit SSRI, die den Serotoninspiegel steigern, verschrieben werden,
weil dadurch Komplikationen auftreten können (z.B. Hyperthermie, Konfusion, Hyper-
reflexie, Myoclonus). SSRI und auch Clomipramin müssen vorher ausgeschlichen sein,
beim Umstieg auf SSRI muss das Mittel zwei Wochen vorher abgesetzt werden.
Moclobemid hemmt den präsynaptischen Abbau von Serotonin, Noradrenalin und
Dopamin und erhöht damit die Verfügbarkeit dieser Neurotransmitter im synaptischen
Spalt. Die oft bereits nach einer Woche einsetzende Verbesserung der Stimmung und
der psychomotorischen Aktivität führt zur Reduktion von Symptomen wie Dysphorie,
Erschöpfung, Antriebsmangel und Konzentrationsschwierigkeiten. Obwohl ein sedie-
render Effekt fehlt, kommt es auch zu einer Besserung der Schlafqualität.
Die selektive Hemmung der MAO-A gilt als ein wichtiger Faktor zur Behandlung
von Depressionen und Angststörungen, weil Noradrenalin und Serotonin bei Menschen
fast ausschließlich durch MAO-A katabolisiert werden und Störungen der noradrener-
gen und serotonergen Neurotransmission als Angst und Depression erzeugend angese-
hen werden. Das Mittel wirkt häufig dort, wo Trizyklika und SSRI nicht ansprechen.
Die Substanz ist zugelassen zur Behandlung von Depressionen und Sozialphobien.
In einer umfangreichen Studie wurde die Wirksamkeit bei der sozialen Phobie nachge-
wiesen. Insgesamt haben sich jedoch in weiteren Studien die erhofften positiven Wir-
kungen bei der Sozialphobie nicht erfüllt, sodass mittlerweile die SSRI die Mittel der
ersten Wahl auch bei sozialen Phobien sind. Wegen der aktivierenden, antriebssteigern-
den Eigenschaften liegt der Hauptanwendungsbereich der RIMA bei ängstlich-
gehemmten depressiven Zuständen. Eine dämpfende Wirkung ist nicht gegeben.
Die Wirkung bei Panikstörungen ist unzureichend nachgewiesen, wenngleich sie
durch Effizienzstudien mit irreversiblen, selektiven MAO-Hemmern indirekt belegt ist.
Es gibt auch keine kontrollierten Behandlungsergebnisse für generalisierte Angststö-
rungen. Die Substanz ist somit in ihrer Wirksamkeit für Angststörungen, ausgenommen
die Sozialphobie, noch nicht bestätigt (entsprechend den üblichen Forschungskriterien).
Die Eliminationshalbwertszeit beträgt 2-7 Stunden, die Dauer der MAO-Hemmung
14-24 Stunden. Die Tagesdosis beträgt anfangs 300 mg (sofortige Dosierung ohne Ein-
schleichen), nach einer Woche kann eine Steigerung auf 600 mg erfolgen. 600 mg sind
laut einer Studie wirksamer als 300 mg. Bei einer Sozialphobie wird eine Zieldosis von
600 mg/Tag empfohlen.
Es treten eher wenige Nebenwirkungen auf, vor allem deutlich weniger vegetative
bzw. anticholinerge Symptome. Es erfolgt keine zentrale Dämpfung und somit keine
kognitive Beeinträchtigung. Mögliche Nebenwirkungen sind: Herzrasen, Schwindel,
Schlafstörung, Agitiertheit, Erregung, Reizbarkeit, innere Unruhe, Nervosität, verstärk-
tes Angstgefühl, Zittern, Mundtrockenheit, Hautreaktionen (Jucken), Übelkeit, Durch-
fall, Verstopfung, Magenbrennen, Kopfschmerzen, Schwächegefühl, Parästhesien.
658 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)


Die derzeit sechs selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI: selective se-
rotonin reuptake inhibitors) Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin, Citalopram
und Escitalopram hemmen die normalerweise rasch erfolgende Wiederaufnahme des
Neurotransmitters Serotonin in den präsynaptischen Teil der Synapse serotonerger Neu-
rone, indem sie die entsprechenden Rezeptoren besetzen, wodurch im synaptischen
Spalt mehr Serotonin zur Verfügung steht. SSRI bewirken also eine Vermehrung von
Serotonin im synaptischen Spalt durch Hemmung der Wiederaufnahme in die Präsy-
napse und stimulieren gleichzeitig auch alle drei postsynaptischen Serotoninrezeptoren.
SSRI wirken Angst lösend, ohne dämpfend zu sein, während das trizyklische Antide-
pressivum Amitriptylin (Saroten®, Amineurin®, Tryptizol®) Angst lösend und gleichzei-
tig recht dämpfend wirkt.
Bei akuter Verabreichung von SSRI setzt die Blockade rasch ein. Bei regelmäßiger
Einnahme kommt es zu adaptiven Veränderungen an den prä- und postsynaptischen
Serotoninrezeptoren, die der Grund dafür sind, dass diese Substanzen bei Depressionen
oft erst nach 2-4 Wochen, bei Zwangsstörungen gar erst nach 8 bzw. 10-12 Wochen
therapeutisch wirksam sind. Neuere Studien mit anfangs rascher Dosissteigerung haben
allerdings ergeben, dass im Vergleich zur Placebobehandlung bereits nach einer Be-
handlungswoche eine leichtere, aber signifikante Symptomreduktion eintreten kann.
SSRI sollten über einen Zeitraum von 6-12 Monaten regelmäßig eingenommen wer-
den, bei Zwangsstörungen viel länger. Die Serotoninerhöhung hat eine antipanische,
stimmungs- und antriebssteigernde Wirkung, hemmt möglicherweise den Appetit (wirkt
also im Vergleich zu anderen Antidepressiva wenig appetitanregend), bewirkt am ehe-
sten eine vorübergehende Übelkeit und dämpft manchmal die Libido und die sexuelle
Funktionsfähigkeit (Orgasmusprobleme, Ejakulationsverzögerung).
Serotonerge Neurone sind im Zentralnervensystem besonders im limbischen System
lokalisiert, das mit der Steuerung emotioneller Reaktionen in Verbindung steht. Die
serotonergen Systeme haben Bahnen zum Locus coeruleus (= noradrenerge Neurone)
und auch zur Substantia nigra (dopaminerg), sodass Serotonin als Komodulator von
Noradrenalin und Dopamin angesehen wird.
Ein Mangel an Serotonin und Noradrenalin in den Synapsen bzw. ein neurochemi-
sches Ungleichgewicht zwischen Serotonin, Noradrenalin und Dopamin werden nach
den gängigen biologischen Theorien als mögliche Ursachen bestimmter Depressionen
angesehen. Eine Serotonin-Dopamin-Balance-Störung wird auch bei Zwängen ange-
nommen. Die Wirksamkeit der SSRI ist mittlerweile bereits – je nach Substanz – für
alle wichtigen Angststörungen belegt.
Trotz der Gemeinsamkeiten zwischen den SSRI bestehen auch Unterschiede, die
noch kaum erforscht sind. Bei Unwirksamkeit einer Substanz kann daher der Umstieg
auf einen anderen SSRI durchaus zum erwünschten Effekt führen.
SSRI haben wegen der fehlenden anticholinergen, antihistaminergen und antiadre-
nergen Nebenwirkungen ein vergleichsweise günstiges Nebenwirkungsprofil. SSRI sind
wegen der geringeren Nebenwirkungen, der geringeren Wechselwirkungen mit anderen
Medikamenten, der relativen Risikoarmut bei Überdosierung (im Falle eines Selbst-
mordversuchs keine kardiotoxische Wirkung) und der fehlenden Verstärkung von Al-
kohol sowohl den Tranquilizern als auch den anticholinerg wirkenden trizyklischen
Antidepressiva vorzuziehen. SSRI sind aufgrund der hohen Entwicklungskosten aller-
dings viel teurer als Tranquilizer und trizyklische Antidepressiva.
Antidepressiva 659

SSRI bewirken keine vegetativ-anticholinerge Symptomatik (keine Mundtrocken-


heit, keine Gewichtszunahme usw.) und keine Herz-Kreislaufbeschwerden (keine Be-
einflussung von Blutdruck und Herzrhythmus) wie Trizyklika. Wegen der fehlenden
Sedierung muss bei Bedarf ein Tranquilizer oder ein dämpfendes Antidepressivum
(Amitriptylin, Doxepin, Trazodon, Mianserin, Mirtazapin) zusätzlich verabreicht wer-
den (abends zur Vermeidung möglicher Nebenwirkungen). Am ehesten werden Tri-
zyklika bei einer SSRI-Therapie zur Schlafverbesserung verabreicht. In diesem Fall
sollte ein SSRI gewählt werden, der wenige Interaktionen aufweist, z.B. Sertralin.
Mögliche Nebenwirkungen der SSRI in den ersten 2-4 Wochen: Übelkeit, Brechreiz,
Durchfall, Appetitminderung, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Schwindel, Schwitzen,
innere Unruhe (Agitiertheit), Angst- und Erregungszustände, Sexualstörungen (Ejakula-
tionsverzögerung bei Männern, Orgasmus- oder Libidoprobleme bei Frauen). Sexuelle
Nebenwirkungen kommen bei Fluvoxamin seltener vor. Es kommt zu Nebenwirkungen
durch die indirekte Stimulation der Rezeptorsubtypen: 5-HT2A: Ängstlichkeit, Agitiert-
heit, sexuelle Funktionsstörungen, 5-HT2C: Appetitminderung, Reizbarkeit, sexuelle
Funktionsstörungen, 5-HT3: Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen.
Unter Fluoxetin und Paroxetin sind auch extrapyramidale Nebenwirkungen möglich
(Akathisie: Sitz-, Steh- und Bewegungsunruhe; Dyskinesien: Bewegungsstörungen).
Fluoxetin kann in höherer Dosis zu einer (oft erwünschten) Gewichtsabnahme führen.
Subjektiv kann anfangs vor allem das „Jitteriness“-Syndrom (Zustand von Ängstlich-
keit und Nervosität) belastend sein. Die Nebenwirkungen können durch eine einschlei-
chende, langsam ansteigende Medikation verhindert oder reduziert werden, d.h. in der
ersten Woche wird am besten nur die halbe Dosis (5, 10 bzw. 25 mg) eingenommen.
Als zentrales „Serotonin-Syndrom“ bei SSRI und Venlafaxin (auch bei serotonerg
wirksamen trizyklischen Antidepressiva) bezeichnet man die serotonerge Überaktivität
in Form des gleichzeitigen Auftretens von mindestens drei der folgenden Nebenwirkun-
gen: Erregung, Verwirrtheit, Hypomanie, Tremor, Myoklonien, Hyperreflexie, Rigor,
Ataxie, Hyperaktivität, Hypo- oder Hyperthermie, Tachykardie, Schüttelfrost, Schweiß-
ausbrüche, Durchfall. Das Serotonin-Syndrom, das überwiegend innerhalb der ersten
24 Stunden nach der Einnahme eines SSRI auftritt, kommt vorwiegend bei einer Kom-
binationstherapie mit einen anderen Psychopharmakon vor.
Nach umfangreichen Erhebungen in den USA wurde (nach Placebobereinigung)
Nausea (Übelkeit) als die häufigste SSRI-Nebenwirkung festgestellt, mit Häufigkeiten
von 26,0% bei Fluvoxamin, 16,4% bei Paroxetin, 14,3% bei Sertralin und 11,0% bei
Fluoxetin. Durchfall (8,4%) und Mundtrockenheit (7,0%) plagen vor allem Depressive
mit Sertralin-Einnahme. Ejakulationsstörungen ergaben sich am häufigsten bei Sertralin
(13,3%) und Paroxetin (12,9%). Die oft erwünschte Nebenwirkung Gewichtsverlust trat
mit 6,4% der Fälle bei Fluoxetin am häufigsten auf. Libido- und Ejakulationsstörungen
kommen bei Sertralin rund 6-mal häufiger vor als bei Fluoxetin. Extrapyramidal-
motorische Störungen treten nur sehr selten auf, am ehesten bei Paroxetin.
Bei allen SSRI kann plötzliches Absetzen 1-10 Tage (im Mittel 3 Tage) später zu
typischen Absetzeffekten führen, die durchschnittlich 7-14 Tage anhalten, wie groß
angelegte Erhebungen in England und Australien ergaben. Es handelt sich dabei um
keine Entzugssymptome wie bei Benzodiazepinen, da SSRI nicht abhängig machen. Es
zeigen sich nur jene Veränderungen, die auftreten, wenn das Psychopharmakon durch
das plötzliche Absetzen nicht mehr auf den Rezeptor wirken kann. In Abgrenzung zu
den Entzugssymptomen bei Tranquilizern spricht man von Absetzeffekten oder einem
Absetzsyndrom, weil danach die ursprünglichen Symptome wieder auftreten.
660 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Vorübergehend können auch Entzugssymptome im Sinne bisher unbekannter Sym-


ptome auftreten, die durch neuerliche Einnahme des SSRI bald wieder verschwinden.
Diese Forschungsergebnisse haben dazu geführt, dass viele Patienten eine große Angst
vor einer Abhängigkeit von SSRI entwickelt haben, was unbegründet ist.
Bei 45% der englischen Patienten traten neurologische Symptome auf (Schwindel,
Kopfschmerzen, Parästhesien). Bei 25% ergaben sich gastrointestinale und andere so-
matische Beschwerden, z.B. bei 10% Übelkeit, bei manche Patienten Erbrechen oder
Mundtrockenheit. Bei 23% traten neuropsychiatrische Zustände und Verhaltensstörun-
gen auf, z.B. bei 4% Schwächegefühle, bei anderen Reizbarkeit oder Angstzustände, bei
5% Schlafstörungen (Schlaflosigkeit, lebhafte Träume). Beachtliche 16% bezeichneten
die Ausprägung der Absetzsymptome als stark. Die Absetzeffekte sind naturgemäß
stärker bei jenen SSRI, die eine kürzere Halbwertszeit haben (z.B. Paroxetin, Fluvoxa-
min) als bei jenen SSRI, die eine längere Halbwertszeit aufweisen (Fluoxetin).
Bei Paroxetin wurden in England die mit 5,1% häufigsten Absetzeffekte festgestellt,
was u.a. mit der kurzen Halbwertszeit und dem fehlenden aktiven Metaboliten zusam-
menhängen dürfte. Bei den anderen SSRI ergaben sich nur sehr geringe Absetzeffekte
(0,06-0,9%), die geringsten bei Fluoxetin wegen der langen Halbwertszeit der Mutter-
substanz und des aktiven Metaboliten Norfluoxetin (6-9 Tage).
Eine australische Studie kam zu ähnlichen Befunden. Demnach waren Schwindel,
Übelkeit, Lethargie, Parästhesien (Körpermissempfindungen), Albträume, Reizbarkeit
und Stimmungsveränderungen die häufigsten Absetzsymptome. Die geringen Absetzef-
fekte bei Fluoxetin und Sertralin wurden durch die längere Eliminationshalbwertszeit
beider Substanzen erklärt.
Zusammenfassend gesehen können beim Absetzen von SSRI folgende Symptome
auftreten: Schwindel, Kopfschmerzen, Parästhesien (Körpermissempfindungen),
Gleichgewichtsstörungen, Ataxie (Schwäche), Zittern, Augenzucken, Tinnitus (Ohrge-
räusche), Übelkeit, Erbrechen, Müdigkeit, Muskelschmerzen, Schlafstörungen (Schlaf-
losigkeit, lebhafte Träume), Angstzustände, Reizbarkeit, Aggressionen, Hyperaktivität.
Gelegentlich sind auch Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie Depressionen
zu finden. Bei neuerlicher Einnahme eines SSRI-Antidepressivums verschwinden die
Absetzsymptome innerhalb von 1-2 Tagen. Beim Absetzen eines SSRI ist daher auf ein
langsames Ausschleichen zu achten.
Ungünstige Effekte einer medikamentösen Kombinationstherapie wurden bisher
noch zu wenig beachtet. Für die Behandlungspraxis bedeutsam ist der Umstand, dass
SSRI (insbesondere Fluoxetin, Fluvoxamin und Paroxetin) den Plasmaspiegel von
gleichzeitig eingenommenen trizyklischen Antidepressiva auf den vier- bis sechsfachen
Wert erhöhen und den serotonergen Effekt verstärken können, weshalb die Kombinati-
on von SSRI und Trizyklika riskant ist.
SSRI blockieren je nach Präparat in unterschiedlicher Weise das Enzym Cytochrom
P450, über dessen Wirksystem viele andere Medikamente abgebaut werden. Dieser
Umstand kann die Wirkung anderer Medikamente vervielfachen, sodass die Gefahr
einer toxischen Plasmakonzentration bei einem anderen eingenommenen Psychophar-
makon besteht, weshalb von einer unkontrollierten Einnahme abzuraten ist. Sertralin,
Citalopram und Escitalopram weisen die geringsten Interaktionen mit dem Cytochrom-
P450-System auf, d.h. sie lassen sich besser als andere SSRI mit anderen Psychophar-
maka kombinieren und werden daher häufig bei Kombinationstherapien eingesetzt.
SSRI dürfen wegen der (an sich seltenen) Gefahr eines Serotonin-Syndroms auch nicht
mit MAO-Hemmern (z.B. Moclobemid: Aurorix®) kombiniert werden.
Antidepressiva 661

Bei SSRI bestehen auch Placeboeffekte: Depressive Patienten, die auf eine SSRI-
Therapie sehr früh ansprachen (im Sinne eines antizipierten Placeboeffekts), profitierten
bei einer Langzeittherapie von Placebo, während Patienten mit einem anfänglich verzö-
gerten Ansprechen zur Rückfallsvorbeugung ein Antidepressivum benötigten. Wenn
depressive Patienten also schon sehr früh auf SSRI ansprachen, machte es keinen Unter-
schied, ob sie bei einer Langzeittherapie ein Placebo oder einen SSRI erhielten.
Die derzeit auf dem Markt befindlichen sechs SSRI (Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxe-
tin, Sertralin, Citalopram, Escitalopram) werden im Folgenden näher dargestellt, weil
sie bei Angstpatienten gegenwärtig als die Mittel der ersten Wahl gelten. Die Verord-
nung von SSRI-Antidepressiva stieg zwischen 1997 und 2006 um fast 700 Prozent an.

Fluoxetin

Fluoxetin (D: Fluctin®, Ö: Fluctine®, USA: Prozac®) war der erste SSRI auf dem Markt
(in den USA seit 1988). Neben dem Originalpräparat gibt es – wie bei anderen SSRI –
mittlerweile zahlreiche Generika, d.h. Medikamente, die auch andere Firmen erzeugen
dürfen, weil der Patentschutz erloschen ist. Prozac® wurde in den USA durch ein Buch,
das zum Bestseller wurde, als „Glückspille“ bekannt, was nicht zutreffend ist. Gesunden
Menschen geht es nach Einnahme dieser Substanz nicht besser, sondern schlechter.
Fluoxetin hat die Zulassung für Depressionen, Zwangsstörungen und Bulimia nervo-
sa. Bei Panikstörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen besteht ebenfalls
Wirksamkeit. Eine Dosis von 20 mg/Tag ist meist ausreichend, bei Zwangsstörungen ist
eine langsame Steigerung auf 40-60 mg/Tag empfehlenswert. Wenn nach 10 Wochen
keine Besserung der Zwänge einsetzt, sollte ein Wechsel auf eine andere Substanz er-
wogen werden. Bei Panikpatienten sollte mit einer Einschleichdosis von 10 mg begon-
nen werden. Fluoxetin wirkt stimmungsaufhellend ohne Tagesmüdigkeit.
Die Eliminationshalbwertszeit der Muttersubstanz beträgt 4-6 Tage, des Metaboliten
Norfluoxetin 4-16 Tage. Dies ist viel länger als bei allen anderen SSRI und hat Vor-
und Nachteile. Die sehr lange Wirkungsdauer verhindert zwar Rückfälle bei unregelmä-
ßiger Medikamenteneinnahme bzw. Symptome beim plötzlichen Absetzen, erschwert
jedoch den raschen Umstieg auf ein anderes Mittel bei Wirkungslosigkeit der Substanz.
Es bestehen keine anticholinergen oder antihistaminergen Eigenschaften. Häufige
Nebenwirkungen zu Behandlungsbeginn und bei höherer Dosierung sind: Appetitlosig-
keit, (meist erwünschte) Gewichtsabnahme, Übelkeit (gelegentlich bis zum Erbrechen),
Durchfall, vermehrtes Schwitzen, Angst, innere Unruhe und Erregungszustände (Agi-
tiertheit), Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Tremor, Schwindel, sexuelle Funktionsstö-
rungen (insbesondere Ejakulationsverzögerungen), Hautausschlag, Juckreiz, Herzklop-
fen. Bei trotz einschleichender Dosierung anhaltenden Erregungszuständen mit Unruhe,
Angst, Desorientierung und Schlafstörungen muss das Präparat gewechselt werden. Bei
Diabetikern ist eine Hypoglykämie möglich, nach dem Absetzen eine Hyperglykämie.
Fluoxetin hemmt das Cytochrom P450IID6 Isoenzym, sodass die Wirkung aller
Medikamente, die dadurch metabolisiert werden, erhöht wird (Dosisreduktion des ande-
ren Mittels ist zu überlegen). Fluoxetin beeinflusst die Dopaminfunktion, was bei ande-
ren SSRI nicht der Fall ist. Die Substanz stellt nicht das Mittel der ersten Wahl bei
Angst- und Panikstörungen dar, weil die Wirksamkeit im Vergleich zu anderen SSRI
weniger gut belegt ist. Bei einer placebokontrollierten Studie zeigte sich jedoch eine
Verminderung der Panikattacken und der damit verbundenen Angstsymptome.
662 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Fluvoxamin

Fluvoxamin (D: Fevarin®, Ö: Floxyfral®) wirkt antidepressiv, zwangslindernd und


Angst lösend. Das Mittel ist zugelassen zur Behandlung von Depressionen, Panikstö-
rungen und Zwangsstörungen. Es wurde auch bei sozialer Phobie, Binge-Eating-
Störung und Bulimie als wirksam nachgewiesen. Die Substanz hat nicht jene Bedeutung
und Verbreitung erlangt, wie dies bei den anderen SSRI der Fall ist.
Die Tagesdosis beträgt in der 1. Woche 50 mg, ab der 2. Woche 100 mg, bei Bedarf
später 150 mg, bei Zwangsstörungen 200-300 mg. Die Eliminationshalbwertszeit be-
trägt ca. 20 Stunden. Es bestehen keine anticholinergen oder antihistaminergen Eigen-
schaften. Häufige Nebenwirkungen sind zu Behandlungsbeginn und bei höherer Dosie-
rung: Appetitlosigkeit, Übelkeit (gelegentlich mit Erbrechen), Durchfall, innere Unruhe
und Agitiertheit, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Tremor, Schwindel, Schwitzen,
sexuelle Funktionsstörungen (insbesondere Ejakulationsverzögerung).
Wegen verschiedener Interaktionsmöglichkeiten mit anderen Psychopharmaka und
anderen Medikamenten ist eine gewissenhafte Verordnung und Überprüfung angezeigt.

Paroxetin

Paroxetin (D/Ö: Seroxat®), das zu den selektivsten SSRI gehört, ist aufgrund vieler
Studien zugelassen für Depressionen, Panikstörungen mit und ohne Agoraphobie, sozia-
le Angststörungen, generalisierte Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörun-
gen und Zwangsstörungen. Umfangreiches Datenmaterial belegt weiters, dass Paroxetin
auch die Ängste im Rahmen einer depressiven Episode wirksam beseitigt (im Rahmen
einer depressiven Episode treten bei mindestens 60-90% der Patienten auch Ängste auf).
Bei Panikpatienten und Sozialphobikern ist eine einmalige Tagesdosis von 20 mg mor-
gens ausreichend, bei Bedarf (bei Zwangsstörungen unbedingt) kann eine Steigerung
auf 50-60 mg vorgenommen werden (Intervall der Dosissteigerung mindestens eine
Woche). Zumindest bei Panikpatienten sollte zur Vermeidung bzw. Minimierung des
Risikos einer möglichen Verschlechterung der Panikstörung anfangs mit einer subthera-
peutischen Dosis von 10 mg/Tag begonnen werden und dann wöchentlich um jeweils
10 mg/Tag bis zur Zieldosis gesteigert werden. Bei einer Dosis von 40 mg ließ sich die
Anzahl kompletter Panikattacken im Vergleich zu niedrigeren Dosierungen und zu
Placebo am stärksten reduzieren. Der Rückgang der Angstsymptomatik setzt im Ver-
gleich zu anderen Antidepressiva und Placebo bereits nach einer Woche ein. Bei einer
Dosisfindungsstudie für Panikpatienten waren Dosen von 10 und 20 mg Paroxetin nicht
bzw. nur wenig besser als Placebo, während 40 mg die beste Wirkung erbrachten.
Häufige Nebenwirkungen zu Therapiebeginn sowie bei Dosissteigerung sind: sexu-
elle Funktionsstörungen (insbesondere verzögerte Ejakulation), Übelkeit, Brechreiz,
Magen-Darmbeschwerden, Durchfall, Verstopfung, verminderter Appetit, Mundtrok-
kenheit, Schwitzen, Tremor, Unruhe, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Schwindel,
erhöhte Cholesterinwerte (bei Herz-Kreislauf-Patienten besonders beachten!).
Ein abruptes Absetzen sollte vermieden werden, weil vorübergehend bestimmte
Symptome auftreten können, vor allem Benommenheit, sensorische Störungen, Schlaf-
störungen, Agitation, Ängstlichkeit, Übelkeit oder Schwitzen. Absetzphänomene sind
stärker als bei anderen SSRI. Bei Kombination mit Trizyklika, Benzodiazepinen, Neu-
roleptika und Lithium kann ein vorher stabiler Plasmaspiegel stark ansteigen.
Antidepressiva 663

Wie bei anderen SSRI sollte gleichzeitig keinesfalls ein MAO-Hemmer (Aurorix®)
eingenommen werden (Abstand von 14 Tagen), weil es dadurch zu Erregung, Unruhe,
Zittern, Herzrasen und gastrointestinalen Beschwerden wie Übelkeit oder Durchfall
kommen kann. Paroxetin kann ein neuroleptisches malignes Syndrom auslösen.
Paroxetin kann anfangs erregend und stimulierend wirken, z.B. in Form von Schlaf-
losigkeit, Nervosität und vermehrtem Antrieb. Bei Patienten mit Selbstmordgedanken,
Erregung und Schlafstörung sollte daher anfangs zusätzlich ein beruhigendes bzw.
schlafförderndes Mittel (ein dämpfendes Antidepressivum oder ein Tranquilizer in fal-
lender Dosierung) verordnet werden.
Die Eliminationshalbwertszeit beträgt ca. 16 Stunden (8-30 Stunden), ein Steady-
state-Plasmaspiegel wird nach ca. 7-14 Tagen erreicht. Paroxetin und Fluvoxamin haben
eine kürzere Halbwertszeit als andere SSRI. Die belastenden anticholinergen und antihi-
staminergen Nebenwirkungen fehlen. Paroxetin weist unter den selektiven Serotonin-
Wiederaufnahmehemmern die geringste Affinität zu den Histamin-H1-, alpha1- und
cholinergen Rezeptoren auf.
Paroxetin war lange Zeit neben Sertralin eines der häufigsten Mittel zur Behandlung
von Panikstörungen und wird immer mehr zugunsten des wesentlich nebenwirkungsär-
meren Escitalopram ersetzt. Die Substanz wirkt im Vergleich zu Fluoxetin schneller,
stärker Angst lösend und weist höhere Ansprechraten auf. Paroxetin zeigte im Vergleich
mit Clomipramin einen deutlich früheren Wirkungsbeginn und war nach 12 Wochen
gleich wirksam bei weniger Nebenwirkungen als das trizyklische Antidepressivum.
1995 wurde die erste SSRI-Studie bei Panikpatienten (großteils mit Agoraphobie)
vorgestellt, bei der Paroxetin und Placebo jeweils in Kombination mit einer kognitiven
Therapie eingesetzt wurden. Dabei war die Kombination von Pharmakotherapie und
kognitive Therapie der anderen Behandlungsform überlegen. Eine Reduktion um min-
destens 50% der Panikattacken nach 3 Monaten war bei 82% der Paroxetin-Gruppe und
bei 50% der Placebogruppe festzustellen.
1997 wurde eine in 11 Ländern durchgeführte Placebo- und Clomipramin-kon-
trollierte Doppelblindstudie veröffentlicht, die den Effekt von Paroxetin bei 367 Panik-
patienten nach 3 Monaten erhob. Nach 3 Monaten hatten 50,9% der Paroxetin-Gruppe,
36,7% der Clomipramin-Gruppe und 31,6% der Placebogruppe keine Panikattacken
mehr. Das Kriterium der Panikattackenreduktion um mindestens die Hälfte ergab in
allen 3 Gruppen doppelt so hohe Erfolgswerte (76,1% vs. 64,5% vs. 60,0%). Paroxetin
und Clomipramin waren gleich wirksam, allerdings wirkte Paroxetin rascher und hatte
weniger Nebenwirkungen. Beachtlich ist der relativ hohe Placeboeffekt.
In einer weiteren Erfolgsüberprüfung nach einem Jahr [35] wurden die in der Studie
verbliebenen 176 Panikpatienten untersucht. Es handelt sich dabei um die erste länger-
fristige SSRI-Studie mit Placebokontrolle bei Panikstörungen. Insgesamt ergab sich
eine weitere Besserung mit denselben bereits angeführten Effekten. Am Studienende
hatten 85% der Paroxetin-Gruppe, 72% der Clomipramin-Gruppe und 59% der Place-
bogruppe keine Panikattacken mehr. Die Prozentwerte für eine Reduktion der Panik-
attacken auf die Hälfte betrugen bei den 3 Gruppen 98%, 92% bzw. 88%. Paroxetin
erwies sich auch nach einem Jahr als wirksames, sicheres und gut verträgliches Mittel
zur Behandlung von Panikstörungen. Trotz des Ausfalls zahlreicher Placebo-
Gruppenteilnehmer war bei verschiedenen Patienten auch noch nach einem Jahr eine
anhaltende Placebowirkung feststellbar, obwohl Beratungsgespräche möglichst redu-
ziert worden waren. Die Teilnahme an einer Studie stellt nach Auffassung der Autoren
an sich bereits einen Placeboeffekt dar.
664 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Drei placeobokontrollierte Studien mit insgesamt 566 Patienten mit generalisierter


Angststörung bestätigten die Wirksamkeit bei generalisierter Angststörung nach acht-
wöchiger Behandlungsdauer. Die Wirksamkeit bei einer posttraumatischen Belastungs-
störung ist empirisch ebenfalls als erwiesen anzusehen. Paroxetin ist auch bei Zwangs-
störungen mindestens so gut wirksam wie die Referenzsubstanz Clomipramin. Nach 12
Wochen ergab sich bei über 50% der Zwangspatienten eine deutliche Reduktion der
Zwangssymptomatik (nötige Dosis: 40-60 mg). Nach einem Behandlungsjahr konnte
die nach 12 Wochen erreichte Besserung beibehalten bzw. gesteigert werden.

