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Ein Löwe unterm Tannenbaum - Teil 1


Eine Geschichte von Irmgard Kramer mit Illustrationen von Carola Sturm,
erschienen im Loewe Verlag.
Hier kommt der erste Teil der Geschichte
Eine Truhe öffnet sich
Ding. Dong.

Zwölf Schläge hallten vom Kirchturm des kleinen Städtchens.

Die Glocken schlugen Mitternacht und im Laden für eh fast alles rumpelte es

in einer Holzkiste.

„Aua!“, sagte eine leise Stimme im Inneren der Kiste.

Der Kistendeckel öffnete sich einen Spalt.

Heraus kamen zwei flauschige Pfoten mit Krallen.

Zwei honiggoldene Katzenaugen spähten neugierig in die Dunkelheit des

Ladens, eine glänzende Schnauze lugte aus der Kiste, und dann eine Mähne.

Schließlich klappte der Deckel ganz auf und ein zerzauster Stofflöwe kletterte

heraus.

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Um seinen Hals trug er ein Herz aus Glas.

Für einen Moment schimmerte das Herz in der Dunkelheit durchsichtig, dann

füllte es sich auf wundersame Weise mit allen Farben dieser Welt, Farben so

bunt wie Bonbons in einer Tüte, wie Orchideen im Dschungel, wie Kugeln an

einem Christbaum.

Geheimnisvoll beleuchtete es alle Gegenstände im Laden für eh fast alles.

Der Löwe bemerkte es kaum.

Er leckte sich mit der Zunge die Pfoten sauber, plusterte sich auf und sagte:

„Böff! Der Weihnachtslöwe ist wieder da!“

Er sah sich um.

Der Laden war genauso vollgestopft wie letztes Jahr um die gleiche Zeit und

wie im Jahr zuvor und wie im Jahr davor.

Der Löwe wusste nicht, wie oft er schon am 1. Dezember in dieser alten Kiste

aufgewacht und am 24. Dezember um Mitternacht wieder leblos in der Kiste

gelandet war.

Zwischen lauter Dingen, die keiner mehr brauchte.

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In der Kiste lag ein Schuh, den ein Einbeiniger zurückgelassen hatte, weil er

nicht ein ganzes Paar hatte kaufen wollen.

In der Kiste lag ein rostiger Schlüssel für ein Haus, das längst abgerissen

worden war.

Ein Mixer ohne Kabel.

Ein Klodeckel ohne Klo.

Eine Schreibmaschine ohne Tasten.

Und ein Löwe ohne jemanden, der ihn lieb hatte.

Aber in diesem Jahr wollte er alles richtig machen.

Vierundzwanzig Tage hatte er Zeit.

Diesmal würde er sich den richtigen Menschen aussuchen, einen Menschen,

der bereit war, ihn zu kaufen, und damit einen magischen Vertrag einging.

Der Löwe wollte sich einen Menschen aussuchen, der Spaß verstand, einen

Menschen, der ihn lieb haben konnte.

Gleich morgen früh, wenn der Laden öffnete.

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Der Löwe leckte sich die Pfoten sauber und bürstete sich den Pinselschwanz.

Er sortierte seine sieben Barthaare – vier nach rechts, drei nach links.

Er putzte sich die Ohren.

Er fand einen Parfümzerstäuber, drückte an dem kleinen Ballon und

besprühte sich mit Rosenduft.

Das Parfüm kitzelte in der Nase. Er musste dreimal kräftig niesen.

„Höbötschö! Höbötschö! Höbötschö!“

Er war der schönste Weihnachtslöwe im ganzen Laden und niemand duftete

so gut wie er.

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Er reckte seine Brust und kletterte über ein fernsteuerbares Auto ohne

Fernsteuerung auf ein Regal, machte es sich auf rosaroter

Damenunterwäsche bequem und sah hinaus in die Nacht auf den Marktplatz.

Er sah den Stadtbrunnen und er sah das Rathaus.

Es war geschmückt wie ein Lebkuchenhaus.

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Das erste Fenster leuchtete hell.

