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STEOP EV: Einführung in die deutsche Philologie

Skriptum zum Teilbereich Neuere deutsche Literatur

2. Teil

Assoz. Prof. Dr. Günther Stocker

Hinweis:
Zusätzlich zu den in der Vorlesung vorgetragenen und im Skriptum
zusammengefassten Inhalten bilden die präsentierten Folien sowie die folgende
Pflichtlektüre den Prüfungsstoff für den Teilbereich Neuere deutsche Literatur:

Franz Kafka: Der Prozeß. Berlin: Suhrkamp 2000 (= Suhrkamp Basis-Bibliothek, Band 18).

Fortsetzung: Grundlegende literaturwissenschaftliche


Verfahren
3. Vergleich

Das dritte zentrale literaturwissenschaftliche Verfahren neben der systematischen


Beschreibung und (literatur-)historischen Einordnung von Texten ist der Vergleich.
Literarische Texte wie Goethes Auf dem See lassen sich vergleichen

 mit anderen Texten des gleichen Autors / der gleichen Autorin,


1
 mit früheren Fassungen bzw. Varianten des gleichen Textes,

 mit anderen zeitgenössischen literarischen Texten,

 mit anderen zeitgenössischen nicht-literarischen Texten (z.B. Zeitungsartikeln,


naturwissenschaftlichen oder philosophischen Texten etc.)

 aber auch mit anderen thematisch oder formal verwandten Texten in einer zeitlichen
Längsachse.

Mit letzterem Verfahren ließe sich etwa die Geschichte der Naturlyrik vom Barock bis in die
Gegenwart darstellen oder die Veränderung metrischer Formen von der Regelpoetik des
Barock über die Anlehnung an klassische griechische Metren und freiere Gestaltung gegen
Ende des 18. Jahrhunderts bis zu den Prosagedichten Charles Baudelaires in der Mitte des 19.
Jahrhunderts und darüber hinaus.

Der Vergleich mit zeitgenössischen Gedichten oder anderen Texten würde etwa die
Modernität und Innovativität von Goethes Erlebnislyrik zeigen, wohl auch die formale
Perfektion, die bei einem vergleichsweise einfachen Vokabular zu komplexen Konstruktionen
führt.

Und schließlich werden Texte auch mit den anderen Werken des gleichen Autors verglichen
und hier ist im Fall unseres Beispielgedichts Folgendes festzuhalten: Es handelt sich bei dem
vorliegenden Gedicht bereits um die zweite Fassung, die 1789 zum ersten Mal in Goethes
Schriften erschienen ist.

Erste Fassung des Gedichts


Die erste Fassung stammt aus dem Jahr 1775 und der Autor hat sie in das Tagebuch seiner
Schweizreise notiert, versehen mit der genauen Angabe: „Den 15 Junius 1775 / Donnerstag
morgens/ aufm Zürchersee“. Goethe hat diese Reise mit den Grafen Friedrich Leopold und
Christian zu Stolberg sowie dem Grafen Christian August von Haugwitz unternommen, mit
denen er sich ganz dem enthusiastisch-euphorischen Lebensgefühl der damaligen gebildeten
Jugend hingab. „Gejauchzt bis Zwölf“ lautet ein Tagebucheintrag vom 16.6.1775, „Sauwohl
und Projeckte“ einer vom 21.6.1775.1 Dieses Lebensgefühl, dessen bedrohliche Seiten Goethe

1
Zitiert nach Bormann, Alexander von: Auf dem See. In: Goethe Handbuch. Band 1: Gedichte, S. 139.
2
ein Jahr zuvor in seinem ihn berühmt machenden Werther nachgegangen war, schlug sich in
der Literatur als „Sturm und Drang“ nieder. Und wie Werther lasen die jungen
Schweizreisenden Homer, die Bibel, Klopstock und Ossian.2

Lange Zeit hat sich die Goetheforschung – aber nicht nur diese – auf die biographischen
Hintergründe, Entstehungszusammenhänge und Wirkungsabsichten v.a. seiner frühen Lyrik
konzentriert. Für Auf dem See ist etwa angeführt, dass sich Goethe kurz zuvor mit der
Offenbacher Patriziertochter Lilli Schönemann verlobt hatte, sich schon als Bräutigam fühlte,
dann aber doch wieder von ihr loskommen wollte, wozu ihm wohl auch die Reise in die
Schweiz diente.

In der biographischen Lesart lässt sich das Naturszenario jedenfalls konkretisieren – der
Zürchersee und seine Umgebung – und auch die „goldnen Träume“ können den Aussichten
einer Ehe mit einer reichen Bürgerstochter und der Gründung eines Hausstandes zugeordnet
werden. Freilich stellt sich dann die Frage, warum irgendjemanden außerhalb von Goethes
Bekanntenkreis (und evt. einigen eingefleischten und an Klatsch interessierten Anhängern des
Dichters) dieses Gedicht interessieren sollte. Absehen lässt sich von den biographischen
Aspekten nicht, aber eine ernsthafte Beschäftigung mit diesem Text muss doch deutlich
darüber hinausführen.

Auf jeden Fall bietet sich ein Vergleich der beiden Fassungen an, wobei die neuere
Goetheforschung davon ausgeht, dass wir es hier mit zwei „selbständige[n], in sich gültige[n]
Texte[n]“ zu tun haben, „d.h. weder die erste als ‚Vorstufe‘ noch die zweite als ‚Korrektur‘“ zu
verstehen ist.3

 Dabei fällt etwa auf, dass der Bildbruch (die Katachrese) der ersten Verszeile der
früheren Fassung (wie lässt sich an der Nabelschnur saugen?) in der zweiten Fassung
zu einem etwas weniger kühnen, aber stimmigeren Bild verändert worden ist.

 Die zweite Fassung erscheint dichter und stilistisch kohärenter. Weitere Unterschiede
ließen sich nennen (abgesehen von der Orthographie), das soll aber an dieser Stelle
nicht weiter ausgeführt werden.

2
Vgl. Bormann, Auf dem See, 140.
3
Bormann, Auf dem See, 139.
3
Der Vergleich wurde nun also als drittes zentrales literaturwissenschaftliches Verfahren
genannt. Dieser Vergleich gelingt freilich umso besser, je mehr man gelesen hat. Und damit
ist der wesentliche Aspekt literaturwissenschaftlicher Tätigkeit angesprochen: das Lesen. Die
Grundvoraussetzung um über Literatur zu sprechen, ist, dass sie gelesen worden ist.
Literaturwissenschaftler*innen müssen sich ihren Forschungsgegenstand erst erlesen. Und je
mehr und intensiver sie das tun, desto kompetenter können sie darüber sprechen bzw.
schreiben. Und das gilt freilich auch für das Studium: Je mehr und genauer Sie lesen, desto
mehr und Genaueres lernen Sie über Literatur. Und dabei wird es nicht ausreichen, nur die
jeweilige Pflichtliteratur zu den einzelnen Lehrveranstaltungen durchzuarbeiten.

Es ließen sich hier zweifellos weitere literaturwissenschaftliche Verfahren anführen, aber mit
systematischer Beschreibung, historischer Einordnung und Vergleich sind die drei zentralen
genannt.

