Liberalismus
(4,599 words)
Hinzu traten Besonderheiten der Kontinente, Staaten und Regionen. So war in den USA
»liberal« (= lib.) ein Ausweis »linker« Gesinnung, aus kontinental-republikanischer Sicht
indessen eine Position der Mitte, wenn nicht der politischen Rechten. Die europ. L. gingen alle
eigene Wege. Gemein-europ. wiederum waren die Epochen ihrer Entwicklung. In seinen
Anfängen war der L. ein Element des Widerständigen, des Neuen, ein Stachel im Fleisch der
ständisch-absolutistischen Welt. Später entwickelte er sich zu einem Träger des politischen
Systems.
Der L. hatte seine Wurzeln im 17. Jh., aber zur systemprägenden Kraft wurde er ein Jahrhundert
später. Freiheitliche Bestrebungen hatte es auch in vorangegangenen Zeiten gegeben: solche
der Städte gegen aristokratische Herrschaft, solche der Stände gegen fürstliche Disziplinierung,
solche der Wissenschaft gegen kirchliche Orthodoxie. Die lib. Freiheit war indessen mehr als
ein Bündel von Freiheiten und Rechten, mehr auch als geschichtlich gewachsene Liberalität.
Sie war die Explikation eines Gedankens: der Autonomie des Individuums. Auch der L. kannte
Freiheiten in der Vielfalt der Erscheinungen, des Einzelnen gegen den Staat wie der Menschen
in der Gesellschaft, aber sie waren durch ein Prinzip verbunden. Als Menschenrechte, als
/
»Urrechte« prätendierten sie überstaatliche Wirksamkeit. Als Bürgerrechte verlangten sie nach
Kodi kation, nach einer schriftlich verbürgten Ordnung, nach einer Verfassung. Der Gedanke
einer geschriebenen Verfassung war eine lib. Er ndung.
Der Begri f L., der jünger ist als die Sache selbst, kommt aus Frankreich; Europa hat ihn von
dort übernommen. Er war ein nachrevolutionäres Konstrukt, ein auf Zukunftserwartung
ausgerichteter »Ismus«. Materiell wurde er zur Sammelbezeichnung all jener Bestrebungen,
die sich einer Restauration Alteuropas entgegenstellten und die Freiheit und Konstitution zum
Programm erhoben. Der Neologismus »lib.« hatte seinerseits schon eine vorpolitische
Geschichte. Im dt. Sprachbereich des 18. Jh.s beschrieb er (wie schon das antike lat. liberalis,
»eines Freien würdig«) einen Kreis privater Tugenden, zu denen Freisinn, Großzügigkeit und
Freiheit von Vorurteilen zählten. Diese Bedeutungen hat er bis heute bewahrt.
Die politische Zurichtung des Begri fs folgte in Frankreich nach der Wende zum 19. Jh.: Im
Zusammenspiel Napoleons mit den Spitzen des Directoires, d. h. befördert durch die
gemeinsame Abwehr von Jakobinismus und Restauration, fand das Schlagwort idées libérales
Eingang in die amtliche wie die freie Literatur. Auch in Spanien fand es früh Verwendung: In
den cortes (Parlament 1810–1814) bezeichneten sich die Parteigänger der neuen Verfassung als
liberales. Der kontinentale wie der engl. Sprachgebrauch übernahmen die neue Begri ichkeit.
In England verband sich die überkommene Parteibezeichnung Whigs unter der Parole reform,
hier v. a. der Wahlrechtsreform von 1832, mit dem neuen liberal. Zum andern wanderte das
Wort als Selbstbezeichnung in das Vokabular der antiaristokratischen Radicals, v. a. John Stuart
Mills und seiner Schule. »Lib.« stand allgemein für Fortschritt, selbst für die Fortschrittspolitik
der Tories jener Jahre. In einer letzten Bedeutungsweitung wurde aus der politisch gewordenen
Bezeichnung auch ein Parteiname; das geschah in den 1840er Jahren und war nicht nur eine
engl. Entwicklung.
