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Hans-Werner Schütt

Auf der Suche


nach dem
Stein der Weisen

Die Geschichte
der Alchemie

Verlag C.H. Beck München


Mit i6 Abbildungen im Text

Inhalt

Für Gesine Im Schatten der Pyramiden

1. A uf der S u c h e ............................................................................... n
2. Paläste, Tempel und ein Museum; Alexandria ........................ 13
3. Ein A lchem istenlabor................................................................... 16
4. Tempel und H a n d w e r k e .............................................................. 28
5. Zwei Papyri ..................................................................................
6. Der Spruch in der Säule .............................................................. 40
7. Das Standard v e rfa h re n ................................................................. 43
8. Theion hydor ............................................................................... 48
9. Der letzte Schritt ......................................................................... 54
10. Was ist Standard am Standardverfahren?................................ 61
11. Altmeister A risto teles................................................................... 66
12. Die Stoa und die Alchemie ........................................................ 70
13. Der Brief des Zosimos ................................................................. 74
14. Der Traum des Zosimos .............................................................. 80
15. M ysterienkulte............................................................................... 87
16. Der Gott der Schöpfung; P t a h ..................................................... 94
17. Der Gott in drei Reichen; Hermes ............................................ lo i
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
18. Christentum und G n o s is .............................................................. 105
Schütt, Hans-Wemer: A u f der Suche nach dem Stein der Weisen: 19. Ägyptische A lc h e m is te n .............................................................. no
Die Geschichte der Alchemie/Hans-Wemer Schütt. -
20.
München: Beck, 2000
ISBN 3 406 46638 9 21.
22. Kleopatra und Isis ...................................................................... 126
23. A gath od aim on ............................................................................... 131
24. Synesios ........................................................................................ 132
ISBN 3 406 46638 9
25. O ly m p io d o ro s ............................................................................... 135
26. Sprachmuster der A lc h e m ie ........................................................ 141
© Verlag C. H. Beck oHG, München 2000 27. Die Alchemie und die Byzantiner ............................................ 148
Satz: Janß, Pfungstadt. Druck imd Bindung: Ebner, Ulm
Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier
(hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff)
Printed in Germanv

xjoww.heck.de
Inhalt Inhalt

II. In fremden Welten 15. F a ch litera tu r.................................................................................. 309


16. Die leidige Tradition ....................................................................... 315
1. Triumph und Katastrophe: Der Islam und seine Eroberungen 157 17. Geber ................................................................................................. 3^3
2. Kulturvermittlung ...................................................................... 159 18. F la m e l................................... 337
3. Die syrische Alchemie ................................................................ 163 19. Symbole in der Alchemie .............................................................. 349
4. Causa causarum und die Theorie von Schwefel und 20. E)er Stein ........................................................................................ 3 H
Quecksilber .................................................................................. 165 21. ... und sein Unterbau .................................................................... 363
5. Glanz und Elend der Übersetzungen ...................................... 168 22. Das Charakterbild des Alchemisten ......................................... 365
6. Der Prinz und der M ö n c h .......................................................... 169 23. Die heilige D reifa ltig k eit................................................................. 370
7. Khalid und das Selbstverständnis der arabischen Alchemie . 172 24. Ars oder S cien tia ?......................................................................... 37^
8. Das A l in der Alchemie ............................................................. 175 25. Alchemisten und andere Feinde der Gesellschaft ..................... 382
9. Bagdad und die Träume der Ism a iliy a ...................................... 178 26. Das Bild in der Alchemie .............................................................. 390
10. Gabirs alchemische T h e o r i e ........................................................ 181 27. Kunst und Alchemie .......................................................................403
11. Ein Abenteuer in K onstantinopel............................................... 191
12. Gabirs Laborpraxis ...................................................................... 194
IV. In der neuen Welt Europas
13. Gabirs Philosophie ...................................................................... 196
14. Zwei Tafeln .................................................................................. 202
1. Neuzeit und Hermetismus ........................................................... 416
15. Die lauteren B r ü d e r ...................................................................... 208
2. Die Kabbala ......................................................................................4^3
16. A r - R a z i ........................................................................................... 211
3. Die H eilsgesch ich te.......................................................................... 4^9
17. Die Schatten der Alchemie ........................................................ 221 4. Zeit und Alcheirüe ..........................................................................437
18. Der Weg der Weisen ................................................................... 225
5. Paracelsus .........................................................................................44^
19. Die äußerliche Alchemie und der Hund des Wei Boyang . . 229 6. Die R o sen k reu zer.............................................................................451
20. Asketen und A lc h e m is te n .......................................................... 239
7. Alchemisten und latrochemiker ...................................................458
21. Eine Vollversammlung der P h ilosoph en ................................... 246 8. Adept und Nichtadept: Van Helmont ..........................................468
22. Die Zunft der dunklen Ehrenmänner ...................................... 251
9. Erfahrung und Experiment ........................................................... 473
10. Ein Astronom: B r a h e ....................................................................... 478
11. ... und ein Himmelsphysiker: Newton .......................................479
III. In Klöstern und andernorts
12. Betrüger ........................................................................................... 489
13. ... und Chemiker .............................................................................498
1. Das Frühmittelalter: Byzanz und Europa ................................ 254
14. Goethe und das Fräulein von Klettenberg ............................. 504
2. Chemisch-technische Schriften .................................................. 255
15. Ein verwirrter S t u d e n t ................................................................ 509
3. Brücken zum H ochm ittelalter..................................................... 258
16. Die Suche nach dem <Selbst> ..................................................... 512
4. Noch einmal: Übersetzungen ..................................................... 262
17. Drei Fragen an die analytische Psychologie .......................... 516
5. Das Ambiente lateinischer A lc h e m ie ......................................... 268
18. Chemie und Alchemie ................................................................ 526
6. Albertus Magnus ......................................................................... 270
19. Rätsel und Geheimnis ................................................................ 532
7. Thomas von A q u i n ...................................................................... 272
20. Alchemie als Romantik, Romantik als A lc h e m ie ..................... 540
8. Roger Bacon ......................................................................................280
9. Amaldus von Villanova ............................................................. 282 Notwendiges N a c h w o r t...................................................................... 547
10. Raimundus Lullus ...................................................................... 286 Anmerkungen ..................................................................................... 549
11. Johannes von Rupescissa .......................................................... 290 A b k ü rzu n g e n ........................................................................................ 582
12. Ein mittelalterliches L a b o r .......................................................... 296 Literaturverzeichnis ............................................................................ 583
13. Chemische Operationen ............................................................. 300 Namenregister ..................................................................................... 587
14. Neue alchemische Substanzen .................................................. 307 S a ch reg ister........................................................................................... 59^
N im b in Gottes N am en dasselbige Ding,
w elches nicht vollkom m en ist:
dann auß einem vollkom m enen kann
nichts werden.

(Opus m ulierum et ludus puerorum. Eis 64)

Vorwort

Besser als Nachwort zu lesen, wenn ich den vielen berechtigten Einwän­
den gegen den Stil, den Inhalt und gegen die Art der Literaturangaben
mit Blick auf das Ganze des Buches begegnen kann.
Hier aber möchte ich schon die Gelegenheit ergreifen, all denen zu
danken, die mir indirekt und direkt bei der Abfassung des Buches ge­
holfen haben. Das sind nicht wenige, zu viele für eine noch sinnvolle
Dankesliste. Die Liste aber zu kürzen, würde mir zu schwer fallen. So
soll es beim <A11 denen .. .> bleiben. Ausdrücklich möchte ich Herrn
Dr. Wieckenberg und Herrn Dr. Meyer für ihr Interesse und für die
Betreuung des Manuskipts danken.
I. Im Schatten der Pyramiden

I. A uf der Suche

«Quid est alchymia?» - «Was ist die Alchemie?» Das ist eine Frage, die
schon deshalb, weil sie zahllos viele Antworten herausfordert, keine
völlig befriedigende Antwort verspricht. Keine von ihnen vermag alles
zu sagen; keine erlaubt auch nur Vermutungen darüber, wie alles zu
sagen wäre.
Wenn wir die Alchemie, um ein in der alchemischen Literatur zuwei­
len verwandtes Bild zu benutzen, als einen Heiligen Bezirk ansehen, so
können alle unsere Antworten diesen Bezirk nur durchstreifen. Niemals
bieten sie uns einen Ausblick, der das Gebiet bis hin zu seinen äußersten
Grenzen umfassen würde. Wir können die Alchemie also im wahrsten
Sinne des Wortes nicht definieren. Und das liegt nicht etwa an unserem
Unvermögen, bis zu ihren Grenzen vorzustoßen, es liegt an der einge­
borenen Grenzenlosigkeit der Alchemie. Ganz wie der Mensch selber
ist die Alchenrde zwar ein Etwas für sich, eine lebendige Einheit, aber
eine Einheit, die sich jeder Grenze, jeder allessagenden Definition ent­
zieht. - Das heißt nun nicht, dass uns jeder Zugang zur Alchemie ver­
wehrt ist, doch sollten wir, wenn wir in ihr Reich eintreten, dies tun mit
dem Wissen darum, dass wir nicht alles, was wir sehen, nicht alles, was
wir erleben werden, wirklich erfassen können. Die Alchemie bietet sich
nämlich, um im Bild zu bleiben, dar als ein komplexer Tempelbezirk,
an dem über Jahrhunderte unzählbar viele Baumeister gearbeitet haben,
genau wie dies übrigens bei den altägyptischen Tempelbezirken der Fall
ist, die keine von einem einzigen Architekten vorgegebene, ästhetische
Idee verwirkhchen, sondern das Ganze der Welt in seinem stetigen,
organischen Leben und Wachsen. Wie die Großtempel sind auch die
Kembereiche der Alchemie von Dutzenden von Nebenbauwerken um­
geben. Im Bezirk der Alchemie gibt es Gebäude, die ekstatisch verwin­
kelt sind, doch gibt es auch solche, die durchaus nüchtern-gradlinig
wirken; da gibt es Gebäude, die profane Aufgaben zu haben scheinen,
da gibt es aber auch eindeutig sakrale Gebäude, die im purpurfarbenen
Dunkel die verschleierte Göttin der Weisheit beherbergen. Im Übrigen
ist der Tempel unserer Alchemie nicht etwa menschenleer. Wir sehen
Frauen und Männer in den verschiedensten Trachten, griechischen, ara­
bischen, indischen, chinesischen und auch mittelalterlichen Menschen,
die in den verschiedensten Sprachen durcheinander- und vielleicht auch
I. Im Schatten der Pyramiden Paläste, Tempel und ein Museum: Alexandria 13

aneinander vorbeireden, Menschen, an deren Gesichtern wir alle Ge­


mütszustände ablesen können, von wilder Verzweiflung bis zu gelasse­ 2. Paläste, Tempel und ein Museum: Alexandria
ner Heiterkeit, Menschen, deren Reden wir allesamt nicht oder zunächst
nicht verstehen können. Beginnen wir also unsere Wanderung, und zwar durch das Tor, das
Was nun sollen wir angesichts dieses so faszinierenden wie unüber­ <Alexandria> heißt, und tun wir dabei so, als besuchten wir diese Perle
sichtlichen Panoramas tun? - Am besten, wir ziehen uns zunächst auf des Nildeltas während der Regierungszeit des Kaisers Diocletian, des­
ein Vorverständnis von Alchemie zurück und besinnen uns dann dar­ sen Name übrigens nicht nur nüt einer Reichsreform und einer Chris­
auf, warum wir eigentlich in den Tempelbezirk eingetreten sind, sprich; tenverfolgung verknüpft ist, sondern auch mit einem Dekret gegen die
warum wir uns überhaupt für die Alchemie interessieren und was wir Fälschung von Edelmetallen. Unsere Reise findet also irgendwann zw i­
uns von ihr erhoffen. schen 284 und 305 n. Chr. statt. Wir sind nach Alexandria gekommen,
Lassen wir also unser irgendwie vorgebildetes Gefühl sprechen und um dort eine Alchemistenwerkstatt zu besuchen, denn von irgendwo­
bezeichnen die Alchemie als «die Kunst, gewisse Materialien zu höhe­ her haben wir gehört, dass dort die Kunst geübt wird, <das Unedle
rem Sein zu veredeln, und zwar derart, dass mit der Manipulation der systematisch zu veredeln>, wobei auch von Gold und anderen, geheim­
Materie auch der um ihr Geheimnis ringende Mensch in einen höheren nisvolleren Dingen die Rede war.
Seinszustand versetzt wird». Übrigens hatte Alexandria wohl kein Monopol auf die früheste A l­
Diese Vorabdefinition, so harmlos sie klingt, ist nicht unproblema­ chemie. Es könnte durchaus sein, dass auch in anderen Stätten des Na­
tisch. Denn was heißt hier Kunst, was veredeln, was Geheimnis? Dazu hen Ostens, so in Harran in Syrisch-Mesopotamien oder in Palästina, in
kommen die üblichen hermeneutischen Schwierigkeiten, denn unsere dieser frühen Zeit schon Künste geübt wurden, die man als alchemisch
Definition sollte doch gewissermaßen eine Quersumme sein von Einzel­ bezeichnen kann. Zudem gab es seit Beginn der alchemischen Tradition
beobachtungen, die erst noch gemacht und interpretiert werden müs­ Leute, die behaupteten, die Alchemie stamme direkt oder indirekt aus
sen. Das aber gelingt nur, wenn wir unsere Beobachtimgen im Lichte Persien. Bei allem aber ist sicher, dass Alexandria das wichtigste Zen­
eines Vorverständnisses anstellen, was eigentlich unzulässig ist. trum der antiken Alchemie gewesen ist.
Nehmen wir also, beflügelt von den noch zu erwartenden Überra­ Schon bei unserer Ankunft im Hafen fühlen wir uns lebhaft an New
schungen, die Laterne auf und durchwandern den Heiligen Bezirk wie­ York erinnert, denn was den New Yorkem die Freiheitsstatue, das ist
der imd wieder, um das Einzelne der Alchemie aus dem besser begrif­ den Alexandrinern ihr berühmter Leuchtturm, der Pharos. Und auch
fenen Ganzen zu verstehen und das Ganze aus dem Einzelnen. So imd die Innenstadt besitzt Ähnlichkeit mit New York. Wie New York ist
nur so können wir hoffen, Antwort zu finden auf die Fragen, die unsere Alexandria schachbrettföimig gebaut, und wie N ew York ist Alexandria
neugierigen Blicke gelenkt haben: ein Schmelztiegel der Völker, ein Schmelztiegel, der längst nicht alles
Warum wurde im alchemischen Prozess ein Unternehmen, das doch einschmilzt. Drei Völkertypen dominieren in Alexandria, und zwar die
offensichtlich immer wieder im Fehlschlag endete, trotz allem über Römer, die eingeborenen Ägypter und die Nachkommen der griechi­
Hunderte von Jahren unzählige Male wiederholt, und dabei in völlig schen Einwanderer, die sich nach Jahrhunderten im Lande am Nil eben­
unterschiedlichen Kulturbereichen? Kurz gesagt; Warum war die Alche­ falls als Ägypter, wenn auch als hellenische Ägypter fühlen. Natürlich
mie so zählebig? Ferner: Wenn sie denn so zählebig war, warum ist sie hat sich in den mehr als zwanzig Generationen seit dem Zug Alexan­
dann doch gestorben? ders des Großen auch eine Zwischenschicht ägyptisch-griechischer
Hier eine prinzipielle Erfolglosigkeit der Alchemie als naheliegende Mischbevölkerung herausgebildet. Daneben gibt es Kolonien von Per­
Antwort anzubieten, reicht offenbar nicht aus. Es muss andere Antwor­ sern und Syrern, die ebenfalls oft schon seit Generationen, nämlich seit
ten geben, vielleicht auch Antworten auf eine andere, etwas differen­ der Perserherrschaft über Ägypten, im Lande sind. Die ehemals sehr
ziertere Frage: Warum konnte die moderne Chemie die Alchemie ver­ bedeutende Gemeinde der Juden dagegen, die einst die Mehrheit der
drängen, was also unterscheidet die Alchemie von ihrer erfolgreicheren Bevölkerung in zwei der fünf Stadtteile Alexandrias gestellt hatten, ist
Rivalin? nach dem Jüdischen Aufstand um 70 n. Chr. auf kümmerliche Reste
zusammengeschrumpft.
Neben dem bekanntlich zu Zeiten Caesars und der schönen Kleopa-
tra teilweise ausgebrannten Königspalast weisen zwei Gebäudekomple­
M I. Im Schatten der Pyramiden Paläste, Tempel und ein Museum: Alexandria

xe in Alexandria zurück auf die große Zeit der griechischen Herrscher­ hochpolitischen Traum. Einem vielleicht später entstandenen Staatsmy­
familie der Ptolemäer (306-31 v. Chr.): das Museion mit seiner Biblio­ thos zufolge träumte Ptolemaios, der Gott Pluton gebe ihm den Befehl,
thek für 700000 Buchrollen und das Serapeion, das als Haupttempel des seinen Kultus aus dem griechischen Sinope nach Ägypten zu versetzen,
griechisch-ägyptischen Reichsgottes Serapis Mittelpunkt des Staatskul­ weil er, der Gott, aus Ägypten stamme. Eine verborgene kulturelle Ein­
tes war. Die beim Königspalast gelegenen, zum Zeitpunkt unserer Wan­ heit Griechenlands und Ägyptens wurde damit einfach vorausgesetzt.
derung noch frischen Ruinen des Museion allerdings zeigen, dass die Ausdruck dieser Einheit war Pluton, der nun auch Eigenschaften von
Zeit der Größe unwiederbringlich vorbei ist, im Zeichen einer galoppie­ Zeus sowie von Dionysos und Asklepios und darüber hinaus Züge der
renden Inflation im ganzen Römischen Reich übrigens auch wirtschaft­ ägyptischen Götter Osiris imd Ptah aimahm. Als Osiris war der neue
lich. Bei Unruhen kurz vor Regierungsantritt des Diocletian ist das Mu­ Gott mit dem Kult des Apis-Stiers verbunden und galt als Gemahl der
seion endgültig zerstört worden und mit ihm eine Hochburg griechi­ Isis; als Ptah war er Weltenschöpfer und Erneuerer der Welt. Unter dem
scher Wissenschaft, die als eine Art <Institute of Advanced Study> 500 Namen Serapis, d. h. Osiris-Apis, wurde der so vereinte Gott, der in
Jahre lang bestanden hatte. menschlicher Gestalt und mit einem Getreidegefäß als Zeichen der
Der Gründer des Museion, Ptolemaios I. Soter, war es auch, der den Fruchtbarkeit auf dem Haupt dargestellt wurde, zum Reichsgott Ä gyp­
Grundstein zum Serapeion gelegt hat. Jetzt, Ende des 3. Jahrhimderts, tens.
ist es noch unversehrt und mit ihm eine Bibliothek klassisch-griechi­ Eine Vereinigung verschiedener Aspekte verschiedener Götter, wie
scher Texte mit etwa 200000 Schriftrollen. ^ Für ims hat das Serapeion wir sie in der Gestalt des Serapis erleben, wirkte übrigens nicht so
eine besondere Bedeutung als Symbol für den Versuch des ersten Pto­ künstlich wie sie heute erscheinen mag. Bis zur endgültigen Aufhebung
lemäer-Pharaos, eines der Hauptprobleme der griechischen Herrschaft aller nichtchristlichen Kulte im Jahre 392 n. Chr. nämlich war der Syn­
in Ägypten zu lösen, ein Problem im Übrigen, dass sich auch anderen kretismus, also eine Vermischung einander eigentlich fremder religiöser
Herrschern in der Nachfolge Alexanders stellte; das Problem des Zu­ Ansichten, gerade im Hellenismus gang und gäbe. Und auch die Alche­
sammenlebens verschiedener Kulturvölker mit verschiedenen Traditio­ mie zeigt zumindest in ihren Anfängen eine Tendenz zur Verschmel­
nen im selben Lande. zung unterschiedlicher Bestrebungen, unterschiedlicher Vorstellungs­
Wie in fast allen Nachfolgestaaten des Alexander-Reiches befanden welten, unterschiedlicher Geistessysteme. Bei einer derartigen Neigimg
sich die Griechen im Ptolemäer-Reich in der Minderzahl. Dennoch war zum Synkretismus fand es wohl niemand merkwürdig oder gar gottes­
die Diplomaten- und Verwaltungssprache in all diesen Staaten Grie­ lästerlich, dass die Ptolemäer ihren Gott quasi synthetisierten und dass
chisch, und die Diadochen, die Erben Alexanders, und ihre Klientel sie diesem nachgerade erfundenen Gott einen gewaltigen Tempel errich­
fühlten sich noch Generationen nach dem Tode des Eroberers einer ge­ teten, eben das Serapeion.
meinsamen Kultur zugehörig. Auch als große Bevölkerungsgruppen Für uns, die wir den Anfängen der Alchemie nachspüren, ist das
das Griechische übernahmen, diente diese Sprache im Laufe der Jahr­ Serapeion steingewordener Beweis für die Behauptung, dass es Berüh­
hunderte überraschenderweise zur Stützung der lokalen Kulte und Tra­ rungszonen gab, in denen die Religion imd Philosophie der Griechen
ditionen, weil die lokalen Götter in den internationalen Pantheon des sich mit der Religion und Tempelkunst der Ägypter trafen. Nur auf
Hellenismus übersetzt werden konnten. Wir reden zu Recht von Helle­ solchen Berührungsfeldem aber konnte ein Konglomerat entstehen, das
nismus und nicht von Griechentum, unterscheidet er sich doch von der im klassischen Griecherüand noch undenkbar gewesen wäre: die Ver­
klassisch-griechischen Kultur in zwei Hinsichten: Der Hellenismus ist bindung bestimmter Naturphilosophien, wie sie im Museion gepflegt
kosmopolitisch, und er ist vielfältig beeinflusst von den Hochkulturen, wurden, mit religiös eingebundenen Handwerken, wie sie in den Werk­
die er überlagert hat. stätten ägyptischer Tempel betrieben wurden.
In Ägypten wie in anderen Diadochenstaaten hatte die Regierung die Für den Zusammenhalt dieser Verbindung schienen aber mindestens
schwierige Aufgabe zu bewältigen, die Spannungen zwischen zwei kul­ zwei weitere Komponenten notwendig gewesen zu sein, nämlich zum
turellen Kraftfeldern gleicher Stärke möglichst zu neutralisieren. Bereits einen bestimmte religiöse und philosophische Auffassungen, die erst in
Soter machte sich energisch an die Lösung dieses Problems, und er hat der späten Antike aufkamen,^ zum anderen medizinische Kenntnisse.
damit ungewollt einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der hellenisti­ Neben den Fachgelehrten vom Typ der Museion-Professoren und der
schen Alchemie geleistet. Dieser Beitrag bestand nicht nur in der Grün­ Gemeinschaft der ägyptischen Handwerker und Priester gab es nämlich
dung des Museion, er bestand auch in einem Traum, zudem einem einen weiteren Berufsstand, der einen erheblichen, wenn auch indirek­
i6 I. Im Schatten der Pyramiden Ein Alchemistenlabor 17

ten Einfluss auf die Denkweise und das Wissen der frühen Alchemie
ausgeübt hat. Das waren die Ärzte oder besser der Teil der Ärzte, der
sich auch mit Pharmakologie befasste. Und gerade die ägyptische, von
Priestern betriebene Medizin galt bei den Griechen als hochstehend,
was wohl auch aus heutiger Sicht stimmt, weim man die Anatomie und
Chirurgie einmal ausnimmt.^ Dennoch: Die Medizin, die auf die Alche­
mie eingewirkt hat, scheint im Wesentlichen griechischer Herkunft ge­
wesen zu sein. Man erkennt das an bestimmten Rezepten, die sowohl
in alchemischen Schriften als auch in griechisch-medizinischen Texten
verzeichnet sind. Und auch eine scheinbar typisch alchemische Behand­
lungsweise der Metalle, nämlich die Calcination, heute würden wir sa­
gen die Oxidation, wurzelt in der griechischen präparativen Pharmako­
logie. Die Ärzte wollten ihre metallischen Drogen auf diese Weise ver­
daulicher, und das bedeutete auch, unkörperlicher machen, und der
Prozess der Verdauung, der Fermentation oder Putrefaktion, spielte
auch in der Alchemie eine bedeutende Rolle.

j . Ein Alchemistenlabor

Bevor wir nun Genaueres über alchemische Operationen zu erfahren


versuchen, sollten wir uns zunächst ein Alchemistenlabor ansehen. Das
geht natürlich nur in Begleitung eines unsichtbaren <Dr. Plausibeb, der
<Der Alchem ish von Adriaen van Ostade (i6io~ i68 ^ ); National Gallery, London
immer dann auftaucht, wenn uns ein resignierter Seufzer auf den Lip­
pen liegt. Der Herr Plausibel muss uns fehlende archäologische imd
archäometrische Hinweise ersetzen, denn ein antikes Alchemistenlabor trägt. Gemeint ist die Phiole, mit deren Hilfe sich immerhin kein gerin­
ist bisher noch nirgends ausgegraben worden. Und gewiss führt er uns gerer als der Alchymicus Faust von seiner professoralen Unwissenheit
in den offenen Hof eines ägyptischen Hauses, der auch als Küche hätte befreien wollte.
dienen können. Gewiss auch öffnet sich die Bibliothek, die unabdingbar
zum Labor gehörte, auf diesen Hof hin. Wir können versuchsweise an­ «Ich grüße dich du einzige Phiole,
nehmen, dass unser Alchemist, sei er nun Anfänger oder Adept, d. h. die ich mit Andacht nun herunterhole»
einer der adeptus est, der also die Weisheit erlangt hat, kein bloßer Hand­ ((Faust (1) Vers 690 f.) Goe. V, 48),
werker war, sondern entweder Priester oder Arzt oder Pädagoge, und lässt Goethe ihn bekanntlich sagen, was etwa so tragisch klingt, als hätte
für diese Leute gehörte es sich einfach, eine gewisse Büdung vorweisen nicht unser Dichterfürst, sondern sein Kollege Wilhelm Busch es dem
zu können. Herrn Professor in den Mund gelegt.
Aber Bildung allein reichte nicht, Geld musste auch da sein; Alchemie Anscheinend stammt das Wort Phiole von dem Wort phiale, d. h. Kup­
zu treiben, war ein teures Vergnügen. Das kann man schon an den al­ pel. Tatsächlich ist die Phiole nichts als eine kuppelförmige, bauchige
chemischen Geräten und Gefäßen ablesen, die zum Teil aus Glas waren, Flasche mit langem Hals, und genau deshalb ist sie als <hermetisches
und für Glas musste man eine Menge berappen. Daneben gab es natür­ Gefäß> mit dem göttlichen Urvater der Alchemie, mit Hermes Trisme-
lich auch Gefäße und Geräte aus Ton und in seltenen Fällen aus Metall. gistos, verbunden. Die bauchige Form der Phiole stellt die geordnete
Einige dieser Gefäße und Geräte verdienen eine eingehendere Be­ und ordnende Welt, also den Kosmos dar, oder besser: Die Phiole kann
trachtung, z. B. ein Gefäß, das unter den üblichen Schalen, Flaschen und der Kosmos sein, und zwar als ein Mikrokosmos, als eine Welt im Klei­
Bechern kaum auffällt und doch einen bedeutungsschweren Namen nen. Die Phiole kann auch für das Weltenei stehen, in dem alles Leben
i8 I. Im Schatten der Pyramiden Ein Alchemistenlabor 19

sich entwickelt. Und auch der lange Hals der Phiole hat eine über die zu destillierende Gut gegeben wurde. A uf den Topf wurde ein Rohr
Laborpraxis hinausgehende Bedeutung. Er kann dazu dienen, den sym­ mit einer lichten Weite von etwa einer Handbreite angebracht, dies
bolischen Kosmos hermetisch abzuschließen und damit zu einer wirk­ sicher, um zu verhindern, dass Destilliergut in die Vorlage gerissen
lich eigenen Welt zu machen; das geschieht schlicht dann, wenn man wurde. Das Rohr trug einen - ebenfalls angekitteten - Kopf oder Helm
ihn zuschmilzt. aus Kupfer, Chalkeion, Ambix oder seltener Ambikos genannt. Im Falle
Die kleine Glasflasche ist es also wirklich wert, angeschaut zu werden, des Tribikos - Tri-ßzfcos, <Drei-Krug> - gingen vom Helm drei Schnäbel
steht sie doch beispielhaft nicht nur für hermetische Wissenschaften und aus, die in drei Vorlagen endeten, die Rhogia aber auch Phialai genannt
Künste, sondern vor allem für alchemisches Denken und Handeln, auch wurden.^ Es gab übrigens auch erhebliche Variationen des Grundsche­
im Labor. Immer ist letzteres Uneingeweihten verschlossen, ünmer ist es mas Destillierkolben-Helm-Vorlage. Möglicherweise kannten die grie­
vielschichtig, immer hochsymbolisch. Ein Problemkind aus einer späte­ chischen Alchemisten schon den so genarmten Türkenkopf-Apparat,
ren Zeit der Alchemie kann uns das demonstrieren: der Alkahest, jenes bei dem der Destillationshelm ständig in eine Wanne mit Kühlwasser
Universallösungsmittel, das Alchemisten in Arabien und Europa angeb­ eingetaucht war.^
lich herstellen konnten. Aufgeklärte Geister kamen natürlich schnell da­ Sicher aber waren der Destillation der Alchemisten Grenzen gesetzt,
hinter, dass ein Alkahest eine contradictio in adiecto, ein Selbstwiderspruch die nicht nur darin bestanden, dass man keine Schliffverbindungen be­
ist, müsste doch ein Universallösungsmittel, wenn es wirklich universal saß, sondern als Dichtungsmittel Lehm verwenden musste, der etwas
wäre, auch die Wände jedes Gefäßes auffressen. Das aber zeigt nur, dass hochtrabend <philosophischer Kitt>, Lutum philosophorum, genannt wur­
wir, die wir Erben der Aufklärung sind, in einer gläsernen Welt leben, in de. Leichtsiedende Flüssigkeiten wie Alkohol konnten nicht destilliert
der wir alles durchschauen und nichts mehr sehen. Für einen echten werden und blieben deshalb unbekannt. Und weil man kaum zonen­
Alchemisten nämlich war die Phiole nicht nur ein Glasgefäß, sondern sie weise erhitzen und kühlen konnte, war auch die Destillation hoch sie­
war eben auch der Kosmos. Und es gibt nichts, das die alles umhüllende dender Substanzen vor allem dann schwierig, wenn diese leicht erstarr­
achte Sphäre des Kosmos zerstören könnte. So betrachtet hat die kleine ten und die Rohre verstopften.
Glasflasche unseren Respekt doch wohl verdient, auch wenn wir die Nicht nur destillieren, auch sublimieren konnte man bereits. Im sim­
selbstmörderischen Sehnsüchte des Dr. Faust nicht teilen. pelsten Fall stülpte man dazu einfach zwei Bikoi Rand auf Rand auf­
Mit gleichem Respekt sollten wir uns auch die anderen Gegenstände einander, wobei der obere Bikos mit einem kleinen Loch zum Ableiten
im Labor unseres Alchemisten ansehen, wie sie zumeist in den Trakta­ von Dampf versehen war. Außerdem empfahl Zosimos die Verwendung
ten des <göttlichen Zosimos>, eines Alchemisten aus dem 3.74. Jahrhun­ schlange^örmiger Röhren als Auffanggefäß, wobei er als Sublimate ne­
dert, beschrieben sind. Zunächst fällt uns dabei ein Apparat auf, der, so ben dem Schwefel auch das Quecksilber nennt, das wir, weil es flüssig
wird behauptet, im unteren Teil, dem Leib, weiblich und im oberen Teil, ist, nicht unter die sublimierbaren Substanzen rechnen würden. An der
dem Kopf, männlich ist. Unserem profanen Blick erscheint der merk­ großen Oberfläche der Röhren könne, so sagt Zosimos, das Sublimat^
würdige Zwitter zwar nur wie ein <üblicher> Destillationsapparat, aber sich besser absetzen, was sicher zutreffend ist.
das ist schon überraschend genug, denn Destillationsapparate waren Neben den auch heute noch üblichen Geräten gibt es in unserem
durchaus nicht üblich. Unsere wichtigsten Gewährsleute für die Zeit um Labor noch einen weiteren Apparat, der der Sublimation vor allem klei­
Christi Geburt, nämlich Plinius in seiner <Historia naturalis> (Hist. Nat. ner Substanzmengen diente. Eine bestimmte griechische Maltechnik,
XV, 31) und der Arzt und Pharmakologe EHoskorides in seiner <Materia die Enkaustik - die Wachsmalerei - gab ihm den Namen: Kerotakis. So
medica> (Mat. Med. I, 205, und V, iio), erwähnen bestenfalls primitive wurde ursprünglich die recht- oder dreieckige Palette genannt, auf der
Vorformen von Destillationsapparaten, bei denen Dämpfe in einem über Wachs, Keros, mit Farbe verrührt wurde. Das gefärbte, also tingierte
den Topf gestülpten, flaschenförmigen Gefäß oder in einem Tuch bzw. Wachs wurde dann warm in eine Unterlage gerieben, z. B. in Marmor.
Woll-Vlies kondensiert wurden."^ Tatsächlich: Die griechischen Statuen und Marmorfriese waren nicht so
Ende des 3. Jahrhunderts aber beschreibt Zosimos einen so genann­ weiß, wie unsere Weimarer Klassiker es gern hätten, sie waren gefärbt,
ten Tribikos, der alle Merkmale eines ausgereiften Destillationsappara­ oft sogar in einer Art, die wir für kitschig halten würden.
tes enthält, nämlich einen Destillierkolben mit aufgesetztem Rohr, ei­ Die Palette, die für die lebensechte Färbung der Marmorgötter sorgte,
nen Helm mit Schnabel bzw. Schnäbeln und Rezipienten. Als Destil­ war auch Bestandteil des Apparats, dem sie ihren Namen gab. Sie wur­
lierkolben verwandte man meist einen Keramiktopf, Lopas, in den das de verwandt, um auf ihr Metalle nüt entsprechenden Reagenzien rea­
I. Im Schatten der Pyramiden Ein Alchemistenlabor

