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Wendeliteratur – Literatur der Wende?


Der Mauerfall in ausgewählten Werken
der deutschen Literatur

Nicole Leier

Zusammenfassung
Das historische Ereignis der Wende gehört zu einem der bedeutendsten Stoffe der
zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Der Zeitpunkt der Entstehung hat dabei
einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Form und Stil des literarischen Werkes: Von
einer zunächst eher ironisch geprägten Herangehensweise über einen nostalgisch-verklä-
renden Ansatz bis zu den jetzigen Tendenzen klassischen Erzählens wird in dem vorlie-
genden Aufsatz beispielhaft dargelegt, wie sich der Blickwinkel der Autoren auf die
Wendeereignisse verändert und wie diese unterschiedlichen literarischen Zeugnisse im
Deutschunterricht eingesetzt werden können.

1. Einleitung: sowie die Schilderung des Lebens nach


Zum Thema Wende und Deutsche Ein- der Wende dienen in der Regel als Klassi-
heit existieren unzählige literarische Ver- fikationsmerkmale. Ein weiteres Merk-
arbeitungsversuche und zahlreiche wis- mal der Klassifikation sind selbstver-
senschaftliche Abhandlungen. Es ist von ständlich auch die literarischen Gat-
daher kaum möglich, einen umfassenden tungen: So finden sich die ersten litera-
Überblick über die Thematik zu geben, rischen Reaktionen auf den Mauerfall vor
zumal die Definition der sogenannten allem im Bereich der Lyrik – Volker
Wendeliteratur keineswegs eindeutig ist: Braun oder Durs Grünbein sind nam-
Handelt es sich um Texte, die in den hafte Vertreter. Mittlerweile ist jedoch die
Jahren 1989/90 geschrieben wurden? Prosa – vor allem quantitativ betrachtet –
Oder geht es vorwiegend um Texte, die die wichtigste Gattung. Und auch die
erst nach dem Ende der DDR erscheinen Herkunft und das Alter der Autoren sind
konnten? Sind es vor allem ostdeutsche bei den unterschiedlichen literarischen
Autoren, die sich dieser Thematik anneh- Verarbeitungsansätzen nicht ganz uner-
men? Welcher inhaltliche Bezug zu den heblich.
historischen Ereignissen – vor, um und Diese Kriterien haben auch bei der Aus-
nach 1989 – lässt sich in den Texten wahl der Texte, die ich vorstellen möchte,
finden? eine Rolle gespielt: Es werden vor allem
Eine klare Definition ist schwierig, wenn- Prosatexte ostdeutscher Autoren der
gleich thematische Aspekte bei der Be- mittleren und jüngeren Generation be-
griffsbestimmung eine wesentliche Rolle trachtet, die exemplarisch für bestimmte
spielen: Die Darstellung von Missstän- Charakteristika und Entwicklungen der
den, die zur Wende geführt haben, die sogenannten Wendeliteratur stehen, die
Behandlung der Wendeereignisse selbst ich im Folgenden aufzeigen möchte.

Info DaF 37, 5 (2010), 494–515


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Jeder Roman wird zunächst literarisch- selbst sagt, »diesem abschreckenden Bei-
wissenschaftlich analysiert, bevor hinter- spiel für Sozialismustümelei« (288) ein
fragt wird, ob und wie sich die Texte im Ende zu machen, will Klaus Uhltzscht
Fremdsprachenunterricht einsetzen las- durch einen Fußgängertunnel zur Bühne
sen. Nach dieser für jeden Text einzeln gelangen, verletzt sich aber durch einen
vorgenommenen Analyse wird am Ende ihm zwischen die Beine geratenen Besen-
des Aufsatzes eine Unterrichtsreihe dar- stil eines Demonstrationsplakates. Die
gelegt, die auf der Grundlage der hier anschließende Operation lässt seinen zu
behandelten Texte in einer französischen klein geratenen Penis überdimensionale
Oberstufenklasse mit Sprachniveau B2 Formen annehmen. Der so zu neuer Ich-
durchgeführt wurde. Stärke gekommene Uhltzscht avanciert
schließlich zum Helden des 9. Novem-
2. Der ironische Ansatz: bers 1989: Während die abwartenden
Thomas Brussig: Helden wie wir Mitbürger an einem geschlossenen
Der 1965 in Ostberlin geborene Thomas Grenzübergang auf die im Fernsehen an-
Brussig gehört der Generation an, welche gedeutete Grenzöffnung warten, stürmt
die Umbruchsituation als junge Erwach- Uhltzscht zum Tor, öffnet demonstrativ
sene erlebten. Sein 1995 erschienener Ro- den Mantel und die vom Anblick des
man Helden wie wir (Brussig 1995) avan- gigantischen Glieds schockierten Grenz-
cierte recht schnell in Ost und West zu polizisten lassen ihn wie hypnotisiert
einem Kultbuch, das – wie das Buchcover hindurch. Hinter ihm stürmt das Volk in
schon vermuten lässt – eine außerge- die Freiheit. Die Mauer ist gefallen.
wöhnliche Version des Mauerfalls prä- Diese ironisch-satirische Version des Mau-
sentiert: erfalls ist eingebettet in eine Rahmen-
Der Ich-Erzähler Klaus Uhltzscht ist ein handlung: ein Interview mit Mister Kitzel-
Antiheld, der seine Kindheit in einem alle stein von der New York Times, der heraus-
Sextriebe unterdrückenden Elternhaus – finden möchte, wie Uhltzscht die Mauer-
die Mutter ist Hygieneinspektorin, der öffnung erreicht hat. Diese Ausgangssitu-
Vater bei der Stasi – als Außenseiter er- ation erzeugt eine gewisse Spannung
lebt. Beim frühen Spiel mit Gleichaltrigen beim Leser, der schon zu Beginn des Ro-
leidet er unter einem zu klein geratenen mans mit der zurückgewiesenen »Das-
Penis. Diese Komplexe ziehen sich bis in Volk-sprengt-die-Mauer-Legende« kon-
die Militärzeit fort, in der er von der Stasi frontiert wird (6). Das Ende des Romans in
angeworben wird. In Allmachtsphanta- seiner bewusst ahistorischen Darstellung
sien träumt er schon vom Einsatz als des Mauerfalls widerlegt erneut die aktive
Retter des Sozialismus und Spitzenagent, Rolle der Bevölkerung der DDR: »Sehen
besonders als seine spezielle Blutgruppe Sie sich die Ostdeutschen an, vor und nach
ihn aus dem Alltag sinnloser Personen- dem Fall der Mauer. Vorher passiv, nach-
überwachungen befreit, weil er Blut für her passiv – wie sollen die je die Mauer
das Staatsoberhaupt Honecker spenden umgeschmissen haben?« (319 f.) Das Ende
soll. Die Montagsmärsche sind schon in des Romans scheint somit die zu Beginn
vollem Gang, als er sich am 4. November schon deutlich werdenden größenwahn-
1989 auf dem Alexanderplatz einfindet. sinnigen Visionen des Ich-Erzählers zu
Dort hört er Christa Wolf sprechen, ver- bestätigen, bricht sie jedoch zugleich
wechselt sie aber mit der Eislauftrainerin durch Übertreibung und Ironie. Brussig
Jutta Müller (vgl. Wehdeking 2000: 34). bedient sich der Stilmittel der Hyperbel
Um dieser Rede, oder wie der Erzähler und der Ironie, um die Rhetorik der
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Wende zu persiflieren. Er zieht somit die lich, in der die wichtigsten Mythen der
Geschichte vom Ende der DDR ins Lächer- Wende ironisiert werden und mit dem
liche. Literatursystem des DDR-Staates abge-
Hohn und Spott ergießen sich in dem rechnet wird. Die ironisch-distanzierte
Roman auch über Christa Wolf, deren Perspektive, mit der Brussig sich der Ver-
Rede vom 4. November 1989 auf dem gangenheit nähert, erlaubt es, scho-
Alexanderplatz im Roman in voller Län- nungslos auf die Missstände in der ehe-
ge zitiert und vom Ich-Erzähler entspre- maligen DDR zu verweisen. (Vgl. Britta
chend kommentiert wird. Sie gäben sich Lange: Literatur und Wende. http://
den Anschein, gegen das überkommene www.goethe.de/kue/lit/prj/lwe/hin/
System der DDR zu rebellieren, seien de4278641.htm)
tatsächlich aber dessen Vertreter: Diese ironische Perspektive erschwert je-
»Jede Revolution hat die Reden, die sie doch den Einsatz des Textes im Unter-
verdient, und ich habe Ihnen diese Rede in richt. Damit es zu keinerlei Missverständ-
voller Länge präsentiert, weil sie noch heute nissen bei den Lernenden kommt, er-
als Kristallisationspunkt des 89er Herbstes scheint es mir notwendig, von Anfang an
gehandelt wird – was mir, ob Sie’s glauben
oder nicht, sofort klar war. Eine echte Eis- zu verdeutlichen, dass der Roman kei-
kunstlauftrainerinnen-Rede, finden Sie neswegs der Realität entspricht. Dem von
nicht? Diese angestrengte Eleganz, dieses mir für den Unterricht ausgewählten
Schwelgen in Passagen, die garantiert eine Auszug habe ich von daher eine kurze
hohe B-Note abwerfen – und gleichzeitig Erläuterung vorangestellt, die verdeutli-
diese kurzatmige politische Programmatik
mit einigen verstolperten, verpatzten oder chen soll, dass ostdeutsche Autoren we-
ausgelassenen Sprüngen, die vom betörten nige Jahre nach der Wiedervereinigung
Laienpublikum glatt übersehen werden.« häufig einen ironischen Ansatz gewählt
(Brussig 1995: 285 f.) haben, um gewisse Mythen der Wende
Diese und andere Kommentare zielen auf ins Lächerliche zu ziehen.
die Konstruktion eines Autorbildes: Wolf Der von mir im Unterricht behandelte
steht pars pro toto für eine Generation Auszug bezieht sich auf die Kernthematik
von Schriftstellern, welche die DDR aus des Romans. Bewusst habe ich die Proble-
der Perspektive ihrer Kriegs- bzw. Nach- matik um Christa Wolf und die Abrech-
kriegserfahrungen beurteilte und als an- nung mit dem Literatursystem der DDR
tifaschistische Alternative zur Bundesre- außen vor gelassen, da dies zu große
publik bis zuletzt verteidigte. Dieser Hal- Vorkenntnisse erfordert hätte. Die zwei
tung kann die Generation von Thomas Textpassagen, die ich letztendlich ausge-
Brussig, wie Helden wie wir vor Augen wählt habe, ergänzen sich: Es handelt sich
führt, nur mehr mit Unverständnis be- um eine Textstelle des Romananfangs, die
gegnen (vgl. Geier 2009: 118). einerseits den Größenwahn des Erzählers
Der Roman Helden wie wir ist somit ein und seine überzogenen Vorstellungen
gutes Beispiel für den ironischen Ansatz, verdeutlicht und andererseits zugleich die
der sich – zeitlich gesehen – sehr früh in Geschichtsfälschung thematisiert, die der
der Wendeliteratur findet. Der Umgang Roman schildert. Die zweite von mir aus-
mit der Vergangenheit der DDR ist zu- gewählte Passage ist die Szene der Mauer-
nächst nur in der Form der Satire mög- öffnung, auf die die Handlung zuläuft.1