Sertralin

Sertralin (D: Gladem®, Zoloft®, Ö: Gladem®, Tresleen®) ist ein hochselektiver SSRI zur
Behandlung folgender Störungen: Depressionen (inklusive Rezidivprophylaxe depressi-
ver Störungen und Depressionen in Begleitung von Angstzuständen), Panikstörungen
mit und ohne Agoraphobie, Zwangsstörungen (auch bei Kindern und Jugendlichen),
generalisierte Angststörungen, soziale Phobien und posttraumatische Belastungsstörun-
gen. Die Wirksamkeit ist durch zahlreiche Studien belegt.
Die Standarddosis beträgt unabhängig vom Alter 50 mg pro Tag und kann bei Be-
darf und guter Verträglichkeit um jeweils weitere 50 mg pro Woche auf die Zieldosis
auf 100-200 mg erhöht werden, was vor allem bei Zwangspatienten angezeigt ist. Dosis-
findungsstudien haben gezeigt, dass eine Tagesdosis von 50 mg in den meisten Fällen
ausreichend ist. Diese Dosis entspricht auch der Erhaltungsdosis. Der Wirkungseintritt
erfolgt relativ rasch, erste Effekte sind oft bereits nach einer Woche festzustellen.
Sertralin weist für ein Antidepressivum recht günstige Eigenschaften auf:
z langsame Absorption,
z einmalige 50 mg Dosierung pro Tag,
z von Beginn an ohne Einschleichen einnehmbar, während bei den anderen SSRI oft
eine einschleichende Dosierung empfehlenswert ist,
z dosisproportionale Plasmakonzentrationen, d.h. die Beziehung zwischen Sertralin-
Dosis und Sertralin-Plasmaspiegel ist – im Gegensatz zu anderen SSRI – über die
gesamte therapeutische Dosierungsbreite von 50-200 mg pro Tag linear,
z altersunabhängige Pharmakokinetik, d.h. bei älteren Menschen ist keine spezielle
Dosisanpassung nötig, wie dies bei Citalopram und Paroxetin empfohlen wird,
z keine klinisch relevante Metabolitenaktivität,
z keine relevante Affinität zu cholinergen, histaminergen, serotonergen, dopaminer-
gen, alpha1-, alpha2- oder beta-adrenergen Rezeptoren, auch nicht zu GABA- oder
Benzodiazepinrezeptoren,
z Eliminationshalbwertszeit von ca. 26 Stunden (Einmal-pro-Tag-Dosierung),
z bei gleichzeitiger Einnahme anderer Medikamente kaum Wechselwirkungen.

Sertralin hat im Vergleich zu Paroxetin, Fluoxetin und Fluvoxamin auch ein geringeres
Interaktionsrisiko mit anderen Medikamenten. Es verträgt sich eher mit Trizyklika,
Benzodiazepinen und Medikamenten für ältere Menschen.
Häufige Nebenwirkungen zu Therapiebeginn und bei Dosissteigerung sind: Übel-
keit, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Durchfall, Mundtrockenheit, Tremor, Schwindel,
Schlafstörungen, Müdigkeit, sexuelle Funktionsstörungen (insbesondere Ejakulations-
verzögerung), vermehrtes Schwitzen, Dyspepsie, Kopfschmerzen.
Antidepressiva 665

Sertralin hemmt nicht so stark wie andere SSRI den Abbau des Enzymsystems Cy-
tochrom P450 (Isoenzym 2D6, aber auch Isoenzyme 2C9 und 2C10), das für den Abbau
vieler Arzneimittel (auch Lebensmittel) zuständig ist, und verstärkt nicht in unkontrol-
lierbarer Weise die Wirkung anderer gleichzeitig eingenommener Medikamente.
Vergleichsstudien zwischen Sertralin und Fluoxetin ergaben, dass die Angstsym-
ptomatik durch Sertralin tendenziell besser beeinflusst wurde als durch Fluoxetin. Bei
einer deutschen 15-Wochen-Studie zum Vergleich von Sertralin (50-150 mg) und Paro-
xetin (40-60 mg) ergab sich die gleiche Wirksamkeit, jedoch eine bessere Verträglich-
keit von Sertralin (keine Verschlechterung während der Ausschleichphase; Paroxetin-
Patienten erlebten beim Absetzen mehr Panikattacken und generell eher eine Ver-
schlechterung des Zustandsbildes).
In den USA wurden mehrere multizentrische, placebokontrollierte Doppelblindstu-
dien mit einer Dosis von 50, 100 und 200 mg Sertralin durchgeführt. Die Studien dauer-
ten zumeist 10-12 Wochen. Tab. 27 zeigt die hohe Wirksamkeit von Sertralin, aber auch
die hohen Placeboeffekte.

Tab. 27: Sertralin-Studien bei Panikpatienten

Patientenzahl Panikreduktion Panikreduktion


in der Sertralin-Gruppe in der Placebogruppe
177 65% 39%
168 77% 51%
88 71% 39%
176 79% 59%
152 84% 29%

Eine Meta-Analyse von 4 placebokontrollierten Doppelblindstudien bei Panikpatienten,


die 407 Sertralin-Gruppenteilnehmer und 257 Placebo-Gruppenteilnehmer umfasste,
ergab bei 69% der Sertralin-Gruppenteilnehmer und bei 47% (!) der Placebogruppen-
teilnehmer eine Reduktion der Panikattacken, aber auch der Erwartungsangst (67% vs.
50%). Die Besserungen durch die Sertralin-Behandlung zeigten sich auch anhand der
Hamilton-Angst-Skala, anhand einer globalen Erfolgsbeurteilung u.a.
Bei einer Studie an 320 Panikpatienten führte Sertralin im Vergleich zu Placebo zu
weniger Panikattacken, weniger Erwartungsangst, weniger phobischer Vermeidung,
geringerer soziale Beeinträchtigung, besserer sozialer, familiärer und beruflicher Funk-
tionsfähigkeit, vermehrten Freizeitaktivitäten, besserer Stimmung u.a.
Bei einer Studie mit fixen Dosierungen von 50, 100 und 200 mg/Tag waren 76% der
Patienten nach 6 Wochen frei von Panikattacken. Dabei bestand kein Zusammenhang
zwischen der Höhe der Dosierung und dem Zurückgehen der Panikattacken.
Zwei placebokontrollierte Studien dokumentierten die Wirksamkeit von Sertralin in
der Akutbehandlung der posttraumatischen Belastungsstörung, im Rahmen einer späte-
ren Verlaufsuntersuchung zeigte sich eine stabile Besserung bei anhaltender Dauerbe-
handlung bis zur 36. Woche. Eine kanadische 20-Wochen-Muticenterstudie erbrachte
die Wirksamkeit bei Patienten mit einer generalisierten Sozialphobie.
Eine große Sertralin-Studie zur Behandlung von Zwangsstörungen in 11 amerikani-
schen Zentren bei insgesamt 324 Zwangspatienten ergab in der Sertralin-Gruppe gegen-
über der Placebogruppe in allen Bereichen signifikante Verbesserungen bei verschiede-
nen Skalen. Nach einer Globalbeurteilung zeigten sich 52,8% der Sertralin-Gruppe und
35% der Placebogruppe „viel gebessert“ oder „sehr viel gebessert“.
666 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Der im Vergleich zu früheren Studien wesentlich größere Placeboeffekt dürfte damit


zusammenhängen, dass auch Patienten mit leichterer Zwangsstörung in die Studie auf-
genommen wurden, von denen ein Teil auch ohne Medikament eine Besserung erreich-
te. Dies weist auf die Wirksamkeit von unspezifischen Therapieeffekten hin. Vier weite-
re Studien belegen ebenfalls den Behandlungseffekt von Sertralin bei Zwangsstörungen.

Citalopram

Citalopram (D: Cipramil®, Ö: Seropram®) war vor Escitalopram, das von derselben
Firma entwickelt wurde, der selektivste Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Citalopram
ist zugelassen zur Behandlung von Depressionen, Panikstörungen mit und ohne Ago-
raphobie, soziale Phobien und Zwangsstörungen und zählte wegen der geringen Ne-
benwirkungen vor dem Erscheinen des Nachfolgepräparates Escitalopram zu den in der
klinischen Praxis am meisten verschriebenen SSRI.
Bei den meisten Angst- und Panikpatienten ist eine Zieldosis von 20-30 mg/Tag aus-
reichend, bei Zwangspatienten wird bei Verträglichkeit der Substanz eine Dosis bis zu
60 mg/Tag empfohlen. Bei manchen Panikpatienten treten anfangs verstärkte Angst-
symptome auf. Diese paradoxe Zunahme der Angst ist in der ersten Behandlungswoche
am stärksten und lässt im Laufe von zwei Wochen nach. Durch eine niedrige Anfangs-
dosis von 10 mg/Tag in der ersten Woche kann dies oft verhindert werden.
Die Wirkung von Citalopram setzt schneller ein als die von Fluoxetin (maximaler
Plasmaspiegel nach 3 Stunden). Der Steady-state-Plasmaspiegel wird innerhalb von 1-2
Wochen erreicht. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt ca. 33 Stunden. Das Medika-
ment sollte ausschleichend abgesetzt werden (pro Woche 10 mg weniger).
Citalopram beeinflusst die Wiederaufnahme von Noradrenalin, Dopamin und Gam-
ma-Aminobuttersäure (GABA) nicht oder nur in geringem Maß. Im Gegensatz zu vielen
trizyklischen Antidepressiva und einigen Serotonin-Wiederaufnahmehemmern zeigt
Citalopram keine oder nur geringe Affinität zu einer Reihe von Rezeptoren wie 5-HT1A-
Rezeptoren und 5-HT2-Rezeptoren, dopaminergen D1- und D2-Rezeptoren, Histamin
H1-Rezeptoren, verschiedenen Adrenorezeptoren, muskarinischen cholinergen Rezepto-
ren sowie Benzodiazepin- und Opioid-Rezeptoren. Die fehlende Wirkung auf diese
Rezeptoren erklärt das Fehlen von Nebenwirkungen wie z.B. Mundtrockenheit, Blasen-
und Darmstörungen, verschwommenes Sehen, Sedierung, Kardiotoxizität, orthostati-
sche Hypotonie. Citalopram unterdrückt den REM-Schlaf, erhöht die Tiefschlafphase,
bewirkt keine psychomotorische Verlangsamung und keine kognitive Beeinträchtigung
und nur eine minimale Sedierung.
Häufige Nebenwirkungen zu Therapiebeginn bzw. bei höherer Dosierung sind:
Übelkeit (gelegentlich bis zum Erbrechen), Appetitlosigkeit, Durchfall, verstärkte
Schweißneigung, innere Unruhe, Agitiertheit, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Tre-
mor, Schwindel und Zwangsgähnen, aber auch sexuelle Funktionsstörungen (insbeson-
dere Ejakulationsverzögerungen, Orgasmusstörungen, Libidominderung). Geringe In-
teraktionen mit anderen Medikamenten sind möglich, die Komplikationen mit anderen
Medikamenten sind jedoch geringer als bei Paroxetin.
In einer großen Untersuchung an 401 Zwangspatienten wurde Citalopram auch als
wirksames Mittel zur Behandlung der Zwangsstörung nachgewiesen. Die Wirksamkeit
der Substanz war im Wesentlichen unabhängig von der Höhe der Dosierung (Tagesdo-
sen von 20, 40 und 60 mg).
Antidepressiva 667

Nach zwei offenen Studien und einer Placebo- und Clomipramin-kontrollierten


Doppelblindstudie in 4 Ländern (Finnland, Schweden, Niederlande und Großbritannien)
bei 475 Panikpatienten mit und ohne Agoraphobie besteht Wirksamkeit bei Panikstö-
rungen [36]. Die Untersuchung des Dosiseffekts ergab folgende Befunde: 10-15 mg
Citalopram waren nicht wirksamer als Placebo, während eine Dosis von 20-30 mg bzw.
40-60 mg der Placebobehandlung signifikant überlegen war. Mit 20-30 mg wurden
sogar bessere Ergebnisse erzielt als mit einer höheren Dosis, d.h. die Standardbehand-
lung mit 20 mg ist meist ausreichend. Bei einer Vergleichsstudie an Panikpatienten war
Citalopram nach 60 Tagen bei 86% wirksam und Paroxetin bei 84%.

Escitalopram

Escitalopram (D/Ö: Cipralex®) ist der neueste und gleichzeitig stärkste selektive Sero-
tonin-Wiederaufnahmehemmer, der eine Weiterentwicklung von Citalopram darstellt.
Aus der einschlägigen Fachliteratur stammen folgende Informationen: Escitalopram ist
das pharmakologisch wirksame Enantiomer des Citaloprams, eines so genannten Ra-
zemats. Citalopram ist ein Razemat aus einem rechtsdrehenden (R-) Enantiomer, das
therapeutisch wirkungslos und sogar kontraproduktiv ist, und einem linksdrehenden
(S-) Enantiomer, das für die therapeutische Wirksamkeit verantwortlich ist. Links- und
rechtsdrehende Moleküle, die zueinander gleich sind, werden Enantiomere genannt, die
zur Unterscheidung mit R und S gekennzeichnet sind. Als Razemat bezeichnet man das
Gemisch der beiden Enantiomere. Durch die neuen Möglichkeiten der technischen
Trennung der beiden Komponenten konnte das reine (S)-Citalopram entwickelt werden,
das eine noch höhere Serotonin-Spezifität aufweist, bei bereits erheblich niedrigerer
Dosierung wirkt und entsprechend weniger Nebenwirkungen hat.
Escitalopram weist gegenüber Citalopram folgende Verbesserungen auf: Es erfolgt
eine noch selektivere Serotonin-Wiederaufnahmehemmung; die Wirkung tritt deutlich
früher ein; mehr Patienten sprechen darauf an und werden symptomfrei; die Substanz ist
genauso gut verträglich wie Citalopram, sogar mit noch weniger Nebenwirkungen.
Wegen der besseren Wirksamkeit bei relativ günstigem Preis möchte die Hersteller-
firma Escitalopram durch das früher bewährte Citalopram sukzessive ersetzen.
Escitalopram ist anerkannt zur Behandlung von Depressionen, Panikstörungen mit
und ohne Agoraphobie, Zwangsstörungen, generalisierten und sozialen Angststörungen.
Gegenüber Venlafaxin-Retard-Präparaten 75-150 mg wirkte Escitalopram schneller
und war gleich gut bei besserer Verträglichkeit.
Einnahmeempfehlungen: in der ersten Woche 5 mg/Tag, danach 10 mg pro Tag, bei
Bedarf später 20 mg/Tag (bei Zwängen 30 mg/Tag). Bei einer Eliminationshalbwerts-
zeit von 30 Stunden reicht eine Tablette pro Tag aus. Der maximale Plasmaspiegel wird
nach 4 Stunden erreicht. Das Wirkungsmaximum wird nach etwa drei Monaten erreicht.
Die Einnahmedauer sollte bei erstmaligem Auftreten der Symptome mindestens mehre-
re Monate, eher jedoch 6 Monate und nach einem Rückfall sogar 12 Monate umfassen.
Häufige Nebenwirkungen zu Behandlungsbeginn und bei höherer Dosierung: Übel-
keit (gelegentlich bis zum Erbrechen), Appetitlosigkeit, Durchfall, Appetitlosigkeit,
vermehrtes Schwitzen, innere Unruhe, Agitiertheit, Kopfschmerzen, Schwindel, Tre-
mor, Einschlafstörung, sexuelle Funktionsstörungen (Ejakulationsverzögerung, Libido-
minderung, Orgasmusstörungen). Es gibt nur wenige Arzneimittelinteraktionen, sodass
sich das Mittel gut zur Kombinationstherapie eignet.
668 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Noradrenalin-Serotonin-selektive Antidepressiva (NaSSA)


Mirtazapin

Mirtazapin (D: Remergil®, Ö: Remeron®) hat eine tetrazyklische Struktur und ist das
Nachfolgepräparat von Mianserin. Es ist ein noradrenerges und spezifisch serotonerges
Antidepressivum (NaSSA) mit einem dualen Wirkmechanismus. Es werden die präsy-
naptischen adrenergen alpha2-Rezeptoren am noradrenergen Neuron (= Autorezeptor)
und am serotonergen Neuron (= Heterozeptor) blockiert. Durch diese Rezeptorblockade
wird ein Neurotransmittermangel vorgetäuscht. Im Sinne einer negativen Feedback-
Regulation erfolgt eine vermehrte Freisetzung von Noradrenalin und Serotonin. Zusätz-
lich stimuliert das noradrenerge Neuron die nachgeschaltete serotonerge Nervenzelle,
was die Serotonin-Freisetzung fördert. Die Aktivierung von Neuronen durch Serotonin
über den Subtyp der 5-HT1A-Rezeptoren führt zur erwünschten antidepressiven und
Angst lösenden Wirkung. Die unerwünschte Wirkung der Stimulierung der 5-HT1A-
Rezeptoren (Mirtazapin ist ein H1-Rezeptoragonist) bewirkt Nebenwirkungen wie Mü-
digkeit, Benommenheit, Mundtrockenheit und vor allem häufige Gewichtszunahme.
Die gleichzeitige Blockierung der 5-HT2- und 5-HT3-Rezeptoren auf postsynapti-
scher Ebene, die gegenwärtig kein anderes Antidepressivum bewirkt, verhindert die
typischen serotonergen Nebenwirkungen. Dadurch werden SSRI-Nebenwirkungen wie
Übelkeit, Durchfall, Schlafstörungen und Sexualstörungen vermieden.
Mirtazapin wirkt antidepressiv, schlaffördernd und Angst lösend. Es besteht zwar
offiziell nur eine Indikation für depressive Erkrankungen, die Substanz wird jedoch
auch jenen Angstpatienten verordnet, die gleichzeitig eine Sedierung benötigen, ohne
dass deswegen Tranquilizer eingesetzt werden sollen.
Die Tagesdosis beträgt 30 mg abends (beginnend mit 15 mg), bei Nichtansprechen
wird auf 45 mg erhöht. Bei Hypotoniepatienten ist eine Verstärkung der Hypotonie bei
Bedarf durch eine Dosisreduktion zu vermeiden. Das Mittel wird ausschleichend abge-
setzt. Wirkungen und Nebenwirkungen beruhen auf folgenden Rezeptoreinwirkungen:
z Die Blockade der präsynaptischen alpha2-Autorezeptoren bewirkt eine erhöhte Frei-
setzung von Noradrenalin und infolgedessen eine erhöhte noradrenerge Neuro-
transmission, was einen antidepressiven Effekt hat.
z Die Blockade der präsynaptischen alpha2-Heterorezeptoren verhindert den hem-
menden Effekt von Noradrenalin auf die Serotoninfreisetzung (Serotoninerhöhung).
z Die agonistische Wirkung auf die alpha1-Adrenorezeptoren bewirkt eine Serotonin-
erhöhung (noradrenerge Neurone steuern die Impulsrate von serotonergen 5-HT-
Neuronen über alpha1-Adrenorezeptoren, die sich auf den 5-HT-Zellkörpern befin-
den, d.h. die Stimulation der alpha1-Adrenorezeptoren durch Noradrenalin führt zu
einem Anstieg der Impulsrate der 5-HT-Neurone, was eine vermehrte Serotonin-
freisetzung bewirkt). In seltenen Fällen kann sich dieser Mechanismus negativ als
orthostatische Hypotonie, Reflextachykardie und Schwindel äußern.
z Die spezifische Stimulation der 5-HT1A-Rezeptoren hat eine antidepressive und
Angst lösende Wirkung.
z Die Blockade der 5-HT2-Rezeptoren wirkt schlaffördernd und Angst lösend (eine
5-HT2-Stimulation bewirkt Agitiertheit, Nervosität, Schlaf- und Sexualstörungen).
z Die Blockade der 5-HT3-Rezeptoren verhindert Übelkeit, Erbrechen und Durchfall.
z Die Blockade der Histamin-H1-Rezeptoren bewirkt eine erwünschte Sedierung, im
negativen Fall Schläfrigkeit, Benommenheit und Gewichtszunahme (Hungergefühl).
Antidepressiva 669

Mirtazapin wirkt relativ rasch (oft bereits in der ersten Woche) und hat eine nur leicht
sedierende Wirkung, weil der aktivierende Noradrenalin-Effekt die sedierende Wirkung
über die Histaminrezeptoren teilweise kompensiert. Anticholinerge, antiadrenerge und
serotonerge Nebenwirkungen treten selten auf. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt
20-40 Stunden (bis 65 Stunden möglich). Dies rechtfertigt die Empfehlung zur Einmal-
gabe. Der maximale Plasmaspiegel wird nach zwei Stunden, der Steady-state-
Plasmaspiegel nach 3-4 Tagen erreicht, danach erfolgt keine weitere Akkumulation.
Die häufigsten Nebenwirkungen sind Sedierung, Müdigkeit (manchmal „hang over“-
Effekt am nächsten Morgen), Appetit- und Gewichtszunahme (Heißhungerphasen),
gelegentlich auch Mundtrockenheit, Verstopfung, Schwindel, orthostatische Hypotonie,
Kopfschmerzen, akute Knochenmarksdepression. Wegen der möglichen Blutbildschä-
digung sind regelmäßige Laborkontrollen empfehlenswert. Das in der Praxis größte
Problem stellt die oft relativ starke Gewichtszunahme dar. Die Beeinträchtigung von
Wachheit, Aufmerksamkeit und Konzentration (vor allem in den ersten Wochen) ist
bezüglich Verkehrstauglichkeit zu beachten. Anticholinerge Wirkungen fehlen.
Mirtazapin verstärkt die Wirkung von Benzodiazepinen, was bei gleichzeitiger Ein-
nahme zu beachten ist, und verstärkt auch die Wirkung von Alkohol, sodass eine strikte
Alkoholabstinenz eingehalten werden muss. Mirtazapin ist bei viel weniger Nebenwir-
kungen gleich wirksam wie Amitriptylin, Clomipramin und Doxepin und wirksamer als
Trazodon. Im Vergleich zu den SSRI fehlen Nebenwirkungen wie Übelkeit, und es zeigt
sich ein (oft erwünschter) leicht sedierender Effekt. Mirtazapin führt zu keiner Hem-
mung metabolisierender Enzymsysteme (insbesondere Cytochrom P450), sodass ein
eher geringes Interaktionspotenzial besteht.

Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI)
Venlafaxin (D: Trevilor®, Ö: Efectin®), Milnacipran (Ö: Dalcipran®, Ixel®, in D nicht
auf dem Markt) und das relativ neue Duloxetin (Cymbalta®) sind spezifische Serotonin-
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI specific serotonin and noradrenalin reup-
take inhibitors); sie hemmen die Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin aus
dem synaptischen Spalt ohne die Trizyklika-Wirkungen auf andere Rezeptorsysteme.