Kanon
Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe gehören zweifellos zu dem, womit sich die
Literaturwissenschaft beschäftigt. Das hat erstens mit der Gattung zu tun, die als relevant gilt,
der Lyrik – dazu später – und zweitens mit dem Autor, der zum Kreis derjenigen Autorinnen
und Autoren zählt, die als musterhaft, vorbildlich, zeitlos etc. gelten, die zum sogenannten
Kanon der deutschsprachigen Literatur gehören.

Der Begriff Kanon leitet sich ab vom Griechischen und bedeutet ‚Richtschnur‘, ‚Regel‘ oder
‚Maßstab‘. Ursprünglich wurde er auf die anerkannten heiligen Schriften bezogen, erst seit
dem Ende des 18. Jahrhunderts wird er auch auf die Literatur angewendet. Lange Zeit verstand
man darunter eine Auswahl als vorbildhaft und mit zeitloser Qualität ausgestatteter Werke
oder Autorinnen und Autoren. In der Gesellschaft wie in der Literaturwissenschaft ging man
lange davon aus, dass sich das qualitativ Hochwertige von selbst durchsetzen werde. Von
dieser Vorstellung eines sich quasi natürlich regulierenden Kanons hat sich die
Literaturwissenschaft aber verabschiedet. Der Kanon wird vielmehr als Ergebnis eines
Selektionsprozesses verstand, der nach historisch unterschiedlichen Kriterien funktioniert.

4
Goethe gehört zum Kanon, Schiller ebenso, auch Lessing und Kleist. Bei Georg Büchner zum
Beispiel ist das schon komplizierter. In den ersten Jahrzehnten nach seinem frühen Tod mit 23
Jahren anno 1837 wurde sein Werk kaum wahrgenommen, erst die Naturalisten und dann v.a.
die Expressionisten um 1900 entdeckten ihn als wichtigen Autor. Sein heute berühmtestes
Drama Woyzeck (1836) blieb nach seinem Tod als Fragment ohne Titel zurück und wurde erst
1879 vom Autor Karl Emil Franzos entdeckt und gedruckt. Die Uraufführung fand erst 1913 am
Münchner Residenztheater statt.

Wer heute im Kanon ist, muss nicht immer drinnen gewesen sein, andererseits können
Autor*innen auch aus dem Kanon wieder herausfallen. Friedrich Rückert (1788-1866) etwa
war einer der meistgelesenen Lyriker des 19. Jahrhunderts, heute kennt ihn kaum noch
jemand.

Kanones konkretisieren sich wirkungsmächtig

 in den Lehrplänen und Lesebüchern von Schulen und


 dem Lehrveranstaltungsangebot von Universitäten,
 in den lieferbaren Büchern und
 den Spielplänen von Theatern,
 in den Einträgen in Literaturgeschichten und Literaturlexika.

In der jeweiligen Zusammensetzung von Kanones spiegeln sich literaturexterne wie


literaturinterne Faktoren. So sind in der Forschung immer wieder
Ausschließungsmechanismen durch literaturexterne, also politisch-kulturelle Faktoren im
Prozess der Kanonisierung beschrieben worden, z.B.:

 Weibliche Autorschaft: Tieck, Novalis, Eichendorff sind bekannte Romantiker, die


damals ebenfalls sehr erfolgreichen Autorinnen wie Sophie Mereau-Brentano, Bettine
von Arnim oder Dorothea Schlegel sind wesentlich weniger bekannt;

 Politisch unliebsame Positionen (z.B. Kommunisten im Westen oder ‚dekadente


Literatur‘ im Ostblock: Kafka);

 die Zensur;

Hinzu kommen noch literaturinterne Faktoren:

5
 Normative Poetiken: In Zeiten von normativen Poetiken wurden Texte, die diesen nicht
entsprachen, weniger rezipiert;

 Ästhetische Programme: Wer gegen die vorherrschenden Moden schreibt, hat vorerst
geringere Chancen zur Kanonisierung;

 Ausschluss spezifischer Genre wie etwa Dialektliteratur, Unterhaltungsliteratur,


Science-Fiction, Self-Publishing und Fan-Fiction;

 Bevorzugung bestimmter Gattungen: In der Antike wurden v.a. Tragödien als


wichtigste Formen von Dichtung geschätzt. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein galt der
Roman als minderwertige Gattung, Lyrik hingegen als besonders wertvoll. Der US-
amerikanische Literaturwissenschaftler Jonathan Culler schreibt dazu:

Es war einmal eine Zeit, da bedeutete der Begriff ‚Literatur‘ vor allem Dichtung. Der
Roman galt als moderner Emporkömmling, zu nah an der Biographie oder der Chronik,
um ernsthaft literarisch zu sein, eine populäre Gattung ohne die Möglichkeit, den hohen
Maßstäben der lyrischen und epischen Dichtung gleichzukommen. Doch hat der Roman
im 20. Jahrhundert, sowohl hinsichtlich dessen, was Autoren schreiben, als auch mit Blick
auf das, was Leser lesen, die Dichtung endgültig in den Schatten gestellt, und seit den
1960er-Jahren dominieren narrative Texte auch den Literaturunterricht immer mehr.
Gewiss liest man noch Gedichte – oftmals wird es auch gefordert – aber Romane und
Kurzgeschichten sind zum Kern des Curriculums geworden.4

Damit sind wir bei einem weiteren Kernbegriff unseres Faches, der Gattung:

Exkurs: Gattungen
Klassisch und wirkungsmächtig ist die Einteilung aller literarischen Produktion in drei
große Gattungen: die erzählende Dichtung oder Epik, die Theaterstücke bzw. Dramatik
und die Gedichte also Lyrik. Im deutschsprachigen Raum geht dieser
Systematisierungsversuch auf Johann Wolfgang von Goethe zurück, der in einer seiner
späteren Dichtungen, dem West-östlichen Divan, Folgendes dazu schrieb:

Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch
aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama. Diese drei Dichtweisen
können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft
beisammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das

4
Culler, Jonathan: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Stuttgart: Reclam 2002, S. 120.
6
herrlichste Gebild hervor, wie wir an den schätzenswertesten Balladen aller Völker
deutlich gewahr werden.5

Diese Einteilung in Großbereiche ist für eine grobe Orientierung hilfreich, im Detail
aber viel zu ungenau – und schon gar nichts „Natürliches“. Literatur ist als Erzeugnis
von Kultur nicht nach den gleichen strengen Regeln zu systematisieren wie das bei
Pflanzen und Tieren möglich ist. Es gibt in der Literatur keine unveränderlichen,
genetischen Codes, daher waren die immer wieder unternommenen Versuche einer
Einteilung in unterschiedliche Werkgruppen höherer und niederer Stufen, dem
naturwissenschaftlichen Modell folgend, zum Scheitern verurteilt.

In der Literaturwissenschaft werden heute als Gattungen verstanden:

1. die drei traditionellen Großbereiche der Literatur (Lyrik, Epik, Dramatik),

2. aber auch anhand von gemeinsamen formalen, inhaltlichen oder strukturellen


Merkmalen bestimmbare Texttypen (wie Tragödie, Komödie, bürgerliches
Trauerspiel, Novelle, Roman, Kurzgeschichte, Schauerroman, Detektivgeschichte,
Essay, Sonett, Ode, Ballade etc.)