1 Der im Unterricht eingesetzte Text ist eine Zusammenstellung mit sprachlich leicht
angepassten Auszügen: Brussig 1995: 5 f. und 318 f.
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3. Der nostalgische Ansatz: stellung der Kindheit in der DDR ist


Jana Hensel: Zonenkinder gleichsam Ursprung eines das Buch cha-
Während der zur Zeit der deutsch-deut- rakterisierenden (n)ostalgischen Tons. Es
schen Vereinigung fünfundzwanzigjäh- wird immer wieder auf Dinge verwiesen,
rige Thomas Brussig sein Abitur schon die nicht mehr existieren, die plötzlich
längst hinter sich hatte, zudem eine Aus- anders heißen:
bildung zum Baufacharbeiter abge- »Statt Otto & Alwin-Bildchen sammelten
schlossen, unter anderem als Museums- wir Überraschungseier, statt Puffreis aßen
pförtner, Tellerwäscher und Hotelportier wir Popcorn, die Bravo ersetzte die Trom-
mel.« (Hensel 2002: 20)
gejobbt und seinen Wehrdienst abgeleis-
tet hatte, war die 1976 in Leipzig gebo- »Die Dinge hießen einfach nicht mehr da-
nach, was sie waren. Vielleicht waren sie
rene Jana Hensel gerade 13 Jahre alt, als auch nicht mehr dieselben.« (Hensel 2002: 22)
die Mauer fiel. Sie gehört der ersten
Nachwendegeneration an, für die die an- Es scheint, als ob diesen Dingen nachge-
gestammten Erziehungsautoritäten – vor trauert wird, als ob die als notwendig
allem Lehrer und Eltern – weitestgehend empfundene Anpassung im vereinigten
ausfallen und die aufgrund der noch feh- Deutschland als problematisch empfun-
lenden politischen Sozialisation die DDR den wird:
eher als Heimat denn als restriktives poli- »Unser Blick ging nur nach vorn, nie zu-
tisches System begriffen. rück. Unablässig das Ziel vor Augen, taten
wir gut daran, unsere Wurzeln so schnell
Die Rekonstruktion der verschwundenen wie möglich zu vergessen, geschmeidig,
Heimat und der damit verbundenen anpassungsfähig und ein bisschen gesichts-
Kindheitserinnerungen ist auch der Ge- los zu werden.« (Hensel 2009: 72)
genstand des 2002 erschienenen, sehr er- Die dargestellten kollektiven Erinne-
folgreichen, aber durchaus umstrittenen rungsspuren zeichnen aber nicht nur das
Buches Zonenkinder (Hensel 2002), das als Bild einer idealtypischen Kindheit in der
Bericht, Essay oder auch als Roman be- DDR, sondern sind gleichsam eine Ant-
zeichnet wurde (vgl. Thomas 2009). Es wort auf das Gefühl der individuellen
geht der Autorin, wie sie im ersten Kapi- Isolation und Andersartigkeit in der neu-
tel mit dem Titel »Das schöne warme deutschen Gegenwart. Diese Alterität
Wir-Gefühl« explizit sagt, um folgendes wird jedoch keineswegs als positiv emp-
Anliegen: funden. Es wird vielmehr der enorme
»Ich möchte wieder wissen, wo wir her- Druck einer Anpassungsleistung an den
kommen, und so werde ich mich auf die Westen geschildert, der darin gipfelt, dass
Suche nach den verlorenen Erinnerungen nicht nur die Heimat fremd wird, sondern
und unerkannten Erfahrungen machen, auch das Ich (vgl. Brüns 2009: 96).
auch wenn ich fürchte, den Weg zurück Auffällig ist jedoch, dass diese Feststel-
nicht mehr zu finden«, denn »ganz so, wie
es unser ganzes Land gewünscht hatte, ist lung nicht auf die Erzählinstanz be-
nichts übrig geblieben von unserer Kind- schränkt bleibt, sondern vielmehr durch
heit«. (Hensel 2002: 14) die Verwendung der Wir-Form auf eine
ganze Generation übertragen wird:
Diesen verloren geglaubten Erinne-
rungen entgegengesetzt sind die unter- »Wie ich waren auch sie bemüht, sich dau-
schiedlichen, im Buch beschriebenen As- erhaft, in einer Fremdheit einzurichten, die
sich auf dem Boden des Heimatlandes aus-
pekte über das Leben in der DDR (u. a. breitete und von uns verlangte, permanent
über Erziehung, Sport, Kleidung, Ostpro- alte gegen neue Bilder auszutauschen.«
dukte). Die idealisiert-verklärende Dar- (Hensel 2002: 45)
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Durch diese Erzählperspektive wird von dem im französischen Lehrbuch für die
Anfang an ein kollektives Gefühl zwi- gymnasiale Oberstufe Alternative Allemand
schen den Altersgenossen gleicher Her- 1re (Audibert/Chatenet/Frènes/Halber-
kunft geschaffen. Ausgegrenzt werden stadt/Dalmas 2005: 73) zu findenden Text-
zugleich die gleichaltrigen Westdeut- auszug, in dem es um die verschiedenen
schen, da für sie eine Identifizierung mit Kindheitshelden in Ost und West geht,
den geschilderten Erinnerungen nicht werden die unterschiedlichen Kindheits-
möglich ist. erinnerungen gut veranschaulicht. Es wird
An diesem konstruierten Wir-Gefühl ent- deutlich, dass sich westeuropäische Stu-
zündete sich auch die Kritik in den Feuil- dierende problemlos über ihre Kindheits-
letons und bei den Lesern, denn es fühl- helden wie die Schlümpfe, Pippi Lang-
ten sich keineswegs alle in gleichem Ma- strumpf oder Asterix und Obelix austau-
ße angesprochen, viele empfanden das schen können, niemand jedoch Alfons Zit-
›Wir‹ als aufgezwungene Identifikation. terbacke oder den braven Schüler Ottokar
Tom Kraushaar bemerkt in diesem Zu- kennt. Die Lernenden begreifen recht
sammenhang zu Recht, dass Jana Hensel schnell, dass sich die Erzählerin ausge-
»scharf an einer Altersgrenze entlangge- schlossen fühlt, ziehen jedoch auch den
schrieben hat«: Ostdeutsche, die 1989 nur Schluss, dass die Erzählerin die DDR wie-
wenige Jahre älter waren als die Autorin, derhaben möchte. Von daher wäre es mei-
haben in der Wende stärker einen poli- ner Meinung nach angemessen gewesen,
tischen Wandel gesehen; für sie ist Zonen- wenn die Lehrbuchautoren hier eine wei-
kinder eine naive, unhistorische Verharm- terführende Aufgabe angeboten hätten,
losung ihrer Erlebnisse oder ein Doku- die einer solchen Verallgemeinerung ent-
ment unreflektierter Anpassung an den gegenwirken könnte.
Westen. Ganz anders die Nachwendege- Eine Passage, die sich meines Erachtens
neration von Jana Hensel, die noch kein auch für den Unterricht eignet, ist der
kritisch-politisches Bewusstsein ausge- Anfang des Buches.1 Dort beschreibt Jana
bildet hatte und die den historischen Zu- Hensel, wie sie gemeinsam mit ihrer Mut-
sammenbruch der DDR als Teil des pu- ter an einer der Montagsdemonstrationen
bertären Verlustes von Kindheit verste- in Leipzig teilgenommen hat und welche
hen konnte. Die DDR wurde für sie voll- Intentionen sie mit diesem Buch verfolgt.
ständig in die Welt der Erinnerungen, in Hier wird eher deutlich, dass es der Auto-
eine »Märchenzeit« (Hensel 2002: 13), rin zwar darum geht, sich an verloren
wie Jana Hensel sagt, überführt. gegangene Kindheitserfahrungen zu erin-
Diese unterschiedlichen Erfahrungen und nern, sie aber nicht die politischen Um-
Interpretationen gilt es meiner Meinung wälzungen des Herbstes 1989 bereut.
nach auch bei der Verwendung des Textes
im Unterricht herauszustellen. Es muss 4. Der parabolische Ansatz:
deutlich werden, dass sich der nostalgisch- Ingo Schulze: Adam und Evelyn
verklärende Blick auf den Verlust der Der 1962 in Dresden geborene Ingo
Kindheit einer Generation beschränkt und Schulze gehört – wie Thomas Brussig und
die Ostdeutschen nicht allgemein dem Un- im Gegensatz zu Jana Hensel – der Gene-
tergang der DDR hinterhertrauern. Bei ration an, die bereits zum Zeitpunkt des

1 Der im Unterricht eingesetzte Text ist ein sprachlich leicht angepasster Textauszug; vgl.
Hensel (2002: 11–14).
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Mauerfalls politisch sozialisiert war. Er Adam und Evelyn gerät in den Sog der
gilt als einer der zuverlässigsten Chronis- sozialistischen Endzeit, die im Spätsom-
ten der deutschen Wiedervereinigung. Im mer 1989 in Ungarn ihren Ausgangs-
Mittelpunkt seiner Werke stehen die Hoff- punkt hatte.
nungen und Erwartungen, aber auch die Neben dem seit dem Bestseller Simple
Bedenken, Ängste und Sorgen der ehema- Storys immer wieder von Ingo Schulze
ligen DDR-Bürger. Seine literarischen For- unter Beweis gestellten Erzählrezept, pri-
men reichen vom Episoden- (Simple Sto- vate Lebens- und politische Weltge-
rys, 1998) zum Briefroman (Neue Leben, schichte ineinander fließen zu lassen (vgl.
2005) über Erzählungen (Handy, 2007) bis Mangold 2008), steckt in diesem Stoff
zur 2008 erschienenen Tragikomödie eine weitere Dimension, eine Parabel,
Adam und Evelyn (Schulze 2008). über die sich der Autor selbst folgender-
Während Ingo Schulze in dem über 700 maßen äußert:
Seiten umfassenden Briefroman Neue Le- »Adam und Evelyn ist […] der Versuch, den
ben mit intertextuellen Verweisen (insbe- Weltumbruch mit einem unterlegten My-
sondere auf die Faust-Tradition) ope- thos zu erzählen. Und irgendwann verband
riert1, verknüpft der Roman Adam und sich für mich diese Idee dann mit Adam
Evelyn drei unterschiedliche Themen- und Eva. Also dieser Sündenfall, auch diese
Erkenntnis von Gute und Böse, und heraus
stränge: den der biblischen Schöpfungs- aus dem Paradies. Beziehungsweise die
geschichte, den der Maueröffnung und Sehnsucht nach dem Paradies, hinein ins
den der Liebeshändel (vgl. Winkels Paradies. Also überhaupt die Frage: Was
2008). Er erzählt die Geschichte des [und wo] ist das, das Paradies?« (vgl. Lese-
33jährigen Damenschneiders Adam, der zeichen, Sendung vom 21.9.2008)
zusammen mit seiner 21jährigen Freun- Geht man diesen Fragen nach, ergeben
din Evelyn im Haus seiner verstorbenen sich unterschiedliche Antworten, die von
Eltern in der DDR lebt. Als Evelyn den der Perspektive der jeweiligen Figur ab-
von seinen Kundinnen begehrten Schnei- hängen: Als Damenschneider im Osten
der im Sommer 1989 in flagranti er- hat Adam alles: Geld, einen Garten,
wischt, beschließt sie gemeinsam mit ih- Frauen. Dieses östliche Paradies, in dem
rer Freundin Simone und deren Westcou- er im Marxschen Sinne ein unentfrem-
sin Michael nach Ungarn an den Platten- detes Leben führt, verlässt er nur wider-
see zu fahren. Sie will, wie sie selbst sagt, willig. Nur seine Liebe zu Evelyn lässt
diesem verlogenen Leben, aber auch die- ihn schließlich in den Westen gehen, wo
sem verlogenen Staat entfliehen. Adam er einen erschütternden Deprivations-
will sie jedoch nicht verlieren und fährt prozess durchmacht und als Hilfskraft
ihr hinterher. Die Ereignisse – sowohl die bei einem Änderungsschneider anfängt
politischen als auch die privaten – über- (vgl. Hillgruber 2008). Evelyn (vgl. Hum-
schlagen sich und das Schicksal von mitzsch2), der in der DDR das Kunststu-