gieren zu lassen. Bei flüchtigen oder giftigen Substanzen setzte man den man vor allem Werg und wahrscheinlich auch Tücher sowie ungebrann­
Kerotakis in einen geschlossenen Zylinder, der von außen erhitzt wer­ te Tonscherben und vielleicht hier und da den teuren Papyrus.
den konnte. Im oberen Teil befand sich die Palette mit Flittern des um­ Basis all dieser Apparate, Geräte und Materialien - und dies im ge­
zusetzenden Metalls. Die zu verdampfende Substanz befand sich am nauen Sinne des Wortes - waren die Wärmebäder und die Öfen. Die
Boden des Gefäßes, und über ihr sorgte ein Keramik-Rost dafür, dass große Zahl der Öfen im Alchemistenlabor deutet hin auf zwei Schwie­
umgesetzte Substanzen nicht in das Reagenz gerieten. Im unteren Teil rigkeiten, die bis in die Frühe Neuzeit nicht gelöst werden konnten.
des Zylinders, getrennt vom Reaktionsraum, befand sich ein Holzkoh­ Zum einen war eine Regelung der Temperatur am Ofen nicht möglich.
lenofen für die Befeuerung des Apparates. Zum anderen war es unmöglich, die Temperatur, weim man sie schon
Weil beim Erhitzen die dampfförmig aufsteigenden Substanzen oft in nicht regeln konnte, wenigstens zu messen. Eine wichtige Forderung an
Gestalt von Hüssigkeiten oder Schmelzen vom Oberteil des Rohres wie­ alchemische Wärmequellen aber war die nach einer konstanten und oft
der herabtropften, nannte man den Apparat und zugleich das Verfahren auch niedrigen Temperatur. Alchemische Vorgänge wurden nämlich
auch Karkinos, d. h. Krebs. Auch den Ourohoros, die Schlange, die sich häufig quasi biochemisch gedacht und erforderten mäßige Temperatu­
in den eigenen Schwanz beißt und zu den wichtigsten Symbolen der ren über lange Zeiträume.
Alchemie zählt, brachte man mit dem Kerotakis in Verbindung. Schließ­ Wenn es um leichtes Erwärmen ging, verwandte man Sand-, Wasser-
lich wurde der Apparat bezeichnenderweise <Ei der Philosophen> ge­ sowie Aschebäder oder auch Behälter mit Dünger, meist Pferdemist, der
nannt,^ wurde doch in ihm das Mysterium ausgebrütet. Aus diesem beim Gären Temperaturen um 60° C erreicht. Eine der wichtigsten Wär­
Grunde wahrscheinlich gibt es in den Manuskripten auch Ausführun­ mequellen, vor allem immer dann, wenn es um schonendes Verdunsten
gen des Kerotakis in Kugel- oder Eiform. ging, war natürlich das Sonnenlicht, das für den Alchemisten auch
Ein Beispiel, es bezieht sich auf die Goldimitation durch Amalgamie­ schon deshalb besondere Qualitäten besaß, weil es ausging von Sol,
rung, möge zeigen, dass der Kerotakis tatsächlich eine <Lücke im Ap- dem Gott des Goldes. Hier, in den Mauern eines alchemischen Labors,
paratebau> ausfüllte. Dreizehnprozentiges Kupferamalgam gilt auch müssen wir also auch mit dem Begriff Wärme vorsichtig sein. Wärme
heute noch als brauchbare Goldimitation. Diese ganz bestimmte Legie­ von 40° C ist nicht immer dieselbe, die kosmische Wärme ist anders als
rung ist aber durch direkte Mischung in der Hitze nicht herzustellen, die animalische Wärme gärenden Mistes, und diese wieder anders als
weil Quecksilber dabei verdampft. Eine Vermengung in der Kälte führt die Wärme der Öllampen, mit denen jedes alchemische Labor ausgerü­
auch nicht zum Ziel, weil dabei ein Gemisch von nicht umgesetztem stet war und die man benutzte, um kleine Substanzmengen zu erhitzen.
Kupfer und einem silbern und nicht golden aussehenden Kupferamal­ Für höhere Temperaturen reichten Lampen nicht aus; man musste Öfen
gam entsteht, das mehr als 13% Quecksilber enthält. Man legte also einsetzen, von denen es verschiedene Typen und Größen gab. Unter
Kupferfolien auf den Kerotakis und ließ unten im Apparat Quecksilber anderem besaß ein gut ausgestatteter Adept neben einem gewöhnli­
verdampfen. Das Endprodukt hatte dann die richtige Zusammenset­ chen, gemauerten Herd so etwas wie einen Dauerbrandofen, Pyr auto-
zung und die richtige Farbe. Das Beispiel zeigt, wie planmäßig die frü­ maton genannt, dessen Konstruktion allerdings nicht sicher bekannt ist.
hen Chenüker und Alchemisten handeln konnten, und es zeigt, dass die Für einige Operationen wurden Glasmacheröfen verwandt, bei denen
Leistungen der Chemie manchmal - nicht immer - mit der Entwicklung der Reaktionsraum in den Ofen eingebaut, also völlig vom Heizraum
des Apparatebaus verknüpft sind. Dass diese Leistungen durch naives umgeben ist. Natürlich waren auch Blasebälge in Gebrauch. Als Brenn­
Herumprobieren zustande gekommen waren, reicht zu ihrer Erklärung material für seine Wärmequellen benutzte der Alchemist Holzkohle
sicher nicht aus. Wir werden noch sehen, wie viel Theorie hinter den und, so er hatte, Öl, Wachs, Pech oder, wie gesagt, Viehdung.
Destillationen imd Sublimationen der Alchemisten stand. Damit haben wir alles Wesentliche beisammen, um nun unseren A l­
Aber schauen wir uns zunächst weiter in unserem Alchemistenlabor chemisten in seinem Labor im Hofe seines Hauses laborieren zu lassen.
um. Außer all den üblicherweise zu erwartenden Bechern, Schalen, Es fehlen nur noch die Substanzen, mit denen er nach unserem Willen
Mörsern, Flaschen und Krügen mit oder ohne Inhalt, die wir uns samt zu hantieren hätte.
Rührstäben, Messern, Löffeln und Nadeln mehr oder weniger ordent­ Mit den Substanzen haben wir es in manchem unüberwindlich
lich verteilt auf Regalen und Bänken vorstellen können, finden wir di­ schwer. Die schriftlichen Quellen sind hier oft nicht nur unvollständig,
verse Trichter, die darauf hindeuten, dass nicht nur destilliert und sub­ sondern gewollt oder ungewollt auch undeutlich. Und selbst wenn wir
limiert, sondern auch eifrig filtriert wurde. Als Filtermaterial benutzte eine Substanz richtig identifiziert haben, wissen wir meist nichts über
I. Im Schatten der Pyramiden Ein Alchemistenlabor 23

ihren Reinheitsgrad und über die Art ihrer Beimischungen. Allerdings allem, wenn sie aus einem imgemischten Erz erschmolzen werden
wurden die wichtigsten in der <Göttlichen Kunst> verwandten Substan­ konnte, als ein eigenständiges Metall an, oder man glaubte, Legierun­
zen immer wieder beschrieben, und so können wir uns oft doch immer­ gen seien Veränderungen gewisser Metalle durch Zusätze, die während
hin einen educated guess leisten. des Hüttenprozesses unter Hinterlassung hoffentlich nützlicher Eigen­
Ganz allgemein kann man sagen, dass die Gesamtheit aller bekannten schaften restlos im Basismetall verschwänden. Für die Behauptung,
Substanzen von den griechisch-ägyptischen Alchemisten in drei Haupt­ dass Substanzen regelrecht verschwinden könnten, durfte man sich so­
gruppen geschieden wurde. Das sind die Somata, die Pneumata und die gar auf eine naturphilosophische Top-Adresse berufen. Kein geringerer
Asomata, was wörtlich übersetzt bedeutet: die Körper, die Lüfte oder als Aristoteles hat nämlich die Meinung vertreten, dass wenig Wein sich
Geister und die Nichtkörper. in viel Wasser zu Wasser verwandle, ziehe doch die größte Menge die
Zu den wahren Körpern gehörten alle damals bekannten Metalle und kleinere in ihre Seinsform. In Hinblick auf die Frage: «Als was wurden
- wie wir heute wissen - auch gewisse Metalllegierungen. Es wurden Legierungen angesehen?», kam es also nicht auf die Tatsache einer Zu­
immer sieben Hauptmetalle angegeben, und es mussten auch immer legierung schlechthin an, sondern - in einem fließenden Übergang vom
sieben sein. Die Siebenzahl wurde nie bezweifelt, gab es doch kein Me­ einen zum anderen Metall - auf die Menge und auf die spezifischen
tall, das nicht zu einem der sieben in der antiken Astronomie bekannten Qualitäten des zulegierten Materials.
Wandelsterne - einschließlich Sonne und Mond - in kosmischer Bezie­ Was beim Prozess der Legierung herauskam, war etwas anders Ge­
hung stand. In der griechischen Alchemie war Blei traditionell verbun­ machtes, wie denn auch das englische Wort alloy und das französische
den mit dem Saturn, Zinn mit dem Jupiter oder dem Merkur, Elektron alliage auf das griechischen Verb alloioein, d. h. verändern, verwandeln,
- eine Silber-Gold-Legierung - meist mit dem Jupiter, Bronze - eine zurückgeführt werden können. Aber auch, wenn man meinte, nicht nur
Kupfer-Zinn-Legierung - ebenfalls mit dem Jupiter, Eisen anfangs mit etwas <anders Gemachtes>, sondern etwas ganz Neues erschmolzen zu
dem Merkur, später immer mit dem Mars, Kupfer anfangs mit dem haben, sah man das Produkt der Verhüttung nicht wie wir als eine ge­
Mars, später immer mit der Venus, Quecksilber gewöhnlich mit dem wissermaßen gleichberechtigte, gleichwertige Zusammenlagerung ver­
Merkur, Silber immer mit Luna, dem Mond, und Gold immer mit Sol, schiedener, diskreter Metalle an, die in der Legierung ihre Identität be­
der Sonne.^ halten und im Prinzip aus der Legierung wieder ausgezogen werden
Das sind neun und nicht sieben Metalle, und unter ihnen befinden können.
sich sogar zwei Legierungen, doch galten Zinn und Quecksilber zuwei­ Doch damit nicht genug: Es gab Metalle, die unser Alchemist kannte,
len als dasselbe Metall, und häufig wurde Quecksilber, dieser stets wan­ aber nicht er-kannte, beispielsweise das Wismut, das immer für eine Art
delbare Proteus unter den chemischen Grundstoffen, gar nicht als Me­ Blei gehalten wurde. Zinn galt oft als weißes Blei. Und um uns und auch
tall angesehen. schon antiken Lesern das Leben so recht schwer zu machen, wimmelt es
Wir sollten also nicht einfach voraussetzen, dass unser Alchemist nur in der alchemischen Literatur zudem von Allegorien über Dinge und
sieben Gefäße für seine sieben Metalle benutzte. Um halbwegs Ordnung Vorgänge, in denen die Leitbegriffe in uns zunächst ganz und gar unver­
unter seinen Somata zu halten, brauchte er einige Gefäße mehr. Wir ständlicher Weise miteinander verknüpft sind. Was z. B. haben Blei, Was­
müssen uns nämlich alle für uns diskreten Metalle als Familien vorstel­ ser, Zinn, Christus, Quecksilber, schwarze Brühe und Urmaterie mitein­
len mit zuweilen deutlichen Unterschieden zwischen den Familienmit­ ander zu tun? Adepten wie Maria und Olympiodoros, auf die wir beide
gliedern. Das berührt das Poblem der Legierungen, die als solche zu­ noch zurückkommen müssen, werden uns erklären, dass all diese Be­
gleich bekannt und unbekannt waren. Legierungen im Sinne eines zeichnungen im jeweiligen Kontext dasselbe oder fast dasselbe meinen.
Grundmetalls mit veränderten Eigenschaften kannte man sehr wohl, Bei der Interpretation alchemischer Bezeichnungen und Beschreibim-
und auch die Art und Menge der Zusätze, die solche Eigenschaften gen von Metallen kann man also nicht vorsichtig genug sein, und das
hervorrufen, sowie die Methode ihrer Verhüttung waren oft genau be­ gilt auch für die Gruppe der Pneumata, der Hauche oder Geister, die
kannt. So schlug man in Ägypten schon seit dem 3. Jahrtausend dem ihre eminente Bedeutung aus dem allgemeinen Weltbild der Alchemie
Kupfer Kassiterit, also Zinnstein, SnO^, zu, das von weither importiert bezieht. Wenn wir bedenken, dass auch der göttliche Funke, der in uns
werden musste. Bei der Deutung der Legierungen allerdings gab es Menschen verborgen ist, Pneuma genannt wurde, dann wird uns diese
zwei Versionen, wenn sie auch nirgends in der alchemischen Literatur Bedeutung nicht erstaunlich Vorkommen. Zunächst aber soll uns nur
explizit diskutiert worden sind. Entweder man sah die Legierung, vor die Chemie der Pneumata interessieren.
24 I. Im Schatten der Pyramiden Ein Alchemistenlabor 25

Zunächst einmal: Pneumata waren nicht so etwas wie Gase, waren


sie doch - außer in unfassbaren Übergangszuständen - immer mit <gro-
ber> Materie verbunden. Chemisch diskrete Substanzen, die man Gase
hätte nennen können, kannte man bis weit in die Neuzeit nicht. So
bezeichnete die Gruppe der Pneumata durchaus fassliche Körper. Zu­
mindest in der späteren griechisch-ägyptischen Alchemie gehörten zu
ihr zwar nur zwei Hauptsubstanzen, die aber beide Probleme aufgeben.
Die eine dieser Substanzen war das Quecksilber. Als Charakteristi­
kum des Pneuma in dieser hochpneumatischen Substanz galt die Sub-
limier- bzw. Destillierbarkeit. Vor allem seines Metallglanzes und seiner
Schwere wegen wurde Quecksilber aber auch als Metall angesehen.
«Die einen sagen, dass Quecksilber eine mehr dichte Sache ist, die an­
deren, dass es eine mehr pneumatische Sache ist», bemerkt Zosimos
dazu (Berth. (2) 111, 131). Doch als Metall ist Quecksilber etwas recht
Merkwürdiges, denn flüssig, wie es ist, fehlt ihm eine Grundeigenschaft
aller anderen damals bekannten Metalle: die Schmiedbarkeit. Außer­
dem vermag es alle übrigen Metalle zu penetrieren, zu durchdringen.
Die andere der beiden Pneuma-Substanzen war der Schwefel, der ja
sublimierbar ist. Hier liegt unser Problem u. a. bei der Definition dessen,
was als Schwefel zu bezeichnen ist. Oft wurden nämlich auch Arsen­
sulfide und Arsenik, also Arsentrioxid, für Schwefel gehalten oder, vor­
sichtiger ausgedrückt, zur Familie des Schwefels gezählt.
Für beide Pneumata ist wichtig, dass sie färben, heute würden wir
sagen, dass sie farbige Verbindungen einzugehen vermögen.
Unter den Quecksilberverbindungen hatte der rote Zinnober, HgS,
aus zwei Gründen eine ganz besondere Bedeutung: Er ist rot wie Blut
oder wie der Stein der Weisen, und er enthält Schwefel. Ihm gewisser­
maßen benachbart ist das Quecksilber(ll)-Oxid, HgO, das ebenfalls sei­
ne Besonderheiten besitzt: Es ist rot, wenn es kristallin, gelb dagegen,
wenn es amorph vorliegt. Auch eine andere Quecksilberverbindung,
Hg^CÜ, die den Alchemisten wahrscheinlich bekannt war, zeigt ein
merkwürdiges Farbverhalten: Versetzt man Quecksilber(I)-Salzlösung
mit einem löslichen Chlorid, erhält man eine gelblich-weiße Substanz.
Lässt man diese aber im Licht stehen oder übergießt sie mit einem am­
moniakhaltigen <scharfen Wasser>, wird sie <schön-schwarz>, kalos-melas,
Kalomel, als ein Gemisch von Quecksilberchlorid bzw. Quecksilberami-
dochlorid und feinverteiltem metallischem Quecksilber. Weiß wie die Darstellung der Alchemie. Der Doppelbrunnen versinnbildlicht die beiden Wasser, die
beständige Unschuld dagegen ist Quecksilber(Il)-Chlorid, HgCl^, das aus Sulphur (rot) und M ercurius (weiß), den Grundbestandteilen aller Metalle bestehen.
durch Sublimation von Quecksilber(II)-Sulfat und Natriumchlorid ge­ Sie werden vereint durch ein verbindendes Prinzip, den Ritter, der ein Schwert (das
wonnen wird und seinen pneumatischen Charakter schon im Namen geheime Feuer) schwingt. D ie Farben seiner Rüstung (schwarz, weiß, golden und rot)
zu erkennen gibt: Auch heute noch wird es Sublimat genannt. beziehen sich auf das <Große Werk>. D ie sieben Sterne sind die sieben Planeten und
Im Falle des Schwefels ist schon die Ausgangssubstanz selbst farblich sieben Metalle. (Solomon Trismosin: La Toyson d'or, 18. pi., Bibliothecfue Nationale,
interessant. Mehr oder weniger deutlich unterschieden die Alchemisten Paris, M s. franqais 12 29-/, f. 14)
26 1. Im Schatten der Pyramiden Ein Alchemistenlabor 27

drei Schwefelarten, nämlich den gelben Schwefel, das ist unser Element farbgebende Substanzen wie Waid, Krapp, Indigo, Safran, vorbehandel­
Schwefel, ferner den roten Schwefel, der identisch ist mit einer roten, te Produkte wie Wein, Essig, Bier usw. usw. Unter tierischen Substanzen
auch Sandarach genannten Substanz, die aus Schwefelarsen, seien alle möglichen Fette und Öle genannt und außerdem natürlich
As^S^/As^Oj in wechselnden Mengenverhältnissen besteht,*® und Blut, vor allem aber Galle verschiedener Provenienz und last hui not least
schließlich den weißen Schwefel, der eigentlich Arsenik, As^Oj, ist. Un­ Urin.
ter die natürlich vorkommenden Schwefelverbindungen, die ihrerseits Es ist wohl kein Wunder, dass wir vor allem mit der Hauptgruppe
das in den Augen der Alchemisten zur Familie des Schwefels gehörende der Asomata unsere Schwierigkeiten haben. Oft genug sagen ims die
Arsen enthalten, wurden Rauschgelb, As^Sj, und Rauschrot, As^S^, ge­ Etiketten, die unser Adept auf seine mit mehr oder weniger wohlrie­
zählt. Das zitronengelbe, oberhalb 300° C zu einer roten Flüssigkeit chendem und mehr oder weniger farbigem Inhalt gefüllten Krüge und
schmelzende Rauschgelb wurde bezeichnenderweise meist Auripig­ Flaschen geklebt hat, nicht das Geringste. Das heißt, es ist uns nicht
ment, Goldfärbemittel, genannt, kann man mit seiner Hilfe doch tat­ gelungen, gewisse Ausdrücke aus den überlieferten griechischen Texten
sächlich sulfidische Überzüge erzeugen. Das dem Auripigment nahe chemisch zu deuten. In einigen Fällen können wir, wie das Beispiel des
verwandte Rauschrot oder Realgar wurde oft mit Sandarach gleichge­ Bleis zeigt, die gemeinten Substanzen aus dem Kontext der schriftlichen
setzt, was nur zeigt, dass die Substanzgrenzen gerade bei komplizierte­ Überlieferung erraten, aber auch das hat zuweilen etwas Abenteuerli­
ren Verbindungen kaum deutlich gesehen wurden. So ist es auch mit ches an sich.
den so schön farbigen Vitriolen. Oft besteht das Abenteuer nicht nur darin, den gegenseitigen Zusam­
Eine besondere Stellung nahmen Metallverbindungen, also Eisen- menhang von an sich klaren Leitbegriffen zu ermitteln, sondern darin,
und Kupfer-Pyrite, ein: Sie besitzen Metallglanz und Goldfarbe, und das zunächst einmal eindeutige Begriffe aus einem Wust von Synonymen
schien darauf hinzudeuten, dass in /edem Metall Schwefel enthalten ist. auszugraben. Anscheinend hat es schon in griechisch-römischer Zeit
Aber auch in den beiden anderen Naturreichen, denen der Pflanzen und Probleme bei der zutreffenden Entzifferung alchemischer Texte gege­
Tiere, spielte Schwefel eine prominente Rolle, gerade in farbigen Sub­ ben, Probleme, die zur Veröffentlichung regelrechter Synomymalexika
stanzen. Pars pro toto sei hier nur das Eigelb genannt, in dem sich der wichtiger chemischer bzw. alchemischer Begriffe geführt haben. *^ So
Schwefel ja zumindest der Nase zu erkennen gibt, wenn das Ei anfängt hieß schlichter, gebrannter Kalk (CaO) u. a.: Kalk der Eier; Marmor aus
zu faulen. Zumindest über den Geruch war damit auch eine Verbindung Theben; Titanos; Muschel; Stein des Dionysios; Knochen der Sepia;
zu den H^S-duftenden Wunderwässem gegeben, deren Wundertaten Alaun; Alaun von Melos. Und Alaun selbst [K A l (SO^)^ • 12 H^O], hieß
uns noch reichlich beschäftigen werden. darüber hinaus u. a.: weißer Schwefel, was wiederum eigentlich Arse­
Neben die Klassen der Pneumata und der Somata stellten die frühen niksäure bedeuten kann; ferner; glänzendes Kupfer; gereinigtes Blei
Alchemisten gewöhnlich als dritte Substanzklasse die Asomata.^^ Diese oder auch: nicht erhitzter Schwefel. Umgekehrt konnte <glänzendes
Klasse allerdings enthält weder Grundkörper, noch kann man sie im Kupfer> unter dem Decknamen Alaun laufen, während einfaches Kup­
strengen Sinne als Klasse bezeichnen. Weil sie sämtliche Nichtkörper fer als Schale der Eier bezeichnet wurde.
oder Noch-nicht-Körper umfasste, ist sie schier unübersehbar groß. Alle Aber damit nicht genug. Manche Rezepte wimmeln nicht nur von
irgendwie eigenständigen, diskreten Substanzen gehörten zu ihr, vor­ Decknamen, sondern sind auch - ob nun verschlüsselt oder nicht - so
ausgesetzt sie waren weder Somata noch Pneumata. Zu den Asomata verkürzt niedergeschrieben worden, dass man annehmen muss, sie
zählten demnach sämtliche Salze, Erdarten und Minerale, und darüber dienten lediglich zur Gedächtnisstütze für ohnehin schon eingeweihte
hinaus auch alle Substanzen, die wir heute als organisch bezeichnen Leser. In den Schriften des Zosimos findet man z. B. eine veritable che­
würden. Schon die griechischen Alchenüsten setzten bei ihren Opera­ mische Formel bzw. Reaktionbeschreibung mit mehr als einem Dutzend
tionen viele pflanzliche und tierische Stoffe ein; genannt seien u. a. alle Charakteren. Nach einem der Zeichen in der Formel hat man sie Krebs
möglichen Blumen von HeUotrop über Lilien zu Rosen*^ dazu Harze genannt. Vielleicht soll dieses Schalentier mit acht Beinchen und einem
und Öle von Zedemrinde, Rettich, Nüsse, Rizinus, Flachs, Rosen, Mohn, Skorpionschwanz einen ganzen alchemischen Prozess wiedergeben,
Oliven und Mastix, ferner Honig, Rhabarber und Gummi vom Akan- durch den eine Kupfer-Blei-Legierung, griechisch: Molybdochalkos, mit
thus (Bärenklau). Außerdem gehörten dazu, um wahllos einige Früchte Hilfe eines Bleichmittels in Silber verwandelt wird. Sicher ist das aber
herauszugreifen, Datteln, Zitronen, Feigen, ferner, wenn man nur den keineswegs. Übrigens liebte die Alchemie zu allen Zeiten Kryptogram­
Buchstaben <K> heranzieht, Kleie, Knoblauch, Kohl und Kümmel, dazu me und auch Akronyme, die die ganze Weisheit der <Göttlichen Kunst>
28 I. Im Schatten der Pyramiden Tempel und Handwerke 29

in ein Wort, ein Kürzel fassen wollten. Was ist z. B. Vitriol? Nicht etwa All dies deutet daraufhin, dass wir uns unter den Tempeln der Ä gyp­
MeSO^ 7H2O, sondern V-isita I-nteriora T-errae, R-ectißcando I-nvenies ter etwas anderes vorstellen müssen als unter denen der Griechen, und
O-ccultum L-apidem: Besuche das Innere der Erde; durch wiederholtes dies nicht nur in Hinblick auf die Architektur der Tempelanlagen und
Destillieren wirst du den verborgenen Stein finden (StoL, CV. Figur, auf das Wirtschaftsleben um sie herum. Hinter den dicken Mauern der
o. S.).^4 ägyptischen Tempel lebten auch ein anderer Geist und eine andere Le­
Bei allem Wirrwarr: Die chemischen Kenntnisse der antiken Alche­ benshaltung.
misten waren beträchtlich, weit größer zumindest, als wir von jedem Wenn wir unserem optischen Vorurteil, das vor allem die Gräber der
<normalen> griechischen Naturphilosophen erwarten können. Ägypter vor Augen hat, folgen, dann könnten wir meinen, der Unter­
schied in der Lebenseinstellung der beiden Völker liege u. a. in ihrer
Haltung dem Tode gegenüber. Wir hätten damit recht, aber nicht recht
4. Tempel und Handwerke in der Art, wie unser Vorurteil es uns einreden will. In gewisser Weise
waren die Ägypter alles andere als dem Tode zugewandt. Alles in allem
Die meisten Kenntnisse aus der Praxis der antiken Alchemie stammen genommen waren beide, die Griechen und die Ägypter, durchaus le­
gewiss aus ägyptischen Tempelwerkstätten. Seit alters her waren die bensfroh, und beide suchten sie das Leben mit all ihren Sinnen zu ge­
Tempel Ägyptens mehr oder weniger selbständige Wirtschaftseinheiten nießen. Diese ihre Sinnenfreude aber erwuchs aus einer jeweils anderen
mit manchmal riesigen Besitzungen an Land und sonstigen Gütern. Die Grundstimmung. Die Griechen genossen das Leben hier und heute mit
Tempel produzierten so gut wie alles, was zur Ausgestaltung der Tem­ aller Macht, weil ein Leben als wesenloser Schatten im Hades für sie
pelgebäude und Gräber sowie zur Leichenbestattung und zum kein Leben war. Jetzt und hier auf Erden musste man leben, leben, leben,
Schmuck der Götter, aber auch zur Verwaltung und Lebenshaltung der wie immer man konnte. Später, nach dem Tode, war die Existenz im
Priesterschaft dienen konnte. wahrsten Sinne des Wortes nicht lebenswert. «Besser ein Bettler auf Er­
Im Hinblick auf die Alchemie sei zunächst die Glasmacherei genannt. den, als ein Fürst in der Unterwelt», sagt der tote Held Achilles zu
Neben den üblichen grünlichen oder bläulichen Gläsern und Glasuren seinem Waffengefährten Odysseus.
stellte man auch kostbare bunte Gläser her, und zwar durch Zusammen­ Ob Neigung zur Philosophie immer aus einem tragischen Lebensge­
schmelzen verschiedenfarbiger Glasstäbe. Gläser dieser Art wurden fühl erwächst, sei dahingestellt. Für die Griechen zumindest trifft es zu,
später von den italienischen Glasmachern Milleßori, Tausendblüter, ge­ stellt und verlässt sich doch deren Philosophie auf nichts anderes als
nannt und haben sicher so manchen Alchemisten in seiner Sehnsucht, auf das eigene Denken hier und jetzt, mit dem man der Beirrung durch
ähnlich Effekte hervorrufen zu können, bestärkt. Eng mit der Glasma­ das Dasein im Dasein zu begegnen sucht. Dem Tode gegenüber hat
cherei verbunden war die Bearbeitung von Edelsteinen und Halbedel­ Sokrates ein anderes Lebensgefühl als Aischylos und wieder ein anderes
steinen, die oft nicht etwa Naturprodukte, sondern Glasflüsse waren. als Homer; der Hades aber blieb den Griechen immer. Die Ägypter da­
Und auch die Goldbearbeitung und allgemein das Metallhüttenwesen gegen kannten, nimmt man Zeiten krisenhafter Entwicklungen aus, ei­
einschließlich des Bronzegusses - vor allem in der alten Hauptstadt nen heroischen Pessimismus, wie er die trojanischen Helden und übri­
Memphis - seien nicht vergessen. Darüber hinaus wurden in ägypti­ gens auch die Kämpen der Edda auszeichnet, nicht. Zwar waren auch
schen Tempeln Parfüm und Weihrauch hergestellt sowie Arzneien und sie, so überraschend es in unseren Ohren klingen mag, ein diesseits
Kosmetika. Die Grenze zwischen Kosmetika und Pharmaka war dabei gewandtes Volk, aber in einer ganz anderen Weise als die Griechen. Das
manchmal fließend. So diente die aus schwarzem Antimonsulfid beste­ Leben eines reichen ägyptischen Beamten war schön, und die Herren Ti
hende Augenbrauenschminke der Ägypterinnen der Abwehr der ge­ oder Nacht oder wie sie alle hießen hatten nicht die Absicht, ihr schönes
fürchteten ägyptischen Augenkrankheit. Last not least seien die Farben­ Leben nach dem Tod mit einem Schattendasein als Zombie in der gren­
herstellung für die Tempelmalerei und die Tuchfärberei erwähnt, wobei zenlosen Wüste einzutauschen. Deshalb, um der Erlösung von dieser
sogar die dazu verwandten Tuche einschließlich der in Massen produ­ Verdammnis willen, war ihr Sinnen und Trachten ihr Leben lang auf
zierten Mumienbinden im Bereich der Tempel hergestellt wurden. Die ihre Grabstätte gerichtet. Deshalb förderten sie die so typisch ägyptische
Liste körmte verlängert werden, gehörten doch viele andere Handwer­ Kunst des Einbalsamierens. Deshalb ließen sie in leuchtenden Farben
ke, die keine nähere Beziehung zur Alchemie haben, zum Tempelbe­ Szenen ihrer Vergnügungen bei der Jagd, beim Fischfang, beim Spiel,
reich, so die Schreinerei und die Steinmetzkunst. Szenen ihres Alltagslebens im Kreise ihrer Familie und Kinderschar,
3° I. Im Schatten der Pyramiden Zwei Papyri 31

Szenen ihrer Feste an die Wände ihres Grabes malen. Sie wollten im werden zwei antike Quellen aufbewahrt, die zwar nicht direkt zur A l­
Jenseits so leben, wie sie im Diesseits gelebt hatten, oder anders gesagt, chemie, aber in den Umkreis des hellenistischen Tempelhandwerks ge­
sie wollten gar kein Jenseits. hören. Es handelt sich um zwei Papyrus-Kodizes, die um 1830 in einem
Natürlich wird diese psychologisierende Bemerkung allein, die ja den Gräberfeld bei Theben in Oberägypten gefunden worden sind. Beide
Ägyptern zudem noch eine seelenkundlich ausgefeilte Theologie unter­ Papyri sind griechisch geschrieben, beide stammen anscheinend aus
stellt, der ägyptischen Religiosität nicht gerecht. Schon die strikte Tren­ dem dritten Jahrhundert nach Christus, beide tradieren zum Teil weit
nung von Diesseits und Jenseits ist misslich, genau wie die Neigung, ^ älteres Wissensgut, und die Themenbereiche beider Papyri sind eben-
den ägyptischen Gläubigen, die gar nichts glaubten, weil sie traumhaft . falls gleich, so weit es sich um Chemie dreht, der im Pap)ous Leidensis
sicher wussten, Absichten zu unterstellen, die auf so etwas wie Selbst­ nur einer von drei Texten gewidmet ist.^®
erhaltung gerichtet wären. Nicht nur, dass die Ägypter in einem ande­ Die Papyri werden zuweilen in den Umkreis neupythagoreischer
ren Verständnis von Zeit lebten, sie hatten auch ein anderes, ein ar­ I Mönchsorden gestellt, die sich schon im 3.72. Jahrhundert v. Chr. auch
chaisch-mythisches Verhältnis zu Transzendenz, die nicht jenseits in un­ I in Ägypten angesiedelt und auf griechischer Grundlage «ein Bündnis
serem Sinne war.^^ I ... mit orientalischen, d. h. ägyptischen, jüdischen, babylonischen, assy-
Unsere Überlegimg dient auch nur dazu, uns in erster Annäherung J rischen imd persischen Ideen» zustande gebracht und im Übrigen an-
verständlich zu machen, dass und warum die Mitglieder der/ägypti­ i geblich Werkstätten «für die Fälschung von Edelsteinen und Perlen und
schen Oberschicht die Tempel-Handwerke und die Handwerker ! die Purpurfärberei» besessen hätten. (Wellm.
brauchten. Handwerkliche Spezialisten schmückten die Gräber, und \ Sowohl im Stockholmer Papyrus (P. Holm.) als auch im Leidener Pa-
Gräber und Grabschmuck waren im wahrsten Sinne des Wortes lebens­ * pyrus (P. Leid.) geht es um die Herstellung von. Ersatzstoffen, Ersatzstof-
notwendig. Sie sollten der vegetativen Seele, dem Ka, im Jenseits ein i fe für natürliche Perlen, für natürliche Beizfarben und für Edelmetalle.
genauso angenehmes Dasein vermitteln, wie sie es im Diesseits genos­ I Wir brauchen uns also kaum darüber zu wundem, dass bisher wohl alle
sen hatte. Deshalb auch spielten Farben beim Grabschmuck eine ent­ i Chemiehistoriker und Chemiker, die sich zu einer moralischen Beurtei-
scheidende Rolle, denn was farbig ist, was nicht bleich ist wie der Tod, J lung der Papyri herausgefordert fühlten, die Herren, in deren Gräbern
das lebt. Insbesondere die Farbe Rot, die Farbe des Blutäs, war Zeichen ; die übrigens besonders sorgfältig ausgeführten Kodizes gefunden wur-
des Lebens. \ den, mit kollegialer Unfreundlichkeit als fälschende Chemiker bezeich-
Nun ist, das setzen wir voraus, die Alchemie u. a. eine irgendwie 4 net haben. Ich glaube, damit tun sie ihnen Unrecht.
geartete Verbindung von Handwerk und Naturphilosophie, was immer ] Das Wort Fälschung weist auf eine illegitime Handlung hin, weshalb
darunter zu verstehen ist. Und die historische Tatsache, dass die Alche­ wir keinen Margarinefabrikanten als Butterfälscher bezeichnen würden.
mie gerade in Ägypten einen fruchtbaren Boden gefunden hat, lässt I Und auch ein Hersteller von Modeschmuck aus Neusilber oder Messing
vermuten, dass genau dies, das ägyptische Nebeneinander zweier in ist nicht schon deshalb ein Fälscher, weil er sich bemüht, seinen
manchem einander wesensfremden Kulturen, für diese Fruchtbarkeit Schmuck täuschend echt zu machen. Natürlich versucht der Modefabri­
verantwortlich ist.*^ Hier wurde die Alchemie in besonderer Weise ge­ kant, uns, so gut es geht, zu täuschen, d. h., er versucht, unsere Sinne zu
pflegt imd gebraucht, denn in ihr konnten sich griechisches imd ägyp­ überlisten. Aber das allein macht ihn in unseren Augen nicht zum Fäl­
tisches Denken begegnen imd zugleich im jeweils anderen wieder er­ scher. Um auf unsere Papymsbesitzer zurückzukommen: Ganz sicher
kennen. Genau dieses Wiedererkennen aber vor dem Hintergrund des bewegten sie sich oft am Rande dessen, was wir als Legalität bezeichnen
zugleich Fremden und Vertrauten ist typisch alchemisch. I würden, aber grundsätzlich wollten sie wahrscheinlich keine illegitime
I Fälschung begehen, wobei wir illegitim hier im Sinne von <moralisch
“I verwerflich) nehmen. Dass ein römischer Steuerbeamter die Dinge vor
j . Zwei Papyri "I allem angesichts des fortschreitenden Münzverfalls im Reiche wahr-
I scheinlich etwas anders sah und sich dabei durch Kaiser Diocletians
Unsere kulturhistorische Vermutung verlangt natürlich danach, viel I Dekret gegen Münzfälschung^® bestätigt fühlen musste, und dass zu-
ausführlicher behandelt zu werden. Zunächst aber trägt uns die Raum- I weilen schon die frühesten Alchemisten am Ende des 3. Jahrhunderts
Zeit-Maschine unserer Phantasie in Handschriftenbibliotheken im nie­ als betrogene Betrüger dargestellt wurden, als Schlitzohren, die schließ­
derländischen Leiden und im schwedischen Stockholm. Hier nämlich lich auf ihre eigenen Tricks hereingefallen waren, all das spricht nicht
I. Im Schatten der Pyramiden Zwei Papyri 33
32

