von
ROLF RENDTORFF
Heidelberg
gen neueren Arbeiten wird aber gerade nach der Intention der lite-
rarischen Endgestalt des Buches gefragt.
I
Besonders wichtig und weiterführend erscheinen mir die Arbei-
ten von R. F. Melugin und P. R. Ackroyd. Beide stellen die Frage
nach der Intention der jetzigen Komposition des Jesaj abuches nicht
als Alternative oder im Gegensatz zur bisherigen Forschung. Sie
knüpfen vielmehr an die bisherigen Analysen an und führen sie
selbst ein wesentliches Stück weiter. Ihre grundlegende methodi-
sche Einsicht lautet, daß das Jesajabuch aus einer Anzahl größerer
oder kleinerer Teilkompositionen besteht, die jeweils ihre eigene
Struktur und Funktion haben, die aber nicht völlig voneinander
unabhängig sind, sondern zwischen denen deutlich erkennbare Be-
ziehungen bestehen, die als Hinweise auf eine bewußte Gesamt-
komposition des Buches zu werten sind.
So hat Ackroyd selbst die beiden Abschnitte Jes. i-xii 6 und Jes.
xxxvi-xxxix 7 näher untersucht. Kap. i-xii hat er als eine sehr kom-
plexe und reflektierte Komposition erkannt, deren Funktion die
"presentation" des Propheten ist, wie er von der Gegenwart des
Verfassers und seiner Leser her gesehen wird und gesehen werden
soll: "Its effect is to direct the reader back from the situation in
which he is confronted with the present collection to the moment of
the prophet's activity." Dabei zeigt diese Komposition deutlich,
besonders durch die Heilsworte am Anfang (ii 1-5) und am Schluß
(Kap. xii), "the significance of this prophet, the messenger of
doom, now fulfilled, as he is also presented as messenger of salva-
t i o n " (SVT29, S. 45). Bei diesem Ansatz, der die Intention des jet-
zigen Textgefüges zu verstehen versucht, wird die Frage nach der
Historizität oder Authentizität der einzelnen Prophetenworte aus-
drücklich offengelassen: "Whether the prophet himself or his exe-
getes were responsible, the prophet appears to us as a man of judg-
ment and salvation" (ebda).
Auch der Abschnitt K a p . xxxvi-xxxix hat nach Ackroyd die
Funktion einer "presentation" und ergänzt Kap. i-xii. Dabei zeigt
Ackroyd — unter Aufnahme von Beobachtungen Melugins 8 — die
6
"Isaiah I-XII: Presentation of a P r o p h e t " , SVT 29 (1978), S. 16-48.
7
"Isaiah 36-39: Structure and F u n c t i o n " , in Von Kanaan bis Kerala Festschrift
J Ρ M van der Ploeg (Neukirchen, 1982), S. 3-21.
8
The Formation of Isaiah 40-55 (Berlin/New York, 1976), S. 82 ff u n d 177 f.
ZUR KOMPOSITION DES BUCHES JESAJA 297
II
Von besonderem Interesse sind nun aber Melugins Beobachtun-
gen zu den Wechselbeziehungen zwischen Jes. xl-lv und den übri-
gen Teilen des Jesajabuches. Er selbst sieht darin einen wesentli-
chen Aspekt seiner Arbeit bzw. deren notwendiger Weiterführung:
9
Ackroyd, Festschrifi υ. d. Ploeg, S. 16 ff.
10
Studien zu Deuterojesaja (Stuttgart, 1938 = München, 1963).
11
"The Book of Isaiah. Chapters 40-66, The Interpreter's Bible 5 (New
York/Nashville, 1956), S. 381-773.
12
''Die Ebed-Jahwe-Lieder. Ein fragwürdiges Axiom", ASTI 11 (1978), S. 68-
76.
298 ROLF RENDTORFF
4
'Although chapters 40-55 manifest a literary integrity of their own
within the Book of Isaiah, the fact remains that these chapters are
somehow related to the whole of Isaiah. Thus our understanding of
the kerygmatic significance of chapters 40-55 will remain incom-
plete until their theological relationship with the entire book is ex-
plored" (S. 176). Ackroyd hat diesen Ansatz zustimmend aufge-
nommen und sieht seine Untersuchung zu Jes. xxxvi-xxxix auch
unter dem Aspekt, " t o give more ground for Melugin's claim"
{Festschrift v.d. Ploeg, S. 21).
Melugin sieht zunächst in den letzten Worten von Jes. xxxix ei-
nen deutlichen Hinweis auf die intendierte Fortsetzung (S. 177).
Schon zur Zeit Hiskijas ist das Babylonische Exil angekündigt wor-
den (xxxix 6 f.), aber es hat sich verzögert. Dabei weist Melugin
auf die Entsprechung der Aussage in xxxix 6, daß nichts übriggelas-
sen werden soll (yiwwäter), mit dem Anfang des Jesajabuches hin,
wo es heißt: " W e n n J h w h Zebaot uns nicht einen Rest übriggelas-
sen hätte (hôtîry (i 9). Diese Beobachtung gewinnt ihr besonderes
Gewicht dadurch, daß auch zwischen dem Anfang von Kap. xl und
dem von Kap. i eine Beziehung besteht, und zwar durch das Wort
c
äwön " S c h u l d " : " W e h der sündigen Nation, dem Volk, beladen
mit Schuld (CUZÍ>O>Z)" (i 4) — "Redet Jerusalem zu Herzen und ruft
ihr zu, daß ihr Frondienst ein Ende hat, daß ihre Schuld (cäwön)
beglichen ist" (xl 2). M a n könnte hinzufügen, daß in beiden Fällen
in Parallele zu dem Wort cäwön die Wurzel hP erscheint (i 4 hötP, xl
2 hattöHeha). M . E . ist Melugin hier auf eine wichtige Spur gestoßen.
Die bewußte Wiederaufnahme eines bestimmten Wortes oder einer
bestimmten Formulierung kann ein " S i g n a l " dafür sein, daß zwi-
schen den entsprechenden Texten eine Beziehung besteht, auf die
der Leser aufmerksam gemacht werden soll. Wir wollen dieser Fra-
ge weiter nachgehen.
Jes. xl 1 beginnt mit dem Worten: "Tröstet, tröstet mein Volk"
(nahamû nahamû cammi). Für den Leser des Jesaj abuches in seiner
jetzigen Gestalt kommt dieser Ruf nicht ganz unerwartet. Am
Schluß des ersten großen Abschnitts Kap. i-xii steht ein Psalm
(Kap. xii), der eindeutig eine abschließende Funktion für diesen
Abschnitt hat. 1 3 Hier heißt es in V. 1: "Ich will dich preisen, Jhwh;
ja, du hast mir gezürnt, doch dein Zorn möge sich wenden, daß du
13
Vgl. Ackroyd, SVT 29, 36 ff.
