Sie sind auf Seite 1von 12

zur debatte

B 215 75 F

34. Jahrgang, München, 2004

1 /2004 Themen der Katholischen Akademie in Bayern

Gesprächsabend in der Katholischen Akademie in Bayern


am Montag, 19. Januar 2004

Vorpolitische moralische Grundlagen eines


freiheitlichen Staates
Begrüßung Akademiedirektor
Dr. Florian Schuller

Im Namen der Katholischen Akademie


Bayern habe ich die Ehre, die beiden Ge-
sprächspartner willkommen zu heißen,
die – zunächst für uns – und dann auch
mit uns nachdenken wollen über eine
der zentralen Fragestellungen moderner,
postmoderner Gesellschaft: Herrn Prof.
Dr. Jürgen Habermas und Seine Emi-
nenz, Joseph Kardinal Ratzinger.
Außerordentlichen, tief empfindenden
Dank Ihnen beiden, dass dieser Abend
möglich wurde, und Sie heute der Ein-
ladung in die Katholische Akademie
Bayern gefolgt sind.
Unser Haus war von Anfang an bewusst
konzipiert als Ort spannungsreicher,
offener, symmetrischer Kommunikation,
bei der sich Vertreter katholischer Posi-
tionen mit Gesprächspartnern unter-
schiedlichster Provenienz auf die Suche
nach Wegen machen, die in der geisti-
gen Landschaft der Gegenwart und an-
gesichts konkreter Herausforderungen
möglich und sinnvoll, manchmal viel-
leicht sogar nötig scheinen.
Jeder der beiden Namen „Ratzinger“
und „Habermas“ steht nun als Kürzel
für eine ganze intellektuelle Welt, und Der Philosoph Jürgen Habermas und
beide zusammen bilden eines der aufre- Joseph Kardinal Ratzinger im Disput
gendsten Gesprächspaare, die man sich über Glaube und Vernunft, Moral und
augenblicklich – vielleicht nicht nur im Gemeinsinn
deutschsprachigen Raum – für Grund-
satzreflexionen menschlicher Existenz
denken kann. Um so verwunderlicher, Sozial- und Geschichtsphilosophie, die chen; er sei also so etwas, Originaltext tischen Feldes auf, von bioethischen
dass sie bisher noch kein Podium zu- öffentliche Diskussion immer stärker Kardinal Bertone, wie der Giovanni Grundsatzfragen über das Selbstver-
sammenführte. prägend und herausfordernd. Trapattoni der katholischen Kirche. ständnis Europas bis zum Kopftuch-
Da könnte man fast von so etwas wie So verbindet z. B. noch etwas anderes Vielleicht etwas überraschend – zu- streit. Nicht nur in dieser Runde wird
parallelen Leben sprechen; auch Paral- die beiden Gesprächspartner des heuti- nächst hätte man ja auch an einen zen- die Berechtigung und Notwendigkeit
lelen treffen sich ja, zumindest norma- gen Abends – ihre Präsenz in der intel- tralen Verteidiger denken können, oder des Themas also keiner Begründung be-
lerweise (völlig unmathematisch gespro- lektuellen Landschaft Frankreichs. an den Torwart, der, wie es im entspre- dürfen.
chen) nicht. Beide Jürgen Habermas gilt als der seit Marx, chenden Jargon heißt, seinen Kasten Wie eine sich selbst als plural verste-
● entstammen der gleichen Spätzwanzi- Nietzsche und Heidegger einflussreich- sauber hält. Aber Trainer klingt natür- hende Gesellschaft gemeinsame Ligatu-
ger-Generation: 1927 bzw. 1929 gebo- ste deutsche Philosoph, seine Rolle lich viel besser, und ist es auch. ren – so hat es Ralf Dahrendorf ge-
ren; scheint sogar die eines öffentlichen Ge- Leider hat bisher noch niemand einen nannt –, gemeinsame Verbindlichkeiten
● 1953 bzw. 1954 in ihrem jeweiligen wissens der politischen Kultur des Lan- ähnlichen Aufstellungsversuch im Be- erkennen und anerkennen kann und
Fach promoviert; des zu sein. reich der Philosophie vorgenommen. soll, das ist die eine Fragerichtung. Und
● ab 1966 in Tübingen, bzw. ab 1964 in Kardinal Ratzinger wurde schon 1992 Doch gäbe es da wohl kaum jemanden, die andere, bei weitem nicht nur dem
Frankfurt am Main direkt in die Aus- in die Académie des Sciences Morales der nun seinerseits Jürgen Habermas Genius huius loci entsprechend, wie
gangsdramatik der kommenden Um- et Politiques des Institut de France auf- die Trainerrolle streitig machen könnte. Glaubende ihre von Transzendenz her
bruchjahre hineindisponiert; genommen, als Nachfolger von Andrej Kommen wir zum Thema, um das es sich begründende und verstehende Exi-
● nach verschiedenen Ortswechseln ab Sacharow. heute Abend geht: „Die vorpolitischen stenz in dieses gesellschaftliche Erken-
1981 der eine in Rom als Präfekt der Der Kardinal von Genua, Tarcisio Ber- moralischen Grundlagen eines freiheit- nen und Anerkennen einbringen kön-
Sacra Congregatio pro Doctrina Fidei, tone, hat jüngst erst mit fussballerischer lichen Staates“. nen und sollen.
● ab 1983 der andere auf seinem letzten Terminologie eine innerkirchliche Auf- Dessen Brisanz bricht in immer kürze- Mehrere schützende Geister wachen si-
Lehrstuhl wiederum in Frankfurt, dies- stellung präsentiert und dabei Kardinal ren Abständen an ganz unterschied- cherlich über diesem Abend. Jene einen
mal für Philosophie mit Schwerpunkt Ratzinger die Trainerrolle zugespro- lichen Punkten des gesellschaftlich-poli- Genien wohl, die dieses Haus gewohnt
sind, aber auch einige zusätzliche.
Ich denke da an den Geist jenes Imma-
nuel (ein wunderschöner theologischer
Name bekanntlich), dessen Todestag am
Stellungnahme
Professor Dr. Jürgen Habermas
12. Februar sich zum zweihundertsten
Male jährt, und dessen Bedenken von
Moralität und Staatlichkeit (bzw. der
„Republik“ in seiner Diktion) unerläss-
lich für unser Bedenken bleibt.
Oder ich denke an jenen 94jährigen ita-
lienischen Philosophen, der heute vor
10 Tagen starb: Norberto Bobbio,
Nestor nicht nur der italienischen Das für unsere Diskussion vorgeschla- Diagnose ist nicht von der Hand zu Der Bezugspunkt dieser Begründungs-
Philosophie. gene Thema erinnert an eine Frage, die weisen, aber sie muss nicht so verstan- strategie ist die Verfassung, die sich die
Ihm hat Claudio Magris auf der ersten Ernst-Wolfgang Böckenförde Mitte der den werden, dass die Gebildeten unter assoziierten Bürger selber geben, und
Seite des „Corriere della Sera“ einen 60er Jahre auf die prägnante Formel ge- den Verteidigern der Religion daraus ge- nicht die Domestizierung einer beste-
Nachruf unter dem Motto „Diritto e li- bracht hat – ob der freiheitliche, säkula- wissermaßen einen „Mehrwert“ schöp- henden Staatsgewalt, denn diese soll
bertá“/„Recht und Freiheit“ gewidmet. risierte Staat von normativen Vorausset- fen (3). Stattdessen werde ich vorschla- auf dem Wege der demokratischen Ver-
Darin nennt er Bobbio den „maestro zungen zehrt, die er selbst nicht garan- gen, die kulturelle und gesellschaftliche fassungsgebung erst erzeugt werden.
del dubbio laico“, den „Meister des – tieren kann1. Darin drückt sich der Säkularisierung als einen doppelten Eine „konstituierte“ (und nicht nur
und hier beginnen nicht nur linguisti- Zweifel aus, dass der demokratische Lernprozess zu verstehen, der die Tradi- konstitutionell gezähmte) Staatsgewalt
sche, sondern kulturgeschichtliche Verfassungsstaat seine normativen Be- tionen der Aufklärung ebenso wie die ist bis in ihren innersten Kern hinein
Übersetzungsprobleme – den Meister standsvoraussetzungen aus eigenen religiösen Lehren zur Reflexion auf ihre verrechtlicht, sodass das Recht die poli-
des laikalen, besser: des weltlichen, des Ressourcen erneuern kann, sowie die jeweiligen Grenzen nötigt (4). Im Hin- tische Gewalt ohne Rest durchdringt.
säkularen Zweifels“ – nicht in jenem Vermutung, dass er auf autochthone blick auf postsäkulare Gesellschaften Während der im Kaiserreich wurzelnde
einfältigen Sinn des puren Gegensatzes weltanschauliche oder religiöse, jeden- stellt sich schließlich die Frage, welche Staatswillenspositivismus der deutschen
zum Glauben, zur Religion, der gegenü- falls kollektiv verbindliche ethische kognitiven Einstellungen und normati- Staatsrechtslehre (von Laband und Jelli-
ber Bobbio sich selber ambivalent geäu- Überlieferungen angewiesen ist. Das ven Erwartungen der liberale Staat nek bis Carl Schmitt) ein Schlupfloch
ßert hat, sondern bezogen auf die Fä- würde den zu weltanschaulicher Neu- gläubigen und ungläubigen Bürgern im für eine rechtsfreie sittliche Substanz
higkeit – meint Claudio Magris –, die tralität verpflichteten Staat zwar ange- Umgang miteinander zumuten muss (5). „des Staates“ oder „des Politischen“ ge-
Bereiche der verschiedenen Kompeten- sichts der „Tatsache des Pluralismus“ lassen hatte, gibt es im Verfassungsstaat
zen, wie Sittlichkeit, Recht, Politik oder (Rawls) in Bedrängnis bringen. Aber 1. Der politische Liberalismus (den ich kein Herrschaftssubjekt, das von einer
Religion, zu benennen und zu unter- diese Folgerung spricht nicht schon ge- in der speziellen Form eines Kantischen vorrechtlichen Substanz zehrte.4 Von
scheiden, nicht unbedingt zu trennen. gen die Vermutung selbst. Republikanismus verteidige2) versteht der vorkonstitutionellen Fürstensouve-
Und was Magris als die große Gabe des Zunächst möchte ich das Problem nach sich als eine nichtreligiöse und nachme- ränität bleibt keine Leerstelle übrig, die
Rechtsphilosophen Bobbio bezeichnet, zwei Hinsichten spezifizieren. In kogni- taphysische Rechtfertigung der norma- nun – in Gestalt des Ethos eines mehr
nämlich die eigenen Ideen kritisch, d. h. tiver Hinsicht bezieht sich der Zweifel tiven Grundlagen des demokratischen oder weniger homogenen Volkes –
mit dem Mittel der Vernunft, in „lucidi- Verfassungsstaates. Diese Theorie steht durch eine ebenso substantielle Volks-
tà concettuale“, in begrifflicher Klarheit, in der Tradition eines Vernunftrechts, souveränität ausgefüllt werden müsste.
vorzulegen, diese gleiche Grundhaltung Es stellt sich die Frage, wel- das auf die starken kosmologischen Im Lichte dieses problematischen Erbes
ist wohl den beiden Gesprächspartnern che kognitiven und norma- oder heilsgeschichtlichen Annahmen ist Böckenfördes Frage so verstanden
unseres Abends ebenfalls in hohem der klassischen und religiösen Natur- worden, als habe eine vollständig positi-
Maße zuerkannt, mögen Sie auch von tiven Erwartungen der libe- rechtslehren verzichtet. Die Geschichte vierte Verfassungsordnung die Religion
unterschiedlichen Präsuppositionen her rale Staat gläubigen und der christlichen Theologie im Mittelal- oder irgendeine andere „haltende
argumentieren. ter, insbesondere die spanische Spät- Macht“ für die kognitive Absicherung
Lassen Sie mich deshalb als letzte zu er- ungläubigen Bürgern mit- scholastik gehören natürlich zur Genea- ihrer Geltungsgrundlagen nötig. Nach
wähnende Gemeinsamkeit zwischen einander zumuten muss. logie der Menschenrechte. Aber die Le- dieser Lesart soll der Geltungsanspruch
Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger gitimationsgrundlagen der weltanschau- des positiven Rechts auf eine Fundie-
an eine denken, die die beiden auch mit lich neutralen Staatsgewalt stammen rung in den vorpolitisch-sittlichen Über-
Norberto Bobbio verbindet – den auf die Frage, ob politische Herrschaft am Ende aus den profanen Quellen der zeugungen religiöser oder nationaler
Schock der aus dem Ruder geratenden, nach der vollständigen Positivierung Philosophie des 17. und 18. Jahrhun- Gemeinschaften angewiesen sein, weil
den Irrationalismus nicht vermeidenden des Rechts einer säkularen, das soll hei- derts. Erst sehr viel später bewältigen eine solche Rechtsordnung nicht selbst-
Umwälzungen Ende der sechziger Jahre. ßen: einer nichtreligiösen oder nachme- Theologie und Kirche die geistigen Her- bezüglich aus demokratisch erzeugten
Einmal schrieb Norberto Bobbio – taphysischen Rechtfertigung überhaupt ausforderungen des revolutionären Ver- Rechtsverfahren allein legitimiert wer-
Hennig Ritter hat die Sätze in seinem noch zugänglich ist (1). Auch wenn eine fassungsstaates. Von katholischer Seite, den kann. Wenn man hingegen das de-
Nekrolog wiederholt –: „Die Unbeug- solche Legitimation zugestanden wird, die ja ein gelassenes Verhältnis zum lu- mokratische Verfahren nicht wie Kelsen
samkeit des Glaubens an letzte Begrün- bleibt in motivationaler Hinsicht der men naturale unterhält, steht jedoch, oder Luhmann positivistisch, sondern
dungen zu beobachten war die wichtig- Zweifel bestehen, ob sich ein weltan- wenn ich recht verstehe, einer autono- als eine Methode zur Erzeugung von
ste Lehre meines Lebens. Ich habe dar- schaulich pluralistisches Gemeinwesen men (von Offenbarungswahrheiten un- Legitimität aus Legalität begreift, ent-
aus gelernt, die Ideen anderer zu re- durch die Unterstellung eines besten- abhängigen) Begründung von Moral steht kein Geltungsdefizit, das durch
spektieren, vor dem Geheimnis innezu- falls formalen, auf Verfahren und Prin- und Recht grundsätzlich nichts im „Sittlichkeit“ ausgefüllt werden müsste.
halten, das jedes individuelle Bewusst- zipien beschränkten Hintergrundeinver- Wege. Gegenüber einem rechtshegelianischen
sein birgt, zu verstehen, bevor ich dis- ständnisses normativ, also über einen Die nachkantische Begründung libera- Verständnis des Verfassungsstaates be-
kutiere, und zu diskutieren, bevor ich bloßen modus vivendi hinaus stabilisie- ler Verfassungsprinzipien hat sich im steht die prozeduralistische, durch Kant
verurteile.“ ren lässt (2). Auch wenn sich dieser 20. Jahrhundert weniger mit den Nach- inspirierte Auffassung auf einer autono-
Aus solchem Respekt und Innehalten, Zweifel ausräumen lässt, bleibt es dabei, wehen des objektiven Naturrechts (wie men, ihrem Anspruch nach für alle Bür-
aus solchem Verstehen und Diskutieren dass liberale Ordnungen auf die Solida- der materialen Wertethik) auseinander- ger rational akzeptablen Begründung
möge auch unser heutiges Beisammen- rität ihrer Staatsbürger angewiesen sind setzen müssen als mit historistischen der Verfassungsgrundsätze.
sein seine Spannung und Leidenschaft – und deren Quellen könnten infolge ei- und empiristischen Formen der Kritik.
gewinnen.  ner „entgleisenden“ Säkularisierung der Nach meiner Auffassung genügen 2. Im weiteren gehe ich davon aus,
Gesellschaft im ganzen versiegen. Diese schwache Annahmen über den normati- dass die Verfassung des liberalen Staa-
ven Gehalt der kommunikativen Verfas- tes ihren Legitimationsbedarf selbstge-
sung sozio-kultureller Lebensformen,
um gegen den Kontextualismus einen
nicht-defaitistischen Vernunftbegriff Politische Tugenden, auch
und gegen den Rechtspositivismus ei-
nen nicht-dezisionistischen Begriff der wenn sie nur in kleiner
Rechtsgeltung zu verteidigen. Die zen- Münze „erhoben“ werden,
trale Aufgabe besteht darin zu erklären:
● warum der demokratische Prozess als
sind für den Bestand einer
ein Verfahren legitimer Rechtsetzung Demokratie wesentlich.
gilt: soweit er Bedingungen einer inklu-
siven und diskursiven Meinungs- und
Willensbildung erfüllt, begründet er eine nügsam, also aus den kognitiven Be-
Vermutung auf die rationale Akzeptabi- ständen eines von religiösen und meta-
lität der Ergebnisse; und physischen Überlieferungen unabhängi-
● warum sich Demokratie und Men- gen Argumentationshaushaltes bestrei-
schenrechte im Prozess der Verfas- ten kann. Auch unter dieser Prämisse
sungsgebung gleichursprünglich mitein- bleibt allerdings ein Zweifel in motiva-
ander verschränken: die rechtliche In- tionaler Hinsicht bestehen. Die norma-
Die beiden Kontrahenten sind nach den stitutionalisierung des Verfahrens de- tiven Bestandsvoraussetzungen des de-
Worten von Akademiedirektor und mokratischer Rechtsetzung erfordert die mokratischen Verfassungsstaates sind
Moderator Florian Schuller „eines der gleichzeitige Gewährleistung sowohl nämlich in Ansehung der Rolle von
aufregendsten Gesprächspaare, die man der liberalen wie der politischen Grund- Staatsbürgern, die sich als Autoren des
sich augenblicklich denken kann“ rechte.3 Rechts verstehen, anspruchsvoller als

zur debatte 1/2004


2
und Weltgesellschaft. Märkte, die ja
nicht wie staatliche Verwaltungen de-
mokratisiert werden können, überneh-
men zunehmend Steuerungsfunktionen
in Lebensbereichen, die bisher norma-
tiv, also entweder politisch oder über
vorpolitische Formen der Kommunika-
tion zusammengehalten worden sind.
Dadurch werden nicht nur private
Sphären in wachsendem Maße auf Me-
chanismen des erfolgsorientierten, an je
eigenen Präferenzen orientierten Han-
delns umgepolt; auch der Bereich, der
öffentlichen Legitimationszwängen
unterliegt, schrumpft. Verstärkt wird der
staatsbürgerliche Privatismus durch den

