Aufbaupläne 691
Entwicklungsprozeß der kapitalistischen Produk­
tionsweise. Der von Marx formulierte historisch-tran­
sitorische Charakter der bürgerlichen Gesellschaft
wird von Engels im AD auf ihr notwendiges »Ende«
hin verkürzt (MEW 20, 255). - Damit ist die theore­
tische Grundlage für eine in der Ir. Internationale
verbreitete Kapital-Interpretation geschaffen, die in
immer schärfer werdenden kapitalistischen Wirt­
schaftskrisen, welche letztlich die proletarische Macht­
übernahme vorbereiteten, eine eherne Notwendig­
keit sah (vgl. PAUL 1978, 51ff).
KAUTSKY als Herausgeber der TM betrachtet diese
als einen Teil der KrpÖ, dessen ,>Herausgabe Engels als
Ersatz für den vierten Band« des Kapital geplant hatte
(1903, XVIII). Die TM gelten Kautsky nicht als theo­
rieimmanent, sondern als Appendix (vgl. Marxhausen
1990, 98). Aus Unverständnis gegenüber dem A des
Ms 61·63 folgt Kautskys Bemühen, die TM in eine
chronologisch perfekte Dogmengeschichte zu ver­
wandeln, wobei die ursprüngliche Absicht des Ver­
fassers verfälscht wird.
Mit der geplanten Veröffentlichung aller Textzeugen
von MARX und ENGELS im Rahmen der ersten
MEGA-Edition durch das Marx-Engels-Institut in
Moskau fragt GROSSMANN nach der Bedeutung »des
ursprünglichen Aufbauplans des Marxschen 'Kapi­
tal'« (1929, 9), des sechsgliedrigen Planentwurfs in
Zur Kritik. Er führt damit den Begriff der A in die
Marx-Forschung ein. Nach Grossmann arbeitete
Marx von 1859 bis 1863 nach dem ursprünglichen
Plan. Erst bei der Konzeption seines Reproduktions­
schemas erkennt Marx, daß »die Gliederung des em­
pirischen Stoffes nach den Funktionen, die das Kapital
in seinem Kreislauf verrichtet« , zu erfolgen hat und
nicht »nach dem empirischen Stoff der einzelnen Teil­
gebiete: Kapital, Grundrente, Kredit, Aussenhandel,
Lohnverhältnisse usw.« (ebd., 17).
3. Nach BEHRENS folgt Marx 1859 mit der Einteilung
der KrpÖ in sechs Bücher einer » mehr traditionellen
Einteilung der bisherigen Ökonomie«, die er wäh­
rend seiner Kritik der bürgerlichen Ökonomie in den
TM aufgab. Für Behrens ist es vor allem die » methodo­
logische Kritik an SMITH und RICARDO, die zum
Wechsel im Plan des Aufbaus des 'Kapital' geführt
haben« (1952, 44). - Für STERNBERG sind beträchtliche
Teile des sechsgliedrigen Aufbauplans in den Bänden
des Kapital " zwar gelegentlich behandelt, aber nicht
systematisch analysiert wurden« . Das MARxsche Werk
bezeichnet er daher als »Torso« (1955, 338). - Ros­
DOLSKY verweist auf »triviale Einwände, die auf dem
Mißverstehen des Aufbaus des Marxschen Werkes be­
ruhen« ( 1968a, 16). So basiert der berühmte Vorwurf
von BORTKIEWICZ, wonach Marx vergessen habe, das
692
variable und konstante Kapital mit Preisen zu ver­
sehen, auf einem Unverständnisfür die Abstraktions­
ebene von K I und K II. Die MARxschen Aufbaupläne
werden unter dem Aspekt ihrer Unterschiede gegen­
übergestellt und der »ursprüngliche Plan« im Fort­
gang der Forschung als aufgegeben betrachtet (vgl.
ders. 1968b, 45)
KOGAN (1983) untersucht, wie in den Bänden des
Kapital die Ausarbeitung der Mehrwerttheorie be­
gleitet war von der Erforschung des Grundeigentums
(u.a. MEW 25, 269, 627f;), der Lohnarbeit (u.a. MEW
23, 565), des Staates (u.a. MEW 25, 117, 143, 663), des
Außenhandels, des Weltmarkts (u.a. MEW 24, 113f,
254, 466; MEW 25, 120). Aus diesen zahlreichen ver­
streuten Bemerkungen rekonstruiert er das Material,
welches Marx entsprechend dem A von 1859 zur Aus­
arbeitung selbständiger 'Lehren' vom Grundeigen­
tum, von der Lohnarbeit, vom Staat usw. vorgesehen
hatte, die er aber nicht mehr realisieren konnte. -
JAHN, GALANDER u.a. (1986) schließen hier an, indem
vor allem aus dem Gesamtnachlaß gefolgert wird, daß
die KrpÖ eine so umfassende Struktur besitzen müsse,
wie im ursprünglichen A von 1859 angegeben. Bei
dieser Rekonstruktionsarbeit fehlt aber das Rekurrie­
ren auf jenes Moment der theoretischen Arbeit von
Marx, wonach die theoretische Analyse bewußt als
unabgeschlossen zu gelten hat, die begriffliche Rekon­
struktion der Realität der kapitalistischen Erschei­
nungsformen in Hinblick auf das konkrete ökonomi­
sche Ganze sich in ständiger Bewegung befindet (vgl.
BoccARA 1982, 9).
BIBLIOGRAPHIE: E BEHRENS, Zur Methode der Politischen
Ökonomie. Ein Beitrag zur Geschichte der Politischen Ökono­
mie, Berlin 1952; J.BISCHOFF, A. OTTO, Ausbeutung. Selbst­
verrätselung. Regulation. Der 3. Band des 'Kapital; Hamburg
1993; P.BOCCARA, Studien über 'Das Kapital; Frankfurt/M
1982; H.GROSSMANN, ),Die Änderung des ursprünglichen
Aufbauplans des Marxschen 'Kapital' und ihre Ursachen«
(1929), in: ders., Aufsätze zur Krisentheorie, Frankfurt/M
1971, 9-42; W.JAHN, U.GALANDER u.a., »Zur Entwicklung
der Struktur des geplanten ökonomischen Hauptwerkes von
Karl Marx«, in: Martin-Luther- Universität Halle-Witten­
berg (Hg.), Arbeitsblätter zur Marx-Engels-Porschung, 11. Jg.,
1986, Heft 20, 6-127; W.JAHN, Th.MARXHAUSEN, »Die Stel­
lung der 'Theorien über den Mehrwert' in der Entstehungs­
geschichte des 'Kapitals', in: Institut für Marxismus-Leninis­
mus beim ZK der SED, Martin-Luther-Universität Halle­
Wittenberg (Hg.), Der zweite Entwurfdes 'Kapitals'. Analy­
senAspekteArgumente, Berlin 1983, 42-77; K. KAuTSKY, Karl
Marx' Oekonomische Lehren, 8. Aufl., Stuttgart 1903; M.
KLIEM, (Hg.), Karl Man:, Dokumente seines Lebens 1818 bis
1883, Leipzig 1970; A.M.KoGAN, V tvorceskoj laboratorii
KarlaMarkca. Plan konomiceskih issledovanij 1857- 1859 gg.
i 'Kapital' (Im schöpferischen Labor von Kar! Marx. Der
Plan der ökonomischen Forschungen n den Jahren 1857-1859
693
Aufhebung
A: l)if , ilgä'. - E: sublation. - F: depassement. - R: snjatie.
S: superaci6n. - C: yangqi 1m "*
Während der traditionelle »philosophische Terminus
'aufheben' (avazpefv, tollere) - als Gegenbegriff zu
'setzen'« - nur »soviel wie negieren« besagt (HWPh 1,
619), prägt HEGEL ihn im Rahmen seiner spekulati­
ven Dialektikauffassung und vermutlich in Ausein­
andersetzung mit FICHTE um zu einem Begriff für die
Einheit von Negation und Affirmation als Teil eines
höheren Ganzen. Die Mehrdeutigkeit des Terms aus­
nutzend, denkt Hegel beim Übergang von einer Ent­
wicklungsstufe zur nächsthöheren Zerstörung und
Bewahrung als A zusammen. MARX übersetzt den Be­
griff im Rahmen seiner geschichtsmaterialistischen
Rekonstruktion der Dialektik ins Empirisch-Prakti­
sche. Während der liberale Hegelianismus den Begriff
A fallenläßt, wurde er in der Marxschen Bedeutung
ins »allgemeine Bewußtsein aufgenommen« (HWPh
1, 620). - Ȇbersetzungen in 'spekulativ weniger begabte
Sprachen' « , heißt es bei Friedrich FULDA germano­
zentrisch, »müssen sich behelfen mit: 'sublate, absorb,
superseding' (engl.), 'enlevement, suppression, depas­
sement' (frz.), 'soppressione, superamento' (it.)« (ebd.).
1. In der Logik erklärt HEGEL: »Aufheben und das Auf
gehobene [. . .] ist einer der wichtigsten Begriffe der
Philosophie, eine Grundbestimmung, die schlecht­
hin allenthalben wiederkehrt« . Seine semantische
HKWM 1, 1994
694 Aufhebung
Ambivalenz macht den Ausdruck besonders geeig­
net: »Aufheben hat in der Sprache den gedoppelten
Sinn, daß es so viel als aufbewahren, erhalten bedeutet
und zugleich so viel als aufhören lassen, ein Ende ma­
chen.« (Logik I, Kap. 1.3, Anm.) Die beiden Gegenbe­
stimmungen könnten »lexikalisch als zwei Bedeutun­
gen dieses Wortes aufgeführt werden« , fährt er fort,
zieht es aber vor, den Gegensinn als verdichtete »spe­
kulative Bedeutung« an diesem Wort selbst zu fassen,
weil es die Einheit der Gegensätze umgreift. Den Sta­
tus des Aufgehobenen faßt Hegel mit dem Begriff des
Moments: »Etwas ist nur insofern aufgehoben, als es in
die Einheit mit seinem Entgegengesetzten getreten ist;
in dieser nähern Bestimmung als ein reflektiertes
kann es passend Moment genannt werden.« Daß das
Aufgehobene zum Moment seines Gegensinns gewor­
den, also negiert und doch nicht vernichtet ist, artiku­
liert Hegel hier auch als A seiner Unmittelbarkeit,
durch die es »einem den äußeren Einwirkungen offe­
nen Dasein entnommen wird, um es zu erhalten« .
Eine Vorform dieser Bedeutung findet sich in FICH­
TES Wissenschaftslehre, wo die "vereinigung Entgegen­
gesetzter« mit dem Begriff der A konstruiert wird.
Um nicht Vernichtung zu sein, muß die A auf eine Be­
stimmung des Aufzuhebenden beschränkt sein, das
mithin als 'teilbar' gefaßt wird: »Durch das Setzen
eines -A wird A aufgehoben und doch auch nicht auf­
gehoben. Mithin wird es nur zum Teil aufgehoben«
(I, 111). Partielle A ist Beschränkung (I, 108). r­
änderung wiederum »besteht in der Identität des we­
sentlichen Entgegengesetztseins und realen Aufhebens«
(1, 182).
Die Partialität von Beziehungen des Gegensatzes
und der A ist es, was HEGEL an Fichtes Konzeption
kritisiert. »Sie müssen vollständige Gegensätze bil­
den, die sich ebenso vollständig aufheben, um als ur­
sprünglich in Einem vereinigt begriffen zu werden.
Dadurch wird das Aufheben zu einem ebenso metho­
dischen wie sachlichen Grundbegriff der Systematik.«
(FuLDA, HWPh 1, 620) In HEGELS Schrift über die Dif­
ferenz des Fichte'schen und Schelling'schen Systems
taucht der Begriff des Absoluten als eine über FICHTE
hinausgehende Vorstellung der Vereinigung Entgegen­
gesetzter auf. Es ist immer schon vorausgesetzt. »Die
Vernunft produziert es nur, indem sie das Bewußtsein
von den Beschränkungen befreit; dies Aufheben der
Beschränkungen ist bedingt durch die vorausgesetzte
Unbeschränktheit.« (Meiner-Ausgabe, 16) Entspre­
chend denkt HEGEL Reflexion als "vermögen des End­
lichen« zum Unendlichen: sie und »das ihr entgegen­
_ gesetzte Unendliche sind in der Vernunft syntheti­
siert [. . . ]. Insofern die Reflexion sich selbst zu ihrem
Gegenstand macht, ist ihr höchstes Gesetz, das ihr
von der Vernunft gegebene und wodurch sie zur
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Aufhebung 695
Vernunft wird, ihre Vernichtung« (19). Sie vollzieht
ihre A als »Selbstzerstörung« (ebd.).
Im LogikTeil der Enzyklopädie unterscheidet
HEGEL zu Beginn die Dialektik von der Reflexion.
