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Th. A.

Szlezák · Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie


Thomas Alexander Szlezák

Platon und die Schriftlichkeit


der Philosophie
Interpretationen zu den frühen
und mittleren Dialogen

W
DE

G
1985

Walter de Gruyter · Berlin · New York


Cl?-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Szlezák, Thomas Alexander:


Piaton und die Schriftlichkeit der Philosophie : Interpretation zu
d. frühen u. mittleren Dialogen / Thomas Alexander Szlezák. —
Berlin ; New York : de Gruyter, 1985.
ISBN 3-11-010272-2

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei - pH 7, neutral)

©
1985 by Walter de Gruyter Sc Co., Berlin 30, Genthiner Straße 13.
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Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30
Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
Vorwort

Ziel dieses Buches ist zu zeigen, daß Piatons skeptische Gedanken


über den Wert der Schrift in der sogenannten ,Schriftkritik' im Dialog
„Phaidros" nicht erst die späte Reflexion eines erfahrenen und vielleicht
resignierenden Autors sind, sondern sein schriftstellerisches Tun von
Anfang an geleitet haben.
Die,Schriftkritik' enthält nicht nur eine Darlegung der konstitutionel-
len Schwäche der Erkenntnisvermittlung durch die Schrift. Parallel dazu
entwirft Piaton auch ein differenziertes Bild von der Art und Weise, wie
der Philosoph (der φιλόσοφος oder διαλεκτικός) seine ,Reden' (λόγοι),
und zwar seine schriftlichen und mündlichen ,Reden', einsetzt zum
Zweck einer wahrhaft philosophischen Erkenntnisvermittlung. Es läßt
sich nun zeigen, daß die Dialogfigur ,Sokrates' von den frühesten Dialo-
gen an so gezeichnet ist, daß sein Verhalten im Gespräch nur als Illustra-
tion und Konkretisation jenes Bildes vom philosophischen Umgang mit
,Reden' aus dem „Phaidros" verstanden werden kann. Die sachlichen
Übereinstimmungen und thematischen Anklänge sind dabei so zahlreich
und so spezifisch, daß Zufall ausgeschlossen werden kann.
Der Nachweis der Beziehungen zwischen der ,Schriftkritik' und dem
,Bild des Dialektikers' ist ein Versuch, Piatons einzige theoretische Äuße-
rung über Mündlichkeit und Schriftlichkeit der Philosophie in den Dialo-
gen für diese selbst in konkreter Weise, nämlich durch Erklärung ihrer
Struktur, ihrer Handlungsführung und Charakterzeichnung aus einheitli-
chen Prinzipien, fruchtbar zu machen.
Die geschilderte Zielsetzung könnte normalerweise mit dem wohl-
wollenden Interesse aller um Piaton Bemühten rechnen, wird hier doch
versucht, die innere Kohärenz des platonischen Werkes unter neuen
Gesichtspunkten aufzuzeigen. Im vorliegenden Fall ist freilich zu vermu-
ten, daß sich dieses Interesse bei einem Teil der Leserschaft sogleich in
Ablehnung verwandelt, sobald nur ausgesprochen ist, daß die seit Fried-
rich Schleiermacher übliche Perhorreszierung platonischer Esoterik nicht
zu den Prämissen dieser Arbeit gehört. Es hat durchaus den Anschein,
als hätten manche Interpreten sich bis heute noch nicht zu einer unbefan-
VI Vorwort

genen Haltung in der Frage der Wertung der Schriftlichkeit durch Piaton
durchringen können; die irrationale Berührungsangst, der die esoterische
Piatondeutung von Hans Joachim Krämer und Konrad Gaiser zu Beginn
der sechziger Jahre begegnete, scheint noch mancherorts fortzuwirken.
Gegenüber dieser Haltung muß jedoch, schon aus Gründen der philolo-
gischen Methode, festgehalten werden: was Piaton meint, wenn er sagt,
den Namen φιλόσοφος verdiene nur, wer über Besseres verfügt als das,
was er geschrieben hat (Phaidros 278cd), sollte nicht auf dogmatische
Weise im antiesoterischen Sinn vorentschieden werden, sondern durch
geduldige Exegese des Primärtextes, seines weiteren Kontextes und seiner
Beziehung zu den beobachtbaren Merkmalen des Dialogwerks insgesamt
geklärt werden.
Die hier angewandte Betrachtungsweise hat zwar Folgen für die
Einschätzung dessen, was Aristoteles ,Piatons ungeschriebene Lehren'
nannte. Doch ist die vorliegende Arbeit selbst kein Beitrag zur Erfor-
schung von Piatons mündlicher Prinzipientheorie. Sie handelt ausschließ-
lich von den Dialogen und steht — abgesehen von Schleiermachers
ungeprüfter antiesoterischer Prämisse — durchaus auf dem Boden der
Schleiermacherschen Dialoghermeneutik: sie geht von der Schriftkritik
aus, wie es Schleiermacher getan hatte, und sie betrachtet wie er die
Form des Dialogs nicht als bloße poetische Einkleidung, sondern als
wesentlich für den Inhalt. Wenn am Ende der Untersuchung dennoch
ein Piatonbild steht, das mit dem von Schleiermacher begründeten und
bis heute fortwirkenden nicht mehr vereinbar ist, so nicht deshalb, weil
ich seine leitenden Gesichtspunkte irgendwo verlassen hätte, sondern
weil ich, wie ich glaube, die Schriftkritik konsequenter zum Maßstab
der Analyse der Dialoge gemacht habe als es bisher geschehen ist.
Dem Leser dieses Buches wird also eine Überprüfung des heute
noch weit verbreiteten antiesoterischen Piatonbildes zugemutet. Nicht ein
positives Vorurteil zugunsten von ,Esoterik' wird von ihm verlangt, nur
die zeitweilige Suspendierung der üblichen Vorurteile gegen sie. Wenn
so der Textbefund selbst zu Wort gekommen sein wird, wird der alte
Streit bald kein Streit mehr sein.

Die Untersuchung führt bis zu Piatons Hauptwerk, in dem er deutli-


cher über Dialektik und über die Idee des Guten redet als jemals davor
oder danach. An späteren Werken ist außer dem „Phaidros", der die
Vorwort VII

Grundlage darstellt, nur das 10. Buch der Nomoi behandelt, das zur
Klärung einer bislang umstrittenen Aussage der Schriftkritik mit exem-
plarischer Deutlichkeit beiträgt und das zugleich auch belegt, daß Piaton
die Leitgedanken der Schriftkritik bis zuletzt im eigenen Werk verwirk-
licht hat. Ob man den Siebten Brief als echt akzeptiert oder verwirft, ist
für das Beweisziel dieser Untersuchung gleichgültig, daher wurden ein-
zelne Aussagen des Briefes zwar als ergänzendes Belegmaterial gelegent-
lich mit angeführt, die zusammenhängende Auslegung jedoch in einen
Anhang verwiesen. Von den frühen Dialogen wurden Ion und Menexenos
übergangen, da sie für unsere Fragestellung wenig ergiebig sind; sie
enthalten aber auch nichts, was unser Ergebnis in Frage stellen könnte.
Alkibiades I, Theages und Kleitophon fehlen, weil ihre Unechtheit als
erwiesen gelten kann.
Die Analyse der späten Dialoge unter den gleichen Gesichtspunkten
wäre gewiß reizvoll und lohnend. Der Leser, der unseren Überlegungen
bis zum Ende gefolgt ist, wird freilich unschwer selbst erkennen können,
wie sehr das Spätwerk unsere Ergebnisse bestätigt und verdeutlicht. Was
hier zu zeigen war, mußte zuerst und gerade am frühen und mittleren
Werk Piatons gezeigt werden, weil hier die Erwartungen, mit denen wir
nach langer Schulung in der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungs-
weise an den Text herantreten, zunächst gegen das Beweisziel zu sprechen
schienen. Hier galt es zu erproben, ob moderne Denkgewohnheiten oder
der Befund der Texte der zuverlässigere Führer zum Verständnis der
Intentionen Piatons ist.

Den Plan, die Untersuchung in der Form, in der sie nun vorliegt,
durchzuführen, faßte ich während eines Studienaufenthaltes am Center
for Hellenic Studies in Washington, D.C. im Jahr 1975/76. Dieser noblen
amerikanischen Institution und ihrem liebenswürdigen und stets hilfsbe-
reiten Direktor Prof. B. M . W. Knox sei auch an dieser Stelle für die
Gastfreundschaft gedankt. Die Grundgedanken meines Vorhabens trug
ich in meiner Zürcher Antrittsvorlesung im Dezember 1976 vor (abge-
druckt im Museum Helveticum 35, 1978, 1 8 - 3 2 ) , eine erste detaillierte
Durchführung gab ich im Wintersemester 1978/79 als Vorlesung. Eine
frühere Fassung des Euthydemos-Kapitels kam in Antike und Abendland,
Bd. 26 (1980) zum Abdruck, eine Kurzfassung des Politeia-Kapitels in
derselben Zeitschrift, Bd. 30 (1984). Überlegungen zum 7. Brief, die
Vili Vorwort

ich zuerst in ,Arktouros' (Festschrift Knox, Berlin —New York 1979)


dargelegt hatte, sind in Anhang III aufgenommen worden. Die letzten
Teile des Manuskripts wurden im Sommer 1983 niedergeschrieben.
Danken möchte ich zwei Freunden, die kritisches Interesse an meiner
Fragestellung bekundeten zu einer Zeit, als noch eine Mehrheit von
Philologen und Philosophen glaubte, die Akten über Mündlichkeit und
Schriftlichkeit bei Piaton seien geschlossen: Heinz Schmitz in Winterthur
und Christopher Rowe in Bristol. Ihre Bereitschaft, auf ungewohnte
Überlegungen einzugehen, bedeutete mir eine große Hilfe.
Danken möchte ich auch all denen, die bei der Fertigstellung des
Buches geholfen haben: Frau D. Steigerwald schrieb verläßlich und
schnell den größten Teil des Typoskripts; Herr K.-H. Stanzel, unterstützt
von Frl. M . Kroll und Herrn G. Lang, las mit viel Sachkenntnis die
Korrekturen und erstellte die Register. Nicht zuletzt gilt mein Dank auch
dem freundlichen Entgegenkommen des Herrn Verlegers, Prof. Dr. H.
Wenzel, und der vorzüglichen Betreuung des Buches im Verlag durch
Frau G. Müller.

Würzburg, 10. 10. 1984 Th. A. Szlezák


Inhalt

Vorwort V
Einleitung 1
Kapitel 1. Phaidros: Die Kritik der Schriftlichkeit 7
a) Phaidros 274 b - 2 7 8 e 7
b) Die aus der Schriftkritik resultierenden Aufgaben
der Piatoninterpretation 19
Kapitel 2. Phaidros: Der Gang des Dialogs 24
1) Die Handlung des Dialogs 24
2) Handlung und Thema 27
3) Das Verhältnis der Teile des Dialogs zueinander . . 30
4) Zusammenfassung 47
Kapitel 3. Euthydemos. Sokrates' Spott über ,Geheimhaltung' . . 49
Kapitel 4. Die ,Hilfe für den Logos' als Strukturprinzip des plato-
nischen Dialogs 66
Kapitel 5. Nomoi, Buch 10. Überschreiten als Wesen der ,Hilfe' 72
Kapitel 6. Hippias minor. Wer betrügt wen? 79
Kapitel 7. Hippias maior. Sokrates und sein Doppelgänger . . . . 91
Kapitel 8. Euthyphron. Kehrtwendung kurz vor dem Ziel 107
Kapitel 9. Lysis. Der Dialektiker und die Knaben 117
Kapitel 10. Charmides. Der Jüngling und der schlechte Forscher' 127
Kapitel 11. Laches. Der Lehrer entzieht sich den Schülern 151
Kapitel 12. Protagoras. Ist der Sophist besser als sein Buch? . . . . 160
Kapitel 13. Menon. Der Hang zum Fortgehen vor den Mysterien 179
Kapitel 14. Gorgias. Der ideale Gesprächspartner und die Kleinen
Mysterien 191
Kapitel 15. Kratylos. Das geheime Wissen des Herakliteers . . . . 208
Kapitel 16. Apologie — Kriton — Phaidon. Verteidigung auf drei
Ebenen 221
Kapitel 17. Symposion. Wer soll um wen werben? 253
Kapitel 18. Politela. Den Philosophen nicht loslassen 271
Schlußbemerkungen 327
X Inhalt

Anhang I. Die moderne Theorie der Dialogform 331


Kritik der modernen Dialogtheorie 336
Zehn Thesen zur Kritik 337
Erläuterungen zu den Thesen 339
Anhang II. Die Bedeutung von σύγγραμμα 376
Anhang III. Zum Siebten Brief 386
Anhang IV. Zu einigen Piatonsteilen, die eine antiesoterische Ausle-
gung nahezulegen scheinen 406
Literaturverzeichnis 411
Register 417
Stellen 417
Namen und Sachen 441
Moderne Autoren 444
Einleitung

Die Vorstellung, daß ein Wissenschaftler oder Denker seine Erkennt-


nisse, etwa gar die wichtigsten unter ihnen, absichtlich zurückhalten
könnte, läuft dem Empfinden und der Praxis unserer Zeit zuwider. Wir
beeilen uns, was immer wir entdeckt zu haben glauben, so bald als
möglich und so weit als möglich bekannt zu machen. Die Gründe hierfür
mögen vielfältig sein. Allgemein beherrscht uns der zu offener Konkurrenz
treibende Zeitgeist des pluralistischen Liberalismus. Für gewöhnlich
motiviert schon die Sorge um den Aufstieg und die Angst, von anderen
überholt zu werden, den Drang zur allen erreichbaren Mitteilung des
Geleisteten; bei denen, die solche Ängste hinter sich zu lassen imstande
sind, führt die Überzeugung, daß die größtmögliche Verbreitung der
endlich gefundenen Wahrheit ein unbestreitbares Gut für alle sei, in der
Regel zum gleichen Verhalten.
Nach unseren eigenen Erfahrungen und Überzeugungen beurteilen
wir auch vergangene Zeiten: wir vermögen noch die erzwungene Zurück-
haltung wissenschaftlicher und philosophischer Einsicht, so etwa in der
Geistesgeschichte der beginnenden Neuzeit von Galilei bis Leibniz,
zu registrieren und zu verstehen. Unverständlich bleibt die freiwillige
Einschränkung der philosophischen Kommunikation; unvorstellbar, daß
ein am geistigen Gespräch Beteiligter, gar einer von Rang, die Mitteilung
dessen, womit ihm Ernst ist, an alle Menschen nicht für ein Gut halten
könnte.
Piaton in seinen Dialogen rechnet hingegen ständig mit der Möglich-
keit, daß ein am Gespräch Beteiligter nur einen Teil seines Wissens und
seiner Einsicht zum Vorschein kommen lassen könnte. Nichts liegt für
ihn näher als die Verdächtigung einer Dialogfigur, sie „verberge" das
Wesentliche: so allgegenwärtig ist der Vorwurf, daß es fast keinen
Unterschied zu machen scheint, gegen wen er erhoben wird: ein Mann
von Rang wie Protagoras ist davon ebenso betroffen wie der unbedarfte
Rhapsode Ion, ein zu den besten Hoffnungen berechtigender junger
Aristokrat wie Kritias ebenso wie die zwielichtigen Eristiklehrer Dionyso-
doros und Euthydemos, die antiintellektuellen Spartaner ebenso wie die
2 Einleitung

geistig beweglichen Rhetoriklehrer. Was diese Adressaten des Vorwurfs


des ,Verbergens' eint, ist einzig, daß der Vorwurf stets von demselben
Partner erhoben wird: von dem Ironiker Sokrates. Einzig Sokrates selbst
ist sicher vor solcher Beschuldigung: als Nichtwissender kann er ja auch
nichts im Hintergrund haben, was er verbergen könnte — das leuchtet
doch wohl ein.
Daß Piaton die Vorstellung der Zurückhaltung von Wissen und
Einsicht stets zur Hand hat, während wir sie von uns aus sozusagen
nie in Erwägung ziehen würden, könnte man zunächst aus seinem
geschichtlichen Ort zu erklären versuchen: die ,offene' Gesellschaft des
demokratischen Athen, in der er lebte, war zeitlich noch nicht allzu weit
entfernt von archaischeren Organisationsformen, wie sie in anderen
griechischen Städten noch fortlebten und auch für viele in Athen noch
das geheime gesellschaftliche Leitbild abgaben. Bei der strengen sozialen
Gliederung archaisch-,geschlossener' Gesellschaften war jedes Können
und Wissen, jede Einsicht, kurz jede cocpia im alten Sinn, stets zunächst
an eine bestimmte Gruppe oder eine Berufsgilde gebunden, die über
die Weitergabe solchen Wissens wachte. Auch wenn das universale
anthropologische Phänomen des priesterlichen Geheim- und Herrschafts-
wissens bei den Griechen, deren Religion keine heiligen Bücher und keine
Priesterherrschaft kannte, im Vergleich zu anderen antiken Gesellschaften
stark zurücktritt, so gibt es doch auch bei ihnen deutliche Spuren einer
kontrollierten und gruppengebundenen Wissensvermittlung. So rechnet
die Literaturgeschichte der frühen Zeit mit der Existenz von Sängergilden,
die ihre Bearbeitung epischer Stoffe als Gildeneigentum tradierten; der
Philosophiegeschichte ist die ordensmäßige Organisation der Pythagoreer,
die auch politische Macht erstrebten, bekannt, ebenso wie der Religions-
geschichte die wachsende Anziehungskraft der Mysterien, die dem
Eingeweihten ein besseres Los im Jenseits versprachen und den Uneinge-
weihten von Kult und Jenseitshoffnungen ausschlossen; im Bereich der
Medizin, die für das Aufkommen des wissenschaftlichen Denkens so
wichtig wurde, begegnen wir der Forderung, das ärztliche Wissen nicht
an Außenstehende weiterzugeben 1 .

1 So im Hippokratischen ,Eid', ähnlich im ,Nomos' (IV 630, 643 Littré); zur „sippenmäßi-
gen Tradition griechischer Kunst" noch in der Generation des Aischylos vgl. A. Lesky,
Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 3 1972, 69; zur Geheimhaltung bei den
Pythagoreern s. E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen
Entwicklung I, Leipzig 7 1923, 409 Anm.2; W. Burkert, Lore and Science in Ancient
Pythagoreanism, Cambridge (Mass.) 1972, 178 f.; zur archaischen Organisation der
Einleitung 3

Die Vorstellung des gruppengebundenen Sonderwissens war im


ausgehenden 5. Jahrhundert — in der Zeit, in der Piatons Dialoge
spielen — in vielfacher Form gegenwärtig. Vor dem Hintergrund dieses
Residuums archaischen Denkens scheint Piatons fortwährender Spott
über philosophische Geheimhaltung die neue Gesinnung der athenischen
Demokratie zu repräsentieren. Der konservativ erzogene Pfarrerssohn
Friedrich Nietzsche mochte immerhin versuchen, den auf der Straße
offen mit jedermann philosophierenden Sokrates als,Pöbelmann' abzutun
- zeigt nicht vielmehr Piatons selbstsichere Absetzung gegen die restrik-
tive Handhabung von Wissen und Einsicht, daß hier die prinzipielle
Offenheit und Liberalität der progressiven Demokratie Athens geistesge-
schichtlich bedeutsam zu Wort kommt?
Während also die Allgegenwart der Vorstellung des ,Verbergens' uns
von Piaton trennt (aber historisch verständlich gemacht werden kann),
ist doch die Wertung dieser Vorstellung bei ihm, wie es scheint, ganz
und gar diejenige unserer fortschrittlichen Zeit. Und dies ist doch
irgendwie beruhigend — für die meisten wenigstens.
Andere werden sich gerade bei dieser scheinbar so zwingenden
Deutung von Piatons Spott über Geheimhaltung beunruhigt fühlen und
den Verdacht nicht loswerden, der Ironiker ,Sokrates' könnte uns gerade
hier auf die falsche Spur gelockt haben.
Kennen wir denn Piaton sonst als Vertreter demokratischer Offenheit
und progressiver Liberalität? Hat er für seinen Idealstaat oder für
seinen Gesetzesstaat ein offenes Informations- und Erziehungssystem
vorgesehen? In den Nomoi ist bekanntlich nicht nur der Inhalt der
Ausbildung der zur Herrschaft Berufenen vor der Kenntnisnahme durch
die Unberufenen geschützt, sondern schon die bloße Tatsache des
Ausschlusses muß den Ausgeschlossenen verborgen bleiben: hier fordert
Piaton, die klassentrennenden Strukturen gegenüber seinem ersten Staats-
entwurf noch verschärfend, Geheimhaltung auch noch der Geheimhal-
tung (Nomoi 961 b 4 —6 mit 952 a 7 und 968 de). Die von keiner Ironie
getrübte Entscheidung für prinzipiell offene Diskussion legt Piaton
hingegen dem Demokraten und Relativisten Protagoras in den Mund
(Prot. 317 b c ) .

Wissensvermittlung im Gruppenverband bei Ärzten, Sängern, Handwerkern, Sehern,


bei Pythagoreern und Orphikern s. W . Burkert, Neue Funde zur Orphik, in: Information
zum altsprachlichen Unterricht II 2, Graz 1980, 41; ders., Craft versus Sect: The
Problem of Orphies and Pythagoreans, in: Β. F. Meyer - E. P. Sanders (Hrsg.): Self-
Definition in the Greco-Roman World, London 1 9 8 2 , 1 8 ff.
4 Einleitung

Es besteht doch wohl Anlaß, Piatons Spott über die angebliche


Geheimhaltung der Gesprächspartner des Sokrates genauer zu befragen.
Der Dialog Euthydemos rückt das sonst nur als Begleitmotiv behandelte
Thema des ,Verbergens' exemplarisch in den Vordergrund; an ihm
müssen wir uns orientieren, wenn wir den Sinn des platonischen Topos
vom άποκρύπτεοθαι verstehen wollen.
Es ist längst erkannt worden, daß Sokrates' seltsame Gedankenfüh-
rung, die auf das scheinbar absurde Ergebnis führt, daß jeder alles weiß
und schon immer alles gewußt hat, nur verständlich ist auf dem
Hintergrund der Anamnesis-Lehre. Was nicht erkannt worden ist, ist die
Bedeutung dieses Befundes für das Bild des Philosophen, das Piaton im
Phaidros entwirft: φνλόοοφοο ist, wer seinen Äußerungen ,zu Hilfe zu
kommen', sie zu verteidigen und durch τιμιώτερα, durch ,Dinge von
höherem Wert', abzustützen imstande ist. Eben diese für den φιλόοοφοο
konstitutive Differenz zwischen primär mitgeteilter und potentiell bereit-
gehaltener Einsicht wird im Euthydemos in dramatische Handlung
umgesetzt. Sokrates könnte, wegen seiner Gesprächsführung näher be-
fragt, die Theorie der Anamnesis und der Unsterblichkeit der Seele
entwickeln; er könnte auf gewichtigere Dinge zurückgreifen, die für den,
der genauere Information über Piatons Philosophie besitzt, erkennbar im
Hintergrund stehen, von denen der Leser des Euthydemos allein jedoch
nichts ahnen kann, da sie im vorliegenden Gespräch nicht benannt sind.
Sokrates verfügt also über eine weiterführende, begründende Theorie,
die er hier mit voller Absicht — wegen der mangelnden Eignung der
Gesprächspartner — nicht zum Tragen bringt.
Wer ist dann der ,Geheimhaltende' im Euthydemos? Für den ironi-
schen Spott des Sokrates sind es natürlich die Brüder Dionysodoros und
Euthydemos, deren geistige Armut und Leere Schritt für Schritt deutlich
gemacht hat, daß sie nichts haben, was sie geheimhalten könnten. Und
wer ist der φιλόοοφοο dieses Dialogs? Für ihn, der Bedeutenderes im
Hintergrund hat, für den der Zurückhaltung unverdächtigen ,Nichtwis-
ser' Sokrates, sind es wiederum die beiden Meister der Eristik. Die
sarkastische Komik des Dialogs besteht darin, daß der mit weiterreichen-
dem Wissen ausgerüstete φιλόοοφοο, der dem an der Oberfläche
sinnlosen Geschwätz dieses Gesprächs durch Rückgriff auf Besseres im
Sinne des Phaidros ,zu Hilfe kommen' könnte, dies nicht tut, vielmehr
die Gegner darum bittet — die Gegner, die doch offensichtlich keinerlei
τιμιώτερα im Hintergrund haben. Und als sie seiner Bitte nicht nachkom-
men, weil sie es nicht können, werden sie spöttisch der Geheimhaltung
Einleitung 5

geziehen. Verspottet wird also nicht die absichtliche Zurückhaltung


tieferer Einsicht, sondern gerade die Unfähigkeit dazu 2 .
Dieser Befund verändert die Situation hinsichtlich des platonischen
Themas des ,Verbergens' von Grund auf: wer bisher die Vorstellung
einer absichtlichen Kommunikationsbeschränkung spöttisch beiseite
schieben zu können glaubte, wird jetzt erkennen müssen, daß er die
Ironie des Sokrates nicht ironisch genug zu lesen vermochte.
Der vordergründige Spott gegen die armen Teufel Dionysodoros und
Euthydemos wäre für sich genommen nicht eben bewegend, wäre recht
eigentlich belanglos; vor dem richtigen Hintergrund gelesen, d. h. nicht
nur mit Blick auf die Anamnesislehre, sondern auch und vor allem auf
das Bild des Philosophen im Schlußteil des Phaidros, macht er die ganze
Frage der platonischen ,Esoterik' erneut akut.
Aber bedarf es dazu einer neuen Deutung des wenig gelesenen Dialogs
Euthydemos? Sagen nicht die allen vertrauten Texte Phaidros und Siebter
Brief mit aller Deutlichkeit, daß der Dialektiker seinen philosophischen
Ernst nicht der Schrift anvertrauen wird und daß es keine Schrift
(ούγγραμμα) von Piaton gibt über das, womit ihm wirklich Ernst war?
Sagen nicht gerade die wichtigsten Dialoge an zentralen Stellen, daß die
jeweils entscheidende Frage ,jetzt' nicht weiterverfolgt werden soll?
Gewiß, nur verfügt die heutige Piatonphilologie — die in dieser Frage
die Zustimmung der philosophischen Piatoninterpretation hat - über
ein ganzes Arsenal von Argumenten, um diese Selbstaussagen der
platonischen Schriften zu umgehen und in ihr Gegenteil zu verkehren.
Die einfache Feststellung Piatons, es gebe keine Schrift von ihm über die
für ihn entscheidenden Dinge, heißt für die herrschende Platonauslegung,
es gebe keine systematische Lehrschrift von ihm darüber (wohl aber
andere Schriften, eben die Dialoge). Die bestimmte Aussage, daß der
Philosoph seinen ,Ernst' nicht der Schrift anvertrauen wird, da Geschrie-
benes wehrlos gegen Mißverständnis und Kritik ist, sich nicht zu ,helfen'
weiß, heißt für heutige Leser, der Philosoph werde seinen,Ernst' gewißlich
nur einer bestimmten Art von Schrift anvertrauen, dem Dialog, da
der geschriebene Dialog sich von sonstigem Geschriebenen dadurch
unterscheide, daß er sich sehr wohl zu ,helfen' wisse. Die Versicherung
des Sokrates, daß er vieles, was über das Gute zu sagen wäre, beiseite
läßt, wird dem modernen Deuter zur tiefen Einsicht, daß sich über das
Gute eben nicht mehr sagen lasse als dasteht, und das Insistieren Piatons

1 Die genauere Begründung dieser Auslegung des Euthydemos wird in Kapitel 3 gegeben.
6 Einleitung

auf dem im Vergleich zum Schriftwerk „längeren" und „göttlicheren"


Weg, den der Dialektiker zu begehen hat, wird sogleich mit vermeintlicher
Kongenialität als unverbindliche Vision des prinzipiell sich nicht festlegen-
den, existentiell ,offenen' Denkers Piaton verbucht.
Die Theorie des platonischen Dialogs, die all diese Argumente
systematisch vereint und den Dialog als die nach Piaton einzig legitime
Form philosophischer Mitteilung erweisen möchte, gilt den meisten als
das alte Wahre, gegen das die neuartige ,esoterische' Interpretation sich
zu legitimieren habe. Wenige wissen, daß am Ursprung dieser Theorie
bei Friedrich Schleiermacher das polemische Bedürfnis stand, einer
Anerkennung der platonischen Esoterik, die er freilich in sehr vordergrün-
diger Weise mißverstand 3 , zu entgehen.
Daß Polemik für gewöhnlich den Blick trübt, weiß man. Wenn wir
uns nicht von Schleiermachers Vorentscheidungen abhängig machen
wollen, empfiehlt es sich, dort neu einzusetzen, wo er die Weichen stellte
für seine nachmals so einflußreiche Art der Piatonauslegung: bei Piatons
grundlegendem Text über schriftliches und mündliches Philosophieren,
dem Schlußteil des Phaidros. Hierbei gilt es vor allem, die durch
Schleiermachers polemische Tendenz bedingte Selektivität, die bis heute
die Auslegung dieses Textes bestimmt, zu vermeiden. Nur eine ausgewo-
gene Würdigung aller leitenden Gedanken des Grundtextes und die
Beachtung des Zusammenhangs, in den sie von Piaton gestellt sind, wird
die Gesichtspunkte bereitstellen können, unter denen wir die Dialoge zu
befragen haben. Der Schlußteil des Phaidros bietet nicht allein die
Antwort Piatons auf die Frage des Verhältnisses von mündlicher und
schriftlicher Philosophie, sondern vor allem auch den Schlüssel zur
Beantwortung dieser Frage aus dem Gesamtwerk.

3
Siehe Anhang I, S. 364 ff.
Kapitel 1

Phaidros:
Die Kritik der Schriftlichkeit

a) Phaidros 274 b-278 e

Die seit Schleiermacher übliche Isolierung des Schlußteils des Phaidros


von den vorangehenden Teilen soll erst im nächsten Kapitel durch eine
integrierende Interpretation ersetzt werden. Vorerst akzeptieren wir die
fast schon kanonisch gewordene Verengung des Blickwinkels 1 und
betrachten allein die letzten Seiten des Dialogs.

1. Phdr. 274 a 6 - 2 7 5 d 3

Sokrates beginnt 274 a 6 aus den bisherigen Erörterungen die Folge-


rungen zu ziehen hinsichtlich der Ziemlichkeit oder Unziemlichkeit
des Schreibens. Er orientiert sich dabei an der Gottgefälligkeit des
menschlichen Umgangs mit ,Reden' (λόγοι) (274 b 9 ) . Über das, was
gottgefällig ist, behauptet er zwar, nur vom Hörensagen unterrichtet zu
sein ( c l ) , doch stellt er sogleich — ohne etwas zu versprechen — die
Möglichkeit daneben, eigene Einsicht darüber zu gewinnen, was uns von
menschlichen Meinungen unabhängig machen würde (c2 —3).
Jenes ,Hörensagen' besteht in einer kleinen Geschichte von dem alten
Gott Theuth, die in Ägypten erzählt wird, wie Sokrates sagt. Phaidros
durchschaut, daß die Geschichte nicht authentisch ist (275 b 3 ) - und
wird für diese Kritik sogleich zurechtgewiesen: woher die Geschichte
kommt und wer sie erzählt, ist gleichgültig; nur ob das Gesagte zutrifft,
zählt (b5 —c2). Es geht eben doch nicht um ein Hörensagen, sondern
um die eigene Einsicht. Die Darlegung dieser Einsicht unter fremder
Maske stört nur den Unphilosophischen.
Die ,ägyptische' Geschichte erzählt, wie der Gott Theuth seine

1 Z u den seltenen Ausnahmen s. unten Anhang I, 3 6 2 Anm. 45.


8 Phaidros

Erfindungen dem König Thamus vorlegte, darunter auch die Schrift


(γράμματα). Der kritische König beurteilte die neue Errungenschaft
weniger günstig als der stolze Erfinder: die Schrift wird die, die sie
erlernen, durchaus nicht weiser und gedächtnisstärker machen, wie
Theuth glaubt. Vielmehr wird sie die Vergeßlichkeit in den Seelen
fördern, da man auf die von außen kommende Hilfe der Schrift vertrauen
werde, statt das von innen kommende Gedächtnis zu üben. Die Schrift
ist ein Mittel des Erinnerns, nicht des Gedächtnisses. Und Weisheit wird
die Schrift nicht erzeugen, da man durch sie vieles wird ,hören' können
ohne begleitende Unterweisung (διδαχή), was die Menschen kenntnis-
reich, aber nicht einsichtsreich (πολυήκοοι - πολυγνώμονεο) macht,
also nur die Einbildung von Weisheit in ihnen hervorruft und sie
unangenehm im Umgang mit anderen macht (274 c 5 - 275 b 2).
Heraklits Sentenz: πολυμαθίη νόον εχειν ού διδάοκει ist hier nicht
nur fortgeführt, sondern tiefer und zugleich konkreter gedeutet im Blick
auf die Funktion der beiden wesentlichsten Kräfte, die jede geistige
Formung bestimmen: Bücher und Menschen. Das, was νόον εχειν
δνδάοκει, ist die persönliche Unterweisung oder ,Lehre', διδαχή kann
im vorliegenden Zusammenhang, wo der Gegensatz die Übernahme von
Kenntnissen aus der Schrift (γραφή 275 a 3) ist, nur das mündliche
Gespräch des Aufnehmenden mit einem kundigeren διδάοκων bedeuten,
der an die Stelle des nur scheinbar Einsicht vermittelnden Buches treten
muß, wenn wirkliche Weisheit und nicht deren Schein aufkommen soll.
Nach der schon erwähnten Zurechtweisung des Phaidros hält Sokrates
als Ergebnis der Geschichte fest, daß es sehr einfältig wäre zu meinen,
man könne eine ,Kunst' (τέχνη) in Schriftzeichen weitergeben oder aus
Schriftzeichen etwas Klares und Verläßliches empfangen. Alles, was
geschriebene λόγοι können, ist, den Wissenden zu erinnern an das,
wovon das Geschriebene handelt (275 c5 —d2).
Die Bedeutung von τέχνη muß hier, in der zusammenfassenden
Formulierung dessen, was aus der Geschichte von Theuth zu lernen ist,
die gleiche sein wie in der Geschichte selbst. Die ,Künste', die der Gott
gefunden hatte, sind Brettspiel, Würfeln, Schrift, Arithmetik, Geometrie
und Astronomie (274 c8 —d2). τέχνη bezeichnet zunächst die jeweilige
Fertigkeit oder Wissenschaft selbst, nicht etwa ihre Darstellung. Eine
Darstellung der Regeln des Würfelspiels wie auch der Beweise der
Geometrie kann man sehr wohl in schriftlicher Form geben, mittels
Zeichen, die der Seele ,fremd' sind (ύπ' άλλοτρίων τύπων 275 a 4) -
was jedoch fehlen wird, ist das der Sache wesensverwandte ,innere'
Die Kritik der Schriftlichkeit 9

Verstehen, das nur durch persönliche Belehrung, δ ι δ α χ ή , erzeugt werden


kann, τ έ χ ν η meint dann also ein Gegenstandsgebiet und seine verstehende
Beherrschung durch einen, der hierin nicht nur δοξόοοφοο ist, meint das
Gegenstandsgebiet als verstandenes und beherrschtes. Dem Zusammen-
hang ganz fremd ist hingegen die Bedeutung ,Handbuch', für die hier
jede Vorbereitung fehlt 1 . Piaton spricht von der Erkenntnisleistung der
Schrift ganz allgemein (γράμματα 275 c5, γ ρ α φ ή 275 a3), nicht von
einer bestimmten Form von schriftlicher Darstellung.
Die Leistung der Schrift besteht in der Erinnerung des Wissenden an
die mitgeteilten Dinge (275 c 8 - d 2 ) . Der ,Wissende' (ό είδώο) kann
kein anderer sein als der cocpóc, von dem sich der δοξόοοφοο dadurch
unterschied, daß er ανευ δ ι δ α χ ή ς blieb. Die Geschichte von Theuth
besagt, daß das primäre Erwecken von wirklicher Einsicht an Unterwei-
sung gebunden ist, während die Schrift bestenfalls zur sekundären
Reaktivierung schon vorhandener Einsicht taugt - jedenfalls gilt dies,
wenn wir von ,Einsicht' verlangen, daß sie etwas Deutliches und
Beständiges (275 c 6) sei. Daß schriftlicher Erkenntniserwerb gerade diese
Bedingung nie erfüllen kann, zeigt der nächste Abschnitt.