Der Katholizismus hat sich


bis in die 60er Jahre des
vergangenen Jahrhunderts
hinein mit dem säkularen
Denken von Humanismus,
Aufklärung und politischem
Liberalismus schwer getan.
entmutigenden Funktionsverlust einer
Konzentriert hört Kardinal Ratzinger demokratischen Meinungs- und Wil-
den philosophischen Ausführungen von lensbildung, die einstweilen nur in den
Professor Habermas zu nationalen Arenen halbwegs funktio-
niert und darum die auf supranationale
Ebenen verschobenen Entscheidungs-
prozesse nicht mehr erreicht. Auch die
im Hinblick auf die Rolle von Gesell- Der demokratisch verfasste Rechtsstaat Grundrechten in Gesinnungen Fuß fas- schwindende Hoffnung auf die politi-
schaftsbürgern, die Adressen des Rechts gewährleistet ja nicht nur negative Frei- sen sollen, genügt der kognitive Vor- sche Gestaltungskraft der internationa-
sind. Von den Rechtsadressaten wird heiten für die um ihr eigenes Wohl be- gang nicht. Nur für die Integration einer len Gemeinschaft fördert die Tendenz
nur erwartet, dass sie bei der Wahrneh- sorgten Gesellschaftsbürger; mit der verfassten Weltbürgergesellschaft (wenn zur Entpolitisierung der Bürger. Ange-
mung ihrer subjektiven Freiheiten (und Entbindung kommunikativer Freiheiten es sie denn eines Tages geben sollte) sichts der Konflikte und der schreien-
Ansprüche) die gesetzlichen Grenzen mobilisiert er auch die Teilnahme der würden moralische Einsicht und die den sozialen Ungerechtigkeiten einer in
nicht überschreiten. Anders als mit dem Staatsbürger am öffentlichen Streit über weltweite Übereinstimmung in der mo- hohem Maße fragmentierten Weltgesell-
Gehorsam gegenüber zwingenden Frei- Themen, die alle gemeinsam betreffen. ralischen Empörung über massive Men- schaft wächst die Enttäuschung mit je-
heitsgesetzen verhält es sich mit den Das vermisste „einigende Band“ ist ein schenrechtsverletzungen genügen. Un- dem weiteren Fehlschlag auf dem (nach
Motivationen und Einstellungen, die demokratischer Prozess, in dem letzt- ter Mitgliedern einer politischen Ge- 1945 zunächst eingeschlagenen) Wege
von Staatsbürgern in der Rolle demo- lich das richtige Verständnis der Verfas- meinschaft entsteht eine wie immer einer Konstitutionalisierung des Völker-
kratischer Mitgesetzgeber erwartet wer- sung zur Diskussion steht. auch abstrakte und rechtlich vermittelte rechts.
den. So geht es etwa in den aktuellen Aus- Solidarität erst dann, wenn die Gerech- Postmoderne Theorien begreifen die
Diese sollen ihre Kommunikations- und einandersetzungen über die Reform des tigkeitsprinzipien in das dichtere Ge- Krisen vernunftkritisch, nicht als Folge
Teilnahmerechte aktiv, und zwar nicht Wohlfahrtsstaates, über Einwande- flecht kultureller Wertorientierungen einer selektiven Ausschöpfung der in
nur im wohlverstandenen eigenen rungspolitik, den Krieg im Irak und die Eingang finden. der westlichen Moderne immerhin an-
Interesse, sondern gemeinwohlorien- Abschaffung der Wehrpflicht nicht nur gelegten Vernunftpotentiale, sondern als
tiert wahrnehmen. Das verlangt einen um einzelne policies, sondern immer 3. Nach den bisherigen Überlegungen logisches Ergebnis des Programms einer
kostspieligeren Motivationsaufwand, auch um die strittige Interpretation von weist die säkulare Natur des demokrati- selbstdestruktiven geistigen und gesell-
der legal nicht erzwungen werden kann. Verfassungsprinzipien – und implizit schen Verfassungsstaates keine dem po- schaftlichen Rationalisierung. Radikale
Eine Pflicht zur Wahlbeteiligung wäre darum, wie wir uns im Licht der Vielfalt litischen System als solchen innewoh- Vernunftskepsis ist zwar der katholi-
im demokratischen Rechtsstaat ebenso unserer kultureller Lebensweisen, des nende, also interne Schwäche auf, die schen Tradition von Haus aus fremd.
ein Fremdkörper wie verordnete Solida- Pluralismus unserer Weltanschauungen in kognitiver oder motivationaler Hin- Aber der Katholizismus hat sich bis in
rität. Die Bereitschaft, für fremde und und religiösen Überzeugungen, als Bür- sicht eine Selbststabilisierung gefährdet. die 60er Jahre des vergangenen Jahr-
anonym bleibende Mitbürger gegebe- ger der Bundesrepublik wie als Euro- Damit sind externe Gründe nicht ausge- hunderts hinein mit dem säkularen
nenfalls einzustehen und für allgemeine päer verstehen wollen. Gewiss, im hi- schlossen. Eine entgleisende Moderni- Denken von Humanismus, Aufklärung
Interessen Opfer in Kauf zu nehmen, storischen Rückblick waren ein gemein- sierung der Gesellschaft im ganzen und politischem Liberalismus schwer
darf Bürgern eines liberalen Gemeinwe- samer religiöser Hintergrund, eine ge- könnte sehr wohl das demokratische getan. So trifft das Theorem, dass einer
sens nur angesonnen werden. Deshalb meinsame Sprache, vor allem das neu Band mürbe machen und die Art von zerknirschten Moderne nur noch die re-
sind politische Tugenden, auch wenn sie geweckte Nationalbewusstsein für die Solidarität auszehren, auf die der demo- ligiöse Ausrichtung auf einen transzen-
nur in kleiner Münze „erhoben“ wer- Entstehung einer hoch abstrakten kratische Staat, ohne sie rechtlich er- denten Bezugspunkt aus der Sackgasse
den, für den Bestand einer Demokratie staatsbürgerlichen Solidarität hilfreich. zwingen zu können, angewiesen ist. verhelfen könne, auch heute wieder auf
wesentlich. Sie sind Sache der Soziali- Aber die republikanischen Gesinnungen Resonanz. In Teheran fragte mich ein
sation und der Eingewöhnung in die haben sich inzwischen von diesen vor- Kollege, ob nicht aus kulturvergleichen-
Praktiken und Denkweisen einer frei- politische Verankerungen weitgehend Eine entgleisende Moderni- der und religionssoziologischer Sicht
heitlichen politischen Kultur. Der gelöst – dass wir „für Nizza“ nicht zu sierung der Gesellschaft im die europäische Säkularisierung der ei-
Staatsbürgerstatus ist gewissermaßen in sterben bereit sind, ist eben kein Ein- gentliche Sonderweg sei, der einer Kor-
eine Zivilgesellschaft eingebettet, die wand mehr gegen eine europäische Ver- ganzen könnte sehr wohl rektur bedürfe. Das erinnert an die
aus spontanen, wenn Sie wollen „vor- fassung. Denken Sie an die politisch- das demokratische Band Stimmungslage der Weimarer Republik,
politischen“ Quellen lebt. ethischen Diskurse über Holocaust und an Carl Schmitt, Heidegger oder Leo
Daraus folgt noch nicht, dass der libera- Massenkriminalität: sie haben den Bür- mürbe machen und die Art Strauß.
le Staat unfähig ist, seine motivationa- gern der Bundesrepublik die Verfassung von Solidarität auszehren, Ich halte es für besser die Frage, ob sich
len Voraussetzungen aus eigenen säku- als Errungenschaft zu Bewusstsein ge- eine ambivalente Moderne allein aus
laren Beständen zu reproduzieren. Die bracht. Das Beispiel einer selbstkriti- auf die der demokratische säkularen Kräften einer kommunikati-
Motive für eine Teilnahme der Bürger schen (inzwischen keineswegs mehr ex- Staat angewiesen ist. ven Vernunft stabilisieren wird, nicht
an der politischen Meinungs- und Wil- zeptionellen, sondern auch in anderen vernunftkritisch auf die Spitze zu trei-
lensbildung zehren gewiss von ethi- Ländern verbreiteten) „Gedächtnispoli- ben, sondern undramatisch als eine of-
schen Lebensentwürfen und kulturellen tik“ zeigt, wie sich verfassungspatrioti- Dann würde genau jene Konstellation fene empirische Frage zu behandeln.
Lebensformen. Aber demokratische sche Bindungen im Medium der Politik eintreten, die Böckenförde im Auge hat: Damit möchte ich das Phänomen des
Praktiken entfalten eine eigene politi- selbst bilden und erneuern. Die Verwandlung der Bürger wohlha- Fortbestehens der Religion in einer sich
sche Dynamik. Nur ein Rechtsstaat Entgegen einem weit verbreiteten Miss- bender und friedlicher liberaler Gesell- weiterhin säkularisierenden Umgebung
ohne Demokratie, an den wir in verständnis heißt „Verfassungspatrio- schaften in vereinzelte, selbstinteressiert nicht als bloße soziale Tatsache ins
Deutschland lange genug gewöhnt wa- tismus“, dass sich Bürger die Prinzipien handelnde Monaden, die nur noch ihre Spiel bringen. Die Philosophie muss
ren, würde auf Böckenfördes Frage eine der Verfassung nicht allein in ihrem ab- subjektiven Rechte wie Waffen gegen- dieses Phänomen auch gleichsam von
negative Antwort suggerieren: „Wieweit strakten Gehalt, sondern aus dem ge- einander richten. Evidenzen für ein sol- innen als eine kognitive Herausforde-
können staatlich geeinte Völker allein schichtlichen Kontext ihrer jeweils eige- ches Abbröckeln der staatsbürgerlichen rung ernst nehmen. Bevor ich diesem
aus der Gewährleistung der Freiheit des nen nationalen Geschichte in ihrer kon- Solidarität zeigen sich im größeren Zu- Diskussionspfad folge, möchte ich aber
Einzelnen leben, ohne ein einigendes kreten Bedeutung zu eigen machen. sammenhang einer politisch unbe- eine naheliegende Abzweigung des Dia-
Band, das dieser Freiheit vorausliegt?“5 Wenn die moralischen Gehalte von herrschten Dynamik von Weltwirtschaft logs in andere Richtung erwähnen.

