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Moderne in

Brasilien:

Lina Bo Bardi,
Texte zu ausge-
wählten Werken
Wahlpflichtfach Moderne in Brasilien, SoSe 2015
Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

Inhalt

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Wahlpflichtfach Moderne in Brasilien, SoSe 2015
Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

Vorwort ...6
Lina Bo Bardi, biographische Notizen ...10
Thomas Kastl: Casa de Vidro ...16
Sabine Schertler: Casa Valéria Cirell ...20
Alexander Welsch: Museu de Arte de São Paulo ...24
Daniel Wall: Igreja do Espírito Santo do Cerrado ...28
Lisa Frank: SESC Fábrica Pompeia ...32
Bärbel Haas: SESC Fábrica Pompeia ...36
Gaby Ebner: SESC Fábrica Pompeia ...40
Simone Mehltretter: Capela Santa Maria dos Anjos ...44
Dominik Schmidt: Capela Santa Maria dos Anjos ...48
Jakob Bindhammer: Ateliê Bo Bardi ...52
Marian Prifling: Ladeira da Misericórdia ...56
Franziska Metzger, Andrea Ledesma Pnce
Casa de Vidro, Zeichnungen ...58
Sarah Nussbaumer, Dominik Plass
Museu de Arte de São Paulo, Zeichnungen ...68
Lektüre ...86

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Wahlpflichtfach Moderne in Brasilien, SoSe 2015
Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

Vorwort

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Wahlpflichtfach Moderne in Brasilien SoSe2015
Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

Ein Seminar zur Entwicklung der modernen Architektur in Brasilien kann im Die eigenen Textfragmente haben die Studierenden aber auch im gegensei-
zeitlichen Rahmen eines Semesters nur Ausschnitte aus dieser facettenreichen tigen Vortrag inspiriert, sich in den Bereich der analytischen Unschärfe hinein-
Geschichte beleuchten. Um der Enge einer zu spezifischen Grundausrichtung zubegeben, jenen Bereich, in dem man das „Philosophieren“ beginnt. Hier prägt
des Seminares zu entgehen, ist es in voneinander unabhängigen Fortsetzungen die Vermutung den Ausdruck, die Interpretation wird gewagt, macht aber Lust
gedacht, in denen unterschiedliche Aspekte dieser Entwicklung mit zeichne- auf mehr, führt zu einer ganz persönlichen, begeisterten und begeisternden
rischen, bildnerischen und sprachlichen Werkzeugen untersucht werden. Dies Rezeption des Werkes der Architektin Lina Bo Bardi, dieser Wandlerin zwischen
kann zu einem Gesamtbild führen, so ist zumindest der Anspruch formuliert. den Welten des italienischen „rationalismo“ und des brasilianischen „jeito“.
Jedenfalls haben die Werke und ihre Architektin so im Laufe des Seminars alle,
Nach einer horizontalen, am Zeitlauf orientierten, zeichnerisch vergleichenden die daran teilhatten, sichtbar berührt. Die Texte bringen wie selbstverständlich
Auseinandersetzung mit sogenannten „Meilensteinbauwerken“ der brasilia- eine hohe innere Wertschätzung gegenüber dem Werk und seiner Architektin
nischen Architektur seit den Dreißiger Jahren folgt nun im vorliegenden Heft bildhaft zum Ausdruck, deshalb übergeben wir sie den Leserinnen und Lesern
eine erste textliche Annäherung in der Vertikalen, am Beispiel des Werkes der ohne jedes Bildmaterial.
brasilianischen Architektin Lina Bo Bardi.
Regensburg, im September 2015
Lina Bo Bardi verkörpert wie keine andere Figur der brasilianischen Gegen- Prof. Andreas Emminger
wartsarchitektur eine Immigrantin und Exilantin aus Europa, die mit einem
gewichtigen architekturtheoretischen Gepäck beladen Brasilien berührt, sich
von diesem Land, seinen Menschen und deren Eigenheiten aber auch selbst be-
rühren lässt, um schließlich ganz mit ihm und seiner vielfältigen Kultur, seinen
Traditionen unterschiedlichster Herkunft zu verschmelzen.

Wenn wir an unsere heutige Situation in Europa denken, gerade in diesen


Tagen, so sollten uns Lebensgeschichten wie jene Lina Bo Bardis noch einmal
mehr nachdenklich stimmen und uns die vielen positiven Möglichkeiten und
Chancen bildhaft vor Augen führen, die in der Einwanderung und der Zuwande-
rung von Menschen aus anderen Kulturen liegen.

Die Studierenden aus den Studiengängen Bachelor und Master Architektur an


der OTH Regensburg sind anhand weniger Projektrezensionen unvoreingenom-
men an ihre Aufgabe der textlichen Auseinandersetzung mit dem einzelnen
Werk herangegangen. Beschreibend und interpretierend haben sie begonnen,
sich das jeweilige Bauwerk zu erschließen. In den Zusammenkünften des Semi-
nares haben sie schließlich begonnen, ihre Texte miteinander zu verknüpfen
und dabei die Fühler weit über das übliche Maß der Beschreibung und Analy-
se hinausgestreckt. Sie haben sich neue Quellen außerhalb der Fachliteratur
erschlossen, sind auf den Fährten von Zitaten und Liedertexten gewandelt, die
ihnen dabei halfen, das Werk Bo Bardis auf eine ganz persönliche Weise für sich
selbst zu verstehen zu lernen.

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Lina Bo Bardi, biographische Notizen

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Lina Bo Bardi wird am fünften Dezember 1914 als Achilina di Enrico Bo, ältere brasilianischen Architektur neues Leben nach den langen, kulturlosen Jahren
Tochter der Genueser Eltern Giovanna Adriana Grazia und Enrico Bo im Viertel der Militärdiktatur einhauen sollten.
Prati in Rom geboren. Nach ihrem Architekturstudium am Liceu Artistico in Nach ihrem Tod im Jahr 1992 wird die internationale Öffentlichkeit auf ihr
Rom von 1935 bis 1939 geht Lina Bo unter dem Eindruck des wachsenden Fa- Werk aufmerksam. Die von Lina in ihren letzten Lebensjahren bearbeiteten
schismus in Rom nach Mailand. Dort begründet sie mit dem Architekten Carlo Themen werden zu zentralen Diskussionspunkten in den Debatten über Kultur,
Pagani das Büro Bo und Pagani, arbeitet aber gleichzeitig an der von Go Ponti Nachhaltigkeit, das bauhistorische Erbe und die Prozesse zur Entstehung von
betriebenen Zeitschrift „Domus“ mit. Architektur.

1946 kehrt sie zurück nach Rom, wo sie gemeinsam mit Bruno Zevi die Zeit-
schrift „A - Cultura della Vita“ begründet. Nach ihrer Heirat mit dem Kunst-
kritiker und Kunsthändler Pietro Maria Bardi besucht das Paar Rio de Janeiro. Quelle: Instituto Lina Bo e P.M. Bardi, „Biografia Lina“
Im darauffolgenden Jahr wird Pietro Maria Bardi von Assis de Chateaubriand, www.institutobardi.com.br
einem einflussreichen brasilianischen Journalisten und Politiker nach Brasilien
eingeladen, um dort ein Museum der Modernen Kunst zu begründen und zu
leiten.

Das Paar nimmt die Einladung an, wandert nach Brasilien aus und lässt sich in
São Paulo nieder. Dort entsteht 1951, im gleichen Jahr, in dem Lina Bo Bardi
die brasilianische Staatsangehörigkeit annimmt, ihr erstes Projekt: die Casa de
Vidro, heute Sitz des „Instituto Line Bo e P.M. Bardi“

Lina Bo Bardi folgt 1958 einer Einladung der Escola de Belas Artes da Univer-
sidade da Bahia in Salvador, dort Kurse in der Architektur zu geben. Sie wird
auch gebeten, die Leitung des Museums der Modernen Kunst in Bahia zu über-
nehmen. In der Folge entsteht ihr zweites Werk, das „Solar do Unhão“, als Sitz
des MAM-BA.
Die Erfahrung im Nordosten Brasilien stellt einen Schlüsselmoment in Linas
Biographie dar. Dort kommt sie ebenso in Kontakt mit den handwerklichen
Techniken der Region am Wendepunkt zur Industrialisierung, wie mit dem
Schmelztiegel der unterschiedlichen Kulturen, die den Nordosten prägen.

Zurück in São Paulo realisiert sie das Projekt des Museu de Arte Moderna de
São Paulo (MASP), das bereits kurz nach der Einweihung im Jahr 1968 zu einer
Ikone der brasilianischen Architektur wird.

Nach der Einweihung des SESC Pompeia im Jahr 1982 tritt Lina in den letzten
Abschnitt ihres Lebenswerkes ein. Von ihren jungen Parnern Marcelo Ferrza,
André Vainer und Marcelo Suzuki unterstützt, arbeitet sie an Projekten, die der

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Texte

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Casa de Vidro, São Paulo 1950-5 angestellten und hat nur wenige, nach Norden gerichtete Fenster. Ein zweites
Text: Thomas Kastl Volumen verbindet den Nebentrakt mit dem Hauptvolumen des Hauses. Dieses
beinhaltet die Küche, die über ein nach Westen ausgerichtetes Bandfenster
belichtet wird.
Lina Bo Bardi und ihr Mann Pietro Maria Bardi wanderten 1947 nach Sao Paulo Das Hauptvolumen kragt nach Süden auf mehr als zwei Drittel seiner Länge
aus. Dort plante und realisierte Lina Bo Bardi in den Jahren 1950-51 ihr erstes über das Sockelgeschoss aus und wird von filigranen Betonstützen getragen.
eigenes Wohnhaus, die Casa de Vidro. In ihr spiegeln sich internationale wie Im Gegensatz zu den anderen Teilen des Hauses ist seine Fassade nach Süden,
nationale Architekturtendenzen der damaligen Zeit wieder. Das Haus ist unver- Osten und Westen komplett verglast. Die drei Volumina bilden zusammen
kennbar geprägt von der weißen Moderne der Vorkriegsjahre. Assoziationen an einen dreiseitig umschlossenen Hof auf dem Sockelbau. Zu ihm hin besitzt das
die Villa Savoye oder das Haus Tugendhat sind unvermeidlich. Der Einfluss der Hauptvolumen ebenfalls nur kleine Öffnungen, analog zu jenen des Neben-
brasilianischen Moderne, die mit dem Erziehungs- und Gesundheitsministerium traktes. Dahinter befinden sich die Individualräume des Hauses, während die
in Rio de Janeiro in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihren Gemeinschaftsräume an den Glasfassaden liegen. Ein kleines verglastes Atrium
Durchbruch feierte, fällt auf den ersten Blick nicht ins Auge. Charakteristische durchstößt das Hauptvolumen im Bereich der Gemeinschaftsräume, ein schl-
Merkmale wie tiefe Fassaden, Brise-Soleils und betonsichtige Elemente fehlen. anker Baum wächst hindurch. Die Kombination der Volumina erzeugt zwei ver-
Vergleichbar ist jedoch die gemeinsame Beeinflussung durch traditionelle Bau- schiedene Motive in einem Haus. Zum einen durch den verglasten aufgestän-
ten und deren Materialien. Auf diesen und andere Aspekte wird in der Beschrei- derten Teil des Hauptvolumens ein Bild der Moderne, das eines schwebenden,
bung des Werkes später im Text genauer eingegangen. raumverdrängenden Körpers. Zum anderen durch die Hofsituation mit seinen
Lochfassaden im hinteren Bereich ein traditionelles Bild, eine raumbildende
Sao Paulo liegt im Süden Brasiliens, auf ca. 795 m in der subtropischen Klima- Situation. Diese Kombination zeigt, dass sich Lina Bo Bardi nicht sklavisch
zone. Gegenüber anderen Regionen Brasiliens ist das Wetter dort eher gemäßi- modernen Formen unterwarf, sondern historische wie moderne Motive nutzt,
gt. Die Maximaltemperaturen bewegen sich um 30° C im Sommer, die Mini- entsprechend der jeweiligen Funktion. Im Falle eines Wohnhauses bietet es
malwerte über 10° C im Winter. Die Casa de Vidro befindet sich im Stadtviertel sich an, die kleinteiligen Strukturen der Individualräume mit Lochfassaden zu
Morumbi (port. für „grüner Hügel“), einer bewegten und durchgrünten Land- versehen, um die nötige Privatheit im Inneren zu gewährleisten. Dementgegen
schaft, die zur damaligen Zeit noch von Urwaldteilen umgeben war. Morumbi öffnet sich das Haus mit den großzügigen Fassaden der Gemeinschaftsräume
ist trotz der angrenzenden Favelas heute noch ein wohlhabender und äußerst in die Umgebung, zeigt sein Inneres. Über die Funktion des zwischenliegenden
angesehener Stadtteil Sao Paulos. Hofes ist nichts Näheres bekannt. Es ist davon auszugehen, dass seine Haupt-
funktion darin bestand, das Haupthaus vom Nebentrakt zu trennen und sowohl
Pietro Maria Bardi, der 1947 zum Direktor des Museu de Arte de Sao Paulo Belichtung wie auch eine gut temperierte Belüftung für Individual- und Neben-
berufen worden war, hatte ursprünglich die Idee, Atelierhäuser für Gastkünstler räume zu ermöglichen.
in den grünen Hügeln Morumbis zu errichten. Als deren Finanzierung 1949
scheiterte, entschlossen sich die Bardis, ihr eigenes Haus auf einem der Hügel Erschlossen wird das Haus von Süden her, die Autogarage befindet sich in Stra-
zu errichten. Der Entwurf sah eine Komposition aus drei Volumina auf einem ßennähe. Von dort aus führt ein landschaftlich geprägter Fußweg zum Haus,
teilweise in den Hang eingegrabenen Sockelgeschoss vor. Dieser Sockel ist an urig wirkende Waschbetonstützmauern begleiten ihn. Man gelangt durch den
der Südseite, zu welcher der Hang abfällt, zugänglich und enthält einen nach stark bewachsenen und naturbelassenen Garten unter das Haupthaus, dessen
außen geöffneten, sowie einen geschlossenen Lagerraum. Diese wurden wohl grün gestrichenen Stützen wie ein Zitat von Bäumen wirken. Man betritt das
hauptsächlich zur Aufbewahrung von Skulpturen genutzt. Auf diesem Sockel- Haus von unten über eine Treppe, von deren Podest aus der Blick noch einmal
geschoss entlang der Nordkante des Hanges befindet sich ein geschlossenes in die Ferne schweift, bevor man von unten in den Baukörper eintaucht. Am
Volumen. Es beherbergt sowohl Nebenräume wie auch den Bereich der Haus- Ende des zweiten Laufes befindet sich links die Eingangstür. Die Treppenein-