2. Phdr. 275 d 4 - 2 7 6 a 9 .

Einen schlimmen Zug, sagt Sokrates, hat die Schrift an sich, den sie
mit der Malerei teilt: wie gemalte Figuren aussehen als lebten sie, aber
auf Fragen gar feierlich schweigen, so scheinen auch geschriebene
Darlegungen (λόγοι) zu reden als hätten sie Einsicht, fragt man aber
nach, um das Gesagte besser zu verstehen, so sagen sie stets nur dasselbe.
Und einmal geschrieben, ist eine Darlegung überall im Umlauf, bei
solchen, die etwas von der Sache verstehen und ebenso bei solchen, die
sie nichts angeht. Sie versteht sich nicht darauf, zu den Leuten zu reden
(oder nicht zu reden), zu denen sie reden soll (oder nicht soll). Wird sie

2
Unrichtig daher die Ubersetzung von R. Hackforth: „a written manual" (Plato's
Phaedrus, Cambridge 1952), 158; ihm folgt z.B. auch W . K . C . Guthrie (A History of
Greek Philosophy, IV: Plato. The Man and his Dialogues: Earlier Period, 1975) 57.
Handbücher der Rhetorik sind im zweiten Hauptteil des Phaidros erwähnt; obschon
der Zusammenhang dort eindeutig auf Rhetorik weist, gibt Piaton dennoch stets eine
zusätzliche Bestimmung zu τέχνη (τέχνη Ρητορική 271 a 5, τέχναο [περί] λόγων 261
b 6 - 7 , 271 c2, βιβλία περί λόγων τέχνηο γεγραμμένα 266 d6): τέχνη allein heißt
eben nicht .Handbuch' schlechthin - schon gar nicht, wenn das Wort zuvor im
üblichen Sinn (,Kunst') gebraucht wurde. - Auch im Siebten Brief heißt τέχνη (341
b) nicht Handbuch, s. unten 393 f.
10 Phaidros

angegriffen und zu unrecht geschmäht, so bedarf sie stets der Hilfe des
Urhebers: sie selbst kann sich weder wehren noch sich helfen.
Weit überlegen ist der schriftlichen Darlegung (dem λόγοο γεγραμμέ-
voc) die lebendige und beseelte Darlegung des Wissenden, deren Abbild
die schriftliche ist: sie wird mit wahrem Wissen in der Seele des Lernenden
geschrieben', ist fähig, sich zu verteidigen, und versteht sich darauf, zu
reden und zu schweigen, zu wem sie reden oder schweigen soll (275
d 4 — 276 a9).
Daß der λόγοο, der in der Seele des Lernenden geschrieben' wird,
kein λόγοο γεγραμμένοο sein kann, geht schon daraus hervor, daß er
dem geschriebenen λόγοο entgegengestellt wird wie das Urbild dem
Abbild, und daß er »lebendig und beseelt' heißt, während zuvor alles
Geschriebene als leblos wie eine gemalte Figur charakterisiert wurde.
Der Gegensatz betrifft die gesprochene und die geschriebene ,Rede', nicht
zwei Arten von geschriebener Rede, eine lebendigere und eine leblosere
(etwa Dialog und Traktat). Gegenstand der Kritik ist weiterhin ,die
Schrift (γραφή 275 d4)' schlechthin, nicht eine bestimmte Art ihrer
Handhabung. Wehrlos dem Gegner ausgesetzt ist jedweder λόγοο, sobald
er niedergeschrieben ist (οταν δε άπαξ γραφή, ... παο λόγοο ... 275
d 9 — e l ) , nicht nur die nichtdialogische Darstellungsform. Den Mangel
des Geschriebenen: starre Leblosigkeit und Unfähigkeit, sich selbst zu
Hilfe zu kommen gegen Herabsetzung, kann allein die gesprochene
,Rede' ausgleichen. Freilich nicht jede, sondern nur die des ,Wissenden'
(276 a 8). Der ,Wissende' ist der, der die διδαχή erteilt, ihm ist daher
jetzt ein ,Lernender' zugeordnet (276 a 5), in dessen Seele er ,schreibt'.
Der Wissende ist fähig, seinem λόγος zu Hilfe zu kommen, wenn er es
für angebracht hält; es wird freilich auch Menschen geben, denen
gegenüber er es für richtig halten wird, zu schweigen (αγαν npòc oßc
δεν, 276 a 7). Was schriftlich niedergelegt ist, hat diese Freiheit der
Zurückhaltung nicht mehr: es ,treibt sich überall herum', wie Sokrates
verächtlich sagt, bei Geeigneten wie bei Ungeeigneten, und weiß nicht,
zu wem es reden oder schweigen soll. Anders gesagt: jeder kann ein
einmal veröffentlichtes Buch erwerben und lesen, und überdies ungestraft
für wertlos erklären.
Daß das Buch, oder eine bestimmte Art von Buch, zu einer bestimmten
Art von Lesern nicht ,sprechen' könnte, läuft dem Sinn des Abschnitts
und dem klaren Wortlaut in 275 e 1 — 3 zuwider. Ebenso unplatonisch
ist die Vorstellung, daß ein ,hintergründig' in der Schrift angelegter
,tieferer' Sinn, quasi als Selbst-,Hilfe' der Schrift gegen die Kritik der
Die Kritik der Schriftlichkeit 11

Unverständigen, vom verstehenden Leser ohne Zutun des Urhebers ganz


automatisch, kraft seines ,tieferen' Verstehens, abgerufen werden könnte
— vielmehr entscheidet der ,Wissende' auf Grund seiner persönlichen
Einschätzung des Gegenübers aus der Situation heraus, ob er sich
verteidigend sprechen soll oder nicht.
Die Fähigkeit des philosophischen λόγοο, sich gegen Angriffe zu
,helfen', ist hier eingeführt als die Fähigkeit des mündlich philosophieren-
den ,Wissenden'. Die Entgegensetzung von Geschriebenem als bloßem
Abbild und lebendiger beseelter Rede als dem Eigentlichen lenkt den
Blick vorerst nicht auf die Möglichkeit, daß auch der ,Wissende'
etwas schreiben könnte. Seine Fähigkeit zur ,Hilfe' ist jedenfalls ganz
unabhängig von dieser Möglichkeit. Sie beruht offenbar auf einem
inhaltlichen Überschuß der ,helfenden' Rede gegenüber der, der geholfen
wird: denn wenn die geschriebene ,Rede' (Darlegung, λόγοο) sich nicht
helfen kann, sondern stets dasselbe sagt, wird der zur Hilfe Fähige eben
nicht stets dasselbe wiederholen dürfen, er wird anderes vorbringen
müssen - nicht andere Thesen, wie G. Vlastos mißverstand 3 , sondern
natürlich andere Argumente für dieselben Thesen.
Die Fähigkeit zur Hilfe wird auch im folgenden Abschnitt noch ganz
im Bereich der mündlichen Diskussion vorgestellt; erst im letzten
Abschnitt wird diese nämliche Fähigkeit dazu verwendet, den φιλόοοφοο
als Autor von ,Schreibern' und Dichtern abzuheben.
Die geschriebene Darlegung ist,Abbild' (εϊδωλον) der gesprochenen.
Hierbei ist nicht so sehr an Realistische' Wiedergabe wirklicher Gespräche
zu denken, auch nicht an protokollarische Genauigkeit in der Aufzeich-
nung, sondern vor allem — in Übereinstimmung mit der Verächtlichma-
chung der Schrift im vorhergehenden Abschnitt wie im vorliegenden (275
d 5 — e5) — an die starke Abwertung, die mit diesem Wort bei Piaton
stets gegeben ist: das ,Abbild' ist prinzipiell von geringerem Rang als das
,Urbild', hat nicht dieselbe ,Wirklichkeit' und ,Kraft'. Im vorliegenden
Zusammenhang besagt das: die geschriebene Darlegung kann von vorne-
herein nicht das vollbringen, was die mündliche als ihr ,Urbild' vermag:
ein ,Schreiben' in der ,Seele' oder wirkliche Erkenntnisvermittlung*.
3
Gnomon 35, 1963, 653. Z u Vlastos' Fehldeutung der ,esoterischen' Interpretation vgl.
meinen Beitrag „Dialogform und Esoterik. Zur Deutung des platonischen Dialogs
,Phaidros'", M H 35, 1978, 2 1 - 2 4 und unten 18 f.
4
Daß Piaton mit der Kritik des geschriebenen Xóyoc an eine Diskussion in der
zeitgenössischen Rhetorik (Alkidamas, Isokrates) anknüpft, ist bekannt (das Material
z.B. bei L. Robin, Piaton, Phèdre, texte ét. et trad., Paris 2 1950 ( Ί 9 3 3 ) , CLXIVff.;
P. Friedländer, Platon I, Berlin 3 1964, 117 mit Literatur in Anm.4). Es wird mitunter
12 Phaidros

Die Bezeichnung,Abbild' schließt zweifellos den geschriebenen Dialog


mit ein, kann aber nicht ausschließlich auf ihn bezogen werden, da weder
durch das Wort εϊδωλον festgelegt ist, wie weit die schriftliche Abbildung
in der unvermeidlichen Beschränkung des lebendigen Hin und Her des
Gesprächs gehen darf5, noch durch den Gegenbegriff ,lebendige und
beseelte Rede' ausgeschlossen ist, daß der ,Wissende' sich auch der Form
des Vortrags bedienen kann6.
Was bis hierher vorliegt, ist eine sehr prinzipiell gehaltene Kritik
der Schriftlichkeit, nicht eine Theorie des Dialogs als eines Mittels
philosophischer Mitteilung. Eine solche wird auch im folgenden nicht
gegeben, wohl aber kommt Sokrates mit dem Gleichnis vom Bauern auf
das Schreiben des Philosophen zu sprechen.

3. Phdr. 276 b 1 - 2 7 7 a5

Ein Bauer, der Vernunft hat, wird solchen Samen, an dem ihm gelegen
ist und von dem er Ertrag erwartet, nicht im Ernst in ein Adonisgärtchen
pflanzen, um sich zu freuen, wenn er in acht Tagen schön aufgeht —
dergleichen wird er nur im Spiel tun; vielmehr wird er Samen, mit dem
ihm Ernst ist, nach den Regeln des Landbaus in geeigneten Boden säen

übersehen, daß diese Diskussion Piaton nur einzelne Stichworte lieferte - am


bekanntesten ist die Parallele Phdr. 276 a λ ό γ ο ς ζών και εμψυχοο ~ Alkidamas, Π ε ρ ί
οοφιοτών 28: ϊ μ ψ υ χ ό ο ècxi και ζ ή (von der gesprochenen Rede) - , nicht aber seine
Fragestellung determinierte, geschweige denn seine Antwort vorwegnahm. Robin 1. c.
sprach aus, daß die historischen Parallelen hierfür im Grunde nichts ergeben.
5
Das undialogische 5. Buch der Nomoi ist gewiß ebenso ein ,Abbild' lebendiger
philosophischer Erörterung wie die übrigen Bücher, in denen Piaton die dialogische
Gestaltung ausgeführt hat. Dies würde selbst dann gelten, wenn auch die Zuweisung
an eine Dialogfigur (den ,Athener') und die fiktive kretische Dialogsituation wegfielen:
auch wenn die Lebendigkeit der Abbildung nachläßt oder schließlich gänzlich verloren-
geht, ein ,Abbild' bleibt das Geschriebene doch.
' Im Timaios hält der unteritalische Staatsmann, der als Dialogfigur zweifellos f ü r den
Typ des .Wissenden' steht, einen mehrstündigen Vortrag. Da er vor ausgesuchten
Hörern spricht (vor .geeigneten', vgl. Phdr. 276 e 6 λ α β ώ ν ψ υ χ ή ν προοήκουοαν -
Timaios hat für seinen Vortrag zweifellos das richtige Publikum gewählt), und da er
auf ihre Fragen zweifellos zu antworten wüßte (was im Dialog zwar nicht ausgestaltet,
wohl aber angedeutet ist: 28 c, 53 d weist Timaios auf die Möglichkeit einer
tiefergreifenden Begründung seiner Ausführungen hin), müssen wir seine Rede innerhalb
ihres fiktiven dramatischen Rahmens durchaus als ,lebendige', obschon undialogische
Rede eines Wissenden auffassen, und die schriftliche Fixierung seines Monologs
demnach als ,Abbild' im Sinne des Phaidros. (Es gehört zur Abbildhaftigkeit des
Geschriebenen, daß es die tiefere Begründung, die der Wissende auf Befragung hin
entfalten könnte, nicht mitgibt.) Daß auch im Phaidros selbst die große undialogische
Rede des Sokrates als ,lebendige' Rede des ,Wissenden' zu verstehen ist, wird unten
gezeigt werden.
Die Kritik der Schriftlichkeit 13

und zufrieden sein, wenn er in acht Monaten zur Reife gelangt. Ebenso
wird einer, der das Wissen von den gerechten, schönen und guten Dingen
besitzt, das, was er zu säen hat, nicht mit dem Schreibrohr säend in
Wasser schreiben mit Darlegungen (λόγοι), die sich nicht helfen können
und unfähig sind, die Wahrheit hinreichend zu lehren. Vielmehr wird er
die ,Schriftgärtchen' nur um des Spieles willen säen, und um für sich
und jeden, der dieselbe Spur verfolgt, Erinnerungshilfen anzulegen für
das Alter, und er wird sich freuen, wenn diese Gärtchen hübsch gedeihen
(276 b l - d 8 ) .
Dieses Spiel des schriftstellerisch Spielenden, der über Gerechtigkeit
und dergleichen in Geschichten redet (μυθολογοΰντα), findet die Bewun-
derung des Phaidros (276 e 1 —3). Weit schöner noch, erwidert Sokrates,
ist der Ernst in diesen Dingen, wenn einer unter Anwendung der Kunst
der Dialektik eine geeignete Seele hernimmt und mit wirklicher Einsicht
,Reden' pflanzt, die sich selbst und dem Pflanzer zu helfen imstande sind
und nicht ertraglos bleiben, sondern Samen aufweisen, von dem in
anderen Charakteren andere ,Reden' entstehen, die dem Betreffenden die
einem Menschen mögliche Glückseligkeit verschaffen (276 b 1 — 277 a 5).
Das Gleichnis ordnet mit großer Klarheit die Elemente der ver-
glichenen Bereiche einander zu: auf der Seite des Spiels entspricht dem
Adonisgärtchen die schriftliche Darlegung des Gerechten, Schönen und
Guten, dem Bepflanzen eines Adonisgärtchens das μυθολογεΐν δικαιο-
σύνης τε και των άλλων πέρι. Das schöne Aufgehen der Saat im Gärtchen
steht für die literarisch gelungene Gestaltung des Geschriebenen 7 . Der
ertraglosen Saat entspricht die Unfähigkeit der Schrift — wohlgemerkt
der Schrift des Wissenden über Gerechtigkeit (276 c 8 , e 2 gegen e 7 f.) —
sich selbst zu Hilfe zu kommen 8 . — Auf der Seite des Ernstes entspricht
der Wahl des geeigneten Bodens die Wahl der geeigneten Seele (οπείραο
είο τό προσήκον - λαβών ψυχή ν προοήκουοαν), der ,Kunst' der
Landwirtschaft die ,Kunst' der Dialektik (γεωργική τέχνη - διαλεκ-
7 Natürlich nicht für das Verständnis des Lesers (so ζ. Β. H. Meißner, Der tiefere Logos
Piatons. Eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Widersprüche in Piatons
Werken, Heidelberg 1978, 212 u. ö.; J . Klein, A Commentary on Plato's Meno, Chapel
Hill 1965,21), denn .Verständnis' wäre bereits eine Entsprechung zum ,Ertrag' (καρπός),
den einer, der etwas vom Pflanzen versteht, von Wassertrieben, die in acht Tagen
aufgehen, von vornherein nicht erwarten wird. Das Saatgut, von dem der Bauer Ertrag
will (εγκαρπα βούλοιτο γενέοθαι 276 b 2 ) , kommt nicht in das Adonisgärtchen. Nur
der mündliche ,Ernst' des Philosophen ist οόχί άκαρποο (277 a l ) , mit schriftlichem
,Spiel' ist für Piaton kein philosophischer Ertrag zu erzielen.
8 Dies entzieht den heute beliebten Spekulationen über die wunderbaren Fähigkeiten des
lebendigen' Dialogbuches den Boden; vgl. unten 341, 353 ff.
14 Phaidros

τική τέχνη), dem Ertrag der Saat die Fähigkeit der neu gepflanzten
λόγοι, sich selbst und dem Urheber zu Hilfe zu kommen und in anderen
Seelen gleiche λόγοι zu ,pflanzen'.
,Spiel' ist das Verfassen von Schriften gerade für den Dialektiker (276
c 3 - d 2). Daß auch Rhetoriklehrer ihre epideiktischen Reden als παίγνια
bezeichneten (so etwa Gorgias, Helena 21), interessiert Piaton hier in
keiner Weise9. Hingegen hat er einen Hinweis auf sein eigenes Hauptwerk
eingeflochten: die Worte δικαιοούνηο ... πέρι μυθολογοϋντα (276
e 2 —3) hat W. Luther 10 überzeugend als Anspielung auf die Politela
gedeutet, die sich als ein μυθολογεΐν wertet (376 d, 501 e). Daß es sich
um einen präzisen Verweis handelt, ergibt sich daraus, daß Piaton
hier von der Schrift dessen redet, der im Besitz der Dialektik (der
Wissenschaften vom Gerechten, Schönen und Guten, 276 c3) ist: damit
sind andere Autoren, die gleichfalls ,Geschichten über Gerechtigkeit
und das Übrige' geschrieben haben mögen — etwa Prodikos, der die
Geschichte von der Entscheidung des Herakles für die Tugend und damit
auch für die Gerechtigkeit erzählte — ausgeschieden.
Das Gleichnis kennt keine Tätigkeit, die zugleich Spiel und Ernst
wäre, so wenig es ein Pflanzen gibt, das zugleich im Adonisgärtchen und
auf dem Feld vor sich geht. Spiel und Ernst, ,mythologisierendes'
Schreiben und dialektisches Gespräch sind klar geschieden. So gerne wir
auch um der platonischen Dialoge willen Spiel und Ernst ineinander
verwoben sehen würden - das Gleichnis tut uns nicht den Gefallen,
diese Vorstellung zu bestätigen. Offenbar meint Piaton mit diesen
Begriffen etwas anderes als wir meinen, wenn wir manche seiner Dialoge
als ernst und spielerisch zugleich bezeichnen.
Die Bedeutung von ,Spiel' muß aus dem Verhältnis zum Gegenbegriff
,Ernst' verstanden werden (wie später die Bedeutung von φαϋλα aus dem
Verhältnis zu τιμιώτερα): man braucht nicht zu befürchten, daß der
Inhalt der Schriften des Dialektikers unernst oder gar trügerisch und
irreführend wäre 11 . Die Freude des Schriftstellers an seiner Arbeit hat
für diese Benennung sicher eine Rolle gespielt (vgl. ήοθήοεται 276 d4),
entscheidend ist aber, daß der Lehrende erst im Gespräch von der

' Abwegig ist der Versuch von Th. Ebert, Meinung und Wissen in der Philosophie
Piatons, Berlin 1974, 27, den Begriff παιδιά von den Dialogen fernzuhalten, weil er
auch in der Rhetorik verwendet wurde.
10
W. Luther, Die Schwäche des geschriebenen Logos, Gymnasium 68, 1961, 536 f.
" So neuerdings D. Roloff, Platonische Ironie. Das Beispiel: Theaiteos, Heidelberg 1975,
und Meißner (oben Anm. 7), vgl. unten 18 f., 351 f.
Die Kritik der Schriftlichkeit 15

dialektischen Kunst Gebrauch macht (276 e 5 — so wie die Kunst des


Landbaus erst bei der Feldbestellung zur Anwendung kommt, 276 b6).
(Es mag auch eine Rolle gespielt haben, daß das Schreiben als solitäre
Tätigkeit nicht in gleichem Maße den ganzen Menschen herausfordert
wie der Versuch, die Seele eines anderen Menschen zu gewinnen; doch
spricht Piaton hier nicht von dieser existentiellen' Herausforderung für
den Lehrenden).
Auch bei diesem Abschnitt ist es, wie beim vorhergehenden (oben
S. 11), nicht überflüssig festzuhalten, daß die Fähigkeit zum β ο η θ ε ΐ ν
(277 a 1) noch nicht aus dem Bereich der mündlichen οπουδή heraustritt.
Daß sie auch für die schriftliche παιδιά Bedeutung haben kann, ist für
die Fähigkeit als solche sekundär.
O b im Gleichnis mit zweierlei Samen — oder, auf die Philosophie
bezogen: mit einem inhaltlichen Unterschied zwischen schriftlichen und
mündlichen λόγοι — zu rechnen ist, bleibt unklar: der Wortlaut legt
dies zwar nahe (ών α ι ε ρ μ ά τ ω ν κ ή δ ο ι τ ο ... 276 b 2 , έφ ole δέ (sc.
οπέρμααν) έοπούδακεν b6) 1 2 , andererseits geht es im Ernst wie im
Spiel um das Gerechte Schöne Gute 13 . Klar ist hingegen wiederum, daß
der Pflanzer im einen Fall keinen Ertrag will und auch keinen erhält, im
anderen Fall das Pflanzen auf Ertrag anlegt und damit auch Erfolg hat.
Da der ,Ertrag' mit dem ,Helfen' in Beziehung gebracht ist (277 a l ) ,
wird erst die Deutung dieses Begriffs die Frage entscheiden, ob oder
in welchem Sinne ein inhaltlicher Unterschied zwischen schriftlicher
Darlegung und mündlichem Gespräch besteht 14 .
Die Idee der δ ι δ α χ ή bestimmte seit der Geschichte von Theuth die

12
Die Ergänzung von ο π έ ρ μ α α ν ζ. Β. auch bei G. J. de Vries (A commentary on the
Phaedrus of Plato, Amsterdam 1969, 253) und bei F. Schleiermacher (Platon, Sämtliche
Werke, Berlin [ 1 1818] 3 1855) und Robin (I.e. oben Anm.4) in ihren Übersetzungen.
Meißner 74 versucht vergeblich, die Beziehung von έφ ole δέ έοπούδακεν auf
οπέρματα b 2 zu vermeiden. Sein Ubersetzungsvorschlag („bei dem hingegen, was er
ernsthaft betreibt") verkennt die Struktur des Satzes.
13
Meißner 73 Anm. 1 glaubt die Frage durch Hinweis auf Schol. Theocr. 15. 113
entscheiden zu können: dort heißt es, d a ß man in Adonisgärtchen Weizen und Gerste
säte - also dasselbe Saatgut, das man im Ackerbau verwendet. Aber selbstverständlich
k o m m t es nicht darauf an, was Theokrits Frauen am Adonisfest „wirklich" machten,
sondern allein darauf, welche Züge der „Wirklichkeit" Piaton in seinem Gleichnis
benützt und gedeutet — oder vielleicht auch umgedeutet hat. O b eine Umdeutung um
des Gemeinten willen vorliegt, muß der sorgfältig formulierte Piatontext entscheiden,
nicht ein entlegenes hellenistisches Scholion.
14
Eine Vorentscheidung hat Piaton freilich bereits gegeben: wer sich mündlich zu ,helfen'
weiß, wird im Gegensatz zur Schrift nicht nur dasselbe wiederholen, s. oben 10 f. (mit
Anm. 3) zu 275 d 9 , 276 a 6.
16 Phaidros

Schriftkritik und war im zweiten Abschnitt näher expliziert worden


durch den Hinweis auf den ,Lernenden', in dessen Seele der ,Wissende'
seine lebendige Rede ,schreibt' (276 a 5 —9); sie wird nun weiter verdeut-
licht in den Worten λαβών ψυχήν προσήκουσαν (276 e 6): der Wissende
nimmt sich einen Lernenden vor, dessen Seele er für ,(der Sache)
nahestehend, zugehörig', kurz für ,geeignet' hält. Ein Buch hingegen
kann sich den geeigneten Leser nicht auswählen, sondern wird seinerseits
von Geeigneten und Ungeeigneten ergriffen. Die ,Kunst der Dialektik'
kommt erst zur Entfaltung im Gespräch mit dem geeigneten Partner —
so wie der Bauer die,Kunst der Landwirtschaft' erst auf einem geeigneten'
Stück Land entfalten kann (276 b 6 —7, τό προσήκον b7).

4. Phdr. 277 a 6 - 2 7 8 e 4

Sokrates geht nun weiter zu einer Zusammenfassung der Ergebnisse


der ganzen zweiten Hälfte des Dialogs. Die Bedingungen der kunstgerech-
ten Behandlung von λόγοι sind das Erfassen des Wesens der behandelten
Dinge im dihairetisch-definitorischen Verfahren, ebenso der Natur der
Seele, sowie die Fähigkeit, jede Seele ihrer Natur gemäß mit einer
ihr entsprechenden Art von λόγοι anzusprechen. Die Bedingung der
Schicklichkeit des Gebrauchs von λόγοι ist, daß der, der eine Schrift
(σύγγραμμα 277 d7) verfaßt, erkennt, daß damit eine nennenswerte
Verläßlichkeit und Klarheit nicht zu erreichen ist; er muß wissen, daß
jede geschriebene Darlegung notwendig ,viel Spielerei' mit sich bringt
und daß kein λόγοο großen Ernstes wert ist, weder ein schriftlicher in
metrischer Sprache oder in Prosa, noch ein mündlicher, wenn er keine
Fragen zuläßt und nicht Belehrung, sondern Überredung zum Ziel
hat. Deutlich, vollkommen und des Ernstes wert ist allein diejenige
gesprochene ,Rede' über Gerechtes, Schönes und Gutes, die der ,Lehre'
und dem ,Lernen' dient und wahrhaft in die Seele geschrieben wird. Die
Zusammenfassung gipfelt in einer Botschaft an alle, die schreiben: den
Namen φιλόσοφοο — der nicht auf die Schriften eines Autors weist,
sondern auf das, womit ihm Ernst ist — verdient nur ein Verfasser, der
das, was er schrieb, in Kenntnis der Wahrheit über seine Gegenstände
schrieb und im Besitz der Fähigkeit, seinen Werken zu ,helfen', d. h. auf
eine fragende Überprüfung (einen ελεγχοο) einzugehen und dabei
in mündlicher Darlegung (λέγων αύτόο) sein Geschriebenes als von
geringerem Wert zu erweisen. Ein Verfasser hingegen, der nichts von
höherem Wert besitzt als das, was er hin und her wendend, leimend und
Die Kritik der Schriftlichkeit 17

streichend schrieb, verdient nur Namen wie ,Dichter', Reden- oder


Gesetzesschreiber.
Nicht unerwartet mündet die Kritik der Schriftlichkeit in eine
Bestimmung des φιλόοοφοα Er ist der mündlich Philosophierende. Dieses
Bild des Philosophen stand schon hinter der διδαχή der Theuth-
Geschichte — er ist derjenige, der den Mangel der Schrift, die άνευ
διδαχήο Erkenntnis vermitteln will, auszugleichen vermag; der φιλόοο-
(poc zeigte sich dann als ,Wissender', der ,von der Kunst der Dialektik
Gebrauch macht' im Gespräch mit dem als geeignet befundenen l e r n e n -
den' und so ,in seine Seele schreibt'; er ist der, der die Fähigkeit, seiner
Darlegung zu Hilfe zu kommen, zunächst als mündlich Philosophierender
besitzt (oben S. 11 u. 15) und sie anderen vermittelt und, wie wir jetzt
erfahren, auch gegenüber seinen eigenen Schriften souverän ausübt, so
daß diese im Vergleich zu seinem Wort sich als minderwertig erweisen.
Wenn das, womit dem φιλόοοφοο Ernst ist, φιλοοοφία heißen soll, so
ist ,Philosophie' für Piaton das mündliche Gespräch, das der ,Wissende'
zur ,Belehrung' eines ausgesuchten ,Lernenden' führt. Von allen λόγοι
hat daher allein der διδαοκόμενοο και μαθήοεακ χάριν λεγόμενοο
(278 a 2) wirklichen Wert. Diese Art von Xóyoc blieb allein übrig aus
einer umfassenden Einteilung aller λόγοι: die geschriebenen, ob metrisch
oder unmetrisch, sind insgesamt großen Ernstes nicht wert. Da es nichts
Geschriebenes gibt, das weder metrisch noch unmetrisch wäre 15 , ist die
Frage müßig, ob die eigenen Dialoge Piatons etwa von diesem Urteil
ausgenommen seien 16 . Von den gesprochenen λόγοι sind die ohne die

" Bei Lukian, Aie κατηγορούμενος 33 beklagt sich der Dialogos, er sei neuerdings von
Lukian so zugerichtet worden, daß er nunmehr οϋτε πεζός είμι οϋτ έπί των μέτρων
βέβηκα. J. Laborderie (Le dialogue platonicien de la maturité, Paris 1978) 53f. ignoriert
den Zusammenhang, übersieht vor allem die deutlich antiplatonische Tendenz der
Neuerungen des ,Syrers' und zitiert die Stelle so, als sei hier etwas Positives vom
platonischen Dialog ausgesagt. - Auch der Umstand, daß nach Aristoteles fr. 73
Rose = Diog. Laert. 3.37 die Gestaltungsart Piatons zwischen Dichtung und πεζός
λόγοο steht, ändert nichts daran, daß in Phdr. 277 e 6 - 7 die Worte ούδένα πώποτε
λόγον έν μέτρφ oòS άνευ μέτρου eine logisch vollständige Disjunktion meinen, der
nichts entgeht (A und Non-Α, tertium non datur). Im übrigen würde Aristoteles'
Annäherung des platonischen Werkes an die Dichtung noch keine Rettung vor der
Schriftkritik des Phaidros bedeuten, die ja die Dichtung deutlich mit einschließt. (Ferner
wäre zu fragen, ob nicht πεζός λόγος als Gegenbegriff zu ποίημα ein Mißverständnis
des Diogenes Laertios oder seiner Quelle darstellt. Da Aristoteles Dichtung bekanntlich
nicht mit metrischer Rede gleichsetzt (Poet. 1447 a 28 - b 20), wird auch sein Gegenbegriff
dazu nicht ,Prosaschrift' gewesen sein: er sah die Dialoge wohl als Brücke zwischen
philosophischer Fachschrift und dichterischer Mimesis; ςυγγράμματα waren sie für ihn
wohl in jedem Fall - zu diesem Wort s. unten 35 f. und Anhang II.)
14 Laborderie 113 glaubt, Piaton verurteile nur Texte άνευ άνακρίςεως, weswegen die
18 Phaidros

Möglichkeit zur Befragung (ανευ άνακρίοεωο 17 ) gehaltenen und auf


bloße Überredung zielenden auszuscheiden; es bleiben diejenigen mündli-
chen, die auf ,Belehrung' und ,Lernen' zielen.
Der ελεγχοε, in dem sich die Überlegenheit des Philosophen zeigt,
ist die kritische Befragung seiner Schrift durch andere, sei es Gegner oder
Freunde, nicht aber eine ,Widerlegung' der Schrift durch den Verfasser
selbst: die Situation, in der sich die Fähigkeit zum βοηθεΐν zeigen muß,
setzte von Anfang an (275 d 8 ) das Gegenüber einer Schrift und eines
kritischen Lesers voraus — hier nun tritt der Autor an die Stelle seiner
Schrift 18 . Daß das Geschriebene sich durch die ,Hilfe' des Autors als
φαυλον erweist, heißt nicht, daß es für falsch erklärt wird 1 9 , auch nicht,

Dialoge nicht gemeint sein könnten. In Wirklichkeit ist δνευ άνακρίοεωο eine
Bestimmung der abzulehnenden mündlichen Darlegungen: die schriftlichen sind zuvor
schon wegen ihrer Schriftlichkeit ausgeschieden. Zudem wäre die im Dialog .abgebildete'
àvcocpicic kein Ersatz für die Befragung des Dialogs durch den Leser, bei der der Autor
selbst nicht zugegen ist. Auch δνευ διδαχής ist von der abgelehnten Art der mündlichen
Rede gesagt: daß die Schrift grundsätzlich zur διδαχή im Sinne Piatons nicht fähig ist,
wissen wir schon seit der Theuth-Geschichte. Trotzdem will man immer wieder die
Dialoge wegen ihres erzieherischen Wertes vom negativen Urteil über die Schrift
ausnehmen (z.B. Guthrie IV 63, Laborderie 113, Meißner 214 und passim). Selbstver-
ständlich haben Piatons Werke einen hohen pädagogischen Wert — wer möchte das
bestreiten —, nur muß man sehen, daß Piatons Begriff der διδαχή nicht pädagogisches
Wirken durch Schriften' meint.
17 Daß die άνάκριοιο in die Darstellung hineinverflochten sein muß, ist damit nicht gesagt.
Piatons Bedingung der Befragbarkeit ist auch dann erfüllt, wenn der Hörer nach einem
fortlaufenden Vortrag die Möglichkeit hat, den Sprecher zur Rede zu stellen (wie
Phaidros die Möglichkeit hat, Sokrates' Rede über Seele und Eros zu befragen; zum
Monolog des Timaios s. oben Anm. 6). Was Piaton ausschließen will, sind die die Seele
des Hörers ,zwingen' wollenden Redetypen, die von vorneherein nicht auf Befragung
angelegt sind. Daß z . B . Protagoras' Rede (Prot. 320 c —328 d) kein philosophischer
Wert zukommt, liegt nicht daran, daß die άνάκριοιο erst anschließend erfolgt - das
gilt auch für Sokrates' Rede 342 a —347 a —, sondern daran, daß Protagoras kein
,Wissender' ist, d. h. nicht im Besitz der platonischen Dialektik. Er kann sich denn
auch gegen Sokrates' Befragung nicht ,helfen', s. u. 168 f.
18 Meißner 1 1 0 - 1 1 2 faßt den 6λεγχοο als ,Widerlegung' einer vordergründigen' Dia-
logschicht durch eine ,tiefere'; hierbei ist nicht nur 275 d 8 übersehen (s. oben), sondern
auch der Gegensatz von λέγων und γεγραμμένα vergessen (oder vielmehr umgedeutet:
λέγων αύτόο 278 c 6 heiße „formulierend selbst" — als ob die .vordergründige' Schicht
nicht auch vom Verfasser selbst formuliert wäre).
" „Als unrichtig nachweisen" war J . Stenzeis Wiedergabe von φαΰλα άποδεΐξαι (Literari-
sche Form und philosophischer Gehalt des platonischen Dialogs [1916], in: Kleine
Schriften zur griechischen Philosophie, Darmstadt 1956, 45). Neuerdings identifiziert
Meißner 112 das φαύλα unserer Stelle grundlos und sinnwidrig mit den ψεύδη von
Krat. 408 c. - G. Vlastos (Gnomon 35, 1963, 653) unterstellte auch der Interpretation
von H. J . Krämer, daß sie den Inhalt der Dialoge für ,false' erkläre, wofür er freilich
keinen Beleg aus Krämers Buch (Arete bei Piaton und Aristoteles, Heidelberg 1959)
beibringen konnte. Es ist wohl vor allem dieses Mißverständnis, das die weitverbreiteten
Die Kritik der Schriftlichkeit 19

daß es ,schlecht' oder von geringem Wert ist; aus dem Komparativ
τιμιώτερα ist ein relativer Sinn auch für φαΰλον zu entnehmen: nur im
Vergleich mit dem, was beim ,Helfen' zu Tage tritt, erweisen sich die
Schriften des Philosophen als von geringerem Rang.

b) Die aus der Schriftkritik resultierenden Aufgaben der


Piatoninterpretation

Was sind das aber für τιμιώτερα, die das Geschriebene so weit hinter
sich lassen? Man hat darunter die Tätigkeit des Dialogführens, das
lebendige Gespräch verstehen wollen, das als persönliche Begegnung für
Piaton von höherem Wert gewesen sei als der geschriebene Dialog, auch
wenn die verhandelten Inhalte sich nicht unterschieden. Diese Deutung
wäre einleuchtend, wenn Piaton den Nichtphilosophen charakterisierte
als τον μή έχοντα τιμιώτερόν τι του ουντιθέναι ή γράφειν. Nach dem
überlieferten Text nennt er ihn jedoch τόν μή έχοντα τιμιώτερα ών
ουνέθηκεν ή εγραψεν (278 d 8), was entschieden auf einen inhaltlichen
Wertvergleich zwischen schriftlicher Darlegung und mündlicher Hilfe

irrationalen Ängste wegen einer „Abwertung" der Dialoge durch die esoterische
Piatonauslegung schürt. Krämers Richtigstellung (Retraktationen zum Problem des
esoterischen Piaton, M H 21, 1964, 153 mit Anm. 39; Die grundsätzlichen Fragen der
indirekten Platonüberlieferung, in: H . G. Gadamer u. W. Schadewaldt (Hrsg.), Idee
und Zahl. Studien zur platonischen Philosophie, Heidelberg 1968, 136, 150) wird von
den Gegnern so weit ich sehe einfach nicht zur Kenntnis genommen (insbesondere geht
Vlastos' Antwort auf Krämer, in: Platonic Studies, Princeton 1973,399 - 403 mit keinem
W o r t darauf ein). — Im übrigen ist es schwer verständlich, wie es zur Mißdeutung von
φαβλα kommen konnte; das Wort heißt ja im Griechischen fast nie so viel wie .falsch,
verkehrt' (es sei denn ,verkehrt' im moralischen Sinn), vielmehr ist die übliche Bedeutung
.schlecht' mit der Bedeutungsnuance ,schlicht, einfach, unbedeutend, geringfügig'. Die
Verwendung des Wortes bei Euripides kann den attischen Sprachgebrauch verdeutlichen:
El. 760 οδτοι βαοιλέα φαΰλον κ τ α ν ε ϊ ν („keine Kleinigkeit"); ΙΑ 734 cü δέ φαΰλ' ή γ ή
τάδε („hältst es für gering"), 850 άμελίςι 5òc αυτά και φαύλωο φέρε („nimm's leicht");
aufschlußreich auch fr. 473. 1 Ν 2 , w o φαΰλοο und ά κ ο μ ψ ο ς als Synonyma gebraucht
sind: dem entspricht der häufige Gegensatz φαΰλοο — cocpóc (Andr. 379, Ba. 430, Ion
834, Phoin. 496, vgl. auch fr. 635 u. 641 N 2 ). Vergleichbar bei Piaton etwa Hi. min.
369 d 3/6 co<póc - φαϋλοε, oder Hi. mai. 286 e 8 φ α ΰ λ ο ν και ί δ ι ω τ ι κ ό ν (als Hendiadyoin
für .laienhaft'). So dürfte dieser Gegensatz auch in Piatons Formulierung τά γ ε γ ρ α μ μ έ ν α
φ α ΰ λ α άποδεϊξαι mitzuhören sein: die φαύλα sind im Vergleich mit den τιμιώτερα
.unfachmännisch, untechnisch, unkompliziert' (vgl. unten 46 Anm. 46); d a ß sie gleich-
wohl .richtig' sind, sagt Platon Politela 449 c (s. unten 285 f.). Den platonischen
Sprachgebauch beobachtete übrigens schon Diogenes Laertios: ó γ ο ΰ ν ,φαΰλοο' λέγεται
παρ' α ύ τ φ καί έπί τοΰ ά π λ ο ΰ (3.63). Z u Hi. min. 372 b s. unten 82 Anm. 8.
20 Phaidros

weist 20 . N u n bemißt sich der Wert des Schriftlichen nach der Einsicht in
die Wahrheit, die in es eingegangen ist. Sollte der φιλόοοφοο in seinen
τ ι μ ι ό τ ε ρ α über eine tiefere und umfassendere Einsicht in die Wahrheit
verfügen?
Die τ ι μ ι ό τ ε ρ α , die die Dialoge Piatons — wenn er denn selbst der
φιλόοοφοο ist — als geringer erweisen würden, können ihrer Definition
gemäß nicht selbst in den Dialogen enthalten sein. Wie können wir etwas
über sie erfahren? Die τ ι μ ι ό τ ε ρ α sind das, was durch die ,Hilfe', zu der
allein der φιλόοοφοο die Fähigkeit hat, zum Vorschein gebracht wird.
Da die Hilfe als mündliche Hilfe definiert ist, scheint sie sich dem Zugriff
ebenso zu entziehen wie die τ ι μ ι ό τ ε ρ α selbst. Und doch sahen wir, daß
die Deutung des ganzen Schlußteils des Phaidros sich seit 275 e auf die
Auslegung dieses einen Begriffs β ο η θ ε ΐ ν zuspitzt. Bleibt gerade er
unfaßbar?
Hier ist es gut, sich daran zu erinnern, daß der geschriebene λόγοο
nach den Worten Piatons ein Abbild der lebendigen Rede des Wissenden
ist, und daß die Dialoge ein Bild des wahren Philosophen bereithalten:
Sokrates ist der mündlich Philosophierende, dessen δ ι δ α χ ή auf die
ευδαιμονία (277 a 3) der ,Lernenden' zielt 21 .
Die Deutung der Schriftkritik des Phaidros kann also erst dann zum
Ziel kommen, wenn wir die Dialoge selbst befragt haben, ob sie,Abbilder'
des Vorgangs der philosophischen ,Hilfe' geben. Die entscheidende Frage
muß lauten: was versteht Piaton außerhalb des Schlußteils des Phaidros
unter der ,Hilfe', die sich nur der Philosoph zu bringen vermag?
Aber wie soll es zugehen, daß wir aus dem Bild des mündlich
Philosophierenden, der nie etwas geschrieben hat, Aufschluß gewinnen
über das Verhältnis des φιλόοοφοο zu seiner Schrift? Hier zeigt sich die
methodische Bedeutung der Beobachtung 22 , daß Piaton die Fähigkeit,
dem λόγοο zu Hilfe zu kommen, primär als Eigenschaft des mündlich
Philosophierenden einführt, noch bevor er auf die Möglichkeit eingeht,

