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Hanne Loreck, Anlässlich von Hilma af Klints Notizbuch #588: Blumen, Moose, Flechten

In: (Mit) Pflanzen kartographieren / Mapping (with) Plants (mit Andrea Klier und Sara
Lindeborg), Hamburg: Material Verlag 2017, 22-33.

Anlässlich von Hilma af Klints Notizbuch Hanne Loreck


Nr. 588: Blumen, Moose, Flechten, 1919/1920

Die schwedische Künstlerin Hilma af Klint (1862 – 1944) ist


heute eine, wenn auch umstrittene, Berühmtheit. Da ihr zu
Lebzeiten kein Verständnis ob ihrer für obskur gehaltenen
Themen, Methoden und Ästhetiken entgegenkam, hatte sie
testamentarisch verfügt, ihre Gemäldezyklen nach ihrem Tod
20 Jahre lang nicht zu veröffentlichen. Allerdings dauerte es
etwa drei weitere Jahrzehnte, bis die nunmehr internationale
Rezeption dieser historischen Position einsetzte.1
Von 1882 bis 1887 studiert die Künstlerin als eine der ers-
ten Frauen Malerei an der Königlichen Akademie der freien
Künste in Stockholm. Die Ausbildung ist mit den Schwer-
punkten Landschaft und Portrait klassisch und die Künstlerin
nach Ende ihres Studiums eine gefragte Malerin in Schweden.
Der zeitgeistigen Mode folgend, befasst sie sich mit Theoso-
phie und beginnt mediumistisch in einer Frauengruppe, Die
Fünf, zu arbeiten. Um 1900 ist sie an einem veterinärmedizi-
nischen Institut angestellt; dafür, nehmen wir an, muss sie als
↑ Hilma af Klint, ohne wissenschaftliche Zeichnerin agieren, sachlich und entlang des Objekts.
Titel, 1890er Jahre, Naturstudien hat sie schon in den 1890er Jahren betrieben; Klatschmohn,
Aquarell und Bleistift Schachtelhalm oder Weizenähren unterscheiden sich ästhetisch aller-
auf Papier, 34,2 × 26 cm. dings kaum von den Blättern sogenannter Höherer Töchter ihrer Zeit: na-
turalistisch, exakt, zart – aber unspezifisch.
1 ) Zuletzt Hilma af
Klint – Pionierin der Stockholm u.a., Ostfildern/Ruit 2015; Hilma af Klint. Painting the
Abstraktion, hg. von Iris 2013; Kurt Almquist, Louise Bel­ Unseen, hg. von Julia Peyton­Jones
Müller­Westermann,
­
­Westermann, frage (Hgs.), Hilma af Klint. The Art und Hans Ulrich Obrist, Kat. Ser­
Kat. Moderna Museet of Seeing the Invisible, Stockholm pentine Gallery London, Köln 2016.

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Ohne ihre, zweifellos prägende, Bedeu- 4 ) Alois Riegl, Grammatiken und Diagramme
tung für Hilma af Klint zu ignorieren, sol- Historische Grammatik
len ihre Werke nicht als Manifestation des der bildenden Künste, Das 19. Jahrhundert wird als das Jahrhundert der allmählichen Etablie-
Okkulten, von Theosophie oder Anthro- hg. von Karl M. rung der ‚modernen‘ Wissenschaftsdisziplinen und Forschungsmethoden
posophie oder als Ausdruck von Gläubig- Swoboda und Otto erachtet. Ihre Ergebnisse wurden oftmals in Form einer Grammatik vorge-
keit betrachtet werden. Auch der These, Pächt, Graz 1966. stellt. Diese Wissensanordnung suggerierte Systematik, Anwendbarkeit
ihre Kunst sei eine, die das Unsichtbare und Überblick. In den Bereichen der Kunst und Kunstgeschichte denken
sichtbar gemacht hätte,2 wird nicht wei- 5 ) Maurice Tuchman, wir dabei an Owen Jones’ Grammar of Ornament (1856), die von William
ter nachgegangen, zumindest nicht dort, Hidden Meanings Henry Goodyear ähnlich angelegte Grammar of the Lotus (1891) oder Alois
wo solch Unsichtbares ausschließlich in Abstract Art, in: Riegls posthum publizierte Historische Grammatik der bildenden Künste
metaphysisch-transzendental eingefärbt The Spiritual in Art. (Manuskript 1899)4. Besonderer Erwähnung gebührt jedoch der Gram-
ist. Vielmehr geht es darum, den Einfluss Abstract Painting 1890 – maire des arts du dessin (1867) des französischen Kunsthistorikers und
selbst als einwirkende Kräfte und dynami- 1985, hg. von Maurice
1985 Kritikers Charles Blancs, ein Werk, das die Demokratisierung und Popula-
sche Prozesse zu fassen – und dabei Hil- Tuchman, Kat. Los risierung der bildenden Künste zu fördern beabsichtigte.