1 So begegnet Enrico Türmer, wie Heinrich Faust, auch dem Teufel höchstpersönlich; vgl.
Achim Geisenhanslüke 2009, Entre (N)Ostalgie et ironie. Le discours de la Wende dans la
littérature allemande contemporaine. Vortrag am 20.11.2009 im Goethe-Institut Bordeaux.
2 Der Name Evelyn – so vermutet Thomas Hummitzsch – ist keineswegs eine willkürliche
Abwandlung der biblischen Eva, sondern vielmehr eine Persiflage auf die besondere
Namensgebung in ostdeutsch sozialisierten Familien. In die unzähligen, von amerikani-
schen Serien inspirierten Kevins, Owens und Justins, Samanthas, Cindys oder Pamelas
reihe sich auch der Name Evelyn.
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dium verweigert wird und die sich als Rio, der Strand von Ipanema, dort kannst
Kellnerin durchschlägt, lockt das westli- du Weihnachten baden, und Wellen, wie
che Paradies der unbeschränkten Kon- du sie noch nie gesehen hast! Oder Me-
xiko. In Mexiko hab ich Freunde.
summöglichkeiten sowie die große Frei- – Evelyn: Schneit es manchmal in Ham-
heit der weiten Welt. Sie redet immer burg?
wieder davon, dass sie endlich leben – Michael: Warum nicht? Nicht so wie im
wolle, meint damit aber letztendlich kon- Gebirge, aber manchmal ist alles weiß.
sumieren und reisen. Der Westen ist so- – Evelyn: Weihnachtseinkäufe im Schnee
mit – wie Hubert Winkels zutreffend sind das Schönste.
bemerkt: – Michael: Was du willst.
– Evelyn: Mir reicht schon, sich das vorzu-
»das Alles-ist-zu-haben-Paradies für die stellen. Ich will es mir nur vorstellen
Fluchtwilligen. Der Osten ist das Paradies können.
für die Liebhaber der Langsamkeit und – Michael: Es ist alles viel schöner, als du es
einfacher Genüsse. Und dazwischen findet dir überhaupt vorstellen kannst.
sich noch eine dritte Version des Para- – Evelyn: Weißt du doch gar nicht, was ich
dieses: der Aufenthalt der jungen Lust- mir vorstelle.
und Liebesbande aus der DDR in Ungarn – Michael: Aber du weißt nicht, wie schön
am Plattensee während der Grenzöffnung es ist, wie schön! Bei uns lebst du einfach
– ein Moratorium, eine Zwischenzeit, der besser und länger. (Schulze 2008: 150 f.)
Himmel auf Erden, wie hier Essen, Trin-
ken, Rauchen, Liebe, sich streiten und sich Neben der Funktion der Schlange, die
versöhnen genossen werden« (Winkels man dem Westler zuschreiben kann, zei-
2008).
gen sich an diesem Dialog auch diverse
Alles ist offen in dieser Zeit, die Entschei- Pauschaleindrücke und -urteile Ost-
dungen sind noch nicht getroffen. Es ist und Westdeutscher: Die hier erkennbare
wie der Zustand im Paradies vor dem Bewertung des Westens lässt eine ge-
Sündenfall, doch die politischen Verän- wisse westdeutsche Überheblichkeit ei-
derungen fordern letztendlich Entschei- nerseits und eine leichte ostdeutsche
dungen und lösen somit diesen paradie- Naivität andererseits erkennen. Doch es
sischen Schwebezustand auf. geht Ingo Schulze keineswegs um pau-
Zu bemerken ist dabei auch, dass Adam schalisierende Einschätzungen, sondern
analog zur biblischen Erzählung den von um die mit dem zeitlichen Abstand
der Frau getriebenen und verführten Part möglich gewordene Hinterfragung die-
einnimmt. Während die ostdeutsche Eva ser ost- und westdeutschen Stereotype.
alle Entscheidungen trifft, läuft ihr Adam Dabei hebt Ingo Schulze keinesfalls
die ganze Zeit nur hinterher, wird hinein- mahnend den Zeigefinger, sondern
gerissen in ein Schicksal, das er selbst so bringt den Leser vielmehr zum Schmun-
nicht gewählt hat (vgl. Hummitzsch). Die zeln.
Rolle der Schlange – so eine mögliche Diese multiperspektivische Sicht wird
Interpretation – übernimmt der Westcou- vor allem durch den dialogischen Stil des
sin Michael, der sich in Evelyn verliebt Buches erreicht. Die Dialogsequenzen,
und versucht, die anfangs noch zögernde aus denen der Roman zum größten Teil
junge Ostdeutsche in den Westen zu lo- besteht, tragen zu dem authentischen,
cken: lebensnahen Ton bei. Der Leser wird
förmlich fortgerissen von den schnellen
– Michael: Hm. Zuerst machen wir ein paar
Reisen, spätestens zu Weihnachten flie- Dialogen, den knappen Sätzen und den
gen wir nach New York, in den Big kurzen Kapiteln. Dabei werden die gro-
Apple. Oder, wenn dir das lieber ist, nach ßen historischen Themen gestreift, ohne
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wirklich von den Figuren ausdiskutiert Land, dessen Spielregeln man nicht be-
zu werden. Dies kann – abhängig vom herrscht, anfangen muss. Dies scheint
Leser – als eine der Stärken oder Schwä- mir thematisch interessant, zeigt es doch
chen des Romans gewertet werden. Das den Lernenden, wie sehr die ausreise-
ästhetische Programm Ingo Schulzes – willigen Menschen mit ihrem Staat un-
»die kunstvolle Kunstlosigkeit, die Ori- zufrieden waren, um alles hinter sich zu
entierung an der mündlichen Form, dem lassen.
alltäglichen Sprechen« (vgl. Schröder
2008) – kommt jedenfalls auch in diesem 5. Der klassische, sich auf die litera-
Werk erneut zum Tragen. rische Tradition berufende Ansatz:
Der Adam-und-Eva-Mythos, der den
Text durchzieht, wird auf die spezifische Uwe Tellkamp: Der Turm
Situation der Wendezeit übertragen. Er Der 2008 erschienene Roman Der Turm
verleiht dem Werk eine parabolische Di- (Tellkamp 2008) ist sicher eines der Bü-
mension, da die Umwälzungen des Jah- cher, das zu den meistbeachteten Werken
res 1989 gleichsam als »Nullpunkt der der deutschsprachigen Literatur der letz-
Geschichte« begriffen werden. Analog zu ten Jahre gehört. Es fand enorme Reso-
der neu beginnenden Menschheitsge- nanz bei Lesern und Literaturkritik und
schichte nach der Vertreibung aus dem wurde mit zwei bedeutenden Literatur-
Paradies, verändert sich das Leben der preisen ausgezeichnet: dem Uwe-John-
Menschen nach der Öffnung des Ei- son-Preis und dem Deutschen Buchpreis
sernen Vorhangs. 2008.
Für den Unterricht eignet sich der Text Uwe Tellkamp, der 1968 in Dresden ge-
meiner Meinung nach sehr gut, da er boren ist und der Generation von Tho-
aufgrund der zahlreichen Dialoge mas Brussig und Ingo Schulze angehört,
sprachlich gut zu bewältigen ist. Die bei- machte bereits 2004 mit dem Gewinn des
den von mir gewählten Textauszüge ge- Klagenfurter Bachmann-Preises auf sich
ben jeweils ein Gespräch von Adam und aufmerksam. Sein 2005 erschienener Ro-
Evelyn vor und ein Gespräch nach ihrer man Der Eisvogel enttäuschte jedoch die
Flucht in den Westen wieder.1 hohen Erwartungen, die er letztendlich
Beide Dialoge ergänzen sich und zeigen erst mit dem Buch Der Turm erfüllen
die verschiedenen Beweggründe für konnte. Während Tellkamp in Der Eisvo-
bzw. gegen eine Ausreise: Einerseits gel aktuelle Strömungen im Osten be-
werden die Möglichkeit, den Beruf bzw. schreibt2, geht es in Der Turm chronolo-
das Studium seines Interesses wählen gisch einige Jahre zurück: Es werden in
zu können, die uneingeschränkten Rei- dem Roman mit dem Untertitel Ge-
semöglichkeiten und die Freiheit als sol- schichte aus einem versunkenen Land die
che angesprochen; andererseits wird letzten sieben Jahre der DDR dokumen-
auch verdeutlicht, dass man Familie, Ar- tiert. Im Mittelpunkt des Geschehens ste-
beitsstelle und Wohnung zurücklässt hen Familie Hoffmann und ihre nächsten
und wieder völlig von vorne in einem Verwandten. Sie gehören einem akade-