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hausung, nicht breiter als der Lauf selbst, erzeugt als Engstelle einen be- wurde zu Gunsten einer gläsern-modernistischen Optik nicht beachtet, was
wussten Übergang zwischen der Weite des Außen- und des Innenraumes. Der in den Anfangsjahren, als der Baumbestand noch keinen Schatten spendete,
Wohnraum, in dem man ankommt, wird durch das bereits erwähnte Atrium, ei- sicher zu Problemen führte. Ein weiterer Widerspruch bei dieser elitär anmu-
nen freistehenden Kamin und das Volumen der Treppeneinhausung gegliedert. tenden Gestaltung ist die Tatsache, dass Lina Bo Bardi Kommunistin war. Mit
Die dreiseitige Verglasung schafft starke Bezüge zum Grün des Außenraums der Casa de Vidro schuf sie jedoch einen gesellschaftlichen Treffpunkt für die
sowie zur weiteren Umgebung. An der Rückwand befinden sich drei Türen, intellektuelle Oberschicht São Paulos. Ihrer Überzeugung verlieh sie nur durch
welche zur Küche bzw. zum Flur führen. Von dort aus werden die Individual- die moderne, transparente Gestaltung Ausdruck. Während die Oberschicht aus
räume erschlossen. Der Nebentrakt wird separat von Norden betreten, er ist im Industriellen und Plantagenbesitzern in Villen im Kolonialstil residierten, wählt
Inneren einhüftig erschlossen. das Architekten- und Kunsthändlerpaar einen modernen, avantgardistischen
Stil.
Im Gegensatz zu manch anderen Bauten der Moderne wird das Ankommen in
der Casa de Vidro nicht funktionalistisch gestaltet, indem man mit dem Auto- Schwerpunkte für ihre Zukunft setzte sie in der teilweisen Verwendung alther-
mobil soweit vordringt wie nur möglich (vgl. die Villa Savoye). Das Ankommen gebrachter Materialien und Motive, das Interesse für diese Haltung entstand
wird inszeniert, das Auto, Dreh und Angelpunkt des Städtebaus der dama- bereits in Italien.
ligen Zeit, früh zurückgelassen. Auf den letzten Metern erlebt man die Natur, Brasilien, das Land, in dem von Anfang an Moderne und Tradition einher-
Pflasterung und begleitende Mauern erscheinen eher wie Relikte vergangener gingen, war für sie der ideale Ort, um sich als Architektin in diese Richtung
Bebauung, welche bereits eins geworden sind mit der Umgebung, bevor sich weiterzuentwickeln.
das „Raumschiff“ Casa de Vidro mit seiner fast sterilen Optik über alles erhebt.
Die separate Dienstbotenerschließung zeugt wie die Gebäudekomposition vom
elitären Charakter des Hauses und dem Anspruch seiner Bewohner.

Bei der Materialisierung griff Bo Bardi auf den ersten Blick auf modernistische
Elemente zurück: weißer Putz, Betonstützen, filigrane Glasfassaden. Erst im De-
tail erkennt man wieder traditionelle Elemente. Das Dach ist leicht geneigt und
mit Mönch- und Nonne-Ziegeln gedeckt. Die Fensterläden der Lochfassaden
im hinteren Bereich sind traditionell gefertigt und gestrichen. Die Waschbeton-
mauern im Außenbereich wurden bereits erwähnt. Der Boden im inneren ist mit
kleinteiligen Fliesen belegt. Hinzu kommt, dass das Gebäude mit vielen antiken
Möbeln, fast museal, ausgestattet wurde. All diese Elemente zeigen erneut
das Interesse Bo Bardis, traditionelle und moderne Elemente miteinander zu
kombinieren.

Die Casa de Vidro als Erstlingswerk einer später international renommierten


Architektin weist in diesem Kontext viele interessante Merkmale auf. Sie zeu-
gen sowohl von Widersprüchen als auch von zukunftsweisenden Tendenzen im
Gesamtwerk Bo Bardis. Erst seit kurzem in Brasilien tätig, ist ihr erster realisier-
ter Entwurf noch eher von der europäischen Moderne geprägt, als von der sich
selbstbewusst entwickelnden brasilianischen. Selbst das Thema Sonnenschutz

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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

Casa Valéria Cirell, São Paulo 1958, 1964 findet man bei der sieben Jahre zuvor erbauten Casa de Vidro. Dieser Trennung
Text: Sabine Schertler von Hauptwohngebäude und dem Trakt der Bediensteten begegnet Bo Bardi
erstmals in Brasilien, wo eine solche Struktur weit verbreitet war, und über-
nimmt sie in ihre Planung.
“But when I first came here, São Paulo, I didn’t understand Beim Betreten des Grundstücks im Norden fällt die Casa Cirell zunächst kaum
the concrete poetry of all the corners and streets here. ins Auge, da man hier aufgrund der Geländebeschaffenheit auf der Höhe des
[…] I wrote it all off as just more of the city’s bad taste Obergeschosses steht und somit von oben auf das Gebäude blickt. Zudem ver-
[…] And so with that start out steckt es sich durch das begrünte Dach und seine Fassade in der umliegenden
no way I’d let you take my heart out Landschaft. Hier wendet Bo Bardi ihr Wissen über die vor allem im Norden
I had another dream of what it takes for a city“ Brasiliens praktizierte Handwerkskunst des Mosaiks an, lässt in die Außen-
„Sampa“, Caetano Veloso (translation Zach Rogow, Joana Darezzo)¹ wände kleine Steine, farbige Glasscherben sowie lebende Pflanzen einmauern
und führt dadurch eine starke Eingliederung in die Umgebung herbei. Es wirkt
Von der Schwierigkeit, als Zugezogener (sei es aus einem anderen Teil Bra- beinahe, als habe die Natur das Gebäude für sich beansprucht und in sich
siliens oder gar aus Europa kommend) die Stadt São Paulo verstehen, ihre aufgenommen.
Andersartigkeit als Schönheit erkennen und sie letztendlich als Heimat aner- Da die Casa Cirell im Norden von der Landschaft umschlossen wird und auch
kennen zu können, singt der brasilianische Sänger Caetano Veloso in seiner in der Fassade kaum Öffnungen vorhanden sind, entsteht der Eindruck eines
Hymne an São Paulo, auch „Sampa“ genannt, und beschreibt damit wohl genau massiven, schweren Baukörpers. Dies ändert sich jedoch, sobald man dem sch-
den Eindruck, den Lina Bo Bardi von der Stadt haben muss, als sie 1946 mit malen Weg im Westen des Gebäudes bis hin zur Südseite folgt. Dort wandelt
ihrem Mann Pietro Maria Bardi nach Brasilien kommt. Nach ihrer Architek- sich das Erscheinungsbild hin zu einem leichten Pfahlbau, da die schmalen
turausbildung in Italien erscheint ihr São Paulo hässlich und fremd, da ihre Vor- Holzstützen des umlaufenden „Säulengangs“ bis ins Wasser des Schwimmteichs
stellung einer Stadt eine ganz andere war. Dennoch versucht sie einen Weg zu reichen und dort einbetoniert sind. Auch diese Fundamente gehen auf das bra-
finden, das Land und insbesondere São Paulo zu verstehen, indem sie sich mit silianische Handwerk zurück, welches Bo Bardi im Norden des Landes kennen-
der dortigen Kultur, der gesellschaftlichen und politischen Situation beschäf- lernte. Die Lage des Badeteiches ergibt sich ebenfalls aus dem Nord-Süd-Ge-
tigt. Diese Auseinandersetzung mit den Bedingungen vor Ort wird zur Grundla- fälle des Grundstücks, wodurch das Wasser natürlicherweise nach Süden fließt
ge ihrer Arbeit und führt zu einer andersartigen, differenzierten Interpretation und schließlich im Schwimmbecken aufgefangen wird.
der modernen brasilianischen Architektur. Darüber hinaus ändert sich auch das Öffnungsverhalten des Hauses beim
Entlanggehen des nach Süden führenden Weges. Findet man im Nord- und Süd-
Diese Andersartigkeit ihrer modernen Architektur spiegelt sich in einem ihrer osten lediglich kleine Fenster zur Belüftung der übereinanderliegenden Räume
frühen Werke, der 1958 in São Paulo erbauten Casa Valéria Cirell, wider, da für Küche und Bad sowie mittelgroße Fenster, die der Belichtung von Schlaf-
diese doch auf den ersten Blick alles andere als modern anmutet. Auch hier und Essbereich dienen, so öffnet sich das Haus zur südwestlichen Seite hin mit
studiert Lina Bo Bardi zunächst die Gegebenheiten vor Ort und so wird die großen Terrassentüren. Zusätzlich enthält das Dach ein Oberlicht im Westen,
Form und Position des Baukörpers durch die Topographie des Grundstücks das dem Teil des Innenraumes mit doppelter Höhe Licht spendet, als auch dem
sowie eine Nord-Süd-Achse bestimmt. Besucher, vom Norden auf der Obergeschossebene ankommend, den Einblick
Sie entwirft ein Ensemble aus zwei Volumina, ein Wohnhaus mit acht Metern in das Gebäude durch ein mittelgroßes Fenster im Nordosten eröffnet.
Länge, acht Meter Breiten und sechs Metern Höhe, sowie ein kleineres recht- Um daraufhin in das Innere des Hauses zu gelangen, durchschreitet man die
eckiges Gebäude für Bedienstete mit 3,40 Meter auf 7,30 Meter und 4 Meter Eingangstür an der nordöstlichen Seite. Beim Betreten der sechs Meter hohen
Höhe, getrennt durch einen Innenhof mit 15 Quadratmetern. Eine sehr ähnliche Gebäudehälfte erblickt man links eine Treppe, die nach oben auf eine Galerie
Organisation der Volumen, die jeweils eine unterschiedliche Funktion erfüllen, führt, und geradeaus einen Kamin, der als raumbildendes Element fungiert.