Eine Eins war in dem Fenster zu sehen und ein Engel, der auf einer Wolke saß,

aus der Schneeflocken fielen.

Der Löwe dachte, dass er noch nie einen so schönen Engel gesehen hatte.

Der Löwe beschloss, dass dieser Engel ihm Glück bringen würde.

Schließlich war bald Weihnachten.

Diesmal würde es klappen.

Der aufgewickelte Weihnachtsmann


Den wunderbaren Engel, den der Löwe um Mitternacht vom Regal des Ladens

für eh fast alles betrachtete, hatte ein Mädchen namens Lenja in der Schule

mit einer Schere ausgeschnitten.

Lenjas Klasse war ausgewählt worden, die Fenster des Rathauses zu

schmücken, und Lenja war ziemlich stolz gewesen, als ihr Engel es ins erste

Fenster geschafft hatte.

Aber wer ihren Engel da gerade bewunderte, davon hatte Lenja natürlich keine

Ahnung.

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Sie selbst schlief nämlich tief und fest, wie es sich für ein Mädchen von neun

Jahren auch gehörte.

Und zwar in ihrem kuscheligen Bett in einem Haus am anderen Ende des

kleinen Städtchens am Rande eines dichten Waldes.

Also – eigentlich stand das Haus schon fast im Wald, so weit entfernt vom

Städtchen, dass es niemand anders außer Lenjas Eltern hatte haben wollen.

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Lenja wohnte gern in dem Haus am Waldrand.

Es gab nur ein Problem: Die nächste Bushaltestelle war furchtbar weit weg.

Glücklicherweise musste Lenjas Papa jeden Morgen in die Stadt.

Er war Schornsteinfeger und Lenja konnte mit ihm zur Schule fahren.

Nur Lenjas Freunde hatten keinen Papa, der am Nachmittag zufällig einen

Termin am Waldrand hatte.

Darum bekam Lenja nicht oft Besuch, und wenn, dann war das immer sehr

kompliziert mit dem Hinbringen und Abholen.

Einsam war Lenja deswegen nicht.

Sie hatte den Garten, sie hatte die Tiere (indische Laufenten und Hasen und

natürlich Otto, ihren Hund), sie hatte eine kleine Schwester namens Mia und

einen großen Bruder namens Finn.

Finn war im Oktober sechzehn geworden und hatte einen Motorroller

geschenkt bekommen.

Finn hatte es gut. Er konnte jetzt in die Stadt fahren, wann immer er wollte.

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In dieser Nacht, als der Weihnachtslöwe im Geschäft erwachte, träumte Lenja

von ihrem eigenen Roller.

Sie schlief und träumte, dass sie den Motorroller aus der Scheune hinaus auf

die Straße schob.

Sie träumte, dass sie aufstieg und startete.

Der Motor knatterte und der Auspuff spuckte kleine Benzinwölkchen aus.

Lenja gab Gas und brauste über die Landstraße.

Sie beschleunigte und zog das Lenkrad nach oben, und auf einmal löste sich

das Vorderrad vom Asphalt.

Lenja stieg in die Luft, den Wolken entgegen, die den Mond verdunkelten.

Ihre Haare flatterten im Wind.

Sie zog weite Kurven über den Nachthimmel.

Plötzlich rissen die Wolken vor dem Mond auf und ein eigenartiges Gefährt

flog auf Lenja zu.

Sie hielt den Atem an, zog die Bremse an und blieb in der Luft stehen.

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Gegen das Mondlicht sah das Gefährt aus wie ein Scherenschnitt: Rentiere

zogen einen mit Geschenken voll beladenen Schlitten.

Der Weihnachtsmann saß auf dem Kutschbock, riss die Hände in die Höhe

und brüllte: „Sappramoscht und Sternenhagel!"

Die Rentiere galoppierten rechts am Schornstein vorbei.

Der Schlitten mit dem Weihnachtsmann hingegen flog links am Schornstein

vorbei.

Das konnte nicht gut gehen, denn sie hingen mit Seilen aneinander.

