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Wo bleibt Johann Heinrich? Spuren der Anschauungspädagogik

Presentation · October 2020


DOI: 10.13140/RG.2.2.23882.39362

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Rebekka Horlacher
University of Zurich
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Rebekka Horlacher, Universität Zürich
Wo bleibt Johann Heinrich? Spuren der Anschauungspädagogik1

Vielen von Ihnen dürfte der Name Johann Heinrich Pestalozzi in ihrem Leben irgendwann mal
begegnet sein, sei es als Strassenname oder als Name eines Schulhauses. Diese Feststellung
trifft übrigens nicht nur für Sie bzw. für Personen, die in der Schweiz oder in Europa
aufgewachsen sind, sondern auch für Nord- und Südamerika und sogar für Japan zu. Allenfalls
erinnert man sich auch an eine verstaubte Büste in einer vergessenen Ecke des Schulhauses
oder an ein Denkmal auf einem öffentlichen Platz, das allerdings von den aktuellen
Diskussionen über Denkmäler und der dazugehörigen Erinnerungskultur nicht weiter tangiert
wird. Es ist nicht unbedingt zu erwarten, dass Pestalozzis Denkmal bei der jetzt von der Stadt
Zürich in Auftrag gegebenen Überprüfung der Personendenkmäler als besonders
diskussionswürdig hervorstechen wird. Der Name Pestalozzi kann als Teil der kollektiven
Erinnerung gelten, und zwar nicht unbedingt als Reizfigur oder als Person, die mit grossen
Emotionen verbunden ist, sondern eher als Name, den man «auch schon mal gehört» hat.
Fokussiert man diese – vorgestellte – Bestandsaufnahme auf Personen oder Berufe, die sich
im pädagogischen Kontext bewegen, schärft sich das Bild vermutlich etwas. Hier dürfte sich
die eine oder der andere daran zu erinnern glauben, dass Pestalozzi doch der Erfinder der
Volksschule und ein Vertreter der Anschauungspädagogik – was immer das auch sein möge –
gewesen sei oder der Name Pestalozzi wird mit dem Konzept oder Slogan von «Kopf, Herz,
Hand» verbunden und wird damit zum Garanten einer ganzheitlichen Pädagogik. Ältere und
manchmal auch jüngere Lehrpersonen, das ist etwas abhängig vom Ort der Ausbildung,
könnten sich auch an eine Vorlesung oder an ein Seminar erinnern, in dem ihnen Pestalozzi als
Stifterfigur der modernen Pädagogik und Schule präsentiert worden ist, aber insgesamt – und
das ist vielleicht auch gut so – spielt Pestalozzi in den zeitgenössischen pädagogischen Debatten
eher eine marginale Rolle, auch wenn die Referenz auf diesen Namen immer noch eine gewisse
argumentative Bedeutung vermitteln kann und grundsätzlich eher positiv besetzt ist.
Gerade mit Blick auf die Lehrerbildung zeigte sich dieses Bild allerdings auch schon anders;
die Figur Pestalozzi war seit der Etablierung einer Lehrerbildung im modernen Sinn eine der
wichtigsten Referenzfiguren, zumindest was die pädagogisch-normative und ethische
Orientierung der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer anging. Es stellt sich deshalb die Frage,

1
Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Pestalozzi und die Roboter. Bildung in technikaffinen Zeiten der
Volkshochschule Zürich und der Kommission UZH Interdisziplinär an der Universität Zürich, 8. Oktober 2020
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wie diese unterschiedliche Präsenz der Figur Pestalozzi in der öffentlichen Wahrnehmung zu
erklären ist und was konkret dazu geführt hat, dass Pestalozzi im 19. Jahrhundert zu einer
wichtigen Orientierungsfigur geworden ist und was im Anschluss dazu geführt hat, dass er diese
Bedeutung in den letzten 30 bis 40 Jahren verloren hat. Welche Erwartungen waren mit seinem
Namen verbunden und welche Anforderungen waren ganz allgemein mit einer Referenz auf
Personen, Stifterfiguren oder sogenannte Klassiker verbunden? Weshalb spielen diese
«Klassiker» keine oder nur noch eine marginale Rolle in den zeitgenössischen Diskussionen?
Und nicht zuletzt: Weshalb ist Pestalozzi überhaupt zu einem solchen Klassiker geworden?
Was zeichnet die historische Figur Pestalozzi aus? Was hat er besser oder anders gemacht als
seine Zeitgenossen oder war er «seiner Zeit sogar voraus», wie das auch immer wieder betont
worden ist?
In den nächsten knapp 60 Minuten möchte ich mich mit diesen Fragen beschäftigen und
damit auch die Frage beantworten, weshalb Pestalozzi zu dieser prominenten Figur der
Bildungsgeschichte geworden ist, als die er uns trotz allem immer wieder begegnet. Schon
allein die Tatsache, dass Sie hier sitzen und sich für eine Ringvorlesung mit dem Titel
Pestalozzi und die Roboter interessieren, spricht ja dafür, dass Pestalozzi offenbar immer noch
eine Bedeutung in der öffentlichen Wahrnehmung hat. Die Frage nach den Gründen für
Pestalozzis Prominenz in der Bildungsgeschichte möchte ich in insgesamt vier Schritten
beantworten. In einem ersten Schritt versuche ich, Ihnen Pestalozzi als historische Figur in
einem historischen Kontext näher zu bringen und werde Sie dafür in eine Zeit in der Geschichte
der Schweiz mitnehmen, die von grossen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Veränderungen geprägt gewesen ist und in der der Grundstein dafür gelegt worden ist, was
heute als «moderne Schweiz» bezeichnet wird. Zudem ist es auch eine Zeit – und das weist
jetzt über den Kontext der Schweiz hinaus – in dem sich die Welt oder die Gesellschaft
«pädagogisiert» hat, das heisst in dem die Vorstellung immer dominanter wurde, dass
Erziehung und damit auch deren institutionalisierte Form, die Schule, ein entscheidender Faktor
dafür sei, die einzelnen Menschen und damit die Gesellschaft «besser» zu machen, wobei dieses
«besser» ganz viele Facetten umfassen konnte und von der «industriellen Brauchbarkeit», der
«tugendhaften Politik» bis zur «individuellen Vollkommenheit» reichen konnte, um diese
Spannbreite mit damaliger Begrifflichkeit zu umschreiben.
Der zweite Schritt fokussiert auf Pestalozzis Pädagogik und versucht eine inhaltliche
Beschreibung dessen, was mit dem Begriff der Methode oder eben auch als Kopf, Herz, Hand
bezeichnet wurde. Der dritte Schritt diskutiert daran anschliessend, wie und weshalb diese im
zweiten Schritt vorgestellten Konzepte bzw. Pestalozzi als Figur den Weg in die Lehrerbildung
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gefunden haben, wobei ich mich hier auf den deutschsprachigen Kontext fokussieren werde,
auch wenn gerade die Rezeption Pestalozzis in der Lehrerbildung keinesfalls als
deutschsprachige Eigenheit bezeichnet werden kann.
Im vierten – und abschliessenden – Schritt beschäftige ich mich mit der Frage, weshalb die
Auseinandersetzung mit Pestalozzi bzw. mit seinen Konzepten in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts langsam verschwindet – und was an diese Stelle getreten ist. Damit sollen meine
Ausführungen weder ein Plädoyer für noch gegen eine Auseinandersetzung mit Pestalozzi in
der Lehrerbildung oder in der Erziehungswissenschaft ganz allgemein sein, sondern vor allem
ein Versuch, sich historisch mit einer Figur und einem pädagogischen Konzept
auseinanderzusetzen, die bzw. das wesentlich daran beteiligt war, dass wir heute so über
Erziehung und Bildung denken, wie wir das eben tun. Dabei ist mir wichtig zu betonen, dass
ich Pestalozzi nicht als geniale oder fortschrittliche Persönlichkeit in den Vordergrund rücken
möchte, sondern vielmehr als historische Figur, an der und mit der sich zeitgenössische
Diskussionen kondensiert haben und die deshalb unsere Aufmerksamkeit lohnen. Pestalozzi ist
nicht deshalb interessant, weil er besonders genial oder innovativ gewesen wäre, sondern weil
in seiner Person bzw. in seinen Tätigkeiten Entwicklungen zusammentrafen, die in dieser
Kombination besonders wirkmächtig geworden sind.

1) Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) als historische Figur in ihrem historischen


Kontext
Johann Heinrich Pestalozzi wurde am 12. Januar 1746 in Zürich geboren. Sein Vater war
Chirurg, das heisst Wundarzt, was damals nicht besonders prestigeträchtig war. Seine Mutter
stammte ebenfalls aus einer Chirurgen- und Ärztefamilie. Pestalozzi besuchte die normalen
Schulen in Zürich bis und mit dem Carolinum, der lokalen philosophisch-theologischen
Hochschule und gewissermassen der Vorläuferin der heutigen Universität, ohne allerdings sein
Studium auch abzuschliessen. Er kam dort aber mit den Ideen einer spezifischen politischen
Denkweise in Kontakt, den Ideen des radikalen Republikanismus. Diese Denkweise, der
Republikanismus, spricht sich für die Rückkehr zu den politischen Idealen der Antike aus, in
welcher das Recht auf politische Macht an Tugend und individuelle Verdienste für das
Gemeinwohl geknüpft gewesen war und nicht an Privatvermögen oder familiäre Traditionen
(vgl. Tröhler 2006, 39-120). Die Anhänger des radikalen Republikanismus begnügten sich nicht
damit, politische Ideale in ihren Versammlungen zu diskutieren, sondern äusserten sich auch
lautstark zum politischen Tagesgeschehen in Zürich und griffen auch die in ihren Augen
korrupte Machtelite an, welche die republikanische Tradition des Stadtstaates Zürich immer
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mehr verrate und sich eine Oligarchisierung der Politik zu Schulde kommen lasse (vgl. Stadler
1988, 84-100). Dass diese Aktivitäten nicht immer nur gut ankamen, überrascht nicht unbedingt
und die Kritik hatte für einige Mitglieder dieser Jugendbewegung auch ganz konkrete Folgen.
Im Winter 1766/67 zum Beispiel ging die Zürcher Obrigkeit vehement gegen den Sohn des
Stadttrompeters vor, den Theologiestudenten Christian Heinrich Müller (1740-1807), der in
einem Pamphlet den Entscheid der Zürcher Regierung kritisiert hatte, «Soldaten nach Genf zu
entsenden um dort dem aristokratischen Kleinen Rat gegen die Mitglieder des mehr Rechte
verlangenden Grossen Rats beizustehen» (Tröhler 2008a, 27); Müller musste Zürich fluchtartig
verlassen und konnte erst 30 Jahre später wieder zurückkehren.
Pestalozzis Überzeugungen waren nicht weniger radikal, er äusserte sie allerdings weniger
öffentlich, sondern versuchte vielmehr, diese auf sein eigenes Leben anzuwenden. Er war zur
Überzeugung gelangt, dass ein wahrhaft tugendhaftes Leben im Sinne des Republikanismus
ausschliesslich auf dem Land und als Bauer, in räumlicher Distanz zu der als korrupt
verstandenen Stadt möglich sei. Gemäss dieser Überzeugung begann er eine
landwirtschaftliche Ausbildung beim Berner Agronomen und Mitgründer der Berner
Ökonomischen Gesellschaft Johann Rudolf Tschiffeli (1716-1780) in Kirchberg bei Burgdorf,
wo Tschiffeli eines der bekannten sogenannten «Mustergüter» führte und neue
landwirtschaftliche Produktionsmethoden ausprobierte. Pestalozzi, der zu dieser Zeit schon mit
Anna Schulthess (1738-1815), Tochter einer sehr angesehenen Zürcher Familie, verlobt war,
blieb allerdings nur rund 9 statt der ursprünglich geplanten 18 Monate bei Tschiffeli in
Kirchberg, konkret vom September 1767 bis Mai 1768, also mehrheitlich über den Winter. Er
sah sich schon nach dieser doch relativ kurzen Zeit genügend ausgebildet, um selber einen
landwirtschaftlichen Betrieb zu führen und damit sein Ideal des tugendhaften Lebens
verwirklichen zu können. Wie radikal Pestalozzi dieses Ideal verfolgte, wird in einer Passage
aus einem Brief deutlich, den er im Juli 1767 an Anna Schulthess geschickt hatte, also noch
bevor er die Lehre bei Tschiffeli in Kirchberg angetreten hatte.
Meine Söhne sollen, ungeachtet der sorgfältigsten Bearbeitung ihres Verstandes, das Feld bauen, und
von mir soll kein müssig gehender Stadtmann herstammen. Und in Absicht auf den Ehestand muss ich
Ihnen das sagen, meine Teure, dass ich die Pflichten gegen meine geliebte Gattin den Pflichten gegen
mein Vaterland für untergeordnet halte und dass ich, ungeachtet ich der zärtlichste Ehemann sein werde,
es dennoch für meine Pflicht halte, unerbittlich gegen die Thränen meines Weibes zu sein, wenn sie
jemals mich mit denselben von der geraden Erfüllung meiner Bürgerpflicht, …, abhalten wollte. … Ich
werde nie aus Menschenfurcht nicht reden, wenn ich sehe, dass der Vorteil meines Vaterlandes mich
reden heisst, ich werde meines Lebens, ich werde der Thränen meiner Gattin, ich werde meiner Kinder
vergessen, um meinem Vaterlande zu nützen (PSB I, 29-30).
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Kurz nachdem Pestalozzi seine Lehre in Kirchberg abgebrochen bzw. seine Ausbildung als
für erfolgreich beendet erklärt hatte, heiratete er Anna und bezog einen Landwirtschaftsbetrieb
im aargauischen Birr. Pestalozzi hatte sich während seiner Ausbildung in Kirchberg von einigen
Prinzipien des radikalen Republikanismus verabschiedet, so vor allem auch von der
Einschätzung, Luxus sei immer eine Quelle von Korruption und Verderben. Diese Revision
seiner bisherigen Überzeugung lag darin begründet, dass Luxusprodukte wie Seidenbänder
oder andere Verzierungen und Stickereien auf Kleidern eben auch eine Verdienstmöglichkeit
für Menschen boten, die sich wegen den steigenden Bevölkerungszahlen in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts nicht mehr ausschliesslich durch Subsistenzwirtschaft ernähren konnten.
Für diese Menschen bot die aufkommende Textilindustrie willkommene
Verdienstmöglichkeiten, was allerdings nur dann funktionierte, wenn die hergestellten
Produkte auch Absatz fanden. Auch Pestalozzi wollte sich diesen neuen Erwerbszweig zunutze
machen, da sich nämlich schon bald gezeigt hatte, dass das Leben als autarker Landwirt nicht
ganz so einfach werden würde, wie er sich das ursprünglich vorgestellt hatte und wie es auch
in den revolutionären Zirkeln Zürichs diskutiert worden war.
Die konkreten Gründe für Pestalozzis ökonomische Schwierigkeiten als Neubauer waren
