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Aristoteles

Nikomachische Ethik
Erstes Buch

Aufgaben, Hinweise und Materialien von Walter Mesch

für die Übung „Philosophische Texterschließung“ im Modul G/g


in den B.A.-Studiengängen (PO 2018) am Philosophischen Seminar
der WWU Münster

Stand: Oktober 2019


Einleitung
Die vorliegenden Textauszüge wurden entnommen aus der Übersetzung von Ursula Wolf,
Reinbek 2013 (4. Auflage), die Aufgaben und Hinweise beziehen sich darauf. Ich schlage diese
Übersetzung für die Gruppenarbeit vor, weil sie im Vergleich mit anderen einige Vorzüge
besitzt. Zum einen wird hier ein größtenteils gelungener Versuch unternommen, den
aristotelischen Text von Überlagerungen durch die spätere Begriffsgeschichte zu befreien und
möglichst „unbelastete“ bzw. „alltagssprachliche“ Wörter zu finden. Zum anderen ist die
Übersetzung gut lesbar und trotzdem präzise und von philosophischem Problembewusstsein
getragen. Hilfreich sind außerdem die häufig in Klammer eingefügten griechischen Termini,
auf die sich die Übersetzung bezieht, und die durchgehende, angemessene und kleinteilige
Strukturierung des Textes, deren Nummerierung im Folgenden herangezogen wird. Insgesamt
handelt es sich hier um eine empfehlenswerte Studienausgabe.

Dennoch ist Wolfs Übersetzung – selbstverständlich – nicht alternativlos. Übersetzen ist eine
äußerst anspruchsvolle und schwierige Aufgabe. Selbst gute Übersetzungen haben gewisse
Nachteile, und zwar schon deshalb, weil auch jede berechtigte Hervorhebung eines
Bedeutungsaspekts, andere Aspekte, die ebenfalls einschlägig sein mögen, in den Hintergrund
treten lässt. Dazu kommen weitere Fragen, die oft nicht leicht zu beantworten sind. Wie weit
ist eine terminologische Fixierung im übersetzten Text vorangetrieben? Wie soll mit der oft
anzutreffenden Mehrdeutigkeit von Wörtern umgegangen werden? Wie lässt sich die Balance
zwischen Lesbarkeit und Genauigkeit der Übersetzung herstellen? Angesichts solcher
Schwierigkeiten liegt auf der Hand, dass keine Übersetzung den Gehalt des bearbeiteten
Textes vollständig, unverkürzt und abschließend zugänglich macht. Und deshalb ist immer
damit zu rechnen, dass der Vergleich mit anderen Übersetzungen für das Verständnis hilfreich
sein mag, vor allem dann, wenn man selbst keinen Vergleich mit dem Primärtext durchführen
kann.

Ich empfehle dazu ergänzend die von Günter Bien überarbeitete alte Übersetzung von Eugen
Rolfes (Meiner: „Philosophische Bibliothek“) und die Übersetzung von Olof Gigon (dtv:
„Bibliothek der Antike“), die auch in einer von Rainer Nickel überarbeiteten Fassung vorliegt
(Artemis & Winkler: „Sammlung Tusculum“ oder „Bibliothek der alten Welt“). Weniger
empfehlenswert ist dagegen die Übersetzung von Franz Dirlmeier (Reclam und
Akademieausgabe). Eine instruktive Erläuterung von Vorzügen und Nachteilen dieser
Übersetzungen gibt Jörn Müller in Information Philosophie: „Aristoteles´ Nikomachische
Ethik“. Die neue Übersetzung von Ursula Wolf im Vergleich mit anderen Textausgaben (im
Learnweb). Wer eine moderne Fremdsprache gut beherrscht, kann natürlich auch
Übersetzungen in eine andere Sprache mit Gewinn heranziehen. Hilfreich ist dabei die
„Konkordanz der Übersetzungsäquivalente“, die Ursula Wolf am Ende ihrer
Werkinterpretation aus der WBG anführt. Neben den deutschen Übersetzungen von Gigon,
Rolfes und Dirlmeier, werden hier auch die französische Übersetzung von Gauthier/Jolif und

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die englische von Barnes berücksichtigt (Ursula Wolf: Aristoteles´ „Nikomachische Ethik“,
Darmstadt 2002, 257-268).

Die folgende Anleitung setzt keine Kenntnis des Altgriechischen voraus. In der
Auseinandersetzung mit dem aristotelischen Text sollte man aber unbedingt versuchen, sich
wenigstens einige zentrale Begriffe im griechischen Original zu vergegenwärtigen und
anzueignen (eudaimonia, ariston, arete, ergon, energeia, techne, episteme etc.). Zum einen
braucht man für den Umgang mit verschiedenen Übersetzungen Bezugspunkte im Original.
Zum anderen erschließen sich auch zentrale Zusammenhänge oft leichter, wenn man den
griechischen Wortlaut berücksichtigt. Wer Wolfs Übersetzung aufmerksam studiert und die
eingefügten griechischen Termini beachtet, dürfte dies parallel zu Sachauseinandersetzung
ohne größeren Aufwand recht gut erreichen. Ergänzend kann man für einzelne Begriffe auch
Handbücher und Lexika heranziehen (z.B. das Aristoteles-Handbuch, hg. von Christof Rapp und
Klaus Corcilius, Stuttgart / Weimar 2011, das u.a. Artikel zu zentralen ethischen Begriffen wie
„Glück“ und „Tugend“ enthält, oder das Wörterbuch der antiken Philosophie, hg. von
Christoph Horn und Christof Rapp, München 2008², das mit einem deutsch-griechischen und
deutsch-lateinischen Register schließt).

Im Vordergrund sollte selbstverständlich nicht der Spracherwerb, sondern die


Auseinandersetzung mit der aristotelischen Konzeption stehen. Doch eine angemessene
Berücksichtigung der sprachlichen Form ist hierfür unerlässlich. Nur ein besonders wichtiges
Beispiel vorab: Wer zu verstehen versucht, warum nach Aristoteles, hält man sich an das
Ergebnis des berühmten Ergon-Arguments aus EN I 6, Glück durch Tugend zu verwirklichen
sein soll, wird sich mit recht großen Problemen konfrontiert sehen, vor allem, wenn Glück in
die Nähe von Zufallsglück oder Lust und Tugend – etwa, indem man sich an Kant orientiert -
in die Nähe einer rein vernünftigen Moral gerückt werden. Berücksichtigt man dagegen, dass
„Glück“ eudaimonia übersetzen soll und „Tugend“ arete, erschließt sich der Zusammenhang
leichter. Denn Aristoteles erläutert die eudaimonia als ein höchstes oder bestes Ziel (ariston),
das weder mit Lust (hedone) noch mit Zufallsglück (tyche/eutychia) zu identifizieren sein kann,
sondern auf ein gutes bzw. bestes Leben im Ganzen bezogen sein muss. Und „arete“ bedeutet
generell Bestheit im Sinne einer besten Tauglichkeit von etwas. Aristoteles versteht sie beim
Menschen spezifischer als beste Tätigkeit, beste Form einer Tätigkeit und damit auch als
Tugend im Sinne solcher Bestheit. Die aristotelische Ethik scheint also dafür zu argumentieren,
dass unser bestes Ziel nur durch unsere besten Tätigkeiten oder durch die beste Form unserer
Tätigkeiten zu erreichen sein kann. Und von hieraus müsste wohl auch erläutert werden,
inwiefern nach Aristoteles Glück durch Tugend zu verwirklichen ist.

Bevor man mit dem Studium eines aristotelischen Textes beginnt, sollte man sich klarmachen,
dass man es hier nicht mit durchkomponierten, ausgefeilten und vom Autor selbst für die
Veröffentlichung bestimmten Arbeiten zu tun bekommt, sondern mit einer Edition aus
fremder Hand, die auf das erste vorchristliche Jahrhundert zurückgeht und Texte aus älteren
Editionen neu arrangiert. Was in sie eingeht, unterscheidet sich in verschiedenen Hinsichten
(wie Stil, Zugriff, Dichte, Ausführlichkeit, Ausarbeitungsgrad) zum Teil erheblich und mag auch
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dann zu ganz verschiedenen Zeiten geschrieben worden sein, wenn es direkt
nebeneinandersteht. Welchen Status die überlieferten Texte ursprünglich hatten, wissen wir
nicht genau. Meist spricht man von Vorlesungsnotizen oder Arbeitsmanuskripten. Die von
Aristoteles selbst veröffentlichten Texte waren jedenfalls, wie bei seinem Lehrer Platon,
durchgängig Dialoge und sind, bis auf wenige Fragmente vollständig verloren gegangen. Da
die Edition durch Andronikos von Rhodos seit der Antike fest etabliert, weitgehend
wohlbegründet und die einzig greifbare Textgrundlage ist, kann man sie über weite Strecken
so benutzen, als würde sie von Aristoteles selbst stammen. Man sollte aber in den Blick zu
bekommen versuchen, welche Unwägbarkeiten mit dieser Überlieferungsgeschichte
verbunden sind. (Auch dies wird im Aristoteles-Handbuch erläutert. Vgl. den Artikel von Oliver
Primavesi zu „Werk und Überlieferung“, 57-64.) Wichtig sind solche Voraussetzungen nicht
zuletzt, wenn es darum geht, mit Unklarheiten, Sprüngen, Wiederholungen, Spannungen und
(echten oder vermeintlichen) Widersprüchen im Text angemessen umzugehen. Dies gilt auch
für das erste Buch der Nikomachischen Ethik, obwohl es sich insgesamt sicher besser lesen
lässt als manch andere Schrift von Aristoteles.

Das Buch ist mit rund 30 Seiten umfangreich und recht dicht geschrieben. Deshalb
konzentriere mich mit meinen Aufgaben, Hinweisen und Materialien auf besonders wichtige
Passagen, die sich vor allem in den ersten sechs Kapiteln finden. Dies bedeutet zwar nicht,
dass die anderen Kapitel keine Aufmerksamkeit verdienen würden. Es scheint mir insgesamt
aber besser, den Schwerpunkt auf zentrale Passagen zu legen und diese wirklich gründlich zu
studieren, als alles gleichermaßen abdecken zu wollen und dabei Zentrales etwas zu kurz
kommen zu lassen. Außerdem sollte man beachten, dass das erste Buch insgesamt nur eine
breit angelegte Einführung in die aristotelische Ethik bietet, indem das gute Leben
(eudaimonia) als höchstes bzw. bestes Gut (ariston) erläutert, mit anderen Gütern ins
Verhältnis gesetzt und auf Tugend als Bestheit (arete) bezogen wird. Wer genauer verstehen
möchte, muss sich den folgenden Büchern zuwenden. Von grundlegender Bedeutung für den
Gesamtzusammenhang sind dabei die Bücher II und III. Das zweite Buch behandelt die
Grundstruktur der arete als durch Gewöhnung zu erwerbende Mitte (mesotes) zwischen
schlechten Extremen, und das dritte Buch die kognitiven Voraussetzungen für das Finden
dieser Mitte: Überlegung (bouleusis) und Entscheidung (prohairesis). In den späteren Büchern
werden dagegen vor allem einzelne Tugenden wie Besonnenheit, Tapferkeit und
Gerechtigkeit, bzw. damit verbundene Themen wie Lust, Freundschaft genauer behandelt.
Außerdem geht es hier neben den bereits erwähnten ethischen aretai (Charaktertugenden)
auch um dianoetische aretai (Verstandestugenden) wie Klugheit (phronesis) und Weisheit
(sophia), sowie um das damit zusammenhängende Verhältnis von politischem und
theoretischem Leben.

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Wolfs Übersetzung gliedert das erste Buch der Nikomachischen Ethik folgendermaßen:

Das Glück als Ziel des menschlichen Lebens

1.-5. Das Glück als bestes Gut

1. Gut und bestes Gut

2. Das Glück als das beste Gut

3. Die verbreiteten Glückskonzeptionen

4. Kritik an Platons philosophischer Konzeption des Guten

5. Das Glück erfüllt die Kriterien für das beste Gut

6.-7. Bestimmung des besten Guts und Bewertung des Ergebnisses

6. Bestimmung des Glücks als Leben in der Betätigung der menschlichen Gutheit

7. Methodische Einordnung des Ergebnisses

8.-12. Überprüfung der Bestimmung des Glücks anhand gängiger Vorstellungen

8. Bestätigung der Bestimmung des besten Guts durch verbreitete Meinungen über
das Glück

9. Fortsetzung

10. Probleme der entwickelten Bestimmung des Glücks

11. Fortsetzung

12. Ein kategorialer Unterschied zwischen Glück und Tugend

13. Die Arten der menschlichen Gutheit

Die zugrundeliegende Einteilung der Kapitel ist alt, geht aber – wie angesichts der
angesprochenen Überlieferungsgeschichte kaum anders zu erwarten ist – keineswegs auf
Aristoteles selbst zurück. Noch weniger gilt dies für die Überschriften, die sich auch in der
Ausgabe des Andronikos nicht finden, sondern Zusätze der Übersetzerin darstellen und die
Orientierung für heutige Leser erleichtern sollen. Ich schlage vor, die Gruppenarbeit auf die
besonders wichtigen Kapitel 1, 2, 3, 5, 6, 9, und 11 zu konzentrieren - ohne freilich die anderen
Kapitel ganz auszublenden. Dabei führe ich den aristotelischen Text nicht ausdrücklich an,
sondern nenne nur die in Wolfs Übersetzung enthaltene Nummer und die ihr jeweils

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zugeordnete Überschrift aus der (jedem Kapitel vorangestellten) Gliederung nach
thematischen Gesichtspunkten. Dies dient lediglich der Vereinfachung der Gruppenarbeit im
Rückgriff auf die hier gebotene Anleitung und darf in schriftlichen Arbeiten nicht ebenso
praktiziert werden.