Diese Gattungen sind historisch entstanden und bestimmte Gattungen können auch
ein Ende finden, wie etwa das Epos. Sie sind flexibel und daher literatur-, kultur- und
sozialgeschichtlichen Veränderungen unterworfen. Eine strenge Klassifikation ist nicht
sinnvoll, aber Gattungsbegriffe haben eine hohe kommunikative Funktion:

 für Autor*innen beim Verfassen von Texten,


 für Leser*innen und
 für die Literaturkritik.

Die literarische Kommunikation basiert in vielerlei Hinsicht auf der Kenntnis der Regeln
für bestimmte Textgruppen, d.h. dass wir uns verstehen, wenn etwa von einer
Komödie oder einem Abenteuerroman die Rede ist. Das ist auch für den
Erwartungshorizont von Leser*innen oder Theaterbesucher*innen wichtig.

5
Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart: Cotta 1819, S. 391f.

7
Der Roman jedenfalls hat sich von einer als minderwertig betrachteten Gattung zur
zentralen Gattung der Literatur des 20. Jahrhunderts entwickelt. Das heißt von einer
Position, in der weder Romantexte noch Romanautor*innen kanonwürdig waren, hin
zum Zentrum des modernen Literaturkanons. Wobei zu sagen ist, dass das, was heute
unter einem Roman zu verstehen ist, schon sehr vage geworden ist. Jede größere
Erzählung in Prosa wird gegenwärtig im Literaturbetrieb mit dieser Etikette versehen,
zum Teil auch gegen den Wunsch der Autor*innen.

Abschließend noch einmal zurück zum Kanon: So komplex seine Entstehung ist und so
problematisch seine Ausschließungsmechanismen, so gibt es doch auch noch Argumente für
einen Kanon:

Für die Analyse von Texten ist es wichtig zu wissen,

 wie sich der Kanon zur Zeit der Entstehung des Textes gestaltet hat,
 welche Texte der Autor / die Autorin gekannt hat, worauf sich der jeweilige Text evtl.
auch bezieht (Intertextualität).
 Weiters ist es besonders in einem literaturwissenschaftlichen Studium wichtig, eine
gemeinsame Basis von Texten zu kennen, über die man sich verständigt, die als
Ausgangspunkt bzw. Bezugspunkt des Gesprächs über Literatur dienen können.

Freilich ist dabei nicht zu vergessen, dass Kanones kulturelle Konstruktionen darstellen, die
von gesellschaftlichen Verhältnissen, Machtstrukturen und Bildungseliten geprägt sind, aber
eben auch in Frage gestellt und durch Gegenkanones korrigiert werden können.

Anwendungsbeispiel:
Franz Kafka – Der Process
Ein Beispiel für wechselnde Kanonisierung ist der Autor, auf den im Folgenden genauer
eingegangen werden soll. Franz Kafka (1883 – 1924) ist heute einer der berühmtesten
Schriftsteller der deutschsprachigen Literatur, ja der Weltliteratur. Zu seinen Lebzeiten war
das nicht der Fall.

8
Er veröffentlichte selbst nur weniges. Die großen Romane blieben unpubliziert.
Schriftstellerischen Erfolg hat er nicht kennen gelernt, im Gegenteil, er blieb zeitlebens im
Schatten anderer, weit erfolgreicherer Autoren.6

Tatsächlich hat Kafka zu Lebzeiten sehr wenig veröffentlicht, nur kurze Erzählungen. Er war
gegenüber seinem eigenen Schreiben überaus skeptisch. In einer Notiz an Max Brod schreibt
Kafka: „Von allem, was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer,
Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler.“7

Die großen Romanfragmente werden postum von seinem Freund Max Brod herausgegeben
(Der Process 1925, Das Schloss 1926, Der Verschollene 1927 zunächst unter dem Titel
Amerika). Aber schon 1933 landen Kafkas Werke auf der nationalsozialistischen Liste
„schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ und sind auf dem Gebiet des Deutschen
Reiches bis 1945 verboten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzen die weltweite Rezeption
seiner Texte und seine Kanonisierung ein. Das gilt ganz besonders auch für seinen
berühmtesten Roman Der Process.

Entstehungsgeschichte

Kafka begann ab dem 11. August 1914 am Process zu arbeiten. Er verfolgte einen strengen
Tagesplan beim Schreiben. Aus Sorge, wieder nur einen unabgeschlossenen Text zu
produzieren, schrieb er das Anfangs- und Schlusskapitel gleich am Beginn, um dann den Rest

dazwischen entfalten zu können. „Von Anfang an scheint Kafka bei der Niederschrift des
‚Process‘ in mehreren Heften gleichzeitig geschrieben zu haben.“8 In einer Notiz vom 15.
August 1914 hält Kafka in seinem Tagebuch fest:

Ich schreibe seit ein paar Tagen, möchte es sich halten. So ganz geschützt und in die Arbeit
eingekrochen, wie ich es vor 2 Jahren war, bin ich heute nicht, immerhin habe ich doch einen
Sinn bekommen, mein regelmässiges, leeres, irrsiniges junggesellenmässiges Leben hat eine
Rechtfertigung.9

6
Unseld, Joachim: Kafkas Publikationen zu Lebzeiten. In: von Jagow, Bettina; Jahraus, Oliver (Hg.): Kafka-
Handbuch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 123-136, hier S. 124.
7
Zitiert nach Kuhn, Heribert: Anhang. In: Kafka, Franz: Der Prozeß. Text und Kommentar. Berlin: Suhrkamp
2015 (= 9. Aufl.), S.247-292, hier S 282.
8
Reuß, Roland: Zur kritischen Edition von „Der Process“ im Rahmen der Historisch-Kritischen Franz Kafka-
Ausgabe. In: Franz Kafka-Hefte 1/1997, S. 3-25, hier S. 8.
9
Tagebucheintrag vom 15.8.1914. Zitiert nach: Reuß, Roland: Zur kritischen Edition von „Der Process“ im
Rahmen der Historisch-Kritischen Franz Kafka-Ausgabe. In: Franz Kafka-Hefte 1/1997, S. 3-25, hier S. 5.
9
Am 20. Jänner 1915 bricht er dann, nach mehreren Unterbrechungen, das Schreiben an dem
Text ab:

Ende des Schreibens. Wann wird es mich wieder aufnehmen? In welchem schlechten Zustand
komme ich mit F. zusammen? Die mit Aufgabe des Schreibens sofort eintretende
Schwerfälligkeit des Denkens.10

Nach dem Abbruch erfolgten aber wohl noch redaktionelle Arbeiten.


