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Hartmut Rosa: Resonanztheorie

Die Welt in der wir leben ist vergleichbar mit einer Rolltreppe, entgegen deren Richtung wir zu
laufen versuchen. Wir müssen Kraft und Energie aufbringen, um unseren Status quo zu erhalten.
Ja, die Rolltreppe wird mit der Zeit sogar immer schneller, sodass auch wir immer schneller die
Stufen bewältigen müssen.

Unser Glück wird nicht nur durch Ressourcen bestimmt, die unsere Stellung im sozialen
Raum bedingen. Zwei Menschen mit den gleichen Ressourcen (z.B. in Sachen Finanzen, Familiäre
Stellung, Freizeit, Beruf,…) können unterschiedlich glücklich sein. Es kommt darauf an, ob sie mit
den unterschiedlichen Lebensbereichen in Resonanz treten, ob sie Sinn darin nden und stiften,
quasi eine energetische Form der Kommunikation erscha en können. Unsere erste Erfahrung von
Resonanz erleben wir wahrscheinlich bereits als Embryo im Mutterleib. Da entwickeln wir einen
ersten Eindruck vom „Außen“, in Form von Geräuschen, Licht, oder Druckberührungen. Eine ganz
basale Resonanzerfahrung ist später auch die Atmung, beziehungsweise die bewusste
Wahrnehmung der Atmung. Das Empfangen und das Abgeben, das Ein- und Ausströmen von Luft
durch unseren Körper. Daher wohl auch Redewendungen wie „Ich konnte im Urlaub endlich mal
durchatmen“ oder „Nach der Klausur konnte ich aufatmen“, oder auch im negativen Kontext wie
„Mir stockt der Atem“ und so weiter. Alles im Kern Ausdrücke, ob man einen oder keinen
Resonanzmoment wahrnimmt. Resonanz ist wie ein Draht, der schwingt. Der Draht zeigt die
Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Außenwelt (also anderen Individuen oder
Lebensbereichen) an. Stehen diese in einer sinnstiftenden Kommunikation zueinander, erfahren
wir Resonanz und somit authentisches Glück. Resonanz bedeutet dabei viel weniger ein bloßes
Gefühl, sondern eher eine Beziehung, also das Gefühl dass wir innerhalb einer Beziehung mit
einem bestimmten Lebensbereich im Austausch sind, etwas hineingeben, aber auch etwas
empfangen.

Es gibt verschiedene Resonanzachsen. Die horizontale Achse impliziert vor allem Familie,
aber auch Freundschaften. Familie gibt uns einen stabilen Anker und ist daher im Idealfall durch
ein besonders hohes Maß an Resonanz gekennzeichnet. Zur Familie kehrt man immer wieder
zurück, in sämtlichen Lebensphasen. Daher ist es auch so gefährlich, dass Familie in der
modernen Gesellschaft zunehmend zweckrationalisiert wird (vgl. Habermas). Institutionen,
Bildung und Leistung gewinnen innerhalb der Familie an Bedeutung und dies kann die familiäre
Resonanzbeziehung beeinträchtigen. Wärme und wertschätzende Kommunikation unabhängig
von ökonomischen Leistungsstreben sind ausschlaggebend für die Qualität der familiären
Resonanz. Eine Störung der Resonanz in der Familie bedeutet Leid für alle Familienmitglieder.
Auch Freundschaften sind ein wichtiger Faktor der horizontalen Resonanzachse, besonders
langjährige, wie alte Kindheitsfreundschaften, die über das Leben hinweg beständig bleiben.
Freundschaften fangen uns auf, wenn es in anderen Lebensbereichen (Familie, Arbeit, etc.) nicht
gut läuft und geben uns ebenfalls Stabilität, wenn sich die Subjekte schon über einen langen
Zeitraum kennen und daher auch verschiedene Lebensphasen, Krisen und Umbrüche
voneinander miterlebt haben. Freunde können also Resonanzen erhalten, wenn es in anderen
Bereichen schwierig wird. Der dritte Teil der horizontalen Achse ist interessanterweise die Politik.
Innerhalb von Monarchien kann/konnte man historisch viel Resonanz zwischen den Akteuren und
dem System erkennen, sofern das Adeltum vom Bürgertum anerkannt und als „Gottes
Gnadentum“ anerkannt wurde. Diese Resonanz kann jedoch auch kippen (z.B. französische
Revolution), was bei den Menschen zur Entfremdung und somit Unzufriedenheit führt. Auch in
Demokratien kann die Resonanz hoch oder niedrig ausfallen, je nach dem in welchem Maße sich
die Akteure des politischen Systems gehört und wirksam fühlen. Politikverdrossenheit („Ach, die
da oben machen ja sowieso was sie wollen“) entsteht also genau durch politische Systeme, die
keine Resonanz erzeugen, da die Akteure nicht genügend das Gefühl erhalten, das System
mitbestimmen zu können und nicht in lebhafter Beziehung mit dem System zu stehen. Interessant
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sind dabei auch Begri e, wie „Vaterland“, die das politische staatliche System ähnlich wie eine
übergeordnete Familieninstanz behandeln. Oder auch die Bezeichnung unserer aktuellen
Bundeskanzlerin als „Mutti“. Resonanz kann gerade in der Politik auch krankhaft und gefährlich
sein („Resonanzpathologien“), wie sich in faschistischen Systemen bereits gezeigt hat. Jubelnde
Massen, beschwörende und lebendige Reden, große Versprechungen, ausholende Gesten - all
das scha t Resonanz beim Volk und kann auch dazu benutzt werden, Akteure zu bestimmten
Meinungen und Einstellungen zu verführen. Das passiert besonders, wenn politische
(insbesondere faschistische) Systeme „Echoräume“ erscha en, die zwar durch eine hohe
Resonanz geprägt sind, aber in denen sich alle Menschen mit ihren Meinungen und Werten nur
gegenseitig be- und verstärken und keine Tür mehr nach außen existiert, durch die neue
Informationen eindringen könnten. Gerade in Phasen geringer politischer Resonanz ist daher die
Gefahr groß, in faschistische Strukturen zu übergehen, da sich die Akteure nach der Resonanz
sehnen, die durch eine mächtige politische Figur, an der man sich orientieren kann, die man
supporten kann, an die man seine Ho nungen adressiert, entstehen kann. Also auch politische
Systeme, wie Demokratien, leben nicht nur durch Rationalität, sondern auch durch Resonanz. Es
geht also nicht nur darum, was ein Politiky inhaltlich sagt, sondern auch wie es es sagt
(vertrauensvolle Stimmlage, Beispiele aus eigenem privaten Leben teilen, einladende Gesten,…).
Begrüßenswert wäre daher beispielsweise eine resonante Demokratie, die alle verschiedenen
Perspektiven und Meinungen hineinlässt und in konstruktiven Diskurs tritt, streitet, arbeitet und
Probleme nicht totschweigt. Politikys, die mehr zuhören und daran dann ihr handeln danach
orientieren, anstatt zu reden und nur gefakte Diskurse, gleich moderner Gladiatorenkämpfe, zu
führen.

