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Als Jürgen Habermas im Oktober 2001, tigung“, in die sich die Vernunft nicht
genau 33 Tage nach dem Anschlag auf manövrieren dürfe. Die große Verhei-
das World Trade Center, den Friedens- ßung der Kritischen Theorie, dass die
preis des Deutschen Buchhandels ent- herrschaftsfreie Gesellschaft in der mo-
gegen nahm, sprach er in seiner Dan- dernen potentiell enthalten sei, kommt
kesrede über das Verhältnis von Glau- Habermas nicht mehr über die Lippen.
ben und Wissen. Seitdem hält sich hart- Vielleicht ist auch diese neue Düsternis
näckig das Gerücht, der Philosoph des eine Spätfolge des 11. September.
nachmetaphysischen Denkens habe sich
der Religion angenähert. Brunnenstube der Macht
Er warb schließlich dafür, den „religiö-
sen Gehalt“ der Moralbegriffe in eine Ratzinger weitete das Szenario der Be-
säkulare Sprache zu „übersetzen“, ihn drohung aus. Einerseits sei Religion, so- Um die Intimität des Disputs zu ermög-
zu retten statt zu eliminieren. Nur so fern sie Terror zu legitimieren helfe, lichen, konnten auf Wunsch der
könne man „der schleichenden Entro- schwerlich eine „heilende und rettende Diskutanten nur wenige Vertreter der
pie der knappen Ressource Sinn ent- Macht“, müsste also unter „Kuratel der Printmedien zu dem Gespräch eingela-
gegenwirken“. Kündigte sich damals tat- Vernunft“ gestellt werden. Andererseits den werden
sächlich eine neue Allianz an von Säku- mehren sich ebenso dramatisch die
larismus und Religion? Diese Frage Zweifel an der „Verlässlichkeit der Ver-
stand nun offen zur Debatte: In den nunft“. Durch und durch vernunftgelei-
Münchner Räumen der Katholischen tet, steige der Mensch „hinab in die
Akademie Bayern traf Jürgen Habermas Brunnenstube der Macht, an den Quell-
vor kleinem Publikum auf den denkbar ort seiner eigenen Existenz“ – und ent-
kompetentesten Widerpart, auf Joseph werfe sich selbst neu im genetischen Ex-
Kardinal Ratzinger, den Präfekten der periment. Um die Pathologien der Reli-
vatikanischen Glaubenskongregation. gion und der Vernunft zu überwinden,
Habermas spitzte seine These weiter zu. müssten beide aufeinander bezogen blei-
Der liberale Verfassungsstaat sei auf die ben. Ein „universaler Prozess der Reini-
„säkularisierende Entbindung religiös gung“ sei notwendig. Nicht anders argu-
verkapselter Bedeutungspotentiale“ mentierte Habermas: Religion und säku-
dringend angewiesen. Diese „Transfor- lare Vernunft müssten sich in einem un- Der Beitrag im „Münchner Merkur“
mation“ müsse so geschehen, dass dabei abschließbaren „komplementären Lern- wurde am 21. Januar 2004 unter
„der ursprünglich religiöse Sinn ... nicht prozess“ gegenseitig ernst nehmen. Feuilleton auf Seite 24 veröffentlicht
auf eine entleerende Weise deflationiert Gewiss ist die operative Übereinstim-
und aufgezehrt“ werde. Man darf also, mung zwischen Habermas und Ratzin-
konkret gesprochen, die Herkunft etwa ger echt, doch sie ist eben auch, zumin-
der Menschenwürde aus der jüdisch- dest von der Seite des Philosophen,
christlichen Tradition nicht preisgeben. zweckgebunden. Auf die Herausforde- Was hält die Welt zusammen? Kardinal
Lobende Worte fand Habermas auch rungen durch Globalisierung, Gentech-
für die Glaubenspraxis. In den religiö- nik und Terrorismus antworten beide Ratzinger philosophiert mit Habermas
sen Gemeinden könne „etwas intakt Seiten mit Menschenrecht und Men-
bleiben, was andernorts verloren gegan- schenwürde. Leicht stellt so sich Einver- Claudia Moellers
gen ist“, nämlich „Sensibilitäten für ver- ständnis her. Auch hat Habermas leise
fehltes Leben, für gesellschaftliche Pa- Abschied genommen vom politischen