ZUR KOMPOSITION DES BUCHES JESAJA 299
Stellung der Hymnen innerhalb der Komposition von Jes. xl-lv be-
dacht werden, um zu verstehen, warum dieses Thema hier aufge-
griffen wird.) Schließlich taucht es noch ein weiteres Mal an einer
zentralen Stelle in K a p . lvi-lxvi auf: In lxi 2 heißt es in der Ich-
Rede dessen, den J h w h gesalbt hat, daß es auch zu seinem Aufga-
ben gehört, "alle Trauernden zu trösten (J€nahe~m kâl-^bëlîm)".
Eine andere Verbindungslinie von Kap. 1 läuft zu Kap. xxxv. Es
ist oft daraufhingewiesen worden, daß dieses letztere Kapitel viel-
fältige Anklänge an Deuterojesaja aufweist, bis hin zu wörtlichen
Zitaten. 17 Es kann auch kaum zweifelhaft sein, daß es in der Kom-
position des ersten Hauptteils des Jesaj abuches eine wichtige Stel-
lung einnimmt, sei es als ursprünglicher Abschluß der Sammlung
K a p . i-xxxv, wie meist angenommen wird, sei es in Verbindung
mit Kap. xxxvi-xxxix, die nach Ackroyd nicht bloß nachträglich zu
Kap. i-xxxv hinzugefügt, sondern in der Komposition inhaltlich
mit diesen verbunden worden sind. 18 Hier findet sich nun in xxxv 2
die Aussage "sie selbst sollen die Herrlichkeit Jhws sehen (hemmäh
ytr^û kebôd-yhwhy 19 — ein deutlicher Anklang an xl 5: "offenbar
werden wird die Herrlichkeit Jhwhs (kfbôdyhwh), und alles Fleisch
miteinander wird es sehen {wera*u)". Auch hier laufen weitere Li-
nien nach rückwärts und nach vorwärts. Man wird gewiß einen Zu-
sammenhang mit der großen Tempelvision Jesajas in Kap. vi an-
nehmen dürfen, in der es im M u n d e der Seraphim heißt: "Heilig,
heilig, heilig ist J h w h Zebaot; was die Erde erfüllt, ist seine Herr-
lichkeit (kfbôdôy (V. 3). Der Gedanke, daß das, was im Tempel auf
17
Zur Diskussion vgl Wildberger ζ St Allerdings schiebt Wildberger m E das
Problem auf ein falsches Gleis, wenn er die Frage stellt, ob £ 'Deuterojesaja" der
" V e r f a s s e r " dieses Kapitels sei
18
Ackroyd, Festschrift ν d Ploeg, S 14 ff
19
Umstritten ist die Frage, wer in xxxv 2 mit hemmäh gemeint ist Soll die
Wusteden käbodJhwhs sehen, oder sind die Israeliten gemeint, die in V 9 f als die
Erlosten u n d Befreiten bezeichnet werden? Von neueren Exegeten entscheiden
sich Wildberger (z St ) und O Kaiser (Der Prophet Jesaja, Kapitel 13-39 [Gottingen,
2
1976], ζ St ) fur die zweite Auffassung, m E zu Recht, Clements (a a Ο , ζ St )
vertritt die erste M e i n u n g Die Frage ist nicht unwichtig fur das Verständnis von
K a p xxxv u n d seiner Funktion innerhalb der Komposition des Jesaj abuches Cle-
ments sieht in der Übernahme dieser Aussage aus xl 3, 5 " a great shift of emphasis
from a historical event, interpreted as manifestation of God, to a change in the na-
tural order as bringing about such a revelation" Kaiser schreibt hingegen " D i e
jetzt zagende und an Gottes Macht und ihrer schheßhchen Offenbarung zweifeln-
de Judenheit soll dennoch schauen, was in 40, 5 allen Menschen verheißen ist "
Im ersten Fall wird also Kap xxxv in Richtung auf die Apokalyptik hin interpre-
tiert, im zweiten mehr auf das gegenwartige Israel
ZUR KOMPOSITION DES BUCHES JESAJA 301
dem Zion geschieht, für alle Völker Bedeutung hat, findet sich auch
in ii 2-5, so daß eine bewußte Beziehung zwischen den Aussagen
von Kap. vi und Kap. xl innerhalb des Jesaj abuches durchaus mög-
lich erscheint. 20 Auch diese Linie setzt sich wiederum in den dritten
Teil des Buches hinein fort. In lix 19 heißt es: "Sie sollen im We-
sten fürchten21 den Namen Jhwhs und im Osten seine Herrlichkeit
(JfbôdS)". Unmittelbar darauf, nach dem Neueinsatz in lx 1 wird
Zion angeredet: "Erhebe dich, werde Licht, denn dein Licht
kommt, und die Herrlichkeit Jhwhs (kfbôdyhwh) geht über dir a u f ;
und noch einmal in V. 2: "über dir geht Jhwh auf und seine Herr-
lichkeit (kfbôdô) erscheint über dir. " Hier wird dann tatsächlich die-
se Aussage vom Erscheinen des göttlichen käbod auf dem Zion mit
der von der Wallfahrt der Völker (V. 2b) verbunden, d.h. die Li-
nien von Jes. vi und Jes. ii vereinigen sich. Schließlich wird dieses
Thema ganz am Schluß des Jesaj abuches noch einmal aufgenom-
men. In lxvi 18 heißt es, daß Jhwh alle Völker und alle Sprachen
zusammenführen wird, "und sie werden kommen und meine Herr-
lichkeit (kfbodi) sehen."