Die diagonale Resonanzachse beschreibt unsere Beziehung zu Dingen, also


Gegenständen. Die Beziehung eines Musikys zu seinem Instrument, eines Künstlys zu seinem
Pinsel, eines Joggys zur seinen Schuhen, eines Trampys zu Autobahnraststätten. Die Resonanz
entsteht dabei erst durch die Verwendung des Gegenstandes, denn die Materie an sich ist
natürlich unbeseelt. Der Gegenstand antwortet erst während seiner Benutzung. Auch hier lassen
sich aber Pathologien nden, wie beispielsweise Willie Nelson, der nur auf seiner Gitarre spielen
wollte und behauptete, er würde seine Bühnenkarriere beenden, sobald diese Gitarre endgültig
kaputt gehen würde. Oder die Objektbesessenheit unserer Smartphones gegenüber, die wir
überall mit hinnehmen und ohne die wir oft gar nicht mehr leben wollen. Auch die Arbeit, die wir in
der Gesellschaft verrichten, gehört zu dieser Achse. Auch hier lassen sich Tendenzen der
Entfremdung (vgl. Karl Marx) im Sinne von schwindender Resonanz beobachten: Arbeit wird
immer abstrakter wird und wir daher können häu g keine Beziehung mehr zu unserem
Arbeitswerk aufbauen. Gerade bei Fließbandarbeit ist dies klassisch: Man stellt etwas her, was
einem am Ende nicht gehört, man sieht eventuell persönlich nicht mal einen Sinn in dem
hergestellten Produkt, ist nicht selbstwirksam und häu g auch nur ein kleiner Teil im
Herstellungsprozess. Doch auch umgekehrt können Fixierungen der Resonanz auf dem
Arbeitsbereich schädlich sein, besonders häu g in Branchen, die mit Kommunikation,
Management, Unternehmertum oder Kreativität zu tun haben. Eine zu hohe Resonanz, im Sinne
der völligen Identi zierung mit dem Beruf, kann zu einer mangelhaften Work-Life-Balance führen,
beziehungsweise zu Krisen, wenn die angestrebte Karriere nicht gelingt.

Auch im Bildungs- und Schulsystem lässt sich erkennen, ob Resonanz gegeben ist, oder
nicht. In diesem sozialen Raum kommen horizontale (Beziehungen zwischen Schülys sowie
zwischen Schülys und Lehrkräften) und diagonale Resonanzachsen (Beziehungen zu Lehrsto ,
Unterrichtsmaterial) zusammen. Hier sind vor allem positive Beziehungen zwischen den drei
Faktoren Lehrkraft - Inhalte - Schülys wichtig.

