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Emilia war noch Emilka, als ihre Eltern sie ins Auto setzten und
mit ihr losfuhren – raus aus dem grauen Polen, nach Westberlin!
Das war 1988. Nur ein Jahr später hatte sie einen neuen Namen,
eine neue Sprache, ein neues Land: Sie war jetzt Deutsche, alles
Polnische war unerwünscht, und aus dem Traum von einem
besseren Leben war der tägliche Kampf geworden, bloß nicht
aufzufallen. Wenn die neuen Kollegen der Eltern zum Essen
kamen, gab es nicht etwa Piroggen, sondern Mozzarella und
Tomate. Und als Emilia ein Deutschdiktat mit zwei Fehlern nach
Hause brachte, war ihre Mutter entsetzt: Was war
schiefgelaufen? Aus keinem Land sind in den vergangenen
Jahrzehnten mehr Menschen nach Deutschland gekommen als
aus Polen. Und keine Einwanderergruppe war so sehr darauf
bedacht, sich unsichtbar zu machen. Ergreifend erzählt Emilia
Smechowski die persönliche Geschichte einer kollektiven
Erfahrung: eine Geschichte von Scham und von verbissenem
Aufstiegswillen, von Befreiung und Selbstbehauptung.

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Hanser Berlin E-Book

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Emilia Smechowski
 

Wir Strebermigranten
 
 
Hanser Berlin

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Babci Basi

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Leistungsträger

Ich weiß, das kann nicht stimmen, aber in meiner Erinnerung ist
es so, es ist ein Stummfilm, ein Tag voller Schweigen. Niemand
spricht, es gibt keinen Kartoffelsalat, kein Bier, keine Würstchen,
keine Aufbruchstimmung. Wir ziehen den Umzug durch, als wäre
er ein Punkt auf der Tagesordnung. Sechs Kilometer innerhalb
Berlins, check. Vom Rentnerparadies, in dem der Place-to-be
eine Dönerbude ist, in ein Viertel mit Bioläden und Dreck auf der
Straße. Und einer Brücke, von der man sich stürzen kann,
theoretisch. Das jedenfalls dachte ich, als ich sie bei der
Besichtigung sah. Dann musste ich laut lachen. Als ob!
Es ist ein Samstag im Mai, als ich mein Jugendzimmer
ausräume und abhaue aus unserem privilegierten Leben. 2000,
das Millenniumsjahr, und für mich ist tatsächlich eine Welt
untergegangen.
Ich bin sechzehn, fast siebzehn Jahre alt.
Meine Familie, meine Eltern und meine zwei Schwestern, hat
sich für diesen Tag etwas vorgenommen, ich weiß nicht mehr,
was. Vielleicht sind sie ins Kino oder schwimmen gegangen, in
Ausnahmefällen dürfen wir danach bei McDonald’s essen. Happy
Meal, aber keine Cola.
Das Haus ist also leer, ich packe zusammen, was ich eigentlich
hinter mir lassen will, das rote Bett mit diesen merkwürdigen
Kreismustern drauf, den Schreibtisch, der mein halbes Zimmer
einnimmt, dazu ein paar Kisten, und als dann endlich die
Freunde da sind, warte ich schon an der Tür, bereit für das neue
Leben.
Meinen Schwestern habe ich Tschüss gesagt, meinen Eltern
nicht, sie haben sich an mir vorbei aus dem Haus geschlichen,
und als sie schon im Auto sitzen, bin ich zu stolz, ihnen
hinterherzurennen. Meine Eltern halten mich für komplett

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durchgeknallt, mit sechzehn ausziehen, das machen doch nur
Junkies und Verlierer. Und ich schließe nicht aus, dass meine
Mutter genau das befürchtet: Ich werde mein Abi vermasseln,
das Falsche essen, dick werden und hässlich, dieser absurde
Traum, den ich mir in den Kopf gesetzt habe, wird platzen, und
am Ende sitze ich auf der Straße, mit einer Heroinspritze in der
Hand. Bei diesem Untergang wollen sie bitte schön nicht auch
noch zuschauen.
In meiner Familie geht man nicht unter. Es gibt nur eine
Richtung: nach oben. Wir sind Leistungsträger, so lautet das
schöne deutsche Wort, bis heute weigere ich mich, es zu
benutzen. Auch weil ich lange Zeit unsicher war, was es
bedeutet.
Wenn ich darüber nachdenke, wann ich zum ersten Mal eine
Ahnung hatte, dass ich bald ausbrechen würde aus diesem Käfig,
fällt mir ein anderer Samstag ein, ein paar Monate früher, im
Januar. Ich stehe im Bad und übe, wie ich meinen Eltern die
große Neuigkeit überbringen soll, entschlossen, erwachsen, wie
im Film: Ich muss euch etwas sagen. Dann gehe ich die Treppe
runter, mein großer Auftritt, und so sitzen wir uns auf den Sofas
gegenüber, meine Eltern und ich, auf diesem braunen Leder,
kurz nach unserer Ankunft in Deutschland gekauft.
»Ich muss euch etwas sagen.« Mir wird schlecht.
»Bitte«, sagt mein Vater. Meine Mutter sagt nichts.
»Ich will Sängerin werden.«
Schnell wie Pflasterabziehen.
»Was?«, sagt meine Mutter, sie schreit es fast. Der Mund
meines Vaters, der normalerweise so schmal ist wie ein Bleistift,
verzieht sich zu einem Bleistiftstrich. Als würde er sich auf die
Lippen beißen, als müsste er gleich platzen vor Lachen. Aber
mein Vater platzt nicht. Er lächelt nur leicht und sagt einen Satz.
»Das schaffst du nie.«

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Ich gehe in die zehnte Klasse und leite die Musical-AG der
Schule. In der Kirche singe ich sonntags die Soli im Chor, der
Leiter nickt anerkennend, wenn ich fertig bin. Du hast eine
warme Stimmfarbe, sagt meine Gesangslehrerin, wenn ich
nachmittags mit ihr Dreiklänge übe. Das schaffst du nie. Der
Satz meines Vaters brennt sich tief ein.
Sängerin! Was soll das denn für ein Beruf sein?
Klavierunterricht, der ist sinnvoll, Singen im Kirchenchor, gehört
irgendwie dazu. Aber Musik als Lebensinhalt? Wir haben uns
doch nicht unser Leben lang abgestrampelt, damit du dein
zukünftiges Leben damit verbringst, bis mittags zu schlafen!
Das müssen sie gar nicht sagen. Ich weiß auch so, was sie
denken. Schweigend geht meine Mutter in die Küche, und mein
Vater schließt sich im Arbeitszimmer ein. Ich renne die Treppen
hoch und werfe mich heulend aufs Bett. Ich hasse sie, alle beide.
Und ich hasse dieses Haus und dieses Zimmer, in dem ich nichts
darf, noch nicht mal eine Kerze anzünden. Oder
Räucherstäbchen – schließlich könnte das Haus abbrennen!
Die folgenden Monate fühlen sich an wie schockgefrostet. Ich
gehe zur Schule, zum Gesangsunterricht. Zu Hause ist es, als
hätte jemand auf Pause gedrückt. Es geht nicht vor und nicht
zurück. Meine Eltern und ich, wir sagen uns nicht einmal mehr
Guten Morgen, ich verschwinde im Bad, ziehe mir die Schuhe
über und bin weg. »Warum ziehst du nicht mit ein?«, fragt eine
Freundin, die drei Jahre älter ist und eine Wohnung sucht. Ja.
Warum nicht.
Mein Vater droht immer mit irgendwelchen Konsequenzen.
Wenn ich den Tisch nicht richtig abräume, wenn ich meinen
Teller nicht leer esse, wenn ich zu spät nach Hause komme.
Meist besteht die Konsequenz aus Schlägen auf den Hintern und
Hausarrest, ein bis zwei Wochen, je nach Schwere der Tat.
Diesmal werde ich meine Konsequenz ziehen und gehen. Meine
Eltern werden nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Sie

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werden nicht süffisant lächeln, sondern vor Entsetzen vom Sofa
kippen. Vielleicht flehen sie mich sogar an, zu bleiben.
Ist dann nicht so. Mein Vater sagt, wenn ich so erwachsen sei,
könne ich in Zukunft ja mein eigenes Geld verdienen. Von ihm
bekäme ich nichts. Meine Mutter weint, wie willst du denn so
das Abitur schaffen? Du bist noch nicht mal in der Oberstufe!
Ich weine nicht mehr. Jahrelang habe ich in meinem Zimmer
auf dem Bett gelegen und darauf gewartet, dass diese elende
Jugend vorbei ist. Nun werde ich alles anders machen. Und so
viel besser.
Heute weiß ich, dass dieser Ausbruch von zu Hause mehr war
als die Rebellion eines Teenagers. Es war auch eine Absage an
die Art, wie wir in Deutschland lebten.
Wir Strebermigranten.
 
Ein besseres Wort fällt mir nicht ein für das, was wir waren. Wir
hatten uns hochgekämpft. Meine Mutter war in einem
polnischen Dorf aufgewachsen, die Erste in ihrer Familie, die
Abitur machte, mein Vater hatte sein halbes Leben lang nur ein
Ziel gehabt: abhauen in den Westen. Sie schafften es. Und
zusammen stiegen wir auf in diesem neuen Land. Meine Eltern
arbeiteten als Ärzte, wir bauten ein Haus, mit Garten. Wir
fuhren erst einen Mazda, dann einen BMW und einen Chrysler,
später nur noch Limousinen von Audi. Wir Kinder lernten Latein
und Altgriechisch, Klavier und Ballett. Eine Assimilation im
Zeitraffer. Wir sind die Wirklichkeit gewordene Phantasie eines
rechtskonservativen Politikers, dem zufolge Einwanderer sich
der neuen Gesellschaft anpassen müssen, die ihrerseits aber
bleibt wie zuvor.
Und wir sind nicht die Einzigen. Es gibt kein Volk, das
zahlreicher nach Deutschland einwandert, als wir Polen es tun.
Seit Jahrzehnten schon. Nur: Als Migranten sieht man uns kaum.
Jedenfalls diejenigen nicht, die in den achtziger und neunziger

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Jahren kamen – und das sind mit Abstand die meisten. Wir sind
unsichtbar. Wir sind quasi gar nicht mehr da, so gut gliedern wir
uns ein. Wie Chamäleons haben wir gelernt, uns in der
deutschen Gesellschaft zu verstecken.
 
An jenem Tag im Mai hatte ich so gut wie vergessen, dass wir
zwölf Jahre zuvor aus Polen gekommen waren und dass dieser
unbedingte Wille zum Erfolg, vor dem ich nun floh, auch mit
unserer Einwanderergeschichte zu tun hatte. Woran ich dachte,
als ich in der Einfahrt auf das kleine Umzugsauto wartete:
Irgendwann werdet ihr das alles bereuen! Irgendwann, wenn ich
erwachsen und berühmt bin, werdet ihr am Bühnenausgang auf
mich warten, ich werde herauskommen, in Mantel und Schal,
Konzertkleid noch drunter, Lidstrich, Hochsteckfrisur, Blumen
im Arm, ihr werdet mich ansehen, ihr werdet die
Autogrammjäger sehen, und am Ende werdet ihr um Vergebung
bitten!
Erinnerungen sind tückisch. Sie betrügen uns immer wieder,
und wenn wir nicht aufpassen, erzählen sie eine falsche
Geschichte. Wahrscheinlich schwiegen wir an diesem
Umzugstag gar nicht, vielleicht war ich gar nicht allein?
Vielleicht ist das nur ein Trick meines Gehirns, um die Erzählung
der dramatischen Situation anzupassen, und deshalb hat es alle
fröhlichen Momente dieses Tages gelöscht. Meine Freunde
erinnern sich nicht. Meine Eltern auch nicht wirklich – oder sie
wollen es nicht. Damals erzählten sie Bekannten erst einige Zeit
später, dass ihre älteste Tochter ausgezogen war.
Die Sache passte auch einfach nicht zu unserer
Erfolgsgeschichte. Es war, als hätte in uns ständig ein Motor
gebrannt, immer kurz davor heiß zu laufen. Wenn ich mit einer
Zwei plus nach Hause kam, fragte meine Mutter, wo denn das
Problem gewesen sei. Es herrschte ein permanenter Druck, und
sosehr ich auch strampelte, ich wurde ihn nicht los.

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Bedingungslose Liebe – als ich diesen Ausdruck zum ersten Mal
hörte, musste ich bitter auflachen. Geliebt werden, ohne dafür
zu arbeiten, sich entspannen, ohne vorher etwas geleistet zu
haben – das alles kannte ich nicht. Und oft genug ist es noch
heute etwas, worauf ich mir keinen Anspruch zugestehe.
Wann hat das alles angefangen?
 
Am Ende des Tages, als die Umzugshelfer weg sind, liege ich auf
demselben Bett, aber nun habe ich Dielenboden und eine
zitronengelbe Wand. Meine Mitschüler haben Geld gesammelt
und mir einen Kühlschrank gekauft. Ich schaue nun nicht mehr
von einem weißen französischen Balkon auf den Garten, sondern
durch ein undichtes Fenster auf einen Berliner Hinterhof. Im
Grunde nicht auf den Hinterhof, sondern auf eine graue Wand,
denn das nächste Haus steht wenige Meter entfernt. Ich bin jetzt
also arm. Ich finde es großartig.
Ein paar Dinge habe ich mitgehen lassen, Musik vor allem, die
CDs der Deutschen Grammophon, die ich mir niemals selbst
würde kaufen können, Mozarts Requiem, Wagners Tannhäuser.
Und Fotos, von früher. Fotos, auf denen mein Vater nicht streng
guckt und meine Mutter nicht gestresst. Fotos, auf denen beide
lächeln. Sie sind kleiner als die neuen, vergilbt oder in
Schwarzweiß. Auf einem bin ich gerade ein Jahr alt geworden
und trage meine ersten Schuhe. Mein Vater hockt neben mir. Er
trägt Zehntagebart und eine blaue Trainingsjacke mit zwei
Streifen (drei gab es bei uns nicht), seine Erich-Honecker-Brille
steht ihm wesentlich besser als Erich Honecker. Er umarmt mich
von hinten und lächelt. Er sieht sehr glücklich aus.
Dieses Wir, das spüre ich, ist verloren gegangen.
Warum lächelte mein Vater irgendwann nicht mehr, und
warum hatte meine Mutter immer öfter rote Augen? Fragen, die
ich mir am Tag meines Auszugs nicht stelle. Den Kontakt zu

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meinen Eltern habe ich abgebrochen. Kurz darauf fange ich bei
Burger King an. Ich muss nun Miete zahlen.

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Die Balken knarzten laut

Es war während des Streiks auf der Danziger Werft, als mein
Vater zum ersten Mal das Gefühl hatte, es könnte sich vielleicht
doch etwas ändern. August 1980, und er, ein Einzelgänger, der
am liebsten über seinen Büchern hing, wollte plötzlich die Welt
verändern. Mit hundert anderen besetzte er die medizinische
Fakultät, sie schliefen, aßen, lebten dort, wochenlang. Sie hatten
genug davon, sich von der kommunistischen Partei alles
vorschreiben zu lassen. Als Studenten wollten sie sich selbst
organisieren. Mein Vater wurde sogar Mitglied im
Unabhängigen Studentenverband. Insgesamt streikten am Ende
des Monats 750.000 Polen in 750 Betrieben, die größte
Streikwelle, die das Land bis heute gesehen hat.
Die Hoffnung wuchs. Auf Babynahrung, Fleisch und eine freie
Meinung.
Dann kam der 13. Dezember 1981. Ein polnischer General
erklärte der polnischen Gesellschaft den Krieg. Plötzlich standen
Panzer an den Straßenecken, Soldaten mit Waffen in der Hand.
Telefone wurden abgeschaltet, Schulen und Universitäten
geschlossen, die Fernsehnachrichten verlasen Offiziere in
Uniform. Das Militär war überall. Menschen wurden inhaftiert,
gefoltert, getötet. Wieder einmal herrschte Kriegszustand in
Polen, doch diesmal kam die Gefahr nicht von außen, von den
Deutschen oder Russen, sie kam von innen, so jedenfalls sah es
die polnische Regierung.
Es war das Jahr, in dem mein Vater auf meine Mutter traf.
Auch sie war Absolventin der Danziger Universität. Aber
kennengelernt haben sie sich erst in Wejherowo, dreißig
Kilometer entfernt, dort zogen sie beide hin, dort gab es Jobs,
ein neues Krankenhaus war gebaut worden, und es gab
Wohnungen. Die Plattenbausiedlung, in der meine Mutter
wohnte, war so schnell hochgezogen worden, dass man nie

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wusste: Ist das noch Rohbau oder schon Ruine, entsteht da was,
vergeht da was? In jedem Fall war es grau. Wejherowo war auch
für sozialistisch geprägte Augen hässlich und für die meisten nur
ein Umsteigebahnhof, auf dem Weg irgendwohin – wohin, dass
wusste keiner, und am Ende blieben die meisten ein Leben lang.
Für meine Mutter war Wejherowo ein Aufstieg. Ihre Mutter
war Näherin gewesen, ihr Vater Lackierer, und die ersten zwei
Lebensjahre hatte sie bei ihrer Oma auf dem Dorf verbracht,
denn die Mutter musste kurz nach der Geburt wieder an die
Nähmaschine zurück. Jeden Tag gab es Milchsuppe, in Milch
gekochte Nudeln mit Zucker, und an den Wochenenden Besuch
von den Eltern. Später, als auch noch ein Bruder kam, lebte die
Familie wieder zusammen, in einer Kleinstadt bei Bydgoszcz,
alle vier auf einem Zimmer, ohne Klo, und einmal die Woche
wurde eine Wanne aus dem Keller geholt. Erst durften die
Kinder baden, dann die Erwachsenen. Meine Mutter wollte weg.
Ein Abitur und ein Studium später war sie Ärztin.
Zum ersten Mal sahen sich meine Eltern in Wejherowo in der
Anästhesie, als meine Mutter einen Menschen reanimierte und
mein Vater zuschaute. Ob der Mensch wieder zurück ins Leben
fand, wissen die beiden nicht mehr. Aber meine Mutter weiß,
was sie so mochte an dem jungen Arzt mit der Denkerstirn: seine
Ernsthaftigkeit. Er imponierte ihr, er war nicht so albern wie
ihre Freunde. Es schien ihm nichts auszumachen, dass er als
übereifrig galt und ausgelacht wurde, wenn er mit komischen
Turnschuhen und seinem Stethoskop um den Hals mittags in die
Kantine kam.
Meine Mutter hatte etwas von Hollywood, volle Lippen und
Wellen im Haar. Sie rauchte, sie tanzte, die Miniröcke, die sie
trug, konnten nicht kurz genug sein, davon erzählt sie heute
noch. Sie führte in Wejherowo das Leben, das sie immer führen
wollte, war endlich raus aus dem Dorf, weg von den Eltern, die
nichts verstanden, weg von der Enge der Einzimmerwohnung.

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Mein Vater hatte etwas von Wojciech Jaruzelski, dem General,
der das Kriegsrecht ausgerufen hatte – optisch jedenfalls. Auch
er trug die Brille, die damals unter den Kommunistenführern so
beliebt war, und hatte dieselben kahlen Stellen wie Honecker
und Jaruzelski. Sonst hatte er wenig mit den beiden gemein,
außer später seinen leichten Hang zum Diktatorischen.
Meine Eltern verliebten sich. Doch auch die Liebe war in
Zeiten des Sozialismus nicht frei. Als junges Paar gingen sie
kaum aus, wegen der Ausgangssperre und der eingeschränkten
Versammlungsfreiheit. Jede zweite Nacht eine Schicht, mit dem
Rettungswagen fuhren sie raus aus der Stadt, in die
Internierungslager, in denen Tausende einsaßen. Manche
nahmen sie einfach mit, Verdacht auf Blinddarmentzündung, in
diesen Monaten stiegen die Appendizitis-Fälle im Krankenhaus
von Wejherowo überraschend an.
Was sie verdienten, reichte gerade für einen mittleren
Standard. Wohnung: Platte. Küche und Auto: von den Eltern
meines Vaters. Es gab geringe Unterschiede, doch im Grunde
waren im sozialistischen Polen alle gleich arm.
Mein Vater sagt, für das Krankenhaus war die Zeit des
Kriegsrechts immer noch besser als die anderen Jahre im
Sozialismus, denn während des Kriegsrechts kamen Hilfsgüter
aus dem Westen.
Meine Eltern gingen morgens zur Arbeit und abends nach
Hause. Ein kleiner Horizont. Nur der meines Opas in Danzig war
größer. Der Vater meines Vaters war Elektroingenieur und
Freizeitfunker. Er hatte Freunde auf der ganzen Welt. An dem
Morgen, als das Kriegsrecht ausgerufen wurde, stand die Polizei
vor seiner Tür. Sie stellte seine Anlage in einen Schrank und
versiegelte ihn. Eine Banalität, Alltag in diesen Jahren, wenn
man bedenkt, dass insgesamt 13.000 Menschen inhaftiert
wurden und mehrere Dutzend getötet.

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Am 21. Januar 1983 heirateten meine Eltern. Eine lange Tafel,
wenig Fleisch, viel Wodka, irgendjemand hatte frische Blumen
besorgt, alle riefen immer wieder: »Küssen! Küssen! Küssen!«,
dann küssten sie sich, »na zdrowje!«, und die Kapelle spielte auf.
Sie spielte Lieder der Band »Rote Gitarren«, der polnischen
Beatles. Ein Kuss, ein Wodka, ein Tanz, bis der letzte Gast
gegangen war, eine polnische Hochzeit eben. Eine Sache fällt
mir auf, wenn ich heute die Bilder sehe: Meine Mutter hat nichts
Klares in ihrem Wodkaglas, sondern etwas anderes, Trübes. Sie
war schwanger.
Am 22. Juli 1983 hob die Regierung das Kriegsrecht wieder
auf. 21 Tage später wurde ich geboren. Wenn sich meine Eltern
überhaupt je wirklich für Politik interessiert hatten, dann hörten
sie jetzt damit auf.
Der Sozialismus war weiterhin grau und stank nach Kohle. Es
gab weder Perspektive noch Möbel. Grundnahrungsmittel
wurden rationiert. Es kam vor, dass die Butterpreise von einem
Tag auf den anderen um das Zwölffache schwankten. Polnische
Läden sahen aus, wie Läden heute aussehen, bevor sie
dichtmachen: Man sieht viel vom Regal und wenig Ware. Der
Staat sparte an seinen Bürgern, wo er nur konnte. Die Tugend
der Stunde war Geduld. Es sei denn, man hatte Kontakt in den
Westen. Es würde sich eh nichts ändern, dachten meine Eltern,
außer sie änderten es selbst. Nicht das Land, sondern ihr Leben.
Sie wollten ein schönes Leben. So einfach.
Das schöne Leben konnte man auch schon in Polen kaufen, im
Pewex. Es gab Westjeans, Westzigaretten, Westschallplatten.
Wer das Geld hatte, konnte für einen kurzen Moment so tun, als
sei gerade Freiheit und nicht Volksrepublik. Das Geld hatte
kaum jemand.
Der Schriftsteller Milan Kundera hat einmal Ostmitteleuropa
als »entführten Westen« bezeichnet. Genauso fühlte mein Vater

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sich auch: gefangen. Als würde er eigentlich woanders
hingehören, als sei Polen gar nicht sein Land.
Drei Mal war er im Westen gewesen, in den Sommerferien, er
wollte während des Studiums ein bisschen Geld verdienen, und
Studenten durften für eine begrenzte Zeit ins Ausland. Also fuhr
er nach Schweden, Holland, Frankreich. Er schnitt Prospekte
zurecht, goss Chrysanthemen in Gewächshäusern und erntete
Äpfel, und jedes Mal nach diesen zwei Monaten hätte er als
wohlhabender Mann zurückkommen können, der Lohn hätte in
Polen für ein ganzes Jahr gereicht. Doch dann sah er in
Stockholm zum ersten Mal in seinem Leben ein
Elektrofachgeschäft. Immer wenn er freihatte, ging er hinein,
lief durch die Gänge, verglich die Stereoanlagen. Es waren so
viele! Große und kleine, teure und etwas günstigere. Dass man
nicht einfach nahm, was zufällig da war, dass man nicht nur
kaufte, was man zum Überleben brauchte, und vor allem: dass
man wählen konnte! Das faszinierte ihn.
Mein Vater liebte Musik, klassische auch, aber vor allem die
von Led Zeppelin und Black Sabbath, die so wild war, wie er es
am Ende doch nie sein wollte. Led Zeppelin gab es in polnischen
Plattenläden nicht zu kaufen. Aber es gab eine Musiksendung im
Radio, die hieß »Minimax«. Minimale Worte, maximale Musik.
Zu Anfang der Sendung hörte man ein Tonsignal, mein Vater saß
vor seinem Grundig TK 245 deluxe und passte den
Aufnahmepegel an, dann drückte er die Taste mit dem roten
Punkt. Record. Und eine ganze LP lief ohne Pause durch. Von
einem Tonbandgerät kam die Musik, auf dem anderen wurde sie
festgehalten. Mein Vater ist heute der festen Überzeugung, dass
er damals der einzige Mensch in Danzig war, der so eine Anlage
besaß.
Bis heute ist es das Erste, was er tut, wenn er in einer fremden
Stadt ist: Er sucht einen Elektronikmarkt. Dieser Geruch von

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neuem Plastik, die Wärmeausstrahlung der Geräte. Mir macht
das Kopfschmerzen. Mein Vater liebt es.
Aus Schweden kam er mit einem Plattenspieler wieder, einem
Verstärker und zwei Boxen. Aus Holland mit einem
Kassettendeck, Kopfhörern und einem Empfangsteil. Aus
Frankreich wollte er erst gar nicht zurückkommen. So weit war
er schon. Er kam dann doch, und das Geld, das er verdient hatte,
sparte er, für später. Vielleicht würde er Polen irgendwann
verlassen?
Aber nun war ich auf der Welt, und meine Mutter weigerte
sich, einfach ins Blaue hinein auszureisen. Dafür war das Leben
mit Baby zu anstrengend. Sagen beide. Wenn ich heute meinen
Vater frage, wie ich denn als Kind gewesen sei, kann er sich nur
an Geschrei erinnern. An ein Kind, das alle zwei Stunden wach
wurde. Und da mein Vater der mit dem leichten Schlaf war,
stand er auf, machte eine Flasche, um mich wieder zum Schlafen
zu bringen, was ihm auch gelang, bis der Inhalt der Flasche in
der Windel angekommen war und sie gewechselt werden
musste. Circulus vitiosus, sagten sie zu ihren Freunden, die als
Mediziner ja alle Latein konnten. Kurze Erleichterung
verschaffte ihnen Richard Wagner. Immer wenn sie den
Tannhäuser auflegten, wurde ich still und wiegte, auf dem Boden
sitzend, meinen Oberkörper wie ein Baum im Wind. Meine
Eltern verzweifelten immer mehr. Haben Sie nicht ein
Schlafmittel, fragten sie einen Kinderarzt, da war ich gerade
neun Monate alt. Ich bekam Luminal, das heute vor allem bei
Epilepsie gegeben wird, und wachte nur noch alle vier Stunden
auf.
Die Fotos dieser Zeit erzählen eine andere, eine fröhlichere
Familiengeschichte. Meine Mutter, auf dem Schoß meines
Vaters, lachend am Küchentisch. Mein Vater, Milchflasche in der
Hand. Ich, lächelnd im Gitterbettchen.

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Meine Eltern wurden immer angespannter, wie lange sollte
dieses Leben im Wartemodus weitergehen? Immerhin durften sie
wieder telefonieren. Im Minutentakt unterbrach sie eine
automatische Stimme, die daran erinnerte, dass dies eine
»rozmowa kontrolowana« sei, ein kontrollierter Anruf. Die Polen
wurden abgehört, zumindest sollten sie das glauben, denn wer
das glaubte, der hatte Angst.
Dann bewarb sich mein Vater bei einem Krankenhaus in
Toulouse. Seine Mutter, Dekanin der medizinischen Fakultät in
Danzig, hatte ihn mit ihrer Frankreichliebe angesteckt. 1968
hatte sie meinen Opa und die zwei Kinder zurückgelassen, für
einen Medizineraustausch in Paris. Ein Jahr später kam sie
verzaubert wieder. Die Musik, die Mode, die Menschen! In
Frankreich arbeitet man, um zu leben, sagte sie zu ihrem Sohn.
Nicht andersherum. Das hatte er nicht vergessen.
Meine Mutter bewarb sich mit ihm in Toulouse. Auch sie wollte
ein schönes, ein besseres Leben, allerdings war sie sich weniger
sicher als er, ob sie dafür auch das Land verlassen wollte. Hier
waren ihre Freunde, ihre Kollegen, ihre Eltern, die sie schon
selten genug sah, da sie nicht in derselben Stadt wohnten. War
es das wert? Andererseits: Frankreich!
Sie bekamen beide die Stelle, auf ein Jahr befristet, zu dieser
Zeit wurden in Europa Anästhesisten gesucht. Aber um
auszureisen, brauchten sie einen Reisepass, den gab es in Polen
damals nur auf Antrag, die Schäfchen sollten brav im Stall
bleiben. Ich bekam einen, meine Mutter auch. Mein Vater nicht.
Er weiß bis heute nicht, warum.
Vielleicht, weil die Partei roch, dass er nicht zurückkommen
würde. Vielleicht, weil sie zu vielen Menschen von ihren Plänen
erzählt hatten. Oder aber, weil meine Oma, nachdem sie die
Studentenproteste in Paris gesehen hatte, Mitglied der
Solidarność geworden war, wie mittlerweile zehn Millionen

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anderer Polen auch. Beim nächsten Mal, schwor mein Vater sich,
würde er in aller Stille gehen. Und dann für immer.
 
Meine Schwester wurde geboren. Ab und an schickte ein
westdeutscher Freund meines Opas ein Päckchen. Mit Kaffee,
Schokolade und dem größten Schatz, den meine Mutter sich
vorstellen konnte: dem Burda-Katalog. Von da an nähte sie
unsere Kleider »jak w Burdzie«. Wie bei Burda. Eine
Fingerübung für ein neues Leben.
Der Westen war die bessere Welt. Das große Versprechen.
Unsere Flucht bereiteten meine Eltern allein vor. Sie gingen
weiter morgens zur Arbeit und abends nach Hause, sie sprachen
über Alltägliches, ganz so, als würde das Leben ewig so
weitergehen. Es gab keinen Austausch mit anderen, kein Wir,
keine Gemeinschaft, sie handelten, wie sie auch in Zukunft
handeln sollten: nur für sich.
Erst viel später, als ich schon längst erwachsen war, fielen sie
mir auf: all die anderen Polen in Deutschland. Die, die mit uns
ausgewandert waren, manche im selben Jahr, wie ich erfuhr,
manche sogar am selben Tag, und fast alle in den 1980er Jahren.
So lange hatten wir uns unsichtbar gemacht, und nun hatten wir
Mühe, einander zu erkennen. Da kommst du also her. Deshalb
der Name.
Meine Generation, Anfang dreißig, die im Kindesalter mit
ihren Eltern eingewandert war. Top integriert, erfolgreich. Sie
wirkten fast deutscher als die Deutschen. Ich war wie sie.
Wie hätte ich damals, als kleines Mädchen, ahnen können,
dass es so viele waren. Dass Polen in den 1980er Jahren einer
alten Scheune glich, kurz vor dem Einsturz. Die maroden Balken
knarzten laut, das hörten nicht nur wir im Land. Wer irgendwie
konnte, versuchte rauszukommen, ein regelrechter Exodus von
Polen setzte ein, die in den Westen flüchteten.

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In diesen Tagen vor unserer Flucht waren meine Eltern
konzentriert, sie schwiegen viel. Sie hatten endlich einen Plan.
Aber diesmal behielten sie ihn für sich.

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Polnischer Abgang

Tomek? Ich lief hinters Haus, zu unserem Spielplatz, zu der


verrosteten Teppichstange, an der wir manchmal turnten, bis die
Hände rote Streifen hatten. Er war nicht da. Tomek? Ich traute
mich nicht, nach ihm zu rufen, ich lief über den Rasen, die
Augen überall. Tomek?
Ich wollte Tomek finden. Ich sollte Tomek finden.
»Verabschiede dich von ihm«, meine Eltern sprachen meist im
Imperativ zu mir, aber dieser Satz meiner Mutter hatte mehr als
das, er hatte auch etwas Feierliches, das ich in dem Moment
nicht verstand. Wir fuhren doch nur in den Urlaub? Wir waren
doch bald wieder da? Mein Kopf drehte sich. Ich lief zu dem
Sandhaufen, der vor Jahren in unserer Siedlung abgeladen
worden war und in dem wir, Tschernobyl war jetzt zwei Jahre
her, endlich wieder spielen durften. Der Haufen war mit der Zeit
immer unattraktiver geworden. Immer flacher, weil wir ihn nach
und nach, in Schuhen und Schaufeln, weggetragen hatten. Und
immer dreckiger, weil Hunde darauf rumliefen und Jugendliche.
Dass es Kinder auf der Welt gab, die sich im Sandkasten auf
schönes rot lackiertes Holz setzen konnten, das wusste ich nicht.
Dass es Kinder auf der Welt gab, die gar keinen Ort zum Spielen
hatten, ebenfalls nicht.
Ich war fast fünf Jahre alt. Ein polnisches Mädchen mit dicken
Backen, grünen Augen und Flechtzöpfen. Mein Heimatland hatte
ich noch nie verlassen.
»Sie war ein stilles Kind«, sagt meine Mutter immer, wenn sie
mich vor anderen beschreiben will. »Sie träumte viel und konnte
jedes Buch auswendig.« Meine Mutter sagt das mit einer
Mischung aus Stolz und Skepsis, als würde sie mich einerseits
bewundern und andererseits etwas eigenartig finden.
Lange Zeit dachte ich, ich hätte lustiger sein sollen, lauter,
lebendiger. Aber was heißt schon still? Ich hatte Tomek. In

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meiner Erinnerung hatte er dunkles Haar und war so alt wie ich,
wohnte im Parterre, seine Mutter war Ärztin und arbeitete im
selben Krankenhaus wie meine Eltern, wie überhaupt alle in
unserem Block. Das Haus gehörte dem Krankenhaus, und mit
den Wohnungen hatte man diejenigen überzeugt, nach
Wejherowo zu kommen, die eigentlich lieber in Danzig arbeiten
wollten. Eine eigene Wohnung zu haben war damals nicht
selbstverständlich.
Meine Eltern wohnten im fünften Stock, und immer wenn
Tomek und ich von unserer Tagesmutter kamen, gingen wir
nachmittags auf den Hof. In letzter Zeit wurden die Nachmittage
immer länger. Meine Eltern arbeiteten mehr, sie waren seltener
zu Hause, und wenn, dann schwiegen sie und flüsterten. Seit
Wochen schon standen drei Koffer bei uns im Flur, immer wieder
füllten sie sie und leerten sie wieder. Dieser Urlaub schien sehr
wichtig zu sein. Wenn ich etwas von ihnen wollte, rollten sie mit
den Augen und sagten zwei Worte: »Nicht jetzt.« Ich begann,
diesen Urlaub zu hassen.
Was ich noch hasste: Predigten, vor allem in der Kirche.
Polnische Schokolade (ich wusste nicht, dass es andere gab).
Meinen Vater, wenn er mich am Oberarm packte. Meine
Schwester, wenn sie nervte.
Was ich liebte: die Dragees aus Zucker, an denen man sich fast
die Zähne ausbrechen konnte und die folgerichtig auch
»Steinchen« hießen (ich wusste nicht, dass es andere gab). Die
Augen schließen, wenn diese ernste Musik bei uns lief. Meine
Schwester ärgern. Unseren Wald. Die Ohrclips meiner Oma.
Meine Oma.
Langsam wurde es dunkel. Schau doch draußen nach, hatte
Tomeks Mutter gesagt, und ich fragte mich, ob ich zu ihr
hochgehen sollte, um ihr zu sagen, dass ich ihren Sohn nicht
gefunden hatte. Meine Eltern hielten mich zurück. Die Straßen
waren leer, nur ein paar Autos parkten am Rand. Ich stand vor

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unserem Haus, inmitten dieser Plattenbausiedlung, in die ich
hineingeboren worden war. Meine Mutter hatte mir, wie immer
auf Reisen, eine Trainingshose angezogen, damit wir es
bequemer hatten. Ich glaube, sie wollte vor allem unsere guten
Sachen schonen. Und so stand ich da, während meine Eltern
drei Koffer, etliche Plastiktüten und eine schlafende Schwester
in das Auto hievten. Es war ein Polski Fiat 125p, einer der
größeren also, aber obwohl er fünf Sitze hatte, war er immer zu
klein für unsere vierköpfige Familie. Seine Farbe:
»sraczkowaty«. So nannte sie mein Vater jedenfalls immer,
»sraczkowaty« heißt so viel wie »durchfallfarben«, er sprach das
Wort immer überdeutlich aus, jeden Konsonanten betonend,
davon gibt es im Polnischen viele, und er hatte ja recht, unser
Auto hatte diesen typisch sozialistischen Ockerton, wie unser
Sofa auch und die Lampe im Flur. Und immer, wenn mein Vater
»sraczkowaty« sagte, musste ich laut lachen, ein Lachen, das
etwas irre klang und typisch war für uns. Unser Familienname
trug das Wort »śmiech« in sich, »śmiech« bedeutet Lachen, und
wir lachten viel, damals zumindest.
In diesem Moment aber lachte ich nicht. Ich sah die Fassade
hoch. In fast jedem Fenster brannte Licht. Es war gelb und nicht
besonders hell und gab sogar diesem grauen Putz etwas Wärme.
Schatten bewegten sich hinter den Gardinen, Leben, die sich,
das spürte ich, irgendwie von unseren entfernten. Im fünften
Stock links lag unsere Küche, gelb, aber etwas heller, es hatte
Jahre gedauert, bis wir sie uns endlich kaufen konnten. In dieser
Küche, hinter diesem Fenster, war es bereits dunkel.
Als wir uns endlich in unser Auto setzten, meine Eltern vorn,
meine Schwester und ich hinten, fing ich an zu heulen. Ich
drückte mein Gesicht gegen das kleine Kissen, das ich hatte
mitnehmen dürfen. Ich hatte überall gesucht. Aber Tomek nicht
gefunden.

26
Es war der 17. Juni 1988, als wir einen polnischen Abgang
machten, wobei ich erst viel später verstand, was das heißt, und
auch, dass der Ausdruck uns Polen ein bisschen beleidigen soll.
Aber in dieser Nacht von Freitag auf Samstag war es tatsächlich
so: Wir hauten einfach ab, grußlos.
Diese Panik, mich unbedingt verabschieden zu wollen. Und
dann einfach wegfahren zu müssen, ohne Tschüss zu sagen
beziehungsweise auf Polnisch: »pa«. Lange Zeit war das meine
einzige Erinnerung an unsere Flucht.
Aber was sind schon Erinnerungen. Es sind Erinnerungen von
Erinnerungen. Der Resonanzraum einer Familiengeschichte. Wir
dicken sie an mit Fotos, Tagebüchern, Erzählungen. Meine
Mutter hat viel über diesen Tag gesprochen. Mein Vater weniger.
Was ich später von ihnen erfuhr: Sie hatten schon Wochen
vorher einen Zelturlaub gebucht, nach Rimini. Wer eine Reise
buchte, über das staatliche Reisebüro (andere gab es auch
nicht), der konnte relativ problemlos ausreisen. Denn das
Reisebüro kümmerte sich um die Pässe. Zu dieser Zeit, Ende der
achtziger Jahre, wurde es für Polen immer einfacher, einen
Urlaub im Westen zu planen, anders als für DDR-Bürger. Dass
meine Eltern gar nicht nach Italien wollten, dass sie eine ganz
andere Route wählen würden, das war ihr Geheimnis.
Vor der Abfahrt hatten sie eine Abmachung getroffen. Mein
Vater brach sie. Am Tag vorher war er ins Krankenhaus zu seiner
Chefin gefahren. Er mochte sie, bewunderte sie, er nannte sie
»eine Frau von Format«. Und dann sagte er, was er nicht sagen
durfte, das war der Deal gewesen, niemand außer den
Großeltern, das hatten sich meine Eltern versprochen. Aber was
sollte er tun? Er wollte es doch erklären. Dass er sich nicht mehr
einsperren lassen, dass er vorankommen wollte. »Verstehen Sie,
ich habe doch zwei Töchter!«
Am Tag nach unserer Abreise sollte der Namenstag meiner
Mutter sein, und den Namenstag begeht man in Polen groß.

27
Normalerweise feierte sie mit einer Freundin, die auch Elżbieta
hieß, dieses Mal war klar, sie würde das Fest verpassen. Dass sie
auch die kommenden Feste nicht zusammen feiern würden, das
verschwieg meine Mutter. Dabei war sie normalerweise
diejenige, deren Erzählungen so viele Schleifen drehten, bis sie
nicht mehr wusste, wo der Ursprung war. Während mein Vater,
wenn er gefragt wurde, wie sein Tag war, schlicht »gut« sagte.
Damals tauschten sie für einen Moment die Rollen. Mein Vater
gab sich einen Ruck, öffnete sich, während meine Mutter stumm
blieb. Sie hatte sich an die Abmachung gehalten.
Meine Mutter hatte ständig Angst, abgehört zu werden,
deshalb erzählte sie am Telefon nur Belangloses. Um meinem
Onkel, der schon in Berlin war, die Nachricht zu überbringen,
dass wir tatsächlich an diesem Wochenende bei ihm ankommen
würden, hatten sie sich auf einen bestimmten Satz geeinigt. »Die
Kuckucksuhr wird pünktlich abgeliefert.« Diesen Satz gaben sie
nun einem Bekannten mit, der schon vorher nach Berlin fuhr.
Meine Eltern können sich bis heute nicht erklären, wie sie
ausgerechnet auf diesen Satz als Code kamen, aber als mein
Onkel in Berlin von der Kuckucksuhr hörte, wusste er Bescheid.
Meine Schwester kroch im Halbschlaf in den Schlafsack, den
unsere Eltern auf die Rückbank gelegt hatten, als
Campingbeweis; ich hatte auch einen. Langsam, fast andächtig
fuhr mein Vater durch die Siedlung, vorbei an den
Plattenbauten, die alle gleich aussahen, vorbei an der kleinen
rostigen Tankstelle, rauf auf die Straße, die, bog man nach links
ab, nach Danzig führte, zu meinen Großeltern. Jeden Sonntag
waren wir zu ihnen gefahren oder sie zu uns. Es gab Kuchen, wir
gingen spazieren und spielten etwas, und irgendwann legten
meine Oma und ich uns aufs Sofa und sie las mir aus meinem
Lieblingsbuch vor: Uparciuszek. Der Sturesel.
Wir standen auf dieser Kreuzung in Wejherowo. Links waren
die Großeltern, das Meer, die Mole, links waren frischer Fisch

28
und Krautsalat. Links war das Wir.
Mein Vater setzte den Blinker. Und bog nach rechts ab. Was
dort war, wussten wir nicht wirklich.
Ab jetzt ging es nur noch geradeaus, über Ampeln,
Kreuzungen, Schlaglöcher. Irgendwann blieben nur noch die
Schlaglöcher, die mein Vater in Schlangenlinien umfuhr. Wir
waren etwa fünfzig Kilometer weit gekommen, als meine Mutter
plötzlich vor Schreck leise aufschrie. Meine kleine Schwester
hob den Kopf.
»Was ist los?«, fragte mein Vater. Meine Mutter schlug ihre
Hände vors Gesicht. »Das Wörterbuch!«, flüsterte sie. »Wir
haben es auf dem Bügelbrett liegenlassen.« Wie immer, wenn es
interessant wurde, sprach meine Mutter viel zu leise, in Fetzen.
»Deutsch-Polnisch … Was … verrät? … Polizei … suchen … die
Lügen, alles umsonst?« Dann fing sie an zu weinen. Meine
Mutter weinte oft in diesen Tagen. Ständig schniefte sie in ihr
Taschentuch, ständig wischte sie sich übers Gesicht oder
verschwand im Badezimmer. Sie weinte mehr, als sie redete, als
würde sie plötzlich eine andere Sprache sprechen, mit Tränen
statt Worten, deren Bedeutung ich nicht verstand.
Mein Vater schaute geradeaus auf die Fahrbahn, meine Mutter
schniefte, meine Schwester schlief wieder. Und ich spürte
plötzlich, dass noch etwas mitfuhr, etwas Unbekanntes. Eine
Kraft, die meine Mutter die Augen weit aufreißen, die uns alle
verstummen ließ. Ein unsichtbares, ekelhaftes Ungeheuer, das in
unser Auto gekrochen war und sich immer weiter ausbreitete.
Oder war es schon vorher da gewesen, in Wejherowo, beim
Kofferpacken, und ich hatte es nur nicht gemerkt?
So begann unser neues Leben. Mit Angst. Vielleicht erklärt
diese Angst, warum wir uns in Zukunft wegducken sollten. Uns
unsichtbar machten. Auf der Straße flüsterten. Und ganz schnell
vergessen wollten, woher wir kamen.

29
Draußen, auf Polens Landstraßen, war jetzt Nacht, und ich
hatte das Gefühl dafür verloren, wie lange wir schon unterwegs
waren. Unser Schweigen wurde lauter und lauter, unterbrochen
nur vom Schniefen meiner Mutter. Ich schaute in die polnischen
Wälder, schwach von Laternen beleuchtet. Ein Baum nach dem
anderen jagte vorbei, und noch einer. Und noch einer.

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31
Kein Weg zurück

Wenn ich heute meine Eltern nach Tomek frage, sagen sie nur:
»Tomek?«
»Ja, Tomek«, sage ich, »mein bester Freund damals, von dem
ich mich nicht mehr verabschieden konnte, erinnert ihr euch
nicht?«
Sie erinnern sich nicht. Sie sagen: »Das bildest du dir ein, du
warst fünf und sehr müde an dem Abend.«
Das kann doch nicht sein, denke ich. Spinnen die oder spinne
ich?
Das kann schon sein, sagt die Hirnforschung. Erinnern ist nie
objektiv und das Gehirn keine Maschine, die Vergangenes eins
zu eins wiedergibt. Menschen erinnern sich an unterschiedliche
Dinge, Erwachsene besser als Kinder, am besten ist unsere
Erinnerung an die Zeit zwischen 20 und 35 Jahren. Familie,
Beruf, Erwachsenwerden, da passiert besonders viel, was wir in
den Jahren darauf durch Erinnern und Erzählen zu bewältigen
versuchen.
Das heißt also, ich habe mir Tomek nur eingebildet?
Nicht zwangsläufig, sagt die Hirnforschung. Es könnte auch
gut sein, dass die Eltern damals einfach zu angespannt waren
und diese Anspannung die für sie weniger wichtigen
Erinnerungen überdeckt hat. Zum Beispiel die an den Freund
ihrer Tochter, Tomek.
Meine Eltern wirkten tatsächlich abwesend in den Tagen
unserer Flucht. Sie schauten nicht nach rechts und nicht nach
links, nur geradeaus. Heute kenne ich das Wort dafür:
Tunnelblick.
Dabei überquerten wir nicht zu Fuß die Sahara, wie es derzeit
Tausende Flüchtlinge tun. Wir fuhren nicht in einem
Schlauchboot übers Mittelmeer. Wir waren nicht der Willkür von
Schleppern ausgesetzt, drohten nicht zu verdursten oder zu

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ertrinken, gefoltert oder vergewaltigt zu werden. 1988, von
Wejherowo nach Westberlin, reisten wir einfach auf Polens
Landstraßen. Mit einem Auto zwar, das die Großeltern uns
irgendwann überlassen hatten und bei dem man froh sein
konnte, wenn es die Reise bis zur Grenze schaffte. Aber mit
einem Auto.
Und doch: Die 65 Millionen Menschen, die sich derzeit
weltweit auf der Flucht befinden, aus Syrien, Afghanistan, dem
Sudan und Südsudan, dem Irak, der Demokratischen Republik
Kongo – sie machen etwas mit mir. Ich weiß, wie unpassend und
lächerlich das ist, und doch lese ich ihre Geschichten vor der
Folie unserer eigenen Flucht.
 
Auch wenn sich meine Eltern nur so fühlten, als ginge es um ihr
Leben. Unser Kofferraum war beladen mit Dingen für einen
Sommerurlaub, Luftmatratzen, Zelt, Schlafsäcke, Badehosen,
Badeanzüge, Sonnenhüte. Zum ersten Mal gaben meine Eltern
vor, andere zu sein, als sie waren. Zwei Schauspieler und zwei
kleine Statisten in einem Auto, das randvoll gepackt war mit
Requisiten: Ja doch, wir wollen nach Rimini! Wir fahren nur
einen kleinen Umweg …
Besonders gut spielten wir unsere Rollen nicht. Im Auto lief
keine Musik. Wir redeten nicht, wir sangen nicht, wir stritten
nicht darüber, wann wir denn endlich da sein würden.
Normalerweise spielten meine Schwester und ich auf
Autofahrten, wer als Erste mehr rote Autos sah. Nun waren wir
verwirrt. Diese gespenstische Stille. Die Köpfe unserer Eltern,
die nur nach vorne zeigten. Wir Mädchen schauten hinaus in die
Nacht, es waren sowieso nur wenige Autos unterwegs. Kilometer
für Kilometer näherten wir uns der Grenze.
Ich erfuhr erst sehr viel später: Neben all den diffusen Ängsten
vor einem neuen Leben gab es noch ein weiteres Gefühl, das uns
begleitete: Scham. Die Scham hatte auch mit den Nazis zu tun.