ma af Klints zeichnerische und malerische Angeles County Muse­ Auch wenn diese Grammatik vermutlich nicht in Hilma af Klints Bi-
Verfahren und Bildfindungen im Kontext um of Art, New York bliothek zu finden war, sollen zwei ihrer grundlegenden Ideen in den
wahrzunehmen: nicht als Erfindungen ei- 1986, 17 – 61, 32. Kontext der folgenden Verhandlung rücken: ihr erzieherischer Ansatz und
ner isolierten, eigenartigen Person, son- ihr Status als „eine Bibel für die Generation der Symbolisten“5. Aufgrund
dern im un/bewussten Austausch mit je- 6 ) Catherine de seines ganzheitlich formulierten Begriffs der „heiligen Geometrie“ sowie
nen Bildformationen der Geistes- und Na- Zegher, Hilma af Klint, den ebenfalls beleuchteten Themen der Dualität und der kosmischen
turwissenschaften und der Kunst, die zu Emma Kunz, Agnes Bildsprache wurde das Buch von Künstlern als ein einflussreicher Vor-
ihrer Zeit als Wissensanordnungen und Martin. 3 x Abstraction. stoß innerhalb des spirituell-abstrakten Nexus geschätzt. Die zeitgemäße
Vermittlungssysteme zirkulierten. Dazu New Methods of Draw­ Anwendung geometrischer Formen und bestimmter Symmetrien sollte
zählt auch die Abstraktion, begreifen wir ing (2005), in: dies., allerdings keineswegs in eine völlig neue Ästhetik münden. Sie führte, im
sie als Methode und nicht als ungegen- Women’s Work Is Never Gegenteil, eine über die Jahrhunderte währende Überlieferung der be-
ständliche Morphologie: „Es wurde be- Done. An Anthologyo ,
ogy stehenden Vorstellung fort, dass es nicht-individuelle und nicht subjektiv
hauptet, ich sei eine Pionierin gewesen Gent 2014, 260 – 283, generierte Muster sind, die Zugang zu okkultem Wissen gewährten.
↑ Hilma af Klint, und hätte mich einer Arbeitsmethode unterstellt, die man nicht verstand,“3 261, Übers. HL. Grammatiken im übertragenen Sinn, erfüllen sie eine ähnliche Rol-
Die zehn Größten, sagt die Künstlerin von sich selbst. le wie Enzyklopädien und Atlanten: Sie dienen nicht nur der Erfassung
Nr. 7
7, Erwachsenenalter, Um ihre Methode näher zu bestimmen, umkreisen wir Hilma af Klints 7 ) Siehe dazu die von bestimmten, oftmals anwendungsbezogenen, praktischen Feldern,
IV, 1907,
Gruppe IV 1907 Notizbuch Nr. 588: Blumen, Moose, Flechten von 1919/1920, im Original ausgezeichneten Aus­ sondern geben zugleich die Regularien vor, nach denen sich einzelne
Tempera auf Papier deutsch betitelt – ihr botanisches Notizbuch. Chronologisch datiert, fin- führungen samt zahl­ Instanzen innerhalb der Gesamtkomposition eines Phänomens zu richten
montiert auf Lein­ den sich Pflanzennamen nach Carl von Linnés Systema Naturae (1735) reicher Beispielsdia­ hätten. Entsprechend setzen derartige Grammatiken auf Wiederholbarkeit,
wand, 315 × 235 cm. verzeichnet, so dass das Resultat zwischen Tagebuch und taxonomisch gramme von Julia Voss, Gesetzmäßigkeit und Struktur – Eigenschaften von Ordnungen, auf denen
organisiertem Herbarium schwankt. Als Herbar betrachtet, kommt es aller- Das erste Bild der Evo­ Hilma af Klints Arbeiten gründen –, um mittels ihrer etwas Unbekanntes
dings ohne getrocknete, gepresste, entfärbte Objekte aus, sondern ist, in lution. Wie Charles zu ergründen. Zugleich aber stellt die Grammatik ein in sich geschlos-
seiner Mischung aus verbalen Beschreibungen gewisser Charakteristika, Darwin die Unordnung senes und auf Vollständigkeit, manchmal auch auf Vollkommenheit ab-
ungegenständlichen visuellen Repräsentationen und symbolischen Zei- der Natur zeichnete zielendes System bereit. Die Kunsthistorikerin Catherine de Zegher stellt
chen gleichsam biosemiotisch angelegt. Als Tagebuch wiederum entbehrt und was daraus wurde, dazu eine bemerkenswerte These auf: „In diesem Prozess, die Welt durch
es jeder subjektiv-individuellen Mitteilung. Wir platzieren mithin einen Ge- in: Kurt Bayertz, Myri­ ihr Erklärungsmodell zu ersetzen, sieht es so aus als würden Linguistik
genstand im Zentrum der Überlegungen, der ein merkwürdiger Hybrid ist am Gerhard, Walter und Grammatologie den Kosmologien früherer Jahrhunderte ähneln, die
und selbst unscheinbar wirkt, nicht zuletzt im Vergleich mit Hilma af Klints Jaeschke (Hgs.), Welt-
Welt jedoch nicht mehr zufriedenstellend waren.“6
für ihre Zeit einzigartig großformatigen, ja monumentalen Werkzyklen. anschauung, Philosophie Gleich der dem Sprachsystem entlehnten Grammatik kennt das 19. Jahr-
und Naturwissenschaft hundert auch das Diagramm, vornehmlich als prägnante Artikulationsform
2 ) Vgl. Almquist und 3 ) Hilma af Klint, zit. nach: Daniel Hilma af Klint. Nine Contemporary im 19. Jahrhundert, wissenschaftlicher Abhandlungen, besonders der Naturgeschichte.7 Die
Belfrage, Hilma af Birnbaum und Ann­Sofi Noring, Responses, Moderna Museet Bd. 2: Der Darwinis- Theosophie, in der af Klint ihre ‚Denkbilder‘ verortete, hatte bestimmte Auffas-
Klint. The Art of Seeing The Time Is Ripe for Hilma af Klint, Stockholm, London 2013, o.S.; mus-Streit, Hamburg
mus-Streit sungen des wissenschaftlichen Diskurses ihrer Zeit integriert, insbesondere
the Invisible 2015. in: dies. (Hgs.), The Legacy of Hervorh. und Übers. HL. 2007 47 – 82.