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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

Die kompakte, homogene „Kiste“ von außen wandelt sich beim Eintreten in ein alleinigen Projekt als beim Casa de Vidro, bei dem auch ihr Ehemann seine
System aus verschiedenen Bereichen, die in ihrer Nutzung unabhängig sind architektonischen Vorstellungen einfließen ließ. Durch ihr eigenes Studium der
und zum freien Grundriss (keine vertikalen Wände bis auf die Trennwände zu brasilianischen Vergangenheit und im Versuch, sich diesem Land zu nähern,
Küche und Bad) der Casa Cirell gehören. findet sie eine neue, andersartige Schönheit in ihrer neuen Heimat.
Hier wird ihr Bezug zur modernen Architektur deutlich. Der gesamte Innen-
raum organisiert sich um drei Punkte: die Treppe, den Kamin und das Halb- “And so with that start out
geschoss, welches den quadratischen Grundriss diagonal teilt. Durch diese No way I’d let you take my heart out
Teilung entlang der Nord-Süd-Achse entsteht die Figur eines gleichschenkligen I had another dream of what it takes for a city
Dreiecks, dessen Katheten die Nordost- und Südostfassaden bilden. Dabei wird It took me so long to see what makes you so pretty
der Innenraum in zwei Hälften unterteilt, die prismenförmige, doppelthohe Sei- You’re the reverse of the reverse of the reverse of the reverse”
te beherbergt das Wohnzimmer, während auf der anderen Seite unterhalb der „Sampa“,Caetano Veloso (translation Zach Rogow, Joana Darezzo)¹
Galerie ein Essplatz sowie die Küche und oberhalb eine Bibliothek mit Schlafge-
legenheit und Bad untergebracht sind. Immer noch im Westen des Gebäudein- Durch diese Auseinandersetzung mit der Kultur Brasiliens entstand für sie
neren stehend und nach Osten blickend, lässt der tragende Holzbalken des eine völlig andere, neue Herangehensweise an die moderne Architektur. So
Halbgeschosses eine horizontale Achse entstehen. Die runde Stange, um die versteht Lina Bo Bardi die Moderne nicht als komplett Neues, vom Alten abge-
sich die Wendeltreppe „schlängelt“, bildet die erste vertikale Achse im Innen- schnitten, sondern als eine Methode mit Bezug zu vorangegangenen und auch
raum. Sobald die Treppe oben ankommt, geht sie in einen Steg über und trifft traditionellen Formen der Architektur. Sie sucht die Verbindung zum Ort, zur
schließlich auf die zweite vertikale Achse, in Form von Kaminrohr und Mittel- Gesellschaft, zur Kultur und entwickelt dadurch eine andere, ihre ganz eigene
stütze. Der Kamin als strukturierender Bestandteil befindet sich im Mittelpunkt Moderne, sozusagen the reverse of the reverse of the reverse of the reverse.
des Grundrisses.
Diese Position kann man erst nachvollziehen, sobald sich der Kamin im Ober-
geschoss in 2 Elemente auflöst, in das Abzugsrohr und eine Stütze, wodurch ¹ Übersetzung von Zach Rogow, Joana Darezzo: Caetano Veloso “Sampa”
ersichtlich wird, dass die Lage dem Tragwerk geschuldet ist. Die diagonal http://www.worldliteraturetoday.org/translating-sampa-caetano-veloso#.
gestellte Wand zur Küche im Erdgeschoss und zum Bad im Obergeschoss Va3pzfnrl1H
hat nicht nur eine raumtrennende und tragende Funktion, sondern lässt den
fünfeckigen Hauptraum zentralisiert erscheinen. Das dritte Hauptelement des
Innenraums, die Treppe, bildet eine Besonderheit der Arbeit von Lina Bo Bardi.
Im Vergleich mit der Treppe des Museo de Arte Moderno de Bahia wirkt sie
zwar eher weniger für eine Inszenierung gedacht, dennoch steuert auch hier
die Architektin das Hinaufgehen und lässt dadurch eine Choreographie entste-
hen. Durch die nur 80 Zentimeter breiten, dreieckigen Stufen und den dünnen,
aus nur einer geschwungenen Stange bestehenden Handlauf wird der Benutzer
der Treppe dazu gezwungen, langsam und bedächtig hinauf- oder herabzu-
schreiten.
Allein durch diese Einzelheit wird deutlich, wie intensiv sich Lina Bo Bardi mit
den Details eines eher kleinen Auftrags zum Bau eines Ferienhauses beschäf-
tigt und auch hier nichts dem Zufall überlässt. Sie hinterlässt ihre ganz eigene
Handschrift in der Casa Valéria Cirell, vielmehr noch hier, bei ihrem ganz

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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

MASP, Museu de Arte de São Paulo, 1957-68 und zwischen den vier massigen Betonpfeiler hat die Ausmaße von 74 x 29 x 8
Text: Alexander Welsch Metern. Die gewaltigen Pfeiler und Träger aus Stahlbeton zeigen den notwen-
digen statischen Einsatz um die offene Struktur des MASP daran aufzuhängen.
Der über der Belvedere liegende Teil des Museums beinhaltet ein Geschoss mit
„Unvergesslich die Szene, als der tropische Regen Sao Paulo überschwemmte Büros und Wechselausstellungen sowie das Hauptausstellungsgeschoss für die
und ich mit Dutzenden Menschen unter dem MASP Schutz suchte. Dieser Kunstsammlung des MASP. Die Einheit des Gebäudes wird durch die Verwen-
kollektive Moment erinnert mich an die ikonisch gewordenen Bilder von Men- dung von Stahlbeton bei den Pfeilern und Träger deutlich. Dabei wird der raue
schenmengen anlässlich einer Kunstperformance oder eines Konzerts, an eben- Beton mit den anderen Materialien kombiniert wie z.B. mit dem Fassadenglas,
diesem Ort und doch waren wir nur wegen dem Wetter hier…“ (1, Seite 116) dem einheitlichen lokalem Stein im Fußbodenbereich in der Veranstaltungshal-
le und dem Platz oder dem schwarzen Bodenbelag aus Industriegummi in der
Während der Bauarbeiten 1964, zum Museu de Arte de Sao Paulo, kam es zu Gemäldegalerie. Durch den Verzicht auf exklusive und kostspielige Materialen
einem Militärputsch mit Unterstützung des US-Geheimdienstes CIA. Die Visi- wird deutlich das Lina Bo Bardi versucht die elitären Fesseln eines Museums zu
onen des amtierenden Präsidenten Joao Goulart, 2 Millionen Menschen lesen sprengen. Die Ausstellungsobjekte sollen dadurch allen zugänglichen gemacht
und schreiben bei zu bringen und einer Boden- und Landreform stimmten das werden und auf Akzeptanz stoßen.
Militär und die USA ängstlich gegenüber einem aufblühenden Kommunismus.
Nachdem Joao Goulart gestürzt war und sein Nachfolger Humberto Castelo Auch Ihrer Präsentation der Ausstellungsobjekte spiegelt Lina Bo Bardis Hal-
Branco das Präsidentenamt übernahm verliefen die Bauarbeiten an der Avenida tung für eine freie politische und künstlerische Entwicklung der Gesellschaft
Paulista äußerst stockend. wieder. Es kommt zu einem schlichten Einsatz von Beton und Glas, wie bei der
Architektur des MASP selbst. Dabei werden die Gemälde auf Augenhöhe an
Das MASP im Außenbezirk von Sao Paulo auf der Aussichtsterrasse des abgeris- Glasständer montiert. Die Ständer sind in einen Betonquader eingespannt und
senen Trianons zu errichten war der Architektin und Wahlbrasilianerin Lina Bo dadurch stabilisiert. Für die Ausstellung platziert Lina Bo Bardi die Gemälde
Bardi zu verdanken. Dieser, bis dahin unbedeutende Stadtteil war nur für statt- in mehreren Reihen, horizontal zu den verglasten Längsseiten des Museums.
liche Herrschaftshäuser und -gärten von Kaffeeplantagenbesitzern vorbehalten Die Reihen sind zueinander verschoben. Dies diente zum einen dem freien
und sollte durch die Realisierung des MASP an kulturellen Wert gewinnen und Blick durch den Ausstellungsraum. Zum anderen kann dies ebenso als Zeichen
damit belebt werden. Vielleicht war es aber auch ein Zeigefinger-heben in gegen das Regime gedeutet werden. Die Glasständer mit den Gemälden stehen
Richtung dieser Kaffeeplantagenbesitzer, da diese das Militärregime finanziell wie Menschen fest am Boden aber frei in einem großen Raum. Ebenso spiegeln
unterstützten. die verschiedenen Ausstellungsobjekte mit ihren verschiedenen Größen die
Individualität der Bevölkerung da. Ein weiterer Hinweis ist die möglich Betrach-
Das MASP, basierend auf den Projektentwurf für das Museuà Beira do Oceana tung der Gemälde von allen Seiten. Diese ungewöhnliche Präsentation der
in Sao Vincente, besteht aus zwei Teile: ein Sockelbau im Hang und einen von Kunststücke verdeutlicht ihre antiautoritäre Haltung gegenüber dem Militärre-
Pfeilern und Trägern hochgestemmter Museumskörper über der Belvedere. gime. Als eine gebildete Frau die in Europa den Krieg miterlebte, versuchte sie
Die im Sockelbau, des früheren Trianon, untergebrachten Funktionen können Brasilien Hoffnung zu geben für eine bessere Welt.
den gesellschaftlichen Anlässen zugewiesen werden. Die skulpturale x-förmige
Treppe im öffentlichen Foyer führt die Besucher zu unterirdisch liegenden Aus- Während der Fertigstellung des MASP kam es im Jahre 1968 im ganzen Land zu
stellungsfläche, einem kleinen und großen Theatersaal, sowie zu den Werkstät- Studentenunruhen und Streiks. Das Ende des Militärregimes und der Diktatur
ten. Im Rücken des Sockels befindet sich eine Treppe die durch das Unterge- dauerte aber noch bis Ende 1985 an. Doch hierbei spielte der Platz unter dem
schoss auf die Aussichtsterrasse an der Avenida Paulista führt. Dieser aus einer Museu de Arte de Sao Paulo an der Avenida Paulista eine wichtige Rolle. Dieser
Vorgabe der Stadt heraus entwickelte öffentliche Raum unter der Betonplatte war Ausgangs- und Sammelpunkt für Demonstrationen gegen das Regime und

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für die Freiheit Brasiliens.

Bei der Ausarbeitung des Konzepts für das Museum und des Raumes an der
Avenida Paulista war Lina Bo Bardi wahrscheinlich noch nicht klar das diese
einen Einfluss auf die Studentenunruhen und Streiks nehmen wird. Doch sie
stellte das Örtliche und Volkstümliche ihrer Architektur über dem Globalen
und Allgemeinen was das MASP bis heute zu einem Wahrzeichen für Sao Paulo
macht. Wie das subtropische Klima Architekten aus anderen Klimazonen immer
dazu anregt Konzepte eines fließenden Übergang von innen und außen zu ent-
wickeln, versucht das Lina Bo Bardi bei dem Museu de Arte de Sao Paulo nicht.
Das Museum sucht nicht nach einer baulichen Schwellenlosigkeit sondern
versucht die Kunst allen Gesellschaftsschichten näher zu bringen, sich kulturell
auszutauschen und kritisches Denken zu fördern.

Ein scheinbar grenzenloser Raum, für eine grenzenlose Freiheit, aber an man-
chen Tagen auch nur ein Schutz vor Unwetter.