Eine weitere Beziehung zwischen Kap. xl und xxxv besteht in der
Aufforderung: "Sage/saget (^imri/^imru) ...: Siehe, euer Gott (hin-
nëh >lôhêkem)\" (xl 9, xxxv 4). Die Parallelität ist offenkundig, zu-
gleich ist aber auch der Unterschied bemerkenswert: In xxxv 4 er-
geht der Ruf an die Verzagten, für die das Kommen Gottes noch in
der Zukunft liegt, während er in xl 9 von Zion aus an die Städte Ju-
das ergeht, d.h. hier wird seine Ankunft in Jerusalem schon als Ge-
genwart betrachtet. Dieser Ruf erscheint in abgewandelter Form
auch in lxii 11: "Sage (^imri) der Tochter Zion: Siehe, dein Heil
(yiscëk) kommt!" Daß hier ein Anklang an Kap. xl beabsichtigt ist,
macht die Fortsetzung ganz klar: "Sein Lohn ist bei ihm und sein
Ertrag vor ihm her" (lxii IIb = xl 10b). Von den inhaltlichen Ab-
wandlungen wird später noch die Rede sein. Zunächst ist für unse-
re Fragestellung von Bedeutung, daß hier wiederum ein wichtiges
Element von Kap. xl seinen Widerhall im ersten wie im dritten Teil
des Jesajabuches findet. Vielleicht darf man auch xii 2 in diesem
20
Auf die Beziehungen zwischen Kap. xl und Kap. vi haben auch Melugin (S.
83 f.) und Ackroyd (Festschrifi v. d. Ploeg, S. 5 f.) hingewiesen.
21
Die von vielen Exegeten vorgenommene Änderung von ufyîf^û in ufyir^û "sie
werden sehen" ist m.E. willkürlich und unbegründet. Vielmehr ist in lix 15 ff. die
Rede vom käbod Jhwhs in einen anderen Kontext gestellt, in dem es um den
Machterweis Jhwhs gegenüber seinen Feinden geht.
302 ROLF RENDTORFF
22
Der Kontext, vor allem V b , legt die Übersetzung " G o t t ist mein H e i l " na-
he Zugleich ist aber gewiß der Anklang an xl 9 beabsichtigt, der durch die Über-
setzung "Siehe, der Gott meines H e i l s 1 " zum Ausdruck gebracht wurde Der he-
bräische Wortlaut ist nach beiden Seiten hin offen, was vermutlich beabsichtigt ist
Zu den oben angeführten Stellen konnte m a n auch noch xxv 9 hinzufugen hinnêh
>
lôhenû
23
Im übrigen begegnet hinrfnî meistens mit folgendem Partizip xin 17, xxxvn
7, xxxvm 8, xlin 19, lxv 17, 18, lxvi 12 (fraglich xxvm 16, xxix 14, xxxvni 5)
24
Interessant ist, daß sich in V 7 ein hymnisches Stuck anschließt, das unmit-
telbare Anklänge an xl 9 ff enthalt
25
hattäH ferner noch in m 9
ZUR KOMPOSITION DES BUCHES JESAJA 303
26
Ob es Zufall ist, daß in xxvii 9 wie in vi 6 f. vom Altar die Rede ist?
27
Vgl. die ähnliche Formulierung in xliv 22, wo jedoch cäwön fehlt.
28
Vgl. ferner lvii 17. In lviii 1 ist außerdem von pesac und hattPôt die Rede, in
lvii 4 nur von pesac.
29
Die Spannung im masoretischen Text zwischen der pluralischen Nominal-
form und der singularischen Verbalform läßt sich nicht beseitigen.
304 ROLF RENDTORFF
kob vom Vergehen (pesac) umkehren" (V. 20). Auch in Kap. lxiv
taucht es noch einmal auf im Sündenbekenntnis (V. 4 hP, V . 5 f.
zweimal cäwön) und in der Bitte: " Z ü r n e nicht zu sehr, Jhwh, und
gedenke nicht für immer der Sünde (cäwonyy (V. 8). Im Unter-
schied zum Thema des Tröstens findet aber dieses Stichwort aus
K a p . 40 keinen Widerhall im letzten Kapitel des Jesajabuches.
Versuchen wir eine Zwischenbilanz zu ziehen! Es lassen sich
deutliche Beziehungen erkennen zwischen dem einleitenden Kapi-
tel des zweiten Teils des Jesajabuches, Kap. xl, und den beiden an-
deren Teilen. Dabei sind die Bezugspunkte in den anderen Teilen
nicht immer die gleichen. Bei dem Stichwort " T r ö s t e n " , mit dem
der zweite Teil des Buches beginnt, ist es der Psalm in Kap. xii, mit
dem die erste große Sammlung Kap. i-ii abgeschlossen wird. Die
Rede vom Trösten findet an verschiedenen Stellen in Kap. xl-lv ih-
re Entfaltung und wird auch in Kap. lvi-lxvi wieder aufgenommen,
besonders betont im abschließenden Kap. lxvi. Bei der Ankündi-
gung des Kommens der Herrlichkeit (käbod) Jhwhs liegt der
Bezugspunkt in Kap. xxxv, einem Kapitel, das ebenfalls deutlich
eine abschließende Funktion hat und insgesamt der Sprache Deute-
rojesajas sehr nahesteht. Auch dieses Thema wird im dritten Teil
wieder aufgenommen, wiederum betont im letzten Kapitel. Auch
in der Ankündigung "Siehe, euer G o t t " besteht eine Korrespon-
denz zwischen K a p . xl und xxxv, während hier im dritten Teil zwar
deutliche Anklänge vorhanden sind, jedoch in abgewandelter
Form. Das Wort von der " S c h u l d " (cäwön) läßt eine Beziehung von
K a p . xl zu Kap. i erkennen; die Funktion dieses Kapitels als einlei-
tende Zusammenfassung ist längst erkannt. 3 0 Hier ist die Bezie-
hung jedoch eine antithetische: in Kap. i als Anklage, in Kap. xl als
Zusage der Vergebung. Dabei ist es nun von Bedeutung, daß sich
im ersten Teil nicht nur weitere Anklagen finden, sondern auch die
Zusage der Vergebung; daß sie am Schluß von Kap. xxxiii er-
scheint, wirft ein Licht auf die Funktion dieses Kapitels innerhalb
der Komposition des Buches. Umgekehrt zeigt sich, daß dieses
T h e m a für den zweiten Teil mit der Ankündigung der Vergebung
in Kap. xl keineswegs erledigt ist; vielmehr wird das Problem der
Schuld vor allem in Kap. liii noch einmal eindringlich behandelt.
30
Vgl. dazu G. Fohrer, "Jesaja 1 als Zusammenfassung der Verkündigung Je-
sajas", ZAW 74 (1962), S. 251-68 ( = Studien zur alttestamentlichen Prophétie (1949-
1965) [Berlin, 1967], S. 148-66).
