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1. Auflage 2008
2. Auflage 2011
Alle Rechte vorbehalten
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Lektorat: Ulrike M. Vetter
Gabler Verlag ist eine Marke von Springer Fachmedien.
Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media.
www.gabler.de
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede
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berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der
Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann
benutzt werden dürften.
Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany
ISBN 978-3-8349-2926-6
Vorwort 5
Vorwort
„Wenn du veränderst,
verändert sich nichts.
Denn jede Veränderung muss
Selbstveränderung sein.“
(Willke 1987, S. 350)
Menschen haben oftmals keinen Zugang zu ihren Emotionen. Dies gilt auch für
Führungskräfte, und es gilt für sie in einem besonderen Maße. Es scheint so, als
sei eine gewisse Distanz zu der eigenen inneren Substanz häufig eine Art Vor-
aussetzung dafür, nach Führung zu streben. Dann wird Führung uneigentlich, da
ihre Entscheidungen und Handlungen sich nach Maßgaben bemessen, die nicht
der konkreten Lage, sondern eigenen Resonanzanliegen geschuldet sind. Solche
Führungskräfte spüren sich in ihrem Führungshandeln, weshalb sie oftmals nicht
spüren, was für die Situation, die Organisation und die in dieser Tätigen das
Notwendige und Erforderliche ist. Die emotionale Kompetenz und die Wirk-
samkeit von Führungskräften sind deshalb wesentliche Voraussetzungen für den
systemischen Erfolg ihres Handelns. Systemisch ist ein Erfolg, der die Potenzia-
le und Ressourcen einer Organisation optimal bündeln und zur Entfaltung zu
bringen vermag.
Dies gelingt Führungskräften in der Regel nur, wenn sie z. B. in einem Coaching
gelernt haben, sich von außen zu beobachten und die eigentlichen Triebkräfte
ihres Handelns zu verstehen. Gute Führungskräfte müssen zuallererst die Füh-
rung in ihrem eigenen Leben übernehmen und „Herren im eigenen Haus“ ihrer
Seele und Motive werden. Nur, wer eine Vision von gelungenem Leben in sei-
nem Herzen trägt, kann auch wirklich führen. Denn das Wohin der Führung liegt
stets außerhalb der eigenen unbewussten Anliegen und zumeist auch außerhalb
des eigenen begrenzten Zeithorizontes. Führungskräfte müssen achtsam und auch
unerschrocken sein. Ihr Führungsanspruch ergibt sich aus einer abschiedlichen
Grundeinstellung zum Leben einerseits und einer bewussten Entscheidung zu
den verbleibenden Möglichkeiten dieses Lebens andererseits. Emotionale Kom-
petenz kann deshalb auch nicht in einem Schnellkurs erworben werden, sie ist
stets das Resultat einer persönlichen Transformation, d. h. eines Aufbruchs zu
einer selbstreflexiven Beobachterhaltung, einer neuen biographischen Gewiss-
heit und einer systemischen Bescheidenheit. Wer sein eigenes Erleben für real,
seine Sicht der Dinge für objektiv richtig und die Erfüllung seiner tief verwur-
zelten Geltungssüchte für sachlich erforderlich hält, der mutet sich den anderen
einfach nur so zu, wie er seine Welt fühlt und versteht. Er ist mit dieser Haltung
zwar einige Zeit zu ertragen und vielleicht auch tüchtig, wird aber nur selten in
der Lage sein, die Potenziale und Ressourcen der Menschen, für die er Verant-
wortung trägt, wirklich zur Entfaltung zu bringen. Dies merken Organisationen
spätestens dann, wenn die Kreativität und Selbststeuerung für sie zu entschei-
denden Wettbewerbsfaktoren werden. Dann zeigt sich die Begrenztheit von Or-
ganisationsformen, die auf die narzisstischen Anliegen Einzelner zugeschnitten
sind und nach Maßgabe ihrer Bedürftigkeiten funktionieren sollen. Solche Orga-
nisationsformen sind noch immer in einem Dornröschenschlaf gelähmt, und es
bedarf nicht des mutigen Königssohnes, um sie aufzuwecken, sondern der Füh-
rungskraft, deren Mut darin besteht, sich zu sich selbst aufzumachen.
Vorwort 7
Dieses Buch zeichnet diesen Aufbruch einer Führungskraft zu sich selbst detail-
liert in einem Briefwechsel zwischen einem Coach und seinem Klienten nach.
Gleichwohl ist dieses Buch ein Artefakt. Es gibt weder Karl noch Bernhard als
Personen. Es gibt jedoch die Gefühle, Fragen und Zweifel von Führungskräften,
wie ich aus zahlreichen eigenen Forschungs- und Beratungskontakten der letzten
Jahre sowie aus eigener Leitungsfunktion in unterschiedlichen Organisationen
weiß. Die in dieser Arbeit gesammelten Erfahrungen sind in den hier vorgelegten
Briefwechsels eingeflossen.
Rolf Arnold
Inhaltsverzeichnis 9
Inhaltsverzeichnis
Vorwort..................................................................................................................5
Literatur.............................................................................................................117
Der Autor...........................................................................................................173
Brief 1: „Burn out“ 11
Der folgende Brief ist ein Hilferuf. In ihm wendet sich Bernhard an seinen frü-
heren akademischen Lehrer und Freund Karl. Er ist in einer biographischen
Krise, in der ihm alles zu entgleiten droht – vor allem die Gewissheit und Zu-
versichtlichkeit. Gleichzeitig ist er jedoch aufmerksam: Er spürt das Muster-
hafte dieser Entwicklung, und er ahnt, dass ihm ein Begleiter helfen könnte,
aus seiner gefährlichen Abwärtsspirale auszusteigen. Mit ganz konkreten An-
fragen wendet er sich an Karl, seinen früheren akademischen Ratgeber und
Begleiter, wobei er jedoch mehr zu bieten hat als nur seine Ratlosigkeit oder
gar ein Lamento: Karl ist erstaunlich belesen, rückt das eigene Erleben in
den Kontext großer Denker und bietet auch selbst Erklärungen und Anregun-
gen an, die bereits von der ausgeprägten Reflektiertheit seines Denkens,
Handelns und Tuns zeugen.
Lieber Karl,
entschuldige, dass ich mich schon längere Zeit nicht gemeldet habe. Es war ein-
fach zu viel los, und vieles hat mich auch erschöpft – es scheint mir manchmal
so, als entgleite mir derzeit alles gleichzeitig. Keine Sorge, ich will dir jetzt kei-
nen Lamento-Brief schreiben. Da du mich aber nach unserer letzten Sitzung
dazu ermuntert hast, mich an dich zu wenden, wenn es „eng“ wird, habe ich
mich entschlossen, dir einfach mal alles aufzuschreiben, was mich derzeit so
bedrängt und fast alle Energie raubt. Manchmal bin ich schon nach dem Aufste-
hen müde, und wenn ich dann an all die erfolglosen Bemühungen der letzten
Wochen denke, meine Vorhaben zu realisieren, dann würde ich am liebsten alles
hinwerfen und auf die berühmte einsame Insel entschwinden.
Irgendwie spüren auch meine Kollegen diese Ausgebranntheit. Kaum noch wer-
de ich nach meiner Meinung oder gar Entscheidung gefragt, obgleich ich doch
ihr Chef bin bzw. sein sollte. Immer häufiger werde ich auch mit einsamen Ent-
scheidungen Einzelner konfrontiert, die die Lücke, welche ich wohl offen lasse,
mit eigenem, aus meiner Sicht angemaßtem Verhalten füllen. Es gab schon Situ-
ationen, in denen sie gegen mich rebellierten. Dies geschieht auch mit dem neu-
en Libanon-Projekt, für welches ich klare Vorgaben definiert habe. Der zustän-
dige Projektleiter gibt mir auf Sitzungen unverhohlen zu verstehen, dass er die
Angelegenheit wesentlich besser durchschaut als ich, und in der letzten Teamsit-
zung hat er mich richtiggehend vorgeführt. Früher hätte ich ihn aggressiv „zur
Schnecke gemacht“, doch heute gehe ich über solche Situationen hinweg. Ich
spüre deutlich, wie dies meine Position in den Augen der anderen noch mehr
schwächt. Irgendwie habe ich mich bereits selbst abgesetzt, habe ich den Ein-
druck.
Es ist eine Art Lähmung, die in dem Gefühl des „Wozu das Ganze?“ ihren Aus-
druck findet. Es ist wirklich so, lieber Karl, dass ich seit dem Tod meines Vaters
irgendwie damit begonnen habe, alles vor dem Hintergrund der so lange ver-
drängten Perspektive der noch verbleibenden Zeit zu spüren und zu beurteilen.
Und da breitet sich in meiner Seele ein nahezu grenzenloser Nihilismus aus,
muss ich dir gestehen. Ich finde wirklich keinerlei Rechtfertigung für mein eige-
nes Tun, außer derjenigen, dass es da ein Leben gibt, welches irgendwie zu Ende
gebracht werden muss. Doch fast alle Aufgeregtheiten und Entscheidungsfragen,
mit denen ich täglich konfrontiert bin, erscheinen mir so lächerlich unwichtig,
dass ich mich ihnen kaum noch mit der notwendigen Ernsthaftigkeit zu widmen
vermag. Letzthin ist es mir sogar passiert, dass ich mich während einer wichti-
gen Sitzung, in der es um unser Budget für das kommende Jahr ging, bei Zah-
lenspielereien erwischte, die mit der Sache, die da verhandelt wurde, überhaupt
nichts zu tun hatten. Es waren biographische Daten, die meine Gedanken be-
schäftigten. Plötzlich wurde mir klar, dass ich fast auf den Tag genau vor 25
Jahren mein Studium an Eurer Universität abgeschlossen habe – es kommt mir
vor, als wäre dies gestern gewesen –, und dass ich sehr wahrscheinlich in weite-
ren 25 Jahren tot sein werde. Wie fern solche Gedanken all denen zu sein schie-
nen, die sich mit wahrer Inbrunst der Budgetdebatte widmeten, als ginge es da-
bei um irgendetwas wirklich Wichtiges. Sicherlich werden wir nicht dafür
bezahlt, uns während der Arbeitszeit solche Gedanken über den Tod zu machen,
doch ich kann sie einfach nicht mehr verdrängen. Jeden Tag lebe ich im Be-
wusstsein, dass auch dieser Tag mich dem Ende näher bringt, welches für mich
ganz offen und ohne irgendwelche Aufforderung ist. Wie kann man angestrengt
seinen Alltag zubringen, wenn doch letztlich alles vergeblich ist? Wie kann man
Verantwortung tragen, Erfolge produzieren, wenn einen doch nur die Intensivsta-
tion, das Sterbezimmer oder ein plötzlicher Herztod erwarten. Verstehst Du, was
ich meine? Wie gehst du mit solchen Fragen um? Verdrängst du sie?
Meinen innerlich irgendwie gelähmten Zustand kann ich dir auch so beschrei-
ben: Früher war es mir klar, dass das Leben „nach vorne“ gelebt werden muss,
wie mein Vater zu sagen pflegte. Es bot sich mir ein Horizont reichhaltiger Mög-
lichkeiten. Jetzt habe ich irgendwie diesen Horizont erreicht und erkenne, dass
es dahinter nicht mehr wirklich weiter geht. Es ist eine Todeslandschaft, die sich
Brief 1: „Burn out“ 13
mir bietet, und es geht abwärts. Ich merke das daran, dass ich immer mehr Men-
schen kenne, die bereits gestorben sind. Mir fehlt die Landkarte, um mich in
diesem Gelände bewegen zu können. Und der Versuch, mit demselben Konzept,
welches mich bis hinter den Horizont, hinter „die Hügel des Triumphes“ geführt
hat, dieses andere Leben mit Substanz auszustatten, überzeugt mich selbst nicht,
da ich merke, dass es nur ein „Weiter-so-wie-Bisher“ ist. Und irgendwann werde
ich erstaunt sterben, ohne auch nur eine Idee davon entwickelt zu haben, wohin
und wie ich mich die letzten Jahre bewegt habe.
Richtiggehend ausgebrannt fühle ich mich, wobei es doch nur das alte Lebens-
konzept ist, welches mir verbrannt zu sein scheint. Kürzlich las ich in den Essays
von Montaigne, welche du mir bei deinem letzten Besuch empfohlen hattest:
„Nach dem ordentlichen Gang der Dinge ist´s ein großer Glücksfall, dass
du noch einen Fuß vor den anderen setzt. Du hast die Grenzströme des Le-
bens überschritten. Meinst du nicht? Nun, so zähle, wie viele unter deinen
Bekannten mehr waren, die vor deinem Alter starben, als deren, die es er-
reichten“
[Montaigne 1976, S. 12].
Wenn ich das so lese, dann wird mir überdeutlich, dass ich vielleicht kein neues
Lebenskonzept, sondern eines des Sterbens benötige. Keine Sorge, mir ist nicht
morbid zumute, obgleich ich dir ja sagte, dass die Erfahrungen mit dem Zu-
Ende-Gehen meine ursprüngliche Aufbruchsstimmung erstickt haben und sich in
mir dieses alles lähmende Gefühl der Perspektivlosigkeit mehr und mehr breit zu
machen begonnen hat. Und gleichzeitig spüre ich, dass ich vielleicht erst am
Beginn eines Weges stehe, auf dem ich meinem Leben eine neue Substanz stif-
ten könnte, ohne dass ich aber schon wirklich spüre, worin diese Substanz liegen
könnte. Deshalb lese ich auch die Bücher, die du mir empfohlen hast. Wie aber
komme ich mit der Erosion meiner Wirksamkeit in Beruf und Familie zurecht?
Ja, richtig, über meine Situation, nachdem Lilli im letzten Herbst mit den Kin-
dern ausgezogen ist, habe ich noch gar nicht gesprochen. Es geht irgendwie in
die gleiche Richtung, was ich dabei empfinde. Da ist zum einen das Unverständ-
nis und auch die Wut und Verzweiflung über die verlorene Perspektive – „nach
allem, was ich für die Familie getan habe“, bin ich versucht zu ergänzen. Die
Wut dominiert meine Empfindungen eindeutig, und ich habe auch in diesem
Bereich noch keine Antwort auf die Frage gefunden, was dies alles für mein
weiteres Leben und meine gelähmte Lebensenergie bedeutet. Aber das ist ein
Thema, über das ich dir in den nächsten Wochen einmal Genaueres schreiben
werde. Noch habe ich nicht den Mut und auch nicht die Kraft, mich damit wirk-
lich auseinanderzusetzen.
14 Brief 1: „Burn out“
Vielleicht kannst du mir als Freund, aber auch als jemand, der sich professionell
mit solchen Fragen der persönlichen Veränderung befasst, ein paar Tipps geben,
was ich nach deiner Meinung tun könnte, um wieder zu der Zuversicht und Ges-
taltungskraft vergangener Zeiten zurückzufinden, denn es war ja eigentlich noch
niemals meine Art gewesen, im Lamento zu erstarren, wenn ich mich so betrach-
te. Vielleicht findest du aber auch, dass dies alles typische Irritationen und Ent-
kräftungen für Männer in der Lebensmitte sind, mit denen man sich systematisch
auseinandersetzen muss, um sich dann – gewissermaßen wie Münchhausen – am
eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen. Letzteres wäre ganz in meinem Sin-
ne, denn ich erwarte nicht, dass du mir hilfst. Worum ich dich bitte ist, mir zu
helfen, damit ich mir selbst aus dieser Krise, die mich seit einiger Zeit entkräftet,
hinausführen kann. Willst du mir in diesem Sinne als Coach zur Seite stehen?
Natürlich wäre es besser, wenn wir uns im persönlichen Gespräch auseinander-
setzen könnten, aber leider liegen 680 Kilometer zwischen uns, und es ist nicht
mehr so leicht wie früher, als du mich beim Antritt meiner ersten Führungsposi-
tion begleitet hast und wir uns dabei anfreundeten.
So viel für heute. Lass es dir gut gehen!
Gruß
dein Bernhard
Brief 2: Selbstarchäologie als Ich-Arbeit 15
Lieber Bernhard,
dein Brief lässt eine einfache und schnelle Beantwortung nicht zu, wie dir ja
selbst bewusst ist. Du fragst mich als Coach an – eine Aufgabe, die noch etwas
genauer bestimmt werden muss, damit ich dir auch wirklich wichtige Impulse
für deinen Weg aus der Entkräftung geben kann. Du weißt, dass ich als Mann der
Wissenschaft natürlich dazu neige, dir Theorien, Konzepte und Einsichten anzu-
bieten, die in den letzten Jahren zu der Frage des Umgangs mit Veränderungen
entwickelt worden sind. Diese sind nur begrenzt tröstend, sie helfen aber, wie
ich aus eigener Erfahrung weiß, den Blick auf das Eigene von einer anderen
Perspektive her zu proben, und die Einnahme einer neuen Perspektive ist die
Voraussetzung für eine Neuerung im Außen. Dies könnte auch in Deinem Fall
hilfreich sein, denn das, was du derzeit erlebst, erleben viele Menschen in einer
ähnlich belastenden Form. Und auch deine sehr existenziellen Betrachtungen,
die du artikulierst, berühren Fragen, die oft gerade dann in ihrer ganzen Deut-
lichkeit aufbrechen, wenn wir spüren, dass unsere bisherigen Konzepte des Auf-
bruchs nicht mehr richtig wirksam sind, sowohl im Außen wie im Innen. Aus
diesem Grunde hängt auch beides zusammen, denn – wie die Systemiker oft
sagen – darf das, was im Außen nicht sein kann, auch im Innen nicht sein – und
umgekehrt.
Damit bin ich natürlich schon mitten im Thema – zumindest in einem Teil des-
selben. Und du bemerkst, dass ich deine Fragen so aufgreifen möchte, dass ich
sie zunächst aus veränderungswissenschaftlicher Sicht diskutiere, um so zu Per-
spektiven zu gelangen, aus denen du sicherlich auch Hinweise ableiten kannst,
welche dir helfen können, „wieder zu der Zuversicht und Gestaltungskraft ver-
gangener Zeiten zurückzufinden“, wie du sagst. Denn Veränderungswissenschaft
ist sehr praktisch, wie ich aus den unzähligen Entwicklungsprojekten der ver-
gangenen Jahre weiß, und auch der systemisch-konstruktivistische Ansatz, mit
dem wir in meinem Institut seit vielen Jahren erfolgreich arbeiten, ist letztlich
sehr hilfreich, lässt er doch die Verantwortung für unsere Sicht der Dinge ganz
bei uns. Es sind nicht die bedrängenden Umstände allein, die uns unsere Kräfte
rauben und uns feststecken lassen, es ist vielmehr unsere „Sicht“ der Dinge, wie
bereits der Philosoph Epiktet zu sagen wusste.1 Und dies ist gewissermaßen die
erste „Lektion“, die ich dir anbiete:
Lektion 1:
Es sind selten die Tatsachen selbst, die uns Schwierigkeiten machen, sondern
unser Denken und unser Fühlen, welche durch diese Tatsachen ausgelöst wer-
den. Erst indem wir diese wahrnehmen, d. h. denken und fühlen können, wer-
den sie für uns überhaupt existent. Insofern ist das, was uns bedrängt, immer
schon in uns. Und auch die Lösung unserer Probleme setzt deshalb eine innere
Bewegung voraus.
Konkret bedeutet dies, dass ich auch mit dir besser nicht nur über die äußeren
Konstellationen, welche dein Leben ausmachen, rede, sondern versuche, die
inneren Bilder, mit denen du dir dieses zurechtlegst bzw. für dich und andere
„auf den Punkt bringst“ und erläuterst, zu beobachten. Diese inneren Bilder sind
emotionalen Ursprungs. Sie setzen sich aus den spontanen Stimmungen, Eindrü-
cken und Gefühlen zusammen, die schon immer in uns sind. Diese werden in
bestimmten Situationen und Lebenslagen, die dem einst Erlebten ähnlich sind,
aktiviert. Die System- und Kognitionstheorien sprechen in diesem Zusammen-
hang von Emergenz – welch ein sperriges Wort –, d. h. von einem spontanen
Prozess der Ordnungsbildung. Eine bestimmte Konstellation triggert eines der
1 Im Orginal lautet das Zitat: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen uns, sondern die Mei-
nungen, die wir von den Dingen haben“ (Epiktet 1992, Nr. 5).
Brief 2: Selbstarchäologie als Ich-Arbeit 17
„selbst am äußersten Rand des visuellen Systems also die Einflüsse, die das
Gehirn vom Auge erhält, auf wesentlich stärkere Aktivitäten (treffen), die
von der Großhirnrinde ausgehen. Das Zusammentreffen dieser beiden En-
sembles neuronaler Aktivitäten ist ein Moment, das eine neue kohärente
Konfiguration emergieren lässt“
[Varela u. a. 1992, S. 136].
„unsere innere Kultur“ bzw. unser Denken, Fühlen und Handeln beruhen. Es
geht dabei nicht darum, irgendwelchen Störungen unserer Wahrnehmung auf die
Spur zu kommen. Vielmehr geht es der Selbstarchäologie um eine gewisserma-
ßen leidenschaftslose Analyse und Rekonstruktion der Elemente, aus denen wir
uns unsere Erfahrungen „basteln“. Diese begegnen uns nämlich nicht einfach in
der Form von Schicksalsschlägen oder „unmöglichem“ oder „verantwortungslo-
sem“ Handeln anderer, sondern gewinnen erst Gestalt, wenn wir sie uns selbst
und anderen erzählen. Dabei sind es die Formulierungen, die wir verwenden,
sowie die Aspekte des Geschehens, die wir besonders akzentuieren, insbesonde-
re aber auch die Ähnlichkeit unseres Verhaltens in Schlüsselsituationen, welches
uns die Spur zeigt, auf der wir gewissermaßen in die Werkstatt unseres Bewusst-
seins gelangen (können). Als die wesentlichen Schlüsselsituationen, die sich
nach meiner Erfahrung in der Arbeit mit Menschen in ähnlichen wie deiner Lage
beständig rekonstellieren, sind dabei folgende vier zu nennen:
Umgang mit Anerkennung,
Umgang mit Abhängigkeit,
Umgang mit Zuwendung und
Umgang mit Unwirksamkeit.
Es geht darum, sich selbst dabei zu beobachten, wie wir mit diesen Situationen
innerlich umgehen. Welche Gefühle stellen sich ein, wenn erwartete Zuwendung
sich nicht einstellt oder wir uns in unseren Bemühungen als unwirksam erleben?
Wie beengend ist das Erleben ausbleibender Anerkennung sowie einengender
Abhängigkeit? Mit zahlreichen Menschen habe ich zu diesen vier Grundthema-
tiken unseres Sich-in-der-Welt-Fühlens zunächst einmal Bilder malen lassen,
welche sie sodann erläutern und mit erlebten Situationen illustrieren mussten.
Auf diese Weise werden uns nicht nur die ursprünglich prägenden Erlebnisse,
die heute in unserer Wahrnehmung noch mitschwingen und dieser ihre ganz
spezifische Färbung geben, bewusst, wir kommen auch der inneren Logik unse-
rer Erfahrung dadurch mehr und mehr auf die Spur. Diesen Zusammenhang habe
ich kürzlich in folgendem Bild beschrieben gefunden:
von unseren inneren Möglichkeiten abhängig. (...) Deshalb ist jedes emotio-
nale Bild der Wirklichkeit auch etwas ganz Eigenes und Selbsterzeugtes.
Und es scheint noch etwas hinzuzukommen: Die Farben „müssen“ zum
Einsatz gelangen. Man „sucht“ deshalb geradezu nach geeigneten Motiven,
die sich in den Farbtönen darstellen lassen, welche wir auf der Farbpalette
unserer Seele bereithalten. Diese Wirkungsweise unserer Emotionalität ra-
dikalisiert nochmals zusätzlich die Grundthese des pädagogischen Kon-
struktivismus, welche besagt, dass wir uns die soziale Wirklichkeit, die uns
begegnet oder unter der wir leiden, in der Art, wie sie sich uns präsentiert,
selbst schaffen“
[Arnold 2007, S. 98].
Dies bedeutet aber auch, dass wir eine unserer Lieblingsbeschäftigungen unbe-
dingt einstellen müssen: das Streiten über die Wirklichkeiten. Dieselben Erleb-
nisse werden von den Menschen unterschiedlich wahrgenommen, und sie lösen
auch unterschiedliche bzw. unterschiedlich intensive Gefühle aus. Die neueren
Hirnforschungen, die wir in meinem Institut sehr aufmerksam verfolgen, stützen
die These, dass der Mensch sich bereits sehr früh emotional gegenüber der Welt
positioniert. Es sind seine frühen Erfahrungen des Geborgenseins oder Ungebor-
genseins, sein Sich-Spüren in den Stimmungen des Familienkontextes, aber auch
seine vorgeburtlichen psychophysischen Eindrücke, welche die Grundstrukturen
dessen, was ihm vertraut und plausibel anmutet, einspuren. Und da wir alle in
diesen frühen Stadien mit denselben, aber auch sehr unterschiedlichen Eindrü-
cken konfrontiert wurden, weisen wir auch sehr unterschiedliche Wahrnehmun-
gen zu denselben Gegebenheiten auf. Was für den einen bedrohend wirkt, das ist
für den anderen anregend, wovor der eine Angst hat, das ist für den anderen bloß
irritierend. Insbesondere in den Situationen, auf die wir emotional sehr stark
reagieren, verstehen wir nicht, wieso der oder die andere so anders reagiert. Bloß
wenn wir diesen formalen Mechanismus, durch den unsere Gewissheitsbrillen
entstehen, verstanden haben, sind wir zumindest in der Lage, zu bemerken, wel-
ches die Grundmechanismen in unserer Wahrnehmung sind, mit denen wir die
Welt immer wieder so arrangieren, dass sie uns vertraut vorkommt und wir mit
ihr zurechtkommen.