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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

Igreja do Espírito Santo do Cerrado, 1975-1982 und richten den runden Innenraum auf den Alter aus. Direkt darüber befindet
Text: Daniel Wall sich ein dreieckiges Fenster aus Glasziegeln, welches die Dreieinigkeit symbo-
lisieren könnte. Das Fenster schafft als einzige Lichtquelle eine auf den Altar
ausgerichtete Atmosphäre.
„Es ist wichtig, dass Architektur am Fundament beginnt und nicht bei der Kup- Auf der zweiten, mittleren Ebene befinden sich die Wohnräume der Nonnen
pel. Zuerst kommt die Auseinandersetzung mit dem konkreten Kontext, dann und der Kreuzgang. Ein Ort der Ruhe, der Besonnenheit und der Einkehr. Hier
kann der Bau beginnen.“ ändert sich die Fassade von einer vollständig geschlossenen Wand aus Lehm-
Lina Bo Bardi ziegeln in eine Lochfassade mit Fenster und Türen. Ein umgedrehtes Zeltdach
formt einen Innenhof welcher als Kreuzgang für die dort wohnenden Nonnen
Die Arbeit an der Igreja do Espírito Santo do Cerrado ist ein klares Statement dient. Gleichzeitig sind alle Räume nach innen zum Innenhof orientiert und
von Lina Bo Bardi zur vernakulären Architektur und gleichzeitig ein Beispiel für schotten so die Außenwelt ab. Die Fläche der Überschneidung mit den anderen
die brasilianische Moderne. Die „Kirche des Heiligen Geistes“ in Zentralbrasi- kreisförmigen Volumen wird immer den anderen Gebäudeteilen zugegeben.
lien wurde 1975 in Auftrag gegeben, jedoch waren die Finanziellen Mittel sehr Auch an der Dachform erkennt man dass das mittlere Gebäudeelement sich
knapp, so arbeitete Lina Bo Bardi 6 Jahre lang ohne Bezahlung an dem Projekt. zurückzieht, das umgedrehte Zeltdach wirkt wie ein Negativ zu den anderen
Um mit dem geringen Budget auszukommen musste das Konzept so klar und Dachformen und lässt das Volumen introvertiert erscheinen.
einfach wie möglich sein. Die Materialien für das Gemeindezentrum kommen Auf der untersten Ebene befindet sich ein Gemeindesaal für Tagungen oder Fei-
aus der unmittelbaren Umgebung, die Konstruktion ist einfach gehalten und erlichkeiten. Dass dieser der Öffentlichkeit zugeschrieben ist zeigt sich schon
die Helfer waren Einwohner des kleinen Vororts Bairro Jaraguá, in dem das in der Fassade welche nur aus stehenden Bambusrohren besteht und somit
Gemeindezentrum errichtet wurde. Der Entwurf besteht hauptsächlich aus relativ durchlässig ist. Das dient natürlich der Belüftung, aber es wirkt auch viel
drei kreisförmigen Baukörpern welche sich überschneiden und so geschwun- einladender als das geschlossene Mauerwerk der anderen Gebäudeteile. Auch
gene Linien erzeugen. Welche nach Oscar Niemeyer aus der brasilianische der Boden lädt hier zum eintreten ein, denn er gleicht sich mit der Umge-
Moderne nicht mehr wegzudenken sind. Die drei Körper sind sowohl in ihrer bung um keinen Übergang von Innen nach Außen zu zeigen. Die Konstruktion
Ausdrucksweise, der Materialität als auch in ihrer Konstruktion verschieden. funktioniert hier, im Gegensatz zum Kirchenschiff, mit keinen innenliegenden,
Bei genauerer Betrachtung fällt dies auch relativ schnell ins Auge. Doch warum sondern nur mit außenliegenden Holzstützen in der Fassade. Somit kann der
wählte Lina Bo Bardi unterschiedliche Konstruktionen und Materialien bei Festsaal verschieden genutzt werden und ist im Grundriss frei, wohingegen das
einem Projekt mit drei gleichen Grundformen? Kirchenschiff durch die Stützen und den Altar in eine Richtung ausgerichtet
werden.
Als erste Entscheidung wurde das Hanggrundstück in drei Ebenen terrassiert.
Somit gibt die Topographie eine Hierarchie vor, welche im Projekt übernom- Lina Bo Bardi zeigt wie in drei gleichen Grundformen verschiedene Nutzungen
men wird und die Anordnung und Ausrichtung der einzelnen Gebäudeteile funktionieren und wie diese sich auch in der Konstruktion und der Materialität
bestimmt. Jede Ebene erfüllt eine andere Funktion, die unterste die Gemein- nach außen zeigen können ohne das Gesamtbild zu stören. Die unterste Ebene
schaft, die mittlere das Wohnen und die oberste das Beten. Die obere Ebene als weltlicher Bezugspunkt, ein öffentlicher Raum für Feste und Feierlichkeiten.
schließt an das Gelände an und bietet direkten Zugang zur Kirche. Das runde Die mittlere als ein Verbindungsstück, ein dienendes Element um die zwei an-
Kirchenschiff hat ein Zeltdach mit innenliegenden Holzstützen aus heimischem deren zu versorgen und gleichzeitig den Nonnen Privatsphäre bieten. Die ober-
Aronia-Holz und außenliegende Betonkonstruktion mit einem Betonkranz. Die ste Ebene als die heilige Ebene, an der man Gottesdienste feiert, ein Ort für die
Außenwand ist mit Lehmziegel ohne Putz komplett ausgefüllt. Das Baumaterial Besinnung und der Anbetung. Bo Bardi versteht es bei diesem Projekt auf alle
bestimmt so das Erscheinungsbild des Gebäudes. Die Holzstützen schaffen Bedürfnisse und Anforderungen einzugehen, gegebenenfalls die Konstruktion
eine assoziative Verbindung zu einem traditionellen länglichen Kirchenschiff oder das Material zu ändern, ohne aber das Gesamtbild oder den Kontext aus

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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

den Augen zu verlieren. Sie vereint traditionelle Materialien und Bautechniken


mit der modernen Architektur.
So entsteht ein Gemeindezentrum für eine kleine Gemeinde, ohne große finan-
zielle Mittel, nur aufgrund der Sehnsucht nach Glaubensgemeinschaft. Eine
Kirche mit der sich die Anwohner identifizieren können, und die gleichzeitig
dem Ort eine Identität verleiht. Ohne diesen klaren Willen der Anwohner und
von Lina Bo Bardi wäre so ein Projekt wahrscheinlich nicht umsetzbar gewe-
sen. Vielleicht gehört zu der Auseinandersetzung mit dem Kontext nicht nur
das Studieren der Topographie oder der Himmelsrichtung sondern auch der
Umgang und das Integrieren der Anwohner, welche am Ende mit dem Projekt
leben müssen.

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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

SESC Fábrica Pompeia, São Paulo 1977-86 Dies schafft sie aber mit sehr sparsamen Eingriffen. Sie verändert nur Kleinig-
Text: Lisa Frank keiten, lässt die Hallenkonstruktion freilegen, öffnet die Dächer und lässt einen
Steinboden verlegen, welchen man bei städtischen Plätzen vorfindet. Die neue
Lagerhalle wird mit neuen Funktionen aufgewertet, nämlich einem Theater,
„I want the SESC to be even uglier than the MASP!” einem Restaurant, das abends zur Bar wird, einer Bibliothek, temporären Aus-
stellungsflächen, Werkstätten und verschiedensten Aufenthaltsräumen.
in Zitat von der aus Italien stammenden, aber in Brasilien heimisch gewordenen Die Möblierung ist kompakt und aus einfachen Materialien wie Holz. Ebenso
Architektin, Designerin, Künstlerin, Ausstellerin, etc. Lina Bo Bardi, welches den sind die Räume offen und alle frei zugänglich, was eine besonders angenehme
Leser zunächst verwirrt. Warum sollte ein Architekt etwas bauen wollen, das und heimische Atmosphäre schafft und durch einige Elemente wie die Feuer-
hässlich ist bzw. welcher Architekt bezeichnet seine eigenen Werke als häss- stelle, die ein Gefühl von Zuhause sein vermittelt oder den amorphen Was-
lich? Dieses Zitat lässt sich nur begreifen, wenn man sich mit der einerseits serlauf noch verstärkt wird. Faszinierend dabei ist die Tatsache, dass diese
kraftvollen und resoluten, andererseits sehr behutsamen und einfühlsamen ganzen Funktionen und Aufenthaltsräume gleichzeitig, nebeneinander in einer
Person auseinandersetzt. „Ugly“ bezieht sich hier nicht auf die Ästhetik der Ar- großen Halle stattfinden und sich gegenseitig nicht stören, da die Flächen
chitektur, sondern auf die Art und Weise, wie sie gemacht ist, nämlich einfach, durch Höhenunterschiede, möbelartige Trennwände oder den Wasserlauf
ärmlich, aber auch ehrlich. definiert sind. Eingerahmt wird diese belebte Situation von unterschiedlichen
Lichtstimmungen im Gebäude, die durch die Holzgitter, die Spiegelung auf
Das SESC Pompeia entstand durch den Auftrag an Lina Bo Bardi für den Neubau der Wasserfläche und die Ziegelobergarden entsteht. Helles, gedämpftes und
eines Sport- und Kulturzentrums im Arbeiterviertel Palmeira, einem Industrie- diffuses Licht wechseln sich ab und lassen Innen- und Außenraum ineinander
gebiet in Sao Paulo. Auf dem Grundstück befindet sich zu dem Zeitpunkt eine überfließen.
alte, mittlerweile geschlossene Fassfabrik, die die Auftraggeber bereits nach Im extremen Gegensatz dazu die drei neu errichteten Betontürme. Im großen
dem Prinzip „Tabula rasa“ als abgerissen betrachten. Lina Bo Bardi sieht dies Hallenturm befinden sich vier Sportfelder, die mit unterschiedlichen Farbge-
jedoch anders und begeistert sich bereits beim ersten Besichtigungstermin für staltungen versehen sind, welche die vier Jahreszeiten darstellen sollen, sowie
die Atmosphäre, die auf dem verlassenen Grundstück herrscht. Spielende Kin- ein Schwimmbad. Bei den beiden Kleineren handelt es sich zum einen um
der mit ihren Familien haben sich das Gebiet zu Eigen gemacht und begreifen einen Wasserturm, zum anderen um einen zum Hallenturm zugehörigen Teil,
den Ort als Versammlungs-, Treff- und Spielstätte. der Umkleiden und sämtliche Nebenfunktionen enthält. Verbunden werden sie
Genau diese Atmosphäre wollte die Architektin erhalten und beabsichtigte durch sogenannte Himmelsbrücken, d.h. Betonstege, welche die Erschließung
deshalb eine Reaktivierung und Sanierung des alten Fabrikgebäudes mitsamt im Außenbereich gewährleisten und dadurch zu Begegnungsorten werden.
seinen Materialien. Dem internationalen Stil konnte Bo Bardi nichts abgewin- Diese modern angehauchte Funktionstrennung und die außenliegende, für Bra-
nen, jedoch ist sie auch nicht eindeutig einer bestimmten Schule zuzuordnen. silien typische Erschließung zeigen die unbedingte Notwendigkeit der Verbin-
Sie arbeitet sowohl mit Elementen des Brutalismus, als auch des Regionalismus dung: Der eine Turm kann nicht ohne den anderen und verliert dadurch seine
und wird beeinflusst von traditioneller, brasilianischer Kultur, wobei sie den Be- Funktion. Diese Zusammengehörigkeit wird auch in der Fassade ausgedrückt,
zug zu Kontext, Ort und Geschichte als stil- und gestaltgebend für ihre Werke die beim Öffnungsverhalten des Hauptturms eine freie Form in orthogonaler
begreift. Trotzdem steht hinter dem Vorsatz der Erhaltung des Bestandes nicht Anordnung und beim Nebenturm eine regelmäßige Kontur in freier Anordnung
unbedingt ein nostalgischer Hintergrund, sondern eher die Möglichkeit zu aufweist. Durch das Aufgreifen der Elemente des anderen, aber einer anderen
einer inhaltlichen Uminterpretation bei Beibehaltung der äußeren Form. Umsetzung, wird das Zusammenspiel deutlich.
Das Image der Fabrik, die für Arbeit, raue Atmosphäre und Gewalt steht wird Die Absicht Lina Bo Bardis wird vor allem im SESC Logo erkennbar: Ein Kamin,
umgewandelt in ein Zentrum der Freiheit, Fantasie und Kreativität. Sie nutzt aus dem Blumen statt Rauch herausquillen. Beinahe ironisch wird das Sym-
das, was bereits da ist und erzeugt die Vergangenheit damit neu. bol der ehemaligen Fabrik uminterpretiert in eine positive Aussage. Genauso

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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

betrachtet sie die restlichen Elemente ihres Entwurfs. Ein Solarium oder eine
riesige Sonnenterrasse entlang des Wasserkanals erschafft plötzlich eine Ruhe-
zone, Erholung und Entspannung, wo früher hektisch geschuftet und gerannt
wurde. Die Betonbrücken, die als Zeichen für die Industrialisierung stehen,
schaffen nun Raum für das bewegte und fröhliche Hin und Her der Menschen.
Das Gebäude, das für unangenehme, repressive und anstrengende Fabrikarbeit
steht, wird zum Zentrum der Freizeit, des Sports und der Bildung. Die rohe und
plakative Ausdrucksform verleiht dem Entwurf aber zusätzlich eine sozialkri-
tische Note, die den technischen Fortschritt und das damit einhergehende
Konsumdenken darstellen und in Frage stellen sollen. Möglicherweise kann
hier auch eine Verbindung zum gleichzeitig entstandenen Centre Pompidou
bestehen, welches dieses High-Tech-Image in höchstem Maß feiert, während
Lina Bo Bardi zwar ebenfalls die Konstruktion und Technik sichtbar macht, aber
durch den Einsatz von einfachen Materialien relativiert.