1/2004 zur debatte


3
Durch den Zug zur Radikalisierung der spekt, der mit dieser kognitiven Urteils- konservativ gewordene Bewusstsein Einfluss auf die Gesellschaft im ganzen
Vernunftkritik hat sich die Philosophie enthaltung Hand in Hand geht, gründet spiegelt sich in der Rede von der „post- auszuüben. Zwar sind die Folgelasten
auch zu einer Selbstreflexion auf ihre sich auf die Achtung vor Personen und säkularen Gesellschaft“7. der Toleranz, wie die mehr oder weni-
eigenen religiös-metaphysischen Ur- Lebensweisen, die ihre Integrität und Damit ist nicht nur die Tatsache ge- ger liberalen Abtreibungsregelungen
sprünge bewegen und gelegentlich in Authentizität ersichtlich aus religiösen meint, dass sich die Religion in einer zeigen, nicht symmetrisch auf Gläubige
Gespräche mit einer Theologie verwi- Überzeugungen schöpfen. Aber Respekt zunehmend säkularen Umgebung be- und Ungläubige verteilt; aber auch das
ckeln lassen, die ihrerseits an philoso- ist nicht alles, die Philosophie hat hauptet und dass die Gesellschaft bis säkulare Bewusstsein kommt nicht ko-
phische Versuche einer nachhegelschen Gründe, sich gegenüber religiösen auf weiteres mit dem Fortbestehen der stenlos in den Genuss der negativen Re-
Selbstreflexion der Vernunft Anschluss Überlieferungen lernbereit zu verhalten. Religionsgemeinschaften rechnet. Der ligionsfreiheit. Von ihm wird die Ein-
gesucht hat6. Ausdruck „postsäkular“ zollt den Reli- übung in einen selbstreflexiven Umgang
4. Im Gegensatz zur ethischen Enthalt- gionsgemeinschaften auch nicht nur öf- mit den Grenzen der Aufklärung erwar-
Exkurs. Anknüpfungspunkt für den samkeit eines nachmetaphysischen fentliche Anerkennung für den funktio- tet. Das Toleranzverständnis von liberal
philosophischen Diskurs über Vernunft Denkens, dem sich jeder generell ver- nalen Beitrag, den sie für die Reproduk- verfassten pluralistischen Gesellschaf-
und Offenbarung ist eine immer wieder- bindliche Begriff vom guten und exem- tion erwünschter Motive und Einstel- ten mutet nicht nur den Gläubigen im
kehrende Denkfigur: Die auf ihren tief- plarischen Leben entzieht, sind in heili- lungen leisten. Im öffentlichen Bewusst- Umgang mit Ungläubigen und Anders-
sten Grund reflektierende Vernunft ent- gen Schriften und religiösen Überliefe- sein einer postsäkularen Gesellschaft gläubigen die Einsicht zu, dass sie ver-
deckt ihren Ursprung aus einem Ande- rungen Intuitionen von Verfehlung und spiegelt sich vielmehr eine normative nünftigerweise mit dem Fortbestehen ei-
ren; und dessen schicksalhafte Macht Erlösung, vom rettenden Ausgang aus Einsicht, die für den politischen Um- nes Dissenses zu rechnen haben. Auf
muss sie anerkennen, wenn sie nicht in einem als heillos erfahrenen Leben arti- gang von ungläubigen mit gläubigen der anderen Seite wird dieselbe Einsicht
der Sackgasse hybrider Selbstbemächti- kuliert, über Jahrtausende hinweg subtil Bürgern Konsequenzen hat. In der post- im Rahmen einer liberalen politischen
gung ihre vernünftige Orientierung ver- ausbuchstabiert und hermeneutisch Kultur auch Ungläubigen im Umgang
lieren soll. Als Modell dient hier das wachgehalten worden. Deshalb kann im mit Gläubigen zugemutet.
Exerzitium einer aus eigener Kraft voll- Gemeindeleben der Religionsgemein- Säkularisierte Bürger dür- Für den religiös unmusikalischen Bür-
brachten, zumindest ausgelösten Um- schaften, sofern sie nur Dogmatismus fen, soweit sie in ihrer Rolle ger bedeutet das die keineswegs triviale
kehr, einer Konversion der Vernunft und Gewissenszwang vermeiden, etwas Aufforderung, das Verhältnis von Glau-
durch Vernunft – gleichviel, ob nun die intakt bleiben, was andernorts verloren als Staatsbürger auftreten, ben und Wissen aus der Perspektive des
Reflexion, wie bei Schleiermacher, am gegangen ist und mit dem professionel- den gläubigen Mitbürgern Weltwissens selbstkritisch zu bestim-
Selbstbewusstsein des erkennenden und len Wissen von Experten allein auch men. Die Erwartung einer fortdauern-
handelnden Subjekts ansetzt oder, wie nicht wiederhergestellt werden kann – nicht das Recht abstreiten, den Nicht-Übereinstimmung von Glau-
bei Kierkegaard, an der Geschichtlich- ich meine hinreichend differenzierte in religiöser Sprache Beiträ- ben und Wissen verdient nämlich nur
keit der je eigenen existenziellen Selbst- Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibi- dann das Prädikat „vernünftig“, wenn
vergewisserung oder, wie bei Hegel, litäten für verfehltes Leben, für gesell- ge zu öffentlichen Diskus- religiösen Überzeugungen auch aus der
Feuerbach und Marx, an der provokati- schaftliche Pathologien, für das Misslin- sionen zu machen. Sicht des säkularen Wissens ein episte-
ven Zerrissenheit sittlicher Verhältnisse. gen individueller Lebensentwürfe und mischer Status zugestanden wird, der
Ohne anfänglich theologische Absicht die Deformation entstellter Lebenszu- nicht schlechthin irrational ist. In der
überschreitet sich eine ihrer Grenzen sammenhänge. Aus der Asymmetrie der säkularen Gesellschaft setzt sich die Er- politischen Öffentlichkeit genießen des-
inne werdende Vernunft auf ein Ande- epistemischen Ansprüche lässt sich eine kenntnis durch, dass die „Modernisie- halb naturalistische Weltbilder, die sich
res hin: sei es in der mystischen Ver- Lernbereitschaft der Philosophie gegen- rung des öffentlichen Bewusstseins“ einer spekulativen Verarbeitung wissen-
schmelzung mit einem kosmisch um- über der Religion begründen, und zwar phasenverschoben religiöse wie weltli- schaftlicher Informationen verdanken
greifenden Bewusstsein oder in der ver- nicht aus funktionalen, sondern – in Er- che Mentalitäten erfasst und reflexiv und für das ethische Selbstverständnis
zweifelnden Hoffnung auf das histori- innerung ihrer erfolgreichen „hegeliani- verändert. Beide Seiten können, wenn der Bürger relevant sind,9 keineswegs
sche Ereignis einer erlösenden Bot- schen“ Lernprozesse – aus inhaltlichen sie die Säkularisierung der Gesellschaft prima facie Vorrang vor konkurrieren-
schaft oder in Gestalt einer vorandrän- Gründen. gemeinsam als einen komplementären den weltanschaulichen oder religiösen
genden Solidarität mit den Erniedrigten Die gegenseitige Durchdringung von Lernprozess begreifen, ihre Beiträge zu Auffassungen.
und Beleidigten, die das messianische Christentum und griechischer Metaphy- kontroversen Themen in der Öffentlich- Die weltanschauliche Neutralität der
Heil beschleunigen will. Diese anony- sik hat ja nicht nur die geistige Gestalt keit dann auch aus kognitiven Gründen Staatsgewalt, die gleiche ethische Frei-
men Götter der nachhegelschen Meta- theologischer Dogmatik und eine – gegenseitig ernstnehmen. heiten für jeden Bürger garantiert, ist
physik – das umgreifende Bewusstsein, nicht in jeder Hinsicht segensreiche – unvereinbar mit der politischen Verall-
das unvordenkliche Ereignis, die nicht-- Hellenisierung des Christentums her- 5. Auf der einen Seite ist das religiöse gemeinerung einer säkularistischen
vorgebracht. Sie hat auf der anderen Bewusstsein zu Anpassungsprozessen Weltsicht. Säkularisierte Bürger dürfen,
Seite auch eine Aneignung genuin genötigt worden. Jede Religion ist ur- soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger
Im Gemeindeleben der christlicher Gehalte durch die Philoso- sprünglich „Weltbild“ oder „comprehen- auftreten, weder religiösen Weltbildern
Religionsgemeinschaften, phie gefördert. Diese Aneignungsarbeit sive doctrine“ auch in dem Sinne, dass grundsätzlich ein Wahrheitspotential
hat sich in schwer beladenen normati- sie die Autorität beansprucht, eine Le- absprechen, noch den gläubigen Mit-
sofern sie nur Dogmatismus ven Begriffsnetzen wie Verantwortung, bensform im ganzen zu strukturieren. bürgern das Recht bestreiten, in religiö-
und Gewissenszwang ver- Autonomie und Rechtfertigung, wie Ge- Diesen Anspruch auf Interpretations- ser Sprache Beiträge zu öffentlichen
schichte und Erinnerung, Neubeginnen, monopol und umfassende Lebensgestal- Diskussionen zu machen. Eine liberale
meiden, kann etwas intakt Innovation und Wiederkehr, wie Eman- tung musste die Religion unter Bedin- politische Kultur kann sogar von den
bleiben, was anderswo ver- zipation und Erfüllung, wie Entäuße- gungen der Säkularisierung des Wis- säkularisierten Bürgern erwarten, dass
rung, Verinnerlichung und Verkörpe- sens, der Neutralisierung der Staatsge- sie sich an Anstrengungen beteiligen,
loren gegangen ist. rung, Individualität und Gemeinschaft walt und der verallgemeinerten Reli- relevante Beiträge aus der religiösen in
niedergeschlagen. Sie hat den ursprüng- gionsfreiheit aufgeben. Mit der funktio- eine öffentlich zugängliche Sprache zu
entfremdete Gesellschaft – sind für die lich religiösen Sinn zwar transformiert, nalen Ausdifferenzierung gesellschaft- übersetzen.10 
Theologie leichte Beute. Sie bieten sich aber nicht auf eine entleerende Weise licher Teilsysteme trennt sich auch das
dazu an, als Pseudonyme der Dreifaltig- deflationiert und aufgezehrt. Die Über- Leben der religiösen Gemeinde von ih-
keit des sich selbst mitteilenden persön- setzung der Gottesebenbildlichkeit des ren sozialen Umgebungen. Die Rolle
lichen Gottes dechiffriert zu werden. Menschen in die gleiche und unbedingt des Gemeindemitglieds differenziert 1 E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des
Staates als Vorgang der Säkularisation
Diese Versuche zur Erneuerung einer zu achtende Würde aller Menschen ist sich von der des Gesellschaftsbürgers. (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit,
philosophischen Theologie nach Hegel eine solche rettende Übersetzung. Sie Und da der liberale Staat auf eine politi- Frankfurt/Main 1991, 92 ff. hier 112.
sind immer noch sympathischer als je- erschließt den Gehalt biblischer Begriffe sche Integration der Bürger, die über ei- 2 J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen,
ner Nietzscheanismus, der sich die über die Grenzen einer Religionsge- nen bloßen modus vivendi hinausgeht, Frankfurt/Main 1996.
3 J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frank-
christlichen Konnotationen von Hören meinschaft hinaus dem allgemeinen Pu- angewiesen ist, darf sich diese Differen- furt/Main 1992, Kap. III.
und Vernehmen, Andacht und Gnaden- blikum von Andersgläubigen und Un- zierung der Mitgliedschaften nicht in ei- 4 H. Brunkhorst, Der lange Schatten des
erwartung, Ankunft und Ereignis bloß gläubigen. Benjamin war einer, dem sol- ner kognitiv anspruchslosen Anpassung Staatswillenspositivismus, Leviathan, 31,
ausleiht, um ein propositional entkern- che Übersetzungen manchmal gelangen. des religiösen Ethos an auferlegte Ge- 2003, 362-381.
5 Böckenförde (1991), 111.
tes Denken hinter Christus und Sokra- Aufgrund dieser Erfahrung der säkulari- setze der säkularen Gesellschaft er- 6 P. Neuner, G. Wenz (Hg.), Theologen des
tes ins unbestimmt Archaische zurück- sierenden Entbindung religiös verkap- schöpfen. Vielmehr müssen die univer- 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2002.
zurufen. Demgegenüber besteht eine selter Bedeutungspotentiale können wir salistische Rechtsordnung und die egali- 7 K. Eder, Europäische Säkularisierung – ein
Philosophie, die sich ihrer Fehlbarkeit dem Böckenförde-Theorem einen un- täre Gesellschaftsmoral von innen so an Sonderweg in die postsäkulare Gesellschaft?
Berliner Journ.f.Soziologie, H.3 2002,
und ihrer fragilen Stellung innerhalb verfänglichen Sinn geben. Ich habe die das Gemeindeethos angeschlossen wer- 331–343.
des differenzierten Gehäuses der mo- Diagnose erwähnt, wonach die in der den, dass eins aus dem anderen konsi- 8 J. Rawls, Politischer Liberalismus, Frank-
dernen Gesellschaft bewusst ist, auf der Moderne eingespielte Balance zwischen stent hervorgeht. Für diese „Einbettung“ furt/Main 1998, 76 ff.
generischen, aber keineswegs pejorativ den drei großen Medien der gesell- hat John Rawls das Bild eines Moduls 9 Als Beispiel W. Singer, Keiner kann anders
sein, als er ist. Verschaltungen legen uns fest:
gemeinten Unterscheidung zwischen schaftlichen Integration in Gefahr gerät, gewählt: dieses Modul der weltlichen Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden,
der säkularen, ihrem Anspruch nach weil Märkte und administrative Macht Gerechtigkeit soll, obgleich es mithilfe Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Janu-
allgemein zugänglichen, und der religiö- die gesellschaftliche Solidarität, also weltanschaulich neutraler Gründe kon- ar 2004, 33.
sen, von Offenbarungswahrheiten ab- eine Handlungskoordinierung über struiert worden ist, in die jeweils ortho- 10 J. Habermas, Glauben und Wissen, Frank-
furt/Main, 2001.
hängigen Rede. Anders als bei Kant und Werte, Normen und verständigungs- doxen Begründungszusammenhänge
Hegel verbindet sich diese grammati- orientierten Sprachgebrauch aus immer hineinpassen.8
sche Grenzziehung nicht mit dem mehr Lebensbereichen verdrängt. So Diese normative Erwartung, mit der der
philosophischen Anspruch, selber zu liegt es auch im eigenen Interesse des liberale Staat die religiösen Gemeinden
bestimmen, was von den Gehalten reli- Verfassungsstaates, mit allen kulturellen konfrontiert, trifft sich mit deren eige-
giöser Traditionen – über das ge-sell- Quellen schonend umzugehen, aus de- nen Interessen insofern, als sich diesen
schaftlich institutionalisierte Weltwissen nen sich das Normbewusstsein und die damit die Möglichkeit eröffnet, über die
hinaus – wahr oder falsch ist. Der Re- Solidarität von Bürgern speist. Dieses politische Öffentlichkeit einen eigenen

zur debatte 1/2004


4
Stellungnahme
Joseph Kardinal Ratzinger
In der Beschleunigung des Tempos der
geschichtlichen Entwicklungen, in der
wir stehen, treten, wie mir scheint, vor
allem zwei Faktoren als Kennzeichen
einer vordem nur langsam anlaufenden
Entwicklung hervor: Da ist zum einen
die Ausbildung einer Weltgesellschaft,
in der die einzelnen politischen, wirt-
schaftlichen und kulturellen Mächte im-
mer mehr gegenseitig aufeinander ver-
wiesen sind und in ihren verschiedenen
Lebensräumen sich gegenseitig berüh-
ren und durchdringen. Das andere ist
die Entwicklung von Möglichkeiten des
Menschen, von Macht des Machens
und des Zerstörens, die weit über alles
bisher Gewohnte hinaus die Frage nach
der rechtlichen und sittlichen Kontrolle
der Macht aufwerfen. So ist die Frage
von hoher Dringlichkeit, wie die sich
begegnenden Kulturen ethische Grund-
lagen finden können, die ihr Miteinan-
der auf den rechten Weg führen und
eine gemeinsame rechtlich verantworte-
te Gestalt der Bändigung und Ordnung
der Macht aufbauen können.
Dass das von Hans Küng vorgetragene
Projekt „Weltethos“ einen solchen Zu-
spruch findet, zeigt auf jeden Fall an,
dass die Frage aufgerichtet ist. Das gilt
auch dann, wenn man die scharfsichtige Bei der Antwort von Kardinal Ratzinger
Kritik akzeptiert, die Robert Spaemann wird deutlich, wie sehr das Gespräch
an diesem Projekt geübt hat.1 Denn zu der beiden Geisteswissenschaftler von
den beiden genannten Faktoren tritt ein Respekt und Leidenschaft geprägt ist
dritter: Im Prozess der Begegnung und
Durchdringung der Kulturen sind ethi-
mit denen es oft vermengt ist, und so jedenfalls, durch die Instrumente demo- bleibt, oder umgekehrt auch das, was
den Blick auf das Ganze, auf die weite- kratischer Willensbildung gelöst, weil seinem Wesen nach unverrückbar Recht
Es gibt eine Verantwortung ren Dimensionen der Wirklichkeit des darin alle am Entstehen des Rechtes ist, das jeder Mehrheitsentscheidung
der Wissenschaft um den Menschseins offen zu halten, von dem mitwirken und daher es Recht aller ist vorausgeht und von ihr respektiert wer-
sich in der Wissenschaft immer nur Teil- und als solches geachtet werden kann den muss.
Menschen als Menschen, aspekte zeigen können. und muss. In der Tat ist die Gewähr der Die Neuzeit hat einen Bestand solcher
und besonders eine Verant- gemeinsamen Mitwirkung an der normativer Elemente in den verschiede-
Macht und Recht Rechtsgestaltung und an der gerechten nen Menschenrechtserklärungen formu-
wortung der Philosophie, Verwaltung der Macht der wesentliche liert und sie dem Spiel der Mehrheiten
die Entwicklung der einzel- Konkret ist es die Aufgabe der Politik, Grund, der für die Demokratie als die entzogen. Nun mag man sich im gegen-
Macht unter das Maß des Rechtes zu angemessenste Form politischer Ord- wärtigen Bewusstsein mit der inneren
nen Wissenschaften kritisch stellen und so ihren sinnvollen Ge- nung spricht. Evidenz dieser Werte begnügen. Aber
zu begleiten. brauch zu ordnen. Nicht das Recht des Trotzdem, so scheint mir, bleibt noch auch eine solche Selbstbeschränkung
Stärkeren, sondern die Stärke des eine Frage übrig. Da es Einstimmigkeit des Fragens hat philosophischen Cha-
Rechts muss gelten. Macht in der Ord- unter Menschen schwerlich gibt, bleibt rakter. Es gibt also in sich stehende
sche Gewissheiten weithin zerbrochen, nung und im Dienst des Rechtes ist der der demokratischen Willensbildung als Werte, die aus dem Wesen des Mensch-
die bisher tragend waren. Die Frage, Gegenpol zur Gewalt, unter der wir unerlässliches Instrument nur zum ei- seins folgen und daher für alle Inhaber
was nun eigentlich, zumal in dem gege- rechtlose und rechtswidrige Macht ver- nen die Delegation, zum anderen die dieses Wesens unantastbar sind. Auf die
benen Kontext, das Gute sei, und wa- stehen. Deswegen ist es für jede Gesell- Mehrheitsentscheidung übrig, wobei je Reichweite einer solchen Vorstellung
rum man es, auch selbst zum eigenen schaft wichtig, die Verdächtigung des nach der Wichtigkeit der Frage unter- werden wir später noch einmal zurück-
Schaden, tun müsse, diese Grundfrage Rechts und seiner Ordnungen zu über- schiedliche Größenordnungen für die kommen müssen, zumal diese Evidenz
steht weithin ohne Antwort da. winden, weil nur so Willkür gebannt Mehrheit verlangt werden können. heute keineswegs in allen Kulturen an-
Nun scheint mir offenkundig, dass die und Freiheit als gemeinsam geteilte Aber auch Mehrheiten können blind erkannt ist. Der Islam hat einen eige-
Wissenschaft als solche Ethos nicht her- Freiheit gelebt werden kann. Die recht- oder ungerecht sein. Die Geschichte nen, vom westlichen abweichenden Ka-
vorbringen kann, dass also ein erneuer- lose Freiheit ist Anarchie und darum zeigt es überdeutlich. Wenn eine noch talog der Menschenrechte definiert.
tes ethisches Bewusstsein nicht als Pro- Freiheitszerstörung. Der Verdacht gegen so große Mehrheit eine Minderheit, China ist zwar heute von einer im West-
dukt wissenschaftlicher Debatten zu- das Recht, die Revolte gegen das Recht en entstandenen Kulturform, dem Mar-
stande kommt. Andererseits ist doch wird immer dann aufbrechen, wenn das xismus, bestimmt, stellt aber, soweit ich
auch unbestreitbar, dass die grundlegen- Recht selbst nicht mehr als Ausdruck ei- Zum Teil wird terroristi- informiert bin, doch die Frage, ob es
de Veränderung des Welt- und Men- ner im Dienst aller stehenden Gerech- sches Verhalten als Verteidi- sich bei den Menschenrechten nicht um
schenbildes, die sich aus den wachsen- tigkeit erscheint, sondern als Produkt eine typisch westliche Erfindung hande-
den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Willkür, als Rechtsanmaßung derer, gung religiöser Tradition ge- le, die hinterfragt werden müsse.
ergeben hat, wesentlich am Zerbrechen die die Macht dazu haben. gen die Gottlosigkeit der
alter moralischer Gewissheiten beteiligt Die Aufgabe, Macht unter das Maß des Neue Formen der Macht und neue
ist. Insofern gibt es nun doch eine Ver- Rechtes zu stellen, verweist daher auf westlichen Gesellschaft dar- Fragen nach ihrer Bewältigung
antwortung der Wissenschaft um den die weitere Frage: Wie entsteht Recht, gestellt.
Menschen als Menschen, und be- und wie muss Recht beschaffen sein, Wenn es um das Verhältnis von Macht
sonders eine Verantwortung der Philo- damit es Vehikel der Gerechtigkeit und und Recht und um die Quellen des
sophie, die Entwicklung der einzelnen nicht Privileg derer ist, die die Macht etwa eine religiöse oder rassische, durch Rechts geht, muss auch das Phänomen
Wissenschaften kritisch zu begleiten, haben, Recht zu setzen? Es ist einerseits oppressive Gesetze unterdrückt, kann der Macht selbst näher in den Blick ge-
voreilige Schlussfolgerungen und die Frage nach dem Werden des Rechts man da noch von Gerechtigkeit, von nommen werden. Ich möchte nicht ver-
Scheingewissheiten darüber, was der gestellt, aber andererseits auch die Fra- Recht überhaupt, sprechen? So lässt suchen, das Wesen von Macht als sol-
Mensch sei, woher er komme und wozu ge nach seinen eigenen inneren Maßen. das Mehrheitsprinzip immer noch die cher zu definieren, sondern die Heraus-
er existiere, kritisch zu durchleuchten, Das Problem, dass Recht nicht Macht- Frage nach den ethischen Grundlagen forderungen skizzieren, die aus den
oder, anders gesagt, das nichtwissen- instrument weniger, sondern Ausdruck des Rechts übrig, die Frage, ob es nicht neuen Formen von Macht resultieren,
schaftliche Element aus den wissen- des gemeinsamen Interesses aller sein das gibt, was nie Recht werden kann, die sich im letzten halben Jahrhundert
schaftlichen Ergebnissen auszuscheiden, muss, dieses Problem scheint, fürs erste also das, was immer in sich Unrecht entwickelt haben. In der ersten Periode

