Entdecken Sie eBooks
Kategorien
Entdecken Sie Hörbücher
Kategorien
Entdecken Sie Zeitschriften
Kategorien
Entdecken Sie Dokumente
Kategorien
1. Begriffe
Märchen: Das deutsche Wort „Märchen“ ist eine Verkleinerungsform zu „Mär“ (althochdeutsch „mârî,
mittelhochdeutsch „maere“, Kunde, Bericht, Erzählung, Gerücht) und bezeichnete ursprünglich eine kurze (Prosa-
)Erzählung, die Wunderbares zum Gegenstand hat. Wie andere Verkleinerungsformen unterlag sie früh einer
Bedeutungsveränderung und wurde auf erfundene, auf unwahre Geschichten angewendet.
Sagen haben einen ähnlichen Stoffbereich und Motive wie Märchen, sie sind ebenso wie Volksmärchen zumeist
anonym überliefert. Sagen sind kurze, einepisodische Erzählungen, die im Unterschied zu Märchen auf
Begebenheiten zurückgehen und sich – erkennbar an den in der Regel konkreten Orts- und Zeitangaben – durch
eine enge Bindung an bestimmte Regionen auszeichnen. Sie liefern i.d.R. Antwort- und Erklärungsversuche auf
Unerklärbares, d.h. fiktionale Erklärungen für tatsächliche Ereignisse. Man unterscheidet dämonologische Sagen
von übernatürlichen Wesen, historische Sagen um historische Ereignisse/Personen sowie ätiologische Sagen,
sogenannte Erklärungs- oder Entstehungssagen (vgl. Brednich 2004).
Legenden verfügen wie Sagen ebenfalls über einen wahren Kern. Sie erzählen vorbildhafte Lebensgeschichten oder
Heiligengeschichten; durch letztere haben sie oft eine religiöse Dimension. Legenden weisen einen engen Bezug zur
literarischen Tradition auf und haben Bezug zu historischen Ereignissen, realen Schauplätzen und namentlich
benannten Personen.
Fabeln sind lehrhafte Erzählungen, in denen Tiere bzw. Pflanzen anthropomorphisiert werden, sodass sie Parallelen
zu menschlichen Verhaltensweisen aufweisen. In der Regel gibt es einen namentlich bekannten Verfasser (z. B.
Äsop, Lessing, Gellert) sowie eine explizit formulierte Moral (im Ggs. zu den Grimm’schen Märchen).
2. Rezeptionsgeschichte
Anschließend an die französischen contes des fees (im engl. fairy tales oder fairy stories) setzt sich im 18.
Jahrhundert der Begriff des Märchens als Gattungsbegriff durch. Märchen sind hierbei jedoch zuerst vor allem
Volksmärchen, d.h. kleine Erzählungen, die angeblich durch mündliche Überlieferung im einfachen Volk
weitergegeben wurden. (Zu fairy stories vgl. Tolkien 2008.)
Italien
Giovan Francesco Straparola: Le piacevoli notti
(1550/1553, 74 Erzählungen in zwei Teilen; 21 davon sind Märchen im engeren Sinne)
Die italienische Literaturgeschichte kennt zwei große Märchensammlungen; die erste ist Le piacevoli notti von
Straparola. Die Geschichten in Le piacvoli notti sind in eine Rahmenhandlung eingebettet: In einer Villa auf Murano
erzählen sich die Mitglieder einer Gesellschaft dreizehn Nächte hindurch verschiedene, jeweils mit einem Rätsel
abgeschlossene Geschichten.
Frankreich
In der französischsprachigen Literaturtradition werden die „contes des fees“ (Feenmärchen) geprägt, zurückgehend
auf den Titel der Märchensammlung von Marie-Catherine d’Aulnoy (1697). Der berühmteste Vertreter ist Charles
Perrault mit Histoires ou Contes du temps passé (auch: Contes de ma Mère l’Oye, 1697).
Dr. Philipp Schmerheim – Handout zur Märchenforschung
Perraults Märchensammlung enthält acht Märchen, die offensichtlich bearbeitet sind und jeweils eine „Moralité“
enthalten: Le petit chaperon rouge (Rotkäppchen); La belle au bois dormant (Dornröschen); Cendrillon ou La petite
pantoufle de verre (Aschenputtel); La barbe bleue (Ritter Blaubart); Le maître chat ou le chat botté (Der gestiefelte
Kater); Les fées (Frau Holle); Le petit poucet (Der kleine Däumling); Riquet à la houppe (Riquet mit dem Schopf).
Perrault und die anderen Feenmärchen sind eine maßgebliche Quelle für die Märchensammlung der Brüder
Grimm.
