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W
DE
G
1985
©
1985 by Walter de Gruyter Sc Co., Berlin 30, Genthiner Straße 13.
Printed in Germany
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne
ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder
Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu
vervielfältigen.
Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30
Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
Vorwort
genen Haltung in der Frage der Wertung der Schriftlichkeit durch Piaton
durchringen können; die irrationale Berührungsangst, der die esoterische
Piatondeutung von Hans Joachim Krämer und Konrad Gaiser zu Beginn
der sechziger Jahre begegnete, scheint noch mancherorts fortzuwirken.
Gegenüber dieser Haltung muß jedoch, schon aus Gründen der philolo-
gischen Methode, festgehalten werden: was Piaton meint, wenn er sagt,
den Namen φιλόσοφος verdiene nur, wer über Besseres verfügt als das,
was er geschrieben hat (Phaidros 278cd), sollte nicht auf dogmatische
Weise im antiesoterischen Sinn vorentschieden werden, sondern durch
geduldige Exegese des Primärtextes, seines weiteren Kontextes und seiner
Beziehung zu den beobachtbaren Merkmalen des Dialogwerks insgesamt
geklärt werden.
Die hier angewandte Betrachtungsweise hat zwar Folgen für die
Einschätzung dessen, was Aristoteles ,Piatons ungeschriebene Lehren'
nannte. Doch ist die vorliegende Arbeit selbst kein Beitrag zur Erfor-
schung von Piatons mündlicher Prinzipientheorie. Sie handelt ausschließ-
lich von den Dialogen und steht — abgesehen von Schleiermachers
ungeprüfter antiesoterischer Prämisse — durchaus auf dem Boden der
Schleiermacherschen Dialoghermeneutik: sie geht von der Schriftkritik
aus, wie es Schleiermacher getan hatte, und sie betrachtet wie er die
Form des Dialogs nicht als bloße poetische Einkleidung, sondern als
wesentlich für den Inhalt. Wenn am Ende der Untersuchung dennoch
ein Piatonbild steht, das mit dem von Schleiermacher begründeten und
bis heute fortwirkenden nicht mehr vereinbar ist, so nicht deshalb, weil
ich seine leitenden Gesichtspunkte irgendwo verlassen hätte, sondern
weil ich, wie ich glaube, die Schriftkritik konsequenter zum Maßstab
der Analyse der Dialoge gemacht habe als es bisher geschehen ist.
Dem Leser dieses Buches wird also eine Überprüfung des heute
noch weit verbreiteten antiesoterischen Piatonbildes zugemutet. Nicht ein
positives Vorurteil zugunsten von ,Esoterik' wird von ihm verlangt, nur
die zeitweilige Suspendierung der üblichen Vorurteile gegen sie. Wenn
so der Textbefund selbst zu Wort gekommen sein wird, wird der alte
Streit bald kein Streit mehr sein.
Grundlage darstellt, nur das 10. Buch der Nomoi behandelt, das zur
Klärung einer bislang umstrittenen Aussage der Schriftkritik mit exem-
plarischer Deutlichkeit beiträgt und das zugleich auch belegt, daß Piaton
die Leitgedanken der Schriftkritik bis zuletzt im eigenen Werk verwirk-
licht hat. Ob man den Siebten Brief als echt akzeptiert oder verwirft, ist
für das Beweisziel dieser Untersuchung gleichgültig, daher wurden ein-
zelne Aussagen des Briefes zwar als ergänzendes Belegmaterial gelegent-
lich mit angeführt, die zusammenhängende Auslegung jedoch in einen
Anhang verwiesen. Von den frühen Dialogen wurden Ion und Menexenos
übergangen, da sie für unsere Fragestellung wenig ergiebig sind; sie
enthalten aber auch nichts, was unser Ergebnis in Frage stellen könnte.
Alkibiades I, Theages und Kleitophon fehlen, weil ihre Unechtheit als
erwiesen gelten kann.
Die Analyse der späten Dialoge unter den gleichen Gesichtspunkten
wäre gewiß reizvoll und lohnend. Der Leser, der unseren Überlegungen
bis zum Ende gefolgt ist, wird freilich unschwer selbst erkennen können,
wie sehr das Spätwerk unsere Ergebnisse bestätigt und verdeutlicht. Was
hier zu zeigen war, mußte zuerst und gerade am frühen und mittleren
Werk Piatons gezeigt werden, weil hier die Erwartungen, mit denen wir
nach langer Schulung in der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungs-
weise an den Text herantreten, zunächst gegen das Beweisziel zu sprechen
schienen. Hier galt es zu erproben, ob moderne Denkgewohnheiten oder
der Befund der Texte der zuverlässigere Führer zum Verständnis der
Intentionen Piatons ist.
Den Plan, die Untersuchung in der Form, in der sie nun vorliegt,
durchzuführen, faßte ich während eines Studienaufenthaltes am Center
for Hellenic Studies in Washington, D.C. im Jahr 1975/76. Dieser noblen
amerikanischen Institution und ihrem liebenswürdigen und stets hilfsbe-
reiten Direktor Prof. B. M . W. Knox sei auch an dieser Stelle für die
Gastfreundschaft gedankt. Die Grundgedanken meines Vorhabens trug
ich in meiner Zürcher Antrittsvorlesung im Dezember 1976 vor (abge-
druckt im Museum Helveticum 35, 1978, 1 8 - 3 2 ) , eine erste detaillierte
Durchführung gab ich im Wintersemester 1978/79 als Vorlesung. Eine
frühere Fassung des Euthydemos-Kapitels kam in Antike und Abendland,
Bd. 26 (1980) zum Abdruck, eine Kurzfassung des Politeia-Kapitels in
derselben Zeitschrift, Bd. 30 (1984). Überlegungen zum 7. Brief, die
Vili Vorwort
Vorwort V
Einleitung 1
Kapitel 1. Phaidros: Die Kritik der Schriftlichkeit 7
a) Phaidros 274 b - 2 7 8 e 7
b) Die aus der Schriftkritik resultierenden Aufgaben
der Piatoninterpretation 19
Kapitel 2. Phaidros: Der Gang des Dialogs 24
1) Die Handlung des Dialogs 24
2) Handlung und Thema 27
3) Das Verhältnis der Teile des Dialogs zueinander . . 30
4) Zusammenfassung 47
Kapitel 3. Euthydemos. Sokrates' Spott über ,Geheimhaltung' . . 49
Kapitel 4. Die ,Hilfe für den Logos' als Strukturprinzip des plato-
nischen Dialogs 66
Kapitel 5. Nomoi, Buch 10. Überschreiten als Wesen der ,Hilfe' 72
Kapitel 6. Hippias minor. Wer betrügt wen? 79
Kapitel 7. Hippias maior. Sokrates und sein Doppelgänger . . . . 91
Kapitel 8. Euthyphron. Kehrtwendung kurz vor dem Ziel 107
Kapitel 9. Lysis. Der Dialektiker und die Knaben 117
Kapitel 10. Charmides. Der Jüngling und der schlechte Forscher' 127
Kapitel 11. Laches. Der Lehrer entzieht sich den Schülern 151
Kapitel 12. Protagoras. Ist der Sophist besser als sein Buch? . . . . 160
Kapitel 13. Menon. Der Hang zum Fortgehen vor den Mysterien 179
Kapitel 14. Gorgias. Der ideale Gesprächspartner und die Kleinen
Mysterien 191
Kapitel 15. Kratylos. Das geheime Wissen des Herakliteers . . . . 208
Kapitel 16. Apologie — Kriton — Phaidon. Verteidigung auf drei
Ebenen 221
Kapitel 17. Symposion. Wer soll um wen werben? 253
Kapitel 18. Politela. Den Philosophen nicht loslassen 271
Schlußbemerkungen 327
X Inhalt
1 So im Hippokratischen ,Eid', ähnlich im ,Nomos' (IV 630, 643 Littré); zur „sippenmäßi-
gen Tradition griechischer Kunst" noch in der Generation des Aischylos vgl. A. Lesky,
Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 3 1972, 69; zur Geheimhaltung bei den
Pythagoreern s. E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen
Entwicklung I, Leipzig 7 1923, 409 Anm.2; W. Burkert, Lore and Science in Ancient
Pythagoreanism, Cambridge (Mass.) 1972, 178 f.; zur archaischen Organisation der
Einleitung 3
1 Die genauere Begründung dieser Auslegung des Euthydemos wird in Kapitel 3 gegeben.
6 Einleitung
3
Siehe Anhang I, S. 364 ff.
Kapitel 1
Phaidros:
Die Kritik der Schriftlichkeit
1. Phdr. 274 a 6 - 2 7 5 d 3
2. Phdr. 275 d 4 - 2 7 6 a 9 .
Einen schlimmen Zug, sagt Sokrates, hat die Schrift an sich, den sie
mit der Malerei teilt: wie gemalte Figuren aussehen als lebten sie, aber
auf Fragen gar feierlich schweigen, so scheinen auch geschriebene
Darlegungen (λόγοι) zu reden als hätten sie Einsicht, fragt man aber
nach, um das Gesagte besser zu verstehen, so sagen sie stets nur dasselbe.
Und einmal geschrieben, ist eine Darlegung überall im Umlauf, bei
solchen, die etwas von der Sache verstehen und ebenso bei solchen, die
sie nichts angeht. Sie versteht sich nicht darauf, zu den Leuten zu reden
(oder nicht zu reden), zu denen sie reden soll (oder nicht soll). Wird sie
2
Unrichtig daher die Ubersetzung von R. Hackforth: „a written manual" (Plato's
Phaedrus, Cambridge 1952), 158; ihm folgt z.B. auch W . K . C . Guthrie (A History of
Greek Philosophy, IV: Plato. The Man and his Dialogues: Earlier Period, 1975) 57.
Handbücher der Rhetorik sind im zweiten Hauptteil des Phaidros erwähnt; obschon
der Zusammenhang dort eindeutig auf Rhetorik weist, gibt Piaton dennoch stets eine
zusätzliche Bestimmung zu τέχνη (τέχνη Ρητορική 271 a 5, τέχναο [περί] λόγων 261
b 6 - 7 , 271 c2, βιβλία περί λόγων τέχνηο γεγραμμένα 266 d6): τέχνη allein heißt
eben nicht .Handbuch' schlechthin - schon gar nicht, wenn das Wort zuvor im
üblichen Sinn (,Kunst') gebraucht wurde. - Auch im Siebten Brief heißt τέχνη (341
b) nicht Handbuch, s. unten 393 f.
10 Phaidros
angegriffen und zu unrecht geschmäht, so bedarf sie stets der Hilfe des
Urhebers: sie selbst kann sich weder wehren noch sich helfen.
Weit überlegen ist der schriftlichen Darlegung (dem λόγοο γεγραμμέ-
voc) die lebendige und beseelte Darlegung des Wissenden, deren Abbild
die schriftliche ist: sie wird mit wahrem Wissen in der Seele des Lernenden
geschrieben', ist fähig, sich zu verteidigen, und versteht sich darauf, zu
reden und zu schweigen, zu wem sie reden oder schweigen soll (275
d 4 — 276 a9).
Daß der λόγοο, der in der Seele des Lernenden geschrieben' wird,
kein λόγοο γεγραμμένοο sein kann, geht schon daraus hervor, daß er
dem geschriebenen λόγοο entgegengestellt wird wie das Urbild dem
Abbild, und daß er »lebendig und beseelt' heißt, während zuvor alles
Geschriebene als leblos wie eine gemalte Figur charakterisiert wurde.
Der Gegensatz betrifft die gesprochene und die geschriebene ,Rede', nicht
zwei Arten von geschriebener Rede, eine lebendigere und eine leblosere
(etwa Dialog und Traktat). Gegenstand der Kritik ist weiterhin ,die
Schrift (γραφή 275 d4)' schlechthin, nicht eine bestimmte Art ihrer
Handhabung. Wehrlos dem Gegner ausgesetzt ist jedweder λόγοο, sobald
er niedergeschrieben ist (οταν δε άπαξ γραφή, ... παο λόγοο ... 275
d 9 — e l ) , nicht nur die nichtdialogische Darstellungsform. Den Mangel
des Geschriebenen: starre Leblosigkeit und Unfähigkeit, sich selbst zu
Hilfe zu kommen gegen Herabsetzung, kann allein die gesprochene
,Rede' ausgleichen. Freilich nicht jede, sondern nur die des ,Wissenden'
(276 a 8). Der ,Wissende' ist der, der die διδαχή erteilt, ihm ist daher
jetzt ein ,Lernender' zugeordnet (276 a 5), in dessen Seele er ,schreibt'.
Der Wissende ist fähig, seinem λόγος zu Hilfe zu kommen, wenn er es
für angebracht hält; es wird freilich auch Menschen geben, denen
gegenüber er es für richtig halten wird, zu schweigen (αγαν npòc oßc
δεν, 276 a 7). Was schriftlich niedergelegt ist, hat diese Freiheit der
Zurückhaltung nicht mehr: es ,treibt sich überall herum', wie Sokrates
verächtlich sagt, bei Geeigneten wie bei Ungeeigneten, und weiß nicht,
zu wem es reden oder schweigen soll. Anders gesagt: jeder kann ein
einmal veröffentlichtes Buch erwerben und lesen, und überdies ungestraft
für wertlos erklären.
Daß das Buch, oder eine bestimmte Art von Buch, zu einer bestimmten
Art von Lesern nicht ,sprechen' könnte, läuft dem Sinn des Abschnitts
und dem klaren Wortlaut in 275 e 1 — 3 zuwider. Ebenso unplatonisch
ist die Vorstellung, daß ein ,hintergründig' in der Schrift angelegter
,tieferer' Sinn, quasi als Selbst-,Hilfe' der Schrift gegen die Kritik der
Die Kritik der Schriftlichkeit 11
3. Phdr. 276 b 1 - 2 7 7 a5
Ein Bauer, der Vernunft hat, wird solchen Samen, an dem ihm gelegen
ist und von dem er Ertrag erwartet, nicht im Ernst in ein Adonisgärtchen
pflanzen, um sich zu freuen, wenn er in acht Tagen schön aufgeht —
dergleichen wird er nur im Spiel tun; vielmehr wird er Samen, mit dem
ihm Ernst ist, nach den Regeln des Landbaus in geeigneten Boden säen
und zufrieden sein, wenn er in acht Monaten zur Reife gelangt. Ebenso
wird einer, der das Wissen von den gerechten, schönen und guten Dingen
besitzt, das, was er zu säen hat, nicht mit dem Schreibrohr säend in
Wasser schreiben mit Darlegungen (λόγοι), die sich nicht helfen können
und unfähig sind, die Wahrheit hinreichend zu lehren. Vielmehr wird er
die ,Schriftgärtchen' nur um des Spieles willen säen, und um für sich
und jeden, der dieselbe Spur verfolgt, Erinnerungshilfen anzulegen für
das Alter, und er wird sich freuen, wenn diese Gärtchen hübsch gedeihen
(276 b l - d 8 ) .
Dieses Spiel des schriftstellerisch Spielenden, der über Gerechtigkeit
und dergleichen in Geschichten redet (μυθολογοΰντα), findet die Bewun-
derung des Phaidros (276 e 1 —3). Weit schöner noch, erwidert Sokrates,
ist der Ernst in diesen Dingen, wenn einer unter Anwendung der Kunst
der Dialektik eine geeignete Seele hernimmt und mit wirklicher Einsicht
,Reden' pflanzt, die sich selbst und dem Pflanzer zu helfen imstande sind
und nicht ertraglos bleiben, sondern Samen aufweisen, von dem in
anderen Charakteren andere ,Reden' entstehen, die dem Betreffenden die
einem Menschen mögliche Glückseligkeit verschaffen (276 b 1 — 277 a 5).
Das Gleichnis ordnet mit großer Klarheit die Elemente der ver-
glichenen Bereiche einander zu: auf der Seite des Spiels entspricht dem
Adonisgärtchen die schriftliche Darlegung des Gerechten, Schönen und
Guten, dem Bepflanzen eines Adonisgärtchens das μυθολογεΐν δικαιο-
σύνης τε και των άλλων πέρι. Das schöne Aufgehen der Saat im Gärtchen
steht für die literarisch gelungene Gestaltung des Geschriebenen 7 . Der
ertraglosen Saat entspricht die Unfähigkeit der Schrift — wohlgemerkt
der Schrift des Wissenden über Gerechtigkeit (276 c 8 , e 2 gegen e 7 f.) —
sich selbst zu Hilfe zu kommen 8 . — Auf der Seite des Ernstes entspricht
der Wahl des geeigneten Bodens die Wahl der geeigneten Seele (οπείραο
είο τό προσήκον - λαβών ψυχή ν προοήκουοαν), der ,Kunst' der
Landwirtschaft die ,Kunst' der Dialektik (γεωργική τέχνη - διαλεκ-
7 Natürlich nicht für das Verständnis des Lesers (so ζ. Β. H. Meißner, Der tiefere Logos
Piatons. Eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Widersprüche in Piatons
Werken, Heidelberg 1978, 212 u. ö.; J . Klein, A Commentary on Plato's Meno, Chapel
Hill 1965,21), denn .Verständnis' wäre bereits eine Entsprechung zum ,Ertrag' (καρπός),
den einer, der etwas vom Pflanzen versteht, von Wassertrieben, die in acht Tagen
aufgehen, von vornherein nicht erwarten wird. Das Saatgut, von dem der Bauer Ertrag
will (εγκαρπα βούλοιτο γενέοθαι 276 b 2 ) , kommt nicht in das Adonisgärtchen. Nur
der mündliche ,Ernst' des Philosophen ist οόχί άκαρποο (277 a l ) , mit schriftlichem
,Spiel' ist für Piaton kein philosophischer Ertrag zu erzielen.
8 Dies entzieht den heute beliebten Spekulationen über die wunderbaren Fähigkeiten des
lebendigen' Dialogbuches den Boden; vgl. unten 341, 353 ff.
14 Phaidros
τική τέχνη), dem Ertrag der Saat die Fähigkeit der neu gepflanzten
λόγοι, sich selbst und dem Urheber zu Hilfe zu kommen und in anderen
Seelen gleiche λόγοι zu ,pflanzen'.
,Spiel' ist das Verfassen von Schriften gerade für den Dialektiker (276
c 3 - d 2). Daß auch Rhetoriklehrer ihre epideiktischen Reden als παίγνια
bezeichneten (so etwa Gorgias, Helena 21), interessiert Piaton hier in
keiner Weise9. Hingegen hat er einen Hinweis auf sein eigenes Hauptwerk
eingeflochten: die Worte δικαιοούνηο ... πέρι μυθολογοϋντα (276
e 2 —3) hat W. Luther 10 überzeugend als Anspielung auf die Politela
gedeutet, die sich als ein μυθολογεΐν wertet (376 d, 501 e). Daß es sich
um einen präzisen Verweis handelt, ergibt sich daraus, daß Piaton
hier von der Schrift dessen redet, der im Besitz der Dialektik (der
Wissenschaften vom Gerechten, Schönen und Guten, 276 c3) ist: damit
sind andere Autoren, die gleichfalls ,Geschichten über Gerechtigkeit
und das Übrige' geschrieben haben mögen — etwa Prodikos, der die
Geschichte von der Entscheidung des Herakles für die Tugend und damit
auch für die Gerechtigkeit erzählte — ausgeschieden.