ZUR KOMPOSITION DES BUCHES JESAJA 305
III
Zwischen den drei Teilen des Jesajabuches bestehen aber auch
thematische und theologische Beziehungen, die weit über einzelne
Stellen hinausgehen. Dies gilt zunächst für das Thema ZionlJerusa-
lem, das in allen drei Teilen zu den beherrschenden Themen ge-
hört. Insofern überrascht es nicht, daß es sich in allen Kapiteln fin-
det, die sich uns bisher als Angelpunkte der kompositorischen Be-
ziehungen innerhalb des Buches erwiesen haben. In Kap. i wird
das T h e m a in i 9 angeschlagen: " D i e Tochter Zion ist übriggeblie-
ben wie eine Hütte im Weinberg, wie eine Nachthütte im Gurken-
feld"; zusammen mit V. 9 wird hier die Rettung Jerusalems vor
dem endgültigen Untergang thematisiert. In V. 21-26 (27) geht es
um die innere Verfassung der Stadt, die wieder wie früher zur
4
'Burg der Gerechtigkeit" und zur "treuen Stadt" werden soll.
Schließlich zeigt sich in ii 1-532 ein dritter Aspekt: die endzeitliche
Vision einer Völkerwallfahrt zum Zion, von dem die Tora Jhwhs
31
Vgl. Ackroyd, Festschrift v. d. Ploeg, S. 8.
32
ii 1-5 bilden den Abschluß der kompositorischen Einheit i 2-ii 4 (5), vgl. P. R.
Ackroyd, "A Note on Isaiah 2, V',ZAW75 (1963), S. 320 f.; ferner SVT29, S. 35
und 42.
306 ROLF R E N D T O R F F
an alle Völker ausgeht und sie zur Beendigung aller Kriege anleitet.
Es ist ein weit gespannter Themenbereich, der hier mit dem Stich-
wort Zion/Jerusalem umfaßt wird. Dabei zeigt sich zugleich die
Verbindung von Gerichts- und Heilsverkündigung, wie sie für das
Jesajabild des jetzt vorliegenden Buches charakteristisch ist. (Vgl.
Ackroyd, S VT 29, passim.).
Auch die nächste Einheit ii 6-iv 6 3 3 enthält das Thema, wieder-
u m in einem spannungsreichen Gegenüber von Anklage und Heils-
botschaft: Jerusalem wird die " S t ü t z e " entzogen (iii 1), so daß es
strauchelt und fällt (iii 8); den "Töchtern Zions" wird die göttliche
Strafe für ihren Hochmut angekündigt (iii 16 ff.); aber dann wer-
den den Übriggebliebenen Heil und Schutz für sie selbst und den
Zion verheißen (iv 2-6), wobei die Worte notär und sukkäh aus Kap.
i wieder aufgenommen werden. In der folgenden Einheit vi 1-ix 6
geht es vor allem in Kap. vii wieder um die Frage der Bewahrung
Jerusalems. In χ 5-34 ist in einer komplexen Sammlung von An
griffen der Assyrer die Rede, durch die Jerusalem bedroht wird (V.
10 f., 32); aber es wird ihm auch die Hilfe Jhwhs gegen den Angrei
fer zugesagt (V. 12, 24 3 4 ). Schließlich endet das Ganze in dem
Psalm Kap. xii, der in den an Deuterojesaja erinnernden
Schlußvers mündet: ''Jauchze und juble, Bewohnerin Zions; ja,
groß ist in deiner Mitte der Heilige Israels!" (V. 6). So wird die
ganze Einheit K a p . i-xii von dem Thema Zion/Jerusalem umfaßt.
Ihr Gesamttenor ist geprägt durch die Heilsworte in ii 2-5, iv 2-6
und K a p . xii.
In den folgenden Kapiteln wird das Thema Zion/Jerusalem nir-
gends ausführlicher entfaltet; aber es ist sozusagen ständig gegen-
wärtig. Denn einerseits wird vielfach, auch ohne ausdrückliche Er-
wähnung, Jerusalem als Schauplatz vorausgesetzt; andererseits
tauchen immer wieder, manchmal ganz unvermittelt, Aussagen
über den Zion bzw. Jerusalem auf. So ist mehrfach davon die Re-
de, daß J h w h auf dem Zion wohnt oder anwesend ist (xviii 7, xxiv
23, vgl. xxxi 9, ferner viii 18b), daß er dort gegen Feinde kämpft
(xxxi 4, xxxiv 8, vgl. xxix 8), daß er auf dem Zion einen Eckstein
legt (xxviii 16), es mit Recht und Gerechtigkeit erfüllt (xxxiii 5, vgl.
33
Bei der Abgrenzung der Einheiten orientiere ich mich an Ackroyd, SVT'29,
S 35 f , 42 ff
34
O Kaiser, Das Buch des Propheten Jesaja Kapitel 1-12 (Gottingen, 5 1981), ζ St ,
vermutet, daß der Abschnitt χ 24-26 erst fur den jetzigen Zusammenhang verfaßt
worden sei, das entspräche der Gesamttendenz der Sammlung K a p i-xii
ZUR KOMPOSITION DES BUCHES JESAJA 307
i 27), daß die Elenden seines Volkes dort Zuflucht finden (xiv 32)
und die Heimkehrer dort anbeten werden (xxvii 13), daß das Volk
dort unangefochten leben kann (xxx 19, xxxiii 20); nur einmal fin-
det sich ein Wort gegen die Sünder auf dem Zion (xxxiii 14). Das
Ganze kommt zum Abschluß in dem Psalm K a p . xxxv, der wieder-
u m (wie K a p . xii) im letzten Vers (V. 10) dieses Thema aufgreift,
diesmal mit noch deutlicherem Anklang an Deuterojesaja, nämlich
mit einem wörtlichen Zitat von li 11.
In K a p . xxxvi-xxxix taucht das Thema Zion/Jerusalem — abge-
sehen von Erwähnungen in der Erzählung (xxxvi 2) und dem Spott
der Assyrer (xxxvi 20, xxxvii 10) — nur in dem poetischen Stück
xxxvii 22-32 auf. Die "Jungfrau Tochter Z i o n " spottet über den
Assyrer (V. 22); so personifiziert erscheint Zion sonst nur in K a p .
xl-lv (s.u.). In V. 32 heißt es: " J a , von Jerusalem wird ein Rest
herausgehen, eine Flüchtlingsschar vom Berg Z i o n " , und es folgt
die Wendung " d e r Eifer J h w h Zebaots wird dies t u n " , die im gan-
zen Alten Testament sonst nur noch in ix 9 begegnet.