Während letztere über die isolierte Bestimmtheit hin­
ausgeht, indem sie diese ins Verhältnis setzt, aber als
solche erhält, ist das »dialektische Moment das eigene
Sichaufheben solcher endlichen Bestimmungen und
ihr Übergehen in ihre entgegengesetzten« (Enz, § 81).
Auch hier ist die vorgängige Einheit vorausgesetzt,
von der her zu denken die wahre (= idealistische, spe­
kulative) Philosophie für Hegel ausmacht, dem daher
die Formel von der Einheit des Unendlichen und des
Endlichen nicht genügt, weil hier das Endliche »nicht
ausdrücklich als aufgehoben ausgedrückt« wird (§ 96,
Zusatz). »Wie das Kali mit der Säure verbunden etwas
von seinen Eigenschaften verliert«, so, soll man ergän­
zen, eben auch die Säure, die für das Unendliche steht,
»das als das Negative seinerseits gleichfalls an dem An­
deren abgestumpft würde«. ,>Aber das wahrhaft Un­
endliche verhält sich nicht bloß wie die einseitige
Säure, sondern es erhält sich; die Negation der Nega­
tion ist nicht eine Neutralisation; das Unendliche ist
das Affirmative, und nur das Endliche das Aufgehobe­
ne.« (Ebd.)
Wahr ist für HEGEL das Ganze; alles Einseitige muß
als solches ergänzt werden in der Form der Einord­
nung zum Moment. Zeichen der Einseitigkeit ist der
Widerspruch, den sie gegen sich hervorruft und der
zu ihrer Überwindung als eines Pseudoselbständigen
treibt. »In the course of this process the famous prin­
ciple of sublation is observed: as the dialectical unfolds
no partial insight is ever lost.« (DMT, 122) Roy BHAS­
KAR bestimmt die doppelte Leistung der A als eines
dialektischen Fortschreitens bei HE GEL: dabei wird
zutage gefördert, was implizit war, aber nicht explizit
artikuliert, oder ein Mangel, eine Inadäquatheit wird
behoben. Indem die systematischen Zusammenhänge
gedacht werden, soll jede Entwicklung als Produkt
einer früheren, weniger entwickelten Phase begriffen
werden können, deren notwendige Wahrheit oder Er­
füllung jene ist (ebd.).
Die Gegenlinie zu Hegel sieht Lucio COLLETTI, der
sich kritisch auf DELLA VOLPE stützt, bei KANT, und
zwar im 1. Kap. von dessen Versuch, den Begriffder neo
gativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763).
Vom logischen Gegensatz, der ein Widerspruch ist,
unterscheidet Kant dort den realen Gegensatz, der
ohne Widerspruch ist. Mit dem Begriff der »realen
Opposition« faßt Kant auf ein Ding gegensätzlich
wirkende Kräfte: wie Fliehkraft und Anziehungskraft
auf einen Planeten wirken, der, wenn sie im Gleichge­
wicht sind, in »Ruhe« ist. Obwohl kein Widerspruch,
»ist dieses gleichwohl eine wahre Entgegensetzung«.
HKWM 1, 1994
696
Hier führt KANT den Begriff der A ein: »Denn was
durch die eine Tendenz, wenn sie allein wäre, gesetzt
wird, wird durch die andere aufgehoben« (Vorkriti.
sehe Schriften, Ir, Berlin 1968, 171). »Auch in der Real­
opposition gibt es also Negation, A«, kommentiert
COLLETTI, »jedoch von einer ganz anderen Art als der
des Widerspruchs. Die realen Gegensätze sind nicht
wje bei dem Widerspruch für sich genommen negativ,
d.h. sie sind nicht bloß das Nicht des Anderen [ ... ]
Die Negation besteht nur in der Tatsache, daß sie sich
gegenseitig in ihrer Wirkung aufheben. Kurz gesagt,
in [. . . ] dem Gegenverhältnis sind beide Extreme posi­
tiv, auch wenn eines als das negative Gegenteil des an­
deren bezeichnet wird« (1977, 9). KANT unterscheidet
den mathematischen Ausdruck »negativ« vom theo­
retischen: das Minuszeichen allein bewirkt noch kein
Abziehen, -4-5 = -9 wäre eine Vermehrung. »Aber
+9-5 = 4 bedeutet eine Abziehung, indem die Zei­
chen der Entgegensetzung andeuten, daß die eine in
der andern, so viel ihr gleich ist, aufhebe.« ( Vorkriti­
sche Schriften, 173) Theoretisch gesehen ist der Minus­
wert ein Positives. Wie »Capitalien eben sowohl nega­
tive Schulden, wie diese negative Capitalien sind«,
fährt Kant fort, »so werden wir nach der Methode der
Mathematiker das Untergehen ein negatives Aufge­
hen, Fallen ein negatives Steigen, Zurückgehen ein ne­
gatives Fortkommen nennen«, um zu verhindern,
daß die »Gegenverhältnisse« als kontradiktorische
verkannt werden (175). COLLETTI hebt hervor, daß in
der Geschichte des Marxismus bei ENGELS, PLECHA­
NOW, LENIN, LUKACS und MAO die Kantsche Unter­
scheidung zwischen Realopposition und Wider­
spruch keine Rolle spielt, obwohl es eine Gegenlinie
gibt von KORSCH über DELLA VOLPE bis zur Logik­
Diskussion in der DDR nach Stalins Tod. COLLETTI
selbst sieht jedoch (gegen DELLA VOLPE und ALT­
HUSSER) in der Entfremdungsstruktur der kapitalisti­
schen Gesellschaft einen Anwendungsfall für einen
dialektischen Gegensatzbegriff (28ff). Was dies für
den operativen Dialektikbegriff A bei MARX bedeu­
tet, ist zu untersuchen_
2. Die Frage, was das Marxsche A-Konzept dem
Hegelschen verdankt und was die spezifische Diffe­
renz ist, führt zu scholastischen Diskussionen, so­
lange nicht die operativen Schritte und ihre Voraus­
setzungen herausgearbeitet werden. Zunächst aber
ist die diesbezügliche Hegelkritik von Marx zu be­
trachten.
2.1 Marx' Kritik an Hegels A-Begriff. Im Kontext
- sertes Selbstbewußtsein in ihr bestätigt. Mein sich
der Kritik an HEGELS staatsmetaphysischer Verkeh­
rung, die von oben nach unten denkt und das Produ­
zierende als das Produzierte setzt, verspottet MARX die
Hegelsche Wendung des Platonismus: »die wirkliche
© InkriT – www.inkrit.de
697
Idee erniedrigt sich nur in die 'Endli�hkeit' der Fami­
lie und der bürgerlichen Gesellschaft, um durch ihre
Aufhebung seine Unendlichkeit zu geniessen und
hervorzubringen« (KHS, MEGA 1.2, 9). Im Rahmen
seines Entwurfs einer Kritik der Hegelschen Dialektik
und Philosophie überhaupt (1844) greift MARX die
»eigenthümliche Rolle« an, die bei HEGEL »das Auf
heben« spielt, »worin die Verneinung und die Auf­
bewahrung, die Bejahung verknüpft sind«. So z.B. ist
in der RPhil ,>das aufgehobne Privatrecht = Moral,
die aufgehobne Moral = Familie, die aufgehobne
Familie = bürgerlicher Gesellschaft, die aufgehobne
bürgerliche Gesellschaft = Staat, der aufgehobne
Staat = Weltgeschichte. In der Wirklichkeit bleiben
[. . . ] [sie] bestehn, nur sind sie zu Momenten gewor­
den« (Ms 44, MEGA I.2, 299; MEW 40, 581f). Indem
das Bewußtsein sie als sein Anderssein weiß, hat es für
HEGEL »diese Entäusserung und Gegenständlichkeit
eben so sehr aufgehoben und in sich zurückgenom­
men«, und MARX sieht in dieser Einschließung der A
ins bloß Theoretische »alle Illusionen der Spekula­
tion« und »die Wurzel des falschen Positivismus He­
gels oder seines nur scheinbaren Kriticismus« (ebd.,
298f; 580f). Er ist »nur scheinbar«, weil sein »Aufhe­
ben ein Aufheben des Gedachten Wesens« bleibt,
»also das gedachte Privateigentum hebt sich auf in den
Gedanken der Moral. Und weil das Denken sich ein­
bildet, unmittelbar d(as) andre seines selbst zu sein,
sinnliche Wirklichkeit [. . . ], so glaubt dieß denkende
Aufheben, welches seinen Gegenstand in der Wirk­
lichkeit stehn läßt, ihn wirklich überwunden zu
haben« (ebd., 300; 582). Hegel hebt daher nicht die
wirkliche Religion auf, sondern die religiöse Dogma­
tik, d.h. Religion als Gegenstand des Wissens. Die idea­
listische Einschließung in die Sphäre der »Denkfor­
men« schlägt die A mit abstrakter Inhaltslosigkeit:
Weil bei Hegel der Mensch = Selbstbewußtsein, ist
das Entfremdete = »nichts als Bewußtsein, nur der Ge­
danke der Entfremdung, ihr abstrakter [ . . . ] Ausdruck,
die Negation«, und »die A der Entäusserung ist daher
ebenfalls nichts als eine abstrakte, inhaltslose A jener
Inhaltslosen Abstraktion, die Negation der Negation«
(ebd., 302; 584f).
Der 'wirkliche Kritizismus' setzt mit FEUERBACH
derart an, daß er die Religion nicht mehr nur zum
Moment des absoluten Geistes »aufhebt«: »Wenn ich
die Religion als entäussertes menschliches Selbstbe­
wußtsein weiß, so weiß ich also in ihr als Religion
nicht mein Selbstbewußtsein, sondern mein entäus­
selbst, seinem Wesen angehöriges Selbstbewußtsein
weiß ich also dann nicht in der Religion, sondern viel­
mehr in der vernichteten, aufgehobnen Religion bestä­
tigt.« (Ebd., 299; 581) So faßt MARX »das Au/heben, als
698 Aufhebung
gegenständliche, die Entäusserung in sich zurückneh­
mende Bewegung«, »Aneignung des gegenständlichen
Wesens durch die A seiner Entfremdung«, »wie der
Atheismus als A Gottes das Werden des theoretischen
Humanismus« ist; dabei sind Atheismus, Humanis­
mus, Kommunismus »keine Flucht, keine Abstrac­
tion, kein Verlieren der von dem Menschen erzeugten
gegenständlichen Welt [... ], keine zur unnatürlichen,
unentwickelten Einfachheit zurückkehrende Ar­
muth« (ebd., 301; 583).
Im Vergleich zu HEGEL hat A hier ihren Realstatus
von Grund auf verändert; sie ist auf eine Weise in die
Welt versetzt, daß rückblickend die idealistische A als
Moment der Ideologie erscheint. Damit fällt für Marx
auch die These, HEGEL habe sich den preußischen
Herrschaftsmächten des Staats und der Kirche nur
äußerlich angepaßt. Non einer Accomodation Hegels
gegen Religion, Staat etc kann also keine Rede mehr
sein, da diese Lüge die Lüge seines Princips ist.« (Ebd.,
299; 581) Dieses Prinzip besteht in dem, »was Feuer­
bach als Setzen, Negiren und Wiederherstellen der
Religion oder Theologie bezeichnet, was aber allge­
meiner zu fassen ist. Also die Vernunft ist bei sich in
der Unvernunft als Unvernunft. Der Mensch, der in
Recht, Politik etc. ein entäussertes Leben zu führen er­
kannt hat, führt in diesem entäusserten Leben als sol­
chem sein wahres menschliches.« (Ebd.) Kurz, HEGEL
macht mit seiner Art von A die »Selbstbestätigung im
Widerspruch mit sich selbst, sowohl mit dem Wissen,
als mit dem Wesen des Gegenstandes«, zum »wahren
Wissen und Leben« (ebd.).
2.2 Der A-Begriffin der Kritik der politischen Ökono·
mie. Vor allem in den Grundrissen, aber auch noch
-
später in den Resultaten des unmittelbaren Produktions­
prozesses, läßt sich der A-Begriff 'bei der Arbeit' beob­
achten. Ohne an der früheren Hegelkritik irgendwel­
che Abstriche zu machen, benützt Marx die durch hi­
storisch-materialistische Transposition der Dialektik
gewonnene 'Metasprache', um den Stoff der Ökono­
miekritik aus seinem geronnenen Zustand aufzulösen
und aus den diachronen und synchronen Bewegun­
gen des Werdens und des funktionellen Zusammen­
hangs auffassen zu können. Diese Metasprache fun­
giert wie ein Enzym, das entbehrlich wird, sobald die
Assimilation gelungen ist. Bei der fertigen Darstel­
lung im Kapital verschwindet sie bis auf kleine Reste.
