Reich-Gottes-Erwartung
(2,138 words)
1. Allgemeines
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Die nzl. R.-G.-E. (oder Erwartung einer Herrschaft Gottes)
1. Allgemeines
ist nicht vornehmlich ein theologiegeschichtliches,
sondern vielmehr ein zentrales Thema der 2. Begri f und historische
Frömmigkeitsgeschichte (Frömmigkeitskulturen; Hintergründe
Volksfrömmigkeit); nur vereinzelt kommt ihr eine 3. Reformation
prägende Funktion für theologische Konzepte zu. Die 4. Vom 17. bis zum 19.
Di ferenzierung zwischen einer akademisch- Jahrhundert
theologischen bzw. philosophischen Re exion (z. B. im dt.
Idealismus) über den Begri f des Reiches Gottes (= R. G.)
einerseits und einer akuten R.-G.-E. mit ihren Konsequenzen für die populäre Theologie und
die praktische Frömmigkeit andererseits ist für eine sachgemäße Beurteilung des Phänomens
unabdingbar und zeigt über eine theologiegeschichtliche Verengung hinaus die lange
unterschätzte Bedeutung der nzl. R.-G.-E. auf.
Die nzl. Intensivierung und Ausdi ferenzierung der R.-G.-E. hängt eng mit der nzl. Ausformung
des Begri fs der Zukunft als gesellschaftlichem Erwartungszeitraum zusammen [9]. Seit dem
ausgehenden 17. Jh. hatten nicht nur R.-G.-E., sondern auch gesellschaftliche Zukunftsentwürfe
/
Hochkonjunktur, die konkrete relig.-soziale bzw. polit. Handlungskonzepte im Sinne der
Au lärung freisetzten. Das veränderte Zeit-Verständnis beein usste die relig. determinierten
endzeitlichen Konzepte (Endzeit); es sorgte für das Gefühl zeitlicher Beschleunigung und
erö fnete Freiräume für relig. motiviertes menschliches Handeln. Dies bestätigt auch ein
begri fsgeschichtlicher Befund [9]: Sowohl der Zukunftsbegri f als auch die R.-G.-E. zielten
zunehmend auf innerweltliche Realisierung. Dabei wurde das R. G. immer mehr als relig.
begründetes Orientierungs- und Normierungssymbol verstanden; in scharfer qualitativer
Abgrenzung von der Welt sollte durch menschliche Aktivität sein Kommen beschleunigt
werden. Die Arbeit für das R. G. konnte somit zum entscheidenden Moment der
Frömmigkeitspraxis und zum Erweis wahren Christentums avancieren.
Das Phänomen, das biblisch als R. G. bezeichnet wird, ndet sich vergleichbar auch in anderen
Religionen. Die R.-G.-E. gründet auf vielfältigen biblischen Vorformen und basiert begri ich
auf dem hebr. malkût und dem griech. basileía (›Königreich‹, ›Königtum‹). Sie gehört,
funktional und nicht räumlich verstanden, als Königsherrschaft Gottes oder als endzeitliches
ewiges Reich der Gerechtigkeit im AT zu den jüngeren Traditionsschichten und ist eher selten
bezeugt. Im Frühjudentum gewann die eschatologische Dimension an Bedeutung (
Eschatologie), und durch die Verbindung mit der Messias-Erwartung kam es zu unterschiedlich
ausgeprägten Erwartungen eines messianischen Reiches.
Der uneindeutige Begri f basileía stellt den zentralen Inhalt der Botschaft Jesu als Ansage einer
neuen Wirklichkeit dar und ist nicht räumlich, sondern dynamisch als die sich vollziehende
königliche Herrschaft zu verstehen. Eine präzise Beschreibung des R. G. fehlt im NT, hingegen
ist die Au ösung der frühchristl. akuten Naherwartung ( Parusie) evident. Die Spannung
zwischen dem ›schon jetzt‹ und dem ›noch nicht‹ des R. G. sowie sich ändernde
gesellschaftliche Bedingungen transformierten die Symbol- und Bildgehalte der R.-G.-E., die
vornehmlich in Krisenzeiten akut wurde. Das R. G. kann grundsätzlich als zukünftige Größe
oder als gegenwärtige Größe verstanden werden, deren Anbruch schon geschehen ist.
In der Alten Kirche der ersten christl. Jahrhunderte existierten funktional unterschiedliche
Konzepte der R.-G.-E., unter denen die spiritualistische Deutung im Anschluss an Lk 17,21
traditionsgeschichtlich hervorsticht. Eine Zäsur stellte die sog. Konstantinische Wende im 4. Jh.
dar, die das Verhältnis von polit. Wirklichkeit im Röm. Reich und dem R. G. ins Zentrum rückte.