Daß das Thema Zion/Jerusalem im zweiten Teil des Jesajabu-
ches eine zentrale Rolle spielt, bedarf nicht der ausführlichen Dar-
legung. Der Prolog (xl 1-11) ist als Anrede an Jerusalem (V. 2)
bzw. Zion (V. 9) formuliert. Hier zeigt sich bereits ein Charakteri-
stikum: die ausgeprägte Personifizierung Jerusalems, die es zu ei-
ner handelnden, redenden, trauernden, jubelnden Person macht.
Dies ist dann vor allem im zweiten Teil dieser Sammlung (Kap.
xlix-lv) der Fall, den man insgesamt als í í Zion-Jerusalem-TeiΓ , be
zeichnen könnte. 3 5 In iv 14 beginnt eine längere Redeeinheit, die
mit " E s spricht Z i o n " eingeleitet wird. In li 17 und lvii 1 f. wird J e -
rusalem/Zion mit Imperativen angeredet, die wiederum an xl 9 er-
innern, während dann in lii 7-9 wieder der Aspekt von Zion/Jerusa-
lem als Stadt in den Vordergrund tritt, der vom " F r e u d e n b o t e n "
der Einzug des göttlichen Königs angekündigt wird. Kap. liv
nimmt noch einmal die Thematik von der unfruchtbaren Frau aus
xlix 14 ff. auf, ohne daß allerdings der Name Jerusalem oder Zion
ausdrücklich genannt wird. Dabei zeigt sich hier wie dort ein glei-
tender Übergang zwischen der Metapher von Jerusalem als Frau
und Aussagen über die Stadt, die wieder aufgebaut werden soll. Im
übrigen ist noch mehrfach in Gottesreden verschiedener Gattungen
von den Ankündigungen des Heils und des Wiederaufbaus für J e -
rusalem als Beweis für die alleinige Macht Jhwhs die Rede (xii 27,
xliv 26, 28, xlvi 13, li 16) 36 und schließlich in der schon genannten
hymnischen Aufnahme des göttlichen Tröstens in li 3. Insgesamt
sind die Aussagen über Zion/Jerusalem im zweiten Teil des Jesaja-
buches thematisch sehr einheitlich; sie sind ganz auf den Trost und
die Zusage der göttliche Hilfe für das zerstörte und entvölkerte Je-
rusalem ausgerichtet.
In Kap. lvi-lxvi ist das Reden von Zion/Jerusalem in den Kapi-
teln lx-lxii und lxv-lxvi konzentriert. 37 lix 20 könnte man geradezu
als Auftakt zu Kap. Ix betrachten: " E r kommt für Zion als
Erlöser" (lix 20) — " d e n n dein Licht k o m m t " (lx 1). Das Gefälle
der Aussagen liegt dann ganz auf der Linie Deut eroj e sajas: Jerusa-
lem wird "Stadt Jhwhs, Zion des Heiligen Israels" genannt (lx
14 38 ); für Zion kommt Trost (lxi 3; lxvi 13). In lxii 1-12 findet sich
wieder der Übergang zwischen dem Reden von Zion als Frau, de-
ren Verlassenheit beendet wird, und als wiederaufgebauter Stadt,
in die schließlich die heimkehrenden Exulanten und J h w h selbst
einziehen. In lxv 18 f. wird der Wiederaufbau Jerusalems geradezu
als neue Schöpfung (er3) bezeichnet, worin Aussagen Deuterojesa-
jas weitergeführt werden, in denen das Handeln Gottes an Jerusa-
lem neben seinem Schöpfungshandeln genannt wird (vgl. xliv 44-
28, li 16). In lxvi 7 ff. findet sich noch einmal die Verbindung von
Zion als Frau und als Stadt, die schließlich in dem Trostwort lxvi 13
ihren Abschluß findet. Im Schlußabschnitt heißt es, daß die Völker
die Bewohner Jerusalems aus der Diaspora wie Opfergaben zum
Zion bringen werden (lxvi 20, vgl. lx 4).
Versuchen wir aus diesen Beobachtungen Folgerungen für das
Verhältnis der drei Teile des Jesajabuches zueinander zu ziehen, so
ergibt sich zunächst, daß in der Behandlung des Themas Zion/Je-
rusalem zwischen dem zweiten und dritten Teil kein nennenswerter
Unterschied besteht. Allerdings ist das Thema im zweiten Teil rei-
cher entfaltet, so daß sich der deutliche Eindruck ergibt, daß der
dritte Teil in dieser Hinsicht vom zweiten Teil abhängig ist und das
T h e m a nicht eigenständig weiterentwickelt hat. Ganz anders der
36
Zur "juxtaposition" von Texteinheiten verschiedener Gattungen vgl. Melu-
gin, passim.
37
Außerdem ist innerhalb eines Volksklageliedes in lxiv 9 vom verwüsteten Je-
rusalem die Rede.
38
Man kann hier einen Anklang an i 26 sehen. Zur neuen Benennung der Stadt
vgl. auch lxii 2, 4, 12.
ZUR KOMPOSITION DES BUCHES JESAJA 309
xxxvii an. Hiskija bittet Jesaja, für den " R e s t (se:>ërît), der noch da
ist", zu beten (V. 4); und in V. 31 f. wird eine Verheißung gege-
ben für die Flüchtlingsschar, die übriggeblieben ist (niPäräh), und
für den Rest, der von Jerusalem ausziehen wird. 39 Auffallend ist,
daß diese ganze Terminologie in Kap. xl-lv fast ohne Entsprechung
bleibt. (Nur in xlvi 3 ist zweimal vom "Rest des Hauses Israel" die
Rede.)