2007, den Evolutionsdiskurs. Und da wir von ihrem ernsthaften Interesse an Mathe-

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matik und Biologie wissen und zudem ihren aus- berühmten Stilfragen (1893) zeigt sich im Kunstwollen eine
geprägten Sinn für oder gar ihr Bedürfnis nach Kunstgeschichte der vorrangig anonym geschaffenen ästhe-
Systematisierung in den Werken selbst erkennen, tischen Formen – im Unterschied zu jener in der traditionellen
schließen wir auf die Diagrammatik als einen ihr Kunstgeschichte vorgefundenen Ideologie der individuellen
vertrauten methodischen Ansatz (ohne die – jün- Autorenschaft und Genialität.
gere – Begrifflichkeit für diese Form bildgeleite- Die Bildsprache af Klints reproduziert bestimmte ikonische
ter Erkenntnis gekannt haben zu müssen): Mit- Zeichen wie das Kreuz. Es scheint deshalb, als unterläge die
tels des Diagramms lässt sich Forschung durch- Künstlerin etwas, als sei sie einer Überzeugung oder sogar
führen bzw. forschen oder auch visuell argumen- einem Glauben unterstellt. Ob wir diesen Glauben teilen oder
tieren; dabei steht das Resultat gegenüber dem nicht, af Klint performte jedenfalls nicht sich selbst als die Er-
Prozess, der Entwicklung, den Übergängen finderin ihrer Ästhetik, sondern zeichnete nach Diktat der, wie
im Hintergrund. So schien es möglich, wissen- sie es nannte, „Höheren Meister“; sie sprach davon, „unterwie-
schaftliche, künstlerische, gesellschaftliche, spi- sen zu werden“. Das Diktat steht jedoch für das Medium: Jedes
rituelle und biografische Dimensionen zu queren. Medium schreibt etwas Gehörtes oder Gesehenes fest, aber
↑ Hilma af Klint, Als heuristisches Hilfsmittel und Forschungsinstrument eingesetzt, blei- es verwandelt dabei das Material entsprechend der aktuellen
Die Evolution, Nr. 5,
5 ben Hilma af Klints Diagramme im Hinblick auf gegenständliche oder un- technischen Bedingungen und Standards bildlicher und ver-
Gruppe VI, Serie gegenständliche Zuordnungen unentschieden. Im Verlauf ihrer visuellen baler Sprache; das Medium fungiert als Schnittstelle zwischen
WUS / Der Siebenstern, Produktion wechseln die Darstellungsmodi zwischen Zeichnung und Ma- Materiellem und Immateriellem. Folglich ließe sich Alois Riegls
1908, Öl auf Lein­ lerei, ja sogar innerhalb einer Serie. Das Metaphysische zeigt sich als eine ↑ Hilma af Klint, „Kunstwollen“ als selbst-lose Umschrift von Formen im Verlaufe der Zeit ver-
wand, 100,5 × 133 cm. Art Formel aus Farbtheorie und modularisiertem Wissen. Die Titel, zumin- Urchaos, Nr. 10,
10 stehen, die sich den jeweiligen Veränderungen im kulturellen und wissen-
dest der frühen Werke, lehnen sich dann wiederum an die Nomenklatur Gruppe II, 1906/07,
07
07, schaftlichen Umfeld und in den sozialen und spirituellen Bräuchen anpasst.
einer biologischen Taxonomie an, derart wie sie Lebewesen gruppiert und Öl auf Leinwand, Interessanterweise scheinen die „Höheren Meister“ in af Klints frühen
hierarchisch organisiert, beispielsweise: Die Evolution, Nr. 5, Gruppe IV, Se- 51,5 × 37 cm. Arbeiten mit Goethe und seiner Schrift Zur Farbenlehre von 1810 vertraut
rie WUS / Der Siebenstern, 1908. gewesen zu sein. Offensichtlich stützten sich ihre Informanten auf seine
Forschungen, besonders das als Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe be-
Ornamente, Gebote, der Mund der Mutter titelte Schlusskapitel VI, als sie die Anweisung gaben, die Visionen doch
in Gelb, Blau und Grün auszuführen, wie in der frühen 25-teiligen Serie
Das in der kunstkritischen Rezeption von Hilma af Klints Werk bislang am Urchaos / Serie WU, Die Rose von 1906/07. In Goethes Theorie besit-
häufigsten aufgeführte ästhetische Konzept ist, dem ersten Eindruck ihrer zen Farben symbolischen Wert; sie verkörpern Energien des Lebendigen.