Venlafaxin

Venlafaxin ist ein selektiver Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI)


(mit zusätzlicher schwacher Dopamin-Wiederaufnahmehemmung). Diesen Wirkmecha-
nismus findet man auch bei Trizyklika wie Clomipramin oder Amitriptylin, jedoch
weniger spezifisch, weshalb cholinerge Nebenwirkungen auftreten. Venlafaxin hemmt
bei niedriger Dosis die Serotonin-, bei mittlerer Dosis zusätzlich die Noradrenalin- und
bei hoher Dosis auch noch die Dopamin-Rückaufnahme aus dem synaptischen Spalt.
Die Substanz wirkt stimmungsaufhellend und Angst lösend. Die Wirkung setzt in
höherer Dosis im Vergleich zu SSRI schneller ein. Der Angst lösende Effekt erfolgt
schnell, die stimmungsaufhellende Wirkung erst nach zwei Wochen. Die Eliminations-
halbwertszeit beträgt 5 Stunden (Retard-Präparat: 14-18). Der maximale Plasmaspiegel
wird nach 2-4 Stunden (retard: 8-9), die Steady-State-Dosis nach 3 Tagen erreicht.
670 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Venlafaxin ist zugelassen mit der Indikation für Depressionen mit und ohne beglei-
tende Angstsymptomatik (auch für Rezidivprophylaxe depressiver Störungen), generali-
sierte Angststörungen und soziale Phobien (nicht für Zwangsstörungen zugelassen). Die
Angst lösende Komponente von Venlafaxin wurde auch bei depressiven Patienten mit
gleichzeitiger Angstsymptomatik im Vergleich zu Fluoxetin und Placebo nachgewiesen.
Das Mittel erzielt nach einer multizentrischen Studie über 6 Monate bei ambulanten
Patienten mit einer generalisierten Angststörung auch dann gute Erfolge, wenn keine
depressive Begleitsymptomatik besteht. Die häufige Komorbidität von Angststörung
und Depression verschlechtert die Prognose, sodass eine effiziente Behandlung sehr
wichtig ist. Venlafaxin stellt oft das Mittel der ersten Wahl dar, weil es den Vorteil
hoher Wirksamkeit gegenüber beiden Erkrankungen in einem Präparat vereint.
Die Tagesdosis beträgt 75-150 mg (beginnend mit 37,5 mg), auf 2-mal 75 mg ver-
teilt, bei Bedarf Steigerung bis auf 225 mg. Wegen besserer Verträglichkeit sind Re-
tardpräparate (D: Trevilor® retard, Ö: Efectin® ER) empfehlenswert.
Venlafaxin hat im Vergleich zu Trizyklika weniger Nebenwirkungen, weil andere
Transmittersysteme nicht wesentlich beeinflusst werden, oft zeigen sich jedoch mehr
Nebenwirkungen als bei SSRI. Es besteht keine Affinität für cholinerge, H1-Histamin-,
alpha1-adrenerge, Benzodiazepin-, Opiat-, N-methyl-d-Asparaginsäure (NMDA)- und
Phenzyklidin (PCP)-Rezeptoren. Häufigkeit und Intensität der Nebenwirkungen neh-
men im Verlauf der Behandlung und nach Reduktion der Dosis ab.
Häufige Nebenwirkungen zu Behandlungsbeginn und bei Dosissteigerung: Übelkeit
(gelegentlich mit Erbrechen), Durchfall, Appetitlosigkeit, vermehrter (nächtlicher)
Schweiß, innere Unruhe, Agitiertheit, Angstzustände, Tremor, Nervosität, Sehstörun-
gen, dosisabhängig Blutdruckanstieg und Herzbeschwerden, Schlafstörung, Parästhesi-
en, Hautausschlag, sexuelle Funktionsstörungen. Ein sedierender Effekt fehlt.

Milnacipran

Milnacipran (Ö: Ixel®, Dalcipran®, in D nicht auf dem Markt) hemmt selektiv die Wie-
deraufnahme von Serotonin und Noradrenalin, ohne direkt die postsynaptischen Rezep-
toren zu beeinflussen. Das Mittel hat keine Auswirkungen auf die cholinergen Rezepto-
ren, die H1-Histaminrezeptoren, die dopaminergen Rezeptoren, die Benzodiazepin- und
Opiatrezeptoren. Gegenüber Venlafaxin hemmt Milnacipran das serotonerge und das
noradrenerge System in gleich starker Weise. Venlafaxin wirkt in niedriger Dosis wie
ein SSRI, während die noradrenerge Komponente erst bei einer Tagesdosis von über
150 mg zum Tragen kommt. Milnacipran ist zugelassen zur Behandlung von Depres-
sionen. Es gibt erste Hinweise auf Wirksamkeit bei Angststörungen.
Die Substanz weist im Gegensatz zu den meisten SSRI und Trizyklika eine lineare
Kinetik auf. Es besteht eine lineare Beziehung zwischen der verabreichten Dosis und
der Plasmakonzentration. Kumulations- oder Sättigungsphänomene treten nicht auf.
Es gibt keine dosisabhängige Wirkung auf die verschiedenen Transmittersysteme
und keine Wechsel- und Nebenwirkungen wie bei den trizyklischen Antidepressiva. Die
Substanz unterliegt keiner Biotransformation durch das Cytochrom P450-System.
Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören: Schwindel, übermäßiges Schwitzen,
Angstzustände, Schlafstörungen, Hitzewallungen, Schwitzen, Dysurie, Übelkeit, Erbre-
chen, Mundtrockenheit, Verstopfung, Tremor, Herzklopfen, Agitiertheit, Hautaus-
schlag. Gastrointestinale und sexuelle Nebenwirkungen sind seltener als bei den SSRI.
Antidepressiva 671

Bei Angstpatienten kann Milnacipran wegen möglicher cholinerger Nebenwirkun-


gen (z.B. Verstopfung, Übelkeit, vermehrtes Schwitzen, Tachykardie, Müdigkeit, Tre-
mor) anfangs zu Agitation und Unruhezuständen führen, sodass folgendes Vorgehen zu
empfehlen ist: Beginn mit 25 mg, Steigerung auf 50 mg nach drei Tagen, später Steige-
rung auf 100-200 mg. Die Wirksamkeit setzt nach 1-3 Wochen ein. Rezeptorbindungs-
studien haben jedoch gezeigt, dass Milnacipran keine erhebliche Affinität zu choliner-
gen Rezeptoren aufweist. Wegen der kurzen Eliminationshalbwertszeit von ca. 8 Stun-
den ist eine zweimalige Einnahme pro Tag erforderlich. Nach mehrmaliger Gabe wird
ein Steady-State-Plasmaspiegel nach 2-3 Tagen erreicht.

Duloxetin

Duloxetin (D/Ö: Cymbalta®) ist ein neuerer Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-


hemmer. Die Substanz ist zugelassen bei Depressionen, Schmerzstörungen (Schmerzen
bei diabetischer Polyneurophathie, Fibromyalgie), generalisierter Angststörung und
stressbedingtem Harnabgang (Harninkontinenz). Es besteht ein rascher Wirkungseintritt
(nach einer Woche) bei einem günstigen Nebenwirkungsprofil, ohne bedeutsame Affini-
tät für andere Rezeptoren (keine anticholinergen oder antihistaminergen Eigenschaften,
keine Blockade dopaminerger, serotonerger oder opioiderger Rezeptoren).
Die Tagesdosis ist 60-120 mg (anfangs 30 mg). Die Eliminationshalbwertszeit be-
trägt 9-19 Stunden (durchschnittlich 12,5 Stunden), maximaler Plasmaspiegel nach 2-6
Stunden. Häufige Nebenwirkungen zu Therapiebeginn: Übelkeit (bis zum Erbrechen),
Appetitverminderung, Schlaflosigkeit, Schläfrigkeit, Kopfschmerzen, Durchfall, Angst,
Nervosität, Agitiertheit, Schwindel, Tremor, Durchfall, Verstopfung, Hitzewallungen,
vermehrtes Schwitzen, Muskelsteifigkeit, sexuelle Funktionsstörungen (Libidovermin-
derung, Orgasmusstörungen, erektile Dysfunktion), Herzrasen, Mundtrockenheit u.a.

Selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (NARI)


Reboxetin

Reboxetin (Edronax®) ist ein spezifischer Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer


(NARI: specific noradrenalin reuptake inhibitor). Die Substanz hemmt den Rücktrans-
port des Neurotransmitters Noradrenalin aus dem synaptischen Spalt in das vorgeschal-
tete Neuron. Der Transport von Serotonin wird kaum, das Dopaminsystem überhaupt
nicht beeinflusst. Reboxetin dient der Behandlung akuter depressiver Störungen sowie
der Erhaltungstherapie. Erste Studien weisen auf die Wirksamkeit bei Patienten mit
Panikstörung hin und stellen damit die reine Serotoninhypothese bei Angststörungen in
Frage. In einer Doppelblindstudie bei Patienten mit Panikstörung führte Reboxetin nach
8 Wochen gegenüber Placebo zu einer signifikanten Verbesserung.
Reboxetin kann – zumindest als Zusatztherapie – auch bei jenen Angstpatienten
eingesetzt werden, die sich antriebsschwach und ständig müde fühlen. Das Mittel dient
vor allem auch der sozialen Aktivierung, die gerade bei depressiv gestimmten Angstpa-
tienten sehr wichtig ist. Im Vergleich zur Behandlung mit Trizyklika und SSRI tritt eine
raschere Verbesserung der sozialen Funktionsfähigkeit auf. Das Mittel führt zur Steige-
rung von Interesse, Reizempfinden, Antrieb, Motivation, Energie und Vigilanz.
672 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Edronax ist eine Behandlungsalternative für Patienten mit Gewichtszunahme nach


SSRI-Langzeiteinnahme. Bei Verträglichkeit kann Edronax in Kombination mit einem
SSRI den Therapieerfolg verbessern.
Die Tagesdosis beträgt zweimal 4 mg (anfangs 3 Tage lang 2 x 2 mg). Die antide-
pressive Wirkung setzt nach etwa 14 Tagen ein. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt
13-20 Stunden. Die maximale Plasmakonzentration wird nach 2 Stunden, der Steady-
State-Plasmaspiegel nach 5 Tagen erreicht. Es besteht keine Bindung an muskarini-
schen, histaminergen, dopaminergen oder adrenergen Rezeptoren. Dadurch wird es
möglich, erstmals die Noradrenalin-Konzentration im Gehirn zu erhöhen und die mögli-
chen Nebenwirkungen trizyklischer Antidepressiva zu vermindern. Es bestehen nur sehr
geringe Interaktionen mit anderen Medikamenten.
Häufige Nebenwirkungen sind: Mundtrockenheit, Verstopfung, Appetitverlust,
Übelkeit, Herzrasen, orthostatische Hypotonie, Kopfschmerzen, vermehrtes Schwitzen,
Schlafstörungen, innere Unruhe, Tremor, Harnverhaltung (hauptsächlich bei Männern),
sexuelle Funktionsstörungen (Ejakulationsverzögerung, erektile Dysfunktion).

Serotonin-Wiederaufnahmeverstärker (SRE)
Tianeptin

Tianeptin (Ö: Stablon®, D: nicht auf dem Markt) ist ein neueres Antidepressivum im
deutschsprachigen Raum, in Frankreich ist die Substanz seit längerem zugelassen.
Das Mittel ist ein Serotonin-Wiederaufnahmeverstärker (Enhancer). Statt selektiver
Serotonin-Wiederaufnahmehemmung erhöht Tianeptin die Serotonin-Rückaufnahme
aus dem synaptischen Spalt und widerspricht damit gängigen Theorien. Tianeptin er-
höht die Feuerungsrate der Neuronen im Hippocampus. Die Substanz steigert erstens
die spontane Aktivität von Pyramidenzellen im Hippocampus und beschleunigt ihre
Wiederherstellung nach funktioneller Hemmung und steigert zweitens die Wiederauf-
nahme von Serotonin durch die Nervenzellen in der Hirnrinde sowie im Hippocampus.
Tianeptin wird neben der Behandlung von Depressionen wegen der anxiolytischen
Komponente auch bei Angststörungen eingesetzt. Doppelblindstudien fehlen jedoch.
Die Substanz nimmt eine Mittelstellung zwischen sedativen und stimulierenden Antide-
pressiva ein und hat eine starke Wirkung auf somatische Beschwerden, besonders auf
die mit Angst und Stimmungsschwankungen verbundenen gastrointestinalen Beschwer-
den. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt 3 Stunden, was leider eine tägliche Mehr-
facheinnahme erfordert. Die Tagesdosis ist 37,5 mg (dreimal 12,5 mg).
Das Mittel ist gut verträglich und sollte wie alle Antidepressiva nur ausschleichend
abgesetzt werden. Es bestehen keine MAO-Aktivität und keine Effekte an anderen Neu-
rotransmittern (keine Metabolisierung über das Cytochrom P450). Bei gleich guter
Wirksamkeit gegenüber SSRIs und besserer Akzeptanz als Trizyklika weist die Sub-
stanz einige Vorteile auf, die den Einsatz durchaus bei Angstpatienten überlegenswert
machen. Anticholinerge Symptome fehlen.
Die häufigsten Nebenwirkungen sind: Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Somnolenz,
Angst, Mundtrockenheit, Verstopfung, Bauchschmerzen, Übelkeit, Schwindel, Rücken-
schmerzen, Kopfschmerzen, seltener sind Ein- und Durchschlafstörungen, Erbrechen,
Dyspepsie, Durchfall, Appetitmangel, Hautveränderungen (Pruritus), Sehstörungen. Die
Nebenwirkungen nehmen bei fortgesetzter Behandlung und Dosisreduktion ab.
Antidepressiva 673

Serotonin-Modulatoren
Trazodon

Trazodon (D: Thombran®, Ö: Trittico®) unterscheidet sich in seinem Wirkmechanismus


von allen anderen Antidepressiva. Es handelt sich um einen schwachen Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer, der gleichzeitig einen ausgeprägten Antagonismus gegenüber
5-HT2-Rezeptoren und alpha-Adrenorezeptoren, aber praktisch keine anticholinerge
Wirkung hat, d.h. das Mittel hemmt präsynaptisch die Serotonin-Wiederaufnahme und
blockiert postsynaptisch die 5-HT2A-Rezeptoren. Dieses Wirkungsprofil ist verantwort-
lich für die Verstärkung der antidepressiven Wirkung besonders in den Bereichen An-
xiolyse, Besserung von Schlafstörungen und Aufrechterhaltung der sexuellen Funktion.
Trazodon wird eingesetzt Behandlung von Depressionen unterschiedlicher Ursachen
mit und ohne Angstkomponente sowie bei anhaltenden Schlafstörungen bei Depressio-
nen. Es fördert den Tiefschlaf, vermindert psychovegetative (somatoforme) Symptome
und ist auch zugelassen zur Behandlung chronischer Schmerzzustände und funktioneller
Sexualstörungen. Zur Behandlung von Panikattacken ist das Mittel nicht geeignet.
Die Substanz wirkt sedierend, Angst lösend und weist nur wenig Nebenwirkungen
auf (keine anticholinergen Effekte), weshalb es Angstpatienten gerne zur Beruhigung
verschrieben wird (abendliche Einnahme zwecks Reduktion von Nebenwirkungen). Die
sedierende Wirkung setzt meist unmittelbar bereits in den ersten Tagen ein, die stim-
mungsaufhellende Wirkung gewöhnlich erst nach 1-3 Wochen. Das Mittel wird in der
klinischen Praxis oft als Alternative zu Mirtazapin (D: Remergil®, Ö: Remeron®) bei
depressiv bedingten Schlafstörungen eingesetzt, weil SSRI keine dämpfende und schlaf-
fördernde Wirkung haben, sondern zumindest zu Behandlungsbeginn oft Schlafstörun-
gen bewirken (weshalb zu deren Vermeidung die SSRI-Einnahme am Morgen und bei
wiederholter Einnahme spätestens zu Mittag erfolgt).
Zu Behandlungsbeginn ist eine niedrige abendliche Dosis von 50 mg zu empfehlen,
anschließend erfolgt eine graduelle Steigerung auf die Zieldosis von 100-150 mg (wenn
eine stärkere Dämpfung und eine schlafanstoßende Wirkung bei einer Schlafstörung
gewünscht werden). Die Tagesdosis wird verabreicht entweder als Einmaldosis, vor-
zugsweise abends, oder in zwei Dosen, wobei die höhere Dosis abends eingenommen
werden soll. Zwecks besserer Verträglichkeit wird das Mittel in Österreich auch als
Retard-Präparat verkauft, wo der Wirkstoff verzögert an den Körper abgegeben wird.
Die in Österreich üblichen Retard-Präparate mit 75 mg und 150 mg sind auf drei Teile
teilbar und ermöglichen daher eine individuelle Dosierung.
Häufige Nebenwirkungen zu Behandlungsbeginn und bei Überdosierung sind:
Schläfrigkeit, Benommenheit, Müdigkeit, Schwindel, Übelkeit, Mundtrockenheit, Ver-
stopfung, Durchfall, beschleunigter oder verlangsamter Herzschlag, orthostatische Hy-
potonie, Sehstörungen, Hautausschlag, Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, Ner-
vosität, Zittern. Ein möglicher Blutdruckabfall sollte zu Behandlungsbeginn und bei
Menschen mit niedrigem Blutdruck beachtet werden. Bei gleichzeitiger Beta-Blocker-
Einnahme zur Blutdrucksenkung ist die mögliche Wirkungsverstärkung zu beachten.
Wegen möglicher Herz-Kreislaufprobleme werden oft andere Mittel bevorzugt.
Zu Behandlungsbeginn ist aufgrund der sedierenden Wirkung die Aufmerksamkeit
und Reaktionsgeschwindigkeit und damit auch die Verkehrstüchtigkeit beeinträchtigt,
was vor allem am Morgen beachtet werden muss.
674 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Kombinationspräparate
Es gibt zur Behandlung von Menschen mit Ängsten in Österreich auch noch verschie-
dene Kombinationspräparate, die in Deutschland wegen der problematischen Kombina-
tion der Substanzen mittlerweile nicht mehr auf dem Markt sind:
1. Kombination von Tranquilizer und älterem (trizyklischen) Antidepressivum:
z Harmomed® (2,5 mg Diazepam und 14 mg Dosulepin) mit der Empfehlung einer
dreimal täglichen Einnahme des Dragees,
z Limbitrol® (5 mg Chlordiazepoxid und 12,5 mg Amitriptylin) mit täglicher Ein-
nahme von 2-6 Kapseln (Hauptdosis abends). Wegen des Tranquilizeranteils in
Limbitrol und Harmomed besteht bei Langzeiteinnahme Abhängigkeitsgefahr.
2. Kombination von Tranquilizer und Beta-Rezeptoren-Blocker:
z Betamed® (2,5 Diazepam und 60 mg Bupranolol) mit empfohlener zweimal täg-
licher Einnahme. Die Tablette ist ein Kombinationspräparat für Angstsyndrome
mit kardiovaskulären Symptomen. Beide Substanzen des Präparats sind bei län-
ger dauernder Einnahme wegen möglicher Folgestörungen problematisch.
3. Kombination von älterem (trizyklischen) Antidepressivum (Melitracen) und älterem
Neuroleptikum (Flupentixol):
z Deanxit® bzw. Deanxit® forte, bereits seit den 1950er-Jahren auf dem Markt,
wird von manchen Ärzten als Tranquilizeralternative 1-2-mal täglich verordnet.

Antiepileptila
Der Kalziumkanalmodulator Pregabalin (D/Ö: Lyrica®) aus der Gruppe der Antikon-
vulsiva ist neben der Indikation für Epilepsie und neuropathische Schmerzen wegen
seiner anxiolytischen Wirkung auch für generalisierte Angststörungen zugelassen und
auch bei sozialer Phobie wirksam. Pregabalin bindet an die alpha2-delta-Untereinheit
spannungsabhängiger Kalziumkanäle auf Nervenzellmembranen und moduliert den
Kalziumeinstrom in die Nervenzelle. Ein durch Pregabalin verminderter Kalziumein-
strom bewirkt bei neuronaler Übererregung, dass weniger erregende Transmitter wie
Glutamat oder Substanz P freigesetzt werden. Die Stimulation der postsynaptischen
Rezeptoren ist daher geringer, das Neuron reduziert seine Entladungstätigkeit.
Pregabalin wirkt bei geringer ausgeprägtem sedierenden Effekt genauso schnell wie
Benzodiazepine (Alprazolam) und erzeugt anfangs weniger Unruhe als Venlafaxin. Das
Mittel wirkt auch etwas schlafanstoßend, was bei Schlafstörungen günstig ist, beim
Autofahren und Arbeiten aber bedacht werden muss. Es kann auch Alkohol und Tran-
quilizer verstärken. Die mittlere Eliminationshalbwertszeit beträgt 6,3 Stunden.
Die Tagesdosis ist 300-600 mg (beginnend mit 75 mg und wöchentlicher Steige-
rung). Umstände wie rascher Wirkungseintritt, meist gute Verträglichkeit, Kombinier-
barkeit, kaum sexuelle Funktionsstörungen und fehlende Abhängigkeit empfehlen das
Mittel als Erfolg versprechende Alternative zu Benzodiazepinen und SSRI. Häufige
Nebenwirkungen: Benommenheit, Schläfrigkeit, Schwindel, Sexualstörungen, Tremor,
Verstopfung, Appetit- und Gewichtszunahme, Stimmungsänderungen, Sehstörungen.
Das Antiepileptikum Gabapentin (Neurontin®) ist bei sozialen und generalisierten
Angststörungen wirksam (geringfügig auch bei Panikstörungen). Antiepileptika werden
bei Angststörungen noch weiter erforscht und überprüft, vor allem auch andere Sub-
stanzen mit anxiolytischer Wirksamkeit (Tiagabin, Vigabatrin, Levetiracetan).
Beta-Blocker 675

Beta-Blocker
Beta-Blocker (eigentlich Beta-Rezeptoren-Blocker) werden seit den 1970er-Jahren auch
zur Behandlung von körperlichen Angstsymptomen eingesetzt (Herzklopfen, Herzrasen,
Erröten, Schwitzen, Zittern, Magen-Darm-Beschwerden). Beta-Blocker bestehen aus
dem Wirkstoff Bisoprolol (Concor®), Metoprolol (Beloc®, Lopresor®), Oxprenolol
(Trasicor®), Pindolol (Visken®), Propranolol (Inderal®, Dociton®) u.a. Sie dienen zur
Behandlung von Angina Pectoris, Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck, Herzkranz-
verengungen, Hyperthyreose sowie zur Behandlung nach einem Herzinfarkt. Bei Äng-
sten mit Körpersymptomen wird in der Praxis vor allem Propanolol eingesetzt.
Beta-Blocker haben eine blutdrucksenkende Wirkung, indem sie die Kontraktion
steigernden und Frequenz erhöhenden Eigenschaften von Noradrenalin am Herzen
hemmen und die Blutgefäße erweitern. Die Stimulation der beta1-adrenergen Rezepto-
ren bewirkt eine Erweiterung der Arterien, eine Erhöhung der Herzfrequenz, eine Er-
weiterung der Bronchien, eine Renin-Auschüttung und eine gesteigerte Glykogenolyse
(Zuckerbildung). Beta-Blocker blockieren einen Teil der Erregungsübertragung vom
Sympathikus auf die Organe und bewirken dadurch eine niedrigere Pulsrate, eine Sen-
kung des erhöhten Blutdrucks und eine Hemmung der Schweißsekretion.
Beta-Blocker verhindern einen Adrenalinstoß. Beta-Blocker (z.B. vorübergehende
Einnahme von 20-40 mg Inderal® bzw. Dociton®) schwächen den physiologischen Teil
der Angstreaktion, indem weniger Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt und dadurch
Herzfrequenz und Blutdruck gesenkt und das Kreislaufsystem stabilisiert werden. Beta-
Blocker wirken bei „nervösem“ Herzrasen (hyperkinetischem Herzsyndrom) so zuver-
lässig, dass die Diagnose falsch ist, wenn sie versagen. Es handelt sich dann um andere
Ursachen (z.B. Schilddrüsenüberfunktion, schwere psychische Krankheiten).
Beta-Blocker verhindern durch die reduzierte Stimulation der beta-adrenergen Re-
zeptorfunktionen die Rückmeldung körperlicher Veränderungen an das Gehirn. Körper-
liche Veränderungen im Rahmen von Angstreaktionen werden damit nicht wahrge-
nommen, wodurch eine Aufschaukelung der Ängste verhindert wird, d.h. der Teufels-
kreis der Angstaufschaukelung wird unterbrochen. Anders ausgedrückt: Man erlebt
weniger körperliche Angstsymptome und fühlt sich dadurch weniger ängstlich. Beta-
Blocker bewirken eine Entkoppelung von psychischen und vegetativen Symptomen.
Während die körperlichen Symptome der Angst relativ gut verhindert bzw. beseitigt
werden können, sind die psychischen Symptome der Angst (Nervosität, Reizbarkeit,
Ruhelosigkeit) durch Beta-Blocker weniger gut behandelbar. Beta-Blocker machen
nicht abhängig und sind weniger sedierend als Benzodiazepine. Sie bewähren sich daher
bei einigen Situationsphobien (Auftritt von Solisten, Sängern oder Schauspielern, Rede-
angst in der Öffentlichkeit, Prüfungsängste). Die Einnahme von Beta-Blockern ist sinn-
voll eine halbe Stunde vor einer Prüfung oder einer anderen akuten Belastungssituation.
Herzrasen, Erröten und Zittern stellen zentrale Symptome vieler Angstzustände dar.
Beta-Blocker reduzieren die unangenehmen körperlichen Symptome, ohne gleich-
zeitig Aufmerksamkeit und Konzentration zu beeinträchtigen, sodass die volle Lei-
stungsfähigkeit gegeben ist, d.h. Beta-Blocker wirken nicht dämpfend wie die Benzo-
diazepine. Beta-Blocker sind in ihrer Wirkung den Angst dämpfenden Antidepressiva
und Tranquilizern deutlich unterlegen. Wenn nicht die körperlichen, sondern die psychi-
schen Symptome im Vordergrund stehen, sollten primär Angst lösende Antidepressiva
eingenommen werden. Betablocker mögen zwar das Lampenfieber von Musikern redu-
zieren, wie die Praxis zeigt, helfen aber Sozialphobikern nicht im erwünschten Ausmaß.
676 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Eine Beta-Blocker-Behandlung ist bei Panikstörungen unwirksam. Die peripheren


bzw. vegetativen Symptome sind nicht das Hauptproblem bei Panikattacken. Die Herz-
frequenz ist nicht so stark erhöht, wie dies von Panikpatienten inadäquat wahrgenom-
men wird. Zudem haben manche Panikpatienten einen niedrigen oder labilen Blutdruck,
sodass schon allein deshalb von einer derartigen Behandlung abzuraten ist.
Von einer Langzeiteinnahme ist dringend abzuraten, obwohl keine Abhängigkeitsge-
fahr gegeben ist. Angstpatienten benötigen keine Dauerverordnung von Beta-Blockern.
Durch die möglichen Nebenwirkungen (insbesondere Blutdrucksenkung und Verlang-
samung des Herzschlags) kann die Angstsymptomatik und die körperbezogene Besorgt-
heit der Betroffenen oft noch verstärkt werden, vor allem wenn keine regelmäßige ärzt-
liche Kontrolle erfolgt.
Mögliche Nebenwirkungen sind: Schwindel, Benommenheit, Müdigkeit, Blutdruck-
abfall, Pulsverlangsamung, Kopfschmerzen, Durchblutungsstörungen (kalte Hände oder
Füße), Herzschwäche, Herzrhythmusstörungen, Übelkeit, Erbrechen, Verdauungs-
schwierigkeiten, Magen-Darmbeschwerden, Atemschwierigkeiten, Bronchialkrämpfe,
depressive Zustände, Potenzprobleme, Hautreaktionen, reduzierte Aufmerksamkeit,
Verwirrtheitszustände (bei älteren Menschen).
Menschen mit Asthma, niedrigem Blutdruck, Zuckerkrankheit oder Durchblutungs-
störungen der Gliedmaßen sollten Beta-Blocker nicht oder nur kurzfristig einnehmen, in
speziellen Fällen nur nach fachärztlicher Beurteilung. Die Kontraktion der Bronchial-
muskulatur kann Atemnot bewirken, weshalb Asthmatiker keine Beta-Blocker verwen-
den dürfen. Der verringerte Blutdruck kann zu Kreislaufstörungen, Schwindel, Kopf-
schmerzen und Müdigkeit führen, insbesondere in Kombination mit Alkohol, was bei
Herzpatienten zu beachten ist. Bei Diabetespatienten besteht die Gefahr einer lebensge-
fährlichen Unterzuckerung.
Beta-Blocker wirken bei vorbeugender Einnahme beruhigend und ausgleichend und
erhöhen die körperliche und psychische Belastbarkeit. Sie sind daher im Leistungssport
verboten und stehen auf der Dopingliste. Viele Menschen mit hoher psychischer Bela-
stung verwenden Beta-Blocker missbräuchlich.
Die Dosierungen der Beta-Blocker bei der Behandlung von Angstsymptomen sind
im Allgemeinen niedrig und liegen gewöhnlich unter den Dosen bei internistischer
Indikation. Eine zu lange Verwendung von Beta-Blockern sowie eine Überdosierung
können zu einer Blutdrucksenkung mit dem Risiko von Panikattacken oder depressiven
Zuständen führen. Obwohl prinzipiell bei jedem Beta-Blocker eine depressive Begleit-
symptomatik auftreten kann, ist diese doch besonders wahrscheinlich bei längerzeitiger
Einnahme des häufig verschriebenen Beta-Blockers Propranolol (Inderal®, Dociton®).
Beta-Blocker sollen einschleichend verordnet und über mehrere Tage ausschlei-
chend abgesetzt werden. Die Einnahme darf nicht plötzlich beendet werden (auch nicht
bei niedriger Dosis). Durch eine überschießende Reaktion („Rebound“) können Puls
und Blutdruck stark ansteigen und Herzprobleme auftreten. Nach längerer Einnahme ist
ein plötzliches Absetzen zugunsten eines langsamen Ausschleichens auch deshalb zu
vermeiden, weil Angstzustände mit Zittern und Schmerzen in der Brust auftreten könn-
ten (Angina-Pectoris-ähnliche Anfälle).
Die Dauereinnahme von Beta-Blockern erhöht die Zahl der Beta-Rezeptoren, sodass
durch das Überangebot an Beta-Rezeptoren die herzaktivierende Wirkung von Noradre-
nalin und Adrenalin verstärkt wird.
Pharmakotherapie bei verschiedenen Angststörungen 677

Dosierungsempfehlungen von Psychopharmaka bei Angststörungen


In Tab. 28 werden die Dosierungsempfehlungen bei Angststörungen laut Fachbüchern
zusammengefasst (bei Zwangsstörungen werden in Klammer höhere Maximaldosierun-
gen angeführt). Diese Angaben stellen jedoch nur allgemeine Richtwerte dar.
Bei einer Pharmakotherapie werden drei Phasen unterschieden:
z Akutphase: bis 8 Wochen, höhere Dosierung erforderlich, eine Besserung sollte
innerhalb von 3 Monaten einsetzen, anderenfalls sollte eine Umstellung erfolgen.
z Erhaltungsphase: bis 6 Monate, langsame Dosisreduktion bei Besserung.
z Rezidivprophylaxe: bis 1 Jahr und länger, niedrigere Dosierung möglich.