A steht zunächst für eine Erkenntnis-Problematik:
In den empirischen Phänomenen ist zumeist »die Ver­
mittlung [. . . ] aufgehoben und völlig ausgelöscht«, heißt
es etwa im Entwurf zum 1. Kap. von K11 (vgl. MEGA
HA.1, 143). Im Kontext geht es um das Kapital als sei­
ner »Entelechie« gemäß »durch den Durchgang durch
den Productionsproceß verwirklichtes« (ebd., 142).
Aufhebung 695
Vernunft wird, ihre Vernichtung« (19). Sie vollzieht
ihre A als »Selbstzerstörung« (ebd.).
Im LogikTeil der Enzyklopädie unterscheidet
HEGEL zu Beginn die Dialektik von der Reflexion.
Während letztere über die isolierte Bestimmtheit hin­
ausgeht, indem sie diese ins Verhältnis setzt, aber als
solche erhält, ist das »dialektische Moment das eigene
Sichaufheben solcher endlichen Bestimmungen und
ihr Übergehen in ihre entgegengesetzten« (Enz, § 81).
Auch hier ist die vorgängige Einheit vorausgesetzt,
von der her zu denken die wahre (= idealistische, spe­
kulative) Philosophie für Hegel ausmacht, dem daher
die Formel von der Einheit des Unendlichen und des
Endlichen nicht genügt, weil hier das Endliche »nicht
ausdrücklich als aufgehoben ausgedrückt« wird (§ 96,
Zusatz). »Wie das Kali mit der Säure verbunden etwas
von seinen Eigenschaften verliert«, so, soll man ergän­
zen, eben auch die Säure, die für das Unendliche steht,
»das als das Negative seinerseits gleichfalls an dem An­
deren abgestumpft würde«. ,>Aber das wahrhaft Un­
endliche verhält sich nicht bloß wie die einseitige
Säure, sondern es erhält sich; die Negation der Nega­
tion ist nicht eine Neutralisation; das Unendliche ist
das Affirmative, und nur das Endliche das Aufgehobe­
ne.« (Ebd.)
Wahr ist für HEGEL das Ganze; alles Einseitige muß
als solches ergänzt werden in der Form der Einord­
nung zum Moment. Zeichen der Einseitigkeit ist der
Widerspruch, den sie gegen sich hervorruft und der
zu ihrer Überwindung als eines Pseudoselbständigen
treibt. »In the course of this process the famous prin­
ciple of sublation is observed: as the dialectical unfolds
no partial insight is ever lost.« (DMT, 122) Roy BHAS­
KAR bestimmt die doppelte Leistung der A als eines
dialektischen Fortschreitens bei HE GEL: dabei wird
zutage gefördert, was implizit war, aber nicht explizit
artikuliert, oder ein Mangel, eine Inadäquatheit wird
behoben. Indem die systematischen Zusammenhänge
gedacht werden, soll jede Entwicklung als Produkt
einer früheren, weniger entwickelten Phase begriffen
werden können, deren notwendige Wahrheit oder Er­
füllung jene ist (ebd.).
Die Gegenlinie zu Hegel sieht Lucio COLLETTI, der
sich kritisch auf DELLA VOLPE stützt, bei KANT, und
zwar im 1. Kap. von dessen Versuch, den Begriffder neo
gativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763).
Vom logischen Gegensatz, der ein Widerspruch ist,
unterscheidet Kant dort den realen Gegensatz, der
ohne Widerspruch ist. Mit dem Begriff der »realen
Opposition« faßt Kant auf ein Ding gegensätzlich
wirkende Kräfte: wie Fliehkraft und Anziehungskraft
auf einen Planeten wirken, der, wenn sie im Gleichge­
wicht sind, in »Ruhe« ist. Obwohl kein Widerspruch,
»ist dieses gleichwohl eine wahre Entgegensetzung«.
696
Hier führt KANT den Begriff der A ein: »Denn was
durch die eine Tendenz, wenn sie allein wäre, gesetzt
wird, wird durch die andere aufgehoben« (Vorkriti.
sehe Schriften, Ir, Berlin 1968, 171). »Auch in der Real­
opposition gibt es also Negation, A«, kommentiert
COLLETTI, »jedoch von einer ganz anderen Art als der
des Widerspruchs. Die realen Gegensätze sind nicht
wje bei dem Widerspruch für sich genommen negativ,
d.h. sie sind nicht bloß das Nicht des Anderen [ ... ]
Die Negation besteht nur in der Tatsache, daß sie sich
gegenseitig in ihrer Wirkung aufheben. Kurz gesagt,
in [. . . ] dem Gegenverhältnis sind beide Extreme posi­
tiv, auch wenn eines als das negative Gegenteil des an­
deren bezeichnet wird« (1977, 9). KANT unterscheidet
den mathematischen Ausdruck »negativ« vom theo­
retischen: das Minuszeichen allein bewirkt noch kein
Abziehen, -4-5 = -9 wäre eine Vermehrung. »Aber
+9-5 = 4 bedeutet eine Abziehung, indem die Zei­
chen der Entgegensetzung andeuten, daß die eine in
der andern, so viel ihr gleich ist, aufhebe.« ( Vorkriti­
sche Schriften, 173) Theoretisch gesehen ist der Minus­
wert ein Positives. Wie »Capitalien eben sowohl nega­
tive Schulden, wie diese negative Capitalien sind«,
fährt Kant fort, »so werden wir nach der Methode der
Mathematiker das Untergehen ein negatives Aufge­
hen, Fallen ein negatives Steigen, Zurückgehen ein ne­
gatives Fortkommen nennen«, um zu verhindern,
daß die »Gegenverhältnisse« als kontradiktorische
verkannt werden (175). COLLETTI hebt hervor, daß in
der Geschichte des Marxismus bei ENGELS, PLECHA­
NOW, LENIN, LUKACS und MAO die Kantsche Unter­
scheidung zwischen Realopposition und Wider­
spruch keine Rolle spielt, obwohl es eine Gegenlinie
gibt von KORSCH über DELLA VOLPE bis zur Logik­
Diskussion in der DDR nach Stalins Tod. COLLETTI
selbst sieht jedoch (gegen DELLA VOLPE und ALT­
HUSSER) in der Entfremdungsstruktur der kapitalisti­
schen Gesellschaft einen Anwendungsfall für einen
dialektischen Gegensatzbegriff (28ff). Was dies für
den operativen Dialektikbegriff A bei MARX bedeu­
tet, ist zu untersuchen_
2. Die Frage, was das Marxsche A-Konzept dem
Hegelschen verdankt und was die spezifische Diffe­
renz ist, führt zu scholastischen Diskussionen, so­
lange nicht die operativen Schritte und ihre Voraus­
setzungen herausgearbeitet werden. Zunächst aber
ist die diesbezügliche Hegelkritik von Marx zu be­
trachten.
2.1 Marx' Kritik an Hegels A-Begriff. Im Kontext
- sertes Selbstbewußtsein in ihr bestätigt. Mein sich
der Kritik an HEGELS staatsmetaphysischer Verkeh­
rung, die von oben nach unten denkt und das Produ­
zierende als das Produzierte setzt, verspottet MARX die
Hegelsche Wendung des Platonismus: »die wirkliche
697
Idee erniedrigt sich nur in die 'Endli hkeit' der Fami­
lie und der bürgerlichen Gesellschaft, um durch ihre
Aufhebung seine Unendlichkeit zu geniessen und
hervorzubringen« (KHS, MEGA 1.2, 9). Im Rahmen
seines Entwurfs einer Kritik der Hegelschen Dialektik
und Philosophie überhaupt (1844) greift MARX die
»eigenthümliche Rolle« an, die bei HEGEL »das Auf
heben« spielt, »worin die Verneinung und die Auf­
bewahrung, die Bejahung verknüpft sind«. So z.B. ist
in der RPhil ,>das aufgehobne Privatrecht = Moral,
die aufgehobne Moral = Familie, die aufgehobne
Familie = bürgerlicher Gesellschaft, die aufgehobne
bürgerliche Gesellschaft = Staat, der aufgehobne
Staat = Weltgeschichte. In der Wirklichkeit bleiben
[. . . ] [sie] bestehn, nur sind sie zu Momenten gewor­
den« (Ms 44, MEGA I.2, 299; MEW 40, 581f). Indem
das Bewußtsein sie als sein Anderssein weiß, hat es für
HEGEL »diese Entäusserung und Gegenständlichkeit
eben so sehr aufgehoben und in sich zurückgenom­
men«, und MARX sieht in dieser Einschließung der A
ins bloß Theoretische »alle Illusionen der Spekula­
tion« und »die Wurzel des falschen Positivismus He­
gels oder seines nur scheinbaren Kriticismus« (ebd.,
298f; 580f). Er ist »nur scheinbar«, weil sein »Aufhe­
ben ein Aufheben des Gedachten Wesens« bleibt,
»also das gedachte Privateigentum hebt sich auf in den
Gedanken der Moral. Und weil das Denken sich ein­
bildet, unmittelbar d(as) andre seines selbst zu sein,
sinnliche Wirklichkeit [. . . ], so glaubt dieß denkende
Aufheben, welches seinen Gegenstand in der Wirk­
lichkeit stehn läßt, ihn wirklich überwunden zu
haben« (ebd., 300; 582). Hegel hebt daher nicht die
wirkliche Religion auf, sondern die religiöse Dogma­
tik, d.h. Religion als Gegenstand des Wissens. Die idea­
listische Einschließung in die Sphäre der »Denkfor­
men« schlägt die A mit abstrakter Inhaltslosigkeit:
Weil bei Hegel der Mensch = Selbstbewußtsein, ist
das Entfremdete = »nichts als Bewußtsein, nur der Ge­
danke der Entfremdung, ihr abstrakter [ . . . ] Ausdruck,
die Negation«, und »die A der Entäusserung ist daher
ebenfalls nichts als eine abstrakte, inhaltslose A jener
Inhaltslosen Abstraktion, die Negation der Negation«
(ebd., 302; 584f).
Der 'wirkliche Kritizismus' setzt mit FEUERBACH
derart an, daß er die Religion nicht mehr nur zum
Moment des absoluten Geistes »aufhebt«: »Wenn ich
die Religion als entäussertes menschliches Selbstbe­
wußtsein weiß, so weiß ich also in ihr als Religion
nicht mein Selbstbewußtsein, sondern mein entäus­
selbst, seinem Wesen angehöriges Selbstbewußtsein
weiß ich also dann nicht in der Religion, sondern viel­
mehr in der vernichteten, aufgehobnen Religion bestä­
tigt.« (Ebd., 299; 581) So faßt MARX »das Au/heben, als
HKWM 1, 1994
698 Aufhebung
gegenständliche, die Entäusserung in sich zurückneh­
mende Bewegung«, »Aneignung des gegenständlichen
Wesens durch die A seiner Entfremdung«, »wie der
Atheismus als A Gottes das Werden des theoretischen
Humanismus« ist; dabei sind Atheismus, Humanis­
mus, Kommunismus »keine Flucht, keine Abstrac­
tion, kein Verlieren der von dem Menschen erzeugten
gegenständlichen Welt [... ], keine zur unnatürlichen,
unentwickelten Einfachheit zurückkehrende Ar­
muth« (ebd., 301; 583).
Im Vergleich zu HEGEL hat A hier ihren Realstatus
von Grund auf verändert; sie ist auf eine Weise in die
Welt versetzt, daß rückblickend die idealistische A als
Moment der Ideologie erscheint. Damit fällt für Marx
auch die These, HEGEL habe sich den preußischen
Herrschaftsmächten des Staats und der Kirche nur
äußerlich angepaßt. Non einer Accomodation Hegels
gegen Religion, Staat etc kann also keine Rede mehr
sein, da diese Lüge die Lüge seines Princips ist.« (Ebd.,
299; 581) Dieses Prinzip besteht in dem, »was Feuer­
bach als Setzen, Negiren und Wiederherstellen der
Religion oder Theologie bezeichnet, was aber allge­
meiner zu fassen ist. Also die Vernunft ist bei sich in
der Unvernunft als Unvernunft. Der Mensch, der in
Recht, Politik etc. ein entäussertes Leben zu führen er­
kannt hat, führt in diesem entäusserten Leben als sol­
chem sein wahres menschliches.« (Ebd.) Kurz, HEGEL
macht mit seiner Art von A die »Selbstbestätigung im
Widerspruch mit sich selbst, sowohl mit dem Wissen,
als mit dem Wesen des Gegenstandes«, zum »wahren
Wissen und Leben« (ebd.).