vielfältig. Zum einen fielen seine ersten Jahre als Landwirt in eine klimatisch schwierige Zeit
mit katastrophalen Witterungsverhältnissen in ganz Europa und entsprechenden Missernten.
Hinzu kam, dass er teilweise schlechtes Land gekauft hatte, das auch mit den neuen
Bodenverbesserungs- oder Düngemethoden nicht wirklich fruchtbar gemacht werden konnte.
Und ganz grundsätzlich half die eher kurze eigene landwirtschaftliche Ausbildungszeit
sicherlich auch nicht mit, diesen verschiedenen Herausforderungen wirksam zu begegnen.
Pestalozzi setzte deshalb schon sehr bald auf die finanzielle Unterstützung des
Landwirtschaftsbetriebs durch frühindustrielle Produktion, konkret Webwaren, wobei die
anfänglich erwachsenen Mitarbeiter immer mehr durch kostengünstigere Kinder ersetzt
wurden. Den Kindern wurde im Gegenzug eine Ausbildung versprochen, die sie durch ihre
eigene Mitarbeit in der frühindustriellen Produktion finanzieren sollten; der Unterricht wurde
allerdings nicht von Pestalozzi, sondern von seiner Frau Anna erteilt. Es zeigte sich allerdings
schon bald, dass auch dieses Finanzierungsmodell nicht wirklich nachhaltig war, weshalb
Pestalozzi sich um Sponsoring für seine Ideen bei finanzkräftigen Philanthropen bemühte und
sein Wirtschaftsmodell dabei als innovativ und zukunftsträchtig anpries. Aus dieser Zeit
stammen auch die sogenannten Neuhof-Schriften (1775-1778), eine Sammlung von
Rechenschaftsberichten an seine Gönner, die Auskunft darüber geben, welche Kinder bei
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Pestalozzi gearbeitet haben, wie sie ausgebildet wurden und welche Lernfortschritte sie in
diesen Jahren auf dem Neuhof machten (vgl. PSW I, 135-190; vgl. Tröhler 2004).
Nach seinem de facto Bankrott als Bauer und Textilunternehmer um 1780 sollte Pestalozzi
während den nächsten rund zwanzig Jahren das Schreiben zu seiner Hauptbeschäftigung
machen. 1781 veröffentlichte er mit dem ersten Teil von Lienhard und Gertrud einen
eigentlichen Erfolgsroman, der ihn in weiten Kreisen der deutschsprachigen Öffentlichkeit
bekannt machte. Vor allem der erste Teil widerspiegelt Vorstellungen einer landwirtschaftlich
geprägten Dorfidylle, die durch eine korrupte Machtelite in Schieflage geraten ist und durch
tugendhaftes Handeln von Einzelpersonen – namentlich der einen Hauptperson Gertrud, aber
auch durch beherztes Eingreifen des politisch Verantwortlichen, des Landvogtes Arner –,
wieder ins Lot gerückt werden kann. Mit den folgenden drei Teilen entwickelte sich die
Geschichte immer stärker weg von einem auf Landwirtschaft beruhenden patriarchalen
Ökonomie- und Gesellschaftsmodell hin zu einer Vorstellung von aufgeklärtem Absolutismus
als idealer Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, das nun auch der Schule und einer
«guten Policey», das heisst einer vernünftigen Staatsorganisation, Raum gab.
In diese Zeit der 1780er- und 1790er-Jahre fallen zahlreiche weitere Schriften Pestalozzis,
von denen nur die Bekanntesten hier kurz erwähnt werden sollen. 1783 veröffentlichte
Pestalozzi eine Schrift mit dem Titel Über Gesetzgebung und Kindermord, mit der er auf ein
öffentliches Preisausschreiben zum gesellschaftlich brisanten Thema Kindermord antwortete,
ohne seinen Beitrag allerdings auch wirklich einzureichen (Ritzmann/Tröhler 2009, 12-13). In
diese Zeit (1782) fällt auch seine Arbeit als Autor und Herausgeber des Schweizer-Blatts, einer
aufklärerischen Wochenzeitung, verschiedene Abhandlungen bzw. Memoires über
gesellschaftspolitische Themen wie Eigentum und Verbrechen, bürgerliche Bildung oder
Baumwollindustrie, eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution
(Ja oder Nein?, 1793), Schriften zur Stäfner Volksbewegung (1795), aber vor allem auch die
als sein philosophisches Hauptwerk betitelten Nachforschungen, die 1797 unter dem etwas
sperrigen Titel Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des
Menschengeschlechts veröffentlicht wurden und in denen Pestalozzi eine dreifache Natur des
Menschen postulierte. Diese dreifache Natur des Menschen besteht aus einer sogenannt
tierischen, das heisst biologischen, aus der gesellschaftlichen und der sittlichen Natur, die zwar
entwicklungspsychologisch aufeinander aufbauen aber immer auch parallel nebeneinander
bestehen. Mit der tierischen Natur ist die Bedürfnisbefriedigung gemeint, während die
gesellschaftliche Natur das von Regeln strukturierte Zusammenleben von Menschen umfasst.
Die sittliche Natur beschreibt dann diejenigen Aspekte des Menschseins, die Entscheide
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aufgrund von normativen Überzeugungen fällen, die durchaus auch gegen die tierische oder
gesellschaftliche Natur des Menschen gerichtet sein können. Der Mensch kann mit der
sittlichen Natur seine Triebe und gesellschaftlichen Zwänge erkennen, sich von ihnen
emanzipieren und so sittliche Entscheide fällen und gemäss ihnen leben. Der sittliche Zustand
des Menschen ist allerdings keine Dauererscheinung, sondern eine situative Entscheidung in
jeweils konkreten Situationen, die immer wieder neu getroffen werden muss.
In diesen gut 20 Jahren, in denen Pestalozzi wesentlich mit Schreiben beschäftigt gewesen
war, veränderte sich die Welt um Pestalozzi. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts war die
politische und wirtschaftliche Ordnung der Alten Eidgenossenschaft immer wieder in die Kritik
geraten. Gerade auch im Raum Zürich wehrte sich eine nicht zuletzt durch die Textilindustrie
ökonomisch prosperierende ländliche Oberschicht für ihre politischen Rechte gegenüber dem
Stadtstaat, ähnliche Bewegungen sind auch aus anderen Regionen der Schweiz überliefert. Die
politischen und ökonomischen Ungleichheiten bzw. die damit verbundenen Privilegien des
Ancien Régime kamen aber auch durch die politischen Ereignisse in Frankreich, konkret die
Französische Revolution von 1789, immer stärker unter Druck und 1798 kumulierte die