Das Gleichnis kennt keine Tätigkeit, die zugleich Spiel und Ernst
wäre, so wenig es ein Pflanzen gibt, das zugleich im Adonisgärtchen und
auf dem Feld vor sich geht. Spiel und Ernst, ,mythologisierendes'
Schreiben und dialektisches Gespräch sind klar geschieden. So gerne wir
auch um der platonischen Dialoge willen Spiel und Ernst ineinander
verwoben sehen würden - das Gleichnis tut uns nicht den Gefallen,
diese Vorstellung zu bestätigen. Offenbar meint Piaton mit diesen
Begriffen etwas anderes als wir meinen, wenn wir manche seiner Dialoge
als ernst und spielerisch zugleich bezeichnen.
Die Bedeutung von ,Spiel' muß aus dem Verhältnis zum Gegenbegriff
,Ernst' verstanden werden (wie später die Bedeutung von φαϋλα aus dem
Verhältnis zu τιμιώτερα): man braucht nicht zu befürchten, daß der
Inhalt der Schriften des Dialektikers unernst oder gar trügerisch und
irreführend wäre 11 . Die Freude des Schriftstellers an seiner Arbeit hat
für diese Benennung sicher eine Rolle gespielt (vgl. ήοθήοεται 276 d4),
entscheidend ist aber, daß der Lehrende erst im Gespräch von der
' Abwegig ist der Versuch von Th. Ebert, Meinung und Wissen in der Philosophie
Piatons, Berlin 1974, 27, den Begriff παιδιά von den Dialogen fernzuhalten, weil er
auch in der Rhetorik verwendet wurde.
10
W. Luther, Die Schwäche des geschriebenen Logos, Gymnasium 68, 1961, 536 f.
" So neuerdings D. Roloff, Platonische Ironie. Das Beispiel: Theaiteos, Heidelberg 1975,
und Meißner (oben Anm. 7), vgl. unten 18 f., 351 f.
Die Kritik der Schriftlichkeit 15
12
Die Ergänzung von ο π έ ρ μ α α ν ζ. Β. auch bei G. J. de Vries (A commentary on the
Phaedrus of Plato, Amsterdam 1969, 253) und bei F. Schleiermacher (Platon, Sämtliche
Werke, Berlin [ 1 1818] 3 1855) und Robin (I.e. oben Anm.4) in ihren Übersetzungen.
Meißner 74 versucht vergeblich, die Beziehung von έφ ole δέ έοπούδακεν auf
οπέρματα b 2 zu vermeiden. Sein Ubersetzungsvorschlag („bei dem hingegen, was er
ernsthaft betreibt") verkennt die Struktur des Satzes.
13
Meißner 73 Anm. 1 glaubt die Frage durch Hinweis auf Schol. Theocr. 15. 113
entscheiden zu können: dort heißt es, d a ß man in Adonisgärtchen Weizen und Gerste
säte - also dasselbe Saatgut, das man im Ackerbau verwendet. Aber selbstverständlich
k o m m t es nicht darauf an, was Theokrits Frauen am Adonisfest „wirklich" machten,
sondern allein darauf, welche Züge der „Wirklichkeit" Piaton in seinem Gleichnis
benützt und gedeutet — oder vielleicht auch umgedeutet hat. O b eine Umdeutung um
des Gemeinten willen vorliegt, muß der sorgfältig formulierte Piatontext entscheiden,
nicht ein entlegenes hellenistisches Scholion.
14
Eine Vorentscheidung hat Piaton freilich bereits gegeben: wer sich mündlich zu ,helfen'
weiß, wird im Gegensatz zur Schrift nicht nur dasselbe wiederholen, s. oben 10 f. (mit
Anm. 3) zu 275 d 9 , 276 a 6.
16 Phaidros
4. Phdr. 277 a 6 - 2 7 8 e 4
" Bei Lukian, Aie κατηγορούμενος 33 beklagt sich der Dialogos, er sei neuerdings von
Lukian so zugerichtet worden, daß er nunmehr οϋτε πεζός είμι οϋτ έπί των μέτρων
βέβηκα. J. Laborderie (Le dialogue platonicien de la maturité, Paris 1978) 53f. ignoriert
den Zusammenhang, übersieht vor allem die deutlich antiplatonische Tendenz der
Neuerungen des ,Syrers' und zitiert die Stelle so, als sei hier etwas Positives vom
platonischen Dialog ausgesagt. - Auch der Umstand, daß nach Aristoteles fr. 73
Rose = Diog. Laert. 3.37 die Gestaltungsart Piatons zwischen Dichtung und πεζός
λόγοο steht, ändert nichts daran, daß in Phdr. 277 e 6 - 7 die Worte ούδένα πώποτε
λόγον έν μέτρφ oòS άνευ μέτρου eine logisch vollständige Disjunktion meinen, der
nichts entgeht (A und Non-Α, tertium non datur). Im übrigen würde Aristoteles'
Annäherung des platonischen Werkes an die Dichtung noch keine Rettung vor der
Schriftkritik des Phaidros bedeuten, die ja die Dichtung deutlich mit einschließt. (Ferner
wäre zu fragen, ob nicht πεζός λόγος als Gegenbegriff zu ποίημα ein Mißverständnis
des Diogenes Laertios oder seiner Quelle darstellt. Da Aristoteles Dichtung bekanntlich
nicht mit metrischer Rede gleichsetzt (Poet. 1447 a 28 - b 20), wird auch sein Gegenbegriff
dazu nicht ,Prosaschrift' gewesen sein: er sah die Dialoge wohl als Brücke zwischen
philosophischer Fachschrift und dichterischer Mimesis; ςυγγράμματα waren sie für ihn
wohl in jedem Fall - zu diesem Wort s. unten 35 f. und Anhang II.)
14 Laborderie 113 glaubt, Piaton verurteile nur Texte άνευ άνακρίςεως, weswegen die
18 Phaidros
Dialoge nicht gemeint sein könnten. In Wirklichkeit ist δνευ άνακρίοεωο eine
Bestimmung der abzulehnenden mündlichen Darlegungen: die schriftlichen sind zuvor
schon wegen ihrer Schriftlichkeit ausgeschieden. Zudem wäre die im Dialog .abgebildete'
àvcocpicic kein Ersatz für die Befragung des Dialogs durch den Leser, bei der der Autor
selbst nicht zugegen ist. Auch δνευ διδαχής ist von der abgelehnten Art der mündlichen
Rede gesagt: daß die Schrift grundsätzlich zur διδαχή im Sinne Piatons nicht fähig ist,
wissen wir schon seit der Theuth-Geschichte. Trotzdem will man immer wieder die
Dialoge wegen ihres erzieherischen Wertes vom negativen Urteil über die Schrift
ausnehmen (z.B. Guthrie IV 63, Laborderie 113, Meißner 214 und passim). Selbstver-
ständlich haben Piatons Werke einen hohen pädagogischen Wert — wer möchte das
bestreiten —, nur muß man sehen, daß Piatons Begriff der διδαχή nicht pädagogisches
Wirken durch Schriften' meint.
17 Daß die άνάκριοιο in die Darstellung hineinverflochten sein muß, ist damit nicht gesagt.
Piatons Bedingung der Befragbarkeit ist auch dann erfüllt, wenn der Hörer nach einem
fortlaufenden Vortrag die Möglichkeit hat, den Sprecher zur Rede zu stellen (wie
Phaidros die Möglichkeit hat, Sokrates' Rede über Seele und Eros zu befragen; zum
Monolog des Timaios s. oben Anm. 6). Was Piaton ausschließen will, sind die die Seele
des Hörers ,zwingen' wollenden Redetypen, die von vorneherein nicht auf Befragung
angelegt sind. Daß z . B . Protagoras' Rede (Prot. 320 c —328 d) kein philosophischer
Wert zukommt, liegt nicht daran, daß die άνάκριοιο erst anschließend erfolgt - das
gilt auch für Sokrates' Rede 342 a —347 a —, sondern daran, daß Protagoras kein
,Wissender' ist, d. h. nicht im Besitz der platonischen Dialektik. Er kann sich denn
auch gegen Sokrates' Befragung nicht ,helfen', s. u. 168 f.
18 Meißner 1 1 0 - 1 1 2 faßt den 6λεγχοο als ,Widerlegung' einer vordergründigen' Dia-
logschicht durch eine ,tiefere'; hierbei ist nicht nur 275 d 8 übersehen (s. oben), sondern
auch der Gegensatz von λέγων und γεγραμμένα vergessen (oder vielmehr umgedeutet:
λέγων αύτόο 278 c 6 heiße „formulierend selbst" — als ob die .vordergründige' Schicht
nicht auch vom Verfasser selbst formuliert wäre).
" „Als unrichtig nachweisen" war J . Stenzeis Wiedergabe von φαΰλα άποδεΐξαι (Literari-
sche Form und philosophischer Gehalt des platonischen Dialogs [1916], in: Kleine
Schriften zur griechischen Philosophie, Darmstadt 1956, 45). Neuerdings identifiziert
Meißner 112 das φαύλα unserer Stelle grundlos und sinnwidrig mit den ψεύδη von
Krat. 408 c. - G. Vlastos (Gnomon 35, 1963, 653) unterstellte auch der Interpretation
von H. J . Krämer, daß sie den Inhalt der Dialoge für ,false' erkläre, wofür er freilich
keinen Beleg aus Krämers Buch (Arete bei Piaton und Aristoteles, Heidelberg 1959)
beibringen konnte. Es ist wohl vor allem dieses Mißverständnis, das die weitverbreiteten
Die Kritik der Schriftlichkeit 19
daß es ,schlecht' oder von geringem Wert ist; aus dem Komparativ
τιμιώτερα ist ein relativer Sinn auch für φαΰλον zu entnehmen: nur im
Vergleich mit dem, was beim ,Helfen' zu Tage tritt, erweisen sich die
Schriften des Philosophen als von geringerem Rang.
Was sind das aber für τιμιώτερα, die das Geschriebene so weit hinter
sich lassen? Man hat darunter die Tätigkeit des Dialogführens, das
lebendige Gespräch verstehen wollen, das als persönliche Begegnung für
Piaton von höherem Wert gewesen sei als der geschriebene Dialog, auch
wenn die verhandelten Inhalte sich nicht unterschieden. Diese Deutung
wäre einleuchtend, wenn Piaton den Nichtphilosophen charakterisierte
als τον μή έχοντα τιμιώτερόν τι του ουντιθέναι ή γράφειν. Nach dem
überlieferten Text nennt er ihn jedoch τόν μή έχοντα τιμιώτερα ών
ουνέθηκεν ή εγραψεν (278 d 8), was entschieden auf einen inhaltlichen
Wertvergleich zwischen schriftlicher Darlegung und mündlicher Hilfe
irrationalen Ängste wegen einer „Abwertung" der Dialoge durch die esoterische
Piatonauslegung schürt. Krämers Richtigstellung (Retraktationen zum Problem des
esoterischen Piaton, M H 21, 1964, 153 mit Anm. 39; Die grundsätzlichen Fragen der
indirekten Platonüberlieferung, in: H . G. Gadamer u. W. Schadewaldt (Hrsg.), Idee
und Zahl. Studien zur platonischen Philosophie, Heidelberg 1968, 136, 150) wird von
den Gegnern so weit ich sehe einfach nicht zur Kenntnis genommen (insbesondere geht
Vlastos' Antwort auf Krämer, in: Platonic Studies, Princeton 1973,399 - 403 mit keinem
W o r t darauf ein). — Im übrigen ist es schwer verständlich, wie es zur Mißdeutung von
φαβλα kommen konnte; das Wort heißt ja im Griechischen fast nie so viel wie .falsch,
verkehrt' (es sei denn ,verkehrt' im moralischen Sinn), vielmehr ist die übliche Bedeutung
.schlecht' mit der Bedeutungsnuance ,schlicht, einfach, unbedeutend, geringfügig'. Die
Verwendung des Wortes bei Euripides kann den attischen Sprachgebrauch verdeutlichen:
El. 760 οδτοι βαοιλέα φαΰλον κ τ α ν ε ϊ ν („keine Kleinigkeit"); ΙΑ 734 cü δέ φαΰλ' ή γ ή
τάδε („hältst es für gering"), 850 άμελίςι 5òc αυτά και φαύλωο φέρε („nimm's leicht");
aufschlußreich auch fr. 473. 1 Ν 2 , w o φαΰλοο und ά κ ο μ ψ ο ς als Synonyma gebraucht
sind: dem entspricht der häufige Gegensatz φαΰλοο — cocpóc (Andr. 379, Ba. 430, Ion
834, Phoin. 496, vgl. auch fr. 635 u. 641 N 2 ). Vergleichbar bei Piaton etwa Hi. min.
369 d 3/6 co<póc - φαϋλοε, oder Hi. mai. 286 e 8 φ α ΰ λ ο ν και ί δ ι ω τ ι κ ό ν (als Hendiadyoin
für .laienhaft'). So dürfte dieser Gegensatz auch in Piatons Formulierung τά γ ε γ ρ α μ μ έ ν α
φ α ΰ λ α άποδεϊξαι mitzuhören sein: die φαύλα sind im Vergleich mit den τιμιώτερα
.unfachmännisch, untechnisch, unkompliziert' (vgl. unten 46 Anm. 46); d a ß sie gleich-
wohl .richtig' sind, sagt Platon Politela 449 c (s. unten 285 f.). Den platonischen
Sprachgebauch beobachtete übrigens schon Diogenes Laertios: ó γ ο ΰ ν ,φαΰλοο' λέγεται
παρ' α ύ τ φ καί έπί τοΰ ά π λ ο ΰ (3.63). Z u Hi. min. 372 b s. unten 82 Anm. 8.
20 Phaidros
weist 20 . N u n bemißt sich der Wert des Schriftlichen nach der Einsicht in
die Wahrheit, die in es eingegangen ist. Sollte der φιλόοοφοο in seinen
τ ι μ ι ό τ ε ρ α über eine tiefere und umfassendere Einsicht in die Wahrheit
verfügen?
Die τ ι μ ι ό τ ε ρ α , die die Dialoge Piatons — wenn er denn selbst der
φιλόοοφοο ist — als geringer erweisen würden, können ihrer Definition
gemäß nicht selbst in den Dialogen enthalten sein. Wie können wir etwas
über sie erfahren? Die τ ι μ ι ό τ ε ρ α sind das, was durch die ,Hilfe', zu der
allein der φιλόοοφοο die Fähigkeit hat, zum Vorschein gebracht wird.
Da die Hilfe als mündliche Hilfe definiert ist, scheint sie sich dem Zugriff
ebenso zu entziehen wie die τ ι μ ι ό τ ε ρ α selbst. Und doch sahen wir, daß
die Deutung des ganzen Schlußteils des Phaidros sich seit 275 e auf die
Auslegung dieses einen Begriffs β ο η θ ε ΐ ν zuspitzt. Bleibt gerade er
unfaßbar?
Hier ist es gut, sich daran zu erinnern, daß der geschriebene λόγοο
nach den Worten Piatons ein Abbild der lebendigen Rede des Wissenden
ist, und daß die Dialoge ein Bild des wahren Philosophen bereithalten:
Sokrates ist der mündlich Philosophierende, dessen δ ι δ α χ ή auf die
ευδαιμονία (277 a 3) der ,Lernenden' zielt 21 .
Die Deutung der Schriftkritik des Phaidros kann also erst dann zum
Ziel kommen, wenn wir die Dialoge selbst befragt haben, ob sie,Abbilder'
des Vorgangs der philosophischen ,Hilfe' geben. Die entscheidende Frage
muß lauten: was versteht Piaton außerhalb des Schlußteils des Phaidros
unter der ,Hilfe', die sich nur der Philosoph zu bringen vermag?
Aber wie soll es zugehen, daß wir aus dem Bild des mündlich
Philosophierenden, der nie etwas geschrieben hat, Aufschluß gewinnen
über das Verhältnis des φιλόοοφοο zu seiner Schrift? Hier zeigt sich die
methodische Bedeutung der Beobachtung 22 , daß Piaton die Fähigkeit,
dem λόγοο zu Hilfe zu kommen, primär als Eigenschaft des mündlich
Philosophierenden einführt, noch bevor er auf die Möglichkeit eingeht,
20
Für Vlastos (Gnomon 35, 1963, 654) meint τιμιώτερα die .activity' des Diskutierens;
ähnlich Guthrie IV 64. Nach dieser Deutung würde Piaton eine Tätigkeit, das
Gesprächführen, mit dem Ergebnis einer anderen Tätigkeit (dem Buch als Produkt des
Schreibens) vergleichen, so als wollte man sagen: die Tätigkeit des Singens ist von
höherem Wert als Lieder (die das Ergebnis der Tätigkeit des Komponierens sind). So
abwegig dachte Piaton doch wohl nicht.
21
Daß Sokrates nur in den Frühdialogen der fragende Nichtwisser ist und spätestens ab
Menon und Gorgias auch positive Überzeugungen zu vertreten weiß, ist allen bekannt
- und wird nur allzu willig immer wieder vergessen.
22
Siehe oben S. 11, 15 und 17.
Die Kritik der Schriftlichkeit 21
daß auch der Wissende' ein Buch schreiben könnte. Zwar ist es eben
diese Fähigkeit - nicht etwa eine andere 23 - , die es dem Philosophen
ermöglicht, seine Überlegenheit gegenüber bloßen Schreibern und Dich-
tern anhand seines grundsätzlich anderen Vehältnisses zu seinem Werk
zu beweisen - aber es ist nicht wesentlich für sie als Fähigkeit, daß sie
auf Geschriebenes angewandt wird: sie zeichnet den ,Wissenden' aus, ob
er sich am Spiel mit den literarischen ,Gärtchen' beteiligt oder nicht. Da
es sich um dieselbe philosophische Grundfähigkeit handelt, wenn der
(ptÀócotpoc einer mündlichen oder einer schriftlichen Darlegung hilft,
werden auch dieselben gedanklichen Strukturen zu Tage treten müssen,
dasselbe Verhältnis zwischen dem λόγοο, der der Hilfe bedarf, und
demjenigen, der sie bringt.
Die Figur des mündlich philosophierenden Sokrates wäre demnach
durchaus geeignet, Aufschluß über den Sinn der Fähigkeit zu philoso-
phischer Hilfe zu geben. Die soeben gestellte Frage wird sich daher —
solange wir gewillt sind, unsere Auslegung des Phaidros an Piaton selbst
zu orientieren 24 - in folgender Weise präzisieren müssen: enthalten die
Dialoge als .Abbilder' der lebendigen' Rede des Sokrates Situationen, in
denen er seine Fähigkeit, sich und seinem Logos zu helfen, unter Beweis
stellt?
Es wird sich zeigen, daß die Dialoge solche Situationen in Fülle
bieten, ja daß die βοήθεια-Situation als dramatisches Grundmuster der
Dialoge gehandhabt wird. Hieraus ergibt sich als die erste wesentliche
Aufgabe, die gedankliche Struktur dieser Fälle von ,Hilfe' und den mit
ihnen implizit gegebenen Begriff der philosophischen τιμιότερα zu
analysieren und für das Verständnis des platonischen Grundtextes über
Schriftlichkeit und Mündlichkeit, und damit für das Verständnis des
platonischen Philosophierens überhaupt, fruchtbar zu machen.