Aristoteles zitiert man nicht nach den Gliederungen oder Seitenzahlen aus Übersetzungen,
sondern nach der sogenannten Bekker-Paginierung, die auf die Epoche machende,
fünfbändige Gesamtausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften zurückgeht, die
– von Immanuel Bekker veranstaltet – in erster Auflage von 1831 bis 1870 erschien. Die
berühmte Definition der eudaimonia bzw. des für den Menschen Guten als „Tätigkeit
(energeia) der Seele gemäß der Gutheit (kat´ areten)“ findet sich z.B. in 1098a 16-18. Dabei
bezeichnet „1098“ die Seitenzahl der Bekker-Ausgabe, „a“ (oder „b“) die Spalten auf dieser
Seite und 16-18 die Zeilen. Ergänzend werden oft auch Werk, Buch und Kapitel angegeben: EN
I 6, 1098a 16-18= Ethica Nicomachea, erstes Buch, sechstes Kapitel etc. Dies mag auf den
ersten Blick umständlich erscheinen, hat aber den Vorteil, dass so über verschiedene
Ausgaben und Übersetzungen hinweg ein einheitliches Bezugssystem gegeben ist und die
verschiedenen Fassungen ohne allzu großen Aufwand verglichen werden können. Jede
Fassung, die wissenschaftlichen Standards genügt, führt deshalb auch die Bekker-Paginierung
an – wenn auch oft ohne verlässliche Zeilenangaben. Und an diese Paginierung sollte man sich,
gerade bei schriftlichen Ausarbeitungen, generell halten. Im Sonderfall einer Gruppenarbeit,
die primär anhand einer einzigen Übersetzung durchgeführt wird, ist dies jedoch anders. Aus
diesem Grund beschränke ich mich hier auf eine interne Gliederung.

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Literaturübersicht

Übersetzungen:

➢ Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt von Ursula Wolff. 4. Auflage. Rowohlt, Reinbek 2013.

Zum Vergleich empfohlene Übersetzungen:


➢ Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt von Eugen Rolfes, herausgegeben von Günther Bien.
Nachdruck. Meiner, Hamburg 2008.
➢ Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt von Olaf Gigon. 7. Auflage. dtv Taschenbuch Verlag,
München 2006. (Auch in einer von Rainer Nickel überarbeiteten Fassung bei Artemis & Winkler)

Weniger empfehlenswerte Übersetzung: Franz Dirlmeier (erschienen bei Reclam und WBG).

Nachschlagwerke:

➢ Rapp, Christof; Corcilius, Klaus (Hg.): Aristoteles-Handbuch. Metzler, Stuttgart u.a. 2011.
➢ Horn, Christoph; Rapp, Christof: Wörterbuch der antiken Philosophie. 2. überarb. Auflage. Beck,
München 2008.

Weitere Literatur:

➢ Ackrill, John L.: Aristotle on Eudaimonia (I 1-3 und 5-6). In: Aristoteles. Die Nikomachische Ethik,
hg. von Otfried Höffe. Akademie Verlag, Berlin 1995: 39-62.
➢ Aristoteles: Politik. Übersetzt von Eckart Schütrumpf. Meiner, Hamburg 2012.
➢ Horn, Christoph: „Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling. Eudaimonia und Zeit bei Aristoteles,
in: Glück-Tugend-Zeit. Aristoteles über die Zeitstruktur des guten Lebens, hg. von Walter Mesch.
Metzler, Stuttgart u.a. 2013: 21-40.
➢ Höffe, Otfried: Ethik als praktische Philosophie – Methodische Überlegungen (I 1, 1094a22-
1095a13). In: Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, hg. von Otfried Höffe. Akademie Verlag, Berlin
1995: 13-38.
➢ Mesch, Walter: Das Göttliche in uns und das menschliche Leben. Zur Aristotelischen eudaimonia
und ihrer Rezeption in der Florentiner Renaissance. In: Ethik und Politik des Aristoteles in der
frühen Neuzeit, hg. von Christoph Strosetzki. Meiner, Hamburg 2016: 69-91.
➢ Müller, Jörn: Wann kann man ein Leben glücklich nennen? Aristoteles und das Solon-Problem. In:
Glück-Tugend-Zeit. Aristoteles über die Zeitstruktur des guten Lebens, hg. von Walter Mesch.
Metzler, Stuttgart u.a. 2013: 41-62.
➢ Müller, Jörn: Aristoteles´ Nikomachische Ethik. Die neue Übersetzung von Ursula Wolf im
Vergleich mit anderen Textausgaben. In: Information Philosophie, Heft 5, 2006: 86-91. (Auch
online verfügbar.)
➢ Stemmer, Peter: Aristoteles´ Glücksbegriff in der Nikomachischen Ethik. In: Phronesis, 37, 1992:
85-110.

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Nikomachische Ethik: Erstes Buch
Das Glück als Ziel des menschlichen Lebens

1.-5. Das Glück als bestes Gut

1. Gut und bestes Gut

(1.) Güter als Strebensziele.

(1.) Jedes Herstellungswissen (techne) und jedes wissenschaftliche Vorgehen (methodos),


ebenso jedes Handeln (praxis) und Vorhaben (prohairesis) strebt, so die verbreitete Meinung,
nach einem Gut (agathon ti). Deshalb hat man «Gut» zu Recht erklärt als «das, wonach alles
strebt».

Kommentar/Aufgaben:

Der berühmte erste Satz des Textes bezieht verschiedene Tätigkeiten auf Ziele, die als Güter
angestrebt werden. Allerdings werden diese Ziele bzw. Güter nicht ausdrücklich genannt.

Diskutieren Sie, welche Möglichkeiten gegeben erscheinen. Dabei empfiehlt sich auch ein Blick
voraus auf (2.a) und (2.b). Worin liegt die Gemeinsamkeit, die Aristoteles geltend macht? Hat
jede Tätigkeit ihr eigenes Ziel? Haben alle Tätigkeiten ein einziges gemeinsames Ziel? Oder
lässt sich beides vereinbaren?

Auch hierfür ist ein Blick voraus hilfreich.

(2.) Einteilung der Ziele. (a) Produkte und Tätigkeiten. (b) Vielheit der Ziele. (c) Hierarchie der
Ziele.

(2.a) Doch zeigt sich ein Unterschied zwischen den Zielen (telos); einige sind Tätigkeiten
(energeia), andere darüber hinaus Produkte (ergon) der Tätigkeiten. Wo es Ziele über die
Handlungen hinaus gibt, sind die Produkte naturgemäß besser als die Tätigkeiten.
(b) Da es nun viele Arten des Handelns, Herstellungswissens (techne) und der Wissenschaft
(episteme) gibt, gibt es auch viele Ziele; so ist das Ziel der Medizin die Gesundheit, dasjenige
des Schiffsbaus das Schiff, das der Strategik (Heerführung) der Sieg, das der Haushaltsführung
der Reichtum.
(c) Wo solche Kenntnisse einer bestimmten Fähigkeit (dynamis) unterstehen — wie die
Sattlerei und die übrigen Kenntnisse, die mit der Ausstattung von Pferden zu tun haben, der
Reitkunst untergeordnet sind, während diese und alle Arten kriegerischer Handlungen
ihrerseits der Strategik unterstehen, und auf dieselbe Weise andere Arten des Handelns
wieder anderen —, in allen diesen Fällen sind die Ziele der leitenden (architektonikos)
Kenntnisse wählenswerter als die der untergeordneten; denn jenen zuliebe werden auch
diese verfolgt. Hierbei ist es gleichgültig, ob die Ziele der Handlungen die Tätigkeiten
(energeia) selbst sind oder etwas darüber hinaus, wie das bei den erwähnten Arten von
Kenntnissen der Fall ist.
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Kommentar/Aufgaben:

Es liegt nahe, den hier genannten Unterschied zwischen Zielen, die nur in einer Tätigkeit
(energeia), und Zielen, die darüber hinaus in einem Produkt (ergon) liegen, auf die Differenz
von Handeln (praxis) und Herstellungswissen (techne) aus (1.) zu beziehen. Wenn dies so ist,
bringen praktische Tätigkeiten, anders als technische keine Produkte hervor, obwohl sie Ziele
besitzen.

Aber worin liegen diese Ziele dann? Was bedeutet es, dass bei technischen Handlungen „die
Produkte naturgemäß besser als die Tätigkeiten“ sein sollen? Wie sind die Ziele verschiedener
technai (Plural zu techne) nach Aristoteles verbunden, wenn man auf die gebotenen Beispiele
blickt? Und wie lässt sich verstehen, dass diese Hierarchie von Zielen nicht nur für technische,
sondern auch für praktische Tätigkeiten gelten soll?

Aristoteles scheint dies am Ende von (2c.) zu behaupten, ohne eine Erläuterung zu liefern
(„Hierbei ist es gleichgültig […]). Dies hängt eng mit der Frage zusammen, warum Aristoteles
(hier und an vielen anderen Stellen) überhaupt so ausführlich über technische Tätigkeiten
spricht, obwohl sein Hauptthema doch in den praktischen Tätigkeiten liegen muss.

Was motiviert den Vergleich von techne und praxis, wenn es doch wichtige Unterschiede gibt?

(3.) Die Suche nach einem besten Gut. (a) Die Frage seiner Existenz. (b) Der Nutzen seiner
Kenntnis. (c) Zuordnung.

(3.a) Wenn es nun für das, was wir tun, ein Ziel gibt, das wir um seiner selbst willen wünschen
(boulesthai), während wir die übrigen Dinge um seinetwillen wünschen, und wenn wir nicht
alles um eines weitergehenden Ziels willen wählen – denn auf diese Weise ginge der Prozess
ins Unendliche, sodass das Streben leer und vergeblich würde —, dann wird offensichtlich
dieses [Ziel] das Gut, und zwar das beste Gut (ariston) sein.
(b) Wird nun das Erkennen dieses Guts nicht auch großes Gewicht für die Lebensführung
haben, und werden wir dadurch nicht wie Bogenschützen, die einen Zielpunkt (skopos) haben,
eher das Richtige treffen? Wenn ja, dann müssen wir zumindest im Umriss zu erfassen
versuchen, was es sein könnte und zu welcher Wissenschaft oder Fähigkeit es gehört.
(c) Man sollte annehmen, dass es Gegenstand derjenigen Disziplin ist, die am meisten leitet
und anordnet. Als so beschaffen erweist sich die Politik (politike). Denn diese ordnet an,
welche Kenntnisse im Staat (polis) vertreten sein müssen, welche jeder Einzelne lernen muss
und bis zu welchem Grad. Wir sehen, wie ihr sogar die am höchsten geschätzten Fähigkeiten
unterstehen, zum Beispiel Strategik, Haushaltsführung, Rhetorik. Da nun die Politik sich die
übrigen praktischen Wissenschaften zunutze macht und außerdem Gesetze darüber erlässt,
was man tun und was man unterlassen soll, wird ihr Ziel das der anderen Kenntnisse mit
umfassen, sodass dieses das Gut für den Menschen (to anthropinon agathon) sein wird. Denn
auch wenn das Ziel dasselbe für den Einzelnen und für den Staat ist, scheint größer und
vollkommener doch das Gut des Staates, was das Erreichen ebenso wie was das Bewahren
betrifft. Denn erfreulich ist es zwar auch für Einen allein, schöner und göttlicher aber für ein

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ganzes Volk oder einen Staat. Unsere Untersuchung ist also auf diese Dinge gerichtet und stellt
eine Art politische (politike) Untersuchung dar.

Kommentar/Aufgaben:

Welche Begründung bietet Aristoteles dafür, dass es nur ein einziges höchstes oder bestes Gut
(ariston) geben kann? Sehen Sie Schwächen dieser Begründung? Und ließen sich diese
Schwächen (ganz oder teilweise) beheben, indem man auf die ausführlichere Argumentation
an späteren Stellen Bezug nimmt, z.B. auf I 2 (1.a) oder I 5? Klären Sie, wie sich die Erkenntnis
des besten Guts nach Aristoteles zur Lebensführung verhält. Was hat dies mit dem Verhältnis
von Theorie und Praxis zu tun? Und inwiefern gehört die Ethik zur Politik?

Um dies genauer zu verstehen, empfiehlt sich sowohl ein Blick auf das folgende Kapitel EN I 3,
wo das „politische Leben“ erwähnt wird, als auch die begleitende Lektüre der ersten beiden
Kapitel der aristotelischen Politik I 1-2.

(4.) Methodische Bemerkungen. (a) Grad der Genauigkeit. (b) Art der Aufnahme. (c) Hörer.