1 Der im Unterricht eingesetzte Text ist eine Zusammenstellung mit sprachlich leicht
angepassten Auszügen, s. Schulze (2008: 212–214, 252, 256).
2 Der Roman schildere »die Sogwirkung rechter, elitärer Intellektuellenzirkel, die mit
Ernst Jüngerschem Waldgängerpathos die Pöbelherrschaft der DDR wie die kapitalisti-
sche Massendemokratie« verachten (vgl. Böttiger 2008).
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misch-bildungsbürgerlichen Milieu an, in Moskau geboren, ist Zoologe, arbeitet


das als oppositionelle Geste gegen den jedoch als Lektor eines Dresdner Ver-
Arbeiter- und Bauernstaat in Stellung ge- lages3, wodurch er in den Kreisen der
bracht wird (vgl. Bartmann 2008), woh- Nomenklatur und der DDR-Schriftstel-
nen in einem alten Villenviertel am lerelite verkehrt. Er bezieht weder als
Rande Dresdens, das von seinen Bewoh- Lektor noch im Privaten gesellschaftlich
nern liebevoll »der Turm« genannt wird1, Stellung, sondern widmet sich mehr und
und interessieren sich für Musik, Litera- mehr seiner zoologisch-biologischen Lei-
tur und Kunst. denschaft: der Erforschung der Zelle. Er
Die Bedeutung der Künste spiegelt sich führt gewissermaßen dem Autor das po-
auch im Aufbau des knapp 1000seitigen etische Wort (vgl. Langner 2008), denn
Monumentalwerks, das in Anlehnung an durch seine Augen repräsentiert Uwe
ein Musikstück in zwei Bücher mit Ou- Tellkamp eine ganze Bandbreite privile-
vertüre, Interludium und Finale unter- gierter Intellektueller und Autoren der
teilt ist und eine kaum fassbare Vielzahl DDR, wodurch er gleichzeitig die ver-
an Figuren umfasst. Drei Protagonisten, schiedenen Wirkungsmöglichkeiten der
die sich in unterschiedlichen Lebenssitu- Literatur in totalitären Regimen auslotet.
ationen befinden, werden jedoch hervor- Es entstehen
gehoben und bilden die Haupterzähl- »Porträts von Möglichkeiten der DDR-Au-
stränge des Buches: torschaft, die nichts auslassen zwischen
Der Kunstliebhaber und Sammler dummdreister Systembekräftigung, arro-
Richard Hoffmann ist ein angesehener gantem Opportunismus, ausweglosem La-
vieren und Verzweiflung« (Böttiger 2008).
Chirurg am Dresdner Universitätsklini-
kum, der sich regelmäßig über die Zu- Und schlussendlich ist da noch Christian,
stände in seinem Land und an seiner der siebzehnjährige Sohn von Richard
Klinik in Rage redet. Wegen seiner gro- und Anne Hoffmann, ein Alter ego des
ßen chirurgischen Begabung zunächst Autors, der sich selbst mit Thomas
nicht belangt, gerät er jedoch zusehends Manns Tonio Kröger identifiziert:
unter Druck: Seine Stasi-Vergangenheit2
»Wenn Christian durch die spärlich be-
und seine außerehelichen Aktivitäten mit leuchteten, nach Schnee und Braunkoh-
der Chefsekretärin des Klinikrektorats, leasche riechenden Straßen ging, war ihm,
von der er ein Kind hat, machen ihn als wäre er selbst Tonio Kröger, nicht ganz
erpressbar. Er kann letztendlich dem stilrein freilich, denn er war nicht der Sohn
Druck der Staatssicherheit nicht stand- von steifleinenen Lübecker Patriziern.«
halten und resigniert, zerrieben zwischen Als Außenseiter unter seinen Klassenka-
Aufbegehren und Anpassen, verliert meraden gilt aber auch er, der sich ge-
seine Frau und den Anschluss an die gen alle wendet, die seinen hohen Ka-
neue Zeit. non aus schöner Literatur und klas-
Sein vierzigjähriger Schwager Meno sischer Musik nicht teilen. Nach dem
Rohde, als Kind hochrangiger Genossen Abitur muss er allerdings die schöngeis-

1 In der Realität entspricht es dem Dresdner Stadtteil Weißer Hirsch, in dem Tellkamp
selbst aufgewachsen ist.
2 Er hat in jugendlichem Idealismus, wie ihm jetzt scheint, seinen besten Freund
bespitzelt.
3 Wegen politischer Vergehen in der DDR wurde ihm eine Karriere als Naturwissen-
schaftler verwehrt.
503

tige Welt der Turmgesellschaft verlas- Land (die DDR), sondern zahlreiche
sen, um seinen Wehrdienst anzutreten, Verweise und Anspielungen auf die
an dessen Ende ihm ein Studienplatz in deutsche Literatur: Der Romantitel
Medizin in Aussicht gestellt wird. Bei spielt nicht nur auf das Leben der Tür-
der Volksarmee erfährt er schließlich die mer im Elfenbeinturm inmitten der
volle Härte des Regimes: Als Christian DDR an, sondern ist auch eine Referenz
nach dem Unfalltod eines Kameraden an die Turmgesellschaft aus Goethes
seine Vorgesetzten angreift, wird er vor Wilhelm Meister, jener in der Tradition
ein Militärgericht gestellt und zu des Geheimbundes stehenden Gesell-
Zwangsarbeit am Karbid-Ofen eines schaft, die bestimmte Bildungsideale
Chemiewerkes verurteilt. Er wird, wie vertritt. Auch der Titel des ersten
er selbst sagt, vom System zum Nie- Buches – »Pädagogische Provinz« – ist
mand gemacht: »Jetzt, dachte Christian, ein intertextueller Verweis auf Wilhelm
bin ich wirklich Nemo. Niemand.« (Tell- Meisters Wanderjahre (vgl. Platthaus
kamp 2008: 827) Gerettet wird er nur 2008). Und nicht zuletzt ist die Struktur
durch den Untergang der DDR. des Werkes selbst eine Reminiszenz an
Ein ähnliches Schicksal widerfuhr auch Goethe: Ähnlich wie in den Lehrjahren,
dem Autor Uwe Tellkamp, der als NVA- die den Entwicklungsgang Wilhelm
Panzerkommandant im Oktober 1989 Meisters darstellen, sind auch in die Be-
den Befehl verweigerte, gegen Dresdner schreibung des Werdegangs von Chris-
Demonstranten auszurücken, unter de- tian eine Vielzahl komplexer Zusam-
nen er seinen jüngeren Bruder wusste. menhänge, die der sozial- und kulturge-
Das brachte ihm einige Wochen Gefäng- schichtlichen Situation der Zeit Rech-
nishaft ein. Aber nicht nur am Ende der nung tragen, eingewebt.
Romanhandlung, sondern auch bei den Neben Goethe – und vielen anderen
zahlreichen Beschreibungen des Turm- klassischen deutschen Autoren und
viertels greift Uwe Tellkamp, der selbst in zahlreichen Anspielungen auf verschie-
einem Dresdner Bürgermilieu aufge- dene DDR-Schriftsteller, auf die ich an
wachsen ist, auf Erlebtes zurück, was dieser Stelle nicht eingehen möchte – hat
diesem Roman große Authentizität und eine weitere Größe der deutschen Lite-
Glaubwürdigkeit verschafft. Dabei be- ratur mit verschiedenen Texten Pate ge-
schränkt sich Tellkamp jedoch nicht auf standen: Thomas Mann. Sein Tonio Krö-
die ihm aus seiner Jugend bekannte Ni- ger wird – wie bereits erwähnt – explizit
schengesellschaft der Turmbewohner, im Text genannt. Außerdem erinnern
sondern nimmt die ganze DDR-Wirklich- die letzten sieben Jahre der DDR an die
keit in den Blick: Arbeitswelt und Versor- sieben Jahre, die Hans Castorp auf dem
gungsengpässe, Staatssicherheit und Zauberberg verbringt (vgl. Platthaus
Volksarmee werden mit der gleichen 2008). Und natürlich denkt man
Klarheit und Schärfe beschrieben wie die zwangsläufig auch an die Buddenbrooks.
im alten Glanz bürgerlicher Villen Leben- Während Thomas Mann am Beispiel der
den. »Es gibt bei Tellkamp neben der Familie Buddenbrook den Verfall des
liebenswürdig untergehenden Bürger- patrizischen Bürgertums darstellt, be-
welt auch das brüllende Chaos einer he- schreibt Uwe Tellkamp anhand der Fa-
roisch-sinnlosen sozialistischen Arbeits- milie Hoffmann den Untergang eines
welt« (vgl. Bartmann 2008). Staates.
Aber in dem Roman stecken nicht nur Der Turm steht somit in der Tradition
ein Leben (Tellkamps eigenes) und ein einer klassischen deutschen Romankon-
504

zeption, die sich auf Geschlossenheit und nen Wahlmöglichkeiten des Individuums
Zielstrebigkeit der Handlungsführung in einem totalitären System. Er greift da-
beruft. Aber nicht nur inhaltlich, sondern mit einen der zentralen Aspekte des Ro-
auch stilistisch orientiert sich Uwe Tell- mans auf, nämlich die Darstellung, wie
kamp am klassischen Erzählen. Ein lexi- weit und tief die totalitäre Herrschaft in
kalischer Reichtum, eine ausgefeilte, mit der DDR reichte.
Adjektiven und Partizipialkonstrukti-
onen reich versehene Syntax und eine 6. Schlussbemerkungen zur Analyse der
den Text durchziehende auktoriale Er- Texte
zählhaltung lassen ein klassisches Form- Die ausgewählten Werke zeigen, dass
prinzip erkennen. Aber auch die Vielzahl sich die thematische Bandbreite der Wen-
der Stilebenen und Schreibformen – Dia- deliteratur von der Zeit vor dem Mauer-
loge, Tagebuchnotizen, Briefe, Meditati- fall über die Wendeereignisse selbst bis
onen, lyrische Passagen, Essayistisches, zu den veränderten Lebensverhältnissen
Monologe – zeugen von einem literarisch nach der Deutschen Einheit erstreckt.
anspruchsvollen Text. Der Turm kann so- Viele Romane, deren Handlung vor dem
mit zu Recht als ein »klassischer Bil- Mauerfall situiert ist, enden – wie bei-
dungsroman über die DDR« bezeichnet spielsweise Helden wie wir von Thomas
werden (vgl. Böttinger 2008). Brussig oder Der Turm von Uwe Tell-
Diese Komplexität macht aus ihm jedoch kamp – mit dem 9. November 1989. Da-
einen für den Unterricht eher schwer bei spielt das Motiv der ablaufenden Zeit
einsetzbaren Text, da er aufgrund seiner häufig eine große Rolle; die Handlung
intertextuellen Verweise und sprach- des Romans strebt förmlich auf den Tag
lichen Schwierigkeiten die Lernenden des Mauerfalls zu. Was danach kommt,
leicht überfordern kann. Dennoch gibt es wird oft nicht mehr erzählt. Es gibt viel-
bestimmte Passagen, vor allem Dia- mehr eine Aufforderung an den Leser,
logszenen, dir mir durchaus geeignet die Handlung weiterzudenken. So endet
scheinen. Ich selbst habe mit einem Aus- auch der Roman von Uwe Tellkamp mit
zug gearbeitet, in dem sich Richard und einem Doppelpunkt:
seine Frau Anne über die verschiedenen »schlugen die Uhren, schlugen den 9. No-
Handlungsoptionen angesichts der Er- vember, ›Deutschland einig Vaterland‹,
pressungsversuche der Stasi unterhal- schlugen ans Brandenburger Tor« (Tell-
ten1. Es geht darum, ob man sich kom- kamp 2008: 973).
promittieren und mit der Stasi zusam- Andere Texte, wie beispielsweise Jana
menarbeiten soll, um die Zukunft der Hensel in ihrem Buch Zonenkinder, neh-
eigenen Kinder nicht zu gefährden, oder men die Montagsdemonstrationen und
ob man integer bleiben soll, um die eige- den darauf folgenden Fall der Mauer als
nen Wertvorstellungen aufrechterhalten Ausgangspunkt für ihre Geschichte. Die
zu können. Optionen wie Ausreiseantrag Wende ist sozusagen das Ereignis, das
und Flucht werden auch thematisiert, die Handlung in Gang setzt oder – wie
aber als nicht realistisch eingestuft. Der bei Ingo Schulzes Adam und Evelyn – der
von mir im Unterricht behandelte Text- zentrale Punkt, um den die Geschichte
auszug zeigt somit die kaum vorhande- kreist.