Dieses Zurechtkommen kann sich paradoxerweise auch gerade dann einstellen,
wenn wir uns in als problematisch empfundenen Situationen wiederfinden. Auch
diese begegnen uns nicht so und nicht anders als pure Ungerechtigkeiten, wir
betrachten sie vielmehr durch unsere Gewissheitsbrillen und malen sie uns in
den Gefühlsfarben aus, über die wir verfügen, obgleich diese alt sind. Diese
inneren Gemälde stellen die Welt unserer Plausibilität dar, und der erste Schritt
aus der inneren Lähmung ist derjenige, der uns zu der Einsicht führt, dass dies so
20 Brief 2: Selbstarchäologie als Ich-Arbeit
ist. Bewusstsein funktioniert durch Wiedererkennen. Probleme, die wir als sol-
che erleben und deuten, sind somit auch Lösungen, helfen sie uns doch, unsere
innerlich vorbereiteten Weltsichten zur Anwendung zu bringen bzw. unsere
Farbpalette zu benutzen. Wenn wir dies in den beklagten Situationen nicht könn-
ten, würden wir zwangsläufig andere Situationen suchen bzw. weniger dramati-
sche Situationen in ähnlichen Stimmungsbildern malen. Diese Überlegungen
lassen sich zu einer weiteren Lektion zum Umgang mit Veränderungen fassen:
Lektion 2:
Die Selbstarchäologie hilft uns die Banalität unserer Ich-Zustände zu verstehen.
Dadurch nimmt sie diesen bereits einiges von ihrem bedrängenden Gehalt.
Wenn ich verstehe, wie ich gewöhnlich auf bestimmte Lagen reagiere und wel-
ches dabei meine „bevorzugten“ Grundmotive und Ängste sind, dann habe ich
mich bereits ein Stück weit von dem Automatismus gelöst, mit dem meine Deu-
tungs- und Gefühlsprogramme (ich kürze diese als „DGPs“ ab) bislang jeweils
angesprungen sind, und ich beginne eine Art Zwischenschritt für eine Stop-and-
Think-Schleife einzubauen.
dich getröstet, dich angehört und versucht, dir Mut zu machen. Genutzt hätte es
dir wenig, denn deine DGPs sind in dir wirksam und finden derzeit ausreichend
Möglichkeiten, sich zu artikulieren. Es ist dieser Stoff des Eigenen und Gewis-
sen, den zu sehen ich dir rate. Denn erst wenn du dies erkennst, kannst du auch
Schritt für Schritt eine andere „Beleuchtung“ der Situationen, die dich umgeben,
versuchen. Und dann kannst du ganz langsam zu einem Münchhausen werden,
der sich ja bekanntlich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen hat. Und
in unserem Sumpf der vertrauten Deutungen, Bewertungen und Gefühle bewe-
gen wir uns ja am allerliebsten, doch es sind Mut und Entschlossenheit notwen-
dig, um sich selbst zu einer Selbstarchäologie durchzuringen und systematisch
die eigenen DGPs zu verstehen. Hierzu lade ich dich ein. Paul Watzlawick hat
vor fast zwanzig Jahren ein Buch mit dem Titel „Münchhausens Zopf“ geschrie-
ben, in dem er die These vertritt,
Genau darum geht es, und genau dazu möchte ich dich einladen. Schau auf die
dich umstellenden Problemlagen mit anderen Augen und mit einem anderen
Erkenntnisinteresse. Versuche deine Bedrängungen in einer systematischen Wei-
se daraufhin zu analysieren, welche bekannten DGPs diese in dir auslösen. Es ist
eine weitere Lektion, die ich dir antrage:
Lektion 3:
Man kann die eigenen Wahrnehmungsfilter bzw. die DGPs nur schwer verän-
dern, man kann nur in dem ständigen Bewusstsein, dass diese uns das Bild
unserer Wirklichkeit liefern, denken, fühlen und handeln. Dabei entsteht eine
achtsamere Grundhaltung, und man ist auch immer weniger bereit, um die
Wirklichkeit zu streiten.
verstehst, wie du dir deine Freuden und Leiden selbst konstruierst, kannst du
Wege eines Ausstieges aus diesen DGPs erproben, zunächst experimentierend,
dann aber in der Form, dass du immer sicherer im Umgang mit neuen DGPs
wirst. Du siehst also, ich möchte dir die Selbstarchäologie als eine durchaus
praktische und auch hilfreiche Wissenschaft, eine Selbstwissenschaft, vorschla-
gen – und ich würde mich freuen, wenn du diese Hand, die ich dir als dein Co-
ach reiche, ergreifen würdest.
Viele Grüße
Karl
Brief 3: Die Banalität unserer Ich-Zustände 25
In diesem Brief reagiert der Rat und Unterstützung suchende Bernhard auf
die komplexen und differenzierten Beschreibungen seines Coachs. Er er-
kennt die klärende und orientierende Kraft, die von einem mutigen und wis-
senschaftlich geleiteten Blick auf die Dinge, die ihn bewegen, ausgehen
kann. Dabei verblüfft Bernhard mit der Skizzierung eines Ich-Modells, wel-
ches den modernen soziopsychologischen Diskursen zu entstammen
scheint. Er zeigt, dass ein Nachdenken über die eigene Identität eines struk-
turierten Zuganges und einer angeleiteten Form bedarf, möchte man nicht
immer wieder in den alten und bekannten Denkbewegungen erstarren, son-
dern sein Leben proaktiv ausrichten. Wer über sein Ich nachdenkt, schlägt
drei Kapitel auf: ein Erbekapitel („Wie ich zu dem geworden bin, der oder die
ich bin“), ein Entwürfe-Kapitel („Wer ich sein werde“) und ein Reflexionskapi-
tel („Wie konstruiere ich bevorzugt meine Lebenserzählungen?“).
Lieber Karl,
ich musste deinen Brief schon mehrmals lesen, um zu erkennen, welches kon-
struktive Potenzial er tatsächlich enthält. Dieses erschloss sich mir erst ganz
allmählich, wie ich ehrlicherweise zugeben muss. Meine erste, spontane Reakti-
on war Enttäuschung, da ich nicht spüren konnte, ob du meine Lage siehst und
mir wirklich zur Seite stehst; irgendwie fühlte ich mich akademisch belehrt, und
ich lief tagelang mit inneren Monologen herum, in denen auch schon Sätze vor-
kamen, wie: „Wie konnte ich von einem Kopfmenschen nur eine persönliche
Geste und wirkliche Unterstützung erwarten?“. Gleichwohl nahm ich deinen
Brief immer wieder zur Hand, und dieses wiederholte Lesen hat etwas in mir
ausgelöst, das zu beschreiben nicht einfach ist. Allmählich begann ich, mich mit
deinen beiden Lektionen zur Selbstarchäologie wirklich zu beschäftigen, und da
erkannte ich, wie diese – jedes Mal, wenn ich sie durchlas – in mir einen Wandel
meiner Art der Selbstbeobachtung auslösten: Ich begann, meine Lage zugleich
einerseits mehr von außen und andererseits mehr von innen zu sehen, wenn du
mir diesen paradoxen Hinweis gestattest. „Von innen“ blickte ich auf meine Er-
fahrungen, Gedanken und Gefühle und begann, diese nicht als Gegebenheiten,
sondern als Interpretationen ganz eigener Art zu analysieren.
Du sprachst von den Farben, mit denen wir gelernt haben, uns Anerkennung,
Abhängigkeit, Zuwendung und Unwirksamkeit auszumalen. Ich habe mit Hilfe
deines Tools auch meine Schlüsselsätze bzw. Betitelungen der für mich typi-
schen Grunderfahrungen identifiziert und an den verschiedensten Stellen meiner
Wohnung aufgehängt. Diese waren mir dadurch „von außen“ sichtbar. Diese
Methode war ein raffinierter Trick von Dir: Stündlich sah ich mich mit meinen
Deutungs-Gefühls-Programmen zu den Themen Anerkennung, Abhängigkeit,
Zuwendung und Unwirksamkeit konfrontiert, und jetzt verfüge ich nicht mehr
über diesen klaren Blick auf die mich bedrängenden Lagen. Irgendwie nehme
ich auch – wie einen Filter – meine eigene „Erfahrungsbrille“ wahr, die ja schon
stets dazwischen geblendet gewesen ist und mir die Wirklichkeit so und nicht
anders präsentiert hat. Und ein seltsamer Effekt dieser neuen Art der Betrachtung
ist der, dass ich meine Vergangenheit neu erfinde.
Oft bin ich mir nicht mehr sicher, ob das, was ich sehe, wirklich ist. Doch was ist
schon „wirklich“? Wie das Wort es ja ausdrückt: Etwas ist „wirklich“, wenn es
auf einen „wirkt“ – „wirk-lich“, so wie „grün-lich“, was ja nicht „grün“ ist, son-
dern diesem nur ähnelt. So ist es auch mit dem, was auf uns „wirkt“: Wir sehen
es nicht unmittelbar, sondern nur in einer Form, die ähnlich den tatsächlichen
Wirkungen ist – gebrochen durch die eigenen Muster unserer Wahrnehmung. Ich
habe verstanden, dass wir uns nicht Rechenschaft darüber geben, wie bei unserer
Wahrnehmung der Filter unserer Erfahrungen dazwischengeschaltet ist. Wir
handeln uns selbst und anderen gegenüber auf der hypothetischen Basis eines
ungefilterten Umgangs mit der Wirklichkeit. Deine Übung „Die vier Filter der
Wirklichkeitsinszenierung“ hat mir geholfen, mich von der Vorstellung einer
vermeintlich ungefilterten Sicht der Dinge zu lösen. Seither sehe ich die Wirk-
lichkeit stärker in ihrer Gebrochenheit durch das Eigene – ein Effekt, um den es
dir sicherlich gegangen ist. Meine Erfahrungsfilter kenne ich nun – zumindest in
Ansätzen –, ich habe zudem erkannt, dass diese mir treue Dienste leisteten (und
leisten) und ich nur durch sie sehen kann, und ich habe die „Objektivität“ verab-
schiedet. Alles dies hat mich ruhiger werden lassen, aber auch ernüchtert.
Zugleich machten mich diese Effekte aber auch ratlos, da ich nicht weiß, ob ich
das „Sehen-durch-Filter“ verändern soll, und was sich dann wirklich ändert.
Irgendwie geht es mir – das mag dich erstaunen – auch gut, wenn ich die Welt
sehe, wie ich gewohnt bin, sie zu sehen, selbst in meinem Schmerz über das
eigene Erleben fühle ich mich als der, der ich bin. Seit ich diese Zettel in der
Wohnung aufgehängt habe, sehe ich einerseits klarer, aus welchen „banalen“
Gewohnheiten – du warst es, der von dieser Banalität des Ich sprach – meine
Wirklichkeitssicht sich immer wieder komponiert. Aber diese Einsicht löst
zugleich eine Leere und Abgebremstheit in mir aus, die ich auch nicht nur als
Durchbruch werten kann. Besonders irritiert mich, dass mir manchmal regelrecht
Brief 3: Die Banalität unserer Ich-Zustände 27
die Worte fehlen. Wie kann ich unmittelbar auf eine „Zumutung“, einen „Wider-
stand“ oder unverhohlene Kritik reagieren, wenn ich jetzt stets erst die Situation
durch die in meinen emotionalen Brillen angelegten Verzerrungstendenzen
„scanne“? Hast du da einen Tipp, wie man z. B. bewusster wird, ohne zugleich
handlungsunfähig zu werden? Zumindest irritiert mich die Abgebremstheit mei-
ner Reaktionen, die mich irgendwie unentschlossen oder gar schwach erscheinen
lassen, wo ich doch lediglich besonnener – im Blick auf das Eigene, das ich stets
wieder herstelle – reagiere. Es ist jedoch eine fast grenzenlose Gelassenheit, die
sich da einstellt.
Um mich herum sehe ich zugleich die Menschen, denen ich begegne, anders. Oft
beobachte ich sie in ihren Handlungen und lausche auf ihre Äußerungen, indem
ich mich frage, wie sie sich die Grundsituationen Anerkennung, Abhängigkeit,
Zuwendung und Unwirksamkeit konstruieren. Dabei fällt mir jetzt vieles auf,
und anfangs war ich manchmal in der Gefahr, in eine therapeutische Überheb-
lichkeit abzugleiten. Dies hat sich mittlerweile gelegt, da ich auch die Banalität
dieser Ich-Zustände, die mir da begegnen, irgendwie empathisch zu sehen lerne
und erkenne, dass wir alle in ganz ähnlichen inneren Situationen ausharren. Aus-
balanciertheit, Offenheit und Stabilität begegnen mir auch bei anderen recht
selten, und wenn, dann sind es vorübergehende Ich-Zustände. Irgendwie schei-
nen wir alle über fließende Identitäten zu verfügen, d. h. über Ich-Zustände, die
ständig „in Bearbeitung“ sind, sodass ich mich frage, ob „Identität“ denn eigent-
lich wirklich eine treffende Bezeichnung ist. Aus solchen Überlegungen heraus
griff ich kürzlich in der Buchhandlung zu einem Buch mit dem Titel „Ich. Wie
wir uns selbst erfinden“, welches zwei Wissenschaftsredakteure des Focus ge-
schrieben haben (Siefer/Weber 2006). In diesem Buch werden zahlreiche hirn-
physiologische, anthropologische und psychologische Erkenntnisse ausgebreitet,
die es geraten erscheinen lassen, „die Illusion, jemand zu sein“ (ebd., S. 195 ff.),
grundlegend in Frage zu stellen. Werner Stiefer und Christian Weber schreiben:
„Das Ich ist zerbrechlich, lehren uns die Neurobiologen und Psychiater.
Kleinste Unfälle im Hirn oder in seiner Umwelt können unsere Identität
binnen Millisekunden zerstören. Die klassisch-westliche Vorstellung vom
Selbst, das im Laufe seines Lebens seine Bestimmung entdeckt und verwirk-
licht, haben die Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologen infrage ge-
stellt. Die Soziologen beschreiben, wie die Menschen an ihrer Identität bas-
teln, um im Markt der Moden mitzuhalten. Gedächtnispsychologen belegen,
wie wir unsere intimsten Erinnerungen im Nachhinein zurechtfälschen, Neu-
rowissenschaftler stellen die Autonomie unserer Gefühle, Gedanken und
Handlungen infrage, analytische Philosophen des Geistes wie Thomas Met-
28 Brief 3: Die Banalität unserer Ich-Zustände
zinger bezweifeln gar die Existenz des Ichs. 3000 Jahre lang haben große
Denker und Dichter nach unserem Ich gefahndet, jetzt sind sie im Nichts ge-
landet. Ihre Erkenntnis: Wir finden uns nicht, sondern wir erfinden uns“
[ebd., S. 291 f.].
Diesen Eindruck habe ich auch: Mein Gefühl ist, dass ich begonnen habe, mich
neu zu erfinden. Zwar weiß ich, dass dieses vielleicht etwas überheblich klingt,
habe ich mich doch erst gerade eben als orientierungs- und haltlos präsentiert
und um deine Hilfe gebeten. Doch erlaubt mir dieses klare Gefühl des „Sich-
selbst-Erfindens“ auch, meine Bitte an dich deutlicher zu formulieren: Es ist
nicht eine Orientierung, die ich erwarte, sondern eine Begleitung in dem Prozess
der Suche einer neuen Stabilität. Wenn ich versuche, mir diese neue Stabilität
vorzustellen, dann beschleichen mich Angstgefühle, denn ich spüre, dass diese
neue Stabilität niemals mehr die Gewissheit für mich wird entfalten können,
welche ich in der „Welt“ gewohnt war, aus der mich mein Leben hat herausfal-
len lassen. Kürzlich hörte ich eine Hörkassette mit den Lebenserinnerungen des
Soziologen René König (König 2006), in denen dieser auch über sein Emigran-
tenschicksal berichtet. Mich hat seine Erfahrung des „Einmal-Emigrant-immer-
Emigrant“ längere Zeit beschäftigt, denn dieses ist auch mein Gefühl: Mir sind
meine bisherigen Gewissheiten fremd geworden, und zugleich habe ich das Ver-
trauen verloren, jemals wieder zu einer neuen Gewissheit zurückzufinden. Ich
bin gewissermaßen aus der vertrauten Welt emigriert und finde in der neuen Welt
keine innere Geborgenheit mehr. Nun kann man vielleicht spitzfindig sagen, dass
dies auch in gewisser Weise eine neue Gewissheit sei, doch ist dies eine rein
intellektuelle Reflexion.
Meiner neuen Welt fehlt irgendwie die wärmende und aufhebende Dimension.
Indem ich die Banalität meiner Ich-Zustände zu durchschauen lerne, kommen
mir auch alle neuen Konstruktionen banal und vorläufig vor. Dies ist irgendwie
auch eine große Enttäuschung. Bei Peter Gross las ich einen Essay über „das
Flüssig-Ich“, in dem er auch von der Verzweiflung spricht, sich selbst sein zu
wollen, welche den Menschen treibt, wenn er, wie ein Schwimmer, „die von ihm
ausgesandten Wellen verzweifelt selbst einzuholen sucht“ (Gross 1999, S. 79):
„Und so ist es, das ist es, auch wenn die Verzweiflung nicht allgemein ist,
das Jagen und Hasten ist es und das andauernde, nicht loszuwerdende Ge-
fühl einer bleibenden und unüberbrückbaren Differenz, wie immer diese nun
ausgelegt wird. So kann sich der Mensch auch nie restlos verstehen; selber
in Bewegung, gibt es keinen Moment, wo er stillgestellt wäre oder sich so
stillstellen könnte, dass er sich verstünde“
[ebd.].
Brief 3: Die Banalität unserer Ich-Zustände 29
Diese Zeilen drücken meinen eigenen Eindruck sehr gut aus. Insbesondere das
Bild vom Einholen der von mir selbst „ausgesandten Wellen“ trifft es genau. Wir
versuchen irgendwie das zu verstehen, was von uns selbst ausgeht. Indem wir
dies tun, unterstellen wir zwar bereits irgendwie das Ich zumindest als Aktivi-
tätszentrum oder gar Referenzpunkt unseres Lebens, doch zerfließt uns dieses
dann, wenn wir es irgendwie abzugrenzen versuchen. Das Bild von den Wellen,
denen wir verstehend hinterherjagen, hat mich in den letzten Tagen zu einer „Öl-
fleckentheorie des Ich“ geführt: „Das Ich als Ölfleck auf dem Meer der Mög-
lichkeiten“ – ist dies nicht eine treffende Methapher? Wir fließen dahin, darum
bemüht, unsere Substanz irgendwie zusammenzuhalten, dehnen diese aus, ver-
binden uns mit anderen dahintreibenden Ölflecken, doch irgendetwas in uns
möchte sich abgrenzen und in Erfahrung bringen, wer wir „eigentlich“ sind. Das
Bild vom „Flüssig-Ich“ vermag uns nicht wirklich zu befriedigen. In unserer
Ichpolitik sind wir stets darum bemüht, Communiques herauszugeben, die uns
selbst und den anderen einleuchten. Überhaupt: Es sind Erzählungen, mit denen
wir uns und anderen gegenüber unser Ich erfinden, und wir sind ständig darum
bemüht, diese Erzählungen irgendwie konsistent erscheinen zu lassen, so als
folgten sie einem von uns so gewollten und beeinflussten Plan, selbst, wenn dies
nicht so ist, wie in meiner Lage. Trotzdem ist unser Ich eine „politische“ Insze-
nierung, weshalb es nicht ganz abwegig ist, von „Identitätspolitik“ zu sprechen.
Pierre Tap lieferte wohl eine der prägnantesten Definitionen für diese „Gleich-
gewichtsübung“ (Kaufmann 2005, S. 43), die wir als „Identität“ bezeichnen,
wonach diese
„(...) ein System aus Gefühlen und Vorstellungen von sich selbst ist,(das
heißt) die Gesamtheit der physischen, psychischen, moralischen, juristi-
schen, sozialen und kulturellen Merkmale, von denen aus eine Person sich
definieren, sich präsentieren, sich selbst und andere zu erkennen geben
kann oder von denen aus der andere sie definieren, einordnen oder erken-
nen kann“
[zit. nach ebd.].
Lektion 4:
Das Ich ist der durchschaubare Versuch, eine kohärente und konsistente Er-
zählung über unser Leben zu entwickeln. Durch unsere Vorstellung von uns
selbst geben wir uns und anderen zu verstehen, wie wir uns sehen und gerne
gesehen werden möchten. Diese Erzählung hat zumeist drei Kapitel: ein Erbe-
kapitel („Wie ich zu dem geworden bin, der oder die ich bin?“), ein Entwürfe-
Kapitel („Wer ich sein werde?“) und ein – oft kleines, manchmal auch fehlendes
– Reflexionskapitel („Wie konstruiere ich bevorzugt meine Lebenserzählun-
gen?“). Zugleich handeln die Kapitel auch davon, wie ich mit den nüchternen
Gegebenheiten physischer oder soziokultureller Art umgehe.
Diese vierte Lektion meiner Selbstanalysen hat mich dazu geführt, mir eine ei-
gene Ich-Theorie zu entwickeln; ich nenne sie: die Vier-Felder-Theorie der Ich-
Politik. Mit ihrer Hilfe gelingt es mir auch, die Banalität meiner Ich-Zustände
etwas systematischer zu analysieren und dabei auch zu erkennen, dass sich in
diesen eine ganz menschliche Bemühung ausdrückt, die vier Aspekte des Ich-
Ausdrucks ständig zu balancieren. Diese Balance ist eine lebenslange Bemü-
hung, und sie verlangt uns jeweils dann einige Arbeit, nämlich Ich-Arbeit, ab,
wenn einer der vier Aspekte einer Neubestimmung bedarf. Dies sind die Zeit-
punkte im Leben, in denen die Ich-Balance neu austariert werden muss. Es sind
aber auch die Zeitpunkte, in denen wir uns entscheiden und bisweilen sogar neu
erfinden müssen. In solchen Lebensphasen ergibt sich uns – so erlebe ich dies
derzeit selbst – auch die Chance, von einer unbewussten zu einer bewussten
Gestaltung unseres Ichs vorzustoßen. Denn erst, wenn wir die Brüchigkeit der
Balance spüren und auch die Banalität der Ich-Inszenierung durchschauen, kön-
nen wir bewusst agieren und versuchen zu werden, was wir sein wollen. Diese
Entscheidung ist keine willkürliche, sondern eine nüchterne. Es steht nämlich
keineswegs alles zur Debatte, vielmehr geht es darum, die Optionen nüchtern zu
beurteilen, sich von verbrauchten Lebensentwürfen zu lösen und zu versuchen,
eine Vorstellung von dem zu entwickeln, zu dem uns unsere ganz eigene Le-
bensenergie drängt.
a) In dem Erbekapitel erzähle ich zunächst meine Erlebnisse, es ist die Biogra-
phie, die hier dokumentiert, aber immer auch beständig reformuliert wird. So
habe ich bei mir beobachtet, dass auch die Vergangenheit nicht bleibt, wie sie
gewesen ist. Je nachdem, mit wem ich meine Zeit verbringe, erzähle ich sie mit
anderen Akzentuierungen, und oft wird mir im Nachhinein etwas klar, weshalb
der bisherige Bericht überarbeitet und weiterentwickelt wird. So ändere ich mich
nicht nur selbst im Verlauf meines Lebens, es ändern sich vielmehr auch meine
Erinnerungen, und meine Vergangenheit erscheint mir immer mal wieder in ei-
nem neuen Licht. Angeregt durch deine Vorschläge habe ich Muster in meiner
Brief 3: Die Banalität unserer Ich-Zustände 31
Entwürfe
Es wird noch einige Zeit dauern, bis ich in dieses Kapitel so viel Ordnung ge-
bracht habe, dass ich über dieses Ich mit dir reden kann. Auf alle Fälle ist die
Einsicht, dass nicht nur meine erinnerte Biographie, sondern auch eine aus dem
Verborgenen wirkende Energie dieses Ich konstituieren, neu und aufregend für
mich. Diese verborgene Energie weist z. B. Dynamiken auf, die sehr alt sind,
fast möchte ich sagen, dass sie meinem Kinderzimmer entstammen. Damit
möchte ich ausdrücken, dass ich zahlreiche „Befindlichkeiten“ bereits sehr früh
kennen gelernt habe; es sind wohl die „Schlüsselsituationen“ (Anerkennung,
Abhängigkeit, Zuwendung und Unwirksamkeit), zu denen ich meine Gefühls-
stoffe bereits in ganz jungen Jahren ausgebildet habe. Doch manchmal spüre ich,
dass in diesen Stoffen auch Strömungen sind, die älteren Ursprungs sind und
vielleicht so etwas wie ein kollektives Erbe meiner Eltern und Vorfahren ausdrü-
cken. Vielleicht ist es das, was die Christen früher als Erbsünde bezeichneten.
Unsere Eltern lassen uns nicht nur bei sich leben, unsere Familie drückt uns
vielmehr auch „den Stempel unserer Individualität“ auf, wie es der italienische
Familientherapeut Salvador Minuchin einmal ausdrückte (Minuchin 1997, S.