20
Für Vlastos (Gnomon 35, 1963, 654) meint τιμιώτερα die .activity' des Diskutierens;
ähnlich Guthrie IV 64. Nach dieser Deutung würde Piaton eine Tätigkeit, das
Gesprächführen, mit dem Ergebnis einer anderen Tätigkeit (dem Buch als Produkt des
Schreibens) vergleichen, so als wollte man sagen: die Tätigkeit des Singens ist von
höherem Wert als Lieder (die das Ergebnis der Tätigkeit des Komponierens sind). So
abwegig dachte Piaton doch wohl nicht.
21
Daß Sokrates nur in den Frühdialogen der fragende Nichtwisser ist und spätestens ab
Menon und Gorgias auch positive Überzeugungen zu vertreten weiß, ist allen bekannt
- und wird nur allzu willig immer wieder vergessen.
22
Siehe oben S. 11, 15 und 17.
Die Kritik der Schriftlichkeit 21

daß auch der Wissende' ein Buch schreiben könnte. Zwar ist es eben
diese Fähigkeit - nicht etwa eine andere 23 - , die es dem Philosophen
ermöglicht, seine Überlegenheit gegenüber bloßen Schreibern und Dich-
tern anhand seines grundsätzlich anderen Vehältnisses zu seinem Werk
zu beweisen - aber es ist nicht wesentlich für sie als Fähigkeit, daß sie
auf Geschriebenes angewandt wird: sie zeichnet den ,Wissenden' aus, ob
er sich am Spiel mit den literarischen ,Gärtchen' beteiligt oder nicht. Da
es sich um dieselbe philosophische Grundfähigkeit handelt, wenn der
(ptÀócotpoc einer mündlichen oder einer schriftlichen Darlegung hilft,
werden auch dieselben gedanklichen Strukturen zu Tage treten müssen,
dasselbe Verhältnis zwischen dem λόγοο, der der Hilfe bedarf, und
demjenigen, der sie bringt.
Die Figur des mündlich philosophierenden Sokrates wäre demnach
durchaus geeignet, Aufschluß über den Sinn der Fähigkeit zu philoso-
phischer Hilfe zu geben. Die soeben gestellte Frage wird sich daher —
solange wir gewillt sind, unsere Auslegung des Phaidros an Piaton selbst
zu orientieren 24 - in folgender Weise präzisieren müssen: enthalten die
Dialoge als .Abbilder' der lebendigen' Rede des Sokrates Situationen, in
denen er seine Fähigkeit, sich und seinem Logos zu helfen, unter Beweis
stellt?
Es wird sich zeigen, daß die Dialoge solche Situationen in Fülle
bieten, ja daß die βοήθεια-Situation als dramatisches Grundmuster der
Dialoge gehandhabt wird. Hieraus ergibt sich als die erste wesentliche
Aufgabe, die gedankliche Struktur dieser Fälle von ,Hilfe' und den mit
ihnen implizit gegebenen Begriff der philosophischen τιμιότερα zu
analysieren und für das Verständnis des platonischen Grundtextes über
Schriftlichkeit und Mündlichkeit, und damit für das Verständnis des
platonischen Philosophierens überhaupt, fruchtbar zu machen.
Die dramatisch gestalteten ,Abbilder',, in denen uns Piaton die
βοήθεια-Struktur vorführt, sind freilich selbst insgesamt λόγοι γεγραμ-
μένοι und bedürfen somit einer ,Hilfe', die nicht in ihnen selbst enthalten
sein kann. Hiermit kehren wir zu der Feststellung zurück, von der die
Suche nach einem Weg, den Sinn des βοηθεΐν und der τιμιώτερα des

" Z u dem von de Vries erhobenen Postulat zweier verschiedener Fähigkeiten der ,Hilfe'
(G. J . de Vries, Helping the Writings, Μ Η 3 6 , 1979, 6 0 - 6 2 ) s. unten 6 7 f.
" An dieser Forderung entscheidet sich, o b eine Interpretation philologischen Ansprüchen
genügt oder nicht. Für den Rekurs auf G. Vlastos' vorgefaßte Ansichten über die
Bedeutung von β ο η θ ε ΐ ν statt auf die Dialoge selbst entscheidet sich wieder de Vries
[oben A n m . 2 3 ] (vgl. meine Entgegnung , W h a t O n e Should K n o w When Reading
„Helping the Writings". A Reply t o G . J . de Vries', M H 36, 1979, 1 6 4 - 1 6 5 ) .
22 Phaidros

Philosophen zu bestimmen, ausgegangen ist (oben S. 19 f.). Nur daß wir


jetzt darin über die anfängliche Feststellung hinausgekommen sind, daß
wir wissen, daß die Dialoge durch ihre eigene βοήθεια-Struktur eine
modellhafte Vorwegnahme der Hilfe enthalten, die sie selbst benötigen.
Piatons ,Hilfe' für sein Geschriebenes fehlt uns - muß uns fehlen - :
die Verfahren und Strukturen, in denen sich diese Hilfe vollziehen müßte
(und wohl auch in der Akademie vollzog), können uns die Dialoge
analogisch vorführen.
Doch es bleibt nicht bei der modellhaften Vorwegnahme der Verfah-
rensweise. Denn das, was nicht in die Schrift eingeht, kann gleichwohl
inhaltlich kenntlich gemacht werden durch eine umrißhafte Beschreibung,
durch Hinweise auf seine Natur und Bedeutung. Die zweite Frage an die
Dialoge muß daher lauten: geben sie zu erkennen, ob und worin sie einer
Ergänzung und Vertiefung (nach Analogie der von Sokrates vorgeführten
Fälle von ergänzender und vertiefender βοήθεια) fähig und bedürftig
sind?
Auch hier wird sich zeigen, daß die Dialoge voll sind von Aussagen,
die die Notwendigkeit weiterer Begründung und Abstützung ihrer eigenen
Ergebnisse klar aussprechen. Als zweite Aufgabe ergibt sich also, hierher
gehörige Dialogstellen auszugrenzen, ihre Typik zu beschreiben, ihre
dramatische Funktion zu erfassen und ihre bisweilen durchaus nicht
rätselhaften Hinweise auf den Inhalt des im Dialog Fehlenden auszuwer-
ten.
Man wird sich vielleicht verwundert fragen, aus welchen Gründen
die Piatonforschung diesen zwei Aufgaben, die sich doch mit direkter
Konsequenz aus der Lektüre des Schlußteils des Phaidros ergeben und
somit den Kern aller aufs Prinzipielle zielenden Prolegomena zu Piaton
ausmachen müssen, aus dem Weg zu gehen verstand. Zum entscheidenden
Hindernis für eine adäquate Deutung von Piatons Wertung von schrift-
licher und mündlicher Philosophie wurde, wie schon angedeutet, die von
Friedrich Schleiermacher inaugurierte Theorie der Dialogform, die sich
freilich schon in ihrem Ursprung gerade als Auslegung des Schlußteils
des Phaidros verstand und bis heute weitgehend so versteht. Sie empfahl
sich zum einen durch subtile, oft treffende Einzelbeobachtungen zur
Bedeutung der dialogischen Form für den Inhalt der Dialoge, zum andern
aber durch ihre antiesoterische Tendenz. Beides zusammen sorgte für
den Schein einer reflektierten Weise, sich mit Piaton zu befassen.
Über der Subtilität der Einzelbeobachtungen im Rahmen dieser
Theorie vergaß man die Naivität ihrer Grundannahmen über die schrift-
Die Kritik der Schriftlichkeit 23

stellerischen Zielsetzungen Piatons, die sie ungeprüft modernen Überzeu-


gungen anpaßte, und über die Wirkungsweise des Dialogs als Werkzeugs
lebendiger Erkenntnisvermittlung, von der sie ein verschwommenes und
weitgehend irrationales Bild zeichnete.
Die Aufdeckung und Korrektur der einseitigen Vorentscheidungen
der Dialogformtheorie soll indes nicht in den Mittelpunkt dieser Untersu-
chung gestellt werden 25 : der Befund der platonischen Texte muß für sich
sprechen.
Der erste Schritt zur Befragung des platonischen Werks unter den
vom Phaidros vorgegebenen Gesichtspunkten muß bei eben diesem
Dialog selbst getan werden: bestätigt der Phaidros als Ganzes unsere
vorläufige Deutung des Schlußteils, gibt er Antwort auf die von dort her
zu stellenden Fragen?

25
Einzelnes wurde in der Einleitung (5 f.) sowie in den Erläuterungen zum Schlußteil des
Phaidros (17ff.) angemerkt. Für Leser, die die explizite Auseinandersetzung für
wünschenswert halten, ist in Anhang 1 eine ausführliche Kritik der modernen Dialogtheorie
beigefügt.
Kapitel 2

Phaidros:
Der Gang des Dialogs

1 ) Die Handlung des Dialogs

Zunächst gilt es, den Dialog als Drama zu verstehen, und das heißt:
nach seiner Handlung zu fragen. Das Ziel der Handlung ist klar benannt
an einem Wendepunkt des Dialogs, in dem Gebet an Eros am Ende des
ersten Teils (257 b): der junge Phaidros soll für das philosophische Leben
gewonnen werden. Das Gebet an Pan am Ende des zweiten Teils (279
bc) zeigt, daß das Ziel der Handlung erreicht wurde: indem Phaidros
sich dem Gebet des Sokrates anschließt, macht er sich dessen Streben
nach innerer Schönheit, also die Unterordnung seiner Lebensziele unter
die Philosophie, zu eigen. (Ob Phaidros auf diesem Weg bleiben wird,
kann nicht Thema des Dialogs sein, der einen Zeitraum von wenigen
Stunden umspannt; aber die in einem solchen Zeitraum mögliche
Handlung kommt zu ihrem Ziel.)
Soweit haben wir nur die Grundzüge der Handlung. Um ihre
Bedeutung zu erfassen, müssen wir präziser1 fragen: was für ein Mensch
soll hier von welchem anderen für was für eine Sache gewonnen werden?
Phaidros ist der Typ des Literaten: die Beurteilung literarischer
Produkte ist für ihn das Höchste im Leben, der eigentliche Lebenszweck
(258 e 1 — 2). Zwar kann er auch selbst hervortreten (242 b2) 2 , vor allem
aber liebt er es, anderen literarisch geformte ,Reden' zu entlocken (242
a 8 —b5, 243 d8 — e2) und neigt dazu, sich rezeptiv zu verhalten: er
schließt sich als Bewunderer dem Lysias an, den er für den fähigsten
modernen Autor hält (228 a l — 2 ) ; er hört dessen Lesung einer neuen

1 Die Feststellung, daß „auch hier wieder der Kampf ... um die Seele der Jugend geht"
(Friedländer, Piaton III [ 3 1976] 201), nützt in ihrer Allgemeinheit noch nichts für die
Klärung der im Schlußteil aufgeworfenen Fragen.
2 Vgl. Phaidros' Rede auf den Eros, Symp. 178 a - 1 8 0 b.
Der Gang des Dialogs 25

Rede, veranlaßt ihn sogar zu mehrfachem Lesen, liest dann die Rede
selbst nach und lernt sie auswendig. Das auswendig gelernte Meisterwerk
will er dann dem Sokrates vortragen, doch als dieser darauf nicht eingeht,
begnügt er sich mit dem Vorlesen (228 a b , d, 230 e). Denn Phaidros
trägt die Rolle mit dem Wortlaut bei sich (228 d); seine Begeisterung für
die literarische Autorität Lysias läßt ihn den Text sehr ernst nehmen:
Phaidros ist buchgläubig. Und wie er an den jetzt modernen Mann
glaubt, so auch an die jetzt gängige Bildung: er ist an rationaler
Mythenerklärung interessiert (229 c), kennt die zeitgenössische Redekunst
und ihre Theorie, beruft sich auf die Bücher, die sie enthalten (266 d),
wagt aber nicht, die Redekunst anders zu denken als sie gemeinhin
definiert wird: sie richtet sich für ihn auf Gerichts- und Volksreden (261
b), nicht auf das menschliche Sprechen überhaupt, besteht in einer
formalen Schulung (266 d ff.) und hat es nicht mit der Wahrheit zu tun,
sondern nur mit dem Wahrscheinlichen (259 e - 2 6 0 a, vgl. 273 a).
Was Sokrates mit diesem aufgeregten jungen Literaten zu tun haben
soll, wäre schwer zu sehen - wäre nicht gerade seine Aufgeregtheit und
Begeisterungsfähigkeit der geeignete Ansatzpunkt für den Fachmann der
Erotik (257 a 7): sie will Sokrates auf ein besseres Objekt ausrichten.
Hierfür gibt er zunächst ironisch vor, an der gleichen Art von Reden
interessiert zu sein wie Phaidros und Lysias (227 b 9 —11, 228 b 6 , 236
e). Und in der Tat kennt er all das, wovon Phaidros begeistert ist, nicht
weniger gründlich (Mythenerklärung 229 c d, erotische Dichtung 235 b c,
Rhetorik 266 dff.). Trotzdem glaubt man ihm nicht die Versicherung,
er werde auf solche literarische Bewirtung nimmermehr verzichten
können (236 e). Denn nirgends versucht er, seine Geringschätzung für
Lysias und das ganze Bildungsniveau, für das dieser Name steht, zu
verbergen. Dadurch wird er nicht nur zum dramatischen Gegenpol des
jungen Phaidros, sondern ebenso auch zum geistigen Gegenbild von
dessen Idol Lysias.
Zwar bekommt Phaidros auch von Sokrates Reden zu hören, doch
nicht mühsam ausgefeilte Kunstprosa, wie bei Lysias (228 a l ) , sondern
lebendige Stegreifreden (so will es jedenfalls die dramatische Fiktion
Piatons, der wir zunächst folgen müssen). Vor allem aber bekommt
Phaidros von Sokrates kein Buch mit, das er zu Hause auswendig lernen
könnte: statt dessen wird er schon im Verlauf des Dialogs mehrfach
darauf gelenkt, seine Buchbildung zu vergessen und den Blick auf
Wichtigeres zu lenken (so 229 cff. anläßlich der Mythenexegese; 259 e,
261 b anläßlich der Bestimmung der Kunst der Rede), bevor ihm
26 Phaidros

schließlich im Schlußteil die Wertlosigkeit des Buches generell erläutert


wird. Das Wichtigere ist die Frage, wie es sich mit den Sachen wirklich
verhält (270 c, 275 c), die philosophische Frage nach der Wahrheit (sie
beherrscht ab 259 e den Dialog und war schon vorangedeutet 234 e 6,
237 c l - 3 , 242 e - 2 4 3 a, 244 a, 246 a 4 - 6 ) .
Entscheidend wichtig ist, daß die Art von Bildung, die Phaidros hinter
sich lassen soll, im Dialog als Buch gegenwärtig ist, während die
philosophische Bildung, für die er gewonnen werden soll, sich in der
Form des persönlichen Gesprächs darstellt. Dieser Unterschied hat
zweifellos symbolische Bedeutung für die Aussage des Dialogs als Ganzen.
Die Handlung des Dialogs besteht demnach, genauer erfaßt, darin,
daß der autoritäts- und bildungsgläubige Phaidros von der Buchbildung
weg und hin zum eigenständigen Denken geführt werden soll. Diese
Befreiung vom Buch kann aber nicht wieder durch ein Buch vollbracht
werden, sondern allein durch das persönliche Gespräch 3 . Indem Phaidros
für die Philosophie gewonnen wird, wird er zugleich in betonter Weise
für das mündliche Philosophieren im Gespräch gewonnen 4 .
Er wird schon vor dem Schlußteil, durch den Gang der Handlung
selbst, aufgefordert, philosophischen Ernst von Geschriebenem gar nicht
erst zu erwarten — so wenig wie der vernünftige Bauer auf Ertrag aus
dem Adonisgärtchen hoffen wird. Oder, in Begriffen der Rhetorik: er
wird aufgefordert, eine Rhetorik zu verlassen, bei der sich durch Berufung
auf Autoritäten oder gar durch deren Auswendiglernen etwas erreichen
läßt, und bei der man ein beliebiges Gegenüber zum Zweck des
Einstudierens wählen kann (vgl. 228 e 1—2). Er soll sie verlassen
zugunsten der wahren ,Rhetorik' oder Dialektik, die erst zur Wirkung
kommt, wenn der Redende die Seele seines individuellen Gegenübers
erkennt (παραγιγνόμενον ... διαιοθανόμενοο 271 e 4) und nunmehr in
der Lage ist, der Situation entsprechend zu sprechen oder einzuhalten
(προολαβόντι καιρούο του πότε λεκτέον και έπιοχετέον 272 a 4).
3
Das Buch kann allenfalls - wie der Phaidros selbst - mitteilen, daß es eine Befreiung
gibt, und Hinweise über den Weg dorthin geben. Ob die Mitteilung verstanden wird
und ob es zur Befreiung von der Buchgläubigkeit kommt, das liegt notwendig außerhalb
der Reichweite des Buches.
* Es ist klar, daß diejenige Interpretation, die in der Schriftkritik des Schlußteils eine
verkappte Empfehlung der indirekten Mitteilungsform des geschriebenen Dialogs sieht,
neben anderem auch die Handlung des Dialogs verkennt. In die Sprache der dramatischen
Handlung übersetzt, würde diese Interpretation besagen, daß Sokrates dem buchgläubi-
gen Phaidros das Buch des Lysias aus der Hand nimmt, nur um ihm neue Lektüre,
diesmal von Piaton, in die Hand zu drücken - womit die ganze sorgsam aufgebaute
Symbolik des Gegensatzes „Hie Buch - hie Gespräch" verloren ginge.
Der Gang des Dialogs 27

Aus diesem Grund ist Sokrates mit Phaidros in diesem Gespräch


allein: was er ihm zu sagen hat, hat er ihm persönlich zu sagen; einem
anderen würde er es anders sagen — oder auch nicht sagen, je nach der
Situation und der Natur des Partners.
Die Frage nach der Bedeutung der Handlung ist damit freilich
keineswegs schon erschöpfend beantwortet, sie wird uns daher im
folgenden weiter begleiten, wenn wir nach dem Thema des Dialogs
fragen.

2) Handlung und Thema

Es ist ein altes Problem der Phaidrosinterpretation, was denn eigent-


lich das Thema des Dialogs sei. Die zwei Hauptteile (227 a — 257 b, 257
b - 279 c) sind nicht nur nach Stimmung und Stil, sondern gerade auch
inhaltlich scharf gegeneinander abgesetzt. Die Einheit scheint gerade dem
Dialog zu fehlen, der die Forderung ausspricht, ein literarisches Werk
müsse eine organische Ordnung aufweisen wie der Körper eines Lebewe-
sens (264 c) 5 .
Die Themen der Hauptteile je für sich betrachtet scheinen hingegen
ganz unproblematisch: die drei Reden, die den ersten Teil fast ganz
ausfüllen, handeln von Eros und Psyche, im zweiten Teil geht es um die
Rhetorik. Das einheitsstiftende Band des ganzen Dialogs suchte man
daher in den sachlichen Gemeinsamkeiten, die Liebe, Seele und Rede
verbinden.
Aber diese Art, das Thema der Hauptabschnitte durch einen plakati-
ven Begriff zu bestimmen, nimmt zu wenig Rücksicht auf die Entfaltung
des Gedankengangs und der Handlung — und schafft so selbst erst das
„Problem" der Einheit des Phaidros. Sieht man genauer hin, so wird man
im zweiten Teil nicht allein auf den Begriff Rhetorik gelenkt, sondern
vor allem auf die Frage, welche Art von ,Kunst der Rede' die überlegene
sei. Die Erörterung nimmt ihren Ausgang von der Feststellung, daß
gewisse Politiker dem Lysias das Redenschreiben zum Vorwurf machten
(257 c). Sokrates weist sogleich nach, daß auch sie als Urheber von
Volksbeschlüssen Verfasser von schriftlich festgehaltenen ,Reden' (von
λόγοι ουγγεγραμμένοι oder ουγγράμματα) sind; am Schreiben selbst

5 E. N o r d e n , Die antike Kunstprosa I, Leipzig 1898, 112: „Der Phaidros ist darin — sc.
,ein großes Ganzes gut zu komponieren' - verfehlt".
28 Phaidros

ist nichts Unrechtes (258 d) - der Streit geht in Wirklichkeit schon für
Politiker und Logographen allein darum, was die richtige Art des
Schreibens sei, und erst recht für Sokrates selbst. So entwirft er eine
ideale Rhetorik, die der üblichen unendlich überlegen ist durch ihre
Kenntnis der Wahrheit. Erst von dieser umfassenden Redekunst aus -
die sachlich identisch ist mit der philosophischen Dialektik — läßt sich
auch bestimmen, unter welchen Bedingungen das Schreiben ein Schimpf
sein kann: dann nämlich, wenn der Schreibende die Wahrheit nicht
kennt, wenn er nicht ,Dinge von höherem Wert' (τιμιώτερα) für die
mündliche Darlegung bereit hat, kurzum: wenn er kein φιλόοοφοο ist
(278 c —e). So ist das anfängliche abschätzige Urteil der Politiker über
die Logographen ersetzt durch eine überlegene, weil sachlich fundierte
Abwertung des Schreibens.
Dieselbe agonale Ausrichtung, wie man es nennen könnte, bestimmte
aber auch schon den ersten Teil: vor der Frage nach dem Wesen von
Eros und Psyche stand die Frage, wie sich der Vorzug des Nichtverliebten,
von dem Lysias' Rede handelte, in einer überlegenen Darstellung behaup-
ten ließe. Erst die Aufgabe, Lysias zu überbieten, bringt Sokrates dazu,
seinerseits zwei Reden zu halten.
In der Art, wie diese Aufgabe gestellt und angenommen wird, ist
bereits eine Vorentscheidung darüber enthalten, welcher Art die τιμιώ-
τερα des Philosophen sein müssen. In seiner Begeisterung für den Erotikos
logos des Lysias behauptet Phaidros, niemand könne über dasselbe
Thema anderes und mehr vorbringen, das zugleich bedeutender wäre
(ετερα τούτων μείζω καί πλείω περί του αύτοϋ πράγματος 234
e 3). Sokrates kann ihm hierin nicht beipflichten — und mit diesem
Widerspruch ist er bereits in den Wettstreit mit Lysias eingetreten,
dessen Bedingungen im folgenden noch mehrfach genannt werden: die
Überlegenheit der nächsten Rede über den Eros wird auf zusätzlichen
Argumenten beruhen müssen, die die bisherigen nicht nur an Quantität,
sondern vor allem an Qualität (Bedeutung, ,Wert') übertreffen: gefordert
sind αλλα πλείω καί πλείονοο αξια (235 b4) 6 . Abmildernd wird noch
präzisiert, daß nicht alle Argumente neu sein müssen — Grundlegendes
muß bleiben, da es ja weiterhin um dieselbe Sache geht und auch

6 Zusätzliche (andere) Argumente: 'έτερα τούτων 234 e 3 , ά λ λ α 235 b 4 , παρά ταδτα ...
ετερα c 6 , έτερα d 7 , 236 b 2 , παρά τήν έκείνου οοφίαν ετερόν τι b 7 ; Quantität der
Argumente: πλείω 234 e 3, 235 b 4 , 236 b 2 , μή έλάττω 235 d 7 ; Bedeutung der
Argumente: μείζω 234 e 3, μή χείρω 235 c 6 , βελτίω 235 d 6, vor allem πλείονος άξια
(.Wertvolleres') 235 b 5, 236 b 2 .
Der Gang des Dialogs 29

Lysias nicht schlechterdings alles verfehlen konnte; die Forderung nach


Wertvollerem (πλείονοο αξία) wird jedoch ausdrücklich aufrecht erhal-
ten (235 e - 2 3 6 b). Die von Phaidros formulierte Forderung nach mehr
und Besserem wird von Sokrates in aller Form akzeptiert (235 c5 —6)7;
durch diese Übereinstimmung der Gesprächspartner sind die Weichen für
die kommenden Erörterungen gestellt: die Überlegenheit einer Darlegung
über die andere ist von vorneherein unter das Kriterium der größeren
Vollständigkeit und vor allem der größeren Bedeutung (des größeren
,Werts') des Inhaltes gestellt. Dieser leitende Gesichtspunkt wird unverän-
dert festgehalten bis hin zur Überlegenheit der τιμιώτερα — das Wort
bedeutet nichts anderes als πλείονοο αξια in 235 b5, 236 b 2 - der
mündlichen Darlegung des Philosophen über die φαΰλα seiner eigenen
schriftlichen. Am Schluß des Dialogs greift Piaton in auffälliger Weise
auf die Vorentscheidung über die Natur der τιμιώτερα zurück: nun wird
auch Isokrates im Wettstreit mit Lysias gesehen, und Sokrates versichert,
ein göttlicherer Trieb' werde den jungen Redner dereinst über den
Bereich, in dem Lysias sich bewegt, hinausführen ,auf Größeres' (έπί
μείζω 279 a 8 ~ 234 e 3), denn von Natur wohne dem Denken des
Mannes so etwas wie Philosophie inne (278 e 5 - 2 7 9 b3). Daß das Werk
des Isokrates hier unter dem Gesichtspunkt des Inhaltes über das
lysianische hinausgehoben wird, ist unbestritten 8 . Die Erklärung seiner
,größeren Dinge' durch einen ,göttlicheren' Trieb und ,eine Art Philoso-
phie' (φιλοοοφία uc) zeigt, daß auch die unmittelbar zuvor erörterte
Überlegenheit der mündlichen τιμιώτερα des gottnahen (278 d 3 —5)
Philosophen auf dem Inhalt beruhen muß.
Die im Kampf um die Überlegenheit vorgeführten Reden des ersten
7
Natürlich ziert sich Sokrates dann doch - wie vorher Phaidros: 228 a b — und
versichert, er könne Lysias inhaltlich nicht überbieten (236 b7). Die Forderung selbst,
daß ein überlegener Logos Besseres bieten müsse, ist durch diese sokratische ειρωνεία
selbstverständlich nicht aufgehoben. Die Wiederholung des Motivs des κ α λ λ ω π ί ζ ε σ α ι
(236 d 6, vgl. έθρύπτετο 228 c 2) will zeigen, daß Sokrates ebenso begierig ist, eine
bessere Darlegung zu geben, wie Phaidros begierig war zu rezitieren. - G. J. deVries
sah weder, daß Sokrates die Forderung des Phaidros ausdrücklich anerkennt, noch daß
er sie faktisch in seinen Reden erfüllt, weswegen er in einem gegen meine Interpretation
(Mus. Helv. 35, 1978, 28) gerichteten Beitrag die Ansicht vertreten konnte, der Ruf
nach μείζω και πλείω diene lediglich zur Charakteristik des φ ι λ ό λ ο γ ο ς Phaidros
(Mus. Helv. 36, 1979, 62). Aber selbstverständlich kommt alles darauf an, zu erkennen,
wie Sokrates die naive Forderung in eine philosophisch bedeutsame Fragestellung
umwandelt.
8
Isokrates spricht seinerseits beim inhaltlichen Vergleich des Wertes verschiedener
Mathemata von τα αιουδαιότερα και πλείονος ΰξια 15.265 (wohl nicht ohne
Anspielung auf die Problematik des ,Phaidros').
30 Phaidros

Teils behandeln ihrerseits einen Streit um den Vorrang. Ihr Thema


ist: welchen Liebhaber soll ein schöner Knabe als den besseren, den
überlegenen anerkennen, den verliebten oder den nicht verliebten? Die
Frage entwickelt sich zu einem Wettstreit zwischen zwei Arten von Liebe;
es hängt von der Natur der Seele des Liebhabers ab, mit welcher Art
von Liebe er dem Jüngeren begegnen wird; es kämpfen also letztlich
verschieden gestaltete Seelen um den Vorrang. Als die beste erweist sich
die Seele, die am meisten vom wahren Sein erblickt hat (248 d) — es ist
die Seele des Philosophen; seine Wahl des Geliebten richtet sich nach der
Wesensverwandtschaft der Seelen (252 d e). Die überlegene Art von ëpœc
wendet sich nicht einem beliebigen Partner zu, sondern gilt dem Partner
als Person — so wie auch der überlegene λόγοο nicht, wie das
Buch, jederzeit zu jedermann spricht, sondern im rechten Kaipóc in
persönlichem Gespräch zur ψυχή προσήκουοα': philosophische »Rheto-
rik' und philosophischer ëpcoc sind eins in der Gestalt des mündlich
philosophierenden Dialektikers.
Nunmehr ist es möglich, Thema und Handlung des Dialogs in ihrer
Verbindung zu sehen: Thema ist die Frage, welche Art von λόγοο
überlegen ist, wobei Überlegenheit als inhaltliche verstanden wird. Die
Antwort lautet: der geschriebene λόγοο des Philosophen ist den Schriften
anderer überlegen, sein mündlicher λόγοο aber seinen eigenen Schriften.
Der dem Thema immanente Wertvergleich bestimmt auch die Handlung:
Phaidros soll für den überlegenen έραοτήο, für den überlegenen Redeleh-
rer, für die überlegenen λόγοι gewonnen werden10. Seine Entscheidung:
er optiert für den mündlich philosophierenden Sokrates und die von ihm
skizzierte — nicht ausgeführte — Rhetorik. Die inhaltlich verstandenen
τιμιώτερα des mündlichen Philosophierens sind der Zielpunkt sowohl
der gedanklichen Entfaltung des Themas als auch der dramatischen
Entfaltung der Handlung.

3) Das Verhältnis der Teile des Dialogs zueinander

a) Der Geltungsbereich der Kritik der λόγοι

Die von Sokrates ihrem allgemeinen Charakter nach gekennzeichneten


λόγοι des Dialektikers und die dazugehörige Art des Umgangs mit
' 272 a 4 προολαβόντι καιρούο του πότε λεκτέον και έπιοχετέον, 276 e 6 λαβών
ψυχήν προσήκουοαν.
10 Vgl. Sokrates' Anrede an seine λόγοι zum Entwurf einer idealen Rhetorik: πάριτε δή,

... Φαιδρον πείθετε 261 a 3 .


Der Gang des Dialogs 31

,Reden' sind allen anderen λόγοι und jeder anderen Rhetorik überlegen.
Ein solches Urteil setzt voraus, daß Sokrates alle λόγοι überblickt. Es
ist daher kein Zufall, daß er immer wieder dafür sorgt, daß die Erörterung
nicht auf eine bestimmte Art von λόγοι eingeengt wird: die Ausrichtung
des Blickes auf das Prinzipielle in allem Reden und Schreiben ist um des
Zielpunktes willen unerläßlich. Sokrates sieht in seiner philosophischen
Rhetorik oder Dialektik nichts Geringeres als die Erforschung der
Grundlagen des menschlichen Sprechens und Denkens schlechthin (266
b). Jede Interpretation, die dem Schlußteil des Phaidros die Ablehnung
einer bestimmten Art von Schriften (etwa von „Lehrschriften") 11 oder
die implizite Empfehlung einer bestimmten anderen Art (etwa des
Dialogs) unterlegen möchte, liest nicht nur Dinge in den Text hinein,
die nun einmal nicht in ihm stehen, sondern setzt sich auch in Widerspruch
zur Gedankenbewegung des Dialogs als Ganzen.
Die Erörterung beginnt zwar mit einer bestimmten Rede, dem
Erotikos des Lysias, und erhält zu Beginn des zweiten Teils einen neuen
Impuls durch den gleichfalls nur individuell gemeinten Vorwurf gewisser
Politiker, Lysias sei ein ,Redenschreiber' (257 c). Eben deswegen weist
Sokrates sogleich nach, daß auch Politiker auf das Redenschreiben erpicht
sind: ihre ουγγράμματα sind die in Stein gemeißelten Volksbeschlüsse
(257 e —258 c) 12 . Doch die Gleichstellung von privaten Redenschreibern,
Politikern und Gesetzgebern als Logographen (258 c2) ist selbst noch
ein vergleichsweise partikulärer Schritt und dient nur der Vorbereitung
der Ausweitung der Untersuchung auf alle, die je schrieben oder schreiben
werden, gleichgültig, welcher Art ihre Schrift war oder sein wird 13 . Und
auf diese Ausweitung folgt sogleich eine weitere, noch prinzipiellere: es
müssen nicht nur die Bedingungen des richtigen Schreibens untersucht
werden, sondern ebenso die des richtigen Redens 14 . Denn die Redekunst,
auf die Sokrates hinaus will, regelt alles menschliche Sprechen, öffentli-

11 „Der Lehrschrift gegenüber tritt der mündliche Logos" Friedländer III 220 (zu Phdr.
274a ff.).
12 Diese Stelle würde schon genügen, um zu zeigen, daß ςύγγραμμα für Piaton nicht
„Lehrschrift" bedeutet: Volksbeschlüsse sind keine Traktate. Zur Bedeutung von
ςύγγραμμα s. Anhang II.
13 Λυςίαν ... και άλλον ö c r i c πώποτέ τι γέγραφεν ή γράψει, είτε πολιτικόν σύγγραμμα
είτε Ιδιωτικόν, έν μέτρψ (be ποιητής ή 0νευ μέτρου eòe Ιδιώτης 258 d 8 —11. Diese
Ausweitung vom zufälligen Beispiel Lysias auf alle Autoren überhaupt kehrt noch
zweimal in sprachlich sehr ähnlichen Wendungen wieder: είτε Λυςιας Ή TIC αλλ oc
πώποτε έγραψε ν ή γράψει Ιδίςι ή δημοςίςι 277 d 6 - 7 , Aucíqt τε καί εϊ τις άλλος
ςυντίθηςιν λόγους 278 c 1.
14 τόν λόγον οπη καλώς 'έχει λέγειν τε καί γράφειν καί δπτ] μή, ςκεπτέον 259 e l - 2 .
32 Phaidros

ches und privates, über kleine und große Dinge (261 a 7 — b2), sie ist
eine Kunst all dessen, was in der Sprache erscheint 15 . Ohne sie wird
schlichtweg nichts kunstmäßig (τέχνη) gesagt oder geschrieben werden
können (271 b 7 —cl), denn ihre Grundlage ist die dihairetische Kunst
selbst, die das richtige Denken lenkt (266 b 4 —5).
Es entspricht der vielfach hervorgehobenen Grundsätzlichkeit dieser
Erörterungen über die wahre Rhetorik, daß sie ihre Fortsetzung in einer
ebenso grundsätzlichen Kritik der Schrift schlechthin (der γραφή) finden
(274 b ff.), und daß bei der Auszeichnung jener einen Art von λόγοο, die
,großen Ernstes wert' ist, alle geschriebenen und gesprochenen λ ό γ ο ι in
einer umfassenden Dihairesis berücksichtigt sind (277 e - 2 7 8 a). Die
Schriftkritik muß im Zusammenhang des Entwurfs der wahren Redekunst
verstanden werden, die sich nicht nur über die mitzuteilenden Dinge und
die sie aufnehmende Seele, sondern drittens auch über die Natur der
Medien der Mitteilung (Wort und Schrift) im Klaren ist. Es war daher
von vornherein zu erwarten, daß in diesem Abschnitt die Mängel der
Schrift in voller Allgemeinheit zur Sprache kämen; daß dies der Fall ist,
hat die Einzelinterpretation Punkt für Punkt gezeigt 16 . Es kann keine
Rede davon sein, daß Piaton seine eigenen Werke von der Schriftkritik
ausnehmen wollte. Da er vielmehr bei der Erwähnung der schriftlichen
παιδιά des Dialektikers einen deutlichen Hinweis auf sein Hauptwerk
einfließen ließ 17 , können wir mit Sicherheit annehmen, daß er auch in
der Beschreibung des mündlichen ,Ernstes' des Philosophen nicht zuletzt
sein eigenes Wirken vor Augen hatte: Piaton sah sich als den Autor, der
überlegene τιμιώτερα für das mündliche Philosophieren bereithält. Eben
dies machte ihm die Einbeziehung der eigenen Schriften in die Schriftkritik
leicht.

b) β ο η θ ε ΐ ν und τιμιώτερα im ersten und zweiten Hauptteil

Die Hilfe, die unserer Deutung des Schlußteils aus dem Verständnis
der Handlung des ganzen Dialogs (oben 24 - 30) und der Gedankenbewe-
gung des zweiten Hauptteils ( 3 0 - 3 2 ) erwächst, wird vielfach ergänzt
und konkretisiert durch eine Analyse der einzelnen Stufen, in denen sich
die Überlegenheit der sokratischen Rhetorik entfaltet.
15
περί πάντα τα λεγόμενα μία t i c τέχνη 261 e 1 - 2.
16
Vgl. oben 7 ff.
17
Zu μυδολογειν 276 e 3 vgl. oben 14.
Der Gang des Dialogs 33

