OKTOBER 2020

www.blickpunktfilm.de #2

FOKUS STREAMING NEWS,

S T O R I E SS
Stand der Dinge Netflix-Doku Rekord-Prognosen
Wie sich im laufenden Produzent Christian Beetz Marktforscher sagen für SVoD
Jahr Subscription Streaming über das Zustandekommen in den nächsten fünf Jahren

RE
& PICTU
weiter durchgesetzt hat der Doku »Rohwedder« starke Zuwächse voraus
 REPORT
New TV – ein Business transformiert sich

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New TV revolutioniert den Bewegtbildmarkt: Fernsehen ist überall, audiovisuelle Inhalte

können jederzeit und auf jedem Bildschirm konsumiert werden. Aber welche Voraussetz-
ungen braucht es eigentlich dafür? Was bedeuten on Demand und Streaming für Produktion
und Storytelling? Und wie sieht es mit der Rechtesituation für neue TV-Funktionen aus?
Unser Report ist Dein Guide zu den Entwicklungen in der Film- und Fernsehbranche.

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 EDITORIAL

IN HALT

Danke schön! 4 Stand der Dinge

Wie das VoD-Geschäft
an Fahrt gewinnt

10 Netflix-Doku
Christian Beetz über die
»Rohwedder«-Produktion
können. Es ist die sich beschleunigende
16 SVoD-Prognosen
Ahnung breiter Nutzerschichten, dass auf Marktforschung zur
kleinen und großen Plattformen Inhalte SVoD-Entwicklung
zur Verfügung stehen, die man wahlwei-
se gesehen haben muss, oder auch nicht. 18 Auswertung
Denn auf Faceboook und anderswo be- Was sehen deutsche
Netflix-Kunden?
harken sich User über die Vor- und Nach-
teile von Netflix, Amazon Prime, Disney+ 22 Coronakrise
Sky Ticket, JoynPlus+ und TVNow und GfK zur SVoD-Nutzung
anderer Portale, als wäre ein neuer Kul- in Pandemie-Zeiten
turkampf ausgebrochen. Jeder glaubt Be- 30 Videojahr
scheid zu wissen, wer der Beste ist oder Wie SVoD, EST und TVoD
welchen Dienst man – so funktioniert So- für Auftrieb sorgten
cial Media eben – getrost vergessen kann.
Da nicht zu erwarten ist, dass Haushal- 34 Ein Jahr Joyn
Katja Hofem zur
te unbegrenzt Flatrate-Abos anhäufen,
Geschäftsentwicklung
entsteht ein Wettlauf um das Zeitbudget
JÖRG RUMBUCHER des Freizeitbürgers, dessen Zielgerade 38 »Screen in Motions«
Redakteur Blickpunkt:Film nicht einmal in Umrissen zu erkennen ist. Studie zum Nutzungsver-
Parallel blicken die Repräsentanten der halten in Deutschland
Kapitalmärkte auf das muntere Treiben

H
at sich in den vergan-
genen Monaten irgend-
jemand mal bei VoD-
Plattformen bedankt?
Unabhängig davon, ob
ihr Modell auf SVoD,
AVoD, EST oder TVoD beruht? Denn hätte
es sie nicht gegeben, wäre mancher Coro-
na-Haushalt in die Bredouille gekommen.
Weil DVD & Blu-ray, aber auch das linea-
re Fernsehen, immer häufiger nicht mehr
den Rezeptionsansprüchen genügen.
Vor allem in der Lockdown-Phase stieg
die VoD-Nutzung in ungeahnte Höhen.
Nun muss man andererseits den Akteu-
ren der digitalen Distribution sicher nicht
auf Knien danken, dass sie tun, was sie
tun müssen, um ihr jeweiliges Geschäfts-
Das Sonderheft modell nach vorn zu bringen. Insbeson-
»Fokus:Streaming«
beinhaltet auch eine
dere Subscription Streaming ist nach wie
Reihe leicht bearbeiteter vor eine Wette auf die Zukunft. Das Busi-
Interviews und ness mit den preisgünstigen Monatsabos
Artikel, die erstmals muss noch beweisen, dass es langfristig
im Verlauf des Jahres
in den wöchentlich tragfähig ist. Doch vieles spricht dafür,
erscheinenden auch wenn man nicht jeder Marktprog-
Ausgaben von nose Vertrauen schenken möchte. Dabei
Blickpunkt:Film bzw.
geht es nicht nur um die absolute Zahl
unserem Onlinedienst
blickpunktfilm.de abgeschlossener Verträge, die bekannt-
44 US-Videomarkt
im globalen Bewegtbildmarkt und wägen
das Für und Wider der einzelnen Plattfor-
men mindestens ebenso kritisch ab wie
ihre Nutzer. Als Disney bekannt gab, sei-
ne Konzernstrukturen mehr auf das Stre-
aminggeschäft auszurichten, gab’s ein
ordentliches Kursplus. Es werden Wetten
platziert. Ob Großinvestoren mit Milliar-
den oder Serienfans mit einer Handvoll
Euro: Die Welt staunt gerade über einen
beispiellos wachsenden Markt für Filme
und Serien. Das Staunen haben wir mit
dieser dritten Streaming-Ausgabe wieder
in seinen vielen Facetten zu bündeln ver-
sucht. Es ist nämlich so: Der SVoD-Mara-
thonlauf ist erst bei Kilometer 20. Wenn
überhaupt. Aber vielleicht zählen Sie
zu denjenigen, die auf werbefinanzier-
tes Streaming wetten. Darüber reden wir
sicher im nächsten Jahr.
Daten und Fakten zum
1. Halbjahr 2020
IMPRESSUM
Verlag Blickpunkt:Film GmbH
Herausgeber und Chefredakteur
Ulrich Höcherl
(verantwortlich, Anschrift siehe Verlag)
Chefredakteur Thomas Schultze
Chefin vom Dienst Barbara Schuster
Cheflayouter David Serjoscha Wolf
Redaktion Marc Mensch, Michael Müller,
Jörg Rumbucher, Barbara Schuster
Head of Marketing & Sales
Thomas Merz (-341)
Sales Manager Thomas Dreißig (-343),
Yvonne Kalbrunner (-339)
Abonnement/Leserservice Ulrike Zacher
(Tel.: 089/4 51 14-165)
Produktionsmanagement
Impress media GmbH
Heinz-Nixdorf-Str.21
41179 Mönchengladbach
Redaktionsanschrift
Bavariaring 28, 80336 München
Tel.: 089/4 51 14-0
Verleger Timo Busch

veröffentlicht wurden. lich ruckzuck wieder gekündigt werden

3
 AUF DEM
BESTEN WEG ZUM
MASSENMARKT
Der nationale wie internationale Streamingmarkt bleibt weiter
heiß umkämpft. Wer die Gewinner und Verlierer sein
werden, ist heute noch nicht auszumachen. Fest steht nur:
Subscription Streaming ist nicht mehr aufzuhalten.

»THE MANDALORAIN«
war mit Sicherheit nicht
der meist abgerufene
Streaminginhalt 2020.
Aber die »Star Wars«-
Serie steht für den
erfolgreichen Marktein-
tritt von Disney+

4
 FOTOS WALT DISNEY, AMAZON PRIME VIDEO, NETFLIX

5
 ren Hochrechnungen, die SVoD zur mit Abstand wichtigsten
»Abo-Streaming ist in Auswertungsform der globalen Filmwirtschaft qualifiziert,
sondern Zahlen zur Vergangenheit. Die GfK, ein Marktfor-

Deutschland inzwischen schungsunternehmen, das eher nicht zu Übertreibungen und

wilden Spekulationen neigt, bilanzierte für 2019 einen deut-
schen SVoD-Umsatz von 1.187 Mio. Euro. Einfacher gesagt: In
ein Milliardenmarkt.« Deutschland ist das Abo-Streaming-Business inzwischen ein
Milliardenmarkt.
Mehr als ein Drittel der deutschen Kino- und Videomarkt-
einnahmen entfiel bereits auf SVoD. Und im Juni berichtete
GfK-Manager Michael Diehl gegenüber Blickpunkt:Film, in
welchem Ausmaß Corona die SVoD-Nutzung beschleunigte.
Innerhalb einzelner Kalenderwochen kam es zu Anstiegen, die
mit »sprunghaft« wohl noch zurückhaltend beschrieben wor-

N
ur so wenig? Im Jahr 2025 werden ein Drittel al- den waren. Was auch damit zu tun hatte, dass mit Disney+ ein
ler weltweiten Fernsehhaushalte über mindes- weiteres Schwergewicht in den deutschen Streamingmarkt
tens ein Abonnement für einen Bezahl-Strea- eingeführt wurde. Dies geschah am 24. März. Nur zur Erinne-
mer verfügen. Behaupten Marktforscher. Was rung: Am 25. März stellte der Deutsche Bundestag eine »epi-
im Umkehrschluss bedeutet: Zwei Drittel aller demische Lage von nationaler Tragweite« fest. Während die
Wohnzimmer wären noch für ein Geschäftsmo- allgemeinen Ausgangsbeschränkungen für stationäre Neuer-
dell zu gewinnen, das in ungeahnte Nutzungssphären vorzu- öffnungen in jenen Tagen den schnellen Todesstoß hätte be-
dringen scheint. Und dies, da man spätestens während der deuten können, hatten sie für Disney vermutlich einen unbe-
Lockdownphase in der Coronakrise den Eindruck gewinnen zahlbaren Positiveffekt. Zumal die Star Wars-Fans ohnehin auf
musste, dass jeder Haushalt bereits mit Subscription Streaming den Launch gewartet hatten, um endlich die erste Live-Acti-
versorgt sei. Die gewaltigen Umsatz- und Abozahlensteigerun- on-Serie des wohl zweiterfolgreichsten Filmfranchise aller Zei-
gen, die in den letzten zwei Jahren fast täglich über die Newsti- ten zu sehen. The Mandalorian kam größtenteils in der Ziel-
cker liefen, vermittelten ohnehin die Gewissheit: Aufzuhalten gruppe gut an. Was dazu führte, dass Disney+ zum Halbjahr
ist Video on Demand und vor allem die Nutzung bezahlpflichti- mehr als 60 Mio. zahlende Kunden eingesammelt hatte – welt-
ger SVoD-Portale längst nicht mehr. Umfragen zufolge besitzen weit versteht sich.
in den Niederlanden 40 Prozent aller Haushalte über ein Net- In den USA war der neue Streamer bereits im November
flix-Abo. Der Wert bezieht sich also auf einen einzigen Anbieter. 2019 eingeführt worden und der damalige Disney-Chef Robert
Und Disney+ holt mächtig auf. Ganz zu schweigen von den an- Iger (am Rande erwähnt: seit August ist sein Buch Das Ver-
deren Playern, die zur Verfügung stehen. mächtnis meines Lebens: Meine Erfolgsprinzipien aus 15 Jahren
Auch wenn der niederländische Markt nicht prototypisch an der Spitze von Walt Disney auch auf Deutsch erhältlich) war
für jeden anderen in der Welt stehen mag: SVoD ist auf dem bes- in der Folgezeit offenbar selbst vom Zulauf überrascht. Manch-
ten Weg zum Massenmarkt. Denn ein Ende der Fahnenstange mal aktualisierte er Stunden nach Veröffentlichung offizieller
scheint längst nicht erreicht. 100 Mrd. Dollar globaler SVoD-Um- Quartalsbilanzen die Abozahlen nach oben. Mittlerweile
satz in 2025 laut Digital TV Research. Schon klar, solche Progno- scheint das neue Erlösmodell Subscription Streaming Fluch
sen werden auf Basis heutiger Erkenntnisse extrapoliert. Der- und Segen zugleich zu sein. Angesichts geschlossener Freizeit-
zeit sind Marktforscher schwer damit beschäftigt, die parks, gesunkener TV-Werbeeinnahmen und ausbleibender
Auswirkungen der Coronakrise einzuschätzen. Voraussagen Kinoeinspiel-Umsätze hält die Perspektive, dass Disney+ zu
mussten ständig aktualisiert werden, weil aufgrund des Netflix annähernd aufschließen kann, den Aktienkurs noch
Stay-Home-Verhaltens die noch 2019 angenommenen Zu-
wächse als zu gering erschienen. Mittlerweile werden die Prog-
nosen teilweise nach unten korrigiert, weil der Coronaeffekt
schon wieder verpufft ist. Fest steht jedoch, dass freiwillige
oder verordnete Ausgangsbeschränkungen dem SVoD-Geschäft US-Streaming-Top KW 38
2020 sehr zuträglich waren. Was bei Vorlage des Quartalsbe-
richts zum ersten Halbjahr dem Netflix-Management so unan- PL TITEL PLATTFORM EPISODEN MINUTEN
(IN MIO.)
genehm war, dass man mit Blick auf Daten zur Neukundenge-
winnung sie sozusagen mit Schamesröte kommunizierte. 1 Ratched Netflix 8 972
Andernorts ist man in der Kommunikation flexibler. Ein hoch- 2 Cobra Kai Netflix 20 964
rangiger Britbox-Manager erklärte kürzlich knochentrocken, 3 The Office Netflix 192 902
dass man bei der Abonnentenzahl über Plan liege, weil »wir 4 Lucifer Netflix 75 869
wie so viele Streaming-Dienste von Covid-19 einen Schub be-
5 The Boys Amazon Prime 13 743
kommen haben. Und die gute Nachricht ist, dass eine Gruppe
6 Away Netflix 10 729
von Leuten, die zum Zeitpunkt der Sperrung kamen, die Be-
7 Grey’s Anatomy Netflix 361 685
zahlung zum gleichen Preis wie Kunden vor der Sperrung ak-
8 Criminal Minds Netflix 277 625
zeptiert hat«. So oder so, wer bis zuletzt noch glaubte, dass
9 NCIS Netflix 353 553
Subscription Streaming ein vorüber gehendes Phänomen sei,
QUELLE
sollte es längst besser wissen. Denn es sind ja nicht nur die ir- NIELSEN
10 Shameless Netflix 121 534

7
 Die noch sehr neue Netflix-Serie
»Ratched« wurde Nielsen zufolge
in den USA innerhalb einer Woche
972 Mio. Minuten angeschaut

6
 halbwegs aufrecht. Was dazu führt, dass Investoren und Ana-
lysten einen massiven Ausbau der Streaming-Sparte fordern.
Was zuletzt auch geschah: Nicht nur wurden und werden Filme
wie Mulan und Soul coronabedingt in Ländern mit Disney+ ex-
klusiv in die VoD-Auswertung geschickt: Angekündigt wurde
vor allem eine Neuaufstellung mittels Bündelung des TV- und
Filmgeschäfts mit den Streamingdiensten (Hulu, ESPN+, Dis-
ney+) in der neuen Sparte »Media and Entertainment Distribu-
tion«. Die Folge: Ein Kurssprung.
Daher dürfte die Haupterkenntnis im zu Ende gehenden
Jahr sein: Die Coronakrise beschleunigte die Streamingnut-
zung. In welchem Ausmaß wird immer sichtbarer: Limelight
Networks, ein auf Glasfasernetzwerke spezialisiertes Unterneh-
men, kommunizierte erst kürzlich auf Basis einer Umfrage in
zahlreichen Ländern in seinem »State of Online Video 2020«-Re-
port, dass Zuschauer auf der ganzen Welt im Durchschnitt sie-
ben Stunden und 55 Minuten Online-Videos pro Woche an-
schauen. In diesem Wert sind Plattformen wie YouTube
enthalten. Entscheidend: Fast die Hälfte (47 Prozent) der Ver-
braucher haben in den letzten sechs Monaten einen neuen Stre-
aming-Dienst abonniert. Am häufigsten genannter Grund: Co-
vid-19 und die daraus entstandenen Stay-Home-Bedingungen.
Aber: Ebenfalls 47 Prozent gaben an, möglicherweise ihr Abo
aufgrund zu hoher Kosten wieder zu kündigen. Oder, so kann
man vermuten, den Anbieter zu wechseln. Zweitwichtigster
Grund, sich ein Abo zuzulegen, ist nämlich die Verfügbarkeit
neuer Inhalte (25 Prozent). Das wissen die Plattformbetreiber
längst. Ampere Analysis schätzt, dass Netflix 2019 880 Mio.
Dollar in Eigenproduktionen gepumpt hat, die außerhalb der
USA hergestellt wurden. Anders als im Musikstreaming-Sektor,
wo aufgrund der gestiegenen Nutzung durch ältere Menschen
der Anteil von Katalogtiteln längst bedeutender ist als der neuer
Produktionen, muss im Film- und Serienbereich ständig etwas
Neues geboten werden. Was ein Grund sein könnte, weshalb bis
zuletzt kaum jemand von Apple TV+ sprach. Der im November
2019 gelaunchte Service des Apfel-Konzerns will nicht mit
Quantität punkten, sondern mit Qualität. Doch bisher kann
nicht die Rede davon sein, dass dort Content bereit gestellt
würde, den man gesehen haben muss. So wird verständlich,
dass vor der Apple Keynote 2020 bekannt wurde, dass das kos-
SVoD-Umsatz Deutschland (Angaben in Mio. Euro)
00
1187
00
865
00
00 488
326
00
228
2015 2016 2017 2018 2019
8
Europäische SVoD-Dienste
werden immer zahlreicher
und spielen mit.
tenlose Jahresabo für Bestandskunden (also jene, die ein Apple-
Gerät gekauft haben) bis Februar 2021 verlängert wird. Was
auch damit zu tun haben dürfte, dass der Anteil zahlender Kun-
den eher gering ist. Auffällig auch, dass Marktforscher bei ihren
Zukunftsprognosen vergleichsweise geringe Kundenzuwächse
für Apple TV+ vorhersagen. Sorgen muss sich um Apple auf-
grund seiner iPhone-Verkäufe niemand machen; genauso we-
nig wie um Amazon mit seinem Prime-Service, denn eigentlich
müsste man sagen, dass beide Dienste außer Konkurrenz lau-
fen. Innerhalb einer gigantischen Mischkalkulation müssen sie
nicht zwingend hohen Gewinn abwerfen.
Wobei es Amazon längst gelungen ist, sich mit seinem
Prime-Angebot als Nummer zwei im SVoD-Geschäft zu etablie-
ren und Hauptkonkurrent Netflix kleine Nadelstiche zu verset-
zen. Illustriert wird dies anschaulich anhand einer wöchentli-
chen Streaming-Top-10, die die Marktforscher von Nielsen seit
Anfang September für den US-Markt veröffentlichen (siehe Ta-
belle S. 7). Sie ist noch nicht perfekt repräsentativ, weil Markt-
teilnehmer wie HBO Max und weitere Player bisher nicht in die
Erfassung integriert sind, und das Anschauen auf mobilen End-
geräten (Laptops, PCs und Smartphones) nicht berücksichtigt
wird (also nur TV-Geräte). Zumindest behauptet Nielsen, dass
die Nutzungsdaten auf 100.000 Personen in etwa 64.000 Haus-
halten basieren. Worauf es hier nur ankommt: In der Auswer-
QUELLE
GFK/STATISTA
tung für den Zeitraum 14. bis 20. September sind fast nur Net-
*PROGNOSE flix-Titel platziert. Mit einer Ausnahme: The Boys – ein
Prime-Inhalt. Jenseits aller Erfassungsschwierigkeiten: Was ei-
nigermaßen verblüfft, sind die Angaben zur Nutzungsdauer,
weil Nielsen nach angeschauten Minuten rankt. Für die Num-
mer eins – Ratched – wendeten demnach US-Konsumenten fast
eine Mrd. Minuten auf. Innerhalb einer Woche und obwohl nur
acht Episoden zur Verfügung standen. Zudem widerspricht die
Auswertung der gefühlten Wahrnehmung, dass das SVoD-Busi-
1370 ness nur auf Top-Neuheiten beruht: Bereits auf Platz drei folgt
mit The Office eine Serie, die erstmals 2005 in den USA zu sehen
war. Kein Zufall also, wenn Joyn-Managerin Katja Hofem im
B:F-Interview (siehe S. 34) sagt: »Es hilft ungemein, Grey’s Ana-
tomy im Portfolio zu haben.« Gleichwohl bleibt das Bestreben
aller SVoD-Akteure, permanent frischen Content ins Portal zu
integrieren. Wobei insbesondere die lokalen Player ihren
Rhythmus offenbar gefunden haben: Kaum eine Woche, in der
nicht für JoynPlus+ und der RTL-Plattform TVNow neue (deut-
2020*
sche) Produktionen angekündigt werden. Nicht zu vergessen:
Telekom-Plattform MagentaTV, die nach eigenen Regeln spielt,
sich aber immer mal wieder als Koproduktionspartner ins Ge-
spräch bringt. Obschon keine SVoD-Portale, darf nicht uner-
wähnt bleiben darf: Die Programmoffensiven von ARD und ZDF
für ihre Mediatheken-Angebote, die mit ihren »online first«-
Strategien im nationalen Streamingbusiness mächtig aufgeholt
haben. Was die deutschen Streaming-Dienstleister eint und wo-
für 2020 steht: Sie treten zunehmend den Nachweis an, die von
Netflix ausgelöste Bewegtbild-Revolution, nicht den Global
Playern zu überlassen.
Ein Vorgang, der auch im europäischen Ausland zu beobach-
ten war: In Großbritannien will der von BBC und ITV getragene
Service Britbox um Marktanteile kämpfen. Und nicht nur dort:
Im Sommer wurde die Expansion in 25 weitere Länder angekün-
digt. Erstaunlich: In den USA knackte Britbox 2020 die Marke
von einer Mio. Abonnenten. In Frankreich wiederum ging nach
einer mehrjährigen Vorbereitungsphase das von France Televi-
sions, M6 und TF1 betriebene SVoD-Projekt Salto am 20. Okto-
ber (Stand bei Redaktionsschluss) online. Den Umsatz im Seg-
ment Subscription Streaming für Europa schätzen Marktforscher
für dieses Jahr auf knapp acht Mrd. Euro. Schon jetzt beobachtet
die Europäische Audiovisuelle Informationsstelle 248 SVoD-
Dienste (inklusive TVoD: 367), die in den 27 EU-Mitgliedsstaaten
sowie in 19 weiteren Europarat-Mitgliedsländern aktiv sind. Sie
sind so zahlreich, weil viele Projekte ihr Glück in der Nische su-
Im Kino sind derzeit chen. Die kleine Schweizer Erfolgsgeschichte filmingo des Kino-
keine Superhelden verleihers trigon-film expandierte bereits im Herbst 2019 nach
zu sehen. Vielleicht Deutschland, im Sommer ging Sooner mit seinem Alternativ-
zählt die Prime-
Programm an den Start. Das schon seit Längerem bestehende
Serie »The Boys«
alleskino für deutsche Produktionen wechselte Anfang 2020
deswegen zu den
Streaming-Hits den Besitzer. Die Aufzählung ist nicht vollständig, sie bildet nur
2020 einen kleinen Ausschnitt des Gesamtgeschehens ab. Offen bleibt
fürs Erste, wann weitere namhafte Dienste den Markteintritt in
Deutschland wagen werden: Kommt Peacock von NBCUniver-
sal? Oder Paramount+ (CBS All Access) von ViacomCBS? Hat
Disney die Mittel, um Hulu oder – wie Disney-Chef Bob Chapek
im Sommer leise andeutete – unter dem Namen »Star« einen
zweiten Streamer international auszurollen?
Ankündigungen folgen nicht immer Taten: Was wurde aus
dem werbefinanzierten Streaming-Projekt der Amazon-Tochter
IMDb, mit dem sogar deutsche Digitalexperten für 2020 fest ge-
rechnet hatten? Wie auch immer sich der Streamingmarkt hier-
zulande und global weiter entwickeln wird. Ein gewisses
Grundvertrauen scheint da zu sein. Die Funke Mediengruppe
hat erst kürzlich ein neuen Printtitel namens Streaming an die
Kioske gebracht, damit deutsche User nicht den Überblick ver-
lieren. Startauflage: 150.000.
JOERG RUMBUCHER
9
 NETFLIX

NEULAND FÜR
DEUTSCHE DOKUS
Seit 25. September läuft mit »Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit«
die erste deutsche Doku-Miniserie als Original auf Netflix. Exklusiv für Blickpunkt:Film
berichtet Produzent Christian Beetz über Genese und Eigenheiten dieser Arbeit.