Hartwig Brandt
2. Politisches System
2.1. Frankreich
Die Entwicklung des L. ist mit der Entstehung des Verfassungs-Staates nach 1815 verbunden, ja
sie ist ohne diesen nicht zu denken. Denn erst das konstitutionelle System schuf jenen
Freiraum, in dem der L. Ein uss gewann – durch die Gewährung von Presse- und
Meinungsfreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit ebenso wie durch die Scha fung von
gewählten Parlamenten. Dies gilt für Europa im Ganzen; indessen verliefen die nationalen
Entwicklungen durchaus unterschiedlich.
Mit der Julirevolution von 1830 und der Errichtung des »bürgerköniglichen« Regimes Louis
Philippes trat der L. in eine neue Phase ein. Das System setzte dem sakralen wiewohl
konstitutionellen Königtum ein Ende und forcierte den besitzbürgerlichen, klassengebunden-
bourgeoisen Charakter politischer Herrschaft. Instrument dieser Politik war ein Besitz und
Geld begünstigendes Wahlrecht.
Es gab zwei Richtungen des L., die in der Kammer konkurrierten: die Résistance und das
Mouvement, die »Bewegungs«-Partei (Gauche dynastique), jene stand für die Politik der
Regierung, diese für die Fortentwicklung von Rechtsstaat und Bürgerrechten. Ideenspender
dieser Regierungspartei waren die »Doktrinäre«, darunter ihr bekanntester Exponent,
Guillaume Guizot, mehrfacher Minister und in den 1840er Jahren auch Regierungsvorsteher. In
seinem Umkreis siedelten andere zeitbekannte Figuren: Casimir Périer (Bankier und von 1831
bis zu seinem frühen Tod 1832 Chef der Regierung), der Herzog von Broglie (Schwiegersohn der
Madame de Staël und 1832–1836 Außenminister), Adolphe Thiers (Intellektueller, Publizist,
zweimaliger Ministerpräsident und mehrmals Minister). Das Spektrum reichte von Banken
und Börse über Schwerindustrie und Großbesitz bis in das Universitätsmilieu und die freien
Berufe.
Im Julikönigtum war der L. zum Teilhaber des politischen Systems geworden. Er stand nicht
mehr allein für Prinzipienpolitik und parlamentarische Opposition, sondern auch für das
Regierungshandeln, für die parlamentarische Verantwortung der Minister, aber auch für ein
Regime, das der Vereinsfreiheit enge Grenzen zog und konstitutionelle Grundsätze auf ein
besitzbürgerliches Interesse verkürzte. Vom System integriert, verlor der L. seine gedanklich-
begri iche Schärfe. Die Grenzen zwischen libéral und conservatif wurden ießend. Ähnliches
spielte sich zur gleichen Zeit in England ab.
2.2. Deutschland
War der L. in Frankreich nach 1830 zum Ferment der Staatspolitik geworden, so blieb er in
Deutschland ein Element des Widerstandes, allenfalls der parlamentarischen Opposition.
Hinzu kam, dass vorpolitische Deutungen fortwirkten. L. blieb ein Stück individueller Bildung
und Gesinnung, das des Politischen, des Parteipolitischen gar, entbehrte. Zum andern
korrespondierten Freisinn und Liberalität mit einem Staatsverständnis, das in der Obrigkeit
den Garanten alles Freiheitlichen erblickte. Aufgeklärter Vormundsstaat und Freiheit
erschienen als äquivalente Größen. Über Idealismus und Biedermeier wirkten solche
Vorstellungen bis in die vormärzliche Zeit fort.
Der dt. L. hatte seine Wurzeln im Bildungsbürgertum, und diese Herkunft sowie sein
politisches Weltverständnis haben ihn geprägt. Sein vorherrschender sozialer Typus war der
Staatsdiener als Autor und Publizist, der Gelehrte von bekennendem ö fentlichen Interesse,
der »politische Professor«, wie man später sagte. Seine Vertreter waren in Deutschland
zahlreich, manche populär, Karl Theodor Welcker, Ludwig Uhland, Friedrich Christoph
Dahlmann, Carl von Rotteck – fast jeder Name eine Assoziation.
Dabei nötigten die Verhältnisse des Vormärz die Lib. zu Anpassungen und Arrangements. Sie
fügten sich den Bedingungen monarchischer Herrschaft und waren doch zugleich die
politischen Ho fnungsträger in einem System von Zensur und Repression. Ihre Politik war eher
Prinzipien- als Interessenpolitik, fundiert in Überzeugungen, die in der zeitgenössischen
Wortprägung »altliberal« zum Vorschein kommen. In den Debatten der
Paulskirchenversammlung erfuhren sie eine letzte Demonstration.