dagegen, dass unsere Papyrusbesitzer, seien sie nun Neupythagoreer digkeit angesteckt haben, ob ihnen außerhalb ihrer Schulphilosophie
oder Anhänger irgendeiner anderen Sekte bzw. Philosophengruppe das ja tief im Archaischen wurzelnde besondere Erleben von Farben
oder seien sie bloß Werkleute, Technitai, sich mit Sicherheit subjektiv immer schon vertraut war, sei dahingestellt. Wir können uns hier darauf
nicht als Gauner vorkamen. Vergessen wir nicht, dass ihre Papyri Grab­ beschränken, festzuhalten, dass die Farbe im Verhältnis der spätantiken
beigaben waren und sie in das Reich der Toten begleiten sollten, in dem Menschen zur materiellen Umwelt eine zentrale Rolle spielte. Sie ist die
das Herz gegen eine Feder gewogen wurde und der Totenrichter, Chris­ entscheidende Eigenschaft aller Erscheinungsformen der Materie, d. h.
tus oder Osiris, zuschaute. sie macht recht eigentlich eine Substanz zu dem, was sie ist. Ändert man
Die Verfasser der beiden Rezeptsammlungen waren keine Alchemisten, ihre Farbe, dann ist sie nicht mehr dieselbe Substanz, dann verlangt sie
oder wenn sie es waren, ist dies aus ihren chemischen Gebrauchsanwei­ gewissermaßen nach einem eigenen Namen, und sei es innerhalb der­
sungen nicht abzulesen. Doch weil sie zu denen gehörten, die den Boden selben Spezies .^3 Das gilt sogar für Äußerlichkeiten: Ein schwarzes
für die Alchemie vorbereitet haben, sollten wir auch sie nach dem Sinn Pferd ist bloß äußerlich schwarz und besitzt doch eine eigene Identität.
ihrer Tätigkeit fragen. Die Antwort ist kurz; Ein theoretischer Hintersinn Zumindest in Deutschland halten also die Pferdeliebhaber die Farbe
ist in keinem ihrer etwa zweihundert Rezepte zu entdecken, wohl aber ihrer Tiere für eine wesentliche, eine essentielle Eigenschaft und nicht
eine sinnvolle Absicht. Die Autoren der Rezepte wollten gewisse Stoffe etwa für unwichtig und einfach nur dazukommend, sprich akzidentiell.
durch andere ersetzen, und zwar durch Nachahmung, durch Imitation. Und in der Alchemistenküche ihres Pferdstalls gelingen ihnen deshalb
Z. B. war die Verwendung von echtem Purpur oft eigens dazu privi­ zuweilen echte Transmutationen, grundlegende Selbstverwandlungen
legierten Personen Vorbehalten. Ein Purpurstreifen an der Toga etwa von Pferd zu Pferd; Sie geben einfach einem schwarzen Lipizzanerfoh­
war das rechtlich geschützte Amtszeichen der römischen Senatoren, die len reichlich Futter und gute Pflege, warten, bis es zu einem Jungpferd
sich damit als ranggleich mit Königen darstellten. Nun ist Purpur nicht wird, und fortan ist es nicht mehr ein Rappe, sondern etwas ganz an­
nur auf einer Toga eine schöne Farbe. Also versuchte man, die echten deres, nämlich ein Schimmel. Wenn das schon mit Pferden gelingt, wie
Purpurfarben, die übrigens in verschiedenen Nuancen von Rot über steht es dann erst mit Metallen und Edelsteinen, die doch durch und
Violett zu Blau vorkamen, durch Farben mit ähnlicher Leuchtkraft zu durch gefärbt sind?
ersetzen. Meist war dabei völlig klar, dass für die Purpurstreifen auf Zum Problem der Farbe als essentieller Eigenschaft kam noch etwas
dem Mantel einer vornehmen Dame keine einzige Purpurschnecke, kei­ hinzu. In der Antike wurden Farbe als sinnesphysiologische Erschei­
ne Purpurmuschel ihr Leben hatte hingeben müssen.^^ Das Gelingen nung und Farbsfo^ als bloßer Träger der Erscheinung häufig nicht un­
der Imitation ist hier - das sei hier schon betont - nicht abhängig davon, terschieden. So betonten z. B. die Stoiker, dass die Qualität <Farbe> ma­
dass man den Herstellungsprozess nachmacht. Man braucht also nicht teriell zu denken sei. Anders als für den Altmeister Aristoteles, auf den
irgendwelche anderen Kriechtiere zu ermorden, um aus ihnen falschen sich ansonsten alle spätere Naturphilosophie bezog, kann es also für die
Purpur zu gewinnen, nein, hier ist die Imitation nicht vom Prozess, son­ Stoiker konzentrierte und weniger konzentrierte Qualitäten geben. Das
dern vom Ergebnis abhängig. Und das Ergebnis, das die Gleichsetzung klingt ja auch durchaus nicht absurd, wenn wir uns vorstellen, dass
von Purpur und Purpurersatz garantiert, ist die Farbe. In den Papyri zuzeiten verdünnte farbige Lösungen ein anderes Farbempfinden her-
dient der Farbton als wichtigster Indikator für den Zustand der Materie. vorrufen als konzentriertere, statt blau z. B. grün, statt rot z. B. gelb.
Ein künstlicher Smaragd galt als perfekt imitiert, wenn er die durch­ Wenn schon die antiken technischen Chemiker bei ihrem Bemühen,
sichtig leuchtende Farbe des echten Edelsteins besaß. Die Härte und Materie substantiell zu färben, nicht an Fälschung in unserem Sinne
andere Eigenschaften waren dabei, wenn auch nicht völlig unwichtig, dachten, so kann man den Erben dieser Chemiker, den antiken Alche­
so doch sekundär. Das Gleiche galt etwa für die Imitationen von Perlen, misten, eine solche Absicht erst recht nicht unterstellen. Die ernsthafte
bei denen der Farbglanz die entscheidende Rolle spielte. Und so gese­ Alchemie ist keine von mystischem Hokuspokus umwölkte Fälschungs­
hen ist es durchaus verständlich, dass, wie der Papyrus Holmiensis be­ lehre. Nachahmungsverfahren sind nicht per se Fälschungstechniken,
hauptet, eine imitierte Perle eine natürliche nicht nur täuschend nach­ auch wenn die Steuereinnehmer aller Zeiten auf solch feinsinnige Un­
ahmen, sondern sogar übertreffen kann. Eine nachgemachte Perle kann terscheidungen wohl keine Rücksicht genommen haben und diese Un­
eben mehr Perle sein als eine echte. terscheidungen in praxi ja auch zuweilen nicht gar so feinsinnig waren.
Ob es nun die Ägypter waren, die die Griechen mit ihrer gewisser­ Schauen wir uns nun einmal genauer an, was unser Papyrusbesitzer
maßen ontologischen, auf das Sein der Dinge abzielenden Farbenfreu­ mit sich in die Unterwelt nehmen wollte, damit es dort auf die Waage
34 /. Im Schatten der Pyramiden Zwei Papyri 35

des Totengottes gelegt würde. Was den chemischen Teil der Papyri be­ mit einem wirklichen Farbstoff folgte. Dabei wurden schon im Altertum
trifft, fallen drei Dinge sofort auf: sowohl anorganische als auch organische Stoffe eingesetzt. Der Über­
1. Keines der Rezepte weist mystisches oder irgendwie religiöses Bei­ gang von der Beizenfärberei der Metalle zur Direktfärberei wird dabei
werk auf, wenn auch andernorts in den Papyri magische Anrufungen fließend gewesen sein, konnte man doch schon eine Entfettung als Bei-
zu finden sind. zimg betrachten. Oft auch überzog man unedle Metalle mit einem Gold­
2. Es werden zwar ein paar Namen von Naturphilosophen, Magiern, ja oder Silberamalgam wachsartiger Konsistenz, erhitzte leicht, bis das
sogar von Leuten genannt, die wir für Alchemisten halten, wie etwa Quecksilber sich verflüchtigt hatte, und wiederholte das ganze mehr­
Pamenes, aber nirgends erscheint irgendeine Philosophie oder Theo­ mals. Und schließlich konnte man niederen Metallen durch einen Über­
rie, auf die sich die Rezepte hätten stützen können. zug mit einem Firnis oder durch einen entsprechenden Anstrich den
3. Nicht ein einziges der Rezepte verrät auch nur den Versuch, die Tat­ Effekt eines Edelmetalls verleihen.
sache zu verschleiern, dass es sich in sämtlichen Fällen um Imitatio­ Vor allem die letztgenannten Verfahren können wir bei aller Großzü­
nen handelt. gigkeit kaum mehr als <ehrliche> Goldimitation werten. Hier hat die
ln Hinblick auf die Metalle gab es - allgemein gesagt - zwei Haupt­ Täuschung doch schon etwas Unverfrorenes an sich: Man will nicht
arten von Imitationstechniken, die sich durch die gesamte Geschichte etwa Gleiches oder Besseres schaffen als die Natur, man will schlicht
der Metallfälschung von vorklassischen Zeiten bis heute verfolgen las­ blenden. Dieses Zwielicht zwischen dem selbstbewussten Versuch, das
sen, nämlich die Oberflächenbehandlung und die Herstellung von Le­ Alte und Natürliche neu und künstlich zu schaffen, und dem schlitzoh­
gierungen. rigen Betrugsmanöver ist es, das die alten Chemiker als Scharlatane, als
Die Kunst der Oberflächenfärbung von Metallen, die Metallochromie, Falschspieler hat erscheinen lassen. Und dieses Zwielicht ist anschei­
steht den alten Künsten der Tuchfärberei und der Glasfärberei sehr nend von Anfang an auch auf die Alchemisten gefallen. Allerdings war
nahe. Wie diese hatte sie ihre Heimat vor allem in Syrien und Ägypten. deren Spiel, ob nun mit falschen oder für echt gehaltenen oder echten
Eine wichtige Methode chemischer Oberflächenbehandlung war das Ä t­ Karten gespielt, im letzten Grunde ein echtes, ein existentielles Spiel.
zen mit Säuren, also mit Essig oder nüt sauren Fruchtsäften, denn die Neben der Oberflächenbehandlung von Metallen gab es aber auch
viel stärkeren und geeigneteren Mineralsäuren kannte man noch nicht. das, was wir heute Metalllegierungstechnik nennen. Hier konnte man
Beliebt war ein Verfahren, das wir heute als Weiß- und Gelbsieden be­ auf mannigfaltige Methoden, Metalle neu zu schaffen, zurückgreifen,
zeichnen. Es bestand darin, aus schwach Silber- oder goldhaltigen Le­ wobei man den spätantiken Chemikern durchaus unterstellen kann,
gierungen die unedlen Legierungsbestandteile zu lösen und so das dass sie tatsächlich das Alte sowie Natürliche neu und künstlich und
Edelmetall hervortreten zu lassen. Dabei stand es den Gelbsiedem so­ manchmal sogar besser noch als das Alte zu schaffen geglaubt haben.
zusagen frei, sich einzubilden, das Eintauchen des Werkstücks in schar­ Trotz gewollter oder ungewollter Sprachverwirrung sind viele in den
fe Wässer ziehe die eigentliche, dem Metall zukommende Farbe - und Pap)oi wiedergegebenen Rezepte zur Metalllegierung relativ klar ver­
d. h.: die Natur der Substanz - an die Oberfläche. A uf eben diese Weise ständlich. So lautet ein Verfahren zur Herstellung von Silber:
erklärte - um gleich einen Schritt über die Verfasser der Pap)oi hinaus «Reinige viermal weißes Zinn und schmelze zusammen sechs Teile
zu tun - der Alchenüst Moses die Verfärbungen von Oberflächen unter hiervon und eine Mine weißes galatisches Kupfer; reibe ab und verfer­
dem Einfluss von Reagenzien. Umgekehrt kann Farbe einsinken, ganz tige was du willst; es wird zu Silber erster Qualität, ohne dass die Fach­
so, wie ein Schwamm Rüssigkeit aufnimmt. leute etwas daran merken können, weil es aus dem genannten Verfah­
Bereits die frühen Techiütai und ihnen folgend die Alchemisten wuss­ ren entstanden ist.» ((P. Holm., Rez. 3) Hall, iii)
ten, dass man Metalle ganz wie in der Textilfärbetechnik färben kann, Mine ist die Bezeichnung eines Gewichts von 436,6 g. Was weißes
indem man sie in bestimmte Rüssigkeiten taucht, die eine andere Farbe Kupfer aus Galatien in Kleinasien chemisch sein soll, ist nicht ganz
besitzen als diejenige, die man auf dem Metall erzeugen will. Genauso sicher. Allerdings kann man Kupfer mit Realgar, das ist Arsensulfid
geschieht es ja auch bei der Beizenfärberei von Tuchen. Man weiß heute, (As^S^), aufhellen, ein Verfahren, das man genau wie andere, ähnliche
dass die Wirkung der Metallbeiz-Rüssigkeiten, z. B. Pflanzensäuren, ge­ Prozesse in den Papyri als Leukosis, also Weißung, bezeichnete.
wöhnlich darin besteht, dünne Oxidschichten auf den Metalloberflä­ Nicht alle Rezepte sind jedoch so einfach, und ihre Auswahl soll auch
chen hervorzurufen. Gewiss war ganz wie in der Tuchfärberei der Beiz­ keine Einfachheit im Gesamtbild der Papyri vorgaukeln, die so nicht
vorgang an Metallen oft nur eine Vorstufe, der die eigentliche Färbung gegeben ist.
36 I. Im Schatten der Pyramiden Zwei Papyri 37

Ein zweites Silberrezept ist etwas komplizierter und zeigt, dass auch Verfahren hat wohlgemerkt nichts Mystisches an sich; es war anschei­
organische Substanzen bei der Metallimitation verwandt wurden: nend rein technisch gedacht: Man streckt Metall, so lange es geht, so
«Kaufe Anthrax der Kupferschmiede und weiche es in Essig einen lange also ein passender Farbton erzeugt werden kann, und der end­
Tag. Nimm danach eine Unze Kupfer, beize es sehr wohl in Alaun und gültige Verlust des Silberglanzes ist dann eben die Grenze der Vermeh-
schmelze es. Nimm danach acht Unzen Quecksilber, gieße aber das so nmg und der etwas vollmundig so genannten Unerschöpflichkeit.
bemessene Quecksilber in Mohnsaft. Nimm aber auch eine Unze Silber. Die Herstellung und Vervielfältigung des Goldes verlief ganz ähnlich
Bringe zusammen und schmelze diese Stoffe. Und wenn du sie ge­ wie die des Silbers. Zur Diplosis mischte man, um nur eines unter meh­
schmolzen hast, tue den dabei entstandenen Klumpen in ein kupfernes reren Verfahren zu nennen, Gold, welcher Herkunft auch immer, mit
Gefäß mit Ham einer Schwangeren und Eisenfeilstaub, dies drei Tage. Silber, Elektron, Quecksilber oder auch mit dem goldgelb glänzenden
Und die einzige Trübung, die du bei der Herausnahme bekommen Auripigment (AS2S3), das bei 300° C zu einer roten Flüssigkeit schmilzt,
wirst, deutet auf eine natürliche Schwankung hin, worin sich die außerdem, wie der Name sagt, golden färbt und zuweilen auch etwas
Mischung von gleichen Gewichtssätzen befindet.» ((P. Holm., Rez. 9) Gold enthält. Verwendet wurde auch ein bläuliches Mineral, das Kya-
Hall. II2)) nos, Blaustein, hieß und wohl Kupferlasur (zCuCO^ • CulOH)^) war,
Mit Anthrax, d. h. Kohle, könnte tatsächlich Kohle gemeint sein, es sowie Sory, das ist wahrscheinlich ein Gemenge von Kupferkies (Cu-
mag sich aber auch, wie andere Texte nahe legen, um einen Decknamen FeSi) mit seinen Verwitterungs-, will sagen Oxidationsprodukten, also
für schwärzlich-grauen Kupferglanz (CuS) handeln. Unze ist eine Ge­ Kupfersulfat, Eisensulfat und dergleichen. Das Verfahren der Diplosis
wichtsbezeichnung für m nd 30 g Metall. Der Ausdm ck <beizen> für die wird übrigens in einer der Rezeptüberschriften Pleonasmos, lateinisch
Oberflächenbehandlung des Kupfers deutet auf die so wichtige Bezie­ Multiplicatio, also Vermehrung genannt, was vorausweist auf eine im
hung der Metallverwandlung zur Färbetechnik hin. Mohnsaft könnte Mittelalter sehr wichtige alchemische Operation. In einem anderen Re­
zur Vorreinigung des Quecksilbers gedient haben; es könnte sich bei zept zur Herstellung von Gold schmilzt man Gold, das man hier wohl
diesem Wort aber auch um einen Decknamen handeln. Die Verwendung in Anführungsstriche setzen muss, mit einem Viertel seines Gewichtes
des Harns von Kindern und Schwangeren wird in altägyptischen me­ an Cadmia, worunter man vielleicht ein unreines Zinkoxid (ZnO) ver­
dizinischen Texten häufig empfohlen. Vielleicht spielt der Ammoniak­ stehen kann. Dadurch, so wird gesagt, werde das Gold härter gemacht
gehalt des Harns eine gewisse Rolle. und sein Gewicht erhöht. Diese Bemerkung kann als eines der wenigen
Statt neues Silber herzustellen, kann man auch vorliegendes Silber Beispiele dafür dienen, dass die antiken technischen Chemiker neben
strecken, das nannte man Diplosis, also Verdopplung. Ein Verfahren zur der Farbe ihrer Metallimitationen auch andere Eigenschaften beachtet
Diplosis besteht z. B. darin, einen Teil Kupfer aus Galatien, eineinhalb haben, zumindest, wenn diese Eigenschaften krass aus dem Rahmen
Teile Silber und eineinhalb Teile Zinn in wässriger Alaunlösung zu be­ des Gewohnten fielen.^"^
handeln, die Masse mehrmals zu erhitzen und abzukühlen und sie Gutes Gold konnte man auch gewinnen durch Zusammenschmelzen
schließlich, wenn sie ganz reines Silber geworden ist, mit Putzpulver zu von natürlichem Gold mit Asem und kyprischem Kupfer:
polieren. Bei der Triplosis, der Verdreifachung, ging man im Prinzip ge­ «Asem, einen Stater, oder Kupfer von Zypern, drei; vier Stater Gold;
nauso vor wie bei der Diplosis. In einem Rezept zur Triplosis werden schmilz es zusammen.» ((P. Leid., Rez. 54) Hall. 97)
einfach andere Relationen, nämlich ein Teil Kupfer, ein Teil Silber und Das Rezept hat, wie alle Rezepte im Kodex, eine Überschrift. Und
ein Teil Zinn zusammengeschmolzen. Die bei der Diplosis oder Triplosis diese Überschrift lautet nicht etwa: Fälschung oder Diplosis bzw. Tripo­
erhaltene Masse wird zuweilen als unerschöpflich bezeichnet, weil sie lis von Gold, sondern die Vorschrift heißt schlicht: <Herstellung von
wirke wie Sauerteig, der im ungesäuerten Teig aufgeht und sich alle Gold>, <Chrysou poeiesis>.
Materie anverwandelt wie ein Same. Hat man nämlich seinen Vorrat an So kurz das Rezept ist, bringt es uns dennoch zwei Probleme. Eine
durch Diplosis gewonnenem Silber fast verbraucht, dann kann man ihn kleine Schwierigkeit bietet die Bezeichnung Stater. Wir wissen, dass der
stets wieder ergänzen, indem man dem Rest neue Mengen an Zuschlä­ Stater eine Münze ist, doch besaß er in verschiedenen Gegenden ver­
gen hinzufügt. A uf diese Weise lässt sich eine theoretisch unbegrenzte schiedene Werte, verschiedene Zusammensetzung und verschiedene
Menge künstlichen Silbers herstellen, und nur wir, die wir mit moder­ Gewichte. Ein athenischer Goldstater wog 8,6 g. Schwerwiegender ist
nen analytischen Methoden arbeiten, wissen, dass schließlich kaum das Problem, das sich hinter der Bezeichnung Asem verbirgt. Gemeint
noch chemisch einwandfreies Silber in dieser Menge enthalten ist. Das ist hier wahrscheinlich das uns schon bekannte Elektron, ein lichtgelb
38 /. Im Schatten der Pyramiden Zwei Papyri 39

glänzendes Metall, das die Ägypter als Asemu bezeichneten, woraus Aber auch ohne die Glitzerei drängt unser Alltagsverständnis die
auf Griechisch Asemon wurde. Im Normalfall stand das Wort Asem <bloße> Chemie des Goldes umstandslos beiseite. Wer unter uns bezwei­
wohl für Legierungen von etwa 8o % Gold und 20 % Silber. Gold-Silber- felt etwa, dass die als Zeichen unwandelbarer Treue dienenden Eherin­
Legierungen kommen übrigens vereinzelt auch in der Natur vor, was ge sämtlich aus Gold sind - und nicht etwa aus garantiert umweltresis­
nahe legte, Asem für ein eigenständiges Metall zu halten oder auch für tentem Plastik? Natürlich könnten wir uns denken, dass in dem Gold
eine bestimmte, <verbesserte> Version des Goldes: Es ist weniger weich der Eheringe immer etwas drinsteckt, das nicht chemisch reines Gold
und daher leichter zu bearbeiten als reines Gold, und sein Silbergehalt ist, soitöt würde man ja nicht von Rotgold, Weißgold und so weiter
verleiht dem Golde einen eigentümlich schönen, weißen Glanz, der be­ sprechen, aber Gold ist schließlich Gold, genau wie Butter schließlich
sonders geschätzt wurde. Das erklärt wohl, warum der Thron der Pha­ Butter ist, obwohl es goldgelbe Butter, blasse Butter, Butter mit, Butter
raonen im Wesentlichen aus Asem bestand. Allerdings war der Erschei­ ohne Milchpulver- oder Karotinzusatz, Butter aus dem Allgäu, Butter
nungsbereich des Asem offenbar sehr weit, und so konnten auch gewis­ aus Schleswig-Holstein, Butter von glücklichen und Butter von un­
se Metallgemische als Asem bezeichnet werden, von denen wir wissen, glücklichen Kühen gibt.
dass sie keinerlei Edelmetall enthielten. Was aber ist Butter? Gibt es überhaupt die Butter; gibt es das Butter­
Unter den vielen Vorschriften zur Asem-Bereitung - vor allem im molekül oder gar das Butteratom? «Ein analytisch letztes Butterteilchen
Leidener Papyrus - sei nur eine genannt, in der bezeichnenderweise gibt es nicht imd braucht es nicht zu geben, um meine Butter als Butter
wirkliches Gold und wirkliches Silber gar nicht Vorkommen. Ein Re­ deklarieren zu können», würde uns ein Nahrungsmittelchemiker ant­
zept mit dem Titel <Asemou poiesis> lautet: worten. Etwas Ähnliches hätte auch der antike Chemiker, der Technites,
«Reinige sorgfältig Blei mit Pech und Bitumen; oder auch Zinn; und von seinem Gold behaupten können, falls ihm die Frage, ob die unter­
mische Kadmia [wahrscheinlich Zinkspat, ZnCO^, oder unreines Zink­ schiedlichen Goldarten allesamt Variationen einer einzigen, irreduzier-
oxid, Zno, vielleicht auch Galmei, ZnSiO^ • H^O,] und Bleiglätte [PbO] baren Grundmasse sind, je in den Sinn gekommen wäre. Und über den
mit dem Blei und rühre um bis zu einer vollkommenen Mischung und möglichen Elementarcharakter einer solchen hypothetischen Grund­
bis zum Festwerden. Man kann sich dessen bedienen, als wäre es na­ masse würde sich unser Chemiker erst recht keine Gedanken gemacht
türliches Asem.» ((P. Leid., Rez. ii) Hall. 86f.) haben; denn nichts Metallisches ist elementar: Das war - wenn auch im
Wie schon angedeutet, bestand eine wichtige Rolle des Asem darin, Laufe der Geschichte unterlegt mit verschiedenen Begründungen - die
zur Diplosis des Goldes zu dienen. Was aber ist das für ein Gold? Kann Meimmg aller Naturphilosophen, Alchenüsten, Chemiker bis tief ins
man in diesem Zusammenhang überhaupt von Gold reden? 18. Jahrhundert n. Chr. Dies wiederum hilft zu begreifen, dass es ihnen
Wenn wir uns nicht in historischen Relativismus flüchten und mehr unmöglich war, Legierungen als Mischungen diskreter, unabhängiger
oder weniger resigniert konstatieren wollen: «Weim die zeitgenössi­ Metalle zu erkennen. Künstlich hergestelltes Gold war, wenn es sogar
schen Metallurgen sich das eingebildet haben, daim müssen wir's halt die Werkleute überzeugte, in gewisser Weise wirklich Gold, oder sagen
hinnehmen», dann bleibt uns nur die geradezu scholastisch anmutende wir vorsichtiger: Es gehörte zu der großen Fanülie des Goldes.
Antwort: Sic et nonl Unsere Antwort, ob ja, ob nein, hängt nämlich Wie in anderen gut patriarchalischen Familien auch galten allerdings
notwendig davon ab, ob wir in der Sprache der Chemie oder in der nicht alle Mitglieder der Familie Gold als gleich und gleichwertig. Als
Alltagssprache denken. Als Chemiker wissen wir zwar, dass Gold ein antiker Chemiker konnte man sich auf ein, wenn auch nicht wissen­
chemisch nicht zerlegbarer Stoff, ein Element mit der Ordnungszahl schaftlich exakt definierbares, aber doch postulierbares Ideal besten
79, dem Atomgewicht 190,0 und dem spezifischen Gewicht 19,3 ist. Für Goldes beziehen und von dort her Gold von Gold unterscheiden. Es gab
uns als Normalbürger jedoch, ist Gold das, was wir für Gold halten. gutes Gold und schlechtes Gold, und die Technitai waren - trotz aller
Wie sagt doch Gilbert Chesterton, wenn auch sicher nicht im Blick auf Behauptungen in den beiden Papyri - sehr wohl in der Lage, gutes Gold
ein Element namens <Aurum>, sondern auf eine Spezies namens zu identifizieren. Zu den klassischen Prüfverfahren gehörten die Feuer­
<Homo sapiens»: probe, also das Umschmelzen im Feuer, das ja nur Edelmetalle ohne
äußere Veränderung überstehen, ferner die Kupellation, eine oxidieren­
«All is gold that glitters de Schmelze mit Blei, wobei das Blei und alle unedlen Metalle in Oxid
for the glitter is the gold.» (Hopk. (2) 103) verwandelt werden und mit der Bleiglätte abfließen, und der Abstrich
am Probierstein, einer Steinplatte meist aus Kieselschiefer, auf die man
40 I. Im Schatten der Pyramiden Der Spruch in der Säule 41

Striche mit genormten Goldarten neben einen Strich der zu prüfenden sich durch seine Schriften äußern, vorausgesetzt sie haben die Jahrhun­
Goldprobe setzte, um so bei einiger Erfahrung den Reingoldgehalt er­ derte überdauert und wir lesen sie. Aber, um es mit dem Altmeister der
staunlich gut abschätzen zu können/^ Nassverfahren und die Behand­ Historiker, mit Johann Gustav Droysen zu sagen: «Die objektiven Tatsa­
lung des Goldes mit Säuredämpfen gab es noch nicht, weil Mineralsäu­ chen liegen in der Realität unserer Forschung gar nicht vor.» (Droys. 133)
ren ja unbekannt waren. Historische Einsicht entsteht nicht im Auflisten von Fakten, sondern in
Gold, das den üblichen Goldproben nicht standhielt, war nicht unbe­ einem Frage-und-Antwort-Spiel, das gerade im Falle Alchemie, die doch
dingt eine Fälschung. Das müssen wir hinnehmen. Und wenn wir nun abhängig ist von so vielem Ungesagten und Unsagbaren, stets etwas
bestimmte Rezepte der Goldmacherei kennen und bereit sind, eine be­ Prekäres an sich hat. So müssen wir unsere Fragen genau überdenken
stimmte Farbe, ferner allgemein Metallglanz und Schmelzbarkeit als und sie arüiand prima fade meist unklarer Texte zunächst einmal sorgfäl­
Hauptkriterien echten Goldes anzuerkennen, dann können wir Gold tig einüben, um nicht völlig unverständliche Antworten aufzurufen.
chemisch herstellen, kein gutes vielleicht, vielleicht auch keines, das Stellen wir uns nun vor, unser stummer Gastgeber sei ein Mann na­
auch nur Spuren eines Elementes der Ordnungszahl 79 enthält, aber mens Demokrit. Eigentlich ist Demokrit zu alt für unseren Besuch und
immerhin Gold. auch für die prächtige Laborausstattung, die er und wir hier vorfinden,
Sind wir damit aber schon eingewiesen in die Geheimnisse der A l­ ein bis zwei oder gar sieben bis acht Jahrhunderte zu alt, aber mit Ge­
chemie? Manche Chemiehistoriker würden sagen: «Ja, denn was ist die spenstern imd Magiern, wie Demokrit einer war, braucht man es wohl,
so genannte <Göttliche Kunst>, die <Theia techne>, anderes als eine Reihe was die Zeit betrifft, nicht so genau zu nehmen. Zudem ist Demokrit
von Methoden, Gold zu machen? Gewiss, in den alchemischen Texten der früheste historisch bestimmbare Adept.
sind diese Methoden in ebenso geheimnisschwangeres wie überflüssi­ Wer aber ist Demokrit? Wie bei so vielen Alchemisten müssen wir
ges Gerede verpackt. Aber dient dieses Gerede nicht genau genommen bekennen: «Wir wissen es nicht», und uns mit der beantwortbaren Frage
bloß dazu, etwaige physikalische oder chemische Schwächen sozusagen begnügen: «Für wen wurde Demokrit in der alchemischen Tradition
aus dem Wege zu schwatzen?» gehalten?»
Und ohne Zweifel: Es gibt alchemische Verfahren, die zusammenge­ Hier sagen uns die Quellen, dass Demokrit, der Alchemist, schon in
klaubt sein könnten aus Angaben in den Kodizes von Stockholm und der Spätantike mit dem Atomisten Demokrit von Abdera aus dem
Leiden, und die wie eingetaucht wirken in eine Sauce nicht zur Sache 5. Jahrhundert v. Chr. gleichgesetzt wurde. Vielleicht ist für diese, ge­
gehöriger Bemerkungen. Tatsächlich lassen gewisse Indizien vermuten, wiss verunglückte Zuschreibung eine Legende zuständig, nach der der
dass sowohl die Verfasser der Papyri als auch die frühesten Alchemisten alte Demokrit sich zu mitternächtlicher Stunde auf Friedhöfen herum­
Erben einer gemeinsamen Tradition chemisch-technischer Rezeptlitera­ getrieben habe, um die Seelen der Verstorbenen zu beobachten, die doch
tur waren, die Letztere allerdings in ganz spezifischer Weise weiterent­ auch aus Atomen bestehen und als Bilder, Idole, sichtbar sein müssten.
wickelt haben. Und wer in der Geisterstunde auf Grabsteinen hockt, der ist nicht etwa
ein kühler Wissenschaftler, sondern ein Magier.
Aber natürlich kann auch ein Magier keine Bücher schreiben, wenn
6. Der Spruch in der Säule er selbst bloß erfunden worden ist. Als eigentlicher Autor der Demo-
kritschen Schriften galt bei einigen ein gewisser Bolos, der im 2.73. Jahr­
Eine gewisse Einheitlichkeit und vor allem Einsinnigkeit in der Art und hundert vor Christus gelebt hat, vielleicht Mitglied eine neupythagorei­
Reihenfolge der chemischen Operationen, die von den Alchemisten er­ schen Mönchsgemeinschaft war und wegen seiner Sammlungen mit
ster Stunde durchgeführt wurden, geben uns die Hoffnung, all ihre Be­ Magie durchsetzter Naturkundebücher als Vater der so genannten Phy­
mühungen zu einer Art Standardverfahren zusammenfassen zu kön­ sikaliteratur gilt, in der Sympathie- und Antipathiebeziehungen eine
nen. zentrale Rolle spielen. Plinius im i. Jahrhundert nach Christus hielt die­
Kehren wir also erwartungsvoll nach Alexandria in unser Alchemi­ sen Bolos für den Atomisten aus Abdera. Und dass ein Mann der Gei­
stenlabor zurück. Übrigens sagt uns die platte historische Weisheit, dass stesrichtung des Bolos im Papyrus Holmiensis unter dem Namen De-
wir dort immer noch keinen Adepten der Göttlichen Kunst antreffen mokritos erwähnt wird, ist Indiz dafür, dass der Name des Atomisten
werden, zumindest keinen, der sich höchstpersönlich gegen unsere In­ schließlich auf unseren in der Physikaliteratur so wohlbewanderten A l­
terpretation seines Denken und Tuns wehren könnte. Natürlich kann er chemisten übergegangen ist.
42 I. Im Schatten der Pyramiden Das Standardverfahren 43