IV
Es ist eine oft festgestellte Tatsache, daß der Ausdruck " d e r Hei-
lige Israels" (qedôsyisrPët) fast ausschließlich im Jesajabuch begeg-
net, dort aber in allen drei Teilen. Es ist nun zu fragen, was sich
hieraus im Blick auf unsere Fragestellung ergibt. In Kap. i steht
diese Wendung sehr betont am Anfang, und zwar in der ersten mit
hoy ("Wehe! " ) eingeleiteten Anklagerede: "Sie haben J h w h verlas-
sen, den Heiligen Israels verworfen" (i 4b); ganz ähnlich lautet die
Formulierung in ν 24b als Abschluß einer längeren Reihe von
Weherufen: " d e n n sie haben die Tora J h w h Zebaots verachtet und
das Wort des Heiligen Israels verworfen". Ein drittes Mal steht der
Ausdruck in ν 19 innerhalb eines Weherufes als Zitat dessen, was
die Spötter sagen: " E s nahe sich doch und komme der Plan des
Heiligen Israels, damit wir ihn erkennen!" Eine Gruppe von ähnli-
chen Aussagen findet sich in Kap. xxx-xxxi. Die Spötter wollen
vom Heiligen Israels nichts wissen (xxx 11), und er antwortet ihnen
(V. 12, 15). In xxxi 1 ist noch einmal eine Anklage mit " W e h e ! "
eingeleitet, die sich gegen diejenigen richtet, die in Ägypten militä-
rische Unterstützung suchen, aber dem Heiligen Israels nichts zu-
trauen. Schließlich wird in xxxvii 23 dem Assyrerkönig vorgewor-
fen, daß er den Heiligen Israels verspottet habe. Hier sind es also
durchweg Anklagen wegen Mißachtung des Heiligen Israels, seines
Wortes und seiner Pläne. Demgegenüber erwartet das Wort vom
" R e s t Israels" in χ 20, daß dieser sich " a n jenem T a g e " nur noch
auf den Heiligen Israels stützen werde. Ein ähnlicher Kontrast zum
früheren Verhalten wird in xvii 7 ausgesprochen, wiederum in ei-
39
In der Rede Jesajas an Hiskija in xxxix 5-7 heißt es hingegen, daß alles aus
dem Könighaus nach Babel gebracht und nichts übriggelassen werden wird (yiw-
wäter, V . 6). Melugin (S. 177) sieht in der abschließenden Bemerkung Hiskijas in
V . 8 einen Hinweis darauf, d a ß der Redaktor die Bewahrung Jerusalems zur Zeit
Hiskijas als Verzögerung des Gerichts bis zum Babylonischen Exil verstanden
habe.
ZUR KOMPOSITION DES BUCHES JESAJA 311
40
Nur in xl 25 heißt es einmal "der Heilige" (qadôs).
41
In xliii 15 ist die Formel aus stilistischen Gründen aufgelöst.
312 ROLF RENDTORFF
ganzen E r d e " (liv 4); schließlich ist verbal vom "schaffen" (bP xii
20), " e r w ä h l e n " (Mr xlix 7) und "verherrlichen" (¿Vlv 5) die Re-
de.
Die Wendung " d e r Heilige Israels" begegnet im zweiten Teil
des Jesajabuches also nur in der heilvollen Anrede und Zusage,
hingegen niemals in Disputationsworten oder Gerichtsreden, in de-
nen sie ein Element der Anklage oder Polemik enthalten könnte.
Darin wird der Unterschied zum Sprachgebrauch im ersten Teil
noch einmal ganz deutlich. Zugleich wird aber im Blick auf die
Komposition erneut die Bedeutung von Kap. xii erkennbar, das
auch bei diesem Thema den ersten und den zweiten Teil miteinan-
der verbindet. Im dritten Teil tritt die Wendung auffallend zurück.
Sie begegnet einerseits in lx 9 in der Form eines Zitats aus lv 5, an-
dererseits in lx 14, wo sie mit dem Thema " Z i o n " verbunden ist:
" M a n wird dich nennen: Stadt Jhwhs, Zion des Heiligen
Israels." 4 2
V
Zu den wichtigen theologischen Begriffen, die sich in allen drei
Teilen des Jesajabuches finden, gehört auch das Wort sedeq bzw.
fdäqähf2* das meist mit "Gerechtigkeit" übersetzt wird. Hier zeigt
der Konkordanzbefund schon auf den ersten Blick einen grundle-
genden Unterschied im Sprachgebrauch zwischen dem ersten und
dem zweiten Teil: Im ersten Teil findet sich häufig die Verbindung
von sedeqlfdäqäh und mispät " R e c h t " , teils in unmittelbarer
Verbindung mit we (ix 6, xxxiii 5), häufiger im parallelismus mem-
brorum (i 21, 27, ν 7, 16, xvi 5, xxvi 9, xxviii 17, xxxii 1, 16). Im
zweiten Teil fehlt diese Verbindung völlig. Dafür begegnet hier ei-
ne andere charakteristische Verbindung von sedeqlfdäqäh, nämlich
mit verschiedenen Nominalbildungen der Wurzel j>/c in der Bedeu-
tung " H e i l " o.a.: mit yesac xlv 8, li 5, mit fsv^äh li 6, 8, mit fsu^äh
xlvi 13; ferner mit sälom "Friede, H e i l " xlviii 18, liv 13 f.; in xlv 21
wird Gott als *el saddîq âmôsîac bezeichnet.
Dieser unterschiedliche Sprachgebrauch weist auf eine gänzlich
verschiedene Funktion des Wortes sedeqlfdäqäh in den beiden Tei-
42
In lvii 15 steht zweimal qädos.
43
Die beiden Formen werden hier gemeinsam behandelt, da ein Bedeutungsun-
terschied nicht erkennbar ist; vgl. auch K. Koch, Art "sdq. gemeinschaftstreu/heil-
voll sein", THAT II, Sp. 507-30.
ZUR KOMPOSITION DES BUCHES JESAJA 313
len des Buches hin. Im ersten Teil bezieht es sich ganz überwiegend
auf das menschliche Verhalten, auf das Schaffen und Bewahren
oder das Mißachten von Recht und Gerechtigkeit. Im zweiten Teil
dagegen bezeichnet es meistens das Handeln oder Verhalten Got-
tes, was auch darin zum Ausdruck kommt, daß es mit Suffixen ver-
bunden werden kann, die auf Gott bezogen sind (xii 10, xlii 21, xlvi
13, li 5, 6). Die "Gerechtigkeit" Gottes ist hier Bestandteil seines
Heilshandelns an Israel und den Völkern.
Überraschend ist nun der Beginn des dritten Teils. In Ivi 1 heißt
es: "So spricht Jhwh: Bewahrt das Recht (mispät) und tut Gerech-
tigkeit (fdäqäh), denn mein Heil (fsu^äh) ist nahe und meine Ge-
rechtigkeit (fdäqäh) will sich offenbaren." Hier ist also der Sprach-
gebrauch der beiden ersten Teile eine Verbindung eingegangen:
mispät und fdäqäh als Forderung an die Menschen, fsif-äh und fdä-
qäh als bevorstehendes Handeln Gottes. Dabei begründet das nahe
bevorstehende Offenbarwerden der göttlichen Heilsgerechtigkeit
die Forderung an die Menschen, Recht und Gerechtigkeit zu be-
wirken. 43a U m die Wechselbeziehung zwischen menschlicher und
göttlicher sfdäqäh geht es auch in Kap. lix. Zunächst wird ausführ-
lich das Fehlen von mispät und fdäqäh beklagt (V. 9, 14, vgl. V. 4);
dabei steht als Ausdruck der Hoffnung in V. 11 neben mispät schon
das Worty/wcäA, das auf das Handeln Gottes verweist. In V. 15 ff.
ist dann vom göttlichen Eingreifen die Rede, wobei zweimal die
Verbindung von fdäqäh \ιηά fsu^äh (V. 17) bzw. verbalem ysc hi.