1. Welche Reden stehen in Konkurrenz zueinander?

Die Überlegenheit der mündlichen Rede, von der der Schlußteil


handelt, im Phaidros selbst nachzuweisen, ist gewiß ein naheliegender
Gedanke. So wollte man den zweiten Teil, der in gewohnter platonischer
Manier die Erörterung in Frage und Antwort vorantreibt, insgesamt als
Illustration des lebendig improvisierenden Gesprächs dem ersten Teil
gegenüberstellen, der mit seinen langen Reden zum Bereich der Schriftlich-
keit, zumindest der fertigen literarischen Produkte gehöre 18 . Diese Auffas-
sung geht von der richtigen Beobachtung aus, daß die Reden des Sokrates
nicht minder ausgefeilt sind als die des Lysias. Sie aus diesem Grund mit
der Lysias-Rede der Seite der Schriftlichkeit zuzuweisen, heißt freilich
einen Standpunkt gleichsam außerhalb des Dialogs zu beziehen. Sokrates'
perfekte Beherrschung der rhetorischen Mittel darf uns nicht hindern,
die fiktive Situation des Gesprächs zunächst zu akzeptieren: diese
Meisterreden sind improvisierte Reden (vgl. αύτοοχεδιάζων 236 d5), sie
werden nicht verlesen — dieser Unterschied ist betont 243 e 2 —, aus
ihnen wird später denn auch nicht wörtlich zitiert wie aus der Lysias-
Rede (262 e, 263 e ) " . Überdies wäre die überlegene mündliche Darlegung,
wenn wir die Zäsur nach der großen Eros-Rede des Sokrates legten,
unter dem entscheidenden Aspekt, nämlich dem des Inhalts, nicht mehr
kommensurabel mit der unterlegenen: über den Eros wird im zweiten
Teil nichts Neues gesagt, über die Seele nur so viel, daß sie unter diesen
und diesen Gesichtspunkten zu behandeln wäre. Die überlegene Rede
muß jedoch von derselben Sache (περί του αύτοΰ πράγματοο 234 e 3)
handeln wie die, die sie übertreffen will 20 .
Der inhaltliche Wertvergleich, in dem Lysias und mit ihm die Bildung

18 Klein I.e. (oben 13 Anm.7] 14f.: im zweiten Teil setzen Sokrates und Phaidros die
gesprochene Rede wieder in ihr Recht ein „instead of exchanging elaborate speeches,
that is, written or dictated words" (15). Mit „dictated words" meint Klein den Umstand,
daß Sokrates seinen ungewohnten Redefluß fremden Kräften zuschreibt. S. dazu die
nächste Anmerkung.
19 Erst später wird einsichtig, inwiefern Sokrates durch seine mündlich improvisierende
Beherrschung der rhetorischen Kunstmittel durchaus nicht in die Nähe des Lysias und
seinesgleichen gerückt wird, sondern gerade dadurch das Programm der idealen
dialektischen Rhetorik illustriert: der dialektische Redner wird die προ τήο τέχνης
άναγκαϊα μαθήματα (269 b 7 - 8), d. h. das Wissen und Können der üblichen Rhetorik,
nach Maßgabe seiner Einsicht in die Gesetze der wirklichen Redekunst souverän
einsetzen, und zwar im persönlichen, mündlichen Gespräch: 271 e 2 - 272 a 8.
20 Daß man in anderem Sinne doch auch von einer Überlegenheit des zweiten Teils
sprechen kann, wird unten 40 ff. erörtert werden.
34 Phaidros

aus Büchern schließlich unterliegt, hat in Wirklichkeit schon lange


vor dem zweiten Hauptteil eingesetzt: dort nämlich, w o Sokrates die
Vorzüglichkeit der Rede des Lysias anzweifelt und sich bereit erklärt, in
den Wettstreit einzutreten (234 e ff.). Ab hier hat Sokrates - sozusagen
die Inkarnation des mündlichen Philosophierens — das Wort, ab hier
können wir Aufschlüsse über das, worum es ihm bis zum Schluß zu tun
ist, erwarten.
Daß wir wirklich hier einsetzen müssen, sagt Piaton selbst: die beiden
Reden des Sokrates enthalten Dinge, die derjenige kennen muß, der eine
Untersuchung über Reden anstellen will (264 e7— 8)21. Gemeint ist die
genaue Bestimmung des Eros durch eine dialektische Begriffsanalyse,
deren Momente διαίρεαο und ουναγωγή die Grundlagen des richtigen
Denkens und Sprechens (266 b 4 —5) und damit auch der umfassenden,
alles menschliche Reden (261 e 1 - 2 ) regelnden idealen Rhetorik sind.
Im Vergleich mit diesem wahrhaft ,kunstmäßigen' Verfahren, das in
Sokrates' Reden wie zufällig (265 c 9) in Erscheinung tritt, erweisen sich
die Regeln der herkömmlichen Rhetorik als ein propädeutisches Wissen
(τά προ της τέχνηο άναγκαΐα μαθήματα 269 b 7 - 8 ) .
Die Reden des Sokrates enthalten also Beispiele von Dialektik, sie
beruhen mithin auf der Kenntnis der Wahrheit über die οντα. Damit ist
die eine Bedingung wahrer Redekunst (262 b, 273 e, 277 b) erfüllt12.
21
Von der Rede des Lysias hingegen kann man nur im Negativen lernen, sie enthält
Beispiele für das, was man meiden soll (264 e 5 —6). Diese Stelle macht es klar, daß die
δίτεχνα und die έντεχνα, die Sokrates in den drei Reden aufzeigen will (262 c5 —7),
sich nicht gleichmäßig auf alle drei verteilen, sondern die δτεχνα allein dem Lysias
gehören, die ί ν τ ε χ ν α allein dem Sokrates. Schon aus diesem Grund können „die beiden
Reden" (τώ λόγω), die Beispiele dafür enthalten, wie „der, der die Wahrheit weiß",
die Hörer irreführen kann (262 d 1 - 2), nur die beiden Reden des Sokrates sein, denn
solche Irreführung durch den ,Wissenden' ist Zeichen der ,Kunst', sie beruht ja auf
Kenntnis des δν (262 b 5 —8); Lysias ist gewiß nicht der είδώο τό άληθέο. Überdies
bezeichnet der Dual nicht einfach „zwei Reden", sondern „die beiden Reden", also die
zusammengehörigen. Für Sokrates gehören aber seine eigenen Reden zusammen, da sie
erst zusammen μανία und Ipcoc dihairetisch erfassen (265 a 2 - 266 b l ) . Daher steht
der Dual im folgenden stets für Sokrates' eigene Reden (265 a 2, 266 a 3 usw.). In 243
c 2 lag die zweite Rede des Sokrates noch nicht vor, daher konnten dort die zwei bislang
gehaltenen mit dem Dual zusammengefaßt werden (ihre Zusammengehörigkeit lag dort
in ihrer Unverschämtheit (άναιδώο), auf die jetzt nicht mehr angespielt wird). — Robin
I.e. (oben 11 Anm.4) 66 versteht unter τώ λόγω 262 d l die Rede des Lysias und die
erste des Sokrates, Hackforth I.e. 125 A.l die Rede des Lysias und die beiden Reden
des Sokrates, die zusammen als eine Rede zu rechnen wären. Beide Erklärungen machen
Lysias zu einem είδώο xò άλη9éc (das ist ungefähr so, als wollte man Kallikles im
Gorgias zu einem Verfechter der Gerechtigkeit machen), die zweite ignoriert zudem,
daß die vermeintlich eine Doppelrede soeben im Plural (262 c 6) genannt worden ist.
11
Freilich nur bis zu einem gewissen Grad; zu Piatons Einschränkungen s. unten 43 ff.
Der Gang des Dialogs 35

Die andere Bedingung lautet, daß der wissende Redner die Seele des
Angeredeten kennen muß und im richtigen Augenblick durch Sprechen
und Zurückhalten der Rede auf ihn persönlich (παραγιγνόμενον)
einwirken muß (271 e2 —272 a8, 277 be). Daß auch diese Bedingung
erfüllt ist, macht Piaton mehrfach deutlich: während Lysias seine Rede
èv πολλω χ ρ ό ν φ κατά c / ο λ ή ν ςυνέθηκε (228 a 1), und das heißt doch
wohl: alleine und ohne Rücksicht auf ein bestimmtes Gegenüber und
eine bestimmte Gelegenheit des Vortrags schriftlich ausarbeitete, hat
Sokrates die individuelle Veranlagung des Phaidros - seine Begeiste-
rungsfähigkeit — und seine augenblickliche Seelenlage — seine Benom-
menheit von der Kunst des Lysias und seine Begierde, vor Sokrates durch
seinen Vortrag zu glänzen — dazu benützt, ihn in Reden, die persönlich
an ihn gerichtet waren 23 , zu Besserem hinzuführen, indem er ihm gewisse
Dinge mitteilte, andere vorenthielt".
Da Sokrates in seinen Reden die Bedingungen wahrer Rhetorik erfüllt,
verwundert es nicht, daß sie als Reden eines είδώο τό άληθέο bezeichnet
werden (262 d l) 25 . Vor diesem Hintergrund ist also die Auszeichnung
der gebenden und beseelten Rede des Wissenden' als Urbild des sinnvollen
Sprechens im Schlußteil zu verstehen (276 a 8). Die beiden Eros-Reden
des Sokrates sind - innerhalb des fiktiven Rahmens, in den sie das
Dialogdrama stellt — als ,lebende und beseelte Reden' aufzufassen.
Damit gilt es Abschied zu nehmen von der Vorstellung, daß Piaton im
Phaidros eine Theorie des Wechselgesprächs als einzig legitimer Form
der Darstellung von Philosophie gibt und in den beiden Hauptteilen die
Überlegenheit des Frage-und-Antwort-Verfahrens und die Unterlegenheit
der systematischen' Entwicklung eines Themas illustrieren will: das
zunächst ,abgebildete' Beispiel einer gebenden' Rede eines Wissenden
unterscheidet sich von der konkurrierenden Darlegung des bloßen
ουγγραφεύο λόγων gerade durch die systematische', d. h. dem Zwang
der Sachen folgende Ordnung der Gedankenentwicklung 24 und nicht
" Das ist wörtlich ausgesprochen 243 e 4 - 8, 257 b 4 - 7 und war schon angedeutet 238
d7. Die Kunst des wahren Redners kommt nur im Mündlichen zur Entfaltung, vor
dem persönlich .anwesenden' Hörer: παραγιγνόμενον 271 e 3, παροϋοα 272 a 2. So ist
auch Phaidros für Sokrates ,zugegen' (πάρεοιιν 243 e 7).
" Daß Sokrates' Reden nicht nur das λεκτέον, sondern auch das έπιοχετέον (272 a 4)
illustrieren, wird unten 44 f. gezeigt.
" Zu τώ λόγω vgl. oben Anm. 21. - Der Gegensatz zum üblichen Nichtwissen des
Sokrates (235 c 7 —8, 262 d 5) wird gemildert durch die Versicherung, die Beispiele des
wissenden Gebrauchs der Rede seien nur ,zufällig' bei ihm zu finden. Vgl. 42 ff.
" Die Wichtigkeit des systematisch richtigen Einsatzes für die klare und widerspruchsfreie
Entfaltung des Folgenden betont Sokrates 237 cd, 263 e, 265 d.
36 Phaidros

zuletzt auch durch den mehr als dreifachen Umfang, der erst eine
zusammenhängende Entfaltung in Klarheit schaffender Ausführlichkeit
ermöglicht. Die Überlegenheit solcher Rede beruht nicht auf einer anderen
Mitteilungsweise (etwa der ,indirekten' Mitteilungsform gegenüber einer
,direkten' bei Lysias 27 ), sondern darauf, daß sie ,in der Seele des Lernenden
— hier des jungen Phaidros — geschrieben wird' (276 a 5).
Die Überlegenheit der lebenden Rede muß sich konkret darin zeigen,
daß sie sich zu verteidigen imstande ist (δυνατόο άμΰναι έαυτφ 276
a6). Platons παράδειγμα (262 d l ) wäre schlecht gewählt, wenn das
geschriebene ,Abbild' lebender Rede nicht auch abgebildet hätte, wie
dieses Kriterium zu erfüllen ist. ,Sich verteidigen' setzt einen Angriff
voraus (275 e 3 —5), zumindest eine kritische Prüfung, einen ελεγχοο
(278 c5). Ihre Funktion als παράδειγμα für die wahre Rhetorik können
die Eros-Reden des Sokrates erst erfüllen, wenn sie zusammengenommen
werden mit dem, was anschließend über sie gesagt wird. So wie der
zweite Hauptteil den ersten als ,Beispiel' für den Nutzen der Dialektik
für die Redekunst nimmt, so sind erster und zweiter Hauptteil zusammen
als ,Beispiel' dafür zu nehmen, wie sich die Überlegenheit der Dialektik
in der Prüfung bewährt.
,Lebende und beseelte Rede des Wissenden' sind die Ausführungen
des Sokrates, wie wir sagten, im Rahmen des Dialoggeschehens. Wir,
die Leser, sind nicht Teil der dramatischen Szene: für uns existieren diese
Reden nur in dem Buch „Phaidros" als λόγοι γεγραμμένοι, mithin als
,Abbild' lebendiger Rede. Damit wächst dem platonischen παράδειγμα
eine weitere, der ersten scheinbar widersprechende Aufgabe zu: als
schriftliche παιδιά muß es zugleich auch seine Unterlegenheit im Vergleich
mit den mündlichen τιμιώτερα, die den ,Ernst' des Philosophen ausma-
chen, veranschaulichen. Der Widerspruch ist freilich nur ein scheinbarer,
Piaton löst die beiden Aufgaben durch ein und dasselbe Mittel: indem
er aufzeigt, daß zur Festigung der Ergebnisse der Eros-Reden noch
bestimmte andere Ergebnisse methodisch zu erarbeiten wären, und indem
er diese weiteren Schritte nur benennt, aber hier nicht vollzieht. Damit
ist in einem gezeigt, daß ,Sokrates' nicht ratlos vor der Aufgabe der
tieferen Begründung des (von ,Piaton') schriftlich Dargelegten steht,
sondern sehr präzise Vorstellungen dazu hat, und daß das Vorliegende

27
Auch Lysias bedient sich, wenn man so will, der ,indirekten' Mitteilungsform, da er
doch selbst,anonym' bleibt hinter der Maske des nichtverliebten Liebhabers. Schon dies
zeigt, daß das in der Moderne aufgeblähte „Problem" der „Anonymität" Platons für
Piaton selbst kein entscheidendes Gewicht gehabt haben kann. Vgl. Anhang I, S. 348 f.
Der Gang des Dialogs 37

ein Geringeres (φαΰλον) ist im Vergleich zu einer mündlichen Darlegung,


die jene Begründung als seine τιμιότερα enthielte.

2. Angriff und überlegene Antwort: ein Aufstieg in Stufen

Überlegenheit der philosophischen Darlegung im ελεγχοο bedeutet


Unterlegenheit der unphilosophischen. Wenn Lysias den Namen φιλόοο-
(poc verdiente, so hätte er Phaidros im persönlichen Gespräch kraft seiner
dialektischen Kunst λόγοι mitgegeben, die sich selbst und dem Urheber
zu helfen imstande wären (276 e 5 —277 a l ) . Das Dialoggeschehen zeigt,
daß das Buch, das Phaidros statt mündlicher Dialektik von Lysias
mitbekam, ihn nicht zur Hilfe für den λόγοο und seinen Urheber befähigt
hat. Phaidros kann der Kritik des Sokrates, die sich anfänglich auf das
Formale zu richten schien (234 e — 235 a), dann aber mehr und mehr den
Inhalt (242 e - 243 d) und die Verankerung des Formalen im Inhaltlichen
(262 e —264 e) in den Vordergrund rückt, nichts entgegensetzen und
befürchtet, Lysias werde selbst den Wettstreit mit Sokrates aufgeben (257
c). Dieser Fortgang des Geschehens, in dem Phaidros allmählich von
einem Bewunderer des Buches des Lysias zu einem aufgeschlossenen
Hörer der Worte des Sokrates wird, bringt es freilich mit sich, daß er
seinerseits keine Kritik an dessen überlegener mündlicher Darlegung
vorbringt. Die Situation des β ο η θ ε ΐ ν τω λόγφ ist also für Sokrates
nicht voll ausgespielt — paradoxerweise beleuchtet gerade dies seinen
erzieherischen Erfolg.
Das bedeutet indes keineswegs, daß Sokrates' Reden vor dem
entscheidenden Test der Fähigkeit zur Hilfe für sich selbst abgeschirmt
werden. Da Sokrates seit dem Verlesen des lysianischen Erotikos in einem
Wettstreit mit diesem steht (235 cff.), sind alle kritischen Fragen, die die
Wertlosigkeit der gegnerischen Rede erweisen, zugleich auch Fragen an
seine eigenen. Piaton läßt also Sokrates selbst — da es Phaidros an
geistiger Klarheit und Entschiedenheit fehlt — die Rolle des Prüfers
seiner Reden übernehmen. So betrachtet besagt der Nachweis, daß das
dialektische Verfahren der Dihairesis und Synagoge in seinen Reden zu
finden ist, während es bei Lysias fehlt (262 e —266 b), nichts anderes als
daß Sokrates seinen Reden die Hilfe bringen kann, zu der Phaidros als
Vertreter des Lysias unfähig ist 28 . Zwar ist das Wort ,helfen' in diesem

2 * Daß das Buch selbst sich nicht helfen kann, versteht sich von selbst.
38 Phaidros

Abschnitt nicht gebraucht; um so deutlicher entspricht die Situation dem


Sinn dieses Wortes: die Erörterung versteht sich als Angriff 29 auf die
übliche Rhetorik, der sich im konkreten Fall zu der Frage zuspitzt, wie
Lysias seinen Begriff von epcoc rechtfertigen wolle (263 a — e); seine Rede
und sein Schüler bleiben die Antwort schuldig (263 e —264 a), Sokrates
hingegen kann für seine Reden auf die für alle Reden gültige Methode
der Dihairesis verweisen (265 a —266 b). ,Sich helfen' heißt also das
Partikuläre auf ein Allgemeines gründen, oder die tieferen Grundlagen
des eigenen Tuns bloßlegen: in diesem Sinne bringt die ,Hilfe', da sie
zum Grundlegenden zurückführt, ,Wertvolleres' zu Tage 3 0 .
Die Festlegung der Anforderungen für eine kunstgemäße Rhetorik
(269 d —274 a) hat ebenfalls eine doppelte Funktion: einmal zu zeigen,
daß die lysianische und die gesamte herkömmliche Redekunst nicht weiß,
worauf es ankommt, daß sie nicht auf Kenntnis der Seele und des Wesens
der Seele und der Wahrheit über die Dinge, von denen sie handelt,
beruht, weswegen ihr die Fähigkeit zum βοηθεΐν grundsätzlich abgehen
muß 31 ; zum anderen zu verdeutlichen, daß Sokrates den Weg kennt, auf
dem das hohe Ziel zu erreichen wäre, und deshalb auch jedem ελεγχοο
gewachsen wäre.
Im einzelnen wird der wahre Redner seine Kenntnis der Seele durch
Beantwortung folgender Fragen gewinnen: ist die Seele einfach oder
vielgestaltig (komplex)? Wenn vielgestaltig, wie viele Teile hat sie? Was
kann sie oder was können ihre Teile ihrer Natur nach bewirken und
erleiden (270 d) ? Der kunstmäßige Gebrauch der Reden wird dann darin
bestehen, die Art der Rede der jeweiligen Beschaffenheit der Seele, auf
die sie wirken soll, anzupassen: 271 a b , de.
Bei der Entwicklung dieses Programms ist sich Sokrates seiner Sache

" 260 e 2 οί έπιόντεο αύτη (sc. τη των λόγων τέχνη 260 d 4) λόγοι „die gegen sie
anrückenden Reden". Phaidros bittet Sokrates, diese ,Reden' (das Wort umfaßt hier
auch die Bedeutung ,Argumente') vorzuführen und zu prüfen (έξέταζε 261 a 2);
inhaltlich muß das zugleich eine Prüfung der Eros-Reden sein, gegen die diese neuen
,Reden' antreten.
30 Dazu wird Phaidros von Sokrates noch einmal aufgefordert 272 c 2 - 4 άλλ' εΐ τινά

πη βοήθειαν ΐ,χειο έπακηκοώο Λυοίου f¡ xivoc άλλου, πειρώ λέγειν άναμιμνη-


οκόμενοο. Hier braucht das Wort βοήθεια zwar nicht mehr zu bedeuten als ,Mittel
und Wege' zu einer kürzeren Aneignung der Redekunst als der durch die Dialektik; da
aber der Angriff des Sokrates soeben zu Ende gekommen ist, wäre der Nachweis, daß
es einen solchen kürzeren Weg im Sinne der gängigen Rhetorik gibt, doch auch eine
,Hilfe' für diese im Sinne von 278 c5. Natürlich weiß Phaidros keine βοήθεια.
31 Kenntnis der Wahrheit und Fähigkeit zur Hilfe gehören zusammen: 278 c 4 - 5 , vgl.

276 a, e.
Der G a n g des Dialogs 39

so sicher, daß er bereits zu offenem Sarkasmus neigt: Thrasymachos und


die übrigen Redelehrer werden doch gewiß als erstes eine Seelenkunde
gemäß diesem Verfahren geben — oder sie sind Schlauköpfe, die bestens
über die Seele Bescheid wissen, dies aber verbergen (271 c l — 3 ) . Diese
Art von Spott macht es sicher, daß die des ,Verbergens' Beschuldigten
nichts zu verbergen haben, während der, der die Beschuldigung erhebt,
das angeblich von den anderen verborgene Wissen selbst im Hintergrund
bereithält 32 .
Denn daß das dialektische Wissen, das die rednerische Überlegenheit
verbürgt, als ein Hintergrundwissen fungiert, das die einzelne Erörterung
im Sinne einer tieferen Begründung, die nicht Teil der Erörterung selbst
ist, trägt, ist kurz zuvor durch den Hinweis auf Perikles und Hippokrates
angedeutet worden. Perikles, der vollkommenste Redner (269 e 1 - 2 ) ,
wurde von Anaxagoras zur Erkenntnis der Natur des Nus — der in der
platonischen Seelentheorie ein Teil der Seele ist — geführt und zog aus
diesem tieferen Wissen Nutzen für seine Kunst der Rede (270 a). So wie
die Nus-Spekulation des Anaxagoras als μετεωρολογία (pócecoc πέρι
etwas Umfassenderes und Grundlegenderes ist als die rhetorische Psycho-
logie des Perikles, so muß auch die Seelenkenntnis des dialektischen
Redners auf einer umfassenden dialektischen Kenntnis der Natur des
Alls (τήο τοϋ δλου φύοεωε 270 c 2) beruhen - erhebt doch Hippokrates,
wie Phaidros bemerkt (c3 — 5), diese Forderung bereits für die Erkenntnis
des Körpers.
Es ist versucht worden, den Aussagewert dieser Stelle für Piatons
Auffassung von Dialektik herunterzuspielen, indem man erklärte, ή τοϋ
ολου (púcic meine nicht ,die Natur des Alls' sondern das ,Wesen' ((púcic)
des (jeweiligen) Ganzen 33 . Diese Interpretation verkennt allerdings den
gedanklichen Zusammenhang: ό αύτόο που xpónoc τέχνηο ίατρικήο
και ρητορικής sagt Sokrates 270 b 1 — 2 - er sieht in beiden Bereichen
dasselbe Verhältnis zwischen der umfassenden und begründenden Ge-
samttheorie und der Erkenntnis des jeweiligen Teilbereichs. Anaxagoras'
Spekulation richtete sich aber auf das All, ,die Natur' schlechthin
(φύοεωο πέρι 270 a l ) ; entsprechend' (τον αυτόν τρόπον) ist dann die
medizinische Kenntnis in umfassender Naturphilosophie zu verankern 34 .
32 S. unten 44 f. Z u m Motiv des ,Verbergens' als T o p o s des sokratischen Spottes vgl.
unten 49 ff.
33 W. Kranz, Piaton über Hippokrates [1944], in: Studien zur antiken Literatur und ihrem

Fortwirken, 1967, 3 1 4 - 3 1 9 , bes. 318.


3 * O b Hippokrates .selbst' dieser Ansicht w a r , ist belanglos: entscheidend ist, daß Piaton

seinen Phaidros den Hippokrates so verstehen läßt. (Sokrates hat übrigens nichts gegen
40 Phaidros

Perikles, Hippokrates und Sokrates ist eines gemeinsam: was sie


vorbringen - in der politischen Rede vor dem Volk, in der medizinischen
Schrift für Fachgenossen, in der Erosrede vor einem bestimmten Ge-
sprächspartner - verweist auf eine philosophische Grundlegung in einer
umfassenden Theorie, die als solche nicht Teil des Vorgebrachten ist.
Die Fundierung der politischen Weisheit des Perikles in der anaxagore-
ischen Nus-Spekulation und der Fachwissenschaft des Hippokrates in
einer nicht näher spezifizierten Naturphilosophie sind als Präfigurationen
des Verfahrens des Dialektikers zu verstehen, das bereits in Sokrates'
Erosrede — die ihre Stärke dem Dihairesis-Verfahren verdankt - ein
deutlicher ausgeführtes Abbild erhalten hat. Als Grundzug von Dialektik
ergibt sich überall der methodische Rückgriff auf Grundlegenderes: nur
so kann sich der φιλόοοφοο ,Hilfe' durch ,Wertvolleres' verschaffen.
Das Verhältnis zwischen einem zunächst vorgebrachten ,Geringfügi-
geren' (dem φαΰλον von 278 c7) und dem nachfolgenden inhaltlich
gewichtigeren τιμιώτερον ist jedoch nicht allein an 263 a —266 b
abzulesen, wo Sokrates selbst exemplarisch die nötige Verdeutlichung
gibt, indem er die Überlegenheit seiner Reden durch Rückgriff auf das
Dihairesis-Verfahren erklärt. Das aufsteigende Überbieten eines λόγοο
durch einen besseren, inhaltlich reicheren bestimmt vielmehr die Struktur
des ganzen Dialogs.
Am Anfang steht die Rede des Lysias, die zu begründen sucht, warum
ein schöner Knabe seine Gunst besser einem nicht verliebten Verehrer

diese Hippokratesdeutung einzuwenden: er kritisiert nur, daß Phaidros — f ü r ihn


typisch — sich auf eine Autorität beruft.) Ebensowenig kann für unsere Stelle
entscheidend sein, daß nach Charm. 156 b —157 a die griechischen Ärzte als das δ λ ο ν ,
worauf sich die Therapie richten muß, den Körper betrachten, während Zalmoxis
darunter die Einheit von Seele und Leib verstand. Licht auf unsere Stelle wirft hingegen
der Timaios: dort zeigt Piaton selbst, wie die Erkenntnis der Seele ebenso wie die der
Elemente der Körperwelt von der Einsicht in umfassende naturphilosophische Prinzipien
abhängt (und sich nicht etwa in der Kenntnis der Leib-Seele-Einheit erschöpft). Vor
allem aber zeigt der Phaidros selbst die Seele in ihrer Verbindung mit dem sichtbaren
(245 c —e, 246 b) und dem unsichtbaren (247 cff.) Universum. Vgl. unten 45. — Kranz
I.e. (oben Anm. 33) 318 erwog eine Beziehung unserer Stelle zum ersten Teil des
Phaidros, erklärte sie dann jedoch für „unlogisch, ... ja geradezu sinnlos"; 270 a l
μ ε τ ε ω ρ ο λ ο γ ί α φύοεοκ πέρι übersetzte er I.e. 316 mit „,erhabene Ausdrucksweise'
über eine (die) Wesenheit". (Das Schwanken zwischen bestimmtem und unbestimm-
tem Artikel zeigt, wie unklar das gedacht ist.) Die Bedeutung „Allnatur" lehnte Kranz
ab, weil „darüber ... nicht ,alle großen ι έ χ ν α ι ' handeln" (Kranz hat also προοδέονται
269 e 4 mißverstanden als ,über etwas handeln'). - G. Müller vertrat die Ansicht,
zwischen der Verwendung von cpócic in 270 a 1/5 und in 270 c l gebe es „keine
Beziehung" (Eine verkannte Lesart in Piatons Phaidros, Hermes 104, 1976, 243 - 246,
Zitat 246; Müller bevorzugt die Lesart des Bodleianus δνευ τ η ς του λ ό γ ο υ <púc8<ac).
Der Gang des Dialogs 41

schenkt als einem verliebten. Indem Sokrates sich nach seinem Angriff
auf Lysias dazu bewegen läßt, in seiner ersten Rede das gleiche Thema
durchzuführen, kommt er zwar nicht dem Lysias, wohl aber der von
diesem vertretenen und nun in Bedrängnis geratenen Sache zu Hilfe. Er
kann dies, indem er den zugrundeliegenden Begriff des ëpcDC zur Klarheit
bringt, ihn als vernunftlose Begierde eindeutig definiert und in die
Gesamtheit solcher Begierden einordnet (237 b —238 c). Durch diese
Ausweitung des Blickes auf einen weiteren Bereich der Psychologie ist
Sokrates inhaltlich über Lysias hinausgekommen 35 : beschrieben ist die
Wirksamkeit des ganzen dritten Seelenteils der platonischen Seelentricho-
tomie. Als Aussagen über das έπιθυμητικόν und seine Herrschaft im
Erotischen sind die Argumente der Rede richtig, beruhen auf Kenntnis
der Wahrheit über die Dinge, die sie behandeln. Unwahr ist die Rede
jedoch darin, daß sie den Eindruck erweckt, die erotische έπιθυμία
umfasse den ganzen ëpœc und nicht lediglich seine niedrigste Form (vgl.
243 c). Sie kann diesen Eindruck überzeugend erwecken gerade auf
Grund von Sokrates' Einsicht in das Wesen des έπιθυμητικόν und seiner
Beherrschung der Methode der begrifflichen Synopsis (vgl. 265 d 3 - 7 ) :
die überlegene Fähigkeit irrezuführen besitzt der, der die Wahrheit kennt
(262 d l - 2 ) .
Die Kritik muß daher auch diesmal von Sokrates selbst kommen.
Mit seiner Palinodie stellt er die Dinge richtig: der Eros ist zwar ein
Wahn, aber nicht im Sinne eines menschlichen Defektes, sondern einer
göttlichen Gabe. Statt in das System der krankhaften έπιθυμίαι gehört
er in das System der göttlichen μανίαι, die nun in einer umfassenden
Dihairesis vorgestellt werden (244 a —245 a). Daß dieses Geschenk des
erotischen Wahnsinns zum Wohl der Menschen gegeben wurde, wird in
einem langen Beweis gezeigt, der bei der Unsterblichkeit (245 c — e) und
der Struktur der Seele (246 a b) ansetzt: um den Eros voll zu erkennen,
bedarf es — dies überrascht nun nicht mehr - des Rückgriffs auf eine
umfassendere Theorie, die nicht nur über ein πάθοο der Menschenseele,
sondern über das Wesen der Weltseele als Bewegungsprinzip des Kosmos
und die Seinsweise der Götterseelen Aufschluß gibt (245 de, 247 de).
Sokrates ist mit dieser Rede zwar nicht der falschen These seiner ersten
Erosrede, wohl aber dem Eros selbst zu Hilfe gekommen und dem
Richtigen, das über ihn bereits gesagt war: indem er das ursprüngliche
35 Nach Laborderie 1. c. (oben 17 Anm. 15) 463 ist die Umformung der Lysiasrede in

der ersten Sokratesrede „purement formel". Damit ist nicht nur der Inhalt nicht voll
erfaßt, sondern auch seine Wertung (265 d7) durch Sokrates selbst übersehen.
42 Phaidros

negative Bild des Eros durch das positive ergänzt, schafft er erst die
Möglichkeit, das vermeintliche Zerrbild des ganzen Eros nunmehr als
zutreffende Beschreibung der Begehrlichkeit des niedrigen oder ,linken'
Eros (266 a 5) zu würdigen.
Die nächste Stufe der Hilfe besteht in dem bereits erwähnten
Nachweis, daß die präzise begriffliche Einteilung der menschlichen und
der göttlichen μανίαι einem philosophischen Verfahren entspricht, dessen
Anwendungsbereich nicht auf Eros- und Seelenlehre beschränkt ist,
sondern alles umfaßt, was Gegenstand des Sprechens und Denkens
werden kann (265 c —266 b): die Grundlagen werden abermals tiefer
gelegt. Dem gleichen Zweck dient schließlich der Entwurf einer dialekti-
schen Seelenlehre als Grundlage der wahren Redekunst. Beides zusammen
bringt die platonische Dialektik als Rechtfertigungsbereich der somati-
schen Reden in den Blick. Somit wissen wir, wie sie auf eine wirklich
wissenschaftliche Grundlage gestellt werden könnten.
Diese Grundlage selbst bringt uns jedoch auch der Dialog Phaidros
nicht. Als Sokrates sich anschickt, die Paradigmen dialektischen Verfah-
rens in seinen Reden nach Inhalt und Methode nachzuweisen, fügt er
eine seltsame Einschränkung bei: sie seien bei ihm nur ,zufällig' zu finden
(κατά τύχην τινά 262 c 10, έκ τύχηο 265 c9). Gewiß wird niemand die
Einschränkung wörtlich nehmen wollen: Piaton läßt Sokrates nicht
zufällig so reden, wie er redet. Nicht weniger verkehrt wäre es aber, so
zu tun, als stünde die Einschränkung nicht da — auch sie steht ja nicht
zufällig im Text. Ihr Sinn ergibt sich aus ihrem Gegensatz, und der
lautet: τέχνη (265 d l ) . Die zerteilende und zusammenfassende Analyse
des Begriffs μανία ist zwar mit Bedacht eingeführt, indes sie wirkt
zufällig, so lange weder die Berechtigung und die Notwendigkeit des
Dihairesisverfahrens und seiner logischen und ontologischen Vorausset-
zungen nachgewiesen ist, noch auch nur der Gegenstandsbereich, in den
die μανίαι gehören, nach dem gleichen Verfahren erforscht ist. Nur wenn
beides erfüllt wäre, könnte man sagen, die δύναμιο (das ,Vermögen', die
Bedeutung) der Verfahren Ôiaipecic und ουναγωγή sei wirklich τέχνη
erfaßt (265 d l ) . Daß im Phaidros weder das eine noch das andere getan
wird, ist nicht schwer zu sehen: was unmittelbar auf die Einschränkung
folgt, ist lediglich eine grobe Umrißzeichnung der gemeinten Verfahren
für Phaidros, dem sie gänzlich neu zu sein scheinen (265 d 2 —8), nicht
ihre philosophische Begründung, die erst dem Auftauchen der Beispiele
den Anschein der Zufälligkeit nehmen könnte. Und daß die Seele — die
Wesenheit, an der sich die μανίαι zeigen — nicht mit voller Entfaltung
Der Gang des Dialogs 43

der dialektischen τέχνη vorgestellt ist, davon redet der Dialog zu


wiederholten Malen, mehr noch: es ist dies ein Hauptthema des Dialogs,
das sein Ziel in der Feststellung des Schlußteils erreicht, daß der
Dialektiker das, womit ihm Ernst ist, nicht schriftlich niederlegen und
seine τιμιότερα nur mündlich darlegen wird (276 c 7, 278 cd).
Daß die richtige Wertung des Eros mit der ,zufällig' begegnenden
dihairetischen Begriffsanalyse noch nicht abgeschlossen ist, sondern
letztlich von der Erkenntnis der Wahrheit über das Wesen der Seele
abhängt, wird in der großen Erosrede selbst festgestellt (245 b 7 —c4).
Wieweit genügt nun die Behandlung des Begriffs Seele den Anforderungen
der Dialektik? Die Fragen, die der Dialektiker zur Erforschung der Seele
nach 270 d untersuchen wird — ob sie einfach ist oder aus Teilen besteht,
wieviele Teile sie hat, was sie oder ihre Teile einzeln bewirken oder
erleiden können — begegnen in der Erosrede nicht, sie sind vielmehr
schon beantwortet im mythischen Bild des geflügelten Gespanns: die
Seele ist also nicht einfach, sondern hat Teile, und zwar drei, nicht mehr
und nicht weniger; von den Teilen sind zwei von gleicher Art (sie werden
als Pferde vorgestellt), aber von unterschiedlicher Qualität (nur das eine
Pferd ist edel), so daß schließlich zwei ungleiche Teile (Lenker und edles
Pferd) gegen den dritten zusammenwirken, freilich oft genug ihm
unterliegen. Diese poetische Allegorie kann — so eindrucksvoll sie auch
sein mag — die argumentative Begründung der in ihr enthaltenen
sachlichen Festlegungen nicht ersetzen: als dialektische Behandlung wird
sie nicht gelten können 36 . Und in dem Maß, in dem sie hinter einer
vollgültigen dialektischen Behandlung zurückbleibt, ist die Erosrede
,Spiel' (265 c 8, vgl. 265 c 1, 262 d 2). Daher ist denn auch die dialektische
Psychologie gegen Ende des zweiten Hauptteils als ein langer und überaus
schwieriger Weg bezeichnet, den zu gehen erst bevorsteht (273 e 4 —274
a 3, vgl. 272 b 5 ff.) — auf diese Stelle will die Erosrede offenbar
vorverweisen, wenn sie sagt, die Gestalt der Seele darzulegen erforderte
eine ,göttliche und lange Darlegung', statt deren hier nur gesagt sein soll,
womit die Seele zu vergleichen ist (246 a)37. Der Anklang der beiden

36
.Bewiesen' wird nur die Unsterblichkeit und die Selbstbewegung der (Welt-)Seele 245
c —e, was zwar für die Ausrichtung der (Einzel-)Seele auf das Unvergängliche (247 cff.)
wichtig ist, aber in dieser allgemeinen Form die Frage nach dem richtigen Eros
nicht begründet entscheiden kann: hierzu bedürfte es der genauen Erforschung der
Komponenten der dreiteiligen Seele.
37
Selbst die genauer begründende (s. unten 44 f.) Seelenlehre der Politela bedarf der
Ergänzung durch den ,längeren Weg' (435 d 3, 504 b2) der Dialektik.
44 Phaidros