Der 20. Januar 1915 kann daher nur den Zeitpunkt des Abbruchs einer ersten Niederschrift
angeben. Wann Kafka die Arbeit am ‚Process‘ überhaupt aufgab, ist derzeit nicht zu
ermitteln.11

Doch das eigentliche Weiterschreiben am Process will Kafka nicht gelingen. So lautet ein
Tagebucheintrag vom 29. Jänner 1915: „wieder zu schreiben versucht, fast nutzlos.“12 Am 7.
Februar desselben Jahres heißt es dann: „Vollständige Stockung. Endlose Quälereien.“13 Im
Jahr 1920 gibt Kafka das unfertige Manuskript seinem Freund und Herausgeber Max Brod.
Obwohl es einen Anfang und ein Schlusskapitel gibt, handelt es sich bei dem Text also um ein
Fragment, das von Kafka zu Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde. Gegen den Willen des Autors
hat Max Brod den Text aus Kafkas Nachlass im Berliner Verlag „Die Schmiede“ 1925, ein Jahr
nach dem Tod des Autors“, herausgegeben. Im Nachwort schreibt Brod:

In Franz Kafkas Nachlaß hat sich kein Testament vorgefunden. In seinem Schreibtisch lag
unter vielem andern Papier ein zusammengefalteter, mit Tinte geschriebener Zettel mit
meiner Adresse. Der Zettel hat folgenden Wortlaut:

Liebster Max, meine letzte Bitte: Alles, was sich in meinem Nachlaß (also im Buchkasten,
Wäscheschrank, Schreibtisch, zu Hause und im Büro, oder wohin sonst irgend etwas
vertragen worden sein sollte und dir auffällt) an Tagebüchern, Manuskripten, Briefen,
fremden und eignen, Gezeichnetem und so weiter findet, restlos und ungelesen zu
verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andre, die Du in
meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man dir nicht übergeben will, soll man
wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten.

Dein Franz Kafka14

10
Tagebucheintragung, 20. Januar 1915, zitiert nach Reuß, Roland: Dokumente zur Entstehungsgeschichte. In:
Franz Kafka-Hefte 1/1997, S. 27-32 hier S. 31.
11
Reuß, Roland: Zur kritischen Edition von „Der Process“ im Rahmen der Historisch-Kritischen Franz Kafka-
Ausgabe. In: Franz Kafka-Hefte 1/1997, S. 3-25, hier S. 9.
12
Tagebucheintragung, 29. Januar 1915, zitiert nach Reuß, Roland: Dokumente zur Entstehungsgeschichte. In:
Franz Kafka-Hefte 1/1997, S. 27-32 hier S. 31.
13
Tagebucheintragung, 7. Februar 1915, zitiert nach Reuß, Roland: Dokumente zur Entstehungsgeschichte. In:
Franz Kafka-Hefte 1/1997, S. 27-32 hier S. 31.
14
Zitiert nach Kuhn, Heribert: Anhang. In: Kafka, Franz: Der Prozeß. Text und Kommentar. Berlin: Suhrkamp
2015 (= 9. Aufl.), S.247-292, hier S 281.
10
Angesichts dieser Notiz stellt sich die Frage, warum Brod der Bitte seines Freundes nicht Folge
geleistet hat. Er erzählt dazu folgende Begebenheit:

Der Hauptgrund: als ich 1921 meinen Beruf wechselte, sagte ich meinem Freunde, daß ich
mein Testament gemacht hätte, in dem ich ihn bäte, dieses und jenes zu vernichten, andres
durchzusehen und so fort. Darauf sagte Kafka und zeigte mir den handgeschriebenen Zettel,
den man dann in seinem Schreibtisch vorgefunden hat, von außen: ‚Mein Testament wird
ganz einfach sein – die Bitte an dich, alles zu verbrennen.‘ Ich entsinne mich auch noch ganz
genau der Antwort, die ich damals gab: ‚Falls du mir im Ernste so etwas zumuten solltest, so
sage ich dir schon jetzt, daß ich deine Bitte nicht erfüllen werde.‘ Das ganze Gespräch wurde
in jenem scherzhaften Ton geführt, der unter uns üblich war, jedoch mit dem heimlichen Ernst,
den wir dabei stets einer bei dem andern voraussetzten. Von dem Ernst meiner Ablehnung
überzeugt, hätte Franz einen anderen Testamentsexekutor bestimmen müssen, wenn ihm
seine eigne Verfügung unbedingter und letzter Ernst gewesen wäre.15

Systematische Beschreibung 1: Welcher Text ist „Der Prozess“? Und


wer ist sein Autor?
Um den fragmentarischen Text und den wenig bekannten Autor für das Lesepublikum
zugänglich zu machen, legte Brod für die Erstausgabe 1925 die Reihenfolge der Kapitel fest,
bestimmte also darüber, welche als unvollendet geltenden Kapitel nicht eingefügt werden
sollten und welche als vollendet galten. Brod behauptet freilich, dass Kafka ihm einen großen
Teil des Romans vorgelesen habe und er sich daher bei der Anordnung auf seine Erinnerung
stützen konnte. Dabei darf nicht vergessen werden, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung
des Processes nur kurze Texte von Kafka publiziert waren, er galt als Autor der kleinen Form.

Im Nachwort zur zweiten Ausgabe (1935) geht Brod auf die nun gänzlich veränderten
Umstände der Publikation ein:

Die nun vorliegende zweite Ausgabe von Kafkas großen Romanfragmenten hat andern Sinn,
untersteht anderen Gesetzen als die, nun historische, erste. Damals galt es, eine eigenwillige,
befremdliche, nicht zur Gänze vollendete Dichtwelt zu erschließen; es wurde daher alles
vermieden, was das Fragmentarische betont, die Lesbarkeit erschwert hätte.16

15
Zitiert nach Kuhn, Heribert: Anhang. In: Kafka, Franz: Der Prozeß. Text und Kommentar. Berlin: Suhrkamp
2015 (= 9. Aufl.), S.247-292, hier S 283.
16
Zitiert nach Kuhn, Heribert: Anhang. In: Kafka, Franz: Der Prozeß. Text und Kommentar. Berlin: Suhrkamp
2015 (= 9. Aufl.), S.247-292, hier S 288.
11
Tatsächlich hat Brod massiv in den Text Kafkas eingegriffen. „Unter den Kategorien
Normalisierung, Bearbeitung und Entfragmentarisierung nimmt Brod seine Arbeit am Text
auf.“17 Er wird zum „Geburtshelfer des bis dahin fast unbekannten Autors Franz Kafka.“18

Um den vermeintlich ‚fragmentarischen‘ Charakter vieler Texte möglichst leserfreundlich zu


glätten, greift Brod in den überlieferten Textkörper auf allen Ebenen ein: auf der lautlichen
und lexikalischen ebenso wie auf der Ebene der Begrenzungen und Übergänge.19

Brod wird damit in seinen Ausgaben zu einem Ko-Autor ohne die Zustimmung des eigentlichen
Autors.

Zur Editionspraxis
Es ist auf jeden Fall sinnvoll, die unterschiedlichen Editionen des Process-Romans miteinander
zu vergleichen (= elementare literaturwissenschaftliche Tätigkeit).

Schreibweise des Titels: Der Prozeß / Der Prozess / Der Process / Der Proceß?

