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Forschungsmethoden 6 Hadorn 10.10.

2021

Arbeitsauftrag: Hermeneutik II

Wie ist ein Text zu verstehen, was sagt er aus, was muss ich für die Interpretation berücksichtigen?
Um einen Text hermeneutisch zu erfassen, spricht Klafki von 11 Grunderkenntnissen,
methodologische Gesichtspunkten, die das Verständnis, die Interpretation des Textes beeinflussen
und so zum hermeneutischen Zirkel, oder, meiner Meinung nach passender, zu einer
hermeneutischen Spirale führen. Im Zusammenhang mit dem Arbeitsauftrag wird im Folgenden der
Textausschnitt «Kritische Erziehungswissenschaft» von Herwig Blankertz (1979) unter Beachtung von
fünf Regeln erfasst bzw. dies versucht.
Vor dem ersten Lesen des Textes stellt sich bereits die Frage, welche Erwartungen ich als Leserin an
den Text habe, gemäss Regel 1. Eine Textinterpretation entsteht immer unter bestimmten
Fragestellungen, die auf einem gewissen Vorverständnis aufbauen. Exemplarisch am Text von
Blankertz stelle ich mir die Fragen:
 Was versteht Blankertz unter dem Begriff «Erziehungswissenschaft»?
 Was meint Blankertz mit «kritisch»?
 Wer war Blankertz (Werdegang, Person, Situation, etc.)
 Warum hat sich Blankertz mit der Erziehungswissenschaft beschäftigt?
Wichtig zu bedenken, was später auch dargestellt wird ist, dass sich Fragen während des Lesens
verändern und anpassen können oder müssen, um ein Verständnis des Textes zu erhalten.
Beim ersten Lesen habe ich erkannt, dass meine Fragen, an den Text bzw. an den Autor nicht so klar
beantwortet werden, wie ich dies erwartete. Blankertz gibt im gelesenen Abschnitt nicht eine klare
Antwort, sondern diskutiert den Begriff «Bildung», selten «Erziehungswissenschaften». Es stellt sich
mir hier nun die Frage, warum der Autor fast ausschliesslich von Bildung spricht. Ist dies
stellvertretend für die Erziehungswissenschaft zu verstehen? Weiter habe ich beim ersten Lesen
gemerkt, dass Blankertz sehr viel hinterfragt und kritisiert, er betrachtet Bildung und Äusserungen
kritisch.
Zu den Fragen über Blankertz und seiner Person habe ich im Textabschnitt keine, mir bewussten
Inputs und Informationen herausfiltern können. Nach einem ersten Lesen und Anpassen der Fragen
kann der Text unter einem weiteren Aspekt gelesen und betrachtet werden.

Meiner Meinung nach ist die von Klafki vorgegeben 4. Regel zu Beginn einer Interpretation des
Textes relevant. Diese Regel befasst sich mit der Semantik, der Bedeutung von Worten und Formen
eines Textes. Dabei ist zu beachten, was auch in den anfangs gestellten Fragen erkennbar ist, dass ich
mich mit der Frage nach der Bedeutung der Begriffe «kritisch» und «Erziehungswissenschaft» nach
Blankertz befasst habe. Wie hat er als Autor die Begriffe definiert und verstanden? Ist es gleich wie
mein Verständnis? Wie sieht es mit weniger zentralen Begriffen aus? Blankertz spricht im
Textabschnitt fast ausschliesslich von Bildung, einzig zu Beginn, S. 41 und S. 42 wird die
Erziehungswissenschaft erwähnt. Bei dem Begriff «Bildung» greift er auf Theorien der Griechen, von
Heydorn (1970), Humboldt und Menne (1976) zurück, wobei er teilweise von Pädagogik, teilweise
von Bildung spricht. Ob dies hier gleichgesetzt werden kann ist fraglich.
Eine weitere Formulierung, die mir aufgefallen ist, ist «autistische Befangenheit». Diese Äusserung
findet sich auf S. 43 und S. 44. Was Blankertz damit meint, konnte ich so aus dem Text nicht
erschliessen. Die Wortwahl finde ich aber sehr interessant.
Weiter fällt auf, dass der Autor, diverse Sätze mit der Verneinung oder Hinterfragung des
Vorangegangenen beginnt. Bsp. S. 42: «Gegenüber», «Davon kann keine Rede sein…» oder «Es ist
eben nur die halbe Wahrheit». Weiter startet Blankertz seine Sätze mehrere Male mit «aber», was
wiederum eine Ergänzung, Differenzierung, Wiederlegung oder Hinterfragung beabsichtigen kann.
Für mich wirkt dies so, als Blankertz uns Lesern mitteilen möchte, dass es zwar Definitionen etc. gibt,
die jedoch nicht vollumfänglich und eindeutige Antworten auf gewisse Fragen liefern. Interessant ist
auch das Wort «töricht», dass der Autor auf S. 42 verwendet. Dadurch suggeriert er meiner Meinung
nach, dass die darauffolgenden Aussagen lächerlich ist und es lachhaft wäre, wenn ich als Leser diese
Forschungsmethoden 6 Hadorn 10.10.2021

Anschauung teilen würde. Interessanterweise sagt Blankertz im Text nicht konkret, was ich wie
verstehen soll, aber hier welches Verständnis lachhaft, töricht wäre.