Und so wickelte sich der Schlitten mitsamt dem Weihnachtsmann und den

Geschenken wie ein Jo-Jo mehrmals um den Schornstein.

„Sappramoscht!“, fluchte der Weihnachtsmann.

Die Rentiere rissen die Augen auf, galoppierten noch ein paar letzte Meter

übers Dach, bogen ihre Knie durch und versuchten, mit den Hufen zu

bremsen.

Dabei lösten sich Dachziegel und fielen krachend zu Boden.

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Es ratterte. Es knirschte und knallte.

Und Lenja wachte auf.

Was für ein Albtraum!

Aufrecht saß sie im Bett und ihr Herz pochte wild.

Im Garten unten knirschte es.

Waren das doch der Weihnachtsmann und die Rentiere?

Nein, so etwas gab es nur im Traum oder in Geschichten.

Sie rieb sich die Augen und sah auf ihren leuchtenden Eulen-Wecker.

Mitternacht.

„Sappramoscht und Sternenhagel!“, hörte sie plötzlich draußen jemanden

fluchen.

Lenja hatte zwei Möglichkeiten: Entweder sie verkroch sich unter der

Bettdecke oder sie sah einfach nach.

Und weil Lenja das mit der Bettdecke dumm fand (dann würde sie ja nie

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rauskriegen, was da draußen los war), zog sie entschlossen die Bettdecke um

die Schultern und lief zum Fenster.

Die Decke schleifte sie hinter sich her über den Boden.

Sie steckte ihre Nase zwischen die Vorhänge, schaute in die Dunkelheit und

konnte nicht glauben, was sie sah: Der Weihnachtsmann persönlich stand

zwischen dem Hasenstall und der Hundehütte in ihrem Garten.

Er war sehr groß, trug eine braune Piloten-Fliegerkappe mit einem

herabhängenden Teddyfell über den Ohren und spitze Lederstiefel.

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Neben ihm standen volle Säcke.

Und aus ihnen ragten ...

Gurken!

Und eine Rolle Küchenpapier.

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Und ein Flaschenhals.

Oh Mann.

Das war gar nicht der Weihnachtsmann, sondern nur Richie, ihr alter,

griesgrämiger Nachbar, vor dem sich Lenja immer ein bisschen fürchtete.

Richie hüpfte auf einem Bein, fuchtelte mit seinen Armen und machte irre

Verrenkungen.

Es sah aus, als tanzte er.

Richie wohnte in einem kleinen Haus mitten im Wald, zu dem es keinen Weg

gab.

Er parkte immer neben Lenjas Haus und ging dann zu Fuß durch den Wald.

Offenbar war er einkaufen gewesen.

Warum er aber in ihrem Garten tanzte, das wusste Lenja nicht.

Und auch nicht, warum er das mitten in der Nacht tat.

Vielleicht hatte er getrunken?

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Dann waren Erwachsene manchmal komisch.

Lenja zog die Vorhänge zu.

Da sah sie den Adventskalender von der Oma auf ihrem Schreibtisch liegen.

Es war wenige Minuten nach Mitternacht.

Also durfte sie das erste Türchen öffnen.

Dahinter verbarg sich ausgerechnet ein Schlitten.

Lächelnd kroch Lenja zurück in ihr warmes Bett.

Sie schloss die Augen, stellte sich vor, wie sie die Rentiere an ihren fliegenden

Motorroller band und so lange rückwärts um den Schornstein kreiste, bis das

Durcheinander aufgelöst war.

Bald war sie wieder eingeschlafen und ahnte nicht, dass Richie überhaupt

nicht betrunken war, sondern ein ganz anderes Problem hatte.

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Die Würgekette
Richie kämpfte im Garten mit einer Lichterkette.

In der hing er nämlich fest.

Die Lichterkette war noch nicht da gewesen, als Richie in die Stadt gefahren

war, um seinen Weihnachtsgroßeinkauf zu erledigen.

Wenn Richie Glück hatte, würden die Lebensmittel ausreichen, bis die

Weihnachtsfeiertage vorbei waren, und Richie musste sein Haus bis Silvester

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nicht mehr verlassen.