(4.a) Unsere Ausführungen werden dann ausreichen, wenn ihre Klarheit und Bestimmtheit
dem vorliegenden Stoff entspricht; denn man darf nicht bei allen Erörterungen denselben
Grad von Genauigkeit (to akribes) suchen, sowenig wie bei handwerklichen Produkten. Die
werthaften (kalos) und gerechten (dikaios) Handlungen, die die politische Wissenschaft
untersucht, weisen große Unterschiede und Schwankungen auf, sodass man denken könnte,
dass sie nur durch Konvention (nomos) und nicht von Natur aus (physis) richtig und gerecht
sind. Solche Schwankungen finden wir auch bei den Gütern, da vielen Menschen aus ihnen
Schaden entsteht. Denn schon manche Menschen sind durch ihren Reichtum zugrunde
gegangen, andere durch ihre Tapferkeit. Es muss also, wenn wir über solche Dinge und
ausgehend von solchen Voraussetzungen reden, genügen, grob und im Umriss (typo) die
Wahrheit aufzuzeigen; und wenn wir über dasjenige reden, was meistens (hos epi to poly) der
Fall ist, und dies zur Voraussetzung haben, muss es genügen, zu Folgerungen zu kommen, die
ebenso beschaffen sind.
(b) Auf dieselbe Weise muss daher auch jede Aussage aufgenommen werden. Denn einen
gebildeten Menschen erkennt man daran, dass er in jeder Gattung der Dinge nur so viel
Genauigkeit sucht, wie die Natur der Sache zulässt: Von einem Mathematiker bloße
Plausibilitätsargumente zu akzeptieren ist ähnlich verfehlt, wie von einem Redner strenge
Beweise zu verlangen. Jeder beurteilt die Dinge gut, die er kennt, und ist darin ein guter
Beurteiler (krites). Gut über einen bestimmten Gegenstand urteilt, wer darin ausgebildet ist,
und gut überhaupt (haplos), wer in allem ausgebildet ist.
(c) Aus diesem Grund sind junge Menschen keine geeigneten Hörer der politischen
Wissenschaft. Denn sie sind unerfahren in den Handlungen, in denen das Leben besteht; diese
aber bilden gerade den Gegenstand und Ausgangspunkt der Untersuchung. Ferner wird für
sie, die dazu neigen, ihren Affekten zu folgen, das Zuhören vergeblich und nutzlos sein; denn
Ziel der politischen Untersuchung ist ja nicht das Erkennen (gnosis), sondern das Handeln
(praxis). Dabei ist es gleichgültig, ob sie jung an Jahren oder unreif im Charakter sind; ihre
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Unzulänglichkeit hängt nicht von der Zeit ab, sondern ergibt sich daraus, dass sie vom Affekt
geleitet leben und auf diese Weise, ihre jeweiligen Ziele verfolgen. Solchen Menschen bringt
das Erkennen keinen Nutzen — ebenso wenig wie den Unbeherrschten. Hingegen wird für
diejenigen, die ihre Strebungen (orexis) nach der Vernunft (logos) gestalten und entsprechend
handeln, das Wissen über diese Dinge von vielfältigem Nutzen sein. Das sei einleitend gesagt
über den Hörer, wie die Untersuchung aufzunehmen ist und was wir vorhaben.

Kommentar/Aufgaben:

Es ist nicht leicht, die methodischen Bemerkungen zur Ethik, die Aristoteles hier bietet, aus
dem Stand nachzuvollziehen, weil hier einerseits das aristotelische Verständnis der
Wissenschaft vorausgesetzt wird, wie es in anderen Schriften (Zweite Analytiken, Physik,
Metaphysik) entfaltet wird, und andererseits dieser sogenannte erste Methodenexkurs auch
in der Nikomachischen Ethik durch weitere ergänzt wird (vor allem I 2, 7, 8-9, II 2).

Versuchen Sie dennoch, aus dem Text möglichst präzise herauszuarbeiten, welche
Gesichtspunkte Aristoteles für maßgeblich hält und wie er sie erläutert.

(Meines Erachtens ist es nicht unbedingt erforderlich, bei einer ersten Annäherung an die
Nikomachische Ethik auch die anderen Methodenexkurse eingehend zu berücksichtigen. Es
dürfte aber durchaus hilfreich sein, wenigstens einen Blick auf die weiteren Methodenexkurse
aus dem ersten Buch zu werfen, vor allem auf I 2, (2.a-c) und I 7.)

Lesen Sie danach den Beitrag von Otfried Höffe „Ethik als praktische Philosophie –
Methodische Überlegungen (I 1, 1094a22-1095a13)“ aus Ders., Hg.: Aristoteles. Die
Nikomachische Ethik, Berlin 1995, 13-38. Vergleichen Sie Ihre eigenen Ergebnisse mit diesem
Beitrag und besprechen Sie etwaige Differenzen.

2. Das Glück als das beste Gut

(1.) Nach üblicher Auffassung ist das beste Gut das Glück. (a) Übereinstimmung in der
Benennung. (b) Dissens über den Inhalt.

(1.a) Nehmen wir nun das Vorherige wieder auf: Da jedes Erkennen und jedes Vorhaben nach
einem Gut strebt, wonach strebt unserer Meinung nach die Politikwissenschaft, und welches
ist das höchste aller durch Handeln erreichbaren Güter (prakton agathon)? Im Namen
stimmen die meisten Menschen ziemlich überein: «Das Glück» (eudaimonia), sagen nämlich
sowohl die Leute aus der Menge (polloi) als auch die kultivierten Menschen (charientes); und
dabei setzen sie das Glücklichsein damit gleich, dass man gut lebt (eu zen) und gut handelt (eu
prattein).
(b) Darüber jedoch, was das Glück ist, besteht Uneinigkeit, und die Leute aus der Menge geben
nicht dieselbe Antwort wie die Gebildeten. Jene nämlich halten es für etwas Sichtbares und
Offenkundiges, wie Lust (hedone) oder Reichtum (ploutos) oder Ehre (time), wobei jeder
etwas anderes nennt und oft auch ein und derselbe Verschiedenes: wenn er krank ist, die
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Gesundheit, wenn er arm ist, den Reichtum. Im Bewusstsein ihrer eigenen Unwissenheit aber
bewundern sie jene, die etwas Großes sagen, das ihr Verständnis übersteigt. Einige Leute aber
meinten, dass es neben diesen vielen Gütern ein anderes, für sich seiendes (kath’hauto) Gut
gibt, das auch für alle eben genannten Güter die Ursache ihres Gutseins ist. Es ist wohl eine
ziemlich vergebliche Mühe, alle Meinungen zu prüfen, und es genügt, diejenigen zu
untersuchen, die am weitesten verbreitet sind oder einigermaßen begründet scheinen.

Kommentar/Aufgaben:

Aristoteles greift hier auf gängige Ansichten über das ariston zurück. Neben der Benennung
durch „eudaimonia“ sieht er eine wichtige Übereinstimmung darin, dass Glücklichsein
bedeutet, gut zu leben (eu zen) und gut zu handeln (eu prattein). Weder das eine noch das
andere wird hier erläutert. Trotzdem lohnt es sich, darüber nachzudenken, was gut Leben und
gut Handeln unterscheidet und wie beides verbunden sein könnte. Während „Gebildete“ und
„Ungebildete“ in Bezug auf die Benennung und diesen grundsätzlichen Gesichtspunkt noch
überstimmen, unterscheiden sie sich, wenn es um die genauere Bestimmung des Glücks geht.

Welche Unterschiede führt Aristoteles an? Was verrät dieser Rückgriff auf gängige Meinungen
über das aristotelische Verständnis der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Wahrheit?
Vergleichen Sie dazu auch I 8 (1.) und VII 1 (3.).

(2.) Methodische Bemerkungen. (a) Argumentation aus den Prinzipien oder zu den Prinzipien.
(b) Das uns Bekannte und das überhaupt Bekannte. (c) Die Notwendigkeit richtiger
Handlungsgewohnheiten für den Erwerb von praktischem Wissen.

(2.a) Dabei sollten wir beachten, dass es einen Unterschied gibt zwischen Begründungen
(logos), die von den Prinzipien (arche) ausgehen, und solchen, die zu den Prinzipien hinführen.
Mit Recht nahm daher auch Platon diese Schwierigkeit immer wieder auf, indem er
untersuchte, ob der Weg von den Prinzipien kommt oder zu ihnen führt — wie der Lauf im
Stadion von den Schiedsrichtern zum Wendepunkt und zurück geht. Man muss nämlich von
dem Bekannten (gnorimon) ausgehen.
(b) Doch dieses ist von zweifacher Art. Das eine ist das für uns (hemin) Bekannte, das andere
das überhaupt (haplos) Bekannte. Vermutlich müssen wir also mit dem für uns Bekannten
anfangen.
(c) Daher muss, wer für das Hören von Ausführungen über das Werthafte (kalon) und
Gerechte (dikaion), allgemein über die Themen der politischen Untersuchung (politika),
geeignet sein will, bereits einen guten Charakter erworben haben. Denn Ausgangspunkt
(arche) ist das Dass (hoti), und wenn uns dies hinreichend deutlich ist, wird nicht noch darüber
hinaus das Warum (dihoti) erforderlich sein. Wer so beschaffen ist [einen guten Charakter
erworben hat], der besitzt entweder die ersten Prinzipien (arche), oder er wird sie leicht
erhalten. Der, für den weder das eine noch das andere gilt, höre auf die Worte Hesiods: «Von
allen der Beste ist, wer selbst alles bedenkt; gut ist auch, wer auf den guten Rat eines anderen
hört. Wer aber weder selbst denkt noch sich zu Herzen nimmt, was er von einem anderen
hört, ist ein unbrauchbarer Mann.»
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Kommentar/Aufgaben:

Es handelt sich hier um den sogenannten zweiten Methodenexkurs, der nach Möglichkeit im
Zusammenhang mit dem ersten betrachtet werden sollte.

Vergleichen Sie die methodischen Bemerkungen an dieser Stelle mit den Bemerkungen des
ersten Methodenexkurses (I 1, 4.a-c). Worin unterscheiden sich diese?

3. Die verbreiteten Glückskonzeptionen

(1.) Die drei Hauptformen des Lebens. Das Leben der Lust.

(1.) Wir wollen nun die Erörterung an dem Punkt wieder aufnehmen, von dem wir
abgeschweift sind. Nach den Lebensformen zu schließen scheinen die Leute aus der Menge,
das heißt die vulgärsten, das Gut und das Glück — nicht ganz grundlos — in der Lust (hedone)
zu sehen, weshalb sie das Leben des Genusses (bios apolaustikos) lieben. Es gibt nämlich
insbesondere drei vorherrschende Lebensformen: die gerade erwähnte, dann das politische
(politikos) Leben und als dritte das betrachtende (theoretikos) Leben. Die meisten Menschen
nun ziehen offenbar auf gänzlich sklavenhafte Art das Leben des Viehs vor. Sie bekommen
aber auf gewisse Weise Recht, da viele unter den Mächtigen ähnliche Empfindungen haben
wie Sardanapal.

Kommentar/Aufgaben:

Aristoteles erläutert hier genauer, welche Lebensformen (bioi) zu unterscheiden sind, wenn
es darum geht, den inhaltlichen Dissens über die eudaimonia genauer zu verstehen.
Unterschieden werden das Lustleben bzw. das Leben des Genusses (bios apolaustikos), das
politische Leben (bios politikos) und das betrachtende Leben (bios theoretikos). Daneben wird
auch das Leben des Gelderwerbs (chrematistes bios) angeführt, allerdings ohne dieses auf
dieselbe Ebene zu stellen wie die drei wichtigsten. Das Kapitel war sehr wirkungsmächtig, ist
aber nicht ganz leicht zu verstehen, weil sehr vieles ungesagt bleibt. Dies gilt schon für das
Genussleben, auf das die „Leute aus der Menge“ setzen. Dabei kommt die Lust (hedone)
offensichtlich nicht gut weg. Weniger klar ist, woran dies liegt.

Was ist dem knappen Vergleich (einerseits mit Sklaven bzw. Vieh und andererseits mit
Mächtigen wie Sardanapal) zu entnehmen?

Zweifellos handelt es sich hier nicht um das letzte Wort zur Lust, mit dem für Aristoteles zu
rechnen ist. Dies kann man schon der Tatsache entnehmen, dass die Nikomachische Ethik
gleich zwei ausführliche Lustabhandlungen enthält (VII 12-15 und X 1-5). Außerdem wird im
zweiten Buch der wichtige Gesichtspunkt herausgearbeitet, dass arete als ethische Tugend
bzw. charakterliche Bestheit nur dort vorliegt, wo man nicht nur das richtige tut, also
tugendhaft handelt und die Mitte zwischen schlechten Extremen trifft, sondern dabei auch

13
Lust empfindet – oder doch wenigstens keine Unlust (II 2 (3.b)). Im ersten Buch gibt es bereits
einen Vorgriff auf diesen Gesichtspunkt (I 9 (4.c-d)). Aristoteles sagt hier, das Leben
tugendhafter Menschen bedürfe „nicht zusätzlich der Lust wie eines schmückenden
Umhangs“, sondern habe „seine Lust in sich“.

Aber wie lässt sich diese Integration der Lust (auf der Grundlage einer Tugendkonzeption) von
einer hedonistischen Konzeption (im Sinne des in I 3 kritisierten Genusslebens)
unterscheiden? Worin könnte die entscheidende Differenz liegen?

(2.) Das politische Leben: (a) mit der Ehre als Lebensziel, (b) mit der Tugend als Lebensziel.

(2.a) Die kultivierten und aktiven (praktikoi) Menschen dagegen wählen die Ehre (time), denn
darin besteht grob gesprochen das Ziel des politischen Lebens. Die Ehre scheint allerdings
oberflächlicher zu sein als das gesuchte Ziel, da man annimmt, dass sie mehr von den
Ehrenden als von dem Geehrten abhängt, während wir die dunkle Ahnung haben, dass das
Gut etwas Eigenes (oikeion) ist, das man jemandem nur schwer wegnehmen kann. Außerdem
scheint man die Ehre zu verfolgen, um sich zu überzeugen, dass man selbst gut ist. Jedenfalls
will man von den Klugen (phronimos) geehrt werden und von denen, denen man bekannt ist,
und das aufgrund der eigenen Gutheit (arete). Es ist also klar, dass zumindest nach Meinung
dieser Menschen Gutheit mehr Gewicht hat als Ehre.
(b) Vielleicht könnte man dann annehmen, dass eher diese [die Gutheit] das Ziel des
politischen Lebens ist. Doch erweist auch diese sich als etwas, das zu wenig fertig (ateles) ist.
Denn man hält es für möglich, dass jemand, während er die Tugend besitzt, schläft oder das
ganze Leben hindurch untätig ist, und darüber hinaus, dass man im Besitz der Tugend die
größten Übel und Unglücksfälle erleidet. Jemanden, der so lebt, würde niemand glücklich
nennen, es sei denn um der Rettung der These willen. Das genügt zu diesen Fragen, da sie
ausführlich auch in den populären Schriften behandelt wurden.

Kommentar/Aufgaben:

Das politische Leben kommt wesentlich besser weg als das Genussleben. Allerdings wird die
Bezugnahme auf Ehre (time) ebenfalls als problematisch entlarvt.

Worauf zielt die aristotelische Kritik und was verbindet Ehre mit Tugend bzw. Gutheit, wie
Wolf „arete“ meist übersetzt?