Zwecks besserer Verträglichkeit wird bei Antidepressiva zuerst einschleichend eine


niedrige Dosis verabreicht und später auf die Zieldosis umgestellt. Menschen mit Panik-
störung reagieren sehr empfindlich auf Überdosierungen und mögliche Medikamenten-
nebenwirkungen, sodass der richtigen Einstellung eine große Bedeutung zukommt.
Bei älteren Menschen sind oft niedrigere Dosierungen ausreichend, weil der Abbau
der Medikamente langsamer erfolgt. Es ist stets auch auf mögliche Wechselwirkungen
mit anderen Psychopharmaka sowie mit anderen einzunehmenden Medikamenten zu
achten (z.B. Blutdruckabsenkung bei gleichzeitiger Beta-Blocker-Einnahme).
Bei unzureichender Wirkung führt eine Dosiserhöhung oft zu keiner Verbesserung,
sondern zu einer Verschlechterung aufgrund der zunehmenden Nebenwirkungen. In
diesem Fall ist neben einem Wechsel des Präparats auch eine Kombinationstherapie mit
zwei verschiedenen Antidepressiva anstelle einer Monotherapie zu überlegen.
Antidepressiva sollen mindestens 6 Monate (nach Rückfall 12 Monate) lang einge-
nommen und nach anhaltender Besserung vorsichtig ausgeschlichen werden, Tranquili-
zer sollen nicht länger als 6 Wochen regelmäßig eingenommen werden. Rückfälle hän-
gen oft mit unzureichend langer Einnahmedauer bzw. plötzlichem Absetzen der Antide-
pressiva zusammen, wodurch Absetzeffekte (keine Entzugssymptome) auftreten kön-
nen. Diese Erkenntnisse bei depressiven Patienten werden auch auf die medikamentöse
Behandlung von Angstpatienten übertragen, vor allem dann, wenn gleichzeitig auch
eine depressive Symptomatik gegeben ist. Neben einem SSRI (z.B. Citalopram, Paroxe-
tin, Sertralin) kann daher zur Aktivierung ein NARI (Reboxetin) und zur Dämpfung ein
anderes Antidepressivum (Trazodon) nötig sein.

Tab. 28: Dosierungsempfehlungen bei Angst- und Zwangsstörungen [37]

Chemische Handelsname Empfohlene


Bezeichnung (häufige Präparate) Tagesdosis (mg)
Benzodiazepine
Alprazolam Tafil® (D), Xanor® (Ö) 0,5-3,0
Bromazepam Lexotanil® (D/Ö) 6
Chlordiazepoxid Librium® (D) (in Ö nicht mehr auf dem Markt) 15-50
Clobazam Frisium® (D/Ö) 20-30
Clonazepam Rivotril® (D/Ö) 1-4
Diazepam Valium® (D/Ö), Gewacalm® (Ö) 5-15 (20)
Dikaliumclorazepat Tranxilium® (D/Ö) 10-50
Lorazepam Tavor® (D), Temesta® (Ö) 1-3
Oxazepam Adumbran® (D/Ö), Praxiten® (D/Ö) 20-40
Azapiron
Buspiron Bespar® (D), Buspar® (Ö) 15-60
678 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Antihistamine
Hydroxyzin Atarax® (D/Ö)) 37,5-75
Trizykl. Piperazinylderivat
Opipramol Insidon® (D/Ö) 50-200
Trizyklische
Antidepressiva
Amitriptylin Saroten® (D/Ö), Tryptizol® (Ö) 100-150 (300)
Clomipramin Anafranil® (D/Ö) 75-150 (300)
Doxepin Aponal® (D), Sinquan® (D), Sinequan® (Ö) 100-150 (300)
Imipramin Tofranil® (D/Ö) 75-200 (300)
Selektive Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer
(SSRI)
Citalopram Cipramil® (D), Seropram® (Ö) 20-40 (60)
Escitalopram Cipralex® (D/Ö) 10-20 (30)
Fluoxetin Fluctin® (D), Fluctine® (Ö), Mutan® (Ö) 20-40 (60)
Fluvoxamin Fevarin® (D), Floxyfral® (Ö) 100-150 (300)
Paroxetin Seroxat® (D/Ö), Tagonis® (D) 20-40 (60)
Sertralin Zoloft® (D), Gladem® (Ö), Tresleen® (Ö) 50-100 (200)
Selektiver Serotonin-
Noradrenalin-Wiederauf-
nahmehemmer (SNRI)
Duloxetin Cymbalta® (D/Ö) 60-120
Milnacipran Dalcipran® (Ö), Ixel® (Ö) (in D nicht auf dem Markt) 50-100 (200)
Venlafaxin Trevilor® retard (D), Efectin® ER (Ö) 75-150 (300)
Serotonin-
Wiederaufnahme-
verstärker (SRE)
Tianeptin Stablon® (Ö) (in D nicht auf dem Markt) 37,5
Noradrenalin-Serotonin-
spezifische-Antidepressiva
(NaSSA)
Mirtazapin Remergil® (D), Remeron® (Ö) 30-45
Selektive Noradrenalin-
Wiederaufnahmehemmer
(NARI)
Reboxetin Edronax® (D/Ö), Solvex® (D) 4-8
Serotonin-Modulatoren
Trazodon Thombran® (D), Trittico® (Ö) 150-200
Irreversible MAO-Hemmer
Tranylcypromin Jatrosom N® (D) (in Ö nicht mehr auf dem Markt) 20-40
Reversible
MAO-A-Hemmer (RIMA)
Moclobemid Aurorix® (D/Ö) 300-600
Antikonvulsiva
Pregabalin Lyrica® (D/Ö) 300-600
Atypische Neuroleptika
Olanzapin Zyprexa® (D/Ö) 5-15
Quetiapin Seroquel® (D/Ö) 150-300
Risperidon Risperdal® (D/Ö) 0,5-2
Beta-Blocker
Propranolol Dociton® (D), Inderal® (Ö) 10-40
Pharmakotherapie bei verschiedenen Angststörungen 679

Pharmakotherapie bei verschiedenen Angststörungen


Aus psychologisch-psychotherapeutischer Sicht sind Psychopharmaka bei Angststörun-
gen eine sinnvolle Ergänzung, wenn der Patient dadurch
z seine Berufsfähigkeit ohne einen längeren Krankenstand erhalten kann und damit
einen Beitrag zur Sicherung seines Arbeitsplatzes leistet,
z eine drohende Berentung wegen zahlreicher Folgesymptome vermeiden kann,
z eine depressive Folgesymptomatik bei einer bereits chronifizierten Angststörung
rascher überwinden kann,
z bei schwerer Beeinträchtigung überhaupt erst einmal die Voraussetzungen für die
Teilnahme an einer Psychotherapie erreicht (z.B. nach traumatischen Erlebnissen),
z die psychotherapeutischen Erkenntnisse und Erfahrungen besser umsetzen kann, d.h.
dadurch lernfähiger wird, weil im Zustand hochgradiger Angst und Erregung kein
Lernen möglich ist,
z Rückfällen besser vorbeugen kann, und zwar vor allem angesichts von starken und
andauernden psychosozialen Belastungen, die auch durch eine Psychotherapie nicht
verändert, sondern nur erträglicher gestaltet werden können.

In den Behandlungsleitlinien der Weltvereinigung der Gesellschaften für Biologische


Psychiatrie [38] wird der aktuelle Stand der Psychopharmakotherapie bei Angststörun-
gen folgendermaßen zusammengefasst:

„Selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRIs) stellen derzeit die Medikamente der ersten Wahl
für die Panikstörung dar. Typische Antidepressiva (TCAs) sind ebenso wirksam, werden aber weniger
gut vertragen als SSRIs. In therapieresistenten Fällen können Benzodiazepine wie Alprazolam verwen-
det werden, wenn bei diesen Patienten anamnestisch keine Abhängigkeit oder Toleranz bekannt ist…
Für die Behandlung der generalisierten Angststörung können Venlafaxin und die SSRIs empfohlen
werden; alternativ kommt eine Behandlung mit Buspiron und Imipramin infrage. (Pregabalin stellt eine
neue Therapieoption dar.) Für die soziale Angststörung werden SSRIs (und Venlafaxin) als Medika-
mente der ersten Wahl und … Moclobemid und Benzodiazepine als Mittel der zweiten Wahl empfoh-
len. Die Zwangsstörung wird mit SSRIs und Clomipramin behandelt. In therapieresistenten Fällen kann
ein SSRI mit einem atypischen Neuroleptikum kombiniert werden. Für die medikamentöse Behandlung
der posttraumatischen Belastungsstörung stellen SSRIs die Mittel der ersten Wahl dar.“

Pharmakotherapie bei Panikstörungen mit und ohne Agoraphobie

Die psychobiologische Begründung der Wirksamkeit von Psychopharmaka bei Panik-


störungen beruht auf der wissenschaftlich abgesicherten Annahme, dass es sich bei
Panikattacken um Funktionsstörungen im Serotonin-, Noradrenalin- und GABA-System
handelt. Daneben dürften auch bestimmte Neuropeptide und Steroide fehlreguliert sein.
Panikattacken gehen aus neurobiologischer Sicht vom Hirnstamm aus, auch wenn
sie durch psychische Faktoren (Angst, Ärger, Stress) ausgelöst werden. Im Bereich der
Raphekerne im Hirnstamm üben Serotonin-Neurone einen hemmenden Einfluss auf
noradrenerge Neurone aus. Eine vermehrte Serotoninfreisetzung durch die bei Angststö-
rungen heutzutage indizierten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer dämpft die CRH-
Neurone im Locus coeruleus. Angst und Stress bewirken, wie in diesem Buches bereits
ausführlich dargestellt wurde, eine Erhöhung der CRH-Konzentration im Locus coeru-
leus sowie eine verstärkte Aktivität noradrenerger Neurone. Noradrenalin stimuliert
ebenfalls die Freisetzung von CRH.
680 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Bei Angst- und Panikstörungen ist folgender Ablauf relevant: Eine Aktivierung des
Locus coeruleus bewirkt eine erhöhte Noradrenalin-Freisetzung und damit einen erhöh-
ten Blutdruck und eine erhöhte Herzfrequenz. Im Hypothalamus bewirkt der Nucleus
paraventricularis eine erhöhte Aktivität des endokrinen Stresshormonsystems, was zur
erhöhten Freisetzung von Kortikosteroiden führt. Es kommt also zu einer sehr starken
Aktivierung des sympathischen Nervensystems. Neben der SSRI-bedingten vermehrten
Serotoninfreisetzung in den Raphekernen verstärken Benzodiazepine den Effekt des
hemmenden (inhibitorischen) Transmitters GABA und wirken damit beruhigend.
In der Akuttherapie bewähren sich laut Studien die hoch potenten Benzodiazepine
Alprazolam, Clonazepam und Lorazepam, die zwar weniger Nebenwirkungen aufwei-
sen als Tranquilizer wie Diazepam, bei höherer Dosis aber dennoch unerwünschte Ne-
benwirkungen haben. Benzodiazepine sollten bei akuter Paniksymptomatik nicht länger
als 1-2 Wochen und insgesamt wegen der Abhängigkeitsgefahr nicht länger als 4-6
Wochen verordnet werden (Absetzversuche sind nach spätestens 6 Wochen angezeigt).
Die Wirksamkeit der trizyklischen Antidepressiva Imipramin und Clomipramin ist
gut belegt. In den USA wurde das trizyklische Antidepressivum Imipramin bereits 1959
erstmals bei einer Panikstörung eingesetzt und galt in der Forschung bislang als Stan-
dard- und Referenz-Substanz. In Deutschland wurde Clomipramin, das potenteste Sero-
tonin-Wiederaufnahme-hemmende Trizyklikum, als erstes Antidepressivum mit der
Indikation für die Panikstörung zugelassen. Später waren in der klinischen Praxis und in
kleineren Studien auch andere Trizyklika (Amitriptylin, Doxepin) wirksam.
Wegen des günstigeren Nebenwirkungsprofils haben sich im Laufe der Jahre die
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer als Mittel der ersten Wahl erwiesen. Studien bele-
gen die Wirksamkeit der sechs SSRI (Fluctine, Paroxetin, Fluvoxamin, Sertralin, Cita-
lopram, Escitalopram). Sie wirken erst nach 2-4 Wochen, spätestens nach 8 Wochen
und sollten 6-12 Monate lang eingenommen werden. In den ersten zwei Wochen erfolgt
bis zur vollen Wirksamkeit des SSRI die Kombination mit einem Tranquilizer (Alprazo-
lam oder Lorazepam 0,5-1 mg), was der Akutwirkung und der Unterdrückung mögli-
cher Nebenwirkungen dient. Wegen des im Vergleich zu anderen SSRI günstigeren
Interaktionsprofils mit anderen Medikamenten wurde früher oft die Kombination mit
Sertralin gewählt, in neuerer Zeit ist immer häufiger Escitalopram das Mittel der ersten
Wahl bei einer anfänglichen Kombinationstherapie mit Alprazolam oder Lorazepam.
In neuerer Zeit wurde die Wirksamkeit des Serotonin-Noradrenalin-Wiederauf-
nahmehemmers Venlafaxin sowie auch (wenngleich noch nicht ausreichend genug be-
legt) des Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmers Reboxetin nachgewiesen. Weil viele
Panikpatienten im Vergleich zu depressiven Patienten körperlich sensibler sind und
Nebenwirkungen schwerer tolerieren können, sollte eine einschleichende Verordnung
von SSRI und Venlafaxin erfolgen, d.h. anfangs jeweils nur eine halbe Tablette des
jeweiligen Präparats, um die Wirkung zu testen und die Compliance zu fördern. Als
dritte Wahl sind Gabapentin oder Mirtazapin zu überlegen. Der RIMA Moclobemid
sowie der 5-HT1A-Agonist Buspiron zeigten keine bzw. keine ausreichende antipanische
Wirksamkeit. Beta-Blocker, die nur die vegetativen, nicht jedoch die psychischen Sym-
ptome der Angst vermindern und für Panikpatienten auch in niedrigeren Dosierungen
unangenehme Nebenwirkungen haben können (z.B. Herzschlagverlangsamung, Blut-
druckabsenkung), sind ebenfalls unwirksam. Die hohe Placeborate (30-50%) bei Studi-
en zur medikamentösen Angstbehandlung weist darauf hin, dass gerade Menschen mit
einer Panikstörung auch durch Placebos motivierbar sind, weil sie nach einer oft lang
dauernden Resignation wieder Hoffnung schöpfen, dass ihr Zustand änderbar ist.
Pharmakotherapie bei verschiedenen Angststörungen 681

Hoffnungen für die Zukunft geben verschiedene derzeit in Erprobung befindliche


Substanzen. Es wurden einerseits Tranquilizer – spezifische Agonisten des Alpha2-
GABAA-Rezeptorsubtyps – entwickelt, die in der Behandlung von Panikstörungen bei
gleicher Wirksamkeit weniger Missbrauchs-, Toleranz- und Abhängigkeitspotenzial
haben als die Benzodiazepine, andererseits stehen verschiedene spezielle 5-HT-
Agonisten und 5-HT-Antagonisten in Entwicklung und Erprobung, die vor allem bei der
generalisierten Angststörung wirksam sein sollen.

Pharmakotherapie bei generalisierten Angststörungen

Bei der generalisierten Angststörung werden aus neurobiologischer Sicht ähnliche Fehl-
regulierungen angenommen wie bei der Panikstörung, vor allem eine Störung zentraler
Serotoninsysteme. Als Mittel der ersten Wahl gelten laut Studien bestimmte Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer (Paroxetin, Escitalopram, Sertralin) und die Serotonin-
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Venlafaxin (XR) und Duloxetin. Die Behand-
lungsdauer beträgt 6-12 Monate, viele Fachleute empfehlen 1-2 Jahre wegen des chroni-
schen Verlaufs. Antidepressiva sind schon allein wegen der hohen Komorbidität mit
depressiven Störungen sinnvoll. Sie mildern vor allem die psychischen Symptome der
generalisierten Angststörung (ständige Sorgen, Anspannung, Grübeln, Ängste im zwi-
schenmenschlichen Bereich). Nach älteren Studien ist auch das trizyklische Antidepres-
sivum Imipramin wirksam. Beta-Blocker lindern zwar die vegetative Begleitsymptoma-
tik, beeinflussen jedoch nicht die Kernsymptomatik der generalisierten Angststörung.
Zur Akutbehandlung haben sich laut Studien auch hoch potente Benzodiazepine
(Alprazolam, Diazepam, Lorazepam) bewährt, über einen etwas längeren Zeitraum als
Mittel der zweiten Wahl auch Nicht-Benzodiazepin-Tranquilizer, die insbesondere bei
suchtgefährdeten Patienten mit generalisierter Angststörung eingesetzt werden können:
z Opipramol, das den trizyklischen Antidepressiva nahe steht und bereits seit einigen
Jahrzehnten auf dem Markt ist, hat sich in einer Studie als erfolgreich erwiesen.
z Hydroxyzin, das antihistaminerge, adrenolytische und anticholinerge Eigenschaften
hat und in höherer Dosierung stark sedierend wirkt, hat sich in einer Studie bei nied-
riger, nicht sedierender Dosis als wirksames Angstmittel gezeigt.
z Buspiron, ein Azapiron und ein 5-HT1A-Agonist, wurde in der Vergangenheit auf-
grund von Studien als das Mittel der ersten Wahl angesehen, verliert jedoch zuneh-
mend seine Bedeutung durch den Siegeszug der SSRI.
z Pregabalin, ein Kalziumkanalmodulator aus der Gruppe der Antiepileptika, wurde
in neuerer Zeit ebenfalls als wirksame Substanz nachgewiesen.

Pharmakotherapie bei sozialen Phobien

Während es bei spezifischen Phobien trotz des Einsatzes von Benzodiazepinen und
verschiedenen SSRI in bestimmten Fällen keine umfangreichen Wirksamkeitsstudien
gibt, wurden im Bereich der sozialen Phobien in den letzten Jahren zahlreiche Wirk-
samkeitsstudien durchgeführt. Als Mittel der ersten Wahl gelten die Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer Fluvoxamin, Paroxetin, Fluoxetin, Sertralin, Citalopram und
Escitalopram sowie der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Venlafaxin.
Die Erfolgsrate liegt bei ca. 50%
682 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Im Gegensatz zur rascher einsetzenden antidepressiven Wirkung tritt die antiphobi-


sche Wirkung von Escitalopram und Venlafaxin oft erst mit zeitlicher Verzögerung auf.
Trizyklische Antidepressiva und Neuroleptika wurden nie in kontrollierten Studien
auf ihre Wirksamkeit geprüft. Der reversible MAO-A-Hemmer Moclobemid erhielt als
erstes Antidepressivum die Indikation für soziale Phobien, zeigt jedoch über die Studien
hinweg keine konsistent positive Wirkung und ist nicht so effizient wie SSRI.
Die Antikonvulsiva Pregabalin (Lyrica®) und Gabapentin (Neurontin®) sind laut
Studien ebenfalls erfolgreich, das Azapiron Buspiron ist dagegen nicht wirksam.
Kurzfristig sind hoch potente Benzodiazepine hilfreich, damit wichtige soziale Situa-
tionen nicht vermieden werden, nachgewiesen ist zumindest die Wirksamkeit von Clo-
nazepam. Langfristig besteht bei anhaltender Symptomatik eine Missbrauchsgefahr.
Beta-Blocker (Propanolol, Atenolol), die bei spezifischer Sozialphobie wegen der
sehr belastenden und auffällig machenden körperlichen Symptome wie Zittern, Schwit-
zen oder Rotwerden oft eingesetzt werden, waren in Studien bei Sozialphobikern nicht
wirksamer als Placebo. Wenn schon von Sozialphobikern ein Medikament als hilfrei-
ches Mittel zur Bewältigung sozialer Situationen gewünscht wird, sollte dieses auf die
„Zentrale“, d.h. auf das Gehirn (wie bei den SSRI), und nicht auf die „Peripherie“ (wie
bei den Beta-Blockern) einwirken. Beta-Blocker werden häufig von psychisch gesunden
Menschen (Künstlern, Musikern und Prüfungskandidaten) scheinbar erfolgreich einge-
nommen, wie die Praxis zeigt. Propanolol gilt sogar als die „Musikerdroge“.
Psychiatrie- und Psychopharmakotherapie-Kritiker behaupten, dass mit der relativ
neuen Diagnose der Sozialphobie immer mehr Menschen zu psychisch Kranken erklärt
und immer mehr Personen aus der Bevölkerung zu Konsumenten der Produkte der
Pharmaindustrie gemacht werden sollen. Wer nie den Leidensdruck von Sozialphobi-
kern kennen gelernt hat, kann sich gar nicht vorstellen, wie man dazu neigen kann,
angesichts von ganz normalen zwischenmenschlichen Situationen zu einem Medika-
ment zu greifen. Spätestens bei einer depressiven Folgesymptomatik erscheint dies dann
verständlich, obwohl es gilt, gerade diese buchstäblich mit allen Mitteln zu vermindern.

Pharmakotherapie bei posttraumatischen Belastungsstörungen

Die drei Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Sertralin, Paroxetin und Fluoxetin gelten


laut Studien als Mittel der ersten Wahl, es sind aber auch Venlafaxin und Mirtazapin
wirksam. Die Wirksamkeit der Antidepressiva ist geringer als bei Depressionen (nur bei
40-50% der Betroffenen). Die Trizyklika Amitriptylin und Imipramin waren in älteren
Studien zwar ebenfalls wirksam, haben jedoch viele Nebenwirkungen.
Benzodiazepine (namentlich Alprazolam) können nach traumatischen Erlebnissen in
der Akutphase, also kurzfristig, sehr hilfreich sein, und zwar vor allem gerade ange-
sichts der Kernsymptomatik der Übererregungssymptome (z.B. Schlafstörungen, erhöh-
te Schreckhaftigkeit, vermehrte Reizbarkeit), führen jedoch bei längerer Einnahme, wie
diese aufgrund der Chronizität der Störung zu befürchten ist, zur Abhängigkeit. Dies
gilt insbesondere für schnell wirksame hochpotente Tranquilizer wie Alprazolam.
Antikonvulsiva (z.B. Lamotrigin) haben sich klinisch (ohne ausreichende Studien)
zur Behandlung der Kernsymptomatik als wirksam erwiesen, was damit begründet wird,
dass traumatische Erlebnisse die limbischen Strukturen sensitivieren und prägen.
Für den Einsatz von Neuroleptika gibt es mit Ausnahme einer Wirksamkeitsstudie
mit dem atypischen Neuroleptikum Risperidon keine Effizienzbelege.
Pharmakotherapie bei verschiedenen Angststörungen 683