Der Wissensstand der Demokritschen Hauptschrift mit dem passen­ kostbaren Ausspruch, den wir dort fanden: <Die Natur freut sich über
den Titel <Physika kai Mystika>, also <Natürliche und mystische Dinge», die Natur, die Natur siegt über die Natur, die Natur herrscht über die
weist auf das i . Jahrhundert nach Christus. Als Quelle der Weisheit Natur.» Wir waren sehr überrascht, dass dort in so wenigen Worten alles
beruft sich der Text im Übrigen nicht auf Bolos, sondern auf einen gesammelt war, was er geschrieben hatte.»» (Berth. (2) II, 43; III, 45)
gewissen Ostanes, offenbar einen mesopotamischen oder persischen Eine Diskussion dieses Textes sollten wir zurückstellen und ihn zu­
Magier.^^ Wie die Quelle sprudelte, anders gesagt, wes Geistes Kind nächst nur als Warnung davor nehmen, den Alchemisten für einen Che­
Demokrit ist, dessen Standardverfahren wir im Alexandrinischen La­ miker imd die Alchemie für Chemie zu halten. Stattdessen sollten wir
bor nachkochen wollen, sei am besten in seinen eigenen Worten ge­ uns, durch diese Vorwamimg vor voreiligen Schlüssen geschützt, ganz
schildert: auf die chemische Seite der Standard method konzentrieren.^^
«Nachdem wir diese Erkenntnisse unseres oben genannten Meisters
in uns aufgenommen und die Verschiedenartigkeit der Materie kennen
gelernt hatten, haben wir uns bemüht, die Naturen in Übereinstimmung 7. Das Standardverfahren
zu bringen. Weil aber unser Meister gestorben war, bevor er uns hatte
einführen können, und weil es sich zu einer Zeit zutrug, als wir uns Beginnen wir damit, uns Stückchen vier verschiedener Metalle, und
einmal wieder mit der Erkenntnis der Materie beschäftigten, sagte man zwar Proben von Blei, Zinn, Kupfer und Eisen, aus den Regalen des
uns, wir sollten versuchen, ihn aus der Unterwelt herbeizurufen. Und Labors zu holen. Es sind dies die Somata, die übrig bleiben, wenn man
ich bemühte mich, dieses Ziel zu erreichen, indem ich ihn direkt an­ von den sieben bekaimten Metallen die an Perfektion weit über den
sprach mit den Worten: <Womit vergiltst du mir, was ich für dich getan Übrigen stehenden Edelmetalle Gold und Silber und auch das Über­
habe?» Nach diesen Worten bewahrte ich Schweigen. Als ich ihn zu gangsmetall Quecksilber abzieht. Die vier gewöhnlichen Metalle
mederholten Malen anrief, indem ich ihn fragte, wie ich die Naturen in schmelzen wir in einem Tiegel, wobei wir die Menge der Zugaben va­
Übereinstimmung bringen könnte, sagte er mir, dass es schwierig für riieren, bis wir das erreichen, was wir wollen. Tatsächlich, ich habe es
ihn sei, ohne die Erlaubnis des [seines] Dämon zu reden. Und er sprach nachgeprüft: Wenn wir es richtig machen, werden wir einen angenehm
nur diese Worte: <Die Bücher sind im Tempel.» Nachdem ich in den kümmerlichen Erfolg haben. Nichts, das aussieht wie eine, und sei's
Tempel zurückgekehrt war, versuchte ich sogleich, mich in den Besitz noch so unansehnliche Legierung, werden wir bekommen, nein, wir
dieser Bücher zu setzen, denn er hatte mir nichts von diesen Büchern erhalten einen schwarzen Grus, eine Art Schlacke, die weder Glanz noch
erzählt, als er noch gelebt hatte, und war gestorben, ohne testamentari­ sonst etwas Metallähnliches an sich hat, wenn man die in der Masse
sche Verfügungen treffen zu können. Er hatte, wie man behauptete, Gift verteilten winzigen imd ganz unauffälligen Eisenkügelchen einmal aus­
genommen, um seine Seele von seinem Körper zu trennen, vielleicht nimmt. Diese hässliche Schlacke führte bei den griechischen Alchemi­
auch hatte er, wie sein Sohn meinte, aus Versehen Gift geschluckt. Nun sten den schönen Namen Tetrasoma (Ta tessara somata) oder Tetrasomie
hatte er vor seinem Tode erwogen, die Bücher nur seinem Sohn zu zei­ (He tetrasomia), also Vierkörper oder Vierkörperschaft. Das Verfahren,
gen, wenn dieser das Jugendalter überschritten hätte. Keiner von uns mit dem wir Tetrasoma gewiimen, hieß Melanosis, lateinisch Nigredo,
wusste irgendetwas von den Büchern. Nachdem wir aber Nachfor­ was Schwärzung oder Schwarzfärbung bedeutet.
schungen angestellt und nichts gefunden hatten, gaben wir uns schreck­ Der Vierkörper besaß in den Augen der Alchemisten eine Eigenschaft,
liche Mühe herauszufinden, wie sich die Substanzen und Naturen ver­ die ihn sehr schätzenswert machte, nämlich die, keine Eigenschaft zu
einigen und verschmelzen. Aber während wir noch an den Zusanunen- besitzen. Wir wissen bereits, dass die Farbe für die alten Alchemisten
setzungen der Materie arbeiteten, richteten wir, als die Zeit für eine das wichtigste Charakteristikum individueller Materie war. Die Farbe
religiöse Zeremonie im Tempel gekommen war, ein Festessen aus. Da, macht die Materie erst zu der, die sie ist. Und mit der Farbe Schwarz
als wir gerade in der Tempelhalle waren, öffnete sich plötzlich eine hatte es, zumindest bei den Griechen, eine besondere Bewandtnis. Ei­
bestimmte Säule, aber wir sahen nichts in ihrem Irmem. Nun hatte we­ nerseits war Schwarz eine Hauptfarbe der Malerei, andererseits war der
der er [der Sohn] noch irgendjemand uns gesagt, dass die Bücher seines Farbton Schwarz nicht eigentlich ein Farh-lon; in der gängigen Sicht­
Vaters dort niedergelegt worden seien. Indem er [der Meister] sich selbst weise war Schwarz einfach die Abwesenheit von Farben. Übergang zu
näherte, führte er uns an die Säule, und während wir uns vorbeugten, Schwarz bedeutete den Verlust genau der Eigenschaften, die Materie zu
sahen wir mit Überraschung, dass uns nichts entgangen war, außer dem wirklicher Materie machen.
44 I. Im Schatten der Pyramiden Das Standardverfahren 45

Im Übrigen ist ja nicht nur die Tetrasomie schwarz. Zuweilen wird der Hoffnung imd des Reichtums in der Verarmung. Nicht einmal Me­
im Zusammenhang mit der Melanosis auch von Magnesia oder <unserer tallglanz zeigt es, und richtig schmiedbar ist es auch nicht, was übrigens
Magnesia> geredet, worunter gewiss nicht unser M gO zu verstehen ist, wesentlich an seinem Bleigehalt liegt. Demokritos sagt ausdrücklich,
obwohl das Wort sicher verschiedene Bedeutungen hat. Magnesia könn­ dass alle vier Metalle eigentlich Blei sind, seien doch die drei anderen
te für den matt glänzenden Magnetit (FejO^) stehen, dessen Strich auch aus Blei entstanden. Und einige Jahrhunderte später redet Olym­
schwarz und dessen auffallendste Eigenschaft ein starker Magnetismus, piodoros nur noch von Blei als Prima materia.
will sagen, die wie ein Wunder wirkende Fähigkeit ist, als Eines über Das einzig Metallische, das dem Tetrasoma geblieben ist, ist die
die Distanz zu Einem zu versammeln. Vielleicht steht Magnesia auch Schmelzbarkeit, und sie ist ja nichts spezifisch Metallisches. Schmelzbar­
für Antimon- bzw. Bleisulfid oder für den stahlgrauen Flämatit (Fe^O^), keit, da waren sich alle Naturphilosophen der Zeit einig, bedeutet
der, faszinierend genug, einen blutroten Strich aufweist. Magnesia Feuchtigkeit, bedeutet Wassergehalt und bedeutet damit das Unbe-
könnte sogar die Tetrasomie bedeuten, leitet doch Zosimos das Wort stinraite auch in Hinblick auf die stereometrische Form. Prima materia
vom Mischen der Substanzen, meignyein, ab. Aber auch <unser Blei> wurde oft als Flüssigkeit gesehen, als <Schwarze Brühe>.^^
kann die grundlegende Materie sein. Substanzen dieser Art - fast immer Doch ob nun Schwarze Brühe, ob Tetrasoma: Als Urmaterie ist das
schwarz - wurden auch zuweilen mit das Alles, To pan, bezeichnet, was Erstprodukt des alchemischen Prozesses natürlich noch keineswegs
wiederum auf eine allen Materieformen unterliegende Materie, mithin Gold. Wir müssen weitergehen, und im zweiten Schritt unseres Stan­
auf Prima materia hindeutet. dardverfahrens nehmen wir nun unser Tetrasoma und schmelzen ihm
Im Bewusstsein der Menschen ist Schwarz die Abwesenheit und der zunächst etwas Silber, genauer gesagt Silberpulver, zu, das sinnträchtig
Anfang. Schwarz ist die Nacht, die den Tag gebiert; Schwarz ist die <Same des Silbers> genannt wurde.
Blindheit vor dem Sehen, ist die Hölle, bevor das Licht der Gnade sie Der Ausdruck Same deutet tatsächlich auf einen biologisch gedach­
vernichtet; Schwarz, das ist der Tod, ist der Schlaf, den die Träume mit ten Vorgang, auf eine Art Fermentation hin. Die Samen des Silbers bzw.
Licht und Leben erfüllen; Schwarz, das ist der furchtbare und fruchtba­ des Goldes, denn einen solchen gab es auch, waren nicht bloß Edel­
re, bild- und wortlose Urgrund unserer Seele, aus dessen unauflösbarem metalle in Pulverform, sie waren wirkliche Samen, deren Wirkung oft
Geheimnis Bilder und Worte emporsteigen; Schwarz, das ist der Nil­ nüt der des Sperma oder der Saat verglichen wurde. Das wiederum
schlamm, aus dem alles entsteht, ist der Schoß der Erde, der die Metalle gab den Adepten Gelegenheit zu bilderreichen Gleichsetzungen. In der
austrägt; Schwarz, das ist die Hoffnungslosigkeit und zugleich die Hoff­ fruchtbringenden Erde, im Uterus bzw. im dunklen Menstruationsblut
nung, ist, genau wie das Chaos, das noch Ungestaltete, ein Anfang und wächst und entwickelt sich der Same, wird zur Blume, zum Baum,
zugleich ein Ende: Es ist alles, wo es nichts zu sein scheint. Deshalb zum Embryo, der schließlich als das wahre Kind geboren wird. Vor
trägt der wahrhaft schwarze Körper sein eigentliches Ziel, den Stein der allem in der späteren christlichen Alchemie wird dabei immer wieder
Weisen, die Große Wandlungssubstanz, die unedle Metalle in edle trans- auf das Gleichnis vom Samenkorn verwiesen, das stirbt, um Leben zu
mutiert, schon in sich. Und das wiederum lässt eine ganz andere Inter­ geben: «Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Weim das Weizenkorn nicht
pretation des Begriffes Schwarz zu. Schwarz bedeutet nicht etwa die in die Erde fällt und erstirbt, so bleibt's allein; wenn es aber erstirbt,
völlige Abwesenheit von Farben, sondern im Gegenteil deren unpas­ so bringt es viel Frucht.» (Joh. 12, 24) Es gibt Leben, indem es dasjenige
sendste Anwesenheit. Olympiodoros z. B. bezeichnet Schwarz als die verändert, dasjenige sich anverwandelt, in dem und von dem es lebt.
Farbe aller Farben und Weiß als die Nicht-Farbe. Und das ist die Materie, in die es eingebettet ist. Wenn wir nun noch
Als Zeichen der Abwesenheit und zugleich der Anwesenheit wahrer hinzudenken, dass - zurückgehend auf stoisches Gedankengut - Seele,
Wirklichkeit, wahrer Lebendigkeit ist <Schwarz> in den Augen der A l­ Same, Geist und Farbe im Verständnis der Alchemisten eng, ja unauf­
chemisten Charakteristikum der Materie schlechthin, ist sie, die selbst löslich zusammengehörten, dann wird uns kaum wundem, dass der
eigenschaftslos ist, doch Träger jeder sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit Same des Goldes in gewisser Weise schon das eigentliche Färbemittel,
und Lebendigkeit. Der Schwarze Körper ist die Urmaterie, ist die Prima schon das Ziel selbst war, auf das der ganze alchemische Prozess hin­
materia. streben sollte.
Tetrasoma ist schwarz. Und gerade als Ergebnis des Untergangs aller So wie in der Prima materia das Ergebnis aller alchemischen Mühen
spezifischen Eigenschaften in einem großen Ganzen, und d. h. als wahr­ schon vorhanden ist, so ist es auch im Samen bereits vorhanden. Tat­
haft Fleisch gewordene Eigenschaftslosigkeit, ist Tetrasoma ein Zeichen sächlich wird bereits in einigen der älteren alchemischen Schriften be­
46 I. Im Schatten der Pyramiden Das Standardverfahren 47

hauptet, der Stein der Weisen enthalte die Samen beider Edelmetalle. Diese Weißfärbung köimte das Ende der alchemischen Operationen,
Einige Alchemisten wie auch Demokrit selbst verglichen die Wirkweise köimte das Ziel aller Bemühungen sein, ist doch die strahlende Weiße
des Samens mit dem Verhalten des Sauerteigs, Maza, lat. Massa genannt, des Silbers schon eine Art Vollendung. Denn ist Weiß nicht das Licht,
denn analog dem Sauerteig oder dem Samen der Pflanzen und Tiere das die Nacht erleuchtet? <Weiß> ist Selene oder Luna, die Gottheit des
verwandelt auch der Metallsame Materie dadurch, dass er sich selbst bei fast allen Völkern weiblich gedachten Mondes, ja Weiß ist das Weib­
vermehrt: Aus dem Samen des Silbers wird Silber, aus dem Samen des liche schlechthin; Weiß, das ist auch das wie der Mond Wechselhafte
Goldes wird Gold, was auch so gedeutet wurde, dass das Inhärente, das und Unbegreifliche der Dinge, wie das Schicksal selbst. Als Unbegreif­
aktuell Potentielle und damit das Innere gewissermaßen nach außen liches ist Weiß auch bedrohlich. Nicht von ungefähr ist Moby Dick, der
bzw. - um auf zwei wichtige Begriffe vorzugreifen - aus dem Okkulten Wal in Herman Melvilles Roman, weiß. <Weiß> ist auch chaotisch. Des­
ins Manifeste gekehrt wird. halb reden wir von weißem Rauschen, und auch der Rausch schlechthin
Nachdem wir nun, dies alles in unserem philosophischem Herzen kann nüt weiß in Verbindung gebracht werden. Und deshalb auch kann
bedenkend, zunächst einmal den Silber-Samen gesät haben, tauchen wir weiß zugleich auch schwarz sein wie der Neumond, der alles Licht
das Produkt aus Tetrasoma und Silber-Samen ein in jenes merkwürdige auslöscht, karm schwarz sein wie die ungeformte, luranfängliche Erde.
Metall, das kein Metall sein dürfte, weil es normalerweise flüssig ist, Die alchemische Jungfemerde war Erde und zugleich weiß, trug sie
und fest nur in Verbindung mit anderen Metallen, in die es allerdings doch in gewisser Weise ihre Vollendung in sich selber. Vor allem aber
eindringen kann, ohne Widerstand zu finden. Kurz gesagt, wir tauchen ist <Weiß> Symbol der Klarheit, Reinheit und Unschuld, das den Anfech­
die Masse in Quecksilber, oder wir setzen sie Quecksilberdämpfen aus. tungen der Zeit trotzt, weshalb es sich im weißen Golde der Ägypter,
Mangels Quecksilber können wir auch etwas dem Quecksilber Ähnli­ im Silber verkörpert.
ches verwenden, nämlich geschmolzenes Zinn bzw. Zinnamalgam, und Tatsächlich kann die Leukosis als eine Reinigung betrachtet werden,
zusätzlich oder alternativ auch Arsenik, das ebenfalls zur Aufhellung wie Olympidoros sie denn auch als «Entfernung des Schwarzen» be­
dienen kann. Wir können sagen: Wir haben den Sauerteig im Quecksil­ zeichnet; denn «das Weiß ist abgetrennt, das Schwarz ist umfassend».
berbad entwickelt, ganz wie man ein Negativ im Fotobad entwickelt; (Berth. (2) III, 99, 100, 196) Übrigens scheint Olympiodoros einen che­
und wir können auch sagen: Wir haben den Samen befruchtet und ihn mischen Beleg für seine Meinung darin gesehen zu haben, dass Blei,
zu Leben und Wachstum erweckt. Das erklärt auch, warum der Same obwohl es doch schwarz ist, aus mehreren Farben besteht, d. h. in Ver­
des Silbers aus Silber sein muss. Alles, was gezeugt ist, das sagten schon bindungen völlig verschiedener Färbung wie Bleiweiß (PbCOj) und
die klassischen Philosophen, kann nur durch die eigene Art gezeugt Mennige (PbjO^) auftreten kann.
worden sein: Sauerteig stammt aus Sauerteig, Getreide wächst aus Ge- Die Leukosis zum alchemischen Silber ist aber kein Ziel in sich, sie
treidekömem, und so kann Silber nur aus dem Samen des Silbers ent­ ist eine Übergangsstation auf dem Wege zur wahren Erlösung der Ma­
stehen. Wenn wir es geschickt angestellt haben, haben wir also mit Hilfe terie von allem Niederen, allem Unedlen. Alchemisches Silber zeigt im
des Silber-Samens und des Quecksilbers echtes Silber gewonnen, ein Inneren des Metalls oft einen Goldschimmer, der sicher vom eingesetz­
Silber, das «selbst die Technitai täuscht». ((P. Leid., Rez. 8) Hall. 86) Der ten Kupfer stammt, und nur eingefleischte Chemiker würden hier be­
wahre Alchenüst aber will die Werkleute nicht oder nicht nur täuschen, haupten, der Kupferton sei ja geradezu ein Beweis für die Unechtheit
er will einem naturphilosophisch gestützten Programm folgen, und so des so genannten Edelmetalls. Im Gegenteil, die Fehlfarbe galt als Beleg
wird er das, was wir auf direktestem Weg erreicht haben, über Umwege dafür, dass gewissermaßen echteres als nur echtes Silber entstanden
anstreben, die uns aus chemischer Sicht bestensfalls irrelevant erschei­ war, ein Silber, das im Inneren schon fast Gold geworden war. Jede
nen. Doch gerade die Umwege sind die eigentlichen Denkwege der Hauptstufe des alchemischen Standardprozesses konnte so als eine Art
Alchemie. Zu-sich-selbst-Kommen angesehen werden, tragen doch nicht nur das
Aber Umweg oder nicht: Was wir bewerkstelligt haben, ist eine Weiß­ Tetrasoma, sondern auch alchemisches Silber und alchemisches Gold
färbung. Wie erinnerlich, verwendet der Papyrus Leidensis dafür das als jeweilige Vorstufen zu Höherem die Keime ihrer eigenen Veredlung
Wort Leukosis, das sowohl die Darstellung als auch die Vervielfältigung in sich. In dieser Sicht hätte der Same nur eine Hilfsfunktion; wir wer­
von Silber anzeigt. Dieser Begriff ist von der griechischen Alchemie den aber keinen Alchemisten finden, der sich hierüber in theoretische
übernommen und in der lateinischen Alchemie mit Albedo, d. h. Wei­ Erörterungen eingelassen hätte.
ßung oder Weißfärbimg, übersetzt worden. Der Leukosis folgten gewöhnlich noch zwei Stufen, von denen die
48 I. Im Schatten der Pyramiden Theion hydor 49

erste, die Gilbung oder Gelbfärbung, zum Gegenstück des weiblichen Symbole haben ja überhaupt mit Ineinssetzen zu tun, und zwar auf
Silbers, nämlich zum männlichen Golde, führen sollte. Bei den Griechen dem Wege eines Zusammensetzens. Nicht umsonst ist der Begriff Sym-
hieß sie Xanthosis und bei den Lateinern, die übrigens diese Stufe auf bolon abgeleitet vom Worte symballein, das wir mit <zusammenlegen>
dem Wege zum Lapis philosophorum manchmal übersprangen, wurde übersetzen können. So kann alles Mögliche symbolische Bedeutung be­
sie Citrinitas genannt. sitzen: Worte, Gegenstände, Bilder, Handlungen, und dabei kann die
Die Methode zur Darstellung des Goldes im Standardprozess war Bedeuhmg selbst als solche kenntlich sein oder unkenntlich. Kurz, un­
von frappierender Einfachheit. Man nahm sein Alchemisten-Silber, füg­ sere Welt, so wie wir sie erleben, wimmelt geradezu von Symbolen,
te etwas Gold, d. h. Samen des Goldes, zu und tauchte das Ganze in ein auch wenn uns das nicht immer bewusst ist. Nur ausgerechnet die che­
Wasser namens Theion hydor. Diese erstaunliche Flüssigkeit ist in ihrer mischen Symbole sind keine Symbole, denn ihnen fehlt etwas, das zum
Wirkung dem Quecksilber sehr ähnlich. Sie entwickelt das Gold im In­ Zusammenlegen dazugehört: das Unbestimmte in einer im Grunde un­
neren des alchemischen Silbers, dass es aufgeht wie Sauerteig und die trennbaren Gemeinschaft. S5nnbol und Symbolisiertes nämlich gehören
ganze Masse durchsäuert. Übrigens ist auch hier wie im Falle des zusanunen wie die Hälften eines Ringes und weisen hin auf ein Drittes.
Quecksilbers denkbar, dass der Alchemist nicht die Flüssigkeit selbst, Wenn Freunde Abschied nehmen mussten und wenn sie ihre Angehö­
sondern nur den Dampf des Theion hydor einwirken ließ. rigen in ihre Freundschaft einbeziehen wollten, dann zerbrachen sie
einen Ring. Der Angehörige, der mit seinem Teil des Ringes die Gast­
freundschaft des unbekannten Freundes suchte, brauchte nicht zu wis­
8. Theion hydor sen, wie das andere Bruchstück beschaffen war und ob das, was die
Freimdschaft besiegelt hatte, sich jetzt vielleicht anders darstellte als
Was aber ist Theion hydor? Wenn man es nach dem Rezept 87 des zuvor, vielleicht ohne den Stein, der irgendwann mal aus der Fassung
Leidener Papyrus herstellt, indem man Kalk und Schwefel in Essig oder gefallen war, vielleicht mit anderen Verzierungen, nun vielleicht mit so
dem Urin eines jungfräulichen Knaben kocht, dann ist es schlicht saure krassen Veränderungen, dass das Bruchstück äußerlich nicht wieder zu
bzw. alkalische Calciumpolysulfidlösung. Aus Schwefel und Kalk ent­ erkennen war. Für den Gast und den Gastgeber ging es nur darum,
steht nämlich eine gelbliche Abart der Schwefelleber, d. h. ein Gemenge festzustellen, ob die beiden Teile des Ringes sich verbinden ließen: Pass­
von Calciumpolysulfiden, Calciumthiosulfat und Calciumsulfat. Ko­ ten sie aufeinander, dann war das Bruchstück trotz allem das Richtige
chender Schwefel ist rot wie Blut, das Wasser selbst ist gelb wie Blutse­ und koimte zusammen mit der anderen Ringhälfte Freundschaft <her-
rum, d. h. Theion hydor war genau das Färbemittel, das der Alchemist beirufen>. Genauso ist es mit Götter- oder Heiligenstatuen. Sie symbo­
brauchte. Tatsächlich kann man, wie sich leicht nachprüfen lässt, Kup­ lisieren etwas, von dem wir uns beliebig viele Vorstellungen machen
ferstücke mit Polysulfidlösungen goldglänzend färben. Lackiert man können - die Statue selbst macht nur Andeutungen. Wenn wir aber -
dann die Oberflächen - und auch die antiken Alchemisten verstanden vielleicht aufgrund der Andeutungen - eine nahtlose Entsprechung von
es, metallische Gegenstände zu lackieren -, kann man für lange Zeit Symbol und Symbolisiertem erfühlen, dann erleben wir dieses Etwas
verhindern, dass das Gold durch Oxidation schwarz wird. Auch in fes­ als real und zugleich als Hinweis auf ein Drittes, unseren konkreten
ter Form übrigens greifen die Polysulfide Metalle an, aber das klassische Vorstellungen Entzogenes, als Hinweis auf Göttliches, auf Transzendenz
Färbemittel war wohl die Polysulfid-Löswn^, wie immer sie nun im Ein­ in einer bestimmten, wenn auch selbst unfassbaren Erscheinungsform.
zelnen zusammengesetzt war. Auch das Ei, so fröhlich und diesseitig es auch zu Ostern bemalt und
Altmeister Zosimos gewann das Wunderwasser durch Destillation gegessen wird, symbolisiert Transzendentes, symbolisiert das Sein
von Eiern im Destillierapparat. Die Verwendung von Eiern kommt da­ schlechthin, symbolisiert die Schöpfung, das Leben, die Fruchtbarkeit.
bei sicher nicht von ungefähr, wenn wir bedenken, dass Eier, die ja aus Aber es ist eine Transzendenz in der Welt, und sogar eine sozusagen
Schale, Eihäutchen plus Luftbläschen, Eiweiß und Eigelb bestehen, die chemisch maiüpulierbare Transzendenz.
Vereinigung der vier klassischen Elemente Erde, Luft, Wasser und Feuer Ctestilliert man Eier, dann gehen sie in drei Fraktionen über: die
repräsentieren und damit das Ganze der Welt und das Sein schlechthin erste, das Regenwasser, ist weiß bzw. klar, die nächste, das Rettich-Öl,
symbolisieren. Bei dieser Ineinssetzung von Ei und Sein spielte eine das einen unangenehmen Geruch verbreitet, ist gelb-grünlich, und die
verbale Assoziation sicher eine ganz besondere Rolle: Das Sein heißt auf dritte, die durch nochmalige Destillation des toten, aber - beim Ste­
Griechisch to on, das Ei dagegen to oon. henlassen an der Luft - wiedererstandenen Rückstandes gewonnen
5° 7. Im Schatten der Pyramiden Theion hydor 51

wird, besitzt eine schwarz-grünliche Färbung. Zosimos empfiehlt nun, Teekesselchen-Spiel,^' zumal Theion hydor, «das große Mysterium»
die drei <männhchen> Fraktionen mit dem Rückstand im <weiblichen> (Berth. (2) III, 162), auch in innerer Beziehung stand zu einer zentralen
Teil des Destillationsapparates zu vereinigen und vierzig Tage lang religiösen Handlimg, der Initiation in der Taufe. Wenn nämlich Metalle
aufeinander einwirken zu lassen, um so die färbende Materie, sprich mit dem göttlichen, schwefligen Wasser benetzt werden, werden sie von
das Theion hydor, zu erhalten, denn «die Natur überwindet die Na­ eben diesem Wasser gefärbt. Das griechische Wort für <benetzen> oder
tur», w ill sagen «schweflige Substanzen werden von schwefligen <eintauchen>, wenn die Färber ihre Tuche in die Küpe tauchten und sie
Substanzen überwunden und feuchte Substanzen von entsprechenden damit färbten, aber heißt baptein, und die Taufe, ho baptismos, war dem­
feuchten Substanzen». (Berth. (2) III, 88, 143-145; über das Ei; Berth. gemäß gleichzeitig eine <Reinigung> und eine <Färbung> zum Neuen
(2) II, 18, 21, 129) Menschen, was nichts anderes heißt, als dass der Täufling eine Trans­
Es gibt übrigens auch Beschreibungen der Gewinnung von Theion mutation, einen völligen Wechsel von einem Sein in ein anderes, und
hydor, die ausgesprochen vage sind. Die Vagheit wird unüberbietbar, so eine Wiedergeburt erlebte.
wenn derselbe Zosimos, der eben noch so sorgfältig Eier destilliert hat, Auch wir Kinder des 20. Jahrhunderts haben das Gefühl für ein im
alle Flüssigkeiten aus dem Substanzkatalog der Alchemisten oder deren wahrsten Sinne des Wortes tiefsinniges Verhältnis von Name und Sache,
Mischung zu Theion hydor erklärt. Darüber hinaus behauptet ein an­ vom Namen und der Anrufung der Sache nicht ganz verloren. «Wenn
derer Autor, Synesios, man könne Theion hydor durch Destillation aus man den Teufel nennt, / konunt er gerennt», was in früheren Jahrhun­
alchemischem Silber, d. h. Amalgamen bzw. Quecksilber, ausziehen. derten bei weitem nicht so komisch klang wie heute. Und verspüren
Und sogar bei Versuchen, über das Gold hinauszukommen, scheint ein wir nicht immer dann, wenn unser eigener Name falsch ausgesprochen
geheimnisvolles Theion hydor eingesetzt worden zu sein. wird, oder wenn wir uns an den Namen einer Person, die uns vertraut
Alle Adepten, auch Synesios, haben wohl geglaubt, Schwefelwasser ist, nicht mehr genau erinnern können, ein peinliches Empfinden? Und
in Händen zu haben. Genau wie die Phiole trägt das Färbewassser näm­ <sagt> uns das nicht mehr, als die Sache - unser kleiner Fehler - eigent­
lich eine gewichtige Bedeutung mit sich herum, die in dem Wort <thei- lich wert ist?5^
on> verborgen ist. To theion ist nicht nur der Schwefel bzw. der Schwe­ Dieses Restchen von Unbehagen sollte uns helfen, uns in die so an­
felgeruch, To theion ist auch die Gottheit bzw. das Göttliche, das Himm­ dere Welt früherer Zeiten einzufügen. Wir werden feststellen, dass da­
lische oder Übermenschliche. Wir neigen dazu, diese Namensgleichheit mals das Denken und Fühlen auch so genannter gebildeter Menschen
für rein zufällig zu halten, obwohl der Himmels- und Gewittergott sich ganz wesentlich in Realanalogien abspielte, womit ich hier ohne
Zeus, wenn er seine Blitze schleudert, den Hinunel mit schwefelgelbem Rücksicht auf irgendwelche Feinheiten des Symbol- und des Analogie­
Leuchten und mit dem schwefligen Geruch seines Zorns und seiner begriffs nur sagen will, dass im außer-aufklärerischen Verständnis das­
Macht erfüUt.^^ Und wäre es so, wäre die Sprachwurzel der beiden Aus­ jenige, was anderem ähnlich ist, in innerer, aktiver Beziehimg zu diesem
drücke tatsächlich dieselbe, so wären wir dennoch geneigt, das Ganze anderen steht oder zumindest stehen kann. Das mag sich auf die Laut­
für eine spielerische Assoziation ohne tiefere Bedeutung zu halten. Eine werte und Zusammenklänge von Wörtern beziehen, aber auch auf farb­
solche Meimmg allerdings wäre jedem anständigen Alchemisten boden­ liche, bildliche Eindrücke, auf überhaupt alles, was die Sinne angeht,
los leichtsinnig erschienen. In seinem Zusammendenken und Zusam­ und darüber hinaus auf die Struktur, auf die Logik von Geschichten,
menfühlen von Dingen, die für uns bestenfalls kulturhistorisch zusam­ die von verschiedenen Ereignissen, verschiedenen Erscheinungen han-
mengehören, war er dabei gewiss kein Außenseiter. Sehen wir einmal deln .33 Nun ist es sehr menschlich, das, was man ständig vor Augen
von gewissen Intellektuellen ab, die ihre Nase nie von den Schriftrollen hat, mit der Zeit inuner flacher, immer schattenloser zu sehen, und so
eines Aristoteles oder Archimedes abwandten, war für den sprichwört­ waren die offenen, alltäglichen Ähnlichkeiten gewöhnlich ohne jedes
lichen Mann auf der Straße kaum ein Zufall des Namens zufällig, kaum Geheimnis. Anders dagegen stand es mit den nicht leicht zu durch­
ein Hindeuten von einer Bedeutung zu anderen Bedeutungen bedeu­ schauenden, den verborgenen Ähnlichkeiten; denn ist nicht das Verbor­
tungslos. Nomen war Omen, und wir sollten uns in diesem Zusammen­ gene, ist nicht die nur den Blicken des Adepten zugängliche Ähnlich­
hang daran erinnern, dass Gott die Welt trotz der abweichenden Mei­ keitsbeziehung der wahre Ort des Geheimnisses, vor allem dann, wenn
nung des Doktor Faustus aus dem Wort schuf.^° diese Beziehung verschiedene Seinsbereiche miteinander verbindet und
Für keinen Adepten waren Theion hydor als schwefliges Wasser imd so in ihrer inneren Einheit wechselseitig bestätigt? Und ist diese innere
Theion hydor als göttliches Wasser lediglich so etwas wie Wörter im Einheit, wie wir sie beim Zusammentreffen des Schwefligen und des
52 I. Im Schatten der Pyramiden Theion hydor 53

Göttlichen im Theion hydor zu spüren meinen, nicht so vielfältig, so


komplex, so sehr in Denken und Fühlen verstrickt wie das Leben selber?
Wir können behaupten, dass ein implizites oder explizites <So... wie>
im alchemischen Denken und Fühlen fast niemals eine bloße Redewen­
dung, fast niemals ein bloßer Hinweis ist auf eine nicht weiter beach­
tenswerte Ähnlichkeit. <So ... wie> meint vielmehr: in Sympathie oder
Antipathie mit dem anderen, dem es gleicht, verbunden und eben des­ __ 4
halb ähnlich. A uf solche Weise verstandene Ähnlichkeitsbeziehungen,
-II--OIH1------ ^
auch Sympathiebeziehungen von Worten und Dingen, von Bezeichnen­
dem und Bezeichnetem, besaßen magischen Charakter, sie bedeuteten Üßi
einander, sie wirkten aufeinander, sie stellten den Menschen - und nicht It P«oi»w w m m
nur den Menschen der Antike, sondern auch den aller folgenden Zeiten i ** V
»/ I ^ ^ NTrinH c1
bis tief hinein in die Neuzeit - in ein dichtes Netz innerer Beziehungen,
in das er sich verstrickt, in dem er sich aber auch gehalten und erhalten
fühlen konnte. Das ist nicht so idyllisch, wie es klingen mag, denn Ver­
strickung, das war Gefangensein in den Ängsten der überall Transzen­
denz und Übermächtiges erlebenden, nach Erlösung lechzenden Seele.
Und - dies ist ein Grundgedanke der spätantiken rehgiösen Bewegung,
die wir mit Gnosis bezeichnen - wer nicht weiß, wie ihm geschieht, wer
blind im Dunkeln mit den Fäden seiner eigenen Verstrickung ringt, der
^ i eW
wird niemals erlöst werden. Erlösendes Wissen, also Weisheit, aber be­
deutet, die Bedeutung des Bedeutenden zu erkennen, auch dort, wo wir
heute, nüchtern wie wir sind, nur semantische Zufälligkeiten zu sehen
vermögen.
Bei allen Verweisen auf die Blitze des Zeus, auf die Taufe und auf das ii^y>
Wissen-als-Weisheit sollten wir nicht vergessen, dass Theion hydor vor
allem ein chemisches Reagenz bezeichnet, das ja bereits in den che­
misch-technischen Papyrus-Texten erwähnt wird und im dritten Schritt
des alchemischen Standardprozesses das ersehnte Gold ergibt, imd ein
durchaus annehmbares dazu.^^ Dennoch brauchen wir hier noch nicht Prf viVVIV^>nif
näher auf das Ziel der Sehnsucht, das Gold, im Denken, Glauben und
Fühlen der Antike einzugehen, denn zumindest im Standardverfahren
oy/u^ToMv®*^ o«X ^
diente unser Gold doch nur zu noch Höherem, zur Gewinnung einer
Art Supergoldes, das auf der Werteskala der Adepten weit oberhalb des
weiblichen Silbers und des männlichen Goldes angesiedelt war. Die drei
ersten Stufen des alchemischen Prozesses reichten also nicht, eine wei­
tere musste sich anschließen: die Erythrosis, lat. Rubedo, zu Deutsch Rot­ , oi{04fm ‘ ^ K iA ^ o V^ h tr{f 6 i
färbung.
Oft wurde statt des Wortes Erythrosis übrigens das Wort losis ver­
wandt, dessen Bedeutung nicht ganz klar ist. Es kann vom Worte ho ios Der Ouroboros, ein Hauptsymbol der Alchemie, das u. a. den Kreislauf der Materie
gleich Gift oder Rost bzw. Grünspan oder Patina abgeleitet sein, aber darstellen soll. Die innere Farbe (grün) symbolisiert den Anfang, die äußere Farbe (rot)
auch vom Worte to ion gleich Levkoje bzw. Goldlack oder Veilchen. Im das Ende des Werkes. (Bibliotheque Nationale, Paris, Ms. grec 2 j2 /, f. 297)
diesem Fall hieße losis Violett- oder auch Purpurfärbung. Übrigens
54 I. Im Schatten der Pyramiden Der letzte Schritt 55