Richie hasste Weihnachten.

Und Richie hasste einkaufen.

Aber wenn er nicht verhungern wollte, musste er manchmal einkaufen.

Und wenn er es schon tun musste, dann tat er es am Freitag spätabends.

Da hatte der Supermarkt bis 22 Uhr offen und es waren nicht mehr ganz so

viele Leute unterwegs.

Danach hatte er in seiner Lieblingsbude einen vegetarischen Döner gegessen,

war über die Landstraße geknattert, hatte seinen alten Pick-up wie immer am

Waldrand neben dem Auto des Schornsteinfegers geparkt, hatte sich mit den

Einkaufstaschen beladen und wollte die Abkürzung nehmen, die zwischen

Hasenstall und Hundehütte verlief.

Und plötzlich hatte sich dieses Kabel um seinen Hals gewickelt.

Richie erschrak, bekam keine Luft mehr, ließ die Taschen fallen, weil er

dachte, jemand wollte ihn erwürgen, und brüllte: „Sappramoscht und

Sternenhagel!“

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Er schlug um sich und zerbrach ein paar Glühbirnen.

So langsam begriff Richie, dass ihn niemand erwürgen wollte, sondern dass

es sich bei dem Würgekabel um eine Lichterkette handelte, die jemand

aufgehängt hatte.

Was, bitte, machte es für einen Sinn, eine Lichterkette aufzuhängen, wenn die

Lichter nicht leuchteten?

Er verstand das nicht.

Wahrscheinlich wieder eine verrückte Idee dieser verrückten Kinder.

Richie konnte Kinder nicht ausstehen.

Er befreite sich aus der Lichterkette.

Es knirschte unter seinen Stiefeln.

Noch eine Glühbirne beim Teufel.

Verdammte Lichterkette.

Er ahnte schon, was passieren würde: Morgen früh würden die Kinder

bemerken, dass ihre Lichterkette kaputt war, und weil er der einzige Nachbar

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weit und breit war, würden sie natürlich ihn verdächtigen.

Sie würden so lange an seiner Haustür klopfen, bis er öffnete, und dann

würden sie ein riesiges Affentheater veranstalten.

Kinder veranstalteten doch wegen jedem Fliegenschiss ein Affentheater.

Richie hatte keine Lust auf ein Affentheater mit Kindern.

Am besten nahm er das Kabel jetzt und hier und auf der Stelle mit und

schraubte zu Hause ein paar neue Glühbirnen hinein.

Noch bevor die Kinder aufwachten, würde die Lichterkette wieder zwischen

Hasenstall und Hundehütte hängen, als sei nichts gewesen.

Ja, das war eine gute Idee.

Richie packte die Lichterkette und die zerbrochenen Glühbirnen in seine

Einkaufstaschen und schleppte sie über den stockdunklen Pfad in den Wald.

Er sperrte die Haustür auf, stellte die Taschen ab, suchte in allen Schubladen,

Regalen, Kisten und Schränken nach Glühbirnen und stellte fest, dass keine

passte.

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Nun musste er morgen früh also doch noch einmal in die Stadt.

Und das ausgerechnet am großen Einkaufssamstag am ersten Advent.

Da war die Hölle los.

Touristen kamen in Bussen, um auf dem Weihnachtsmarkt Christbaumkugeln

und Bratwürste zu kaufen.

Sie tranken Punsch und überall dudelten diese schrecklichen

Weihnachtslieder: Kling, Glöckchen, klingelingeling und Jingle Bells und

Rudolf, das komische Rentier.

Die Weihnachtsbeleuchtung glitzerte um die Wette und alle wollten das

Rathaus sehen, das man in ein Lebkuchenhaus verwandelt hatte und in dem

seit Mitternacht das erste Fenster erleuchtet war, in dem man einen

gebastelten Engel sah.

Richie fand Engel blöd.

Richie wollte nur seine Ruhe.