33
Sie waren es, die uns die Eintrittskarte in den Westen
beschafft hatten. Sie hatten meinen Uropa zu einem Deutschen
gemacht. In Wirklichkeit war er ein polnischer Bauer, der am
Tag des Überfalls der Deutschen auf sein Land schon in der
polnischen Armee war und nicht miterlebte, wie seine Frau,
meine Uroma, ihre Eltern und die fünf Kinder auf einen
Viehwagen setzte und zwei Stiere davorspannte; die Pferde
waren ihnen geklaut worden. Sie trabten los, eines der fünf
Kinder sollte später meine Oma werden, die Mutter meiner
Mutter. Mein Uropa sah sein geliebtes Dorf, das übersetzt
»Feuchtwald« hieß, weil es dort viel Wald gab und Wald eben
feucht war, erst zwei Jahre später wieder, während eines kurzen
Heimaturlaubs. Da hatte er längst genug vom Krieg, und ihm
kam diese Liste, die die Nazis vielen Polen damals unter die
Nase hielten, gerade recht.
Die Deutschen hatten gemerkt, dass es schier unmöglich war,
alle Polen auszulöschen, um das Land zu »germanisieren«, und
so beschlossen sie, die übrigen Polen irgendwie zu Deutschen zu
machen – erst recht, als die militärischen Verluste an den
Fronten mit den Jahren immer größer wurden. Mein Uropa war
kein Jude und in ihren Augen deshalb weniger ein Kandidat fürs
KZ als für ihre »Deutsche Volksliste«. Er ahnte nicht, dass er als
Deutscher selbstverständlich auch in der Wehrmacht würde
kämpfen müssen, dass er verwundet werden würde, in Berlin,
zum Ende des Krieges, bevor er voller Scham in sein polnisches
Dorf zurückkehren durfte. Er unterschrieb.
Meine Familie spricht bis heute nicht gern darüber. Der
polnische Opa in der Wehrmacht! Ein Tabu. Dabei
unterschrieben manche Polen, das weiß man mittlerweile, unter
Zwang oder aus Opportunismus. Schließlich konnte man so
seine Familie vor weiterer Verfolgung schützen. Und konnte ihr
sogar, ohne es zu wissen, in Zukunft ein besseres Leben
ermöglichen. Ausgerechnet in Deutschland.

34
Der Großteil meiner Familie wusste lange Zeit gar nicht, dass
wir deshalb nach Deutschland ausreisen durften. Mein Onkel,
der vor uns gefahren war, hatte sich jahrelang halb legal auf
Berliner Baustellen und in Schokoladenfabriken
durchgeschlagen. Immer wieder hörte er von diesen
Aussiedlern, die quasi alles geschenkt bekamen. Als er seiner
Mutter bei einem der seltenen Telefonate von ihnen erzählte,
sagte sie: »Du, ich glaube, mein Vater hat damals auch diese
Liste unterschrieben.« Mein Onkel hätte schreien können, vor
Frust und Glück. Wenige Wochen später bekam er sein erstes
Begrüßungsgeld. Meine Mutter sagt heute, erst die Aussicht auf
diesen Sonderstatus habe sie dazu bewogen, Polen zu verlassen.
 
Über vierzig Jahre also nachdem etliche polnische Großväter
und Urgroßväter die »Deutsche Volksliste« unterschrieben
hatten, machten sich ihre Nachkommen als »deutsche
Volkszugehörige« über Landstraßen in Richtung Grenze auf. Sie
waren, auf dem Papier und ohne einen einzigen deutschen
Verwandten zu haben: Aussiedler. Täternachkommen, die ins
Täterland reisten. Sie schämten sich. Sie hatten ein schlechtes
Gewissen. Sie waren doch Polen, eigentlich, die ewigen Opfer in
dieser langen Geschichte zweier Länder, die eben nicht immer
durch die Oder geteilt waren. Sie hatten gelernt: Der Deutsche
ist sauber und ordentlich. Und böse! Passt bloß auf, dass er die
Oder-Neiße-Grenze nicht doch wieder verschiebt! In der Schule,
in Filmen und Büchern – Deutschland schnurrte in Polen immer
wieder auf diese zwölf Jahre Zeitgeschichte zusammen. Jedes
polnische Kind konnte ihn imitieren, den Prototyp eines SS-
Mannes, den es täglich im Staatsfernsehen zu sehen gab.
Feuerrrrrrr!
Nun also würden sie die Seite wechseln.
Über ihr beschämendes Geheimnis sprachen die Polen nicht
gern und benutzten deshalb einen Code. Sie fragten einander:

35
Hast du auch einen Deutschen Schäferhund im Keller? Sie
nutzten diesen Schäferhund, natürlich, er war ihre Chance auf
ein besseres Leben. Die Verzweiflung, der Hunger nach dem
Westen waren groß genug.
Hinter der Grenze zu Deutschen werden. Das war der Plan.
Das Problem: Die polnische Regierung war nicht sehr begeistert
von der Idee, gut ausgebildete Bürger an den Klassenfeind zu
verlieren. Und so fuhr auch diese Angst bei meinen Eltern mit:
Was, wenn die Polizei an der Grenze bereits wartete, um uns aus
dem Verkehr zu ziehen? Was, wenn sich jemand Zugang zu
unserer Wohnung verschafft und das Wörterbuch auf dem
Bügelbrett gesehen hatte? Unser Fiat fuhr so langsam, da war
genug Zeit, um die Behörden zu informieren.
Wenn ich heute meine Eltern frage, warum sie ausgereist sind,
sagt mein Vater, er wollte sich nicht länger einsperren lassen,
und meine Mutter sagt, sie wollte, dass wir Töchter bessere
Chancen hätten. Das eint wohl alle Eltern, die vor Krieg, Armut,
Hunger, vor fehlenden Perspektiven fliehen, damals wie heute:
Sie wollen für ihre Kinder ein besseres Leben. So war es bei
meinen Eltern, und so ist es bei den syrischen Müttern, den
Vätern aus dem Irak, die sich nicht in einem Polski Fiat befinden,
sondern in einem Schlauchboot und in den Händen von
Schleppern.
Wir näherten uns der Grenze zur DDR. Keine Grenzbeamten,
keine Kontrolle. Wir rauschten einfach durch. Dann kam die
zweite, die zur BRD. Wir sahen sie schon von weitem. Es war
drei Uhr nachts und ich hellwach, als sich vor uns ein riesiger
Tempel aus gleißenden Strahlern erhob. Schritttempo. Sollten
wir jetzt halten? Oder erst später, weiter vorn? Drei Beamte mit
Hunden liefen auf uns zu. »Aussteigen!«, riefen sie. Wir
verstanden sofort, was sie von uns wollten. Meine Mutter hob
schnell meine schlafende Schwester hoch, und mit mir an der

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Hand lief sie zum Toilettenhäuschen nebenan. Mein Vater blieb
allein zurück.
Meine Mutter ist schon immer ein sehr ängstlicher Mensch
gewesen, und ich glaube, die Flucht hat vor allem eines bewirkt:
Sie hat die prägendsten Charaktermerkmale meiner Eltern
verstärkt. Meine Mutter ist auf dem Weg nach Deutschland noch
ängstlicher, mein Vater noch ehrgeiziger geworden. Ich kann mir
kaum ausmalen, wie sich das damals für sie angefühlt haben
muss, an der Grenze. Da standen wir nun, mit einem Bein im
alten, mit dem anderen im neuen Leben, als diese bewaffneten
Beamten anfingen, unseren Kofferraum zu durchsuchen und die
Sitze hochzuheben. In diesem Moment, vor den Augen dieser
Männer und Hunde, probierten wir es zum ersten Mal aus: Bloß
nicht auffallen!
Sie fanden nur Badeanzüge, Handtücher und ein Zelt.
Niemand hatte die Grenzbeamten informiert, niemanden
schien es zu kümmern, dass wir ausreisten. Wir schlüpften
einfach durch das Loch, das das System uns bot, wie viele
andere Polen auch. Den Eisernen Vorhang, den Stillstand, das
Land, das unsere Freiheit so willkürlich einschränkte, ließen wir
hinter uns. Das Wegducken hatte funktioniert, und es gab die
Leitfrage unserer Zukunft vor: Wie machen es die Deutschen? So
machen wir es auch.
Die meisten Einwanderer, sagen Forscher, wollen irgendwann
nach Hause. Ob sie in Italien keine Arbeit finden oder vor dem
Krieg in Syrien fliehen, sie können sich nicht vorstellen, in
Deutschland Rente zu beziehen. Sie wollen zurück in ihre
Heimat, dort alt werden, dort sterben. Die Verbindung nach
Hause kappen? Im Leben nicht.
Wir kappten sie. Einmal nach Westberlin ohne Rückfahrschein,
bitte.
Als wir wieder losfuhren, erschöpft von diesem ersten Versuch,
uns unsichtbar zu machen, hörte es plötzlich auf zu ruckeln. Als

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hätte jemand Butter auf den Asphalt geschmiert. Dafür fuhren
wir jetzt im Kreis, wie in einem Schneckenhaus, eine ewige
Kurve, immer nur nach rechts, nach rechts, nach rechts, es ging
gar nicht mehr geradeaus! Ich hatte noch nie so eine lange
Kurve gesehen oder so große, breite Straßen. Mir wurde
schwindlig, mein Vater verlor die Orientierung und meine
Mutter schrie: »Fahren wir jetzt etwa wieder zurück?«
Es war der erste Satz, den meine Eltern sprachen, seit sie das
fehlende Wörterbuch bemerkt hatten, und sie lachten
erleichtert, als sie begriffen, dass diese Straßenschnecke
lediglich dazu diente, sie auf die erste Autobahn ihres Lebens zu
führen. Nach Westberlin.
Nun waren wir also kurz davor, Deutsche zu werden.
Manchmal ist ein Traum am schönsten, bevor er sich erfüllt.

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Im Lager

Schaut euch diese sauberen Straßen an«, flüsterte meine


Mutter, und bevor wir Luft holen konnten, um etwas zu
erwidern, zischte sie: »Psst.« Sie griff uns fester an den Händen
und eilte mit uns den Gehweg entlang. Wir waren auf dem Weg
zum Amt, wie jeden Tag, und wie jeden Tag war mein Vater
schon vor uns da.
Die sauberen Straßen beeindruckten meine Mutter. Sie sahen
aus, als wären sie gerade feucht gewischt worden, als könnte
man sich auf sie setzen, ohne Flecken zu befürchten. Für Polen,
die aus dem Sozialismus kamen, war Westberlin damals, was für
Westberliner wohl Disneyland war. Eine reine, bunt blinkende
Welt.
Doch anstatt staunend durch diese neue Welt zu flanieren,
stellte sich mein Vater morgens um 5 Uhr in eine Schlange.
Diesmal nicht für Fleisch. Krankenkasse, Monatskarte,
Begrüßungsgeld, Sprachkurs, Aussiedlern wie uns stand uns
eine Luxusbehandlung zu. Nur musste man die erst einmal
beantragen. Und um sie beantragen zu können, musste man sich
erst einmal anmelden. Wir waren illegal eingereist, und
irgendjemand hatte meinen Eltern gesagt, die Deutschen mögen
es nicht, wenn man sich einfach so in ihr Land schleicht, also
wollten wir es von Anfang an richtig machen. Guten Tag, wir
sind nun in Deutschland, was sollen wir als Nächstes tun? Die
Hoffnung klein halten, antwortete die Alliierte
Registrierungsstelle, Berlin-West. Sie teilte jedem von uns mit:
»Diese Registrierung bedeutet keine Berechtigung zur
Erlangung einer Aufenthaltsgenehmigung oder die Anerkennung
eines Asylrechtes.« Mein Vater bekam einen Laufzettel in die
Hand gedrückt und verließ das Gebäude nur noch zum Essen
und Schlafen.

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Es begann eine Schnitzeljagd. Der Laufzettel gab die Aufgaben
vor, dem Gewinner winkte ein kleines Stück Pappe. Der
Vertriebenenausweis, der erste Schritt zur Einbürgerung. Wer
hatte am schnellsten alle Unterschriften beisammen?
In unseren ersten Tagen in Westberlin kamen wir bei dem
Onkel unter, der vor uns ausgereist war. »Besorg dir einen
Ordner«, sagte er zu meinem Vater. »Das machen die Deutschen
so, sie heften alles ab, um es aufzuheben.« Mein Vater hatte
keine Ahnung, wovon er sprach. Im Leben eines Polen gab es
damals eine Geburts- und eine Heiratsurkunde, wenn überhaupt.
Beide legte man in einen Karton und vergaß sie. In Deutschland
ging er nun in einen Papierladen und kaufte ein Ding aus Pappe,
das mit Folie beklebt war. »New York« stand darauf, eine Frau
im Hosenanzug war abgebildet, in Knallorange und Knallgrün,
noch heute, wenn mein Vater ihn vom Dachboden holt, schreit
der Ordner: Achtziger!
Mein Vater hat tatsächlich alles sorgsam abgeheftet, die
Chronologie eines Ankommens in Deutschland. Vergilbte Zettel,
Quittungen, Klarsichtfolien. Werden Sie nochmals vorstellig bei
der Alliierten Registrierungsstelle im Durchgangsheim für
Aussiedler und Zuwanderer, auch DAZ genannt.
Bewilligungsbescheid, Änderungsbescheid, Aufhebungsbescheid.
Leistungsnachweis, Entgeltbescheinigung, Ausfallzeitnachweis,
Überbrückungshilfe. Zur Vorlage beim Finanzamt. Ihr Antrag auf
Gewährung von Arbeitslosengeld/Arbeitslosenhilfe. Eine
nochmalige Rückfrage erfolgt nicht. Sie sind verpflichtet … im
Übrigen verweise ich … vorläufig … unter dem Vorbehalt der
rückwirkenden Aufhebung … bitte auch Vertriebenenausweis
»A« vorlegen. Und ein entschiedenes Kreuz bei: Bitte bemühen
Sie sich um baldige Erledigung.
Wenn ich heute durch diesen sauber geführten Ordner
blättere, der geradezu so riecht, als wäre er nicht aus Lust an
der Ordnung, sondern aus Angst so sauber geführt worden,

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frage ich mich, ob mein dringendes Bedürfnis, bürokratische
Dinge sofort zu erledigen, auch aus diesem Sommer 1988
stammt.
In der Schlange vor dem Landeseinwohneramt sprach kaum
jemand, über allem lag eine apathische Stille des Wartens. Meist
warteten die Männer, Polen vor allem und ein paar Ostdeutsche,
die ebenfalls aus der Unfreiheit geflohen waren. Mein Vater
ärgerte sich über diese Ostdeutschen. Sie drängelten sich vor,
hielten sich für etwas Besseres, sie sprachen ja schon Deutsch,
hatten also einen Vorsprung. Zum ersten Mal in Deutschland
spürte mein Vater seinen Ehrgeiz. Sein gebrochenes Englisch
war zwar besser als das der deutschen Beamten, aber bald
würde er besser Deutsch sprechen als alle, die jemals in dieser
Schlange gestanden hatten. Das hatte er sich fest vorgenommen.
Mittags stießen meine Mutter, meine Schwester und ich zu
ihm, denn so ziemlich jedes Formular, das mein Vater einreichte,
musste auch meine Mutter unterschreiben. Der Satz, den wir
fast in Dauerschleife hörten, war: »Bitte draußen warten!« Wir
verstanden ihn nicht, aber wir verstanden die Geste, die damit
einherging: ein Wegwinken, wie um lästige Fliegen zu
verscheuchen. Also warteten wir draußen auf der Wiese, wir und
all die anderen polnischen Kinder mit ihren Müttern, und obwohl
wir so viele waren, sprachen und spielten wir nicht miteinander.
Es war eine seltsame Stimmung. Geschwister, die sich leise
zankten, Mütter, die sie leise ermahnten. Am Ende des Tages
setzten meine Eltern ihre Unterschrift auf einen Zettel, bekamen
Bargeld oder eine Fahrkarte, und am nächsten Tag kamen sie
wieder.
Wie vergilbt dieser Laufzettel heute aussieht, irgendwie
historischer, als er ist. Eine beidseitig bedruckte DIN-A4-Seite
mit handschriftlichen Notizen, mit Stempeln, Kreuzen,
Unterschriften. Eine Anleitung in Bürokratie. Bewilligte Summen
wurden handschriftlich eingetragen.

42
Mein Vater konnte es nicht fassen. Ohne jemals einen Pfennig
in die deutsche Arbeitslosenversicherung eingezahlt zu haben,
bekamen meine Eltern Arbeitslosengeld, im Schnitt tausend
Mark pro Monat. Sie hatten den Eindruck, sie schuldeten diesem
Land nun etwas. Wie sollten sie diese Schuld jemals begleichen?
Eine Freundin meines Onkels half meinem Vater, Schriftstücke
aufzusetzen, er lernte, dass man erst »Sehr geehrte/r« schrieb
und dann »hiermit«, bevor man sein Anliegen unterbreitete. Als
er im Innenministerium vorsprach, wie immer auf Englisch,
sagte man ihm, dies sei ein deutsches Amt, er möge bitte
deutsch sprechen.
Am Ende kam sie, die vorläufige Bescheinigung: »Nach ersten
Feststellungen ist/sind die aufgeführte(n) Person(en) Aussiedler
(§ 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG) und voraussichtlich zur
Inanspruchnahme von Vergünstigungen (§ 10 Abs. 2 Nr. 2 BVFG)
berechtigt. Kinder werden eingetragen im Ausweis d. Mutter.«
Mein Vater wurde zu den Geheimdiensten gerufen. Ein
Franzose, ein Amerikaner und ein Brite fragten ihn, was er über
den geplanten Atommeiler bei Wejherowo wisse. Er wusste
nichts.
Wir zogen um ins »Lager«, so nannte meine Mutter diesen Ort.
Vier Wohnplätze in einem Flüchtlingsheim hatten wir
bekommen, das traf sich gut, denn mein Onkel hatte eine Frau
kennengelernt, seine kleine Einzimmerwohnung war also noch
kleiner geworden. Sie nannten es »Mehrbettzimmer«, es kostete
insgesamt 250 Mark. Eine große Halle in Berlin-Neukölln,
eigentlich gedacht für Obdachlose, aber weil in diesen Jahren so
viele von uns kamen, wurde sie auch für Aussiedler geöffnet.
Überall standen Eisenbetten, lagen Plastiktüten. In diesen Tagen
hatte ich mal wieder einen Neurodermitis-Schub, rote Flecken
um die Mundwinkel. Es roch nach Bier und Schnaps, ich kannte
diesen Geruch, meine Schwester und ich krallten uns an den
Beinen unserer Mutter fest.

43
»O mein Gott«, flüsterte meine Mutter und nahm uns an den
Händen.
»Hier könnt ihr nicht bleiben«, sagte mein Vater und fuhr uns
zurück zum Onkel.
Er selbst schlief wochenlang in der Halle, damit wir den Platz
behielten. Mein Vater hatte in Polen seine Bücher
zurückgelassen, Goethe, Mann, Dostojewski. In Deutschland
hatte er nun Putzdienst und schrubbte Klos und Flure.
Ein Fernsehteam kam und fragte meine Eltern auf Englisch,
was sie sich am meisten wünschten. Mein Vater sagte: Er würde
gern das Ganze, die Flucht, die Ankunft hier, so schnell wie
möglich vergessen. Meine Mutter sagte, sie werde erst wieder
glücklich sein, wenn sie wieder alles habe, was sie hatte
aufgeben müssen: Arbeit, Wohnung, Auto.
Heute bin ich es, die als Journalistin Flüchtlinge fragt. Die
diese Mauer durchbrechen muss zu den Syrern, Irakern, zu den
Afghanen und den Kosovoalbanern, während sie versuchen, die
Flucht zu vergessen, und anstehen für ein Taschengeld und eine
Fahrkarte. Was verbindet uns ehemalige Flüchtlinge mit diesen
Menschen?
Erst nachdem sie die Formalitäten der Einreise erledigt
hatten, schickten meine Eltern zwei Briefe an das Krankenhaus
in Wejherowo. Betreff: Kündigung. Sie verkauften ihr Fluchtauto,
den Polski Fiat, für tausend Mark. Der Rückweg war nun
verbaut.
Neben der großen Obdachlosenhalle gab es noch ein anderes,
ein kleineres Haus. Dort hatte jede Familie ihr eigenes Zimmer.
Und eine Familie war ausgezogen. Mein Vater kaufte die billigste
Flasche Whisky, die er finden konnte, machte sich auf zum
Heimleiter und schob sie ihm rüber. Der schaute ihn verdutzt an.
Dann schob er die Flasche wieder zurück. »Wir machen so was
nicht in Deutschland«, sagte er. »Hier regelt man die Dinge
anders.« Wir bekamen das Zimmer. Einfach so.

44
In dem grauen Flachbau wohnten fast ausschließlich Polen.
Klempner, Architektinnen, Ärzte, Lehrerinnen, Schlosser, ein
Querschnitt der polnischen Gesellschaft. Meine Mutter schaute
sich in der Gemeinschaftsküche um. Jede Partei hatte ihren Platz
im Kühlschrank, ihr Brett im Regal, das Geschirr gehörte allen.
Und obwohl es einen großen Tisch in der Küche gab, aßen die
meisten auf dem Zimmer.
 
28 Jahre später. Ich stelle mein Rad ab, und als hätte ihn
irgendjemand hierherbestellt, steht vor dem Gelände ein Mann
und telefoniert – auf Polnisch. Ich gehe rein, zuerst in das große
Gebäude, den Flachbau. Stellenanzeigen. Ein »Maler mit
kreativen Fähigkeiten« wird gesucht, und ein »Haushandwerker
mit Elektrohintergrund«. Das hier ist kein Flüchtlings- und
Obdachlosenheim mehr, erzählt mir die Leiterin, heute arbeiten
hier Langzeitarbeitslose. Sie bekommen einen Euro die Stunde,
sie reparieren Möbel, pflanzen Beete, bauen einen Kindergarten.
Seit dem Sommer 1988 habe ich fünfzehn Wohnungen in
deutschen und europäischen Großstädten bewohnt. Viele davon
lagen in Berlin, manche sogar weniger als drei Kilometer von
unserem alten Flüchtlingsheim entfernt. Aber ich war nie wieder
dort, in der Teupitzer Straße 39, Neukölln, Postleitzahl damals:
1000 Berlin 44, Postleitzahl heute: 12059 Berlin. Bis jetzt.
Ich schaue mir die Kantine an. Das ist der Saal, in dem wir
früher schliefen beziehungsweise schlafen sollten und es dann
doch sein ließen. Heute stehen hier Tische mit bunten Stühlen.
Sieht nett aus. Als die Leiterin mit mir in den Hof geht, steht da
noch ein weiteres Haus, an das ich mich aber nicht erinnere.
»Wer wohnt da?«, frage ich und ahne es doch schon. Es ist das
Jahr, in dem 800.000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen, die
Politik spricht in diesem Moment von über einer Million und
einer »Flüchtlingswelle«, einem »Flüchtlingsstrom«, als wären

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diese Menschen eine Naturgewalt, die im Begriff ist, alles zu
zerstören.
»Das ist die Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge«, sagt sie. »Die
gehört nicht mehr zu uns.«
Sie verabschiedet sich, ich gehe rein. Ein Eis liegt verschmiert
auf dem Boden, jemand hat kräftig auf die Treppe gespuckt. Ich
steige in den obersten Stock und öffne die Schwingtür, ein Flur,
sechs Zimmer, in so einem wohnten wir, das weiß ich von Fotos.
Ich höre Kinder schreien und Mütter rufen und frage mich für
einen Moment, wo ich bin, im Heute, im Gestern? Ich fühle mich
wie in einem Film, der zwischen zwei Zeitebenen hin- und
herspringt. Ganz vorsichtig kommt der Ansatz einer Erinnerung.
Meine Mutter, wie sie mit dem Finger über die Möbel fährt.
Mein Vater, wie er das Fenster öffnet. Wir Mädchen, etwas
ängstlich, im Türrahmen. All die anderen Verängstigten, die wir
nicht aus den Augen lassen.
In der Küche sitzen drei Männer und zwei Frauen, sie sagen,
sie kommen aus Syrien und dem Irak. Wir trinken Kaffee. Ich
höre zu. Sie erzählen auf Englisch von Booten, von Schleppern,
von Panik und Geschrei. Eine bittere Odyssee der Moderne.
Irgendwann, in einer Gesprächspause, sage ich: »Ich habe hier
auch mal gewohnt.« Ich bereue es sofort. Hier sitzen wir also,
schweigend, fünfmal arm und einmal reich. Vielleicht eint uns,
dass wir alle Flüchtlinge waren oder sind, vielleicht auch, dass
wir in unseren Herkunftsländern ähnlichen Schichten
angehörten. Und doch gibt es einen eklatanten Unterschied:
Welche Chancen gab und gibt uns die deutsche Rechtsprechung?
Bildung ist wichtig für ein gutes Leben, aber unter Flüchtlingen
ist es vor allem die deutsche Bürokratie, die die Karten neu
mischt und verteilt. Unsere Karten, die der Aussiedler von 1988,
waren hervorragend. Wir wurden im Krankenhaus behandelt,
wenn wir krank waren. Wir bekamen Deutschkurse, bis wir

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Arbeit fanden. Was bekommen diese Menschen? Die wenigsten
das Recht auf Asyl. Die meisten bleiben geduldet. Jahrelang.
Wir waren Premiumflüchtlinge, Oberschicht. Die Syrer heute
sind, wenn sie Glück haben, gute Mittelklasse. Serben und
Mazedonier? Sind so weit unten, dass sie noch nicht einmal als
Flüchtlinge anerkannt werden. Unsere Chancen in Deutschland
standen immer besser als die anderer Flüchtlinge. Dabei sind sie
es, die auch vor Bomben, Hunger und Krankheit fliehen. Wie
gerecht ist das?
 
Im Sommer 1988 lernte meine Mutter von den vielen
Schlesierinnen im Heim, wie man sonntags deutsche
Kartoffelklöße machte. Sie kochte mehlige Kartoffeln,
zerstampfte sie, gab Kartoffelmehl hinzu und ein Ei. Die
Kartoffelmasse musste noch warm sein, das war wichtig, deshalb
waren die Hände meiner Mutter oft rot, nachdem sie sie zu
kleinen Bällchen geformt hatte. Die Schlesierinnen bereiteten
sie schon morgens zu, deckten sie mit Folie ab und gingen dann
zum Gottesdienst. Danach brauchten sie sie nur noch in
siedendes Wasser zu werfen. Meine Mutter hatte keine Ahnung,
was die Deutschen sonst noch so aßen. Wie sie lebten. Feierten.
Sich entspannten.
In diesen ersten Tagen in Deutschland dämmerte es meinen
Eltern: Hier ankommen werden sie nur, wenn sie anders werden,
als sie sind. Aber wie? Wie integriert man sich richtig?
1988 war in der deutschen Politik noch keine Rede davon, dass
Deutschland ein Einwanderungsland sei. Die Ausländer, die
schon seit Jahrzehnten da waren, waren ja nur Gastarbeiter. Also
Gäste. Und Gäste reisen irgendwann wieder ab.
Wir nicht. Wir waren nun da. Und wollten bleiben.
Integrationskonzepte gab es damals nicht. Ein
»Integrationsgesetz«, wie es heute erlassen wird, erst recht
nicht. Die Krux war aber auch: In der Logik der Deutschen

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gehörten wir gar nicht zu denen, die man hätte integrieren
müssen. Wir waren Vertriebene. Deutsche also, die laut Protokoll
woanders gelebt hatten und nun in die Heimat zurückkehrten.
Surreal, aber wahr.
Deutschland ist – wenn man den Studien glauben mag – heute
das zweitbeliebteste Einwanderungsland der Welt, nach den
USA. Ein Paradigmenwechsel hat stattgefunden. Und die Politik
versucht, dieser neuen Realität, die in Wirklichkeit so neu nicht
ist, mit Gesetzen beizukommen. Die Frage ist: Stimmt es
wirklich, dass sich Menschen nicht freiwillig integrieren, dass
sie Druck brauchen? Beweist nicht jemand, der sein altes Leben
aufgibt und in ein anderes flieht, genug Motivation? Er ist nicht
in seiner Situation verharrt, als er sich auf den Weg machte.
Warum sollte er jetzt plötzlich verharren?

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Neuer Name, neuer Geburtsort

Flüchtlinge und Einwanderer warten oft jahrzehntelang auf die


Papiere, die bestätigen, was längst ihre Wirklichkeit geworden
ist: Sie sind Deutsche. Sie wissen, wie man in Deutschland lebt.
Bei mir war es andersherum.
Ich wurde Deutsche, bevor ich wusste, dass man sich in
Deutschland Schokolade aufs Brot schmieren kann. Bevor ich
wusste, dass die deutschen Lebensmittelläden Aldi heißen. Und
dass man in der Kirche die Hostie in die Hand statt in den Mund
gelegt bekommt.
»Elżbieta Śmiechowska hat mit dem Zeitpunkt der
Aushändigung dieser Urkunde die deutsche Staatsangehörigkeit
durch Einbürgerung erworben. Die Einbürgerung erstreckt sich
auf die Kinder des/der Eingebürgerten.«
Niemand von uns erinnert sich wirklich an diese
Einbürgerungszeremonie. Der Weg dahin war auch nicht
besonders lang, bereits im März 1989 wurde die Urkunde
vorgelesen, ein Dienstsiegel, ein Stempel, eine Unterschrift des
Senators für Inneres. Im Auftrag. Ein Händedruck, ein Stocken
beim Vorlesen der Namen, das Stirnrunzeln meiner Mutter, das
Räuspern meines Vaters. Nur fünf Minuten in irgendeinem
kleinen Büro einer Westberliner Behörde, und wir waren
Deutsche – nach nicht einmal einem Jahr in Deutschland. Statt
eines weißen prangte nun ein schwarzer Adler auf unseren
Pässen.
Im Sommer zuvor war ich in den Kindergarten gekommen, er
lag im Keller des Heims. Fast alle Aussiedlerkinder dort waren
schon länger da und konnten etwas Deutsch, aber es dauerte
nicht lang, da lernte auch ich, ein Mädchen des Sozialismus, das
erste deutsche Wort: »meins«. Das sagten sie alle dort, die
Puppe war »meins«, der Teddy »meins« und diverse andere
Spielsachen, die ich noch nicht kannte. Da ich selbst noch nichts

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besaß, was »meins« sein konnte, nahm ich es mir von jemand
anderem. In meiner Gruppe war ein Mädchen, das ebenfalls
Flechtzopf trug. Aber sie war blond und schön und lebhaft; ich
mochte sie nicht. Vielleicht auch, weil sie die tollste Puppe
besaß, die ich je gesehen hatte – mit einem Plastikkörper, der
glänzte, als wäre er eingeölt worden. Eines Tages war die Puppe
da, aber das Mädchen nicht, also nahm ich sie, rannte in den Hof
und versteckte sie im Gebüsch. Dort hatte sie es besser, es war
dunkel und gemütlich, ein bisschen wie in einem polnischen
Wald. Am nächsten Tag waren alle sehr aufgeregt, das Mädchen
schrie, meine Mutter sah mich an, ich sah weg. »Warst du das?«,
flüsterte sie. »Nie«, sagte ich, auf Polnisch, und besonders laut,
denn ich hatte gemerkt, dass meine Mutter dann immer komisch
zusammenzuckte. In den kommenden Tagen fand ich immer
wieder Ausreden, warum ich unbedingt in den Hof musste.
Meine Eltern verfolgten die Sache nicht weiter, sie hatten
Wichtigeres zu tun.
1989, in dem Jahr, von dem wir noch nicht ahnten, dass es auf
den Fall der Mauer zulaufen würde, fühlten wir uns so geteilt
wie die Stadt, in der wir lebten. Nach außen versuchten wir, uns
diese Zerrissenheit nicht anmerken zu lassen. Die Deutschen
hatten uns zu Deutschen erklärt. Ohne Prüfung, ohne Test.
Einfach so. Wir mussten weder wissen, wie viele Bundesländer
Deutschland hat, noch zur Probe die Nationalhymne singen.
Oder das Grundgesetz aufsagen: Die Würde des Menschen ist
unantastbar. Der Druck, den wir uns machten, war umso größer.
Umso schneller mussten wir jetzt aufholen, was die richtigen
Deutschen uns voraushatten.
Zum ersten Mal in unserem Leben fuhren wir mit einem
unterirdischen Zug. Ich war begeistert. »Zobacz!«, rief ich und
zeigte meiner Schwester die lustigen, bunten Sitze. Dann
entdeckten wir die Lampe, die rot blinkte, bevor sich eine Tür
schloss, wir plapperten fröhlich drauflos, auf Polnisch natürlich,

51
wir lauschten der Ansage, die irgendwie von oben kam. Das
Gesicht meines Vaters wurde hart. Ich wusste nicht, was ich
falsch gemacht hatte. Meine Mutter schaute sich etwas panisch
um. Ich sah sie an, in diesen Momenten, wenn beide böse waren,
war meine Mutter immer die bessere Wahl. »Psst!«, machte sie
nur, und als wir aus der U-Bahn gestiegen waren, hockte sie sich
vor uns und sagte: »Mädchen, ab jetzt gilt eine Regel: In
Deutschland sprechen wir Deutsch.«
Dieses »Psst!« sollte zu einem Grundrauschen unserer ersten
Monate in Deutschland werden, und so kam es, dass ich in den
folgenden Monaten gar nicht mehr sprach, weder Deutsch noch
Polnisch, sobald wir uns außerhalb des kleinen Heimzimmers
befanden. Ich sprach sowieso nicht gern, nun hörte ich also ganz
auf damit, beobachtete lieber und lebte in meiner eigenen Welt,
in der mir Hunde folgten und Kinder, in der ich imaginäre
Freunde hatte, die ich um mich versammelte, wenn wir an der
Ampel standen. Manche Passanten schauten komisch. Aus dem
ernsten polnischen Kind wurde innerhalb kurzer Zeit ein
stummes deutsches. Stumm bewegten wir uns in U-Bahnen, in
Supermärkten, auf der Straße. Ich hatte nun nicht nur mein
Zuhause, sondern auch meine Stimme verloren.
Dabei waren wir als polnische Familie immer aufgefallen,
jedenfalls akustisch, mit unserem Śmiechowscy-Lachen. Bei
jedem Fest, jeder Familienfeier schüttelten die anderen den
Kopf, wenn wir uns mal wieder nicht halten konnten. Meist fing
es bei meiner Schwester und mir an. Die eine machte eine
ungelenke Bewegung, die andere sagte einen ungelenken Satz,
und wir kicherten los. Noch mal die Bewegung, noch mal der
Satz, unsere Bäuche bebten schon, meine Mutter konnte nicht
mehr und lachte mit. Unser Lachen wurde immer irrer. Mein
Vater hielt meist an sich, versuchte es. Doch unsere Albernheit
war stärker, und so lächelte er doch. Ich liebte diesen Moment

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der Leichtigkeit unter uns vieren. Wenn am Ende auch die Augen
meines Vaters glänzten.
Im ersten Jahr in Deutschland lachten wir kaum. Wir
konzentrierten uns darauf, keine Fehler zu machen. Meine
Mutter hat immer gern geflucht, sie sagte kurcze, wenn ihr
etwas misslang, und pierdoła saska, nur kurwa sagte sie nicht,
das war ihr dann doch zu plump. In Deutschland hörte sie auf
mit dem Fluchen.
Eines Tages, meine Mutter und ich waren einkaufen gewesen,
wollten wir am Pförtner vorbei, rein ins Heim. Wir hielten wie
immer unseren Ausweis hoch. »Halt«, sagte er. Und zeigte
meiner Mutter mehrere Briefe, die an sie adressiert waren, er
gestikulierte herum, er hatte eine konkrete Frage, die sie aber
nicht verstand. Meine Mutter schaute mich fragend an. Sie tat
mir etwas leid, aber ich wollte ihr nichts erklären, nicht hier, in
der Öffentlichkeit. Polnisch sollte ich ja nicht sprechen, und
Deutsch kam mir noch immer komisch vor, hässlich und hart.
Außerdem jagte mir der Mann Angst ein, besonders klug schien
er auch nicht zu sein, denn er fragte meine Mutter ständig:
»Sind diese Briefe für Sie?« Natürlich sind sie das, da steht doch
ihr Name drauf, du Idiot! Es war vielleicht keine so schlechte
Idee zu schweigen. Meine Mutter sagte leise: »Moment, komme
gleich wieder«, das konnte sie schon. Sie kam nicht zurück.
»Wir wussten, dass du alles verstanden hast, du hast sehr
schnell begriffen, worüber die Leute reden, hinterher hast du es
uns immer erzählt«, sagt meine Mutter, wenn ich sie heute
danach frage. »Aber du wolltest einfach nicht sprechen, nicht
vor anderen. War es falsch, euch das Polnische zu verbieten? Ich
weiß es nicht.«
»Damals schämte man sich einfach als Pole«, sagt mein Vater.
»Wir kamen doch aus einem unterentwickelten Land, wir hatten
das Gefühl, etwas aufholen zu müssen.«

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Der Pförtner war offensichtlich verwirrt gewesen, weil meine
Mutter einen anderen Nachnamen hatte als mein Vater, obwohl
sie verheiratet waren. In Polen enden die weiblichen Nachnamen
anders als die männlichen, auf -a statt auf -i. Die Deutschen,
nicht nur der Pförtner, verstanden nicht, warum. Und sie hatten
Probleme, diesen komplizierten Namen auszusprechen,
»Smieschowski« sagten sie dann – meine Eltern schüttelte es.
Oder wenn sie meine Mutter »Eltsbiehta« nannten – »ich hasste
wie Pest«, sagt sie heute.
Ich vermisste meine Oma. »Wann fahren wir wieder zurück?«,
das fragte ich nun immer wieder. Meine Oma, die Mutter meines
Vaters, war der wichtigste Mensch für mich, wie für viele Polen
fast wichtiger als die eigenen Eltern, manche wurden von der
Oma erzogen, andere, wie ich, verbrachten jeden Sommer bei
ihr. Omas besitzen in Polen Heiligenstatus. Das merkt, wer in
Polen Tram fährt, damals wie heute, die Menschen können sich
gar nicht schnell genug von ihren Sitzen erheben, sobald eine
ältere Dame den Waggon betritt. Als hätten sie nur darauf
gewartet, ihren Platz frei zu machen.
»Wann fahren wir zu babcia Basia?«, ich probierte es noch
mal. Es war Abend, wir waren auf unserem Zimmer. Meine
Mutter las im Schnäppchenprospekt von Aldi, mein Vater
blätterte durch die Zeitung mit den großen Bildern, die im Heim
herumlag, meine Schwester schlief, und ich riss einen Teil dieser
Zeitung in Schnipsel und spielte damit Vater, Mutter, Kind. Ich
wollte es jetzt wissen. »Wann fahren wir zu babcia Basia?«
Babcia heißt Oma auf Polnisch, und Basia ist die Koseform von
Barbara. So langsam kam es mir komisch vor, dass wir noch
immer nicht in unserem Zelt in Italien angekommen waren, und
so langsam ahnte ich, dass dieser Plan einen anderen Sinn hatte
als den, eingehalten zu werden.
»Babcia Basia wirst du so schnell nicht wiedersehen«, sagte
mein Vater. Ich schaute von meinen Schnipseln auf. Tränen

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stiegen in mir hoch, ich versuchte, zu schlucken, ich konnte es
nicht fassen, ich war betrogen worden, was sollte das heißen,
nicht so schnell? »Das heißt, dass wir eine Weile nicht mehr
nach Polen zurückfahren werden, oder sogar nie mehr.« Mit
dieser klaren Ansage hatte ich nicht gerechnet. Normalerweise
drückten sich meine Eltern schwammig aus, alles in unserem
Leben würde nur vielleicht, wahrscheinlich, eventuell eintreten.
Gewiss ist nur der Tod, sagte mein Vater immer. Und nun
offenbar auch unser Leben in Deutschland. »Hätte ich gewusst,
dass es für immer ist«, schrie ich und heulte, »dann wäre ich
niemals mitgekommen!«
Jahre später erst erzählte mir meine Mutter, wie sehr auch
meine Oma unter der Trennung von uns gelitten hatte. Die
Großeltern waren ja die Einzigen, die von unserer Flucht
gewusst hatten, und wenige Tage nachdem wir in Deutschland
angekommen waren, fuhr meine Oma nach Wejherowo, nur
diesmal klingelte sie nicht, diesmal öffnete sie die Tür mit einem
Schlüssel, diesmal rannten ihr auch keine Kinder entgegen, sie
war allein. Sie stand in dem dunklen Flur mit der olivgrünen
Kommode, die Vorhänge waren zugezogen, etwas Licht
schimmerte auf den Teppichboden, und da lag er. Ein einzelner
Schuh. Eine Sandale, die so tat, als wäre sie gerade erst
ausgezogen worden. Meine Oma nahm sie in die Hand und legte
sie auf die Kommode. Dann setzte sie sich hin und weinte. So
erzählte sie es meiner Mutter. Ich habe meine Oma nie weinen
sehen.
Im Herbst fingen meine Eltern im Goethe-Institut an, Deutsch
zu lernen. Vier Kurse, jeweils zwei Monate lang, 200
Unterrichtseinheiten zu 60 Minuten. Wolfgang Hieber, Lernziel
Deutsch 1, so hieß ihr erstes Buch, das sie von nun an nur für
den Gang aufs Klo aus der Hand legten.
Der Kurs meiner Mutter war vormittags, der meines Vaters
nachmittags. Oder war es andersherum? Sie wissen es nicht

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mehr. Sie erinnern sich aber, dass zwischendrin, wenn einer auf
dem Weg nach Hause und der andere auf dem Weg zum Kurs
war, niemand auf meine kleine Schwester aufpassen konnte. Ich
war im Kindergarten, und so fragten sie die Nachbarinnen, zwei
Frauen, die in einem Zimmer zusammenlebten. Meine Eltern
nahmen an, sie seien einfach als Freundinnen nach Deutschland
gekommen, andere Lebensformen kannten sie nicht. Und so
wachten diese beiden Frauen täglich über den Mittagsschlaf
meiner Schwester, während meine Eltern Deutsch lernten.
Auf dem PVC-Boden unseres Zimmers lagen nun jeden Tag
Bücher, Kopien und Übungshefte verstreut, später auch ein
Wörterbuch und die Zeitung, in der meine Eltern bisher nur
geblättert hatten. Die Deutschlehrerin hatte sie ihnen
empfohlen, nicht nur wegen der großen Bilder und
Überschriften, sondern weil sie in einfachem Deutsch
geschrieben war, kurze Sätze sind gut, hatte die Lehrerin
gesagt. Und so saßen meine Eltern abends konzentriert über den
Seiten, ignorierten die halbnackten Frauen und lasen. Wort für
Wort. Satz für Satz. Franz Josef Strauß gestorben. George
H. W. Bush neuer Präsident der Vereinigten Staaten von
Amerika. Bundestagsrede von Philipp Jenninger: Schämt er sich
nicht? Es sollte noch Monate dauern, bis diese Sätze einen Sinn
ergaben, einen Zusammenhang.
Meine Eltern lernten Vokabeln. Baustelle. Abendbrot.
Haushalt. Ein Wort, das aus zweien bestand, mit drei möglichen
Artikeln. Der, die, das, es hieß die Butter, aber das Brot, sie
verstanden die Logik nicht, bis sie verstanden, dass es keine
gab. Das Deutsche und das Polnische sind kaum miteinander
verwandt, und so wurden meine Eltern zu Schülern, die alles von
Beginn an lernten, gemeinsam mit all den anderen Ärzten,
Architekten und Ingenieuren. Das Goethe-Institut in
Charlottenburg, wohin meine Eltern täglich mit der U7 fuhren,
war der polnischen Elite vorbehalten. Wer Bauarbeiter war oder

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Elektroinstallateur, bekam einen Kurs in der Hartnackschule, im
Schwulenkiez von Schöneberg.
Doch in einem Punkt waren die Polen dort gleich: Sie
sprachen, wie etwa neunzig Prozent aller polnischen Aussiedler,
kein Wort Deutsch. Verglichen mit den wenigen Polen, die nicht
als Aussiedler gekommen waren, lernten sie jedoch sehr schnell.
Untersuchungen führen das auf die besseren und intensiveren
Sprachkurse zurück. Von Vorteil war auch, dass es kaum
polnischsprachige Medienangebote gab. Mehrere polnische
Zeitungsprojekte in Deutschland waren in den Jahren zuvor
gescheitert – wegen mangelnder Nachfrage. Die Polen wollten
Deutsch lernen. Was sollten sie mit polnischen Zeitungen?
Als hätten sie den gleichen Schwur wie wir abgelegt,
schwiegen also auch die anderen Polen im Kurs meiner Eltern.
Man nickte sich zu, schlug das Buch auf und redete erst, wenn
man gefragt wurde. Doch noch war Unsichtbarkeit eine Illusion.
Waren wir als Familie nachmittags unterwegs, im Supermarkt
oder einfach auf der Straße, erkannten wir die anderen Polen
sofort. Es waren immer die, die flüsterten, den Zeigefinger auf
den Lippen, die, wenn sie doch einmal laut wahrnehmbar ein
deutsches Wort aussprachen, jeden Vokal langzogen und
Probleme mit den Umlauten hatten. Sie sagten »Miel« statt
»Müll« und »Kieche« statt »Küche«. Sie blieben bei ihrem
Anfängerdeutsch, auch wenn sie versehentlich doch mit
Landsleuten sprachen – ein polnisches Wort wäre ihnen nicht
über die Lippen gekommen. Einkaufen, essen, lernen, lernen,
lernen, in den kommenden Monaten war das der Tagesinhalt
meiner Eltern, bis zur Zentralen Mittelstufenprüfung.
Hörverständnis, Leseverständnis, Schriftlicher Ausdruck. Sie
bekamen beide die Gesamtnote »gut«. Nun konnten sie ihre
Approbation in Deutschland beantragen, nun würde es nicht
mehr lange dauern, bis sie anstelle des Bescheids über
Arbeitslosenhilfe richtige deutsche Gehaltszettel bekämen, von

57
richtigen deutschen Krankenhäusern. Mein Vater kaufte sich
eine billige Schreibmaschine, für seine erste deutsche
Bewerbung.
Doch da war noch immer die Sache mit den abweichenden
Nachnamen. Noch immer kamen Briefe nicht an, weil die
deutschen Postboten nicht in der Lage waren, vom einen auf den
anderen zu schließen. Mein Vater ging mal wieder aufs Amt. Er
hatte mitbekommen, dass viele Polen ihre Namen änderten,
eindeutschten, glätteten. Die Beamtin, bei der er sich die
nötigen Formulare holte, sagte: »Na, wollense denn dann nich’
gleich Meier oder Müller heißen?«
Meine Familie hatte schon einmal ihren Namen geändert, um
sich das Leben leichter zu machen. Als meine Oma meinen Opa
heiratete, wollte sie ihn, aber nicht seinen Namen: Śmiech.
Lachen. Das fand sie dann doch zu lächerlich für eine angehende
Medizinprofessorin, und so hängten sie mit der Hochzeit noch
die typisch polnische Endung dran: -owski.
Dreißig Jahre später nun schien auch dieser Name nicht mehr
zu passen. Er war zu verwirrend, zu kompliziert, und meinen
Eltern, wenn sie als Herr und Frau »Smieschowski« angeredet
wurden, auch einfach zu peinlich. Mein Vater füllte die
Formulare aus. Die Beamtin schaute flüchtig drüber, dann
stempelte sie fleißig und unterschrieb mit »Stadtassistentin«.
Ein paar Wochen später kam ein großer Umschlag per Post.
Aus der polnischen Emilka Elżbieta Śmiechowska war die
deutsche Emilia Elisabeth Smechowski geworden. Doch nicht
nur mein Name hatte sich geändert. Bei Geburtsort stand
plötzlich nicht mehr »Wejherowo/Polska«, sondern »Neustadt in
Westpreußen«. Westpreußen. Ich hatte nicht die leiseste
Ahnung, wo das lag. »Das ist schon richtig so, schließlich sind
wir jetzt Deutsche und somit auch in Deutschland geboren«,
sagten meine Eltern. Mich überzeugte das nicht. Warum
änderten sie plötzlich meinen Geburtsort? Dass Wejherowo

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früher einmal tatsächlich Neustadt hieß und bis 1945 in
Westpreußen lag, ergoogelte ich mir erst sehr viel später.
Wenn man das Leben wirklich als Faden verstehen will, der
gesponnen wird von der Geburt bis zum Tod, dann schnitten wir
ihn an dieser Stelle einfach ab. Wir fingen an, einen neuen zu
spinnen. Erst heute ahne ich, was dieses verordnete Deutschsein
mit mir gemacht hat. Dieses Gefühl, anderen etwas vorzuspielen
und dennoch unvollständig zu sein, diese Angst, bald
durchschaut und dann nicht mehr gemocht zu werden: Sie
verfolgen mich im Grunde bis heute. Es war, als wäre ich mit
Deutschland verheiratet worden, ohne vorher gefragt zu
werden – eine Zwangsehe, aus Vernunft, für die ich meine wahre
Liebe, Polen, verlassen musste. Es würde Jahrzehnte dauern, bis
ich mir erlaubte, in einer offenen Beziehung zu leben, die Polen
einschloss.
 