würde es gut zum assoziativen und zugleich additiven Denkstil unserer werden, «indem sie die innere, verborgene Natur des Metalls, auf das
Alchemisten passen, wenn beide Bedeutungsgruppen im Wort losis ver­ sie einwirkt, freisetzt.» (Berth. (2) III, 107)
eint wären. Eins ist sicher: «Um Gold zu tingieren, tut man das am besten nach
der losis ... allein losis macht alles, und vor allem den los.» (Berth. (2)
III, 175) Man kann in der losis auch Pflanzen anwenden wie «Rhabarber,
5>. Der letzte Schritt Safran und andere». (Berth. (2) III, i59f.)
Doch auch «das Wasser des natürlichen Schwefels» wird los genannt
Warum das Hauptziel der Alchemisten die losis und nicht die Xanthosis (Berth. (2) III, 209), denn genau wie ohne losis nichts gelingt, gelingt
war, sei dahingestellt, bis uns die Chemie der losis verständlich gewor­ auch ohne Theion hydor nichts: «Ohne Theion hydor, die göttliche Flüs­
den ist - so weit es uns heute noch gelingt. Die alchemischen Texte sind sigkeit, gibt es nichts: Jede Verbindung wird durch sie vollendet, durch
nämlich gerade in der Beschreibung des los bzw. des Ion und der losis sie wird sie gekocht, durch sie wird sie calciniert, durch sie wird sie
ausgesprochen unklar. Was etwa soll man mit folgender Definition der fixiert, durch sie wird sie gegilbt, durch sie wird sie zersetzt, durch sie
losis in einer Abhandlung über den sich selbst fressenden Drachen wird sie tingiert, durch sie erfährt sie losis und Veredlung.» (Berth. (2)
Ouroboros anfangen, der genau wie das Ei das Ganze der Welt und die m , 238)
vier Elemente symbolisiert? Nichts aber erscheint sicher, und das nicht nur in unseren Augen,
«Der grüne Drache, das ist die losis, d. h. ihre Fermentation; seine scmdem auch in denen der alten Alchemisten, denn alles nur Mögliche
vier Tatzen, das ist die Tetrasomie, die in der Vorschrift der Kunst an­ in scheinbar wahlloser Aufzählung wurde los bzw. losis genannt. Eine
gewandt wird; seine drei Ohren, das sind die drei Dämpfe und die Übersetzung der losis in unsere Welt der Chenüe gelingt uns am ehe­
zwölf Vorschriften; sein los, das ist der Essig.» (Berth. (2) III, 24) sten, wenn wir annehmen, dass bei der losis - zumindest in einigen
Die drei hier erwähnten Ohren des Tieres könnten auf Schwefel, Fällen - das in der Xanthosis gewonnene Produkt mit Metallbeizen be­
Quecksilber und Wasser verweisen, aber auch auf die drei Fraktionen handelt wurde. los würde dann allgemein eine auffallende materielle
des Ei-Destillats. Die zw ölf Formeln könnten zwölf Operationen mei­ Farberscheinung auf Metalloberflächen bedeuten. A uf Kupfer wäre eine
nen, die zur Erlangung der losis nötig sind; die Zahl könnte, wie der solche Erscheinung z. B. das gelbe bzw. rote Kupfer(I)-Oxid, oder es
Alchemist Stephanos von Alexandria uns klarmacht, aus der Addition wäre das bekannte basische Kupfer-Acetat Grünspan oder auch die
der jeweils drei Bestandteile der vier Elemente - Urmaterie plus je zwei blaue Kupferlasur, sprich das Carbonat. Bei Eisen könnte man an nor­
Ureigenschaften - entstehen. Essig war das Lösungs-Ätzmittel schlecht­ malen Rost (Fe^O^), aber auch an Ocker (FeO(OH)) mit Ton und ande­
hin, das rosten lassen konnte. rem und an Venetianisch-Rot (Fe^Oj) denken. Wenn man z. B. rotes
los, lat. Virus, scheint ein Zersetzungsprodukt zu sein, hat es doch die Eisen(III)-Oxid mit Wasser aufschlenunt, die Paste auf eine Bronze auf­
Substanz, die zersetzt wurde, vergiftet. Bei Plinius und Dioskorides ist bringt, erwärmt und räuchert, erhält man eine tiefgoldene Oberflächen­
es der giftige Hauch oder die giftige Ausblühung von Kupfer, Sory und färbung, die ins Violette hinüberspielen kann, wenn die Bronze etwa
Sandarach. Überhaupt ist los das, was etwas anderes verändert, und so 4 % Gold enthält:
kann man auch die Magnetisierung von Eisen durch den Magnetstein «Nimm die Erde, die Ocker genannt wird, setz sie aufs Feuer, bis sie
los nennen, wird doch auch hier eine spezifische Eigenschaft übertra­ rot wird: dann nimm sie vom Feuer und löse sie in Wasser mit Salzzu­
gen. satz. Bestreiche damit den Gegenstand, der vergoldet werden soll; setz
Am häufigsten verstand man unter los einen Rost, d. h. ein Metall­ ihn aufs Feuer und wende ihn um, bis sich Rauch bildet und die Farbe
oxid, bzw. ein Metallsalz, z. B. ein zu los fixiertes, also irgendwie in erscheint; dann tu es ins Wasser.» (Berth. (2) III, 311!.)
einen Festkörper verwandeltes Quecksilber. Andererseits ist los wohl Mit grünem, kupferhaltigem Eisenvitriol, Chalkanthon, das in der
auch, wie Demokrit behauptet, ein Destillat: «Tatsächlich bedeutet der Tuchfärberei Anwendung fand, konnte man ebenfalls Metalle wie Eisen
los, der durch die Aktion des Drachen aus der Substanz stammt, die färben, indem man das feuchte Vitriol auf dem Eisen abrieb und dabei
ihre Körperlichkeit verloren hat, Pneuma. Wegen der Erzeugimg einer einen roten Überzug erzeugte.
goldgelben Färbung wird los Goldfarbe genannt.» (Berth. (2) III, 128, Und wenn wir an das Gold selbst denken, so sollte eine Assoziation
auch 134) nicht ausbleiben, die allerdings viele Probleme in Hinblick auf die
Der Prozess der los soll durch eine stabile Gelbfärbung hervorgerufen praktischen chemischen Möghchkeiten der griechischen Alchemisten
56 I. Im Schatten der Pyramiden Der letzte Schritt 57

aufwirft: Bei Einwirkung von Alkali (Kalilauge) auf Goldsalze in Ge­ ist> oder auch <ein Einziges, ein Einiges in allem>, wie es im Griechischen
genwart von Reduktionsmitteln entsteht nämlich dunkelviolettes hieß. Die Cauda ist sowohl eine Ausfaltung als auch eine paradoxe Ver-
Gold(I)-Hydroxid, das sich schon bei 250° C zersetzt. Wenn man also eiiügimg von Eigenschaften, die sich gegenseitig ausschließen, und bei­
Metalle damit überstreicht und erhitzt, könnte man sie sehr wohl zu des in ein und demselben Stück Materie. ^5
Gold machen. So lässt Zosimos den Alchemisten Pelagios sagen: «Es Nicht zu vergessen sei auch das Behandeln meist schon vorbehandel­
ist die Färbung (Tinktur), die sich im Inneren bildet, die die wahre ter Metalle mit Lacken, Firnissen, Wachsen und Ölen. Genau diese Be­
Färbung zu Violett ist, welche auch los des Goldes genannt worden handlung ist wohl mitverantwortlich dafür, dass das Theion hydor zu
ist. Wenn man das erreicht, findet Tinktur [Färbung] statt; wenn nicht, einem wahren Wundermittel der Alchemie wurde, konnten doch die so
findet sie nicht statt. Achte darauf, dass die Tinktur in die Tiefe dringt; frappierenden Effekte der drei Theion-hydor-Färbungen, nämlich er­
wenn nicht, hat die Tinktur nicht stattgefunden.» (Berth. (2) III, 194) stens die Färbung zu Gold, zweitens - in bestimmten Versionen, viel­
Wenn es nur um die Violettfärbung geht, gibt es aber noch weitere leicht als Arsenverbindung oder als Reagenz in bestimmten Konzentra­
Methoden, die sehr wohl im Bereich der chemisch-technischen Fähig­ tionen? - die Färbung zu Silber und drittens bei geschickter Behandlung
keiten der späten Antike gelegen haben könnten. Experimentell lässt von Kupferlegierung die Färbung sogar ziun Ion oder los, zum Violett,
sich nachweisen, dass sich auf den Oberflächen goldhaltiger Bronzen im Zuge einer Nachbehandlimg problemlos konserviert werden.
violette und auch in anderen Purpurfarben schillernde Färbungen zei­ Kein Zweifel, in den Augen der Alchemisten war etwas Großartiges
gen, wenn die betreffenden Legierungen in Beizsäuren, damals nur entstanden. Bereits in der Spätantike wurde das Produkt der losis u. a.
Fruchtsäuren, und/oder in Lösungen bestimmter Beizsalze wie Alaune, als Lithos tes philosophias bzw. als Lithos ton philosophon und damit als
Sandarach, Quecksilber-, Blei- und Silbersalze eingetaucht wurden. Lapis philosophorum, als Stein der Weisen, bezeichnet. Daneben wurde
Zu den schon erwähnten Methoden der Oberflächenbehandlung auch der Ausdruck <Koralle des Goldes>, Chrysokorallion, bzw. <Muschel
kommt gerade in Hinblick auf Violettfärbung und auf Farbspiele das des Goldes>, Chrysokogchylion, verwandt: «Dieses große Wunder, dieses
Erhitzen im Luftstrom hinzu, das zu ähnlichen Ergebnissen wie das unsagbare Wunder, man nennt es Goldkoralle.» (Berth. (2) II, 56) Viel­
Beizen führt; auf den behandelten Oberflächen bilden sich Anlauf- bzw. leicht, wie gesagt, handelte es sich dabei um nüt Beizsalzen präparierte
Anlassfarben. Bei Eisen bzw. Stahl z. B. genügen schon 250 bis 280° C, Goldbronzen. Die Bezeichnung Koralle, so ungewohnt sie ist, sollten
um prächtige Farbtöne von braunrot über rot, purpurrot und violett bis wir vorziehen, wenn wir von der antiken Alchemie reden. Der Stein der
blau hervorzurufen. Und wenn man es versteht, Oxidschichten unter­ griechischen Alchemisten war nämlich, so glaube ich, mit weniger Be­
schiedlicher Dicke auf seinen Werkstücken aufzubringen, kann man die deutungen belastet als der Stein oder Lapis der Lateiner. Man kann
Oberflächen in wunderschönen Farbspielen erglänzen lassen. Fettet Wohl sagen, dass der mittelalterhche Lapis philosophorum gewisser­
man zudem die Stücke zuvor teilweise ein oder ätzt sie auf verschiede­ maßen die Ausprägung dessen ist, was in der Koralle erst in nuce ange­
nen Teilen der Oberfläche unterschiedlich, dann kann man sogar be­ legt war.
stimmte Farben regelrecht nebeneinander malen. In diesem Zusammen­ Allerdings konnte die Koralle die auffallendste Aufgabe des Steins
hang ist es bezeichnend, dass nicht nur antike, sondern auch spätere der Weisen bereits uneingeschränkt erfüllen. Als eine Art Supergold
Alchenüsten immer wieder von Regenbogenfarben auf den Oberflächen oder Supermaterie vermochte sie unedle Metalle in Gold zu verwan­
ihrer Substanzen berichten. Farbserien dieser Art wurden Cauda pavonis, deln. Das geschah anscheinend einfach dadmch, dass man die pulveri­
d. h. Pfauenschwanz, oder Iris, also Regenbogen, genannt und für be­ sierte Koralle, also das rote oder violette Produkt der losis, auf das
sonders vorteilhaft gehalten, treten doch im Pfauenschwanz und Regen­ geschmolzene unedle Metall streute oder warf. Darum nannte man die
bogen - der übrigens in fast allen Kulturen als Symbol des Göttlichen Koralle auch Xerion, das Streupulver bzw. das hochrote Streupulver,
bzw. der Gnade galt - alle Farben zugleich in Erscheinung. Die Verei­ Xerion oxyporphyrion. Die Araber haben daraus wahrscheinlich Elixier
nigung des Unterschiedlichen, ja Gegensätzhchen aber war eines der (El Ixir) gemacht. Übrigens klingt im Xerion bereits ein leiser Ton in
vornehmsten Ziele der Alchemie, imd wir dürfen nicht vergessen: Es Richtung <Elixier des Lebens> an, denn der Begriff Xerion wurde vor
sind nicht nur unterschiedliche Farben, um die es hier geht, es geht um allem für Pulver verwandt, die man auf Wimden streute. Und emballein
Substanzen, die mit der Änderung ihrer Farbe ihr essentielles Sein, ihr bzw. epihallein, <hineinwerfen>, <hineingeben>, <dazugeben>, <daraufwer-
Wesen verändert haben. Für den Adepten ist eine alchemische Cauda in fen>, heißt es im Leidener Papyrus, wenn Chemikalien bei der Farb-
gewisser Weise Eines und Alles zugleich, Hen to pan, <Eines, das alles oder auch bei der Arzneimittelbereitung zugegeben wurden, wobei es
58 /. Im Schatten der Pyramiden Der letzte Schritt 59

natürlich Vorkommen konnte, dass eine solche Zugabe eine Farbe zu zen Steine etwas Göttliches, und sicher deshalb spielen sie in archai­
einer anderen Farbe oder auch ein Heilmittel zu einem Gift machte und schen Religionen eine wichtige Rolle. Steine sind nicht nur mit der Erde,
damit das Wesen dieser Substanzen grundlegend veränderte. Aus em- sie sind auch mit dem oft steinern gedachten <archaischen Himmeb
hallein wurde im Mittelalter projicere, und Projektion hieß fortan die verbimden, aus dem sie als Meteore herabfallen. Solche Steine ziehen
Handlung, mit der der Alchemist bewies, dass er wirklich Meister, dass das Heilige an sich, wofür die Kaaba in Mekka als Beispiel dienen kann.
er wahrer Adept war und tatsächlich Gold zu machen verstand. Wie Das Heilige ist zeitlos, es kann als Zustand der Heiligkeit nicht mehr
konnte er ahnen, dass sein Tun später einmal psychologisch gedeutet imd nicht weniger werden, ganz wie der Stein, in dem es sich manife­
und die Projektion nun nicht mehr als bewusste Tätigkeit der Hände, stiert. Auch der <Lapis philosophorum> rostet nicht, fault nicht, ver­
sondern als unbewusste Tätigkeit der Seele angesehen werden würde? flüchtigt sich nicht, verändert sich nicht, altert nicht - ganz unabhängig
Die Umwandlung, die bei der Projektion geschieht, darf im Übrigen von der Erscheinungsform, in der er auftritt. Und doch ist er Same.
schon deshalb nicht als Verbindungsbüdung begriffen werden, weil Mit der Frage nach der Farbe des Steins, der kein Stein ist, haben wir
winzige Mengen der Koralle genügten, um ein Vielfaches ihres Gewich­ es leichter. Allerdings müssen wir dabei voraussetzen, dass Farben
tes von Blei zu Gold zu transmutieren. Wir können auch nicht von ei­ mehr oder weniger konzentriert sein können und dass im Farbempfin-
nem katalytischen Effekt reden, weil die Koralle nicht etwa erhalten den der Alchemisten Rot bzw. Purpur ein verdichtetes Gelb, ein Gelb
bleibt, sondern auf dem Wege zu ihrem Ziele, dem Gold, gewisserma­ im Überschuss war.^^
ßen stirbt. Auch die Koralle ist damit so etwas wie ein Same. Der Same EHe Koralle war deshalb rot oder purpurn, weil sie als eine Art Su­
geht in der <Goldgärung>, Chrysozymia, zugrunde, und so deutet auch pergold einen Überschuss an Goldfarbe besaß .^7 Und diese Goldfarbe
nichts darauf hin, dass je versucht wurde, die Koralle aus transmutier- konnte sie an aufnahmebereite Materie weitergeben. Das dunkle, eigen­
tem Gold zurückzugewinnen. Die Koralle hat eine ähnliche <Entwick- schaftslose, leicht schmelzbare Blei war ein solches Metall und wurde
lerfunktion> wie das Theion hydor und bringt dabei eine Beseelung oder deshalb üblicherweise zu Projektion und Transmutation verwandt. In
Vergeistigung bzw. eine Vereinigung des Weiblichen und des Männ­ ihm wirkte das Xerion wie ein Pigment. Gold ist Prima materia mit der
lichen, eine Befruchtung und zugleich Austragung des Embryo zustan­ genau richtigen Qualität Goldfarbe in der richtigen Menge, wobei wohl
de. Zumindest lässt sich so etwas aus den bewusst unklaren und poe- nicht immer klar unterschieden wurde, ob die Farbe nun sämtlich ein­
tisierenden Beschreibungen der Entwicklerfunktion herauslesen. Offen­ gebracht oder auch in der Muttersubstanz selbst hervorgerufen wurde.
sichtlich gewinnt die Materie des Alchemisten damit alle Qualitäten des So unklar wie das chemische Ergebnis aller Mühen, so unklar ist hier
vom bloß Materiellen Befreiten; sie wird wahrhaft theion, sie wird gött­ nämlich auch die Theorie.
lich: Die Natur besiegt die Natur . . .
Die Koralle ist aber auch deshalb rot oder purpurn, weil diese beiden
Zwei Fragen an die Funktion der Koralle bzw. des Steins seien hier Farben einen besonderen Symbolwert besitzen. Rot ist das Blut, und das
noch angeschlossen. Warum ist der Stein ein Stein? Ferner: Warum ist Blut ist das Leben, wie auch die Sonnenstrahlen imd das Gold Symbole
die Koralle des Goldes rot oder purpurviolett, und warum wurde auch für Leben und ewiges Leben sind. Rot ist Leben imd Fühlen, ist Liebe
Jahrhunderte später der Stein der Weisen fast inuner als rot oder röthch und auch Hass, ist Leidenschaft, und als das rote Prinzip des Blutes
oder auch piirpurfarben geschildert?
<versinnlicht>, also verkörpert es die Seele und zugleich allgemein die
Geben wir es zu: Es ist erstaunlich genug, dass kein Alchemist sich vegetativen Kräfte. Der Göttertrank Nektar, der ewiges Leben verleiht,
tiefere Gedanken darüber gemacht hat, warum sein Stein partout ein ist rot wie Blut. Daher ist es kein Wunder, dass rote Pharmaka oder rot
Stein sein sollte. Eine mit einem Gründungsmythos der Alchemie ver­ gefärbte magische Abwehrmittel in der Medizin eine gewaltige Rolle
bundene Erklärung für die merkwürdige Namensgebung, nach der ein spielten. Abwehr aber bedeutete Abwehr von Dämonen, und so stellte
gefallener Engel Frauen, die als die ersten Alchemistinnen gelten kön­ die Farbe Rot überhaupt Beziehungen zu guten und bösen Geistern her.
nen, in der Bereitung von edlen Steinen, Lithoi timioi, unterwiesen hätte, Vor allem deshalb war und ist Rot zweideutig, ist ambivalent wie alles,
erscheint mir zu dünn, obwohl Zosimos <Lithos timios> einmal syn­ das in Beziehung zum Übersinnlichen, zum Numinosen steht. Der
onym zu <Lithos ton philosophon> gebraucht. Die Tatsache, dass ein ägyptische Sonnengott Re trug einen roten Mantel, der Sonne, Glut und
Pulver oder gar etwas Wachsähnliches mit konstanter Sturheit Stein ge­ Feuer darstellen sollte. Auch Osiris war in seiner Natur als Sonnengott
nannt wird, weist wohl eher auf die Unveränderlichkeit hin, die Zeitlo- uiit der Farbe Rot verbunden, und es wird sogar behauptet, dass ihm
sigkeit, die mit Steinen verbunden ist. Unter dem Aspekt der Zeit besit­ in frühen Zeiten rothaarige Menschen geopfert wurden. Die Farben der
6o I. Im Schatten der Pyramiden Was ist Standard am Standardverfahren? 61

Purpurgmppe, sie galten natürlich in der Antike ebenfalls allesamt als Man mag das alles Selbstbetrug nennen, der uns natürlich nicht un­
Abart des Rot, weckten noch besondere Assoziationen. Das Wort phoi- terlaufen würde. Dennoch sei nicht vergessen, dass wir die Welt mit
nikeos, also purpurfarbig, erinnerte nicht nur an das Land, aus dem der anderen Augen sehen als ein Adept, wir sehen Elemente, Atome, Mo­
Purpur stammte, an Phönizien, es erinnerte auch an den unsterblichen leküle, der Alchemist sieht Somata, Pneumata, Farben und vor allem:
Vogel mit dem gold- und purpurfarbenen Gefieder, der sich in seinem Er sieht das symbolverschlüsselte Geheimnis der Welt, das «nach Golde
Neste selbst verbrennt, um verjüngt aus der Asche wieder emporzustei­ drängt / am Golde hängt». Und so drängt es auch ihn zum Golde, aber
gen. Und das wiederum erinnerte an das alchemische Schicksal, an Tod seine Gier hatte andere Qualitäten als die Gier der Goldsucher vom
und Läuterung der Materie, weshalb das Wort Phoenix auch als Syn­ Klondike. Sein Gold war ein Mythos, dessen schwachen Widerschein
onym für den Stein der Weisen verwandt wurde. wir im modernen Mythos der Golddeckung noch wahmehmen können.
Aber Symbol hin, Praxis her: Wie kann ein rotes Pulver - chemisch Im Bereich des Geldes sind Gold und Silber Realität, die Realität reprä­
und damit vernünftig betrachtet - Blei in Gold verwandeln? Ist das gan­ sentiert, während beim Papiergeld der Abstand zwischen Darstellung
ze Gerede von der Transmutation nicht barer Unsinn gewesen? und Wirklichkeit ungleich größer ist. Der Mythos Gold ist heute noch
Die beiden Fragen beantworte^ sich selbst, sind sie doch - im Män­ der Mythos des Goldstücks und nicht des Papierscheins, auf dem je­
telchen einer Rhetorik, die scheinbar Antwort will - nichts als Verdam­ mand, den man nicht kennt, einem mittels einer unleserlichen Unter­
mungsurteile. Doch könnte man Fragen wie diesen zwar ebenfalls rhe­ schrift etwas verspricht, das man keinesfalls einzulösen gedenkt: five
torische, aber gewiss legitime Gegenfragen entgegenhalten: Wissen wir Poimds (of silver), ten Dollars (as a good silver coin from Joachimsthal),
überhaupt, was für ein Blei dieses Blei war? Wissen wir, aus welchen zwanzig Mark (als markiertes, d. h. gestempeltes Silber- oder Gold­
Substanzen die Koralle wirklich bestanden hat? Wäre es nicht möglich, stück). Den wahren, den Ur-Mythos aber finden wir nicht in den Stahl­
dass abenteuerliche, aber eben gelbe Legierungen in irgendwelchen Va­ kammern von Fort Knox, wir finden ihn in den Stollen archaischer Berg­
riationen von Gelb zustande gekommen sind, die zudem möglicherweise werke.
noch eine gewisse Menge an chemisch einwandfreiem Gold enthielten?
Was heute als Goldersatz auf den Markt kommt - etwa Goldbronze
(86.5-89 % Cu, 8.5-11 % Sn, 1-3 % Zn) oder verschiedene Tombakarten - IO. Was ist Standard am Standardverfahren?
ist ja sogar eher simpel zusammengesetzt, und Messing war zumindest
den Römern bereits bekannt. Bevor wir uns auf den Weg in die Mythenwelt der Archaik machen,
Im Übrigen, wenn die Darstellung einer Koralle mit alchemischer sollten wir versuchen, vom Chemisch-Technischen her all das zu deu­
Färbekraft je geglückt sein soUte, darm kann, ja darf es sich dabei immer ten, was uns der alchemische Standardprozess als solcher, als Standard-
nur um einen Fast-Erfolg gehandelt haben. Nehmen wir nämlich an, Prozess, zu deuten verspricht.
dass die Darstellung einer Koralle, die alle Erwartungen, zumindest alle Aber drängt sich nicht gleich anfangs der Einwurf auf: War das alles?
materiellen Erwartungen, hätte erfüllen können, wirklich gelungen Bietet sich dem Historiker nicht viel mehr zur Deutung alchemischer
wäre, und setzen wir außerdem als eine naturwissenschaftliche Selbst­ Laborarbeit an, als der Standardprozess überhaupt bereitstellt? Stehen
verständlichkeit voraus, dass eine solche Darstellung der Koralle repro­ nicht, obwohl wir doch so etwas wie den Stein der Weisen im wahrsten
duzierbar, also auch lehr- und lernbar wäre, dann würde diese Ent­ Sinne des Wortes in Händen halten, viele Laborgeräte unseres Adepten
deckung - unfromme Chemiker gibt es immer - nicht nur zu einer und viele, vor allem pflanzliche und tierische Substanzen noch völlig
Zerstörung des Geheimnisses und damit zu einer Zerstörung des Gei­ unbenutzt in seinem Labor herum? Müssen wir daraus nicht den
stes der Alchemie geführt haben, sondern über kurz oder lang auch zu Schluss ziehen, dass der Standardprozess nur ein alchemisches Verfah­
einem Zusammenbruch des Währungssystems und zum Sturz des Gol­ ren unter anderen war und vielleicht als solches nur idealtypisch in dem
des als Zahlungsmittel. Doch nicht der geradezu katastrophale Erfolg, Sinne, dass er haargenau so, wie er beschrieben ist, nie durchgeführt
sondern das Fast, das Beinahe ihres Erfolges ist einer der Gründe für die wurde?
Lebenskraft der Alchemie. An der Reibungsfläche zwischen Erfolg und All das sei zugegeben, und zugegeben sei auch, dass sogar wir den
Misserfolg konnte sich Hoffnung entzünden, immer und immer wieder. Standardprozess ohne Rücksicht darauf beschrieben haben, wie es wirk­
Und Hoffnung ist, wenn man im Banne eines Zieles steht, das Leben lich gewesen ist, haben wir doch als chemisch überflüssig alle Zw i­
selber. schenschritte und auch besondere Operationen wie die Destillation aus­
62 I. Im Schatten der Pyramiden Was ist Standard am Standardverfahren? 63

gelassen, die in den Augen der Alchemisten anscheinend unbedingt aus war. Wenn er das <Große Werk>, das Opus magnum durchführen
notwendig gewesen sind; wollte, dann war das letztmögÜche Ziel seiner Bemühungen stets eine
«Wenn wir versuchen, die Philosophie in vier Teile zu gliedern, fin­ Materie in einem Zustand oberhalb des Zustandes jeder bekannten Ma­
den wir, dass sie zum Ersten die Schwärzung, zum Zweiten die Wei­ terie. Der alchemische Prozess war also immer, ausnahmslos, ein zielge-
ßung, zum Dritten die Gilbung und zum Vierten die Violettfärbung richteter Vorgang, der immer, ausnahmslos, den Weg vom Unedlen zum
enthält. Genauso finden wir, dass jede der eben genannten Teile Unter­ Edlen durchlief.
teilungen aufweist und, wenn man nach der Ordnung Vorgehen will, Darin drückt sich eine den modernen Naturwissenschaften völlig
einen dazwischengeschobenen Abschnitt zwischen den Reaktionsschrit­ fremde Denk- imd Vorgehensweise aus, auch wenn sie uns, wenn wir
ten (den Linien bzw. Zeilen) und den Hauptpunkten dieser Schritte. So nicht groß darüber nachdenken, gar nicht so fremdartig erscheinen mag.
auch [finden wir], dass es zwischen der Schwärzung und der Weißung leben nämlich, meist ohne es zu wissen, in zwei Welten, einer wis­
die Weichmachung und die Waschung der Substanzen gibt. Zwischen senschaftlichen imd einer außerwissenschaftlichen, und in der Welt
der Weißung und der Gilbung gibt es die Zerreibung bzw. Aufschlem- außerhalb <objektiver Kausalität> ist uns alchemisches Denken vertraut.
mung. Dann gibt es zwischen der Gilbung und der Violettfärbung die Es ist die Welt unserer Leidenschaften, unserer Wünsche, die Welt des
Teilung der Komposition in zwei Hälften. Aber die Violettfärbung ist Strebens imd des Wollens; kurz, es ist die Welt des <Um... zu>: Ich gehe
unmöglich zum Ende zu bringen ohne die Behandlung in einem Destil­ in die Küche, um mir einen Schluck Kaffee zu holen.
lationsapparat und ohne die Vereinigung der Teile. Es ist unmöglich, in Wenn ich nun aufstehe, um zur Küche zu wandern, behaupte ich
unserer Wissenschaft anders vorzugehen.» (Berth. (2) II, 219 f.; III, 212) damit, dass das Kaffeetrinken - natürlich nur für mich und nur in die­
So schreibt eine der höchsten alchemischen Autoritäten, Zosimos. Und sem Augenblick - wichtiger und damit wertvoller ist als jedes andere
andererseits gibt es in der chemischen Literatur aller Epochen Vorschrif­ Ziel. Ich verschmähe also das Buch, das so einladend auf dem Schreib­
ten, die wie die Papyrusrezepte ohne Vorstufen und Umwege direkt auf tisch liegt, imd mache mich auf zur Küche, wobei ich mein Handeln zu
Silber oder Gold zielen. Schon Demokrit empfahl verschiedene Metho­ Recht für absichtsvoll und zweckgerichtet halte, auch wenn ich vielleicht
den zur Goldbereitung, die außerhalb seines Standardverfahrens lagen.^* gleich über einen Hocker stolpern werde. Aber ob ich nun zweckent­
Und dennoch spricht - vor allem aus didaktischen Gründen - einiges sprechend auf mein Ziel zusteure oder nicht: Mein Ziel, der Kaffee oder
dafür, die Bezeichnung <Standardverfahren> beizubehalten. Der geschil­ genau genommen das Erlebnis des Kaffeetrinkens, ist etwas, das sich zwar
derte Herstellungsprozess lässt uns nämlich am einfachsten und damit noch nicht erfüllt hat, das in gewisser Weise aber schon in mir verwirklicht
am deutlichsten Beispiel viele Züge erkennen, die für alle großen, voll­ ist.5^ EHe deutsche Sprache sagt es auch deutlich; Wenn ich den ersten
ständig durchgeführten chemischen Prozesse im Rahmen der Alchemie Sdiritt in Richtung Küche tue, stelle ich mir doch etwas unter dem vor,
typisch sind. was mich in der Küche erwartet, und vor mich Idnstellen kann ich doch
Wenn es sich in der Alchemie nicht um ein bloßes Rezept, sondern nur ein bestimmtes Objekt, das dabei auf mich wirkt und eben deshalb
um einen Prozess handelte, lief dieser, wie kompliziert auch immer er wirklich ist. Das merke ich gerade dann, werm mein Objekt, etwa der
durchgeführt wurde, grundsätzlich in bestimmten Stufen ab, die durch Kaffee, hinter dem ich so eifrig her bin, sich einfach nicht materialisieren
je eine Farbe gekennzeichnet waren, wobei die Reihenfolge der Stufen will, etwa weil er sich als Kakao entpuppt. Aber auch, wenn ich mich
bzw. Farben im Prinzip stets die gleiche war. Fast alle Alchemisten, getäuscht habe, auch wenn ich nun mit Kakao vorlieb nehme: An mei­
unabhängig davon, ob sie in der Antike, im arabischen oder lateinischen nem Ziel, dem Kaffee bzw. dem Kaffeetrinken, ändert das nichts, und
Mittelalter oder in der Frühen Neuzeit gelebt haben, stellten zuerst - es ändert auch nichts daran, dass dieses Ziel die Ur-Sache meiner ziel­
manchmal auf sehr verschlungenen Wegen - eine schwarze Substanz strebigen Handlung war. Die Welt des Strebens und der Erlebnisse,
her oder begannen den Prozess mit einer schwarzen Substanz. Diese stammen sie nun aus dem Neckermann-Katalog, dem Märchenbuch
schwarze Substanz wurde dann gewöhnlich in eine helle, weiße Sub­ oder schlicht aus dem leeren Magen: Das ist die Welt, in der wir leben.
stanz, eben Silber in irgendeiner Form, verwandelt. Als Zwischenstufe Auch, müssen wir hinzufügen, denn immer wenn wir ein Chemie­
gab es übrigens zuweilen auch eine Grünfärbung. Mit der Stufe des buch aufschlagen, treten wir ein in eine andere Welt. In dieser Welt hat
Silbers gab man sich manchmal zufrieden, und die Stufe der Gilbung kein Eisenfeilspan das edle Ziel oder auch nur die bescheidene Absicht,
wurde in der lateinischen Alchemie zuweilen überschlagen, was auch sich mit Salzsäure zu verbinden; kein Sauerstoffmolekül hat die Sehn­
zeigt, dass der seriöse Alchemist nicht platterdings aufs Goldmachen sucht, sich und die Zellulose in brünstiger Leidenschaft zu verbrennen.
64 I. Im Schatten der Pyramiden Was ist Standard am Standardverfahren? 65

Die modernen Naturwissenschaften lehren uns, dass chemische Sub­ als der Mensch, dann wäre der Mensch grundsätzlich anders als die
stanzen überhaupt keine Absichten haben; ihr Verhalten wird nicht vom Natur, er wäre nicht Teil von ihr, er wäre ihr Gegen-Teil.
Streben nach dem Guten, Wahren, Schönen oder gar dem Bösen be­ Wonach aber strebt die Natur in den Augen des Alchemisten? Genau
stimmt, sondern von ihrer energetischen und materiellen Disposition. wie wir nach den unseren strebt sie nach der Verwirklichung ihrer Sehn­
Dem Chemiker als Wissenschaftler ist deshalb das der griechischen Na­ süchte. Und eine ihrer Sehnsüchte, oder gar die Sehnsucht, heißt Voll­
turphilosophie so vertraute axiologische Denken, das Denken in Wer­ kommenheit im Materiellen, heißt Stein der Weisen. Ob nun der Stein
ten, vollkommen fremd.'^° Die Chemie kennt keine moralische Einbahn­ ein Objekt ist wie der Kaffee oder ein Fantasiegebilde wie die Märchen­
straße vom Unedlen zum Edlen, ja, sie kennt überhaupt nichts Unedles prinzessin, auf jeden Fall ist seine Verwirklichung schon vorweggenom­
oder Edles. Wir reden zwar auch heutzutage von edlen und unedlen men, zumindest im Herzen oder im Kopf der Natur und als eine Ziel-
Metallen, ja von edlen und unedlen Gasen, wissen dabei aber, ohne uns piojektion im Kopf des Alchemisten. Diese Verwirklichung, diese Wirk­
gewöhnlich über das uns doch so Vertraute Rechenschaft zu geben, dass lichkeit mag zwar den äußeren Sinnen des Alchemisten noch nicht
die Bezeichnungen edel und unedel einfach aus der Geschichte mitge­ zugänglich sein - einfach deshalb, weil er den Stein nicht besitzt -, aber
schleppt werden und sich auf keine Wirklichkeit beziehen, die in unser er weiß, dass der Stein vorhanden sein muss, genau wie er zu wissen
heutiges naturwissenschaftliches Weltbild passen würde. Statt von edel meint, dass die Natur den Stein als Ziel ja ebenfalls schon verwirklicht
kann man bestenfalls von reaktionsträge sprechen, dies aber ohne jede hat, wenn auch im Verborgenen. Nicht, weil der Stein existiert, sucht
moralische oder ästhetische Wertung und höchstens mit leiser Verwun­ ihn der Alchemist, sondern weil dieser ihn sucht, existiert er. Und er ist
derung darüber, dass Trägheit sich hier als eine Art Adelsbrief präsen­ überall, weil er in jedem Adepten ist und weil dieser ihn in allem suchen
tiert. kann. Der Glaube an die Ubiquität, das <Überallsein> des Steines gehörte
Bei allem sollte man aus der Tatsache, dass die Alchemisten ihren zum festen Bestand der Alchemie. Der Alchemist Synesios behauptete
verschiedenen Materien Werthierarchien zugeordnet haben, und dies im j. Jahrhimdert, weil das Ganze (pan) aus dem Gewöhnlichen, d. h.
jenseits aller ökonomischen Überlegungen, nicht etwa schließen, dass dem Allgemeinen (koinos), stamme, werde die Wandlungssubstanz, also
sie keinerlei innerchemische Argumente für ihre Hierarchien hätten bei- der Stein oder eine Vorstufe dessen, <Milch der Hündin> (kynos gala)
bringen können. Der Neuplatoniker Olympiodoros'^^ z. B. behauptet, genannt. - Dahinter steht natürlich die Assoziation kynos-koinos.
dass die Behandlung von Metallen mit Feuer Schlacke und Farbwechsel Milch, gala, übrigens kann auch Blut, Galle, Samen usw. bedeuten.
hervorruft, und zwar umso mehr, je unedler die Metalle sind. Verbrenn­ Die handfeste, sinnlich realisierte Wirklichkeit des Steines ist über
barkeit und Neigung zum Rosten hängen mit der Höhe des Anteil des Stationen von Verwirklichungen zu erreichen: Aus dem unedleren Blei
aristotelischen Elements Erde im Metall zusammen, wobei Gold die ge­ bzw. der Tetrasomie verwirklicht sich das edlere Silber, aus dem uned­
ringste, Eisen die höchste relative Menge an Erde enthält. Nur: Die Her­ leren Silber das edlere Gold. Der Komparativ unedler ist dabei mit Be­
stellung des Edlen aus dem Unedlen war moralisch geboten, die Her­ dacht gewählt. Auch Blei ist nämlich nicht unedel. Als Soma, als echter
stellung des Unedlen aus dem Edlen dagegen verwerflich. Körper, befindet es sich sogar ganz weit oben auf der Skala irdischer
In einem modernen Labor würde sich der wahre Adept verunsichert Stoffe. Dies erklärt vielleicht die doch bemerkenswerte Tatsache, dass
fühlen. Die Chemie, die hier als eine völlig wertfreie Naturwissenschaft die Alchemisten von den Metallen und nicht von irgendwelchen ande­
betrieben wird, er würde sie vielleicht bewundern, aber sie würde ihm ren Stoffen ausgehend zur edelsten, zur Übermaterie gelangen wollten.
missbehagen. Er würde nicht verstehen können oder wollen, dass es Dabei wurde auch außerhalb des Standardprozesses etwas vorausge­
überhaupt eine Welt neben der Welt des Lebens gibt, eine Welt, die w e­ setzt, das uns problematisch vorkommt, das aber für jeden Adepten
der das Streben nach einer Märchenprinzessin noch das Verlangen nach selbstverständlich war: die Möglichkeit von Transmutationen im Natur­
einer Tasse Kaffee kennt. Schon um der Einheit der Welt willen muss reich. Und diese Möglichkeit erschien vor allem deshalb ganz selbstver­
für ihn, den Alchemisten, die Natur ebenso streben und wollen wie er ständlich, weil der größte Naturphilosoph der Antike, Aristoteles, sie
selbst, und im Wort Natur wie auch im Wort Physis steckt ja die Wurzel aus seiner Materietheorie heraus begründet hatte.
<werden>, <hervorbringen>. Die Natur bringt hervor und der Mensch
bringt hervor, und zwar letztlich auf die gleiche Weise. Denn, so mag
unser Alchemist im Unbewussten fühlen, ohne es bis tief in die Neuzeit
in Worte fassen zu müssen: Wenn die Natur grundsätzlich anders wäre
66 I. Int Schatten der Pyramiden Altmeister Aristoteles 67