2.2 Der A-Begriffin der Kritik der politischen Ökono·
mie. Vor allem in den Grundrissen, aber auch noch
-
später in den Resultaten des unmittelbaren Produktions­
prozesses, läßt sich der A-Begriff 'bei der Arbeit' beob­
achten. Ohne an der früheren Hegelkritik irgendwel­
che Abstriche zu machen, benützt Marx die durch hi­
storisch-materialistische Transposition der Dialektik
gewonnene 'Metasprache', um den Stoff der Ökono­
miekritik aus seinem geronnenen Zustand aufzulösen
und aus den diachronen und synchronen Bewegun­
gen des Werdens und des funktionellen Zusammen­
hangs auffassen zu können. Diese Metasprache fun­
giert wie ein Enzym, das entbehrlich wird, sobald die
Assimilation gelungen ist. Bei der fertigen Darstel­
lung im Kapital verschwindet sie bis auf kleine Reste.
A steht zunächst für eine Erkenntnis-Problematik:
In den empirischen Phänomenen ist zumeist »die Ver­
mittlung [. . . ] aufgehoben und völlig ausgelöscht«, heißt
es etwa im Entwurf zum 1. Kap. von K11 (vgl. MEGA
HA.1, 143). Im Kontext geht es um das Kapital als sei­
ner »Entelechie« gemäß »durch den Durchgang durch
den Productionsproceß verwirklichtes« (ebd., 142).
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Aufhebung 699
»In dieser verwandelten Form ist die ursprüngliche con­
krete Gestalt und daher ihre differentia specifica ver­
schwunden. Die begrifflich dirimirten koncreten Ge­
stalten, die das Capital im Productionsproceß hatte,
sind also spurlos verschwunden« (ebd., 143). Ohne
die »vermittelnden Zwischenglieder« (ebd.) ist die
Verwertung nicht zu unterscheiden von den Formen,
die in vorkapitalistischen Formen vorkommen. Ent­
sprechend versucht Marx, mikroskopisch das Spiel
der im Prozeß fungierenden Instanzen und Beziehun­
gen durchzuartikulieren. Strukturgenetisch interes­
siert ihn retrospektiv das Aufheben der Ausgangsbe­
dingungen in durchs Kapital selbst gesetzte Bedingun­
gen, prospektiv die Setzung von Bedingungen der
Möglichkeit einer die kapitalistische Produktions­
weise 'aufhebenden' 'höheren' Produktionsweise. In
den Resultaten zeichnet Marx nach, wie sich auf Basis
der formellen Subsumtion handwerklicher Arbeit
unters Kapital eine spezifische Produktionsweise ent­
wickelt hat, der sich neue Produktivkräfte verdanken.
" Es tdtt damit eine vollständige ökonomische Revo­
lution ein, die einerseits erst der Herrschaft des Capi­
tals über die Arbeit ihre realen Bedingungen schafft
[. . . ], andrerseits in den von ihr gegensätzlich zum Ar­
beiter entwickelten Productivkräften der Arbeit, Pro­
ductionsbedingungen und Verkehrsverhältnissen, die
realen Bedingungen einer neuen, die gegensätzliche
Form der capitalistischen Productionsweise aufheben­
den Productionsweise, und so die materielle Basis
eines neu gestalteten gesellschaftlichen Lebensproces­
ses und damit einer neuen Gesellschaftsformation
schafft.« (MEGA II.4.1, 129)
Der Blick für diese doppelte A-Dimension, die fak­
tische und die potentielle, läßt eine andere Wirklich­
keit auftauchen. Die bürgerlichen Ökonomen sehen,
wie innerhalb der kapitalistischen Produktionsver­
hältnisse produziert wird, sehen aber »nicht wie die­
ses Verhältniß selbst producirt wird und zugleich in
ihm die materiellen Bedingungen seiner Auflösung
producirt und damit seine historische Berechtigung als
nothwendige Form der ökonomischen Entwicklung
[. . . ] beseitigt wird« (ebd.). A fungiert hier dreifach:
1. negativ (»Bedingungen seiner Auflösung producirt
und damit seine historische Berechtigung als nothwen­
dige Form [. . . ] beseitigt«), 2. positiv-potentiell (»die
materielle Basis eines neu gestalteten gesellschaft­
lichen Lebensprocesses und damit einer neuen Gesell­
schaftsformation«) und 3. im Sinne der bestimmten
Negation (»die gegensätzliche Form [... ] aufhebenden
Productionsweise«).
2.21 Die im Kapital aufgehobenen historischen
Voraussetzungen. - Die fürs Kapital konstitutive A,
die in einer höheren Form ihrerseits 'aufgehoben'
werden soll, ist die »Expropriation der Bauern, Hand-
HKWM 1, 1994
700
werker, überhaupt der Productionsweise, die auf dem
Privateigentum des unmittelbaren Producenten an sei­
nen Productionsbedingungen beruht« (ebd., 134). Die
konstitutive A wird als ein System komplementärer
Trennungen artikuliert: einerseits die »Trennung der
Arbeit von ihren gegenständlichen Daseinsmomen­
ten« (Gr, MEGA II_1.1, 275; MEW 42, 281), anderer­
seits die durch den Kapitalisten »personnificirte«
»selbständige, an sich festhaltende und ihren eigenen
Kopf habende Existenz dieser Productionsmittel, ihre
Trennung von der Arbeit« (Res, MEGA II.4.1, 80f).
Daß der Kapitalist selber arbeitete, gehört zur vergan­
genen Geschichte, »keineswegs aber zu seiner contem­
porären Geschichte« , ist eine der »Voraussetzungen
seines Werdens, die in seinem Dasein aufgehoben
sind« (Gr, MEGA II.1.2, 368; MEW 42, 372). Dies
führt auf »die Punkte, wo die historische Betrachtung
hinzutreten muß, oder wo die bürgerliche Oekono­
mie als blos historische Gestalt des Productionspro­
cesses über sich hinausweist auf frühre historische
Weisen der Production« (ebd., 400).
2.22 Aufhebung der konstitutiven Trennung in
ihrem eigenen Rahmen im Produktionsprozeß: MARx
analysiert in Res, wie diese Trennungen »thatsächlich
aujgehoben« werden (MEGA H.4.1, 80f), und zwar in­
nerhalb ihrer eigenen Schranken. Im Produktions­
prozeß ist die »Trennung der Arbeit von ihren gegen­
ständlichen Daseinsmomenten - Instrument und Ma­
terial - aufgehoben. Auf der Trennung beruht das Da­
sein des Capitals und der Lohnarbeit. Die Aufhebung
der Trennung [. . . ] zahlt das Capital nicht. (Die Auf­
hebung geschieht auch nicht durch den Austausch
mit dem Arbeiter - sondern durch die Arbeit selbst im
Productionsprocess. Als solche gegenwärtige Arbeit
aber ist sie selbst schon dem Capital einverleibt, ein
Moment desselben. Diese erhaltende Kraft der Arbeit
erscheint also als Selbsterhaltungskraft des Capitals.«
(Gr, MEGA II.1.1, 275; MEW 42, 281) Der Gedanke
der A kleidet sich ins religiöse Bild der Auferweckung
von den Toten: »DieseAneignung, wodurch imProduc­
tionsprocess selbst die lebendige Arbeit Instrument und
Material zum Leibe ihrer Seele macht und dadurch
von den Todten auferweckt, steht in der That im Ge­
gensatz dazu, daß die Arbeit gegenstandslos, oder nur
in unmittelbarer Lebendigkeit Wirklichkeit im Ar­
beiter« ist (ebd.).
2.23 Produktive Konsumtion. - Hierbei werden die
Produktionsmittel nur »in ihrer für die Arbeit gleich­
gültigen, ausser ihr stehenden Daseinsweise consu­
mirt«, und das bedeutet, daß »eben ihre Vergänglich­
keit an ihnen consumirt wird durch die Arbeit (aufge­
hoben wird). Real consumirt wird nur das Salair.«
(Ebd., 277; 283) Produktive Konsumtion erscheint
daher als »Verzehren des Verzehrens selbst; im Aufheben
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701
des Stofflichen Aufheben dieses Aufhebens und daher
Setzen desselben« (ebd., 220; 222).
2.24 Das zur Kapitalfunktion aufgehobene Geld. -
Geld ist eine der Voraussetzungen des Kapitals, die
durch dieses 'aufgehoben' wird: so erscheint die Zir­
kulationsform des Kapitals als Form, »worin das Geld
sich aufhebt« : »Das Geld hat sich negirt als blos in der
Circulation aufgehend; es hat sich aber ebenso negirt
als selbständig ihr gegenübertretend. Diese Negation
zusammengefaßt, in ihren positiven Bestimmungen,
enthält die ersten Elemente des Capitals.« (Ebd., 178)
Geld als 'selbständiges' ist vom Standpunkt des Kapi­
tals eine Barriere. Das Kapital ist daher bestrebt, das
Geld zu einem bloßen »Repräsentanten eines Mo­
mentes der Zirkulation« zu machen, d.h. »es in seiner
überlieferten, unmittelbaren Realität aufzuheben,
und es in ein nur vom Capital Geseztes und ebenso
Aufgehobnes, rein Ideelles zu verwandeln« und so »in
die ihm entsprechende adaequate Form zu erheben«
(MEGA 11.1.2, 553; MEW 42, 572).
2.25 Geld als Lohn. - Hier fungiert das Geld »nur in
seiner Bestimmung als Münze; d.h. nur als sich selbst
aufhebende und verschwindende Vermittlung« eines
Verhältnisses, in dem der Arbeiter Lebensmittel gegen
»Disposition« über seine Arbeitskraft austauscht
(MEGA 11.1.1, 207; MEW 42, 209f).
2.26 Zirkulation und Kreditgeld. - Die Zirkulation
kann »nicht ein positiv werthschaffendes Moment
sein, da ihre A - Cirkulation ohne Cirkulationszeit -
das Maximum der Verwerthung, ihre Negation = der
höchsten Position der Produktivität des Capitals
wäre« (MEGA 11.1.2, 515; MEW 42, 530). Die lücken­
lose Kontinuität des Verwertungsprozesses würde un­
terstellen, daß die Zirkulationszeit »aufgehoben« ist;
andrerseits ist sie notwendig. Marx setzt zunächst an,
dieses Problem als aufzuhebenden Widerspruch zu
behandeln: »Aufgehoben und überwunden werden,
kann der Widerspruch nur« - durch den Kredit, der
die Unterbrechung zu überbrücken erlaubt (ebd.,
446; 453).
2.27 Verallgemeinerung der Unterbrechung durch
ihre Aufhebung. - Wie »das Geld die Schranken des
Tauschhandels nur aufhebt, indem es sie verallge­
meinert [. . . ], so werden wir später sehen, wie der
Credit diese Schranken der Verwerthung des Capitals
ebenfalls nur aufhebt, indem er sie in ihre allgemein­
ste Form erhebt, Periode der Ueberproduction und
Unterproduction als 2 Perioden sezt« (ebd., 510; 524):
die im einzelnen aufgehobene Störung kehrt als allge­
meine Krise wieder.
2.28 Automationsarbeit und potentielle Zeit für
alle. - Die individuelle Arbeit ist hier »in ihrem unmit­
telbaren Dasein gesezt als aufgehobne einzelne, d.h. als
gesellschaftliche Arbeit« (ebd., 585; 605). Indem sie als
702 Aufhebung
aujgehobene einzelne unmittelbar = gesellschaftlich
ist, tendiert sie dahin, allgemeine Arbeit zu werden.
Das Kapital »ist so, malgre lui, instrumental in crea­
ting the means of social disposable time« , seine Ten­
denz ist aber immer, einerseits disposable time zu
schaffen, andrerseits to convert it into surplus labour.«
(Ebd., 584f; 604) »Der Wirklichkeit nach existirt die
Entwicklung des Reichthums nur in diesen Gegen­
sätzen: der Möglichkeit nach ist eben seine Entwick­
lung die Möglichkeit der Aufhebung dieser Gegen­
sätze.« (MEGA 11.1.1, 308; MEW 42, 315) MARx faßt
dies Auseinanderklaffen als wachsenden Widerspruch,
der auf eine A drängt, die die Produktionsweise insge­
samt über ihre Schranke hebt.
2.29 »Selbstaufhebung« des Kapitals. - Die Entwick­
lung der Produktivkräfte, die »zugleich Entwicklung
der Kräfte der Arbeiterklasse - auf einem gewissen
Punkt hebt das Capital sich selbst auf.< (MEGA 11.1.2,
441; MEW 42, 449). Zumindest führt die »richtige Be­
trachtung andrerseits zu Punkten; an denen die A der
gegenwärtigen Gestalt der Productionsverhältnisse -
und so foreshadowing der Zukunft, werdende Be­
wegung sich andeutet. Erschienen einerseits die vor­
bürgerlichen Phasen als nur historische, i.e. aufge­
hobne Voraussetzungen, so die jetzigen Bedingungen
der Production als sich selbst aufhebende und daher als
historische Voraussetzungen für einen neuen Gesell­
schaftszustand setzende.« (Ebd., 369; 373)
3. Muß nun nicht der Gebrauch des »Hegelschen Ter­
minusA , so daß die Abschaffung auch die Bedeutung
mit sich führt, daß ein Inhalt in seiner wahren Form
wiederhergestellt wird« (MARcusE 1962, 258), als
Rückfall in geschichtsphilosophisches Denken ver­
standen werden? Diese Frage - wie alle mit dem Ver­
hältnis MARx-HEGEL zusammenhängenden Fragen ­
hat auch unter Marxisten zu Kontroversen geführt.