Stellen, unterstrichen durch die religiösen Obertöne 38 , läßt keinen Zweifel


daran, daß Piaton mit vollem Bedacht eine dialektisch argumentierende
Behandlung der Seele in der Erosrede andeutet, aber nicht ausführt, im
zweiten Hauptteil dann gleichfalls nicht ausführt, aber doch ihren
allgemeinen Grundzügen nach deutlicher skizziert, um an diesem Beispiel
zu zeigen, worin der Vorzug einer weiterreichenden Erörterung, die
begründende τιμιώτερα zum Vorschein brächte, bestehen müßte. Die
im Text stark betonte Differenz zwischen dem philosophisch Möglichen
und dem tatsächlich Gebotenen verdeutlicht den Anspruch des Philoso-
phen, seine Darlegung mündlich überbieten zu können und damit
auch seine Fähigkeit, mit der philosophischen Mitteilung im rechten
Augenblick innezuhalten 39 : Phaidros ist für mehr offensichtlich noch
nicht reif, soll er doch für die wahre Rhetorik erst gewonnen werden 40 .
Daß das planmäßig Ausgesparte eine inhaltlich weiter reichende,
genauer begründende Theorie sein muß, wird somit aus dem Phaidros
selbst deutlich. Daß es aber weder als bloßes Programm für die Zukunft,
dessen Ausführung ungewiß bliebe41, zu denken ist, noch als etwas, das
in verhüllender Mitteilungsweise doch schon so weit angedeutet ist, daß
es der verstehende Leser selbständig ergänzen kann, zeigt der Vergleich
mit der Theorie der Seele in der Politeia. In diesem Dialog hatte Piaton
das Programm von Phaidros 270 d in wichtigen Punkten bereits ausgeführt
oder zumindest auszuführen begonnen. Die Dreiteiligkeit der Seele wird
dort nicht bildhaft vorweggenommen 42 , sondern in logisch umsichtiger
38
Die lange Darlegung der wahren Gestalt wäre eine θεία διήγηοιο 246 a 4, der ,lange
Umweg' der dialektischen Seelen- und Seinserkenntnis hat als Ziel gottgefälliges' Reden
und Handeln 273 e 7. (Die Schriftkritik des Schlußteils beginnt mit der Frage nach der
gottgefälligen Handhabung von λόγοι (274 b9) und endet mit der freiwilligen
Beschränkung der schriftlichen Mitteilung von Erkenntnis durch den φιλόοοφοο, der
dem Göttlichen nahesteht (278 d4)).
39
Der ideale Redner beherrscht die καιρούς του πότε λεκτέον καί έπιοχετέον 272 a 4.
Hierher gehört auch, daß zu jeder wahren Kunst das Wissen darum gehört, μέχρι
ÓJtócoO ihre Mittel einzusetzen sind (268 b7).
40
Vgl. oben Anm. 10.
41
Vgl. Friedländer III 219: „Es ist eine gewaltige Leistung, die Piaton hier fordert
und vorausschauend in ein System möglicher und für seine Aufgaben notwendiger
Wissenschaften einordnet." Zugleich scheint Friedländer aber zu meinen, die Frage der
Einheit oder Vielgestaltigkeit der Seele sei in der zweiten Eros-Rede des Sokrates
behandelt (ib.) und die „systematischen Konsequenzen" aus den dihairetischen Beispielen
in 265 dff. bereits gezogen (217). Die beiden Irrtümer - das Fehlende sei nur ein
Projekt, keine ausgearbeitete Theorie; soweit es aber sichtbar werde, habe es schon die
endgültige „dialektische" Ausführung - bedingen sich gegenseitig.
42
Vgl. Phdr. 253 c 7 - d l καδάπερ έ ν άρχή τοϋδε του μύθου τριχη διείλομεν ψ υ χ ή ν
έκάοτην, ίππομόρφω μέν δύο τινέ είδη, ή ν ι ο χ ι κ ό ν δέ είδοο τρίτον, καί νυν έτι
Der Gang des Dialogs 45

Argumentation begründet: da sich nichts hinsichtlich ein und derselben


Sache zur gleichen Zeit widersprüchlich verhalten kann, die Seele dies
aber zu tun scheint, so kann sie nicht einfach sein, sie enthält zumindest
einen vernünftigen und einen vernunftlosen Teil in sich (Politela 436
a - 439 e - dies beantwortet die Frage απλούν ή πολυειδέο Phdr. 270
d l , vgl. Politela 436 a 8 - b l ) . Da sich im vernunftlosen Teil selbst
widersprüchliches Verhalten nachweisen läßt, muß die Zahl der Teile
auf drei festgelegt werden (Politeia 439 e —441 c - dies entspricht der
Forderung έάν δέ πλείω ε'ΐδη εχη, ταϋτα άριθμηοάμενον Phdr. 270
d5, vgl. Politeia 441 c 6 ï c a τον αριθμόν). Aus der Beschaffenheit der
Teile ergibt sich, worauf sie sich von Natur richten und welcher
Erfahrungen sie überhaupt fähig sind (Politeia 580 d - 5 8 8 a — die
Aufgabe war: ΐδεΐν έ φ ' έκάοτου, τω τί ποιεΐν αυτό πέφυκεν ή [τω] 43
τί παθεΐν ύπό του Phdr. 270 d6).
Eine weitere Forderung an die dialektische Psychologie lautete, daß
sie die Natur der Seele aus dem Rückgriff auf die Natur des ,Alls' klären
müsse. Die Erosrede spricht zwar von der Weltseele als kosmischem
Bewegungsprinzip, vom Durchwalten des Kosmos und von der Auffahrt
der Seelen zum Himmel und zum Bereich über dem Himmel (245 c — 248
b), in welcher Weise jedoch die Einzelseele in den kosmischen und
überkosmischen Bereich eingebunden ist, wird nicht mit Begründungen
entwickelt. Eine teilweise Erklärung gibt erst der Dialog Timaios, der
mit der arithmetischen Konstruktion der Welt- und Einzelseele aus den
dialektischen γένη Sein, Selbigkeit und Verschiedenheit (Tim. 35 a —36
d) die Natur der Seele mit der Natur des ,Ganzen' 44 verknüpft.
Nur weil wir die dreiteilige Struktur der Seele, ihre kosmische
Funktion und ihre überkosmische Herleitung bereits aus anderen Quellen
kennen, können wir das Bild vom Zweigespann und dem Lenker, der
mit den Götterseelen zum überhimmlischen Ort auffährt, als sinnvolle
Allegorie verstehen. Es wäre nichts als eine Illusion, zu meinen, man
könne allein vom Seelenmythos der großen Erosrede aus die platonische

ήμΐν ταϋτα μενέτω. Die nur bildhafte Dihairesis .bleibt' und wird in gleicher Weise
fortgeführt, nicht kritisch begründet.
43 τφ τί sollte nicht zweimal im Text belassen werden; die Parallele 271 a 10 zeigt, daß
das zweite τφ nicht richtig sein kann. Die Korruptel erklärt sich wohl nach der sog.
Brinkmannschen Regel.
44 ή του όλου (púcic (270 c 2 ) bedeutet natürlich nur im Rahmen der vorplatonischen
Philosophie (genannt sind Anaxagoras, Hippokrates) soviel wie ,Natur des Alls' oder
,des Kosmos'. Für den Dialektiker umfaßt das δλον auch die unsichtbaren Prinzipien
des sichtbaren Kosmos.
46 Phaidros

Psychologie in ihrer inhaltlichen Konkretion und ihrer methodischen


Begründetheit erkennen. Einmal bekannt, ist sie jedoch eindeutig erkenn-
bar als das τιμιώτερον, das zur wissenschaftlichen Fundierung des
Phaidros erforderlich ist.
Die methodischen und inhaltlichen Einschränkungen, denen die
Seelenlehre des Phaidros unterworfen ist, zielen mit großer Deutlichkeit
auf die Schriftkritik im Schlußteil. Wenn der Dialog als Ganzes die
Gedanken über die wohlüberlegte Einschränkung der philosophischen
Mitteilung durch die Schrift illustrieren soll, so wird er als geschriebene
Darlegung die für ihn selbst erforderlichen τιμιώτερα zwar im Umriß
skizzieren, nicht aber in die Darstellung mit einbeziehen können. Der
Befund der beiden Hauptteile entspricht genau dieser vom Schlußteil
erweckten Erwartung.
Daß diese τιμιώτερα zu einem Teil in anderen Schriften Piatons
vorliegen, könnte nun freilich wie ein Widerspruch zu der Feststellung
aussehen, daß das höherwertige' des Philosophen erst durch die ,Hilfe'
in der mündlichen Darlegung hervortritt. Der Widerspruch löst sich,
wenn man bedenkt, daß τιμιώτερα ein relativer Begriff ist. Da Phaidros
sich vorderhand noch auf einem vergleichsweise bescheidenen philosophi-
schen Niveau bewegt - er ist offensichtlich nicht in der Lage, von sich
aus einen ernsthaften ελεγχoc anzustrengen —, bleibt vieles außerhalb
des Gesprächs, was bei anspruchsvolleren Gesprächspartnern 45 bereits in
die primäre Darlegung aufgenommen wird. Dialoge mit solchen Partnern
führen dann zwar inhaltlich weiter, sie reden in höherem Grade τέχνη
und άκριβώο 46 , können aber als geschriebene ,Abbilder' ihrerseits nicht
den ganzen Weg der Begründungen bis hinauf zu den άρχαί darstellen
und bleiben insofern trotz ihrer größeren Nähe zur ,kunstmäßigen'
Erörterung ein ,Spiel' und ein ,Geschichtenerzählen' 47 . Auch sie werden
also in entscheidenden Punkten weiterer Hilfe durch andere, noch
grundlegendere τιμιώτερα bedürfen. In der Tat gibt es keinen Dialog,
45
Unter den Hörern des Timaios befindet sich Sokrates, womit das Niveau hinreichend
bestimmt ist. Aber auch die Brüder Piatons Glaukon und Adeimantos in der Politeia
zeigen weit mehr kritischen Sinn als Phaidros.
44
άκριβακ, nácTj άκριβείςι wird der Dialektiker über die Seele handeln (270 e 3, 271
a 5), denn solche dialektische .Genauigkeit' begründet die ,Kunstmäßigkeit' einer
Darlegung: schon die zwei ,zufälligen' Beispiele begrifflicher Analyse machen die
Erosreden τεχνικωτέρουο im Vergleich zu Lysias (263 d5), τεχνικώτεροι als diese
sind die präzisen Argumente der Politeia, doch auch diese genügen nicht der Anforderung
voller άκρίβεια (Politeia 435 d l , 504 b5, vgl. 611 b - 6 1 2 a). - Gegenbegriff zu den
,genauen' sind die φαύλα oder .untechnischen' Ausführungen, s. oben 19 Anm. 19.
47
Phdr. 276 e 3 (Anspielung auf die Politeia, s. oben 14).
Der Gang des Dialogs 47

der dies nicht deutlich genug ausspräche: Piaton hat sich nicht nur in
seinem ganzen Schriftwerk an die Maximen gehalten, die er über den
Gebrauch der Schrift durch den Philosophen gestellt hat, sondern dies
dem aufmerksamen Leser auch zu erkennen gegeben 48 .

4) Zusammenfassung

Alles in allem erweist sich der Phaidros als ein Werk, dessen Teile
wie bei einem Organismus (264 c 2 —5) wohl aufeinander abgestimmt
sind. Thema ist, unter welchen Bedingungen ein λόγοο dem anderen
überlegen ist. Entscheidend hierfür ist einmal der bedeutendere Inhalt,
was in drei konkurrierenden Reden vorgeführt wird. Die siegreiche ist
die inhaltlich reichste und tiefste: was sie entfaltet, sind die geforderten
πλείονοο αξια oder τιμιώτερα (im Vergleich zu den Reden, die sie
übertreffen will). Gegenstand dieser Reden ist der Eros und damit die
Seele; dies natürlich nicht zufällig, vielmehr ist die Kenntnis der Seele
die zweite Bedingung der Überlegenheit einer Rede. Denn der tiefer
erkannte Inhalt wird vom Wissenden nicht beliebig verbreitet werden,
sondern muß der Natur des persönlich anwesenden Adressaten entspre-
chend vorgetragen werden, soweit dies gut scheint. Die auf der Kenntnis
der Seele beruhende Überlegenheit der Rede führt auf eine Redekunst,
die ihre Wirkung in der kontrollierten Entfaltung sachlich fundierten
Wissens vor dem für dieses Wissen geeigneten Gesprächspartner erzielt.
Nachdem die Kritik der konkurrierenden Reden gezeigt hat, daß auch
die beste noch keine wissenschaftliche (,dialektische') Psychologie bot,
weiß der Leser, welche Art von Ausführung dem Schriftstück, das er in
Händen hält, überlegen wäre: sie müßte inhaltlich weiter kommen in der
Behandlung der Seele und der Dialektik selbst, und sie müßte das,
was sie zu sagen hat, der individuellen Natur und Bereitschaft des
Angesprochenen entsprechend modifizieren — das heißt aber, daß es
sich um eine mündliche Darlegung handeln müßte. Im Schlußteil wird
dann begründet, warum jede Schrift eines (piXócocpoc auf diese Weise
auf Begründung durch eine überlegene mündliche ,Hilfe' angelegt sein
muß: der Schreibende, der den Leser und seine Seele nicht kennt, kann
ihre Eignung, ihre Bereitschaft, ihre Reaktion nicht berücksichtigen. Da
die Bedingungen für die Entfaltung der überlegenen, auf Dialektik

48 Zu den Aussparungsstellen der Politela s. unten 304 — 325.


48 Phaidros

gegründeten Seelenkenntnis des Philosophen in der Schrift nicht gegeben


sind, wird er sich hüten, seine Darlegung gegen die Regeln der Kunst,
nämlich zur Unzeit und vor Ungeeigneten, vorzulegen. Zumindest das,
womit ihm ,Ernst' ist — seine τιμιώτερα — wird er nur mündlich
entwickeln, und zwar nur zu der Zeit und vor den Gesprächspartnern,
die er selbst dafür bestimmt hat. Denn nur so läßt sich die ,Redekunst'
τέχνη betreiben: bei völliger Beherrschung nicht nur des Inhalts, sondern
auch des Umfangs und der Umstände der Vermittlung wesentlicher
Einsicht durch den φιλόοοφοο.
So lehrt der Phaidros beides in einem zu verstehen: was τιμιώτερα
sind und warum sie letztlich mündlich bleiben müssen.
Kapitel 3

Euthydemos
Sokrates' Spott über ,Geheimhaltung'

Es ist die positive Aussage des wichtigsten Textes über Mündlichkeit


und Schriftlichkeit, daß die wahrhaft philosophische Mitteilung die
Entfaltung tiefer begründender Einsichten konsequent der Situation und
dem Erkenntnisstand des Partners anpassen und wenn nötig einschränken
wird.
Es wäre seltsam, wenn Piaton, der die ernste und die spottende
Dichtung bei ein und demselben Autor vereint sehen wollte (Symp. 223
d), diese für ihn so wichtige positive Aussage nicht auch ins Negative
travestiert dargestellt hätte, wenn er jenen gewichtig-ernsten Text nicht
durch ein humorvoll-groteskes Gegenstück ergänzt hätte.
Die folgende Interpretation soll zeigen, daß dies die Absicht des
Dialogs Euthydemos ist: die für den φιλόοοφοο konstitutive Fähigkeit,
Einsicht situationsgebunden und psychagogisch gestuft zu vermitteln,
durch das karikierende Gegenbild zweier Möchtegernphilosophen zu
verdeutlichen. Die übliche Vernachlässigung oder gar Abwertung dieses
Meisterwerks platonischen Humors erklärt sich daraus, daß man nicht
erkannte, vor welchem Hintergrund der Euthydemos zu lesen ist und in
welchen größeren Zusammenhang innerhalb der platonischen Philoso-
phie er sich einordnet.

Am Ende seines Gesprächs mit den Fechtmeistern und Tugendlehrern


Dionysodoros und Euthydemos fordert Sokrates sie auf, ihre Weisheit
künftig nur im kleinen Kreis der Gleichgesinnten auszubreiten: τό γαρ
ςπάνιον τίμιον, das Rare steht in Geltung 1 .
Die vorangegangene Diskussion hat freilich gezeigt, daß die beiden
Eristiker jeder noch so bescheidenen ,Weisheit' bar sind, daß sie gar
nichts haben, was sie vor den wenigen Auserlesenen darlegen könnten.
1 304 a b, Zitat: b 3; wenige ,Gleichgesinnte': 303 d 3.
50 Euthydemos

Als Abschluß dieses Gesprächsgangs ist die Aufforderung zu esoterischer


Absonderung ein schneidender Sarkasmus.
Es ist wichtig, diese sarkastische Schlußbemerkung des Sokrates stets
antizipierend vor Augen zu haben, wenn wir im folgenden die früheren
Gesprächsphasen daraufhin befragen, welches philosophische Wissen
Piaton in ihnen ausspricht und welches er voraussetzt.
Es ist längst bekannt und von allen anerkannt, daß eine Anzahl
der scheinbar sinnlosen Trugschlüsse, mit denen Dionysodoros und
Euthydemos ihre Partner verwirren möchten, einen guten Sinn ergeben,
wenn sie auf die platonische Auffassung des Lernens und insbesondere
die Anamnesislehre bezogen werden 2 . Die erste Frage, die die Eristiker
dem jungen Kleinias vorlegen, lautet: wer lernt, die ,Weisen' oder die
Unwissenden (οι οοφοί ή oí άμαθεΐο, 275 d4)? Seine erste Antwort -
die Weisen — wird widerlegt, worauf er für die zweite Möglichkeit
optiert, was ebenfalls sogleich widerlegt wird (275 d 3 —276 c 7 ) . Die
Widerlegung zweier alternativer Antworten wirkt wie bloßes sophisti-
sches Spiel und ist es auch, wenigstens der Intention der drameninternen
Urheber nach. Der eigentliche Urheber Piaton scheint freilich eine andere
Intention zu haben; ,spielerisch' kann auch sie genannt werden, aber
gewiß nicht sophistisch: nach Symp. 203 e ff., Lysis 218 a ist es ganz
richtig, daß der Lernende weder ein Wissender noch ein Unwissender
ist. Aber die Eröffnung dieser dritten Möglichkeit des Weder-Noch, die
den zwei mitgeteilten Schritten erst Sinn verleihen würde, und die
dahinterstehende Auffassung von spcoc und φιλοοοφία fehlen im Euthy-
demos.
Die zweite Frage lautet: was lernt man? Widerlegt wird, nach dem
Muster des ersten Beweisgangs, die erste Antwort: was man nicht weiß,
und ebenso die zweite: was man weiß (276 d 7 — 277 c 7). Die Unsinnigkeit
dieses doppelten Beweises ist offenkundig. Doch wieder ist der Unsinn
Teil eines sinnvollen Ganzen: Im Menon antwortet Sokrates auf eben
diesen èptecixòc λόγοο — daß man weder lernen kann, was man weiß,
noch was man nicht weiß — mit der Darlegung der Anamnesistheorie
(80 d ff.). Hier im Euthydemos bringt er diese Entgegnung nicht, es bleibt
bei der für sich genommen unsinnigen negativistischen Vorstufe.
Noch deutlicher sieht man durch den eristischen Nonsense hindurch
auf die platonische Anamnesistheorie in einem später folgenden Beweis-

1 H. Keulen, Untersuchungen zu Piatons „Euthydem", Wiesbaden 1971, 25 — 40 und


49 — 56 (Hinweise auf ältere Literatur 26 Anm.56). S. auch Friedländer II 171, 177f.
Sokrates' Spott über ,Geheimhaltung' 51

gang. Es wird bewiesen, daß, wer etwas weiß, alles weiß (293 b - e ) , daß
jeder alles weiß (294 a —e), daß jeder immer alles wußte (294 e - 2 9 6 d).
So wie diese Beweise dastehen, sind sie abwegig im sachlichen Gehalt
und fehlerhaft in der logischen Form. Nimmt man den Menon hinzu, so
wird alles klar und einfach: von einer einzigen ,Erinnerung' aus kann
man alles suchen, da die gesamte Natur ,verwandt' ist (Men. 81 cd); da
alle Menschen eine unsterbliche Seele besitzen, die auf ihren Wanderungen
vor dem Eintritt in den Körper das wahrhaft Seiende gesehen hat, weiß
(potentiell) wirklich jeder alles (Men. 81 c, vgl. Phdr. 249 b 5); und die
Vorführung der Geometriekenntnisse von Menons Diener beweisen, daß
jeder schon immer alles (potentiell) gewußt hat (Men. 85 d 9 —86 b 4 ) .
Zu diesen bereits bekannten Beziehungen zwischen Menon und
Euthydemos tritt eine weitere, nicht weniger deutliche und nicht weniger
wichtige, die wohl wegen ihres burlesken Charakters den auf das
Ernsthafte gerichteten Nachforschungen der Interpreten entging. Nicht
lange nach dem Beweis der Allwissenheit eines jeden Menschen beweisen
Euthydemos und Dionysodoros, daß ihr Vater identisch ist mit dem
Vater ihres Gesprächspartners Ktesippos, ja daß er zugleich der Vater
aller Menschen ist, und nicht nur der Menschen, sondern überhaupt aller
Lebewesen, insbesondere aller Seeigel, Ferkel und Hunde. Ferner beweisen
sie, daß der Hund des Ktesippos als Vater von jungen Hunden zugleich
der Vater seines Besitzers Ktesippos ist (298 b 6 — e 5). Was soll diese
seltsame Verwandtschaft von Seeigeln, Menschen und Welpen? Vermut-
lich ist sie nichts anderes als eine burleske Variation auf das Fundament
der Anamnesislehre, das im Menon so formuliert ist: ατε γαρ xfjc
φύοεωο άπάοηο ουγγενοϋο ουοηο (81 c 9 - d l ) . Aus der ontologischen
Allverwandtschaft der Natur, die die Erkennbarkeit der Dinge garantiert,
wird auf dem hier karikierten Niveau die Blutsverwandtschaft von
Lebewesen aller Gattungen.
Es kann also — mit oder ohne die zuletzt dargelegte sachliche
Entsprechung — als gesichert gelten, daß eine Reihe von Trugschlüssen
im Euthydemos die Anamnesislehre voraussetzt. Von Anamnesis steht
jedoch in diesem Dialog kein Wort. Der einzige Hinweis, daß die
platonische Seelenlehre der Hintergrund ist, vor dem sich der scheinbare
Unsinn mit Sinn füllt, besteht darin, daß Sokrates mitten im eristischen
Geplänkel das Wort ψυχή einführt (295 b 4 ) . Doch ist dies ein Hinweis,
den klarerweise nur verstehen kann, wer diese Seelenlehre schon aus
anderen Quellen kennt.
Da die Anamnesistheorie sachlich mit der Ideenlehre verknüpft ist,
52 Euthydemos

verwundert es nicht, daß auch auf sie angespielt ist. Die schönen Dinge,
sagt Sokrates, sind verschieden vom Schönen selbst, sind jedoch schön
durch Gegenwart von Schönheit (301 a 2 — 4). Die Betonung der Aporie,
in die Sokrates gerät angesichts der Frage nach dem Verhältnis der
schönen Dinge zum Schönen selbst (a 2), die Entscheidung für die
Unterschiedenheit von Einzelding und Idee (a 3) und der Hinweis auf die
Schwierigkeit des Parusiebegriffs (a4 —7) zeigen, daß Sokrates hier der
ganze Problembestand der Ideenlehre gegenwärtig ist (man vergleiche
etwa Politela 476 d). Aber dieses höhere Theorem wird sofort auf das
Niveau der Eristik herabgezogen, wenn es heißt, so wie die schönen
Dinge durch die Gegenwart des Schönen schön würden, so werde auch
Sokrates durch die Gegenwart eines Rindes zum Rind und durch
die Gegenwart des Dionysodoros zu einem Dionysodoros — letzteres
wenigstens ist Sokrates denn doch zu viel: ευφήμει τοΰτό γε ist seine
Antwort (301 a 7).
Wie die Anamnesistheorie mit der Ideenlehre verknüpft ist, so diese
mit einer Theorie der Wissenschaften. Konsequenterweise wird auch auf
sie angespielt. Auf der Suche nach der obersten Kunst oder Wissenschaft,
die die Glückseligkeit verbürgt, werden auch die Künste der Jagd
durchmustert, darunter die Feldherrnkunst und die Mathematik. Sie
kommen nicht in Frage, weil bei der gesuchten έπιοτήμη bzw. τέχνη
Hervorbringung oder Erwerb mit dem Gebrauch zusammenfallen muß,
während die Feldherrnkunst ihre Beute, etwa eine eroberte Stadt, dem
Politiker überläßt, und die Mathematik ihre Beute der Dialektik (290
cd). Das unvermittelte Auftauchen dieses sehr spezifischen Bruchstücks
aus der Wissenschaftstheorie der Politela (vgl. 510 cff., 531 cff.), das im
Zusammenhang des Euthydemos unverständlich bleiben muß, zeigt, daß
Piaton auch hier weit mehr voraussetzt als er darlegt und erläutert.
Diese auffällige Bezugnahme auf die Theorie der Dialektik, wie sie
in der Politela auftritt, wird ergänzt durch eine Anspielung auf die im
Phaidros entfalteten Aspekte der Dialektik als idealer Redekunst, die -
ähnlich der Travestie des Gedankens der Allverwandtschaft der Natur
— wegen ihrer Unauffälligkeit den Interpreten bislang entging3. Die
gesuchte ,Kunst', deren Besitz die Eudaimonie bringt, könnte nach
Meinung des Sokrates vielleicht die Kunst sein, Reden zu machen (ή
λογοποιική τέχνη 289 c7). Wie bei der Mathematik und der Strategik
wird auch hier der Anspruch der glückseligmachenden τέχνη daran

3
Friedländer II 320 Anm. 16 war nahe daran, die Beziehung zu sehen.
Sokrates' Spott über .Geheimhaltung' 53

gemessen, ob Hervorbringung und Gebrauch in ihr vereint sind oder


nicht. Durch Verweis auf ,gewisse Redenschreiber' (xivctc λογοποιούο
289 d2) kann nun der junge Kleinias den Vorschlag des Sokrates zur
Bestimmung der gesuchten Wissenschaft leicht widerlegen: diese Leute
schreiben Reden, die sie selbst nicht vortragen können, während die, die
von ihnen Gebrauch machen, solche Reden nicht verfassen könnten
(d2 —7). Sokrates akzeptiert das als hinreichende Begründung dafür, daß
es nicht diese Kunst der Redenschreiber ist, durch deren Besitz man
glücklich wird (οτι ούχ αυτή έστίν ή των λογοποιών τέχνη, ή ν αν
κτηεάμενόο TIC ευδαίμων ειη d 8 —10). Wie aber, wenn es zwar nicht
diese, wohl aber eine andere ,Redekunst' wäre4? Vergessen wir nicht,
daß die ,wahre' Redekunst des Dialektikers auch im Phaidros in
steter Abhebung gegen die gängige Redekunst der Rhetoriklehrer und
Redenschreiber entwickelt wurde. Und die Dialektik als Kunst der
philosophischen Gesprächsführung erfüllt die Anforderungen, die an die
hier gesuchte έπιοτήμη gestellt sind: bei ihr ist ein Auseinanderfallen
von Hervorbringen und Gebrauch ausgeschlossen, denn Dialektik ist
mündliches Philosophieren, der Dialektiker macht auf Grund seiner Sach-
und Seelenkenntnisse den kunstgemäßen, den richtigen Gebrauch von
seinen λόγοι, indem er sie im persönlichen Gespräch allererst hervor-
bringt5. Und die λόγοι der Dialektik verschaffen die höchste Eudaimonie,
die dem Menschen möglich ist (Phdr. 277 a 3).
Fassen wir zusammen: so wichtige platonische Theoreme wie die
Anamnesis- und Ideenlehre und die Theorie der Dialektik sind als
der philosophische Hintergrund der Gedankenführung im Euthydemos
deutlich erkennbar. Sie werden jedoch nirgends klar benannt, geschweige
denn dargestellt oder gar mit Gründen entfaltet und sind durchwegs in
einer Weise präsent, daß sie die Gedankenentwicklung nur aus dem
Verborgenen lenken, nicht offen dominieren, und daß sie weder von den
drameninternen Adressaten erfaßt werden noch vom Leser jemals erfaßt
werden könnten, hätte er nicht explizite Belehrung über die betreffenden
Theoreme in anderen Dialogen zur Verfügung.

4 Daß Piaton wirklich dergleichen andeuten will, zeigt außer der Formulierung (ούχ
αΰτη έοτίν ή των λογοποιών τέχνη, statt ούκ ëcnv ή των λογ. τέχνη) vor allem
die anschließende Versicherung, Sokrates habe geglaubt, die lange gesuchte έπιοτήμη
werde sich hier zeigen (dlO —el); vgl. unten 55.
5 Das Auseinanderfallen von Hervorbringen und Gebrauch ist hingegen mit der Schrift
gegeben: Autor und Leser sind notwendig verschiedene Personen. Es ist diese wesensmä-
ßige Entfremdung, die die Schrift prinzipiell unfähig macht, den Anforderungen der
wahren λόγων τέχνη zu genügen.
54 Euthydemos

Die Tatsache, daß dieser Dialog ständig auf Dinge verweist, die nicht
in ihm erarbeitet wurden, war der Piatonforschung, wie erwähnt, nicht
entgangen6. Was ihr entging, war die Bedeutung dieser Tatsache: sie
zeigt sich erst, wenn man das auffällige Fehlen jener gewichtigeren
Theoreme — jener τιμιώτερα, wie man sagen könnte — mit dem Motiv
des absichtlichen Zurückhaltens in Beziehung setzt.
Bevor wir der Rolle dieses Motivs im Aufbau des Dialogs nachgehen,
wollen wir noch festhalten, daß nicht allein gewisse τιμιώτερα, die
inhaltlich nicht aus dem vorliegenden Zusammenhang zu gewinnen sind,
faktisch ergänzt werden müssen. Piaton ist nicht lediglich selbst, als
Autor, das Subjekt bei der Zurückhaltung des sachlich geforderten
Hintergrundwissens, sondern zeichnet darüber hinaus auch die Dialogfi-
gur Sokrates als den, der über das zu ergänzende Wissen verfügt.
Den deutlichsten Hinweis in dieser Richtung gibt Piaton im Anschluß
an das unerwartet auftauchende Bruchstück aus seiner Wissenschaftstheo-
rie, das das Verhältnis zwischen den mathematischen Wissenschaften
und der Dialektik bestimmt (290 c, oben S. 52). Um die Bedeutung die-
ser Erkenntnis zu markieren, unterbricht Piaton den erzählten Dialog
und läßt Kriton, den Gesprächspartner des Rahmendialogs, fragen, ob
wirklich der junge Kleinias, wie Sokrates berichtet, so Kluges gesagt
habe7; wenn er es war, so bedürfe er keiner weiteren menschlichen
Bildung mehr (290 e 1 — 6). Sokrates kann nicht verbürgen, daß es Kleinias
war, es könne auch Ktesippos gewesen sein - was ihm Kriton gleichfalls
nicht glaubt (291 a l ) . Jedenfalls war es weder Euthydemos noch
Dionysodoros, das weiß Sokrates genau (a2). Da damit alle übrigen
Teilnehmer des erzählten Gesprächs ausgeschieden sind, könnte Kriton
sich ausrechnen, wer die auf tiefere philosophische Zusammenhänge
verweisende Erkenntnis ins Gespräch einführte. Doch so einfach wird das
nicht mitgeteilt, vielmehr sagt Sokrates, dissimulierend und überhöhend
zugleich, es könne einer von den Höheren, der gerade zugegen war, jene

* Mit Ausnahme der zwei neu aufgezeigten Verweisungen.


7 Die Verwunderung des unphilosophischen Kriton richtet sich primär auf Kleinias'

Bestimmung des Verhältnisses von Strategik und Politik (290 d l —8). Für ,Kleinias' ist
dies aber aufs engste verknüpft mit der Bestimmung des Verhältnisses von Mathematik
und Dialektik: beide Male wird eine ,erwerbende' Kunst einer gebrauchenden'
untergeordnet (290 b 7 - d 8 ) . Daß Piaton die Stelle wegen ihrer Aussage über die
Dialektik hervorhebt, ergibt sich schon daraus, daß die Unterordnung der Strategik
unter die Politik im demokratischen Athen eine Selbstverständlichkeit war, während
der Begriff der Dialektik und ihre Uberordnung über die mathematischen Disziplinen
auf spezifisch platonischen Voraussetzungen beruht.
Sokrates' Spott über ,Geheimhaltung' 55

Worte geäußert haben: μή TIC των κρειττόνων παρών αυτά έφθέγξατο


(a 4). Wessen Stimme sich der unerkannte Gott bediente, brauchen wir
nicht lange zu fragen; fest steht, daß mit der Dialektik der Bereich
des ,Höheren', der ,göttlichen' Philosophie berührt ist, die weitere
,menschliche' Bildung überflüssig macht.
Auch bei dem Hinweis darauf, daß die Dialektik die Redekunst ist,
die die entscheidenden, eudaimoniebringenden λόγοι hervorbringt (289
c6 —el, oben S. 52 f.), wird nebenbei angedeutet, wenn auch mit
geringerem Nachdruck, daß Sokrates über die klärende Einsicht verfügt.
Er ist es, der den Blick auf die λογοποιική τέχνη lenkt (c7). Das tut er
freilich auch im Fall der στρατηγική (290 b 1), deren Anspruch zu
Recht abgewiesen wird. Der Unterschied besteht jedoch darin, daß die
Zurückweisung dort unangefochten bleibt8, während hier Sokrates nach
Kleinias' unzureichenden Gegengründen, die nur auf die geringerwertige
λογοποιική eines Lysias oder Isokrates, nicht aber auf die Redekunst
des Dialektikers zutreffen, versichert: „und doch glaubte ich, daß sich
hier irgendwo die Wissenschaft zeigen werde, die wir schon lange suchen"
(289 d l O - e l ) . Die Stellung von έγώ ist betont (καίτοι έγώ ωμην):
Sokrates hoffte hier das Gesuchte zu finden; gewiß nicht in der gängigen
λογοποιική 9 , vielmehr „hier irgendwo" (ένταΰθά που), also im Bereich
der (wahren) Kunst, Reden hervorzubringen. Und sogleich subsumiert
Sokrates, der gerade noch „hier irgendwo" das Entscheidende vermutete,
die Kunst der Redenmacher unter die Kunst der Beschwörung, mittels
derer einerseits Schlangen, Spinnen und Skorpione beschworen und
besänftigt werden, andererseits Richterkollegien und Volksversammlun-
gen (289 e 1 - 2 9 0 a6). Das Abschätzige dieser Zuordnung mildert sich,
wenn man bedenkt, daß auch für den wahren Redner die λόγου δύναμιο
in der ψυχαγωγία besteht (Phdr. 271 c 10), nur daß er seine Seelenführung
nicht auf ,Beschwörung', sondern auf fundiertes Wissen über die Seele
gründet. (Daß die Ergänzung von Gedanken des Euthydemos gerade aus
dem Phaidros nicht kombinatorische Willkür ist, wird sich aus den im
folgenden nachzuweisenden Beziehungen ergeben.)
In den Abschnitten, die auf die Anamnesislehre zu beziehen sind,
verbirgt Sokrates mit mehr Konsequenz, daß er im Besitz des sachlich
geforderten zusätzlichen Wissens ist. Da aber im dritten und wichtigsten
dieser Abschnitte (293 b ff.) erst sein gezieltes Fragen (bes. 294 a 5, e 6 — 7)
* Die Durchbrechung des erzählten Dialogs durch den Rahmendialog zeigt ja, daß die
Zurückweisung in Wirklichkeit von Sokrates selbst kam.
' Zu ούχ αΰτη 289 d 8 vgl. oben 53 mit Anm.4.
56 Euthydemos

auf die gewünschte Abfolge von Unsinnigkeiten führt, die auf der Folie
des Menon Sinn erhalten, können wir auch hier nicht an der Absicht
Piatons zweifeln, Sokrates als den Wissenden zu zeichnen, der in der
gegebenen Situation von seinem Wissen keinen offenen Gebrauch machen
will. Im gleichen Sinn war oben (S. 51 f.) die Art auszulegen, in der die
Anspielung auf die Ideenlehre (301 a) gestaltet ist. Daß in diesen beiden
Fällen die Rolle des Sokrates als des Wissenden weniger handgreiflich
zu fassen ist10, liegt zweifellos daran, daß sie in den eristischen Ge-
sprächsabschnitten begegnen, die beiden Hinweise auf die Dialektik
hingegen in den protreptischen: gegenüber den jungen Gesprächspartnern,
die für die Philosophie aufgeschlossen sind, kann sich Sokrates deutlicher
zeigen11.