Hartwig Brandt
3.1. England
Der L. der Restaurationszeit war Erbe einer Tradition, hatte bereits eine Geschichte. Seine
ersten lit. Hervorbringungen datieren aus dem 17. Jh. Seine ersten Auftritte erlebte er in jenen
Ländern, deren Wirtschaft und Politik am weitesten vorangeschritten waren.
Die politische Geschichte des L. begann mit der Glorious Revolution von 1688; sein erstes
Manifest war John Lockes Second Treatise of Civil Government (»Zweite Abhandlung über die
bürgerliche Regierung«) von 1690: ein Traktat über die Freiheit, genauer die Scha fung von
Freiheit, durch einen Gesellschaftsvertrag, der vor staatlicher Willkür bewahre und die Bürger
in ihren Rechten schütze (Staatsvertrag). Ein Jahrhundert später waren die lib. Autoren
Begleiter eines neuen, säkularen Umbruchs: 1776 erschien die Abhandlung An Inquiry into the
Nature and Causes of the Wealth of Nations (»Eine Untersuchung über das Wesen und die
Ursachen des Reichtums der Nationen«) des Schotten Adam Smith, 1789 die Programmschrift
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Qu'est-ce que le Tiers-État? (»Was ist der Dritte Stand?«) von Emmanuel Joseph Sieyès, 1795
Kants Abhandlung Zum ewigen Frieden, 1817 der Traktat Principles of Political Economy and
Taxation (»Grundsätze der Volkswirtschaft und Besteuerung«) des Engländers David Ricardo.
Sie alle waren gleichsam Mitwirkende in einem politischen Labor – sehr im Gegensatz zu ihren
Nachfolgern in der Epoche der Restauration, denn diese zeigten sich bemüht, ihre Theorie den
gewandelten Verhältnissen anzupassen.
Dies verbindet so verschiedene Schriftsteller wie Benjamin Constant und Alexis de Tocqueville,
John Stuart Mill und Richard Cobden, Friedrich Christoph Dahlmann und Friedrich List. In
ihren Werken erscheint das 19. Jh. als eine Zeit der praktischen Mühen mit den Ideen des 18.
Jh.s. Was die Epoche der Au lärung vorgegeben hatte – Freiheitsrechte,
Repräsentativverfassung, Rechtsstaat und Marktökonomie –, wirkte fort.
Der brit. L. war ein Produkt der fortgeschrittensten Gesellschaft der Zeit. Er ging dem
kontinentalen voraus und gab diesem früh praktische Anschauung. In ihm spiegelten sich der
emporschießende Kapitalismus wie die ihm folgenden sozialen Umbrüche und Krisenlagen. Er
war aber auch von parlamentarischen und libertären Traditionen beein usst, welche das Land
seit langem prägten. Schließlich trat in ihm ein national-mentales Element hervor, eine
Denkweise des Nützlichen wie des Naheliegenden, des Abstandes zu Konstruktionen und
Systemen. Der brit. L. war weniger politisch-kontraktuell als moralisch-ökonomisch fundiert.
Er nahm seinen Ausgang von der »schott. Schule«, hier nicht zuletzt von Adam Smiths Lehre
der natural liberty (»natürlichen Freiheit«). Die Gesellschaft, so Smith, bedürfe keiner
regulierenden Kraft, keiner planenden Vernunft; allein die selbstbezogenen Anstrengungen
ihrer Mitglieder, der Individuen, führten zu Fortschritt und Wohlergehen. Indessen verlangte
Smith auch die Achtung der Mitglieder untereinander, das Dasein von Institutionen, welche
die Freiheit verbürgten. Hier trat die moralische, aber auch die staatskonstruktive Seite seiner
Philosophie hervor.
Dieses Denkmuster wirkte auf vielfältige Weise ins 19. Jh. fort, nun indes ganz neuen Zwängen
und Herausforderungen begegnend. Wirkungsmächtigster Sprecher in freisinniger,
vornehmlich marktökonomischer Nachfolgerschaft war der Kattunfabrikant Richard Cobden
aus Manchester, ein wahrhaftiger Kapitalist, der eine ganze Stadt zur Metapher machte.