Wenn MARX sagt: die »Urformen des Eigentums [. . . ]
enthalten alle die Sklaverei als Möglichkeit und daher
als ihre eigne A in sich« (Gr, MEGA H.1.2, 403; MEW
42, 407f), so zehrt er vom Wissen des geschichtlichen
Fortgangs, verfährt aber nur dann 'geschichtsphilo­
sophisch' , wenn dies nicht durch Analyse an der
Sache aufweisbar ist. In diesem Falle weist Marx in der
patriarchalen Herrschaft über die Familie den Ansatz
zur Sklaverei nach. Als teleologisch könnte verstan­
den werden, daß bei Marx die Entfremdung als »noth­
wendiger Durchgangspunkt« für die »Auflösung aller
bornirten Voraussetzungen der Production« gilt (ebd.,
417; 422). Der Satz meint bei Marx nicht das Ein­
treffen eines bestimmten Ereignisses, sondern die be­
reits eingetretene oder beobachtbar eintretende Schaf­
fung von Möglichkeitsbedingungen einer nicht mehr
antagonistischen Produktionsweise.
Aufhebung 699
»In dieser verwandelten Form ist die ursprüngliche con­
krete Gestalt und daher ihre differentia specifica ver­
schwunden. Die begrifflich dirimirten koncreten Ge­
stalten, die das Capital im Productionsproceß hatte,
sind also spurlos verschwunden« (ebd., 143). Ohne
die »vermittelnden Zwischenglieder« (ebd.) ist die
Verwertung nicht zu unterscheiden von den Formen,
die in vorkapitalistischen Formen vorkommen. Ent­
sprechend versucht Marx, mikroskopisch das Spiel
der im Prozeß fungierenden Instanzen und Beziehun­
gen durchzuartikulieren. Strukturgenetisch interes­
siert ihn retrospektiv das Aufheben der Ausgangsbe­
dingungen in durchs Kapital selbst gesetzte Bedingun­
gen, prospektiv die Setzung von Bedingungen der
Möglichkeit einer die kapitalistische Produktions­
weise 'aufhebenden' 'höheren' Produktionsweise. In
den Resultaten zeichnet Marx nach, wie sich auf Basis
der formellen Subsumtion handwerklicher Arbeit
unters Kapital eine spezifische Produktionsweise ent­
wickelt hat, der sich neue Produktivkräfte verdanken.
" Es tdtt damit eine vollständige ökonomische Revo­
lution ein, die einerseits erst der Herrschaft des Capi­
tals über die Arbeit ihre realen Bedingungen schafft
[. . . ], andrerseits in den von ihr gegensätzlich zum Ar­
beiter entwickelten Productivkräften der Arbeit, Pro­
ductionsbedingungen und Verkehrsverhältnissen, die
realen Bedingungen einer neuen, die gegensätzliche
Form der capitalistischen Productionsweise aufheben­
den Productionsweise, und so die materielle Basis
eines neu gestalteten gesellschaftlichen Lebensproces­
ses und damit einer neuen Gesellschaftsformation
schafft.« (MEGA II.4.1, 129)
Der Blick für diese doppelte A-Dimension, die fak­
tische und die potentielle, läßt eine andere Wirklich­
keit auftauchen. Die bürgerlichen Ökonomen sehen,
wie innerhalb der kapitalistischen Produktionsver­
hältnisse produziert wird, sehen aber »nicht wie die­
ses Verhältniß selbst producirt wird und zugleich in
ihm die materiellen Bedingungen seiner Auflösung
producirt und damit seine historische Berechtigung als
nothwendige Form der ökonomischen Entwicklung
[. . . ] beseitigt wird« (ebd.). A fungiert hier dreifach:
1. negativ (»Bedingungen seiner Auflösung producirt
und damit seine historische Berechtigung als nothwen­
dige Form [. . . ] beseitigt«), 2. positiv-potentiell (»die
materielle Basis eines neu gestalteten gesellschaft­
lichen Lebensprocesses und damit einer neuen Gesell­
schaftsformation«) und 3. im Sinne der bestimmten
Negation (»die gegensätzliche Form [... ] aufhebenden
Productionsweise«).
2.21 Die im Kapital aufgehobenen historischen
Voraussetzungen. - Die fürs Kapital konstitutive A,
die in einer höheren Form ihrerseits 'aufgehoben'
werden soll, ist die »Expropriation der Bauern, Hand-
700
werker, überhaupt der Productionsweise, die auf dem
Privateigentum des unmittelbaren Producenten an sei­
nen Productionsbedingungen beruht« (ebd., 134). Die
konstitutive A wird als ein System komplementärer
Trennungen artikuliert: einerseits die »Trennung der
Arbeit von ihren gegenständlichen Daseinsmomen­
ten« (Gr, MEGA II_1.1, 275; MEW 42, 281), anderer­
seits die durch den Kapitalisten »personnificirte«
»selbständige, an sich festhaltende und ihren eigenen
Kopf habende Existenz dieser Productionsmittel, ihre
Trennung von der Arbeit« (Res, MEGA II.4.1, 80f).
Daß der Kapitalist selber arbeitete, gehört zur vergan­
genen Geschichte, »keineswegs aber zu seiner contem­
porären Geschichte« , ist eine der »Voraussetzungen
seines Werdens, die in seinem Dasein aufgehoben
sind« (Gr, MEGA II.1.2, 368; MEW 42, 372). Dies
führt auf »die Punkte, wo die historische Betrachtung
hinzutreten muß, oder wo die bürgerliche Oekono­
mie als blos historische Gestalt des Productionspro­
cesses über sich hinausweist auf frühre historische
Weisen der Production« (ebd., 400).
2.22 Aufhebung der konstitutiven Trennung in
ihrem eigenen Rahmen im Produktionsprozeß: MARx
analysiert in Res, wie diese Trennungen »thatsächlich
aujgehoben« werden (MEGA H.4.1, 80f), und zwar in­
nerhalb ihrer eigenen Schranken. Im Produktions­
prozeß ist die »Trennung der Arbeit von ihren gegen­
ständlichen Daseinsmomenten - Instrument und Ma­
terial - aufgehoben. Auf der Trennung beruht das Da­
sein des Capitals und der Lohnarbeit. Die Aufhebung
der Trennung [. . . ] zahlt das Capital nicht. (Die Auf­
hebung geschieht auch nicht durch den Austausch
mit dem Arbeiter - sondern durch die Arbeit selbst im
Productionsprocess. Als solche gegenwärtige Arbeit
aber ist sie selbst schon dem Capital einverleibt, ein
Moment desselben. Diese erhaltende Kraft der Arbeit
erscheint also als Selbsterhaltungskraft des Capitals.«
(Gr, MEGA II.1.1, 275; MEW 42, 281) Der Gedanke
der A kleidet sich ins religiöse Bild der Auferweckung
von den Toten: »DieseAneignung, wodurch imProduc­
tionsprocess selbst die lebendige Arbeit Instrument und
Material zum Leibe ihrer Seele macht und dadurch
von den Todten auferweckt, steht in der That im Ge­
gensatz dazu, daß die Arbeit gegenstandslos, oder nur
in unmittelbarer Lebendigkeit Wirklichkeit im Ar­
beiter« ist (ebd.).
2.23 Produktive Konsumtion. - Hierbei werden die
Produktionsmittel nur »in ihrer für die Arbeit gleich­
gültigen, ausser ihr stehenden Daseinsweise consu­
mirt«, und das bedeutet, daß »eben ihre Vergänglich­
keit an ihnen consumirt wird durch die Arbeit (aufge­
hoben wird). Real consumirt wird nur das Salair.«
(Ebd., 277; 283) Produktive Konsumtion erscheint
daher als »Verzehren des Verzehrens selbst; im Aufheben
701
des Stofflichen Aufheben dieses Aufhebens und daher
Setzen desselben« (ebd., 220; 222).
2.24 Das zur Kapitalfunktion aufgehobene Geld. ­
Geld ist eine der Voraussetzungen des Kapitals, die
durch dieses 'aufgehoben' wird: so erscheint die Zir­
kulationsform des Kapitals als Form, »worin das Geld
sich aufhebt« : »Das Geld hat sich negirt als blos in der
Circulation aufgehend; es hat sich aber ebenso negirt
als selbständig ihr gegenübertretend. Diese Negation
zusammengefaßt, in ihren positiven Bestimmungen,
enthält die ersten Elemente des Capitals.« (Ebd., 178)
Geld als 'selbständiges' ist vom Standpunkt des Kapi­
tals eine Barriere. Das Kapital ist daher bestrebt, das
Geld zu einem bloßen »Repräsentanten eines Mo­
mentes der Zirkulation« zu machen, d.h. »es in seiner
überlieferten, unmittelbaren Realität aufzuheben,
und es in ein nur vom Capital Geseztes und ebenso
Aufgehobnes, rein Ideelles zu verwandeln« und so »in
die ihm entsprechende adaequate Form zu erheben«
(MEGA 11.1.2, 553; MEW 42, 572).
2.25 Geld als Lohn. - Hier fungiert das Geld »nur in
seiner Bestimmung als Münze; d.h. nur als sich selbst
aufhebende und verschwindende Vermittlung« eines
Verhältnisses, in dem der Arbeiter Lebensmittel gegen
»Disposition« über seine Arbeitskraft austauscht
(MEGA 11.1.1, 207; MEW 42, 209f).
2.26 Zirkulation und Kreditgeld. - Die Zirkulation
kann »nicht ein positiv werthschaffendes Moment
sein, da ihre A - Cirkulation ohne Cirkulationszeit ­
das Maximum der Verwerthung, ihre Negation = der
höchsten Position der Produktivität des Capitals
wäre« (MEGA 11.1.2, 515; MEW 42, 530). Die lücken­
lose Kontinuität des Verwertungsprozesses würde un­
terstellen, daß die Zirkulationszeit »aufgehoben« ist;
andrerseits ist sie notwendig. Marx setzt zunächst an,
dieses Problem als aufzuhebenden Widerspruch zu
behandeln: »Aufgehoben und überwunden werden,
kann der Widerspruch nur« - durch den Kredit, der
die Unterbrechung zu überbrücken erlaubt (ebd.,
446; 453).
2.27 Verallgemeinerung der Unterbrechung durch
ihre Aufhebung. - Wie »das Geld die Schranken des
Tauschhandels nur aufhebt, indem es sie verallge­
meinert [. . . ], so werden wir später sehen, wie der
Credit diese Schranken der Verwerthung des Capitals
ebenfalls nur aufhebt, indem er sie in ihre allgemein­
ste Form erhebt, Periode der Ueberproduction und
Unterproduction als 2 Perioden sezt« (ebd., 510; 524):
die im einzelnen aufgehobene Störung kehrt als allge­
meine Krise wieder.
2.28 Automationsarbeit und potentielle Zeit für
alle. - Die individuelle Arbeit ist hier »in ihrem unmit­
telbaren Dasein gesezt als aufgehobne einzelne, d.h. als
gesellschaftliche Arbeit« (ebd., 585; 605). Indem sie als
HKWM 1, 1994
702 Aufhebung
aujgehobene einzelne unmittelbar = gesellschaftlich
ist, tendiert sie dahin, allgemeine Arbeit zu werden.
Das Kapital »ist so, malgre lui, instrumental in crea­
ting the means of social disposable time« , seine Ten­
denz ist aber immer, einerseits disposable time zu
schaffen, andrerseits to convert it into surplus labour.«
(Ebd., 584f; 604) »Der Wirklichkeit nach existirt die
Entwicklung des Reichthums nur in diesen Gegen­
sätzen: der Möglichkeit nach ist eben seine Entwick­
lung die Möglichkeit der Aufhebung dieser Gegen­
sätze.« (MEGA 11.1.1, 308; MEW 42, 315) MARx faßt
dies Auseinanderklaffen als wachsenden Widerspruch,
der auf eine A drängt, die die Produktionsweise insge­
samt über ihre Schranke hebt.