Dieser Sokrates also, der mit seinen τιμιώτερα zurückzuhalten weiß,


verhöhnt die beiden Eristiker mit der Aufforderung, ihr Wissen künftig
nur vor Geeigneten darzulegen. Daß in diesem vernichtenden Hohn die
Handlungsführung des Dialogs zu ihrem Ziel kommt und daß wir folglich
von hier aus die zentrale Aussage des Euthydemos verstehen müssen,
zeigt ein Blick auf den Aufbau.
Drei Gesprächsstränge heben sich gegeneinander ab, die zwar nach
Charakter und Inhalt sehr verschieden sind, aber doch ein gemeinsames
Thema aufweisen: den Rang der φιλοοοφία und die Art, wie sie
betrieben werden soll. Auf einem mittleren Niveau wird dieses Thema im
Rahmengespräch mit Kriton als Gesprächspartner erörtert. Sokrates will
Kriton dafür gewinnen, mit ihm zusammen die Weisheit der neuerdings

10
Daß in 301 a überhaupt ein Hinweis auf die Ideenlehre vorliegt, wird mitunter
angezweifelt, z.B. von Guthrie IV 278f., der auch frühere Stimmen hierzu zitiert (279
η. 1). Desgleichen bin ich auf Ablehnung meines Vorschlags gefaßt, in der (wahren)
λ ο γ ο π ο α κ ή einen Hinweis auf die Dialektik zu sehen. Für diejenigen, die hier skeptisch
bleiben möchten, sei darauf hingewiesen, daß für das hier verfolgte Beweisziel die
allgemein anerkannten Verweisungen auf weiterführende Theorien in 290 c (Dialektik)
und 293 bff. (Anamnesis) genügen. Guthries Versuch (IV 282), auch noch Euthyd. 290
c von Politeia 510 cff. zu trennen, ist mehr als fragwürdig: mit seinem Schlußsatz „for
the unhypothetical first principle is the Form of the Good" bemüht er doch wieder ein
Theorem der Politeia, das angeblich „need not have been in his (Plato's) mind here".
(Daß die freiwillige Zurückhaltung das strukturgebende Handlungsmotiv ist, ist Guthrie
wie allen anderen Interpreten entgangen; hierzu s. unten 56 — 61.)
11
Daß solche personenbezogene Zurückhaltung nichts mit Geheimhaltung zu tun hat,
ergibt sich schon daraus, daß bei der Einführung der Dialektik durch Sokrates (oder
.einen der Götter'?) auch Euthydemos und Dionysodoros anwesend sind; aber das
Gespräch gilt in diesem Abschnitt nicht ihnen. Zum Unterschied zwischen Geheimhal-
tung und Esoterik vgl. unten 400 — 403.
Sokrates' Spott über .Geheimhaltung' 57

zu Intellektuellen gewordenen früheren Pankratiasten und Fechtmeister


Euthydemos und Dionysodoros zu erlernen (272 d). Um Kriton einen
Begriff von dem zu geben, was sie von den beiden lernen würden, erzählt
Sokrates sein Gespräch vom Vortag mit ihnen. Nach dem Bericht macht
Kriton zögernd Sokrates darauf aufmerksam, daß er in dieser Gesellschaft
in Verruf geraten könnte (304 cff.); er habe einen Beobachter getroffen,
einen Mann von hoher Selbsteinschätzung, der Reden für Gerichtsver-
handlungen schreibe; dieser habe nach Anhören eben dieses Gesprächs
zwischen Sokrates und den Tugendlehrern sich unwillig geäußert über
den unangemessenen ,Ernst', der hier auf Wertloses verwendet werde,
und gemeint, Kriton müsse sich für seinen Freund Sokrates schämen;
schließlich habe er die Philosophie selbst und die Leute, die sie betreiben,
für wertlos und lächerlich (φαύλοι καί καταγέλαοτοι) erklärt (304
c —305 b). Kriton hält den Tadel an der Philosophie selbst nicht für
gerechtfertigt, wohl aber den Tadel an der Bereitschaft des Sokrates zu
Gesprächen mit solchen Leuten. Sokrates ist von diesem ungenannten
Kritiker, der zwischen Philosophie und Politik steht und sich deshalb
beiden Bereichen überlegen dünkt (305 c —306 c), in keiner Weise
beeindruckt; die Zweifel des Kriton an der Eignung derer, die sich als
Erzieher anbieten, beantwortet er mit dem Hinweis auf die Tatsache,
daß in jeder Kunst die Guten und Wertvollen rar, die Schlechten und
Wertlosen zahlreich sind; so auch in der Philosophie; überhaupt solle
Kriton nicht auf die Leute achten, die Philosophie treiben, sondern die
Sache selbst prüfen, und je nach dem Ergebnis der Prüfung entweder
jedermann von der Philosophie abhalten oder sie mit seinem ganzen
Anhang zuversichtlich betreiben (307 a —c).
Auch in diesem Rahmengespräch wird die selbstverkleinernde Verstel-
lung des Sokrates, seine ειρωνεία, nicht aufgehoben: er will angeblich
immer noch, wie er es zu Euthydemos und Dionysodoros gesagt hatte
(274 b3), ihr Schüler werden und dazu noch Kriton anwerben (272
d l - 3 , 304 b 7 - c 5 ) . Die Beibehaltung der Ironie in einer Situation, in
der sie nicht nötig wäre, wirkt als Verstärkung, und so wird denn auch
auf diesen Seiten zusätzliches Licht auf Thematik und Zielsetzung des
durch und durch ironischen Hauptteils geworfen. Seltsam herausgehoben
aus dem ironischen Schluß sind zwei ,objektive' Wahrheiten, die sich
gleichsam als ablösbarer ,Ertrag' des Ganzen aufdrängen: es kommt nur
auf die Sache selbst an, die man Philosophie nennt, nicht auf ihre
Vertreter, und: es gibt wie überall gute und schlechte Vertreter (φαύλοι
— οπουδαιοι). Daß es auf die Vertreter so gar nicht ankommt, wird
58 Euthydemos

nicht nur durch das Verhalten von Kriton und Sokrates widerlegt - für
Kriton ist die Person des Sokrates die Gewähr dafür, daß παιδεία das
Wichtigste ist (306 d 6 - e 3 ) , und Sokrates will sich unbekümmert um
Kritik gerade diesen Weisheitslehrern anschließen — sondern mehr noch
durch den anderen objektiven Satz, den über die guten und die schlechten
Lehrer: wenn es so sicher ist, daß dieser Unterschied überall statt hat,
so ist es zwingend, sich nach dem wahren Lehrer der Philosophie
umzusehen. Und so sollen wir offenbar den Hauptteil auch lesen: als die
aufeinander bezogenen Porträts zweier φαύλοι και ούδενόο άξιοι und
des einen cnoDÔaîoc και παντόο αξιοο. Indessen behält der Satz über
die Sache selbst als das einzig Entscheidende doch auch seine Richtigkeit:
auch im Phaidon fordert ja Sokrates die Freunde auf, nicht auf ihn,
sondern weit mehr auf die Wahrheit zu achten (91 c 1). Zwar erweist
ihn auch dort eben dieser Rat als den einzigartigen Lehrer, auf den nicht
zu achten verhängnisvoll wäre; der Anspruch des überlegenen Lehrers
muß sich jedoch darauf gründen, daß er über wesentlichere Einsichten
verfügt, daß er der εχων τιμιώτερα ist — das ist der platonisch
verstandene Primat der Sache, der den Primat des διαλεκτικόο unter
den Lehrern nach sich zieht12.
Kriton freilich weiß nichts von dieser Verbindung zwischen der Sache
und dem Menschen, der sie vertritt. Seine Ansicht von der Wichtigkeit
der Erziehung hat er von Sokrates, daß dieser aber, obschon er nicht
beansprucht, Lehrer der άρετή zu sein, dennoch der einzige Lehrer ist,
das sieht er nicht. Er verteidigt die Philosophie gegen den ungenannten
Kritiker ohne zwischen Eristik und wahrer Philosophie zu unterscheiden,
und ist daher auch nicht fähig, den Anspruch des Kritikers auf Überlegen-
heit zurückzuweisen (305 e). Und Sokrates habe es wirklich falsch
gemacht, daß er „vor vielen Menschen" mit Euthydemos und Dionysodo-
ros sprach (έναντίον πολλών άνθρώπων 305 b2). Wie es scheint, würde
Kriton private Gespräche - ,esoterische', wenn man so will - mit den
Eristikern gutheißen. Auch damit ist ein wichtiges Motiv des Hauptteils
aufgenommen: die Frage, was man vor wem erörtern soll. Kriton ist weit
entfernt von der Haltung des Sokrates, dessen im Hauptteil geschilderte

12
Nichts ist daher unplatonischer als die Auffassung, daß sich „die Sophistik der beiden
Fechtmeister ... von der sokratischen Dialektik ... einzig durch die Gesinnung und das
Gerichtetsein" unterscheide (Friedländer II 167). Für Piaton liegt der Unterschied in
Kenntnis oder Unkenntnis von Anamnesis, Ideen, Dialektik. (Die Bereitschaft des
Sokrates, sich hierüber mitzuteilen, richtet sich allerdings nach „Gesinnung und
Gerichtetsein" der Partner.)
Sokrates' Spott über ,Geheimhaltung' 59

öffentliche Auseinandersetzung durchaus seiner sonstigen Art des Um-


gangs mit Sophisten entspricht, während man sich schwer vorstellen kann,
daß für ihn die Brüder Euthydemos und Dionysodoros in ernsthaftem
persönlichem Gespräch etwa an die Stelle der Brüder Glaukon und
Adeimantos treten könnten.
Noch weniger als Kriton, der Sokrates immerhin menschlich verbun-
den ist, versteht der anonyme Kritiker den οπουδαιοο καί παντός άξιοο.
Für ihn ist er einfach einer von den περί ούδενόο άξίων άναξίαν
οπουδήν ποιουμένων (304 e 4 —5), für den sich Kriton schämen müsse.
In der Tat müßte sich Kriton für seinen Freund schämen - wenn
Sokrates wirklich seinen Ernst (οπουδή) auf die wertlosen Dinge, die die
Eristiker beschäftigen, richtete. Wieder ist der Dialog unter den Aspekt
des Primats der Sache, der Bedeutung der behandelten Dinge, gestellt,
diesmal in Verbindung mit dem Motiv des ,Ernstes'. Der Zusammenhang
von οπουδή und inhaltlich verstandenen πολλοί) άξια, wesentlich für
den Phaidros, ist wesentlich offenbar auch für den Euthydemos 13 .

Noch offenkundiger bestimmt diese Thematik jedoch den Hauptteil


(272 e —304 b), der von zwei kontrastierenden Gesprächssträngen, einem
eristischen und einem sokratischen, gebildet wird. Gegenüber dem
mittleren Niveau des Rahmengesprächs zeigt die eristische Linie philoso-
phie' auf dem niedrigsten denkbaren Niveau, im Zerrbild eines Spieles
ohne Wert (278 b), während die sokratische Linie auf philosophischen
Ernst hinführt, ohne ihn freilich inhaltlich zu entfalten.
Sokrates setzt das Thema fest: die Brüder sollen den jungen Kleinias
in einem λόγοο προτρεπτικός vom Wert der Philosophie überzeugen;
als sie nur Trug- und Fangschlüsse vorbringen (1. eristischer Teil, 275
d —277 c), zeigt Sokrates selbst, wie er sich den verlangten Protreptikos
vorstellen würde (1. sokratischer Teil, 277 d —282 e) und übergibt sein
Paradigma den Eristikern zur Fortsetzung, die freilich ganz so ausfällt,
wie nach der ersten Vorführung ihrer Kunst zu erwarten war (2.
eristischer Teil, 283 a —288 b), weswegen Sokrates seinen Protreptikos
schließlich selbst fortführen muß (2. sokratischer Teil, 288 b —293 a); er
läßt ihn diesmal allerdings in der Aporie enden, womit er Gelegenheit
hat, die Meister der Eristik um Rettung aus der Aporie zu bitten und so
ein drittes Mal auftreten zu lassen (3. eristischer Teil, 293 b - 3 0 4 b).
13 Aus ούδενόο άξίων ist ein ,πολλού άξια' als Objekt des .Ernstes' des Sokrates zu
gewinnen. Daß damit die πλείονος δξια, die τιμιώτερα, βελτίω und μείζω des
Phaidros gemeint sind, wird man kaum bezweifeln wollen. Vgl. Anm. 16.
60 Euthydemos

Die Spannung bei diesem viermaligen Wechsel der Gesprächsebene


wird nun stets dadurch aufrechterhalten, daß Piaton jeweils an den
Übergängen zwischen den Teilen des Gesprächs das Motiv ,Spiel/Ernst'
ausspielt. Der erste eristische Teil endet verwirrend und enttäuschend,
nicht nur für den jungen Kleinias, sondern wohl auch für den Leser.
Doch Sokrates weckt in der Überleitung zu seinem Protreptikos die
Hoffnung auf Besseres: die Brüder würden gewiß ihr ,Spiel' (παιδιά 278
c2) beenden und ihre οπουδαϊα vorführen 14 ; einstweilen will er selbst
mit einem Beispiel vorangehen (277 d - 2 7 8 e). Natürlich wird diese
Hoffnung im zweiten eristischen Teil dann nicht erfüllt; damit wir sie
aber nicht vergessen, erinnert Sokrates zu Beginn dieses Abschnitts (283
b 10 — c 2) noch einmal an seinen ,Ernst' und das ,Spiel' der Brüder. Nach
diesem Teil muß er freilich die Hoffnung auf eine ernsthafte Vorführung
ihrer Weisheit noch einmal hinausschieben (288 b — d); sein Glaube an
das Erscheinen dieses Ernstes ist jedoch ungebrochen. Und nachdem sein
eigener ,Ernst' (288 d3) im zweiten protreptischen Teil in der Aporie
gescheitert ist, ruft er die beiden Eristiker in seiner Not an wie die
Dioskuren, sie sollten nun endlich auf jede Weise Ernst machen und
ihn und seinen jugendlichen Gesprächspartner „retten", indem sie die
gesuchte έπιοτήμη aufzeigen, auf die es allein ankommt (293 a 1 - 6 ) .
Und in der Tat: Sokrates' unerschütterlicher Glaube wird nicht enttäuscht,
im dritten eristischen Teil - der die Albernheiten der Trugschlüsse auf
die Spitze treibt — zeigen Euthydemos und Dionysodoros zu seinem
Entzücken wirklich ihren ,Ernst' (294 b l —3, 300 e l ) . Und so kann er
ihnen abschließend den gut gemeinten Rat geben, ihre Weisheit künftig
nur ,esoterisch' weiterzugeben.
Dieser knappe Überblick dürfte deutlich gemacht haben, daß wirklich
das Motiv ,Spiel/Ernst' die architektonische Funktion hat, die Teile des
Dialogs gegeneinander abzusetzen und die Erwartungen für die noch
ausstehenden Teile zu definieren. Indem wir das tatsächlich Gebotene
an den Erwartungen messen, erkennen wir den Sinn der Abfolge. Es ist
ein Spiel um das Hervorlocken des ,Ernstes' aus den (angeblich) zur
Zurückhaltung neigenden eristischen ,Esoterikern'. Von entscheidender
Wichtigkeit ist es, daß das Motiv des ,Ernstes' wie im Phaidros (276 e)
mit dem des β ο η θ ε ΐ ν τω λόγω verbunden wird. Denn der Ruf nach
,Rettung' durch die Brüder hat keinen anderen Sinn als den einer
Aufforderung an sie, dem λόγοο zu ,helfen' und so zu beweisen, daß sie

14 παιδιά - οπουδαϊα 278 c 2 - 3 , vgl. 277 d 9 , e2, 278 b 2 f . , c6, d l .


Sokrates' Spott über .Geheimhaltung' 61

φιλόσοφοι im Sinne des Phaidros sind. Die Variation des Ausdrucks


ergibt sich aus der Dialogsituation: das maßlos übertriebene ironische
Lob des Sokrates hat Euthydemos und Dionysodoros zuvor schon (273
e 6) in die Nähe der Götter gebracht, und auch hier werden sie „wie die
Dioskuren" angefleht. Was bei Menschen ,Hilfe' wäre, ist bei ihnen mehr
als das, es ist göttliche ,Rettung'. Rettung aus der Aporie des Protreptikos
wäre möglich durch ernsthaftes Philosophieren, das zum Aufweis der
gesuchten έπιοτήμη führen würde (293 a 4 - 6 ) . Daß diese έπιοτήμη das
ist, was Piaton Dialektik nennt, daran kann kein Zweifel bestehen. Nun
sahen wir, daß Sokrates wesentliche Merkmale der Dialektik kennt; er
könnte also die ,Rettung' bringen, die er von den armen Sophisten
verlangt. Doch er hält damit zurück, er zeigt seinen ,Ernst' nicht 15 .
Nichtsdestoweniger bleibt er der εχων βοηθεϊν (der, der die Fähigkeit
und Möglichkeit zur ,Hilfe' hat), da er der εχων τιμιώτερα ist; nur zieht
er es vor, ,zu schweigen, denen gegenüber man schweigen muß' (ciyàv
πρόο oî3c δει).
Nun zeigt sich auch der Sinn des Spottes über Geheimhaltung:
derjenige, der wirklich aus bisher zurückgehaltenem Hintergrundwissen
,helfen' könnte, fordert die Gegner auf, dies zu tun. Als sich zeigt, daß
sie es nicht können, verspottet er sie ob ihres ,Ernstes' und rät ihnen
höhnisch zur Zurückhaltung von Wissen — also zu dem, wozu sie
mangels zurückzuhaltender τιμιώτερα prinzipiell unfähig sind.
Verspottet wird im Euthydemos also nicht philosophische Esoterik,
sondern gerade die Unfähigkeit dazu.

Die den Sinn des Ganzen entscheidende Beziehung zum Phaidros


wird nun bestätigt durch eine Reihe von weiteren Bestimmungen und
Hinweisen, durch die sich die Eristiker in sehr präziser Weise als das
Negativbild des φιλόοοφοο erweisen.
Die selbsternannten Tugendlehrer führen in Stufen zur Philosophie
hin, wie bei einer Initiation (277 de). Bekanntlich wird die Schau der
Ideen im Phaidros als Einweihung in Mysterien geschildert (250 b 8 — c4),

1J Die Versicherung 288 d 3 , er betreibe seinen Protreptikos ernsthaft, steht nicht im


Widerspruch dazu: im Vergleich mit den Possen der Eristiker ist dieser Protreptikos
tiefer Ernst, im Vergleich mit dem, w a s die Aporie lösen würde, ist er nur vorbereitendes
,Spiel' ( - ein Spiel von anderer Art freilich als das der Brüder). .Spiel' und .Ernst' sind
relative Begriffe; Kritiker, die dies nicht verstanden haben, klagen gern über die
„ A b w e r t u n g " der Dialoge durch diejenigen, die an der historischen und sachlichen
Bedeutung von Piatons Prinzipienlehre festhalten. Aber wenn einer die Dialoge
„ a b w e r t e t " , so ist es Piaton selbst als der 2χων τ ι μ ι ώ τ ε ρ α .
62 Euthydemos

und auch sonst ist die Parallelisierung von Philosophie und τελεταί bei
Piaton geläufig. Die mit dieser Vorstellung schon gegebene Fähigkeit
des kontrollierten Zurückhaltens — die ja, wie wir sahen, die ganze
,Handlung' des Dialogs bestimmt - wird den Gegnern auch ausdrücklich
und mit Anerkennung bescheinigt: olc&a δτε δει άποκρίναοθαι καν οτε
μή (287 d l ) und τοϋτο μεν έκών παρήκαο (301 c2). Wir sollen sie also
als die wahren Redner verstehen, die die καιρούο του πότε λεκτέον
και έπιοχετέον kennen, die sich aufs α γ α ν πράο oöc δει verstehen
(Phdr. 272 a 4, 276 a 6). Zur Beleuchtung dieses ironischen Lobes dient
die Stelle, wo Dionysodoros seine Kunst blamiert, indem er zur Unzeit
antwortet (297 a). Die ,Kunst' der Sophisten lobt Sokrates im übrigen
wegen ihrer άκρίβεια λόγων (288 a 6), womit er ihr gewiß nicht zufällig
ein Merkmal der Sachkenntnis des Dialektikers zuschreibt (vgl. Phdr.
270 e - 2 7 1 a, Politela 435 d 1, 504 b5). Denn daß die Brüder nicht aufs
Geratewohl daherreden, sondern als Meister der τ έ χ ν η des διαλέγεοθαι
auftreten, steht für ihn fest: κάλλιον έπίοταοαι διαλέγεο9αι, sagt er zu
Euthydemos (295 e 2), und überhaupt sprechen die Brüder τεχνικώς, er
selbst nur ΐδιωτικώο (303 e 5, 278 d5). Sie werden also zu wahren
τεχνικοί λόγων πέρι im Sinne des Phaidros hochgelobt, deren ,Kunst'
als λόγων τέχνη oder als διαλεκτική τέχνη umschrieben werden kann
(Phdr. 273 de, 276 e). Da die όμοίωαο Οεω das Ziel des Dialektikers
ist, verstehen wir nun auch die Erhebung der Eristiker zu ,Göttern' (293
a) nicht lediglich als übermütigen Scherz, sondern als gezielte Überbietung
der Gottnähe des φιλόοοφοο (Phdr. 278 d). (Der Kontrast dieser Stelle
zur Anwesenheit,eines der Höheren' in 291 a — hier können die ,Götter'
nicht helfen, dort wirft ein Gott den Begriff der Dialektik, mit dem die
Hilfe zu bestreiten wäre, in die Diskussion — bestätigt die Absicht dieser
Anspielung). Und damit wir auch keinen Augenblick vergessen, daß die
Überlegenheit des wahren Dialektikers auf dem Inhalt beruht, den er
behandelt, wird über die C7t0üÖr|-naiöi<x-Thematik hinaus noch eigens
betont, daß die Brüder sich mit ,Großem' befassen (273 cd), während
der arme Sokrates nur Geringes (ομικρά 293 b 8) kennt; aus dem Phaidros
ist uns geläufig, daß Piaton das ,Größere', das ,Bessere' und das
,Wertvollere' synonym verwendet 16 : sein Besitz macht den φιλόοοφοο.
Die einheitliche Wiedergabe des Idealbildes des Philosophen im
Zerrbild der Antiphilosophen durchbricht Piaton nur in zwei Punkten
(ohne übrigens die einheitliche ironische Anerkennung zu durchbre-

" μείζω, βελτίω, τιμιώτερα 279 a 8, 234 e 3, 235 d 6 , 278 d 8 .


Sokrates' Spott über ,Geheimhaltung' 63

chen17): Euthydemos und Dionysodoros erwarben und vermitteln ihre


Weisheit in kürzester Zeit - Piaton wird im Phaidros und auch sonst
nicht müde zu betonen, daß Dialektik eine Sache jahrelanger Bemühung
ist18; und die schnelle Lehre kann überdies von jedermann absolviert
werden, keine (piicic ist ausgeschlossen (304 c 2, vgl. 272 b 4) — für den
wahren Dialektiker hingegen gibt es durchaus solche, die die Sache nichts
angeht (otc ουδέν προοήκει Phdr. 275 e 2), daher ist die Wahl des
geeigneten Gesprächspartners (der ψυχή προσήκουοα 276 e 6) die erste
Voraussetzung für die Entfaltung seiner λόγων τέχνη und die Auswahl
der geeigneten Naturen ein wesentliches Thema in Politeia, Nomoi und
Siebtem Brief 1 '.
Diese Übereinstimmungen legen es nahe, in der Bezogenheit des
Negativbildes der Philosophie in Gestalt der beiden Eristiker auf das
positive Porträt des φιλόοοφοο im Phaidros die wichtigste Aussage des
Dialogs zu sehen. Der Euthydemos ist die als Farce gestaltete dramatische
Umsetzung20 der Definition des Philosophen als des Mannes, der seinem
Logos durch Rückgriff auf ,Bedeutenderes' zu Hilfe kommen kann und
der als der wahre Redner im geeigneten Moment auch zu schweigen
weiß. Diese beiden Fähigkeiten des Philosophen werden hier als die
handlungsbestimmenden Motive benützt, mit deren Hilfe Euthydemos
und Dionysodoros schließlich in übermütigster Verkehrung der Wirklich-
keit zu ,Esoterikern' gemacht werden. Nur ein sehr plumpes Mißverständ-
nis der sarkastischen Komik dieser Situation könnte darin einen Hohn
auf die Idee des esoterischen Philosophierens selbst — statt auf unwürdige
Anwärter der Philosophie — sehen.

17 Die Einheitlichkeit des ironischen Lobes wird dadurch erhalten, daß den Eristikern teils
faktisch positive Merkmale, die ihnen abgehen, zugeschrieben werden, teils faktisch
negative Merkmale, die sie wirklich haben, als positive ausgegeben werden.
18 Man halte Euthydemos 273 d 9 , 304 a 2, a 4 (τάχιστα, ταχυ), 303 c 5 , e 6 , 272 b 3 (έν

(πάνυ) όλίγφ χρόνω) gegen Phdr. 272 b c, 274 a 2, 276 b, Epist. 7, 341 c, 344 b: πολλή
CDVODCÍa, μετά πολλού χρόνου. Die lange Ausbildung der Dialektiker in der Politeia
steht in Ubereinstimmung mit solchen Stellen.
" Die Bedeutung der έκλογή (Politeia 535 a 6, vgl. έκλέγειν Nomoi 969 b 8) für die
Staatsutopien Piatons ist evident. Der Siebte Brief will die philosophische Mitteilung
dem ουγγενήο του πράγματος (344 a) vorbehalten; nur sehr wenige (όλίγοι τινές 341
e 2) zeichnen sich durch Wesensverwandtschaft zur Sache der Philosophie aus.
2 0 Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß ich den Phaidros für chronologisch früher

halte. Ähnlich kann aus dem Umstand, daß die voll entwickelte Anamnesislehre
vorausgesetzt ist, keineswegs geschlossen werden, daß der Euthydemos später geschrie-
ben ist als der Menon. Bei ihrer ersten kohärenten Darlegung kann die Anamnesislehre
für Piaton bereits ein πολυθρύλητον gewesen sein, wie die Ideenlehre im Phaidon (100
b). Mit Sicherheit kann dies für die Schriftkritik und den Begriff des βοηθεΐν im
64 Euthydemos

Der Wert des Dialogs als klärende Bestätigung und Konkretisierung


wichtiger Aussagen des Phaidros ist nicht gering zu veranschlagen. Die
mit der Komik des Zerrbildes gegebene Drastik und Überdeutlichkeit
dürfte helfen, etwa noch vorhandene Bedenken auszuräumen. Piaton teilt
uns hier in modellhafter, dramatisch breit ausgespielter Form mit, was
,Zurückhalten' im Bereich der Philosophie bedeutet, wer sie übt und
warum, und welche Art von philosophischem Wissen der Zurückhaltung
unterliegt. Zurückhaltung philosophischer έπιοτήμη ist dann angebracht,
wenn die Aufnehmenden für Philosophie entweder schlichtweg ungeeignet
sind, wie Euthydemos und Dionysodoros, oder für voraussetzungsreichere
Erkenntnisse noch nicht genügend vorbereitet, wie Kleinias und Ktesip-
pos. Zurückhaltung bedeutet die Wahrung der Überlegenheit für den
Fall des Mißbrauchs oder der Herabsetzung 21 durch Ungeeignete: was
Euthydemos und Dionysodoros mit der Unsterblichkeit der Seele und
der Anamnesis machen würden, kann man sich vorstellen; besser überläßt
man ihnen dergleichen gar nicht erst. Zurückhaltung bedeutet, sich die
Möglichkeit des βοηθεΐν τω λόγω offen zu halten. Ob in einem
gegebenen Fall von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen ist oder
nicht, entscheidet der Philosoph auf Grund seiner Einschätzung der
Partner: hier verzichtet Sokrates darauf". Das Zurückgehaltene muß
dem Typ nach begründendes,,höheres' Wissen sein: nur mit inhaltlichen
τιμιώτερα kann man helfen.
Was die im Euthydemos gezeigten Verhältnisse für die Problematik
der Schrift, die hier nicht entfaltet wird, bedeuten, braucht kaum eigens

Phaidros angenommen werden: die Nützlichkeit dieses Begriffs für die Interpretation
der Frühdialoge ist der sicherste Beweis.
21
πλημμελούμενοο καί ούκ έν δίκη λοιδορηθείς, Phdr. 275 e 3 - 4 .
22
Es wäre ein schweres Mißverständnis zu meinen, daß Sokrates hier zwar schweigt, aber
doch durch sein Schweigen hindurch das höhere Wissen ,andeutet' und somit die
Schleiermachersche Theorie der indirekten Mitteilung bestätigt - so als sei die
spezifische Mitteilungsweise des Dialogs eben das οιγώντα λέγειν (die Formulierung
begegnet gerade im Euthydemos im Rahmen eines Trugschlusses: 300 b). Entscheidend
ist, daß die τιμιώτερα, die im Euthydemos fehlen, aus diesem Dialog allein niemals
herauszuholen wären: in Schleiermachers Theorie muß aber die indirekte Mitteilung
ihrem Sinngehalt nach autark und daher dem verständigen Leser ohne weitere direkte
Belehrung entzifferbar sein. Hier dagegen können wir die fehlenden Theoreme allein
deswegen hinter dem Text sehen, weil wir in anderen Dialogen direkte Belehrung über
sie erhalten. Es wäre sinnlos, von einer ,indirekten' Mitteilung der Anamnesislehre im
Euthydemos zu reden: sie wird nicht mitgeteilt, sondern vorausgesetzt. Auch die
entwicklungsgeschichtlich orientierte Auffassung von der Art des Fehlenden wird durch
das Paradigma Euthydemos desavouiert: das hier Fehlende läßt sich nicht als Plan für
die Zukunft deuten, sondern besteht ganz offenkundig aus ausformulierten Theorien.
Sokrates' Spott über ,Geheimhaltung' 65

dargelegt zu werden. Daß die τιμιώτερα, nach denen der Euthydemos


verlangt, selbst in anderen Dialogen schriftlich vorliegen, wird niemanden
verwundern: wir haben es mit einer modellhaften Darstellung zu tun;
wenn das Modell für den Leser verständlich sein soll, müssen beide Arten
von λόγοι, die helfenden und die, die der Hilfe bedürfen, geschrieben
vorliegen. Die für das ganze Schriftwerk gültige Aussage, daß der
Philosoph auch seinen Schriften gegenüber stets die Möglichkeit des
βοηθεΐν und damit die Überlegenheit des εχων τιμιώτερα bewahren
wird, ist weiterhin dem Phaidros zu entnehmen, nicht dem Euthydemos;
aber die erheiternde Lektüre dieser lebhaften Farce wird uns die gewichti-
geren und abstrakteren Aussagen des anderen Dialogs besser verstehen
lehren.
Vom Euthydemos aus, der das Verbergen und Zurückhalten von
Einsicht als zentrales strukturierendes und sinngebendes Motiv verwendet
und somit als der locus classicus zu betrachten ist, an dem sich der Sinn
des platonischen Spottes über ,Geheimhaltung' exemplarisch zeigt, sind
auch diejenigen Stellen anderer Dialoge zu verstehen, an denen das
,Verbergen' als Begleitmotiv neben anderen Motiven fungiert. Es wird
sich zeigen, daß solcher Spott nirgends der Forderung des Phaidros
nach bewußtem Zurückhalten von Einsicht seitens des Philosophen
widerspricht — wie es bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht scheinen
könnte —, sondern stets den Zweck hat, den Verspotteten dadurch als
Nichtphilosophen zu erweisen, daß ihm in ironischer Verkehrung der
Wirklichkeit ein wesentliches Merkmal des Philosophen zugebilligt wird,
auf das er ganz offensichtlich keinen Anspruch hat 23 .

23 Das Motiv des ,Verbergens' (oft verbunden mit oder vertreten durch das Motiv des
,Betrügens' — betrügen kann ja nur, wer einen Wissensvorsprung vor dem anderen
verbirgt) begegnet u. a. in Cha. 174 a, Prot. 342 be, Hi. min. 370 e, 373 b, Hi. mai. 293
e, 300 ed, Eu-phr. 3 d, 11 b, 14 c, 15 e, Lysis 215 c, 219 b, Ion 541 e, Gorg. 499 bc,
Krat. 383 b - 3 8 4 a, 427 de, Phdr. 271 c i - 3 .
Kapitel 4

Die,Hilfe für den Logos' als Strukturprinzip des platonischen


Dialogs

Es hat sich gezeigt: der Satz, daß der Philosoph seine geschriebene
Erörterung stets durch τίμιώτερα wird überbieten können, ist vom Inhalt
seines Philosophierens zu verstehen: er muß im Vergleich zu seinem
Buch weiterreichende und tiefer begründende Argumente und Theoreme
bereithalten. Alles Geschriebene muß auf Ergänzung durch bessere
Argumente angelegt sein. Piaton konzipiert die philosophische Schrift
von vornherein als die nicht-autarke Schrift, als die Schrift, die inhaltlich
transzendiert werden muß, wenn sie voll verstanden werden soll. Das
Buch des Philosophen muß die letzte Rechtfertigung seiner Argumente
außerhalb seiner haben.
Dies ergab die Interpretation des Schlußteils des Phaidros, der
wichtigsten platonischen Äußerung über Schriftlichkeit und Mündlich-
keit. Die Analyse des Hauptteils des Phaidros und des Euthydemos
zeigten, daß dieses theoretische Konzept vom Verhältnis des Philosophen
zu seinem λόγοο und dessen Begründung auch im lebendigen Porträt des
wahren Dialektikers und seines Gegenbildes wirksam ist.
Insofern nun freilich alle Dialoge Teil eines großen Bildes vom wahren
Philosophen sind, oder in der Schrift erstarrte Abbilder seines lebendigen
Redens, und insofern sie alle den Anspruch erheben, den theoretischen
Forderungen an philosophisches Schrifttum zu genügen, müssen sie alle
von der gleichen Auffassung getragen sein. Es gilt daher zu sehen, in wie
weit die einzelnen Dialoge diese Auffassung auch zum Ausdruck bringen.
Unterschiede in der Deutlichkeit, mit der Piaton sein Urteil über
schriftliches und mündliches Philosophieren in Dialoghandlung umsetzt,
wird man von vornherein voraussetzen dürfen - es ist nicht zu erwarten,
daß die Reflexion über die Grenzen des Schreibens jedesmal in vollem
Umfang aufgenommen wird. Da aber Piaton den Namen φιλόοοφοο
an das Bewußtsein von der Hilfebedürftigkeit der Schrift knüpft, ist
.Hilfe für den L o g o s ' als Strukturprinzip des Dialogs 67

andererseits kaum zu erwarten, daß es eine platonische Schrift geben


könnte, die nicht in irgendeiner Form an die Vorläufigkeit ihrer Darlegun-
gen erinnerte.
Von der formalen Variabilität solcher Erinnerungen können bereits
die behandelten Dialoge einen Vorbegriff geben. Bei aller Variabilität
müssen jedoch als wesentliche und daher unveränderliche Elemente
erkennbar bleiben erstens, daß die Erörterung aus der Situation des
ελεγχοο heraus stufenweise ,helfend' auf ein höheres Niveau verlegt
wird, und zweitens, daß gerade auf der höchsten im jeweiligen Dialog
erreichten Stufe ein Hinweis darauf gegeben wird, daß die ,helfende'
Höherverlegung des Begründungsniveaus ,hier' und ,jetzt' durchaus nicht
zum Abschluß gekommen ist, daß also auf dem klar konzipierten Weg
hinauf zu den ,noch höheren άρχαί' (Tim. 53 d) weitere Schritte nötig
wären. Was man nicht erwarten wird bei Piaton, ist das pedantische
Einhalten einer bestimmten Terminologie für das ,Helfen', sei es für das
dialoginterne, sei es für das dialogüberschreitende: entscheidend ist
die identisch durchgehaltene Struktur und ihre klare Markierung im
Dialoggeschehen.

Gegen dieses Vorhaben, im Blick auf Piatons Konzeption vom


mündlichen Philosophieren die erwähnten Strukturen in den einzelnen
Dialogen nachzuweisen, könnten freilich verschiedene Einwände erhoben
werden 1 .
Aus dem Nachweis, daß der Gedankengang des einen Dialogs (oder
Dialogteils) zur ,Hilfe' und Fundierung der Gedanken eines anderen
dient, ergebe sich noch nichts — so wird versichert — für eine mündliche
Philosophie Piatons: Geschriebenes verweist auf Geschriebenes, und wir
haben keinen Anlaß, auf Ungeschriebenes von mehr als peripherer
Bedeutung zu schließen 2 . Und ist es zweitens nicht ein bloßes Mißver-
ständnis, von Fällen von ,Hilfe für den Logos', die in geschriebenen
Dialogen begegnen, auf die mündliche ,Hilfe' für Geschriebenes zu
schließen, von der Piaton im Phaidros spricht? Das Geschriebene verlangt

* Es wird dem Leser nicht entgangen sein, daß diese Einwände im Verlauf der bisherigen
Analysen teils implizit, teils explizit bereits beantwortet wurden; ich stelle sie hier
gleichwohl noch einmal zusammen, damit der Leser sich zu Beginn der Einzelanalysen
vor Augen halten kann, welche Alternativen für die Auslegung der β ο ή Ssia-Steilen
bestehen. Die Beantwortung der Einwände kann sich angesichts der Ergebnisse der
früheren Kapitel auf die allgemeineren Gesichtspunkte beschränken.
2 Brieflicher Einwand eines deutschen Kollegen gegen den Vorentwurf dieser Untersu-

chung, den ich im Mus. Helv. 3 5 , 1978, 18 - 3 2 vorgelegt hatte.