62). Und in diesen Vorgang fließen auch Spuren der Vergangenheit ein. So gibt
es Sichtweisen, Gefühlslagen, typische Verhaltensweisen, Haltungen oder Sip-
penstile, die subtil durch die sprachliche und nicht-sprachliche Kommunikation
an die nachwachsenden Menschen weitergegeben werden. Und bisweilen sind da
auch verborgene, auf Ausgleich bezogene Systemiken aus der Vergangenheit am
Wirken, wie ich aus meiner familientherapeutischen Lektüre, aber auch aus ei-
32 Brief 3: Die Banalität unserer Ich-Zustände
auch ein Tool (Tool B) entwickelt, mit welchem ich meine tägliche Ich-Politik
bewusster zu gestalten versuche, um aus den Tagträumereien zu einer wirklich
verantwortlichen Lebensgestaltung zurückzufinden. Auch die Übung „Auf dem
hohen Seil“ von Erhard Meueler (Tool C) hilft uns, unsere Ich-Bestandteile zu
reflektieren und zu ordnen. Bei Jean-Claude Kaufmann entdeckte ich, dass ich
dabei durchaus „zeitgemäß“ handele, scheinen wir uns doch in einem „Zeitalter
der Identitäten“ (Kaufmann 2004, S. 81) zu bewegen, in welchem „das Schicksal
der Welt immer mehr von den allerdings intimen und heimlichen Blicken jedes
Einzelnen auf sich selbst abhängt“ (ebd.).
c) Das Ich besteht jedoch nicht nur aus dem Rückblick, sondern auch aus dem,
was vor ihm liegt. Ich nenne dies das „proaktive Ich“. Damit möchte ich einen
Gedanken ausdrücken, der mir in den letzten Tagen immer deutlicher geworden
ist: Man kann durch bewusste Entscheidungen seinem Leben eine Richtung ge-
ben, und bei nüchterner Betrachtung bleibt uns auch überhaupt nichts anderes
übrig. Dabei geht es um die Fragen, wer ich sein und wie ich leben möchte. Die
Antwort auf beide Fragen ist zwar nicht willkürlich zu beantworten, schränken
doch bereits unsere bewährten Erfahrungen sowie unsere physischen und sozio-
kulturellen Optionen die proaktiv zu gestaltenden Möglichkeiten ein, doch das
Entscheidende ist die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft und
das sich weitgehende Lösen von biographisch-energetischen Festlegungen aus
der Vergangenheit heraus. Dies ist leichter gesagt als getan, kommt dieses Unter-
fangen doch dem Versuch nahe, die Räder eines Autos bei voller Fahrt zu wech-
seln. Wir müssen quasi aus dem Meer der „Unübersichtlichkeit“, „Mehrdeutig-
keit“ und „schwindenden Vorhersagbarkeit“ (Keupp u. a. 1999, S.276) stabile
Größen identifizieren und auswählen, welche uns neue Orientierung zu stiften
vermögen. Die Frage, um die es dabei geht, ist:
„Wie ist es möglich und was ist nötig, um das eine tatsächlich zu gewinnen
(das selbstbestimmte Leben, R. A.), ohne das andere (die Fremdbestimmt-
heit, R. A.) erleiden zu müssen? Wie ist es wahrscheinlich, dass sich Subjekte
unter spätmodernen Lebensbedingungen Kohärenz und Authentizität, Aner-
kennung und Handlungsfähigkeit, die unserer Ansicht nach unhintergehba-
ren Modi alltäglicher Identitätsarbeit, bewahren zu können? Welche subjek-
tiven Fähigkeiten und Ressourcen befördern gelingende Identität?“
[ebd.].
Fragen, auf welche mir die Antworten noch schwerfallen. Insbesondere möchte
ich dabei nicht der Illusion einer Autonomie erliegen, während ich doch nur
zeittypisch „unterwegs“ bin. Ja, das muss man sich erst einmal deutlich machen,
dass uns das Ich erst wirklich umtreibt, seit es gesellschaftlich opportun gewor-
34 Brief 3: Die Banalität unserer Ich-Zustände
den ist, selbst für sein Leben Verantwortung zu übernehmen. Dies war keines-
wegs immer so, wie du weißt. Und es ist keineswegs in allen Kulturen und Reli-
gionen üblich, sich selbst in dieser Weise wichtig zu nehmen. Bisweilen ist es
sogar schädlich oder lebensgefährlich, da es Kulturen gibt, die die Ichbezogen-
heit ablehnen. Also sind wir nicht nur zeittypisch, sondern auch kulturtypisch
unterwegs, wenn wir an unseren Ich-Kapiteln schreiben – welch wahrhaft pro-
vinzielle Aktivität? Mich ernüchtern solche Gedanken, zeigen sie doch auch, wie
sehr wir – selbst bei unseren persönlichsten Fragen – Kinder unserer Zeit und
unserer Gesellschaft sind. Vom allgemein Menschlichen – der Conditio Humana,
von der du früher in deinen Vorlesungen oft sprachst – sind wir damit weit ent-
fernt. Die Conditio Humana scheint mir heute gerade darin zum Ausdruck zu
kommen, dass wir uns als Menschen ganz unterschiedlich zu konstruieren ver-
mögen. Uns erstaunt die Ichlosigkeit fernöstlicher Kulturen, während die dort
lebenden Menschen unsere Ich-Zentriertheit nicht nachvollziehen können. So las
ich kürzlich in dem Buch von Sogyal Rinpoche, dem europäisierten Tibeter:
„Vielleicht ist aber die eigentliche Ursache unserer Angst die Tatsache, dass
wir nicht wissen, wer wir eigentlich sind. Wir glauben an eine persönliche,
einzigartige und unabhängige Identität. Wagen wir es aber, diese Identität
zu untersuchen, dann finden wir heraus, dass sie völlig abhängig ist von ei-
ner endlosen Reihe von Dingen: von unseren Namen, unserer Biographie,
von Partner, Familie, Heim, Beruf, Freunden, Kreditkarten ... Auf diese brü-
chigen und vergänglichen Stützen bauen wir unsere Sicherheit. Wenn uns all
das genommen würde, wüssten wir dann noch, wer wir wirklich sind?
Ohne diese vertrauten Requisiten sind wir nur noch wir selbst: eine Person,
die wir nicht kennen, ein verdächtiger Fremdling, mit dem wir zwar schon
die ganze Zeit zusammenleben, dem wir aber nie zu begegnen wagten. Ha-
ben wir nicht aus eben diesem Grund versucht, jeden Augenblick unserer
Zeit mit Lärm und Aktivität zu füllen – egal wie trivial oder öde –, um si-
cherzustellen, dass wir nur ja niemals mit diesem Fremden in der Stille al-
lein sein müssen?“
[Rinpoche 1996, S. 32].
Was betäube ich, wenn ich proaktiv mein Ich entwerfe? Ist es wirklich die Angst
vor dem Tod? Hat Sogyal Rinpoche, der Buddhist, Recht, wenn er die gesamte
Ich-Frage mit dem „Herzschlag des Todes“ in Verbindung bringt und in allen
vorgetragenen Entwürfen und Reflexionen den „Klang der Vergänglichkeit“
(ebd., S. 52) heraushört? Zumindest erweitert er die proaktive Perspektive um
den Aspekt des Todes, der am Ende aller Entwürfe steht. Was bedeutet es, das
Leben von seinem Ende her zu denken? Eine Frage, die für mich im Zentrum
Brief 3: Die Banalität unserer Ich-Zustände 35
aller proaktiven Ich-Entwürfe zu stehen scheint, ohne dass ich darauf bereits
eine wirklich befriedigende Antwort hätte. Es ist viel leichter, einfach „weiter so
wie bisher“ zu leben und der Illusion des linear grenzenlos fortschreitenden Le-
bens zu frönen. Doch wie gehen wir mit dem Wiederholungserleben um, dem
der „Zauber“ des Anfangs fehlt, von dem Hermann Hesse in seinem Gedicht
„Stufen“3 spricht? In der proaktiven Identität findet auch unser Verhältnis zum
eigenen Tod seinen Ausdruck. Man kann nur sein Leben entwerfen, wenn man
den Horizont sieht, um ein Bild von Simone de Beauvoir aufzugreifen. In ihrem
Roman „Alle Menschen sind sterblich“ wird das Leben eines Menschen be-
schrieben, der unsterblich ist und alle Stufen des Leben bereits mehrmals gegan-
gen ist, ja „verdammt“ ist, sie immer und immer wieder zu gehen und dabei
doch in der Zeitlosigkeit gefangen zu bleiben. Sein Leben ist trostlos und leer,
ihm fehlt die proaktive Identität, deren Substanz sich nur aus der Begrenzung
ergibt. Er fühlt sich leer, sinnlos und allein und beschreibt dies mit den Worten:
„(...) ich konnte nicht mit ihnen lächeln, nie waren Tränen in meinen Augen,
nie Feuer in meinem Herzen. Ein Mensch von nirgendwoher, ohne Vergan-
genheit, ohne Zukunft und ohne Gegenwart. Ich wollte nichts, ich war nie-
mand. Ich ging Schritt für Schritt dem Horizont zu, der immer vor mir ent-
wich; die Wassertropfen sprühten auf und sanken wieder hinab, ein
Augenblick vernichtete ewig den anderen, meine Hände blieben immer leer.
Ein Fremder war ich, ein Toter. Sie waren Menschen, sie lebten. Ich war
keiner der Ihren. Ich hatte nichts zu hoffen, ich ging zur Tür hinaus“
[de Beauvoir1984, S. 307].
Es war für mich ein faszinierender Gedanke zu erkennen, dass es genau diese
zeitliche Begrenzung ist, die uns zwar unser Leben nimmt, ihm aber auch Sinn,
Inhalt und Orientierung zu stiften vermag. Entgegen dem Slogan „Was uns nicht
umbringt, macht uns stark!“ ist es das, was uns umbringt, was uns stark werden
lässt. Wichtig ist deshalb auch die Auseinandersetzung mit unserem Alterungs-
prozess. Unsere physischen Optionen sind begrenzt, je älter wir werden. Und der
Tod ist ein Ereignis, welches plötzlich eintreten kann, wie uns der Blick in die
Todesanzeigen der Zeitung zeigt. Liest du auch die Geburtsdaten der Verstorbe-
nen, um zu sehen, welche Jahrgänge da so dahingehen? Und berührt es dich
auch, wenn darunter Jüngere als du selbst sich befinden? Mir geht es so. Ich
verfolge genau, wie sich die Jahrgänge der Verstorbenen meinem eigenen Jahr-
gang anzunähern beginnen. „Die Einschläge kommen immer näher“ – so drückte
es mein Vater aus.
3 Gemeint ist das Gedicht „Stufen“, in welchem es heißt: „Und jedem Anfang wohnt ein
Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben“ (zit. n. Bode 1984, S. 263).
36 Brief 3: Die Banalität unserer Ich-Zustände
Lektion 5:
Wir müssen lernen, unser Leben vom Ende her zu denken. Erst der Horizont
unserer Endlichkeit markiert uns wirklich den Rahmen, in welchem wir unser
Ich entwerfen können. Dieser Horizont stiftet unserem Leben zwar noch keinen
Sinn, aber er hilft uns zu erkennen, wie viel Zeit uns bleibt, um wirksam zu wer-
den – für uns selbst und andere.
Wie schwierig dies ist, und wie viel absichtsvolles „Umgehen mit sich selbst“ dafür
nötig ist, hat Klaus Lange in seinem Buch „Bevor du sterben willst, lebe!“, welches
ich gerade lese, genauer dargelegt. Dazu vielleicht beim nächsten Mal mehr.
„Glücklich“ lassen mich meine fast akademischen Klärungen nicht werden, ich
sehe lediglich die Gründe für mein Unglück mit anderen Augen und erkenne,
wie banal und selbstinszeniert die zugrunde liegenden Prozesse und Bemühun-
gen sind. Wir drehen uns im Kreise, doch das systematische Nachdenken – die
„Selbstarchäologie“, wie du sie nennst – hilft uns, unserem Denken selbst ins
Wort zu fallen und unserer bewährten Ich-Politik auf die Spur zu kommen. Doch
damit haben wir diese noch nicht geändert, obgleich ich zugeben muss, dass die
Tools, die wir bislang entwickelt haben, ein Trainingsgelände abstecken, auf
welchem wir mit anderen Ich-Zuständen experimentieren können. Doch „Glück“
ist es nicht, was dabei entsteht, eher Ernüchterung. Ist dies vielleicht die Grund-
lage für eine neue Ausbalanciertheit, von der aus wir auch zu einem neuen Le-
bensgefühl aufbrechen können – was meinst du?
Viele Grüße
Bernhard
Brief 4: „Ich übernehme die Verantwortung!“ 37
Karl reagiert in diesem Brief auf das Konzept der „Banalität der Ich-
Zustände“, indem er zwischen den Polen Verantwortung und Vergänglichkeit
(Viktor Frankl) einen Weg markiert, auf dem eine eigene Antwort auf das Le-
ben gefunden werden kann. Er stellt dem Ich-Konzept von Bernhard eine
„Ethik der Achtsamkeit“ gegenüber, wobei er an die Überlegungen von Peter
Senge u. a. zur „Presence“ anschließt. „Achtsamkeit“ wird dabei als eine
Schlüsselqualifikation entwickelt, mit deren Hilfe man aus bewährten Insze-
nierungen allmählich aussteigen kann. Karl setzt dabei auf die Methode der
Aufstellung der inneren Systemik. Mit dieser Methode können gedanklich die
Energiefelder genauer in das Bewusstsein gehoben werden, die unsere ei-
gene Lebensenergie lähmen und sich gestaltend in unser Leben einmischen.
Lieber Bernhard,
dein Brief hat mich zu einer Zeit erreicht, als ich mich gerade mit meinen Stu-
dierenden auf ein Wochenendseminar zu Viktor E. Frankl vorbereitete. Viele
deiner Gedanken, zu denen dich deine Lage führt, haben mir eine starke Paralle-
lität zu dem Bemühen dieses existenzialistischen Psychotherapeuten deutlich
gemacht. Du fragst nach dem Glück – ein Zustand, in den man sich nicht einfach
hinein-entscheiden kann. Und oft scheint es mir so, dass gerade die Selbstrefle-
xion uns die Türen zu den einfachen – fast möchte ich sagen: hormonell indu-
zierten – Glückszuständen verbaut. Wenn man begonnen hat, die „Banalität der
Ich-Zustände“ in sich und anderen zu begreifen, dann muss man sich die Sub-
stanz, aus welcher eine neue Balance erwachsen kann, richtiggehend erarbeiten.
Du stehst demnach erst am Anfang eines Prozesses, in welchem du alte wärmen-
de Gewänder abstreifst, ohne dass das neue Gewand, in das du dich dann kleiden
kannst, bereits gewaschen und gebügelt bereitliegt. Du bist vielmehr erst dabei,
das Schnittmuster zu designen, wenn ich dies einmal so ausdrücken darf. Dies ist
ein Zwischen-Zustand, der bisweilen nie endet. Ich kenne viele Menschen, die es
nur bis zum Ablegen der alten Gewänder gebracht haben und immer noch über-
legen, was ihnen „stehen“ würde.
Viktor Frankl spricht davon, dass es darum gehe, „aus eigener Verantwortung
heraus einen neuen geistigen Weg zum Leben zurück(zu)finde(n)“ (Frankl 1972,
S. 43). Warum folgen wir ihm nicht einfach ein Stück weit in seinen Überlegun-
gen, habe ich mich bei der Lektüre deines Briefes gefragt? Es geht nämlich auch
ihm um Wege aus der Banalität in eine neue Substanz, für die er den Begriff der
„Verantwortung“ wählt. Damit ist der Blick auf das Selbst gerichtet, man kann
sich nicht mehr hinter dem Lamento oder gar einer nicht enden wollenden Spu-
rensuche in der Vergangenheit, die letztlich auch ein Ausweichen vor der Ver-
antwortung sein kann, verbergen – dies die mutige und starke Ausgangsüberle-
gung von Frankl. Für ihn sind Verantwortung und Vergänglichkeit die beiden
existenziellen Pole, welche die Linie markieren, auf der sich der Mensch positi-
onieren muss. Er spricht – ganz existenzphilosophisch – von einem „tragischen
Heroismus“ der darin liegt, „(...) dass der Mensch vom Nichts herkommt und ins
Nichts eingeht und trotzdem Ja sagt zu seinem Dasein“ (ebd., S. 47). Er schreibt:
Dies wiederum nun bedeutet, dass das gelebte Leben real ist, das einzig Reale,
auf das wir bauen können. Indem wir so gelebt haben, wie wir gelebt haben,
haben wir eine Spur hinterlassen, von der wir uns nicht vollständig distanzieren
können, ohne uns vom Leben selbst zu distanzieren. Wenn du von der „Banalität
der Ich-Zustände“ sprichst und dabei an dein eigenes Leben denkst, dann höre
ich da eine Respektlosigkeit heraus, die das Gelebte nicht als dein Eigenes aner-
kennen möchte. In den Vorbereitungstreffen mit meinen Studenten haben wir mit
dem Konzept der Timeline (Tool D) gearbeitet, und es wurde uns deutlich, dass
es bei der Suche nach der Substanz des eigenen Lebens zunächst um die Würdi-
gung aller gelebten Ich-Zustände geht – ein schwerer Gedanke, wenn man sich
in deiner Lage befindet. Doch wie kann man die Vielfalt zukünftiger Optionen
wirklich verantwortlich auswählen und gestalten, wenn man dabei keiner Spur
zu folgen vermag und einem das bisher Gelebte kein Fundament abzugeben
vermag, auf welchem man dabei aufbauen kann.
Bezogen auf deine Lage würde dies bedeuten, dass du den Inszenierungen deiner
Wirklichkeit, die sich nach Frankl immer in der vergangenen Wirklichkeit aus-
drücken, auf die Spur kommst und dir dabei die Frage nach der Verantwortung
Brief 4: „Ich übernehme die Verantwortung!“ 39
stellst. Denn alles als Scheitern und Irrtum darzustellen, das Misslingen in der
Sprache ungerichteter Vorwürfe zu schildern oder – was noch verantwortungslo-
ser ist – sich nur abzuwenden und in schicksalshafter Verstricktheit die Gründe
für das misslungene Leben zu sehen, das alles sind Flüchte in die Unverantwort-
lichkeit, die auch keinen Neustart zulassen. Wir können niemals neu starten,
sondern bloß aus der Verantwortung für das gelebte Leben heraus Neues leben
und dieses Neue dadurch „in die Wirklichkeit des Vergangenseins (hineinretten)“
(ebd., S.104). – Meine Antwort auf deine Überlegungen zu der Banalität von
Ich-Zuständen, die du übrigens zu einem sehr interessanten Konzept verdichtest,
möchte ich deshalb aus einer Betrachtung des Themas Verantwortung ableiten.
„Verantwortung“ ist als Wort bereits voller interessanter Konnotationen. Wer
gibt da auf was eine Antwort? Und was bedeutet es, etwas in eine Antwort zu
verwandeln oder in seine Antwort einzubeziehen, kurz: es zu verantworten?
Wenn ich etwas verantworte, verwandele ich es in einen Bestandteil meiner
Antwort. „Sinn kann nicht gegeben, sondern muss gefunden werden“ (Frankl
2003, S. 28), schreibt Viktor Frankl, und er verweist damit auf eine „Gestalt-
wahrnehmung“, bei der es sich „um die Entdeckung einer Möglichkeit vor dem
Hintergrund der Wirklichkeit“ (ebd.) handelt. Verantwortung umfasst somit eine
innere sowie eine äußere Bewegung: Die entdeckte Möglichkeit entspringt der
Art, mit der ich auf meine Lebenssituationen blicke, wenn ich ihre Gestalt wahr-
nehme, gleichzeitig stehe ich aber auch in äußeren Bindungen und Erwartungs-
kontexten, zu denen ich mich positionieren muss. Die Antwort, welche meine
Verantwortung von mir verlangt, ist somit eine doppelte. Diese doppelte Verant-
wortung ist mit Entschiedenheit alleine nicht zu erreichen, es bedarf auch des
bewussten Durchgangs durch das Netzwerk der biographisch bewährten und
enttäuschten inneren Stimmen, die häufig nur Ausdruck früh übernommener
Einsichten, Lesarten oder Erwartungen anderer sind. Diese muss ich mir bewusst
machen und dabei auch erkennen, um wessen Stimmen es sich dabei handelt,
wer es ist, der meinem Leben eine bestimmte Richtung zu geben versuchte. Erst,
wenn ich dieses erkannt habe, kann ich auf meine eigene Antwort gegenüber
dem Leben lauschen und diese mühsam in mein Leben hineinlassen. In diesem
Sinne stellt Alice Miller fest: „Und es lohnt sich, die alten Schmerzen zu fühlen,
um frei zu werden – für das Leben“ (Miller 2003, S. 33). Dieser Vorgang erst
führt letztlich zu einer eigenen Antwort auf das Leben. Was, lieber Bernhard, ist
deine Antwort auf das Leben?
Und erst mit dieser eigenen Antwort kann ich auch der äußeren Wirklichkeit klar
antworten, und es ist genau diese Klarheit der Aussage, aus welcher sich die
eigene Substanz sowie die Glaubwürdigkeit gegenüber anderen ergeben. Man
handelt dann nicht mehr aufgrund einer inneren Zwangsläufigkeit, sondern auf
der Basis bewusster Entscheidungen, und man ist dann auch in der Lage, wirk-
40 Brief 4: „Ich übernehme die Verantwortung!“
lich sachliche Entscheidungen für sich und andere zu treffen, welche ausschließ-
lich dem Gesichtspunkt der Sicherung neuen Lebens und neuer Lebendigkeit
folgen. Dies ist nach meiner Erfahrung eine zutiefst systemische Haltung, deren
ethische Maßstäbe man nur dann sichtbar zu leben imstande ist, wenn man sich
selbst im Verhältnis zu den übergeordneten Ganzheiten, in welche dieses Selbst
eingewoben ist, zu sehen und zu spüren vermag. Peter Senge u. a. sprechen in
diesem Zusammenhang von „Presence“ – was sich im Deutschen wohl am bes-
ten mit „Achtsamkeit“ übersetzen ließe – und markieren damit die zentrale inne-
re Haltung, um die es in diesem Zusammenhang geht. Sie schreiben:
„We´ve come to believe that the core capacity needed to access the field of
the future is presence. We first thought of presence as being fully conscious
and aware in the present moment. Then we began to appreciate presence as
deep listening, of being open beyond one´s preconceptions and historical
ways of making sense. We came to see the importance of letting go old iden-
tities and the need to control and (…) making choices to serve the evolution
of life. Ultimately, we came to see all these aspects of presence as leading to
state of ‚letting come’, of consciously participating in a larger field for
change. When this happens, the field shifts, and the forces shaping a situa-
tion can move from re-creating the past to manifesting or realizing an
emerging future”
[Senge u. a. 2004, S. 14 f.].
In diesen Zeilen ist nach meinem Eindruck alles enthalten, was auch dich zu
einer wirklich verantwortlichen Lebenshaltung zu führen vermag. Greift man
diese Überlegungen auf, so geht es bei der Verantwortung nicht nur um eine
Antwort auf das vergangene Leben oder um eine Auseinandersetzung mit den
bisherigen Identitäten, es geht vielmehr auch Senge u. a. vor allem um eine Ver-
antwortung gegenüber dem Entstehen neuen Lebens. Nicht die Wiederholung
der Vergangenheit, sondern das Aufscheinen und die Stärkung zukünftiger Mög-
lichkeiten für „das Leben“, welches stets mehr umfasst als das eigene Leben,
treten in den Vordergrund. In einer solchen „Presence“ findet somit eine höhere
Stufe der Verantwortung ihren Ausdruck, welche „die Entdeckung einer Mög-
lichkeit vor dem Hintergrund der Wirklichkeit“ (Frankl 2003, S. 28) gewisser-
maßen zu einem moralischen Prinzip erhebt.
Anknüpfend an Senge u. a. erscheinen mir folgende Aspekte einer Ethik der
Achtsamkeit wesentlich, wobei ich dir gerne zeigen will, mit welchen Konse-
quenzen oder Aufforderungen diese für deine Selbstklärung – für deinen Weg in
die Verantwortung – verbunden sein könnten:
Brief 4: „Ich übernehme die Verantwortung!“ 41
„Die Angst muss man fühlen, um sie aufzulösen, aber man darf sie nicht
ausleben, indem man anderen Behandlungen zumutet, die ihnen schaden“
[Miller 2003, S. 48].
Dies halte ich für eine ganz wesentliche Feststellung, da sie zeigt, dass mit dem
Aufdecken der Wiederholungs- und Verlängerungstendenzen in unserer Seele
noch nicht viel gewonnen ist, dem Aufdecken muss das Auflösen folgen, da wir
uns ansonsten der Illusion hingeben, mit dem Wissen allein sei bereits eine Ver-
änderung erreicht bzw. erreichbar, demgegenüber haben wir mit dem Aufdecken
erst die Tür zu einem Raum geöffnet, in den hineinzuschreiten uns noch einige
Überwindung kosten wird. Geht es dir nicht auch so, dass du eine Reihe von
Menschen kennst, mit denen man sehr tiefe Gespräche über ihre Seelenlagen
führen kann, die aber nicht in der Lage sind, diese wirklich aufzulösen, indem
sie ihren alten Bekannten einen neuen Platz in der Inszenierung ihrer Zukunft
zuweisen? Bei diesen Menschen steht ihr reflexives Wissen gewissermaßen im
Dienste ihrer Abwehr, sie bleiben im Stadium des Aufdeckens hängen und wissen
nicht, wie sie wirklich zu ihrer eigentlichen Substanz weiterschreiten können.
Brief 4: „Ich übernehme die Verantwortung!“ 43
Senge u. a. gehen für mein Empfinden etwas rasch von den alten Identitäten zu
einem „fresh thinking“ (Senge u. a. 2005, S. 35 ff.) über und sehen nicht, wie
klebrig die alten Gewohnheiten des Denkens, Fühlens und Handelns in Wahrheit
sind. Diese müssen aufgelöst werden, man kann sich nicht einfach von ihnen
abwenden. Eine wichtige weitere Lektion auf dem Weg zu einer emotionalen
Kompetenz lautet m. E. deshalb:
Lektion 6:
Die Zukunft kann sich uns nicht zeigen, solange wir diese durch die bewährten
Muster unseres bisherigen Lebens scannen. Die diesen Mustern zugrunde lie-
genden Denk- und Gefühl-Programme zu kennen, reicht jedoch nicht, sie müs-
sen vielmehr aufgelöst werden: Dem Aufdecken muss das Auflösen folgen, um
wirklich zu einer Achtsamkeit gegenüber den aufscheinenden Möglichkeiten der
Zukunft zu gelangen.