weitverbreitete Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung in der Helvetischen Revolution.
Die am französischen Vorbild orientierte Helvetische Verfassung brach radikal mit der
politischen Organisationsform der Alten Eidgenossenschaft, hob sämtliche ständische
Privilegien und die bestehenden Zehnten und Bodenzinsen auf, postulierte die Gleichheit der
(männlichen) Einwohner, vereinheitlichte unter anderem das Zoll- und Münzwesen sowie die
Gewichte und schuf komplett neue Verwaltungseinheiten, um auch auf dieser Ebene deutlich
zu machen, dass eine neue Zeit angebrochen sei (vgl. Fankhauser 2011).
Diese Neuerungen stiessen allerdings nicht auf dem ganzen Gebiet der Schweiz auf gleich
grosse Zustimmung. Vor allem die Innerschweizer Kantone mit ihren korporativen Traditionen
konnten sich wenig für die neuen Verhältnisse begeistern. Aber auch die sich am französischen
Vorbild orientierende Trennung von Staat und Kirche stiess auf wenig Verständnis und
Gegenliebe. Die neue helvetische Regierung sah sich deshalb genötigt, die Vorteile der neuen
Verfassung unter anderem mit Hilfe von sogenannten politischen Katechismen, das heisst
politische Aufklärungsschriften über die Vorzüge der neuen Staatsform, bekannt zu machen
(Tosato-Rigo 2012). Sie lancierte aber auch eine eigene Zeitschrift, das Helvetische Volksblatt,
das ebenfalls als Sprachrohr der Regierung dienen sollte und zu dessen Redaktor Pestalozzi
berufen wurde, da seine überzeugende Sprachkraft gerade auch im Hinblick auf das Volk seit
Lienhard und Gertrud (1781) bekannt gewesen war.
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Diese publizistische Grossoffensive war vor allem in der katholischen Innerschweiz nur
beschränkt erfolgreich, weshalb die auf dem Territorium der Schweiz stationierten
französischen Truppen militärisch eingriffen und den «Hort des Widerstands», Stans, angriffen,
was zu massiven Verwüstungen, zahlreichen Toten und vielen Halb- und Vollwaisen führte
(Tröhler 2008a, 57). Die helvetische Regierung musste aktiv werden, wollte sie in den Augen
der lokalen Bevölkerung nicht noch den letzten Rest ihrer politischen Glaubwürdigkeit
verlieren und Pestalozzi – eben noch Publizist im Auftrag der Regierung – wurde zum Leiter
des dortigen Waisenhauses berufen. Pestalozzi nahm diesen Auftrag begeistert und voller
Selbst- und Sendungsbewusstsein entgegen, seine Familie teilte seinen Optimismus nur
bedingt. Im Oktober 1798 schrieb er seiner skeptischen Frau einen Brief, den sie in ihr
Tagebuch abschrieb. Euphorisch schrieb er über seine neue Aufgabe:
Jez kan die Frage, was mein und eüer Schiksal seyn werde, nicht mehr lange zweifelhafft seyn. Ich
unterneme eine der grösesten Idée des Zeitpunkts. Hast du einen Mann, der nicht miskennt worden,
sonder der Verachtung und der Wegwerfung werth ist, mit der man ihn allgemein behandelt, so ist für
uns keine Rettung möglich. Bin ich aber unrichtig beurteilt, und das werth was ich selber glaube, so
hast du bald Hilf und Rath von mir zu erwarten. Aber jezt still – jedes Wort von dir geht mir ans Herz
– und ich mus jezt mein Herz ganz zerschnitten in mir herum tragen. Also schreib mir ruhig und
hofnungsvoll, ich kan deinen ewigen Unglauben nicht tragen. Ich habe auch kein Haar mehr von der
alten Zeit, und meine jezige Unternemung ist so verschieden von der ehemaligen als meine jezige
Runzlen mit den glaten Schwerzen. – Du hast 30 Jahr warten müssen, wart jezt auch ein ¼ Jahr mit
Willen. – Noch habe ich keine Kinder aber viel Bauleütte, die Regierung unterstützt das Unternemen
mit Weisheit und zeigt mir Wohlwollen (NPS1, 35-36).
Auch wenn Pestalozzi in Stans nicht nur mit dem – nachvollziehbaren – Misstrauen der
katholisch-konservativen, die neue helvetische Zentralregierung ablehnenden lokalen
Bevölkerung zu kämpfen hatte, und auch wenn die Unterbringung des Waisenhauses in einem
Flügel des lokalen Frauenklosters nicht unbedingt als organisatorischer Glücksgriff zu
bezeichnen ist, legte die Tätigkeit Pestalozzis in Stans die Basis für seine weitere berufliche
Karriere, die ihn über Burgdorf und Münchenbuchsee bis nach Yverdon führen sollte und ihm
so etwas wie zeitgenössischen Weltruhm einbrachte.
Die zeitgenössische Berichterstattung über die Anstalt in Stans zeugt nicht nur von einem
engagierten Leiter Pestalozzi sondern auch von einer Leitungsperson, die für Anregungen oder
Hilfe von aussen weitgehend taub blieb und auf Spannungen mit den Behörden nicht
angemessen reagieren konnte, weshalb die helvetischen Behörden im Frühsommer 1798 die
Gelegenheit ergriffen, die Anstalt wieder zu schliessen, dies mit der Begründung, die
Räumlichkeiten nun dringender für ein Lazarett zu gebrauchen (Tröhler 2008a, 60). Der
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Entscheid löste bei Pestalozzi, der seine Aufgabe offenbar Tag und Nacht wahrgenommen
hatte, zu einem regelrechten Zusammenbruch, von dem er sich auf dem Gurnigel bei Bern
erholte. Von dort ging er als Hilfslehrer nach Burgdorf, wo er wiederum einige Monate später
von der helvetischen Regierung beauftragt wurde, die Leitung des ersten nationalen
Lehrerseminars im Schloss Burgdorf zu übernehmen, da der designierte Leiter, Johann Rudolf
Fischer (1772-1800), überraschend verstorben war. Dort, auf dem Schloss in Burgdorf, sollte
Pestalozzi dann allerdings nicht unbedingt die Erwartungen der helvetischen Regierung erfüllen
und eine Lehrerbildungsanstalt einrichten. Vielmehr nutzte er die Gelegenheit, seine
«Methode», die er in Stans «entwickelt» hatte, theoretisch zu schärfen und praktisch zu
erproben, wobei er mit der Bezeichnung seiner pädagogischen Konzepte als «Methode» ein
eigentliches «Zauberwort» der Zeit verwendete und Erwartungen schürte, die längerfristig
gesehen nicht einzuhalten waren (Tröhler 2002). Aber was beinhaltete diese Methode? Wie
unterschied sie sich von anderen zeitgenössischen pädagogischen oder didaktischen
Konzepten? Diese Fragen sollen im nächsten, dem zweiten Schritt diskutiert werden.