farbprächtigen Bilder entsprechend, das des Ornamentalen. Im Prinzip Damit ging Goethe in Opposition zu den Naturwissenschaften und ihrer
eine formale Figur, oftmals mit symbolischer Funktion, wird das Orna- Idee vom teleologischen Fortschritt. So hatte er – durchaus in Anlehnung
ment als etwas betrachtet, das entweder mit geometrischem Vokabular an die Physik und deren vertraute operative Prinzipien von positiv und
operiert oder als von Pflanzen abgeleitet gilt. Beide Aspekte sind in af negativ – den Grundfarben und ihren Kombinationen bestimmte Charak-
Klints Bildern unverkennbar. Weiterhin kennt der Ornamentdiskurs das teristika zugeschrieben, um diese dann auf das psychische Leben und das
Ornament als eine Komposition mit gewissen abstrakten Merkmalen; for- organische und sozio-kulturelle Umfeld zu übertragen. Bemerkenswert ist
mal meist ausgewogen angeordnet, soll das visuelle Element in sich eine jedoch, dass das vorherrschende Blau, Gelb und Grün später aufhört, af
geschlossene Einheit bilden. Es wird zudem eher als ein Zusatz, eine Ap- Klints Bilder anzuleiten, wenn wir kaum noch das pflanzenartige Grün als
plikation und nicht als eigenständige visuelle Botschaft verstanden. In die Aufhebung (Hegel) oder Sublimierung einer etwaigen körperlichen
diesem Sinne scheinen Ornamente und Diagramme etwas gemeinsam zu Anziehung der Geschlechter – ein ebenso zentrales, wie in der Schwebe
haben, was jedoch keineswegs heißt, dass sie derselben Kategorie des gehaltenes Thema der Künstlerin – vorfinden, sondern die mutmaßliche
Bildlichen angehören. Im Gegensatz zum Ornament als eine in sich ge- Aussöhnung von Antinomien in symmetrischen Kompositionen dargestellt
schlossene Figur ist nämlich das auf Wechselbeziehungen ausgerichtete wird, in denen gewisse grafische und farbliche Elemente auf Beziehungen,
Diagramm offen für Veränderung. Während das Ornament seit Langem Metamorphosen und Wachstum verweisen. Hilma af Klint hat nicht etwa
Gegenstand eines anhaltenden Diskurses ist, kommt dem Diagramm erst Antworten auf Fragen aufgezeichnet. Vielmehr geht es um eine Suchbe-
seit Kurzem eine vergleichbare theoretische Aufmerksamkeit zu. Betrach- wegung, in der das Virtuelle aktualisiert wird (Evolution, Nr. 5, Gruppe 4,
ten wir aber Alois Riegls Konzept des „Kunstwollens“ – paraphrasiert als Serie WUS / Der Siebenstern, 1908).
eine die Evolution des Stils betreibende Kraft –, so kann das Ornament In der Urchaos-Serie, und besonders im Werk Nr. 10, dreht sich alles
nicht länger lediglich als dekoratives Element durchgehen. Laut seiner um das Alphabetische (und ist zudem in eben jenen nach Goethe symbo-

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lisch konnotierten Grün-, Gelb- und Blautönen ausgeführt): von einzelnen Um 1800 entstanden Fibeln für Mütter, Anleitungen, wie sie
Buchstaben, genauer von Vokalen, ergänzt durch das W als Zeichen für ihren – männlichen – Nachkommen lesen und schreiben bei-
Materie und Weiblichkeit, während das U als Repräsentant des geistigen – bringen sollten. Gerade weil sie keine eigene Stimme hatte,
und männlichen – Prinzips bereits Teil der den Vokalen zugehörigen Grup- wurde Mutter/Natur zur Quelle der Kulturübertragung: ihre
pe ist, zu einem Repertoire von Linien: solche, die Spiralen bilden, Teilstücke Aufgabe war es, zum Sprechen zu bringen. Einhundert Jahre
von Strichen, durchgezogene Linien, unterbrochene Linien, aber auch Lini- später arbeitete af Klint an dem umfangreichen und komple-
en, die Tabellen bilden. Es scheint, als ob af Klint den antagonistischen Vi- xen Projekt, das ich die „spirituelle Alphabetisierung“ nenne.
talismus, den Goethe den Farben zuschrieb, gemeinsam anordnet mit dem, Die Rolle der Natur zeigt sich dabei im Einsatz von Motiven
was ich als das Alphabetische bezeichne, nicht zuletzt um die Mittel der wie botanischen und zoologischen Elementen, Pflanzen, dem
Übertragung der ‚Botschaften‘ ins Visuelle transparent zu gestalten, anstatt Schwan, der Schnecke und so weiter. Ebenso finden wir eine
sie im dubiosen Bereich der Behauptung unsichtbarer Kräfte zu belassen. abc-hafte Einfachheit und Klarheit in den von af Klint ver-
Af Klint sah sich selbst als Werkzeug, und sie legte ihre Werkzeuge offen. wendeten Mitteln, von der schlichten Farbanwendung bis
Es ist erstaunlich, wie viele Bilder, neben den ornamentalen Blütenblättern, zum ornamental reduzierten Formenvokabular. Vor allem aber
den Ei-Formen, den Spiralen, einzelne Buchstaben oder ganze Wörter ent- hatte die Künstlerin die weibliche Rolle der Materialisierung
halten, in manchen Fällen auch Zahlen. In all diesen Zeichen schwingt eine angenommen: Sie transkribierte eine Art Wissen über andere
Vorstellung des Lernens mit: akkurate Buchstaben, einfache Formen, klare und tat dies durch andere – die ‚Geistführer‘. Ob dies nun auf
Farben. Af Klint hat nicht nur als Medium fungiert, sondern agierte auch mit der bewussten Entscheidung einer Frau beruhte oder eher
pädagogischem Eros, als Lehrende für Schüler mit spirituellen Anliegen. das Resultat gewisser bürgerlicher Moden war (was für das
Die Schriftelemente sind integraler Bestandteil des Bildes. Sie werden ↑ Ernst Haeckel, Praktizieren von Séancen und die Auseinandersetzung mit Theosophie zu
in genau der gleichen Weise ausgeführt wie die Symbole und Ornamente: Flechten, Kunstformen jener Zeit ganz gewiss gilt), sollten wir an dieser Stelle nicht entscheiden,
Das Lineare, das Typografische und das Malerische finden allesamt gleich- der Natur, Leipzig und da ein ‚close reading‘ von Hilma af Klints künstlerischen Methoden das
berechtigt statt und entstehen oftmals in fließendem Übergang mit- und Wien 1904, Tafel 83. problematische Urteil von „entweder … oder“ ersetzt.