Am besten, er stand früh auf, besorgte so schnell wie möglich die Glühbirnen

und sah zu, dass er wieder zu Hause war, bevor die vielen Menschen den

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Weihnachtsmarkt bevölkerten und bevor die Kinder des Schornsteinfegers

aufwachten.

Schnell legte er sich ins Bett und stellte sich den Wecker.

Ein paar Stunden konnte er noch schlafen.

Schokoladenmatsch
„Du hast ja keine Ahnung, wie viel Arbeit das war“, hörte Lenja am nächsten

Morgen ihre Mama von unten durch die Holzdecke sagen.

Lenja rieb sich den Schlaf aus den Augen.

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Es lag etwas in der Luft.

Ein Duft nach Zimt und Schokolade.

Advent lag in der Luft!

Lenja freute sich.

Im Rathaus leuchtete ihr Engel.

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In der Schule würden sie nun wieder jeden Morgen eine Geschichte hören.

Sie würden Lieder singen, basteln und Kerzen anzünden.

Lenja mochte Weihnachten.

Vor allem, wenn sie an den Adventskalender dachte, der unten in der Küche

auf sie wartete.

Sie sprang aus dem Bett, hüpfte die Treppe hinunter und blieb wie

angewurzelt in der Küchentür stehen.

Oje. Was war denn hier passiert?

An der Wand hing quer ein dicker Ast, umwickelt mit Tannenzweigen und

goldenen Bändern.

Von dem Ast baumelten vierundzwanzig Schnüre, an denen vierundzwanzig

knisternde Päckchen hängen sollten.

In den Päckchen hätten je drei Figürchen – für Lenja, Mia und Finn – aus

Schokolade sein sollen, die Lenjas Mama selbst gemacht und in Glitzerpapier

eingewickelt hatte.

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Sie hatte Mini-Fußbälle, einen Mini-Roller und alle möglichen Tiere aus

Schokolade gegossen.

Aber so, wie es jetzt in der Küche aussah, würde keiner ein Päckchen

abschneiden können.

Das hatte Otto nämlich schon erledigt.

Die Glitzerpapiere waren aufgerissen, Reste von Schokolade klebten darin.

Lenja erkannte einen halben Elefanten und den Rest eines vermanschten

Bären.

Ein scheußlicher Haufen.

Lenja atmete tief ein, kratzte einen klebrigen Haufen vom Boden, der einmal

ein winziger Schokoladenlöwe war, und sagte: „Das kriegen wir schon wieder

hin."

„So ein Mist", sagte Lenjas Mutter verzweifelt, wischte sich die schmutzigen

Finger an ihrer Jeans ab und wandte sich an Otto, der in der Ecke saß und sie

treuherzig ansah, während er Schokolade von seinen Pfoten leckte.

„Sieh nur, was du angerichtet hast!", schimpfte sie mit ihm.

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„Aber Otto kann doch nichts dafür", sagte Lenja. „Er ist doch nur ein Hund.

Woher soll der denn wissen, dass man nicht alle Päckchen auf einmal essen

darf."

„Der Adventskalender war nicht für Otto, sondern für euch", sagte Mama.

„Dann müssen wir Otto halt auch einen Adventskalender machen. Aus

Knochen oder so."

„So weit kommt’s noch“, sagte Papa, nahm einen Besen und schaufelte den

Glitzerpapier-Schoko-Matsch in einen Eimer.

Sie setzten sich an den Frühstückstisch, und als Mama ihren ersten Kaffee

getrunken hatte, lächelte sie wieder.

Dann hörten sie Mia.

„Au Backe", sagte Lenja und ahnte Schreckliches.

Mia würde den Anblick nicht so gut verkraften.

„Ich darf das erste Päckchen aufmachen!", rief Mia, während sie die Treppe

herunterpolterte.

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Mia war fünf.

Sie erschien im Türrahmen, sah die leeren Schnüre und das Durcheinander.

Zuerst presste sie die Lippen aufeinander, dann ballte sie die Hände, dann

wurde sie rot, dann fing sie an zu zittern.

Alle wussten, was das bedeutete: Wenn Mia nicht bekam, was sie wollte,

wurde es dramatisch.