2) Die Pädagogik Pestalozzis


Pestalozzis Aufstieg zu einem europaweit berühmten Institutsleiter und zu einem
Besuchermagnet für bildungsinteressierte Reisende, Schulreformpolitiker und Philanthropen
hängt eng mit den politischen Veränderungen Europas durch die Napoleonischen Kriege
zusammen, vor allem aber mit der am Wiener Kongress 1814/15 erfolgten politisch-
geographischen Neuordnung Europas und der damit verbundenen Umwandlung der
ehemaligen Territorialstaaten des 18. Jahrhunderts in die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts.
Diese politische und geographische Neuordnung Europas war von Debatten vorbereitet und
begleitet worden, welche die Nation als politisches Ordnungskriterium hatten dominant werden
lassen, wobei diese Nation nicht als empirisch gegeben verstanden wurde, sondern vielmehr als
ideologisches Konstrukt, dessen Bedeutung und damit auch dessen Wirkmächtigkeit erst zu
generieren, das heisst pädagogisch herzustellen war. Der Glaube, dass eine solche Überzeugung
nicht nur zu erschaffen, sondern vor allem auch durch Erziehung herzustellen sei, wird in der
Literatur als «Pädagogisierung» bezeichnet, womit ganz grundsätzlich die seit der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts sichtbar werdenden Entwicklungen bezeichnet werden,
gesellschaftliche Herausforderungen – seien es die Vermittlung von verbesserten
landwirtschaftlichen Anbaumethoden, die Abkehr vom Aberglaube oder eben die
Hervorbringung von nationalen Gefühlen bzw. einer bestimmten Loyalität zu einer Nation –
der Wirkmächtigkeit von Erziehung zu überlassen (Labaree 2008; Smeyers/Depaepe 2008;
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Tröhler 2008b). Haben wir irgendwo ein Problem? Die Erziehung wird’s schon richten! könnte
man die damit verbundene Überzeugung auf den Punkt bringen.
Auch die Schweiz zeigte sich für den mit dem Konzept der Pädagogisierung verbundenen
Zukunftsoptimismus empfänglich, weshalb die neue helvetische Regierung die Bevölkerung
durch die schon erwähnten politischen Katechismen von den Vorzügen der neuen Staatsform
überzeugen wollte. Aber auch die Schule insgesamt wurde als Ort gesehen, an dem und mit der
der neue Bürger, der nun eben nicht mehr als Untertan gedacht wurde, sondern als mehr oder
weniger souveräner Bürger eines Nationalstaats, hervorgebracht werden konnte, weshalb die
Verbesserung und der Ausbau der bestehenden Schule sowie deren flächendeckende
Bereitstellung ins Zentrum der staatlichen Aufmerksamkeit rückte (Horlacher 2021). Dies
wiederum bildete den Kontext für Pestalozzis Berufung zum Leiter des nationalen
Lehrerseminars in Burgdorf, wo er allerdings nicht wie gewünscht eine Lehrerbildung im Sinne
der helvetischen Regierung einrichtete, sondern vielmehr ein privates Institut aufbaute, das
zwar durchaus auch Lehrpersonen ausbildete, aber eben auch andere Tätigkeitsfelder verfolgte
und sich als Modellinstitut für die Entwicklung und Perfektionierung der Methode verstand
inkl. der Bereitstellung der für die Anwendung der Methode im Unterricht geeignete
Lehrmittel.
Die inhaltlichen Vorstellungen dessen, was Pestalozzi als «Methode» verstand, formulierte
er vor allem in zwei von der Helvetischen Regierung bzw. Förderkreisen motivierten
Publikationen, zum einen in einer im Jahr 1800 verfassten aber erst 1828 posthum erschienenen
Denkschrift mit dem sprechenden Titel Methode und zum andern in einer 1801 erschienenen
Schrift mit dem Titel Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. Es ist offensichtlich, dass mit diesem Titel
an den Erfolgsroman Lienhard und Gertrud angeknüpft werden sollte. Allerdings wurden in
dieser neuen Publikation Ideen formuliert, die auf eine Verbesserung der ökonomischen,
politischen und moralischen Situation des Individuums und der Gesellschaft durch eine
psychologische Kräfteentwicklung, die Methode, abzielten; ein Konzept, das mit Lienhard und
Gertrud eigentlich überhaupt nichts zu tun hatte.
Pestalozzi wollte sich mit Wie Gertrud ihre Kinder lehrt sowohl öffentlich über seine «Ideen
von dem Volksunterrichte … äussern» (PSW XIII, 183) als auch seine Methode, die er als
Resultat seiner schriftstellerischen und praktischen Tätigkeiten ansah und in Burgdorf
ausprobiert hatte, schriftlich festhalten (ebd., 196). Die in den folgenden Jahren zahlreich
erscheinenden Besprechungen und meist zustimmenden bis euphorischen Publikationen über
Pestalozzi, über sein Institut und über die Methode können als Zeichen einer breiten bzw.
breiter werdenden öffentlichen Diskussion über Bildung im Allgemeinen und über Pestalozzis
11

Konzepte im Besonderen gelesen werden. Inhaltlich verstand er die Methode als harmonische,
effiziente und einfach zu vermittelnde pädagogische Theorie, die den menschlichen Unterricht
«psychologisiere» und damit zwei Ziele verfolge. Zum einen ging es darum, den Unterricht auf
die Natur des kindlichen Geistes auszurichten, womit eine Art kognitive
Entwicklungspsychologie angesprochen wurde. Und zweitens stand die Methode für eine
Einbettung des Lernkonzepts in konkrete Situationen und Umstände, was eine Anpassung an
die soziale Situation des zukünftigen Erwachsenen bedeutete. Oder in Pestalozzis eigenen
Worten:
Ich suche den menschlichen Unterricht zu psychologisieren; ich suche ihn mit der Natur meines Geistes
und mit derjenigen meiner Lage und meinen Verhältnissen in Uebereinstimmung zu bringen. Ich gehe
desnahen auch von keiner positiven Lehrform als solcher aus, sondern frage mich ganz einfach … «Was
würdest du thun, wenn du einem einzelnen Kinde den ganzen Umfang derjenigen Kenntnisse und
Fertigkeiten beibringen wolltest, deren es bedarf, um durch eine gute Besorgung seiner wesentlichsten
Angelegenheiten zu innerer Zufriedenheit mit sich selbst zu gelangen?» (Die Methode 1800; PSW XIII,
103).
Der von Pestalozzi formulierte Anspruch wurde von einem Mitglied der helvetischen
Regierung als «vous voulez méchaniser l’education» umschrieben (Wie Gertrud … 1801; PSW
XIII, 196), was Pestalozzi zu der Aussage motivierte, Glayre habe «den Nagel auf den Kopf
[getroffen], und legte mir bestimmt das Wort in den Mund, welches das Wesen meines Zweckes
und aller seiner Mittel bezeichnete» (ebd.). Es ging bei der Methode also um einen festen und
konkreten Leitfaden, der auf der menschlichen Natur beruhte und deshalb auf jedes Individuum
anwendbar das urpädagogische Versprechen einlöse, «allen, alles zu lehren» und das erst noch
mit Erfolgsgarantie. So erstaunt denn auch das Interesse nicht weiter, das verschiedene
europäische Staaten schon bald für Pestalozzi zeigten; Staaten, die ihr Bildungswesen
reformieren oder auch erst aufbauen wollten und auf der Suche nach Modellen und Vorbildern
für die Organisation von Schule und Unterricht waren (Horlacher 2006; 2008).
Dieses Interesse verstärkte sich nach 1807. Pestalozzi hatte in der Zwischenzeit das Schloss
Burgdorf verlassen müssen und war nach einer kurzen Zwischenstation in Münchenbuchsee
nach Yverdon weitergezogen, wo ihm die Stadtregierung das dortige Schloss zur Nutzung
übergeben hatte. Vor allem Preussen, das sich nach der militärischen Niederlage gegen
Napoleon neu erfinden wollte – und das vor allem pädagogisch zu tun gedachte – zeigte sich
hier besonders engagiert, und die preussische Regierung schickte insgesamt siebzehn «Eleven»
nach Yverdon, um die Methode zu erlernen, von der sich auch der preussische
Nationalphilosoph Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) oder der preussische Gelehrte und
Staatsmann Wilhelm von Humboldt (1767-1835) so viel versprachen. Die Aufenthaltskosten
12