Pharmakotherapie bei Zwangsstörungen

Bereits Ende der 1960er-Jahre wurde die Effizienz von Clomipramin bei der Behand-
lung von Zwangsstörungen erkannt. Heute gelten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
(Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin, Citalopram, Escitalopram) als Mittel der
ersten Wahl. Sie sind auch dann indiziert, wenn neben den Zwängen eine Depression
besteht, wenn Zwangsgedanken dominieren, wenn eine Verhaltenstherapie ohne ausrei-
chenden Erfolg endet, wenn der Patient noch nicht zu einer Konfrontationstherapie mit
Verzicht auf Rituale bereit ist. Aus neurobiologischer Sicht besteht bei Zwangsstörun-
gen neben einer Störung des kortiko-striato-thalamo-kortikalen Regelkreises und einer
manchmal zusätzlich gegebenen anderen Störung des Gehirns eine serotonerge Dys-
funktion, die auch durch den Befund bestätigt wird, dass durch die Verabreichung des
Serotoninagonisten m-Chlorophenylpiperazin (m-CPP) eine Verschlechterung der
Zwangssymptomatik auftritt. Das bisher bekannte Wissen zur pharmakotherapeutischen
Behandlung von Zwangsstörungen lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
z Zur Wirksamkeit des trizyklischen Antidepressivums Clomipramin liegen zwar
verschiedene Studien vor, wegen möglicher Herz-Kreislauf-Probleme und anticholi-
nerger Nebenwirkungen (Mundtrockenheit, Schwitzen u.a.) sind jedoch SSRI zu be-
vorzugen. Clomipramin kann aufgrund anticholinerger Nebenwirkungen auch Ge-
dächtnisstörungen bewirken, was gerade bei Menschen mit Zwangsstörungen sehr
ungünstig ist. Der umfangreichste Effizienznachweis stammt aus einer groß angeleg-
ten Studie an 520 Zwangspatienten, wo mehr als die Hälfte so gut auf Clomipramin
ansprachen, dass sie im Alltagsleben nicht oder kaum mehr eingeschränkt waren.
z Mittlerweile gibt es zahlreiche große Studien mit Zwangspatienten, die mit SSRI
mindestens so erfolgreich behandelt wurden wie mit Clomipramin, allerdings bei
deutlich geringeren Nebenwirkungen. Die SSRI bewirken eine gewisse Distanzie-
rung gegenüber der Bedrängung durch die Zwänge, ohne diese zu beseitigen.
z Zur optimalen Wirksamkeit ist eine höhere Tagesdosis nötig als bei Depressionen
oder Angst- und Panikstörungen (Clomipramin: bis zu 300 mg, Fluvoxamin: bis zu
300 mg, Fluoxetin: bis zu 80 mg, Paroxetin: bis zu 60 mg, Sertralin: bis zu 200 mg,
Citalopram: bis zu 60 mg, Escitalopram: bis zu 30 mg, Venlafaxin: bis zu 300 mg).
z Zur Vermeidung von unerwünschten Nebenwirkungen, die zur Beendigung der
Medikamenteneinnahme führen könnten, ist eine einschleichende Dosierung ange-
zeigt (anfangs sehr niedrige und langsam steigende Dosierung). Dies ist besonders
wichtig bei einer Unverträglichkeit von Fluoxetin, das zusammen mit dem aktiven
Metaboliten im Vergleich zu anderen Substanzen eine lange Halbwertszeit aufweist.
z Der therapeutische Effekt der SSRI in der Behandlung von Zwangsstörungen setzt
oft erst später ein als bei Depressionen und Panikstörungen. Der sichtbare Wir-
kungseintritt erfolgt häufig erst nach 6-12 Wochen. Ein SSRI sollte zumindest über
12 Wochen eingenommen werden, bevor der Erfolg beurteilt und ein Medikamen-
tenwechsel erwogen wird. Bei 30% bleibt eine SSRI-Monotherapie erfolglos.
z Bei Wirkungslosigkeit nach 3 Monaten sollte ein Umstieg auf einen anderen SSRI
erfolgen. Wenn auch ein dritter SSRI wirkungslos bleibt, sollte eine alternative The-
rapie versucht werden, z.B. eine Kombination von zwei SSRI, ein Serotonin-
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (Venlafaxin) oder die Zugabe eines atypi-
schen Neuroleptikums zur Affektdistanzierung (z.B. Risperidon oder Quetiapin),
doch ist hier die Dosis deutlich geringer als bei schizophrenen Patienten. Bei diesen
Medikamenten sind jedoch mehr Nebenwirkungen wahrscheinlich als bei SSRI.
684 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

z Atypische Neuroleptika (Quetiapin, Olanzapin, Risperidon) in Kombination mit


SSRI sind laut Studien in bestimmten Fällen erfolgreicher als SSRI allein.
z Klassische Neuroleptika sind unwirksam zur Behandlung der Kernsymptomatik von
Zwängen. Klinisch und auch laut einer Studie ist Haloperidol (Haldol®) erfolgreich.
Klassische Neuroleptika sind nur bei zusätzlicher Schizophrenie bzw. Tics indiziert.
z Benzodiazepine sind bei Zwängen im Gegensatz zu den klassischen Angststörungen
völlig ineffektiv (laut einer Studie wirkt am ehesten noch Clonazepam). Sie dämpfen
die physiologische Erregung, nicht jedoch Angst, Unruhe und Zwänge. Manchmal
kann auch das Nicht-Benzodiazepin Buspiron hilfreich sein.
z Zur Wirksamkeit von MAO-Hemmern bzw. RIMA gibt es keine größeren Studien.
z Aufgrund der Schwere und Dauer vieler Zwangsstörungen ist in der Regel eine
längerzeitige Einnahme des Medikaments erforderlich (mindestens 6-12 Monate).
z Beim Absetzen muss zur Vermeidung unerwünschter Effekte auf ein sehr langsames
Ausschleichen geachtet werden (insbesondere bei vorher recht hoher Dosis).
z Je nach Studie erreichen 50-70% der Patienten eine deutliche Symptomreduktion,
meist jedoch keine Heilung. Oft wird nur bei 40-50% eine echte Besserung erreicht.
z Bei Absetzen des Medikaments treten bei bis zu 89% der Patienten Rückfälle auf,
wenn nicht gleichzeitig eine Psychotherapie (Verhaltenstherapie) stattgefunden hat.
Zur Verhinderung der häufigen Rückfälle bei Absetzen des Medikaments ist langfri-
stig oft eine niedrige Erhaltungsdosis angezeigt, jedenfalls so lange, bis die Psycho-
therapie bleibende Wirkung zeigt. Die Erhaltungstherapie sollte länger durchgeführt
werden als bei anderen Angststörungen (12-24 Monate oder noch länger). Bei mehr
als zwei Rückfällen ist eine Langzeitmedikation zu überlegen.
z Bei Komorbidität mit einer depressiven oder einer Angststörung ist ein SSRI unbe-
dingt indiziert, um die Begleitsymptomatik zu beseitigen, sodass in Anschluss daran
auch die Grundsymptomatik psychotherapeutisch besser bewältigbar ist.
z SSRI verbessern die Wirksamkeit einer Verhaltenstherapie insbesondere bei den
schwer behandelbaren Zwangsgedanken. Wenn ein Patient primär an Zwangshand-
lungen leidet, bringt die Pharmakotherapie nach einer deutschen Multicenter-Studie
keinen zusätzlichen Effekt gegenüber einer Verhaltenstherapie, d.h. bei Zwangs-
handlungen ohne Zwangsgedanken und ohne Depression ist unter idealen Umstän-
den eine intensive Verhaltenstherapie allein oft ausreichend. Nach einer englischen
Studie war die Kombination von Clomipramin und Verhaltenstherapie nach 8 Wo-
chen der Kombination von Verhaltenstherapie und Placebo jedoch überlegen.
z Bei sekundärer Depression neben der Zwangsstörung kann ein SSRI den Erfolg
einer Verhaltenstherapie verbessern. Bei starker Depression zu Behandlungsbeginn
zeigte sich am Behandlungsende eine signifikant schlechtere Reduktion der Zwangs-
symptomatik durch die Pharmakotherapie als bei nicht depressiven Patienten.
z Der Placeboeffekt von 5-10% ist bei Zwangspatienten wesentlich geringer als bei
Angstpatienten. Dies könnte jedoch mit der Art der Medikamente zusammenhängen.
Das Fehlen der typischen Nebenwirkungen trizyklischer Medikamente ermöglicht
einen Rückschluss auf eine Placebogruppenteilnahme. Eine hohe Clomipramin-
Dosierung führt z.B. zur meist unvermeidlichen Mundtrockenheit und lässt auf die
Teilnahme an der Behandlungsgruppe schließen. Die Placeboeffekte sind in den
neueren Studien mit SSRI größer als in den älteren Studien mit Clomipramin. Dies
dürfte damit zusammenhängen, dass in die neueren Studien auch leichtere Zwangs-
patienten aufgenommen werden, die sich ohne Medikamenteneinnahme durch den
Effekt unspezifischer Therapiemaßnahmen bessern.
Der Placeboeffekt von Medikamenten 685

Der Placeboeffekt von Medikamenten


Bei Psychopharmaka sind psychologische Faktoren bedeutsam, die unter dem Begriff
„Placebo“ bekannt sind. Das Wort Placebo kommt aus dem Lateinischen und heißt „Ich
werde gefallen.“ Der Arzt entspricht dem Wunsch des Patienten nach einem Medika-
ment und verabreicht ein Scheinmedikament, weil er glaubt, dass der Betroffene in Hin-
blick auf die vorgebrachten Beschwerden kein echtes Medikament benötige. Placebos
sind Leerpräparate mit harmlosen Stoffen (Stärke, Milchzucker oder Kochsalzlösung),
die durch den Glauben des Patienten an eine Wirkung tatsächlich Wirkeffekte zeigen,
obwohl pharmakologisch keine gegeben sind. Pseudoplacebos sind Scheinmedikamente
derart, dass sie zwar bestimmte Stoffe (Vitamine, Metalle, Pflanzenextrakte usw.) ent-
halten, die jedoch nicht die behauptete Wirkung ausüben können. Nach einer anonymen
Befragung verschreiben 54% der deutschen Ärzte regelmäßig Pseudoplacebos, d.h.
Präparate wie Vitaminpillen, die zwar keinen pharmakologischen Effekt haben, dem
Patienten jedoch das Gefühl geben, dass seine Beschwerden behandelt werden.

Der Placeboeffekt bei der medikamentösen Behandlung


verschiedener Krankheiten
Im Rahmen der klinischen Erprobung neuer Medikamente werden Placeboeffekte vor
allem als Störgrößen betrachtet, weil sie sich mit den spezifischen Wirkungen der unter-
suchten Substanz vermischen und eine zuverlässige Beurteilung des Versuchspräparats
erschweren. Bei Medikamentenstudien werden Placebos als Leerpräparate bei Kontroll-
gruppen verwendet, um die Wirksamkeit einer bestimmten neuen Substanz („Verum“
genannt) in der Versuchsgruppe zu erweisen.
Neue Medikamente werden in Doppelblindstudien getestet, wo weder behandelnde
Ärzte noch Patienten wissen, wer die Wirksubstanz und wer das identisch aussehende
Placebo erhält. Am Ende einer Studie werden die Therapieerfolge bei der Arzneimittel-
gruppe und der Placebogruppe miteinander verglichen. Das neue Medikament ist umso
besser, je größer die Unterschiede zwischen beiden Gruppen sind. Als spezifischer Me-
dikamenteneffekt wird die Differenz zwischen den unter dem Versuchspräparat auftre-
tenden Veränderungen und jenen unter der Placeboverabreichung angesehen.
Im Rahmen von Medikamentenstudien wird auch von Pharmafirmen anerkannt, dass
bei einer Placebogruppe eine Symptomreduktion gegenüber einer unbehandelten Kon-
trollgruppe eintritt. Der Effekt des neuen Medikaments muss nur größer sein als der
Placeboeffekt. Im Abschlussbericht zu einer Medikamentenstudie heißt es z.B.: „Das
Medikament bewirkte in der Behandlungsgruppe bei 60% der Patienten eine signifikan-
te Symptomreduktion, während dies in der Placebogruppe nur bei 35% der Fall war.“
Placeboeffekte findet man auch bei vielen Menschen mit organischen Störungen.
Medikamente für Asthma und Herpes, die heutzutage als wirkungslos erkannt sind,
führten in den 1960er-Jahren in den USA bei knapp 70% von etwa 7000 Patienten zu
Besserungen (40% ausgezeichnete Resultate, 30% zumindest gute Erfolge).
Die psychologisch bedingte Wirksamkeit von Placebos bedeutet nicht, dass be-
stimmte Symptome (z.B. Schmerzen) deshalb rein psychisch bewirkt waren, sie zeigen
nur den zumindest kurzfristig schmerzlindernden Effekt psychischer Faktoren an.
Die Placeboeffekte sind bei den verschiedensten Störungen erstaunlich hoch [39]:
686 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

„Für die Placebobehandlungen bei verschiedenen körperlichen und psychischen Krankheiten sowie
Symptomen wurde eine durchschnittliche Placeboreagibilität von 35 bis 42% errechnet (Netter et al.
1986) ... Die größten Effekte wurden bei Erkältungen, Magen-Darm-Störungen, Rheuma, multipler
Sklerose, bei Angina pectoris, Neurosen und Psychosen erzielt. Asthmapatienten regierten in 35% der
Fälle auf die orale Gabe von Placebos mit einer Reduktion ihrer Asthmabeschwerden und in 53% auf
die Placeboinjektion ... Kopfschmerzpatienten reagierten je nach Studie in 46 bis 96% auf Placebo,
Migränekopfschmerz besserte sich bei den Kranken zwischen 20 und 58%. In 11 Doppelblindstudien
von 1959 bis 1974 an 908 Patienten mit vergleichbarer Schmerzintensität gaben 36% der Untersuchten
unter Placebo eine Verminderung der Beschwerden um mehr als die Hälfte an ... Auch andere Schmer-
zen mit gesichertem morphologischen Substrat (Tumor, Operationswunde, Wehen) konnten durch eine
Placebobehandlung gebessert werden, wobei die Belastung von Patienten mit Streß die Wirksamkeit
der Placebos erhöhte (10mal so wirksam ...).“

Placebos wirken am besten bei Symptomen oder Störungen, die zeitlichen Schwankun-
gen unterliegen, z.B. bei Depressionen, Angststörungen und chronischen Schmerzen.
Bei der Verabreichung von Placebos als Schmerzmittel oder als Psychopharmaka (z.B.
als Beruhigungsmittel) erlebten bis zu 70% der Patienten eine lindernde Wirkung. 40%
gaben sogar Nebenwirkungen an. Nach einer US-Studie über 50 Wochen macht es bei
jenen Patienten, die so früh auf eine antidepressive Therapie angesprochen hatten, dass
ein Placeboeffekt angenommen werden muss, keinen Unterschied, ob sie in der Lang-
zeittherapie ein Placebo oder ein SSRI-Antidepressivum erhielten.
Eine Placeboreaktion ist wahrscheinlicher, wenn die Behandlung auf eine Funktion
des Zentralnervensystems gerichtet ist (wie bei psychischen Störungen). Das Vorhan-
densein von Angst ist die beste Voraussetzung für eine Placebowirkung. Die Angst-
spannung wird durch die suggestiven Effekte rund um die Placebobehandlung reduziert.
Patienten ohne Angst reagieren auf Placebos schlechter.
Die britische Psychologe Irving Kirsch [40] veröffentlichte 1998, 2002 und 2008
drei Meta-Analysen von Antidepressiva-Studien. Antidepressiva-Wirkungen würden
meist auf Placeboeffekten beruhen und nur bei sehr schweren Depressionen echt sein.
Bei der ersten Meta-Analyse von 19 Doppelblindstudien fand er einen Placeboeffekt
von 75% (Verbesserungen beruhen zu 25% auf dem Antidepressivum, zu 51% auf dem
Placeboeffekt und zu 24% auf anderen Faktoren, bekannt als „Spontanremissionen“). In
einer zweiten Meta-Analyse von 30 Antidepressiva-Studien ergab sich ein Placebo-
effekt von 78%. Bis zu 80% der Versuchspersonen konnten erraten, ob sie sich in der
Verum- oder in der Placebogruppe befanden. Dies hängt mit den Nebeneffekten des
Versuchspräparats zusammen, die den Studienteilnehmern vor Beginn der Behandlung
mitgeteilt werden müssen. Die Erkenntnis der Versuchsteilnehmer „Je mehr Nebenwir-
kungen, desto eher befindet man sich in der Behandlungsgruppe“ stärken den Glauben
an die Wirksamkeit des Medikaments. Dieser Umstand hat zur Folge, dass im Doppel-
blind-Versuch mit mehreren Antidepressiva und Placebos jene Tabletten am besten
wirkten, die die spürbarsten Nebenwirkungen hatten. Die dritte, 2008 veröffentlichte
Meta-Analyse beruht auf 35 Studien mit Antidepressiva, die zwischen 1989 und 1999 in
den USA zugelassen wurden (Fluoxetin, Paroxetin, Venlafaxin und das mittlerweile aus
dem Handel genommene Nefadozon; die Studien mit Sertralin und Citalopram wurden
wegen unvollständiger Datenlage nicht einbezogen). Dabei entsprach die Placebowir-
kung bei etwa 80% der Wirkung der modernen Antidepressiva. Nicht bei leichten und
mittelschweren, sondern nur bei sehr schweren Depressionen (Werten ab 28 bei der
Hamilton-Depressions-Skala) bestand eine antidepressive Wirksamkeit. Bei dieser
schwer kranken Patientengruppe sei der Placeboeffekt geringer, sodass Antidepressiva
deswegen bessere Wirkung zeigen würden. Nur diese Patienten sollten SSRI erhalten.
Der Placeboeffekt von Medikamenten 687

Die erfolgreiche Wirkung eines untersuchten Antidepressivums wird gewöhnlich


nachgewiesen durch einen Abfall des Wertes auf der Hamilton-Depressions-Skala um
mindestens 50%. Dieser Effekt ist häufig auch mit einem Placebo relativ leicht erreich-
bar. Dieser Umstand ist einer der Hauptgründe, warum das getestete Antidepressivum
oft nicht wesentlich besser ist als das Placebomittel.
Ein Drittel der Antidepressiva-Studien bleibt wegen fehlender Signifikanz unveröf-
fentlicht. Das Team um Kirsch berücksichtigte daher auch Studien, die wegen fehlender
Wirksamkeit des Antidepressivums nicht veröffentlicht wurden. Studien anderer Auto-
ren belegen, dass medikamentöse Wirkeffekte durch die gängige einseitige und Daten
verzerrende Veröffentlichungspraxis der Pharmafirmen überschätzt werden.
Auch Kritiker der Kirsch-Studien wie Möller anerkennen, dass die Differenzen zwi-
schen dem Effekt von Verum und Placebo meist nur etwa 20 Prozentpunkte betragen,
was als mittelstarke bis starke Wirksamkeit gilt, und dass die Wirksamkeit durch die
hohe Arzt-Patient-Interaktionsdichte im Rahmen der Studien wesentlich erhöht wird.
Das amerikanische Gesundheitsministerium gab bekannt, dass die verschiedenen
Antidepressiva im Laufe der Jahrzehnte nicht besser (gleich bleibende Wirksamkeit bei
50%), sondern nur nebenwirkungsärmer geworden sind. Die Wirksamkeit von Placebos
wurde mit einem durchschnittlichen Wert von 32% beurteilt. Dies ist das Ergebnis der
vom US-Ministerium finanzierten Analyse von 315 seit 1980 durchgeführten Studien,
wo auch die neueren SSRI eingesetzt wurden.
Fazit: Medikamentenstudien im Bereich der Angst- und Depressionsbehandlung er-
gaben durchschnittlich bei 25-40% der Patienten der Placebogruppe eine scheinbare
pharmakologische Wirkung im Sinne des Verums, verglichen mit Kontrollgruppen ohne
jede medikamentöse Behandlung. Der Placeboeffekt bei Zwangsstörungen war in frühe-
ren Studien mit 5-6% erstaunlich gering und ist in neueren Studien deutlich angestiegen.
Dies hängt vermutlich mit der Aufnahme leichter beeinträchtigter Patienten in den neue-
ren Studien zusammen, die sich durch unspezifische Therapieeffekte besserten.
Studien mit Panikpatienten ergaben Placeboeffekte von 26% bis über 50%. Dies ist
umso auffälliger, als die Teilnehmer an Medikamentenstudien vorher über die Möglich-
keit der Zuordnung zu einer Placebogruppe informiert werden müssen. Bei Panikpatien-
ten zeigte sich ein deutlicher Rückgang der Häufigkeit und des Schweregrades von
Panikattacken insbesondere in den ersten Wochen der Placeboeinnahme. Der kurzfristi-
ge Placeboeffekt einer völligen Symptombeseitigung hielt jedoch oft nicht länger als
acht Wochen an, dann setzten wiederum vermehrt stärkere Panikattacken ein. Die Hälf-
te der Patienten mit schwerer Panikstörung bei gleichzeitiger Agoraphobie brach die
„Behandlung“ vorzeitig wegen Wirkungslosigkeit ab, einige Betroffene auch wegen
vermeintlicher Nebenwirkungen der Placeboverabreichung. Die Placebowirkung ist bei
situativen Panikattacken besser als bei spontan auftretenden Panikattacken.
Bei Menschen mit generalisierter Angststörung wurden in den ersten Behandlungs-
wochen ebenfalls hohe Placeboeffekte festgestellt. Bei Menschen mit Phobien traten
positive Effekte erst nach mehrwöchiger Placeboeinnahme auf. Eine 1997 veröffentlich-
te, in 11 Ländern durchgeführte Paroxetinstudie weist auf deutliche, bis zu einem Jahr
anhaltende Placeboeffekte bei Panikpatienten hin (ein Teil der Placebo-Gruppen-
teilnehmer stieg allerdings aus der Studie aus).
Kontrollierte Studien mit Benzodiazepinen zeigen auf, dass die Unterschiede der
Therapieeffekte im Vergleich zu Placebo häufig kaum eine Signifikanz am Ende der
Studiendauer erreichen, wenngleich anfangs eine Besserung unter Benzodiazepinen
bzw. die Überlegenheit gegenüber Placebo sichtbar war.
688 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Studien ergaben, dass nicht nur Patienten, sondern auch Ärzte in Doppelblindstudien
mit hoher Wahrscheinlichkeit erraten können, ob der Patient eine aktive Substanz oder
ein Placebo erhält. Versuchspersonen können aufgrund der ihnen bekannten Nebenwir-
kungen des Verums (z.B. Mundtrockenheit, Übelkeit, Schwindel) in bis zu 80% der
Fälle richtig raten, ob sie sich in der Verum- oder in der Placebogruppe befinden.
Placebos können ähnliche und ebenso lang anhaltende Verhaltensänderungen her-
vorrufen wie pharmakologisch aktive Substanzen. 30-60% der Wirkung aller Medika-
mente und aller therapeutischen Maßnahmen sind auf den Placeboeffekt zurückzufüh-
ren, d.h. auf die positiven Erwartungen von Arzt bzw. Therapeut und Patient. Placebo-
effekte sind auch bei Psychotherapien wirksam, was durchaus positiv zu bewerten ist.
Deutsche Psychiater [41] schreiben über Placeboeffekte:

„Ein Placebo-Effekt konnte auch beim Vergleich von Placebopatienten einer Doppelblindstudie mit
einer ‚no pills’ Gruppe nachgewiesen werden ... Allerdings wird die ‚Blindheit’ pharmakologischer
Studien immer wieder in Frage gestellt, da ja erfahrene Ärzte, aber auch die Patienten anhand der
Nebenwirkungen vermuten können, ob es sich bei dem Medikament um Verum oder Placebo handelt ...
Andererseits werden in einer Medikamentenstudie tatsächlich vorhandene Verum/Placebo-Unterschiede
nicht selten dadurch verwischt, daß durch die Zuwendung, die die Patienten bei einer aufwendigen
Studie erhalten, Placebo- und Verumpatienten gleichermaßen einer unspezifischen Psychotherapie
unterliegen...
Das Ausfüllen von Angstskalen dürfte einen ähnlichen Effekt haben wie eine kognitive Therapie:
Der Patient lernt, welche Symptome zu der Angsterkrankung gehören. Untersuchungen, die von der
pharmazeutischen Industrie gesponsert werden, unterliegen einem weiteren Problem, dem ‚publication
bias’. Studien, in denen sich das Prüfmedikament nicht besser oder gar schlechter wirksam als Placebo
zeigte, werden seltener veröffentlicht ...“

Wirkmechanismen von Placebos


Die Wirkung von Placebos beruht auf einer „Heilung durch Glauben“ (Benson [42]).
Ein Placeboeffekt ist auch bei einer vermeintlichen Alkoholeinnahme mit dem Ziel der
Angstdämpfung nachweisbar. Männer, die der Meinung waren, Alkohol konsumiert zu
haben, zeigten weniger Angst als Personen, die glaubten, nüchtern zu sein.
Im Einzelnen lassen sich Placeboeffekte durch folgende Faktoren erklären [43]:
z Persönlichkeitsvariablen des Patienten,
z experimentelle Einflussfaktoren,
z situative Einflussfaktoren (Persönlichkeitsvariablen des Arztes, Art der Arzt-Patient-
Beziehung, Art des Behandlungsmilieus).

Persönlichkeitsvariablen des Patienten


Als persönlichkeitsrelevante Faktoren des Patienten für eine Placebowirkung gelten
Alter, Geschlecht, Lebensgewohnheiten, Vorerfahrung mit bestimmten Medikamenten,
bestimmte situative Bedingungen (z.B. Empfänglichkeit aufgrund aussichtsloser Be-
handlungssituation) und verschiedene Persönlichkeitsfaktoren (Suggestibilität, Erwar-
tung, Hoffnung). Je stärker die Schmerzen und der Leidensdruck sind, umso größer ist
der Placeboeffekt. Placebos stellen nicht einfach nur Täuschungsversuche des Patienten
dar. Placebowirkungen beruhen auf den Selbstheilungskräften des Menschen.
Gauler und Weihrauch [44] beschreiben die Placebowirkfaktoren folgendermaßen:
Der Placeboeffekt von Medikamenten 689

„Die Placeboreaktion ... wird durch Linderung der Angstzustände und mentale Suggestion erklärt ...
Man glaubt, daß ängstliche Patienten der Suggestion leichter zugänglich sind. Shapiro behauptete sogar,
daß Patienten ohne Angst generell schlechter auf Placebos reagieren ...
Subjektiv stark empfundene Hilfsbedürftigkeit erhöht ebenfalls die Reaktionsfähigkeit auf Place-
bos. Besonders empfänglich sind psychomotorisch Kranke mit begleitenden Angst- und Depressionszu-
ständen aufgrund ihrer Verunsicherung, ihres fehlenden Selbstvertrauens und ihres Entscheidungsfä-
higkeitsverlustes ...
Immer wieder hat sich gezeigt, daß eine Medizin dann am besten wirkt, wenn die Not am stärksten
empfunden wird. Hierbei wird gerne von Streßfaktoren gesprochen, die durch Krankheitssymptome wie
Fieber, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Schmerzen, sowie das damit verbundene ‚psychische Elend’ in Form
von Angst, Depression, Verstimmung, geringer Selbstachtung und fehlender sozialer Unterstützung
(Krankenrolle) ausgelöst werden. In einem solchen emotional-aktivierten Zustand ist der Patient beein-
flußbar und reagiert deshalb besser auf Placebos. Der universellen Wirksamkeit des Placebos entspricht
auch die Vorstellung, daß die Streßwirkung die gemeinsame Grundlage aller Adaptationsreaktionen des
menschlichen Körpers ist ...
Cleghorn et al. konnten bei Patienten nach subkutaner Kochsalzinjektion eine Stimulierung der Ne-
bennierenrinde feststellen ... Durch Placebogabe kann also eine positive Streßreaktion im Sinne einer
Nebennierenrinden-Stimulation (NNR) ausgelöst werden. Beecher wies darauf hin, daß angstvolle
Patienten häufig Störungen der Nebennierenrinde (aktiviertes adrenerges System) aufweisen und mög-
licherweise deshalb besser auf Placebos reagieren.“

Experimentelle Einflussfaktoren
Bestimmte experimentelle Einflussfaktoren verstärken aufgrund der Erkenntnisse der
Placeboforschung den Effekt von Placebos [45]:
z Verabreichungsform. Injektionen und Infusionen wirken stärker als oral verabreichte
Kapseln oder Tabletten, Placebosalben besser als Placebotabletten.
z Aussehen (Form und Farbe). Blaue Tabletten werden als eher sedierend, rote oder
pinkfarbene als eher stimulierend erlebt. Weiße Tabletten stehen am unteren Ende
der Wirksamkeitsskala, farbige Pillen suggerieren spezifischere Wirkungsweisen.
Grüne Placebos helfen besonders bei Angstzuständen, blaue mehr bei Erregungszu-
ständen, gelbe mehr bei Depressionen, rote bei jeder Art von Schmerzen und Ent-
zündungen. Während früher viele Medikamente weiß und rund waren, wird heutzu-
tage von den Pharmafirmen auf die optische Gefälligkeit geachtet.
z Größe. Sehr kleine und sehr große Tabletten sind wirksamer als normal große.
z Geschmack. Präparate mit Geschmackszusätzen werden als wirkungsvoller be-
schrieben. Ein unangenehmer Geschmack wirkt stärker als ein angenehmer.
z Dosis. Hohe Dosierungen wirken stärker als niedrige.