„Wo … sind … die … Päckchen?", fragte sie leise und abgehackt und so

bedrohlich wie ein Schurke, dem man seine Diamanten gestohlen hatte.

„Otto hat sie gefressen", sagte Lenja und biss in ihr Honigbrot.

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„In diesem Jahr gibt’s halt mal keinen Adventskalender", sagte Papa mit einer

Stimme, die beruhigend wirken sollte.

Mias Gesicht wurde noch röter.

„Tut mir leid, mein Schatz", sagte Mama und wollte sie trösten, aber Mia riss

sich los, trampelte auf den Boden, als wollte sie ein Loch stampfen, und

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schrie: „ICH … WILL … EINEN … APVENTKALENDER!"

Dann fing sie an zu quietschen wie ein Teekessel.

Kein Mensch hielt das aus.

Und kein Hund.

Winselnd trottete Otto hinaus und legte sich vollgefressen in die Hundehütte.

„Mach doch bitte nicht so ein Theater", sagte Papa, aber außer Lenja hörte es

niemand, weil Mia so laut kreischte.

Finn kam die Treppe heruntergepoltert und rief: „Boah! Geht’s noch? Heute ist

Samstag! Verstehst du das? SAMSTAG! Da will ich ausschlafen. Du kannst

dein Drama sonst wo aufführen, aber nicht dort, wo andere Leute pennen

wollen.“

Mia quetschte sich Tränen aus den Augen und heulte.

Finn packte sie kurzerhand und trug sie wie eine zappelnde Teppichrolle aus

der Küche hinauf in ihr Zimmer.

Lenja, Papa und Mama lauschten.

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Nicht lange, da wurde Mia still und sie hörten, wie sie anfing zu kichern –

wahrscheinlich bekam sie Finns berüchtigte Kitzelattacke ab.

„Dieses Kind", sagte Papa und schüttelte den Kopf.

„Ich mach uns einen neuen Adventskalender", beschloss Mama. „Für den

Weihnachtsfrieden. Jeden Morgen das Geschrei – das ertrage ich nicht."

„Ich helfe dir“, sagte Lenja.

Das würde ein schöner Samstag werden: Schokolade gießen von früh bis spät

– leckerschmecker.

Vorher musste sie nur noch die Hasen füttern.

Sie zog sich einen Pullover über, schlüpfte in ihre Gummistiefel, stapfte durch

den Garten zum Hasenstall, kuschelte mit Hopsi und Schnuffel, mistete aus

und holte frisches Stroh aus der Scheune.

Lenja war so mit den Hasen beschäftigt, dass ihr gar nicht auffiel, dass die

Lichterkette, die sie gestern aufgehängt hatten, nicht mehr da war.

Sie bemerkte auch nicht, dass es dem Hund ziemlich schlecht ging.

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Und sie bemerkte Richie nicht, der durch den Wald auf sie zukam, um für

Glühbirnen in die Stadt zu fahren.

Die Rutschbahn
Als Richie das Mädchen beim Hasenstall stehen sah, entschied er sich,

diesmal nicht die Abkürzung durch den fremden Garten zu nehmen.

Er würde im Wald bleiben und so zu seinem Pick-up gehen.

Wie hieß dieses Kind noch mal?

Lena oder Lea oder Lina oder so etwas?

Egal.

Schnell stapfte er zu seinem Auto.

Er wollte nicht mit dem Mädchen reden.

Zuletzt hatte Richie mit einem Kind geredet, als er selbst ein Kind gewesen

war.

Da hatte er noch Richard geheißen.

Das war fünfzig Jahre her.

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Richie war Musiker geworden, hatte Gitarre gespielt, gesungen und Lieder

komponiert.

Er war mit seiner Band von Bühne zu Bühne gefahren und die Fans hatten ihm

zugejubelt.

Die Konzerte waren ausverkauft gewesen.

Anfangs zumindest.

Dann nicht mehr.

Einmal traf Richie eine Frau, die Sonja hieß.