Doch wie gelingt die Auflösung der altvertrauten Gewissheiten? Um diese Frage
zu klären, möchte ich dir ein weiteres Tool vorschlagen (vgl. Tool E): die Auf-
stellung der inneren Systemik. Mit dieser Methode kannst du gedanklich die
Energiefelder sortieren, welche die augenblickliche Lähmung deiner Lebens-
energie ausmachen. Hierzu ist es hilfreich, schrittweise vorzugehen, indem du
auf einem DIN-A4-Blatt die Personen und Kontexte so in ein räumliches Ver-
hältnis zueinander bringst, dass deine inneren Dialoge, dein Sich-Beschäftigen
mit den Akteuren deiner Lebenswelt deutlich zum Ausdruck kommen. Wenn ich
die Schilderungen in Deinem ersten Brief lese, dann müsstest du deine Kollegen,
insbesondere den rebellischen Projektleiter, in dieser Darstellung ebenso unter-
bringen wie deine (Noch-)Frau Lilli und deine Kinder, die dich verlassen haben.
du solltest aber auch die anderen Energiefelder, wie z. B. deine Erschöpfung und
den Tod, so „aufstellen“, dass deutlich wird, welche Erwartungen, Wertschät-
zungen, Bedrohungen oder Botschaften von diesen – dein inneres Geschehen
bestimmenden – Größen auf dich einwirken.
Die Aufstellung der inneren Systemik ist eine aufdeckende Methode. Mit ihrer
Hilfe kannst du dir die Landkarte deiner inneren Gebunden- und Getriebenheiten
vergegenwärtigen. In den letzten Jahren habe ich vielfach mit dieser Methode
gearbeitet und dabei die Erfahrung gewonnen, dass zahlreiche Menschen mit
ihrer Hilfe erstmals beginnen konnten, die Ganzheit ihres Lebens von einer re-
flektierenden Warte aus in den Blick zu nehmen. Dabei sind ihnen Zusammen-
hänge deutlich geworden, die ihnen bis dahin verborgen gewesen sind, und sie
konnten viele der Schuldvorwürfe, mit denen sie sich zuvor ihre Lebenssituatio-
nen geordnet hatten, verstummen lassen, da sie erkannten, welchen Akteuren sie
44 Brief 4: „Ich übernehme die Verantwortung!“
dabei welche Rollen bei der Reinszenierung zugestanden. Ich erinnere mich
noch gut an einen Manager, der nach der Aufstellungsarbeit zu mir sagte: „Es
gibt jetzt ganz viele Menschen, die ich nochmals aufsuchen muss, um mich bei
ihnen zu entschuldigen, da ich erkannt habe, welche Bedeutungen ich ihrem
Handeln zugeschrieben habe. Es erschüttert mich zu erkennen, wie oft ich bis-
lang die Kontexte verwechselt habe!“
Man kann die aufgedeckten Muster, die unser tägliches Denken, Fühlen und
Handeln bestimmen, auflösen. Dies ist zwar schwer und erfordert eine große
Konzentration und Willensstärke, doch beginnt alles mit einer neuen Form des
Zuhörens. Peter Senge u. a. sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass wir
die Beurteilungssprache („Voice of Judgment“) ablegen bzw. „suspendieren“
müssen, da wir mit dieser das Neue, welches sich uns mitteilen möchte, übertö-
nen. Dabei ist wichtig zu erkennen, dass wir in der Beurteilungssprache nicht
nur reden, sondern auch hören. Sie ist die Sprache unserer beständigen inneren
Dialoge. Sie schreiben:
Wenn wir nicht üben und lernen, anders wahrzunehmen, dann nützen uns auch
die aufgedeckten Gewissheiten nichts. Denn diese sind nicht nur in den erinner-
ten und verstandenen Kontexten unseres Lebens existent, sie prägen auch und
gerade unsere Art, diese Erinnerungen auszudrücken; unsere gesamte Sprechge-
wohnheit ist sozusagen durch unsere Ängste kontaminiert. So kenne ich Men-
schen, die so wortreich und energisch ihre Traumatisierungen und die daraus
ihres Erachtens resultierenden Empfindlichkeiten und Überwertigkeiten zu er-
klären vermögen, dass sie gar nicht merken, dass genau diese Art der sprachge-
waltigen Darstellung selbst ihnen zu einem beredten Ausdruck eben dieser
Ängste gerät. Manchmal habe ich sogar den Eindruck gewonnen, dass manche
Karrieren sich geradezu für Menschen anbieten, die es in dieser Form der intel-
lektualisierenden Abwehr zu einer wahren Meisterschaft gebracht haben.
Brief 4: „Ich übernehme die Verantwortung!“ 45
Es ist auch nicht ganz ungefährlich, sich lesend und schreibend mit den Grund-
lagen des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns reflektierend auseinanderzu-
setzen. Kenntnisse über die Funktionsmechanismen unserer Seele sind wie Krü-
cken, die man nach einer Beinverletzung benötigt, um wieder laufen zu lernen.
Man muss sie aber irgendwann ablegen und auf die neu gewonnene Routine
vertrauen, will man nicht beständig stolpern oder sogar stürzen. Mit Krücken
kann man das Laufen lernen, doch läuft es sich mit ihnen schlecht. Dies schreibe
ich Dir, da du nach meiner Beobachtung noch sehr stark in der Phase des Nach-
denkens, Sich-Informierens und Formulieren steckst, wobei du es nicht belassen
darfst, wenn du wirklich zu einer neuen Kraft und Lebensfreude aufbrechen
willst. „Fresh Thinking“ und „fresh Living“ lernt man nur durch andere Erfah-
rungen, denen man sich aussetzt. Man muss eine Probe wagen, sonst kehrt man
immer wieder zum Vertrauten zurück. Dies erinnert mich an ein persisches Mär-
chen mit dem Titel „Vom Mut, eine Probe zu wagen“, das ich dir in diesem Zu-
sammenhang erzählen möchte:
„Ein König stellte für einen wichtigen Posten den Hofstaat auf die Probe.
Kräftige und weise Männer umstanden ihn in großer Menge. „Ihr weisen
Männer“, sprach der König, „ich habe ein Problem und möchte sehen, wer
von euch in der Lage ist, dieses Problem zu lösen.“ Er führte die Anwesen-
den zu einem riesengroßen Türschloss, so groß, wie es keiner je gesehen
hatte. Der König erklärte: „Hier seht ihr das größte und schwerste Schloss,
dass es in meinem Reich je gab. Wer von euch ist in der Lage, das Schloss
zu öffnen?“
Ein Teil der Höflinge schüttelte nur verneinend den Kopf. Einige, die zu den
Weisen zählten, schauten sich das Schloss näher an, gaben aber zu, sie
könnten es nicht schaffen. Als die Weisen dies gesagt hatten, war sich auch
der Rest des Hofstaates einig, dieses Problem sei zu schwer, als dass sie es
lösen könnten. Nur ein Weiser ging an das Schloss heran. Er untersuchte es
mit Blicken und Fingern, versuchte es auf verschiedenste Art zu bewegen
und zog schließlich mit einem Ruck daran. Und siehe, das Schloss öffnete
sich. Das Schloss war nur angelehnt gewesen, nicht ganz zugeschnappt, und
es bedurfte nichts weiter als des Mutes und der Bereitschaft, dies zu begrei-
fen und beherzt zu handeln. Der König sprach: >du wirst die Stelle am Hof
erhalten, denn du verlässt dich nicht nur auf das, was du siehst oder hörst,
sondern setzt selbst deine eigenen Kräfte ein und wagst eine Probe“
[Das OE-Forum 2001, S. 46].
46 Brief 4: „Ich übernehme die Verantwortung!“
„Fresh Thinking“ erfordert den Einsatz der eigenen Kräfte. Wenn Peter Senge
u. a. schreiben, dass der Weg zu einem „fresh Thinking“ der Geduld und Ent-
schlossenheit bedarf, so möchte ich dies aus meiner Erfahrung noch ergänzen:
Es bedarf auch des Mutes und der schweigenden Betrachtung ohne Zuhörer.
Selbstveränderung ist ein stilles Vorhaben. Die Entdeckung des Neuen bzw. der
spezifischen Potenziale einer neuen Lebenssituation setzt eine ganz behutsame
Seelenbewegung voraus, wobei ständig die Gefahr lauert, dass wir uns mit alten
Erfahrungen das Neue erklären und deshalb die Situationen beständig verwech-
seln. Neben einer gründlichen Analyse der Potenziale einer neuen Lage (Tool F)
kann auch die Nutzung von Kreativitätstechniken hilfreich sein. Bekannt ist in
diesem Zusammenhang z. B. die Szenariotechnik, Strategiegruppen, Fantasierei-
sen u. Ä. (vgl. Arnold/Njo 2007). Mit Hilfe solcher Methoden kann man errei-
chen, dass die Aspekte einer sich verändernden Lage stärker in den Blick gera-
ten, die wir in unserer Sorge oder unserem Leid nicht erkennen. So wäre es z. B.
denkbar, dass die Lebensperspektiven, die sich dir mehr und mehr verschließen,
auch und gerade den Blick auf neue Wege deiner möglichen Selbstentfaltung zu
lenken vermögen. Da du diese aber nicht zu erkennen vermagst, solange du auf
das Verlorene durch die Brille des Verlustes blickst, kann es sein, dass du dir
gezielt Möglichkeiten schaffen musst, auf die Eindrücke, Brainstormings und
Schlussfolgerungen anderer Menschen zu lauschen. Dadurch wird dir eine ande-
re Art des Lauschens zugänglich, die weniger durch Festhalten als durch Loslas-
sen und Geschehenlassen gekennzeichnet ist. Es kommt darauf an, diese Form
des suchenden Lauschens zu trainieren (Tool G). Wenn du in ihr zur Meister-
schaft gelangst, dann verfügst du über die besten Voraussetzungen, um dein Le-
ben neu zu erfinden.
Lektion 7:
Das Auflösen alter Muster eröffnet den Weg zu einem frischen Denken („fresh
Thinking“). Um diesen Weg wirklich erfolgreich gehen zu können, bedarf es des
Mutes und der schweigenden Betrachtung ohne Zuhörer. Lautes Denken und
Analysieren lassen uns in der Phase des Aufdeckens stecken bleiben, in die
Phase der Auflösung gelangt man einzig durch das gezielte Suchen neuer Er-
fahrungen und Perspektiven.
„Wie kommt das Neue in die Welt?“ Diese Frage beschäftigt mich seit vielen
Jahren, wie du weißt (vgl. Kuhn 1978). Meine Erfahrung zu dieser Frage ist die,
dass der eigentliche Grund für das Scheitern zahlreicher Innovationen darin
Brief 4: „Ich übernehme die Verantwortung!“ 47
liegt, dass das Neue stets auf das Alte trifft, und dem Alten eine gewisse Zähle-
bigkeit eigen ist. In dem Vorwort des Buches von von Pierer und von Oettinger
heißt es:
„Das Neue ist möglich, es verlangt viel Kraft, denn es führt uns in ungeahn-
te Spannungen mit dem Bestehenden. Es geht an die Substanz, denn im Al-
ten steckt unsere Identifikation. Es hat mit persönlichem Engagement für
das Fremde zu tun, mit Geschwindigkeit und Konsequenz. Es verlangt einen
freien Geist in freier Umgebung, aber es braucht auch seine Zeit“
[von Pierer/von Oettinger1997].
Alle diese Aspekte sind auch für die Veränderung deiner Lage wichtig: du benö-
tigst Kraft, um die „Spannungen mit dem Bestehenden“, in die du gerätst, aus-
zuhalten und zu meistern. Und Veränderung bedeutet auch für Dich, dass du
deine Identifikation mit dem Bisherigen erkennen und überwinden musst. du
benötigst eine neue Identifikation bzw. einen neuen Referenzpunkt. du musst
dich für das Fremde, welches die neuen Lebensperspektiven in sich bergen, en-
gagieren, wofür du „Geschwindigkeit“, „Konsequenz“, aber auch „Zeit“ benö-
tigst. Und schließlich benötigst du eine „helfende Hand“ (ebd.), die dir hilft, das
Neue in dein Leben zu lassen. Mit dieser Hand ist keine zeigende Geste verbun-
den, sie legt sich vielmehr auf deine Schulter und stärkt dich beim Abschied-
nehmen von dem, was gewesen ist. Mit meinen Überlegungen möchte ich dir
eine solche Hand reichen, und ich freue mich, wenn du sie ergreifst. Bei Virginia
Satir las ich kürzlich:
Die zentrale Frage, die du dir dabei stellen musst, ist die nach den Perspektiven
in Deinem Leben, die dir neue Zugänge zum Lebendigen eröffnen können. Diese
Perspektiven zeigen sich dir von ganz alleine, wenn du achtsam und ohne Ge-
triebenheit voranschreitest. Zu diesen neuen Möglichkeiten musst du Kontakt
finden und Vertrauen gewinnen. Dabei geht es darum, eine Art Hoheit über die
Veränderungen zu gewinnen, die sich in Deinem Leben ereignen, und diese nicht
48 Brief 4: „Ich übernehme die Verantwortung!“
einfach geschehen zu lassen. Erst wenn du eine Vorstellung von dem hast, was
dein Leben sein könnte, kannst du zugreifend und gestaltend reagieren. Ohne
eine solche Vorstellung bist du in der Gefahr, in jeder Veränderung, die sich an-
bietet, einen wirklichen Weg zu sehen, und es kann zu Verwechslungen kommen.
Bei den Bemühungen, das Neue in das Leben zu lassen, ist es wichtig, das „su-
chende Lauschen“ (Tool G) zu üben. Mit ihm gibst du der Wirklichkeit eine
Chance, auf dich zu wirken. Wer suchend zu lauschen vermag, weiß um seine
bevorzugten Verhörtendenzen – ein Aspekt, auf den ich dich bereits mit dem
Hinweis auf die „Filter der Wirklichkeitsinszenierung“ (Tool A) aufmerksam
gemacht habe. Zugleich gründet die Fähigkeit des suchenden Lauschens auf der
grundlegenden Einsicht aus den Kommunikationstheorien, dass das Sprechen
ganz unterschiedlichen Funktionen dient. Wer redet, hört in diesem Moment
nicht nur nicht zu, er definiert vielmehr zugleich die Beziehung zu einem Ge-
genüber und signalisiert, wer er ist und woran er festhält. Ist es deshalb verwun-
derlich, dass die Menschen eigentlich aneinander vorbeireden, da sie zumeist
mehr damit beschäftigt sind, ihre eigene Geschichte sich selbst und anderen zu
erzählen?
Im Schweizerdeutschen sagt man zum Zuhören „Zuelose“ – eine bemerkenswer-
te Gleichsetzung (wobei ich nicht ganz sicher bin, ob beide Ausdrücke etymolo-
gisch wirklich zusammenhängen). Wer wirklich zuhört, der lässt zu, dass der
andere sich darstellt und folgt – ohne bereits an einer „Antwort“ zu basteln –
dem, was ihm da als neue Darstellung begegnet, ohne diese Darstellung bereits
vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen und Sichtweise zu kommentieren.
Das „suchende Lauschen“ geht aber noch weiter: Es entscheidet sich quasi für
eine andere Rolle im Kommunikationsgeschehen, nämlich eine eher aktiv zuhö-
rende, wie Thomas Gordon dies nennt. Für ihn ist die „Achtung und Akzeptanz
unterschiedlicher Einstellungen und Wertvorstellungen“ (Gordon 1998, S. 9) die
wesentliche Voraussetzung jeglicher Kommunikation, und er plädiert für „das
einfühlsame, nicht-bewertende aktive Zuhören“ (ebd., S. 118), auch mit dem
Argument, dass mit dieser letztlich auch die Möglichkeit geschaffen wird, die
eigenen Einstellungen, Überzeugungen und Gewohnheiten zu überdenken und
zu verändern. Für Gordon spielt das aktive Zuhören eine wesentliche Rolle bei
all den „Problemen“, bei denen die Lösung ausschließlich von dem Erzählenden
ausgehen kann; das „aktive Zuhören“ ist deshalb eine ermutigende, nachfragen-
de und ressourcenstärkende Form der Kommunikation, durch welche das Ge-
genüber ermuntert wird, sich selbst einer Lösung näher zu bringen. Dieses ist
beim „suchenden Lauschen“ anders. Hier geht es nicht darum, ein Gegenüber
Brief 4: „Ich übernehme die Verantwortung!“ 49
mich war es heute wichtig, Ihre Meinungen und Überlegungen genauestens ken-
nen zu lernen, ich werde mir alles in Ruhe überlegen und in unserer nächsten
Besprechung mit Ihnen über Konsequenzen nachdenken!“
Stell dir einmal vor, was geschieht, wenn du mit deiner Noch-Frau ähnlich re-
dest? Zugegeben, dies würde sie erstaunen und wäre vielleicht auch etwas zu
förmlich. Aber vielleicht würde eine solch verhaltene Reaktion – und genau
darauf kommt es an – sie auch überraschen, da sie bemerkt, dass sie ihre Sicht
der Wirklichkeit unverstellt artikulieren kann und du zulassend-interessiert
lauschst und vielleicht an der einen oder anderen Stelle auch interessiert nach-
fragst? In beiden Fällen (sowohl als Vorgesetzter als auch als Partner) ist die
Antwortverschiebung der erste Schritt zu einer veränderten Kommunikation, die
dem Gegenüber die Chance eröffnet, sich losgelöst von den in dir bereits stets
vorbereiteten Antworttendenzen zu artikulieren.
Das suchende Lauschen ist eine Fähigkeit, die wir aber auch besonders gut in
neuen Kontexten erproben und üben können. Neues kann auch in die eigene
Welt treten, wenn wir uns neuen, bisher unbekannten oder gar gemiedenen Kon-
texten zuwenden und dabei ebenfalls von dem Grundsatz der Antwortverschie-
bung ausgehen. Besonders deutlich wurde mir dies immer in internationalen
Begegnungen bei meinen Reisen in andere Regionen der Welt. Wenn wir das
interessierte Gespräch suchen, um wirklich in Erfahrung zu bringen, wie Men-
schen denken, fühlen und handeln, die in uns fremden kulturellen und gesell-
schaftlichen Kontexten leben, dann kommen wir nicht bloß ihrer Welt näher,
sondern erhalten auch Angebote, um das uns Vertraute anders zu erleben oder
gar bislang Ungelebtes in uns zu entdecken. Wie du weißt, hat insbesondere die
Kulturanthropologie uns hier zahlreiche Einblicke eröffnet, die sich uns ohne ein
suchendes Lauschen niemals gezeigt hätten. Doch man muss nicht in ferne Län-
der reisen, es gibt auch vor unserer Haustür Menschen, die uns ungewohnte Di-
mensionen des Menschseins zu zeigen vermögen, wenn wir ihnen nur suchend
zu lauschen vermögen. Einige Unternehmen, die ich kenne, haben diesen Aspekt
bereits erkannt und senden ihre Führungskräfte in Auszeiten nicht nur nach Ma-
dagaskar, sondern bisweilen auch in Obdachlosenasyle, in Behindertenwerkstät-
ten oder Altenheime, um ihren Kopf „zu öffnen“ und die Dominanz ihrer vorbe-
reiteten Antworttendenzen zu überwinden. Ich denke, dass auch dies ein Weg für
dich sein könnte, dir in einer Auszeit einmal andere Lebenskontexte und Lebens-
formen daraufhin suchend anzuschauen, welche neuen Antworten diese dir für
dein Leben zu stiften vermögen – was hältst du davon?
Sicherlich, in beiden Fällen (Kommunikation in vertrauten oder ungewohnten
Kontexten) müssen wir Antworten geben. Wichtig ist aber, dass wir lernen, diese
nicht bereits mitzubringen oder zumindest unsere Antworttendenzen zu kennen.
Dies müssen wir üben. Nach meiner Erfahrung kann man dies nur lernen, indem
Brief 4: „Ich übernehme die Verantwortung!“ 51
man sich vornimmt, zunächst keine Antwort zu geben, sondern sich ganz dem
Gehörten zu widmen. Deshalb empfehle ich auch, das Gehörte für sich zu do-
kumentieren, d. h. aufzuschreiben, wer da was wie sieht und beschreibt. In die-
sem Zusammenhang habe ich gute Erfahrungen mit der Mindmapping-Technik
(Tool H) gemacht, mit welcher du einzelne Aspekte („Sichtweisen“), Argumen-
te, Überlegungen zu einer Situation gut visualisieren kannst. Dies ist besonders
hilfreich, da Du, um Situationen wirklich reflektieren zu können, dir diese ge-
wissermaßen „veräußerlichen“ musst, d. h., du musst Eindrücke, innere Mono-
loge nach außen bringen, um sie wirklich – losgelöst von deinen eigenen zu-
stimmenden oder ablehnenden Reaktionen – ruhig betrachten zu können. Nur so
bist du wirklich in der Lage, die Verantwortung für dein Kommunikationsverhal-
ten zu übernehmen.
Diese Überlegungen verdichten sich für mich zu meiner für heute letzten Lekti-
on, die wie folgt lautet:
Lektion 8:
Das Neue kann nur ins Leben treten, wenn wir lernen, suchend zu lauschen.
Ein erster Schritt in diese Richtung ist der Grundsatz der Antwortverschiebung.
Es kommt darauf an, das eigene Verhaftetsein in vorbereiteten Antworttenden-
zen reflexiv zu kennen und sich deshalb Zeit für ein überlegtes Reagieren zu
verschaffen. Mit dieser Haltung können wir neu in vertraute sowie in fremde
Kommunikationskontexte eintauchen und uns zunächst darauf konzentrieren,
die in ihnen wirksamen Wirklichkeitssichten leidenschaftslos wahrzunehmen,
ohne diese zugleich vor dem Hintergrund unserer eigenen Sichtweisen zu be-
werten. Erst dann sind wir in der Lage, systemangemessen zu reagieren.
Soviel für heute. Ich hoffe, dass es diesmal nicht zu viele Vorschläge waren.
Schreibe mir doch mal, wie du mit den neuen Lektionen zurechtkommst.
Gruß
dein Karl
Brief 5: „Ich experimentiere mit meinen Beobachtungsgewohnheiten!“ 53
Lieber Karl,
entschuldige bitte, dass ich jetzt längere Zeit nicht geantwortet habe. Dies liegt
einerseits daran, dass mein Leben in den letzten Monaten wirklich turbulent
geworden ist – beruflich, wie privat –, andererseits hast du mir mit deinem letz-
ten Brief ja schon einige Arbeit aufgegeben, wenn ich nur an die in deinen Tools
angebahnten Aufgaben zur Selbstbeobachtung denke. Nach anfänglichem Wi-
derstreben habe ich begonnen, deinen Vorschlägen zu folgen, und auch versucht
mit deinen „Werkzeugen“ C bis H zu experimentieren, um achtsamer bzw. prä-
senter zu werden. Dabei habe ich die Erfahrung gesammelt, dass es gar nicht so
leicht ist, zu sich selbst in eine reflexive Distanz zu treten – und vor allem in
dieser zu verharren und sich leidenschaftsloser zu beobachten. Immer wieder
kippe ich in die Entschiedenheit meiner inneren „Voice of Jugdement“ (Senge
u. a. 2005), mit der ich, wenn ich es in Ruhe betrachte, doch nichts anderes tue als
andere auch: Ich rationalisiere meine zufällige Wahrnehmung, meine Beobach-
tungen und Gefühle.
Bei Daniel Goleman las ich unlängst den Ausspruch des Sciencefiction-Autors
Robert Heinlein, der feststellte: „Der Mensch ist kein rationales Tier, sondern ein
rationalisierendes“ (Goleman 2006, S. 30). Dies ist es, was ich auch erkenne und
spüre, und es ist bisweilen lächerlich banal, mit welchen Inszenierungen wir uns
vermeintlich um sachliche Lösungen streiten. Oft zeigt uns eine nüchterne Ana-
lyse des „Cui bono?“ ganz klar, dass es unsere – bisweilen all zu durchschauba-
ren – Interessenlagen sind, denen wir folgen. So geht es in meinem Konfliktfall
mit dem Projektleiter, der immer wieder in Frage stellt, was ich entscheide, und
wo er nur kann gegen mich intrigiert, nicht um eine irgendwie sachlich lösbare
Konstellation, sondern schlicht und einfach um den Sachverhalt, dass dieser
Kollege meine Position haben will, sonst nichts. Und erst seit ich das in dieser
Weise erkannt habe, bin ich auch in der Lage, wirksam zu signalisieren, dass ich
das verhindern werde. Es sind – wie in diesem Fall – oft ganz einfache systemi-
sche Kräfte (hier: Kampf um die Macht), die da wirken, während alle meinen, es
ginge um strittige Fragen einer sachbezogenen Kooperation.
Die Übungen, die du mir vorgeschlagen hast, haben in mir ganz spezifische Ge-
fühle ausgelöst, und ich bin insgesamt gesehen nicht nur nachdenklicher, son-
dern auch trauriger geworden. Selbstbeobachtung macht einsam. Bei mir stellte
sich zudem das Gefühl ein, dass ich mich ja noch nicht einmal auf mich selbst
verlassen kann, sondern mir erst selbst „auf die Schliche kommen“ muss. Wie
unkompliziert ist es demgegenüber doch gewesen, einfach darauflos zu leben
und sich den anderen eben so zuzumuten, wie man ist. Es ist diese Unmittelbar-
keit des lebendigen Ausdrucks, die mir irgendwie abhandenzukommen scheint,
je mehr ich mich an deinen Reflexionsübungen beteilige. Und es ist die Frage
nach der eigentlichen Substanz meines Denkens, Fühlens und Handelns, die
übrig bleibt, wenn ich die Muster aufgedeckt und aufgelöst habe. Bislang hatte
ich – um dir ein Beispiel meines Erkenntnisprozesses zu geben – die Lebensge-
schichte, die ich mir und anderen erzählte, in die Standardbeleuchtung getaucht,
dass ich stets aufrecht und fair gewesen bin und mir selbst eher Unrecht begeg-
net ist, als dass ich selbst welches begangen hätte. Was bleibt mir, wenn ich die-
ses Muster durchschaue und z. B. erkenne, dass ich letztlich immer auch aus
„opportunistischen“ Motiven heraus gehandelt habe, da ich – mir selbst gegen-
über – stets als der moralische Sieger auftreten konnte – nicht erkennend, welche
Muster ich dadurch mit Leben füllte, dass ich meine Biographie bevorzugt in
dieses Licht getaucht sah. Kürzlich las ich in einem Roman von Mitch Albom:
„Eltern lassen ihre Kinder selten los, daher lassen die Kinder die Eltern los.