ineinander. Der Kunsthistoriker David Lomas bemerkt in seinem Essay In all ihrer farblichen Schönheit wirken Klints frühe Formen zwar or-
Die botanischen Wurzeln der Abstraktion im Werk Hilma af Klints, die Li- namental, funktionieren aber wie Diagramme: Entstanden sind sie als
nie bekomme etwas Lebendiges, Spielerisches; sie umkreise statischere bildhafte Entsprechungen geistiger Wandlungsprozesse. Neben den
Formen und animiere die „gesamte Komposition. Dieselbe verschlungene kompositorisch stabilen Bildanordnungen und symmetrischen Gestal-
Rankenlinie verwandelt sich schließlich in eine Art von Schreibschrift.“8 tungselementen schauen wir auf ornamentale Figuren wie die Spirale, die
Hier wird das Grafische vital. den Eindruck des Prozesshaften, der Transformation und des Übergangs
Das Symbolische und das Imaginäre operieren daher nicht als gegen- 11 ) Vgl. Rudolf Steiner, in ihrem Werk unterstützen. Gewiss gründen meine Beobachtungen und
8 ) David Lomas, Die läufige Bedeutungssysteme, sondern vermitteln gemeinsam die Vorstel- Haeckel und seine Beschreibungen in einem Denken der Struktur; Struktur ist jedoch inner-
botanischen Wurzeln lung der Künstlerin von spiritueller Wahrheit. In Zyklen arbeitend, zeigt Gegner, in: Die Gesell­ halb der Abstraktion, die hier ja mit im Spiel ist, ein zentraler Begriff. Ernst
der Abstraktion im jeder Werksatz eine andere Kombination des beinahe gleichen Bildmate- schaft, Jg. 15, Bd. 3, Haeckels Bildtafeln aus Kunstformen der Natur (1904) zeugen mit ihren
Werk Hilma af Klints, rials. Ihr Werk ist von Wiederholung geprägt und kommt doch als Experi- Heft 4, 5, 6, Aug./Sept. stilisierten Arrangements von Radiolarien (Meereseinzellern) und Pflanzen
in: Klint – Pionierin ment daher, wobei die Wahrheit niemals als solche benannt wird, sondern 1899, erneut in: ders., kaum vor af Klints Arbeiten davon. Haeckel (1834 – 1919) war ein bedeu-
2013, 223 – 239, 225; visuell als Bewegung zirkuliert – folglich auch die Spirale als Symbol und Methodische Grundla- tender deutscher Biologe, Zoologe, Philosoph, Arzt und Künstler, der viele
Übers. geändert HL. Programm der Erfahrung von Zeit und von Richtung im Raum. gen der Anthroposophie. neue Arten entdeckt, beschrieben und benannt, einen Stammbaum für alle
Um ideologische Veränderungen in der Bildung zu zwei verschiedenen Gesammelte Aufsätze Lebensformen entworfen und in der Biologie viele Begriffe geprägt hat –
9 ) Friedrich Kittler, Zeitpunkten, 1800 und 1900, vorzustellen, argumentierte der Medienthe- 1884 – 1901, Dornach all dies angetrieben von festen darwinistischen Überzeugungen. Rudolf
Aufschreibesysteme oretiker Friedrich Kittler in seinen Aufschreibesystemen 1800 • 19009 mit 1989, 152 – 200. Steiner, dessen Abhandlungen in schwedischer Übersetzung in af Klints
1800 • 1900 (1985), dem „Muttermund“. Unter Muttermund sind hier zwei Organe zu verstehen: Bibliothek viel Raum eingenommen haben, befand sich in intellektuellem
München 1995 der Ort des (mütterlichen) Sprechens und jenen Ort, der sich zweimal 12 ) Eine detaillierte Austausch mit den von Haeckel verfochtenen Vorstellungen einer künfti-
(3., vollständig über­ öffnet, um zu empfangen und um zu gebären. Nach Kittler war es um Kritik bei Daniel gen Einheit von Materie und Geist11, die für gewöhnlich als sich gegensei-
arbeitete Auflage), 1800, dass Weiblichkeit und Natur zu Synonymen und die Frauen darauf Hindes, Rudolf Steiner tig ausschließende Gegensätze aufgefasst wurden. Zudem begründete er
Kapitel Der Mutter­ verpflichtet wurden, die Worte der anderen auf die Welt zu bringen. Mit and Ernst Haeckel; seine Kosmologie, seine Idee einer „werdenden Welt“ – die Welt habe drei
mund, 35 – 88. Goethe hat die Natur zwar „keine Sprache noch Rede, aber sie schafft http://defending Stadien durchlaufen, bevor sie die Lebensbedingungen, wie wir sie heute
Zungen und Herzen, durch die sie spricht.”10 Von da an hatten die Anwei- steiner.com/articles/ kennen, hervorgebracht hätte – auf Haeckels Rekapitulationstheorie. Seit
10 ) Goethe, zit. nach: sungen der Mutter die körperliche und geistige Erziehung ihrer Kinder rs­haeckel.php Langem widerlegt, hatte Haeckel zur Biogenetischen Grundregel erklärt,
ebd., 35. zum Ziel, getragen vom gesellschaftlichen Auftrag, sie zu alphabetisieren. (zuletzt 20.05.2017). die Ontogenese rekapituliere die Phylogenese.12

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Wie wir wissen, begann af Klint ihre künstlerischen Auseinan- dient fast immer der Veranschaulichung ästhetischer und kunsthistorischer
dersetzungen mit naturwissenschaftlichen Studien, umgesetzt Argumente, wenn es darum geht, den Einfluss spiritueller Auffassungen
in filigrane Zeichnungen und detailgetreue Aquarelle; auch Hae- auf die paradigmatische Wende von illusionistischer Bildgestaltung hin
ckels berühmte Abbildungen von botanischen und zoologischen zur Abstraktion um 1900 zu diskutieren.14 Unter den vielen Abbildungen in
Arten waren das Ergebnis wissenschaftlicher wie künstlerischer Fludds Schrift befinden sich einige, die den Tafeln in Lehrbüchern gleichen.