Im Anschluss kritisiert Aristoteles auch den Tugendbezug. Dies hat häufig irritiert, weil er
Tugend später – so schon im Ergon-Argument aus I 6, dann aber natürlich auch in Buch II - ja
selbst als maßgebliche Grundlage für die Realisierung des Glücks beansprucht.

Wie kritisiert er die Tugend in I 3? Und könnte sich diese Kritik mit dem späteren Rückgriff auf
Tugend vereinbaren lassen?

14
(3.) Das betrachtende Leben.

(3.) Die dritte der Lebensformen ist die betrachtende (theoretikos), die wir an späterer Stelle
untersuchen werden.

Kommentar:

Das betrachtende oder theoretische Leben wird nur erwähnt, aber überhaupt nicht
erläutert. Wer Genaueres erfahren möchte, muss die berühmten Kapitel EN X 6-9 lesen.
Allerdings ist deren Verhältnis zu den vorangegangenen Büchern, die eudaimonia primär auf
ethische Tugend und nicht auf Weisheit beziehen, schwer zu verstehen und in der Forschung
bis heute extrem kontrovers. Ich habe dies an anderer Stelle genauer ausgeführt: Vgl. „Das
Göttliche in uns und das menschliche Leben. Zur Aristotelischen eudaimonia und ihrer
Rezeption in der Florentiner Renaissance“, in: Christoph Strosetzki, Hg.: Ethik und Politik des
Aristoteles in der frühen Neuzeit, Hamburg 2016, 69-91. Für den hier vorliegenden Kontext
sind besonders die beiden Aristoteles-Kapitel aus dem Aufsatz von Interesse: I. Die
Aristotelische eudaimonia zwischen Inklusivismus und Exklusivismus, II: Versuch einer
Einschätzung der konkurrierenden Ansätze (70- 79).

(4.) Ausklammerung des Lebens für den Reichtum.

(4.) Das Leben des Gelderwerbs (chrematistes bios) hat etwas Erzwungenes, und der Reichtum
ist sicher nicht das gesuchte Gut. Denn er ist nützlich (chresimos), das heißt, er wird [nur]
anderem zuliebe erstrebt. Deswegen könnte man eher die davor erwähnten Dinge für Ziele
halten; denn diese werden um ihrer selbst willen geschätzt. Doch auch sie scheinen nicht das
gesuchte Ziel zu sein, obwohl für sie viele Argumente verbreitet sind. Hiermit wollen wir uns
jetzt nicht weiter befassen.

Kommentar/Aufgaben:

Die kritische Auseinandersetzung mit dem Reichtum ist interessant, doch sehr knapp.

Was ist nach Aristoteles der Status des Gelderwerbs? Und warum wird hier eine weitere
Lebensform nachgereicht, die zunächst keine Berücksichtigung fand?

4. Kritik an Platons philosophischer Konzeption des Guten

(1.) Es gibt keine allgemeine Form des Guten. (2.) Die Hinzufügungen „selbst“ und „ewig“
tragen nichts bei. (3.) Weitere Einwände aufgrund der Verschiedenartigkeit der Güter. (4.) Die
Form des Guten ist, selbst wenn es sie gibt, irrelevant für die Ethik.

(1.) Besser sollten wir vielleicht das allgemeine Gute (to katholou) untersuchen und die
Schwierigkeiten hinsichtlich der Frage erörtern, wie es gemeint ist, obwohl eine solche
15
Untersuchung uns widerstrebt, weil es Freunde von uns waren, die die Formen (eidos)
eingeführt haben. Jedoch wird man es wohl für besser, ja für geboten halten, gerade wenn es
um die Erhaltung der Wahrheit geht, sogar Nahestehendes zu zerstören, und dies
insbesondere dann, wenn wir Philosophen sind. Obwohl beide uns lieb sind, ist es heiliges
Gesetz, der Wahrheit die höhere Ehre zu geben. (a) Diejenigen nun, die diese Lehre einführten,
stellten nicht Formen (idea) für Dinge auf, bei denen von «früher» (proteron) und «später»
(hysteron) die Rede ist; eben deswegen stellten sie auch keine Form der Zahl für die Reihe der
Zahlen auf. Nun wird «gut» gebraucht in den Kategorien des Was-es-ist (Substanz; ti estin),
des Wie-es-beschaffen-ist (Qualität; poion), des In-Bezug-worauf-es-ist (Relation; pros ti). Das,
was für sich (kath’ hauto) besteht, die Substanz (ousia), ist aber naturgemäß früher als das,
was in Bezug auf etwas ist (denn das Letztere ist wie ein Seitentrieb und Akzidens des
Seienden). Daher wird es keine gemeinsame Form (idea) über diesen Gütern geben.
(b) Ferner: Da «gut» (agathon) in ebenso vielen Bedeutungen verwendet wird wie «seiend»
(on) — denn es wird ausgesagt in der Kategorie des Was-etwas-ist (Gott und Vernunft), des
Wie-beschaffen (die Arten der Gutheit (arete)), des Wie-groß (das richtige Maß), des In-Bezug-
worauf (das Nützliche), des Wann (der richtige Augenblick), des Wo (der richtige
Aufenthaltsort) und so weiter —, kann das Gute offensichtlich nicht ein bestimmtes Eins sein,
das allen Fällen von Gutsein gemeinsam ist; denn dann würde «gut» nicht in allen Kategorien
ausgesagt, sondern nur in einer.
(c) Ferner: Da es von denjenigen Dingen, die einer einzigen Form entsprechen, auch nur eine
Wissenschaft gibt, würde es auch von allen Gütern nur eine einzige Wissenschaft geben. Nun
gibt es aber viele Wissenschaften sogar von den Gütern, die unter eine einzige Kategorie
fallen, wie es zum Beispiel viele Arten des Wissens vom richtigen Augenblick gibt. So wird der
richtige Augenblick im Krieg von der Strategik bestimmt, bei Krankheiten von der Medizin,
ähnlich wie das richtige Maß bei der Ernährung von der Medizin, beim Sport von der beispiel
Gymnastik bestimmt wird. e
(2.a) Man könnte auch fragen, was sie denn eigentlich bei einem Ding jeweils mit dem
Ausdruck «selbst» (auto) meinen, wenn wir es doch in «Mensch selbst» und «Mensch» mit
ein und derselben Definition (logos) zu tun haben, der Definition des Menschen. Denn insofern
sie Menschen sind, unterscheiden sie sich durch nichts. Wenn dem so ist, dann wird das auch
für das Gute gelten.
(b) Aber auch dadurch, dass es ewig ist, wird das Gute nicht in höherem Maß ein Gutes sein,
da doch das, was lange Zeit dauert [weiß ist], nicht weißer ist als das, was nur einen Tag
besteht [weiß ist]. Einleuchtender scheint, was die Pythagoreer über das Gute sagen, die das
Eine in die Liste der Güter setzen; ihnen ist wohl auch Speusippos gefolgt. Doch dies sei
anderswo erörtert.
(3.a) Das von uns Gesagte könnte allerdings einen Einwand hervorrufen, weil man sagen
könnte, dass sie [die Vertreter der Formen] nicht von allen Gütern geredet haben. Vielmehr
würden nach ihrer Auffassung diejenigen Güter, die als solche (kath’ hauto) gesucht und
geliebt werden, gemäß einer Form gut genannt, während Güter, die erstere in gewisser Weise
hervorbringen oder erhalten oder ihr Gegenteil verhindern, aufgrund von diesen und in
anderem Sinn als Güter bezeichnet werden. Man würde dann also offensichtlich auf zwei
Weisen von Gütern reden: Die einen würden gut als solche genannt, die anderen gut aufgrund
von diesen. Trennen wir also von den nützlichen Gütern diejenigen, die gut als solche sind,
und sehen wir zu, ob diese [letzteren] im Hinblick auf ein und dieselbe Form (idea) als gut
bezeichnet werden. Von welchen Arten von Gütern würde man annehmen, dass sie gut als
solche sind? Sind es jene, die auch losgelöst von anderen Dingen gesucht werden, wie Denken,

16
Sehen und bestimmte Arten der Lust und der Ehre? Denn selbst wenn wir diese wegen anderer
Dinge suchen, wird man sie dennoch zu denjenigen Dingen rechnen, die gut als solche sind.
Oder ist nichts anderes als solches gut außer der Form des Guten? In diesem Fall wird die Form
inhaltsleer sein. Wenn andererseits die erwähnten Dinge ebenfalls als solche gut sind, dann
muss in allen diesen Fällen dieselbe Definition (logos) des Guten auftreten, wie die Definition
des Weiß—Seins ebenso in Schnee wie in Bleiweiß auftreten muss. Ehre, Denken und Lust
haben jedoch, gerade insofern sie gut sind, andere und unterschiedliche Definitionen. Folglich
ist «gut» nicht etwas, was Gütern gemeinsam ist und einer einzigen Form entspricht.
(b) Wie wird das Wort, «gut» aber dann gebraucht? Es scheint ja nicht eines der Wörter zu
sein, die zufällig homonym sind. Werden die Güter dann gut genannt, weil sie alle von ein und
demselben Gut abgeleitet sind oder alle zu ein und demselben Gut beitragen, oder sind sie
vielmehr gut der Analogie nach? Denn was das Sehen im Körper ist, ist in der Seele die
Vernunft (nous), und so auch in anderen Fällen. Doch vielleicht sollten wir diese Fragen jetzt
lassen. Sie genauer zu fassen, gehört eher in einen anderen Bereich der Philosophie.
(4.) Dasselbe gilt auch für die Form. Denn selbst wenn es ein Gutes gibt, das Eines ist und von
allen Gütern prädiziert wird, oder das etwas Abgetrenntes (choriston), für sich Seiendes ist, so
wird doch der Mensch dieses offensichtlich weder bewirken noch erwerben können; gerade
ein solches Gut aber wird gesucht. Vielleicht könnte jemand es auch im Hinblick auf diejenigen
Güter, die sich erwerben und bewirken lassen, besser finden, dass wir die Form kennen, da
wir mit ihr als Muster (paradeigma) auch das für uns Gute besser erkennen und dadurch
erreichen können. Dieses Argument hat eine gewisse Plausibilität, scheint aber im
Widerspruch zum Vorgehen in den Wissenschaften zu stehen. Denn obwohl jede von diesen
auf ein Gut zielt und den Gegenstand eines Bedürfnisses sucht, lassen sie die Erkenntnis des
Guten-selbst beiseite. Doch dass alle Fachleute in einem Herstellungswissen (technites) ein so
großes Hilfsmittel ignorieren und nicht nach ihm suchen würden, ist unwahrscheinlich. Es ist
außerdem schwer zu sehen, was ein Weber oder Tischler für sein Herstellungswissen (techne)
gewinnen soll, wenn er dieses Gute-selbst kennt, oder wie derjenige ein besserer Arzt oder
Stratege sein soll, der die Form-selbst geschaut hat. Offenkundig untersucht der Arzt auch die
Gesundheit nicht auf diese Weise; vielmehr untersucht er die Gesundheit des Menschen oder
vielleicht, noch spezieller, die Gesundheit dieses bestimmten Menschen, da er Individuen
heilt. So viel zu diesen Fragen.

Kommentar/Aufgaben:

Die Kritik, die Aristoteles an der Ethik seines Lehrers übt, besitzt für das Verständnis seiner
eigenen Konzeption selbstverständlich große Bedeutung. Allerdings ist sie sehr
voraussetzungsreich und auch dann schwer zu verstehen, wenn man Grundzüge der
platonischen Theorie bereits kennt. Ich empfehle, das Kapitel eher kursorisch zu behandeln
und nur die wichtigsten Gesichtspunkte zu berücksichtigen.

Was wendet Aristoteles gegen Platons Annahme allgemeiner Ideen oder Formen (eide: Plural
zu eidos) ein? Welche Probleme kommen hinzu, wenn man mit einem eidos des Guten
rechnet? Wieso wäre ein eidos des Guten, das transzendent bzw. abgetrennt (choriston), d.h.
weder wahrnehmbar, noch körperlich, sondern – wie Platon meint – nur im reinen Denken zu
erfassen ist, für unser Handeln ganz nutzlos?

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5. Das Glück erfüllt die Kriterien für das beste Gut

(1.) Wiederaufnahme der Frage nach einem besten Gut des Handelns.

(1.) Kommen wir nun auf die Frage zurück, was das gesuchte Gut (agathon) sein könnte.
Offensichtlich ist es für verschiedene Arten des Handelns und Herstellungswissens
verschieden. Denn es ist ein anderes in der Medizin, in der Strategik und ebenso in den slle
anderen Bereichen. Was ist nun das Gut in jedem dieser Fälle? Ist es etwa das, dem zuliebe Handlunge
n haben
das Übrige getan wird? In der Medizin ist dies die Gesundheit, in der Strategik der Sieg, in der ein Ziel
Baukunst das Haus, in einem anderen Bereich wieder etwas anderes, kurz: Bei jeder Handlung und es
und jedem Vorhaben ist es das Ziel; denn dieses ist es, um dessentwillen die Menschen jeweils gbit auhc
die übrigen Dinge tun. Wenn es daher ein Ziel für alle praktischen Unternehmungen gibt, dann noch ein
höchstes
wird dieses das Gut sein, das Gegenstand des Handelns ist (prakton agathon), und wenn es GUt
mehrere Ziele gibt, dann werden es diese sein. So ist unser Argumentationsgang auf anderem
Weg am selben Punkt angekommen; doch müssen wir versuchen, das noch besser zu
verdeutlichen.

Kommentar/Aufgaben:

Im Zentrum steht hier die These, das Gut in der Medizin, der Strategik, der Baukunst oder
anderen Bereichen sei „das, dem zuliebe das übrige Getan wird“ bzw. das Ziel, „um
dessentwillen die Menschen jeweils die übrigen Dinge tun“. Der Gesichtspunkt ist nicht neu,
sondern greift den Einstieg in I 1 auf.