Sie ziehen um, ziehen weg. Prägende Momente wie die Anerkennung der
Mutter oder das Nicken des Vaters werden überdeckt von selbst erbrachten
Leistungen. Erst viel später, wenn ihre Haut faltig und ihr Herz schwach
wird, begreifen die Kinder. Ihre eigenen Geschichten und Leistungen ruhen
auf den Geschichten ihrer Mütter und Väter, wie Steine in den Fluten des
Lebens“
[Albom 2005, S. 142 f.].
Brief 5: „Ich experimentiere mit meinen Beobachtungsgewohnheiten!“ 55
Welcher Substanz komme ich auf die Spur, wenn ich mich der Frage zuwende,
auf welchen Steinen ich mit meinen Mustern bzw. meinen gewohnten Formen
der Wirklichkeitskonstruktion stehe? Und was bringt es mir, dies zu wissen und
zu durchschauen? Sicherlich, ich vermag zu erkennen, dass ich meine Gegen-
über immer auch dazu dränge, Rollen in Inszenierungen zu spielen, mit denen
ich alten eigenen Anliegen und nicht in erster Linie aktuellen Anforderungen
Rechnung trage. Doch kann ich mich von diesen „Steinen in den Fluten des Le-
bens“ wirklich distanzieren, ohne dass ich dabei eine Energie verliere, die mein
Denken, Fühlen und Handeln mit der Entschlossenheit ausstattet, die ihm eigen
ist? Kann man energisch, d. h. voller Energie, handeln, ohne auf solchen Steinen
zu stehen?
Du kannst dir vorstellen, dass in diesem Zusammenhang besonders die Schreib-
tischvariante zur Aufstellung der inneren Systemik für mich von einigem Inte-
resse gewesen ist. Sie half mit, die Kontexte, welche derzeit an mir zerren, ge-
nauer zu sehen und zu verstehen. Es war schon interessant zu sehen, wie ich die
Mitarbeiter meiner Abteilung, meine Familie oder auch einzelne Freunde um
mich herum gruppierte und welche „Slogans“ ich ihnen spontan in den Mund
legte. Dabei wurde mir deutlich, dass allen diesen „Slogans“ ein irgendwie ge-
meinsames Motiv zugrunde lag, welches man so umschreiben könnte, dass ich
mich eigentlich von keinem der Interaktionskontexte wirklich „angemessen“
gesehen und in meinen Anstrengungen „gewürdigt“ sehe. So bin ich irgendwie
von meinen Mitarbeitern ebenso „enttäuscht“ wie von meinen Chefs, und von
diesen ebenso wie von meiner Frau. Dieses ist ein verbindendes Muster. Was
drückt sich dadurch aus? Und zu welchen Verwechselungen führt mich diese
überwertig empfundene Resonanzlosigkeit, die ich zu konstruieren scheine? Hast
du da eine Idee? Und kennst du auch einen Weg, wie ich aus etwaigen Selffulfilling-
Prophecy-Schleifen wie der des „Traurig bin ich sowieso!“4 aussteigen könnte?
Weißt du, was mich bei diesen ganzen Bemühungen motiviert? Es ist deine
sechste Lektion, die mir deutlich vor Augen geführt hat, dass es die Auflösung
der bisherigen Muster unserer Wirklichkeitsinszenierungen (und der mit diesen
verwobenen DGPs) ist, welche dafür ausschlaggebend ist, ob das Neue in mein
Leben treten kann. Dieser Zusammenhang hat mich lange beschäftigt, und er tut
dies immer noch. Mir ist deutlich geworden, dass es um das Loslassen vertrau-
ter Gewissheiten geht, und dieses Loslassen hat etwas von einem Sterben. Mit
meinen Gewissheiten stirbt ein Teil von mir, und ich verliere zugleich einige
Standardrechtfertigungen zu meinem gelebten Leben. „Loslassen“ ist sicherlich
4 Dies ist der Titel eine Liedes von Bettina Wegner, in dem es heißt: „Mensch, solange wir
noch lachen und wir fühl´n uns nicht allein, und wir können noch was machen, darf ich
ruhig mal traurig sein.“
56 Brief 5: „Ich experimentiere mit meinen Beobachtungsgewohnheiten!“
der Weg, auf welchem wir lieb gewonnene Sichtweisen und Gewohnheiten auf-
lösen können. Es stellt somit die eigentliche Weiche, um innerlich einen neuen
Weg zu gehen und sich von den alten Wegen, auf denen wir nicht zu Wachstum
und Glück gefunden haben, abzuwenden. Verena Kast, die Züricher Therapeutin,
hat einiges zum Thema Trauern und Loslassen geschrieben. Was sie dabei fest-
stellt, gilt jedoch auch, wie ich finde, für das Thema „Auflösen“ bisheriger Ge-
wissheiten. Wir müssen nach ihrer Meinung lernen
Seit ich diesen Zusammenhang zwischen Auflösen und Loslassen wirklich beg-
riffen habe, versuche ich jeden Tag gezielt neue Erfahrungen zu sammeln. Oder
besser gesagt: Ich bemühe mich darum, nicht stets meine Erfahrungen zu befra-
gen, wenn mir etwas Neues begegnet. Dabei haben mir die beiden Tools zur
Analyse der Potenziale neuer Situationen sowie zum suchenden Lauschen wirk-
lich geholfen, meine Umgebung neu wahrzunehmen. Am schwierigsten ist es für
mich gewesen, das suchende Lauschen wirklich zu lernen. Hier habe ich bislang
nur wenige Fortschritte zu verzeichnen, da ich immer wieder feststellen muss,
wie ich bereits an meiner Antwort stricke, während mein Gegenüber sich noch
erklärt. Du redest vom „Grundsatz der Antwortverschiebung“, was ich sehr tref-
fend, aber für meine Verhältnisse auch noch etwas unvollständig finde. Mir fehlt
nämlich eine konkrete Hilfe für das Führen schwieriger Gespräche, denn es kann
doch nicht sein, dass ich mich in die Selbstbeobachtung zurückziehen soll, wo es
doch darum geht, Flagge zu zeigen?
Hierzu möchte ich dir ein Beispiel geben:
Letzte Woche kam es zu einer Eskalation in meinem Team. Während einer
Besprechung versuchte der bereits erwähnte Mitarbeiter wieder einmal, sich
als der eigentliche Sachkenner im Team aufzuspielen. Während ich zu mir
sagte „Antwort verschieben, Antwort verschieben!“, lief dieser Kollege zur
reinen Hochform auf, bis mir schließlich der Kragen platzte und ich ihn an-
brüllte: „Verdammt noch mal, hier im Raum haben alle schon gemerkt, wie
Sie sich aufspielen. Glauben Sie bloß nicht, dass mich das irgendwie beein-
druckt!“ Plötzlich war Totenstille im Raum, alle beobachteten uns gespannt.
Was sich daraufhin abspielte, war ein stilles Ringen der Blicke zwischen ihm
und mir, und ich vergaß alles, was ich bei dir gelernt hatte, und sagte be-
Brief 5: „Ich experimentiere mit meinen Beobachtungsgewohnheiten!“ 57
stimmt: „Sie kommen nachher bitte in mein Büro, ich muss mit ihnen reden!“
Daraufhin erteilte ich einer Kollegin das Wort für ihre Präsentation, und die
Sache war vorübergehend erledigt. Später in meinem Büro hatte ich mich be-
reits etwas abgekühlt und konnte souveräner mit der Situation umgehen. Ich
ergriff sogleich das Wort und sagte: „Ich möchte in Zukunft nicht mehr, dass
Sie mich in Besprechungen von oben herab belehren. Es ist Ihre Aufgabe,
die Details besser zu kennen als ich dies kann, doch ich bin es, der hier die
Entscheidungen trifft!“ Daraufhin bekam ich einiges an Ausflüchten und Erklä-
rungen zu hören, und der Kollege fand sogar Worte der Entschuldigung und
warb um Verständnis, dass alles bloß Ausdruck seines Engagements sei und
er sich eben sehr stark mit diesem schwierigen Vorhaben identifiziere, so-
dass am Ende des Gespräches sogar so etwas wie versöhnliche Gesten auf-
tauchten. Zu alledem wäre es nicht gekommen, wenn ich nicht eine Festig-
keit sowie eine Entschlossenheit gezeigt hätte.
Was mir diese Erfahrung zeigt, ist, dass es neben der Antwortverschiebung auch
andere Aspekte sind, auf die es für eine konstruktive Gesprächsführung an-
kommt. Oft ist in der Literatur von Authentizität die Rede, was ich insoweit er-
gänzen möchte, dass es nach meinem Eindruck vor allem um Klarheit und Ein-
deutigkeit geht, verbunden mit dem Grundsatz „Jeder gewinnt“, wie Thomas
Gordon dies nennt. In seinem Buch „Die Managerkonferenz“, welches ich mir
bereits vor einigen Jahren zugelegt habe, schreibt er:
„Die Jeder-gewinnt-Methode (oder Methode III, wie sie in unseren Füh-
rungskursen genannt wird) setzt also voraus, dass ein Führer, der in der Re-
gel mehr Macht als die Gruppenmitglieder besitzt, sich dazu verpflichtet, sie
nicht zu verwenden. Stattdessen nimmt der Führer im Konfliktfall folgende
Haltung ein (ich umschreibe sie): Du und ich, wir haben einen Bedürfnis-
konflikt. Ich achte deine Bedürfnisse, aber ich darf auch meine nicht ver-
nachlässigen. Ich will von meiner Macht dir gegenüber keinen Gebrauch
machen, sodass ich gewinne und du verlierst, aber ich kann auch nicht
nachgeben und dich auf meine Kosten gewinnen lassen. So wollen wir in
gegenseitigem Einverständnis gemeinsam nach einer Lösung suchen, die
ebenso deine wie meine Bedürfnisse befriedigt, sodass wir beide gewinnen“
[Gordon 1989, S. 190].
nen verborgen werden. Und wir „bewerten“ die uns bedrängenden Bedürfnisse
anderer auch zu rasch, d. h. fallen in die bereits erwähnte „Voice of Judgement“
(Senge u. a. 2005), statt die Bedürfnisse des Gegenübers einfach in ihrer ganzen
Deutlichkeit als existent und berechtigt anzuerkennen, sind sie doch „Tatsa-
chen“, die die Möglichkeiten unseres eigenen Handelns ebenso grundlegend
bestimmen, wie unsere eigenen Bedürfnisse. Eine auf „Lösung“ gerichtete Per-
spektive entsteht in dem Augenblick, in dem wir die Nüchternheit einer „Be-
dürfnis(er)klärung ohne Bewertung“ zu praktizieren beginnen. In dem beschrie-
benen Konfliktfall ist mir dies dadurch gelungen, dass ich den oben zitierten
Text von Gordon fast wörtlich und entschlossen sprach, wobei ich besonderen
Nachdruck auf die Passage legte: „Ich will von meiner Macht dir gegenüber
keinen Gebrauch machen, sodass ich gewinne und du verlierst, aber ich kann
auch nicht nachgeben und dich auf meine Kosten gewinnen lassen“ (Gordon
1989, S. 190).
Der Effekt war verblüffend. Plötzlich wurde die Auseinandersetzung mit mei-
nem „schwierigen Kollegen“, wie ich ihn manchmal für mich nenne, irgendwie
freier, und der mir oft aufmüpfig vorkommende Kollege begann, seine Bedürf-
nisse deutlich zu artikulieren, wobei ich auch überrascht erkennen musste, dass
seine Bedürfnisse sehr viel differenzierter waren, als ich sie durch meine Art des
Heraushörens bislang wahrnehmen konnte. Der Griff nach meiner Position stand
für ihn überhaupt nicht im Zentrum seiner Überlegungen, es ging ihm eigentlich
mehr darum, für sein Engagement in der Sache und seine Überlegungen in mir
ein unterstützendes und auch wertschätzendes Gegenüber zu finden. Unsere
Alternativlösung setzte sich deshalb aus mehreren Elementen zusammen, von
denen meine deutliche Positionierung nur eines gewesen ist. Wir vereinbarten
zudem regelmäßige Vier-Augen-Gespräche über den Projektstand sowie eine
Form, in der die Verantwortlichkeiten auch gegenüber Außenstehenden deutli-
cher sichtbar wurden. Dafür konnte er sich bereit erklären, auf „öffentliche“
Infragestellungen meiner Positionen ganz zu verzichten. Diese von mir erprobte
Vorgehensweise habe ich zu einem weiteren Tool für unsere Sammlung verdich-
tet (Tool I), das ich dir als Anlage schicke. Bin gespannt, was du davon hältst.
I Antwortverschiebung
II Bedürfnis(er)klärung ohne Bewertung
III Alternativlösung („Tauschhandel“) entscheiden
IV Umsetzung
V Evaluierung
Der schwierigste Schritt ist in diesem Zusammenhang der zweite Schritt der
Bedürfnis(er)klärung ohne Bewertung. Es ist nämlich dieser Schritt, in dem die
emotionalen Dynamiken lauern. Wenn wir uns wirklich mit unseren Bedürfnis-
sen zu Wort melden oder unsere Bedürfnisse bedroht fühlen, dann gerät in uns
eine Gefühlswelt ins Schwingen, die etwas mit „Gesehenwerden“ zu tun hat.
Zunächst erfordert es Mut, zu sagen „Das will ich“. Und da diese Feststellung
auch für unser Gegenüber mit solchen Tiefenschwingungen verbunden ist, ist
leicht zu verstehen, dass eine systemisch wirklich tragfähige Lösung immer et-
was damit zu tun hat, dass wir auch den anderen gewinnen lassen und ihm eine
Bedürfnisbefriedigung wirklich zugestehen wollen. Mache ich lediglich von
meiner Macht Gebrauch, dann ernte ich systemisch keine wirkliche Tragfähig-
keit, da die so eingespurte Kommunikation unauslöschlich durch die Erfahrung
„meine Bedürfnisse werden nicht gesehen“ kontaminiert ist – ein Eindruck, der
nicht mehr wirklich korrigierbar ist. Sicherlich, es gibt Grenzsituationen, in de-
nen ein Kompromiss nicht gefunden werden kann, oft auch, weil es eigentlich
um etwas ganz anderes geht. Man muss aber wissen, dass Machtworte und
Machtlösungen ausgrenzend wirken. In den allermeisten Fällen, die ich kenne,
haben die Lösungen, in denen es Gewinner und Verlierer gab, stets dazu geführt,
dass einer der beiden Konfliktpartner – und meistens ist dies der schwächere
gewesen – das System früher oder später verlassen oder innerlich gekündigt hat.
Dies zeigt überdeutlich, dass das Finden von Kompromissen und Alternativlö-
sungen die wohl zentrale Eigenschaft erfolgreicher Führung ist. Vielleicht sollten
wir einmal darüber nachdenken, ob sich in dieser Einsicht nicht ein ganz eigenes
Modell einer „Führung durch Nachgeben“ oder „Leadership by Compromising“
steckt.
Diese Erfahrung hat mich zu der folgenden weiteren Lektion geführt:
Lektion 9:
Konstruktive Gesprächsführung setzt neben der Antwortverschiebung auch
Klarheit und Eindeutigkeit der Rede im Sinne einer „Bedürfnis(er)klärung ohne
Bewertung“ voraus und mündet in einem Tauschhandel, der dem Grundsatz
„Jeder gewinnt!“ (Gordon) entspricht.
Auf alle Fälle scheint mir eine systemische Phantasie notwendig zu sein, die eine
Führungskraft in die Lage versetzt, bei Konflikten in Win-Win-Szenarios zu
denken. Diese können gesichtswahrende Auswege für alle Beteiligten eröffnen,
ohne dass die eigene Bedürfnisbefriedigung des oder der Verantwortlichen dabei
auf der Strecke bleibt. Um dies zu können, ist jedoch eine Gelassenheit und Re-
sonanz der Führungskraft erforderlich. Er oder sie muss nicht aus Anerken-
60 Brief 5: „Ich experimentiere mit meinen Beobachtungsgewohnheiten!“
nungssuche heraus handeln und ist gleichzeitig doch darauf angewiesen, dass
seine Vorstellungen, Pläne und Aktionen eine Resonanz beim Gegenüber auslö-
sen. Hierzu stellt Daniel Goleman fest:
Mit diesen Hinweisen beleuchtet Goleman noch weitere Aspekte einer wahrhaft
„resonanten Führung“ (ebd., S. 39 ff.), wie er dies nennt. Diese Dimension einer
erfolgreichen Führung beschäftigt mich derzeit sehr stark, da sie zeigt, dass es
Führungsqualitäten gibt, über die man gewissermaßen bereits verfügen sollte,
wenn man in eine Führungsposition eintritt. Natürlich frage ich mich in diesem
Zusammenhang, ob ich über diese Fähigkeiten bereits verfüge und tatsächlich in
der Lage bin, aus einer inneren Ruhe und Gelassenheit heraus nach vornehmlich
„sachlichen Maßgaben“ zu handeln. Was ist das innere Motiv, aus dem heraus
ich handele? Wie wichtig ist mir meine Führungsrolle? Irgendwie spüre ich
auch, dass man zu einer emotional resonanten Führung nur gelangen kann, wenn
man aus anderen als aus Bedürftigkeitsmotiven heraus zu handeln vermag. Wie
prägen innere Bedürftigkeit einerseits und Gelassenheit andererseits das eigene
Verhalten in Konfliktsituationen? Hierüber werde ich noch verstärkt nachden-
ken, da mich insbesondere die Frage bewegt, wie man diese Fähigkeiten zur
Resonanz entwickeln kann, da die Resonanz doch eine Eigenschaft des Systems
ist, in welchem ich handele. Wie wirkt sich da meine eigene Fähigkeit oder Un-
fähigkeit aus? Aber darüber das nächste Mal mehr.
Für heute grüße ich dich herzlich!
Dein
Bernhard
Brief 6: „Mit mir nicht!“ 61
Lieber Bernhard,
dein Brief kam zur rechten Zeit, da auch ich mich gerade – eher ungewollt – mit
schwierigen Gesprächssituationen auseinandersetzen muss. Ja, das gibt es auch
in wissenschaftlichen Instituten, da auch hier bisweilen klare und deutliche Ge-
spräche mit Menschen geführt werden müssen, die ihre Rolle nicht mehr akzep-
tieren oder neu definieren möchten. Zumeist ist dies bei jungen Mitarbeitern der
Fall, die gerade ihre Promotion oder Habilitation abgeschlossen haben und nun-
mehr nach einer „adäquaten“ Position suchen, indem sie z. B. durch gezielte
Regelverletzungen die Autonomiespielräume ausloten. Es gibt dies aber auch in
jedem Bereich, in dem Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher
Hierarchiestufe miteinander kooperieren. In dem Buch „Das Santiagoprinzip.
Führung und Personalentwicklung im lernenden Unternehmen“ ist von einem
Problem die Rede, welches als „das Phänomen der kleinen Chefs“ bezeichnet
wird. Dieses Phänomen tritt auf, wenn
Dein Bericht über die Erfahrungen mit der „Jeder-gewinnt“-Methode von Gor-
don hat mich daran erinnert, dass ich dein Tool I („Fünf Schritte zum Jeder-
gewinnt-Effekt“) auch ganz gut in meinem eigenen Führungsalltag gebrauchen
kann. Deshalb habe ich dieses Instrument in der letzten Woche auch ausprobiert
und bin dabei schnell an meine eigenen Grenzen gestoßen. Plötzlich fand ich die
Ansprüche und Vorstellungen, die ein erst kürzlich promovierter junger Kollege
artikulierte, allesamt nur noch „unverschämt“, und die aus diesen sprechende
Selbstüberschätzung ärgerte mich so sehr, dass ich richtig aufgeregt wurde. Das
Gespräch eskalierte und fand in meinem wütenden Ausspruch „Mit mir nicht!“
seinen unrühmlichen Abschluss. Natürlich ist mir sofort bewusst gewesen, dass
ich jetzt als Führungskraft versagt hatte, weshalb ich gleich am nächsten Tag den
Gesprächsfaden wieder aufgriff. Die Bereitschaft meines Gegenübers, mir wirk-
lich seine eigenen Bedürfnisse anzuvertrauen, ohne dass diese sofort von mir
entsprechend abgewertet wurden, war jedoch vollständig auf dem Nullpunkt
angekommen. Nur durch einiges „Rückrudern“ (Tool K) gelang es mir schließ-
lich, zumindest die Basis für weitere Runden des Tauschhandelns zu schaffen.
Diese eigene Erfahrung hat mir wieder einmal deutlich werden lassen, dass
Kenntnis und Können oft auseinanderfallen – ein Aspekt, den du ja auch am
Ende deines Briefes ansprichst, indem du die Frage aufwirfst, ob man Führungs-
Resonanz lernen kann. Meine Antwort kennst du ja bereits: Man kann diese Fä-
higkeiten mehr und mehr in sich zur Reife kommen lassen, wenn man zur
Selbstreflexion vor, während und nach dem Kommunikationsprozess in der Lage
ist. Wir haben es also bei unseren Versuchen, systemisch erfolgreicher zu kommu-
nizieren, mit einer Dreistufigkeit der Selbstreflexion zu tun, durch welche wir uns
Gelegenheiten schaffen, den Kommunikationsprozess selbst sowie unser Verhalten
in diesem von unterschiedlichen Beobachterpositionen her in den Blick zu neh-
men (Tool L). Indem ich diese Beobachterpositionen immer wieder durchschrei-
te, entwickelt sich in mir allmählich ein leidenschaftsloseres Verhältnis zu mei-
nem eigenen Denken, Fühlen und Handeln in der jeweiligen Situation, und ich
lerne, dieses losgelöster von meinen eigenen Bedürfnissen beurteilen zu können.
Dies bedeutet nicht, dass ich keine Bedürfnisse habe, im Gegenteil: Ich mache
mir diese gezielter bewusst und schaffe mir gleichzeitig Möglichkeiten zu beo-
bachten, ob und inwieweit meine eigene Bedürftigkeit mich zu unprofessionel-
lem Verhalten in der Kommunikationssituation (ver)führt oder nicht. Meine Er-
fahrung ist die, dass man nur durch wiederholtes Erproben und vielfältiges
Scheitern allmählich die Kompetenz entwickelt, selbstbewusst, an den Bedürf-
nissen des Gegenübers orientiert, aber nicht selbst bedürftig zu kommunizieren.
Mein wütendes „Mit mir nicht!“ war Ausdruck einer eigenen Bedürftigkeit, wie
ich dir gleich noch erklären werde. Zunächst möchte ich aber noch das Konzept
der dreistufigen Selbstreflexion genauer beschreiben, für welches der Umgang
mit den Bedürfnissen, den eigenen und denen des Gegenübers, von zentraler
Bedeutung ist.
Diese geschilderte Erfahrung führt mich zu unserer wichtigen 10. Lektion, die da
lautet:
Brief 6: „Mit mir nicht!“ 63
Lektion 10:
Um bedürfnisorientiert, aber nicht bedürftig kommunizieren zu können, muss
man sich in der Kunst der dreistufigen Selbstreflexion üben. Diese eröffnet uns
verschiedene Perspektiven auf das Geschehen, in deren „Genuss“ wir jedoch
nur gelangen, wenn wir sie durch geeignete „Vorkehrungen“ entstehen lassen.
Führungskräfte müssen, wie ich finde, planend beobachten können, sie dürfen
nicht einfach in Gesprächssituationen „hineinstolpern“. Dies bedeutet, dass man
sich vor der Aufnahme einer Kommunikation (z. B. Mitarbeitergespräch, Team-
sitzung) eine gewissen Zeit nimmt (ca. 10 Minuten durchschnittlich), um das
Gespräch mental zu antizipieren. Dabei müssen einerseits Vorkehrungen getrof-
fen bzw. geprüft werden, um zu gewährleisten, dass das Gegenüber seine Be-
dürfnisse und Interessen wirklich artikulieren kann. Hat man es mit mehreren
Gesprächsteilnehmern zu tun, so gilt dies für alle Beteiligten. Die Führungskraft
selbst muss sich dabei bewusst sein, dass sie bereits strukturell dominiert, wes-
halb es nicht nötig ist, auch noch die mit Abstand größten Redeanteile zu haben.
Vielmehr kommt es darauf an, diese zu dosieren und zunächst darauf Wert zu
legen, dass in der zur Verfügung stehenden Zeit wirklich alle zu den anstehenden
Fragen Stellung nehmen können. Es ist deshalb im Stadium der planenden Beo-
bachtung sinnvoll, sich zu fragen:
Was genau ist das Thema?
Steht ausreichend Zeit zur Verfügung, um dieses Thema zu besprechen?
Sind alle wichtigen Personen einbezogen?
Mit welchen „Kickoff-Fragen“ werde ich das Gespräch eröffnen?
Kann ich mich dann wirklich zurückhalten?
Welche eigenen Empfindlichkeiten „lauern“ für mich in diesem Thema bzw. in
der Auseinandersetzung mit diesen Leuten?
etc.
Planende Beobachtung von Kommunikationsanlässen dient, wie gesagt, der
mentalen, aber auch realen Vorbereitung einer Situation, in welcher eine Win-
Win-Kommunikation auch tatsächlich gelingen kann. Sie „checkt“ deshalb –
gewissermaßen im Vorfeld –, ob ausreichende Vorkehrungen getroffen worden
sind, um bedürfnisorientiert, aber selbst nicht bedürftig zu kommunizieren.