1 Der im Unterricht eingesetzte Text ist eine Zusammenstellung mit sprachlich leicht
angepassten Auszügen (vgl. Tellkamp 2008: 284–292).
505

Ein weiteres Kriterium der Klassifikation, Die Texte hingegen, die mit einem grö-
das eingangs bereits erwähnt wurde, ist ßeren zeitlichen Abstand geschrieben
die Herkunft und das Alter der Autoren. wurden, zeugen ihrerseits eher von
Wenngleich es einige westdeutsche Auto- einem Rückgriff auf klassische Erzähl-
ren gibt, die sich mit dieser Thematik traditionen. Während Ingo Schulze den
auseinandersetzen, überwiegen – wie Adam-und-Eva-Mythos parabelhaft ver-
auch die ausgewählten Texte zeigen – die wendet, lässt sich Uwe Tellkamp thema-
Autoren ostdeutscher Herkunft. Viele be- tisch und stilistisch von den litera-
kannte Autoren der Wendeliteratur sind rischen Größen der deutschen Literatur
– wie dargelegt wurde – in den sechziger inspirieren, um einen mit autobiogra-
Jahren geboren. Sie gehören der soge- phischen Anklängen geprägten Wende-
nannten »distanzierten Generation« roman zu schreiben. Nach Thomas
(Lindner 1990: 109) an, die der DDR kri- Brussigs aus Wut und Enttäuschung
tisch-distanziert bis ablehnend gegenü- über die nicht stattgefundene Vergan-
berstanden1. Sie können sich, wie es bei genheitsbewältigung geschriebene Sa-
Thomas Brussig und seiner Kritik an tire, so Britta Lange, kommt die Verar-
Christa Wolf, aber auch bei der von Uwe beitung des Lebens in der ehemaligen
Tellkamp beschriebenen oppositionellen DDR mit Der Turm zu einem erzähle-
Haltung in weiten Teilen des Bürgertums rischen Abschluss (vgl. Lange). Offen
deutlich wird, nicht mehr mit der sozia- und überaus spannend bleibt hingegen
listischen Gesellschaft und ihren ›hehren‹ die Frage, welche Sujets und Perspekti-
Werten identifizieren. Erst die histo- ven in der Wendeliteratur noch folgen
rischen Umbrüche lassen sie letztendlich werden.
Position ergreifen und bringen sie zum
Schreiben. 7. Anmerkungen zur methodisch-di-
Die Art der literarischen Auseinander- daktischen Umsetzung
setzung mit diesen Ereignissen ist aber – Die Wendeliteratur bietet somit umfang-
wie oben aufzuzeigen war – nicht unab- reiches Material für den Einsatz im DaF-
hängig vom Zeitpunkt des Entstehens: Unterricht. Die vorgestellten Romane
Es lässt sich vielmehr anhand der ausge- und die daraus gewählten Textauszüge
wählten Texte, die zwischen 1995 und erlauben es, unterschiedliche Aspekte
2008 erschienen sind, eine zeitliche Ent- des Lebens in der DDR vor, um und
wicklung innerhalb der Wendeliteratur nach der Wende zu veranschaulichen:
ablesen. Waren die ersten literarischen vom persönlichen Druck, dem man in
Versuche, die historischen Umwäl- einem totalitären Staat ausgesetzt ist,
zungen zu fassen, wie etwa bei Thomas über die Gründe, die für bzw. gegen
Brussig von Ironie gekennzeichnet, eine Ausreise sprechen, bis hin zum
folgten anschließend Texte mit (n)ostal- nostalgischen Blick auf verloren gegan-
gischem Unterton. Sie stammen häufig, gene Lebenswelten.
wie bei Jana Hensel der Fall, von jünge- Von daher eignet sich eine Unterrichts-
ren Autoren, die zum Zeitpunkt des reihe zum Thema Wendeliteratur, um
Mauerfalls noch nicht politisiert waren. anhand von konkreten Beispielen zu-

1 Die »distanzierte Generation«, so der Leipziger Soziologe Bernd Lindner, umfasst die
zwischen 1961 und 1975 geborenen und von Mitte der 1970er Jahre bis zum Ende der
DDR ins Jugendalter hineingewachsenen Jahrgänge (vgl. Bernd Lindner: Die Generation
der Unberatenen, S. 96–97, zitiert nach Ilse Nagelschmidt 2009).
506

nächst vielleicht eher abstrakt erschei- mit Hilfe einer in Frankreich sehr verbrei-
nende geschichtliche Fakten zu illustrie- teten und im Abitur immer vorkom-
ren. Die Lernenden sollen verstehen, dass menden Richtig-Falsch-Aufgabe gesi-
die Wendeereignisse literarisch unter- chert, welche die Schüler in Partnerarbeit
schiedlich be- und verarbeitet wurden lösen (Arbeitsblatt 1–2).
und dass dabei verschiedene Faktoren Nach dieser ersten Annäherung an die
wie Entstehungszeitpunkt des Werkes, Wendeliteratur beginnt die arbeitsteilige
Alter und Herkunft der Autoren etc. eine Gruppenarbeit. Die Lerngruppe wird in
entscheidende Rolle spielen. Von daher vier Gruppen aufgeteilt, jede Gruppe er-
schien es mir angemessen, mich für ver- hält einen Textauszug aus einem der vier
schiedene Textauszüge und gegen eine beschriebenen Werke zur selbständigen
Ganzschrift zu entscheiden.1 Erarbeitung (Arbeitsblätter 3–1 bis 3–4).3
Neben diesen inhaltlichen Lernzielen legt Damit eine gewisse Einheitlichkeit in der
die von mir gewählte Vorgehensweise Bearbeitung der Texte gewährleistet ist,
einen zusätzlichen Schwerpunkt auf me-
bekommen alle Lernenden ein Arbeits-
thodische Fertigkeiten, die dazu beitra-
blatt mit Anweisungen für die Gruppen-
gen sollen, die Autonomie der Lernenden
arbeitsphase (Arbeitsblatt 2). Bei der in-
zu fördern: Es geht um die selbständige
haltlichen Erschließung der Texte sollen
Erarbeitung eines authentischen Textes,
die für jeden Text speziell formulierten
seine Aufbereitung für die Mitschüler
Lesetipps helfen.
und die mündliche Vorstellung der Ar-
beitsergebnisse vor der Lerngruppe. Da Für diese Gruppenarbeitsphase, in der
im französischen Schulalltag das auto- die Texterschließung und die Referats-
nome Lernen häufig vernachlässigt wird, vorbereitung zu erledigen sind, sollte
schienen mir diese Aspekte von besonde- ausreichend Zeit eingeplant werden
rem Interesse. (sechs bis acht Unterrichtsstunden), denn
Der Einstieg in die Unterrichtsreihe2 ge- die Qualität der sich anschließenden Re-
schieht mit Hilfe eines Infotextes (Ar- ferate hängt entscheidend von der Vorbe-
beitsblatt 1–1), der die Lernenden mit reitung in der Gruppe ab. Dazu gehören
wichtigen Aspekten der Wendeliteratur neben der Texterarbeitung auch die Er-
vertraut macht und ihnen eine erste Ori- stellung eines Vokabelblattes für die Mit-
entierungshilfe für die sich anschlie- schüler, um deren Verständnis bei den
ßende, den Hauptbestandteil der Unter- verschiedenen Vorträgen zu gewährleis-
richtsreihe ausmachende arbeitsteilige ten, sowie das gemeinsame Einüben des
Gruppenarbeit bietet. Die Texterarbei- Referates, bei dem jedes Gruppenmit-
tung und das Textverständnis werden glied einen Teil übernehmen sollte.

1 Ganzschriften werden zudem in der französischen Oberstufe in der Regel nicht gelesen.
Dies hängt sicher mit der geringen Stundenzahl, aber auch mit den Abituranforderun-
gen zusammen.
2 Die im Folgenden beschriebene Unterrichtsreihe wurde im Anschluss an eine eher
geschichtlich orientierte Unterrichtsreihe über die Wendeereignisse durchgeführt, so
dass auf eine spezielle Heranführung an die Thematik verzichtet werden konnte; um
eine Übernahme des Modells zu erleichtern, sind im Anhang einige der im Unterricht
verwendeten Materialien wiedergegeben.
3 Die Gruppenzusammensetzung kann dabei binnendifferenziert vorgenommen werden;
leistungsstärkere Schüler sollten sich mit den sprachlich und inhaltlich eher schwierigen
Texten von Thomas Brussig und Uwe Tellkamp beschäftigen.
507

Die Abfolge der verschiedenen Referate die im Roman geschilderte Version der
sollte sich am Publikationsdatum der Maueröffnung richtig einzuordnen. Sie
Werke orientieren, damit die Lernenden haben erfasst, dass die aktive Rolle des
die stilistischen Veränderungen und ver- Volkes vom Autor ins Lächerliche gezo-
schiedenen Blickwinkel verfolgen kön- gen wird und er den Maueröffnungs-
nen. Um die Aufmerksamkeit der Mit- Diskurs durch seinen Text persifliert.
schüler zu gewährleisten und ihr Hörver- Dennoch muss ich sagen, dass dieser
stehen zu trainieren, sollten sie angehal- Auszug aufgrund der vom Autor ge-
ten werden, bei jedem Referat Stich- wählten Herangehensweise sicher der
punkte nach dem Schema der für die im Unterricht am schwierigsten einzu-
Gruppenarbeit vorgesehenen Tabelle an- setzende Text ist und von daher einer
zufertigen. Diese Stichpunkte sind zu- leistungsstarken Gruppe zugeteilt wer-
gleich Ergebnissicherung und dienen der den sollte, da die Lernenden bereits
anschließenden Vertiefung, denn jeder große Vorkenntnisse benötigen, um die
Lernende sollte im Anschluss an die Re- zahlreichen Anspielungen und die vor-
ferate eine schriftliche Interpretation handene Ironie zu erfassen.
eines der drei von ihm in der Gruppe Erstaunt war ich auch bei Adam und
noch nicht behandelten Textauszüge ab- Evelyn, dass die Lernenden eigenständig
geben. Für diese schriftliche Arbeit
den den Roman charakterisierenden
konnte zudem das eingangs behandelte
Adam-und-Eva-Mythos erkannt und
Arbeitsblatt als Hilfe herangezogen wer-
sich die Frage gestellt haben, ob West-
den.
oder Ostdeutschland mit dem Paradies
Die Erfahrungen, die ich mit dieser Un-
gleichzusetzen ist. Hier hat sich sogar
terrichtsreihe gemacht habe, waren sehr
im Anschluss an das Referat eine Dis-
positiv. Dies wurde auch durch die Eva-
kussion untern den Schülern ergeben,
luation bestätigt, die ich im Anschluss in
bei der die unterschiedlichen Dimensi-
der Lerngruppe durchgeführt habe. Fast
onen des Paradieses für die einzelnen
allen Lernenden hat die Arbeit Spaß ge-
Figuren herausgearbeitet werden konn-
macht. Dabei wurde immer wieder posi-
tiv hervorgehoben, dass sie ihr kultu- ten.
relles Wissen erweitert und sprachlich- Die individuellen, schriftlichen Ausein-
methodische Fortschritte gemacht hätten. andersetzungen mit einem Romanaus-
Besonders die Schulung des mündlichen zug haben diesen positiven Eindruck
Ausdrucks und des Hörverstehens wäh- bestätigt: Die Arbeiten der Lernenden
rend der Referatsphase war für die Ler- waren insgesamt sehr zufriedenstellend.
nenden bereichernd. Ihr Interesse an den Insgesamt hat sich diese im franzö-
Referaten wurde sicher auch dadurch sischen Schulsystem eher ungewöhn-
gewährleistet, dass jede Gruppe einen liche Projektarbeit als durchaus gewinn-
neuen, thematisch und stilistisch anderen bringend herausgestellt; die eher per-
Textauszug vorgestellt hat. sönliche Auseinandersetzung mit ver-
Die inhaltliche Erarbeitung der Texte schiedenen literarischen Zeugnissen
durch die Lernenden war aus meiner war insofern motivierend, als sich die
Sicht ebenso äußerst zufriedenstellend. Lernenden ein konkreteres Bild über die
Anfängliche Bedenken, insbesondere verschiedenen Dimensionen der Um-
bezüglich des Romans Helden wie wir, bruchjahre 1989/90 und ihre Auswir-
haben sich nicht bestätigt. Die Ler- kungen bis in die heutige Zeit machen
nenden haben es durchaus verstanden, konnten.
508