Cobdens Credo war der Freihandel. Für ihn warb er früh in zwei Schriften, die 1836 unter dem
Titel England, Ireland and America verö fentlicht wurden, sich rasch verbreiteten und auch
politisch erfolgreich waren. Sie wurden zum Treibsto f einer Bewegung, die Cobden selbst
inszenierte: durch Massenpetitionen an das Parlament wie durch Gründung einer pressure
group, der Anti-Corn-Law-League (1838). Die Abgaben an den Staat, so die Forderungen, sollten
herabgesetzt, die Aufwendungen für das Militär beschnitten, alle Zollschranken niedergelegt
werden. Cobden verachtete Steuern und den Krieg, v. a. aber den Adel, dessen starre,
schutzzöllnerische Interessenpolitik zumal. England solle seinen Ein uss durch
Handelsverbindungen ohne Fesseln auf friedlichem Wege über die Welt ausdehnen und so
eine universale Gesellschaft arbeitender Menschen scha fen.
/
Eine andere Richtung lib. Theorie, die freilich schon ins Demokratische hinüberspielte, stellte
der Utilitarismus dar. Sein Vorstreiter war Jeremy Bentham, aber auch James und John Stuart
Mill sind ihm zuzurechnen.
Bentham war wie Cobden, aber auf andere Weise, ein Verächter der brit. Tradition. Als junger
Mann hatte er die Unwägbarkeiten des Common Law bekämpft, 1817 forderte er in einer Schrift
(Plan of Parliamentary Reform) das gleiche, allgemeine und geheime Wahlrecht. Dazwischen
schrieb er Kompendien über Gesetzgebungspolitik, Gerichtsverfassung und die »Taktik«
parlamentarischer Versammlungen. Sein theoretisches Konzept indessen war einfach und
wirkte wohl daher schulbildend. Es fußte auf der Maxime des Nutzens, darauf, dass Politik das
größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl erstrebe – ein Gedanke, den er von anderen
übernommen hatte, der bei ihm aber zum System geriet.
Magistrale Figur des brit. L. der Epoche war indessen John Stuart Mill. Auch er war ein
Abkömmling der »schott. Schule«, und Bentham galt ihm in seinen frühen Jahren als Autorität.
Aber stärker als der seiner Vorgänger hatte sich Mills L. vor den Gefahren des Zeitalters zu
bewähren: au rechenden Klassenkon ikten, sozialer Not sowie den Problemen des neuen
Massenstaates. Auch Mill verwarf alle naturrechtlichen Begründungen politischer Herrschaft,
auch für ihn war der Nutzen die erste Maxime politischen Denkens. Doch wie Tocqueville, mit
dem ihn vieles verband, re ektierte er über Freiheit unter veränderten politischen
Bedingungen. Freiheit war jetzt nicht mehr allein die Behauptung der klassischen
Bürgerrechte, wie sie das 18. Jh. im Kampf gegen den absoluten Staat proklamiert hatte.
Freiheit war auch die Bewahrung von Verschiedenheiten, der Kampf gegen die neue
»Gleichförmigkeit aller Menschen«, die Behauptung des Pluralismus, die Wendung gegen die
Herrschaft der Mehrheit. Hier meldeten sich lib. Urängste zu Wort.
3.2. Frankreich
Eine andere Entwicklung als der engl. nahm der franz. L. Er war der Schöpfer der
konstitutionellen Bürgerverfassung von 1791, hernach hingegen Geschädigter der jakobinischen
Revolution (Jakobinismus), deren Utopismus ihm suspekt war. Er war Geschädigter Napoleons,
der den politischen Freisinn ins Technokratische wendete. Nach 1815 arrangierte er sich mit
den Vorgaben der aktuellen Politik: der Restitution eines verfassungsgebenden Königtums bei
Bewahrung rationalen bürgerlichen Rechts, der Zähmung des Parlamentarismus durch Zensus
und Kompetenzenentzug. In der Charte von 1814 waren solche Tendenzen vereint. Die
mächtigste Kraft indessen, welche dem L. zusetzte, war die soziale »Unterwelt«, die Revolte,
welche von ihr drohte. Seit etwa 1820 war das Au egehren der Besitzarmen eine feste Größe
im Kalkül der herrschenden Schichten. Vor diesem Prospekt zeigte die lib. Re exion den
Gestus des Klassenkampfes.