1/2004 zur debatte


5
der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dung, als nötiger Fortschritt der zieht. Nun begegnet man Völkern, die te, jedenfalls in der Neuzeit, sind die
war das Erschrecken vor der neuen Menschheit anzusehen, damit sie auf nicht dem christlichen Glaubens- und Menschenrechte stehen geblieben. Sie
Zerstörungsmacht dominierend, die den Weg der Freiheit und der universa- Rechtsgefüge zugehören, das bisher die sind nicht verständlich ohne die Vo-
dem Menschen mit der Erfindung der len Toleranz kommt, oder nicht? Quelle des Rechts für alle war und ihm raussetzung, dass der Mensch als
Atombombe zugewachsen war. Der Inzwischen ist eine andere Form von seine Gestalt gab. Es gibt keine Rechts- Mensch, einfach durch seine Zugehörig-
Mensch sah sich plötzlich imstande, Macht in den Vordergrund gerückt, die gemeinsamkeit mit diesen Völkern. keit zur Spezies Mensch, Subjekt von
sich selbst und seine Erde zu zerstören. zunächst rein wohltätig und allen Bei- Aber sind sie dann rechtlos, wie man- Rechten ist, dass sein Sein selbst Werte
Es erhob sich die Frage: Welche politi- falls würdig zu sein scheint, in Wirklich- che damals behaupteten und wie es und Normen in sich trägt, die zu finden,
schen Mechanismen sind nötig, um die- keit aber zu einer neuen Art von Bedro- weithin praktiziert wurde, oder gibt es aber nicht zu erfinden sind. Vielleicht
se Zerstörung zu bannen? Wie können hung des Menschen werden kann. Der ein Recht, das alle Rechtssysteme über- müsste heute die Lehre von den Men-
solche Mechanismen gefunden und schreitet, Menschen als Menschen in ih- schenrechten um eine Lehre von den
wirksam gemacht werden? Wie können rem Zueinander bindet und weist? Menschenpflichten und von den Gren-
ethische Kräfte mobilisiert werden, die Vielleicht müsste heute die Francisco de Vitoria hat in dieser Situa- zen des Menschen ergänzt werden, und
solche politischen Formen gestalten Lehre von den Menschen- tion die Idee des „ius gentium“, des das könnte nun doch die Frage erneu-
und ihnen Wirksamkeit verleihen? De „Rechts der Völker“, die schon im ern helfen, ob es nicht eine Vernunft
facto war es dann über eine lange Peri- rechten um eine Lehre von Raum stand, entwickelt, wobei in dem der Natur und so ein Vernunftrecht für
ode hin die Konkurrenz der einander den Menschenpflichten und Wort „gentes“ die Bedeutung Heiden, den Menschen und sein Stehen in der
entgegengesetzten Machtblöcke und die Nichtchristen, mitschwingt. Gemeint ist Welt geben könne. Ein solches Ge-
Furcht, mit der Zerstörung des anderen von den Grenzen des Men- also das Recht, das der christlichen spräch müsste heute interkulturell aus-
die eigene Zerstörung einzuleiten, die schen ergänzt werden. Rechtsgestalt vorausliegt und ein rech- gelegt und angelegt werden. Für Chri-
uns vor den Schrecken des Atomkrieges tes Miteinander aller Völker zu ordnen sten hätte es mit der Schöpfung und
bewahrt haben. Die gegenseitige Be- hat. dem Schöpfer zu tun. In der indischen
grenzung der Macht und die Furcht um Mensch ist nun imstande, Menschen zu Der zweite Bruch in der christlichen Welt entspräche dem der Begriff des
das eigene Überleben erwiesen sich als machen, sie sozusagen im Reagenzglas Welt vollzog sich innerhalb der Chri- „Dharma“, der inneren Gesetzlichkeit
die rettenden Kräfte. zu produzieren. Der Mensch wird zum stenheit selbst durch die Glaubensspal- des Seins, in der chinesischen Überliefe-
Inzwischen beängstigt uns nicht mehr Produkt, und damit verändert sich das tung, durch die die Gemeinschaft der rung die Idee der Ordnungen des Him-
so sehr die Furcht vor dem großen Verhältnis des Menschen zu sich selbst Christen in einander – zum Teil feind- mels.
Krieg, sondern die Furcht vor dem all- von Grund auf. Er ist nicht mehr ein selig – gegenüberstehende Gemein-
gegenwärtigen Terror, der an einer jeder Geschenk der Natur oder des Schöp- schaften aufgefächert worden ist. Interkulturalität und ihre Folgen
Stelle zuschlagen und wirksam werden fergottes; er ist sein eigenes Produkt. Wiederum ist ein dem Dogma vorausge-
kann. Die Menschheit, so sehen wir Der Mensch ist in die Brunnenstube der hendes gemeinsames Recht, wenigstens Bevor ich versuche, zu Schlussfolgerun-
jetzt, braucht gar nicht den großen Macht hinuntergestiegen, an die Quell- ein Rechtsminimum, zu entwickeln, gen zu kommen, möchte ich die eben
Krieg, um die Welt unlebbar zu machen. orte seiner eigenen Existenz. Die Versu- dessen Grundlagen nun nicht mehr im gelegte Spur noch ein wenig ausweiten.
Die anonymen Mächte des Terrors, die chung, nun erst den rechten Menschen Glauben, sondern in der Natur, in der Interkulturalität erscheint mir heute
an allen Orten präsent sein können, zu konstruieren, die Versuchung, mit Vernunft des Menschen liegen müssen. eine unerlässliche Dimension für die
Menschen zu experimentieren, die Ver- Hugo Grotius, Samuel von Pufendorf Diskussion um die Grundfragen des
suchung, Menschen als Müll anzusehen und andere haben die Idee des Natur- Menschseins zu bilden, die weder rein
Müsste nicht die Vernunft und zu beseitigen, ist kein Hirngespinst rechts als eines Vernunftrechts entwik- binnenchristlich noch rein innerhalb
unter Aufsicht gestellt wer- fortschrittsfeindlicher Moralisten. kelt, das über Glaubensgrenzen hinweg der abendländischen Vernunfttradition
Wenn sich uns vorhin die Frage auf- die Vernunft als das Organ gemeinsa- geführt werden kann. Beide sehen sich
den? Aber durch wen oder drängte, ob die Religion eigentlich eine mer Rechtsbildung in Kraft setzt. zwar ihrem Selbstverständnis nach für
was? Oder sollten vielleicht positive moralische Kraft sei, so muss Das Naturrecht ist – besonders in der universal an und mögen es de iure auch
nun der Zweifel an der Verlässlichkeit katholischen Kirche – die Argumenta- sein. De facto müssen sie anerkennen,
Religion und Vernunft sich der Vernunft aufsteigen. Schließlich ist tionsfigur geblieben, mit der sie in den dass sie nur in Teilen der Menschheit
gegenseitig begrenzen und ja auch die Atombombe ein Produkt der Gesprächen mit der säkularen Gesell- angenommen und auch nur in Teilen
Vernunft; schließlich sind Menschen- schaft und mit anderen Glaubensge- der Menschheit verständlich sind. Die
je in ihre eigenen Schranken züchtung und -selektion von der Ver- meinschaften an die gemeinsame Ver-
weisen? nunft ersonnen worden. Müsste also nunft appelliert und die Grundlagen für
Es gibt nicht nur Patholo-
jetzt nicht umgekehrt die Vernunft un- eine Verständigung über die ethischen
ter Aufsicht gestellt werden? Aber Prinzipien des Rechts in einer säkularen gien in der Religion, die
sind stark genug, um alle bis in den All- durch wen oder was? Oder sollten viel- pluralistischen Gesellschaft sucht. Aber
tag hinein zu verfolgen, wobei das Ge- leicht Religion und Vernunft sich gegen- dieses Instrument ist leider stumpf ge- höchst gefährlich sind, son-
spenst bleibt, dass verbrecherische Ele- seitig begrenzen und je in ihre Schran- worden, und ich möchte mich daher in dern auch eine Hybris der
mente sich Zugang zu den großen Po- ken weisen und auf ihren positiven Weg diesem Gespräch nicht darauf stützen.
tentialen der Zerstörung schaffen und bringen? An dieser Stelle steht erneut Die Idee des Naturrechts setzte einen
Vernunft, die von ihrer po-
so außerhalb der Ordnung der Politik die Frage auf, wie in einer Weltgesell- Begriff von Natur voraus, in dem Natur tentiellen Effizienz her noch
die Welt dem Chaos ausliefern könnten. schaft mit ihren Mechanismen der und Vernunft ineinander greifen, die
So hat sich die Frage nach dem Recht Macht und mit ihren ungebändigten Natur selbst vernünftig ist. Diese Sicht
bedrohlicher ist.
und nach dem Ethos verschoben: Aus Kräften wie mit ihren verschiedenen von Natur ist mit dem Sieg der Evolu-
welchen Quellen speist sich der Terror? Sichten dessen, was Recht und was Mo- tionstheorie zu Bruche gegangen. Die Zahl der konkurrierenden Kulturen ist
Wie kann es gelingen, diese neue Er- ral ist, eine wirksame ethische Evidenz Natur als solche sei nicht vernünftig, freilich viel begrenzter, als es auf den er-
krankung der Menschheit von innen gefunden werden kann, die Motiva- auch wenn es in ihr vernünftiges Ver- sten Blick scheinen mag.
her zu bannen? Dabei ist erschreckend, tions- und Durchsetzungskraft genug halten gibt: Das ist die Diagnose, die Vor allem ist wichtig, dass es innerhalb
dass sich wenigstens teilweise der Ter- hat, um auf die angedeuteten Heraus- uns von dort gestellt wird und die heute der kulturellen Räume keine Einheit-
ror moralisch legitimiert. Die Botschaf- forderungen zu antworten und sie be- weithin unwidersprechlich scheint.2 Von lichkeit mehr gibt, sondern dass alle
ten von Bin Laden präsentieren den stehen zu helfen. den verschiedenen Dimensionen des kulturellen Räume durch tiefgreifende
Terror als die Antwort der machtlosen Naturbegriffs, die dem ehemaligen Na- Spannungen innerhalb ihrer eigenen
und unterdrückten Völker auf den Voraussetzungen des Rechts: Recht – turrecht zugrunde lagen, ist so nur die- kulturellen Tradition geprägt sind. Im
Hochmut der Mächtigen, als die gerech- Natur – Vernunft jenige übrig geblieben, die Ulpian (frü- Westen ist das ganz offenkundig. Auch
te Strafe für ihre Anmaßung und für hes 3. Jahrhundert nach Christus) in wenn die säkulare Kultur einer strengen
ihre gotteslästerliche Selbstherrlichkeit Zunächst legt sich ein Blick in ge- den bekannten Satz fasste: „Ius naturae Rationalität, von der uns Herr Haber-
und Grausamkeit. Für die Menschen in schichtliche Situationen nahe, die der est, quod natura omnia animalia mas ein eindrucksvolles Bild gegeben
bestimmten sozialen und politischen Si- unseren vergleichbar sind, soweit es hat, weithin dominant ist und sich als
tuationen sind solche Motivationen of- Vergleichbares gibt. Immerhin lohnt das Verbindende versteht, ist das christ-
fensichtlich überzeugend. Zum Teil wird sich ein ganz kurzer Blick darauf, dass Die rationale oder die ethi- liche Verständnis der Wirklichkeit nach
terroristisches Verhalten als Verteidi- Griechenland seine Aufklärung kannte, sche oder die religiöse Welt- wie vor eine wirksame Kraft. Beide Pole
gung religiöser Tradition gegen die dass das götterbegründete Recht seine stehen in unterschiedlicher Nähe oder
Gottlosigkeit der westlichen Gesell- Evidenz verlor und nach tieferen Grün- formel, auf die sich alle ei- Spannung, in gegenseitiger Lernbereit-
schaft dargestellt. den des Rechts gefragt werden musste. nigen, und die das Ganze schaft oder in mehr oder weniger ent-
An dieser Stelle steht eine Frage auf, auf So kam der Gedanke auf: Gegenüber schiedener Abweisung zueinander.
die wir ebenfalls zurückkommen müs- dem gesetzten Recht, das Unrecht sein
tragen könnte, gibt es nicht. Auch der islamische Kulturraum ist von
sen: Wenn Terrorismus auch durch reli- kann, muss es doch ein Recht geben, Jedenfalls ist sie gegenwär- ähnlichen Spannungen geprägt; vom fa-
giösen Fanatismus gespeist wird – und das aus der Natur, dem Sein des Men- natischen Absolutismus eines Bin La-
er wird es –, ist dann Religion eine hei- schen selbst folgt. Dieses Recht muss
tig unerreichbar. den bis zu den Haltungen, die einer to-
lende und rettende, oder nicht eher eine gefunden werden und bildet dann das leranten Rationalität offen stehen,
archaische und gefährliche Macht, die Korrektiv zum positiven Recht. docet.“3 Aber das gerade reicht für unse- reicht ein weiter Bogen. Der dritte gro-
falsche Universalismen aufbaut und da- Uns näher liegend ist der Blick auf den re Fragen nicht aus, in denen es eben ße Kulturraum, die indische Kultur,
durch zu Intoleranz und Terror verlei- doppelten Bruch, der zu Beginn der nicht um das geht, was alle „animalia“ oder besser, die Kulturräume des Hin-
tet? Muss da nicht Religion unter das Neuzeit für das europäische Bewusst- betrifft, sondern um spezifisch mensch- duismus und des Buddhismus, sind
Kuratel der Vernunft gestellt und sorg- sein eingetreten ist und zu den Grund- liche Aufgaben, die die Vernunft des wiederum von ähnlichen Spannungen
sam eingegrenzt werden? Dabei erhebt lagen neuer Reflexion über Inhalt und Menschen geschaffen hat und die ohne geprägt, auch wenn sie, jedenfalls für
sich dann freilich die Frage: Wer kann Quelle des Rechts nötigte. Da ist zuerst Vernunft nicht beantwortet werden unseren Blick, weniger dramatisch her-
das? Wie macht man das? Aber die ge- der Ausbruch aus den Grenzen der eu- können. vortreten. Auch diese Kulturen sehen
nerelle Frage bleibt: Ist die allmähliche ropäischen, der christlichen Welt, der Als letztes Element des Naturrechts, das sich sowohl dem Anspruch der west-
Aufhebung der Religion, ihre Überwin- sich mit der Entdeckung Amerikas voll- im Tiefsten ein Vernunftrecht sein woll- lichen Rationalität wie den Anfragen