Ausschlaggebend für die bevölkerungsnahe Architektin war vor allem die


Berücksichtigung von Menschen, die sonst vergessen werden, als Verlierer
gelten oder als hässlich beschimpft werden. Diese sollen im SESC Pompeia ein
Zentrum und ein Zuhause finden, welches nicht nur für die wohlhabende und
erfolgreiche Bevölkerungsschicht geschaffen wurde. Damit setzt sie ein Zei-
chen gegen die Benachteiligung bestimmter Bevölkerungs- oder Randgruppen.
Dementsprechend soll auch ihre Architektur einfach und ärmlich sein. Man
ordnet ihre Projekte oft der „Arquitetura pobre“ zu, einer armen Architektur
im Sinne von Hand gemacht und mit bescheidenen Mitteln geschaffen. Diese
ist vergleichbar mit der zeitgleichen Kunstrichtung der „Arte povera“ in Italien,
welche dasselbe mit Kunstwerken vermitteln möchte.
Ihr ging es nicht um die Schaffung eines ästhetisch beeindruckenden Gebäu-
des, sondern um die Erzeugung einer Gebrauchsarchitektur, die ihre Atmo-
sphäre und ihre Schönheit erst erhält, wenn sie sich vom Menschen aneignet
wurde und durch ihn bespielt wird.
Der Mensch ist der Mittelpunkt ihrer Architektur!

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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

SESC Fábrica Pompeia, São Paulo 1977-86 eine wertvolle Gemeinschaft und bildet keine Grenzen.
Text: Bärbel Haas Die drei neuen Türme bilden auf eine unkonventionelle Weise das Kontrast-
programm zum Bestand. Sie stehen schon eher für den zeitgemäßen brutalis-
tischen Baustil in Brasilien. In rauem Beton ragen sie aus dem Boden heraus
Mit dem Jahr 1982 gewann die Stadt São Paulo in Brasilien eine neue, mar- und fallen durch ihre Höhe schon von weitem den Betrachtern ins Auge, wäh-
kante Architektur. Linda Bo Bardi bekam den Auftrag auf dem Gelände einer rend sich die ehemalige Fabrik eher in die breite entwickelt. Neben dem neuen
still gelegten Fassfabrik einen Erholungsort mit Kultur- und Sportzentrum zu Wasserturm, befinden sich in dem massigeren Turm vier Turnhallen, welche
entwerfen, in Zusammenarbeit mit dem Träger SECS. Das SECS (Serviço Social in bunten Farben für die Jahreszeiten stehen, sowie eine Schwimmhalle. Im
do Comércio= sozialer Dienst des Handels, dt.) ist Träger von verschiedenen kleineren Turm befinden sich die Vertikalerschließung und die Nebenräume für
Kultur-, Sport- und Freizeiteinrichtungen in Brasilien und agiert ohne Profit. die Sportler, wie z.B. die Umkleiden. Beide Türme sind abhängig voneinander,
Allein in São Paulo gibt es mittlerweile 35 dieser Einrichtungen. Finanziert wer- ohne den jeweils anderen funktioniert keiner von ihnen. Der eine kann nicht
den sie durch eine Abgabe aller Handelsunternehmen in Brasilien, da sie vor begangen werden, dem anderen fehlt die Hauptnutzung. Dies kann für die
allem für ihre Angestellten gedacht sind. Mit einem geringen Eintritt kann man Wichtigkeit von Gemeinschaft und Hilfsbereitschaft stehen. Um diese Verbun-
die Zentren nutzen und für wenig Geld täglich eine warme Mittagsmahlzeit zu denheit zu zeigen, wurden zwischen den Gebäuden Luftbrücken in verschie-
sich nehmen. denen Richtungen errichtet. Nur durch sie ergibt die Aufteilung des Raum-
Die Fabrik sollte ursprünglich abgerissen werden, wie auch viele andere Ge- programmes Sinn, nur mit ihr funktioniert das Zusammenspiel zwischen den
bäude in ihrer Umgebung, um das Viertel aufzuwerten. Lina Bo Bardi entschied Nutzungen. Während man von Innen das System als eins wahrnimmt, erschei-
sich anstatt dessen sie zu erhalten, samt aller Materialien und Eigenschaf- nen die Neubauten von außen trotz gleichem Material in unterschiedlicher Art
ten, die an die vergangene Zeit erinnern. Dies allerdings nicht aus Nostalgie, und Weise. Durch ihre verschiedenen Öffnungen der Fensterdurchbrüche wird
sondern um die früheren Arbeitsverhältnisse zu untergraben. Sie wollte den die differenzierte Nutzung sichtbar. Während der als zweites genannte Turm
Arbeitsplatz nicht länger als Verbündeten der Belastung und Ermüdung zeigen, viereckige Fenster ohne Ordnung vorweist, haben die Sporthallen geradlinig
sondern ganz im Gegensatz als Erholungszone. Alles Unangenehme, Hem- aufgeteilte Durchbrüche, diese allerdings in der Form von Amöben. Fensterlä-
mende und Schmerzhafte der vergangenen Jahre, sollte nun durch Freiheit und den aus rot angestrichenem Holz schlagen wieder die Brücke zu den regional
Förderung der Fantasie kompensiert werden. Sehr treffend zeichnete die Ar- genutzten Materialien.
chitektin hierzu das Markenzeichen des Zentrums: ein Kamin der nicht länger
Rauch ausstieß, sondern Blumen. Lina Bo Bardi entschied sich, die Bestandsgebäude mit großen Öffnungen zum
In den Bestandsgebäuden hat Bo Bardi eine Bibliothek, einen Workshop-Bereich Außenraum auszustatten. Auch die Materialität des Bodens in Stein erinnert an
mit Werkstatt, ein Theater, eine Küche mit Kantine, ein Ausstellungsbereich, eine öffentliche Platzgestaltung. Eine Feuerstelle und ein Wasserlauf laden zum
eine Mehrzweckfläche und die Verwaltung eingerichtet. Die Fassaden aus Verweilen ein, auch wenn man keiner Aktivität nachgehen will. Die Besucher
rotem Backstein und das Dach der Fabrik wurden erhalten und die Tragstruk- sind bei allen Schwerpunkten des Programms willkommen und werden eingela-
tur freigelegt. Sie erinnern noch immer an den Stil britischer Fabriken. Um die den und animiert sich zu beteiligen. Das Facettenreichtum des Zentrums bietet
Einteilung des neuen Raumprogramms trotzdem umsetzen zu können, wurden für jedermann eine Zone, wo er sich zurückziehen, oder in Gesellschaft seine
rücksichtsvoll Elemente wie begehbare Raumboxen und eine Möblierung aus Freizeit verbringen kann. Sei es um sich beim Sport auszupowern, oder in der
Holz im Inneren eingestellt. Die letztere wurde nicht in modernen sterilen Ele- Werkstatt sein Handwerk zu üben. Im Gegensatz zu kostenintensiven Frei-
menten gewählt, sondern bodenständig, der Region angepasst. Die Besucher zeitaktivitäten mit entstehenden Monatsbeiträgen, finden hier alle Mitglieder
sollen sich in dem Gebäude wohl fühlen und sich trauen ihren Bedürfnissen einer Familie ein passendes Angebot.
nach Erholung nachzugehen. Es soll für sie kein fremder Ort sein, sondern Teil Abgerundet wird das Projekt mit dem ehemaligen Regenwasserkanal, welcher
ihrer Nachbarschaft. Durch die dezente Aufteilung der offenen Halle entsteht unterhalb der Luftbrücken als Verbindung zwischen den einzelnen Gebäuden

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Wahlpflichtfach Moderne in Brasilien SoSe2015
Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

dient. Er wurde zu einem Liegebereich im Freien umfunktioniert, wodurch das


Programm der Kultur-, Sport und Freizeiteinrichtung komplett war.

Lina Bo Bardi hat es mit einem dezenten Eingriff in den Bestand einer Konkurs
gegangenen Firma und der Addition von neuen Gebäuden geschafft, einen
einladenden Ort für die Bevölkerung São Paulo zu errichten. Mit einem ge-
ringen finanziellen Aufwand, wurde ein Ort geschaffen, der vielen Menschen
aus ärmeren Verhältnissen das Leben erleichtert, wenn nicht gar lebenswert
macht. Sie haben in ihrem oft schweren Alltag mit Ängsten und Sorgen einen
Lichtblick, der sie stärkt und neuen Lebensmut gibt. Man erkennt, dass es nicht
unbedingt viel Geld braucht, um für ein besseres Gleichgewicht in der Gesell-
schaft zu sorgen. Dass das architektonische Konzept Bo Bardis zu hundert
Prozent richtig entschieden war, bestätigt die heutige Zeit:
Nach über 30 Jahren ist das SECS immer noch von ihren Besuchern hoch fre-
quentiert und selbst google-streetview war es wert, das Innere zu erkunden.

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Wahlpflichtfach Moderne in Brasilien SoSe2015
Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

SESC Fábrica Pompeia, São Paulo 1977-86 sollte abgerissen werden und das großzügige freigelegte Grundstück einem
Text: Gaby Ebner neuen Entwurf zugrunde liegen. In der Fassfabrik aber, die 1938 östlich des
Zentrum von Sao Paulo erbaut wurde, sah die Architektin mit ihren innovativen
Ideen bereits einen großen Teil des Kultur- und Sportzentrums. Ihre Absicht
An welche Namen denkt man, wenn man nach den großen Architekten und war, das alte Fabrikgebäude umzunutzen und es als Symbol für eine gegenwär-
Baumeistern gefragt wird? Le Corbusier, Frank Lloyd Wright und noch weiter tige Vergangenheit zu erhalten. Den Bewohnern sollte diese gewohnte Gestalt
in der Geschichte zurück an Vitruv. Doch wo bleiben die weiblichen Vertre- der Fabrikhallen als polarisierendes Zeichen erhalten bleiben. Die Umnutzung
ter der Architektur? Bewahrheitet sich das Klischee der Männerdomäne? Bei von alten Fabriken zu "Freizeitparks", wie es heute zum Beispiel im Ruhrgebiet
ge¬nauerer Recherche stößt man auf zeitgenössische Namen wie Zaha Hadid, mit der Neugestaltung von Kohlekraftwerken zu finden ist, war damals ein
Kazuyo Sejima, dem weiblichen Part von Sanaa oder Anne Lacaton. Doch weiter Experiment, eine neuartiger Versuch. Mit einer lockeren, unvoreingenommenen
zurück in der Geschichte, etwa zu den Anfängen der Modernen Archi¬tektur, Art programmierte sie aus der bestehenden, industriellen Ausstrahlung heraus
werden die weiblichen Namen auf der Liste der "Berühmtheiten" weni¬ger. Lilly eine Freizeitstätte. Der gemeinsame Faktor der alten und neuen Nutzung bleibt
Reich (1885-1947, Leiterin der Ausbau-Werkstatt des Bauhauses, Lebenspart- jedoch das Miteinander von Menschen in der Gebrauchsarchitektur. So war die-
nerin von Ludwig Mies van der Rohe) oder Margarete Schütte-Lihotzky (1897- ses Miteinander früher durch Firmenchefs erzwungen, nach den Eingriffen Lina
2000, Entwurf Frankfurter Küche) können als nationale Vertreterinnen genannt Bo Bardis wird es zum Selbstverständnis.
werden. Bei Erweiterung der Suche auf internationale Ebene kommt man aber Diese erste Phase bei der Errichtung, beziehungsweise bei der Umnutzung
um einen Namen nicht herum: Lina Bo Bardi. Diese brasilianische Baumeiste- zu einem Kulturareal, bezieht sich aber nicht nur auf Änderungen in der
rin erlangte zwar erst viele Jahre nach ihrem Tod den verdienten Ruhm, hat Wahrnehmung, sondern es werden auch kleine, ausschlaggebende bauliche
es aber dennoch schon zu Lebzeiten mit bekannten Architekten wie Oscar Veränderungen vorgenommen. Um die robuste Materialität des Backsteins in
Niemeyer oder Lúcio Costa aufgenommen. Sie macht die Liste der wichtigsten der Fassade unverkleidet zu zeigen, wurde der helle Putz abgeschlagen und
Architekten der südamerikanischen Nachkriegsmoderne komplett. somit auf die natürliche Erscheinung des Materials zurückgeführt. Die bereits
Die gebürtige Italienerin wurde nach ihrer Emigration nach Brasilien mit dem modernen Tragkonstruktionen in den Sheddach-Hallen werden sichtbar, Dächer
Gebäude Casa Vidro bekannt. Dieses neuartige Wohnhaus, ein aufgeständertes und Wände werden an bestimmten Stellen geöffnet und perforiert. Die dadurch
Glashaus, entwarf sie für sich und ihren Mann. möglich gewordene offene und lichtdurchflutete Atmosphäre lässt eine rege
Unter Einbeziehung der brasilianischen Bautraditionen interpretierte sie in ihrer Durchlüftung zu, was in den Tropen für ein angenehmes Raumklima sehr wich-
Arbeit die Moderne in den Tropen radikal neu. Der bodenständige Ansatz indi- tig ist. Typische auflockernde Elemente eines Platzes oder Weges werden auch
viduelle Architektur vor Ort auf der Baustelle mit Handwerkern und Bauherrn zu ins Innere der Gebäude verlegt. Man findet dort beispielsweise einen flächigen
entwerfen unterscheidet sie dabei völlig von ihren namhaften Kollegen. Lina Bo Steinboden, eine Feuerstelle und einen Wasserlauf. Sowohl Außenraum als auch
Bardi versuchte mit dem Vorhandenen und Vorgefundenen zu entwerfen und Innenraum sind für die Öffentlichkeit bestimmt.
schuf folglich ein vielfältiges Werk.
Ihr lag viel daran eine soziale Architektur zu schaffen, die im Dialog mit den Im Kontrast zu diesen flächigen, bodennahen und horizontalen Fabrikhallen
Bedürfnissen der Nutzer steht und mit der Nutzung erst lebendig wird. Mit dem wurde dem Areal in einer zweiten Bauphase durch drei massive Türme eine
Kulturzentrum SESC Pompeia in Sao Paulo wird eine solche soziale Architektur gewisse Monumentalität verliehen. Diese Vertikalität des Wasserturms und der
geschaffen. Menschen aller Berufsgruppen und jeden Alters sollen hier Sport beiden gegeneinander verdrehten "Sporttürme" stehen für die Beständigkeit
betreiben, in Theatervorstellungen oder Ausstellungen gehen, die Bibliothek des Ensembles, was durch die raue und rohe Materialität des Beton unter-stri-
besuchen, zusammen essen oder durch das Kulturzentrum flanieren. Für die chen wird. Die beiden Sporttürme bedingen sich gegenseitig. Obwohl Sporthal-
Errichtung dieses Freizeit-, Sport- und Kulturzentrums wurde Lina Bo Bardi len und die dienenden Funktionen des Lagerns und Umziehens unumgänglich
das Gelände einer ehemaligen Fassfabrik vorgeschlagen. Diese alte Fassfabrik zusammengehören werden sie in zwei Türmen separiert und nicht in einem