10
 E
s ist jetzt gut zwei Jahre her, dass eine E-Mail mit
dem Betreff »Hi from Netflix« in meinem Postfach
aufpingte: To whom it may concern, I would like to
get in touch with the Director of your production
company. Could you please put us in contact, Direc- CRIME OF
tor, Original Documentary Programming, 5808 W. THE CENTURY
Sunset Blvd | Los Angeles, CA 9002. Was auf den ersten Blick wie Der Mord an
Spam wirkte, war tatsächlich ernst gemeint. Eigentlich sind wir Treuhand-Chef
in unserer Welt immer in der Rolle des »Pitchenden« und nicht Rohwedder hielt
gewohnt aktiv angesprochen zu werden. Kurz darauf wurde te- Deutschland
in Atem
lefoniert und uns erklärt, wie Netflix jetzt auch in Europa und
konkret in Deutschland auftreten will. Grundsätzlich gibt es
zwei Kategorien: einmal ein »Regional Original«, also local cont-
ent vordergründig für die einzelnen Länder und dann für den
weltweiten Release. Und dann »Originals«, die von vorneherein
für den aus 200 Millionen Subscribers bestehenden Weltmarkt
gedacht sind. Nachdem Dark bereits 2017 als erstes deutsches
Fiction Original international für Furore gesorgt hat, sollte nun
endlich auch eine deutsche Non-Fiction-Serie als »Original« auf
den Weg gebracht werden.
Und so wurde in diesem sehr freundlichen Telefonat gleich
Nägel mit Köpfen gemacht: In zwei Wochen würde er nach Ber-
lin kommen und einige Produzenten treffen und da könnten
auch wir konkrete Themen besprechen. Dann wurde in einem
Nebensatz die Latte noch schön hochgelegt: Die Produktion
sollte sich mit den internationalen Non-Fiction-Hits Making a
Murderer oder Wild Wild Country messen lassen und für viel
Aufmerksamkeit sorgen – Klickzahlen waren erstmal überhaupt
kein Thema.
Für uns als Firma war das natürlich erst mal großartig,
schließlich hatten wir jahrelang auf diesen Moment hingearbei-
tet. Wir hatten schon 2011 mit der mit dem Grimme-Preis ausge-
zeichneten sechsteiligen Serie Lebt wohl, Genossen! von Andrei
Nekrasov mit dem horizontalen Erzählen experimentiert, später
Crime-Dramaturgien in unser Kulturformat Die Kulturakte ein-
gebaut und 2018, und zu dem Zeitpunkt des ersten Gesprächs kumentarfilms komplett auf den Kopf zu stellen. So ist ein riesi-
mit Netflix, hatten wir bereits unsere erste True-Crime-Serie ger Buzz um den Dokumentarfilm entstanden, inklusive Millio-
über den mysteriösen Todesfall des argentinischen Staatsanwal- nen-Akquisitionen bspw. auf dem beim Sundance International
tes Nisman mit dem ZDF, Moviestar – und Netflix – in Arbeit. Film Festival. Neu dabei: Dass sich auch ein junges und vor al-
Aber das war jetzt natürlich noch einmal eine andere Nummer. lem breiteres Publikum für lange Dokumentarfilme und sogar
Gemeinsam mit unserem Senior Producer Georg Tschurtschent- für dokumentarische Serien begeistern lässt – wenn man eben
haler, mit dem ich zuletzt die Dokumentarfilme The Cleaners CHRISTIAN BEETZ anders erzählt.
und Das Forum eng inhaltlich und dramaturgisch durchgeführt ist ein deutscher Die regionale Expansion von Netflix ist vor dem Hinter-
hatte, definierten wir erstmal den Rahmen für die nächsten Filmproduzent, grund des wachsenden, aber stark umkämpften Strea-
Schritte: Wir wollten einen Stoff entwickeln, der sowohl in Regisseur, Dozent, ming-Marktes zu sehen. Häufig mit dem etwas martialischen
Deutschland als auch im Ausland funktionieren kann, der unter- mehrfacher Grim- Begriff Streaming-War umschrieben, drängen neue Player wie
me-Preisträger und
haltsam wie relevant ist und den wir ganz im Sinne des Genres Disney+, Apple TV+, HBO Max, Hulu, aber auch deutsche
Geschäftsführer von
radikal anders erzählen können. Etwas erschlagen von unseren gebrueder beetz. Anbieter wie Joyn auf den Markt. Und da sind Non-Fiction
Ansprüchen, aber außerordentlich euphorisiert stürzten wir uns Jüngst sorgte die Formate und eben regionaler Content ein wichtiges Element,
in die Themenentwicklung und hatten nach einigen Runden auf Dokumentarfor- um sich von der Konkurrenz abzuheben. Deshalb war auch die
drei Themen für das Treffen mit Netflix vorbereitet. mate spezialisierte Prämisse für das Treffen in unserem Berliner Büro, dass das
Firma mit »The Clea- möglichst aufsehenerregende Serienprojekt im Herbst 2020
ners« für Furore. Mit gelauncht werden MUSS.
Netflix kommt zu Besuch »Rohwedder – Einig-
FOTOS NETFLIX, GEBRÜDER BEETZ

Dementsprechend schwungvoll lief auch unser Treffen ab.

Netflix, ursprünglich als Arthouse-DVD-Verleih gegründet, ver-
steht sich heute als weltweite Entertainment-Plattform. Im Ge-
gensatz zu den Öffentlich-Rechtlichen Sendeanstalten – wo do-
kumentarische Formate ihre Heimat haben – hat Netflix keinen
Bildungsauftrag, will hochwertig unterhalten und hat in den
letzten Jahren entscheidend dazu beigetragen, die Welt des Do-
keit und Mord und
Freiheit« legt sie Aus den drei Kurzpitches kristallisierte sich schnell ein Favorit
die erste deutsche heraus: Anhand des bis heute nicht aufgeklärten Mordes an
Dokuserie für Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder wollten wir die
Netflix vor. dunkle Seite der deutschen Wiedervereinigung erzählen, also
die finsteren Monate und Jahre nach dem Mauerfall. Im Mittel-
punkt dabei die Frage, warum dieses Deutschland immer noch
so zerrissen ist und nie wirklich zusammengewachsen ist.

11
 Nachdem ich mit meinem Bruder Reinhardt noch einmal
bei Netflix in Los Angeles war, gab es schließlich grünes Licht
das Thema weiter zu entwickeln, natürlich erstmal auf eigenes
Risiko – Netflix zahlt keine Entwicklungsgelder. Dann der erste
Schreck: Neben der Vielzahl an guten Dokus über den Fall
Rohwedder kündigte das ZDF öffentlichkeitswirksam eine
aufwändige fiktionale Aufarbeitung des Themas an, inklusive
Begleitdoku. Die Antwort von Netflix war kurz und knapp: das
interessiert uns nicht. Wir sind Netflix und wir erzählen anders
als die Öffentlich-Rechtlichen. Soviel Selbstbewusstsein und
Vertrauen war für uns ungewöhnlich und überraschend. Sonst
wird immer als erstes auf das »Thema« geschaut und dieses
dann als Grundlage der Beurteilung begutachtet. Undenkbar,
dass man sich eines Themas öfter und in verschiedenen Varian-
ten annimmt. Bei Netflix steht das Storytelling, das WIE eine
Geschichte erzählt wird, im Zentrum.
True Crime made in Germany
In der inhaltlichen Entwicklung standen wir vor der großen He-
rausforderung, die zwei eigentlich sehr diametral funktionie-
renden Erzählebenen zusammen zu führen: einmal eine span-
nende True-Crime-Geschichte mit unerwarteten Wendungen
und Ciffhangern. Und dann die historisch-politische Ebene der
vielschichtigen Wiedervereinigungsgeschichte, das alles ohne
Erzählerstimme und Erklärgrafiken und für ein junges, auch
internationales Publikum, für das Rohwedder eine Hunderasse
und die RAF eine HipHop Band ist.
Besonders die erste Erzählebene, die Crime-Geschichte,
bereitete uns dabei zunehmend Kopfzerbrechen. Im Unter-
schied zu den amerikanischen Vorbildern steht das True-Crime-
Genre in Deutschland auf dünnen Beinchen: Gerichtsprozesse
werden nicht aufgezeichnet, ebenso wenig wie parlamentari-
sche Untersuchungsausschüsse. Zudem sind die Generalbun-
desanwaltschaft und das Bundeskriminalamt sehr restriktiv in
der Zusammenarbeit, auch das ist ein großer Unterschied zu
den USA. Öffentlich zugängliche Tatortfotos – Fehlanzeige;
Interviewpartner müssen von den jeweiligen Pressestellen frei-
Tschurtschenthaler
12
ALLE HÄNDE gegeben werden, schleppende Bearbeitung der Anfragen inklu-
VOLL ZU TUN sive. Zudem handelt es sich beim Rohwedder-Fall um ein lau-
Regisseur Jan Peter
sah sich mit einer
fendes Verfahren. Unserer Klage auf Akteneinsicht wurde nicht
stattgegeben.
aufwändigen Arbeit
Uns fehlten also die klassischen Genrezutaten, aus den Vor-
konfrontiert
recherchen ergaben sich auch keine klaren Hauptfiguren, die die
Erzählung vorantreiben würden. Also mussten wir wohl oder
übel eine ganz eigene Erzählform finden. Und wir wählten dafür
das Rashomon-Prinzip, in dem wir die Geschichte des Rohwed-
der-Mordes von verschiedenen Beteiligten aus unterschiedli-
chen Perspektiven erzählen lassen. Zentrales dramaturgisches
Element war dabei DIE Ermittlerfrage schlechthin: Wem nützt
der Mord, wer hatte ein Motiv? Zudem gab uns dieses Erzähl-
prinzip die Möglichkeit, dass wir Rohwedder aus unterschiedli-
chen Blickwinkeln und damit mit unterschiedlichen Facetten
erzählen konnten: als Märtyrer, Kapitalist, Besatzer und Opfer.
Diese Blicke auf Rohwedder übernahmen wir schließlich auch
als Episodentitel, um diesen multiperspektivischen Erzählan-
satz noch zentraler in der Serie zu verankern. So konnten wir das
enge Korsett des chronologisch-kausalen Erzählens verlassen
und spielerisch Denkräume um die dunkle Seite der Wiederver-
einigung aufmachen, bis tief in die komplizierte deutsche Seele
hinein. Während dieser intensiven Recherchen und Arbeiten an
den Treatments hatten wir zentrale inhaltliche Probleme gelöst,
andere geschickt umschifft, aber auch viel Geld und Arbeit in-
vestiert, alles auf eigenes Risiko und ohne finale Zusage. Im Ge-
HAND IN HAND gensatz zu Öffentlich-Rechtlichen Sendern zahlt Netflix keine
Christian Beetz Entwicklungskosten. Als wir uns im November 2018 auf eine
und Georg fünfteilige Serie geeinigt hatten, ging es nun um die Finanzen –
ein nicht ganz unwichtiger Punkt. Jedoch auch hier verliefen
viele Dinge komplett anders, als ich das in über 20 Produzenten-
jahren gewohnt bin.
Man spürt in jedem Moment, dass bei Netflix »Talent« eine
zentrale Rolle spielt, und es sollte erst einmal alles nach unserer
Vision mit deutschen Tarifen kalkuliert werden. Im ersten
Schritt konzentrierten wir uns auf »below the line«, alle auflau-
fenden Kosten der Umsetzung. Das kreative Team, die Talente,
sollten zu einem späteren Zeitpunkt als »above the line«
besprochen werden. Auch das ist höchst ungewohnt, da es
beim Dokumentarfilm und der Dokuserie ansonsten praktisch
keine Auftragsproduktionen mehr gibt – sprich: es interessiert
kaum jemanden, was das ganze kostet, da der Sender sich nur
mit einer Pauschale beteiligt und der Rest der Finanzierung am
Produzenten hängt. Das andere Novum ist, dass man Talente
individuell betrachtet und einen gewissen Marktwert mit in die
Betrachtung einbezieht. Gewohnt sind wir, dass nahezu alle
AutorInnen, ProducerInnen und RegisseurInnen beim Sender
gleichbehandelt werden, egal ob blutiger Anfänger oder gestan-
dener Profi.
Das Team – Doku trifft Fiktion
Inhalt = grünes Licht; Budget nach einigen Abstimmungsrun-
den = grünes Licht. Im März 2019 hieß es schließlich, wir gehen
in Produktion. Allerdings nicht ohne freundliche Erinnerung
von Netflix, dass die Serie im Herbst 2020 veröffentlicht werden
MUSS! Wir hatten uns in der Entwicklung des Projektes für ei-
nen Genre-Mix entschieden und wollten das »Beste beider Wel-
ten« organisch zusammen bringen: eine reale, dokumentari-
sche Geschichte, Dramaturgien aus dem horizontalen, seriellen
Erzählen, Archiv trifft auf spielfilmhafte Inszenierungen, auch
die Interviews wurden hochwertig und spielfilmhaft gedreht,
um im Schnitt die für das True-Crime-Genre notwendige atmo-
sphärische Dichte erzeugen zu können.
Georg Tschurtschenthaler agierte als Producer und Headau-
tor und entwickelte sich dabei in dieser Phase vom Showrunner
zum Regisseur. Unter seiner Führung haben wir auch das Kern-
team zusammen gestellt: allen voran den Regisseur Jan Peter,
der in seinen dokumentarischen Dramaserien 14 – Tagebücher
des 1. Weltkrieges und Krieg der Träume aufwändige visuelle
Welten geschaffen hat und damit die idealen Voraussetzungen
für die Konzeption und Umsetzung der Spielszenen mitbrachte.
Gemeinsam mit Kameramann Jürgen Rehberg entwickelte er
einen konsequenten visuellen Stil für die Interviews und fiktio-
nalen Szenen. Die Entscheidung, sämtliche Interviews an un-
terschiedlichen Orten im Haus des Rundfunks zu drehen, er-
wies sich schlussendlich als goldrichtig und hat geholfen, der
Serie einen konsequenten, hochwertigen Look zu geben und
den Zuschauern eine Interviewreise durch deutsche Wohnzim-
mer und Bücherwände zu ersparen.
Früh ins Projekt geholt hatten wir auch den Drehbuchautor
Martin Behnke, der die Entwicklung und Produktion als Drama-
turg begleitet hat. Er hatte bereits einige Folgen für Dark
geschrieben und war damit mit modernen, seriellen Erzählwei-
sen bestens vertraut. Parallel zum Dreh haben wir immer
wieder – ganz nach dem Vorbild klassischer Writers Rooms – in
kreativen Roundtables zusammengesessen und die Struktur
der Reihe auf die Realität der Recherche und der Interview-
drehs angepasst. Besonders spannend war es dabei, dass in
vielerlei Hinsicht das Archivmaterial die Erzählung vorgegeben
hat – wollten wir doch Rohwedder, als Hauptfigur der Reihe,
ausschließlich aus dem Archiv erzählen.
Die Postproduktion und –
ja leider – Corona
Noch während der aufwändigen fiktionalen Dreharbeiten im
Dezember begannen wir mit dem Schnitt. Kurze Erinnerung:
der Serie MUSS im Herbst 2020 gelauncht werden...
Der Schnitt ist bei einer dokumentarischen Serie eine große
Herausforderung, da er extrem dynamisch ist. Das mögliche
Erzählen hängt von sehr vielen Faktoren ab, die sich ständig im
Fluss befinden und laufend verändern: ein neues Interview
kann die gesamte Struktur der Erzählung über den Haufen wer-
fen. Dies ist ein großer Unterschied zum rein fiktionalen erzäh-
len. Auch hier wollten wir entsprechend der Grundidee der
Reihe wieder das beste beider Welten zusammen bringen:
André Nier stürzte sich als erfahrener Doku-Editor auf die ge-
waltigen Archiv- und Interviewmengen; und David Gesslbauer,
der zuletzt das Rammstein-Video Deutschland virtuos montiert
hatte, widmete sich den von Jan Peter geschriebenen und
inszenierten Folgenintros – eine Hauptgrundlage für das Rasho-
mon-Erzählprinzip. Im Februar 2020 stieß schließlich noch
Philip Gromov zum Schnittteam. Als er Ende Februar zu einem
ersten Kurzurlaub zu seiner Familie nach St. Petersburg aufbre-
chen wollte, haben wir ihm vorsichtshalber noch eine gespie-
gelte Festplatte des gesamten Materials mitgegeben. Kurze Zeit
später trat der Lockdown in Kraft und dann fanden wir uns in
unseren Wohnungen wieder. Zum Glück hatten wir schon 2019
die interne Postproduktion auf serverbasierte Prozesse umge-
stellt, sodass wir schnell ins Remote Editing einsteigen konnten
und uns zwischen Home Schooling, überlasteteten Wlan-Net-
zen und langen Zooms durch den Schnitt kämpften.
Ungewohnt und im positiven Sinne überraschend war der
inhaltliche Freiraum im Schnitt, v.a. in Bezug auf die Längen
der Folgen. Es geht nicht um Sendeminuten oder Folgenanzahl,
es geht um das bestmögliche Werk. Vor diesem Hintergrund
haben wir auch den Impuls von Netflix aufgenommen und nach
ersten Schnittfassungen die Serie um eine Folge reduziert, um
die Balance zwischen Crime & History nicht zu verlieren. Nun
folgten mehrstufige Abnahmeprozesse, vom Regie-Cut von
Schnittfassung eins über den Showrunner-Cut für Schnittfas-
sung zwei und drei bis zum Produzenten-Cut für die finale
Abnahme bei Netflix, alles wie immer getragen von einer gro-
ßen Teamarbeit und im Hinblick auf die Vision der Serie.
Zweiwöchentliche Gespräche mit sämtlichen Ansprech-
partnern – von Legal bis zur Postproduktion, monatlicher Cash-
Flow und eine strenge Qualitätskontrolle der Postproduktion
AUFTAKT
Die Gebrüder Beetz gaben einen strengen, aber produktiven und hochwertigen
zu Besuch in der Rahmen für die Fertigstellung der Serie. Und schlussendlich
Netflix-Zentrale haben wir es trotz aller Unwägbarkeiten, Konflikte und kleine-
13
ren und größeren Katastrophen pünktlich geschafft: Picture
Lock der Serie nach 14-monatiger Produktionszeit im Mai 2020
und Fertigstellung der Postproduktion zwei Monate später im
Juli. Und am 25. September ist die Serie unter dem Titel Rohwed-
der – Einigkeit und Mord und Freiheit oder international A
Perfect Crime nun für die 200 Millionen Netflix-Abonnenten
veröffentlicht worden.
Nach dem starken Presseecho und der riesigen Aufmerk-
samkeit für die Serie (auch hier: Auftrag erfüllt) ist sie auch
gleich hoch in die Netflix-Tagescharts eingestiegen. Jetzt sind
wir jetzt sehr gespannt, wie dieser finstere und ungewöhnliche
Blick auf Deutschland national und international vom Net-
flix-Publikum weiter aufgenommen wird. Eine Auszeichnung
hat die Serie schon. Auf dem Series Festival Berlin wurde
Rohwedder von der Jury u.a. vom zweifachen Oscar-Preisträger
Nick Vallelonga (Green Book) und dem Journalisten und Produ-
zenten Gero von Boehm mit dem »Best Documentaries Series
Award 2020« ausgezeichnet.
RIESIGER AUFWAND
Der Dreh von »Rohwedder« erwies sich als massives
Unterfangen, mit Interviews und nachgestellten Spielszenen,
um den Zuschauer mitten in die Handlung zu versetzen
14
Für mich gilt folgendes Fazit: Ich glaube, dass »True Crime
Made in Germany« anders funktioniert als die großen, mächti-
gen US-Vorbilder. Wir müssen mit unserer Geschichte, aber
auch mit unserer erzählerischen Tradition eine ganz eigene
Form finden, um nicht im Einheitsbrei des boomenden
True-Crime-Genres unter zu gehen. Schließlich war es ja auch
der große Edgar Reitz, der mit seiner Heimat-Trilogie vor knapp
40 Jahren das moderne serielle Erzählen geprägt, wenn nicht
sogar erfunden hat. Mit einer Geschichte aus der deutschen
Provinz. Was wir dabei nicht vergessen dürfen: Qualität kostet.
Diese High-End-Doku-Serien made in Germany können
genauso ein großes internationales Publikum erreichen, wie
ihre fiktionalen Pendants, wenn auch hier bei Sendern und
Förderern die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen
werden. Das zögerliche Öffnen des GMPFs für dokumentarische
Serie ist ein erster wichtiger Schritt, um auch hier international
in der Spitze mitspielen zu können.