Situative Einflussfaktoren (Arzt-Patient-Beziehung)


Verhaltensweisen und Persönlichkeit des behandelnden Arztes sowie die damit verbun-
dene Arzt-Patient-Beziehung bestimmen entscheidend die Placebowirkung [46]:
z Die Instruktionen oder Suggestionen des Arztes hinsichtlich eines bestimmten Me-
dikaments, Erklärungen zur geplanten Therapie sowie die Voraussage über Wirkung
und Nebenwirkung des verabreichten Medikaments beeinflussen die Wahrnehmung
und Erwartung des Patienten. Ein Placebo, das einmal als Beruhigungsmittel und
einmal als Stimulans angekündigt wurde, hatte unterschiedliche psychische und
physiologische Wirkungen. Das als „Stimulans“ verabreichte Placebo bewirkte eine
690 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

deutliche Erhöhung der Herzfrequenz innerhalb eines Zweistundenzeitraumes, das


als „Tranquilizer“ beschriebene Placebo führte nach zwei Stunden zu einer Verrin-
gerung des Herzschlags.
z Die Gerichtetheit und Präzision von Instruktionen (z.B. genau 5 Tropfen eines Saf-
tes nehmen) verstärkt die Wirkungserwartung, weil implizit ein Zusammenhang
zwischen Menge und Wirkung vermittelt wird.
z Bestimmte Persönlichkeitsvariablen des Arztes (positive bzw. negative Einstellung
zum Medikament, für den Patienten Vertrauen erweckende Haltung usw.) unterstüt-
zen die Erfolgserwartung des Patienten und damit auch den Effekt der Medikamen-
tenwirkung. Der Glaube des Arztes in die Wirksamkeit der Medikation verstärkt den
Wirkeffekt beim Patienten. Nach Placebostudien genesen die Patienten skeptischer
Ärzte viel seltener als die Patienten von Ärzten, die sich begeistert über das „Medi-
kament“ äußern, wirken Placebos, die von einem Primararzt verabreicht werden,
besser als solche, die von einer Krankenschwester gegeben werden, lösen junge, en-
gagierte und optimistische Ärzte größere Wirkungen aus als routinierte Ärzte, die
sich wenig Zeit für den Patienten nehmen. Doppelblindstudien mit Arzneimitteln be-
stätigen die besseren Effekte bei jungen, begeisterten Ärzten, die ihren Optimismus
auf die oft verzweifelten Patienten übertragen können. Ärzte, die eine neue Behand-
lungsmethode einführen, erreichen oft bessere Behandlungseffekte als Ärzte, die
später dieselbe Methode anwenden. Dies erklärt neben anderen Faktoren wie Selek-
tionseffekten auch, warum Medikamente bei den Wirksamkeitsstudien oft besser
wirken als bei der späteren klinischen Routineanwendung. Behandelnde Ärzte, de-
nen vermittelt wurde, dass ein Placebopräparat ähnlich wie Morphin wirke, erreich-
ten größere Effekte bei ihren Patienten, als wenn ihnen erklärt wurde, dass es sich
um Aspirin handle. Nach der Aufklärung über das Placebopräparat fiel die Wirkung
beim Patienten um die Hälfte ab. Die ethisch notwendige Ankündigung, dass bei ei-
nem bestimmten Medikament möglicherweise genau umschriebene Nebenwirkun-
gen auftreten können, führt bei bestimmten Patienten (z.B. bei Menschen mit Angst-
und Panikstörungen) tatsächlich zu einer größeren Auftrittswahrscheinlichkeit.

Placebopräparate wirken sogar dann, wenn Arzt und Patient von Beginn an wissen, dass
ein Placebo verabreicht wird. Dies lässt sich durch langjährige Konditionierung erklä-
ren. Jedes im Laufe des Lebens eingenommene Kopfwehmittel verstärkt die Assoziation
zwischen der weißen Pille und dem Gefühl der Besserung. Medikamente wirken bei
Studien oft besser als im klinischen Alltag. Dies hängt damit zusammen, dass die Ärzte
bei einer Studie mit den Patienten aufgrund der häufigen und ausführlichen Befragun-
gen intensiver in Kontakt treten müssen, als dies in der Alltagspraxis der Fall ist. Bei
einer internationalen Studie der Weltgesundheitsorganisation über den Effekt der medi-
kamentösen Behandlung bei Panikstörungen mit Alprazolam (D: Tafil®, Ö: Xanor®) und
Imipramin (Tofranil®) ergab sich der Befund, dass dieselben Medikamente bei Patienten
in der Dritten Welt eine viel bessere Wirkung aufwiesen als in der westlichen Welt.
Aufgrund der Art der Studie mussten sich die Ärzte mehr mit ihren Patienten beschäfti-
gen, als dies in der Dritten Welt üblich ist. Neben den Medikamenten wirkte der ver-
mehrte Arzt-Patient-Kontakt zusätzlich heilsam. Die stärkere Arzt-Patient-Interaktion
bei Medikamentenstudien wird auch als zentraler Wirkeffekt bei Befindlichkeitsverbes-
serungen in Placebogruppen angesehen. Wenn für viele Menschen allein die Nähe zur
Medizin und zu Ärzten bereits Symptom lindernd wirkt, muss dieser Effekt auch in
Placebogruppen angenommen werden.
Der Placeboeffekt von Medikamenten 691

Theorien zur Placebowirkung


Die verschiedenen Erklärungskonzepte zur Wirksamkeit von Placebopräparaten lassen
sich nach Deter [47] folgendermaßen zusammenfassen:

- „Die Placebowirkungen zur Schmerzreduktion könnte durch eine zentral vermittelte Endorphinfrei-
setzung zustandekommen (Netter et al. 1986).
- Viele der Placebowirkungen auf das Vegetativum sind den Körpereffekten nach Entspannungs-
techniken vergleichbar. Durch eine Fremd- bzw. Autosuggestion lassen sich entsprechende psychi-
sche und körperliche Veränderungen hervorrufen.
- Ein dritter Erklärungsansatz auf lerntheoretischer Grundlage bezieht sich auf Patienten, bei denen
eine Verumtherapie gewirkt hat und bei denen nun eine Wirkungserwartung gegenüber der Place-
botherapie besteht. Hierbei gilt das früher wirksame Pharmazeutikum als unkonditionierter Stimu-
lus, das Aussehen und die Applikationsart des Präparates, der Ort der Einnahme und das Pflegeper-
sonal als neutraler Stimulus, der in der Lage ist, die frühere positive Wirkung des unkonditionierten
Stimulus nun seinerseits hervorzurufen ...
- Nach einem attributionstheoretischen Modell könnte der Patient zufällige Änderungen des körperli-
chen und psychischen Befindens auf das Placebo beziehen und ihm die Ursachen für die Verände-
rungen zuschreiben.“

Der Placeboeffekt ist ein unspezifischer Behandlungseffekt, der bei jeder medizinischen
und psychotherapeutischen Behandlung wirksam ist. Er stellt eine unbewusste Aktivie-
rung der Selbstheilungskräfte des Menschen dar und ist keineswegs bloß Einbildung,
sondern hat durchaus klar und objektiv messbare körperliche Gesundungseffekte.
Die genaue Wirksamkeit von Placebos beruht auf den komplizierten Zusammenhän-
gen zwischen Psyche, Nerven- und Immunsystem. Mögliche Wirkmechanismen sind
Konditionierung, Entwicklung einer Erwartungshaltung und Freisetzung endogener
Überträgersubstanzen einschließlich der Endorphine (körpereigene Peptide mit mor-
phinähnlicher Wirkung) und der adrenalinähnlichen Katecholamine.
Die Wirksamkeit von Placebos bei körperlichen Störungen kann nicht bloß durch
Einbildung und Erfolgserwartung erklärt werden. Vielmehr ist bereits seit längerem
nachgewiesen, dass zumindest bei bestimmten Schmerzpatienten der Glaube an die
Schmerz dämpfenden Effekte des Placebos zur Ausschüttung endogener analgetisch
wirkender Stoffe führt. Es handelt sich dabei um die vermehrte Ausschüttung von En-
dorphinen, d.h. körpereigenen Opiaten zur Schmerzdämpfung. Endorphine als körperei-
gene Agonisten binden an denselben Rezeptoren des Schmerz dämpfenden Systems
(Opioidrezeptoren) wie Analgetika. Endorphine hemmen dadurch die Ausschüttung
Schmerzimpuls vermittelnder Neurotransmitter. Die freigesetzten Endorphine blockie-
ren die vom Hinterhorn des Spinalmarks eintreffenden Schmerzimpulse.
Die durch das Placebo bewirkte Schmerzdämpfung nimmt nach einiger Zeit ab, d.h.
es setzt eine Toleranz ein, die durch eine Dosissteigerung überwunden werden muss –
ein typischer Suchtmechanismus. Bei plötzlichem Absetzen des Placebos können sogar
Entzugserscheinungen auftreten. Der analgetische Effekt des Placebos lässt sich zumin-
dest bei einem Teil der Patienten durch einen Opiatantagonisten (z.B. Nalaxon mit dem
Präparat Narcanti®) aufheben. Der Umstand, dass die Schmerzdämpfung bei einem Teil
der Patienten trotz der Blockierung der Endorphinrezeptoren anhält, weist darauf hin,
dass Placebos noch über andere Schmerz hemmende Systeme wirken müssen, die ande-
re Neurotransmitter freisetzen.
Laut einer PET-Studie führen positive Erwartungen im Sinne des Placeboeffekts
auch zur vermehrten Ausschüttung von Dopamin, das einen Belohnungseffekt darstellt.
692 Medikamentöse Behandlung bei Angststörungen

Nebenwirkungen von Placebos


Bei Placebos können schwerwiegende Nebenwirkungen auftreten. Placebonebenwir-
kungen sind oft krankheits- oder präparatespezifisch: Schwindel bei psychiatrischen
Störungen, Kopfschmerzen bei Bluthochdruck-Patienten und Angina-Pectoris-
Patienten, Magen-Darm-Beschwerden bei Ulkuspatienten.
Viele Placebonebenwirkungen sind eher subjektive Zustände, die nur schwer objek-
tivierbar sind. Nach Placeboverabreichungen werden in 10-30% der Fälle folgende
Nebenwirkungen berichtet [48]: Mundtrockenheit, Übelkeit, Brechreiz, Schwindelge-
fühl, Benommenheit, Ohnmachtsneigung, Müdigkeit, Schweregefühl, Schwächegefühl,
Schläfrigkeit, Schlaflosigkeit, Erregung, Angstzustände, Kopfschmerzen, Tinnitus, Seh-
störungen, Schweißausbruch, Juckreiz, Appetitlosigkeit, Verstopfung, Bauchschmerzen,
Konzentrationsschwierigkeiten, Verwirrung.
Die unerwünschten Nebenwirkungen von Placebos nehmen bei Dosissteigerung zu.
Oft treten auch objektiv überprüfbare, mitunter sogar schwerwiegende Placeboneben-
wirkungen auf: Herzrasen, Blutdruckänderungen, Kollaps, Wärme- und Kältezustände,
Fieber, Mundtrockenheit, Durst, Durchfall, Erbrechen, Harnverhalten, Menstruations-
störungen, Zittern, Hautausschläge, Depression, Halluzinationen, Allergien, Haaraus-
fall, Cholesterinspiegel-Änderungen usw. 30% einer Gruppe von Krebspatienten, die
unter dem Anschein eines neuen Chemotherapeutikums mit einem Placebo behandelt
wurden, litten unter Übelkeit und Haarausfall. Nebenwirkungen lassen sich sogar in
Abhängigkeit von der Placeboreaktionsbereitschaft feststellen. Bei Personen, die gut auf
Placebos ansprechen, zeigen sich Nebenwirkungen hauptsächlich im Zentralnervensy-
stem (Dämpfung, Schwindel, Denkstörungen), bei Personen, die eher schlecht auf Pla-
cebos ansprechen, treten Nebenwirkungen vor allem im Magen-Darm-Bereich auf.
Viele Placebonebenwirkungen entsprechen den erwarteten Nebenwirkungen des
neuen Medikaments, sodass unter den Studienteilnehmern Lernprozesse (Modelllernen)
angenommen werden müssen. Die Nebenwirkungen von Placebos werden im Rahmen
der jeweiligen Studien anhand von Fragebögen in gleicher Weise erhoben wie bei den
untersuchten Medikamenten. Die Art und Häufigkeit der Nebenwirkungen von Placebos
(aber auch von Verumpräparaten) ist dabei stark von der Art der Erfassung abhängig.
Das Vorlegen einer Liste mit 25 möglichen Nebenwirkungen führt dazu, dass selbst die
meisten gesunden Menschen einige Symptome ankreuzen.
Vorhandene Missempfindungen und Beschwerden werden oft dem Placebomittel
zugeschrieben. Mehrere Studien an insgesamt über 4000 Personen ergaben, dass der
Großteil der Beschwerden, die als Nebenwirkungen des Placebos angegeben wurden,
schon vor der Behandlung vorhanden waren, dann aber auf das Placebopräparat attribu-
iert wurden. Echte Placebonebenwirkungen lassen sich nur durch Vergleichsstudien mit
Placebo- und unbehandelten Kontrollgruppen ermitteln. Aufgrund des Aufwands fehlen
letztere oft sogar bei umfangreichen Studien. Die echten Placebonebenwirkungen kön-
nen jedoch nur aus der Differenz des Effekts des Placebos und des Effekts der unbehan-
delten Kontrollgruppe ermittelt werden.
11. Phytopharmaka bei Angststörungen
Verschiedene pflanzliche Mittel (Phytopharmaka) gelten in der Volksmedizin als beru-
higend, Angst dämpfend, entspannend und schlaffördernd. Es handelt sich um folgende
Pflanzen: Baldrian, Hopfen, Melisse, Johanniskraut, Passionsblume, Orangenblüte und
Lavendel. Kava-Kava ist seit 2002 wegen möglicher Leberschäden EU-weit verboten.
Im Folgenden werden die relevanten Phytopharmaka näher dargestellt:
z Baldrian wird in der Volksmedizin bei Angstzuständen, Nervosität und Schlafstö-
rungen eingesetzt und enthält über 100 Bestandteile. Die wirksamen Inhaltsstoffe
sind unbekannt. Die Gesamtwirkung von Baldrian beruht auf synthetisch völlig un-
terschiedlichen Wirkstoffen. Baldrian bewirkt eine erhöhte GABA-Konzentration im
synaptischen Spalt durch eine erhöhte GABA-Ausschüttung und eine gleichzeitige
Hemmung der Wiederaufnahme, was Angst und Anspannung dämpft [1]. Baldrian
wirkt nicht nur auf die GABAA-Rezeptoren ein, sondern auch auf die Adenosin-
rezeptoren (Adenosin ist ein schlaffördernder Wirkstoff, der tagsüber im Gehirn an-
gereichert und in der Nacht abgebaut wird). Dies erklärt die sedativen und schlafför-
dernden Effekte. Als Nebenwirkungen können sehr selten Kopfschmerzen oder
Übelkeit auftreten. Hang-over-Phänomene am Morgen, Überdosierungseffekte oder
Abhängigkeitseffekte sind unbekannt. Baldrian macht selbst in hohen Dosen nicht
müde, sondern lindert Angst und die damit verbundenen körperlichen Begleiter-
scheinungen. Die sedativ-hypnotischen Wirkungen von Baldrian werden durch Hop-
fen verstärkt, weshalb Kombinationspräparate den Monopräparaten in der Wirksam-
keit überlegen sind. Das Baldrian-Hopfen-Präparat Hova® (Ö) bzw. Hovaletten® N
(D) enthält 200,2 mg Trockenextrakt aus der europäischen Baldrianwurzel und 45,5
mg Trockenextrakt aus Hopfenzapfen. Das Präparat hat einen beruhigenden, mus-
kelentspannenden und krampflösenden Effekt und führt zu keiner Beeinträchtigung
am nächsten Tag. Bei Schlafstörungen sollten 2-3 Tabletten eine halbe Stunde vor
dem Schlafengehen eingenommen werden, bei Unruhe, Nervosität und Angstzu-
ständen 2-3 Tabletten pro Tag. 1-2 Wochen „Anlaufzeit“ sind abzuwarten. Laut
neueren Erkenntnissen sind 600-900 mg Baldrian-Trockenextrakt pro Tag erforder-
lich. Die Wirksamkeit bei Angststörungen ist nicht überzeugend belegt.
z Hopfen wird als Beruhigungsmittel bei Unruhe, Angst- und Spannungszuständen
sowie nervösen Schlafstörungen verwendet. Die wirksamen Inhaltsstoffe wurden
noch nicht gefunden. Der während der Lagerung aus Humulon und Lupulon entste-
hende Alkohol Methylbutenol ist als einer der wirksamsten Inhaltsstoffe anzusehen,
möglicherweise erfolgt auch nach der oralen Aufnahme im Körper eine entspre-
chende Umwandlung aus Lupulon. Methylbutenol zeigte im Tierversuch eine deut-
lich sedative Wirkung. Hochklassige Wirksamkeitsstudien beim Menschen fehlen.
Methylbutenol ist eine äußerst flüchtige Substanz und daher in Extrakten nicht mehr
vorhanden. In Kombinationspräparaten (Hopfen mit Baldrian und/oder Melisse)
kommt die sedierende Wirkung des Hopfens dagegen besser zur Geltung.
z Melisse wirkt beruhigend und wird bei nervös bedingten Einschlafstörungen, zur
Appetitanregung und bei psychosomatischen Beschwerden (Herz, Magen-Darm-
Trakt) angewandt. Die Wirksamkeitsnachweise sind allgemein unbefriedigend.
z Lavendel wirkt schwach beruhigend. Die Wirksamkeit ist noch wenig erforscht.
z Orangenblüten werden zwar in der Volksmedizin als Beruhigungsmittel eingesetzt,
eine wissenschaftliche Bestätigung der Wirkung liegt jedoch nicht vor.
694 Phytotherapie bei Angststörungen

z Passionsblumenkraut wird gegen nervöse Unruhe, psychosomatische Störungen,


Einschlafschwierigkeiten und Angst eingesetzt. Die Wirkung ist nicht erwiesen.
z Johanniskraut-(Hypericum)-Extrakte sind laut vielen Studien wirksam bei leichten
und mittelschweren Depressionen, in Bezug auf Angststörungen fehlen überzeugen-
de Wirksamkeitsbelege. Aus der Wirksamkeit bei leichten und mittelschweren De-
pressionen kann ohne seriöse Studien keinesfalls die Wirksamkeit bei Angststörun-
gen abgeleitet werden. Die bisherigen Befunde sind enttäuschend: Johanniskraut hat
leider keine bedeutsame angstlösende Wirkung. Die Tagesdosis sollte jedenfalls
mindestens 900 mg Johanniskrautextrakt betragen. Wechselwirkungen mit vielen
anderen Medikamenten sind zu bedenken. Der Wirkmechanismus beruht auf der
Wiederaufnahmehemmung von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin, GABA und
Glutamat bei gleichzeitiger Steigerung der Sekretion von GABA, Aspartat und Glu-
tamat, der Hauptmechanismus besteht wohl in der Modulation von Ionenkanälen.
z Kava-Kava als nachweislich bei Angststörungen wirksamstes pflanzliches Mittel
wurde wegen möglicher Leberschäden EU-weit verboten.

Tab. 29: Wirkungsspektrum pflanzlicher Präparate laut Volksmedizin [2]

Pflanzliche Substanz Verwendete Teile Wirkung Anwendung


Baldrian Wurzel beruhigend, Angstzustände, Nervosität,
schlaffördernd Schlafstörungen
Hopfen Zapfen beruhigend, Unruhe, Angstzustände,
schlaffördernd Nervosität, Schlafstörung
Melisse Blätter beruhigend Einschlafstörungen,
Magen-Darm-Beschwerden
Johanniskraut Kraut mild antidepressiv depressive Verstimmung,
nervöse Angst und Unruhe,
psychovegetative Störungen
Passionsblume Kraut beruhigend, nervöse Unruhe
krampflösend
Lavendel Kraut beruhigend Unruhe, Einschlafstörung
Kava-Kava Wurzelstock Angst lösend, beruhi- nervöse Angst-, Spannungs-
(seit 2002 verboten) gend, entspannend und Unruhezustände

Phytopharmaka werden seit längerem in wissenschaftlichen Studien mithilfe standardi-


sierter Extrakte ähnlich wie Psychopharmaka geprüft. Die Standardisierung (und damit
auch die wissenschaftliche Überprüfbarkeit) ist jedoch nicht immer leicht, denn ange-
sichts der Fülle der enthaltenen Substanzen sind bei den meisten Heilpflanzen die ei-
gentlichen Wirksubstanzen oft noch nicht ausreichend bekannt.
In der seriösen Cochrane-Datenbank wurden die vorhandenen Studien zur Behand-
lung von Patienten mit Angststörungen mithilfe von Phytopharmaka zusammengefasst –
mit dem ernüchternden Ergebnis, dass Baldrian bei Panikpatienten und Passionsblu-
menkraut bei Patienten mit Angststörungen keinesfalls überzeugend wirksam sind.
Die zahlreichen Kombinationspräparate (bestehend aus 2-3 Extrakten von Baldrian,
Passionsblumenkraut, Melisse oder Johanniskraut) sind allein schon wegen ihrer jeweils
zu geringen Extraktmenge unzulänglich bei der Behandlung krankhafter Ängste.
Meine großen Hoffungen auf gute Wirksamkeitsnachweise für Phytopharmaka bei
Angststörungen wurden bislang leider enttäuscht, sodass dieses Kapitel im Vergleich zu
früheren Auflagen dieses Buches nicht erweitert, sondern sogar erheblich gekürzt wur-
de, um keine falschen Erwartungen zu erwecken.
12. Persönliches Schlusswort
Die Erfahrungen in der stationären und ambulanten Behandlung von vielen Patienten
mit Angst- und Panikstörungen haben meine Auffassung bekräftigt, dass die beste,
schnellste und erfolgreichste Therapie von Ängsten in einem individuellen, auf den
Betroffenen abgestimmten Vorgehen besteht. Als Verhaltenstherapeut bin ich skeptisch
gegenüber allen Standardtherapieprogrammen, von denen ich mich mit zunehmender
Erfahrung immer mehr entfernt habe.
Das Ziel einer Angstbewältigungstherapie ist nicht einfach, belastende Angstzustän-
de und Panikattacken mit den effizienten Techniken der Verhaltenstherapie „wegzuma-
chen“, sondern das Vertrauen der Betroffenen zu sich selbst (zu ihrem Körper, ihren
Gefühlen und ihren Gedanken) und zur Bewältigbarkeit ihrer Lebenssituation wieder
aufzubauen. Angstbewältigung gelingt nicht durch die Unterdrückung und Abspaltung
Angst machender Erfahrungen, sondern nur durch die Integration dieser Erlebnisse in
die Gesamtpersönlichkeit und in das Gedächtnis als Basis der Lebenskontinuität.
Angstpatienten haben einmal, mehrfach oder vielmals die Kontrolle verloren über
z ihren Körper (Panikattacken mit todesähnlicher Erfahrung),
z ihren Geist (Angst verrückt zu werden und nie mehr klar und „normal“ denken zu
können, unkontrollierbare Sorgen und Befürchtungen über alles Mögliche),
z ihre Gefühle (Angst, die Emotionen nicht im Griff zu haben und öffentlich heftig zu
weinen, laut zu schreien oder herumzuhauen),
z ihre Lebenssituation (Angst vor dem Zerbrechen der Partnerbeziehung, real erlittene
Verlusterlebnisse durch Trennung oder Tod, Bedrohung des Arbeitsplatzes).

Wenn nicht grundsätzlich eine ängstlich-vermeidende, dependente, zwanghafte oder


Borderline-Persönlichkeitsstruktur gegeben ist, ist das Leben vieler Angst- und Panik-
patienten von dem Motto geprägt: „Nichts ist mehr so, wie es einmal war.“
Das sinnvolle Gegenteil von Angst ist nicht „keine Angst mehr haben“, sondern
„Vertrauen, Mut und Zuversicht entwickeln“. Alles, was geeignet ist, das Vertrauen der
Betroffenen zu sich selbst zu stärken, sodass wieder mehr Mut zu bestimmten Taten
möglich ist, fördert die Zuversicht, dass die vorhandene Angststörung mehr oder weni-
ger vollständig bewältigbar ist und die weiteren Lebenspläne umsetzbar sind.
Das Ziel der Therapie bei Angststörungen besteht nicht in der Beseitigung von Äng-
sten im Sinne des Wegtherapierens aller Angstgefühle, wie dies viele Betroffene zu
Beginn der Therapie erwarten („Meine Ängste sollen verschwinden“, „Ich möchte wie-
der alles ohne Angst und Panik tun können“), sondern im Erwerb von Kompetenzen im
Umgang mit jeder Form von Angst- und Panikstörung, sodass mehr Selbstkontrolle und
Kontrollierbarkeit in Angst machenden Situationen gegeben ist und das Leben wieder
lebenswerter wird. Dies kann für jeden Patienten etwas anderes bedeuten in Abhängig-
keit von dem, was er loswerden möchte, und dem, was er hinzugewinnen möchte.
Ich bemühe mich, jeden Patienten dort abzuholen, wo er steht, und dorthin zu füh-
ren, wohin er will. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass mir dies im Rahmen von Ein-
zeltherapien viel rascher und effizienter gelingt als über Gruppentherapien (obwohl
diese sehr nützlich sein können, wenn gleichzeitig auch eine Einzeltherapie angeboten
werden kann), sodass ich bei Menschen mit Angststörungen nur Einzeltherapien mache.
Bei Bedarf und Möglichkeit werden die Angehörigen in die Verhaltenstherapie einbe-
zogen, um den Therapieprozess zu beschleunigen und zu vertiefen. Bei relativ kompe-
tenten Patienten reichen oft wenige Gespräche in Verbindung mit Selbsthilfeliteratur.
696 Persönliches Schlusswort

Grundsätzlich achte ich bei einer Verhaltenstherapie von Menschen mit Angst- und
Panikstörungen auf folgende Aspekte:
z Aufbau einer guten Therapiebeziehung. Das Vertrauen zum Therapeuten und die
Erwartung von Erfolg sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass die Betroffenen an
ihre baldige Selbstkompetenz glauben können. Wie groß der Placeboeffekt im Sinne
einer Selbstheilungstendenz ist, habe ich in den letzten Jahren an dem Umstand er-
kannt, dass viele Angstpatienten – noch ohne mich persönlich zu kennen – aufgrund
meiner Bücher und meiner Homepage www.panikattacken.at die Hoffnung auf Er-
folg entwickelt haben.
z Vermittlung störungsspezifischer Informationen. Ein besseres Verständnis der Sym-
ptome und Dynamiken einer Angststörung ist bereits ein erster Schritt zu deren Be-
wältigung. Die Erkenntnis der Körper-Seele-Zusammenhänge, wie sie durch die be-
kannten psychophysiologischen Modelle vermittelbar ist, beendet die fruchtlosen
Diskussionen, was biologisch (und daher nur mit Psychopharmaka) und was psycho-
logisch (und daher nur durch eine lange Psychotherapie) veränderbar ist.
z Genaue Problem- und Verhaltensanalyse. Die genaue Kenntnis der individuellen
(körperlichen, emotionalen und kognitiven) Faktoren und der systemischen (partner-
schaftlichen, familiären und beruflichen) Faktoren, die die Angststörung bewirkt ha-
ben und gegenwärtig aufrechterhalten, erlauben präzisere und effektivere Interven-
tionen als die blinde Anwendung von Techniken und Strategien, die angeblich be-
reits aus sich selbst heraus wirksam sind.
z Vermittlung eines besseren Selbstverständnisses hinsichtlich der Zusammenhänge
zwischen der spezifischen Angststörung und der persönlichen Lebenssituation. Viele
Angstpatienten sind erst dann für verhaltenstherapeutische Interventionen offen,
wenn sie plausible Antworten bekommen haben auf Fragen wie „Warum gerade
ich?“, „Warum gerade jetzt?“, „Warum hat bisher noch nichts geholfen?“
z Individueller Therapieplan. Das konkrete Vorgehen richtet sich primär nach den
Ergebnissen der Verhaltensanalyse und den Zielen des Patienten.
z Stellenwert behavioraler Techniken. Die Konfrontationstherapie wird als sehr wich-
tig dargestellt und durch konkrete Hilfestellungen vorbereitet, erfolgt jedoch immer
ohne Therapeutenbegleitung. Die Erfahrung hat mich gelehrt, wenn Agoraphobie-
und Panikpatienten nicht zu einer heftigen Panikattacke bereit sind (wie dies anfangs
oft der Fall ist), hat eine massierte Konfrontationstherapie wenig Sinn. Wichtiger
sind mir dagegen mentale und körperbezogene Übungen im Therapieraum.
z Kognitive Therapie. Oft reichen, wie meine langjährige persönliche Erfahrung zeigt,
kognitive Interventionen aus, was durch die neuere Therapieforschung bestätigt ist.
z Systemische (interaktionelle, psychosoziale) Aspekte. Die Berücksichtigung partner-
schaftlicher, familiärer und/oder beruflicher Probleme stellt sich oft als entscheiden-
der Faktor für einen raschen Therapieerfolg heraus.
z Sonstige Hilfen (Psychopharmakotherapie, Phytotherapie). Es ist das Idealziel, die
jeweilige Angststörung ohne Medikamente zu bewältigen, wenn die Betroffenen
dies wünschen, ich unterstütze jedoch als Psychologe die vorübergehende Einnahme
von chemischen oder pflanzlichen Mitteln und fördere die nötige Compliance.
z Therapiedauer. Es gilt das Motto: „So kurz wie möglich, so lange wie notwendig.“
Als Verhaltenstherapeut in Österreich, wo es keine Kassenverträge, sondern für alle
Patienten nur einen Kostenzuschuss gibt, muss ich unter Berücksichtigung der be-
grenzten finanziellen Ressourcen vieler Patienten mit noch weniger Stunden aus-
kommen, als dies für eine Verhaltenstherapie ohnehin typisch ist.
Anmerkungen
Kapitel 1