2.29 »Selbstaufhebung« des Kapitals. - Die Entwick­
lung der Produktivkräfte, die »zugleich Entwicklung
der Kräfte der Arbeiterklasse - auf einem gewissen
Punkt hebt das Capital sich selbst auf.< (MEGA 11.1.2,
441; MEW 42, 449). Zumindest führt die »richtige Be­
trachtung andrerseits zu Punkten; an denen die A der
gegenwärtigen Gestalt der Productionsverhältnisse ­
und so foreshadowing der Zukunft, werdende Be­
wegung sich andeutet. Erschienen einerseits die vor­
bürgerlichen Phasen als nur historische, i.e. aufge­
hobne Voraussetzungen, so die jetzigen Bedingungen
der Production als sich selbst aufhebende und daher als
historische Voraussetzungen für einen neuen Gesell­
schaftszustand setzende.« (Ebd., 369; 373)
3. Muß nun nicht der Gebrauch des »Hegelschen Ter­
minusA , so daß die Abschaffung auch die Bedeutung
mit sich führt, daß ein Inhalt in seiner wahren Form
wiederhergestellt wird« (MARcusE 1962, 258), als
Rückfall in geschichtsphilosophisches Denken ver­
standen werden? Diese Frage - wie alle mit dem Ver­
hältnis MARx-HEGEL zusammenhängenden Fragen ­
hat auch unter Marxisten zu Kontroversen geführt.
Wenn MARX sagt: die »Urformen des Eigentums [. . . ]
enthalten alle die Sklaverei als Möglichkeit und daher
als ihre eigne A in sich« (Gr, MEGA H.1.2, 403; MEW
42, 407f), so zehrt er vom Wissen des geschichtlichen
Fortgangs, verfährt aber nur dann 'geschichtsphilo­
sophisch' , wenn dies nicht durch Analyse an der
Sache aufweisbar ist. In diesem Falle weist Marx in der
patriarchalen Herrschaft über die Familie den Ansatz
zur Sklaverei nach. Als teleologisch könnte verstan­
den werden, daß bei Marx die Entfremdung als »noth­
wendiger Durchgangspunkt« für die »Auflösung aller
bornirten Voraussetzungen der Production« gilt (ebd.,
417; 422). Der Satz meint bei Marx nicht das Ein­
treffen eines bestimmten Ereignisses, sondern die be­
reits eingetretene oder beobachtbar eintretende Schaf­
fung von Möglichkeitsbedingungen einer nicht mehr
antagonistischen Produktionsweise.
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Aufhebung 703
Faßt man mit Roy BHASKAR 1. vollendeten Idealis­
mus, 2. Geistrnonismus und 3. immanente Teleologie
als Schlüsselparameter für HEGELS Ontologie, so tritt
in allen drei Hinsichten der MARxsche Bruch mit
HEGEL und der Geschichtsphilosophie hervor: 1. die
Zurückweisung des identitätsphilosophischen Abso­
luten; 2. das Bestehen auf Differenzierung und Kom­
plexität, wie ALTHUSSER hervorgehoben hat, und die
empirische, nichtspekulative Auffassung von Totali­
tät, wie DELLA VOLPE gezeigt hat; und 3. beschränkt
MARX die Teleologie auf menschliche Praxis und
rühmt z.B. an DARWINS Werk, hier sei » trotz allem
Mangelhaften [. . . ] zuerst der 'Teleologie' in der Natur­
wissenschaft nicht nur der Todesstoß gegeben, son­
dern der rationelle Sinn derselben empirisch ausein­
andergelegt« (an Lassalle, 16. Jan. 1861, MEW 30, 578).
MARX scheint gelegentlich die Nähe zur HEGEL­
schen Dialektik und Geschichtsphilosophie zu su­
chen. Indes nutzt er sie subversiv. Nachdem er die
Hegelsche Logik in ihrem Systemcharakter vernich­
tend kritisiert hat, bereitet es ihm diebisches Vergnü­
gen, mit diesem 'falschen' Charakter kapitalistische
Funktionszusammenhänge zu beschreiben. So etwa
an einer Stelle in den Grundrissen, wo sich unter den
Zügen einer Hegel-Parodie gleichzeitig eine kritische
Analyse der 'Logik des Kapitals' und ein theoretischer
Gegenentwurf zu Hegel verbirgt: Bürgerlicher Reich­
tum erscheint dort in höchster Potenz als Tauschwert,
wo dieser als Vermittler gesetzt ist, »als die Vermitt­
lung der Extreme von Tauschwerth und Gebrauchs­
werth selbst. Diese Mitte [ . . . ] erscheint schließlich
immer als eine Einseitig Höhere Potenz gegenüber
den Extremen selbst; weil die Bewegung oder das Ver­
hältniß, das als vermittelnd zwischen den Extremen
ursprünglich erscheint, dialektisch dazu nothwendig
fortführt, daß es als Vermittlung mit sich selbst er­
scheint, als das Subject, dessen Momente nur die Ex­
treme sind, deren selbständige Voraussetzung es auf­
hebt, um sich durch ihre Aufhebung selbst als das
allein Selbständige zu setzen. So in der religiösen
Sphäre Christus der Mittler zwischen Gott und dem
Menschen - bloses Circulationsinstrument zwischen
beiden - wird ihre Einheit, Gottmensch, und wird als
solcher wichtiger denn Gott; die Heiligen wichtiger
als Christus, die Pfaffen wichtiger als die Heiligen.«
(Gr, MEGA 11.1.1, 246f; MEW 42, 250) MARX geht nun
eine ganze Serie von derart sich überordnenden Ver­
mittlern - Personifikationen des »Tauschwerth[s], wo
er als Mittelglied gesezt ist« - durch, bis hin zum
»Finanzier als Vermittler zwischen dem Staat und
[der] bürgerlichen Gesellschaft auf der höchsten Stufe«
(ebd., 247; 251).
Anders scheint die Sache bei jener vielzitierten, » ge­
schichtsphilosophisch« besonders geladenen Stelle im
HKWM 1, 1994
704
Kapital zu liegen, wo MARX mit dem HEGELschen Be­
griff der Negation der Negation der Sache nach die A
der kapitalistischen Produktionsweise denkt: Wenn
die kapitalistische Produktionsweise als Negation des
»individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privat­
eigentums« auftritt, so erzeugt sie im Zuge wachsen­
der Vergesellschaftung und Kapitalkonzentration, der
die moderne Arbeiterklasse gegenübersteht, »ihre
eigne Negation« : » Diese stellt nicht das Privateigen­
tum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum
auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen
Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der
Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten
Produktionsmittel.« (MEW 23, 791) Diese Aussage
überschreitet offensichtlich die Grenze, die MARX
sich selbst gezogen hat: sie geht nicht mehr auf Mög­
lichkeitsbedingungen, sondern suggeriert die A des
Kapitalismus als dessen eignes Produkt.
Im Anschluß im derartige Probleme sieht COLLETTI
etwa DELLA VOLPE einer » Aporie verhaftet, die die
Geschichte der MARx-Interpretationen kennzeichnet.
Wo der Marxismus eine wissenschaftliche Theorie des
gesellschaftlichen Werdens ist, ist er bestenfalls eine
'Zusammenbruchstheorie' , jedoch keine Theorie der
Revolution; umgekehrt läuft er, wo er eine Revolu­
tionstheorie ist, Gefahr, sich als das Projekt einer uto­
pischen Subjektivität zu erweisen, weil er nur eine
'Kritik der politischen Ökonomie' ist.« (1977, 31)
Dann werden Garantien in der Natur gesucht. In
COLLETTIS Sicht denk:t MARX die kapitalistische Rea­
lität widerspruchslogisch, weil er sie mit Begriffen
wie Entfremdung und Fetischismus als zerrissene
Einheit in der Perspektive ihrer Wiederherstellung
sehe: MARX habe folglich zwei Gesichter, das des Wis­
senschaftlers und das des Philosophen. Obwohl es bei
Marx Formulierungen gibt, die in diese Richtung deu­
ten, kann der wissenschaftliche Kern seiner Kritik der
politischen Ökonomie nicht so aufgefaßt werden.
Diachrone und synchrone Aufhebungsbeziehungen
zu analysieren, ist die Eintrittsbedingung in eine
historisch-materialistische Wissenschaft, die die Phi­
losophie in sich - im besten Sinne - 'aufgehoben' hat.
A meint ein Werden, das bestimmte Negation ist, weil
es nicht einfach Untergang bedeutet, sondern im star­
ken Sinn Zerstörung einer bisherigen Dominanz mit
Freisetzung des Dominierten. Im schwachen Sinn
Kontinuität im Bruch. In diesem Sinn verwendet auch
BRECHT den Begriff. Zu der Frage, die MARX in Einl
57 aufgeworfen hat, »warum kunstwerke, entstanden
in vergangenen gesellschaftsstrukturen, immer noch
wirkungen auf uns ausüben«, bemerkt BRECHT: » noch
die klassenlose gesellschaft wird vermutlich die grund­
züge der westlichen historischen strukturen im dop­
pelsinn 'aufgehoben' haben.« (AJ, 3.3.48)
© InkriT – www.inkrit.de
705
4. E.v. HARTMANN (1868) und A.TRENDELENBURG
(1870) haben - wie von historisch-materialistischem
Standpunkt MARX vor ihnen in KHS - bestritten, daß
HEGELS Dialektik einen » immanenten Fortgang« von
Begriffsbestimmungen gewährleiste und dabei mit der
Widerspruchslogik verträglich bleibe. FULDA nimmt
an, es sei hierauf zurückzuführen, »wenn in den euro­
päischen Hegelschulen und -renaissancen Terminolo­
gie und Technik des Aufhebens keine Rolle mehr
spielten« (HWPh 1, 620). Benedetto CROCE etwa eli­
minierte in seiner Rezeption der HEGELschen Dialek­
tik das zerstörerische Moment und zähmte sie gleich­
sam zu einer » Dialektik der Unterschiedenen« : »Ein
gegensätzlicher Begriff wird von seinem Gegenteil
aufgehoben; für sie gilt der Satz: mors tua, vita mea.«
Dagegen: » Ein unterschiedener Begriff ist vorausge­
setzt und lebt in dem anderen, welcher ihm in der
idealen Ordnung folgt.« (1909, 9)
Antonio GRAMSCI deutet dies Preisgeben der A als
Ausdruck der aus Furcht vor dem Volk entsprunge­
nen Wende der Liberalen zur passiven Revolution.
Croce wollte gleichsam einen » Hegel ohne die Fran­
zösische Revolution und ohne die Napoleonischen
Kriege [. . . ], d.h. ohne die lebendigen und unmittelba­
ren Erfahrungen einer höchst intensiven Geschichts­
periode, in der alle vergangenen Auffassungen von der
sich vollziehenden Wirklichkeit endgültig kritisiert
wurden« (Gef3, H. 4, § 56, 544; vgl. H. 10.1, § 7, Anm.
Ob, Gef6, A562f). Das Ergebnis ist eine »Theorie der
Revolution-Restauration, eine domestizierte Dialek­
tik, weil sie 'mechanisch' unterstellt, daß die Antithese
von der These bewahrt werden muß, damit der dialek­
tische Prozeß nicht zerstört wird, der daher als sich
mechanisch ad infinitum wiederholender 'vorausge­
sehen' wird. In der wirklichen Geschichte dagegen ist
die Antithese bestrebt, die These zu zerstören: das Re­
sultat ist eine Aufhebung, doch ohne daß man die
Schläge a priori 'abmessen' könnte wie im 'Ring' eines
durch Übereinkunft geregelten Kampfes. Je mehr die
Antithese sich selbst unerbittlich entwickelt, um so
mehr wird die These selbst sich entwickeln, das heißt,
sie wird alle ihre Lebensmöglichkeiten erweisen
(CROCES Position ist wie die im Elend der Philosophie
kritisierte von PROUDHON: domestizierter Hegelia­
nismus).« (Gef5, H. 8, § 225, 1075; vgl. MEW 4, 125-44)
Das als Philosophie der Praxis reformulierte marxisti­
sche Denken kann dagegen » anfänglich nicht anders
als in polemischer und kritischer Haltung auftreten,
als Aufhebung der vorhergehenden Denkweise und
des konkreten bestehenden Denkens (oder der be­
stehenden kulturellen Welt). Mithin vor allem als Kri­
tik des 'Alltagsverstands' (nachdem sie sich auf den
Alltagsverstand gestützt hat, um zu zeigen, daß 'Alle'
Philosophen sind und daß es nicht darum geht, ex
706 Aufhebung
novo eine Wissenschaft ins Individualleben 'Aller'
einzuführen, sondern eine bereits bestehende Aktivi­
tät zu erneuern und 'kritisch' zu machen) und folglich
(als Kritik) der Philosophie der Intellektuellen, und
die als individuelle [. . . ] als die 'Spitzen' des Fortschritts
des 'Alltagsverstands' betrachtet werden kann, zu­
mindest des Alltagsverstands der gebildetsten Schich­
ten der Gesellschaft und über diese auch des popula­
ren Alltagsverstands.« (Gef6, H. 11, § 12, 1382) A hat
hier keine spekulative Bedeutung und behält gleich­
wohl den Dreifachsinn von Zerstören, Erhalten und
Höherheben, indem sie als Kritik auftritt, die Berüh­
rungspunkte mit BENJAMINS rettender Kritik aufweist.