thologien, für das Misslingen individuel- Universalismus und so die Distanz zu
ler Lebensentwürfe und die Deforma- Ratzinger verringert. Ganz entspannt
tion entstellter Lebenszusammenhän- konnte der Präfekt als gemeinsame
ge“. Mit dieser modernitätskritischen Grundüberzeugung festhalten, dass die
Wendung knüpfte Habermas direkt an säkulare Rationalität ebenso wie die Obgleich sie zu den größten Denkern bermas setzte auf das demokratische
sein Hauptwerk an, die „Theorie des Kultur des christlichen Glaubens „fak- der Gegenwart gehören, haben sie bis- Verfahren einer Mehrheit, die Recht als
kommunikativen Handelns“. Schon tisch nicht universell“ seien – Islam und lang noch nie miteinander diskutiert: Recht legitimiert, und auf die Vernunft,
1981 fragte er, ob „wir uns nicht ... der Hinduismus wüssten mit diesen Kon- Kurienkardinal Joseph Ratzinger und die auch die Religion kontrollieren
Verluste erinnern sollten, die der eigene zepten wenig anzufangen. der renommierte Philosoph Jürgen Ha- müsse. Dabei verwies er auf abschrek-
Weg in die Moderne gefordert hat“. Ein einziges Wort aber genügt, und die bermas. Der Katholischen Akademie in kende Beispiele im Islamismus.
Die Moderne als Verlustgeschichte: Rat- Kontrahenten flüchten durch entgegen Bayern ist es gelungen, dieses „aufre- Für Kardinal Ratzinger indes reichen
zinger hörte mit Wohlwollen, wie seine gesetzte Notausgänge. Johann Baptist gende Gesprächspaar“ in München an Wissenschaft und Vernunft nicht aus,
Diagnose vom Kollaps des mensch- Metz sprach das Skandalwort aus: einen Tisch zu bringen. Ein ausgewähl- um eine tragende Moral zu entwickeln.
lichen Selbstverständnisses in abge- Wahrheit. Habermas beharrt auf dem tes Publikum – neben Kardinal Frie- Oft sei es gerade die Vernunft gewesen,
schwächter Form bestätigt wurde. Diskursbegriff der Wahrheit, wonach drich Wetter und Kardinal Leo die aus dem Ruder gelaufen sei. Der
Schweigend nahm er das Lob der kari- diese das Ergebnis eines öffentlichen, Scheffczyk zahlreiche Philosophie-, oberste Glaubenswächter der Kirche er-
tativen Praxis hin, zählt doch ein zum gewaltlosen, gleichberechtigten und auf- Theologie- und Politikprofessoren so- innerte an die Entwicklung der Atom-
reinen „Sozialverband“ degeneriertes richtigen Verfahrens sei. Ratzinger folgt wie Politiker – folgte dem Exkurs über bombe ebenso wie an aktuelle Diskus-
Christentum zu seinen größten jenem Christus nach, der sich selbst die die Frage nach der Moral im Staat. sionen über das Klonen von Menschen.
Schreckbildern. Breit genug war hinge- Wahrheit nannte. Habermas ist Relati- Genauer ging es darum, wie eine sich „Es ist offenkundig, dass die Wissen-
gen die Straße des Unbehagens, auf vist, Ratzinger sieht im Relativismus als pluralistisch verstehende Gesell- schaft als solche Ethos nicht hervor-
dem die beiden einträchtig nebeneinan- eine neue Form von Intoleranz. Diese schaft ihre moralischen Grundsätze fin- bringen kann“, sagte er. Der Mensch sei
der herzogen. Habermas hatte die Vor- Gräben blieben bestehen – gottlob, det. Einig waren sich die Gesprächs- im Stande, sich selbst und seine Erde zu
lage geliefert. Er warnte vor einer „ent- denn eine weltanschauliche Globalisie- partner darin, dass die Ordnung in zerstören. Und hier müsse Religion die
gleisenden Modernisierung“ durch eine rung wäre der größte Triumph jenes Staaten auf Recht basiert. Doch dann Vernunft kontrollieren. Der Kardinal
unbeherrschte Globalisierung und vor Widergeistes, den beide recht herzlich entfernten sich die Vorstellungen der regte einen multikulturellen Dialog dar-
der „Sackgasse hybrider Selbstbemäch- verachten. Professoren deutlich voneinander. Ha- über an, was die Welt zusammenhält.
Andrea Tarquini