Sicht des Menschen gesehen - deshalb elementare Qualitäten, weil sie


II. Altmeister Aristoteles aiwdi dann noch wahrgenommen werden, wenn die höheren Sinne ihre
Funktion nicht mehr erfüllen, und weil man nur bei Berührungswahr­
Ohne Zweifel stammt das naturphilosophische Gebäude, im dem sich nehmung in unmittelbarem Kontakt mit dem wahrgenonunenen Ge­
das Leben und Streben der Alchemisten abspielte, im Wesentlichen von genstand steht.^4 Wenn man nun die Elementar-Eigenschaften auf die
Aristoteles, wenn auch vor allem die Stoiker gewisse Umbauten daran vier Elemente verteilt, dann wird einem schnell klar, dass Feuer warm
vorgenommen hatten. Fundament dieses Gebäudes ist das aristotelische imd trocken ist, d. h. aus Urmaterie plus Wärme plus Trockenheit be­
Konzept einer Qualitätenphysik. steht, Erde dagegen aus Urmaterie plus Trockenheit plus Kälte, Wasser
An einem beliebigen, physikalisch bestimmbaren Gegenstand, so sag­ aus Urmaterie plus Kälte plus Feuchtigkeit und schließlich Luft aus
te sich Aristoteles, kann ich nur feststellen, dass er soundso aussieht, Urmaterie plus Feuchtigkeit plus Wärme. Letzteres allerdings kommt
soundso schmeckt usw.; mehr kann ich genau genommen nicht tun. Das uns Nordeuropäem bestenfalls an einem Gewittertag so natürlich vor,
heißt doch, ich kann, wenn ich ein Ding als Gegenstand bestimmen will, wie es angeblich ist. Wärme und Trockenheit, die man im Feuer und als
lediglich seine Qualitäten aufzählen. Außerdem kann ich, oder vielmehr Wärme auch in der Luft findet, galten als aktiv und bei den Alchemisten
muss ich sagen oder zugeben, dass diese Qualitäten Eigenschaften von zudem als männlich, Kälte imd Feuchtigkeit, die man im Wasser und
etwas sind, dass sie also auf irgendetwas draufsitzen, das nicht selbst als Trockenheit auch in der Erde findet, galten als passiv und bei den
Eigenschaft ist. Dieses Etwas, also das, was sich selbst erhält, auch wenn Alchemisten zudem als weiblich. Nebenbei gesagt - und das ist nicht
sich die Eigenschaften ändern, dieses Etwas, das sich zu seinen Eigen­ etwa auf die Umweltverschmutzung gemünzt - gibt es die reine Luft
schaften oder Qualitäten verhält wie ein Substantiv zu seinen Adjekti­ bei Aristoteles nicht. Das, was wir im Normalgebrauch nüt den Namen
ven, dieses Etwas ist für Aristoteles nur zu begreifen als die Materie Feuer, Wasser, Erde, Luft bezeichnen, ist stets eine Elementenmischung,
schlechthin, die - selbst eigenschaftslos - allen Eigenschaften und damit in der das <eigentliche> Element nur vorherrscht.
allen Dingen zugrunde liegt. Aristoteles nennt sie Prote hyle, d. h. Erste Was die Metalle, die wahren Somata der Alchemisten anging, so sind
Materie oder Urmaterie.'^^ Die Eigenschaften in ihrer Gesamtheit dage­ sie grundsätzlich nicht anders zusammengesetzt als alle andern Arten
gen bezeichnete er als Morphe, als Forma, und die Materietheorie des der Materie auch. Aber sie sind doch etwas Besonderes mit besonderen
Aristoteles wird deshalb als <Hylemorphismus> bezeichnet. Alle sinn­ Eigenschaften, und zwar deshalb, weil sie auf besondere Art entstanden
lich fassbaren Dinge sind zusanunengesetzt zu denken aus der Summe sind. Sie sind das Ergebnis einer Verfestigung feuchter, dampfartiger
ihrer Eigenschaften, der Morphe, und dem Träger dieser Form, der Dünste, die sich in Erdspalten niedergeschlagen haben.'^^ Die Feuchtig­
Hyle: Die Materie wird durch die ihr zugehörigen Qualitäten <infor- keit der Dünste bewirkt, dass die aus ihnen entstehenden Metalle ge­
miert>.'^3 Doch damit nicht genug. Die Eigenschaften vieler Gegenstände nügend <Wasser> enthalten, um schmelzbar zu sein. Aber nicht nur das
können nämlich, wie wir alle wissen, wechseln. Eigenschaften, die zu­ Element <Wasser>, sondern auch die anderen Elemente tragen zum A uf­
nächst nur potentiell, also der Möglichkeit nach da waren, können aktuell bau der Metalle und zur Summe ihrer Eigenschaften bei. Das Element
werden und damit in die sinnliche Wirklichkeit treten und umgekehrt. <Feuer> im Verein mit <Erde> z. B. sorgt für die Verbrennbarkeit, also die
Um ein Beispiel aus der Feder des Meisters selbst zu bringen: Die Ei­ Caldnierbarkeit der meisten Metalle, aber auch die nichtcalcinierbaren
genschaften von Eisen imd Schwefel sind im Eisenpyrit nur noch po­ Edelmetalle enthalten etwas <Feuer>. Metalle sind keine eigenständigen
tentiell enthalten; wenn man aber Eisenpyrit verhüttet und Eisen und Elemente; sie sind zusammengesetzt, und zwar so, dass sie nicht haupt-
Schwefel daraus gewinnt, dann treten diesen Eigenschaften wieder in sächhch ein Element neben bloßen Spuren der anderen Elemente, son­
die Aktualität, während die charakteristischen Qualitäten des Pyrit in dern deutliche Anteile mehrerer Elemente enthalten. Ansonsten jedoch
die Potentialität abgedrängt werden. Das heißt aber nichts anderes, als smd Metalle, das sagt uns bereits der bloße Anschein, keine physika­
dass sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften ein und derselben Substanz lisch trennbaren Gemenge, sondern homogene, chemisch zusammenge­
wechseln können. Diese Überlegung gilt nun nicht nur für relativ kom­ setzte Körper. Wir dürfen uns dieses chemisch Zusammengesetzte aber
plizierte Stoffe, wie die eben genannten, sie gilt auch für die einfachsten, ~ um dies noch einmal zu betonen - keinesfalls als eine Legierung oder
die Elemente. Nach Aristoteles gibt es derer vier, die ihrerseits aus Pri­ gar als eine Verbindung, d. h. als ein homogenes Aggregat gleicher Mo­
ma materia und je einem Paar haptischer Eigenschaften gebildet sind. leküle, im modernen Sinne vorstellen. Vielmehr sind genau wie die Ele­
Diese den Tastsinn betreffenden Eigenschaften sind - immer aus der mente selbst auch die Metalle nichts anderes als eine Kombination der
68 I. Im Schatten der Pyramiden Altmeister Aristoteles 69

ewig gleichen, eigenschaftslosen Prima materia mit Eigenschaften. A l­ die wir auch heute noch ohne Anführungsstriche akzeptieren und, wie
lerdings gehören zu diesen Eigenschaften nicht nur die haptischen Qua­ es eine anständige empirische Wissenschaft fordert, wiederholen kön­
litäten, also die spezifischen Eigenschaften der Elemente. Es kommen nen. Wenn wir z. B. einen Baumschössling jahrelang ausschließlich mit
noch andere hinzu, z. B. die wichtige Eigenschaft, eine Farbe zu besit- RegenWasser ernähren und das Gewicht des Schösslings mit dem weit
zen.4^ höheren Gewicht der doch deutlich erdartigen Asche vergleichen, die
Wie sehr sich Aristoteles bei all seinen Überlegungen über Metalle wir beim Verbrennen des ausgewachsen Baumes gewonnen haben,
und andere Substanzen an der Alltagserfahrung orientierte, zeigt sich dann kommen wir wohl kaum umhin, zugeben zu müssen, dass tat­
gerade da, wo seine Chemie uns besonders fremd vorkommt. Chemisch sächlich Wasser zu Erde geworden ist.^^ Und um zu sehen, wie sich Luft
neue Stoffe entstehen nämlich nicht nur beim Verschmelzen oder Tren­ in Wasser verwandelt, brauchen wir uns nicht erst monatelang im Gar­
nen von Substanzen, die ihrerseits aus den Elementen gebildet sind, ten abzumühen. Es genügt, ein Glas an einem warmen Tag nüt kaltem
sondern auch bei der Selbstumwandlung der Elemente, indem sie eine Wasser zu füllen, und siehe da, die umgebende Luft wird sich an der
ihrer Qualitäten oder gar beide auswechseln .47 Diese Art der Umwand­ kalten Oberfläche in Wasser verwandelt niederschlagen. Das tut sie
lung erscheint uns nicht gar so merkwürdig, wenn wir an unsere eige­ übrigens nur, wenn wir unsere Schulweisheit, die ein gutes Stück weiter
nen täglichen Erlebnisse denken. Wir erleben doch ständig, dass Dinge von unserer Alltagserfahrung entfernt ist als das Welt-Wissen der Alten,
ihre Eigenschaften ändern, ohne dass - auf den ersten Blick - etwas vergessen oder verdrängt haben.'^^ In der Welt dieses Wissens gibt es
hinzukommt oder fortgeht: Die Milch, die heute Morgen noch so gut auch Beweise für eine Transmutation komplexerer Grundstoffe, als es
schmeckte, ist jetzt sauer; die Blätter, die im Sommer grün sind, werden die Elemente sind. Um nur zw ei Beispiele zu nennen: Tauchen wir einen
im Herbst rot sein; der Spiegel unserer Großeltern ist blind geworden, Eisennagel in eine bestimmte, blaue Transmutationslösung, verwandelt
sodass man ihn kaum noch Spiegel nennen mag. Und wenn es um einen er sich in Kupfer. Dass die blaue Vitriollösung das rötUche Kupfer be­
essentiellen Wechsel der Eigenschaften geht, dann ist sogar ein essen­ reits enthält, ist doch wohl absurd. Verbrennen wir Blei, das wir aus dem
tieller Wechsel des Namens angezeigt: Nicht nur ist der Rappe zum üblichen Bleierz Galenit (PbCoj) verhüttet haben, dann werden wir in
Schimmel, auch der Wein ist zu Essig geworden und die Eichel zu dem, unserer Kupole ein Kügelchen Silber zurückbehalten, weil in Galenit
was das Ziel ihres Daseins war, zu einer Eiche; die kleine Raupe Nim­ gewöhnlich etwas Silber enthalten ist. Was aber liegt näher, als anzu­
mersatt aus dem Kinderbuch ist zu einen wunderschönen Schmetterling nehmen, dass ein Teil des Bleis sich in der Hitze in Silber transmutiert
geworden, und wenn der Schmetterling aus dem Kokon schlüpft, hat hat?
eins der Wunder der Natur, die Metamorphose eines Wurms in ein ge­ Doch ist das, was wir mit aU unseren Transmutationen wollten, wirk­
flügeltes Insekt, ihren Abschluss gefunden. Auch Aristoteles kannte Me­ lich aristotelisch? Er selbst, Aristoteles, hätte das geradezu entsetzt ver­
tamorphosen, und die sind, wie ihr Name sagt, bei allem Geheimnis neint. Und tatsächlich: In der, übrigens niemals deutlich ausgesproche­
ihres Geschehens nichts anderes als gründliche Eigenschaftswechsel ein nen, Vorstellung der Alchemisten steckt ein Missverständnis oder gar
und derselben Materie. Unser kleiner Schmetterling ist dabei auch ein eine bewusste Sünde wider den Geist des Meisters. Aristoteles hatte
anschauliches Beispiel für die aristotelische Vorstellung einer natürlichen behauptet, dass alle Dinge aus Form und Materie zusammengesetzt zu
Zielursache, eines Telos. In Fällen natürlicher Entwicklung wechseln die denken seien, und dies ist uns so selbstverständlich, dass uns die sprach­
Eigenschaft nämlich nicht nur: Sie müssen wechseln, und zwar hin zu liche Fassung dieser Behauptung wahrscheinlich gar nicht aufgefallen
einer vorgestellten oder vorgeordneten Endform, dem Eidos des jewei­ ist. Eine reale Abtrennung aller Eigenschaften eines materiellen Dinges
ligen Gegenstandes. Als Schmetterling hat die Raupe ihr Telos erreicht von eben diesem Ding, das damit sinnlich unfassbar werden würde, ist
und damit ihr Eidos, ihr vorgestelltes Bild, verwirkhcht. Und auch wenn ja auch in imseren Augen schlechterdings unmöglich. Die reine Prima
der Begriff einer erlösten und erlösenden Materie, w ill sagen der Begriff materia, die man sukzessive mit Qualitäten <informieren> könnte, die
eines Lapis philosophorum, dem Aristoteles wohl fremd gewesen wäre, gibt es nicht. Aber bereits die frühen Alchemisten waren angetreten
konnten die Alchemisten doch annehmen, dass sie sich mit ihrer Vor­ nach einem Gesetz, das ihnen befahl, das Unmögliche möglich zu ma­
stellung eines Telos der Materie schlechthin in naturphilosophisch ak­ chen, dies übrigens in mehr als einer Hinsicht, gehören doch Paradoxien
zeptablen Denkbahnen bewegten. und unmögliche Verbindungen zwischen scheinbar oder anscheinend
Für die Tatsache von Transmutationen, wie immer bewirkt und be­ völlig getrennten Seinssphären zum Lebensblut der Alchemie. Aristote­
gründet, gab es gute empirische Gründe. Es gab genug Experimente, lisch aber ist die Basis, auf der das alles stattfand: Im Standardprozess
7° I. Im Schatten der Pyramiden Die Stoa und die Alchemie 71

ging es darum, Prima materia herzustellen, um sie dann sukzessive zu auch sie von den vier Elementen als den einfachsten Formen der Ma­
<informieren>, also mit Forma zu besetzen. In einer Hinsicht allerdings terie. Diese Elemente verwirklichen sich, wie alles <Informierte>, unter
musste die Prima materia eine zur Eigenschaftslosigkeit und damit zum dem Einfluss eines gestaltenden Prinzips, des mit der <groben Materie>
Verlust der Identität und damit zum Tode komplementäre Eigenschaft ^ets verbimdenen Pneuma, das natürlich ebenfalls materiell zu denken
besitzen: Sie musste potentiell lebendig sein, d. h. sie musste fähig sein zu ist. Alles, was ist, wird zu sinnlich Fassbarem dadurch, dass Pneuma
Veränderungen aus sich heraus. So enthält die <tote> Prima materia das es <in vollständiger Mischung> durchdringt. Pneuma entspricht im wei­
Leben, was man sich am Bild des Samenkorns, das stirbt, um Leben zu testen Sinne dem warmen Lufthauch als einer Mischung aus Feuer und
geben, verständlich machen konnte. Luft imd tritt in verschiedenen Versionen auf. Im Prinzip jedoch ist
Im Dienste dieses Verständnisses stützten sich die Alchemisten auf Pneuma dasselbe wie der im Weltenfeuer manifestierte Weltenlogos,
eine Philosophie, deren naturphilosophische Teile man mit gewissem der von den Stoikern mit der Urvernunft und damit mit Gott (Zeus)
Recht als einen umgebauten Aristotelismus betrachten mag. gleichgesetzt wird.^^ Das jeweilige Pneuma <belebt> die grobe Materie,
mit der es verbunden ist, indem es sich infolge der ihm eigenen Spann­
kraft und im materiellen Verbimd mit der groben Materie zusammen­
12. Die Stoa und die Alchemie zieht oder ausdehnt und damit eine innere Spannung in der Materie
erzeugt. Die Spannung der Materie - sie heißt bei den Stoikern Tonos
Verantwortlich für den Umbau waren die Stoiker, die dabei aber gewis­ - ist es, die allen sinnlich wahrnehmbaren Körpern mit ihren doch so
se Grundüberzeugungen des Aristoteles beibehielten. vielfältigen Eigenschaften eine spezifische Einheit und Beharrung ver­
Wie alle philosophischen Gruppen der frühen Spätantike richteten leiht.
die Stoiker ihr Denken ganz selbstverständlich aus auf den Einzelmen­ Wenn wir uns bemühen, die Wirkung des stoischen Pneuma hier
schen und sein Elend, und genau wie ihre philosophischen Konkurren­ schon als alchemisch und seine Wirkung im alchemischen Prozess als
ten begriffen sie sich als Ärzte der Seele. Wenn sie Physik betrieben, vitalisierend, vergeistigend im Aufstieg vom weniger Lebendigen zum
dann nur deshalb, weil sie der Auffassung waren, dass die Welt­ Lebendigeren, vom Schlechteren zum Besseren zu begreifen, dann sind
erkenntnis eine persönliche Lebenshaltung begründen oder beein­ wir natürlich in Versuchung, Pneuma als so etwas wie eine materielle
flussen könne. Energie aufzufassen und den Stein der Weisen als den Behälter, in dem
In ihrer Naturphilosophie finden sich deutliche Spuren klassischer sie am dichtesten konzentriert ist. Wir können dieser Versuchung ruhig
Philosophen wie Anaximenes, Heraklit und vor allem Aristoteles, dem nachgeben, solange wir uns des Unterschieds der pneumatischen zur
die Stoiker aber immer dann nicht folgten, wenn er als Ursache von physikalischen Energie bewusst bleiben.
Bewegung und Veränderung in der Welt der vier Elemente Außerma­ In Hinblick auf die in der Alchemie so wichtige Farbe sollten wir uns
terielles voraussetzte. Tatsächlich ist für die Stoiker alles, was ist, raum­ daran erinnern, dass die Stoiker und sicher auch die Alchemisten die
erfüllend und damit stofflich. Diese an sich nicht überraschende Vor­ Farbe wohl als eine Art Pneuma auffassten und so die Farbe selbst und
stellung aber wurde von ihnen bis zur letzten Konsequenz durchdacht nicht nur der Farbstoff körperlich ist. Anders gesagt: Die Farbe einer
- mit überraschenden Ergebnissen. So erklärten sie Kräfte, Empfindun­ Substanz ist nicht bloß ein Indikator für den Zustand der Materie, sie
gen, Vorstellungen und dazu sämtliche über unsere Sinne wahrnehm­ ist der Zustand der Materie selber, der gefärbte Gegenstand ist die Far­
baren Qualitäten wie Farbe, Geruch, Konsistenz, Temperatur für kör­ be. Diese Farbe nun besteht aus zwei Materien, Hyle und Pneuma, die
perlich. Nur das Körperliche nämhch besitzt die Fähigkeit zum Tun in vollständiger Mischung, Krasis, ineinander aufgehen.^^ Aristoteles
oder Leiden. A ll die genannten Qualitäten entstehen durch das Ein­ hatte es da mit seiner rein begrifflichen Unterscheidimg von Hyle und
dringen von Pneumata in die Hyle, und das ist in letzter Konsequenz Morphe leichter. Aber er hatte noch eine andere Unterscheidung vorge­
die uns ja so gut bekannte Prima materia, die allerdings anders als bei nommen, die die Stoiker einfach ignorierten. Er trennte nämlich das
Aristoteles nichts bloß Gedachtes ist, sondern Eigenschaften wie Wi­ Spiel der Bewegungen, seien es Bewegungen als Wechsel der Lage, seien
derstand gegen Durchdringung und passive Veränderlichkeit besitzt. es Bewegungen als Wechsel der Eigenschaften, von einer letzten Ursa­
Wie aber soll man sich etwas Raumerfüllendes ohne jede sinnliche che all dieser Bewegungen. Und damit sind wir beim <Lieben Gott>,
Quahtät vorstellen? Tatsächlich ist Prima materia auch bei den Stoikern denn für Aristoteles ist die ständige <Letzte Ursache> aller Bewegung
ohne qualitative Bestimmung eigentlich nicht vorstellbar, und so reden der <Unbewegte Beweger>, also Gott, aber ein etwas merkwürdiger Gott,
72 I. Im Schatten der Pyramiden Die Stoa und die Alchemie 73

der durch sein bloßes Dasein außerhalb der Himmelssphären diese, die hat und umgekehrt: Pan ho am, touto kato. Oder: Sicut superior, ita inferior:
sich Ihm vergeblich in Liebe zu nähern versuchen, dazu antreibt, sich iVäe das Oben, so das Unten.>(Jung (5) 202) Das So-wie wurde sehr
voll Verzweiflung um sich selber zu drehen. Die Stoiker dachten da handfest gedacht: So wie größere Tiere auf der Erde herumkrabbeln, so
anders. Sie zogen Gott in die Welt, in die Materie hinein, indem sie Ihn loabbeln, wie uns Olympiodoros mit feierlicher Selbstverständlichkeit
mit Materie gleichsetzten. Die Gottheit ist Pneuma, und sie steht nicht versichert, Wanzen und Flöhe auf dem Menschen herum.
außerhalb der Welt, sondern erscheint in allen Dingen der Welt, selbst, Das <Ita inferior> sagt nun nicht, dass der Mensch sich selbst egozen-
wie verschiedene Stoiker betonten, «den Gemeinsten und Niedrigsten» tri£^ in den Mittelpunkt stellte, es sagt vielmehr, dass er die Welt an-
(Baeum. 355), was uns natürlich an die Aussagen der Alchemisten über thropomorph sah und sich selbst als bloßes Abbild, als einen Körper im
die Ubiquität des Steins der Weisen denken lässt. Da die Gottheit Pneu­ Körper. Und wie das Abbild ein Oben und Unten, so hat auch der
ma ist, äußert sich ihre Tätigkeit in der inneren Sparmung der Materie. Kosmos ein Oben und Unten, ein Rechts und Links: oben an der Peri­
Aber damit nicht genug, denn das Schöpferische des göttlichen Pneuma pherie der Himmel, imten im Zentrum die Erde, und der Bereich dazwi­
stellt sich dar in einer besonderen Gestaltungsform, den so genannten schen ist nach natürlichen, und d. h. nach bestmöglichen Proportio­
Samenkräften, Logoi spermatikoi, die man sich als spezifische Pneuma- nen geoixlnet.^^ Im Gegensatz zum offenen Universum ist der Kosmos in
verdichtungen in Tier und Pflanze, aber auch in toter, anorganischer sich geschlossen. Und ganz wie an seinem Abbild Mensch, so gibt es
Materie vorstellen kann. Der Same ist für die Stoiker eine Panspermia, auch am Kosmos Wichtiges, Wertvolles und weniger Wertvolles. Der
ein Extrakt aller Kräfte, auch der seelischen, d. h. eine Art Erbmasse, Kosmos ist werthaltig, wie denn auch Zeit und Raum und Mensch und
wenn man das so modern sagen kann. Und der Logos im Samen ist u. a. Kosmos werthaltig und wechselseitig miteinander verknüpft sind: Es
dafür verantwortlich, dass die Spezies sich immer gleich bleibt, dass gibt heilige Zeiten, heilige Orte, heilige Himmelsrichtungen. p)ie Ab-
also etwa aus einem Huhn trotz des Umwegs über das Ei wieder ein bildimg Mensch-Kosmos in Zeit und Raum ist eine Entsprechung, eine
Huhn wird. In der Entfaltung der Logoi gemäß der notwendigen Natur reale Analogie, die bei den Stoikern durch das Pneuma als Dynamis
der Allvemunft, der sie zugehören, besteht die geordnete Entwicklung zotike, als eine alles durchdringende Daseinskraft bewirkt wird: Die Son­
der Welt, die damit Kosmos, das Wohlgeordnete, ist. In ihren jeweiligen ne entspricht dabei dem Gold, der Mars entspricht dem Eisen und so
Logoi spermatikoi stecken also die Entwicklungsziele, die Teloi, der fort.
Dinge. Das Sein eines Dinges ist damit schon vor seinem Da-Sein vor­ Das Sein und das Verhalten des einen findet sich wieder im Sein und
handen. Und so hat der Kirchenvater Augustin denn auch geglaubt, Verhalten des anderen, und genau aus diesem Grunde konnte der Adept
Gott habe vor der Zeit das Sein der Dinge in Form ihrer Logoi sperma­ uiakrokosmisch-mikrokosmische Entsprechungen erkermen, konnte er-
tikoi geschaffen, doch erst die Zeit ließe die Dinge in ihrem von Gott kenhen, dass er zu den Gegen-Ständen, zu den Substanzen in seinen
gewählten Augenblick ins Dasein treten. Topfen tmd Retorten in innerer Beziehung stand: Im hermetischen Ge­
Wenn wir nun den Blick vom Himmel zurück auf die Tiegel und fäß erlebte er sich in gewisser Weise selber. In dieser Beziehung bezeich-
Retorten der Alchemisten richten, dann fühlen wir uns sicher zu Recht nete das eine das andere, war Signatur für das andere: Das Wesen des
an den Metallsamen im Standardprozess erinnert, der ja auch das Wohl- Goldes wie das der Sonne war königliches Wesen, war Unversehrbar-
geordnete, das Spezifische schaffen soll.^"^ keit imd Unsterblichkeit, und das drückte sich in einem Verhältnis der
Der Begriff des Wohlgeordneten ist überhaupt ein Leitmotiv stoischer Übereinstimmung, in einem Sympathie-Verhältnis aus. Der Kosmos ist
Philosophie, und das Pneuma, das dieses Wohlgeordnete schafft, durch­ durchzogen von einem Geflecht von Sympathien und Antipathien, und
zieht den gesamten Kosmos, durchzieht den Himmel wie auch die Erde. auch die Materie des Alchemisten und ihre Wandlungen wirken in Sym­
Die Vorstellung von der alles durchziehenden Weltvemunft nun erlaub­ pathie und Antipathie direkt zurück auf den Alchemisten und seine
te es den Stoikern, archaisch-mesopotamische Vorstellungen, die aller­ Labortätigkeit.
dings den klassischen Philosophen nicht fremd waren, zu einer Lehre Das Makrokosmos-Mikrokosmos-Denken ist ein Denken, das Erleb-
auszubauen, die, und hier paßt das Wort, einen überwältigenden Einfluss *hsse und Entdeckungen ermöglichen, sie aber auch bloß Vortäuschen
auch auf das europäische Denken gehabt hat. Das ist die Makrokosmos- Es ist ein Denken in Analogien. Bei den Stoikern aber und den
Mikrokosmos-Theorie. Die Theorie sagt au fond nichts anderes, als dass die Alchemisten besitzen die Realanalogien noch eine besondere Tiefe.
große Welt des Stemenkosmos eine Entsprechung in der kleinen Welt Die Realanalogie setzt nicht nur voraus, dass es das Analogon wirk­
der Erde und der noch kleineren des Menschen und seiner Umgebung lich gibt, sondern dass es in einem Ich-Du-Verhältnis lebendig ist. Die
74 I. Im Schatten der Pyramiden Der Brief des Zosimos 75

Partner einer solchen Analogiebeziehung, auch die scheinbar toten, kön­ besitzen nur Texttrümmer der <Cheirokmeta> aus byzantinischer Zeit,
nen wechselseitig aufeinander einwirken: Die Welt der Retorte, die Welt and die sind merkwürdig genug, denn in ihnen weist Zosimos zuweilen
des Menschen, der Erde, der Sterne, sie alle sind nur in und mit den auf sich selbst wie auf einen Fremden hin und zudem irgendwo auf den
anderen zu denken. Ob die Alchemisten die Analogiebeziehung als Wir­ Alchemisten Stephanos, der ethche Jahrhunderte nach ihm gelebt hat.
kung des stoischen Welten-Pneuma, das ja alles durchzieht, gedeutet Kurz, w ie überall schwankt der Boden alchemischer Textüberheferung
haben, bleibt unklar. Sicher aber ist, dass sie sich auf Real-Analogien auch hier.
eingelassen und dass sie sich damit in ein dichtes Raunmetz lebendiger, Zosimos schrieb seinen Brief an eine Schwester mit dem schönen Na­
wechselwirkender Beziehungen eingesponnen haben, das sie aber an­ men Theosebeia, die Gottesfurcht. Der Begriff Schwester ist gerade in
scheinend nicht erlebt haben als Fessel, sondern als sicheren Halt ihrer Ägypten mehrdeutig, doch was Theosebeia auch immer gewesen sein
Existenz. mag, sicher ist, dass Zosimos sich seiner Briefpartnerin gegenüber haar­
Wenn wir mm wieder ins Alchemisten-Labor nach Alexandria zu­ genau so benimmt, wie man das - zumindest in der guten alten Zeit -
rückkehren und versuchen, den Standardprozess, also die Herstellung von einem richtigen großen Bruder seiner richtigen kleinen Schwester
des Schwarzen Körpers mit anschließender <lnformation> des Körpers gegenüber erwarten konnte. Er verteilt freigiebig unerbetene Ratschlä­
mit wechselnden Eigenschaften, mit den Augen des Stoikers zu sehen, ge, ermahnt Theosebeia, nicht Gemütsschwankungen zu unterliegen,
dann müssen wir zugeben, dass der Prozess zwar chemisch primitiv wie es ja sonst so oft bei den Frauen der Fall sei, und beschwört sie, auf
und auch naiv wirken mag, dass er aber durchaus nicht planlos oder die Suche nach Gott zu gehen, sich dabei aber nicht innerlich zu ver­
gar von Grund auf blödsinnig war. Was wir im Alchemistenlabor zu krampfen, sondern Ihn, der im Gegensatz zu den Dämonen, die ja nur
Alexandria nachvollzogen haben, war sinnvoll. Und es war erfolgreich! «am niedrigsten Ort» sein können, «überall und nirgends» ist, in Gelas­
Wir wissen, wie man Gold machen kaim, und wir wissen sogar, warum senheit auf sich zukommen zu lassen. Es gibt sogar eine ganze Gruppe
man Gold machen kann. Anders gesagt, wir wissen nicht nur, was die von Dämonen, die sich mit den Weibern der Menschen eingelassen und
Alchemie will, wir wissen sogar, was sie ist. ihnen Geheimnisse der Natur und der Kunst verraten haben; doch das,
versichert Zosimos, ist böses Wissen, das der Seele schadet, und so wur­
den die lüsternen Dämonen ja auch als gefallene Engel aus dem Himmel
I j . Der Brief des Zosimos gejagt.
Uber die eigentlich peinliche Tatsache, dass die <Göttliche Kunst> so
Vielleicht aber beschleicht uns dabei das missliche Gefühl, dass da et­ zweifelhafte Eltern hat, äußert sich Zosimos nicht weiter, sondern rich­
was nicht stünmen kann. Was wir im Alchemisten-Labor betrieben ha­ tet seinen heiligen Zorn nun auf ganz und gar Irdisches. In eindringli­
ben, war schlicht Chemie, und sei's eine Chemie aufgrund veralteter chen Worten warnt er seine Schwester vor den bösen Verführungsküns­
Theorien. Und genau das würde uns unser Alchemist auch unterstellen, ten von Leuten, die in seinen Augen bestenfalls Pseudoalchemisten
und zwar mit kritischem Unterton, denn bloß Chemie getrieben zu ha­ sind. Eine Dame namens Paphnutia und einen gewissen Neilos nennt
ben, wäre in seinen Augen nichts weniger als plumper Vandalismus. Zosimos sogar beim Namen. In den Augen des entsetzten Zosimos ist
Wir sollten uns in dieser Lage einmal einen Brief anschauen, der be­ vor allem Neilos ein geradezu infernalischer Verführer, der Götterstatu­
stimmt irgendwo auf dem Schreibpult unseres fiktiven Adepten zu fin­ en so lebendig zu färben versteht, dass sie die Menschen täuschen, und
den ist. Schreiber des Briefes ist der GöttÜche Zosimos aus der Stadt der dabei doch «das Gold mehr als die Vernunft» begehrt. Aber diese
Panopolis in Mittelägypten, die <Krone der Philosophen>, wie sein Kom­ Leute betrügen sich selber, denn: «Wenn sie von der Vernunft geleitet
mentator Olympiodoros sich ausdrückt. Und tatsächlich ist er der be­ worden wären, hätte das Gold sie begleitet und wäre in ihrer Macht;
deutendste griechisch-ägyptische Adept, den wir kennen, hat er doch denn die Vernunft ist die Herrin des Goldes.» Im Übrigen: «Der, der die
im 3.74. Jahrhundert nach Chr. für die Göttliche Kunst das getan, was Vernunft in sich aufnimmt, wird durch sie das Gold vor seine Augen
Euklid, ebenfalls in Alexandria, aber im 3.74. Jahrhundert vor Chr., für gelegt sehen.» (Berth. (2) III, 187)
die Mathematik geleistet hatte: Er hat das Wissen seiner Zeit zusam­ Ob das, was die Vernunft vor Zosimos' Augen gelegt hat, wirklich
mengefasst. Das Werk, das den <Elementen der Mathematik> des Euklid Gold ^ Münzmetall gewesen ist, man mag es bezweifeln.
vergleichbar ist, ist in 28 Bücher gegliedert und heißt <Cheirokmeta>, Ln Übrigen scheint Zosimos sich der Überzeugungskraft seiner Be­
was man mit <Handgriffe> oder <Kunstgriffe> übersetzen könnte. Wir hauptungen selbst nicht ganz sicher gewesen zu sein, denn er versucht.
I. Im Schatten der Pyramiden Der Brief des Zosimos 77