Gleichzeitig dient sie der Vorklärung der eigenen Position gegenüber dem The-
ma bzw. in dem jeweiligen Kreis der Gesprächsteilnehmer. Dabei ist es für eine
Führungskraft auch wichtig, die in ihr selbst lauernden Tendenzen zum Missver-
64 Brief 6: „Mit mir nicht!“
stehen, zum Misstrauen oder zum Verfühlen zu antizipieren. Dieser Schritt ist
sehr schwierig und erfordert eine gewisse Leidenschaftslosigkeit im Anerkennen
eigener Fehler und Unzulänglichkeiten. Nicht der- oder diejenige ist nämlich
eine gute Führungskraft, der oder die ohne eigene Anteile in Kommunikations-
und Interaktionssituationen denken, fühlen und handeln kann, sondern vielmehr
der- oder diejenige, der oder die ihre eigenen „Magnetthemen“ kennt. So be-
zeichne ich die unvermeidbare persönliche Geprägtheit der eigenen Wahrneh-
mung, die es mit sich bringt, dass wir bestimmte Aspekte, Situationen und auch
Konflikte stärker anziehen und in uns als Information aufnehmen als andere
Aspekte und Interpretationsmöglichkeiten. Diese Tendenzen in sich zu kennen,
eröffnet einem die Möglichkeiten sich genauer auf das zu beziehen, was das
Gegenüber tatsächlich auszusagen sich bemüht.
In dem Fall, der mich die letzten Wochen in meinem Institut umtrieb, versuchte
ich durch eine planende Beobachtung etwas Ruhe und eine größere Wirksamkeit
in die Kooperation zu bringen. Zunächst stellte ich mir die in der folgenden Ab-
bildung aufgelisteten Fragen, die man „vorher“, d. h. vor der Aufnahme einer
Kommunikationssituation, für sich klären sollte. Dabei wurde mir auch deutlich,
dass ich selbst dem jungen, aufstrebenden Kollegen seit einiger Zeit überhaupt
nicht mehr richtig zuhörte. Er hatte, wenn ich selbstkritisch die Lage betrachte,
eigentlich schon länger nicht mehr die Möglichkeit, seine Sichtweisen wirklich
zur Sprache zu bringen, da ich ihn bereits innerlich mit einem Etikett versehen
hatte. Dies ist eine große Gefahr in Kommunikationsbeziehungen, weshalb ich
folgende Kommunikationsregel – auch und gerade für Führungskräfte – für ganz
zentral halte: „Stelle fest, mit welchen Etiketten du dein Gegenüber versehen
hast, und löse dich jeden Tag neu von diesen!“
Im konkreten Fall beschloss ich deshalb, dem jungen Kollegen in dem anstehen-
den Abteilungsgespräch wirklich einmal Raum zu geben, damit er seine Sicht
der Dinge ausführlich darlegen konnte. Und weißt du, was geschah? Plötzlich
musste ich bemerken und anerkennen, dass seine Ausführungen auch in einem
hohen Maße sachlich gerechtfertigte Aspekte beinhalteten. Um dies erkennen zu
können, half mir auch die Vorklärung meiner eigenen Position, wobei insbeson-
dere die Frage „Wo bin ich bereits ‚festgelegt’?“ mir zu erkennen ermöglichte,
was für mich bereits klar zu sein schien – es ging um die Frage einer bestimmten
Vorgehensweise in einem Forschungsprojekt. Doch indem ich meine „Festge-
legtheiten“ für mich identifizierte, verspürte ich plötzlich auch ein großes Inte-
resse, genau diese nochmals in Frage stellen zu lassen und meine eigenen Grün-
de erneut zu prüfen, weshalb es mir möglich wurde, das Gespräch auch über
solche grundsätzlichen Punkte nochmals offener zu führen – ein Gedanke, der
mir, wenn ich ehrlich bin, zuvor nie gekommen wäre.
Brief 6: „Mit mir nicht!“ 65
Eine weitere positive Erfahrung bezog sich auf die Dosierung der eigenen Do-
minanz: Indem ich mein eigens Verhalten in der bevorstehenden Gesprächssitua-
tion mit dem Vorsatz antizipierte, zunächst eher zu lauschen als zu antworten,
begann ich das Gespräch mit einer ganz anderen Haltung. Irgendwie fühlte ich
mich weniger oder – besser gesagt – anders zuständig. Mir oblag nicht mehr die
Erreichung eines ganz bestimmten inhaltlichen Zieles, sondern die Schaffung
eines Raumes, in welchem andere sich zunächst darstellen können. Natürlich
war mir bewusst, dass ich am Ende die geäußerten Überlegungen kommentieren
und zu einer Entscheidung verdichten musste, doch war es nicht ein „Produkt“
der Kommunikation, auf welches ich zuzusteuern hatte, sondern ein „Prozess“,
welcher sich als solcher zunächst erst einmal entfalten können musste, ich be-
gann, mich in erster Linie als prozess- und nicht als produktverantwortlich zu
verstehen. Natürlich liest man das auch in allen möglichen neueren Veröffentli-
chungen, aber für mich enthüllte sich die Prozessverantwortung als eine andere
Qualität des Sich-Fühlens und Handelns in Kommunikationssituationen. Man
kann diese nicht wählen, sondern muss sich darauf bewusst einlassen und erfah-
ren, welche Vielfalt sich dann zeigen kann. Deborah Tannen, die bekannte ame-
rikanische Soziolinguistin, beschreibt in einem ihrer Bücher das Kommunikati-
onsmuster „Schweigsam, aber stark“, welches davon lebt, durch eine eher
reduzierte Form des Sich-Einbringens eine hohe prozessbeeinflussende Wirkung
zu entfalten (Tannen 2000, S. 358); an diese Beschreibung fühlte ich mich erin-
nert, als ich begann, meine eigene Dominanz bereits planend zu dosieren.
Kommunikation ist stets – und in dieser Einsicht liegt ein Großteil des Erfolges
von Führungskräften begründet – auch das „Verstehen-Können dessen, worum
es dem Gegenüber geht!“ Da dieses nur in der Situation selbst zutage tritt, er-
schließt es sich auch am besten der teilnehmenden Beobachtung. Zugleich dient
die teilnehmende Gesprächsbeobachtung aber auch der Selbstbeobachtung. Die-
se benötigt Kriterien, die sich auf die förderlichen oder hindernden Wirkungen
des eigenen Kommunikationsverhaltens beziehen. Von grundlegender Bedeu-
tung ist dabei auch eine vorwegnehmende Empathie, die die Frage fokussiert,
wie das Gegenüber das Kommunikationsverhalten von einem selbst wohl erle-
ben mag und welche Vorstellungen von Erfolg und Misserfolg dieser Wahrneh-
mung zugrunde liegen. Diese Vorgehensweise folgt einem Vorschlag von Peter
Senge u. a., die dafür plädieren, „(...) unsere Denkprozesse sichtbar zu machen,
damit wir die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in unseren Wahrnehmungen
kennen“ (Senge u. a.1997, S. 283) – dies ist es, worauf es m. E. wirklich an-
kommt, wenn man erfolgreich und nicht bloß dominierend kommunizieren
möchte. Und der Schritt, um den es mir bei der planenden Beobachtung geht,
zielt darauf, sich die eigenen Vorannahmen und Wahrnehmungen in das eigene
Bewusstsein zu heben.
Eine wichtige Dimension der teilnehmenden Beobachtung ist die Körpersprache.
Führungskräfte sollten nicht allein zuhören können, sie sollten auch auf die Sig-
nale achten, mit denen das Gegenüber zum Ausdruck bringt, wie es die Situation
erlebt. Solche Signale sind körpersprachlicher Art. Mit ihnen wird subtilst aus-
gedrückt, wie die beteiligten Akteure die Beziehung definieren und welche
Ängste, Befürchtungen und Erwartungen ihr Verhalten bestimmen. Der bekannte
Körpersprache-Spezialist Samy Molcho stellt fest: „Keine Bewegung ist zufäl-
lig, sondern Ergebnis bewussten oder unbewussten Denkens“ (Molcho 2001,
S. 17). Dies bedeutet, dass man in der Mimik und Gestik, wenn man genau auf
sie achtet, ablesen kann, worum es auch – und bisweilen eigentlich – geht. Hier-
zu habe ich eine Art Beobachtungsleitfaden (Tool M) entwickelt, welchen ich dir
zusende. Bin gespannt, ob du damit etwas anfangen kannst in deinen Kommuni-
kationskontexten.
Als Supervision bezeichne ich das distanzierte Reflektieren über den erlebten
Kommunikationsprozess, um diesen nachträglich nochmals im Hinblick auf
Verfälschungen durch die eigene Wahrnehmung oder durch Zufälligkeiten oder
Unaufmerksamkeiten zu scannen. Für eine solche Supervision eignen sich per-
sönliche Notizen, in denen man die Reflexion über das Tagesgeschehen mit dem
Ziel festhält, persönliche Lektionen aus den gewonnenen Erfahrungen für sich
abzuleiten –zumindest mache ich dies so. Andere schreiben entsprechende Re-
flexionen in ihr Tagebuch. Auch dabei sind dann die Ermöglichungs- sowie die
Entscheidungsfaktoren im Einzelnen zu reflektieren. Es sind dabei insbesondere
68 Brief 6: „Mit mir nicht!“
„(...) der darauf abzielt, sich selbst als hilflos oder überfordert darzustellen
und den anderen das Gefühl zu geben, er müsse einspringen, helfen, ent-
scheiden und verantworten – sonst wäre alles verloren“
[ebd.].
Lektion 11:
Erfolgreiche Kommunikation „lebt“ von der Kunst, den Kommunikationsprozess
so gestalten zu können, dass dieser nicht durch die eigene Bedürftigkeitsbrille
gescannt wird. Hierbei hilft eine dreistufige Selbstreflexion, die uns in die Lage
versetzt, Gespräche gewissermaßen strukturell als Verschränkung von Eige-
nem und Fremden zu analysieren und zu reflektieren. Dadurch werden ab-
sichtsvoll gestaltete Veränderungen (z. B. „Rückrudern“) möglich, von denen
eine andere Qualität ausgeht als von unmittelbaren Reaktionen.
Lieber Karl,
seit deinem letzten Brief ist viel geschehen. Wo waren wir stehen geblieben?
Richtig, du hattest mir aus deiner eigenen Führungspraxis heraus Hinweise ge-
geben, wie man dem eigenen Blick auf das Geschehen nochmals genauer auf die
Spur kommen und erfolgreicher kommunizieren kann („dreistufige Selbstre-
flexion“). Besonders deine Tools für die Optimierung der Gesprächsführung
fand ich sehr hilfreich, und ich habe gelernt, dass wir bedürfnisorientiert, aber
nicht bedürftig miteinander umgehen sollten. Alles steht und fällt deshalb mit
dem Zugang zu den eigenen Bedürfnissen und denen der anderen. Und um diese
wirklich wahrnehmen zu können, die eigenen Bedürfnisse und die der anderen,
ist eine Ruhe und Gelassenheit notwendig, die uns Achtsamkeit zu stiften ver-
mag. Aber „Erfolg“ in Beziehungen und in Kooperationen kann uns dies alles
nicht garantieren, wie ich dir versichern kann. Letzte Woche hat Lilli die Schei-
dung eingereicht, was nochmals ein Schock für mich und auch die Kinder gewe-
sen ist. Dieses Ereignis kam just in dem Moment auf mich zu, als ich in meinem
professionellen Feld, das bedürfnisorientierte, aber unbedürftige Kommunizie-
ren erprobte. Mir sind daraufhin die neuen Tools richtiggehend aus den Händen
geglitten, alles verlor von einem Augenblick auf den anderen seine Wichtigkeit.
Mich begann der Gedanke zu beschäftigen, ob ich mich in meiner Familie viel-
leicht zu bedürftig und zu wenig bedürfnisorientiert bewegt hatte, worin ein
Muster zum Ausdruck kommen könnte, welches auch mein berufliches Handeln
bestimmt. In dieser Frage hätte ich gerne deinen Rat, obgleich mir ein Freund,
mit dem ich darüber sprach, riet, nicht „zu viel in Selbstzweifel zu machen“.
Doch ist es Selbstzweifel, wenn ich begreifen möchte, was mich in die Lebenssi-
tuationen gebracht hat, die mich am meisten schmerzen und mich das Gefühl der
Getragenheit in meinem Leben gekostet haben? Dies glaube ich nicht, zumal ich
schon mehrfach habe erkennen müssen, dass unser Denken, Fühlen und Handeln
„aus einem Guss“ sind, d. h., wir können uns nicht wirklich anders in unserem
beruflichen Kontext bewegen, als wir dies in unserem Privatbereich zu tun ge-
lernt haben. Deshalb geht – zumindest in der Seele der Akteure – das Berufliche
und das Private ineinander über: Wir können uns nicht austauschen – dies ist
zumindest meine Erfahrung. Und bedeutet nicht auch deine Aufforderung, au-
thentisch zu sein, dass wir uns so zeigen, wie wir auch in unserer tiefsten Eigen-
art wirklich sind?
Irgendwie komme ich mir vor wie ein Übriggebliebener. Ich mache „weiter so
wie bisher“, obgleich die Zuversicht in mir vollständig zusammengebrochen ist.
Wie kann man tagtäglich erfolgreich handeln und kommunizieren, wenn die
innere Geborgenheit und das Eingebundensein in ein zukunftsstiftendes Lebens-
konzept, nicht mehr verfügbar sind? Ich weiß nicht, ob du verstehst, was ich
meine, wenn ich dir diese innerliche Ungeborgenheit zu beschreiben versuche.
Es ist wie ein Leben ohne eine wirklich vorwärtstreibende Kraft: Erschöpfung
und Uneigentlichkeit machen sich breit, und dies spüren auch meine Kollegin-
nen und Kollegen. Sie spüren, dass ich aus Routine, aber nicht aus einem wirkli-
chen Entflammtsein für die Sache heraus handele. Sicherlich, ich kann an mei-
nen Kommunikations- und Führungsfähigkeiten arbeiten, aber wozu? Werde ich
dadurch wieder zu einem erfüllteren Leben finden? Wer die Bindungen, in denen
er stand, verloren hat, der kann nicht wirklich bedürfnislos kommunizieren. Man
benötigt gewissermaßen für die eigene Unbedürftigkeit im Beruf eine gehörige
Portion Bedürfnisbefriedigung im Privatbereich. Diesen Verdacht hatte ich schon
immer, da ich wiederholt erleben durfte, dass nur die wirklich geborgenen Füh-
rungskräfte auch gelassen und ausgewogen, aber bestimmt zu handeln vermö-
gen. Muss ich also die Klärungen erst in meinem persönlichen Leben suchen,
bevor ich mich professionell besser aufstellen kann?
Dies, glaube ich, ist so. Aus diesem Grunde habe ich in den letzten Wochen zum
wiederholten Male genauer über meine eigenen tiefen Tendenzen nachgedacht
und dabei auch das eine oder andere neu durchspürt. Dies ist das „endlich einmal
sich selbst leben“, von dem Seneca – mein ständiger Begleiter in diesen Wochen
– spricht (Seneca 2006, S. 15). Es fällt mir nicht ganz leicht, dir mitzuteilen, was
mir dabei begegnet ist, ist es doch einfacher, über die Fallstricke der beruflichen
Kommunikation zu diskutieren als über die Abgründe des Privaten, wie er in
„Familienkriegen“ (Moser 1985) zutage tritt. Dort werden die tieferen Schichten
der Verletzbarkeit gnadenlos offengelegt, und man spürt, dass hier Versäumtes
Brief 7: „Ja, aber!“ 73
und Versagtes eine unheilvolle Allianz eingehen. Wer die Geborgenheit und das
liebevolle Zusammensein nicht als Erfahrungsmuster in sich trägt, der versagt
sich dieses auf subtilste Weise in seinem eigenen Leben. Er lebt ein „Ja, aber!“,
das ihn in vielen Kontexten, privaten wie beruflichen, eher abgebremst kommu-
nizieren lässt. Es ist, als würde er einen letzten Schritt nicht gehen wollen oder
können. So ist dies z. B. bei mir, lieber Karl. Sicherlich, man respektiert mich im
Beruf, und auch meine Frau hatte mir nicht wirklich etwas vorzuwerfen, doch
stelle ich letztlich keinen echten Kontakt zum Gegenüber her – wenn du ver-
stehst, was ich meine. Dieses bleibt mir irgendwie fremd. Das Menschliche
bleibt mir fremd, wenn ich ehrlich bin. In Kommunikationsbezügen funktioniere
ich recht erfolgreich, aber letztlich würde kaum jemand freiwillig mit mir kom-
munizieren. Dies habe ich immer wieder schmerzlich gespürt, und ich glaube,
auch Lilli hat irgendwie darunter gelitten. Wir verhüllen uns vor uns selbst in
schönen Gewändern, von denen der Mantel der „strahlenden Herrlichkeit“ nur
das Vornehmste ist, das uns hilft zu verbergen, „wie viel verborgenen Kümmer-
nissen sie als Deckmantel diente“ (Seneca 2006, S. 16).
Wie du siehst, lamentiere ich nicht, zumindest nicht mehr, über das Unglück, das
mir widerfahren ist, sondern habe begonnen zu untersuchen, warum ich in dieser
innerlich abgebremsten Weise zu kommunizieren gewohnt bin und mich bevor-
zugt in schönen Gewändern präsentiere. Woher kommen diese Gewohnheiten?
Und was würde geschehen, wenn ich mir erlauben würde, diese Gewohnheiten
abzulegen? Würde ich dann glücklicher und erfüllter sein? Wäre ich dann für die
anderen sichtbarer, und könnten sie sich mir wirklich zuwenden, statt mich nur
zu respektieren? Ja, ich glaube das ist ganz treffend beschrieben: „Man respek-
tiert mich, aber man wendet sich mir sonst nicht wirklich zu!“ Ist dies mal an-
ders, dann sind die Beziehungen, die sich ergeben, recht anstrengend und auch
nicht wirklich dauerhaft. Und auf eine mir noch nicht deutliche Weise hängt das
eine mit dem anderen zusammen: Beruflicher Erfolg schafft Distanz. „Füh-
rungskräfte sind einsam“, sagte mein erster Chef einmal zu mir. Mittlerweile
beginne ich allerdings zu verstehen, dass diese Einsamkeit nicht eine Folge,
sondern gewissermaßen eine Voraussetzung für den Erfolg im Beruf zu sein
scheint. Wer einsam ist, lebt beziehungsloser als andere. Er tritt nur über sachliche
Aufgaben mit seinem Umfeld in Kontakt. Und dieses versachlichte In-Bezie-
hung-Treten vermag keine wirklich tragenden Beziehungen zu stiften, sondern
lediglich Pseudobeziehungen, die in dem Moment zerbrechen, in dem die sachli-
che Funktion (als Vorgesetzter oder Kollege) endet. Manchmal denke ich, Füh-
rungskräfte sind doch häufig Menschen, die voll innerer Verzweiflung einen
Weg zum Du suchen, der sich ihnen immer und immer wieder als Holzweg dar-
stellt. Sie haben irgendwie gelernt, dass In-Beziehung-Treten eine angestrengte
74 Brief 7: „Ja, aber!“
Aktivität ist, deshalb wirken sie auf uns oft angestrengt und verbissen. „Verbis-
senheit“ ist aber nur der Ausdruck einer inneren „Verbittertheit“, wie mir scheint.
Wenn diese Vermutung stimmt, dann ist, was mich betrifft, die Frage, wo meine
eigene Beziehungslosigkeit und Verbittertheit ihren Ursprung haben.
In dem Buch „Männer und emotionale Kompetenz“ von Allan Guggenbühl und
Wolfgang Müller-Commichau (2006) las ich, wie die Empfehlungen „an den
emotional kompetenten Mann“ lauten könnten:
„Sei den Kindern eine körperlich ebenso wie gedanklich und mit den Gefüh-
len präsente Bezugsperson!
Vermeide es, in übermenschlicher Größe zu verharren, wenn du es mit dei-
ner Familie zu tun hast!
Versuche stattdessen, wo immer möglich, auf Augenhöhe mit den Kindern zu
kommunizieren!
Sei ihnen das männliche Gegenüber, an dem sie reifen und sich entwickeln
können!
Lass dich empathisch auf die Kinder ein!
Lerne von ihnen!
Lass dich empathisch auf die Partnerin ein!
Lerne von ihr!
Sei deiner Partnerin ein Partner, der die Unterschiedlichkeit der Geschlech-
ter selbstbewusst und sensibel gleichermaßen lebt“
[ebd., S. 108].
Wenn ich diese Empfehlungen lese, dann spüre ich nicht nur meine eigenen in-
neren Begrenzungen ganz deutlich, ich erkenne vielmehr auch, dass die emotio-
nale Inkompetenz nicht mit irgendwelchen Tools überspielt werden kann. Diese
wirken aufgesetzt, wenn sie nicht mit einer echten Hinbewegung auf das Gegen-
über verbunden sind. Und genau diese innere Hinbewegung ist es, die mir nicht
gelingen will. Verstehe mich bitte recht: Ich finde die Tools, die wir in unserem
Briefwechsel bislang entwickelt haben, wirklich hilfreich. Sie führen einen zu
einem Als-ob-Handeln, d. h. man kann ausprobieren, wie es sich anfühlt, in an-
derer als der gewohnten Weise mit bestimmten Situationen umzugehen. Und
dies kann eine ganz entscheidende Erfahrung sein. Gleichwohl muss das erprob-
te Handeln „habitualisiert“ werden, wie du uns früher in deinen Vorlesungen
Brief 7: „Ja, aber!“ 75
beigebracht hast. Doch Habitualisierung bedeutet, dass man das Neue in das
eigene Verhaltensrepertoire nachhaltig zu integrieren vermag und zur Routine
werden lässt. Dies wiederum gelingt mir nur, wenn ich mich auch in meinen
tieferen Schichten neu – z. B. gelassener – zu formieren vermag. Hier hänge ich
oft fest: Ich weiß, dass es jetzt angemessener wäre, nicht unmittelbar zu reagie-
ren, doch drängt mich eine tiefe Tendenz in mir, doch zu reagieren, denn ich
spüre mich dann in dieser unwirksamen, aber vertrauten Reaktion. Im Impulsi-
ven komme ich zum Ausdruck. Deshalb müsste ich mich gewissermaßen neu
erfinden, wenn aus dem Training mit den Tools wirkliche Habitualisierungen
bzw. Routinen entstehen sollen. Du kennst sicherlich diese innere Grenze, die
man nur ganz persönlich überwinden kann. Man braucht eine andere Substanz,
sich zu spüren – eine Substanz, die sich nicht aus der Beziehung zu einem Ge-
genüber speist, wenn du verstehst, was ich meine. Denn genauer vermag ich
dieses Paradoxon (noch) nicht auszudrücken, welches darin liegt, dass man nur
besonnener reagieren kann, wenn die Reaktion aus einer eigenen inneren Sub-
stanz heraus erfolgt und nicht der Entgegnung auf ein Gegenüber.
Lass mich meine Vermutung folgendermaßen fassen: Man braucht das Eigene,
um eine echte Hinwendung zu einem Du leben zu können, und ich habe inner-
lich weder das eine noch das andere verfügbar. Was die Hinwendung anbelangt,
so ist es so, dass sie mich nicht wirklich zu interessieren scheint, während ich
doch zugleich im Grunde meines Herzens einsam bin und mich ungeborgen und
alleine fühle. Manchmal denke ich, dass es da für mich auch keinen Weg zurück
ins Leben gibt, da ich auch über die Substanz, um die es in menschlichen Bezie-
hungen geht, nicht verfüge. Sie ist mir einfach nur fremd, und ich weiß auch
nicht, ob und wie ich dieses Defizit durch eigene Bemühungen ausgleichen
kann. Fast scheint es so, als hätte ich selbst die fraglose und wirkliche Beziehung
nie erlebt. Deshalb sage ich auch selbst nicht wirklich „Ja“ zu meinem Gegen-
über, sondern allenfalls ein „Ja, aber“, mit dem ich mich sogleich wieder aus der
Bezogenheit auf den anderen ein Stück weit zurückziehe – eine Bewegung, wie
in der Echternacher Springprozession, die sich, wie du vielleicht weißt, in der
Schrittfolge „zwei vor, eins zurück“ bewegt. Auf diesem Wege schreitet man
irgendwie schon vorwärts, aber man schreitet nicht aus. Die Fortbewegung hat
etwas Abgebremstes, und die Dynamik eines bejahenden Draufloslebens ist nur
als eine vage Vorstellung präsent. Wenn es eine Lektion gibt, die ich aus diesen
Überlegungen abzuleiten vermag, dann lautet diese:
76 Brief 7: „Ja, aber!“
Lektion 12:
Der Weg zu einem erfüllten Leben beginnt mit der Unterscheidung zwischen
Bedürfnisorientierung und Bedürftigkeit. Erst wenn ich mich dem Gegenüber
wirklich zuwende und seine Bedürfnisse in den Blick nehme, trete ich in Bezie-
hung. Und dies gelingt mir gleichzeitig nur, wenn ich meine eigene Bedürftigkeit
kenne und auch verstehe, wie diese mir den Blick auf das Gegenüber immer
und immer wieder verstellt.
Die eigene Bedürftigkeit hat viel mit der früh erlebten Geborgenheit oder Unge-
borgenheit zu tun. Es ist fast so, als würde man da einer Geste oder einer Äuße-
rung nachlaufen, die versäumt wurde. Diesem Versäumnis muss man auf die
Spur kommen. Dies ist schwierig, weil Versäumnisse nicht gerne erinnert oder
gar überliefert werden. Das Versäumte muss richtiggehend hinter den Bildern
von der „heilen Kindheit“ hervorgezerrt werden. Und dieses Hervorzerren will
mir kaum gelingen; zu erdrückend ist wohl die Bannbotschaft meiner Eltern
„Wir haben doch nur dein Bestes gewollt“. Diese Botschaft verbaut uns den Weg
zu unserem authentischen Anfangsgefühl, welches die Wurzel unseres wahren
Selbst ist. Wir bleiben dann in einem Aber hängen, wo es doch um ein Ja ginge,
wenn du verstehst, was ich meine. Die Bedeutung eines bejahenden Kontextser-
lebens für die Entfaltung der eigenen Kräfte wird noch zu wenig gesehen und
wertgeschätzt, und auch Eltern empfinden solche Suchen häufig als Angriff und
Verdächtigung, wo es doch in Wahrheit darum geht, nüchtern zu erkennen, was
früh auf uns gewirkt hat – vielleicht auch weil es bereits früh auf unsere Eltern
gewirkt hat?