für diese Eleven wurden von der preussischen Regierung übernommen und sie hatten den
Auftrag, sich in Yverdon auszubilden um anschliessend in ihrer preussischen Heimat beim
Aufbau eines staatlichen Bildungswesens mitzuhelfen.
Zu den an Pestalozzi und seinem Institut interessierten Personen zählten aber auch eine
Vielzahl von Privatpersonen, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen für Erziehung und
Bildung interessierten. Entweder wollten Eltern ihren Kindern eine möglichst gute Ausbildung
zukommen lassen, oder angehende bzw. aktive Privat- oder Hauslehrer sowie Lehrer, die eine
eigene Schule unterhielten, wollten sich weiterbilden (vgl. z.B. Raumer 1866, 100). Zudem
waren auch Diplomaten, Amtspersonen, Militärangehörige oder Adelige an Pestalozzis
Methode interessiert, weil ihnen aus privatem, meist gemischt mit beruflichem Interesse an der
Verbesserung der Erziehung und Bildung gelegen war (vgl. z.B. Jullien 1808; 1812). Viele
dieser Personen reisten auch für einen kürzeren oder längeren Aufenthalt in die Schweiz, wobei
sie sehr oft nicht nur bei Pestalozzi in Yverdon Halt machten, sondern auch weitere Personen
oder Orte, die in der öffentlichen Wahrnehmung als «pädagogisch interessante Orte» galten,
besuchten.
Pestalozzi hatte zudem grosse Hoffnungen, dass seine Methode schweizweit in der Schule
eingeführt werde, was auch massiv zur institutionellen Absicherung seiner eigenen
pädagogischen Institution in Yverdon beigetragen hätte. In der Erwartung, eine positive
Evaluation würde den guten Ruf seines Instituts auch bei den Eltern nochmals bekräftigen,
beantragte Pestalozzi am 20. Juni 1809 bei der eidgenössischen Regierung die Einsetzung einer
Kommission zur Prüfung seiner Methode (Stadler 1993, S. 324; Tosato-Rigo/Moret-Petrini
2010). Der dabei entstehende Bericht sollte ein eigentliches «Qualitätssiegel» für die Methode
werden und das Institut zum Modellinstitut für die Volksschule adeln. Die Prüfung fand im
November 1809 statt und Pestalozzi versuchte im Vorfeld, die Zusammensetzung der
Kommission nach seinen Wünschen zu gestalten, da zu erwarten war, dass das Resultat die
öffentliche Wahrnehmung entscheidend prägen werde. Die hohen Erwartungen, die Pestalozzi
in den Bericht der Kommission gesetzt hatte, wurden dann allerdings nicht erfüllt.
Im Bericht wurden konkret drei Fragen diskutiert: «) Findet man zu Yverdon das Vorbild
einer zweckmässigen Primarschule für die Städte und das Land? b) Ist die Methode auf einen
Grad und in einem Umfange entwickelt, wie es das Bedürfniss einer Secundar-Schule fordert?
c) Könnten Schulen, die nach dem Vorbild des Institutes eingerichtet wären, als Einleitungs-
und Vorbereitungs-Schulen für höhere wissenschaftliche Studien dienen?»
(Merian/Girard/Trechsel 1810, 198). Damit wurde im Bericht also nicht nur die Frage
diskutiert, inwiefern die Methode Vorbild für die elementare Bildung sein könnte, sondern für
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die Schule insgesamt inkl. ihrer Vorbereitungsfunktion für eine universitäre Bildung – wobei
die Antworten auf alle drei Fragen negativ ausfielen. «Man kann von ihr wohl diess und jenes
in anderen Lehranstalten aufnehmen, aber keineswegs sie selbst nachbilden» (ebd., 213) lautete
das Fazit. Es wurde jedoch ebenfalls betont, dass die eigentliche Aufgabe des Instituts, «vor
Allem … seinen Zöglingen nützlich [zu] seyn» (ebd., 198) durchaus erfüllt werde; die generelle
Übertragbarkeit auf die Volksschule und die von Pestalozzi in diesem Zusammenhang
formulierten Versprechen wurden hingegen in Frage gestellt. Das Hauptproblem der
Anwendbarkeit der Methode für das sich im Aufbau befindliche elementare Schulwesen lag für
die Autoren des Berichts hauptsächlich darin, das das Schulwesen mit grossen Schülerzahlen,
wenig ausgebildeten Lehrpersonen und prekären Raumsituationen umzugehen hatte und sich
nicht wie ein Privatinstitut auf eine bestimmte, teilweise durchaus finanzkräftige Klientel
fokussieren konnte.
Dieser negative Bericht über Pestalozzis Anstalt in Yverdon, bzw. die damit verbundene
Ablehnung, Pestalozzis Methode als Standard für die Volksschule zu empfehlen,
beeinträchtigte die Nachfrage nach Pestalozzis Ausbildungsangebot unmittelbar überhaupt
nicht. Die Ausbildung in Yverdon erfreute sich weiterhin regen Interesses und erst die
wirtschaftliche Krise nach der Aufhebung der Kontinentalsperre 1813 sowie immer deutlicher
zu Tage tretende interne Auseinandersetzungen der Lehrer untereinander, die sich unter
anderem um die Frage drehten, was die «richtige» Interpretation von Pestalozzis Methode und
Pädagogik sei und wie das Institut «richtig» in die Zukunft geführt werde, liessen die Nachfrage
deutlich einbrechen. Auch ein kurzfristiger Zustrom von englischen Schülern einige Jahre
später, die nach der Aufhebung der Kontinentalsperre wieder uneingeschränkt nach Europa
reisen konnten, konnte den Niedergang des Instituts längerfristig nicht aufhalten.
Gegen Ende seines Lebens wurde es eher still um Pestalozzi und nach längeren juristischen
Auseinandersetzungen mit seinem ehemaligen Mitarbeiter Johannes Niederer (1779-1843) und
mit der Stadt Yverdon wegen der Nutzung des Schlosses und weiteren finanziellen Fragen,
wurde Pestalozzis engster Mitarbeiter, der Vorarlberger Joseph Schmid (1785-1851) Ende 1824
aus dem Kanton Waadt ausgewiesen und Pestalozzi zog mit ihm auf den Neuhof zurück, der
im Besitz der Familie verblieben war. Gut zwei Jahre später starb Pestalozzi in Brugg, gekränkt
und verbittert, weil der Abgang aus Yverdon mit einer publizistisch geführten
Auseinandersetzung um sein intellektuelles und praktisches Erbe begleitet gewesen war, die
auch als eigentliche Schlammschlacht bezeichnet werden kann.
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3) Pestalozzi in der Lehrerbildung des 19. Jahrhunderts


