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Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches leider unbekannt ist das Ergebnis
der Evaluierung von kognitiver Verhaltenstherapie und psychodynamischer Therapie
im Ausmaß von 25 Stunden zu den Bereichen der sozialen Phobie und der generalisier-
ten Angststörung, die in Deutschland aus staatlichen Mitteln finanziert wird.
Angesichts der Explosion der Fachliteratur, z.B. zum Bereich der posttraumatischen
Belastungsstörung, werden mir zunehmend die Grenzen eines Buches bewusst, dass alle
Angststörungen nach dem DSM-IV-TR darstellen möchte. Ich habe eine Einschränkung
auf den Bereich der Angststörungen nach dem ICD-10 überlegt und dann doch davon
Abstand genommen, weil im Hinblick auf die häufige Komorbidität psychischer Stö-
rungen in der klinischen Praxis gerade die posttraumatische Belastungsstörung, aber
auch bestimmte Formen der Zwangsstörung leicht übersehen werden. Eine Beschrän-
kung der Seitenzahl wäre auch leicht möglich gewesen durch den Verzicht auf die Psy-
chopharmakotherapie, die ich als Psychologischer Psychotherapeut ohnehin nur darstel-
len kann wie ein Journalist. Doch auch dazu konnte ich mich nicht entschließen – aus
Respekt vor biologischen Aspekten psychischer Krankheiten, die auch ein überzeugter
Verhaltenstherapeut wie ich gerne zur Kenntnis nimmt. Immer wieder fällt mir auf, dass
die modernen Antidepressiva gerade jenes ängstliche, zwanghafte und depressive Grü-
beln unterbrechen, das psychische Störungen unnötig lange aufrecht erhält, unabhängig
von den psychischen, sozialen und biologischen Ursachen.
Es fällt mir schwer, Inhalte wegzulassen, die nach vermuteter Meinung von Fachleuten
in diesem Buch unbedingt präsentiert werden müssten, oder auf interessante Details zu
verzichten, die ich in der Zeit der Vorbereitung auf die Überarbeitung dieses Buches ge-
sammelt habe. Ich denke jedoch an klinische Praktiker, interessierte Nicht-Fachleute,
Betroffene und deren Angehörige, an die sich dieses Buch wendet, und nicht an Wissen-
schafter, die andere Quellen finden, um sich über den neuesten Stand zur Thematik der
Angststörungen zu informieren. Wie in eher populären Büchern üblich, habe ich wegen
der leichteren Lesbarkeit auch zunehmend darauf verzichtet, genaue Quellenangaben
vorzunehmen. Die zugestandene Anzahl von 750 Seiten habe ich bewusst unterschritten.
VI Vorwort
Am meisten beeindruckt mich die in den letzten Jahren erfolgte die Weiterentwick-
lung der kognitiven Verhaltenstherapie in Richtung Akzeptanz- und Commitmentthera-
pie und der psychodynamischen Therapie in Richtung interaktioneller, gegenwartsbe-
zogener Konzepte. Hinsichtlich der generalisierten Angststörung finde ich die Erweite-
rung der theoretischen und therapeutischen Konzepte und damit auch die Verbesserung
der Therapieerfolge sehr beachtlich. Am Beispiel der generalisierten Angststörung und
der sozialen Phobie wird deutlich, dass interaktionelle Erfahrungen, Verletzungen und
Vulnerabilitäten typische Auslöser von Angststörungen sind, während ständiges Grü-
beln eine chronische Angstsymptomatik aufrechterhält. Ich bin immer wieder von Neu-
em davon betroffen, wie sehr meine Patienten mit länger dauernder Angststörung unter
einem Vermeidungsverhalten leiden, das sich weder mit Konfrontationstherapie noch
mit kognitiver Therapie so leicht (wie oft behauptet wird) überwinden lässt.
Das Zulassen von Angst in allen Formen des körperlichen Empfindens, Fühlens und
Denkens scheint nicht in unsere Leistungsgesellschaft zu passen, wo man alles unter
Kontrolle haben muss, und wird von den Betroffenen offensichtlich als unerträgliche
Schwäche angesehen, die es auszumerzen gilt. Etwas mit oder trotz Angst zu tun ist
vielen Angstpatienten zu wenig. Sie hoffen auf Befreiung von derartigen Zuständen, um
alles sicher „im Griff“ haben zu können.
Bei Kurzzeittherapien verwende ich gerne folgendes Bild: „Die Angst begleitet Sie
überall hin wie Ihr Schatten an einem sonnigen Tag, doch Sie bestimmen den Weg.
Welches Ziel ist so attraktiv, dass es sich lohnt, die Angst auszuhalten? Es geht Ihnen
nicht schon besser, wenn Ihre Symptome verschwinden, sondern nur weniger schlecht.
Sie müssen das Gute tun, damit es Ihnen besser gehen kann.“ Die Auseinandersetzung
mit der Akzeptanz- und Commitmenttherapie durch die Arbeit an diesem Buch bestärkt
mich in der Haltung, mit meinen Patienten nicht gegen, sondern für etwas zu kämpfen,
nämlich für Autonomie, Freiheit und ein lebenswertes Leben – bei erträglicher Angst!
Während die Achtsamkeitstherapie nach Kabat-Zinn in Deutschland bereits zuneh-
mende Beachtung findet, ist die aus der Verhaltenstherapie stammende Akzeptanz- und
Commitmenttherapie von Hayes und Mitarbeitern zumindest in der klinischen Praxis
noch weitgehend unbekannt. Wenn sie aufgrund nachgewiesener Wirksamkeit jene
Verbreitung findet, wie ihr dies zu wünschen ist, wird die traditionelle kognitiv-
behaviorale Therapie von Menschen mit Angststörungen zukünftig wohl wesentliche
Änderungen erfahren – weg vom Image des „Machertums“ und des „richtigen Den-
kens“ und hin zu mehr Akzeptanz der momentanen Empfindungen, Gefühle und Ge-
danken. Wenn die Therapieforschung in den USA die Effizienzsteigerung der Verhal-
tenstherapie durch die Integration emotionszentrierter und interaktioneller Aspekte in
der Behandlung von Menschen mit Angststörungen immer mehr bestätigen sollte, wird
die Verhaltenstherapie zunehmend in Richtung einer integrativen Therapie gehen, wie
ich mir dies schon immer gewünscht habe.
Für die überarbeitete und erweiterte Neuauflage dieses Buches wurden die neu er-
schienenen deutschsprachigen Fachbücher und Artikel berücksichtigt, insbesondere zu
folgenden Angststörungen: generalisierte Angststörung, soziale Phobie, Zwangsstö-
rung, posttraumatische Belastungsstörung, Angststörungen im Kindes- und Jugendalter.
Das Medikamenten-Kapitel wurde auf den neuesten Stand gebracht, soweit es die in
Deutschland und Österreich erhältlichen Medikamente bei Angststörungen betrifft.
Die anhaltende Beschäftigung mit der Thematik der Angststörungen hat dazu ge-
führt, dass ich mich immer mehr für somatoforme Störungen interessiert habe, im glei-
chen Verlag dazu auch ein Buch veröffentlicht habe und in der Nervenklinik Linz, wo
ich 20 Wochenstunden tätig bin, die Chance zu einer Veränderung wahrgenommen
habe, indem ich seit 2002 nicht mehr in der Psychiatrie, sondern in der Psychosomatik
arbeite. Denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Patienten noch nicht ganz
gesund sind, wenn sie nicht mehr angstkrank sind, denn verspannt sind sie immer noch
und leiden weiterhin unter ihrem Körper, wenngleich sie ihn nicht mehr fürchten.
Aus vielen persönlichen Rückmeldungen weiß ich, dass der Absatz dieses Buches
auch durch meine Internet-Präsenz unter www.panikattacken.at gefördert wurde, wo
auf dieses Buch ausdrücklich hingewiesen wird.
Viele Menschen und auch Journalisten, die zu einem bestimmten Thema Daten sam-
meln, wählen heute das Internet als erstes Informationsmittel. Gegenwärtig gilt
www.google.de als Suchmaschine Nr. 1 (90% der Besucher finden über diesen Weg zu
meiner Homepage). Meine umfangreichen Ausführungen über die verschiedenen
Angststörungen haben schon vielen Menschen weiter geholfen und den Betroffenen das
Gefühl vermittelt, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind.
Die Öffentlichkeitsarbeit zur Thematik der Angststörungen ist mir ein Herzensan-
liegen geworden. Gerade anhand von Ängsten lässt sich beobachten, wie aus normalen
Zuständen krankhafte Beeinträchtigungen werden können, die großes Leid verursachen.
Je früher die Betroffenen Wege zur Selbsthilfe oder zur Therapie finden, umso weniger
Chronifizierung der Ängste ist zu erwarten.
Aus den für jedermann sichtbaren Besucherzahlen meiner Homepage zeigt sich,
dass das Informationsbedürfnis über Angststörungen nach wie vor enorm groß ist. Es
ist daher anzunehmen, dass auch die dritte Auflage dieses Buches eine entsprechende
Nachfrage finden wird.
Aufgrund der Fülle der angebotenen Themen ist es nicht wahrscheinlich, dass je-
mand dieses Buch von Anfang bis zum Ende lesen wird. Es hat sich vielmehr als Nach-
schlagewerk bewährt, das angesichts der aktuellen Fragen und Probleme eine konkrete
Hilfestellung bieten möchte.
Ich wünsche allen Fachleuten, Betroffenen, deren Angehörigen und den anderen an
dieser Thematik Interessierten eine Gewinn bringende Lektüre.
Der Buchumfang ist durch die Erweiterungen noch etwas angewachsen, dennoch hoffe
ich, dass das Buch weiterhin für einen breiten Leserkreis attraktiv erscheint.
Drei umfangreiche und repräsentative deutsche Studien (Dresdner Angststudie,
Bundesgesundheitssurvey 1998, TACOS-Studie) haben die große Bedeutung klinisch
relevanter Ängste neuerlich bestätigt: 9% der deutschen Bevölkerung leiden aktuell und
15% im Laufe des Lebens unter einer behandlungsbedürftigen Angststörung.
Durch die weltweit größte Studie zu generalisierten Angststörungen und Depressio-
nen in den Ordinationen von 558 deutschen Allgemeinärzten bei über 20000 Patienten
wurde zudem auf ein Problem hingewiesen, das bislang unterschätzt und vernachlässigt
wurde, und zwar das hohe Ausmaß der subklinischen Ängste und der klinisch relevan-
ten Ängste in Form der generalisierten Angststörung.
27% der Hauarztpatienten, d.h. mehr als ein Viertel der Patienten, litten in den ver-
gangenen vier Wochen unter Angstbeschwerden, ängstlicher Anspannung und Besorg-
nis. Jeder fünfte dieser Patienten wies eine seit mehr als sechs Monaten andauernde
generalisierte Angststörung auf.
Die generalisierte Angststörung mit einer Stichtagsprävalenz von 5,6% gehört damit
zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung. Die gene-
ralisierte Angststörung wurde jedoch bei zwei Drittel der Patienten von den Ärzten
nicht erkannt. Noch weniger Patienten werden adäquat behandelt, was für die Betroffe-
nen und das Gesundheitssystem schwerwiegende Folgen hat.
Nur ein Drittel der Patienten mit einer generalisierten Angststörung werden vom
Hausarzt richtig diagnostiziert. Andererseits waren nur 16% der hausärztlich gestellten
Diagnosen einer generalisierten Angststörung richtig. Bei einem Drittel der Patienten
mit einer generalisierten Angststörung äußerte der Hausarzt nicht einmal einen Ver-
dacht auf irgendeine psychische Störung. Mit zunehmender Erkrankungsdauer kommt
es zu immer häufigeren deprimierenden erfolglosen Bewältigungsversuchen und un-
tauglichen und chronifizierenden Behandlungsversuchen der Ärzte, sodass im Laufe der
Zeit häufig auch noch eine Depression im Sinne einer Komorbidität auftritt.
Nach den Wirtschaftswissenschaftern Panse und Stegmann beträgt der „Kostenfak-
tor Angst“ in Deutschland rund 100 Milliarden DM pro Jahr.
Die zweite, erweiterte Auflage meines Buches soll einen Beitrag dazu leisten, dass
die Thematik und effektive Behandlung der Angststörungen in der Öffentlichkeit wei-
terhin jenen Platz einnehmen, der aufgrund des individuellen Leids der Betroffenen und
der volkswirtschaftlichen Kosten angemessen ist.
Vorwort
Angststörungen stellen bei Frauen die häufigste, bei Männern nach der Alkoholabhän-
gigkeit die zweithäufigste psychische Störung dar. Zur Angstdämpfung werden oft
Alkohol und abhängig machende Beruhigungsmittel eingesetzt, sodass bald zusätzliche
Probleme auftreten. Die Nichtbewältigung der Ängste führt häufig zu depressiven Er-
schöpfungszuständen. Ohne Behandlung nehmen Angststörungen langfristig einen
schlechteren Verlauf als Depressionen. Aus Angst vor den unerklärlichen körperlichen
Reaktionen (Herzrasen, Schwindel, Ohnmachtsneigung, Atemnot, Hitzewallungen,
Übelkeit, „weiche Knie“ usw.) engen die Betroffenen ihren Bewegungsspielraum im
Laufe der Zeit derart ein, dass dadurch berufliche, familiäre und private Probleme ent-
stehen. Eine ausgeprägte Agoraphobie macht aus früher oft recht selbstständigen Per-
sönlichkeiten plötzlich hilflose Menschen, die wie Behinderte ganz von ihrer Umwelt
abhängig sind. Menschen mit Panikattacken verursachen dem Gesundheitssystem auf-
grund der wiederholten, ergebnislosen Durchuntersuchungen enorm hohe Kosten. Viele
Ärzte haben durch den Druck einer Massenpraxis und die ungenügende Honorierung
für Gespräche zu wenig Zeit und Motivation, sich dieser Patientengruppe ausreichend
zu widmen und verschreiben beruhigende Medikamente.
Dieses Buch über Angststörungen stellt den Versuch dar, die Ganzheit des Men-
schen in der Psychotherapie zu berücksichtigen, d.h. den Menschen als Einheit von
Körper, Geist und Seele zu sehen. Als Klinischer Psychologe und Psychotherapeut habe
ich es aufgrund des jahrelangen Umgangs mit Angstpatienten für notwendig befunden,
mehr Wissen über die körperlichen Abläufe bei Angstzuständen zu erwerben und dieses
den Betroffenen im Rahmen einer verhaltenstherapeutisch orientierten Psychotherapie
auch zu vermitteln. Psychotherapeuten müssen ihre Patienten dort abholen, wo sie ste-
hen, und dies bedeutet oft, organmedizinische in psychotherapeutische Sichtweisen
umzuwandeln.
Bei Menschen mit scheinbar unerklärlichen körperlichen Zuständen, die sich letzt-
lich als psychovegetativ bedingt, als körperliche Angstphänomene, erweisen, ist nicht
nur die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen „heilenden“ Berufsgruppen wie
Ärzten und Psychotherapeuten angezeigt, sondern auch die gleichzeitige Berücksichti-
gung von körperlichen und seelischen Prozessen durch ein und denselben Helfer.
In diesem Sinne nehmen die Darstellung körperlicher Vorgänge zur Vermittlung der
Körper-Seele-Zusammenhänge bei Panikattacken zu Beginn einer Psychotherapie bei
mir sowie körperbezogene Übungen im Verlauf der Therapie einen breiten Raum ein.
Dies spiegelt sich auch in der entsprechend ausführlichen Darstellung in diesem Buch
wider. Im Rahmen meiner Spezialisierung auf die Behandlung von Menschen mit Pa-
nikstörung in der freien Praxis hat sich diese Vorgangsweise sehr bewährt. Teile dieses
Buches wurden schon von vielen meiner Patienten gelesen und dankbar angenommen.
Dies hat mich ermutigt, ein Buch in dieser Form zu veröffentlichen.
Dieses Buch kann eine Psychotherapie bei ausgeprägten Angststörungen nicht er-
setzen, sondern soll bei Bedarf vielmehr dafür sensibilisieren und Psychotherapeuten
und Patienten eine Hilfestellung bieten, rascher auf den „springenden Punkt“ zu kom-
men und dadurch Zeit und Kosten zu sparen. Gleichzeitig können die vermittelten In-
formationen einen Beitrag in Richtung „mündiger und informierter Patient“ darstellen.
Wo Information und Wissen nicht ausreicht, wird eine Psychotherapie dringlich.
XII Vorwort
Viele meiner Patienten leiden schon seit Jahren unter Ängsten. Bei Menschen mit
Panikstörung zeigt sich die Misere unseres Gesundheitssystems besonders deutlich:
z Psychotherapeuten, insbesondere nichtärztlicher Herkunft, beschäftigen sich oft
einseitig mit den psychischen und psychosozialen Aspekten der Panikstörung und
übersehen, dass ihre Patienten mit ihrem Körper nicht zurechtkommen.
z Ärzte behandeln gewöhnlich nur die körperliche Seite der Panikstörung und ver-
nachlässigen die psychischen Aspekte.
z Viele Panikpatienten wünschen anfangs selbst oft nur eine medizinische Behand-
lung (Ausschlussdiagnostik organischer Faktoren, Medikamente) und sind schließ-
lich doch damit unzufrieden, sodass sie bald von einem Arzt zum anderen hilfesu-
chend weiterziehen. Wenn sie von der Schulmedizin endgültig enttäuscht sind, wer-
den alternative Heilmethoden versucht.
z Menschen mit Panikstörung sind in einem primär organmedizinisch orientierten
Gesundheitssystem so lange ein interessanter Fall, bis jede organische Komponente
ausgeschlossen ist. Danach werden Frauen oft als „hysterisch“ und Männer als „hy-
pochondrisch“ abqualifiziert. Nach den hohen Kosten der medizinischen Durchun-
tersuchungen, die das Gesundheitssystem übernimmt, wird den Betroffenen eine
Psychotherapie empfohlen, was wie eine Bestrafung wirkt, wenn man aufgrund der
in Österreich unzulänglichen psychotherapeutischen Versorgung innerhalb des
Krankenkassensystems für seine psychischen Probleme fast zwei Drittel der psycho-
therapeutischen Behandlungskosten selbst bezahlen muß.
Das Buch enthält keine eigenen theoretischen und therapeutischen Konzepte. Seine
Originalität besteht nicht in der Neuheit von Informationen, sondern in der Art der
Zusammenfassung des bekannten Wissens. Auf der Basis der neuesten Fachliteratur
und der besten Selbsthilfeanleitungen werden eine Fülle von Informationen zur Thema-
tik der Angststörungen und deren Behandlung bzw. Selbstbehandlung zu vermitteln
versucht (die angeführten Punkte entsprechen den jeweiligen Kapiteln):
1. eine Einführung in den Bereich der normalen und krankhaften Ängste,
2. eine anschauliche Beschreibung der verschiedenen Angststörungen entsprechend
der Diagnostik der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) und des neuen amerika-
nischen psychiatrischen Diagnoseschemas (DSM-IV),
3. eine Darstellung von Ängsten bei anderen seelischen und körperlichen Störungen,
4. einen Überblick über Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen,
5. eine ausführliche Darstellung der verschiedenen biologischen und psychologischen
Erklärungsversuche von Angststörungen,
6. eine detaillierte Beschreibung der Verhaltenstherapie bei Angststörungen,
7. eine Erläuterung der psychoanalytischen Konzepte bei Angststörungen,
8. eine umfangreiche Hilfestellung zur Selbsthilfe, die eine Psychotherapie bei leichte-
ren Angststörungen vielleicht überflüssig macht oder zumindest gut vorbereitet,
9. eine Sammlung von bewährten Ratschlägen für Angehörige von Menschen mit
Angststörungen,
10. eine Einführung in die medikamentöse Behandlung von Angststörungen sowie eine
Information über den Placeboeffekt von Medikamenten,
11. eine kurze Auflistung der pflanzlichen Präparate zur Linderung von Angst- und
Unruhezuständen.
Vorwort XIII
Wegen der leichteren Lesbarkeit wurde auf die Unterscheidung zwischen weiblicher
und männlicher Form verzichtet, ebenso auf die regelmäßige Nennung von Namen und
Jahreszahlen bei der Verarbeitung der Fach- und Populärliteratur. Für Interessierte wird
durch Zahlen in Klammern die verwendete Literatur im Anhang des Buches dokumen-
tiert. 20 Verlage haben dankenswerterweise die Abdruckgenehmigung für Zitate erteilt.
Als Verhaltenstherapeut ist mir ein Hinweis sehr wichtig. Wenngleich die Verhal-
tenstherapie laut wissenschaftlichen Untersuchungen die effizienteste Psychotherapie-
methode bei Angststörungen ist, muss für Betroffene keinesfalls eine Verhaltensthera-
pie die Methode der Wahl sein (noch dazu, wenn gar kein Verhaltenstherapeut in er-
reichbarer Nähe zu finden ist). Wer die Informationen und verhaltenstherapeutisch
fundierten Ratschläge dieses Buches eigenständig umzusetzen vermag, wird durch den
Psychotherapeuten seines Vertrauens und durch die persönlich passende Psychothera-
piemethode die angemessenste Hilfestellung erfahren.
Wissenschaftlich gesichert sind bei der Verhaltenstherapie von Angststörungen bis-
lang nur die (allerdings oft ausreichenden) symptombezogenen Techniken. Ein Teil der
Menschen mit Angststörungen braucht jedoch mehr (Partner- oder Familientherapie,
stärker erlebnis- und emotionszentrierte Therapie, Stützung in Krisenzeiten, Klärung
beruflicher Konflikte, Bewältigung traumatischer Erfahrungen, Entwicklung bislang
ungenutzter Ressourcen und Persönlichkeitspotentiale usw.). Dies wird von Verhaltens-
therapeuten durchaus berücksichtigt, aber auch von anderen Psychotherapeuten.
Im Bereich der Psychotherapie war ich selbst lange Zeit ein Suchender. Während
meines Psychologie-Studiums in Salzburg in den 70-er Jahren interessierte ich mich
zuerst für Dynamische Gruppenpsychotherapie und nahm an einer zweijährigen Selbst-
erfahrungsgruppe des ÖAGG teil, anschließend faszinierte mich der Rogers-Ansatz,
weshalb ich bei der ÖGWG die Grundausbildung in Klientenzentrierter Psychotherapie
durchlief. Wegen meiner früheren Tätigkeit in der Jugendpsychiatrie absolvierte ich in
den 80er Jahren beim IFS Linz die Ausbildung in Systemischer Familientherapie.
Die seit 1983 erfolgte berufspraktische Ausbildung durch Frau Hofrat Dr. Irene
Schneider in der Verhaltenstherapie-Abteilung der O.Ö. Landes-Nervenklinik Wagner-
Jauregg in Linz, wo ich derzeit psychotherapeutisch arbeite, und die formale Ausbil-
dung in Verhaltenstherapie bei der AVM Salzburg in der ersten Hälfte der 90er-Jahre
haben dazu geführt, dass ich in der Verhaltenstherapie meine geistige Heimat fand.
Diese Hinweise auf meinen psychotherapeutischen Werdegang sollen meine Offen-
heit für andere Psychotherapiemethoden dokumentieren. Bei der Psychotherapie von
Menschen mit Angststörungen vertrete ich ein integratives Behandlungsmodell auf der
Basis der Verhaltenstherapie, das insbesondere systemische, psychoanalytische und
körpertherapeutische Konzepte berücksichtigt. In der Zusammenarbeit mit Psychiatern
habe ich bei schweren Angststörungen, insbesondere in Verbindung mit depressiven
Erschöpfungszuständen, auch den Einsatz von Medikamenten schätzen gelernt.
XIV Vorwort
2. Angststörungen .................................................................................................. 21
„Starke Angst verursacht unangenehme subjektive Gefühle der Erregung, Herzklopfen, Muskelspan-
nung, Zittern, Schreck- oder Alarmreaktion, ein Gefühl der Trockenheit und des ‚Zusammen-
geschnürtseins’ in Mund und Rachen, Beklemmung in der Brust, das Gefühl, daß der Magen sich senkt,
Übelkeit, Verzweiflung, Harn- und Stuhldrang, Gereiztheit und Angriffslust, starkes Verlangen zu
weinen, davonzulaufen oder sich zu verstecken, Atemnot, Prickeln in Händen und Füßen, Gefühle der
Unwirklichkeit oder des Weit-entfernt-Seins, ohnmächtig zu werden und umzufallen. Wenn Angst
lange Zeit andauert, werden selbst gesunde Menschen müde, deprimiert, langsamer, ruhelos und verlie-
ren ihren Appetit. Sie können nicht schlafen, haben schlechte Träume und vermeiden alle furchterre-
genden Situationen.“
2 Normale und krankhafte Ängste
Angst gibt es auch in der Tierwelt, wie der englische Naturforscher Charles Darwin [4]
bereits im Jahr 1872 anschaulich dargestellt hat:
„Bei allen oder fast allen Tieren, sogar bei Vögeln, bringt Terror den Körper zum Zittern. Die Haut
wird blaß, Schweiß bricht aus, und die Haare richten sich auf... Die Atmung ist beschleunigt. Das Herz
schlägt schnell, wild und gewaltsam... Die geistigen Fähigkeiten sind sehr gestört.“
„Das Herz schlägt wild, oder aber es fallen Herzschläge aus, was Ohnmacht zur folge haben kann; man
beobachtet eine todesähnliche Bleiche; der Atem geht schwer; die Nasenflügeln werden weit...es würgt
in der Kehle, die Augen treten hervor, die Pupillen erweitern sich, die Muskeln werden hart. Wenn die
Angst einen extrem hohen Punkt erreicht, entlädt sich die Panik in einem fürchterlichen Schrei. Große
Schweißtropfen stehen auf der Haut. Alle Muskeln des Körpers sind entspannt, bald folgt äußerste
Erschlaffung und die geistigen Kräfte versagen. Die Eingeweide sind ebenfalls betroffen. Die Schließ-
muskeln hören auf zu funktionieren, und der Inhalt des Körpers kann nicht mehr zurückgehalten wer-
den.“
Darwin sah den Grund für die universelle Verbreitung derartiger Symptome in der evo-
lutionären Bedeutung der Angst als Mittel der Vorbereitung auf Verteidigungsmaßnah-
men. Die Erkenntnisse von Darwin stellen die theoretische Grundlage für die neurobio-
logische Erforschung von Angstzuständen dar.
Der amerikanische Physiologe Walter Cannon machte 1929 durch seine Untersu-
chungen die körperlichen Angstreaktionen als „Kampf-Flucht-Reaktion“ weltweit po-
pulär. Der Stressforscher Hans Selye [6] beschrieb eine unspezifische Alarmreaktion des
Körpers in akuten Belastungssituationen, die auch bei plötzlicher Angst auftritt. Diese
Aktivierung wird „Notfallreaktion“ oder „Bereitstellungsreaktion“ genannt.
Angstzustände bewirken eine Alarmreaktion des Körpers zur Vorbereitung auf
Kampf oder Flucht, dienen also der Vorbereitung des Körpers auf schnelles Handeln.
Die Herztätigkeit und die Atmung werden beschleunigt, die Durchblutung verstärkt und
die Muskeln angespannt, um der Gefahr möglichst schnell zu entkommen. Eine derarti-
ge Alarmierung in Ruhe ohne äußere Bedrohung wird als unangenehm erlebt.
Bei akuten Gefahren (z.B. Straßenverkehr, Bedrohung im Rahmen von Überfällen,
Gefährdung von Angehörigen oder Bekannten) ermöglicht Angst eine automatische,
unbewusste, schnelle Alarmreaktion zur Sicherung von Leib und Leben, während bei
Einschaltung der höheren geistigen Funktionen (Nachdenken, ob wirklich eine Gefahr
besteht) die Reaktionsgeschwindigkeit derart verlangsamt würde, dass unweigerlich
bereits nicht mehr gutzumachender Schaden entstehen könnte [7].
Es gibt zahlreiche Schreck- und Angstreaktionen auf bestimmte auslösende Schlüs-
selreize, die im Tierreich gut untersucht wurden. Solche primären Ängste sind teilweise
auch noch beim Menschen vorhanden, z.B. als Abwehr- oder Fluchtreflex.
Auf bestimmte Umweltgegebenheiten (Dunkelheit, Feuer, Unwetter, Blitz und Don-
ner, Höhen, Schlangen, Spinnen usw.) reagieren wir von Natur aus stärker mit Angst als
auf andere Reize. Dies zeigt, dass wir aufgrund eines biologischen Programms, das sich
im Laufe der Evolution entwickelt hat, auf das Überleben von zumindest früher gefähr-
lichen Situationen vorbereitet sind. In Notfallsituationen können selbst Angstpatienten
rasch und richtig handeln, wenn es z.B. gilt, Angehörige aus einer lebensbedrohlichen
Situation zu retten. Man entwickelt dann „übermenschliche Kräfte“. Entwicklungsge-
schichtlich gesehen, stellen die Angststrukturen im Gehirn alte Gehirnanteile dar, die
erst beim Menschen in die höheren psychischen Funktionen integriert wurden.
Angstsymptome – Sozial vermittelt und kulturell geprägt 3
Diese Symptome stellten eine Reaktion auf traumatisierende Erlebnisse an der Front
und einen Schutz vor weiterer Bedrohung durch die Kriegsereignisse dar, indem sie eine
vorübergehende Freistellung vom Kriegsdienst erbrachten.
Um die Jahrhundertwende traten bei Frauen gehäuft Ohnmachtsanfälle als Ausdruck
von Angst und Schrecken auf. Neben der sozialen Machtlosigkeit von Frauen stellt dies
oft auch die Folge der Körperabschnürung durch das damals übliche Korsett dar.
Plötzliches Einschlafen von Soldaten im Schützengraben als Schutz vor dem be-
wussten Erleben einer Verletzung ist aus den Kriegsjahren bekannt.
In anderen Kulturen finden wir epidemisch auftretende Ängste, die für uns unver-
ständlich sind. Sie hängen häufig mit falschen Vorstellungen über Ursachen und Folgen
verschiedener Phänomene zusammen, ähnlich wie dies auf den Aberglauben im frühe-
ren Europa zutrifft, und äußern sich in bestimmten somatoformen Symptomen [13]:
z Koro ist die Angst südostasiatischer Chinesen, dass der Penis schrumpfen könnte,
indem er sich in den Bauch zurückzieht und so schließlich den Tod herbeiführt.
1967 trat diese Angst als Massenphänomen in Singapur auf. Viele Männer hielten
deshalb den Penis fest oder versuchten das Geschehen durch hölzerne Zangen an ih-
rem Penis zu verhindern. Analog, aber deutlich seltener, befürchten asiatische Frau-
en, dass ihre Brustwarzen, ihre Schamlippen oder ihre Scheide schrumpfen könnten.
z Jiryan ist der fixe Glaube, dass das Sperma aus dem Körper in den Urin ausläuft und
infolgedessen ein kontinuierlicher Potenzverlust eintritt.
z Das Dhat-Syndrom stellt in Indien die unberechtigte Sorge um die schwächende
Wirkung des Samenergusses dar. Die Zurückhaltung der Ejakulation sollte dagegen
ein langes Leben in Gesundheit ermöglichen. Häufige sexuelle Betätigung wurde
von antiken und asiatischen Asketen als Energieverlust abgelehnt, früher auch von
der katholischen Kirche.
z Latah ist (als Sonderform der posttraumatischen Belastungsstörung) eine angstge-
prägte Reaktion auf plötzliche Stresssituationen (Krieg, Naturkatastrophen oder so-
ziale Veränderungen), die sich in Hypersuggestibilität, automatischem Gehorsam
und verschiedenen Echophänomenen (Echolalie und Echopraxie) äußert.
z Susto ist die Angst in bestimmten südamerikanischen Gegenden, dass die Seele als
Folge von Stress zeitweilig den Körper verlassen könnte.
z Taijin kyofusho ist in Japan und Korea eine Variante der sozialen Angststörung, bei
der die Betroffenen fürchten, anderen gegenüber aufdringlich zu wirken. Sie sind ex-
trem darauf bedacht, andere Menschen keinesfalls zu stören, zu belästigen, zu belei-
digen oder sonst irgendwie unangenehm zu irritieren durch Blicke, schlechten Kör-
pergeruch, vermeintliche körperliche Defekte, abgehende Blähungen, eigenes Errö-
ten, unpassende Kleidung oder unabsichtliche Berührung. Im Mittelpunkt steht das
ängstliche Bemühen, Schaden von anderen und nicht von sich selbst abzuwenden.
z Das Hirn-Ermüdungs-Syndrom ist eine kulturspezifische Form anhaltender Angst
von Mitgliedern ungebildeter Familien in Afrika, die aufgrund ihrer hohen Intelli-
genz zur Bildung ins Ausland geschickt wurden und wegen ihres akademischen
Versagens wieder nach Hause zurückkehren mussten, geplagt von großer Angst und
Scham vor ihrer Familie, aber auch von vielen körperlichen Symptomen (Kopf-
schmerzen, Sehstörungen, Konzentrations- und Arbeitsbeeinträchtigungen).
z Voodoo ist die Angst vor der Macht des Medizinmannes, der durch seinen Todes-
spruch bewirken kann, dass der Betroffene die Nahrungsaufnahme einstellt und in-
nerhalb von wenigen Tagen tatsächlich stirbt. Die starken Angstsymptome stehen
hier in Verbindung mit dem Glauben, verhext zu sein.
6 Normale und krankhafte Ängste
Gehen Sie mit Angst um wie mit einem Gespenst: „Laufe vor einem Gespenst fort, und
es wird dich verfolgen. Gehe auf es zu, und es wird verschwinden.“ (Altes irisches
Sprichwort). Dichter und Schriftsteller formulieren es ähnlich:
z „Beherzt ist nicht, wer keine Angst kennt, beherzt ist, wer die Angst kennt und sie
überwindet.“ (Khalil Gibran)
z „Tue das, wovor Du Angst hast, und der Tod Deiner Angst ist sicher.“
(Ralph Waldo Emerson)
z „Tue das, wovor du dich fürchtest, und die Furcht stirbt einen sicheren Tod.“ (Willi-
am James)
8 Normale und krankhafte Ängste
Die Verhaltenstherapeutin Doris Wolf [17] bietet in ihrem empfehlenswerten und viel
gelesenen Buch „Ängste verstehen und überwinden“ sechs hilfreiche Fragenbereiche
zur Prüfung an, wann Angst sinnvoll ist und wann nicht:
1. Kann das, was ich als gefährlich ansehe, tatsächlich eintreffen? Ist das, was ich als
gefährlich, katastrophal und unerträglich ansehe, wirklich lebensgefährlich? Gibt es
Beweise dafür? Eine differenzierte Realitätsprüfung der möglichen Gefahren soll
unnötigen Angstfantasien Einhalt gebieten.
2. Wenn die von mir als lebensgefährlich bewertete Situation tatsächlich unangenehm
sein kann, wie wahrscheinlich ist sie? Was als Gefahr grundsätzlich möglich ist,
muss in einer bestimmten realen Situation noch keinen handlungsleitenden Charak-
ter annehmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass einem Fußgänger ein Dachziegel auf
den Kopf fallen kann, ist vernachlässigbar gering, sodass man durchaus entlang ei-
ner Häuserzeile gehen kann.
3. Gibt es Möglichkeiten, das von mir als lebensgefährlich angesehene Ereignis zu
verhindern? Die Auslösung einer Alarmsituation mit allen körperlichen Folgen ist
nur sinnvoll, wenn konkrete Maßnahmen zur Abwehr der Gefahr ergriffen werden.
4. Gibt es Überlebensmöglichkeiten, wenn das von mir als lebensgefährlich einge-
schätzte Ereignis tatsächlich eintritt? Was wäre, wenn ...? Die Vorstellung einer Ge-
fahrensituation soll nicht abschrecken, sondern letztlich die Fantasie anregen, wie
man diese überwinden kann.
5. Haben alle Menschen vor diesen Situationen Angst oder meiden andere Menschen
diese Situationen? Das Bewusstsein, dass andere Menschen mit einer bestimmten
Gefahrensituation sehr wohl zurechtkommen können, erinnert an Wahlmöglichkei-
ten und eröffnet einen Entscheidungsspielraum.
6. Was verliere ich, wenn ich nicht in die von mir als gefährlich angesehene Situation
gehe? Was bedeutet dies beruflich, gesellschaftlich, im Privatleben und bezüglich
meiner Selbstachtung? Was verlieren Angehörige und Bekannte durch meine Angst-
symptome und mein Vermeidungsverhalten? Was kann ich gewinnen, wenn ich in
diese Situation gehe? Ist mir der mögliche Gewinn so viel wert, dass ich mich der
Situation trotz Risiko aussetze? Eine Gewinn-Verlust-Rechnung kann helfen, ein
neues Verhalten auszuprobieren, getreu dem Motto „Wer wagt, gewinnt!“, obwohl
ein gewisses Risiko des Scheiterns immer gegeben sein wird.
Es ist erstaunlich, dass die größten Bedrohungen des Menschen und der Menschheit
(Atomunfall, Giftgaskatastrophe, Umweltvergiftung, unheilbare Krankheit, Autofahren)
oft wenig Beängstigung auslösen. Bis zu einem gewissen Grad scheint es für die psy-
chische Gesundheit notwendig zu sein, an sich realistische Gefahren nicht ständig prä-
sent zu haben, sondern zeitweise verdrängen zu können, um handlungsfähig zu sein.
Optimismus und Vertrauen bedeutet, beim Denken und Handeln die negativen Mög-
lichkeiten und ein gewisses Restrisiko zumindest phasenweise ausblenden zu können.
Es schränkt die Lebensfreude ein, wenn man bei jedem Essen daran denkt, dass dieses
möglicherweise atomar verstrahlt sein könnte.
Oft spiegelt unsere häufige Sorglosigkeit auch den Umstand wider, dass wir für be-
stimmte Gefahrensituationen der modernen Welt von der Evolution kein genetisches
Programm mitbekommen haben, während sich viele Menschen noch immer vor kaum
mehr gegebenen Umweltgefahren unserer Vorfahren fürchten. Dunkelheit, Blitz, Don-
ner und ungefährliche Schlangen lösen oft mehr Ängste aus als Seilbahnen, Flugzeuge,
Kraftfahrzeuge, elektrischer Strom und Schusswaffen.
Die existenzielle Dimension der Angst 9
Die Daseins- und Zukunftsängste in einer sich ständig wandelnden Welt mit bedrohli-
chen Aussichten haben dazu geführt, unser Zeitalter zu einem „Zeitalter der Angst“ zu
erklären. Die verschiedenen Kulturen und Religionen haben sich bemüht, den Menschen
mit dem Schicksal der andauernd gefährdeten Existenz besser umgehen zu helfen.
Viele Menschen mit Angststörungen können letztlich die ständige Bedrohtheit und
Unkontrollierbarkeit des Lebens nicht akzeptieren, wenn sie sich um ihr Leben, ihre
Gesundheit oder ihr Prestige sorgen. Kein Beruhigungsmittel und keine Entspannungs-
methode kann die Todesangst ausschalten, die von jedem Menschen nach seinen Mög-
lichkeiten bewältigt werden muss. Die frühere christliche Weisheit „Lebe jeden Tag so,
als ob er dein letzter wäre!“ drückt aus, welche Intensität das Leben angesichts des
möglichen Todes gewinnen kann. Panikpatienten mit Agoraphobie verhalten sich dage-
gen umgekehrt: Aus Angst vor dem Tod schränken sie ihre Lebensmöglichkeiten ein;
vor lauter Verhinderung des Negativen vergessen sie, das Gute im Hier und Jetzt zu tun.
10 Normale und krankhafte Ängste
Der Schriftsteller Max Frisch [18] drückt den Zusammenhang von Lebensangst und
Lebensfreude folgendermaßen aus:
„Es gibt kein Leben ohne Angst vor dem andern; schon weil es ohne diese Angst, die unsere Tiefe ist,
kein Leben gibt; erst aus dem Nichtsein, das wir ahnen, begreifen wir für Augenblicke, daß wir leben.
Man freut sich seiner Muskeln, man freut sich, daß man gehen kann, man freut sich des Lichtes, das
sich in unserm dunklen Auge spiegelt, man freut sich seiner Haut und Nerven, die uns so vieles spüren
lassen, man freut sich und weiß mit jedem Atemzug, daß alles, was ist, eine Gnade ist. Ohne dieses
spiegelnde Wachbewußtsein, das nur aus Angst möglich ist, wären wir verloren; wir wären nie gewe-
sen.“
Die existenzielle Dimension der Angst und ihrer Bewältigung zeigt sich auch in dem
Umstand, dass die Betroffenen – frei von ihren Ängsten – sich fragen können, wofür sie
nun eigentlich frei sind. Wenn die Angst vor Abhängigkeit und Eingeengtsein vorbei
ist, setzt bei vielen Menschen plötzlich die Angst vor der Entscheidungsfreiheit ein.
Nach dem dänischen Philosophen und Theologen Sören Kierkegaard [19] ist Angst
der „Schwindel der Freiheit“, der beim Anblick der vielfältigen Möglichkeiten des
Lebens und des Drucks konkreter Entscheidungen mit dem Risiko von Fehlern entsteht.
Angst lähme nicht nur, sondern enthalte die unendliche Möglichkeit des Könnens, die
den Motor der menschlichen Entwicklung darstelle, wie Kierkegaard in seinem bedeut-
samen Werk „Der Begriff Angst“ ausführt.
Der Daseinsanalytiker Gion Condrau [20] betont ebenfalls die menschliche Wahl-
freiheit als Quelle der Angst, das Falsche zu tun:
„Angst ist nur auf dem Hintergrund von Freiheit möglich... Freiheit ist immer mit potentieller Angst
verbunden. Je größer die Freiheit für die wachsende Fähigkeit ist, sich den eigenen Möglichkeiten der
individuellen Entfaltung wie auch der Vertiefung zwischenmenschlicher Beziehungen zu stellen, und
diese zu verwirklichen; je größer das Wagnis ist, sich auf neues Gebiet zu wagen, desto größer wird die
Angst. Fürchtet sich aber der Mensch vor der Freiheit, wird die Angst krankhaft.“
Wofür soll man kämpfen, wenn man plötzlich nicht mehr gegen etwas kämpfen muss?
Was soll man selbstverantwortlich tun, wenn man es wirklich tun kann und nicht mehr
länger daran gehindert ist? Eine zentrale Frage in der Psychotherapie bei Menschen mit
Angststörungen lautet: „Was würden Sie tun, wenn Sie keine krankhaften Ängste mehr
hätten?“ Viele Angstpatienten wünschen zwar, ohne krankhafte Angst zu sein, können
sich diese Zeit mit ihren konkreten Möglichkeiten jedoch gar nicht vorstellen.
Der Psychoanalytiker Fritz Riemann [21] beschreibt aus tiefenpsychologischer Sicht
in beeindruckender Weise vier „Grundformen der Angst“ als vier verschiedene Arten
des In-der-Welt-Seins, die allen möglichen Ängsten zugrunde liegen und von einem
gesunden Zustand bis zu einer krankhaften Ausprägung gehen würden (bei pathologi-
scher Ausprägung würden daraus vier Persönlichkeitsstörungen resultieren, was man
jedoch als grobe Vereinfachung ansehen muss):
1. die Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt (krankhaft:
schizoider Typus);
2. die Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgensein und Isolierung erlebt (krank-
haft: depressiver Typus);
3. die Angst vor der Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt (krankhaft:
zwanghafter oder anankastischer Typus);
4. die Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt (hysteri-
scher Typus).
Die existenzielle Dimension der Angst 11
Zu jeder Strebung gehört die Angst vor der Gegenstrebung. Jeder Mensch muss ein
dynamisches Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Tendenzen finden. Die vier
Grundimpulse ergänzen und widersprechen sich in folgenden Polaritäten:
z das Streben nach Selbstbewahrung und Absonderung und das Gegenstreben nach
Selbsthingabe und Zugehörigkeit,
z das Streben nach Dauer und Sicherung und das Gegenstreben nach Wandlung und
Risiko.
Riemann [22] weist darauf hin, dass nicht die Angst vor diesen Aspekten menschlichen
Seins bzw. Verhaltens krank machend ist, sondern deren Nichtbewältigung:
„Hinter den vier Grundformen der Angst stehen allgemein-menschliche Probleme, mit denen wir alle
uns auseinandersetzen müssen. Jedem von uns begegnet die Angst vor der Hingabe in einer ihrer ver-
schiedenen Formen, die als Gemeinsames das Gefühl der Bedrohtheit unserer Existenz, unseres persön-
lichen Lebensraumes, oder der Integrität unserer Persönlichkeit haben. Denn jedes vertrauende sich
Öffnen, jede Zuneigung und Liebe kann uns gefährden, weil wir dann ungeschützter und verwundbarer
sind, etwas von uns selbst aufgeben zu müssen, uns einem anderen ein Stück auszuliefern. Daher ist alle
Angst vor der Hingabe verbunden mit der Angst vor einem möglichen Ich-Verlust.
Jedem begegnet auch die Angst vor der Ich-Werdung, vor der Individuation, die in den verschiede-
nen Formen ihres Auftretens als Gemeinsames die Angst vor der Einsamkeit hat. Denn jede Individua-
tion bedeutet ein sich Herausheben aus bergenden Gemeinsamkeiten. Je mehr wir wir selbst werden,
um so einsamer werden wir, weil wir dann immer mehr die Isoliertheit des Individuums erfahren.
Jedem begegnet auch die Angst vor der Vergänglichkeit auf seine Weise; unvermeidlich erleben
wir immer wieder, daß etwas zu Ende geht, aufhört, plötzlich nicht mehr da ist. Je fester wir etwas
halten, beibehalten wollen, um so mehr erliegen wir dieser Angst, deren verschiedene Formen als
Gemeinsames die Angst vor der Wandlung erkennen lassen.
Und jeder begegnet schließlich auch der Angst vor der Notwendigkeit, vor der Härte und Strenge
des Endgültigen, bei deren verschiedenen Ausformungen das Gemeinsame die Angst vor dem unaus-
weichlichen Festgelegtwerden ist. Je mehr wir eine unverbindliche Freiheit und Willkür anstreben,
desto mehr müssen wir die Konsequenz und die Grenzen der Realität fürchten.
Da sich die großen Ängste unseres Daseins, die so wichtig für unsere reifende Entwicklung sind,
nicht umgehen lassen, bezahlen wir den Versuch, vor ihnen auszuweichen, mit vielen kleinen, banalen
Ängsten. Diese neurotischen Ängste können sich praktisch auf alles werfen, und sie sind letztlich nur
aufzulösen, wenn wir die dahinterliegende eigentliche Angst erkannt haben, und uns mit dieser ausein-
andersetzen... Die Begegnung mit den großen Ängsten ist ein Teilaspekt unseres reifenden Weiter-
schreitens; die Verschiebung auf jene stellvertretenden neurotischen Ängste hat nicht nur eine lähmen-
de und hemmende Wirkung, sondern sie zieht uns auch von wesentlichen Aufgaben unseres Lebens ab,
die zu unserem Menschsein gehören.
So bekommt die Angst in ihren beschriebenen Grundformen eine wichtige Bedeutung: sie ist nicht
mehr nur ein möglichst zu vermeidendes Übel, sondern, und das von ganz früh an, ein nicht wegzuden-
kender Faktor unserer Entwicklung. Wo wir eine der großen Ängste erleben, stehen wir immer in einer
der großen Forderungen des Lebens; im Annehmen der Angst und im Versuch, sie zu überwinden,
wächst uns ein neues Können zu – jede Angstbewältigung ist ein Sieg, der uns stärker macht; jedes
Ausweichen vor ihr ist eine Niederlage, die uns schwächt.“
Diese Ausführungen machen deutlich, dass es kein sinnvolles Ziel ist, keinerlei Angst
zu haben, sondern mit den real vorhandenen und durchaus berechtigten Ängsten besser
umgehen zu lernen. Gelungene Angstbewältigung besteht nicht in der möglichst perfek-
ten Unterdrückung vorhandener Ängste, sondern im Annehmen und Aushalten dieser
Ängste. Das Ziel ist nicht, gegen die Angst, sondern mit der Angst zu leben. Ängste
sollen sensibilisierend und aktivierend und keinesfalls blockierend wirken. Die Angst
begleitet unser Leben wie ein Schatten, doch wir bestimmen den Weg, den wir gehen
möchten, auch wenn wir uns dabei nicht immer wohl fühlen.
12 Normale und krankhafte Ängste
Wenn wir eine Situation (z.B. Bus fahren, nächtlicher Spaziergang) oder ein be-
stimmtes Objekt (z.B. Tier, Spritze) als gefährlich einschätzen, werden wir Angst be-
kommen, was wir körperlich in Form verschiedener Symptome spüren, sodass wir dazu
neigen werden, aus der Angst machenden Situation zu fliehen. Unser Angstgefühl wird
wiederum unser Denken verstärken, dass die betreffende Situation tatsächlich gefährlich
ist, noch dazu, wo wir erleben, dass unsere Angst sofort nachlässt, sobald wir die be-
drohlich erscheinende Situation verlassen.
Unser Denken an Gefahr führt zu Gefühlen der Angst und körperlichen Beschwer-
den und infolgedessen zu Vermeidungsverhalten, das wir auch zukünftig häufiger wäh-
len werden, weil es sich kurzfristig bewährt hat, wenngleich sich langfristig unser Ver-
haltensspielraum dadurch immer mehr einengt. Ehemals selbstbewusste Menschen
können auf diese Weise jegliches Selbstvertrauen verlieren.
Körperliche, gedanklich-gefühlsmäßige und verhaltensbezogene Anteile spielen bei
der Entstehung und Aufrechterhaltung von Ängsten eine entscheidende Rolle, wenn-
gleich die verschiedenen Komponenten individuell recht unterschiedlich wahrgenom-
men werden können, z.B. spüren viele Menschen nur die vegetativen Angstsymptome,
ohne ihre Angst machenden Gedanken zu erkennen. Andere Menschen wissen sehr gut
um ihre ängstlichen Denkmuster, können sich jedoch nicht vorstellen, dass die ihnen
ebenfalls bekannten körperlichen Beschwerden (z.B. Herz-Kreislauf-Probleme, chroni-
sche Muskelverspannungen, Schlafstörungen) damit zusammenhängen.
Es ist ein Faktum: Personen mit Angststörungen leiden unterschiedlich unter den
gedanklichen, emotionalen, körperlichen und verhaltensbezogenen Aspekten ihrer
Angst. Bei den meisten Menschen stehen Gedanken an Versagen, Schwäche, Unfähig-
keit und soziale Ablehnung im Vordergrund. Nicht wenige sind durch ihre körperlichen
Symptome irritiert. Viele kommen eher mit ihren Gefühlen wie ängstlicher Besorgtheit,
Stimmungsschwankungen und großer Unsicherheit nicht zurecht. Andere wiederum
können ihr Verhalten nicht kontrollieren und neigen zu Flucht und Vermeidung.
Die Wechselwirkungen zwischen körperlicher Befindlichkeit, Verhalten, Denken
und Gefühlen können im Rahmen einer Angstbewältigungstherapie genutzt werden:
z Änderungen im Verhalten führen auch zu Änderungen im Denken. Auf diesem
Grundsatz beruhen verhaltensorientierte Therapiemodelle wie die Konfrontations-
therapie in der Verhaltenstherapie, die über konkrete Bewältigungserfahrungen den
Glauben an die Bewältigbarkeit Angst machender Situationen zu stärken versucht.
Erste Fortschritte durch Änderungen im Verhalten lassen sich oft schneller bewirken
als Änderungen im Bereich der Denkmuster oder der Gefühle.
z Änderungen im Denken führen zu Änderungen im Fühlen und Verhalten. Dies wird
durch die üblichen einsichtsorientierten Therapien ebenso angestrebt wie durch die
kognitive Verhaltenstherapie. Die Vermittlung neuer Sichtweisen ermöglicht es,
trotz Angst und Schwindelgefühlen bisher gemiedene Situationen aufzusuchen. Die
Information, dass Herzrasen bei Panikattacken sicher eine Ohnmachtsneigung ver-
hindert, weil dadurch der Blutdruck steigt, führt z.B. zu Aktivität statt zu Schonver-
halten. Bei einer leichteren Panikstörung kann mehr medizinisches Wissen allein be-
reits heilend wirken. Kurzzeittherapien beruhen oft auf der Änderung der Sichtwei-
sen und Einstellungen der Patienten.
z Änderungen im gefühlsmäßigen Erleben führen zu Änderungen im Verhalten und
Denken. Dies wird durch stärker emotionsorientierte Therapiekonzepte, aber auch
durch bestimmte verhaltenstherapeutische Techniken zu verwirklichen versucht. Die
therapeutische Erfahrung, unangenehme Gefühle aushalten zu können, ist heilsam.
Ängste als Übergangs-Probleme im Rahmen des Lebenszyklus 15
„Ich habe Angst vor der Nacht. Ich habe Angst davor, daß mich einer anspringt, wenn es finster ist. Da
bekomme ich richtig Herzklopfen. Aber ich habe keine Angst in meinem Auto, weil ich das beherr-
sche.“
„Natürlich hatte ich nach meinem Unfall auf dem Nürburgring Angstbarrieren. Die Zeit nach dem
Unglück war fürchterlich. Das hat ein halbes Jahr gedauert, bis es wirklich wieder weg war. Es hat sehr
viel Arbeit gebraucht, vor allem, wieder das Vertrauen in die eigene Leistung zu gewinnen. Nur die
sichert mich ab gegen einen Unfall. Doch je mehr die Leistung wieder gestimmt hat, desto angstfreier
wurde ich. Ich konnte wieder ohne Angstschwellen fahren. Nach und nach fand ich zu meiner normalen
Verfassung.“
Zahlreiche berühmte Künstler, Redner oder Politiker litten unter Ängsten. Lampenfieber
und Bühnenängste plagten sowohl Demosthenes, den bekanntesten Redner des griechi-
schen Altertums, als auch Persönlichkeiten der Gegenwart (z.B. Sir Laurence Olivier,
Maria Callas). Lebenseinengende Ängste findet man laut Internet bei Sängern (Barbara
Streisand, Michael Jackson, Courtney Love, David Bowie), Schauspielern (Burt Rey-
nolds, Kim Basinger, Nicholas Cage, Sally Field, Sir Laurence Olivier), Models (Naomi
Campbell), Autoren (Isaac Asimov, John Steinbeck), Dichtern (Bertold Brecht, Franz
Kafka, Samuel Beckett, Robert Burns, Emily Dickinson), Malern (Edvard Munch) u.a.
Die Journalistin Heuer [33] beschreibt in ihrem (vergriffenen) Buch „Angst und wie
man mit ihr umgeht“ anhand von Zitaten das Ausmaß der Ängste vieler Prominenter.
Charles Darwin, der Begründer der modernen Evolutionstheorie, litt schon in jun-
gen Jahren unter einer Angststörung. Seit seinem 28. Lebensjahr war er zunehmend von
Panikzuständen und Agoraphobie gequält, sodass er nicht mehr reisen konnte und des-
halb mit seinem berühmten Werk über die Entstehung der Arten begann. Seine Krank-
heit habe ihm nach eigenen Aussagen zwar mehrere Jahre seines Lebens zunichte ge-
macht, ihn aber gleichzeitig vor den Zerstreuungen der Gesellschaft gerettet, sodass er
seine bahnbrechenden Werke zur Evolutionstheorie schreiben konnte.
18 Normale und krankhafte Ängste
Der Dichter Johann Wolfgang von Goethe stellt in seinen autobiografischen Schrif-
ten recht offen seine ausgeprägte Angststörung dar. Er litt als junger Student unter star-
ken Phobien wie Höhenängsten, Angst vor Dunkelheit, Friedhöfen, einsamen Orten,
nächtlichen Kirchen und Kapellen, Ängsten vor Lärm sowie Ängsten vor Beschmut-
zungen und Verunreinigungen, besonders wenn diese von Blut oder Exkrementen
stammten. Goethe überließ sich nicht passiv seinen Ängsten, sondern entwickelte die
Strategie der direkten Auseinandersetzung mit den angstbesetzten Situationen, die er
erst verließ, wenn er seine Ängste im Griff hatte.
Zur Bewältigung seiner Höhenphobie bestieg Goethe immer wieder das damals im
Bau befindliche Straßburger Münster und balancierte auf Balken und Gerüsten. Seine
eher hypochondrischen Ängste überwand er auf Entbindungsstationen, die damals stark
mit Blut und sonstigen Körpersäften verschmutzt waren. Seine Ängste vor Lärm behan-
delte er, indem er sich beim Zapfenstreich direkt neben die Trommler stellte. Seine
agoraphobischen Ängste vor bestimmten Orten bewältigte er mit eiserner Disziplin
durch eine ausgedehnte Konfrontationstherapie im verhaltenstherapeutischen Sinn.
In „Dichtung und Wahrheit“ berichtet Goethe [34] über die erfolgreiche Behand-
lung seiner Ängste:
„Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig ward... Ich
habe es auch wirklich darin soweit gebracht, daß nichts dergleichen mich jemals wieder aus der Fas-
sung setzen konnte... und auch darin brachte ich es soweit, daß mir Tag und Nacht und jedes Lokal
völlig gleich war, ja daß, als in später Zeit mich die Lust ankam, wieder einmal in solcher Umgebung
die angenehmsten Schauer der Jugend zu fühlen, ich diese mir kaum durch die seltsamsten und fürch-
terlichen Bilder, die ich hervorrief, wieder einigermaßen erzwingen konnte.“
Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse und damit der Psychotherapie über-
haupt, litt ein Jahrzehnt lang (zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr) unter massiven
Ängsten, verbunden mit Anfällen mit Todesangst. Als seine psychovegetativ bedingten
Herzbeschwerden auftraten, war er unbeirrbar davon überzeugt, herzkrank zu sein. Er
beschuldigte seine ärztlichen Freunde sogar, ihm die Diagnose seiner angeblichen
Herzkrankheit zu verheimlichen.
Freud fürchtete, zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr an einem Herzschlag sterben
zu müssen. „Wenn es nicht zu nahe an vierzig ist, ist es gar nicht so schlecht“, schrieb er
[35]. Bald jedoch gab er die von ihm selbst festgestellte Diagnose „Myocarditis“ (Herz-
entzündung) auf, nannte diese Störung „Angstneurose“ und beschrieb sie vortrefflich
mit Worten, die 100 Jahre lang die psychiatrische Diagnostik bestimmt haben.
Es ist eine sehr tröstliche Wahrheit: Der „Vater der Psychotherapie“ litt in dem Jahr-
zehnt, in dem er die Psychoanalyse erfand, selbst unter einer Angststörung. Seine Erfah-
rungen und Erkenntnisse haben Fachleuten und Patienten geholfen, Ängste besser ver-
stehen und bewältigen zu lernen.
Nach seinem Biografen Ernest Jones [36] bestanden bei Freud im letzten Jahrzehnt
des 19. Jahrhunderts gleichzeitig auch starke Stimmungsschwankungen und Depressio-
nen, die ihm das Leben nur für kurze Zeitspannen lebenswert erscheinen ließen.
Zur Vermeidung seiner Herzrhythmusstörungen verzichtete Freud auf Anraten sei-
nes ärztlichen Freundes Fließ, eines Berliner HNO-Arztes, auf das Rauchen. Die Ent-
zugserscheinungen verstärkten jedoch nur seine Panikattacken, wie er im April 1894 in
einem Brief an Fließ schrieb [37]:
In bester Gesellschaft – Ängste bekannter Persönlichkeiten 19
„Bald nach der Entziehung kamen leidliche Tage...; da kam plötzlich ein großes Herzelend, größer als
je beim Rauchen. Tollste Arhythmie, beständige Herzspannung – Pressung – Brennung, heißes Laufen
in den linken Arm, etwas Dyspnoe von verdächtig organischer Mäßigung, das alles eigentlich in Anfäl-
len, d.h. über zwei zu drei des Tages in continuo erstreckt und dabei ein Druck auf die Stimmung, der
sich in Ersatz der gangbaren Beschäftigungsdelirien durch Toten- und Abschiedsmalereien äußerte... Es
ist ja peinlich für einen Medicus, der sich alle Stunden des Tages mit dem Verständnis der Neurosen
quält, nicht zu wissen, ob er an einer logischen oder an einer hypochondrischen Verstimmung leidet.“
Das Hauptkriterium für die Behandlungsbedürftigkeit von Ängsten liegt im Ausmaß der
Lebenseinschränkungen. Mit verschiedenen Ängsten kann man dagegen ganz gut leben,
ohne große Beeinträchtigung des privaten und beruflichen Bewegungsspielraums.
Die Diagnose einer Angststörung erfolgt in mehreren Schritten [2]:
1. Unterscheidung zwischen normaler und pathologischer Angst;
2. Ausschluss körperlicher Ursachen (organische Abklärung);
3. Ausschluss einer anderen psychischen Erkrankung als alleinige Ursache für die
Angstsymptomatik (z.B. Depression);
4. Unterscheidung zwischen objekt-/situationsunabhängiger Angst (Panikstörung,
generalisierte Angststörung) oder objekt-/situationsabhängiger Angst (Phobie: Ago-
raphobie, soziale Phobie, spezifische Phobie);
5. Unterscheidung nach dem Verlauf der Angstsymptomatik (attackenartig wie bei der
Panikstörung oder chronisch wie bei der generalisierten Angststörung);
6. Unterscheidung nach auslösenden Situationen bzw. Objekten (falls vorhanden).
22 Angststörungen
3) Es ist dies nicht die einzige Art, wie die fürs Bewußtsein meist latente, aber konstante Ängstlich-
keit sich äußern kann. Diese kann vielmehr auch plötzlich ins Bewußtsein hereinbrechen, ohne
vom Vorstellungsablauf geweckt zu werden, und so einen A n g s t a n f a l l hervorrufen. Ein sol-
cher Angstanfall besteht entweder einzig aus dem Angstgefühle ohne jede assoziierte Vorstellung
oder mit der naheliegenden Deutung der Lebensvernichtung, des ‚Schlagtreffens’, des drohenden
Wahnsinns, oder aber dem Angstgefühle ist irgendeine Parästhesie beigemengt ... oder endlich
mit der Angstempfindung ist eine Störung irgend einer oder mehrerer Körperfunktionen, der At-
mung, Herztätigkeit, der vasomotorischen Innervation, der Drüsentätigkeit verbunden. Aus dieser
Kombination hebt der Patient bald das eine, bald das andere Moment besonders hervor, er klagt
über ‚Herzkrampf’, ‚Atemnot’, ‚Schweißausbrüche’, ‚Heißhunger’ u. dgl., und in seiner Darstel-
lung tritt das Angstgefühl häufig ganz zurück oder wird recht unkenntlich als ein ‚Schlechtwer-
den’, ‚Unbehagen’ usw. bezeichnet.
4) Interessant und diagnostisch bedeutsam ist nun, daß das Maß der Mischung dieser Elemente im
Angstfalle ungemein variiert, und daß nahezu jedes begleitende Symptom den Anfall ebensowohl
allein konstituieren kann wie die Angst selbst. Es gibt demnach r u d i m e n t ä r e A n g s t a n f ä l l e
und Ä q u i v a l e n t e d e s A n g s t a n f a l l e s , wahrscheinlich alle von der gleichen Bedeutung, die
einen großen und bis jetzt wenig gewürdigten Reichtum an Formen zeigen. Das genauere Studi-
um dieser lavierten Angstzustände (Hecker) und ihre diagnostische Trennung von anderen Anfäl-
len dürfte bald zur notwendigen Arbeit für den Neuropathologen werden. Ich füge hier nur die Li-
ste der mir bekannten Formen des Angstanfalles an:
a) Mit Störungen der H e r z t ä t i g k e i t , Herzklopfen, mit kurzer Arhythmie, mit länger anhaltender
Tachykardie bis zu schweren Schwächezuständen des Herzens, deren Unterscheidung von organi-
scher Herzaffektion nicht immer leicht ist; Pseudoangina pectoris, ein diagnostisch heikles Ge-
biet!
b) Mit Störungen der A t m u n g , mehrere Formen von nervöser Dyspnoë, asthmaartigem Anfalle u.
dgl. Ich hebe hervor, daß selbst diese Anfälle nicht immer von kenntlicher Angst begleitet sind.
c) Anfälle von S c h w e i ß a u s b r ü c h e n , oft nächtlich.
d) Anfälle von Z i t t e r n und S c h ü t t e l n ...
e) Anfälle von H e i ß h u n g e r , oft mit Schwindel verbunden.
f) Anfallsweise auftretende D i a r r h ö e n .
g) Anfälle von lokomotorischem S c h w i n d e l .
h) Anfälle von sogenannten K o n g e s t i o n e n ...
i) Anfälle von P a r ä s t h e s i e n (diese aber selten ohne Angst oder ein ähnliches Unbehagen).