Jetzt auch Buchau-
tor: Netflix-Gründer
Reed Hastings
»KEINE REGELN« VON REED HASTINGS
»Wir sind ein Team,
keine Familie«
Netflix-Boss Reed Hastings hat mit einer Ko-Autorin
ein Buch geschrieben, im dem wenig von Inhalten und viel
von Mitarbeiterführung die Rede ist.
V
orweg: Das Buch ist nicht
geeignet für alle diejeni-
gen, die wissen wollen,
wie man beim Streaming-
pionier eine tolle Serie
pitcht. Warum Dark ein
Erfolg war, The Get Down eher nicht – da-
FOTOS ULLSTEIN BUCHVERLAG/ECON, BLICKPUNKT:FILM
rüber erfährt man auf den 400 Seiten
nichts. Der Netflix-Content spielt nahezu
keine Rolle. Sehr wohl aber die Unterneh-
menskultur, die der Streamer über Jahre
hinweg entwickelt hat.
Wer also mit einem Netflix-Arbeits-
platz liebäugelt oder häufig mit Mitarbei-
tern des US-Konzerns zu tun hat, sollte
aufmerksam werden. Vielleicht auch die-
jenigen, die gerade ein Startup gründen.
Denn man kann das von Firmengründer
Reed Hastings und seiner Ko-Autorin Erin
Meyer verfasste Buch Keine Regeln darauf-
hin abklopfen, ob man im eigenen Betrieb
neue Wege gehen will. Das wären aller-
dings substanzielle: Wer immer glaubte,
dass die weitgehende Abschaffung von
Urlaubsregelungen ein spleeniger Silicon-
Valley-Scherz für Hipster sei, sieht sich
getäuscht. Dem Aspekt, dass jeder Ange-
stellte so viel Urlaub nehmen kann, wie er
will, und dass Top-Manager mit gutem
Beispiel vorangehen müssen, widmen die
Autoren 20 Seiten.
Ähnliches gilt für die Abschaffung von
Dienstreiseanträgen und Budgetausga-
ben. Man muss keinen Vorgesetzten um
Erlaubnis fragen, einfach machen. Dafür
braucht es Eigenverantwortlichkeit selbst
auf niedrigster Hierarchiestufe. Und den
Mut, die von der Konzernspitze gefor-
derte Offenheit und Feedback-Kultur zu
leben. Was konkret bedeutet: Mitarbeiter
werden motiviert, ihren Vorgesetzten zu
widersprechen. Beschrieben wird bei-
spielsweise, wie sich Content-Chef Ted
Sarandos mehrfach in einer Manager-Sit-
zung von einem sehr niederrangigen
Mitarbeiter belehren lassen muss, einen
Lizenzvertrag einfach nicht verstanden
zu haben. Andernorts wäre die fristlose
Kündigung reine Formsache. Bei Netflix
erhalten freche Kollegen dafür Sonderlob.
Eine Unternehmenskultur, die nicht
in jedem Land sofort verstanden wird.
Hastings räumt am Ende ein, das die Um-
setzung andernorts nicht sofort greift –
vor allem in Japan. Klar ist aber: Wer im
Netflix-Kosmos nicht bereit ist, mit sehr
hoher Sozialkompetenz ständig und
überall Input, Selbstkritik und Feedback
zu liefern, hat schlechte Karten. Dafür
darf man’s auch vermasseln: In der Has-
tings-Sprache gilt es, ständig Wetten zu
platzieren und Chips einzusetzen. Wenn’s
sein muss in Millionenhöhe. Aus den
Fehlern werde man schon die richtigen
Schlüsse ziehen.
Was Keine Regeln einigermaßen glaub-
würdig erscheinen lässt, ist die unge-
schönte Darstellung von Misserfolgen,
Rückschlägen und Missbrauch: Wer sich
für Kurzstrecken First Class gönnt und bei
Dienstessen den teuersten Rotwein be-
stellt, sollte darüber nachdenken, ob dies
im Sinne des Unternehmens ist.
Die zentrale Aussage des Buches lau-
tet vielleicht: »Wir sind ein Team, keine
Familie«. Hastings hat das Selbstver-
ständnis einer Profisportmannschaft, in
der man auch schnell aussortiert werden
kann. Mit fürstlicher Abfindung, versteht
sich. Keine Regeln ließe sich auch so zu-
sammenfassen: Zahle die höchsten Ge-
hälter und du bekommst eine Talent-
dichte, die spektakulär innovativ sein
wird. Und ebenso erfahren Firmenchefs,
weshalb die Auszahlung von Boni großer
Quatsch ist.
JOERG RUMBUCHER
»Keine Regeln«
(Original »No
Rules Rules«) ist
als Hardcover mit
Schutzumschlag
am 14. Septem-
ber bei Econ in
der Ullstein Buch-
verlagsgruppe
erschienen und
kostet 26 Euro.
15

Rekord-Prognosen
für Abo-Streaming
Digital TV Research hat für die digitale Auswertungsstufe Subscription
Streaming seine Prognosen aktualisiert: Demnach werde der weltweite SVoD-Umsatz
im Jahr 2025 die Marke von 100 Mrd. Dollar überschreiten.
ehrfach pro Jahr aktuali-
M sieren die britischen
Marktforscher von Digi-
tal TV Research ihre
Daten zur
elle Zahlen zum Thema Subscription
globalen
Digitaldistribution. Zuletzt standen aktu-
Video on Demand (SVoD) im Fokus. In
kurzer Folge veröffentlichte Digital TV
Research Daten zum globalen SVoD-
Markt, aber auch zu einzelnen Weltregio-
nen. Zwei Kennziffern stechen dabei
besonders hervor, weil jeweils markante
16
MARKTFORSCHUNG
Grenzwerte überschritten werden. So
sagen die Statistikspezialisten voraus,
dass im Jahr 2025 global 1,17 Mrd. Strea-
ming-Abonnements abgeschlossen sein
werden. »Global« – das umfasst die Ana-
lyse von 138 Ländern, also nicht nur den
Blick auf ausgewählte Kernterritorien.
Trifft der Wert von mehr als einer Mrd.
Abos zu, würde dies mehr als einer Ver-
doppelung gegenüber 2019 bedeuten. Im
vergangenen Jahr sollen es demnach 529
Mio. abobasierte Streamingkonten gege-
ben haben. Übersetzt in Einnahmen
bedeutet dies: In fünf Jahren übersteigt
die Umsatzhöhe voraussichtlich 100 Mrd.
Dollar. Nach den Schätzungen zwar nur
sehr knapp, aber letztlich werde es eine
Verdoppelung der Einnahmen geben.
Denn 2019 betrugen die SVoD-Umsätze
laut Digital TV Research ziemlich genau
50 Mrd. Dollar. Bereits im laufenden Jahr
werde ein weltweiter Gesamtumsatz von
knapp 63 Mrd. Dollar erwirtschaftet.
FOTOS NETFLIX
Wenig überraschend wird der Löwenan-
teil des SVoD-Umsatzes in den USA gene-
riert: Im Vergleich 2020/2025 klettert der
Wie lange bleibt
SVoD ein Boomseg-
ment? Folgt man
Marktforschern,
werden in den näch-
sten fünf Jahren
weltweit Millionen
Abonnenten hinzu-
kommen
Wert von 29,580 auf 42,061 Mrd. Dollar,
was eine Steigerung von 42 Prozent
bedeuten würde. In Deutschland, so die
Prognose, werde der Zuwachs sogar mehr
als 72 Prozent betragen. Die Marktfor-
scher gehen für 2020 von einer Umsatz-
höhe von 2,186 Mrd. Dollar (nach aktuel-
lem Kurs 1,87 Mrd. Euro) aus, die in den
kommenden fünf Jahren auf 3,755 Mrd.
Dollar steigt. Noch mehr Steigerungspo-
tential sehen die Marktforscher in Frank-
reich, wo das Umsatzvolumen von 1,938
auf 3,645 Mrd. Dollar klettern könnte.
Westeuropäischer SVoD-Primus bleibt
Großbritannien mit Einnahmen von
geschätzten 4,476 Mrd. Dollar. Zu den
Top-5-Ländern zählt natürlich auch
China, wo der Prognose zufolge 2025
9,127 Mrd. Dollar umgesetzt werden. Für
den Rest der Welt werden 36,497 Mrd.
Dollar veranschlagt. Was der Forecast
auch besagt: Absolut bleiben USA und
China diejenigen Märkte mit den höch-
sten SVoD-Einnahmen, aber ihr prozen-
tualer Marktanteil sinkt, weil in vielen
Ländern die Zuwachsraten stärker ausfal-
len. Als wichtigste Player identifiziert
Digital TV Research drei Streaming-
Player: Netflix, Amazon Prime und Dis-
ney+: Allein Netflix werde seinen Abobe-
stand auf 263 Mio. ausdehnen. Größter
Gewinner ist allerdings der in immer
mehr Ländern verfügbare Dienst Dis-
ney+, der im Laufe des Jahres 2025 auf
172 Mio. Accounts kommen könnte. Inte-
ressant: Digital TV Research legt offen,
dass Zahlen auch korrigiert werden. So
erklärte Chefanalytiker Simon Murray,
dass man Disney+ bei einer vorangegan-
genen Prognose im Mai 2020 noch höher
eingestuft habe. Nämlich um 30 Mio.
Abonnements. Aktuelle Auswertungen
hätten jedoch ergeben, dass sich die
Zuwachsraten etwas verlangsamt hätten.
So oder so: 2025 würden ein Drittel aller
weltweiten Fernseh-Haushalte über min-
destens einen SVoD-Vertrag verfügen.
Was bedeutet: Dann wäre immer noch
Luft nach oben.
Eine Einzelbetrachtung für Westeu-
ropa zeigt, dass in diesem Wirtschafts-
raum die Zahl abgeschlossener SVoD-
Verträge bis 2025 auf 191 Mio. steigen ser Auswertung bei Disney+ auf Basis von
wird. Coronabedingt würden allein in Juni-Zahlen um eine herabgestufte Ein-
diesem Jahr 35 Mio. hinzukommen schätzung handelt, richtet Digital TV Re-
(Abostand 2019: zirka 91 Mio.). Aufge- search den Blick auf »Sonstige«: Deren ge-
schlüsselt nach Dienstleistern bleibt Net- samte Kundenzahl wird in fünf Jahren auf
flix die mit Abstand größte Plattform, mehr als 40 Mio. taxiert. Gemeint sind
deren Kundenzahl von 52 Mio. in diesem Player wie Hulu, Paramount+ (bisher: CBS
Jahr auf 68,5 Mio. in 2025 anwachsen All Access) oder Peacock. Sie sind in West-
wird. Auch für Westeuropa gilt: Netflix europa bisher kaum oder gar nicht prä-
verliert trotzdem Marktanteile, weil ins- sent. Wann kommen sie, und falls ja, wie
besondere die Steigerungsraten für Dis- werden sie performen? Aus der Perspek-
ney+ höher ausfallen. Die Marktforscher tive von Marktforschern vermutlich große
glauben, dass die Kundenbasis von knapp Unsicherheitsfaktoren, wenn es nicht ein-
17 Mio. in 2020 auf 39,4 Mio. steigen wird. mal konkrete Starttermine gibt. Gewisse
Käme es so, würde Disney Mitbewerber Rückschlüsse könnten sich aus dem
Amazon Prime überrunden, dessen Abon- US-Heimatmarkt ergeben. Dem beugt
nentenzahl mit 35,9 Mio. in 2025 prognos- Simon Murray allerdings vor. Er sagt, dass
tiziert wird. Während es sich auch in die- sich die US-Angebotsbreite an Streamern
in keinem anderen Land widerspiegeln
werde. Ob dies angesichts vieler lokaler
Marktteilnehmer – in Deutschland bei-
Globaler SVoD-Umsatz nach Ländern spielsweise JoynPlus+ oder TV Now – so
Angaben in Mrd. Dollar stimmt, sei dahingestellt. Zumindest sagt
Digital TV Research voraus, dass 2025 in
2019 2020 2025
den USA allein acht Plattformen mehr als
USA 24,619 29,580 42,061 zehn Mio. Subscriber haben werden.
Sonstige 14,105 18,840 36,497 Allen voran Netflix mit geschätzten 71
China 6,063 7,214 9,127 Mio. Abonnenten. Amazon Prime folgt
UK 2,235 2,919 4,476 mit 59,8 Mio. Hulu könnte vom hauseige-
Deutschland 1,594 2,186 3,755 nen Dienst Disney+ überrundet werden.
Frankreich 1,254 1,938 3,645 Die Marktforscher legen nahe, dass beide
Portale auf jeweils knapp 50 Mio. Kunden
kommen werden. Zu den Gewinnern wer-
SVoD-Kunden Westeuropa nach Plattformen den demnach auch Peacock, HBO und
Angaben in Mio. CBS All Access/Paramount+ zählen, die
2019 2020 2025
einzeln betrachtet jeweils höhere Abo-Zu-
wachsraten haben werden als Netflix. In
Netflix 43,192 52,404 68,494
Summe: Von 2019 auf 2025 steigt der
Sonstige 21,418 26,634 40,261
Abobestand von 203 auf 317 Mio.
Disney+ 712 16,958 39,425
Offensichtlich haben die Analytiker gro-
Amazon 22,945 26,666 35,894 ßes Vertrauen in das monatliche Flatra-
Apple TV+ 92 524 3,970 te-Geschäftsmodell, Hinweise auf einen
HBO 1,793 1,971 2,772 Zenit geben sie nicht. Jedenfalls treffen
sie ihre Vorhersagen im Bewusstsein, dass
es sich um den ausgereiftesten SVoD-
SVoD-Kunden USA nach Plattformen
Markt handelt. Was sich über die Region
Angaben in Mio. Ost-Europa nicht behaupten lässt: Dort
2019 2025 werde es 2025 nur 26,4 Mio. zahlende
Netflix 61,043 71,022 Kunden geben. Ende 2019 waren es nur
Amazon 53,300 59,800 10,26 Mio. Was offenbar damit zu tun hat,
Disney+ 22,800 49,800
dass die Global Player nur zögerlich in
Russland Fuß fassen werden. Oder gar
Hulu 27,200 49,500
nicht erst kommen, weil nationale Portale
Sonstige 22,147 35,266
von Konsumenten favorisiert werden.
HBO 10,000 22,080
Bezeichnend zumindest, dass erst im ver-
CBS All Access 6,200 18,400
gangenen Jahr Russland mehr SVoD-Kun-
Peacock - 11,000
den aufweisen konnte als Polen.
QUELLE DIGITAL TV RESEARCH JOERG RUMBUCHER
17
FLIRT-PARTY Die Protagonisten der Dating-Show »Finger weg« hielten sich nicht immer an das Titel-Motto

AUSWERTUNG

Was die Deutschen

auf Netflix schauen
Der Streamingdienst Netflix behält sich vor, nur im Erfolgsfall weltweite
Zahlen seiner Formate zu melden. Was aber haben die deutschen Netflix-Nutzer
FOTOS NETFLIX

im Jahr 2020 bislang am liebsten geschaut?

18

»Netflix wildert im
Stamm-Genre
der Privatsender.«
as soll zu Anfang gleich
D klargestellt werden: Auch
dieser Text kann nur eine
Annäherung sein, was die
Erfolgsformate von Netflix
in Deutschland betrifft, weil der genaue
Datenpool beim Streamingdienst liegt.
Aber das weltweit agierende Unterneh-
men mit mehr als 190 Millionen Abonnen-
ten gibt eben nur konkrete Zahlen heraus,
wenn Ausnahmeerfolge erzielt wurden.
Es kommt bei diesen Daten hinzu, dass
Haushalte bereits gewertet werden, wenn
sie zwei Minuten in einen Film oder eine
Serie hineingeschaut haben. Andererseits
gibt es die Meinungsforschungsinstitute,
die mit traditionellen Umfragen heraus-
bekommen wollen, was denn jetzt die po-
pulärsten Formate auf Netflix sind. Dafür
ist es aber essentiell, schon in der Frage-
stellung zu wissen, welche neuen For-
mate überhaupt zur Auswahl stehen. Aus
der Frustration dieser unbefriedigenden
Situation heraus und der Tatsache, dass
Netflix seit Ende Februar von Platz eins
bis Platz zehn durchnummerierte Tages-
charts veröffentlicht, sind unsere Wo-
chen-Kolumnen auf der Webseite von
Blickpunkt:Film entstanden. Die Grund-
lagen funktionieren nach einem simplen
System: Erstplatzierte der Tagescharts er-
halten zehn Punkte, Zweitplatzierte neun
Punkte und so weiter. Die Daten, von
Montag bis Sonntag zusammengerechnet,
ergeben die deutschen Netflix-Wochen-
charts. Auch das ist nicht der Weisheit
letzter Schluss. Aber über die Monate be-
kommt man ein sehr viel besseres Gefühl
dafür, was die deutschen Netflix-Nutzer
Woche für Woche interessiert, wo sie dran
bleiben, was sie schnell wieder fallen las-
sen. Diese Beobachtungen seit der 14. Ka-
lenderwoche 2020 sollen in diesem Arti-
kel geteilt werden.
Für die dritte Staffel
Auf Platz eins der bisherigen deut-
schen Netflix-Jahrescharts steht nach un-
serer Auswertung das Reality-Dating-
Format Finger weg, das im Original Too
Hot to Handle heißt. Was leider bei
VoD-Umfragen nie erfasst wird, weil es
weder ein Film noch eine Serie ist. Aber
wenn das Jahr 2020 der deutschen Kon-
kurrenz von der Mediengruppe RTL und
ProSiebenSat.1 etwas gezeigt hat, dann
dass Netflix inzwischen auch sehr erfolg-
reich im Stamm-Genre der deutschen
Sender wildert. Auf RTL, RTLZwei, Pro-
Sieben oder Sat.1 sowie den Streaming-
diensten TVNow und Joyn gehören die
Reality-Formate zum absoluten
Boom-Bereich. Aber Netflix macht eben
seine Show mit kanadischen, britischen
und amerikanischen Schönlingen auf ei-
ner Trauminsel in englischer Sprache und
kann das Format weltweit auswerten. Die
Zuschauerbindung ist enorm: Finger weg
stand mit seinen acht Episoden und einer
Wiedersehensfolge ganze sieben Wochen
in den deutschen Charts. Das schafften
ansonsten nur drei andere Formate auf
einem Streamingdienst, bei dem jede
Woche eine große Anzahl an neuen For-
maten gestartet wird. Aber Finger weg
war dabei kein Mitläufer, sondern einen
Monat lang sogar ganz oben zu finden.
Laut Netflix hatte das Format, das übri-
gens von der RTL-Group-Tochterfirma
Fremantle produziert wurde, weltweit 51
Millionen Zuschauer.
Auf Platz zwei der deutschen Jahres-
charts steht der berüchtigte Erotikfilm
365 Days, der im Februar in seinem polni-
schen Heimatland noch regulär im Kino
gestartet wurde, den Netflix dann aber
für die weltweite Auswertung kaufte. In-
teressant ist, dass der Streamingdienst zu
der osteuropäischen Variante von Fifty
Shades of Grey bislang gar keine Zahlen
FINALE
»Dark« verdienen
Jantje Friese und
Baran bo Odar ein
Denkmal
veröffentlicht hat. Dabei ist das Ganze ein
weltweit erfolgreiches Phänomen. Kein
Spielfilm stand in allen Netflix-Märkten
zusammengenommen länger in den Top
Ten, kein Werk holte auch nur annähernd
so viele erste Plätze in den Tagescharts.
In Deutschland wurde das Phänomen ei-
nerseits von den Sex-Schlagzeilen der
Online-Auftritte der Tageszeitungen be-
feuert. Andererseits entwickelte sich der
Trend, sich auf der beliebten Video-App
TikTok beim Schauen von 365 Days zu fil-
men, weil der Film durchaus auch grö-
ßere Trash-Qualität besitzt. Und dann
gibt es natürlich noch die Frage nach der
Moral der Geschichte um einen Mafioso,
der sich in eine Geschäftsfrau verliebt, sie
deswegen entführt und so lange gefangen
halten will, bis sie seine Liebe erwidert.
Fragwürdig ist das zumal auch, weil sich
die Frau mit dem aufgezwungenen Sex
einverstanden zeigt, als er ihr kostspie-
lige Shopping-Touren bezahlt. In eine
Welt von #MeToo passt dieser Film, ge-
gen den auch Online-Petitionen laufen,
so überhaupt nicht rein, was aber wahr-
scheinlich auch schon wieder Teil der Er-
klärung ist, warum er so erfolgreich wer-
den konnte. Fantasien scheren sich selten
um Political Correctness. 365 Days hatte
in Deutschland auch einen ganz untypi-
schen Charts-Verlauf für einen Spielfilm:
Normalerweise schlagen die großbudge-
tierten Blockbuster wie Project Power
oder The Old Guard, die Netflix mit be-
19
rühmten Schauspielern wie Jamie Foxx Plätze belegen. Sicherlich ist das eine der
oder Charlize Theron anreichert, ein wie Schwächen unseres Zählsystems, weil es
eine Bombe, halten sich eineinhalb Wo- nicht erfassen kann, wenn ein Film in
chen ganz oben in den Charts, um dann zwei Tagen 70 Prozent seiner Zuschauer
schon bald in Vergessenheit zu geraten. erreicht. Es müsste also die Kombination
365 Days dagegen stand wie das Reali- aus den Erfolgszahlen von Netflix und
ty-Format Finger weg sieben Wochen in den Wochencharts sein, um den tatsäch-
der deutschen Top Ten. lichen Trend noch genauer auf die Spur
Das ist auch insoweit spannend, weil zu kommen. Zum Beispiel ist der
die von Netflix produzierten Spielfilme in Chris-Hemsworth-Actionfilm Extraction
der Liste der erfolgreichsten Formate mit 99 Millionen erreichten Haushalten
weltweit einen Großteil der vorderen weltweit laut Netflix das erfolgreichste
Format aller Zeiten. In unseren
Jahrescharts landet er auf Platz 30. Tat-
sächlich müsste der auch in Deutschland
deutlich höher stehen. Das Gleiche gilt MUCHO DINERO menden Konkurrenzkampf der »Strea-
Erfolgreichste Netflix- für den Mark-Wahlberg-Film Spencer Die spanische Serie ming Wars« ist das ein Detail, was wohl
»Haus des Geldes«
Formate weltweit LAUT NETFLIX Confidential, der weltweit 85 Millionen
ist nicht nur in la-
immer weiter zurückstehen wird.
Haushalte erreichte, den Charlize-The- Was Netflix in seinen ersten Jahren
teinamerikanischen
PL TITEL MILLION ron-Actioner The Old Guard, der in allen groß gemacht hat, ist die Tatsache, wie
Ländern ein Hit
VIEWS
Ländern 72 Millionen Haushalte knackte die Hollywoodstudios das Streaming-Ge-
1 Extraction 99 oder auch die Komödie The Wrong Missy schäft unterschätzten und ihre Filme
2 Bird Box 89 mit Rob Schneider, die auf dem Globus 59 und Serien für kleines Geld bereitwillig
3 Spenser Confidential 85 Millionen Nutzer reinschauen ließ. Na- an Netflix abtraten. Auffällig beim Blick
4 6 Underground 83 türlich bleibt bei diesen Größenordnun- über die deutschen Jahrescharts ist in
gen die Frage danach, wer dieser vielen diesem Zusammenhang der Erfolg, den
4 Murder Mystery 83
Millionen Haushalte die Filme auch wirk- Netflix mit Serienformaten hat, die ur-
6 The Witcher 76
lich fertig geschaut hat. Aber im zuneh- sprünglich von Privatsendern wie RTL in
7 The Old Guard 72
Deutschland bekannt gemacht wurden.
8 Haus des Geldes 65
Auf Platz drei der Jahrescharts steht zum
9 Großkatzen und ihre Raubtiere 64
Beispiel die NBC-Krimiserie The Black-
9 The Irishman 64 list, von der Netflix in diesem Jahr seinen