Dennoch erscheint es ratsam, sich diesen teleologischen Grundgedanken noch einmal zu


vergegenwärtigen, anhand der gegebenen Beispiele zu besprechen und erneut auf die Frage
nach einem besten, höchsten oder letzten Gut/Ziel zu beziehen.

(2.) Das gesuchte Gut muss die Bedingung der Zielhaftigkeit erfüllen. (a) Erläuterung der
Bedingung. (b) Die Kriterien der Zielhaftigkeit. (c) Nur das Glück erfüllt diese Kriterien.

(2.a) Da sich die Ziele als viele erweisen, wir von diesen aber einige um anderer Dinge willen
wählen (wie Reichtum, Flöten und allgemein die Werkzeuge), sind offensichtlich nicht alle
Ziele abschließende Ziele (teleios). Es ist aber klar, dass das beste Gut abschließenden
Charakter hat. Daher wird, wenn es nur ein einziges Abschließendes gibt, dieses das Gesuchte
sein, wenn aber mehrere, dasjenige unter ihnen, welches am meisten abschließend ist.
(b) Wir nennen das als solches (kath’hauto) Erstrebte mehr abschließend als das um einer
anderen Sache willen (di’ heteron) Erstrebte, und das niemals um einer anderen Sache willen
Erstrebte mehr abschließend als das sowohl als solches wie um anderer Sachen willen
Erstrebte, während wir abschließend überhaupt dasjenige nennen, was immer als solches und
nie um einer anderen Sache willen gewählt wird.
(c) Als derartiges Ziel gilt aber insbesondere das Glück (eudaimonia); dieses nämlich wählen
wir immer um seiner selbst willen und niemals um anderer Dinge willen, während wir Ehre,
Lust, Vernunft und jede Tugend zwar um ihrer selbst willen wählen (denn selbst wenn sich
nichts aus ihnen ergeben würde, würden wir doch jedes von ihnen wählen), aber auch dem
18
Glück zuliebe, weil wir annehmen, dass wir durch sie glücklich sein werden. Das Glück dagegen
wählt niemand diesen anderen Zielen zuliebe oder überhaupt um anderer Dinge willen.

Kommentar/Aufgaben:

Aristoteles differenziert Ziele hier danach, ob sie vollkommen bzw. abschließend (teleios) sind
oder nicht, und danach, ob sie mehr oder weniger abschließend sind. Die höchste Stufe nimmt
das am meisten Abschließende (teleiotaton) ein.

Besprechen Sie diese Stufen anhand der aristotelischen Beispiele und arbeiten Sie heraus,
weshalb nur die eudaimonia „am meisten abschließend“ bzw. „abschließend überhaupt“ sein
soll. Weshalb gehören Ehre, Lust, Vernunft und Tugend auf eine niedrigere Stufe? Wo sind die
zuvor genannten Ziele Gesundheit, Sieg und Haus einzuordnen – auf derselben Stufe wie Ehre,
Lust, Vernunft und Tugend? GEsundheit sieg usw sind niedriger als ehre usw

(3.) Das gesuchte Gut muss die Bedingung der Autarkie erfüllen. (a) Nennung der Bedingung.
(b) Exkurs über die Reichweite. (c) Das Kriterium der Autarkie und seine Erfüllung durch das
Glück. (d) Zusätzliche Erläuterung der Autarkie. (4.) Zusammenfassung.

(3.a) Dasselbe Ergebnis scheint auch aus dem Kriterium der Autarkie (autarkeia) zu folgen;
denn das abschließende Gut gilt als autark.
(b) Mit «autark» meinen wir nicht, was für einen Menschen allein genügt, für jemanden, der
ein isoliertes Leben führt, sondern was auch für die Eltern, Kinder, Ehefrau, allgemein für die
Freunde und Mitbürger genügt, da der Mensch seiner Natur nach in die politische
Gemeinschaft gehört. Hier muss man allerdings eine bestimmte Grenze festlegen; denn wenn
problem der Reichweite
wir den Kreis auf die Vorfahren, Nachkommen und Freunde von Freunden ausdehnen, geht
die Reihe ins Unendliche. Doch dies müssen wir später untersuchen.
(c) Das Autarke bestimmen wir als dasjenige, was auch dann, wenn man nur es allein besitzen
würde, das Leben wählenswert macht und ihm nichts fehlen lässt. Für so beschaffen halten
wir aber das Glück. (d) Wir halten es außerdem für das wählenswerteste unter allen Dingen,
wobei es nicht als ein Gut unter anderen Gütern gezählt wird — zählt man es so mit, würde es
offensichtlich wählenswerter, wenn man auch nur das kleinste Gut hinzuaddiert, da das
Hinzugefügte ein Plus an Gütern ergibt und jeweils das größere Gut wählenswerter ist.
(4.) Das Glück erweist sich also als etwas, das abschließend und autark ist; es ist das Ziel all
dessen, was wir tun.

Kommentar/Aufgaben:

Aristoteles operiert hier mit einem besonderen Verständnis der Autarkie.

Was meint er an dieser Stelle mit „autark“ und was nicht? Weshalb führt das beanspruchte
Verständnis der Autarkie zum selben Ergebnis wie die Betrachtung der Zielhaftigkeit?

19
6.-7. Bestimmung des besten Guts und Bewertung des Ergebnisses

6. Bestimmung des Glücks als Leben in der Betätigung der menschlichen Gutheit

(1.) Ankündigung der Suche nach einer genaueren Definition des Glücks. (2.) Die Frage nach
der Funktion des Menschen. (a) Erster Hinweis auf eine Bedeutung von „gut“ im Kontext des
Funktionsbegriffs. (b) Analoge Argumentation für eine Funktion des Menschen. (c)
Ausgrenzung dieser Funktion.

(1.) Doch zu sagen, dass das beste Gut im Glück besteht, ist wohl offensichtlich ein
Gemeinplatz, und man wünscht sich, noch genauer erläutert zu haben, was es ist.
(2.) Nun wird das vielleicht geschehen können, wenn man die Funktion (ergon) des Menschen
erfasst. (a) Wie man nämlich annimmt, dass für den Flötenspieler, den Bildhauer und jeden
Fachmann in einem Herstellungswissen, allgemein für jeden, der eine bestimmte Funktion
und Tätigkeit (praxis) hat, «gut» (agathos) und «auf gute Weise» (eu) in der Funktion liegt, so
sollte man annehmen, dass das wohl auch für den Menschen zutrifft, wenn er wirklich eine
bestimmte Funktion hat.
(b) Sollten also wirklich der Schreiner und der Schuster bestimmte Funktionen und Tätigkeiten
haben, der Mensch hingegen keine, sondern von Natur aus ohne Funktion sein? Oder kann
man, ebenso wie offensichtlich das Auge, die Hand, der Fuß, allgemein jeder Körperteil eine
bestimmte Funktion besitzt, so auch für den Menschen eine bestimmte Funktion neben all
diesen Funktionen ansetzen?
(c) Welche nun könnte das sein? Das Leben scheint der Mensch mit den Pflanzen gemeinsam
zu haben, gesucht ist aber die ihm eigentümliche (idios) Funktion. Das [vegetative] Leben der
Ernährung und des Wachstums ist also auszusondern. Als Nächstes käme wohl das Leben der
Wahrnehmung, doch auch dieses teilt der Mensch offenkundig mit dem Pferd, dem Rind und
überhaupt mit jedem Tier. Übrig bleibt also ein tätiges Leben desjenigen Bestandteils in der
menschlichen Seele (psyche), der Vernunft (logos) besitzt; von diesem hat ein Teil Vernunft in
der Weise, dass er der Vernunft gehorcht, der andere so, dass er sie hat und denkt. Da aber
auch von diesem letzteren Teil in zwei Bedeutungen gesprochen wird, müssen wir sagen, dass
er im Sinn der Betätigung (energeia) zu verstehen ist, da er so im eigentlicheren Sinn
bezeichnet werden dürfte.

Kommentar/Aufgaben:

Wolf übernimmt hier aus der englischsprachigen Literatur die Übersetzung „Funktion“ für
ergon, weil diese hier inzwischen als Standard etabliert ist, obwohl sie einräumt, dass an
manchen Stellen „Leistung“, „Aufgabe“ oder ähnliches besser passen würde (Anm. 39, S. 347).
Eine weitere Möglichkeit wäre „Werk“. Wo dieses in der Herstellung von etwas liegt, wie beim
Schuster, dessen ergon die Schuhe sind, kann man natürlich auch „Produkt“ sagen. Dies
schlägt die Brücke zur Verwendung von ergon in I 1, wäre als generelle Übersetzung aber zu
eng, weil es hier nicht nur um die technische Produktion gehen kann. Zu denken ist eher an
einen Zusammenhang von „Werk“ (ergon) und einer Tätigkeit als „Am-Werk-sein“ (en-ergeia),
die Akteure dadurch definiert, dass sie auf eine bestimmte Weise tätig bzw. am Werk sind -

20
wie den Kitharaspieler durch das Spielen der Kithara und den Menschen (als vernünftiges
Lebewesen) durch das Betätigen der Vernunft.

Diskutieren Sie die Vor- und Nachteile der verschiedenen Übersetzungen, erläutern Sie die
genannten Beispiele und klären Sie, was Aristoteles voraussetzt, wenn er die Frage nach dem
ergon auch auf den Menschen als solchen bezieht (nicht nur auf einzelne „Funktionsträger“
wie den Schuster oder Arzt). Warum liegt das ergon des Menschen in der Vernunft, nicht aber
im Leben, der Ernährung, dem Wachstum oder der Wahrnehmung?

Am Ende von (c) unterscheidet Aristoteles zwei Teile der Seele, einen, der die Vernunft „hat
und denkt“, und einen, der ihr „gehorcht“ (oder wenigstens gehorchen kann).

Arbeiten Sie heraus, wie diese Zweiteilung zu verstehen ist, indem Sie auf I 13 (2.-5.)
zurückgreifen, wo sie ausführlicher erläutert wird.

(3.) Die Gleichsetzung des Glücks mit der Betätigung der menschlichen Gutheit.

(3.) Wenn nun die Funktion des Menschen eine Tätigkeit (energeia) der Seele entsprechend
der Vernunft (kata logon) oder wenigstens nicht ohne Vernunft ist und wenn wir sagen, dass
die Funktion eines So-und-so und die eines guten (spoudaios) So-und-so zur selben Art
gehören, zum Beispiel die eines Kitharaspielers und die eines guten Kitharaspielers, und so
überhaupt in allen Fällen, wobei das Herausragen im Sinn der Gutheit (arete) zur Funktion
hinzugefügt wird (denn die Funktion eines Kitharaspielers ist, die Kithara zu spielen, und die
Funktion des guten Kitharaspielers, das auf gute Weise (eu) zu tun) — wenn das der Fall ist,
wenn wir aber als die Funktion des Menschen eine bestimmte Lebensweise annehmen, und
zwar eine Tätigkeit der Seele oder der Vernunft entsprechende Handlungen, als die Funktion
des guten Menschen aber, diese Handlungen auf gute und angemessene (kalos) Weise zu tun,
und wenn jede Handlung gut verrichtet ist, wenn sie im Sinn der eigentümlichen Tugend
verrichtet ist — wenn es sich so verhält: dann erweist sich das Gut für den Menschen (to
anthropinon agathon) als Tätigkeit (energeia) der Seele im Sinn der Gutheit (kat’ areten), und
wenn es mehrere Arten der Gutheit gibt, im Sinn derjenigen, welche die beste und am meisten
ein abschließendes Ziel (teleios) ist.

Kommentar/Aufgaben:

Wie argumentiert Aristoteles dafür, dass der Mensch gut wird bzw. seine eigentümliche
Gutheit/Bestheit/Tugend verwirklicht, indem er seine Vernunft möglichst gut gebraucht? Und
warum soll hierin zugleich die Verwirklichung des besten Guts (ariston) aus I 1, also der
eudaimonia, oder, wie er hier sagt, des „Guts für den Menschen“ (to anthropinon agathon)
liegen? Besprechen Sie, wie die Bestimmung der eudaimonia als „Tätigkeit (energeia) der
Seele im Sinn der Gutheit (kat´ areten)“ zu verstehen und einzuschätzen ist.

Die anschließende Rede von „mehreren Arten der Gutheit“ wird nicht näher erläutert und ist
schon deshalb isoliert kaum zu verstehen. Es liegt nahe, hier an die zuvor erwähnte Differenz
21
von zwei Seelenteilen zu denken und mit I 13 (5.) auf die Differenz von ethischen und
dianoetischen aretai zu beziehen. Wie diese Differenz zu verstehen ist, hängt mit der
Kontroverse um das Verhältnis von politischem und theoretischem Leben zusammen, auf die
bereits hingewiesen wurde. (Eine sogenannte „inklusivistische“ Interpretation, die beide
Lebensformen zu kombinieren versucht, trägt z.B. John L. Ackrill vor. Vgl. „Aristotle on
Eudaimonia (I 1-3 und 5-6)”, in: Otfried Höffe, Hg.: Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, Berlin
1995, 39-62. Eine „exklusivistische“ Interpretation, die eudaimonia ausschließlich dem
theoretischen Leben zuordnet, vertritt u.a. Peter Stemmer: „Aristoteles´ Glücksbegriff in der
Nikomachischen Ethik“, Phronesis 37 (1992), 85-110. Im zuvor erwähnten Aufsatz „Das
Göttliche in uns …“ versuche ich zu zeigen, inwiefern diese heute konkurrierenden Ansätze
problematisch sind, und eine traditionelle Stufentheorie – wonach beide Lebensformen Glück
ermöglichen, die Theorie aber an erster Stelle steht – vorzuziehen ist.)

(4.) Nachtrag.

(4.) Hinzufügen müssen wir: «in einem ganzen Leben». Denn eine Schwalbe macht noch
keinen Frühling, auch nicht ein Tag. So macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit keinen selig
(makarios) und glücklich (eudaimon).