5) Nichts als eine Abart des Angstanfalles ist sehr häufig das n ä c h t l i c h e A u f s c h r e c k e n (Pavor
nocturnus der Erwachsenen), gewöhnlich mit Angst, mit Dyspnoë, Schweiß u. dgl. verbunden.
Diese Störung bedingt eine zweite Form von Schlaflosigkeit im Rahmen der Angstneurose...
6) Eine hervorragende Stellung in der Symptomengruppe der Angstneurose nimmt der ‚S c h w i n -
d e l ’ ein, der in seinen leichtesten Formen besser als ‚Taumel’ zu bezeichnen ist, in schwererer
Ausbildung als ‚Schwindelanfall’ mit oder ohne Angst zu den folgenschwersten Symptomen der
Neurose gehört. Der Schwindel der Angstneurose ist weder ein Drehschwindel, noch läßt er, wie
der M e n i è r e s c h e Schwindel, einzelne Ebenen und Richtungen hervorheben... er besteht in ei-
nem spezifischen Mißbehagen, begleitet von den Empfindungen, daß der Boden wogt, die Beine
versinken, daß es unmöglich ist, sich weiter aufrecht zu halten, und dabei sind die Beine blei-
schwer, zittern oder knicken ein. Zum Hinstürzen führt dieser Schwindel nie. Dagegen möchte ich
behaupten, daß ein solcher Schwindelanfall auch durch einen Anfall von tiefer O h n m a c h t ver-
treten werden kann. Andere ohnmachtartige Zustände bei der Angstneurose scheinen von einem
H e r z k o l l a p s abzuhängen. Der Schwindelanfall ist nicht selten von der schlimmsten Art von
Angst begleitet, häufig mit Herz- und Atemstörungen kombiniert. Höhenschwindel, Berg- und
Abgrundschwindel finden sich nach meinen Beobachtungen gleichfalls bei der Angstneurose häu-
fig vor; ...
7) Auf Grund der chronischen Ängstlichkeit (ängstliche Erwartung) einerseits, der Neigung zum
Schwindelangstanfalle andererseits entwickeln sich zwei Gruppen von typischen Phobien, die er-
ste auf die allgemein physiologischen Bedrohungen, die andere auf die Lokomotion bezüglich.
Zur ersten Gruppe gehören die Angst vor Schlangen, Gewitter, Dunkelheit, Ungeziefer u. dgl.,
sowie die typische moralische Überbedenklichkeit, Formen von Zweifelsucht; hier wird die dis-
ponible Angst einfach zur Verstärkung von Abneigungen verwendet, die jedem Menschen in-
stinktiv eingepflanzt sind. Gewöhnlich bildet sich eine zwangsartig wirkende Phobie aber erst
24 Angststörungen
dann, wenn eine Reminiszenz an ein Erlebnis hinzukommt, bei welchem diese Angst sich äußern
konnte, z.B. nachdem der Kranke ein Gewitter im Freien mitgemacht hat. Man tut Unrecht, solche
Fälle einfach als F o r t d a u e r s t a r k e r E i n d r ü c k e erklären zu wollen; was diese Erlebnisse
bedeutsam und ihre Erinnerung dauerhaft macht, ist doch nur die Angst, die damals hervortreten
konnte und heute ebenso hervortreten kann. Mit anderen Worten, solche Eindrücke bleiben kräf-
tig nur bei Personen mit ‚ängstlicher Erwartung’. Die andere Gruppe enthält die A g o r a p h o b i e
mit allen ihren Nebenarten, sämtliche charakterisiert durch die Beziehung auf die Lokomotion.
Ein vorausgegangener Schwindelanfall findet sich hierbei häufig als Begründung der Phobie; ich
glaube nicht, daß man ihn jedesmal postulieren darf. Gelegentlich sieht man, daß nach einem er-
sten Schwindelanfall ohne Angst die Lokomotion zwar beständig von der Sensation des Schwin-
dels begleitet wird, aber ohne Einschränkung möglich bleibt, daß dieselbe aber unter den Bedin-
gungen des Alleinseins, der engen Straße u. dgl. versagt, wenn einmal sich zum Schwindelanfalle
Angst hinzugesellt hat...
8) Die Verdauungstätigkeit erfährt bei der Angstneurose nur wenige, aber charakteristische Störun-
gen. Sensationen wie Brechneigung und Übligkeiten sind nichts Seltenes, und das Symptom des
Heißhungers kann allein oder mit anderen (Kongestionen) einen rudimentären Angstanfall abge-
ben; als chronische Veränderung, analog der ängstlichen Erwartung, findet man eine Neigung zur
Diarrhöe, die zu den seltsamsten diagnostischen Irrtümern Anlaß gegeben hat... Mischfälle zeigen
oft die bekannte ‚Abwechslung von Diarrhöe und Verstopfung’. Der Diarrhöe analog ist der
H a r n d r a n g der Angstneurose.
9) Die P a r ä s t h e s i e n , die den Schwindel- oder Angstanfall begleiten können, werden dadurch
interessant, dass sie sich, ähnlich wie die Sensationen der hysterischen Aura, zu einer festen Rei-
henfolge assoziieren; doch finde ich diese assoziierten Empfindungen im Gegensatze zu den hy-
sterischen atypisch und wechselnd...
10) Mehrere der genannten Symptome, welche den Angstanfall begleiten oder vertreten, kommen
auch in chronischer Weise vor. Sie sind dann noch weniger leicht kenntlich, da die sie begleitende
ängstliche Empfindung undeutlicher ausfällt als beim Angstanfall. Dies gilt besonders für die Di-
arrhöe, den Schwindel und die Parästhesien. Wie der Schwindelanfall durch einen Ohnmachtsan-
fall, so kann der chronische Schwindel durch die andauernde Empfindung großer Hinfälligkeit,
Mattigkeit u. dgl. vertreten werden.“
Mit der Beschreibung eines Angstanfalls (Punkt 3 und Punkt 4) nimmt Freud die Defi-
nition von Panikattacken vorweg. Die Darstellung des Angstschwindels (Punkt 6) ver-
deutlicht, was viele Menschen mit Agoraphobie fürchten (Punkt 7), wenn sie keine
Panikattacken erwarten. Die Erwartungsangst (Punkt 2 und Punkt 7) wurde von Freud
als zentraler Bestandteil jeder Angststörung erkannt.
Neben der Angstneurose beschrieb Freud bestimmte phobische Störungen unter dem
Konzept der „Angsthysterie“ (für Freud war „Phobie“ und „Angsthysterie“ dasselbe).
Erstmals hatte Freud bereits 1884 Panikattacken detailliert unter der Bezeichnung
„Angstanfälle“ beschrieben.
Historisch interessant ist auch der Umstand, dass Freud bereits 1919 darüber nach-
gedacht hatte, die Psychoanalyse durch eine Verkürzung einer größeren Anzahl von
Patienten zugänglich zu machen. Die meisten Psychoanalysen seiner Anfangsjahre
könnte man ohnehin als „Kurzzeittherapien“ bezeichnen. In den „Studien zur Hysterie“
berichtete Freud über die Heilung der Angsthysterie eines 18-jährigen Mädchens in
einer einzigen Sitzung. Den Komponisten Gustav Mahler hatte er in Anwesenheit seiner
Frau in einer vierstündigen Sitzung von seiner Potenzstörung geheilt.
Eine effektive Behandlung von Ängsten könnte auch nach Meinung verschiedener
Psychoanalytiker in kürzerer Zeit erfolgen als durch eine Langzeitanalyse.
Das entscheidende Merkmal aller wirksamen Psychotherapien stellt nach psycho-
analytischer Sicht die korrigierende emotionale Erfahrung in der Interaktion mit dem
Therapeuten dar, was als Prozess der Übertragung bekannt ist, d.h. die Psychoanalyse
nach Freud ist nicht nur einsichtsorientiert, sondern auch emotionszentriert.
Angststörungen nach ICD-10 und DSM-IV-TR 25
Das ICD-10 kennt vier definierte Gruppen von phobischen Störungen: Agoraphobien,
soziale Phobien, spezifische Phobien, sonstige phobische Störungen (ohne Nennungen).
Bei den phobischen Störungen wird Angst ausschließlich oder überwiegend durch
eindeutig definierte, im Allgemeinen ungefährliche Situationen oder Objekte außerhalb
des Patienten ausgelöst. Diese Situationen oder Objekte werden gemieden oder voller
Angst ertragen, verbunden mit psychovegetativen Symptomen. Bereits die Vorstellung
der phobischen Situation führt zu Erwartungsängsten, die ein ausgeprägtes Vermei-
dungsverhalten bewirken. Die Betroffenen wissen, dass ihre Ängste unangemessen,
übertrieben und irrational sind, können sie aber dennoch nicht in den Griff bekommen.
Unter „Sonstige Angststörungen“ erfolgt eine Differenzierung der früheren Diagno-
se der Angstneurose in die Panikstörung und in die generalisierte Angststörung,
daneben werden noch drei weitere definierte, im klinischen Alltag jedoch selten diagno-
stizierte Angststörungen angeführt. Diese Angststörungen heben sich von den Phobien
dadurch ab, dass sie nicht auf bestimmte Umgebungssituationen begrenzt sind.
26 Angststörungen
Bei der Diagnostik der Angststörungen bestehen wichtige Unterschiede zwischen dem
ICD-10 und dem DSM-IV (aktuelle Version: Textrevision DSM-IV-TR ohne Änderung
der diagnostischen Kriterien; das DSM-V soll 2012 erscheinen: www.dsm5.org):
z Im ICD-10 steht die Agoraphobie hierarchisch höher als die Panikstörung, während
im DSM-IV gerade das Umgekehrte der Fall ist. Das amerikanische Diagnosesche-
ma vertritt die Auffassung, dass die Panikattacken primär sind und eine Agorapho-
bie sekundär aus den Erwartungsängsten entsteht, die zur Vermeidung jener Situa-
tionen führen, in denen neuerlich Panikattacken auftreten könnten. Dies ist zwar oft,
jedoch nicht immer der Fall. Mitunter ist der umgekehrte Verlauf gegeben, dass zu-
erst eine Agoraphobie und einige Zeit später eine Panikattacke auftritt.
z Das DSM-IV zählt viel mehr Störungen zu den Angststörungen als das ICD-10.
Neben den Angststörungen des ICD-10 werden auch die Zwangsstörung, die orga-
nisch bedingte sowie die substanzinduzierte Angststörung und bestimmte Reaktio-
nen auf schwere Belastungen (akute Belastungsstörung, posttraumatische Bela-
stungsstörung) den Angststörungen zugeordnet. Vor allem die Zuordnung der
Zwangsstörung zu den Angststörungen ist unter Fachleuten sehr umstritten.
„Der Patient beklagt sich, daß es ihm unmöglich sei, über freie Plätze zu gehen. Es überfällt ihn bei
dem Versuch dazu sofort ein Angstgefühl, dessen Sitz er auf Befragen mehr im Kopfe als in der Herz-
gegend angibt, indes ist auch oft Herzklopfen dabei. In Berlin ist ihm der Döhnhofsplatz mit am unan-
genehmsten; versucht er, denselben zu überschreiten, so hat er das Gefühl, als ob die Entfernung sehr
groß, meilenweit sei, er nie hinüber kommen könne, und damit verbindet sich das erwähnte, oft von
allgemeinem Zittern begleitete Angstgefühl... Dasselbe Angstgefühl überfällt ihn, wenn er genötigt ist,
an Mauern und langgestreckten Gebäuden entlang oder durch Straßen zu gehen, wenn die Verkaufslä-
den – wie an Sonn- und Feiertagen oder in später Abend- und Nachtstunde – geschlossen sind. In später
Abendstunde – er ißt gewöhnlich abends in Restaurationen – hilft er sich in Berlin in eigentümlicher
Weise; entweder wartet er, bis er eine andere Person die Richtung nach seiner Wohnung einschlagen
sieht und folgt dicht hinter derselben, oder er macht sich an eine Dame der ‚Halbwelt’, läßt sich in ein
Gespräch mit ihr ein und nimmt sie so eine Strecke mit, bis er eine andere ähnliche Gelegenheit findet
und so allmählich seine Wohnung erreicht.“
Die Agoraphobie wurde unter der Bezeichnung „Platzangst“ 1887 vom Psychiater
Emil Kraepelin in die psychiatrische Krankheitslehre eingeführt. Bereits Freud [11]
wies auf die Entstehung der Agoraphobie als Folge von Panikattacken hin:
„Im Falle der Agoraphobie ... finden wir häufig die Erinnerung an eine Angstattacke; und was der
Patient in Wirklichkeit fürchtet, ist das Auftreten einer solchen Attacke unter den speziellen Verhältnis-
sen, in denen er glaubt, ihr nicht entkommen zu können.“
Das Aufsuchen der gefürchteten Plätze zur Therapie empfahl Westphal bereits 1872,
Oppenheimer 1911 in seinem „Lehrbuch der Nervenkrankheiten“ und Freud 1919.
28 Angststörungen
A. Angst, an Orten zu sein, von denen eine Flucht schwierig (oder peinlich) sein könnte oder wo im
Falle einer unerwarteten oder durch die Situation begünstigten Panikattacke oder panikartiger Sym-
ptome Hilfe nicht erreichbar sein könnte. Agoraphobische Ängste beziehen sich typischerweise auf
charakteristische Muster von Situationen: z.B. alleine außer Haus zu sein, in einer Menschenmenge
zu sein, in einer Schlange zu stehen, auf einer Brücke zu sein, Reisen im Bus, Zug oder Auto...
B. Die Situationen werden vermieden (z.B. das Reisen wird eingeschränkt), oder sie werden nur mit
deutlichem Unbehagen oder mit Angst vor dem Auftreten einer Panikattacke oder panikähnlicher
Symptome durchgestanden bzw. können nur in Begleitung aufgesucht werden.
C. Die Angst oder das phobische Vermeidungsverhalten werden nicht durch eine andere psychische
Störung besser erklärt, wie Soziale Phobie (z.B. die Vermeidung ist aus Angst vor Peinlichkeit auf
soziale Situationen beschränkt), Spezifische Phobie (z.B. die Vermeidung ist beschränkt auf einzel-
ne Situationen, wie z.B. Fahrstuhl), Zwangsstörung (z.B. Vermeidung von Schmutz aus zwang-
hafter Angst vor Kontamination), Posttraumatische Belastungsstörung (z.B. Vermeidung von Rei-
zen, die mit einer schweren belastenden Situation assoziiert sind), oder Störung mit Trennungsangst
(z.B. es wird vermieden, das Zuhause oder die Angehörigen zu verlassen).
Agoraphobie 29
Im Gegensatz zum ICD-10 ist im DSM-IV eine Agoraphobie allein keine kodierbare
Störung. Es muss stets Bezug genommen werden zum Fehlen oder Vorhandensein von
Panikattacken. Es handelt sich entweder um eine Agoraphobie ohne Panikstörung in der
Vorgeschichte oder um eine Panikstörung mit Agoraphobie.
Das DSM-IV [13] nennt – bei Ausschluss einer Substanzeinwirkung oder medizini-
scher Krankheitsfaktoren – folgende Kriterien für eine Agoraphobie ohne Panikstörung
in der Vorgeschichte:
A. Es liegt eine Agoraphobie ... vor, die sich auf die Angst vor dem Auftreten panikähnlicher Sym-
ptome bezieht (z.B. Benommenheit oder Durchfall).
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [14] ist eine Agoraphobie (F40.0) durch
folgende Merkmale charakterisiert:
A. Deutliche und anhaltende Furcht vor oder Vermeidung von mindestens zwei der folgenden Situa-
tionen:
1. Menschenmengen
2. öffentliche Plätze
3. allein Reisen
4. Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause.
B. Seit Auftreten der Störung müssen in den gefürchteten Situationen mindestens zwei Angstsympto-
me aus der unten angegebenen Liste, davon eins der vegetativen Symptome 1. bis 4., wenigstens zu
einem Zeitpunkt gemeinsam vorhanden gewesen sein:
Vegetative Symptome:
1. Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz
2. Schweißausbrüche
3. fein- oder grobschlägiger Tremor
4. Mundtrockenheit (nicht infolge Medikation oder Exsikkose).
Psychische Symptome:
9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder
„nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)
11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“
12. Angst zu sterben.
Allgemeine Symptome:
13. Hitzewellen/-wallungen oder Kälteschauer
14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle.
C. Deutliche emotionale Belastung durch das Vermeidungsverhalten oder die Angstsymptome; die
Betroffenen haben die Einsicht, dass diese übertrieben oder unvernünftig sind.
30 Angststörungen
D. Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen
oder Gedanken an sie.
E. Ausschlussvorbehalt: Die Symptome des Kriteriums A. sind nicht bedingt durch Wahn, Halluzina-
tionen oder andere Symptome der Störungsgruppen organische psychische Störungen (F0), Schizo-
phrenie und verwandte Störungen (F2), affektive Störungen (F3) oder eine Zwangsstörung (F42)
oder sind nicht Folge von kulturell akzeptierten Anschauungen.
Das Vorliegen oder Fehlen einer Panikstörung bei der Mehrzahl der agoraphobischen
Situationen wird im ICD-10 an der fünften Stelle kodiert: F40.00 ohne Panikstörung
und F40.01 mit Panikstörung. Orte werden auf einem Kontinuum von völlig sicher bis
völlig unsicher beurteilt. Folgende Situationen werden gemieden oder mit Unbehagen
ertragen, vor allem wenn sie ohne beschützende Begleitperson und ohne sonstige Si-
cherheitsstrategien wie etwa Medikamente oder Handy aufgesucht werden müssen und
subjektiv keine Kontrolle über die befürchteten körperlichen Reaktionen besteht [15]:
z Aufenthalt im Freien unter vielen Menschen oder bei fehlender Fluchtmöglichkeit:
öffentliche Plätze überqueren, unbekannte Stadtteile aufsuchen, in überfüllten Fuß-
gängerzonen bummeln, Gartenfeste, Volksfeste oder Messen besuchen, in einem
Verkehrsstau stecken, mit dem Fahrrad in freier Landschaft fahren, mit dem Auto
bei Nebel (d.h. ohne Sicht) fahren, durch einen längeren Tunnel fahren, mit dem
Boot einen tiefen See überqueren, durch einen Badesee schwimmen, über eine Brü-
cke gehen, einen Berg besteigen, durch einen Wald gehen. Vor großen, leeren Plät-
zen haben wegen fehlender Bewegungseinschränkung nur wenige Agoraphobiker
Angst (davor fürchten sich vor allem Agoraphobiker mit Angstschwindelattacken,
weil sie keine Möglichkeit haben, sich irgendwo festhalten zu können).
z Außerhäusliche Aktivitäten jeder Art, insbesondere berufliche oder private Reisen
über die Stadt-, Bezirks-, Landes- oder Staatsgrenzen hinaus, Reisen in das anders-
sprachige Ausland sowie in unbekannte Gegenden weit weg von zu Hause (im Falle
von körperlichen Beschwerden fehlen deutschsprachige Ärzte).
z Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel (Bus, Straßenbahn, U-Bahn, Eisenbahn, Flug-
zeug, Schiff, Sessellift, Aufzug, Rolltreppen) oder des eigenen Autos, besonders
über längere Strecken.
z Aufenthalt in öffentlichen bzw. halb öffentlichen Räumen, besonders wenn diese
überfüllt sind: Geschäfte, Kirchen, Kinos, Museen, Theater, Konzertsaal, Banken,
Behörden, Krankenhäuser, Wartezimmer bei Ärzten, Gaststätten, Cafés, Diskothe-
ken, betrieblicher Speisesaal, Kantine, Mensa, öffentliche Toiletten, Friedhöfe, Fri-
seursalons, Umkleideräume in Kleidergeschäften, Schlange stehen in Geschäften
und bei Behörden, Sauna, Hallen- oder Freiluftbäder, Arbeit in großen Büros, Hörsä-
le auf der Universität, Besuch von Elternsprechtagen in der Schule, Teilnahme bei
Betriebsversammlungen, Sportveranstaltungen oder großen Feiern.
z Aufenthalt in engen, hohen, geschlossenen oder dunklen Räumen: Lifte, Räume
ohne Fenster, geschlossene Toiletten oder Badezimmer, Diskotheken, Turnsäle, Kel-
lerräume, Höhlen, unterirdische Gänge, Tunnelgänge, Bogengänge (Arkaden),
Durchgänge und Passagen, Hochhausräume, Kirchtürme, Fernsehtürme, Treibhäu-
ser, Ringelspielgeräte, dunkle Schlafzimmer, Einmannzelt, Aufenthalt allein mitten
in einem großen Raum. Bei einer Liftphobie spricht die Angst vor dem Steckenblei-
ben oder Ersticken für eine Agoraphobie, die Angst vor den Blicken anderer für eine
Sozialphobie, die Angst vor dem Abstürzen des Lifts für eine Höhenphobie.
z Vereinbarung von Treffen mit anderen Leuten unter „unsicheren“ Bedingungen.
Agoraphobie 31
Viele Agoraphobiker können zahlreiche der genannten Situationen aufsuchen, wenn sie
dies plötzlich und vorher nicht lange geplant tun müssen. Wenn die betreffenden Aktivi-
täten jedoch bereits seit Tagen feststehen, werden die Erwartungsängste oft derart groß,
dass angesichts zunehmender vegetativer Beschwerden eine Bewältigung unmöglich ist.
Die Angst vor der Angst zwingt viele Betroffene dazu, zahlreiche Aktivitäten (Ausflug,
Theaterbesuch usw.) schon lange im Voraus detailliert zu planen. Gefahrvolle Vorstel-
lungen, Grübeleien und Nervosität (Aufgeregtheit und körperliche Angespanntheit)
bestimmen die Zeit bis zum geplanten Ereignis. Die Erwartungsangst ist meistens viel
schwerer zu bewältigen als das tatsächliche Ereignis, das dann durchaus als angenehm
erlebt werden kann. Diese Erfahrung verhindert jedoch nicht, dass die Betroffenen vor
der nächsten ähnlichen Situation wiederum beunruhigt und besorgt sind. Angesichts von
Restrisiken sind bestimmte Sicherheitssignale (z.B. Handy) von zentraler Bedeutung.
Wichtigste Auslöser für agoraphobische Ängste sind die Entfernung von „sicheren“
Orten und das Fehlen eines Fluchtwegs. Es besteht ein subjektives Gefühl der Einen-
gung der Bewegungsfreiheit („in der Falle sitzen“) sowie eine starke Angst, anderen
Menschen ausgeliefert zu sein. Dies erklärt folgende Sicherheitsverhaltensweisen:
z Verkehrsmittel, Lokale, Kinos und verschiedene Säle können betreten werden, je-
doch nur dann, wenn der Aufenthalt in der Nähe der Tür möglich ist, um jederzeit
fliehen zu können.
z Fahrten mit dem Regionalzug können durchgeführt werden, nicht jedoch mit dem
Schnellzug, der nur selten stehen bleibt.
z Fahrten in halb leeren Verkehrsmitteln sind möglich, nicht jedoch in Zügen, Bussen,
U-Bahnen oder Straßenbahnen unter vielen Leuten.
z Öffentliche Verkehrsmittel können nicht benutzt werden, sehr wohl jedoch das eige-
ne Auto, das Schutz und Freiheit gewährt.
z Beim Autofahren ist das Sitzen vorne problemlos möglich, nicht jedoch hinten,
wenn es sich um ein zweitüriges Auto handelt.
z Selbst mit dem Auto zu fahren, ist leicht möglich, als Beifahrer mitzufahren, dage-
gen nur erschwert möglich (wegen des Gefühls, dem anderen ausgeliefert zu sein,
bzw. wegen der ständigen Gedanken an mögliche Gefahren statt der Beobachtung
des aktuellen Verkehrsgeschehens, wie dies bei Fahrten als Lenker der Fall ist).
z Autofahren ist grundsätzlich möglich, nicht jedoch in folgenden Situationen: auf der
Autobahn, wo Stehenbleiben, Umdrehen und rasches Abfahren ausgeschlossen ist;
durch einen Tunnel, der bei Gefahr kein Entkommen erlaubt; in einer Autokolonne,
wo die hilflose Eingeengtheit gefürchtet wird. Gefürchtet werden Situationen, wo
der Verkehrsfluss zum Erliegen kommt („in der Falle sitzen“): Staus, Halt vor einer
roten Ampel bei einer Kreuzung. Autounfälle wegen Panikattacken sind unbekannt.
z Weite Reisen können trotz Beschwerlichkeit mit dem Auto oder mit der Bahn
durchgeführt werden, nicht jedoch mit dem Flugzeug, das keinen Ausstieg erlaubt.
z Die Reise in die Ferne ist aufgrund von Erwartungsängsten belastender als die
Rückkehr in die Sicherheit gebende Heimat.
z Man kann wohl Räume und Geschäfte betreten, nicht jedoch beim Friseur oder beim
Zahnarzt Platz nehmen, weil Flucht nicht jederzeit möglich ist.
z Man kann wohl in Geschäfte einkaufen gehen, jedoch nur dann, wenn wenige Leute
drinnen sind und keine Schlange bei der Kasse zu erwarten ist.
z Man kann wohl in ein Selbstbedienungsrestaurant gehen, wo das Essen sofort einge-
nommen werden kann, nicht jedoch in ein exklusives Restaurant, wo man vielleicht
lange auf das bestellte Essen warten muss.
32 Angststörungen
z Man kann wohl ein Restaurant zu ebener Erde besuchen, nicht jedoch unter der Erde
oder in einem höheren Stockwerk.
z Man kann wohl in einem Wohnblock unter vielen Menschen wohnen, jedoch nur im
Erdgeschoss, weil man bei Gefahr keinen Lift benötigt und rasch das Haus verlassen
kann.
z Man fürchtet einerseits den Aufenthalt unter fremden Menschen, spricht jedoch
andererseits bei beginnender Panik dieselben Menschen an, um sich entweder abzu-
lenken, sich nicht allein zu fühlen oder sich deren Hilfe für den Notfall zu sichern.
z Man kann zu Hause nur mit der Badehose baden oder duschen, damit man im Falle
einer Panikattacke nicht nackt aus dem Bad oder gar aus der Wohnung laufen muss.
Eine Agoraphobie kann mit oder ohne Panikstörung auftreten. Eine Panikattacke in
einer eindeutig phobischen Situation macht noch keine Panikstörung aus, sondern zeigt
den Schweregrad einer Phobie an. Im klinischen Bereich weisen die meisten Agora-
phobiker auch Panikattacken auf, während diese Kombination in großen Untersuchun-
gen der Durchschnittsbevölkerung nur bei etwa der Hälfte der Agoraphobiker gegeben
war (ein Teil der „Agoraphobiker“ hat jedoch laut Nachuntersuchungen eher eine spezi-
fische Phobie als eine Agoraphobie). Rückfälle bei Agoraphobie hängen häufig mit dem
Auftreten von einer oder mehreren erneuten Panikattacken zusammen.
Belastend ist der Umstand, dass die agoraphobische Symptomatik oft schwankend
ist, ohne dass die Betroffenen einen roten Faden erkennen können. Einmal sind diesel-
ben Situationen leichter, einmal schwerer zu bewältigen, je nachdem, ob es sich um
einen „guten“ oder „schlechten“ Tag handelt. Diese Schwankungen sind eine Quelle der
Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit und Hilflosigkeit vieler agoraphobischer Patienten.
Die Diagnose einer phobischen Störung kann selbst Fachleuten dann schwer fallen,
wenn z.B. Agoraphobiker primär von Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch oder
von depressiven Symptomen berichten (besonders nach langer primär phobischer Sym-
ptomatik), weil sie wenig Angst erleben infolge der Vermeidung der phobischen Situa-
tionen und der Überlagerung durch die genannten Störungen. Das Erleben verstärkter
Ängste im Rahmen einer Konfrontationstherapie ist positiv zu bewerten.
Als Folge der Atemnot bei einer Panikattacke bzw. einer erhöhten Kohlendioxid-
(CO2)-Sensibilität achten viele Patienten darauf, zur Sicherung der Zufuhr frischer Luft
stets das Fenster im Büro sowie im Wohn- und Schlafzimmer geöffnet zu haben. Ver-
schiedene Agoraphobiker schlafen selbst im Winter bei offenem Fenster.
Das Verlassen des Raumes bei Agoraphobie dient oft nur dem „Luftschnappen“,
obwohl es vielleicht mit dem Besuch der Toilette oder mit dem Rauchen auf dem Gang
begründet wird. Es kann sein, dass der Bedarf an Frischluft offen zugegeben wird, je-
doch mit einer asthmatischen Reaktionsbereitschaft begründet wird. Aus Angst vor zu
wenig frischer Luft bzw. aus Angst vor geschlossenen Fenstern und Türen kann oft
auch kein vollbesetzter Kino-, Konzert- oder Gasthaussaal betreten werden.
Frauen mit einer Agoraphobie können sehr gastfreundlich wirken, während sie oft
nur deshalb immer wieder Leute einladen, weil sie nicht allein sein können. Wenn der
Partner aus beruflichen Gründen einen Auslandsaufenthalt antreten muss, werden z.B.
Kinder aus der Verwandtschaft zum Übernachten eingeladen, ohne dass diese etwas von
ihrer Beschützerfunktion ahnen. Eine agoraphobische Mutter kann ihr Kind unter ver-
schiedenen Vorwänden sogar von der Schulpflicht abhalten, um der Einsamkeit zu
entkommen, oder könnte ihr Kind wohl in die Schule bringen, danach aber nicht mehr
alleine nach Hause fahren, sodass eine andere Person sich um den Schulbesuch des
Kindes des Kindes kümmern muss.
Bestimmte Sicherheitssignale [17] reduzieren die Angst, ihr Fehlen kann bereits
Angst auslösen. Sicherheit gibt die Anwesenheit anderer Personen: der Partner oder ein
Elternteil an der Seite, das Kind an der Hand, Bekannte in erreichbarer Nähe. Selbst der
Hund an der Leine vermittelt schon das Gefühl, im Ernstfall nicht ganz alleine zu sein.
Angst abbauend wirkt auch die Mitnahme eines Beruhigungsmittels, eines Handys oder
eines Wasserfläschchens (Trinken beseitigt Mundtrockenheit, Übelkeit oder ein Enge-
gefühl in der Kehle), etwas zum Festhalten (Spazierstock, Regenschirm, Kinderwagen,
Fahrrad), die räumliche Nähe eines Krankenhauses oder einer Arztpraxis, die Telefon-
nummer des nächsten Dienst habenden Arztes am Wochenende oder das Wissen um die
ständige Erreichbarkeit bestimmter Angehöriger zumindest über das Handy. Das Wis-
sen, dass der Hausarzt auf Urlaub gehen wird, kann so beunruhigend wirken, dass um-
fangreiche Vorsorgemaßnahmen getroffen werden müssen.
Die häufige Angst, beim Gehen umzufallen, wird schon reduziert durch die Nähe ei-
ner Hausmauer, die bei Bedarf einen gewissen Halt gewährt. Dies ist der Grund, warum
enge Gassen oft eher gemocht werden als weite Straßen und offene Plätze. Chronischer
Schwindel führt oft zu ständiger Angst vor einer Ohnmacht in der Öffentlichkeit. Der
Schwindel wird als Kreislaufschwindel fehlinterpretiert, während es sich tatsächlich
meistens um einen verspannungsbedingten Schwindel (aufgrund massiver Schulter-
Nacken-Verspannung) oder um einen subklinischen vestibulären Schwindel handelt.
Menschen mit Agoraphobie fühlen sich oft schwindlig und unsicher auf den Beinen,
der Boden scheint zu wanken und nicht ausreichend stabil zu sein. Man hat den Ein-
druck, auf Wolle zu gehen oder zu schweben, ohne sichere Bodenhaftung. Viele Betrof-
fene haben die Befürchtung, nach dem Umfallen hilflos auf dem Boden liegen bleiben
zu müssen, nicht selbst aufstehen zu können und auf die Hilfe anderer angewiesen zu
sein, die im Bedarfsfall vielleicht nicht einmal verlässlich genug erfolgen würde. Be-
sonders demütigend und erniedrigend wirkt die Vorstellung, den Blicken einer gaffen-
den Menge ausgesetzt zu sein, während man regungslos auf dem Boden liegt.
Agoraphobiker befinden sich oft in einem Dilemma: Einerseits leben sie in starker
Abhängigkeit von anderen, andererseits fürchten sie nichts so sehr wie gerade dies.
34 Angststörungen
Eine 19-jährige Patientin mit Panikstörung und Agoraphobie ließ sich von ihrem Freund zur ersten
Therapiestunde bei mir begleiten, ohne dass er selbst an der Therapie teilnehmen sollte – eine vielen
Psychotherapeuten recht bekannte Situation. Die Patientin erklärte, sie leide schon seit 4 Jahren unter
Panikattacken. Diese hätten begonnen, als sie mit 15 Jahren in eine familieneigene Garçonniere gezo-
gen sei, weil sie die ständigen Streitereien der Eltern satt gehabt habe. Es wurde deutlich, dass sie, die
recht Vater bezogen gelebt hatte, das Alleinsein nicht ertragen konnte. Eine frühere Familientherapie
sowie das Erlernen des autogenen Trainings hatten nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Eigentlich
konnte sie sich nicht vorstellen, wie eine im Vergleich zu einer Psychoanalyse von ihr als recht ober-
flächlich beurteilte Verhaltenstherapie ihre mehrjährige Störung wirksam beseitigen könnte. Ich schätz-
te die Patientin in der ersten Stunde so ein, dass sie zu keiner längeren Therapie kommen würde, und
unternahm daher ein etwas gewagtes Experiment. Ich erzählte ihr, dass ich ein Geheimnis von ihr
wüsste, das nicht einmal ihrem Freund bekannt sei. Die Patientin war sehr verwundert und wollte es
wissen. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich es ihr erst in der zweiten Therapiestunde mitteilen könnte,
wenn sie dazu allein, ohne Freund, komme. Die Patientin wies darauf hin, dass sie nicht allein mit
Straßenbahn und Bus unterwegs sein könne und daher in diesem Fall nicht zur Therapiestunde erschei-
nen könnte. Ich bestand auf meinem Vorgehen, die Patientin war derart neugierig, dass sie zur nächsten
Stunde tatsächlich allein kam. Sie war darüber selbst sehr verwundert und meinte, dass es wohl das
Geheimnis sei, man müsse sich nur anstrengen, dann könne man auch die größten Ängste überwinden.
Ich bestärkte sie in dieser Erkenntnis, gab ihr allerdings zu verstehen, dass dies nicht das gemeinte
Geheimnis sei. Ich fragte sie, ob sie bereit sei, ihre Handtasche auf der Stelle umzudrehen und zu öff-
nen, sodass alles herausfalle, was drinnen sei. Die Patientin wollte dies anfangs nicht tun, war dann aber
doch dazu bereit. Auf dem Tisch lagen neben den üblichen Utensilien Tablettenpackungen mit insge-
samt 136 Stück von 8 verschiedenen Sorten (mehrheitlich Tranquilizer). Das war das Geheimnis: so
viele Tabletten benötigte sie, um ohne Freund zu mir zu kommen, d.h. in bestimmten Situationen ist der
Freund durch Medikamente ersetzbar. Ich bat sie, bis zum nächsten Mal nur so viele Medikamente nach
Hause mitzunehmen, wie sie benötigte. Sie nahm 40 Stück von 4 verschiedenen Sorten mit. Und dies,
obwohl sie aus Angst vor Abhängigkeit keine Beruhigungsmittel einnahm.
Agoraphobiker müssen vor allem eines erkennen und erleben: Wenn sie sich vor sich
selbst, vor den eigenen körperlichen Reaktionen oder vor einem Kontrollverlust nicht
mehr fürchten, sondern damit umgehen können, fürchten sie sich auch nicht mehr vor
bestimmten Örtlichkeiten und Menschenansammlungen, denn die Agoraphobie besteht
aus der Angst, aus einer „Falle“ allein nicht mehr herauszukommen.
Agoraphobie 35
Ein Mann ist durch einen relativ harmlosen Autounfall während eines Außendienstes schwer geschockt.
Innerhalb von zwei Wochen entwickelt er eine typisch agoraphobische Vermeidungshaltung. Er kann
über Monate kein Auto oder öffentliches Verkehrsmittel benutzen und damit auch seinen Beruf nicht
ausüben. Im Freizeitbereich kann er seine Funktion als Fußballtrainer nicht mehr wahrnehmen, weil er
weder zum Training noch zu den Spielen in verschiedene Städte fahren kann. Seinen Bekannten erzählt
er nichts von seinen Ängsten, sondern gibt als Grund für sein Verhalten Kopf- und Rückenschmerzen
infolge des Unfalls an. Rückblickend gesehen war er schon seit langem durch seine zahlreichen Aktivi-
täten überfordert.
Ein höherer Angestellter, der früher jahrelang Alkoholmissbrauch betrieben und in diesem Zusammen-
hang auch die Gattin durch Scheidung verloren hatte, bekommt nach anfänglich gutem Verlauf seiner
neuen Partnerschaft die Angst, seine Freundin könnte ihn verlassen, weil er beruflich ständig im Aus-
land unterwegs ist. Bei einem Flug nach Asien erlebt er eine Panikattacke, sodass er nach der Landung
sofort nach Hause zurückkehrt, um sich stationär untersuchen zu lassen. Aufgrund seiner Erwartungs-
ängste vor einer weiteren Panikattacke kann er keine Auslandstätigkeiten mehr übernehmen, was der
Freundin anfangs durchaus recht ist. Als er aus gleichem Grund auch keine Urlaubsreisen mehr antreten
kann und ein bereits gebuchter Flug deshalb kostspielig storniert werden muss, gerät die Partnerschaft
neuerlich in die Krise, weil er zu wenig mit seiner Partnerin unternehmen kann. Innerhalb eines Monats
entwickelt er eine ausgeprägte Agoraphobie, sodass er im Gegensatz zu früher vieles nicht mehr allein
unternehmen kann. Er ist nur beruhigt, wenn er seine Freundin in der Nähe weiß. Die Trennungsgefahr
ist vorläufig gebannt, weil ihn die Partnerin als krank akzeptiert.
Ein Jugendlicher im Alter von 17 Jahren lebt in ständigem Streit mit den Eltern, weil er nach mehreren
selbstverschuldeten Arbeitsplatzverlusten noch immer keiner geregelten Arbeit nachgeht und auch im
Haushalt nicht mithilft. Nach einer heftigen Auseinandersetzung muss er schließlich ausziehen und in
einem Untermietzimmer wohnen, das vorläufig seine Eltern bezahlen. Er geht dann abends oft fort und
nimmt an Rave-Partys teil, wo er mehrfach die aufputschende Droge Ecstasy einnimmt. Nach dem
dritten Gebrauch bekommt er auf dem Heimweg plötzlich eine Panikattacke, sodass er nicht mehr
alleine in seinem Zimmer leben kann und auch nicht mehr fähig ist, eine Arbeit zu suchen. Er zieht sich
bald auch von seinem früheren Bekanntenkreis zurück, weil er wegen seiner Erwartungsängste keine
Lokale mehr aufsuchen kann und auch an den üblichen Aktivitäten Jugendlicher nicht mehr teilnehmen
kann. Wohl oder übel nehmen ihn seine Eltern in ihrem Haus wieder auf unter der Bedingung, dass er
sich behandeln lässt.
36 Angststörungen
Eine hochschwangere Frau mit einer konfliktreichen Partnerschaft fällt bei sommerlicher Hitze auf der
Straße beinahe ohnmächtig um. Sie kann dies gerade noch rechtzeitig verhindern. Einige Monate später
fährt sie mit dem Kinderwagen an derselben Stelle vorbei, erinnert sich an das frühere Ereignis und
kann plötzlich aus Angst umzufallen nicht mehr allein mit dem Kind unterwegs sein, weil dieses auf die
Straße laufen könnte, wenn sie ohnmächtig werden sollte.
Eine junge Mutter geht an einem heißen Sommertag mit ihrem fünfjährigen Sohn, der schon recht
unruhig und lästig wird, eine dicht bevölkerte Einkaufsstraße entlang, als ihr plötzlich schwindlig und
übel wird. Sie bekommt Herzrasen und Ohnmachtsangst, was sich einige Zeit später, als sie in dersel-
ben Straße allein unterwegs ist, in ähnlicher Weise wiederholt, sodass sie ohne Begleitung einer ande-
ren Person nicht mehr das Haus zu verlassen wagt.
Eine Frau möchte die ungeliebten Schwiegereltern nicht jedes Wochenende zusammen mit dem noch
recht mutterabhängigen Gatten besuchen, was zu ständigen Ehestreitigkeiten führt. Dieser unlösbare
Konflikt findet nach einem Monat ein plötzliches Ende, weil die Frau nach einer Panikattacke in einem
überfüllten Restaurant, die sich einige Zeit später beim Friseur wiederholt, das Haus überhaupt nicht
mehr verlassen kann (und damit auch nicht mehr die Schwiegereltern zu besuchen braucht, was vorerst
von keinem der beiden Partner bewusst wahrgenommen wird).
Eine 20-jährige, ehrgeizige Studentin möchte eine Prüfung bestehen, bei der erfahrungsgemäß zwei
Drittel durchfallen. Sie hat die letzte Nacht wenig geschlafen und am Morgen wegen der Aufregung
nichts gegessen. Auf dem Weg zur Universität bekommt sie plötzlich in einer überfüllten Straßenbahn
eine Panikattacke, sodass sie unverzüglich zum Arzt geht, der sie zur Untersuchung in ein Krankenhaus
einweist. Außer dem ohnehin bereits bekannten niedrigen Blutdruck wird dort nichts Auffälliges gefun-
den, sodass sie nach drei Tagen wieder entlassen wird. Zwei Monate später bekommt sie während einer
Vorlesung eine neuerliche Panikattacke, die dazu führt, dass sie das Studium für einige Monate unter-
bricht, weil sie weder eine Straßenbahn benutzen noch in einem Hörsaal sitzen kann.
Eine Frau denkt nach siebenjähriger Ehe an Scheidung, weil sie sich von ihrem Gatten vernachlässigt
fühlt. Sie erlebt, dass sie mit anderen Menschen besser über persönliche Dinge reden kann als mit ihrem
Partner, und geht daher öfter als früher zusammen mit Freundinnen abends fort, weil der Partner aus
beruflichen Gründen abends ebenfalls oft nicht zu Hause ist. Nach einiger Zeit bekommt sie plötzlich in
einem Lokal eine Panikattacke, wodurch sie so verängstigt ist, dass sie ohne ihren Gatten nicht mehr
fortzugehen wagt und ihre Scheidungsgedanken aufgibt, weil sie nicht allein leben kann. Sie ist inner-
halb der nächsten Wochen wegen einer sich entwickelnden Agoraphobie nicht einmal fähig, den Ar-
beitsplatz aufzusuchen, was die Voraussetzung dafür wäre, sich allein erhalten zu können.
Eine früher beruflich recht erfolgreiche Frau hat zugunsten der optimalen Erziehung ihrer beiden Kin-
der (5 und 7 Jahre alt) auf die weitere Berufstätigkeit verzichtet. Dennoch fühlt sie sich zu Hause in
zunehmendem Ausmaß unerfüllt und überlegt, eine Halbtagsarbeit anzunehmen. Der Gatte ist dagegen,
sie hat auch Bedenken, ob sie Beruf, Haushalt und Kindererziehung erfolgreich verbinden kann. Die
Sache ist entschieden, als sie nach einer Panikattacke in einem Bus, die sich drei Wochen später in einer
überfüllten Straßenbahn wiederholt, kein öffentliches Verkehrsmittel mehr besteigen und infolgedessen
auch zu keinem Arbeitsplatz in der 10 km entfernten Stadt fahren kann. Sie hat sogar Schwierigkeiten,
ihre Kinder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel in den Kindergarten bzw. in die 1. Klasse der Volks-
schule zu bringen.
Eine Frau entwickelt nach einer längeren familiären Belastungssituation zuerst eine Panikattacke im
Bus zur Arbeit und anschließend eine ausgeprägte Agoraphobie. Sie ist betroffen durch die Krebser-
krankung ihrer Mutter vor einem Jahr, überfordert durch die Betreuung eines leicht behinderten Kindes
und verärgert über die häufige Abwesenheit ihres Gatten aus sportlichen Gründen (im Sommer Fußball-
trainer, im Winter extreme Schitouren mit Arbeitskollegen, was ihr zusätzlich Angst und Unruhe berei-
tet). Im Laufe der Zeit kann sie bald nichts mehr allein unternehmen aus Angst vor einer Panikattacke.
Die Berufstätigkeit kann nur mehr aufrechterhalten werden, indem sie der Gatte mit dem Auto zur
Arbeitsstelle bringt und von dort auch wieder abholt. Ihr fünfjähriger Sohn muss von der Mutter eines
anderen Kindes in den Kindergarten mitgenommen werden, weil sie sich nicht mehr mit der Straßen-
bahn zu fahren wagt.
Agoraphobie 37
Eine geschiedene Frau, die ihre drei Kinder ohne Unterstützung durch einen Partner erziehen muss,
steht nach einem anstrengenden Arbeitstag noch unter dem Druck, vor Geschäftsschluss die nötigen
Einkäufe zu erledigen. Im Supermarkt bekommt sie in der Warteschlange bei der Kassa plötzlich eine
Panikattacke, die von den Umstehenden registriert wird. Sie möchte am liebsten davonlaufen, kann aber
nicht, weil sie die Lebensmittel im Einkaufswagen für das Abendessen benötigt. Von da an kann sie
nicht mehr einkaufen gehen, sodass ihr die größere Tochter diese Arbeit abnehmen muss.
Eine 45-jährige Frau leidet schon seit längerem unter der ehelichen Untreue ihres Gatten und der über-
mäßigen Belastung am Arbeitsplatz. Die Firma, in der sie seit 15 Jahren arbeitet, steht wirtschaftlich
schlecht da, kündigte verschiedene ältere Arbeitnehmer und fordert von den verbleibenden Arbeitskräf-
ten großen Einsatz bei relativ schlechter Bezahlung. Nach einem Streit mit der Vorarbeiterin, der die
durchaus selbstbewusste Patientin Unfähigkeit und Ungerechtigkeit vorwarf, tritt plötzlich in der Kan-
tine eine Panikattacke auf, sodass die Patientin sofort den Arzt aufsucht und für einen Monat wegen
einer Erschöpfungsdepression krankgeschrieben wird. Der Krankenstand bringt keine Erleichterung,
vielmehr entwickelt die Patientin im Laufe der Zeit eine ausgeprägte Agoraphobie, sodass sie nicht
einmal einkaufen gehen und damit auch nicht mehr kochen kann. Ihre geschiedene und seither allein
lebende Schwester zieht zu ihr in das Haus (in das leer stehende Kinderzimmer) und hilft ihr bei der
Haushaltsführung, nimmt ihr gut gemeint alles ab und verstärkt damit die Agoraphobie der Patientin.
Oft schon nach dem zweiten oder dritten Angstanfall beginnt sich der Aktionsradius
zunehmend einzuengen, obwohl die durchgeführten Untersuchungen keinen organi-
schen Befund ergaben.
Der Schweregrad einer Agoraphobie lässt sich weder durch die Intensität noch
durch die Häufigkeit von Panikattacken ausreichend vorhersagen, viel besser dagegen
durch die Angst vor bestimmten agoraphobischen Situationen. Nach einer Wiener Stu-
die lässt sich aus dem Auftreten von Gefühlen der Peinlichkeit bei der ersten Panikat-
tacke eine spätere Agoraphobie vorhersagen.
Verschiedene Betroffene versuchen anfangs ihre Ängste durch gezieltes Aufsuchen
der gefürchteten Situationen zu bewältigen, die auftretenden Symptome werden dabei
jedoch so stark, dass sie glauben, diesen nur durch Flucht entkommen zu können.
Das plötzliche Nachlassen der vegetativen Beschwerden bei Verlassen der Angst
machenden Situation verstärkt die weitere Fluchtbereitschaft, bis schließlich aus Resi-
gnation vor der nicht möglichen Kontrolle der Symptome entsprechende Situationen
überhaupt nicht mehr aufgesucht werden.
Die Betroffenen fürchten sich eigentlich nicht vor verschiedenen Orten und Situa-
tionen, sondern davor, dass unter diesen Umständen die ihnen gut bekannten Symptome
in unkontrollierbarer Weise auftreten könnten, d.h. sie fürchten sich letztlich vor ihrem
Körper. Die Angst vor einer erneuten Panikattacke ohne Aussicht auf Kontrolle führt
zur Vermeidung von immer mehr Alltagsaktivitäten.
Unbehandelt bleiben Agoraphobien oft für immer oder zumindest über viele Jahre
bestehen. Eine spontane Heilung (Remission) tritt nur bei 38% auf. Nach über einjähri-
ger Dauer der Angststörung sind Spontanheilungen sehr selten, wie die Münchner Ver-
laufsstudie für die BRD ergeben hat. Patienten mit gemischten Angst- und Depressions-
syndromen haben unbehandelt eine schlechtere Prognose als solche mit reinen Angst-
störungen oder reinen Depressionen [22].
Der typische Problemlösungsmechanismus von Menschen mit Agoraphobie besteht
im Vermeiden Angst machender Situationen. Das Ausweichen vor der Angst verhindert
die Erfahrung, dass die gefürchtete Situation gar nicht gefährlich und relativ leicht be-
wältigbar ist. Mangelnde positive Erfahrungen im Umgang mit anfangs unbekannten
oder unberechenbaren Situationen führen zu immer größerem Meidungsverhalten.
Es erfolgt eine Generalisierung, d.h. eine Ausweitung der Angst auf ähnliche Situa-
tionen bis hin zur lebenseinengenden Behinderung. Selbstbewusstsein und Zukunfts-
hoffnung schwinden derart, dass Betroffene, Außenstehende und Ärzte schließlich nicht
mehr wissen, ob aus hemmender Angst, antriebslähmender Depression oder beidem die
schützende Wohnung nicht mehr verlassen werden kann. Es kommt zu einem Teufels-
kreis: eine nicht bewältigbare Agoraphobie führt zu einer Depression, die wiederum die
Phobie verstärkt, sodass ein chronischer Verlauf wahrscheinlich wird.
Im Querschnitt, d.h. aktuell, erscheinen Menschen mit ausgeprägter Agoraphobie oft
als Patienten mit schwerer Depression, im Längsschnitt, d.h. im Lebensverlauf, besteht
dagegen eine chronische Angstsymptomatik, angesichts der die Betroffenen resigniert
haben. Den aufgesuchten Ärzten bietet sich meist das Bild einer reinen Depression,
sodass Antidepressiva verabreicht werden.
Die Einnahme von Antidepressiva ist oft sinnvoll, auch dann, wenn sich die depres-
sive Symptomatik als Folge einer unbewältigbaren Angstsymptomatik herausstellen
sollte. Die Verbesserung des Antriebs ermöglicht erst ein Angstbewältigungstraining.
Sollten die Antidepressiva nicht nur die Depression, sondern auch die Ängste beseiti-
gen, dann ist eher anzunehmen, dass die Ängste auf einer depressiven Episode beruhten.
Agoraphobie 39
Agoraphobikern erscheint ihr Verhalten selbst als unsinnig und peinlich, sodass sie
die wahren Gründe anfangs auch vor Bekannten und Verwandten verbergen, indem sie
Ausreden für ihr Vermeidungsverhalten gebrauchen (Kreislaufbeschwerden, Übelkeit,
Kopfschmerzen, Lustlosigkeit u.a.). Wenn die Störung im Angehörigenkreis bekannt
wird, erleben die Betroffenen anfangs oft erstaunlich viel Nachsicht und Unterstützung.
Durch eine ausufernde Agoraphobie wird im Laufe der Zeit die ganze Familie in
Mitleidenschaft gezogen. Längerfristige familiäre Urlaubsplanungen sind kaum oder
nur bedingt möglich, vor allem bei Flugreisen. Während der Partner ein Ferienziel bu-
chen möchte, fragt der agoraphobische Patient nach den Stornobedingungen für den
Fall, dass er sich vor der Abreise unwohl fühlen sollte. Auch bei kleineren Ausflügen
im eigenen Land bzw. Bundesland muss dieser Umstand berücksichtigt werden.
Verschiedene Agoraphobiker können nur mit dem Partner zusammen in die Arbeit
gehen und nur in seiner Begleitung an verschiedenen sozialen Aktivitäten teilnehmen.
Oft müssen Partner und Kinder von agoraphobischen Frauen die Einkäufe erledigen.
Manchmal nimmt sich der Gatte sogar Urlaub, um an der Seite seiner furchtsamen Frau
bleiben zu können. Ein Drittel der Agoraphobiker ist so behindert, dass die Erfüllung
der beruflichen und familiären Verpflichtungen nicht mehr möglich ist.
Die Agoraphobie kann im Extremfall so ausgeprägt sein, dass der Partner seinen Be-
ruf aufgibt, um ganz für den angstkranken Angehörigen da sein zu können, der weder
allein in der Wohnung verbleiben noch allein das Haus verlassen kann. Wenn die Ange-
hörigen die Agoraphobie des Familienmitglieds nicht mehr länger unterstützen möchten
und sich heftig dagegen wehren, sind ständige Streitereien wahrscheinlich.
Die übrige soziale Umwelt erfährt oft auch weiterhin nichts oder nur wenig von der
agoraphobischen Beeinträchtigung. Im Laufe der Zeit entwickelt sich ein immer stärke-
rer Rückzug vom früheren Bekanntenkreis, eine Einschränkung der Freizeitaktivitäten,
ein zunehmender Leidensdruck, zeitweise auch eine Arbeitsunfähigkeit.
Nach jahrelangem Verbergen der Agoraphobie können plötzlich Situationen entste-
hen, die dazu führen, dass sich die Betroffenen in Behandlung begeben müssen:
z zunehmende Unfähigkeit, alle Tätigkeiten im Außendienst wahrzunehmen;
z notwendige berufliche Weiterbildung in einer fremden Stadt, in der man nicht allein
in einem Hotelzimmer übernachten kann;
z beruflicher Aufstieg durch Versetzung an einen anderen Ort;
z plötzlich erforderliche Aktivitäten im Freizeitbereich (Einladungen, Reisen, Ein-
kaufsfahrten), die ohne das Vorhandensein von Sicherheitsgarantien (Anwesenheit
des Partners, Beruhigungsmittel) nicht möglich sind;
z massiver Druck durch den Partner, der gemeinsame Urlaubsreisen in ferne Länder
unternehmen möchte oder zunehmend eigene Aktivitäten entfaltet und damit aus der
bisher für sicher gehaltenen Ehe auszusteigen droht;
z plötzlicher Ausstieg des Partners aus der Rolle des Symptomverstärkers;
z Trennungsdrohung durch den Partner, wenn die Symptomatik bestehen bleibt.
Eine englische Untersuchung an 1000 agoraphobischen Frauen ergab, dass sich drei
Viertel davon in ihrem Berufsleben durch die Phobie behindert fühlten [23]. 48% hätten
sich gerne beruflich verändert und verbessert, fürchteten jedoch, die Bewerbungs- und
Vorstellungsprozedur nicht durchstehen zu können. Der Anteil der Berufstätigen (nur
23%) war im Vergleich zur weiblichen Durchschnittsbevölkerung reduziert. 83% der
Nichtberufstätigen wollten nach Überwindung der Agoraphobie berufstätig werden.
40 Angststörungen
In großer Not und bei hoher Motivation kann eine Agoraphobie schlagartig über-
wunden werden, um bei Nachlassen des äußeren und inneren Drucks wieder in der
ursprünglichen Form aufzutreten [24]:
„Eine in Wien lebende Jüdin konnte sich von ihrer Wohnung nie weiter als ein paar Straßenlängen
entfernen; als dann die Nazis an die Macht kamen, sah sie sich vor die Wahl gestellt, entweder zu
fliehen oder in einem Konzentrationslager zu landen. Sie begab sich auf die Flucht und reiste zwei
Jahre lang in der Welt umher, bis sie schließlich in den Vereinigten Staaten eintraf. Sobald sie nun in
New York City wieder seßhaft geworden war, entwickelte sie die gleiche Reisephobie, die sie schon in
Wien gehabt hatte.“
Wenn bei einer stationären Besserung aufgrund der bevorstehenden Entlassung eine
plötzliche Verschlechterung der agoraphobischen Symptomatik einsetzt, muss auf das
Auftreten von Erwartungsängsten geschlossen werden, oft auch auf Realängste bezüg-
lich einer stationär zu wenig angesprochenen oder nur unzureichend bearbeiteten fami-
liären, partnerschaftlichen oder beruflichen Problematik, angesichts der ein Kranken-
hausaufenthalt nur eine kurzfristige Entlastung oder eine Vermeidungsreaktion darstellt.
Differenzialdiagnose
Im Gegensatz zu einer Agoraphobie werden bei einer spezifischen Phobie nur bestimm-
te Objekte und Situationen gefürchtet, z.B. Fliegen, Lift fahren, Spinnen, Hunde.
Bei einer sozialen Phobie werden Situationen nicht wegen der körperlichen Bedroh-
lichkeit gefürchtet und gemieden, sondern wegen möglicher negativer Beurteilung
durch andere Menschen, d.h. es werden soziale und Leistungssituationen vermieden.
Bei Agoraphobikern sind oft zwei Arten von Ängsten anzutreffen [25]:
1. Angst vor Panikattacken oder einer panikähnlichen Symptomatik. Die fehlende
Garantie für die Sicherheit und Unversehrtheit der Person führt bei Panikpatienten
oft zur Einschränkung des Aktionsradius und zur Abhängigkeit von bestimmten Si-
cherheitsgarantien (z.B. Vorhandensein von anderen Personen oder Medikamenten).
2. Angst vor sozialer Auffälligkeit („Was werden die anderen Menschen von mir den-
ken, wenn sie mich während einer Panikattacke sehen?“). Hinter der Angst vor dem
Sichtbarwerden körperlicher Symptome stehen oft eine soziale Unsicherheit und ei-
ne soziale Ängstlichkeit. Sozialphobische Agoraphobiker fürchten den „sozialen
Tod“, den Verlust des Sozialprestiges als Folge der sozialen Auffälligkeit, was
durch bestimmte sichtbare, als an sich ungefährlich erkannte Symptome (Rotwerden,
Zittern, Schwitzen, Ausbleiben oder Veränderungen der Stimme) verstärkt wird.
Bei verschiedenen Personen ist nur scheinbar eine Agoraphobie gegeben, tatsächlich
liegt eine soziale Phobie vor. Dieser Umstand wird in der klinischen Praxis oft zu wenig
beachtet, weshalb viele Konfrontationstherapien ohne gleichzeitige kognitive Therapie
unbefriedigend verlaufen. Eine Unterscheidung zwischen Agoraphobie und sozialer
Phobie kann anhand folgender Umstände relativ zuverlässig erfolgen [26]:
z Die Angst vor Menschenansammlungen tritt nicht nur bei einer Agoraphobie, son-
dern öfter auch bei einer sozialen Phobie auf. Bei einer Agoraphobie ist jedoch die
zentrale Befürchtung, die jeweiligen Situationen nicht jederzeit rechtzeitig verlassen
zu können bzw. keine Hilfe von Fremden bekommen zu können, bei der sozialen
Phobie dagegen sind eher bekannte Menschen der Angst auslösende Faktor, die als
potenzielle Kritiker gefürchtet werden. In einem Lokal sitzen Panikpatienten lieber
bei der Tür, Sozialphobiker eher versteckt in einer Ecke. Panikpatienten gehen lieber
in kleinere, überschaubare Geschäfte, Sozialphobiker eher in Supermärkte.
z Bei einer Agoraphobie (vor allem bei gleichzeitiger Panikstörung) kreisen die Be-
fürchtungen um das eigene körperliche und psychische Wohlbefinden (Angst ver-
rückt zu werden, die Kontrolle zu verlieren, zu sterben, in Ohnmacht zu fallen) ohne
Sorgen um die Bewertung des Verhaltens durch andere Menschen. Bei typischen
Agoraphobikern ohne Sozialphobie ist die Angst unabhängig vom sozial relevanten
Verhalten. Sie haben einfach Angst, ohnmächtig umzufallen und vielleicht nicht
mehr aufzuwachen, auch wenn die umstehenden Leute gute Bekannte sind.
42 Angststörungen
z Bei der sozialen Phobie beziehen sich die Befürchtungen auf die negative Bewer-
tung des eigenen Handelns oder der eigenen Person durch andere Menschen. Bei ei-
ner scheinbar agoraphobischen Symptomatik wie der Angst umzufallen kann über
die Frage nach den Konsequenzen des Umfallens rasch erkannt werden, ob anstelle
der Todesangst eine Sozialphobie im Sinne der Angst aufzufallen gegeben ist.
z Eine Agoraphobie in der Folge einer Panikattacke setzt relativ plötzlich ein, wäh-
rend die Meidung von sozialen Situationen aufgrund einer sozialen Phobie sich über
einen langen Zeitraum entwickelt hat.
z Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Agoraphobie und sozialer
Phobie ist die Anwesenheit oder Abwesenheit anderer Menschen als auslösende oder
aufrechterhaltende Bedingung der Angst. Agoraphobiker können auch in menschen-
leeren Bussen oder Kinos Angst erleben (d.h. ohne das Gefühl der Beobachtung)
und suchen daher die Sicherheit gebende Nähe anderer Menschen (wenn sie nicht
überhaupt mit einem nahen Angehörigen oder gutem Bekannten unterwegs sind),
während Sozialphobiker Angst nur in Anwesenheit anderer Menschen erleben. Ago-
raphobiker haben primär Angst, allein zu sein und nicht rechtzeitig Hilfe zu bekom-
men, Sozialphobiker fürchten vor allem, beobachtet und bewertet zu werden. Panik-
patienten gehen z.B. aus Sicherheitsgründen lieber mit Bekannten einkaufen, Sozi-
alphobiker aus Angst vor Blamage vor den Begleitpersonen lieber allein.
z Die Art der Symptome lässt sich zur Unterscheidung der beiden Gruppen ebenfalls
gut heranziehen. Sozialphobiker fürchten eher für andere sichtbare körperliche
Symptome wie Erröten, Schwitzen, Zittern, Weinen und Stimmveränderungen, Ago-
raphobiker fürchten dagegen bedrohlich erscheinende Symptome wie Atembe-
schwerden, Herzrasen, Schwindel, Ohnmacht, Schwäche in den Gliedern („weiche
Knie“) oder Depersonalisation (sich selbst irgendwie fremd erleben mit einer daraus
resultierenden Angst, „verrückt“ zu werden). Bei einer gleichzeitig gegebenen Sozi-
alphobie lassen sich verschiedene Agoraphobiker nicht auf eine Konfrontationsthe-
rapie ein. Sie fürchten neben den Paniksymptomen auch die soziale Auffälligkeit.