1. zit. nach Ledergerber, 1988, a.a.O., S. 116


2. Wandruszka, M., 1981, a.a.O., S. 8
3. Marks, 1993a, a.a.O., S. 3
4. Margraf & Schneider, 1990, a.a.O., S. 4
5. Marks, 1993a, a.a.O., S. 4
6. Selye, 1974, a.a.O.
7. Hamm, 1997, a.a.O.
8. Marks, 1993a, a.a.O.
9. Marks, 1993a, a.a.O., S. 75 f.
10. Grünn, 1995, a.a.O., S. 36
11. Delumeau, 1989, a.a.O.
12. Sims & Snaith, 1993, a.a.O., S. 44
13. Marks, 1993a, a.a.O., S. 72 ff.; Sims & Snaith, 1993, a.a.O., S. 77
14. Butollo, 2000, a.a.O.
15. Sims & Snaith, 1993, a.a.O., S. 10
16. Wolf, 1996, a.a.O., S. 46 f.
17. Wolf, 1996, a.a.O., S. 48 ff.
18. zit. nach Richter, 1994, a.a.O., S. 13
19. Kierkegaard, 1960, a.a.O.
20. Condreau, 1996, a.a.O., S. 39
21. Riemann, 1992, a.a.O., S. 15
22. Riemann, 1992, a.a.O., S. 199 f.
23. Huber, 1995, a.a.O., S. 16 ff.
24. Semler, 1994, a.a.O.; Huber, 1995, a.a.O., S. 16 ff.
25. Flöttmann, 1993, a.a.O., S. 26; Bräutigam & Senf, 1996, a.a.O., S. 245
26. Reinecker, 1993, a.a.O., S. 6 f.; Schmidt-Traub, 2001, a.a.O., S. 12 ff.
27. Butollo & Höfling, 1984, a.a.O.
28. Watzlawick et al., 1974, a.a.O.
29. Kapfhammer 1993a, a.a.O., S. 35 ff.
30. Strian, 1995, a.a.O., S. 16
31. zit. nach Richter, 1994, a.a.O., S. 125
32. zit. nach Heuer, 1994, a.a.O., S. 108
33. Heuer, 1994, a.a.O.; Margraf & Rudolf, 1995, a.a.O., S. 12
34. zit. nach Margraf & Schneider, 1996, a.a.O., S. 19 f.
35. zit. nach Richter, 1994, a.a.O., S. 78
36. Jones, 1960, a.a.O.
37. zit. nach Margraf & Schneider, 1996, a.a.O., S. 3
38. Margraf & Schneider, 1996, a.a.O., S. 3
39. Margraf & Schneider, 1996, a.a.O., S. 20
40. Margraf & Schneider, 1996, a.a.O., S. 3

Kapitel 2

1. Reinecker, 1993, a.a.O., S. 4 f.


2. Deister, 1995, a.a.O., S. 40
3. Degkwitz et al., 1980, a.a.O., S. 49 ff.
4. Freud, 1895b, a.a.O., S. 317 ff.
5. Dilling et al., 2008, a.a.O.
6. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 168 ff.; Dilling et al., 2006, a.a.O., S. 115 ff.
7. DSM-IV als Textrevision DSM-IV-TR von Saß et al., 2003. a.a.O., auf Deutsch veröffentlicht
698 Anmerkungen S. 26–75

8. Saß et al., 2003, a.a.O.


9. Margraf & Schneider, 1996, a.a.O., S. 5
10. zit. nach Huber, 1995, a.a.O., S. 29
11. zit. nach Margraf & Schneider, 1996, a.a.O., S. 5
12. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 483 f.
13. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 493
14. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 115 ff.
15. Bartling et al., 1980, a.a.O.; Fiegenbaum & Tuschen, 1996, a.a.O., S. 312 f.
16. Brasch & Richberg, 1994, a.a.O., S. 29 f.
17. Margraf & Schneider, 1990, a.a.O., S. 15
18. Margraf & Schneider, 1990, a.a.O., S. 76 ff.
19. Perkonigg & Wittchen, 1995, a.a.O., S. 143
20. Perkonigg & Wittchen, 1995, a.a.O., S. 143; Magee et al., 1996, a.a.O., S. 161; Kessler et al.,
2006, a.a.O.; Kessler & Wang, 2008, a.a.O.
21. Perkonigg & Wittchen, 1995, a.a.O., S. 151; Wittchen & Vossen, 1996, a.a.O., S. 229 f.
22. Wittchen & Zerssen, 1987, a.a.O.; Kapfhammer, 1993a, a.a.O.; Bronisch, 1995b, a.a.O.
23. Brasch & Richberg, 1994, a.a.O., S. 30 f.
24. Marks, 1993a, a.a.O., S. 93
25. Wlazlo, 1995, a.a.O., S. 18
26. Wlazlo, 1995, a.a.O., S. 18
27. Freud, 1895a, a.a.O., S. 185
28. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 482
29. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 481
30. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 490 f.
31. Dilling et al., 2008, a.a.O, S. 118 f.
32. Margraf & Schneider, 1990, a.a.O., S. 10
33. Ehlers, 1994, a.a.O., S. 31; Nutzinger, 1992, a.a.O., S. 188
34. zit. nach Richter, 1994, a.a.O., 73 f.
35. Richter & Beckmann, 1995, a.a.O.
36. Csef, 1993, a.a.O.; Richter & Beckmann, 1995, a.a.O.
37. Stuhr, 1997, a.a.O., S. 344
38. Csef, 1993, a.a.O., S. 71
39. Hajak & Bandelow, 1996, a.a.O., S. 28
40. Hajak & Bandelow, 1996, a.a.O., S. 29
41. Hajak & Bandelow, 1996, a.a.O., S. 29
42. Margraf & Schneider, 1990, a.a.O., S. 76 ff.
43. Margraf & Schneider, 1996, a.a.O., S. 8
44. Margraf & Schneider, 1996, a.a.O., S. 8
45. Brasch & Richberg, 1994, a.a.O., S. 34 f.
46. Margraf & Schneider, 1990, a.a.O., S. 93 f.; Brasch & Richberg, 1994, a.a.O., S. 33 f.
47. Buller & Benkert, 1990, a.a.O., S. 651
48. Perkonigg & Wittchen, 1995, a.a.O., S. 143
49. Eaton et al., 1994, a.a.O.; Kessler et al., 1994, a.a.O.; Perkonigg & Wittchen, 1995, a.a.O.
50. Kessler et al., 2006, a.a.O.; Kessler & Wang, 2008, a.a.O.
51. Kasper, 1996, a.a.O.
52. Hamm, 1997, a.a.O., S. 82 f., bezogen auf die Studie von Cox et al., 1995, a.a.O.
53. Wittchen & Perkonigg, 1993, a.a.O.
54. Wittchen, 1991, a.a.O.; Margraf & Schneider, 1996, a.a.O., S. 7
55. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 487
56. Schneider, 1995, a.a.O.
57. Cassano et al., 1997, a.a.O.
58. Saß et al., 2003, a.a.O., S 528 f.
59. Dilling et al. 2008, a.a.O., S. 175
60. Dilling et al., 2008, a.a.O. S. 119 f.
61. Becker & Margraf, 1995, a.a.O., S. 207 f.
62. Kessler et al., 1994, a.a.O., S. 143; Wittchen et al., 1994, a.a.O.
63. Becker & Margraf, 1995, a.a.O., S. 208; Margraf & Becker, 1996, a.a.O., S. 271
Anmerkungen S. 76–134 699

64. Bach & Nutzinger, 1995, a.a.O., S. 157


65. Strian, 1995, a.a.O., S. 42 f.
66. Saß et al., 2003. a.a.O., S. 500 f.
67. Saß et al., 2003. a.a.O., S. 495
68. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 117 f.
69. Öst, 1996, a.a.O., S. 33 f.; Hamm, 1997, a.a.O., S. 69
70. Perkonigg & Wittchen, 1995, a.a.O., S. 143; Magee et al., 1996, a.a.O., S. 161
71. zit. nach Marks, 1993a, a.a.O., S. 101
72. vgl. zur sozialen Phobie die Bücher von Stangier & Fydrich, 2002, a.a.O.; Stangier, Heidenreich
& Peitz, 2003, a.a.O.; Stangier, Clark & Ehlers, 2006, a.a.O.; Stefan & Otto, 2008, a.a.O.
73. Saß et al., 2003. a.a.O., S. 507 f.
74. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 116 f.
75. Margraf & Rudolf, 1995, a.a.O., S. 23
76. nach Margraf & Rudolf, 1995, a.a.O., S. 31
77. Margraf & Rudolf, 1995, a.a.O., S. 24; Münchau, Demal, Hand, 1998, a.a.O.; Andre & Legeron,
2001, .a.a.O.
78. Margraf & Rudolf, 1995, a.a.O., S. 24
79. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 502 f.
80. Margraf & Rudolf, 1995, a.a.O., S. 28
81. Perkonigg & Wittchen, 1995, a.a.O., S. 143
82. Kessler, 1994, a.a.O., S. 12; Perkonigg & Wittchen, 1995, a.a.O., S. 143; Juster et al., 1996,
a.a.O., S. 44; Magee et al., 1996, a.a.O., S. 161; Ruscio et al., 2008, a.a.O.
83. Juster et al., 1996, a.a.O., S. 44
84. Wlazlo, 1995, a.a.O., S. 11
85. Wlazlo, 1995, a.a.O., S. 11; Buller & Winter, 1995, a.a.O., S. 74
86. Hand, 1993c, a.a.O.; 1995, a.a.O.
87. Wlazlo, 1995, a.a.O., S. 11
88. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 7
89. Saß et al., 2003. a.a.O., S. 514 F.
90. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 177 f. und S. 180
91. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. S. 179
92. Dilling et al., 2006, S. S 121 f.
93. Foa & Wilson, 1994, a.a.O.
94. Foa & Wilson, 1994, a.a.O.
95. Hand, 1992, a.a.O., S. 175 f.
96. Emmelkamp & van Oppen, 2000, a.a.O., S. 7 ff.
97. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 42
98. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 39 f.
99. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 40 f.; Kapfhammer, 1996, a.a.O., S. 34 f.
100. Baer, 1993, a.a.O., S. 43
101. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 155 f.; Dilling et al., 2006, S. 251
102. Perkonigg & Wittchen, 1995, a.a.O., S. 143
103. Perkonigg & Wittchen, 1995, a.a.O., S. 143
104. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 13
105. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 13 f.
106. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 15
107. Saigh, 1995, a.a.O., S. 11
108. zit. nach Saigh, 1995, a.a.O., S. 11
109. Freud, 1896, a.a.O., S. 437
110. Herman, 1994, a.a.O., S. 50
111. Saigh, 1995, a.a.O., S. 12 ff.
112. Saigh, 1995, a.a.O., S. 12; Bronisch, 1997, a.a.O., S. 196
113. Horowitz, 1986, a.a.O.
114. Herman, 1994, a.a.O., S. 27
115. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 520 f.
116. Dilling et al., 2006, S. 123 f.
117. Flatten et al., a.a.O., 2004, S. 18 f. u. S. 29 ff.
700 Anmerkungen S. 135–168

118. zit. nach Herman, 1993, a.a.O., S. 169 f.


119. zit. nach Flatten et al., 2004, a.a.O., S. 35
120. zit. nach Flatten et al., 2004, a.a.O., S. 46
121. Kessler et al., 1995, a.a.O. ; Flatten et al., 2004, a.a.O., S. 51 ff.
122. Kessler & Wang, 2008, a.a.O.
123. Flatten, 2004, a.a.O., S. 53 f.; Maerker & Rosner, 2006, a.a.O.
124. Herman, 1994, a.a.O.; Saigh, 1995, a.a.O.; Flatten et al., a.a.O.
125. Herman, 1994, a.a.O.
126. Abueg & Fairbank, 1995, a.a.O., S. 132 f.
127. Calhoun & Atkeson, 1994, a.a.O., S. 37
128. Abueg & Fairbank, 1995, a.a.O., S. 132
129. Flatten et al., 2004, a.a.O., S. 50
130. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 183
131. Dilling et al., 2006, a.a.O., S. 122 f.
132. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 524 f.
133. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 532 ff.
134. Kasper & Jung, 1995, a.a.O.
135. Strian, 1995, a.a.O., S. 91
136. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 533
137. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 533
138. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 536
139. Poser & Poser, 1996, a.a.O., S. 166 f.; Julien, 1997, a.a.O., S. 169 ff.
140. Poser & Poser, 1996, a.a.O., S. 164; Julien, 1997, a.a.O., S. 170
141. Julien, 1997, a.a.O., S. 112 f.
142. Buller & Winter, 1995, a.a.O., S. 61 f.; S. 207; Baving & Olbrich, 1996, a.a.O., S. 86
143. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 256 f.
144. Poser & Poser, 1996, a.a.O., S. 144 ff.
145. Julien, 1997, a.a.O., S. 133 ff. u. 153 ff.
146. Julien, 1997, a.a.O., S. 134
147. Saß et al., 2003, a.a.O., S. S. 268
148. Brosch & Junke, 1993, a.a.O., S. 129; Julien, 1997, a.a.O., S. 329 f.
149. Julien, 1997, a.a.O., S. 141 ff.
150. Julien, 1997, a.a.O., S. 144 ff.
151. Poser & Poser, 1996, a.a.O., S. 146 f.; Brosch & Junke, 1993, a.a.O., S. 115 f.
152. Saß et al., 2003, a.a.O., S.
153. Saß et al., 2003, a.a.O., S. S. 302
154. Brosch & Junke, 1993, a.a.O., S. 117
155. Brosch & Junke, 1993, a.a.O., S. 120 ff; Julien, 1997, a.a.O., S. 351 ff.
156. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 274 f.
157. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 275 f.
158. Brosch & Junke, 1993, a.a.O.; Saß et al., 2003, a.a.O., S. 279 ff.
159. Brosch & Junke, 1993, a.a.O., S. 123 ff.; Saß et al., 2003, a.a.O.; Julien, 1997, a.a.O., S. 321 ff.
160. Brosch & Junke, 1993, a.a.O., S. 125 ff.; Saß et al., 2003, a.a.O., S. 281 ff.
161. Kasper & Jung, 1995, a.a.O.
162. Julien, 1997, a.a.O., S. 178 ff;
163. Julien, 1997, a.a.O., S. 184 ff.
164. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 310
165. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 317 f.
166. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 529 ff.
167. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 529 ff.
168. Nutzinger, 1992, a.a.O.; Strian, 1995, a.a.O.; Wilms & Kraus, 1995, a.a.O.; Strian et al., 1996,
a.a.O.; Schmidt-Traub, 2001, a.a.O.
169. Strian et al., 1996, a.a.O., S. 236
170. Strian et al., 1996, a.a.O., S. 236
171. Schmidt-Traub, 2008, a.a.O.; 2001, a.a.O.
172. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 330
173. Dilling et al., 2006, a.a.O., S. 197 f.
Anmerkungen S. 169–184 701

Kapitel 3

1. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 743 ff.


2. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 744
3. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 186
4. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 743
5. Degkwitz et al., 1980, a.a.O., S. 76
6. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 747
7. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 587 ff.
8. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 588
9. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 587 f.
10. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 589
11. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 211
12. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 575 ff.
13. Degkwitz et al., 1980, a.a.O., S. 50
14. Küchenhoff & Ahrens, 1997, a.a.O., S. 314 ff.
15. Küchenhoff & Ahrens, 1997, a.a.O., S. 314
16. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 189 ff.
17. Rief, 1996, a.a.O., S. 174
18. Rief, 1996, a.a.O.
19. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 198 ff.
20. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 539 ff.
21. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 188; Saß et al., 2003, a.a.O., S. 540 ff.
22. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 199 f.
23. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 200 f.
24. Rief, 1996, a.a.O.
25. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 559 ff.
26. Salkovskis, 1997, a.a.O., S. 322 f.
27. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 562 f.
28. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 172
29. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 564 ff.
30. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 564
31. Wlazlo, 1995, a.a.O., S. 22
32. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 204 ff.
33. Wlazlo, 1995, a.a.O., S. 24
34. zit. nach Kapfhammer, 1993a, a.a.O., S. 29
35. zit. nach Kapfhammer, 1993a, a.a.O., S. 41
36. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 176
37. Kapfhammer, 1993a, a.a.O., S. 35; Kasper, 1998, a.a.O., S. 29
38. Kapfhammer, 1993a, a.a.O., S. 35
39. Kockott, 1996, a.a.O., S. 297 f.
40. Schmidt & Arentewicz, 1993, a.a.O.
41. Csef, 1995, a.a.O., S. 133 f.
42. Csef, 1995, a.a.O., S. 134; Kockott, 1996, a.a.O., S. 298 ff.
43. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 592
44. Saß et al., 2003, a.a.O., S. 625 ff.
45. Csef, 1995, a.a.O., S. 131 f.
46. Csef, 1995, a.a.O., S. 131 f.
47. Strian, 1995, a.a.O., S. 67 f.
48. Fiedler, 2007, a.a.O.
49. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 251 f.
50. Fiedler, 2007, a.a.O.
51. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 252
52. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 246 ff.; Fiedler, 2007, a.a.O.; Saß et al., 2003, a.a.O., S. 749 ff.
702 Anmerkungen S. 185–198

Kapitel 4

1. Perkonigg & Wittchen, 1995, a.a.O., S. 143


2. Wittchen & Zerssen, 1987 a.a.O.; Perkonigg & Wittchen, 1995, a.a.O., S. 143
3. Kessler & Wang, 2008, a.a.O.
4. Kessler et al., 2005, a.a.O.
5. Kessler et al., 2006, a.a.O.
6. http://www.thieme.de/fz/gesu/pdf/s216-s222.pdf
7. Margraf & Fehm, 1996, a.a.O., S. 278; Margraf & Poldrack, 2000, a.a.O.; Schulze et al., 1997,
a.a.O., S. 6
8. Linden et al., 1996, a.a.O.
9. Perkonigg & Wittchen, 1995, a.a.O., S. 152; Linden et al., 1996, a.a.O., S. 210
10. Linden et al., 1996, a.a.O., S. 209
11. Linden et al., 1996, a.a.O., S. 213
12. Perkonigg & Wittchen, 1995, a.a.O., S. 152; Linden et al., 1996, a.a.O., S. 213 f.
13. Linden et al., 1996, a.a.O., S. 212
14. Schulze et al., 1997, a.a.O., S. 6
15. Margraf & Schneider, 1996, a.a.O., S. 25; Margraf & Poldrack, 1997, a.a.O.
16. Wittchen & Vossen, 1996, a.a.O., S. 227
17. Wittchen, 1991, a.a.O.; Wittchen & Vossen, 1996, a.a.O., S. 223
18. Magee et al., 1996, a.a.O.; Wittchen & Vossen, 1996, a.a.O., S. 223
19. Wittchen & Vossen, 1996, a.a.O., S. 223
20. Wittchen & Vossen, 1996, a.a.O., S. 223
21. Magee et al., 1996, a.a.O.; Wittchen & Vossen, 1995, a.a.O., S. 125; Wittchen & Vossen, 1996,
a.a.O., S. 223
22. Bronisch, 1995a, a.a.O., S. 58; Wittchen & Vossen, 1996, a.a.O., S. 223
23. Wittchen & Zerssen, 1987 a.a.O.
24. Bronisch, 1995b, a.a.O., S. 104
25. Wittchen & Vossen, 1995, a.a.O., S. 128; 1996, a.a.O., S. 227
26. Wittchen & Vossen, 1995, a.a.O., S. 128
27. Kapfhammer, 1993a, a.a.O., S. 31
28. Kapfhammer, 1993a, a.a.O., S. 32
29. Kapfhammer, 1993a, a.a.O., S. 32
30. Kapfhammer, 1993a, a.a.O., S. 32
31. Kapfhammer, 1993a, a.a.O., S. 36; Wittchen & Perkonigg, 1996, a.a.O., S. 104 f.
32. Kapfhammer, 1993a, a.a.O., S. 36
33. Kapfhammer, 1993a, a.a.O., S. 39
34. Kapfhammer, 1993a, a.a.O., S. 40 f.
35. Kapfhammer, 1993a, a.a.O., S. 38
36. Baving & Olbrich, 1996, a.a.O., S. 83
37. Baving & Olbrich, 1996, a.a.O., S. 85
38. Kapfhammer, 1993a, a.a.O., S. 32
39. Wittchen & Vossen, 1995, a.a.O., S. 123; Kessler et al., 1997, a.a.O.
40. Bronisch, 1995b, a.a.O., S. 103
41. Buller & Winter, 1995, a.a.O., S. 73; Baving & Olbrich, 1996, a.a.O., S. 85
42. Baving & Olbrich, 1996, a.a.O., S. 84
43. Baving & Olbrich, 1996, a.a.O., S. 83
44. Baving & Olbrich, 1996, a.a.O., S. 83
45. Baving & Olbrich, 1996, a.a.O., S. 86
46. Baving & Olbrich, 1996, a.a.O., S. 87
47. Eaton et al., 1994, a.a.O.; Magee et al., 1996, a.a.O.; Wittchen & Vossen, 1996, a.a.O., S. 230
48. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 17 f.; Kapfhammer, 1996, a.a.O., S. 35
49. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 18
Anmerkungen S. 199–246 703

Kapitel 5

1. Reinecker, 1993, a.a.O., S. 83 ff.


2. Hamm, 1997, a.a.O., S. 97 f.
3. Kasper & Möller, 1995, a.a.O.; Bandelow, 2001, a.a.O.
4. Hamm, 1997, a.a.O.; gute Darstellung der psychophysischen Zusammenhänge
5. Thompson, 1994, a.a.O., S. 22; Birbaumer & Schmidt, 1996, a.a.O., S. 453 ff.; Kolb & Whishaw,
1996, a.a.O., S. 37 ff.
6. Julien, 1997, a.a.O., S. 486
7. Goleman, 1996, a.a.O., S. 388
8. Birbaumer & Schmidt, 1996, a.a.O., S. 453 ff.
9. Goleman, 1996, a.a.O.
10. LeDoux, 1998, a.a.O.
11. Hamm, 1997, a.a.O.
12. Hüther, 1997, a.a.O.
13. LeDoux, 1998, a.a.O.
14. Strian, 1995, a.a.O., S. 388
15. Goleman, 1996, a.a.O., S. 44
16. Goleman, 1996, a.a.O., S. 46 f.
17. Goleman, 1996, a.a.O., S. 47 f.
18. Goleman, 1996, a.a.O., S. 39
19. Goleman, 1996, a.a.O., S. 40 f.; LeDoux, 1998, a.a.O.
20. Davis, 1992, a.a.O.
21. Hamm, 1997, a.a.O., S. 123, modifiziert nach Davis, 1992, a.a.O.; Bandelow, 2001 a.a.O.
22. Thompson, 1994, a.a.O., S. 63 ff.; Birbaumer & Schmidt, 1996, a.a.O., S. 101; Kolb & Whishaw,
1996, a.a.O., S. 55 ff.; Julien, 1997, a.a.O., S. 488 ff.
23. Albus, 1995, a.a.O., S. 58
24. Brosch, 1996, a.a.O., S. 35 ff.
25. modifiziert nach Brosch, 1996, a.a.O., S. 35
26. Hemmeter & Holsboer-Trachsler, 1995, a.a.O.
27. Hemmeter & Holsboer-Trachsler, 1995, a.a.O.; Sieghart, 1995, a.a.O.
28. Brosch, 1996, a.a.O., S. 123 f.; Julien, 1997, a.a.O., S. 516
29. Julien, 1997, a.a.O., S. 58 f.
30. Weyers & Fritze, 1995, a.a.O., S. 254
31. vgl. die umfangreiche Tabelle 7 in Bandelow, 2001, a.a.O.
32. Baumgarten & Grozdanovic, 1995, a.a.O., S. 3 f.
33. Baumgarten & Grozdanovic, 1995, a.a.O., S. 6 f.
34. Hemmeter & Holsboer-Trachsler, 1995, a.a.O., S. 187 f.
35. Sieghart, 1996, a.a.O., S. 214
36. Sieghart, 1995, a.a.O., S. 213 f.
37. Sieghart, 1995, a.a.O., S. 215
38. Brosch, 1996, a.a.O., S. 37; Schmitz & Dorow, 1996, a.a.O., 41 ff.
39. Hemmeter & Holsboer-Trachsler, 1995, a.a.O.; Sieghart, 1995, a.a.O.
40. Sieghart, 1995, a.a.O., S. 217
41. Ehlers, 1994, a.a.O., S. 39
42. Hellhammer & Pirke, 1996, a.a.O., S. 835 ff.
43. Hellhammer & Pirke, 1996, a.a.O., S. 838
44. Birbaumer & Schmidt, 1996, a.a.O.
45. Brosch, 1996, a.a.O., S. 28 f.
46. Hellhammer & Pirke, 1996, a.a.O., S. 838 f.
47. Hamm, 1997, a.a.O., S. 56 ff.
48. Hamm, 1997, a.a.O., S. 69.
49. Selye, 1974, a.a.O.
50. Margraf & Schneider, 1990, a.a.O.; Schmidt-Traub, 2001, a.a.O.
51. Margraf & Schneider, 1990, a.a.O.; Juli & Engelbrecht-Grewe, 1992, a.a.O.; Leidig, 1994, a.a.O.;
Adler et al., 1996, a.a.O.; Birbaumer & Schmidt, 1996, a.a.O.; Lieb & Pein, 1996, a.a.O.; Ahlers,
1997, a.a.O.; Deter, 1997, a.a.O.; Schmidt-Traub, 2008, a.a.O.; 2001, a.a.O.;
704 Anmerkungen S. 247–337