Beim wiederholten Lesen des Textes ist nun mein Ziel die logische Folgerichtigkeit, nach Regel 9
kritisch zu betrachten und mir die Frage zu stellen, ob Blankertz den Text entsprechend logisch
aufgebaut hat. Es gilt die Begründungen, Folgerungen und Herleitungen kritisch zu überdenken.
Nach meinem Empfinden ist der Textabschnitt in sich logisch aufgebaut. Blankertz beginnt mit
Definitionen der Bildung mit Bezug auf die Griechen, den Ethos: Verbleib des Menschen (S. 41), klärt
was er selbst (nicht) unter Bildung versteht. Danach befasst er sich mit den Lehrenden und den
Lernenden. Die Lernenden betrachtet er anschliessend als Subjekt, spricht über Individualität,
individuelle Entfaltung aber auch über die externe Beurteilung durch die Lehrenden. Zum Schluss
fasst er die Inputs nochmals zusammen und äussert seine konkrete Meinung.

Ein weiterer Aspekt, der für eine hermeneutischen Textanalyse zentral ist, ist das Situieren in den
Gesellschaftlichen Kontext, das Beachten der gesellschaftlichen Lage, Normen, und das
gesellschaftliche Interessens des Autors. Dies entspricht bei Klafki der Regel 11.
Der Text wurde 1979 in Bochum, Deutschland, veröffentlicht. Thema war zu dieser Zeit die Reduktion
der Lehrerarbeitszeit, die Diskussion über Gesamtschule, die steigende Attraktivität privater Schulen
sowie die Neuregelung des Hochschulzugangs (Edelstein, Veith, 2017). Bereits zu dieser Zeit wird das
Schulsystem kritisch betrachtet. So schreibt Hellmut Becker (1976), dass Deutschland die Chance
gehabt hätte ein aufgelockertes Schulsystem der Förderung und Verteilung zu schaffen, diese Chance
aber am Schwinden und das Handeln der Regierung entgegen dessen war. Es wird erkennbar, dass
Bildung und das Bildungssystem in dieser Zeit kritisch betrachtet und hinterfragt wurde, was mit den
Äusserungen von Blankertz übereinstimmt bzw. das Verständnis vertieft und verändert. Spannend
ist, in Bezug auf die Reduktion der Lehrerarbeitszeit, dass Blankertz den Fokus von Bildung diskutiert.
Er sieht die Lernenden als Subjekt an, nicht die Lehrenden.

Die letzte Regel, die ich hier exemplarisch auf den Text von Blankertz anwenden möchte, ist es den
hermeneutischen Ansatz als Zirkel bzw. Spirale zu sehen. Der Zirkel (Regel 10) beschreibt das
Anreichern des Vorwissens und unter diesem Aspekt den Text neu zu interpretieren. Daher wird nach
Klafki auch von einer Spirale gesprochen, da ein Text durch neue Inputs anders, «besser» verstanden
und interpretiert werden kann. Dies ist bereits an den von mir dargestellten Anwendungen der
Regeln zu erkennen. Wobei ich den Text zu Beginn als Kritik und Hinterfragung der Bildung und des
Bildungssystem interpretiert habe, habe ich unter Betrachtung des Sozialen Kontexts und der
Semantik den Text differenzierter verstanden. Blankertz hat einen logischen Aufbau gewählt, von der
Geschichte zum Individuum in der Zeit, in der der Text verfasst wurde. Dies war mir beim ersten
Lesen nicht bewusst. Auch dass es nicht um Kritik an Bildung geht, sondern darum das ganze
Bildungssystem zu hinterfragen und kritisch zu betrachten. Werden die unterschiedlichen Aspekte
miteinbezogen, erhält der Textausschnitt Tiefe und ich ein anderes differenzierteres Verständnis. Für
mich wäre es weiter spannend, Informationen über seine Person zu recherchieren. Dadurch würde
der Text sicherlich nochmals einen anderen Impuls erhalten.
Abschliessend kann ich sagen, dass die hermeneutische Spirale so gesehen kein Ende hat. Es ist
genau genommen ein lebenslanger Prozess, der zu Ende ist, wenn ich den Sinn in einem Text erfasst
habe bzw. ich wenig, bis keine neuen Erkenntnisse aus dem Text gewinne. Da wir uns dessen aber nie
ganz sicher sein können, ist es ein fast endloser Prozess.

Reflexion: Interessant war, dass ich durch das hermeneutische Erarbeiten des Textes das Gefühl
habe, den Text teilweise erfasst zu haben, was beim ersten Durchlesen nicht der Fall war. Es ist
spannend zu merken, was ich «übersehen» bzw. nicht bewusst wahrgenommen habe, wie ich
Abschnitte plötzlich anders interpretiere und verstehe. Auch wenn der Prozess zeitaufwendig ist, so
macht es doch Sinn einen Text unter Miteinbezug bestimmter Regeln mehrmals zu lesen, um den
Inhalt erfassen zu können. Die Frage, die sich mir nun stellt, ist, ob ich jemals einen Text so
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verstanden habe, wie es beabsichtigt war. Das hermeneutische Erarbeiten eines Textes wird
sicherlich Einzug in mein Studium und meine Dissertation haben.

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