20

SVoD-Nutzung:
»Nach wie
vor steigend«
Wie sehr hat die SVoD-Nutzung von der Coronakrise profitiert? Und wird
sich der Streamingboom fortsetzen? Auskunft darüber gibt Marktforscher
Michael Diehl, Senior Manager GfK Consumer Panels & Services.
Der VoD-Markt, insbesondere das
Geschäftsmodell SVoD, zählt aufgrund
von Ausgangs- und Kontaktbeschrän-
kungen zu den Nutznießern der
Coronakrise. Hat sich das auf ihre
tägliche Arbeit ausgewirkt?
Die Folgen der Coronakrise haben natür-
lich einen starken Einfluss auf das Nut-
zungsverhalten innerhalb des Filmbe-
reichs, da insbesondere die klassischen
physischen Formate stark vom Shut-
down betroffen waren und immer noch
sind. Insofern gab es mit Blick auf den
VoD/EST-Markt im Allgemeinen und das
SVoD-Geschäft im Besonderen einen be-
sonderen Fokus verbunden mit zahlrei-
chen Analysen, die wir für unsere Kun-
den durchgeführt haben. Die Art und
Weise der Datenerhebung hat sich in die-
ser Zeit nicht verändert, da diese von der
Coronakrise nicht beeinträchtigt ist.
Was waren die Haupteffekte während
der Lockdown-Phase?
22
INTERVIEW
Michael Diehl
ist GfK-Experte im Bereich Consumer Panels für die Waren-
gruppen Home Video, Kino und den Streaming-Markt. Er
arbeitet seit zwölf Jahren in der Panelforschung und be-
treut seit zehn Jahren Kunden im Entertainment-Markt.
Sein Schwerpunkt liegt in der Marktanalyse des Kinos und
Home Video-Marktes mit besonderem Fokus auf der digita-
len Distribution (EST, TVoD und SVoD).
Wir konnten deutlich erkennen, dass
abobasierte Streamingdienste in der
Phase mit verschärften Ausgangs- und
Kontaktbeschränkungen stärker genutzt
wurden als zuvor. Dies trifft auf schon
länger im Markt vorhandene Streaming-
Dienste zu und wurde mit dem Start des
wichtigen Players Disney+ noch ver-
stärkt. Ohne zu viel verraten zu dürfen,
lässt sich festhalten, dass die Nutzerzah-
len im zweiten Quartal in Deutschland
ein neues Rekordniveau erreichen wer-
den. Mit Beginn der Schulschließungen
in der Kalenderwoche 12, also Mitte
März, konnten wir darüber hinaus einen
deutlichen Zuwachs der Streaming Ab-
rufzahlen bei Co-Viewing mit Kindern
unter 12 Jahren sehen – diese nahmen in
dieser Zeit deutlich zu und stiegen um
über 60 Prozent im Vergleich zu den Vor-
wochen im Jahr 2020 an. Insgesamt nah-
men die Streaming-Abrufe aller Nutzer in
Kalenderwoche 13 um bis zu 20 Prozent
im Vergleich zu den Vorwochen zu, ein
sprunghafter Anstieg, den wir in dieser
FOTOS GFK, AMAZON PRIME, AL!VE
Form seit Beginn der Erhebung im Jahr
2018 noch nicht gemessen haben. Die
Abrufe von SVoD-Nutzern sind während
der Lockdown-Phase durchschnittlich
um 13 Prozent gestiegen. Erst für Ende
Mai/Anfang Juni lässt sich beobachten,
dass die Nutzung wieder nach unten
geht, wobei hier auch saisonale Effekte
GENIESSEN
Maximilian Mundt
(l.) und Lena Klenke
legen eine Pause vor
der dritten Staffel
»How to Sell Drugs
Online (Fast)« ein
Nutzern die siebte Staffel zur Verfügung
stellte. Das Format startete ursprünglich
einmal auf RTL Crime und wenig später
auch im Hauptprogramm von RTL mit
durchschnittlich mehr als vier Millionen
Zuschauern. Ähnliches gilt für den sechs-
ten Platz der deutschen Jahrescharts,
nämlich die NBC-Comedy-Serie Modern
Family, welche die Mediengruppe RTL
nach Deutschland holte und damit an-
fangs auch schöne Erfolge feierte. Bei der
Mediengruppe rutschten die Formate
erst auf die Spartensender ab und waren
irgendwann gar nicht mehr für deutsche
Zuschauer im Free-TV zu schauen. Da
griff dann auch Netflix zu. Solche belieb-
ten Serienformate bringen nochmal eine
THE LAST DANCE
Megastar Michael
Jordan bekam eine
der besten Dokus
des Jahres
tion Freud und der jetzt für acht Emmys
nominierten Serie Unorthodox mit. Dann
erfolgte der Dreifach-Serienerfolg Dark,
How to Sell Drugs Online (Fast) und Bioha-
ckers. Die dritte und abschließende Staf-
fel Dark kommt auf Platz zwölf der deut-
schen Jahrescharts, was angesichts der
zahlreichen internationalen Konkurrenz
und der anspruchsvollen Erzählstruktur
sehr beachtlich ist. Beim Blick auf die
weltweiten Zahlen aber ist die Freude
noch größer, weil die Serie von Jantje
Friese und Baran bo Odar zuschauertech-
nisch im Konzert der erfolgreichsten Net-
flix-Serien 2020 mitspielt: Da steht Dark
hinter dem spanischen Phänomen Haus
des Geldes (4. Staffel) und der Superhel-
tion Großkatzen und ihre Raubtiere, die in
Deutschland auf Platz elf der Jahrescharts
kommt und vor allem in den USA popkul-
turell als Tiger King wahnsinnige Wellen
anschob. Aber das Format lebte doch von
der Kuriosität, wie sich militante Tier-
schützer und narzisstische Tiersammler
bis auf den Tod bekriegten und die Reali-
tät Wendungen bereithielt, die sich kein
Telenovela-Autor trauen würde, in seine
Scripts zu schreiben. Es war also kein
Wunder, als die Nutzer in den Sozialen
Medien damit bombardiert wurden und
dementsprechend einschalteten. Aber
dass im Land des Fußballs eine zehntei-
lige Dokumentarserie über einen Basket-
baller einmal in der Top Ten auf Platz sie-
ben der am meisten gesehenen
Netflix-Formate landen sollte, war eine
echte Überraschung. Da spielt sicherlich
auch rein, dass deutsche Zuschauer im
Corona-Lockdown bei all den abgesagten
Sportveranstaltungen von Bundesliga
über Olympia bis zur Fußball-EM einen
Ausgleich suchten. Es spricht aber auch
ein Stück weit für die Qualität dieser
wahnsinnig gut gemachten Dokumenta-
tion und die popkulturelle Bedeutung
von Michael Jordan.
MICHAEL MÜLLER
Deutsche Netflix-Jahrescharts
AB KW14
PL TITEL PKT.
1 Finger weg [Reality] 297
2 365 Days [Film] 286
3 The Blacklist [Serie] 253
4 The Umbrella Academy [Serie] 252
5 Haus des Geldes [Serie] 247
6 Modern Family [Serie] 234

ganz andere Nutzer-Bindung als Spiel-
filme, die nach eineinhalb Wochen wie-
der aus dem Blickfeld geraten. The Black-
list stand sieben Wochen in der deutschen
Top Ten, Modern Family schaffte sechs
Wochen.
Im Jahr 2020 fanden sich auch erfreu-
lich viele deutsche Erfolgsgeschichten
auf Netflix. Der Streamingdienst führte
gerade die Tagescharts im Frühjahr ein,
da bekam man noch die Erfolgsausläufe
der österreichisch-deutschen Koproduk-
denserie The Umbrella Academy (2. Staf- 7 The Last Dance [Doku] 219
fel) auf Platz vier. So bereitet die deut- 8 Der Denver-Clan [Serie] 206
sche Serie für andere Formate wie eben 9 White Lines [Serie] 188
die zweite Staffel How to Sell Drugs Online 10 Outer Banks [Serie] 176
(Fast) oder die erste Staffel Biohackers das 11 Großkatzen und ihre Raubtiere [Doku] 170
internationale Feld, was diese auch zu 12 Dark [Serie] 168
nutzen wussten. 13 Tote Mädchen lügen nicht [Serie] 166
Erwähnt werden muss abschließend 14 How to Sell Drugs Online (Fast) [Serie] 164
auf jeden Fall noch das Dokumentar-Pro- 15 Cursed – Die Auserwählte [Serie] 154
jekt The Last Dance über die Karriere der
15 Jane the Virgin [Serie] 154
Basketball-Legende Michael Jordan, das
17 Snowpiercer [Serie] 152
Netflix gemeinsam mit dem amerikani-
18 Into the Night [Serie] 127
schen Sportsender ESPN produzierte. Na-
19 Space Force [Serie] 122
türlich gab es in diesem Bereich auch das
20 Warrior Nun [Serie] 121
Phänomen der True-Crime-Dokumenta-

21
wie besseres Wetter eine Rolle spielen
dürften. Wir sprechen jedoch nicht von
dramatischen Einbrüchen: Die Grund-
tendenz in der Nutzung ist nach wie vor
steigend.
Auch ohne Corona hätte die SVoD-Nut-
zung weiter zugenommen. Inwieweit
hat die Pandemie das Wachstum dieses
Geschäftsmodells beschleunigt?
Unsere Datenerhebungen lassen erken-
nen, dass die Nutzung von Streaming-
diensten auch in den Monaten vor der
Krise zugenommen hatte, und Corona
ursächlich dafür verantwortlich war,
dass es teilweise zu sprunghaften Anstie-
gen kam. Allgemein kann ich sagen: Im
ersten Quartal 2020 haben 26 Mio. deut-
sche Konsumenten Streamingangebote
genutzt. Im Vorjahreszeitraum waren es
22,7 Mio. In diesen Werten sind die vier
großen SVoD-Marktteilnehmer abgebil-
det: Netflix, Amazon Prime, Sky und
Maxdome.
Was aber bedeutet, dass die tatsächliche
Zahl der Nutzer aufgrund neuer und
zahlreicher »kleinerer« Angebote noch
höher ausfallen dürfte?
Berücksichtigt man alle Player im Strea-
ming Markt, d.h. inkl. neuer Player wie
Disney+, AppleTV+, Sportstreaming, die
Angebote der privaten TV-Sender wie
Joyn und TVNow, und ein paar kleinere
Player, dann steigt die Zahl der Strea-
mingnutzer auf knapp über 30 Mio. Per-
sonen. An dieser Zahl erkennt man, dass
es zwischen den Angeboten auch starke
Überschneidungen gibt. Und genau diese
Überschneidungen sind für uns und un-
sere Kunden sehr interessant. Welcher
Konsument nutzt ausschließlich einen
Dienst? Welche Überschneidungen gibt
es. Wir sehen zum Beispiel eine hohe
Überschneidung zwischen Amazon
Prime- und Netflix-Nutzern. Diese ver-
schiedenen Zielgruppen im Detail analy-
sieren zu können, ist eine Stärke des GfK
SVoD Trackers.
Aber wie steht es mit der Zahlungs-
bereitschaft für neue Dienste? Schon
jetzt klagen Konsumenten, nicht
unbegrenzt Geld ausgeben zu wollen …
Für unsere Kunden erheben wir sowohl
Nutzer- als auch Abonnentenzahlen.
Beide Werte werden manchmal undiffe-
renziert in einen Topf geworfen. Abon-
nenten und Nutzer sind zwei verschie-
dene Sichtweisen auf den Markt. In Ihrer
Frage steckt der Aspekt des Mehrfach-
abos. Auch dazu besitzen wir Daten: Sub-
scriber, also Personen, die für ein Abon-
nement selbst bezahlen, besitzen aktuell
im Durchschnitt zwischen 1,3 und 1,6
Abos. Nutzer, also Personen, die die
Möglichkeit haben, ein Abo zu nutzen,
greifen durchschnittlich auf zwei ver-
schiedene Services zu. Die spannende
Frage lautet daher: Wie viel Luft nach
oben gibt es für das SVoD-Geschäftsmo-
dell noch, bzw. wann ist eine Sättigung
erreicht? Auf Basis unserer letzten Befra-
gungen setzen Subscriber im Durch-
23
»Es gibt Potential,
aber keinesfalls
unbegrenzt.«
schnitt ein Budget zwischen 23 und 25
Euro pro Monat an, dass sie bereit sind
für SVoD-Plattformen auszugeben. Die
Ausgaben variieren nach Ziel- und Al-
tersgruppen. Unsere Einschätzung lautet
generell: Es gibt noch Potential, aber kei-
nesfalls unbegrenzt. Bedeutet: Das eine
oder andere Abo kann noch hinzukom-
men. Ausgeprägter wird künftig das
Wechseln von SVoD-Verträgen sein. Be-
vor ein neues Abo abgeschlossen wird,
wird erst einmal eines gekündigt. Die Er-
kenntnisse aus unseren Befragungen zei-
gen, dass es eine zunehmende Wechsel-
bereitschaft geben wird. Die größten
Einflussfaktoren sind die Inhalte: Ein
neuer Film oder eine neue Serie wird im-
mer mehr zum Wechseln motivieren. Na-
türlich gibt es auch loyale Konsumenten,
die sich durch bestimmte Inhalte an ih-
ren Dienst gebunden fühlen. Was man
jetzt noch nicht abschließend beurteilen
kann, sind die Folgen der Coronakrise.
Wenn Verbraucher zunehmend mit Kurz-
arbeit oder sogar Jobverlust konfrontiert
sind und deshalb mehr auf ihre Ausga-
ben achten müssten, könnten davon – in
kleinerem Ausmaß – auch SVoD-Verträge
betroffen sein.
Sie können tatsächlich Kündigungen
und Neuabschlüsse permanent nach-
vollziehen?
Wir können das sehr gut nachvollziehen
und dies sogar bei den gleichen Konsu-
menten, was den Blick auf die Aus-
tauschbeziehungen zwischen den einzel-
nen Playern im Markt noch spannender
macht. Der GfK SVoD Tracker bietet die
Möglichkeit, das Streamingverhalten der
Nutzer in Deutschland auf Wochen- und
auf Monatsbasis im Detail zu analysie-
ren. Somit erkennen wir für jeden Mo-
nat, ob ein Abonnent sein Abo gekündigt
hat, sein Abo wechselt oder ein neues
abschließt. Hierfür erheben wir kontinu-
ierlich die bezahlten Abos sowie auch die
Nutzung der Abos. Als Hauptfaktor für
den Neuabschluss oder den Wechsel des
24
Anbieters kann der angebotene Content
genannt werden. Neue Inhalte und at-
traktive Serien und Filme sorgen für eine
erhöhte Wechselbereitschaft bei den
Konsumenten.
In einer US-Studie wurde kürzlich
behauptet, dass SVoD-Nutzer in den USA
pro Tag im Durchschnitt 62 Minuten
streamen. Ist die Zahl plausibel?
Da ich die Studie leider nicht im Detail
kenne und nicht weiß, wie die Erhebung
bzw. die Methodik dahinter aussehen,
fällt es mir schwer, hier eine Einschät-
zung zu geben. Aus unseren Erkenntnis-
sen wissen wir jedoch, dass auf Basis ge-
nutzter Tage Konsumenten in
Deutschland im Durchschnitt etwa eine
KEY FACTS Stunde täglich streamen wobei hier zwi-
schen einzelnen Zielgruppen und Platt-
ZUR SVOD- formen teilweise große Unterschiede zu
NUTZUNG beobachten sind.
Sind es nach wie vor jüngere Menschen,
26 MIO. die das SVoD-Geschäft boomen lassen?
NUTZER Die Analyse der Konsumentenstruktur
in Q1 2020; ein zeigt, dass jüngere Zielgruppen eine
Plus gegenüber
deutlich höhere Reichweite besitzen.
Q1 2019 von
Bspw. sind rund zwei Drittel der 14- bis
3,3 Mio.
29-Jährigen bereits innerhalb des
23 % SVoD-Marktes aktiv. Da dies bereits eine
sehr hohe Reichweite ist, sind die Steige-
MEHR ABRUFE
rungsraten nach wie vor vorhanden, aber
in Q1 2020, was
1,7 Mrd. Views ent- nicht mehr so hoch. Der Zuwachs in die-
spricht ser Gruppe liegt bspw. im ersten Quartal
2020 im hohen einstelligen Bereich. Bei
19 % den Über-60-Jährigen liegt die Reich-
HÖHERE weite aktuell nur bei sieben Prozent. Da-
NUTZUNGSDAUER für sind die Steigerungsraten bei den Äl-
in Q1 2020, was teren deutlich höher: Im Jahresvergleich
1,4 Mrd. Stunden ist die Reichweite um 60 Prozent gestie-
entspricht gen. In der älteren Bevölkerungsgruppe
gibt es allein aufgrund der demographi-
35,2 MIN. schen Größe der Zielgruppe also noch
TÄGLICHE eine ganze Menge Potential, das gehoben
NUTZUNGSZEIT- werden kann.
(pro Nutzer,
inklusive Nicht-
Nutzungstage) Könnten Sie bestätigen, dass beispiels-
weise Netflix ein jüngeres Publikum hat
QUELLE GFK
als Amazon Prime?
Ja, das kann ich bestätigen. Uns liegen
ausführliche Informationen zur soziode-
mographischen Beschreibung der Nutzer
und Abonnenten der Anbieter vor. Auch
Analysen zu gesehenen Genres und der
gesehenen Titel der Nutzer einzelner
Plattformen oder einzelner Zielgruppen
können wir durchführen. Diese Detail-
analysen der Anbieter sind allerdings
ausschließlich unseren Kunden vorbehal-
ten – hier bitte ich um Ihr Verständnis.
Wie funktioniert die GfK-Messung
überhaupt?
Mit unserem Panel GfK Media Scope bil-
den wir seit Jahren die Entertainment-
märkte ab. Hierzu gehört auch die Erhe-
bung innerhalb des Kinos und Home
Videomarktes im Auftrag der Filmförde-
rungsanstalt. Für den abobasierten Stre-
amingmarkt haben wir seit 2018 den GfK
SVoD Tracker entwickelt, der aus zwei
Modulen besteht: App-basiertes Tracking
und ergänzende Adhoc-Befragungen von
repräsentativ ausgewählten deutsch-
sprachigen Konsumenten ab 14 Jahren.
Mit Hilfe der App erheben wir tagesaktu-
ell Nutzung und Nichtnutzung von
SVoD-Diensten. Über diese App geben
unsere Teilnehmer beispielsweise an,
welche Serie sie an welchem Tag gese-
hen haben. Wir wissen also tagesgenau,
auf welche Inhalte zugegriffen wurde.
Die über die App gewonnenen Daten ste-
hen repräsentativ für die deutschspra-
chige Bevölkerung. Wichtig in diesem
Zusammenhang: Wir erheben die Infor-
mationen in einem kontinuierlichen
Sample, um Wanderungsbewegungen
und Austauschbeziehungen im Markt
kausal abbilden zu können. Ergänzt wird
das Ganze um Befragungen zu weiter-
führenden Themen rund um den SVoD-
Markt, beispielsweise die Frage, wie
viele Teilnehmer bereit sind, zusätzliche
Dienste zu abonnieren, und wie viel sie
maximal für SVoD-Abos ausgeben wol-
len. Diese Befragungen sind über die ta-
gesaktuelle Datenerhebung hinaus sehr
wichtig, um tiefergehende Informatio-
nen und Hintergründe zu Beweggründen
hinsichtlich Ihres Nutzungsverhaltens zu
erlangen. So gewinnen wir einen
360-Grad-Blick auf das gesamte Gesche-
hen im kostenpflichtigen und kostenlo-
sen Streamingmarkt.
Manchmal hat man den Eindruck, dass
der SVoD-Markt von einer großen In-
transparenz geprägt ist. Sie würden dies
für sich vermutlich bestreiten?
Der Eindruck der mangelnden Transpa-
renz hat erst einmal damit zu tun, dass
die einzelnen Player nur sehr wenige Da-
ten über die Nutzung ihrer jeweiligen
Plattform veröffentlichen. Für GfK kann
ich sagen: Wir öffnen diese Blackbox.
Was für uns möglich ist, weil wir den
physischen und digital transaktionalen
Home-Entertainment-Markt seit Jahr-
zehnten mit unserem Konsumentenpa-
nel erheben, und diese Erfahrungen auf
den Streamingmarkt übertragen konn-
ten. Trivial ist das Geschehen im
SVoD-Segment aus Sicht eines Datenana-
lytikers aufgrund der Marktdynamik al-
lerdings nicht – allein wegen der neuen
Player. Unser Vorteil ist, dass wir nicht an
die Messung auf unterschiedlichen End-
geräten gebunden sind. Wir erheben so-
wohl die Nutzung auf dem Smart-TV als
auch auf dem Smartphone, dem Tablet
oder auf der Spielekonsole. Anspruchs-
voller wird die markforscherische Auf-
gabe, wenn es im nächsten Entwick-
lungsschritt in Richtung passive Messung
aller Inhalte auf allen Devices geht. Ak-
tuell erheben wir die Nutzung der Geräte
befragungsbasiert, machen uns aber
gleichzeitig heute schon Gedanken über
technische Messmöglichkeiten. Span-
nend ist dabei, dass der Großteil der Nut-
zer das TV-Gerät für seine Streamingnut-
zung präferiert, aber das jüngere
Zielgruppen bis 29 Jahre deutlich stärker
das Smartphone oder auch das Tablet für
die Streaming-Nutzung heranziehen.
Es gibt nicht einmal Unschärfen in Ihren
Aussagen aufgrund von Hybridmodellen,
die AvoD und SVoD parallel anbieten?
Die unterschiedlichen Angebotsformen
auf einer Plattform lassen sich in der Re-
gel sauber trennen. Deswegen könnten
wir jetzt auch ein Gespräch über den
werbefinanzierten Streamingmarkt füh-
ren. Oder darüber, welche Wechselwir-
kungen es innerhalb der Entertain-
ment-Gruppen zwischen AVoD, TVoD
oder SVoD gibt. Das die zunehmend frag-
mentierten digitalen Märkte auch uns
Marktforscher täglich vor neue Heraus-
»Wir wissen
tagesgenau, auf
welche Inhalte
zugegriffen wurde.«
Laut GfK war im Top-10-Serien 1. QUARTAL 2020 schen Gesamtbevölkerung beträgt dage-
ersten Quartal die gen nur 38 Prozent. Wer SVoD nutzt, geht
»Star Trek«-Serie PL TITEL im Durchschnitt häufiger ins Kino.
»Picard« der er-
SVoD-Nutzer geben sogar mehr Geld für
folgreichste Inhalt 1 Star Trek:
k: Picard
Tickets aus als der Nicht-SVoD-Nutzer.
im abobasierten
2 The Big Bang Theory Dass Streaming-User nicht mehr vom
Streamingmarkt
3 Sex Education
cation heimischen Sofa aufstehen, um ins Kino
4 Vikings zu gehen, lässt sich aus unseren Zahlen
5 The Witcher
cher nicht herauslesen. Allenfalls ist anzu-
6 You merken, dass es beim Kinobesuchsver-
7 The Blacklist
klist halten eine stärkere Konzentration auf
8 Pastewka
a große Blockbuster gibt, während Filme
aus der zweiten Reihe zunehmend unter
9 Locke & Key
Druck geraten. Fazit: SVOD-Nutzer sind
10 Elite
sehr kinoaffin, ihr Kinobesuchsverhalten
QUELLE GFK
im Zeitverlauf entwickelt sich auf hohem
Niveau leicht rückläufig.
forderungen stellen, ist natürlich unbe- Gilt die Filmauswahl-Konzentration
stritten. Marktforschung in der heutigen auch für SVoD-Nutzung?
Zeit ist deutlich komplexer geworden Tendenziell ja. Wenn eine neue Staffel
und die Erhebungsmethoden müssen von Haus des Geldes veröffentlicht wird,
entsprechend angepasst werden. Dies ist zählt sie schnell zu den Top-10-Serien.
ein ständiger Prozess, der laufend opti- Oder wenn die Anbieter einzelne Neu-
miert werden muss. heiten extrem bewerben. Eine Konzen-
tration auf große New Releases prägt
Hätten Sie ein Beispiel? auch den SVoD-Markt. Im Gegensatz
In der Filmwirtschaft wird viel darüber
diskutiert, welche Auswirkungen die
zum Kino spielt jedoch der Longtail eine
nicht unerhebliche Rolle. Das gerät
SVoD-Nutzung auf Kinobesuche hat. schnell aus dem Blick, in welchem Aus-
Aufgrund unserer Datenerhebungen
können wir Quervergleiche ziehen. Un-
maß Nutzer älteren Content anschauen.
JOERG RUMBUCHER
sere Ergebnisse lassen eine Art Entwar-
nung zu: Mehr als die Hälfte der
SVoD-Nutzer sind auch Kinobesucher.
Die Kinobesucher-Reichweite der deut-
25

