Sie sind auf Seite 1von 6

Dr.

Stefan Recksiegel

Mathematischer Vorkurs für Physiker 2020


Vorlesung 3: Vektorfunktionen / Polarkoordinaten
Differenziation und Integration von Vektorfunktionen
Der Ortsvektor: Man kann einen Punkt P im Raum eindeutig durch die Angabe des Vektors kennzeichnen,
der vom Koordinatenursprung O ausgeht und den Punkt P als Endpunkt besitzt. Die Komponenten dieses
Vektors, des Ortsvektors, sind dann die Koordinaten (x, y, z) des Punkts P. Es gilt also für den Ortsvektor, der
meist mit ~r bezeichnet wird:
 
x p
~r =  y  , ~r = x ~ex + y ~ey + z ~ez , |~r| = x2 + y 2 + z 2
z

Bahnkurve:
Hängt der Ortsvektor von der Zeit ab: ~r = ~r(t), dann beschreibt
dies einen zeitlich veränderlichen Ort, also z.B. die Bahn eines
Massenpunkts. Beispiel:
   
x(t) cos t
~r =  y(t)  =  sin t 
z(t) 0.1t

Dies führt zur rechts abgebildeten Bahnkurve.

Bildung der Ableitung einer Bahnkurve:


Zerlegt man ~r(t) nach den zeitlich konstanten Basisvektoren,
dann sind die Komponenten Funktionen der unabhängigen Vari-
ablen t:
~r(t) = x(t) ~ex + y(t) ~ey + z(t) ~ez
Bei der Bildung der Ableitung nach t werden die Komponen-
ten einzeln differenziert, entsprechend der Ableitungsregel für
Summen. Da die Basisvektoren konstant sind, bleiben sie bei der Differentiation unverändert. Es ist also:
d~r(t) dx(t) dy(t) dz(t)
= ~ex + ~ey + ~ez
dt dt dt dt
Man differenziert eine Vektorfunktion, indem man ihre Komponenten differenziert. Die Ableitung von ~r(t)
nach t ist also wieder eine Vektorfunktion von t. Für die geometrische Interpretation der Ableitung von ~r(t)
betrachten wir die alternative Definition der Ableitung

d~r(t) ~r(t + ∆t) − ~r(t)


= lim
dt ∆t→0 ∆t
die der oben gegebenen äquivalent ist.

Graphisch stellt sich dies dar wie in der Abbildung rechts.

Aus dieser Definition und der Abbildung entnimmt man, dass der Ableit-
ungsvektor der Grenzwert der Sekantenvektoren ist, d.h. der Ableitungs-
vektor liegt tangential zur Kurve ~r(t). Die Länge von d~r/dt ist offenbar ein
Maß dafür, wie schnell die Bahnkurve durchlaufen wird. Das lässt folgende
Aussage plausibel erscheinen: Die Ableitung des Ortsvektors nach der Zeit
ist die Geschwindigkeit:  

d~r(t) 
~v (t) = = ẏ 
dt

1
wobei wir die Komponenten dx/dt = ẋ usw. geschrieben haben.
Es ist in der Physik üblich, Zeitableitungen durch einen Punkt zu bezeichnen. Entsprechend gilt, dass die
Ableitung der Geschwindigkeit nach der Zeit die Beschleunigung ist:
d~v (t)
~a(t) =
dt
Die Beschleunigung ist also ein zeitabhängiger Vektor, der i.a. sowohl eine Tangential- als auch eine Normalkom-
ponente relativ zur momentanen Geschwindigkeitsrichtung hat. Die Komponenten der Beschleunigung sind
 

~a(t) =  ÿ 

Ausgehend vom Ortsvektor r(t) erhält man durch Ableiten also die Geschwindigkeit ~v (t) und die Beschleunigung
~a(t).

Beispiel: Für die Bahnkurve ~r(t) = cos t ~ex + sin t ~ey gilt zum Zeitpunkt t = 0, dass der Ortsvektor ~r(0) = ~ex ,
also parallel zur x-Achse zeigt. Die Geschwindigkeit ist ~v (t) = − sin t ~ex + cos t ~ey und liegt immer, insbesondere
für t = 0 senkrecht dazu, ~v (0) = ~ey . Man kann fragen, welche Kraft notwendig ist, um diese Bahnkurve zu
erzeugen. Dies folgt aus dem newtonschen Gesetz F~ (t) = m ~a(t) = m(− cos t ~ex − sin t ~ey ). Diese Kraft, die
Zentripetalkraft heißt, liegt für alle Zeiten senkrecht zur Geschwindigkeit, denn ~v (t) · F~ (t) = m(sin t cos t −
cos t sin t) = 0.