(V. 16) gebraucht wird. Hier ist der Akzent also ein anderer als in
Ivi 1: Gott wird seine Heilsgerechtigkeit selbst herbeiführen, um
den Mangel an menschlicher Gerechtigkeit zu überwinden.
Eine neue Wendung bekommt das Reden von der fdäqäh in Kap.
lviii. Zunächst wird Israel (bzw. das "Haus Jakob", V. lb) kriti-
siert, weil es für sich in Anspruch nimmt, fdäqäh und mispät zu tun
(V. 2), während in Wirklichkeit Ungerechtigkeit und soziales Un-
recht herrschen (V. 6 f.). Wenn diese beseitigt sein werden, dann
wird Israels fdäqäh wie das hervorbrechende Licht sein und wird im
Triumphzug vor ihm herziehen, während der käbodJhwhs den Zug
beschließt (V. 8). Hier wird also Israels eigene fdäqäh zum Gegen-
stand der Heilserwartung. Dies ist noch ausgeprägter in Kap. lx-
lxii der Fall. Schon in lx 17 heißt es in einem ganz in der Tradition
43a
Vgl. dazu F. Crüsemann, "Jahwes Gerechtigkeit (sedaqä/sädäq) im Alten
Testament", EvTh 36 (1976), S. 427-50, bes. 446-7.
314 ROLF RENDTORFF
44
In V 11 wechselt das Bild J h w h wird fdäqäh sprossen lassen
45
saddîq außerdem in lvn 1 (zweimal)
46
Vgl lvn 1, 12, lxiv 4 f Ferner ist in lxin 1 von der fdäqäh als Machterweis
J h w h s die Rede in Parallele zu verbalemys c hi
47
Ackroyd, SVT 29, S 38, weist d a r a u f h i n , daß hier offenbar auf den N a m e n
des Propheten Jesaja angespielt wird
ZUR KOMPOSITION DES BUCHES JESAJA 315
VI
Unsere Beobachtungen haben ergeben, daß vielfaltige Wechsel-
beziehungen zwischen den drei Teilen des Jesajabuches bestehen.
Diese Beziehungen sind von sehr unterschiedlicher Art und liegen
auf ganz verschiedenen Ebenen. Wir wollen versuchen, sie
abschließend etwas genauer zu klassifizieren und erste Folgerungen
für die Fragen der Kompositionsgeschichte des Jesajabuches anzu-
deuten.
Beginnen wir zunächst wieder mit Kap. xii! Hier zeigt sich in der
Aufnahme des Stichwortes " t r ö s t e n " in V. 1 ein ausdrücklicher
Bezug auf den Anfang des zweiten Teils des Buches in xl 1. Dabei
ist von Bedeutung, daß das Wort nhm in diesem Gebrauch sonst in
K a p . i-xii nicht begegnet. 48 Es hat hier also offenkundig die Funk-
tion, die Sammlung Kap. i-xii mit K a p . xl ff. zu verbinden. Ferner
ist von Bedeutung, daß diese Verbindungsfunktion des Wortes
" t r ö s t e n " auch den dritten Teil mit umfaßt und daß es dort betont
im Schlußkapitel erscheint (lxvi 13). In xii 2 f. wird mit der dreima-
ligen Verwendung des Wortesy e su c äh ein zentrales Wort der Spra-
che Deuterojesajas aufgenommen, wiederum ohne Anhalt am son-
stigen Sprachgebrauch von Kap. i-xii. 49 Etwas anders liegen die
Dinge im Blick auf den Vers xii 6. Auch hier sind die Beziehungen
zum zweiten Teil offenkundig; der Anfang erinnert an liv 1. Die
Art, vom "Heiligen Israels" zu reden, entspricht wiederum der des
zweiten Teils; sie steht hier jedoch in deutlichen Gegensatz zu dem
sonstigen Reden vom "Heiligen Israels" in Kap. i-xxxix. Hier ist
also nicht ein neuer Begriff eingeführt worden, sondern ein schon
innerhalb von K a p . i-xii (bzw. K a p . i-xxxix) vorhandener Aus-
druck wird in einem anderen Sinne gebraucht, wodurch wiederum
eine Brücke zum zweiten Teil geschlagen wird. In diesem Fall ist
keine signifikante Beziehung zum dritten Teil erkennbar.
Ahnliche Beobachtungen lassen sich an K a p . xxxv machen. Hier
wird zunächst in V. 2 die Rede vom Sehen des käbod Jhwhs aus xl 5
aufgenommen. Auch die Ankündigung "Siehe, euer Gott!" in
xxxv 4 ist eine offenkundige Aufnahme von xl 9. Im ersten Fall
48
In i 24 wird das Piel von nhm gebraucht in der Bedeutung "sich rächen"; in
xxii 4 fordert Jesaj a seine Mitbürger auf, ihn nicht zu trösten.
49
Innerhalb von Kap. i-xii wird die Wurzel yf überhaupt nur in xii 2 f. ge-
braucht. Im übrigen begegnet das Wort fw^äh einige Male in Kap. i-xxxix und
zwar in xxv 9, xxvi 1,18, xxxiii 2, 6, ferneryesac in xvii 10. Dabei ist durchweg eine
Abhängigkeit vom Sprachgebrauch von Kap. xl-lv erkennbar.
316 ROLF RENDTORFF
stellt sich die Frage, wie die Beziehung zu der Aussage über den
käbod Jhwhs in vi 3 zu deuten ist. 50 Im zweiten Fall finden sich keine
unmittelbaren Beziehungen innerhalb von Kap. i-xxxix; man
könnte jedoch die Aussage "Siehe, Gott ist mein Heil! , ' (oder:
"Siehe, der Gott meines Heils!" — s. o. Anm. 22) in xii 2 in die
Nähe von xxxv 4 rücken, so daß sich eine Querverbindung zwi-
schen K a p . xii und K a p . xxxv ergäbe. Schließlich ist in Kap. xxxv
im letzten Vers (V. 10) betont von der he il vollen Zukunft des Zion
die Rede (mit einem Zitat von li 11); darin besteht eine auffallende
Parallele zu K a p . xii, wo dies ebenfalls im letzten Vers (V. 6) ge-
schieht. Allerdings fehlt in Kap. xxxv die Rede vom "Heiligen Is-
raels".