Vertikale Resonanzachsen zeigen das Verhältnis des Menschen zur Ganzheit, zur Welt.
Diese Achse wird daher auch durch Religionen, Spiritualität sowie Philosophie verkörpert. Es geht
um die Erfahrung, dass die Grundform unseres Daseins nicht leer, kalt, sinnlos, chaotisch,
feindlich und entfremdet ist. Eine positive, erlösende vertikale Resonanzachse ist erfahrbar in
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einer positiv aufgeklärten Weltgesellschaft. Meditationen, Gebete, Gesänge, Naturerfahrungen,
Kunst, philosophische Diskussionen, spirituelle Praktiken, selbst Drogenerfahrungen können
Anwendungsgebiete dieser Achse sein. Resonanzschwingungen auf der Achse können Aktionen,
wie Umweltbewegungen (z.B. Fridays für Future) auslösen. Auch unsere Biogra e gehört zu dieser
Achse, die wir gerne mit Sinn und auch größeren Geschichten, die im Idealfall das Weltgeschehen
mit einbeziehen, füllen wollen. Resonanz erfahren wir in dem Kontext also durch persönlich
bewegte Situationen, die auch mit der Weltgeschichte verwoben sind und sich darüber in große
Narrative überführen lassen (z.B. Menschen erinnern sich, was sie am Tag des Mauerfalls getan
haben). Solche Momente füllen unser Leben mit Sinnhaftigkeit.

Spannend ist, wie sich die Resonanzen auf den verschiedenen Achsen beein ussen
können. Ein lebendig schwingende vertikale Achse (z.B. durch Fridays for Future) bei einem
Menschen kann beispielsweise die horizontale Achse beeinträchtigen, wenn das persönliche
Gegenüber nicht die gleiche vertikale Resonanz erfährt (z.B. gegenüber der Oma, die nicht
umweltbewusst handelt und denkt).

Auch die Digitalisierung kann unter dem Vorzeichen der Resonanz hinterfragt werden. Die
Frage, ob das Smartphone uns wirklich mit der Resonanz beschenkt, die wir uns davon ständig
erho en. Die Beschäftigung mit dieser Frage kann uns zu einem bewussteren Umgang mit
Technik und digitalen Medien bringen.

Während die Romantik noch versuchte durch ihre künstlerischen Ausdrucksmittel den
Fokus auf die Resonanz zwischen den Menschen und der Welt zu bewahren, ist die Moderne eher
durch eine Bewusstmachung der Entfremdung geprägt. Das sieht man in literarischen Werken
(z.B. Kafka) oder philosophischen (z.B. Nietzsche) sowie soziologischen (z.B. Weber, Adorno)
Ansätzen, die die Kälte, die Leere, das Chaos, die Verstummung der Welt in den Vordergrund
stellen. Auch Verschwörungstheorien kann man als Versuch verstehen, die chaotische Welt durch
einfache Mittel erklärbar zu machen und dadurch die verloren gefühlte Resonanz wieder
herzustellen. Die Gegenwart ist durch ein interessantes Dilemma gekennzeichnet. Einerseits ist
eine erhöhte Resonanzsensibilität erkennbar, im Sinne eines erhöhten Bedürfnis nach Resonanz.
Wir können uns durch die neue Fähigkeit zu Reisen und global zu kommunizieren mit
verschiedenen Religionen, Weltanschauungen und Kunst auseinandersetzen und somit die
Möglichkeiten Resonanz zu erfahren erhöhen. Andererseits ist genau diese Verfügbarkeit dieser
Möglichkeiten wiederum instrumentell zweckrationalisiert, da sie von kapitalistischen Märkten
abhängig ist (z.B. Musikindustrie). Hinzu kommt die Reizüber utung der unbegrenzten
Vernetzungsmöglichkeiten. Wir haben eine immense Globalisierung und Reichweite, aber
gleichzeitig eine eingeschränkte Möglichkeit, uns auf all diese Eindrücke sensibel einzulassen.
Paradox. Der aktuell wieder zunehmende Nationalismus könnte genau Ausdruck dieses Problems
der Überforderung mit Resonanz sein: Der Drang sich lieber wieder mit den Problemen der
näheren Umgebung (z.B. des eigenen Landes) auseinanderzusetzen, anstatt sich globalen
Problemen zu widmen, die aber nicht unbedingt das nahe Umfeld betre en (z.B. Krieg in anderen
Ländern).

Lösungsansätze: Wir sollten nicht mehr nur die instrumentelle, zweckrationale Vernunft in
unserem die Führung überlassen, indem wir uns quantitativ mit Ressourcen (vgl. Bourdieu)
aufpumpen, sondern besonders auch die Qualität der Beziehungen auf den verschiedenen
Achsen p egen. Bei der Frage um die Entwicklung eines Produktes sollte man nicht mehr rein
kapitalistisch fragen, wie oft es sich wohl verkaufen wird, sondern eher, ob es ein Produkt ist, das
andere Menschen qualitativ bereichert.
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