Max Brod schreibt im Nachwort zur ersten Ausgabe: „Das Manuskript trägt keinen Titel. Doch
hat Kafka dem Roman im Gespräch stets den Titel ‚Der Prozeß‘ gegeben.“20

In den Tagebucheintragungen nennt Kafka das Werk ‚Process‘ (hier in der originalen
Schreibweise). Als endgültig kann der Titel nicht angesehen werden; möglicherweise
handelt es sich um einen Arbeitstitel.21

„Der Proceß“, wie der Titel in der sogenannten „kritischen Ausgabe der Werke von Franz
Kafka“ geschrieben wird, heißt es allerdings nirgendwo. Der Herausgeber Malcolm Paisley hat
die in Kafkas Handschrift durchgehende Schreibweise „Process“ an die damals aktuelle
Orthographie angepasst, ohne das zu kommentieren, also zu „Proceß“ verändert – als

17
Steinich, Annette: Kafka-Editionen: Nachlass und Editionspraxis. In: von Jagow, Bettina; Jahraus, Oliver (Hg.):
Kafka-Handbuch..Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 137-149, hier S. 139.
18
Steinich, Annette: Kafka-Editionen: Nachlass und Editionspraxis. In: von Jagow, Bettina; Jahraus, Oliver (Hg.):
Kafka-Handbuch..Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 137-149, hier S. 139f.
19
Steinich, Annette: Kafka-Editionen: Nachlass und Editionspraxis. In: von Jagow, Bettina; Jahraus, Oliver (Hg.):
Kafka-Handbuch..Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 137-149, hier S. 140f.
20
Zitiert nach Kuhn, Heribert: Kommentar. In: Kafka, Franz: Der Prozeß. Text und Kommentar. Berlin: Suhrkamp
2015 (= 9. Aufl.), S.293-352, hier S.320.
21
Kuhn, Heribert: Kommentar. In: Kafka, Franz: Der Prozeß. Text und Kommentar. Berlin: Suhrkamp 2015 (= 9.
Aufl.), S.293-352, hier S.320.
12
sogenannte „stillschweigende Normalisierung“, obwohl seine Ausgabe vorgibt, sich streng
nach der Handschrift zu richten. Die gedruckte Erstausgabe von Max Brod aus dem Jahr 1925
schreibt den Titel „Der Prozess“

Ein Werk wie jenes von Kafka, dessen Editionsgeschichte großteils ohne den Autor
geschrieben wurde, verlangt jedenfalls geradezu nach einer historisch-kritischen Edition.
Roland Reuß, der Mitherausgeber der Historisch-Kritischen Kafka-Ausgabe, schreibt dazu:

Kafkas Roman ist, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen Kafkas, in Mikro- und Makrostruktur
Fragment geblieben – die Handschrift fügt sich nicht dem Leitbild eines fortlaufenden
Prosatextes, wie es dem Medium und der Materialität des Buches entspräche. […] Die von Max
Brod 1925 aus damals durchaus begreiflichen Gründen zu einem Romanganzen gefügten Teile
erzeugten zwar das Bild einer abgeschlossenen Form; einer Überprüfung im Detail offenbaren
jedoch die Brodsche wie die ihr folgende Redaktion der ‚Kritischen Ausgabe‘ rasch ihre
Gewaltsamkeit.22

Denn Brod und Paisleys Ausgaben legen fest, welche Kapitel vollendet und welche unvollendet
sind. Dafür gibt es aber keine Hinweise von Kafka selbst und manche der Argumente von Brod
und Paisley sind durchaus fragwürdig. Bei einigen der als vollendet angesehenen Kapitel gibt
es erhebliche Zweifel, ob sie tatsächlich als abgeschlossen gelten können – ein Kapitel
(„Kaufmann Beck – Kündigung des Advokaten“) hat Brod selbst in der Handschrift mit dem
Vermerk versehen „Dieses Kapitel ist unvollendet“23, hat es dann aber (wohl wegen seines
großen Umfangs) doch in das Buch aufgenommen. Umgekehrt ist es auch bei einigen als
unvollendet geltenden Kapiteln nicht wirklich sicher, ob sie tatsächlich unvollendet sind.
Manchmal waren es ästhetische Kriterien oder Fragen der Proportion, die Brod oder Paisley
dazu bewogen, ein Kapitel als unabgeschlossen oder abgeschlossen zu klassifizieren.

Wichtig ist daher, bei Kafka wie bei anderen Autor*innen, genau darauf zu achten, welche
Ausgabe man vor sich hat und wie diese jeweils zustande gekommen ist. Beachten Sie immer
auch all das, was man in der Literaturwissenschaft Paratexte nennt, das gesamte Beiwerk des
Buches – vom Titelblatt und dem Klappentext über das Impressum und die Angaben zu den
textlichen Grundlagen der jeweiligen Ausgabe bis zu Vor- und Nachworten. Die Ausgabe der

22
Reuß, Roland: Zur kritischen Edition von „Der Process“ im Rahmen der Historisch-Kritischen Franz Kafka-
Ausgabe. In: Franz Kafka-Hefte 1/1997, S. 3-25, hier S. 10f.
23
Vgl. Reuß, Roland: Zur kritischen Edition von „Der Process“ im Rahmen der Historisch-Kritischen Franz Kafka-
Ausgabe. In: Franz Kafka-Hefte 1/1997, S. 3-25, hier S. 12.
13
Suhrkamp Basis-Bibliothek folgt der sogenannten Dritten Ausgabe: Franz Kafka: Gesammelte
Werke. Herausgegeben von Max Brod. Der Prozeß. Roman Frankfurt/M. S. Fischer 1950.

Die aktuelle Ausgabe bei Reclam folgt der sogenannten Kritischen Ausgabe, herausgegeben
von Malcolm Paisley, bei der nicht nur der Titel falsch geschrieben ist (Der Proceß), sondern
auch die Kapiteleinteilung anders ist:

Brod Ausgabe (Suhrkamp) Paisley Ausgabe (Reclam)


Erstes Kapitel bei Brod: Verhaftung – Erstes Kapitel bei Paisley: Verhaftung
Gespräch mit Frau Grubach – Dann Fräulein
Bürstner
Zweites Kapitel bei Brod: Erste Zweites Kapitel bei Paisley: Gespräch mit
Untersuchung Frau Grubach – Dann Fräulein Bürstner

Das abschließende Urteil von Reuß zur Kafka-Edition lautet:

Eine genaue Analyse der Überlieferung verlangt in der Makrostruktur jedoch nicht nur, die
Unterscheidung von ‚vollendeten‘ und ‚unvollendeten‘ bzw. fragmentarischen Kapiteln
aufzugeben. Der Kritik hält ebenso nicht der Versuch stand, eine verbindliche Abfolge der
Kapitel zu (re-)konstruieren. Selbstverständlich hatte Kafka bis zuletzt die Absicht, einen
Roman zu schreiben, bei dem die einzelnen größeren Einheiten ihren Ort im Gefüge eines
Ganzen haben sollten; doch er hat die Arbeit am Roman zu einem Zeitpunkt aufgegeben, als
hiervon noch nicht einmal der Umriß feststand. […] Der Versuch diesen Zustand (ein
barbarisches Wort) aufzulösen und mithilfe inhaltlicher Kriterien oder des Rückgriffs auf die
innere Chronologie des Erzählten eine Reihenfolge der Konvolute festzulegen, anerkennt nicht
die Offenheit des Manuskripts im Augenblick, als Kafka von ihm abließ. Es handelt sich bei ihm
faktisch um den Versuch, den Text besser zu schreiben, als der Autor es vermochte: aus den
Haupt- und Nebenlinien der Schrift durch trimmende Redaktion linearen Text zu produzieren.
Sein Motiv ist der Wunsch, heilen zu können, was Kafka selbst als unheilbar erschienen war.
Man kann aber aus einer Handschrift wie der des ‚Process‘, in der es im Großen und Kleinen
drunter und drüber geht, nicht einfach ein Buch machen.24

Wie löst die Historisch-Kritische Ausgabe diese Aufgabe? Sie gibt die 16 Konvolute der
Handschrift in 16 Heften in einem Schuber wieder, ohne eine Reihenfolge festzulegen: In
Faksimile und diplomatischer Umschrift.