Im Dezember 1988 war meine Schwester zwei Jahre alt
geworden. Meine Mutter fand, wir hätten in den Monaten zuvor
so tapfer durchgehalten, zur Belohnung sollte es einen richtigen
deutschen Kindergeburtstag geben. Sie ging zu Aldi und kaufte
tiefgefrorenen Apfelkuchen. Backen konnte man in der
Heimküche eh nicht, und diese deutschen Fertiggerichte, die sie
schon länger in den Truhen von Aldi begutachtet hatte,
faszinierten sie ungemein. Als die Kinder aus dem
Kellerkindergarten mit ihren Müttern in unser Zimmer kamen,
holte sie den Kuchen aus dem Gefrierfach in der Küche und
stellte ihn auf den Tisch. Sie nahm ein Messer, um ihn
anzuschneiden. Und stutzte. Der war ja kalt und hart! Die
anderen Mütter um sie herum lachten. Sie waren schon ein paar
Wochen länger in Deutschland. Meine Mutter wurde rot. Sie
hatte gedacht, ein Fertiggericht sei ein Fertiggericht, fertig zum
Essen, ohne weitere Vorbereitung. Noch heute, wenn sie die
Geschichte erzählt, spricht sie von einem ihrer »schlimmsten

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Fauxpas«. Einer, der sich niemals wiederholen sollte, denn es
sollte nicht lange dauern, bis sie eine perfekte deutsche
Gastgeberin abgab.
Dann war Weihnachten. Das erste in Deutschland. Andere
Flüchtlinge im Heim hatten von dem, was ihnen der Staat
gegeben hatte, sofort Fernseher und Stereoanlage gekauft. Wir
nicht. An unserem ersten deutschen Weihnachten gab es einen
Plastikbaum und etwas Lametta. Wir tranken aus
ausgewaschenen Senfgläsern. Wir fuhren mit unserem
Sozialticket U-Bahn. Nur den Großeltern hatten wir riesige
Pakete geschickt, mit allem, was Polen damals nach Polen
schickten: Kaffee, Schokolade, Orangen, Antifaltencremes,
Dinge, die wir uns selbst nicht gönnten. Diese Westpakete waren
dreimal so groß wie die, die wir selbst noch vor kurzem geöffnet
hatten. Meine Mutter fasst das heute mit diesem Satz
zusammen: »Es stimmt schon, wenn man wenig Geld hat, gibt
man am meisten.« Oder hatten wir einfach ein schlechtes
Gewissen?
Heiligabend verbrachten wir bei einer Tante, die schon länger
in Berlin war. Sie empfing uns in ihrer schick eingerichteten
Wohnung, die riesige Tanne roch so stark, dass ich sofort an
meine polnischen Wälder dachte. Mein Vater stand in der Küche
und hielt zum ersten Mal selbst den vakuumverpackten Kaffee in
der Hand, den sie zuvor verschickt hatten. »Elżbieta, komm!«,
rief er, nahm ein Messer, und so verfolgten mein Vater und
meine Mutter andächtig, wie das feste Paket, einmal
angeschnitten, leise »pfft …« machte. »Wenn das bei Aldi im
Angebot ist, kaufen wir das auch, ja?«, sagte mein Vater. Bisher
hatten sie Kaffee immer nur »po turecku« getrunken, gewartet,
bis das Pulver auf den Boden der Tasse gesunken war. Nun
ließen sie ihn durch die Kaffeemaschine meiner Tante blubbern.
Plötzlich klingelte das Telefon. Meine Tante ging ran, hörte ein
paar Sekunden zu, legte dann die Hand auf die Ohrmuschel und

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sagte zu meinem Vater: »Für dich. Deine Eltern aus Danzig.«
Meine Großeltern waren die Einzigen der Restfamilie in Polen,
die überhaupt ein Telefon besaßen, und ihr Anruf traf meine
Eltern wie ein Schlag. Diese Stimme meiner Oma, die auch über
600 Kilometer fein und dunkel klang. Das Drängen meines Opas,
der sich im Hintergrund einmischte. Mein Vater drehte sich weg
und reichte das Telefon weiter. Meine Mutter weinte in den
Hörer. Sie konnte nicht mehr aufhören. Jetzt, nach genau einem
halben Jahr in Deutschland, nach einem Namens- und
Identitätswechsel, nach einem Deutschkurs und täglicher Arbeit
an der Unsichtbarkeit, wurde meinen Eltern schlagartig
bewusst, was sie zurückgelassen hatten. Ihre Vergangenheit.
In der Woche darauf ging mein Vater einkaufen. Er legte zum
ersten Mal Milchschnitte in den Wagen, einen Fünferpack, und
aß ihn auf dem Weg nach Hause auf. Meine Mutter kaufte uns
Mädchen Wintermäntel, bordeauxrot, weich, reduziert. Jemand
aus dem Heim muss dieses Foto geschossen haben, wir zwei
posieren darauf in voller Montur, beleuchtet von einer grellen
Glühbirne. Der erste Luxus, der erste Konsum. Er ließ uns die
Großeltern vorerst vergessen.
Danach sparten wir wieder.
Ich spielte mit alten Stücken aus Pappe, und manchmal ging
ich im Hof »meine« Puppe besuchen.
Wenn es uns schlechtging, dachten wir an weiche Sofas, in die
man hineinsank, an Autos, die nur Autobahnen kannten. An
Puppen, die wirklich uns gehörten.
Wir waren glücklich.
Wir wurden immer mehr.

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Nicht die Ersten

Es gibt ein Foto, das nicht meine polnische Familie zeigt.


Sondern die meines deutschen Freundes. Er hat mir dieses Bild
erst kürzlich in die Hand gedrückt, nach fünf Jahren Beziehung,
nachdem wir ein Kind bekommen hatten, zusammengezogen
waren. Das Bild zeigt seinen Opa.
Ich wusste nicht, dass dieses Bild existiert, vergraben in
unserer alten Holzkiste, mich interessierten historische
Familienbilder von anderen nie besonders, und hätte ich es
wissen wollen, hätte ich sie ja stellen können, die Opa-Frage.
Wir haben uns kennengelernt, er mit deutschen, ich mit
polnischen Wurzeln, aber unsere Gespräche in Berliner Kneipen
streiften dieses Thema nie: Und deine Großeltern so? Im
Zweiten Weltkrieg?
Nun halte ich dieses Bild in den Händen. Ich sehe seinen Opa
mit ein paar Männern in einer Reihe stehen. Ihnen gegenüber
steht eine Reihe mit weiteren Männern. Es sind zehn insgesamt.
Einer aus der Reihe vom Opa meines Freundes schüttelt einem
aus der anderen Reihe gerade die Hand. Alle tragen sie
Uniformen und Mützen und sehen ernst aus, die Arme steif am
Körper, ein bisschen wie die Gewehre, die sie geschultert haben.
Die Atmosphäre hat etwas Festliches, aber es sieht nicht so aus,
als würden sie danach noch einen trinken gehen.
Es ist September 1939. Der Opa meines Freundes und die
anderen Männer teilen gerade Polen unter sich auf. Er ist
deutscher Offizier, er wird »Eiserner Johann« genannt, ihm
gegenüber stehen die Russen. Die Demarkationslinie, an der sie
sich treffen, ist nun also die neue Grenze zwischen dem
Deutschen Reich und der Sowjetunion. Polen, das Land, das
bisher so lästig zwischen ihnen lag, gibt es nicht mehr. Wieder
einmal.

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Mit unserer Flucht 1988 wurden wir zu vier von etwa einer
Million polnischen Einwanderern, die in den achtziger Jahren
nach Deutschland kamen – davon fast 800.000 Aussiedler. Mit
dem Fall der Mauer wurden es noch mehr. Heute leben etwa
3,2 Millionen Menschen mit Aussiedlerstatus in Deutschland,
darunter etwa zwei Millionen Polen.
Nur: Das weiß keiner. Wenn man Deutschen von diesen Zahlen
erzählt, stutzen sie. Dann überlegen sie einen Moment, bis es
aus ihnen herausplatzt: Mensch, stimmt! Mein Arbeitskollege ist,
glaube ich, auch Pole, aber ich habe ihn nie als Polen
wahrgenommen. Meine Bekannte aus dem Lesezirkel. Eine alte
Freundin aus der Schule. Es gab da diesen Rapper, mit dem
habe ich früher Musik gemacht, ist der nicht auch? Alles Polen.
 
Lange Zeit sah ich sie auch nicht. Ich bekam sie nur so am
Rande mit, all die Spargelstecher, Ärztinnen, Altenpfleger,
Prostituierten, Künstlerinnen, Architekten, Journalistinnen und
Bauarbeiter. Mütter und Väter, Unternehmer und Arbeitslose.
Die Polen in Deutschland sind, nach den Türken, die zweitgrößte
Migrantengruppe. Während viele Türken aber Deutschland
wieder verlassen, standen die Polen jahrzehntelang an der
Spitze der Einwanderungsstatistik. Erst 2015 wurden sie von
Syrern und Rumänen verdrängt. Und doch haben sie keinen Cem
Özdemir, keine Aydan Özoğuz im Bundestag, es gibt keinen
Verband, der für sie spricht, und wenn der Deutsche schnell was
auf die Hand will, holt er sich ganz sicher keine Piroggen um die
Ecke. Sie leben weder in polnischen Communitys, noch gehen
sie in polnische Supermärkte oder schicken ihre Kinder auf
polnische Schulen – wenn es denn überhaupt welche gibt. Sie
sind kein »Wir«. Es gibt sie nicht, die Polen in Deutschland.
Klar, sie sind auch nicht die Protagonisten in den Büchern
eines Thilo Sarrazin, sie sind es nicht, die Zehntausende

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Dresdner dazu treiben, »Wir sind das Volk!« zu rufen. Nicht
mehr.
Warum sieht sie niemand?
 
Die meisten Polen, die heute in Deutschland leben, kamen in den
1980er und 1990er Jahren, sie wanderten mit dem Deutschen-
Ticket ein – diesem Trick, der ihnen zwar ein besseres Leben
verschaffte, sie aber auch beschämte. Nach Möglichkeit sollte
keiner davon erfahren. Sie duckten sich weg, machten sich
unsichtbar. Sie wurden nicht gesehen, weil sie nicht gesehen
werden wollten.
Wer im Lauf der Zeit immer wieder zum Spielball zweier
Großmächte wird, wer als Nation für mehr als ein Jahrhundert
komplett von der Landkarte verschwindet, der tut sich mit der
eigenen Identität schwer. Entweder er entwickelt einen
besonders ausgeprägten Nationalstolz, oder er versteckt seine
Herkunft lieber. Es scheint, als hätten viele Exilpolen die zweite
Variante gewählt.
Die ersten Polen, die ich in der deutschen Öffentlichkeit
wahrnahm, im Fernsehen, in Zeitungen, waren Miro und Poldi.
Da lebte ich schon mehr als zwanzig Jahre in Deutschland.
Miroslav Klose, 1978 im oberschlesischen Opole geboren, seine
Mutter war polnische Handballnationalspielerin, sein
deutschstämmiger Vater Fußballer – sie gingen 1985 als
Aussiedler nach Deutschland. Miro haderte mit der deutschen
Sprache, er ging zum Fußball, auch, um Bestätigung zu
bekommen. »Jeder wollte, dass ich in seiner Mannschaft spielte.
Das gab mir Selbstsicherheit und half mir, mich in der neuen
Lage zurechtzufinden. Schließlich hat mir diese Erfahrung auch
erlaubt, mich bei den Deutschen zu integrieren«, erzählte er
später. In der Nationalmannschaft angekommen, sang er die
deutsche Hymne besonders laut, wenn polnische Reporter ihm
das Mikro vors Gesicht hielten, sagte er: »Ich bin Deutscher.«

65
In dem Jahr, in dem Miro nach Deutschland kam, wurde Poldi
geboren: 1985, im oberschlesischen Gliwice. Auch Lukas
Podolski reiste als Aussiedlerkind ein, auch seine Mutter war
polnische Handballnationalspielerin. Von alldem hatte ich keine
Ahnung. Poldi war für die deutschen Medien und für mich der
»Kölsche Jung’«, ein Deutscher also, mehr nicht.
Heute weiß ich: Miro und Poldi gehörten zu den ersten
Ausländern der Nationalmannschaft. Im Gegensatz zu einem
Gerald Asamoah aber zählte ihre Integration irgendwie nicht.
Sie kamen ja aus deutschen Gebieten, ihre Geschichte las man
als komplizierte, aber deutsche Familiengeschichte. Dann
kamen, nach und nach: Odonkor, Aogo, Boateng, Khedira, Özil,
Cacau. Sie waren alle, bis auf Asamoah: in Deutschland geboren.
Aber sie waren auch alle: nicht weiß. Plötzlich nannte die
Bundeskanzlerin die deutsche Fußballnationalmannschaft ein
»Vorbild fürs ganze Land«, sie sei der Spiegel einer Gesellschaft,
die schon lange nicht mehr ausschließlich deutsch war. Das war
dann schon 2010.
Und plötzlich wurden auch Miro und Poldi, während sie aufs
Feld liefen, von Kommentatoren im Fernsehen »das erfolgreiche
Polen-Duo« genannt, manchmal hoben sie hervor, wie gut die
zwei sich doch in diesem Land integriert hätten. Die beiden
waren mittlerweile mit polnischen Frauen zusammen, und Miro
sprach mit seinen Zwillingssöhnen in seiner Muttersprache.
Manchmal winkte Poldi auch in die Kamera und grüßte seine
polnische Oma. Sie hätten so etwas wie Role-models für mich
sein können. Wäre ich da nicht schon längst Deutsche gewesen.
Andere Polen, die in Deutschland lebten und in der
Öffentlichkeit standen, sah ich noch weniger, sie interessierten
mich auch nicht. Ich wusste nicht, dass es weitere polnische
Sportler gab, die als Aussiedler in Deutschland Karriere machen:
Bogdan Wenta, Handballer, spielte 185-mal für die polnische
Nationalmannschaft, bevor er sich in Deutschland einbürgern

66
ließ. Dariusz Michalczewski, Boxer, setzte sich 1988 als
polnischer Meister in die Bundesrepublik ab und war später
mehrere Jahre lang deutscher Weltmeister im
Halbschwergewicht. Władysław Kozakiewicz, Stabhochspringer
und Olympiasieger, siedelte 1985 in die Bundesrepublik über
und hielt lange Zeit den deutschen Rekord.
Wie viele habe ich noch übersehen? Was weiß ich eigentlich
über die Polen in Deutschland, woher sie kommen, warum sie
kommen und seit wann? Als ich anfange, nach Büchern zu
suchen, nach wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit diesem
Thema befassen, finde ich zunächst nicht viel.
Peter Oliver Loew ist Historiker und hat die bisher einzige
zusammenfassende Geschichte über die Polen in Deutschland
geschrieben. Sie heißt, Überraschung: Wir Unsichtbaren. Ich
lese das Buch, da bin ich schon über dreißig, und es fühlt sich
an, als lernte ich für ein Referat. Als handelte das Buch von
einem anderen, einem fremden Volk. So sehen das meine Eltern
übrigens bis heute. Die Polen in diesem Land interessieren sie
nicht. Sie erkennen sie nach wie vor – und ignorieren sie.
Für Peter Oliver Loew gab es da schon immer »ein gewisses
slawisches Grundrauschen« in Deutschland. Er, ein Deutscher,
hat hingehört. Und herausgefunden: »Keine andere nicht-
deutsche Bevölkerungsgruppe hat sich über einen so langen
Zeitraum, im Grunde seit dem Mittelalter, und in solchen
Dimensionen in Deutschland aufgehalten.« Meist gab es zwei
Wege, als Pole unter Deutsche zu gelangen: Entweder man
bewegte sich nicht, aber die Grenzen taten es – und schon
wohnte man plötzlich auf deutschem Staatsgebiet. Oder die
Grenzen bewegten sich nicht, man selbst aber gab das Zuhause
auf, um westwärts nach dem Glück zu suchen.
Polnische Siedlungsgebiete, lese ich, gab es im Herzogtum
Preußen und in Schlesien immer wieder. Aber erst die drei
Teilungen Polens zwischen 1772 und 1795 machten die Polen zu

67
einer großen Minderheit. Sie hatten schlicht kein Land mehr.
Russland, Preußen und Österreich hatten es schrittweise unter
sich aufgeteilt. Um 1800 waren 2,6 Millionen Einwohner
Preußens Polen – also mehr als ein Drittel!
Es kam das Industriezeitalter – und viele Polen wanderten an
Rhein und Ruhr. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelten
sich Kohlegruben und Stahlwerke so schnell, dass die
Unternehmen begannen, Arbeiter im Osten anzuwerben – wie
sie es ein Jahrhundert später bei den Gastarbeitern tun sollten.
Es kamen preußische Staatsbürger, die aber polnisch sprachen.
Vor dem Ersten Weltkrieg wohnten im Rheinland fast eine halbe
Million polnischsprachige Menschen, knapp zehn Prozent der
Gesamtbevölkerung waren sogenannte Ruhrpolen. Manche
Zechen wie die in Bottrop wurden deshalb auch einfach
»Polenzechen« genannt, unter Tage sprach man Polnisch. Die
Polen halfen nicht nur, Steinkohle abzubauen. Sie sollten auch
die körperlich anstrengendsten Arbeiten verrichten, schwitzten
etwa in den Kokereien, um Koks und Rohrgas zu gewinnen.
Sie wohnten in Zechenkolonien, die die Unternehmen gebaut
hatten, um all die Arbeiter unterzubringen. Mit Plumpsklos und
Wegen, die bei Regen zu Schlamm wurden. Ghettos entstanden.
Die Ruhrpolen integrierten sich nicht in die preußische
Gesellschaft, sie sollten es auch nicht, sie galten als »Gesocks«.
Damals wie heute gibt es zwei Merkmale von Einwanderern, die
die Deutschen verächtlich ihre Nase rümpfen lassen: Wenn sie
Proletarier sind und wenn sie viele Kinder gebären. Völlig egal,
dass die einfachsten Arbeiten sowieso kein Deutscher machen
will, völlig egal, dass es zu wenige Kinder gibt. Auch die
Ruhrpolen schufteten, und sie lebten in großen Familien. Sie
wurden ausgegrenzt. Der polnische Minderwertigkeitskomplex
war geboren.
Die Polen gründeten Vereine, um ihren Zusammenhalt zu
stärken, sie wurden belächelt – und überwacht. Die

68
Klosterstraße in Bochum war ihr Organisationszentrum. Von
Hausnummer 2 bis 14 war dort alles polnisch: die Banken, die
Gewerkschaft, eine Zeitungsredaktion und der »Bund der Polen
in Deutschland«. Ebenfalls in Bochum saß die deutsche
Behördenstelle zur »Polenüberwachung«. Ihre Aufgabe: darauf
achten, dass sich die Polen ihr Polnischsein nicht allzu bewusst
machten. Die Behörden witterten überall »polnische Gefahr«
und verboten polnischen Unterricht, polnische Vereinstreffen,
polnische Vereinsflaggen.
Die Ruhrpolen markieren die erste Massenmigration nach
Deutschland seit dem Mittelalter, man kann sie getrost als
Vorreiter bezeichnen – für die Gastarbeiter, die erst noch
kommen sollten, aus Südeuropa und der Türkei.
»Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen«, wird Max
Frisch viel später sagen. Die Ruhrpolen blieben. Noch heute
wohnen in Deutschland die meisten Polen in Nordrhein-
Westfalen, nicht mehr in Ghettos, sondern stark verstreut. Aber
auch Berlin und München sind zu polnischen Zentren geworden,
Sehnsuchtsorte für Künstler und Intellektuelle. Mit jeder
Generation stieg die Bildung der zugewanderten Polen und mit
ihr auch der Wunsch, sich anzupassen.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Polen für kurze Zeit sogar
wieder eine eigenständige Republik. Nach dem Zweiten
Weltkrieg, und fast sechs Millionen polnischen Toten, befreiten
die Alliierten viele Polen in Deutschland, im Krieg waren sie
Arbeitssklaven gewesen, nach dem Krieg blieben sie im Land der
Täter, als sogenannte Displaced Persons.
 
In den 1950er Jahren kamen die ersten Aussiedler, erst nur sehr
zögerlich. Sie durften ausreisen, weil 1953 ein besonderes
Gesetz erlassen wurde: das Vertriebenengesetz. »Deutscher
Volkszugehörigkeit im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in
seiner Heimat zu deutschem Volkstum bekannt hat, sofern

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dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale, wie
Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur, bestätigt wird.«
Meine Eltern, meine Schwester und ich haben uns zu gar nichts
bekannt. Und dass das Vertriebenengesetz in einer Tradition des
deutschen Nationalismus steht, wussten meine Eltern nicht,
oder anders: Es interessierte sie nicht besonders. Sie ergriffen
ihre Chance, schlüpften durch die Tür, die man ihnen aufhielt,
wie Hunderttausende andere Polen auch.
Die meisten reisten illegal ein – oder jedenfalls ohne Kenntnis
der polnischen Behörden, und vor allem: ohne deren
Zustimmung. Sie kamen wie wir mit einem Touristenvisum in die
Bundesrepublik Deutschland und fuhren nicht mehr zurück. Wer
schon mal da ist, kann nicht so leicht weggeschickt werden, das
war die nachvollziehbare Idee dahinter. Erst in Deutschland
beantragten sie die Anerkennung als Aussiedler. Und innerhalb
kürzester Zeit bekamen sie zum polnischen den deutschen Pass,
wurden doppelte Staatsbürger, auch wenn sie – anders als
beispielsweise die Russlanddeutschen – zunächst kaum oder gar
keine Sprachkenntnisse hatten. Im Gegensatz zu den Ruhrpolen
des 19. Jahrhunderts organisierten sie sich aber auch nicht in
polnischen Vereinen und entwickelten kein kollektives
Minderheitenbewusstsein. Beste Assimilationsmasse also.
Die zweite Voraussetzung, um mit Hilfe des
Bundesvertriebenengesetzes einreisen zu können, war der
sogenannte »Vertreibungsdruck«. Dabei waren die Aussiedler,
die in den 1980er Jahren kamen, fast ausschließlich polnisch
sozialisiert. Es ist also eher unwahrscheinlich, dass sie aus
Angst, von Polen vertrieben zu werden, nach Deutschland
flohen.
Ein Sachbearbeiter im Durchgangslager im nordrhein-
westfälischen Friedland erzählte dem Magazin Der Spiegel im
Dezember 1989: »Es ist jeden Tag dasselbe traurige Spiel: Da
sitzen uns reihenweise Antragsteller aus Polen gegenüber, die so

70
tun, als ob sie Deutsche wären. Und wir müssen so tun, als ob
wir ihnen das glauben. Täglich frage ich mich, warum man mit
so viel Verdrehungen und in solcher Hast Polen zu Deutschen
machen muss. Dennoch bemühe ich mich täglich neu, nett zu
den Leuten zu sein, die da zu Tausenden kommen. Ich finde
nämlich, wir sollten sie gut behandeln – nicht weil sie Deutsche,
sondern Polen sind. Schließlich sind wir denen etwas schuldig.«
Es war ein Spiel der zwei Gesichter: Während die Polen,
solange sie in Polen waren, ihren deutschen Opa und jegliche
NS-Vergangenheit zu vertuschen versuchten, galt es nun in
Deutschland, genau diese Verbindung möglichst glaubwürdig
und selbstbewusst vorzubringen. Die Bundesrepublik
Deutschland lernten die Aussiedler kennen als ein Land, das
nicht die Gegner des Nationalsozialismus belohnte, sondern die,
die auf der deutschen Seite gekämpft hatten – und ihre
Nachkommen. Ein klarer Vorteil gegenüber einer kleinen Zahl
derjenigen Polen, deren Familien im Widerstand gewesen
waren – und die sich nun einem Asylverfahren stellen mussten.
Viele kritisierten die Aussiedlerpraxis, Oskar Lafontaine nannte
sie »Deutschtümelei«, 1988 sagte er als sozialdemokratischer
Ministerpräsident des Saarlands in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung: »Ich habe gewisse Probleme damit, Deutschstämmige
in der vierten oder fünften Generation hier vorrangig
aufzunehmen vor einem Farbigen, dessen Leben existenziell
bedroht ist.« Er meinte auch uns damit, es war das Jahr, in dem
wir eingereist waren.
Und er hatte recht. Ich wurde vorrangig aufgenommen.
Vielleicht hat meine Aufnahme in Deutschland dazu geführt,
dass ein anderes Leben nicht geschützt werden konnte. Was
bedeutet das nun für mich, für mein Selbstverständnis in diesem
Land? Welche Berechtigung habe ich eigentlich, hier zu sein?
Von 1987 bis 1990 kamen insgesamt 550.000 Aussiedler aus
Polen nach Deutschland, 1986 waren es noch 27.000

71
Zuwanderer gewesen. Die meisten von ihnen landeten erst
einmal in Friedland. Der Spitzenwert wurde 1989 erreicht: Exakt
eine Viertelmillion Polen wanderte in diesem Jahr ein. Eine
Viertelmillion Menschen, die in der deutschen Gesellschaft
verschwanden, als hätten sie nie woanders gelebt.
Es gibt kaum polnische Kunst oder Kultur in Deutschland. Und
wenn, wird sie nicht als solche wahrgenommen, das Polnische
bleibt auch da unsichtbar. Fatih Akin dreht einen Film wie
Almanya, der auf der Berlinale läuft und den Deutschen
Filmpreis gewinnt. Für einen polnischen Film unvorstellbar. Wie
sollte er heißen? Niemcy etwa? Almanya spiegelt das deutsch-
türkische Zusammenleben, Alles auf Zucker das deutsch-
jüdische, Good bye, Lenin das deutsch-deutsche. Alle drei sind
ernst und komisch zugleich, alle drei waren in den Kinos
erfolgreich. Ein deutsch-polnischer Film fehlt in dieser Reihe. Er
ist als Komödie auch kaum denkbar.

72
73
Bärchenwurst! Levi’s! Fruit of the Loom!

Mama, warum hattest du immer solche Angst?


Und warum hat sich diese Angst nie mehr gelegt? Warum
gehst du auch heute noch immer vom Schlimmsten aus, obwohl
es uns allen gutgeht? Als ich dir sagte, dass ich Sängerin werden
will, hast du mich unter einer Brücke gesehen. Als ich dir sagte,
dass ich meinen Job kündigen und mich selbstständig machen
will, ist dir die Farbe aus dem Gesicht gewichen. Als ich dir
sagte, dass ich ein Kind bekomme, dachtest du daran, was bei
einer Geburt alles passieren kann. Auch heute, mit deiner
Enkelin, bist du sehr vorsichtig. Ich verstehe das nicht. Wann hat
sich die Angst in deinem Kopf eingenistet?
»Ich weiß nicht, warum ich so ängstlich bin, Mila« – meine
Mutter nennt mich Mila –, »ich war nicht immer so. Ich glaube,
das fing an, als du kamst. Du weißt einfach nicht, was Angst
bedeutet, ehe du ein Kind hast. Vorher habe ich ein wilderes
Leben geführt, habe gefeiert, geraucht. Aber dann war ich
Mutter und Ärztin, das ist keine gute Kombination. Ich wusste in
jeder Situation, was alles passieren kann, schon in der
Schwangerschaft. Ich hatte immer Angst um euch. Wenn ihr
plötzlich auf dem Bürgersteig losgerannt seid. Wenn ihr
irgendwo hochklettern wolltet …«
Als wir noch in Polen lebten, rief meine Mutter uns ein Wort
hinterher: »Uważajcie!« Nun, in Deutschland, waren es zwei:
»Passt auf!«
Das Jahr 1989 war längst angebrochen, wir mussten so
langsam eine Wohnung finden. Mein Vater spazierte durch
Westberlin, ständig den Kopf im Nacken, auf der Suche nach
Schildern an Fassaden, auf denen »Zu vermieten« stand. Der
Wohnungsmangel war Ende der 1980er Jahre gravierend, auch
wegen uns Zuwanderern, die sich vor allem in Städten
niederließen. Dabei hatten wir Aussiedler die besseren Karten,

74
schon wieder. Wir bekamen Wohnungen bevorzugt zugewiesen,
meist Sozialwohnungen von öffentlichen Trägern.
Immer wieder telefonierte mein Vater mit Hausverwaltungen,
immer wieder gingen wir auf Besichtigungen, doch die meisten
Wohnungen missfielen meiner Mutter. Entweder waren sie zu
klein, oder die Gegend war zu hässlich. Wenn wir schon geflohen
waren und nun in diesem Lager lebten, wie sie sagte, dann sollte
unsere erste deutsche Wohnung auch etwas hermachen, der
Beginn eines Aufstiegs sein. Nachdem wir uns in eine
Wohnungsbaugesellschaft eingetragen hatten, brachte mein
Vater den Frauen dort Rosen, und von da an dauerte es nicht
mehr lange.
Um uns die fünf Zimmer in einer Neubausiedlung
anzuschauen, fuhren wir – das erste Mal in Deutschland – mit
dem Taxi. Es hatte morgens geschneit, und wir mussten von
Neukölln nach Reinickendorf, einmal durch die ganze Stadt also,
was für ein Luxus. Doch als der Taxifahrer ein paar Meter
gefahren war, schauten sich meine Eltern entsetzt an. »Fährt der
jetzt etwa die ganze Strecke so, im Schritttempo?«, flüsterte
meine Mutter. Die polnischen Winter hatten sie gelehrt, dass
man sogar vereiste Straßen im Polski Fiat und ohne Winterreifen
befahren kann, die Deutschen aber schienen schon Angst zu
haben vor ein wenig Pulverschnee. Unsere Taxifahrt dauerte
mehr als eine Stunde.
Meine Mutter hatte sich angewöhnt, uns Töchter zu offiziellen
Terminen mitzunehmen. Wir waren die Eisbrecher mit Zöpfen
dran, und außerdem lenkten wir ab vom schlechten Deutsch
meiner Eltern. Auch dieses Mal ging der Plan auf, unsere
zukünftige Vermieterin jedenfalls war ganz entzückt von »diesen
hübschen blonden Mädchen«.
An Ostern waren wir raus aus dem Flüchtlingsheim und drin
im Sozialbau. Wir bezogen unsere fünf Zimmer, Küche, Bad in
Berlin-Reinickendorf, für 600 Deutsche Mark im Monat. Sogar

75
einen Balkon gab es, mit einem grünen Belag, der aussehen
sollte wie Rasen. Am ersten Abend saßen wir auf einem hellen
Teppich im leeren Wohnzimmer und aßen Brot mit Philadelphia.
Möbel kauften wir erst mal nicht, wir schliefen auf Matratzen
auf dem Boden. Mein Vater fuhr in einen Laden, der »Teppich
Domäne« hieß. Er wollte Schrauben kaufen. Und kam zurück mit
einer Palme, an der ein Zettel baumelte: »Die Yucca-Palme ist
eigentlich keine Palme, sondern ein Spargelgewächs. Sie
bevorzugt einen hellen und sonnigen Standort. Aber auch im
Halbschatten fühlt sie sich wohl. Wer seine Yucca ab und an
gießt und regelmäßig düngt, wird sehr lange Zeit Freude an ihr
haben.« Eine Palme, die keine war – so etwas gab es nun also in
Deutschland. Wir brauchten die Palme nicht wirklich. Wir fanden
sie exotisch und schön, das reichte.
Sie steht heute in der Wohnung meiner Mutter, der Zettel ist
mittlerweile kaum noch lesbar, und jedes Mal wenn sie den
Wintergarten betritt, sagt sie, sie müsse sie nun aber wirklich
endlich wegschmeißen, und dann tut sie es doch nicht.
Im Sommer fing mein Vater in einem Krankenhaus an, meine
Mutter etwas später in einem anderen. Ein Jahr lang mussten
beide arbeiten, bevor sie die Prüfung zum Facharzt nun auch in
Deutschland machen konnten. Hinterher kamen sie nach Hause,
lächelnd, als seien sie nur kurz einkaufen gewesen. »Das
medizinische Niveau war ja lächerlich im Vergleich zu der
Prüfung in Polen«, sagte mein Vater. Obwohl sie sich den
Deutschen gegenüber immer minderwertig fühlten, obwohl sie
sich für das Polnische schämten und so schnell wie möglich
deutsch werden wollten: Auf die Arbeitsmoral der Polen ließen
meine Eltern nichts kommen. Dass sie als Aussiedler davon
profitierten, dass ihre Berufsabschlüsse im Gegensatz zu denen
anderer Ausländer ohne weiteres anerkannt wurden, war ihnen
nicht bewusst. Sie kannten ja keine anderen Ausländer.

76
Jeden Samstag, wenn wir den Wocheneinkauf bei Aldi getätigt
hatten, ging meine Mutter mit uns zu Karstadt. Nur gucken,
nicht kaufen. Wir begannen unseren Rundgang draußen, vor
dem Schaufenster, wir stellten uns vor, wie es sein musste, im
Matrosenlook einen Segeltörn zu machen, von Scheinwerfern
beleuchtet. In Wejherowo hatte es keine Kaufhäuser und keine
Scheinwerfer gegeben. Keine Leuchtreklame, kaum
Straßenbeleuchtung, es gab auch nichts, was man hätte
beleuchten können. Das Leben spielte sich drinnen ab. Nun
liefen wir durch fünf Etagen, Rolltreppe rauf, Rolltreppe runter,
wir bewunderten die Verkäuferinnen, die man, anders als in
Polen, sogar mit Namen ansprechen konnte, weil er an ihre
Brust geheftet war. Und anders als in Polen saßen sie nicht in
der Ecke und lasen, sie standen aufrecht und schauten emsig
umher. Man konnte sie ansprechen, man konnte ihnen Fragen
stellen. Selbstverständlich taten wir all das nicht, aber die
Möglichkeit allein war berauschend. Nur, wenn meine Mutter
deutsche Rentner sah, die beige Pullover anhatten, stockte sie.
»Was ist denn, Mama?«
Sie schüttelte den Kopf. Nicht jetzt.
Unsere liebste Etage bei Karstadt war das Untergeschoss, die
Deutschen nannten es »Paradies«. Im Paradies gab es alles, und
wie oben war alles hell erleuchtet und in Plastik verpackt, so
dass es niemals dreckig werden konnte, nur hingen im Paradies
auch Schilder von der Decke. Eine Zahl und ein Zeichen
dahinter und dieses eine Wort, das vor »Paradies« stand, aber
das wir unmöglich aussprechen konnten: »Schnäppchen«.
Meine Mutter erklärte uns, dass wir, wenn da »20 %« stand,
nur einen Bruchteil des eigentlichen Preises zahlen mussten. Bei
»50 %« war dieser Bruchteil sogar noch geringer, »70 %«
hingegen war selten und meist nur dazu da, unbrauchbares
Zeug unter die Leute zu bringen. Irgendwann hörten wir auf zu
gucken und fingen an zu kaufen. Systematisch. Bettwäsche,

77
Handtücher, Platzdeckchen und so eine Kloumpuschelung – als
wir mit der großen, dunkelblauen Tüte zurückkamen und mein
Vater seine Augenbraue hochzog, sagte meine Mutter schnell:
»Keine Sorge, war reduziert«, und mein Vater war beruhigt. Sie
sagt das noch heute, ihre Schnäppchensucht ist ungebrochen,
nur kauft sie jetzt in Designerläden und meist online.
Was reduziert war, zog uns magisch an, es gab uns das Gefühl,
den Verkäufer ausgetrickst zu haben. Dass wir auch uns selbst
austricksten, indem wir mehr kauften, als eigentlich geplant war,
war uns egal. Wir wollten konsumieren, endlich. Nicht einfach
deshalb, weil wir mehr Geld hatten als in unserem alten Leben.
Konsum schien uns ein Grundbedürfnis, als stünde er uns zu
nach so vielen Jahren des Verzichts. Gibt es ein Grundrecht auf
Yucca-Palmen? Wir empfanden es so.
Meine Mutter war arm aufgewachsen. Bis zu ihrem
siebzehnten Lebensjahr hatte sie mit ihren Eltern und ihrem
jüngeren Bruder in einem Zimmer gelebt. Zwei Betten à neunzig
Zentimeter, das eine teilten sich die Eltern, das andere die
Geschwister. Tagsüber lief entweder das Radio oder der
Fernseher, weil ihr Vater Stille nicht ertrug. Er drückte eine
Zigarette aus, um sich die nächste anzuzünden, und sobald die
Packung leer war, lief er zum Kiosk. Ihre Mutter kochte, wenn
sie vom Nähen nach Hause kam, der Bruder spielte Akkordeon.
Meine Mutter lernte. Schon immer hatten sie Bücher gefesselt,
und schon immer hatte sie den Wunsch gehabt, Ärztin zu
werden. Dafür musste sie als Erste in der Familie Abitur
machen, und zwar ein gutes, damit sie zum Medizinstudium
überhaupt zugelassen wurde.
Um den Lärm zu Hause zu übertönen, hatte sie sich eine
bestimmte Lesehaltung angewöhnt. Auf allen vieren auf dem
Bett, die Ellenbogen abgestützt, so dass sie sich beide Daumen
in die Ohren stecken konnte. In dieser Position las sie,
stundenlang. Und behielt sie bei, auch später noch, während

78
ihres Studiums, als die anderen Studenten ihre Bücher in der
Bibliothek durcharbeiteten.
Nun, mit ihrer eigenen Familie, in diesem neuen Land, hatte
sie plötzlich fünf Zimmer. Sie hatte gehört, dass die Deutschen
ein Zimmer auch einfach nur zum Essen nutzten. Sie nannten es
»Esszimmer«.
Mein Vater vermisste seine Bücher. Er fragte sich, ob er sie
jemals würde holen können. Kleidung, Geschirr, Puppen, wir
hatten alles in Polen gelassen, in Deutschland würden wir eh
neue Dinge kaufen. Aber die Bücher? Als mein Vater studiert
hatte, war er von Antiquariat zu Antiquariat gelaufen, auf der
Suche nach Erstausgaben von Goethes Faust, Kafkas Schloss,
Manns Doktor Faustus. Je älter die Bücher waren, je stärker sie
nach vergangener Zeit rochen, je mehr Menschen sie bisher in
den Händen gehalten hatten, desto wertvoller waren sie für ihn.
All diese Bücher waren nun unerreichbar. Mein Vater hatte
gehört, dass jeder, der illegal ausgereist war und sich danach
traute, noch einmal nach Polen zu fahren, sofort zum Militär
eingezogen wurde.
Er fuhr nicht nach Polen, er fuhr in einen Westberliner
Elektronikmarkt. Und ging die Sache wissenschaftlich an. Nahm
Prospekte mit, prüfte Preise, ließ sich Zeit. Eines Tages dann
durften wir plötzlich länger aufbleiben, um im Schlafanzug
neben unserem ersten Lautsprecher zu posieren. Die
Stereoanlage dazu würde noch kommen, sagte mein Vater. Der
Lautsprecher stand einsam im ansonsten leeren Wohnzimmer, er
war fast so groß wie meine Schwester, sein dickes Kabel
schlängelte sich an der Wand entlang. Mein Vater schoss Fotos,
die Kamera hatte er gleich mitgekauft.
Langsam bekam er Übung. Er staunte, wie niedrig die
Differenz zwischen seinem Gehalt und dem Preis für ein Auto
war. In Polen musste er etliche Jahre auf etwas sparen, das es
dann oft gar nicht gab, der deutsche Markt hingegen wirkte

79
logisch: Wer Geld hatte, gab es aus. Mein Vater wartete vier
Monatsgehälter, und schon kaufte er einen grauen Mazda,
schnell und geschmeidig wie eine Raubkatze.
Zahnpasta mit Erdbeergeschmack. Eis in der Form eines
Bleistifts. Wurst in der Form eines Bärchens. 4You-Schulranzen.
Levi’s-Jeans. Fruit-of-the-Loom-Pullover. Acht verschiedene
Joghurtsorten, dreizehn verschiedene Sorten Schokolade.
Urlaub in Schweden. Urlaub auf Capri. Disneyland Paris.
Aktien. American Express. Schiffsanteile, um Steuern zu
sparen.
Wir waren Wirtschaftsflüchtlinge, das war nun unübersehbar.
Es war, als müssten wir diese Leere, die nach Jahrzehnten im
Ostblock entstanden war, so schnell wie möglich füllen. Wurst,
für die wir uns früher stundenlang angestellt hatten, war kein
Symbol für Freiheit mehr. Es gab sie jetzt einfach, und wir aßen
sie über unseren Appetit hinaus. Nach einem Jahr mit zwei
vollen Anästhesistengehältern verdienten meine Eltern mehr, als
sie ausgeben konnten. Das bisschen Arbeitslosengeld, das sie
bezogen hatten, hatten sie tausendfach mit Steuern
zurückgezahlt. Die Rechnung war beglichen.
 
Meine Mutter stand nervös in der Küche, als sie zum ersten Mal
ihre Kollegen zum Essen einlud. »Was soll ich bloß kochen?«,
wochenlang hatte sie uns diese Frage gestellt, am Ende kam die
Antwort von der Brigitte. Meine Mutter hatte angefangen, die
Zeitschrift zu kaufen und Rezepte herauszureißen. Überall in der
Wohnung – wir hatten noch sehr viel Platz – lagen diese dünnen
Seiten nun verteilt. Sie entschied sich für Tomate mit
Mozzarella, Lasagne und Tiramisu. Und Bordeaux.
»Borrrrrdeaux«, meine Mutter genoss es, dieses Wort
auszusprechen, eins der wenigen, bei denen sie das R noch
rollen durfte, wenn auch anders als im Polnischen, weiter hinten
im Rachen. Ihre Kollegen waren begeistert von dem

80
italienischen Abend mit französischem Wein, niemand vermisste
Piroggen und Wodka, nicht ein einziges Mal kam das Gespräch
auf Polen – dabei radebrechten meine Eltern wie alle kürzlich ins
Land gekommenen Migranten.
Vielleicht spürten die Kollegen, dass meine Eltern nicht
gefragt werden wollten, und wer sagt denn, dass man jedem
Menschen, der schlecht Deutsch spricht, die Woher-Frage
stellen muss. Dennoch fühlte sich die Situation für mich damals
komisch an, wie eine Theateraufführung. Ich wusste nicht
genau, was vor sich ging, aber ich spürte die Anspannung. Es
war besser, nichts zu sagen. Diese Platzdeckchen, die meine
Mutter kurz vorher noch gekauft hatte. Mein Vater, der kaum
sprach und auf seinen Teller blickte. Und meine Mutter, die
ständig fragte: »Noch mehr Borrrrrdeaux?«
Wenn ich mir heute mit meiner Mutter Fotos anschaue,
Klassenfotos, Urlaubsfotos, Weihnachten, Geburtstage, weiß ich
selten, wann sie entstanden sind. Meine Mutter weiß es genau.
Und sie erzählt mir immer, was ich da trage und wo sie es
gekauft hat, und dann spielen wir das Erinnerst-du-dich-nicht-
Spiel. »Erinnerst du dich nicht? Das habe ich dir in diesem
kleinen Kinderladen gekauft, von dieser netten Verkäuferin, die
sagte, wie schön du darin aussiehst.« – »Nö. Und ich find’s voll
hässlich.« – »Ah, das ist dieses Kleid von Esprit! Ich war mir
nicht sicher, ob du gut darin aussiehst, aber ich habe es dir
trotzdem gekauft, und siehst du, es sieht toll aus!« – »Ich find’s
spießig.« – »Oh, darin siehst du so süß aus, wie eine kleine
Puppe, das ist, glaube ich, von Marc O’Polo.« – »Ich trage
Schulterpolster, Mama! Schulterpolster!«
Sosehr sich meine Mutter auch in Polen bemüht hatte, uns
»wie bei Burda« anzuziehen, die billigen, immer etwas zu
blassen Stoffe hatten uns oft verraten. Umso schneller also
sollten wir jetzt Markenklamotten bekommen. Möglichst wenig
Angriffsfläche bieten. Kleider machen Deutsche.

81
 
Meine Mutter fragte sich, in welchen deutschen Schränken
eigentlich noch SS-Uniformen hingen. Jeder Deutsche über
sechzig – sie hatte festgestellt, dass sie überdurchschnittlich oft
beigefarbene Pullover trugen – war ihr erst einmal suspekt.
Irgendwo mussten diese Nazis doch sein. Auf dem Spielplatz, auf
der Straße, bei Karstadt, war der da drüben einer? Ich merkte,
dass sie alten Leuten gegenüber verhalten reagierte, auch wenn
sie mir erst sehr viel später von ihrer Angst erzählte und auch
davon, dass sie sich immer etwas duckte, wenn sie Flugzeuge
am Himmel sah. Die Geschichtsstunden aus der Schule waren
noch sehr präsent. Angst macht beherrschbar, sie lässt nur
langsam nach.
Innerhalb weniger Monate hatten meine Eltern sehr viel Geld
verdient. Unsere Miete stieg mit. Sie lag mittlerweile bei mehr
als tausend Mark, wir mussten eine sogenannte
»Fehlbelegungsabgabe« zahlen, denn wir wohnten ja noch
immer in einer Sozialwohnung. »Für das gleiche Geld könnten
wir doch auch Raten zahlen«, sagte mein Vater. »Wir könnten
einen Kredit aufnehmen, ein Haus bauen, und irgendwann
würde das Haus uns gehören.«
Da hatte er schon den genervten Unterton eines Menschen,
der viel verdient, aber auch glaubt, zu viel zu bezahlen. Meine
Mutter schaute ihn an. Sie sagte: »Warum nicht.«

82
83
Die besseren Ossis

Guten Abend, meine Damen und Herren. Ausreisewillige DDR-


Bürger müssen nach den Worten von SED-Politbüromitglied
Schabowski nicht mehr den Umweg über die Tschechoslowakei
nehmen. Dies kündigte er am Abend vor der Presse in Ostberlin
an. Über einen entsprechenden Regierungsbeschluss wurde in
der Fernsehsendung Aktuelle Kamera informiert. Visa zur
ständigen Ausreise, so heißt es, würden unverzüglich erteilt,
ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine
ständige Ausreise vorliegen müssten. Auch Privatreisen ins
Ausland könnten ohne Vorliegen von Reiseanlässen beantragt
werden. Auch hierfür würden die Genehmigungen kurzfristig
erteilt.«
Ich schlief, als Joachim Brauner mit seiner grau-rostroten
Krawatte diesen Text von seinem Papier ablas. Meine Eltern
saßen auf unserem neuen braunen Ledersofa und verstanden:
nichts. Sie starrten auf den Fernseher. Schon länger hatten sie
sich angewöhnt, abends die Tagesschau zu sehen. Aber heute,
an diesem 9. November 1989, war etwas anders, das spürten sie.
Sie sahen die Gesichter. Die Flaggen. Den Jubel. Und sie hatten
wieder Angst.
Sie riefen meinen Onkel an, weißt du, was da vor sich geht?
Die Mauer ist offen, sagte mein Onkel. Jetzt gerade sind sie alle
dort, sie liegen sich in den Armen, das ist ein historischer
Moment! Wollen wir nicht auch hinfahren?
Lieber nicht, sagten meine Eltern.
»Deine Mutter war total ängstlich an dem Tag«, sagt mein
Vater.
»Dein Vater ist stinkwütend von einem Zimmer ins nächste
gerannt«, sagt meine Mutter.
Wenn meine Eltern heute mit mir über die Vergangenheit
reden, tun sie das getrennt voneinander. Sie sind seit vielen

84
Jahren geschieden, und trotzdem gibt es nur wenige Ereignisse,
zu denen sich ihre Erzählungen widersprechen. Der Mauerfall
ist eines davon. Wer von ihnen eigentlich mehr Angst hatte? Der
andere.
Jedenfalls blieben sie an diesem Donnerstagabend zu Hause.
Sie waren unsicher. Wie sollten sie sich verhalten, was würde
kommen, und wie würden all die Übersiedler, die jetzt ganz legal
einreisen konnten, das Deutschland, das sie erst so kurz
kannten, verändern? Sie erinnerten sich an die Schlangen vor
den Behörden, an die Arroganz der DDR-Flüchtlinge, daran, dass
diese besser Deutsch sprachen als meine Eltern. Das wurmte
sie. Denn sie hinkten ihnen damit einen entscheidenden Schritt
hinterher bei der Challenge, die sie seit ihrer Ankunft mit
heiligem Ernst bestritten: Wer sind die Deutschesten im ganzen
Land? Nun lautete die Antwort: Ihr seid die Deutschesten hier.
Aber hinter der Mauer, in den bald neuen Bundesländern, sind
sie tausendmal deutscher als ihr!
Ich erinnere mich nicht, wie ich vom Fall der Mauer erfahren
habe. Vielleicht erst viel später. In der Schule war ich damals
noch nicht, ich hatte keine Freunde, und meine Eltern konnten
es kaum erwarten, dass ich endlich Goethe und Schiller las,
etwas über Geschichte lernte. Dass die Gegenwart ebenfalls
Stoff für Geschichtsbücher liefern konnte, daran wagten sie
nicht zu denken. Bei uns zu Hause wurde über aktuelle Politik
nicht gesprochen.
Heute weiß ich, dass meine Eltern am Abend darauf wieder
vorm Fernseher saßen und sich anschauten, was sie in den
vergangenen 24 Stunden verpasst hatten. All die historischen
Bilder, die sich nur wenige Kilometer von unserer Wohnung
entfernt abgespielt hatten und die nun die halbe Welt zu sehen
bekam. Menschen, die die Mauer erklommen, Menschen, die
sich umarmten, Menschen, die weinten, Menschen, die zur Feier
des Tages in Blaskapellen spielten, die sich ihr Begrüßungsgeld

85
abholten und es im nächsten Kaufhaus sofort wieder ausgaben.
Menschen, die Spalier standen und anderen Menschen, die in
Trabis hindurchfuhren, applaudierten. Heute erinnert mich diese
Szene an München. An die Jungen und Alten, Vertreter der
Willkommenskultur, die am Hauptbahnhof ankommende Syrer
begrüßen. Ich bekomme Gänsehaut bei diesen Bildern, mir wird
warm ums Herz. Meinen Eltern lief es damals kalt den Rücken
runter.
Hunderttausende, die unkontrolliert von Ost nach West liefen
und aus Spaß wieder zurück. Der Kurfürstendamm, eine große
Partymeile, »dit is’ im Prinzip ’n Traum, der in Erfüllung
jegangen is’, dit konnt’ ick mir nich’ vorstellen, einmal durchs
Brandenburger Tor zu jeh’n. Dit war für mich ’n Ding der
Unmöglichkeit«, sagte einer in die Kamera. Meine Eltern hatten
keine Ahnung, worum es ihm ging, aber sie verstanden dieses
Jetzt-ist-alles-wieder-möglich-Gefühl. Deutschland war wieder
vereint. Wenn auch nicht offiziell, das kam dann ein Jahr später.
Bei der Kundgebung am Schöneberger Rathaus trat zuerst
Walter Momper ans Mikrofon, Regierender Bürgermeister von
Berlin: »28 Jahre lang, seit dem Bau der Mauer am 10. August
1961, haben wir diesen Tag herbeigesehnt und herbeigehofft.
Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk auf der Welt!«
Willy Brandt, Ex-Regierender-Bürgermeister und Ex-
Bundeskanzler: »Berlin wird leben, und die Mauer wird fallen!«
Am Ende Helmut Kohl, der Bundeskanzler, der später als
»Kanzler der Einheit« in die Geschichte eingehen sollte. »Wer
wie wir, die wir gerade aus Warschau gekommen sind, dort
empfunden hat, was der Reformprozess in Ungarn und in Polen
möglich gemacht hat, der weiß, dass es jetzt gilt, mit
Bedachtsamkeit Schritt für Schritt den Weg in die gemeinsame
Zukunft zu finden. Geben Sie den Weg frei für die Willensbildung
des Volkes, durch das Volk und für das Volk.« Er wurde
ausgebuht.