Literatur www.glanzundelend.de/Artikel/adam-
evelynzwei.htm.
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8.2 Sekundärliteratur xml.
Audibert, Mireille; Chatenet, Claudine; Mangold, Ijoma: »Wie man Revolution mit
Frènes, Christian sous la direction de Beischlaf verwechselt. Die Geschichte
Wolf Halberstadt et Martine Dalmas: Al- von ›Adam und Evelyn‹ – Ingo Schulzes
ternative Allemand 1re. Paris: Didier, 2005. ebenso leichte wie tiefe Allegorie eines
Bartmann, Christoph: »Das Land einfrie- Systemwandels«, Süddeutsche Zeitung,
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Brüns, Elke: »Generation DDR? Kindheit 2009, 102–116.
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drea; Süsselbeck, Jan (Hrsg.): Konkur- prekären Umständen mitten im Sozialis-
renzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generatio- mus eine Bildungsbürgerwelt: Uwe Tell-
nenfragen in der Literatur seit 1990. Göt- kamps monumentaler Roman ›Der Turm‹
tingen: Wallstein, 2009, 83–101. erzählt vom Untergang der DDR«, Frank-
Geier, Andrea: »Engagierte Befragungen furter Allgemeine Zeitung, 20.09.2008.
der Tradition. Intertextualität in litera- Schröder, Christoph: »Das Paradies ist an-
rischen Zeitdiagnosen des Transformati- derswo. Nullpunkt 1989, ein Welten-
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beck, Jan (Hrsg.): Konkurrenzen, Konflikte, zählt in seinem neuen Roman ›Adam und
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Hillgruber, Katrin: »Sitzt, wackelt und hat 200909.
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nach Westen«. In: Glanz@Elend. Magazin Winkels, Hubert: »Wo bist du, Adam?«, Die
für Literatur und Zeitkritik: http:// Zeit, 17.08.2008.
509

Anhang: Im Unterricht verwendete Ar- Insgesamt kann man also sagen, dass die
beitsmaterialien und Texte deutsche Literatur zur Wende viele unter-
schiedliche poetische Konzepte entwickelt
Arbeitsblatt 1–1 hat: Es gibt ironische, nostalgische und eher
klassisch erzählerische Texte. (nach: http://
Literatur und Wende w w w. g o e t h e . d e / k u e / l i t / p r j / l we / h i n /
Das historische Ereignis der Wende hat in de4278641.htm)
der Literatur eine große Zahl von Werken
hervorgerufen, in deren Zentrum die kultu- Arbeitsblatt 1–2
rellen, sozialen und gesellschaftlichen Fol- Richtig oder falsch?
gen (conséquences) des Mauerfalls und der Begründen Sie Ihre Antwort jeweils mit einem
Wiedervereinigung Deutschlands stehen. Zitat aus dem Text!
Das Erscheinungsdatum der Bücher hat da- 1. Die Wende ist ein wichtiges Thema in
bei einen großen Einfluss auf Form und Stil der deutschen Literatur.
des literarischen Werks. 2. Das Erscheinungsdatum der Texte ist
Die DDR-Schriftsteller der älteren Genera- unwichtig.
tion, darunter Christoph Hein, Volker 3. Zu den DDR-Schriftstellern der älteren
Braun und Christa Wolf, verlieren mit dem Generation gehören Thomas Brussig,
Mauerfall ihre gesellschaftliche Position als Jana Hensel, Ingo Schulze und Uwe
Personen, die in ihren Werken dokumen- Tellkamp.
tierten, was nicht in der Zeitung stand. Sie 4. Die DDR-Schriftsteller der älteren Ge-
reagieren oft mit einer literarischen Pause neration haben im Allgemeinen nach
auf die veränderte Situation. der Wende kaum publiziert.
Neben dieser Generation der Schriftsteller, 5. Viele jüngere Autoren haben die Utopie
die schon in der DDR tätig waren, entwi- einer sozialistischen Gesellschaft verlo-
ckelt sich nach der Wende eine jüngere, ren.
noch weitgehend unbekannte Generation 6. Thomas Brussig macht sich in seinem
von Autoren, die noch nicht in das ostdeut- Roman Helden wie wir über die Mythen
sche Literatursystem involviert war. Im Ge- der Wende lustig.
gensatz zu den Werken der älteren Genera- 7. Ingo Schulze spricht in seinen Büchern
tion ist in vielen dieser Texte der Verlust (la nie über die Gefühle der ehemaligen
perte) einer Utopie zu spüren. So ist Thomas DDR-Bürger.
Brussigs bereits fünf Jahre nach der Wende 8. Jana Hensels Buch Zonenkinder zeigt,
erschienener Roman Helden wie wir eine dass für viele mit der Wiedervereini-
bittere Satire auf die DDR, in der er die gung die Kindheit plötzlich beendet war.
wichtigsten Mythen der Wende ironisiert. 9. Uwe Tellkamps Buch Der Turm ist iro-
Auch Ingo Schulze bevorzugt in seinen nisch und nostalgisch.
Werken einen unpathetischen Ton. Er ist ein 10. Die Wendeliteratur orientiert sich vor
wichtiger Chronist der deutschen Wieder- allem an der klassischen deutschen Li-
vereinigung. Im Mittelpunkt seiner Werke teraturtradition.
stehen die Ängste, Sorgen, Hoffnungen und
Verluste (perte) der ehemaligen (ancien) Arbeitsblatt 2
DDR-Bürger. Der Verlust ist auch eine zen-
trale Thematik bei Jana Hensel. Ihr Buch Wendeliteratur
Zonenkinder handelt vom Verlust der Kind- Arbeitsanweisung für die Gruppenarbeit
heit: Sie beschreibt, wie mit der Wiederver- 1. Lesen Sie Ihren Text zunächst einmal
einigung die vertrauten Dinge über Nacht durch und versuchen Sie die Hauptas-
verschwanden und ein neues Abenteuer pekte des Textes zu verstehen.
begann. Uwe Tellkamps Buch Der Turm ist 2. Beim zweiten Lesedurchgang überle-
seinerseits weder ironisch noch nostalgisch. gen Sie anhand des Kontextes, welche
Er beruft sich (s’appuyer) vielmehr auf die unbekannten Wörter für das Verständ-
klassisch deutsche Literaturtradition und nis notwendig sind. Suchen Sie diese
schildert in seinem Gesellschaftsroman an- Wörter im Wörterbuch.
hand einer Dresdner Bürgerfamilie die letz- 3. Legen Sie für Ihren Text eine Tabelle
ten sieben Jahre in der DDR. nach folgendem Schema an!
510

Autor meines Lebens aufzuschreiben, auch wenn


ich gestehen1 muss, dass ich in zwei Jahren
Buchtitel nicht über den ersten Absatz hinausgekom-
men bin. Ich dachte an eine Autobiogra-
Erscheinungs-
datum phie, in der ich mir voller Ehrfurcht2 be-
gegne und die auch sonst so à la europä-
Personen ischer Zeitzeuge3 angelegt ist — und die
mich sowohl für den Literatur- als auch den
Zeit der Handlung Friedensnobelpreis ins Gespräch bringt
Ort der Handlung (um Sie sofort mit einer meiner charakteris-
tischen Eigenschaften, meinem Größen-
Thema wahn4, vertraut zu machen). Wer weiß, wie
Inhaltsangabe lange ich noch an meiner Autobiographie
gesessen hätte, wenn Sie nicht angerufen
Stil / Erzähl- und mich für Ihre New York Times um ein
perspektive Interview gebeten hätten. Wie ich das mit
Interpretation des der Berliner Mauer hingekriegt5 habe. Das
Textes ist eine lange Geschichte. Aber es ist wahr.
Ich war’s. Ich habe die Berliner Mauer um-
Meinung zum Text geschmissen6. […] Ich werde Ihnen erzäh-
len, wie es dazu kam.
4. Bereiten Sie mit Hilfe dieser Tabelle ein […]
Referat vor, das Sie vor der Lerngruppe
Der Erzähler befindet sich mit vielen anderen
vortragen! Jedes Gruppenmitglied soll
einen Teil des Referates übernehmen. Menschen am Abend des 9. Novembers in Ost-
berlin vor einem noch geschlossenen Grenzüber-
Die Leitfragen zum Text helfen Ihnen
gang.
für das Verständnis und die Interpreta-
tion. Und als ein Mann namens Aram Radomski
Notieren Sie zum Verständnis wichtige anfing, den Verantwortlichen7 davon zu
Vokabeln, die Sie vor Ihrem Referat der überzeugen, dass der jetzt das Tor aufma-
Lerngruppe mitteilen. chen müsse, hatte ich eine Idee, eine Art
Eingebung. […] Ich öffnete langsam den
Arbeitsblatt 3–1 Mantel, dann den Gürtel und schließlich die
Thomas Brussig: Helden wie wir Hosen und sah den Grenzern8 fest in die
Augen. […] Mit einem Grinsen9 zog ich
Klaus Uhltzscht, der Ich-Erzähler, erzählt dem meine Unterhose herunter — dass Grinsen
amerikanischen Journalisten Mr. Kitzelstein, dazugehört, wusste ich seit diesem Exhibi-
wie er die Mauer am 9. November 1989 zu Fall tionisten, der mir mal in der S-Bahn begeg-
gebracht habe. Thomas Brussigs Roman net war. Und während Aram Radomski mit
Helden wie wir ist eine ironische Geschichte klaren und engagierten Worten auf den
über den Mauerfall, die nicht der Realität ent- Verantwortlichen einredete, ohne zu be-
spricht. merken, was ich neben ihm tat, starrten10
Mr. Kitzelstein, wie Sie sehen, habe ich […] die Grenzer auf das, was ich ihnen zeigte.
schon damit begonnen, die Geschichte Als alle Grenzer wie gelähmt am Tor stan-