Deutschland
Die Brüder Grimm waren nicht die ersten, die sich an der Sammlung von Märchen versuchten. Beispielsweise
erschienen vor den Kinder- und Hausmärchen:
• Johann August Musäus: Volksmärchen der Deutschen (1782-1787)
• Benedikt Naubert: Neue Volksmärchen der Deutschen (1789-1792)
• Albert Ludwig Grimm (nicht verwandt!): Kindermärchen (1808)
• Johann Gustav Büsching: Volkssagen, Märchen und Legenden (1812)
Jacob Grimm (04.01.1785) und Wilhelm Grimm (24.02.1786) werden in Hanau in eine bürgerliche Großfamilie
hineingeboren. Die Eltern, Amtmann Philipp Wilhelm Grimm und Dorothea Grimm, hatten neun Kinder, von denen
drei im frühen Alter starben. Nach dem ebenfalls frühen Tod des Vaters 1796 ziehen die Brüder zu einer Tante nach
Kassel. Jacob beginnt 1802 ein Jurastudium in Marburg, Wilhelm ein Jahr später. In der Bibliothek ihres Lehrers
Friedrich Carl von Savigny entdecken sie ihre Faszination für die mittelalterliche Literatur. Die Begegnung mit dem
romantischen Dichter Clemens Brentano begeistert sie für die romantische Mittelalterrezeption.
2
Dr. Philipp Schmerheim – Handout zur Märchenforschung
Die Brüder wirken recherchierend an der von Brentano und Achim von Arnim herausgegebenen Liedersammlung
Des Knaben Wunderhorn (1805) mit.
Nach dem Studium in Kassel als Bibliothekare tätig, beginnen sie mit der eigenen Sammlung von Märchen.
1812 erscheint die erste Auflage der Kinder- und Hausmärchen (s.u.).
Die Brüder vertiefen ihre wissenschaftliche Tätigkeit; so erscheint 1819 die Deutsche Grammatik von Jacob Grimm;
Wilhelm Grimm erhält 1831 eine außerordentliche Professur in Göttingen und wird vier Jahre später Professor.
1837 verlieren Jacob und Wilhelm ihren Lehrstuhl als Mitglieder der „Göttinger Sieben“, die gegen die Aufhebung
der freiheitlichen Verfassung im Königreich Hannover durch Ernst August I. protestiert hatten.
1838 kehren sie nach Kassel zurück und beginnen mit der Arbeit am „Deutschen Wörterbuch“, die sie zeitlebens
beschäftigen wird.
Wilhelm Grimm stirbt am 16. Dezember 1859 im Alter von 73 Jahren in Berlin; Jacob Grimm ebenda am 20.
September 1863 im Alter von 78 Jahren.
3
Dr. Philipp Schmerheim – Handout zur Märchenforschung
(Neuhaus 2005:12)
5. Märchen‐Merkmale
a. Handlungsverlauf
Das allgemeinste dem Märchen zugrunde liegende Handlungsschema ist: Schwierigkeiten und ihre Bewältigung.
Kampf/Sieg, Aufgabe/Lösung sind Kernvorgänge des Märchengeschehens. Relevant ist der gute Ausgang, das
„Happy Ending“. Die Ausgangslage ist gekennzeichnet durch einen Mangel oder eine Notlage, durch eine Aufgabe,
ein Bedürfnis oder andere Schwierigkeiten, deren Bewältigung im Folgenden dargestellt wird.
b. Figuren/Requisiten
Hauptträger der Handlung sind Heldin oder Held und ihre Gegner. Dazu kommen charakteristische Figuren wie
Auftraggeber, Helfer des Helden, Kontrastgestalten, Schwestern oder Freunde, Neider, Usurpatoren und von den
Protagonisten gerettete Figuren. Letztere sind also auf den Hauptträger der Handlung bezogen. An die Stelle oder
an die Seite der zu rettenden Figur kann ein Ding treten. Hauptrequisit ist aber die Gabe, die den Protagonisten zur
Lösung seiner Aufgabe instand setzt. Die Figuren scheiden sich scharf in gute und böse, schöne und hässliche, in
große und kleine, vornehme und niedrige etc. Schon die hier aufgezählten Kontraste zeigen, dass vom König,
Grafen oder reichen Kaufmann bis zum Bettler die wesentlichen Erscheinungen der menschlichen Welt umspannt
4
Dr. Philipp Schmerheim – Handout zur Märchenforschung
werden. Zu den diesseitigen kommen die einer Über‐ oder Unterwelt angehörigen Figuren hinzu, die Hexen, Feen,
Zauberer, Riesen, Zwerge etc. Wenn auch nicht jede einzelne Erzählung derartige Figuren enthält, so gehören sie
doch zu der Gattung.
c. Darstellungsart
Das Märchen ist handlungsfreudig. Es neigt zu raschem Fortschreiten der zumeist einsträngigen Handlung und zu
knapper Benennung der Figuren und Requisiten. Beschreibungen und Schilderung der Umwelt oder Innenwelt sind
selten. Aufgaben, Verbote, Bedingungen, Gaben, Ratschläge und Hilfen aller Art bezeugen, dass die Handlung des
Märchens von außen gelenkt wird. Eigenschaften werden in Form von Handlungen, Beziehungen in Form von
Gaben ausgedrückt.
