Die Glocken schlugen Mitternacht und im Laden für eh fast alles rumpelte es
in einer Holzkiste.
Ladens, eine glänzende Schnauze lugte aus der Kiste, und dann eine Mähne.
Schließlich klappte der Deckel ganz auf und ein zerzauster Stofflöwe kletterte
heraus.
1/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Für einen Moment schimmerte das Herz in der Dunkelheit durchsichtig, dann
füllte es sich auf wundersame Weise mit allen Farben dieser Welt, Farben so
bunt wie Bonbons in einer Tüte, wie Orchideen im Dschungel, wie Kugeln an
einem Christbaum.
Er leckte sich mit der Zunge die Pfoten sauber, plusterte sich auf und sagte:
Der Laden war genauso vollgestopft wie letztes Jahr um die gleiche Zeit und
Der Löwe wusste nicht, wie oft er schon am 1. Dezember in dieser alten Kiste
gelandet war.
2/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
In der Kiste lag ein Schuh, den ein Einbeiniger zurückgelassen hatte, weil er
In der Kiste lag ein rostiger Schlüssel für ein Haus, das längst abgerissen
worden war.
der bereit war, ihn zu kaufen, und damit einen magischen Vertrag einging.
Der Löwe wollte sich einen Menschen aussuchen, der Spaß verstand, einen
3/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Der Löwe leckte sich die Pfoten sauber und bürstete sich den Pinselschwanz.
Er sortierte seine sieben Barthaare – vier nach rechts, drei nach links.
4/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Er reckte seine Brust und kletterte über ein fernsteuerbares Auto ohne
Damenunterwäsche bequem und sah hinaus in die Nacht auf den Marktplatz.
5/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Eine Eins war in dem Fenster zu sehen und ein Engel, der auf einer Wolke saß,
Der Löwe dachte, dass er noch nie einen so schönen Engel gesehen hatte.
Der Löwe beschloss, dass dieser Engel ihm Glück bringen würde.
für eh fast alles betrachtete, hatte ein Mädchen namens Lenja in der Schule
schmücken, und Lenja war ziemlich stolz gewesen, als ihr Engel es ins erste
Aber wer ihren Engel da gerade bewunderte, davon hatte Lenja natürlich keine
Ahnung.
6/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Sie selbst schlief nämlich tief und fest, wie es sich für ein Mädchen von neun
Und zwar in ihrem kuscheligen Bett in einem Haus am anderen Ende des
Also – eigentlich stand das Haus schon fast im Wald, so weit entfernt vom
Städtchen, dass es niemand anders außer Lenjas Eltern hatte haben wollen.
7/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Es gab nur ein Problem: Die nächste Bushaltestelle war furchtbar weit weg.
Er war Schornsteinfeger und Lenja konnte mit ihm zur Schule fahren.
Nur Lenjas Freunde hatten keinen Papa, der am Nachmittag zufällig einen
Darum bekam Lenja nicht oft Besuch, und wenn, dann war das immer sehr
Sie hatte den Garten, sie hatte die Tiere (indische Laufenten und Hasen und
natürlich Otto, ihren Hund), sie hatte eine kleine Schwester namens Mia und
geschenkt bekommen.
Finn hatte es gut. Er konnte jetzt in die Stadt fahren, wann immer er wollte.
8/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Sie schlief und träumte, dass sie den Motorroller aus der Scheune hinaus auf
Der Motor knatterte und der Auspuff spuckte kleine Benzinwölkchen aus.
Sie beschleunigte und zog das Lenkrad nach oben, und auf einmal löste sich
Lenja stieg in die Luft, den Wolken entgegen, die den Mond verdunkelten.
Plötzlich rissen die Wolken vor dem Mond auf und ein eigenartiges Gefährt
Sie hielt den Atem an, zog die Bremse an und blieb in der Luft stehen.
9/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Gegen das Mondlicht sah das Gefährt aus wie ein Scherenschnitt: Rentiere
Der Weihnachtsmann saß auf dem Kutschbock, riss die Hände in die Höhe
vorbei.
Das konnte nicht gut gehen, denn sie hingen mit Seilen aneinander.
Und so wickelte sich der Schlitten mitsamt dem Weihnachtsmann und den
Die Rentiere rissen die Augen auf, galoppierten noch ein paar letzte Meter
übers Dach, bogen ihre Knie durch und versuchten, mit den Hufen zu
bremsen.
10/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Sie rieb sich die Augen und sah auf ihren leuchtenden Eulen-Wecker.
Mitternacht.
fluchen.
Lenja hatte zwei Möglichkeiten: Entweder sie verkroch sich unter der
Und weil Lenja das mit der Bettdecke dumm fand (dann würde sie ja nie
11/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
rauskriegen, was da draußen los war), zog sie entschlossen die Bettdecke um
Die Decke schleifte sie hinter sich her über den Boden.