Diese Spannung thematisierte das MA unter der Frage nach dem Verhältnis von regnum
(›Königtum‹, d. h. weltlicher Herrschaft) und sacerdotium (›Priestertum‹, d. h. geistlicher
Herrschaft). Ausgehend von der Annahme, dass die Kirche das eschatologische R. G. auf Erden
präsentiere, beanspruchte das Papsttum die Vorherrschaft im polit. Bereich. Akute R.-G.-E.
ackerten im MA in kirchl. nonkonformistischen Bewegungen auf (z. B. Waldenser, Katharer).
Insgesamt gesehen spaltete sich in dieser Epoche das Phänomen in eine polit.-ekklesiologische
/
und in eine spiritualistisch orientierte Richtung auf. Apokalyptisch-chiliastisch aufgeladene R.-
G.-E. setzten in sozialer Perspektive radikale Bewegungen frei, wie sie z. B. im SpätMA bei den
Taboriten erkennbar werden.
3. Reformation
Insgesamt gesehen war aber die Zukunftserwartung des frühen Protestantismus ähnlich wie
die ma. strikt außerweltlich, wie Martin Luther und andere Reformatoren zeigten, für die das
R. G. – schon gar nicht ein R. G. auf Erden – kein zentrales Thema der Theologie war. An die ma.
Mystik anknüpfend deuteten sie das R. G. in spiritualisierender und individualisierender
Perspektive und zielten unter weitgehender Ausklammerung der weltlichen und der sozialen
Kontexte auf die Umkehr und die relig. bzw. sittliche Vervollkommnung des Individuums.
Allerdings versuchte der elsässische Reformator Martin Bucer nach seiner Vertreibung aus
Straßburg 1549, in England das R. G. zu errichten und forderte in seinem letzten Werk De regno
Christi (1550; ›Vom Reich Christi‹) den engl. König auf, eine res publica Christiana (›christl.
Staat‹) auf der Grundlage des Lebensgesetzes der Bürger des Christusreiches zu scha fen.
Johannes Calvin sah ähnlich wie Luther das eschatologische R. G. bereits da als gegenwärtig an,
wo der Geist Gottes die Menschen erfasse und verwandele (Calvinismus). Sein
reformatorisches Wirken in Genf um die Mitte des 16. Jh.s sollte unter Hinzuziehung strenger
Lebensordnungen der innerweltlichen Ausbreitung des R. G. dienen (Kirchenzucht). Der
gegenreformatorische Katholizismus (Katholische Reform) widersprach diesem Anliegen und
bezog das R. G. auf die sich von der sie umgebenden Welt abgrenzende röm. Kirche [13].
Der dt. Lutheraner Johann Gerhard prägte im frühen 17. Jh. wahrscheinlich erstmalig den
abstrakten Begri f Chiliasmus als Bezeichnung für die Ho fnung auf ein irdisches Gottesreich
vor dem Jüngsten Tag. Diese von der lutherischen Schultheologie (protest. Orthodoxie)
bekämpfte Vorstellung, die sich deutlich von der traditionellen Erwartung des bevorstehenden
Jüngsten Tages mit der Wiederkehr Christi unterschied, ist neben dem Calvinismus v. a. im
populären, mystisch-spiritualistischen Laienschrifttum zu suchen (z. B. bei Jakob Böhme). Die
›Ho fnung auf bessere Zeiten‹ wurde im frühen Pietismus zu einem konstitutiven Element,
und Philipp Jakob Spener gelang es, seine chiliastische Zukunftsho fnung zu verkirchlichen.
Auch im schweizer. reformierten Pietismus fand der Chiliasmus im 17. und 18. Jh. Widerhall:
Der Berner Samuel König erwartete das Tausendjährige Reich noch zu Lebzeiten; Samuel Lutz
hingegen erkannte im Anschluss an Johannes Coccejus eine längerfristige, kontinuierliche
Entwicklung des R. G. vor dessen irdischer Vollendung. Diese Ho fnung war für ihn Anlass, zur
aktiven Mitgestaltung am R. G. aufzurufen [8].
Die R.-G.-E. besaß als Ausdruck einer hochgradig chiliastisch grundierten Religiosität ein
beeindruckendes Umgestaltungspotential: Obwohl das R. G. als unverfügbar galt und sein
Kommen göttlichem Handeln vorbehalten blieb, setzte es eine transkonfessionelle und
international vernetzte R.-G.-Arbeit frei, wie sie z. B. in der in Basel, dem Zentrum des
dt.sprachigen Chiliasmus, ansässigen Dt. Christentumsgesellschaft seit 1780 koordiniert wurde
[10. 225–338]. Sie zielte als äußere wie innere Mission primär auf relig. wie sittliche
Verbesserung, setzte sich für die Abscha fung der Sklaverei ein und wandte sich mit
/
zahlreichen Konzepten der Rechristianisierung gegen die Au lärung, mit der sich die R.-G.-E.
verinnerlicht oder weitgehend in das au lärerische Grunddogma von der Unsterblichkeit der
Seele ver üchtigt hatte. Die R.-G.-E. avancierte im frühen 19. Jh. zu einem publizistischen
Thema auch in der europ. und nordamerikan. Tagespresse.