• Eindimensionalität: Reale und wunderbare Welt sind eins bzw. gehen selbstverständlich ineinander über.
• Flächenhaftigkeit: Fehlen der Tiefendimension, keine oder kaum psychologische Schilderungen der
Charaktere.
• Abstrakter Stil: Kontrastkomposition, Gegenüberstellung eindeutiger Gegensätze wie gut und böse, reich
und arm.
• Isolation: Episodische Struktur der Märchen, einzelne Episoden stehen isoliert voneinander, es gibt keine
psychologische Lernkurve der Charaktere.
• Allverbundenheit: Märchencharaktere können oft mit tierischer und natürlicher Umwelt kommunizieren.
• Sublimation: Entwirklichung der Dinge, z.B. von Gewalt.
• Welthaltigkeit: Die Bandbreite menschlicher Emotionen und Bedürfnisse wird abgedeckt.
Literatur:
Sie finden diese und weitere Literaturverweise auch auf Zotero gesammelt: Zotero | Groups > Märchen
Intermedial.
• Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. 24. Auflage. München: dtv, 2002.
• Brednich, Rolf Wilhelm: Sage. In: Enzyklopädie des Märchens. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich. Bd. 11.
Berlin/New York: de Gruyter, 2004. Sp. 1017-1049.
Online verfügbar: https://katalogplus.sub.uni-hamburg.de/vufind/Record/869332597?rank=1
• Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hrsg.
von Kurt Ranke u. a. Berlin: de Gruyter, 1977ff.
Online verfügbar: https://katalogplus.sub.uni-hamburg.de/vufind/Record/869332597?rank=1
• Irwin, Robert: Die Welt von Tausendundeine Nacht. Aus dem Englischen und für den deutschen Leser
ergänzt von Wiebke Walther. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004.
• Kindler Kompakt: Märchen. Hrsg. von Stephan Neuhaus. J.B. Metzler, Stuttgart: Metzler, 2017.
Online verfügbar: https://katalogplus.sub.uni-hamburg.de/vufind/Record/885071107?rank=2
• Lüthi, Max: Märchen. Bearbeitet von Heinz Rölleke. 10. Auflage. Stuttgart: Metzler, 2004 (= Sammlung
Metzler, 16).
• Lüthi, Max: Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. 11. Auflage. Tübingen: Francke, 2005 (= UTB
für Wissenschaft; 312).
• Martus, Steffen: Die Brüder Grimm: eine Biographie. Berlin: Rowohlt, 2009.
• Marzolph, Ulrich: Tausendundeine Nacht. In: Neuhaus, Stephan (Hrsg.): Kindler Kompakt: Märchen. J.B.
Metzler, Stuttgart: Metzler, 2017. S. 35-43.
Online verfügbar: https://katalogplus.sub.uni-hamburg.de/vufind/Record/885071107?rank=2
• Marzolph, Ulrich: Tausendundeine Nacht. In: Enzyklopädie des Märchens 13,1 (2008) S. 288-302.
Online verfügbar: https://katalogplus.sub.uni-hamburg.de/vufind/Record/869332597?rank=1
• Neuhaus, Stefan: Märchen. Tübingen: Francke, 2005. S. 9 (= UTB für Wissenschaft; 2693)
Online verfügbar: https://katalogplus.sub.uni-hamburg.de/vufind/Record/883543656?rank=4
• Ott, Claudia: Nachwort der Übersetzerin. In: Dies.: Tausendundeine Nacht. Nach der ältesten arabischen
Handschrift in der Ausgabe von Muhsin Mahdi erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott.
5
Dr. Philipp Schmerheim – Handout zur Märchenforschung
Weitere Forschungsliteratur finden Sie in der Basis-Bibliographie „Märchen und Sagen“ auf
KinderundJugendmedien.de: http://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/maerchen
Eine populär gehaltene Einführung in die Grimm-Forschung bietet der Online-Auftritt des Goethe-Instituts,
„Grimmland“: http://www.goethe.de/ins/it/lp/prj/gri/deindex.html