Die dramatisch gestalteten ,Abbilder',, in denen uns Piaton die
βοήθεια-Struktur vorführt, sind freilich selbst insgesamt λόγοι γεγραμ-
μένοι und bedürfen somit einer ,Hilfe', die nicht in ihnen selbst enthalten
sein kann. Hiermit kehren wir zu der Feststellung zurück, von der die
Suche nach einem Weg, den Sinn des βοηθεΐν und der τιμιώτερα des
" Z u dem von de Vries erhobenen Postulat zweier verschiedener Fähigkeiten der ,Hilfe'
(G. J . de Vries, Helping the Writings, Μ Η 3 6 , 1979, 6 0 - 6 2 ) s. unten 6 7 f.
" An dieser Forderung entscheidet sich, o b eine Interpretation philologischen Ansprüchen
genügt oder nicht. Für den Rekurs auf G. Vlastos' vorgefaßte Ansichten über die
Bedeutung von β ο η θ ε ΐ ν statt auf die Dialoge selbst entscheidet sich wieder de Vries
[oben A n m . 2 3 ] (vgl. meine Entgegnung , W h a t O n e Should K n o w When Reading
„Helping the Writings". A Reply t o G . J . de Vries', M H 36, 1979, 1 6 4 - 1 6 5 ) .
22 Phaidros
25
Einzelnes wurde in der Einleitung (5 f.) sowie in den Erläuterungen zum Schlußteil des
Phaidros (17ff.) angemerkt. Für Leser, die die explizite Auseinandersetzung für
wünschenswert halten, ist in Anhang 1 eine ausführliche Kritik der modernen Dialogtheorie
beigefügt.
Kapitel 2
Phaidros:
Der Gang des Dialogs
Zunächst gilt es, den Dialog als Drama zu verstehen, und das heißt:
nach seiner Handlung zu fragen. Das Ziel der Handlung ist klar benannt
an einem Wendepunkt des Dialogs, in dem Gebet an Eros am Ende des
ersten Teils (257 b): der junge Phaidros soll für das philosophische Leben
gewonnen werden. Das Gebet an Pan am Ende des zweiten Teils (279
bc) zeigt, daß das Ziel der Handlung erreicht wurde: indem Phaidros
sich dem Gebet des Sokrates anschließt, macht er sich dessen Streben
nach innerer Schönheit, also die Unterordnung seiner Lebensziele unter
die Philosophie, zu eigen. (Ob Phaidros auf diesem Weg bleiben wird,
kann nicht Thema des Dialogs sein, der einen Zeitraum von wenigen
Stunden umspannt; aber die in einem solchen Zeitraum mögliche
Handlung kommt zu ihrem Ziel.)
Soweit haben wir nur die Grundzüge der Handlung. Um ihre
Bedeutung zu erfassen, müssen wir präziser1 fragen: was für ein Mensch
soll hier von welchem anderen für was für eine Sache gewonnen werden?
Phaidros ist der Typ des Literaten: die Beurteilung literarischer
Produkte ist für ihn das Höchste im Leben, der eigentliche Lebenszweck
(258 e 1 — 2). Zwar kann er auch selbst hervortreten (242 b2) 2 , vor allem
aber liebt er es, anderen literarisch geformte ,Reden' zu entlocken (242
a 8 —b5, 243 d8 — e2) und neigt dazu, sich rezeptiv zu verhalten: er
schließt sich als Bewunderer dem Lysias an, den er für den fähigsten
modernen Autor hält (228 a l — 2 ) ; er hört dessen Lesung einer neuen
1 Die Feststellung, daß „auch hier wieder der Kampf ... um die Seele der Jugend geht"
(Friedländer, Piaton III [ 3 1976] 201), nützt in ihrer Allgemeinheit noch nichts für die
Klärung der im Schlußteil aufgeworfenen Fragen.
2 Vgl. Phaidros' Rede auf den Eros, Symp. 178 a - 1 8 0 b.
Der Gang des Dialogs 25
Rede, veranlaßt ihn sogar zu mehrfachem Lesen, liest dann die Rede
selbst nach und lernt sie auswendig. Das auswendig gelernte Meisterwerk
will er dann dem Sokrates vortragen, doch als dieser darauf nicht eingeht,
begnügt er sich mit dem Vorlesen (228 a b , d, 230 e). Denn Phaidros
trägt die Rolle mit dem Wortlaut bei sich (228 d); seine Begeisterung für
die literarische Autorität Lysias läßt ihn den Text sehr ernst nehmen:
Phaidros ist buchgläubig. Und wie er an den jetzt modernen Mann
glaubt, so auch an die jetzt gängige Bildung: er ist an rationaler
Mythenerklärung interessiert (229 c), kennt die zeitgenössische Redekunst
und ihre Theorie, beruft sich auf die Bücher, die sie enthalten (266 d),
wagt aber nicht, die Redekunst anders zu denken als sie gemeinhin
definiert wird: sie richtet sich für ihn auf Gerichts- und Volksreden (261
b), nicht auf das menschliche Sprechen überhaupt, besteht in einer
formalen Schulung (266 d ff.) und hat es nicht mit der Wahrheit zu tun,
sondern nur mit dem Wahrscheinlichen (259 e - 2 6 0 a, vgl. 273 a).
Was Sokrates mit diesem aufgeregten jungen Literaten zu tun haben
soll, wäre schwer zu sehen - wäre nicht gerade seine Aufgeregtheit und
Begeisterungsfähigkeit der geeignete Ansatzpunkt für den Fachmann der
Erotik (257 a 7): sie will Sokrates auf ein besseres Objekt ausrichten.
Hierfür gibt er zunächst ironisch vor, an der gleichen Art von Reden
interessiert zu sein wie Phaidros und Lysias (227 b 9 —11, 228 b 6 , 236
e). Und in der Tat kennt er all das, wovon Phaidros begeistert ist, nicht
weniger gründlich (Mythenerklärung 229 c d, erotische Dichtung 235 b c,
Rhetorik 266 dff.). Trotzdem glaubt man ihm nicht die Versicherung,
er werde auf solche literarische Bewirtung nimmermehr verzichten
können (236 e). Denn nirgends versucht er, seine Geringschätzung für
Lysias und das ganze Bildungsniveau, für das dieser Name steht, zu
verbergen. Dadurch wird er nicht nur zum dramatischen Gegenpol des
jungen Phaidros, sondern ebenso auch zum geistigen Gegenbild von
dessen Idol Lysias.
Zwar bekommt Phaidros auch von Sokrates Reden zu hören, doch
nicht mühsam ausgefeilte Kunstprosa, wie bei Lysias (228 a l ) , sondern
lebendige Stegreifreden (so will es jedenfalls die dramatische Fiktion
Piatons, der wir zunächst folgen müssen). Vor allem aber bekommt
Phaidros von Sokrates kein Buch mit, das er zu Hause auswendig lernen
könnte: statt dessen wird er schon im Verlauf des Dialogs mehrfach
darauf gelenkt, seine Buchbildung zu vergessen und den Blick auf
Wichtigeres zu lenken (so 229 cff. anläßlich der Mythenexegese; 259 e,
261 b anläßlich der Bestimmung der Kunst der Rede), bevor ihm
26 Phaidros
5 E. N o r d e n , Die antike Kunstprosa I, Leipzig 1898, 112: „Der Phaidros ist darin — sc.
,ein großes Ganzes gut zu komponieren' - verfehlt".
28 Phaidros
ist nichts Unrechtes (258 d) - der Streit geht in Wirklichkeit schon für
Politiker und Logographen allein darum, was die richtige Art des
Schreibens sei, und erst recht für Sokrates selbst. So entwirft er eine
ideale Rhetorik, die der üblichen unendlich überlegen ist durch ihre
Kenntnis der Wahrheit. Erst von dieser umfassenden Redekunst aus -
die sachlich identisch ist mit der philosophischen Dialektik — läßt sich
auch bestimmen, unter welchen Bedingungen das Schreiben ein Schimpf
sein kann: dann nämlich, wenn der Schreibende die Wahrheit nicht
kennt, wenn er nicht ,Dinge von höherem Wert' (τιμιώτερα) für die
mündliche Darlegung bereit hat, kurzum: wenn er kein φιλόοοφοο ist
(278 c —e). So ist das anfängliche abschätzige Urteil der Politiker über
die Logographen ersetzt durch eine überlegene, weil sachlich fundierte
Abwertung des Schreibens.
Dieselbe agonale Ausrichtung, wie man es nennen könnte, bestimmte
aber auch schon den ersten Teil: vor der Frage nach dem Wesen von
Eros und Psyche stand die Frage, wie sich der Vorzug des Nichtverliebten,
von dem Lysias' Rede handelte, in einer überlegenen Darstellung behaup-
ten ließe. Erst die Aufgabe, Lysias zu überbieten, bringt Sokrates dazu,
seinerseits zwei Reden zu halten.
In der Art, wie diese Aufgabe gestellt und angenommen wird, ist
bereits eine Vorentscheidung darüber enthalten, welcher Art die τιμιώ-
τερα des Philosophen sein müssen. In seiner Begeisterung für den Erotikos
logos des Lysias behauptet Phaidros, niemand könne über dasselbe
Thema anderes und mehr vorbringen, das zugleich bedeutender wäre
(ετερα τούτων μείζω καί πλείω περί του αύτοϋ πράγματος 234
e 3). Sokrates kann ihm hierin nicht beipflichten — und mit diesem
Widerspruch ist er bereits in den Wettstreit mit Lysias eingetreten,
dessen Bedingungen im folgenden noch mehrfach genannt werden: die
Überlegenheit der nächsten Rede über den Eros wird auf zusätzlichen
Argumenten beruhen müssen, die die bisherigen nicht nur an Quantität,
sondern vor allem an Qualität (Bedeutung, ,Wert') übertreffen: gefordert
sind αλλα πλείω καί πλείονοο αξια (235 b4) 6 . Abmildernd wird noch
präzisiert, daß nicht alle Argumente neu sein müssen — Grundlegendes
muß bleiben, da es ja weiterhin um dieselbe Sache geht und auch
6 Zusätzliche (andere) Argumente: 'έτερα τούτων 234 e 3 , ά λ λ α 235 b 4 , παρά ταδτα ...
ετερα c 6 , έτερα d 7 , 236 b 2 , παρά τήν έκείνου οοφίαν ετερόν τι b 7 ; Quantität der
Argumente: πλείω 234 e 3, 235 b 4 , 236 b 2 , μή έλάττω 235 d 7 ; Bedeutung der
Argumente: μείζω 234 e 3, μή χείρω 235 c 6 , βελτίω 235 d 6, vor allem πλείονος άξια
(.Wertvolleres') 235 b 5, 236 b 2 .
Der Gang des Dialogs 29
,Reden' sind allen anderen λόγοι und jeder anderen Rhetorik überlegen.
Ein solches Urteil setzt voraus, daß Sokrates alle λόγοι überblickt. Es
ist daher kein Zufall, daß er immer wieder dafür sorgt, daß die Erörterung
nicht auf eine bestimmte Art von λόγοι eingeengt wird: die Ausrichtung
des Blickes auf das Prinzipielle in allem Reden und Schreiben ist um des
Zielpunktes willen unerläßlich. Sokrates sieht in seiner philosophischen
Rhetorik oder Dialektik nichts Geringeres als die Erforschung der
Grundlagen des menschlichen Sprechens und Denkens schlechthin (266
b). Jede Interpretation, die dem Schlußteil des Phaidros die Ablehnung
einer bestimmten Art von Schriften (etwa von „Lehrschriften") 11 oder
die implizite Empfehlung einer bestimmten anderen Art (etwa des
Dialogs) unterlegen möchte, liest nicht nur Dinge in den Text hinein,
die nun einmal nicht in ihm stehen, sondern setzt sich auch in Widerspruch
zur Gedankenbewegung des Dialogs als Ganzen.
Die Erörterung beginnt zwar mit einer bestimmten Rede, dem
Erotikos des Lysias, und erhält zu Beginn des zweiten Teils einen neuen
Impuls durch den gleichfalls nur individuell gemeinten Vorwurf gewisser
Politiker, Lysias sei ein ,Redenschreiber' (257 c). Eben deswegen weist
Sokrates sogleich nach, daß auch Politiker auf das Redenschreiben erpicht
sind: ihre ουγγράμματα sind die in Stein gemeißelten Volksbeschlüsse
(257 e —258 c) 12 . Doch die Gleichstellung von privaten Redenschreibern,
Politikern und Gesetzgebern als Logographen (258 c2) ist selbst noch
ein vergleichsweise partikulärer Schritt und dient nur der Vorbereitung
der Ausweitung der Untersuchung auf alle, die je schrieben oder schreiben
werden, gleichgültig, welcher Art ihre Schrift war oder sein wird 13 . Und
auf diese Ausweitung folgt sogleich eine weitere, noch prinzipiellere: es
müssen nicht nur die Bedingungen des richtigen Schreibens untersucht
werden, sondern ebenso die des richtigen Redens 14 . Denn die Redekunst,
auf die Sokrates hinaus will, regelt alles menschliche Sprechen, öffentli-
11 „Der Lehrschrift gegenüber tritt der mündliche Logos" Friedländer III 220 (zu Phdr.
274a ff.).
12 Diese Stelle würde schon genügen, um zu zeigen, daß ςύγγραμμα für Piaton nicht
„Lehrschrift" bedeutet: Volksbeschlüsse sind keine Traktate. Zur Bedeutung von
ςύγγραμμα s. Anhang II.
13 Λυςίαν ... και άλλον ö c r i c πώποτέ τι γέγραφεν ή γράψει, είτε πολιτικόν σύγγραμμα
είτε Ιδιωτικόν, έν μέτρψ (be ποιητής ή 0νευ μέτρου eòe Ιδιώτης 258 d 8 —11. Diese
Ausweitung vom zufälligen Beispiel Lysias auf alle Autoren überhaupt kehrt noch
zweimal in sprachlich sehr ähnlichen Wendungen wieder: είτε Λυςιας Ή TIC αλλ oc
πώποτε έγραψε ν ή γράψει Ιδίςι ή δημοςίςι 277 d 6 - 7 , Aucíqt τε καί εϊ τις άλλος
ςυντίθηςιν λόγους 278 c 1.
14 τόν λόγον οπη καλώς 'έχει λέγειν τε καί γράφειν καί δπτ] μή, ςκεπτέον 259 e l - 2 .
32 Phaidros
ches und privates, über kleine und große Dinge (261 a 7 — b2), sie ist
eine Kunst all dessen, was in der Sprache erscheint 15 . Ohne sie wird
schlichtweg nichts kunstmäßig (τέχνη) gesagt oder geschrieben werden
können (271 b 7 —cl), denn ihre Grundlage ist die dihairetische Kunst
selbst, die das richtige Denken lenkt (266 b 4 —5).
Es entspricht der vielfach hervorgehobenen Grundsätzlichkeit dieser
Erörterungen über die wahre Rhetorik, daß sie ihre Fortsetzung in einer
ebenso grundsätzlichen Kritik der Schrift schlechthin (der γραφή) finden
(274 b ff.), und daß bei der Auszeichnung jener einen Art von λόγοο, die
,großen Ernstes wert' ist, alle geschriebenen und gesprochenen λ ό γ ο ι in
einer umfassenden Dihairesis berücksichtigt sind (277 e - 2 7 8 a). Die
Schriftkritik muß im Zusammenhang des Entwurfs der wahren Redekunst
verstanden werden, die sich nicht nur über die mitzuteilenden Dinge und
die sie aufnehmende Seele, sondern drittens auch über die Natur der
Medien der Mitteilung (Wort und Schrift) im Klaren ist. Es war daher
von vornherein zu erwarten, daß in diesem Abschnitt die Mängel der
Schrift in voller Allgemeinheit zur Sprache kämen; daß dies der Fall ist,
hat die Einzelinterpretation Punkt für Punkt gezeigt 16 . Es kann keine
Rede davon sein, daß Piaton seine eigenen Werke von der Schriftkritik
ausnehmen wollte. Da er vielmehr bei der Erwähnung der schriftlichen
παιδιά des Dialektikers einen deutlichen Hinweis auf sein Hauptwerk
einfließen ließ 17 , können wir mit Sicherheit annehmen, daß er auch in
der Beschreibung des mündlichen ,Ernstes' des Philosophen nicht zuletzt
sein eigenes Wirken vor Augen hatte: Piaton sah sich als den Autor, der
überlegene τιμιώτερα für das mündliche Philosophieren bereithält. Eben
dies machte ihm die Einbeziehung der eigenen Schriften in die Schriftkritik
leicht.
Die Hilfe, die unserer Deutung des Schlußteils aus dem Verständnis
der Handlung des ganzen Dialogs (oben 24 - 30) und der Gedankenbewe-
gung des zweiten Hauptteils ( 3 0 - 3 2 ) erwächst, wird vielfach ergänzt
und konkretisiert durch eine Analyse der einzelnen Stufen, in denen sich
die Überlegenheit der sokratischen Rhetorik entfaltet.
15
περί πάντα τα λεγόμενα μία t i c τέχνη 261 e 1 - 2.
16
Vgl. oben 7 ff.
17
Zu μυδολογειν 276 e 3 vgl. oben 14.
Der Gang des Dialogs 33
18 Klein I.e. (oben 13 Anm.7] 14f.: im zweiten Teil setzen Sokrates und Phaidros die
gesprochene Rede wieder in ihr Recht ein „instead of exchanging elaborate speeches,
that is, written or dictated words" (15). Mit „dictated words" meint Klein den Umstand,
daß Sokrates seinen ungewohnten Redefluß fremden Kräften zuschreibt. S. dazu die
nächste Anmerkung.
19 Erst später wird einsichtig, inwiefern Sokrates durch seine mündlich improvisierende
Beherrschung der rhetorischen Kunstmittel durchaus nicht in die Nähe des Lysias und
seinesgleichen gerückt wird, sondern gerade dadurch das Programm der idealen
dialektischen Rhetorik illustriert: der dialektische Redner wird die προ τήο τέχνης
άναγκαϊα μαθήματα (269 b 7 - 8), d. h. das Wissen und Können der üblichen Rhetorik,
nach Maßgabe seiner Einsicht in die Gesetze der wirklichen Redekunst souverän
einsetzen, und zwar im persönlichen, mündlichen Gespräch: 271 e 2 - 272 a 8.
20 Daß man in anderem Sinne doch auch von einer Überlegenheit des zweiten Teils
sprechen kann, wird unten 40 ff. erörtert werden.
34 Phaidros
Die andere Bedingung lautet, daß der wissende Redner die Seele des
Angeredeten kennen muß und im richtigen Augenblick durch Sprechen
und Zurückhalten der Rede auf ihn persönlich (παραγιγνόμενον)
einwirken muß (271 e2 —272 a8, 277 be). Daß auch diese Bedingung
erfüllt ist, macht Piaton mehrfach deutlich: während Lysias seine Rede
èv πολλω χ ρ ό ν φ κατά c / ο λ ή ν ςυνέθηκε (228 a 1), und das heißt doch
wohl: alleine und ohne Rücksicht auf ein bestimmtes Gegenüber und
eine bestimmte Gelegenheit des Vortrags schriftlich ausarbeitete, hat
Sokrates die individuelle Veranlagung des Phaidros - seine Begeiste-
rungsfähigkeit — und seine augenblickliche Seelenlage — seine Benom-
menheit von der Kunst des Lysias und seine Begierde, vor Sokrates durch
seinen Vortrag zu glänzen — dazu benützt, ihn in Reden, die persönlich
an ihn gerichtet waren 23 , zu Besserem hinzuführen, indem er ihm gewisse
Dinge mitteilte, andere vorenthielt".