Auf dem Felde lib. Verfassungsdenkens war Benjamin Constant eine herausragende Figur der
Epoche. In Lausanne geboren, war er durch Interessen und Lebensweg Europäer. In frühen
Jahren hatte er sich der Revolution verschrieben und stand später in den Diensten Bonapartes.
Aber erst im sog. Juste-Milieu, der besitzbürgerlichen Mitte der Restaurationszeit, fand
Constant das ihm gemäße Ambiente. In der Mischung von Anpassung und Beharren stellte er
/
als Lib. einen Typus dar. Constant sah die Philosophie des Fortschritts seit der Franz.
Revolution in zwei Richtungen gespalten, die sich jeder Vermittlung entzögen. Beide
insistierten auf dem Prinzip der Freiheit, aber ihr Verständnis davon sei durch Welten getrennt.
In der durch Jean-Jacques Rousseau und den Abbé Mably begründeten Richtung sei die
Theorie der Freiheit der Antike entlehnt und meine die Ausübung politischer Souveränität, die
kollektive Beherrschung von Leben und Gesellschaft, mit der Folge, dass sie auch der Tyrannis
eine Rechtfertigung biete. Dagegen stehe die andere Richtung, welche Freiheit als
Unantastbarkeit des privaten Interesses de niere, als Recht, über Eigentum zu verfügen, ein
Gewerbe zu wählen, seine Meinung zu äußern, wann immer es gefalle. Erst aus der Garantie
des »individuellen Daseins« erwüchsen danach die Institutionen des Staates. Den
Gewährsmann für diese Form der Freiheit, zu welcher er sich selbst bekannte, erblickte
Constant in Montesquieu.
Das andere Element der Constant'schen Theorie war die Verteilung der staatlichen
Funktionen, und dies in einer Form, welche die Charte nicht kannte. Denn neben Regierung,
Parlament und Justiz sollte dem Monarchen als pouvoir neutre (»neutrale Gewalt«) eine
besondere Rolle, eine auf Autorität statt politischer Macht ruhende Sonderstellung,
zukommen. Die Entrückung des Königs aus der aktiven Politik fördere zudem die
wünschenswerte Ver echtung von Administration und Parlament – dies in der Rechts gur des
parlamentarischen Ministers. Die monarchie constitutionnelle hatte für Constant freilich auch
eine klassenpolitische Spitze (Konstitutionelle Monarchie). Das Parlament – er selbst war 1819–
1830 Deputierter der Kammer – sei eine Einrichtung der Besitzenden, das Wahlrecht ein
Derivat des Eigentums. Denn das Eigentum, das an Grund und Boden zuvörderst, mache nicht
nur fähig zur Politik, es beuge auch dem Phantom politischer Gleichheit vor. Massenhaftigkeit
des Politischen führe zu Korruption und Chaos. Constant geißelte den au ommenden
Industrialismus als einen Weg ins Materialistische, aber er sah in ihm auch eine Schutzwehr
gegen den Pöbel, gegen die Ergreifung der Politik durch die Besitzlosen.
Tocqueville sah in Amerika eine Gesellschaft, die dank engl. Mitgift lange als freie Sozietät
bestanden hatte, die frei leben konnte, weil sie keine Aristokratie zu bekämpfen hatte. Dann
freilich, mit voranschreitender Moderne, sei das Prinzip der Gleichheit dominant geworden
und mit ihm die Allmacht der Majoritäten, die alles Individuelle erstickten. Immerhin habe die
amerikan. Gesellschaft gegen diesen Prozess Gegenkräfte au ieten können: den Föderalismus,
v. a. aber die Geschworenenjustiz (Law Court) und die Selbstverwaltung der townships. So sei
die Freiheit nicht gänzlich erloschen.