»EINE GROSSE
FREIHEIT«
Weltweit war »Unorthodox« ein Hit auf Netflix, die Regisseurin wurde mit einem
Emmy belohnt. Maria Schrader erzählte kurz nach Serienstart, was ihren Vierteiler
so ungewöhnlich und doch universal nachvollziehbar macht.
MARIA Unorthodox ist weltweit ein Hit bei
SCHRADER Netflix – in Deutschland ist Ihre Minise-
zählt seit 30 Jahren rie aktuell der drittmeistgestreamte
zu den führenden
Titel. War ein solcher Erfolg für eine so
Schauspielerinnen in
ungewöhnliche Arbeit vorhersehbar?
Deutschland. 2007
gab sie ihr Debüt als Es ist überwältigend, und ich staune. Es
Regisseurin mit ist ja offiziell eine deutsche Serie, mit
»Liebesleben«. verhältnismäßig schmalem Budget ent-
2016 folgte der standen. Wir haben zur Hälfte in Jiddisch
Arthouse-Erfolg gedreht, einer Sprache, die höchstens
»Vor der Morgen- noch von einer knappen Million Men-
röte«.
schen und vorwiegend religiösen Com-
munities gesprochen wird. Es fühlte sich
lange Zeit wie ein Liebhaberprojekt an,
ein künstlerischer, eigenwilliger Außen-
seiter, den Netflix sich neben großen
Schlachtschiffen leistet. Wir bekamen
allerdings durchgehend euphorische
Feedbacks, und als dann am Times
Square auf einem riesigen Billboard Wer-
bung geschaltet wurde, ging ein erstes
Raunen durch unser Team. Aber wer
kann damit rechnen, dass die New York
Times eine solche Hymne schreibt, dass
in den USA, in Israel, in Frankreich und
England so große und begeisterte Kriti-
ken erscheinen? Von dem Sturm auf
Instagram, Twitter und Facebook kriege
ich nur Krümel weitergeleitet, da ich
persönlich soziale Netzwerke nicht
nutze. Aber Shira Haas bekam am
Launch-Tag bereits 2000 Nachrichten.
26
MARIA SCHRADER
Sie erzählen eine Geschichte, die
Diversität feiert. Jetzt startet Ihr Vier-
teiler in einer ungewissen Zeit.
Ja, ungewiss und beunruhigend für jedes
Arbeitsumfeld, für jeden einzelnen Men-
schen. Und natürlich war es seltsam, ein
Jahr lang intensiv an Unorthodox gear-
beitet zu haben und es am Schluss nicht
mit einer Premiere verabschieden zu
können, gemeinsam mit dem Team. Wir
waren in den Wettbewerb des großen Se-
rienfestivals Series Mania in Frankreich
eingeladen und erhofften uns dadurch
eine etwas internationalere Aufmerk-
samkeit. Aber natürlich wurde das Festi-
val abgesagt. Dass wir die Aufmerksam-
keit jetzt dennoch in so großem Maße
bekommen, hat vielleicht auch damit zu
tun, dass Unorthodox eine Geschichte
erzählt, mit der man sich identifizieren
kann, die Einblicke in verschiedene
Lebensformen gewährt, Fragen aufwirft,
was Gemeinschaft, Gesellschaft bedeutet
versus persönlicher Freiheit. Fragen, die
jetzt in der Corona-Krise hochaktuell
sind. Daneben ist es aber auch klar, dass
die Streamingdienste und das Fernsehen
die großen Profiteure dieser Krise sind –
anders als das Kino.
Unorthodox ist eine Miniserie, die
einen aufwühlt, die sich aber aufgrund
ihrer entschiedenen Machart einem
ganz großen Publikum nicht sofort
aufdrängt. Ohne Netflix wäre das wohl
nicht möglich gewesen.
Es ist eine große Freiheit, die Netflix bie-
tet. Ich habe das sehr genossen. Insbe-
sondere nach der Erfahrung mit meinem
letzten Film. Vor der Morgenröte lief im
Kino gut, wurde aber dann in der ARD
aufgrund seiner Sprachenvielfalt in die
Spätschiene verdammt, obwohl es einen
großen Diskurs um den Film gegeben
hatte. Dem Primetime-Publikum des öf-
fentlich-rechtlichen Fernsehens sind Un-
tertitel anscheinend nicht zuzumuten.
Immerhin bedeuteten die Erfahrungen
mit Vor der Morgenröte, dass Sie sich von
Unorthodox nicht abschrecken ließen.
Im Gegenteil. Trotz der unterschiedli-
chen Budgets, Sujets und Werbekampag-
nen stehen alle Projekte bei Netflix sozu-
sagen nebeneinander im Regal,
gleichermaßen verfügbar, vollkommen
anders als im Kino.
Wie kam es für Sie zu dieser Arbeit?
Anna Winger drückte mir das Buch in die
Hand. Wir hatten schon länger den Plan,
in dieser Konstellation zusammenzuar-
 beiten, nachdem wir uns bei den Drehar-
beiten von Deutschland83/86 kennen
und schätzen gelernt hatten. Es war sehr
schnell klar, dass dies das richtige Pro-
jekt war. Wir haben dann gemeinsam
Deborah Feldman getroffen, etwas später
hat mir Anna auch Alexa Karolinski vor-
gestellt. Es ist ein ungewöhnlicher Stoff,
aber das schreckt mich nicht ab, das
zieht mich an.

War Ihnen die Welt, die in Unorthodox

ausgebreitet wird, bereits vertraut, die
ultraorthodoxe jüdische Glaubensge-
meinschaft der Satmarer im New Yorker
Stadtteil Williamsburg?
Ich war während meiner ersten Amerika-
reise im Jahr 1989 mit Dani Levy bereits
in Williamsburg und Borough Park. Das
war eine erste Recherchereise für
das Projekt Meschugge, das wir 1998
abschließen konnten. Diese Geschichte
spielte ebenfalls in einem religiösen
Umfeld in New York, wenn auch nicht in
einem so extremen. Für Unorthodox sind
wir zwei Mal im Vorfeld nach New York
gereist. Diese Aufenthalte waren sehr
viel besser geplant, wir haben viel mehr
Einblick und Zugang erhalten, Eindrücke
gesammelt, Gespräche geführt und uns
mit möglichst vielen Details vertraut
gemacht. Im Zuge der Vorbereitung gab
es dann natürlich auch umfassende
Recherchen, die weit über persönliche
Eindrücke hinaus gingen. Wir alle haben
durch diese Arbeit viel gelernt.

Wie waren die Begegnungen mit den

Chassiden, denen nicht allzu sehr an
Öffentlichkeit gelegen ist?
Das ist eine Untertreibung. Öffentlichkeit
und im Speziellen das Medium Film
stößt nicht nur auf Skepsis, sondern auf
große Ablehnung. So gesehen muss man
sich fragen, wie man sich nähert. Wir
hatten von Anfang an Eli Rosen an unse-
rer Seite, der in dieser Gemeinde aufge-
wachsen ist und sie als erwachsener
Mann verlassen hat. Heute ist er Schau-
spieler und spielt in Unorthodox den
Rabbi. Er hat die Dialoge ins Jiddische
übersetzt und mit den Schauspielern den
Dialekt geprobt. Darüber hinaus war er
FOTOS NETFLIX, CHRISTINE FENZL

auch Berater in jeder Detailfrage des

streng orthodoxen Lebens und bei den
Dreharbeiten an meiner Seite. In Brook-
lyn hat er uns mit Familien bekannt ge-
macht, deren Wohnungen wir besuchen
konnten, er hat uns in Geschäfte für
Bekleidung, Judaica, in koschere Super-
märkte geführt.

27

Sie sind dort bestimmt aufgefallen.
Wir waren eine Gruppe von Leuten, die
dort ganz offensichtlich nicht hinge-
hörte. Es ist ein sensibler Vorgang, wenn
man spürt, dass man in eine Welt ein-
dringt, die am allerwenigsten möchte,
dass man über sie berichtet oder gar
fiktional arbeitet.
Ihr Blick auf diese Welt ist empathisch
und liebevoll. Aber er ist durchaus auch
sehr kritisch.
In dieser Dialektik finde ich das gut
beschrieben. Natürlich gibt es in dieser
Gemeinde wie in jeder Gesellschaft
glückliche und unglückliche Lebens-
wege. Unsere Hauptfigur Esther gerät
ebenso wie damals Deborah Feldman,
auf deren autobiographischen Roman
unsere Serie beruht, an einen Punkt, an
dem sie das Leben in dieser Gemeinde
nicht mehr aushält. Das hat mit Proble-
men in ihrer Ehe zu tun, mit einem
öffentlichen Druck, dem sie nicht mehr
standhält. Wäre ihre Ehe glücklicher ver-
laufen, wäre es vermutlich auch nicht zu
einer Flucht gekommen. Auf der einen
Seite bietet das Leben in dieser Commu-
nity einiges, was man vielleicht in unse-
rer Gesellschaft manchmal vermisst:
identitäts- und sinnstiftende Zugehörig-
keit, schützende Gemeinschaft. Es gibt
keine Arbeitslosigkeit, keine Altersar-
mut, keine Vereinsamung. Auf der ande-
ren Seite zeigt sie ihre Zähne in dem
Moment, wo jemand ausschert oder die
Erwartung nicht erfüllt. Unsere Erzäh-
lung zeigt beide Seiten. Es ging immer
darum, eine spezifische Geschichte von
Individuen zu erzählen. Im Zentrum
steht eine junge Frau, die unbedingt da-
zugehören möchte. Esther freute sich auf
ihre Hochzeit und hofft, in ihrer Ehe mit
Yanki Glück zu finden. Es ist neben der
Emanzipation und Selbstfindung auch
eine Liebesgeschichte, für die man hofft.
Es war wichtig, dass auch die Figuren,
die Esthers Leidensdruck verursachen,
in ihren Motivationen verständlich,
wenn auch nicht zu befürworten sind.
Auch die Männer in Unorthodox sind
nicht einfach Täter.
Yanki ist nicht einfach Antagonist, er
macht seinerseits eine riesige Entwick-
lung durch, wenn nicht sogar eine grö-
ßere als Esther. Sie sind beide eigentlich
28
noch Kinder, denen nicht die Zeit gelas-
sen wird, die sie vielleicht bräuchten.
Beide geraten in ein Gefängnis von For-
derungen, aber nur Esther beginnt zu
glauben, dass mit ihr etwas nicht stimmt
und sie die Schuld trägt. Es ist eine
schreckliche Situation, dass eine junge
und unerfahrene Frau in diesem persön-
lichsten und intimsten Konflikt mit der
eigenen Sexualität unter öffentlichen
Druck gerät. Ihre Flucht ist keine kaltblü-
tige Entscheidung. Sie lässt Menschen
zurück, die sie liebt, und flieht in eine
Welt, die ihr völlig fremd ist, von der sie
abgeschottet wurde, damit sie eine
Flucht erst gar nicht wagt oder aber
scheitert. Das mag bösartig klingen, ist es
aber nicht, wenn man bedenkt, dass die
Gemeinde die Außenwelt fürchtet und
ihre Mitglieder beschützen will, auch vor
sich selbst. Es ist für jede Geschichte
wichtig, komplexe und dialektische
Figuren zu zeigen, die nicht einfach in
Gut und Böse geteilt werden können,
erst dann werden sie in meinen Augen
lebendig und interessant.
Und nur so kann es eine Geschichte wer-
den, die etwas Universelles erzählt.
Ja, das glaube ich auch. Je spezifischer
man erzählt, desto universaler wird die
Möglichkeit, sich zu identifizieren. Ich PRÄZISION beginnt nicht bei Null. Die Aufgaben und
habe in meinen bisherigen Regiearbeiten Maria Schraders Unbekannten dieses Projekts waren
jedes Mal unbekanntes Terrain betreten. umsichtige schon groß genug, da ist es schön, ein
Inszenierung wurde
Geographisch, thematisch. Ich halte es Fundament zu haben mit Partnern, auf
international
besonders für die Regie für notwendig, die man sich verlassen kann und die man
prämiert
sich möglichst offen und unvoreinge- jeden Tag wieder für ihre Arbeit und ihr
nommen zu nähern. Wenn das gelingt, Können bewundert. Für uns alle – Kame-
und das war bei Unorthodox auch unser ramann Wolfgang Thaler, Szenenbildne-
Ziel, dann hat man einen Film, der Erleb- rin Silke Fischer, Editor Hansjörg Weiß-
nis schafft, der atmet und nicht alles brich – war es ein gemeinsames
schon weiß. Zuschauer sollen ihre eige- Eintauchen in eine uns bislang fremde
nen Schlüsse ziehen und verschiedene Welt, nicht nur inhaltlich, sondern auch
Perspektiven erleben. in der Durchführung. Keiner von uns
hatte bis dato im amerikanischen Serien-
Sie haben wieder Ihr Team von Vor der system und auch nicht mit Netflix gear-
Morgenröte hinter der Kamera versam- beitet. Ich hatte als Regisseurin noch
melt. War Ihnen das wichtig? nicht 50 Tage am Stück gedreht. Das
Wenn man einmal eine so schöne Erfah- Tempo war enorm und die Parallelität der
rung gemacht hat in der Zusammenar- Vorgänge eine neue Erfahrung. Als wir
beit, dann besteht Vertrauen und man grünes Licht von Netflix erhielten, stand
auch schon der Abgabetermin fest. Alles
ist innerhalb eines Jahres entstanden –
geschrieben, gedreht, fertiggestellt, abge-
geben. Wenn ich erst noch eine gemein-
»Es stand einfach same Sprache mit meinem Team hätte
finden müssen, wäre die Nordsee viel-
ein guter Stern über leicht zum Umkippen gekommen. Ich un-
terscheide mich sicher nicht von anderen
Regisseuren, wenn ich sage, dass es mir
dem Projekt.« gerade unter solchen Bedingungen wich-

tig ist, mit mir vertrauten Menschen zu
arbeiten, auf gemeinsame Erfahrungen
aufbauen zu können.
Neu war für Sie als Filmemacherin die
Arbeit mit einem Showrunner.
Anna Winger ist eine Frau der Tat mit
Schwung und Kraft. Ich hatte sie 2014 zur
Premiere von Vergiss mein Ich von Jan
Schomburg eingeladen. Wenige Tage spä-
ter rief sie mich an und erzählte mir, dass
sie an einem Piloten für eine Serie arbeite
und es da eine Figur gebe, die wie ge-
macht für mich sei. Das war die Lenora in
Deutschland83, das Drehbuch war so
stark, dass ich sofort zugesagt habe. Wie
sie das damals durchgezogen hat, zusam-
men mit ihrem Mann Jörg und der UFA,
als Neuling in der Branche, das hat mich
sehr beindruckt. Für Unorthodox habe ich
mich aufgrund verschiedener Faktoren
entschieden. Das war zum einen Debo-
rahs Buch, zum anderen aber auch mein
Vertrauen in diese Konstellation.
Am Ende stellt jede Produktion einen
Glaubenssprung dar.
Wenn man gemeinsam auf eine solche
Reise geht, ist jedem Beteiligten klar,
dass es Überraschungen, Engpässe und
Konflikte geben wird. Im Grundsätzli-
chen kennen Anna und ich uns so gut,
dass wir uns geschmacklich vertrauen.
Wobei Geschmack ein wohl zu kleines
Wort ist, vielleicht kann man es besser
erzählerische Weltanschauung nennen.
Am Ende steht für uns eine Wahrheitssu-
che. Eine Übereinstimmung darin, was
einen guten Film ausmacht, wie man
Figuren behandelt, welche Verantwor-
tung man hat einer Geschichte gegen-
über und wo man mit ihr hinwill. Auch
im Ausschluss. Dass man beispielsweise
disfunktionale Sexualität nicht spekula-
tiv erzählen kann und ihr durch die -
Hintertür doch einen sexualisierten
Schauwert verpasst. Und wenn es in
Einzelfragen durchaus immer wieder
Dissens gibt, was ja absolut notwendig
ist in jeder künstlerischen Zusammenar-
beit, so herrschte doch immer Einigkeit
in den Grundfragen: Warum tun wir das
und worum geht es?
Das ist sicherlich essenziell für Ihre
Arbeit. Sie haben ja auch erstmals bei
einer Regiearbeit nicht auch das Dreh-
buch geschrieben.
Das ist richtig. Aber von Fassung zu Fas-
sung gab es lange Gespräche, dramatur-
gische Diskussionen, in denen meine
Ideen und Anmerkungen Niederschlag
fanden. Um eine Szene inszenieren zu
können, muss ich sie verstehen und sel-
Das komplette ber fühlen. Es ging immer wieder um
Interview finden den Abgleich, um was es gerade geht,
Sie unter www. was wir gerade erzählen wollen. Als wir
blickpunktfilm.de/ dann angefangen haben zu drehen, war
schrader Anna zwar oft zu Besuch, aber immer
mit einer unterstützenden und begeis-
terten Energie. In den unzähligen tägli-
chen Entscheidungen, der Dreharbeit
an sich hatten wir freie Hand und ihr
Vertrauen. Das war wichtig. Denn beim
Drehen entsteht es.
Wie eng war Ihr Kontakt zu Netflix?
Direkter Ansprechpartner war Anna als
Showrunnerin. Aber auch im Fall von
Netflix wurde eher Drehbucharbeit, Vor-
bereitung und Postproduktion begleitet,
beim Dreh aber Abstand gehalten. Rachel
Eggerbeen kam zwei Mal ans Set und war
ebenfalls eine sehr angenehme Besuche-
rin. Im Fall der wichtigsten Rollen der
Besetzung behält sich Netflix das Green-
Light vor. Da habe ich meinen Wunsch-
Cast in einer Präsentation recht aufwän-
dig vorgestellt, Gottseidank wurde
meine Begeisterung geteilt. In einem
Kickoff-Meeting erklären die einzelnen
Departments ihren ästhetischen Ansatz.
Man will sich ein Gesamtbild machen.
Konstanter Austausch mit Netflix begann
zumindest für mich zuerst wieder im
Schnitt. Fassungen werden hin und her
geschickt, Anmerkungen eingearbeitet.
Das ist ein eingespieltes System und mei-
ner Meinung nach eine Art institutionali-
sierte Form, in einen Dialog zu treten.
War es eine gute Erfahrung für Sie als
Filmemacherin?
Das war es. Dreharbeiten sind immer ein
Ausnahmezustand. 50 Drehtage am
Stück sind immens anstrengend. Gleich-
zeitig war es angesichts des zu bewälti-
genden Pensums eine sehr kurze Phase.
Es war also ein fast rauschhaftes Tempo,
das wir vorlegen mussten bei zum Glück
katastrophenfreien Dreharbeiten. Ich bin
jeden Tag sehr gerne zur Arbeit gegan-
gen, weil ich nicht glücklicher hätte sein
können über die Schauspieler und unse-
rer Form der gemeinsamen Arbeit. Ihre
Leistung kann nicht genug gelobt wer-
den. So viele von ihnen mussten in
Jiddsch spielen, nur für wenige ist es tat-
sächlich die Muttersprach gewesen. Wir
haben überall auf der Welt gecastet, in
New York, in England, in Israel, in Buka-
rest, in Paris, in der Schweiz. Das sorgt
für ein faszinierendes, lebendiges Set.
Das hatte ich schon bei Vor der Morgen-
röte erlebt und sehr genossen. Hier war
es wieder so. Die Begegnung mit Men-
schen unterschiedlicher Generationen
aus so vielen verschiedenen Ländern be-
reichern alle Beteiligten. Die Kommuni-
kation wird besonnener, interessierter,
liebevoller. Wir hatten ein wirklich groß-
artiges Team, in dem jede Person mit be-
sonderer Leidenschaft das ihre dazu bei-
getragen hat, Unorthodox als Stoff
gerecht zu werden. Es stand einfach ein
guter Stern über dem Projekt.
THOMAS SCHULTZE
29
 Titel-Rankings der
beliebtesten Inhalte
gibt’s von der GfK
nur für DVD/Blu-
ray-Titel: 2019 war
»Bohemian Rhap-
sody« der erfolg-
reichste Kinofilm im
physischen Kauf-
markt