Da Sokrates in seinen Reden die Bedingungen wahrer Rhetorik erfüllt,
verwundert es nicht, daß sie als Reden eines είδώο τό άληθέο bezeichnet
werden (262 d l) 25 . Vor diesem Hintergrund ist also die Auszeichnung
der gebenden und beseelten Rede des Wissenden' als Urbild des sinnvollen
Sprechens im Schlußteil zu verstehen (276 a 8). Die beiden Eros-Reden
des Sokrates sind - innerhalb des fiktiven Rahmens, in den sie das
Dialogdrama stellt — als ,lebende und beseelte Reden' aufzufassen.
Damit gilt es Abschied zu nehmen von der Vorstellung, daß Piaton im
Phaidros eine Theorie des Wechselgesprächs als einzig legitimer Form
der Darstellung von Philosophie gibt und in den beiden Hauptteilen die
Überlegenheit des Frage-und-Antwort-Verfahrens und die Unterlegenheit
der systematischen' Entwicklung eines Themas illustrieren will: das
zunächst ,abgebildete' Beispiel einer gebenden' Rede eines Wissenden
unterscheidet sich von der konkurrierenden Darlegung des bloßen
ουγγραφεύο λόγων gerade durch die systematische', d. h. dem Zwang
der Sachen folgende Ordnung der Gedankenentwicklung 24 und nicht
" Das ist wörtlich ausgesprochen 243 e 4 - 8, 257 b 4 - 7 und war schon angedeutet 238
d7. Die Kunst des wahren Redners kommt nur im Mündlichen zur Entfaltung, vor
dem persönlich .anwesenden' Hörer: παραγιγνόμενον 271 e 3, παροϋοα 272 a 2. So ist
auch Phaidros für Sokrates ,zugegen' (πάρεοιιν 243 e 7).
" Daß Sokrates' Reden nicht nur das λεκτέον, sondern auch das έπιοχετέον (272 a 4)
illustrieren, wird unten 44 f. gezeigt.
" Zu τώ λόγω vgl. oben Anm. 21. - Der Gegensatz zum üblichen Nichtwissen des
Sokrates (235 c 7 —8, 262 d 5) wird gemildert durch die Versicherung, die Beispiele des
wissenden Gebrauchs der Rede seien nur ,zufällig' bei ihm zu finden. Vgl. 42 ff.
" Die Wichtigkeit des systematisch richtigen Einsatzes für die klare und widerspruchsfreie
Entfaltung des Folgenden betont Sokrates 237 cd, 263 e, 265 d.
36 Phaidros
zuletzt auch durch den mehr als dreifachen Umfang, der erst eine
zusammenhängende Entfaltung in Klarheit schaffender Ausführlichkeit
ermöglicht. Die Überlegenheit solcher Rede beruht nicht auf einer anderen
Mitteilungsweise (etwa der ,indirekten' Mitteilungsform gegenüber einer
,direkten' bei Lysias 27 ), sondern darauf, daß sie ,in der Seele des Lernenden
— hier des jungen Phaidros — geschrieben wird' (276 a 5).
Die Überlegenheit der lebenden Rede muß sich konkret darin zeigen,
daß sie sich zu verteidigen imstande ist (δυνατόο άμΰναι έαυτφ 276
a6). Platons παράδειγμα (262 d l ) wäre schlecht gewählt, wenn das
geschriebene ,Abbild' lebender Rede nicht auch abgebildet hätte, wie
dieses Kriterium zu erfüllen ist. ,Sich verteidigen' setzt einen Angriff
voraus (275 e 3 —5), zumindest eine kritische Prüfung, einen ελεγχοο
(278 c5). Ihre Funktion als παράδειγμα für die wahre Rhetorik können
die Eros-Reden des Sokrates erst erfüllen, wenn sie zusammengenommen
werden mit dem, was anschließend über sie gesagt wird. So wie der
zweite Hauptteil den ersten als ,Beispiel' für den Nutzen der Dialektik
für die Redekunst nimmt, so sind erster und zweiter Hauptteil zusammen
als ,Beispiel' dafür zu nehmen, wie sich die Überlegenheit der Dialektik
in der Prüfung bewährt.
,Lebende und beseelte Rede des Wissenden' sind die Ausführungen
des Sokrates, wie wir sagten, im Rahmen des Dialoggeschehens. Wir,
die Leser, sind nicht Teil der dramatischen Szene: für uns existieren diese
Reden nur in dem Buch „Phaidros" als λόγοι γεγραμμένοι, mithin als
,Abbild' lebendiger Rede. Damit wächst dem platonischen παράδειγμα
eine weitere, der ersten scheinbar widersprechende Aufgabe zu: als
schriftliche παιδιά muß es zugleich auch seine Unterlegenheit im Vergleich
mit den mündlichen τιμιώτερα, die den ,Ernst' des Philosophen ausma-
chen, veranschaulichen. Der Widerspruch ist freilich nur ein scheinbarer,
Piaton löst die beiden Aufgaben durch ein und dasselbe Mittel: indem
er aufzeigt, daß zur Festigung der Ergebnisse der Eros-Reden noch
bestimmte andere Ergebnisse methodisch zu erarbeiten wären, und indem
er diese weiteren Schritte nur benennt, aber hier nicht vollzieht. Damit
ist in einem gezeigt, daß ,Sokrates' nicht ratlos vor der Aufgabe der
tieferen Begründung des (von ,Piaton') schriftlich Dargelegten steht,
sondern sehr präzise Vorstellungen dazu hat, und daß das Vorliegende
27
Auch Lysias bedient sich, wenn man so will, der ,indirekten' Mitteilungsform, da er
doch selbst,anonym' bleibt hinter der Maske des nichtverliebten Liebhabers. Schon dies
zeigt, daß das in der Moderne aufgeblähte „Problem" der „Anonymität" Platons für
Piaton selbst kein entscheidendes Gewicht gehabt haben kann. Vgl. Anhang I, S. 348 f.
Der Gang des Dialogs 37
2 * Daß das Buch selbst sich nicht helfen kann, versteht sich von selbst.
38 Phaidros
" 260 e 2 οί έπιόντεο αύτη (sc. τη των λόγων τέχνη 260 d 4) λόγοι „die gegen sie
anrückenden Reden". Phaidros bittet Sokrates, diese ,Reden' (das Wort umfaßt hier
auch die Bedeutung ,Argumente') vorzuführen und zu prüfen (έξέταζε 261 a 2);
inhaltlich muß das zugleich eine Prüfung der Eros-Reden sein, gegen die diese neuen
,Reden' antreten.
30 Dazu wird Phaidros von Sokrates noch einmal aufgefordert 272 c 2 - 4 άλλ' εΐ τινά
276 a, e.
Der G a n g des Dialogs 39
seinen Phaidros den Hippokrates so verstehen läßt. (Sokrates hat übrigens nichts gegen
40 Phaidros
schenkt als einem verliebten. Indem Sokrates sich nach seinem Angriff
auf Lysias dazu bewegen läßt, in seiner ersten Rede das gleiche Thema
durchzuführen, kommt er zwar nicht dem Lysias, wohl aber der von
diesem vertretenen und nun in Bedrängnis geratenen Sache zu Hilfe. Er
kann dies, indem er den zugrundeliegenden Begriff des ëpcDC zur Klarheit
bringt, ihn als vernunftlose Begierde eindeutig definiert und in die
Gesamtheit solcher Begierden einordnet (237 b —238 c). Durch diese
Ausweitung des Blickes auf einen weiteren Bereich der Psychologie ist
Sokrates inhaltlich über Lysias hinausgekommen 35 : beschrieben ist die
Wirksamkeit des ganzen dritten Seelenteils der platonischen Seelentricho-
tomie. Als Aussagen über das έπιθυμητικόν und seine Herrschaft im
Erotischen sind die Argumente der Rede richtig, beruhen auf Kenntnis
der Wahrheit über die Dinge, die sie behandeln. Unwahr ist die Rede
jedoch darin, daß sie den Eindruck erweckt, die erotische έπιθυμία
umfasse den ganzen ëpœc und nicht lediglich seine niedrigste Form (vgl.
243 c). Sie kann diesen Eindruck überzeugend erwecken gerade auf
Grund von Sokrates' Einsicht in das Wesen des έπιθυμητικόν und seiner
Beherrschung der Methode der begrifflichen Synopsis (vgl. 265 d 3 - 7 ) :
die überlegene Fähigkeit irrezuführen besitzt der, der die Wahrheit kennt
(262 d l - 2 ) .
Die Kritik muß daher auch diesmal von Sokrates selbst kommen.
Mit seiner Palinodie stellt er die Dinge richtig: der Eros ist zwar ein
Wahn, aber nicht im Sinne eines menschlichen Defektes, sondern einer
göttlichen Gabe. Statt in das System der krankhaften έπιθυμίαι gehört
er in das System der göttlichen μανίαι, die nun in einer umfassenden
Dihairesis vorgestellt werden (244 a —245 a). Daß dieses Geschenk des
erotischen Wahnsinns zum Wohl der Menschen gegeben wurde, wird in
einem langen Beweis gezeigt, der bei der Unsterblichkeit (245 c — e) und
der Struktur der Seele (246 a b) ansetzt: um den Eros voll zu erkennen,
bedarf es — dies überrascht nun nicht mehr - des Rückgriffs auf eine
umfassendere Theorie, die nicht nur über ein πάθοο der Menschenseele,
sondern über das Wesen der Weltseele als Bewegungsprinzip des Kosmos
und die Seinsweise der Götterseelen Aufschluß gibt (245 de, 247 de).
Sokrates ist mit dieser Rede zwar nicht der falschen These seiner ersten
Erosrede, wohl aber dem Eros selbst zu Hilfe gekommen und dem
Richtigen, das über ihn bereits gesagt war: indem er das ursprüngliche
35 Nach Laborderie 1. c. (oben 17 Anm. 15) 463 ist die Umformung der Lysiasrede in
der ersten Sokratesrede „purement formel". Damit ist nicht nur der Inhalt nicht voll
erfaßt, sondern auch seine Wertung (265 d7) durch Sokrates selbst übersehen.
42 Phaidros
negative Bild des Eros durch das positive ergänzt, schafft er erst die
Möglichkeit, das vermeintliche Zerrbild des ganzen Eros nunmehr als
zutreffende Beschreibung der Begehrlichkeit des niedrigen oder ,linken'
Eros (266 a 5) zu würdigen.
Die nächste Stufe der Hilfe besteht in dem bereits erwähnten
Nachweis, daß die präzise begriffliche Einteilung der menschlichen und
der göttlichen μανίαι einem philosophischen Verfahren entspricht, dessen
Anwendungsbereich nicht auf Eros- und Seelenlehre beschränkt ist,
sondern alles umfaßt, was Gegenstand des Sprechens und Denkens
werden kann (265 c —266 b): die Grundlagen werden abermals tiefer
gelegt. Dem gleichen Zweck dient schließlich der Entwurf einer dialekti-
schen Seelenlehre als Grundlage der wahren Redekunst. Beides zusammen
bringt die platonische Dialektik als Rechtfertigungsbereich der somati-
schen Reden in den Blick. Somit wissen wir, wie sie auf eine wirklich
wissenschaftliche Grundlage gestellt werden könnten.
Diese Grundlage selbst bringt uns jedoch auch der Dialog Phaidros
nicht. Als Sokrates sich anschickt, die Paradigmen dialektischen Verfah-
rens in seinen Reden nach Inhalt und Methode nachzuweisen, fügt er
eine seltsame Einschränkung bei: sie seien bei ihm nur ,zufällig' zu finden
(κατά τύχην τινά 262 c 10, έκ τύχηο 265 c9). Gewiß wird niemand die
Einschränkung wörtlich nehmen wollen: Piaton läßt Sokrates nicht
zufällig so reden, wie er redet. Nicht weniger verkehrt wäre es aber, so
zu tun, als stünde die Einschränkung nicht da — auch sie steht ja nicht
zufällig im Text. Ihr Sinn ergibt sich aus ihrem Gegensatz, und der
lautet: τέχνη (265 d l ) . Die zerteilende und zusammenfassende Analyse
des Begriffs μανία ist zwar mit Bedacht eingeführt, indes sie wirkt
zufällig, so lange weder die Berechtigung und die Notwendigkeit des
Dihairesisverfahrens und seiner logischen und ontologischen Vorausset-
zungen nachgewiesen ist, noch auch nur der Gegenstandsbereich, in den
die μανίαι gehören, nach dem gleichen Verfahren erforscht ist. Nur wenn
beides erfüllt wäre, könnte man sagen, die δύναμιο (das ,Vermögen', die
Bedeutung) der Verfahren Ôiaipecic und ουναγωγή sei wirklich τέχνη
erfaßt (265 d l ) . Daß im Phaidros weder das eine noch das andere getan
wird, ist nicht schwer zu sehen: was unmittelbar auf die Einschränkung
folgt, ist lediglich eine grobe Umrißzeichnung der gemeinten Verfahren
für Phaidros, dem sie gänzlich neu zu sein scheinen (265 d 2 —8), nicht
ihre philosophische Begründung, die erst dem Auftauchen der Beispiele
den Anschein der Zufälligkeit nehmen könnte. Und daß die Seele — die
Wesenheit, an der sich die μανίαι zeigen — nicht mit voller Entfaltung
Der Gang des Dialogs 43
36
.Bewiesen' wird nur die Unsterblichkeit und die Selbstbewegung der (Welt-)Seele 245
c —e, was zwar für die Ausrichtung der (Einzel-)Seele auf das Unvergängliche (247 cff.)
wichtig ist, aber in dieser allgemeinen Form die Frage nach dem richtigen Eros
nicht begründet entscheiden kann: hierzu bedürfte es der genauen Erforschung der
Komponenten der dreiteiligen Seele.
37
Selbst die genauer begründende (s. unten 44 f.) Seelenlehre der Politela bedarf der
Ergänzung durch den ,längeren Weg' (435 d 3, 504 b2) der Dialektik.
44 Phaidros
ήμΐν ταϋτα μενέτω. Die nur bildhafte Dihairesis .bleibt' und wird in gleicher Weise
fortgeführt, nicht kritisch begründet.
43 τφ τί sollte nicht zweimal im Text belassen werden; die Parallele 271 a 10 zeigt, daß
das zweite τφ nicht richtig sein kann. Die Korruptel erklärt sich wohl nach der sog.
Brinkmannschen Regel.
44 ή του όλου (púcic (270 c 2 ) bedeutet natürlich nur im Rahmen der vorplatonischen
Philosophie (genannt sind Anaxagoras, Hippokrates) soviel wie ,Natur des Alls' oder
,des Kosmos'. Für den Dialektiker umfaßt das δλον auch die unsichtbaren Prinzipien
des sichtbaren Kosmos.
46 Phaidros
der dies nicht deutlich genug ausspräche: Piaton hat sich nicht nur in
seinem ganzen Schriftwerk an die Maximen gehalten, die er über den
Gebrauch der Schrift durch den Philosophen gestellt hat, sondern dies
dem aufmerksamen Leser auch zu erkennen gegeben 48 .
4) Zusammenfassung
Alles in allem erweist sich der Phaidros als ein Werk, dessen Teile
wie bei einem Organismus (264 c 2 —5) wohl aufeinander abgestimmt
sind. Thema ist, unter welchen Bedingungen ein λόγοο dem anderen
überlegen ist. Entscheidend hierfür ist einmal der bedeutendere Inhalt,
was in drei konkurrierenden Reden vorgeführt wird. Die siegreiche ist
die inhaltlich reichste und tiefste: was sie entfaltet, sind die geforderten
πλείονοο αξια oder τιμιώτερα (im Vergleich zu den Reden, die sie
übertreffen will). Gegenstand dieser Reden ist der Eros und damit die
Seele; dies natürlich nicht zufällig, vielmehr ist die Kenntnis der Seele
die zweite Bedingung der Überlegenheit einer Rede. Denn der tiefer
erkannte Inhalt wird vom Wissenden nicht beliebig verbreitet werden,
sondern muß der Natur des persönlich anwesenden Adressaten entspre-
chend vorgetragen werden, soweit dies gut scheint. Die auf der Kenntnis
der Seele beruhende Überlegenheit der Rede führt auf eine Redekunst,
die ihre Wirkung in der kontrollierten Entfaltung sachlich fundierten
Wissens vor dem für dieses Wissen geeigneten Gesprächspartner erzielt.
Nachdem die Kritik der konkurrierenden Reden gezeigt hat, daß auch
die beste noch keine wissenschaftliche (,dialektische') Psychologie bot,
weiß der Leser, welche Art von Ausführung dem Schriftstück, das er in
Händen hält, überlegen wäre: sie müßte inhaltlich weiter kommen in der
Behandlung der Seele und der Dialektik selbst, und sie müßte das,
was sie zu sagen hat, der individuellen Natur und Bereitschaft des
Angesprochenen entsprechend modifizieren — das heißt aber, daß es
sich um eine mündliche Darlegung handeln müßte. Im Schlußteil wird
dann begründet, warum jede Schrift eines (piXócocpoc auf diese Weise
auf Begründung durch eine überlegene mündliche ,Hilfe' angelegt sein
muß: der Schreibende, der den Leser und seine Seele nicht kennt, kann
ihre Eignung, ihre Bereitschaft, ihre Reaktion nicht berücksichtigen. Da
die Bedingungen für die Entfaltung der überlegenen, auf Dialektik
Euthydemos
Sokrates' Spott über ,Geheimhaltung'
gang. Es wird bewiesen, daß, wer etwas weiß, alles weiß (293 b - e ) , daß
jeder alles weiß (294 a —e), daß jeder immer alles wußte (294 e - 2 9 6 d).
So wie diese Beweise dastehen, sind sie abwegig im sachlichen Gehalt
und fehlerhaft in der logischen Form. Nimmt man den Menon hinzu, so
wird alles klar und einfach: von einer einzigen ,Erinnerung' aus kann
man alles suchen, da die gesamte Natur ,verwandt' ist (Men. 81 cd); da
alle Menschen eine unsterbliche Seele besitzen, die auf ihren Wanderungen
vor dem Eintritt in den Körper das wahrhaft Seiende gesehen hat, weiß
(potentiell) wirklich jeder alles (Men. 81 c, vgl. Phdr. 249 b 5); und die
Vorführung der Geometriekenntnisse von Menons Diener beweisen, daß
jeder schon immer alles (potentiell) gewußt hat (Men. 85 d 9 —86 b 4 ) .
Zu diesen bereits bekannten Beziehungen zwischen Menon und
Euthydemos tritt eine weitere, nicht weniger deutliche und nicht weniger
wichtige, die wohl wegen ihres burlesken Charakters den auf das
Ernsthafte gerichteten Nachforschungen der Interpreten entging. Nicht
lange nach dem Beweis der Allwissenheit eines jeden Menschen beweisen
Euthydemos und Dionysodoros, daß ihr Vater identisch ist mit dem
Vater ihres Gesprächspartners Ktesippos, ja daß er zugleich der Vater
aller Menschen ist, und nicht nur der Menschen, sondern überhaupt aller
Lebewesen, insbesondere aller Seeigel, Ferkel und Hunde. Ferner beweisen
sie, daß der Hund des Ktesippos als Vater von jungen Hunden zugleich
der Vater seines Besitzers Ktesippos ist (298 b 6 — e 5). Was soll diese
seltsame Verwandtschaft von Seeigeln, Menschen und Welpen? Vermut-
lich ist sie nichts anderes als eine burleske Variation auf das Fundament
der Anamnesislehre, das im Menon so formuliert ist: ατε γαρ xfjc
φύοεωο άπάοηο ουγγενοϋο ουοηο (81 c 9 - d l ) . Aus der ontologischen
Allverwandtschaft der Natur, die die Erkennbarkeit der Dinge garantiert,
wird auf dem hier karikierten Niveau die Blutsverwandtschaft von
Lebewesen aller Gattungen.