Kommentar/Aufgaben:

Auch die Zeitbedingung für eudaimonia ist wichtig, wird von Aristoteles aber nur knapp
erläutert. Etwas ausführlicher geht er darauf in I 11 ein. Vor allem eines scheint wichtig:
Glücklich im Sinne der eudaimonia ist man nur, wenn die einschlägige Tätigkeit nicht nur
„kurze Zeit“ dauert. Welche Dauer für Aristoteles erforderlich ist, wird nicht näher
quantifiziert. Sie soll aber ein „ganzes Leben“ (teleios bios) dauern. Wenn eudaimonia als
„gutes Leben“ übersetzt und verstanden wird, muss man also aufpassen. Denn streng
genommen ist sie nicht ein ganzes (gutes) Leben, sondern die zuvor erläuterte Tätigkeit im
Sinne der arete, die freilich, wie hier gesagt wird, in einem ganzen Leben stattfindet (und
dieses in seiner grundlegenden Qualität prägt).

Um den Hintergrund ausführlicher zu erschließen, könnte folgender Aufsatz herangezogen


werden: Christoph Horn, „Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling. Eudaimonia und Zeit
bei Aristoteles“, in: Glück-Tugend-Zeit. Aristoteles über die Zeitstruktur des guten Lebens, hg.
von Walter Mesch, Stuttgart / Weimar 2013, 21-40.

7. Methodische Einordnung des Ergebnisses

(1.) Warum die Bestimmung des besten Guts skizzenhaft bleibt. (2.) Die Angemessenheit des
Genauigkeitsgrads an den Gegenstand. (3.) Die Gegebenheitsweisen von Prinzipien.
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(1.) Auf diese Weise soll das Gut skizziert sein. Denn man muss wohl zuerst skizzieren und
dann später die Details ausfüllen. Man sollte annehmen, dass jeder in der Lage ist, das
fortzuführen und im Detail auseinander zu legen, was einmal gut skizziert ist, und dass die Zeit
hierbei ein guter Entdecker oder Mitarbeiter ist — woraus auch die Fortschritte beim
Herstellungswissen entstehen; denn jeder kann hinzufügen, was fehlt.
(2.) Man muss aber auch an das früher Gesagte denken und nicht überall auf die gleiche Art
Genauigkeit suchen, sondern jeweils nur dem Gegenstandsbereich entsprechend und nur so
weit, wie es der Untersuchung angemessen ist. Denn ein Tischler und ein Geometer
untersuchen den rechten Winkel auf verschiedene Weisen: Der Erste untersucht ihn, soweit
er nützlich für seine Arbeit ist, der Zweite fragt, was er ist und wie beschaffen er ist (denn er
ist jemand, der die Wahrheit betrachtet). Ebenso ist dann auch bei allem anderen zu
verfahren, damit nicht die Nebensachen mehr werden als die Hauptsachen.
(3.) Man darf auch nicht überall die Ursache (aitia) auf die gleiche Weise suchen; in einigen
Fällen genügt es vielmehr, das Dass (to hoti) richtig aufgezeigt zu haben, wie z.B. bei den
Prinzipien (arche). Das Dass-es-so-ist ist etwas Erstes (proton) und ein Prinzip. Von den
Prinzipien erkennt man die einen durch Induktion (epagoge), andere durch Wahrnehmung
(aisthesis), andere erwerben wir durch eine gewisse Gewöhnung (ethismos), andere auf noch
andere Art. Man muss nun versuchen, an die jeweiligen Prinzipien ihrer Beschaffenheit
entsprechend heranzugehen, und sich bemühen, sie richtig zu bestimmen, weil sie großen
Einfluss auf das Folgende haben. Denn der Anfang ist, so sagt man, mehr als die Hälfte des
Ganzen, und wenn man von ihm ausgeht, werden viele Fragen geklärt.

Kommentar:

Eine gesonderte Berücksichtigung dieses Kapitels ist meines Erachtens nicht erforderlich. Es
könnte allerdings zusammen mit dem ersten Methodenexkurs aus I 1 und anderen
Methodenstellen betrachtet werden.

8.-12. Überprüfung der Bestimmung des Glücks anhand gängiger Vorstellungen

8. Bestätigung der Bestimmung des besten Guts durch verbreitete Meinungen über das Glück

(1.) Einleitung. (2.) Übereinstimmung mit der üblichen Dreiteilung der Güter. (3.)
Übereinstimmung mit einer verbreiteten Auffassung des Glücks.

(1.) Wir dürfen ihn [den Anfang] jedoch nicht nur aufgrund unserer Folgerung und unserer
Prämissen untersuchen, sondern müssen auch die gängigen Äußerungen (ta legomena)
darüber berücksichtigen. Denn mit der wahren Auffassung stimmen alle Gegebenheiten
überein, mit der falschen Auffassung aber steht das Wahre sogleich in Widerstreit.
(2.) Wenn man nun die Güter (ta agatha) in drei Klassen einteilt, in die äußeren, die
körperlichen und die seelischen Güter, so nennen wir diejenigen Güter, die sich auf die Seele
beziehen, im eigentlichen Sinn und im höchsten Grad Güter; man schreibt aber der Seele die
seelischen Handlungen und Tätigkeiten zu. Was wir gesagt haben, wird also richtig sein,
wenigstens nach dieser Ansicht, die eine alte ist und die Zustimmung der Philosophen hat.
Richtig ist auch, dass wir das Ziel mit bestimmten Handlungen (praxis) und Tätigkeiten
23
(energeia) gleichsetzen; denn so fällt es unter die Güter der Seele und nicht unter die äußeren
Güter.
(3.) In Einklang mit unserer Definition ist auch die Meinung, dass der Glückliche gut lebt (eu
zen) und gut handelt (eu prattein). Denn das Glück wurde praktisch als ein Gut-Leben (euzoia)
und Gut-Handeln (eupraxia) bestimmt.

Kommentar:

Auch dieses Kapitel müssen Sie nicht genauer behandeln. Auf (1.) hatte ich schon im
Zusammenhang mit I 2 (1.) hingewiesen.

9. Fortsetzung

(4.) Die erreichte Bestimmung des Glücks erfasst die Aspekte der gewöhnlichen
Glücksvorstellung. (a) Aufzählung der Aspekte. (b) Tugend. (c) Lust. (d) Zusammenfassung. (e)
Äußere Güter.

(4.a) Aber auch alles das, was im Zusammenhang mit dem Glück gesucht wird, kommt
offenkundig dem von uns bestimmten Gut zu. Die einen nämlich sehen das Glück in der
Tugend (arete), andere in der Klugheit (phronesis), andere in einer Art Weisheit (sophia),
andere sehen es in diesen Dingen oder in einem von ihnen verbunden mit Lust (hedone) oder
doch nicht ohne Lust; andere schließen auch das äußere Gedeihen ein. Einige dieser Ansichten
werden von vielen und seit alter Zeit vertreten, andere von wenigen angesehenen Menschen;
und es ist unwahrscheinlich, dass beide Gruppen sich vollständig irren, vielmehr werden sie
zumindest in einer Hinsicht oder sogar in den meisten Hinsichten Recht haben.
(b) Mit denjenigen nun, die das Glück mit der Tugend oder einer bestimmten Art der Tugend
gleichsetzen, ist unsere Erklärung im Einklang; denn zur Tugend gehört die entsprechende
Tätigkeit (energeia). Es macht aber gewiss keinen geringen Unterschied, ob man das beste Gut
im Besitzen oder im Gebrauchen vermutet, das heißt in einer Disposition (hexis) oder in einer
Betätigung (energeia). Denn eine Disposition kann vorhanden sein, ohne ein gutes Ergebnis
(agathon ti) hervorzubringen — wie bei jemandem, der schläft oder auf andere Art völlig
untätig ist —, während das bei einer Tätigkeit nicht möglich ist; denn wo die Tätigkeit
vorhanden ist, handelt man notwendigerweise, und man handelt gut. Wie bei den
Olympischen Spielen nicht die Edelsten (kalos) und Stärksten den Siegeskranz erhalten,
sondern diejenigen, die am Wettkampf teilnehmen (denn aus ihnen gehen die Sieger hervor),
so erlangen auch die edlen und guten Dinge (kala k’agatha) im Leben diejenigen, die richtig
handeln.
(c) Ihr Leben ist auch als solches (kath‘ hauto) angenehm (hedy). Sich zu freuen (hedesthai)
gehört nämlich zu den seelischen Dingen. Dabei freut sich jeder an dem, wovon er ein
Liebhaber genannt wird, zum Beispiel der Pferdeliebhaber an Pferden, der Liebhaber von
Schauspielen an Schauspielen; auf dieselbe Weise freut sich der Gerechtigkeitsliebende an
gerechten Handlungen, und überhaupt der Liebhaber der Tugend an Handlungen der Tugend.
Für die Leute aus der Menge nun stehen die angenehmen Dinge miteinander in Konflikt, weil
sie nicht von Natur aus angenehm sind, während für die, die das Werthafte (kalon) lieben, das
angenehm ist, was von Natur aus angenehm ist; so beschaffen aber sind die Handlungen der
24
Tugend, sodass sie erfreulich sowohl für diese Menschen wie auch als solche sind. Das Leben
dieser Menschen bedarf also nicht zusätzlich der Lust wie eines schmückenden Umhangs, es
hat vielmehr seine Lust in sich. Dem Gesagten ist nämlich hinzuzufügen, dass derjenige, der
sich nicht an werthaften Handlungen freut, auch nicht gut ist; niemand würde denjenigen
gerecht nennen, der sich nicht am gerechten Handeln freut, oder den großzügig, der sich nicht
an großzügigen Handlungen freut, und ebenso in den anderen Fällen. Wenn dem aber so ist,
dann müssen Handlungen der Tugend als solche erfreulich sein. Aber in der Tat auch gut
(agathos) und werthaft (kalos), und beides in höchstem Maß, wenn wirklich der Gute
(spoudaios) richtig über sie urteilt; er urteilt aber so, wie wir gesagt haben.
(d) Das Glück ist also das Beste (ariston), Werthafteste (kalliston) und Erfreulichste (hediston),
und diese Eigenschaften lassen sich nicht trennen, wie es in der delischen Inschrift geschieht:
«Das Werthafteste ist das Gerechteste, das Beste ist die Gesundheit, das Erfreulichste ist, das
zu bekommen, was man möchte.» Denn alle diese Eigenschaften kommen den besten
Tätigkeiten zu; diese aber, oder eine — die beste — von ihnen, ist, so sagen wir, das Glück.
(e) Dennoch bedarf das Glück, wie gesagt, offenbar zusätzlich auch der äußeren Güter. Denn
es ist unmöglich oder [zumindest] nicht leicht, werthafte (kalos) Handlungen ohne Hilfsmittel
zu tun. Bei vielen Handlungen benutzen wir Freunde, Reichtum und politische Macht als eine
Art von Werkzeugen. Ferner gibt es Dinge, deren Fehlen die Glückseligkeit (to makarion) trübt,
wie gute Herkunft, wohlgeratene Kinder, Schönheit; denn wer sehr hässlich aussieht oder von
niedriger Herkunft oder einsam und kinderlos ist, den kann man wohl nicht glücklich nennen,
und noch weniger vielleicht den, der gänzlich schlechte Kinder oder Freunde hat oder gute,
die gestorben sind. Wie wir gesagt haben, scheint das Glück also zusätzlich solche günstigen
Umstände zu benötigen, weshalb einige das Glück (eudaimonia) mit dem glücklichen Zufall
(eutychia) gleichsetzen, andere jedoch mit der Gutheit (arete).

Kommentar/Aufgaben:

Der größte Teil des Kapitels variiert Aspekte, die bereits behandelt wurden. Interessant ist
(4.c-d), weil die in I 3 kritisierte Lust hier in einem wesentlich besseren Licht erscheint. Ich
hatte dies in Bezug auf I 3 (1.) schon angesprochen. Ebenso wichtig ist aber die Erwähnung der
äußeren Güter in (4.e), weil von diesen bislang gar nicht die Rede war.

Wie ergänzt Aristoteles seine Konzeption der eudaimonia an dieser Stelle? Welche Rolle spielt
dabei die Unterscheidung von „Hilfsmitteln“ (organa) und von „Dingen, deren Fehlen die
Glückseligkeit (to makarion) trübt“? Und auf welche Weise hängt der Rückgriff auf äußere
Güter mit dem glücklichen Zufall (eutychia) zusammen, obwohl eudaimonia auf keinen Fall
mit Zufall (tyche) gleichgesetzt werden darf – wie Aristoteles noch deutlicher in I 10 (1.b)
betont?

25
10. Probleme der entwickelten Bestimmung des Glücks

(1.) Wie entsteht das Glück? (2.) Wann ist jemand glücklich zu nennen?