Sie verliebten sich ineinander, aber Richie konnte nicht bei Sonja bleiben, weil

er nach Amerika wollte.

In Amerika spielte er jeden Abend in einer anderen Bar.

Er und Sonja schrieben sich oft.

Sie bat ihn zurückzukommen, aber er hatte kein Geld für den Rückflug und

Richie schämte sich, das vor Sonja zuzugeben.

Anlügen wollte er sie auch nicht, also schrieb er nicht mehr, und schließlich

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blieben auch ihre Briefe aus.

Richie wollte nicht an Sonja denken.

Da zog sich sein Magen zusammen und das tat weh.

Außerdem hatte er noch nicht gefrühstückt.

Und die Sache mit den Glühbirnen musste er auch noch regeln.

Richie schob eine Kassette in das Autoradio, drehte die Musik ganz laut,

wippte mit dem Kopf und klopfte mit einem Blechring, den er am Zeigefinger

trug, auf das Lenkrad.

Er fuhr in die Stadt, parkte in der Tiefgarage und ging in viele Geschäfte.

Überall gab es Glühbirnen, aber keine passte zu der Lichterkette.

„Tut uns leid, aber diese Glühbirnen dürfen wir per Gesetz nicht mehr

verkaufen“, sagte die Verkäuferin. „Der einzige Laden, in dem es die vielleicht

noch geben könnte, ist der Laden für eh fast alles.“

Richie ließ sich den Weg von der Verkäuferin erklären.

In diesem Laden wollte er es noch versuchen, dann konnte ihn die

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Lichterkette gernhaben.

Er hörte der Verkäuferin nicht richtig zu und landete in einem dritten

Stockwerk.

Von dort führte nur eine Rutschbahn hinunter in den Laden für eh fast alles.

Richie starrte die Bahn wütend an.

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Er wusste nicht, dass es für Erwachsene noch einen anderen Eingang im

Erdgeschoss gab und dass die Rutschbahn nur für Kinder gedacht war.

Aber er wollte endlich diese verdammten Glühbirnen und deswegen schwang

er ein Bein quer über die Rutschbahn und quetschte seinen Hintern in die

Röhre.

Zum Glück war Richie klapperdürr, aber er hatte lange Beine, und deshalb

stieß er mit dem einen Knie an sein unrasiertes Kinn und mit dem anderen

Knie an die Nase.

„Aua!“, sagte er und dachte an früher.

Da hatte er sich die Badehose zwischen die nackten Pobacken geklemmt und

war nach unten gesaust.

Hier gab es kein Wasser und keine Badehose.

Richie kreiste seine Schultern, knackte mit den Fingern, legte sich auf den

Rücken und stieß sich ab.

Nichts passierte.

Er blieb auf seinem Ledermantel kleben.

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Also zog er ihn aus, hielt ihn vor der Brust fest und stieß sich noch einmal ab.

Schwerfällig rumpelte er um die erste Kurve.

Richies Lederstiefel quietschten schauerlich.

Jetzt in die Kurve!

Richie biss die Zähne zusammen und beschleunigte.

Richie wurde schnell.

Sehr schnell.

Am Ende erwartete ihn ein prall aufgeblasenes knallrotes Gummiboot.

Mit vollem Karacho jagte Richie nach unten.

Augen zu … und … KNALL!

Richie hörte Engel singen und sein Herz fühlte sich an wie ein Pingpongball.

Er schüttelte den Gesang aus den Ohren und sah sich um: Gummibootgummi

an der Wand, Gummibootgummi am Boden und an der Decke,

Gummibootgummi überall.

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„Sappramoscht!", murmelte Richie benommen und kratzte sich hinterm Ohr.

„Ich glaube, das Gummiboot ist explodiert!“

Wie es weiter geht, erfahrt ihr im nächsten Teil der Geschichte.

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Geschichte aus: Ein Löwe unterm Tannenbaum
Autor: Irmgard Kramer
Illustration: Carola Sturm
Verlag: Loewe Verlag
Alterseinstufung: ab 7 Jahren
ISBN: 978-3-7855-8365-4

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