Es kann also — mit oder ohne die zuletzt dargelegte sachliche
Entsprechung — als gesichert gelten, daß eine Reihe von Trugschlüssen
im Euthydemos die Anamnesislehre voraussetzt. Von Anamnesis steht
jedoch in diesem Dialog kein Wort. Der einzige Hinweis, daß die
platonische Seelenlehre der Hintergrund ist, vor dem sich der scheinbare
Unsinn mit Sinn füllt, besteht darin, daß Sokrates mitten im eristischen
Geplänkel das Wort ψυχή einführt (295 b 4 ) . Doch ist dies ein Hinweis,
den klarerweise nur verstehen kann, wer diese Seelenlehre schon aus
anderen Quellen kennt.
Da die Anamnesistheorie sachlich mit der Ideenlehre verknüpft ist,
52 Euthydemos
verwundert es nicht, daß auch auf sie angespielt ist. Die schönen Dinge,
sagt Sokrates, sind verschieden vom Schönen selbst, sind jedoch schön
durch Gegenwart von Schönheit (301 a 2 — 4). Die Betonung der Aporie,
in die Sokrates gerät angesichts der Frage nach dem Verhältnis der
schönen Dinge zum Schönen selbst (a 2), die Entscheidung für die
Unterschiedenheit von Einzelding und Idee (a 3) und der Hinweis auf die
Schwierigkeit des Parusiebegriffs (a4 —7) zeigen, daß Sokrates hier der
ganze Problembestand der Ideenlehre gegenwärtig ist (man vergleiche
etwa Politela 476 d). Aber dieses höhere Theorem wird sofort auf das
Niveau der Eristik herabgezogen, wenn es heißt, so wie die schönen
Dinge durch die Gegenwart des Schönen schön würden, so werde auch
Sokrates durch die Gegenwart eines Rindes zum Rind und durch
die Gegenwart des Dionysodoros zu einem Dionysodoros — letzteres
wenigstens ist Sokrates denn doch zu viel: ευφήμει τοΰτό γε ist seine
Antwort (301 a 7).
Wie die Anamnesistheorie mit der Ideenlehre verknüpft ist, so diese
mit einer Theorie der Wissenschaften. Konsequenterweise wird auch auf
sie angespielt. Auf der Suche nach der obersten Kunst oder Wissenschaft,
die die Glückseligkeit verbürgt, werden auch die Künste der Jagd
durchmustert, darunter die Feldherrnkunst und die Mathematik. Sie
kommen nicht in Frage, weil bei der gesuchten έπιοτήμη bzw. τέχνη
Hervorbringung oder Erwerb mit dem Gebrauch zusammenfallen muß,
während die Feldherrnkunst ihre Beute, etwa eine eroberte Stadt, dem
Politiker überläßt, und die Mathematik ihre Beute der Dialektik (290
cd). Das unvermittelte Auftauchen dieses sehr spezifischen Bruchstücks
aus der Wissenschaftstheorie der Politela (vgl. 510 cff., 531 cff.), das im
Zusammenhang des Euthydemos unverständlich bleiben muß, zeigt, daß
Piaton auch hier weit mehr voraussetzt als er darlegt und erläutert.
Diese auffällige Bezugnahme auf die Theorie der Dialektik, wie sie
in der Politela auftritt, wird ergänzt durch eine Anspielung auf die im
Phaidros entfalteten Aspekte der Dialektik als idealer Redekunst, die -
ähnlich der Travestie des Gedankens der Allverwandtschaft der Natur
— wegen ihrer Unauffälligkeit den Interpreten bislang entging3. Die
gesuchte ,Kunst', deren Besitz die Eudaimonie bringt, könnte nach
Meinung des Sokrates vielleicht die Kunst sein, Reden zu machen (ή
λογοποιική τέχνη 289 c7). Wie bei der Mathematik und der Strategik
wird auch hier der Anspruch der glückseligmachenden τέχνη daran
3
Friedländer II 320 Anm. 16 war nahe daran, die Beziehung zu sehen.
Sokrates' Spott über .Geheimhaltung' 53
4 Daß Piaton wirklich dergleichen andeuten will, zeigt außer der Formulierung (ούχ
αΰτη έοτίν ή των λογοποιών τέχνη, statt ούκ ëcnv ή των λογ. τέχνη) vor allem
die anschließende Versicherung, Sokrates habe geglaubt, die lange gesuchte έπιοτήμη
werde sich hier zeigen (dlO —el); vgl. unten 55.
5 Das Auseinanderfallen von Hervorbringen und Gebrauch ist hingegen mit der Schrift
gegeben: Autor und Leser sind notwendig verschiedene Personen. Es ist diese wesensmä-
ßige Entfremdung, die die Schrift prinzipiell unfähig macht, den Anforderungen der
wahren λόγων τέχνη zu genügen.
54 Euthydemos
Die Tatsache, daß dieser Dialog ständig auf Dinge verweist, die nicht
in ihm erarbeitet wurden, war der Piatonforschung, wie erwähnt, nicht
entgangen6. Was ihr entging, war die Bedeutung dieser Tatsache: sie
zeigt sich erst, wenn man das auffällige Fehlen jener gewichtigeren
Theoreme — jener τιμιώτερα, wie man sagen könnte — mit dem Motiv
des absichtlichen Zurückhaltens in Beziehung setzt.
Bevor wir der Rolle dieses Motivs im Aufbau des Dialogs nachgehen,
wollen wir noch festhalten, daß nicht allein gewisse τιμιώτερα, die
inhaltlich nicht aus dem vorliegenden Zusammenhang zu gewinnen sind,
faktisch ergänzt werden müssen. Piaton ist nicht lediglich selbst, als
Autor, das Subjekt bei der Zurückhaltung des sachlich geforderten
Hintergrundwissens, sondern zeichnet darüber hinaus auch die Dialogfi-
gur Sokrates als den, der über das zu ergänzende Wissen verfügt.
Den deutlichsten Hinweis in dieser Richtung gibt Piaton im Anschluß
an das unerwartet auftauchende Bruchstück aus seiner Wissenschaftstheo-
rie, das das Verhältnis zwischen den mathematischen Wissenschaften
und der Dialektik bestimmt (290 c, oben S. 52). Um die Bedeutung die-
ser Erkenntnis zu markieren, unterbricht Piaton den erzählten Dialog
und läßt Kriton, den Gesprächspartner des Rahmendialogs, fragen, ob
wirklich der junge Kleinias, wie Sokrates berichtet, so Kluges gesagt
habe7; wenn er es war, so bedürfe er keiner weiteren menschlichen
Bildung mehr (290 e 1 — 6). Sokrates kann nicht verbürgen, daß es Kleinias
war, es könne auch Ktesippos gewesen sein - was ihm Kriton gleichfalls
nicht glaubt (291 a l ) . Jedenfalls war es weder Euthydemos noch
Dionysodoros, das weiß Sokrates genau (a2). Da damit alle übrigen
Teilnehmer des erzählten Gesprächs ausgeschieden sind, könnte Kriton
sich ausrechnen, wer die auf tiefere philosophische Zusammenhänge
verweisende Erkenntnis ins Gespräch einführte. Doch so einfach wird das
nicht mitgeteilt, vielmehr sagt Sokrates, dissimulierend und überhöhend
zugleich, es könne einer von den Höheren, der gerade zugegen war, jene
Bestimmung des Verhältnisses von Strategik und Politik (290 d l —8). Für ,Kleinias' ist
dies aber aufs engste verknüpft mit der Bestimmung des Verhältnisses von Mathematik
und Dialektik: beide Male wird eine ,erwerbende' Kunst einer gebrauchenden'
untergeordnet (290 b 7 - d 8 ) . Daß Piaton die Stelle wegen ihrer Aussage über die
Dialektik hervorhebt, ergibt sich schon daraus, daß die Unterordnung der Strategik
unter die Politik im demokratischen Athen eine Selbstverständlichkeit war, während
der Begriff der Dialektik und ihre Uberordnung über die mathematischen Disziplinen
auf spezifisch platonischen Voraussetzungen beruht.
Sokrates' Spott über ,Geheimhaltung' 55
auf die gewünschte Abfolge von Unsinnigkeiten führt, die auf der Folie
des Menon Sinn erhalten, können wir auch hier nicht an der Absicht
Piatons zweifeln, Sokrates als den Wissenden zu zeichnen, der in der
gegebenen Situation von seinem Wissen keinen offenen Gebrauch machen
will. Im gleichen Sinn war oben (S. 51 f.) die Art auszulegen, in der die
Anspielung auf die Ideenlehre (301 a) gestaltet ist. Daß in diesen beiden
Fällen die Rolle des Sokrates als des Wissenden weniger handgreiflich
zu fassen ist10, liegt zweifellos daran, daß sie in den eristischen Ge-
sprächsabschnitten begegnen, die beiden Hinweise auf die Dialektik
hingegen in den protreptischen: gegenüber den jungen Gesprächspartnern,
die für die Philosophie aufgeschlossen sind, kann sich Sokrates deutlicher
zeigen11.
10
Daß in 301 a überhaupt ein Hinweis auf die Ideenlehre vorliegt, wird mitunter
angezweifelt, z.B. von Guthrie IV 278f., der auch frühere Stimmen hierzu zitiert (279
η. 1). Desgleichen bin ich auf Ablehnung meines Vorschlags gefaßt, in der (wahren)
λ ο γ ο π ο α κ ή einen Hinweis auf die Dialektik zu sehen. Für diejenigen, die hier skeptisch
bleiben möchten, sei darauf hingewiesen, daß für das hier verfolgte Beweisziel die
allgemein anerkannten Verweisungen auf weiterführende Theorien in 290 c (Dialektik)
und 293 bff. (Anamnesis) genügen. Guthries Versuch (IV 282), auch noch Euthyd. 290
c von Politeia 510 cff. zu trennen, ist mehr als fragwürdig: mit seinem Schlußsatz „for
the unhypothetical first principle is the Form of the Good" bemüht er doch wieder ein
Theorem der Politeia, das angeblich „need not have been in his (Plato's) mind here".
(Daß die freiwillige Zurückhaltung das strukturgebende Handlungsmotiv ist, ist Guthrie
wie allen anderen Interpreten entgangen; hierzu s. unten 56 — 61.)
11
Daß solche personenbezogene Zurückhaltung nichts mit Geheimhaltung zu tun hat,
ergibt sich schon daraus, daß bei der Einführung der Dialektik durch Sokrates (oder
.einen der Götter'?) auch Euthydemos und Dionysodoros anwesend sind; aber das
Gespräch gilt in diesem Abschnitt nicht ihnen. Zum Unterschied zwischen Geheimhal-
tung und Esoterik vgl. unten 400 — 403.
Sokrates' Spott über .Geheimhaltung' 57
nicht nur durch das Verhalten von Kriton und Sokrates widerlegt - für
Kriton ist die Person des Sokrates die Gewähr dafür, daß παιδεία das
Wichtigste ist (306 d 6 - e 3 ) , und Sokrates will sich unbekümmert um
Kritik gerade diesen Weisheitslehrern anschließen — sondern mehr noch
durch den anderen objektiven Satz, den über die guten und die schlechten
Lehrer: wenn es so sicher ist, daß dieser Unterschied überall statt hat,
so ist es zwingend, sich nach dem wahren Lehrer der Philosophie
umzusehen. Und so sollen wir offenbar den Hauptteil auch lesen: als die
aufeinander bezogenen Porträts zweier φαύλοι και ούδενόο άξιοι und
des einen cnoDÔaîoc και παντόο αξιοο. Indessen behält der Satz über
die Sache selbst als das einzig Entscheidende doch auch seine Richtigkeit:
auch im Phaidon fordert ja Sokrates die Freunde auf, nicht auf ihn,
sondern weit mehr auf die Wahrheit zu achten (91 c 1). Zwar erweist
ihn auch dort eben dieser Rat als den einzigartigen Lehrer, auf den nicht
zu achten verhängnisvoll wäre; der Anspruch des überlegenen Lehrers
muß sich jedoch darauf gründen, daß er über wesentlichere Einsichten
verfügt, daß er der εχων τιμιώτερα ist — das ist der platonisch
verstandene Primat der Sache, der den Primat des διαλεκτικόο unter
den Lehrern nach sich zieht12.
Kriton freilich weiß nichts von dieser Verbindung zwischen der Sache
und dem Menschen, der sie vertritt. Seine Ansicht von der Wichtigkeit
der Erziehung hat er von Sokrates, daß dieser aber, obschon er nicht
beansprucht, Lehrer der άρετή zu sein, dennoch der einzige Lehrer ist,
das sieht er nicht. Er verteidigt die Philosophie gegen den ungenannten
Kritiker ohne zwischen Eristik und wahrer Philosophie zu unterscheiden,
und ist daher auch nicht fähig, den Anspruch des Kritikers auf Überlegen-
heit zurückzuweisen (305 e). Und Sokrates habe es wirklich falsch
gemacht, daß er „vor vielen Menschen" mit Euthydemos und Dionysodo-
ros sprach (έναντίον πολλών άνθρώπων 305 b2). Wie es scheint, würde
Kriton private Gespräche - ,esoterische', wenn man so will - mit den
Eristikern gutheißen. Auch damit ist ein wichtiges Motiv des Hauptteils
aufgenommen: die Frage, was man vor wem erörtern soll. Kriton ist weit
entfernt von der Haltung des Sokrates, dessen im Hauptteil geschilderte
12
Nichts ist daher unplatonischer als die Auffassung, daß sich „die Sophistik der beiden
Fechtmeister ... von der sokratischen Dialektik ... einzig durch die Gesinnung und das
Gerichtetsein" unterscheide (Friedländer II 167). Für Piaton liegt der Unterschied in
Kenntnis oder Unkenntnis von Anamnesis, Ideen, Dialektik. (Die Bereitschaft des
Sokrates, sich hierüber mitzuteilen, richtet sich allerdings nach „Gesinnung und
Gerichtetsein" der Partner.)
Sokrates' Spott über ,Geheimhaltung' 59
und auch sonst ist die Parallelisierung von Philosophie und τελεταί bei
Piaton geläufig. Die mit dieser Vorstellung schon gegebene Fähigkeit
des kontrollierten Zurückhaltens — die ja, wie wir sahen, die ganze
,Handlung' des Dialogs bestimmt - wird den Gegnern auch ausdrücklich
und mit Anerkennung bescheinigt: olc&a δτε δει άποκρίναοθαι καν οτε
μή (287 d l ) und τοϋτο μεν έκών παρήκαο (301 c2). Wir sollen sie also
als die wahren Redner verstehen, die die καιρούο του πότε λεκτέον
και έπιοχετέον kennen, die sich aufs α γ α ν πράο oöc δει verstehen
(Phdr. 272 a 4, 276 a 6). Zur Beleuchtung dieses ironischen Lobes dient
die Stelle, wo Dionysodoros seine Kunst blamiert, indem er zur Unzeit
antwortet (297 a). Die ,Kunst' der Sophisten lobt Sokrates im übrigen
wegen ihrer άκρίβεια λόγων (288 a 6), womit er ihr gewiß nicht zufällig
ein Merkmal der Sachkenntnis des Dialektikers zuschreibt (vgl. Phdr.
270 e - 2 7 1 a, Politela 435 d 1, 504 b5). Denn daß die Brüder nicht aufs
Geratewohl daherreden, sondern als Meister der τ έ χ ν η des διαλέγεοθαι
auftreten, steht für ihn fest: κάλλιον έπίοταοαι διαλέγεο9αι, sagt er zu
Euthydemos (295 e 2), und überhaupt sprechen die Brüder τεχνικώς, er
selbst nur ΐδιωτικώο (303 e 5, 278 d5). Sie werden also zu wahren
τεχνικοί λόγων πέρι im Sinne des Phaidros hochgelobt, deren ,Kunst'
als λόγων τέχνη oder als διαλεκτική τέχνη umschrieben werden kann
(Phdr. 273 de, 276 e). Da die όμοίωαο Οεω das Ziel des Dialektikers
ist, verstehen wir nun auch die Erhebung der Eristiker zu ,Göttern' (293
a) nicht lediglich als übermütigen Scherz, sondern als gezielte Überbietung
der Gottnähe des φιλόοοφοο (Phdr. 278 d). (Der Kontrast dieser Stelle
zur Anwesenheit,eines der Höheren' in 291 a — hier können die ,Götter'
nicht helfen, dort wirft ein Gott den Begriff der Dialektik, mit dem die
Hilfe zu bestreiten wäre, in die Diskussion — bestätigt die Absicht dieser
Anspielung). Und damit wir auch keinen Augenblick vergessen, daß die
Überlegenheit des wahren Dialektikers auf dem Inhalt beruht, den er
behandelt, wird über die C7t0üÖr|-naiöi<x-Thematik hinaus noch eigens
betont, daß die Brüder sich mit ,Großem' befassen (273 cd), während
der arme Sokrates nur Geringes (ομικρά 293 b 8) kennt; aus dem Phaidros
ist uns geläufig, daß Piaton das ,Größere', das ,Bessere' und das
,Wertvollere' synonym verwendet 16 : sein Besitz macht den φιλόοοφοο.
Die einheitliche Wiedergabe des Idealbildes des Philosophen im
Zerrbild der Antiphilosophen durchbricht Piaton nur in zwei Punkten
(ohne übrigens die einheitliche ironische Anerkennung zu durchbre-
17 Die Einheitlichkeit des ironischen Lobes wird dadurch erhalten, daß den Eristikern teils
faktisch positive Merkmale, die ihnen abgehen, zugeschrieben werden, teils faktisch
negative Merkmale, die sie wirklich haben, als positive ausgegeben werden.
18 Man halte Euthydemos 273 d 9 , 304 a 2, a 4 (τάχιστα, ταχυ), 303 c 5 , e 6 , 272 b 3 (έν
(πάνυ) όλίγφ χρόνω) gegen Phdr. 272 b c, 274 a 2, 276 b, Epist. 7, 341 c, 344 b: πολλή
CDVODCÍa, μετά πολλού χρόνου. Die lange Ausbildung der Dialektiker in der Politeia
steht in Ubereinstimmung mit solchen Stellen.
" Die Bedeutung der έκλογή (Politeia 535 a 6, vgl. έκλέγειν Nomoi 969 b 8) für die
Staatsutopien Piatons ist evident. Der Siebte Brief will die philosophische Mitteilung
dem ουγγενήο του πράγματος (344 a) vorbehalten; nur sehr wenige (όλίγοι τινές 341
e 2) zeichnen sich durch Wesensverwandtschaft zur Sache der Philosophie aus.