(1.a) Daraus ergibt sich nun die Frage, ob das Glück durch Lernen, durch Gewöhnung oder
sonst wie durch Übung entsteht oder ob es sich kraft einer göttlichen Fügung oder durch Zufall
einstellt. Wenn nun überhaupt etwas ein Geschenk der Götter für die Menschen ist, dann
spricht alles dafür, dass auch das Glück gottgegeben ist, und zwar am meisten von allen
menschlichen Dingen, umso mehr, als es unter ihnen das beste ist. Doch diese Frage passt
vielleicht besser in eine andere Untersuchung.
(b) Das Glück jedoch scheint, selbst wenn es nicht von Gott gesandt ist, sondern durch Tugend
und durch eine Art von Lehre oder Übung entsteht, zu den göttlichsten Dingen zu gehören.
Denn das, was der Preis und das Ziel der Tugend ist, scheint das Beste zu sein und etwas
Göttliches und Seliges. Es [das Glück] wird dann auch vielen gemeinsam sein; denn durch eine
gewisse Belehrung oder Bemühung könnten alle es erreichen, die in Bezug auf die Tugend
nicht behindert sind. Wenn es aber besser ist, auf diese Weise als durch Zufall glücklich zu
sein, dann ist es plausibel anzunehmen, dass es sich so verhält — da ja die natürlichen Dinge
in der für sie bestmöglichen Verfassung sind, und ebenso die Dinge, die durch
Herstellungswissen oder jede andere Ursache (aitia) entstehen, und am meisten die Dinge,
die durch die beste Ursache entstehen. Das Größte und Beste dem Zufall anzuvertrauen, wäre
allzu unpassend.
(c) Das, was wir suchen, ist aber auch aufgrund unserer Definition des Glücks klar, denn es
wurde als eine bestimmte Art von Tätigkeit der Seele im Sinn der Gutheit bezeichnet. Von den
übrigen Gütern sind die einen notwendige Bedingungen des Glücks, die anderen sind ihrer
Natur nach in der Weise von Werkzeugen behilflich und nützlich. Das stimmt auch mit dem
eingangs Ausgeführten überein, wir sagten nämlich, dass das beste Gut das Ziel der Politik ist,
diese aber bemüht sich am meisten darum, die Bürger auf eine bestimmte Art beschaffen zu
machen, das heißt gut und dazu disponiert, die richtigen Handlungen zu tun. Es ist also nahe
liegend, dass wir weder ein Rind noch ein Pferd noch ein anderes Tier glücklich nennen; denn
keines von ihnen ist in der Lage, sich an einer solchen Tätigkeit zu beteiligen. Aus diesem
Grund sind auch Kinder nicht glücklich, da sie wegen ihres Alters noch nicht zu solchen
Handlungen fähig sind. Wenn wir ein Kind dennoch glücklich preisen, tun wir das wegen der
Hoffnung auf sein Glück, da das Glück, wie wir gesagt haben, sowohl völlige Gutheit wie ein
volles Leben verlangt.
(2.a) Es gibt ja viele Veränderungen im Leben und vielfältige Zufälle, und der Glücklichste kann
im hohen Alter in großes Unglück geraten, wie die trojanischen Sagen von Priamos erzählen.
Wer aber ein solches Schicksal hat und elend stirbt, den wird niemand glücklich nennen.

Kommentar/Aufgaben:

Auch dieses Kapitel bietet wenig Neues. Die interessante Frage, inwiefern Glück – wenigstens
auch - ein Geschenk der Götter sein könnte, wird zwar aufgeworfen, aber nicht wirklich
diskutiert (1.a). Dass der Zufall hier als Glücksbringer zurückgewiesen wird (1.b), wurde eben
erwähnt. Ein Punkt aber scheint einer kurzen Diskussion wert:

26
Warum können nach Aristoteles weder andere Lebewesen (jedenfalls nicht im Sinne anderer
Tiere) noch Kinder glücklich sein (1.c)?

(2.a) leitet bereits zur wichtigen Frage des folgenden Kapitels über.

11. Fortsetzung

(2.b) Die Aussage, dass die Toten glücklich sind, führt in eine Aporie. (c) Dasselbe gilt für die
Vorstellung, dass das wechselnde Schicksal der Nachkommen auf das Glück der Toten
zurückschlägt. (d) Solons Auffassung ist letztlich unplausibel.

(2.b) Dürfen wir also auch sonst keinen Menschen glücklich nennen, solange er lebt, müssen
wir Vielmehr nach Solons Auffassung auf das Ende sehen? Aber auch wenn man diesen Satz
annehmen muss, ist jemand dann auch wirklich glücklich, wenn er tot ist? Oder ist das nicht
gänzlich absurd, insbesondere für uns, die wir das Glück eine Art von Tätigkeit nennen? Wenn
wir aber nicht den Toten glücklich nennen und wenn auch Solon das nicht meint, sondern
wenn er sagen will, dass man erst zu diesem Zeitpunkt einen Menschen mit Gewissheit
glücklich nennen kann, weil er dann bereits außer Reichweite der Übel und Unglücksfälle ist,
so enthält auch das Raum für Zweifel. Denn auch für den Toten ist, denkt man, etwas ein Übel
oder ein Gut, ganz ebenso, wie es das für einen Lebenden sein kann, obwohl er es nicht
wahrnimmt, wie Ehre und Unehre, Wohlergehen und Unglück der Kinder und der
Nachkommen überhaupt.
(c) Auch diese Vorstellung enthält jedoch ein Problem. Denn demjenigen, der bis ins hohe
Alter glückselig (makarios) gelebt hat und entsprechend gestorben ist, können viele
Wechselfälle in seinen Nachkommen widerfahren. Es kann sein, dass die einen gut sind und
das Leben bekommen, das sie verdienen, während für andere das Gegenteil der Fall ist; und
natürlich kann es ihnen auch nach der Größe des Abstands zu den Vorfahren auf viele
verschiedene Weisen ergehen. Da wäre es doch seltsam, wenn auch der Tote ihre
wechselnden Geschicke teilen und so bald glücklich (eudaimon) und dann wieder unglücklich
(athlios) würde. Andererseits wäre es auch seltsam, wenn das Schicksal der Nachkommen
überhaupt nicht, auch nicht für eine gewisse Zeit, auf die Vorfahren zurückwirkte.
(d) Wir müssen jedoch zur ersten Schwierigkeit zurückkehren, denn vielleicht können wir aus
ihrer Erwägung auch eine Lösung für das entnehmen, was jetzt in Frage steht. Wenn wir also
auf das Ende sehen müssen und erst zu diesem Zeitpunkt einen Menschen glückselig
(makarios) nennen können, nicht weil er dann glücklich ist, sondern weil er es vorher war, wie
sollte es dann nicht seltsam sein, dass zu der Zeit, wo er wirklich glücklich ist, die Aussage, dass
ihm dies zukommt, nicht wahr sein soll, nur weil man wegen der Wechselfälle nicht die
Lebenden glücklich nennen will und weil das Glück als etwas Dauerhaftes und in keiner Weise
Veränderliches gilt, das Schicksal (tyche) aber bei ein und demselben Menschen sich häufig
dreht? Denn offensichtlich würden wir, wenn wir uns nach den Wechselfällen des Schicksals
richteten, denselben Menschen bald glücklich und bald unglücklich nennen müssen, womit
wir den Glücklichen als eine Art Chamäleon ansehen würden, als jemanden, der auf brüchigem
Grund steht.

27
Kommentar/Aufgaben:

Arbeiten Sie heraus, warum Solon nach Aristoteles der Auffassung war, man müsse auf das
„Ende“ sehen, um einen Menschen als glücklich bestimmen zu können. Welche Probleme
ergeben sich aus aristotelischer Sicht für diese Auffassung? Und wie sind diese Probleme aus
Ihrer eigenen Sicht einzuschätzen?

(3.) Auflösung der Schwierigkeiten durch Rückgriff auf die Definition des Glücks. (a) Das Leben
der Tätigkeit im Sinne der Tugend bedeutet am ehesten dauerhaftes Glück. (b) Die
Auswirkungen von glücklichen und unglücklichen Zufällen auf dieses Leben. (c) Abschließende
Bewertung der Auffassung Solons. (4.) Rückkehr zu der Frage, ob sich das Schicksal der
Nachkommen und Freunde auf das Glück auswirkt.

(3.) Oder ist es ganz falsch, sich nach den Wechselfällen des Schicksals zu richten? Denn es
hängt nicht von ihnen ab, ob jemand gut oder schlecht lebt. Vielmehr gilt: Das menschliche
Leben bedarf ihrer, wie gesagt, zusätzlich, doch verantwortlich für das Glück sind die
Betätigungen der Tugend (hai kat’ areten energeiai), für das Gegenteil die entgegengesetzten.
(a) Die Schwierigkeit, die wir jetzt erörtert haben, bestätigt unsere Erklärung [des Glücks].
Denn nichts, was Menschen tun, weist so viel Beständigkeit (bebaiotes) auf wie die
Betätigungen der Tugend; man hält sie sogar für beständiger als die [Betätigung in den]
Wissenschaften. Unter jenen selbst wiederum [den Betätigungen der Tugend] gelten die am
höchsten geschätzten als die beständigsten, weil die Glückseligen in ihnen am meisten und
am dauerhaftesten (syneches) ihr Leben verbringen. Das scheint denn auch der Grund zu sein,
weshalb es nicht möglich ist, diese Tätigkeiten zu vergessen. Was wir suchen, wird also dem
Glücklichen zukommen, und er wird sein Leben lang so sein [wie wir sagen]. Immer nämlich
oder mehr als alles andere wird er die Dinge tun und betrachten, die der Tugend entsprechen;
er wird die Wechselfälle am edelsten (kallista) und in jeder Hinsicht ganz angemessen
(emmelos) tragen, der wahrhaft Gute und «Vierkantige, ohne Tadel».
(b) Da aber viele Dinge durch Zufall (kata tychen) geschehen, Dinge, die sich an Größe und
Kleinheit unterscheiden, werden geringe Glücks- ebenso wie Unglücksfälle das Leben eines
Menschen nicht beeinflussen, während große und häufige Glücksfälle das Leben glückseliger
(makarios) machen werden [denn nicht nur sind sie selbst so beschaffen, dass sie das Leben
verschönern, sondern auch die Weise, wie jemand sie gebraucht, kann angemessen (kalos)
und gut (spoudaios) sein], die entsprechenden Unglücksfälle hingegen das glückselige Leben
zerdrücken und trüben. Denn sie bringen Unlust (lype) mit sich und behindern viele
Tätigkeiten. Doch selbst unter diesen Umständen scheint das Werthafte (kalon) durch, wenn
jemand gelassen viele und große Unglücksfälle erträgt, nicht aus Unempfindlichkeit, sondern
weil er edel (gennadas) und stolz (megalopsychos) ist. Wenn aber, wie wir gesagt haben, für
die Beschaffenheit des Lebens die Tätigkeiten entscheidend sind, dann kann keiner, der
glückselig ist (makarios), unglücklich (athlios) werden; denn niemals wird er tun, was verhasst
und schlecht ist. Denn wir meinen, dass der wahrhaft Gute und Verständige die Wechselfälle
des Lebens alle in guter Haltung trägt und immer das Angemessenste (kallista) aus der
Situation macht, wie ein guter Stratege die vorhandene Armee auf die beste Weise zur
Kriegsführung gebrauchen wird, und wie ein guter Schuster aus dem gegebenen Leder den
passendsten (kallistos) Schuh macht und ebenso alle anderen, die ein Herstellungswissen
28
ausüben. Wenn dem so ist, dann wird der Glückliche (eudaimon) niemals unglücklich (athlios)
werden können; er wird allerdings auch nicht selig (makarios) sein, wenn ihn Schicksalsschläge
treffen, wie sie Priamos erlitten hat. Er wird daher auch nicht vielfarbig und leicht veränderlich
sein. Denn er wird weder leicht aus seinem Glück zu vertreiben sein — nicht durch beliebige
Unglücksfälle, sondern [nur] durch große und zahlreiche —, noch wird er aus solchen
schweren Unglücksfällen heraus in kurzer Zeit wieder glücklich werden, sondern, wenn
überhaupt, dann erst nach Ablauf einer langen Zeitspanne, in der er große und edle Dinge
erreicht.
(c) Warum soll man also nicht sagen, dass derjenige glücklich (eudaimon) ist, der sich im Sinn
einer Tugend, die ein abschließendes Ziel (teleion) ist, betätigt und mit äußeren Gütern
hinreichend ausgestattet ist, und zwar nicht nur über irgendeine Zeitspanne hinweg, sondern
während eines ganzen Lebens? Oder müssen wir hinzufügen: wer so leben und entsprechend
sterben wird? Denn seine Zukunft ist uns ja nicht sichtbar, das Glück hingegen halten wir für
etwas, was ganz und gar Ziel (telos) und abschließend (teleion) ist. Wenn das zutrifft, werden
wir diejenigen unter den lebenden Menschen glückselig nennen, die die erwähnten Dinge
haben und künftig haben werden, glückselig allerdings [nur] so weit, wie Menschen glückselig
sein können. So viel zu diesen Fragen.
(4.) Dass das Schicksal der Nachkommen und aller Freunde eines Menschen überhaupt nicht
zu seinem Glück beitragen sollte, erscheint als eine allzu lieblose Vorstellung, die außerdem
gegen die üblichen Meinungen verstößt. Aber da die Dinge, die geschehen, zahlreich sind und
alle möglichen Unterschiede zulassen, und einige uns mehr, andere weniger betreffen, erweist
es sich als eine lange, ja endlose Aufgabe, die entsprechenden Differenzierungen für jeden
einzelnen Fall vorzunehmen; vielleicht wird eine allgemeine Skizze genügen. Wenn nun die
Unglücksfälle; die einen selbst betreffen, und diejenigen, die unseren Freunden insgesamt
zustoßen, ähnlich sind, insofern manche einiges Gewicht und Einfluss auf das Leben haben,
während andere weniger bedeutend scheinen; und wenn bei jedem Ereignis ein Unterschied
besteht, ob es Lebenden oder Toten zustößt — ein Unterschied, der größer ist als der, ob in
den Tragödien Ungesetzliches und Schreckliches vorher geschieht oder auf der Bühne verübt
wird —, dann müssen wir auch diesen Unterschied in unserer Argumentation berücksichtigen.
Oder wir müssen eher noch vielleicht die Tatsache berücksichtigen, dass das Problem
aufgeworfen wird, ob die Toten an irgendeinem Gut oder an dessen Gegenteil teilhaben. Denn
wenn auch etwas zu ihnen durchdringt, sei es ein Gut oder das Gegenteil, dann ist dies, so
scheint aus dem Bisherigen zu folgen, etwas Schwaches und Geringfügiges, sei es schwach
überhaupt oder für jene [die Toten] schwach; wenn aber nicht, ist es auf jeden Fall von einer
solchen Größe und Beschaffenheit, dass es nicht diejenigen glücklich macht, die es nicht schon
sind, noch denen, die glücklich sind, die Glückseligkeit wegnimmt. Das Wohlergehen und
Unglück der Freunde scheinen also in der Tat eine gewisse Auswirkung auf die Toten zu haben,
jedoch [nur] in solcher Weise und in solchem Ausmaß, dass sie weder die Glücklichen zu Nicht-
Glücklichen machen noch sonst etwas Derartiges bewirken.