1 etw. (A) gestehen: avouer qc


2 die Ehrfurcht = der Respekt
3 der Zeitzeuge (n): témoin de l’histoire
4 der Größenwahn: mégalomanie
5 etw. (A) hinkriegen (ugs.) = etw. (A) schaffen
6 umschmeißen (ugs.) = zu Fall bringen = renverser
7 der Verantwortliche (n): le responsable
8 der Grenzer (-): le garde-frontière
9 das Grinsen: le ricanement
10 auf etw. (A) starren: regarder fixement
511

den, wandte1 ich mich an den Verantwort- – Warum könnte sich der Autor entschie-
lichen, worauf seine Widerrede abrupt en- den haben, den Mauerfall so darzustel-
dete. »Dann können Sie uns doch rüber len?
lassen!« sagte der immer noch ahnungslose
Aram Radomski, und der Verantwortliche Arbeitsblatt 3–2
fand keine Kraft zum Widerspruch. Er war Jana Hensel: Zonenkinder
auch nicht mehr fähig, sich auf eine Vor- Der folgende Auszug beschreibt rückblickend
schrift2 zu berufen. Er starrte mich nur an, Erlebnisse der Ich-Erzählerin einige Wochen vor
mit Augen, die immer größer wurden. Es dem Mauerfall in Leipzig.
passierte so viel in diesen Tagen, was ein-
fach nicht zu glauben war, und ich war mir Am letzten Tag meiner Kindheit, ich war
sicher, dass ihm und den übrigen Grenzern dreizehn Jahre und drei Monate alt, verließ
das den Rest geben würde. So was hatten sie ich gemeinsam mit meiner Mutter am frü-
hen Abend das Haus. […] Ich musste hohe
noch nie gesehen! So was hatten sie nie für
Schuhe, Strumpfhosen und zwei Pullover
möglich gehalten! Was sich ihnen darbot,
unter meinen blauen Thermoanorak ziehen
war so unglaublich, dass sie mit nieman- und niemand wollte mir so richtig sagen,
dem darüber sprechen konnten, weil ihnen wo es hingehen sollte. Auf dem Weg zur
niemand glauben wird. Ich ließ mir Zeit, Straßenbahn, den wir immer liefen, um in
viel Zeit, ich sah nacheinander allen in die die Leipziger Innenstadt zu kommen,
Augen, und schließlich entriegelte3 einer mussten wir über ein Bahngelände, und ich
von ihnen wie hypnotisiert das Tor. Ehe sie weiß nicht mehr, ob ich es mir heute ein-
es sich wieder anders überlegten — Radom- bilde5 oder ob wir tatsächlich keinen Men-
ski hörte gar nicht mehr auf zu argumentie- schen getroffen haben. […]
ren, vernünftig zu reden –, hatte ich die In der alten Straßenbahn […] waren alle
Gitterstäbe gepackt und das Tor aufgesto- Leute so komisch dick angezogen, als gäbe
ßen. »So«, schrie ich, laut genug, dass mich es an diesem Abend ein Fußballspiel oder
das hinter mir versammelte Volk hören ein Feuerwerk […] und seltsamerweise
konnte, dem ich mich aber nicht mit dem hatte niemand eine Tasche bei sich. Als nach
Gesicht zuwenden wollte, solange ich einigen Stationen der Fahrer die vorderste
meine Hosen nicht wieder geschlossen Tür des Wagens aufzog und rief, dass die
hatte, »loslaufen müsst ihr selber!« Bahn jetzt hier halten und nicht mehr wei-
Aber wie miesepetrig4 ich auch bilanziere terfahren würde, stiegen alle aus und liefen,
— der Weg war frei für einen der glück- ohne dass jemand ein Wort gesagt hätte,
lichsten Augenblicke deutscher Geschichte. weiter in die Innenstadt, so als hätten heute
(Auszüge aus: Thomas Brussig: Helden wie Abend alle dasselbe Ziel6.
wir. Berlin: Volk und Welt, 1996, 5/6, 318/ Später, am Ziel, das mir immer noch nie-
319). mand wirklich nennen konnte, waren viele
Leute dicht zusammengedrängt und
Tipps: strebten7 zur Nikolaikirche und vor die
– Welche Erzählperspektive gibt es? Oper, auf den Karl-Marx-Platz. Dass man
hier vereinzelt Transparente und Plakate
– Wie kann man diese Erzählperspektive
sehen konnte und dass sich alle, als gäbe es
begründen?
einen unsichtbaren Regisseur, zu einem
– Was erfährt man über den Erzähler? Ver- Zug formierten und den Ring entlanggin-
sucht ihn zu charakterisieren! gen und dass das der Anfang vom Ende
– Wie wird der Mauerfall im Text erklärt? war, das kennt man aus dem Fernsehen. Ich

1 sich an jmd. (A) wenden (wandte, gewandt): s’adresser à


2 die Vorschrift (en): l’instruction, l’ordre
3 entriegeln = öffnen
4 miesepetrig = schlecht
5 sich etw. (A) einbilden: s’imaginer qc
6 das Ziel: ici: la destination, le point d’arrivée
7 zu etw. (A) streben: s’efforcer d’atteindre
512

weiß selbst auch nicht mehr genau, was ich es sich gewünscht hatte, ist nichts übrig
mit eigenen Augen und was ich, an diesem geblieben von unserer Kindheit, und auf
Abend zum ersten und dann unzählige einmal, wo wir erwachsen sind und es
Male später, in den Tagesthemen sah. […] beinahe zu spät scheint, bemerke ich all die
Ich lief brav zwischen einem Studenten und verlorenen Erinnerungen. Mich ängstigt,
meiner Mutter den Ring entlang und dachte den Boden unter meinen Füßen nur wenig
wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem zu kennen, selten nach hinten und stets nur
Leben, dass mit dem Land, das immer nach vorn geschaut zu haben. Ich möchte
meine Heimat gewesen war, gerade etwas wieder wissen, wo wir herkommen, und so
geschah, von dem ich gar nicht wusste, was werde ich mich auf die Suche nach den
es war, und dass gewiss kein Erwachsener verlorenen Erinnerungen und unerkannten
mir erklären konnte, wohin es führen wür- Erfahrungen machen, auch wenn ich
de. Hätte der Student neben mir gesagt: fürchte, den Weg zurück nicht mehr zu
Dies hier sei erst der Anfang, künftig wür- finden.
den von Montag zu Montag mehr Leute auf (Auszug aus: Jana Hensel: Zonenkinder.
den Straßen zu finden sein, und all das Hamburg: Rowohlt, 2002, 11–14).
würde dazu führen, dass die Mauer fallen
Tipps:
und unser Land bald verschwinden und
– Von welchem historischen Ereignis wird
alles mitnehmen werde, sodass nichts mehr
am Anfang erzählt?
von ihm übrig bliebe, dann hätte ich ihn
– Von was wird anschließend erzählt?
bestimmt verwundert angeschaut und im
(Schlüsselwort: heute, Zeile 30)
Stillen bei mir gedacht, unser Land könne
– Was ist die Idee / das Ziel des Buches?
das ruhig versuchen. Doch nie im Leben
– Warum?
werde es das schaffen.
– Welche Erzählperspektive gibt es? Achtet
Heute sind diese letzten Tage unserer Kind-
auch auf einen möglichen Wechsel (chan-
heit, von denen ich damals natürlich noch
gement) der Erzählperspektive!
nicht wusste, dass sie die letzten sein wür-
– Wie könnte man den Stil charakterisieren
den, für uns Türen in eine andere Zeit, die
(ironisch, nostalgisch, dokumentarisch,
den Geruch1 eines Märchens hat und für die
subjektiv, …)?
wir die richtigen Worte nicht mehr finden.
Eine Zeit, die sehr lange vergangen scheint,
Arbeitsblatt 3–3
in der die Uhren anders gingen, der Winter
anders roch und die Schleifen im Haar Ingo Schulze: Adam und Evelyn
anders gebunden wurden. Es fällt uns nicht Der Damenschneider Adam ist mit seiner
leicht2, uns an diese Märchenzeit zu erin- Freundin Evelyn im Spätsommer 1989 in Un-
nern, denn lange wollten wir sie vergessen, garn. Unerwartet öffnet Ungarn die Grenze, der
wünschten uns nichts mehr, als dass sie so Eiserne Vorhang bekommt ein Loch. Während
schnell wie möglich verschwinden würde. die Entwicklungen von den Politikern in der
Es war, als durfte sie nie existiert haben und DDR ignoriert werden, stellen sich Adam und
als schmerzte3 es nicht, sich von Ver- Evelyn die Frage, ob sie die Chance nutzen und
trautem4 zu trennen. Eines Tages schlossen in den Westen gehen sollen.
sich die Türen dann tatsächlich. Plötzlich »Willst du wirklich in den Westen?«
war sie weg, die alte Zeit. »Ich hatte gehofft, du auch.« Evelyn klopfte
Heute, mehr als zehn Jahre später und nach ihr Kopfkissen5 auf, umfing es mit beiden
unserem zweiten halben Leben, ist unser Armen und legte sich darauf.
erstes lange her, und wir erinnern uns, »Denkst du denn, ich lass das alles im
selbst wenn wir uns anstrengen, nur noch Stich6, das Haus, den Garten, die Gräber,
an wenig. Ganz so, wie unser ganzes Land alles? Wie stellst du dir das vor?«

1 der Geruch (¨e): l’odeur


2 es fällt uns nicht leicht: on a du mal
3 schmerzen = weh tun
4 das Vertraute = Dinge, die man kennt
5 das Kopfkissen: l’oreiller
6 alles im Stich lassen = alles zurücklassen, alles aufgeben (abandonner)
513