Insgesamt wurde nach Pestalozzis Tod durchaus positiv über seine Leistungen berichtet. Die
Schweiz stand aber vor der sogenannten «Regeneration», während der sich viele Kantone neue
Verfassungen gaben und eine repräsentative Demokratie einführten. In diese Zeit fällt auch die
Verabschiedung der ersten kantonalen Schulgesetze, die den Grundstein dafür bildeten, was
heute unter «moderner Volksschule» verstanden wird. In diesen Debatten spielten die
sogenannten Pestalozzianer, das heisst ehemalige Mitarbeiter oder Befürworter von Pestalozzis
Erziehungskonzepten, zwar durchaus noch eine Rolle, das Konzept der Methode allerdings, das
«letztlich immer auf die Erziehung in der Wohnstube und damit auf die Mütter» gezielt hatte,
passte «nicht wirklich in ein modernes Schulsystem», was ja auch schon der Evaluationsbericht
betont hatte (Tröhler 2008a, 97). In Sachen Schule waren die nun folgenden Jahre in der
Schweiz vor allem von der Frage geprägt, welche Rolle die religiöse Erziehung spielen durfte,
wobei die Frage nach dem Umgang mit Kirche und Religion nicht auf das Erziehungswesen
beschränkt blieb, sondern auch zu einem eigentlichen, wenn auch nur kurzen Bürgerkrieg in
der Schweiz führte, dem Sonderbundskrieg, mit dem Ergebnis, dass die Schweiz in der
Bundesverfassung von 1848 von einem Staatenbund in einen Bundesstaat mutierte.
Insgesamt war es also um Pestalozzis Erbe nach dessen Tod still geworden. Das änderte sich
erst in der Mitte der 1840er-Jahre, als in Deutschland – ein Jahr zu früh – Friedrich Adolph
Wilhelm Diesterweg (1790-1866), der seit 1820 ein Lehrerseminar leitete, eine Feier zum
hundertsten Geburtstag Pestalozzis organisierte, was die Schweizer Lehrerschaft veranlasste,
das ebenfalls zu tun, jetzt allerdings zum richtigen Zeitpunkt, nämlich 1846. Damit war der
Startschuss gegeben für Pestalozzis Aufstieg in den Olymp der Lehrerbildung, seiner
Stilisierung zur Heiligenfigur und zum moralischen Vorbild für angehende Lehrpersonen,
deren Nachwirkungen wir noch heute wahrnehmen können, wie ich eingangs gezeigt habe.
Dieser Aufstieg war nicht nur ganz allgemein mit der sich institutionalisierenden
Lehrerbildung verbunden, sondern vor allem auch mit einem konkreten Fach, der Geschichte
der Pädagogik, die nicht nur eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Institution
Schule beinhaltete, sondern vor allem auch der moralisch-normativen Orientierung der
angehenden Lehrpersonen dienen und die Persönlichkeit der angehenden Lehrpersonen bilden
sollte. Diese Fokussierung auf die Persönlichkeit war keine Eigenheit des pädagogischen
Umfelds, sondern Teil einer breit geteilten Überzeugung, die in der Tradition des Historismus
«grosse Persönlichkeiten» als «Werkmeister» der Geschichte und damit als entscheidend für
Veränderung und Fortschritt ansahen (Droysen 1857/1972, 38). Geschichte der Pädagogik war
deshalb vor allem eine Auseinandersetzung mit Vorbildfiguren, die nicht nur im engeren
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pädagogischen Arbeitsfeld gefunden wurden, sondern die auch Philosophen wie Platon oder
Kirchenväter wie Augustin umfassen konnten. Die Auseinandersetzung mit Pestalozzi war
deshalb nicht primär eine Auseinandersetzung mit didaktischen Konzepten oder methodischen
Anleitungen, auch keine Einführung in den Gebrauch der pestalozzischen Lehrmittel, die
spätestens seit den 1840er-Jahren aus dem Unterricht verdrängt und durch neue Lehrmittel
ersetzt worden waren. Der Verweis auf Pestalozzi hatte vor allem mit Pestalozzis persönlicher
Hingabe sowie mit den Prinzipien seiner Pädagogik zu tun, die in den Schlagworten «Kopf,
Herz, Hand» und «Ganzheitlichkeit» gesehen wurden.
Damit konnte nicht nur an ein professionelles Ethos appelliert werden, das im Lehrersein als
Berufung gesehen wurde, sondern auch an die Heilsversprechungen der Pädagogisierung
gesellschaftlicher Herausforderungen angeknüpft werden, die sich seit der zweiten Hälfte des
18. Jahrhundert durchgesetzt hatten. Lehrer sein bestand damit nicht nur in der Ausübung eines
Berufs, der darin bestand, der nachwachsenden Generation Lesen, Rechnen, Schreiben,
historisches, geografisches und naturwissenschaftliches Wissen beizubringen, sondern immer
auch in der Vermittlung eines bestimmten Wertekanons, der gesellschaftlich bestimmt wurde
und den die Lehrperson zu verkörpern und vorzuleben hatte, wenn das gewünschte Ziel bei den
Schülerinnen und Schülern erreicht werden sollte. Der Slogan von «Kopf, Herz, Hand» (vgl.
Horlacher 2017) passte dabei perfekt zu diesem Pädagogikverständnis, weil auch Pestalozzi
nach 1800 davon überzeugt gewesen war, dass die Verbesserung oder gar die Rettung der
Gesellschaft nicht mehr durch Politik, wie er das noch in seinen jüngeren Jahren geglaubt hatte,
sondern vor allem durch Erziehung zu erreichen sei (Tröhler 2013, 129-142).
«Kopf, Herz, Hand» stand deshalb nur vordergründig für ein didaktisches Konzept und
schon gar nicht für eine Methode, sondern war vielmehr eine normative Orientierung, die
beanspruchte, die Schülerinnen und Schüler nicht einseitig intellektuell auszubilden, sondern
eben «ganzheitlich», was auch immer darunter genau verstanden wurde. «Kopf, Herz, Hand»
war ein in den unterschiedlichen Kontexten anwendbarer Slogan, der eine ausgewogene, keinen
Teilbereich der menschlichen Potenziale über Gebühr bevorzugende Ausbildung versprach und
eine wohltemperierte Ausbildung des Intellekts, der Psyche und der manuellen Fertigkeiten
versprach. Solche Versprechen sind im Feld der Erziehung und Bildung nachhaltig, wie ich im
letzten Schritt zeigen möchte.

4) Warum Pestalozzi und gibt es eine zeitgenössische Variante?