GFK-DATEN ZUM VIDEOJAHR 2019

SVoD jetzt offiziell

Milliardenmarkt
Der GfK zufolge war 2019 für die deutsche Videobranche
das umsatzstärkste Jahr, seitdem Daten erhoben werden. Der Grund:
SVoD hat längst eine magische Umsatzhöhe erreicht.
FOTO FOX

30
I
n Ausgabe 26/27 veröffentlichte
Blickpunkt:Film ein Interview mit
GfK-Marktforscher Michael Diehl.
Gegenstand war vor allem der
deutsche SVoD-Markt und dessen
Entwicklung unter Coronabedingungen
im ersten Quartal 2020 mit kleinen An-
deutungen zum ersten Halbjahr. Erst am
24. Juni veröffentlichte die Filmförde-
rungsanstalt die GfK-Videomarkt-Daten
fürs Jahr 2019. Lohnt sich ein Blick darauf
überhaupt noch? Ja, denn zum einen be-
steht die Videobranche nicht ausschließ-
lich aus dem Geschäftsmodell Subscrip-
tion Streaming, zum anderen zeigt das
Datenkonvolut Entwicklungstendenzen,
die weit über das 2019 hinausreichen
dürften. Etwa die, dass der deutsche Vi-
deomarkt sich einmal mehr als Boom-
branche präsentierte; ungeachtet dessen,
ob jeder Marktteilnehmer davon profi-
ziert hat. Nach einem kleinen Ausrut-
scher im Jahr 2016 ging es kontinuierlich
weiter steil bergauf. 2019 summierten
sich die Ausgaben auf ein Gesamtplus
von zwölf Prozent. Was, nebenbei be-
merkt, innerhalb der Entertain-
ment-Märkte das zweitbeste Abschnei-
den bedeutete: Besser, man mag’s kaum
glauben, war 2019 nur der Kinomarkt
(plus 14 Prozent). Zur Wahrheit gehört
auch: Buch- und Gamesmarkt haben ein
ungleich höheres Gesamtvolumen. Was
zu der erstaunlichen Datenlage führt,
dass für physische Formate mehr Geld
ausgegeben wurde, als für digitale. Das
Umsatzanteil-Verhältnis (exklusive Kino)
beträgt 52 (physisch) zu 48 Prozent (digi-
tal). In erster Linie deswegen, weil nach
wie vor sehr viele »echte« Bücher gekauft
werden. In der Videobranche kann von
dieser Verteilung schon längst nicht mehr
die Rede sein. Dort machen transaktio-
nale und abobasierte Zugriffe auf
VoD-Plattformen jedweder Art bereits
69,2 Prozent des Gesamtumsatzvolu-
mens aus. Entsprechend geraten die phy-
sischen Formate ins Hintertreffen. 2013,
das Jahr bevor Netflix nach Deutschland
kam, erwirtschafteten DVD und Blu-ray
noch 93 Prozent des deutschen Home-
Entertainment-Umsatzes. Wie man sieht:
Es brauchte nicht viel mehr als fünf Jahre,
bis das Geschäftsmodell Subscription Vi-
deo on Demand (SVoD) den Videomarkt
komplett auf neue Füße gestellt hat: Al-
lein von 2015 auf 2019 stiegen die
SVoD-Ausgaben um 420 Prozent. Ein
Wert, der eigentlich nur verständlich
wird, wenn er in absolute Zahlen über-
setzt wird: Es ging von 228 Mio. auf 1,187
Mrd. Euro aufwärts. Womit bereits eines
von zwei Hauptmerkmalen der GfK-Stu-
die für 2019 benannt wäre: Erstmals kann
die deutsche SVoD-Branche als Milliar-
denmarkt bezeichnet werden. Und über-
flügelte nebenbei den Kinomarkt, dessen
Jahresergebnis 1,019 Mrd. Euro betrug.
Rund 1,2 Mrd. Euro SVoD-Umsatz führen
zum wichtigsten Befund des Zahlen-
werks überhaupt: Mit einem Gesamtum-
satz in Höhe von 2,279 Mrd. Euro erzielte
der deutsche Videomarkt sein bestes Jah-
resergebnis seit Erfassung der Marktda-
ten. Entwicklungstreiber SVoD hatte da-
ran einen Umsatzanteil von 52 Prozent.
Vor dem Hintergrund, dass abobasiertes
Streaming sich zum wichtigsten Teilseg-
ment aufgeschwungen hat, und allein im
31
 SVoD-Nutzung nach Altersgruppen
Jahresvergleich 2018/2019 um 37 Prozent
zulegte, hätte man sich mehr Detailana-

%
lysen dieser Auswertungsform im Daten-

26

26
konvolut gewünscht. Beispielsweise zur

hre

re
durchschnittlichen Preisentwicklung der gaben). Andererseits: Viele Branchen wä-

Ja

Jah
Abotarife. 2019 hatte Netflix sein Stan- ren dankbar, wenn sie im Jahresvergleich

29

–39
dard-Abo von 10,99 auf 11,99 Euro (aktu- ein Umsatzplus von 16 Prozent aufweisen

0–
ell aufgrund der Mehrwertsteuersen- würden. Wobei sich das Segment EST

kung: 11,69 Euro) erhöht. Andererseits
starteten neue Dienste mit weitaus güns-
tigeren Tarifen. Zum Beispiel Apple TV+
mit 4,99 Euro pro Monat. Immerhin: Die
Studie gibt Auskunft, dass SVoD im vier-
ten Quartal 2019 eine Konsumentenreich-
weite von 13,4 Mio. Personen hatte, was
20 Prozent der Bevölkerung entspricht.
30
einmal mehr als das wachstumsstärkere
erwies: Für die Kaufoption gaben Konsu-
menten 245 Mio. Euro (plus 25 Prozent)
aus. Damit ist die EST-Vermarktung noch
ein gutes Stück von den Ausgaben für
DVD/Blu-ray entfernt. Und erneut ist an-
10–19 Jahre Alter 40–49 Jahre 21 %
merken, dass Kauf-Downloads die fallen- 5%
den Umsätze physischer Datenträger

50
2017 waren es erst neun Mio. Konsumen- wohl niemals komplett kompensieren

– 59
ten. Jenseits des vielfach analysierten werden. Dennoch: In den letzten fünf

5 % hre

Jah
Phänomens des Mehrfachabos begründet Jahren legte EST immerhin um 143 Pro-

a
sich der SVoD-Boom nicht zuletzt auf der zent zu. Wobei 27,1 Mio. verkaufte Units

re
+J
Zunahme von Nutzern, die entspre- nicht das Ende der Fahnenstange bedeu-

17
60
chende Angebote wahrnehmen. Bemer- ten dürften: Im Jahresvergleich stieg der

kenswert auch deswegen, weil die Zahl
aller Käufer, Leiher und Abonnenten nur
24,3 Mio. beträgt. Wobei »nur« relativ ist,
denn gegenüber 2018 (23,0 Mio.) gab es
einen Anstieg. Darüber hinaus gibt die
Studie Auskunft zur Altersstruktur von
SVoD-Usern: Auf Basis des Umsatzes von
rund 1,2 Mrd. identifiziert die GfK (siehe
Grafik »SVoD-Nutzung nach Altersgrup-
pen«) die 20- bis 29-Jährigen und die 30-
bis 39-Jährigen als die wichtigsten Alters-
gruppen. Beide Kohorten kamen auf je-
weils 26 Prozent Umsatzanteil. Die 40- bis
49-Jährigen waren für 21 Prozent und die
50- bis 59-Jährigen für 17 Prozent der
SVoD-Ausgaben verantwortlich. Noch
nicht ins Gewicht fiel die Alterskohorte
60+ mit fünf Prozent. Was zu der simplen
Erkenntnis führt, dass das Potential für
SVoD noch nicht ausgeschöpft sein kann,
da im gesamten Home Entertainment die
60+-Generation neun Prozent der Um-
sätze generiert. Vergleichbares gilt für die
Gruppe der 50- bis 59-Jährigen. Zumal
beide Altersgruppen addiert 52 Prozent
der Gesamtbevölkerung repräsentieren.
Die Ausgaben-Dynamik für SVoD-
Dienste stellt die VoD-Zugriffsvarianten
Electronic Sellthru (EST) und Transactio-
nal Video on Demand (TVoD) häufig in
den Schatten. Insofern zu recht, da beide
vergleichsweise geringe Umsatzanteile
vorweisen. Zusammen wurden in Kauf-
downloads und Leihstreams 390 Mio.
Euro investiert (= 17 Prozent aller HE-Aus-
Absatz um 5,2 Mio. Dass die prozentuale
Umsatzsteigerung etwas höher ausfiel als
die Absatzzunahme, lag an leicht erhöh-
ten Endverbraucherpreisen: Der Durch-
schnittspreis für einen Kaufdownload
kletterte von 8,99 auf 9,05 Euro. Signifi-
kant gefallen ist hingegen der durch-
schnittliche Preis für eine digitale Leihge-
bühr: Sie ging um acht Prozent auf 2,97
Euro zurück. 2017 lag der Preis noch bei
3,97 Euro. Daher kam das Absatzplus nur
beding zum Tragen, denn Leihtransaktio-
nen stiegen von 42,9 auf 48,9 Mio. (plus
14 Prozent). Mit ihnen wurden 2019 145
Mio. Euro generiert. Der GfK zufolge
hatte TVoD im vergangenen Jahr eine
Nutzerbasis von 6,9 Mio. Personen. EST
kam dem gegenüber nur auf Reichweite
von 3,9 Mio. Sehr viel weniger Verbrau-
Top-10 Kinofilme DVD/Blu-ray
PL TITEL
1 Bohemian Rhapsody
2 Phantastische Tierwesen: Grindelwalds Verbrechen
3 Avengers: Endgame
4 Venom
5 Aquaman
6 A Star Is Born
7 Der König der Löwen
8 Captain Marvel
9 Drachenzähmen leicht gemacht 3
10 Avengers: Infinity War
%
cher sorgten also für einen höheren digi-
talen Kauf- als Leihumsatz. Aber: Blickt
man auf den Videokaufmarkt in seiner
Gesamtheit, also physisch und digital,
zeigt sich in den GfK-Erhebungen ein ste-
ter Niedergang: Vom dem Höchststand in
2013 (1,445 Mrd. Euro) blieben 2019 nur
noch 904 Mio. Euro übrig. Nach verkauf-
ten Einheiten berechnet, ging die Zahl
der Transaktionen von 122 auf 80 Mio. zu-
rück. Im Jahresvergleich 2018/2019 verlor
der Videokaufmarkt 75 Mio. Euro, weil al-
lein der DVD-Umsatz um 85 Mio. Euro
einbrach (minus 18 Prozent). Die häufig
in Internetforen und Kommentarspalten
(insbesondere von Computermagazinen)
zu lesende Bemerkung, dass das
DVD-Format ein einziges Rezeptions-
ANBIETER grausen sein, wird durch die Marktfor-
schung dezent wiederlegt: DVD war auch
Fox 2019 im Videokaufmarkt das stärkste Ein-
Warner zelsegment. So disruptiv sich SVoD ge-
Disney bärden mag: Mit Blick auf messbare
Sony VHS-Umsätze bis einschließlich 2010 ste-
hen dem bald 25 Jahre alten Standard ver-
Warner
mutlich noch ein paar weitere bevor.
Warner
Schönreden lässt sich der physische
Disney
Kaufmarkt allerdings nicht, der in Summe
Disney
gegenüber 2018 18 Prozent Umsatz (ge-
Universal
samt: 658 Mio. Euro) verlor. Denn auch
Disney die Ausgaben für Blu-ray gingen zweistel-

32
Umsatz nach Distributionsarten EST/TVoD nach Absatz
IN MIO. EURO IN MIO.

2500 80 TVoD

70 EST 48,9
2279
2000
2034 60 42,9
1836 1772 1825
50
1500 34,9
40
27,1
1000 30
23,7
20 27,1
500 21,9
10 15,8
12,5
9,2
0 0

2015 2016 2017 2018 2019 2015 2016 2017 2018 2019

SVoD 228 326 488 865 1187 EST 9,2 12,5 15,8 21,9 27,1
TVoD 94 101 123 139 145 TVoD 23,7 27,1 34,9 42,9 48,9
EST 101 118 157 197 245
Blu-ray 470 433 393 321 278
DVD 943 794 664 512 424
GESAMT 1836 1772 1825 2034 2279 QUELLE GFK IM AUFTRAG DER FFA

lig zurück: Um 13 Prozent auf 263 Mio.
Euro, wobei der Absatzverlust nicht ganz
so hoch ausfällt: Minus zehn Prozent,
»Schönreden lässt
was bedeutet, dass Endverbraucher nur
noch 19,2 Mio. (2018: 21,4 Mio.) Stück er-
sich der physische
warben. In Summe wurden 2019 also 52,5
Mio. Scheiben (DVD/Blu-ray) verkauft.
Inklusive des EST-Absatzes gab es rund
Kaufmarkt nicht.«
80 Mio. Kauf-Transaktionen. Trotz fal-
lender Durchschnittspreise bei DVD
(11,86 Euro) und Blu-ray (13,69 Euro) wer-
den mit physischen Produkten nach wie
vor höhere Endverbraucher-Preise er-
zielt. Interessant: Obwohl die Zahl der
Blu-ray-Käufer von vier auf 3,4 Mio. fiel,
gab diese Konsumentengruppe 2019
mehr Geld für das Format aus als 2018:
Die Kaufintensität stieg durchschnittlich
von 5,4 auf 5,7 Stück. Zum Vergleich: Bei
Kauf-Downloads kletterte der Wert von
6,1 auf sieben. Innerhalb der Kaufvi-
deo-Segmente gaben die drei Käufer-
gruppen im Durchschnitt das meiste Geld
für Blu-ray-Produkte aus: 77,45 Euro
(DVD: 49,56 Euro, EST: 63,37 Euro). Dass
DVD und Blu-ray-Umsätze weiter gefal-
len sind, hat nicht nur, aber vor allem mit
sinkenden Katalogumsätzen zu tun. Wur-
den mit Produkten, die länger als sechs
Monate im Handel erhältlich sind, 2015
noch 501 Mio. Euro erwirtschaftet, waren
es im vergangenen Jahr nur 330 Euro. Im
Jahresvergleich beträgt der Rückgang mi-
nus elf Prozent. Allerdings war der Nega-
tivtrend im Neuheiten-Segment kaum
besser: Minus acht Prozent (= 263 Mio.
Euro). Nur mit dem Serien-Geschäft er-
folgte eine kleine Trendumkehr: Die
Kaufvideo-Umsätze stiegen erstmals
wieder und dies um sechs Prozent auf 217
Mio. Euro. Was auf erhöhte Aktivitäten
der EST-Käufer zurückzuführen sein
dürfte. Kauf-Downloads machen inzwi-
schen 30 Prozent aller Serien-Transaktio-
nen aus. Führend blieb in diesem Teilseg-
ment jedoch DVD (Umsatzanteil: 52
Prozent), was auch darauf zurückzufüh-
ren sein dürfte, dass so manche Serie jen-
seits von Prestigeproduktionen wie Game
of Thrones gar nicht erst auf Blu-ray her-
ausgebracht werden. Übrigens: Die
HBO-Hitserie belegt in den Season-Top-10
der meist verkauften DVD/Blu-ray-Pro-
dukte die ersten acht Plätze mit Staffel
acht als Spitzenreiter (Rang neun: Outlan-
der- Staffel vier, Rang zehn: The Walking
Dead – Staffel neun). In der Kategorie
Kinospielfilm siegte kein Franchise-Titel,
sondern Bohemian Rhapsody (siehe
Tabelle). Im Special-Interest-Segment
räumte Puppenspieler-Comedian Sascha
Grammel mit seiner Fast Fertig!-Show ab.
Insofern erstaunlich, da dieses Produkt
erst im Dezember 2019 in den Handel
kam.
Ein kurzer Blick auf den Leihmarkt:
Dieser sank um ein Prozent auf 189 Mio.
Euro, wenn man physisch und digital zu-
sammenfasst. Davon entfielen auf den
stationären Videothekenhandel 44 Mio.
Euro; ein Rückgang von 14 Prozent. Der
IVD hatte kürzlich den Videothekenbe-
stand in Deutschland mit 345 Outlets an-
gegeben.
JOERG RUMBUCHER

33
KATJA HOFEM
Die studierte Politikwis-
senschaftlerin arbeitete
u.a. bei RTLZWEI als Pro-
grammleiterin und bis
Mitte 2009 bei Disco-
very Communications als
Ko-Geschäftsführerin.
Anfang 2010 wechselte
Katja Hofem zu ProSie-
benSat.1 Media, wo sie
in verschiedenen Positio-
nen tätig war, zuletzt als
COO der ProSiebenSat.1
TV Deutschland GmbH.
Seit März 2019 ist sie
als Chief Content &
Marketing Officer und
Ko-Geschäftsführerin in
verantwortlicher Posi-
tion beim Streaming-
dienst Joyn.

FOTOS JOYN

34

»Wir wollen junge
deutsche Fiction
machen«
Seit Juni 2019 ist Joyn, das Gemeinschaftsprojekt von ProSiebenSat.1
Media und Discovery, im Streamingmarkt aktiv. Für
Blickpunkt:Film zog Ko-Chefin Katja Hofem eine Zwischenbilanz.
Zuletzt machte Joyn mit einer
Personalie auf sich aufmerksam.
Was ist genau passiert?
Eigentlich eine einfache Geschichte: Un-
ser bisheriger CEO Alexandar Vassilev
hatte sich aus persönlichen Gründen
dazu entschlossen, das Unternehmen zu
verlassen. Für uns war das keine große
Überraschung, weil er intern immer
kommuniziert hatte, andere berufliche
Abenteuer wagen zu wollen, sobald Joyn
im Markt etabliert ist. Es war eine tolle
Zeit mit ihm, weil er sehr viel Herzblut in
das Projekt Joyn gesteckt hat. Jetzt ha-
ben wir, wie ich finde, schnell eine ideale
Lösung gefunden, um Reibungsverluste
beim Übergang durch externe Personen
zu vermeiden. Für mich war es ein völlig
logischer Schritt, dass unser COO Tassilo
Raesig in die Geschäftsführung aufge-
nommen wird. Vernünftig, weil er tief in
der Materie von Product- und Tech-The-
men steckt. Jetzt bilden wir zusammen
mit CFO Jochen Cassel eine gleichbe-
rechtigte Dreierspitze, die alle wichtigen
Themen und Geschäftsbereiche – Cont-
EIN JAHR JOYN
ent, Marketing, Finanzen, Product &
Tech abdeckt. Jeder hat seinen Bereich,
aber größere strategische Themen ent-
scheiden wir gemeinsam.
Wie blicken Sie auf das erste
Halbjahr 2020 zurück?
Wegen Corona war es natürlich eine sehr
ungewöhnliche Zeit. Das wichtigste Fazit
meinerseits lautet: Wir sind gut durch
diese Krise gekommen. Streamingportale
im Allgemeinen erlebten positive Effekte
wie gestiegene Nutzerzahlen. Zu Joyn
selbst: Wir stehen mittlerweile bei zwölf
Mio. App-Downloads und erreichen pro
Monat bis zu vier Mio. Unique User. Da-
mit sind wir erst einmal sehr zufrieden.
Besonders erleichternd war für uns im
ersten Halbjahr, dass wir von Produktio-
nen profitieren konnten, die vor dem
Lockdown rechtzeitig fertig gestellt wor-
den waren. Zum Beispiel die Reality-Da-
ting-Show M.O.M – das erfolgreichste
Format, das wir bis jetzt an den Start ge-
bracht haben. Oder unsere Ende März
veröffentlichte Eigenproduktion Mask
Off, die ebenfalls tolle Zahlen erreicht
hat. Mein Haupt-Learning der letzten
Monate war, dass wir bei unseren Origi-
nals eine sehr hohe Erfolgsquote vorwei-
sen können. Sowohl bei fiktionalen In-
halten wie den Dramedy-Titeln MaPa
und Aus dem Tagebuch eines Uber-Fah-
rers als auch den starken Reality-Forma-
ten. Nicht zu vergessen unsere Influen-
cer-Projekte wie Slavik – Auf Staats
Nacken. Es ist uns gelungen, eine eigene
Handschrift zu entwickeln.
Geht ein Kleinod wie MaPa hinter
der Bezahlschranke möglicherweise
ein wenig unter?
Eine Paywall ist immer eine Hürde. Wie
überall. Und MaPa ist nicht das, was man
als Selbstläufer bezeichnen würde, son-
dern eher eine kleine Perle. Dafür hat die
Serie wunderbar funktioniert. Sie hat auf
Joyn aufmerksam gemacht und es gab
Neukunden, die sich für sie angemeldet
35