Kommentar/Aufgaben:

Die aristotelische Lösung greift offenkundig die Bestimmung der eudaimonia aus I 6 (3.-4.) auf.

Wie erläutert Aristoteles diese Bestimmung, um sie als Lösung für das Solon-Problem
einsichtig machen zu können? Welche Rolle spielt hier der Zufall, sowie die Unterscheidung
großer und häufiger Glücks- und Unglücksfälle von geringen und seltenen? Worin liegt die
29
Differenz zwischen dem Glücklichen (eudaimon) und dem Seligen/Glückseligen (makarios)?
Handelt es sich hier um eine interne Differenzierung des Glückbegriffs? Und ließe sich diese
überhaupt mit dem aristotelischen Ansatz vereinbaren, wenn Glück grundsätzlich das
höchste/beste Gut (ariston) sein soll?

Vergleichen Sie nach Ihrer Diskussion die erzielten Ergebnisse mit denen von Jörn Müller:
„Wann kann man ein Leben glücklich nennen? Aristoteles und das Solon-Problem“, in: Glück-
Tugend-Zeit. Aristoteles über die Zeitstruktur des guten Lebens, hg. von Walter Mesch,
Stuttgart / Weimar 2013, 41-62.

12. Ein kategorialer Unterschied zwischen Glück (eudaimonia) und Tugend (arete)

(1.) Ist das Glück Gegenstand von Lob oder Hochschätzung? (2.) Die besten Dinge werden nicht
gelobt, sondern selig gepriesen.

(1.) Nachdem diese Probleme geklärt sind, wollen wir überlegen, ob das Glück zu den
lobenswerten (epainetos) Dingen gehört oder eher zu den hochgeschätzten (timios). Denn
klarerweise ist es kein bloßes Vermögen (dynamis). Nun scheint alles, was gelobt wird,
deswegen gelobt zu werden, weil es von einer bestimmten Art ist oder weil es sich auf
bestimmte Weise zu etwas anderem (pros ti) verhält; denn wir loben den Gerechten, den
Tapferen und allgemein den Guten und die Gutheit aufgrund der Handlungen (praxis) und
Werke (ergon), und wir loben den Starken, den Läufer usw., weil er von einer bestimmten Art
ist und sich auf bestimmte Weise zu etwas Gutem (agathos) und Hervorragendem (spoudaios)
verhält. Das ist auch aus den Lobreden auf die Götter ersichtlich. Denn diese Reden erscheinen
lächerlich, wenn sie auf uns bezogen werden, das aber geschieht, weil Lob wie gesagt immer
auf etwas bezogen wird. Wenn nun das Lob solche Dinge zum Gegenstand hat, dann ist klar,
dass es für das Beste kein Lob gibt, sondern etwas Größeres und Besseres.
(2.a) Dies ist ja auch offensichtlich der Fall; denn was wir mit Blick auf die Götter tun und die
göttlichsten unter den Menschen, ist, dass wir sie selig und glücklich nennen. Dasselbe gilt für
die Güter: Keiner lobt das Glück, wie man die Gerechtigkeit lobt, vielmehr nennt man es selig,
da es etwas Göttlicheres und Besseres ist. So scheint denn auch Eudoxos den Anspruch der
Lust auf den höchsten Preis mit der richtigen Begründung verteidigt zu haben. Denn er dachte,
die Tatsache, dass sie nicht gelobt wird, obwohl sie zu den Gütern gehört, zeige an, dass sie
höher stehe als die Dinge, die gelobt werden, und von solcher Art seien Gott und das Gute;
denn auf diese würden die anderen Dinge bezogen. Der Gegenstand des Lobes ist nämlich die
Gutheit (arete) (denn aufgrund der Gutheit sind Menschen disponiert, die werthaften (kalos)
Handlungen zu tun); der geeignete Gegenstand des Enkomion aber ist das Getane, sei es
körperlicher oder seelischer Art. Aber vielleicht ist Genauigkeit in diesen Dingen eher etwas
für diejenigen, die sich mit dem Enkomion beschäftigt haben.
(b) Für uns ist aus dem Gesagten klar, dass das Glück zu den hochgeschätzten (timios) Dingen
gehört, die abschließende Ziele (teleios) sind. Das scheint auch deswegen der Fall zu sein, weil
es Prinzip (arche) [des Handelns] ist. Denn ihm zuliebe tut jeder alles Übrige, das Prinzip und
die Ursache der Güter aber halten wir für etwas Hochgeschätztes und Göttliches.

30
Kommentar:

Aristoteles arbeitet hier heraus, weshalb man für Tugend gelobt wird, nicht aber für Glück.
Dies muss meines Erachtens nicht unbedingt besprochen werden.

13. Die Arten der menschlichen Gutheit

(1.) Vorbemerkung über Politik und Psychologie. (2.) Die Bestandteile der Seele im Überblick.
(3.) Der vernunftlose Teil. (4.) Der vernünftige Teil. (5.) Die Arten der menschlichen Gutheit.

(1.a) Da das Glück eine bestimmte Tätigkeit der Seele im Sinn der Gutheit (arete) ist, die ein
abschließendes (teleios) Ziel darstellt, müssen wir die Gutheit untersuchen; so werden wir
vielleicht auch eine bessere Auffassung des Glücks gewinnen. Man nimmt an, dass auch der
wahre Politiker sich vor allem anderen um die Gutheit kümmert. Denn er will die Bürger gut
und gehorsam gegen die Gesetze machen. Beispiele dafür sind die Gesetzgeber der Kreter und
Spartaner und noch andere dieser Art, wenn es sie gegeben hat. Wenn diese Untersuchung in
den Bereich der politischen Wissenschaft (politike) gehört, dann wird die Behandlung der
Gutheit sicherlich mit unserem ursprünglichen Vorhaben übereinstimmen.
(b) Die Gutheit, die wir zu untersuchen haben, ist offensichtlich die menschliche Gutheit. Denn
was wir suchten, war das Gut für den Menschen und das menschliche Glück. Mit «menschliche
Gutheit» bezeichnen wir nicht die Gutheit des Körpers, sondern die der Seele; und auch vom
Glück sagen wir, dass es eine Tätigkeit der Seele ist. Wenn sich das so verhält, dann muss
offenkundig der Politiker in gewissem Grad über die Seele Bescheid wissen, gerade so, wie
derjenige, der die Augen behandeln will, auch über den ganzen Körper Bescheid wissen muss.
Und mehr [als der Arzt], und zwar in dem Maß, als die Politik schätzenswerter und besser ist
als die Medizin; unter den Ärzten verwenden in der Tat die Gebildeten viel Mühe auf den
Erwerb von Wissen über den Körper. Demnach muss auch der Politiker die Seele untersuchen,
aber er sollte es um der gesuchten Dinge willen tun, und so weit, dass es im Hinblick auf diese
genügt. Denn noch mehr ins Detail zu gehen ist vielleicht mühsamer, als es unsere
gegenwärtige Aufgabe erfordert.
(2.) Über die Seele ist einiges ganz hinreichend auch in den exoterischen Schriften gesagt.
Davon ist nun hier Gebrauch zu machen: beispielsweise dass der eine Bestandteil der Seele
vernunftlos (alogos) ist, während der andere Vernunft besitzt (logon echon). Ob diese so
getrennt sind wie die Teile des Körpers und wie alles Teilbare oder ob sie der Definition nach
zwei sind, aber von Natur aus untrennbar — wie das Konvexe und das Konkave im Fall einer
gewölbten Oberfläche —‚ spielt für unsere gegenwärtige Untersuchung keine Rolle.
(3.a) Vom vernunftlosen Bestandteil scheint der eine allem Lebenden gemeinsam und
vegetativ (phytikon). Ich meine denjenigen, der Ursache der Ernährung und des Wachstums
ist; denn ein derartiges Vermögen (dynamis) der Seele wird man allen Wesen zuschreiben, die
Nahrung aufnehmen, auch den Embryonen, und dasselbe Vermögen auch den
ausgewachsenen Wesen; das ist plausibler, als bei ihnen ein anderes Vermögen anzunehmen.
Die Gutheit (arete) dieses Vermögens ist offenbar allen Lebewesen gemeinsam und nicht
spezifisch menschlich. Denn dieser Teil und dieses Vermögen sind, so meint man, am meisten
im Schlaf tätig; der Gute und der Schlechte aber sind im Schlaf am wenigsten voneinander zu
unterscheiden (woher der Satz kommt, dass sich das halbe Leben die Glücklichen nicht von
den Unglücklichen unterscheiden). Das ist nahe liegend, denn der Schlaf ist eine Untätigkeit
31
(argia) der Seele in der Hinsicht, in der sie als gut (spoudaios) oder schlecht (phaulos)
bezeichnet wird, es sei denn, einige der Bewegungen dringen in geringem Grad tatsächlich im
Schlaf zu uns durch und die Traumvorstellungen der guten (epieikes) Menschen sind in dieser
Hinsicht besser als die von beliebigen Menschen. Doch genug hierüber; lassen wir das
Ernährungsvermögen (threptikon) beiseite, da es seiner Natur nach keinen Anteil an der
menschlichen Gutheit hat.
(b) Es scheint aber noch ein anderer natürlicher Bestandteil (physis) der Seele vernunftlos zu
sein, der allerdings auf gewisse Weise an der Vernunft (logos) Anteil hat. Beim Beherrschten
(enkrates) und Unbeherrschten (akrates) loben wir nämlich die Vernunft bzw. den
vernünftigen Bestandteil ihrer Seele, da er auf richtige Weise und zum Besten antreibt.
Anscheinend ist aber noch etwas anderes neben der Vernunft in ihrer [der Beherrschten und
Unbeherrschten] Natur vorhanden, das mit der Vernunft kämpft und ihr Widerstand leistet.
Denn genau wie gelähmte Glieder eines Körpers, wenn man sie nach rechts bewegen will, in
die entgegengesetzte Richtung nach links abirren, so verhält es sich mit der Seele: Die Antriebe
(horme) der Unbeherrschten gehen in entgegengesetzte Richtungen. Aber während wir beim
Körper sehen, was in eine andere Richtung abirrt, ist das bei der Seele nicht der Fall. Dennoch
müssen wir wohl annehmen, dass es ebenso auch in der Seele etwas neben der Vernunft gibt,
das sich ihr entgegenstellt und ihr Widerstand leistet. In welchem Sinn es verschieden ist,
spielt keine Rolle. Doch scheint wie gesagt auch dieser Teil an der Vernunft teilzuhaben;
jedenfalls gehorcht er der Vernunft beim Beherrschten — und vermutlich ist er noch
gehorsamer beim Mäßigen und Tapferen, denn bei ihm stimmt er in allem mit der Vernunft
überein. Anscheinend ist also der vernunftlose Bestandteil ebenfalls [wie die Seele im Ganzen]
von zweifacher Art. Denn der vegetative (phytikon) Bestandteil hat niemals etwas mit der
Vernunft gemeinsam, während der begehrende (epithymetikon) und allgemein der strebende
(orektikon) Bestandteil auf gewisse Weise an ihr teilhat, insofern er auf sie hört und ihr
gehorcht. In diesem Sinn sagen wir, dass wir den Rat des Vaters oder der Freunde in Rechnung
stellen (echein logon), wobei wir diesen Ausdruck nicht in dem Sinn wie in der Mathematik
gebrauchen. Dass das Vernunftlose auf gewisse Weise der Vernunft gehorcht, zeigt sich auch
in unserer Praxis des Ermahnens und in allen Arten des Tadelns und Ermutigens.
(4.) Wenn man auch von diesem Bestandteil sagen muss, dass er Vernunft besitzt, dann wird
der Vernunft besitzende Bestandteil ebenfalls [wie der vernunftlose] von zweifacher Art sein:
Der eine seiner Teile besitzt die Vernunft im eigentlichen Sinn und in sich selbst, der andere in
der Weise, dass er auf sie so hören kann, wie man auf den Vater hört.
(5.) In Entsprechung zu diesem Unterschied wird auch die Gutheit (arete) aufgeteilt. Denn wir
nennen von den Arten der Gutheit die einen Tugenden des Denkens (dianoetike), die anderen
Tugenden des Charakters (ethike). Dabei sind Weisheit (sophia), Verständigkeit (synesis) und
Klugheit (phronesis) Tugenden des Denkens, Großzügigkeit und Mäßigkeit solche des
Charakters. Wenn wir über den Charakter (ethos) eines Menschen reden, sagen wir nicht, dass
er weise oder verständig, sondern dass er sanftmütig oder mäßig ist. Doch loben wir auch den
Weisen für seine Disposition (hexis), und die lobenswerten Dispositionen nennen wir
Tugenden.

32
Kommentar/Aufgaben:

Ich hatte auf dieses Kapitel bereits im Ausgang von I 6 hingewiesen. Die hier diskutierte
Einteilung der Seele ist natürlich wichtig. Dasselbe gilt für die Unterscheidung von ethischen
und dianoetischen aretai, die sich auf sie gründet.

Versuchen Sie die einschlägigen Differenzen herauszuarbeiten und achten Sie dabei auch
darauf, wie die beiden Seelenteile zusammenarbeiten können. Immerhin soll der
unvernünftige Teil ja dem vernünftigen gehorchen können.

(Im zweiten Buch tritt dieser Aspekt ganz in den Vordergrund, weil dort erläutert wird, wie wir
uns durch wiederholte gute Entscheidungen derart an Gutes gewöhnen können, dass wir uns
charakterlich bilden und ethische aretai als bleibende Haltungen unseres Charakters
erwerben.)

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