/
Düsterer sehe es hingegen in Europa aus, wo es an einem solchen Korrektiv fehle. Denn mit
dem Untergang Alteuropas, der Beseitigung seiner aristokratischen Herrschaft, sei auch das
Prinzip der Freiheit verschwunden; dieser Verlust sei unwiderru ich. An seine Stelle sei das
Axiom der Gleichheit getreten, gefördert zunächst von einer zentralisierenden Staatsgewalt,
sodann von der Revolution, am Ende von beiden zugleich. Verwaltungsdespotie und
Volkssouveränität seien geeint durch ein Drittes, das sie verbinde: die Egalität. Das Au fällige
der Entwicklung erblickte Tocqueville freilich erst darin, dass die Despotie der Gleichheit sich
unter demokratischen Zeichen in sanfte Bevormundung verwandelt habe, wobei der Staat den
Part des Betreuers gebe. Unter solcher Vormundschaft werde bürgerliches Ruheverlangen zu
einer »blinden Leidenschaft«. Alles Trotzig-Private, alles Widerständige, die Instinkte der
Freiheit mithin, seien verdorrt. Nirgendwo seien Pressefreiheit und unabhängiges Gericht so
unentbehrlich wie in demokratischen Staaten.
3.3. Deutschland
Vor der Folie engl. und franz. Literatur bietet sich der dt., der nachkantische L. eher
synkretistisch dar. Er kannte keinen John Stuart Mill und keinen Tocqueville. Er war zudem
eher alt-europ. in seiner Textur. Er p egte eine politische Moral der Hausväter und eine
Wirtschaft des Kleinbesitzes, er war patriarchalisch und vorindustriell, eher zünftisch noch als
marktökonomisch. Ihm fehlte dazu die nationale Weite, aber auch die Erfahrung der
Revolution. Sein Wirkungsfeld war der Territorialstaat, auf ihn war sein Denken bezogen. Im
»Projekt« der einzelstaatlichen Verfassung fanden seine Bestrebungen zu politischer
Wirksamkeit.
Der Bauplan dieses lib. Denkens war dualistisch geprägt. Hier wirkten vormodern-
altständische Muster fort. Auf der einen Seite war das Parlament Repräsentant der politischen
Gesellschaft, Vertreter der Kommunität des festen wie des mobilen Besitzes, aber doch eher
des Mittelstandes als des großen Geldes. Schutzanstalt privater Rechte sollten die Kammern
sein. Ihr »Königsrecht« war deshalb die Mitentscheidung über Steuern und Budget. In ihm trat
das Treuhänderische ihrer Aufgabe am Sinnfälligsten hervor. Im weiteren Sinne, d. h. über die
Finanzrechte der Stände hinausreichend, waren die Landtage Wahrer der Grundrechte der
Bürger. Lib. Politik hieß, das Gewissen für sie zu schärfen. Lib. Parlamentspolitik hieß, die in
den Verfassungen vereinten Rechte gegenwärtig zu halten, die Regierungen auf Einhaltung und
Fortbildung zu verp ichten. Staat und Verwaltung waren für sie das Kontinuitätsverbürgende,
das histor. Mächtige. Die Liberalen fügten sich früh in diese Erkenntnis.
Dafür war der L. in der Staatsgesellschaft die vorherrschende geistige und politische Kraft. Er
dominierte in den Kommunen, ja das self-government war ein Stück seiner selbst. Aber auch
das Vereins-Wesen war ohne ihn nicht zu denken. Allenthalben zeigten sich die »Edlen des
Mittelstandes« als Stifter und Organisatoren präsent; Bürgermuseen und Turnvereine,
Wahlclubs und Liederkränze geben die Beispiele dafür.
/
Freilich war die beherrschende Rolle als gesellschaftliche Produktivkraft aber immer auch die
andere Seite dessen, dass der Staat ganz mit der Administration in eins gesetzt wurde, dass
dieser als Kontrahent der Gesellschaft galt. Diese Entgegensetzung der Sphären war
unvermeidlich, da das Nichtstaatlich-Politische sich in einem Freiraum konstituierte, den der
Staat ihm überlassen hatte. Indessen verstärkte der L. diese Trennung noch, indem er sie
gedanklich kultivierte. Sein Ziel war die Balance von Staat und politischer Gesellschaft. Sollte
sie gelingen, bedürfe die Gesellschaft des inneren Zusammenhalts, der Kohärenz.
Der dt. L. des frühen 19. Jh.s war ein System des Ausgleichs, der Vermittlung, der Vermeidung
der Extreme – ganz wie die Verfassung, für welche er eintrat, und wie die gesellschaftlichen
Verhältnisse, unter denen er wirkte. Dabei war sein gedankliches System durchaus weit
gefächert: Es gab die ständischen Libertären wie den Freiherrn vom Stein, die sich indes schon
auf dem Rückzug befanden, und es gab die »Volkstümler« wie Ernst Moritz Arndt und
Heinrich Luden. Es gab die Rationalisten und die Romantiker; schließlich gab es einen breiten
Streifen des Übergangs vom L. zum Republikanismus.