Diese kann in ihrer Verbindung von Zerstörung und
Bewahrung als eine Form von A begriffen werden.
»Das destruktive oder kritische Moment in der mate­
rialistischen Geschichtsschreibung kommt in der Auf­
sprengung der historischen Kontinuität zur Geltung,
mit der der historische Gegenstand sich allererst kon­
stituiert.« (GS, V.1, 594) Dabei begreift Benjamin » das
destruktive Moment [. . . ] als Reaktion auf eine Gefah­
renkonstellation [. . . ], die sowohl dem Überlieferten
wie dem Empfänger der Überlieferung droht« (ebd.,
594f; vgl. GS I, 1242). - GRAMSCI reflektiert über die
ungemeine Schwierigkeit, die zumeist eine Unmög­
lichkeit ist, A in der wirklichen Geschichte zu prakti­
zieren, in Auseinandersetzung mit der Behauptung,
daß » man nicht zerstören kann ohne zu schöpfen«:
» Es stimmt nicht, daß 'zerstört' , wer auch immer zer­
stören will. Zerstören ist sehr schwierig, genauso
schwierig wie schöpfen. Denn es geht nicht darum,
materielle Dinge zu zerstören, es geht darum, 'Ver­
hältnisse' zu zerstören, die nicht sichtbar, nicht greif­
bar sind, auch wenn sie sich in den materiellen Dingen
verbergen. Zerstörer-Schöpfer ist, wer das Alte zer­
stört, um das Neue ans Licht zu bringen, aufblühen
zu lassen, das 'notwendig' geworden ist und unabweis­
bar an die Schwelle der Geschichte drängt. Darum
kann man sagen, daß man zerstört, insofern man er­
schafft. Viele vermeintliche Zerstörer sind nichts an­
deres als 'Verursacher mißglückter Abtreibungen',
schuldig nach dem Strafgesetzbuch der Geschichte.«
(Gef4, H. 6, § 30, 734)
Ironisch genug taucht der Begriff A (bzw. seine
Äquivalente) seit dem Ende des 19. Jh. in nicht weni­
gen Buch- oder Aufsatztiteln auf, die behaupten, den
Marxismus aufgehoben zu haben (vgl. DE MAN 1929
und seine Rezeption in Italien). - Nachdem A durch
MARX die Bedeutung »praktischer Beseitigung von
Zuständen, die mit vernünftigen gesellschaftlichen
Forderungen nicht mehr im Einklang sind« , erhalten
habe, meint FULDA: »Wenn er noch als dialektischer
gelten soll, so bedürfte es allerdings eines Kriteriums,
das zu entscheiden erlaubt, ob die Beseitigung eines
Aufhebung 703
Faßt man mit Roy BHASKAR 1. vollendeten Idealis­
mus, 2. Geistrnonismus und 3. immanente Teleologie
als Schlüsselparameter für HEGELS Ontologie, so tritt
in allen drei Hinsichten der MARxsche Bruch mit
HEGEL und der Geschichtsphilosophie hervor: 1. die
Zurückweisung des identitätsphilosophischen Abso­
luten; 2. das Bestehen auf Differenzierung und Kom­
plexität, wie ALTHUSSER hervorgehoben hat, und die
empirische, nichtspekulative Auffassung von Totali­
tät, wie DELLA VOLPE gezeigt hat; und 3. beschränkt
MARX die Teleologie auf menschliche Praxis und
rühmt z.B. an DARWINS Werk, hier sei » trotz allem
Mangelhaften [. . . ] zuerst der 'Teleologie' in der Natur­
wissenschaft nicht nur der Todesstoß gegeben, son­
dern der rationelle Sinn derselben empirisch ausein­
andergelegt« (an Lassalle, 16. Jan. 1861, MEW 30, 578).
MARX scheint gelegentlich die Nähe zur HEGEL­
schen Dialektik und Geschichtsphilosophie zu su­
chen. Indes nutzt er sie subversiv. Nachdem er die
Hegelsche Logik in ihrem Systemcharakter vernich­
tend kritisiert hat, bereitet es ihm diebisches Vergnü­
gen, mit diesem 'falschen' Charakter kapitalistische
Funktionszusammenhänge zu beschreiben. So etwa
an einer Stelle in den Grundrissen, wo sich unter den
Zügen einer Hegel-Parodie gleichzeitig eine kritische
Analyse der 'Logik des Kapitals' und ein theoretischer
Gegenentwurf zu Hegel verbirgt: Bürgerlicher Reich­
tum erscheint dort in höchster Potenz als Tauschwert,
wo dieser als Vermittler gesetzt ist, »als die Vermitt­
lung der Extreme von Tauschwerth und Gebrauchs­
werth selbst. Diese Mitte [ . . . ] erscheint schließlich
immer als eine Einseitig Höhere Potenz gegenüber
den Extremen selbst; weil die Bewegung oder das Ver­
hältniß, das als vermittelnd zwischen den Extremen
ursprünglich erscheint, dialektisch dazu nothwendig
fortführt, daß es als Vermittlung mit sich selbst er­
scheint, als das Subject, dessen Momente nur die Ex­
treme sind, deren selbständige Voraussetzung es auf­
hebt, um sich durch ihre Aufhebung selbst als das
allein Selbständige zu setzen. So in der religiösen
Sphäre Christus der Mittler zwischen Gott und dem
Menschen - bloses Circulationsinstrument zwischen
beiden - wird ihre Einheit, Gottmensch, und wird als
solcher wichtiger denn Gott; die Heiligen wichtiger
als Christus, die Pfaffen wichtiger als die Heiligen.«
(Gr, MEGA 11.1.1, 246f; MEW 42, 250) MARX geht nun
eine ganze Serie von derart sich überordnenden Ver­
mittlern - Personifikationen des »Tauschwerth[s], wo
er als Mittelglied gesezt ist« - durch, bis hin zum
»Finanzier als Vermittler zwischen dem Staat und
[der] bürgerlichen Gesellschaft auf der höchsten Stufe«
(ebd., 247; 251).
Anders scheint die Sache bei jener vielzitierten, » ge­
schichtsphilosophisch« besonders geladenen Stelle im
704
Kapital zu liegen, wo MARX mit dem HEGELschen Be­
griff der Negation der Negation der Sache nach die A
der kapitalistischen Produktionsweise denkt: Wenn
die kapitalistische Produktionsweise als Negation des
»individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privat­
eigentums« auftritt, so erzeugt sie im Zuge wachsen­
der Vergesellschaftung und Kapitalkonzentration, der
die moderne Arbeiterklasse gegenübersteht, »ihre
eigne Negation« : » Diese stellt nicht das Privateigen­
tum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum
auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen
Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der
Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten
Produktionsmittel.« (MEW 23, 791) Diese Aussage
überschreitet offensichtlich die Grenze, die MARX
sich selbst gezogen hat: sie geht nicht mehr auf Mög­
lichkeitsbedingungen, sondern suggeriert die A des
Kapitalismus als dessen eignes Produkt.
Im Anschluß im derartige Probleme sieht COLLETTI
etwa DELLA VOLPE einer » Aporie verhaftet, die die
Geschichte der MARx-Interpretationen kennzeichnet.
Wo der Marxismus eine wissenschaftliche Theorie des
gesellschaftlichen Werdens ist, ist er bestenfalls eine
'Zusammenbruchstheorie' , jedoch keine Theorie der
Revolution; umgekehrt läuft er, wo er eine Revolu­
tionstheorie ist, Gefahr, sich als das Projekt einer uto­
pischen Subjektivität zu erweisen, weil er nur eine
'Kritik der politischen Ökonomie' ist.« (1977, 31)
Dann werden Garantien in der Natur gesucht. In
COLLETTIS Sicht denk:t MARX die kapitalistische Rea­
lität widerspruchslogisch, weil er sie mit Begriffen
wie Entfremdung und Fetischismus als zerrissene
Einheit in der Perspektive ihrer Wiederherstellung
sehe: MARX habe folglich zwei Gesichter, das des Wis­
senschaftlers und das des Philosophen. Obwohl es bei
Marx Formulierungen gibt, die in diese Richtung deu­
ten, kann der wissenschaftliche Kern seiner Kritik der
politischen Ökonomie nicht so aufgefaßt werden.
Diachrone und synchrone Aufhebungsbeziehungen
zu analysieren, ist die Eintrittsbedingung in eine
historisch-materialistische Wissenschaft, die die Phi­
losophie in sich - im besten Sinne - 'aufgehoben' hat.
A meint ein Werden, das bestimmte Negation ist, weil
es nicht einfach Untergang bedeutet, sondern im star­
ken Sinn Zerstörung einer bisherigen Dominanz mit
Freisetzung des Dominierten. Im schwachen Sinn
Kontinuität im Bruch. In diesem Sinn verwendet auch
BRECHT den Begriff. Zu der Frage, die MARX in Einl
57 aufgeworfen hat, »warum kunstwerke, entstanden
in vergangenen gesellschaftsstrukturen, immer noch
wirkungen auf uns ausüben«, bemerkt BRECHT: » noch
die klassenlose gesellschaft wird vermutlich die grund­
züge der westlichen historischen strukturen im dop­
pelsinn 'aufgehoben' haben.« (AJ, 3.3.48)
705
4. E.v. HARTMANN (1868) und A.TRENDELENBURG
(1870) haben - wie von historisch-materialistischem
Standpunkt MARX vor ihnen in KHS - bestritten, daß
HEGELS Dialektik einen » immanenten Fortgang« von
Begriffsbestimmungen gewährleiste und dabei mit der
Widerspruchslogik verträglich bleibe. FULDA nimmt
an, es sei hierauf zurückzuführen, »wenn in den euro­
päischen Hegelschulen und -renaissancen Terminolo­
gie und Technik des Aufhebens keine Rolle mehr
spielten« (HWPh 1, 620). Benedetto CROCE etwa eli­
minierte in seiner Rezeption der HEGELschen Dialek­
tik das zerstörerische Moment und zähmte sie gleich­
sam zu einer » Dialektik der Unterschiedenen« : »Ein
gegensätzlicher Begriff wird von seinem Gegenteil
aufgehoben; für sie gilt der Satz: mors tua, vita mea.«
Dagegen: » Ein unterschiedener Begriff ist vorausge­
setzt und lebt in dem anderen, welcher ihm in der
idealen Ordnung folgt.« (1909, 9)
Antonio GRAMSCI deutet dies Preisgeben der A als
Ausdruck der aus Furcht vor dem Volk entsprunge­
nen Wende der Liberalen zur passiven Revolution.
Croce wollte gleichsam einen » Hegel ohne die Fran­
zösische Revolution und ohne die Napoleonischen
Kriege [. . . ], d.h. ohne die lebendigen und unmittelba­
ren Erfahrungen einer höchst intensiven Geschichts­
periode, in der alle vergangenen Auffassungen von der
sich vollziehenden Wirklichkeit endgültig kritisiert
wurden« (Gef3, H. 4, § 56, 544; vgl. H. 10.1, § 7, Anm.
Ob, Gef6, A562f). Das Ergebnis ist eine »Theorie der
Revolution-Restauration, eine domestizierte Dialek­
tik, weil sie 'mechanisch' unterstellt, daß die Antithese
von der These bewahrt werden muß, damit der dialek­
tische Prozeß nicht zerstört wird, der daher als sich
mechanisch ad infinitum wiederholender 'vorausge­
sehen' wird. In der wirklichen Geschichte dagegen ist
die Antithese bestrebt, die These zu zerstören: das Re­
sultat ist eine Aufhebung, doch ohne daß man die
Schläge a priori 'abmessen' könnte wie im 'Ring' eines
durch Übereinkunft geregelten Kampfes. Je mehr die
Antithese sich selbst unerbittlich entwickelt, um so
mehr wird die These selbst sich entwickeln, das heißt,
sie wird alle ihre Lebensmöglichkeiten erweisen
(CROCES Position ist wie die im Elend der Philosophie
kritisierte von PROUDHON: domestizierter Hegelia­
nismus).« (Gef5, H. 8, § 225, 1075; vgl. MEW 4, 125-44)
Das als Philosophie der Praxis reformulierte marxisti­
sche Denken kann dagegen » anfänglich nicht anders
als in polemischer und kritischer Haltung auftreten,
als Aufhebung der vorhergehenden Denkweise und
des konkreten bestehenden Denkens (oder der be­
stehenden kulturellen Welt). Mithin vor allem als Kri­
tik des 'Alltagsverstands' (nachdem sie sich auf den
Alltagsverstand gestützt hat, um zu zeigen, daß 'Alle'
Philosophen sind und daß es nicht darum geht, ex
HKWM 1, 1994
706 Aufhebung
novo eine Wissenschaft ins Individualleben 'Aller'
einzuführen, sondern eine bereits bestehende Aktivi­
tät zu erneuern und 'kritisch' zu machen) und folglich
(als Kritik) der Philosophie der Intellektuellen, und
die als individuelle [. . . ] als die 'Spitzen' des Fortschritts
des 'Alltagsverstands' betrachtet werden kann, zu­
mindest des Alltagsverstands der gebildetsten Schich­
ten der Gesellschaft und über diese auch des popula­
ren Alltagsverstands.« (Gef6, H. 11, § 12, 1382) A hat
hier keine spekulative Bedeutung und behält gleich­
wohl den Dreifachsinn von Zerstören, Erhalten und
Höherheben, indem sie als Kritik auftritt, die Berüh­
rungspunkte mit BENJAMINS rettender Kritik aufweist.