2 0 Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß ich den Phaidros für chronologisch früher
halte. Ähnlich kann aus dem Umstand, daß die voll entwickelte Anamnesislehre
vorausgesetzt ist, keineswegs geschlossen werden, daß der Euthydemos später geschrie-
ben ist als der Menon. Bei ihrer ersten kohärenten Darlegung kann die Anamnesislehre
für Piaton bereits ein πολυθρύλητον gewesen sein, wie die Ideenlehre im Phaidon (100
b). Mit Sicherheit kann dies für die Schriftkritik und den Begriff des βοηθεΐν im
64 Euthydemos
Phaidros angenommen werden: die Nützlichkeit dieses Begriffs für die Interpretation
der Frühdialoge ist der sicherste Beweis.
21
πλημμελούμενοο καί ούκ έν δίκη λοιδορηθείς, Phdr. 275 e 3 - 4 .
22
Es wäre ein schweres Mißverständnis zu meinen, daß Sokrates hier zwar schweigt, aber
doch durch sein Schweigen hindurch das höhere Wissen ,andeutet' und somit die
Schleiermachersche Theorie der indirekten Mitteilung bestätigt - so als sei die
spezifische Mitteilungsweise des Dialogs eben das οιγώντα λέγειν (die Formulierung
begegnet gerade im Euthydemos im Rahmen eines Trugschlusses: 300 b). Entscheidend
ist, daß die τιμιώτερα, die im Euthydemos fehlen, aus diesem Dialog allein niemals
herauszuholen wären: in Schleiermachers Theorie muß aber die indirekte Mitteilung
ihrem Sinngehalt nach autark und daher dem verständigen Leser ohne weitere direkte
Belehrung entzifferbar sein. Hier dagegen können wir die fehlenden Theoreme allein
deswegen hinter dem Text sehen, weil wir in anderen Dialogen direkte Belehrung über
sie erhalten. Es wäre sinnlos, von einer ,indirekten' Mitteilung der Anamnesislehre im
Euthydemos zu reden: sie wird nicht mitgeteilt, sondern vorausgesetzt. Auch die
entwicklungsgeschichtlich orientierte Auffassung von der Art des Fehlenden wird durch
das Paradigma Euthydemos desavouiert: das hier Fehlende läßt sich nicht als Plan für
die Zukunft deuten, sondern besteht ganz offenkundig aus ausformulierten Theorien.
Sokrates' Spott über ,Geheimhaltung' 65
23 Das Motiv des ,Verbergens' (oft verbunden mit oder vertreten durch das Motiv des
,Betrügens' — betrügen kann ja nur, wer einen Wissensvorsprung vor dem anderen
verbirgt) begegnet u. a. in Cha. 174 a, Prot. 342 be, Hi. min. 370 e, 373 b, Hi. mai. 293
e, 300 ed, Eu-phr. 3 d, 11 b, 14 c, 15 e, Lysis 215 c, 219 b, Ion 541 e, Gorg. 499 bc,
Krat. 383 b - 3 8 4 a, 427 de, Phdr. 271 c i - 3 .
Kapitel 4
Es hat sich gezeigt: der Satz, daß der Philosoph seine geschriebene
Erörterung stets durch τίμιώτερα wird überbieten können, ist vom Inhalt
seines Philosophierens zu verstehen: er muß im Vergleich zu seinem
Buch weiterreichende und tiefer begründende Argumente und Theoreme
bereithalten. Alles Geschriebene muß auf Ergänzung durch bessere
Argumente angelegt sein. Piaton konzipiert die philosophische Schrift
von vornherein als die nicht-autarke Schrift, als die Schrift, die inhaltlich
transzendiert werden muß, wenn sie voll verstanden werden soll. Das
Buch des Philosophen muß die letzte Rechtfertigung seiner Argumente
außerhalb seiner haben.
Dies ergab die Interpretation des Schlußteils des Phaidros, der
wichtigsten platonischen Äußerung über Schriftlichkeit und Mündlich-
keit. Die Analyse des Hauptteils des Phaidros und des Euthydemos
zeigten, daß dieses theoretische Konzept vom Verhältnis des Philosophen
zu seinem λόγοο und dessen Begründung auch im lebendigen Porträt des
wahren Dialektikers und seines Gegenbildes wirksam ist.
Insofern nun freilich alle Dialoge Teil eines großen Bildes vom wahren
Philosophen sind, oder in der Schrift erstarrte Abbilder seines lebendigen
Redens, und insofern sie alle den Anspruch erheben, den theoretischen
Forderungen an philosophisches Schrifttum zu genügen, müssen sie alle
von der gleichen Auffassung getragen sein. Es gilt daher zu sehen, in wie
weit die einzelnen Dialoge diese Auffassung auch zum Ausdruck bringen.
Unterschiede in der Deutlichkeit, mit der Piaton sein Urteil über
schriftliches und mündliches Philosophieren in Dialoghandlung umsetzt,
wird man von vornherein voraussetzen dürfen - es ist nicht zu erwarten,
daß die Reflexion über die Grenzen des Schreibens jedesmal in vollem
Umfang aufgenommen wird. Da aber Piaton den Namen φιλόοοφοο
an das Bewußtsein von der Hilfebedürftigkeit der Schrift knüpft, ist
.Hilfe für den L o g o s ' als Strukturprinzip des Dialogs 67
* Es wird dem Leser nicht entgangen sein, daß diese Einwände im Verlauf der bisherigen
Analysen teils implizit, teils explizit bereits beantwortet wurden; ich stelle sie hier
gleichwohl noch einmal zusammen, damit der Leser sich zu Beginn der Einzelanalysen
vor Augen halten kann, welche Alternativen für die Auslegung der β ο ή Ssia-Steilen
bestehen. Die Beantwortung der Einwände kann sich angesichts der Ergebnisse der
früheren Kapitel auf die allgemeineren Gesichtspunkte beschränken.
2 Brieflicher Einwand eines deutschen Kollegen gegen den Vorentwurf dieser Untersu-
doch nach einer grundsätzlich anderen Art von Hilfe als die gesprochene
Darlegung 3 . Drittens sei es doch absurd anzunehmen, daß ein Philosoph,
der in einen Elenchos eintritt über das, was er geschrieben hat, nunmehr
mündlich wesentlich verschiedene Dinge zur Verteidigung seiner Schrift
darlegen werde. Eine sinnvolle Verteidigung müsse sich doch an das zu
Verteidigende halten: wenn die Schrift etwa über Politik ging, würde
man erwarten, daß der Verfasser in einen Elenchos über Politik eintreten
wird, daß er also das Thema nicht wechseln wird. Andernfalls hätte man
zwei verschiedene Arten von Themen, eine Art für die geschriebene
Philosophie, eine andere für die mündliche 4 .
Der erste Einwand übersieht, daß die im Schriftwerk enthaltenen
Fälle von ,Hilfe für den Logos' die Funktion von Beispielen haben:
an ihnen können wir ablesen, was βοηθεΐν konkret bedeutet. Diese
παραδείγματα selbst beweisen natürlich noch nicht, daß das Schriftwerk
insgesamt weiterer ,Hilfe' bedarf, wohl aber sagt das der Phaidros in
aller Allgemeinheit vom Buch des Philosophen, und die einzelnen Dialoge
sagen jeweils von sich, und zwar meist auf dem Höhepunkt der
Diskussion, daß sie inhaltlicher Ergänzung bedürfen. Die paradigma-
tischen Fälle von ,Hilfe', die Ausführungen des Schlußteils des Phaidros
und drittens die Aussparungsstellen der Dialoge müssen in ihrem
Zusammenhang erkannt werden: so wie der weiterführende schriftliche
Logos seinem einfacheren Vorläufer ,hilft', so verweist der Dialog
insgesamt auf weitere ,Hilfe' — und dies gilt auch und gerade für die
inhaltlich am weitesten führenden Dialoge, deren Aussagen nirgends im
Schriftwerk fortgeführt werden. Die Verlängerung des am βοήθεια-
Modell der Dialoge ablesbaren Begründungszusammenhangs über die
Dialoge hinaus wird vom Schriftwerk selbst gefordert.
Der zweite Einwand postuliert, um der Anwendung des βοήθεια-
Modells auf das Schriftwerk zu entgehen, zwei verschiedene Arten von
,Hilfe'. Man hätte freilich gerne gewußt, worauf im Piatontext sich diese
Unterscheidung stützen möchte 5 . Der Phaidros jedenfalls zeigt deutlich,
3 So die Polemik von de Vries, Mus. Helv 36, 1979, 60 — 62 gegen den in Anm. 2
genannten Entwurf.
4 So G. Vlastos, Gnomon 35, 1963, 653: „to change subjects" sei mit der Idee von
βοηθεΐν τφ λόγω unvereinbar; „if he (sc. a man) had been writing about politics, he
would be expected to go into an elenchus concerning politics", unmöglich könne er
„now turn to a different, and more exalted, topic, like metaphysics". Im folgenden
(654) kämpft Vlastos sehr engagiert gegen die Vorstellung von ,two sets of objects'.
5 De Vries 1. c. 61 scheint seine Ansicht, daß „the help which is asked for in the course
of a conversation is not the same thing as the support which is needed by the written
word" auf die Auffassung zu gründen, daß βοηθεΐν in Politela 368 b c „bears on the
,Hilfe für den Logos' als Strukturprinzip des Dialogs 69
discussion as a whole, not on a specific theory proposed on its course". Aber der zuletzt
zitierte Satz ist ein Irrtum von de Vries, nicht eine Aussage des Piatontextes. Und selbst
wenn er richtig wäre, könnte er den Schluß auf zwei prinzipiell verschiedene Arten der
,Hilfe' nicht begründen.
6 S. oben 10ff., 20f.
7 So vor allem im Prooemium des Theaitetos, ähnlich im Phaidon und Symposion (vgl.
unten 260).
* K . F . Hermann, Geschichte und System der platonischen Philosophie, Heidelberg
1839, 538. Die Annahme einer separaten Publikation von Buch I unter dem Titel
.Thrasymachos' (F. Dümmler, Zur Composition des platonischen Staates, Kleine
Schriften I, Leipzig 1901, 229ff.) ist nicht nötig. Die frühe Entstehung verteidigt jedoch
mit Recht Friedländer I 45 f.; wenig durchschlagend ist der ,positive' Nachweis von K.
Vretska, Platonica III, WSt 71, 1958, 4 0 - 4 5 , daß Buch I allein als Einleitung zum
Gesamtwerk denkbar sei, noch weniger überzeugend der Gedanke von Guthrie IV 441,
Piaton habe dem Leser der Politeia in Buch I „the stages of his own pilgrimage" nicht
vorenthalten wollen. Vgl. unten 277 ff., 283 mit Anm. 30 u. 32. - Für die im Text
verfolgte Überlegung kommt es im übrigen wenig darauf an, ob zwischen der Abfassung
von Buch I und Buch I I - X viel oder wenig Zeit verstrich; entscheidend ist die
morphologische Verschiedenheit, die Buch I als einen eigenen, in sich geschlossenen
Logos vom Rest abhebt.
' Vgl. unten 279 f.
70 ,Hilfe für den Logos' als Strukturprinzip des Dialogs
hatte, als mündliche ,Hilfe' für das erste Buch hätte bieten können, so
ist evident, daß es sich um nichts anderes hätte handeln können als den
Inhalt der jetzt vorliegenden schriftlichen ,Hilfe' 10 .
Auch der dritte Einwand beruht auf einem einfachen Mißverständnis.
Die thematische Beziehung zwischen dem ,helfenden' und dem hilfe-
bedürftigen Logos ist mit der allzu schlichten Alternative ,one or two
sets of objects' nicht zu verstehen. Platon sagt ja im Phaidros deutlich
genug, was von einem überlegenen Logos zu erwarten ist: er muß
,anderes', ,mehr' und bedeutenderes' bieten als der Logos, den er
übertreffen soll, aber selbstverständlich anderes und Bedeutenderes περί
τοϋ αύτοΰ πράγματοο (234 e 3 ) n . Damit ist schon gegeben, daß das
einseitige Beharren auf der Unmöglichkeit von ,two sets of objects'
an Platon vorbeigeht. Der Phaidros zeigt auch, wie das eigentliche
Erkenntnisziel im Wechsel der Argumente identisch erhalten bleibt; eben
dies ist mit exemplarischer Klarheit, wie wir noch sehen werden, auch
an der Politela abzulesen, wo zur ,helfenden' Begründung der in Buch I
gemachten Aussagen über Gerechtigkeit ein Wechsel der unmittelbaren
Gesprächsthemen stattfindet, freilich ohne daß das Generalthema Gerech-
tigkeit jemals aus den Augen verloren würde.
Für Piaton also ist die Identität des Themas mit der quantitativen
und qualitativen Verschiedenheit der Argumentationsreihen sehr wohl
vereinbar. Es wäre in der Tat absurd gewesen, wenn die mündliche
Philosophie Piatons schlichtweg anderes geboten hätte als die Dialoge.
Doch das βοήθεια-Modell der Dialoge lehrt, daß diese Vorstellung eine
selbstgefertigte Schwierigkeit' ist, geboren aus dem modernen Vorurteil
gegen ,Esoterik' und der Unfähigkeit, den Befund des Textes für sich
sprechen zu lassen.
Im übrigen wird die vermeintliche Notwendigkeit, den ,helfenden'
Logos strikt im thematischen Bereich des hilfebedürftigen zu halten,
nicht nur sachlich durch die Struktur der Dialoge widerlegt, sondern
auch wörtlich durch eine Formulierung im 10. Buch der Nomoi ausge-
schlossen: dort wird im Zusammenhang einer ,Hilfe' für einen Logos ein
έκτόο βαίνειν, ein Heraustreten aus dem ursprünglichen Argumenta-
tionsbereich, gefordert. Hier ist der Gegensatz zwischen der platonischen
und der antiesoterischen Auffassung von βοηθενν so offenkundig, daß
10 Daß auch diese ,Hilfe' ihrerseits ergänzungsbedürftig bleibt, ändert nichts daran, daß
die nächstliegende und zuerst zu gebende mündliche Ergänzung und Begründung des
Arguments von Buch I mit dem Inhalt der folgenden Bücher zusammenfiele.
11 Vgl. oben S. 28 f. mit Anm.6 und 7.
,Hilfe für den Logos' als Strukturprinzip des Dialogs 71
es keiner weiteren Klarstellungen, nur noch der Kenntnis von der Existenz
des relevanten Textes bedarf 12 .
Demnach wenden wir uns nunmehr den Einzelanalysen zu. Das
soeben erwähnte 10. Buch der Nomoi mit seiner klaren Benennung der
in ihm verwirklichten βοήθεια und ihres ,transzendierenden' Charakters
ist geeignet, paradigmatisch an die Spitze der Untersuchung zu treten.
12
Daß Vlastos seine antiesoterische Erklärung des Begriffs der ,Hilfe für den Logos' in
offenbarer Unkenntnis des reichen platonischen Belegmaterials zu diesem Begriff
konzipiert hat, wird man schwerlich bestreiten können. Neben Nom. 891 d e entging
ihm z.B. auch Phd. 88 d 6 —7 (wozu s. unten 243 Anm.77).
Kapitel 5
Nomoi, Buch 10
Überschreiten als Wesen der ,Hilfe'
Das zehnte Buch der Nomoi hat das Ziel, das Gesetz über die
Behandlung der Gottlosen im kretischen Idealstaat zu erarbeiten. Der
sehr streng gefaßte νόμοο άοεβείαο πέρι wird auf den letzten Seiten
formuliert (907 d - 9 1 0 d), der weit umfangreichere vorangehende Teil
versteht sich als ,Einleitung' (προοίμιον), die durch die Milde vernünfti-
ger Überredung die Strenge des Gesetzes erträglich machen soll (890 c).
Dieses Verhältnis der beiden Teile zueinander ist ein sicherer Hinweis
darauf, daß die Erörterung unter den im Phaidros dargelegten Gesichts-
punkten beurteilt werden muß. Dort sind Gesetzeswerke wiederholt 1
aufgeführt unter den geschriebenen λόγοι, bei deren Verteidigung sich
zeigen muß, ob der Verfasser über Besseres als das Geschriebene verfügt
und somit ein Philosoph ist oder nicht. Auch Piatons Hauptwerk und
zugleich umfangreichstes Werk vor den Nomoi, die Politela, bezeichnet
sich als ,Gesetzgebung'*, will also seinerseits unter dem Aspekt der
möglichen Vertiefung des Geschriebenen in der mündlichen Begründung
gelesen werden 3 . Im vorliegenden Text ist die Differenz zwischen Schrift
und Wort in das dargestellte Gespräch selbst hineinverlegt: das am Schluß
formulierte Asebiegesetz ist innerhalb des fiktiven Handlungsrahmens als
geschriebenes Gesetz zu betrachten, ist es doch Teil der Bestimmungen,
die den Bürgern des zu gründenden kretischen Staates bekannt gemacht
werden sollen. Aber das Gespräch ,Nomoi' begnügt sich nicht mit der
Erarbeitung dieser νόμοι. Indem der ,Athener' als Gesprächsführer
einwilligt, über die starre Drohung des geschriebenen Gesetzes in einem
argumentierenden προοίμιον hinauszugehen (vgl. 886 e - 8 8 7 c, 890 bc),
1
Phdr. 257 e - 2 5 8 d, 277 d7, 278 c 4 (vgl. e 2).
2
νόμοο, νομο9ετεϊν und νομοθεσία erscheinen an über 20 Stellen sowohl für einzelne
Bestimmungen im besten Staat als auch für die ganze Utopie.
3
Näheres unten 271 ff.
Uberschreiten als Wesen der .Hilfe' 73
zeigt er, daß er der φνλόοοφοο im Sinne von Phaidros 278 cd ist: λέγων
aòxóc verteidigt der philosophische Gesetzgeber sein Gesetzeswerk. Auch
wenn beide Teile im Dialog qua ,Abbild' lebendiger Rede geschrieben
vorliegen, ist doch im Bezugsrahmen der erzählten Situation ihr metho-
discher Gegensatz nicht zu übersehen: die später niederzuschreibenden
Gesetze werden der mündlichen Verteidigung im ελεγχοο bedürfen, für
die der Urheber jetzt schon die weiterführenden Argumente bereithält.
Der mündliche und persönliche Charakter des argumentativen Teils wird
noch dadurch unterstrichen, daß die Begründungen weitgehend als
Gespräch im Gespräch und im direkten Appell an die Gottesleugner
vorgebracht werden.
Eine wörtliche Erinnerung an die Problematik des Phaidros liegt
sodann in der Bemerkung vor, daß die Gesetzesbestimmungen als
schriftlich niedergelegte unveränderlich feststehen und so für alle Zeit
werden Rechenschaft geben müssen 4 . Die Situation des ελεγχοο steht
jedoch nicht lediglich als abstrakte Möglichkeit hinter dem Dialog,
sondern wird in ihm voll ausgespielt. Da die Gottesleugner unter den
Dialogteilnehmern nicht vertreten sind, werden sie als fiktive Partner
gleich zu Beginn eingeführt (885 c) und bestimmen mit ihrer Präsenz den
Gang der Erörterung. Der Athener erkennt an, daß er selbst im ελεγχοο
steht 5 , und formuliert die Anklage der Gegner so: (bc δεινά έργαζόμεθα
νομοθετοϋντεο (be όντων θεών (887 a l ) . Die Existenz der Götter ist
freilich die Grundlage nicht nur der Asebiegesetze, weswegen der Kreter
Kleinias sogleich feststellt, daß der Beweis ihrer Existenz das geeignetste
π ρ ο ο ί μ ι ο ν für alle Gesetze wäre (887 b 8 — c2). Eben dies erläutert der
Athener aus der Sicht der Gegner: diese greifen auf den Gegensatz von
(pócic und τ έ χ ν η zurück (888 e) und sehen in der Natur das Ursprüngliche
und Wahre, in der ,Kunst' das Abgeleitete und Bedeutungslose (889
b —d); der Götterglaube gehöre aber ebenso wie die Gesetzgebung auf
die Seite der τ έ χ ν η , ja die ganze Vorstellung der Gerechtigkeit habe mit
der (púcic nichts zu tun, der Natur entspreche nur das Recht des Stärkeren
(889 d —890 a). Die hier vorgetragene Kritik zielt also nicht lediglich auf
den Teilbereich der Asebiegesetze, sondern auf den gesamten Gegen-
standsbereich des Dialogs: die Idee der νομοθεοία selbst muß sich
verantworten.