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Es war eine Ironie der Geschichte, dass Kohl ausgerechnet am
9. November 1989 nach Warschau gereist war. Auf seinem
fünftägigen Staatsbesuch wollte er das traditionell schlechte
deutsch-polnische Verhältnis verbessern, war im Vorfeld aber
schon in einige Fettnäpfe getreten, als er beispielsweise
ankündigte, Auschwitz an einem Samstag, dem jüdischen
Feiertag Sabbat, besuchen zu wollen. Die Reise stand unter
keinem guten Stern. In Polen waren sie gerade dabei, den
neuen, freien Staat zu errichten, Kohl sollte dafür ein Paket an
Wirtschaftshilfen unterzeichnen. Am Abend des 9. November saß
er gerade beim Staatsbankett mit dem polnischen
Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki, als plötzlich ein
Raunen durch den Saal ging: Die Mauer ist gefallen!
Konnte er jetzt fahren, die Reise abbrechen? Nicht nur meine
Eltern, sondern auch die politische Führung Polens hatte Angst
vor einem möglicherweise bald mächtigen, wiedervereinten
Deutschland. Kohl wusste das und reiste trotzdem nach Berlin
ab. Da stand er also, zwischen all den wichtigen Männern der
Bundesrepublik, als Walter Momper sagte: »Wir
beglückwünschen die Bürgerinnen und Bürger der DDR zu ihrer
friedlichen und demokratischen Revolution!«
Meine Eltern stutzten. Revolution? Das war doch keine
Revolution! Sie waren der Meinung, dass sich die Ostdeutschen
ihre Freiheit nicht verdient hatten. Dass sie nicht so hart dafür
gekämpft hatten, jedenfalls nicht so wie die Polen. »In keinem
anderen Land war die Spitzelrate so hoch wie in der DDR«, sagt
mein Vater. Sie seien eben Preußen, und wer Preuße sei, der
bleibe regimekonform. »Das waren keine Freiheitskämpfer. Bei
diesem Regime musstest du nur ein Mal pusten, schon fielen sie
um. Bei uns in Polen, da gab es richtigen Widerstand! Bei uns
ging die Freiheit vom Volk aus! Bei uns gab es keine Nachbarn,
die sich gegenseitig bespitzelten!«

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Tatsächlich hat es sehr wohl Oppositionelle in der DDR
gegeben, Bürgerrechtler, die auf der Suche nach Freiheit auch
Richtung Polen blickten. Sie knüpften Kontakte zur Solidarność
und lernten beispielsweise, wie man im Untergrund Flugblätter
druckt, einige sahen in den Polen sogar ihr »Ersatzvolk«.
Hier ein paar Oppositionelle, dort ein ganzes Volk, das
aufbegehrt: Meine Eltern sind überzeugt davon, dass die Polen
die wahren Kämpfer für die Freiheit waren, echte Revolutionäre.
Noch heute regen sie sich auf, wenn sie Ostdeutsche sagen
hören: Früher war alles besser. Deutsch und kommunistisch und
zufrieden damit – eine beunruhigendere Kombination gibt es für
meine Eltern nicht. Wie sie blickten viele Polen abfällig auf die
DDR, manche tun es noch heute. Sie hielten und halten sich für
die besseren Ossis.
Außerdem hatten meine Eltern gehört, dass die Ostdeutschen
ihre Nazivergangenheit nicht wirklich oder gar nicht
aufgearbeitet hätten, auch das machte ihnen Angst. Die
Menschen hinter der gefallenen Mauer hatten also nicht nur
Deutsch als Muttersprache und somit eh die besseren Chancen,
sie waren auch noch potenzielle Nazis. Wer konnte eigentlich,
angesichts dieser neuen Situation, noch garantieren, dass die
Oder-Neiße-Grenze wirklich bestehen blieb und sich nicht doch
wieder nach Osten verschob?
Wir haben ihn uns übrigens nie angesehen, den Osten
Deutschlands. Auch später nicht, als wir die Familie in Polen
besuchten. Wir fuhren durch die ehemalige DDR zur Grenze,
aber wir hielten nicht an. Später, als ich schon in der Schule war,
erzählten mir meine Freunde von Sonntagsausflügen mit ihren
Eltern, die neugierig waren auf das Essen dort, die Architektur,
die Landschaft. Wir waren nicht neugierig. Wir wussten, wie
Plattenbauten von innen aussahen, wir hatten genug Grau
gehabt für ein ganzes Leben. Wir planten lieber unseren ersten
Schwedenurlaub.

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Später, als ich älter war und die Tagesschau mit ansehen
durfte, fiel mir auf, wie gleichgültig meine Eltern wirkten, wenn
es um das Weltgeschehen ging. Bis auf 9/11 schien sie nichts
wirklich zu berühren. Was würde passieren, wenn plötzlich Krieg
ausbrach? Würden sie auf die Straße gehen, laut protestieren?
Ich glaubte nicht daran. Dieses Verstummen, dieses Sich-
Wegducken: War das nicht ein Erbe des autoritären Staates, aus
dem meine Eltern eben nicht ganz hatten fliehen können? So wie
es das auch im Osten Deutschlands gab?
Genau wie die meisten Ostdeutschen hatten meine Eltern mit
der Revolution, mit dem ach so mutigen Widerstand, kaum etwas
am Hut gehabt. Mein Vater hatte sich im Sommer 1980 an den
Universitätsstreiks beteiligt – aber sonst? Kein einziges Treffen
der Solidarność, das mit ihnen stattgefunden hätte, geschweige
denn ein Mitgliedsantrag, der von ihnen ausgefüllt wurde, und
ein Jahr bevor die Gewerkschaft ganz Polen vom Sozialismus
befreien sollte, waren meine Eltern mit ihrem Polski Fiat bereits
unterwegs in Richtung Westen. Sie wussten nicht, was 1989
geschehen würde, doch als sie dann die polnische Revolution,
den Runden Tisch, die ersten freien Wahlen in der Tagesschau
verfolgten, interessierte es sie nicht viel mehr als die aktuellen
Börsen-News. Ja, gut, Polen war jetzt eben ein freies Land, aber
nicht mehr unseres. Sie wollten nicht Freiheit für alle. Sie
wollten zuerst und vor allem Freiheit für sich.
Durch den Fall der Mauer fühlten sie sich betrogen. Als
stünden sie auf einem Berggipfel, nach einem Aufstieg, der
ihnen Mut und Ausdauer abverlangt hatte, nur um jetzt zu
erfahren, dass gerade ein bequemer Sessellift fertiggestellt
worden war.
Ich fürchte, meine Skepsis dem Osten Deutschlands
gegenüber habe ich von meinen Eltern übernommen.
Hingefahren bin ich bisher nur, wenn ich musste. Dabei hätte es

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mir gutgetan, mich mehr mit den Ostdeutschen und dem Land,
in dem sie gelebt hatten, auseinanderzusetzen.
Ostdeutsche und Polen hatten in jener Zeit vieles gemeinsam.
Die Scham. Den Minderwertigkeitskomplex. Die Sehnsucht
danach, im Westen anzukommen. Und dieses komische Gefühl,
wenn sie an ihre Heimat dachten. Es war, als sei diese Heimat
ein Muttermal, von dem sie glaubten, es würde jedem sofort ins
Auge springen, deshalb verhielten sie sich immer ein bisschen
ungelenk, auch wenn ihnen alle versicherten: Das Muttermal
fällt wirklich überhaupt nicht auf!
Mit dem Mauerfall kamen auch neue Kollegen, jedenfalls ins
Krankenhaus meiner Mutter. Sie mochte sie nicht. »Die waren so
korrekt«, sagt sie, »so schleimig.« Eine neue Krankenschwester
ermahnte sie, dass sie ihre Ohrringe auf jeden Fall abnehmen
müsse, den Ehering ebenfalls, das seien eben
Hygienevorschriften, die müsste man einhalten, das sei meiner
Mutter doch wohl klar? Noch nie hatte eine Kollegin so mit
meiner Mutter gesprochen. Bisher hatte sie sich im Krankenhaus
sehr aufgehoben gefühlt, nun, davon war sie überzeugt, würden
andere Zeiten anbrechen.
Und so waren meine Eltern froh, als kurz nach der Wende die
große Euphorie sank und die Ostdeutschen plötzlich zu Ossis
wurden und Witze über Bananen und Trabis und Bananen in
Trabis über sich ergehen lassen mussten. Wie kann man den
Wert eines Trabis sehr schnell verdoppeln? Man legt eine
Banane auf den Rücksitz! Die Ära der Polenwitze war zu diesem
Zeitpunkt noch nicht angebrochen.
Noch eine Ironie der Geschichte: Mein Vater wohnt heute in
Ostdeutschland. Er hat noch einmal geheiratet, eine
Ostdeutsche. Er sagt, er fühlt sich wohl in diesem kleinen Dorf in
der Lausitz, auch wenn ihn die Gemeinschaft, die Fastnacht, das
Aufstellen vom Maibaum, das Aufstellen vom Weihnachtsbaum,
das Tauschen von Eiern gegen Schnaps, auch wenn ihn all das

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nicht wirklich interessiert. Die Leute, sagt er, seien nett. Nazis
habe er nicht getroffen.

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Deutscher als die Deutschen

Jesus! Was machst du denn da?« Meine Mutter war außer sich
und schrie wie immer lauter, als uns lieb war, und wie immer
war ihr das egal. Sie saß auf der Stuhlkante, ihre Oberschenkel
angespannt, jederzeit bereit, aufzuspringen, zu jubeln oder zu
schimpfen. »Mach doch was!« Sie sprach noch mit starkem
polnischen Akzent, aber es schien ihr Spaß zu machen, endlich
auf Deutsch schimpfen zu können.
»Cicho«, flüsterte meine Oma. »Bądź cicho.« Sei leise, doch
was sie eigentlich sagen wollte, war: Brüll nicht so laut für die
Deutschen. Es war ihr sichtlich unangenehm.
Sommer 1990, unser erster Besuch in Polen. Wir saßen vor
dem einzigen Fernseher in dieser Feriensiedlung, meine Oma,
meine Mutter, wir zwei Schwestern und ein paar andere Gäste,
in einem kleinen Bungalow am See, dessen Wände wie Karton
klangen, wenn man dagegenklopfte. Mein Vater war in Berlin
geblieben. Und während meine Mutter vor dem Fernseher
immer lauter wurde, wurden die anderen immer stiller.
Es lief die 80. Minute, Deutschland gegen England, Halbfinale,
Fußballweltmeisterschaft. Es stand 1:0 für Deutschland. Dann
kam Parker mit dem langen Ball, Kohler machte den Fehler,
Lineker schoss aus kurzer Distanz den Ball ins Tor. Gleichstand.
Auch in der ersten Hälfte der Verlängerung. Und in der zweiten.
Elfmeterschießen.
Tor Lineker, »nein!«, Tor Brehme, »ja!«, Tor Beardsley,
»nein!«, Tor Matthäus, »ja!«, meine Mutter wurde langsam
heiser, aber mittlerweile brüllten meine Schwester und ich mit,
Tor Platt, Illgner war schon mit den Fingerspitzen dran, Tor
Riedle. 4:4. Dann kam Pearce. Und verschoss! Thon. Traf. 5:4. Es
kam nun auf Waddle an. Würde sein Ball danebengehen, stünde
Deutschland im Finale. Er schoss den Ball in den Himmel.
Jedenfalls übers Tor.

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»Jetzt werden wir Weltmeister!«, schrie meine Mutter. Ihre
ganze Anspannung löste sich in Tränen auf, die deutsche
Mannschaft im Fernseher sprang von der Bank und hüpfte aufs
Feld, Beckenbauer auch, und meine Mutter hüpfte in unserem
polnischen Papphaus mit. Ich hatte sie noch nie so glücklich
gesehen. Ihre Deutschen hatten gewonnen. Der ganze Druck der
letzten zwei Jahre, das Sich-Zusammenreißen, das Sich-
Verstecken und Sich-Anpassen, es schien vorbei. Nicht nur
Deutschland, auch meine Mutter hatte gewonnen. Fußball, der
Integrationsturbo. Wir waren angekommen.
Ich weiß noch, wie peinlich mir diese Situation damals war.
Meine Schwester und ich fingen zwar auch an zu hüpfen, aber
irgendwie hatte ich das Gefühl, als würde ich wieder Theater
spielen. Wir waren doch in Polen, in unserem Heimatland,
warum taten wir so, als hätten wir mit diesem Land gar nichts
mehr zu tun? Ich freute mich, dass die Deutschen gewonnen
hatten, aber ich fühlte nicht, was meine Mutter zu fühlen schien.
Das war nicht meine Mannschaft.
Nach jenem Sommer wurde ich eingeschult. Ich war schon
sieben, ein Jahr älter als die meisten Kinder, die Behörden
hatten meinen Eltern geraten, mich noch ein Jahr Deutsch
lernen zu lassen, was meine Mutter etwas lächerlich fand. In
ihrer Vorstellung sollte mit der ersten Klasse meine Integration
abgeschlossen sein, darunter verstand sie vor allem perfektes
Deutsch und verstecktes Polnisch. Es klappte, ich fiel nicht
weiter auf, außer vielleicht durch meine ernste Art. Auf den
Fotos meiner Einschulung lächle ich nicht, und ein bisschen sehe
ich aus wie eine kleine Erwachsene, die sich beim Fasching als
Schulkind verkleidet hat, Panda-Schultüte im Arm, pinke
Schleife im Haar. Meine ganze Kindheit und Jugend lang wurde
ich älter geschätzt, als ich war. Mir gefiel das.
Meine Schulklasse bestand aus Ausländern und Deutschen.
Ausländer, das waren Araber, Jugoslawen, Italiener und Türken.

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Deutsche, das waren Polen, Weißrussen, Russlanddeutsche und,
klar, Deutsche natürlich auch. Die Ausländer, das waren die, die
»anne« schrien, wenn sie ihre Mutter meinten, andere brüllten
»kurvo«, wenn sie sich ärgerten. Das Wort kam mir bekannt vor,
erst später erfuhr ich, dass das serbokroatisch war. Meine
Mutter tolerierte meine neuen Freunde. Aber es war klar, was
sie dachte: Wir waren besser als die.
In der Klasse 1A, wo sonst, waren einige Polen. Und es dauerte
nur ein paar Wochen, bis sich herausstellte, dass wir Polen die
Klassenbesten waren. Wir blieben es jahrelang.
Heute interessiert sich deshalb die Wissenschaft für uns. In
Deutschland gibt es kaum Forschung darüber, wann Integration
funktioniert und wann nicht. Was überhaupt gute Integration
ausmacht. Klar ist nur: Auf Bildung und Arbeit kommt es an. In
diesen Bereichen, das hat man mittlerweile in Studien
festgestellt, sind Polen die Champs. Sie lernen die Sprache
schneller als andere Migranten. Sie studieren öfter. Integrieren
sich besser in den Arbeitsmarkt. Heiraten eher Deutsche als
Polen. Polnische Mädchen schneiden in der Schule sogar oft
besser ab als ihre deutschen Freundinnen. Und fallen dabei als
Polinnen gar nicht auf. Als Migranten sind sie unsichtbar.
Die Studien klingen, als sei das ein Erfolg. Als würden sich
Menschen ernsthaft wünschen, lieber nicht gesehen zu werden.
Meine Mutter verglich uns nicht mit anderen Migranten,
sondern mit der Gruppe, zu der wir ja auch gehören wollten. Sie
wiederholte es wie das Vaterunser: »Du musst dich mehr
anstrengen als die deutschen Kinder!« Einmal kam ich mit einer
Zwei plus nach Hause. Meine Mutter legte ihren Blazer mit den
dicken Schulterpolstern auf einen Stuhl. Sie schaute ins Heft,
auf dieses Diktat, es war eins unserer ersten, und ich hatte bei
»Röhre« das »h« vergessen und ein Komma nicht gesetzt, wo es
hingehörte. Zwei Fehler also. Ihre Stirn legte sich in Falten.
»Aha«, sagte sie, fuhr mit dem Finger weiter nach unten, und

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dann noch einmal: »Aha.« Als müsste sie über jeden Fehler, den
ich gemacht hatte, gesondert nachdenken. Nachdem sie beide
eine Weile studiert hatte, durchbrach sie endlich die Stille. »Ich
verstehe das nicht, Mila, wo war denn das Problem, hast du
nicht genug gelernt?« Das Problem war, dass ich Röhre ohne »h«
geschrieben und zwei Hauptsätze nicht durch ein Komma
voneinander getrennt hatte, aber das wollte meine Mutter nicht
hören, sie wollte auf etwas anderes hinaus: Null Fehler, das war
in ihrer Vorstellung der Normalzustand. Ein Fehler war schade,
aber konnte passieren, eine Unachtsamkeit eben, beim nächsten
Mal würde man besser aufpassen. Nur: zwei Fehler? Das
bedeutete, etwas war grundlegend schiefgelaufen, jemand hatte
seine Aufgabe nicht ernst genommen. Wirtschaftsflüchtlinge,
heißt es, arbeiten am härtesten. Sie wollen es schaffen. Nur
deshalb sind sie ja ausgereist.
Rückblickend betrachtet, fühlt sich diese Episode lächerlich
an, irgendwie surreal. Aber so war es. Meine Mutter war eine
Tiger-Mom, als der Begriff noch gar nicht existierte. Sie vertrat
eine Null-Fehler-Politik.
Wenn ein Mensch von einem Land in ein anderes zieht, kommt
zu den Rollen, die er in seinem Leben einnimmt, eine weitere. Er
ist nun nicht mehr nur Arzt, Vater und Literaturliebhaber oder
Ärztin, Mutter und Modefan, er oder sie ist jetzt auch:
Einwanderer oder Einwanderin. Je mehr Rollen, sagen Forscher,
desto mehr Spannungen. Vielleicht haben meine Eltern einfach
beschlossen, diese Spannung zwischen zwei Kulturen so klein
wie möglich zu halten. Sie legten die Rolle der Polen ab. Und
büffelten dafür umso mehr für die der Deutschen.
Dieses Land wies viele Menschen ab. Uns aber sah es als
Deutsche. Hätten wir in dieser Situation die Hand heben und
sagen sollen: Aber wir bleiben auch immer noch polnisch, okay?
Nein, wir wollten nicht erkannt werden. Wenn wir andere
Polen im Supermarkt hörten, rollten wir mit den Augen. »Nur

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weil ich Polen im Ausland treffe, heißt das ja nicht, dass sie
meine Freunde werden müssen«, sagte mein Vater. Später
wurde mir klar, dass wir nicht die Einzigen gewesen waren, die
andere Polen mieden. Die meisten gaben sich, wenn sie sich in
der Öffentlichkeit begegneten, untereinander nicht zu erkennen.
Genau wie die Deutschen im Ausland.
Im Grunde taten wir das, was die Politik auch heute als
Garantie für gelungene Integration verkauft: Wir hielten uns
fern von unseren Landsleuten. Wenn es in dieser Zeit so etwas
wie Integrationsmeisterschaften gegeben hätte, wir hätten jedes
Jahr Gold geholt. Wir verzichteten auf eine Bindestrich-Identität
als Deutsch-Polen und wurden fast deutscher als deutsch. Die
Wissenschaft nennt das: Assimilation.
Haben wir es richtig gemacht? Wie kommt man am besten an
in einem fremden Land, was ist das genau, gute Integration,
außer die Sprache lernen, Arbeit und Freunde finden? Und
welche Rolle spielt bei alldem eigentlich das Herkunftsland? Hat
am Ende gewonnen, wer als Migrant nicht mehr erkennbar ist?
Auch wenn wir in Deutschland erst langsam damit beginnen,
uns all diese Fragen zu stellen, so ist schon jetzt klar:
Integration wird nicht nur von oben verordnet. Sondern auch
von unten entschieden. Wie Migranten ihre Identität definieren,
für welche Art von Leben in Deutschland sie sich entscheiden,
ist keine Privatsache, sondern ein Politikum. Als die Gastarbeiter
Anfang der 1960er Jahre aus Italien, Griechenland und der
Türkei angeworben wurden, galt es als ausgemacht, dass sie
nicht dauerhaft in Deutschland bleiben würden. Sie blieben aber.
Und mit ihrer Entscheidung schufen und prägten sie eine neue
Realität, jenseits politischer Wunschvorstellungen. Es dauerte
Jahrzehnte, aber irgendwann drang diese neue Realität durch:
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Mittlerweile gibt es
sogar Politiker, die »Integration« als Staatsziel im Grundgesetz

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verankern wollen, wie 1994 den Umweltschutz und 2002 den
Tierschutz.
Trotz dieses Eingeständnisses gilt in Deutschland nach wie vor
das Paradigma: Ein guter Ausländer ist unsichtbar. Ist er
sichtbar, dann wird er meist auch als Problem wahrgenommen.
Noch immer scheint ethnische Vielfalt ein Symbol für
gescheiterte Integration zu sein. Wo keine homogene Masse zu
sehen ist, wo man die Migranten als solche erkennt, muss etwas
falschgelaufen sein. Migranten dürfen nicht richtig arm sein
oder richtig reich. Wer auffällt, ist verdächtig.
Und vielleicht sind die unsichtbaren Polen mit schuld an
diesem Dilemma. Warum geben sich so wenige erfolgreiche
Migranten auch als solche zu erkennen, als Vorbilder, die
selbstbewusst auftreten und sagen: Ich bin X und ich bin Y, und
das ist doppelt gut? Noch immer verbergen Menschen ihre
Einwandererbiographien, so gut sie können. Dabei kann es gar
nicht genug erfolgreiche Migranten geben, Role-models, die
auch als solche wirken.
In der Grundschule fielen mir immer die türkischen Kinder auf,
die so viel sichtbarer waren als wir. Nicht nur, weil sie anders
aussahen. Sondern auch, weil sie einen Teil dessen, was Heimat
für sie war, hier weiterlebten. Sie aßen kein Schweinefleisch,
manche trugen Kopftücher und schienen glücklich damit, andere
ärgerten sich über ihre Väter, die verhinderten, dass sie auf
Klassenfahrt mitfuhren. In beiden Fällen aber war ihre Herkunft
für die Öffentlichkeit sichtbar – was auch dazu führte, dass
Kulturkonflikte öffentlich diskutiert wurden. Dass es polnische
Väter gab, die streng religiös und autoritär waren und ihren
Töchtern verboten, Freunde zu besuchen, das weiß kaum
jemand. Diese Konflikte spielten sich im Verborgenen ab.
Kroatische Mütter schwärmten von ihren Sommerhäusern an
der Adria. Türkische Mütter pulten gemeinsam auf dem Platz
Sonnenblumenkerne, zum Schulfest brachten sie

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selbstgemachten Börek mit. Meine Mutter wäre im Leben nicht
auf die Idee gekommen, einen Bigos zu kochen. Sie buk Quiche.
Klar: Den Polen war es auch möglich, unsichtbar zu werden.
Sie waren weiße, privilegierte Aussiedler, die auf dem Papier
deutsch waren, selbstverständlich hatten sie es leichter. Die
kulturellen Unterschiede meiner beiden Länder waren nicht sehr
groß, beide waren christlich geprägt, und die Nähe funktionierte
zumindest in eine Richtung. Die meisten Polen nämlich waren
mit der deutschen Kultur vertraut, kannten Beethoven und
Goethe aus der Schule.
Unterschiede gab es dennoch. Auch kulturelle, doch die
meisten Polen nahmen damals vor allem die wirtschaftliche Kluft
wahr. Ende der 1980er Jahre war sie zwischen Deutschland und
Polen sogar gewaltig. Sozialismus und Kapitalismus, Arm und
Reich, Grau und Glitzer, die zwei Länder konnten damals kaum
unterschiedlicher sein. Meine Familie und viele andere Polen,
wir waren die Grauen. Und wir schämten uns. Wir wollten so
gern Glitzer sein.
Wenn ich heute darüber nachdenke, wünsche ich mir, wir
wären als Migranten sichtbarer gewesen. Hätten die
Anstrengung und Mühe, die es kostete, hier anzukommen, mehr
gezeigt. So war es, als trügen wir ein unsichtbares Gepäck auf
dem Rücken und müssten dennoch immer aufrecht gehen. Wir
trauten uns nicht, zuzugeben, dass Integration auch schwer sein
kann.
Nach außen haben wir geschafft, woran viele Migranten in
Deutschland scheitern. Wir wurden deutsch und waren seitdem
auf der Flucht nach vorn. Wir hatten etwas vom Staat bekommen
und fühlten uns in seiner Schuld. Wir warteten nicht, bis man
Integration von uns forderte, wir leisteten sie freiwillig, immer
einen Schritt voraus. Waren wir einfach besonders
integrationsbegabt? Oder könnte das auch bei anderen
Migranten funktionieren? Ich glaube, es könnte. Unsere Familie

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ist aber auch der beste Beweis dafür, dass Integration nie
einseitig funktioniert. Sie muss vom Staat gewollt sein, nicht nur
ideell.
Die Gastarbeiter, die nicht bleiben sollten, kämpften
jahrzehntelang um ihren Platz in der deutschen Gesellschaft. Die
Flüchtlinge, die in den vergangenen Jahren kamen, werden oft
nur geduldet, bekommen kein Asyl. Duldung, allein das Wort!
Alle drei Monate laufen sie zum Amt, die Abschiebung im
Nacken, manchmal jahrelang. Das nennt sich dann
Kettenduldung, es klingt wie ein Spiel. Auch die, die offiziell
bleiben dürfen, finden oft weder Wohnung noch Job. Nur mal so,
ein bescheidener Gedanke: Was würde passieren, wenn der
Staat all diesen Wartenden etwas entgegenkäme? Mit einer
Aufenthaltsgenehmigung, einer Arbeitserlaubnis, einem
Patensystem mit direkten Ansprechpartnern? Würden diese
Migranten nicht auch mehr zurückgeben und leisten wollen? So
wie wir?
Ich frage meine Eltern, wie heute die Integration von
Flüchtlingen in Deutschland gelingen kann. »Sie dürfen auf
keinen Fall in Heimen untergebracht werden«, sagt meine
Mutter. »Da sind sie unter sich und bekommen keinen Kontakt
zu Deutschen, und das ist das Schlimmste, was man ihnen antun
kann.«
Mein Vater sagt: »Die Sprache ist das Wichtigste. Ohne sie
geht nichts. Heute muss ich aber auch sagen: Ich weiß nicht, wie
man eine neue Sprache lernen kann, ohne die alte aufzugeben.«
An einem Tag vor den Ferien hatte unsere Lehrerin ein kleines
Spiel vorbereitet. Jeder sollte die Flagge seines Landes malen
und an die Tafel hängen. Ich kannte das Spiel, ein ähnliches
hatten wir schon im Flüchtlingsheim gespielt, im Kindergarten.
Ich beeilte mich und ging als Erste nach vorn, mit einem DIN-
A4-Blatt voller Schwarzrotgold. Dann kamen die anderen. Rot,
mit Mond und kleinerem Sternchen. Rot und Weiß und Blau, mit

100
größerem Sternchen. Rot und Weiß und Rot, mit Tannenbaum in
der Mitte. Ich weiß noch, wie unwohl ich mich in dieser
Situation fühlte. Ich hatte das Gefühl, gelogen zu haben.
Schwarzrotgold waren offiziell meine neuen Farben, aber
Rotweiß, das ahnte ich, wären ehrlicher gewesen. Nun hatte ich
Farbe bekannt. Es war zu spät, das zurückzunehmen.
Meine Mutter kaufte alle zwei Wochen die Brigitte und hatte
bald einen ganzen Ordner fein säuberlich eingehefteter Rezepte
beisammen. Die 100 besten Pastagerichte, französische
Bistroküche, so gelingen Ihnen Buchteln, was macht man mit
Chicorée? Für die Schulpausen schmierte sie mir Vollkornbrot
mit Margarine und Bergkäse, manchmal streute sie Kresse
drauf, auch das hatte sie aus der Brigitte. In der Schulpause
stellte ich oft fest, dass meine Schulkameraden Schrippen mit
Nutella mitbekommen hatten oder Milchschnitte.
Meine Eltern gingen selten aus, noch immer verschoben sie
das Vergnügen auf später und arbeiteten lieber. Aber an einen
Abend, an dem sie nicht da waren, erinnere ich mich genau.
Vielleicht gab es ein Familientreffen, vielleicht war es auch gar
nicht abends, sondern nachmittags. Jedenfalls war es Winter und
dunkel, meine Schwester war mit ihnen gegangen. Als ich
alleine im Wohnzimmer saß und malte, merkte ich, dass mein
Vater die Stereoanlage angelassen hatte. Ich schaute auf die CD-
Hülle, die dort lag, »W. A. Mozart« stand da, und »Requiem«.
Was ein Requiem war, wusste ich damals noch nicht. Ich fühlte
nur diesen kalten Schauer. Die Bässe im Chor. Sie klangen
irgendwie böse, unheimlich. Die Streicher hörten sich an wie
scharfe Messer. Immer wenn ich die Trommel hörte, dachte ich,
jemand würde mich gleich holen kommen. Und als irgendwann
ein wilder Galopp durchs Wohnzimmer dröhnte, mit ganz tiefen
Instrumenten, spürte ich, dass dieser Moment etwas bedeutete,
etwas in mir weckte. Eine neue, fremde Sehnsucht. Eine Ahnung
von Gefahr und Rettung zugleich.

101
An diesem Abend siegte die Angst. Ich floh vor der großen
Glasfront im Wohnzimmer, durch die man ins Dunkle sehen
konnte, legte mich oben ins Bett und drückte mir das Kissen auf
die Ohren. Als meine Eltern nach Hause kamen, war ich
eingeschlafen.
Bald danach fing ich in der Blockflöten-AG an. Es war das
erste Mal, dass ich etwas Eigenes hatte, etwas, das meine Eltern
nicht verstanden. Sie konnten weder Noten lesen noch singen,
sie hörten Musik gern, aber sie wussten wenig darüber. Ich
mochte die Blockflöte, vor allem die große, die tiefer klang.
Den Samstagabend verbrachten meine Eltern meist vor dem
Fernseher. Wenn Wetten, dass..? lief, durften wir Kinder
mitschauen. In Wejherowo hatten sie uns höchstens Bolek i
Lolek gucken lassen, die polnische Kinderserie, dabei war
Wetten, dass..? so viel besser, das ging manchmal bis
Mitternacht! Meine Schwester und ich liebten die Show. Ein
Mann, der mit seiner Zunge verschiedene Kakteenarten
erkennen konnte. Ein Mann, der 55 Waschmaschinen zu einer
Pyramide stapelte. Vier Männer, die unter eine Badekappe
passen wollten.
Meine Mutter bewunderte Thomas Gottschalk, seinen Humor,
sein Selbstbewusstsein, was für Klamotten er trug, so etwas
würde sie sich nie trauen! Das Einzige, was sie bei Gottschalk
vermisste, war die Werbung. Für meine Mutter war Werbung auf
RTL oder SAT1 keine Pinkel- oder Kühlschrankpause, sie bot
eine weitere Möglichkeit zu lernen. Eine Frau, die mit einer Art
Perücke den Boden wischte. Eine Nudelsoße, die versprach,
»den Italiener in dir« zu wecken. Knoblauchdragees, die
verstopfte Arterien befreiten. Eine Frau, die stöhnte, weil sie die
richtigen Chips aß oder die richtigen Kekse. Wäre meine Mutter
damals gefragt worden, mit wem sie am liebsten einen Tag lang
tauschen würde, hätte sie wahrscheinlich gesagt: mit der Frau in
der Raffaello-Werbung. Im weißen Kostüm und mit weißem Hut

102
über eine weiße Terrasse schlendern. Vollkommen ohne
Schokolade. Werbung schien für meine Mutter ein guter
Kompass dafür zu sein, wonach sich eine deutsche Frau im Jahr
1990 zu sehnen hatte.
 
Und heute? Was ist heute deutsch? Die Mitgliederzahlen der
Schützenvereine sinken, immer mehr Menschen essen kein
Fleisch, Gottschalk ist mittlerweile Rentner in Malibu, und die
Quoten für den Tatort waren schon mal besser. Woran also sich
anpassen? Die Mehrheit der Deutschen ist der Meinung,
Deutschsein bedeute mehr, als einen deutschen Pass zu besitzen,
das hat kürzlich eine Studie festgestellt. Es habe etwas mit
einem »Nationalcharakter« zu tun, mit Kultur, mit Traditionen.
Der Deutsche, sagten die Teilnehmer über sich, sei pünktlich,
ordentlich, fleißig, zuverlässig. Auf mich wirkt dieser Gedanke
etwas traurig und hilflos.
Aber bitte: Pünktlich, ordentlich, fleißig, zuverlässig – all das
war ich damals schon. Im Frühsommer 1991 wurde mir dies
auch schriftlich bestätigt.
Emilia hat ein gutes Verhältnis zu allen Mitschülern und gilt
als beliebte Spielpartnerin. In der Gruppe versteht sie es, ihre
Vorstellungen einzubringen, ohne dabei die eigenen Bedürfnisse
zu stark in den Vordergrund zu stellen. Bei der Arbeitsplanung
geht sie gründlich vor und arbeitet sehr zügig und sicher. Mit
Eifer widmet sie sich allen Aufgaben aus dem Bereich Bildende
Kunst, die sie mit Einfallsreichtum und Gestaltungsfreude
angeht. Emilia besitzt eine ausgezeichnete Merkfähigkeit und
lernt darum Gedichte und andere Texte sehr schnell auswendig.
Da sie auch über einen umfangreichen Wortschatz verfügt,
vermag sie Erlebnisse treffend zu schildern.
Im Lernbereich Deutsch sind ihr alle Buchstaben geläufig. Sie
ist bereits in der Lage, unbekannte Texte fließend und auch
sinnentnehmend zu lesen.

103
Im Lernbereich Mathematik rechnet sie sehr zügig und kommt
ohne Anschauungsmittel zu einwandfreien Ergebnissen. Ihr
Betragen ist vorbildlich.
So nichtssagend dieses Erste-Klasse-Zeugnis war, so süchtig
wurde ich nach allen Zeugnissen, die kommen sollten. Diese
Stille im Klassenraum. Das Kribbeln, wenn sie ausgeteilt
wurden. Was hast du in Mathe? In Deutsch? Musik? In das Buch,
das man damals Freunden zum Ausfüllen nach Hause mitgab,
schrieben mir meine Schulkameraden in die Kategorie »Was ich
dir wünsche« meist: »viele Einsen«. Der wichtigste Moment aber
kam erst am Nachmittag, wenn ich meinen Eltern das Zeugnis
mit einem Stift unter die Nase hielt. Lächelt mein Vater? Was
denkt meine Mutter? Mit der Zeit gewöhnte ich mir an, nicht zu
viel zu erwarten. Denn was zurückkam, war nie genug.

104
105
Polnische Inseln

Der Sonntag war in unserer Familie der Tag, an dem man lieber
ein Jäckchen mitnahm. Meist war es schon voll, wenn wir das
kühle Gemäuer betraten, »przepraszam«, sagten wir leise,
Entschuldigung. Es war noch das Jahr 1990, zwei Jahre nun
sprachen wir kaum mehr Polnisch, unsere Zungen waren etwas
träge, als sie »dziękuję« formten, und doch erlaubten wir uns an
diesem Ort das Polnische weiterhin: in der polnischen
Kirchengemeinde in Berlin-Tempelhof. Wir quetschten uns in
eine Bank. Das dichtgedrängte Sitzen sollte uns später noch zum
Verhängnis werden.
In einer deutschen Kirche waren wir auch schon gewesen,
kurz nach unserer Einreise. Mir war aufgefallen, dass die
Deutschen große Anzeigetafeln hatten, auf denen stand, welches
Lied im Gesangbuch als Nächstes dran war – äußerst praktisch,
so konnte man vorblättern und sich die Noten anschauen oder
den Text verfolgen.
In der polnischen Kirche jedoch fühlten wir uns anfangs
sicherer, immerhin verstanden wir dort etwas. Es war die letzte
Bastion unserer alten Identität, und obwohl meine Eltern der
Kirche immer auch kritisch gegenübergestanden hatten, fiel es
ihnen schwer, sich von ihr zu lösen. Mehr noch, es schien, als
würde ihre Beziehung zur polnischen Kirche in Deutschland
stärker werden. Sprache, Kleidung, Essen, Fernsehen – auf
unserer deutschen Checkliste hatten wir in den vergangenen
zwei Jahren so einiges abgehakt. Vielleicht kam es da nicht so
drauf an, was wir sonntags um zehn machten. Die meisten
Deutschen frühstückten an diesem Tag ausgiebig, mit Rührei
und aufgebackenen Brötchen, sie bekamen also gar nicht mit,
dass wir zur selben Zeit ordentlich Weihrauch inhalierten.
In der polnischen Kirche gab es von allem ein bisschen zu viel.
Als bräuchte es das, so fern der Heimat, diese Überdosis an

106
Weihrauch, an laut singenden Omas, an einer gewissen
Theatralik. Die Orgel, in ihrer Wucht auch etwas unheimlich,
war der Grund, warum ich mich immer auf die Kirche freute.
Dieses größte aller Instrumente, das die Gläubigen daran
erinnern soll, wie klein sie doch waren, gab mir ein Gefühl der
Stärke. Ich verbrachte die Messen damit, auf ihr Ende zu
warten, auf den Moment, in dem der Organist keine Gesänge
mehr, sondern einfach drauflosspielte. Die wenigen, die während
der Schlussakkorde sitzen blieben, schauten sich um und
blickten nach oben, was ich nie verstand, man konnte Musik
doch nicht sehen! Ich saß, meist mit geschlossenen Augen, in
meiner Bank, der gewaltige Klang fuhr durch meinen Körper,
und ich konnte mir nicht vorstellen, dass es in Zukunft etwas
geben könnte, was mich mehr berühren würde. Ein Jahr später,
mit acht, würde ich meinen ersten Klavierunterricht bekommen,
aber es sollte noch weitere Jahre dauern, bis ich endlich direkt
unter der Orgel saß.
Erstkommunion, Firmung, Hochzeit, wöchentliche Beichte –
ein polnisches Leben wird von der Kirche strukturiert. Und auch
wenn man will, entkommt man ihr nicht. In Polen ist es keine
Seltenheit, dass ein Priester zu einem politischen Thema in den
Hauptnachrichten im Fernsehen interviewt wird. Damals wie
heute.
Die Deutschen bekamen ihre Kirchen nur an Weihnachten voll,
in ihren Wohnungen hingen auch keine Bilder von Karol Wojtyla.
In Polen gehörte der polnische Papst zum Inventar eines jeden
Haushalts, wie Kühlschrank und Föhn. Meistens hing das Bild im
Schlafzimmer, manchmal im Arbeitszimmer, fast immer auch in
der Küche, Polen galten schließlich als gastfreundlich. Bei uns in
Wejherowo und bei meiner Oma in Danzig gab es allerdings
keinen Papst an der Wand, mein Vater hielt nichts von diesem
Personenkult. Unterschiede zwischen deutschem und

107
polnischem Katholizismus zeigten sich aber auch in der Kirche
selbst. Was bei einer polnischen Messe anders läuft:
Die Gemeinde ist grundsätzlich, ob beim Beten oder Singen,
lauter als der Priester.
Der wiederum ist kein Mann der Schönfärberei, mindestens
einmal pro Predigt fällt das Wort »Hölle«.
Die Kirche ist keine Freizeitveranstaltung. Die Frauen tragen
Hut (draußen!), mindestens aber zum Kostüm passende Schuhe,
die Männer: Sakko, immer.
Das Klimpern beim Einsammeln der Kollekte ist nicht zu
überhören (das ist gewollt und bedeutet nicht automatisch, dass
Polen großzügiger sind).
Während der Kollekte läuft ein Messdiener wachsam die
Reihen entlang. Gott sieht alles. Seine Helfer auf Erden sehen
mehr.
Zur Kommunion gehen alle. Beichten kann man schließlich
vorher.
Die Sonntagsmesse führte bei mir immer, wirklich immer, zu
Hunger und Müdigkeit, zu einer Form des Ausgelaugtseins, die
ich sonst nicht kannte. Aber auch als ich später, nach meiner
Erstkommunion, auf der traurigen Oblate rumkauen durfte,
änderte das nicht viel. Sie blieb oben am Gaumen kleben und
bildete einen sauren Geschmack im Mund. Jedes Mal wieder
versprach ich mir zu viel von ihr.
Sosehr ich es in der polnischen Gemeinde genoss, die Sprache
zu hören – »Erbarme dich unser«, klingt schön, »Zmiłuj się nad
nami« klingt schöner –, so sehr langweilte mich alles andere.
Diese Choreographie aus Stehen, Sitzen, Knien.
Glaubensbekenntnis, Fürbitten, Kollekte, Vaterunser. Ich starrte
auf die Rücken und Hinterköpfe in den Bänken vor mir. Ich sah,
dass polnische Männer auch in Deutschland
überdurchschnittlich oft Goldkette und ihre Haare kurz rasiert
trugen, obwohl manche von ihnen Köpfe hatten, die ein bisschen

108
aussahen wie Birnen. Ich versenkte mich in den Anblick des
grauen Gemäuers und zählte, aus wie vielen Scherben die
bunten Kirchenfenster bestanden.
Die Rettung aus der Langeweile – und gleichzeitig unser
Verderben – war meist der Priester. Er sang grundsätzlich zu
laut und zu schief, als hätte er zu viel vom Messwein getrunken,
und während er die Töne schleifte, fing es meist an: Meine
Schwester und ich schauten demonstrativ in entgegengesetzte
Richtungen. Manchmal räusperte ich mich, manchmal zuckte
verräterisch ihre Schulter. Doch es kam noch schlimmer. Der
Priester hob zur Predigt an und verfiel in einen heulenden
Singsang, wie eine alte Frau, die über ihre Gicht lamentiert. Ich
hörte meine Schwester vorsichtig ausatmen. Während draußen
vor der Kirche polnische Obdachlose saßen, deren Alkoholismus
man sah und roch, predigte der Priester drinnen Abstinenz – und
klang selbst etwas besoffen.
»Lasst euch nicht verführen vom Alkohol, der vorgibt, euer
Freund zu sein!«
Wieder ein Räuspern, diesmal von meiner Schwester.
»Liebt Jesus und vertraut auf ihn!«
Ich gluckste kurz, fing mich aber wieder.
»Nur die Abstinenz bringt Freiheit!«
Nun konnte ich nicht mehr, es musste irgendwie raus, ich
beugte mich zu meiner Schwester rüber und sagte: »Na, der
muss es ja wissen.« Meine Schwester presste ihre Lippen
aufeinander. »Hör auf!«, zischte sie, aber da war es schon zu
spät. Wir versuchten, nur leise loszuprusten, was natürlich
misslang, der Druck, lachen zu müssen, aber nicht lachen zu
dürfen, war zu groß geworden. Der Kopf meines Vaters schnellte
zur Seite. Er schaute uns an. Auf seiner Stirn bildete sich eine
tiefe Falte, wir hielten die Luft an. Meistens half das, für den
Moment. Nur leider saßen wir eben so dicht beieinander, dass
jede von uns regelrecht spüren konnte, wie die andere vor

109
Spannung fast platzte. Die Schultern, die bebten. Die Hand, die
sich vor den Mund legte. Die Faust, die sich in den Mund schob.
Wir implodierten fast. Am Ende ließ sich auch meine Mutter
anstecken. »Hört jetzt auf, Kinder!«, sagte sie, und Sekunden
später lachte sie los. Die anderen in der Kirche müssen uns für
komplett irre gehalten haben.
Nach der Messe, mein Vater war noch immer leicht
angesäuert, liefen wir zum Auto, die Obdachlosen hielten uns
ihre Mützen hin, aber wir hatten doch schon gespendet,
drinnen! Es waren wenige, die es in diesen Jahren in
Deutschland nicht schafften, und doch (oder vielleicht deshalb?)
suchten sie die Nähe zu ihren Landsleuten. Wir beachteten sie
nicht. Wir kicherten uns bis zu unserem geparkten Mazda. »Na
ja, wir sind eben noch immer die Śmiechowscy«, sagte meine
Mutter. »Wie würde das auf Deutsch heißen – die Lachenden?«
Niemand sprach es laut aus, aber insgeheim waren wir froh,
dass wir unseren polnischen Namen nur eingedeutscht hatten –
und nun nicht etwa Meier oder Müller hießen.
Meine Erstkommunion fand 1993 statt. In einer deutschen
Kirche, aus rein pragmatischen Gründen. Meine Eltern hielten
es für sinnvoller, dass ich zum wöchentlichen
Kommunionsunterricht in die uns zugeteilte deutsche Gemeinde
zu Fuß ging, als mit der U-Bahn vom Norden Berlins in den
Süden zu fahren.
Wochenlang hatte ich diesen Mädchentraum im Kopf gehabt.
Ich würde in meinem weißen Kleid (mit Puffärmeln!) Richtung
Altar schreiten, das Haar gelockt, einen Blumenkranz auf dem
Kopf. Meine Mutter hatte weiße Handschuhe besorgt, die mir bis
zu den Ellenbogen reichten und die ich etwas übertrieben fand,
aber sie hatte sie in diesen alten englischen Filmen gesehen,
also gab es keine Diskussion.
Am Samstag davor erwachte ich mit einer roten Wange, die im
Laufe des Tages immer röter wurde. Ich bekam Fieberschübe.

110
Mein Vater und ich fuhren ins Krankenhaus, Diagnose:
Gesichtsrose. Eine Gürtelrose, die im Gesicht auftritt,
normalerweise bei Frauen ab dreißig, ich bekam sie mit zehn.
Ich musste Antibiotika nehmen und wollte mich nur ins Bett
verkriechen, mittlerweile sah meine rechte Wange aus wie ein
rohes Steak. Alle würden sie auf mich zeigen und flüstern: Wie
sieht die denn aus?
Auf den Fotos meiner Erstkommunion ist das rohe Steak
jedoch kaum zu sehen. Als hätte mein Vater darauf geachtet,
mich immer nur von der linken Seite zu fotografieren.
Unglücklich und krank wirke ich dennoch. Was deutlich mehr
glänzt als meine Augen ist die orangefarbene Digitalanzeige, die
rechts unten auf den Bildern das Datum zeigt: »APR 19 ’93«,
amerikanische Schreibweise, mein Vater hatte an dem Tag eine
neue Kamera ausprobiert. Meine Mutter, wie sie mir die Haare
macht, gestresst und besorgt. Meine Oma, wie sie mir über die
kranke Wange streicht. Meine Schwester, wie sie in die Sonne
blinzelt. Und ich, wie ich mich sichtlich bemühe, auf dem
Gruppenfoto mit all den anderen kleinen Bräuten zu lächeln.
Ich erinnere mich, dass dieser eine Gedanke damals in meinem
Kopf aufploppte: War meine rote Wange die Strafe Gottes? Dafür,
dass ich meine Erstkommunion, den wichtigsten Tag einer
jungen Katholikin, in einer deutschen Kirche beging? So dachte
ich damals, und wenn ich ehrlich bin, ist es ein Denkmuster, dem
ich auch heute noch ab und an verfalle. Ich bin vor Jahren schon
aus der Kirche ausgetreten, doch das bewahrt mich nicht davor,
moralische Zusammenhänge zu sehen, wo keine sind. Ein
Unglück ist passiert, kein Wunder – hatte ich doch gerade heftig
mit meinem Freund gestritten. Oder meine Mutter beschimpft?
Den Bettler am Supermarkt ignoriert? Mögliche Gründe gab es
immer.
Da meine Erstkommunion in einer deutschen Kirche
stattgefunden hatte, hatte es keinen Sinn mehr, noch in die

111
polnische zu gehen. Der deutsche Gottesdienst war modern,
kurzweilig, er entsprach viel eher den Ansprüchen meiner
Eltern, die eben nicht mehr polnisch und nicht erzkatholisch
waren. Der deutsche Gottesdienst war aber auch: langweilig. Es
gab keinen besoffenen Priester, von der Hölle war keine Rede
mehr, und so fielen am Ende auch die Lachanfälle weg. Es blieb
nur noch eine polnische Insel in unserem Leben in Deutschland:
Weihnachten.
 
Sosehr sich meine Eltern das Jahr über abmühten, Deutschlands
beste Deutsche zu werden, so sehr verweigerten sie sich an
Weihnachten. Wir feierten eine polnische Wigilia, fern von
Kartoffelsalat und Würstchen, da war nicht dran zu rütteln.
Nicht, dass ich es versucht hätte. Ich liebte unseren
Heiligabend. Als ich später erlebte, wie Deutsche ihn feiern, war
ich maßlos enttäuscht. Heiligabend hieß bei ihnen im Grunde,
schnell zu essen und dann Geschenke auszupacken. Keine
Spannung. Kein Glanz. Keine Tradition. Es sei denn, man hielt es
für eine Tradition, die Wiener Würstchen jedes Jahr bei
demselben Metzger zu kaufen.
»Wie kulturlos«, hatte meine Mutter gerufen, nachdem ihr
jemand im Flüchtlingsheim vom Berliner Weihnachtsfest erzählt
hatte. Und nach unserem ersten Weihnachten in Deutschland,
das wir unter Tränen bei meiner Tante gefeiert hatten, zog
meine Mutter es in den folgenden Jahren vor, den Heiligabend
selbst auszurichten – es sei denn, wir verbrachten ihn in Polen,
bei den Großeltern.
Schon Wochen vorher, um den Ersten Advent herum, geriet
meine Mutter in einen Zustand äußerster Anspannung. Wir
ließen sie machen. Die Oblaten aus der Kirche holen,
Baumschmuck besorgen, den Tannenbaum kaufen, aufstellen,
schmücken. Putzen. Backen. Lebkuchen, Aniskekse,
Mohnstollen. Die Piroggen mit Kraut vorbereiten, den Karpfen

112
kaufen – tot allerdings, nur in Polen war er noch einige Stunden
munter in der Badewanne geschwommen. Den Borschtsch
aufsetzen, den Karpfen braten, die Piroggen mit Kraut kochen.
Selbst am 24. Dezember stand meine Mutter noch stundenlang
mit Lockenwicklern und Schürze in der Küche. Von dort aus
dirigierte sie meine Schwester und mich durch die Wohnung.
»Acht große, acht kleine und acht tiefe Teller!«
»Und Besteck, das schöne!«
»Und Platzdeckchen drunter, nein, ich habe bei Karstadt neue
gekauft, so dunkelrot!«
»Aber so könnt ihr doch keine Servietten falten!«
»Mila, komm mal her! Trag das bitte ins Wohnzimmer –
vorsichtig!«
Immer wieder schauten meine Schwester und ich aus dem
Fenster. Wo war er denn nun, der erste Stern? Erst wenn der am
Himmel zu sehen war, durften wir beginnen, so wollte es die
Tradition.
Dann ging es endlich los. Meine Tante und mein Onkel waren
gekommen, und so standen wir alle neben dem gedeckten Tisch,
meine Schwester und ich in unseren neuen roten Kleidern und
den geflochtenen Zöpfen, »französisch«, wie meine Mutter nicht
müde wurde zu erwähnen. In diesem Jahr, 1994, war meine
jüngste Schwester geboren worden, nun krabbelte sie uns
zwischen den Füßen herum, während wir die Oblate teilten. Ich
nahm ein Stück vom Teller, ging damit zu meiner Mutter, sie
brach etwas von meiner Oblate ab und ich von ihrer.
»Wszystkiego dobrego«, sagten wir, alles Gute, wir umarmten
uns kurz und gingen zum Nächsten. In dieser Zeit umarmte ich
meinen Vater noch.
Wir setzten uns an den Tisch. Ein Platz blieb traditionell leer.
Das polnische Symbol für Gastfreundschaft sollte heißen: Jeder
Fremde ist willkommen. Wir fingen an zu essen. Ein Fremder
kam in all den Jahren nicht zu uns.