Diese kann in ihrer Verbindung von Zerstörung und
Bewahrung als eine Form von A begriffen werden.
»Das destruktive oder kritische Moment in der mate­
rialistischen Geschichtsschreibung kommt in der Auf­
sprengung der historischen Kontinuität zur Geltung,
mit der der historische Gegenstand sich allererst kon­
stituiert.« (GS, V.1, 594) Dabei begreift Benjamin » das
destruktive Moment [. . . ] als Reaktion auf eine Gefah­
renkonstellation [. . . ], die sowohl dem Überlieferten
wie dem Empfänger der Überlieferung droht« (ebd.,
594f; vgl. GS I, 1242). - GRAMSCI reflektiert über die
ungemeine Schwierigkeit, die zumeist eine Unmög­
lichkeit ist, A in der wirklichen Geschichte zu prakti­
zieren, in Auseinandersetzung mit der Behauptung,
daß » man nicht zerstören kann ohne zu schöpfen«:
» Es stimmt nicht, daß 'zerstört' , wer auch immer zer­
stören will. Zerstören ist sehr schwierig, genauso
schwierig wie schöpfen. Denn es geht nicht darum,
materielle Dinge zu zerstören, es geht darum, 'Ver­
hältnisse' zu zerstören, die nicht sichtbar, nicht greif­
bar sind, auch wenn sie sich in den materiellen Dingen
verbergen. Zerstörer-Schöpfer ist, wer das Alte zer­
stört, um das Neue ans Licht zu bringen, aufblühen
zu lassen, das 'notwendig' geworden ist und unabweis­
bar an die Schwelle der Geschichte drängt. Darum
kann man sagen, daß man zerstört, insofern man er­
schafft. Viele vermeintliche Zerstörer sind nichts an­
deres als 'Verursacher mißglückter Abtreibungen',
schuldig nach dem Strafgesetzbuch der Geschichte.«
(Gef4, H. 6, § 30, 734)
Ironisch genug taucht der Begriff A (bzw. seine
Äquivalente) seit dem Ende des 19. Jh. in nicht weni­
gen Buch- oder Aufsatztiteln auf, die behaupten, den
Marxismus aufgehoben zu haben (vgl. DE MAN 1929
und seine Rezeption in Italien). - Nachdem A durch
MARX die Bedeutung »praktischer Beseitigung von
Zuständen, die mit vernünftigen gesellschaftlichen
Forderungen nicht mehr im Einklang sind« , erhalten
habe, meint FULDA: »Wenn er noch als dialektischer
gelten soll, so bedürfte es allerdings eines Kriteriums,
das zu entscheiden erlaubt, ob die Beseitigung eines
© InkriT – www.inkrit.de
 707
obsolet gewordenen Zustandes die diesem innewoh­
nende Vernunft bewahrt oder preisgibt.« (HWPh 1,
620) Obwohl in der Geschichte des praktizierten
Marxismus Vernunft allzuoft Unsinn, Wohltat Plage
geworden ist und zumal der ML bei seiner gewaltsam
versuchten A der bürgerlichen Gesellschaft deren
demokratische Errungenschaften großenteils preisge­
geben hat, ist nicht erkennbar, daß eine umfassendere
theoretisch-praktische Formation die im Marxschen
Denken und im Marxismus innewohnende kritische
Vernunft bewahrt hätte. In FULDAs Bemerkung steckt
die unausgesprochene Frage, was ist, wenn eine obso­
let gewordene geschichtliche Gestalt nicht aufgehoben
zu werden vermag, oder, mit GRAMSCIS Worten, wenn
der Kampf »zwischen dem Alten, das nicht sterben
will, und dem Neuen, das leben will« (Ge! 4, H. 6,
§ 139, 8 17), sich so wendet, daß das Alte stirbt, aber
das Neue nicht zur Welt kommen kann. Die » Selbst­
aufhebung« des Bestehenden hat im 20. Jh. nicht ihre
Evidenz eingebüßt, wohl aber die noch von MARX
kaum angezweifelten Versprechungen eines Fort­
schritts zum Besseren: »die totale Vergesellschaftung
brütet objektiv ihr Widerspiel aus, ohne daß bis heute
zu sagen wäre, ob es die Katastrophe ist oder die Be­
freiung« (ADORNO, Negative Dialektik, GS 6, 340).
BIBLIOGRAPHIE: L.ALTHUSSER u.a., Das Kapital lesen, 2
Bde., Reinbek 1972; R.BHASKAR, »Dialectics«, in: DMT,
1983, 122-29; 1. COLLETTI, Marxismus und Dialektik (1974),
Berlin/W 1977; B. CROCE, Lebendiges und Totes in Hegels Phi­
losophie (deutsche, vorn Verfasser vermehrte Übers_ v_
K.Büchler, Heidelberg 1909 [eio che e vivo e cio che e morto
delta filosofia di Hegel, Bari 1907]); G.DELLA VOLPE, Logica
come scienza positiva, Messina-Florenz 1950; F. FULDA, »Auf­
heben«, in: HWPh, 1971, 618-20; E. v. HARTMANN, Über die
dialektische Methode, 1868; H.DE MAN, Il superamento del
marxismo, 2 Bände, hgg. v. Alessandro Schiavi, Bari 1929;
H.MARCUSE, Vernunft und Revolution. Hegel und die Ent­
stehung der Geseltschaftstheorie (1941), Neuwied-Berlin/W
1962; A. TRENDELENBURG, Logische Untersuchungen, 31870.
WOLFGANG FRITz HAUG
� allgemeine Arbeit, Alltagsverstand, Antagonismus,
Denkformen, Dialektik, disponible Zeit, Entfremdung, Fe­
tischismus, Gegensatz, Grundwiderspruch, Hegelianismus,
Hegelkritik, Kritik, Lüge, Moment, Metamorphose, Nega­
tion der Negation, passive Revolution, rettende Kritik,
Schranke, Spekulation, Sprache, Sprung, Standpunkt/Per­
spektive, Teleologie, Umschlagen, Unmittelbarkeit, Ver­
mittlung, Vernunft, Widerspruch, Zerstörung
HKWM 1, 1994
708 709
wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren End­
zweck entwickeln« (ebd., 345). Marx kritisiert den
politischen Staat, er kritisiert, daß die bürgerlichen
Staaten, die die Forderungen der Vernunft als in ihnen
enthalten und realisiert unterstellen, in einen Wider­
spruch zwischen ihren ideellen Bestimmungen und
ihren realen Voraussetzungen geraten. Deswegen hielt
Marx es für möglich, »unsre Kritik an die Kritik der
Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an
wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu
identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt dok­
trinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist
die Wahrheit, hier kniee nieder!« (Ebd.) Dement­
sprechend schlug Marx für die Deutsch-Französischen
Jahrbücher folgendes Verfahren vor: » Selbstverständi­
gung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe
und Wünsche.« (346)
Es geht also um immanente Kritik, kritische Philo­
sophie als » an wirkliche Kämpfe anknüpfen[deJ« Ana­
lyse, die darauf zielt, »aus der Kritik der alten Welt die
neue zu finden« . .
Diese » kritische Philosophie« ist offensichtlich
weder Philosophie im alten Sinn, noch ist sie » neue
Philosophie« im Sinne der Junghegelianer. Denn »die
Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Ge­
schichte steht«, sieht MARX darin, »die Kritik der Reli,
gion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in
die Kritik der Politik« zu verwandeln (KHR, MEW 1,
379). Die deutschen Zustände begrenzen jedoch die
Weise, in der diese »kritische Philosophie« zu betrei­
ben ist: »Wie die alten Völker ihre Vorgeschichte in
der Imagination erlebten, in der Mythologie, so haben
wir Deutsche unsre Nachgeschichte im Gedanken
erlebt, in der Philosophie. Wir sindphilosophische Zeit­
genossen der Gegenwart, ohne ihre historischen Zeitge­
nossen zu sein.« (Ebd., 383) Diese Ungleichzeitigkeit,
verglichen mit Frankreich und England, schlägt sich
auch in Marx' Kritik- bzw. philosophischer Strategie
nieder: »Was bei den fortgeschrittenen Völkernprakti­
scher Zerfall mit den modernen Staatszuständen ist,
das ist in Deutschland, wo diese Zustände selbst noch
nicht einmal existieren, zunächst kritischer Zerfall
mit der philosophischen Spiegelung dieser Zustände_«
(Ebd.; vgl. Labica 1976, 15ft)
Für MARX ist die deutsche Rechts- und Staatsphilo­
sophie also zwar einerseits nur »Traumgeschichte« ,
aber andererseits »die einzige mit der offiziellen moder­
nen Gegenwart al pari stehende deutsche Geschichte« ;
in dieser Doppelung hat sie einen wichtigen Status für
ihn.
Der Inhalt dieser Beziehung zwischen der bürgerli­
chen Gesellschaft/Staat und der deutschen Philosophie
wird in Zur Judenfrage (1843) näher bestimmt. Die
neuere Geschichte, besonders die der Französischen
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710 Aufhebung der Philosophie
Revolution reflektierend, kommt MARX dort zu der
Auffassung, daß der Staat nur imaginär die Zerrissen­
heit der bürgerlichen Gesellschaft aufheben kann.
Das Paar Bourgeois/Citoyen bezeichnet für ihn einen
innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft unaufheb­
baren Widerspruch. Aus einer radikaleren Perspektive
heraus kritisiert er die bürgerliche politische Emanzi­
pation als eine » Reduktion des Menschen, einerseits
auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das
egoistische unabhängige Individuum, andererseits auf
den Staatsbürger, auf die moralische Person« (MEW 1,
370). Im Staat sei » der Mensch« ein »imaginäres Glied
einer eingebildeten Souveränität« , erfüllt mit einer
unwirklichen Allgemeinheit (MEW 1, 355). Marx'
Abgrenzung gegen die deutsche Staats- und Rechts­
philosophie basiert darauf, daß diese Philosophie die
bürgerlichen Verhältnisse auf dem Gebiet der Theo­
rie fortschreibt und die realen Widersprüche imaginär
durch eine idealistisch begründete Staatsförmigkeit
der Gesellschaft und dementsprechende »Moral« oder
» Sittlichkeit« aufzulösen versucht. Die philosophi­
sche Arbeit an der Konstitution der moralischen bzw.
sittlichen Subjekte ist dabei überdeterminiert durch
die für die bürgerliche Gesellschaft spezifische Staats­
förmigkeit der Vergesellschaftung, d.h. die Konstitu­
tion der Moralsubjekte ist gleichzeitig Konstitution
der Staatssubjekte.
Die Marxsche Philosophiekritik ist im positiven
Sinne aufhebende Kritik. MARX will das fortgeschrit­
tenste Element in Deutschland, d.h. die Philosophie,
nicht preisgeben. Er versucht vielmehr, sie aus einer
»ideellen Ergänzung« (vgl. Judenfrage, MEW 1, 384) in
eine wirklich vorwärtstreibende Kraft zu verwan­
deln, die daran mitwirken kann, das versprochene
"vernünftigwerden des Ganzen« praktisch einzulösen.
Aus dieser Sonderstellung der Philosophie als dem
>,wirklichen Lebenskeim des deutschen Volkes« - ein
Lebenskeim, der »bisher nur unter seinem Hirnschädel
gewuchert hat« - ergeben sich die berühmten Thesen,
die besagen, daß man »die Philosophie nicht aufheben
[kann], ohne sie zu verwirklichen« , und daß es illuso­
risch sei, »die Philosophie verwirklichen zu können,
ohne sie aufzuheben« (ebd., Herv. getilgt).
Den Gedanken, daß es im Unterschied zu England
(' ökonomischer Fortschritt') und Frankreich ('politi­
scher Fortschritt') in Deutschland die Philosophie
und ihr Praktischwerden sei, was den Fortschritt ein­
leiten würde, hat bereits Moses HESS in seiner Arbeit
Die europäische Triarchie (1841) skizziert. Auch EN­
GELS, der trotz seiner Interventionen (z.B. gegen
SCHELLING) nie so tief in der Philosophie war wie
MARX, nimmt diese Idee von der Sonderstellung der
Philosophie in Deutschland auf. In seinem in der
englischen Arbeiterpresse 1843 publizierten Artikel