Wir erwarten angesichts dieses Angriffs, daß die Planer des kretischen
Staates der Gerechtigkeit und dem Gesetz zu Hilfe kommen durch
Rückgriff auf andere, grundlegendere Gedanken.
Der paradigmatische Charakter unseres Textes besteht nun darin,
daß sich die Gesprächspartner nicht nur tatsächlich nach diesem Muster
verhalten, sondern auch mit dem Vokabular des Phaidros sagen, daß sie
es tun. ουδέ öcvov εμοιγε είναι φαίνεται τό μή ού βοηθειν τούτοιο
TOÎC λόγοιο, sagt Kleinias (891 a 5 —7), was sicher nicht zufällig an die
Worte des Sokrates anklingt, mit denen er sich in der Politela entschließt,
den Angriff auf die Gerechtigkeit anzunehmen: δέδοικα γ α ρ μή ούδ'
ôciov ή παραγενόμενον δικαιοούνη κ α κ η γ ο ρ ο υ μ έ ν η άπαγορεύειν 6
και μή β ο η θ ε ι ν (368 b 7 - c l ) .
Der Gesprächsführer bestätigt seinem kretischen Freund, daß es der
έπαμύνοντεο λ ό γ ο ι bedarf, und hält in erster Linie den Gesetzgeber,
also sich selbst, dazu verpflichtet 7 : der Urheber tritt für sein Werk ein.
Freilich zögert er, mit den dafür nötigen ,ungewohnten Erörterungen' zu
beginnen; denn dies ist auch Kleinias klar: „du wirst meinen, aus der
Gesetzgebung herauszutreten (νομοθεοίαο èicxòc βαίνειν), wenn wir
uns mit solchen Erörterungen befassen. Wenn es aber auf keine andere
Weise als diese möglich ist, mit dem jetzt gemäß dem Gesetz Gesagten*
übereinzustimmen, so muß man auch in dieser Weise sprechen" (891
d 7 —e3).
Was moderne Erklärer für unmöglich hielten 9 , ist hier klar und einfach
ausgesprochen: im Vollzug der βοήθεια muß über den ursprünglichen
Gegenstandsbereich hinausgegangen werden, die ,helfenden Logoi' des
Gesetzgebers werden νομοθεοίαο έκτόο βαίνειν. Und dieses Hinausge-
hen ist die einzige Möglichkeit, die βοήθεια zu leisten. Wie sollte man
auch im Bereich ethisch-politischer Überlegungen das Dasein der Götter
erweisen können?
Die ,Hilfe' verläßt daher diesen Bereich und wendet sich Fragen zu,
die weitab zu liegen scheinen: Fragen der ontologischen Priorität: Was
ist ,früher': die (púcic, an die die Materialisten glauben, oder die Seele
und der Nus und mit ihnen ,Kunst' und Gesetz? Die Unkenntnis der
6
Vgl. δει μηδαμή κάμνειν Nom. 890 d2.
7
Zu den έπαμύνοντεο λόγοι 891 b 3 - 4 vgl. Phdr. 275 e 5, 276 a 6 άμύναοθαι und
άμϋναι έαυτφ. 891 b 4 - 6 νόμοιο ... τίνα και μάλλον προσήκει βοηθειν ή νομοθέτη ν;
Zuvor schon Kleinias 890 d 2 - 5 δει ... τψ παλαιφ νόμφ έπίκουρον γίγνεςθαι λόγφ
(vgl. έπικουρεϊν Politela 368 c3) (be εΐοίν θεοί.
• Seoïc in e 2 ist wohl (gemäß der Notiz in der Handschrift O) zu tilgen.
' S. oben 68 mit Anm.4, 71 Anm. 12.
Uberschreiten als Wesen der ,Hilfe' 75
ersten Ursache von Entstehung und Vergehen aller Dinge verstellt auch
den Blick auf das wahre Wesen der Götter (891 e 8).
Damit ist das έκτόο βαίνειν, mit dem die ,Hilfe' steht und fällt,
näher expliziert. Natürlich ist es kein richtungsloses Hinausschweifen,
vielmehr handelt es sich um ein Überschreiten in Richtung auf die ersten
Ursprünge und Ursachen (πρώτα των πάντων 891 c 2 - 3 , ö πρώτον
yevécecoc και cpSopôc αίτιον άπάντων e 5 - 6 ) . Im vorliegenden Fall
wird das Erkenntnisziel erreicht über eine Analyse des Begriffs der
Bewegung (893 bff.), die über die Selbstbewegung auf die Seele führt
(896 ab) sowie auf die Feststellung, daß sie ,früher' ist als alles Körperliche
(896 c) und daß sie den Kosmos durchwaltet (896 e); nach einer kurzen
Reflexion über den Einfluß des Guten und des Schlechten im Kosmos und
über die Natur der vernunftgelenkten Bewegung kommt die Erörterung zu
dem Ergebnis, daß das All und die Gestirne in ihm von vollkommen
guten Seelen gelenkt werden, die wir für Götter halten müssen (899 ab).
Anschaulicher als durch den Gedankengang von 891 b bis 899 c ließe
sich kaum zeigen, daß das platonische ,dem Logos helfen' nichts
anderes meint als eine Einsicht auf ihre metaphysischen Voraussetzungen
abstützen, und das heißt: weiter voranschreiten auf dem Weg zur
Erkenntnis der άρχαί.
Es bleibt noch zu fragen, aus welchem Grund der Athener zögerte 10 ,
auf diesen Weg in den Bereich ,außerhalb' der bisher behandelten Dinge
hinauszutreten. Die Antwort ergibt sich aus seinem Vorschlag, die
dialektisch ungeübten 11 dorischen Freunde zeitweilig aus dem Gespräch
zu entlassen und so lange das Fragen und Antworten selbst zu überneh-
men, bis die Priorität der Seele vor dem Körper erwiesen wäre (892
d —893 a). Natürlich ist dieser Vorschlag vor dem Hintergrund der
platonischen Überzeugung zu sehen, daß sich die Logoi den Fähigkeiten
der Gesprächspartner anpassen müssen. Intellektuelle und charakterliche
Eignung sind nach dem Ausweis von Politela und Siebtem Brief für den
Philosophen gleich wichtig 12 . Die Greise Kleinias und Megillos wären
den geistigen Anforderungen des bevorstehenden ελεγχοο nicht gewach-
sen, sie könnten von den Fragen fortgerissen werden wie von einem
reißenden Fluß. Da sie aber andererseits über die charakterliche Eignung
verfügen, wird ihnen der Gottesbeweis, dem sie selbst nicht gewachsen
10
Ούκ ό κ ν η τ έ ο ν , sagt Kleinias 891 d 7 zum Athener. Man vergleiche auch seine
antreibenden Worte 890 d und 887 b.
11
893 a 1 ά ή θ ε ι ο δ ν τ α ε ά π ο κ ρ ί ο ε ω ν .
12
Politela 412 bff., 502 cff., 486 b, 487 a, 535 a; epist. 7, 343 eff.
76 N o m o i , Buch 10
sind, doch nicht vorenthalten: sie können gleichsam zuschauen, wie der
erfahrene Dialektiker aus Athen den Fluß für sie und vor ihnen durchquert
(892 d7 —e4).
Es scheint demnach sicher, daß der Dialog Nomoi hier auf seinem
Höhepunkt versucht, das Grundprinzip mündlichen Philosophierens,
nämlich daß der Inhalt stets im Blick auf die persönlichen Voraussetzun-
gen der Teilnehmer zu entwickeln ist, in der Dramaturgie des entscheiden-
den Beweises zu berücksichtigen. Allerdings hat Piaton den in 892 d - 893
a entwickelten Plan nicht durchgehalten: lange bevor das gesetzte Ziel
erreicht ist, tritt Kleinias wieder ins Gespräch ein (894 b). Da der Text
keinen Hinweis auf den Grund dieser Änderung enthält, wird man darin
wohl lediglich eine der redaktionellen Unebenheiten erkennen, an denen
die letzte und unfertig hinterlassene Schrift Piatons reich ist. Der
ursprüngliche Plan wirkt jedoch nach, wenn bei schwierigen Fragen der
Athener eigens darauf hinweist, daß er selbst an Stelle der Dorer die
Antwort geben will (896 e 4 , 897 c l , d5), und vor allem wenn er zu
Beginn des folgenden Abschnitts verspricht, er werde bei auftauchenden
Schwierigkeiten die Freunde über den Fluß bringen „wie jetzt" (900
c 3 —5) — so als wäre der in 893 b begonnene Dialog im Dialog nie
verlassen worden 13 .
Die Grundsätze des mündlichen Philosophierens scheinen jedoch
insofern mißachtet zu sein, als mit dem erfolgreich abgeschlossenen
Beweis der Existenz der Götter die letzten Grundlagen der Gesetzgebung
schriftlich vorgelegt sind, zur Lektüre für Geeignete und Ungeeignete
gleichermaßen. Sollte gerade das Buch, welches deutlich ausspricht,
daß die philosophische ,Hilfe' ein èicxòc βαίνειν erfordert, die letzte
Rechtfertigung seiner Ergebnisse nicht außerhalb seiner haben? Sollten
gerade die Nomoi nicht nach dem Prinzip der noch ausstehenden
mündlichen ,Hilfe' konzipiert sein?
In diesem Sinne könnten die Versicherungen gelesen werden, daß der
Gottesbeweis ebenso wie die anschließenden Beweise, daß die Götter
sich um die menschlichen Dinge kümmern und daß sie nicht bestechlich
sind, hinreichend' ausgefallen sind (ίκανώο δεδεΐχθαι u. ä. 896 a 6, 899
13 Die Ankündigung, selbst fragen und antworten zu wollen (893 a 3 —5), ist zweifellos
eine Umschreibung der in 893 b 6 - e 5 angewendeten Darstellungsweise: der Athener
fragt im N a m e n des Gegners und antwortet im eigenen. In dieser Weise wollte er „den
ganzen L o g o s durchgehen" bis zum Erweis der Priorität der Seele (also mindestens bis
8 9 6 b c , oder besser bis 8 9 9 b). Der von Piaton nicht markierte Umbruch erfolgt in 893
e 6 - 8 9 4 b l ; dieser Abschnitt müßte den fiktiven Gegnern gehören, erweist sich aber
in der Fortsetzung als Äußerung des Atheners.
Überschreiten als Wesen der ,Hilfe' 77
und erst recht die Prinzipientheorie werden zwar vor den unzureichend
vorgebildeten Gesprächspartnern nicht entfaltet, doch werden sie in
genügend klarer Umschreibung als Bestandteil der Bildung derer einge-
führt, denen der neue Staat anvertraut werden soll17. Die philosophische
Bildung der politischen Elite ist indes nicht mehr Thema des Dialogs,
der Athener will seine Ansichten hierzu erst bei der Verwirklichung der
geplanten Staatsgründung „mitteilen und erläutern" (969 a l - 2 ) 1 8 ; die
Auswahl der Kandidaten, den Lehrplan und die Lehrgegenstände sollte
man zwar nicht „geheim" nennen, sie können aber gleichwohl nicht
vorweg mitgeteilt werden - weder in Gesetzesform im neuen Staat noch
in theoretischer Darlegung im vorliegenden Dialog 19 . Die hier fehlende
ideen- und prinzipienphilosophische ,genauere Bildung' (965 b 1) würde
aber auch dazu befähigen, über den Bereich die Wahrheit zu erkennen,
der im 10. Buch zwar ,mit Ernst', aber eben ohne Verankerung in
Ideenlehre und Prinzipientheorie durchgesprochen wurde: über die Götter
(966 c l - 2 ) 2 0 .
So zeigen also die Nomoi selbst, wo die Grenzen der Erörterung
liegen und in welcher Richtung das hier schriftlich Vorliegende ergänzt
und vertieft werden müßte. Es ist offenkundig, daß diese Ergänzung
zu anderen, näher an die άρχαί heranführenden Beweisgängen und
Theoremen greifen müßte. Und eben dieses Hinausschreiten über den
gesetzten Rahmen ist, wie das 10. Buch mit exemplarischer Klarheit
sowohl vorführt als auch ausspricht, das Wesen platonischer βοήθεια.
17
Anspielung auf die Ideenerkenntnis (τό πράο μίαν ίδέαν βλέπειν) 965 c2, auf das
Gute als Integrationsbegriff der άρεταί 965 d 1 — e 2.
18
Zur Mißdeutung dieser Stelle durch H. Cherniss (Rez. zu. G. Müller, Studien zu den
platonischen Nomoi, Gnomon 25,1953, 374 und 376 Anm. 3) und L. Taran (Académica.
Plato, Philip of Opus, and the Pseudo-Platonic Epinomis, Philadelphia 1975, 23 Anm.
85, der Athener verspreche seine Hilfe „in selecting the candidates and helping to train
them" - also praktische Hilfe, sowie nicht über den Dialog hinausgehende theoretische
Unterweisung) vgl. meine Bemerkungen in: Probleme der Piatoninterpretation, GGA
230, 1978, 29f.
" 968 e 3 άπόρρητα μέν λεχθέντα ούκ αν όρθώο λέγοιτο, άπρόρρητα δέ ...
20
Selbstverständlich ist auch οπουδη 966 c 2 als relativer Begriff zu nehmen.
Kapitel 6
Hippias minor
Wer betrügt wen?
demonstrieren: noch im Phaidros ist Homer genannt (278 c2) unter den
Verfassern von Schriften, die zu fragen wären, ob sie nicht über Wert-
volleres verfügen als das, was sie schrieben. Und wie im Phaidros die Über-
legenheit der persönlich vermittelten διαλεκτική τ έ χ ν η sich gerade darin
zeigt, daß auch der Lernende dem Logos des Unterweisenden zu Hilfe
kommen kann (276 e 4 — 277 a 4), so soll Hippias die Verantwortung für
die Ansichten Homers, die er ja teilt, übernehmen und gemeinsam für sich
selbst und für Homer antworten 3 . In Begriffen der Schriftkritik heißt das:
das Gespräch soll zeigen, ob Homer, genauer: ob die Bücher Ilias und
Odyssee Hippias zu einem είδώο το άληθέο machen konnten oder nicht.
Doch steht Hippias nicht nur in seiner Eigenschaft als Schüler Homers
im Elenchos, sondern auch als Verfasser eines eigenen Logos. Denn was
er vortrug, war etwas „für den Vortrag Vorbereitetes 4 ", also etwas im
vornhinein Fixiertes, wie das Buch. Über den Inhalt dieses schon fertigen
Logos will Sokrates mehr Klarheit gewinnen: δίδαξον ήμάο οαφώο, τί
ελεγεο (364 c l ) . Wir erinnern uns an die Rolle der δ ι δ α χ ή für die
philosophische Wissensvermittlung im Phaidros und an die Feststellung,
daß aus Schriftlichem cacpéc τι και βέβαιον nicht zu gewinnen ist.
Hippias glaubt, die nötige zusätzliche Klarheit mündlich geben zu können
(364 c 3 - 4 ) . Die Frage ist also (wiederum in Begriffen der Schriftkritik):
kann Hippias λέγων αυτός sein einstudiertes Manuskript (gleichsam sein
geschriebenes') überbieten, als geringfügig erweisen (φαΰλα άποδεΐξαι),
oder anders: ist er der ε χ ω ν τιμιώτερα?
Sein Gegner Sokrates ist jedenfalls der ε χ ω ν φαΰλα, und er macht
es unmißverständlich klar, daß ihm dieses Prädikat zukommt auf Grund
seiner Unkenntnis der Sachen, also unter dem Gesichtspunkt des Inhalts
seiner Thesen 5 . Seinem schlechten' Urteil über die Dinge stellt Sokrates
3
365 d 2 - 4 cù δ' έπειδή φαίντ] άναδεχόμενοο τήν αίτίαν, και cot ουνδοκεΐ ταΰτα
άπερ <pr]c "Ομηρον λέγειν, άπόκριναι κοινή όπερ 'Ομήρου τε καί εαυτού.
4
363 d 2 είς έπίδειξιν παρεοκευαομένον. Wörtlich gesagt ist dies nur von Hippias'
Darbietungen in Olympia; da er aber selbst die Gleichheit der Situation betont, müssen
wir uns auch seinen Vortrag in Athen von gleicher Art denken. Auch im Hi. mai. (286
a b) kommt Hippias mit einem bis in die Wortwahl (286 a 6) ausgearbeiteten (vorderhand
wohl noch nicht publizierten) Vortrag nach Athen. Die Erwähnung des Eudikos in
beiden Dialogen scheint darauf zu deuten, daß der dialogische Rahmen beide Male auf
dieselbe Rede weist, den von Philostratos so zitierten Troikos diálogos (s. DK 86 A 2,
Β 5). (Die Historizität des Vortrags und seine spätere Publikation ist für unsere
Fragestellung jedoch nicht entscheidend.)
5
372 b 2 - 4 : ... τάλλα εχων πάνυ φαΰλα· των μέν γάρ πραγμάτων ή Ιχει Ιςφαλμαι,
καί ούκ οίδ' δπη έοτίν. Schleiermacher übersetzt τάλλα εχων πάνυ φαΰλα mit
„übrigens (mag) es schlecht genug um mich stehen", was inkonsequent ist, da er doch
82 Hippias minor
als sein einziges αγαθόν sein unablässiges Fragen und Lernen gegenüber
(372 a - e ) ; er konfrontiert also sachgebundenes ,Wissen' mit dem stets
unabgeschlossenen Vollzug des Philosophierens.
Zeigt nun nicht gerade diese Stelle in Verbindung mit der konsequen-
ten Anwendung des Vokabulars aus dem Phaidros auf unseren Dialog,
daß die τιμιώτερα, die dort den φαΰλα der Schrift gegenüberstehen,
nur das Verfahren des mündlichen Diskutierens als solches, also die
Philosophie als lebendigen Vollzug meinen, nicht aber besondere Inhalte6?