zur debatte 1/2004


6
des christlichen Glaubens ausgesetzt, tiellen Effizienz her noch bedrohlicher
die beide darin präsent sind; sie assimi- ist: Atombombe, Mensch als Produkt.
lieren das eine wie das andere in unter- Deswegen muss umgekehrt auch die
schiedlichen Weisen und suchen dabei Vernunft an ihre Grenzen gemahnt wer-
doch ihre eigene Identität zu wahren. den und Hörbereitschaft gegenüber den
Die Stammeskulturen Afrikas und die großen religiösen Überlieferungen der
von bestimmten christlichen Theologien Menschheit lernen. Wenn sie sich völlig Der Beitrag der Katholischen Nach-
wieder wachgerufenen Stammeskultu- emanzipiert und diese Lernbereitschaft, richten Agentur (KNA) erschien am
ren Lateinamerikas ergänzen das Bild. diese Korrelationalität ablegt, wird sie 21. Januar 2004 und wurde in Tages-
Sie erscheinen weithin als Infragestel- zerstörerisch. und Wochenzeitungen nachgedruckt
lung der westlichen Rationalität, aber Kurt Hübner hat kürzlich eine ähnliche
auch als Infragestellung des universalen Forderung formuliert und gesagt, es
Anspruchs der christlichen Offenba- gehe bei einer solchen These unmittel-
rung. bar nicht um „Rückkehr zum Glauben“, Braucht der Staat Moral?
Was folgt aus alledem? Zunächst ein- sondern darum, „dass man sich von der
mal, so scheint mir, die faktische Nicht- epochalen Verblendung befreit, er (d. h. Helmut S. Ruppert
universalität der beiden großen Kultu- der Glaube) habe dem heutigen Men-
ren des Westens, der Kultur des christ- schen deswegen nichts mehr zu sagen,
lichen Glaubens wie derjenigen der sä- weil er seiner humanistischen Idee von
kularen Rationalität, so sehr sie beide in Vernunft, Aufklärung und Freiheit
widerspreche“.5 Ich würde demgemäß
von einer notwendigen Korrelationalität
Christlicher Glaube und von Vernunft und Glaube, Vernunft und
westliche säkulare Rationa- Religion sprechen, die zu gegenseitiger
Reinigung und Heilung berufen sind München (KNA) „Worüber wollen Sie diktisch, aber deswegen noch lange
lität bestimmen die Weltsi- und die sich gegenseitig brauchen und denn eigentlich noch streiten“, meinte nicht fromm. Schnell kam er zwar mit
tuation in einem Maße, wie das gegenseitig anerkennen müssen. ein Fachkollege. „Ich vermute, dass Sie, Ratzinger, der auch bei Gegnern als ei-
2. Diese Grundregel muss dann prak- Herr Habermas, viel näher bei Herrn nes der unbestrittenen Flaggschiffe
keine andere der kulturellen tisch, im interkulturellen Kontext unse- Ratzinger sind, als Sie einräumen wol- höchster katholischer Intellektualität
Kräfte. rer Gegenwart, konkretisiert werden. len...“ Nun herrschte so viel Harmonie – gilt, überein, dass alle Staaten im vorpo-
Ohne Zweifel sind die beiden Haupt- zumindest aus Sicht der beiden Kontra- litischen Raum bereits gewisser Tugen-
partner in dieser Korrelationalität der henten – denn doch nicht. Und das war den als Grundlagen für ein gedeihliches
der ganzen Welt und in allen Kulturen christliche Glaube und die westliche sä- auch nicht zu erwarten: Wenn der frü- Miteinander bedürfen. Einig waren sich
auf je ihre Weise mitprägend sind. Inso- kulare Rationalität. Das kann und muss here Münchener Erzbischof und heutige beide ebenso, dass aller Ordnung, bei-
fern scheint mir die Frage des Teheraner man ohne falschen Eurozentrismus sa- Kurienkardinal Joseph Ratzinger mit spielsweise innerstaatlich wie in der
Kollegen, die Herr Habermas erwähnt gen. Beide bestimmen die Weltsituation dem meist beachteten und prägendsten Staatengemeinschaft, nur auf Recht ba-
hat, doch von einigem Gewicht zu sein, in einem Maß wie keine andere der kul- deutschen Philosophen der Gegenwart, sieren könne und dürfe.
die Frage nämlich, ob nicht aus kultur- turellen Kräfte. Aber das bedeutet doch Jürgen Habermas, „in den Ring“, sprich:
vergleichender und religionssoziologi- nicht, dass man die anderen Kulturen aufs Podium der Katholischen Akade- Herabwürdigung des Menschen
scher Sicht die europäische Säkularisie- als eine Art „quantité négligeable“ bei- mie Bayern, steigt, dann ist ein großer
rung ein Sonderweg sei, der einer Kor- seite schieben dürfte. Dies wäre nun Harmonieakkord am Schluss eher un- Aber wovon leitet sich dieses Recht ab?
rektur bedürfe. Ich würde diese Frage doch eine westliche Hybris, die wir teu- wahrscheinlich. Was macht Recht zum Recht? Ist es das
nicht unbedingt, jedenfalls nicht not- er bezahlen würden und zum Teil schon Und dennoch: Es gab erstaunliche An- demokratische Verfahren einer Mehr-
wendig, auf die Stimmungslage von Carl bezahlen. Es ist für die beiden großen näherungen zwischen beiden, deren heit, die Recht als Recht legitimiert, wie
Schmitt, Martin Heidegger und Levi Komponenten der westlichen Kultur Namen, wie Akademiedirektor Florian Habermas meint, oder ist es nicht doch
Strauss, sozusagen einer rationalitäts- wichtig, sich auf ein Hören, eine wahre Schuller nicht ohne Stolz bemerkte, je- die menschliche Natur, von der sich na-
müden europäischen Situation, reduzie- Korrelationalität auch mit diesen Kultu- weils für „eine ganze intellektuelle türliche Rechte – etwa die Menschen-
ren. Tatsache ist jedenfalls, dass unsere ren einzulassen. Es ist wichtig, sie in Welt“ ständen und die eines der aufre- rechte – ableiten, wie es Ratzinger
säkulare Rationalität, so sehr sie unse- den Versuch einer polyphonen Korrela- gendsten Gesprächspaare seien, die sieht? Vernunft muss die Religion kon-
rer westlich geformten Vernunft ein- tion hineinzunehmen, in der sie sich man sich denken könne. Über „vorpoli- trollieren, mahnt Habermas und ver-
leuchtet, nicht jeder Ratio einsichtig ist, selbst der wesentlichen Komplementa- tische moralische Grundlagen eines weist auf abschreckende Beispiele des
dass sie als Rationalität, in ihrem Ver- rität von Vernunft und Glaube öffnen, freiheitlichen Staates“ zu diskutieren, glaubensbezogenen Islamismus. Ratzin-
such, sich evident zu machen, auf Gren- so dass ein universaler Prozess der Rei- war beiden aufgetragen – vor einem ger hat insoweit keine Einwände, er-
zen stößt. Ihre Evidenz ist faktisch an nigungen wachsen kann, in dem letzt- handverlesenen Publikum von nicht gänzt aber, in der Neuzeit sei es oft die
bestimmte kulturelle Kontexte gebun- lich die von allen Menschen irgendwie einmal 30 Zuhörern, das, neben zwei Vernunft, die aus dem Ruder laufe.
den, und sie muss anerkennen, dass sie gekannten oder geahnten wesentlichen weiteren Professoren im Kardinalspur- Massenvernichtende Atomwaffen seien
als solche nicht in der ganzen Mensch- Werte und Normen neue Leuchtkraft pur, dem Münchener Erzbischof Frie- hierfür ebenso ein Beispiel wie die He-
heit nachvollziehbar und daher in ihr gewinnen können, so dass wieder zu drich Wetter und dem Dogmatiker Leo rabwürdigung des Menschen zum Pro-
auch nicht im Ganzen operativ sein wirksamer Kraft in der Menschheit Scheffczyk, überwiegend aus Hoch- dukt für Experimentier- und Zucht-
kann. Mit anderen Worten, die rationa- kommen kann, was die Welt zu- schullehrern – Theologen, Philosophen zwecke. Hier müsse dann wohl die Reli-
le oder die ethische oder die religiöse sammenhält.  und Staatswissenschaftlern – sowie ei- gion die Vernunft kontrollieren. Beide
Weltformel, auf die alle sich einigen, nigen Politikern bestand, darunter seien korrelierende, aufeinander bezo-
und die dann das Ganze tragen könnte, 1 R. Spaemann, Weltethos als “Projekt”, in: Hans-Jochen Vogel (SPD) und Theo gene Faktoren. Und das viel kritisierte
Merkur, Heft 570/571, 893–904.
gibt es nicht. Jedenfalls ist sie gegenwär- 2 Am eindrucksvollsten durchgeführt ist diese
Waigel (CSU). katholische Naturrecht heiße ja letztlich
tig unerreichbar. Deswegen bleibt auch – trotz mancher Korrekturen im einzelnen – Habermas, der den Weg der bundesre- nicht viel anderes als die ethischen
das sogenannte Weltethos eine Abstrak- immer noch dominante Philosophie der Evo- publikanischen Gesellschaft seit Jahr- Prinzipien des Rechts – auch in säkula-
tion. lution bei J. Monod, Zufall und Notwendig- zehnten kritisch begleitet und sich im- ren Gesellschaften. Und da gebe es
keit. Philosophische Fragen der modernen
Biologie, München 1973. Für die Unterschei- mer wieder streitbar zu Wort meldet, eben Recht, das auch Mehrheiten nicht
Ergebnisse dung der tatsächlichen naturwissenschaft- hatte bereits bei seiner Aufsehen erre- zum Unrecht machen könnten, ebenso
lichen Ergebnisse von der sie begleitenden genden Dankrede für den Friedenspreis wie umgekehrt Unrecht nicht durch
Was also ist zu tun? Hinsichtlich der Philosophie ist hilfreich: R. Junker – des Deutschen Buchhandels im Okt- Mehrheitsbeschluss Recht werden kön-
S. Scherer (Hg.), Evolution. Ein kritisches
praktischen Konsequenzen finde ich Lehrbuch, 4. A., Gießen 1998. Hinweise zur ober 2001 Freiheit und Gerechtigkeit ne – wie die NS-Diktatur in Deutsch-
mich in weitgehender Übereinstimmung Auseinandersetzung mit der die Evolutions- als die Grundlagen in Erinnerung ge- land gezeigt hat.
mit dem, was Herr Habermas über eine lehre begleitenden Philosophie: J. Ratzinger, bracht, an die jede staatliche Macht ge- In der operativen Sicht der Handlungs-
postsäkulare Gesellschaft, über die Glaube – Wahrheit –Toleranz, Freiburg 2003, bunden ist, weil sie den unaufgebbaren notwendigkeiten waren die beiden un-
131–147.
Lernbereitschaft und die Selbstbegren- 3 Zu den drei Dimensionen des mittelalter- Kern des demokratischen Gemeinwe- gleichen Diskutierer wirklich nicht weit
zung nach beiden Seiten hin ausgeführt lichen Naturrechts (Dynamik des Seins im sens ausmachen. Was damals aufhor- voneinander entfernt. In der Bestim-
hat. Meine eigene Sicht möchte ich in allgemeinen, Gerichtetheit der Menschen chen ließ, weil es aus dem Mund des mung der Grundlagen für diese Hand-
zwei Thesen zusammenfassen und da- und Tieren gemeinsamen Natur [Ulpian], Adorno- und Horckheimer-Schülers so lungen schon eher. Einer schiedlich-
spezifische Gerichtetheit der vernünftigen
mit schließen. Natur des Menschen) vgl. die Hinweise in unerwartet kam, war die Bedeutung, die friedlichen Gesellschaftsordnung muss
1. Wir hatten gesehen, dass es Patholo- dem Artikel von Ph. Delhaye, Naturrecht, in: er Glaubensvorstellungen in morali- freilich nicht im Wege stehen, dass die
gien in der Religion gibt, die höchst ge- LThK2 VII 821-825. Bemerkenswert der Be- schen Fragen auch einer aufgeklärten Ableitung und Begründung „seiner Ma-
fährlich sind und die es nötig machen, griff von Naturrecht, der am Anfang des De- Gesellschaft zuwies. Was die Religion jestät des Rechts“ differieren mag. Rat-
cretum Gratiani steht: Humanum genus duo-
das göttliche Licht der Vernunft sozusa- bus regitur, naturali videlicit iure, et moribus. dazu beitrage, um ethische Fundamente zinger hält es für geboten, darüber rasch
gen als ein Kontrollorgan anzusehen, Ius naturale est, quod in lege et Evangelio im Bewusstsein der Menschen zu veran- auf Weltebene in einen multikulturellen
von dem her sich Religion immer wie- continetur, quo quisque iubetur, alii facere, kern, solle man gefälligst ernst nehmen, Dialog einzutreten, redlich und ohne
quod sibi vult fieri, et prohibetur, alii inferre,
der neu reinigen und ordnen lassen quod sibi nolit fieri.
lautete die Quintessenz der Rede Ha- christlich-abendländischen Dominanz-
muss, was übrigens auch die Vorstellung 4 Das habe ich in meinem Anmerkung 2 er- bermas’ in der Frankfurter Paulskirche. anspruch. Habermas reagierte hierauf
der Kirchenväter war.4 Aber in unseren wähnten Buch Glaube – Wahrheit – Tole- Würde der kritisch-aufgeklärte Geist auf mit einem galanten Kompliment. Das
Überlegungen hat sich auch gezeigt, ranz näher darzustellen versucht; vgl. auch seine alten Tage noch fromm, fragten sei doch „römische Weltsicht“, meinte
M. Fiedrowicz, Apologie im frühen Christen-
dass es (was der Menschheit heute im tum, 2. A., Paderborn 2001. sich damals Freunde wie Kritiker. er bewundernd.
allgemeinen nicht ebenso bewusst ist) 5 K. Hübner, Das Christentum im Wettstreit Habermas bleibt indes Habermas. Na-
auch Pathologien der Vernunft gibt, der Religionen, Tübingen 2003, 148. türlich verbindlicher, als man ihn aus
eine Hybris der Vernunft, die nicht min- der Zeit der Studentenrevolte Ende der
der gefährlich, sondern von ihrer poten- 60er in Erinnerung hat, weniger apo-

1/2004 zur debatte


7
In der Ausgabe vom 21. Januar 2004
berichtete die „Süddeutsche Zeitung“
im Feuilleton auf Seite 24 über das
Ereignis

Die Entgleisungen der Moderne.