24
Reuß, Roland: Zur kritischen Edition von „Der Process“ im Rahmen der Historisch-Kritischen Franz Kafka-
Ausgabe. In: Franz Kafka-Hefte 1/1997, S. 3-25, hier S. 15.
14
Historische Einordnung des Romanfragments / Kontexte
Politische Dimensionen

Am 28.7.1914 Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien, am 31.7.1914 wird in die


allgemeine Mobilmachung verfügt, zwei Schwager Kafkas werden eingezogen.

Zu seinen Lebzeiten ist Franz Kafka in zweierlei Hinsicht ein marginalisiertes Mitglied der
Gesellschaft: Einerseits ist er Angehöriger der deutschsprachigen Minderheit in Prag, die
zunehmend durch den tschechischen Nationalismus in Bedrängnis kommt. Andererseits
wächst Kafka in einer Familie assimilierter Juden auf, die vom sich steigernden Antisemitismus
bedroht ist.

Private Dimension

Kafka löst seine Verlobung mit Felice Bauer im Juli 1914 auf, kurz vor Beginn des Schreibens,
zieht aus der elterlichen Wohnung am Altstädter Ring in die Wohnung seiner Schwester
Valerie, genannt Walli: erstmals in seinem Leben eine eigene Wohnung; Annäherung des
Prozesses an die Frage seiner eigenen Ehefähigkeit bzw. seiner „Schuld“ an der Unfähigkeit
und der Auflösung der Verlobung. Kafka hat die Umstände seiner Entlobung in Berlin in einem
Tagebucheintrag vom 23.7.1914 als „Gerichtshof“ bezeichnet; Elias Canetti hat ein ganzes
Buch darüber verfasst: Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice (1969).

Individuelle Dimension / Kafkas Schreiben

Kafkas Schreibprozesse sind von einem wiederkehrenden Problem gekennzeichnet. Sie


weisen kein geplantes, organisiertes Konstruieren von Texten auf, sondern kulminieren in
intensiven Phasen eines Schreibstroms, in denen Kafka seiner Inspiration folgt, eine Form von
‚ecriture automatique‘. Vorhergehende Romanprojekte blieben unvollendet, da der
Schreibprozess abgebrochen wurde, daher schrieb er diesmal gleich am Beginn ein Anfangs-
und ein Schlusskapitel, evtl. sogar gleichzeitig. Die restlichen Kapitel sollten sich dazwischen
entfalten. Eine stringente, kausale Logik der Handlung verfolgt der Text jedenfalls nicht.

15
Literaturhistorische Einordnung 1: Zur Struktur des modernen
Erzählens
Manfred Engel charakterisiert Kafkas Schreiben als paradigmatisch für die Literatur der
Moderne:

Moderne Erzähltexte sind nicht mehr primär nach dem Prinzip organisiert, das Robert Musil
einmal das »Gesetz erzählerischer Ordnung« genannt hat (Mann ohne Eigenschaften, Zweiter
Teil, Kap. 122). Dieses gründet Erzählen auf eine zur Handlung geordnete Folge von
Ereignissen, deren Minimalstruktur (mit Aristoteles) die Einheit von Anfang, Mitte und Ende
ist und deren minimale Verknüpfungsprinzipien (Syntagmen) die chronologische Folge und der
kausale Zusammenhang sind. Viele Autoren haben größere Erzählwerke ohne vorgegebenen
Plan begonnen (oder ihre Pläne im Verlauf des Schreibens geändert) - dann war es aber eben
die Handlung (einschließlich der sich in ihr entfaltenden und sie bestimmenden Charaktere),
die den Erzählfluss trug und die Ereignisse und Ereignissequenzen integrierte. Dieses
Sicherheitsnetz der erzählerischen Integration fehlt bei Kafka (und anderen Autoren der
Moderne) weitgehend.25

Systematische Beschreibung 2: Zentrale strukturbildende Elemente


Folgende Elemente konstituieren die zentralen Strukturen in Kafkas Text:

 Die Konzentration auf den Protagonisten, interne Fokalisierung und


heterodiegetische Erzählung;

Alle Romanereignisse werden aus dem Wahrnehmungs-, Wissens- und


Deutungshorizont Josef K.s erzählt. Nur in Bezug auf ihn haben wir >lnnensicht<, nur
seine Gedanken und Gefühle lernen wir kennen [=interne Fokalisierung, Anm.]; alle
anderen Romangestalten sind uns - wie der Perspektivfigur - bloß in Außensicht
zugänglich. Aber keine plausible „Entwicklung“ des Helden (wie im Modell des
Entwicklungsromans), obwohl am Beginn ja eine gravierende Veränderung seiner
Lebensumstände eintritt.26

Der Erzähler selbst ist also nicht Teil der Erzählung und deren Handlung
(=heterodiegetisch).

 Der Aufbau einer fiktiven Welt: K.s Arbeit und die dortigen Kollegen, seine (wenigen)
sozialen Beziehungen (die Verwandten Onkel und Erna, sein Stammtisch, seine
„Geliebte“ namens Elsa, …), die Welt des Gerichts (Franz und Willem, der Prügler, der
Advokat, Leni, der Kaufmann Block, Titorelli, …);

25
Engel, Manfred: Der Process. In: Engel, Manfred; Auerochs, Bernd (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk –
Wirkung. Stuttgart: Metzler 2010, S. 192-207, hier S. 193.
26
Engel, Manfred: Der Process. In: Engel, Manfred; Auerochs, Bernd (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk –
Wirkung. Stuttgart: Metzler 2010, S. 192-207, hier S. 197.
16
 Die abrupt einsetzenden und abbrechenden erotischen Beziehungen (Fräulein
Bürstner – in der Handschrift oft als F.B. abgekürzt – wie die (Ex-)Verlobte Felice
Bauer!); Leni;

 Die Serialität: immer wiederkehrende Versuche Josef K.s, im Gericht zu den


entscheidenden Instanzen vorzudringen, ständiges Scheitern – Suche nach
Mittlerfiguren, bei denen er Hilfe erhofft (der Advokat, Titorelli, der Geistliche) + Reihe
von Frauenfiguren, die Helferinnen und Objekte des Begehrens sind (Fräulein Bürstner,
die Frau des Gerichtsdieners, Leni), kontinuierliches Abweisen jeglicher Schuld durch
Josef K.;

 Mehrere Leitmotive: Blick aus dem Fenster, Türen/Schwellen, Schürzen der Frauen,
Gestik;

 Die Allgegenwart des Gerichts – es ist nicht in spezifischen Räumen festzumachen: Die
erste Untersuchung findet in einem Saal in einem scheinbar gewöhnlichen Wohnhaus
statt, der Prügler bestraft Franz und Willem in einer Abstellkammer von Josef K.s Büro,
Gerichtskanzleien auf den Dachböden;

 Irrationales / Phantastisches / Traumartiges:

 Eine Verhaftung, die nicht dem konventionellen Ablauf einer Verhaftung


entspricht,

 Das Agieren des Gerichts widerspricht unserem Weltwissen vom Funktionieren


von Gerichten,

 Als K. die Tür zur Rumpelkammer am nächsten Tag noch einmal öffnet, scheint
dort drinnen keine Zeit vergangen zu sein: Der Prügler und die beiden Wächter
sind in der gleichen Position wie am Tag zuvor, als er sie erstmals dort drinnen
entdeckt hat.