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Wahlpflichtfach Moderne in Brasilien SoSe2015
Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

dargestellt. Mit dieser Trennung zeigt Lina Bo Bardi zum einen deutlich die
Funktionen, zum anderen wird aber durch das Hin- und Herlaufen auf den
sogenannten "Himmelsbrücken" die ungezwungene Bewegung in der Freizeit
sichtbar.
Der Dialog zwischen Alt und Neu wird mit diesen zwei Bauphasen ausfor-
muliert. Die bestehenden Fabrikgebäude und die neuen Türme stellen aber
keinerlei Kontrast dar, sondern zeigen vielmehr ein Zusammenspiel. Das Er-
gänzen des Fabrikensembles mit vertikalen Türmen verkörpert eigentlich einen
typischen Industriebau. ,
Mit diesen Türmen präsentiert sich auch das Logo des SESC. Dieses zeigt ei-
gentlich eine Antithese: Blumen, die wie qualmender Rauch aus einem Schorn-
stein emporsteigen. Doch genau dieses Symbol zeigt die Offenheit der Trans-
formierung. Aus einer ehemaligen Fabrik wird eine Freizeitstätte für alle. Mit
solchen Thematiken will Lina Bo Bardi Konflikte nicht abschwächen, sondern
vielmehr unverblümt zeigen.

Lina Bo Bardis Anliegen war also primär die sozial motivierte Architektur. Eine
Architektur zu generieren, die den Menschen bessere Lebensumstände bietet,
war ihr wichtigster Ansatzpunkt. Die kommunikative und offene Atmosphäre
gewährt einen langfristigen Erfolg für ihr Werkes SESC Pompeia. Lina Bo Bardi
löst somit den oft nicht erfüllten Anspruch vieler Architekten ein. Dort wo
Kunst produziert wird, wird diese parallel ausgestellt und diskutiert. Überra-
schendes und Unvorhergesehenes beim täglichen Zusammenleben erzeugten
und erzeugen diese Energie in Lina Bo Bardis Werk. Mit ihrer Begabung und
Gespür für bodenständige, dem Menschen gewidmeten Architektur wird sie
zweifellos in die Liste der namhaften Architekten aufgenommen und in einem
Atemzug mit Namen wie Oscar Niemeyer genannt werden.

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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

Capela Santa Maria dos Anjos, Nach einigen verwirklichten Projekten sollte sie, 1978 für Bruna Sarcelli, die
Vargem Grande Paulista 1978 Capela Santa Maria dos Anjos bauen.
Der Bauort der Kapelle liegt in einem Wohnviertel der Stadt Ibiuna in Sao Paulo.
Text: Simone Mehltretter
Diese Region ist von einem subtropischen Klima geprägt. Die Temperaturen
sind im Winter oft bei unter 5°C und Frost am Morgen. Im Sommer ist es sehr
heiß und regnerisch bei Temperaturen bis zu 38°C. Die Kleinstadt liegt sehr
Nach vier Jahrhunderten unter der Herrschaft Portugals gelang es Brasilien
ländlich und ist von Wäldern umgeben. Der Baumbestand ist auch an dem Bau-
1889 ein demokratisches System zu gründen. Dieses wurde immer wieder
ort, welcher in leichter Hanglage liegt, vorhanden.
durch soziale und politische Unruhen instabil. Getulio Vargas, welcher 1945
Aufgrund der knappen Geldmittel und dem Wunsch eine “arm” wirkende Ka-
zum Präsidenten gewählt wurde, hat von 1930 bis zu seiner Wahl eine Diktatur
pelle zu bauen, entschied sich Lina für einen klaren und reduzierten Entwurf.
geführt. Nach 1945 herrschte in Brasilien ein kontinuierliches Wirtschafts-
Linas Forschung über die vernakuläre Architektur steht bei dieser Kapelle im
wachstum. Aufgrund der Industrialisierung wanderten viele Menschen in die
Einklang mit diesem Gedanken. Sie vertiefte den Bezug zu den lokal ansässigen
Großstädte, demzufolge gab es eine hohe Arbeitslosigkeit und Übervölkerung.
traditionellen handwerklichen Arbeiten und bezog die heimischen Materialien
Unter Vargas Regierung entstanden zahlreiche neue öffentliche Gebäude, und
mit ein.
die Ära der Moderne zog in die brasilianische Baugeschichte ein.

Im Gegensatz zu traditionellen sakralen Bauten ist die Kapelle von Lina Bo Bardi
1964 kam in Brasilien eine Militärdiktatur an die Macht. Der Hochpunkt dieser
nicht nach Osten, dem “tatsächlichen” Aufgangspunkt der Sonne ausgerichtet,
Diktatur unter Emílio Garrastazu Médici war in den 1970er und 1980er Jahren.
sondern nach Norden.
Aufgrund der brutalen Durchsetzung der Innenpolitik, stellte sich ein wach-
Die Kapelle spiegelt mit ihrer horizontalen Teilung die zwei Schöpfungsebenen
sender Teil der Christengemeinde auf die Seite der um Befreiung ringenden
in der katholischen Religion wider. Die Erde, die Welt der Menschen wird von
Bevölkerung. Jedoch blieb die Kirche zwiespältig auf beiden Seiten vertreten.
dem Bauplatz gebildet. Der Hügel stellt das irdische Leben dar. Er kann aber
Ein Teil stand eng in Verbindung mit dem jeweiligen Machthaber, der andere
auch mit Golgota, dem Hügel der außerhalb von Jerusalem gelegen ist assozi-
entwickelte starke Solidarität gegenüber der armen Bevölkerungsschicht. Dies
iert werden. Den neutestamentlichen Evangelien zufolge wurde dort Jesus von
führte zwangsläufig zu Kritik an den Besitz- und Herrschaftsverhältnissen im
Nazareth gekreuzigt. Die Kapelle selbst ist über einen Sockel zu erreichen, wel-
Lande. Die Bischofskonferenz, 1968 in Kolumbien prangerte die gewaltigen
cher diesen Gottesort von der irdischen Ebene abhebt. Dieser Sockel, welcher
sozialen Ungerechtigkeiten in Lateinamerika an und verurteilte das momentane
an den “Alpendre”, eine breite Veranda der barocken Bauform anknüpfen soll,
Gesellschaftssystem. Der sogenannte „Dritte Weg“ soll zur Befreiung der Gesell-
ist überdacht. Die originale Strohbedeckung wurde aufgrund der Verwitterung
schaft beitragen. Gewaltlos und reformistisch soll das Prinzip der „Option für
durch ein Ziegeldach ersetzt. Diese Veranda ist, wie die Kapelle als Quader
die Armen“, eine lateinamerikanische Befreiungstheologie, umgesetzt werden.
gehalten und erstreckt sich über eine Seitenlänge von fast 14,5 Metern. Das
Leonardo Boff, ein brasilianisch katholischer Theologe, veröffentlichte 1971
begrünte Dach liegt ca. 6,5 Meter über der Sockelebene und ist mit einem dem
seine Schrift, die als das Fundament der Theologie der Befreiung galt. Demnach
Himmel entgegen ragendem Kreuz versehen. Das Firmament ist der eigentliche
wurde er als Hauptvertreter der Befreiungstheorie in Brasilien angesehen.
Ort Gottes, der die endzeitliche Herrlichkeit darstellt. Zwischen diesen beiden
Danach sind zwar immer noch rund 123 Millionen der mehr als 192 Millionen
Ebenen ist die von Lina gebaute Kapelle platziert.
Brasilianer katholisch, doch ihr Bevölkerungsanteil ist seit 1970 von 92 Prozent
Die umlaufende Veranda ist sehr niedrig überdacht. Dieses bedrückende Ge-
auf 65 Prozent gesunken. Im selben Zeitraum stieg der Anteil der Protestanten
fühl der Enge und Unbehaglichkeit verschwindet sobald man über die einfache
von fünf auf 22 Prozent, der Nichtreligiösen von ein auf acht Prozent und der
Holztür die Kapelle betritt. Die Raumhöhe von über 6 Metern lässt den Körper
Anhänger andere Religionen von zwei auf fünf Prozent.
und den Geist aufatmen. Sie ist als etwa 10 Meter breiter und 7 Meter hoher
Pietro Maria Bardi erhielt 1947 den Auftrag für das Kunstmuseum in Sao Paulo.
Quader ausgebildet und vermittelt mit seinen vier Fensteröffnungen, welche
Durch die finanzkräftigen Kontakte in Sao Paulo erhielt auch Lina Aufträge.

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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

nach Nord-Osten und Nord-Westen ausgerichtet sind, einen sehr kompakten


Eindruck. Die Ecken Im Norden und Süden wurden abgeschrägt.
Sofort fällt das mittig platzierte Kreuz auf. Um das Bildhaftigkeitsverbot im
katholischen Glauben zu respektieren wird hier metaphorisch gearbeitet. Zwei
der vier Fensteröffnungen sind zur Linken und zur Rechten an das Kreuz im
Innenraum angeordnet. Der erste Eindruck lässt auf ein Triptychon schließen.
Die direkt unter der Holzdecke sitzenden Fenster stellen den Vater, den Sohn
und den heiligen Geist dar, welche im katholischen Glauben als der “eine” Gott
verstanden wird.
Das Sonnenlicht wird an der Decke reflektiert und breitet sich fließend an der
Unterseite des Daches im Raum aus.