»Total Reach ist
die Währung der
Zukunft.«
haben. Das ist der Weg. Dafür, dass MaPa
hinter der Bezahlschranke nicht unterge-
gangen ist, spricht auch, dass sie gleich
zweimal für den Deutschen Fernsehpreis
nominiert war, darunter für die Beste
Drama-Serie. Eine solche Bestätigung
hätte ich vor einem Jahr kaum für mög-
lich gehalten.
Joyn ist eine Kombination aus SVoD
und AVoD. Wieso bevorzugen deutsche
Anbieter gerne dieses Hybridmodell?
Für andere Anbieter kann ich nicht spre-
chen, aber für uns war diese Kombina-
tion von Anfang an gesetzt. Vor dem
Start von Joyn Plus+ war uns zunächst
sehr daran legen, einen attraktiven
Free-Bereich auf die Beine zu stellen.
Mittlerweile bieten wir beispielsweise 67
TV-Sender als Livestream an. Dazu kom-
men mehr als ein Dutzend Mediatheken.
Der AVoD-Bereich ist das Einfallstor un-
seres Gesamtangebots, mit dem wir vor
allem Reichweite schaffen. Was im linea-
ren Fernsehen nicht funktionieren
würde: Man holt sich zwei populäre In-
fluencer, die zusammen drei Millionen
Follower mitbringen, und zack – hat man
eine Megaquote in der linearen Ausstrah-
lung. Das funktioniert nicht. Im Strea-
ming-Segment dagegen schon. Unsere
Slavik – Auf Staats Nacken-Staffel können
User mit Werbung im Free-Bereich oder
ohne Werbung hinter der Bezahl-
schranke anschauen. Beide Optionen ha-
ben ihre Berechtigung. Wichtig ist nur:
Sie müssen jeweils klar strukturiert und
kuratiert sein.
Aber es geht primär schon darum,
Free-User zu zahlenden Abonnenten
zu konvertieren?
Idealerweise nutzen sie beide Bereiche.
Natürlich sammle ich im Free-Segment
möglichst viele Kunden ein, um später
ein Up-Selling zu erzielen. Also die Über-
führung vom Kostenlos- zum Pay-Be-
reich. Das erreichen wir beispielsweise,
36
in dem wir die erste Folge eines Originals
im freien Bereich zeigen. Aber keinesfalls
sollte man das AVoD-Segment unter-
schätzen. Da steckt viel Musik drin.
Wie ist der Stand der Dinge bei der
Maxdome-Integration auf Joyn?
Für Bestandskunden gibt es Maxdome
noch. Neuanmeldungen werden inzwi-
schen automatisch zu Joyn Plus+ weiter-
geleitet. Wir sind jetzt in den letzten Zü-
gen der Inhalte-Migration. Wenn dies
komplett vollzogen ist, wird Maxdome
auch für die bestehenden Kunden ver-
schwinden. Außer der Maxdome Store
mit den Modellen TVoD und EST, der be-
stehen bleiben wird.
Eine Frage, die Sie vielleicht nicht mehr
hören mögen, aber relevant geblieben ist:
Müssten zwecks Wettbewerbsfähigkeit
gegenüber US-Playern nicht mehr Kräfte
gebündelt werden? Etwa dadurch, dass
auch RTL-Sender in die Live-Streams auf-
genommen werden?
Meine Haltung ist ganz klar: Die Tür ist
weiterhin offen für Gespräche mit den
Kollegen. Dessen ungeachtet, müssen wir
uns auf unsere eigene Positionierung
konzentrieren und unsere eigene Strate-
gie weiter verfolgen. Darüber hinaus
glaube ich, dass im deutschen Streaming-
Markt eine Konsolidierung stattfinden
wird. Damit meine ich nicht TV Now,
sondern einzelne Plattformen, die sich
auf enge Zielgruppen fokussieren. Kurz
vor unserem Gespräch kam die Mittei-
lung über ein neues Angebot für Nischen-
und Arthouse-Filme. Preispunkt fürs Mo-
natsabo: 7,95 Euro. Ich wünsche den
Kollegen nur das Beste, aber mir fehlt ein
wenig die Fantasie, wie das dauerhaft
funktionieren kann. Vielmehr glaube ich,
dass es massenkompatible Inhalte
braucht, um im Markt bestehen zu kön-
nen. Content, der die Menschen bewegt
und anzieht. Dem widerspricht nicht,
dass auch wir für die Programmbreite
zwischendurch kleinere Produktionen
kaufen oder herstellen. Siehe MaPa. Aber
»Es hilft ungemein,
›Grey’s Anatomy‹ im
Portfolio zu haben.«
einem Dienst wie Joyn hilft es ungemein,
wenn man alle Staffeln einer Serie wie
Grey’s Anatomy im Portfolio hat.
Wo steht denn Joyn aktuell im
deutschen Streaming-Ranking?
Na ja, man will ja immer ganz oben ste-
hen, doch realistisch betrachtet, wäre ich
völlig zufrieden, wenn wir die Nummer
eins unter den lokalen Angeboten wer-
den. Und die Ausgangslage dies zu errei-
chen, ist da. Abgesehen davon kann ich
mich nicht jeden Tag an Netflix aufrei-
ben. Das ist ein anderes Geschäftsmo-
dell, das unter anderen Voraussetzungen
funktioniert. Unser Vorteil ist: Wir ken-
nen das deutsche Publikum.
Soweit wir wissen, haben Sie ein ausge-
prägtes Bewusstsein für Markenbildung.
Ist Joyn bereits eine Marke?
Auf jeden Fall. Wir haben mittlerweile
eine Brand-Awareness von 50 Prozent
laut YouGov. Nach einem Jahr im Markt
halte ich diesen Wert für ein gutes Zwi-
schenergebnis. Was sicher auch damit zu
tun hat, dass wir nicht nur eine klare
Handschrift bei unseren Inhalten erken-
nen lassen, sondern auch unseren Usern
zuhören und ihr Feedback ernstnehmen.
Gibt‘s dafür ein Beispiel?
Seit September 2019 kann Joyn zusätz-
lich über Google-Chromecast genutzt
werden. Dieses Feature zeitlich vorzuzie-
hen, war seinerzeit eine unmittelbare
Reaktion unsererseits auf vielfach
geäußerte Nutzer-Anfragen. Zur Marken-
bildung gehört genau dies: Setze dich
mit deinen Kunden auseinander.
Doch am Ende entscheidet immer die
Zugkraft des Programms, insbesondere
die der Eigenproduktionen, oder?
Das ist so. Aber an dieser Stelle möchte
ich die Bedeutung der technischen Um-
setzung und der nutzerfreundlichen Be-
dienung hervorheben: Die besten Inhalte
nützen nichts, wenn der Stream alle
zehn Sekunden abbricht. Wir sind sehr
stolz, dass wir keine größeren Ausfälle
hatten. Unsere Plattform läuft extrem
stabil. Dazu kommt der wichtige Aspekt,
dass eine erfolgreiche Streaming-Platt-
form aufgeräumt aussehen muss. Denn
entscheidend ist ebenso, wie schnell
User einen Inhalt aufrufen können. In
alle diese Themen muss man viel Zeit
KLEINOD
Zählt für Katja
Hofem zu den
»kleinen Perlen«,
die das Joyn-Ange-
bot bereichern: Die
Sadcom »MaPa«
und Ressourcen investieren und Liebe
zum Detail entwickeln. Wer technische
Usability und Nutzerführung unter-
schätzt, hat schnell verloren.
Zu den jüngeren Joyn-Mitteilungen
zählt ein Besetzungs Coup. Sie
haben Moritz Bleibtreu für ein Joyn-
Original gewonnen …
Ja, unser Serienprojekt Blackout mit Mo-
ritz Bleibtreu als Hauptdarsteller, das wir
gemeinsam mit Sat.1 umsetzen. Eines
unserer Leuchtturm-Projekte mit sehr
hohem Production Value und extrem
hochkarätiger Besetzung. Blackout ge-
hört zu denjenigen Vorzeige-Produktio-
nen, die wir einmal pro Jahr realisieren.
Wobei ich unser Ziel nicht aus den Augen
verliere, einmal pro Monat ein Original
an den Start zu bringen. Das ist uns bis-
her weitgehend gelungen.
Wobei Ihr Schwerpunkt eigentlich
auf Comedy liegt …
Das bleibt auch so. Check Check und Frau
Jordan stellt gleich waren zwei wunder-
bare Erfahrungen und gehen in die
zweite Staffel. Auch mit jerks. wird es
weitergehen. Um die Corona-Zwangs-
pause zu verkürzen, werden wir ein
jerks.-Weihnachtsspecial produzieren.
Wir engagieren uns also weiterhin stark
im Comedy-Segment. Aber im Strea-
ming-Markt muss man immer versu-
chen, Neuland zu entdecken. Innovative
Stoffe finden und Trends aufgreifen. Bes-
ser noch: Selbst Trends setzen. Und nach
solchen Stoffen suchen wir. Derzeit sind
zwei fiktionale Stoffe in der Entwick-
lungsphase, eines davon mit einem
neuen Comedy-Twist. Daneben haben
wir bereits die beiden Formate Shame
Game und Stichtag angekündigt, die
ebenfalls eine ganz neue Farbe in unser
Programm bringen und mit bekannten
deutschen Influencern arbeiten. Auf den
Punkt gebracht: Wir wollen junge deut-
sche Fiction machen.
Erleben Sie die deutsche Produktions-
landschaft so, dass es einen zähen Kampf
um kreative Talente gibt?
Alles steht und fällt mit dem Konzept für
ein neues Format. Wenn man einen mu-
tigen Ansatz hat, wenn man etwas auf
den Weg bringen will, dass es so noch
nicht gab, dann lassen sich Talente be-
geistern. Ob hinter oder vor der Kamera.
Glücklicherweise hatten wir noch nie das
Problem, nicht die beste Besetzung für
eine Produktion zu bekommen. Bei Aus
dem Tagebuch eines Uber-Fahrers wur-
den wir sogar überrannt mit Anfragen,
weil es so viele Cameo-Auftritte zu be-
setzen galt. Das war für mich eine über-
wältigende Erfahrung. Mit einem nur
leicht langweiligen Stoff wäre es nicht so
gekommen. Davon abgesehen: Ich sehe
einen Trend, immer mehr an junge Krea-
Das komplette
tive heranzugehen. Wir reden von Leu-
Interview finden
ten, die noch dabei sind ihren Abschluss
Sie unter www.
videomarkt.de an der Filmhochschule zu machen, die
und www. aber schon fleißig Drehbücher schreiben.
blickpunktfilm.de Manchmal denke ich bei Drehbuch-Mee-
tings: Hier sitzt die Next Generation vor
mir – alle zwischen 20 und 30 Jahre alt,
und ich bin mal wieder die Älteste. Aber
das macht großen Spaß dabei zuzuse-
hen, wie sie am Puls der Zeit sind, und
über eigene Lebenserfahrungen zu tollen
Stoffen kommen.
JOERG RUMBUCHER/MICHAEL MÜLLER
37
 STUDIE

Das Lagerfeuer FOTOS JED VILLEJO/UNSPLASH, SCREENS IN MOTION 2020, TV SPIELFILM, GFK, DISNEY+

kühlt aus
Die »Screens in Motions«-Studie hat Veränderungen im deutschen
Nutzungsverhalten beim Bewegtbild analysiert. Die Erkenntnisse reichen über
das bloße Anwachsen der Streaming-Konkurrenz hinaus.

38

I
m Corona-Jahr 2020 kommen die
54 Prozent der Deutschen, die in-
zwischen ein Streaming-Abonne-
ment im Monat nutzen, nicht über-
raschend. Aber die von der
Programmzeitschrift TV Spielfilm bei der
GfK zum dritten Mal in Auftrag gegebene
Bewegtbildstudie »Screens in Motion«
unterstreicht mit einem Wachstum von
fünf Prozentpunkten im Vergleich zum
Vorjahr diesen allgemeinen Trend. Das
klassische Fernsehen erreicht zwar noch
starke 88 Prozent der Bevölkerung. Aber
selbst da geht es tendenziell runter. Der
größte Verlierer sind demnach DVDs und
Blu-rays, die von 38 Prozent im Jahr 2019
auf noch 24 Prozent in diesem Jahr fallen.
Zusammenfassend kann man sagen: In
der Konkurrenz zu den Streamingdiens-
ten verlieren alle anderen Formate wie
auch die Mediatheken oder das Pay-TV
ein Stück weit.
Jeder Zweite nutzt ein Video-Streaming-Abo
QUELLE SCREENS IN MOTION 2020; GESAMT N=1979; NUTZUNG MIND. 1X IM MONAT.
* Z.B. YOUTUBE, TWITCH, VIMEO
Netflix und Amazon mit steigenden Nutzeranteilen –
guter Einstieg von Disney+
QUELLE SCREENS IN MOTION 2020; GESAMT N=1979; NUTZUNG MIND. 1X IM MONAT.
* ENDE MÄRZ 2020 IN DEUTSCHLAND GESTARTET
ZIELGRUPPEN Bei der Online-Befragung vom 24.
Die Unter-29- April bis 4. Mai unter 2000 repräsentativ
Jährigen haben mit ausgewählten Teilnehmern zeigte sich
dem klassischen
zudem, dass die jüngeren Deutschen bis
Fernsehen immer
29 Jahre mittlerweile zu 82 Prozent regel-
weniger am Hut
mäßig einen Streamingdienst nutzen –
ein Wachstum um sieben Prozentpunkte.
Auch bei den 30- bis 49-Jährigen ging es
um vier Prozentpunkte auf 60 Prozent
rauf. Die Über-50-Jährigen bleiben dage-
gen recht konstant bei 29 Prozent. Das
sind Trendzahlen, die zum Beispiel auch
die kürzlich erschienene Langzeitstudie
von ARD und ZDF stützt: Demnach set-
zen 72 Prozent der 14- bis 49-Jährigen
mittlerweile auf »zeitsouveräne Nut-
zungsformen« wie Streamingdienste,
Mediatheken und DVDs. Bei der Differen-
zierung der verschiedenen Altersgruppen
von DVD- und Blu-ray-Nutzern sind laut
der »Screens in Motion«-Studie wiede-
rum die Verluste im Vergleich zum Vor-
jahr bei den Unter-29-Jährigen mit 21 Pro-
zentpunkte am dramatischsten. Umso
älter die Befragten, umso moderater fiel
der Rückgang der Nutzung aus. Bei den
30- bis 49-Jährigen sind es Verluste von
18 Prozentpunkten, bei den Über-50-Jäh-
rigen nur milde sechs Prozentpunkte. 47
Prozent der Befragten glauben, dass Stre-
aming-Abo-Angebote das Fernsehen als
führendes Medium in der Zukunft ablö-
sen werden. Das ist ungefähr die gleiche
Größe, die inzwischen sagt, dass es »coo-
ler« sei, Bewegtbild bei Netflix und Co. zu
schauen als im TV. 93 Prozent aller Be-
fragten nutzen 2020 zumindest gelegent-
lich den Fernseher, um Bewegtbildin-
halte anzuschauen. Mit 75 Prozent folgen
Computer, wozu auch der Laptop gerech-
net wird. 72 Prozent schauen schon in-
zwischen mindestens gelegentlich auf
dem Smartphone und nur 41 Prozent auf
dem Tablet.
39

Bei Älteren (50+) ist lineares TV nach wie vor die Nr. 1 –
Jüngere schauen doppelt so lange Video-Streaming als TV
Ein klarer Trend 2020 ist das gestie-
gene Interesse der Deutschen an Smart
TVs. Beim Fernsehen nimmt die Nutzung
der Internet- und Streaming-fähigen Ge-
räten im Vergleich zum Vorjahr um vier
Prozentpunkte zu und liegt jetzt bei 57
Prozent. Zurück geht dagegen die Nut-
zung von DVD- und Blu-ray-Playern, näm-
lich um sechs Prozentpunkte auf 43 Pro-
zent. Bei den Unter-29-Jährigen ist es
sogar ein Rückgang um drastische zwölf
Prozentpunkte. Spielekonsolen verlieren
im Vergleich zum Vorjahr als ergänzende
Abspielmöglichkeit interessanterweise
auch vier Prozentpunkte, was bedeutet,
dass Gamer auch vermehrt auf Smart TVs
oder andere Devices setzen. Der belieb-
teste TV-Stick, um den eigenen Fernseher
aufzupäppeln, ist Amazon Fire TV, was 22
Prozent der Deutschen nutzen. Die Ver-
folger Google Chromecast (sechs Prozent)
und Apple TV (fünf Prozent) liegen dazu
im Vergleich doch abgeschlagen zurück.
Bei der Frage, welche Streaming-Platt-
formen die Teilnehmer mindestens ein-
mal im Monat nutzen, steigerte sich das
knapp führende Netflix im Vergleich zum
Vorjahr um sechs Prozentpunkte auf 39
Prozent. Gleich dahinter mit einem
Wachstum um vier Prozentpunkte kommt
mit 38 Prozent Amazon Prime Video. Den
größten Sprung machte aber der 2020 neu
gestartete Streamingdienst Disney+, der
aus dem Stand zwölf Prozent schaffte. Auf
den Plätzen folgen dann Sky Ticket (fünf
Prozent), der Sport-Streamingdienst
DAZN (fünf Prozent) und Apple TV+ (zwei
Prozent). Eigenartigerweise fehlen so-
wohl Joyn als auch TVNow in der Auflis-
tung. Dafür findet sich mit zwei Prozent
SCREENS IN MOTION 2020
NUTZER N=60–171;
BEWERTUNG MIT
SEHR GUT/GUT
NUTZER MEHRFACH
PRO WOCHE
40
QUELLE
SCREENS IN MOTION 2020
GESAMT N=1979;
ANGABEN IN MINUTEN/TAG
noch maxdome auf den Rängen, wo es
weiterhin Bestandskunden gibt, aber
Neuanmeldungen bereits auf Joyn umge-
leitet werden.
Netflix hat mit Abstand die jüngsten
Nutzer: 72 Prozent der Unter-29-Jährigen
nutzen diesen Dienst, bei Amazon Prime
Video sind es 51 Prozent, bei Disney+
schon 22 Prozent. Die »Screens in Moti-
on«-Studie hat sich auch genauer die Me-
diatheken-Nutzung angeschaut. Dort tau-
chen dann auch Joyn und TVNow auf.
Demnach ist die Nachfrage im Vergleich
zu 2019 bei den drei größten Mediatheken
rückläufig. Die ARD-Mediathek fällt von
41 Prozent auf 36 Prozent. Ähnlich sieht es
bei der ZDF-Mediathek mit sechs Prozent-
punkten weniger und insgesamt noch 35
Prozent aus, was das öffentlich-rechtliche
Angebot insgesamt auf gut 70 Prozent des
Marktes bringt, wenn man denn so strikt
zwischen Streamingdiensten und Media-
Top 5: Netflix, Twitch und YouTube mit umfassendem Angebot –
Öffentlich-Rechtliche dominieren klar bei Corona-Berichten
QUELLE
BASIS
theken trennen will. TVNow von der Me-
diengruppe RTL fällt von 19 Prozent auf 13
Prozent, und Joyn von ProSiebenSat.1
und Discovery hat als Neuling zehn Pro-
zent der Nutzer, die mindestens einmal
im Monat beim Mediatheken-Angebot
vorbeigeschaut haben.
Was in der Auflistung bisher noch gar
nicht vorkam, bei jüngeren Internetnut-
zern aber weiterhin extrem populär ist,
sind Videoportale. Da ist auch in Deutsch-
land YouTube das Maß aller Dinge. Knapp
die Hälfte der Deutschen nutzt mindes-
tens einmal im Monat dieses Videoportal.
Bei den Unter-29-Jährigen sind es sogar 75
Prozent. Das ist auch insoweit interes-
sant, weil viele Anbieter diverse Inhalte
für die Verbreitung auf YouTube stellen,
das junge Angebot von ARD und ZDF,
funk, zum Beispiel, sehr stark auf diesen
Verbreitungsweg setzt, weil dort auch
ihre potenziellen Zuschauer zu finden
sind. Hinter YouTube klafft dann ein grö-
ßeres Loch und es folgt mit zehn Prozent
das Videoportal Twitch, was bei strea-
menden Gamern vor allem beliebt ist so-
wie das Videoportal Vimeo mit drei Pro-
zent. Laut der Studie verliert Sky
Deutschland minimal einen Prozent-
punkt, wenn es nach der Frage geht, wel-
chen Pay-TV-Anbieter die Menschen min-
destens einmal im Monat nutzen, was
immer noch 16 Prozent bedeutet. Dahin-
ter folgt die Telekom mit ihrem Magen-
taTV-Angebot, das sieben Prozent er-
reicht. Vodafones GigaTV erreicht zwei
Prozent. Das Videoportal Twitch erhält
überhaupt von den regelmäßigen Nut-
zern sehr positives Feedback. Bei der