113
Der Heiligabend, die Wigilia, war für Polen kulinarisch
gesehen keine einfache Veranstaltung, schließlich wurde an
diesem Tag gefastet, erst am Tag darauf sollte eine Gans auf den
Tisch kommen, und die polnische Küche ist nicht bekannt für
Fleischloses. So aber aßen wir kleine Gerichte in Folge, zehn
Gänge, ein Weihnachtsmenü. Für uns Kinder war das die einzige
Qual an diesem Tag. Wenn zehn Mal aufgetragen wurde, musste
auch zehn Mal abgetragen werden, und immer dauerte es zu
lange, und die Spannung stieg ins Unerträgliche. Borschtsch, die
Rote-Beete-Suppe mit uszka, »Öhrchen«, das sind mit Pilzen
gefüllte Teigtaschen, Piroggen mit Kohl, Fischsuppe aus dem
Kopf eines Karpfens, gebratener Karpfen, Karpfen mit Rosinen
auf jüdische Art – das Rezept kam aus Lwów, wo meine Oma
geboren worden war. Und: kutia, das polnische
Weihnachtsdessert. Es bestand aus Weizenkeimen, die in Wasser
gelegt worden waren, mit Mohn, Nüssen und Rosinen verfeinert,
es verursachte bei mir zuverlässig Übelkeit. Als dann das
Kompott aus Trockenobst, der Mohnstollen und der Lebkuchen
mit Kaffee und Tee runtergespült worden waren, konnte es
losgehen.
Wir gingen ins Arbeitszimmer, um von dort aus dem Fenster zu
sehen, vielleicht würde er sich ja zeigen, der Weihnachtsmann.
Einer der Erwachsenen, meist meine Mutter, verabschiedete
sich in die Küche, um »den Abwasch zu machen«, auch wenn
alle wussten, dass es um Wichtigeres als den Abwasch ging.
Mein Vater folgte ihr kurze Zeit später. »Ich frage mal, ob ich
helfen kann«, ein Satz, den er eher selten sagte, aber diesmal
galt er ja dem großen Ganzen, der Inszenierung. Wir anderen
schauten derweil in die Nacht und sahen: nichts. Kurze Zeit
später kamen meine Eltern wieder, stellten sich für ein paar
Sekunden höflich zu uns ans Fenster. »Will eine von euch mal
gucken gehen?« Ich wollte immer.

114
»Er war da!«, rief ich und sah aus dem Augenwinkel, dass
meine Eltern sogar daran gedacht hatten, die Balkontür zu
öffnen. Ich glaubte nicht mehr an den Weihnachtsmann, aber ich
liebte dieses Schauspiel. Jeder von uns in seiner Rolle.
In Polen hatte es meistens keine Geschenke gegeben. Das
Essen war die Hauptsache, zumindest für die Erwachsenen, und
auch für die Kinder gab es nur eine Kleinigkeit, je nachdem, was
man hatte auftreiben können. Nun, in Deutschland, lagen
unterm Weihnachtsbaum eingepackte Kartons mit Schleife
drum. Wir setzten uns. Ein Kind, meist ich, denn ich konnte ja
schon lesen, nahm ein Geschenk nach dem anderen, las vor,
welcher Name darauf stand, händigte das Paket aus, und erst
wenn der Platz unterm Baum leer war, wurde ausgepackt.
Die Geschenke, das muss man so sagen, veränderten uns als
Familie, Jahr für Jahr. Dieser Überfluss, die Freude darüber, sie
nutzten sich ab. Und so wurde all das, was sich hinter Papier
und Schleife versteckte, mit der Zeit vor allem eins: ein
Gradmesser der elterlichen Liebe. Wie viel hast du, wie viel habe
ich, und viel wichtiger: Für wen ist eigentlich das große Paket
dort hinten in der Ecke? Nachdem die Geschenke immer mehr
geworden waren, wurden sie mit den Jahren immer weniger, was
zum einen an unserem Alter lag, aber auch daran, dass wir nun
schon alles dreifach hatten.
1994 war allerdings sehr ertragreich: ein rosa Plüschelefant,
der, setzte man ihm dicke Batterien ein, plötzlich murrend über
den Boden schlurfte. Drei Paar Wollstrumpfhosen mit
unterschiedlichen Mustern. Ein bunter Herd inklusive Backofen
aus Plastik, mit einem blauen Topf und einer blauen Pfanne – die
Herdplatten wurden rot, wenn man den Knopf nach rechts
drehte. Ein Haarreifen aus Plastik, der aussah wie der Himmel,
blau mit weißen Wölkchen drauf. Und: ein Kassettenrekorder,
mit dem man nicht nur Musik hören, sondern sie auch
aufnehmen konnte. Ganz in Lila, mit einem Mikrofon und einer

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Mikrofonschnur, die sich ringelte und die man glattziehen
konnte. Als ich das Papier runtergerissen und gesehen hatte,
was es war, hob ich das Geschenk hoch wie einen Pokal. Meine
Schwester schaute neidisch. Ich hatte gewonnen!

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Der große Wagen ist noch oben

Wenn ich an Ausländerfeindlichkeit in meinem Leben denke,


dann fallen mir zuallererst Familienfeiern ein. Ein Onkel, der
seine neuen weißen Sneakers trägt und gegen Türken wettert.
Meine Mutter, die wispert, welche Angst sie habe, wenn wir
Mädchen den Weg von der U-Bahn nach Hause nehmen. »Da an
dem Dönerladen sitzen immer diese Männer draußen und
gucken so.« Meine Schwester, die, Jahre später, einen schwarzen
Freund hat und sich fragt, wie sie das meinen Eltern beibringen
soll.
Als meine Eltern noch in der Blase des polnischen Sozialismus
lebten, gab es schlichtweg keine Ausländer. Die ersten, auf die
sie trafen, waren gleich hinter der deutschen Grenze: sie selbst.
In Deutschland mussten sie feststellen, dass sie nicht nur von
Deutschen umgeben waren, sondern auch von Jugoslawen,
Türken, Griechen, Albanern – von all den sichtbaren Ausländern.
Dass außerhalb Polens verschiedene Kulturen zusammenlebten,
dass dort Nachbarn, Freunde, Kollegen eine andere Religion und
Hautfarbe haben konnten, das wussten sie, aber es blieb
Theorie – eine, die sie nie gelebt hatten.
Im Jahr 1992 hatten 63 Prozent der polnischen Aussiedler
angegeben, in Deutschland lebten »zu viele Ausländer«. Meine
Eltern waren nicht gefragt worden – aber sie hätten, zumindest
in ihren ersten deutschen Jahren, wohl genauso geantwortet.
Nun, Mitte der Neunziger, hatten sie sich eingerichtet in ihrer
Angst der Fremden, die andere Fremde nicht gewohnt sind.
Noch heute wählen die Polen lieber rechtskonservativ, um keine
der vielen Millionen Menschen aufnehmen zu müssen, die
weltweit auf der Flucht sind. Bertolt Brecht beschreibt in seinem
Gedicht »Die Landschaft des Exils« einen Flüchtling als »Boten
des Unglücks«. Diese Boten waren meine Eltern selbst einmal
gewesen. Sie wollten nicht mehr daran erinnert werden.

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Selbstverständlich zählten sie sich nicht zu den »vielen
Ausländern«. Sie waren ja Turbodeutsche. Den deutschen Pass,
den eingedeutschten Namen hatten sie auf dem Silbertablett
serviert bekommen. Das Polnische hatten sie abgestreift.
Heißt das, sie blieben deshalb von Ausländerhass verschont?
Wenn ich heute meine Eltern frage, ob sie sich an
irgendwelche Ressentiments erinnern, sagt mein Vater, es gab
keinen Grund, Polen zu hassen, und meine Mutter sagt: nein.
Außer dieser einen Sache im Innenministerium, einer
Kleinigkeit.
Sonst nichts? Wirklich nichts?
Eine kurze Anzeige mit drei Lügen: Anständiger Pole mit
eigenem Auto sucht Arbeit.
1989 war das Jahr, in dem die meisten Aussiedler nach
Deutschland gekommen waren, und so enorm die
Hilfsbereitschaft der Deutschen für die vom Sozialismus
unterdrückten Polen in den Jahren zuvor gewesen war, so rapide
ließ sie nach dem Mauerfall nach. Denn es kamen ja nicht nur
Aussiedler. Seit 1985 waren die Asylbewerberzahlen
kontinuierlich gestiegen, 1992 beantragte fast eine halbe Million
Menschen in Deutschland Asyl. Bürgerkriegsflüchtlinge aus
Jugoslawien. Roma aus Rumänien. Roma aus Bulgarien. Dass die
Aussiedler kein Asyl, sondern den deutschen Pass beantragten,
einen deutschen Namen, Wohnung, Sprachkurs und
Begrüßungsgeld bekamen, machte sie formell zu Deutschen –
aber nicht in den Augen derer, die so langsam das Gefühl
bekamen, da laufe etwas grundsätzlich falsch. Das Und-was-
bitte-ist-mit-uns-Gefühl: Man kennt es heute von der neuen
Rechten, die als Bürgerbewegung nicht nur in Dresden
demonstriert, sondern als Partei auch in Landtage einzieht und
jetzt wohl auch in den Bundestag. Dieses Gefühl, eine Mischung
aus Wut, Enttäuschung und Depression, bleibt nur kurze Zeit ein

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Gefühl. Es will gesehen, wahrgenommen, ernst genommen
werden. Es muss was passieren, denkt es. Und schreitet zur Tat.
»Attentat auf Aussiedlerheim«, lautete eine Überschrift der
Frankfurter Rundschau am 7. Februar 1989, »Aussiedlerheim
angesteckt« eine weitere vom 28. März 1989, »Brandstiftung bei
Aussiedlern« die dritte vom 3. April 1989, die taz schrieb am
5. September 1992: »Aussiedler-Unterkunft in Brand gesteckt«.
Dasselbe Jahr, in dem die Polen angaben, von zu vielen
Ausländern umgeben zu sein. Dasselbe Jahr, in dem der rechte
Mob ein Rostocker Wohnheim angriff, in dem Vietnamesen
wohnten. Dasselbe Jahr, in dem drei Menschen starben, als
Rechtsextreme in Mölln von Türken bewohnte Häuser
anzündeten. Ein Jahr nachdem schon in Hoyerswerda Neonazis
mehrere Flüchtlingsheime mit Brandflaschen, Eisenkugeln und
anderen Gegenständen beworfen hatten. Ein Jahr bevor auch in
Solingen ein Haus brennen sollte, in dem Türken wohnten, fünf
Todesopfer diesmal. Und ein Jahr bevor der Bundestag das
Asylrecht einschränkte – im sogenannten Asylkompromiss, der
schon damals vielen Beobachtern vor allem als eines erschien:
eine Geste der Beschwichtigung der Politik gegenüber den
Fremdenfeinden.
Woran merkt man, dass noch kein Pole im All war? Der Große
Wagen ist noch oben.
Auch wenn meine Familie ihn so gut wie gar nicht spürte: Der
Druck auf die Aussiedler wuchs.
In den Augen der Deutschen waren diese Aussiedler nun
immer seltener Landsleute, die nach ihrer Rückkehr mit offenen
Armen empfangen werden mussten. Sie waren genau das, was
sie viele Jahre zu verbergen versucht hatten: Polen. Ausländer.
Wirtschaftsflüchtlinge. Oder wie manche Deutsche es lieber
ausdrückten: Polacken. Vorher hatten die Deutschen noch
zwischen »guten« und »schlechten« Ausländern unterschieden.
Plötzlich, so schien es, gab es nur noch die zweite Kategorie. Die

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Maske war gefallen. Es waren schlicht zu viele. Zu viele, die
auch in den 1990er Jahren in blassen Klamotten vor den Ämtern
anstanden, schweigend. Zu viele, die nun, da die Grenzen offen
waren, einfach mal so rüberkamen, gucken, Urlaub machen. Zu
viele, die auf Baustellen »kurwa« riefen. Und am Ende auch zu
viele, die beschlossen hatten, sich ein deutsches Auto zu
besorgen, ohne Geld auszugeben. Die, die in den 1990er Jahren
kamen, kamen aus einem anderen Polen in ein anderes
Deutschland.
Von den Brandanschlägen auf Aussiedler- und
Flüchtlingsheime haben meine Eltern nichts mitbekommen. Sie
erinnern sich nicht, sagen sie, dass die Tagesschau das gesendet
habe. Es scheint, als hätte der Polenhass ihr Leben einfach
ausgelassen.
Dann erinnert sich meine Mutter doch an etwas: an die
Nachbarin von unten. Bei ihr mussten wir manchmal warten,
weil unsere Eltern noch nicht von der Arbeit zurück waren und
wir nicht allein in der Wohnung hocken sollten. Die Nachbarin,
sagt meine Mutter, habe »Polenzicke« zu mir gesagt, weil sie
fand, ich sei nicht brav genug. Und da Ziege im Polnischen kein
Schimpfwort ist, habe sie nicht gewusst, was daran schlimm sein
soll. Ihre Kollegen bei der Arbeit hätten sie dann aufgeklärt,
dass das nicht liebevoll gemeint war.
Heute gestohlen, morgen in Polen!
Bis ich anfing, dieses Buch zu schreiben, hatte ich keine
Ahnung, wie weit die Geschichte des Polenressentiments
zurückgeht. Schon vor über 500 Jahren sollen die Polen geklaut
haben. Die ungarische Stephanskrone zum Beispiel, von den
Habsburgern. Dass sich später herausstellte, die Kammerfrau
habe die Krone nach Wien gebracht, um so die Hochzeit der
Königin mit dem König von Polen zu verhindern – Details. Das
Klischee war geboren. Das Klischee gewinnt immer.
Besuchen Sie Polen, Ihr Auto ist schon da!

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Der Pole klaute aber nicht nur Autos, sondern auch
Arbeitsplätze – und war überhaupt besoffen und faul. In
Bibliotheken findet sich heute noch immer Das Thüringer
Mundartenbuch, ein Lexikon des Sprachschatzes von 1895. Dort
steht für »polnisch«: »falsch und tückisch«. Das Schwäbische
Wörterbuch von 1904 verrät, was genau ein »polnisches
Rindvieh« ist: ein »Mensch, der dumme Streiche macht«. Später
dann arbeitete, wer einen »polnischen Dienst« leistete,
kostenlos. Laut einem anderen geflügelten Wort war die
»polnische Wirtschaft« selbstverständlich verlottert und
ineffizient, und ein »polnischer Abgang« – na, den hatten wir ja
schon.
Wer hat den Triathlon erfunden? Natürlich die Polen – zu Fuß
zum Schwimmbad und mit dem Fahrrad zurück.
Harald Schmidt hat diese Witze erzählt. Der große Entertainer
des deutschen Fernsehens. Das war 1996. So war die Stimmung.
Mein Vater schaute Schmidts Sendung gern. Spätabends hörte
ich durch die Wand sein leises Lachen. Die Witze überhörte er.
Die hatten ja nichts mit ihm zu tun.
Ich überhörte sie auch. Wir waren ja Deutsche. Auch als im
Gymnasium ein Gameboy verloren ging und einer sagte: »Fragt
doch mal die Polen!«, hörte ich weg. Und als eine Freundin
erzählte, bei ihnen würde jetzt eine Polin putzen, die wäre echt
billig. Ich versuchte ins Leere zu schauen, als sich ein
Mitschüler auf dem Schulhof zu mir herumdrehte und sagte, im
Urlaub an der polnischen Ostsee sei ihnen das Auto gestohlen
worden. Ob ich ihm erklären könne, warum die Polen klauen?
Die Antwort wollte er gern gleich selbst geben, sein Vater hatte
ihm das erklärt: »Der Sozialismus ist schuld, verstehst du? Er
hat die Polen zu Dieben gemacht. Für die gehört ja alles jedem,
also empfinden sie es im Grunde gar nicht als Diebstahl, sie
bedienen sich einfach. Leuchtet ein, findest du nicht auch?«

122
Er schaute ganz stolz, und ich tat so, als suchte ich jemanden.
Was wollte der von mir? Das hatte doch alles nichts mit mir zu
tun! Ja, ich verbrachte meine Sommer immer wieder in Polen, ja,
ich liebte Piroggen, und ich liebte meine Oma mehr als jeden
anderen Menschen auf dieser Welt. Aber geklaute Autos, billige
Putz- und Pflegekräfte? Den Schuh zog ich mir nicht an. Ich war
Berlinerin, deutsche Elite sogar! Für irgendwas musste dieses
Gymnasium ja gut sein, auf das ich mittlerweile ging.
Ein humanistisches Gymnasium, allein die Bezeichnung schrie:
Denkerstirn! Wie bei meinem Vater. Es dauerte eine Weile, bis
ich merkte: Ein humanistisches Gymnasium war vor allem eines,
das zwei tote Sprachen lehrte. »Nicht für die Schule, fürs Leben
lernen wir«, war einer der Sprüche, den mein Lateinlehrer
ständig brachte, während ich darüber nachdachte, ob er
mehrere dieser grauen Anzüge zu Hause hatte oder ob es immer
derselbe war, den er trug.
Es war besser, Herrn Huschke nicht aus den Augen zu lassen.
Ich hatte Angst vor ihm, vor seinem Füller, mit dem er in dicker
Tinte ins Klassenbuch schrieb, vor seinem Kreuz, das er
durchdrückte, seiner dicken rechten Augenbraue, die er hob, vor
den Zeichen seiner Unnachgiebigkeit. Jeder hatte Angst vor ihm.
Aber ich besonders, denn Herr Huschke war es, der meine
Schwächen im Deutschen entlarvt hatte.
Ich kannte keinen Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, als ich
aufs Gymnasium kam, das hatten wir in der Grundschule nicht
durchgenommen. Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ brauchte
man aber im Lateinunterricht. Die anderen Schüler mussten nur
den lateinischen Ablativ dazulernen, mich aber fragte Herr
Huschke eines Tages, etwas breitbeinig vor der Tafel stehend,
etwas breitbeinig stand er immer: »Hattest du das alles nicht im
Deutschunterricht?« Mit »das alles« meinte er: Grammatik. Ich
konnte nur vorsichtig den Kopf schütteln. Und auch wenn diese
Episode eigentlich nichts damit zu tun hatte, in welchem Land

123
ich geboren worden war, sondern welche Grundschule ich
besucht hatte, in diesem Moment fühlte ich mich dann doch: wie
eine Ausländerin. Latein war für mich nicht die erste
Fremdsprache wie für alle anderen, sondern die zweite. Und
obwohl es genauso gut eine falsch gelöste Matheaufgabe hätte
sein können, fühlte ich mich fremd. Es war eine Fremdheit, die,
wie mir später klar wurde, fast jeder Migrant in diesem Land
kennt. Aber ich war ja gar keine Migrantin. Oder?
Ich sah, wie meine Mitschüler mich anschauten, ich drehte
den Kopf Richtung Fenster. Was hätte ich denn sagen sollen? Ich
war überfordert, mir war schlecht, ich wollte nur noch nach
Hause.
War es dann doch eine Art Migrantentrotz, der mich
nachmittags so lange aufs Lateinbuch starren ließ, bis sich der
Nebel langsam lichtete? Ein verzweifeltes Ich-zeig’s-euch-allen?
Meine Eltern konnten mir nicht helfen, ihr Latein war
mittlerweile eingerostet, aber auch wenn sie gekonnt hätten, ich
hätte ihre Hilfe nicht gewollt.
Abends am Tisch begann ich immer öfter, meinen Vater zu
provozieren. Wozu brauchen wir eigentlich das ganze Geld,
Papa? Glaubst du wirklich, das macht uns glücklich? Es waren
die Fragen einer Zwölfjährigen, die alles besser weiß. Überhaupt
wollte ich alles ausdiskutieren, bis hin zu der Frage, was denn
nun gesünder sei, Butter oder Margarine. Meine Eltern
faszinierte es noch immer, dass man Margarine einfach aus dem
Kühlschrank holen und aufs Brot streichen konnte, »streichzart«
nannte das die Werbung, mich erinnerte der Geschmack an
Plastik, und das verkündete ich auch. Mein Vater lachte nur. Und
sagte, was er in diesen Momenten immer sagte: »Kinder haben
keine Meinung.«
Wahrscheinlich dachte er das wirklich: Kinder sind unfertige
Erwachsene. Aber auch als unfertige Erwachsene war ich noch
nicht fertig mit ihm. »Wenn ich was sage, dann ist das doch wohl

124
meine Meinung, oder? Immerhin, ich kann sprechen!«, schrie
ich und wusste doch, dass meinen Vater solche Ausbrüche nicht
beeindruckten. Im Gegenteil, er sah es als Schwäche, wenn
jemand laut wurde; wenn jemand Gefühle zeigte, statt sie zu
kontrollieren. Auch dieses Mal zuckte er nur kurz mit dem
Mundwinkel. »Sag, was du willst«, antwortete er. »Das heißt
noch gar nichts.« Heute merke ich, wie hilflos diese Sätze
klingen. Damals aber war mein Vater zu einem unverrückbaren
Felsen für mich geworden. Hart und kalt. Wenn ich ihn in einer
einzigen Körperhaltung beschreiben müsste, wäre es diese: die
Arme vor der Brust verschränkt. Egal, was ich tat, ob ich weinte
oder schrie, ob ich es wirklich so empfand oder nur so tat, als
ob: Ich erreichte ihn nicht. Und kam nicht gegen ihn an.
Immer öfter ging ich in Opposition zu meinen Eltern, zu
meiner Mutter auch, die zwar liebevoller war, aber den
Machtworten meines Vaters nichts entgegensetzte. Unser
Familienleben glich einer Abfolge von Gefechten, unterbrochen
von kurzer Waffenruhe. Auch die Wahl der neuen Schule war ein
Kampf gewesen, gewonnen hatten ihn, wie so oft: meine Eltern.
»Meine Kollegen bei der Arbeit haben mir ein Gymnasium
empfohlen«, hatte meine Mutter gesagt, als ich in der vierten
Klasse war, und ich wusste, dass ein Satz, der mit »Meine
Kollegen bei der Arbeit …« begann, nichts Gutes verhieß. Nicht,
weil die Kollegen meiner Mutter keine guten Ratgeber wären,
sondern weil das meist bedeutete, dass es kein Zurück mehr
gab. Die Kollegen waren deutsch, sie waren nett, und sie
kannten sich aus. Meine Mutter vertraute ihnen. Wenn sie etwas
empfahlen, war meist keine Diskussion mehr möglich.
»Und dieses Gymnasium beginnt schon ab der fünften Klasse.«
Ich hatte nichts dagegen, zwei Jahre früher als in Berlin üblich
die Schule zu wechseln. Aber ich wollte auf keinen Fall auf eine
Streberschule mit anderen Strebern, Streber war ich schon
selbst. Ich wollte aufs Beethoven-Gymnasium, von dem ich

125
gehört hatte, dass es dort jeden Tag Musikunterricht gab. Und
eine Band. Ein Orchester. Mehrere Aufführungen im Jahr.
»Ich geh da nicht hin, ich will aufs Beethoven!« Die
Ausrufezeichen waren zu einer Angewohnheit von mir
geworden, als würden Schreie besser gehört, als könnten sie
dem Gesagten mehr Gewicht verleihen. Ein trostloses
Unterfangen.
»Lass es uns wenigstens anschauen«, sagte meine Mutter.
Das Anschauen stellte sich als ein Treffen mit dem Direktor
heraus, denn für dieses Gymnasium konnte man sich nicht
einfach anmelden wie für jedes andere, man musste sagen,
welche Bücher einem gefielen und wo die eigenen Schwächen
lagen. Mit zehn Jahren das erste Bewerbungsgespräch. Ich sagte
»Der geheime Garten« und »Mathe« und war drin. Als wir das
Gelände verließen, fiel mir auf, dass der Schulhof direkt neben
den S-Bahn-Gleisen lag, ein letzter Versuch also: »Das ist doch
viel zu laut, Mama, so kann ich mich nicht konzentrieren!«
Noch ein Ausrufezeichen ohne Wirkung. Im Sommer wurde ich
zum zweiten Mal eingeschult. Meine Mutter bestand darauf,
dass ich mein erstes Kostüm anzog, graubraune Shorts und ein
Blazer mit Schulterpolstern, ich protestierte nur noch schwach.
Auf dem Foto sehe ich aus, wie ich schon bei meiner ersten
Einschulung ausgesehen hatte: wie eine kleine Erwachsene. Ich
bin auch schlecht gelaunt wie eine.
So schlimm war es am Ende doch nicht. Ein Jahr nach dem
Kasus-Desaster lief es einigermaßen rund, ich stellte fest, dass
auch reiche Kinder nett sein können und dass die S-Bahn
vorbeirauschte, ohne dass ich sie wahrnahm, was ich natürlich
auch schon vorher gewusst hatte.
Warum klauen die Russen immer zwei Autos? Weil sie noch
durch Polen müssen!
Das war ein Witz, den ich dann doch lustig fand. Vielleicht,
weil er Russen mit einbezog.

126
Was ich noch lustig fand: Jungs und Lehrer (außer Herrn
Huschke). Otto Waalkes. In der Mädchenumkleide so lange mit
»Vanilla Kisses« rumsprühen, bis eine hustete. »Mäxchen«
spielen und dabei nach und nach ein Glas Batida de Coco leeren,
mit ganz viel Kirschsaft gemischt.
Worüber ich nicht lachen konnte: Schiefe Töne beim
Musikunterricht. Wenn mir Sangria angeboten wurde, mit
Wodka »gestreckt«. Wenn ich deshalb am nächsten Tag mit einer
Plastiktüte an den Ohren herumlaufen musste. Wenn jemand in
Deutsch eine bessere Note bekam.
Am Ende des Jahres schrieb ich in mein Tagebuch: »Endlich!
Wir haben unsere Zeugnisse bekommen: 5 Zweien u. 4 Einsen =
3. Beste. Ich freue mich, obwohl ich hätte besser sein können.
Aber nun zum Thema Jungs …«
Meine Fünf-Mädels-Clique hatte es schon längst aufgegeben,
im Unterricht mittels kleiner Zettel geheime Botschaften
auszutauschen. Zu groß war die Gefahr, dass ein Lehrer oder
Junge sie abfing. Wir waren auf eine viel bessere Idee
gekommen: unser Mädchenbuch. Ein schlichtes, schwarzes
Notizbuch für vier Mark aus dem Schreibwarenladen. Der
Inhalt: unbezahlbar. Wir ließen es ganz entspannt im Unterricht
herumgehen (außer bei Herrn Huschke), denn dass man sich in
einer Unterrichtsstunde Bücher weitergibt, fällt bekanntlich
nicht weiter auf.
Das Buch war eine Mischung aus kollektivem Tagebuch,
Rankings (bei »Jungs« reichten uns die schlichten Kategorien
»gut« und »scheiße«) und feministischem Softporno. Jeden
meiner Einträge unterschrieb ich mit »© by Emi«, so hieß ich in
der Schule, wobei das »E« aussah wie ein Blitz, energisch, mit
vielen Zacken. Nur bei den Jungs, die wir bewerteten,
übermalten wir nachträglich unsere Namen, das
Sicherheitsrisiko war uns zu groß geworden, und so schrieb eine
von uns: »An alle Jungs: Denkt euch bloß nichts dabei! Das ist

127
wenn schon nur: kumpelhaft! Süß ist kein Arsch von euch!« In
weiser Voraussicht.
Ich konnte diesen Eintrag meiner Freundin so nicht stehen
lassen: »Ich muß wirklich sagen, eine 1 verdienst Du in Deutsch
wirklich nicht. Der Plural von Junge lautet J-U-N-G-E-N!!! Es
lebe die deutsche Sprache! Ich hab mich gestern voll mit meiner
Mutter verkracht! Deshalb hab ich sie nicht wegen dem
Elternabend gefragt. Was lief denn so?« Meine eigenen
Grammatikfehler schienen mich nicht zu stören.
Es dauerte nicht lange, da bekamen die J-U-N-G-E-N das Buch
in die Finger und nahmen es mit aufs Klo. Sie schrieben »Fickt
euch!«, »Rache!« und malten das Anarchie-Zeichen. Ich fragte
mich, welches »Fickt euch!« eigentlich von dem Polenerklärer
auf dem Schulhof stammte. Denn um ehrlich zu sein, mochte ich
seine Haare. Und um ganz ehrlich zu sein, hätte ich ihn gern in
die Liste eingetragen, die mit »gut« überschrieben war. Ich habe
nie wieder mit ihm gesprochen.
Nach einer Woche bekamen wir das Mädchenbuch wieder.
Aber seine Zeit war definitiv vorbei. Vielleicht auch unsere Zeit
als Mädchen.

128
129
Ein Haus, kein Zuhause

Ich renne, so schnell ich kann, und das ist nicht einfach in
unserem Haus, weil man immer wieder abstoppen und die
Richtung ändern und dabei aufpassen muss, nicht auszurutschen
auf dem Holzparkett und den Kacheln, ich habe wieder nur
Socken an und keine Hausschuhe, und das war wohl der
Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und meinen Vater
dazu, mich zu jagen. Er rennt hinter mir her, aber wie immer
dauert es nicht lange, da hat er mich gefangen, gepackt am
Handgelenk, so fest, dass ich unmöglich wegkann, diesen Griff
werde ich noch eine Weile spüren, genauso wie die gereizte, rote
Haut am Po. Ein, zwei, drei Klapse gibt es meist, auch jetzt,
wobei »Klapse« zu niedlich klingt, als sei ich ein kleiner Hund,
der die Wurst vom Tisch geklaut hat. Die Schläge meines Vaters
auf meinen Hintern jedoch sind ordentlich. Sie tun weh.
Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt: Ich musste
das Sprichwort gerade nachschlagen. Bis heute kann ich keine
deutschen Sprichwörter, eine Zeitlang benutzte ich sie trotzdem
und brachte sie ständig durcheinander, da heilte der Zweck alle
Wunden, der Hochmut kam selten allein, und Reden war Gold
und Schweigen Silber. Ich wusste, das konnte nicht stimmen,
aber ich wollte wie die anderen auch eine bildhafte Sprache
benutzen. Irgendwann gab ich auf. Denn noch wichtiger als
deutsche Sprichwörter war mir nur eins: keine Fehler zu
machen. Ich hätte das nie so zugegeben, aber die Null-Fehler-
Politik meiner Mutter zeigte allmählich Wirkung.
»Lass mich los, verdammt!«, schreie ich.
»Dann räum endlich dein Zimmer auf«, sagt mein Vater.
»Pff«, mache ich und springe sicherheitshalber zur Seite, falls
er mich noch einmal packt. Auf dem Weg nach oben sage ich
leise: »Später.«

130
Ich bin in der siebten Klasse, dreizehn Jahre alt, vor kurzem
hatte ich meine erste Periode, und vor kurzem sind wir in dieses
Haus gezogen. Manchmal überkommt mich ein starkes
Bedürfnis, die cremefarbenen Tapeten mit grünem Filzstift
anzumalen oder den edlen Parkettboden zu zerkratzen, den mein
Vater selbst verlegt hat. Er wollte Geld sparen, das Haus war
teuer genug, und die Einrichtungswünsche meiner Mutter waren
es auch.
Für ein Grundstück und ein Haus hatte es nicht gereicht, ein
paar Monatsgehälter abzuwarten. Mein Vater war zur Bank
gegangen und hatte einen Kredit beantragt. Ich weiß nicht, wie
viele Migranten es gibt, die aus einer Sozialwohnung direkt ins
Eigenheim ziehen, aber mein Vater hatte eben große Pläne, und
er ließ sich nicht aufhalten. Wochenlang waren wir durch
Berliner Randbezirke gefahren und hatten uns Grundstücke
angeschaut, was uns Schwestern wahnsinnig langweilte, dieses
Stapfen über freie Flächen, auf denen noch nicht einmal
richtiger Rasen wuchs. Irgendwann fanden meine Eltern ein
Grundstück, das ihnen gefiel und das die Bank auch bezahlen
wollte. Es lag in einer Gegend, die ich nicht als Viertel und erst
recht nicht als Kiez beschreiben würde, sie hatte nichts
Dörfliches, Gemütliches, der nächste Laden, in dem man
einkaufen konnte, war eine Tankstelle, und die einzigen
Menschen, die ich auf der Straße sah, bewegten sich mit
Rollatoren vorwärts. »Da ist ja ein Altersheim gegenüber«, sagte
ich, »hier ziehen wir nicht hin.«
Ein paar Wochen später rückten die Kräne an und hoben ganze
Wände in den Himmel, um sie dann exakt aufs Fundament zu
setzen. Wir bauten nicht Stein auf Stein, sondern ein Fertighaus.
Ich schaute zu, fasziniert und verängstigt. Mir ging das alles zu
schnell, dieses neue Leben. Vor acht Jahren waren wir nach
Deutschland gekommen, wir hatten alles aufgegeben, uns
wahnsinnig angestrengt. Meine Mutter hatte damals, als wir

131
noch im Lager wohnten, diesem Fernsehteam gesagt: Wenn wir
das alles wieder haben, was wir aufgeben mussten, dann werden
wir glücklich sein. Nun hatten wir mehr als das. Ein besseres
Auto, bessere Arbeit, ein Haus. Eigentlich hätten wir vor Glück
platzen müssen.
Ich knalle meine Zimmertür zu und drehe schnell den
Schlüssel um, mein Vater haut auf der anderen Seite mit der
flachen Hand dagegen. Dann ist Stille. Ich lege mich aufs Bett
und starre die Tapete an. Sie ist zartorange, die restlichen drei
Wände zartgrau, meine Schwester bekam Zartgelb und Zartblau.
Ich pule noch ein bisschen was von der Tapete ab, reiße mich
dann aber zusammen, jetzt bloß nicht noch mehr Stress mit
denen da unten. Wir sind erst vor ein paar Monaten eingezogen,
aber wie in der alten Wohnung hat sich auch hier nach kurzer
Zeit ein kleines Loch in der Tapete gebildet, da, wo ich vom Bett
aus mit der Hand gut hinkomme. Immer, wenn ich nicht schlafen
kann, wenn es in meinen Ellenbeugen so juckt, dass ich es nicht
mehr aushalte, reiße ich ein Stückchen von der Tapete ab. Für
ein gutes Zeugnis, und die kommen noch regelmäßig, gibt es
mittlerweile Geld statt Liebe. Ich sehne mich nach einer
Umarmung, gleichzeitig frage ich mich: Gab es letztes Jahr nicht
fünf Mark mehr?
Neben meinem Bett stapeln sich die Bücher, einmal die Woche
gehe ich mit einer vollen Baumwolltasche in die Bibliothek und
komme mit einer vollen wieder heraus, aber mein Lieblingsbuch
gehört mir allein: Der geheime Garten. Ganze Sonntage
verbringe ich damit lesend auf dem Bett und werde nur
unterbrochen, wenn meine Mutter »Mila« ruft, denn das
bedeutet, dass es Mittag gibt, und meist bedeutet es auch, dass
ich wieder Stunden am Tisch verbringen werde, anstatt mich
nach dem Essen gleich wieder aufs Bett zu werfen. Nicht etwa,
weil wir essen wie eine italienische Großfamilie, laut und lange,
sondern weil ich mir immer zu viel auf den Teller lade und dann

132
ewig vor einem halbvollen Teller sitze, während meine Eltern
und meine Schwester längst den Tisch verlassen haben. »Das
hättest du dir früher überlegen müssen«, sagt meine Mutter
dann immer. Bei uns wird aufgegessen. Aber noch ist es nicht so
weit, ich habe meine Ruhe. Durchs Fenster höre ich das
Schnurren eines Rasenmähers. Der Nachbar.
Ich wäre jetzt gern in diesem geheimen Garten mit Mary
Lennox. Vielleicht würden wir uns gar nicht verstehen, vielleicht
sind wir uns zu ähnlich, sie wird als kränklich, selbstsüchtig und
hässlich beschrieben, genauso fühle ich mich auch. Auch ihre
Eltern haben sich wenig um sie gekümmert. Nun sind sie an
Cholera gestorben, und Mary muss aus Indien, wo sie in einer
Villa lebte, nach England zu einem entfernten Onkel. Sie hasst
es dort. Sie fühlt sich allein. Sie geht raus – und entdeckt einen
geheimen Garten, den mystischen Ort einer alten Liebe, und
einen Cousin, der einen Buckel hat. Ich will zu meiner Oma, und
ich will in unseren Wald.
»Mila! Kommst du? Ich habe schon zweimal gerufen!« Als ich
unten im Esszimmer bin, sitzt mein Vater schon am Tisch, als
wäre nichts gewesen. Es gibt die asiatische Glasnudelpfanne, die
meine Mutter aus der Brigitte kennt und die ich sehr mag.
Trotzdem versuche ich, mir nicht zu viel aufzutun. »Gibst du mir
bitte das Wasser?«, frage ich meinen Vater.
»Bitte«, sagt er.
»Danke«, sage ich.
»Wir fahren nachher noch ins Gartencenter, eine
Sprinkleranlage kaufen. Kommst du mit?«
»Nee, bleibe hier.«
Wir essen. Schweigend. Das tun wir meistens, bis auf das
lustige Schmatzen meiner kleinen Schwester ist es ruhig um uns
geworden, wir warten nur darauf, dass die Zweijährige wieder
komisch guckt oder lustig lacht, damit wir mitlachen können.
Wir haben doch jetzt das große Los gezogen, warum sind wir

133
noch immer so angespannt? Wo ist die Freiheit, nach der sich
meine Eltern so sehnten? Ihr Leben scheint nicht leichter,
sondern beschwerlicher geworden zu sein, vor allem für meine
Mutter. Die Arbeit schlaucht, das Haus auch, sie hat nun
150 Quadratmeter zu putzen und weiß nicht, wann sie sich die
Nägel machen soll. Jeder Tag ein doppelter Arbeitstag, sie
arbeitet Vollzeit und macht den Haushalt, nebenbei sucht sie
Lampen und findet Designerstühle.
Als wir nach Deutschland kamen, waren wir warenhungrig.
Wir wollten konsumieren, endlich – nur was, wenn der Hunger
längst gestillt ist, die Sucht nach Neuem aber nicht? Meinem
Vater sind die Designerstühle zu bunt, er will lieber zu Ikea. Auf
keinen Fall, sagt meine Mutter. Bis zum Ende werden in diesem
Haus einfach Glühbirnen von der Decke hängen. Das schöne
Leben haben sie sich einfacher vorgestellt.
Mein Vater arbeitet an seiner Karriere, bald wird eine
Oberarztstelle frei, sie streiten viel. Meist geht es ums Geld,
dabei haben wir in diesen Jahren so viel wie noch nie zuvor in
unserem Leben. Einmal, das Haus stand noch nicht, sie waren zu
zweit unterwegs zum Grundstück, hielt mein Vater plötzlich am
Straßenrand. Sie mussten mal wieder eine Entscheidung treffen,
irgendetwas musste bezahlt werden, sie konnten sich nicht
einigen. Er schrie: »Willst du das Haus jetzt bauen oder nicht?«
Heute sagt sie: »Hätte ich damals, in diesem Moment, bloß
nein gesagt.«
 
»Will noch jemand was?«
Ich habe noch einen kleinen Rest und bleibe sitzen, meine
Schwester geht in ihr Zimmer spielen, meine Mutter in die
Küche, mein Vater ins Arbeitszimmer, da sitzt er jetzt öfter. Sein
Käfig ist größer als früher und aus Gold; aber er bleibt ein Käfig.
Manchmal wirkt es, als würde mein Vater das Leben, das er sich
so mühsam aufgebaut hat, nun gar nicht mehr leben wollen.

134
Als ich fertig bin, klopfe ich bei ihm an, wir sollen immer
anklopfen.
»Ja.«
Ich öffne die Tür. Er sitzt hinter seinem schwarzen
Schreibtisch und schaut auf den Computer, umringt von
schwarzen Regalen, in denen dicke Ordner und Brockhaus-
Bände stehen. Wir haben sie abonniert, alle sechs Monate
kommt ein neuer – seit kurzem steht da »H–Ik«. Deutsche
Bürgerlichkeit auf Raten.
»Ich wollte fragen, ob ich morgen wieder zum Kirchenchor
darf.«
»Nein«, sagt er, »du hast zwei Tage Hausarrest«, und blickt
weiter auf den Bildschirm.
Muslimische Väter, sind das nicht die, die ihre Töchter zu
Hause einsperren, die es nicht gern sehen, wenn sie unabhängig
werden, rausgehen, auf Klassenfahrt fahren? An meiner neuen
Schule sind kaum Muslimas, aber so viel kann ich sagen: Keine
meiner deutschen Freundinnen bekommt so oft Hausarrest wie
ich, und keine wird geschlagen. Als ich einmal nichtsahnend
meiner Mädelsclique von den Klapsen zu Hause erzähle, sind sie
empört. Meine Freundinnen nennen ihre Eltern oft beim
Vornamen, mir würde das im Traum nicht einfallen. Ich vermeide
es, sie zu uns nach Hause einzuladen. Es ist zu peinlich. Denn
trifft meine Mutter auf eine von ihnen, mustert sie meine
Freundin genauso streng wie mich, gibt ihr die Hand und sagt
förmlich: »Elisabeth Smechowski« – als würde sie sich einer
Patientin vorstellen.
Am nächsten Tag muss ich wieder in die Schule, und ich habe
weiß Gott nichts dagegen. Wenn die Woche beginnt, ist auch
bald Donnerstag. Ein junger Musiklehrer, der gerade als
Referendar an unsere Schule gekommen ist, hat einen Chor
gegründet, wir proben immer donnerstags, wir singen keine

135
Madrigale, sondern Musicals. Ich bin ein bisschen verliebt und
mittlerweile versöhnt damit, nicht aufs Beethoven zu gehen.
Ich bin süchtig nach Musik. Reinhard Mey, Mariah Carey,
Frédéric Chopin (von dem ich nicht weiß, dass er Pole ist),
Roxette, das Cats-Musical, Robert Schumann. Es ist diese kurze
Zeit ohne Tabus, in der sich ein eigener Musikgeschmack
entwickelt, über den noch niemand richtet. Musik weckt
Gefühle, und die brauche ich. Zu Hause existiere ich meist nur
als Hülle, lieber Leere spüren als sich angreifbar machen.
Sobald ich mir die Kopfhörer aufsetze, kommt Leben rein.
Seit wir in Deutschland angekommen sind, haben wir dafür
gesorgt, dass die Hülle immer glänzt. Wir sind eine deutsche
Vorzeigefamilie. Die Eltern Ärzte, die Töchter fleißig, wir haben
uns sogar einen Hund angeschafft, der Haus und Garten
bewacht: Nero, der Bullmastiff. Meine Mutter ermahnt mich
immer wieder, ich solle nicht so große Schritte machen, das
wirke unweiblich. Sie zeigt mir, wie man ein Buch auf dem Kopf
balanciert. Und als ich mir meine langen Haare zu einem Knoten
hochschlage, sagt sie, ich solle das bitte lassen, das sei eine
Duschfrisur. Noch immer wollen wir um keinen Preis auffallen,
denn wer weiß, vielleicht käme jemand eines Tages doch auf die
Idee, genauer hinzusehen, und würde dann feststellen: Die sind
gar keine Deutschen!
Die ewige Angst, den einmal erlangten Status wieder
aberkannt zu bekommen: Ist das der Preis einer Integration?
Dabei finde ich selbst es ja auch irgendwie gut, deutsch zu
sein. Als Teenager ist das Leben kompliziert genug, warum sollte
ich freiwillig auf Gruppenzugehörigkeit verzichten? Sorry, Leute,
ich bin gar keine von euch, ich hab nur bisher so getan, aber ich
freu mich trotzdem, wenn ihr zu meiner nächsten
Geburtstagsfeier kommt, vielleicht macht meine Mama dann
Piroggen!

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Nein, danke. Ich will dazugehören. Polnisch spreche ich kaum
noch und vergesse es immer mehr.
Nach der Schule gehe ich nach Hause, es lohnt sich nicht zu
tricksen, den Hausarrest prüfen meine Eltern durch Anrufe
immer nach. Meine mittlere Schwester ist schon da, die kleine
noch im Kindergarten. Wir machen, was wir immer machen,
wenn wir allein sind: Wir suchen Schokolade. Eigentlich dürfen
wir sie nur sonntags essen, wie wir nur samstags fernsehen
dürfen, aber ziemlich schnell haben wir die Verstecke meiner
Mutter ausgemacht, im Keller, das Regal ganz hinten, und
ziemlich schnell haben wir auch verstanden, wann wir den
Fernseher wieder ausmachen müssen, damit uns seine Wärme
nicht verrät – meine Eltern haben sich angewöhnt, ihre Hand auf
das Gerät zu legen, wenn sie nach Hause kommen. Da bin ich
längst oben in meinem Zimmer und tue so, als hätte ich es den
ganzen Nachmittag nicht verlassen. Für meine Eltern bin ich im
Grunde ein abwesendes Kind: Sind sie da, bin ich weg, auch
wenn »weg« nur eine Etage höher bedeutet. Diese Fremdheit
zwischen uns, woher kommt sie? Bin ich vielleicht adoptiert? Es
würde so viel erklären und so viel lösen, und ich müsste nicht
nach anderen Gründen suchen. Ich könnte einfach gehen. Meine
richtigen Eltern finden.
Ich hasse dieses Haus. Ich hasse, wie meine Eltern in diesem
Haus geworden sind. Wie sie sich immer mehr verlieren, meine
Mutter, indem sie sich um Haushalt und Kinder kümmert, mein
Vater, indem er das Geld verwaltet. Ich sehe immer seltener, wie
sie miteinander sprechen, sich berühren, sich küssen. Diese
Kälte, die mich befällt, wenn ich dieses Haus betrete. Mein
Vater, der meckert, wenn wir zu laut auf der Treppe stampfen.
Meine Mutter, die eine polnische Putzfrau engagiert hat, aber
kaum ein Wort Polnisch mit ihr spricht. Wenn sie weg ist,
meckert sie, sie habe nicht richtig geputzt.

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Vor allem aber hasse ich mich selbst. Und ich weiß nicht so
recht, warum.