die Gefahr, die seiner Schwester droht, noch zusätzlich dadurch abzu­ teten Naturen bezaubert und überwindet. Dies hier ist das im Gleich­
wehren, dass er eine ausführliche Darstellung der wahren Alchemie gearteten Orphische und die Lyra des Hermes, in der sich die angeneh­
gibt. Diese Einführung ist fachlich so anspruchsvoll, als rede Zosimos me und harmonische Verbindung der Substanzen erfüllt.» (Berth. (2) III,
von Gleich zu Gleich. Man darf also mit Fug und Recht annehmen, dass 203)
Theosebeia eine versierte Chenükerin war. ln der alchemischen Überlie­ Im Sinne neupythagoreisch-orphischen Denkens sollen also die che­
ferung wurde sie darüber hinaus zu einer Priesterin und Königin zu­ mischen Proportionen den Proportionen der musikalischen Harmonie
gleich und so zu einer mystischen Figur, die nun die Funktion der <mys- entsprechen.
tischen Schwester> erfüllte. Als Soror mystica verkörperte sie die weib­ Zentren der Prisca ars sind unter anderen die Tempel des Hephai-
liche Komponente des alchemischen Werkes und damit auch ein stos-Ptah. Offensichtlich aber sind es nicht nur ägyptisch-griechische
notwendiges und ergänzendes Gegenstück zum Alchemisten. Um Vol­ Götter, denen die Göttliche Kunst ihre wichtigsten Kenntnisse zu dan­
taires Ausspruch über den Lieben Gott ein wenig umzuschreiben: ken hatte. Unter die Altmeister und Lehrer des <Großen Mysteriums>
«Wenn es die Schwester nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Aber die zählt Zosimos Persönlichkeiten, die gewiss nicht alle Götter waren und
gesamte Natur ruft aus, dass es sie gibt.» die auch nicht alle aus dem ägyptischen Kulturkreis stammten, etwa
Die Ausführungen über die wahre Alchemie beginnen mit der Versi­ Demokrit, Platon und Aristoteles, was nur zeigt, wie sehr diese klassi­
cherung, dass die Alchemie eine göttliche und eine ägyptische Kunst schen Philosophen schon von Legenden überwuchert waren. Als Alt­
sei. Was die Ursprünge der Alchemie angeht, so verweist Zosimos, der meister Göttlicher Kunst gelten darüber hinaus der biblische Moses,
selbst später nicht nur die <Krone der Philosophen>, sondern auch <der ferner dessen Schwester Maria oder Mirjam sowie der Magier Ostanes
Alte> genannt wurde, immer wieder darauf, dass sie uralt sei, und d. h. und viele andere, von denen wir häufig kaum mehr als die Namen
für uns, dass sie aus einer Zeit stamme, in der Menschen und Götter kennen. Im Übrigen versichert uns Zosimos, dass den Eingeweihten die
noch gemeinsam auf Erden lebten. Dieser von allen Alchemisten geteilte rechte Lehre bereits seit langem bekannt sei, ist sie doch niedergelegt in
Glaube an das unvorstellbare, mythische Alter ihrer Prisca ars, ihrer ur­ den Werken der «vielen Alten» und auch in den Schriften der Juden.
alten Kunst, verlieh ihnen eine unhinterfragte Sicherheit, und der Gött­ Aber sie ist verstreut und verborgen in tausend Büchern, die in den
lichen Kunst verlieh er die Kraft, im Laufe ihrer langen Geschichte im­ «Bibliotheken der Ptolemäer> und in den Bibliotheken der großen Tem­
mer wieder kulturelle und ideologische Schranken zu überspringen. pel verstreut sind, imter denen Zosimos das Serapeion zu Alexandria
Wie die Überlieferung vor sich ging, sagt uns Zosimos auch. Er besonders hervorhebt, was uns nebenbei darauf hinweist, dass unser
behauptet nämlich, dass Anweisungen über die Künste der Metall-Be­ Autor vor der Zerstörung dieses Tempels im Jahre 390 n. Chr. gelebt
handlung in Hieroglyphen verschlüsselt auf den Säulen gewisser ägyp­ haben muss.
tischer Tempel stünden, «auf die Art, dass, wenn jemand es wagen wür­ Mit Buchwissen allein aber ist es nicht getan. Ein wahrer Alchemist
de, den Dunkelheiten des Heiligtums die Stirn zu bieten, um auf uner­ sollte auch besondere persönliche, charakterliche Voraussetzungen mit­
laubte Weise Kenntnis [von ihnen] zu erlangen, es ihm nicht gelingen bringen, die wahrhaftig nicht zu gering zu veranschlagen sind. Um
würde, die Zeichen zu entziffern, trotz seiner Kühnheit und seiner Adept zu werden, muss er rastlosen Fleiß zeigen und sich außerdem
Mühe». (Berth. (2) III, 233) stieng an die Wahrheit halten, er sollte also genau die Tugenden üben,
Behauptungen wie diese finden sich allenthalben in der alchemischen die man heute von einem Wissenschaftler erwartet. Aber es kommt noch
Literatur, und tatsächlich waren spätptolemäische Tempel wie etwa der 6tivas anderes und Wichtigeres hinzu: Wer sich dem großen Werke wid-
des Thot-Hermes zu Edfu mit Weisheitssprüchen und sogar mit Rezep­ reen will, muss sich vor allem der unentbehrlichen Gnade Gottes wür-
ten zur Bereitung von Räuchermitteln, Heilsalben etc. bedeckt. Damit ig erweisen, er muss erfüllt sein von Frömmigkeit und guter Gesin-
sollte das Geheimnis den Eingeweihten bekannt, aber vor den Barbaren muss frei sein von Eigennutz und Habgier, muss stets geneigt
geschützt bleiben. Der letzte Hieroglyphentext übrigens stammt aus sein zu Gebeten und Opfern nach salomonischer Weisheit. Wichtiger
dem Ende des 4. Jahrhunderts. i^och. Der Alchemist muss fähig sein zu tiefster seelischer Versenkung,
Aber was ist das in Rätseln verschlüsselte und eifersüchtig gehütete J^d nur um ihrer Göttlichkeit willen darf er die Göttliche Kunst betrei­
ben.
Geheimnis der Priester? «Es ist das Bild der Welt, berühmt in den alten
Texten, der mystische Mörser der Ägypter und Schriftgelehrten Ä gyp ­ Wir könnten glauben, all dies sei das übliche Gerede von <eine Sache
tens, durch den die Verwandtschaft der Naturen die ihnen gleich gear­ 'un ihrer selbst willen tun>, während man die Sache doch nur als Mittel
7» I. Im Schatten der Pyramiden Der Brief des Zosimos 79

zu anderen, nicht eben göttlichen Zwecken betrachtet. Aber Zosimos Was aber geschieht im Akt der chemischen Schöpfung? Lassen wir
meint, was er sagt, und zwar im wörtlichen Sinne. Er fordert tiefsten dazu Zosimos selbst zu Wort kommen:
moralischen Emst; Unernst trägt das Zeichen des Misserfolgs unweiger­ «Deim zur Vollendimg der Himmlischen Sonne, Königin des Him­
lich auf der Stirn, sind doch alle Versuche der Ungelehrten, der auch mels, rechtes Auge der Welt oder Anthos, also Blüte des Feuers ge­
moralisch Uneingeweihten, von vornherein fmchtlos. Und fmchtlos vor heißen, wird durch das Pneuma auch das Kupfer gehoben, indem es,
allem sind die Bemühungen all derer, die mitnichten nach innerer Er­ genügend gereinigt, Anthos, d. h. Goldfarbe oder Goldglanz, enthält
kenntnis, nach innerer Gnosis streben, sondern bloß als ihre eigenen und sich wandelt zur Irdischen Sonne, zur Königin der Erde.» (Berth.
Arzte die Krankheit der Armut heilen wollen. Diese so häufige Krank­ (2)n,2i3f.)
heit ist, so meint der weise Zosimos, am besten zu behandeln, indem Liest man diesen Satz außerhalb jeden Kontextes, dann klingt er doch
man «eine schöne Frau mit viel Geld» heiratet. (Berth. (2) III, 222) Welch sehr nach pathetischem Unsinn. Und doch enthält er fast die gesamte
praktischer Rat, wenn Zosimos ihn auch dem Prometheus in den Mund Theorie der hellenistischen Alchemie. Der Satz und damit die Theorie
legt, der ihn angeblich an den Bmder Epimetheus, den <Zu-spät-Beden- ruhen auf dem Makrokosmos-Mikrokosmos-Parallelismus der Sonne
kenden>, gerichtet hat. Epimetheus soll - daraufhin? - die schöne und imd des Goldes. Die Sonne ist hier ganz sicher ein Symbol Gottes,
gabenreiche Pandora zu sich genommen haben, aus deren Büchse alle gleichgültig, ob man Gott nun rieuplatonisch den All-Einen, ob man ihn
Übel der Menschheit und als Letztes die Hoffnung stammen. Der wahre jüdisch Jahwe oder ob man ihn ägyptisch Amon, Aton oder Horns nen­
Philosoph - das ist <die Moral von der Geschicht'> - sollte die scheinbar nen will. Zudem war es guter Brauch, die Sonne als Auge Gottes zu
lukrativen Gaben des Zeus, d. h. des Schicksals, gefälligst von sich wei­ nehmen, etwa als Auge des Horns, das alles sieht und alles am Leben
sen. erhält. Gold als Gegenstück zur Sonne ist also der mikrokosmische Gott,
Der Rat aber, der keiner ist, sagt uns noch mehr, als er wohl sagen und damit ist es auch die göttliche Königin der Erde, die über der Zeit
wollte: Er verrät uns, dass der wahre Alchemist sich durchaus dessen steht. Die geheime Verbindung zwischen Sonne und Gold wird im vor­
bewusst war, dass er nie übliches, staatlich prüfbares Gold gemacht hat, liegenden Text durch das Wort <Anthos> deutUch gemacht, das anschei­
auch wenn er sich stets bemüht haben sollte, sein Gold, das ja auch ein nend zugleich Blüte und Goldfarbe bedeutete. Auch das erwähnte Kup­
Symbol seines Erfolges war, so gut, so golden und so haltbar zu machen, fer, das in den Status des Goldes gehoben werden soll, besitzt eine dop­
wie er nur irgend konnte. Und zwar jenseits jeder profanen Geldgier. pelte Bedeutung. Es ist hier, das weiß man aus anderen Quellen,
Im Übrigen reichen Abstinenz von Raffgier und reines Herz noch gleichgesetzt mit dem Menschen, und zwar dem Menschen, wie er ist,
längst nicht aus, um alle Forderungen, die unser Zosimos an die Per­ bevor er sich einem Initiationsritus unterzogen hat. In der Obhut oder
sönlichkeit des Alchemisten stellt, zu erfüllen. Damit der Jünger der in der Gewalt des Priesters oder Alchemisten wird er dann während
Kunst ein echter Adept wird, muss er auch in einer ganz bestimmten des Ritus zu unserem Menschen, d. h. zu unserem Kupfer. Allerdings
Weise gelehrt sein, er muss erfahren sein, um eine zweite Bedeutung ist die Basis unseres Kupfers unser Blei, das sich in dem ja schwarzen
des Wortes adipisci heranzuziehen. Ein wahrer Adept kann die rechten Produkt des ersten alchenüschen Schrittes als unser schwarzes Blei im
Zeiten und glücklichen Momente für das Große Werk bestimmen, weiß Gegensatz zum Zinn, unserem weißen Blei, zu erkennen gibt. Unser Blei
mithin um die entscheidenden Einflüsse der Planeten. Außerdem kennt nun ist höchst wandlungsfähig und kann nicht nur zu Kupfer, sondern
er die richtigen Gebete und Beschwörungen, die Zauberstoffe, die ma­ auch zum Weißen und Roten, zum Silber, zum Gold, ja zur Koralle des
gischen Formeln und Handlungen, die er einerseits braucht, um die Goldes werden. Es ist wie Maza, wie Teig, wie eine noch ungeformte
göttliche Mithilfe zu erlangen, andererseits, um magische Einflüsse bö­ Masse, oder wie ein Sauerteig, der normales Kupfer vermehren und
ser Dämonen abzuwehren, die das Werk verderben könnten. Zosimos verändern und dabei verbessern kann. D. h., die Maza bringt normales
nennt den teuflischen persischen Geist Antimimos, den <Gegenspieler>, KupfCT zum Blütentragen, sie macht es zum Gold. So gesehen ist <unser
der in der christlichen Gnosis als Widerpart Christi auftritt. Blei> schon Hen to pan. Eines in Allem und gleichzeitig Alles in Einem.
In den <Cheirokmeta>, die seiner Schwester gewidmet sind, äußert Die Parallele zum eigentlichen Zustand des Menschen ist wohl unüber­
sich Zosimos näher über das Wesen des alchemischen Prozesses, den er sehbar, und wir spüren, wie viel Hoffnung gerade auch in Hinblick auf
als Analogon zur Welten-Schöpfung, zur Kosmopoia, begreift. Die che­ <üe Conditio humana vor allem in der letztgenannten Behauptung
mische Schöpfung betrifft die Reinigung und die Befreiung, die Erlö­ steckt. Unser Blei ist etwas Lebendiges, Bewegliches, ist unser Wasser.
sung des an die Substanzen oder Körper gebundenen Pneuma. Wegen seiner besonderen Wässrigkeit, also wegen seines Vermögens,
8o I. Im Schatten der Pyramiden Der Traum des Zosimos

jede Mischung einzugehen, jede Färbung anzunehmen und neue che­


mische Kräfte auf sich einwirken zu lassen, war das Blei für die Alche­
mie treibenden Ägypter eine Prima materia, die - dies schon eine Ver­
weis von Zosimos auf seinen Kommentator Olympiodoros - auch als
Osiris bezeichnet wurde. Wenn nun dieser Osiris, dieses Blei zu schwar­
zer Flüssigkeit geschmolzen ist, bekommt es - und das ist das große
Mysterium - durch Pneuma, das es dank seiner Schwere an sich zieht
(!), eine neue Seele (Psyche), die als färbendes Pneuma neue Farben und
Eigenschaften beibringt und die Natur des Bleis in die des Silber und
des roten Blutes, will sagen: des Goldes, verwandelt.
Die Verwandlung des Schwarzen in das Goldene gelingt aber, um
wieder zu den brüderlichen Ermahnungen zurückzukehren, nur, wenn
man den Antimimos fern hält und zudem all den anderen von Zosimos
genarmten Voraussetzungen entsprechen kann. Nur dem Menschen, der
würdig ist, sich der Göttlichen Kunst zu widmen, offenbart Gott die
Wahrheit, und zwar in den Träumen und Visionen eines magischen
Schlafes. Den Seinen gibts der Herr im Schlafe, und wenn die funda­
mentale Wahrheit den Alchemisten überkommt, dann sind ihm die che­
mischen Operationen des Großen Werkes nichts «als Bdnderspiel, als
Weiberwerk». (Berth. (2) II, 251; III, 241)

14. Der Traum des Zosimos

Auch Zosimos selbst berichtet von einem Traum. Und es ist wahrhaftig
ein merkwürdiger Traum, der da, durch eingeschobene Wachphasen
gegliedert, vor unseren Augen abrollt, ist er doch zugleich zu verstehen
als ein persönliches, höchst phantastisches, ja als ein den Irrsinn strei­
fendes Erlebnis und als ein didaktisches Drama. Der Traum ist schwie­
rig zu interpretieren, und er kommt mir nur deshalb nicht wie das Ge­
brabbel eines Verrückten vor, weil er strukturiert ist, weil er mit Fragen
und nicht von vornherein mit Antworten beginnt, während die Be­
kenntnisse von Geisteskranken gewöhnlich nichts als rätselhafte Ant­
worten bieten, und weil er uns unter dem Namen des Zosimos, der ja
wahrhaftig auch nüchtern zu denken verstand, überhefert ist.
In den Phasen des Traumes gibt es eine stets wiederkehrende Kon­
stellation als Basis verschiedener Motive, die von Zosimos jeweils nach
dem Erwachen als genuin chemisches Problem interpretiert werden: «Ist
dies nicht etwa die Zusammensetzung der Wässer?»; und auch: «Wel­
ches ist die Ursache dieser Schau? Ist also dieses weiße und gelbe sie­
dende Wasser das göttliche?»; und später: «Gut habe ich erkannt, dass
D ie Kochung. (Solomon Trismosin: Splendor Solis, 16. Jh.,
so das Blei hinausgeworfen werden muss, und in Wirklichkeit bezieht
The British Library, London)
sich das Geschaute auf die Zusammensetzung der Flüssigkeiten.»; so-
82 I. Im Schatten der Pyramiden Der Traum des Zosimos 83

wie schließlich: «Ich habe alles wohl verstanden. Es handelt sich um die Herr des Hauses sprach zu mir: <Du hast es geschaut, du hast deinen
Flüssigkeiten in der Metall[kunst].» (Berth. (2) III, 3-108ff., ii/ff.) Nacken emporgerichtet und hast gesehen, was sich vollzogen hat.) Und
In jedem der Traumbilder erleben wir einen Altar, der nur über Stufen ich sagte, dass ich es gesehen hätte, und er fuhr fort: <Dieser eherne
zu erreichen ist, und «der die Form einer flachen Schale hatte». (Berth. Maim, den du sahst, der ist der Priester, der opfert und geopfert wird
(2) III, 108ff., ii7ff.) Neben dem Altar erblicken wir eine Gestalt, mit imd sein eigenes Fleisch ausspeit. Und ihm ist Gewalt gegeben über
der sich der Träumer unterhalten oder über die er sich zumindest be­ dieses Wasser und über die, die gezüchtigt werden.)» (Berth. (2) III, 69)
richten lassen kann. Diese Gestalt wechselt und bleibt zugleich, wie der Das ist noch eine besonders simple Textstelle, weil hier das Thema
Träumer erkennt, im Wesentlichen dieselbe. Zuerst ist sie ein Priester, der Wandlung auf nur ein Motiv bezogen ist, das der Kochung, und
der zuvor «entsprechend der Harmonie» zerstückelt, d. h. in die vier lücht etwa zusätzlich noch auf die ebenfalls vorkommenden Motive der
Element zerlegt und wieder zusammengesetzt worden war imd nun vor Enthäutung und Enthauptung.
den Augen des Träumers das Kunststück fertig bringt, sich selbst zu Mein Ariadnefaden, mit dem ich mir aus dem Labyrinth dieser und
zerfleischen und seine eigenes Fleisch hochzuwürgen und auszuspeien. anderer, noch verworrenerer Textstellen herauszuhelfen versuche, be­
Dann ist dieselbe Gestalt ein grauer Homunculus und zugleich ein eher­ steht aus Assoziationsketten. Ich glaube, bei sinnvoller Beschäftigung
ner Mann mit einer bleiernen Schreibtafel in der Hand, darauf ein Mann mit der Alchemie müssen wir uns an den Gedanken gewöhnen, dass
in einem roten Königsmantel, dann wieder ein weiß gekleideter Priester eine Wirkung mehr als eine Ursache haben und dass nicht nur der Teil
und ein anderer Weißgekleideter, der von einem Verfolger mit dem das Ganze imd das Ganze der Teil sein kann, sondern auch das eine
Schwert getötet und «der Strafe überliefert», will sagen gekocht wird, Bestimmte gleichzeitig das andere Bestimmte. Das gibt sich oft durch
und schließlich ist die Gestalt ein feuriger Geist, der auf dem Altar steht. eher phantastisch wirkende Metaphern zu erkennen, die aber eben
Der Altar wird durchgängig als «Ort der Strafen» bezeichnet. Und mehr sind als bloße Metaphern, und die im Laufe der alchemischen
das ist er wirklich, eine Stätte der Qualen, wie ein Textstelle belegen Tradition eine gewisse Bestimmtheit gewinnen.
mag: «Und ich sah denselben Schalenaltar, oben darauf brodelndes Weim wir etwa den alchemischen Bildband <Splendor Solis) zur
Wasser und viel Volks darin, eine unzählbare Menge. Niemand war da Hand nehmen, der 1500 Jahre nach dem Traum des Zosimos veröffent­
in der Umgebung des Altars, den ich hätte fragen können. Und ich licht wurde, dann bestätigt uns diese Tradition, dass die Zerstückelung
schritt herauf zu demselben, um die Sicht auf den Altar zu erlangen. der Purißcatio, der Reinigung dient, durch die eine Verjüngung und Wie­
Und ich erblickte einen grauen Homimculus, der sprach zu mir: <Was dergeburt der in der Retorte eingesetzten Substanzen herbeigeführt
schaust du?> Ich antwortete ihm: <Ich staune über das Sieden des Was­ wird, während die Kochung und damit die Solutio ebenfalls eine Er­
sers und der Menschen, die mitverbrennen und doch leben. >Er antwor­ neuerung und - u. a. Aspekt - eine Abtrennung einer <Metallseele),
tete und sprach: <Die Schau, die du siehst, ist der Eingang und der sprich des Pneuma, bewirken soll. Und etwa zur gleichen Zeit fordert
Ausgang und die Wandlung. > Ich fragte ihn nun wiederum: <Welche der Alchemist Michael Maier, dass der Drache, der als Materie schlecht­
Wandlung?> Und er antwortete und sprach: <Der Ort der Ausübung der hin vergeistigt werden muss, «mit dem Schwert gezähmt werden muss,
so genannten Einbalsamierung. Denn die Menschen, die der Kunst teil­ mit Hunger und nüt Gift, bis er sich selbst verschlingt und sich selbst
haftig werden wollen, gehen dort hinein und werden Geister, indem sie auswürgt, sich selbst tötet und sich selbst gebiert» (Read 241), bis er also
dem Körper entfliehen. > Da sprach ich zu ihm: <Und du bist auch ein zu einem echten Ouroboros wird.
Geist?) Und er antwortete und sprach: <Ich bin ein Geist imd ein Wäch­ Mit den Wässern, um die es im Traum geht, sind offensichtlich Wand­
ter über die Geister.) Während wir dies miteinander verhandelten und lungswässer, Theia hydrata, im weitesten Sinne gemeint, die - zusam­
während das Kochen des Wassers immer mehr zunahm und das Volk mengesetzt oder nicht - in der Altar-Schale von vornherein vorhanden
aufheulte, da sah ich einen ehernen Mann, der hielt in seiner Hand eine oder in allen Metallen enthalten sind. Also galt es, Materie in ihre Be­
bleierne Schreibtafel. Der sprach mit lauter Stimme, indem er die standteile zu zerlegen, will sagen zu dekomponieren in einen ungeord­
Schreibtafel anblickte: <A ll denen, die sich in der Strafe befinden, befehle neten und damit zugleich in einen gleichverteilt chaotischen und frucht­
ich an, zu schlafen, und jeder soll in seine Hand eine bleierne Schreib­ baren Zustand, den der Prima materia, aus der man dann hoffen konnte,
tafel nehmen und mit der Hand schreiben, die Augen emporheben, und das metallische Wandlungswasser, sei es nun artspezifisch oder nicht,
ihr sollte euere Münder öffnen, bis euer Halszäpfchen [in der Bewegung auszuziehen. Und das musste das wunderbare Wandlungswasser sein,
des Auswürgens] anschwillt.) Und dem Wort folgte die Tat, und der ein ewiges Wasser, ein Aqua permanens, das im Mittelalter mit <unserem
I. Im Schatten der Pyramiden Der Traum des Zosimos 85

Quecksilber» gleichgesetzt wurde. So sollten denn auch später einmal


einige lateinische Alchemisten die nahe liegende Strategie verfolgen.
Aqua permanens aus Silber und Gold auszuziehen und direkt zur
Transmutation zu verwenden. Gedankengänge ähnlich diesem stehen
wahrscheinlich hinter der Selbstzerstückelung des Priesters, der zu­
gleich der eherne Mann ist. Die Bleitafel in dessen Hand deutet hin auf
die Prima materia und ihre Rolle im alchemischen Prozess: Das noch
<uninformierte>, feste oder flüssige Blei allein kann keine Wandlung be­
wirken und muss deshalb <hinausgeworfen> werden, aber es ist doch
zugleich die Tafel, in die der Alchemist alle Eigenschaften einer höheren
Materie <einschreiben> soll. Die wassergefüllte Schale weist darauf hin,
dass Wasser auch Geist ist oder sein kann, genau wie Feuer und Luft.
Das eine Bestimmte ist also zugleich das andere Bestimmte. Und im
Wörtchen <auch> habe ich den Hinweis versteckt, dass die eine Ursache
auch eine andere und wiederum auch eine weitere andere sein kann,
oder auch alle zugleich ein Gewimmel von Ursachen, die gemeinsam
verantwortlich sind für eine, oft ebenfalls im Unbestimmten flimmernde
Wirkung. Das aber ist die Art, in der das Gehirn denkt, wenn es mit
sich im Traum allein ist oder allein in der Meditation als einem «Collo-
qmum internum cum aliquo alio, qui tarnen non videtur» (Rul. 327), als
einem «iimeren Gespräch nüt irgendeinem anderen, der jedoch nicht
sichtbar ist».^^
Dass Wasser auch Geist ist, zeigt sich am Bild der wassergefüllten
Schale auf dem Altar, worauf der Traktat <Poimandres> aus dem <Corpus
hermeticum» auch ausdrücklich hinweist. Hier wird eine Schale bzw.
ein Mischkrug, ein Krater, vom Schöpfergott mit Geist, Nus, bzw. Pneu-
ma gefüllt und zur Erde geschickt, damit diejenigen, die nach höherem
Bewusstsein streben, sich darin taufen lassen können. Baptismos bedeu­
tet hier die Geistwerdung als Trennung oder Erlösung des Geistes vom
Körper. Das aber ist der Tod, wenn auch ein Tod zu neuem Leben, und
zwar ein bewusst erlebter und deshalb mit äußersten Qualen verbun­
dener Tod. Damit dreht sich die Gleichsetzung von Wasser, Feuer und
Geist um: Das kochende Wasser ist Mittel der Zersetzung. Es ist sicher
etwas daran, wenn der Religionsforscher Mircea Eliade vermutet, dass
die Alchenüsten versucht hätten, die Qualen der Initiationsriten in die
Materie zu projizieren, die dann ganz real, ganz chemisch gekocht, ex­
trahiert, destilliert oder sonst wie gequält wurde, bis sie im wahrsten
Sinne des Wortes ihren Metallgeist aufgab. Das Erleben des Alchemisten
wird so zu einem Erleben per analogiam, aber die Analogie ist hier, wie
bei allen Initiationen, keine formale. Die Vorgänge in den Phiolen, Re­
D ie Zerstückelung. (Solomon Trismosin: Splendor SoUs, 16. Pt.,
The British Library, London)
torten, Destillierapparaten spiegeln sich nicht bloß gleichnishaft und
sogleich in vernünftige Erkenntnis übersetzt in den Gefühlen des Alche­
misten wider, sie sind diese Gefühle. Das Erleben des Alchemisten spielt
86 I. Im Schatten der Pyramiden Mysterienkulte 87

sich damit in einem Zwischenreich ab. Und deshalb lassen oft scheinbar des Zosimos als eines bestimmten Geistes Kinder. Und natürlich atmet
rein chemische Passagen spirituelle Anliegen und spirituelle Passagen dieser Geist das intellektuelle Klima der Zeit, in der er gelebt hat. Dieses
chemische Anliegen durchschimmem. Klima müssen wir kennen lernen, um das Wollen der Alchemie besser
Die Traumgestalten sind natürlich auch Projektionen der Vorstellun­ zu begreifen. •
gen des Träumenden in die Materie und damit etwas psychologisch
Bestimmtes. Und zugleich sind sie etwas anders Bestimmtes. Den Herrn
des Hauses in unserem Zitat kann man nehmen als Alter Ego, als eine Mysterienkulte
Art Schutzengel des Träumers. Dieser Schutzengel mag aber auch die
Anima metallorum, die Seele, und damit die Selbsterkenntnis der Metalle Das Wort <Klima> ist mit Bedacht gewählt. Eine Wetterlage wirkt stets
selbst sein, die gewissermaßen von innen heraus sprechen kann. Die in einer hochkomplexen Gesamtheit auf den Menschen und sein Um­
Überzeugung, dass Metalle eine Seele besitzen - wohl im Sinne eines feld ein, ohne dass er seinerseits fähig wäre, all ihre Komponenten und
stoischen Pneuma -, gehörte zum Allgemeingut auch der mittelalter­ deren Einflüsse präzise zu analysieren. Bekanntlich kann man nicht ein­
lichen Naturphilosophie. Und weil die Metalle in der späten Antike mal eine zukünftige Wetterlage längerfristig aus einer gegebenen Vor­
nicht nur metaphorisch mit den Planeten verbunden waren, könnte der hersagen, was ja u. a. zur Chaosforschung geführt hat. Genau aber wie
Herr des Hauses auch ein magisch herbeigerufener Planetendämon das meteorologische Klima die Befindlichkeit des Menschen beeinflusst,
sein. so beeinflusste das intellektuelle Klima der späten Antike die implizite,
Die Gestaltenserie, die als Priester, als bleigrauer Homunculus, als die verborgene Ideologie in der alchemischen Theorie und Praxis.
Kupfermensch in Erscheinung tritt, in anderen Textstellen aber auch als Kurz gesagt: Das Geistesklima der Zeit, in der die Alchemie entstand,
weiß, als rot gekleideter, als silberner, als goldener Mann und auch als war wesentlich bestimmt von Mysterienkulten, über die wir allerdings
sein eigener Mörder, der sich selbst der «Strafe überliefert», ist vor allem recht wenig wissen. Doch schon das Wenige macht uns deutlich, dass
eine vielfältige Personifikation des alchemischen Prozesses dauernder der hellenistische Mensch von der Begegnung mit dem Heiligen im
Wandlungen, in dem - wie in allen chemischen Prozessen - Agens und tiefsten Inneren etwas anderes erwartete als der klassisch-griechische
Reagens, Aktives und Passives letztlich nicht unterscheidbar sind. Als und der altägyptische Mensch. Für den klassischen Griechen waren die
Personifikation des Prozesses und damit als ein ins Menschliche Geho­ ol)nnpischen Götter Garanten des Wohlgeordneten, des Kosmos, genau
benes ist die Gestaltenserie zugleich die Personifikation der Alchemis­ wie auch die ägyptischen Hochgötter Garanten der Welterhaltung wa­
ten. Auch hier ist die Metapher mehr als eine bloße Metapher, die ren. Deshalb auch war die Welt, die den Griechen in seinem kleinen
Analogie mehr als eine bloße Analogie, weil nämlich die Partner der Polis-Staat umgab, begreifbar; sie war dem anschauenden Denken oder
Analogie per Identifikation wechselseitig aufeinander einwirken. der einfühlenden Sehnsucht zugänglich. Er konnte sich in ihr geborgen
Im Krater aber passiert das Eigentliche. Es wird deutlich gesagt, dass fühlen, was natürlich nicht sagt, dass gerade die klassischen Griechen
die Menschen, die der Kunst teilhaftig werden wollen, dort hineingehen nicht ein Gespür für den tragischen Untergang hatten, und dass sie
und Geister werden, indem sie dem Körper entfliehen. Die Menschen nicht auch das letztlich unbegreifliche Erleben des Heifigen im Mythos
in der Altarschale sind also Mysten, d. h. Einzuweihende eines Initia­ kannten. Es ist aber bezeichnend, dass selbst die geheimsten Mysterien
tionsritus, oder es sind Alchemisten, ganz wie Zosimos selber, werm er wie die von Eleusis in den Kosmos und damit auch in den sozialen
vor seinen Destillationsapparaten oder vor seinen Büchern sitzt. Im Ko­ Kosmos, in die Polis, eingebunden waren. Die eleusischen Mysterien
chen im Wasser des Kraters sind Anfang und Ende des alchemischen fanden zu bestimmten Tagen des Jahres statt, und zwar als Feste der
Prozesses symboHsiert, der im Mikrokosmos, will sagen in einem tem­ gesamten Polis. Die alten Ägypter kannten ebenfalls im WesentUchen
pelartigen Reaktionsgefäß, stattfinden soll, das von Zosimos so kryp­ nur Staatskulte. Aber diese Staatskulte waren nie in das Gewand von
tisch wie eingehend beschrieben wird. Im Traum des Zosimos und in Mysterien im Stile der eleusischen gekleidet.
der Alchemie überhaupt geht es um Erlösung, und zwar um Erlösung Wie anders war das Bild der religiösen Landschaft in der hellenisti­
in und nicht von der Welt, um Erlösung als Befreiung des Geistes aus schen Zeit! Die Mysterien gehörten hier zu den herausragenden Punk­
dem Körperlichen mit einer anschließenden Neuverkörperung eben ten, aber sie waren anders als die Mysterien der klassischen Zeit, sie
dieses befreiten, gereinigten Geistes. wurden anders begriffen, und auch die Menschen, die an ihnen teilnah-
Mit diesem Erlösungspathos erweisen sich die alchemischen Träume men, waren anders.
88 I. Im Schatten der Pyramiden Mysterienkulte 89