Zahlreiche andere Personengruppen ziehen sich zurück, ohne dass ihr Verhalten als
Agoraphobie bezeichnet werden kann:
z Bei Menschen mit medizinischen Krankheitsfaktoren hängen Vermeidungsreaktio-
nen oft mit realistischen Befürchtungen zusammen (z.B. Schwindel bei hirnorgani-
schen Störungen, Durchfall bei Morbus Crohn, Angst vor einem Sturz mit Bein-
bruch bei älteren und gebrechlichen Menschen).
z Personen mit erworbenen Behinderungen oder sichtbaren Krankheiten meiden oft
den Kontakt mit der Umwelt, um nicht aufzufallen und ziehen sich zurück. Sie ha-
ben sekundär, d.h. als Folge der körperlichen Beeinträchtigung, eine sozialphobische
und keine agoraphobische Symptomatik entwickelt.
z Personen mit Zwangsstörungen vermeiden Situationen wegen möglicher Verunrei-
nigungen, um sich dadurch vermehrtes Waschen und Reinigen und die Ausübung
der belastenden Rituale zur Wiederherstellung des früheren Zustandes zu ersparen.
z Bei einer Depression erfolgt der Rückzug nicht aus körperlichen oder sozialen Äng-
sten, sondern aus Antriebsmangel und Lustlosigkeit. Oft verstärkt eine sekundäre
Depression eine ursprüngliche Agoraphobie oder Sozialphobie. Die Beseitigung der
Depression ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Angstbewältigung.
z Patienten mit einer paranoiden Symptomatik ziehen sich zurück, um der gefürchte-
ten Beobachtung und vermeintlichen Bedrohung durch andere zu entgehen.
Panikstörung 43
„Es kommt plötzlich über mich. Dann legt’s sich zuerst wie ein Druck auf meine Augen, der Kopf wird
schwer und sausen tut’s, nicht auszuhalten, und schwindelig bin ich, daß ich glaub’, ich fall’ um, und
dann preßt’s mir die Brust zusammen, daß ich keinen Atem kriege... Den Hals schnürt’s mir zusammen,
als ob ich ersticken sollt... Ich glaub immer, jetzt muß ich sterben, und ich bin sonst couragiert, ich geh’
überall alleine hin, wenn so ein Tag ist, an dem ich das hab’, dann trau’ ich mich nirgends hin, ich
glaub’ immer, es steht jemand hinter mir und packt mich plötzlich an.“
Als Diagnose wurde die Panikstörung erst 1980 in das amerikanische psychiatrische
Diagnoseschema DSM-III und 1991 in das internationale Diagnoseschema ICD-10
aufgenommen. Die Etablierung des Konzepts der Panikstörung wurde seit 1964 vom
amerikanischen Psychiater Donald F. Klein gefördert, der darin eine biologische Grund-
störung sah. Das biologisch orientierte Konzept der Panikstörung förderte die Entwick-
lung psychopharmakologischer Ansätze in der Behandlung von Ängsten und Panikat-
tacken, bewirkte dann aber – unterstützt durch entsprechende Forschungsergebnisse –
eine Gegenbewegung in Richtung psychophysiologischer Erklärungsmodelle und neuer
verhaltenstherapeutischer Behandlungskonzepte von Panikattacken. Diese Entwicklung
wurde in den USA u.a. von Barlow, in Großbritannien von Clark und Salkovskis und in
Deutschland vom Ehepaar Jürgen Margraf und Silvia Schneider vorangetrieben.
Die Diagnose „Panikattacken“ bzw. „Panikstörung“ ist heute – ebenso wie „Burn-
out“ – eine Modediagnose geworden. In den Medien wird bei der Darstellung der
Angststörungen die Panikstörung wegen deren Dramatik oft so stark in den Mittelpunkt
der Aufmerksamkeit gestellt, dass andere Angststörungen zu kurz kommen. Viele Pati-
enten mit allen möglichen Störungen berichten ihren Ärzten, dass sie angesichts be-
stimmter Umstände und Zustände „die Panik bekommen“, sodass sie oft vorschnell die
Diagnose „Panikstörung“ bekommen, obwohl sie tatsächlich eine Agoraphobie, eine
soziale oder spezifische Phobie, eine generalisierte Angststörung, eine Depression, eine
somatoforme bzw. hypochondrische Störung oder eine Schmerzstörung haben.
44 Angststörungen
Unter einer Panikstörung versteht man das wiederholte, unerwartete Auftreten von
Panikattacken. Die klinisch-diagnostische Leitlinien des ICD-10 fordern für die Dia-
gnose einer Panikstörung innerhalb eines Zeitraums von etwa einem Monat mehrere
schwere vegetative Angstanfälle, die sich nicht auf eine spezifische Situation oder be-
sondere Umstände beschränken und deshalb auch nicht vorhersagbar sind. Eine Panik-
störung liegt auch dann vor, wenn nur ganz wenige Panikattacken spontan auftreten, die
Person aber anhaltend von heftiger Sorge vor weiteren Anfällen geplagt wird (Angst vor
der Angst) und bestimmte Situationen nur mit starkem Unbehagen ertragen kann.
Die Diagnose einer Panikstörung darf nach dem ICD-10 und dem DSM-IV nur dann
gestellt werden, wenn die Panikattacken unerwartet auftreten, d.h. nicht auf Situationen
begrenzt sind, in denen objektive Gefahr besteht oder die bekannt sind oder vorherseh-
bar Angst auslösen (z.B. im Rahmen einer Phobie). Eine Panikattacke in einer eindeutig
phobischen Situation drückt nur den Schweregrad einer Phobie aus.
Eine Panikattacke ist eine abgrenzbare Periode intensiver Angst und starken Unbe-
hagens und besteht aus mehreren, plötzlich und unerwartet („wie aus heiterem Him-
mel“), scheinbar ohne Ursachen in objektiv ungefährlichen Situationen auftretenden
somatischen und kognitiven Symptomen von subjektiv lebensbedrohlichem Charakter.
Das DSM-IV [28] erstellt folgende diagnostische Kriterien für eine Panikattacke:
Eine klar abgrenzbare Episode intensiver Angst und Unbehagens, bei der mindestens 4 der nachfolgend
genannten Symptome abrupt auftreten und innerhalb von 10 Minuten einen Höhepunkt erreichen:
z Palpitationen, Herzklopfen oder beschleunigter Herzschlag,
z Schwitzen,
z Zittern oder Beben,
z Gefühl der Kurzatmigkeit oder Atemnot,
z Erstickungsgefühle,
z Schmerzen oder Beklemmungsgefühle in der Brust,
z Übelkeit oder Magen-Darm-Beschwerden,
z Schwindel, Unsicherheit, Benommenheit oder der Ohnmacht nahe sein,
z Derealisation (Gefühl der Unwirklichkeit) oder Depersonalisation (sich losgelöst fühlen),
z Angst, die Kontrolle zu verlieren oder verrückt zu werden,
z Angst zu sterben,
z Parästhesien (Taubheit oder Kribbelgefühle),
z Hitzewallungen oder Kälteschauer.
Panikstörung 45
Menschen mit einer Panikstörung haben neben unerwarteten (spontanen, nicht ausgelö-
sten) Panikattacken oft auch situationsgebundene und/oder situationsbegünstigte Panik-
attacken (letztere in häufigerem Ausmaß). Situationsgebundene Panikattacken zeigen
dasselbe Erscheinungsbild wie spontane Angstanfälle.
Nach der Häufigkeit der Symptome (mindestens 4 oder weniger Symptome) unter-
scheidet man zwischen vollständigen und unvollständigen Panikattacken. Menschen mit
unvollständiger Symptomatik hatten früher oft vollständige Panikattacken.
Eine Panikattacke allein ist nach dem DSM-IV keine kodierbare Störung. Kodiert
wird die Störung, innerhalb der die Panikattacken auftreten: Panikstörung ohne Ago-
raphobie oder Panikstörung mit Agoraphobie. Panikattacken können nicht nur bei
Angststörungen, sondern auch bei anderen psychischen Störungen (Depressionen, Sub-
stanzmissbrauch u.a.) oder körperlichen Erkrankungen auftreten. Panikattacken können
als Zusatzkategorie zu allen möglichen psychischen Störungen angeführt werden. Dies
bedeutet eine Abkehr von der früheren amerikanischen Diagnostik, wonach spontane
und unerwartete Panikattacken implizit als endogenes Geschehen angesehen wurden.
Das DSM-IV [30] erstellt folgende diagnostische Kriterien für eine Panikstörung
ohne Agoraphobie (für eine Panikstörung mit Agoraphobie gelten mit Ausnahme von B
dieselben Kriterien):
C. Die Panikattacken gehen nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z.B. Droge,
Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z.B. Hyperthyreose) zurück.
D. Die Panikattacken werden nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt…
46 Angststörungen
Im Gegensatz zum ICD-10 berücksichtigt das DSM-IV unter Punkt A (2) kognitive
Aspekte (Erwartungsangst, Bedeutungseinschätzung, Folgen), die sehr wichtig sind.
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [31] ist eine Panikstörung (F41.0) durch
folgende Merkmale charakterisiert:
A. Wiederholte Panikattacken, die nicht auf eine spezifische Situation oder ein spezifisches Objekt
bezogen sind und oft spontan auftreten (d.h. die Attacken sind nicht vorhersagbar). Die Panikattak-
ken sind nicht verbunden mit besonderer Anstrengung, gefährlichen oder lebensbedrohlichen Situa-
tionen.
a. Sie ist eine einzelne Episode von intensiver Angst oder Unbehagen
b. sie beginnt abrupt
c. sie erreicht innerhalb weniger Minuten ein Maximum und dauert mindestens einige Minuten
d. Mindestens vier Symptome der unten angegebenen Liste, davon eins von den Symptomen
1. bis 4., müssen vorliegen.
Vegetative Symptome:
1. Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz
2. Schweißausbrüche
3. fein- oder grobschlägiger Tremor
4. Mundtrockenheit (nicht infolge Medikation oder Exsikkose).
Psychische Symptome:
9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder
„nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)
11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“
12. Angst zu sterben.
Allgemeine Symptome:
13. Hitzewellen/-wallungen oder Kälteschauer
14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle.
C. Ausschlussvorbehalt: Die Panikattacken sind nicht Folge einer körperlichen Störung, einer organi-
schen psychischen Störung (F0) oder einer anderen psychischen Störung wie Schizophrenie und
verwandten Störungen (F2), einer affektiven Störung (F3) oder einer somatoformen Störung (F45).
Bei einer Panikattacke – einem falschen Alarmsignal – beginnen die einzelnen Anfälle
gewöhnlich ganz plötzlich, steigern sich innerhalb von Minuten zu einem Höhepunkt
und werden trotz der eher kurzen Dauer von den Patienten sehr unangenehm und stark
bedrohlich erlebt wegen der Intensität und Plötzlichkeit des Auftretens der vegetativen
Symptome. Zur Diagnose einer Panikstörung sind auch nach dem ICD-10 wiederholte
Panikattacken „aus heiterem Himmel“ (vordergründig ohne sichtbare Auslöser) nötig.
Zwischen den Attacken liegen (in Abgrenzung zur generalisierten Angststörung)
weitgehend angstfreie Zeiträume (Erwartungsangst ist jedoch häufig). Schwere, Häufig-
keit und Verlauf der Störung können sehr unterschiedlich sein.
Panikstörung 47
Panikattacken dauern meistens nur einen kurzen Zeitraum (einige Minuten bis zu ei-
ner halben Stunde), manchmal auch länger (einige Stunden), sind dann aber nicht mehr
so ausgeprägt. Laut Studien [32] dauern Panikattacken durchschnittlich eine knappe
halbe Stunde. Wenn Panikattacken länger als 30 Minuten anhalten, ist dies oft durch
den Versuch bedingt, sie zu unterdrücken, zu stoppen oder ängstlich zu analysieren,
wodurch die Anspannung aufrechterhalten wird. Die Angst vor einer weiteren, unkon-
trollierbar erscheinenden Panikattacke führt rasch zu einer starken Erwartungsangst.
Viele Betroffene klagen, dass ihre „Panikattacken“ oft viele Stunden oder gar mehrere
Tage lang anhalten würden. Hier spiegelt sich das Ausmaß der Daueranspannung wider,
meist als Ausdruck einer generalisierten Angststörung oder hypochondrischen Störung.
Panikpatienten neigen zur katastrophenartigen Fehlinterpretation von Symptomen:
„Mein Herz rast – gleich bekomme ich einen Herzinfarkt“; „Mein Hals ist wie zuge-
schnürt – gleich bekomme ich keine Luft“; „Ich bekomme keine Luft – jetzt muss ich
ersticken“; „Ich bin ganz schwindlig – gleich falle ich ohnmächtig um“; „Ich habe
Taubheits- und Kribbelgefühle – gleich bekomme ich einen Schlaganfall“; „Ich kann
nicht klar denken – gleich verliere ich die Kontrolle über meinen Verstand“; „Ich habe
einen großen inneren Druck – gleich verliere ich die Kontrolle und mache etwas Ver-
rücktes, indem ich mir oder anderen etwas antue“; „Ich stehe ganz neben mehr – gleich
werde ich verrückt“; „Ich nehme die Umwelt nicht mehr wahr – jetzt drehe ich durch.“
Obwohl eine Panikattacke eine Sympathikus-Reaktion (u.a. verstärkte Herztätigkeit und
Blutdrucksteigerung) ist, haben viele Betroffene unbegründete Ängste vor Ohnmacht.
Drei Körpersymptome sind bei Panikattacken besonders belastend: Atemnot, Herz-
klopfen/-rasen und Schwindel/Benommenheit. Neben dem Herzrasen steht ein „respira-
torisches Syndrom“ im Mittelpunkt des Erlebens: Kurzatmigkeit, Erstickungsgefühl,
Enge, Druck, Schmerzen auf der Brust, Parästhesien. Die Todesangst und die Angst, die
Kontrolle zu verlieren oder verrückt zu werden, sind häufige psychische Reaktionswei-
sen auf die bedrohlich erscheinenden körperlichen Symptome und Angst machenden
Erfahrungen der Entfremdung (Depersonalisation und Derealisation).
Bei unerwarteten Panikattacken zeigen sich im Vergleich zu situativ ausgelösten
Panikattacken häufiger die Symptome Angst zu sterben, verrückt zu werden oder die
Kontrolle zu verlieren, und Missempfindungen wie Kribbeln oder Taubheitsgefühle.
Diese Symptome sowie Atemnot, Schwindel-, Schwäche- und Unwirklichkeitsgefühle
werden von Panikpatienten häufiger berichtet als von anderen Angstpatienten.
Die erste Panikattacke stellt gewöhnlich ein intensives, existenziell bedrohliches und
traumatisierendes Erlebnis, ein unvergessliches Vernichtungsgefühl dar, sodass auf-
grund von Erwartungsängsten ein umfangreiches Vermeidungsverhalten entsteht. Sie
tritt meistens außer Haus auf, weshalb sich oft mehr oder weniger rasch eine Agorapho-
bie entwickelt. In vielen Fällen besteht daher eine Agoraphobie mit Panikstörung.
Durch das wiederholte Erleben einer Panikattacke werden oft existenzielle Fragen
und Ängste angesprochen (Tod als Ende oder Beginn einer anderen Existenzform, Sinn
des Lebens, Dauerhaftigkeit von Beziehungen u.a.). Es ist wie nach einem schweren
Unfall: Plötzlich verliert das Leben seine Selbstverständlichkeit, das Urvertrauen in das
Leben geht verloren. Man wird übermäßig vorsichtig aus Angst vor der Wiederholung
einer derartigen Erfahrung, beobachtet und kontrolliert seinen Körper, auf den man sich
früher einfach verlassen hat, und braucht die Versicherungen anderer Menschen (z.B.
Angehöriger, Ärzte, Psychotherapeuten), um sich in seiner Haut wohl fühlen zu können.
Es entwickelt sich ein extremes Sicherheitsbedürfnis, das risikoscheu macht, auch in
Situationen, die man früher ohne langes Nachdenken problemlos bewältigen konnte.
48 Angststörungen
Viele Panikpatienten ohne Agoraphobie haben anfangs nicht das Gefühl, unter Ängsten
zu leiden (außer vor neuerlichen Panikattacken). Wegen der anfallsartig auftretenden
körperlichen Symptome wie Herzrasen, Atemnot, Brustschmerz oder Schwindelgefühl
wird Hilfe von praktischen Ärzten, Internisten, Lungenfachärzten, HNO-Ärzten und
Neurologen erwartet, keinesfalls von Psychotherapeuten.
Panikstörung 49
Der Ausschluss organischer Ursachen aufgrund von oft sehr umfangreichen Unter-
suchungen bringt meistens keine Beruhigung, sondern gibt Anlass zur Sorge, letztlich
an einer unbekannten und daher nicht behandelbaren Krankheit zu leiden.
Panikpatienten glauben oft aufgrund der Intensität ihres Erlebens, dass die Mitmen-
schen ihre Panikattacken genau wahrnehmen können. Tatsächlich jedoch erkennen
Außenstehende meist gar nicht, dass die Betroffenen eben eine Panikattacke erleben.
Selbst Fachleute haben oft Schwierigkeiten, bei ihren Patienten eine Panikattacke zu
erkennen. Panikpatienten zittern und beben nur innerlich, und Herzrasen kann man
ohnehin nicht sehen. Die Betroffenen wirken nach außen hin oft nur etwas blass,
manchmal mit ein paar Schweißtropfen auf der Stirn und einem ängstlichen Ge-
sichtsausdruck. Dramatisch wirkt dagegen eine Hyperventilation, das Ringen um Luft,
der angstvolle Griff zum Herzen wie bei einem Herzinfarkt und das gelegentliche Sicht-
Anklammern an den Partner aus Angst umzufallen. Die relative Unauffälligkeit bewirkt,
dass Panikpatienten oft den Eindruck haben, ihre Partner stünden den Attacken ver-
ständnislos und wenig einfühlsam gegenüber.
Panikpatienten nehmen ihre körperlichen Symptome stärker wahr als sie tatsächlich
sind, wie ein Vergleich zwischen Selbstdarstellung und physiologischen Messungen
mittels Langzeit-EKG (tragbare Messgeräte) zeigt [33]. Während bei 70% aller Anfälle
Herzklopfen oder Herzrasen berichtet wird, ergeben sich bei den Messungen nur bei
einigen Panikattacken leicht erhöhte Herzfrequenzen.
In einer umfangreichen Studie ergab sich ein durchschnittlicher Herzfrequenzanstieg
von 11 Schlägen pro Minute bei spontanen und 8 Schlägen bei situativen Panikattacken.
Die Betroffenen stellten ihre Panikattacken später als häufiger und stärker ausgeprägt
dar, als sie diese unmittelbar nach dem Auftreten in einem Angst-Tagebuch vermerkt
hatten. Eine deutliche Erhöhung des Herzschlags war nur bei situativen Panikattacken
gegeben, und zwar schon 15 Minuten vor Beginn der Attacken.
Noch immer wird von vielen Ärzten nach Ausschluss organischer Ursachen nicht
sofort die richtige Diagnose gestellt, sondern – wie früher üblich – eine der folgenden
Diagnosen: vegetative Dystonie, psychovegetatives Syndrom, Neurasthenie, nervöses
Erschöpfungssyndrom, Burn-out, Hyperventilationssyndrom, psychomotorischer Erre-
gungszustand, funktionelles kardiovaskuläres Syndrom, funktionelle Herzbeschwerden.
Frauen werden oft als „hysterisch“ und Männer als „hypochondrisch“ abqualifiziert.
Die richtige Diagnose gibt vielen Patienten das beruhigende Gefühl, dass ihre Stö-
rung einen Namen hat. Nach einer langen Zeit der Ungewissheit weiß man endlich,
worunter man leidet. Im negativen Fall kann dies dazu führen, dass man sich mit seiner
Identität als Panikpatient zufrieden gibt und im Laufe der Zeit verschiedene Psychothe-
rapien wohl beginnt, bald jedoch ergebnislos abbricht. Dies ist insbesondere dann der
Fall, wenn Psychotherapeuten nicht auf die Paniksymptomatik an sich eingehen.
Wenn von den Ärzten die richtige Diagnose nicht gestellt und die angemessene Be-
handlung nicht eingeleitet wird, bleiben Panikpatienten oft über Jahre stark verunsi-
chert. Beruhigungsmittel dämpfen zwar zeitweise die Erwartungsängste, lösen jedoch
nicht das Problem der Panikstörung und führen oft zur Medikamentenabhängigkeit.
Es gibt keine eindeutigen Laborbefunde zur Diagnostik einer Panikstörung. Be-
stimmte Panikpatienten reagieren jedoch bei verschiedenen Panikprovokationsmethoden
(Natriumlaktat-Infusionen, Kohlendioxidinhalationen u.a.) häufiger mit Panikattacken
als Menschen mit anderen Angststörungen oder gesunde Kontrollpersonen. Doch auch
dies hat oft mehr mit kognitiven Aspekten (Erwartung einer Panikattacke im Rahmen
der Studie) zu tun als mit einer „endogenen“ Reaktionsbereitschaft.
50 Angststörungen
Ein 47-jähriger Manager mit hohem Blutdruck und verschiedenen Risikofaktoren (Rauchen, Überge-
wicht, ungesunde Ernährung, übermäßiger Stress), dessen Vater im Alter von 53 Jahren an einem
Herzinfarkt verstorben ist, bekommt plötzlich am Abend im Bett vor dem Einschlafen eine Panikattak-
ke. Nach einer ergebnislosen organischen Abklärung wird dem Betroffenen bewusst, dass er sich fürch-
tet, aufgrund eines ähnlichen Lebensstils wie sein Freund ebenfalls bald sterben zu müssen, noch dazu,
wo er weiß, dass sein Vater nur einige Jahre älter wurde, als er selbst jetzt ist. Der Patient erinnert sich,
dass er kurz vor Beginn der Panikattacke an den unerwarteten Herzinfarkt-Tod seines gleichaltrigen
Freundes vor drei Monaten gedacht hatte. Der früher sehr sportliche Patient beginnt seine diesbezügli-
chen Aktivitäten (Tennis, ausgedehnte Rad- und Schitouren, oft auch allein) aus Angst vor Überforde-
rung einzuschränken und entwickelt eine hypochondrische Form der Körperbeobachtung („Wie schnell
geht der Puls?“, „Ist der Druck auf der Brust und das Kribbeln im linken Arm ein Anzeichen für einen
bevorstehenden Herzinfarkt?“). Er beschäftigt sich vermehrt mit den Folgen seines möglichen Todes
(„Wer wird meine Position in unserer Firma einnehmen, wenn niemand so plötzlich darauf vorbereitet
ist, meine Tätigkeit fortzuführen?“, „Was wird aus meiner Frau, die ohne richtige Ausbildung und
Berufserfahrung sich nicht selbst erhalten kann?“, „Wie wird sich mein 12-jähriger Sohn ohne Vater
entwickeln?“, „Wie soll das Haus zu Ende gebaut werden und der Schuldenstand abgezahlt werden?“).
Er stellt den gelegentlich übermäßigen Alkoholkonsum ein und reduziert den ständig erhöhten Kaffee-
konsum, weil zwei dadurch ausgelöste Panikattacken im Laufe der nächsten Monate seine Todesängste
nur verstärken, ist dadurch aber mit leichten Entzugssymptomen konfrontiert, die ihn erst wieder beun-
ruhigen. Vor allem entwickelt er abends eine bisher nie gekannte Schlafstörung, sodass das Schlafdefi-
zit seine körperliche und psychische Befindlichkeit weiter verschlechtert. Sein Hausarzt diagnostiziert
eine Erschöpfungsdepression und verordnet ein Antidepressivum, und zwar einen selektiven Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer, der auch geeignet erscheint, seine Panikattacken zu beseitigen. Durch die
sensible Reaktion auf die Nebenwirkungen in den ersten zwei Wochen nach der Einnahme (möglicher-
weise anfangs zu hohe Dosierung des Medikaments) werden die körperbezogenen Ängste des Patienten
jedoch nur verstärkt, sodass er bei fortgesetzter Einnahme, zu der ihn sein Arzt ermuntern kann, auf die
Suche nach zusätzlichen Therapiemaßnahmen geht. Wegen seiner zunehmenden körperlichen Verspan-
nungen erfolgt zuerst eine Überweisung an einen Masseur und anschließend auch zu einer Verhaltens-
therapie. Hier wird ein weiterer möglicher Auslöser für die Panikattacken eruiert. Der Patient hatte
begonnen, aus Angst vor den Panikattacken die seit längerem verordneten Beta-Blocker eigenständig zu
erhöhen und dadurch einen für ihn ungewöhnlich niedrigen Blutdruck entwickelt, der möglicherweise
die plötzlich erhöhte Neigung zu Panikattacken begünstigt hat.
Eine Frau mit drei kleinen Kindern bekommt die erste Panikattacke kurz nachdem ihre Mutter sowie
ihre beste Freundin, die zwei kleine Kinder hat, völlig überraschend die Information einer schweren
Krebserkrankung mit Metastasenbildung erhalten hatten. Die Angst, ebenfalls an Krebs zu erkranken,
war der Patientin durchaus bewusst, sie konnte anfangs jedoch nicht erkennen, dass die erste Panikat-
tacke als „Angst aus heiterem Himmel“ damit zu tun haben sollte, weil diese schließlich nicht in einem
Moment der Sorge, sondern zu einem Zeitpunkt des Wohlbefindens auftrat, nämlich während eines
Festes. Sie dürfte wohl unbewusst gedacht haben: „So etwas werde ich vielleicht nicht mehr erleben
können.“ Die Angst vor einer neuerlichen Panikattacke mit Todesfolge steht plötzlich zumindest kurz-
fristig stärker im Mittelpunkt als die Angst vor einer tödlichen Krebserkrankung.
Ein Arbeiter hat eine längere beruflich bedingte Stressphase hinter sich. Erfreut über die kommenden
Tage der Entspannung legt er sich am Abend in sein Bett und bekommt nach einigen Minuten eine
derart massive Panikattacke, dass er aus dem Bett aufspringt und in der Wohnung nervös umhergeht.
Da die Symptomatik nach einigen Minuten nicht abklingt, ruft seine Gattin den Notarzt. Daraufhin
beruhigt sich der Betroffene relativ rasch. Der herbeigeeilte Notarzt äußert den Verdacht auf eine Pa-
nikattacke, da organisch nichts Außergewöhnliches festzustellen ist, und verschreibt ein Beruhigungs-
mittel. Zwei Tage später setzt sich der Mann am Nachmittag im Wohnzimmer in einen Lehnstuhl und
möchte fernsehen. Plötzlich wird er neuerlich von einer heftigen Panikattacke überrascht. Diesmal
bleibt er nach Abklingen der Panikattacke beunruhigt, geht zum Hausarzt und lässt sich von ihm zur
stationären Untersuchung in ein Krankenhaus einweisen.
Panikstörung 51
„Er bekam öfter Anfälle von schneller und heftiger Herzbewegung; diese war jedoch weder unregelmä-
ßig noch durch Unterbrechungen geprägt; dabei stellten sich heftige Angst im Herzen und Beklemmung
ein, mit einem bedrückenden Gefühl des herannahenden Todes. Die Atmung war so beschleunigt und
mühsam, und diese Anfälle kehrten so häufig und in so starkem Ausmaß wieder, daß der Kranke die
Überzeugung gewann, er habe ein gefährliches Herz- und wahrscheinlich auch Schlagaderleiden. Seine
Stimmung war gedrückt, und er erwartete nichts anderes, als daß er in einem dieser fürchterlichen
Anfälle sterben würde. Die Dauer des Anfalles war unbestimmt; in der beschwerdefreien Zeit waren
keine Symptome von einem Herzleiden vorhanden, Herzschlag und Töne waren ganz normal. Dieser
Mann litt nicht an Einbildung; er war kräftig gebaut, hatte die Erde umsegelt und die Beschwerden der
Reise ohne Nachteil ertragen.“
Die Symptomatik der Herzphobie wurde 1969 vom Psychiater Horst-Eberhand Richter
und dem Psychologen Dieter Beckmann [35] unter der Bezeichnung „Herzneurose“
eingehend dargestellt und psychoanalytisch interpretiert. Es wird unterschieden zwi-
schen einem A-Profil (offenes Ausleben der Herzphobie mit starker Regression und
Abhängigkeit von der Familie) und einem B-Profil (kontraphobische Abwehr von To-
desängsten durch Unabhängigkeitsstreben, Leistungsorientierung und Wagemut).
Eine Herzphobie wird oft durch den Herztod einer wichtigen Bezugsperson ausge-
löst. Patienten mit Herzphobie haben ein stärkeres Angsterleben sowie häufiger auch
eine Agoraphobie oder eine Sozialphobie als Menschen ohne Herzphobie.
Eine Herzphobie besteht aus folgenden Merkmalen [36]:
z Anfallsartig auftretende Symptome wie bei einer Panikattacke, jedoch stark herzbe-
zogen erlebt: Herzrasen (120-160 Herzschläge pro Minute), unregelmäßiger Herz-
schlag (Extrasystolen), Blutdrucksteigerung, Brennen und Hitzegefühl an der Herz-
spitze, Stiche, Schmerzen oder Ziehen im (linken) Brustbereich.
z Andere körperliche Symptome: Schwitzen, Hitze- oder Kältegefühle, Atemnot,
Beklemmungs- und Erstickungsgefühle, Schwindelgefühle, Körpermissempfindun-
gen, Übelkeit.
z Panikartiges Todes- und Vernichtungsgefühl, bedingt durch die Symptome, die als
Anzeichen einer Herzerkrankung interpretiert werden.
z Ständige ängstliche Konzentration auf das Herz aus Sorge, an einer bisher nicht
erkannten Herzerkrankung zu leiden. Negative Befunde bei umfangreichen Untersu-
chungen und fachgerechte Aufklärung durch den Arzt können im Extremfall die
phobische Wahrnehmungseinengung auf das Herz nicht verhindern.
z Vertrauensverlust in die automatische Herzfunktion, sodass übertriebene Kontrollen
wie häufiges Pulsfühlen und Pulszählen sowie Blutdruckmessen erfolgen. Das stän-
dige Vergewissern der Herzfunktion führt zu einem abnormen Herzbewusstsein und
verstärkt die Herzangst. Allein die angespannte, erhöhte Aufmerksamkeit auf die
Herztätigkeit bewirkt bereits eine leichte Herzfrequenzsteigerung.
52 Angststörungen
z Ausgeprägte Schonhaltung, um das Herz nicht zu sehr zu belasten, was ein starkes
Vermeidungsverhalten zur Folge hat. Die Betroffenen fürchten bereits alltägliche
Belastungen wie Stiegen steigen, Gartenarbeit, sportliche Betätigung, Geschlechts-
verkehr mit der Partnerin. Frauen mit Kinderwunsch bekommen plötzlich Angst vor
einer Schwangerschaft, weil dadurch die gefürchteten Symptome provoziert werden
könnten. Herzphobiker schonen sich mehr, als selbst Patienten nach einem Herzin-
farkt zur Schonung geraten wird.
z Hypochondrische Ängste, die dazu führen, dass viele an sich normale körperliche
Zustände als Vorzeichen eines möglichen Herzinfarkts interpretiert werden. Charak-
teristisch sind vermehrte Pulskontrollen, die beruhigen sollen, tatsächlich jedoch
durch die ständige Körperzuwendung neue Ängste schüren.
z Ständiges Kreisen um medizinische Sicherungsmaßnahmen (Aufenthalt in der Nähe
eines Krankenhauses oder von Ärzten, Informationssammlung über ärztliche Not-
dienstregelungen, Einspeichern von Notruf-Nummern im Handy).
z Einbeziehung der Familienmitglieder in die Herzängste und die krankheitsbezogene
Lebensweise, sodass ein sanatoriumsartiges Familienklima entsteht. Wenn sich die
Familienmitglieder den auf Vermeidung, Schonung und Rückzug bedachten Lebens-
stil aufzwingen lassen, verstärken sie dadurch die Krankheitsfixierung des Betroffe-
nen.
z Anklammerung an die engsten Familienmitglieder, vor allem an den Partner, der oft
Sicherheit und unbedingte Geborgenheit in einem Leben vermitteln soll, das nicht
selten geprägt ist von frühen Verlusten (Verlust eines Elternteils durch Tod oder
Scheidung, Ehescheidung usw.). Herzphobiker neigen zu symbiotischen Bezie-
hungsmustern und reagieren auf jede Verunsicherung in der Partnerbeziehung mit
extremen Ängsten. Beruhigung bringt nur die ständige Verfügbarkeit des Partners.
In der Psychotherapie muss daher neben der Beseitigung der Symptomatik auch auf
eine günstige Veränderung der Partnerbeziehung geachtet werden.
z Nach längerer Herzangstsymptomatik entwickeln sich sekundär oft andere Störun-
gen: eine Depression, andere phobische Symptome (Agoraphobie, Sozialphobie),
andere neurotische oder psychosomatische Störungen.
Menschen mit einer Herzphobie stellen eine relativ große Patientengruppe dar [38]:
z 10-15% aller Hausarzt-Patienten klagen über funktionelle Herzbeschwerden.
z Bei 20-25% von 16332 Patienten der Deutschen Klinik für Diagnostik in Wiesbaden
ergab sich von der Symptomatik her der Verdacht auf eine Herzneurose.
z 10,7% von 552 Patienten, die mit der Verdachtsdiagnose „Herzinfarkt“ auf eine
Intensivstation aufgenommen wurden, hatten eine Herzphobie.
z 4% von 7150 Notaufnahme-Patienten einer Berliner Klinik hatten eine Herzphobie.
z Nach amerikanischen Studien sind bis zu 50% der Patienten mit Brustschmerzen
und negativem Koronarangiogramm Patienten mit Panikstörung („Herztod-Phobie“).
Viele Herzphobiker erfüllen nicht die Kriterien für eine Panikstörung. Menschen mit
funktionellen Herzbeschwerden weisen im Vergleich zu anderen Personen ein vierfach
erhöhtes Risiko für eine Panikstörung auf. Eine herzphobische Symptomatik entwickelt
sich oft auch sekundär nach einer Panikstörung, analog zu anderen hypochondrischen
Ängsten. Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal ist folgender Hinweis: Bei Panikpati-
enten bestehen Todesängste nur während einer Panikattacke, bei Herzphobikern dage-
gen auch unabhängig von Panikattacken (sie haben andauernd Herzinfarktängste).
Panikattacken im Schlaf
Die Hälfte der Panikpatienten erlebt Panikattacken im Schlaf. Manchmal entwickelt
sich daraus eine Angst vor dem Einschlafen bzw. sogar ein Hinauszögern des Schlafs.
Zwischen Ängsten und Schlafstörungen bestehen oft enge Wechselbeziehungen. Angst-
symptome kommen bei den meisten psychisch bedingten Schlafstörungen vor.
Nächtliche Angst tritt bei unterschiedlichen Störungen auf [39]:
1. Panikstörung. Es erfolgt ein abruptes Erwachen mit starker Angst aus leichtem bis
mitteltiefem Schlaf. Die körperlichen Begleitsymptome (z.B. Atemnot, Herzrasen)
werden als lebensbedrohlich erlebt. Es besteht eine leichte Ein- und Durchschlafstö-
rung. Die Symptomatik verschlechtert sich durch Schlafdefizite.
2. Generalisierte Angst. Charakteristisch sind ein ängstlich-besorgtes Grübeln und frei
flottierende Ängste beim Einschlafen sowie in nächtlichen Wachphasen. Die ständi-
ge Angst, Anspannung und Unruhe bewirkt eine unspezifische Schlafverschlechte-
rung mit Ein- und Durchschlafproblemen und einen Verlust an Tiefschlaf. Menschen
mit einer generalisierten Angststörung weisen gewöhnlich eine chronische Verspan-
nung auf, die das Einschlafen erschwert.
3. Posttraumatische Belastungsstörung. Es besteht ein wechselndes Muster von Alb-
traumerwachen mit schweren Ein- und Durchschlafstörungen und Rückzug in ver-
mehrten Tiefschlaf mit verminderter REM-Schlaf assoziierter Traumerinnerung
(REM = rapid eye movement, d.h. Augenbewegungen bei geschlossenen Lidern, wie
sie im Traumschlaf typisch sind).
54 Angststörungen
4. Pavor nocturnus. Nach 1½ bis 3 Stunden Schlaf, d.h. in der ersten Schlafhälfte,
erfolgt ein abruptes und schreckhaftes Erwachen aus dem Tiefschlaf, verbunden mit
einem plötzlichen Schrei und einige Minuten lang dauernder ängstlich-verwirrter Er-
regung, anschließend gelingt das Wiedereinschlafen problemlos, am Morgen kann
man sich an nichts mehr erinnern. Panikattacken unterscheiden sich davon durch ihr
Auftreten während des Übergangs vom leichten in den mitteltiefen Schlaf, die erhal-
tene Orientierung, die funktionierende Intelligenz nach dem Erwachen und deutlich
größere Schwierigkeiten, wieder einschlafen zu können.
5. Albtraumerwachen. Man erwacht meist in der zweiten Nachthälfte aus einem REM-
Schlaf (Traumschlaf). Der meist relativ lange, Angst und Furcht auslösende Traum
wirkt gefühlsmäßig und körperlich in den folgenden Wachzustand hinein. Die vege-
tativen Begleitsymptome der Angst flauen meistens nach einigen Minuten ab. Die
Angst vor dem Wiederauftreten der Albträume verursacht häufig eine Wiederein-
schlafstörung. Albträume hängen oft mit unverarbeiteten psychischen Problemen zu-
sammen, nicht selten auch mit anderen Faktoren, z.B. Absetzen von Medikamenten,
die den Traumschlaf unterdrücken, wie dies bei Tranquilizerschlafmitteln oder tri-
zyklischen Antidepressiva der Fall ist, sodass in Gegenreaktion darauf Albträume
auftreten. Es kann sich aber auch um den Ausdruck einer Entzugssymptomatik bei
Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit handeln, wo oft lang dauernde Schlafstö-
rungen gegeben sind.
6. Schlaflosigkeit (Insomnie). Es besteht eine Ein- und Durchschlafstörung mit nächtli-
chem Erwachen im Zustand der Anspannung und Unruhe, begleitet von Herzrasen
und Schwitzen. Es besteht keine Traumerinnerung, auch nicht bei REM-Schlaf-
Erwachen. Hellwachgefühl, geistige Überaktivität, Ärger, ängstliche Selbstbeobach-
tung und angstvolles Gedankenkreisen um Alltagsprobleme während des Wachlie-
gens charakterisieren den Zustand der Schlaflosigkeit. Es besteht eine Angst vor der
kommenden Nacht und ein erhöhtes abendliches Aktivierungsniveau. Selbst einfa-
che Belastungen (z.B. bestimmte Filme) verschlechtern den Schlaf, wenn sie Unsi-
cherheit und Ängste auslösen. Schlaflosigkeit wird oft durch psychosoziale Stress-
faktoren bewirkt.
7. Depression. Depressive Patienten haben oft große Ein- und Durchschlafstörungen,
die von Angstsymptomen begleitet sind. Nächtliche Wachperioden sind durch ängst-
liche Anspannung, Grübeln und vegetative Begleitsymptome charakterisiert. In der
Praxis zeigt sich oft die Symptomtrias von Depression, Angst und Schlafstörung, die
die Erstellung der Hauptdiagnose erschwert, noch dazu, wenn eine ängstlich-
depressive Mischsymptomatik besteht. Es ist seit langem durch EEG-Studien be-
kannt, dass depressive Patienten eine gestörte Schlafarchitektur aufweisen (z.B. re-
duzierte Tiefschlafphasen). Nächtliches Aufwachen erfolgt typischerweise in der
zweiten Nachthälfte. Die Nebenwirkungen bestimmter Antidepressiva, und zwar der
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), können die Schlafstörung verstärken.
8. Rebound-Störung (Angst als Medikamentenabsetzphänomen). Nächtliche Angst-
gefühle, Ein- und Durchschlafstörung, Unruhe und Nervosität treten nach schnellem
Absetzen von abhängig machenden Beruhigungs- und Schlafmitteln auf. Erneute
Einnahme beseitigt die Symptomatik, ein allmähliches Ausschleichen des Medika-
ments verhindert derartige Zustände. Die Einnahme von nur kurz wirksamen Tran-
quilizerschlafmitteln mit geringer Halbwertszeit (z.B. Halcion®) kann ein Rebound-
Phänomen auch bei regelmäßiger abendlicher Einnahme bewirken und den Betrof-
fenen in den Morgenstunden verfrüht und mit Angst erwachen lassen.
Panikstörung 55
Panikattacken lassen sich durch das Stressmodell erklären [42]. In Phasen eines allge-
mein hohen Anspannungsniveaus kann schon eine alltägliche Stresssituation (z.B. eine
kleine Verletzung) zum Auslöser für eine Panikattacke werden. Panikattacken sind zu
verstehen als besonders dramatisch ablaufende Alarmreaktionen auf Stress oder eine
Häufung von Stressoren. Im Laufe der Zeit verselbstständigt sich dieses Angsterleben
aufgrund von kognitiven Prozessen als permanente Angst vor einer Panikattacke (Er-
wartungsangst), was die allgemeine Anspannung erhöht. Die Unfähigkeit, sich die sub-
jektiv bedrohlichen Symptome erklären zu können (obwohl die psychosozialen Bela-
stungen durchwegs als solche wahrgenommen werden), verstärkt die Ängste.
Bei über 90% der Betroffenen beginnt die Panikstörung mit einer heftigen Panikat-
tacke außerhalb der Wohnung oder an einem öffentlichen Ort bei einer bislang ganz
normalen Betätigung ohne besonderen Stress [43]. Der entsprechende Ort (z.B. Ge-
schäft, Lokal, Kino, Arbeitsstelle, Wartesaal, Bus) wird fluchtartig verlassen und zu-
künftig angstvoll gemieden. Insgesamt gesehen treten Panikattacken am häufigsten zu
Hause auf (45%) und seltener (31%) in typischen agoraphobischen Situationen.
Manchmal resultiert die erste Panikattacke aus einem kollapsähnlichen Zustand bei
geschwächter körperlicher Kondition und gleichzeitig gegebenem psychosozialen
Stress, dem eine massive Kreislaufankurbelung zur Verhinderung einer Ohnmacht folgt.
Nach der Münchner Verlaufsstudie [44] wurden bei ca. 80% der Betroffenen vor der
ersten Panikattacke schwerwiegende Lebensereignisse festgestellt, oft sogar mehr als
eine Belastung. Zumeist handelte es sich um Tod oder plötzliche, schwere Erkrankung
von nahen Angehörigen oder Freunden, Verlust durch Scheidung oder Trennung, Er-
krankung oder akute Gefährdung der Betroffenen, Schwangerschaft oder Geburt.
Nach einer englischen Untersuchung an 1000 Agoraphobikerinnen [45] entstand die
erste Panikattacke bei 32% nach einem schwerwiegenden Ereignis (Trennung vom
Partner, Arbeitsplatzverlust usw.), bei 27% nach dem Tod oder einer schweren Erkran-
kung eines Angehörigen oder Freundes, 6% der Patientinnen waren Zeugen des Un-
glücks anderer. Eine weitere englische Studie ergab, dass Panikpatienten im Jahr vor
ihrer ersten Panikattacke zweimal häufiger von widrigen und unglücklichen Lebensum-
ständen betroffen waren als gesunde Personen. Dazu zählten eigene Krankheit, Unfall
und/oder Operation, Trennung vom Partner und finanzielle Schwierigkeiten.
Panikstörung 57
Die NCS-R-Studie [50] fand 2001-2003 in der US-Bevölkerung Panikattacken ohne die
Diagnose einer Panikstörung bei 28,3% im Laufe des Lebens und bei 11,2% im Laufe
der letzten 12 Monate, eine Panikstörung mit und ohne Agoraphobie bei 4,7% im Laufe
des Lebens und bei 2,8% im Laufe der letzten 12 Monate. Lebenszeitbezogen bestand
bei 3,7% eine reine Panikstörung (NCS-Studie: 2,0%) und bei 1,1% eine Panikstörung
mit Agoraphobie. Die Mehrzahl der Menschen mit Panikattacken erfüllten nicht die
Kriterien für eine Panikstörung (mit Panikattacken ohne Auslöser), sondern hatten situa-
tionsspezifische Attacken in Verbindung mit anderen psychischen Störungen.
Frauen sind laut allen Studien 2- bis 3-mal häufiger von Panikattacken betroffen als
Männer. Eine Panikstörung kann auch bei Kindern und Jugendlichen auftreten. Mei-
stens zeigt sich ein Beginn kurz nach der Pubertät. Das Erscheinungsbild ist der Sym-
ptomatik im Erwachsenenalter sehr ähnlich. Vor dem 8. Lebensjahr scheinen typische
Panikattacken nicht aufzutreten, sondern sind oft als körperliche Zustände im Rahmen
massiver Verlustängste bei einer Trennungsangststörung (F93.0) zu werten.
Panikstörungen mit und ohne Agoraphobie haben im Vergleich zu Phobien und
generalisierten Angststörungen einen durchschnittlich späteren Beginn. Panikstörungen
treten meistens zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr erstmals auf, bei rund 20% bereits
früher, bei 40% erst später. Das erstmalige Auftreten von Panikattacken nach dem 40.
Lebensjahr kann ein Anzeichen einer zugrunde liegenden Depression sein.
Im Langzeitverlauf von Panikstörungen zeigt sich oft folgende sechsstufige Abfolge:
[51]: Attacken mit unvollständiger Symptomatik – Panikattacken – hypochondrische
Klagen – begrenztes phobisches Vermeidungsverhalten – generalisiertes phobisches
Vermeidungsverhalten – sekundäre Depression.
15-20% der Panikpatienten wiesen bereits vor der Panikstörung leichte agoraphobi-
sche Tendenzen auf. Eine Agoraphobie beginnt keineswegs immer mit der ersten Panik-
attacke. Das Auftreten einer Panikattacke ist keine notwendige Voraussetzung für eine
Agoraphobie. 30-50% der Panikpatienten entwickeln eine Agoraphobie. Eine Panikstö-
rung mit Agoraphobie stellt in der Regel eine schwerwiegendere Beeinträchtigung dar
als eine Panikstörung ohne Agoraphobie, denn sie beginnt früher, hält länger an und
weist mehr psychosoziale Behinderungen auf. Obwohl bei über 80% der Agoraphobiker
zu Beginn der Störung eine Panikattacke auftrat, sind insgesamt nur 31% der Panikat-
tacken in typisch agoraphobischen Situationen zu finden. Eine Untersuchung an 195
Panikpatienten mit und ohne Agoraphobie [52] ergab folgenden Befund:
„Weder die Häufigkeit der Panikattacken (in den letzten drei Wochen) noch die Intensität der Panik-
symptome waren signifikante Prädiktoren für den Schweregrad einer Agoraphobie. Entscheidend war
vielmehr, ob die Patienten in den sogenannten agoraphobischen Situationen einen Panikanfall mit
größerer Wahrscheinlichkeit erwarteten, ob sie sich durch die Panikattacken stärker beeinträchtigt
fühlten und ob sie sich als generell ängstlicher beschrieben. Die Entwicklung einer Agoraphobie hängt
also nicht primär von der Anzahl und Intensität der Panikattacken ab. Entscheidend ist neben der dispo-
sitionellen Ängstlichkeit vielmehr, wie diese Anfälle bewertet werden. Dies wird auch durch Untersu-
chungen bestätigt, welche die Häufigkeit und Intensität der Panikattacken nicht retrospektiv, sondern
anhand von Tagebuchaufzeichnungen kontinuierlich erhoben haben ... Die Dissoziation von Panikat-
tacken und Agoraphobie wird auch durch epidemiologische Studien gestützt, in denen eine relativ hohe
Prozentzahl von Patienten beobachtet wurde, die eine intensive agoraphobische Vermeidung aufwiesen,
ohne daß gleichzeitig eine Panikstörung vorlag. So beträgt die Einjahresprävalenz einer Agoraphobie
ohne Panikstörung je nach Studie zwischen 2.8 und 5.8% ... Dies widerspricht allerdings nicht der
häufig gemachten klinischen Beobachtung, daß fast 80% aller Agoraphobiker bereits früher eine oder
mehrere Panikattacken erlebt haben, welche dann möglicherweise die Entwicklung einer Agoraphobie
ausgelöst haben ... Die Aufrechterhaltung und der Schwergrad der agoraphobischen Vermeidung ist
dagegen weitgehend unabhängig von der Häufigkeit und Schwere der aktuellen Panikattacken.“
60 Angststörungen
Die Folgen von Panikattacken hängen nach einer deutschen Studie stark vom Alter der
Betroffenen zum Zeitpunkt des ersten Auftretens einer Panikattacke ab [53]:
z Panikattacken mit erstmaligem Auftreten vor dem 25. Lebensjahr führen oft zu einer
anderen Angststörung (vor allem zu einer Agoraphobie oder einer spezifischen Pho-
bie), seltener zu sekundärer Depression oder Substanzmissbrauch.
z Panikattacken mit erstmaligem Auftreten im höheren Alter führen oft und rasch
(innerhalb eines Jahres) zu sekundärer Depression, Substanzmissbrauch oder Mehr-
facherkrankung bzw. sind Ausdruck einer vorhandenen Mehrfacherkrankung.
Nach der Münchner Verlaufsstudie [54] ist der Verlauf der Panikstörung in der Durch-
schnittsbevölkerung meistens chronisch, wenn die Störung über ein Jahr bestanden hat
und keine adäquate Behandlung erfolgte. Nach 7 Jahren Beobachtungszeit war bei 51%
der Panikpatienten eine Verschlechterung und Chronifizierung eingetreten, 90% erfüll-
ten noch immer die diagnostischen Kriterien für eine Panikstörung. Nur 14,3% der
Panikpatienten und 19% der Agoraphobiker erreichten eine Spontanheilung. Bei unbe-
handeltem Paniksyndrom entwickelten 71,4% eine depressive Störung, 50% Alkohol-
missbrauch und 28,6% Medikamentenmissbrauch. Nur 14,2% der Panikpatienten hatten
im 7-jährigen Beobachtungszeitraum keine Komorbidität entwickelt.
Unbehandelte Patienten mit einer Panikstörung mit Agoraphobie haben nach Mei-
nung aller Fachleute einen chronischeren Verlauf ihrer Störung und eine langfristig
schlechtere Prognose als Patienten mit depressiven Störungen. Situationsgebundene
Panikattacken (z.B. bei einer Phobie) zeigen deutlich bessere Heilungschancen als spon-
tan auftretende Panikattacken.
Etwa 80% der Patienten mit Panikstörungen weisen gleichzeitig auch andere psychi-
sche Störungen auf, z.B. Agoraphobie, generalisierte Angststörung, Depression und
Dysphorie. Die Mischung von Panikstörung und Agoraphobie ist besonders häufig (bei
rund 50%). Nur 10-30% der Panikstörungen sind tatsächlich reine Panikstörungen.
Nach der Zusammenfassung des Forschungsstandes [55] ergeben sich folgende Zah-
len zum Langzeitverlauf von Panikpatienten aus Behandlungseinrichtungen: 6-10 Jahre
nach der Behandlung sind ungefähr 30% der Betroffenen symptomfrei, 40-50% gebes-
sert und 20-30% gleich schlecht oder verschlechtert.
In Behandlungseinrichtungen finden sich bei Patienten mit Panikstörung oft weitere
Angststörungen in folgender Häufigkeit: generalisierte Angststörung bei 25%, soziale
Phobie bei 15-30%, spezifische Phobie bei 10-20%, Zwangsstörung bei 8-10%. Eine
Depression kommt im Laufe des Lebens bei 50-65% der Panikpatienten vor. Bei fast
einem Drittel der Personen mit beiden Störungen geht die Depression der Panikstörung
voraus. Bei zwei Dritteln tritt die Depression gleichzeitig oder nach dem Beginn der
Panikstörung auf. Eine sekundäre Agoraphobie bei Patienten mit Panikstörung weist auf
einen höheren Schweregrad der Panikstörung hin, oft auch charakterisiert durch einen
früheren Beginn der Störung, eine schwerer ausgeprägte Symptomatik der Panikattak-
ken und eine längere Gesamterkrankungsdauer.
Die Komorbität mit einer generalisierten Angststörung, einer wiederholt auftreten-
den depressiven Symptomatik, einer schweren psychosozialen Beeinträchtigung oder
einer Persönlichkeitsstörung stellt einen prognostisch ungünstigen Verlauf dar.
Verschiedene Studien weisen auf eine familiäre Häufung der Panikstörung hin, wo-
bei aufgrund der Datenlage allein nicht entschieden werden kann, ob dies für genetische
Ursachen oder Lernfaktoren spricht. Bei rund der Hälfte der Angststörungen scheinen
Erbfaktoren eine Rolle zu spielen, die genauen Mechanismen sind noch unbekannt.
Panikstörung 61
Untersuchungen weisen darauf hin, dass eine Panikstörung gelernt werden kann in
einem familiären Milieu, wo derartige Störungen gehäuft auftreten. Studien, in denen
Kinder von Patienten mit Angststörungen untersucht wurden, belegen, dass diese Kin-
der ebenfalls Angststörungen aufweisen. Umgekehrt zeigen Studien, in denen – ausge-
hend von Kindern mit Angststörungen – auch die Eltern untersucht wurden, einen Zu-
sammenhang von kindlichen und elterlichen Angststörungen [56].
Wenn eine Panikstörung nicht bewältigbar erscheint, sind oft folgende Folgepro-
bleme anzutreffen, die hier im Überblick zusammengefasst werden sollen:
z Chronische Erwartungsängste („Angst vor der Angst“). Die Angst vor den Panik-
symptomen führt zu Erwartungsängsten vor einem neuerlichen Anfall, auch wenn
die Patienten aufgrund von körperlichen Untersuchungen wissen, dass sie organisch
gesund sind und keine schwere Erkrankung (Herzinfarkt, Schlaganfall, Gehirntumor,
Kreislaufzusammenbruch mit Ohnmacht) zu befürchten brauchen.
z Ständige medizinische Untersuchungen und Überbeanspruchung des medizinischen
Versorgungssystems. Panikpatienten nehmen besonders in der Frühphase der Er-
krankung verstärkt ärztliche Hilfe in Anspruch und lassen sich oft wiederholt bei
verschiedenen Fachärzten bzw. stationären Aufenthalten untersuchen. Die Betroffe-
nen wirken durch die Symptomatik bzw. durch ihr ängstliches Verhalten auf Ärzte
derart bedrängend, dass ständig aufwändigere und kostspieligere Untersuchungen
sowie unnötige Krankenhausaufenthalte erfolgen, die nur kurzfristig beruhigend
wirken. Die Ängste werden oft verstärkt durch grenzwertige Befunde („am Rande
der Norm“, „leicht abnorm“, „nicht sicher auszuschließen“, „Verlaufskontrolle emp-
fohlen“). Bei langem Suchen findet man häufig unbedeutende Unregelmäßigkeiten.
Eine gründliche Untersuchung zum Ausschluss organischer Ursachen ist jedoch vor
Therapiebeginn dringend anzuraten. Panikpatienten weisen im Vergleich zu anderen
Angstpatienten die höchste Inanspruchnahme stationärer oder ambulanter medizini-
scher Einrichtungen auf. Sie beanspruchen 3-mal so häufig unterschiedlichste soma-
tisch-medizinische Einrichtungen wie andere Personen.
z Vorübergehende oder dauernde Arbeitsunfähigkeit: Lange Krankenstandszeiten mit
großem individuellen Leid und hohen volkswirtschaftlichen Kosten. Die Unbere-
chenbarkeit bezüglich des Wiederauftretens der gefürchteten Panikattacken führt
mangels effizienter Behandlungsmethoden oft zu unnötig langen Krankenstandszei-
ten, weil sich die Betroffenen noch nicht genug vorbereitet fühlen, einen neuerlichen
Anfall zu bewältigen. Im Extremfall kann eine ständige Arbeitsfähigkeit eintreten.
z Depressive Erschöpfung und Resignation als verständliche Folge der nicht kontrol-
lierbar erscheinenden Panikattacken.
z Substanzmissbrauch; Missbrauch von Alkohol oder Benzodiazepintranquilizern, um
die Erwartungsängste besser ertragen zu können.
z Angst vor dem Alleinsein. Im Extremfall können die Betroffenen nicht mehr allein
sein, weil sie sich davor fürchten, den Symptomen hilflos ausgeliefert zu sein.
z Abhängigkeit von einer Vielzahl von Helfern. Angst reduzierend wirkt das Wissen
um die Nähe oder sofortige Erreichbarkeit von Helfern (Ärzte, Krankenhäuser, Psy-
chotherapeuten, Verwandte, Bekannte). Oft sind schon Gespräche beruhigend, ohne
dass neuerliche Untersuchungen nötig sind. Vorher selbstbewusste und lebenstüch-
tige Menschen verhalten sich plötzlich wie furchtsame kleine Kinder.
z Vermeidungsverhalten: Einschränkung der Bewegungsfreiheit im Sinne einer Ago-
raphobie. Menschen mit Panikstörung neigen im Laufe der Zeit dazu, verschiedene
Situationen zu meiden, die als Auslöser für Panikattacken geeignet erscheinen.
62 Angststörungen
Differenzialdiagnose
Eine Abgrenzung gegenüber einer organisch fundierten und einer substanzinduzierten
Angststörung ist unerlässlich und bedarf einer genauen Anamnese und Untersuchung.
Bei einer somatoformen Störung treten die körperlichen Symptome nicht anfallsartig
auf (früher kann jedoch durchaus einmal eine reine Panikstörung bestanden haben, was
im Längsschnittverlauf sogar häufig festzustellen ist).
Zwischen Panikattacken und anderen Angstformen bestehen keine qualitativen Un-
terschiede, wohl aber quantitative Besonderheiten. Charakteristisch für Panikattacken,
die zur Diagnose einer Panikstörung führen, sind:
z das stärkere Vorherrschen somatischer Symptome (dieselben vegetativen Symptome
sind bei anderen Angststörungen meistens nicht so ausgeprägt),
z der akute Zeitverlauf der Symptomatik (eine generalisierte Angststörung beginnt
dagegen meist langsam),
z die Unmittelbarkeit der befürchteten Gefahren bzw. Folgen des Angstanfalls (andere
Angststörungen werden wohl als sehr lästig und lebenseinengend, nicht jedoch als
lebensbedrohlich erlebt),
z die Unvorhersehbarkeit der Angstanfälle, d.h. es bestehen keine aktuellen Auslöser
(im Gegensatz zu den situationsbezogenen und daher vorhersehbaren Panikattacken
bei sozialer oder spezifischer Phobie),
z die zentrale Bedeutung interner Angst auslösender Reize (Phobien werden dagegen
durch spezifische äußere Auslöser bewirkt),
z kein außergewöhnliches, exzessives Trauma (wie bei der posttraumatischen Bela-
stungsstörung).
Panikstörung 63
Paniksymptome
Ängstliche Erwartung
Die Erwartungsangst wird oft zur Hauptursache für eine massive Beeinträchtigung des
allgemeinen Funktionsniveaus. Sie kann sich in zwei Formen äußern:
z Erwartungsangst hinsichtlich typischer oder atypischer Paniksymptome,
z ständige generelle Alarmbereitschaft, verbunden mit dem Gefühl der Unsicherheit,
der Unfähigkeit oder der Bedrohung der physischen bzw. psychischen Integrität.
In der klinischen Praxis hängen Panikstörung und Agoraphobie oft eng zusammen. Das
ständige Vermeidungsverhalten stellt einen Bewältigungsversuch von Panikattacken
und Erwartungsängsten dar. Hinter einer Klaustrophobie (Angst vor engen und ge-
schlossenen Räumen) steht oft die Überempfindlichkeit gegenüber potenziellen Ein-
schränkungen der Atmung, inklusive der Einschränkung der Luftwege durch Sitzgurte
im Auto, Kravatten, geschlossene oberste Hemdknöpfe, Schlucken von Tabletten.
Diese Gegebenheiten passen zur Theorie eines falschen Erstickungsalarms von
Klein, wonach Panikattacken durch Atemnot und Erstickungsgefühle (erhöhte CO2-
Sensitivität) ausgelöst würden. Bestimmte Angstzustände sind in diesem Sinne eher der
Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung zuzuordnen als einer spezifischen Phobie. Eine
Liftphobie kann etwa damit begründet werden, dass im Falle des Steckenbleibens des
Aufzugs und fehlender Hilfe die Luft im Aufzug knapp werden könnte. Diese Angst
besteht trotz des Wissens, dass man im Lift nicht ersticken kann. Ähnliche Befürchtun-
gen von Atemnot gelten auch für den Aufenthalt in anderen geschlossenen Räumen.
Einige Sozialphobien zählen ebenfalls zur Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung.
Eine soziale Vermeidungstendenz wird oft mit der Angst vor dem öffentlichen Auftre-
ten von Paniksymptomen begründet, was als Verlust des Sozialprestiges gefürchtet wird
(„Was werden sich die anderen denken, wenn sie sehen, welche Zustände ich plötzlich
bekomme?“, „Wie entkomme ich, damit niemand meine Symptome bemerkt?“).
Krankheitsängste und Hypochondrie hängen mit der Fehlinterpretation körperlicher
Symptome als lebensgefährlich zusammen, wie dies bei Panikattacken nur für den Zeit-
punkt eines Angstanfalls typisch ist: Herzrasen als Zeichen eines Herzinfarkts, Kopf-
schmerzen als Vorboten eines Hirnschlags oder Kopftumors, leichte Atemprobleme als
Vorzeichen eines Asthma- oder Erstickungsanfalls, Magenschmerzen als Zeichen von
Magenkrebs. Die Beschäftigung mit medizinischen Themen (Lesen entsprechender
Bücher oder Artikel, Gespräche oder Filme über Krankheiten) verstärkt oft krankheits-
bezogene Ängste. Hypochondrische Patienten haben in Verbindung mit ihren an sich
harmlosen Symptomen eine anhaltende Krankheitsüberzeugung entwickelt.
Panikstörung 65
Die Bewältigung dieses Problems wird jedoch nicht durch ständige Vermeidung,
sondern nur durch angemessene Konfrontation mit den Angst machenden Inhalten ge-
lingen. Die Fülle der medizinischen Informationen in diesem Buch ist für bestimmte
Angstpatienten nicht beruhigend, sondern aktiviert vielmehr verschiedene Ängste.
Das Vermeiden von Medikamenten kann ebenfalls Ausdruck einer panikartigen Pho-
bie sein. Verschiedene Panikpatienten reagieren auf jedes Medikament im wahrsten
Sinn des Wortes „allergisch“. Jede angeführte Nebenwirkung des Medikaments auf dem
Beipackzettel wird gefürchtet oder bereits am eigenen Leib erlebt, was die Compliance
(Verhalten entsprechend den ärztlichen Anordnungen) erschwert. Manchmal besteht
gegenüber psychotropen Medikamenten sogar die irrationale Angst der Persönlichkeits-
veränderung und des Verlusts der Selbstkontrolle.
Hinter der Angst vor dem Einschlafen und der damit verbundenen Verzögerung des
Schlafengehens verbirgt sich nicht selten die Angst vor einer Panikattacke oder sogar
die Angst vor dem Tod im Schlaf. In gleicher Weise wird oft eine Narkose gefürchtet.
Die Furcht vor bestimmten Wetterbedingungen (Gewitter, Stürme usw.) kann eben-
falls mit erlebten oder gefürchteten panikähnlichen Zuständen zusammenhängen.
Menschen mit Panikstörung und Agoraphobie verlassen sich aufgrund ihrer Unsicher-
heit und Angst gerne auf die Hilfe anderer, weshalb sie rasch davon abhängig werden.
Ärzte und Therapeuten stellen ebenfalls überschätzte Sicherheitsgarantien dar.
Psychotherapien können oft deswegen nicht beendet werden, weil die vertraute Si-
cherheit dadurch verloren gehen würde. Es besteht nicht selten die Gefahr von Endlos-
therapien, ähnlich wie bei übermäßig langer Medikamenteneinnahme, weil man auf
diese Weise eine gewisse Sicherheit von außen hat, die man sich innerlich noch nicht
zutraut (der Arzt und der Psychotherapeut als Placebo).
Abergläubische Verhaltensweisen (z.B. bestimmte Gegenstände als Talisman) wer-
den ebenfalls dann eingesetzt, wenn das Vertrauen in die eigenen Kräfte fehlt.