Integration einer Bahnkurve:


Zunächst diskutieren wir als Wiederholung des Begriff des (Riemannschen) Integrals. Dieses stellt bekanntlich
eine Summe dar. Unterteilen wir die x-Achse in lauter kleine Intervalle ∆xi um xi (i = 1, 2, 3...), dann bedeutet
das Integral über eine Funktion f (x) die Summe der kleinen Flächenstücke f (xi ) · ∆xi ,
Z b X
f (x)dx = lim f (xi )∆xi
a ∆xi →0
i

Diese anschauliche Bedeutung eines Integrals als Fläche ist aber nur eine der möglichen Interpretationen. Be-
trachten wir folgendes Problem: Ein Radfahrer möge mit der Geschwindigkeit v(t) = dx(t)/dt eine Zeitlang
dahinfahren. Welche Strecke legt er bis zur Zeit T zurück? Nun sind für kurze Zeitintervalle ∆t die jeweiligen
Wegstücke ∆x = dxdt ∆t. Um den gesamten Weg zu berechnen, müssen wir diese Wegstücke aufsummieren, bzw.
aufintegrieren:
Z T Z T
dx
s(T ) = dt = v(t)dt
0 dt 0
Beispiel: Sei die Geschwindigkeit v(t) = t2 und T = 3, dann ist s(3) = T 3 /3 = 9.
Ein Integral stellt also nicht immer eine Fläche dar! Nun betrachten wir eine dreidimensionale Bahnkurve ~r(t).
Auch in diesem Fall können wir bei vorgegebener Geschwindigkeit die Bahn des Teilchens rekonstruieren, und
zwar durch Integration: Z t
~r(t) = ~r0 + ~v (τ )dτ.
0
Dabei ist ~r0 eine Integrationskonstante, und das Integral des Vektors der Geschwindigkeit ist komponentenweise
definiert: Z Z Z Z
~v (τ )dτ = ~ex vx (τ )dτ + ~ey vy (τ )dτ + ~ez vz (τ )dτ.

Ebenso erhält man aus vorgegebener Beschleunigung ~a(t) die Geschwindigkeit durch Integration der Beschleu-
nigung. Z t
~v (t) = ~v0 + ~a(τ )dτ.
0
Wie erhält man nun die in einer bestimmten Zeit entlang einer Raumkurve zurückgelegten Wegstrecke? Dazu
müssen wir einfach die Beträge der Wegstückchen pro Zeiteinheit, also die Beträge der Geschwindigkeiten,
aufintegrieren:
Z T Z Tp
d~r(t)
s(T ) = dt dt =
ẋ2 + ẏ 2 + ż 2 dt.
0 0
√ √
Beispiel: Für die Raumkurve
√ ~r(t) = (cos t, sin t, 3t) ist die Geschwindigkeit ~v (t) = (− sin t, cos t, 3), und
somit der Betrag |~v (t)| = 1 + 3 = 2. Daher ist die Streckenlänge nach der Zeit T einfach 2T .

2
Ebene Polarkoordinaten
Betrachtet man einen Massenpunkt in einer Ebene (beispiels-
weise die Bewegung eines Planeten um die Sonne), dann kann
man seinen Ort und seine Bewegung anstatt durch die karte-
sischen Koordinaten x und y auch durch die Polarkoordinaten
r und φ beschreiben. Die Polarkoordinaten des Punktes P sind
definiert als sein Abstand vom fest gewählten Ursprung O des
Polarkoordinatensystems und als der Richtungswinkel von P
bezüglich einer fest gewählten Referenzrichtung.
Äquivalent zu dieser geometrischen Definition der Polarko-
ordinaten ist die mathematische Definition, die sich auf die
schon bekannten kartesischen Koordinaten stützt, indem sie
die Transformationsgleichungen angibt, mit deren Hilfe man
die Polarkoordinaten eines Punktes in seine kartesischen Ko-
ordinaten umrechnen kann:

x = r cos φ
y = r sin φ

Dabei ist 0 ≤ r < ∞ und 0 ≤ φ < 2π. Die Umkehrung lautet


p
r = x2 + y 2 ,
y
φ = arctan ,
x
wobei allerdings φ noch ggf. durch Addition von π oder 2π in den richtigen Quadranten gebracht werden muss.
So ergibt sich etwa für y/x = −1 der Wert φ = −π/4, während der korrekte Wert φ = 3π/4 (x = −1, y = 1)
bzw. φ = 7π/4 (x = 1, y = −1) ist. Während φ = −π/4 und φ = 7π/4 natürlich äquivalent sind, ist der
Unterschied im Fall x = −1, y = 1 entscheidend! Diese Transformationsgleichungen ergeben sich unmittelbar
bei genauer Betrachtung der geometrischen Definition der Polarkoordinaten.
Beispiel: Die gleichförmige Kreisbewegung hat in Polarkoordinaten die einfache Form

r(t) = r0 , φ(t) = ωt.