In der gedanklichen Grundlegung unterschied sich der L. nach zwei Richtungen: die
Deutschrechtler und die Vernunftrechtler. Jene führten den modernen Verfassungsstaat auf die
»germanische Freiheit« bzw. auf was sie dafür hielten, zurück, sahen in Feudalismus und
Absolutismus historische Depravierungen, von denen der zeitgenössische Konstitutionalismus
sich befreit habe. Die anderen schworen auf die rationale Vertragslehre, die Rechtfertigung des
Gemeinwesens durch die Vernunft, waren bestrebt, die Au lärung in den Dienst des
konstitutionellen Systems zu nehmen. Freilich waren beide Lager im Praktischen dann wieder
vereint. Der Glaube an die Wirkungsmacht von Politik, wenn sie ö fentlich betrieben werde,
band sie zusammen. Dass der bloße Gedanke die Geschichte zu bewegen vermöchte, war ihre
Überzeugung bis in die 1848er Revolution (Märzrevolution) hinein.
Vordenker des Vernunftrechts ( Naturrecht) war der Freiburger Rechtslehrer Carl von Rotteck.
Seine Politik basierte auf der Rousseau'schen Vertragslehre, aber sie suchte doch auch den
Ausgleich mit dem aufgeklärten Kunststaat Baden, dem Gemeinwesen seiner Herkunft.
Rotteck akzeptierte die konstitutionelle Monarchie, war jedoch bemüht, ihren Dualismus zu
überwinden – nicht durch Zuschreibung des politischen Primats auf den Fürsten, sondern
durch dessen kontraktuelle Bindung. Die ideale Staatsgewalt sei einheitlich, unteilbar, die
personi zierte dagegen zweifach, gespalten in eine natürliche und eine künstliche. Künstliches
Organ seien Monarch und Regierung, natürliches die Vertretung des Volkes, die
Repräsentation. Auch die Staatsspitze sei eine Agentur der politischen Gesellschaft (lat.
societas).
Rotteck gab den Rousseau'schen Fundus seiner Philosophie niemals preis, errichtete indessen
auf ihm zugleich einen lib. Überbau. Er schränkte das parlamentarische Stimmrecht ein und
schob das Prinzip politischer Parteiung beiseite. V. a. aber wandte er sich gegen die Signale des
Hambacher Festes von 1832, gegen den neuen Radikalismus, gegen soziale Rechte, gegen
direkte Aktionen. Sein Verständnis von Politik war in Ansehung solcher Provokationen
/
herkömmlich lib. bescha fen: altrepublikanisch, beinahe honoratiorenhaft. So waren die
Landtage für Rotteck Bastionen des Mittelstandes, abgeschirmt gegen die unterbürgerlichen
Schichten, immer noch »volkstümlich«, doch Feinde aller Agitation von Gesellen und ihren
intellektuellen Wortführern. Hier zeigten sich die Grenzen einer Philosophie des aufgeklärten
Vernunftrechts im Vormärz.
Stärkere Resonanz noch erfuhr Friedrich Christoph Dahlmann, die andere Symbol gur des dt.
L. Seine Wirkung hatte mit der vorherrschenden Zeitströmung zu tun, die national und
historisch war und in Napoleon den Spalter der dt. Geschichte erblickte. Die Facetten dieses
Bewusstseins changierten vom Konservativen bis ins Lib., aber der L. bezog von ihm die
stärkste Kraft. Dieser L. wollte die Entfremdung von der eigenen Geschichte beenden
(Historismus; Historische Rechtsschule). Er wollte das Moderne, aber nicht als franz.
Transplantat, sondern als Fleisch und Blut von der eigenen Geschichte. Also ging er zurück und
suchte nach Quellen, um sich für die Gegenwart zu stärken.
Fundort solcher Gedanken ist Dahlmanns Hauptwerk Die Politik von 1834. Der Staat sei »eine
ursprüngliche Ordnung«, »keine Er ndung, weder der Noth noch der Geschicklichkeit, keine
Actiengesellschaft, keine Maschine, kein aus einem frei aufgegebenen Naturleben
hervorspringendes Vertragswerk«, und entsprechend sei die Wissenschaft von diesem Staat
eine Anstrengung »mit einem durch die Vergleichung der Zeitalter gestärkten Blick« (2. Au .