Die erhöhte Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Substanzen ist ein typisches Merk-
mal bei vielen Panikpatienten. Mehrere Tassen Kaffee, etwas mehr Alkohol als ge-
wöhnlich, eine geringe Menge bestimmter Medikamente (z.B. Antidepressiva) oder
verschiedene Drogen (z.B. Ecstasy) können Panikattacken auslösen. Angst- und Panik-
patienten erleben auch eher als depressive Patienten verschiedene Nebenwirkungen
bestimmter Antidepressiva, weil sie oft einen sehr sensiblen Körper haben.
Der Beginn einer Pharmakotherapie mit der Zieldosis ohne einschleichendes Vorge-
hen sowie ein relativ rasches Absetzen von Medikamenten wie Tranquilizern und Anti-
depressiva führt bei vielen Panikpatienten zu mehr Symptomen als bei anderen Men-
schen. Manche Menschen mit einer Panikstörung neigen auch dann zu Panikattacken,
wenn die üblichen Richtlinien zur Dosisreduktion von Tranquilizern angewandt werden,
sodass vielfach ein noch langsameres Absetzen angebracht erscheint.
Im Falle einer Alkoholentzugsbehandlung treten bei Panikpatienten ebenfalls eher
Panikattacken auf als bei anderen Personen.
66 Angststörungen
Erhöhte Stressempfindlichkeit
Unter Laborbedingungen reagieren Panikpatienten nicht stärker auf Stress als andere
Versuchspersonen, verschiedene Studien haben jedoch ergeben, dass Panikpatienten für
stressende Lebensereignisse besonders empfindlich sind. Ein geringer Alltagsstress
kann bei einem Schlafdefizit, Überarbeitung u.a. zu Panikattacken führen.
Die erhöhte Stressempfindlichkeit kommt auch in paradoxer Weise zum Ausdruck,
und zwar durch das Auftreten von Panikattacken in der Phase der Entspannung nach
einem stressreichen Ereignis (z.B. Herzrasen nach einer anstrengenden Autofahrt, Ver-
lassen eines überfüllten Kaufhauses, Ausrasten nach einer sportlichen Betätigung, Hin-
legen nach vollbrachter Arbeit).
Im klinischen Alltag fällt auf, dass viele Panikpatienten gegenüber Trennungs- und
Verlusterfahrungen empfindlicher reagieren als andere Menschen, unabhängig davon,
ob bestimmte traumatisierende Verlusterfahrungen in der Kindheit gegeben waren.
Trennungsängste als Ausdruck der Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung können
sich in der Kindheit als Schulphobie äußern oder als Unmöglichkeit, allein im Zimmer
zu schlafen, insbesondere wenn kein Licht aufgedreht ist, im Erwachsenenalter als Un-
fähigkeit, wegen einer Arbeit das schützende Haus zu verlassen oder allein zu verreisen
aus beruflichen oder privaten Gründen. Verschiedene Autoren meinen, kindliche Tren-
nungsängste würden den Panikattacken Erwachsener entsprechen.
Menschen mit erhöhter Sensibilität für Verluste reagieren oft bereits bei der Gefahr
von Verlusten mit panikähnlichen Symptomen (z.B. nach einem heftigen Ehestreit,
beim Gedanken an Trennung aus eigener Initiative oder bei der Befürchtung, der Part-
ner könnte die Beziehung beenden, beim Gedanken an den möglichen Tod bestimmter
Angehöriger).
Partner werden nach dem Prinzip absoluter Verlässlichkeit ausgesucht. Partnerschaf-
ten sind daher entsprechend eng, um jedes Gefühl von Alleinsein zu vermeiden. Jede
Bedrohung dieser symbiotischen Beziehung bewirkt panikartige Ängste.
Das Panik-Agoraphobie-Spektrum-Modell wird gegenwärtig mit Hilfe eines speziel-
len Fragebogens empirisch zu überprüfen versucht. Es wurde bereits deutlich, dass die
Komorbidität mit einer Depression das Ausmaß einer Panik-Agoraphobie-Spektrum-
Störung verschärft.
Die Berücksichtigung der Erkenntnisse zur Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung
ermöglicht eine effizientere Pharmako- und Psychotherapie. Für die akute psychiatri-
sche Behandlung dieser Patienten bedeutet dies, dass im stationären Setting zuerst eine
vorhandene Depression zu behandeln ist und in weiterer Folge eine entsprechende
Angstbehandlung mit Medikamenten und/oder Psychotherapie einzuleiten ist. Die An-
nahme, dass die SSRI beide Störungen beseitigen, unterschätzt die Erwartungsängste.
Das Modell der Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung kehrt das traditionelle Den-
ken der europäischen Psychiatrie um. Es wird zwar eine dem aktuellen Störungsbild
zugrunde liegende Basis angenommen, jedoch nicht im Sinne einer prämorbiden Per-
sönlichkeitsstörung, sondern als konzentrierte Erfahrung bestimmter Symptome in der
Kindheit oder Jugend, die die Persönlichkeit so geformt haben, wie sie bei Erwachsenen
mit einer Panik-Agoraphobie-Spektrum-Störung in jeder Arztpraxis feststellbar ist.
Generalisierte Angststörung 67
A. Übermäßige Angst und Sorge (furchtsame Erwartung) bezüglich mehrerer Ereignisse oder Tätig-
keiten (wie etwa Arbeit oder Schulleistungen), die während mindestens 6 Monaten an der Mehrzahl
der Tage auftraten.
C. Die Angst und Sorge sind mit mindestens drei der folgenden 6 Symptome verbunden (wobei zu-
mindest einige der Symptome in den vergangenen 6 Monaten an der Mehrzahl der Tage vorlagen)...
(1) Ruhelosigkeit oder ständiges „auf dem Sprung sein“,
(2) leichte Ermüdbarkeit,
(3) Konzentrationsschwierigkeiten oder Leere im Kopf,
(4) Reizbarkeit,
(5) Muskelspannung,
(6) Schlafstörungen (Ein- oder Durchschlafschwierigkeiten oder unruhiger, nicht erholsamer
Schlaf)...
D. Die Angst und Sorgen sind nicht auf Merkmale einer Achse-I-Störung beschränkt, z.B. die Angst
und Sorgen beziehen sich nicht darauf, eine Panikattacke zu haben (wie bei Panikstörung), sich in
der Öffentlichkeit zu blamieren (wie bei Sozialer Phobie), verunreinigt zu werden (wie bei
Zwangsstörung) … oder eine ernsthafte Krankheit zu haben (wie bei Hypochondrie) …
E. Die Angst, Sorge oder körperlichen Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden
oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
F. Das Störungsbild geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z.B. Droge, Medi-
kament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors … zurück…
Generalisierte Angststörung 69
1. Befürchtungen:
z Sorge über zukünftiges Unglück und entsprechende Vorahnungen: Angehörige
könnten demnächst erkranken oder verunglücken, unbegründete Geldsorgen,
übertriebene Sorgen um die Leistungsfähigkeit in der Schule oder im Beruf,
z Nervosität: ständige geistige Übererregbarkeit, erhöhte Aufmerksamkeit und Ge-
reiztheit angesichts der unkontrollierbaren Befürchtungen, Schreckhaftigkeit,
z Konzentrationsschwierigkeiten oder Vergesslichkeit.
2. Motorische Spannung:
z körperliche Unruhe,
z Spannungskopfschmerz,
z Zittern: sichtbarer Ausdruck der Muskelanspannung, unwillkürliches Zucken,
„wackelig auf den Beinen“ sein,
z Unfähigkeit, sich zu entspannen: ständige muskuläre Anspannung, verbunden
mit rascher Ermüdbarkeit und Erschöpfung.
3. Vegetative Übererregbarkeit:
z Schwindel oder Benommenheit,
z Atemnot, Erstickungsgefühle oder Atembeschleunigung,
z Herzrasen,
z Schwitzen,
z Hitzewallungen oder Frösteln,
z feucht-kalte Hände,
z Magen-Darm-Beschwerden: Übelkeit, Bauchschmerzen, Durchfall,
z häufiges Wasserlassen (Harndrang),
z Mundtrockenheit,
z Schluckbeschwerden oder Gefühl, einen „Kloß im Hals“ zu haben,
z Ein- oder Durchschlafstörungen.
70 Angststörungen
A. Ein Zeitraum von mindestens sechs Monaten mit vorherrschender Anspannung, Besorgnis und
Befürchtungen in Bezug auf alltägliche Ereignisse und Probleme.
B. Mindestens vier Symptome der unten angegebenen Liste, davon eins von den Symptomen 1. bis 4. ,
müssen vorliegen:
Vegetative Symptome:
1. Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz
2. Schweißausbrüche
3. fein- oder grobschlägiger Tremor
4. Mundtrockenheit (nicht infolge Medikation oder Exsikkose).
Psychische Symptome:
9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder
„nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)
11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“
12. Angst zu sterben.
Allgemeine Symptome:
13. Hitzewellen/-wallungen oder Kälteschauer
14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle.
C. Die Störung erfüllt nicht die Kriterien für eine Panikstörung (F41.0), eine phobische Störung (F40),
eine Zwangsstörung (F42) oder eine hypochondrische Störung (F45.2).
D. Ausschlussvorbehalt: Die Störung ist nicht zurückzuführen auf eine organische Krankheit wie eine
Hyperthyreose, eine organische psychische Störung (F0) oder auf eine durch psychotrope Substan-
zen bedingte Störung (F1), z.B. auf einen exzessiven Genuss von amphetaminähnlichen Substanzen
oder auf einen Benzodiazepinentzug.
Nach dem ICD-10 sind die Sorgen und Befürchtungen – im Gegensatz zum DSM-
IV – nicht unkontrollierbar und auch nicht übermäßig; laut ICD-10-Forschungskriterien
müssen mindestens 4 von 22 möglichen Begleitsymptomen vorhanden sein. Eine gene-
ralisierte Angststörung ist – wie nach DSM-III-R – ausgeschlossen, wenn gleichzeitig
eine depressive Episode, eine Panikstörung, eine phobische Störung, eine Zwangsstö-
rung oder eine hypochondrische Störung vorliegen. Als Restkategorie handelt es sich
bei der generalisierten Angststörung im ICD-10 um keine eigenständige Angststörung,
die DSM-IV-Kriterien betonen die Eigenständigkeit der Störung bei Komorbidität.
Das DSM-IV-Kriterium, dass die Sorgen „exzessiv“ (übermäßig) sein müssen, sollte
zukünftig – wie im ICD-10 – gestrichen werden, da laut Studien auch anhaltende nor-
male Sorgen im Laufe der Zeit zu erheblichen Beeinträchtigungen der Funktionsfähig-
keit führen. Im ICD sollte dagegen zukünftig das DSM-IV-Kriterium, dass die Sorgen
unkontrollierbar sein müssen, aufgenommen werden.
Neuere Studien weisen darauf hin, dass die geforderte Dauer der generalisierten
Angststörung von mindestens einem halben Jahr die Zahl der Betroffenen unterschätzt,
da auch zahlreiche Personen mit geringerer Dauer der Störung unter erheblichen Funk-
tionseinschränkungen und Einbußen der Lebensqualität leiden. Die 6 möglichen Sym-
ptome des DSM-IV erweisen sich laut Studien viel besser geeignet als die 22 möglichen
Symptome der ICD-10-Forschungskriterien, eine generalisierte Angststörung zu dia-
gnostizieren. Bei Berücksichtigung der vegetativen Symptome, wie dies im ICD-10 der
Fall ist, gelingt nur schwer eine Abgrenzung gegenüber der Panikstörung.
Bei weniger restriktiven DSM-IV-Kriterien (Dauer der Störung nur mindestens
einen Monat, Verzicht auf das Kriterium der Übermäßigkeit/Exzessivität der Ängste
und nur mindestens zwei Symptome) würde die Häufigkeit der generalisierten Angst-
störung in der Bevölkerung (auf der Basis der amerikanischen NCS-R-Daten) um mehr
als das Doppelte ansteigen. Die Daten bezüglich Komorbidität wären dagegen geringer.
Die Betroffenen begeben sich meist nicht wegen der Symptome der generalisierten
Angststörung, an die sie sich oft schon gewöhnt haben, in ärztliche Behandlung, son-
dern wegen der Begleit- und Folgestörungen, z.B. depressive Episode, Muskelverspan-
nung, anhaltende somatoforme Schmerzstörung oder Substanzmissbrauch, d.h. meistens
erst im Falle einer Komorbidität. Bei der Diagnostik der generalisierten Angststörung in
der klinischen Praxis tritt nicht selten eine Komplikation dadurch auf, dass die Betroffe-
nen oft beklagen, die Kontrolle über ihre ständigen Ängste zu verlieren („Meine Gedan-
ken laufen dahin, ich bekomme sie nicht mehr unter Kontrolle“), verrückt zu werden
(„Bald schnappe ich über“) oder nicht mehr gesund zu werden („Mir kann kein Arzt
mehr helfen“), ohne dass gleichzeitig eine Panikstörung, eine Depression oder eine
Schizophrenie gegeben ist. Dennoch wird vom konsultierten Arzt nicht selten die Ver-
dachtsdiagnose „schwere Depression“ oder gar „beginnende Schizophrenie“ gestellt –
oder die Betroffenen werden als hypochondrisch bzw. hysterisch abqualifiziert.
Unnötig häufig werden schwere Psychopharmaka verordnet, vor allem auch Neuro-
leptika, obwohl keine Anzeichen für eine beginnende Schizophrenie gegeben sind. Da
die Betroffenen oft sehr empfindlich sind gegenüber Psychopharmaka, treten durch die
verabreichten Neuroleptika und Antidepressiva (anfangs nicht selten in zu hoher Dosis)
zusätzliche Symptome auf, die von Menschen mit einer generalisierten Angststörung als
weiterer Beweis ihrer Unheilbarkeit gewertet werden. Wegen der eskalierenden Sym-
ptomatik erfolgt dann öfter eine (bei richtiger Diagnose und Behandlung meistens nicht
erforderliche) Einweisung in die Psychiatrie, was die Betroffenen in ihren Ängsten
massiv verstärken kann, vor allem auch durch die dort gemachten Erfahrungen.
72 Angststörungen
Frau Huber, 37 Jahre alt, verheiratet mit einem Außendienstmitarbeiter, Mutter von zwei Vorschulkin-
dern und seit einem Jahr halbtags berufstätig, macht sich ständig wechselnde Sorgen: ob sie Haushalt,
Kinderbetreuung und Beruf auf Dauer ohne Überforderung bewältigen könne; ob dem Gatten bei seinen
täglichen, beruflich veranlassten Reisen nicht doch einmal etwas passieren könnte oder ihm seine
ungesunde und unregelmäßige Ernährung nicht einmal schaden könnte; ob die Kinder während ihrer
Arbeitszeit von ihrer Mutter wirklich ausreichend betreut werden; ob sie nicht im Falle einer Grippe der
Kinder durch einen nötigen Pflegeurlaub von der Kündigung bedroht sein könnte; ob sie bei ihren
Schlafstörungen nicht einmal aus Konzentrationsmangel einen gröberen Fehler in der Arbeit machen
könnte; ob sie nicht wegen des starken Verkehrs öfter verspätet in die Arbeit kommen könnte und dann
mit Kritik vonseiten ihres Chefs rechnen müsste; ob tatsächlich genug Geld vorhanden ist, um nach den
Vorstellungen des Gatten einen Hausbau zu wagen; ob sie sich daneben wirklich auch noch ein Auto
für die Fahrt zur Arbeit, eine bessere Waschmaschine und einen neuen Ofen leisten könne; ob ihr ge-
liebter herzkranker Vater nicht bald sterben könnte, weil er zuletzt öfter im Krankenhaus war.
Generalisierte Angststörung 73
Die Betroffenen erreichen trotz chronischer Anspannung („auf dem Sprung sein“) meist
nicht eine körperliche Aktivierung im Ausmaß einer Panikattacke – und wenn dies doch
einmal der Fall ist, weil eine ganz bestimmte Sorge in lebendig-plastischen Bildern in
den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit tritt, besteht in der klinischen Praxis häufig die
Gefahr, angesichts der dramatischen Schilderung einer Panikattacke die bereits jahre-
lang vorhandene generalisierte Angststörung zu übersehen oder deren dauerhaft vor-
handene körperliche Symptomatik als Ausdruck einer Depression fehlzudiagnostizieren.
Die Sorgen als Gedankenketten bezüglich möglicher bedrohlicher Situationen und
die daraus resultierenden Körpersymptome schaukeln sich gewöhnlich erst dann zu
einer Panikattacke auf, wenn die kognitive Vermeidung nicht mehr gelingt, insbesonde-
re wenn eine sehr bildhafte Vergegenwärtigung der vermeintlichen Gefahr diese als
schon fast eingetreten erscheinen lässt. Die bildhafte Vergegenwärtigung eines gefürch-
teten Ereignisses wirkt derart lähmend, dass zielführendes Denken und konstruktives
Handeln nicht möglich sind. Panik, berichtet als „Panikattacke“, ist die Folge.
Im Gegensatz zu den Sorgen von Depressiven, die meist mit Ereignissen in der Ver-
gangenheit zu tun haben, sind die Sorgen von Patienten mit generalisierten Ängsten auf
die Zukunft gerichtet. Das Ergebnis ist jedoch in beiden Fällen dasselbe: Es kommt zu
keinem beruhigenden Abschluss des Denkprozesses. Depressive können Verlusterleb-
nisse oder Schuldgefühle bezüglich vermeintlicher Fehler nicht überwinden, Angstpati-
enten finden kein Vertrauen zu sich und zur Zukunft. Sie zeigen eine Intoleranz gegen-
über Unsicherheit und Unkontrollierbarkeit und suchen absolute Sicherheit.
Die sinnhafte Funktion von Sorgen (Unsicherheit zu reduzieren und sich auf ein
mögliches negatives Ereignis vorzubereiten), ist bei Menschen mit generalisierten Äng-
sten verloren gegangen. Unabhängig davon, wie berechtigt die Befürchtungen tatsäch-
lich sind, kommt es zu keinem zielführenden Abschluss der Überlegungen nach dem
Motto: „Wenn X eintritt, werde ich Y tun“, sodass von einem ständigen Grübeln ohne
mentale Vorentscheidungen gesprochen werden kann. Dies vermittelt und verstärkt das
Gefühl von Hilflosigkeit und Kontrollverlust über die Lebenssituation. Trotz des
Sorgens von über sechs Stunden pro Tag müssen – ähnlich wie bei Zwangspatienten –
Angehörige und Bekannte beruhigend wirken. Die Betroffenen müssen sich zu ihrer
Beruhigung ständig bei anderen Menschen rückversichern, dass nichts passieren wird.
Eine derart ängstliche Frau wird so von ihrem Gatten abhängig wie ein kleines Kind.
Man kann das ständige Sich-Sorgen als „Problemlöseprozess ohne Problemlösung“
verstehen. Die Betroffenen spielen gedanklich alle möglichen Katastrophen (Worst-
Case-Szenarien) durch, ohne jemals zu Lösungen zu gelangen, wie diese Katastrophen
vermieden werden könnten (z.B. „Wenn mein Mann nicht zum vereinbarten Zeitpunkt
zu Hause ist, ist ihm bestimmt etwas zugestoßen“). Die Besorgnis erregenden Überle-
gungen beziehen sich stets auf negative Aspekte, mögliches Versagen oder Unglück und
führen nicht zu hilfreichen und damit beruhigend wirkenden Lösungsstrategien. Das
Grübeln stellt nicht nur ein Problem dar, sondern auch einen Lösungsversuch. Sich zu
sorgen, scheint noch größeres Leid verhindern zu können („Ich muss mich ständig sor-
gen, sonst passiert noch etwas Schlimmes“). Wenn sich vorübergehend Erleichterung
einstellt, weil man sich lange genug mit einer Befürchtung beschäftigt hat und nun
gleichsam vor einer realen Gefahr bewahrt bleibt, wird das Grübeln letztlich verstärkt.
Unkontrollierbare Befürchtungen führen zu einem ausgeprägten Vermeidungsver-
halten, das die Lebensqualität erheblich beeinträchtigt, z.B. erfolgt aus Angst vor Risi-
ken ein Verzicht auf Kinder, sportliche Aktivitäten, weite Reisen, Kreditaufnahme für
einen Hausbau, leitende berufliche Position mit Verantwortungsübernahme u.a.
74 Angststörungen
Es gibt auch verschiedene Studien zur Häufigkeit von Patienten mit einer generali-
sierten Angststörung in den Allgemeinarztpraxen. Nach einer WHO-Studie ist die gene-
ralisierte Angststörung die häufigste Angststörung in Allgemeinarztpraxen von 15 Län-
dern (6-Monate-Prävalenz 7,9% nach dem ICD-10, 5,3% nach dem strengeren DSM-
IV). Die wenigsten Betroffenen nennen „Angstprobleme“ als Konsultationsgrund.
Unter Leitung des Experten Wittchen wurde die weltweit größte Studie zu generali-
sierten Angststörungen und Depressionen in den Ordinationen von 558 deutschen All-
gemeinärzten bei über 20000 Patienten erstellt (GAD-P-Studie: Generalisierte Angst
und Depression in der Primärärztlichen Versorgung). Alle Patienten, die am Stichtag
den Hausarzt aufsuchten, wurden mittels eines standardisierten Fragebogens zu ihren
aktuellen psychischen Beschwerden befragt. Unabhängig davon charakterisierten die
Hausärzte nach der Konsultation das Störungsbild, den Schweregrad, den Behandlungs-
bedarf sowie den psychischen und physischen Gesundheitszustand des Patienten.
27% der Hauarztpatienten, d.h. mehr als ein Viertel der Patienten, litten in den ver-
gangenen vier Wochen unter Angstbeschwerden, ängstlicher Anspannung und Besorg-
nis. Jeder fünfte dieser Patienten wies eine seit mehr als sechs Monaten andauernde
generalisierte Angststörung auf. Die generalisierte Angststörung mit einer Stichtagsprä-
valenz von 5,6% gehört damit zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in der All-
gemeinarztpraxis. Die generalisierte Angststörung wurde jedoch bei zwei Drittel der
Patienten von den Ärzten nicht erkannt. Noch weniger Patienten werden adäquat behan-
delt, was für die Betroffenen und das Gesundheitssystem schwerwiegende Folgen hat.
Nur ein Drittel der Patienten mit einer generalisierten Angststörung werden von
Hausarzt richtig diagnostiziert. Andererseits waren nur 16% der hausärztlich gestellten
Diagnosen einer generalisierten Angststörung richtig. Bei einem Drittel der Patienten
mit einer generalisierten Angststörung äußerte der Hausarzt nicht einmal einen Verdacht
auf irgendeine psychische Störung. Fast jeder zweite Betroffene wurde nicht richtig
behandelt, zumeist weil die Störung nicht erkannt wurde. Weniger als 20% der Betrof-
fenen erhalten eine spezifische medikamentöse Therapie. Von den 40% psychothera-
peutisch behandelten Patienten erhält nur ein Bruchteil davon eine effektive kognitive
Verhaltenstherapie. Mit zunehmender Erkrankungsdauer kommt es zu immer häufige-
ren deprimierenden erfolglosen Bewältigungsversuchen und untauglichen und chronifi-
zierenden Behandlungsversuchen der Ärzte, sodass im Laufe der Zeit häufig auch noch
eine Depression im Sinne einer Komorbidität auftritt. Die generalisierte Angststörung,
an der über 2,5 Millionen der deutschen Bevölkerung leiden, verursacht die höchsten
arbeitsbezogenen Einschränkungen (angstbedingte Fehlzeiten und Minderleistung).
Nach einer großen Studie in Allgemeinarztpraxen in Skandinavien (Dänemark,
Finnland, Norwegen und Schweden) im Jahr 2001 leiden 6,0% der Frauen und 4,8% der
Männer unter einer generalisierten Angststörung. Es ergab sich damit ein ähnlicher
Befund wie in Deutschland, in den skandinavischen Ländern zeigte sich jedoch eine fast
doppelt so hohe Komorbidität von generalisierter Angststörung und depressiver Störung
als in deutschen Allgemeinarztpraxen. Nur ein Drittel bis zur Hälfte der Betroffenen
wurde von den Hausärzten richtig diagnostiziert.
Laut Studien [63] weisen 90% der Patienten mit generalisierten Ängsten in Behand-
lungseinrichtungen mindestens eine weitere Störung auf, oft auch mehr als zwei, am
häufigsten eine Dysthymie bzw. depressive Störung, aber auch andere Angststörungen
(vor allem soziale Phobie, spezifische Phobie oder Panikstörung). Gehäuft findet man
(meist vermeidende oder dependente) Persönlichkeitsstörungen. Bei Bevölkerungsstu-
dien in den USA und Australien ergaben sich ähnliche Komorbiditäten um 90%.
76 Angststörungen
Eine generalisierte Angststörung beginnt meist in jüngerem Alter als eine Panikstö-
rung, und zwar zwischen 11. Lebensjahr und frühen 20er-Jahren (bei zwei Drittel). Ein
zweiter (geringerer) Altersgipfel liegt zwischen dem 30. und dem 35. Lebensjahr [64].
Die Werte bleiben stabil hoch mindestens bis zum 55. Lebensjahr. Unter älteren Perso-
nen (vor allem Frauen) ist die generalisierte Angststörung die häufigste Angststörung.
Die Störung beginnt im Gegensatz zur Panikstörung meist langsam, ohne ein auslösen-
des, einschneidendes Ereignis. Ihre Entwicklung wird begünstigt durch bestimmte le-
bensgeschichtliche Ereignisse und Erfahrungen (frühe Trennung von den Eltern, unsi-
chere Eltern-Kind-Bindung, negative Erlebnisse in der Schulzeit, alkoholkranker Vater,
bedrohliche Ereignisse wie Arbeitslosigkeit oder finanzielle Probleme, allgemein erhöh-
tes Stressniveau, körperliche und sexuelle Gewalt sowie andere Traumatisierungen).
Den Betroffenen ist lange Zeit nicht bewusst, dass ihre ständigen Sorgen und Be-
fürchtungen eine Krankheit darstellen. Viele Patienten kennen sich von klein auf als
Person, die ständig besorgt ist über alle möglichen Dinge des Lebens. Sie gehen daher
anfangs häufig nicht in psychotherapeutische Behandlung, sondern suchen wegen der
zunehmenden körperlichen Begleitsymptomatik (Schlafstörung, chronische Verspan-
nung, Nervosität, Magen-Darm-Probleme, Kopfschmerzen u.a.) den Hausarzt auf.
Neuere Studien belegen enge Zusammenhänge zwischen generalisierter Angststö-
rung und psychosomatischen Beschwerden, insbesondere Schmerzstörungen und Ma-
gen-Darm-Beschwerden. Ein gutes Drittel der Patienten leidet unter einem Reizdarm-
syndrom. Die generalisierte Angststörung kann einerseits über den Weg der chronischen
Muskelverspannung zu einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung führen, ande-
rerseits können chronische Schmerzen eine generalisierte Angststörung begünstigen.
Sobald körperliche Beschwerden hartnäckig andauern, nehmen die Betroffenen ver-
mehrt medizinische Dienste in Anspruch zur diagnostischen Abklärung und primär
organmedizinisch ausgerichteten Behandlung ihrer Beschwerden.
Die Störung verläuft ohne adäquate Behandlung oft chronisch, mit einer geringen
Spontanheilungsrate. Schwankungen der Befindlichkeit sind allerdings typisch. Bei
rund der Hälfte der Betroffenen gibt es durchaus symptomfreie Intervalle. Positiv-
lebensverändernde Ereignisse (z.B. Heirat) können den Verlauf einer generalisierten
Angststörung oft nicht beeinflussen. Mit der Fortdauer der Störung nehmen Anzahl und
Ausprägungsgrad der Symptome zu. In Belastungssituationen tritt häufig eine Ver-
schlechterung auf. Wenn die Störung länger als ein Jahr andauert, lassen sich oft auch
andere Störungen feststellen, insbesondere soziale Phobie, Dysthymie (lang andauernde,
leichte depressive Verstimmung), Medikamentenmissbrauch und Persönlichkeitsstörun-
gen, vor allem eine ängstlich-vermeidende oder zwanghafte Persönlichkeitsstörung.
Aufgrund des großen subjektiven Leidensdrucks und der möglichen Folgen ist die
generalisierte Angststörung als sehr beeinträchtigende Störung anzusehen. Die soziale
Beeinträchtigung ist oft größer als bei Patienten mit einer chronisch somatischen Er-
krankung. Die Betroffenen werden wegen der zahlreichen anhaltenden körperlichen
Symptome meist nur medikamentös behandelt, vor allem mit Medikamenten für Schlaf-
störungen und Nervosität. Die Grundkrankheit wird oft übersehen. Rund ein Drittel der
Personen mit einer generalisierten Angststörung war laut eigenen Angaben bereits lange
vor Beginn der Störung nervös und ängstlich.
In Hausarzt-Praxen stellen generalisierte Ängste die häufigste Angststörung dar,
obwohl die Betroffenen meist nicht deswegen zum Arzt gehen. Dies zeigt die Notwen-
digkeit der Früherkennung, um großes individuelles Leid und hohe volkswirtschaftliche
Kosten wegen der Begleit- und Folgekrankheiten rechtzeitig verhindern zu können.
Generalisierte Angststörung 77
Differenzialdiagnose
Die Ängste bei einer generalisierten Angststörung weisen vielfältigste Inhalte auf und
sind nicht auf bestimmte Themen begrenzt, wie dies bei anderen Angststörungen der
Fall ist: Angst vor einer Panikattacke (Panikstörung), Angst vor fehlender Fluchtmög-
lichkeit (Agoraphobie), Angst vor Kritik (Sozialphobie), Angst vor Verunreinigung
(Zwangsstörung), Angst vor dem Wiedererleben bestimmter traumatisierender Erfah-
rungen (posttraumatische Belastungsstörung), Angst vor einer ernsthaften Erkrankung
(Hypochondrie), Angst vor vielfältigen Körpersymptomen (Somatisierungsstörung).
Im Vergleich zu Panikpatienten, die plötzlich auftretende Symptome (Herzrasen,
Atemnot) als lebensgefährliche Bedrohung erleben, dominieren bei Menschen mit gene-
ralisierter Angststörung andere, jedoch länger anhaltende körperliche Beschwerden
(Übelkeit, Durchfall, Kopfschmerzen, Anspannung, Schlafstörungen) sowie Befürch-
tungen bezüglich anderer möglicher Bedrohungssituationen (Sorgen um die Zukunft
und die mögliche Gefährdung Angehöriger, Verlustängste, interpersonelle Probleme).
Im Vergleich zu Sozialphobikern, die sich vor sozialen Leistungssituationen fürch-
ten, sind die Ängste unabhängig von sozialen Situationen. Gegenüber spezifischen Pho-
bien imponiert das stärkere „Was wäre, wenn…?“, ohne Vermeidung externer Reize.
Im Vergleich zu Depressiven klagen die Betroffenen weniger über Interessenverlust,
Niedergeschlagenheit oder psychomotorische Verlangsamung und grübeln auch weni-
ger über Selbstmord oder Schuldthematiken; die Sorgen sind nicht einseitig auf die
Vergangenheit und das eigene Versagen gerichtet, sondern ängstlich-zukunftorientiert
nach dem Motto „Was wäre, wenn“. Bei Menschen mit einer Depression drehen sich
die Sorgen und Grübeleien typischerweise um Ereignisse aus der Vergangenheit, die mit
Fehlschlägen, vermeintlichen Schuldgefühlen oder Verlusterlebnissen zu tun haben.
Menschen mit einer generalisierten Angststörung sorgen sich zwar ständig über alles
Mögliche in der Zukunft, hoffen aber doch, dass das Bevorstehende gut ausgeht. De-
pressive Patienten sind dagegen überzeugt, dass es angesichts betrüblicher Ereignisse in
der Vergangenheit und Gegenwart keine positive Zukunft mehr geben kann. Der ängst-
liche Mensch will eine Katastrophe um jeden Preis vermeiden, für den depressiven
Menschen ist dagegen die Katastrophe bereits eingetreten.
Im Vergleich zu Menschen mit einer Hypochondrie sorgen sich Menschen mit einer
generalisierten Angststörung über eine Fülle möglicher Gefahren neben dem Risiko
einer körperlichen Erkrankung der eigenen Person oder eines Familienmitglieds.
Gegenüber Menschen mit einer Zwangsstörung lässt sich das ständige Sorgen von
Personen mit einer generalisierten Angststörung klar abgrenzen. Die Sorgen sind reali-
stischer, ich-näher und weniger aufdringlich als das Grübeln. Es bestehen keine Sorgen
um Verunreinigung und Ansteckung. Es fehlen auch die zwangstypischen Rituale.
Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung wird keine generalisierte Angststö-
rung diagnostiziert, wenn die Ängste nur im Verlauf derselben auftreten.
Ein vorübergehendes Auftreten anderer Symptome während jeweils weniger Tage,
vor allem eine Depression, schließt nach dem ICD-10 eine generalisierte Angststörung
als Hauptdiagnose nicht aus, die Betroffenen dürfen jedoch nicht die vollständigen
Kriterien für eine depressive Episode (F32), eine phobische Störung (F40), eine Panik-
störung (F41.0) oder eine Zwangsstörung (F42) erfüllen. Wenn dies der Fall ist, kann
jedoch nach dem DSM-IV eine Doppeldiagnose im Sinne einer Komorbidität gestellt
werden. Die Diagnose einer generalisierten Angststörung setzt den Ausschluss einer
körperlichen Erkrankung (z.B. der Schilddrüse) und einer Substanzeinwirkung voraus.
78 Angststörungen
Agoraphobie Angst vor dem Überqueren eines freien Platzes (ursprüngliche Bedeutung)
Aichmophobie Angst vor spitzen Gegenständen
Ailurophobie Angst vor Katzen
Aiktiophobie Angst vor scharfen, spitzen Instrumenten
Akrophobie Angst vor Höhen
Algophobie Angst vor Schmerz
Androphobie Angst vor Männern
Aquaphobie Angst vor Wasser
Arachnophobie Angst vor Spinnen
Astraphobie Angst vor Blitzen
Aviophobie Angst vor dem Fliegen
Bakteriophobie Angst vor Schmutz und Bakterien
Blaptophobie Angst vor Verletzung anderer mit einem Messer oder spitzen Gegenstand
Brontophobie Angst vor Donner
Dromosiderophobie Angst vor Eisenbahnen
Dysmorphophobie Angst vor körperlicher Entstellung
Emetophobie Angst vor Erbrechen
Entophobie Angst vor Insekten
Equinophobie Angst vor Pferden
Erythrophobie Angst vor Erröten
Gephyrophobie Angst vor Brücken
Gynophobie Angst vor Frauen
Gymnophobie Angst vor Nacktheit
Herpetophobie Angst vor Eidechsen, Reptilien, kriechenden, krabbelnden Tieren
Karzinophobie Angst vor Krebs
Keraunophobie Angst vor Gewittern
Klaustrophobie Angst vor engen Räumen
Kynophobie Angst vor Hunden
Melissophobie Angst vor Bienen
Mysophobie Angst vor Berührung, Schmutz, Bazillen, Ansteckung
Nosophobie Furcht vor Krankheit
Nyktophobie Angst vor der Nacht
Ökophobie Angst vor Umweltgiften
Ophidiophobie Angst vor Schlangen
Phobophobie Angst vor der Angst
Pyrophobie Angst vor Feuer
Skotophobie Angst vor Dunkelheit
Thanatophobie Angst vor dem Tod
Trypanphobie Angst vor Blut und/oder Injektionen
Xenophobie Angst vor Fremden
Zoophobie Angst vor Tieren
Spezifische Phobie 79
A. Ausgeprägte und anhaltende Angst, die übertrieben oder unbegründet ist und die durch das Vor-
handensein oder die Erwartung eines spezifischen Objekts oder einer spezifischen Situation ausge-
löst wird (z.B. Fliegen, Höhen, Tiere, eine Spritze bekommen, Blut sehen).
B. Die Konfrontation mit dem phobischen Reiz ruft fast immer eine unmittelbare Angstreaktion her-
vor, die das Erscheinungsbild einer situationsgebundenen oder einer situationsbegünstigten Panik-
attacke annehmen kann...
C. Die Person erkennt, daß die Angst übertrieben oder unbegründet ist...
D. Die phobischen Situationen werden gemieden bzw. nur unter starker Angst oder starkem Unbeha-
gen ertragen.
E. Das Vermeidungsverhalten, die ängstliche Erwartungshaltung oder das Unbehagen in den gefürch-
teten Situationen schränkt deutlich die normale Lebensführung der Person, ihre berufliche (oder
schulische) Leistung oder sozialen Aktivitäten oder Beziehungen ein, oder die Phobie verursacht
erhebliches Leiden für die Person.
80 Angststörungen
F. Bei Personen unter 18 Jahren hält die Phobie über mindestens sechs Monate an.
G. Die Angst, Panikattacken oder das phobische Vermeidungsverhalten, die mit dem spezifischen
Objekt oder der spezifischen Situation assoziiert sind, werden nicht besser durch eine andere psy-
chische Störung erklärt, wie z.B. Zwangsstörung (z.B. Angst vor Schmutz bei Personen, die die
Vorstellung haben, kontaminiert zu werden), Posttraumatische Belastungsstörung (z.B. Vermei-
dung von Reizen, die mit dem Trauma assoziiert sind) oder Störung mit Trennungsangst
(z.Β. Vermeidung von Schulbesuchen), Soziale Phobie (z.B. Vermeidung sozialer Situationen aus
Angst vor Peinlichkeiten), Panikstörung mit Agoraphobie oder Agoraphobie ohne Panikstörung in
der Vorgeschichte.
Das DSM-IV [67] kategorisiert die Vielfalt der spezifischen Phobien in fünf Typen,
wobei das Auftreten eines bestimmten Subtyps die Wahrscheinlichkeit für das Vorhan-
densein einer weiteren spezifischen Phobie desselben Subtyps erhöht. Zahlreiche Perso-
nen weisen mehrere Subtypen einer spezifischen Phobie auf, was entsprechend notiert
werden sollte.
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [68] ist eine spezifische (isolierte) Phobie
(F40.2) durch folgende Merkmale charakterisiert:
1. deutliche Furcht vor einem bestimmten Objekt oder einer bestimmten Situation, außer Ago-
raphobie (F40.0) oder sozialer Phobie (F40.1)
2. deutliche Vermeidung solcher Objekte und Situationen, außer Agoraphobie (F40.0) oder sozia-
ler Phobie (F40.1).
Häufige phobische Objekte und Situationen sind Tiere, Vögel, Insekten, Höhen, Donner, Flüge, kleine
geschlossene Räume, Anblick von Blut oder Verletzungen, Injektionen, Zahnarzt- und Krankenhausbe-
suche.
B. Angstsymptome in den gefürchteten Situationen zu irgendeiner Zeit seit Auftreten der Störung sind
wie in Kriterium B. von F40.0 (Agoraphobie) definiert.
C. Deutliche emotionale Belastung durch die Symptome oder das Vermeidungsverhalten; Einsicht,
dass diese übertrieben und unvernünftig sind.
D. Die Symptome sind auf die gefürchtete Situation oder auf Gedanken an diese beschränkt.
Wenn gewünscht, können die spezifischen Phobien wie folgt unterteilt werden:
Das ICD-10 übernimmt in den Forschungskriterien die fünf Subtypen spezifischer Pho-
bien des DSM-IV. Zwischen ICD-10- und DSM-IV-Kriterien herrscht weitgehende
Übereinstimmung: Es besteht eine Angst vor und/oder eine Vermeidung von bestimmten
klar erkennbaren, eng umschriebenen Reizen (Objekten oder Situationen). Dieses Ver-
halten wird von den Betroffenen als unangemessen, übertrieben und unvernünftig („irra-
tional“) erkannt, kann aber dennoch nicht kontrolliert werden. Wenn sich die betreffen-
den Reize nicht vermeiden lassen, können sie nur unter großer Furcht und Belastung
ertragen werden. Die Furcht oder Vermeidung führt – worauf das DSM-IV hinweist –
zu großem Leidensdruck und zu erheblichen Beeinträchtigungen des Lebens.
Bei einer phobischen Störung muss das phobische Objekt oder die phobische Situa-
tion außerhalb der betreffenden Person liegen, weshalb körperbezogene Ängste als
hypochondrische Störung gelten, außer sie beziehen sich auf eine spezielle Situation, in
der eine Krankheit erworben werden könnte. Die Furcht vor Situationen mit Erkran-
kungsgefahr ist nach dem ICD-10 eine spezifische Phobie (z.B. eine AIDS-Phobie, bei
der öffentliche Toiletten oder sexuelle Kontakte aus Angst vor Ansteckung vermieden
werden). Eine spezifische Phobie ist auch dann gegeben, wenn sich die Furcht vor
Krankheit auf den Anblick von Blut oder Verletzungen, auf ärztliche Handlungen (In-
jektionen und Operationen) oder auf medizinische Institutionen (Zahnarztpraxen, Kran-
kenhäuser) bezieht. Medizinische Institutionen sind angstbesetzt und werden gemieden.
Nach dem ICD-10 gelten Krankheitsängste im Sinne der Furcht vor bestimmten
Krankheiten ohne Krankheitsüberzeugung („Nosophobie“) als Variante einer hypo-
chondrischen Störung (z.B. die Furcht vor Krebs, Herzkrankheit oder Geschlechts-
krankheit ohne jede körperliche Symptomatik). Nach dem DSM-IV hängt die Unter-
scheidung zwischen einer spezifischen Phobie, anderer Typ, und einer Hypochondrie
vom Vorhandensein oder Fehlen einer Krankheitsüberzeugung ab. Menschen mit Hypo-
chondrie leben in der ständigen Angst, eine Krankheit zu haben, d.h. es besteht eine
Krankheitsüberzeugung, Personen mit einer spezifischen Phobie fürchten dagegen, eine
Krankheit zu bekommen, können aber glauben, dass sie diese aktuell noch nicht haben.
Verschiedene Befürchtungen sind oft keine spezifische Phobie, sondern Ausdruck
einer anderen Störung. Belastende Prüfungsängste gelten als soziale Phobie, ebenso
Errötungsängste (Erythrophobie), Ängste vor Händezittern, Ängste vor Urinieren und
Defäzieren auf der Toilette. Es handelt sich dabei um die Angst vor kritischer Beurtei-
lung durch andere Menschen. Ängste vor Schmutz, Verseuchung oder Ansteckung
stehen häufig mit Zwangsstörungen in Verbindung. Schulängste von Kindern hängen
häufig entweder mit einer Trennungsangststörung zusammen oder mit Ängsten vor
kritischer Beurteilung durch Lehrer oder Mitschüler im Sinne einer sozialen Phobie.
Zu den fünf Typen spezifischer Phobien sind folgende Informationen hilfreich:
z Der Tier-Typus (Furcht vor Hunden, Katzen, Pferden, Vögeln, Schlangen, Mäusen,
Schnecken, Insekten wie Spinnen, Käfern oder Bienen) beginnt bei über 80% der
Tierphobiker bereits im Kindesalter (vor dem 10. Lebensjahr), ohne dass die Mehr-
zahl der Betroffenen entsprechend negative Erfahrungen mit bestimmten Tieren ge-
macht hat. Viele Tierphobien entwickeln sich in der Kindheit aus der falschen Ein-
schätzung der Gefahr oder sind biologisch vorgeformt (Ängste vor sich am Boden
bewegenden Tieren wie z.B. Schlangen, die früher auch bei uns giftig und damit tat-
sächlich bedrohlich waren). Eine Spinnenphobie findet sich bei etwa 35% der Men-
schen. Insektenphobien beruhen häufig auf einem Ekel vor Insekten und weniger auf
Ängsten vor realer Bedrohung. Gefürchtet wird oft ein als unangenehm (aversiv) er-
lebter Hautkontakt mit bestimmten Tieren. Ekel ist schwerer überwindbar als Angst.
82 Angststörungen
z Der Umwelt-Typus nach dem DSM-IV bzw. der Naturgewalten-Typ nach den For-
schungskriterien des ICD-10 (Furcht vor Höhen, Tiefen, Stürmen, Unwetter, Don-
ner, Blitz, Unwetter, Wasser, Feuer, Dunkelheit usw.) beginnt ebenfalls meistens
schon in der Kindheit. Naturereignisse werden trotz technischer Schutzvorrichtun-
gen (z.B. Blitzableiter) nach wie vor von zahlreichen Menschen gefürchtet. Die
Furcht vor tiefem Wasser führt oft zu Ängsten vor dem Bootfahren wegen der ver-
meintlichen Gefahr des Ertrinkens. Die Furcht vor Höhen oder Tiefen drückt eine
Angst vor dem Absturz aus. Die Dunkelangst ist eine im Rahmen der Evolution ver-
ständliche Angst vor Bedrohung in der Finsternis (früher gab es noch keinen Strom).
z Der situative Typus besteht in der Furcht vor bestimmten Verkehrsmitteln (z.B.
Autos, öffentliche Verkehrsmittel, Seilbahnen, Flugzeugen), in der Furcht vor ande-
ren geschlossenen bzw. engen Räumen (Aufzug, Tunnel, Bergwerk, Unterführung,
fensterloser Raum) und in der Furcht vor Höhen (z.B. Angst vor dem Hinunter-
schauen oder Hinunterfallen an bestimmten Orten wie Brücken, Stegen, Treppen,
Hochhaus-Balkon). Diese Phobieform muss unbedingt vom Ausmaß einer Ago-
raphobie abgegrenzt werden, weil die Furchtreaktion auf spezifische, eng umschrie-
bene Situationen begrenzt ist. Bezüglich der Flugangst sind folgende Zahlen be-
kannt: 15% der Bevölkerung leiden unter einer akuten Flugangst (Aviophobie), wei-
tere 20% verspüren ein deutliches Unbehagen beim Fliegen. Flugangst-Patienten
fürchten oft weniger den Absturz als die agoraphobische Eingeengtheit (Kontrollver-
lust). „Klaustrophobien“ (Furcht vor Enge) treten lebenszeitlich bei 7-8% der Be-
völkerung auf. Höhenängste kreisen um die Befürchtung hinunterzufallen (z.B. von
Brücken, Berggipfeln oder hohen Gebäuden); sie werden durch fehlende Schwindel-
freiheit verstärkt. Dieser Subtyp geht oft mit situationsspezifischen, durch die jewei-
ligen Umstände ausgelösten Panikattacken einher, die das Ausmaß der Phobie an-
zeigen und noch keine Diagnose der Panikstörung begründen (dazu gehören defini-
tionsgemäß spontane, nicht durch bestimmte Situationen ausgelöste Panikattacken).
Oft treten nicht nur körperliche Angstsymptome, sondern auch kognitive Symptome
auf (vor allem die Angst verrückt zu werden oder die Kontrolle zu verlieren und
dann eine selbstgefährdende Handlung zu setzen wie etwa von einer Höhe hinunter
zu springen, obwohl keine Selbstmordabsicht besteht).
z Anderer Typus. Es besteht eine phobische Vermeidung von Situationen, die zum
Ersticken, Erbrechen, Verschlucken, Umfallen, zu einer Krankheit oder sonstigen
körperlichen Bedrohung führen könnten. Zu diesem Subtyp gehört auch eine Ver-
meidung lauter Geräusche. Die Furcht vor Lärm und Geräuschen – vor allem bei
Kindern – wird durch überraschende und unidentifizierbare Reize ausgelöst. Bei
Kindern zählt dazu auch die Angst vor verkleideten Personen. Aus Angst vor dem
Verschlucken bzw. Ersticken nehmen viele Betroffene nur „sichere“ (leicht verdau-
liche bzw. breiig-flüssige) Nahrung zu sich, z.B. Joghurt, Pudding, verschiedene Ar-
ten von Brei oder Eiscreme). Die Erfahrung zeigt, dass dies oft mit einem subjektiv
sehr bedrohlichen Globusgefühl zusammenhängt, das als Zuschnüren der Kehle er-
lebt wird. Die Symptomatik wird verstärkt durch eine große Mundtrockenheit, wes-
halb viele Betroffene zur Befeuchtung der Kehle häufig etwas trinken oder lutschen.
Menschen mit spezifischen Phobien richten sehr viel Aufmerksamkeit auf die rechtzei-
tige Erkennung von potenziellen Gefahren. Sie entwickeln eine Überaufmerksamkeit
(„Überfokussierung“, selektive Aufmerksamkeit) auf die als gefährlich angesehenen
Reize, um rechtzeitig Angst vermeidende Maßnahmen treffen zu können. Die Überauf-
merksamkeit führt zu einer unnötig hohen vegetativen Erregung, kleinste Auffälligkei-
ten bewirken bereits eine Alarmreaktion. Eine heftige Angstreaktion erfolgt bereits bei
der Vorstellung oder Erwartung bestimmter Reize und nicht erst bei deren Anblick.
Differenzialdiagnostisch lassen sich spezifische Phobien von anderen Angststörun-
gen abgrenzen durch den eindeutigen Situations- und Objektbezug. In Abwesenheit
dieser Reize bestehen keine phobischen Ängste (außer spezifische Erwartungsängste),
keine Panikattacken und keine allgemein erhöhte Ängstlichkeit. Mediale Informationen
(z.B. Flugzeugabsturz) können spezifische Phobien auslösen bzw. verstärken.
84 Angststörungen
„wegen seiner Schüchternheit, wegen seines Argwohns und seiner Furchtsamkeit kaum zu sehen be-
kam; der die Dunkelheit wie sein Leben liebte und weder Helligkeit ertragen noch an beleuchteten
Plätzen sitzen konnte, der – den Hut über die Augen gezogen – weder andere sehen noch von ihnen
angeschaut werden wollte. Er mied jeden Kontakt aus Angst, schlecht behandelt zu werden, sich zu
blamieren oder in seinen Gebärden oder durch sein Reden aus dem Rahmen zu fallen, oder sich überge-
ben zu müssen. Er glaubte sich von jedermann beobachtet...“
Das Phänomen der sozialen Phobie wurde bereits 1903 vom französischen Psychiater
Pierre Janet beschrieben. Die soziale Phobie in ihrer modernen Form wurde 1966 von
den englischen Psychiatern und Verhaltenstherapeuten Isaac Marks und Michael Gelder
definiert, später weiter ausgearbeitet, 1980 in das amerikanische psychiatrische Diagno-
seschema DSM-III aufgenommen und 1991 auch im internationalen Diagnoseschema
ICD-10 verankert. Zunehmend wird der Begriff „soziale Phobie“ durch den Terminus
„soziale Angststörung“ ersetzt, der das Ausmaß der Störung besser widerspiegelt [72].
Das DSM-IV [73] erstellt folgende diagnostische Kriterien für eine soziale Phobie:
A. Eine ausgeprägte und anhaltende Angst vor einer oder mehreren sozialen oder Leistungssituatio-
nen, in denen die Person mit unbekannten Personen konfrontiert ist oder von anderen Personen be-
urteilt werden könnte. Der Betroffene befürchtet, ein Verhalten (oder ein Angstsymptom) zu zei-
gen, das demütigend oder peinlich sein könnte...
B. Die Konfrontation mit der gefürchteten sozialen Situation ruft fast immer eine unmittelbare Angst-
reaktion hervor, die das Erscheinungsbild einer situationsgebundenen oder einer situations-
begünstigten Panikattacke annehmen kann...
C. Die Person erkennt, daß die Angst übertrieben oder unbegründet ist....
D. Die gefürchteten sozialen oder Leistungssituationen werden vermieden oder nur unter intensiver
Angst oder Unwohlsein ertragen.
E. Das Vermeidungsverhalten, die ängstliche Erwartungshaltung oder das starke Unbehagen in den
gefürchteten sozialen oder Leistungssituationen beeinträchtigen deutlich die normale Lebensfüh-
rung der Person, ihre berufliche (oder schulische) Leistung oder soziale Aktivitäten oder Beziehun-
gen, oder die Phobie verursacht erhebliches Leiden.
F. Bei Personen unter 18 Jahren hält die Phobie über mindestens 6 Monate an...
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [74] ist eine soziale Phobie (F40.1) durch
folgende Merkmale charakterisiert:
1. deutliche Furcht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedri-
gend zu verhalten
2. deutliche Vermeidung im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder vor Situationen, in de-
nen die Angst besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten.
Diese Ängste treten in sozialen Situationen auf, wie Essen oder Sprechen in der Öffentlichkeit, Begeg-
nung von Bekannten in der Öffentlichkeit, Hinzukommen oder Teilnahme an kleinen Gruppen, wie z.B.
bei Parties, Konferenzen oder in Klassenräumen.
B. Mindestens zwei Angstsymptome in den gefürchteten Situationen mindestens einmal seit Auftreten
der Störung, wie in F40.0, Kriterium B., definiert, sowie zusätzlich mindestens eins der folgenden
Symptome:
C. Deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten. Ein-
sicht, dass die Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben und unvernünftig sind.
D. Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen
oder auf Gedanken an diese.
E. Ausschlussvorbehalt: Die Symptome der Kriterien A. und B. sind nicht bedingt durch Wahn, Hal-
luzinationen oder andere Symptome der Störungsgruppen organische psychische Störungen (F0),
Schizophrenie und verwandte Störungen (F2), affektive Störungen (F3) oder eine Zwangsstörung
(F42) oder sind nicht Folge von kulturell akzeptierten Anschauungen.
Soziale Phobie 87
Menschen mit einer Sozialphobie haben Angst zu versagen, sich lächerlich zu machen
oder durch ungeschicktes Verhalten unangenehm aufzufallen. Sie befürchten, in sozia-
len Situationen verspottet oder feindselig behandelt zu werden, dumm auszusehen, die
Kontrolle zu verlieren, Panik zu bekommen und nicht mehr zu wissen, was sie sagen
sollen. Das Gefühl von Peinlichkeit oder Blamage geht mit heftigen Emotionen wie
Scham, Verlegenheit oder Unsicherheit einher. Starke Schamgefühle spiegeln die
krankhafte Selbstabwertung vor anderen Menschen wider. Soziale Situationen lösen fast
unvermeidlich eine sofortige Angstreaktion aus, die mit körperlichen Symptomen ver-
bunden ist, wie etwa Verkrampfung, Händezittern, feuchte Hände, Schwitzen am gan-
zen Körper, Erröten, Herzrasen, Atemnot, Kloßgefühl im Hals, Übelkeit, Schwindel,
Harn- und Stuhldrang, Kopf- oder Magenschmerzen, Stottern bzw. Sprechhemmung.
Sichtbare Symptome (Schwitzen, Zittern, Erröten, Weinen, Stimmveränderungen,
Flucht auf die Toilette) verstärken die Angst vor sozialer Auffälligkeit. Sozialphobiker
haben ständige Erwartungsängste in Bezug auf soziale Situationen und sind durch die
sozialen Folgeprobleme ihres Vermeidungsverhaltens bald erheblich beeinträchtigt.
Die körperlichen Symptome erreichen meist nicht das Ausmaß einer Panikattacke,
es können aber auch situationsgebundene oder situationsbegünstigte Panikattacken
auftreten, die das Ausmaß der sozialen Phobie anzeigen. Viele Sozialphobiker glauben
irrtümlich, sie hätten eine Panikstörung; diese erfordert jedoch auch unerwartete, situa-
tionsunabhängige Panikattacken. Eine soziale Phobie mit Panikstörung kommt etwa
gleich häufig vor wie eine Agoraphobie mit Panikstörung.
Laut DSM-IV äußert sich eine soziale Phobie bei Kindern auch in Form von Schrei-
en, Wutanfällen, Gelähmtsein oder Zurückweichen von sozialen Situationen mit unver-
trauten Personen; zudem kann die Einsicht fehlen, dass die Ängste übertrieben und
unvernünftig sind. Zur Abgrenzung gegenüber vorübergehenden, entwicklungsbeding-
ten Rückzugstendenzen fordert das DSM-IV bei unter 18-Jähigen eine Mindestdauer
von sechs Monaten. Bei Erwachsenen wird keine Mindestdauer festgelegt. Eine verläss-
liche Diagnose ist bei Kindern erst ab dem 8. Lebensjahr möglich. Die Fähigkeit zum
Aufbau altersgemäßer Sozialkontakte mit vertrauten Personen wird vorausgesetzt.
Die Sozialphobie ist trotz der belastenden körperlichen Symptome laut DSM-IV und
ICD-10 im Wesentlichen eine kognitive Störung: Sie beruht auf der Fehleinschätzung
des eigenen sozialen und Leistungsverhaltens (z.B. „Ich bin unfähig, langweilig und
uninteressant“) und auf der Erwartung von negativen Bewertungen des eigenen Verhal-
tens durch andere („Die anderen werden mich kritisieren und bestimmt ablehnen“).
Das ICD-10 fordert – im Gegensatz zum DSM-IV – das Vorhandensein von körper-
lichen Angstsymptomen, was eine unnötige Einschränkung darstellt. Laut Forschungs-
befunden können Angstsymptome auch fehlen, sodass die Kriterien des DSM-IV in der
klinischen Praxis vorzuziehen sind. Körperliche Symptome werden oft durch ein ausge-
prägtes Vermeidungsverhalten oder durch ein ständiges Sicherheitsverhalten (Mitnahme
bzw. Einnahme bestimmter Medikamente u.a.) umgangen oder vermindert.
Generalisierte soziale Ängste, die sich auf viele soziale Situationen beziehen, wer-
den heute allgemein als „soziale Angststörung“ bezeichnet. Der Begriff „soziale Pho-
bie“ erfasst eher spezifische soziale Ängste (ängstliche Blockaden in Leistungssituatio-
nen) und ist bei eher generalisierten sozialen Ängsten unpassend, weil er das Ausmaß
der Beeinträchtigung stark unterschätzt. Bei einer spezifischen Sozialphobie kann man –
ähnlich wie bei einer spezifischen Phobie – durchaus öfter ausweichen, ohne zu große
Nachteile zu riskieren, während bei einer eher generalisierten sozialen Phobie die sozia-
le Kontaktfähigkeit an sich beeinträchtigt ist.
88 Angststörungen
Auf den vier Ebenen der Angst zeigen sich typische Merkmale:
1. Kognitionen. Es bestehen typische (automatische) Denkmuster: „Ich bin dumm,
hässlich, langweilig, uninteressant, nicht liebenswert“; „Ich werde zittern, schwit-
zen, rot werden und immer nervöser werden“; „Die anderen werden meine Sympto-
me bemerken und dann bin ich erledigt“; „Wenn ich zittere, werden sie mich für
nervenkrank halten“; „Wenn ich rot werde, werden sie mich für schüchtern oder
schwach halten.“ Ein negatives Selbstbild mit ständiger Kritikangst sowie Perfektio-
nismusstreben zur Überkompensation von Defiziten sind zentrale Charakteristika.
2. Emotionen. Es bestehen charakteristische Gefühlsreaktionen: Ablehnungsangst,
Erwartungsangst, Schamgefühle, Unsicherheit, Verlegenheit, Sorgen, Depressivität.
3. Körpersymptome. Sichtbare, an sich harmlose Körpersymptome werden aus Angst,
dadurch noch unangenehmer aufzufallen, besonders gefürchtet: Erröten, Zittern,
Schwitzen, Stottern, Stimmveränderungen. Weitere Körpersymptome werden aus
Angst, andere Menschen könnten daraus Rückschlüsse auf psychische Probleme
ziehen, ebenfalls als sozial stigmatisierend erlebt: situative Panikattacken mit Herz-
rasen und der daraus resultierenden Angst vor Auffälligkeit; Schwindel mit der
Angst umzufallen und durch aufzufallen; ständige Muskelanspannung („Nervosi-
tät“), Übelkeit mit der Angst zu erbrechen und sich dadurch zu blamieren; Harn-
oder Stuhldrang mit Erwartungsängsten, ständig auf die Toilette gehen zu müssen;
trockener Mund wegen der Angst, durch ständiges Trinken unangenehm aufzufallen;
Atemnot wegen der damit einhergehenden peinlichen Störung des Sprachflusses.
4. Verhaltensweisen. Die jeweiligen Denkmuster und Gefühle führen nicht nur zu
bestimmten körperlichen Symptomen, sondern vor allem auch zu bestimmten Ver-
haltensweisen, die die soziale Phobie aufrechterhalten und verschlimmern:
z Vermeidung oder Flucht („aktive Vermeidung“): Vermeidung sozialer Aktivitä-
ten; Lügen und Ausreden, warum man an bestimmten sozialen Ereignissen nicht
teilnehmen kann; Vermeidung öffentlicher Mahlzeiten aus Angst vor Übelkeit,
Erbrechen oder Händezittern; Vermeidung von Blickkontakt, um nicht als unsi-
cher beurteilt zu werden. Vermeidungsreaktionen bestätigen mangels gegenteili-
ger Erfahrungen die Angst, von anderen abgelehnt zu werden, und halten die So-
zialphobie aufrecht (nach dem Prinzip der „negativen Verstärkung“). Die Hem-
mung des spontanen Sozialverhaltens („passive Vermeidung“) durch Überkon-
trolle und Unterdrückungsversuche von körperlichen Symptomen, wenn Flucht
nicht möglich ist, erhöht die Wahrscheinlichkeit, als unnatürlich und unecht auf-
zufallen. Der Schreck kann bis zur totalen Verhaltensblockade („Freeze“) führen.
z Sicherheitsverhaltensweisen in den sozial bedrohlich erscheinenden Situationen
wie ständige Selbstbeobachtung (erhöhte Selbstaufmerksamkeit: „Wie wirke ich
auf andere?“), der Konsum von Alkohol oder die Einnahme von Medikamenten
(Beruhigungsmittel oder Beta-Blocker) mit dem Ziel, ruhiger zu wirken, oder
das rigide Ablesen eines bis ins kleinste Detail vorbereiteten Manuskripts aus
Angst zu stottern vermindern zwar kurzfristig tatsächlich oder vermeintlich die
befürchtete Blamage und die sozialen Ängste, verstärken diese jedoch langfristig
mangels alternativer Erfahrungen, sodass zukünftig erst recht wieder Vermei-
dungs- oder Sicherheitsverhaltensweisen eingesetzt werden. Die erhöhte Selbst-
aufmerksamkeit verhindert zudem ein lockeres und spontanes Verhalten.
z Sozial inadäquates Verhalten wird nur zu vermeiden und zu unterdrücken ver-
sucht, anstatt durch ein Versuch-und-Irrtum-Lernen adäquatere soziale Reakti-
onsmuster zu entwickeln und zu erproben.
Soziale Phobie 89
Soziale Phobien können klar abgegrenzt und umschrieben sein oder unbestimmt und in
fast allen sozialen Situationen außerhalb des Familienkreises auftreten. Die Diagnose
einer sozialen Phobie wird bestätigt, wenn eine Person Tätigkeiten alleine angstfrei
ausführen kann, die ihr in Gegenwart anderer Menschen aufgrund von Beobachtungs-
und Bewertungsängsten schwer fallen. Die Beobachtung durch andere wirkt irritierend,
die Furcht vor kritischer Beurteilung bewirkt eine Leistungshemmung.
Angst auslösend sind Leistungssituationen, wo das eigene Verhalten von anderen
beobachtet und bewertet werden kann (z.B. öffentliches Reden, Trinken, Essen, Schrei-
ben, Prüfungen, sportliche Betätigung) und Interaktionssituationen, wo das eigene Ver-
halten und die Reaktionen der anderen in wechselseitiger Beziehung stehen (z.B. soziale
Kontakte mit Bekannten, Fremden, Autoritätspersonen oder dem anderen Geschlecht).
Ganz normale, belanglose Unterhaltungen („Small-Talk“) werden vor allem dann zum
Problem, wenn kein strukturierter Ablauf vorhanden ist, wie dieser etwa in einer durch
bestimmte Rollen definierten Verkaufssituation gegeben ist. Außenstehende können das
kaum verstehen: Dieselben Leute, die als Verkäufer im Geschäft sehr kompetent und
überzeugend wirken, können später mit ihren Kunden kein lockeres Gespräch über
Belanglosigkeiten oder private Angelegenheiten führen und nur unter großer innerer
Überwindung und Belastung ein gemeinsames Essen in einem Restaurant einnehmen.