Polarkoordinaten eignen sich besonders für die Darstellung von rotationssymmetrischen Bewegungen und Prob-
lemstellungen.

Basisvektoren in Polarkoordinaten:
Den Ortsvektor kann man mit Hilfe der Polarkoordinaten schreiben als

~r = r cos φ ~ex + r sin φ ~ey .

Dies ist im Grunde nichts anderes als die Zusammenfassung


der Transformationsgleichungen in Vektorschreibweise. Wenn
r und φ ihre erlaubten Werte durchlaufen, dann durchläuft
~r die ganze Ebene. Lässt man r konstant und variiert nur
φ, dann beschreibt ~r einen Kreis, im umgekehrten Fall eine
Ursprungshalbgerade, also die Koordinatenlinien. Man kann
daher Einheitsvektoren definieren, die nicht entlang der karte-
sischen Achsen liegen, sondern die einmal die Bewegung r =
const. und zum anderen die Bewegung φ = const. beschreiben:

~er := cos φ ~ex + sin φ ~ey ,


~eφ := − sin φ ~ex + cos φ ~ey ,

und ihre Umkehrung

~ex = cos φ ~er − sin φ ~eφ ,


~ey = sin φ ~er + cos φ ~eφ .

Man beachte, dass ~er · ~eφ = 0 ist, ~er und ~eφ also senkrecht aufeinander stehen.

3
Diese ortsabhängigen Einheitsvektoren sind den Polarkoordinaten besser angepasst als die konstanten kartesis-
chen Basisvektoren. Auch bei allgemeinen krummlinigen und mehrdimensionalen Koordinatensystemen definiert
man ortsabhängige Basisvektoren auf dieselbe Weise. Die ortsabhängigen Basisvektoren ~er , ~eφ der Polarkoor-
dinaten sind praktisch, wenn man ein rotationssymmetrisches Vektorfeld betrachtet, z.B. das Gravitationsfeld
der Sonne in der Umlaufebene der Planeten,
GmM
F~ = − ~er ,
r2
denn eine Zentralkraft hat dann nur eine Komponente.

Geschwindigkeit in Polarkoordinaten
Den Ortsvektor des Punktes P in Polarkoordinaten darzustellen ist einfach: Wir setzen für die kartesischen
Komponenten und Basisvektoren die entsprechenden Größen in Polarkoordinaten ein und erhalten

~r = x ~ex + y ~ey = r cos φ(cos φ ~er − sin φ ~eφ ) + r sin φ(sin φ ~er + cos φ ~eφ ) = r ~er
Dieses Ergebnis ist recht anschaulich. Nicht ganz so einfach ist der Geschwindigkeits- und der Beschleuni-
gungsvektor in Polarkoordinaten zu berechnen, weil die Basisvektoren selbst räumlich veränderlich sind. So gilt
für die Geschwindigkeit
d d d
~v = ~r = (r ~er ) = ṙ ~er + r (~er ) .
dt dt dt
Aus der Definition von ~er := cos φ ~ex + sin φ ~ey und ~eφ := − sin φ ~ex + cos φ ~ey folgt

d
~er = −φ̇ sin φ ~ex + φ̇ cos φ ~ey = φ̇ ~eφ ,
dt
d
~eφ = −φ̇ cos φ ~ex − φ̇ sin φ ~ey = −φ̇ ~er .
dt
Damit ergibt sich nun für den Geschwindigkeitsvektor in Polarkoordinaten die Gleichung

~v = ṙ ~er + rφ̇ ~eφ

und analog kann man die Beschleunigung berechnen und findet (Übungsaufgabe):

d
~a = ~v = (r̈ − rφ̇2 ) ~er + (rφ̈ + 2ṙφ̇) ~eφ .
dt

4
Dr. Stefan Recksiegel

Mathematischer Vorkurs für Physiker 2020


Übungsblatt 3
Wichtige Formeln: d~v (t) d~x(t)
~a(t) = , ~v (t) = ,
dt dt
Z T
d~x(t)
s(T ) = dt dt,

0
~r = r cos φ ~ex + r sin φ ~ey .
~er := cos φ ~ex + sin φ ~ey ,
~eφ := − sin φ ~ex + cos φ ~ey ,
~v = ṙ ~er + rφ̇ ~eφ
1
cos2 φ = (1 + cos 2φ)
2
sin 2φ = 2 sin φ cos φ

Basisaufgaben
Beispiel 1:
Berechnen Sie den Tangentenvektor zur Raumkurve
 
cos t
1 t
~r(t) = e sin
√t
.
2
2

Definieren Sie einen Vektor T~ , der parallel zum Tangentenvektor liegt, aber die Länge 1 hat.