 Die geheimnisvollen Verbindungen zwischen Josef K.s Innenwelt und der


Gerichtswelt:

17
 Obwohl er die Uhrzeit seiner ersten Anhörung nicht weiß, glaubt er um 9 Uhr
dort sein zu müssen, verspätet sich um eine gute Stunde und wird vom
Untersuchungsrichter wegen der Verspätung gerügt;

 Auch das Eintreffen seiner Henker hat Josef K. zu dem Zeitpunkt erwartet, an
dem sie ihn holen, obwohl er keine diesbezüglichen Informationen hatte;

Manfred Engel hält beim Process die paradigmatische Struktur für zentral, nicht die
syntagmatische:

Für den Herausgeberstreit bedeutet diese erste Textbeschreibung, dass der Process zwar als
vollendeter Roman in der Tat nicht existiert, sein Fragmentcharakter jedoch Geschlossenheit
und Lesbarkeit erstaunlich wenig beeinträchtigt. Die dominant paradigmatische Organisation
des Textes bewirkt, dass Erweiterungen (>Vervollständigungen<) das Gesamtbild zwar
bereichert, >amplifiziert<, aber wohl nicht wesentlich verändert hätten. Insofern hat der
Kunstgriff der Rahmenbildung durchaus funktioniert: Unter den drei Romanfragmenten Kafkas
ist der Process, trotz seiner ungewöhnlichen Überlieferung, der geschlossenste Text.27

Zu dieser paradigmatischen Verdichtung gehört auch, dass z.B. in der sogenannten


Türhüterparabel wesentliche Elemente des gesamten Romans noch einmal konzentriert sind.
Die Türhüterparabel hat Kafka übrigens bereits 1915 mit dem Titel „Vor dem Gesetz“ in der
jüdischen Zeitschrift Die Selbstwehr publiziert, 1920 noch einmal in der Sammlung Ein
Landarzt. Damals hatte er die Arbeit an dem Roman bereits aufgegeben. Sie erschien ihm als
der einzig wirklich gelungene Teil des Romans, wie er es auch an der Reaktion seiner Ex-
Verlobten Felice Bauer zu erkennen glaubt, der er den Roman vorliest.

27
Engel, Manfred: Der Process. In: Engel, Manfred; Auerochs, Bernd (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk –
Wirkung. Stuttgart: Metzler 2010, S. 192-207, hier S. 195.
18
Literaturhistorische Einordnung 2: Kafkas Romane als Abgesang auf den
Bildungsroman

Gerhard Neumann stellt die These auf, Kafka knüpfe mit dem erzählerischen Versuch, eine
Karriere im Beruf mit einer Karriere in der Liebe zu verweben,

an ein Konzept des 19. Jahrhunderts an, das der Herstellung von Individualität in der
Gesellschaft dient. Dieses Konzept hat ein literarisches Muster, nämlich den sogenannten
Bildungsroman. In ihm wird das Spiel der Herstellung von Individualität gespielt, wie es das 19.
Jahrhundert erfunden hat: als doppelte Karriere der ‚Erhebung‘ – im Beruf wie in der Liebe.
Man könnte es auch das Modell ‚Wilhelm Meister‘ nennen, samt seinen Nachfolgern.
Spätestens im 20. Jahrhundert begann sich dieses Muster dann aufzulösen: der Erhebung des
Helden durch Bildung zum etablierten Bürger stand die Kleinlichkeit und Niedrigkeit der
alltäglichen Misere, der ‚Prosa der Verhältnisse‘ entgegen. Und die angestrebte Erhebung wich
in der Darstellung der Lebenskarrieren mehr und mehr dem individuellen und sozialen
Verfall.28

Was der Bildungsroman à la Goethes Wilhelm Meister literarisch durchzuspielen versuchte,


war die Herstellung einer individuellen (bürgerlichen) Identität, eines starken und der
Gesellschaft nützlichen Ich. Die im Wilhelm Meister dafür geprägte Formel lautet:
„(…) mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein
Wunsch und meine Absicht.“29 Genau diese Frage der Identität wird im Process
hervorgehoben. Die Verhaftung findet an K.s Geburtstag statt:

Dies ist für unseren Zusammenhang ein zentraler Punkt. Geburtstage sind in ausgezeichneter
Weise Rituale der Selbstfindung und Selbstbeglaubigung, aber auch des Selbstzweifels und
drohenden Selbstzerfalls.30

Und das ist in Kafkas Romanfragment deutlich: Dieses Ich kann sich nun nicht mehr gegenüber
der Gesellschaft behaupten, sondern ist trotz aller gegenteiliger Versuche dem anonymen
Machtapparat ausgeliefert und wird letztlich von dessen Vollstreckern vernichtet.

28
Neumann, Gerhard: Inszenierung des Anfangs. Zum Problem der sozialen Karriere in Franz Kafkas „Prozeß“-
Roman. In: ders.: Kafka Lektüren. Berlin: de Gruyter 2012, S.24-37, hier S. 24f.
29
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795). In: ders.: Sämtliche Werke, Briefe,
Tagebücher und Gespräche. Abteilung I, Band 9. Hg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Unter
Mitwirkung von Almuth Voßkamp. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 657.
30
Neumann, Gerhard: Inszenierung des Anfangs. Zum Problem der sozialen Karriere in Franz Kafkas „Prozeß“-
Roman. In: ders.: Kafka Lektüren. Berlin: de Gruyter 2012, S.24-37, hier S. 29.
19
Vergleich (mit anderen Kafka-Texten): Der riskante Moment des
Übergangs
Ein Ausgangspunkt für die Deutung des Ichs in der Krise wird in einer von Kafka gestrichenen
Stelle aus dem Process-Konvolut deutlich:

Jemand sagte mir – ich kann mich nicht mehr erinnern, wer es gewesen ist –, daß es doch
wunderbar sei, daß man, wenn man früh aufwacht, wenigstens im allgemeinen alles unverrückt
an der gleichen Stelle findet, wie es am Abend gewesen ist. Man ist doch im Schlaf und im
Traum wenigsten scheinbar in einem vom Wachen wesentlich verschiedenen Zustand gewesen,
und es gehört, wie jener Mann ganz richtig sagte, eine unendliche Geistesgegenwart oder
besser Schlagfertigkeit dazu, um mit dem Augenöffnen alles, was da ist, gewissermaßen an der
gleichen Stelle zu fassen, an der man es am Abend losgelassen hat. Darum sei auch der
Augenblick des Erwachens der riskanteste Augenblick am Tag; sei er einmal überstanden, ohne
daß man irgendwohin von seinem Platze fortgezogen werde, könne man den ganzen Tag über
getrost sein.31