Typische Situationen, wo soziale Ängste auftreten, sind:
z sich in Gegenwart anderer äußern und die eigene Meinung vertreten,
z in der Öffentlichkeit eine Rede halten oder in einer Arbeitsgruppe referieren,
z bei einem bestimmten Anlass öffentlich in Erscheinung treten (z.B. bei Ehrungen),
z jemandem bei Meinungsverschiedenheiten widersprechen und Forderungen stellen,
z Beschwerden vorbringen oder Reklamationen in Geschäften vornehmen,
z Kontakte mit dem anderen Geschlecht (Ansprechen oder Flirt),
z Kontakte mit Autoritätspersonen, Prüfern oder sonstigen einflussreichen Personen,
z Kontakte und Gespräche mit fremden Menschen (z.B. anderen vorgestellt werden),
z Essen und Trinken mit anderen (das Glas oder die Tasse heben, ohne zu zittern),
z Teilnahme an Gruppen (Party, Feier, Veranstaltung, Geschäftsessen, Meeting),
z Betreten eines Raumes, in dem bereits andere Personen sitzen (z.B. Wartesaal),
z in einem Lokal in der Mitte sitzen oder sonst anderswo auffällig dasitzen,
z in der Öffentlichkeit telefonieren oder mit unbekannten Personen telefonieren,
z unter Beobachtung anderer schreiben oder eine Unterschrift leisten,
z in einer Leistungssituation von anderen beobachtet werden (z.B. bei der Arbeit),
z sportliche Betätigung, während andere zuschauen (z.B. Gymnastik, Schwimmen),
z mündliche Prüfungen, Teilnahme bei Tests und Wettbewerben,
z beim Rotwerden, Zittern oder Schwitzen sich beobachtet fühlen,
z in öffentlichen Verkehrsmitteln anderen gegenübersitzen und dabei auffallen,
z Besuch öffentlicher Toiletten (Paruresis bei Männern und Frauen),
z Bewerbungsgespräche vornehmen und Aufnahmsprüfungen durchstehen.
Angst vor Kritik und Ablehnung führt dazu, dass Menschen mit sozialen Ängsten sich
nicht durchsetzen und ihre berechtigten Wünsche und Bedürfnisse nicht ausreichend
vertreten können. Sie haben Schwierigkeiten, Nein zu sagen und sich gegenüber den
Forderungen anderer abzugrenzen, weil sie Angst haben, nicht mehr geliebt zu werden.
Sie verzichten lieber auf ihre Ansprüche, als potenzielle Ablehnung zu riskieren.
Ihre Furcht vor Kritik hängt häufig mit einem geringen Selbstwertgefühl zusammen.
Menschen mit Sozialphobie sind häufig selbst ihre schärfsten Kritiker und fürchten,
dass andere Menschen ihre eingebildeten oder tatsächlichen Schwächen erkennen könn-
ten. Sie können sich selbst mit ihrer Eigenart nicht annehmen und fürchten daher die
soziale Ablehnung als Bestätigung ihrer Insuffizienz.
Soziale Angst, die aus Selbstunsicherheit entsteht, kann so weit gehen, dass die Be-
troffenen glauben, andere Menschen würden ständig über sie sprechen oder sie in be-
sonderer Weise anschauen (so genannte Beziehungsideen). Eine Person mit einem aus-
geprägten derartigen Verhalten wird als „sensitiv“ bezeichnet. Es tritt oft auch bei de-
pressiven Personen mit geringem Selbstwertgefühl auf.
Viele Menschen mit einer generalisierten Sozialphobie leben recht zurückgezogen
und sehnen sich bei aller Angst vor Ablehnung und Zurückweisung doch sehr nach
Kontakt und Anerkennung. Nach verschiedenen verpassten Gelegenheiten leiden sie
stark unter dem Gefühl, wieder einmal nicht die Initiative ergriffen zu haben (z.B. eine
Person des anderen Geschlechts anzusprechen). Das Risiko, auf der Suche nach dem
richtigen Partner einige Ablehnungen hinnehmen zu müssen, erscheint einfach zu groß.
Soziale Phobie 91
Auf der Suche nach einem Partner hoffen viele sozialphobische Menschen gleich
auf einen intimen Partner. Das erste Gespräch im Lokal wird bereits zum Test, ob man
beim anderen „angekommen“ oder „durchgefallen“ ist. Diese Art der Kontaktsuche ist
auf dem Hintergrund des langen Alleinseins verständlich, stellt jedoch eine Überforde-
rung für beide Interaktionspartner dar. Oft fehlen Geduld, Engagement und Verständnis
dafür, dass eine Beziehung über einen längeren Zeitraum, auch durch Enttäuschungen
hindurch, aufgebaut werden muss. Allein stehende Sozialphobiker glauben nicht selten,
durch einen intimen Partner schlagartig alle sozialen Ängste zu verlieren. Ein Partner
wird häufig als der Retter aus großer Not sehnsüchtig erwartet. Bei langfristig unerfüll-
ten Erwartungen können depressive Verstimmungen auftreten.
Viele Sozialphobiker haben völlig unrealistische Zielvorstellungen über den Aufbau
und die Erhaltung von Beziehungen und erleben deshalb ständig neue Enttäuschungen.
Die Suche nach einem Partner stellt oft einen Kompensationsversuch der eigenen Unsi-
cherheit dar, der trotz ständiger Misserfolge so lange nicht aufgegeben werden kann, als
nur in einem intimen Partner die Erlösung aus der Einsamkeit gesehen wird.
Soziale Phobien äußern sich häufig in Form von sexuellen Funktionsstörungen. Die
Angst, in sexueller Hinsicht zu versagen oder als Frau bzw. Mann nicht attraktiv genug
zu sein, verhindert den näheren Kontakt mit einer Person des anderen Geschlechts.
Küssen wird nicht selten aus Angst vor schlechtem Mundgeruch vermieden. Die Betrof-
fenen brechen eine beginnende Beziehung häufig von sich aus ab, um dem deprimie-
renden Gefühl der Ablehnung zu entkommen. Scham und Scheu im sexuellen Kontext
ist auch aus einem Gedicht von Schiller bekannt („Errötend folgt er ihren Spuren“).
Bei Kindern und Jugendlichen treten soziale Ängste am häufigsten in Form der
Schulphobie und der Prüfungsangst auf, aber auch in Form der Angst, von anderen
Kindern ausgelacht zu werden, wenn diese als Gruppe und damit als bestimmende
Mehrheit erlebt werden. Schüler mit einer sozialen Phobie schneiden wegen ihrer Prü-
fungsängste und des nicht seltenen Vermeidens der Teilnahme am Unterricht bei Prü-
fungen häufig schlechter ab als andere Kinder, was die Angst vor Leistungsbeurteilun-
gen verstärkt. Schlechtere Schulleistungen als aufgrund des oft großen Lerneinsatzes
notwendig sind, hängen häufig zusammen mit der angstbedingten Blockade beim Spre-
chen vor der ganzen Klasse und der Autoritätsperson des Lehrers.
Die Prüfungssituation als der Inbegriff einer gefürchteten Leistungsbeurteilung führt
zu einer verstärkten Beobachtung des eigenen Verhaltens bzw. bestimmter sozial auffäl-
lig machender Symptome (Zittern, Rotwerden, Schwitzen, Stottern, Versagen der
Stimme) und infolgedessen zu einer Konzentrationsstörung, sodass das oft vorhandene
Wissen nicht adäquat dokumentiert werden kann. Im Sport spricht man von „Trai-
ningsweltmeistern“, weil die Betroffenen aus „Nervosität“ im Wettkampf versagen.
Die Beziehung zwischen sozialen Ängsten und verschiedenen Körpersymptomen
wird von sozialphobischen Patienten oft umgedreht: Nicht die Ängste würden zu Sym-
ptomen führen, sondern die unerklärlichen Symptome würden die Ängste verursachen.
In der Selbstwahrnehmung werden die körperlichen Angstsymptome demnach als das
primäre Problem verkannt. Typische Aussagen sind etwa: „Wenn ich nicht so leicht
erröten, schwitzen oder zittern würde, dann hätte ich keine Angst vor anderen Men-
schen.“ Die Einsicht in die tatsächlichen Zusammenhänge stellt die Voraussetzung für
eine Psychotherapie dar, andernfalls wird die Lösung in der Einnahme von Medikamen-
ten (Beruhigungsmitteln, Beta-Blockern und immer häufiger Antidepressiva) gesucht,
die die gefürchteten Körpersymptome verhindern sollen. Die Betroffenen hätten am
liebsten ein Pokerface, das nichts über ihr inneres Befinden verrät.
92 Angststörungen
Eine Errötungsangst (Erythrophobie) bezieht sich auf das Erröten in sozialen Situa-
tionen und resultiert oft aus der Angst vor Sozialkontakten oder aus einem plötzlichen
Überraschungseffekt in sozialen Situationen. Die Betroffenen meinen, sie würden nur
wegen des unkontrollierbaren Errötens den Kontakt mit anderen Menschen fürchten und
hätten sonst keine soziale Unsicherheit und keine Probleme im Umgang mit anderen.
Schwitzen wird oft nicht durch die Bewältigung der sozialen Ängste, sondern mög-
lichst durch das Vermeiden von Schwitzen zu bewältigen versucht (z.B. keine warmen
Räume betreten, nicht zu warm anziehen). Es werden Verhaltensweisen entwickelt, wie
man das Schwitzen möglichst unauffällig ertragen kann (z.B. ein Unterhemd mit hoher
Saugkraft, ein Spray zur Vermeidung eines unangenehmen Körpergeruchs).
Ein psychogener Tremor in Form des Händezitterns hat für viele Betroffene häufig
noch weitreichendere Folgen als das unkontrollierbare Auftreten von Rotwerden oder
Schwitzen. Hier zeigt sich vielleicht am deutlichsten, dass nicht das Verhalten an sich,
sondern dessen Bewertung Angst machend ist. Psychogenes Händezittern wird von den
Betroffenen oft als „Nervenkrankheit“ erlebt. Sie fürchten daher, andere Menschen
könnten ähnlich denken, sodass sie schon allein deswegen als psychiatrischer Fall gel-
ten könnten. Die Betroffenen weichen sozialen Situationen subjektiv wegen des be-
fürchteten Händezitterns aus, doch ist dieser Tremor letztlich nur das Ergebnis der
angstbedingten Muskelverspannung. Verspannt sind oft nicht nur die Hand, sondern
auch der ganze Arm und der Schulter-Nacken-Bereich. Die Angst vor dem sichtbaren
Zittern der Hände kann dazu führen, dass die Betroffenen in Anwesenheit anderer aus
Angst vor Auffälligkeit nichts essen, trinken oder unterschreiben. Ohne das Gefühl der
Beobachtung können die Betroffenen alle Tätigkeiten problemlos ausführen.
Am Beispiel des Händezitterns kann die Eigenart einer Sozialphobie im Vergleich
zur Parkinson-Krankheit erläutert werden [75]. Sozialphobiker haben Angst, auf einem
Formular oder Zahlschein nur unleserlich unterschreiben zu können, im Restaurant die
Suppe vom Löffel zu kippen, beim Anstoßen mit dem Weinglas ungeschickt zu sein, im
Café den Zucker oder den Kaffee zu verschütten, im Selbstbedienungsrestaurant das
Cola-Glas unruhig zu tragen, im Geschäft das Wechselgeld nicht in Ruhe entgegenneh-
men zu können, obwohl diese Befürchtungen meistens unberechtigt sind. Parkinson-
Kranke dagegen zittern sehr stark, bemerken es jedoch oft gar nicht und haben trotz
ihrer Beeinträchtigung gewöhnlich keine Angst, etwas in der Öffentlichkeit zu tun.
Die übermäßige Beschäftigung mit der eigenen Person und der Wirkung auf andere
Menschen äußert sich in sozialen Situationen in der Form, dass Sozialphobiker glauben,
die anderen Menschen würden ebenfalls ständig ihre vermeintlichen Defizite und ihre
psychovegetative Auffälligkeit (an sich harmlose, jedoch von anderen beobachtbare
körperliche Symptome) beobachten. Sozialer Rückzug und das verkrampfte Bemühen,
möglichst unauffällig zu wirken, verhindern die Erfahrung, dass die Mitmenschen die
Betroffenen gar nicht im gefürchteten Ausmaß beobachten bzw. kritisieren, sondern
trotz der vermeintlichen Schwächen als liebenswerte Persönlichkeiten ansehen. Durch
die ständige ängstliche Selbstbeobachtung steigt die vegetative Anspannung, was die
Befürchtung verstärkt, als „nervös“ zu gelten und abgelehnt zu werden.
Ein typisches Beispiel einer sozialen Phobie [76] ist die Geschichte eines Mannes,
der in einer Buchhandlung ein interessantes Buch über Schüchternheit sieht, es aber
trotz großen Interesses nicht wagt, das Buch zu kaufen oder nur hineinzuschauen, weil
die Verkäuferin dann ja wüsste, dass er ein schüchterner Mensch ist. Das Erlebnis, sich
wieder einmal nicht über seine Angst vor der Reaktion der anderen Leute hinwegsetzen
zu können, bestätigt ihm sein Schicksal der Unveränderbarkeit.
Soziale Phobie 93
Wenn Sozialphobiker bestimmte Situationen nicht vermeiden können oder diese mit
weniger Belastung ertragen möchten, wenden sie typische Sicherheitsverhaltensweisen
an, die die Gefahr einer sozialen Auffälligkeit mit allen nur möglichen Mitteln und
Methoden vermindern sollen:
z vor Prüfungen alles aufschreiben, auswendig lernen, im Kopf x-mal durchgehen,
z bei Gesprächen vorher alles gut durchdenken, bevor man sich äußert,
z nichts sagen, um nicht durch Erröten oder Schwitzen im Mittelpunkt zu stehen,
z auf Suppe oder Kaffee verzichten, um nicht durch Händezittern aufzufallen,
z das Glas oder die Tasse sehr fest halten, um leichtes Zittern zu unterdrücken,
z mögliches Zittern kontrollieren, um den Anschein von Nervosität zu vermeiden,
z bestimmte Kleidung anziehen, um sichtbares Schwitzen zu vermindern,
z Alkohol oder Wärme vermeiden oder Fenster öffnen, um nicht zu schwitzen,
z Alkohol oder ein Medikament einnehmen, um Angstreaktionen zu unterdrücken,
z übermäßig viel Makeup verwenden, um bei Erröten nicht aufzufallen,
z vermehrt reden, um unerträgliche Stille oder peinliche Sprechpausen zu vermeiden,
z sich so platzieren, dass man nicht sofort bemerkt wird,
z Blickkontakt vermeiden und auf den Boden oder anderswohin schauen,
z vermeiden, über sich selbst etwas Persönliches zu sagen.
Französische Autoren unterscheiden vier Formen sozialer Ängste, die von normal bis
krankhaft und von spezifisch bis generalisiert gehen:
z Lampenfieber („Bammel“): normale, situationsgebundene soziale Angst,
z Soziale Phobie: situationsgebundene, krankhafte Angst,
z Schüchternheit: normale, generalisierte soziale Angst,
z Ängstlich-vermeidende Persönlichkeit: generalisierte, krankhafte soziale Angst.
Der englische Psychiater Isaac Marks, einer der „Väter“ der Diagnose „soziale Phobie“,
unterscheidet zwei Arten von klinisch relevanten sozialen Ängsten, die auch einer dem-
entsprechend unterschiedlichen Behandlung bedürfen:
z Sozialphobie im Sinne einer angstbedingten Hemmung (Sozialphobie im engeren
Sinne),
z Sozialphobie als Folge eines sozialen Kompetenzdefizits (Mangel an sozialen Fer-
tigkeiten).
94 Angststörungen
Die Sozialphobie im engeren Sinn tritt bei Männern und Frauen gleich häufig auf, be-
ginnt meist im Teenager-Alter, bezieht sich auf spezifische Auslösereize, ist durch aus-
geprägte körperliche Reaktionen charakterisiert, ist nur gelegentlich mit anderen Pro-
blemen verbunden und wird durch eine Konfrontationstherapie behandelt [78]. Die
Betroffenen verfügen über normale soziale Fertigkeiten, weisen jedoch Ängste in Bezug
auf eine oder mehrere soziale Situationen auf und zeigen starke körperliche Reaktionen
bei der Konfrontation mit relevanten phobischen Reizen. Schüchternheit kann, muss
aber nicht vorhanden sein. Viele sozial gehemmte Menschen weisen oft unpassende
oder unzweckmäßige Verhaltensweisen auf. Sie entschuldigen sich oft, sind übertrieben
höflich, schweigen zu viel, reagieren bei zu viel „Schlucken“ mit Aggressionsdurchbrü-
chen, sprechen eher über andere als mit anderen, reden zu viel über sich selbst, statt sich
auf den anderen einzulassen, sind körperlich ausdruckslos, monoton in der Stimme und
schauen beim Reden die anderen zu wenig an.
Eine Sozialphobie im Sinne eines sozialen Kompetenzdefizits tritt bei Männern häu-
figer auf als bei Frauen, beginnt schleichend in der Kindheit, weist diffuse phobische
Ängste auf, zeigt sich wenig in körperlichen Reaktionen, ist häufig mit vielen anderen
Problemen verbunden und wird am besten durch ein soziales Kompetenztraining im
Rahmen einer Gruppentherapie behandelt. Sozialphobikern mit einem Defizit an sozia-
ler Kompetenz, d.h. Menschen mit einer sozialen Angststörung, fehlen die nötigen Fer-
tigkeiten, um soziale Situationen erfolgreich bewältigen zu können. Sie können Gesprä-
che nicht beginnen, aufrechterhalten und beenden, wissen nicht, wie man sich in be-
stimmten Situationen verhält, sind schüchtern und haben allgemein Probleme im Um-
gang mit anderen Menschen. Sie weisen ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten in
Bezug auf soziale Situationen auf, weil sie fürchten, kritisiert oder verspottet zu werden,
nicht als normal angesehen zu werden, nicht zu wissen, was sie sagen sollen, die Kon-
trolle zu verlieren und in Panik zu geraten. Sie leben deswegen sehr zurückgezogen und
sind oft sehr unglücklich oder depressiv. Die sozialen Defizite äußern sich durch oft
lebenslange Schwierigkeiten im Knüpfen und Aufrechterhalten von sozialen Kontakten
trotz des vorhandenen Wunsches danach sowie durch das ständige Bemühen, die Be-
drohung der eigenen Person zu reduzieren, mit dem Ergebnis sozialen Rückzugs und
starker Beeinträchtigungen im Beruf. Die schwierigsten sozialen Situationen für sozial
defizitäre Personen sind Partys, Tanzen und andere enge Kontakte mit Menschen. Ca-
fés, Restaurants und Gasthäuser, wo Anonymität möglich und kein direkter Kontakt mit
anderen erforderlich ist, können dagegen meistens besucht werden. Typisch sind größe-
re Probleme mit Gleichaltrigen als mit jüngeren oder älteren Personen, Schwierigkeiten
im Kontaktaufnehmen mit fremden bzw. gegengeschlechtlichen Personen, Hemmungen
beim Äußern eigener Gefühle und damit Vertiefen einer Beziehung.
Das DSM-IV [79] ermöglicht bei der Diagnose der sozialen Phobie die Zusatzkodie-
rung „generalisiert“ und impliziert dabei zwei Subtypen, ohne den anderen Subtyp
konkret zu benennen, sodass dafür in der Literatur unterschiedliche Bezeichnungen
gewählt wurden (nicht-generalisiert, spezifisch, Leistungstyp). Die Unterscheidung von
Subtypen ist umstritten: Die Kriterien sind zu wenig konkret und erlauben keine klare
Differenzierung der beiden Formen sozialer Phobien. Eine generalisierte Sozialphobie
ist dann zu kodieren, wenn „die Angst fast alle sozialen Situationen betrifft“. Jedenfalls
werden nach dem Ausmaß der Generalisierung zwei Arten von Sozialphobien unter-
schieden: eine Sozialphobie – Leistungstyp und eine Sozialphobie – generalisierter Typ.
Soziale Phobie 95
Sozialphobie – Leistungstyp
Die nicht generalisierte (spezifische) Sozialphobie wird gewöhnlich mit der Angst in
sozialen Leistungssituationen gleichgesetzt, obwohl dies im DSM-IV explizit nicht so
definiert ist. Eine Sozialphobie vom Leistungstyp ist eine nicht generalisierte, d.h. eine
im DSM-IV allerdings nicht so bezeichnete „spezifische Sozialphobie“, die der Sozial-
phobie im engeren Sinn nach Marks entspricht. Spezifische soziale Ängste beziehen
sich auf Reden, Essen, Schreiben, Leistungssituationen (Prüfung, Reden in der Öffent-
lichkeit, sportliche Betätigung usw.). Als Auslöser dient oft ein einschneidendes Erleb-
nis (z.B. Ausgelachtwerden beim Stottern während eines Referats, Verspottung bei
einer ungeschickten Turnübung, Händezittern beim Essen oder Schreiben an der Tafel).
Häufig trat – von den anderen unbemerkt – eine Panikattacke oder eine panikähnliche
Reaktion auf, die die Angst vor Auffälligkeit verstärkte. Die Angst bewirkt eine Hem-
mung an sich vorhandener Fertigkeiten und geht mit körperlichen Symptomen einher.
Die Störung ist begrenzt auf spezifische Leistungssituationen vor den Augen anderer
Menschen, während in allen anderen Bereichen eine gute soziale Funktionsfähigkeit
gegeben ist. Soziale Ängste vom Leistungstyp können aufgrund der damit verbundenen
körperlichen Symptome zu einer plötzlichen Veränderung des Betroffenen führen, die
der Umwelt völlig unerklärlich erscheint, vor allem wenn der Betroffene vorher als
kontaktfreudig und selbstbewusst galt. Bei der Behandlung ist hier neben einer Kon-
frontationstherapie eine kognitive Umstrukturierung (Denkmuster ändern) angebracht.
Eine spezifische Sozialphobie beginnt durchschnittlich im 16. oder 17. Lebensjahr
und hängt oft mit situativ bedingten Panikattacken zusammen. Die Störung führt später
zu Beeinträchtigungen im schulischen und beruflichen Bereich, verstärkt durch berufli-
che, schulische oder private Veränderungen wie Umzug, Schul- oder Arbeitsplatzwech-
sel, vor allem jedoch auch durch beruflichen Aufstieg, der zu einem unangenehmen
Mittelpunktserleben führt. Zwei Beispiele sollen diese Störung veranschaulichen:
Ein 28-jähriger kaufmännischer Sachbearbeiter, der bisher stets im Hintergrund gearbeitet hatte, wird
aufgrund seiner Tüchtigkeit zum Leiter einer Niederlassung des Konzerns bestimmt, in dem er seit
seinem Schulabgang arbeitet. Nach einigen Monaten treten immer mehr körperliche und seelische
Beschwerden auf. In allen öffentlichen Situationen, in denen er gleichsam eine Leistung erbringen
muss, wie etwa eine Rede halten, eine Feier einleiten, eine Mitarbeiterehrung durchführen oder der
obersten Geschäftsführung einen mündlichen Bericht abstatten, leidet er abwechselnd unter Herzrasen,
Schwitzen, Übelkeit, Harndrang, Angst vor Händezittern und Stottern. Vor entsprechenden Ereignissen
nimmt er einen Beta-Blocker in der Absicht, sein Herz zu beruhigen, und in der Hoffnung, dadurch
nicht zu zittern, zu schwitzen oder sonst irgendwie sichtbar nervös zu wirken. Am Vorabend eines
entsprechenden Ereignisses kann er aus Aufregung nicht einschlafen, sodass er ein Tranquilizer-
Schlafmittel benötigt. Niemals in seinem Leben litt er so unter psychovegetativen Symptomen wie nach
dem Karriereschub. Er fürchtet sich mehr vor seinen Mitarbeitern als diese vor ihm und hat ständig
Angst sich zu blamieren. Erst später wird ihm bewusst, dass er sich auch schon in der Schule vor Prü-
fungen und in der Musikschule vor Soloauftritten besonders gefürchtet hatte.
Ein 17-jähriger Schüler, der bislang keine sozialen Ängste gekannt hat, wird bei einem Referat in
Deutsch plötzlich nervös und glaubt, sichtbar zu zittern und zu schwitzen. Er ist sich sicher, dass seine
Schulkollegen dies bemerkt haben und ihn seither für einen unsicheren Menschen halten, obwohl ihn
keiner darauf angesprochen hat. Er meldet sich im Unterricht in allen Fächern immer seltener aus
Angst, negativ aufzufallen und ausgelacht zu werden. Vor mündlichen Prüfungen lässt er sich vom
Hausarzt ein Beruhigungsmittel verschreiben oder von seiner Mutter einen Beruhigungstee zubereiten.
Schließlich legt er auch seine Funktion als Klassensprecher zurück, weil er in dieser Rolle ebenfalls
Gefahr laufen könnte, sich peinlich zu verhalten.
96 Angststörungen
Faktum ist: Zu wenig Angst macht sorglos und antriebslos, zu viel Angst wirkt geistig
blockierend. Ein mittleres Ausmaß an Erregung und Angst garantiert die optimale Lei-
stungsfähigkeit. Das Lampenfieber von Schauspielern und Sängern ist ein bekanntes
Beispiele dafür, dass leichte Angst und Anspannung das Leistungsvermögen steigern.
Schüler und Studenten mit negativ-pessimistischen Erwartungen beschäftigen sich
ständig mit dem möglichen Misserfolg, den Konsequenzen des Misserfolgs, den Selbst-
zweifeln und den negativen Bewertungen durch andere Personen (z.B. „Was wird der
Lehrer bzw. der Vater hinterher sagen?“). Sie beurteilen ihr Verhalten in der Prüfungssi-
tuation kritisch und selbstabwertend (z.B. „Ich schaffe die Prüfung nicht“, „Ich bin zu
dumm, um das zu verstehen“, „Ich kann gar nichts“). Sie beobachten ständig die auftre-
tenden körperlichen Angstsymptome und sehen darin eine Bestätigung ihrer Unfähig-
keit. Die körperlichen Symptome (z.B. Herzrasen, Atemnot, Übelkeit, Anspannung,
Zittern) sind so stark, dass sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Dies ver-
stärkt die Angst und führt bis zu panikähnlichen Symptomen, die nicht nur den Körper
überaktivieren, sondern auch den Geist verwirren und blockieren.
Die negativen Selbstgespräche, die ständige Beobachtung des eigenen Körpers und
die Beschäftigung mit den Folgen des vorweggenommenen Versagens führen in der
Prüfungssituation zu einer geteilten Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit und Konzen-
tration ist nicht mehr in vollem Ausmaß auf die Prüfungsvorbereitung bzw. auf die
Aufgabenstellung gerichtet, sodass es zu einer Leistungsbeeinträchtigung kommt. Es
zeigen sich mehr Flüchtigkeitsfehler, eine geringere Quantitätsleistung, eine niedrigere
Durchhaltemotivation und eine Beeinträchtigung bei Aufgaben, die komplexere Denk-
prozesse erfordern. Die angstbedingten Denkblockaden verhindern die Aktivierung des
gelernten Prüfungsstoffes und vermitteln aufgrund der negativen Leistungsdaten den
Eindruck mangelnder Prüfungsvorbereitungen.
Eine massive Prüfungsangst kann zu einem teilweisen Verlust des gelernten Wissens
führen. Das Gefühl eines „leeren Hirns“ hängt mit der angstbedingten Ausschüttung der
Stresshormone Kortison und Kortisol zusammen, die das Langzeitgedächtnis blockie-
ren. Erst wenn sich die Menge der Stresshormone nach einiger Zeit auf den Normalwert
eingependelt hat, funktioniert das Gedächtnis wieder in vollem Umfang.
Soziale Phobie 97
Prüfungsängstliche Schüler und Studenten werden häufig unter ihrem Wert geschla-
gen und entwickeln aufgrund des realen angstbedingten Versagens immer größere Prü-
fungsängste, Ohnmachterlebnisse und Minderwertigkeitsgefühle, die im Sinne eines
Teufelskreises wiederum die Prüfungsergebnisse verschlechtern. Aus Angst vor dem
Versagen entwickeln prüfungsängstliche Studenten oft perfektionistische, stresserhö-
hende Bewältigungsstrategien (Lernen ohne Pausen, Antreten zur Prüfung nur bei siche-
rem Wissen). Auch sehr gute Schüler können als Folge ihrer Denkmuster („Ich muss
immer der Beste sein“, „Wenn ich das nicht weiß, bin ich doch nicht so gut, wie ich
immer sein möchte“) unter belastenden Prüfungsängsten leiden.
Schüler und Studenten mit positiven Erwartungen erleben Angst und Unruhe als lei-
stungssteigernd. Kompetenzgefühle und die positive Leistungserwartungen verhindern
angstbedingte Leistungsblockaden. Angst wirkt nicht lähmend, sondern fördert die
Prüfungsvorbereitung und den Lerneinsatz. Sie stimuliert den Ehrgeiz, stärkt den
Kampfeswillen, mobilisiert die Energiereserven und fördert die Umsetzung aller Kennt-
nisse und Fertigkeiten. Die als aktivierend erlebte Angst intensiviert die Aufmerksam-
keit, reduziert die Fehlerzahl, steigert die Leistungsmenge, verstärkt den Leistungsein-
satz und erhöht die Ausdauer bei schwierigen Aufgabenstellungen. Die körperlichen
Symptome der Angst werden im Sinne eines Lampenfiebers als Zeichen notwendiger
Energie zur Ausschöpfung aller Leistungsreserven interpretiert. Unangenehme körperli-
che Angstsymptome werden zwar wahrgenommen, jedoch nicht durch ständige Beob-
achtung verstärkt. Es gelingt eine Aufmerksamkeitsumlenkung von der Wahrnehmung
der Angstsymptome auf die Bewältigung der Aufgabenstellung, sodass eine optimale
Konzentrationsleistung gegeben ist. Eine Einstellungsänderung bewirkt eine Verringe-
rung der Prüfungsangst. Dies ermöglicht eine optimale Konzentration auf die Aufga-
benstellung, wodurch die Erfolgschancen erhöht werden.
Versagensängstlichen Personen wird ein Selbsthilfebuch des Autors („Die Angst zu
versagen und wie man sie besiegt“) empfohlen.
Ein 34-jähriger allein stehender Arbeiter stellt sich dem Ausmaß seiner sozialen Ängste erst dann, als er
wegen eines chronischen Alkoholmissbrauchs keinen Tropfen Alkohol mehr trinken soll. Plötzlich
bemerkt er mehr als vorher seine sozialen Kontaktprobleme. Er kann sich in Gruppensituationen kaum
äußern aus Angst, etwas Falsches zu sagen; er fürchtet Pausenzeiten in der Arbeit, weil er nicht weiß,
was er mit seinen Arbeitskollegen reden soll; er verzichtet auf berufliche Aufstiegschancen, weil er
dadurch mehr als bisher im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit anderer Menschen stehen könnte; er
macht Weiterbildungsmaßnahmen nur widerwillig, weil er im Kurs als dumm auffallen könnte; er
knüpft keine neuen Kontakte aus Angst, abgelehnt zu werden; er spricht aus Angst vor Nervosität und
Rotwerden keine Frauen an, obwohl er sich seit langem eine Partnerin wünscht; er verwendet Ausre-
den, um Familientreffen zu entkommen, denn auch dort könnte er durch seine Zurückgezogenheit
unangenehm auffallen; aus Nervosität entfällt ihm bei Gesprächen oft der Name seines Gegenübers.
Soziale Phobie 99
Bei der Mehrzahl der Betroffenen in der Bevölkerung besteht eine spezifische Sozi-
alphobie. Die häufigsten spezifischen Sozialphobien sind die Redephobien. Im klini-
schen Bereich überwiegen generalisierte Sozialphobien. In klinischen Behandlungsein-
richtungen ist die Sozialphobie nach der Agoraphobie die zweithäufigste Angststörung.
Die Betroffenen beginnen eine Therapie häufig wegen anderer Probleme (Alkoholmiss-
brauch, vegetative Störungen, Depression, Selbstmordversuch). Sie begeben sich oft
erst nach zwei Jahrzehnten in Psychotherapie. Von allen Angstpatienten beginnen Men-
schen mit einer sozialen Phobie am spätesten mit einer adäquaten Therapie, vermutlich
weil sie ihre Störung mit ihrem Charakter gleichsetzen. Unter den Menschen mit krank-
haften sozialen Ängsten, d.h. unter definierten Patienten, haben mindestens die Hälfte
der Betroffenen generalisierte soziale Ängste im Sinne einer heute so genannten sozia-
len Angststörung. Die soziale Phobie ist die häufigste komorbide Störung bei anderen
psychischen Störungen (sie bestand meistens bereits vorher).
Frauen haben im Vergleich zu Männern ein etwas höheres Risiko für eine soziale
Phobie (Verhältnis 3:2), die Frauendominanz ist jedoch nicht so ausgeprägt wie bei
anderen Angststörungen (Panikstörung, generalisierter Angststörung und spezifischen
Phobien). Bei Frauen äußern sich soziale Ängste in anderer Form als bei Männern. Sie
haben mehr soziale Ängste in Bezug auf Autoritäten, öffentliche Reden, Berichterstat-
tung in Gruppen, Widersprechen, Beobachtung bei der Arbeit, Mittelpunkerleben oder
Betreten von Räumen, in denen bereits Menschen sind.
Das Auftreten und die Art der sozialen Ängste sind auch kulturabhängig. Soziale
Phobien kommen in der westlichen Welt häufiger vor als in Asien. Viele Menschen in
Japan und Korea haben mehr Angst davor, andere zu kränken oder in Verlegenheit zu
bringen, als selbst emotional peinlich berührt zu sein oder gekränkt zu werden. Sie ha-
ben Angst, andere dadurch in Verlegenheit zu bringen, dass sie vor ihnen erröten, den
Blick über ihren Genitalbereich gleiten lassen, einen unangenehmen Körpergeruch
ausstrahlen oder einen unpassenden Gesichtsausdruck aufweisen. In asiatischen Län-
dern besteht eine viel größere soziale Gehemmtheit als in der westlichen Welt. Ein
sozial zurückhaltendes und eher introvertiertes Verhalten entspricht dort eher den kultu-
rellen Gepflogenheiten als in Europa oder Amerika. In ostasiatischen Ländern zeigt sich
ein eher „kollektivistisches“ als ein „individualistisches“ Verhalten wie in den USA.
Die soziale Phobie nimmt vor allem bei der jüngeren Bevölkerung zu, bedingt durch
soziale und gesellschaftliche Umstände (steigender Leistungsdruck). Sie setzt in immer
früherem Alter ein und weist einen immer höheren Schweregrad auf. Dieser Eindruck
ergibt sich zumindest aus dem Umstand, dass jüngere Menschen bei Befragungen häu-
figer soziale Ängste im Laufe des Lebens angaben als ältere Personengruppen.
Vorübergehende soziale Ängste sind im Kindes- und Jugendalter relativ häufig.
Soziale Phobien beginnen meist zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr (bei 75% vor
dem 16. Lebensjahr) und damit früher als Panikstörungen und Agoraphobien. Eine
generalisierte soziale Phobie beginnt durchschnittlich mit 10-13 Jahren, eine nicht gene-
ralisierte Sozialphobie mit 16-22 Jahren [83]. Ein Störungsbeginn nach dem 25. Lebens-
jahr ist selten. Bei Kindern stehen soziale Ängste oft mit bestimmten psychischen Stö-
rungen in Verbindung (selektivem Mutismus, Schulverweigerung, Trennungsangststö-
rung, übermäßiger Schüchternheit und Gehemmtheit). Der frühe Beginn sozialer Phobi-
en im Kindes- oder Jugendalter macht es verständlich, dass sich aufgrund der auftreten-
den Defizite rascher als bei anderen Menschen auch weitere psychische Störungen ent-
wickeln, vor allem Depressionen aufgrund mangelnder positiver Lebenserfahrungen.
Die häufigste soziale Phobie des Kindes- und Jugendalters ist die Schulphobie.
Soziale Phobie 101
Soziale Angststörungen zeigen eine starke familiäre Häufung. Das Risiko, soziale
Ängste zu bekommen, ist für Kinder von Menschen mit sozialen Phobien etwa dreimal
so hoch wie in unbelasteten Familien. Dies gilt vor allem bei generalisierten sozialen
Phobien. Nach Zwillingsstudien besteht eine Erblichkeit von 30-50%. Die Wahrschein-
lichkeit für die Entwicklung einer sozialen Phobie ist deutlich erhöht bei einer tempe-
ramentbedingten, vermutlich ererbten Tendenz zur „Verhaltenshemmung“. Man ver-
steht darunter die Neigung, auf neue (soziale und nicht soziale) Situationen nach außen
hin gehemmt, scheu und zurückhaltend zu reagieren, während innerlich eine hohe auto-
nome Erregung besteht (stabil hohe Herzfrequenz, erhöhte Kortisolwerte im Speichel).
„Schüchternheit“ von Kindheit an ist laut amerikanischen Längsschnittstudien als
konstitutioneller Faktor anzusehen; sie wurde bereits im Alter von 21 Monaten nachge-
wiesen, dauert bis in das Erwachsenenalter an und stellt noch keine Krankheitswertig-
keit dar. Der Zustand der Schüchternheit wird erst durch das subjektive Erleben, nicht
anders handeln zu können, zu einer anhaltenden Belastung. Es gibt viel mehr schüchter-
ne als sozial ängstliche Menschen. Nicht alle schüchternen Menschen sind daher als
Sozialphobiker anzusehen. Im Vergleich zu schüchternen Menschen haben sozial ängst-
liche Personen weniger soziale Fertigkeiten, ein größeres Vermeidungsverhalten, einen
chronischeren Verlauf, einen späteren Krankheitsbeginn und oft auch mehr Symptome.
Soziale Ängste werden begünstigt durch bestimmte psychosoziale Belastungssitua-
tionen (soziales Außenseitertum der Familie, Außenseiter-Dasein im Kindergarten und
in der Pflichtschule, alkoholkranker Elternteil, niedriger sozialer Status und Bildungs-
stand, geringes Einkommen, Arbeitslosigkeit) und ein bestimmtes Erziehungsmilieu
(übertriebene Strenge und Kontrolle, überfürsorgliches Verhalten, wenig Zuwendung
und Fürsorge). Soziale Ängstlichkeit wird vor allem auch erlernt am Beispiel eines
sozial unsicheren und ängstlichen Elternteils, was mit dem Begriff des Modelllernens
bezeichnet wird (anderer Fachausdruck: „familiäre Transmission“). Spezifische Phobien
haben häufig Auslöser in Form eines „Minitraumas“ (z.B. peinlicher Auftritt bei einem
Referat, Erfahrungen, von Mitschülern ausgelacht oder sekkiert zu werden).
Der Verlauf einer unbehandelten Sozialphobie ist gewöhnlich chronisch. Häufig
besteht ein konstanter und phasenhafter Verlauf mit Schwankungen, nur bei der Min-
derheit kommt es zu Spontanremissionen, was die Notwendigkeit einer speziellen Psy-
chotherapie aufzeigt. Viele Betroffene leiden schon 20 Jahre lang darunter. Soziale
Phobien entwickeln sich langsamer als andere Angststörungen. Erste Anzeichen dafür
sind eine ausgeprägte Schüchternheit oder Zurückhaltung, später resultieren daraus
berufliche, schulische, soziale, familiäre oder private Probleme. Viele Betroffene leben
unter ihren Möglichkeiten und verpassen die Chancen ihres Lebens. Single-Dasein,
Schulabbrüche, Karrierenachteile und soziale Vereinsamung machen unglücklich.
Mindestens drei Viertel der Sozialphobiker entwickeln im Laufe ihres Lebens weite-
re psychische Störungen, d.h. es besteht eine extrem hohe Komorbidität. Die unzurei-
chende Bewältigung einer sozialen Phobie bzw. sozialen Angststörung stellt einen Risi-
kofaktor für weitere psychische Störungen war, vor allem für Depressionen und Abhän-
gigkeitserkrankungen. Vor allem eine generalisierte soziale Phobie geht häufig mit
Depressionen und Alkoholmissbrauch einher, während eine nicht generalisierte soziale
Phobie eher mit Panikattacken in Verbindung steht oder zumindest von den Betroffenen
als Panikstörung erlebt wird. Eine Sozialphobie ist somit häufig die „Einstiegsstörung“
in die genannten „härteren“ psychischen Störungen, begünstigt aber auch die Ausprä-
gung einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung, die Ausdruck der Verfesti-
gung der Einstellungen und Verhaltensweisen ist.
102 Angststörungen
Eine Depression ist die häufigste Begleit- und Folgesymptomatik der sozialen Pho-
bie und tritt (je nach Diagnosekriterien) in 14-50% der Fälle auf. Sozialphobiker mit
einer zusätzlichen Depression entwickeln eine schwerere Form von Sozialphobie als
nichtdepressive Sozialphobiker. Sozialphobiker mit einer Depression weisen eine be-
sondere Überempfindlichkeit bei Kritik und Ablehnung auf. Eine soziale Phobie ist
keine harmlose Angstkrankheit, was sich auch in relativ häufigen Selbstmordgedanken
und Selbstmordversuchen äußert. Bei rund 15% der Betroffenen kommen Selbstmord-
versuche vor [84]. Die depressive Verstimmung entwickelt sich oft als Folge der sozia-
len Hemmung und des ständigen sozialen Vermeidungsverhaltens, das keine positiven
und aufbauenden Erfahrungen in Sozialkontakten ermöglicht. Die Depression ist oft
bedingt durch die Unzufriedenheit mit der jeweiligen Lebenssituation (geringe Durch-
setzungsfähigkeit im beruflichen und privaten Bereich, Vereinsamung, wenig Verhal-
tensalternativen). Eine soziale Phobie geht auch oft mit einer Dysthymie einher.
Viele Sozialphobiker (5-36%) benutzen Alkohol, um ihre Ängste zu dämpfen [85].
Nach einer Studie entwickeln rund 20% der Sozialphobiker einen ausgeprägten Alko-
holkonsum, der deutlich über dem von Agoraphobikern liegt. Zahlreiche Angst auslö-
sende soziale Interaktionen erfolgen in Situationen, in denen auch Alkohol zur Verfü-
gung steht (z.B. bei Verabredungen, Feiern, Essen im Restaurant). Umgekehrt finden
sich unter Alkoholikern viele sozial ängstliche Menschen, die wegen ihrer Ängste zu
trinken begonnen haben.
Vor allem bei einem frühen Beginn der sozialen Phobie besteht die Gefahr der Ent-
wicklung eines Alkoholmissbrauchs oder einer Depression. Die viel selteneren sozialen
Phobien mit späterem Beginn sind eher die Folge anderer komorbider Störungen, z.B.
einer chronifizierten Depression. Soziale Phobien können aber auch die Folge von Sub-
stanzmissbrauch sein und lassen sich dann erklären durch die befürchtete oder reale
soziale Auffälligkeit (z.B. Entzugserscheinungen, soziale oder berufliche Probleme).
Soziale Ängste wirken sich erheblich auf Partnerschaft, Familie, Beruf und Lebens-
qualität aus. Viele Menschen mit sozialer Phobie sind unverheiratet, haben keinen fe-
sten Partner, leben auch als Erwachsene noch immer zu Hause, bekommen Partnerpro-
bleme wegen ihres Verhaltens, haben keine sexuellen Erfahrungen oder leiden unter
sexuellen Problemen, haben nur einen kleinen Freundes- und Bekanntenkreis oder leben
sozial isoliert. Die Betroffenen sind in höherem Ausmaß arbeitslos oder im Kran-
kenstand, verdienen weniger als andere, werden unterqualifiziert eingesetzt und errei-
chen aufgrund ihres ständigen Vermeidungsverhaltens nicht jene beruflichen Positio-
nen, die sie aufgrund ihrer Fähigkeit innehaben könnten.
Eine Sozialphobie kommt auch gehäuft bei Personen mit einer Essstörung (Anore-
xie, Bulimie) und einer Dysmorphophobie vor.
Zwänge stellen häufig einen Bewältigungsversuch von sozialer Unsicherheit und
mangelnder sozialer Kompetenz dar [86]. Dies wird oft erst deutlich, wenn die Zwänge
vermindert oder sogar völlig beseitigt sind. Rund 20% der Sozialphobiker weisen
Zwangssymptome auf, die mit gefürchteten negativen sozialen Konsequenzen (Angst
vor Kritik) zusammenhängen [87]:
z Ordnungs- und Putzzwänge aus Angst, bestimmte Sauberkeitsnormen nicht zu erfül-
len (z.B. Angst vor Kritik durch die Schwiegermutter oder andere Besucher);
z Kontrollzwänge aus Angst, den geforderten Perfektionsansprüchen nicht zu entspre-
chen (z.B. beruflicher Perfektionismus zur Vermeidung von Kritik durch den Chef);
z Zwangsgedanken im Sinne der Vorwegnahme der gefürchteten negativen Reaktio-
nen anderer, wodurch eine Handlungsunfähigkeit gegeben ist.
Soziale Phobie 103
Differenzialdiagnose
Viele gesunde Menschen erleben zeitweise die Angst, sich in sozialen Situationen zu
blamieren, fühlen sich dadurch aber nicht so belastet und beeinträchtigt wie Sozialpho-
biker. Insbesondere die Angst vor öffentlichem Sprechen führt dazu, dass zahlreiche
Menschen den Auftritt in der Öffentlichkeit vermeiden, so gut es geht.
Prüfungsangst, Sprechangst, Lampenfieber und Schüchternheit in Anwesenheit
fremder Personen kommen häufig vor und sollten nur dann als Ausdruck einer sozialen
Phobie diagnostiziert werden, wenn die dabei auftretende Angst belastend ist und die
einsetzende Vermeidungstendenz zu einer ernsthaften Beeinträchtigung der schulischen,
beruflichen oder sozialen Funktionsfähigkeit führt. Bei Prüfungsangst, Lampenfieber
und Schüchternheit führt die Angst oder Vermeidung gewöhnlich zu keiner klinisch
bedeutsamen Beeinträchtigung.
Viele Fachdiskussionen, jedoch bislang keine ausreichenden empirischen Befunde
gibt es zum Verhältnis zwischen Sozialphobie und Schüchternheit. Schüchternheit ist
eine subklinische Form von Angst und kommt bei vielen Menschen vor, die deswegen
nicht beeinträchtigt wirken. Schüchterne erleben sich in ihren Lebensmöglichkeiten
weniger eingeschränkt als Sozialphobiker. Schüchternheit ist nicht mit sozialem Rück-
zug oder sozialem Vermeidungsverhalten gleichzusetzen. Wenn aus schulischen, beruf-
lichen oder sonstigen Gründen ein öffentlicher Auftritt unvermeidlich ist, können
schüchterne Personen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit treten, während Sozi-
alphobiker oft vegetative Symptome bekommen, krank werden oder durch Ausreden die
betreffenden Situationen zu vermeiden trachten. Gegenüber einer eher persönlichkeits-
typischen Schüchternheit und subklinischen sozialen Ängsten geht eine Sozialphobie
meist mit sehr belastenden körperlichen Symptomen einher.
Die Abgrenzung der beiden Sozialphobie-Subtypen, die im ICD-10 nicht in dieser
Form erwähnt werden, ist im Einzelfall oft nicht leicht oder nur schwer möglich, zumal
im DSM-IV keine ausreichend klaren Kriterien bestehen. Grundsätzlich gilt jedenfalls,
dass die generalisierte Sozialphobie mehr sozialphobische (leistungs- und interaktions-
bezogene) Situationen umfasst als die nicht-generalisierte (spezifische) Sozialphobie.
Eine klare Abgrenzung gegenüber der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeits-
störung wird im DSM-IV nicht vorgenommen. Es gilt nur das grundsätzliche Kriterium,
dass eine Persönlichkeitsstörung einen noch höheren Generalisierungsgrad aufweist,
also noch mehr Ängste umfasst als die generalisierte Sozialphobie, und in stärkerem
Ausmaß als grundlegende Beziehungsstörung mit einem sehr geringen und negativen
Selbstwertgefühl zu sehen ist, während die soziale Phobie vor allem auf spezifische
Handlungen bezogen ist und primär als Angst vor negativer Bewertung zu verstehen ist.
Dennoch sind die diagnostischen Kriterien derart ähnlich, dass im Falle einer generali-
sierten Angststörung oft auch eine selbstunsichere Persönlichkeitsstörung diagnostiziert
werden kann. Angesichts des diagnostischen Dilemmas, dass keine klar abgrenzbaren
Störungskategorien vorhanden sind, bewährt sich beim derzeitigen Forschungsstand die
Annahme eines Kontinuums unterschiedlicher Ausprägungsgrade von sozialer Angst:
nicht generalisiert – generalisiert – vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung.
20-25% der Personen mit einer spezifischen Sozialphobie und 70-89% der Men-
schen mit einer generalisierten Sozialphobie erfüllen gleichzeitig auch die Kriterien der
vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung. Die Zusatzdiagnose einer vermei-
dend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung ist vor allem im therapeutischen Kontext
bedeutsam, weil mit einer längeren Behandlungszeit gerechnet werden muss.
104 Angststörungen
Das DSM-IV [89] zählt die Zwangsstörung zu den Angststörungen und nennt fol-
gende diagnostische Kriterien:
B. Zu irgendeinem Zeitpunkt im Verlauf der Störung hat die Person erkannt, daß die Zwangsgedanken
oder Zwangshandlungen übertrieben oder unbegründet sind.
Beachte: Dies muß bei Kindern nicht der Fall sein.
D. Falls eine andere Achse-I-Störung vorliegt, so ist der Inhalt der Zwangsgedanken oder Zwangs-
handlungen nicht auf diese beschränkt (z.B. starkes Beschäftigtsein mit Essen bei Vorliegen einer
Eßstörung, Haareausreißen bei Vorliegen einer Trichotillomanie, Sorgen um das Erscheinungsbild
bei Vorliegen einer Körperdysmorphen Störung, starkes Beschäftigtsein mit Drogen bei Vorliegen
einer Störung im Zusammenhang mit Psychotropen Substanzen, starkes Beschäftigtsein mit einer
schweren Krankheit bei Vorliegen einer Hypochondrie, starkes Beschäftigtsein mit sexuellen Be-
dürfnissen oder Phantasien bei Vorliegen einer Paraphilie, Grübeln über Schuld bei Vorliegen einer
Major Depression).
E. Das Störungsbild geht nicht auf eine direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z.B. Droge,
Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück...
Laut DSM-IV liegt bei Zwängen wenig Einsicht vor (deutsch „überwertige Ideen“ ge-
nannt), wenn der Betroffene den Großteil der Zeit kaum erkennt, dass seine Zwangsge-
danken oder Zwangshandlungen übermäßig oder unbegründet sind. Richtigerweise wird
im Gegensatz zum ICD-10 weder ein Widerstand noch eine Einsicht in die Unsinnigkeit
der Zwänge gefordert. Im DSM-IV werden Zwangsgedanken und Zwangshandlungen
genauer definiert. Kognitive Rituale (Beten, Zählen, in Gedanken Wörter wiederholen)
gelten nicht als Zwangsgedanken, sondern als Zwangshandlungen. Grundgedanke:
Zwangsgedanken rufen Angst hervor, Zwangshandlungen reduzieren die Angst.
108 Angststörungen
Zwangshandlungen sind nach dem ICD-10 [90] ständig wiederholte Stereotypien, die
angesichts von objektiv ungefährlichen, subjektiv jedoch als sehr bedrohlich erlebten
Ereignissen eingesetzt werden, um Schaden für den Patienten oder andere Menschen zu
vermeiden. Oft wird die Gefahr als von der eigenen Person ausgehend erlebt, was mit
allen Mitteln zu verhindern versucht wird. Das Zwangsritual stellt einen letztlich wir-
kungslosen, symbolischen Versuch dar, eine vermeintliche Gefahr abzuwehren. Die
meisten Zwangshandlungen stehen in Zusammenhang mit Reinlichkeit (besonders Hän-
dewaschen), übertriebener Ordnung und Sauberkeit oder wiederholten Kontrollen.
Die häufigsten Zwänge sind Kontrollzwänge (Kontrollieren von Ofen, Licht, Gas-
und Wasserhahn, Fenster, Türen, Auto usw.), gefolgt von Waschzwängen. Zwangs-
handlungen können täglich oft stundenlang ausgeführt werden und beeinträchtigen im
Laufe der Zeit die soziale und berufliche Integration. Zwangshandlungen treten bei
beiden Geschlechtern etwa gleich häufig auf. Handwaschzwänge sind bei Frauen häufi-
ger, eine Verzögerung der Handlungsabläufe ohne Wiederholung bei Männern.
Zwangsgedanken sind nach dem ICD-10 [91] zwanghafte Ideen, bildhafte Vorstel-
lungen oder Zwangsimpulse, die sich dem Betroffenen in quälender Weise aufdrängen.
Sie beziehen sich oft auf aggressive, sexuelle, obszöne oder blasphemische (gottes-
lästerliche) Themen, die von den Patienten als persönlichkeitsfremd und abstoßend
erlebt werden (z.B. Zwangsimpulse einer Mutter, ihr geliebtes Kleinkind mit dem Mes-
ser zu töten; Zwangsimpuls, von einer Brücke oder einem hohen Gebäude zu springen,
obwohl keine Selbstmordgedanken bestehen; Zwangsimpuls zu unkontrollierten ver-
pönten sexuellen Handlungen). Das Auftreten von aggressiven oder autoaggressiven
Impulsen bewirkt massive Ängste, dass diese in die Tat umgesetzt werden könnten.
Dies kommt jedoch praktisch nicht vor, weshalb die oft umfangreichen Sicherungsstra-
tegien, die das Selbstvertrauen der Patienten nur weiter untergraben, unnötig sind. Die
Störung ist weniger durch Ängste als vielmehr durch eine massive Unsicherheit bedingt.
Zur Diagnose einer Zwangsstörung müssen nach dem ICD-10 Zwangsgedanken
und/oder Zwangshandlungen wenigstens zwei Wochen lang an den meisten Tagen vor-
handen sein und zu einer massiven psychosozialen Beeinträchtigung führen, meist be-
dingt durch den besonderen Zeitaufwand.
80% der Zwangsstörungen lassen sich in der Praxis durch drei Fragen erfassen:
„Müssen Sie Ihre Hände immer wieder waschen? Müssen Sie manche Dinge immer
wieder kontrollieren? Haben Sie Gedanken, die Sie quälen und die Sie nicht loslassen?“
Laut einer Studie werden 90% der Zwangshandlungen ausgeführt, um Angst ma-
chende Zwangsgedanken zu vermindern oder rückgängig zu machen.
Zwangsstörung 109
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [92], die eine präzisere Operationalisie-
rung als die klinisch-diagnostischen Leitlinien vornehmen, ist eine Zwangsstörung
(F42) durch folgende Merkmale charakterisiert:
A. Entweder Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen (oder beides) an den meisten Tagen über
einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen.
B. Die Zwangsgedanken (Ideen oder Vorstellungen) und Zwangshandlungen zeigen sämtliche folgen-
den Merkmale:
1. sie werden als eigene Gedanken/Handlungen von den Betroffenen angesehen und nicht als von
anderen Personen oder Einflüssen eingegeben
2. sie wiederholen sich dauernd und werden als unangenehm empfunden, und mindestens ein
Zwangsgedanke oder eine Zwangshandlung werden als übertrieben und unsinnig anerkannt
3. Die Betroffenen versuchen, Widerstand zu leisten (bei lange bestehenden Zwangsgedanken und
Zwangshandlungen kann der Widerstand allerdings sehr gering sein). Gegen mindestens einen
Zwangsgedanken oder eine Zwangshandlung wird gegenwärtig erfolglos Widerstand geleistet
4. Die Ausführung eines Zwangsgedankens oder einer Zwangshandlung ist für sich genommen
nicht angenehm (dies sollte von einer vorübergehenden Erleichterung von Spannung und Angst
unterschieden werden).
C. Die Betroffenen leiden unter den Zwangsgedanken und Zwangshandlungen oder werden in ihrer
sozialen oder individuellen Leistungsfähigkeit behindert, meist durch den besonderen Zeitaufwand.
D. Ausschlussvorbehalt: Die Störung ist nicht bedingt durch eine andere psychische Störung, wie
Schizophrenie und verwandte Störungen (F2) oder affektive Störungen (F3).
„Ich habe Angst, mein Sohn könnte sich mit Schmutz auf dem Boden infizieren, wenn er auf dem
Fußboden der Wohnung oder im Rasen des Vorgartens herumkrabbelt. Ich muss den Boden absolut
sauber halten, niemand darf mit Schuhen die Wohnung betreten, und wenn, dann muss ich stundenlang
den Boden von den Spuren reinigen. Auf dem Rasen des Gartens darf er sich überhaupt nicht aufhalten,
weil man nie wissen kann, welche Gifte der Boden enthält. Wenn er mit den Händen den Boden berührt
und dann die Hände oder eine Nahrung in den Mund nimmt, könnte er schwer krank werden oder gar
sterben – und ich bin schuld, weil ich nicht aufgepasst habe. Wenn meine Mutter auf meinen Sohn
aufpasst, darf er auf dem Boden krabbeln, weil ich das nicht sehe. Wenn ihm jedoch einmal etwas
passieren sollte, werde ich mir Vorwürfe machen, denn ich habe ihn meiner Mutter überlassen.“
110 Angststörungen
Ein Mann mit Kontrollzwängen ist mit folgendem inneren Dialog beschäftigt:
„Habe ich die Haustür wirklich abgesperrt oder nur ins Schloss fallen lassen? Sind die Fenster tatsäch-
lich fest verschlossen oder nur angelehnt? Es ist furchtbar, wenn ich die Wohnung nicht einbruchssicher
verlassen habe. Ich habe die Wohnung als letzter verlassen. Ich bin schuld, wenn etwas passiert. Was
ist, wenn Diebe kommen? In unserer Gegend ist ohnehin schon einmal eingebrochen worden. Das halte
ich nicht aus. Ich muss sofort noch einmal umdrehen und zu Hause nachschauen. Nein, es wird schon
nichts passieren, ich versäume sonst den Bus zur Arbeit. Ich habe ohnehin alles mehrfach kontrolliert.
Aber was ist, wenn ein Sturm ein Fenster öffnet, das doch nur angelehnt war? Bei einem Sturm sind nur
wenig Menschen auf der Straße, und niemand sieht, wie leicht ein paar Ausländer unsere Wohnung
ausräumen, den wertvollen Schmuck meiner Frau, die neue HiFi-Anlage meines Sohnes und die wert-
vollen Bilder und Teppiche mitnehmen und sofort unauffindbar aus der Gegend verschwinden und das
Ganze im Ausland verkaufen. Ich muss unbedingt sofort zurück. Das Risiko ist zu groß. Das halte ich
nicht aus. Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, was passieren kann.“
Alle Familienmitglieder (Vater, Sohn und Tochter) müssen vor der Wohnungstür die Schuhe ausziehen,
peinlich genau säubern und schließlich noch die Sohlen desinfizieren. Beim Eintreten dürfen sie nicht
den Griff der bereits von der Patientin geöffneten Tür berühren. Sie müssen sofort in das Bad gehen, die
Hände gründlich mit Seife waschen, die Kleidung in die Schmutzwäsche geben und frisches Gewand
anziehen, weil die Luft durch die Großindustrie verunreinigt sein könnte. In bestimmten Fällen, wenn
die Luft besonders schlecht ist, müssen sich alle nach dem Betreten der Wohnung sicherheitshalber
auch noch duschen. Trotz dieser Vorkehrungen müssen bestimmte Stellen der Wohnung gemieden
werden, weil die Patientin sonst mit der Reinigung der Wohnung überfordert wäre. Außer den Famili-
enmitgliedern darf seit einem Jahr kein Bekannter oder Verwandter mehr die Wohnung betreten, weil
man fremden Menschen derartige Reinigungsrituale nicht zumuten kann und sonst ins Gerede kommen
würde. Alle Familienmitglieder finden Ausreden, warum Besuche derzeit nicht möglich sind. Sie sind
innerlich voll Groll über die Patientin, decken sie jedoch nach außen hin und führen ihre Zwangsrituale
aus, um nicht ihren Ärger zu erregen und in ständigen familiären Spannungen leben zu müssen.
Besondere Reinigungsprozeduren sind erforderlich, wenn die Patientin und die 14-jährige Tochter
die Menstruation haben. Die Unterwäsche und die Klobrille werden gereinigt, als wären sie verseucht.
Die Hände müssen nicht nur gründlich mit Seife gewaschen, sondern desinfiziert werden wie in einem
Krankenhaus. Erst danach dürfen Nahrungsmittel angegriffen und verarbeitet werden. Schließlich
sollen die Familienmitglieder nicht mit Bazillen, die im Regelblut sein könnten, angesteckt werden. Die
Mutter schärft der Tochter dieses Verhalten stets aufs Neue ein und erinnert sie daran, welche Gefahren
ansonsten drohen könnten. Wenn die Tochter die Menstruation einmal bereits zwei Tage lang bekom-
men hat, ohne dass die Mutter dies weiß, ist sie beunruhigt, denn die Tochter könnte sich nicht an die
Vereinbarungen gehalten haben. Dann muss die Mutter alles, was die Tochter angegriffen hat, beson-
ders gründlich reinigen. Wenn die Tochter nicht darauf achtet, dass ihre Unterhose mit dem Regelblut
nicht mit der übrigen Wäsche in Berührung kommen darf, ist für die ganze Schmutzwäsche ein Spezial-
waschgang erforderlich. Der Gatte, der in seinem Betrieb mit chemischen Substanzen in Kontakt
kommt, darf erst nach Hause kommen, wenn er sich in der Firma geduscht hat und seine Arbeitsklei-
dung im Betrieb abgelegt hat, die konsequenterweise auch auswärts gereinigt werden muss.
Die Patientin war früher halbtags berufstätig, aufgrund der Wasch- und Reinigungszwänge, die täg-
lich mehrere Stunden in Anspruch nehmen, kam sie mit dem Haushalt nicht mehr zurecht, obwohl alle
kräftig mithalfen, sodass sie vor zwei Jahren ihren Beruf aufgeben musste. Von da an wurde die
Zwangsstörung noch ärger, schon allein deshalb, weil die Patientin nun mehr Zeit dazu hatte. Die
Patientin ist für keinerlei Vernunftargumente zugänglich. Sie hat letztlich ein emotionales Problem,
nämlich dass einem Familienmitglied etwas Lebensgefährliches zustoßen könnte. Ursächlich hängt dies
damit zusammen, dass bei ihrer Mutter vor vier Jahren eine Magenkrebserkrankung entdeckt wurde.
Die Patientin führte diese Erkrankung darauf zurück, dass die Mutter mit ihren ungewaschenen Händen,
die vorher berufsbedingt chemische Substanzen berührt hatten, alle Lebensmittel angegriffen und sich
dadurch gleichsam selbst vergiftet habe. Die Patientin sah darin schon immer eine gewisse Gefahr und
fühlt sich durch diese Ereignisse in ihrer Sorge bestätigt, weshalb sie in ihrer Familie darauf achtet, dass
niemand durch Verunreinigung zu Schaden kommt.
Zwangsstörung 111
Zwangshandlungen
Zwangshandlungen (engl. compulsions) werden in fünf Typen unterschieden (die Dar-
stellung folgt vielfach den Ausführungen von Hoffmann und Hofmann [93]):
z Kontrollzwänge,
z Wasch- und Säuberungszwänge,
z Ordnungszwänge,
z Wiederholungszwänge,
z Sammeln, Stapeln und Horten.