Zwei Formen der R.-G.-E. sind zu unterscheiden ( Millenarismus) [7. 171–173]: Die
Postmillenaristen erwarteten das Kommen des R. G. erst nach Ablauf des Tausendjährigen
Reiches. Diese eschatologische Konzeption zielte auf ein überkonfessionelles und
transnationales Gottesreich, setzte – anders als das prämillenaristische Konzept – intensive
Aktivitäten zum Bau des R. G. frei und konnte sich im weiteren Verlauf des 19. Jh.s in den
liberaltheologischen Glauben an menschlichen Fortschritt au ösen. Die Prämillenaristen
hingegen erwarteten die Wiederkunft Christi vor dem Millennium und zogen eine scharfe
Trennungslinie zwischen der Gegenwart und dem Beginn des Reiches. Für diesen Typ, zu dem
neben den engl. Darbyisten und amerikan. Adventisten auch württembergische Separatisten
zählen, ist ein Rückzug aus der als zutiefst verdorben wahrgenommenen Welt charakteristisch.
Im England des 17. Jh.s erlebte zunächst der prämillenaristische Chiliasmus eine Hochblüte.
Oliver Cromwell versuchte in den 1640er Jahren, in der englischen Revolution ein R. G. auf
Erden zu errichten. Er beein usste durch Übersetzungen von Texten engl. Autoren die
Entwicklungen auf dem Kontinent: in Deutschland, bei franz. Hugenotten und bei niederl.
Calvinisten; schließlich auch bei Anhängern des Puritanismus in Neuengland. In dieser Zeit
entstand die Ansicht von England als auserwählter Nation, die als Gottes Werkzeug in
besonderer Weise bei der Vernichtung des Antichristen und der Ausbreitung des Evangeliums
mitzuwirken habe. Im 18. Jh. gewann die postmillenaristische Eschatologie auch im
engl.sprachigen Raum die Oberhand.
In den USA war der Postmillenarismus, der mit dem Great Awakening verbunden war, wichtig
für die Entwicklungen der anglo-amerikan. Mission und trug wesentlich dazu bei, Amerikas
Gefühl als auserwählte ›Erlösernation‹ auszuprägen, die das Heil der Welt zu befördern habe
(Neue Welt 3.3.). Im weiteren Verlauf des 19. Jh.s wurde diese eschatologische Erwartung
zunehmend polit. und national gedeutet und oss in das Ideal der amerikan. Demokratie ein.
Polit. und soziale Konsequenzen hatten auch die zahlreichen Spekulationen über den Ort des
anbrechenden R. G., dessen Anfang in Jerusalem oder auch im Osten erwartet wurde; nach den
Hungerkatastrophen 1816/17 motivierten sie zahlreiche Auswanderungen (v. a. von
Neuengland) nach Russland.
Die Bedeutung des Postmillenarismus trat in der dt.sprachigen Erweckung in der zweiten
Hälfte des 19. Jh.s erkennbar zurück; die R.-G.-E. wurden entdramatisiert und lösten sich in
verhaltenem Fortschrittsoptimismus auf. Als säkularisierte Variante können im frühen 19. Jh.
frühsozialistische und kommunistische Konzepte gelten (Sozialismus; Utopie). Die R.-G.-E.
prägte schließlich den sog. relig. Sozialismus, der Ende des 19. Jh.s entstand.
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Verwandte Artikel: Apokalyptik | Chiliasmus | Endzeit | Eschatologie | Millenarismus | Utopie |
Zukunftserwartung | Zwei-Regimente-Lehre
Bibliography
Quellen
[1] Die Verkündigung des Reiches Gottes in der Kirche Jesu Christi. Zeugnisse aus allen
Jahrhunderten und allen Konfessionen, 7 Bde., hrsg. von E. Staehelin, 1951–1964.
Sekundärliteratur
[4] M. B / R. M , Art. Herrschaft Gottes/Reich Gottes V.-VI., in: TRE 15, 1986, 218–228
[13] J. W , Zwischen Reformation und Pietismus. Reich Gottes und Chiliasmus in der
lutherischen Orthodoxie, in: E. J et al. (Hrsg.), Ver kationen, 1982, 187–205
/
Kuhn, Thomas Konrad, “Reich-Gottes-Erwartung”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und
in Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst
Poeschel Verlag GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_335765>
First published online: 2019