1847, 3, 236), d. h. ein histor. Realismus, geschult freilich auch in der Denkungsart klassischer
politischer Theorie.
Die Deutschrechtler (Germanistik) waren im Gedankenspiel des Vormärz die Antipoden nicht
nur der Rotteck'schen, sondern auch der Hegel'schen Schule. Der Staat war für sie nicht
materialisierte Vernunft, sondern Organismus, juristische Person, wie der Göttinger Jurist
Wilhelm Eduard Albrecht befand. Die Gesellschaft wiederum war nicht das vom Staat
abgelöste System der Bedürfnisse, der Ökonomie, nicht eine Sphäre der Herrschaftslosigkeit,
sondern noch societas im alten Sinn, ständischer Kosmos, nun freilich veredelt durch nationale
Emp ndungen. Hier schloss sich der Kreis des dt. L.
Hartwig Brandt
4. Ausblick
Der L. war die vorherrschende politisch-gedankliche Kraft zwischen den Revolutionen von 1789
und 1848. Er schuf und beförderte die großen Neuerungen wie Parlamentarismus, Rechtsstaat,
Bürgerrechte und Freiheit des Marktes und gab ihnen die intellektuell-begri iche Schärfe.
Vieles von dem, was er erstrebte und konzipierte, wurde später von anderen politischen Lagern
übernommen und damit zum Gemeingut der Politik. Die Plausibilität seiner Maximen wurde
aber zugleich auch zu seiner Schwäche als organisierter Partei. So repräsentierte der L. in fast
allen europ. Staaten, sofern er nicht ins National-Konservative schlug, eine politische
Minorität. Die eigentliche Schwäche des L. lag indessen darin begründet, dass er zugleich eine
verändernde wie eine beharrende Kraft darstellte.
/
Er war Begründer und Vorreiter eines modern-»atomistischen« Wahlrechts und betrieb doch
zugleich dessen besitzrechtliche Beschränkung (Kurien- und Zensuswahlrecht). Er war Erbe
einer aufgeklärt-beweglichen Tradition und wurde doch auch zur Stütze eines bürgerlich-
statischen Systems. Zur Krise steigerte sich dieser Zwiespalt jedoch erst vor den Problemen der
aufziehenden industriellen Klassengesellschaft. Als Partei des Fortschritts vertrat der L. eine
Politik der Selbstregulierung der ökonomischen Verhältnisse, der Beschränkung des staatlichen
Eingri fsrechts, auch in den Belangen der neuen Arbeitswelt. Der Zug der Zeit ging indessen in
eine andere, eine staatsinterventionistische Richtung, zumal nach der ersten Krise der
entfesselten Wirtschaft in den 1870er Jahren. Der L. geriet in den Gegenwind einer
sozialsolidarischen Politik, die von Massenkräften gesteuert wurde. Gegen den Trend neuer
Großparteien vermochte er sich nur als Minderheit zu behaupten. Diese Konstellation hat sich
auch im 20. Jh. nicht geändert.
Im politischen Diskurs des 19. und 20. Jh.s dagegen blieb der L. eine magistrale Instanz. Namen
wie Friedrich Hayek, Raymond Aron und Karl Raimund Popper bleiben Teil einer Debatte, die
bis in die Gegenwart fortdauert.
Hartwig Brandt
Bibliography
[5] J. W. B , Whigs and Liberals. Continuity and Change in English Political Thought, 1988
[8] K.-G. F , Strukturprobleme des dt. Liberalismus im 19. Jh., in: Der Staat 14, 1975, 201–227
[18] T . S , Die Krise des bürgerlichen Liberalismus. Ein Beitrag zum Verhältnis von
politischer und gesellschaftlicher Verfassung, in: T . S , Staat und Gesellschaft im
3
Wandel unserer Zeit, 1976, 58–88
[21] J. J. S , Der dt. Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jh. bis zum 1. Weltkrieg. 1770–
1914, 1983 (engl. 1978)
Brandt, Hartwig, “Liberalismus”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung
mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag
GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_303974>
First published online: 2019