Kontrollzwänge
Es ist ganz normal, bei wichtigen Anlässen, erhöhter Unsicherheit oder in Zeiten großer
Belastungen genauer und vermehrt zu kontrollieren, um dann die Kontrollen in ange-
messener Weise erfolgreich abzuschließen. Zwangskranke dagegen können ihre Kon-
trollen nicht beenden und sich nicht davon distanzieren. Es fehlen ihnen meist klare
Beurteilungsmaßstäbe, wann sie auf weitere Kontrolltätigkeiten verzichten können. Sie
erleben ihre Kontrollen als unvollständig, haben ein diffuses Gefühl, dass alles so wie
jetzt noch nicht passt und bleiben körperlich und geistig ständig angespannt. Aus dem
permanenten Gefühl der Unvollständigkeit und des Ungenügens heraus setzen sie auf
vermehrte Kontrollen mithilfe aller Sinne (etwas hören, ertasten und aus verschiedenen
Blickwinkeln betrachten). Die sinnliche Wahrnehmung, dass alles passt, kommt im
Kopf der Zwangskranken nicht als entsprechendes Gefühl an. Der Überblick über die
Situation geht zunehmend verloren, kleine Ausschnitte der Wirklichkeit werden überfi-
xiert, das Handeln ist entweder diffus und unorganisiert oder starr und unflexibel.
Magische Praktiken können dazu verwendet werden, lange Kontrollrituale abzukür-
zen. Sie haben eine ökonomische Funktion. Beispielsweise können 20 Kontrollen des
Ofens vor dem Verlassen des Hauses auf zwei reduziert werden, wenn dabei magische
Rituale eingesetzt werden: bestimmte Gesten oder Bewegungen machen (z.B. Kreuzzei-
chen), Sätze oder Zahlen sprechen, Gebete verrichten, alles in einer genau bestimmten
Häufigkeit tun, wobei bestimmte „gute“ Zahlen als Leitlinie dienen (etwas dreimal
machen müssen, etwas anderes sechsmal machen müssen).
Die Angst vor einer Katastrophe („Durch mein Verhalten könnte jemand ein Un-
glück erleiden“, „Ich könnte für einen Fehler bestraft werden“), für die man verantwort-
lich sein könnte, führt oft zu einer übermäßigen Kontrolle des Ofens, anderer Elektroge-
räte (z.B. Kaffeemaschine, Bügeleisen, Haarfön), der Gas- und Wasserhähne, der Türen
und Fenster, verschiedener Schlösser, bestimmter beruflicher oder privater Tätigkeiten
(z.B. werden erledigte Arbeiten oder ausgefüllte Zahlscheine ständig überprüft).
Die Betroffenen haben ein übertriebenes Verantwortungsgefühl für eventuelle Feh-
ler und Folgen für andere Menschen, sodass angesichts des befürchteten Versagens
heftige Schuldgefühle einsetzen. Sie achten in Form ständiger Kontrollen darauf, dass
sie ihre Mitmenschen nicht durch ihre Unachtsamkeit gefährden und möchten ihre An-
gehörigen vor Gefahren bewahren. Viele Kontrollzwänge werden ausgelöst durch die
Angst, dass man andere Menschen unabsichtlich gefährdet haben könnte und das Be-
dürfnis nach der Sicherheit, dass dies keinesfalls passieren darf. Zwangskranke fühlen
sich bereits vor jeder Handlung ständig schuldig und unfähig und daher verantwortlich
für potenzielle Fehler. Häufige Frage: „Könnte ich an diesem Ereignis schuld sein?“
112 Angststörungen
Die Betroffenen fühlen sich durch Substanzen verseucht. Wasch- und Säuberungszwän-
ge sind nach Hoffmann und Hofmann „Berührungsvermeidungszwänge“, weil es letzt-
lich darum geht, Kontakte und Berührungen mit bestimmten Substanzen zu vermeiden.
Wenn dies nicht möglich war, werden hinterher Waschen und Wischen als Zwangsritua-
le eingesetzt. Die Ursache von Waschzwängen sind in erster Linie massive Ekelgefühle
und nicht, wie oft angeführt wird, Angstgefühle. Ängste vor Ansteckung und Krankheit
kommen erst an zweiter Stelle der Ursachen für Wasch- und Reinigungszwänge.
Ekel ist ein fundamentales Gefühl, das den ganzen Menschen intensiv erfasst und
zur Abwehr des Ekelhaften bewegt. Ekel auslösend und damit den Zwang begünstigend
sind gewöhnlich organische Substanzen. Bei Ekel kommt einem etwas zu nahe, über-
schreitet etwas die Körper- und Intimgrenzen, dringt etwas gleichsam in den eigenen
Körper hinein, bleibt etwas auf der Haut haften, erzeugt etwas Klebriges und Glitschi-
ges auf dem eigenen Körper eine intensive Abscheu vor sich selbst. Wasch- und Reini-
gungszwänge sollen dann wieder „Reinheit“ und nicht einfach nur Sauberkeit bewirken.
Der Umgang mit ekeligen Substanzen wird durch zwei Grundannahmen bestimmt:
1. Die eklige Substanz ist durch Berührung endlos übertragbar, sodass durch die suk-
zessive Ausbreitung über viele Stationen richtige Verseuchungsketten entstehen, de-
nen man nur schwer entkommen kann.
2. Der ekelige Stoff verliert sein Ekelpotenzial auch nicht in gleichsam „homöopathi-
scher Verdünnung“, sodass kein klares Beurteilungskriterium vorhanden ist, ab wel-
chem Reinigungsgrad man wieder sauber im Sinne von „rein“ und unbefleckt ist.
Als Überträger von Ekelsubstanzen gelten andere Menschen sowie deren Kleidung und
Gegenstände. Selbst bei Hundekot oder Schmutz vom Boden besteht die größere Ab-
scheu vor den Menschen, die den ekeligen Stoff übertragen und bis in die eigene Woh-
nung einschleppen, sodass man diesen Personen unbedingt ausweichen oder Einhalt
gebieten muss, auch wenn es sich um Familienmitglieder und gute Bekannte handelt.
Aus Ekel oder Krankheitsangst werden folgende Dinge besonders gefürchtet: Körper-
ausscheidungen (Schweiß, Urin, Kot, Samen, Menstruationsblut, Vaginalsekret),
Schmutz (Erde, Fußboden), Keime jeder Art (z.B. bei Abfällen, öffentlichen Toiletten,
Türgriffen), Bakterien und Viren, Krankheiten (z.B. AIDS, Krebs), bestimmte chemi-
sche Substanzen oder Tiere als Überträger gefährlicher Krankheitserreger (z.B. BSE).
Zwangsstörung 113
Ideelle Substanzen wie der „Geruch des Todes“, der durch einen Friedhofbesuch
oder die Teilnahme an einem Begräbnis übertragen werden kann, werden ebenso ge-
mieden wie der „Geruch des Vaters“, der noch auf Gegenständen vorhanden sein könn-
te, die der gehasste oder bereits verstorbene Vater vor Jahren berührt hat. Wasch- und
Reinigungszwänge werden verursacht durch Ekelgefühle, Angst vor Ansteckung mit
Krankheitskeimen, Verunreinigung mit menschlichen Ausscheidungen oder Verseu-
chung durch gefährliche Chemikalien. Die Betroffenen fürchten bei Konfrontation mit
diesen Stoffen, krank zu werden bzw. zu sterben oder andere durch Übertragung der
Keime zu infizieren und zu gefährden.
Wasch- und Putzzwänge haben eine starke Ähnlichkeit mit phobischem Vermei-
dungsverhalten, phobischer Erwartungsangst und spezifischen Auslösern. Die Angst vor
Verunreinigung durch verschiedene Substanzen und deren vermeintliche Folgen (Tod,
Krankheit, Unglück) führt zu stundenlangen Wasch- und Reinigungsprozeduren. Bevor-
zugt gewaschen werden Hände, Arme oder Kleidungsstücke. Überpenibel gereinigt
werden meist die Schuhe oder bestimmte Einrichtungsgegenstände. Personen mit einem
Reinigungszwang haben aufgrund ihrer ständigen Schuldgefühle oft große Angst, ande-
re Menschen anzustecken, was voraussetzt, dass sie glauben, selbst bereits angesteckt zu
sein, doch dies belastet sie meist weniger als der Umstand, dass sie selbst jemanden
anstecken könnten. Wasch- und Putzzwänge sollen ein befürchtetes Unglück (Krankheit
oder Tod) verhindern oder das Gefühl des Wohlbehagens wiederherstellen. Reinigungs-
zwänge ufern im Laufe der Zeit immer mehr aus, weil aufgrund möglicher Kontakte
und Übertragungen immer mehr Lebensbereiche als verunreinigt angesehen werden.
Angehörige müssen oft dieselben Reinigungsrituale einhalten, um jede Verunreini-
gung zu vermeiden. Eltern, Partner und Kinder fügen sich erstaunlich geduldig den
Reinigungsvorschriften des Zwangskranken. Manchmal wehren sie sich erbittert gegen
diese Anordnungen, sodass ständige Spannungen gegeben sind. Menschen mit Wasch-
zwängen haben einen hohen Verbrauch von Warmwasser, Seife und Handtüchern. Das
Badezimmer wird oft stundenlang nicht verlassen. Wasch- und Reinigungszwänge be-
ziehen sich entsprechend der zugrunde liegenden Problematik oft nur auf bestimmte
Bereiche (z.B. Hände, Toilette), während andere Bereiche ausgesprochen schmutzig
sein können. Ein „Sauberkeitsfanatiker“ achtet in allen Bereichen auf Sauberkeit.
Früher wurden oft Geschlechtskrankheiten (Syphilis, Gonorrhö, Herpes) gefürchtet,
heute stehen oft AIDS, BSE oder Krebs im Vordergrund der Reinigungszwänge.
Ordnungszwänge
Ordnungszwänge sind oft reine Handlungszwänge. Die Betroffenen haben das Ge-
fühl, dass etwas so, wie es ist, nicht in Ordnung ist und können gar nicht angeben, wel-
che Konsequenzen sie im Falle des Nichtausführens der Zwänge fürchten.
Wiederholungszwänge
Sammeln als Hobby bedeutet das Aufbewahren von Dingen, die einem persönlich be-
deutsam sind. Zwangspatienten sammeln und horten viele Gegenstände oft jahrelang,
auch wenn sie diese gar nicht brauchen. Nichts kann weggeworfen werden aus Angst, es
könnte noch einmal gebraucht werden. Kaputte Maschinen oder Elektrogeräte werden
z.B. deshalb aufgehoben, weil man später einmal für ein neueres Gerät einen Ersatzteil
aus dem alten Gerät brauchen könnte. Alte Zeitungen, Zeitschriften, Prospekte, Rech-
nungen, Fahrkarten, Notizzettel, Plastiktüten, Flaschen, Kleidungsstücke werden aufge-
hoben, weil das Wegwerfen unmöglich geworden ist. Horten in der Wohnung führt
häufig zu Platzmangel, Unordentlichkeit und Unbehaglichkeit für die Familienmitglie-
der. Die Wohnung von manchen Zwangskranken schaut aus wie ein großer Müllhaufen.
Zwanghaftes Horten kann zusammenfassend charakterisiert werden als Sammeln
von meist wertlosen, nur wenig wertvollen bzw. unbrauchbar gewordenen Gegenstän-
den, die im Laufe der Zeit den gesamten Lebensraum ungemütlich machen, verstopfen
und für andere Zwecke fast unbrauchbar machen. Zu den gehorteten Gegenständen
besteht eine übermäßige emotionale Beziehung, weshalb das Wegwerfen schwer fällt,
zur Rationalisierung des Verhaltens werden oft Gründe wie Sparsamkeit, Verantwor-
tungsgefühl oder Brauchbarkeit der jeweiligen Teile und Objekte angeführt.
Die Betroffenen beschränken ihr Verhalten gewöhnlich auf den privaten Bereich der
Wohnung und sind im Beruf sowie im Freizeitverhalten eher unauffällig. Obwohl man-
che Personen im Laufe der Zeit unter ihrem krankhaften Horten leiden, sind sie nicht in
der Lage, ihr Verhalten zu ändern. Die Symptomatik kommt oft bei Menschen vor, die
zu depressiven Episoden neigen. Diese Störung wird oft als Kontrollzwang verstanden,
weil es eine Form der Kontrolle ist, alles zu sammeln und zu behalten.
Zwangsstörung 115
Der tiefere Sinn des zwanghaften Hortens liegt in folgender bewusster bzw. unbewuss-
ter Motivation: Sammeln vermittelt das Gefühl der Kontrolle über die Umwelt, eine
Absicherung gegenüber der Zukunft und somit eine Pseudosicherheit gegenüber der
Ungewissheit des weiteren Lebens. Auch für diese Zwangssymptomatik gilt der Grund-
satz, dass Zwangssymptome als Kompensationsversuche für erlebte Ich-Schwäche zu
interpretieren sind. Fehlende innere Sicherheit und Stabilität wird wie bei anderen
Zwängen über äußere Kontrollen zu regulieren versucht. Jedes Wegwerfen von gehorte-
ten Objekten fällt den Betroffenen sehr schwer, weil es ihnen wie ein Verlust von Si-
cherheit und Identität vorkommt. Die psychische Problematik der „zwanghaften Ver-
müllung“ besteht also weniger im Sammeln von nutz- und wertlosen Objekten, sondern
vielmehr in der Unfähigkeit, etwas wegwerfen oder weggeben zu können.
Zwanghafte Sammler setzen ihrer Sammelleidenschaft keinen Widerstand entgegen
und werden erst unruhig, wenn die Angehörigen Druck machen, verschiedene Sachen
wegzuwerfen. Die Betroffenen sind nur dann in der Lage, verschiedene gehortete Ob-
jekte wegzuwerfen, wenn sie durch verschiedene Maßnahmen eine gewisse psychische
Stabilität („Ich-Stärke“) erlangt haben, sonst werden sie nicht nur heftig protestieren,
sondern auf andere Weise noch negativer auffallen, d.h. es besteht bei einer Zwangs-
räumung ohne psychologisch-psychotherapeutische Begleitmaßnahmen die Gefahr der
psychischen Dekompensation der Betroffenen.
Die primäre zwanghafte Langsamkeit ist ein Handeln im Zeitlupentempo, wo alle All-
tagshandlungen extrem viel Zeit in Anspruch nehmen, ohne dass dieses Verhalten die
Folge anderer Zwänge darstellt. Diese Störung kommt monosymptomatisch zwar selten
vor, verhindert dann allerdings oft die berufliche und soziale Integration. Die Betroffe-
nen brauchen extrem lange zur Verrichtung alltäglicher Handlungen (Anziehen oder
Ausziehen, Körperpflege wie z.B. Zähneputzen, Rasieren, Haare kämmen, Tätigkeiten
im Haushalt, Essen). Massiv verlangsamend wirkt das Gefühl, dass eine Handlung noch
nicht passt (Unvollständigkeitsgefühl) oder das ständige detaillierte Durchdenken der
Handlungsabläufe, d.h. die Betroffenen denken ständig an Vergangenes. Wird der Ab-
lauf irgendwie gestört, muss alles wieder von vorne begonnen werden. Kurz dauernde
Alltagshandlungen werden auf diese Weise zu einer stundenlangen Beschäftigung.
116 Angststörungen
Zwangsgedanken
Zwangsgedanken (engl. obsessions) sind lästige und aufdringliche Gedanken, bildhafte
Vorstellungen und dranghafte Impulse. Der Begriff der Zwangsgedanken umfasst
zwanghafte Gedanken, Ideen, Vorstellungen, Erinnerungen, Fragen, Befürchtungen und
Grübeleien. Bestimmte Gedanken, Zahlen, Farben, Dinge, Anordnungen müssen ver-
mieden werden, weil davon Unglück ausgehen könnte, falsche Gedanken können sogar
zum Tod führen, wenn nichts dagegen unternommen wird. Die Betroffenen erleben die
jeweiligen Inhalte als persönlichkeitsfremd, abstoßend, unannehmbar, moralisch ver-
werflich, sinnlos und kaum ausschaltbar. Sie fühlen sich geistig sehr beunruhigt, vegeta-
tiv stark erregt und angespannt und neigen zur Vermeidung der quälenden Gedanken.
Zwangsgedanken haben wenig ausformulierte, recht abstrakte und verhaltensferne
Themen zum Inhalt. Sie können wegen der damit verbundenen Verantwortungs-
Schuldgefühle nicht beendet werden durch einfaches Übergehen zu anderen Gedanken.
Sie werden in einer Skala zur Erfassung von Zwängen (Y-BOCS Yale-Brown-
Obsessive-Compulsive-Scale) inhaltlich folgendermaßen differenziert:
z Zwangsgedanken bezüglich Aggressionen,
z Zwangsgedanken bezüglich Sexualität,
z Zwangsgedanken bezüglich Verschmutzung,
z Zwangsgedanken bezüglich Sammeln und Aufbewahren von Gegenständen,
z Zwangsgedanken bezüglich der Religion oder eines schlechten Gewissens,
z Zwangsgedanken bezüglich Symmetrie oder Genauigkeit,
z Zwangsgedanken bezüglich des eigenen Körpers,
z Zwangsgedanken anderer Art (z.B. Furcht, Dinge zu tun, zu sagen, zu verlieren).
Zwangsgedanken drehen sich immer um die eigene Person, vor allem um die möglichen
negativen Auswirkungen der eigenen Handlungen und Einstellungen. Sie stellen eine
mögliche Kritik des eigenen Verhaltens dar und werden meist in Frageform formuliert.
Nach Hoffmann & Hofmann gibt es zwei verschiedene zwanghafte Fragestrukturen:
1. „Kann es sein, dass ich etwas ungewollt und unbewusst getan habe?“ Hier zeigt sich
ein fundamentales Misstrauen in das eigene Gedächtnis.
2. „Kann es sein, dass ich jemandem, weil ich ein schlechter Mensch bin, wirklich
schaden wollte bzw. geschadet habe, ohne mir dessen bewusst zu sein?“ Hier zeigt
sich ein starkes Misstrauen in die eigene Person, die durch und durch schlecht sei.
Es bestehen quälende Befürchtungen, gegen soziale Tabus zu verstoßen, z.B. sich unab-
sichtlich aggressiv, sexuell unanständig, sozial auffällig oder religiös unangepasst zu
verhalten. Es bestehen auch große Befürchtungen um ein bevorstehendes Unheil, eher
auf andere, nahe stehende Personen bezogen als auf die eigene Person. Oft bestehen
Zwangsgedanken mit aggressivem Inhalt gegen nahe stehende Personen (z.B. jemanden
zu verletzen). Der Zwangskranke glaubt, bereits schuldig zu sein oder es zu werden
durch irgendein falsches Verhalten und fühlt sich für die Abwendung der Katastrophe
verantwortlich. Zwangsbefürchtungen und -impulse lösen Angst und Unruhe aus und
werden durch kognitive oder verhaltensbezogene Rituale neutralisiert, die jedoch nur
kurz wirksam sind. Die Angst auslösende Zwangsbefürchtung „Ich könnte jemanden
umbringen“ wird etwa durch den kurzfristig beruhigenden Gegengedanken „Ich darf
niemanden umbringen“ zu bewältigen versucht (dieser wird „Denkzwang“ genannt).
Derartige Zwangsgedanken stehen im Widerspruch zum Wertesystem der Betroffe-
nen (dies macht ihr Wesen aus): gotteslästerliche Gedanken eines frommen Menschen,
aggressive Impulse eines Pazifisten, Mordfantasien einer überbehütenden Mutter ge-
genüber ihrer geliebten kleinen Tochter, sexuelle Impulse eines sexuell Gehemmten.
Abergläubische Ängste rund um Todesängste zählen auch zu den Zwangsgedanken.
Nach dem DSM-IV sind Denkzwänge Handlungszwänge, die ähnlich Angst und Unru-
he reduzierend wirken wie sichtbare Zwangsrituale. Ein Angst machender Zwangsge-
danke wird durch einen Denkzwang als Gegengedanken neutralisiert. Denkzwänge
(Gedankenzwänge) sind gedankliche Rituale, mit denen Zwangsgedanken, -impulse,
und -vorstellungen („Wirf dich vor den Zug“, „Spring vom Balkon hinunter“, „Töte
deinen Vater“) neutralisiert werden. Kognitive Rituale (Beschwörungsformeln, Gebete,
Sätze, Zählen) werden zur Beruhigung eingesetzt (z.B. ein Zählzwang oder „gute“ Ge-
danken wie „Dein Vater ist gut“). Bestimmte Zwangsgedanken führen zu zwanghafter
Beschäftigung mit den entsprechenden, meist unbestimmten Inhalten. Es besteht oft
eine enge Kombination von Zwangsgedanken und verdeckten Zwangshandlungen.
Zwanghaftes Grübeln
Differenzialdiagnose
Eine sorgfältige Differenzialdiagnose der Zwangsstörung gegenüber anderen Störungen
ist von großer Bedeutung, wenngleich oft eine Komorbidität gegeben sein kann. Im
Einzelnen ist eine Abgrenzung gegenüber folgenden Störungen vorzunehmen [96]:
Generalisierte Angststörung
Immer wiederkehrende Gedanken treten bei einer Zwangsstörung und bei einer genera-
lisierten Angststörung auf. Zwangsgedanken bzw. zwanghaftes Grübeln haben zwar
eine gewisse Ähnlichkeit mit einer generalisierten Angststörung, lassen sich in der Re-
gel jedoch eher leicht davon unterscheiden:
z Bei einer generalisierten Angststörung steht eine ständige übertriebene Besorgtheit
im Vordergrund, die mit realen Lebensumständen zu tun hat und eher ich-nahe (ich-
synton) erlebt wird. Menschen mit einer generalisierten Angststörung sind zwar
ständig nervös und ängstlich und grübeln viel über gefürchtete Zukunftssituationen,
ihre Sorgen richten sich jedoch auf alltägliche Belastungen und Gefahren, wie sie
auch von gesunden Menschen gelegentlich gefürchtet werden, jedoch nicht in die-
sem Ausmaß.
z Zwangsgedanken sind charakterisiert durch die Aufdringlichkeit der Gedanken, die
damit verbundenen Gedanken von Verantwortung und Schuld sowie den irrealen
Charakter der Zwangsgedanken, die eher als ich-fremd (ich-dyston) erlebt werden.
z Menschen mit Zwangsstörungen weisen mentale und verhaltensbezogene Rituale
auf, um auf diese Weise die innere Anspannung zu reduzieren. Derartige Rituale
fehlen bei Personen mit einer generalisierten Angststörung.
120 Angststörungen
Phobien
Posttraumatische Belastungsstörung
Schizophrenie
Depressionen
Depressive Grübeleien werden als ich-synton und stimmungskongruent erlebt und wer-
den nicht abgewehrt, zwanghafte Grübeleien werden als ich-dyston erlebt. Die Abgren-
zung gegenüber Depressionen kann (zumindest im Querschnitt) schwierig sein.
Zwangsstörung und Depression hängen oft eng zusammen [99]:
z Zwangsgedanken (Grübelzwänge) treten oft im Rahmen einer depressiven Episode
auf. Eine Zwangsstörung sollte nur dann diagnostiziert werden, wenn der Grübel-
zwang nicht im Zusammenhang mit einer Depression auftritt und anhält.
z Depressive Reaktionen entstehen oft auch als Folge nicht bewältigbarer Zwänge,
gleichsam als Resignationserscheinung nach langen Kämpfen gegen die Zwänge.
z Bestimmte Antidepressiva (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) sind auch
bei Zwangsstörungen wirksam, was biologische Zusammenhänge nahe legt.
Oft wird von „zwanghaftem“ Trinken, Essen, Spielen und Sexualverhalten gesprochen.
Gegenüber Sucht- und Drangverhalten gibt es typische Abgrenzungskriterien [100]:
z Bei Substanzmissbrauch haben die Betroffenen zumindest zum Zeitpunkt des Ver-
haltens einen gewissen Genuss, auch wenn sie es später bereuen, dem Drang nach-
gegeben zu haben. Zwangshandlungen bereiten dagegen niemals angenehme Gefüh-
le, sondern führen nur zu einem Nachlassen unangenehmer Gefühle.
z Bei einer Essstörung (Anorexie, Bulimie) besteht zwar eine zwangsähnliche Be-
schäftigung mit der Symptomatik oder ein ausgeprägter Drangzustand, der nicht sel-
ten als zwanghaft erlebt wird, es wird jedoch eindeutig ein positiv definierter Zielzu-
stand angestrebt, der lustvoll fantasiert oder erlebt wird (z.B. dünn sein).
z Drang- und Impulsstörungen sind eine Erleichterung bei allgemeiner Anspannung,
Zwänge beinhalten eine spezifische Angst, die durch Rituale bekämpft wird.
Somatoforme Störungen
Zwanghafte (anankastische)Persönlichkeitsstörung
Ticstörung
Hirnorganische Störung
Der Beginn einer Psychotherapie erfolgt trotz großen Leidensdrucks zumeist nur auf
Anraten eines Arztes oder auf Druck der Angehörigen. In den ersten Phasen einer Psy-
chotherapie besteht oft eine große Ambivalenz gegenüber Änderungsversuchen.
Lebensereignisse, psychosoziale Faktoren und vermehrter Stress tragen zur Auslö-
sung oder spezifischen Ausformung von Zwängen in ähnlicher Weise bei wie bei ande-
ren Angststörungen. Zwangsstörungen können durchaus Schwankungen aufweisen.
Rituale können verzögert, hinausgeschoben oder in Anwesenheit bestimmter Men-
schen unterdrückt werden (z.B. zur Vermeidung von Auffälligkeit). Ein Durchbruch
aggressiver oder sexueller Impulse kommt aufgrund der starken Kontrollen nur in ex-
tremen Ausnahmefällen vor.
Der Verlauf einer Zwangsstörung ist ohne adäquate Behandlung oft chronisch stabil,
progredient oder schwankend. Spontanheilungen sind im Erwachsenenalter selten, wenn
die Störung bereits länger als ein Jahr vorhanden war. Eine vollständige Heilung einer
langjährigen Symptomatik ist eher die Ausnahme, eine wesentliche Besserung durch
eine Kombination von Verhaltenstherapie und Psychopharmakotherapie ist jedoch sehr
wahrscheinlich, wenn die Patienten therapiemotiviert sind.
Rückfälle nach ursprünglich erfolgreichen Behandlungen im Rahmen stationärer
Aufenthalte sind häufig, weshalb eine längere ambulante Nachbehandlung zur Stabili-
sierung der Fortschritte angezeigt erscheint. Symptomverschlechterungen können durch
psychosozialen Stress verursacht sein [106]. Andererseits führt eine chronifizierte
Zwangsstörung gewöhnlich zu erheblichen familiären Problemen, wenn die Angehöri-
gen nicht mehr länger bereit sind, die Zwänge zu ertragen.
Eine Zwangsstörung tritt oft in Kombination mit anderen psychischen Störungen
auf, vor allem mit einer Depression oder Dysthymie (lang andauernde depressive Stö-
rung leichterer Art). Mindestens ein Drittel der Zwangskranken hat auch eine Depressi-
on. Die Zwänge sind während einer depressiven Episode gewöhnlich stärker ausgeprägt.
Die Komorbidität von Zwangsstörung und erheblicher Depression ist ein erschwerender
Umstand hinsichtlich der Beseitigung der Zwänge. Das Risiko, dass eine Zwangstörung
zu einer Depression führt, ist dreimal so hoch wie umgekehrt. Bei zunehmender bzw.
hoher Intensität bewirken Zwänge eine psychophysische Erschöpfung und Resignation.
Neben der Depression besteht eine hohe Komorbidität mit verschiedenen Angststörun-
gen (spezifischen Phobien, sozialen Phobien, generalisierten Angststörungen und Pa-
nikstörungen mit und ohne Agoraphobie). Häufig ist auch eine Komorbidität mit soma-
toformen Störungen, vor allem mit einer Hypochondrie oder einer Dysmorphophobie.
Mindestens ein Drittel der Patienten mit Zwangsstörungen weist eine Persönlich-
keitsstörung auf, vor allem eine selbstunsichere, dependente oder histrionische Persön-
lichkeitsstörung. Eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung kommt entgegen früheren
Behauptungen nur bei 10-25% der Zwangspatienten vor. Eine Zwangsstörung als Be-
gleitsymptomatik wurde auch bei verschiedenen Personen mit Essstörungen (Anorexie
und Bulimie) gefunden. Rund 10% der Frauen mit einer Zwangsstörung hatten in der
Vergangenheit eine Anorexia nervosa. Missbrauch oder Abhängigkeit von Alkohol
gehen deswegen häufig mit einer Zwangsstörung einher, weil anfangs oft mit Hilfe von
Alkohol eine Erleichterung der Zwänge zu erreichen versucht wurde.
Zwangskranke bekommen – im Gegensatz zu früheren Annahmen – nicht häufiger
eine Schizophrenie als andere Personen. Auch bei den Familienangehörigen von
Zwangskranken wurde kein erhöhtes Risiko für eine Schizophrenie gefunden.
Die Zwangsstörung wird zwar häufig auch in Verbindung mit dem Gilles-de-la-
Tourette-Syndrom diskutiert, eine Komorbidität wurde jedoch nur bei 5% gefunden.
Posttraumatische Belastungsstörung 125
Posttraumatische Belastungsstörung –
Ein Trauma bewirkt bleibende Angstzustände
„um ein aus mannigfaltigen nervösen und psychischen Erscheinungen zusammengesetztes Krankheits-
bild, welches sich in Folge von heftigen Gemüthserschütterungen, plötzlichem Schreck, großer Angst
ausbildet und daher nach schweren Unfällen und Verletzungen, besonders nach Feuersbrünsten, Explo-
sionen, Entgleisungen oder Zusammenstößen auf der Eisenbahn u. dergl. beobachtet wird.“
In Frankreich wiesen Charcot und Janet erstmals in den 80er-Jahren des 19. Jahrhun-
derts auf die Bedeutung von Traumata zur Erklärung so genannter „hysterischer“ Sym-
ptome hin. Während Charcot von einer „traumatischen Hysterie“ sprach, ging Janet
von einer posttraumatischen „Dissoziation“ aus. Er studierte als erster intensiv das
Phänomen der Dissoziation in Zusammenhang mit der Bewältigung traumatischer Bela-
stungen. Seine Erkenntnisse gerieten durch die spätere Dominanz des psychoanalyti-
schen Denkens in Vergessenheit und wurden erst in neuerer Zeit ausreichend gewürdigt.
126 Angststörungen
In Österreich hatte Sigmund Freud bereits Ende des 19. Jahrhunderts panikartige
Symptome als Folge von sexuellem Missbrauch in der Kindheit und diesen wiederum
als Ursache für die Hysterie beschrieben, er musste seine Feststellungen über einen real
weit verbreiteten sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie jedoch unter dem Druck
der empörten Öffentlichkeit widerrufen und die realen traumatisierenden Erfahrungen
zu sexuellen Wunschfantasien seiner „hysterischen“ Patientinnen erklären.
Die panikartigen Anfälle wie bei der 18-jährigen, vom Vater sexuell belästigten Ka-
tharina, deren Fall in den 1895 erschienenen „Studien zur Hysterie“ dargestellt ist,
verstand Freud als typische angsthysterische Anfälle in Reaktion auf das erinnerte
Trauma. 1896 veröffentlichte Freud [109] 18 Fallstudien unter dem Titel „Zur Ätiologie
der Hysterie“, wo er feststellte:
„Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich – durch die analy-
tische Arbeit reproduzierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalls – ein oder mehrere Erleb-
nisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören. Ich halte dies für eine
wichtige Enthüllung...“
Freuds Erklärungen wurden damals als wissenschaftliches Märchen abgelehnt und we-
der zitiert noch diskutiert. Freud wurde ausgegrenzt und erhielt keine Überweisungen
mehr. Bereits ein Jahr später verwarf Freud insgeheim die Theorie vom Trauma als
Ursache der Hysterie, wie aus seinen Briefen hervorgeht. Er war zu sehr beunruhigt
über die Folgen seiner Erkenntnisse. Wenn seine Patientinnen die Wahrheit gesagt hat-
ten und seine ursprüngliche Theorie stimmte, dann war aufgrund der Häufigkeit der
„Hysterie“ sexueller Missbrauch als weit verbreitet anzusehen. Freuds Patientinnen
stammten aus geachteten bürgerlichen Familien Wiens. Dort durften derartige Ereignis-
se einfach nicht vorkommen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
Judith Herman [110] beschreibt den Standpunktwechsel von Freud folgendermaßen:
„Aus den Trümmern seiner Theorie zur Entstehung der Hysterie durch frühe Traumatisierung schuf
Freud die Psychoanalyse. Die maßgebliche psychologische Theorie des 20. Jahrhunderts basiert auf der
Leugnung weiblicher Realität. Die Sexualität stand weiterhin im Mittelpunkt des Forschungsinteresses,
doch das ausbeuterische soziale Umfeld, in dem sexuelle Beziehungen letztlich stattfinden, verschwand
völlig aus dem Gesichtsfeld. Die Psychoanalyse beschäftigte sich von nun an mit dem inneren Wandel
der Phantasien und Sehnsüchte, losgelöst von den realen Erfahrungen. Im Jahr 1910 war Freud dann zu
dem Schluß gekommen, daß die Berichte seiner hysterischen Patientinnen über sexuellen Mißbrauch in
der Kindheit nicht der Wahrheit entsprachen, obwohl er nie eine klinische Dokumentation falscher
Anklagen vorlegte: ‘Als ich dann doch erkennen mußte, diese Verführungsszenen seien niemals vorge-
fallen, seien nur Phantasien, die meine Patienten erdichtet, die ich ihnen vielleicht selbst aufgedrängt
hatte, war ich eine Zeitlang ratlos.’ “
1920 sah Freud in „Jenseits des Lustprinzips“ eine traumatische Situation dann als
gegeben an, wenn von außen so starke Erregungen auf das Ich einstürzen, dass der Reiz-
schild durchbrochen werde. Das Ich werde dabei von Außenreizen überschwemmt und
die bisher erreichte Anpassung werde massiv gestört. Der Betroffene versuche die Pro-
blematik durch die Regression zu einem früheren Abwehrmechanismus zu bewältigen,
nämlich durch die zwanghafte Wiederholung der traumatischen Situation.
Freud hatte sich auch Verdienste erworben bezüglich der angemessenen Beurteilung
und Behandlung der österreichischen Soldaten mit „Kriegszittern“ im 1. Weltkrieg,
indem er in einem Gutachten gegen die schmerzhaften galvanischen Stromstöße an den
symptomtragenden Körperteilen auftrat.
Posttraumatische Belastungsstörung 127
Die „Kriegszitterer“ des 1. Weltkriegs, die mit den Grausamkeiten des Krieges nicht
zurechtkamen, wurden als Simulanten, Drückeberger und unzulängliche Männer abge-
stempelt und mit sehr schmerzhaften Stromschlägen behandelt, die zweifellos einen
strafenden, disziplinierenden und abschreckenden Charakter hatten. Die österreichi-
schen und deutschen Psychiater gingen davon aus, dass „richtige Männer“ die Kriegser-
lebnisse unbeschadet überstehen könnten und nur „Psychopathen“ sich in Krankheiten
flüchten würden. Im 2. Weltkrieg traten zuerst neue psychosomatische Erkrankungen
auf, wie etwa Magengeschwüre, Herz-Kreislauf-Störungen oder Kopfschmerzen. Spä-
ter, als der Krieg immer grausamer wurde, kamen die aus dem 1. Weltkrieg bekannten
Kriegsneurosen hinzu.
Im Gegensatz zu Deutschland standen die amerikanischen und britischen Behörden
nach beiden Weltkriegen den Soldaten mit massiven psychischen Kriegsfolgen Renten
zu. Vor allem im deutschen Sprachraum wurden bis in die 1970er-Jahre berufsunfähig
gewordene Menschen mit traumatischen Erlebnissen als Rentenneurotiker abqualifi-
ziert. Es wurde ihnen die Echtheit der berichteten Symptome abgesprochen und eine
Aggravationstendenz mit dem Wunsch nach finanzieller Entschädigung unterstellt
(„Kompensationsneurose“). Man ging von einer konstitutionellen Schwäche als Ursache
für psychische Störungen nach Extrembelastungen aus. Selbst bei den Opfern des Nazi-
Terrors wie etwa den KZ-Häftlingen, deren psychische Beschwerden eindeutige Folge
der traumatisierenden Umstände waren, verwendeten psychiatrische Gutachter mit Vor-
liebe Diagnosen wie „Neurasthenie“, „Psychasthenie“ und „psychovegetative Dysto-
nie“. Erst politische Entscheidungen führten später zu Entschädigungszahlungen [111].
Die Erforschung psychischer Störungen infolge traumatischer Kriegs- oder Internie-
rungserlebnisse erlahmte jeweils kurz nach beiden Weltkriegen, obwohl dabei interes-
sante Erkenntnisse gewonnen wurden. Bei zurückgekehrten Kriegsteilnehmern wurde
1945 in den USA eine Gefechtsneurose mit folgenden Symptomen diagnostiziert: inne-
re Unruhe, Aggressionen, Depressionen, Gedächtnisstörungen, Überaktivität des sym-
pathischen Nervensystems, Konzentrationsstörungen, Alkoholismus, Albträume, Phobi-
en und Misstrauen [112]. In den 1950er- und 1960er-Jahren begann man mit der Erfor-
schung der psychischen Folgen von Natur- und Industriekatastrophen (Brandkatastro-
phen, Gasexplosionen, Erdbeben, Tornados u.a.). Seit den 1970er-Jahren widmete man
sich in den USA intensiv der Untersuchung von Opfern sexueller und nichtsexueller
Gewalt. Später untersuchte man auch Traumata durch nötige medizinische Eingriffe.
Die Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung (engl. PTSD posttraumatic
stress disorder, d.h. posttraumatische Stressverarbeitungsstörung) ergab sich aus den
Untersuchungen an Vietnam-Kriegsteilnehmern in den USA. Sie wurde 1980 in das
DSM-III aufgenommen, u.a. auf Betreiben des Psychoanalytikers Mardi Horowitz
[113]. Die Störung findet sich im ICD-10 unter den „Reaktionen auf schwere Belastun-
gen und Anpassungsstörungen“. „Posttraumatisch“ bezeichnet den Zustand nach einer
schweren seelischen Verwundung (post = danach, trauma = seelische Verwundung).
Im Laufe der Erforschung dieser Störung wurde klar, dass die psychischen Syndro-
me, an denen die Opfer von Vergewaltigungen, häuslicher Gewalt und Inzest litten, den
Syndromen der Kriegsopfer entsprachen. Besonderen Anteil an dieser Entwicklung
hatte der erstarkende Feminismus in den USA in den 1970er-Jahren.
Judith Herman [114] stellt in ihrem lesenswerten Buch „Die Narben der Gewalt.
Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden“, das den Stand der Forschung
und der Therapie mit Opfern häuslicher, sexueller und politischer Gewalt zusammen-
fasst, lapidar fest: „Weibliche Hysterie und männliche Kriegsneurose sind das gleiche.“
128 Angststörungen
A. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden
Kriterien vorhanden waren:
(1) die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die
tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen
Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten.
(2) Die Reaktion der Person umfaßte intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen...
B. Das traumatische Ereignis wird beharrlich auf mindestens eine der folgenden Weisen wiedererlebt:
(1) wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die Bilder, Gedan-
ken oder Wahrnehmungen umfassen können...
(2) Wiederkehrende, belastende Träume von dem Ereignis...
(3) Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt (beinhaltet das Gefühl, das
Ereignis wiederzuerleben, Illusionen, Halluzinationen und dissoziative Flashback-Episoden,
einschließlich solcher, die beim Aufwachen oder bei Intoxikationen auftreten)...
(4) Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweis-
reizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte dessel-
ben erinnern.
(5) Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen,
die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erin-
nern.
C. Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind, oder eine Abflachung
der allgemeinen Reagibilität (vor dem Trauma nicht vorhanden).
Mindestens drei der folgenden Symptome liegen vor:
(1) bewußtes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Ver-
bindung stehen,
(2) bewußtes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma
wachrufen,
(3) Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern,
(4) deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten,
(5) Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen,
(6) eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu empfinden),
(7) Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z.B. erwartet nicht, Karriere, Ehe, Kinder oder normal
langes Leben zu haben).
D. Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens zwei der
folgenden Symptome liegen vor:
(1) Schwierigkeiten ein- oder durchzuschlafen,
(2) Reizbarkeit oder Wutausbrüche,
(3) Konzentrationsschwierigkeiten,
(4) übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz),
(5) übertriebene Schreckreaktion.
E. Das Störungsbild (Symptome unter Kriterium B, C und D) dauert länger als 1 Monat.
Bestimme, ob:
Akut: Wenn die Symptome weniger als 3 Monate andauern.
Chronisch: Wenn die Symptome mehr als 3 Monate andauern.
Bestimme, ob
Mit Verzögertem Beginn: Wenn der Beginn der Symptome mindestens 6 Monate nach dem Bela-
stungsfaktor liegt.
130 Angststörungen
Das DSM-IV unterscheidet nach der Dauer der Symptome bzw. dem Zeitpunkt des
Störungseintritts drei Varianten der Beeinträchtigung:
z akut: weniger als 3 Monate lang,
z chronisch: mindestens drei Monate oder länger (bei ca. 40-50%),
z mit verzögertem Beginn: zwischen dem traumatischen Ereignis und dem Beginn der
Symptome sind mindestens 6 Monate vergangen (dies ist eher selten).
Nach dem ICD-10 handelt es sich bei der posttraumatischen Belastungsstörung um eine
verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation
von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß (kurz oder lang
anhaltend), die bei fast jedem Menschen eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.
Beispielhaft angeführt werden folgende Traumata: durch die Natur oder durch Men-
schen verursachte Katastrophen, Kampfhandlungen, schwerer Unfall, Zeuge des ge-
waltsamen Todes anderer oder selbst Opfer von Folterung, Terrorismus, Vergewalti-
gung oder anderen Verbrachen zu sein. Von besonderer Bedeutung und Tragweite ist
der Umstand, dass auch nach dem ICD-10 Angehörige und Bekannte der Betroffenen
sowie sonstige Zeugen eines traumatischen Geschehens eine posttraumatische Bela-
stungsstörung entwickeln können. Prämorbide Persönlichkeitsfaktoren oder neurotische
Vorerkrankungen können eine posttraumatische Belastungsstörung laut ICD-10 zwar
begünstigen und verstärken, jedoch nicht entscheidend bewirken. Die frühere Annahme,
dass die Entwicklung dieser Störung nur bei Personen mit bereits prämorbider psychi-
scher Auffälligkeit (z.B. mit emotionaler Labilität, neurotischen, affektiven oder schi-
zophrenen Beeinträchtigungen) vorkommt, gilt als widerlegt. Es besteht heute ein Kon-
sens darüber, dass die Störung auch bei früher psychisch stabilen Personen auftreten
kann, wenn diese außergewöhnlich belastenden Situationen ausgesetzt sind.
Zentrale Merkmale der posttraumatischen Belastungsstörung sind nach den klinisch-
diagnostischen Leitlinien des ICD-10 folgende Symptome: wiederholtes unausweichli-
ches Wiedererleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinne-
rungen, „Flashbacks“), Träumen oder Tagträumen, andauernde Gefühle von Betäubt-
sein und emotionaler Abgestumpftheit (Gefühlsabstumpfung), emotionaler Rückzug,
Gleichgültigkeit gegenüber anderen, Teilnahmslosigkeit der Umwelt gegenüber, Freud-
losigkeit (Anhedonie), Vermeidung von traumarelevanten Aktivitäten und Situationen,
Furcht vor oder Vermeidung von Stichworten, die an das ursprüngliche Trauma erin-
nern könnten, manchmal auch dramatische Ausbrüche von Angst, Panik oder Aggressi-
on infolge des plötzlichen Erinnerns und intensiven Wiedererlebens des Traumas oder
der ursprünglichen Reaktion darauf, weiters vegetative Übererregtheit mit erhöhter
Vigilanz, übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlafstörung. Weitere Symptome wie
Angst, Depression, Selbstmordgedanken, Drogeneinnahme und übermäßiger Alkohol-
konsum können das Störungsbild verschärfen.
Die Störung entwickelt sich oft nicht sofort nach dem traumatischen Erlebnis, wie
dies bei einer akuten Belastungsreaktion oder einer Anpassungsstörung der Fall ist,
sondern häufig erst Wochen bis Monate später, doch selten später als sechs Monate
nach dem Trauma. Die Feststellung des ICD-10, dass eine posttraumatische Belastungs-
störung verzögert, jedoch gewöhnlich innerhalb von sechs Monaten nach einem trauma-
tischen Ereignis von außergewöhnlicher Schwere auftritt (wenngleich nicht näher spezi-
fizierte Ausnahmen zugestanden werden), vernachlässigt den Umstand, dass bei zahl-
reichen Personen der Ausbruch der Störung erst nach Jahren eintritt, z.B. bei vergewal-
tigten Frauen, die das Ereignis jahrelang aus der Erinnerung verdrängt haben.
Posttraumatische Belastungsstörung 131
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 [116] ist eine posttraumatische Belastungs-
störung (F43.1) folgendermaßen definiert:
A. Die Betroffenen waren einem kurz- oder langdauernden Ereignis oder Geschehen von außerge-
wöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgrei-
fende Verzweiflung auslösen würde.
C. Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang stehen, werden tatsächlich
oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Erlebnis.
D. Entweder 1. oder 2.
1. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an einige wichtige Aspekte der Belastung zu er-
innern.
2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden
vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale:
a. Ein- und Durchschlafstörungen
b. Reizbarkeit oder Wutausbrüche
c. Konzentrationsschwierigkeiten
d. Hypervigilanz
e. erhöhte Schreckhaftigkeit
E. Die Kriterien B., C. und D. treten innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis oder
nach Ende einer Belastungsperiode auf. (Aus bestimmten Gründen kann ein späterer Beginn be-
rücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben werden).
Dissoziative Symptome fehlen im ICD-10 ebenso wie im DSM-IV, wo sie nur bei der
akuten Belastungsstörung angeführt sind. Nach den ICD-10-Forschungskriterien ist
Angst kein obligates Diagnosekriterium (Schreckhaftigkeit ist nur ein mögliches Sym-
ptom), weshalb die posttraumatische Belastungsstörung – anders als DSM-IV – nicht
als Angststörung, sondern als Reaktion auf eine schwere Belastung (Gruppe F43) gilt.
Im Vergleich zum ICD-10 sind die Kriterien für eine posttraumatische Belastungs-
störung im DSM-IV vor allem durch die Symptomgruppe C und F viel enger gefasst,
was erhebliche Auswirkungen auf die angenommene Häufigkeit in der Bevölkerung hat.
Bei einer Untersuchung an einer großen Stichprobe wiesen nach den ICD-10-Kriterien
7% der Untersuchten, nach den DSM-IV-Kriterien dagegen nur 3% eine posttraumati-
sche Belastungsstörung auf. Zwischen beiden Diagnoseschemata bestand nur eine
Übereinstimmung von 35%. Die Häufigkeit der Störung wird also nach dem ICD-10
überschätzt (keine Mindestzeitdauer der Störung und kein bestimmtes Beeinträchti-
gungsausmaß), nach dem DSM-IV dagegen unterschätzt (vor allem bei Kindern).
132 Angststörungen
DSM-IV und ICD-10 implizieren durch die jeweils angeführten Symptome, dass
eine posttraumatische Belastungsstörung und deren Ausmaß nicht allein durch das
Trauma an sich definiert ist, sondern vielmehr auch durch die subjektive Reaktion dar-
auf, die auf die unzureichende Verarbeitungsfähigkeit der betroffenen Person hinweist
(z.B. intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen). Traumatisierend wirkt zudem nicht
nur die Bedrohung der körperlichen Integrität, sondern auch die Bedrohung der funda-
mental menschlichen Erfahrung, eine autonom handelnde und denkende Person zu sein.
Das Sich-Aufgeben und der Verlust jeglicher Autonomie in der Zeit der traumatischen
Erfahrung stellen nach neueren Erkenntnissen an vergewaltigten oder inhaftierten Men-
schen – unabhängig von der Lebensbedrohung – verschärfende Belastungsfaktoren dar,
was zukünftig stärker berücksichtigt werden sollte.
Bei Holocaust-Überlebenden ist die posttraumatische Symptomatik als „survivor
syndrome“ bekannt und besteht aus einer Mischung von chronischer Angst, depressiv-
dysphorischer Stimmung, Schuld- und Schambefühlen bezüglich des Überlebens, psy-
chosomatischen Symptomen, Hypervigilanz, Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung
und bleibenden Persönlichkeitsveränderungen. Das Verhalten der Betroffenen ist der
Grund, warum sich die traumatischen Erfahrungen der Nazi-Opfer nachweislich oft bis
in die zweite Generation, d.h. bis auf die Kinder, auswirken.
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung reichen Schrecken und Terror bis in
die neuronalen Gehirnstrukturen hinein und bilden ein schwer löschbares „molekulares
Angstgedächtnis“, dessen Grundlage in mediobasalen Schläfenlappenstrukturen (Hip-
pocampus und Amygdala) zu suchen ist. Diese Hirnregionen üben eine Kontrolle über
die vegetativen und endokrinen Zentren von Hypothalamus und Hypophyse aus, was
die oft nur mühsame Veränderbarkeit der Symptome durch Pharmako- oder Psychothe-
rapie erklärt. Lerntheoretisch ausgedrückt, kommt es bei einer posttraumatischen Bela-
stungsstörung trotz häufiger Konfrontation zu keiner Gewöhnung (Habituation). Erfolg-
reiche Behandlungskonzepte bewirken während der Angst aktivierenden Konfrontation
mit den Ereignissen in Verbindung mit kognitiven Strategien eine Neuformierung der
Erinnerung durch die Hinzufügung hilfreicher Elemente, z.B. durch die Entwicklung
neuer Sichtweisen des Traumas in einem anderen, umfassenderen Kontext.
Wenn die Grundstörung von Fachleuten nicht erkannt bzw. von den Betroffenen
nicht berichtet wird, erhalten traumatisierte Personen nach wie vor oft eine Diagnose,
die mit den Folgen dieser Störung zusammenhängt (depressive Anpassungsstörung,
Alkoholmissbrauch, Verhaltensstörung, Somatisierungsstörung, dissoziative Störung,
Borderline-Persönlichkeitsstörung). Das häufige Fehlen einer spezifischen Therapie
trägt zur weiteren Chronifizierung der Störung bei. Im Vergleich zu früher hat sich
jedoch bereits eine wesentliche Verbesserung ergeben; dies gilt sowohl für die therapeu-
tischen Angebote als auch für die ansteigende Zahl an Selbsthilfebüchern.
In der Literatur findet man je nach Betrachtungsaspekt der posttraumatischen Bela-
stungsstörung verschiedene Einteilungsgesichtspunkte, sodass im Folgenden näher
daraus eingegangen wird. Man unterscheidet nach der Nähe zum traumatischen Erlebnis
zwischen drei Arten von Opfern, was vor allem im Rahmen von Zivilgerichtsverfahren
bei Forderungen nach finanzieller Kompensation (Schmerzensgeld), Übernahme von
Therapiekosten und der psychiatrischen Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit (z.B. von
Zeugen, Helfern oder Verwandten) von erheblicher Bedeutung ist:
z Primäropfer: Betroffene,
z Sekundäropfer: Zeugen, Einsatzkräfte,
z Tertiäropfer: Angehörige, Freunde, Bekannte.
Posttraumatische Belastungsstörung 133
Wegen der unterschiedlichen Folgen hat sich eine Einteilung nach zufälligen versus
menschlich verursachten Traumata bewährt:
z Zufällige Traumata: Katastrophen, berufsbedingte und Unfalltraumata (Natur- und
Technikkatastrophen, berufsbedingte und Arbeitsunfälle, Verkehrsunfälle).
z Menschlich verursachte Traumata: Körperliche und sexuelle Gewalt in Kindheit,
Jugend oder Erwachsenenalter, Kriegserlebnisse, Folter, politische Inhaftierung,
Geiselhaft und andere menschlich verursachte, gezielt gesetzte Traumata wirken
sich viel verheerender auf die Persönlichkeit der Betroffenen aus als andere Trauma-
ta und begünstigen eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung.
Nach der Auftretenshäufigkeit kann man zwei Arten von Traumata unterscheiden:
z Kurz dauernde, einmalige traumatische Erfahrung (Monotrauma, Typ-I-Trauma),
meist gekennzeichnet durch akute Lebensgefahr, Plötzlichkeit und Überraschung:
Naturkatastrophen, technische Katastrophen, Überfall, Vergewaltigung, Unfall,
Schusswechsel. Dies entspricht dem Störungsbild nach ICD-10 und DSM-IV.
z Lange dauernde bzw. wiederholte traumatische Erfahrungen (Multitraumata, auch
Typ-II-Traumata genannt), charakterisiert durch Serien verschiedener traumatischer
Einzelerlebnisse und geringe Vorhersagbarkeit der weiteren traumatischen Ereignis-
se: Krieg, Geiselhaft, KZ-Haft, mehrfache Folter, jahrelanger sexueller Missbrauch,
ständige körperliche Misshandlung. Multitraumata begünstigen eine so genannte
komplexe posttraumatische Belastungsstörung, die in den gegenwärtigen Diagnose-
schemata leider noch nicht vorkommt.
Judith Herman, die renommierte amerikanische Traumaexpertin und Aktivistin bei der
amerikanischen Frauenbewegung, hat 1992 in ihrem empfehlenswerten Buch „Die
Narben der Gewalt“ für komplexe, menschlich verursachte und wiederholt gesetzte
Traumatisierungen, die mit Affektregulationsstörungen, Bewusstseinsstörungen (Disso-
ziation und Amnesie, Somatisierungsstörungen, gestörter Wahrnehmung des Täters und
der eigenen Person und Störungen des persönlichen Wertesystems einhergehen, den
(heute noch immer nicht offiziellen) Begriff der „komplexen posttraumatischen Bela-
stungsstörung“ vorgeschlagen und folgendermaßen definiert [118]:
1. Der Patient war über einen längeren Zeitraum (Monate bis Jahre) totalitärer Herrschaft unterwor-
fen, wie zum Beispiel Geiseln, Kriegsgefangene, Überlebende von Konzentrationslagern oder Aus-
steiger aus religiösen Sekten, aber auch Menschen, die in sexuellen oder familiären Beziehungen
totale Unterdrückung erlebten, beispielsweise von Familienangehörigen geschlagen, als Kinder
physisch missbraucht wurden oder von organisierten Banden sexuell ausgebeutet wurden.
3. Bewußteinsveränderungen, darunter
- Amnesie oder Hypermnesie, was die traumatischen Ereignisse anbelangt
- zeitweilig dissoziative Phasen
- Depersonalisation/Derealisation
- Wiederholung des traumatischen Geschehens, entweder als intrusive Symptome der post-
traumatischen Belastungsstörung oder als ständige grüblerische Beschäftigung
6. Beziehungsprobleme, darunter
- Isolation und Rückzug
- gestörte Intimbeziehungen
- wiederholte Suche nach einem Retter (eventuell alternierend mit Isolation und Rückzug)
- anhaltendes Misstrauen
- wiederholt erfahrene Unfähigkeit zum Selbstschutz
C. Somatisierung
D. Chronische Persönlichkeitsveränderungen
(1) Änderung in der Selbstwahrnehmung: chronische Schuldgefühle; Selbstvorwürfe; Gefühle,
nichts bewirken zu können: Gefühle, fortgesetzt geschädigt zu werden
(2) Änderungen in der Wahrnehmung des Schädigers: verzerrte Einstellungen und Idealisierung
des Schädigers
(3) Veränderung der Beziehung zu anderen Menschen:
(a) Unfähigkeit zu vertrauen und Beziehungen mit anderen aufrechtzuerhalten
(b) die Tendenz, erneut Opfer zu werden
(c) die Tendenz, andere zum Opfer zu machen
E. Veränderungen in Bedeutungssystemen
1. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit
2. Verlust der bisherigen Lebensüberzeugungen
„Die Persönlichkeitsänderung muss andauernd sein und sich in unflexiblem und unangepaßtem Verhal-
ten äußern, das zu Beeinträchtigungen in den zwischenmenschlichen, sozialen und beruflichen Bezie-
hungen führt. Die Persönlichkeitsänderung sollte fremdanamnestisch bestätigt werden.
Zur Diagnosestellung müssen folgende, zuvor nicht beobachtete Merkmale vorliegen:
1. Eine feindliche oder misstrauische Haltung der Welt gegenüber.
2. Sozialer Rückzug.
3. Gefühle der Leere oder Hoffnungslosigkeit.
4. Ein chronisches Gefühl von Nervosität wie bei ständigem Bedrohtsein.
5. Entfremdung.
Die Persönlichkeitsänderung muss über mindestens zwei Jahre bestehen und nicht auf eine vorher
bestehende Persönlichkeitsstörung oder auf eine andere psychische Störung außer einer posttraumati-
schen Belastungsstörung (F43.1) zurückzuführen sein. Eine schwere Schädigung oder Erkrankung des
Gehirns, die gleiche klinische Bilder verursachen kann, muß ausgeschlossen werden.“
138 Angststörungen
Ein 37-jähriger Pharmareferent hat auf dem Rückweg von einem Kunden spätabends auf regennasser
Fahrbahn einen Verkehrsunfall. Sekundenschlaf aus Übermüdung, dazu noch bei hoher Geschwindig-
keit. Als er aufwacht, ist es schon zu spät: sein Auto rammt die rechte Leitplanke, rast ungebremst die
15 Meter hohe Böschung hinunter, überschlägt sich und bleibt schließlich mit verformten Seitenteilen
stehen. Er ist eingeklemmt und kann sich selbst nicht befreien, hat Schmerzen am ganzen Körper, vor
allem im Bereich der Brust, und bleibt durchgehend bei vollem Bewusstsein. Er spürt, daß er verletzt
ist, sieht es aber in der Dunkelheit nicht. Er weiß nur: Schreien ist sinnlos, zu abgelegen ist dieses Stück
Landstraße und kaum frequentiert. Er steht Todesängste aus, fühlt sich von Gott und der Welt verlassen
und hat keinen Zugriff zum rettenden Handy. Er fürchtet zu verbluten oder zu erfrieren, denn es ist an
jenem Dezembertag empfindlich kalt. Erst am frühen Morgen bemerkt ihn ein LKW-Fahrer, der Poli-
zei, Feuerwehr und Rettung verständigt. Er muss aus dem Auto herausgeschnitten werden und wird in
das nächste Krankenhaus gebracht. Dort wird festgestellt, daß er neben einem Bruch des rechten Fußes,
einem Bluterguss und verschiedenen Hautabschürfungen keine weiteren Verletzungen erlitten hat. Am
Tag nach dem Unfall verstärken sich im Krankenhaus die Schmerzen im Bereich der Brust, der Schul-
tern und der Halswirbelsäule. Drei Wochen nach der Entlassung kann er abends tagelang nicht einschla-
fen: Sobald er die Augen schließt, hat er die Bilder des schrecklichen Unfalls vor sich. Ein wenig Ab-
hilfe bringt es, auch nachts das Licht anzulassen. Bald aber überfallen ihn die furchtbaren Erinnerungen
an den Unfall auch tagsüber. Er muss immer wieder daran denken, wie er hilflos im Auto eingeklemmt
war und Angst vor diesem einsamen Tod hatte. Als er nach der Gipsabnahme wieder Auto fahren kann,
kommt er drei Tage später an der Unfallstelle vorbei und wird neuerlich durch heftige Erinnerungen
aufgeschreckt. Von da an fürchtet er sich permanent vor einem neuerlichen Unfall und schafft es kaum
mehr, in der Dunkelheit Auto zu fahren. Wenig später kann er nicht einmal mehr tagsüber in den Wa-
gen steigen, weil er sofort wieder Schmerzen bekommt und den Gurt nicht mehr anlegen kann – aus
Angst, dieser könnte das Engegefühl in der Brust noch verstärken. Auch die früher heiß geliebten
Autorennen im Fernsehen bereiten ihm nun kein Vergnügen mehr. Im Gegenteil: völlig unfähig Auto
zu fahren, bekommt er auch bald Probleme im Beruf, die in extreme Existenzängste münden. Beruhi-
gungsmittel helfen ihm zwar vorübergehend tagsüber und abends beim Einschlafen, beeinträchtigen
jedoch die Fahrtüchtigkeit, sodass diese Mittel nicht infrage kommen, schon auch wegen des langfristig
abhängig machenden Effekts. Wegen Verdachts auf eine Depression schickt ihn sein Hausarzt zu einem
Psychiater, der eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.
Eine 18-jährige Verkäuferin nimmt an der Geburtstagsfeier eines Arbeitskollegen teil, der eine Gruppe
von jungen Erwachsenen in seine Wohnung eingeladen hat. Im Laufe der Nacht fahren immer mehr
Teilnehmer nach Hause, bis nur mehr die Verkäuferin, der Gastgeber und dessen Freund übrig bleiben.
Sie hat kein Auto und erhält daher das Angebot, in einem leer stehenden Zimmer zu übernachten, bis
sie in der Früh mit dem Bus nach Hause fahren kann. Als sich die junge Frau in das angebotene Zim-
mer zurückziehen will, wird sie von den beiden Männern sexuell belästigt. Sie wehrt sich anfangs,
bemerkt jedoch bald, dass sie keine Chance hat. Der Freund des Gastgebers wollte die junge Frau schon
seit längerem gerne zur Freundin haben, doch sie hatte stets abgelehnt mit dem Hinweis, dass sie bereits
einen Freund habe. Als er erkennt, dass sie auch jetzt noch immer keine engere Beziehung mit ihm
möchte, stürzt er sich auf sie, küsst sie, reißt ihr die Kleider vom Leib und vergewaltigt sie, während
der Gastgeber sie anfangs festhält. Sie will schreien, doch sie bringt kein Wort heraus. Der Gastgeber
macht Fotos von der Vergewaltigung, um ihr späteres Schweigen zu erpressen, und vergewaltigt sie
anschießend ebenfalls auf noch brutalere Weise. Sie lässt alles wie gelähmt über sich ergehen und ist
schließlich froh, als beide das Zimmer verlassen. In der Früh fährt sie wortlos nach Hause und duscht
sich im Bad zwei Stunden lang; es ekelt ihr vor ihr selbst. Beim täglichen Schlafengehen benötigt sie
ein wenig Licht, weil sie sich vor dem Finstern fürchtet, wo ihre Erinnerungen so lebendig werden, als
würden die schrecklichen Ereignisse neuerlich stattfinden. Sie kann mit ihrem Freund, den sie seit
einigen Monaten kennt, keine sexuelle Beziehung mehr eingehen, weil sie dabei an die Vergewaltigung
erinnert würde. Andererseits kann sie abends ohne ihn kaum einschlafen, weil sie fürchtet, es könnte ihr
jemand in der Nacht wieder etwas antun, obwohl sie weiß, dass niemand in die Wohnung gelangen
kann. Sicherheitshalber sperrt sie das Schlafzimmer ab und schließt auch im Sommer stets das Fenster
aus Angst vor Einbrechern. Sie kann sich auch keine Filme mit sexuellen Szenen mehr anschauen.
Posttraumatische Belastungsstörung 139
Aufgrund der telefonischen Befragung von 2181 18- bis 45-Jährigen in den USA be-
trug das durchschnittliche Risiko, nach einem Trauma eine posttraumatische Bela-
stungsstörung zu entwickeln, 9,2% (13% bei Frauen und 6,2% bei Männern). Knapp
90% (87,1% der Frauen und 92,2% der Männer) berichteten mindestens ein Trauma
nach den DSM-IV-Kriterien (im Durchschnitt waren es 4,8 traumatische Ereignisse).
Die Lebenszeitprävalenz für eine posttraumatische Belastungsstörung betrug bei Frauen
19,3% und beim Männern 10,2%. Bei fast einem Drittel der Fälle trat die Störung nach
dem plötzlichen, unerwarteten Tod einer nahe stehenden Person auf. Dies ist auch nicht
weiter verwunderlich, weil 60% der Befragten (61,1% der Männer und 59,0% der Frau-
en) den plötzlichen Tod eines nahen Angehörigen als traumatisches Ereignis angaben.