Forschung. Wenngleich Zeichnen im damaligen Kunsthoch- Die hier ausgesuchte ist ein hervorragendes Beispiel für die Erzeugung von
schulstudium eher den Frauen zugeordnet wurde, hat der we- Wissen durch Übergangsformen zwischen numerischen und ikonischen
sentliche Unterschied zwischen Haeckel und af Klint weniger Zeichen. Während die Zahlen 1 bis 10 untereinander aufgelistet sind, ver-
mit dem Geschlecht, als vielmehr mit demjenigen ihrer Erkennt- schiebt sich ihre symbolische Darstellung schon bald von der reinen Wie-
nisinteressen und Ästhetiken zu tun. Unternimmt Haeckel in ↘ Hilma af Klint, dergabe von Quantitäten zu der von visueller Ähnlichkeit und Semiose. Die
seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte von 1868 den Versuch, Notizbuch Nr. 588: Nr. 6 zum Beispiel steht in Beziehung zu zwei Symbolen: einem Laborappa-
die Natur zu säkularisieren und zugleich die Kultur zu naturalisie- Blumen, Moose, Flech- rat in Form einer 6 und einer Schnecke mit Haus. Es sind formale Analogien,
ren, stellen seine späteren Bildtafeln in den bereits erwähnten ten, 1919/1920, Einträge die das Repräsentationssystem für nicht-lineare, über das Semantische
Kunstformen der Natur eher eine Zergliederung von Natur in Ar- vom 2. – 11.7.
7 1919.
7. hinausreichende Gedanken zu öffnen vermögen.
ten dar. Wir begegnen also isolierten Formen in grafisch einge-
frorenen Ornamenten. Diese Fossilierung wird betont durch eine
bestimmte Ästhetik, die irgendwo zwischen Symbolismus und
Art déco angesiedelt ist. Haeckels Organismen sind nicht mehr
lebendig. Obschon äußerst ansprechend in ihrer Gestaltung und
Farbgebung, wirken sie wie Skelette. Jedes seiner Objekte bleibt
klar unterscheidbar in seinem jeweiligen Bereich der Klassifi-
zierung, wissenschaftlichen und ästhetischen Regeln folgend
↑ Robert Fludd, verzeichnet. Hingegen berühren oder überschneiden sich bei af Klint die
Utriusque Cosmi maio- Kreise, Spiralen und Eierformen an vielen Stellen, werden als miteinander
ris scilicet et minoris verbunden dargestellt. Sie entwickeln sich ineinander und verändern sich
Metaphysica, physica dabei nicht nur in puncto Formgebung, sondern auch in ihren imaginären
atque technica Historia, Funktionen. Möglicherweise entdecken wir sogar Anzeichen von Partizi-
1624, Bd. II, 40, Kup­ pation, in dem Sinne, dass manche Formen materiell an anderen Formen
ferdruck auf Papier, teilhaben oder buchstäblich Anteil nehmen. In jedem Fall aber sind ihre
19,5 × 30,3 cm. Figurationen nicht irgendeinem Stammbaum untergeordnet, sondern ver-
wandeln hierarchische Abhängigkeiten in eine Art Gemeinsamkeit.
Af Klint hatte freilich einen anderen Hintergrund. Für eine zwingendere
Kontextualisierung sollten wir daher Haeckels Darwin mit ihrem Robert
Fludd (1574 – 1637) austauschen, dessen Utriusque Cosmi maioris scilicet et
minoris Metaphysica, physica atque technica Historia, 1617 – 21 (Geschich-
te der zwei Welten)13 eine wichtige Referenz für sie darstellte. Fludd war
ein englischer Arzt und Universalgelehrter mit großem Interesse an Ast-
rologie, Kosmologie, der Kabbala und dem frühen Rosenkreuzertum. Er Notizbuch Nr. 588
hatte zudem ein Farbsystem entworfen, das zwischen 1629 und 1631 in
einer medizinischen Arbeit erschien und als das erste gedruckte über- Zwei Jahre später, 1919, kam af Klint auf die Botanik zurück und nannte ihr
haupt gilt. Die zwei hier zur Diskussion stehenden Welten sind diejenigen Notizbuch Nr. 588 Blumen, Moose, Flechten. Bereits im Januar 1917 hatte
13 ) Robert Fludd, des Mikrokosmos menschlichen, irdischen Daseins und des Makrokosmos sie geschrieben: „Zuerst werde ich versuchen, die Blumen der Erde zu
Utriusque Cosmi maioris des Universums, einschließlich der geistigen Welt. Diese beiden Bereiche verstehen, mein Ausgangspunkt sollen die Pflanzen dieser Welt sein. Dann
scilicet et minoris wurden konzipiert als symmetrisch gespiegelt und aufeinander projiziert; werde ich mit der gleichen Sorgfalt studieren, was in den Gewässern der
Metaphysica, physica neben viergeteilten Figuren begegnen uns auch in af Klints Werk häufig Welt bewahrt wird. Dann wird es der blaue Äther mit seinen vielen Tierar-
atque technica Historia, horizontal in Hälften geteilte Bilder. Fludd hatte seine alchemistische Kos- 14 ) Vgl. z.B. Tuchman, ten sein […], und zu guter Letzt werde ich in den Wald vordringen, werde
Oppenheim, Frankfurt mologie anhand einer Serie von gleichermaßen komplexen wie schönen Hidden Meanings 1986, die feuchten Moose studieren, alle Bäume und die Tiere, die in dieser küh-
1617 24.