Früher habe ich solche Überlegungen für recht psychologisierend gehalten, und
ich konnte mit den Mutmaßungen über den eigenen frühen Beginn, mit denen
unsere Denk- und Gefühlsprogramme zu Werke gingen, nichts anfangen. Erst
die Lektüre des Buches von Alice Miller „Das Drama des begabten Kindes“, das
sie 1997 in einer Neufassung vorgelegt hat, hat mir zur Suche nach dem wahren
Selbst einen Zugang eröffnet (Miller 1997). Es geht Alice Miller überhaupt nicht
um Psychologisierung, sondern um das Aufdecken der emotionalen Spuren in
unserer Art die Welt zu fühlen, die dereinst eine Funktion hatten, heute aber im-
mer noch in uns wirken und uns von dem abschneiden, was unsere wahren Be-
dürfnisse sind. So „ereifere“ ich mich über bestimmte Situationen, die mir be-
gegnen, in einer Art und Weise, die ich – bei nüchterner Betrachtung – nicht
verstehe. Woher kommt diese Entschiedenheit? Was verteidige ich in Wahrheit,
wenn ich mich einem Gegenüber verschließe? Wo und warum habe ich gelernt,
mich in dieser Weise vom Lebendigen abzukapseln und innerlich immer und
immer wieder alleine zu bleiben? Alice Miller schreibt:
Brief 7: „Ja, aber!“ 77
„Die meisten Menschen (...) wollen nichts von ihrer Geschichte wissen und
wissen daher auch nicht, dass sie im Grunde ständig von ihr bestimmt wer-
den, weil sie in ihrer unaufgelösten, verdrängten Kindheitssituation leben.
Sie wissen nicht, dass sie Gefahren fürchten und umgehen, die einst reale
Gefahren waren, aber es seit langem nicht mehr sind. Sie werden von unbe-
wussten Erinnerungen sowie von verdrängten Gefühlen und Bedürfnissen
getrieben, die oft beinahe alles, was sie tun und lassen, in pervertierter Wei-
se bestimmen, solange sie unbewusst und ungeklärt bleiben“
[ebd., S. 12].
Wenn ich solche Gedanken lese, können sie zunächst nicht wirklich zu mir vor-
dringen. Es gibt nämlich keine Erinnerung an Kindheitssituationen in mir – au-
ßer an solche, die immer wieder im Familienkreis erzählt und zu einem festen
Bestandteil der geteilten bzw. mitgeteilten Erinnerung geworden sind. Muss ich
wirklich die frühesten Erinnerungen und Situationen ausgraben, um zu dem
Zeitpunkt zurückzukommen, zu dem mir irgendein authentisches Lebensgefühl
abhandengekommen ist? Ist es das, worum es geht? Oder gilt nicht auch für
solche Spuren der Lebendigkeit im eigenen Selbst das, was ich gestern in einer
schönen Formulierung bei Pascal Mercier festgestellt fand, der seine Romanfi-
gur sich erinnern lässt, dass es in seinem Leben eine plötzliche Gewissheit von
„Sinn“ geben konnte, wobei es sich um einen Sinn handelte, „(...) den man nicht
benennen konnte, im Gegenteil, es gehörte zu diesem Sinn, dass man ihm nicht
Gewalt antun durfte, indem man versuchte, ihn in Worte zu fassen“ (Mercier
2006, S. 80f). Dies bedeutet doch, dass es vielleicht nur darum gehen kann, den
Gefühlseinfärbungen nachzuspüren, aus denen sich unsere subjektive Gewissheit
zusammenzusetzen begann, als wir unsere ersten Begegnungen im Leben hatten
und uns in unserer Wirksamkeit oder Unwirksamkeit zu spüren begannen. Zu
diesen Gefühlseinfärbungen gehören auch die „einst realen Gefahren“, von de-
nen Alice Miller spricht. Für das kleine Kind, das lernt, seine ersten Innen-
Außen-Differenzen zu bilden, ist wohl beides „gefährlich“: die völlige Reso-
nanzlosigkeit ebenso wie Ablehnung und Verneinung. Das authentische Lebens-
gefühl bildet sich nur in einer Art Schaukelbewegung zwischen Bejahung und
Verneinung heraus. Diese Schaukelbewegung bedeutet Beziehung und Ausei-
nandersetzung. Für beides benötigt man ein Gegenüber. Beziehungslos bleibt
man, wenn man weder ein „Ja“ noch ein „Nein“ zu hören bekommt oder allen-
falls mit einem „Ja, aber“ konfrontiert wird. Oft frage ich mich, wie dies bei mir
gewesen ist, und – selbst, wenn ich es nicht richtig belegen kann – scheint es mir
so zu sein, dass es eine „Ja, aber“-Stimmung gewesen ist, in der ich gelernt habe,
mich in der Welt zu spüren. Diese Stimmung ist jedoch eine Stimmung der Un-
lebendigkeit und des Todes – eine Diagnose, die dich hoffentlich nicht er-
schreckt. Für mich ist es seit einigen Tagen ein sicheres Gefühl, dass dieses
78 Brief 7: „Ja, aber!“
„Wer das Seil des Tauziehens zu einer Schlaufe verknüpft, hat den Beginn
vom „Ja und…!“ und die Chance zur kollektiven Intelligenz verstanden. Po-
larisiertes Denken erfasst keine dynamische Komplexität“
[Schley/Schratz 2007, o. S.].
Auch ich wehre das Leben irgendwie ab, obgleich ich Verantwortlichkeit und
Zugewandtheit erlebt habe, selbst wenn letztere stets mit einer Restdistanz ge-
genüber dem anderen verbunden blieb, die Gefühle der Fremdheit und des
Nicht-Dazugehörens auslöste. Diese Überlegungen haben etwas mit dem inneren
Fundament zu tun, auf dem man steht. Sie verweisen uns auf die Quelle der Sub-
stanz, die unser Streben und Wirken ausmacht. Diese Substanz haben keines-
wegs alle Menschen; viele betäuben sich durch geschäftigen Termindruck und
beziehungslose Vielfalt. Sie hetzen durchs Leben und fühlen sich aufgehoben,
wo sie doch in Wahrheit bloß extrem abgelenkt leben. Wenn diese Ablenkung
zusammenbricht, wissen sie nicht mehr wozu sie leben, und es brechen Gefühle
der Langeweile und des Ekels in ihnen auf. Hiervor kann uns nur bewahren,
wenn wir aus einer tieferen Substanz heraus zu leben vermögen und nicht aus
Abgelenktheit. Und diese tiefere Substanz wird uns durch Beziehung gestiftet, in
denen wir die Bedürfnisse des anderen wahrnehmen und zugleich die volle Ver-
antwortung für uns selbst und unser Leben übernehmen, wie uns dies Erich
Fromm immer und immer wieder gelehrt hat. Er setzt dem Ekel das Lebens-
gefühl der Integrität gegenüber. Eine meiner Lieblingsstellen in seinem Werk
lautet:
„Liebe ist die aktive Fürsorge für das Leben und das Wachsen dessen, was
wir lieben“
[Fromm 1973, S. 46].
Die Konsequenzen dieses Satzes sind grundlegend. Er bedeutet, lieber Karl, dass
wir uns nicht am Gegenüber, sondern an unserer „Fürsorge für das Leben und
Wachsen“ dieses Gegenübers orientieren. Und dies kann nur gelingen, wenn wir
Brief 7: „Ja, aber!“ 79
diese Fürsorge wirklich in uns tragen und es nicht um die bloße rhetorische Ver-
kleidung eines eigenen Bedürfnisses geht. Mein Eindruck ist, dass es diese Un-
terscheidung zwischen Fürsorge und eigener Bedürftigkeit ist, die den meisten
Menschen misslingt. Sie halten das für Liebe, was in Wahrheit einem zutiefst
ichbezogenen Anliegen entspringt. Gleichzeitig ist ihnen diese eigene Motivlage
nicht wirklich zugänglich, da sie in keinem reflektierenden Bezug zu sich selbst
stehen. Aus diesem Grunde – so die Einsichten von Erich Fromm und anderen
Vertretern einer Humanistischen Psychologie – ist der Ausgangspunkt aller Rei-
fung die Liebe zu sich selbst. Dies ist ein ungewöhnlicher Gedanke – auch und
gerade für Führungskräfte, wie du sicherlich auch aus eigener Erfahrung weißt.
Wie kann jemand, der für seine Entscheidungsfreude und Umsetzungsstärke
bezahlt wird, für diese Frage nach der Liebe zu sich selbst aufgeschlossen wer-
den? Für mich hat sich dies lange Zeit nach einer völlig abwegigen, eher weich-
lichen Perspektive angefühlt, und es hat einige Mühen gekostet, diesen zunächst
nicht naheliegenden Gedanken zu verstehen. Die Mühen sind das Leiden und
Verabschieden gewesen, mit dem ich die letzten Monate und Jahre konfrontiert
gewesen bin. Erst indem ich lernen musste, dass sich mein vertrautes Leben von
mir abwendet und ohne Trost zurücklässt, musste ich schmerzhaft lernen, aus
einer anderen Substanz heraus zu leben. Diese Substanz, so wurde mir immer
klarer, kann nur aus mir selbst heraus entstehen. Sie wohnt gewissermaßen be-
reits in mir, und ich muss sie – endlich – spüren und zur Entfaltung bringen.
Zugegeben, diese Gedanken sind noch undeutlich, doch vielleicht kannst du mir
helfen herauszufinden, ob ich mit ihnen nicht vielleicht doch eine Richtung zu
beschreiben versuche, die nicht nur für mich einen Weg zur lebendigen Kraft zu
eröffnen vermag. Diese Kraft, die ich in bestimmten Momenten bereits deutlich
spüre, hat etwas Illusionsloses. Sie speist sich nicht aus Entwürfen (z. B. einem
proaktivem Ich), Erwartungen oder Träumen, sondern aus der achtsamen und
deutlich durchspürten Tatsache, dass ich so, wie ich mich spüre, existiere – im
Hier und Jetzt. Diesen Sachverhalt akzeptiere ich nicht nur bewusst – schon
dieses ist eine hilfreiche Übung, setzt sie doch voraus, ein wirkliches „Ja“ zum
Leben zu sagen –, ich habe auch begonnen, aufmerksam darauf zu achten, was
aus diesem „Ja“ alles entstehen kann. Hierzu beschreibe ich mich immer wieder
neu mit meinen Eigenarten, Talenten, Schwächen, Liebenswürdigkeiten – und
ich habe begonnen, diese Fülle als Ausdruck meiner Lebendigkeit wirklich zu
lieben.
Diese „Liebe zu sich selbst“ (Erich Fromm) ist die zweite wesentliche Entschei-
dung, die bewusst zu treffen ist, zumindest hat es mir geholfen, diese „Fragen
auf dem Weg zur Lebendigkeit“ (Tool N) besonnen für mich zu klären. Du
glaubst gar nicht, mit wie vielen „Ja, aber...“ ich mich dabei auseinandersetzen
musste. Doch es hilft nichts: Wir müssen – dies ist die entscheidende Lektion –
80 Brief 7: „Ja, aber!“
„Es gibt nichts Anziehenderes als einen Menschen, der liebt und dem man
anmerkt, dass er nicht nur irgendetwas oder irgendwen, sondern das Leben
liebt“
[ebd., S. 9].
Ja, darum geht es, denke ich. Und es ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit,
die in diesen Überlegungen zum Ausdruck kommt, es ist vielmehr eine Einsicht,
die uns durch unsere Biographie und die in ihr erworbene Art, uns selbst und das
Leben zu spüren, vielfach verstellt ist. Zumindest ich habe den Kontakt zu dieser
einfachen Wahrheit verloren und wohl viele Jahre aus einer falschen Substanz
heraus gelebt. Jetzt habe ich bei Null neu begonnen. Dabei hilft mir der Zugang
zu dem, was die Psychologen das „innere Kind“ nennen. Dieses steht für die
Summe der ursprünglich in uns angelegten Lebensenergie, die teilweise durch
die Anforderungen und Ansprüche, denen wir ausgesetzt gewesen sind, blockiert
oder unterdrückt worden ist. In ihrem „Arbeitsbuch zur Aussöhnung mit dem
inneren Kind“ haben Erika J. Chopich und Margaret Paul (vgl. Chopich/Paul
1999) sich mit dem „Inner Bounding“ auseinandergesetzt und auch konkrete
Hinweise darauf erarbeitet, wie dieses, wenn es versäumt wurde oder verloren
gegangen ist, durch eigenes Reflektieren, Spüren und Lernen wiedergewonnen
werden kann (Tool O). Sie schreiben:
„Unser Alleinsein und unsere Einsamkeit kommen von der inneren Abge-
trenntheit unseres inneren Erwachsenen von unserem inneren Kind. (...) Im
Inner Bounding geht es im Wesentlichen darum zu verstehen, was unser in-
neres Kind braucht, um sich von uns geliebt zu fühlen“
[ebd., S. 13 u. 14].
trösten: Dafür muss das erwachsene Ich gewissermaßen mit seinem kindlichen
Ich in Verbindung treten, so als handele es sich um zwei Personen, die in einem
wirksam sind. Und so ist es ja wohl auch. Der Schmerz und das ziehende Gefühl
sind stets alt, sie sind kindliche Verletzungen, die ungesehen und ungetröstet in
uns lauern – eine für so manches „gestandene Mannsbild“ wie mich zunächst
skurrile Vorstellung. Indem ich aber – zunächst spielerisch, dann zunehmend
ernsthaft bemüht – mit dem Kind, welches ich eins gewesen bin, in Kontakt
komme, gewinne ich auch einen Zugang zu den aus dieser frühen Zeit herüber-
ragenden Denk- und Gefühlprogrammen. Und der Clou der Inner-Bounding-
Theorie besteht nun darin, durch das imaginative In-Beziehung-Treten mit der
eigenen Kindlichkeit die Tröstung gewissermaßen selbst zu vollbringen, weil ja
kein anderer mehr zuständig ist.
Lektion 13:
Der Weg zu einer neuen Lebendigkeit führt über das In-Beziehung-Treten mit
unserem Inneren Kind. Dies bedeutet, dass wir uns in unserer Unvollkommen-
heit und Bedürftigkeit zu sehen lernen und beginnen, uns dieser Seite in uns
verstehend und liebend zuzuwenden. Erst, wenn uns dies gelungen ist, können
wir uns auch einem Gegenüber weniger streng und Recht habend, sondern
prinzipiell wertschätzend und annehmend zuwenden. Denn: Was wir im ande-
ren ablehnen, lehnen wir meistens in uns ab.
In diesem Brief greift Karl noch einmal das Thema Abschied und Loslassen
auf. Dieses steht nach seinem Eindruck immer noch einer wirklichen Neuori-
entierung von Bernhard im Wege. Er zeigt, dass wir nur dann zu einem neu-
en Referenzpunkt für unser Leben gelangen können, wenn wir die erfolgten
Veränderungen und Verluste innerlich angenommen, die notwendigen Ab-
schiede mit all ihren Schmerzen wirklich durchlebt und das Vergangene be-
wusst hinter uns gelassen haben. Der persönliche Referenzpunkt kann dabei
nicht losgelöst von unseren Beliefs entwickelt werden. Bei diesen handelt es
sich um innerliche Gebote, an denen wir unser Leben ausrichten. Erst, wenn
uns diese ganz bewusst geworden sind, können wir auch beginnen, sie zu
verändern oder weiter zu entwickeln.
Lieber Bernhard,
ich habe lange über deinen Brief nachgedacht, der viele komplexe Zusammen-
hänge gleichzeitig in den Blick nimmt, und ich bin erstaunt darüber, wie dich
dein Nachdenken zu den wirklich grundlegenden Fragen moderner Biographien,
aber auch des Lebens generell zu führen scheint. Modern ist das andauernde
Sich-Entscheiden-Müssen, aber eben auch Entscheiden-Können. Moderne Bio-
graphien sind „riskante Biographien“, und auch deine Biographie ist eine solche:
Du stehst vor einer grundlegenden Entscheidungssituation, die viele Bereiche
deines Lebens berührt, aber diese Entscheidungssituation ist Risiko und Chance,
sie fordert die Lösung von Altem, birgt in sich aber auch die Möglichkeit zu
Neuem in sich. Zugleich geht es dir mittlerweile um mehr als um ein Coaching
im Rahmen einer Krisenbewältigung. Die Fragen, die du aufwirfst, lassen keine
nüchterne fachmännische Kommentierung von meiner Seite zu, bin ich doch
selbst als Mensch von all deinen Fragen täglich umstellt, und es sind Fragen, auf
die auch ich nicht unbedingt die alles lösende Antwort habe; ich weiß nur, dass
man sich auch mit Ungewissheit und Gefühlen der Unzufriedenheit arrangieren
muss, sie gehören ebenso zum gelebten Leben wie unsere Glücksmomente und
die Situationen flirrender Lebendigkeit.
Sicherlich, wenn man alles in Frage gestellt hat, dann ist man auch schnell so
eingestellt, dass man radikal nachfragt. Aber wer zu einseitig fragt, der droht, die
fünf Aspekte seines Ichs aus dem Blick zu verlieren, auf die du mich doch selbst
hingewiesen hast (Tool B). Wir bestehen nicht nur aus proaktiven Möglichkei-
ten, sondern auch aus persönlicher Vergangenheit, kulturellem Eingebundensein
und körperlichen Begrenztheiten, weshalb wir uns nicht immer wieder neu er-
finden können. Wir sind festgelegt, und je älter wir geworden sind, desto weni-
ger leicht ist es, nochmals mit unseren Identitätsentwürfen von vorne – neu – zu
beginnen. Es steht nicht mehr alles zur Wahl, aber sehr viel auf dem Spiel. Die
entscheidende Frage ist deshalb, wie bewusst wir mit diesem Festgelegtsein
umgehen und welche Festgelegtheiten wir zu akzeptieren vermögen. Man muss
sich zu dem, was uns das Leben beschert hat, auch entscheiden können, sonst
lebt man in einer inneren Verzweiflung, die einem keine realistischen Horizonte
mehr zugänglich zu machen vermag.
In welche der für dich gewandelten Gegebenheiten hast du wirklich eingewil-
ligt? Diese Einwilligung ist das Erste und Grundlegende, um in eine neue Balan-
ce zu gelangen. Wir müssen die Dinge abgeschlossen haben, bevor wir voller
Kraft weiter marschieren können. Erst, wenn wir in tiefster Seele in das, was
unser Leben geworden ist, auch eingewilligt haben, sind wir in der Lage, unse-
ren Referenzpunkt zu erspüren. Der persönliche Referenzpunkt ist nämlich der
Gewissheitspunkt, aus dem alle Kraft strömt. Wir erreichen ihn nicht durch ent-
schlossenes Nachgrübeln oder gar, indem wir uns von einem Schmerz weggrü-
beln. Er ergibt sich uns vielmehr aus dem aufrechten Durchschreiten des
Schmerzes und einer demutsvollen Haltung gegenüber dem Leben, nicht aus
einer aufbäumenden oder gar verdrängenden Bewegung heraus. Man kann nicht
bedingt „Ja“ sagen zum Leben, und der persönliche Referenzpunkt setzt ein „Ja“
voraus, kein „Ja, aber“, wie du selbst schreibst.
Deshalb habe ich den Eindruck, dass du zunächst eine andere innere Arbeit erle-
digen musst, bevor du wieder Kurs aufnehmen kannst. Dies ist die Arbeit des
Abschiednehmens von den bisherigen Entwürfen deines Lebens und des Akzep-
tierens dessen, was geworden ist. Man kann nicht unterm Mantel die Bilder der
Vergangenheit in die Zukunft hinein schmuggeln, wenn sich aus dieser wirklich
eine neue Kraft und Entschlossenheit ergeben soll. „Loslassen“ und „Akzeptie-
ren“ ist die Empfehlung, die ich dir gebe, und ich schicke dir anbei auch eine
Übung, mit deren Hilfe ich oft und erfolgreich in meinen Coachings gearbeitet
habe (Tool P). Dabei ist wichtig: Loslassen und Akzeptieren setzt voraus, dass
man auch bewusst den Schmerz durch die Verluste, die einem das Leben be-
schert hat, gegangen ist. Wenn man dies versäumt, so weiß ich aus eigener leid-
voller Erfahrung, melden sich die übergangenen Schmerzen wieder – in Tag-
träumen, plötzlicher Schwere oder in einer Uneigentlichkeit des Lebensgefühls.
86 Brief 8: Die Suche nach dem persönlichen Referenzpunkt
Dies alles sind Indizien dafür, dass man nicht in einem neuen Leben ankommen
kann, wenn man nicht wirklich losgelaufen ist. Und der Aufbruch beginnt immer
mit einem Abschied, die Abschiede sind unsere ersten Schritte auf dem Weg in
unsere Zukunft.
In meinen Coachings habe ich es oft mit Männern zu tun, die sich in ihrer Le-
bensmitte fragen, ob sie nicht alles falsch gemacht haben. Einige von ihnen wer-
fen dann in der Tat ihr bisheriges Leben fort, um einer Vision hinterherzulaufen,
die sich nicht selten schon bald als Illusion erweist. Dann sitzen sie wieder in
meiner Beratung und trauern nicht so sehr ihrem bisherigen Leben, das sie auf-
gegeben haben, als vielmehr der damit auch verlorenen Plausibilität und Gebor-
genheit hinterher. Hierin kommt übrigens eine typische Verwechslung zum Aus-
druck, auf die Robert Bly in seinem Männerbuch „Eisenhans“ hinweist. Wenn
wir einmal alles verworfen haben, was sich uns über Jahre aufgebaut und entwi-
ckelt hat, dann dürfen wir nicht erwarten, dass die neue Gewissheit, zu der wir
gelangen, sich ähnlich vertraut anfühlen wird. Denn Gewissheit hat etwas mit
Selbstvertrauen zu tun: ohne Selbstvertrauen keine Gewissheit, ohne Gewissheit
aber auch kein Selbstvertrauen! In dem erwähnten Roman schreibt Pascal Mer-
cier:
„Ein Leben lang haben wir uns angestrengt, es aufzubauen, zu sichern und
zu befestigen, wissend, dass es das kostbarste Gut ist und unverzichtbar für
Glück. Plötzlich dann und mit tückischer Lautlosigkeit öffnet sich eine Fall-
tür, wir fallen ins Bodenlose, und alles, was war, wird zur Fata Morgana“
[ebd., S. 44].
In solchen Situationen stellt sich die Frage nach dem persönlichen Referenz-
punkt. Dieser ist mehr ein gespürter als ein logisch-argumentativer Punkt. Si-
cher, man kann ihn umschreiben oder gar in einen Satz oder eine Formel fassen,
doch im tiefsten Kern geht es um eine emotionale Stellungnahme zu diesem
Satz. Er muss für dich stimmen. Du musst bei seiner Formulierung spüren, dass
es diese eine Orientierung ist, in die alles, was dir wichtig ist, zusammenläuft.
Oft ist es dabei so, dass der erste Satz, der dir einfällt, nicht der eigentliche Satz
ist. Dann musst du weiter zurückgehen. So hatte ich letzthin einen Klienten, mit
dem ich die Übung „Auf der Suche nach meinen 10 Geboten“ (Tool Q) durch-
führte. Zunächst identifizierte er als „Basisgebot“ den Satz „Ich möchte, dass
alle in meinem Umfeld sich optimal entfalten können!“ Ein Satz, der sehr selbst-
los, biophil (um mit Fromm zu sprechen) und systemisch klang. Erst im Verlauf
der Arbeit wurde mehr und mehr deutlich, dass dieser Satz eine Art vorauseilen-
de Werbung um die anderen beinhaltete, dessen heimliche Funktion sich viel
eher in dem Satz „Ich habe Angst, deshalb behandele ich euch zuvorkommend
Brief 8: Die Suche nach dem persönlichen Referenzpunkt 87
(„ich komme euch zuvor“), damit ihr keinen Grund habt, mir etwas zu tun!“ zum
Ausdruck kommt. Nach einiger Arbeit, in der es darum ging, die Tragfähigkeit
des Basisgebotes ganz genau zu durchspüren, formulierte er den Satz „Du musst
mit der eigenen Angst den anderen zuvorkommen!“
Lektion 14:
Man muss bewusst die Schmerzen, die einem das Leben beschert hat, akzep-
tieren. Man kann nicht in einem neuen Leben ankommen, wenn man nicht wirk-
lich losgelaufen ist. Und der Aufbruch beginnt immer mit einem Abschied, die
Abschiede sind unsere ersten Schritte auf dem Weg in unsere Zukunft.
werden. Spätestens bei der dritten oder vierten Wiederholung einer solchen Situ-
ation meldet sich doch zaghafter Selbstzweifel, ob hier nicht in uns etwas wirkt,
das sich in unser Leben einmischt und uns immer wieder in ähnliche Lagen
bringt. Und wir sind dann allmählich bereit, unser Beliefsystem systematischer
kennenzulernen, zu reflektieren oder gar zu verändern.
Ist dieser Punkt erreicht, dann bietet sich die Chance zu wirklich selbstreflexivem
emotionalem Lernen. Als „emotionales Lernen“ kann man ein Lernen bezeich-
nen, welches die eigene Person mit dem, was sie in Wahrheit treibt, zum Ge-
genstand hat. Es ist ein Lernen des inneren Weges (vgl. Villon 2003). Man begibt
sich zu sich und seinem Leben in eine analysierende Distanz und nimmt eine Art
Beobachterposition ein. Dies ist nicht leicht, und es gelingt selten ohne eine
professionelle Hilfe, ohne eine Begleitung, die einem – zumindest zu Beginn –
hilft, das Vertraute anders und mit verändertem Blick zu betrachten. Aus diesem
Grunde, lieber Bernhard, würde ich dir raten, dir auch eine Beratung vor Ort zu
organisieren, denn es gibt Schritte im persönlichen Reifungsprozess, die gelin-
gen einem bloß, wenn man unmittelbar in einem Prozess begleitet wird. Die
Rekonstruktion und Transformation des Beliefsystems ist ein solcher Schritt.