Zusammenfassend gesehen ergibt sich aus verschiedenen Studien folgender Befund:
Rund drei Viertel der amerikanischen Bevölkerung haben ein Trauma im Sinne des
DSM-IV erlebt und etwa ein Viertel der Betroffenen hat das Vollbild einer posttrauma-
tischen Belastungsstörung entwickelt; diese wurde am häufigsten durch eine Vergewal-
tigung ausgelöst. Ein Drittel bis zur Hälfte der Traumatisierten entwickelt eine chronifi-
zierte Symptomatik, teilweise auch trotz erfolgter Behandlung.
Eine Studie aus verschiedenen europäischen Ländern (u.a. Deutschland, Frankreich,
Spanien, Belgien) fand nur eine Lebenszeitprävalenz von 1,4%. Mittlerweile gibt es
mehrere deutsche Studien mit repräsentativen Daten.
Eine Befragung bei 14- bis 24-Jährigen in Bayern ergab eine Lebenszeitprävalenz
von 1,3% (2,2% bei Frauen und 0,4% bei Männern). Subsyndromale Formen kamen bei
5,6% der Befragten vor. Das Risiko, nach einem Trauma eine posttraumatische Bela-
stungsstörung zu entwickeln, betrug bei Männern 2,2%, bei Frauen 14,5%. 18,6% der
männlichen und 15,5% der weiblichen Befragten berichteten von einem Trauma nach
den DSM-IV-Kriterien. 9,7% der Befragten waren körperlicher Gewalt, 7,8% schweren
Unfällen, 2,1% sexuellem Missbrauch und 1,2% einer Vergewaltigung ausgesetzt. Die-
se relativ niedrigen Raten ergeben sich aus dem jungen Alter der Betroffenen und aus
dem Umstand, dass in Deutschland bestimmte traumatische Ereignisse im Vergleich zu
den USA nicht so häufig vorkommen (z.B. Naturkatastrophen, Gewaltverbrechen,
Kriegserfahrung). Das Risiko einer posttraumatischen Belastungsstörung war in
Deutschland so hoch wie in den USA. Bei einer späteren Nachuntersuchung bestand bei
10,3% der Befragten eine posttraumatische Belastungsstörung unter Einschluss der
subsyndromalen Formen.
Die erste gesamtdeutsche Befragung im Jahr 2005 bei einem breiten Altersspektrum
(14-93 Jahre) ergab in Bezug auf eine aktuell vorhandene posttraumatische Belastungs-
störung (Einmonatsprävalenzrate) nach DSM-IV-Kriterien eine Häufigkeit von 2,3% für
das Vollbild (2,5% der Frauen und 2,1% der Männer) und 2,7% für partielle Syndrome.
Es bestanden keine Unterschiede nach dem Geschlecht, wohl aber nach dem Alter:
ansteigende Häufigkeit nach dem Alter (14- bis 29-Jährige: 1,3%, 30- bis 59-Jährige:
1,9%, über 60-Jährige: 3,4), was mit Erlebnissen aus dem Zweiten Weltkrieg und deren
Folgen auch noch nach Jahrzehnten zusammenhängt. Die Lebenszeitprävalenz traumati-
scher Ereignisse ergab bei kriegsbezogenen Traumata folgende Prozentwerte: 8,16%
Kriegshandlungen (direkt), 7,04% ausgebombt im Krieg, 6,66% heimatvertrieben,
1,57% Gefangenschaft/Geiselnahme. Bezüglich ziviler Traumata ergaben sich folgende
Lebenszeithäufigkeiten: 0,75% Vergewaltigung, 1,20% Kindesmissbrauch (vor dem 14.
Lebensjahr), 4,59% schwerer Unfall, 3,77% körperliche Gewalt, 2,98% lebensbedrohli-
che Krankheit, 0,79% Naturkatastrophe, 8,45% Zeuge eines Traumas, 3,61% andere
Traumata.
Posttraumatische Belastungsstörung 141
Die bedingte gemittelte Wahrscheinlichkeit, dass sich aus dem Trauma im Laufe des
Lebens eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, betrug für das Vollbild
12,8%, für die partiellen Syndrome 12,8%. Das größte Risiko bestand der Reihe nach
hinsichtlich Vergewaltigung (37,5%), Kindesmissbrauch (35,3%) und lebensbedrohli-
che Erkrankungen (23,4%), schwerer Unfall (12,82%), körperliche Gewalt (10,53%).
Die relativ niedrigen Häufigkeitsraten für das Vollbild einer aktuell vorhandenen
posttraumatischen Belastungsstörung in Europa mit Werten um 2% sind zwar erfreu-
lich, wenn in der Literatur immer wieder die beeindruckend hohen Lebenszeitprävalen-
zen von 6-8% aus den USA angeführt werden (laut neuerer NCS-R-Studie dagegen nur
eine Ein-Jahres-Prävalenz von 3,5%), doch bestehen für diese noch immer beachtlich
große Zahl leidender Personen nach wie vor zu wenig Behandlungsangebote. Weiters
darf die große der von partiellen Syndromen Betroffenen nicht übersehen werden, die
ebenfalls erheblich unter den Folgen eines Traumas leiden. Angesichts der in den mo-
dernen Diagnoseschemata noch nicht definierten und daher in der Bevölkerung diagno-
stisch auch noch nicht erhebbaren komplexen posttraumatischen Belastungsstörung
besteht ebenfalls kein Grund, über die geringen Häufigkeitsraten von 1-2% für das der-
zeitige Vollbild der Störung beruhigt zu sein.
Gesellschaftspolitisch bedeutsam sind in Europa und anderswo auch die hohen Ra-
ten an posttraumatischen Belastungsstörungen bei Flüchtlingen aus verschiedenen Län-
dern (laut Studien rund 35-40%, d.h. jeder Dritte leidet unter einem Trauma). Die Be-
troffenen weisen auch zahlreiche komorbide Störungen auf (andere Angststörung, De-
pression, Dysthymie, somatoforme Störung, Substanzmissbrauch und -abhängigkeit).
Traumaspezifische Prävalenzen
10-25% der Opfer entwickeln nach einem Trauma eine posttraumatische Belastungsstö-
rung. Je nach Art des Traumas ergeben sich unterschiedliche Lebenszeitprävalenzen:
50-65% nach Kriegsereignissen mit persönlicher Gefährdung, 50-55% nach Vergewal-
tigung und sexuellem Missbrauch, 3-11% nach Verkehrsunfällen, 5% nach Natur-,
Brand- und Feuerkatastrophen, 2-7% als Zeuge von Unfällen oder Gewalthandlungen,
[124]. Das höchste Erkrankungsrisiko – oft im Sinne einer komplexen posttraumati-
schen Belastungsstörung – haben Menschen mit interpersonellen Multitraumata, d.h.
Typ-II-Traumata (häufiger Missbrauch in der Kindheit, Kriegserleben, Folter).
In einer retrospektiven Untersuchung beschrieben die Opfer sexueller Angriffe in
35% der Fälle eine lebenslange und in 13% der Fälle eine zeitweilige posttraumatische
Belastungsstörung. Von den Opfern schwerer nichtsexueller Angriffe berichteten 39%
eine lebenslange und 12% eine zeitweilige posttraumatische Belastungsstörung. In einer
prospektiven Studie (Verlaufserhebung) zeigten sich bei 47% der Opfer sexueller An-
griffe und bei 22% der Opfer nicht-sexueller Bedrohungen drei Monate nach diesen
Erlebnissen die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Eine Studie an 1500 Vergewaltigungsopfern [125] fand bei 35% eine posttraumati-
sche Belastungsstörung. Bei den Opfern einer versuchten Vergewaltigung war der An-
teil 14%. Über 90% der Vergewaltigungsopfer entwickeln eine Angst davor, alleine zu
sein oder alleine auszugehen während der Dunkelheit, während der Nacht oder alleine
zu schlafen. Aus dem Sicherheitsbedürfnis zu Hause entstehen oft Kontrollzwänge
bezüglich verschlossener Türen und Fenster. Das Bewusstsein der persönlichen Unver-
letzlichkeit wurde durch eine Vergewaltigung auf Monate oder Jahre hin zerstört.
142 Angststörungen
Unter den Vietnam-Kriegsteilnehmern war bei 38% der Männer und bei 17,5% der
Frauen eine zeitweilige posttraumatische Belastungsstörung nachweisbar. Kriegsgefan-
gene und politische Gefangene weisen Lebenszeitprävalenzen von 50-70% auf.
Die Ein-Jahres-Prävalenz einer posttraumatischen Belastungsstörung bei Opfern von
Verkehrsunfällen beträgt laut Studien etwa 10%. Kürzer dauernde Traumatisierungen
und akute Belastungsreaktionen sind dagegen wesentlich häufiger. Bei fast 40% der
Unfallopfer fand sich eine typische und bei 30% eine subsyndromale posttraumatische
Belastungsstörung. Eine deutsche Studie fand sechs Monate nach schweren Verkehrsun-
fällen bei 18% eine posttraumatische Belastungsstörung (lebendige Erinnerungen an
den Unfall, Fahrangst) und bei weiteren 28% subsyndromale Formen.
Unter 773 Verkehrsunfallopfern fand man bei einem Drittel eine oder mehrere psy-
chische Störungen: 23% hatten drei Monate nach dem Unfall eine posttraumatische
Belastungsstörung, 5% eine Depression, 19% eine generalisierte Angststörung und 22%
eine Reisephobie. Unter Unfallopfern in Australien litten ein halbes Jahr nach dem
Unfall 19% unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, 37% unter Ängsten, 17%
unter Depressionen und 15% unter Suchtproblemen.
Die Traumatisierung von Helfern beträgt bei Feuerwehrleuten 5-20%, bei Rettungs-
assistenten 10-20% und bei Polizisten 5-7%. Bis zu einem Drittel der Rettungskräfte bei
Katastropheneinsätzen ist in Gefahr, eine schwerwiegende posttraumatische Belastungs-
störung zu entwickeln. Unter Lokomotivführern, die eine suizidale Person überfahren
hatten, trat bei 10-20% eine posttraumatische Belastungsstörung auf.
Posttraumatische Belastungsstörungen entstehen auch nach körperlich schwer beein-
trächtigenden, lebensbedrohlichen und entstellenden Erkrankungen, d.h. nach somati-
schen Erkrankungen (Krebs, koronarer Herzerkrankung, HIV-Erkrankung, unheilbaren
Schmerzen), nach Reanimationen, nach schweren medizinischen Eingriffen (Organ-
transplantation), nach Aufenthalten in intensivmedizinischer Umgebung und nach ärzt-
lichen und pflegerischen Behandlungsfehlern. In der Literatur werden folgende Präva-
lenzen angeführt: 15% bei akutem Koronarsyndrom, 30% bei Überlebenden eines plötz-
lichen Herzstillstandes (bei 20-35% aller nach einem Herzstillstand reanimierten Patien-
ten), 27% bei akutem respiratorischen Distress-Syndrom, 5-20% bei Krebserkrankung,
7% nach Fehlgeburten.
Verlauf
Risikofaktoren
Die Risikofaktoren, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich aus einem Trauma
eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, lassen sich unterscheiden nach
bestimmten Umständen vor, während und nach dem traumatischen Ereignis [123]:
z Prätraumatische Belastungsfaktoren: weibliches Geschlecht, jüngeres oder hohes
Alter, frühere Traumata (länger andauernder sexueller Missbrauch in der Kindheit),
physische und psychiatrische Vorerkrankung (Depressionen, Angststörungen), man-
gelnde soziale Geborgenheit (fehlende, chaotisch-desorganisierte oder unsichere
Bindungen), dysfunktionale Familienstrukturen, emotionale Belastungen, nahe Be-
ziehung zum Täter, Verlusterfahrungen (Tod eines nahen Angehörigen außer dem
Ehepartner), niedrige Intelligenz, niedrige Bildung und niedriger sozioökonomischer
Status (Ausdruck geringerer psychischer Verarbeitungskapazität), Minoritätenstatus.
144 Angststörungen
Die Forschung hat gezeigt, dass nicht das Trauma an sich, sondern großteils günstige
bzw. ungünstige Personen- und Interaktionsmerkmale darüber entscheiden, wie sehr ein
schlimmes Ereignis zu einer posttraumatischen Belastungsstörung ausartet.
Komorbidität
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung besteht eine hohe Komorbidität mit ande-
ren psychischen Störungen, aber auch mit körperlichen Erkrankungen [126]. Nach der
NCS-Studie wiesen 88,3% der Männer und 79,3% der Frauen gleichzeitig auch noch
andere Diagnosen auf. Die häufigsten komorbiden psychischen Erkrankungen waren
Angststörungen, depressive Störungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch. Fast die Hälf-
te der Personen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickelte im Laufe
des Lebens eine Depression. Mehr als die Hälfte der Männer und ein Viertel der Frauen
hatte ein Alkoholproblem. Die klinisch oft erkennbaren Verknüpfungen mit dissoziati-
ven und somatoformen Störungen, Essstörungen und Persönlichkeitsstörungen sind an
der Durchschnittsbevölkerung empirisch noch zu wenig überprüft.
Nach der umfangreichen deutschen Befragung von 14- bis 24-Jährigen in Bayern
bestand bei 87,5% der Personen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung minde-
stens eine weitere psychische Störung.
Posttraumatische Belastungsstörung 145
Differenzialdiagnose
Eine posttraumatische Belastungsstörung muss gegenüber verschiedenen anderen Stö-
rungen abgegrenzt werden:
z Eine akute Belastungsreaktion/-störung dauert nach dem ICD-10 nur einige Stunden
oder Tage an, nach dem DSM-IV bis zu einem Monat. Das DSM-IV möchte durch
das Kriterium der längeren Dauer dem Umstand Rechnung tragen, dass posttrauma-
tische Reaktionen ganz normale, nicht-pathologische Reaktionen auf eine abnormale
Situation sind. Nach dem DSM-IV kann – im Gegensatz zum ICD-10 – eine post-
traumatische Belastungsstörung erst nach mehr als vier Wochen andauernden Sym-
ptomen gestellt werden, d.h. es ist in den ersten vier Wochen nach dem Trauma im-
mer eine akute posttraumatische Belastungsstörung zu diagnostizieren.
z Eine Anpassungsstörung tritt nach entscheidenden Lebensveränderungen und Stres-
soren auf, die weniger katastrophal sind (z.B. Todesfall, Trennung, Arbeitsplatzver-
lust, Umzug, Emigration, schwere körperliche Erkrankung), und erfüllt nicht die
Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung. Bei einer posttraumatischen
Belastungsstörung muss der Belastungsfaktor dagegen sehr extrem sein, nach dem
ICD-10 sogar von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß.
z Angststörungen und Depressionen haben oft keine derart extremen Belastungsfakto-
ren als Auslöser oder verstärken nur die zentralen Symptome (Vermeidung, emotio-
nale Taubheit, Interesselosigkeit usw.) einer bereits bestehenden posttraumatischen
Belastungsstörung. Symptome wie Vermeidung, Empfindungslosigkeit oder erhöhte
Erregbarkeit, die bereits vor dem Trauma vorhanden waren, machen noch keine
posttraumatische Belastungsstörung aus, sondern sind Ausdruck einer anderen psy-
chischen Störung (z.B. einer Depression oder einer anderen Angststörung).
z Nach dem ICD-10 zählt die posttraumatische Belastungsstörung nicht zu den Angst-
störungen. Neben Übereinstimmungen (Angstzuständen, phobisch geprägten Ver-
meidungsreaktionen, starker sympathikotoner Hyperreaktivität mit bestimmten kör-
perlichen Symptomen wie z.B. Schwitzen, Atemnot, Herzbeschwerden) gibt es auch
Unterschiede zwischen beiden Störungsgruppen (Angststörungen haben oft keine
derart umschriebenen Auslöser wie posttraumatische Belastungsstörungen).
z Symptome wie Vermeidung, Empfindungslosigkeit oder erhöhte Erregbarkeit, die
bereits vor dem Trauma vorhanden waren, machen noch keine posttraumatische Be-
lastungsstörung aus, sondern sind als Ausdruck einer anderen psychischen Störung
(z.B. einer Depression oder einer anderen Angststörung) zu sehen.
z Die typischen Flashback-Episoden einer posttraumatischen Belastungsstörung müs-
sen durch ihren Charakter von Halluzinationen und anderen Wahrnehmungsstörun-
gen bei Schizophrenie, schizoaffektiven Störungen, affektiven Störungen mit psy-
chotischen Elementen und substanzinduzierten Störungen abgegrenzt werden.
z Bei einer Zwangsstörung stehen die aufdringlichen Gedanken nicht in Zusammen-
hang mit einem Trauma.
z Eine „andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung“ ist nach den
gegenwärtigen Diagnosekriterien dann gegeben, wenn eine Persönlichkeitsänderung
nach dem Trauma mindestens zwei Jahre lang anhält und nicht auf eine früher be-
stehende Persönlichkeitsstörung, eine andere psychische Störung außer einer post-
traumatischen Belastungsstörung oder eine schwere Schädigung oder Erkrankung
des Gehirns zurückgeht. Es handelt sich dabei um die chronischen und irreversiblen
Auswirkungen einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Akute Belastungsstörung 147
„Ein etwa 45-jähriger Mann stürzte sich in Selbstmordabsicht vor einen Autobus. Der Mann war sofort
tot, der Fahrer erlitt einen schweren Schock.“
„Das Haus einer fünfköpfigen Familie explodierte mit einem lauten Knall. Drei Menschen waren sofort
tot, die zwei anderen Bewohner wurden mit einem schweren Schock in das Krankenhaus eingeliefert.“
Eine akute Belastungsreaktion zählt nach dem ICD-10 zu den Reaktionen auf schwere
Belastungen und Anpassungsstörungen, stellt eine unmittelbare Reaktion auf ein trau-
matisches Ereignis dar und besteht in einer vorübergehenden Störung (1-3 Tage Dauer)
von beträchtlichem Schweregrad, die sich auch bei völlig gesunden Menschen als Reak-
tion auf traumatische Erlebnisse und ernsthafte Bedrohung von Leib und Leben entwik-
keln kann, ähnlich wie dies – nur mit verzögerter und länger anhaltender Wirkung – bei
einer posttraumatischen Belastungsstörung der Fall ist. Es handelt sich um eine akute
Krisenreaktion bzw. um einen psychischen Schockzustand.
Die Störung tritt innerhalb von Minuten bis Stunden nach Traumatisierungen aller
Art auf und klingt spontan ab. Wenn dies nicht der Fall ist und die Störung mehr als drei
Tage andauert bzw. sogar mehrere Wochen lang bestehen bleibt, fehlen im ICD-10
Hinweise darauf, welche Diagnose dann zu stellen ist. Die Betroffenen bedürfen unbe-
dingt einer genauen Beobachtung und Überwachung sowie oft auch einer Behandlung.
Die Symptome der akuten Belastungsreaktion beginnen nach dem ICD-10 [130]
gewöhnlich mit einer Art „Betäubung“, d.h. mit einer gewissen Bewusstseinseinengung,
eingeschränkten Aufmerksamkeit, Unfähigkeit zur adäquaten Reizverarbeitung und
Desorientiertheit. Anschließend kann ein weiterer Rückzug aus der aktuellen Situation
erfolgen oder ein Unruhezustand und eine Überaktivität wie Fluchtreaktion oder Fugue
auftreten. Häufig finden sich vegetative Symptome wie Herzrasen, Schwitzen oder
Erröten als Ausdruck panischer Angst. Rückzug und Stupor (völlige Regungslosigkeit)
sind ebenso möglich wie Unruhezustände, Überaktivität und Flucht.
Die Angst hängt bei dieser Störung mit einer akuten überstarken emotionalen Reak-
tion auf veränderte Lebensumstände zusammen und stellt eine unmittelbare Reaktion
auf eine schwere Belastungssituation dar (z.B. Naturkatastrophe, schwerer Unfall,
Verbrechen, Vergewaltigung, Verlust von Angehörigen, der bisherigen Umwelt oder
der Arbeit). Persönlichkeitsfaktoren müssen allerdings in vielen Fällen zur Erklärung
dafür herangezogen werden, warum dieselben Belastungen nicht auf alle Menschen die
gleichen Auswirkungen haben.
Der eigenständige Charakter der akuten Belastungsreaktion wurde früher kontrovers
diskutiert, kann aber jetzt als gesichert angenommen werden. Es handelt sich dabei um
ein vielgestaltiges und rasch wechselndes Erscheinungsbild, bei dem nach Studien un-
terschiedliche Symptome auftreten können: Unruhe, Reizbarkeit, psychomotorische
Agitiertheit oder Verlangsamung, Apathie, Rückzug, Depression, Schreckreaktion,
Angst, affektive Einengung, Verwirrtheit, Schmerzsymptome, funktionelle gastrointe-
stinale Beschwerden, aggressive, feindselige oder paranoide Reaktionen.
Als gleichwertige Begriffe gelten nach dem ICD-10 folgende Bezeichnungen: akute
Krisenreaktion, Krisenzustand, Kriegsneurose (combat fatigue) und psychischer
Schock.
148 Angststörungen
Eine akute Belastungsreaktion (F43.0) wird nach den Forschungskriterien des ICD-
10 [131] folgendermaßen definiert:
B. Der außergewöhnlichen Belastung folgt unmittelbar der Beginn der Symptome (innerhalb einer
Stunde).
D. Wenn die Belastung vorübergehend ist oder gemildert werden kann, beginnen die Symptome nach
spätestens acht Stunden abzuklingen. Hält die Belastung an, beginnen die Symptome nach höch-
stens 48 Stunden nachzulassen.
E. Ausschlussvorbehalt: Derzeitig darf keine andere psychische oder Verhaltensstörung der ICD-10
vorliegen (außer F41.1 generalisierte Angststörung und F60 Persönlichkeitsstörungen). Das Ende
einer Krankheitsperiode, einer anderen psychischen oder Verhaltensstörung muß mehr als drei Mo-
nate zurückliegen.
Nach dem ICD-10 beginnt eine akute Belastungsreaktion unmittelbar nach dem Trauma
und klingt nach längstens drei Tagen ab, nach dem DSM-IV dagegen darf eine akute
posttraumatische Belastungsstörung erst nach einer Symptomdauer von zwei Tagen
diagnostiziert werden und stellt eine noch nicht chronifizierte, aber bereits krankheits-
wertige posttraumatische Reaktion dar.
Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand erhöhen folgende Symptome und deren
Ausmaß die Wahrscheinlichkeit einer späteren posttraumatischen Belastungsstörung:
stärkere Intrusion, Vermeidung, Depression und Angst in der auf das Trauma folgenden
Woche. Dissoziative Symptome in der traumatischen Situation begünstigen die Ausprä-
gung einer posttraumatischen Belastungsstörung, weil keine Integration des Erlebten,
sondern eine Abspaltung erfolgt.
„Eingefrorensein“, Stupor, Selbstaufgabe, Kontrollverlust über die Situation und
Unvorhersehbarkeit der Ereignisse wirken sich auf den Langzeitverlauf ungünstig aus.
Das Ausmaß der subjektiven Belastung in den Tagen unmittelbar nach dem Trauma
steht in engem Zusammenhang mit der späteren Entwicklung einer posttraumatischen
Belastungsstörung. Psychosoziale Faktoren wie soziale Unterstützung, Erfahrungen in
der Kindheit und im späteren Leben, Persönlichkeitsvariablen und vorher bestehende
psychische Störungen beeinflussen und modifizieren die Entwicklung der Störung.
Akute Belastungsstörung 149
Das DSM-IV [132] nennt folgende diagnostische Kriterien für eine akute Bela-
stungsstörung:
A. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden
Kriterien erfüllt waren:
(1) Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert,
die den tatsächlichen oder drohenden Tod oder eine ernsthafte Verletzung oder Gefahr der
körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten.
(2) Die Reaktion der Person umfaßte intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen.
B. Entweder während oder nach dem extrem belastenden Ereignis zeigte die Person mindestens drei
der folgenden dissoziativen Symptome:
(1) subjektives Gefühl von emotionaler Taubheit, von Losgelöstheit oder Fehlen emotionaler Re-
aktionsfähigkeit,
(2) Beeinträchtigung der bewußten Wahrnehmung der Umwelt (z.B. „wie betäubt sein“),
(3) Derealisationserleben,
(4) Depersonalisationserleben,
(5) dissoziative Amnesie (z.B. Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erin-
nern).
C. Das traumatische Ereignis wird ständig auf mindestens eine der folgenden Arten wiedererlebt:
wiederkehrende Bilder, Gedanken, Träume, Illusionen, Flashback-Episoden, oder das Gefühl, das
Trauma wiederzuerleben oder starkes Leiden bei Reizen, die an das Trauma erinnern.
D. Deutliche Vermeidung von Reizen, die an das Trauma erinnern (z.B. Gedanken, Gefühle, Gesprä-
che, Aktivitäten, Orte oder Personen).
E. Deutliche Symptome von Angst oder erhöhtem Arousal (z.B. Schlafstörungen, Reizbarkeit, Kon-
zentrationsschwierigkeiten, Hypervigilanz, übertriebene Schreckreaktion, motorische Unruhe).
F. Die Störung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen,
beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen oder beeinträchtigt die Fähigkeit der Per-
son, notwendige Aufgaben zu bewältigen, z.B. notwendige Unterstützung zu erhalten oder zwi-
schenmenschliche Ressourcen zu erschließen, indem Familienmitgliedern über das Trauma berich-
tet wird.
G. Die Störung dauert mindestens 2 Tage und höchstens 4 Wochen und tritt innerhalb von 4 Wochen
nach dem traumatischen Ereignis auf...
Das DSM-IV spricht nicht von einer „Reaktion“, sondern von einer „Störung“, weil
diese auch länger andauern kann als die akute Symptomatik nach dem ICD-10. Nach
dem DSM-IV dauert eine akute Belastungsstörung mindestens zwei Tage und höchstens
vier Wochen. Bei längerer Dauer muss die Diagnose einer posttraumatischen Bela-
stungsstörung gestellt werden, die nach dem DSM-IV aufgrund der Diagnosekriterien
(Dauer von mehr als vier Wochen) vorher noch gar nicht gestellt werden kann.
Die Diagnose der akuten Belastungsstörung wurde in das DSM-IV aufgenommen,
um bereits in den ersten Wochen nach einem Trauma eine Differenzierung zwischen
„normalen“, unpathologischen Reaktionen nach einem traumatischen Erlebnis und
krankheitswertigen Störungen zu ermöglichen. Die Schwere und die Dauer des Traumas
sowie die Nähe der Person bei der Konfrontation mit dem traumatischen Erlebnis sind
die wichtigsten Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit der Ausprägung einer posttrauma-
tischen Belastungsstörung begünstigen. Die Störung kann bei Menschen auftreten, die
vorher keinerlei psychopathologische Auffälligkeit gezeigt hatten.
150 Angststörungen
Nach dem Trauma wird dieses ständig wiederbelebt; die Betroffenen vermeiden
traumarelevante Reize und weisen eine allgemein erhöhte psychovegetative Erregbar-
keit auf. Es besteht mindestens eines der drei zentralen Symptome einer posttraumati-
schen Belastungsstörung: Intrusion/Wiedererleben, Vermeidung traumarelevanter Reize
und Übererregbarkeit durch traumarelevante Reize.
Das DSM-IV legt bei der Diagnose der akuten Belastungsstörung den Schwerpunkt
auf die dissoziativen Symptome (Empfindungslosigkeit, Losgelöstsein, Fehlen emotio-
naler Reaktionsmöglichkeit, Beeinträchtigung der bewussten Umweltwahrnehmung,
Derealisation, Depersonalisation, dissoziative Amnesie) in Verbindung mit Angst und
vorübergehenden Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Die momentane DSM-IV-Konzeption der akuten Belastungsstörung ist umstritten,
und zwar hinsichtlich des Stellenwertes der dissoziativen Symptome:
z Verschiedene Experten kritisieren die gegenwärtige Überbewertung der dissoziati-
ven Symptome nach einem Trauma. Nach bestimmten Untersuchungen hätten peri-
traumatische Dissoziationen keine besondere Bedeutung für die spätere Symptom-
entwicklung erlangt. Zudem gebe es Menschen, die später eine posttraumatische Be-
lastungsstörung entwickeln würden, ohne dass sie dabei nennenswerte Dissoziatio-
nen entwickelt hätten. Aufgrund dieser Daten schlagen die betreffenden Autoren
vor, in der nächsten Auflage des DSM eine diagnostische Angleichung an die Krite-
rien des ICD-10 vorzunehmen, wonach eine posttraumatische Belastungsstörung be-
reits in den ersten Wochen nach dem Trauma und nicht erst nach einem Monat dia-
gnostiziert werden kann. Dissoziative Symptome sollten dabei als mögliche, nicht
jedoch unbedingt notwendige Diagnosekriterien gelten.
z In Übereinstimmung mit dem DSM-IV betonen dagegen einige andere Forscher die
zentrale Bedeutung dissoziativer Phänomene bei der posttraumatischen Reaktion.
z Eine Autorengruppe geht davon aus, dass peritraumatische Dissoziationen ein vorü-
bergehendes Phänomen sein können und dass erst eine chronische Störung wie die
posttraumatische Belastungsstörung durch andauernde dissoziative Symptome bis
zum Ende des ersten Monats nach dem Trauma vorhergesagt werden kann.
z Wieder andere Fachleute gehen davon aus, dass es zwei unterschiedliche Reakti-
onsweisen gibt, die beide unabhängig voneinander das Risiko einer späteren post-
traumatischen Belastungsstörung erhöhen: Eine Reaktionsweise ist durch die disso-
ziativen Symptome bestimmt, wie sie durch die gegenwärtige DSM-IV-Diagnose
der akuten Belastungsstörung zum Ausdruck kommt, eine andere Reaktionsweise ist
durch das intensive Wiedererleben des Traumas und die starke physische, psychi-
sche und kognitive Übererregung charakterisiert.
z Ein Experte plädiert – abseits von den aktuellen Definitionen der akuten Belastungs-
störung und der posttraumatischen Belastungsstörung – für einen umfassenderen
Blick hinsichtlich aller möglichen posttraumatischen Symptome, die den Verlauf der
Störung bestimmen und die als Prädiktoren für eine Chronifizierung dienen können.
Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand reichen die Daten für eine umfassende Kon-
zeption aller posttraumatischen Reaktionen noch nicht aus, sodass erst weitere Studien
endgültige Klarheit bringen werden. In neuerer Zeit wurden weitere posttraumatische
Stress- bzw. Anpassungsstörungen beschreiben: komplizierte Trauer (schwere Störung
nach Todesfall einer bedeutsamen Bezugsperson), posttraumatische Verbitterungsstö-
rung nach Linden (Verbitterung, dysphorisch-aggressiv-depressiv gefärbte Stimmung).
Substanzinduzierte Angststörung 151
Substanzinduzierte Angststörung –
Angstzustände durch Substanzen
Das DSM-IV [133] führt unter den Angststörungen auch eine substanzinduzierte Angst-
störung an, die aus ausgeprägter Angst, Panikattacken, Zwangsgedanken oder Zwangs-
handlungen bestehen kann. Die Angstsymptome treten während oder innerhalb eines
Monats nach einer Substanzintoxikation (Vergiftung) oder nach einem Entzug auf und
stehen in ursächlichem Zusammenhang mit der Substanzeinnahme (Alkohol, Koffein,
Nikotin, Medikamente, Drogen oder andere Substanzen).
Das ICD-10 kennt keine durch Substanzen ausgelöste Angststörung. Durch die
Doppeldiagnose Panikstörung (F41.0) und Störung durch eine bestimmte Substanz, wie
sie unter der Kategorie F1 angeführt ist, ist dieser Umstand aber dennoch kodierbar.
Alkohol, Nikotin, Kaffee, Medikamente und Drogen können durch Herz-Kreislauf-
Veränderungen (Kollapsneigung oder Kreislaufankurbelung) sowie durch einen Blut-
zuckerabfall Panikattacken verursachen.
Bei Panikpatienten findet man in der Vorgeschichte oft Alkohol- oder Drogen-
(Tranquilizer-)Missbrauch, verstärktes Rauchen und übermäßigen Kaffeekonsum. Nach
dem Auftreten von Panikattacken wird der übermäßige Konsum von Alkohol oder
Tranquilizern eher noch gesteigert. Wenn eine Droge mit beruhigender Wirkung plötz-
lich abgesetzt wird, steigt der Adrenalinspiegel, wodurch eine Panikattacke ausgelöst
werden kann.
Aufputschende Drogen können eine übermäßige Kreislaufreaktion bewirken, die als
Panikattacke erlebt wird, sodass Erwartungsängste bestehen bleiben, auch wenn schon
seit längerer Zeit keine Substanzen mehr eingenommen werden [134].
Überdosierungen bzw. psychische und körperliche Entzugserscheinungen können
aufgrund der erlebten Wirkungen eine ängstliche Körperbeobachtung zur Folge haben.
Viele Drogen (z.B. Kokain, Amphetamine, LSD) entfalten ihre biochemischen Wir-
kungen gerade in jenen Gehirnstrukturen, die mit emotionalen Reaktionen und Ge-
dächtnisvorgängen zu tun haben (mediobasaler Schläfenlappen mit dem zugeordneten
limbischen System). Dies erklärt die emotionalen Veränderungen, abnormen Erregungs-
und Angstzustände („Horrortrips“) sowie Panikattacken [135].
Der Verdacht auf eine substanzbedingte Angststörung kann sich aus dem Vorhan-
densein von Merkmalen ergeben, die für eine primäre Angststörung untypisch sind (z.B.
untypisches Alter bei Störungsbeginn oder untypischer Verlauf).
Bei einer Panikstörung sind dies [136]:
z Beginn nach dem 45 Lebensjahr (was selten ist),
z Vorhandensein von untypischen Symptomen während einer Panikattacke (primärer
Schwindel, Verlust von Gleichgewichts-, Bewusstseins-, Blasen- oder Darmkontrol-
le, Kopfschmerzen, undeutliche Sprache, Amnesie usw.).
Auf eine primäre Angststörung, die bereits vor dem Substanzmissbrauch vorhanden
war, weisen folgende Umstände hin [137]:
z Angstsymptome vor dem Substanzgebrauch,
z Anhalten der Angstsymptome über eine deutliche Zeitspanne (über einen Monat)
nach dem Ende der Substanzeinwirkung oder des akuten Entzugs hinaus,
z Entwicklung von Symptomen, die deutlich ausgeprägter sind, als dies aufgrund von
Art und Menge der eingenommenen Substanz oder aufgrund der Einnahme zu er-
warten ist, früheres Vorhandensein einer primären Angststörung.
152 Angststörungen
Das DSM-IV [138] nennt folgende 10 Substanzklassen, die durch Missbrauch, Vergif-
tung, Nebenwirkungen oder Entzugserscheinungen eine spezifische substanzinduzierte
Angststörung bewirken können (Nikotin und Opiate werden nicht angeführt):
z Koffein
z Alkohol
z Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika
z Amphetamine oder ähnlich wirkende Sympathomimetika
z Kokain
z Cannabis
z Halluzinogene
z Phencyclidine oder ähnlich wirkende Substanzen (hier nicht besprochen)
z Inhalanzien, d.h. Schnüffelstoffe (hier nicht besprochen)
z andere Substanzen (Medikamente)
Koffein
Koffein, die weltweit beliebteste und meistkonsumierte psychotrope Substanz, ist in
Kaffee, Tee, Colagetränken, Schokolade und Kakao enthalten.
Koffein beseitigt in kleinen Dosen (50-250 mg) Müdigkeit, Erschöpfung und allge-
meine Schwäche und macht das Denken und Fühlen lebhafter. Es zeigt sich eine ver-
kürzte Reaktionszeit, eine leichte Euphorie, eine Anregung der Atmung und eine gestei-
gerte Leistungsfähigkeit. Vermehrtes Kaffeetrinken (mehr als 3-4 Tassen Kaffee pro
Tag) kann bei Menschen, die zu Angstzuständen neigen, leicht Panikattacken auslösen.
Mittelhohe Tagesdosen (250-600 mg) können folgende Symptome bewirken: Herz-
rasen, Herzrhythmusstörungen, gerötetes Gesicht, Magen-Darm-Beschwerden, Rast-
und Ruhelosigkeit, Nervosität, Erregung, psychomotorische Agitiertheit, Zittern, Mus-
kelzucken, Einschlafstörung, Schlaflosigkeit, Übersensibilität.
Hohe Dosen (über 600 mg in kurzer Zeit oder über 1000 mg pro Tag) bewirken
Herzrasen, Schlafstörungen, Unruhe und Getriebenheit, Übelkeit und Erbrechen [139].
Die Eliminationshalbwertszeit von Koffein beträgt 3-7 Stunden. Koffein bindet an
den Adenosinrezeptoren im Zentralnervensystem und hemmt die beruhigende Wirkung
von Adenosin, wodurch die aufputschende Wirkung von Kaffee entsteht. Es kommt zur
Erhöhung erregender Neurotransmitter, insbesondere von Dopamin. Nach einigen Tas-
sen Kaffee sind rund 50% der Adenosinrezeptoren mit Koffein besetzt.
In reiner, konzentrierter Form ist Koffein in vielen Medikamenten enthalten (50-200
mg pro Tablette). Nach der Überwindung der Panikstörung sollte der mäßige Kaffeege-
nuss wieder möglich sein, wenn dies früher als angenehm erlebt wurde.
Der Koffeingehalt von Getränken und Arzneimitteln ist sehr unterschiedlich [140]:
Alkohol
Alkohol, abhängig machende Beruhigungsmittel und verschiedene Drogen haben an-
fangs zwar eine Angst dämpfende Wirkung, führen jedoch später über Langzeiteinnah-
me, paradoxe Effekte oder Entzugssymptome zu massiven Angstzuständen, sodass erst
recht wieder dieselben Mittel zur Bekämpfung verwendet werden, wenn den Betroffe-
nen diese Zusammenhänge nicht bekannt sind. Längerer Alkoholmissbrauch kann bei
gegenwärtig abstinent lebenden Personen eine Angststörung vorbereitet haben.
Das Missbrauchspotential von Alkohol beruht auf einer Aktivierung dopaminerger
Neurotransmittersysteme, insbesondere dopaminerger Nervenbahnen, die von der Area
tegmentalis ventralis (einer Region der Mittelhirnhaube), zum Nucleus accumbens (ei-
ner Nervenzellenanhäufung im Vorderhirn) und zum frontalen Kortex (vordere Groß-
hirnrinde) verlaufen. Fachlich ausgedrückt: Die erwünschte Wirkung von Alkohol
kommt zustande durch die exzitatorische (erregende) Wirkung von Alkohol auf die
dopaminergen Neurone in der Area tegmentalis ventralis infolge einer durch GABAA-
Rezeptoren vermittelten Hemmung der hemmenden (inhibitorischen) Interneurone.
Einfacher formuliert: Ethanol verstärkt die Wirkung der wichtigsten natürlichen hem-
menden Transmittersubstanz Gamma-Aminobuttersäure (GABA) an bestimmten GA-
BAA-Rezeptoren. Mit anderen Worten: Die entspannende und Angst lösende Wirkung
von Alkohol beruht auf einer Verstärkung der GABA-ergen Wirkungsmechanismen.
Alkohol fördert das GABA-System im Gehirn als natürliches Bremssystem bei Angst
und allen möglichen Erregungen. Ethanol könnte aber auch direkt die Aktivität der
dopaminergen Neurone ohne Zwischenschaltung von Interneuronen erhöhen [141].
Angst im Rahmen des Alkoholentzugs wird durch zwei Faktoren bewirkt [142]:
1. Erniedrigte GABA-Tätigkeit. Chronischer Alkoholkonsum erniedrigt den GABA-
Spiegel im Plasma, was bei Absetzen des Alkohols einen Erregungsanstieg bewirkt.
Bei einem Alkoholentzug bzw. bei reduziertem Alkoholkonsum von Abhängigen
kommt es zu einer länger andauernden Erregbarkeitssteigerung im Zentralnervensy-
stem, was mit Angst verbunden ist und auch bei völligem Absetzen des Alkohols
noch monatelang anhalten kann.
2. Erhöhte noradrenerge Aktivität. Bei einem Alkoholentzug kommt es zu einer Über-
aktivität im Locus coeruleus, der zentralen noradrenergen Struktur, wodurch eine
allgemeine Erregung, speziell auch Angst, entsteht. Häufig werden deshalb Alkohol-
entzugssymptome mit Tranquilizern bekämpft oder dem Arzt die Symptome einer
Panikattacke beschrieben, ohne vom vorausgehenden Alkoholmissbrauch zu berich-
ten, sodass Tranquilizer als (falsche) Behandlungsmethode eingesetzt werden.
Bei einem Alkoholentzug nach übermäßigem und lang dauerndem Alkoholkonsum tre-
ten mindestens zwei der folgenden Symptome innerhalb einiger Stunden oder weniger
Tage auf [143]: Angst, Hyperaktivität des vegetativen Nervensystems (Schwitzen oder
Puls über 100), psychomotorische Agitiertheit, Schlaflosigkeit, Übelkeit oder Erbre-
chen, verstärktes Händezittern (Tremor), vorübergehende visuelle, taktile oder akusti-
sche Halluzinationen oder Illusionen, Grand-mal-Anfälle (epileptische Anfälle).
Langjähriger Alkoholmissbrauch kann durch seine dämpfende Wirkung den Herz-
muskel schädigen und durch den häufigen Vitamin-B1-Mangel das Herz in seiner
Pumpkraft beeinträchtigen. Alkoholkonsum regt auch die Nebennieren zu vermehrter
Ausschüttung von Kortisol an, dem Stresshormon, das den Blutdruck erhöht, indem es
die Wasserausscheidung durch die Nieren hemmt.
154 Angststörungen
Bei Menschen mit hohem Blutdruck werden die ohnehin erhöhten Stresshormone
wegen des Alkohols langsamer abgebaut, sodass der Blutdruck noch mehr ansteigt und
Symptome auftreten (Kopfschmerzen, Schwindel, Atemnot, Druck auf der Brust, Herz-
beschwerden, Leistungsminderung, Unruhegefühl u.a.).
Bei niedrigem Blutdruck macht sich die Blutgefäß erweiternde Wirkung des Alko-
hols bemerkbar, sodass beim Stehen besonders viel Blut in den weit gestellten Venen
der Beine versackt. Durch die Gegenregulation kommt es zu Herzrasen und Schweiß-
ausbrüchen.
Kokain
Kokain wurde 1884 von Sigmund Freud als Mittel gegen Depressionen und Angstzu-
stände empfohlen und in jahrelangen Selbstversuchen erprobt, später aber als sehr ge-
fährlich erkannt. Kokain ist eine natürliche Substanz aus den Blättern des Cocastrau-
ches, die in der Drogenszene „Koks“ oder „Schnee“ genannt wird.
Kokain drängt die Neurotransmitter Noradrenalin, Dopamin und Serotonin aus den
synaptischen Endknöpfen der Nervenendigungen im Gehirn und bewirkt durch deren
Anstieg in den entsprechenden Synapsen eine künstliche Hochstimmung und Munter-
keit. Gleichzeitig wird durch die Wiederaufnahmehemmung von Noradrenalin, Dopa-
min und Serotonin in die präsynaptische Nervenendigung eine längere Wirkdauer der
Reizleitung ermöglicht [149].
Die entscheidenden verhaltensverstärkenden und psychisch stimulierenden Effekte
von Kokain beruhen auf seiner Wirkung auf die mesolimbischen dopaminergen Nerven-
endigungen (lokalisiert im medialen präfrontalen Kortex, Nucleus accumbens, Amygda-
la-Komplex und Hippocampus).
Die Verstärkung der Dopamin-Aktivität kann schizophrenieartige Psychosen auslö-
sen oder verschlimmern. Serotonin ist auch an den Wirkungen von Kokain beteiligt (ein
Serotoninmangel steigert die Wirksamkeit von Kokain als positivem Verstärker).
Kokain hat die stärkste Wirkung aller Stimulanzien. Wegen der kurzen Elimina-
tionshalbwertszeit (30-90 Minuten) ist eine häufige Einnahme erforderlich, um „high“
zu bleiben. Kokain findet zunehmende Verbreitung. Es wird anfangs oft als Mittel zur
Steigerung der Leistungsfähigkeit eingesetzt.
Kokain hat drei zentrale pharmakologische Wirkungen: Lokalanästhetikum, Veren-
gung der Blutgefäße, starkes Psychostimulans mit ausgeprägten Verstärkungseigen-
schaften.
Kokain aktiviert über den Noradrenalinanstieg in den Synapsen das sympathische
Nervensystem mit allen Folgen [150]: gesteigerte Aufmerksamkeit, motorische Hyper-
aktivität, Anstieg der Pulsfrequenz, Gefäßverengung, Blutdruckerhöhung, Erweiterung
der Bronchien und Bronchiolen, Anstieg der Körpertemperatur, Pupillenerweiterung,
erhöhte Glukoseverfügbarkeit und Verlagerung der Durchblutung von den inneren Or-
ganen zu den Muskeln.
Kokainkonsumenten befinden sich in folgendem Dilemma [151]:
z Appetit, Schlaf und Müdigkeit werden unterdrückt, kehren später aber verstärkt
zurück.
z Die motorische Aktivität wird erhöht, was sich bald in Erregtheit, Unruhe und Be-
wegungsdrang äußert.
z Bewusstseinsklarheit und geistige Präsenz nehmen wunschgemäß zu, gehen später
jedoch in Erschöpfung über.
Substanzinduzierte Angststörung 157
Cannabis
Cannabis ist die weltweit am häufigsten konsumierte illegale Substanz. Jeder Fünfte
Europäer hat schon einmal gekifft, etwa 5% der 14- bis 25-Jährigen tun dies öfter.
Cannabis wird aus den weiblichen Hanfpflanzen gewonnen, und zwar als Marihua-
na (Gemisch aus getrockneten harzhältigen Blättern, Stielen und Blüten) und Haschisch
(aus dem stärker wirksamen Harz der Hanfpflanze) [154]. Das Harz enthält den Wirk-
stoff THC (Tetrahydrocannabinol) besonders reichlich. Haschisch ist im Verhältnis von
5:1 stärker als Marihuana. Hochgezüchtetes und daher gefährlicheres Kraut enthält
20-25% THC statt den bisher üblichen 0,5-5%. THC aktiviert die dopaminergen Neuro-
ne und bewirkt einen massiven Anstieg des Serotoninspiegels im Gehirn. Serotonin hat
eine Funktion bei der Reizübermittlung im limbischen System und im retikulären Sy-
stem und beeinflusst damit Emotionen, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit [155].
Die Wirkung von Cannabis besteht im Allgemeinen in einer weitgehenden Aus-
schaltung negativer Umwelteinflüsse bis hin zu einem Zustand, den die Konsumenten
als Höhepunkt des Rausches verstehen („high“ sein). Es kommt im typischen Fall zu
starkem Wohlempfinden, die charakteristische Haschischwirkung kann zweiphasig
verlaufen: nach anfänglicher Stimulation erfolgt eine Sedierung. Es kommt zu keiner
körperlichen Abhängigkeit, die Tendenz zur Dosissteigerung ist gering ausgeprägt.
Die gleichzeitige Dämpfung und Erregung verschiedener Bereiche des Gehirns führt
zu Stimmungsschwankungen und emotionaler Labilität (unmotivierter Wechsel von
Heiterkeit und tiefer Traurigkeit). Die vorhandene Stimmungslage wird verstärkt.
158 Angststörungen
Bei zahlreichen jüngeren Menschen hat der mehr oder weniger regelmäßige Haschisch-
Konsum die Entwicklung einer Angststörung begünstigt, sodass in der klinischen Praxis
stets nach einem Cannabis-Konsum gefragt werden sollte.
Halluzinogene
Die inhomogene Gruppe der Halluzinogene umfasst natürliche oder chemische Stoffe,
die für eine bestimmte Zeit das Bewusstsein und die Stimmungslage verändern und
schizophrenieähnliche Zustände bewirken.
Das bekannteste Halluzinogen ist LSD (Lysergsäurediethylamid), ein Wirkstoff des
Mutterkorns, ein Pilz, der auf Getreideähren wächst, gefolgt von Mescalin und Psilocy-
bin. Designerdrogen bestehen oft aus unterschiedlichen Mischungen von Halluzinoge-
nen und Amphetaminen [158].
Eine Halluzinogenintoxikation weist folgende Symptome auf [159]:
z Unangepasste verhaltensbezogene oder psychische Veränderungen: deutliche Angst
oder Depression, Beziehungsideen, Furcht, den Verstand zu verlieren, paranoide
Vorstellungen, beeinträchtigte Urteilsfähigkeit, beeinträchtigte soziale bzw. berufli-
che Funktionsfähigkeit.
z Wahrnehmungsveränderungen: Wahrnehmungsintensivierung, Depersonalisation,
Derealisation, Illusionen, Halluzinationen, Synästhesien (Miterregung eines Sinnes-
organs bei Reizung eines anderen, z.B. Farbensehen bei Tönen).
z Mindestens zwei körperliche Symptome (als Folge der stimulierenden Wirkung):
Herzrasen, Herzstolpern, Schwitzen, Verschwommensehen, Zittern, Koordinations-
störungen, rascher Wechsel der Pupillenweite (Mydriasis).
Schwermetalle und Toxine (z.B. flüchtige Stoffe wie Benzin oder Farben, organo-
phosphatische Insektizide, Nervengas, Kohlenmonoxid, Kohlendioxid) können eben-
falls Angstsymptome bewirken.
Nikotin
Nikotin wird im DSM-IV nicht unter den Substanzen angeführt, die eine Angststörung
auslösen können. Die Forschungsergebnisse reichen derzeit nicht aus, um von einer
Intoxikation durch Nikotin und daraus resultierender Angst sprechen zu können. Bei der
Darstellung des Nikotinentzugs wird jedoch auf das mögliche Auftreten von Ängsten
hingewiesen. Es gibt jedoch immer mehr Belege dafür, dass Rauchen das Auftreten von
Panikattacken begünstigt.
Nikotin stimuliert spezifische Acetylcholinrezeptoren im Gehirn und steigert so die
psychomotorische Aktivität, die geistige Leistungsfähigkeit, die sensomotorische Lei-
stung, die Aufmerksamkeit und die Merkfähigkeit [162]. Gleichzeitig aktiviert Nikotin
über die vermehrte Adrenalin- und Noradrenalinausschüttung das sympathische Ner-
vensystem und versetzt den Körper in einen Alarmzustand wie bei einer Stressreaktion.
160 Angststörungen
Nikotin beschleunigt den Herzschlag und verengt die Blutgefäße, wodurch der Blut-
druck erhöht wird. Die anfängliche Leistungssteigerung führt jedoch bald zu einer Lei-
stungsminderung (durch Blutdruckabfall und Sauerstoffmangel).
Langfristig bewirkt zu viel Nikotin eine Störung der Serotonin-Speicherverteilung,
eine Hemmung der Proteinsynthese, eine Blutgefäßverengung und eine Arterienverkal-
kung.
Nikotin raubt dem Körper in Belastungssituationen den nötigen Sauerstoff und über
die Appetithemmung die nötige Energie, sodass die körperliche Leistungsfähigkeit
letztlich gesenkt wird, und zwar gerade dann, wenn aufgrund von körperlicher oder
psychischer Belastung ein Mehrbedarf an Sauerstoff erforderlich ist. Der Nikotintrans-
port über die Blutbahn beeinträchtigt den Sauerstofftransport.
Sauerstoff wird durch Bindung von Sauerstoffmolekülen an die roten Blutkörper-
chen transportiert. Das im Rauch enthaltene giftige Kohlenmonoxid bindet in gleicher
Weise an die roten Blutkörperchen (Erythrozyten), und zwar 200-mal leichter als Sauer-
stoff. Selbst bei niedriger Kohlenmonoxidkonzentration werden 15-20% aller Erythro-
zyten mit Kohlenmonoxid „besetzt“ und fallen für ihre eigentliche Aufgabe als Sauer-
stoffträger aus [163]. Das Kohlenmonoxid im Blut verhindert eine ausreichende Sauer-
stoffzufuhr zum Gehirn und zu anderen Organen, insbesondere zum Herzen, wodurch
Herzrhythmusstörungen und Angina-Pectoris-artige Anfälle auftreten können.
Beim Nikotinentzug (plötzliche Beendigung des Rauchens innerhalb von 24 Stun-
den) treten nach dem DSM-IV [164] mindestens vier der folgenden Symptome auf:
Angst, Unruhe, verminderte Herzfrequenz, Konzentrationsschwierigkeiten, Ablenkbar-
keit, Enttäuschung oder Ärger, dysphorische oder depressive Stimmung, Schlaflosig-
keit, gesteigerter Appetit oder Gewichtszunahme.
Nach einer amerikanischen Studie kann tägliches Rauchen von mehr als 20 Zigaret-
ten später zu Angst- und Panikstörungen führen. 688 Jugendliche wurden im Alter von
durchschnittlich 16 Jahren zwischen 1985 und 1986 und erneut im Alter von etwa 22
Jahren zwischen 1991 und 1993 interviewt. Die Auswertung ergab, dass von den star-
ken Rauchern im Alter von 16 Jahren mit 22 Jahren 10,3% an Platzangst litten gegen-
über 1,8% der anderen Jugendlichen. Angststörungen hatten im Alter von 22 Jahren
20,5% der Raucher, hingegen nur 3,71% der übrigen jungen Erwachsenen, bezüglich
schwerer Panikattacken lagen die starken Raucher ebenfalls auf Platz 1 mit 7,7% ge-
genüber 0,6%.
Opiatentzug
Opiatbedingte Angstzustände sind im DSM-IV nicht als substanzbedingte Angststörun-
gen kodierbar, weil sie nicht durch die Substanz als solche, sondern erst durch deren
Entzug auftreten. Unter den zahlreichen recht belastenden und schmerzvollen Sympto-
men eines Opiatentzugs (z.B. Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Schwitzen, Fieber, Mus-
kelschmerzen, Gänsehaut, Tränenfluss, Schlaflosigkeit, dysphorische Verstimmung)
finden sich auch regelmäßig Angst und Unruhe.
Angstzustände gehören nicht nur zu den ersten Entzugssymptomen, sondern entwik-
keln sich auch im Rahmen der weniger akuten, über Wochen und Monate anhaltenden
Entzugssymptome, oft in Verbindung mit dysphorisch-depressiver Verstimmung,
Freudlosigkeit und Schlafstörung [165]. Angst und Unruhe treten in ähnlicher Weise
auf wie bei einem Entzug von Alkohol, Sedativa, Hypnotika und Anxiolytika.
Angststörungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors 161
Allergien
Hypoglykämie
Bei einer Überfunktion der Schilddrüse treten panikartige Symptome auf, bei einer
Unterfunktion besteht eine Antriebsschwäche, die leicht mit einer ängstlich-depressiven
Symptomatik verwechselt werden kann.
Eine Schilddrüsenüberfunktion (Hyperthyreose) führt zu einer erhöhten Adrenalin-
Empfindlichkeit. Typische Symptome sind Angstzustände, ängstlich angespannte Ruhe-
losigkeit (motorische und psychische Unruhezustände), psychomotorische Erregung,
hektisches Verhalten, Ungeduld, Zittern der Hände, emotionale Labilität, Überempfind-
lichkeit, Herzbeschleunigung (Sinustachykardie), Herzpochen, Herzrhythmusstörungen,
Schweißausbrüche, Hitzeunverträglichkeit, Atemnot, Muskelschwäche, Schlafstörun-
gen, geringe Belastbarkeit, Konzentrationsstörungen, Sehstörungen, Durchfälle und
plötzliche Gewichtsabnahme trotz Heißhungers. Die häufigsten Symptome sind schnel-
ler Puls, Hitzeunverträglichkeit und rasche Ermüdbarkeit bei normaler Aktivität. Die
genauen Ursachen der Angst auslösenden Mechanismen bei einer Hyperthyreose sind
noch unbekannt.
Eine Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose) geht einher mit Depression, Apathie
(Gleichgültigkeit, Antriebslosigkeit), Muskelkrämpfen und Gewichtszunahme.
Schilddrüsenfehlfunktionen kommen bei etwa einem Viertel der Panikpatienten vor.
Es gibt einige leicht erkennbare Unterschiede zwischen Menschen mit Hyperthyreose
und Menschen mit Angstzuständen, die schnell zur richtigen Verdachtsdiagnose führen.
Bei primären Angststörungen kommt es zu einer Absenkung des beschleunigten
Herzschlags in der Nacht und bei Ruhe, während eine Schilddrüsenüberfunktion dem
Herzen keine Schonung gönnt.
Die ständige ängstliche Erregung bei Hyperthyreose spricht gegen eine Panikstörung
mit ihrem anfallsartigen Charakter. Menschen mit Hyperthyreose haben warme Hände,
während Angstpatienten feuchtkalte Hände aufweisen.
Angststörungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors 165
Weitere Hormonstörungen
Hirnorganische Störungen
Angesichts der Fülle der möglichen organischen Ursachen für Panikattacken ist festzu-
halten, dass im klinischen Alltag unerkannt gebliebene körperliche Erkrankungen als
Ursache für Angststörungen eher die Ausnahme sind. Gerade Panikpatienten werden oft
mehrmals ergebnislos untersucht, sodass im Rahmen der üblichen Routinediagnostik
organische Faktoren kaum übersehen werden. Die nach wie vor häufigste Fehldiagnose
besteht darin, dass die Angststörung nicht erkannt wird.
Ein besonders tragisches Beispiel für die Fehldiagnose einer Panikstörung bei einer
organischen Erkrankung stellt einer meiner stationär behandelten Patienten dar:
Ein 36-jähriger, beruflich sehr gestresster und erfolgreicher Techniker musste wegen Panikattacken
seinen Auslandseinsatz abbrechen. Eine Untersuchung am Aufenthaltsort hatte keinen organischen
Befund erbracht, sodass ihm zu einer psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung geraten
wurde, die er in Absprache mit seiner Firma in seinem Heimatland absolvieren wollte. Wegen seiner
akuten Panikanfälle begab er sich dazu in stationäre Behandlung in die Oberösterreichische Landes-
Nervenklinik Linz. Eine verhaltenstherapeutische Behandlung bei mir und entsprechende Medikamente
führten bald zu einer Besserung, sodass er nach drei Wochen in stabilem Zustand entlassen werden
konnte. Nach zehn Tagen rief er mich an, dass es ihm wieder sehr schlecht gehe. Er müsse die Medi-
kamentendosis erhöhen, weil meine Ratschläge nicht mehr helfen würden.
Ich riet ihm zu einer neuerlichen organischen Untersuchung in einem anderen Krankenhaus. Dort
wurde ein Nebennierenadenom diagnostiziert, das eine sofortige Operation erforderte. Bei einer Routi-
neuntersuchung, die im Krankenhaus vor einiger Zeit durchgeführt worden war, hätte man laut behan-
delndem Facharzt diesen Befund auf dem Röntgenbild entdecken müssen, doch war der Patient nicht
wegen des Verdachts auf ein Adenom untersucht worden, sodass man auch nicht darauf geachtet hatte.
Einige Wochen nach der Operation hielt es der Patient nicht mehr zu Hause aus und begab sich wegen
einer depressiven Erschöpfungssymptomatik mit Schmerzzuständen neuerlich in stationäre psychiatri-
sche Behandlung. Wegen der panikartig erlebten Symptomatik wurde er auch wieder zu mir überwie-
sen, um die Verhaltenstherapie fortzusetzen. Bald wurde die Ursache seiner Beschwerden gefunden:
Bei der Operation hatte man leider seine Milz so schwer verletzt, dass sie in einer weiteren Operation
nur mehr entfernt werden konnte.
Angststörungen im Kindes- und Jugendalter 167
Zentrale Merkmale der Trennungsangststörung (F93.0) sind nach den klinisch diagno-
stischen Leitlinien des ICD-10 [172]:
A. Intensive Ängste und Sorgen (ängstliche Erwartung) über einen Zeitraum von mindestens sechs
Monaten an mindestens der Hälfte der Tage. Die Ängste und Sorgen beziehen sich auf mindestens
einige Ereignisse und Aktivitäten (wie Arbeits- oder Schulleistungen).
B. Die Betroffenen finden es schwierig, mit den Sorgen fertig zu werden.
C. Die Ängste und Sorgen sind mit mindestens drei der folgenden Symptome verbunden (mindestens
zwei Symptome an mindestens der Hälfte der Tage):
1. Ruhelosigkeit, Gefühl überdreht, nervös zu sein (deutlich z.B. durch das Gefühl geistiger An-
strengung zusammen mit der Unfähigkeit, sich zu entspannen)
2. Gefühl von Müdigkeit, Erschöpfung oder leicht ermattet zu sein durch die Sorgen und Ängste
3. Konzentrationsschwierigkeiten oder Gefühl, der Kopf sei leer
4. Reizbarkeit
5. Muskelverspannung
6. Schlafstörung (Ein- und Durchschlafstörungen, unruhiger oder schlechter Schlaf) wegen der
Ängste und Sorgen.
D. Die vielfältigen Ängste und Befürchtungen treten in mindestens zwei Situationen, Zusammenhän-
gen oder Umständen auf. Die generalisierte Angststörung tritt nicht in einzelnen paroxysmalen Epi-
soden (wie eine Panikstörung) auf, die Hauptsorgen beziehen sich auch nicht auf ein einzelnes
Hauptthema (wie bei der Störung mit Trennungsangst oder der phobischen Störung des Kindesal-
ters). (Treten bei einer generalisierten Angststörung auch häufiger fokussierte Ängste auf, hat die
generalisierte Angststörung Vorrang vor der Diagnose einer anderen Angststörung.)
E. Beginn in der Kindheit oder in der Adoleszenz (vor dem 18. Lebensjahr).
F. Die Ängste, Sorgen oder körperlichen Symptome verursachen eindeutiges Leiden oder Beeinträch-
tigungen in sozialen, beruflichen und in anderen wichtigen Lebens- und Funktionsbereichen.
G. Die Störung ist keine direkte Folge einer Substanzaufnahme (z.B. psychotrope Substanzen, Medi-
kamente) oder einer organischen Krankheit (wie z.B. Hyperthyreose) und tritt auch nicht aus-
schließlich im Rahmen einer affektiven oder psychotischen Störung auf oder bei einer
tiefgreifenden Entwicklungsstörung.
Nach ICD-10 und DSM-IV können alle Angststörungskategorien für Erwachsene auch
bei Kindern und Jugendlichen angewandt werden.
3. Ängste bei anderen Grunderkrankungen
Anhaltende oder gelegentliche Ängste ohne das Ausmaß einer Angststörung treten auch
bei zahlreichen anderen seelischen und körperlichen Störungen auf, wie im Folgenden
näher dargestellt werden soll.
Viele Angst- und Panikpatienten entwickeln im Laufe der Zeit auch eine somatoforme
Störung, nicht selten verbunden mit einer hypochondrischen Störung.
Die Betroffenen lehnen häufig die Möglichkeit ab, dass bei ihren Beschwerden psy-
chische Ursachen eine Rolle spielen könnten, sondern bestehen trotz negativer Befunde
auf weiteren organmedizinischen Untersuchungen und Behandlungsmethoden.
Eine Somatisierungsstörung (F45.0) wird in den klinisch-diagnostischen Leitlinien
des ICD-10 durch folgende Merkmale charakterisiert [22]:
z Charakteristisch sind multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde kör-
perliche Symptome, die seit mindestens zwei Jahren bestehen.
z Die Symptome können sich auf jeden Körperteil oder jedes Körpersystem beziehen.
Zu den häufigsten Symptomen zählen gastrointestinale Beschwerden (wie Schmerz,
Aufstoßen, Rumination, Erbrechen, Übelkeit usw.), abnorme Hautempfindungen
(wie Jucken, Brennen, Prickeln, Taubheitsgefühle, Wundsein usw.) und Ausschlag.