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Capela Santa Maria dos Anjos, war sie dennoch sehr erfolgreich in seinen Kursen und lernte von seinen Me-
Vargem Grande Paulista 1978 thoden mit den Umgang der Historie. Ihr zweiter Lehrmeister Piacentini positio-
nierte sich zwischen Novecento und den Rationalisten und avancierte während
Text: Dominik Schmidt
ihrer Studienzeit zu “Mussolinis Architekten“.
Wie also entwickelt man sich, wenn man zum einen eine sehr theoretische
und traditionelle Architekturausbildung unter Giovannini und Piacentini erhält,
Betrachtet man die Beziehungen und Verkettungen verschiedener Architekten
andererseits jedoch bei einem „rationalisierten“ Gio Ponti in die Lehre geht und
und Lina Bo Bardi bzw. ihres Mannes Pietro Maria Bo Bardi, so fällt das enge,
einen mit den Rationalisten liebäugelnden Ehemann hat?
freundschaftliche Verhältnis P. M. Bo Bardis mit Guiseppe Terragni auf, der
zusammen mit Gio Ponti sicherlich einen wesentlichen Einfluss auf die zukünf-
1978 Brasilien
tigen Werke Linas hatte. Terragni war Mitbegründer und Mitglied der Gruppo
Vargem Grande Paulista, die seit der Fertigstellung von der Kapelle „Capela
7 (Ubaldo Castagnoli, Luigi Figini, Guido Frette, Sebastiano Larco, Gino Pollini,
Santa Maria dos Anjos“ auf ca. 47000 Einwohner anwuchs, gehört zur Meso-
Carlo Enrico Rava). Sie veröffentlichten ab 1926 in der halbjährlich erschei-
region São Paulo. Es befindet sich im subtropischen Klima. Im Winter fällt die
nenden Zeitschrift „La rassegna italiana“ ihr vierteilges Manifest über den
Temperatur morgens bis unter 5℃, im Sommer steigt sie bis auf heiße und
Rationalismus in Italien. Sie schwelgen über den neuen Geist in Europa, mit
feuchte 38℃. Den Waldrand der ländlichen Kleinstadt im Hintergrund, präsen-
Corbusier, Mendelsohn,Behrens, Mies van der Rohe oder Gropius als Protago-
tiert sich die marinegeweihte Kapelle in ihrem erdtonroten Kleid in leichter
nisten.
Hanglage. Um den Hügel zu überwinden, entscheidet man sich entweder für
die aus Betonplatten errichtete Rampe oder die in die Topographie eingeschnit-
„Wir wollen keinen Traditionsbruch: Die Tradition selbst ändert sich, sie nimmt
tene Betontreppe. Wählt man die Rampe, erreicht man den Eingang des roten
neue Züge an, unter denen sie kaum einer erkennt.“ (vgl.: „4 note“ Teil 1. Ar-
Quaders von zehn Metern Seitenlänge und sieben Metern Höhe von Süden
chitettura der Gruppo 7 1926). Die Rationalisten lehnten die Tradition nicht ab,
aus. Entscheidet man sich für die von geländerhohen Stützmauern flankierten
im Gegenteil beschäftigten sie sich mit ihr, und bewunderten antike Bauwerke.
Betonstufen, richtet sich der Blick zuerst westlich und wendet sich dann auf
Auch bei der Capela Santa Maria Novella zeigt sich die Auseinandersetzung mit
die perforierte zwei-flügelige Holztür. Diese sehr offen und leicht wirkende
der brasilianischen Tradition, ebenso wie die Wurzeln Lina Bo Bardis selbst.
Eingangstür ist für eine katholische Kapelle, mit der man normalerweise schwe-
re und undurchlässige Holztüren assoziiert, sehr ungewöhnlich. Sie wollte
„Besonders bei uns existiert so ein klassisches Substrat, der Geist der Tradition
eine „arm“ wirkende Kapelle bauen, vielleicht war die Eingangstür nur einer
(nicht der Formen das macht einen Unterschied). […] die neue Architektur kann
materialsparenden Konstruktion und den Klimaverhältnissen geschuldet. Eine
gar nicht anders, als eine für uns typische Prägung zu erhalten.“ (vgl.: Teil 1.
einladende Tür, die Neugierde weckt. Für die Bewohner, für Jung und Alt, Arm
Architettura der Gruppo 7 1926).
und Reich.
Bevor man jedoch diese betritt, muss erst eine weitere Schwelle überwunden
Diesen „Geist der Tradition“ bekam auch Lina vermittelt. Die Lehren von Vitruv
werden. Das umlaufende Vordach mit Ziegeldeckung (ehemals Stroh) wird von
bis Vignola, geometrisches Zeichnen, Schattenlehre und vieles mehr wurden
15 entrindeten Baumstämmen gestützt. Diese scheinen mit den umliegenden
am Liceo Artistico di Roma vermittelt. Entgegen dem Willen ihrer Eltern schlug
Bäumen zu verschwimmen. Durch die niedrigere Höhe und Tiefe des Vordaches
sie nach ihrem Abschluss am Liceo Artistico, 1934 die Architekten-Laufbahn
erhält man ein bedrückendes Gefühl, von dem man nach Betreten der weitaus
ein und ging auf die facolta di architettura, unter der Leitung von Giovanni Gi-
höheren Kapelle wieder befreit wird.
ovannoni und Marcello Piacentini. Giovannini, Stadtplaner, Historiker und Befür-
worter der behutsamen Stadterweiterung (ambientisimo) lehrte Denkmalpflege
Durch die diagonale Anordnung des Eingangs und des Innenraumes wird die-
und die Ideen von Camillo Sitte mit wissenschaftlicher Strenge. Obwohl Lina
ses befreiende Gefühl noch verstärkt, da nun die zweite Diagonale als größte
sich nicht der traditonalistischen Denk- und Bauweise Giovanninis anschloss,

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Wahlpflichtfach Moderne in Brasilien SoSe2015
Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

Raumausdehnung erfahrbar ist. Vorallem in barocken Kirchen wurde dieses


Mittel der Kompression und Dilatation verwendet. Der Grundriss erinnert sehr
stark an einen antiken Tempel. Die umlaufenden Baumstämme entsprechen
der Säulenreihe eines Peripteros, die Kapelle der einer Cella (Hauptraum eines
Tempels). Klassische Themen, wie die Verwendung eines einfachen Volumens,
einer formalen Symmetrie und einer Axialität finden sich ebenfalls in der
Kapelle wider. Die Entwurfsskizzen Linas zeigen auch Varianten mit anderen
Grundformen und Volumina, angelehnt an andere Tempelformen und antike
Vorbilder.

Der Innenraum der Kapelle wird von einfachen Materialien dominiert. Verputzte
Wände, glatter Zementboden und eine orthogonal zur Eingangsachse verlau-
fende Holzlattung als Decke wurden verwendet. Direkt gegenüber dem Eingang
befindet sich der steinerne Altar, begleitet wird dieser von zwei rechteckigen
Fenstern. Im Gegensatz zu vielen mittelalterlichen Kirchen orientierte Lina die
Kapelle nicht nach Osten, sondern nordete den Altar. Ost oder West, Sonne
beleuchtet somit den Altar und die Bestuhlung. Ein bepflanzter Erdaufwurf
schmückt mit einem in der Mitte angeordneten Kreuz das aus Stahlbetonträ-
gern konstruierte Dach. Fügt man dem Dachgarten in den Ansichten noch zwei
weitere Kreuze hinzu, erinnert das Gesamtbild an Golgatha. Ob der Dachgarten
nun diesem christlichen Motiv, als Teil der Moderne oder Linas Verbundenheit
zur Natur entwuchs, bleibt interpretierbar. Ein Gotteshaus mit irdischer De-
ckung erscheint jedoch rebellisch.

Linas Prägung durch ihre römische Ausbildung ist klar erkennbar. Die von Gio
Ponti auch. Jedoch verknüpft sie auf ihre eigene Art Gelerntes mit Neuem, Tra-
dition mit Moderne und fügt Mensch und Natur hinzu.
Eine traditionelle katholische Kapelle?
Nein, ein Ort für Menschen, egal welchen Glaubens.

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Wahlpflichtfach Moderne in Brasilien SoSe2015
Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

Ateliê Bo Bardi, São Paulo 1986 nalismus ihres Geburtsortes, des International Style, der Postmodern, usw. Und
Text: Jakob Bindhammer war ihrer Lebzeiten selbst stets unterwegs und forschte. Auf der Suche nach
ihrer ganz eigenen, brasilianischen Architektur.
Und vielleicht ist die einfache, auf den ersten Blick unscheinbare Hütte in der
„In einer Zeit der Idealisierung, in der Architektur nicht mehr ist, als eine kon- Natur genau deshalb nur umso nachvollziehbarer. So wurde diesem Spätwerk,
krete Bewältigung einer leeren und idealen Matrix ist, produziert Lina Bo Bardi dieser einfachen Hütte in der Natur, auch deshalb nicht die Aufmerksamkeit
eine Architektur, die vom bauen/machen lebt.“ geschenkt wie anderen Projekten ihrer bedeutend einflussreichen Schaffens-
Das 1986 von Lina Bo Bardi mit einigen Handwerkern errichtete Atelier, das zeit.
heute das Instituto Lina Bo Bardi beherbergt befindet sich im Garten ihres
eigenen Zuhauses, der Casa de Vidro in Sao Paulo. Dabei stellt die Casa de Umso mehr Erkenntnisse in das Werk Bo Bardis erhält man jedoch, wenn man
Vidro und der Ort Sao Paulo den Anfang ihrer Karriere dar. Sao Paulo stellte das Gebäude sorgfältig hinsichtlich seiner Entstehung und der Situation der
nach Mexico-City und Tokio zur Entstehungszeit des Gebäudes den drittgröß- Architektur zu jener Zeit analysiert. So kann man die Architektur des Ateliers
ten Ballungsraum der Erde dar. Bedingt durch den Kaffeeanbau und der damit als Anti-„Monument“, (monument lat.: things that remain“) begreifen. Das
einhergehenden Industrialisierungsmöglichkeit entwickelte sich ein enormer Atelier spiegelt eben nicht diese Sehnsucht nach Zeitlosigkeit wieder, welche
Anstieg der Bevölkerungszahl, wobei vor allem Zuwanderer aus dem trocken- sich die Menschen oft erhoffen. Im Gegenteil: die Leichtigkeit, die temporäre
heitsgeplagten Nordosten Brasiliens und den Küstenstädten, die nur wenig Wirkung die man verspürt, wenn man Bilder des Ateliers betrachtet, ist die prä-
Arbeitsplatzmöglichkeiten vorweisen könnten, kamen. zise Intention der Architektin. Eine Leichtigkeit, wie sie schon bei der Casa de
Vidro, dem Baumhaus aus Glas inmitten der Natur zum Vorschein kommt und
In einer Zeit also, in der bereits über 8,5 Millionen Menschen in der Megastadt wahrscheinlich auch nur an Orten wie Sao Paulo, an denen ein fast tropisches
Sao Paulo lebten und die Hochhauskulisse schon unabdingbar war, „entwarf“ Bo Klima herrscht, möglich ist. Und diese Leichtigkeit oder Einfachheit scheint
Bardi nicht im herkömmlichen Sinn. Über den Grund für den Bau des Ateliers schon bei der Entstehung des Baus die Intention gewesen zu sein. Zum einen
könnte man streiten. Aus simplen Platzgründen könnte die einfachste Antwort hinsichtlich des Bauprozesses. So fertigte Bo Bardi so gut wie keine Bauzeich-
lauten. Gerade für eine Architektin wie Lina Bo Bardi, die die meiste Zeit ihrer nungen für das Atelier an, nur das nötigste. Alles sollte vor Ort durch direkte
Karriere ihre Vorstellung von Architektur am liebsten unmittelbar am Bauort Kommunikation und Interaktion mit den fähigen Handwerkern, der Architektin
mit den am Bau Beteiligten durchführte und nie an einem festen Arbeitsort und den vorhandenen Mitteln unter Berücksichtigung des Bauortes entstehen.
verweilte, wäre dies ein naheliegender Gedanke. So legte sie zum Beispiel ihr Ein einfacher Bauprozess also, der durch das Zusammenbringen der einzelnen
Büro neun Jahre lang direkt auf das Gelände ihres vermeintlich repräsenta- Handwerksbereiche dem Gebäude seine Besonderheit verleiht. Ein wiederent-
tivsten Projektes, des SESC Pompeia, in einen simplen Baucontainer. Vielleicht deckte Kooperation, für welche sich auch Joao Vilanova Artigas als Gründer der
war aber genau dies der Grund für die Errichtung des Ateliers. Eine Frau, die Escola Paulista aussprach.
1914 in Rom geboren wird, 1939 in Mailand ihre Karriere bei Gio Ponti, dem
Gründer der Architektur- und Designzeitschrift DOMUS, beginnt und 1946 mit Zum anderen verrät die aufgeständerte Konstruktion uns dabei mehr von der
ihrem Mann nach Brasilien reist, um dort ihre wahre, selbstgewählte Heimat zu Auffassung Bo Bardis zur Architektur. Inmitten einiger Bäume in Ihrem Garten,
finden. Für Lina Bo Bardi, die Frau in der damaligen Architekturszene, beginnt berührt die aufgeständerte Hütte nur punktuell das Gelände, sodass sich die
die eigentliche Reise erst hier. Sie studierte die brasilianische Kultur sehr inten- Natur darunter fortsetzen kann. Der menschliche Eingriff in die Natur ist durch
siv, reiste dabei durch ganz Brasilien und ist stets bemüht, die landeseigene dieses abheben vom natürlichen Gelände deutlich erkennbar. Es ist eben nicht
Kultur in ihren Projekten zu berücksichtigen und mit ihrer eigenen Architektur das herauswachsen oder das künstliche einbetten des Menschen in die Natur,
zu verbinden. Ein Leben auf Reisen könnte man sagen. Bo Bardi hat die großen welches Bo Bardi anstrebt, sondern das sichtbar andersartige des Menschen.
Strömungen der Architektur des 20. Jahrhunderts selbst miterlebt, vom Ratio- Die Konstruktion zeigt sich als klassische Holzskelettbauweise, wobei die Stüt-