Frage nach dem umfassendsten Angebot
landet es knapp hinter Netflix auf Platz
zwei. Bei dem Themenfeldern wie
Preis-Leistungs-Verhältnis oder Aktuali-
tät der Inhalte führt es sogar als grund-
sätzlich kostenloser Dienst, auf dem viel
live gestreamt wird, die Listen an.
Ein gutes Zeichen für die Branche ist
die Bereitschaft der deutschen Nutzer,
tendenziell mehr Anbieter zu haben. Im
Durchschnitt haben die Menschen inzwi-
schen zwei Anbieter, ob das jetzt Strea-
ming oder Pay-TV betrifft. In allen Al-
tersklassen ist dort die Bereitschaft
gewachsen. Spannend ist für Werbekun-
den auch die Statistik, wie sich die Kun-
den bei Werbeblöcken verhalten. Ein
überraschend hoher Wert sind die 45 Pro-
zent, die bei Videoportalen sagen, dass
sie sich die Werbung anschauen, was
wahrscheinlich auch mit der sparsame-
ren Dosierung zu tun hat. Beim Fernse-
hen sagen das nur 22 Prozent, beim
Pay-TV gar nur 16 Prozent. Beim Fernse-
hen wird bei Werbung am häufigsten auf
ein anderes Programm geschaltet, der
Raum verlassen oder auf ein anderes Ge-
rät zurückgegriffen. Dass Konsumenten
einen Second Screen beim Schauen ver-
wenden, also parallel zum Programm
zum Beispiel noch im Netz surfen oder in
einem sozialen Medium chatten, kommt
beim klassischen Fernsehen mit insge-
samt 50 Prozent am häufigsten vor. Beim
Pay-TV sieht das mit 40 Prozent tenden-
ziell ähnlich aus. Am wenigsten passiert
der Second Screen, wenn Nutzer DVDs
oder Blu-rays schauen, weil das offenbar
dann eine bewusste Entscheidung zur
Konzentration auf eine Angelegenheit ist.
Logischerweise ist der Second Screen am
meisten verbreitet bei jüngeren Zuschau-
ern und in Werbepausen. Die Sehdauer
der Bewegtbild-Nutzer ist insgesamt im
Vergleich zu 2019 leicht angestiegen. Laut
Studie sehen die Deutschen pro Tag vier
Stunden und 21 Minuten Bewegtbild.
Jüngere Zuschauer sehen vor allem am
Wochenende am längsten. Die Un-
ter-29-Jährigen sahen 2020 an ihren po-
tenziell freien Tagen gleich fünf Stunden
und 38 Minuten. Die Streaming-Sehdauer
hat sich seit 2018 um ganze 20 Minuten
gesteigert und liegt jetzt bei knapp einer
Stunde am Tag. Da macht das Fernsehen
mit seinen durchschnittlich gut zwei
Stunden den deutlich größeren Anteil
aus. Was die Formate betrifft, bleiben die
Filme in allen Altersgruppen am belieb-
testen. Bei den Unter-29-Jährigen liegen
auch die Serien vor Nachrichten und Do-
kumentationen. Bei den jüngeren Zu-
schauern sind Tutorials und Gaming-In-
halte am beliebtesten. Bei den Bürgern
über 50 Jahre sind es die Talkshows, bei
den 30- bis 49-Jährigen sind es vor allem
auch Koch-Shows. Das Bingen einer Serie
ist eher ein Phänomen unter jungen Zu-
schauern. Aber das ist kein neuer Trend:
Bei den Unter-29-Jährigen lag schon 2018
der Wert, ob man gerne auch mehrere
Episoden einer Serienstaffel hintereinan-
der schaut, bei 62 Prozent. Da hat sich
2020 nicht viel verändert.
Allgemein nehmen sich Nutzer von
Streamingdiensten für die Auswahl des
passenden Inhalts mehr Zeit. Und selbst
wenn die Suche auf dem Dienst nervt,
weil man nicht die passende Serie oder
den geeigneten Film findet, schalten
dann nur 27 Prozent den Fernseher als Al-
ternative ein. Ein Großteil, nämlich 53
Prozent, greift dann lieber auf eigene
Klassiker zurück, womit nicht nur Filme,
sondern auch Lieblingsserien gemeint
sind. Fast 40 Prozent der Menschen
schauen bei Uneinigkeit lieber allein. »Das
Lagerfeuer kühlt aus«, fasst die Studie
»MANDALORIAN« diese nicht ganz neue, aber auf diese
Die Serie mit Pedro Weise doch poetisch angehauchte Ent-
Pascal war auch in wicklung zusammen. Die deutschen Nut-
Deutschland ein
zer von Bewegtbild-Inhalten bekommen
Disney+-Hit
die Infos, wann es zum Beispiel neue For-
mate gibt, zur Hälfte von crossmedialen
TV-Zeitschriften. Das ist gerade spannend
im Zusammenhang mit der Nachricht,
dass die New York Times kein klassisches
TV-Programm mehr abdrucken wird. Zu
36 Prozent orientieren sich die Nutzer auf
den Plattformen selbst. Aber dieser Wert
ist rückläufig, lag er doch 2018 schon mal
bei 51 Prozent. Hier sieht dann auch TV
Spielfilm als Auftraggeber der Studie ihre
Chance. Chefredakteur Philipp Schulze
sagt: »Die dritte Auflage von ›Screens in
Motion‹ vermittelt ein umfassendes Bild
der dynamischen Entwicklungen auf dem
deutschen Bewegtbild-Markt und liefert
sowohl unseren eigenen Marken als auch
unseren Marktpartnern wertvolle In-
sights, um auch weiterhin zielgruppenge-
recht agieren zu können.« Weitere wich-
tige Faktoren, wo die Menschen ihre
Empfehlungen herziehen, sind Tipps von
Freunden (29 Prozent), die gedruckte
TV-Zeitschrift (28 Prozent) und die sozia-
len Netzwerke (20 Prozent).
MICHAEL MÜLLER
41
DAS INTERVIEW

K E L LY L U E G E N B I E H L

»Ein tatsächlich
weltweiter Erfolg«
Als VP International Originals bei Netflix hat Kelly Luegenbiehl
FOTOS NETFLIX

die beiden Showrunner Jantje Friese und Baran bo Odar bei ihrer
Reise mit »Dark« von Anfang an begleitet.
42
Welche Bedeutung hat Dark für Netflix?
Ich denke, man kann sehr wohl sagen,
dass Dark ein Meilenstein für Netflix ist.
Es war eine unserer ersten Serien in
nicht-englischer Sprache, die über ihr
Ursprungsland hinaus funktioniert hat,
als wir vor fünf Jahren begonnen haben,
diese Strategie zu verfolgen. Der Erfolg
von Dark hat unsere größten Erwartun-
gen übertroffen. Das trifft aber auch all-
gemein auf die internationale Serienpro-
duktion zu. Was damals ein Testballon
war, ist mittlerweile einer unserer
Grundpfeiler. Nicht nur Hollywood kann
Geschichten erzählen. Auf der ganzen
Welt gibt es wunderbare Storyteller. Und
wir geben ihnen eine Bühne, wie das vor
Netflix sehr selten möglich gewesen
wäre, mit weltweit einheitlichen Relea-
se-Dates sowie hochwertiger Synchroni-
sation und Untertitelung. Für einen Titel
wie Dark ist dieses System optimal: Nie-
mand kann die Geheimnisse spoilern,
weil die Menschen überall auf der Welt
die Gelegenheit erhalten, die Geschichte
zur selben Zeit zu entdecken. Was Dark
wiederum zu einem idealen Titel für
Netflix macht. Und natürlich hat Dark ei-
nerseits uns die Augen geöffnet, wie
großartig in Deutschland gearbeitet wird,
und andererseits der Welt gezeigt, was
eine deutsche Serie auf dem Kasten ha-
ben kann.
Können Sie sagen, welche Territorien
besonders stark auf Dark angesprochen
haben?
Dark ist ein tatsächlich weltweiter Erfolg.
Die Serie ist auffallend populär in Chile,
Polen, Brasilien und der Türkei. Aber
auch in Großbritannien fand sich gleich
zu Beginn eine große Fangemeinde. Vor
allem fällt auf, dass das Interesse an Dark
nicht schwindet. Mundpropaganda hat
durchgehend dafür gesorgt, dass die Se-
rie seit Start der ersten Staffel Ende 2017
ein Must-see geblieben ist und weiterhin
ganz neu entdeckt wird. Gerade gibt es
beispielsweise erstaunliche Abrufzahlen
in Indien – zweieinhalb Jahre nach Start
der Show.
Sie haben Dark von der Genese an
mitverfolgt. Was hat man bei Netflix
aus dieser Marke gelernt?
Jantje und Bo kamen zur selben Zeit zu
Netflix wie ich, wir sind sozusagen mitei-
nander gewachsen. Am allermeisten hat
»Entweder man
macht es richtig oder
gar nicht.«
uns überrascht, wie anspruchsvoll das
Publikum ist. Dark ist nicht gefällig, die
Erzählung macht keine Konzessionen.
Man ist an Bord oder nicht. Bo und Jantje
war das immer wichtig: Entweder macht
man es richtig oder eben gar nicht. Ge-
rade diese Entschiedenheit macht den
Reiz aus. Das Publikum weiß das zu
schätzen. Unsere Sorge, man könne Zu-
schauer vielleicht verlieren, wenn man
sie überfordert, ihre Sehgewohnheiten
herausfordert, hat sich als unbegründet
erwiesen. Im Gegenteil. Weil Dark nicht
verwässert wurde und so ganz eigen und
kompromisslos ist, konnte sich über-
haupt erst eine so große Fangemeinde
bilden, die die Serie mit großer Leiden-
schaft und Begeisterung begleitet, disku-
tiert und mitfiebert.
Inwiefern hat Dark Ihren Blick dafür
geschärft, welche Stoffe Sie aus Deutsch-
land sehen wollen?
Wir haben gesehen, dass es richtig ist,
wenn man den Schöpfern der Stoffe Ver-
trauen entgegenbringt und sie dabei un-
terstützt, ihre Vision zu realisieren. Neh-
men Sie einfach Unorthodox von Anna
Winger: Das ist so mutig und brillant – in
der gleichen Weise, wie Dark mutig und
brillant ist. Die beiden Stoffe sind völlig
verschieden, nicht miteinander zu ver-
gleichen, und doch eint sie ihr Streben
danach, authentisch und sehr spezifisch
zu sein. Diese Liebe zum Detail ist wich-
tig, das macht den Unterschied. Das ist
es, was wir uns von unseren Shows aus
Deutschland erhoffen – und natürlich
auch den anderen Territorien weltweit.
Hat sich Ihr Blick auf die Kreativ-
gemeinde in Deutschland in den letzten
Jahren gewandelt?
Für mich war es wichtig, die Kreativge-
meinde besser kennenzulernen. Ich
wollte mir einfach anhören, welche Ge-
schichten den Kreativen durch den Kopf
gehen, was sie gerne mit großer Leiden-
schaft und Lust erzählen wollen, wie ihre
Vision für ihre Stoffe aussieht. Ich habe
viel gelernt, es ist ein anhaltender, sehr
aufregender Prozess. Mich beeindruckt
das unglaubliche Potenzial, das große Ta-
lent, die beeindruckende Bandbreite. Da
gibt es auf der einen Seite Dark, einen
unheimlichen Science-Fiction-Stoff, und
auf der anderen Seite findet man How to
Sell Drugs Online (Fast), eine respektlose
Crime-Comedy mit schrägem Humor und
viel Emotion – übrigens für Netflix das
2019 in Deutschland erfolgreichste deut-
sche Format.
Wie wichtig sind Jantje Friese und
Baran bo Odar für Netflix?
Sie spielen eine besondere Rolle. Nicht
nur wegen ihres Erfolgs mit Dark, auch
ihr Weg ist einfach beeindruckend. Als
sie vor fünf Jahren zu uns gekommen
sind, waren sie Filmemacher, Geschich-
tenerzähler, ein Regisseur und eine
Drehbuchautorin mit einer singulären
Vision. Mittlerweile sind sie erfahrene
Showrunner, haben eine eigene
Produktionsfirma, Dark Ways, mit der sie
bei uns angedockt sind. All das ist in sehr
kurzer Zeit passiert. Ein großartiges
Vorbild gerade für andere Kreative. Mit
VON ANFANG ihrem nächsten Stoff, 1899, gehen sie
noch einen Schritt weiter, diesmal mit
AN DABEI einer wirklich internationalen, wieder
sehr ambitionierten Show, die wir in
Kelly Luegenbiehl mehreren Sprachen drehen werden.
verantwortet Über so etwas hat man früher ein
bei Netflix als VP
bisschen die Nase gerümpft, aber hier
International
Originals seit 2015 ist das ganz homogen in der Geschichte
die Produktion angelegt.
außerhalb der USA.
Einer ihrer Und was steht unmittelbar an?
ersten Jobs bei Am 21. Juli starten wir die zweite Staffel
Netflix war ein von How to Sell Drugs Online (Fast). In
Treffen mit den bei-
Kürze kommt außerdem Biohackers, eine
den künftigen
»Dark«-Machern. tolle Thrillerserie von Christian Ditter,
der für Netflix in den USA bereits Girlboss
gemacht hatte. Und dann freue ich mich
auf Barbarians von Gaumont und eine
weitere tolle Serie mit Wiedemann &
Berg, Tribes of Europa, von der ich mir
erhoffe, dass sie ähnlich einschlagen
wird wie Dark. Und ganz unmittelbar tut
sich auch sehr viel bei uns. Gerade haben
wir Eleonora Andreatta als VP für Italian
Originals gewinnen können. Und die
zweite Staffel von The Witcher kann end-
lich wieder die Produktion aufnehmen,
die wegen des Lockdowns unterbrochen
werden musste.
THOMAS SCHULTZE
43

b und wie Donald Trumps
O Corona-Management
anstehende US-Präsident-
schaftswahl beeinflussen
die
wird, entscheidet sich erst
Anfang November. Ein Zusammenhang
zwischen Corona-Pandemie und Medien-
nutzungsverhalten lässt sich bereits jetzt
einfach herstellen. Zum Beispiel auf Basis
der kürzlich veröffentlichten Zahlen zum
zweiten US-Home-Entertainment-Quar-
tal 2020. Wie in der Vergangenheit umfas-
sen die Daten hochgerechnete Angaben
zu den digitalen Distributionsarten SVoD,
EST und TVoD sowie Verkauf und Verleih
physischer Datenträger. In ihren knappen
Anmerkungen hebt die Digital Entertain-
ment Group (DEG), die die Daten offiziell
veröffentlicht, vor allem auf zwei Auswer-
tungskanäle ab, die zuletzt zumeist im
Schatten der SVoD-Nutzung standen:
Electronic Sell-Thru und Transactional Vi-
STREAMING-HIT
Leider gibt es keine
Plattform-übergrei-
fende SVoD-Ge-
samtcharts, aber im
zweiten Quartal war
der Actionfilm »Ty-
ler Rake: Extraction«
auf Netflix extrem
erfolgreich
deo on Demand. Der digitale Verkauf und
48-Stunden-Verleih von Inhalten auf
VoD-Plattformen hat nämlich in den Co-
rona-Monaten April, Mai und Juni mäch-
tig angezogen. So stiegen die Einnahmen
im EST-Segment von 550 (Q2 2019) auf
864 Mio. Dollar. Was einem bemerkens-
werten Plus von 57,25 Prozent entspricht.
Dass transaktionales Abrufen von Filmen
und Serien während der Hauptphase der
Coronakrise auf hohe Nutzungswerte
kam, zeigen auch die Ergebnisse für
TVoD: Im Quartalsvergleich 2019/2020
stiegen die Umsätze von 466 auf 698 Mio.
Dollar. Auch dieser Zuwachs ist nur mit
besonderen Umständen zu erklären: Plus
49,59 Prozent. Beide Steigerungsraten
sind für den Betrachtungszeitraum zwei-
tes Quartal nicht nur absolut betrachtet
außerordentlich: Denn in einzelnen Quar-
talsauswertungen der jüngeren Vergan-
genheit kamen beide Distributionskanäle
nur selten über einen Zuwachs von fünf
oder sechs Prozent hinaus oder drehten
im Einzelfall sogar ins Minus. Leider be-
nennt die DEG keine konkreten Inhalte,
die besonders gefragt waren. Allerdings
gibt der Verband den Hinweis, dass im
zweiten Quartal vor allem TV-Inhalte
stark nachgefragt waren. Der Zugriff auf
Serien und andere Fernsehformate schoss
regelrecht durch die Decke, denn im
TVoD-Segment betrug das Umsatzplus
laut DEG 120 Prozent und für EST 72 Pro-
zent. Aber auch neue und ältere Kinofilme
trugen ihren Teil zum transaktionalen
Aufschwung bei. Der Bereich theatrical
catalog stieg beispielsweise in beiden
Auswertungsformen um jeweils 66 Pro-
zent. Was alles in allem das zweite Quartal
2020 vermutlich zu einem historischen
Ausnahmezeitraum macht. Denn das
Boom-Segment SVoD kam »nur« auf ein
Umsatzwachstum von 42 Prozent. Fairer-
weise darf man die Verteilung der absolu-
ten Umsätze nicht übersehen: Während
die EST- und TVoD-Ausgaben von US-Kon-
sumenten jeweils deutlich unter einer
Mrd. Dollar lagen, kam Subscription Stre-
aming auf eine Umsatzhöhe von 5,54
Mrd. Dollar. Für den Vorjahreszeitraum
werden 3,88 Mrd. Dollar ausgewiesen.
Letztlich auch ein ungewöhnlicher Um-
satzsprung, denn in »normalen« Zeiten
betrug das Wachstum zumeist zwischen
20 und 25 Prozent. Dass Covid-19 ursäch-
lich für die Steigerungsraten in allen drei
Digitalsegmenten war, dürfte auf der
Hand liegen. Anzunehmen ist jedoch,
dass sich die Ergebnisse in der zweiten
Jahreshälfte wieder normalisieren
werden. Was, darauf muss hier mit einem
Seitenblick aufmerksam gemacht werden,
auch damit zu tun hat, dass werbefinan-
ziertes Streaming sich wachsender
Beliebtheit erfreut. Aufgrund von Ausga-
benbegrenzungen wenden sich
Verbraucher vermehrt AVoD-Portalen zu,
die von den DEG-Daten nicht erfasst wer-
den. Nielsen hatte bereits Mitte August
darauf hingewiesen, dass Gratis-Optio-
nen stärker in den Blick rücken müssten;
blieb aber einen anschaulichen Nachweis
schuldig, welche Bedeutung AVoD in den
USA auf Basis konkreter Zahlen tatsäch-
lich hat. Hängen blieb nur, dass im zwei-
ten Quartal über alle digitalen Distributi-
onsformen hinweg insgesamt 142 Mrd.
Minuten gestreamt worden seien. Eine
schöne Zahl, die aber die Dynamik des Di-
gitalgeschäfts nicht weiter erhellt. Zur
Kenntnis nehmen muss man jedenfalls,
dass die Kanäle SVoD, EST und TVoD in
Summe auf eine Umsatzhöhe von 7,09
Mrd. Dollar schnellten. Ein Plus von sa-
genhaften 45 Prozent (Q2 2019: 4,90 Mrd.
Dollar). Die Differenz zum gesamten US
Home-Entertainment-Markt ist dann
nicht mehr gewaltig: Insgesamt wurden
7,98 Mrd. Dollar ausgegeben. So entfielen
auf den Verkauf von DVDs und Blu-rays
nur noch 637 Mrd. Dollar (minus 11,11 Pro-
zent). Was, nebenbei bemerkt auch be-
deutet, dass EST zum zweiten Mal in
Folge mehr Geld eingespielt hat, als das
physische Kaufgeschäft. Videotheken
und Postversand generierten noch 101
Mio. Dollar (minus 25,58 Prozent). Über
den Automatenverleih wurden in den
USA weitere 149 Mio. Dollar erwirtschaf-
tet (minus 32,34 Prozent). Während der
gesamte physische Verleih nicht nur im
Jahresvergleich starke Verluste hinneh-
men musste, sondern ebenso im Ver-
45
 VIDEOMARKT USA 1. HALBJAHR

Hohe Umsatzsprünge
für EST und TVoD
Dass die digitale Distribution im US-Videomarkt von der Corona-Pandemie
profitierte, ist keine Überraschung. Dennoch sind die Zuwachsraten im zweiten Quartal
für die beiden transaktionalen Geschäftsmodelle bemerkenswert.

44

gleich zum ersten Quartal 2020, hielt sich
der Umsatzrückgang bei physischen Digitalumsatz Q1/Q2 2020 IN MIO. EURO
Kaufprodukten in Grenzen: Er fiel im
Quartalsvergleich gerade einmal um eine
Mio. Dollar. Klar ist aber auch: Ein Milliar-
dengeschäft sind DVDs und Blu-rays in-
nerhalb eines Quartals nicht mehr. Auf
längere Betrachtungszeiträume natürlich
schon: Im ersten Halbjahr 2020 gaben 10000
US-Konsumenten für Kauf- und Leih-
scheiben mehr als 1,8 Mrd. Dollar aus. Da-
von entfielen auf Kauftitel 1,27 Mrd. Dol- 8000
lar. Gegenüber 2019 ein Minus von 17
Prozent. Der physische Verleih erwirt-
6000
schaftete 574 Mio. Dollar (minus 23,86
Prozent), wovon auf den Automatenver-
leih 353 Mio. Dollar entfielen. Den durch- 4000
weg zweistelligen Minuswerten in der
physischen Home-Entertainment-Ver-
marktung stehen beeindrucke Zuwächse 2000
im gesamten VoD-Business gegenüber.
Aufs erste Halbjahr bezogen muss SVoD
0
an erster Stelle genannt werden: Dieses
Segment erwirtschaftete in den ersten
sechs Monaten mehr als zehn Mrd. Dollar.
Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum eine
Steigerung um satte 37 Prozent. Unabhän-
gig von Corona fragt man sich, um wie Gesamtumsatz 1. Halbjahr 2016 – 2019
viel Subscription Streaming noch zulegen ANGABEN IN MRD. DOLLAR
kann. Während in Europa der Aspekt im
Vordergrund steht, wie viele Abos sich
Haushalte leisten wollen, bewegt in den
USA eher der Aspekt, in welchem Ausmaß 8,9
TV-Kabelanschlüsse gekündigt werden,
um stattdessen Streamingservices in An-
spruch zu nehmen. Wie auch immer: 68
Prozent der gesamten Home-Entertain-
ment-Umsätze wurden 2020 bisher über
SVoD eingenommen. Nur bezogen auf die
digitale Distribution sind es sogar 77,5 2016
Prozent. So betrachtet, wird der »Strea-
ming War« nur allzu verständlich und
46
BESTER
DVD/Blu-ray-Titel im
ersten Halbjahr war
»Die Eiskönigin 2«.
Nicht auszuschließen
ist allerdings, dass
der Animationshit
auf Disney+ noch viel
erfolgreicher war
Dienste wie Disney+, HBO Max oder Ap-
ple TV+ haben noch nicht einmal ihr ein-
jähriges Bestehen gefeiert. Und kommt
Premium Video on Demand als zusätzli-
Q2 che Einnahmequelle hinzu? Noch dürften
Q1 7098 PVoD-Umsätze zu gering sein, um sie rou-
tiniert darstellen zu können. Bis dato wer-
den sie nicht einmal erfasst. Die DEG leis-
tet sich im Kleingedruckten jedenfalls
5535 den Ironie-freien und dennoch eher ko-
mischen Satz: »Die Einbeziehung von
PVoD würde die Gesamtausgaben der Ver-
braucher für digitale Medien erhöhen.« So
bleibt nur festzuhalten, dass EST im ers-
ten Halbjahr zum Gesamtergebnis 1,61
6157
Mrd. Dollar beitrug (plus 32,8 Prozent).
4733 Prozentual betrachtet schnitt TVoD sogar
noch besser ab: Ein Plus von 33,1 Prozent
steht für einen Umsatz von 1,37 Mrd.
Dollar. Dessen ungeachtet bleibt die
864 698 Wachstumsdynamik im SVoD-Segment
749 674 atemberaubend: Im Vergleich zum Vor-
jahreszeitraum kletterte das Ergebnis von
SVoD EST TVoD Gesamt 7,47 auf 10,27 Mrd. Dollar – ein Plus von
37,4 Prozent. Auch wenn es sich bei SVoD
immer nur um Annäherungswerte han-
deln kann: Die Nachfrage nach monatli-
chen Abonnements führte in den letzten
fünf Jahren zu einem in der Filmwirt-
15,1
schaft wohl beispiellosen Aufschwung:
12,0 2015 betrugen die SVoD-Einnahmen erst
11,3
2,38 Mrd. Dollar innerhalb eines ersten
9,2 Halbjahres. So kommt es, dass der US-Vi-
deomarkt bereits nach sechs Monaten ein
Gesamtergebnis von 15,1 Mrd. Dollar ein-
fahren konnte. Daher wird die 20-Mrd.-
Dollar-Marke bereits im dritten Quartal
übersprungen werden.
JOERG RUMBUCHER
2017 2018 2019 2020
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