52. Ladwig et al., 1998, a.a.O.


53. modifiziert nach Strian, 1995, a.a.O., S. 85
54. Lempert, 1999, a.a.O.
55. Lamparter, 1997, a.a.O., S. 339
56. Huppert et al., 1994, a.a.O., S. 422
57. Huppert et al., 1994, a.a.O., S. 422
58. Vaitl & Hamm, 1995, a.a.O.
59. Brooks et al., 1997, a.a.O.
60. Klein, 1964, a.a.O.; Huber, 1992, a.a.O., S. 72 f.; Schneider, 1995, a.a.O., S. 70 f.
61. Klein, 1993, a.a.O.
62. Schneider, 1995, a.a.O., S. 71
63. Schneider, 1995, a.a.O., S. 71 f.
64. Charney et al., 1993, a.a.O.; Goleman, 1996, S. 257 ff.
65. Ehlert et al., 1999, a.a.O.
66. Baumgarten & Grozdanovic, 1995, a.a.O.; Benkert & Lenzen-Schulte, 1997, a.a.O., S. 59
67. Flatten et al., 2004, S. 77 ff.
68. Hohagen, 1992, a.a.O.; Kuhl, 1996, a.a.O.; Benkert & Lenzen-Schulte, 1997, a.a.O.,
S. 60 f.; Ecker, 2002, a.a.O
69. Schwartz & Beyette, 1997, a.a.O., S. 117 f.
70. Reinecker, 1993, a.a.O., S. 66 ff.
71. Meyer, 1966, a.a.O.
72. Reinecker, 1993, a.a.O., S. 73 ff.; Hamm, 1997, a.a.O., S. 93 ff.
73. Schneider, 1995, a.a.O., S. 78 ff.
74. Schneider, 1995, a.a.O.
75. Kanfer et al., 1996, a.a.O.
76. Wlazlo, 1995, a.a.O., S. 15
77. zit. nach Meichenbaum, 1979, a.a.O., S. 182
78. Beck et al., 1985, a.a.O.
79. Margraf & Schneider, 1990, a.a.O., S. 72
80. Reinecker, 1993, a.a.O., S. 97 ff.
81. Foa & Kozak, 1986, a.a.O.
82. Reinecker, 1993, a.a.O., S. 96 ff.
83. Ehlers & Lüer, 1996, 376 ff.
84. Schneider, 1995, a.a.O., S. 82 ff.
85. Margraf & Schneider, 1990, a.a.O., S. 22 ff.
86. Schneider, 1995, a.a.O., S. 86 ff.
87. Margraf & Schneider, 1990, a.a.O., S. 22 ff.; Schneider, 1995, a.a.O., S. 88 ff.
88. Ehlers et al., 1988, a.a.O.
89. Ehlers, 1994, a.a.O., S. 29
90. Schneider, 1995, a.a.O., S. 90 f.
91. Ehlers, 1994, a.a.O., S. 39 f.
92. Schneider, 1995, a.a.O.
93. Margraf & Schneider, 1990, a.a.O., S. 209 ff.
94. Miltner, 1986, a.a.O.
95. zit. nach Heuer, 1994, a.a.O., S. 122
96. Kossak, 1993, a.a.O., S. 236 f.
97. Reinhardt, 1993, a.a.O.; S. 108
98. Rief, 1995, a.a.O., S. 177 f.
99. Kupfer et al., 2001, a.a.O.
100. Rachman, 2000, a.a.O.
101. Borkovec et al., 2004, a.a.O.
102. Beck et al., 1985, a.a.O.; Juster et al., 1996, a.a.O. Wells, 1997, a.a.O.
103. zit. nach Margraf & Rudolf, 1995, a.a.O., S. 29
104. Juster et al., 1996, a.a.O., S. 47
105. Clark & Wells, 1995, a.a.O.; Stangier & Heidenreich, 1997, a.a.O.
106. Clark & Ehlers, 2002, a.a.O.
Anmerkungen S. 338–392 705

107. Meyer, 1966, a.a.O.


108. Herrlich, 1994, a.a.O., S. 57
109. Reinecker, 1992b, a.a.O., S. 343; Reinecker, 1994a, a.a.O., S. 58 f.; Salkovskis & Kirk, 1996,
a.a.O.
110. Foa & Wilson, 1994, a.a.O., S. 95
111. Foa & Wilson, 1994, a.a.O.; Salkovskis & Kirk, 1996, a.a.O., S. 64; Margraf & Becker, 1997,
a.a.O., S. 283 f.
112. De Silva, P. & Rachman, S., 1992, a.a.O.;. Salkovskis & Kirk, 1996, a.a.O., S. 66; Lakatos &
Reinecker, 1999, a.a.O.; Salkovskis, 2002, a.a.O.
113. Hoffmann, 1996, a.a.O., S. 55
114. Reinecker, 1994, a.a.O.; Süllwold et al., 1994, a.a.O.; Hoffmann, 1996, a.a.O.; Salkovskis &
Kirk, 1996, a.a.O.; Lakatos & Reinecker, 1999, a.a.O.
115. Hand, 1993c, a.a.O., S. 511
116. Hand, 1995, a.a.O., S. 13
117. Hoffmann & Hofmann, 2008, a.a.O
118. Foy et al., 1995, a.a.O., S. 53 f.
119. Foa & Rothbaum, 1996, a.a.O., S. 109
120. Jones & Barlow, 1996, a.a.O.
121. Ehlers, 1999, a.a.O.; Ehlers & Clark, 2000, a.a.O.
122. Bassler & Hoffmann, 1993, a.a.O., S. 548; 1997, a.a.O., S. 248
123. Bassler & Hoffmann, 1993, a.a.O.
124. Hufnagel & Senf, 1994, a.a.O., S. 85
125. Mentzos, 1982, a.a.O., S. 166 ff.
126. Mentzos, 1984, a.a.O.; Tress et al., 1995, a.a.O.
127. Willi, 1975, a.a.O.
128. Richter & Beckmann, 1995, a.a.O.; Tress et al., 1995, a.a.O., S. 375 f.
129. Bassler & Hoffmann, 1993, a.a.O., S. 551
130. Bassler & Hoffmann, 1993, a.a.O.
131. Mentzos, 1984, a.a.O.
132. Quint, 1988, a.a.O.; 1993, a.a.O.; Joraschky, 1996, a.a.O.
133. Mentzos, 1982, a.a.O., S. 163 f.
134. Hoffmann, S.O., 2002, a.a.O.
135. Willi, 1975, a.a.O.
136. Hand, 1989, a.a.O., S. 47
137. Hafner, 1986, a.a.O.; 1988, a.a.O.
138. Nardone, 1997, a.a.O.
139. Hand, 1992, a.a.O., S. 163 f.; 1993c, a.a.O.; 1995, a.a.O., S.14
140. Wakolbinger, 1996, a.a.O.
141. Nissen, 1995, a.a.O., S. 13 f.
142. Maerker, 1995, a.a.O., S. 35
143. Leimkühler, 1995, a.a.O.; Schmidt-Traub, 2001, a.a.O.
144. Hafner, 1988, a.a.O.
145. Roth, 1996, a.a.O.

Kapitel 6

1. Margraf, 1996a, a.a.O.; 1996b, a.a.O.


2. Kanfer et al. 1996, a.a.O.
3. Frank, 1985, a.a.O.
4. Grawe, 1994, a.a.O.; Grawe et al., 1994, a.a.O.
5. Zarbock, 1996, a.a.O., S. 20 f.
6. Kanfer et al. 1996, a.a.O., S. 138 ff.
7. Rief & Fichter, 1995, a.a.O.
8. modifiziert nach Rief & Fichter, 1995, a.a.O., S. 401
9. Rief & Fichter, 1995, a.a.O., S. 401
10. Rief & Fichter, 1995, a.a.O., S. 402
706 Anmerkungen S. 392–430

11. Rief, 1993, a.a.O., S. 63 f.


12. Hand, 1993a, a.a.O., S. 544 ff.
13. Hand, 1989, a.a.O., S. 58
14. Hand, 1989, a.a.O., S. 55
15. Caspar, nach Strian, 1995, a.a.O., S. 117
16. Caspar, nach Strian, 1995, a.a.O., S. 117
17. zit. nach Fliegel et al., 1981, a.a.O., S. 153
18. Maerker, 1996, a.a.O.
19. Reinecker, 1996, a.a.O., S. 73
20. Hand, 1993a, a.a.O., S. 539
21. Hand, 1993a, a.a.O., S. 541
22. Hand, 1993a, a.a.O., S. 543; 1993b, a.a.O., S. 63; 1996, a.a.O., S. 143
23. Marks, 1993a, a.a.O.
24. Bartling et al., 1980, a.a.O.; Reinecker, 1993, a.a.O., S. 108 ff.; Fiegenbaum & Tuschen, 1996,
a.a.O., S. 305 f.
25. Bartling et al., 1980, a.a.O.
26. Bartling et al., 1980, a.a.O., S. 32
27. Birbaumer, zit. nach Bartling et al., 1980, a.a.O., S. 43
28. Bartling et al., 1980, a.a.O., S. 149
29. Bartling et al., 1980, a.a.O.; Hand, 1993a, a.a.O., S. 541; Fiegenbaum & Tuschen, 1996, a.a.O., S.
305 f.
30. Möhlenkamp, 1995, a.a.O.
31. Marks, 1993b, a.a.O., S. 53
32. Bartling et al., 1980, a.a.O.; Hand, 1993a, a.a.O., S. 542; Fiegenbaum & Tuschen, 1996, a.a.O., S.
305
33. Hand, 1993a, a.a.O., S. 541
34. Mathews et al., 1994, a.a.O.
35. Hand, 1993a, a.a.O., S. 541
36. Marks, 1993a, a.a.O., S. 200
37. Hand, 1989, a.a.O., S. 54
38. Hand, 1993a, a.a.O., S. 541
39. Rachman et al., 1986, a.a.O.
40. Al-Kubaisky, et al., 1992, a.a.O.
41. Côté et al., 1994, a.a.O.; Gould & Clum, 1995, a.a.O.
42. Hand, 1993b, a.a.O., S. 62
43. Für zusätzliches Informationsmaterial: Christoph-Dornier-Stiftung Münster, Salzstraße 52,
D-48143 Münster
44. Hand, 1993a, a.a.O., S. 541
45. Hand, 1996, a.a.O., S. 143
46. Hand, 1996, a.a.O., S. 145
47. Hand, 1989, a.a.O., S. 48 f.
48. Hand, 1996, a.a.O.
49. Janisch, 1995, a.a.O., S. 147 ff.; Vortrag beim 1. Weltkongreß für Psychotherapie in Wien im Juli
1996 (Tonband); Butollo et al., 1997, a.a.O.
50. Butollo & Höfling, 1984, a.a.O.
51. Margraf & Schneider, 1990, a.a.O.
52. Schmidt-Traub, 2008, a.a.O.
53. Newman et al., 2004, a.a.O.
54. Öst, 1996, a.a.O.
55. Öst, 1996, a.a.O., S. 33 f.
56. Öst, 1996, a.a.O., S. 35
57. Öst, 1996, a.a.O., S. 35
58. Öst, 1996, a.a.O., S. 35 f.
59. Clark & Wells, 1995, a.a.O.; Becker & Hoyer, 2005, a.a.O.; Becker & Margraf, 2007, a.a.O.;
Wlazlo, 1995a.a.O.
60. Stangier et al., 2009, a.a.O.
61. Heimberg & Becker, 2002, a.a.O.
Anmerkungen S. 431–468 707

62. Ullrich & de Muynck, 1995, a.a.O.


63. Ullrich & de Muynck, 1995, a.a.O., S. 78
64. Hinsch & Pfingsten, 2007, a.a.O
65. Alsleben & Hand, 2006, a.a.O
66. Metzig & Schuster, 2005, a.a.O.
67. Meyer, 1966, a.a.O.; Hand, 1992, a.a.O.; 1993c, a.a.O.; 1995, a.a.O.; Reinecker, 1994, a.a.O.;
Salkovskis & Kirk, 1996, a.a.O.
68. Foa & Wilson, 1994, a.a.O.; das Buch ist derzeit vergriffen
69. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 88 f.
70. Hand, 1993c, a.a.O.; Reinecker, 1994, a.a.O.; Salkovskis & Kirk, 1996, a.a.O.; Ecker, 2002,
a.a.O.; Hoffmann & Hofmann, 2004, a.a.O.
71. Reinecker, 1994, a.a.O.; Salkovskis & Kirk, 1996, a.a.O.; Lakatos & Reinecker, 1999, a.a.O.
72. Süllwold & Herrlich, 1994, a.a.O., S. 72 ff.
73. Hand, 1988, a.a.O.; 1992, a.a.O.; 1993c, a.a.O.; 1995, a.a.O.
74. Hand, 1992, a.a.O., S. 166 f.
75. Hand, 1992, a.a.O., S. 167 f.
76. Münchau et al., 1996, a.a.O.
77. Hand, 1995, a.a.O.; Salkovskis & Kirk, 1996, a.a.O.; Lakatos & Reinecker, 1999, a.a.O.
78. Herman, 1994, a.a.O.
79. Piper & Bengel, 2008, a.a.O.
80. Herman, 1994, a.a.O., S. 256 f.
81. Zarbock, 1996, a.a.O., S. 122
82. Ehlers, 1999, a.a.O.
83. Horowitz, 1986, a.a.O.
84. nach Herman, 1994, a.a.O., S. 304 f.
85. Bandelow, et al., 1995, a.a.O., S. 452
86. Grawe et al., 1994, a.a.O., S. 338 f. u. S. 343
87. Hand, 1993a, a.a.O., S. 544 f.; 1996, a.a.O.; Marks, 1993b, a.a.O., S. 53 ff.; Schulze et al., 1997,
a.a.O., S. 6
88. Fiegenbaum, 1990, a.a.O.; Fiegenbaum et al., 1992, a.a.O.; Fiegenbaum & Tuschen, 1996, a.a.O.
89. Fiegenbaum et al., 1992, a.a.O., S. 339
90. Fiegenbaum & Tuschen, 1996, a.a.O., S. 310 f.
91. Hand, 1993a, a.a.O., S. 544
92. Hand, 1996, a.a.O., S. 147
93. vgl. z.B. Rief, 1993, a.a.O.
94. Schulte, 1991, a.a.O.; Schulte et al., 1992, a.a.O.
95. Fiegenbaum, 1990, a.a.O.; Fiegenbaum et al., 1992, a.a.O.; Fiegenbaum & Tuschen, 1996, a.a.O.,
Hand, 1996, a.a.O.
96. Mathews, Gelder & Johnston 1994, a.a.O.
97. Hand et al., 1986, a.a.O.
98. Al-Kubaisky et al., 1992, a.a.O.
99. Fisser, 1996, a.a.O.
100. Marks, 1993b, a.a.O., S. 53 ff.
101. Reinecker, 1993, a.a.O., S. 179
102. Ruhmland & Margraf, 2001, a.a.O.
103. Hand, 1993a, a.a.O., S. 544
104. Peter et al., 1993, a.a.O., S. 129
105. Marks et al., 1993a, a.a.O.
106. Bruce et al., 1995, a.a.O.; Barlow & Lehman, 1996, a.a.O., S. 729
107. Barlow & Lehman, 1996, a.a.O., S. 729
108. de Beurs et al. 1995, a.a.O.
109. Berger, 1996, a.a.O., S. 36
110. Barlow & Lehman, 1996, a.a.O., S. 729
111. Telch & Lucas, zit. Frommberger et al., 1995, a.a.O., S. 181
112. Clum; zit. nach Frommberger et al., 1995, a.a.O., S. 181
113. Michelson & Marchione, zit. nach Frommberger et al., 1995, a.a.O., S. 181
114. Margraf & Schneider, 1990, a.a.O.
708 Anmerkungen S. 468–492

115. Bandelow et al.,1995, a.a.O., S. 454; Barlow & Lehman,1996, a.a.O.; Margraf & Schneider,
1996, a.a.O., S. 24 f.
116, Ruhmland & Margraf, 2001, a.a.O.
117. Boerner, 1995, a.a.O., S. 214
118. Neumer & Margraf, 1996, a.a.O., S. 548
119. Barlow & Lehman, 1996, a.a.O., S. 729
120. Dugas, Robichaud, 2007, a.a.O.
121. Barlow & Lehman, 1996, a.a.O., S. 732
122. Barlow & Lehman, 1996, a.a.O., S. 731 f.; Juster et al., 1996, a.a.O.
123. Ruhmland & Margraf, 2001, a.a.O.
124. Stangier et al., 2006, a.a.O., S. 95
125. Diese beeindruckende Studie kann unter www.cochrane.org heruntergeladen werden.
126. Hand, 1992, a.a.O., S. 169; 1995, a.a.O.
127. Foa & Kozak, zit. nach Barlow & Lehman, 1996, a.a.O., S. 730 f.; Hand, 1993, a.a.O.; 1995,
a.a.O., S. 16
128. Hand, 1995, a.a.O., S. 16
129. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 128; Reinecker & Zaudig, 1995, a.a.O.
130. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 114 ff.
131. Hand, 1992, a.a.O., S. 165 f.
132. Marks, zit. nach Volk, 1994, a.a.O., S. 113
133. Foa & Liebowitz, zit. nach Barlow & Lehman, 1996, a.a.O., S. 731
134. Hohagen et al., 1997, a.a.O.
135. Barlow & Lehman, 1996, a.a.O., S. 732
136. Reinecker, 1994, a.a.O., S. 88 f.
137. Möhlenkamp, 1995, a.a.O.
138. Bronisch, 1995a, a.a.O., S. 58
139. Möhlenkamp, 1995, a.a.O., S. 377 f.
140. Möhlenkamp, 1995, a.a.O., S. 378
141. Möhlenkamp, 1995, a.a.O., S. 376
142. Möhlenkamp, 1995, a.a.O., S. 376
143. Möhlenkamp, 1995, a.a.O., S. 376

144. Bronisch, 1995a, a.a.O., S. 59


145. Fiedler, 2007, a.a.O.
146. Möhlenkamp, 1995, a.a.O., S. 378 f.
147. Möhlenkamp, 1995, a.a.O., S. 379 f.
148. Möhlenkamp, 1995, a.a.O., S. 386
149. Möhlenkamp, 1995, a.a.O., S. 380 f.
150. Möhlenkamp, 1995, a.a.O., S. 385

Kapitel 7

1. Bassler & Hoffmann, 1993, a.a.O., S. 552 f.


2. Freud, 1919, a.a.O., S. 191; zit. nach Margraf & Schneider, 1996, a.a.O., S. 20
3. Bassler & Hoffmann, 1994, a.a.O., S. 224
4. Bassler & Hoffmann, 1994, a.a.O., S. 218
5. Quint, 1993, a.a.O.; Joraschky, 1996, a.a.O.
6. Quint, 1993, a.a.O., S. 531
7. Joraschky, 1996, a.a.O., S. 62
8. Bassler & Hoffmann, 1994, a.a.O., S. 217
Anmerkungen S. 493–612 709

Kapitel 8

1. Gosh & Marks, 1987, a.a.O.; Gould et al., 1993, a.a.O.; Gould & Clum, 1995, a.a.O.; Thiels et
al., 1995, a.a.O.; Angenendt, 1996, a.a.O.
2. Antony & Stein, 2008, a.a.O.
3. Wittchen et al., 1995, a.a.O.
4. Wittchen et al., 1995, a.a.O., S. 65 ff.
5. Becker & Schneider,1995, a.a.O., S. 417; Schmidt-Traub, 2008, a.a.O.
6. modifiziert nach Leidig, 1994, a.a.O., S. 89 f.
7. Beck et al., 1985; Margraf & Schneider, 1990, a.a.O., S. 72; Peurifoy, 2006, a.a.O.
8. Kossak, 1993, a.a.O.; Alman & Lambrou, 1995, a.a.O.
9. modifiziert nach Eberspächer, 1995, a.a.O., S. 71
10. zit. nach Wahl & Kohl, 1995, a.a.O., S. 457
11. Bernstein & Borkovec, 1982, a.a.O., S. 67 ff.
12. Hanisch & Ferstl, 1993, a.a.O.
13. Keller, 1995, a.a.O., S. 66
14. Keller, 1995, a.a.O., S. 64 u. 85
15. Mathews et al., 1994, a.a.O., S. 60
16. modifiziert nach Mathews et al., 1994, a.a.O., S. 61
17. Marks, 1993a, a.a.O., S. 224
18. Mathews et al., 1994, a.a.O., S. 39 ff.
19. Christmann, 1996, a.a.O.
20. Christmann, 1996, a.a.O.
21. Reinhardt, 1993, a.a.O.; Eberspächer, 1995, a.a.O.
22. Christmann, 1996, a.a.O., S. 55 f.
23. Es handelt sich dabei um Techniken aus der Hypnose und dem Neurolinguistischen Programmie-
ren (NLP).
24. Calhoun & Atkeson, 1994, a.a.O., S. 100
25. Pennebaker, 1993, a.a.O.; Calhoun & Atkeson, 1994, a.a.O., S. 100
26. Butollo & Höfling, 1984, a.a.O., S. 23
27. Meichenbaum, 1979, a.a.O.
28. Peurifoy, 2006, a.a.O.; Kaestele, 1994, a.a.O.; Schmidt-Traub, 2001, a.a.O.
29. Peurifoy, 2006, a.a.O.
30. Kaestele, 1994, a.a.O., S. 82 f.
31. Kaestele, 1994, a.a.O., S. 85 f.
32. Kaestele, 1994, a.a.O., S.106 f.
33. Schmidt-Traub, 2001, a.a.O.
34. Schmidt-Traub, 2001, a.a.O.
35. Wegner, 1995, a.a.O.
36. Lodes, 1991, a.a.O.
37. Lowen, 1984, a.a.O., S. 179
38. Kaluza, 1996, a.a.O.
39. Foa & Wilson, 1994, a.a.O., S. 190 ff.; es handelt sich dabei um ein radikales Programm
40. Baer, 2001, a.a.O.; dieses Buch ist Betroffene und Fachleute geeignet
41. Hoffmann, 1996, a.a.O.; dieses Buch ist nach wie vor ein „Dauerbrenner“
42. Ambühl, 2004, a.a.O.; dies ist das neueste und wohl beste Selbsthilfebuch bei Zwängen
43. Jurecka, 1996, a.a.O., S. 7 f.
44. Schwartz & Beyette, 1997, a.a.O.
45. Schwartz & Beyette, 1997, a.a.O., S. 26
46. Schwartz & Beyette, 1997, a.a.O., S. 30

Kapitel 9

1. Mathews et al., 1994, a.a.O., S. 74 ff.


2. Baer, 2001, a.a.O.
710 Anmerkungen S. 613–690

Kapitel 10

1. Kapfhammer, 1995, a.a.O.; Kasper, 1995, a.a.O.; Laux et al., 1995, a.a.O.; Wurthmann, 1995,
a.a.O.; Brosch, 1996, a.a.O.; Poser & Poser, 1996, a.a.O.; Benkert & Hippius, 2009, a.a.O.
2. Kapfhammer, 1995, a.a.O., S. 273
3. Laux et al., 1995, a.a.O., S. 40 ff.
4. Kapfhammer, 1995, a.a.O., S. 276
5. Julien, 1997, a.a.O., S. 86
6. modifiziert nach Laux, 1993, a.a.O., S. 473
7. Laux, 1993, a.a.O.; S. 473; Kapfhammer, 1995, a.a.O., S. 273; Benkert & Hippius, 2009, a.a.O.;
8. Faust, 1995, a.a.O., S. 33
9. Faust, 1995, a.a.O., S. 217
10. Laux, 1995, a.a.O., S. 319 f.
11. Laux et al., 1995, a.a.O., S. 47
12. Benkert & Hippius, 2009, a.a.O., S. 341
13. Kasper, 1996, a.a.O.
14. Frommberger et al., 1995, a.a.O., S, 176
15. Rickels, 1993, a.a.O.; Bach & Nutzinger, 1995, a.a.O.; Kapfhammer, 1995, a.a.O., S. 283 ff.
16. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 96 ff.
17. Dilling et al., 2008, a.a.O., S. 99 f.
18. Faust, 1995, a.a.O., S. 219 f.
19. Faust, 1995, a.a.O., S. 220 f.
20. Faust, 1995, a.a.O., S. 221 f.
21. Faust, 1995, a.a.O., S. 235
22. Julien, 1997, a.a.O., S. 89
23. Poser & Poser, 1996, a.a.O., S. 117
24. Poser & Poser, 1996, a.a.O., S. 119
25. Poser & Poser, 1996, a.a.O., S. 38 ff.
26. Benkert & Hippius, 2009, a.a.O., S. 333.
27. Faust, 1995, a.a.O., S. 235 ff.
28. Faust, 1995, a.a.O., S. 231 ff.
29. Faust, 1995, a.a.O., S. 232
30. Faust, 1995, a.a.O., S. 92; Laux et al., 1995, a.a.O., S. 108 f.; Benkert & Hippius, 2009, a.a.O.
31. Benkert & Hippius, 2009, a.a.O., S. 325
32. Benkert & Hippius, 2009, a.a.O.; Schmitz & Dorow et al., 1996, a.a.O.
33. Wurthmann, 1995, a.a.O., S. 304
34. Laux, 1995, a.a.O.
35. Lecrubier, Judge et al., 1997, a.a.O.
36. Wade et al., 1997, a.a.O.
37. Laux et al., 1995, a.a.O., S. 51 ff.; Benkert & Hippius, 2009, a.a.O.; Poser & Poser, 1996, a.a.O.
38. Bandelow et al., 2005, a.a.O.
39. Deter, 1997, a.a.O., S. 53 f.
40. Die Kirsch-Studien werden von vielen Psychiatern als voreingenommen abgelehnt.
41. Bandelow et al., 1995, a.a.O., S. 453
42. Benson, 1997, a.a.O.
43. Deter, 1997, a.a.O., S. 54 f.
44. Gauler & Weihrauch, 1997, a.a.O., S. 15 f.
45. Gauler & Weihrauch, 1997, a.a.O., S. 25 f.
46. Deter, 1997, a.a.O., S. 54 f.; Gauler & Weihrauch, 1997, a.a.O., S. 19 ff.
47. Deter, 1997, a.a.O., S. 55
48. Gauler & Weihrauch, 1997, a.a.O., S. 35 ff.

Kapitel 11

1. Schulz & Hänsel, 1996, a.a.O., S. 82 f.


2. Sengupta et al., 1992, a.a.O.
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Über den Autor

Hans Morschitzky, geb. 1952, Dr. phil., Klinischer Psychologe und Gesundheitspsycho-
loge, Psychotherapeut (Zusatzbezeichnungen „Verhaltenstherapie“ und „Systemische
Familientherapie“)

Er ist seit 1983 in der oberösterreichischen Landes-Nervenklinik Wagner-Jauregg in


Linz angestellt (seit 1999 nur mehr 20 Wochenstunden) und hat seit 1987 eine eigene
Praxis mit dem Schwerpunkt Angststörungen, Burn-out und psychosomatische Störun-
gen.

Er war seit 2002 auf der psychosomatischen Station der Nervenklinik beschäftigt und ist
seit 2005 auf der psychosomatischen Tagesklinik tätig.

Hans Morschitzky vertritt ein integratives Behandlungsmodell auf der Basis der Verhal-
tenstherapie unter Berücksichtigung anderer Psychotherapiemethoden.

In seinen bisher acht Büchern war es ihm immer wichtig, zentrale Aspekte aus dem
Bereich der psychischen und psychosomatischen Störungen einem möglichst großen
Leserkreis zu vermitteln und damit eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit zu leisten.

Ebenfalls bei Springer, Wien, erschienen sind seine Bücher: „Somatoforme Störungen.
Diagnostik, Konzepte und Therapie bei Körpersymptomen ohne Organbefund“ (2007,
2., erweiterte Auflage) und „Psychotherapie Ratgeber. Ein Wegweiser zur seelischen
Gesundheit“ (2007).

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