Sexuelle und menstruelle Störungen können ebenfalls vorhanden sein.
z Die Betroffenen weigern sich hartnäckig, den Rat oder die Versicherung mehrerer
Ärzte anzunehmen, dass die Körpersymptome keine organische Ursache haben.
z Die meisten Betroffenen haben in der Primärversorgung und in spezialisierten Ein-
richtungen bereits zahlreiche negative Untersuchungen und ergebnislose Operatio-
nen hinter sich.
z Die Störung beginnt meist im frühen Erwachsenenalter und weist einen chronisch
fluktuierenden Verlauf auf.
z Die Symptome führen zu einer lang dauernden Beeinträchtigung des sozialen, inter-
personalen und familiären Verhaltens.
Die Betroffenen erleben Ängste subjektiv oft nur als Folge der körperlichen Funktions-
störungen und haben zumindest anfangs häufig Schwierigkeiten, Ängste als Teilursache
ihrer Störung zu akzeptieren. Die Symptome können auch Ausdruck einer chronischen
Stresssymptomatik oder einer Depression sein.
Depression – Negative Lebenssicht macht Angst 177
„Depressive Patienten scheinen häufig gut sozial angepaßt zu sein. Durch eine genaue Analyse kann
jedoch deutlich werden, daß sie besonders Defizite und Ängste im Äußern eigener Bedürfnisse haben,
ihre ‘Beliebtheit’ durch Überanpassung, Konfliktvermeidung und übertriebene Hilfsbereitschaft erwor-
ben haben und dieses Verhalten als normgerecht und wünschenswert betrachten. Im Vergleich zu den
meisten sozial Gehemmten, die ihre Unfähigkeit z.B. zum Neinsagen sehr schnell als Problem und
Belastung erkennen, ist bei den anhaltend Depressiven erst ein Aufbau von Problembewußtsein und
eine Motivationsänderung notwendig.“
Darwin [35] beschrieb den Zusammenhang von Angst und Depression folgendermaßen:
„Wenn wir erwarten, daß wir leiden werden, sind wir ängstlich, wenn wir keine Hoffnung auf eine
Erleichterung haben, verzweifeln wir.“
Angst und Depression lassen sich anhand von drei Aspekten unterscheiden, was in der
klinischen Praxis sehr bedeutsam sein kann [37]:
z Schlafstörung
z Appetitstörung
z Störungen von Herz-Kreislauf-System, Atmung und Magen-Darm-Bereich
z Irritabilität
z Konzentrationsstörungen
z Müdigkeit
z Einschlafstörung
z Hypervigilanz (Überwachheit), Gespanntheit
z Herzrasen, Schwitzen, Zittern, Hitzewallungen, Kälteschauer
z Schwindel, Ohnmachtgefühle, Angst umzufallen
z Schwierigkeiten beim Atmen, Hyperventilation
z Erwartungsangst, vorweggenommene Gefahr, Panik
z phobisches Vermeidungsverhalten
z Depersonalisation oder Derealisation
Die Mehrzahl der funktionellen Sexualstörungen bei Männern lässt sich erklären durch
das bewusste Bemühen, ein einmal erlebtes bzw. befürchtetes Versagen zu verhindern
durch vermehrte Aufmerksamkeit auf das richtige Funktionieren. Die Spontaneität der
körperlichen Reaktionsabläufe wird unterbrochen durch die Aufmerksamkeitsumlen-
kung von den Reizen der Partnerin auf die ängstliche Beobachtung des eigenen Körpers.
Die Angst vor sexuellem Versagen und das ständige Sich-selbst-Beobachten bewirkt
dieses Versagen erst recht.
Angst vor der Sexualität und Sexualaversion führen zu einem Vermeidungsverhal-
ten, wie es für eine phobische Symptomatik typisch ist. Dadurch wird nicht nur die
sexuelle Funktionsfähigkeit, sondern überhaupt das sexuelle Verlangen (Libido) ver-
mindert bzw. verhindert.
Sexuelle Ängste treten oft bei Menschen mit sozialer Phobie als Ausdruck der Be-
ziehungsstörung auf. Viele vermeidend-selbstunsichere bzw. ängstlich-vermeidende
Persönlichkeiten haben noch nie eine sexuelle Beziehung erlebt. Engere Beziehungen
werden trotz Wunsch danach nicht selten vermieden wegen sexueller Ängste.
Im DSM-IV [43] werden alle sexuellen Funktionsstörungen den ersten drei der vier
Phasen des sexuellen Reaktionszyklus zugeordnet: Appetenz (Verlangen) – Erregung –
Orgasmus – Entspannung. Störungen des sexuellen Verlangens zeigen sich in vermin-
derter sexueller Appetenz bzw. in einer sexuellen Aversion.
Eine sexuelle Aversion kann laut DSM-IV bei einer Konfrontation mit sexuellen Si-
tuationen Panikattacken mit extremer Angst, Gefühlen des Schreckens, der Ohnmacht,
Übelkeit, Herzklopfen, Schwindel und Atembeschwerden auslösen.
Nach dem ICD-10 ist eine sexuelle Aversion (F32.10) u.a. charakterisiert durch eine
deutliche Aversion, Furcht oder Angst angesichts der Möglichkeit sexueller Aktivitäten
mit Partnern, sodass sexuelle Aktivitäten vermieden werden. Wenn es doch zum Ge-
schlechtsverkehr kommt, geht dies einher mit starken negativen Gefühlen und der Un-
fähigkeit, Befriedigung zu erleben.
In den „Störungen der Sexualpräferenz“ (Fetischismus, Exhibitionismus, Voyeu-
rismus, Pädophilie u.a.) laut ICD-10 bzw. in den „Paraphilien“ laut DSM-IV, wo die
sexuelle Erregung im Allgemeinen durch nichtmenschliche Objekte ausgelöst wird,
äußern sich oft Ängste vor einer adäquaten partnerschaftlichen Sexualität [44].
Essstörung – Selbstwert-Ängste hinter Fasten und Körperfigur 181
Eine ängstliche Persönlichkeitsstörung zeigt sich vor allem in einer übergroßen Emp-
findsamkeit gegenüber Ablehnung durch andere. Es besteht oft ein unlösbarer Konflikt
zwischen Bindungs- und Autonomiebedürfnis, zwischen Bindungssehnsucht und Bin-
dungsangst. Die Betroffenen sehnen sich nach zwischenmenschlicher Nähe und Sicher-
heit, vermeiden jedoch enge Beziehungen, um nicht zurückgewiesen zu werden. Trotz
der sozialen Vermeidung bleibt das persönliche Bedürfnis nach Zuwendung und Akzep-
tiert werden durch andere bestehen [50].
Die ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung des ICD-10 entspricht der ver-
meidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung des DSM-IV und kommt bei 0,5-1%
der Normalbevölkerung vor.
Ängste bei Persönlichkeitsstörungen 183
Abhängige Persönlichkeitsstörung –
Die Angst, auf sich selbst gestellt zu sein
ICD-10 und DSM-IV beschreiben mit der abhängigen (dependenten) Persönlichkeits-
störung eine weitere Persönlichkeitsstörung, die bei Angstpatienten oft vorhanden ist
und deren Vernachlässigung die Therapieerfolge erheblich beeinträchtigt. Dependenz
(Abhängigkeit) wird verstanden als mangelnde Fähigkeit oder fehlende Bereitschaft zur
Übernahme autonomer Verantwortung bzw. zur Durchsetzung berechtigter Ansprüche
vor allem gegenüber Menschen, zu denen eine Abhängigkeit besteht.
Nach dem ICD-10 [51] lässt sich eine abhängige (asthenische) Persönlichkeitsstö-
rung (F60.7) folgendermaßen charakterisieren:
z Hilfe suchen bei anderen und Übertragung der Verantwortung und Entscheidung an
andere in den meisten Lebenssituationen.
z Unterordnung der eigenen Bedürfnisse unter die anderer Menschen, von denen man
abhängig ist, und große Nachgiebigkeit gegenüber den Wünschen anderer.
z Mangelnde Bereitschaft zur Äußerung angemessener Ansprüche gegenüber Men-
schen, von denen man abhängig ist.
z Massives Unbehagen beim Alleinsein aus Angst, nicht für sich allein sorgen zu
können.
z Ständige Angst vor dem Verlassen werden durch eine enge Bezugsperson, auf die
man angewiesen ist.
z Mangelnde Entscheidungsfähigkeit angesichts von Alltagssituationen ohne Rat-
schläge vonseiten anderer und ohne Bestätigung durch andere.
Aus den relativ übereinstimmenden Daten beider Studien folgt: Unter Berücksichti-
gung der Zwangsstörung, der posttraumatischen Belastungsstörung und der Trennungs-
angststörung, die nach dem ICD-10 nicht zu den Angststörungen im Sinne der Diagno-
sen F40 und F41 zählen, leidet mindestens jeder Vierte der Allgemeinbevölkerung im
Laufe seines Lebens unter einer Angststörung. Die Befragungsergebnisse mögen auf
den ersten Blick unglaubhaft hoch erscheinen, sie müssen jedoch auf den Hintergrund
verstanden werden, dass laut aktueller NCS-R-Studie 46,4% der US-Bürger mindestens
einmal in ihrem Leben unter einer psychischen Störung leiden (innerhalb der letzten 12
Monate trifft dies auf 26,2% zu).
Nach einer umfangreichen europäischen Befragung (ESEMeD) von 21425 Personen
in sechs Ländern (Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Spanien) in
den Jahren 2001-2003 hatten im Laufe des Lebens 13,6% der Bevölkerung (9,5% der
Männer und 17,5% der Frauen) und innerhalb der letzten 12 Monate 6,4% der Bevölke-
rung (3,8% der Männer und 8,7% der Frauen) eine Angststörung. Es gibt mittlerweile
auch andere repräsentative deutsche Studien zur Verbreitung von Angststörungen. Dem-
nach leiden aktuell (Punktprävalenz) rund 9% der Deutschen unter einer Angststörung.
Im Rahmen des Bundesgesundheitssurvey 1998 wurden durch eine Zusatzauswer-
tung auf der Basis von 4181 Personen aktuellste und repräsentative Daten zur Verbrei-
tung von Angststörungen in Deutschland gewonnen [6]. Ca. 9% (genau 8,87%) der 18-
bis 65-Jährigen wiesen aktuell (innerhalb der letzten vier Wochen) und 14,5% innerhalb
der letzten 12 Monate eine Angststörung auf. Die 12-Monatsprävalenzen der verschie-
denen Angststörungen betragen: 1,1% Panikstörung, 2,0% Agoraphobie, 7,6% spezifi-
sche Phobie, 2,0% soziale Phobie, 5,1% generalisierte Angststörung, 0,7% Zwangsstö-
rung. Es bestanden keine Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland (alte Bun-
desländer: 8,97%; neue Bundesländer: 8,98%). Unter den Männern wiesen rund 5%,
unter den Frauen rund 13% eine Angststörung auf, und zwar relativ unabhängig vom
jeweiligen Altersbereich. Der höchste Prozentsatz bestand bei 18- bis 35-Jährigen
(Frauen: 13,32%, Männer: 5,46%).
Nach der TACOS-Studie, einer 1996 durchgeführten Erhebung an 4075 18- bis 64-
Jährigen der Allgemeinbevölkerung einer norddeutschen Region wiesen 15,1% im Lau-
fe des Lebens eine Angststörung nach dem DSM-IV auf (Panikattacken: 5,8%, Panik-
störung ohne Agoraphobie: 0,9%, Panikstörung mit Agoraphobie: 1,3%, Agoraphobie
ohne Panikstörung: 1,1%, soziale Phobie: 1,9%, generalisierte Angststörung: 0,8%,
spezifische Phobie: 10,6%, Zwangsstörungen: 0,5%, posttraumatische Belastungsstö-
rung: 1,4%, Angststörung aufgrund medizinischer Krankheitsfaktoren: 0,7%).
Nach der EDSP-Studie, einer über 5 Jahre angelegten repräsentativen Verlaufsstudie
bei 3021 14- bis 24-Jährigen aus Bayern, erlebten 14,4% dieser jungen Menschen im
Laufe des Lebens eine Angststörung. Die Lebenszeitprävalenz im Einzelnen: 3,5%
Panikstörung, 5,3% Agoraphobie, 5,1% generalisierte Angststörung, 11,3% spezifische
Phobie, 7,6% soziale Phobie, 2,1% Zwangsstörung (Datenerhebung 1995 und 1996).
Nach einer 1994 unter Leitung des Angstexperten Margraf [7] durchgeführten reprä-
sentativen Befragung von 2948 Personen in der BRD (1939 in Westdeutschland und
1009 in Ostdeutschland) weisen 8,8% der Deutschen (11,0% der Frauen und 6,4% der
Männer) zum Befragungszeitpunkt behandlungsrelevante Angstsyndrome auf, erhoben
durch das Beck-Angst-Inventar. Ängste treten in Ostdeutschland (16,3%) doppelt so
häufig auf als in Westdeutschland (7%), was wohl durch die Umbruchssituation erklär-
bar ist. Aus der Forschung ist bekannt, dass die Unkontrollierbarkeit und Unvorhersag-
barkeit von Lebenssituationen eine zentrale Ursache für Angstreaktionen darstellt.
Verbreitung von Angststörungen 187
Jeder siebente Deutsche (13,1%) war bzw. ist gerade wegen Angstsymptomen in Be-
handlung (von den insgesamt 394 Behandelten waren 109 klinische und 285 subklini-
sche „Fälle“). Nur 41,6% aller Befragten mit behandlungsbedürftigen Ängsten erhielten
eine Behandlung im weitesten Sinne. Als Behandler der Befragten wurden verschiedene
Berufsgruppen in folgender Häufigkeit eruiert: 81,7% Allgemeinmediziner, 5,8% Psy-
chiater oder Nervenfachärzte, 16,5% andere Fachärzte (z.B. Internisten), 2,8% Psycho-
logen und 1,3% Heilpraktiker. Über vier Fünftel der Behandlungen von Menschen mit
Angststörungen erfolgen demnach durch den Hausarzt.
89,3% aller Behandelten erhielten Medikamente, 74,4% eine allgemeine Beratung,
9,4% eine stationäre Behandlung, 16,5% eine Psychotherapie, 5,1% eine andere Be-
handlung. Die Pharmakotherapie stellt in der Versorgungspraxis die häufigste Form der
Angstbehandlung dar. Nur bei insgesamt 25% der klinischen und subklinischen Fälle
erfolgte eine psychotherapeutische Behandlung. Von allen Behandelten wurden 2,0% in
einer psychiatrischen/psychosomatischen/verhaltenstherapeutischen Klinik und 9,1% in
einer Kur- bzw. Rehabilitationsklinik stationär therapiert.
Die Behandelten unterzogen sich folgenden psychotherapeutische Methoden: 11,9%
Entspannungsmethoden, autogenes Training oder Hypnose, 11,4% Gesprächstherapie
oder psychodynamische Verfahren und 1,0% verhaltenstherapeutische bzw. kognitive
Verfahren. Verhaltenstherapeutische Behandlungsmethoden, deren Wirksamkeit sehr
hoch und durch die Psychotherapieforschung gut belegt sind, wurden in der Praxis
kaum verwendet, was eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit erfordert. Nur 26,3% aller in
irgendeiner Form behandelten Patienten schätzten die Therapie als dauerhaft erfolgreich
ein. Von den Befragten mit psychotherapeutischer Behandlung berichteten 8,1% keinen,
28,6% einen kurzfristigen, 48,0% einen mittelfristigen und nur 15,3% einen dauerhaften
Erfolg, bei den medikamentös Behandelten beschrieben 8,9% keinen, 28,2% einen
kurzfristigen, 33,2% einen mittelfristigen und 29,7% einen dauerhaften Erfolg.
Nach der Dresdner Angststudie besteht akuter Handlungsbedarf im Bereich der
Angststörungen. Rund 60% aller Befragten mit Angstsymptomen haben niemals einen
Therapeuten aufgesucht. Im Durchschnitt erfolgt eine adäquate Behandlung erst nach 7
Jahren. Die Ersterkrankung setzt zwischen dem 20. und dem 25. Lebensjahr ein. Der
erste Arztbesuch erfolgt durchschnittlich mit 24 Jahren.
Ohne Behandlung ist die Entwicklung von Angststörungen im Laufe des Lebens
nach allen Studien als sehr negativ zu beurteilen. Spontanheilungen sind seltener, als
früher angenommen wurde, jedenfalls niedriger als bei anderen psychischen Störungen.
188 Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen
Es ist ein Faktum: Angststörungen sind – ebenso wie Depressionen – in den letzten
Jahrzehnten stark angestiegen. Laut manchen Fachleuten seien nur die Diagnosen ange-
stiegen, während der Prozentanteil der Angstkranken in der Bevölkerung gleich geblie-
ben sei. Viele Experten gehen jedoch davon aus, dass seit den 1950er-Jahre Angststö-
rungen tatsächlich um mindestens 1,2 Standardabweichungen zugenommen haben,
bedingt durch sozioökonomische Faktoren und persönliche Bedrohungseinschätzungen:
z Obwohl das Leben in früheren Jahrhunderten durch zahlreiche Faktoren viel stärker
bedroht war als heute, nehmen die Menschen gegenwärtig subjektiv immer weniger
Sicherheit im Leben wahr. Die Bevölkerung ist im Zeitalter der Globalisierung bin-
nen Minuten über alle Bedrohungen in der näheren und weiteren Umwelt informiert.
Die mangelnde subjektive Kontrolle der Umwelt macht Angst und erzeugt Stress.
Krank machend ist nicht der Stress an sich, sondern das Gefühl des Kontrollverlusts.
z Der schulische und berufliche Leistungsdruck fördert Versagensängste und soziale
Ängste, aber auch existenzielle Ängste in Bezug auf die ökonomische Absicherung
des weiteren Lebens. Arbeitnehmer haben immer häufiger das Gefühl, dass ihr Ar-
beitsplatz als Grundlage der Existenzsicherung nicht garantiert ist.
z Die Menschen wurden noch nie so alt wie jetzt und fürchten sich dennoch mehr
denn je vor Krankheiten, einerseits wegen des größeren Erkrankungsrisikos als Fol-
ge höheren Lebensalters, andererseits wegen höherer Erwartungen an die Medizin.
z Familiäre Stützsysteme haben durch die zunehmende Instabilität von Ehe und Be-
ziehungen ihren wichtigen Schutzfaktor für die Gesundheit in Kindheit, Jugend und
Erwachsenenalter verloren. Die Vereinzelung, soziale Entwurzelung und mangelnde
Solidarität fördert heutzutage Angstkrankheiten. Stabile Sozialkontakte dagegen
schützen vor krankhaften Ängsten. Der Verlust von sozialer Verbundenheit macht
zwanzig Prozent der Varianz aus, die beim Anstieg der Ängste beobachtbar sind.
Bereits ohne die nicht erfassten spezifischen und sozialen Phobien sowie posttraumati-
schen Belastungsstörungen weisen mehr als 10% der Patienten von Allgemeinärzten
manifeste behandlungsbedürftige Angststörungen auf.
Nach der WHO-Studie findet man in deutschen Allgemeinarztpraxen 1,6% akute
Agoraphobien, 1,3% akute Panikstörungen, 8,5% generalisierte Angststörungen.
Insgesamt leiden weltweit etwa ein Viertel der Patienten von Allgemeinärzten unter
psychischen Störungen. Rund 60% aller Patienten, die wegen psychischer Probleme den
Hausarzt aufsuchen, weisen laut WHO-Studie mehr als eine psychische Störung auf
(zumeist Angst und Depression).
In der BRD erhielten 20,9% der Patienten von Allgemeinmedizinern eine psychiatri-
sche ICD-10-Diagnose, weitere 8,5% klagten über typische Beschwerden, ohne die
vollen Kriterien einer psychiatrischen ICD-10-Diagnose zu erfüllen [10].
Die Übereinstimmung zwischen der ICD-Diagnose durch Fachleute und der Fest-
stellung einer psychischen Erkrankung durch den Hausarzt betrug 60%, d.h. bei 40%
wurde die psychische Störung nicht erkannt [11]. Rund 50% aller Angststörungen wer-
den vom Hausarzt nicht erkannt oder als Depressionen bzw. somatische Störungen
fehldiagnostiziert. Weitere 25% werden nach Expertenurteil fehlbehandelt [12].
16,1% der Patienten von deutschen Allgemeinärzten erhalten Medikamente wegen
einer psychischen Störung, davon 4,5% Tranquilizer, 3,4% Hypnotika (Schlafmittel),
1,7% Anxiolytika, 2,0% Antidepressiva, 1,3% Antipsychotika, 2,8% pflanzliche Mittel,
1,1% Schmerzmittel [13].
Die Mehrzahl der Angstpatienten wird über 4-10 Jahre nicht adäquat diagnostiziert
und behandelt. Im Durchschnitt vergehen sieben Jahre, bis eine Angsterkrankung als
solche erkannt wird. Ärztliche Hilfe wird anfangs eher über somatoforme Störungen
(Kreislaufprobleme, Schwindel usw.) und Schlafstörungen gesucht.
Unter 500 deutschen Allgemeinarztpatienten mit aktuellen, körperlich nicht hinrei-
chend begründbaren Beschwerden wurde bei 21% eine Angststörung festgestellt.
Von 6307 Patienten aus Allgemeinarztpraxen in den USA wiesen 32,7% eine vorü-
bergehende Angstsymptomatik auf, die in 56% der Fälle nicht erkannt wurde.
Von 1994 niederländischen Patienten mit einer psychiatrischen Diagnose wurden in
den Allgemeinarztpraxen nur 47% als psychisch krank erkannt. Die von den Ärzten
rasch erkannten und richtig behandelten Angstpatienten wiesen eine kürzere Erkran-
kungsdauer auf. Das rasche Erkennen von Angststörungen hat somit einen positiven
Effekt auf den Krankheitsverlauf.
Menschen mit Angststörungen können in einer durchschnittlichen Arztpraxis ange-
sichts des nötigen Zeitaufwands oft nicht ausreichend betreut werden.
Bei einer Befragung von Allgemeinärzten und Nervenärzten in Deutschland [14]
gaben 54,5% an, dass Angstpatienten eine große Belastung für die Praxis seien. 91,7%
meinten, dass bei Angstpatienten im Vergleich zu anderen Patienten mehr Zeit aufge-
wendet werden müsse. Tranquilizer sind daher häufig das Mittel der Wahl, dieses Pro-
blem zu entschärfen, von dem viele Ärzte wissen, dass es dadurch nicht lösbar ist.
Nach einer US-Studie an 794 Patienten mit Panikanfällen (mit und ohne Agorapho-
bie) erhielten nur 4% eine Verhaltenstherapie. Nur bei 2,6% der Patienten mit Vermei-
dungsverhalten wurde eine Konfrontationstherapie durchgeführt. Ähnlich geringe Pro-
zentwerte fand – wie erwähnt – Margraf [15] bei fast 400 deutschen Angstpatienten.
190 Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen
Verschiedene Studien zeigen, dass eine anfängliche Panikattacke ein deutlich höheres
Risiko bedeutet, eine Panikstörung, eine Agoraphobie oder eine andere Angststörung zu
bekommen. Dieses Risiko ist allerdings relativ unspezifisch, da Panikattacken auch bei
fast allen anderen Formen psychischer Störungen auftreten können (z.B. bei affektiven,
psychotischen, somatoformen oder Substanzmissbrauchsstörungen).
Diese Befunde haben dazu geführt, dass im amerikanischen DSM-IV eine Panikat-
tacke als Zusatzphänomen bei jeder psychischen Störung vermerkt werden kann. Sie
bestätigen auch das internationale Diagnoseschema ICD-10, das die Agoraphobie als
eigenständige Störung auflistet.
Ähnliche Befunde ergaben sich für die Agoraphobie sowie für die soziale und spezifi-
sche Phobie. Bei mehr als zwei Drittel aller Mehrfacherkrankungen ist die Angst-
symptomatik die primäre Störung, während die Depression eine oft Jahre später eintre-
tende Komplikation darstellt.
Die wenigen Fälle, die zuerst eine Depression erlebt hatten, wiesen zumeist eine
deutlich abgrenzbare (eher reaktive) Depression auf. Bei fast allen deutschen Patienten
mit Panikstörung und Agoraphobie, die im Lebenszeitlauf eine Depression entwickel-
ten, trat also die Depression nach der Angststörung auf. Nur bei 10% der Mehrfach-
erkrankten bestand vor der Angststörung eine Depression [24].
Nach der NCS-Studie [26] entstehen Depressionen im Lebenslauf bei 45,9% der Agora-
phobien, 64,1% der Panikstörungen, 62,4% der generalisierten Angststörungen, 42,3%
der spezifischen Phobien, 37,2% der sozialen Phobien und 47,9% der posttraumatischen
Belastungsstörungen.
85% der Patienten mit Angststörungen und Depressionen gaben in einer anderen
amerikanischen Studie an, dass ihre Angststörungen zuerst aufgetreten seien.
Depressive Episoden entwickeln sich (ebenso wie Substanzmissbrauch bzw. Sub-
stanzabhängigkeit) nach den vorhandenen US-Studien meistens nach Beginn der Angst-
erkrankung. Dies erfolgt oft erst mehrere Jahre später, lediglich bei Panikstörungen
kommt es relativ rasch innerhalb eines Jahres zu einer depressiven Episode. Der Um-
stand, dass die Angststörung zumeist primär und die depressive Störung sekundär ist,
hat weit reichende Konsequenzen für die Art des therapeutischen Vorgehens.
Bei Angstpatienten treten öfter Selbstmordgedanken und Selbstmordversuche auf.
Dabei ist jedoch eine Komorbidität mit einer Depression oder einem Alkoholmiss-
brauch zu vermuten, gewöhnlich als Folge einer chronifizierten Symptomatik. Relativ
häufig finden sich auch Zwangssymptome, die mit der Angst vor negativen sozialen
Konsequenzen zu tun haben. Ordnungs- und Putzzwänge sind oft Folge der Angst,
Sauberkeitsnormen nicht zu erfüllen, Kontrollzwänge Ausdruck der Angst, den gefor-
derten Perfektionsansprüchen nicht zu genügen, handlungshemmende Gedankenzwänge
Ausdruck der Angst, dass die anderen das eigene Verhalten kritisieren könnten.
Ein nicht unbeträchtlicher Prozentsatz der Bevölkerung sowie der Patienten in medi-
zinischen (nichtpsychiatrischen) Behandlungseinrichtungen leidet unter gemischt ängst-
lich-depressiven Symptomen. Die Grundproblematik hinter dem meist diffusen körperli-
chen Beschwerdeangebot wird oft nicht erkannt. Wenngleich es sich großteils nur um
subklinische, nicht akute Symptome handelt, leiden die Betroffenen subjektiv doch
bedeutsam darunter und sind zahlreichen psychosozialen Problemen ausgesetzt.
Bei ca. 10% der Amerikaner fand man gemischt ängstlich-depressive Symptome,
ohne dass damit schon in den meisten Fällen bereits eine Diagnose gestellt werden
konnte [27]. Bei über 80% davon traten phobische Beschwerden, körperliche Symptome
einer Depression oder aber eine allgemeine „Nervosität“ auf. Bei 13% davon zeigte sich
eine typische Mischung aus ängstlichen und depressiven Symptomen, gelegentlich
gingen sie mit Phobien, einer Dysphorie (einer leichten depressiven Verstimmung) oder
somatischen Angstäquivalenten einher. Bei 4,5% der gemischt ängstlich-depressiven
Personen bestand eine Major Depression mit Nervosität, Panik und Phobien.
In einer Untersuchung an britischen Frauen in den 1980er-Jahren wurden die mei-
sten gefundenen Syndrome als subklinisch eingestuft [28]. Bei ca. 2% ergab sich eine
Mischung von ängstlichen und depressiven Syndromen. Unter den subklinischen Angst-
patientinnen bot mehr als die Hälfte ein anfangs gemischt ängstlich-depressives Zu-
standsbild, wobei im Laufe der Zeit die depressive Symptomatik ohne Behandlung
verschwand, während eine chronische subklinische Angstsymptomatik bestehen blieb.
Alle subklinischen Untergruppierungen zeigten ein höheres Risiko, nach stressrei-
chen Lebensereignissen (zumeist nach Trennung oder Verlust des Partners) eine schwe-
re Depression zu entwickeln. Unter den subklinisch belasteten Frauen waren bei der
Mehrzahl lang dauernde soziale Probleme festzustellen.
Eine Studie an über 6000 jungen Erwachsenen in Zürich [29] ergab ganz ähnliche
Befunde. Man fand vor allem deutlich depressive Symptome, die nur kurz anhielten,
dafür jedoch fast allmonatlich wiederkehrten und bei fast der Hälfte der Betroffenen
auch mit Ängsten verbunden waren.
194 Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen
In Deutschland [30] weisen 3,8% der Bevölkerung eine Komorbidität von Angststö-
rungen und affektiven Störungen auf. Ein Viertel davon entwickelte im Laufe der Zeit
zusätzlich auch einen bedeutsamen Medikamenten- oder Alkoholmissbrauch.
Während 40-80% der Panikpatienten lebenszeitlich irgendwann eine sekundäre De-
pression erleiden, entwickeln umgekehrt Patienten mit einer Depression in ca. 25% der
Fälle auch einmal eine Panikstörung [31].
Im Vergleich zu rein depressiven Patienten haben Patienten, die zugleich eine Pa-
nikstörung und eine Depression aufweisen, unter ihren Verwandten ersten Grades ein
zweimal häufigeres Auftreten von Depressionen, Panikstörungen, Phobien und Alko-
holabhängigkeit. Bei Patienten mit einer primären Panikstörung und einer sekundären
Depression findet man familiär keine Häufung von Depressionen, wohl aber eine von
Panikstörungen.
Menschen mit einer primären Depression und einer sekundären Panikstörung zeigen
in ihrer depressiven Querschnittsymptomatik häufiger eine (früher so genannte) endo-
gene Depression, sprechen meist gut auf Antidepressiva an und entwickeln gewöhnlich
nur eine leichtere Agoraphobie (wenn überhaupt).
Primäre Angststörungen beginnen selten nach dem 40. Lebensjahr, außer sie sind
symptomatischer Natur, d.h. durch eine körperliche Erkrankung verursacht. Wenn dies
ausgeschlossen ist, sind sie Ausdruck einer zugrunde liegenden Depression.
Im Vergleich zur Normalbevölkerung weisen depressive Patienten ein höheres Risi-
ko auf, im weiteren Lebensverlauf an einer Angststörung zu erkranken [32]:
z spezifische Phobie: 9-mal,
z Agoraphobie: 15,3-mal,
z Panikstörung: 18,8-mal.
In der genannten Reihenfolge der Diagnosegruppen musste bei den betroffenen Patien-
ten ein immer ungünstiger werdender Krankheitsverlauf festgestellt werden, vor allem
auch ein wachsender Grad an psychosozialer Beeinträchtigung.
Die Entwicklung von Depressionen und Angststörungen im Lebensverlauf bedarf
wohl bestimmter Persönlichkeitsmerkmale, insbesondere soweit es die Verarbeitung
bedeutsamer negativer Lebensereignisse betrifft.
Bei den Patienten mit ängstlich-depressiven Symptomen zeigen sich sehr passiv-
abhängige Wesenszüge. Diese Patientengruppe weist folgende Charakteristika auf [34]:
z eine auffällige Scheu vor neuen sozialen Situationen (geringe „Neuigkeitssuche“),
z eine erhöhte Enttäuschbarkeit (hohe „Belohnungsabhängigkeit“),
z eine spezielle kognitive Angsterwartung (starke „Gefahrvermeidung“).
Vor der Ausprägung der Krankheitssymptome erlebten diese Patienten eine erhöhte
Zahl an negativen Lebensereignissen von „Gefahr“ und „Verlust“, die nicht angemessen
verarbeitet werden konnten, sodass zunächst eine Hilflosigkeit, später (nach erfolglosen
Kontrollversuchen über die Einflussfaktoren) auch eine Hoffnungslosigkeit auftrat, die
die Entwicklung einer Depression begünstigte.
Angststörungen im Rahmen von psychischen Mehrfacherkrankungen 195
Alkohol wirkt Angst reduzierend durch die Verstärkung der hemmenden Funktion
der Gamma-Aminobuttersäureneurone (GABA), aber auch durch positive Erwartungen.
In der Fachliteratur werden vier Möglichkeiten des Zusammenhangs von Angststö-
rung und Alkoholmissbrauch diskutiert und durch Studien untermauert [37]:
1. Der Alkoholkonsum dient der Selbstbehandlung von Angst.
2. Angst und Alkoholabhängigkeit sind Effekte einer gemeinsamen Grundstörung.
3. Angst tritt als schädliche Auswirkung von Alkoholmissbrauch oder -entzug auf.
4. Angst stellt eine kognitive Folge von Alkoholmissbrauch oder Alkoholentzug dar.
In Deutschland [38] war bei 20% der Angstpatienten im Laufe der Jahre Substanzmiss-
brauch bzw. Substanzabhängigkeit festzustellen. Bei 1,2% der deutschen Bevölkerung
besteht eine Mischung von Angststörung und Medikamentenmissbrauch, bei 1% eine
Mischung von Angststörung, affektiver Störung und Medikamentenmissbrauch.
Nach der amerikanischen NCS-Studie [39] zeigt sich Substanzmissbrauch (Alkohol,
Medikamente, Drogen) lebenszeitlich bei 36,3% der Agoraphobien, 39,4% der Panik-
störungen, 32,3% der generalisierten Angststörungen, 39,6% der sozialen Phobien,
39,4% der spezifischen Phobien und 51,4% der posttraumatischen Belastungsstörungen.
In den USA weisen lebenszeitlich unter den Menschen mit irgendeiner Form von
Angststörung 22,7% der Männer und 48,8% der Frauen einen Alkoholmissbrauch und
35,8% der Männer und 60,7% der Frauen eine Alkoholabhängigkeit auf. Das Vorhan-
densein einer sozialen Phobie ging am stärksten mit einer Alkoholproblematik einher.
Es handelt sich bei diesen Ergebnissen allerdings um retrospektive Daten. Zur Absi-
cherung der Befunde wäre eine prospektive Studie (Verlaufsstudie) erforderlich. Die
Mehrzahl der Befragten in der NCS-Studie weist lebenszeitlich mindestens eine weitere
psychiatrische Störung auf. Der Befund, dass insbesondere bei Frauen ein enger Zu-
sammenhang zwischen Alkoholmissbrauch bzw. Alkoholabhängigkeit und Angststö-
rung besteht, wird auch durch andere Studien bestätigt. Panikpatienten mit und ohne
Agoraphobie neigen auch nach anderen Studien oft zu Alkoholmissbrauch. Nach der
amerikanischen ECA-Studie und der Münchner Follow-up-Studie weisen 36-40% der
Panikpatienten Substanzmissbrauch oder Substanzabhängigkeit auf [40]. Panik- und
Alkoholerkrankung können auch die gleichzeitige Folge einer erhöhten Belastung sein.
Wenn Alkohol zum Mittel wird, Vermeidungsverhalten und Erwartungsangst zu re-
duzieren, kann sich daraus eine sekundäre Alkoholabhängigkeit entwickeln. In einer
Untersuchung [41] berichteten 50% der stationären Patienten mit Alkohol- und Drogen-
missbrauch von wiederholten Panikattacken, die die meisten von ihnen (83%) mit Al-
kohol bekämpften, was sich mehrheitlich (bei 72%) auch als wirksam gezeigt habe.
Patienten mit einer isolierten Panikstörung weisen häufiger eine primäre Alkoholab-
hängigkeit auf. Dies ist so zu interpretieren, dass die ständig wiederkehrenden Entzugs-
symptome Panikattacken auslösen können, weil die Symptome ähnlich sind.
Die Erfassung von Panikstörungen bei Alkoholikern ist nicht unproblematisch. Nach
einer Studie [42] sind Alkoholiker nicht in der Lage, zwischen Symptomen von Panik
und solchen von Alkoholentzug zu unterscheiden, mit Ausnahme des Zitterns, das im
Entzug als stärker erlebt wurde. In einer amerikanischen Untersuchung an 565 Alkohol-
abhängigen wiesen 10% eine Phobie und 13% Panikattacken auf, während eine andere
Studie an Alkoholikern bei 7,8% eine soziale Phobie und bei 8,5% eine Agoraphobie
fand [43]. Eine weitere Befragung von 321 stationären Alkoholabhängigen ergab bei
6% Panikstörungen und bei 18% Phobien im Rahmen des Lebensverlaufs [44]. Wäh-
rend des Alkoholentzugs sind noch höhere Werte zu finden.
Angststörungen im Rahmen von psychischen Mehrfacherkrankungen 197
Viele sozial ängstliche Menschen verwenden Alkohol als Mittel zur Linderung ihrer
Symptome. Am Beginn einer Alkoholabhängigkeit steht oft eine soziale Phobie, die mit
Alkohol so lange zu überspielen versucht wurde, bis man davon abhängig wurde. Viele
Alkoholiker erkennen erst nach dem Entzug das wahre Ausmaß ihrer sozialen Ängste.
Die Fachliteratur und leidvolle Erfahrungen der Betroffenen zeigen, dass die Selbst-
behandlung mit Alkohol die Angstsymptomatik langfristig nicht zu lindern vermag,
sondern tendenziell eher verschlimmert. Insgesamt sind jedoch die empirischen Belege
für die häufige klinische Erfahrung, dass zuerst die Angststörung und dann die Alko-
holproblematik auftritt, derzeit noch nicht ausreichend vorhanden.
Therapeutisch gesehen muss bei Alkoholikern neben dem Ziel der Abstinenz oft
auch eine bessere soziale Kompetenz aufgebaut werden.
Der Zusammenhang von Angst und Alkohol kann auch umgekehrt sein: eine primä-
re Abhängigkeitserkrankung kann zu einer sekundären Angstsymptomatik bzw. sekun-
dären Angststörung führen. Angst als Folge von Alkoholmissbrauch muss nicht unbe-
dingt auf einer direkten Alkoholwirkung beruhen, sondern könnte auch durch die mit
dem Alkoholentzug einhergehenden neurobiologischen Veränderungen bedingt sein.
Wiederholte Alkoholentzüge (auch ein zum üblichen Blutalkoholspiegel nur relativ
geringfügiger Abfall des Alkoholspiegels) bewirken eine länger andauernde Erregbar-
keitssteigerung im Zentralnervensystem, die mit Angst verbunden ist und nach Absti-
nenzbeginn noch monatelang anhalten kann. Man spricht in diesem Fall von einem
„subakuten verlängerten Alkoholentzugssyndrom“ [45].
Zumindest bei prädisponierten Personen können wiederholte Alkoholentzüge durch
Sensibilisierung und erhöhte exzitatorische Instabilität die Schwelle für das Auftreten
von Angst herabsetzen. Dies wird als Kindling-Phänomen bezeichnet.
Im Alkoholentzug besteht eine noradrenerge Hyperaktivität des Zentralnerven-
systems, die erregend wirkt. Panikstörungen sind ebenfalls charakterisiert durch eine
Aktivitätssteigerung des noradrenergen Systems, ausgehend vom Locus coeruleus.
Trizyklische Antidepressiva oder bestimmte neuere Antidepressiva (außer den nicht
dämpfenden SSRI) gelten als Therapieempfehlung bei Panikstörungen von Alkoholi-
kern. Diese Medikamente erhöhen in gleicher Weise wie die MAO-Hemmer die Ver-
fügbarkeit von Noradrenalin im synaptischen Spalt und bewirken so über einen negati-
ven Feedback-Mechanismus eine verminderte Aktivität der Neurone im Locus coeru-
leus und damit auch eine Reduzierung der noradrenergen Aktivität.
Der Zusammenhang von Alkohol und Angst kann als Teufelskreis dargestellt wer-
den [46]: Alkoholfolgen wie z.B. vegetative Übererregbarkeit, Irritierbarkeit, Schlafstö-
rungen, Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen, reduzierte Leistungsfähigkeit,
Erschöpfung, Herz-Kreislauf-Probleme oder Magen-Darm-Beschwerden dienen häufig
als Auslöser für Angstreaktionen in der Form, dass diese Zustände als Angst machend
interpretiert werden. Um die Angstgefühle zu beseitigen, wird erst recht wieder Alkohol
als Mittel der Wahl eingesetzt.
Alkohol und Tranquilizer (z.B. Tafil®/Xanor®, Lexotanil®, Valium®) ermöglichen
oft lange das Verbergen der Sozialphobie Phobie bzw. der Agoraphobie vor anderen
und ein unauffälliges Leben. Im Laufe der Zeit entstehen jedoch große Folgeprobleme
(schwerer Missbrauch bzw. Abhängigkeit von Alkohol oder Beruhigungsmitteln, De-
pressionen, Berufsunfähigkeit, völlige Abhängigkeit von bestimmten Bezugspersonen).
Eine Abhängigkeit von Tranquilizern entwickelt sich oft schneller als von Alkohol,
weil die Einnahme anfangs ärztlich legitimiert erfolgte und die soziale Kontrolle fehlte
(Tabletteneinnahme erfolgt ohne Zuschauer).
198 Häufigkeit und Verlauf von Angststörungen
Das menschliche Gehirn enthält in seinem Aufbau die ganze Evolutionsgeschichte von
den einfachsten Tierarten bis zum Menschen. Es besteht im Wesentlichen aus folgenden
Teilen: Hirnstamm – Kleinhirn – Mittelhirn – Zwischenhirn – Großhirn (Endhirn).
202 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Hirnstamm
Der Hirnstamm ist der älteste Teil des Gehirns, der bereits bei den Reptilien vorhanden
ist. Seine Zerstörung führt zum Tod des Menschen. Der untere Teil des Hirnstamms
umfasst die Medulla oblongata (verlängertes Mark), die eine direkte Fortsetzung des
Rückenmarks darstellt. Die Region unmittelbar darüber ist die Brücke (Pons), die vom
Kleinhirn überlagert wird. Der oberste Teil des Hirnstamms besteht aus dem Mittelhirn.
Der Hirnstamm verbindet das Rückenmark mit dem Zwischenhirn und der Groß-
hirnrinde. Alle aufsteigenden und absteigenden Bahnen, die das Rückenmark und das
Gehirn verbinden, gehen durch den Hirnstamm. Im Hirnstamm befinden sich die Steue-
rungs- und Regulationszentren für die wichtigsten Lebensfunktionen: Herzschlag, Blut-
druck, Atmung, Magen-Darm-Funktionen, Schlaf-Wach-Rhythmus, Temperatur.
Der Hirnstamm enthält auch die Formatio reticularis, die sich über den ganzen
Hirnstamm bis zum Mittel- und Zwischenhirn ausdehnt. Die Formatio reticularis steu-
ert durch ein kompliziertes Netzwerk von Nervensträngen die Wachheit und bestimmt
damit den Grad der Bewusstseinshelligkeit. Das gesamte Netzwerk, das von der Forma-
tio reticularis im Hirnstamm aus bei plötzlicher Gefahr sofort das ganze Gehirn akti-
viert, heißt aufsteigendes reticuläres Aktivierungssystem (ARAS).
Eine Erregung der Formatio reticularis bewirkt eine arousal reaction (Alarm-
reaktion mit gesteigerter Wachheit, Angst, Blutdruckanstieg, Schwitzen, Erhöhung der
Muskelspannung usw.). Bei Bewertung von Reizen als bedrohlich erfolgt eine massive
Aktivierungsreaktion des Organismus (auch Alarm- oder Bereitstellungsreaktion ge-
nannt). Wenn ein Reiz mehrmals hintereinander auftritt, erfolgt eine Habituation (Ge-
wöhnung), die Aufmerksamkeit nimmt ab. Monotone Reize wirken einschläfernd.
Neben dem ARAS steuern ein noradrenerges und ein dopaminerges aufsteigendes
System die Vigilanz (Wachsamkeit, Aufmerksamkeit). In der Brücke zum Stammhirn
befindet sich der Locus coeruleus, in dem die Hälfte aller Neurone des Gehirns, die
Noradrenalin synthetisieren, entspringen und von dem etwa 70% des gesamten Nor-
adrenalins im Gehirns produziert werden. Von diesem System geht eine erregend-
aktivierende Wirkung auf das ganze Gehirn aus, insbesondere auf das limbische System
(Amygdala, Hippocampus, Septum, Gyrus cinguli u.a.) und die Großhirnrinde.
Der Locus coeruleus gilt als Umschaltsystem in einem Alarm-Furcht-Angst-System.
Im Tierversuch (bei Affen) führt eine Stimulierung des Locus coeruleus zu Angstzu-
ständen, während eine Lähmung oder Entfernung eine Angstreduktion bewirkt. Die
Stimulierung des Locus coeruleus bewirkt jedoch keine Panikattacken.
Kleinhirn
Das Kleinhirn (Cerebellum) ist eine große, stark gegliederte Struktur und befindet sich
unmittelbar hinter dem Hirnstamm, mit dem es über große Bahnen verbunden ist. Das
Kleinhirn sorgt für die räumliche und zeitliche Koordination motorischer Handlungsab-
läufe und der Körperhaltung (Gleichgewicht), indem es die Informationen aus Gleich-
gewichtssystemen, Muskelspindeln, Sinnesrezeptoren, Auge und Ohr miteinander ver-
bindet und ständig mit motorischen Programmen vergleicht. Die Impulse der willkürli-
chen Motorik gehen von der motorischen Hirnrinde aus, das Kleinhirn koordiniert dabei
die komplexen motorischen Handlungsabläufe. Das Kleinhirn ist auch der Ort des mo-
torischen Gedächtnisses (z.B. Fähigkeit des Fahrradfahrens).
Angst als biologisches Geschehen 203
Mittelhirn
Das Mittelhirn (Mesencephalon) ist die vorderste Fortsetzung des Hirnstamms und
besteht aus einem oberen Teil (Tectum, d.h. Dach, oder Vierhügelplatte), der vor allem
der Blick- und Kopforientierung dient, und einem unteren Teil (Tegmentum, d.h. Hau-
be), der wichtige Zentren für die Bewegungs- und Handlungskontrolle enthält: die Sub-
stantia nigra (schwarze Substanz) und den Nucleus ruber (roter Kern). Beide motori-
schen Kerne dienen der Koordination der Bewegung und arbeiten mit dem Kleinhirn
zusammen. Ein Ausfall des schwarzen Kerns bewirkt Muskelstarre, Schüttelbewegun-
gen der Hände, einen Ausfall der Mitbewegungen sowie psychische Störungen (An-
triebsmangel oder Triebhandlungen). Die Nervenzellen der Substantia nigra bilden den
Neurotransmitter Dopamin, der eine für die Motorik wichtige Substanz darstellt (die
Parkinson-Krankheit beruht auf einer Degeneration dopaminerger Neurone im Bereich
der Substantia nigra). Der Zustand der Formatio reticularis der Haube beeinflusst die
Stimmungslage (vegetativ-affektives Verhalten). Eine Überfunktion bewirkt affektive
Spannungszustände, eine Unterfunktion Erschöpfung und Depression.
Zwischenhirn
Das Zwischenhirn (Diencephalon) findet sich erst bei den frühen Säugetieren. Es liegt
zwischen Stammhirn und Großhirn und enthält u.a. wichtige Schaltstellen:
z Thalamus. Der Thalamus ist das wichtigste subkortikale, d.h. unbewusst arbeitende
Integrationszentrum der allgemeinen Sensibilität (Tastempfindung, Tiefensensibili-
tät, Temperatur- und Schmerzempfindung, Seh- und Riechfunktion), und eine wich-
tige Umschaltstelle auf die Motorik (Gemütsbetonung der Motorik in Mimik und
Gebärden, z.B. heftige Angstreaktionen). Der Thalamus ist eine Relaisstation für al-
le eingehenden sensorische Informationen, d.h. gilt als die übergeordnete Schaltsta-
tion der zur Großhirnrinde aufsteigenden Nervenbahnen des Seh-, Hör- und somato-
sensorischen Systems, das Integratationszentrum von Sinnesreizen und Affekten und
stellt damit das Tor zum Bewusstsein dar. Die eingehenden Nachrichten werden nach
ihrer Wichtigkeit ausgewählt, d.h. überlebenswichtige Informationen aus den Sin-
nesorganen werden vorrangig behandelt. Alle Informationen, die als Empfindung
bewusst werden sollen, werden zur Großhirnrinde weitergeleitet. Anders formuliert:
alle Erregungen, die bewusst werden sollen, müssen den Thalamus passieren. Das
Zwischenhirn enthält archaische Umweltbearbeitungsprogramme, d.h. vererbte, ste-
reotype, jedoch komplexe Reaktionsmuster für bestimmte Reizsituationen, die dem
Ziel des Überlebens in Gefahrensituationen dienen. Unbekannte und bedrohlich wir-
kende Situationen (Gehen in der Finsternis, ungewohnte Höhen, unbekannte Tiere
usw.) lösen Panik und Fluchtreaktionen aus, die nur durch die Großhirnrinde (Be-
wertung als ungefährlich) gestoppt werden können. Vom Thalamus geht eine direkte
Bahn zur Amygdala, was eine blitzschnelle (oft vorschnelle) Reaktion ermöglicht.
z Hypothalamus. Der Hypothalamus ist das übergeordnete Steuerungszentrum für das
vegetative Nervensystem. Die im Vorderteil gelegenen Zentren dienen mehr den pa-
rasympathischen Funktionen, die im Hinterteil gelegenen Zentren den sympathi-
schen Funktionen. Bei Angst und Stress bewirkt der Hypothalamus zusammen mit
dem limbischen System über elektrische Impulse eine schnelle, direkte Aus-
schüttung der Hormone Adrenalin und Noradrenalin im Nebennierenmark.
204 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Großhirn
Das Großhirn (Endhirn, Telencephalon) ist der jüngste und größte Teil des Gehirns. Es
besteht aus den beiden Großhirnhälften (Hemisphären) mit der grauen Rinde (Kortex),
die durch den Balken (Corpus callosum) miteinander verbunden sind, den Stammgan-
glien (Basalganglien) und dem limbischen System, das sich phylogenetisch aus dem
Riechhirn (Rhinencephalon) entwickelt hat.
Entwicklungsbiologisch unterscheidet man beim Großhirn zwei Teile:
1. den Paläokortex als den phylogenetisch älteren Teil mit dem Riechhirn, den Basal-
kernen und dem limbischen System,
2. den Neokortex (Großhirnrinde, Cortex cerebri) als dem entwicklungsgeschichtlich
jüngeren Teil, in dem die höheren kognitiven Funktionen ablaufen.
Die Großhirnrinde stellt die äußere Schicht des Großhirns dar. Zur Vergrößerung der
Gesamtfläche besteht der Kortex aus Windungen (Gyri) und Furchen (Sulci). Der Neo-
kortex umfasst 80% des Gesamthirnvolumens und umhüllt die anderen Teile des Ge-
hirns wie ein Mantel. Alle spezifisch menschlichen Leistungen beruhen auf den Funk-
tionen des Großhirns.
Die Großhirnrinde besteht u.a. aus folgenden Regionen, die hier nach den verarbei-
teten sensorischen Informationen dargestellt werden:
z Frontallappen (Regulierung von Verhalten, Belohnung, Lernen, Erinnerung, Verar-
beitung von viszeralen Reizen und abstraktem Denken),
z vordere Zentralwindung (Steuerung der motorischen Aktivität),
z hintere Zentralwindung (Hauptverarbeitungsstelle für den Tastsinn),
z Scheitellappen (Weiterverarbeitung von Tast- und anderen Empfindungsreizen aus
dem Körper sowie Zentrum der räumlichen Vorstellung),
z Hinterhauptlappen (Verarbeitung der visuellen Information),
z Schläfenlappen (Verarbeitung der akustischen Reize, Beteiligung an der vom Broca-
und Wernicke-Areal gesteuerten Integration von Hören und Sprechen).
Die Basalganglien dienen (ähnlich wie das Kleinhirn) der Steuerung der Motorik
und stellen eine Umschaltstelle von und zur motorischen Großhirnrinde dar. Die Basal-
ganglien haben neben der Bewegungssteuerung eine große Bedeutung für die Hand-
lungsplanung und weisen Verbindungen zur Großhirnrinde, zum Thalamus, zur Sub-
stantia nigra und zum Kleinhirn auf. Die Entwicklung von Zwangsstörungen hängt
zumindest in bestimmten Fällen mit einer Beeinträchtigung der Basalganglien zusam-
men. Die bekannteste Störung der Basalganglien stellt die Parkinson-Krankheit dar.
Das limbische System (limbischer Kortex) ist für das Verständnis der neurobiologi-
schen Ursachen von Gefühlen und Angstzuständen von entscheidender Bedeutung. Bei
Untersuchungen an Tieren und Menschen konnte nachgewiesen werden, dass Angst
durch die Reizung bestimmter Hirnareale, vor allem des limbischen Systems, entsteht.
Das limbische System wird im Folgenden näher beschrieben.
Aus den gemachten Erfahrungen ist durch Speicherung der Informationen Lernen mög-
lich. Die eingehenden Informationen erhalten eine gefühlsmäßige Bewertung (z.B.
angenehm – unangenehm), die entsprechenden Reaktionen erfahren eine gefühlsmäßige
Färbung (z.B. Lust oder Unlust). Die Gefühlsdimensionen des limbischen Systems
stellen auf vorbewusster Ebene ein Bewertungs- und Belohnungssystem dar, das als
Handlungs- und Entscheidungsregulativ in bestimmten Situationen dient.
Ein spezieller Bereich des limbischen Systems, der mediobasale Schläfenlappen mit
dem Hippocampus und der benachbarten Amygdala (Mandelkern), bestimmt das Angst-
erleben. Hippocampus und Amygdala bilden zusammen eine Gedächtniseinheit: Der
Hippocampus, ein zentraler Ort des Gedächtnisses, vergleicht jeden Reiz mit früheren
Erfahrungen, die Amygdala löst Angst aus bei Erinnerungen an Gefahr. Vorschnelle
Angstreaktionen durch die Amygdala werden durch Hippocampus-Vergleiche gestoppt.
206 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Gedanken und Gefühle hängen in ihrer Art und Stärke vom Grad der Wachheit ab (vom
Stammhirn gesteuert). Bei Müdigkeit oder medikamentös bewirkter Gefühlsdämpfung
werden wir selbst bedrohlichen Situationen gegenüber gleichgültig. Entspannungsübun-
gen reduzieren nicht nur die körperliche Anspannung, sondern auch die geistige Auf-
merksamkeit, sodass sie geeignete Einschlafhilfen darstellen.
Mentale Techniken (autogenes Training, Hypnose, Selbsthypnose, Meditation) be-
wirken eine Wahrnehmungseinengung, eine Einschränkung der Aufmerksamkeit auf
einen kleinen Bereich und damit ein Abschalten gegenüber den vielen im Moment irre-
levanten inneren und äußeren Reizen. Andererseits können unsere Gedanken und Ge-
fühle auch unser Stammhirn aktivieren. Wir sind nicht zum Einschlafen müde genug,
sondern hellwach, wenn beängstigende Gedanken sich abends im Bett aufdrängen.
Ohne unsere bewusste Aufmerksamkeit verarbeiten unsere Sinnesorgane alle Reize
außerhalb und innerhalb unseres Körpers. Sobald etwas Ungewöhnliches passiert, wird
über das ARAS unsere Aufmerksamkeit aktiviert und infolgedessen unser Denken,
Fühlen und körperliches Reagieren in Gang gesetzt. Es kommt zu einer Alarm- oder
Bereitstellungsreaktion. Der Körper wird in Bruchteilen einer Sekunde auf Reaktionsbe-
reitschaft geschaltet, vermittelt über das motorische und autonome Nervensystem.
Angst als biologisches Geschehen 207
Sobald die äußere oder innere Gefahr identifiziert, beseitigt oder erträglich erscheint,
lässt die Aktivierung der Aufmerksamkeit wieder nach. Es kommt zur Habituation
(Gewöhnung) an die betreffenden Reize. Das ARAS wird gedämpft, wenn die Bedro-
hung abgewendet oder die Angst machende Situation als nicht mehr akut bedrohlich
eingeschätzt wird. Die Wirkungsweise von Tranquilizern beruht u.a. genau auf dem
Umstand, dass das Wachheitssystem in der Formatio reticularis vermindert wird.
Zwischen Angst und Gedächtnis besteht eine enge Beziehung. Bei der posttraumati-
schen Belastungsstörung zeigt sich das traumatische Wiedererinnern als Wiedererleben
der extremen Bedrohungssituation. Angst ist häufig mit bildhaften Erinnerungen ver-
knüpft, wodurch die Unmittelbarkeit emotionaler Reaktionen gewährleistet ist.
Ängstliche Personen und Angstpatienten verbinden kritische Situationen vorwie-
gend mit negativen Erfahrungen. Sie können bedrohliche Gedächtnisinhalte leichter
abrufen als andere Menschen. Auch für diese Funktion, nämlich das „Abtasten“ der
Gedächtnisspeicher zur Bewertung aktueller Informationen, kommt dem mediobasalen
Schläfenlappen eine besondere Bedeutung zu.
Das „Gefühl“ der Angst und die damit verbundenen körperlichen Symptome ent-
wickeln sich als Folge eines rasch ablaufenden, komplizierten Zusammenspiels [8]:
z Die Sinnesorgane nehmen einen Reiz aus der Umwelt (z.B. einen Ton) oder vom
Körper (z.B. einen Druck auf die Haut) auf und leiten ihn an das Gehirn weiter. Bei
jedem neuen Reiz wird das ARAS aktiviert und die Aufmerksamkeit erhöht.
z Im Zwischenhirn, und zwar im Thalamus („Tor zum Bewusstsein“), laufen alle
Meldungen von den Sinnesorganen zusammen und werden an die Großhirnrinde
(cerebraler Kortex) weitergeleitet. Über die Weiterleitung zum Frontallappen des
Großhirns werden die entsprechenden Empfindungen bewusst und können durch die
frontale Großhirnrinde auch kontrolliert werden. Ein kleiner Teil der Informationen
über äußere Reize wird direkt an die Amygdala weitergeleitet, wo eine extrem rasche
Reaktion zur Sicherung des Lebens erfolgt. Bei Gefahr für Leib und Leben wäre der
Weg über die Großhirnrinde zu langsam. Ohne reale Bedrohung wird die Reaktion
der Amygdala als vorschnell und unnötig, aber dennoch nicht unterdrückbar erlebt.
z In der Großhirnrinde als dem Ort der bewussten Wahrnehmung und des Denkens
werden die Sinnesreize zu Bildern bzw. Begriffen zusammengesetzt und interpre-
tiert. Vom cerebralen Kortex gelangen die Informationen zum limbischen System.
z Das limbische System (namentlich der Mandelkern) wählt die passenden gefühlsmä-
ßigen Reaktionsweisen aus (z.B. Angst) und stimuliert über Eiweiße (Neuropeptide)
den Hypothalamus zur Aktivierung bestimmter körperlicher Vorgänge. Durch das
limbische System erhalten Reize eine gefühlsmäßige Bewertung. Die anatomisch ne-
beneinander liegenden Areale Amygdala und Hippocampus arbeiten zusammen bei
der Bewertung von Gefahr, indem sie Gedächtnisinhalte (Erfahrungen) abrufen.
z Der Hypothalamus als Steuerungszentrum aller vegetativen und hormonellen Pro-
zesse, speziell der nucleus paraventricularis, einer seiner Kerne, stimuliert über be-
stimmte Eiweiße (u.a. CRH) die Hypophyse, die wiederum das Hormon ACTH frei-
setzt. Dadurch erfolgt auf schnellem Weg über Nervenbahnen im Nebennierenmark
die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin und etwas langsamer über hor-
monelle Prozesse in der Nebennierenrinde u.a. die Ausschüttung von Kortisol.
z Die Hormone des Nebennierenmarks und die Glukokortikoide der Nebennierenrinde
aktivieren das vegetative Nervensystem mit seinen beiden Zweigen, dem sympathi-
schen Nervensystem (zur Aktivierung) und dem parasympathischen Nervensystem
(zur anschließenden Beruhigung und Erholung).
208 Erklärungsmodelle für Angststörungen
Der Mandelkern kann schon auf Gefahrenreize reagieren, bevor eine bewusste Ver-
arbeitung über die Großhirnrinde erfolgt ist und der Neokortex überhaupt weiß, was los
ist. Die Alarmierung über den direkten Weg des Mandelkerns erfolgt zwar sehr schnell,
ist jedoch ungenau und fehleranfällig. Der Mandelkern kann bereits zu einem Zeitpunkt
emotionale Reaktionen auslösen, wo die Signale zwischen Mandelkern und Neokortex
noch hin und her gehen. Der langsamere, aber vollständiger informierte Neokortex
modifiziert anschließend die Reaktionen, wenn eine Überreaktion erfolgt sein sollte.
Die direkte Kurzschaltung vom Thalamus zum Mandelkern mit seiner raschen An-
kurbelung von Emotionen ermöglicht in lebensbedrohlichen Situationen, wo es um
Millisekunden geht, eine Sofortreaktion zur Sicherung des Lebens, war im Rahmen der
Evolution von entscheidender Bedeutung und stellt in der Tierwelt eine zentrale Über-
lebenshilfe angesichts der vielen Feinde dar. Derartige Schreckreaktionen erleben wir
auch während eines angenehmen Spaziergangs durch den Wald, wenn sich plötzlich auf
dem Boden unter den abgefallenen Herbstblättern etwas zu bewegen beginnt bzw. wenn
wir im ersten Moment einen Stock mit einer Schlange verwechseln, obwohl wir wissen,
dass es bei uns keine giftigen Schlangen gibt.
Die Amygdala erhält Informationen von zahlreichen Ebenen der kognitiven Verar-
beitung, die zu emotionalen Bewertungen und bestimmten Reaktionen führen:
1. Die sensorischen Bereiche des Thalamus übermitteln einfache Reizmerkmale.
2. Der sensorische Kortex vermittelt komplexe Aspekte der Reizverarbeitung (Objekte
und Ereignisse).
3. Der Hippocampus und die rhinale oder Übergangsrinde (ein angrenzender Rinden-
bereich), die zuständig sind für die Bildung und den Abruf von expliziten, bewuss-
ten Erinnerungen, stellen bestimmte Erinnerungen zur Verfügung.
4. Der mediale präfrontale Kortex (im Stirnhirn) schwächt bzw. löscht Furchtkonditio-
nierungen in einer Weise, dass sie nicht mehr als Verhaltensreaktionen auftreten. Er
gilt als „Gegenspieler der Amygdala“ und steuert als Ort der menschlichen Hand-
lungsplanung das konkrete Verhalten, z.B. rasche Flucht bei Gefahr oder Hemmung
der Fluchtreaktion nach Entwarnung. Psychotherapie bei Ängsten verstärkt die ko-
gnitive Kontrolle mit Hilfe des präfrontalen Kortex (die Amygdala wird gehemmt).
Die Amygdala weist auch Projektionen zu vielen Bereichen des Gehirns auf:
1. Hippocampus. Dieses Areal ist ein zentraler Ort des Langzeitgedächtnisses (z.B.
Speicherung szenischer Erinnerungen wie etwa traumatischer Erfahrungen).
2. Sensorischer Kortex. Diese Areale sind die Orte der sinnlichen Reizverarbeitung.
3. Zentrales Höhlengrau. Dieses Areal ist verantwortlich für den Totstellreflex bei
Tieren und bewirkt bei Menschen Todesangst mit heftigen vegetativen Symptomen.
4. Locus coeruleus. Dieser Kernbereich in der Formatio reticularis des Hirnstamms
steuert Orientierung und Aufmerksamkeit (Ausschüttung von Noradrenalin).
5. Hypothalamus. Dieser Bereich unter dem Thalamus schüttet einerseits die Stress-
hormone aus und aktiviert andererseits das sympathische Nervensystem.
Neben der direkten Beeinflussung aktiviert die Amygdala den Kortex also auch indirekt
über Verbindungen zu den Erregungssystemen im Gehirn, die die Wachsamkeit und
Aufmerksamkeit und damit das Erregungsniveau des Kortex steuern. Vier Erregungssy-
steme im Hirnstamm aktivieren bei neuen bzw. bedeutsamen Reizen den ganzen Be-
reich des Vorderhirns, indem die entsprechenden Axon-Endknöpfe jeweils einen Neuro-
transmitter (Acetylcholin, Noradrenalin, Dopamin oder Serotonin) ausschütten.
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