138
139
In der Heimat zu Gast

Mittlerweile besaßen wir einen 5er BMW in Grünmetallic. Diese


Blicke, wenn wir durch polnische Dörfer fuhren. Alte Omas am
Zaun, die kurz vom Unkraut hochschauten. Ein paar Jungs am
Straßenrand, die uns den Mittelfinger entgegenhoben. Ich
schämte mich und fühlte mich schuldig. Früher war mir nie ein
Unterschied aufgefallen. Wir waren alle gleich gewesen, alle
grau. Nun war ich die, die in einem glitzernden Auto fuhr, die
einen Kapuzenpulli von Nike trug und einen Haarreifen mit
Wolkenmuster. Ich war reich. Ich war fast vierzehn und spielte
nun für das andere Team, für das mit den schöneren Trikots. Ich
wollte aber bitte mit meinem schöneren Trikot nicht ständig
angegafft werden.
Um mir aus dieser Misere zu helfen, ließ ich die Unterschiede
in meinem Kopf einfach noch größer werden. Ich war ein
Popstar, zu Gast in der alten Heimat. Geboren im Ghetto, in der
weiten Welt berühmt geworden und nun wieder dort, wo alles
begann, ein Familienbesuch, ein Auftritt, ein Leben hinter
getönten Autoscheiben. Ich spielte solche Spiele öfter, vor allem
in Polen. Ich kreierte Phantasiewelten, fiel in Rollen, probierte
sie aus wie Kleider, weil ich nicht wusste, welche die richtige
war.
Auf der Fahrt nach Polen hatte ich immer viel Zeit dafür, auch
wenn wir die Strecke in immer kürzerer Zeit zurücklegten. Mit
jedem neuen Auto, das mein Vater kaufte, wuchs sein Ehrgeiz.
Wie schnell von Berlin nach Danzig? Wir schlossen Wetten ab.
Acht Stunden, sieben, sechs? Meistens gewann mein Vater.
Dabei waren die polnischen Straßen eine Herausforderung, noch
immer.
Ansonsten sprachen wir unterwegs nicht viel. Essen durften
wir nur auf Rastplätzen, der Wagen war ja neu. Meistens
schaute ich aus dem Fenster und beobachtete, wie sich die

140
Regentropfen auf der Scheibe ein Wettrennen lieferten. Meine
Schwester schlief, und meine Mutter schaute nach vorn auf die
Fahrbahn. Immer wieder zuckte sie zusammen und sog
geräuschvoll die Luft ein. Dann stützte sie sich mit beiden
Händen vorn am Armaturenbrett ab, als würde sie mitbremsen
wollen. Sie konnte nicht anders. Mein Vater fuhr mit seinem
neuen Statussymbol 140 Stundenkilometer auf der Landstraße
und musste dafür etliche Polski Fiats überholen. Es gab sie noch
immer.
Die nächste Ortschaft, wieder ein lästiger Kreisverkehr, wieder
ein paar Omas, wieder ein paar Mittelfinger. So lief das bis
Danzig. Meine Oma und mein Opa, die Eltern meines Vaters,
standen jedes Mal am Fenster, wenn wir ankamen. Mein Vater
ließ uns aussteigen, trug das Gepäck nach oben und setzte sich
schnell wieder hinters Steuer. Er wollte das Auto lieber nicht aus
den Augen lassen, einem Onkel von uns, der mittlerweile auch in
Berlin lebte, war seines gerade in Polen geklaut worden. Polen,
die Polen beklauen. Das Klischee muss sich vor Lachen
gekringelt haben.
Mein Vater ließ sein Auto immer auf demselben Parkplatz
stehen, zusätzlich befestigte er die Lenkradsperre. »Doppelt hält
besser«, sagte er dann immer auf Deutsch, das R rollend. Im
Polnischen gab es das nicht, dass etwas doppelt besser hielt,
einfach reichte, man war pragmatisch.
Das kleine Auto, mit dem wir ausgereist waren, war ein
Geschenk unserer Großeltern gewesen. Der BMW nun hatte
Klimaanlage, CD-Player, Sitzheizung und einen großen
Kofferraum, der gefüllt war mit Westprodukten für die
Verwandtschaft. Jacobs Krönung, Milka, Nivea, Persil.
Mittlerweile gab es auch in Polen Persil, aber unsere
Verwandtschaft war der festen Überzeugung, dass das ein
anderes Persil war. Bestimmt schütten sie in der
Waschmittelfabrik die Reste von polnischem Waschmittel ins

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Persilpaket, sagten sie. Meine Mutter glaubte das auch. Wenn
sie meiner Tante erklärte, dass das Wörtchen »Repair«
bedeutete, die Falten würden geglättet, hatte sie etwas von einer
Lehrerin. Alle saßen reihum im Wohnzimmer und bekamen
etwas in die Hand gedrückt. Meine Tante war eine angesehene
Architektin, mein Onkel Künstler. Vor meinen Eltern wurden sie
zu Kindern, die sich artig für die Geschenke bedankten.
Meine Großeltern lebten noch immer in derselben
Plattenbausiedlung, in der sie ihre zwei Kinder großgezogen
hatten. Sie Medizinprofessorin, er Ingenieur, etwas anderes
konnten sie sich im Sozialismus nicht leisten. Vier Zimmer,
64 Quadratmeter, und egal, wo in der Wohnung man sich
aufhielt: Man konnte die Nachbarn immer pinkeln hören. Kaum
waren die Westgeschenke verteilt, öffneten meine Schwester
und ich den Süßigkeitenschrank. Eine alte Vitrine im
Wohnzimmer, die man von oben mit einem Schlüssel öffnete und
aufklappte. Innen war sie hell erleuchtet, voll mit Wein und
Wodka und einer Flasche mit einer roten Flüssigkeit. Sie schien
gefährlich, wir trauten uns nicht zu fragen. Es interessierte uns
auch nicht besonders, wir wollten an die Bonbons, die mit der
Kuh drauf und die mit dem Kuckuck, manchmal aßen wir auch
das Pflaumenkonfekt mit Alkohol, wenn es nichts anderes gab.
Zu Hause, in Berlin, durften wir nur einmal die Woche
Süßigkeiten essen, am Sonntag. Waren wir bei meiner Oma, war
jeder Tag ein Sonntag.
So saßen wir also da, kauend auf der Sofalandschaft im
Wohnzimmer, meine Eltern waren einkaufen, meine Oma hatte
die Füße hochgelegt und las die Gazeta Wyborcza, bis sie sie auf
ihren Schoß sinken ließ und sagte: »Na, was gibt es Neues von
meinen Mädchen?« Dann erzählten wir. Dass meine Schwester
überlegte, Rock-and-Roll-Tanz zu lernen. Dass ich das
Wohltemperierte Klavier übte. Dass wir am liebsten gerade beim
Chinesen bestellten, Glasnudelsalat. Meine Oma runzelte die

142
Stirn, als würde sie fragen wollen, inwiefern Nudeln aus Glas
bestehen konnten. Sie nickte nur.
Ich liebte die Sommer in Polen. Wir blieben nicht lange in
Danzig. Wir fuhren zelten, na biwak, jedes Jahr, oft vier Wochen
lang. Jeder Sommer war gleich. Wir Schwestern, unsere
Großeltern, unser Wald, unser Zelt, unsere zwei Seen, unsere
Birken, unser Moos, unser Feuer.
Unsere Eltern fuhren zurück nach Berlin. Arbeiten. Bei ihrem
günstigen Kredit für das Haus und das Grundstück hatten sie
das Kleingedruckte nicht richtig gelesen, die Zinsen wurden
nach ein paar Jahren deutlich höher. Um also weiter nach
Schweden fahren und sich Designerstühle leisten zu können,
durften sie auf keinen Fall nachlassen.
Wir Kinder blieben in Polen. Und wurden dadurch immer ein
bisschen wie früher. Es gab keinen CD-Player mit Roxette-Alben,
keine Disney-Filme auf Video, keine italienische Pizza. Dafür
gruben wir mit meinem Opa ein Erdloch aus, unseren
Kühlschrank. Meine Oma kochte auf einem wackligen
Campingkocher, auf zwei Flammen. Nicht nur für uns vier. Oft
kam auch meine Tante mit, mein Onkel, die Cousine. Freunde
meiner Großeltern. Zu essen gab es einfache Dinge: Bigos, den
Kohleintopf mit Fleisch und Würstchen, den man eh am besten
draußen kochte (tat man es drinnen, hing der Geruch noch
Wochen später in den Gardinen). Kluski z twarogiem, eine Art
polnische Spätzle, die mit Speckwürfeln und dem typisch
polnischen Quark serviert wurden, einem weißen Käse, ähnlich
wie Feta. Oder Pfannkuchen, naleśniki, mit ebenjenem Quark
gefüllt, süß natürlich.
Piroggen gab es nicht, die waren zu aufwendig. Überhaupt
vermieden meine Großeltern in diesen Wochen im Wald alles,
was anstrengend war. Sie ließen los. Und wir mit ihnen.
Eines Nachmittags sagte meine Oma: »Komm, Milusia, lass
uns zu zweit spazieren gehen.« Die anderen lasen oder schliefen,

143
meine Schwester war mit meinem Opa angeln, und wir gingen
den Weg hoch, durch den Wald, über Wiesen, vorbei an der
kleinen Birke, vorbei an der großen Birke. »Schau mal, Oma,
hier ist überall …« – doch ich hatte vergessen, was Moos auf
Polnisch hieß. »Mech«, sagte meine Oma. »Mech«, wiederholte
ich. Meine Oma lächelte. »Nein, mech!«, sagte sie. »Mech«,
sagte ich. Dann fing ich an zu lachen. Dieses Pingpongspiel
machten wir immer, auch wenn nur wir verstanden, was das
überhaupt sollte. Wir warfen uns »mech« zu, denn »mech« war
eins meiner ersten Wörter gewesen – und zugleich das einzige
polnische Wort, das ich aus irgendeinem Grund nicht hatte
aussprechen können. Sosehr sich meine Eltern bemüht hatten,
sie schafften es nicht, mir beizubringen, das »ch« hart
auszusprechen. Nun hatte ich diesen kleinen Sprachfehler nicht
mehr, aber dafür sprach ich das Wort so übertrieben hart aus,
dass es mit weichem Moos nichts mehr zu tun hatte. Meine
Eltern sorgten sich damals, mit mir könnte etwas nicht stimmen.
Meine Oma fand es einfach nur süß.
Je älter Menschen werden, desto häufiger erzählen sie immer
wieder die gleichen Geschichten, als hätten sie Angst, sonst zu
verschwinden. Meine Oma mochte eine besonders gern, und so
lief sie auch diesmal neben mir, mit einem Ast als Gehstock, und
sagte: »Ach, Milusia, weißt du noch? Nein, du erinnerst dich
wahrscheinlich nicht mehr, aber ich, ich sehe dich genau vor
mir: Du warst gerade eineinhalb Jahre alt, ein kleiner Rabauke,
als deine Eltern dich zu uns in den Wald brachten. Sie mussten
arbeiten, und wir sind mit dir spazieren gegangen. Wir haben dir
Brei gekocht. Du hast kein einziges Mal geweint. Du warst schon
immer tapfer und selbstständig. Später, als du schon laufen
konntest, hast du dich einmal in einen Ameisenhaufen gesetzt.
Dir schossen Tränen in die Augen. Aber du gabst keinen Laut
von dir.«
 

144
Meine Oma hielt große Stücke auf mich. Die Sommer mit ihr
waren keine Erholung von der Schule oder vom
Klavierunterricht, wer braucht das schon als Kind. Sie waren
eine Erholung von der Strenge in Berlin, von der ewigen
Unzufriedenheit meiner Eltern. Wenn meine Oma fragte, wie es
im Schulchor lief, gab sie mir das Gefühl, die Antwort auch
wirklich hören zu wollen. Noten interessierten sie nicht, es war,
als wüsste sie selbst am besten, wer ich war und welche Talente
ich hatte, ohne ein Zeugnis, das andere mir ausgestellt hatten.
Sie war die Einzige in der Familie, die mir jemals gesagt hat:
»Ich bin stolz auf dich.« Bis heute treibt mir dieser Satz Tränen
in die Augen, auch wenn er nur in einem Buch vorkommt oder in
einem Film.
Als Mutter war meine Oma anders gewesen. Meinen Vater und
dessen kleine Schwester hatte sie streng erzogen, beide sollten
nur Bestnoten nach Hause bringen – als ich das Jahre später von
meiner Mutter und meiner Tante hörte, wollte ich es erst nicht
glauben. Meine Tante hatte sich immer schwerer getan in der
Schule, mein Vater war jedes Jahr Klassenbester gewesen. Als
Vater wurde er wie seine Mutter. Hart, manchmal unerbittlich.
So wirkt es heute auf mich. Als hätte er nach unten
weitergegeben, was sich eigentlich nach oben richten sollte:
Wut.
War es Altersmilde? Für mich jedenfalls besaß meine Oma
natürliche Autorität, keine Strenge. Und blieb nahbar, herzlich.
Ich sah zu ihr auf. Ich vertraute ihr.
Die Sommer waren auch immer kleine Auffrischungskurse in
meiner Muttersprache. Denn sosehr mir das Polnische anfangs
gefehlt hatte, so fremd war es mir mittlerweile geworden. Eine
doppelte Fremdheit, über zwei Ecken quasi, wir waren von Polen
nach Deutschland ausgewandert und kamen für den Urlaub
wieder zurück. Manchmal schafften wir es allein. »Was hieß
noch mal Birke?«, raunte ich. »Brzoza!«, flüsterte meine

145
Schwester. Manchmal saßen wir beim Essen – und stockten
mitten im Satz, den Blick nach innen gerichtet, die Stirn
gerunzelt, über uns ein großes Fragezeichen. Es war uns
peinlich, dass uns die banalsten Wörter nicht einfielen. Wir
waren doch auch Polen, oder nicht?
Unser neues Leben wurde nicht nur von Fremden beäugt.
Auch von Tanten, Onkels, Cousinen. Keiner rollte mit den Augen,
wenn wir zusammen am Tisch saßen, keiner sagte etwas,
dennoch spürten wir, dass sich langsam und still ein Keil in
unsere Familie schob. Wir, die gegangen waren; sie, die
geblieben waren. Eine Familie, zwei Welten. Meine Eltern hatten
uns das Polnische abtrainiert wie eine schlechte Angewohnheit.
Aber jetzt wollten wir so gern dazugehören. »Kurki«, ergänzte
meine Tante, wenn ich etwas über Pfifferlinge sagen wollte.
»Miód!« – meine Cousine konnte nicht verstehen, wie einem das
Wort für Honig entfallen konnte, den wir jeden Tag über unseren
Quark fließen ließen. Wir lächelten entschuldigend, klar, wie
peinlich! Aber tief in uns war da eine Stimme, die sagte: Wieso
peinlich? Wir sind es doch, die es geschafft haben. Wir haben
das graue Polen hinter uns gelassen. Den Sommer lang merkten
wir uns alles. Im September dann kamen wir in die nächste
Klasse. Und lernten viele neue Wörter, auf Deutsch. Die
polnischen verschwanden.
Meine komplette Kindheit und Jugend hindurch habe ich kein
einziges polnisches Buch gelesen. Auf Der geheime Garten
folgten Hanni und Nanni und später alle Fünf Freunde-Bände,
die es in der Bibliothek gab. Ich hatte keine Ahnung, was
polnische Kinder in meinem Alter lasen. Es war mir auch egal.
Alles, was ich wollte, war, auch einmal in ein Internat zu
kommen. Ich stellte mir das Leben dort wie eine Welt ohne
Erwachsene vor. Die Schüler waren selbstständig, konnten
machen, was sie wollten – und wenn es darauf ankam, hielten sie
zusammen. Und so lag ich mit meiner Schwester auf der großen

146
Luftmatratze, die uns mein Opa aufgeblasen und auf die Wiese
gelegt hatte – und war zugleich weit weg, in einem Schlafsaal
mitten im »Lindenhof«.
 
Die Tage zogen sich wie süße Fäden aus Karamell. Wir gingen im
einen See schwimmen, im anderen machten wir den Abwasch.
Mein Opa zeigte uns, wie man giftige von essbaren Pilzen
unterscheiden konnte. Ich scharte eine Horde von Hunden um
mich, ging mit ihnen Gassi, schimpfte und lobte sie. Meine
Großeltern fragten sich, was ich da anstellte mit meinem Ast,
allein auf dem Waldweg. Abends, beim Spaziergang, übten wir,
unsere Bewegung einzufrieren, sobald wir in der Ferne ein Reh
sahen. So standen wir manchmal minutenlang da, erstarrt. Bis
einer zuckte. Dann hüpfte das Reh davon.
Der Höhepunkt war das Einkaufen. Gleich nach dem
Frühstück ging es los. Wir zogen uns ausnahmsweise wieder
Schuhe an und unsere besseren T-Shirts, Oma ihre lange Hose,
Opa sein Hemd. Zu viert fuhren wir in die nächstgelegene kleine
Stadt. Am Marktplatz parkten wir, meine Schwester und ich
liefen direkt zum Kiosk. Einkaufen bedeutete ein Malheft für
jede. Beim Fleischer kauften wir Würste fürs Lagerfeuer, beim
Bäcker das Vollkornbrot – das nur so aussah wie eines, denn
eigentlich war es aus gefärbtem Weißmehl – und Gemüse an
Straßenständen. Im Lebensmittelgeschäft besorgten wir den
Rest. Man ging damals an die Theke und sagte dem Verkäufer,
was man wollte (die mit der Kuh drauf). Supermärkte gab es
noch nicht.
Am Ende bekam jeder ein Eis. Ein Päckchen mit einem
Holzspachtel, das aussah wie Butter. Es gab zwei Sorten –
Schoko und Sahne –, und wenn man sehr viel Glück hatte, auch
das mit der rosa Verpackung: Erdbeer. Wir aßen es zu viert
draußen am Brunnen, bevor wir wieder ins völlig überhitzte Auto
stiegen.

147
Irgendwann brachen wir die Zelte ab, machten ein letztes Mal
Feuer, sagten unseren Seen auf Wiedersehen, der großen und
der kleinen Birke, dann lenkte mein Opa sein Auto auf die
Landstraße. Die großen Schlaglöcher waren mittlerweile
notdürftig ausgebessert worden, dafür gab es Ritzen, die man in
den Knien spürte, wenn man über sie fuhr.
Als wir wieder in Danzig ankamen, war immer etwas anders.
Zu viele Menschen, zu viele, die uns anschauten mit unseren
bunten Klamotten, den schicken Sandalen. Zu viele, die meine
Oma kannten, sie grüßten und auf uns herabschauten, mit
diesem Blick: Das sind also diese Enkelinnen aus Westberlin. Die
Mauer war da längst gefallen, doch für die meisten kamen wir
immer noch aus einer anderen Welt.
Vielleicht war es diese latente Feindseligkeit, die meine
Schwester und mich dazu animierte, uns über alles Polnische
lustig zu machen, wenn meine Oma nicht in der Nähe war. Wir
lächelten über die Frisuren der Polinnen, die aussahen wie
Bürstenköpfe, mit billig aussehenden Strähnen drin. Wir
kicherten, wenn der Nachrichtensprecher mal wieder »Billa
Clintona« sagte oder »Helmuta Kohla«, im Polnischen werden
auch Namen dekliniert. Vielleicht taten wir das auch aus
Arroganz. Weil wir uns tatsächlich überlegen fühlten.
Einmal gingen meine Schwester und ich allein über die
Promenade, die die Plattenbauten miteinander verband, wir
schauten nach unten, um die Krater im Asphalt nicht zu
übersehen. Wir wollten in das Lebensmittelgeschäft, Bonbons
kaufen, die mit der Kuh drauf. Als wir den Laden verließen und
kichernd über die Straße gingen, schrie uns plötzlich eine alte
Frau hinterher: »Verschwindet, ihr Scheißdeutschen!« Wir
rührten uns nicht von der Stelle. Dann liefen wir, so schnell wir
konnten.

148
149
St. Hedwig

Das schaffst du nie.«


Warum hast du damals diesen Satz gesagt, Papa?
Und warum hast du ihn danach nie mehr zurückgenommen?
Ich habe diese vier Wörter nie mehr vergessen, sie führten dazu,
dass ich einen immensen Trotz entwickelte. Ich wollte es
schaffen, ich wollte dir beweisen, dass ich talentiert war. Weißt
du, wie sehr ich deine Unterstützung gebraucht hätte? Als
junger Mann hast du dich so sehr nach Freiheit gesehnt. Aber
mir hast du diese Freiheit, mich zu entfalten, verwehrt. Warum?
Dachtest du wirklich, ich sei nicht gut genug?
»Ich konnte dein Talent doch gar nicht einschätzen, Mila. Mir
schien das alles, die Musik, sehr unsicher. Was gab es denn da
für Perspektiven? Ich konnte mir dein Leben als Sängerin
einfach nicht vorstellen. Und dachte: Sie ist klug, ihr steht doch
alles offen. Wieso muss sie sich ihre Zukunft ausgerechnet auf
zwei Stimmbändern aufbauen!«
Heute kann ich meinem Vater diese Fragen stellen. Damals
hatte ich Angst vor seiner Antwort.
Um ihm aus dem Weg zu gehen, stürzte ich mich in die Musik,
ich verschwand förmlich in ihr. Ich war fünfzehn und hörte
weiterhin alles, ich unterschied nicht zwischen E und U. Ein paar
Schüler und ich hatten mit unserem Beethoven-Lehrer das Buch
Caius ist ein Dummkopf zu einem Musical umgeschrieben und
Lieder komponiert, nun war ich unter der Woche damit
beschäftigt, sie mit den Schülern einzustudieren, den Jüngeren
gab ich Stimmbildung, wiederholte Übungen, die ich im Chor
gelernt hatte, und manchmal, wenn der Musiklehrer keine Zeit
hatte, durfte ich sogar die Bandprobe leiten. Das Dirigieren
hatte er mir beigebracht. Eine Neuntklässlerin, die anderen
Schülern Anweisungen gab – ich fühlte mich sehr besonders.

150
Nachmittags setzte ich mich ans Klavier, übte Inventionen von
Bach und Walzer von Chopin, und wenn ich fertig war, rückte ich
die Stehlampe in die Mitte meines Zimmers und griff zur
Haarbürste. Dann sang ich Balladen von Mariah Carey und
Whitney Houston ins Mikro, stand im Scheinwerferlicht, kopierte
ihre Bewegungen, wie ich sie bei MTV gesehen hatte. Abends
lag ich mit Kopfhörern auf dem Bett, noch mal Mozarts Requiem,
ich wollte verstehen, warum mir diese Musik einmal solche
Angst eingejagt hatte. Und am Sonntag sang ich im Hochamt mit
dem Mädchenchor Barock-Kantaten. Wenn ich Glück hatte,
waren auch der Knabenchor und Gregor und Günter dabei, die
mir selbstbespielte Kassetten mit ihrer Lieblings-Gothic-Band
mitbrachten. Meistens kamen Gregor und Günter auch, wenn
nur wir Mädchen sangen. Da ahnte ich noch nicht, warum.
 
Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!
Halleluja, lobe den Herrn!
Lobt den Herrn mit Saitenspiel,
Lobt ihn mit eurem Liede!
Und alles Fleisch lobe seinen heiligen Namen.
Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!
 
Vielleicht lag es am Ende an der Kirche, dass ich mir aus den
Texten in der Musik nie etwas machte. Die Worte waren da, um
die Noten besser transportieren zu können, mehr nicht. Musik
spürte man in den Füßen, im Bauch, manchmal schnürte sie
einem die Brust zu, manchmal vollführte sie Tänze im Kopf.
Sprache war nur Mittel zum Zweck.
Wenn ich heute unsere Aufnahme von Felix Mendelssohn
Bartholdys Lobgesang Op. 52 höre, ist es, als stünde ich wieder
dichtgedrängt unter der Orgel in der St.-Hedwigs-Kathedrale.
Dieser Klang der Ouvertüre, der immer mehr anschwillt, erst die
Streicher, dann die Bläser, ein stetiges Crescendo, bis der Chor

151
einsetzt beim Tutti, kurz vorm Einsatz ein tiefes Luftholen, die
Aufregung, jetzt bloß nicht patzen, alles, was Odem hat, lobe
den Herrn, jede Silbe ein Paukenschlag, die Musik, die dem Text
seinen Sinn gibt. Was für ein majestätischer, satter Beginn. Dann
die Fuge.
Alle Augen in der Kirche waren auf uns gerichtet, auf die
weißen Blusen und Hemden, die schwarzen Röcke und Hosen,
die Mappen, in denen die Noten lagen, das Wogen, das durch
den Chor ging, ausgelöst durch kollektives Ein- und Ausatmen
und Umblättern.
Die Stimmen setzen einzeln ein in der Fuge, sie jagen sich,
ohne sich jemals einzuholen, ein Spiel eben, bis sich das Motiv
immer höher schwingt und noch höher, jetzt nicht den Boden
unter den Füßen verlieren, und alles Fleisch lobe seinen heiligen
Namen. Dann die Geigen. Trommelwirbel. Das Schnattern der
Oboen. Das Sopran-Solo. Die Frauenstimmen antworten im
Staccato, und vergiss es nicht, was er dir Gutes getan, Noten,
die wie Perlen hüpfen, das Zwerchfell locker, dann wieder
Legato, die Töne ziehen sich wie Kaugummi, und immer im
Tempo bleiben, sauber singen, nichts verschleifen.
Heute, nach fünf Jahren Musikstudium, analysiert mein Kopf
automatisch. Damals, als fünfzehnjähriges Mädchen, knallte es
einfach nur gewaltig, wenn ich sang.
Die Musik, das weiß ich nun, war meine Exit-Strategie. Aus
dem strengen Elternhaus, aus der Kälte, aus dem ewigen Höher-
Schneller-Weiter. Und später dann, als ich Solistin wurde, auch
aus der Unsichtbarkeit. Dass auch die Musik ein Höher-
Schneller-Weiter für mich bereithalten würde, dass Sichtbarkeit
auch anstrengend sein kann, das ahnte ich damals noch nicht.
Ich fing an im Mädchenchor, 2. Sopran, meist eine Terz unter
dem 1. Sopran, der die Melodie sang. Während meine Freunde
und die Freunde meiner Freunde in dieser Zeit Ecstasy
probierten, hatte ich meinen ersten Rausch schon längst hinter

152
mir, direkt unter den Orgelpfeifen stehend. Die feierliche
Atmosphäre, der Weihrauch und mein Körper, der mehr zu
können schien, als nur Brüste und Hüften wachsen zu lassen. Er
war ein Resonanzraum, er konnte, von Luft getragen, Töne
produzieren, die ich nie für möglich gehalten hätte. Zum ersten
Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, wirklich
angekommen zu sein.
Von nun an stand ich jeden Sonntag um halb acht auf. Um
neun Uhr war Einsingen, um zehn Hochamt. Mein Vater saß in
der Kirchenbank und schwieg. Ich sang. Ich hatte meine Stimme
gefunden.
Nicht nur in der Kathedrale, auch im Französischen Dom, im
Schauspielhaus, in der Philharmonie, sogar im Olympiastadion,
als Papst Johannes Paul II. nach Berlin kam. Als ich mit meinem
Solo an der Reihe war und verschwommen 30.000 Menschen
wahrnahm, wurde mir speiübel. Immerhin wusste ich, dass ich
mit ziemlicher Sicherheit nicht in Ohnmacht fallen würde, ich
war nicht der Typ Mädchen, der in Ohnmacht fiel. Wir machten
Konzerttourneen nach Bayern, nach Frankreich, nach Köln. Ich
war die Erste beim Einsingen und die Erste, die ins Bett ging.
Ich wollte nicht cool sein, ich wollte Sängerin werden.
Den ersten Kuss bekam ich nach einer Chorprobe, als wir noch
ein bisschen durch Berlin spazierten. Er hatte zuvor einen Döner
gegessen, und so küsste ich lieber noch den anderen, ohne
daran zu denken, dass Gregor und Günter ja Freunde waren.
Das Drama, das folgte, war so schrecklich, dass wir uns lieber
erst mal Briefe schrieben. Ein paar Sonntage später zaghafte
Blicke, während wir Haydns Der Herr ist mein getreuer Hirt
sangen. War jetzt alles wieder gut? Schule, Freizeit, Liebe. Mein
gesamtes Leben spielte sich mittlerweile in der Musik ab.
Nach einem Jahr sagte die Stimmbildnerin des Chores, sie
wolle mich einzeln unterrichten. Von da an stand ich vor jeder
Chorprobe im großen Saal und sang die Dreiklänge nach, die sie

153
vorgab. Was für eine Akustik! Was für ein Gefühl, ganz allein
einen Raum auszufüllen! In dieser Zeit schrieb ich in mein
Tagebuch: »Mir ist aufgefallen, dass meine Stimme an Volumen
sehr zugenommen hat. Man hat mich heute sehr stark
rausgehört, viel mehr noch als sonst. Das hat mich ziemlich
glücklich gemacht. Hat es also doch was gebracht, das ewige
Üben.«
Ich wusste: Im Chor zu singen war nur der Anfang. Ich wollte
Solistin werden. Nur was für eine? Sollte ich weiter
Kirchenmusik machen, lieber auf die Musicalbühne oder doch
Popstar werden? Mein Deutschlehrer am Gymnasium gab mir
die Nummer einer befreundeten Opernsängerin. Oper? Ich
wollte doch auf keinen Fall dick werden! Ich sang bei ihr vor. Sie
war gertenschlank und sagte, sie unterrichte eigentlich keine
Sechzehnjährigen, bei denen die Stimmbänder noch wachsen.
Ich sah sie an und hörte nur dieses eine Wort: eigentlich.
Kurze Zeit später saß ich mit ihr in ihrem Stammcafé und
trank heißen Kakao. Ich versuchte, nicht zur Tür zu schielen.
Jeden Moment sollten meine Eltern eintreffen, für ein
Kennenlernen, um ihnen zu zeigen, wie ernst es mir war. Sie
kamen abgehetzt, früher als sonst hatten sie ihre Krankenhäuser
verlassen, und es war offensichtlich, dass sie überall lieber
gewesen wären als in diesem Café in Schöneberg. Meine Mutter
bestellte einen Cappuccino, mein Vater bestellte nichts. Meine
Gesangslehrerin, wallende Mähne, Kajal unterm Lid, schaute sie
an und sagte: »Schön, dass Sie gekommen sind.« Ich weiß noch,
wie unbeholfen, wie unsicher meine Eltern in diesem Moment
waren – ein seltener Moment, einer, in dem sie nicht alles unter
Kontrolle hatten. Meiner Lehrerin war es egal, wie sie auf
andere wirkte, das irritierte meine Eltern. Wie so oft, wenn ich
mit ihnen an einem Tisch saß, saßen sich zwei Welten
gegenüber, doch zum ersten Mal hatte ich in meiner Welt
Verstärkung. »Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie eine sehr

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begabte Tochter haben, und ich würde sie gern einmal die
Woche unterrichten.« Meine Lehrerin nannte ihren Preis, mein
Vater schluckte, sagte aber nichts. Sie ließen meine Lehrerin
reden, über den klassischen Gesang und die
Zukunftsperspektiven auf Opern- und Konzertbühnen, am Ende
schüttelten sie ihr die Hand. Und als wir hinterher im Auto
saßen, meine Eltern vorn, ich hinten, schwiegen wir wie immer,
aber ich spürte, dass ich schon längst dabei war, mich von ihnen
zu verabschieden.
Der Schlusschor von Mendelssohn Bartholdys Lobgesang
erinnert mich immer an Mozarts Requiem, und damals tat es
gut, der Musik nicht mehr ausgeliefert, sondern Teil von ihr zu
sein, ihr Völker, bringet her dem Herrn Ehre und Macht! Ein
Akkord aus dem Orchester, der liegen bleibt, dann die
abgehackten punktierten Noten, schwierig, da den Einsatz zu
erwischen, jede Stimme einzeln, dann das Tutti, alles danke dem
Herrn. Wieder eine Fuge, schön locker, ein letztes Mal Kraft
sammeln vor dem großen Finale. Die Posaunen. Allein. Mit dem
Eingangsmotiv. Alles, was Odem hat, lobe den Herrn. Dann
Bässe und Tenöre. Allein. Mit dem Eingangsmotiv. Maestoso, wie
am Anfang, bis auf einmal alle Luft holen, zwei Sopranistinnen,
ein Tenor, zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei
Fagotte, vier Hörner, zwei Trompeten, drei Posaunen, Pauken,
Orgel, Streicher, und wir, der Chor, für die letzten sechs Takte,
im Fortissimo, sehr stark: Halleluja, lobe den Herrn!
Stille. Applaus.
Ich stand im Chor ganz vorn und sah genau hin, wie sich die
erste Sopranistin verbeugte.

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156
Wie viele aus meiner Familie vergast wurden

Mit dem Auszug kam das Alleinsein, kam die Armut, kam die
Angst.
Wenn ich so erwachsen sei, solle ich doch mein eigenes Geld
verdienen, hatte mein Vater gesagt. Bei Burger King sah ich
irgendwann, wie ein Kollege einen heruntergefallenen Burger
vom Boden hob und ins Brötchen packte. Am nächsten Tag kam
ich nicht wieder, dafür ging ich babysitten. Schmierte zwei
Kindern immer wieder Nutellabrötchen, die ich am liebsten
selbst gegessen hätte. Ich fing bei Schlecker an. Immer
dienstags, um sechs Uhr morgens, kam der Laster,
Warenpaletten entgegennehmen und in die Regale sortieren,
begleitet von der einzigen CD, die meine Chefin hörte und von
der ich nur ein Lied in Erinnerung habe: »Das sind nicht zwanzig
Zentimeter, nie im Leben, kleiner Peter!« Ich hielt neun Monate
durch. Dass der Kontrast zum nächsten Arbeitgeber, dem Hotel
Adlon, gar nicht so groß war, begriff ich ziemlich schnell. Der
Chef schaute uns jungen Dingern hinterher, die Gäste, die sich
für Promis hielten, auch. Die Desserts, die am Ende eines
Banketts übrig blieben, durften wir trotzdem nicht essen, und da
ich regelmäßig bei dem Versuch scheiterte, zwei schwere
Porzellanteller mit Cloches zu balancieren, gab ich auf. Es war
mir ein Rätsel, wie es gelingen sollte, die Teller mit den
schweren Hauben so zu halten, dass die Bratensoße nicht an den
Rand floss. Am Ende wurde ich Sprechstundenhilfe, in der Praxis
des Vaters einer Mitschülerin.
Mit meinen Eltern sprach ich weiterhin kein Wort, ich hatte
mich einfach aus ihrem Leben gelöscht. Vor oder nach der
Schule, manchmal auch beides, war ich mit meinen Jobs
beschäftigt, abends hatte ich Gesangsstunden oder übte,
Dreiklänge, Oktaven, Arien, und da dieses Pensum auf Dauer
nicht durchzuhalten war, ließ ich ab und an die Schule ausfallen,

157
nur die unwichtigen Fächer: Sport, Chemie, Biologie, Englisch,
wo die Lehrer nur ungenau Listen über die Anwesenheit führten.
Dachte ich zumindest. Nach einem Jahr, bei der Zeugnisvergabe,
stellte ich fest, dass sie meine Abwesenheit sehr wohl bemerkt
hatten. Sie drückten es freundlich aus.
Emilias vielfältige außerschulische Interessen verlangen ihr
ein hohes Maß an Selbstdisziplin ab, um sich in einer ihren
Noten angemessenen Weise auf den Unterricht zu
konzentrieren. Emilias Auftreten ist in aller Regel höflich.
Versäumte Einzelstunden: 34. Davon unentschuldigt: 9.
Es fällt mir schwer, mich heute in diese Zeit
zurückzuversetzen, die Erinnerung kommt nicht von allein, ich
muss nachdenken, wie war das damals? Wie habe ich das alles
nur geschafft? Und ich ahne, dass mich etwas Ähnliches geritten
haben muss wie meine Eltern, kurz nachdem sie Polen verlassen
hatten.
Die Anspannung, der Tunnelblick. Eine Art Überlebenswille.
Abends erstellte ich Listen, was am nächsten Tag zu tun war.
Ich war manisch, ich musste es schaffen, unbedingt.
In den Deutschunterricht ging ich nach wie vor. Und doch war
ich immer öfter müde, konnte mich kaum konzentrieren, bekam
nur am Rande mit, dass es mal wieder um das Dritte Reich ging,
zum gefühlt zehnten Mal. Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
hatten wir nun schon hinter uns gelassen, jetzt, in der zehnten
Klasse, war Jakob der Lügner dran. Und ich hatte keinen Bock
mehr. »Mann, lasst mich doch in Ruhe mit diesen bescheuerten
Nazis!«, rief ich, die Arme verschränkt. Der Lehrer schaute
irritiert. War die nicht aus Polen? Tja, dachte ich, jetzt fragst du
dich bestimmt, wie viele aus meiner Familie vergast wurden.
Ich wusste es selbst nicht.
Dabei interessierte mich das Thema brennend. Geschichte
überhaupt. Aber was hatte ich mit der deutschen Schuld zu tun!

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Und zum ersten Mal war da dieser Gedanke: Was sie wohl in
polnischen Schulen lehrten?
Meine Eltern hatten von klein auf mitbekommen, wie
identitätsstiftend der Zweite Weltkrieg für einen Polen war. Der
Pole als Märtyrer Europas, der für die anderen geopfert wurde.
Das Land, das abwechselnd von Deutschland und der
Sowjetunion in den Schwitzkasten genommen, das von
Frankreich und England im Stich gelassen und zum Kriegsende
von den Alliierten quasi an die UdSSR übergeben wurde. Die
Polen gingen aus diesen Jahrzehnten traumatisiert und
enttäuscht hervor. Erstaunlich eigentlich, dass sie in der Zeit
danach eine so große Faszination für den Westen entwickelten.
Doch von alldem hatte ich mit sechzehn Jahren keine Ahnung.
Auf meinem Gymnasium gab es auch andere Polen, sie hießen
Nowak mit Nachnamen, oder Kowalczyk. Manchmal, wenn ihre
Eltern ihnen auf Schulfesten etwas zuflüsterten, wenn sie
glaubten, nicht gehört zu werden, dachte ich: Irgendwie auch
albern, dieses polnische Wispern überall. Wenn man wollte,
konnte man es in der gesamten Stadt hören: dobrze … na pewno
nie … kiedy … zostaw to … na razie … Ein leiser Klangteppich
aus Wortfetzen, bevor man wieder ins Deutsche wechselte, in
normaler Lautstärke. Von den Polen in der Schule hielt ich mich
fern, ohne darüber nachzudenken. Und natürlich wäre ich nie
darauf gekommen, auch nur ein polnisches Wort mit ihnen zu
wechseln.
Als ich im Deutschunterricht saß und der Lehrer mich entsetzt
anstarrte, wurde mir klar: Keiner hier weiß, wer du wirklich bist.
Und wusste ich es eigentlich? Hatte meine erfolgreiche
Assimilation auch nur das kleinste bisschen der Polin in mir
übrig gelassen? Zum ersten Mal fühlte sie sich falsch an, diese
Mutation zur Turbodeutschen.
Natürlich hatte es in meinem Leben Situationen gegeben, in
denen ich gesagt hatte: »Ich komme aus Polen.« Etwa wenn

159
jemand sich wunderte, dass ich deutsche Kinderbücher wie Jim
Knopf oder Krabat nicht kannte, weil meine Eltern nicht gewusst
hatten, dass man in Deutschland diese Bücher vorlas. Doch ich
sprach ihn nicht gerne aus, diesen Satz, und hinterher bemühte
ich mich, das Gespräch schnell woanders hinzulenken, oft
vergebens: Kaum war er gesagt, herrschte ein eigenartiges
Schweigen. Der rosa Elefant im Raum, den man hilflos zu
ignorieren versuchte.
Bismarck, Hitler, Vertriebene. Brandts Kniefall in Warschau.
Meine beiden Länder waren vor allem durch Schuld und Sühne
miteinander verwoben. Wir waren Opfer unter den Tätern, und
wir wollten uns lieber nicht als solche zu erkennen geben, vier
Jahrzehnte nach Kriegsende. In Deutschland war doch jetzt so
vieles anders, was sollten wir da an alte Wunden rühren. Nicht
nur den Deutschen, auch uns Polen in Deutschland lag der
Holocaust noch immer im Magen wie ein zähes Steak. Wie lang
würde sie noch dauern, diese Verdauung?
Auf meinen Wutausbruch im Deutschunterricht folgten
weitere. Meine Eltern konnte ich nicht mehr anschreien, aber
ich konnte Furzkissen auf Lehrerstühle legen, die Arbeit
verweigern und trotzdem jede Antwort wissen, mit Tipp-Ex
meine Einträge im Klassenbuch verschwinden lassen,
schwänzen. Die Musterschülerin war ich nur noch, wenn ich es
sein wollte, in unserem Abibuch, das drei Jahre später
herauskommen sollte, bezeichnete mich jemand als »Sargnagel«
unseres Griechischlehrers. Und zu diesem Zeitpunkt war ich mir
noch nicht einmal sicher, ob ich das Abitur überhaupt machen
sollte. Wäre das nicht die ultimative Rebellion gegen meine
Eltern? Musik geht auch ohne Abi!
Die Polensache verfolgte ich nicht weiter. Mein Leben war
anstrengend genug, ein ewiges Da capo al fine aus Schule,
Arbeiten, Singen. Ich hätte gern Drogen genommen, aber das
ging nicht, ich war ja jetzt Sängerin. Und auf dem besten Weg,

160
so zu werden wie mein Vater. Spaß, Freizeit? Das hatten die, die
nichts erreichen wollten. Ich hatte Ambitionen.
Ich sagte immer öfter die Chorproben ab, um Arien von Mozart
und Lieder von Chopin auswendig zu lernen, um endlich das
zweigestrichene Fis bis As auf die Reihe zu bekommen, um zu
lernen, bis in die Füße zu atmen. Im Kirchenchor zu singen
brachte mich nicht mehr weiter, und kam ich doch einmal zur
Probe, fiel die Begrüßung von Gregor und Günter immer kühler
aus. Ich glaube, sie hielten mich für arrogant, und ich glaube, sie
hatten recht.
Wieder ein Wir, aus dem ich ausbrach.
Aber ich mied den Chor auch, um nicht mehr zu den
Gottesdiensten erscheinen zu müssen, ich hatte Angst, dort auf
meinen Vater zu treffen, Angst davor, meine Fassade könnte
bröckeln. Auf keinen Fall sollte er mitbekommen, wie miserabel
es mir ging. So ist es in unserer Familie im Grunde bis heute: Je
weniger der eine vom Unglück des anderen mitbekommt, desto
besser.
Und doch verbrachte ich die Sonntage damit, darüber
nachzudenken, was sie wohl gerade machten. Waren sie
schwimmen? Im Kino? Bei McDonald’s, ausnahmsweise? Waren
sie insgeheim froh, dass ich nicht mehr da war? In meinem Kopf
spann ich mir Szenen zusammen, hörte meinen Vater Sätze
sagen: Wie lächerlich sie sich gemacht hat mit ihrem Auszug.
Aber umso besser, dann können wir aus ihrem Zimmer endlich
ein Gästezimmer machen. Meine Mutter lachte dazu, während
meine Schwestern mein Zimmer vorübergehend als Spielzimmer
nutzten. Und sie mussten es nicht einmal aufräumen!
Meine Armut und Einsamkeit fühlten sich irgendwie heroisch
an, bohémien. Abends, wenn ich mich nach Schule, Arbeiten,
Singen ausgewrungen fühlte wie ein nasser Lappen, kochte ich
mir Nudeln und aß sie mit Butter und Salz, manchmal gab es
geraspelten Käse dazu und hinterher Äpfel aus dem Bioladen.

161
Ich hörte laut »Pure Vernunft darf niemals siegen« von
Tocotronic und »I Will Survive« von Gloria Gaynor, ich sah, wie
meine Eltern die Augen verdrehten, doch ihre Kommentare in
meinem Kopf wurden immer leiser. Mein Leben sollte reich sein
an Dingen, die man eben nicht sehen konnte, und wenn es dafür
immer nur Nudeln mit Butter gab. Eine lebenslange Opposition,
vor allem zu meinem Vater: Das war der Plan. Um mich zu
finden, musste ich weg von ihm.
Dann wurde ich krank. Ich konnte mich kaum rühren. Lag im
Bett, konnte weder lesen noch Filme schauen, weil mein Kopf
zerbarst. Der Hals dick, die Nase dicht, die Stirn heiß, der ganze
Körper unter Hochspannung. Die Antibiotika schlugen nicht an,
und ich fragte mich, ob es mir jemals zuvor schlechter gegangen
war. Ich lag da und wartete und schaute den Spinnweben an der
Decke beim Tanzen zu. Mir fiel auf, dass ich mein Zimmer noch
nie gesaugt hatte. Hatten wir überhaupt einen Staubsauger?
Und wo war meine Mitbewohnerin? Sie hatte angefangen zu
studieren, das wusste ich. Wann hatte ich sie das letzte Mal
gesehen, war das letzte Woche? Was meine Eltern wohl
machten, wie es meinen Schwestern ging?
Ich rief zu Hause an. Es war früher Nachmittag, ich wusste,
meine Eltern arbeiteten.
»Hallo?«
Es war meine Schwester.
»Hey, ich bin’s. Wie geht’s dir?«
»Oh, hallo. Ganz gut, und dir?«
»Geht so. Bin krank.«
»Oh, dann gute Besserung. Soll ich Mama sagen, dass du
angerufen hast?«
»Nee, lieber nicht. Bis bald!«
Noch heute kommunizieren meine Schwester und ich so, wir
sprechen nicht mehr als das Nötigste. Damals, sie war dreizehn
Jahre alt, schlug sie wie ich einen eigenen Weg ein. Einen

162
anderen. Sie war nun die Große. Diejenige, die unsere jüngste
Schwester vom Kindergarten abholte, nachmittags das Sagen
hatte, aber abends am Tisch ihre Stimme eher nicht erhob.
Gleichzeitig entwickelte sie diese kühle Strenge, die ich bis
dahin nur von meinem Vater kannte. In dem Maße, in dem ich
ihn ablehnte, schien sie ihn als Vorbild zu wählen. Erst Jahre
später sagte sie mir, wie sehr sie sich im Stich gelassen gefühlt
hatte, nachdem ich ausgezogen war.
Unserer Mutter hatte sie natürlich von dem Anruf erzählt.
Einen Tag später klingelte es an meiner Tür. Ich reagierte nicht.
Es klingelte wieder. Und wieder. Irgendwann schleppte ich mich
zum Türöffner, ich hörte schwere Schritte, und so stand meine
Mutter plötzlich da, in der Hand eine Douglas-Tüte mit diesen
Kordeln dran und sagte: »Ich habe dir was mitgebracht, zum
Gesundwerden.« Ihre Stimme brach, aber ihre Augen schauten
streng. Ich sagte nichts und konzentrierte mich darauf, nicht
loszuflennen. Stille. Sie schaute an mir vorbei in meinen Flur,
dann musterte sie mich, ohne mir in die Augen zu sehen. »Du
hast ja gar keine Hausschuhe an!« Es war der Satz, den ich
gebraucht hatte.
Ich schrie los. »Du machst mir wirklich wieder Vorwürfe, sogar
jetzt?« Meine Mutter schaute sich nervös um, aber mir war es
egal, dass ich nicht mehr in einem Einfamilienhaus wohnte, dass
ich Nachbarn hatte, die alles mit anhören konnten. »Das ist so
typisch für dich!«
»Zieh dir einfach Hausschuhe an, so wirst du doch nicht
gesund«, sagte sie, flüsterte es fast.
»Ich werde gesund, wenn ich euch nicht mehr ertragen muss!«
Ich knallte die Tür zu. Ich könnte die Szene noch heute
nachspielen, so genau ist sie mir in Erinnerung. Wie ich in dieser
einen Sekunde, als ich beschloss, die Tür zuzuschmeißen, noch
schnell nach unten blickte, um zu sehen, ob meine Mutter auf
der Schwelle stand oder nicht, was die Wucht des Ganzen

163
natürlich etwas minderte. Ich war wütend, aber ich wollte sie
nicht verletzen.
Als die Tür zu war, hörte ich sie dahinter aufschluchzen.
Minuten später stand ich noch immer wie angewurzelt da.
Ich wollte diese Familie nicht mehr. Gab es nicht irgendwo
eine andere?
Das Letzte, was ich von meiner Mutter hörte, war, wie sie laut
schluchzend die Treppen wieder hinunterlief. Die Tüte mit den
frischen Säften hatte sie mir von außen an die Türklinke
gehängt. Am Tag darauf schmiss ich sie weg.
Eine Woche später lernte ich meine erste Liebe kennen. Er
spielte Klavier. Er komponierte. Er sang Rio Reiser, er war der
Schwarm aller Mädchen. Und hatte eine Mutter, die so ziemlich
das Gegenteil von meiner war.

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Schaut mich an

Als ich drei Jahre später Abitur machte, waren meine Eltern
bereits getrennt. Mein Vater erschien gar nicht erst, als mir
feierlich das Zeugnis überreicht wurde, mit dem der Ernst des
Lebens beginnen sollte. Er hatte ja auch schon längst begonnen.
Ich fing an, Operngesang zu studieren. Dieser kontrollierte
Kontrollverlust auf der Bühne, die Leichtigkeit, die nur nach
Leichtigkeit aussah, ich wurde süchtig nach diesen
Widersprüchen, nach dem Moment, wenn die Stimme aus mir
herausbrach, wenn sie sich ihren Weg bahnte aus dem immer
weniger steifen Körper, es war besser als Sex, mittlerweile hatte
ich ja den Vergleich. Dazwischen: Stille. Jeder Ton fing bei ihr
an. Und kehrte zu ihr zurück. Wenn ich sang, war es, als würde
ein Kaleidoskop auf mich einstürzen, alle Emotionen,
Erinnerungen, Verletzungen und Träume überfielen mich
gleichzeitig. Musik als Katharsis, und natürlich hoffte ich, auf
diese Weise mein Gepäck irgendwann los zu sein.
Im Anschluss die Frage: Wie war ich? Nach jedem Auftritt,
jedem Vorsingen, oft suchte ich schon auf der Bühne die Augen
meiner Lehrerin, war sie zufrieden, enttäuscht? Dabei traute ich
eh keinem Lob. Ich hatte nie gelernt, es anzunehmen. Wenn
meine Lehrerin mich gut fand, witterte ich einen
psychologischen Trick, wenn sie mich schlecht fand, war ich am
Boden zerstört. Ohne es zu merken, hatte sich meine Mutter in
mein Bewertungssystem eingeschlichen, immer auf der Suche
nach dem einen kleinen Makel. Null-Fehler-Politik, ich
verkrampfte mich mehr und mehr. Nicht gerade die beste
Voraussetzung, wenn man Musikerin werden will.
Die ganze Zeit glaubte ich zu wählen. Meinen Auszug, meinen
Lebensstil, die Musik, selbst das Drama. Je heftiger ich mit
meinem Freund stritt, desto größer musste die Liebe sein.
Tränen im Park, ein Lied als Geburtstagsgeschenk, und immer

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wieder der Nachtbus. Wir liebten und wir hassten uns, wir
mussten alles ausdiskutieren. Schweigen bedeutete Kälte, das
hatte ich verinnerlicht, und so suchte ich das Laute, die Reibung.
Ich trank Bio-Darjeeling, weil meine Mitbewohnerin ihn trank,
lutschte Globuli, weil meine Gesangslehrerin sie lutschte,
imitierte die Mutter meines Freundes, die impulsiv und
großherzig war und kein Problem damit hatte, nackt durch ihr
Haus zu laufen. Ich suchte. Und merkte nicht, wie sehr meine
Eltern Teil dieser Suche waren.
Die Leitfrage, die sie sich zu Beginn ihrer Zeit in Deutschland
immer wieder gestellt hatten – wie machen es die Deutschen? –,
die gab es für mich nicht mehr. Ich hatte eine andere, nach der
ich alle Entscheidungen ausrichtete: Wie machen es meine
Eltern?
Ich tat dann genau das Gegenteil. Meine Eltern waren zu
einem Kompass in meinem Leben geworden, im umgekehrten
Sinne, sie waren in meinen Möbeln, meiner Kleidung, meiner
Frisur, meinen Gesten, überall.
Nachdem ich meiner Mutter die Tür zugeschlagen hatte,
hatten wir ab und an telefoniert, ohne ihren Besuch zu erwähnen
natürlich. Wann immer es ging, versuchte ich, Weihnachten
ausfallen zu lassen, und ging ich doch hin, klappte ich vorher
das Visier herunter. Meine Mutter kaufte für Heiligabend noch
immer Karpfen, obwohl ihn mittlerweile niemand mehr mochte,
er schmeckte nach Teich und Mottenkugeln und blieb einfach
auf dem Tisch liegen. Wir zogen das Programm immer schneller
durch, meist war ich nach zwei Stunden wieder draußen. Ich
war beschäftigt, verliebt, verletzt, ich konnte das alles nicht
auseinanderhalten. Und hatte mir eine Phrase angewöhnt, um
weitere Besuche zu vermeiden: »Sorry, ich habe überhaupt keine
Zeit.« Ich wusste, wer »überhaupt keine Zeit« hatte, war in den
Augen meiner Eltern oben angekommen. Oder er war kurz
davor.