Wie Habermas und Ratzinger den
Glauben rechtfertigen
Alexander Kissler

Als Jürgen Habermas im Oktober 2001, tigung“, in die sich die Vernunft nicht
genau 33 Tage nach dem Anschlag auf manövrieren dürfe. Die große Verhei-
das World Trade Center, den Friedens- ßung der Kritischen Theorie, dass die
preis des Deutschen Buchhandels ent- herrschaftsfreie Gesellschaft in der mo-
gegen nahm, sprach er in seiner Dan- dernen potentiell enthalten sei, kommt
kesrede über das Verhältnis von Glau- Habermas nicht mehr über die Lippen.
ben und Wissen. Seitdem hält sich hart- Vielleicht ist auch diese neue Düsternis
näckig das Gerücht, der Philosoph des eine Spätfolge des 11. September.
nachmetaphysischen Denkens habe sich
der Religion angenähert. Brunnenstube der Macht
Er warb schließlich dafür, den „religiö-
sen Gehalt“ der Moralbegriffe in eine Ratzinger weitete das Szenario der Be-
säkulare Sprache zu „übersetzen“, ihn drohung aus. Einerseits sei Religion, so- Um die Intimität des Disputs zu ermög-
zu retten statt zu eliminieren. Nur so fern sie Terror zu legitimieren helfe, lichen, konnten auf Wunsch der
könne man „der schleichenden Entro- schwerlich eine „heilende und rettende Diskutanten nur wenige Vertreter der
pie der knappen Ressource Sinn ent- Macht“, müsste also unter „Kuratel der Printmedien zu dem Gespräch eingela-
gegenwirken“. Kündigte sich damals tat- Vernunft“ gestellt werden. Andererseits den werden
sächlich eine neue Allianz an von Säku- mehren sich ebenso dramatisch die
larismus und Religion? Diese Frage Zweifel an der „Verlässlichkeit der Ver-
stand nun offen zur Debatte: In den nunft“. Durch und durch vernunftgelei-
Münchner Räumen der Katholischen tet, steige der Mensch „hinab in die
Akademie Bayern traf Jürgen Habermas Brunnenstube der Macht, an den Quell-
vor kleinem Publikum auf den denkbar ort seiner eigenen Existenz“ – und ent-
kompetentesten Widerpart, auf Joseph werfe sich selbst neu im genetischen Ex-
Kardinal Ratzinger, den Präfekten der periment. Um die Pathologien der Reli-
vatikanischen Glaubenskongregation. gion und der Vernunft zu überwinden,
Habermas spitzte seine These weiter zu. müssten beide aufeinander bezogen blei-
Der liberale Verfassungsstaat sei auf die ben. Ein „universaler Prozess der Reini-
„säkularisierende Entbindung religiös gung“ sei notwendig. Nicht anders argu-
verkapselter Bedeutungspotentiale“ mentierte Habermas: Religion und säku-
dringend angewiesen. Diese „Transfor- lare Vernunft müssten sich in einem un- Der Beitrag im „Münchner Merkur“
mation“ müsse so geschehen, dass dabei abschließbaren „komplementären Lern- wurde am 21. Januar 2004 unter
„der ursprünglich religiöse Sinn ... nicht prozess“ gegenseitig ernst nehmen. Feuilleton auf Seite 24 veröffentlicht
auf eine entleerende Weise deflationiert Gewiss ist die operative Übereinstim-
und aufgezehrt“ werde. Man darf also, mung zwischen Habermas und Ratzin-
konkret gesprochen, die Herkunft etwa ger echt, doch sie ist eben auch, zumin-
der Menschenwürde aus der jüdisch- dest von der Seite des Philosophen,
christlichen Tradition nicht preisgeben. zweckgebunden. Auf die Herausforde- Was hält die Welt zusammen? Kardinal
Lobende Worte fand Habermas auch rungen durch Globalisierung, Gentech-
für die Glaubenspraxis. In den religiö- nik und Terrorismus antworten beide Ratzinger philosophiert mit Habermas
sen Gemeinden könne „etwas intakt Seiten mit Menschenrecht und Men-
bleiben, was andernorts verloren gegan- schenwürde. Leicht stellt so sich Einver- Claudia Moellers
gen ist“, nämlich „Sensibilitäten für ver- ständnis her. Auch hat Habermas leise
fehltes Leben, für gesellschaftliche Pa- Abschied genommen vom politischen
thologien, für das Misslingen individuel- Universalismus und so die Distanz zu
ler Lebensentwürfe und die Deforma- Ratzinger verringert. Ganz entspannt
tion entstellter Lebenszusammenhän- konnte der Präfekt als gemeinsame
ge“. Mit dieser modernitätskritischen Grundüberzeugung festhalten, dass die
Wendung knüpfte Habermas direkt an säkulare Rationalität ebenso wie die Obgleich sie zu den größten Denkern bermas setzte auf das demokratische
sein Hauptwerk an, die „Theorie des Kultur des christlichen Glaubens „fak- der Gegenwart gehören, haben sie bis- Verfahren einer Mehrheit, die Recht als
kommunikativen Handelns“. Schon tisch nicht universell“ seien – Islam und lang noch nie miteinander diskutiert: Recht legitimiert, und auf die Vernunft,
1981 fragte er, ob „wir uns nicht ... der Hinduismus wüssten mit diesen Kon- Kurienkardinal Joseph Ratzinger und die auch die Religion kontrollieren
Verluste erinnern sollten, die der eigene zepten wenig anzufangen. der renommierte Philosoph Jürgen Ha- müsse. Dabei verwies er auf abschrek-
Weg in die Moderne gefordert hat“. Ein einziges Wort aber genügt, und die bermas. Der Katholischen Akademie in kende Beispiele im Islamismus.
Die Moderne als Verlustgeschichte: Rat- Kontrahenten flüchten durch entgegen Bayern ist es gelungen, dieses „aufre- Für Kardinal Ratzinger indes reichen
zinger hörte mit Wohlwollen, wie seine gesetzte Notausgänge. Johann Baptist gende Gesprächspaar“ in München an Wissenschaft und Vernunft nicht aus,
Diagnose vom Kollaps des mensch- Metz sprach das Skandalwort aus: einen Tisch zu bringen. Ein ausgewähl- um eine tragende Moral zu entwickeln.
lichen Selbstverständnisses in abge- Wahrheit. Habermas beharrt auf dem tes Publikum – neben Kardinal Frie- Oft sei es gerade die Vernunft gewesen,
schwächter Form bestätigt wurde. Diskursbegriff der Wahrheit, wonach drich Wetter und Kardinal Leo die aus dem Ruder gelaufen sei. Der
Schweigend nahm er das Lob der kari- diese das Ergebnis eines öffentlichen, Scheffczyk zahlreiche Philosophie-, oberste Glaubenswächter der Kirche er-
tativen Praxis hin, zählt doch ein zum gewaltlosen, gleichberechtigten und auf- Theologie- und Politikprofessoren so- innerte an die Entwicklung der Atom-
reinen „Sozialverband“ degeneriertes richtigen Verfahrens sei. Ratzinger folgt wie Politiker – folgte dem Exkurs über bombe ebenso wie an aktuelle Diskus-
Christentum zu seinen größten jenem Christus nach, der sich selbst die die Frage nach der Moral im Staat. sionen über das Klonen von Menschen.
Schreckbildern. Breit genug war hinge- Wahrheit nannte. Habermas ist Relati- Genauer ging es darum, wie eine sich „Es ist offenkundig, dass die Wissen-
gen die Straße des Unbehagens, auf vist, Ratzinger sieht im Relativismus als pluralistisch verstehende Gesell- schaft als solche Ethos nicht hervor-
dem die beiden einträchtig nebeneinan- eine neue Form von Intoleranz. Diese schaft ihre moralischen Grundsätze fin- bringen kann“, sagte er. Der Mensch sei
der herzogen. Habermas hatte die Vor- Gräben blieben bestehen – gottlob, det. Einig waren sich die Gesprächs- im Stande, sich selbst und seine Erde zu
lage geliefert. Er warnte vor einer „ent- denn eine weltanschauliche Globalisie- partner darin, dass die Ordnung in zerstören. Und hier müsse Religion die
gleisenden Modernisierung“ durch eine rung wäre der größte Triumph jenes Staaten auf Recht basiert. Doch dann Vernunft kontrollieren. Der Kardinal
unbeherrschte Globalisierung und vor Widergeistes, den beide recht herzlich entfernten sich die Vorstellungen der regte einen multikulturellen Dialog dar-
der „Sackgasse hybrider Selbstbemäch- verachten.  Professoren deutlich voneinander. Ha- über an, was die Welt zusammenhält. 

zur debatte 1/2004


8
sen. Man stellt sich die Welt als ein gro- könnte, als einen Strukturwandel der
ßes Saatbeet vor, auf dessen einer Par- Heiligkeit gewissermaßen. Wie um sich
zelle die christliche Saat in Blüte steht, dessen zu vergewissern, daß bei Ratzin-
auf dessen anderen Parzellen sich aber ger auch wirklich das richtige Samen-
doch immerhin vereinzelte Samenkör- korn aufgeht und nicht nur eine alte
ner finden lassen, so etwas wie christli- Missionsstrategie (jemanden da abho-
che Triebe auf einem heidnisch umge- len, wo er steht) unter dem neuen Na-
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ pflügten Acker. Solche Triebe machte men der Interkulturalität verkauft wer-
berichtete am 21. Januar 2004 im Feuil- Ratzinger in den normativen Gehalten den soll, legte Habermas dringlich nahe,
leton auf Seite 17 über das Gespräch der Diskurstheorie aus, welche ja der interkulturelle Diskurs dürfe freilich
durchaus energisch vorgibt, wie man nicht hegemonial geführt werden und
miteinander reden soll, will sie nicht ein müsse sich des Urteils über die Wahr-
leerer Prozeduralismus sein. Ratzinger heit enthalten.
Strukturwandel der Heiligkeit. brauchte hier nur auf das Wort von der Doch hier war er, wie sich zeigen sollte,
„Entgleisung der Säkularität“ zu weisen, beim Weltethos von Küng angekom-
Dogma gegen Diskurs: das Habermas als Menetekel an die men, nicht bei dem von Ratzinger. Man
Wände der Katholischen Akademie ge- sah das daran, daß der Kardinal auf
Jürgen Habermas und Joseph Kardinal schrieben hatte.
Die normativen Gehalte seiner Theorie
eine herausfordernde Frage Robert
Spaemanns hin bezeugte, „die Sache
Ratzinger treffen aufeinander bestätigend, verhielt sich Habermas
aber zunächst noch schwankend, was
des Naturrechts“ selbstverständlich
weiterhin verteidigen zu wollen - wenn
seine präzise Stellung auf dem Acker auch „unter Verzicht, vielleicht unter
Christian Geyer
anbelangt. Erst als Ratzinger den Glo- einstweiligem Verzicht auf den Begriff
bus in den Blick nahm und Habermas der Natur“ (im Sinne von Substanz).
Es gibt das schöne Wort von der „Theo- Griff dieser beiden Fragen spannten vorrechnete, daß nicht nur das christli- Natur sei als objektivierender Schlüssel-
riepolitik“. Hermann Lübbe war es Dogma und Diskurs ihre Schirme auf. che Ethos, sondern ebenso das Ethos begriff, mit dem man den Wahrheitsan-
wohl, der es in den Sechzigern in Um- Man besah sich zunächst kurz das Wet- der westlichen Säkularität – Habermas’ spruch des Christentums auszudrücken
lauf brachte. Theorien sind ja in gewis- ter, das an diesem Abend ein gehöriges eigenes Ethos also – im Weltmaßstab de pflegte, de facto „stumpf“ geworden, das
ser Hinsicht tatsächlich mit Parteien Unwetter war – Atombombe, Terro- facto nur eines unter mehreren ist, wur- müsse man zur Kenntnis nehmen. Zu-
oder Unternehmen zu vergleichen. Es rismus, Menschenzucht –, und befand de Habermas schwach und trat endgül- mal im angelsächsischen Raum werde
gibt große und kleine, hochgerüstete nach einigem Hin und Her, daß man tig unter den von Ratzinger hingehalte- die Naturrechtslehre weitgehend als ka-
und tiefergelegte, und eine jede muß se- angesichts derartiger Stürme künftig nen Schirm. Es war schon erstaunlich, tholische Sonderlehre wahrgenommen
hen, wie sie durch die Zeiten kommt, doch besser unter einem großen Schirm wie seitenverkehrt das Gespräch über und damit als das genaue Gegenteil des-
wie sie Umbauten vornimmt in ihrer als unter zwei kleinen geht. Nur als fer- weite Strecken wirkte. Der Vertreter der sen, was sie aussagen will. Johann Bap-
Architektur und gegebenenfalls auch nes Donnern ließ man die eigentliche metaphysischen Macht als Präsentator tist Metz wertete Ratzingers – einstwei-
Allianzen mit anderen, ihr ursprünglich Streitfrage zu, ob der demokratische von „De facto“-Argumenten, der Post- ligen – Begriffsverzicht später beim Im-
ganz entgegengesetzten Theorien Staat als solcher ein Begründungsdefizit metaphysiker als Verfechter des Kontra- biß als eine theologische Sensation, Ro-
schmiedet. Getrennt marschieren, ge- habe, das nur durch ein dem Staat vor- faktischen: eben einer Idealität von Ge- bert Spaemann war wohl so verärgert,
meinsam schlagen, heißt es dann. So et- geschaltetes Sittliches ausgeglichen wer- sprächsbedingungen. daß er zu dem Imbiß erst gar nicht er-
was Ähnliches muß Kardinal Ratzinger den könne (Ratzinger). Oder ob das Der Vorschlag Ratzingers, das Mensch- schien.
gemeint haben, als er am Ende der Vertrauen in den demokratischen Pro- heitswissen über das gute Leben inklu- Allein Habermas kaute mit gemischten
mehrstündigen Diskussion mit Jürgen zeß genüge, um politische Tugenden siv zu ermitteln, also ein interkulturelles Gefühlen, schien doch jetzt nicht mehr
Habermas sagte, „im operativen Be- wie staatsbürgerliche Teilhabe und Soli- Gespräch zumal mit dem chinesischen recht absehbar, was der schwarze Mann
reich“ passe zwischen Habermas und darität freizusetzen (Habermas). Da und dem indischen Kulturkreis zu su- neben ihm unterm Schirm möglicher-
ihn selbst kein Blatt Papier, Dissens auch ein wie immer vorgeschaltetes chen, dieser Vorschlag fand die voll- weise im Schilde führte. Man solle seine
sehe er nur „im Bereich der Grundle- Sittliches nicht unabhängig von den ge- kommene Zustimmung von Habermas, Einlassungen zum Naturbegriff als ei-
gung“. So etwas Ähnliches muß auch sellschaftlichen Kräfteverhältnissen de- der seinerseits bei der Nachfolgebehör- nen „Notschrei“ nach besseren Begrif-
Habermas gemeint haben, als er dieser finiert werden kann, schienen beide Po- de der Heiligen Inquisition das Samen- fen verstehen, hatte Ratzinger gesagt.
Einschätzung mit beredtem Schweigen sitionen „im operativen Bereich“ tat- korn der Diskurstheorie aufgehen sah. Sollte es wirklich so weit kommen, daß
ganz und gar nicht widersprach. sächlich auf dasselbe hinauszulaufen. Ratzinger indes verwies darauf, daß der Hüter des Diskurses dem Hüter des
Was war geschehen, daß an einem lan- Und das war denn auch das Terrain, auf schon die Kirchenväter von der Not- Dogmas die gesuchten besseren Begriffe
gen Abend in der Münchner Katholi- das beide Diskutanten immer wieder wendigkeit der permanenten Reinigung liefert? Wie kann bei idealen Ge-
schen Akademie zwei Männer forciert auszuweichen wußten, wenn es zu knir- und Vertiefung der Lehre sprachen, um sprächsbedingungen, die in der Akade-
den Konsens suchen, deren Namen ge- schen drohte im Gebälk der theoriepoli- den unausschöpfbaren Logos ausschöp- mie doch herrschten, eine solche Ge-
meinhin doch als Kürzel für einen je- tischen Architektur. fen zu können. Die Kirchengeschichte fahr auftreten? Nicht von ungefähr sag-
weils ganz anderen geistigen Kosmos Die Gemeinsamkeiten im Operativen freilich zeigt, daß Reinigung und Vertie- te Habermas am Ende, er sei in die
stehen? Beide sind aus der Generation zu stärken – das war mehr oder weniger fung bisweilen nur andere Begriffe für Höhle des Löwen gegangen. Aber da
der Spätzwanziger, beide haben schloh- eigentlich zu allen Zeiten die Missions- einen Vorgang sind, den man auch als waren die Hütten, in denen es gut sein
weißes Haar, beide waren als Professo- technik der katholischen Kirche gewe- handfeste Transformation bezeichnen ist, schon lange gebaut. 
ren von 1964 an in Frankfurt (Haber-
mas), von 1966 an in Tübingen (Ratzin-
ger) direkt in die Ausgangsdramatik der Leserbrief „Frankfurter Allgemeine“
kommenden Umbruchjahre gestellt. vom 4. Februar 2004
Aber damit hat es sich auch schon mit
den Gemeinsamkeiten, sollte man mei-
nen. Der eine wurde zum Hüter des
Abschied auf französisch
Dogmas, der andere zum Hüter des Zum Artikel „Strukturwandel der Hei-
Diskurses. Wie können so verschiedene ligkeit“ von Christian Geyer (F.A.Z. vom
Protagonisten nach München reisen 21. Januar): Es ist ja aufmerksam von
und zueinander sprechen: Meister, hier Christian Geyer, dass er mich beim
ist es für uns gut sein! Laß uns zwei Abendimbiss der Katholischen Akade-
Hütten bauen, dir eine und mir eine! So mie in München vermisst hat. Aber lei-
lautet bekanntlich die Definition von der hat seine Vermutung, ich hätte mich
Theoriepolitik frei nach der biblischen nach den Vorträgen aus dem Staub ge-
Urfassung. Sie wußten aber nicht, was macht aus Ärger über Kardinal Ratzin-
sie redeten, heißt es dort dem Sinne
gers Distanz zum Begriff des Natur-
nach weiter.
In München wußte jeder genau, was er rechts, ernsthafte Leute tatsächlich ver-
sagte. Es ging um einen diskurstheoreti- anlasst, dieserhalb bei mir nachzufragen.
schen wie katholischen Klassiker: Spiel- Das veranlasst mich nun doch an dieser
räume ausloten. Man tat dies mit großer Stelle zu sagen, dass davon überhaupt
Umsicht, immer gewahr der Grenzen, keine Rede sein kann. Wegen der inten-
jenseits deren der andere nicht mehr siven Debatte hatte sich das Abendessen
mitziehen würde, verärgert auf den um eine Stunde verzögert, so dass ich
Tisch hauen oder gar den Saal verlassen nicht mehr bleiben konnte, ohne unhöf-
könnte. Das offizielle Thema waren die lich zu sein gegen meine Tochter, die
vorpolitischen Ressourcen des demo- draußen stand, um mich zur Übernach-
kratischen Verfassungsstaates. Schließ- tung aufs Land abzuholen. Das ist alles.
lich zehrt der Staat von normativen
Mein Fehler war es wohl, mich in einer
Voraussetzungen, die er selbst nicht ga-
deutschen Runde französisch zu verab-
rantieren kann, wie es in der unvergeß- Kritisch fragt Professor Robert Spae-
lichen Formel Ernst-Wolfgang Böcken- mann nach, wie Kardinal Ratzinger es schieden und so ein Aufsehen zu erre-
fördes heißt. Was das für Voraussetzun- denn mit dem Begriff des Naturrechts gen, das ich gerade vermeiden wollte.
gen sind und was das heißen soll: der halte Professor Dr. Robert Spaemann,
Staat kann sie nicht garantieren – am Stuttgart