K a p . xii und Kap. xxxv haben also erkennbar die Funktion, eine
Verbindung zwischen dem ersten Teil und dem zweiten (bzw. auch
dem dritten) Teil des Jesajabuches herzustellen. Dabei liegt es na-
he, bei K a p . xii zunächst an eine Verknüpfung von Kap. i-xii mit
K a p . xl ff. zu denken, während die Funktion von Kap. xxxv wohl
eher auf den größeren Zusammenhang Kap. xxxv bezogen ist.
(Vgl. dazu oben bei Anm. 31.) Eine anders geartete Beziehung auf
Kap. xl ff. zeigt sich in Kap. i. Hier steht die Rede von der Schuld
Israels in i 4 in Korrespondenz mit der Ankündigung in xl 2, daß
diese Schuld aufgehoben ist. Die Beziehung ist jedoch eine antithe-
tische: in i 4 wird der Vorwurf der Schuld mit großer Schärfe erho-
ben — in xl 2 wird die Aufhebung der Schuld tröstend verkündigt.
Zudem steht das Reden von der Schuld Israels in i 4 im Zusam-
menhang ähnlicher Anklagen innerhalb von Kap. i-xxxix. In i 8
wird das Thema " Z i o n " angeschlagen; dabei ist auffallend, daß in-
nerhalb eines anklagenden Kontextes von der Bewahrung der
"Tochter Z i o n " die Rede ist, was durch V. 9 noch verstärkt wird.
Darin wird eine Tendenz innerhalb der Sammlung von Kap. i-xii
erkennbar, die besonders in den Heilsworten über Zion in ii 2-5, iv
2-6 und Kap. xii zum Ausdruck kommt.
Wir können hier also zwei ganz verschiedene Weisen erkennen,
in denen Beziehungen zwischen dem ersten und dem zweiten Teil
des Buches hergestellt werden. Einerseits werden Begriffe und Aus-
sagen aus dem zweiten Teil aufgenommen, die im ersten Teil selbst
nicht vorkommen ("trösten" xii 1, " H e i l " xii 2 f., "Siehe, euer
G o t t ! " xxxv 4). Andererseits werden Themen und Vorstellungen,
die in den beiden Teilen unterschiedlich gebraucht werden, aufein-
ander bezogen; dies kann so geschehen, daß einmalig der Sprach-
ZUR KOMPOSITION DES BUCHES JESAJA 317
VII
Es wäre voreilig, aus diesen ersten und z.T. noch recht vorläufi-
gen Beobachtungen ein Gesamtkonzept der Komposition des Jesa-
jabuches ableiten zu wollen. Dazu bedarf es noch vieler eindringen-
der Untersuchungen. Aber es soll doch abschließend versucht wer-
den, einige Aspekte der Kompositionsgeschichte anzudeuten.
318 ROLF RENDTORFF
Zunächst hat sich m.E. erwiesen, daß der zweite Teil des Bu-
ches, K a p . xl-lv, eine dominierende Stellung im Ganzen einnimmt.
Sowohl im ersten als auch im dritten Teil ist deutlich erkennbar,
daß sich die kompositorische Arbeit am zweiten Teil orientiert, in-
dem sie aus ihm schöpft oder ihre Aussagen auf ihn hin orientiert.
Dies bestätigt die unabhängig davon gewonnene Einsicht, daß
Kap. xl-lv eine durchkomponierte und in sich geschlossene Einheit
darstellen. 51 Deshalb legt sich die Vermutung nahe, daß Kap. xl-lv
den Kern der jetzigen Komposition bilden, von dem her und auf
den hin die beiden anderen Teile gestaltet und redigiert worden
sind.
Dabei lassen sich ganz verschiedene Stadien der Redaktion und
Komposition erkennen, deren Verhältnis zueinander noch weiterer
Klärung bedarf In einigen Fällen werden alle drei Teile von einem
großen Bogen umspannt (z.B. " t r ö s t e n " , Jhwhs käbod), wobei je-
doch die betreffenden Stichworte nicht in die Substanz des ersten
Teils eingedrungen sind. Umgekehrt spielt der Ausdruck " d e r Hei-
lige Israels", bei dem sich eine spannungsreiche Wechselbeziehung
zwischen dem ersten und dem zweiten Teil zeigt, im dritten Teil
kaum eine Rolle. Das Thema " Z i o n " wiederum hat in jedem der
drei Teile seine deutliche Funktion und bildet in gewisser Weise das
stärkste Bindeglied zwischen ihnen.
Gerade beim Thema " Z i o n " zeigt sich aber auch, daß es nicht
genügt, nur auf die Gesamtkomposition des Buches zu achten.
Denn hier ist bereits innerhalb von Kap. i-xii eine Redaktions- und
Kompositionsarbeit erkennbar, die den Anklagen und Gerichtsan-
kündigungen über Jerusalem immer wieder Heilsankündigungen
gegenüberstellt. 52 Auch die übrigen größeren Einheiten innerhalb
von Kap. i-xxxix weisen deutlich eigene Kompositionsstrukturen
auf, die noch weiterer Untersuchung bedürfen. 53 Dabei stellt sich
50
Auch in iv 5 begegnet das Wort käbod innerhalb eines Heilswortes, ebenso in
xxiv 23
51
So im Anschluß an Melugin und Mettinger auch schon R Rendtorff, Das Alte
Testament Eine Einfuhrung (Neukirchen, 1983), S 204 ff , vgl jetzt auch Mettinger
(oben A n m 16)
52
Vgl dazu Ackroyd, SVT 29, passim
53
Zu K a p xxxvi-xxxix und ihren Beziehungen zu anderen Teilen des Jesaja-
buches vgl Ackroyd, Festschrift ν d Ploeg Aber auch andere Abschnitte bedurften
unter der veränderten Fragestellung einer neuen Untersuchung, wie ζ Β die soge
n a n n t e "Jesaja-Apokalypse" K a p xxiv-xxvn, aber auch der sogenannte "assyri
sche Z y k l u s " K a p xxvin-xxx Ich vermute auch, daß sich unter dieser Fragestel-
lung neue Gesichtspunkte fur das Verhältnis der "Fremdvolkerworte" Kap xin-
xxni z u m Ganzen des Jesajabuches ergeben konnten
ZUR KOMPOSITION DES BUCHES JESAJA 319
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