1617, geometrischen Diagrammen erklärt. Eine bestimmte Auswahl von ihnen 23 – 25. len, dunklen Baummasse leben.”15 In makellosem Deutsch – der Sprache

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Rudolf Steiners – und unter Verwendung der ihr bildliches Vokabular in Variationen zu wiederholen. Genau hier ergibt
wissenschaftlichen lateinischen Bezeichnungen sich die formale Nähe zum Ornamentalen, ohne jedoch die traditionellen
für die Pflanzenarten, bildete af Klint diese nicht kulturellen Bedingungen und Funktionen des Ornaments zu erfüllen.
figürlich ab, sondern wählte ungegenständliche
bzw. geometrische Darstellungsmodi. Vertraute Selbstlose Materialisierung versus Hermeneutik
Formen wie Viereck, Kreuz, Kreis oder Ellipse
können als mögliche Charakteristika eines über- Doch was rechtfertigt meinen strukturalistischen Ansatz im Nachdenken
und sicherlich wohlgeordneten Systems gelten. über Hilma af Klint, der ihre Weltanschauung nahezu zu ignorieren und ihre
Zarte, kleine Pfeile deuten Verwandlungen an, Notiz- und Tagebücher nicht als Zeugnisse ihrer Überzeugungen zur Kennt-
unterbrochene Kreislinien verbildlichen Bewe- nis zu nehmen scheint? Nun, ich wurde selbst durch ihre Formgebungen
gungen, gar Tempo, kleine Strahlenkränze brin- eingewiesen und besonders durch die Art und Weise, wie die Künstlerin bei-
gen eine Form visuell zum Leuchten, oder leicht nahe pedantisch, in jedem Falle aber überzeugend unsentimental, von ih-
verwischte Kanten markieren Fließendes. ren Erfahrungen mit den ‚Meistern‘ berichtet. Es ist dieser Zusammenhang,
Hilma af Klint, Weizen In diesem Heft folgt auf den botanischen Namen einer Blume das Wort in dem sie auch ihre mannigfaltigen Konstruktionen des geschlechtlichen
und Wermut. Beim „Richt.linien“. Der Begriff, synonym mit einer Anleitung – für botanische wie sexuellen Binarismus von weiblich/männlich und der psycho-religiösen
Betrachten von Blumen Bestandsaufnahmen, für das Anlegen eines Herbars –, wird von Hilma af widerstrebenden Kräfte innerhalb des transzendentalen Bereichs des Spi-
und Bäumen, 1922, Klint typografisch durch einen Punkt unterbrochen und damit ihre Intenti- ritismus, der Theosophie und, etwas später, der Anthroposophie entwickelt
Aquarell und Bleistift on visiosymbolisch angezeigt. Denn über die Idee des Leitfadens hinaus – um unmissverständlich auf eine Integration von Gegensätzen bzw. deren
auf Papier, impliziert Richtung auch Ausrichtung, Orientierung, Tendenz, sprich Or- gemeinsames, Pflanzen vergleichbares Wachsen als dritte Figur abzuzie-
17 3 × 24,7 cm.
17, ganisationsformen von Zeit und Raum. Zudem kann Richtung eine Denk- len. Damit entspricht meine Analyse nicht dem mentalen und biografischen
schule oder Lehrauffassung samt ihren Urteilen darstellen. Auch wenn es Bild, welches der schwedische Kunsthistoriker und Anthroposoph Åke Fant
uns nie gelingen mag, af Klints spirituelles oder kosmisches System in in seiner Monografie Hilma af Klint. Okkultismus und Abstraktion von 1992
Gänze zu erfassen, so sehen wir doch die konkreten Linien, die sie zeich- gezeichnet hat.17 Einerseits hinterlässt Fant den Eindruck einer Künstlerin,
net – und ich plädiere an dieser Stelle für ein aufmerksames Lesen der die gewiss nicht der unklaren Kategorie der „Outsider Artists“ zuzuordnen
Bilder und gegen die Projektion von symbolischen Inhalten, welche den ist – immer gerne auf Personen angewendet, die Stimmen hören. Ander-
Raum des gegenständlich nicht zu Taxierenden füllen. Hier entsteht etwas, seits bedauert der Autor beinahe ratlos, dass sie nur das klar zu artikulieren
das af Klint nur wenig später mit der Zeitform des Betrachtens in Verbin- imstande war, was zu tun war und wie dies zu geschehen habe, sich jedoch
15 ) Hilma af Klint, dung bringt. Dann heißen Blätter beispielsweise Weizen und Wermut. Beim anscheinend nicht in der Lage sah, ihre Bilder zu deuten.