1/2004 zur debatte


9
Religion wohlmeinend aus der Perspek- Gehalte in die Alltagssprache „retten“,
tive einer irrtumsanfälligen Freiheit; aber er scheint doch zunehmend Zwei-
Ratzinger blickt vom Himmel einer ka- fel zu haben, ob sich die „Sinnergien“
tholischen Gesamtwahrheit skeptisch einer Mediengesellschaft tatsächlich al-
auf das Treiben der säkularen Vernunft. lein aus sich selbst erneuern. Nicht zu-
Und beide hoffen auf einen „doppelten letzt die Biowissenschaften haben dis-
Die Ausgabe 5 der Wochenzeitung Lernprozess“, in dem Vernunft und Re- kursethische Gewissheiten erschüttert
„Die Zeit“ vom 22. Januar 2004 ligion wechselseitig aufeinander verwie- und Habermas gezwungen, die „Gottes-
würdigte das Ereignis im Feuilleton auf sen sind. „Vernunft“, so Habermas, „ist ebenbildlichkeit“ des Menschen als eine
Seite 38 für mich der Logos der Sprache. Des- metaphysische Prämisse vorsichtig in
halb würde es mir am leichtesten fallen, Anspruch zu nehmen.
an den Heiligen Geist zu glauben.“ In dieser Lage wird die Religion zu ei-
Es gibt Gründe in der Sache, warum nem natürlichen Gesprächspartner, und
Auf dem Gipfel der Freundlichkeiten. sich heute ein katholischer Dogmatiker was die Einschätzung der Weltlage an-
mit einem liberalen Philosophen an ei- ging, fanden der katholische und libera-
Jürgen Habermas und Kardinal nen Tisch setzt. Jedenfalls fällt ihr Ge- le Universalismus ohnehin rasch zuein-
spräch in eine Phase, in der die katholi- ander. Ohne George W. Bush auch nur
Ratzinger diskutieren über Religion sche Kirche eine auffällige Wandlung
erlebt. Der Vatikan stellt sich erstmals
zu erwähnen, beschrieb Ratzinger in
kardinalen Sätzen die amerikanische
und Aufklärung seiner eigenen Schuldgeschichte; auch
die Dauerkritik des Papstes am globalen
Hegemonie als „Recht des Stärkeren“,
das dringend „gebändigt“ und der Stär-
Kapitalismus und sein Nein zum Irak- ke eines gemeinsamen Rechts unter-
Thomas Assheuer
Krieg sind ein Hinweis darauf, dass der worfen werden müsse. Natürlich wollte
Vatikan nicht mehr nur nach der Erlö- Habermas den römisch-utopischen For-
Die Katholische Akademie in Bayern, Vernunft nicht dasselbe gelten wie für sung der Schuldigen fragt, sondern nach derungen nach einem Weltrecht seine
unweit der Münchner Freiheit gelegen, eine terroristisch missbrauchte Reli- Recht und Gerechtigkeit, gleichsam als Zustimmung nicht versagen. Ratzinger
ist in der Landeshauptstadt ein mal arg- gion? Muss sie nicht ebenfalls unter eine massenmedial wirksame Autorität. freundlich zurück: „Im operativen Be-
wöhnisch, mal ehrfürchtig beobachteter Aufsicht gestellt werden, und zwar un- Aber auch die liberale Philosophie hat reich sind wir uns einig.“ Danach konn-
Ort. In kirchlichen Kreisen, in denen ter Aufsicht des „Vorpolitischen“ – also sich verändert. Sie ist, was den Verfas- te der Münsteraner Theologe Johann
man um die reine Lehre fürchtet, wird unter Aufsicht der Religion? sungsstaat angeht, politisch am Ziel. Baptist Metz, der sich im Publikum zu
sie zuweilen mehr geachtet als geliebt. Es war bei Ratzinger nicht ganz klar, ob Doch ihre Vermutung, die Religion wer- Wort meldete, endgültig nicht mehr
Tatsächlich ist die Katholische Akade- die Religion die Rolle eines überdemo- de im Sog einer säkularisierten Moder- verstehen, warum Habermas sich einen
mie eine Versammlung freier Geister. kratischen Platzanweisers spielen soll ne verschwinden, war falsch. Zwar nachmetaphysischen Philosophen
Sie versteht Theologie als strenge Diszi- oder nur die eines Korrektivs. Die Rolle wollte Habermas schon immer religiöse nenne. 
plin, nicht als Bastelanleitung für eine eines „Kontrollorgans“ war für Haber-
Religion ohne Gott. mas jedenfalls unannehmbar. Demokra-
Nun hat die Akademie zwei Antipoden tische Verfahren, argumentierte er, seien
an einen Tisch gebracht, wie sie gegen- nicht nur leere Prozeduren, sondern
sätzlicher nicht sein könnten, Joseph „normativ gehaltvolle Verfahren, die in
Kardinal Ratzinger, päpstlicher Hüter kleiner Münze schon sittliche Motive
über die katholischen Dogmen, und Jür- enthalten“. Deshalb gebe es in der De-
gen Habermas, den „nachmetaphysi- mokratie keine „Lücke“, durch die eine
schen“ Philosophen, der sich für „religi- „vorpolitische Substanz“ eindringen
ös unmusikalisch“ hält. Jeder kommt könne, im Übrigen sei sie auch gar nicht
von einem anderen Stern, und dass sie notwendig. Denn anders, als Ratzinger
überhaupt miteinander reden, gilt für glaube, könne der Verfassungsstaat sei-
manchen als Sensation. Über das kon- nen Legitimationsbedarf aus einem „Ar-
spirative Treffen vor kleinem Publikum gumentationshaushalt“ bestreiten, der
herrschte striktes Stillschweigen, im of- von religiösen Überlieferungen unab- Die Wochenzeitung „Rheinischer
fiziellen Programm der Akademie wur- hängig ist. Merkur“ brachte das Gesprächsduell in
de die Zusammenkunft mit keinem Das heißt für Habermas nun nicht, aus der Ausgabe vom 22. Februar 2004 auf
Wort erwähnt. Gemessen an diesem einer Gesellschaft von Teufeln ließe sich den Seiten 23 und 24
Münchner Geheimhaltungsaufwand, ist ein Staat machen. Eine Demokratie, die
der Vatikan eine Plauderstube. mehr sein will als ein bloßer Modus Vi-
Aber was sollten sich ein Philosoph der vendi, sei durchaus auf Motive und Tu-
Aufklärung und ein dogmatischer Kar- genden angewiesen, die aus vorpoliti- Woher kommt die Moral?
dinal, dessen Glaubenskongregation schen Quellen stammen, aus religiösen
Nachfolgerin der Inquisition ist, zu sa- Lebensentwürfen und substanziellen Michael Rutz
gen haben? Und worin sollten sie über- Überzeugungen. Diese enthielten aber
einkommen? Glaubt man Ratzingers äl- nicht das oft beschworene „einigende
teren Schriften, dann ist die liberale, auf Band“; der staatsbürgerliche Zu- Ein Zusammentreffen von Jürgen Ha- „unfairen Ausschluss der Religion aus
die Aufklärung zurückgehende Philoso- sammenhalt entstehe vielmehr erst im bermas und Joseph Kardinal Ratzinger der Öffentlichkeit“ ab, insistierte auf der
phie ein gefährlicher Aberglauben. Sie demokratischen Prozess, nämlich wenn hätte ohnehin Spannung versprochen. Notwendigkeit, religiöse Inhalte zu
hat das göttliche Band zwischen Glau- „substanzielle Werte“ in den Streit um Hier der „seit Marx, Nietzsche und Hei- „übersetzen“, sodass ihr moralischer
ben und Wissen zerschnitten und dul- die Deutung der Verfassung einflössen, degger einflussreichste deutsche Philo- Gehalt auch der säkularen Gesellschaft
det keine Wahrheit, die größer ist als sie beim Streit um Einwanderungspolitik soph, seine Rolle scheint sogar die eines verständlich würde. „Moralische Emp-
selbst. Liberale Philosophen verwech- oder Wehrpflicht. öffentlichen Gewissens der politischen findungen, die bisher nur in religiöser
seln subjektive Wünschbarkeiten mit Mit Genugtuung nahm Ratzinger zur Kultur des Landes zu sein“, wie ihn Flo- Sprache einen hinreichend differenzier-
dem kosmischen Sinn der Welt. Sie sind Kenntnis, dass Habermas der Religion rian Schuller, der Direktor der Katholi- ten Ausdruck besitzen“, könnten auch
blind für eine Wahrheit, die ihrer Ver- Sinngehalte zusprach, für die eine schen Akademie in München, rühmte. im Diskurs des demokratischen Com-
nunft vorausliegt: für die vorpolitische „ethisch enthaltsame“ Philosophie kei- Dort der Präfekt der vatikanischen mon Sense „allgemeine Resonanz“ fin-
Wahrheit der Religion. ne Sprache habe, ein Gespür für „Ver- Glaubenskongregation, einer weltum- den – durch eine „rettende Formulie-
Genau darüber, über diese „vorpoliti- fehlung und Erlösung“, Scheitern und spannenden Sinn stiftenden und Moral rung“, die ihr Religiöses nicht vernich-
schen moralischen Grundlagen“ der Gelingen. Weniger diplomatisch gesagt: begründenden Institution, ein intellek- tet, sondern in der säkularen Überset-
Demokratie, sollte Ratzinger mit Jürgen Nachdem die Religion zu einem tuelles Leuchtfeuer der katholischen zung bewahrt. Anlass für solche Erwä-
Habermas streiten – also mit einem schmerzhaften Anpassungsprozess an Theologie. Aber diese erste Begegnung gungen waren auch die von Habermas
Philosophen, für den rechtsstaatliche die Moderne genötigt wurde, ist für Ha- der beiden zum Thema der „vorpoliti- gefürchteten zerstörenden Kräfte der
Demokratie und säkulare Vernunft bermas jetzt das säkulare Bewusstsein schen moralischen Grundlagen eines bioethischen Möglichkeiten moderner
durchaus in der Lage sind, ihre Norma- an der Reihe. Es „kommt nicht kosten- freiheitlichen Staates“, die am Montag Wissenschaft.
tivität aus sich selbst zu schöpfen, ohne los in den Genuss der negativen Reli- in München vor kleinem Publikum Das verweist auf die Frage, was eigent-
eine „Absicherung“ durch religiöse gionsfreiheit“ und müsse lernen, der Re- stattfand, erhielt ihre Würze durch die lich der ethische und moralische
Überlieferung. ligion nicht von vornherein den Wahr- unerwartete religiöse Musikalität von Grundwortschatz der Menschheit ist,
Aber ist die säkulare Vernunft, wie Rat- heitsgehalt abzusprechen. Dasselbe gel- Jürgen Habermas, die der strenge Ratio- auf den man sich vor jeder Staatenbil-
zinger nicht ohne Süffisanz fragte, wirk- te für den säkularen Staat; auch er dür- nalist und nach eigenem Bekunden „re- dung einigen könnte. Und sofort steht
lich so segensreich, wie sie den An- fe seine „säkularistische“ Weltsicht ligiös unmusikalische“ Philosoph an- im Raum die Frage, die Ernst Wolfgang
schein erweckt? Die Humangenetik sei nicht aufspreizen und Religion ignorie- lässlich der Verleihung des Friedens- Böckenförde 1967 aufgeworfen hatte –
im Begriff, den Menschen auf ein in- ren. Und mit einem Blick auf Hirnfor- preises des Deutschen Buchhandels im ob der freiheitliche, säkularisierte Staat
dustrielles Produkt zu erniedrigen. Und schung und „Lebens“-Wissenschaft: Oktober 2001 gezeigt hatte. von normativen Voraussetzungen zehrt,
die vermeintlich allgültige säkulare Kul- „Naturalistische Weltbilder genießen Habermas hatte dort, auch vor dem die er selbst nicht garantieren kann.
tur treibe eine ungebändigte Weltgesell- keineswegs prima facie Vorrang vor re- Hintergrund des Terroranschlags auf „Darin drückt sich der Zweifel aus, dass
schaft aus sich hervor, obwohl viele ligiösen Auffassungen.“ Amerika im September 2001, der schie- der demokratische Verfassungsstaat sei-
Länder die westliche Vernunft ablehn- Bei solchen Zugeständnissen war es ren Wissenschaftsgläubigkeit widerspro- ne normativen Bestandsvoraussetzun-
ten. „Die säkulare Kultur ist faktisch schwer auszumachen, worüber die chen und versucht, im Gegeneinander gen aus eigener Ressource erneuern
ebenso nicht-universal wie das Chri- Kontrahenten überhaupt noch zu strei- von säkularer Politik und Glaubensin- kann, sowie die Vermutung, dass er auf
stentum.“ Muss also für die säkulare ten gedachten. Habermas betrachtet die halten zu vermitteln. Er lehnte einen autochthone weltanschauliche oder reli-

zur debatte 1/2004


10
giöse, jedenfalls kollektiv verbindliche woher sie zu beziehen wäre, führte zu
ethische Überlieferungen angewiesen unterschiedlichen Antworten: Während
ist“, sagte Habermas in München. Habermas von einer im Menscheninne-
Erst sprach Habermas, dann Ratzinger. ren schlummernden Sozialisierung aus-
Am Ende war zwar erhebliche Nähe geht und erneut die „Übersetzung“ des
festzustellen, etwa darüber, dass Staaten Religiösen in die säkulare Debatte for-
nur auf als gerecht empfundenen derte, betonte Ratzinger die Notwendig- Im Anschluss an das Ereignis widmete
Rechtssystemen basieren könnten. Un- keit eines interkulturellen Gesprächs die italienische Tageszeitung „la Repub-
streitig war auch, dass einer demokrati- unter Beteiligung aller großen Reli- blica“ in der Ausgabe vom 22. Januar
schen Mehrheitsentscheidung allein gionstraditionen, um dem gemeinsamen 2004 dem Gespräch mehrere Seiten
nicht notwendigerweise ein ethisch-mo- moralischen Gehalt zum Durchbruch
ralischer Gehalt innewohnt, es also eine zu verhelfen in der Gestaltung einer
vorpolitische moralische Prägung der Welt, deren Humanum durch übertrie-
Menschen braucht. Die Frage freilich, benen Szientismus in Gefahr ist Der Westen zwischen Glauben
und Vernunft
Ein Gespräch zwischen dem Kardinal und dem Philosophen
über eine neue Annäherung von Laien und Katholiken