68 ,Hilfe für den Logos' als Strukturprinzip des Dialogs

doch nach einer grundsätzlich anderen Art von Hilfe als die gesprochene
Darlegung 3 . Drittens sei es doch absurd anzunehmen, daß ein Philosoph,
der in einen Elenchos eintritt über das, was er geschrieben hat, nunmehr
mündlich wesentlich verschiedene Dinge zur Verteidigung seiner Schrift
darlegen werde. Eine sinnvolle Verteidigung müsse sich doch an das zu
Verteidigende halten: wenn die Schrift etwa über Politik ging, würde
man erwarten, daß der Verfasser in einen Elenchos über Politik eintreten
wird, daß er also das Thema nicht wechseln wird. Andernfalls hätte man
zwei verschiedene Arten von Themen, eine Art für die geschriebene
Philosophie, eine andere für die mündliche 4 .
Der erste Einwand übersieht, daß die im Schriftwerk enthaltenen
Fälle von ,Hilfe für den Logos' die Funktion von Beispielen haben:
an ihnen können wir ablesen, was βοηθεΐν konkret bedeutet. Diese
παραδείγματα selbst beweisen natürlich noch nicht, daß das Schriftwerk
insgesamt weiterer ,Hilfe' bedarf, wohl aber sagt das der Phaidros in
aller Allgemeinheit vom Buch des Philosophen, und die einzelnen Dialoge
sagen jeweils von sich, und zwar meist auf dem Höhepunkt der
Diskussion, daß sie inhaltlicher Ergänzung bedürfen. Die paradigma-
tischen Fälle von ,Hilfe', die Ausführungen des Schlußteils des Phaidros
und drittens die Aussparungsstellen der Dialoge müssen in ihrem
Zusammenhang erkannt werden: so wie der weiterführende schriftliche
Logos seinem einfacheren Vorläufer ,hilft', so verweist der Dialog
insgesamt auf weitere ,Hilfe' — und dies gilt auch und gerade für die
inhaltlich am weitesten führenden Dialoge, deren Aussagen nirgends im
Schriftwerk fortgeführt werden. Die Verlängerung des am βοήθεια-
Modell der Dialoge ablesbaren Begründungszusammenhangs über die
Dialoge hinaus wird vom Schriftwerk selbst gefordert.
Der zweite Einwand postuliert, um der Anwendung des βοήθεια-
Modells auf das Schriftwerk zu entgehen, zwei verschiedene Arten von
,Hilfe'. Man hätte freilich gerne gewußt, worauf im Piatontext sich diese
Unterscheidung stützen möchte 5 . Der Phaidros jedenfalls zeigt deutlich,
3 So die Polemik von de Vries, Mus. Helv 36, 1979, 60 — 62 gegen den in Anm. 2
genannten Entwurf.
4 So G. Vlastos, Gnomon 35, 1963, 653: „to change subjects" sei mit der Idee von
βοηθεΐν τφ λόγω unvereinbar; „if he (sc. a man) had been writing about politics, he
would be expected to go into an elenchus concerning politics", unmöglich könne er
„now turn to a different, and more exalted, topic, like metaphysics". Im folgenden
(654) kämpft Vlastos sehr engagiert gegen die Vorstellung von ,two sets of objects'.
5 De Vries 1. c. 61 scheint seine Ansicht, daß „the help which is asked for in the course
of a conversation is not the same thing as the support which is needed by the written
word" auf die Auffassung zu gründen, daß βοηθεΐν in Politela 368 b c „bears on the
,Hilfe für den Logos' als Strukturprinzip des Dialogs 69

daß es für Piaton ein und dieselbe Fähigkeit des β ο η θ ε ΐ ν τω λ ό γ φ ist,


die sich in der Verteidigung der mündlichen wie auch der schriftlichen
Darlegung des Dialektikers zeigt'. Ob im schriftlichen ,Abbild' eines
Gesprächs der mündlich philosophierende Sokrates seinen eigenen münd-
lichen Logos verteidigt, oder ob Piaton einem Argument aus einem seiner
Dialoge zu Hilfe kommt, sei es schriftlich als Autor oder mündlich als
Lehrer in der Akademie, kann keinen prinzipiellen Unterschied begrün-
den: schon die Abbildnatur der Schrift bürgt dafür, daß dieselben
Strukturen vorliegen müssen. M a n bedenke auch, daß Piaton verschie-
dentlich den Dialog nur als schriftliche Fixierung eines bestimmten
Gesprächs verstanden wissen will 7 ; wenn der Gesprächsführer nun die
Aufzeichnung sähe, könnte er zur mündlichen ,Hilfe' für diese Schrift
schreiten — die Aufzeichnung wiederum dieser ,helfenden' Fortsetzung
des Gesprächs wäre aber zugleich die schriftliche ,Hilfe' für den in Schrift
gefaßten ersten Dialog. Diese Überlegung mag wie ein theoretisch
ersonnener Fall klingen, gewinnt aber konkrete Bedeutung für Piatons
Hauptwerk: das erste Buch der Politeia hat, wie die Mehrheit der
Interpreten seit K. F. Hermann annimmt, lange vor den Büchern II —X
als fertige Schrift vom T y p der Frühdialoge vorgelegen 8 . Die Fortsetzung,
die der mittleren Periode angehört, gibt sich aber ausdrücklich als ,Hilfe'
für Sokrates' These in Buch I 9 . Wenn wir uns nun fragen, was Piaton
zu der Zeit, als er Politeia II — X schrieb, aber noch nicht abgeschlossen

discussion as a whole, not on a specific theory proposed on its course". Aber der zuletzt
zitierte Satz ist ein Irrtum von de Vries, nicht eine Aussage des Piatontextes. Und selbst
wenn er richtig wäre, könnte er den Schluß auf zwei prinzipiell verschiedene Arten der
,Hilfe' nicht begründen.
6 S. oben 10ff., 20f.

7 So vor allem im Prooemium des Theaitetos, ähnlich im Phaidon und Symposion (vgl.

unten 260).
* K . F . Hermann, Geschichte und System der platonischen Philosophie, Heidelberg
1839, 538. Die Annahme einer separaten Publikation von Buch I unter dem Titel
.Thrasymachos' (F. Dümmler, Zur Composition des platonischen Staates, Kleine
Schriften I, Leipzig 1901, 229ff.) ist nicht nötig. Die frühe Entstehung verteidigt jedoch
mit Recht Friedländer I 45 f.; wenig durchschlagend ist der ,positive' Nachweis von K.
Vretska, Platonica III, WSt 71, 1958, 4 0 - 4 5 , daß Buch I allein als Einleitung zum
Gesamtwerk denkbar sei, noch weniger überzeugend der Gedanke von Guthrie IV 441,
Piaton habe dem Leser der Politeia in Buch I „the stages of his own pilgrimage" nicht
vorenthalten wollen. Vgl. unten 277 ff., 283 mit Anm. 30 u. 32. - Für die im Text
verfolgte Überlegung kommt es im übrigen wenig darauf an, ob zwischen der Abfassung
von Buch I und Buch I I - X viel oder wenig Zeit verstrich; entscheidend ist die
morphologische Verschiedenheit, die Buch I als einen eigenen, in sich geschlossenen
Logos vom Rest abhebt.
' Vgl. unten 279 f.
70 ,Hilfe für den Logos' als Strukturprinzip des Dialogs

hatte, als mündliche ,Hilfe' für das erste Buch hätte bieten können, so
ist evident, daß es sich um nichts anderes hätte handeln können als den
Inhalt der jetzt vorliegenden schriftlichen ,Hilfe' 10 .
Auch der dritte Einwand beruht auf einem einfachen Mißverständnis.
Die thematische Beziehung zwischen dem ,helfenden' und dem hilfe-
bedürftigen Logos ist mit der allzu schlichten Alternative ,one or two
sets of objects' nicht zu verstehen. Platon sagt ja im Phaidros deutlich
genug, was von einem überlegenen Logos zu erwarten ist: er muß
,anderes', ,mehr' und bedeutenderes' bieten als der Logos, den er
übertreffen soll, aber selbstverständlich anderes und Bedeutenderes περί
τοϋ αύτοΰ πράγματοο (234 e 3 ) n . Damit ist schon gegeben, daß das
einseitige Beharren auf der Unmöglichkeit von ,two sets of objects'
an Platon vorbeigeht. Der Phaidros zeigt auch, wie das eigentliche
Erkenntnisziel im Wechsel der Argumente identisch erhalten bleibt; eben
dies ist mit exemplarischer Klarheit, wie wir noch sehen werden, auch
an der Politela abzulesen, wo zur ,helfenden' Begründung der in Buch I
gemachten Aussagen über Gerechtigkeit ein Wechsel der unmittelbaren
Gesprächsthemen stattfindet, freilich ohne daß das Generalthema Gerech-
tigkeit jemals aus den Augen verloren würde.
Für Piaton also ist die Identität des Themas mit der quantitativen
und qualitativen Verschiedenheit der Argumentationsreihen sehr wohl
vereinbar. Es wäre in der Tat absurd gewesen, wenn die mündliche
Philosophie Piatons schlichtweg anderes geboten hätte als die Dialoge.
Doch das βοήθεια-Modell der Dialoge lehrt, daß diese Vorstellung eine
selbstgefertigte Schwierigkeit' ist, geboren aus dem modernen Vorurteil
gegen ,Esoterik' und der Unfähigkeit, den Befund des Textes für sich
sprechen zu lassen.
Im übrigen wird die vermeintliche Notwendigkeit, den ,helfenden'
Logos strikt im thematischen Bereich des hilfebedürftigen zu halten,
nicht nur sachlich durch die Struktur der Dialoge widerlegt, sondern
auch wörtlich durch eine Formulierung im 10. Buch der Nomoi ausge-
schlossen: dort wird im Zusammenhang einer ,Hilfe' für einen Logos ein
έκτόο βαίνειν, ein Heraustreten aus dem ursprünglichen Argumenta-
tionsbereich, gefordert. Hier ist der Gegensatz zwischen der platonischen
und der antiesoterischen Auffassung von βοηθενν so offenkundig, daß

10 Daß auch diese ,Hilfe' ihrerseits ergänzungsbedürftig bleibt, ändert nichts daran, daß
die nächstliegende und zuerst zu gebende mündliche Ergänzung und Begründung des
Arguments von Buch I mit dem Inhalt der folgenden Bücher zusammenfiele.
11 Vgl. oben S. 28 f. mit Anm.6 und 7.
,Hilfe für den Logos' als Strukturprinzip des Dialogs 71

es keiner weiteren Klarstellungen, nur noch der Kenntnis von der Existenz
des relevanten Textes bedarf 12 .
Demnach wenden wir uns nunmehr den Einzelanalysen zu. Das
soeben erwähnte 10. Buch der Nomoi mit seiner klaren Benennung der
in ihm verwirklichten βοήθεια und ihres ,transzendierenden' Charakters
ist geeignet, paradigmatisch an die Spitze der Untersuchung zu treten.

12
Daß Vlastos seine antiesoterische Erklärung des Begriffs der ,Hilfe für den Logos' in
offenbarer Unkenntnis des reichen platonischen Belegmaterials zu diesem Begriff
konzipiert hat, wird man schwerlich bestreiten können. Neben Nom. 891 d e entging
ihm z.B. auch Phd. 88 d 6 —7 (wozu s. unten 243 Anm.77).
Kapitel 5

Nomoi, Buch 10
Überschreiten als Wesen der ,Hilfe'

Das zehnte Buch der Nomoi hat das Ziel, das Gesetz über die
Behandlung der Gottlosen im kretischen Idealstaat zu erarbeiten. Der
sehr streng gefaßte νόμοο άοεβείαο πέρι wird auf den letzten Seiten
formuliert (907 d - 9 1 0 d), der weit umfangreichere vorangehende Teil
versteht sich als ,Einleitung' (προοίμιον), die durch die Milde vernünfti-
ger Überredung die Strenge des Gesetzes erträglich machen soll (890 c).
Dieses Verhältnis der beiden Teile zueinander ist ein sicherer Hinweis
darauf, daß die Erörterung unter den im Phaidros dargelegten Gesichts-
punkten beurteilt werden muß. Dort sind Gesetzeswerke wiederholt 1
aufgeführt unter den geschriebenen λόγοι, bei deren Verteidigung sich
zeigen muß, ob der Verfasser über Besseres als das Geschriebene verfügt
und somit ein Philosoph ist oder nicht. Auch Piatons Hauptwerk und
zugleich umfangreichstes Werk vor den Nomoi, die Politela, bezeichnet
sich als ,Gesetzgebung'*, will also seinerseits unter dem Aspekt der
möglichen Vertiefung des Geschriebenen in der mündlichen Begründung
gelesen werden 3 . Im vorliegenden Text ist die Differenz zwischen Schrift
und Wort in das dargestellte Gespräch selbst hineinverlegt: das am Schluß
formulierte Asebiegesetz ist innerhalb des fiktiven Handlungsrahmens als
geschriebenes Gesetz zu betrachten, ist es doch Teil der Bestimmungen,
die den Bürgern des zu gründenden kretischen Staates bekannt gemacht
werden sollen. Aber das Gespräch ,Nomoi' begnügt sich nicht mit der
Erarbeitung dieser νόμοι. Indem der ,Athener' als Gesprächsführer
einwilligt, über die starre Drohung des geschriebenen Gesetzes in einem
argumentierenden προοίμιον hinauszugehen (vgl. 886 e - 8 8 7 c, 890 bc),

1
Phdr. 257 e - 2 5 8 d, 277 d7, 278 c 4 (vgl. e 2).
2
νόμοο, νομο9ετεϊν und νομοθεσία erscheinen an über 20 Stellen sowohl für einzelne
Bestimmungen im besten Staat als auch für die ganze Utopie.
3
Näheres unten 271 ff.
Uberschreiten als Wesen der .Hilfe' 73

zeigt er, daß er der φνλόοοφοο im Sinne von Phaidros 278 cd ist: λέγων
aòxóc verteidigt der philosophische Gesetzgeber sein Gesetzeswerk. Auch
wenn beide Teile im Dialog qua ,Abbild' lebendiger Rede geschrieben
vorliegen, ist doch im Bezugsrahmen der erzählten Situation ihr metho-
discher Gegensatz nicht zu übersehen: die später niederzuschreibenden
Gesetze werden der mündlichen Verteidigung im ελεγχοο bedürfen, für
die der Urheber jetzt schon die weiterführenden Argumente bereithält.
Der mündliche und persönliche Charakter des argumentativen Teils wird
noch dadurch unterstrichen, daß die Begründungen weitgehend als
Gespräch im Gespräch und im direkten Appell an die Gottesleugner
vorgebracht werden.
Eine wörtliche Erinnerung an die Problematik des Phaidros liegt
sodann in der Bemerkung vor, daß die Gesetzesbestimmungen als
schriftlich niedergelegte unveränderlich feststehen und so für alle Zeit
werden Rechenschaft geben müssen 4 . Die Situation des ελεγχοο steht
jedoch nicht lediglich als abstrakte Möglichkeit hinter dem Dialog,
sondern wird in ihm voll ausgespielt. Da die Gottesleugner unter den
Dialogteilnehmern nicht vertreten sind, werden sie als fiktive Partner
gleich zu Beginn eingeführt (885 c) und bestimmen mit ihrer Präsenz den
Gang der Erörterung. Der Athener erkennt an, daß er selbst im ελεγχοο
steht 5 , und formuliert die Anklage der Gegner so: (bc δεινά έργαζόμεθα
νομοθετοϋντεο (be όντων θεών (887 a l ) . Die Existenz der Götter ist
freilich die Grundlage nicht nur der Asebiegesetze, weswegen der Kreter
Kleinias sogleich feststellt, daß der Beweis ihrer Existenz das geeignetste
π ρ ο ο ί μ ι ο ν für alle Gesetze wäre (887 b 8 — c2). Eben dies erläutert der
Athener aus der Sicht der Gegner: diese greifen auf den Gegensatz von
(pócic und τ έ χ ν η zurück (888 e) und sehen in der Natur das Ursprüngliche
und Wahre, in der ,Kunst' das Abgeleitete und Bedeutungslose (889
b —d); der Götterglaube gehöre aber ebenso wie die Gesetzgebung auf
die Seite der τ έ χ ν η , ja die ganze Vorstellung der Gerechtigkeit habe mit
der (púcic nichts zu tun, der Natur entspreche nur das Recht des Stärkeren
(889 d —890 a). Die hier vorgetragene Kritik zielt also nicht lediglich auf
den Teilbereich der Asebiegesetze, sondern auf den gesamten Gegen-
standsbereich des Dialogs: die Idee der νομοθεοία selbst muß sich
verantworten.

* 891 a 1 - 2 τά περί νόμουο προοτάγματα έν γ ρ ά μ μ α α τεθέντα, (be δώοοντα eie


πάντα χ ρ ό ν ο ν ε λ ε γ χ ο ν , πάντακ; ηρεμεί. Zu ήρεμεΐ vgl. εσυηκε Phdr. 275 d 6 (von
Statuen, die als Analogie zur Schrift dienen).
5
Z.B. 893 b5 έλεγχομένω μοι.
74 Nomoi, Buch 10

Wir erwarten angesichts dieses Angriffs, daß die Planer des kretischen
Staates der Gerechtigkeit und dem Gesetz zu Hilfe kommen durch
Rückgriff auf andere, grundlegendere Gedanken.
Der paradigmatische Charakter unseres Textes besteht nun darin,
daß sich die Gesprächspartner nicht nur tatsächlich nach diesem Muster
verhalten, sondern auch mit dem Vokabular des Phaidros sagen, daß sie
es tun. ουδέ öcvov εμοιγε είναι φαίνεται τό μή ού βοηθειν τούτοιο
TOÎC λόγοιο, sagt Kleinias (891 a 5 —7), was sicher nicht zufällig an die
Worte des Sokrates anklingt, mit denen er sich in der Politela entschließt,
den Angriff auf die Gerechtigkeit anzunehmen: δέδοικα γ α ρ μή ούδ'
ôciov ή παραγενόμενον δικαιοούνη κ α κ η γ ο ρ ο υ μ έ ν η άπαγορεύειν 6
και μή β ο η θ ε ι ν (368 b 7 - c l ) .
Der Gesprächsführer bestätigt seinem kretischen Freund, daß es der
έπαμύνοντεο λ ό γ ο ι bedarf, und hält in erster Linie den Gesetzgeber,
also sich selbst, dazu verpflichtet 7 : der Urheber tritt für sein Werk ein.
Freilich zögert er, mit den dafür nötigen ,ungewohnten Erörterungen' zu
beginnen; denn dies ist auch Kleinias klar: „du wirst meinen, aus der
Gesetzgebung herauszutreten (νομοθεοίαο èicxòc βαίνειν), wenn wir
uns mit solchen Erörterungen befassen. Wenn es aber auf keine andere
Weise als diese möglich ist, mit dem jetzt gemäß dem Gesetz Gesagten*
übereinzustimmen, so muß man auch in dieser Weise sprechen" (891
d 7 —e3).
Was moderne Erklärer für unmöglich hielten 9 , ist hier klar und einfach
ausgesprochen: im Vollzug der βοήθεια muß über den ursprünglichen
Gegenstandsbereich hinausgegangen werden, die ,helfenden Logoi' des
Gesetzgebers werden νομοθεοίαο έκτόο βαίνειν. Und dieses Hinausge-
hen ist die einzige Möglichkeit, die βοήθεια zu leisten. Wie sollte man
auch im Bereich ethisch-politischer Überlegungen das Dasein der Götter
erweisen können?
Die ,Hilfe' verläßt daher diesen Bereich und wendet sich Fragen zu,
die weitab zu liegen scheinen: Fragen der ontologischen Priorität: Was
ist ,früher': die (púcic, an die die Materialisten glauben, oder die Seele
und der Nus und mit ihnen ,Kunst' und Gesetz? Die Unkenntnis der
6
Vgl. δει μηδαμή κάμνειν Nom. 890 d2.
7
Zu den έπαμύνοντεο λόγοι 891 b 3 - 4 vgl. Phdr. 275 e 5, 276 a 6 άμύναοθαι und
άμϋναι έαυτφ. 891 b 4 - 6 νόμοιο ... τίνα και μάλλον προσήκει βοηθειν ή νομοθέτη ν;
Zuvor schon Kleinias 890 d 2 - 5 δει ... τψ παλαιφ νόμφ έπίκουρον γίγνεςθαι λόγφ
(vgl. έπικουρεϊν Politela 368 c3) (be εΐοίν θεοί.
• Seoïc in e 2 ist wohl (gemäß der Notiz in der Handschrift O) zu tilgen.
' S. oben 68 mit Anm.4, 71 Anm. 12.
Uberschreiten als Wesen der ,Hilfe' 75

ersten Ursache von Entstehung und Vergehen aller Dinge verstellt auch
den Blick auf das wahre Wesen der Götter (891 e 8).
Damit ist das έκτόο βαίνειν, mit dem die ,Hilfe' steht und fällt,
näher expliziert. Natürlich ist es kein richtungsloses Hinausschweifen,
vielmehr handelt es sich um ein Überschreiten in Richtung auf die ersten
Ursprünge und Ursachen (πρώτα των πάντων 891 c 2 - 3 , ö πρώτον
yevécecoc και cpSopôc αίτιον άπάντων e 5 - 6 ) . Im vorliegenden Fall
wird das Erkenntnisziel erreicht über eine Analyse des Begriffs der
Bewegung (893 bff.), die über die Selbstbewegung auf die Seele führt
(896 ab) sowie auf die Feststellung, daß sie ,früher' ist als alles Körperliche
(896 c) und daß sie den Kosmos durchwaltet (896 e); nach einer kurzen
Reflexion über den Einfluß des Guten und des Schlechten im Kosmos und
über die Natur der vernunftgelenkten Bewegung kommt die Erörterung zu
dem Ergebnis, daß das All und die Gestirne in ihm von vollkommen
guten Seelen gelenkt werden, die wir für Götter halten müssen (899 ab).
Anschaulicher als durch den Gedankengang von 891 b bis 899 c ließe
sich kaum zeigen, daß das platonische ,dem Logos helfen' nichts
anderes meint als eine Einsicht auf ihre metaphysischen Voraussetzungen
abstützen, und das heißt: weiter voranschreiten auf dem Weg zur
Erkenntnis der άρχαί.
Es bleibt noch zu fragen, aus welchem Grund der Athener zögerte 10 ,
auf diesen Weg in den Bereich ,außerhalb' der bisher behandelten Dinge
hinauszutreten. Die Antwort ergibt sich aus seinem Vorschlag, die
dialektisch ungeübten 11 dorischen Freunde zeitweilig aus dem Gespräch
zu entlassen und so lange das Fragen und Antworten selbst zu überneh-
men, bis die Priorität der Seele vor dem Körper erwiesen wäre (892
d —893 a). Natürlich ist dieser Vorschlag vor dem Hintergrund der
platonischen Überzeugung zu sehen, daß sich die Logoi den Fähigkeiten
der Gesprächspartner anpassen müssen. Intellektuelle und charakterliche
Eignung sind nach dem Ausweis von Politela und Siebtem Brief für den
Philosophen gleich wichtig 12 . Die Greise Kleinias und Megillos wären
den geistigen Anforderungen des bevorstehenden ελεγχοο nicht gewach-
sen, sie könnten von den Fragen fortgerissen werden wie von einem
reißenden Fluß. Da sie aber andererseits über die charakterliche Eignung
verfügen, wird ihnen der Gottesbeweis, dem sie selbst nicht gewachsen

10
Ούκ ό κ ν η τ έ ο ν , sagt Kleinias 891 d 7 zum Athener. Man vergleiche auch seine
antreibenden Worte 890 d und 887 b.
11
893 a 1 ά ή θ ε ι ο δ ν τ α ε ά π ο κ ρ ί ο ε ω ν .
12
Politela 412 bff., 502 cff., 486 b, 487 a, 535 a; epist. 7, 343 eff.
76 N o m o i , Buch 10

sind, doch nicht vorenthalten: sie können gleichsam zuschauen, wie der
erfahrene Dialektiker aus Athen den Fluß für sie und vor ihnen durchquert
(892 d7 —e4).
Es scheint demnach sicher, daß der Dialog Nomoi hier auf seinem
Höhepunkt versucht, das Grundprinzip mündlichen Philosophierens,
nämlich daß der Inhalt stets im Blick auf die persönlichen Voraussetzun-
gen der Teilnehmer zu entwickeln ist, in der Dramaturgie des entscheiden-
den Beweises zu berücksichtigen. Allerdings hat Piaton den in 892 d - 893
a entwickelten Plan nicht durchgehalten: lange bevor das gesetzte Ziel
erreicht ist, tritt Kleinias wieder ins Gespräch ein (894 b). Da der Text
keinen Hinweis auf den Grund dieser Änderung enthält, wird man darin
wohl lediglich eine der redaktionellen Unebenheiten erkennen, an denen
die letzte und unfertig hinterlassene Schrift Piatons reich ist. Der
ursprüngliche Plan wirkt jedoch nach, wenn bei schwierigen Fragen der
Athener eigens darauf hinweist, daß er selbst an Stelle der Dorer die
Antwort geben will (896 e 4 , 897 c l , d5), und vor allem wenn er zu
Beginn des folgenden Abschnitts verspricht, er werde bei auftauchenden
Schwierigkeiten die Freunde über den Fluß bringen „wie jetzt" (900
c 3 —5) — so als wäre der in 893 b begonnene Dialog im Dialog nie
verlassen worden 13 .
Die Grundsätze des mündlichen Philosophierens scheinen jedoch
insofern mißachtet zu sein, als mit dem erfolgreich abgeschlossenen
Beweis der Existenz der Götter die letzten Grundlagen der Gesetzgebung
schriftlich vorgelegt sind, zur Lektüre für Geeignete und Ungeeignete
gleichermaßen. Sollte gerade das Buch, welches deutlich ausspricht,
daß die philosophische ,Hilfe' ein èicxòc βαίνειν erfordert, die letzte
Rechtfertigung seiner Ergebnisse nicht außerhalb seiner haben? Sollten
gerade die Nomoi nicht nach dem Prinzip der noch ausstehenden
mündlichen ,Hilfe' konzipiert sein?
In diesem Sinne könnten die Versicherungen gelesen werden, daß der
Gottesbeweis ebenso wie die anschließenden Beweise, daß die Götter
sich um die menschlichen Dinge kümmern und daß sie nicht bestechlich
sind, hinreichend' ausgefallen sind (ίκανώο δεδεΐχθαι u. ä. 896 a 6, 899
13 Die Ankündigung, selbst fragen und antworten zu wollen (893 a 3 —5), ist zweifellos
eine Umschreibung der in 893 b 6 - e 5 angewendeten Darstellungsweise: der Athener
fragt im N a m e n des Gegners und antwortet im eigenen. In dieser Weise wollte er „den
ganzen L o g o s durchgehen" bis zum Erweis der Priorität der Seele (also mindestens bis
8 9 6 b c , oder besser bis 8 9 9 b). Der von Piaton nicht markierte Umbruch erfolgt in 893
e 6 - 8 9 4 b l ; dieser Abschnitt müßte den fiktiven Gegnern gehören, erweist sich aber
in der Fortsetzung als Äußerung des Atheners.
Überschreiten als Wesen der ,Hilfe' 77

d l - 2 , 903 a 7 , 905 d 2 - 3 , 907 b 7 , c7). Ein kurzer Blick auf die


Denkmittel des Beweises für das Dasein der Götter — die anderen zwei
Beweise sind theoretisch ohnehin anspruchslos - zeigt jedoch, daß dies
nicht gemeint sein kann.
Bewiesen wird, daß die Seele das Erste ist im Bereich von Entstehung
und Bewegung, daß sie των πάντων πρεοβυτάτη (έοτίν), γενομένη γε
ά ρ χ ή κινήοεως (896 ab, vgl. 892 a 4 f . , c4) - woraus natürlich nicht
folgt, daß sie das Erste überhaupt, die letzte ά ρ χ ή πάντων ist. Daß
das Zeitliche und Bewegte von der unzeitlichen und unveränderlichen
Ideenwelt abhängt, braucht nicht bezweifelt zu werden; in dieser Hinsicht
wäre also der vorliegende Beweis auf seine Voraussetzungen hin zu
befragen, die ά ρ χ ή κινήοεωο wäre auf die ετι ταύτηο άρχάο άνωθεν 1 4
zurückzuführen. Die Quelle (891 c7) der unvernünftigen Ansichten der
Gottesleugner ist die Unkenntnis des Wesens der Seele und ihrer
Entstehung (892 a 2 —5) — sucht man aber nach der Stelle, an der Piaton
am meisten tat, um solche Unkenntnis zu beheben, so wäre nicht das
vorliegende Buch der Nomoi, sondern der Timaios (bes. 34 bff.) zu
nennen. Wir können also durch Vergleich innerhalb des Schriftwerks
erkennen, daß das Prädikat ίκανώο, mit dem Piaton die Erörterung hier
auszeichnet, nicht in einem absoluten Sinn zu verstehen ist, so als wäre
hier das Erkennbare hinreichend' erkannt und schriftlich vollständig
mitgeteilt, sondern lediglich in dem relativen Sinn, daß der Athener
die Einwürfe der Gottesleugner auf dem Niveau, das durch deren
Materialismus einerseits und das beschränkte Fassungsvermögen der
dorischen Zuhörer andererseits bezeichnet ist, hinreichend' beantwortet
hat. Vor Zuhörern wie Sokrates und Kritias muß ein Mann wie Timaios
weiter gehen, wenn er eine hinreichende' Darlegung bieten will.
Überhaupt ist das philosophische Niveau der Nomoi, wie man längst
erkannt hat, mit voller Absicht vergleichsweise niedrig gehalten 15 . Die
einst lebhaft diskutierte Frage 16 , ob der Piaton der Nomoi ,noch' an die
Ideenlehre glaube, ging von der irrigen Voraussetzung aus, daß ein
platonischer Dialog wie ein Zeitschriftenaufsatz unserer Tage stets den
,neuesten Stand der Forschung' dokumentieren müsse. Die Ideenlehre
14
Die Formulierung in Anlehnung an Tim. 53 d 6.
15
Vgl. A. Diès im Vorwort (p. lxxxviii - xcii) seiner Nomoi-Ausgabe (Paris 1951): der
Dialog hält sich bewußt auf einem „niveau dialectique plus modeste". Ähnlich ζ. Β.
Ε. de Strycker, Revue belge de philosophie et d'histoire 42, 1964, 601 - 604; ders.,
L'ideé du Bien dans la République de Platon, L'Antique Classique 39, 1970, 461; H.
Görgemanns, Beiträge zur Interpretation von Piatons Nomoi, München 1960, 225 u. ö.
" Literatur bei Görgemanns 218ff., Guthrie V 3 7 8 - 3 8 1 .
78 Nomoi, Buch 10

und erst recht die Prinzipientheorie werden zwar vor den unzureichend
vorgebildeten Gesprächspartnern nicht entfaltet, doch werden sie in
genügend klarer Umschreibung als Bestandteil der Bildung derer einge-
führt, denen der neue Staat anvertraut werden soll17. Die philosophische
Bildung der politischen Elite ist indes nicht mehr Thema des Dialogs,
der Athener will seine Ansichten hierzu erst bei der Verwirklichung der
geplanten Staatsgründung „mitteilen und erläutern" (969 a l - 2 ) 1 8 ; die
Auswahl der Kandidaten, den Lehrplan und die Lehrgegenstände sollte
man zwar nicht „geheim" nennen, sie können aber gleichwohl nicht
vorweg mitgeteilt werden - weder in Gesetzesform im neuen Staat noch
in theoretischer Darlegung im vorliegenden Dialog 19 . Die hier fehlende
ideen- und prinzipienphilosophische ,genauere Bildung' (965 b 1) würde
aber auch dazu befähigen, über den Bereich die Wahrheit zu erkennen,
der im 10. Buch zwar ,mit Ernst', aber eben ohne Verankerung in
Ideenlehre und Prinzipientheorie durchgesprochen wurde: über die Götter
(966 c l - 2 ) 2 0 .
So zeigen also die Nomoi selbst, wo die Grenzen der Erörterung
liegen und in welcher Richtung das hier schriftlich Vorliegende ergänzt
und vertieft werden müßte. Es ist offenkundig, daß diese Ergänzung
zu anderen, näher an die άρχαί heranführenden Beweisgängen und
Theoremen greifen müßte. Und eben dieses Hinausschreiten über den
gesetzten Rahmen ist, wie das 10. Buch mit exemplarischer Klarheit
sowohl vorführt als auch ausspricht, das Wesen platonischer βοήθεια.

17
Anspielung auf die Ideenerkenntnis (τό πράο μίαν ίδέαν βλέπειν) 965 c2, auf das
Gute als Integrationsbegriff der άρεταί 965 d 1 — e 2.
18
Zur Mißdeutung dieser Stelle durch H. Cherniss (Rez. zu. G. Müller, Studien zu den
platonischen Nomoi, Gnomon 25,1953, 374 und 376 Anm. 3) und L. Taran (Académica.
Plato, Philip of Opus, and the Pseudo-Platonic Epinomis, Philadelphia 1975, 23 Anm.
85, der Athener verspreche seine Hilfe „in selecting the candidates and helping to train
them" - also praktische Hilfe, sowie nicht über den Dialog hinausgehende theoretische
Unterweisung) vgl. meine Bemerkungen in: Probleme der Piatoninterpretation, GGA
230, 1978, 29f.
" 968 e 3 άπόρρητα μέν λεχθέντα ούκ αν όρθώο λέγοιτο, άπρόρρητα δέ ...
20
Selbstverständlich ist auch οπουδη 966 c 2 als relativer Begriff zu nehmen.
Kapitel 6

Hippias minor
Wer betrügt wen?

Die Nützlichkeit der Bestimmung des φιλόοοφοο im Phaidros für die


Erklärung der Nomoi mag nicht allzu verwunderlich sein, sind doch die
Nomoi mit Sicherheit das spätere Werk. Daß auch Situation und Aufbau
des ,frühen' Hippias minor mit gleicher Deutlichkeit die Perspektiven
des ,späten' Phaidros erkennen lassen, wird konsequente Anhänger des
Entwicklungsgedankens überraschen. Man wird die Möglichkeit ins Auge
fassen müssen, die Schriftkritik und alles, was mit ihr zusammenhängt,
nicht so sehr als späte, reife Frucht eines langen Nachdenkens über die
Bedingungen und Grenzen philosophischer Mitteilung zu verstehen,
sondern als die späte bestätigende Zusammenfassung einer früh gewonne-
nen Einsicht, die für Form und Zielsetzung des platonischen Dialogs von
Anfang an bestimmend war.
Das kürzere Gespräch mit Hippias von Elis repräsentiert aus der
Sicht der Meisterwerke der mittleren Periode, aber auch aus der Sicht
von Apologie und Kriton, eine andere, sozusagen weniger .platonische'
Welt: alles ist kalter, bisweilen frivoler Hohn 1 , ungemildert durch
die gewinnende Menschlichkeit protreptischer Elemente (wie sie dem
Euthydemos seine Ausgewogenheit geben). Im Verlauf des Gesprächs
begegnen jedoch zwei Wendungen, die in dieser unliebenswürdigen
Atmosphäre wie ein Widerschein ,reinerer' Platonizität wirken: Sokrates
bittet Hippias, ,seine Seele zu heilen', hofft er doch auf ein ,Ende der
Irrfahrt' (372 e, 376 c). Ein ,Ausruhen vom Weg' und ein ,Ende der Reise'
ist in der Politela dem Dialektiker verheißen, der die Erkenntnis des
Guten erreicht (532 e); daß diese Erkenntnis die ,Heilung der Seele'

1 Die Verhöhnung der Eitelkeit des H i p p i a s bestimmt den T o n von A n f a n g an (364


a l — 6 , b l —3), wird verstärkt a u f g e n o m m e n im ironischen L o b seiner Vielseitigkeit
(368 a 8 - 3 6 9 a 2 ) und führt schließlich zur Entlarvung der Hohlheit von H i p p i a s '
Weisheit im letzten Satz des Dialogs.
80 Hippias minor

mit einschließt, ergibt sich aus dem philosophischen Bildungsweg des


Dialektikers.
Im Zusammenhang des Hippias minor sind die genannten Wendungen
aber als Hinweise auf die βοή θεια-Situation zu verstehen, die dem
Dialog das Gepräge gibt. Um dies verständlich zu machen, müssen wir
uns die Struktur des Ganzen vergegenwärtigen.
Der Dialog entfaltet sich in drei Stufen. Zunächst steht Hippias im
ελεγχοο, dann manövriert sich Sokrates selbst in die Position des
έλεγχόμενοο. Hippias kann seinen Standpunkt nicht behaupten, wäh-
rend die Gegenposition des Sokrates sich auch auf der zweiten Stufe in
umfassenderer Perspektive bewährt. Schließlich deutet Sokrates in einem
dritten Anlauf kurz an, wie sein bewußt unrichtiger Logos durch Rück-
griff auf eine tiefer greifende Frageweise überwunden werden könnte.
(1) Hippias hat einen Vortrag über Homer gehalten und ist nun
bereit, jede beliebige Frage zu beantworten (363 a —d). Zunächst geht es
um die Ansichten Homers, da man ihn selbst jedoch nicht befragen kann,
tritt sein Exeget Hippias für ihn ein (365 cd). Von Hippias als dem
Meister aller ,Künste' (368 b) kann ohne weiteres angenommen werden,
daß er souverän bestimmt, wann er seine Kunstmittel — etwa die seiner
überragenden mnemotechnischen Kunst — einsetzt (369 a7—8). Als
das Gespräch dennoch einen nicht zufriedenstellenden Verlauf nimmt,
vermutet Sokrates, Hippias ahme selbst den überlegenen homerischen
Erzbetrüger Odysseus nach und täusche ihn im Gespräch (370 e 10).
Dergleichen scheint einem Meister wie Hippias gut anzustehen, während
Sokrates selbst über die Dinge nicht Bescheid weiß und somit nur über
Schlechtes' verfügt, außer dem einen Guten, daß er beharrlich zu fragen
und zu lernen verstehe (372 a 6 — c8).
Unschwer lassen sich die wesentlichen Elemente der Testsituation
erkennen, die nach dem Phaidros den wahren Philosophen zeigt. Homer
selbst kann man nicht fragen, was er sich bei seiner Darstellung des
Achilleus und des Odysseus dachte: die Problematik des Buches, das
nicht Rede und Antwort stehen kann, steht Piaton hier schon mit voller
Klarheit vor Augen2. Homer als der traditionelle Lehrer der Griechen ist
durchaus der geeignete Fall, um die Überlegenheit der platonischen
Dialektik über die übliche Vermittlung von ,Weisheit' durch Bücher zu

z 3 6 5 c 8 - d l : τον μέν Ό μ η ρ ο ν τοίνυν έάοωμεν, έπειδή καί άδύναιον έπανερέοθαι


τί ποτε νοών ταϋτα έποίηοεν τά επη. Phdr. 2 7 5 d 8 - 9 über den geschriebenen Logos:
έάν δέ τι ερη των λεγομένων βουλόμενοο μ α 9 ε ΐ ν , 'έν τι οημαίνει μόνον ταύτόν
άεί. Vgl. auch Prot. 3 2 9 a, 3 4 7 e.
Wer betrügt wen? 81

demonstrieren: noch im Phaidros ist Homer genannt (278 c2) unter den
Verfassern von Schriften, die zu fragen wären, ob sie nicht über Wert-
volleres verfügen als das, was sie schrieben. Und wie im Phaidros die Über-
legenheit der persönlich vermittelten διαλεκτική τ έ χ ν η sich gerade darin
zeigt, daß auch der Lernende dem Logos des Unterweisenden zu Hilfe
kommen kann (276 e 4 — 277 a 4), so soll Hippias die Verantwortung für
die Ansichten Homers, die er ja teilt, übernehmen und gemeinsam für sich
selbst und für Homer antworten 3 . In Begriffen der Schriftkritik heißt das:
das Gespräch soll zeigen, ob Homer, genauer: ob die Bücher Ilias und
Odyssee Hippias zu einem είδώο το άληθέο machen konnten oder nicht.
Doch steht Hippias nicht nur in seiner Eigenschaft als Schüler Homers
im Elenchos, sondern auch als Verfasser eines eigenen Logos. Denn was
er vortrug, war etwas „für den Vortrag Vorbereitetes 4 ", also etwas im
vornhinein Fixiertes, wie das Buch. Über den Inhalt dieses schon fertigen
Logos will Sokrates mehr Klarheit gewinnen: δίδαξον ήμάο οαφώο, τί
ελεγεο (364 c l ) . Wir erinnern uns an die Rolle der δ ι δ α χ ή für die
philosophische Wissensvermittlung im Phaidros und an die Feststellung,
daß aus Schriftlichem cacpéc τι και βέβαιον nicht zu gewinnen ist.
Hippias glaubt, die nötige zusätzliche Klarheit mündlich geben zu können
(364 c 3 - 4 ) . Die Frage ist also (wiederum in Begriffen der Schriftkritik):
kann Hippias λέγων αυτός sein einstudiertes Manuskript (gleichsam sein
geschriebenes') überbieten, als geringfügig erweisen (φαΰλα άποδεΐξαι),
oder anders: ist er der ε χ ω ν τιμιώτερα?
Sein Gegner Sokrates ist jedenfalls der ε χ ω ν φαΰλα, und er macht
es unmißverständlich klar, daß ihm dieses Prädikat zukommt auf Grund
seiner Unkenntnis der Sachen, also unter dem Gesichtspunkt des Inhalts
seiner Thesen 5 . Seinem schlechten' Urteil über die Dinge stellt Sokrates