167
 
Ein Sonntag im Mai 2004. Ich bekomme mein Kleid einfach nicht
zu, so sehr schwitzen meine Hände. Den ganzen Tag schon muss
ich ständig auf die Toilette, ständig trinken, ich habe Durst und
Durchfall und keinen Hunger, und nun auch das dringende
Bedürfnis, wie ein Tiger im Käfig den Raum hinter der Bühne zu
durchschreiten, zur Flucht bereit. Meine Kollegen, meine
Lehrerin und ich haben eine kleine Soirée zusammengestellt,
Lieder und Arien von Mozart, aber das ist nicht der Grund für
mein Lampenfieber, jedenfalls nicht nur. Mein Vater wird heute,
zum ersten Mal, im Publikum sitzen. Er wird mich zum ersten
Mal richtig singen hören.
Eigentlich hat sich meine Mutter angekündigt, und als sie
erwähnte, dass auch mein Vater kommen würde, habe ich nichts
darauf erwidert. Ich bin vor vier Jahren ausgezogen und habe
seitdem kaum mit ihm gesprochen. Seit einem Jahr studiere ich
Gesang und werde immer besser, doch es ändert nichts daran,
dass ich mich an diesem Sonntag klein fühle, wie eine
Anfängerin. Mein Vater ist gekommen, um mir die Maske vom
Gesicht zu ziehen, davon bin ich überzeugt. Seht, eine
Hochstaplerin!
Kurz bevor ich auf die Bühne muss: der Würgreiz. Musst du
jetzt kotzen? Atmen, ein Schluck Wasser. Vergiss ihn einfach,
denke ich, du bist jetzt Zerlina, die sich von Don Giovanni
verführen lässt. Im Augenwinkel sehe ich, wie jemand seinen
Stuhl zurechtrückt – etwa aus Langeweile? Konzentration jetzt,
Rezitativ, das Umeinandertänzeln. Und als es vorbei ist und das
Duett beginnt, habe ich meinen Vater schon fast vergessen, ich
schmiege mich an Don Giovanni, andiam, andiam, mio bene, wir
wiegen uns hin und her, ich schließe kurz die Augen, unsere
Stimmen verschmelzen.
Dann höre ich das erleichterte Lachen meiner Lehrerin.
Vereinzeltes Klatschen in die letzten Akkorde hinein. Ich liebe

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diesen Moment, wenn aus einzelnen Händen, die man noch
heraushören kann, ein Applaus aufbrandet, der sich, im besten
Fall, anhört wie ein starker Regenguss. Heute ist es ein kurzer
Schauer. Ich schaue nicht ins Publikum, das habe ich so gelernt,
immer schön über die Köpfe hinweggucken.
Und ab. Ich lasse mir Zeit beim Abschminken. Viel Zeit. So viel
Zeit, dass ich mich nach dem Abrubbeln meines Gesichts erst
einmal wieder eincremen muss, weil meine Haut so spannt. Mein
Kleid lasse ich an, der Reifrock macht mich größer, breiter,
mutiger, mit diesem Kleid bin ich nicht Emilia, und genau die
will ich auch nicht sein.
»Hallo. Schön, dass ihr gekommen seid.«
Ich umarme meine Mutter und meine Schwestern, meinem
Vater gebe ich die Hand.
»Das war so toll, Mila. Ganz toll. Wirklich.«
Sagt: meine Mutter.
Mein Vater sagt nichts. Er schaut sich um, sieht sich die
anderen Leute an, schaut auf die Uhr, als käme er gerade aus
dem Kino, Vorstellung vorbei, nun aber ab nach Hause! Ich reiße
die Augen auf. Das tue ich immer, wenn die Tränen kommen, so
kullern sie nicht so schnell herunter.
»Na dann, schönen Abend noch«, sage ich, »ich muss mal zu
den anderen.«
Ich bin auf alles vorbereitet gewesen. Auf verzogene
Mundwinkel, auf Gelächter, lauten Protest – und habe nicht
daran gedacht, dass ich nicht zu Hause auf meinen Vater treffe,
dass Stille seine einzige Antwort sein musste. Hier kann er nicht
brüllen oder mich am Handgelenk packen.
Die Stille schmerzt besonders. Als an diesem Abend zu Hause
mein Telefon klingelt, sehe ich »Unbekannt« auf dem Display.
Meine Eltern. Ich gehe nicht ran. Ich kann genauso gut
schweigen wie sie. Würde ich die Wut jetzt rauslassen, könnte

169
ich den Schmerz dahinter nicht mehr ignorieren. Wut ist
einfacher, für den Moment.
 
Fortan ließ ich die Kluft zwischen meinen Eltern und mir immer
größer werden. Ich wollte die kreative Emilia wecken. Mich
fokussieren. Frei sein. Weich sein. Ich wurde immer härter.
Nebenbei jobbte ich weiterhin. Meine Eltern hatten
irgendwann angefangen, mir etwas Unterhalt zu überweisen,
aber er reichte lange nicht aus. Unterstützung vom Staat gab es
keine, dafür war meine Familie zu reich. Also sortierte ich
Bücher in einer Unibibliothek, verkaufte Schokolade,
telefonierte im Callcenter, bewachte die Kunst im Museum, fror
auf Weihnachtsmärkten, saß an der Kasse bei Ikea, ließ
Touristen in den Bundestag.
Ich fühlte mich wie eine moderne Heldin und meinen Eltern
überlegen, bildete mir ein, klüger zu sein, reflektierter,
bewusster als sie mit ihrem sechsstelligen Jahresgehalt und
ihrem Villeroy-&-Boch-Leben. Meinen persönlichen Erfolg
bemaß ich in der Distanz, die ich zu ihnen aufbauen konnte. Ich
fand mich, erfand mich. Dachte ich.
»Qualität kommt von Qual«, sagte meine Lehrerin, das war
halb ironisch, aber ich nickte, was sonst, und übte noch mehr.
Da war der Spaß vorbei, der Druck in mein Leben
zurückgekehrt. Bevor ich angefangen hatte, Gesang zu
studieren, hatte ich ein komplett romantisches
Kunstverständnis. Dann merkte ich, dass die Arbeit einer
Opernsängerin nicht darin bestand, im Morgenmantel durch die
Wohnung zu wandeln, eine leichte Blässe im Gesicht, sich ab und
an mit einer großen Geste ans Klavier zu setzen und Dreiklänge
zu trällern, während sich die Katze an sie schmiegte.
Mein Leben hatte überhaupt nichts Mondänes. Ich lernte, wie
einsam Musiker sind, bis sie sich nach einer Vorstellung ins
Getümmel werfen, Händeschütteln, Schulterklopfen, und dann

170
sitzen sie abends wieder allein zu Hause und schmieren sich ein
Butterbrot. Ich lernte, wie sehr Musiker gutes Essen lieben. Und
dass viele von ihnen kleine Diktatoren sind. Ich lernte
Konkurrenz unter Frauen kennen. Ich war Sopranistin, eine
lyrische, also eine, die eher Mozart singt als Wagner. Eine, auf
die die Welt nicht gewartet hatte. Lyrische Sopranistinnen gibt
es so viele wie Ameisen im Wald. In etwa.
Ich lernte auch, dass Rotwein, Milch, bestimmte Käsesorten
den Stimmbändern schaden, sie trocknen sie aus, sie schleimen
sie voll, in jedem Fall sind sie zu meiden. Schnaps und Nikotin
sowieso. Ich schlief, ging schwimmen und zum Yoga, aber ich
entspannte mich nicht, ich dachte: Eigentlich ist das, was ich
mache, Hochleistungssport. Atempausen, die ich mir selbst nicht
zugestand, verschaffte sich mein Körper, indem er krank wurde –
was immer öfter geschah.
Heute weiß ich: Hinter dem Traum, Sängerin zu werden,
steckte mehr als der Wunsch, die Liebe zur Musik zum Beruf zu
machen (und vielleicht ein wenig berühmt zu werden). Es war
der größte Emanzipationsakt meines Lebens. Opernsängerin –
einen größeren Kontrast zum Leben meiner Eltern hätte ich
nicht wählen können.
Wenn nicht genug Geld da war, wurden sie nervös. Wenn etwas
nicht in geordneten Bahnen verlief, ebenfalls. Hatten sie mit
einem Urlaubsort, einem Restaurant, einem Rezept gute
Erfahrungen gemacht, blieben sie dabei, Neues war erst einmal
nur ein Stirnrunzeln wert, und Der Nussknacker sollte bitte
schön im Tutu über die Bühne gehen! Alles Grelle, Laute,
Verrückte war ihnen suspekt. Es schien, als hätten sie durch die
Flucht aus Polen das Adrenalin ihres Lebens verbraucht, als
wollten sie die Unsichtbarkeit nie mehr aufgeben.
Ich musste aus meiner Wohnung ausziehen, weil meine
Mitbewohnerin zufällig auch die Ex meines Freundes war. Es
war kompliziert. Ich zog zu meinem Freund, der noch zu Hause

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wohnte, ich freundete mich mit seiner Mutter an, es wurde noch
komplizierter. Ich zog zu einer bolivianischen Künstlerin in eine
Erdgeschosswohnung mit Ofenheizung und fühlte mich wie Mimi
in La Bohème, so bitterkalt war es. Der bolivianischen Künstlerin
machte das nichts. Tagsüber malte sie, nachts feierte sie Partys
und kochte Nudeln. Ich zog wieder um. Ich wollte in Ruhe üben,
ich brauchte eine eigene Wohnung. Erst wohnte ich zu nah an
meiner Lehrerin, dann zu weit weg, dann fühlte ich mich einsam.
Also doch wieder WG. Ich wurde zu einer Wohnnomadin, nach
ein paar Jahren hatte ich ein Dutzend Umzüge hinter mir.
Eines Abends schaute ich einen Film über Jacqueline du Pré.
Sie zog von Stadt zu Stadt, von Konzertsaal zu Konzertsaal, von
Hotel zu Hotel, ihren Liebhaber Daniel Barenboim sah sie immer
seltener. Ich war keine berühmte Cellistin, aber ich verstand ihre
Sehnsucht, endlich anzukommen, keine Flucht mehr, nur noch
Stillstand.
Eine Szene des Films hat sich mir eingebrannt. Jacqueline
liegt auf ihrem Bett, in einem Hotelzimmer in einer Stadt im
Irgendwo, sie ist müde und überfordert, und sie kann ihr Cello
nicht mehr sehen. Es steht anklagend und fordernd am anderen
Ende des Raums. Sie stellt es raus auf den Balkon. Ohne
schützenden Kasten, nackt. Es fängt an zu schneien. Der Schnee
legt sich auf das Cello, Jacqueline glaubt zu hören, wie sich das
Holz verzieht, wie das Instrument leidet. Sie sitzt auf ihrem Bett
und schaut einfach nur zu. Die Szene hat etwas Hasserfülltes,
Sadistisches, und in diesem Moment wünschte ich mir, auch ich
könnte mein Instrument auf so einen Balkon stellen und
einschneien lassen, nur ein einziges Mal. Aber das ging nicht.
Ich trug es immer bei mir. Es war untrennbar mit mir
verbunden.
 
Ich ging dann nach Rom. Schließlich war Italienisch die Sprache
der Musik. Ich hörte Mina, Lucio Battisti, Francesco de Gregori,

172
und vielleicht lag es an ihnen, dass ich zum ersten Mal auch den
Text wahrnahm. Ich war berührt, wie poetisch und weich, wie
hart und kalt Sprache sein konnte. Hunderte deutsche Bücher
hatte ich gelesen, aber erst in Italien verstand ich, dass Sprache
mehr transportierte als eine Geschichte. Sie war Emotion, hatte
Tiefe. Cantautori hießen die Sänger, die gleichzeitig auch
Autoren waren, durch ihre Lieder lernte ich die Sprache so
schnell, dass ich das Lernen gar nicht bemerkte.
Als ich eines Tages im Italienischkurs saß, sagte die Lehrerin
plötzlich: »Emilia, du hast ja einen polnischen Akzent!«
Der ganze Kurs schaute mich an. Ich wurde rot.
Sie hatte recht. Ich sprach Italienisch nicht wie die anderen
Deutschen. Ach was soll’s, dachte ich, hier sind wir ja alle
Ausländer. Und so kam es, dass ich im Ausland, in einer fremden
Sprache, das erste Mal von unserer Flucht aus dem Sozialismus
erzählte. Von Tomek, von unserem Ankommen in Deutschland,
von der Scham und der Unsichtbarkeit. Ich stotterte. Aber ich
konnte nicht aufhören. Ja, wirklich, wir durften nicht mehr
Polnisch sprechen, jedenfalls nicht draußen auf der Straße.
Kennt ihr das nicht, dass man sich für seine Herkunft schämt?
Es war, als wäre ein Knoten geplatzt. Warum nur hatte ich bisher
das Polnische in mir so gut versteckt?
Von da an sagte ich bei jeder Gelegenheit, die sich bot: Ich
komme aus Polen. Unter Gesangskollegen, beim Espresso an der
Bar, abends in der Pizzeria. Keiner rümpfte die Nase oder
schaute komisch, dafür stellten fast alle im Lauf des Gesprächs
die gleiche Frage: Und, fühlst du dich mehr als Deutsche oder
mehr als Polin? Ich verstand die Frage nicht. Ich kam aus Polen,
aber ich war keine Polin, völlig ausgeschlossen. Meist sagte ich,
was ich schon von anderen Migranten gehört hatte: »Weder
noch. Ich bin Europäerin.« Ich war noch nie in Brüssel gewesen.
Mit der EU, mit Europa, hatte ich nichts am Hut.

173
Nur am Rande hatte ich mitbekommen, dass Polen seit 2004
zur EU gehörte. Ich erinnere mich dunkel, damals eine Umfrage
gelesen zu haben: Die Deutschen wollten die Polen nicht in der
EU. Dunkel wohl deshalb, weil es mich nicht sonderlich
überraschte. Dass Deutsche auf Polen herabschauten, darüber
dachte ich nicht nach, natürlich war es so. Die Deutschen, hieß
es, befürworteten den Beitritt Ungarns und Tschechiens, aber
nicht den Polens. Die Politik handelte damals, das weiß ich
heute, gegen den Willen der Bevölkerung. Sie fühlte sich dem
1991 geschlossenen Nachbarschaftsvertrag verpflichtet. Mit der
EU-Osterweiterung lag Deutschland auch nicht mehr an der
Peripherie Europas, sondern zentral, und eine zentrale Rolle
stellte es sich in der EU auch vor. Polen erfuhr durch die EU-
Milliarden nicht nur einen enormen wirtschaftlichen
Aufschwung, es war auch auf dem besten Weg, ein kleines
bisschen moderner und cooler zu werden. Ich nahm diese
Entwicklung nur aus dem Augenwinkel wahr.
Als ich zurück nach Deutschland kam, erfuhr ich, dass mein
Opa einen Schlaganfall erlitten hatte. In den letzten Jahren war
ich nur noch selten in Polen gewesen, ich hatte oft an meine
Großeltern gedacht, aber immer etwas Besseres zu tun. Auch
diesmal fuhr ich nicht hin. Das lag vielleicht auch daran, dass
meine Oma mich bei unserer letzten Begegnung zur Seite
genommen hatte. »Willst du dich nicht mit deinem Vater
versöhnen?«, hatte sie gefragt, und ich hatte »Nein«
geantwortet, ihre traurigen Augen hielt ich kaum aus.
Ich blieb in Deutschland und begann ein bizarres Spiel mit den
Behörden, ich brauchte einen neuen Personalausweis. Es ist ein
Spiel, das im Grunde bis heute andauert. Immer wenn es darum
ging, einen neuen Ausweis oder Reisepass oder eine
Gesundheitskarte zu beantragen, wenn es darum ging, Hartz-IV-
Anträge auszufüllen oder sich auf Stipendien zu bewerben, am
Ende auch, als es darum ging, meine Tochter in ihrer

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Geburtsstadt Berlin anzumelden, immer wieder habe ich
versucht, meine polnische Geburtsstadt Wejherowo in das
deutsche Bürokratiesystem einzuschleusen. Ich schrieb den Ort
in Blockbuchstaben, tippte ihn in Onlineformulare, Beamte
nickten mein Problem ab, als würden sie verstehen, was ich
meinte, doch am Ende war es wie bei Kafka: Auf allen meinen
Ausweisen stand »Neustadt/Westpreußen«. Es macht mich noch
immer rasend, dass der deutsche Staat mir einreden will, ich sei
in Deutschland geboren und mein Geburtsort befinde sich in
Westpreußen.
Von da an reagierte ich, wenn jemand abfällig über Ausländer
sprach, mit dem Satz: »Entschuldige mal, ich bin auch
Ausländerin!« Es war befreiend. Es amüsierte mich, wenn mein
Gegenüber daraufhin verwirrt schaute, als wollte es sagen: Aber
dir sieht man es nicht an. Als käme es darauf an, was man sieht!
In Deutschland waren Ausländer noch immer Türken und
Araber, aber auch ich war nicht die glatte Person, als die ich
wahrgenommen wurde. Jede Einwandererbiographie hatte einen
Bruch. Und diesen Bruch wollte ich jetzt zeigen.

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Versuch einer De-Assimilation

Nach fünf Jahren Gesangsstudium schmiss ich hin. Und wurde


zu einer ganz normalen Studentin. Ich schrieb mich ein für
Romanistik, ein Allerweltsstudiengang, ich ging auf
Allerweltspartys, zog in eine Allerwelts-WG. Ich war Single. Ich
trank, rauchte, lackierte mir zum ersten Mal die Fingernägel
und war mit 24 Jahren endlich in der Pubertät.
Ich hörte Hiphop, wir sind am Start, und die Welt ist groß, wir
ham’ kein Ziel, aber wir fahr’n los, ich dachte: ABCB-Reim, und
dann schrie ich los: Seid doch mal ehrlich, ihr seid zwar
überhaupt nicht locker, doch ich weiß, tief in euch drin, wärt ihr
doch auch gern ’n Rocker! Nän! Nän! Nän! Ich durfte das ja
jetzt: schreien. Ab und an war ich in meiner Gesangszeit auf
Konzerten gewesen, die nicht klassisch waren, aber ich hatte
immer darauf geachtet, in der Masse nicht mitzusingen. Nun
genoss ich es, die Kontrolle abzugeben, heiser zu werden, bis
meine Stimme klang wie Schleifpapier. Endlich ließ auch ich
mein Cello einschneien, es war egal. Ich brauchte meine Stimme
zum Sprechen, für nichts sonst.
Ich stand plötzlich nicht mehr auf einem Sockel, der sich aus
der Masse heraushob, ich verschmolz mit der Masse, zu einem
großen Wir. Wenn ich andere Menschen kennenlernte, versuchte
ich im Gespräch zu umschiffen, dass ich erst im ersten Semester
studierte. Sonst folgte der unausweichliche Dialog, der mit »Ach,
und was hast du vorher gemacht?« begann und mit »Das ist ja
interessant! Warum hast du denn aufgehört?« endete. Ich wollte
aber nicht interessant sein. Ich war so dankbar für dieses
normale Leben, dass ich mit dem Gedanken gut leben konnte,
später einfach in irgendeinem Büro vor irgendeinem Computer
zu sitzen. Es schien, als könnte ich das nicht: meine Träume
verwirklichen, ohne mich zu sehr unter Druck zu setzen. Also
verzichtete ich auf Ambitionen.

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Ich atmete nun all die Luft aus, die ich die Jahre zuvor
angehalten hatte. Für die anderen schien die Uni der Anfang von
etwas zu sein. Für mich war sie das Ende eines Sturms.
Plötzlich erfuhr ich, was meine Freunde und Bekannten die
Zeit über gemacht hatten, als ich Partituren studierte: in einer
Hilfsorganisation gearbeitet, Prüfungen verhauen,
ausgeschlafen, Wochenenden durchgekokst. Es war, als hätten
sie nicht in meiner Welt gelebt.
Im Französischseminar lasen wir Gérard Genette, und ich
hörte zum ersten Mal dieses Wort: »Palimpsest«. Unsere Seele,
schrieb Genette, sei ein Palimpsest, eine im Lauf der Zeit immer
wieder überschriebene Manuskriptseite, voller Erinnerungen
und Gefühle. Nur weil etwas nicht mehr sichtbar ist, heißt es
nicht, dass es nicht mehr auf der Seite steht. Alles, was wir
erlebt haben, ist nicht vergessen, nur verdeckt.
Ich fing bei der Unizeitung an. In erster Linie, um kostenlose
Tickets für ein italienisches Filmfestival zu bekommen, das in
Berlin stattfand, und die Unizeitung suchte Leute, die
rezensierten. Ich wusste nicht, was das genau bedeutete. Die
Rezension jedenfalls, die ich nach dem Film der Redaktion
mailte, wurde komplett umgeschrieben.
Aha, dachte ich, es liest sich besser so. Von da an schrieb ich
immer mal wieder für die Unizeitung, ging ins Theater oder zur
Sitzung des Studierendenparlaments. 2009 begann der
Bildungsstreik. Unis wurden besetzt, meine Kommilitonen
protestierten gegen den neuen Bachelor, gegen
Studiengebühren und den Ausverkauf der Bildung. Ich fand es
aufregend, alles aus nächster Nähe mitzubekommen.
Gemeinsam mit der Chefredakteurin der Zeitung verbrachte ich
den Heiligabend an der Uni und aß ein veganes
Weihnachtsmenü mit den hartnäckigsten Besetzern. Die Kollegin
hieß Margarete und »Stokowski« mit Nachnamen, und natürlich
hatte ich geahnt, dass sie Polin war, aber nie danach gefragt. Es

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war Weihnachten, kaum jemand hatte Lust gehabt, an
Heiligabend für eine Reportage zu recherchieren. Wir schon, wir
hatten sonst nichts zu tun. Wir schrieben die Nacht durch, den
Morgen danach auch, und während wir an unserem letzten
Versuch eines szenischen Einstiegs feilten, fragte ich dann doch:
»Wieso feierst du eigentlich nicht bei deinen Eltern?«
»Kein Bock«, sagte Margarete.
»Warum nicht?«
»Ach, ich feiere schon länger nicht mehr zu Hause.«
Es entspann sich ein Gespräch zwischen uns, in dem wir ein
Wort besonders oft benutzten: auch. »Total, mein Vater ist auch
so, total hart«, sagte die eine. »Immer alles schön unter den
Teppich kehren? Tun wir auch«, die andere.
Als Margarete mit ihrer Familie nach Deutschland kam, so wie
wir, 1988, hieß sie noch Małgosia. Sie hätte diesen Namen gern
behalten, erzählte sie, aber sie wurde nicht gefragt. Stattdessen
trainierte sie sich innerhalb weniger Wochen das rollende R ab
und freute sich darauf, endlich die Klamotten vom Roten Kreuz
gegen neue Markensachen einzutauschen. Von ihrem ersten
Taschengeld kaufte sie sich eine Adidas-Jacke mit einem fetten
Logo vorne drauf. Margarete, das war in der Schule immer die
mit den Einsen.
»Ich bin froh, dass ich dieses Weihnachten nicht zu Hause
bin«, sagte ich. »Aber gestern, als wir in der besetzten Uni
saßen, hatte ich plötzlich solche Lust auf Borschtsch und
Piroggen.«
»Ja, ich auch«, sagte Margarete. »Das vegane Essen war
schrecklich.«
Wir waren zerrissen. Zwei junge Frauen, die auf ihre Weise
versuchten, sich aus etwas zu befreien, das sie selbst noch nicht
ganz verstanden.
Unsere gemeinsame Reportage erschien dann in der taz.

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Für die taz schrieben wir weiterhin, gingen ab und an auf
Redaktionskonferenzen. Wir traten dort gemeinsam auf, ein
bisschen hielten wir uns auch fest aneinander, und da viele
unsere Nachnamen verwechselten, waren wir bald einfach nur
»Owski und Owski«. Wir spielten das Spiel mit, es hatte etwas
Befreiendes, plötzlich war unsere polnische Herkunft auch
lustig, etwas, das wir nicht verstecken mussten.
Es gab dort einen Kollegen, der Schnurrbart trug. Er nannte
sich selbst den »Quoten-Türken«. Er versteckte sich nicht als
Migrant, er machte sich auf eine fast aggressive Art sichtbar. Ich
bewunderte ihn. Dann erfuhr ich, dass er in Hessen geboren
worden war – der Quoten-Türke war ein Hesse! Er kokettierte
völlig schamfrei mit seinen türkischen Wurzeln, und ich, die ich
mit meinen Eltern aus dem Sozialismus eingewandert war, von
einem politischen und wirtschaftlichen System in ein anderes,
tat so, als hätte ich in meinem Leben nichts anderes gesehen als
den reichen Westen?
Manchmal steht, wer glaubt, sich entscheiden zu müssen, am
Ende verloren da. Assimilation ist kein Ankommen, es ist ein
Versteckspiel. Ich stand kurz vor meinem 27. Geburtstag, und
ich hatte das Verstecken satt.
In Deutschland hat heute jeder Fünfte einen sogenannten
Migrationshintergrund – in den Medien ist es jeder Zwanzigste.
Es gehört für viele Menschen noch immer nicht zur Normalität,
dass eine Dunja Hayali im ZDF moderiert – sie bekommt
regelmäßig Hassbriefe. Und als Ingo Zamperoni vor einem
deutsch-italienischen Fußballspiel in den Tagesthemen sagte:
»Che vinca il migliore«, folgte ein Shitstorm. Möge der Bessere
gewinnen! Er hatte sich noch nicht mal auf eine Seite
geschlagen!
 
Es klingt so schrecklich kokett, wenn jemand sagt: Ich bin da so
reingerutscht. Aber bei mir und dem Journalismus war es

180
wirklich so. Anfangs hatte ich noch nicht mal gewusst, was eine
Journalistin überhaupt macht. Und dann gefiel es mir doch ganz
gut. Das Schreiben machte Spaß. Plötzlich hieß es nicht mehr:
Kinder haben keine Meinung, deine Meinung interessiert mich
nicht. Ich war kein Kind mehr, und ich hatte etwas zu sagen.
Dabei waren meine ersten Texte gar nicht besonders gut, aber
genau das war es, was mich lockte: Ich konnte es nicht. Im
Gegensatz zum Singen war ich beim Schreiben kein Naturtalent.
Ich las von da an Reportagen, Essays, Glossen. Und fand Schritt
für Schritt heraus, was das war, ein guter Text.
Ich ging für ein Zeitungsvolontariat nach Hamburg. Ich wusste
nicht genau, wie Redaktionen arbeiten, hatte noch nie ein
Praktikum absolviert, aber dem Chef schien genau das gefallen
zu haben. »Eine Quereinsteigerin«, sagte er. »Wir versuchen
das.« Ich schrieb über Wohlfahrtsverbände, Genossenschaften
und Heidschnucken, eine Schafrasse aus dem Norden. Eines
Tages hörte ich plötzlich Polnisch auf der Straße. Und dann
immer und immer wieder. Es waren Obdachlose, wie ich erfuhr,
Obdachlose, die ihre Familie zurückgelassen hatten und nach
Deutschland gekommen waren, die in einen Strudel geraten
waren aus Korn, Wodka und Bier. Und Schwarzarbeit natürlich.
Ihnen war völlig egal, ob sie als Polen in Deutschland auffielen,
aber sie hatten Angst, zu ihren Familien zurückzukehren, sie
schämten sich, sie hatten versagt. Einen dieser Männer
begleitete ich nach Polen, für eine Reportage. Er wollte zurück
zu seiner Mutter. Und starb am Ende an Tuberkulose, auf
Hamburgs Straßen. Bis heute hat mich kein Schicksal, über das
ich geschrieben habe, mehr berührt. Verdammte Scham, dachte
ich. Warum war es so schwer für diese Männer, sich
einzugestehen, dass sie es nicht geschafft hatten? Hatte das
auch mit polnischem Stolz zu tun? Warum gingen diese Männer
überhaupt noch nach Deutschland? War Polen nicht in der EU,
im Aufschwung?

181
Eine weitere Recherche, auf dem Land bei Stettin. Es war
Januar 2012, minus 15 Grad, in meinem Zimmer war die
Heizung ausgefallen, und ich wurde richtig krank. Innerhalb
weniger Minuten bekam ich Fieber und Schüttelfrost, ich legte
mich mit Jacke und Schuhen ins Bett, wartete auf den Schlaf. Ich
kann mich selten an Träume erinnern, doch den Traum dieser
Nacht werde ich nie vergessen. Ich sah meine Oma, in
Bildfetzen. Wie wir am Meer spazieren gingen, ich vorneweg, sie
hinterher. Wie wir gebratenen Fisch aßen in unserem Imbiss.
Eine Waffel mit Sahne. Die Tram nach Hause. Die Wohnung.
Dieser Geruch nach Mief und Frischgebackenem. Es war: wie
früher.
Am nächsten Morgen um sechs Uhr klingelte mein Handy.
Mein Kopf war heiß, mir war schwindlig. »Hallo Mama«, sagte
ich. Ich verstand sie nicht sofort. »Vom Klo gefallen«, das hörte
ich zwischen ihren Schluchzern und dachte noch, mein Gott, das
passiert nun mal in dem Alter, hatte Oma sich was gebrochen?
Die Beerdigung fand vier Tage später statt. Fremde Menschen
schüttelten mir die Hand. »Du bist also Milusia«, sagten sie.
»Das sind alte Arbeitskollegen«, flüsterte meine Mutter mir zu.
Ich hatte keine Ahnung, wie beliebt meine Oma an der Uni
gewesen war, und auch nicht, wie oft sie scheinbar von mir
gesprochen hatte. Ich biss mir auf die Lippen, von den salzigen
Tränen spannte die Haut in meinem Gesicht.
Im Studium hatte ich durch die französische und italienische
Literatur auch viel über die Länder selbst gelernt. Nun holte ich
mir aus der Bibliothek polnische Lyrik und polnische Romane –
auf Deutsch natürlich, bisher klickte ich nur ab und an im
Internet auf polnische Zeitungen. Ich lernte, dass die erste
demokratische Verfassung in Europa keineswegs während der
Französischen Revolution erkämpft worden war, wie ich gedacht
hatte, sondern in Polen, 1791, als zweite weltweit, nach den
USA. Nur vier Jahre später verschwand Polen einfach von der

182
Landkarte, für mehr als ein Jahrhundert, erst nach dem Ersten
Weltkrieg sollte es wieder ein Land werden. Warum hatte ich das
alles nicht gewusst? Warum lernte man an deutschen Schulen so
viel über Frankreich, aber bis auf den Holocaust nichts über
Polen, das andere große Nachbarland? Wie muss es all den
anderen deutsch-polnischen Schülern ergangen sein, die wie ich
an ihrer Schule nichts über ihr Heimatland gelernt hatten? Ein
Land, das nicht etwa am anderen Ende der Welt lag – sondern
direkt nebenan!
Ich ging in Berlin in die polnische Botschaft und wollte meinen
polnischen Pass zurück. Nicht aus Prinzip. Ich wollte wählen
können, so wie ich es seit dreizehn Jahren in Deutschland tat.
Der Mitarbeiter der Botschaft blaffte mich an, ich hätte das
Formular falsch ausgefüllt. Ich müsste auch etwas in die Felder
zur Biographie meiner Großeltern reinschreiben, ich sei doch die
Enkelin! Ich schluckte. Ich hatte keine Ahnung, was. Sosehr ich
meine Oma geliebt hatte, so wenig wusste ich über sie. Ich
wusste, sie war in Lwów geboren worden, als Lwów noch
polnisch war. Aber sonst? Was hatten meine Großeltern während
des Krieges erlebt?
Ich lernte einen Mann kennen. Er sagte: Wie peinlich, ich weiß
gar nichts über Polen. Er wollte alles wissen – viel mehr, als ich
selbst wusste. Ich verliebte mich in ihn.
Mit der Zeit fing ich an, zwischen den Kulturen zu tanzen,
mich mal dieser, mal jener Identität zu bedienen, die Tarnkappe
runter- und wieder hochzuziehen, je nachdem, wie es besser
passte. Auf deutschen Formularen hatte ich keine Lust auf
Nachfragen und gab meine polnische Staatsbürgerschaft nicht
an. Um Auslandsstipendien zu bekommen, schrieb ich
seitenlange Motivationsschreiben über meine polnischen
Wurzeln. Es hatte schizophrene Züge.
Musste ich mich entscheiden? Und wenn mein Leben in
Deutschland spielte, wie viel Polnisch vertrug dann mein

183
deutscher Alltag? »Wir stehen im Dunkeln, umgeben von
Licht« – dieses Zitat von Ryszard Kapuściński hatte ich entdeckt,
als ich Meine Reisen mit Herodot las – auf Polnisch, endlich. Es
erfasste ganz gut, wie ich mich fühlte. Ich wollte nicht mehr im
Dunkeln stehen.
Ein Versuch, mich zu de-assimilieren. Ich fuhr nach Polen,
diesmal für ein paar Monate, nach Warschau. Es fühlte sich
irgendwie schräg an. Ich war erwachsen, wollte arbeiten. Aber
am liebsten hätte ich mich mit meiner Oma an der Hand in der
nächsten Bäckerei angestellt, für ein Mohn-Quark-Teilchen. Das
ging nun nicht mehr.
Meine Zunge war so lahm, dass ich mich anfangs sogar
verhaspelte, wenn ich Kaffee bestellte. Wie polnisch bist du
wirklich? Diese Feuertaufe machte mich nervös. Als mir im
Gespräch mit einem Fremden ein eher banaler Grammatikfehler
unterlief, dachte ich sofort, ich sei nun durchschaut – als
vollwertige Polin disqualifiziert.
In dieser Zeit in Warschau war ich schwanger. Ich ging mit
meinem Bauch durch die Stadt spazieren, schaute mir Häuser
an, Parks, Menschen, was genau suchte ich eigentlich? Was
sollte das, dieses Graben nach Wurzeln, warum war ich
hierhergekommen? Auch Menschen, die nicht in einem anderen
Land geboren worden sind, haben Identitätskrisen. Machte ich
es mir mit diesem Migrationsding nicht ein bisschen leicht, als
willkommene Erklärung für alles? Ich fühlte mich verloren und
allein, am liebsten hätte ich mich in mein Bett verkrochen. Und:
Ich hatte Angst. Wie würde ich dieses Kind erziehen? Würde ich
so werden wie meine Eltern? Wie ist es überhaupt möglich, man
selbst zu sein, wenn dem Selbst ein so großes Stück
Vergangenheit fehlt?
Ich stürzte mich in Arbeit. Ich schrieb über polnische Armut
und die boomende Wirtschaft. Sah Hipster und Hochhäuser,
sprach mit Jugendlichen und dachte: Die kennen den polnischen

184
Minderwertigkeitskomplex gar nicht! Die gehen ins Ausland und
sind polnisch und stolz drauf! Mein Heimatland hatte sich
verändert. Wie kein anderes aus dem ehemaligen Ostblock hatte
es den Systemwechsel geschafft – aus eigener Kraft. 2009 war es
das einzige Land in Europa gewesen, das trotz Eurokrise ein
Wirtschaftswachstum zu verzeichnen hatte. Polen wurde
bewundert, nicht belächelt. Es war kein graues Land mehr,
sondern jetzt auch voller Neonlicht und Schilderwäldern: Der
schnellste Computer! Günstige Autoteile! Haben Sie schon einen
Immobilienmakler? Selbst die Männer sahen besser aus als in
dem Land meiner Kindheit. Polen war mir fremd.
Was mir nicht fremd war: der polnische Sprecher, den alle
»lektor« nannten und der nach wie vor die ausländischen Filme
übersprach, weil Synchronisation zu teuer war. Die Teegläser
mit Aluminiumkörbchen drum herum. Das raue Klopapier, bei
dem man sich jedes Mal fragte, ob es nicht sanfter wäre, einfach
ein Kastanienblatt zu nehmen.
Als ich durch Warschau spazierte, sah ich immer wieder dieses
eine Schild: »bar mleczny« – Milchbar. Als kleines Mädchen in
Polen war ich manchmal mit den Großeltern in Milchbars
gewesen, ich erinnerte mich an den Gestank von Kohl und altem
Wischwasser, an fettverschmierte Plastiktischdecken, an
zigarettengelbe Gardinen, kurz: an Ekel. Milchbars waren die
Volkskantinen des Sozialismus gewesen, wer sollte heute dort
essen wollen?
Ich lief die größte Straße Warschaus entlang, die Ulica
Marszałkowska, es war November, es zog und nieselte, und ich
fühlte mich, wie ich mich fühlen sollte, so waren die Alleen im
Sozialismus konzipiert worden: klein. Dann sah ich das rote,
leuchtende Schild: Bar Prasowy. Pressebar. Ich stieß die Tür auf.
Ich sah Hornbrillen, Kopfhörer um den Hals, Aktentaschen und
eine große Tafel. Pierogi ruskie, russische Piroggen, 6 Złoty;
naleśniki z serem, Pfannkuchen mit Quark, 6 Złoty; bigos,

185
Eintopf, 6,90 Złoty; surówka z białej kapusty, Krautsalat, 2 Złoty.
Das Essen kostete also quasi: nichts. Ich bestellte pierogi leniwe,
faule Piroggen, die meine Oma immer gemacht hatte, kleine
Teigklumpen aus Kartoffeln und Quark, übergossen mit flüssiger
Butter und Semmelbröseln. Hatte man sie aufgegessen, fiel es
schwer, sich vom Stuhl zu erheben.
Da saß ich also im Jahr 2013 in einem Raum, der an ein Start-
up-Büro erinnerte – schwarz lackierte Wände, Industrielampen –,
und aß ein Gericht aus meiner Kindheit. Als wollte ich mir das
Polnische wieder einverleiben. Es hatte etwas Tragikomisches.
Polnisches Essen war fettig und fleischlastig, oft kochte man die
Dinge so lange, bis sie aussahen wie schon einmal verdaut. Aber
nun schienen sich die Polen ihrer Küche nicht mehr zu schämen.
Sie feierten sie. In den Räumen der Bar Prasowy war auch
früher schon eine Milchbar gewesen, ein Jahr zuvor war sie
wiedereröffnet worden. Ihren Namen hatte sie von der
Druckerei, die sich einst gegenüber befunden hatte, aber
mittlerweile wurde sie von den Warschauern nur »Hipsterbar«
genannt.
Ich lernte Mascha kennen, eine Ukrainerin, die in der Küche
die Piroggen zusammenklebte. »Ich bin mit meinem Mann nach
Polen gekommen. Unsere Tochter haben wir bei der Oma in der
Ukraine gelassen, einmal die Woche skypen wir«, sagte sie. Die
Hälfte der Küchenmitarbeiter kam aus der Ukraine. In Polen
machten die Ukrainer etwa ein Drittel aller Einwanderer aus,
und sie machten, was die Polen nicht mehr machen wollten: in
Großküchen spülen, Supermarktregale befüllen, Alte pflegen,
ihren Körper für Sex verkaufen. Was in den USA »meine
Mexikanerin« ist und in Deutschland »meine Polin«, das war nun
in Polen »meine Ukrainerin«. Ein Symbol dafür, dass dieses Land
einen gewissen Wohlstand erreicht hatte. Und bis heute ist Polen
für Ukrainer das, was lange Zeit Deutschland für die Polen war:
der golden schimmernde Westen.

186
Nach meiner Rückkehr besuchte ich in Berlin die
Weihnachtsfeier einer Initiative polnischer Frauen, die sich
»Zwischen den Polen« nannte. Wir aßen Mandarinen und
redeten über unseren Heiligabend zu Hause. Über das
Extragedeck für den fremden Gast, das Warten auf den ersten
Stern, darüber, wie wir die große Oblate geteilt haben. Plötzlich
waren auch in Berlin die Polen viel sichtbarer. Oder übersah ich
sie einfach nicht mehr?
Da war Asia. Sie erzählte davon, dass der erste Versuch einer
Ausreise nicht geklappt hatte, weil der Kriegszustand begann.
Sie erzählte von der Angst an der Grenze, der kurzen Freude, als
die Flucht gelungen war, und dem festen Vorsatz, der danach
kam: ankommen. So schnell wie möglich raus aus dem
Asylbewerberheim.
Da war Kasia. Sie zog mit ihrer Familie zur Tante, die schon
ein paar Jahre in Deutschland lebte und ihnen sagte, sie sollten
im Einkaufszentrum auf keinen Fall Polnisch sprechen. Und ob
sich Kasia nicht lieber Katrin nennen wolle? Bis heute fällt es
Kasia schwer, ins Polnische zu wechseln. Es ist wie eine
Blockade, sagt sie.
Da war Ania. Sie kam mit neun, die anderen polnischen Kinder
sprachen nicht mit ihr, weil sie noch kein Deutsch konnte. Als
Ania Teenager war, wies ihre Mutter sie an, dass sie besser
keinen Türken oder Schwarzen mit nach Hause brachte.
Da war Alicja. Auch sie kam 1988, wie ich. Ein paar Wochen
war sie in der ersten Klasse, am Ende des Schuljahres dann
schon in der dritten. Im Erdkundeunterricht betonte sie einmal
Hannover falsch, auf der ersten Silbe. »Das kann man ja nicht
mit anhören«, sagte der Lehrer. »Das soll mal jemand anderes
machen.«
Da war Ola. Sie verbot sich selbst, polnisch zu sprechen. Sie
erzählte, wie sehr sie das Polnische verachtete, mit ihrer Heimat

187
wollte sie nie wieder etwas zu tun haben. Sie wollte lieber nach
Mallorca.
Und da war Ula. Irgendwie hatte sie das Gefühl, nicht
angekommen zu sein in diesem Deutschland. Irgendetwas fehlte.
Dann bekam sie ein Kind. Und sie fing an, mit ihm polnisch zu
sprechen. Nur wenn sie müde war, wechselte sie ins Deutsche.
Unsere Biographien waren so erschreckend ähnlich, dass wir
nicht länger behaupten konnten, kein Wir zu sein.
Unsere Väter waren die Motoren unserer Flucht gewesen,
diejenigen, die wegwollten aus dem Land, das sie einschränkte,
unseren Müttern war es schwerer gefallen, ihr Zuhause zu
verlassen. Unsere Onkel und Tanten hatten oft schon an
unterschiedlichen Orten in Deutschland gelebt, und auch, wenn
unsere Eltern Ärztinnen und Bauarbeiter und Putzfrauen waren,
stellten wir fest, dass sie eines gemeinsam hatten: ihre
Unsichtbarkeit.
Mittlerweile belächeln wir diesen Minderwertigkeitskomplex
und gehen in Kulturvereine wie den »Club der polnischen
Versager«. Damals aber, als wir in den 1980er und 1990er
Jahren groß wurden, waren wir noch nicht bereit für Ironie.
Nun schüttelten wir die Köpfe darüber, schimpften auch etwas,
wie konnten unsere Eltern nur so ängstlich und verschämt
gewesen sein! Wir, die zweite Generation. Die, die nicht mit
ihren Kindern ins Ungewisse gereist war, in der Vorstellung, nie
mehr zurückkehren zu dürfen. Wir waren in Westdeutschland
privilegiert aufgewachsen. Nun waren wir erwachsen. Aus der
Distanz fällt es immer leichter, sich abzugrenzen.
Kaum war ich selbst etwas aus der Deckung gekommen, sah
ich überall andere Polen. Fast jeder Mensch in Deutschland, so
schien es plötzlich, hatte polnische Vorfahren. Sogar die
Bundeskanzlerin.
Nur was hieß das jetzt für mich, wenn ich das Polnische in mir
wiederentdeckte? War ich nun rückwärtsgewandt? Konservativ?

188
Lebte ich einfach mein privates Multikulti? Nicht wenige
Menschen denken und fühlen ausgerechnet im Ausland
nationaler und konservativer als in der Heimat; so erklärt sich
beispielsweise auch der Rückhalt, den der türkische Präsident
Recep Tayyip Erdoğan durch die Türken in Deutschland erfährt.
Einige wenige Polen fordern immer wieder einen
Minderheitenstatus in Deutschland – schließlich hätten die
Schlesier in Polen auch einen.
Um Himmels willen, war ich jetzt auch so eine? Eine
Vertriebene, die ihrer Heimat hinterherweinte? Mich
interessierten keine polnischen Institute oder Organisationen,
ich wollte weder »das Polnische« in Deutschland stärken noch
ein neues Etikett, das mich von außen erkennbar machte. Was
ich aber auch nicht wollte: weiterhin einen Teil von mir um jeden
Preis verbergen. Ich ertappte mich dabei, wie ich meinen
Charakter auf Polnisches abklopfte. Meine Freunde hielten mich
für herzlich und großzügig, war das nicht auch irgendwie
polnisch? Ja, vielleicht. Was doch aber nicht bedeutete, dass
Nichtpolen deswegen nicht großzügig waren. Ich war weder
eine »neue Deutsche« noch eine »alte Polin«, wieso sollte ich
mich entscheiden müssen? Was ist mit einem eigenen Weg?
Meine Mutter wohnte mittlerweile in einer großen
Altbauwohnung im Süden Berlins, das Haus hatten meine Eltern
verkauft, ohne die Hypothek abbezahlt zu haben, meinen Vater
sah ich in dieser Zeit überhaupt nicht. Die Familie war zerrissen.
Meine Mutter, meine Schwestern und ich trafen uns
unregelmäßig, sie verstanden nicht, warum ich mich plötzlich
für Polen interessierte, aber sie hatten sich daran gewöhnt, dass
mein Leben ihnen in vielen Punkten nicht geheuer war. Es war
eine halbherzige Verbindung, die ich zu meiner Familie
eingegangen war, so lose und gleichgültig wie möglich.
Aus altem Trotz beschloss ich jedes Mal, bevor ich zu meiner
Mutter fuhr, nicht zu duschen und die alten Jeans anzuziehen.

189
Und betrat dann doch geschminkt, in Kleid und Strumpfhosen
ihre Wohnung, in der die alten Regeln noch immer Bestand
hatten. Noch immer versuchten wir Töchter, uns in Szene zu
setzen, noch immer galt es, möglichst viele Momente im Leben
zu sammeln, die man einrahmen konnte, Erstkommunion,
Firmung, Hochzeit, Kind, Hausbau, das neue Auto. Noch immer
war es wichtig, möglichst schnell anzukommen. Effizienz war
das Schlagwort. Gegen jeden Schmerz gab es eine Tablette,
gegen jede Falte eine Creme. Einmal erzählte meine jüngste
Schwester, wie furchtbar sie sich bei einem Wochenendtrip
gefühlt hatte, und meine Mutter sagte: »Aber die Fotos waren so
schön!«
Ich fuhr wieder nach Polen. Warschau, Breslau, Danzig. Nach
Danzig kam man nicht, ohne an Wejherowo vorbeizufahren, und
ich stand am Zugfenster und suchte das Haus. Die Plattenbauten
rauschten vorbei, sie waren in der Zwischenzeit gestrichen
worden, welches war denn jetzt unseres? Das
erdbeereisfarbene? Das babyblaue? Das zitronengelbe?

190
191
Witzbeutel und Tiefkultur

Aaah, kotki dwa, szarobure, szarobure obydwa, więc śpij, bo


własnie, księżyc zaszedł i za chwilę zgaśnie …«
Den Text hatte ich mir ergoogelt, die Version, die meine Oma
immer gesungen hatte, und nun gab ich mir Mühe, das Lied
auch so zu singen wie sie, mit warmer, dunkler Stimme. Meine
Oma hatte das Lied ständig wiederholt, immer einen Halbton
tiefer, ich durfte also nicht zu tief beginnen, um überhaupt noch
Spielraum nach unten zu haben. Es half alles nichts. Mein
Freund sang »Guten Abend, gut’ Nacht« mit ähnlichem Erfolg,
unsere Tochter schrie einfach weiter, und irgendwann schliefen
wir alle vor Erschöpfung ein.
»Ich glaube, ich will das versuchen«, hatte ich ein paar
Wochen vor der Geburt zu meinem Freund gesagt, »einfach
schauen, was passiert, wenn ich nur polnisch mit ihr rede.«
»Finde ich gut«, sagte er. »Vielleicht lerne ich es auch.«
Während die CSU vorschlug, wir Migranten sollten zu Hause
besser deutsch reden, brachten wir unserer Tochter also bei,
dass spać und schlafen das Gleiche bedeuten, dass babcia und
Oma dieselbe Person ist.
Wirklich informiert hatten wir uns nicht. Irgendwo hatte ich
gelesen, dass zweisprachige Erziehung am besten funktioniere,
wenn eine Sprache mit einer Person verknüpft sei, in unserem
Fall also: Mutter polnisch, Vater deutsch. Mein Polnisch war nur
wenig besser als das der Fünfjährigen, die ihr Heimatland
verlassen hatte, also beschloss ich, einen Sprachkurs zu machen:
Aufbaukurs C1. Kultura i społeczeństwo. Zu meinem Erstaunen
saßen dort fast ausschließlich Menschen, die ihre Muttersprache
verlernt hatten – Polen wie ich, die wieder Polnisch sprechen
wollten. In einem Souterrain unterhielten wir verlorenen Söhne
und Töchter uns also jeden Montagabend über Kultur und
Gesellschaft, versuchten es jedenfalls, doch im Grunde ging es

192
uns vor allem darum, möglichst einfache Sätze zu formen, mit
Vokabeln, die uns auch tatsächlich einfielen. Wir wurden sehr oft
rot in diesem Kurs, aber wir wurden besser.
War die polnisch sprechende Emilia eine andere als die, die
deutsch sprach? So empfand ich es, ja. So empfinden es Studien
zufolge auch die meisten bilingualen Menschen, und so bestätigt
es auch die Wissenschaft. Amerikanische Forscher haben
herausgefunden, dass das Sprechen einer weiteren Sprache
sogar den Sinn für Moral verändern kann. Während man in der
Muttersprache eher seinem Bauchgefühl folgt, denkt und fühlt
man in der zweiten Sprache rationaler. Wohl deshalb, weil die
Mühe, die wir für das Sprechen dieser Sprache aufwenden, eher
unser kognitives System animiert.
Oder liegt es daran, dass die Muttersprache die Sprache der
Heimat ist? Die Sprache eines Kindes, das diese Heimat verloren
hat und sich nun nach ihr sehnt? Wenn ich polnisch sprach,
machte ich Fehler und fühlte mich dennoch zu Hause, mehr wie
ich selbst.
Mein kognitives System strengte sich im Deutschen noch
immer an – es hat bis ins Erwachsenenalter gedauert, bis ich mir
das eingestehen konnte. Wenn ich ein Wort nicht kenne, hege ich
noch heute den Verdacht, dass es den anderen nicht so geht.
Dass sie wissen, was »Wildbret« bedeutet oder »Blaupause«,
dass sie dieses Fremdsein in ihrer Alltagssprache nicht kennen.
Ich bin für einen kurzen Moment verwirrt, wenn ich höre: »Diese
Angaben sind wie immer ohne Gewehr.« Dann fällt mir ein, dass
das Wort mit »ä« geschrieben wird und nichts mit Schüssen zu
tun hat. Mein Vater hatte in unseren ersten Jahren in
Deutschland versucht, mir diesen Satz zu erklären, aber mich
verwirrte das Gewehr so sehr, dass in meinem Kopf bis heute,
wenn ich Lottokugeln sehe, das Bild eines Amokläufers
aufploppt, für einen kurzen Moment jedenfalls.