Kafkas Protagonist wird just in dem prekären Augenblick des Aufwachens von den
Eindringlingen verhaftet. Üblicherweise stabilisiert er den riskanten Moment durch das Ritual
des Frühstücks, aber genau das haben ihm die beiden Wächter weggegessen. Das Gewalt-
Ritual der Verhaftung wird ihm übergestülpt:

Was ihm üblicherweise beim Augenöffnen Sicherheit gibt, wird nun unverhofft umgestürzt. Er
ist es ja gewohnt, den Augenblick des Erwachens durch das freundliche Ritual des 8-Uhr-
Frühstücks zu stabilisieren. Dieses private Ritual bleibt an diesem Tag aber aus. An seine Stelle
tritt die Verhaftung, ein bedrohliches, Angst machendes Ritual der öffentlichen Justiz-
Ordnung.32

Übergänge sind in Kafkas Texten in der Regel zentral. Beispiele dafür finden sich

 In dem Beginn der „Verwandlung“,


 Am Beginn des Prozesses,
 In der Türhüterparabel,
 In den häufigen Türen, Eingängen, Schwellen in den Texten,
 Im Übergang vom Geburtstag zur Hinrichtung;

31
Kafka, Franz: Der Prozeß. Text und Kommentar. Anhang: Die vom Autor gestrichenen Stellen. Berlin:
Suhrkamp 2015 (= 9. Aufl.), S.247-292, hier S 272.
32
Neumann, Gerhard: Inszenierung des Anfangs. Zum Problem der sozialen Karriere in Franz Kafkas „Prozeß“-
Roman. In: ders.: Kafka Lektüren. Berlin: de Gruyter 2012, S.24-37, hier S. 32.
20
Deutungsansätze in der Kafka-Forschung
Im Kapitel „Im Dom“ kommt es nach der Erzählung der Türhüterparabel zu einem Gespräch
zwischen dem Gefängniskaplan und Josef K. über deren richtige Auslegung. Der Geistliche sagt
dabei einen Satz, der gut auf die Vielzahl der Kafka-Interpretationen anzuwenden ist: „Du
mußt nicht zuviel auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich, und die Meinungen
sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.“ (234) In der Geschichte der Kafka-
Forschung finden sich zahlreiche Versuche einer den Text homogenisierenden
Generalinterpretation, die Manfred Engel in vier Gruppen einteilt:

1. Biographische, psychologische bzw. psychoanalytische Deutungen

Diese zielen erstens auf den für Kafka so zentralen Vater-Sohn-Konflikt ab, das Schuldgefühl
gegenüber dem übermächtigen Vater, dessen Vorstellungen von einem ‚würdigen’ Sohn nicht
entsprechen zu können (vgl. den Brief an den Vater). Oder Sie beziehen sich auf Kafkas
Schuldgefühle wegen der Auflösung seiner Verlobung mit Felice Bauer. Aufgrund der engen
Verschränkung von Kafkas Leben mit seinem Schreiben sind solche Interpretationen meist
zutreffend, aber sie greifen auch viel zu kurz.

Wie bei zahlreichen Autoren der Moderne wurzelt Kafkas Schreiben ganz im Existenziellen als
Authentizität wie Geltung verleihendem Wahrheitsgrund. Dieses persönliche wird jedoch als
(anthropologisch wie historisch) repräsentativ aufgefasst und daher konsequent
verallgemeinert.33

2. Sozialgeschichtliche Deutungen
Der Text wird dabei auf Strukturen der modernen Welt bezogen, von der Mechanik der
Industrialisierung bis zur Bürokratie der Habsburgermonarchie wird die Unterdrückung des
Individuums durch übergeordnete Mächte als im Text dargestellt gesehen. Immer wieder aber
auch als Vorwegnahme der Mechanismen totalitärer Systeme wie des Nationalsozialismus
und des Stalinismus. Darin liegt ein Grund für die intensive Kafka-Rezeption nach dem Zweiten
Weltkrieg.

33
Engel, Manfred: Der Process. In: Engel, Manfred; Auerochs, Bernd (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk –
Wirkung. Stuttgart: Metzler 2010, S. 192-207, hier S. 198.
21
3. Dekonstruktivistische Deutungen

Dieses (die Kafka-Forschung in den letzten zwei Jahrzehnten dominierende)


Forschungsparadigma hat zwei einfache Leseregeln, die sich auf jeden Text anwenden lassen:
(a) Literarische Texte handeln immer nur vom Schreiben, sind also totaliter selbstbezüglich; (b)
dabei thematisieren sie immer nur die >differance<, die Nicht-Präsenz von Sinn und Bedeutung
– und damit das unabweisliche Scheitern aller Sinnstiftungs- bzw. Deutungsakte. 34

Allerdings stellt sich die Frage, wenn Literatur immer nur vom Schreiben bzw. von der Literatur
handle, warum sich dann so viele Leser*innen für die Texte von Kafka interessieren.

4. Jüdische Deutungen

Die religiöse, jüdische Interpretation von Kafkas Literatur wurde von Beginn an von Max Brod
forciert. Der Process sei dann eine Umdeutung jüdischen Glaubenswissens oder bezieht sich
auf die Problematik des säkularisierten Judentums und der damit verbundenen Schuldgefühle.
Problematisch an vielen dieser Interpretationen ist ihre Eindimensionalität.

Literaturhinweise

Primärliteratur

Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart: Cotta 1819.


Kafka, Franz : Der Proceß. Kritische Ausgabe. Hg. von Malcolm Paisley. Frankfurt/M.: Fischer
1990.
Kafka, Franz: Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte:
Der Process, Jemand musste Josef K. verläumdet haben … Hg. von Roland Reuß. Unter Mitarb.
Von Peter Staengle. Basel et al.: Stroemfeld 1997 (= Faks.-Edition).
Kafka, Franz: Der Prozeß. Berlin: Suhrkamp 2000 (= Suhrkamp Basis-Bibliothek, Band 18).

34
Engel, Manfred: Der Process. In: Engel, Manfred; Auerochs, Bernd (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk –
Wirkung. Stuttgart: Metzler 2010, S. 192-207, hier S. 199.
22
Sekundärliteratur

Canetti, Elias: Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice. München: Hanser 1969.
Culler, Jonathan: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Stuttgart: Reclam 2002.
Engel, Manfred: Der Process. In: Engel, Manfred; Auerochs, Bernd (Hg.): Kafka-Handbuch.
Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2010, S. 192-207.
Jagow, Bettina; Jahraus, Oliver (Hg.): Kafka-Handbuch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
2008.
Mairowitz, David Zane; Crumb, Robert : Kafka. Berlin: Reprodukt 2013.
Neumann, Gerhard: Inszenierung des Anfangs. Zum Problem der sozialen Karriere in Franz
Kafkas „Prozeß“-Roman. In: ders.: Kafka Lektüren. Berlin: de Gruyter 2012, S.24-37.
Reuß, Roland: Zur kritischen Edition von „Der Process“ im Rahmen der Historisch-Kritischen
Franz Kafka-Ausgabe. In: Franz Kafka-Hefte 1/1997, S. 3-25.

23

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