Sie steckte ihre Nase zwischen die Vorhänge, schaute in die Dunkelheit und
konnte nicht glauben, was sie sah: Der Weihnachtsmann persönlich stand
12/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Gurken!
13/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Oh Mann.
Das war gar nicht der Weihnachtsmann, sondern nur Richie, ihr alter,
griesgrämiger Nachbar, vor dem sich Lenja immer ein bisschen fürchtete.
Richie hüpfte auf einem Bein, fuchtelte mit seinen Armen und machte irre
Verrenkungen.
Richie wohnte in einem kleinen Haus mitten im Wald, zu dem es keinen Weg
gab.
Er parkte immer neben Lenjas Haus und ging dann zu Fuß durch den Wald.
14/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Da sah sie den Adventskalender von der Oma auf ihrem Schreibtisch liegen.
Sie schloss die Augen, stellte sich vor, wie sie die Rentiere an ihren fliegenden
Motorroller band und so lange rückwärts um den Schornstein kreiste, bis das
Bald war sie wieder eingeschlafen und ahnte nicht, dass Richie überhaupt
15/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Die Würgekette
Richie kämpfte im Garten mit einer Lichterkette.
Die Lichterkette war noch nicht da gewesen, als Richie in die Stadt gefahren
Wenn Richie Glück hatte, würden die Lebensmittel ausreichen, bis die
Weihnachtsfeiertage vorbei waren, und Richie musste sein Haus bis Silvester
16/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Da hatte der Supermarkt bis 22 Uhr offen und es waren nicht mehr ganz so
war über die Landstraße geknattert, hatte seinen alten Pick-up wie immer am
Waldrand neben dem Auto des Schornsteinfegers geparkt, hatte sich mit den
Richie erschrak, bekam keine Luft mehr, ließ die Taschen fallen, weil er
Sternenhagel!“
17/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
So langsam begriff Richie, dass ihn niemand erwürgen wollte, sondern dass
aufgehängt hatte.
Was, bitte, machte es für einen Sinn, eine Lichterkette aufzuhängen, wenn die
Verdammte Lichterkette.
Er ahnte schon, was passieren würde: Morgen früh würden die Kinder
bemerken, dass ihre Lichterkette kaputt war, und weil er der einzige Nachbar
18/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Sie würden so lange an seiner Haustür klopfen, bis er öffnete, und dann
Am besten nahm er das Kabel jetzt und hier und auf der Stelle mit und
Noch bevor die Kinder aufwachten, würde die Lichterkette wieder zwischen
Einkaufstaschen und schleppte sie über den stockdunklen Pfad in den Wald.
Er sperrte die Haustür auf, stellte die Taschen ab, suchte in allen Schubladen,
Regalen, Kisten und Schränken nach Glühbirnen und stellte fest, dass keine
passte.
19/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Nun musste er morgen früh also doch noch einmal in die Stadt.
Rathaus sehen, das man in ein Lebkuchenhaus verwandelt hatte und in dem
seit Mitternacht das erste Fenster erleuchtet war, in dem man einen
Am besten, er stand früh auf, besorgte so schnell wie möglich die Glühbirnen
und sah zu, dass er wieder zu Hause war, bevor die vielen Menschen den
20/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
aufwachten.
Schnell legte er sich ins Bett und stellte sich den Wecker.
Schokoladenmatsch
„Du hast ja keine Ahnung, wie viel Arbeit das war“, hörte Lenja am nächsten
21/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
22/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
In der Schule würden sie nun wieder jeden Morgen eine Geschichte hören.
Vor allem, wenn sie an den Adventskalender dachte, der unten in der Küche
Sie sprang aus dem Bett, hüpfte die Treppe hinunter und blieb wie
An der Wand hing quer ein dicker Ast, umwickelt mit Tannenzweigen und
goldenen Bändern.
In den Päckchen hätten je drei Figürchen – für Lenja, Mia und Finn – aus
Schokolade sein sollen, die Lenjas Mama selbst gemacht und in Glitzerpapier
eingewickelt hatte.
23/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Sie hatte Mini-Fußbälle, einen Mini-Roller und alle möglichen Tiere aus
Schokolade gegossen.
Aber so, wie es jetzt in der Küche aussah, würde keiner ein Päckchen
abschneiden können.
Lenja erkannte einen halben Elefanten und den Rest eines vermanschten
Bären.
Lenja atmete tief ein, kratzte einen klebrigen Haufen vom Boden, der einmal
ein winziger Schokoladenlöwe war, und sagte: „Das kriegen wir schon wieder
hin."
„So ein Mist", sagte Lenjas Mutter verzweifelt, wischte sich die schmutzigen
Finger an ihrer Jeans ab und wandte sich an Otto, der in der Ecke saß und sie
24/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
„Aber Otto kann doch nichts dafür", sagte Lenja. „Er ist doch nur ein Hund.
Woher soll der denn wissen, dass man nicht alle Päckchen auf einmal essen
darf."