Wer so urteilen wollte, machte sich in naiver Weise zum Opfer von
Sokrates' habitueller Selbstverkleinerung, seiner είωθυΐα ειρωνεία. Es
kann ja keine Rede davon sein, daß seine Beharrlichkeit im Fragen und
Lernen das einzige Gut ist, das ihm eignet, während dieser echt
philosophischen Haltung auf der Seite der Ergebnisse nur die in der Tat
schlechte' These entspräche, daß der Lügnerische und der Wahrhaftige
identisch sind7. Es kann kein Zweifel bestehen, daß Sokrates in Wirklich-
keit die gegenteilige These nicht nur für richtig hält - das tut auch
Hippias —, sondern auch mit Gründen abzustützen wüßte (worüber
gleich mehr). Wenn aber die unzureichende Kenntnis der Sachen (πράγ-
ματα), die sich im Satz von der Identität des ψευδήο und des άληθήο
ausspricht, zu Recht φαΰλον genannt wird, so ist selbstverständlich die
fundierte Kenntnis des Gegenteils ein άγαθόν, und die Argumente, die
den wahren Sachverhalt zeigen würden, wären im Vergleich zu den
φαΰλα, mit denen Sokrates den falschen Satz durchficht, im vollen Sinne
τιμιώτερα. Damit wird zugleich auch deutlich, daß die in der modernen
Piatondeutung so beliebte Leugnung des Postulats besonderer Inhalte und
ihre Ersetzung durch ein besseres ,Verfahren' und eine philosophischere
,Haltung' für den Ironiker Sokrates lediglich eine Finte ist, den philoso-
phisch inkompetenten Hippias in die Irre zu führen. Aus der Sicht Piatons
wäre diese Trennung von Inhalt und Methode, wäre ein besseres
Verfahren und eine bessere ,Haltung', die nicht auch zu besseren
Ergebnissen führten, ganz und gar widersinnig 8 .
das vorangehende και κινδυνεύω εν μόνον εχειν τούτο άγαθόν mit „und ich mag
wohl nur dies eine Gute haben" wiedergibt. Die Parallelität der beiden Satzhälfen
verlangt, ε χ ε ι ν und 'έχω beide Male als ,haben' zu verstehen, τάλλα und φαΰλα nicht
als adverbiale Neutra, sondern als von §χειν abhängige Akkusative (wie ëv und
άγαθόν).
' Dies ist die Erklärung von G. Vlastos, die weithin Zustimmung gefunden hat. S. oben
19 f. mit Anm. 20.
7
369 b 3 άναπέφανται ό αύτόο ών ψευδήο τε και άλη θής (ähnlich 367 a 7, 368 a 6,
el—5).
8
Da die φαΰλα des Sokrates den Satz ó amòc ψευδήο τε και άληθήο und die ihn
W e r betrügt wen? 83
Wenn Hippias wirklich der Mann der τέχνη und έπιοτήμη wäre,
als den Sokrates ihn preist (368 bff.), so müßte er - gemäß einem
Leitgedanken des Phaidros — in der Anwendung seiner Kunst stets
wissen, όπότε δει εκαοτα τούτων ποιεΐν καν μέχρι όπόοου, müßte
auch die καιρούς του πότε λεκτέον και έπιοχετέον kennen (Phdr. 268
b 7 , 272 a 4). Eben diese Vorstellung scheint hinter der spöttischen
Bemerkung des Sokrates zu stehen, Hippias mache jetzt vielleicht nicht
Gebrauch von seiner Mnemotechnik — δήλον γάρ οτι ουκ ο'ΐει δεΐν
(369 a 7 — 8). Der Witz beruht darauf, daß Sokrates den Mnemotechniker
Hippias zum Herrn über sein Gedächtnis macht, während doch nur die
Mitteilung eines erinnerten Inhalts, nicht aber die Gedächtnisleistung
selbst willentlich suspendiert werden kann. Was Hippias hier (angeblich)
praktiziert, ist also analog dem αγάν πράο oCc δει des Philosophen.
Noch deutlicher ist die Vorstellung vom überlegenen Meister der
Rede, der mehr weiß als er sagt, evoziert in der Beschuldigung des
Sokrates, Hippias hintergehe ihn: έξαπατςίο με, ώ φίλτατε 'Ιππία, καί
αύτόο τόν Όδυοοέα μιμή (370 e 10). Die Handlung des Dialogs läßt
sich nicht besser explizieren als durch die Frage: wer täuscht hier wen,
wer ist der listige Odysseus dieser Komödie?
(2) Natürlich kann Hippias den Elenchos, dem er sich so zuversicht-
lich (363 d - 364 a) gestellt hat, nicht bestehen. Er hatte behauptet, daß
Homer in Achilleus als dem Wahrheitsliebenden und Odysseus als
dem Verschlagenen und Lügnerischen zwei gegensätzliche Charaktere
gezeichnet hat. Er muß nun mit Blick auf ,die Sachen selbst' zugeben,
daß der Wahre und der Lügnerische in allen Bereichen ein und derselbe,
nämlich der in diesem Bereich Tüchtige und ,Gute' ist (365 d —369 b),
und mit Blick auf Homer, daß Achilleus und Odysseus durchaus als
gleichartige Charaktere gezeichnet sind, die beide die Wahrheit und die
Lüge gleichermaßen beherrschen (369 b —370 e). Hippias versucht die
Erklärung, daß Achilleus bei Homer unfreiwillig lügt, was ihm erstens
aus dem Text widerlegt wird und was ihn zweitens nach dem Vorangegan-
tragenden Trugschlüsse (s. unten Anm. 9) umfassen, bedeutet das W o r t hier einmal in
der T a t so viel wie ,falsch'. Um so mehr muß vor dem Miß Verständnis von G. Vlastos
gewarnt werden, die inhaltsbezogene Auslegung von φαϋλα und τιμιώτερα in Phdr.
278 c d habe zur Folge, daß der Inhalt der Dialoge insgesamt als ,falsch' erklärt werden
müsse (vgl. oben 18 f. mit Anm. 19). Die im Phaidros vorliegende Bedeutung ,von
geringerem W e r t ' (und zwar ,geringer' lediglich im Vergleich mit den τιμιώτερα) läßt
zwar den Grenzfall, daß dieses Geringere schlichtweg falsch ist, gewiß zu; nur muß
man sehen, daß dies ein Grenzfall ist, der für die Wertung des Inhalts der übrigen
Dialoge durchaus nicht verbindlich ist.
84 Hippias minor
' In Wirklichkeit liegt hier der zentrale Trugschluß des ganzen Dialogs, den Hippias
freilich nicht merkt und nicht merken soll. Bewiesen war, daß die in einem Fach
Tüchtigen mit Sicherheit das Falsche auf ihrem Gebiet sagen können (während ein
weniger Tüchtiger unfreiwillig das Richtige sagen könnte, auch wenn er das Falsche
sagen wollte - 367 a). Daraus folgt nicht, daß die ,Guten' diejenigen sind, die freiwillig
lügen: denn ,fähig' zur Lüge ist nicht dasselbe wie .fähig und gewillt' zur Lüge, der
δυνατός ψεύδεοθαι ist nicht notwendig ein ψ ε υ δ ή α (Die Auflösung des Trugschlusses
gab schon Arist. Met. 1025 a 2 - 13.)
10 372 e 6 — 7 ού ούν χάριοαι και μή φθονήα^ο i á c a c 0 a i τήν ψυχήν μου.
Wer betrügt wen? 85
ist, der das Gespräch nach Gutdünken lenkt. Denn als sich Hippias
beklagt, Sokrates stifte stets Verwirrung im Gespräch, kann er die These
des Hippias zu seiner Verteidigung nutzen: „Mein bester Hippias,
jedenfalls tue ich das nicht absichtlich — sonst wäre ich weise und
gewaltig nach deiner Auffassung — sondern unfreiwillig; verzeihe mir
also" (373 b6 — 8). Somit ist auch die Frage beantwortet, wer wen
betrügt: nur wenn wir Sokrates die Unfreiwilligkeit seines zielstrebig
erreichten Ergebnisses abnehmen, können wir ihn davon freisprechen,
listig und überlegen mit seinem Gegner umzugehen wie der homerische
Odysseus. In Wahrheit illustriert Sokrates in dem ganzen Gespräch den
Satz, daß nur der, der das Richtige weiß, mit Sicherheit das Falsche
sagen kann 11 . Woraus freilich nicht folgt, daß er dem Hippias Unrecht
zufügt, und dies gar freiwillig: vielmehr ist Hippias derjenige, der eine
Heilung seiner Seele nötig hätte, was ihm der wissende Sokrates auch
sanft bedeutet: οΐμαι δε ούδ' αυτόν cè βλαβήοεοθαι (373 a 5): daß
Hippias letztlich doch nicht zu helfen ist, liegt nicht an Sokrates.
(3) Wie Hippias im ersten Hauptteil seine richtige Überzeugung von
der Verschiedenheit des α λ η θ ή ς und des ψευδήο nicht verteidigen
konnte, so kann er im zweiten die falsche These nicht widerlegen, kann
die kranke Seele des Sokrates nicht heilen — die ,Hilfe' für den wahren
Logos bleibt aus. Der Anfall des Sokrates hält an, bis er auf induktivem
Wege bewiesen hat, daß unsere Seele ,besser' ist, wenn sie aus freien
Stücken Übles tut und sich vergeht, als wenn sie es unfreiwillig tut (375
d l — 2 ) . Hippias gibt das absurde Ergebnis nicht zu, obschon er auf
Grund seiner Zustimmung zu den vorangegangenen Teilergebnissen dazu
gezwungen wäre 11 .
Hier nun setzt Sokrates zu einer neuen Runde an, die äußerlich nur
zu einer letzten Bestätigung des bisherigen unbefriedigenden Ergebnisses
führt (376 b 2 —6), in Wirklichkeit aber Ansätze zu seiner Überwindung
enthält. „Antworte mir noch einmal: die Gerechtigkeit, ist sie nicht
entweder ein Vermögen (δύναμιο) oder ein Wissen (έπκπήμη) oder
beides?" (375 d 7 —9). Damit ist implizit die Frage gestellt: was ist die
Gerechtigkeit? Würde diese Frage explizit gestellt und beantwortet, so
11 Diese Stelle (und die unten 86 zu besprechende Einschränkung des Ergebnisses auf den
.gegenwärtigen' Augenblick) übersieht Guthrie IV 198, wenn er versichert, Piaton halte
nichts zurück, ringe vielmehr selbst noch mit dem von Sokrates ererbten Paradoxon.
Bei dieser Auslegung geht freilich auch die Ironie in πλανώμαι 372 d 8 verloren.
12 Zum logischen Fehler der Argumentation, der sich hier identisch wiederholt, s. oben
Anm. 9.
86 Hippias minor
würde sich zeigen, daß Gerechtigkeit Wissen ist, daß also niemand
freiwillig, d. h. mit Wissen, Unrecht tun kann. Daß hier die Lösung zu
suchen ist, deutet Sokrates nur mit einer unauffälligen Einschränkung
seines Ergebnisses an: der Gute ist „der freiwillig Fehlende und schändlich
und ungerecht Handelnde - wenn es denn einen solchen gibt" (376
b 5 —6).
Da der Anfall des Sokrates anhält, bleibt das falsche Ergebnis für
Jetzt' bestehen. Die von Sokrates zweimal betonte Einschränkung des
Ergebnisses auf den jetzigen Zeitpunkt (νυν έν τω παρόντι 372 e 5, νυν
γε 376 c 1) sollte nicht als funktionslose Floskel abgetan werden. Sie hat
nur Sinn, wenn sie auf seine Fähigkeit verweist, ,ein andermal' das zu
tun, wozu Hippias nicht in der Lage ist: der Wahrheit mit gewichtigeren
Argumenten zu Hilfe zu kommen. Wenn dieses Verweisen auf das noch
Ausstehende ein wesentlicher Zug der philosophischen Darbietung von
Einsicht ist, dann dürfen wir erwarten, den entsprechenden Mangel beim
Nichtphilosophen hervorgehoben zu finden. Und in der Tat sagt Hippias,
als Sokrates ihn auffordert, den Satz von der Identität des άληθήο und
des ψευδήο anhand eines beliebigen Wissensgebietes zu widerlegen, er
könne es ,jetzt' nicht (369 a 3) — worauf ihm Sokrates gleich eröffnet,
daß er es auch künftig nicht können werde. Der Gegensatz ist signifikant,
und er ist zweifellos vor dem Hintergrund des Phaidros zu sehen. Das
einschränkende vßv des Nichtphilosophen ist bedeutungslos: er hat nichts
über das hinaus, was er vorgelegt hat. Das einschränkende νΰν des
Philosophen — in anderen Dialogen oft ergänzt durch ein positives sie
aöOic — hat Bedeutung: es verweist auf die noch ausstehenden τιμιώτερα.
Wer das vCv des Hippias und das vßv des Sokrates gleich behandelt,
oder allgemein gesprochen: wer die Aussparungsstellen der Dialoge
ignoriert, bagatellisiert oder weginterpretiert, nivelliert auch das Bild des
Sokrates zum Bild des Nichtphilosophen hin.
Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf andere Deutungen des
Dialogs geworfen. In der historisch-biographischen Sicht von Wilamowitz
erklärt sich das negative Porträt des Hippias aus persönlicher Abneigung
Piatons, die irreverente Darstellung des Sokrates als Verfechter einer
unmoralischen These weise auf frühe Abfassung, noch zu Lebzeiten des
Sokrates — das Ganze sei eine Satire, in der man einen positiven Gehalt
nicht zu suchen brauche 13 . — B . J . H . Ovink glaubte, Piaton habe sich
Leser die Beschreibung des πολύτροποο als fähig und über die Maßen
intelligent wirklich als übertrieben betrachtet hätten — Boder scheint
vergessen zu haben, daß der homerische Odysseus als Urbild des
πολύτροπος dient (ab 364 c) 1 9 . Und selbst wenn die ironische Wirkung
jenes Abschnitts so eindeutig wäre, wie Boder meint, so wäre immer
noch vom Verdacht gegen die Begeisterung für den Betrüger bis zum
sokratischen Tugendwissen ein allzu weiter Weg 2 0 . Der Fehler scheint
indes gar nicht in der Bewunderung für den Täuschenden zu liegen —
auch Sokrates ,täuscht' Hippias, wie wir sahen, und wir sollen ihn doch
wohl bewundern für das Geschick, das er dabei zeigt. Worauf es
ankommt, ist, daß der Täuschende weiß, was Gerechtigkeit ist, und dies
nicht im Sinne einer formalen Definition, sondern der inhaltlichen
Bedeutung für das menschliche Zusammenleben. So können die Philoso-
phenherrscher, die zur Erkenntnis des Guten und der Gerechtigkeit
gelangt sind, die Angehörigen des militärischen Wächterstandes in der
Frage der Partnerwahl täuschen (Politeia 459 c d, vgl. 382 c, 389 b, 414
b): sie tun es, weil nur so die δικαιοσύνη des Staates erhalten bleiben
kann. Wenn ihre Fähigkeiten in der Durchführung des Truges nachlassen,
beginnt der Kreislauf der Deterioration der Verfassungen (546 a —547
a).
Sehr viel klarsichtiger als die genannten Interpretationen ist diejenige,
die den Hippias minor von den Argumenten späterer Dialoge her erklärt.
Es „liegt als Rätsel hier schon beschlossen", was dann im Gorgias (466
df.) und Menon (78 b) dargelegt wird, nämlich daß niemand freiwillig
Unrecht tut und daß Willkürhandeln nicht Stärke sondern Schwäche
" Vgl. Wilamowitz, Platon 1102: „etwas Ähnliches (sc. wie ,verschlagen'), allein durchaus
zu Ehren des Helden, hatte der Dichter wirklich mit der Neubildung ,polytropos'
gemeint".
10 Aus der (angeblichen) Begeisterung des Hippias für eine Fähigkeit zum Unrechttun
„läßt sich via negationis die Vorstellung einer Fähigkeit ableiten, die sich für das
Rechttun entscheidet - und nur dafür" (Boder 89). Aber wenn die Ironie die Haltung
des Hippias betrifft, nicht die Aussage, so müßte die Negation dazu lauten: „wir dürfen
nicht begeistert, müssen vielmehr betrübt sein, daß die Betrüger so viel vermögen -
z.B. daß mißgünstige Volksverführer den gerechten Aristeides in die Verbannung
zwingen können". Von solchem Bedauern führt für griechisches Denken kein Weg
zur Behauptung, Aristeides hätte seine unbestrittenen Fähigkeiten nicht auch zum
Unrechttun verwenden können, denn das hieße seine Gerechtigkeit herabsetzen. Boder
ist so sehr ein Gefangener platonischer Denkschemata, daß er die geläufige Vorstellung
von Herakles am Scheideweg als nicht existent behandelt, das sokratische Paradox vom
Tugendwissen hingegen als das Naheliegendste von der Welt. Aber es war und bleibt
ein Paradox, auf das nur einer kommen konnte; wer es nicht irgendwo in direkter
Mitteilung erfahren hat, dem hilft keine ,Ironie' darauf.
W e r betrügt wen? 89
ist 21 . Boders Protest gegen die Vorstellung, daß die Lösung in den „damals
noch ungeschriebenen Dialogen" liegen soll 22 , verrät nur seinen Mangel
an Selbstkritik: auch seine eigene Erklärung ist nur möglich, weil er aus
den späteren Werken weiß, was Piaton will. Das Interpretationsmittel
der ,Ironie' taugt nicht dazu, die Tatsache wegzuerklären, daß der
platonische Dialog seine letzte Erklärung außerhalb seiner hat.
Von hier aus muß selbst gegen Friedländers Wort vom „Rätsel" der
Vorbehalt erhoben werden, daß ein Rätsel allein vom verschlüsselten
Wortlaut aus lösbar sein sollte. Hingegen ist die Vorstellung, man könnte
allein vom Hippias minor aus die positiven Sätze platonischer Ethik
ermitteln, nichts als eine Illusion, der wir nur deshalb so leicht erliegen,
weil uns jene Sätze von jeher vertrauter sind als das elenktische Spiel mit
ihnen. Mag es auch Stellen geben, die wir aus der Retrospektive als
,Hinweise' auf die Lösung werten, so ist doch anderes, was für die
Lösung des ,Rätsels' Hippias minor wesentlich ist, nicht einmal mit einem
Hinweis versehen, so die im Schlußteil konstant ignorierte Wahrheit, daß
die Seele nicht ein beliebig einsetzbares Werkzeug des Menschen ist,
sondern der Mensch selbst 23 .
Nimmt man die Ausführungen des Phaidros als Schlüssel für die
Erklärung, so zeigt sich auch die relative Berechtigung der erwähnten
Deutungen. Eine spielerische Satire ist der Hippias minor durchaus, wie
Wilamowitz sah, nur war es sehr falsch zu meinen, es komme bei dieser
Satire allein auf den Verspotteten an, nicht auf seinen Gegenspieler 24 .
Sokrates steht eindeutig im Mittelpunkt. Daß er ironische ,Belehrung'
für Außenstehende bereithalte, ist doch wohl eine zu naive Erklärung;
die Ironie hat vorwiegend die Funktion, ihn von Hippias abzusetzen. Die
Hinweise, die in diese παιδιά eingestreut sind, sind hilfreich nur für den,
der die platonischen Positionen schon kennt (darunter nicht zuletzt auch
seine Vorstellung vom richtigen Verfahren philosophischer Mitteilung);
sie weisen auf inhaltlich bedeutsameres Wissen, welches freilich νυν έν
Hippias maior
Sokrates und sein Doppelgänger
3
Vielleicht wäre dies eine Erklärung für die zweimalige Verwendung derselben Titelfigur.
Jedenfalls kann man aus der Existenz zweier Hippias-Dialoge nicht schließen, daß der
eine (im Zweifelsfall der Größere) unecht sei. Auch Aristoteles' Zitat έν τω Ίππίςι
Met. 1025 a 6, womit der Kleinere Hippias gemeint ist, beweist nicht, daß er den
Größeren nicht kannte (s. M. Soreth, Der Platonische Dialog Hippias maior, München
1953, 2). Vielmehr ist