Andrea Tarquini

In einer Welt der Globalisierung, der Religion die erschreckende Tatsache,


Weltmärkte und des „Nach dem dass beispielsweise der Terrorismus, wie
11. September“ müssen sich Glaube in den Botschaften Bin Ladens, zu sei-
und Vernunft auf neue Art begegnen. ner Rechtfertigung im Namen des Glau-
Sie müssen lernen, sich mit neuen Im- bens zum Widerstand gegen den Hoch-
pulsen und wechselseitigen Einflüssen mut der Mächtigen und gegen gottlose
zu ergänzen und zu bereichern. Sie Gesellschaften aufruft.
müssen den Antagonismus der univer- Wenn also die beiderseitigen universali-
salistischen Ansprüche von westlicher stischen Ansprüche gefährlich seien, sei
Politik und Kultur verlassen, ohne dass es richtig, dass Religion und Vernunft,
die Gläubigen ihren Wahrheitsglauben „die ich als ein Geschenk Gottes verste-
aufgeben. Die Rechtsgrundsätze des li- he“, ihren Einfluss gegenseitig zu be-
beralen Staates genügen diesem nicht grenzen und zu kontrollieren lernen, in-
als ethisches Fundament. Diese große dem sie sich in der modernen demokra-
Botschaft der Annäherung von christli- tischen Gesellschaft durchdringen. Man
chem und liberalem Denken war das müsse eingestehen, dass der Westen kei-
Ergebnis eines außergewöhnlichen Ge- nen Anspruch auf Anerkennung als uni-
sprächsabends der Katholischen Akade- versalistische Kultur habe. Auf das Nein
Der „Rheinische Merkur“ hat nicht nur Kardinal Ratzinger im Porträt mie in München (unter ihrem Direktor des Papstes zum Krieg im Irak anspie-
das Gespräch gewürdigt und die State- vorgestellt. „zur debatte“ dokumentiert Florian Schuller) zwischen Joseph Kar- lend, sagte Ratzinger, Gerechtigkeit sei
ments in Auszügen veröffentlicht, son- die Texte dinal Ratzinger und Jürgen Habermas, „die Stärke des Rechts und nicht das
dern auch Professor Habermas und dem wohl größten lebenden deutschen Recht des Stärkeren“. Andere große
Philosophen. Ein bedeutendes Zu- Kulturen wie die chinesische oder die
sammentreffen von Dogma und Dis- hinduistisch-buddhistische müssten
kurs, wie die Frankfurter Allgemeine stets als gleichrangig geachtet werden.
Jürgen Habermas Joseph Kardinal kommentierte, ein Dialog auf der Suche Habermas ging fast noch weiter. Er er-
Philosoph Ratzinger nach Übereinstimmungen über die Ab- klärte, vor dem Hintergrund einer Mo-
wendung dessen, was Habermas „ent- dernität, in der Werte und Erinnerung
des Umbruchs Verteidiger der Lehre gleisende Modernisierung“ nennt, die verloren gingen, hätten Religionen und
aktuellen gefährlichen Tendenzen zur religiöse Gemeinschaften Sensibilitäten
Jürgen Habermas schlug im Herbst Sein Traumberuf war Maurer. Doch es Sinnentleerung der Demokratie. Die und ethische Werte wie Verantwortung
2001 neue Töne an und brachte sich da- kam anders. Der inzwischen 76-Jährige Begegnung offenbarte eine neue Nei- und Autonomie, Vergebung und Erlö-
mit zugleich in Erinnerung. Bei der Ver- wurde zum „Packesel Gottes“ (wie er gung zu Toleranz zwischen Religion sung bewahrt und lebendig erhalten. Es
leihung des Friedenspreises des Deut- sich in seiner Autobiografie nennt) und und Vernunft, im Gegensatz beispiels- sei deshalb notwendig, „den religiösen
schen Buchhandels versuchte er, die zu einem der wichtigsten Männer in weise zu dem Sendungsbewusstsein der Gehalt dieser ethischen Begriffe in eine
„Sinn stiftenden Ressourcen“ der Reli- der römischen Kurie. Auch nach Neokonservativen um Bush. „Vorpoliti- säkulare Sprache zu übersetzen“. Ab-
gion angesichts der drohenden Leere Erreichen der Altersgrenze entlässt sche moralische Grundlagen eines frei- schließend erklärte er, der säkularisierte
der Moderne auch für Leute wie ihn Papst Johannes Paul II. ihn nicht in heitlichen Staates“ lautete das Thema Bürger von heute dürfe dem gläubigen
selbst zu erschließen, der sich, Max We- den Ruhestand. Er weiß, was er an ihm des Gesprächs vor kleinem Publikum. Mitbürger weder das Wahrheitspotenti-
ber zitierend, als „religiös unmusika- hat. Kardinal Ratzinger ist einer der Zunächst stellte jeder der beiden Disku- al seiner religiösen Weltbilder abspre-
lisch“ bezeichnete. Ein Dialogangebot brillantesten Theologen der katholi- tanten seine Gedanken in einem Ein- chen noch das Recht, sich in religiöser
von unerwarteter Seite. schen Kirche. gangsstatement vor, dann trat man in Sprache zu den großen aktuellen The-
Der (evangelische) Soziologe und Philo- Der frühere Dogmatikprofessor und die Diskussion ein. „Ich wusste, dass ich men zu äußern.
soph war das Aushängeschild der neue- spätere Erzbischof von München-Frei- mich in die Höhle des Löwen begeben
ren Frankfurter Schule, die aus dem sing erhielt 1981 den Ruf nach Rom. würde“, erklärte Habermas nicht nur
1923 gegründeten Institut für Sozialfor- Als Präfekt der Kongregation für die scherzhaft. Dann reichte er Ratzinger Ratzinger
schung hervorging und als unorthodoxe Glaubenslehre hat er dafür zu sorgen, die Hand, indem er zwar die Rolle der
Spielart des Marxismus zur „Funda- dass die katholische Lehre erhalten Vernunft verteidigte, aber stärker als je Nicht dem Gesetz des Stärkeren
mentaltheologie“ der 68er Bewegung bleibt und theologisches Forschen nicht zuvor von der Idee des politischen Uni- nachgeben
wurde, zu der Habermas jedoch zuneh- zu weit von ihr abkommt. Ratzinger hat versalismus abrückte. Der „Verfassungs-
mend auf Distanz ging. Die Schule gilt sein Haus gut organisiert, modernisiert patriotismus“, ein Grundelement seines In seinem Diskussionsbeitrag betonte
als Hort der „Kritischen Theorie“ (der und in einem Teil seiner Archive sogar Denkens, könne nicht losgelöst von den Kardinal Ratzinger: „Die dringendste
Titel stammt von Max Horkheimer). geöffnet. Doch das Amt brachte ihm historischen Wurzeln einer Gesellschaft Frage ist, wie die sich begegnenden Kul-
Habermas, 1929 in Düsseldorf geboren, den Ruf eines unnahbaren, kühlen, ja verstanden werden. Er unterstrich vor turen eine gemeinsame ethische Grund-
war von 1964 bis 1971 Professor für So- unbarmherzigen Glaubenswächters ein. allem, dass „das Überleben der Religion, lage finden können, die sie auf den
ziologie und Philosophie in Frank- Seine Äußerungen zu Grundsatzfragen nicht als Sozialverband sondern als fest- rechten Weg zu einer gemeinsamen,
furt/Main, bevor er mit Carl-Friedrich der Theologie und der Ethik sind fast er und lebendiger Kulturfaktor in einer rechtlich verantworteten Auffassung der
von Weizsäcker in Starnberg das Max- immer „Selbstläufer“. Für Medien in al- säkularen Umgebung, von Vernunft und Macht führt.“
Planck-Institut zur Erforschung der Le- ler Welt ist er eine Institution. Gewiss, Philosophie als Herausforderung ernst
bensbedingungen der wissenschaftlich- Ratzinger hat sich vom einstigen „Libe- genommen werden muss“. Die Menschheit zwischen Furcht
technischen Welt leitete. ralen“ zum „Konservativen“ gewandelt, Musik in den Ohren des Glaubenshü- und Rettung
Hier entstand 1981 sein Hauptwerk doch wer Bücher wie „Salz der Erde“ ters. Dieser erwiderte, die moderne
„Theorie des kommunikativen Han- liest, erkennt schnell, dass er es hier mit Welt und ihre Ethik hätten sich im Be- In dieser Perspektive, die auch im
delns“. Von 1983 bis zu seiner Emeritie- einem „heißen Herzen“ zu tun hat. Er reich der Vernunft wie in der Religion „Weltethos“ von Hans Küng erscheint,
rung 1994 kehrte er zurück nach Frank- mag den intellektuellen Disput auf ho- nicht nur mit hoffnungsvollen sondern müssten laut Ratzinger Glaube und sä-
furt/Main. 1986 war er der Urheber des hem Niveau. Glauben und Vernunft ge- auch mit bedrohlichen Entwicklungen kulare Rationalität einander entgegen
„Historikerstreits“ über die Einzigartig- hören für ihn zusammen. Seine beste- auseinandersetzen müssen. Auf der Sei- kommen. „Glaube und säkulare Ratio-
keit der Nazi-Verbrechen sowie der Be- chende Logik provoziert, vielleicht ge- te der Vernunft die Bedrohungen durch nalität brauchen einander, müssen sich
griffe „Meinungsführerschaft“ und „kul- rade deshalb, weil seine Argumente einen Atomkrieg oder das Klonen, das gegenseitig anerkennen und beeinflus-
turelle Hegemonie“. quer zum Zeitgeist liegen. den Menschen zu seinem eigenen Pro- sen“. Nach den Werten des modernen
W. T. R. Z. dukt herabwürdigt. Auf der Seite der demokratischen Staates ebenso wie

1/2004 zur debatte


11
ISSN 0179-6658
nach christlichen Werten sei es „kon- Habermas meinwohlorientierte und solidarische Mitbürgern das Recht bestreiten, in reli-
kret die Aufgabe der Politik, Macht un- Bürger sich in selbstinteressiert han- giöser Sprache Beiträge zu den großen
ter das Maß des Rechtes zu stellen und Wenn der egoistische Bürger delnde Monaden verwandeln, denen die aktuellen Themen zu machen“, von der
so ihren sinnvollen Gebrauch zu ord- triumphiert Gesetze nur noch dazu dienen, ihre ei- Ethik, dem internationalen Recht und
nen. Nicht das Recht des Stärkeren, genen Interessen gegen die der anderen der Abtreibung bis hin zur Globalisie-
sondern die Stärke des Rechts muss gel- Jürgen Habermas stellte an den Anfang durchzusetzen“. rung. Eine liberale politische Kultur
ten.“ seines Diskussionsbeitrags das Problem Die weltanschauliche Neutralität der „kann von den säkularisierten Bürgern
Der Kardinal warnte vor blindem Ver- der Suche nach den ethischen Funda- Staatsgewalt müsse auch für säkulari- erwarten, dass sie sich an Anstrengun-
trauen in das Prinzip der Mehrheitsent- menten des demokratischen Verfas- sierte Bürger wieder das Gebot „gleiche gen beteiligen, relevante Beiträge aus
scheidungen. „Auch Mehrheiten kön- sungsstaates. Er mahnte, liberale Ord- Freiheit und sittliche Teilhabe für alle der religiösen Welt in eine dem säkula-
nen blind oder ungerecht sein oder wer- nungen seien auf die Solidarität aller Bürger“ beinhalten. Säkularisierte Bür- risierten Leben und der Aktualität ange-
den, die Geschichte hat es uns mehr- Staatsbürger angewiesen. Unter den ger „dürfen weder religiösen Weltbil- passte Sprache zu übersetzen“.
fach auf tragische Weise bewiesen. neuen Bedingungen der heutigen Säku- dern grundsätzlich ein Wahrheitspoten- Aus dem Italienischen übersetzt von
Wenn eine Minderheit durch eine larisation übernehme der Markt zuneh- tial absprechen, noch den gläubigen Wolfgang Kück
Mehrheitsentscheidung unterdrückt mend die Steuerung in Lebensberei-
oder verfolgt wird, hat diese ihre ethi- chen, die bisher normativ und ethisch
sche Legitimation verloren.“ zusammengehalten wurden, „und dies
kann zu neuen Entwicklungen, zu einer
Der Mensch als sein eigenes Produkt entgleisenden Säkularisation unserer
Gesellschaften führen“.
Ratzinger fragte nach den Gefahren, die Der zutiefst säkulare Ansatz von Ha-
sowohl von der säkularen Rationalität bermas enthielt nichtsdestoweniger eine
als auch von der Religion ausgehen signifikante Öffnung zur Religion: „Die
können, wenn sie nicht kontrolliert kulturelle und gesellschaftliche Säkula- Der „Christ in der Gegenwart“ beschäf-
werden. „Die von der säkularen Ver- risierung ist als ein doppelter Lernpro- tigte sich in der Ausgabe vom 1. Febru-
nunft ausgehenden Gefahren zeigten zess zu verstehen, der sich von den Re- ar 2004 auf der Titelseite mit der Begeg-
sich nach dem Zweiten Weltkrieg und flexionen der Aufklärung und der religi- nung zwischen Kardinal Ratzinger und
in den Jahrzehnten des Kalten Krieges ösen Lehren nährt“. Der politische Li- Professor Habermas
zunächst im Schrecken der atomaren beralismus, „den ich als Kantischen Re-
Waffen. Angesichts der Atombombe als publikanismus verteidige, versteht sich
Produkt der Vernunft lag die Rettung als eine nichtreligiöse und nachmeta-
der Menschheit im Erschrecken vor der physische Rechtfertigung der normati- Dogma und Diskurs, Naturrecht
totalen Zerstörung ihrer selbst, die zum ven Grundlagen unseres demokrati-
ersten Mal möglich schien.“ Heute, nach schen Verfassungsstaates“. Aber ob- und Evolution
dem Ende dieser Epoche, „liegen die gleich man nicht vergessen dürfe, dass
neuen Gefahren, die von der Vernunft die theologischen Lehren des Mittelal- Michael Schrom
ausgehen, in der Biotechnologie, im ters, „insbesondere die spanische Spät-
Traum vom Menschen aus dem Rea- scholastik, zur Genealogie der Men-
genzglas. Eine radikal veränderte Per- schenrechte gehören“, stammten doch
spektive: Der Mensch ist nicht mehr ein die Legitimationsgrundlagen der Welt-
Geschöpf Gottes oder ein Geschenk der anschauung des Verfassungsstaates „vor
Natur, sondern sein eigenes Produkt.“ allem aus den profanen Quellen der
Andererseits aber „ist einer der schreck- Philosophie des 17. und 18. Jahrhun- In der Katholischen Akademie in Bay- Grundlegung“ bestehen. Kommt die
lichsten Aspekte des modernen Terrors derts“. ern haben sich Kurienkardinal Joseph Ethik aus Gott oder aus einem sich
in den Botschaften Bin Ladens der An- Ratzinger und der Philosoph Jürgen Ha- wandelnden „herrschaftsfreien“ Dialog
spruch der Terroristen auf religiöse Le- In der Moderne drohen Werte bermas vor einem geladenen Publikum im Gang der Evolution von Kultur und
gitimation des Terrors als Widerstand verloren zu gehen zu einer Diskussion über Religion, Ver- Mensch? Die „Süddeutsche Zeitung“
der Schwachen im Namen des Glau- nunft und Gesellschaft getroffen. Wel- urteilt so: „Habermas beharrt auf dem
bens gegen den Hochmut der Mächti- Habermas wertete die historische Rolle ches Rüstzeug ist notwendig, um ange- Diskursbegriff der Wahrheit, wonach
gen, der Gläubigen gegen die gottlosen der Religion: In der christlichen Welt sichts der geistigen Herausforderungen diese das Ergebnis eines öffentlichen,
westlichen Gesellschaften.“ Daher sei es hätten Konfessionen, Glaubensrichtun- der Gegenwart (Terrorismus, Gentech- gewaltlosen, gleichberechtigten und auf-
notwendig, dass vor dem Hintergrund gen und religiöse Gemeinschaften nik, Zusammenprall der Kulturen) ge- richtigen Verfahrens sei. Ratzinger folgt
einer interkulturellen Welt, „in der kei- „Jahrhunderte lang Werte wie Verge- wappnet zu sein? Der „Hüter des Dog- jenem Christus nach, der sich selbst die
ne der beiden großen Komponenten der bung und Dialog, Verfehlung, Rettung, mas“ trifft auf den „Hüter des Diskur- Wahrheit nannte. Habermas ist Relati-
westlichen Kultur, christlicher Glaube Erlösung, Mitleid lebendig erhalten“, ses“ titelten die Feuilletons der eingela- vist, Ratzinger sieht im Relativismus
und säkulare Rationalität, eine von al- die in der Moderne oft verloren gingen. denen Zeitungen und spekulierten dar- eine neue Form von Intoleranz. Diese
len anerkannte absolute Kraft darstellt“, „Das Überleben der Religion, nicht als über, ob nun Habermas die Rolle der Gräben blieben bestehen.“ 
dass vor einem Hintergrund multikultu- Sozialverband, sondern als fester und Religion in der Gesellschaft positiver
rellen Zusammenlebens „Glaube und lebendiger Kulturfaktor in einer säkula- sieht als früher oder ob Kardinal Rat-
Vernunft als Gottesgeschenk sich ren Umgebung, muss von Vernunft und zinger sich stärker für Habermas’ säku-
gegenseitig mit kritischen Augen kon- Philosophie als positive Herausforde- lare Theorie vom „herrschaftsfreien Di-
trollieren“ und nach neuen Regeln der rung ernst genommen werden“. Wäh- skurs“ erwärmen konnte. In vielen
Kooperation und Durchdringung su- rend in der heutigen Welt, auch infolge Punkten, etwa in der Bedeutung des
chen müssen. des übermächtigen Einflusses der Märk- interreligiösen und interkulturellen Dia-
te, die Gefahr sehr groß sei, „dass ge- logs, in der Ablehnung des mensch-
lichen Klonens oder in der Warnung
vor einer „entgleisenden Modernisie-
rung“ im Sinne eines schrankenlosen
Machbarkeitswahns waren sich Haber-
mas und Ratzinger einig. Auch verur-
teilten sie eine einseitig wirtschaftlich
ausbeuterische Globalisierung ohne
Rücksicht auf die Kultur. Habermas be-
zur debatte
tonte – wie schon bei seiner berühmten Themen der Katholischen Akademie in
Friedenspreisrede in der Frankfurter Bayern
Paulskirche – abermals die Bedeutung
des religiösen Sinnpotentials für die sä- Herausgeber, Inhaber und Verleger: Katholische
kulare Gesellschaft. Diese Kräfte müß- Akademie in Bayern, München
ten zeitgemäß erschlossen werden. Rat- Direktor: Dr. Florian Schuller
zinger betonte stärker ein allem voraus- Verantwortlicher Redakteur: Gerhard Eberts MSF
Layout: büroay/josef breuer, Augsburg
und zugrundeliegendes Naturrecht. Fotos: Akademie
Doch habe er – so berichtet die FAZ – Anschrift von Verlag u. Redaktion: Katholische
zugestanden, daß der Begriff „Natur“ Akademie in Bayern, Mandlstraße 23,
als objektiver Schlüsselbegriff, mit dem 80802 München
man den Wahrheitsanspruch des Chri- Postanschrift: Postfach 40 10 08,
80710 München,
stentums auszudrücken pflegte,
Telefon 0 89/381020, Telefax 0 89/38102103,
„stumpf“ geworden sei. Er sei als „Not- E-Mail: info@kath-akademie-bayern.de
schrei“ nach besseren Begriffen zu ver- Druck: Kastner AG – Das Medienhaus,
stehen. Die Sache des Naturrechts wol- Schloßhof 2, 85283 Wolnzach.
le er aber weiterhin verteidigen. Wenn zur debatte erscheint zweimonatlich. Kostenbei-
Leidenschaftlich beteiligte sich unter er sich auch in der Beurteilung dessen, trag: jährlich E 19,– (freiwillig). Überweisungen
auf das Postbankkonto der Katholischen Akade-
anderem der Münsteraner Fundamen- was als praktische Moral für die Gesell- mie in Bayern. München 1465 00–804. Nach-
taltheologe Johann Baptist Metz an der schaft notwendig sei, mit Habermas völ- druck und Vervielfältigungen jeder Art sind nur
Diskussion lig einig wisse, so blieben doch gravie- mit der besonderen Erlaubnis des Herausgebers
rende Unterschiede „im Bereich der zulässig.

zur debatte 1/2004


12

Das könnte Ihnen auch gefallen