In den letzten knapp 60 Minuten habe ich zuerst mit Verweis auf den Republikanismus zu
zeigen versucht, in welchen intellektuellen Kontexten Pestalozzi sozialisiert worden ist, wobei
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sich dieser Republikanismus bei Pestalozzi so konkretisierte, dass er in der Landwirtschaft und
einer weitgehend autarken Lebensform die Realisierung seines Lebensentwurfs sah. Dieses
Konzept wurde durch ökonomische Probleme in Frage gestellt, weshalb Pestalozzi sein
Interesse auf frühindustrielle Produktionsprozesse richtete, die nicht nur ein neues
Finanzierungsmodell für seine Anliegen boten, sondern auch ein erstes praktisch-
pädagogisches Betätigungsfeld. Anschliessend habe ich gezeigt, wie Pestalozzi über einige
Zwischenstationen zum Leiter einer europaweit berühmten Erziehungsanstalt wurde und in
dieser Funktion auch zu einem der vieldiskutierten Autoren in den Debatten um die richtige,
das heisst effiziente und kostengünstige und damit politisch realisierbare staatliche
Volksschule. Dabei habe ich das Konzept der Methode vorgestellt und dargelegt, welche
Bedeutung Pestalozzi im 19. Jahrhundert in und für die Lehrerbildung erhalten hat. Ausgespart
habe ich bisher der Begriff der Anschauungspädagogik, die nicht nur im Titel der heutigen
Veranstaltung zu finden ist, sondern die genauso wie die Trias von «Kopf, Herz, Hand» eng
mit dem Namen Pestalozzi verbunden wird.
Unter «Anschauungspädagogik» versteht man ganz allgemein ein didaktisches Konzept, das
nicht auf frontale Wissensvermittlung, sondern auf eine auf das aktive Verstehen hin orientierte
Selbsttätigkeit ausgerichtet ist. Damit bezeichnet dieser Begriff durchaus auch die
pädagogischen Prinzipien, die Pestalozzi mit seiner Methode verfolgt hatte. Allerdings ist auch
festzuhalten, dass die Vorstellung, dass Lernende keine passiven Wissensempfänger und die
Lerngegenstände auch anschaulich zu machen seien, sei es durch Bilder oder durch
Fokussierung auf die nähere, sichtbare Umgebung, schon zu Pestalozzis Zeiten weder neu noch
gar revolutionär gewesen ist. Man könnte dafür beispielsweise auf den Orbis pictus von
Comenius verweisen, der 1658 in Nürnberg erstmals erschienen ist und in dem auf insgesamt
309 Seiten die Welt beschrieben und mit Holzschnitten illustriert worden ist, oder auch auf
Johann Bernhard Basedows (1724-1790) Elementarwerk mit seinen Kupfertafeln, das
Sachinformationen mit Bildern verband, die dialogisch zu erörtern waren. Das Konzept der
Anschauung war also mitnichten neu, als auch Pestalozzi dieses didaktische Prinzip in sein
Erziehungskonzept einbaute. Was bei Pestalozzi allerdings tatsächlich neu war, war die
Überzeugung, dass Anschauung sich nicht auf die visuelle Unterstützung von
Lerngegenständen konzentriere, sondern dass mit Anschauung eine Analogie zwischen der
Seele und einer idealen Welt angesprochen werde und dass es bei der Anschauungspädagogik
darum gehe, die sinnlich erfahrbaren äusseren Gegenstände nicht nur einfach wahrzunehmen,
sondern diese in Sprache zu fassen, sie zu verstehen und sie sich damit zu eigen zu machen.
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Im Laufe des 19. Jahrhunderts veränderten sich die drucktechnischen Möglichkeiten massiv,
was es möglich machte, dass Bilder nicht nur in ausgewählten Einzelstücken oder in besonders
kostbaren Editionen abgedruckt wurden, sondern auch zur Illustration von
Gebrauchspublikationen wie Schulbüchern genutzt werden konnten. Dass diese Illustrationen,
bzw. die didaktische Nutzbarmachung dieser Bilder dann mit Pestalozzi in ursächliche
Verbindung gebracht wurde, ist wohl zum einen der rhetorischen Schlagkraft von Pestalozzis
Schriften zu verdanken. Er verstand es meisterhaft, seine Ideen als bahnbrechende Innovationen
zu verkaufen, wobei das damit verbundene Pathos von seinen Anhängern engagiert
weiterverbreitet wurde, um auch den eigenen Anliegen und Plänen grössere Bedeutung zu
verleihen. Zum andern ist diese Zuschreibung aber auch einer gewissen historischen
«Sichtbehinderung» zuzuschreiben, da Geschichte – nicht nur in der Pädagogik – dazu tendiert,
die Vergangenheit immer als Vorgeschichte der Gegenwart zu sehen und damit nur diejenigen
historischen Ereignisse, Konzepte und Begebenheiten in den Blick zu nehmen, deren Spuren
bis in die Gegenwart hinein reichen. Bilder wurden somit vielleicht etwas vorschnell mit
Anschauung, Pestalozzi und Anschauungspädagogik gleichgesetzt, auch wenn ganz
unterschiedliche Vorstellungen und pädagogische Konzepte damit verbunden gewesen waren.
Es lässt sich also fragen: Wo sind jetzt die Spuren der Anschauungspädagogik in der
Bildungsgeschichte zu finden und haben diese überhaupt etwas mit Pestalozzi zu tun? Oder
anders formuliert: Ist diese historische Kontextualisierung von Pestalozzi und seinen
pädagogischen Konzepten mehr oder etwas anderes als ein netter Exkurs in die Vergangenheit
unserer Bildungsgeschichte? Ich glaube ja, wobei ich diesen Mehrwert vor allem in der
Bewusstwerdung von historisch gewordenen kulturellen Traditionen und Denkgewohnheiten
sehe und weniger in der Beantwortung der Frage, ob Pestalozzi die Anschauungspädagogik
erfunden hat oder nicht. Und von dieser Bewusstmachung kann auch der Bogen zur aktuellen
Denkmaldiskussion geschlagen werden, die insgesamt von einer stärkeren historischen
Informiertheit profitieren würde. Historische Figuren mit aktuellen moralischen Massstäben in
gut und schlecht aufzuteilen wird der Komplexität von konkreten Lebenszusammenhängen
nicht gerecht, wobei diese Einschätzung nicht als Freipass für historischen Relativismus zu
verstehen ist. Historisch relevant ist nicht die moralische Beurteilung konkreter Einzelfiguren,
sondern vielmehr das Wissen über Debatten, Strukturen, Praktiken und Gewohnheiten, das
heisst ideelle, politische, gesellschaftliche, ökonomische und soziale Rahmenbedingungen, in
denen Äusserungen und Handlungen möglich geworden sind. In einer Foucault’schen
Terminologie könnte man hier auch von Diskursen sprechen.
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Und um zu Pestalozzi zurückzukehren: An und mit Pestalozzi kann vor allem gezeigt
werden, wie sich die Überzeugung entwickelt hat, dass soziale Probleme und gesellschaftliche
Herausforderungen pädagogisch gelöst werden können und müssen – Überzeugungen, die bis
heute nichts von ihrer Aktualität eingebüsst haben, auch wenn diese Hoffnungen nicht mehr
unbedingt mit dem Begriff der «Anschauungspädagogik», der «Methode», oder «Kopf, Herz,
Hand» betitelt werden, sondern eher mit «Digitalisierung» oder «Kompetenz». Dass wir als
Gesellschaft allerdings diese Hoffnungen teilen, ist nicht zuletzt Pestalozzis Verdienst, auch
wenn er das so nicht formuliert hat. Nichtsdestotrotz ist Pestalozzi ein ausgezeichnetes Beispiel,
um diese kulturellen Traditionen des Denkens und Argumentierens historisch zu rekonstruieren
und damit nachvollziehbar zu machen, womit auch die damit verbundene Verführungskraft
entzaubert oder mindestens relativiert werden kann. Ich hoffe, das ist mir mit diesen
Ausführungen einigermassen nachvollziehbar gelungen und bedanke mich für Ihre
Aufmerksamkeit.

Quellen
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Geschichtstheorie mit ungedruckten Materialien zur «Historik». Günter Birtsch/Jörn Rüsen (Hrsg.). Göttingen:
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pratique pour l’enfance, l’adolescence et la jeunesse. Paris: Firmin Didot 1808
Jullien, Marc Antoine: Esprit de la méthode d’éducation de Pestalozzi; suivie et pratiquée dans l’Institut
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Yverdon, an Seine Excellenz den Herrn Landammann und die Hohe Tagsatzung der Schweizerischen
Eidgenossenschaft. Gedruckt auf Befehl der Tagsatzung. Bern: Ludwig Albrecht Haller / Rapport sur l’institut
de Mr. Pestalozzi à Yverdon, présenté à S.E. Mr. le Landammann et à la haute Diète des dix-neuf cantons de
la Suisse. Imprimé par ordre de la Diète. Fribourg en Suisse: chez Béat-Louis Piller 1810
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Raumer, Karl von: Leben von ihm selbst erzählt. Stuttgart: Liesching 1866

Literatur
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aufgearbeitet anhand dreier ausgewählter Beispiele. In: Paedagogica Historica 42(2006), Heft 6, 751-768
19

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Burgdorfer Vorbild. In: Michael Göhlich/Caroline Hopf/Daniel Tröhler (Hrsg.): Persistenz und Verschwinden.
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