193
Die vielen Wie-war-das-Diktat-Fragen und hochgezogenen
Augenbrauen meiner Schulzeit hatten mich zu einem
Rechtschreibfreak gemacht. Ich kann keine SMS, keine Chat-
Nachricht, keine Mail abschicken, wenn ich einen Fehler sehe,
auch auf korrekte Kommata achte ich akribisch, und mich befällt
leiser Ärger, wenn die anderen einfach alles kleinschreiben und
auf Zeichensetzung komplett verzichten. Die Autokorrektur
meines Smartphones hatte ich nach einiger Zeit abgestellt, zu
oft war mein richtig geschriebenes Wort durch ein falsches
ersetzt worden. In der taz war ich mittlerweile Redakteurin. Sie
gaben mir jeden Text, der es nicht mehr in die Korrektur
schaffte, es war nichts, worauf ich stolz war – natürlich nicht,
denn letzten Endes war ich doch in einem kreativen Beruf
gelandet, und welcher Kreative gilt gern als Pedant?
Es ist eine Sache, eine Sprache korrekt zu sprechen. Eine
andere, in dieser Sprache Reportagen zu schreiben, Bilder zu
erzeugen, Szenen, Gefühle. Ich war nun Journalistin, die
deutsche Sprache war zu meinem Beruf geworden. Und doch fiel
mir das Schreiben schwer, ich war froh, wenn meine Sätze solide
waren, hatte Angst, sie fliegen zu lassen, wie ein Kollege mir
einmal riet. Ich schrieb lieber mit angezogener Handbremse.
Eines Tages arbeitete ich im Café, es war zu laut und ich setzte
mir Kopfhörer auf. Johann Sebastian Bach, Adele, Kate Tempest.
Je nach Stimmung im Text wechselte ich die Musik, es war eine
Entdeckung, die Symbiose, die ich gebraucht hatte, ich probierte
kurze Sätze und besonders lange, ich dachte mir neue Wörter
aus, spielte mit Melodie und Rhythmus und Tonalität und war
überrascht, wie viel Musik und Sprache gemeinsam hatten.
Der Druck der Familie war derselbe wie immer, aber ich schrie
nicht mehr gegen ihn an, ich versuchte ihn wegzulächeln. Als
mir ein Journalistenpreis verliehen wurde, der nach Konrad
Duden benannt worden war, lautete die erste Frage meiner
Mutter an diesem Abend, per SMS: »1. oder 2. Platz?« Dann

194
wollte sie wissen, ob der Preis für gute Rechtschreibung
verliehen wurde. Ich antwortete nicht, ich ging mit den anderen
Gewinnern Schnitzel essen.
Dabei waren wir Migrantenkinder es, die ihre Eltern
sprachlich längst überholt hatten. Meine Mutter und mein Vater
sprechen sehr gut Deutsch, aber sie schämen sich noch heute,
wenn sie merken, dass sie einen winzigen Grammatikfehler
gemacht haben. Mein Vater ist mittlerweile Chefarzt. Je höher er
aufsteigt, desto mehr muss er darauf achten, keine Fehler zu
machen, sagt er. Meine Mutter verwechselt noch immer »der,
die, das«. Dass man den Weizen isst und das Korn, aber das
Weizen trinkt und den Korn, ist für sie der blanke Horror. Sie
sagt »Witzbeutel«, wenn sie Witzbold meint. Und »Tiefkultur«
statt Tiefkühltruhe.
Dann können wir Töchter nicht anders, wir müssen laut
lachen. Meine Mutter lacht nicht mit. Sie lächelt müde. Ihr
halbes Leben lang hat sie so getan, als wäre sie jemand anderes.
Und doch ließ sich das Polnische nicht ganz abschütteln.
Sie sagt, alles sei in »Pack und Tüten«, wenn sie meint, dass
alles geregelt ist. Mein Vater spricht von einer »einmaligen
Angelegenheit«, wenn er eine einmalige Gelegenheit meint.
Wenn sie bei der Arbeit den Krankheitsverlauf eines Patienten
dokumentieren, achten sie besonders auf Wörter wie
»Sensibilisierung« und »Fertilisierung«, wann kommt das »i«
und wann das »ie«? Wann sagt man »umso – desto«, wann
»sowohl – als auch« oder »weder – noch«? Dass ein Bayer und
ein Norddeutscher sich unter Umständen nicht verständigen
können, finden meine Eltern noch immer komisch. In Polen
sprechen und schreiben fast alle gleich.
 
An einem Sommerabend verabrede ich mich mit Margarete in
einem polnischen Imbiss in Berlin-Mitte. Er ist neu eröffnet

195
worden und sieht so aus, als könnte man dort auch Burger
essen.
»Ich hätte gern einen Żurek, bitte«, sage ich. Żurek ist die
Suppe aus vergorenem Mehl mit weißer Wurst und
hartgekochtem Ei. Meine polnische Lieblingssuppe.
»Żurek ist leider aus, tut mir leid«, sagt die Mittzwanzigerin,
die ein Tuch im Haar und roten Lippenstift trägt. »Prawda, żurka
już nie ma?«, fragt sie ihre Kollegin. »Tak, niestety.« Sie dreht
sich wieder mir zu. Ich habe natürlich alles verstanden.
»Das macht nichts«, sage ich, »dann nehme ich einen barszcz.
Und einmal die pierogi mit Kartoffeln, Hüttenkäse und
Parmesan.«
»Für mich das Gleiche, bitte. Und zwei Tyskie«, sagt
Margarete.
Und während die zwei Mitarbeiterinnen sich auf Polnisch
zurufen, wie viele Piroggen eine Portion seien, nehmen
Margarete und ich uns ein Bier aus dem Kühlschrank und setzen
uns.
Wir alle vier sind in etwa gleich alt und kommen aus Polen,
aber schon in diesen zwei Minuten, in denen wir die
Essensbestellung klären, wird klar, wie unterschiedlich wir mit
unserer polnischen Herkunft umgehen. Zwei polnische
Einwanderergruppen, die in diesem Imbiss aufeinandertreffen.
Die einen sind vor kurzem gekommen und sprechen Polnisch so
selbstverständlich wie jede andere Sprache auch. Die anderen
leben hier seit über zwanzig Jahren und spüren noch immer
diese Polnisch-Bremse in sich.
Die einen haben Berlin im Laufe der vergangenen Jahre
verändert. Polnisches wird nicht mehr versteckt, sondern stolz
hergezeigt in dieser deutschen Hauptstadt, Polnisches ist
plötzlich cool geworden, und wir unsichtbaren Polen,
Einwanderer der zweiten Generation, die mit ihren Eltern in den
1980er Jahren kamen, stehen etwas verwundert daneben und

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schauen zu. Studierende, Künstlerinnen, Gastronomen, Musiker,
Journalistinnen, Autoren, Start-Upper, sie alle kommen nach
Berlin und zeigen sich. Mittlerweile kann man in dieser Stadt
polnische Wochen feiern, man kann in Supper Clubs und mit
Fremden Piroggen, Borschtsch und Wodka teilen, man kann in
einem kleinen Posterladen die berühmten polnischen Theater-
und Filmplakate kaufen. Es gibt polnische Designermöbel und
Designerklamotten, sozialistische Retrosessel, die Hunderte
Euro kosten. Ein polnisches Filmfestival. Einen Buchladen.
Lesungen. Und unzählige Galerien und Imbisse.
»Um ehrlich zu sein, ich hätte schon auch auf Polnisch
bestellt«, sagt mir Margarete später. »Aber als du deutsch
gesprochen hast, dachte ich, das käme jetzt irgendwie blöd.«
Auch sie ist Journalistin geworden. Sie kam nach Deutschland,
da war sie erst zwei, aber sie konnte schon Polnisch, und als sie
auf die deutsche Sprache traf, führte das zu einem langen
Schweigen, wie bei mir.
»Meine Großeltern, die schon in Deutschland waren, setzten
mich vor Die Sendung mit der Maus und Löwenzahn, diese
deutschen Formate halt. Und ich weiß noch, wie ich immer
schrie: Głośniej, głośniej!, meine Großeltern stellten den
Fernseher also lauter. Erst nach einiger Zeit wurde ihnen klar,
dass ich nicht plötzlich Probleme mit den Ohren hatte. Sondern
dass ich die Sendungen im Fernsehen einfach nicht verstand.«
Mit acht begann Margarete, Gedichte auf Deutsch zu
schreiben, mittlerweile ist sie eine bekannte Kolumnistin und
Autorin. Ihr Vater aber sagt bis heute, wenn er sich
verabschieden will, »tschiuss«.
Als ich einmal in Warschau mit ein paar Polen ausging,
verstand ich nur die Hälfte von dem, was sie sagten. Wollten sie
kiffen? Redeten sie über Sex? Mir fehlten die Worte, ich fühlte
mich wie ein Kind, das zu den Großen herantritt, ihnen auf die
Schulter tippt und fragt: Was macht ihr denn da?

197
Bei meiner Tochter und mir ist das anders, für ein Gespräch
mit einem Kind reicht mein Vokabular locker aus, es macht
Spaß, mit ihr polnisch zu sprechen, zu sehen, wie sie es immer
besser versteht. Nur wenn ich über den gesamten Spielplatz
rufe, dass wir jetzt nach Hause gehen sollten, kostet mich das
noch immer Überwindung: »Idziemy do domu!« Eine
Schauspielerin, die nur so tut, als ob? Das Echo einer alten
Scham.
 
Eines Tages fahre ich mit meiner Tochter Bus und bitte sie, sich
gut festzuhalten. Ein paar Menschen schauen zu uns herüber, ihr
Gesichtsausdruck sagt: Warum spricht sie mit ihr diese Sprache?
In der Innenstadt Berlins gibt es mittlerweile französische,
englische, spanische und türkische Kindergärten, aber wieso
jemand mit seinem Kind polnisch spricht, das ist noch immer
schwer zu vermitteln. Polen ist unser Nachbarland, doch der
Deutsche schaut nicht gern Richtung Osten. Die Polen lernen
Deutsch oft schon in der Schule. Wer in Deutschland hingegen
Polnisch lernt, muss einen Grund haben – die meisten Deutschen
erkennen die Sprache noch nicht einmal. Wenn ich auf eine
Unterhaltung mit meiner Tochter angesprochen werde, lautet
die Frage wirklich fast immer: »Ist das Russisch?«
Auch meine Mutter spricht nun als Oma polnisch. Ich habe sie
darum gebeten. Allerdings tut sie es nicht überall. »Es geht
nicht«, sagt sie. »In meiner Wohnung, da kann ich das. Aber
draußen komme ich mir komisch vor dabei. Ich habe Angst, dass
meine Enkelin von anderen Kindern ausgegrenzt wird, wenn die
hören, dass wir polnisch sprechen.«
Es hört nicht auf.
Kein Mensch sollte darüber bestimmen dürfen, in welcher
Sprache ich mich mit jemandem unterhalte. Andere Migranten
wechseln in ihre Muttersprache, wann immer sich die
Gelegenheit bietet. Ganz einfach, weil es eine schöne Sprache

198
ist. Und woher will irgendwer wissen, dass jemand, der polnisch,
türkisch oder arabisch spricht, nicht im nächsten Moment in
perfektes Deutsch wechselt?
Wenn ich hingegen in Polen auf Reisen bin, reagieren manche
Menschen etwas verwundert, wenn ich polnisch spreche. Ich bin
offensichtlich keine Touristin, keine Ausländerin, dafür spreche
ich zu gut, man hört mir die Muttersprache an. Aber ich mache
eben auch Fehler. Interviews auf Polnisch bereite ich besser vor
als solche auf Englisch oder Italienisch, mich packt der alte
Ehrgeiz, und doch ist es ein anderer. Es ist meiner. Langsam
finde ich meine Sprache wieder.
 
Ein Samstag im März 2016. Es ist kalt im Bus, ich ziehe mir
meinen Rollkragen etwas höher, während wir über die A13
fahren, Richtung Südosten, Richtung polnische Grenze. Am
Cottbusser Busbahnhof bin ich die Einzige, die aussteigt, ich
laufe zu der schwarzen Limousine und setze mich auf den
beheizten Beifahrersitz. Ich habe noch eine andere Sprache
wiedergefunden: die zu meinem Vater.
Es hätte alles schiefgehen können, als ich ihn ein paar Wochen
vorher anrief. Oder vielmehr: Als ich mich darauf vorbereitete,
ihn anzurufen, Tag für Tag schob ich es vor mir her, bis ich es
eines Abends schaffte, zu früh zu einer Verabredung zu kommen,
ich lief also eine Runde um das Restaurant, die gemütlich
beleuchteten Fenster, ich auf der dunklen Straße, die Situation
passte irgendwie. Ich wählte seine Nummer, zum ersten Mal seit
Jahren.
»Papa, ich muss dir was sagen.«
»Ja?«
»Ich schreibe ein Buch. Ein Buch über unsere Familie, über
uns Polen in Deutschland.«
Das schaffst du nie, diesen Satz würde er nicht noch einmal
sagen, das wusste ich. Und selbst wenn: Ich war keine sechzehn

199
mehr, sondern doppelt so alt, die Hälfte meines Lebens hatte ich
bereits ohne ihn verbracht. Trotzdem fürchtete ich mich vor
seiner Reaktion. Ich befürchtete, dass er Nein sagen würde, zu
meinem Buch, zu meiner These, zu allem im Grunde. Meine
Mutter war schon einverstanden. Doch ohne das Ja meines
Vaters würde es nicht gehen.
»Das ist doch toll«, sagte er. Ich witterte Ironie.
»Wie meinst du das?«, fragte ich.
»Ich finde es toll, ein Buch, das ist doch toll.« Ich konnte es
nicht fassen.
Und so sitzen wir nebeneinander im Auto, mein Vater tritt aufs
Gas und überholt, ich habe vergessen, wie schnell er fährt, das
Auto schiebt sich auf die linke Spur, und ich denke, wäre das
hier Science-Fiction, würden wir jetzt abheben. Mittlerweile
fährt er einen Audi, der selbstständig bremst, selbstständig
parkt und, wenn man die Hände vom Lenkrad nimmt, auch
selbstständig geradeaus fährt. Wir kommen in seiner Straße an,
der einzigen Straße des Dorfes, in dem er wohnt. Sein
Grundstück fällt besonders auf. Zwei Autos, zwei überdachte
Garagen, hinten im Garten ein Schwimmteich, und vorne am
Eingang ein sich automatisch öffnendes Tor. Er hat also ein
zweites Haus in seinem Leben gebaut, auch hier ist das Parkett
glatt und rutschig, alles ist so sauber, dass man im Wohnzimmer
operieren könnte.
Ich frage, er antwortet. Anfangs kurz, dann immer länger, wie
war das damals? Immer wieder fällt ihm noch eine Anekdote ein,
ein Gedanke, am Ende sprechen wir über Karl Marx und die Idee
des Kommunismus. Mehrere Male fahre ich zu ihm. Wir führen
richtige Gespräche. Im Grunde das erste Mal in unserem Leben.
Plötzlich sagt er: »Ich glaube, ich habe auf deinen Wunsch zu
singen genauso reagiert wie mein Vater. Das ist mir nur viel
später aufgefallen.«
»Wie meinst du das?«

200
»Ich wollte eigentlich Literatur studieren, Bücher schreiben.
Ich liebte Poesie, liebte auch Literaturwissenschaft, hast du
einmal Die Probleme der Poetik Dostojewskis gelesen?«
Hatte ich nicht.
»Ich habe es verschlungen. Als ich meinem Vater davon
erzählte, reagierte er gar nicht. Geh an die technische
Universität, sagte er, lern einen richtigen Beruf. Ich entschied
mich für Medizin, für den Beruf meiner Mutter. Ich glaube, ich
hoffte insgeheim, dass du dasselbe tun würdest.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Jahrelang haben wir kaum
Kontakt gehabt, ich habe mein Leben allein auf die Reihe
bekommen, eine Therapie gemacht, ich bin dem, wie ich sein
und leben will, sehr viel näher gekommen. Eigentlich brauche
ich die Bestätigung meines Vaters nicht mehr.
Mein Vater steht auf und will Tee machen. Ich sage nichts. Wir
lächeln unsicher und sprechen danach über etwas anderes.
Als wir uns beim nächsten Treffen über die Volksrepublik
Polen unterhalten, sagt er: »Ich bin auf jeden Fall gegen
Autorität, das habe ich aus Polen so mitgenommen.«
»Das warst du früher aber nicht«, sage ich verdutzt. »Heißt
das, du bereust die Klapse auf den Po? Du bist gegen autoritäre
Erziehung?«
»Nein, das nicht. Kinder brauchen Grenzen.«
Und fast bin ich erleichtert, nicht alle Gewissheiten aufgeben
zu müssen.
Am Ende schauen wir Wesele, seinen Lieblingsfilm von Andrzej
Wajda. Ich bin gerührt und ahne, dass er das seiner neuen Frau
kaum zeigen kann. Welche Deutsche interessiert sich schon für
alte polnische Filme, in denen besoffene Hochzeitsgäste in
Versen reden? In denen die Frauen traditionelle Krakowianka-
Kostüme tragen und Polonaise tanzen? Und in denen immer
wieder ein Hofnarr auftaucht, Stańczyk, der Hofnarr des letzten

201
polnischen Königs, ein Symbol des Protests gegen das geteilte
Polen.
Die Frau und die Kollegen meines Vaters nennen ihn
mittlerweile bei seinem polnischen Vornamen, er hat es ihnen
angeboten. Hat er sich Polen wieder angenähert, nicht nur auf
der Landkarte? »Ich frage mich schon manchmal, warum wir uns
die ganze Zeit in Deutschland so versteckt haben. Ich sehe das
heute mit anderen Augen, ich bin stolz darauf, aus Polen zu
kommen. Oder sagen wir: Warum sollte ich es nicht sein? Aber
ich fühle mich mittlerweile ja auch sicher, habe eine gute
Stellung in der Gesellschaft. Ich habe keinen Grund mehr, meine
Herkunft zu verschweigen.«
Auch mein Vater hat es verpasst, seine Eltern, meine
Großeltern, nach ihrer Zeit im Zweiten Weltkrieg zu befragen.
Es fällt vielen Polen noch immer schwer, über diese Zeit zu
sprechen. »Ich weiß nur, dein Opa musste als kleiner Junge
Bäume fällen, das hat er mir erzählt. Ob das Zwangsarbeit war,
weiß ich nicht. Deine Oma lebte ja in Lwów beziehungsweise in
Chodorów, einem Vorort von Lwów. Und als die Russen dort
einmarschierten, wurde der Bruder deiner Urgroßmutter
verschleppt, der Rest der Familie floh, das hat man mir so
erzählt. Sie kamen nach Malbork, dort lernte deine Oma deinen
Opa kennen, und gemeinsam gingen sie nach Danzig. Deine Oma
hat immer von diesem Haus geschwärmt, das sie verlassen
mussten. Es muss sehr alt und sehr schön gewesen sein.«
Das Wort prababcia, Urgroßmutter, hat meine Oma nie gehört.
Sie war tot, bevor ihre Urenkelin geboren wurde.
Nun ist meine Tochter wahrscheinlich die Einzige in der
Familie, die sich über Identitäten mit Bindestrich keine
Gedanken macht. Sie geht in einen Kindergarten, in dem die
meisten Kinder von ihren Eltern nicht auf Deutsch angesprochen
werden, sondern auf Japanisch, Arabisch, Türkisch, Russisch
oder Spanisch. Am liebsten spielt sie mit Mohammed Yassin,

202
einem Flüchtlingskind aus Marokko. Es schaut also niemand
verwundert, wenn ich meiner Tochter beim Abschied »na razie,
kochanie« zurufe.
Als sie eines Sonntagmorgens ihr erstes polnisches Wort sagt,
hüpfe ich vor Freude und falle für einen kurzen Moment in die
mir verhasste elterliche Hochfrequenz: »Świetnie, malutka!«
Meine Tochter zeigt auf den Kühlschrank und sagt wieder:
»Jajo.« Ich beeile mich, das jajo herauszuholen, um ihr zu zeigen,
dass ich sie verstanden habe, ich koche es sechs Minuten und
stecke es in den Eierbecher, sie isst. Für mich ist es ein kleines
Wunder. So viele Jahre habe ich überhaupt kein Wort in meiner
Muttersprache gesprochen, und nun sitze ich hier mit meiner
Tochter, der nächsten Generation, geboren in Berlin-Kreuzberg,
und verständige mich auf Polnisch.
Es ist, als verbinde uns eine Geheimsprache.

203
204
Wejherowo

Tomek? Nein. Zu alt. Ich frage mich, ob ich schon bestellen soll,
streiche mir die Haare aus dem Gesicht, schaue zum
Springbrunnen weiter hinten im Park und beschließe, mit
meinem Kaffee doch lieber zu warten. Mir ist etwas übel. Warum
eigentlich?
Tomek? Nein. Der Mann läuft geradewegs zu einer Frau weiter
hinten. Wieso bin ich nur so früh gekommen? Wieso lasse ich
nicht, wie sonst auch, den anderen warten? Ich schaue aufs
Handy. Noch zehn Minuten. Habe ich meinen Notizblock
eingepackt? Soll ich überhaupt mitschreiben? Wie kommt das
rüber? Wie komme ich rüber? Sehe ich aus wie eine reiche
Deutsche?
Tomek? Ich hätte absagen sollen. Was soll das alles, was für
eine dämliche Idee, dieses Blind Date. Vor einer Stunde lag ich
noch auf dem Hotelbett und stopfte vor Aufregung M & Ms in
mich hinein. Ich hatte das Handy schon in der Hand, seine
Nummer schon aufgerufen, dann checkte ich noch kurz das
Wetter, und als ich auf dem Display nicht »Wejherowo« las,
sondern »Neustadt an der Rheda«, war ich so verwirrt, dass ich
für einen Moment vergaß, welche wirklich gute Ausrede ich mir
zurechtgelegt hatte.
»Emilka?«
Ich schaue hoch.
Er lächelt. Es ist so still, ich bilde mir ein, meine Synapsen
arbeiten zu hören, ich schaue ihn an, nicht zu lange, damit es
nicht peinlich wird, aber lange genug, um seine großen Zähne zu
sehen. Er ist es. Tatsächlich.
»Cześć Tomek«, sage ich. »Weißt du wirklich, wer ich bin?«
»Natürlich weiß ich das! Als mir das Sekretariat im
Krankenhaus deine ausgedruckte Mail brachte, las ich diesen
Namen, ›Smechowski‹, ich dachte noch, komische Schreibweise,

205
dann schlug die Erinnerung ein. Das warst du. Die Emilka von
früher.«
»Du bist jetzt Arzt?«
»Ja, Anästhesiologe, wie deine Eltern. Am selben Krankenhaus.
Ich bin in Wejherowo geblieben. Und ich habe geheiratet. Meine
Frau heißt Ewa. Wir haben zwei Kinder: Stasiu und Hania.«
Wie hast du erfahren, dass ich nicht mehr da bin? Kennst du
andere, die auch damals aus Wejherowo abgehauen sind?
Warum wollten deine Eltern nicht weg? Wie ist es heute in dieser
Stadt? Wie ist es in Polen überhaupt? Fährst du oft ins Ausland?
Hast du manchmal an mich gedacht?
Die Fragen schießen aus mir heraus, als würde ich kein
Gespräch, sondern ein Verhör führen, und für kurze Zeit bleibt
mir die Luft weg, dabei sitzen wir draußen im Park, auf der
Terrasse eines Cafés mitten in Wejherowo. Nach einer halben
Stunde sind wir beide so außer Atem, dass wir froh sind über die
Frau, die endlich die Getränke bringt. Latte Macchiato für mich,
schwarzen Tee mit Zitrone für ihn. Wie polnisch, denke ich.
Tomek hebt den Deckel des Kännchens, nimmt die zwei
Teebeutel und drückt sie mit bloßen Händen aus, gießt Tee in
die Tasse und legt einen Zitronenschnitz hinein. »Weißt du, ich
erinnere mich natürlich nicht ganz genau. Aber ich weiß, dass
ich damals nicht verstanden habe, warum du plötzlich nicht
mehr da warst. Meine Mutter sagte, ihr seid über die Grenze
gefahren, das sagte man ja damals so, za granicy, wohin, war im
Grunde auch egal, und meine Mutter sagte auch, ihr würdet nie
mehr wiederkommen. Bei Pani Jadzia war es danach nicht mehr
so lustig.«
Stimmt, Pani Jadzia! Unsere gemeinsame Tagesmutter. Sie
wohnte in der Nummer 17, wir in 19A, und da sie eh mit ihren
beiden Söhnen zu Hause war, verdiente sie sich ein bisschen
Geld dazu, indem sie auf die Kinder der Nachbarschaft
aufpasste.

206
»Was wir nachmittags machten, weiß ich nicht mehr so genau.
Wir spielten im Sandkasten. Aber sonst? Waren wir eher bei dir
oder bei mir? Das ist auch so ein Moment, in dem mir meine
Mutter fehlt. Sie konnte sich immer sehr gut erinnern.«
»Was ist mit deiner Mutter?«
»Sie ist gestorben, das ist jetzt dreizehn Jahre her. An einer
Nervenkrankheit.«
Ich schaue ihn an. Sein Haar zeigt erste lichte Stellen, aber
sein Gesicht ist noch immer rund und etwas kindlich, mit seinem
blauweiß karierten Hemd und dem Jackett aus Filz sieht er
irgendwie bayerisch aus. Er trägt eine Uhr, die schwer wirkt und
mit der man sicher einige Meter tauchen kann. Tomek, das sieht
man, gehört zu der Sorte Polen, die es geschafft haben.
Er arbeitet aber auch 60 Stunden in der Woche. Zusätzlich zu
seiner Stelle im Krankenhaus in Wejherowo noch in einem
anderen als Belegarzt – und in einem Hospiz. Während des
Studiums jobbte er im Sommer in Großbritannien auf dem Bau
und wurde komisch angeschaut. Ein polnischer Medizinstudent,
der Ziegel schleppt? Man kann als Arzt in Polen heute gut
verdienen, aber man hat dann keine Freizeit mehr. Als er und
seine Frau erfuhren, dass ihr Monatsgehalt in etwa so viel wert
ist wie zwei Nachtdienste in Frankreich, überlegten sie
auszureisen. Sie fingen sogar an, Französisch zu lernen.
»In Deutschland war ich nicht oft. Ich hatte im Gegensatz zu
vielen anderen Polen auch kein Deutsch in der Schule, sondern
Russisch. In Berlin war ich nur einmal, ein paar Tage. Mein
Vater hat nämlich nach dem Tod meiner Mutter eine andere Frau
kennengelernt, eine Polin, die in Deutschland lebt. Aber ich sehe
die beiden nicht oft, mein Vater und ich haben ein eher
distanziertes Verhältnis.«
Ich nicke. Wir haben uns nur in den ersten fünf Jahren unseres
Lebens gekannt. Und doch ist es, als hätte ich einen verloren

207
geglaubten Bruder wiedergefunden. Dass dieses Gefühl sehr
wahrscheinlich einseitig ist, ist mir egal.
Seit meine Mutter ihre alten Kollegen in Wejherowo
kontaktiert hat, seit ich weiß, dass er dort geblieben und Arzt
geworden ist, seit ich ihm schrieb, ob wir uns nicht einmal
treffen könnten, warte ich darauf, ihm diese Fragen stellen zu
können. Vor allem eine, die meine Eltern mir nicht beantworten
können: »Wie war es hier in den Jahren, nachdem wir ausgereist
waren?« Tomek soll eine Leerstelle füllen.
»Ach, weißt du«, sagt er, »im Grunde erschreckend
unverändert. Es hat sich nicht viel getan nach der Wende, falls
du das meinst. Wir haben noch acht Jahre in dem Block gewohnt,
dann haben wir uns ein kleines Häuschen in Śmiechowo gekauft,
in deinem Viertel«, und während er das sagt, hebt er nur kurz
den Kopf und blinzelt leicht. Und ich muss lachen. Ich habe den
Witz kapiert! Jahrelang war das anders, ich tat mich schwer, die
polnische Ironie zu verstehen, ich wusste so wenig über dieses
Land. Nun aber kenne ich Śmiechowo, das Viertel von
Wejherowo. Ich weiß, dass mein Vater aus Danzig kommt und
sein Vater aus Thorn, und die Namen nur durch Zufall die
gleichen sind.
Nach dem Gymnasium, erzählt Tomek weiter, studierte er in
Danzig Medizin, wie meine Eltern. »Wejherowo war damals tot.
Es gab nur einen Pub, kein Kino, kein Theater. Erst mit den
Geldern der EU kamen die Bagger. Die Altstadt wurde neu
gepflastert, der Park, in dem wir sitzen, neu angelegt, eine
Philharmonie gebaut, und siehst du die Fontänen da hinten? Die
werden abends bunt angestrahlt! Vor zehn Jahren hätte man
Mühe gehabt, ein Restaurant zu finden, in dem man gut essen
kann.«
Ich höre ihm gern zu. Er erzählt gut, auch ohne gefragt zu
werden, und es ist ein ganz klein wenig, als würde er mir von
dem Leben berichten, das ich hätte haben können. Wie bizarr.

208
Wir sind im selben Jahr geboren und im selben Block
aufgewachsen. Heute hat Tomek eine Wohnung in Danzig und
ein Grundstück außerhalb, er ist verheiratet, seine Frau, auch
Ärztin, ist wegen der Kinder in Teilzeit gegangen, sie haben zwei
Autos, und einmal im Jahr fahren sie in die Sonne, nach Spanien
oder Griechenland. Sein Chef war früher der Kollege meiner
Eltern. Tomek führt das geordnete Leben, das meine Eltern für
ihre Tochter immer wollten.
Ich dagegen bin nicht gerade das, was man sesshaft nennt,
trotz Kind, trotz Beziehung. Ich wohne in einer unrenovierten
Altbauwohnung, es ist mein 15. Wohnsitz in 16 Jahren, ich habe
keinen Führerschein und keinen Fernseher, ich fahre Rad, wenn
es mir nicht gerade geklaut wurde, und lebe mit dem konstant
schlechten Gewissen einer viel und gern arbeitenden Mutter. Ich
habe mir dieses Leben so ausgesucht, meistens mag ich es. Und
bin mir doch unsicher: Brauche ich mehr Ruhe, mehr Boden
unter den Füßen? Und könnte dieser Boden vielleicht auch
polnisch sein?
»Warum bist du mit deiner Familie dann doch nicht nach
Frankreich ausgereist?«
»Wir haben uns entschieden, erst einmal hierzubleiben. Im
Ausland werden zwar nach wie vor Ärzte gesucht, es gibt
richtige Headhunter, die sie rekrutieren, ihnen eine Wohnung
suchen, einen Sprachkurs bezahlen. Aber dann sahen meine
Frau und ich die Terroranschläge, in Paris, in Nizza. Und
irgendwie dachten wir, in Polen ist es doch ganz schön, hier ist
unser Leben eingerichtet. Vielleicht bin ich da auch meinen
Eltern ähnlich, es zieht mich nicht woanders hin. Die Frage ist
nur: Werden wir in ein paar Jahren noch immer ein liberales
Land sein? Da bin ich mir nicht so sicher.«
Er begleitet mich zurück zum Hotel. Wir sprechen über die
aktuelle Regierung, die Polen nicht weiter modernisieren,
sondern nach außen hin abschotten will. Zum Abschied

209
umarmen wir uns und geben uns polnische Küsschen, rechts und
links auf die Wange. »Do zobaczenia«, sagt er. Auf Wiedersehen.
»Sag Bescheid, wenn du mal wieder hier bist.« Uns beiden ist
klar, dass er mich wohl nicht in Berlin besuchen wird.
»Wie war’s?«, fragt meine Mutter, als ich wieder im Hotel bin.
Sie ist mit mir auf diese Reise gekommen, doch ich will jetzt
nicht reden. Ich habe Hunger. Würde sie es überhaupt
verstehen? Wenn ich unbedingt wolle, könnten wir hinfahren,
hatte sie in Berlin gesagt, und doch merkte ich, dass sie den
Grund für diese Reise etwas albern fand. Meine jüngste
Schwester haben wir mitgenommen, meine Tochter in den
Kindersitz gesetzt und sind losgefahren. In die Stadt, in der
unsere Geschichte begonnen hat.
»Mama, ich will Regenschirm haben«, sagt meine Tochter und
springt mitten in eine Pfütze. Es ist früher Abend, wir laufen
durch die Altstadt von Wejherowo.
»Uważaj!«, schreie ich lauter, als ich will, meine Hose ist
komplett nass geworden. »Parasol dostaniesz później.«
»Nein, ich will jetzt parasol!«
»Ale już nie pada, kochanie.«
»Doch, pada noch!«
»Nie, już przestało.«
»Warum?«
»Bo nie ma chmur.«
»Aber warum nie ma chmur?«
»Bo chmury sie przesuwają.«
»Aber warum?«
Die meisten unserer Unterhaltungen laufen so ab. Ich spreche
polnisch, meine Tochter antwortet auf Deutsch. Einzelne Wörter
zieht sie aus der anderen Sprache, wenn ich sie vorher benutzt
habe. Manche Wörter kennt sie noch gar nicht auf Deutsch – ich
habe sie bisher nie »Gute Nacht« sagen hören, sondern immer
nur: »Dobranoc.«

210
Als wir über den sauberen Rathausplatz laufen, der fast etwas
Mediterranes hat, die alten Männer, die auf Parkbänken sitzen,
das Flüsschen, das vor sich hin gluckert, und schließlich im
Restaurant Salat mit Putenbruststreifen essen, denke ich: Nein,
das ist sie nicht, das ist doch nicht meine Heimatstadt! Mir ist
alles fremd hier. Und ich werde wütend auf diese Stadt, als hätte
sie nur für mich diesen Wandel vollzogen, um mir zu zeigen:
Schau, auch ich habe mich verändert!
»Das liegt daran, dass wir selten in der Altstadt waren, als wir
noch hier wohnten«, sagt meine Mutter. »Morgen gehen wir zu
den Plattenbauten auf der anderen Seite der Stadt. Die wirst du
wiedererkennen.«
Wejherowo ist in zwei Teile geteilt. Im Süden liegt die Altstadt
mit dem Rathaus, den kleinen Geschäften, den Parks und Cafés.
Im Norden die Wohnsiedlungen, die Trabantenstadt, in der die
Werktätigen untergebracht wurden. Dazwischen verläuft die
Schnellstraße, die wir damals genommen haben, in Richtung
Berlin, Richtung Westen. Als wir sie am nächsten Morgen
überqueren, sehe ich endlich das, was mir vertraut ist. Von
weitem wirken die Plattenbauten, als hätte ein Riese
versehentlich ein paar Cornflakes-Packungen fallen lassen.
»Wartet, ich glaube, unser Haus ist dort hinten rechts«, sagt
meine Mutter. »Oder doch links?« Wir laufen ein paar Meter,
meine Mutter schaut sich um, sie wirkt verloren. Als wir dann
auf unser Haus zulaufen, sagt meine Schwester, die in Berlin
geboren wurde und es nie zuvor gesehen hat: »Krass, Mama. Ich
kann mir dich hier gar nicht vorstellen. Dass du in so einer
Wohnung gelebt hast, in der Platte!«
Sie hat recht. Meine Mutter, akkurat geschminkt, teure
Klamotten, Designerbrille, wirkt wie eine alternde Hollywood-
Schauspielerin, die einem Fernsehteam den Trailerpark zeigt, in
dem sie aufgewachsen ist. So stehen wir also vor diesem Haus,
Nummer 19A, der erste Aufgang, und legen unsere Köpfe in den

211
Nacken: Dort oben, wo die weiße Wäsche auf dem Balkon
flattert. Da ist es.
Als wir hier wohnten, in den 1980er Jahren, war das Haus
grau. Irgendwann haben sie es zitronengelb gestrichen, es hat
fast die gleiche Farbe wie die Wand in meiner ersten Wohnung.
Das Haus daneben ist babyblau, das nächste erdbeereisrosa. Die
Farbe blättert schon langsam ab. Sonst ist alles gleich geblieben.
Wir laufen einmal um den Block, vielleicht gibt es einen
Spielplatz, auf den wir kurz gehen können? Doch nur die rostige
Teppichstange ist noch da, der Sandkasten ist verschwunden.
Niemand ist auf der Straße, niemand geht ins Haus hinein,
niemand kommt heraus. Wir machen Fotos. Wir müssen ein
komisches Bild abgeben in diesem Moment. Meine Mutter
nimmt ihre Enkelin auf den Arm und drückt sie, sie drückt
zurück, und ich denke, dass es kaum ein schöneres Wort in der
polnischen Sprache gibt als »przytulać«, umarmen, kuscheln. Ich
liebe diese Momente, wenn ich sehe, wie innig ihre Beziehung
ist, trotz allem. Wie meine Tochter ihre babcia vergöttert, die ihr
Eier kocht und Fisch brät, wenn sie »jajo« und »ryba« sagt – und
außerdem hat babcia ein eigenes Auto!
Am nächsten Morgen fahren wir nach Danzig. Wir spazieren
am Meer entlang, kaufen polnische Kinderbücher, essen
Piroggen in einem Szenelokal in der Altstadt. Es ist voll, wir
müssen auf einen Tisch warten. Ich schaue mich um, viele
Frauen sind hier, sie tragen alle Schwarz. Es ist »Black
Monday«, in allen großen Städten des Landes streiken die
Frauen für ihr Recht auf Abtreibung, die die Regierung
verbieten will.
Seit wir ausgereist sind, hat sich Polen in rasendem Tempo
vom Kommunismus befreit und zu einer modernen Gesellschaft
entwickelt. Mit Wolkenkratzern, Autobahnen und Kentucky Fried
Chicken. Investoren investierten, die Wirtschaft wuchs, die
Menschen kauften. Polen war der Klassenbeste unter den neuen

212
Schülern der EU. Das ist die eine Erzählung. Die, die wir im
Westen so gern hören. Doch zur gleichen Zeit formierte sich in
Polen auch ein Chor der Frustrierten. »Früher«, flüstert dieser
Chor aus Jung und Alt, »früher waren wenigstens alle gleich
arm.« Nun gibt es Menschen, die kaum von ihrer Rente leben
können oder unter sogenannten Müllverträgen arbeiten,
schlecht bezahlt und nicht abgesichert. Sie wandern durch die
Einkaufstempel und kaufen nichts, sie wärmen sich nur auf.
»Das Leben ist besser geworden, aber widerwärtiger«, schreibt
Swetlana Alexijewitsch über das postsozialistische Russland, und
ich frage mich: Ist es in Polen so viel anders? Noch immer gibt
es Menschen, die keine Toilette haben, Menschen, die sich
einfach über ein Loch hocken, als würden sie Ski fahren, dabei
sind sie weit davon entfernt, jemals in ihrem Leben einen
Winterurlaub zu buchen.
2015 hat unter anderem dieser Chor der Frustrierten eine
rechte Partei an die Macht gewählt, die den Frust ausnutzt, um
das Land radikal umzubauen. Das Verfassungsgericht wird
entmachtet, die öffentlich-rechtlichen Medien auch, das Recht
auf Abtreibung soll abgeschafft werden. Die Zivilgesellschaft
protestiert. Und der Westen schaut kurz zum Osten rüber und
schüttelt den Kopf: Was ist nur aus unserem Musterschüler
geworden? Noch immer ist der deutsche Blick auf Polen von
Arroganz geprägt, und im Grunde auch von schulterzuckendem
Desinteresse.
Auch uns ist dieses Land fremd. Wir haben seine Entwicklung,
wenn überhaupt, nur aus der Ferne beobachtet.
Meine Mutter hat noch immer fünfzig Eier im Gepäck, wie
jedes Mal, wenn sie in Polen war. Ein Ei ist dort mittlerweile
genauso teuer wie hier.
Meine mittlere Schwester hat einen Deutschen geheiratet und
heißt jetzt anders.

213
Meine kleine Schwester ist im wohlhabenden Berliner Süden
aufgewachsen, Armut kennt sie nur aus Filmen.
Sprachlich sei er heimatlos geworden, sagt mein Vater. Er
spricht seine Muttersprache mit deutschem Akzent.
Und ich? Sehne mich noch immer nach Aufbrechen und
Ankommen gleichzeitig. Heimat ist eine komplizierte,
schmerzhafte Angelegenheit. Sie wurde mir entrissen.
Manchmal frage ich mich, ob ich sie im Gegenzug nicht doch
verkläre.
Was bedeutet das überhaupt noch, Heimat? Wozu brauchen
wir sie? Meine Biographie umspannt mittlerweile so viele Orte,
was zählt da noch der Ursprung? Ich bin mehr als ein Dutzend
Mal umgezogen, habe Berufe gewechselt und Jobs, mich
getrennt und wieder verliebt, ein Kind geboren. Ist mein Leben
nicht viel zu verworren, um in dieses altmodische Konzept von
Heimat überhaupt hineinzupassen? Oder es in sich aufnehmen
zu können?
Und dennoch und obwohl das Wort Heimat mehr denn je
missbraucht wird von denjenigen, die Heimat als etwas
Ausschließendes betrachten, um das man einen Zaun bauen
sollte: Ich will sie mir nicht nehmen lassen.
Wenn ich an Heimat denke, denke ich an den Geruch von
feuchtem Waldboden. Und den von Braunkohle.
Heimat ist, wo meine Zugehörigkeit nicht hinterfragt wird.
Heimat, sagt der Soziologe Heinz Bude, verleiht so etwas wie
innere Schwerkraft. Ich finde, das trifft es. Wenn ich in Polen
bin, ist es, als liege in mir ein unsichtbares Gewicht, eine
angenehme Bleikugel, die mich erdet. Und doch reiße ich mich
jedes Mal los. Zurück bleibt das Gefühl des Suchens. Wird das
jemals enden?
»Mama, Zug fahren! Will Zug fahren!«
Meine Tochter hat den Zug entdeckt. Die Danziger Stadtbahn
in Blau und Gelb, die gerade auf den Schienen entlangrattert, es

214
war nur eine Frage der Zeit, bis sie in den Fokus der
Dreijährigen rückt, die es schon liebt, Bus und Tram zu fahren.
Ein Zug aber ist immer noch das Größte. Es ist der Zug, mit dem
meine Großeltern uns in Wejherowo besucht haben und wir sie.
Es ist der Zug, mit dem die Danziger auch innerhalb Danzigs zur
Arbeit fahren, zur Schule, zu Freunden, zum Sport.
»Gut«, sage ich auf Polnisch, »lass uns Zug fahren«, und so
langsam kaufe ich mir mein eigenes Polnischsein auch ab.
Während sich also meine Mutter und meine Schwester ins Auto
nach Wejherowo setzen, laufen wir in kleinen Schritten Richtung
Hauptbahnhof, um die gleiche Strecke mit dem Zug zu fahren.
Wir kaufen ein Ticket, stempeln es ab in einem dieser alten
Automaten, in die man das Ticket sehr gerade hineinschieben
muss, bis es »krrrch« macht.
Langsam wird es dunkel, eine ganze Stadt schiebt sich
Richtung Feierabend. Durch die Unterführungen, Treppen
hinauf, Treppen hinunter, durch die nächste Unterführung. In
Polen überquert man große Straßen unter der Erde, auch die
Bahnhöfe sind nur unterirdisch erreichbar, es ist eine eigene
Welt aus langen Gängen, in denen kleine Geschäfte stehen,
manchmal bestehen sie nur aus einem Tisch und einer runzligen
Oma dahinter. Sie verkaufen alles, Streuselschnecken,
Blumengebinde, Getränke, Strumpfhosen, Stofftiere, Zeitungen,
Zugtickets, Handys, Mützen.
Meine Tochter zieht es in alle Richtungen, ich greife ihre Hand
fester, und gerade als ich denke, vielleicht sollten wir für eine
Weile hierherziehen, raus aus unserer Komfortzone, ich könnte
hier arbeiten, sie in den Kindergarten gehen, nur für eine
bestimmte Zeit, da ertönt eine Ansage aus dem Lautsprecher,
der Zug nach Wejherowo fährt ein.
Der Waggon ist voll. Ich halte meine Tochter auf dem Schoß,
draußen zieht die Altstadt an uns vorbei, die Werft, auf der die
Solidarność streikte, die medizinische Fakultät, an der meine

215
Eltern studierten, die Kirche, in der ich um meine Oma weinte.
Der Zug knattert und quietscht über die Schienen, als wäre
kaum Zeit vergangen, als würde ich selbst noch auf dem Schoß
meiner Oma sitzen. Unzählige Male fuhren wir so durch die
Stadt, und ich lernte die Stationen auswendig. Ich drücke meine
Tochter fester an mich. Ich weiß nicht warum, aber mein Herz
klopft plötzlich so stark, dass ich Angst habe, man könnte
meinen Hals pochen sehen. Dieser Stich. Sehnsucht.
Politechnika, der Bahnhof, der immer klang wie ein kleines
Geheimnis.
Wrzeszcz, mit der Shoppingmall, in die ich später mit meiner
Oma ging, wenn ich sie besuchte.
Żabianka, die Siedlung, in der meine Großeltern wohnten.
Wyścigi, die Trabrennbahn, in die wir immer gehen wollten
und es dann doch nicht schafften.
Sopot, mit der Landungsbrücke, auf der ich so oft über dem
Meer gelaufen bin, einen halben Kilometer lang.
Und während wir uns Station für Station Wejherowo nähern,
während der Himmel grau wird, die Straßenlaternen aufleuchten
und die Heizung heiße Luft in den Waggon bollert, denke ich,
was für ein Glück wir gehabt haben, damals, im Frühsommer
1988. Ein Zufall, dass wir nicht aus dem Kosovo kamen, ein
Zufall, dass wir diesen deutschen Opa aus dem Ärmel ziehen
konnten. Vielleicht ist die Suche nach Heimat etwas viel verlangt
in diesen Zeiten. Vielleicht ist ein Ort, an dem man sein darf,
schon genug.
Als meine Tochter sich aus meinem Griff windet, merke ich,
wie fest ich sie die ganze Zeit gepackt hatte, sie nestelt an ihrer
Jacke herum, sie wird ungeduldig, dann schreit sie laut und
deutlich durch den ganzen Waggon: »Ich will meine kurtka
ausziehen!«
Ich merke, wie ich rot werde, der alte Reflex. »Mama, ich will
meine kurtka ausziehen!«, und plötzlich passiert etwas. Ich

216
spüre die Albernheit von früher, als wir innerlich bebend in der
polnischen Kirche saßen, ich drehe meinen Kopf weg, um nicht
laut loszulachen, beiße mir auf die Lippen und grinse doch. Auf
keinen Fall Polnisch auf deutschen Straßen, lieber kein Deutsch
auf polnischen Straßen, mein halbes Leben lang wurde ich
instruiert und instruierte mich selbst, wann und wo ich welche
Sprache zu sprechen hatte. Wie genau war denn jetzt bitte das
Protokoll für Deutsch-Polnisch-Mischmasch in der polnischen
Öffentlichkeit? Mein Oberkörper fängt schon an zu beben.
Uns gegenüber sitzt eine junge Frau, komplett schwarz
gekleidet, und lächelt uns an. Sie scheint direkt von der Demo zu
kommen, auf die Brust hat sie sich eine Brosche geheftet, ein
Eileiter, der dem Betrachter den Mittelfinger zeigt.
»Schön«, sagt sie, »dass du es versuchst.« Mehr nicht.
»Ja«, sage ich.
An der nächsten Station müssen wir aussteigen. Es regnet in
Strömen, die Geräusche des Kinderwagens auf dem holprigen
Pflaster markieren den Weg. Meine Tochter rennt voraus, bleibt
abrupt stehen, dreht sich zu mir um und sagt: »Und jetzt auf
babcia gehen?«

217
218
Danksagung

Meiner Familie für diese Geschichte.


Meiner Mutter für ihr Vertrauen und ihre Liebe.
Meinem Vater für seine Zeit und Geduld.
Meiner Agentin Barbara Wenner für ihre Kraft und Güte und
Weisheit. Und dafür, dass sie mich durchschaut hat.
Meinem Verleger und Lektor Karsten Kredel für sein Vertrauen
von Beginn an, sein Gespür für Sprache – und den gemeinsamen
Rechschreibtick.
Margarete Stokowski für ihre Freundschaft, die so viel mehr
ist als eine Polenconnection.
Alice Bota für eine wodkadurchtränkte Nacht in Bayern und
Chats zwischen Moskau und Berlin.
Joanna Cotreanti, Katharina Blumberg-Stankiewicz, Anna
Szkoda, Alexandra Tobor und Urszula Lisson für ihre
Unterstützung und Begeisterung.
Jan Kahlcke dafür, dass er mir eine Chance gab – auch ohne
Zeitungspraktikum.
Johannes Gernert und Georg Löwisch, die mir das Schreiben
beigebracht haben.
Deniz Yücel für seinen Schnauzer und den ersten Stein, der
alles ins Rollen brachte. Seni düşünüyorum. Eve gel.
Martin Reichert für die eine Mail und den zweiten Stein.
Verena Rein für den Kampf zwischen Fis und As und die
intensivsten Jahre – die ich nie vergessen werde.
Tomasz Wilanowski für meine und seine erste Erinnerung.
Ambros Waibel. Für sein Verständnis und die große Liebe. Und
dafür, dass er keinen Dank will.
Ada – für alles. Und eine Heimat.

219
Über die Autorin

Emilia Smechowski, 1983 in Polen geboren, floh mit ihrer


Familie 1988 nach Westberlin. Sie studierte Operngesang und
Romanistik in Berlin und Rom, war Redakteurin der
tageszeitung und arbeitet heute als freie Autorin und Reporterin,
u. a. für Geo, Süddeutsche Zeitung und DIE ZEIT. Ihr Essay über
die unsichtbaren Polen wurde mit dem Deutschen Reporterpreis,
dem Konrad-Duden-Journalistenpreis und dem Deutsch-
Polnischen Tadeusz-Mazowiecki-Journalistenpreis ausgezeichnet.

220
 
Absolute Beginner, »Rock on«
Musik & Text: Eißfeldt, Lisk, Weiß
Mit freundlicher Genehmigung von
Sempex Musikverlag und Ja/Nein Musikverlag
 
 
ISBN 978-3-446-25791-7
© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2017
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Greiner & Reichel, Köln
Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
 
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu
unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen
Textes kommen. Deshalb empfehlen wir, die
Verlagseinstellungen beizubehalten.
Diese E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
 
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Dmitrij Kapitelman
Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters

Mehr zum Buch

Bevor Dmitrij Kapitelman und sein Vater nach Israel aufbrechen, beschränkten
sich ihre Ausflüge auf das örtliche Kaufland – damals in den Neunzigern, als sie in
einem sächsischen Asylbewerberheim wohnten und man die Nazis noch an den
Glatzen erkannte. Heute verkauft der Vater Pelmeni und Krimsekt und ist in
Deutschland so wenig heimisch wie zuvor in der Ukraine. Vielleicht, denkt sein
Sohn, findet er ja im Heiligen Land Klarheit über seine jüdische Identität. Und er
selbst – Kontingentflüchtling, halber Jude, ukrainischer Pass – gleich mit. "Das
Lächeln meines unsichtbaren Vaters" ist ein sehnsuchtsvoll-komischer
Spaziergang auf einem Minenfeld der Paradoxien. Und die anrührende
Liebeserklärung eines Sohnes an seinen Vater.

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Spis treści
Cover 1
Über das Buch 2
Titel 4
Widmung 5
Leistungsträger 6
Die Balken knarzten laut 13
Polnischer Abgang 23
Kein Weg zurück 31
Im Lager 39
Neuer Name, neuer Geburtsort 49
Nicht die Ersten 62
Bärchenwurst! Levi’s! Fruit of the Loom! 73
Die besseren Ossis 83
Deutscher als die Deutschen 92
Polnische Inseln 105
Der große Wagen ist noch oben 117
Ein Haus, kein Zuhause 129
In der Heimat zu Gast 139
St. Hedwig 149
Wie viele aus meiner Familie vergast wurden 156
Schaut mich an 165
Versuch einer De-Assimilation 176
Witzbeutel und Tiefkultur 191
Wejherowo 204
Danksagung 218
Über die Autorin 220
Impressum 221

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