»Auf dich wartet doch niemand, für dich ist ihrer Ankunft im Westen fahren sie mit dem
es doch viel leichter!«1 Zug von Rosenheim nach Eichenau, wo das
Evelyn stand auf und schloss das Fenster. folgende Gespräch stattfindet. Dort wollen sie
»Ich hab immer gesagt, dass ich zurückfah- Verwandte besuchen.
re, was soll ich denn im Westen?« »Die haben wirklich auch die schönere
»Du hast dich aber anders verhalten. […] Landschaft,« sagte Evelyn. Der Nagel ihres
Du findest doch überall Arbeit. Und wirst Zeigefingers berührte mehrmals das Zug-
hundertmal besser bezahlt. […] Ich dachte, fenster. Sie hatte die Schuhe ausgezogen,
du überlegst dir das ernsthaft!« Evelyn die Beine auf den gegenüberliegenden Sitz
lehnte im Nachthemd am Fensterbrett und ausgestreckt und den Karton mit der
verschränkte die Arme. Schildkröte geöffnet. […]
[…] »Elfriede vermisst bestimmt ihre schöne
»Und seit wann weißt du, dass du weg- Kiste.«
willst?« »Wer hätte die denn tragen sollen? Außer-
»Wirklich sicher bin ich mir erst seit heute dem können wir dort nicht mit so ’ner Kiste
früh.« Sie sah an die Decke. aufkreuzen5.«
»Ist das dein Ernst? […]« »Sieh doch mal, da sind wieder die Alpen,
»Ich weiß nur, dass ich nicht zurückgehe.« dahinter liegt Italien…«
»Und warum?« »Dahinter liegt Österreich…«
»Warum ich das erst seit heute weiß?« »Die Alpen sind Österreich, aber hinter den
»Warum du rüber willst?« Alpen liegt Italien, Elfriede, da fahren wir
»Weil ich nicht zurück will. Ich will nicht bald hin.«
wieder kellnern2, mich wieder um einen »Aber ohne Elfi.« Er faltete die Zeitung
Studienplatz bewerben, wieder abge- zusammen.
lehnt3 werden, wieder all die Visagen »Kann sein, Elfriede, da musst du zu Hause
sehen, die einen fragen, warum man nicht bleiben.« Evelyn legte den Deckel auf den
für den Frieden ist, und der ganze Karton. »Du tust, als würdest du schon alles
Scheiß.« kennen!«
»Das wird sich ändern […]«. »Mach’ ich wieder ’was falsch?«, fragte er
»Nein, das war hier schon zu viel Freiheit, ohne aufzusehen.
ich habe mich zu sehr daran gewöhnt«. »Bist du denn gar nicht aufgeregt6?«
»Gewöhnt, woran?« Adam setzte sich auf »Klar bin ich aufgeregt, vor allem wenn ich
die Bettkante. mich wieder falsch benehme oder ’was
»An den Gedanken weiterzufahren. Ich will Falsches sage.«
weiterfahren.« […]
»Was ist das denn für eine Begründung?« »Irgendwas ist doch los mit dir.«
»Ich weiß auch nicht, ob es mir drüben »Du bist gut. Wir lassen alles stehen und
gefällt, aber ausprobieren will ich es.« liegen7 und ich weiß nicht, wie ich meine
»Ausprobieren, na wunderbar, und wenn Brötchen verdienen8 soll, und du fragst,
es schief geht4? Wir haben nur ein Leben.« was los ist.«
»Ja, ebendeshalb.« »Willst du zurück?«
[…] »Ich stelle mir nur vor, wie es ist, wenn
Adam und Evelyn entscheiden sich schließlich, Mona in unser Haus geht und deine Mutter
gemeinsam in den Westen zu gehen. Kurz nach und die anderen, und sie holen sich raus,

1 Die Eltern von Adam sind schon tot.


2 kellnern = als Kellnerin (serveuse) in einer Bar arbeiten
3 jdn. (A) ablehnen: refuser qn
4 Wenn es schief geht? (ugs.) = Wenn es nicht funktioniert?
5 aufkreuzen (ugs.) = bei jdm. ankommen
6 aufgeregt sein: être excité, ému
7 alles stehen und liegen lassen = alles zurücklassen, alles aufgeben
8 seine Brötchen verdienen = sein Geld verdienen (gagner)
514

was sie brauchen – da denkt man halt dran, vermuten, dass es im Flüsterton4 geführt
ich kann nicht einfach abschalten1.« wurde, da es sofort abbrach, sobald Pas-
»Wir brauchen es eben nicht mehr.« santen in Hörweite5 kamen. […]
»Am Montag waren es zehntausend in Leip- Er begann von dem Gespräch zu erzählen,
zig. Stell dir das mal vor, zehntausend!« zuerst stockend, abgerissen, unzusammen-
»Adam, wir haben’s geschafft, wir sind im hängend, dann immer drängender.
Westen, wir haben alle Papiere, wir bekom- »Aber was für einen Grund haben sie… […]
men Pässe, wir haben dreitausend West- Sie versuchen also, uns zu erpressen6,« sagte
mark, ich kann studieren, was ich will, wir Anne; dieses »uns« registrierte er dankbar;
dürfen umsonst wohnen, und du ziehst so aber sie suchte nicht seine Hand. »Wir müs-
ein Zitronengesicht.« sen überlegen, was wir tun können.« Ihre
»Besonders lustig war das alles bisher Stimme klang jetzt wieder fest. Das gab auch
nicht.« ihm die nüchterne Überlegung zurück. »Es
(Auszüge aus: Ingo Schulze: Adam und Eve- gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ich spiele
lyn, Berlin: Berlin Verlag, 2008, 212–214, 252, mit oder ich spiele nicht mit.«
256) »Von spielen kann keine Rede sein«, erwi-
derte sie rasch und knapp, »Ausreiseantrag.
Tipps:
Wir müssen hier raus. […]«
– Was erfährt man über Evelyn?
»Es wird nicht gehen. Die haben mir un-
– Was erfährt man über Adam?
missverständlich zu verstehen gegeben,
– Welche unterschiedlichen Meinungen ha-
dass sie mich nicht rauslassen werden.
ben sie über die Ausreise in den Westen?
Ärzte werden hierzulande gebraucht … Es
Warum?
wäre Verrat7 an den Patienten, die Ihnen
– Welche Schlussfolgerungen (conclusions)
anvertraut sind …«
kann man daraus ziehen?
»Die können uns doch nicht einfach festhal-
ten!«
Arbeitsblatt 3–4
»Doch, das können sie! Und dann sitzen wir
Uwe Tellkamp: Der Turm hier, ich fliege aus der Klinik8, was mir ja
Der Autor Uwe Tellkamp beschreibt in seinem noch egal wäre, aber Robert und Chris-
Roman Der Turm die letzten sieben Jahre in der tian… Wir hätten nichts erreicht!«
DDR. Der folgende Auszug ist ein Gespräch »Wir müssten nicht denunzieren!«
zwischen dem Arzt Richard und seiner Frau »Um den Preis, dass wir die Zukunft der
Anne, die mit ihren beiden Kindern Robert und Kinder aufs Spiel setzen9?«
Christian in Dresden leben. »Aber Menschen zu bespitzeln10, ist das
Sie hatten es sich zur Regel gemacht, ernst- kein Preis?«
hafte Probleme nicht in den eigenen vier Richard antwortete nicht. […] Schließlich
Wänden2, sondern auf einem Spaziergang sagte er:
zu besprechen. Diese Spaziergänge waren »Ich muss annehmen.«
ein im Viertel allgemein üblicher Brauch3. »Das willst du tatsächlich tun? Du willst für
Man sah oft Ehepaare schweigend mit ge- diese Lumpen11 arbeiten?«
senkten Köpfen gehen oder in hastig gesti- »Anne – doch nur zum Schein! Ich liefere
kulierendem Gespräch – man konnte nur ihnen belangloses Zeug12 ab, stell’ mich

1 abschalten = an etw. anderes denken


2 in den eigenen vier Wänden = zu Hause
3 der Brauch (¨e): la coutume
4 im Flüsterton sprechen: parler à voix basse, en chuchotant
5 in Hörweite: à portée d’ouïe
6 jdn. (A) erpressen: faire chanter qn
7 der Verrat: trahison
8 Ich fliege aus der Klinik. = Ich verliere meine Arbeit als Arzt im Krankenhaus.
9 etw. (A) aufs Spiel setzen: mettre en péril
10 jdn. (A) bespitzeln: moucharder, espionner
11 die Lumpen = les salauds (das Wort bezieht sich auf die Stasi)
12 belangloses Zeug = unwichtige Informationen
515

dumm – und das solange, bis sie von selber nicht dort, wo sie den Karten nach verlau-
merken, dass sie mit mir keinen guten Fang fen müssten, im Grenzgebiet sind Wege
gemacht haben. Ich muss für sie völlig nicht eingezeichnet –«
unbrauchbar sein, vielleicht habe ich damit »Jugoslawien –«
eine Chance.« »Anne.«
»Glaubst du nicht, dass sie das merken Sie lachte schrill auf. Richard sah sie an.
werden?« »Lass uns nach Hause gehen.«
»Sicher werden sie das merken. Aber was Sie lagen wach nebeneinander, in ihren Bet-
wollen sie machen? Auch ein Oberarzt be- ten, die sie am Beginn ihrer Ehe zusammen-
kommt nicht alles mit, was in einer Klinik gestellt hatten; einer lauschte den Atemzü-
passiert. Und ist es nicht logisch, dass die gen des anderen.
Assistenten vor mir den Mund halten?«
»Und wenn sie dich provozieren? Was, (Auszug aus: Uwe Tellkamp: Der Turm.
wenn eine OP-Schwester etwas Verfäng- Geschichte aus einem versunkenen Land.
liches sagt, du tust so, als hättest du es nicht Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008, 284–
gehört, aber diese OP-Schwester gehört zu 292)
denen, und beim nächsten Treffen sprechen Tipps:
sie dich auf deine Unterschlagung1 an?« – Wer ist mit sie gemeint (z. B. Zeile 8)?
»Das wäre doch unklug, meinst du nicht? – Worüber unterhalten sich Anne und
Ich wüsste doch dann, dass diese Schwester Richard?
dazugehört.«
– Warum können sie dieses Gespräch nicht
»Und wenn sie dich nicht darauf anspre-
zu Hause führen?
chen? Sondern still schweigend ihre Schlüs-
se ziehen und dir dann irgendwann die – Welche verschiedenen Handlungsopti-
Rechnung präsentieren –« onen diskutieren sie? Wie ist die Mei-
»Wenn, wenn, wenn! Siehst du eine andere nung von Richard? Wie ist die Meinung
Möglichkeit?« von Anne?
»Flucht.« – Finden sie eine Lösung am Ende?
Warum? / Warum nicht? Was bedeutet
»Anne, sei doch nicht albern! Das ist doch
dies?
nicht dein Ernst? Schon der Versuch ist
strafbar2, die hätten uns im Handumdrehen
am Schlaffittchen3, und dann landen wir
hinter Gittern4 … Flucht! Wie stellst du dir Nicole Leier
das vor? Mit den Jungs? Oder sollen sie Studium der Romanistik, Politologie und
etwa hierbleiben? Sollen wir einen Tunnel Germanistik an der Universität Gießen;
graben, über die Ostsee schwimmen –«
»Dein Kommilitone hat es geschafft.« nach dem Referendariat DAAD-Lektorin
»Der war Leistungsschwimmer, Anne! Hat an der Universität Montpellier III, Frank-
allein gelebt und genau gewusst, worauf er reich; zur Zeit Tätigkeit als Deutschlehre-
sich einlässt5! Wenn er gefasst worden wä- rin (Agrégée d’allemand) an einem fran-
re, hätte er nur für sich einzustehen gehabt. zösischen Gymnasium und Programmre-
Weißt du, dass sie die Karten fälschen6? Hat ferentin im Heidelberg-Haus in Montpel-
mir neulich ein Patient verraten. Nach un-
seren Karten denkst du, du bist in der lier, deutsches Kulturinstitut und Sitz der
Bundesrepublik – in Wahrheit aber bist du Projektleitung der Sprach- und Kultur-
immer noch in der DDR. Flüsse verlaufen werbeaktion DeutschMobil.

1 die Unterschlagung = etw. nicht sagen (le recel)


2 strafbar: passible d’une peine
3 jdn. (A) im Handumdrehen am Schlaffittchen haben = jdn. (A) schnell finden und
festnehmen (arrêter)
4 hinter Gittern landen = ins Gefängnis kommen
5 sich auf etw. (A) einlassen: s’embarquer dans qc
6 etw. (A) fälschen: falsifier

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