Notizbucheintrag vom Betrachten von Blumen und Bäumen (1922). Im Widerspruch zur konventionellen Vorstellung jeglicher gleichsam na-
17 01.1917,
17. 1917, zit. nach:
1917 Es sind also Linien, die Abschnitte materialisieren, indem sie entweder türlichen Verbindung von künstlerischen Mitteln, Methoden und Hermeneu-
Lomas, Die botani­ verbinden oder trennen; die Farben erscheinen subtil abgestuft. Heutige tik sah die Künstlerin ihre Aufgabe in der Materialisierung selbst. Obwohl
schen Wurzeln der Betrachter müssen nicht unbedingt Anthroposoph*innen oder Mitglieder sie beharrlich Diktate in ein visuelles und verbales De/Sign übertrug, war
Abstraktion 2013, 225; eines theosophischen Kreises sein, um in der diagrammatischen Visualisie- sie selbst begierig auf der Suche nach einem Interpreten, jemandem, der
Übers. geändert HL. rung ein auf Verlauf und Transformation ausgerichtetes Denken und Wahr- mit der richtigen Botschaft aufwarten würde. In diesem Sinne muss Steiner
nehmen zu erkennen. Und obwohl sich die Zeichen für Umwandlungen auf eine schreckliche Enttäuschung für sie gewesen sein: Der von ihr verehrte
16 ) Birgit Pelzer, eine Sphäre beziehen, innerhalb derer keine konkrete soziale oder politi- geistliche Führer, dem sie sich vollständig unterworfen zu haben schien,
Idealities, in: Catherine sche Aktion geplant ist, können solche Methoden des Virtuellen die Reform hatte sich geweigert, ihre Bildsprache ‚zu lesen‘. Stattdessen lehnte er ihre
de Zegher, Hendel aller möglichen Systeme anstoßen. So sehen wir die Gemeine Heckenro- mediumistische Methode, Stimmen und Visionen zu folgen, grundsätzlich
Teicher, Drawing Cen­ se (Rosa canina) mit dem Gemeinsinn der Menschen (Notizbuch Nr. 588, ab und weigerte sich, ihre einzigartige Mischung aus Schrift-, grafischen
ter (Hgs.), 3 x Abstrac- 7.7.1919) in Verbindung gebracht, indem ein mehrfarbiges und mehrteiliges und ikonischen Elementen nachzuvollziehen. Freilich war Steiner mit dem
tion: New Methods Element die binäre Schwarz-Weiß-Figur gleichsam kommentiert. Af Klint’s falschen Mandat betraut worden, als er gebeten wurde, einen spezifischen
of Drawing: Hilma Bilder organisieren Wissen über Ungewissheiten und Alternativen; sie sind Inhalt gutzuheißen, anstatt ihren ‚Setzkasten‘ auszubuchstabieren, bzw. die
af Klint, Emma Kunz, „Metaphern für Erscheinen und Verunsicherung”, wie die Kunsthistorikerin tastenden Beziehungen zwischen Künstlerin, Religion, sozialem Umfeld
Agnes Martin, Kat. Birgit Pelzer 2005 in ihrem Essay „Idealities“ feststellt.16 Solches Wissen und Nicht-Ichs / Non-Egos anzuschauen, wie sie die Künstlerin vorläufig
The Drawing Center, zeigt sich nicht als unumstößliches Resultat, sondern als der angestrebte 17 ) Åke Fant, Okkultis- und keineswegs endgültig in ihren Diagrammen skizziert hatte. Selbst Åke
New York u.a. 2005 – Effekt von Kräften: Kräften der Natur, Vorstellungskräften, Kräften geistiger mus und Abstraktion. Fants Einschätzung der philosophischen Ideen und materiellen Verfahren
2006, New York 2005, und psychischer Verfassung. Af Klints methodologischer Ansatz in Bezug Die Malerin Hilma af der Künstlerin – und deren Subtext – nach, müssen Buchstabieren, Lesen
63 – 83, 72. auf Entstehung und Transformation bestand darin, seriell zu arbeiten und Klint, Wien 1992. und Übersetzen viel stärker im Vordergrund gestanden haben: Trotz ihrer

Anlässlich von Hilma af Klints Notizbuch


Nr. 588: Blumen, Moose, Flechten, 1919/1920 31 Hanne Loreck 32
medialen Aufzeichnungen in den frühen Séancen mit Die Fünf – um 1887
von fünf jungen Frauen, darunter zwei Künstlerinnen, gegründet – war af
Klint auf die Übersetzungen ihrer Gefährtinnen aus dem Deutschen ange-
wiesen, da sie selbst die Sprache nicht beherrschte. In ihrem gesamten
künstlerischen Schaffen hatte es also eine Art gemeinschaftlichen Prak-
tizierens gegeben, sei es bei der Zusammenarbeit mit ihren Geistführern
oder mit ihren Freundinnen oder Co-Autorinnen.
Es ist diese Produktionsmethode in Verbindung mit einer Erkenntnis-
Vision und einer bestimmten, zwischen dem Figürlichen und Ungegen-
ständlichen angesiedelten Ästhetik, die einer künstlerischen Position wie
der von af Klint heute ihre Bedeutung verleiht. Dazu müssen wir nicht Engel
und dergleichen anerkennen, aber wir sollten af Klints täglich gelebte und
künstlerisch praktizierte Transzendierung des Ichs anerkennen sowie die
Alternative gemeinschaftlichen Arbeitens, zum historischen Zeitpunkt in et-
was, das Schwesternschaft heißen könnte, welche die engen Grenzen des
Kunstfelds überschreitet. Jedoch haben sich damit die komplexen Verwer-
fungen, die sich geschichtlich auf den Ebenen von Schriftlichkeit, okkul-
ten Botschaften, (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnissen und verschie-
denen Wahrnehmungsmethoden eingeschlichen haben, keineswegs erle-
• Übersetzung digt. Folglich mussten wir die Ästhetik der Künstlerin mit den visuellen Sys-
Barbara Lang temen von Wissen, Richtlinien, Erziehung und Lehre ihrer Zeit vergleichen.

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