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Wahlpflichtfach Moderne in Brasilien SoSe2015
Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

zen im Innenraum aus unbehandelten, einheimischen Holzstämmen gefertigt


sind. Durch die filigranen, verschiebbaren Holzwände, welche den Stützen
vorgelagert sind, öffnet sich der gesamte Innenraum auf den zwei Längsseiten
unmittelbar in die üppig wuchernde Natur. Der in olivgrün gehaltene Anstrich
der Außenwände soll das Verhältnis des Ateliers als Arbeitsort in der Natur
zusätzlich stärken. Dabei wirken die Holzwände durch ihre geringe Dimensi-
on wie Vorhänge, die es ermöglichen, den Arbeitsraum der Hütte in die Natur
hinaus zu tragen und bei Bedarf wieder zu trennen.
Die Geometrie der Hütte stellt ein großes, längsgestrecktes offenes Rechteck,
mit Außenmaßen von 10,5 m x 5,4 m dar. Ein großer Raum, welcher lediglich
durch die Holzstützen eine Aufteilung erhält. Ein weiteres Beispiel für die Pra-
xis Bo Bardis; das Miteinander, die Kooperation in einer kleinen gemeinschaft-
lichen Gruppe, in welcher ein reger Austausch herrscht waren für Sie stets
wichtig, vielleicht auch wichtiger als viele Zeichnungen.

Die Radikalität und die Auffassung Lina Bo Bardis, Architektur als Erfüllung
eines einfachen Bedürfnisses, des menschengerechten Bauens, des möglichst
geringen Eingriffs in die Natur sowie die Möglichkeit das Gebäude – trotz der
deutlichen Abgrenzung – bestmöglich mit der Natur kommunizieren zu lassen,
kommen hier eindeutig zur Geltung.

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Wahlpflichtfach Moderne in Brasilien SoSe2015
Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

Ladeira da Misericórdia, Salvador, 1987 - 1988 - die Umgebung blieb stets ein sozialer Brennpunkt. Zu viele negative Einflüs-
Text: Marian Prifling se machten es unmöglich die Gastronomie und den Einzelhandel aufrecht zu
erhalten. Es war zum Scheitern verurteilt.

Seit der Errichtung des Schnellaufzuges „Lacerda“ 1873 in Salvador, der den War es der falsche Zeitpunkt, hätte die Stadt Salvador nicht nur ein Projekt die-
toporafischen Höhenunterschied von Oberstadt (cidade alta) und Unterstadt ser Art in die Wege leiten sollen, lag es an der Akzeptanz der Einwohner oder
(cidade baixa) ausgleicht, verlor die historische Verbindungsstraße Ladeira da eben an den sozialen Umständen? Sicherlich lassen sich noch weitere dieser
Misericórdia sukzessiv an Bedeutung - soziale Konflikte, Verelendung der Ge- Fragen formulieren, letztendlich kann dies keiner wirklich beantworten - es
gend waren das Ergebnis. Um dieser negativen Entwicklung entgegenzutreten spielt immer alles zusammen. Heutzutage ist die Fundação Gregório de Matos
entschied sich die Stadt Salvador ein Pilotprojekt zu formen. Sie wählte hierfür im Besitz des Grundstücks. Wertschätzung von Lina Bo Bardis Arbeit - Fehlan-
fünf Grundstücke am oberen Ende der Straße aus. zeige! Die Gebäude sind laut Jane Hall, Bloggerin für British Council, mittlerwei-
Den vier unbewohnten, renovierungsbedürftigen Herrenhäuser aus der Kolo- le in einem sehr schlechten Zustand, sie beschreibt es mit den Worten „pos-
nialzeit und einem noch unbebauten Grundstück sollte in Zukunft eine kom- sibly Jumanji going on inside“.
merzielle und private Nutzung zugeführt werden. Lina Bo Bardi sah enormes
Potential in den Gegebenheiten vor Ort - im Aufbau und Anordnung der Gebäu- Lässt sich dieser Ort nochmal aus der Versenkung holen? Ich denke ja, wenn
degruppen, der umgebenen Vegetation, die sich allmählich Teile der Substanz diejenige Person den Sinn hinter Lina Bo Bardis Arbeit versteht, ihre Absichten
zurückeroberte und einem Mangobaum, der später das Zentrum ihres Entwurfs nachvollziehen und daraus neues Potenzial schöpfen kann. Oft reicht auch nur
bildete. Ihren Gegenvorschlag, die bestehenden Gebäude mit Werkstätten, klei- eine kleine Pop-Up Aktion aus, um die Menschen, bzw. Einwohner aufmerksam
nen Läden, günstigen bedarfsgerechten Wohnungen zu füllen und im südlichen zu machen und jenen zu zeigen, was es für Potentiale gibt. Die vorhandenen
Bereich des Grundstücks einen Ort der Belebung mit Restaurant und Open- Räumlichkeiten liefern eine sehr gute Ausgangssituation für Kunst und Kultur.
Air-Bar zu generieren, war ihre Ausgangssituation, um den dort ansässigen Dinge, die die Menschen verbinden.
Menschen einen neuen Ort der Identifikation und keine weitere folkloristisches
Attrappe für Touristen zu entwickeln. Salvadors Gutachterkommission der
Stadtverwaltung stimmte dieser Idee zu.
Knappe finanzielle Mittel erforderten eine universelle und kostengünstige
Methode die instabilen Gebäudestrukturen zu ertüchtigen und durch Erweite-
rungen den neuen Nutzungen anzupassen. Zusammen mit dem brasilianischen
Architekten João Filgueiras Lima entwickelte Bo Bardi ein ökonomisches Bau-
system auf Stahlbetonbasis, das eine Transformation ihrer urbanen Vision in
ein präfabrizierbares modulares System ermöglichte.

Ergebnis war eine Synthese von Neu und Alt, von Natur und Urbanität in einem
interessanten Wechselspiel. Lina Bo Bardis Intention, einen Impuls für das Pel-
ourinho-Viertel zu setzen, der Stadt Salvador aufzeigen, welche Möglichkeiten
mit kleinen, sinnvoll überlegten Eingriffen in die jeweilige Substanz erreicht
werden können, sollte Modellcharakter für weitere Bereiche innerhalb des Vier-
tels haben. Dieser aber wurde von der Stadtverwaltung nicht fortgeführt. Auch
sie konnte mit ihrem Projekt kein Umdenken in den Menschen hervorrufen

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Wahlpflichtfach Moderne in Brasilien, SoSe 2015
Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

Casa de Vidro
Zeichnungen im Sommersemester 2013:
Franziska Metzger, Andrea Ledesma Ponce

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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

1 4

1 Casa de Vidro
2 Atelier Lina Bo Bardi
3 Pforte
1 4TheTeich
Glass House
2 5Bo Gartenwege
Bardi Studio
3 Parter's accomodation
6 Garage
4 Pond
5 Garden paths
6 Garage
0 2 5 10 20 m

60
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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

10

5 6 9

3 4 10
7
11
14
8 1
2
Eingang
Bibliothek
13 Entrace
Lounge
12 24 Library
1 35
Rosenpatio
Lounge
Kamin
46 Rose Patio
Essbereich
57 Fireplace
Schlafen
68 Dining room
Ankleide
79 Bedroom
Küche
810 Dressing room
Angestellte
2 7 13 911 Kitchen
Hausarbeit
10
12 Maid's room
Wäsche
11
13 Service room
Vorbereich
12
14 Laundry room
Hof
13 Porch
14 Patio

0 5 10

Lina Bo Bardi _ Casa de Vidro _ Grundriss Obergeschoss 1/100

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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

0 5 10

15 16

Lina Bo Bardi _ Casa de Vidro _ Schnitt 1/100


15

15 Lager
17 16 Technik
17 Parken

15 Store room
16 Technical room
17 Garage

0 5 10

64
Lina Bo Bardi _ Casa de Vidro _ Grundriss Erdgeschoss M1/100
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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

0 5 10

10
10
5 6 9
5 6 9
7
7
Lina Bo Bardi _ Casa de Vidro _ Schnitt 1/100
3 4 10
3 4 10
7
7
11
11
14
8 14
8 1 Eingang
1 2 Entrace
Bibliothek
12 2 31 Library
1 12
Lounge
Entrace
3 42 Lounge
Rosenpatio
1 Library
4 53 Rose Patio
Kamin
Lounge
5 64 Fireplace
Essbereich
Rose Patio
6 75 Dining room
Schlafen
Fireplace
7 86 Bedroom
Ankleide
Dining room
8 97 Dressing
Küche room
2 7 13 9 10
Bedroom
8 Kitchen
Angestellte
Dressing room
2 7 13 10 11Maid's room
9 Hausarbeit
Kitchen
11 12
10Service
Wäsche room
Maid's room
12 13Laundry
11 Service room
Vorbereich room
13 14Porch
12 Laundry room
Hof
14 13Patio
Porch
14 Patio
0 5 10
0 5 10

66 Lina Bo Bardi _ Casa de Vidro _ Grundriss Obergeschoss 1/100


Lina Bo Bardi _ Casa de Vidro _ Grundriss Obergeschoss 1/100
Wahlpflichtfach Moderne in Brasilien, SoSe 2015
Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

Museu de Arte Sao Pãulo


Zeichnungen im Wintersemester 2013:
Sarah Nussbaumer, Dominik Plass

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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

Lageplan
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Querschnitt
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Längsschnitt
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Längsschnitt
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Längsschnitt
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2. Untergeschoss

2. Untergeschoss
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1. Untergeschoss

1. Untergeschoss
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Erdgeschoss

Erdgeschoss
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1. Obergeschoss

1. Obergeschoss
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2. Obergeschoss

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Lina Bo Bardi: Texte zu ausgewählten Werken

Architektur Zentrum Wien: Katalog zur Ausstellung


Lina Bo Bardi Retrospektive. Konkrete Poesie. Architektur ohne Grenzen
AzW, 2. Juni - 06. Juli 1995, Ausstellungskurator: Marcello Ferraz, Instituto Lina
Bo e. P.M. Bardi, São Paulo
Redaktion: Birgit Seissl, Andrea Nussbaum

Lina Bo Bardi 100. Brasiliens alternativer Weg in die Moderne


Hrsg. Andres Lepik, Vera Simone Bader
Hatje Cantz, Ostfildern 2014

Brazil Builds. Architecture new and old 1652-1942


Philip L. Goodwin
The Museum of Modern Art, New York 1943

Lina Bo Bardi. Obra construída


Olivia de Oliveira
Editorial Gustavo Gili, São Paulo 2014

Architektur beginnt im Kopf. The Making of Architecture


Elke Krasny, Architekturzentrum Wien
Birkhäuser, Basel 2008

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Wahlpflichtfach Architekturtheorie
Moderne in Brasilien
Fakultät Architektur, Prof. Andreas Emminger
Regensburg, Sommersemester 2015

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