„Der Adventskalender war nicht für Otto, sondern für euch", sagte Mama.
„Dann müssen wir Otto halt auch einen Adventskalender machen. Aus
„So weit kommt’s noch“, sagte Papa, nahm einen Besen und schaufelte den
Sie setzten sich an den Frühstückstisch, und als Mama ihren ersten Kaffee
„Ich darf das erste Päckchen aufmachen!", rief Mia, während sie die Treppe
herunterpolterte.
25/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Sie erschien im Türrahmen, sah die leeren Schnüre und das Durcheinander.
Zuerst presste sie die Lippen aufeinander, dann ballte sie die Hände, dann
Alle wussten, was das bedeutete: Wenn Mia nicht bekam, was sie wollte,
wurde es dramatisch.
„Wo … sind … die … Päckchen?", fragte sie leise und abgehackt und so
bedrohlich wie ein Schurke, dem man seine Diamanten gestohlen hatte.
„Otto hat sie gefressen", sagte Lenja und biss in ihr Honigbrot.
26/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
„In diesem Jahr gibt’s halt mal keinen Adventskalender", sagte Papa mit einer
„Tut mir leid, mein Schatz", sagte Mama und wollte sie trösten, aber Mia riss
sich los, trampelte auf den Boden, als wollte sie ein Loch stampfen, und
27/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Winselnd trottete Otto hinaus und legte sich vollgefressen in die Hundehütte.
„Mach doch bitte nicht so ein Theater", sagte Papa, aber außer Lenja hörte es
Finn kam die Treppe heruntergepoltert und rief: „Boah! Geht’s noch? Heute ist
dein Drama sonst wo aufführen, aber nicht dort, wo andere Leute pennen
wollen.“
Finn packte sie kurzerhand und trug sie wie eine zappelnde Teppichrolle aus
28/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Nicht lange, da wurde Mia still und sie hörten, wie sie anfing zu kichern –
„Ich mach uns einen neuen Adventskalender", beschloss Mama. „Für den
Das würde ein schöner Samstag werden: Schokolade gießen von früh bis spät
– leckerschmecker.
Sie zog sich einen Pullover über, schlüpfte in ihre Gummistiefel, stapfte durch
den Garten zum Hasenstall, kuschelte mit Hopsi und Schnuffel, mistete aus
Lenja war so mit den Hasen beschäftigt, dass ihr gar nicht auffiel, dass die
Sie bemerkte auch nicht, dass es dem Hund ziemlich schlecht ging.
29/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Und sie bemerkte Richie nicht, der durch den Wald auf sie zukam, um für
Die Rutschbahn
Als Richie das Mädchen beim Hasenstall stehen sah, entschied er sich,
Egal.
Zuletzt hatte Richie mit einem Kind geredet, als er selbst ein Kind gewesen
war.
30/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Richie war Musiker geworden, hatte Gitarre gespielt, gesungen und Lieder
komponiert.
Er war mit seiner Band von Bühne zu Bühne gefahren und die Fans hatten ihm
zugejubelt.
Anfangs zumindest.
Sie verliebten sich ineinander, aber Richie konnte nicht bei Sonja bleiben, weil
Sie bat ihn zurückzukommen, aber er hatte kein Geld für den Rückflug und
Anlügen wollte er sie auch nicht, also schrieb er nicht mehr, und schließlich
31/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Und die Sache mit den Glühbirnen musste er auch noch regeln.
Richie schob eine Kassette in das Autoradio, drehte die Musik ganz laut,
wippte mit dem Kopf und klopfte mit einem Blechring, den er am Zeigefinger
Er fuhr in die Stadt, parkte in der Tiefgarage und ging in viele Geschäfte.
„Tut uns leid, aber diese Glühbirnen dürfen wir per Gesetz nicht mehr
verkaufen“, sagte die Verkäuferin. „Der einzige Laden, in dem es die vielleicht
32/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Lichterkette gernhaben.
Stockwerk.
Von dort führte nur eine Rutschbahn hinunter in den Laden für eh fast alles.
33/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Erdgeschoss gab und dass die Rutschbahn nur für Kinder gedacht war.
er ein Bein quer über die Rutschbahn und quetschte seinen Hintern in die
Röhre.
Zum Glück war Richie klapperdürr, aber er hatte lange Beine, und deshalb
stieß er mit dem einen Knie an sein unrasiertes Kinn und mit dem anderen
Da hatte er sich die Badehose zwischen die nackten Pobacken geklemmt und
Richie kreiste seine Schultern, knackte mit den Fingern, legte sich auf den
Nichts passierte.
34/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
Also zog er ihn aus, hielt ihn vor der Brust fest und stieß sich noch einmal ab.
Sehr schnell.
Richie hörte Engel singen und sein Herz fühlte sich an wie ein Pingpongball.
Er schüttelte den Gesang aus den Ohren und sah sich um: Gummibootgummi
Gummibootgummi überall.
35/37
Ein Service von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung
36/37
Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)