Beispiel 2:
Berechnen Sie den Tangentenvektor zur Raumkurve
 
cos t
1 
~r(t) = t sin t 
2
1
und bestimmen Sie den Betrag des Tangentenvektors. Die Kurve
ist eine 3D Spirale:

Beispiel 3:
Gegeben ist die Raumkurve
r = a(1 + cos φ) (a > 0, 0 ≤ φ ≤ 2π)
in Polarkoordinatendarstellung. Geben Sie die x− und y−Koordinaten der Raumkurve an. Formen Sie das
Ergebnis so um, dass keine Produkte von Winkelfunktionen vorkommen.

Beispiel 4:
Stellen Sie die durch die Gleichung x3 + y 3 − 3xy = 0 beschriebene Kurve in Polarkoordinaten dar.

Beispiel 5:    

− x(t) cos φ(t)
Gegeben sei r (t) = = r(t)
y(t) sin φ(t)
Zeigen Sie, dass die Beschleunigung ~a in Polarkoordinaten gegeben ist durch
~a = (r̈ − rφ̇2 ) ~er + (rφ̈ + 2ṙφ̇) ~eφ .

1
Ergänzungsaufgaben
Beispiel 6:
Die Bewegung eines Massenpunktes längs einer durch ~r(t) parametrisierten Spur wird durch ein sog. begleitendes
Dreibein beschrieben, d.h. ein mitbewegtes kartesisches Koordinatensystem, das aus 3 Vektoren besteht:
1 → −
T~ (t) =− ṙ (Tangenteneinheitsvektor)

| ṙ |
~ (t) = 1 → −
N − Ṫ (Hauptnormaleneinheitsvektor)

| Ṫ |
~
B(t) = T~ (t) × N~ (t) (Binormaleneinheitsvektor)

Berechnen Sie das begleitende Dreibein für die Schraubenfeder ~r(t) = (a cos t, a sin t, ht).

Beispiel 7:
Berechnen Sie für die Raumkurve aus Beispiel 1  
cos t
1
~r(t) = et  sin
√t
,
2
2
die Bogenlänge, die von t = −∞ bis zur Zeit t = T durchlaufen wird.

Beispiel 8:
Man bestimme für die Kurve in Parameterform (siehe Skizze)
x = 6 cos t + 2 cos 3t,
y = 6 sin t + 2 sin 3t
mit (0 ≤ t ≤ 2π) die Gleichung der Tangente im Punkt mit t = π.
Zusätzlich bestimme man alle t-Werte, für welche die Tangente parallel
zur x-Achse verläuft.

Beispiel 9
Wir betrachten einen Planeten, dessen Bahn durch ~r(t) = A cos(ωt)~ex + B sin(ωt) ~ey gegeben ist. (A > B > 0)
1. Um was für eine Bewegung handelt es sich hierbei?
d~
r d~
v
2. Berechnen Sie die Geschwindigkeit ~v = dt und die Beschleunigung ~a = dt des Planeten.
3. Wo ist der Betrag der Geschwindigkeit bzw. der Beschleunigung maximal, wo minimal?
4. Können Sie einen einfachen Zusammenhang zwischen der Beschleunigung des Planeten und seinem Ort
erkennen? Formulieren Sie diesen Zusammenhang als Gleichung sowie als vollständigen Satz, der die
Begriffe “Richtung der Beschleunigung“ und “Betrag der Beschleunigung“ enthält.

Beispiel 10
Die Gravitationskraft zwischen zwei Himmelskörpern hat die Form
m1 m2 ~r12
F~G = −G 2
r12 r12
Hier ist G = 6.67 × 10−11 Nm2 /kg2 und r12 = |~r1 − ~r2 | der Abstand der beiden Massen m1 und m2 .
1. Berechnen Sie die Arbeit, die nötig ist, damit der Mond das Schwerefeld der Erde verlassen kann. Dazu
genügt es, die radiale Kraftkomponente zu betrachten. Die Masse des Mondes beträgt MM ≈ M81E und
sein mittlerer Abstand zur Erde ist r0 = 384400 km. Die Erdmasse beträgt ME = 5.974 × 1024 kg.
2. Wenn Sie diese Arbeit der kinetischen Energie E = 12 MM v 2 des Mondes gleichsetzen, erhalten Sie die
Geschwindigkeit, die der Mond von der Erde weggerichtet haben müsste, damit der Mond das Schwerefeld
der Erde verlassen kann. Wie groß ist diese Fluchtgeschwindigkeit?

Das könnte Ihnen auch gefallen