3
365 d 2 - 4 cù δ' έπειδή φαίντ] άναδεχόμενοο τήν αίτίαν, και cot ουνδοκεΐ ταΰτα
άπερ <pr]c "Ομηρον λέγειν, άπόκριναι κοινή όπερ 'Ομήρου τε καί εαυτού.
4
363 d 2 είς έπίδειξιν παρεοκευαομένον. Wörtlich gesagt ist dies nur von Hippias'
Darbietungen in Olympia; da er aber selbst die Gleichheit der Situation betont, müssen
wir uns auch seinen Vortrag in Athen von gleicher Art denken. Auch im Hi. mai. (286
a b) kommt Hippias mit einem bis in die Wortwahl (286 a 6) ausgearbeiteten (vorderhand
wohl noch nicht publizierten) Vortrag nach Athen. Die Erwähnung des Eudikos in
beiden Dialogen scheint darauf zu deuten, daß der dialogische Rahmen beide Male auf
dieselbe Rede weist, den von Philostratos so zitierten Troikos diálogos (s. DK 86 A 2,
Β 5). (Die Historizität des Vortrags und seine spätere Publikation ist für unsere
Fragestellung jedoch nicht entscheidend.)
5
372 b 2 - 4 : ... τάλλα εχων πάνυ φαΰλα· των μέν γάρ πραγμάτων ή Ιχει Ιςφαλμαι,
καί ούκ οίδ' δπη έοτίν. Schleiermacher übersetzt τάλλα εχων πάνυ φαΰλα mit
„übrigens (mag) es schlecht genug um mich stehen", was inkonsequent ist, da er doch
82 Hippias minor

als sein einziges αγαθόν sein unablässiges Fragen und Lernen gegenüber
(372 a - e ) ; er konfrontiert also sachgebundenes ,Wissen' mit dem stets
unabgeschlossenen Vollzug des Philosophierens.
Zeigt nun nicht gerade diese Stelle in Verbindung mit der konsequen-
ten Anwendung des Vokabulars aus dem Phaidros auf unseren Dialog,
daß die τιμιώτερα, die dort den φαΰλα der Schrift gegenüberstehen,
nur das Verfahren des mündlichen Diskutierens als solches, also die
Philosophie als lebendigen Vollzug meinen, nicht aber besondere Inhalte6?
Wer so urteilen wollte, machte sich in naiver Weise zum Opfer von
Sokrates' habitueller Selbstverkleinerung, seiner είωθυΐα ειρωνεία. Es
kann ja keine Rede davon sein, daß seine Beharrlichkeit im Fragen und
Lernen das einzige Gut ist, das ihm eignet, während dieser echt
philosophischen Haltung auf der Seite der Ergebnisse nur die in der Tat
schlechte' These entspräche, daß der Lügnerische und der Wahrhaftige
identisch sind7. Es kann kein Zweifel bestehen, daß Sokrates in Wirklich-
keit die gegenteilige These nicht nur für richtig hält - das tut auch
Hippias —, sondern auch mit Gründen abzustützen wüßte (worüber
gleich mehr). Wenn aber die unzureichende Kenntnis der Sachen (πράγ-
ματα), die sich im Satz von der Identität des ψευδήο und des άληθήο
ausspricht, zu Recht φαΰλον genannt wird, so ist selbstverständlich die
fundierte Kenntnis des Gegenteils ein άγαθόν, und die Argumente, die
den wahren Sachverhalt zeigen würden, wären im Vergleich zu den
φαΰλα, mit denen Sokrates den falschen Satz durchficht, im vollen Sinne
τιμιώτερα. Damit wird zugleich auch deutlich, daß die in der modernen
Piatondeutung so beliebte Leugnung des Postulats besonderer Inhalte und
ihre Ersetzung durch ein besseres ,Verfahren' und eine philosophischere
,Haltung' für den Ironiker Sokrates lediglich eine Finte ist, den philoso-
phisch inkompetenten Hippias in die Irre zu führen. Aus der Sicht Piatons
wäre diese Trennung von Inhalt und Methode, wäre ein besseres
Verfahren und eine bessere ,Haltung', die nicht auch zu besseren
Ergebnissen führten, ganz und gar widersinnig 8 .
das vorangehende και κινδυνεύω εν μόνον εχειν τούτο άγαθόν mit „und ich mag
wohl nur dies eine Gute haben" wiedergibt. Die Parallelität der beiden Satzhälfen
verlangt, ε χ ε ι ν und 'έχω beide Male als ,haben' zu verstehen, τάλλα und φαΰλα nicht
als adverbiale Neutra, sondern als von §χειν abhängige Akkusative (wie ëv und
άγαθόν).
' Dies ist die Erklärung von G. Vlastos, die weithin Zustimmung gefunden hat. S. oben
19 f. mit Anm. 20.
7
369 b 3 άναπέφανται ό αύτόο ών ψευδήο τε και άλη θής (ähnlich 367 a 7, 368 a 6,
el—5).
8
Da die φαΰλα des Sokrates den Satz ó amòc ψευδήο τε και άληθήο und die ihn
W e r betrügt wen? 83

Wenn Hippias wirklich der Mann der τέχνη und έπιοτήμη wäre,
als den Sokrates ihn preist (368 bff.), so müßte er - gemäß einem
Leitgedanken des Phaidros — in der Anwendung seiner Kunst stets
wissen, όπότε δει εκαοτα τούτων ποιεΐν καν μέχρι όπόοου, müßte
auch die καιρούς του πότε λεκτέον και έπιοχετέον kennen (Phdr. 268
b 7 , 272 a 4). Eben diese Vorstellung scheint hinter der spöttischen
Bemerkung des Sokrates zu stehen, Hippias mache jetzt vielleicht nicht
Gebrauch von seiner Mnemotechnik — δήλον γάρ οτι ουκ ο'ΐει δεΐν
(369 a 7 — 8). Der Witz beruht darauf, daß Sokrates den Mnemotechniker
Hippias zum Herrn über sein Gedächtnis macht, während doch nur die
Mitteilung eines erinnerten Inhalts, nicht aber die Gedächtnisleistung
selbst willentlich suspendiert werden kann. Was Hippias hier (angeblich)
praktiziert, ist also analog dem αγάν πράο oCc δει des Philosophen.
Noch deutlicher ist die Vorstellung vom überlegenen Meister der
Rede, der mehr weiß als er sagt, evoziert in der Beschuldigung des
Sokrates, Hippias hintergehe ihn: έξαπατςίο με, ώ φίλτατε 'Ιππία, καί
αύτόο τόν Όδυοοέα μιμή (370 e 10). Die Handlung des Dialogs läßt
sich nicht besser explizieren als durch die Frage: wer täuscht hier wen,
wer ist der listige Odysseus dieser Komödie?
(2) Natürlich kann Hippias den Elenchos, dem er sich so zuversicht-
lich (363 d - 364 a) gestellt hat, nicht bestehen. Er hatte behauptet, daß
Homer in Achilleus als dem Wahrheitsliebenden und Odysseus als
dem Verschlagenen und Lügnerischen zwei gegensätzliche Charaktere
gezeichnet hat. Er muß nun mit Blick auf ,die Sachen selbst' zugeben,
daß der Wahre und der Lügnerische in allen Bereichen ein und derselbe,
nämlich der in diesem Bereich Tüchtige und ,Gute' ist (365 d —369 b),
und mit Blick auf Homer, daß Achilleus und Odysseus durchaus als
gleichartige Charaktere gezeichnet sind, die beide die Wahrheit und die
Lüge gleichermaßen beherrschen (369 b —370 e). Hippias versucht die
Erklärung, daß Achilleus bei Homer unfreiwillig lügt, was ihm erstens
aus dem Text widerlegt wird und was ihn zweitens nach dem Vorangegan-

tragenden Trugschlüsse (s. unten Anm. 9) umfassen, bedeutet das W o r t hier einmal in
der T a t so viel wie ,falsch'. Um so mehr muß vor dem Miß Verständnis von G. Vlastos
gewarnt werden, die inhaltsbezogene Auslegung von φαϋλα und τιμιώτερα in Phdr.
278 c d habe zur Folge, daß der Inhalt der Dialoge insgesamt als ,falsch' erklärt werden
müsse (vgl. oben 18 f. mit Anm. 19). Die im Phaidros vorliegende Bedeutung ,von
geringerem W e r t ' (und zwar ,geringer' lediglich im Vergleich mit den τιμιώτερα) läßt
zwar den Grenzfall, daß dieses Geringere schlichtweg falsch ist, gewiß zu; nur muß
man sehen, daß dies ein Grenzfall ist, der für die Wertung des Inhalts der übrigen
Dialoge durchaus nicht verbindlich ist.
84 Hippias minor

genen zwingen müßte, die Überlegenheit des freiwillig lügenden Odysseus


anzuerkennen (370 e —371 e) 9 . Hier weitet sich die Erörterung zu Beginn
des zweiten Hauptteils zu der allgemeineren Frage aus, ob die freiwillig
unrecht Handelnden besser seien oder die unfreiwillig Fehlenden (372 a).
Der Logik seiner Widerlegung des Hippias folgend, verkündet Sokra-
tes als seine Ansicht: wer freiwillig seine Mitmenschen schädigt, Unrecht
tut, betrügt und sich vergeht, ist moralisch besser als der, der es unfrei-
willig tut (372 d).
Der Satz ist unhaltbar — kann er wirklich Sokrates' Ansicht enthalten?
„Manchmal freilich scheint mir auch das Gegenteil hiervon, und ich
schwanke in diesen Dingen, offenbar weil ich kein Wissen habe" (372
d 7 - e 1). Immerhin hat Sokrates, wie wir sahen, das sichere Wissen, daß
eine in diesem Satz resultierende Kenntnis der Dinge unzureichend
(,schlecht', 372 b2) ist. Seine gegenwärtige Ansicht scheint ihm wie ein
Anfall (κατηβολή 372 e l ) .
Da aber der Nichtwisser (372 b6) Sokrates sich nun immerhin zu
einer positiven Aussage verstiegen hat, läge es an Hippias, sie zu
widerlegen und damit der moralisch richtigen Ansicht, die er selbst
vertritt, zu ,helfen'. Sokrates fordert ihn dazu auf: „Sei mir zu Gefallen
und enthalte mir die Heilung meiner Seele nicht vor 1 0 ". Da der ,Anfall'
Sokrates ,jetzt im Augenblick' zu einer unmoralischen These zwingt,
muß er auch Schaden an seiner Seele nehmen; die Widerlegung seiner
These wäre zugleich die Beendigung der moralischen Krankheit seiner
Seele. So betrachtet bedeutet die Aufforderung zum íácacOai την ψυχήν
μου nichts anderes als die Bitte um corcai ήμαο im Euthydemos (293 a);
beide Stellen haben die Funktion der Herausforderung des Gegners, jenes
βοηθεΐν durch τιμιώτερα vorzuführen, das den Philosophen als solchen
ausweist.
Bevor Sokrates — natürlich Sokrates, nicht Hippias — uns im
Schlußabschnitt wenigstens einige Andeutungen zur βοήθεια gibt, teilt
er uns in einer sehr witzigen Replik beinahe direkt mit, daß er der CO<pÓC

' In Wirklichkeit liegt hier der zentrale Trugschluß des ganzen Dialogs, den Hippias
freilich nicht merkt und nicht merken soll. Bewiesen war, daß die in einem Fach
Tüchtigen mit Sicherheit das Falsche auf ihrem Gebiet sagen können (während ein
weniger Tüchtiger unfreiwillig das Richtige sagen könnte, auch wenn er das Falsche
sagen wollte - 367 a). Daraus folgt nicht, daß die ,Guten' diejenigen sind, die freiwillig
lügen: denn ,fähig' zur Lüge ist nicht dasselbe wie .fähig und gewillt' zur Lüge, der
δυνατός ψεύδεοθαι ist nicht notwendig ein ψ ε υ δ ή α (Die Auflösung des Trugschlusses
gab schon Arist. Met. 1025 a 2 - 13.)
10 372 e 6 — 7 ού ούν χάριοαι και μή φθονήα^ο i á c a c 0 a i τήν ψυχήν μου.
Wer betrügt wen? 85

ist, der das Gespräch nach Gutdünken lenkt. Denn als sich Hippias
beklagt, Sokrates stifte stets Verwirrung im Gespräch, kann er die These
des Hippias zu seiner Verteidigung nutzen: „Mein bester Hippias,
jedenfalls tue ich das nicht absichtlich — sonst wäre ich weise und
gewaltig nach deiner Auffassung — sondern unfreiwillig; verzeihe mir
also" (373 b6 — 8). Somit ist auch die Frage beantwortet, wer wen
betrügt: nur wenn wir Sokrates die Unfreiwilligkeit seines zielstrebig
erreichten Ergebnisses abnehmen, können wir ihn davon freisprechen,
listig und überlegen mit seinem Gegner umzugehen wie der homerische
Odysseus. In Wahrheit illustriert Sokrates in dem ganzen Gespräch den
Satz, daß nur der, der das Richtige weiß, mit Sicherheit das Falsche
sagen kann 11 . Woraus freilich nicht folgt, daß er dem Hippias Unrecht
zufügt, und dies gar freiwillig: vielmehr ist Hippias derjenige, der eine
Heilung seiner Seele nötig hätte, was ihm der wissende Sokrates auch
sanft bedeutet: οΐμαι δε ούδ' αυτόν cè βλαβήοεοθαι (373 a 5): daß
Hippias letztlich doch nicht zu helfen ist, liegt nicht an Sokrates.
(3) Wie Hippias im ersten Hauptteil seine richtige Überzeugung von
der Verschiedenheit des α λ η θ ή ς und des ψευδήο nicht verteidigen
konnte, so kann er im zweiten die falsche These nicht widerlegen, kann
die kranke Seele des Sokrates nicht heilen — die ,Hilfe' für den wahren
Logos bleibt aus. Der Anfall des Sokrates hält an, bis er auf induktivem
Wege bewiesen hat, daß unsere Seele ,besser' ist, wenn sie aus freien
Stücken Übles tut und sich vergeht, als wenn sie es unfreiwillig tut (375
d l — 2 ) . Hippias gibt das absurde Ergebnis nicht zu, obschon er auf
Grund seiner Zustimmung zu den vorangegangenen Teilergebnissen dazu
gezwungen wäre 11 .
Hier nun setzt Sokrates zu einer neuen Runde an, die äußerlich nur
zu einer letzten Bestätigung des bisherigen unbefriedigenden Ergebnisses
führt (376 b 2 —6), in Wirklichkeit aber Ansätze zu seiner Überwindung
enthält. „Antworte mir noch einmal: die Gerechtigkeit, ist sie nicht
entweder ein Vermögen (δύναμιο) oder ein Wissen (έπκπήμη) oder
beides?" (375 d 7 —9). Damit ist implizit die Frage gestellt: was ist die
Gerechtigkeit? Würde diese Frage explizit gestellt und beantwortet, so

11 Diese Stelle (und die unten 86 zu besprechende Einschränkung des Ergebnisses auf den
.gegenwärtigen' Augenblick) übersieht Guthrie IV 198, wenn er versichert, Piaton halte
nichts zurück, ringe vielmehr selbst noch mit dem von Sokrates ererbten Paradoxon.
Bei dieser Auslegung geht freilich auch die Ironie in πλανώμαι 372 d 8 verloren.
12 Zum logischen Fehler der Argumentation, der sich hier identisch wiederholt, s. oben
Anm. 9.
86 Hippias minor

würde sich zeigen, daß Gerechtigkeit Wissen ist, daß also niemand
freiwillig, d. h. mit Wissen, Unrecht tun kann. Daß hier die Lösung zu
suchen ist, deutet Sokrates nur mit einer unauffälligen Einschränkung
seines Ergebnisses an: der Gute ist „der freiwillig Fehlende und schändlich
und ungerecht Handelnde - wenn es denn einen solchen gibt" (376
b 5 —6).
Da der Anfall des Sokrates anhält, bleibt das falsche Ergebnis für
Jetzt' bestehen. Die von Sokrates zweimal betonte Einschränkung des
Ergebnisses auf den jetzigen Zeitpunkt (νυν έν τω παρόντι 372 e 5, νυν
γε 376 c 1) sollte nicht als funktionslose Floskel abgetan werden. Sie hat
nur Sinn, wenn sie auf seine Fähigkeit verweist, ,ein andermal' das zu
tun, wozu Hippias nicht in der Lage ist: der Wahrheit mit gewichtigeren
Argumenten zu Hilfe zu kommen. Wenn dieses Verweisen auf das noch
Ausstehende ein wesentlicher Zug der philosophischen Darbietung von
Einsicht ist, dann dürfen wir erwarten, den entsprechenden Mangel beim
Nichtphilosophen hervorgehoben zu finden. Und in der Tat sagt Hippias,
als Sokrates ihn auffordert, den Satz von der Identität des άληθήο und
des ψευδήο anhand eines beliebigen Wissensgebietes zu widerlegen, er
könne es ,jetzt' nicht (369 a 3) — worauf ihm Sokrates gleich eröffnet,
daß er es auch künftig nicht können werde. Der Gegensatz ist signifikant,
und er ist zweifellos vor dem Hintergrund des Phaidros zu sehen. Das
einschränkende vßv des Nichtphilosophen ist bedeutungslos: er hat nichts
über das hinaus, was er vorgelegt hat. Das einschränkende νΰν des
Philosophen — in anderen Dialogen oft ergänzt durch ein positives sie
aöOic — hat Bedeutung: es verweist auf die noch ausstehenden τιμιώτερα.
Wer das vCv des Hippias und das vßv des Sokrates gleich behandelt,
oder allgemein gesprochen: wer die Aussparungsstellen der Dialoge
ignoriert, bagatellisiert oder weginterpretiert, nivelliert auch das Bild des
Sokrates zum Bild des Nichtphilosophen hin.
Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf andere Deutungen des
Dialogs geworfen. In der historisch-biographischen Sicht von Wilamowitz
erklärt sich das negative Porträt des Hippias aus persönlicher Abneigung
Piatons, die irreverente Darstellung des Sokrates als Verfechter einer
unmoralischen These weise auf frühe Abfassung, noch zu Lebzeiten des
Sokrates — das Ganze sei eine Satire, in der man einen positiven Gehalt
nicht zu suchen brauche 13 . — B . J . H . Ovink glaubte, Piaton habe sich

13 Wilamowitz-Möllendorff, U. von: Platon, I: Leben und Werke, II: Beilagen und


Textkritik, Berlin 1919, hier: I 1 0 0 - 1 0 4 .
W e r betrügt wen? 87

dem Zwang seiner eigenen Trugschlüsse nicht entziehen können 14 - er


nahm also Sokrates' ironische Versicherung, er betrüge den armen
Hippias ganz gewiß nicht absichtlich, wörtlich und übertrug sie gar noch
auf Piaton selbst. Heute wird kaum noch jemand bestreiten, daß Piaton
hier und anderswo Trugschlüsse im vollen Bewußtsein ihrer logischen
Fehlerhaftigkeit einsetzt. - Für R . K . Sprague ist das Ziel, das Piaton
mit dem „remarkably indirect maneuver" im Hippias verfolgt, den
Leser zu zwingen, über die grundlegenden ethischen Begriffe ,gut'
und ,freiwillig' nachzudenken. Freilich muß Sprague zugeben, daß der
konstruktive Charakter des Argumentes dadurch verdunkelt wird, daß
Hippias die nötigen Unterscheidungen nicht trifft 15 . Ähnlich erklärt
W. K. C. Guthrie, Piaton wolle die ethische Position des Sokrates —
Tugend ist Wissen, freiwilliges Unrechttun gibt es nicht — verteidigen,
indem er die gegenteilige Annahme ad absurdum führe; als Analogon
dient ihm die im Parmenides (128 cd) geschilderte Hilfe Zenons für
seinen Lehrer Parmenides 16 . Es ist indes schwer einzusehen, warum bei
solcher reductio ad absurdum gerade Sokrates die falsche These vertreten
muß (Zenon ließ gewiß nicht Parmenides für die Vielheit des Seienden
eintreten). Überdies ist die zu widerlegende Ansicht nicht konsequent
von der zu verteidigenden abgehoben, wie das in Zenons Schrift der Fall
war, vielmehr ist die sokratische Überzeugung, daß jedwede άρετή auf
Wissen beruht, überall gleichermaßen vorausgesetzt. Vor allem aber muß
eine Widerlegung durch reductio ad absurdum logisch schlüssig sein —
Piaton hingegen läßt deutlich erkennen, daß die absurden Konsequenzen
nicht wirklich folgen 17 .
Für W. Boder 18 belehrt der Dialog durch Ironie: die übertrieben
gezeichnete Begeisterung des Hippias für die Fähigkeiten des Betrügers
und Lügners (365 de) soll zeigen, daß die Grundvoraussetzung falsch
ist. Doch nach Boders eigener Feststellung muß Ironie durchsichtig sein,
wenn sie wirken soll. Es muß aber bezweifelt werden, ob griechische

14 B. J . H . Ovink, Philosophische Erklärung der platonischen Dialoge M e n o und Hippias


M i n o r , Amsterdam - Paris 1930, 176 f.
15 R . K. Sprague, Plato's Use of Fallacy. A Study o f the Euthydemus and some other
Dialogues, London 1962, 7 7 - 7 9 .
" Guthrie IV 1 9 5 - 1 9 9 , bes. 198.
17 Wenn etwa Hippias in der induktiven Beispielreihe 3 7 3 dff. betont, daß das Ergebnis
jeweils nur für das gerade behandelte Beispiel gilt (374 d 7 , 3 7 5 b 4), so ist damit deutlich
gemacht, daß die Übertragung auf das ethische Verhalten fragwürdig ist.
" W . Boder, Die sokratische Ironie in den platonischen Frühdialogen, Amsterdam 1973,
86-94.
88 Hippias minor

Leser die Beschreibung des πολύτροποο als fähig und über die Maßen
intelligent wirklich als übertrieben betrachtet hätten — Boder scheint
vergessen zu haben, daß der homerische Odysseus als Urbild des
πολύτροπος dient (ab 364 c) 1 9 . Und selbst wenn die ironische Wirkung
jenes Abschnitts so eindeutig wäre, wie Boder meint, so wäre immer
noch vom Verdacht gegen die Begeisterung für den Betrüger bis zum
sokratischen Tugendwissen ein allzu weiter Weg 2 0 . Der Fehler scheint
indes gar nicht in der Bewunderung für den Täuschenden zu liegen —
auch Sokrates ,täuscht' Hippias, wie wir sahen, und wir sollen ihn doch
wohl bewundern für das Geschick, das er dabei zeigt. Worauf es
ankommt, ist, daß der Täuschende weiß, was Gerechtigkeit ist, und dies
nicht im Sinne einer formalen Definition, sondern der inhaltlichen
Bedeutung für das menschliche Zusammenleben. So können die Philoso-
phenherrscher, die zur Erkenntnis des Guten und der Gerechtigkeit
gelangt sind, die Angehörigen des militärischen Wächterstandes in der
Frage der Partnerwahl täuschen (Politeia 459 c d, vgl. 382 c, 389 b, 414
b): sie tun es, weil nur so die δικαιοσύνη des Staates erhalten bleiben
kann. Wenn ihre Fähigkeiten in der Durchführung des Truges nachlassen,
beginnt der Kreislauf der Deterioration der Verfassungen (546 a —547
a).
Sehr viel klarsichtiger als die genannten Interpretationen ist diejenige,
die den Hippias minor von den Argumenten späterer Dialoge her erklärt.
Es „liegt als Rätsel hier schon beschlossen", was dann im Gorgias (466
df.) und Menon (78 b) dargelegt wird, nämlich daß niemand freiwillig
Unrecht tut und daß Willkürhandeln nicht Stärke sondern Schwäche

" Vgl. Wilamowitz, Platon 1102: „etwas Ähnliches (sc. wie ,verschlagen'), allein durchaus
zu Ehren des Helden, hatte der Dichter wirklich mit der Neubildung ,polytropos'
gemeint".
10 Aus der (angeblichen) Begeisterung des Hippias für eine Fähigkeit zum Unrechttun

„läßt sich via negationis die Vorstellung einer Fähigkeit ableiten, die sich für das
Rechttun entscheidet - und nur dafür" (Boder 89). Aber wenn die Ironie die Haltung
des Hippias betrifft, nicht die Aussage, so müßte die Negation dazu lauten: „wir dürfen
nicht begeistert, müssen vielmehr betrübt sein, daß die Betrüger so viel vermögen -
z.B. daß mißgünstige Volksverführer den gerechten Aristeides in die Verbannung
zwingen können". Von solchem Bedauern führt für griechisches Denken kein Weg
zur Behauptung, Aristeides hätte seine unbestrittenen Fähigkeiten nicht auch zum
Unrechttun verwenden können, denn das hieße seine Gerechtigkeit herabsetzen. Boder
ist so sehr ein Gefangener platonischer Denkschemata, daß er die geläufige Vorstellung
von Herakles am Scheideweg als nicht existent behandelt, das sokratische Paradox vom
Tugendwissen hingegen als das Naheliegendste von der Welt. Aber es war und bleibt
ein Paradox, auf das nur einer kommen konnte; wer es nicht irgendwo in direkter
Mitteilung erfahren hat, dem hilft keine ,Ironie' darauf.
W e r betrügt wen? 89

ist 21 . Boders Protest gegen die Vorstellung, daß die Lösung in den „damals
noch ungeschriebenen Dialogen" liegen soll 22 , verrät nur seinen Mangel
an Selbstkritik: auch seine eigene Erklärung ist nur möglich, weil er aus
den späteren Werken weiß, was Piaton will. Das Interpretationsmittel
der ,Ironie' taugt nicht dazu, die Tatsache wegzuerklären, daß der
platonische Dialog seine letzte Erklärung außerhalb seiner hat.
Von hier aus muß selbst gegen Friedländers Wort vom „Rätsel" der
Vorbehalt erhoben werden, daß ein Rätsel allein vom verschlüsselten
Wortlaut aus lösbar sein sollte. Hingegen ist die Vorstellung, man könnte
allein vom Hippias minor aus die positiven Sätze platonischer Ethik
ermitteln, nichts als eine Illusion, der wir nur deshalb so leicht erliegen,
weil uns jene Sätze von jeher vertrauter sind als das elenktische Spiel mit
ihnen. Mag es auch Stellen geben, die wir aus der Retrospektive als
,Hinweise' auf die Lösung werten, so ist doch anderes, was für die
Lösung des ,Rätsels' Hippias minor wesentlich ist, nicht einmal mit einem
Hinweis versehen, so die im Schlußteil konstant ignorierte Wahrheit, daß
die Seele nicht ein beliebig einsetzbares Werkzeug des Menschen ist,
sondern der Mensch selbst 23 .
Nimmt man die Ausführungen des Phaidros als Schlüssel für die
Erklärung, so zeigt sich auch die relative Berechtigung der erwähnten
Deutungen. Eine spielerische Satire ist der Hippias minor durchaus, wie
Wilamowitz sah, nur war es sehr falsch zu meinen, es komme bei dieser
Satire allein auf den Verspotteten an, nicht auf seinen Gegenspieler 24 .
Sokrates steht eindeutig im Mittelpunkt. Daß er ironische ,Belehrung'
für Außenstehende bereithalte, ist doch wohl eine zu naive Erklärung;
die Ironie hat vorwiegend die Funktion, ihn von Hippias abzusetzen. Die
Hinweise, die in diese παιδιά eingestreut sind, sind hilfreich nur für den,
der die platonischen Positionen schon kennt (darunter nicht zuletzt auch
seine Vorstellung vom richtigen Verfahren philosophischer Mitteilung);
sie weisen auf inhaltlich bedeutsameres Wissen, welches freilich νυν έν

" Friedländer II 128.


11 Boder 89. Ähnliches gilt für Guthries Leugnung absichtlicher Zurückhaltung, s.o.
Anm. 11.
23 Die oben Anm. 17 erwähnten Einschränkungen widersprechen dem nicht; denn von der
Feststellung, daß die freiwillig fehlende' Seele nur in der Kunst des Bogenschießens
den V o r r a n g hat (375 b 4 ) , gelangt man ohne zusätzliche Information noch nicht zur
Feststellung von Phd. 9 4 c - e , daß die Seele das Herrschende (und nicht wie ein
Werkzeug Beherrschte) im Menschen ist.
" Wilamowitz, Platon I 95 (ähnlich 104): „Sokrates ist überall als Gegenspieler nötig,
aber um seinetwillen sind Ion und Hippias wahrlich nicht geschrieben, sondern gelten
den Personen, nach denen sie heißen."
90 Hippias minor

τ φ παρόντί, jetzt im Gespräch mit dem inkompetenten Hippias, nicht


entfaltet zu werden braucht: Sokrates ist der Mann mit dem entscheiden-
den Hintergrundwissen, der φιλόοοφοο im Sinne der Schriftkritik. Für
den naiven Hippias mag es scheinen, als bleibe es beim ,Anfall', bei der
Unwissenheit und bei der Krankheit der Seele, und als sei die einzige
Stärke des Sokrates seine Methode des Fragens. In Wirklichkeit kann er
mit seinen Fragen nur deswegen mit solcher Meisterschaft Verwirrung
stiften, weil seine Seele schon lange geheilt ist, weil er als Dialektiker
schon längst am Ziel der Reise (Hi.min. 376 c 6 , Politela 532 e 3) ange-
langt ist.
Der ethisch fragwürdige Satz, daß der Wahrhaftige zugleich der beste
Betrüger ist, ist somit als Aussage über den Dialog selbst zu lesen: nur
als Wissender kann Sokrates das ethische Halbwissen des Hippias
,betrügerisch' in eine offene Antiethik verkehren. Die Differenz zwischen
dem bereitgehaltenen tieferen Wissen des Philosophen und dem geringeren
Wissen, das er im jeweils gegebenen Fall ausspielt, ist also konstitutiv
schon für den Frühdialog, den Wilamowitz noch vor den Tod des
Sokrates datierte.
Kapitel 7

Hippias maior
Sokrates und sein Doppelgänger

Wie im Euthydemos und im Hippias minor wird auch im längeren


nach Hippias benannten Gespräch der Gegner verspottet als der, der mit
Sokrates ,spiele' und ihn absichtlich täusche (so als habe er anderes,
Ernsthafteres zur Hand). Wie in der Politela ist in diesem Dialog das
Bild eines Dialektikers entworfen, der bei seiner Suche nach sicherem
Wissen die Ideen und das Gute als Ursache von allem entdeckt hat und
der in allen Elenchoi unbesiegt bleibt. Wie in den Nomoi wird an einem
konkreten Beispiel vorgeführt, daß zur Verteidigung eines Logos ein
Hinausgehen über seine ursprünglichen Denkmittel erforderlich ist.
Die Konvergenz dieser drei Motive auf die Thematik des Schlußteils
des Phaidros hin ist gewiß nicht zufällig, wird vielmehr bestätigt durch
das vierte der für den Hippias maior bestimmenden Motive: weit
deutlicher noch als im kürzeren Hippias-Gespräch 1 steht der Sophist hier
als Verfasser einer Schrift im Elenchos: ë c n γάρ μοι περί αυτών (sc.
έπιτηδευμάτων καλών) παγκάλωο λόγοο ουγκείμενοο (286 a 5). Über
diese Schrift soll er nun eine kleine Frage des Sokrates beantworten:
βραχύ τί μοι περί αύτοϋ άπόκρνναι (286 c4).
Darüber hinaus weist der Hippias maior eine bemerkenswerte
Besonderheit auf: in der Durchführung der typischen βοήθεια-Situation
bedient sich Piaton hier einer fiktiven dritten Dialogperson, die freilich
leicht als ein Doppelgänger des Sokrates zu erkennen ist. Die Bedeutung
dieses eigenartigen dramaturgischen Mittels für die hier verfolgte Frage-
stellung ist folgende.
Es mag als irritierend empfunden werden, daß die Gestalt des
Sokrates, wenn sie im vorliegenden Versuch konsequent als Bild des
φιλόςοφοο im Sinne der Schriftkritik (mit all ihren Implikationen für
die Methode philosophischer Wissensvermittlung) interpretiert wird, in
1
Vgl. oben 81 mit Anm.4.
92 Hippias maior

seltsamer Doppelung erscheint: er ist nach dem Ausweis des jeweiligen


Textes primär der Nichtwissende, also in gewissem Sinne noch der
,historische' Sokrates, der sich mutig bis in die Aporie vorwagt, und
zugleich soll er nach dem Ausweis der Parallelen und bestimmter
Hinweise im Text der είδώο τό άληθέο sein, der Mann des fundierten
Hintergrundwissens. Wäre es da nicht einfacher, Sokrates seine Einheit
wiederzugeben und anzunehmen, daß die Aporie wirklich ,unfreiwillig',
aus der radikalen Ehrlichkeit des Fragens heraus, im .lebendigen Ge-
spräch' entsteht, nicht aber von einem hintergründigen ,Wissenden'
kunstvoll inszeniert wird?
Gegen solche Bedenken zeigt nun der Hippias maior, wie sich Sokrates
vor unseren Augen in zwei Personen spaltet: in den stets irrenden Frager,
der nur weiß, daß er nichts weiß2, und den vollendeten Dialektiker, der
zwar auch fragend auftritt, dabei aber die fortgeschrittenen Denkmittel
der Ideenlehre nicht etwa neu entwickelt, sondern fertig mitbringt und
so die Diskussion zielstrebig auf ein höheres Niveau verlegt. Gewiß
ist die seltsame Persönlichkeitsspaltung des Sokrates in der Ironie
,aufgehoben'. Aber Ironie allein führt noch nicht zu dieser Art von
Versteckspiel, erklärt noch nicht, warum Sokrates nicht selbst das vertritt,
womit er das Gespräch vorantreibt. Die Einheit hinter der Spaltung in zwei
Personen und die sachliche Rechtfertigung des scheinbar hinterhältigen
Verfahrens des Sokrates ist im Begriff des Dialektikers zu suchen, der —
wie im Phaidros dargelegt — nicht nur die Denkmittel und Ergebnisse,
mit denen er arbeitet, sicher beherrscht, sondern auch die Umstände des
Gesprächs und damit die ,Seele' des Gegenübers. Es ist also nicht so, wie
es nach dem existenzphilosophischen Postulat sein müßte, daß der
Dialektiker stets ,als ganzer Mensch' hinter seinem Gespräch steht. Wenn
es die Situation erfordert, gibt er sich gerade in seinem Eigentlichen
nicht zu erkennen. Es liegt bei ihm, in wessen Namen er seinen
Wissensvorsprung entfalten will. So kann er aber auch bestimmen, in
welchem Umfang er es tun will: der fiktive Partner des Sokrates läßt sich
als Abwesender nicht ausfragen und zu Antworten zwingen, Sokrates
hingegen kann sich seiner Fragen ,entsinnen', so lange es ihm gut scheint.
Piaton macht den Leser zum Mitwisser dieses durchsichtig gestalteten
Spiels. Der Leser des Phaidros weiß zudem, daß er nur eine literarische
Konkretisation der Entscheidungsfreiheit vor sich hat, die sich der

2 Vgl. 3 0 4 c 2 πλανώμαι καί άπορώ άεί, 2 9 8 c l Wissen des Nichtwissens.


Sokrates und sein Doppelgänger 93

Dialektiker in der Handhabung seiner philosophischen Mitteilung stets


bewahren wird, vor allem aber dann, wenn er sich der Schrift bedient.
Die Anlage des längeren Hippias-Gesprächs ist der des kürzeren
weitgehend analog, man hat fast den Eindruck, als habe Piaton denselben
dramatischen Entwurf mit anderem Inhalt und unter deutlicherer Zeich-
nung der einzelnen Züge im Bild des Dialektikers noch einmal durchfüh-
ren wollen 3 .
Die Einleitung, die diesmal weit ausführlicher geraten ist (281 a —286
c), schildert wieder den eitlen Charakter des Hippias und seinen hohlen
Anspruch auf,Weisheit'. Der Übergang zum ersten Hauptteil (286 c — 293
c) ergibt sich aus der Erwähnung eines Logos des Hippias über die καλά
έπιτηδεύματα: er soll seine Ausführungen verantworten, indem er zeigt,
daß er weiß, was überhaupt das καλόν ist. Die Frage wird ihm ausführlich
erläutert: Sokrates will nicht wissen, welche Dinge schön sind, sondern
was es ist, das die schönen Dinge schön macht, was das Schöne selbst
ist (287 c —e). Trotz dieser Hinführung sind die Antworten des Hippias
von einer Art, daß Sokrates ihn am liebsten dafür mit dem Stock schlagen
würde (292 a 6 — 7)*. Das Schöne, meint Hippias, ist ein schönes Mädchen
(287 e), dann: das Gold (289 e), und schließlich bietet er als dritte,
unwiderlegbare Antwort an: das Schönste ist, in Reichtum und Gesund-
heit in hohem Alter nach Beisetzung der eigenen Eltern von den eigenen
Kindern prunkvoll zu Grabe getragen zu werden (291 de).

3
Vielleicht wäre dies eine Erklärung für die zweimalige Verwendung derselben Titelfigur.
Jedenfalls kann man aus der Existenz zweier Hippias-Dialoge nicht schließen, daß der
eine (im Zweifelsfall der Größere) unecht sei. Auch Aristoteles' Zitat έν τω Ίππίςι
Met. 1025 a 6, womit der Kleinere Hippias gemeint ist, beweist nicht, daß er den
Größeren nicht kannte (s. M. Soreth, Der Platonische Dialog Hippias maior, München
1953, 2). Vielmehr ist