Während in der griechischen Polis jeder männliche Bewohner sich, Grieche aus den Jahrhunderten kurz vor und nach Christi Geburt ceteris
sofern er Freibürger war, als Teil eines überschaubaren und von ihm paribus wohl genau solch ein platt-materialistisches Ekel wie der geistige
sogar beeinflussbaren Ganzen fühlen konnte, war die Lage eines Grie­ Kleinbürger von heute, dem der Chitinpanzer aus egoistischem Unver­
chen, der sich sein Leben in den riesenhaften Trümmern des Alexander­ stand, sozialen Vorurteilen und schlichtem, <bewiesenem> Aberglauben
reiches einrichten musste, eine grundlegend andere. Er gehörte zu einer das Rückgrat ersetzt. Vor allem den Wust von Aberglauben, der das
winzigen Minderheit der Bevölkerung und stand Kulturen gegenüber, Niltal erfüllte, sollten wir nicht vergessen, wenn wir uns den religiösen
die ihm zunächst unverständlich und die ihrerseits zutiefst verunsichert Anschauungen des Hellenismus annähern wollen.
waren. Außerdem wird unser <nach-alexandrinische> Grieche bald ge­ Aus imserer, der Kulturkritik zugewandten Sicht der Dinge ist die
lernt haben, dass er trotz aller Scheinfreiheiten in den neugegründeten wichtigste Gottheit der hellenistischen und römisch-griechischen Welt
Poleis keinerlei Einfluss auf die Staatsangelegenheiten mehr hatte, die die Göttin Tyche oder Fortuna, der übrigens in Alexandria einer der be­
sich ja auch in räumlich weit größeren Dimensionen abspielten. Er fühl­ deutendsten Tempel gewidmet war. Ursprünglich war die Tyche - wie
te sich dem A uf und Ab des Schicksals ausgeliefert, und er war es, zumal Hermes - eine Schutzgöttin für einzelne Städte und Berufsstände, hatte
die Regime der Diadochenkönige weder innere Stabilität garantieren sich aber in der späteren Antike mehr und mehr zu einer Gottheit des
noch auf ununterbrochene Kriege verzichten konnten. Der Libanon z. B. blinden Zufalls gewandelt, die als unerbittliches Schicksal erlebt wurde.
war auch damals heftig umkämpft. Darum erscheint die Tyche auch in Gestalt der Ananke, der Notwendig­
Trotz der Pax Romana lagen die Dinge im neuen Imperium im We­ keit, oder der Heimarmene, des unerbittlichen Schicksals. Trotz dieser
sentlichen nicht anders. Die Koine, das Weltgriechische, war Weltspra­ abstrakten Begriffe war, meine ich, die ja personifizierte Tyche nicht so
che geblieben, die alten Mythen und Philosophien blieben bekannt, jetzt etwas wie ein blasses Gesetz. Sie erscheint komplexer, launenhafter,
aber war auch der Schatten der Polisverfassung, der sich vielerorts unter eben poetischer als ein farbloser Ursache-Wirkungs-Mechanismus und
dem Schutz der Könige erhalten hatte, dahin, jetzt erst, wo Fremde über damit in gewissem Sinne auch furchtbarer. Selbst das Schicksal war
Fremde herrschten, nistete sich das Gefühl des Verantwortungsverlustes damals irgendwie lebendiger als heute.
gegenüber einem Staate, der nichts als Ruhe garantierte, auf Dauer ein.^° Der bange Glaube an die Tyche, die Sehnsucht auch nach inniger,
Die Lage der griechisch sprechenden Bürger im Osten des Reiches war persönlicher Gemeinschaft mit dem Göttlichen konnten ganz verschie­
unsicher, waren sie doch regelrecht eingeklemmt zwischen den römi­ dene Konsequenzen nach sich ziehen. Man konnte das Schicksal als
schen Besatzern, von denen sie sich ausgenutzt fühlten, und den altä­ Vorsehung, Pronoia, deuten und in stoischer Gelassenheit ertragen, man
gyptischen Einwohnern, die sie im Auftrag der Römer ihrerseits aus­ konnte aber auch versuchen, dem Schicksal irgendwie zu entgehen. Vor­
nutzten. Der intellektuelle Mittelstand, d. h. die Griechen und gräzisier- herrschend war wohl Schicksalsflucht in allen Nuancen, vom flachsten
ten Ägypter, lebte in einer Gesellschaft, nüt der er sich nicht Aberglauben bis zu tiefster religiöser Inbrunst. Viele hellenistische Men­
identifizierte, zumal diese von unübersichtlichen und instabilen Massen schen suchten das Versprechen eines Heils jenseits des Schicksals, wobei
bestimmte Gesellschaft ihn in die - zumindest politische - Anonymität hier das individuelle Heil des Einzelnen und nicht das der Polis gemeint
abdrängte. Die Unsicherheit, das Ungeschütztsein, das Abdriften ins ist. Und so wandte sich ihre Inbrunst einem ganz bestimmten Typ von
Private lässt sich gut an der Romanliteratur jener Zeit ablesen - trotz Göttern zu. Ich möchte diesen Typ den der <Kämpfenden Götter> nen­
des schon damals obligatorischen Happy Ends. Doch gerade in seiner nen, der Götter, die ihrerseits ein Schicksal erleiden und es immer wie­
Anonymität entdeckte der Mensch, ob er nun wollte oder nicht, sich der überwinden. Nur diese verstehen die Befindlichkeit des Menschen;
selbst, war er doch mit seiner inneren Verwirrung allein gelassen. Die sie allein sind Götter, in deren Nachfolge, in deren Nachahmung man
Stimmung der Verunsicherung und Vereinzelung, verbunden mit einem Erlösung finden kann. Kurz, die Kulte all dieser Götter waren - als
Rückzug ins Private und - das sei noch hinzugefügt - verbimden auch Erlösungskulte - Initiationskulte.
mit einer ganz ungriechischen und unägyptischen Sehnsucht nach Er­ Wir sollten hier erst einmal ungeprüft hinnehmen, dass der alchemi-
lösung von diesem Dasein, verstärkte sich unter der römischen Fremd­ sche Prozess, zu dessen Leitbegriffen Nachahmung und Erlösung gehö­
herrschaft zunehmend und begünstigte u. a. die Ausbreitung von Erlö­ ren, charakteristische Züge von Initiationsprozessen aufweist. Genauso
sungsreligionen, die im Übrigen häufig mit einer Ablehnung der im aber sollten wir hinnehmen und nicht vergessen, dass die Alchemie in
Prinzip bösen Welt einhergingen, Stichwort: Gnosis. Zugleich - und das ihnen nicht restlos aufging, wie sie auch niemals von der Maske irgend­
ist beileibe kein Gegensatz zum eben Gesagten - war der hellenistische einer spezifischen Philosophie, irgendeines dogmatischen Glaubensge-
90 I. Im Schatten der Pyramiden Mysterienkulte 91

spinstes vollständig verdeckt wurde. Die Tatsache, dass es eine chinesi­ binnen kurzem all diese Schätze sammeln; aber wenn du dich darauf
sche und eine indische Alchemie gab, mag dafür ein Beleg sein. Ich beschränkst, diese Reichtümer an dich zu nehmen, wirst du dich selbst
glaube zudem, um wieder nach Ägypten zurückzukehren, dass schon zerstören wegen des Neides der Könige, die regieren, und aller Men­
die eigenen Herkunftsmythen, die die Alchemie als ein Urereignis sui schen.» (Berth. (2) III, 233!.)
generis ausweisen, u. a. auch die Eigenständigkeit der Göttlichen Kunst Warum aber soll man sich dennoch die Hände schmutzig und den
bekräftigen sollten. Kopf schwer machen? Die Antwort, auch wenn sie sich im Kreise zu
Mysterienkulte und Initiationsriten reichen in die Anfänge der drehen scheint, kann nur lauten: um der Erlösung willen, einer Erlö-
Menschheit zurück. Und so sind auch die Götter, die mit derartigen simg, die derjenigen ähnlich ist, um die es in den hellenistischen Mys-
Riten verbunden waren, uralt. Aber die Entwicklung hin zu einem per­ terierdculten ging. Diese Erlösung war anscheinend inuner von einer
sönlichen, verinnerlichten Verhältnis zwischen dem Einzelmenschen Offenbarung der Gottheit begleitet.
und seinem Gott ist eine durchaus späte Erscheinung. Nichtsdestotrotz Übrigens ist es unklar, ob in den Kulten der Götter, denen unsere
konnte sie gut an Uraltes anknüpfen, rührt unsere Beziehung zu Gott- besondere Aufmerksamkeit gilt, Drogen genommen wurden, von Wein
in-uns doch an ursprünglichste, älteste Teile der Persönlichkeit. Außer­ einmal abgesehen, zu dem einer unserer Götter, Dionysos, ja eine be­
dem zeigte der Hellenismus ganz allgemein eine Neigung zur Archaik, sondere Neigung hatte. Drogengebrauch wäre für uns vor allem dann
konnte doch die Hinwendung zu Archaischem oder eingebildet Archai­ interessant, wenn man nachweisen könnte, dass die Alchemisten diese
schem u. a. dazu dienen, sogar solche Verknüpfungen hellenischer und Sitte übernommen hätten. Aber die wahren Adepten scheinen allesamt
orientalischer Kulturströmungen, die eigentlich gewaltsam hätten wir­ die Weisheit eines Thomas de Quincey besessen zu haben, der in seinen
ken müssen, vor sich selbst zu retten, indem man sie auf gemeinsame <Bekenntnissen eines englischen Opiumessers> (1822/56) bemerkt, dass
Urwurzeln zurückführte. So ist es wohl nicht überraschend, dass alle ein rechter Viehhändler auch im schönsten Opiumrausch doch nur von
hellenistischen Initiationskulte archaisch-mythische Elemente, etwa die Rindviechem träumt.
Verwendung von Steinwerkzeugen, enthielten und - genau wie die A l­ Etwas mehr als über die Kulthandlungen und über einen möglichen
chemie - unvordenkliches Alter für sich in Anspruch nahmen. Drogengebrauch wissen wir über das sozusagen offizielle Schicksal der
Auch dass die Initiation als Mysterium erlebt wurde, sollte uns nicht Götter, denen die Mysterienkulte galten. Schicksal meint hier übrigens
überraschen. Der Begriff <geheimnisvoll>, vor allem, wenn ihm eine re­ nicht eine Geschichte, die sich in der Zeit entwickelt, sondern eine Ge­
ligiöse Bedeutung unterhegt, meint nämhch immer auch: ins Wortlose schichte, die sich in einer paradoxen Gleichzeitigkeit entfaltet. Das
hinabreichend, nicht vöUig sagbar, sondern nur erlebbar, und so auch kommt uns vielleicht nicht mehr ganz so fremd vor, wenn wir etwa an
in der Alchemie. Das deuthche Sagen, die grelle Aussage über das die wunderbaren Bilder Giottos denken.
Äußere des geheimnisvollen Vorganges würde das Dimkle des Geheim­ Die Mythen des in der Alchemie so prominenten Geschwisterpaares
nisses ans Licht zerren und damit töten. Anders gesagt, die Erlösung Isis und Osiris und auch den Mythos des Mithras kennen wir in groben
muss sich im Dunkeln abspielen. Zügen.^' Sie sind interessant genug, doch sei hier nur ein Gott beispiel­
Dass Erlösung das eigentÜche Ziel des alchemischen Prozesses ist, haft betrachtet: Dionysos. Dieser gerade in Ägypten sehr beliebte Gott
wird bereits in den ältesten Texten mehrmals gesagt. Aber was damit wird zwar - vielleicht wegen der mit seinem Kult verbundenen orgias-
gemeint ist, wird immer wieder nur umschrieben und so genau wie der tischen Ausschweifungen, die ihn bei den Aposteln der neuen Moral
Vorgang der Erlösung selber im Dunkeln gehalten. Wenn ein Alchemist besonders unbeliebt machten - von den Alchemisten selten genannt,
wie Synesios, ohne sich an der Contradictio in adiecto zu stören, verkün­ aber an seinem Mythos lassen sich wichtige Strukturmerkmale aller
det, der Adept könne «die Armut, dieses unheilbare Übel» heilen (Berth. Schicksale kämpfender Götter und damit die Strukturmerkmale ihrer
(2) 111,63, 226), ist Vorsicht geboten. Wir soUten Behauptungen wie diese Initiationsmysterien deutlich aufweisen.^^
wohl im Lichte des so oft wiederholten, zuweilen wie beschwörenden Schon der Anfang des Dionysos-Mythos zeigt die dramatischen, ja
Hinweises sehen, alle scheinbaren Sachangaben seien mystisch zu ver­ orgiastischen Züge des Gottes, erzählt er doch von seiner zweimaligen
stehen. Eine Tempelinschrift, so behauptet Zosimos, gäbe dem Initiier­ Geburt; Die Prinzessin Semeles ist von Zeus schwanger; von Hera, der
ten folgenden Rat; «Wenn du unsere Schätze entdeckst, überlass das Gattin des Zeus, verführt, bittet sie den Gott, ihr seine wahre Gestalt zu
Gold denen, die sich selbst vernichten wollen. Wenn du die Schriftzeilen zeigen; das karm nur ihren Tod bedeuten; beim AnbUck des Gottes wird
(Hieroglyphen) gefunden hast, die diese Dinge beschreiben, wirst du sie vom Zeichen seiner Macht, dem Blitz, getroffen und gibt sterbend
92 I. Im Schatten der Pyramiden Mysterienkulte 93

ihrem Kind, eben dem Dionysos, vorzeitig das Leben. Zeus nun näht Auferstehung. A uf religiöser Ebene aber löst das Urdrama der Zerstü­
das Kind in seinen Schenkel und verleiht ihm nach einigen Monaten ckelung das alte philosophische Problem der Einheit in der Vielheit: Die
erneut das Leben, und zwar ein göttliches, sodass Dionysos der einzige Entstehung des Kosmos wird verstanden als ein Selbstopfer der Gottheit,
Hochgott der Griechen ist, der eine sterbliche Mutter hat. Dionysos ist als eine Zerstreuung des Einen im Vielfältigen; die Wiedervereinigung,
ein Lysios, ein Löser, der die Menschen er-löst: Voll göttlicher Ergriffen­ die Auferstehung, die Reintegration, die danach stattfindet, wird ver­
heit, Enthusiasmos, treten die Menschen aus ihrer alltäglichen Wesensart standen als Versammlung des Vielfältigen in der ursprünglichen Einheit.
heraus, Ekstasis, und überschreiten in einer Art Selbsterhebung die Wenn wir - wie bei allen mythischen Erzählungen - das Wort <danach>
Grenzen des Menschlichen - bis hin zu grausig blinden Taten, die das nicht zeitlich, sondern als eine wechselseitige Bedingung begreifen - das
Schicksal selbst nachahmen; in der heiligen Bessenheit ist der Mensch Erste ist die Voraussetzung des Zweiten, so wie das Zweite die Voraus­
wie der Gott; er ist in Besitz des Geheimnisses, das die Alchemisten in setzung des Ersten ist -, dann ahnen wir, warum das Thema Zerstücke­
anderer Form und in anderer Ekstase suchen: Ohne wissen zu wollen, lung imd Vereinigung auch alchemisch bedeutsam ist. Hinter dem M y­
weiß er alles, weiß alles, da er in allem ist, und hat das ewige Leben in thos steht ein pantheistisches Weltbild: Gott ist überall; und das bedeutet
den kurzen Augenblicken seines Rausches. Der Gott, der seinen Jüngern für die sinnlich-materialistische Denkweise der Menschen jener Zeit: Die
den Weg in die Selbstentäußerung zeigt, muss selbst Tod und Leben Materie ist von Gott erfüllt. Andererseits kann Gott etwa nach Art eines
zugleich sein. So rückte in den hellenistischen Mysterien der scheinbar alles durchflutenden Lichtes gesammelt, auf einen Brennpunkt zusam­
so ungöttliche eigene Tod des Dionysos in den Mittelpunkt des Kultes. mengezogen werden. In diesem Brennpunkt ereignet sich dann seine
Der Mythos, der sich auf den Tod des Gottes bezieht, sagt Folgendes: Epiphanie, seine - im wahrsten Sinne des Wortes - Erscheinung. Tatsäch­
Vom Hass der Hera verfolgt, wird der Gott in seiner Gestalt als Klein­ lich dient der Mysterienkult der Versammlung des Göttlichen im Brenn­
kind von den Titanen mit Spielzeug angelockt, getötet, zerstückelt, in glas des Initiationsritus. Und was dem Mysterienkult der Initiationsritus,
einen Kessel geworfen und - gut alchemisch - gekocht. Als Zeus von das ist der Alchemie der Wandlungsprozess in der Phiole.
den Verbrechen erfährt, schleudert er seine Blitze gegen die Titanen und Die zweite Nebenbemerkung betrifft eine Quelle der Alchemie, die
erweckt den Dionysos wieder zum Leben, indem er seine Glieder sam­ sowohl historisch als auch psychisch gesehen tiefer reicht als alle helle­
melt und zusammenfügt. Unter allen griechischen Göttern erleidet also nistischen Geheimkulte. Ich meine den Schamanismus, der ja bis weit
allein Dionysos den Tod wie ein Mensch und überwindet ihn wie ein in die schriftlosen Kulturen zurückgeht. Im Zentrum des Schamanismus
Gott, und so offenbart er die verborgene Einheit des Gegensatzes von steht ebenfalls ein Initiationsritus, der des Schamanen bzw. der Schama-
Leben und Tod. nin. Die innere Berufung eines solchen Experten für die Wanderung der
Übrigens wiederholt auch Dionysos selbst aus eigener Kraft das Pa­ Seele in das Totenreich beginnt immer mit einem Abstieg, einem vor
radoxon des Lebens in und aus dem Tode, und das ist ebenfalls etwas allem seelischen Leiden, das mit ritueller Isolierung und Einsamkeit
Einmaliges in der griechischen Religion. Der Gott wiederholt Tod und und mit dem Erlebnis des Todes einhergeht. Die Inhalte schamanisti-
Auferstehung, indem er seine Mutter Semeles auferweckt und in den scher Träume und Ekstasen drehen sich üblicherweise um einen oder
Götterhimmel aufnimmt. Ein Gleiches geschieht sogar noch ein zweites mehrere von folgenden Themenkreisen: Zerstückelung des Körpers, da­
Mal. In einer bestimmten Version des Mythos nämlich errettet Dionysos nach Erneuerung der inneren Organe und der Eingeweide, schließlich
auch die uns aus der Theseus-Sage bekannte Ariadne aus der Unterwelt Fahrt zur Ober- und Unterwelt und Unterredung mit Göttern, Dämonen
und heiratet sie, und d. h. aus ihrem Blickwinkel: Sie vereinigt sich in und den Geistern Verstorbener. Gerade für die Alten Ägypter, dies sei
einer Heiligen Hochzeit mit dem Gott. Ariadne steht dabei für die hier eingefügt, ist Zerstückelung der Tod schlechthin, wenn die Seelen
menschliche Seele schlechthin, die durch die Vereinigung mit Gott erlöst sich vom Körper trennen und frei herumirren, weshalb der ägyptische
wird. Totenkult ja alles daran setzte, etwa durch die Einbalsamierung die
Im Blick auch auf den Traum des Zosimos sind zwei kleine Nebenbe­ Möglichkeit einer Reintegration offen zu halten. Die Zerstückelung, für
merkungen zum Thema der Zerstückelung und Zusammenfügung hier die im Dionysos-Mythos die ältesten, archaischsten Götter, eben die Ti­
wohl angebracht. Wie bei Osiris, der ein gleiches Schicksal erleidet, weist tanen, verantwortlich sind, zeigt darüber hinaus einen psychischen Tod,
die Zerstückelung, Verteilung und Zusammenfügung des Gottes auf sei­ einen psychischen Dissoziationsprozess an, genau wie umgekehrt die
ne ursprüngliche Gestalt als Vegetationsgott hin. Die Vegetation, die ge- Zusammenfügung der Glieder durch Zeus auf eine Reintegration der
heinmisvoll stirbt, erlebt nach der Nilschwelle im ganzen Lande ihre Seele hindeutet.
94 I. Im Schatten der Pyramiden Der Gott der Schöpfung: Ptah 95

So geht es letztlich immer um Erlösung, um Erlösung durch Begeg­ Besuch in der alten Reichshauptstadt Memphis überzeugen können, in
nung mit dem Heiligen. Die Initiation sollte also einen neuen Seins- menschlicher Gestalt auf, was ihn von so vielen ägyptischen Göttern
Zustand des Menschen hervorrufen, sollte einen neuen Menschen unterscheidet, aber diese seine Gestalt ist wie der Körper eines Toten in
schaffen. Und dieser Seins-Zustand konnte nur in in einem Stufenpro­ Mumienbinden gewickelt. In anderen Versionen erscheint Ptah auch als
zess erreicht werden. Dieser enthielt immer mindestens zwei Schritt­ ungeschlachter, bärtiger Zwerg in Kindesgestalt. Ich vermute, dass sein
folgen. Der erste oder die ersten Schritte führten zu einem Tiefpunkt, Kindskörper die Schöpferkraft im noch Unausgewachsenen, Unfertigen
einem Punkt, an dem der Myste sein altes Ich aufgeben musste, und personifiziert, genau wie sein Mumienleib das noch Unfertige, den Neu­
zwar durch entsagungsvolle oder schmerzhafte Riten oder gar durch beginn darstellt, der im Tode auf das nicht richtig, nicht angemessen
einen symbolischen Tod. Die geistige Bewegung des Mysten führte Fertige des Lebens folgt. Ptahs heiliges Tier und sein Mund ist der Apis-
also immer erst abwärts, um dann in mehreren Schritten über das Ni­ Stier, der als Symbol der schöpferischen Fruchtbarkeit ja auch eng mit
veau des Ausgangspunktes aufzusteigen. In den Initiationsriten der dem neuen ägyptisch-griechischen Reichsgott Serapis verbunden ist.
Mithras-Mysterien ist die stufenweise Entwicklung zum Neuen Men­ Als Schöpfergott, als Bildner der Welt, der diese wie der Gott der Bibel
schen über sieben Initiationsgrade hinweg durch eine Leiter aus sieben durch das schaffende Wort und das Werk seiner Hände ins Leben ruft,
Sprossen verschiedener Metalle symbolisiert, die mit verschiedenen ist Ptah auch der Gott der Handwerkskünste, d. h. ein Kulturbringer.
Planeten und Gottheiten in Verbindung standen. Angeblich bestanden Mit seinem unfertigen oder totenstarren Körper hat Ptah, so meine ich,
die Sprossen von unten nach oben aus Blei, Zinn, Bronze (wohl als genau wie seine griechische Parallelerscheinung, der verkrüppelte He­
Kupfer angesehen), Eisen, Metalllegierung (wohl Elektron), Silber und phaistos, das Zweifelhafte, scheinbar Unharmonische des Kulturbrin­
Gold. Der Höhepunkt der Initiation aller uns hier interessierenden M ys­ gers an sich, an dem die Natur sich gewissermaßen kompensatorisch
terienkulte, gleichgültig ob diese Initiation in einem durchgängigen revanchiert. Übrigens führt unser friedfertiger Handwerkergott eine si­
Prozess oder in einer über Jahre sich hinziehenden Entwicklung er­ cher interessante Ehe mit einer wilden und gefährlichen, löwenköpfigen
reicht wurde, ist zugleich der Punkt höheren Wissens, der Punkt der Naturgottheit, der Sachmet. Auch sie, die immer wieder Verheerungen
geheimen Offenbarung, der den Mysten in gewisser Weise mit seinem über die Kultur bringt, wird ihm das tragisch Ungesicherte seiner Werke
Gott eins macht. Das heißt nicht unbedingt, dass der Myste nun mehr recht handgreiflich klargemacht haben.^ Die Griechen sahen ihren Ptah,
und andere, neue heilige Texte oder Sätze kannte als zuvor, es konnte den Gott Hephaistos, den Gott des Feuers, der Schmiede und der Kunst­
durchaus sein, dass ihm Altbekanntes im neuen Licht seines Erlebnis­ fertigkeit, im ähnlichen Lichte, man denke nur an seine Lahmheit und
ses zur Offenbarung des wirklichen Sinnes des göttlichen Schauspiels sein unglückliches Verhältnis zur natürlichen, naiven Schönheit, verkör­
wurde. Daher rührte dann wohl auch die Unfähigkeit, den intellektu­ pert in seiner Ehefrau Aphrodite, die ihn bekanntlich ausgerechnet mit
ellen Ertrag der Initiation aufzuzeigen: Es gab nichts zu sagen. «Es gibt dem Kriegsgott Ares betrügt.
allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.» So interessant Ptah, ob in seiner ägyptischen, ob in seiner griechi­
Und auch: «Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man schen Version, auch ist, wir besuchen seinen Tempel nicht hauptsächlich
schweigen.» ((Satz 6522, Satz 7) Wittg. 189) seinet-, sondern der in seinem Dienste arbeitenden Hüttenleute, der Me­
So sagt Ludwig Wittgenstein. Resigniert? Hoffnungsvoll? tallschmelzer, Grob- und Feinschmiede wegen, deren Werkstätten wir
neben den vielen Arbeitsplätzen der Steinmetze finden.
In einem der Tempel-Höfe entdecken wir Männer, die vor kleinen
16. Der Gott der Schöpfung: Ptah Tiegeln und Öfen hocken. Das sind die Spezialisten für die Silber- und
Goldherstellung, was nicht nur bedeutet, dass sie natürliches Silber und
Das Schweigen soll uns nun nicht dazu auffordern, das religiöse Umfeld natürliches Gold durch Umschmelzen mit oder ohne Zuschlag reinigen,
der Alchemie zu verlassen. Zwei Götter, die beide in den Texten des sondern auch, dass sie Metalle oder Metallmischungen, die zunächst
Zosimos erwähnt werden, erfordern noch unsere Beachtung: Der Gott gar nicht nach den entsprechenden Edelmetallen aussahen, in diese ver­
Ptah, dessen Tempel ja als Zentrum der Goldmacherkunst bezeichnet wandeln. Man gewann Silber durch Weißen mit Kadmia, und zur Gold­
wurde, und der Gott Hermes, der als Hermes Trismegistos geradezu herstellung durch Gilbung verwandte man das auch in der Alchemie so
zum Schutzgott der Alchemisten wurde. außerordentlich wichtige Zinnober, das rote Quecksilber(II)-Sulfid, HgS.
Ptah ist ein eigenartiger Gott. Zwar tritt er, wovon wir uns bei einem In einem benachbarten Hof finden wir Schmelzer, die vor hüfthohen
96 1. Im Schatten der Pyramiden Der Gott der Schöpfung: Ptah 97

Hügeln knien, deren Inneres, wie wir wissen, mit Holzkohle, Erzen und mäßigen Ein-Druck, aber dieser Eindruck führt uns zu einem Urteil und
Flussmitteln uns unbekannter Zusammensetzung beschickt ist. An den einer Handlung. Das sollte uns nicht so fremd sein, wie es hier erschei­
Produkten ihrer Tätigkeit, an den verschiedenen Metallen und Metall­ nen mag; denn was in einer Ich-Du-Beziehung geschieht, das entspricht
legierungen, die wir aus Ägypten kennen, können wir ablesen, dass unserem normalen Verhalten Lebewesen gegenüber.^7
diese Hüttenleute ein hohes technisches Können besitzen, dass sie es Wenn wir jetzt annehmen, dass Denken und Fühlen des archaischen
verstehen, oxidierend und reduzierend zu schmelzen und gezielt Me­ Menschen sich vornehmlich in Ich-Du-Beziehungen bewegte, dann soll­
talle und Metallmischungen mit bestimmten Eigenschaften herzustel­ ten wir es als selbstverständlich hinnehmen, dass alles in der Welt dieses
len. Menschen lebendig war: der Gott, das Tier, die Pflanze, aber auch der
Wenn wir sehen, mit welch handfester Nüchternheit und Geschick­ Stein, über den er stolperte und über den er schimpfte wie wir heute
lichkeit die Schmelzer am Tempel des Ptah ihre Öfen bedienen, dann über einen Computer, wenn dieser wie des Fischers Frau, «de Ilsebill»,
sind wir versucht zu glauben, diese Menschen seien eigentlich genau nicht so will «as ick wohl will». Lebendigsein heißt hier, einen Willen
wie wir, nur erheblich unwissender und damit irgendwie schlichter im und Handlungsmöglichkeiten zu besitzen. Der Stein, über den der ar­
Gemüt, was sich aber mit ein bisschen Entwicklungshilfe doch wohl chaische Mensch stolpert, spielt also seinen Part in dem dramatischen
wegentwickeln ließe. Nichts wäre irriger als das. Archaische Menschen Wechselspiel von Eindruck und Handlung, Gefühl und Verstand, das
dachten nicht weniger oder einfacher als wir, sie dachten anders.^'^ Und naan im wahrsten Sinne des Wortes Er-leb-rxis nennen kann. Ein Erlebnis
das betrifft nicht nur ihr Selbstverständnis als Mitarbeiter am Werk des ist übrigens genau genommen einmalig, ist in Raum und Zeit unwie­
Gottes, der ihren Vorfahren in illo tempore, in der Zeit außerhalb der derholbar, obwohl man doch manche Erlebnisse zu einer Art Wieder­
Geschichte, all ihr technisches Wissen durch Vorbild vermittelt hat, das holung bringen und ihnen damit die Zeitlichkeit nehmen kann, so im
betrifft auch allgemein das Verhältnis der archaischen Menschen zur archaischen Ritualfest, so im niedergelegten, im auswendig gelernten,
Umwelt. im geschriebenen Wort, so aber auch im wissenschaftlichen Experiment.
Nun sind grob gesagt drei idealtypische Grundeinstellungen des Und ein zweites Übrigens: Die Intensität eines Erlebnisses ist nicht vom
menschlichen Ich zur Umwelt oder zu Teilen der Umwelt denkbar. Das objektiven Anlass bestinunt, sondern von dem Gefühl, mit dem wir auf
kann man sich am Verhältnis des Personalpronomens Ich zu seinen Ver­ den Anlass reagieren. Denken wir nur an die objektive Banalität der
wandten, den anderen Personalpronomina, ganz gut klarmachen. Liebe für den, der nicht liebt, denken wir an die Offenbarung im Mys­
Für den modernen Intellekt ist die Welt der Phänomene ein Es, sie terium, die nichts offenbart, wenn man nichts fühlt.
wird also in der dritten Person gesehen; für den archaischen Menschen Da wie alles archaische handwerkliche Tun auch die Tätigkeit der
dagegen ist sie ein Du. alten Metallhüttenleute erlebnishaften Charakter besaß, spielte sie sich
Daneben gibt es noch eine dritte Einstellung, die im Grunde ein Ver­ ganz selbstverständlich in der Welt des Lebendigen, ja des Heiligen und
hältnis von Ich zu Ich ist.^^ Dieses Verhältnis ist intuitiv, ist schwer in zugleich des Gegenständlichen ab. Das aber ist auch die Welt des Al-
Worte zu fassen und gilt deshalb als Domäne der Dichter. Wenn wir mit chemisten, und so spiegeln sich auch die Probleme der archaischen Me­
einem geliebten Wesen mitfühlen, dann sind wir gewissermaßen dieses tallhüttenleute zunündest tendenziell in den Problemen der Alchemie
Wesen.^^ Wir können genau genommen nicht einmal sagen, dass wir wider. Diese Probleme waren nicht vor allem technischer, sie waren
uns in dieses Wesen hineinversetzt haben, das würde eine willentliche handfest spiritueller Natur, und handfest soll hier heißen, sie besaßen
Aktivität suggerieren, die wir in Wirklichkeit gar nicht aufbringen kön­ eine geradezu lebensbedrohende Realität. Das gilt für alle Berg- und
nen und wollen. In Wahrheit unterliegen wir unserem Gefühl. Hüttenleute der archaischen Welt, für die ägyptischen wie für die me-
Bei unserer Einstellung zum Es dagegen sind wir aktiv. Wir objekti­ sopotanüschen, über deren Reinigimgsriten und damit über deren Vor­
vieren, wir isolieren, wir beurteilen den Gegenstand vor uns als Gegen­ stellungen wir allerdings etwas besser informiert sind als über die ihrer
stand. Wir versuchen, diesen Gegenstand nüchtern, d. h. rein verstan­ Kollegen vom Nil.
desmäßig, möghchst ohne jeden Eingriff des Gefühls in Beziehung zu Wenn der mesopotamische Bergmann Erze abbaute, griff er im wahr­
anderen Gegenständen zu setzen. sten Sinne des Wortes in die Erde ein und damit in Unterirdisches, in eine
Die dritte Version unseres Verhaltens schließlich ist diejenige, aus der Lebenssphäre, die dem Menschen nicht zugehört. Er drang ein in Trans­
heraus wir dem Du begegnen. Sie ergibt sich aus einer Mittelposition zendentes. Dabei ist es nicht etwa so, dass die Hüttenleute Erze als Mi­
zwischen Passivität und Aktivität: Wir unterliegen zwar einem gefühls­ nerale ansahen, aus denen man Metalle machen kann, um dann zusätz-
98 I. Im Schatten der Pyramiden Der Gott der Schöpfung: Ptah 99

lieh und im Nachhinein diese Erze mit Elementen ihrer religiösen Welt- Metalle beschleunigte. Er ahmte damit die Arbeit des Weltenschöpfers
auffassimg in Verbindung zu bringen, nein, der Hüttenmann nahm das nach und übernahm gleichzeitig eine Erlöserrolle gegenüber der Natur.
Erz von vorherein wahr als Körperteil oder Leibesfrucht eines Gottes und Es konnte und durfte nichts anderes als eine Erlöserrolle sein; der Hüt­
zugleich als Mineral. Alle höhere Bedeutung des Minerals enthüllte sich tenmann musste voraussetzen können, dass die Göttin wollte, dass er
bereits in der bloßen Wahrnehmung und brauchte keine bewusste den­ ihr half; er musste vorausetzen können, dass die Göttin es sich zumin­
kerische Zusatzleistung, um erkannt zu werden. Realanalogien beruhen dest gefallen ließ, dass er ihre Schwangerschaft verkürzte; sie musste
deshalb nicht auf mehr oder weniger lockeren Entsprechungen, sondern gestatten, dass er ihr gegenüber die Rolle der Zeit übernahm.
auf Identitäten im einen und im anderen: Der Gott im Tempel und der Kurz, in den Augen des archaischen Hüttenmannes ist die Materie
Gott im Schmelzofen sind derselbe. Der dunkle Schoß der Erde, aus dem erlösungsbedürftig, und er, der Mensch, ist ihr Erlöser. Erlöser aber kann
der Bergmann die Erze ans Licht förderte, bedeutete nicht nur, sondern er nur deshalb sein, weil er das Werk der Götter nachahmt, weil er es
war der Schoß der göttlichen Erdmutter, und die Erze in ihrem Schoße imitiert. Er tut nichts anderes als die Natur, ihre Ziele sind die seinen,
waren ihre ungeborenen Kinder. Bis weit in unsere Zeit glaubten die imd sie braucht ihn, um mit seiner Hilfe das erreichen zu können, wo­
Bergleute, dass Erze und Mineralien im Berg wachsen, und zwar sowohl nach sie drängt - was nicht das Geringste gemein hat mit der neoro­
quantitativ als auch qualitativ. Wer einmal beobachtet hat, wie sich in mantischen Süßlichkeit einer <Harmonie mit der Natur>. Der metallur­
unserer schlechten Industrieluft Gipskristalle binnen weniger Wochen an gische Prozess ist also grundsätzlich zielgerichtet, und zwar zielgerich­
Sandstein anschießen können, der wird es nicht völlig absurd finden, tet hin auf ein Besseres, ein lebendig Besseres. Und wer das Werden, wer
dass die Bergwerke von Zeit zu Zeit geschlossen wurden, um die Erze die Schöpfung der Natur nachahmt, darf auf seinem Wege niemals um­
sich mehren und reifen zu lassen. Vielleicht erinnern wir uns auch an das kehren, darf niemals einen chemischen Reaktionsschritt in der falschen
bekannte Bergmannslied: «Es grüne die Tanne, / es wachse das Erz; / Richtung durchführen, das wäre nichts weniger als eine Gottesläste­
Gott schenke uns allen / ein fröhliches Herz.» rung. Im Hinblick auf die Alchemie sollten wir beachten, dass im Be­
Aber auch bei aller Fröhlichkeit wusste der archaische Hüttenmann, reich des archaischen Hüttenwesens Nachahmung nicht mehr nur Imi­
dass er mit seinem Tun die verborgenen Wachstumsvorgänge der heili­ tation des Endprodukts bedeutete, sondern Imitation des Prozesses, der
gen Natur gewaltsam unterbrach, indem er der Großen Göttin ihre Kin­ zum Endprodukt führte.
der raubte. Aber er konnte den furchtbaren Frevel bestreiten; er konnte Das eben Gesagte gilt nicht nur für den mesopotanüschen, es gilt
sich vor der Göttin und vor sich selbst rechtfertigen, indem er in einem auch für den ägyptischen Hüttenmann. Zwar sind in einer der vielen
ganz bestimmten religiösen Verständnis handelte. In diesem Verständ­ altägyptischen Kosmologien der Himmel, Nut, weiblich und die Erde,
nis war sein Schmelzofen nicht nur ein bienenkorbähnliches Gebilde Geb, - wohl wegen des Samenstroms des Nils - männlich gedacht,
aus Lehm, er war auch ein Uterus, in dem Embryonen zum Wachstum aber die erzführenden Berge gehören bestimmten, männlichen und
angeregt oder gar erst gezeugt und dann zur Reifung gebracht wurden. auch weiblichen Göttern, die die Erze dort in ganz biologisch gedach­
In gewissen Keilschrifttexten werden Erze denn auch unumwunden als ter Weise wachsen lassen, wobei die Erze zuweilen als göttliche Kör­
Embryonen bezeichnet. Auch wurden Erze oder Metalle, die man für perflüssigkeiten angesehen wurden. A ll das übrigens sollte uns vor­
männlich hielt, und solche, die man für weiblich hielt, miteinander ver­ sichtig machen, wenn wir geneigt sind, <Natur> als etwas Weibliches
mischt, und die Hüttenleute bezeichneten den Schmelzvorgang daher zu sehen. In den Augen auch der Alchemisten mag es zwar Erdgöttin­
auch als Hochzeit der Metalle. Eisen z. B. war männlich, weil es der nen geben, aber keine <Mutter Nahir>, gehörte zur Natur doch im
Himmelsgott im Toben des Gewitters als Meteoreisen auf die Erde Wechselspiel von Makrokosmos und Mikrokosmos auch der Himmel,
schleuderte, um sie zu befruchten. Gold war natürlich ebenfalls männ­ und war Nahir doch - als <Hervorbringendes> - in komplementärer
lich, denn es hatte die Sonne, den Sonnengott, in sich. Silber und Blei Weise alles Männliche und alles Weibliche gemeinsam, bis hin dazu,
dagegen waren weiblich.