Lektion 15:
Die Rekonstruktion unserer Beliefsystems ist ein wesentlicher Schritt auf dem
inneren Weg. Indem wir uns dazu entscheiden, uns genauer zu vergegenwärti-
gen, welche inneren Gebote unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen,
stärke ich meine Selbstbeobachtungsposition und bin mehr und mehr in der
Lage, die Gebote infrage zu stellen oder zu transformieren, die uns an das Ver-
gangene oder Vergehende fesseln. Nur so können wir die Loslösung im Innen
schaffen, welche Voraussetzung dafür ist, auch im Außen wirkliche Abschiede
und Veränderungen erfolgreich zu gestalten.
Wenn du dich wirklich dafür entscheidest, einen solchen inneren Weg einzu-
schlagen, triffst du eine Entscheidung. Das altgriechische Wort für „Entschei-
dung“ ist „Krisis“: Wir sind in der Krise, wenn wir vertraute Bahnen, gewohnte
Sichtweisen, Haltungen und Eigenarten zu hinterfragen beginnen. Und wer hin-
terfragt, hat bereits den ersten Schritt in Richtung Veränderung getan. Er erkennt
mehr und mehr die eigenen inneren Mechanismen, mit denen er sich sein Leben
und seine Welt konstruiert, und es tun sich ihm bislang ungeahnte Möglichkeiten
auf, sich selbst und die Welt anders zu fühlen und zu „konstruieren“. Dies klingt
leichter als es ist, hängen doch die vertrauten Gefühle und Gewohnheiten wie ein
zäher Klebstoff in uns und verkleben uns – um im Bild zu bleiben – den „klaren“
Blick auf das, was tatsächlich wirkt und ist.
Brief 8: Die Suche nach dem persönlichen Referenzpunkt 89
Wer sich auf einen solchen Weg einlässt, erarbeitet sich auch nach und nach ein
anderes Verständnis von dem, was „Wirklichkeit“ ist: Es ist das, was auf unser
Bewusstsein wirkt, was wir erkennen und fühlen. Doch dieser Vorgang verläuft
nicht eindimensional, etwa vergleichbar dem Belichten einer Filmrolle. Es ist
vielmehr so, dass man nur das sieht und fühlt, was man zu erkennen vermag. Es
sind unsere Beliefs, aus denen heraus wir auf das reagieren, was auf uns wirkt.
Die sogenannte Wirklichkeit ist somit subjektiv konstruiert – zumindest in einem
stärkeren Maße, als uns dies in unseren alltäglichen Interaktionen bewusst ist.
Dies bedeutet, dass beides, „Erkennen“ und „Fühlen“, aktiv-schaffende Tätigkei-
ten sind. In ihnen drücken sich die in uns bereits vorhandenen Kategorisierungen
und „Wahrnehmungsbereitschaften“ (Hayward 1996, S. 18) aus, weshalb das,
was wir erleben, mehr Eigenes als Objektives ist. Einem gründlichen Nachspü-
ren des Zusammenwirkens der inneren und äußeren Aspekte von Erkennen und
Fühlen kann nämlich nicht verborgen bleiben, „(...) dass wir die Dinge erst kate-
gorisieren, um sie überhaupt wahrnehmen zu können“ (ebd., S. 19). Und „Wahr-
nehmungsbereitschaft“ ist in diesem Zusammenhang
„(...) die Neigung von Menschen und Tieren, sich auf eine bestimmte Art des
Wahrnehmens einzustellen oder bestimmte Wahrnehmungen zu erwarten –
und diese Erwartungen bestimmen dann bis zu einem gewissen Grad, was
tatsächlich wahrgenommen wird“
[ebd.].
Selbst unsere Abschiede werden durch die in unseren Beliefs angelegten Wahr-
nehmungsbereitschaften getragen. Diese können wir nur schwer aufgeben, denn
sie sind tief in unseren Emotionen verankert. Es sind Emotionen, die unser Ich
zusammenhalten. Jeder Verlust ist so auch immer eine Bedrohung unseres Ichs.
Dies geschieht, wenn wir lieb gewonnene Menschen verlieren oder Vertrautes
aufgeben und verlassen müssen. Dann überschwemmen uns Emotionen, und
manchmal haben wir das Gefühl, von ihnen fort getragen zu werden. Diese
Emotionen können wir nur schweigend durchspüren, sie zeigen sich uns, wenn
wir die schmerzhaften Situationen nochmals in unserer Erinnerung aufrufen und
alles zulassen, was sich an Stimmung und enttäuschter Hoffnung in uns ausbrei-
tet. Wir müssen diese innere Bewegtheit in der Regel mehrfach durchspüren, um
sie zu überwinden. Nur das Undurchspürte, Übergangene oder gar Verdrängte
wirkt aus dem Hintergrund heraus fort. Das, was wir bis zum Grunde unserer
Seele durchlitten und von dem wir uns verabschiedet haben, hingegen können
wir loslassen und verabschieden. Dies, lieber Bernhard, steht dir noch bevor. du
bist nach meinem Eindruck zu schnell wieder unterwegs und zu rasch aufgebro-
90 Brief 8: Die Suche nach dem persönlichen Referenzpunkt
chen. Warum hast du dir keine Zeit für Trauer und Verarbeitung gelassen? Es
steht immer noch mehr Inneres als Äußeres an, denn im Äußeren kann – wie du
ja weißt – nur sein, was im Inneren sein kann.
So viel für heute –
Gruß Karl
Brief 9: „Macht macht nichts!“ 91
In der Art und Weise, wie wir mit der uns zugewachsenen und anvertrauten
Macht umgehen, zeigt sich, wer wir sind und wer wir sein können. Es ist die-
ser Zusammenhang, um den es Bernhard in diesem Brief geht. Dabei be-
schreibt er die Macht aus der ungewohnten Perspektive des inneren Macht-
verzichts und skizziert fünf Dimensionen einer systemischen Führungskom-
petenz. Es geht ihm jedoch nicht nur um die Entwicklung einer weiteren
Führungslehre, ihn interessiert – aus drängender Betroffenheit heraus – der
subtile Identitätsstoff der Macht. Diesen beschreibt er als flüchtig und eigent-
lich überhaupt nicht wirklich nahrhaft. Er schildert, wie dieser Stoff einem in
den Spannungslagen zwischen Eigenem und Fremdem, Deutendem und
Umdeutendem, Zugewandtem und Rücksichtslosem sowie Innerem und
Äußerem sozusagen zwischen den Fingern der Hand, die nach der Macht
greift, zerrinnt. Es bedarf einer anderen Ausdrucksform, um im Kontakt mit
der eigenen Lebendigkeit für sich selbst und damit auch für andere voranzu-
kommen.
Lieber Karl,
vielen Dank für deine Zeilen, die mich auch etwas auf den Boden der Realität
zurückgeholt haben. Selbstbeobachtung ist anstrengend und macht einsam; dies
hatte ich auch bereits zu merken begonnen. Und noch etwas ist mir aufgefallen:
Es ist schwer, sich von den Dingen, die man im Außen bereits aufgegeben oder
verloren hat, wirklich zu verabschieden. Mir ist mit Hilfe deiner Anregungen
und Tools deutlich geworden, dass ich zwar meine Familie und meine innere
berufliche Sicherheit und auch Unangefochtenheit verloren habe, aber immer
noch so weitermache wie bisher. Es erfordert eine eigene Anstrengung und eini-
ge Arbeit, das Innere wirklich auf die veränderten Lagen, in denen man sich
wiederfindet, einzustellen – fast möchte ich sagen „einzuschwören“. Ja, das ist
und war Arbeit: etwas, das einem nicht leicht „von der Hand“ geht. Als ich mir
wirklich nochmals vor Augen führte, was ich in meinem Leben unwiederbring-
bar verloren habe und welche innere Veränderung mir dies abverlangt, habe ich
deutlich gespürt, wie viel Kraft mich dies alles in den letzten Wochen und Mona-
ten gekostet hat: Trotz all der klugen Einsichten, die wir miteinander ausge-
tauscht haben, war und ist es ein wirklich schweres Stück Arbeit.
In diesem Zusammenhang habe ich auch ein neues inneres Verhältnis zur Macht
bzw. zu Machpositionen bekommen – eine für mich überraschende Wirkung
unseres Dialogs. Denn zur Macht hatte ich eigentlich keine wirkliche Haltung in
meiner Laufbahn entwickelt. Sie wuchs mir im Verlauf meiner beruflichen Ent-
wicklung als Gestaltungschance zu, heute bin ich als Chef und nicht mehr als
Mitarbeiter zuständig. Es ging mir – zumindest bewusst – niemals darum, nur
das Sagen zu haben, sondern immer um die Möglichkeit, aber auch die Verant-
wortung, die Projekte so aufzuschienen und zu realisieren, dass sie zum Erfolg
führten. Es war meine eigene erfolgreiche berufliche Entwicklung, die mich in
eine Situation führte, in der ich mich plötzlich auch für den Erfolg eines Ganzen
zuständig sah. Wer Macht hat, der ist in der Lage, andere Menschen zur Befol-
gung seines Willens zu veranlassen – so ähnlich lautete doch die Definition von
Max Weber5, die du uns als Studierende beigebracht hast? Aber ist diese Defini-
tion vollständig? Hat Max Weber um die innere Gestalt der Macht, die mir mehr
und mehr entgleitet, gewusst? Und hat Max Weber uns genügend Hinweise dazu
geliefert, wie die Macht von denen gesehen wird, die sie nicht haben? Macht ist
irgendwie auch ein geteiltes Erleben – ein Erleben allerdings von ganz unter-
schiedlichen Beobachterpositionen aus. In keinem der zahlreichen Management-
trainings, an denen ich selbst teilgenommen habe, sind wir auf diese Systemik
der Macht wirklich gezielt vorbereitet worden.
Diese Systemik ist durch die Gleichzeitigkeit einer mehrfachen Dynamik ge-
kennzeichnet, in welcher sich Eigenes und Fremdes, Deutendes und Umdeuten-
des, Zugewandtes und Rücksichtsloses sowie Inneres und Äußeres zu einer ei-
gentümlichen Gemengelage vermischen. „Macht“ als solche gibt es nur als
formale Reglements bzw. als die Beschreibung der Zusammenarbeit in einer
Sprache, die von allen irgendwie verstanden wird, wenn sie sich auch unter-
schiedlich daran halten. Zumeist ist es die Sprache der Arbeitsplatz- und Zustän-
digkeitsbeschreibungen, in der wir die Hierarchie des Miteinanders beschreiben.
Diese stellt nur eine vordergründige Eindeutigkeit her. Macht wird aber nur
wirksam, wenn sie eine Resonanz zu entfalten vermag. Dies gelingt nur, wenn
alle Beteiligten die Komplexität der unterschiedlichen Wirklichkeitsbeschrei-
bungen, die die Selbstbilder und das kooperative Handeln der Menschen
bestimmen, so zu „managen“ in der Lage sind, dass eine relativ dauerhafte, er-
folgreiche gemeinsame Entwicklung möglich wird, wobei es um Integration,
aber auch um Desintegration geht, denn: Wer die Spielregeln nicht akzeptiert,
der kann nur selbst mit seiner „Sicht der Dinge“ dominieren, aber nicht koope-
rieren, was nur so lange „gut“ geht, solange die anderen Beteiligten diese Domi-
nanz, die häufig in einer Unbelehrbarkeit und Rechthaberei zutage tritt, ertragen.
5 Max Weber bezeichnet das Soziale Handeln als ein „sinnhaft motiviertes Handeln“ (We-
ber 1972, S. 1 ff. und 5 ff.).
Brief 9: „Macht macht nichts!“ 93
Nach meiner Erfahrung sind es dabei keineswegs immer nur die Chefs, die zur
Dominanz neigen, viel verbreiteter ist der Dominanzanspruch bei denen, die ich
gerne „die ewigen Zweiten“ nennen möchte. Sie sind oft äußerlich wie innerlich
noch nicht an ihre Grenzen gestoßen – zumindest leben sie in dem Bewusstsein,
dass ihnen das Leben noch einen weiteren Schritt schuldet, was sie bisweilen
rücksichtslos und dominant werden lässt. Sie messen dann die Welt an ihrem
inneren Anspruch, ohne dass ihnen dies bewusst ist.
Es gibt mehrere Stimmen in mir, die mein Verhältnis zur Macht bestimmen. Da
ist die Stimme der Verantwortung für Ziele und Menschen, die leider oft übertönt
wird durch eine ganz kindliche Stimme, der es um das Ich-Echo geht („ich spüre
mich, wenn andere mir folgen“), oder eine Bedeutsamkeitsstimme, die mir zu-
ruft: „Hast du was, dann bist du was.“ Eine andere Stimme sagt mir – eher leise
– „Du bist nicht alleine“ (Beziehungsstimme), wobei sie dies mit wenig Über-
zeugungskraft sagt. Überzeugender klingt da schon die Stimme, die zu mir sagt:
„Dies ist deine Bestimmung“, wobei sie dies wirklich mit viel Kraft und Energie
sagt, dabei aber deutlich das Deine betont (Energiestimme). Ganz nahe bei ihr ist
eine etwas hektische Stimme, die Aktivitätsstimme, die ruft: „Ich agiere wie
verrückt, also bin ich!“, wobei neben ihr eine andere Stimme mit dem Satz er-
tönt: „Du lenkst nur ab“ (Ablenkungsstimme), jedoch sogleich verstummt und
nicht erklärt, was sie eigentlich meint. Wie überhaupt alle nur mit einem Satz zu
mir reden, so als würden sie mir Parolen verkünden oder besser gesagt „Paroli
bieten“. Es gibt auch noch andere Stimmen in mir, die ich aber noch nicht so
deutlich zu vernehmen vermag, da sie von ferne dazwischenrufen. Da ist eine
Stimme, die eher flüsternd vor sich hin spricht und sagt: „Wir lassen uns nichts
sagen, wir haben selbst das Sagen.“ Es scheint mir, dass diese Stimme weit aus
der Vergangenheit zu mir spricht, und wenn ich ganz genau lausche, dann sind es
mehrere Stimmen, die dies raunen, wobei ich auch Sätze vernehme, wie „Du
lebst nicht umsonst“ (Bestimmungsstimme). Und es ist auch eine Stimme dabei,
die sagt „Nur, wenn es nicht um dich geht, bist du wirklich in der Führung“
(Stimme der Weisheit). Es ist diese ganz leise, sonore Stimme, die ich mehr und
mehr zu vernehmen vermag. Man kann sie zunächst nicht hören, aber wenn man
genau hinhört, dann ist sie es, von der Ruhe und Kraft ausgeht. Sie trägt – wie
ein Kontrabass – den vielstimmigen Kanon in mir, wenn du verstehst, was ich
meine. In den letzten Tagen habe ich begonnen, mich mit diesen einzelnen
Stimmen genauer zu beschäftigen. Ich habe sie eingeladen zu mir nach Hause,
auf Stühle gesetzt und sie mir betrachtet. Es ist eine regelrechte Methode dabei
entstanden – eine weitere Methode für unsere Sammlung (Tool R).
Wer rücksichtslos dominant ist, ist oft – so das Ergebnis meiner langjährigen
Beobachtungen in meinem beruflichen Umfeld – in Wahrheit am bedürftigsten.
Er ist tief im Inneren am weitesten von einem Zugang zu seinen eigenen Kräften
94 Brief 9: „Macht macht nichts!“
und Reifungspotenzialen entfernt. Dies ist eine letztlich tragische innere Situati-
on, versperrt einem doch die Dominanz den Zugang zu genau den Bereichen des
eigenen Selbst, aus denen sich die Kraft für eine wirkliche Führungskompetenz
ergeben könnte. Man muss seine eigene Begrenzung erkannt und anerkannt ha-
ben, um in der Position, die einem das Leben gibt, kooperativ und produktiv
handeln zu können. Und diese Begrenzung kann man nur anerkennen, wenn man
seine Begrenztheit bzw. die Begrenztheit seines Lebens als solche nicht mehr
verdrängt. Wenn Montaigne, auf den ich bereits in meinem ersten Brief zu spre-
chen kam, schreibt: „Wer Sterben gelernt hat, versteht das Dienen nicht mehr“
(Montaigne 1976, S. 16), dann gilt dies auch für die Ausübung von Macht: „Soll
ich mich um den Lauf der Dinge dieser Welt bekümmern?“(ebd., S. 54) – fragt
Montaigne, der „Grübler“, wie er sich selbst nennt, denn: „Mit nichts hab´ ich
mich in meinem Leben mehr abgegeben als mit dem Nachdenken über den Tod,
selbst in meinem ausgelassensten, flüchtigsten Alter“ (ebd., S. 16). Dieser philo-
sophische Gedanke lässt die Versprechungen der Macht oder das, was wir uns
von ihr versprechen, in ihrer ganzen Substanzlosigkeit deutlich zutage treten. So
zitiert Norbert Bischof aus dem „Buch der moralischen Briefe“ von Seneca:
„Darin täuschen wir uns nämlich, dass wir den Tod vor uns sehen: Zu ei-
nem großen Teil ist er schon vorbeigegangen. Alles, was von der Lebenszeit
hinter uns ist, hat der Tod in Besitz“
[Bischof 2004, S. 27].
Mit geht es ganz ähnlich: Ich beobachte mich, wie ich meine Machtposition
ausübe, und bin doch nicht (mehr) wirklich dabei, seit sich die Abschiede in
meinem Leben zu häufen begannen. Und doch erscheint mir genau diese
Gleichgültigkeit mehr und mehr als die einzig angemessene Haltung gegenüber
den Anforderungen, die meine Position mit sich bringt. Erst, wenn man sich
ganz von den inneren Anliegen, die einen an äußeren Positionen anhaften lassen,
gelöst hat, ist man wirklich in der Lage, den Anliegen der Sache gemäß zu han-
deln und dazu beizutragen, dass das Lebendige, das einen umgibt, sich produktiv
zu entfalten vermag. Dies spüre ich in meinem Verhältnis zur Macht ganz deut-
lich, und die einzige Schwierigkeit, die ich dabei innerlich erlebe, ist die, dass
ich sehe, wie andere meine Motive missverstehen und danach drängen, selbst in
die Lücke zu treten – aus „niederen Motiven“, wie ich mir dann beruhigend ein-
rede. „Niedere Motive“ sind solche, die nur der eigenen Bedeutsamkeit und dem
persönlichen Narzissmus dienen. Das angeblich „sachlich Notwendige“ lässt
sich fast stets als das ihnen selbst, ihrer Aufwertung und Bedeutsamkeit, Die-
nende entschlüsseln – Bestrebungen, mit denen sie zwar persönlich erfolgreich
sein können, der Sache selbst aber nicht in einer Weise dienen, dass die Energien
und Kräfte des Lebendigen sich wirklich koevolutiv zu entfalten vermögen.
Brief 9: „Macht macht nichts!“ 95
Wer in seiner Machposition oder in der Macht, die er anstrebt, nur einen Insze-
nierungsanlass für eigene unbewusste oder unerledigte Anerkennungsarbeit zu
sehen vermag, der verwechselt gewissermaßen beständig die Ebenen, kämpft,
wo nichts zu bekämpfen ist, und verfolgt, wo kein Bedrohungsanlass gegeben
ist, oder belehrt, wo keine Lernbedarfe vorliegen. Solche Verhaltensweisen beo-
bachte ich sehr häufig in meinem Umfeld. Nach meinem Eindruck lassen sie
sich insbesondere bei Führungskräften beobachten, sodass ich bisweilen sogar
den Eindruck habe, dass zu Führungspositionen bevorzugt Menschen Zugang
finden, um deren eigene Authentizität es keineswegs zum Besten bestellt ist. In
diesem Sinne schreibt Kets de Vries:
Eine solche Führungskraft mit einem „unvollständige(n) Selbst“ (ebd.), die letzt-
lich stark aus eigenen inneren Motivebenen heraus in ihrem Verhalten bestimmt
ist, kann das systemische Wachstum von Mitarbeitern, Teams oder Organisatio-
nen nicht wirklich fördernd begleiten oder gar anleiten. Sie unterliegt beständig
einer überwertig verzerrten Wahrnehmung und handelt entsprechend unange-
messen. Es werden dann Entscheidungen gefällt, die nicht der Sache dienen,
Kooperationen aus einem diffusen Gefühl heraus begonnen oder beendet oder
Erfolgskriterien definiert, die letztlich nur der eigenen Selbstüberhöhung dienen.
Eine unvollständig in ihrem Selbst erstarkte Führungskraft hat nicht den Erfolg
des Ganzen als solchen im Blick, sondern nutzt häufig diesen Erfolg bloß, um
eigenen inneren Maßstäben des Identitätserlebens Genüge zu tun. Die Logik
ihres Handelns erschließt sich einer äußeren Beobachtung nur begrenzt, man
96 Brief 9: „Macht macht nichts!“
Für narzisstisch gestörte Führungskräfte oder – was oft noch schlimmere Folgen
hat – solche, die es werden wollen und die ihre Grenzen und Begrenztheiten
niemals anerkennen können und deshalb nicht zur Ruhe kommen, ist Macht ein
Instrument der eigenen Persönlichkeits-Inszenierung. Aus diesem Grunde ist der
Narzissmus das genaue Gegenteil einer systemischen Haltung, wie ich sie zu
leben versuche. Eine systemische Haltung ist sich der eigenen Grenzen und Be-
grenztheiten bewusst und hängt deshalb auch nicht an der Macht. Gerade dann,
wenn eine Person so weit ist, dass sie auf sämtliche Machtpositionen verzichten
könnte, ist sie zur optimalen Förderung systemischer Lebendigkeit in der Lage.
Sie „braucht“ Macht dann nicht länger als eine Art Wachstumshormon für das
eigene Well-Being und ist deshalb ganz in der Lage, die eigenen Energien der
Emergenz des Lebendigen zu widmen. Wir alle erkennen, ob und inwieweit
Führungskräfte bereits wirklich in der Lage sind, aus einer solchen Substanz
heraus zu handeln, und oftmals müssen wir aufpassen, dass sie uns nicht entglei-
ten, denn sie artikulieren ihren eigenen Führungsanspruch selten offensiv. „Ich
habe einen klaren Führungsanspruch!“, sagte mir der erwähnte Kollege in dem
Gespräch, doch ich konnte überhaupt nicht erkennen, aus welchen Visionen,
Zielen, Stilen und systemischer Zugewandtheit dieser Führungsanspruch denn
bestehen könnte. Und wenige Minuten später, als es um eine strittige Entschei-
dung, die er getroffen hatte, ging, bekam ich zu hören: „Lieber gehe ich doch
irgendwo Bücher abstauben, als dass ich in einer Firma bleibe, die meine Ent-
scheidungen nicht respektiert!“ Es ist ein Führungsanspruch um seiner selbst
willen, durch den die narzisstische Führungskraft in ihrem Denken, Fühlen und
Handeln geleitet wird. Es geht ihr um alles oder nichts, und das Nichts kann
auch der eigene Tod sein, wie Hans-Jürgen Wirth am Fall eines bekannten Poli-
tikers zeigt. Der Missbrauch der Macht als Droge führt schließlich zu einem
„Bilanzselbstmord“ (ebd., S. 170), wenn einem die Macht entgleitet. Es sind also
– und das fand ich dann doch überraschend – dieses ungeklärte Verhältnis zum
eigenen Selbst und zur eigenen Begrenzung und Begrenztheit sowie die tief
verwurzelten Selbstzweifel, die dem eigenen Leben ein Ende setzen: „Diese
Selbstverachtung kommt auch in der Geringschätzung des eigenen Lebens zum
Ausdruck“ (ebd., S. 170).
Mich überrascht es selbst, wie mich die Fragen nach meinem eigenen Verhältnis
zur Macht zu ganz grundsätzlichen Überlegungen in Bezug auf das wahre
Selbst, die Grenzen und Begrenztheiten dieses Selbst und die Substanz eines
berechtigten Führungsanspruches bringen. Mein Eindruck ist: Führungskräfte
brauchen eine gewisse narzisstische Grundstörung, um zu Führungskräften zu
werden, sie müssen diese jedoch – und ist dies nicht eine wichtige Funktion von
Trainigs- und Coachingangeboten? – überwinden, um die Macht nicht mehr
nötig zu haben. Erst dann können sie zu systemisch wirksamen Führungskräften
98 Brief 9: „Macht macht nichts!“
werden, denn: „Der Narzissmus erscheint mit dem Egoismus assoziiert und
demnach als eine antisoziale Eigenschaft“ (ebd., S. 25). Das Antisoziale ist aber
auch antisystemisch. Die narzisstische Führungskraft kann ausschließlich nur zu
ihren eigenen Bedingungen beobachten und beurteilen, sie ist sich ihrer „Voice
of Judgement“ (Senge u. a. 2005) nicht wirklich bewusst. Sie kann deshalb auch
nur schwer mit Widerständen und Unsicherheiten umgehen. In einem systemi-
schen Buch las ich:
„Soziale Systeme erzeugen Komplexität ganz von sich aus. Komplexität ent-
steht aus der Vielfalt und der Unberechenbarkeit von Gefühlen, Einstellun-
gen, Zielen und Verhalten:
– einerseits der Vielfalt der Möglichkeiten von Bedürfnissen, Verhalten
und Deutungen in einem sozialen System,
– andererseits der Unberechenbarkeit von Interaktionen und Ereignissen
in einem sozialen System.
„Komplexe Situationen sind nicht einfach durchschaubar und steuerbar.
Unsicherheit ist demnach normal in sozialen Systemen“
[Renolder/Scala/Rabenstein 2007, S. 87].
Eine Führung, die wirkliche Resonanz in einem System erreichen will, muss
nach meiner Erfahrung gleichzeitig fünf Voraussetzungen erfüllen. Dies sind –
wenn du so willst – die fünf Finger einer Hand, mit der die systemische Füh-
rungskraft gleichwohl niemanden „an die Hand nimmt“, sondern Voraussetzun-
gen für Entwicklung und Wachstum schafft (vgl. Tool S):
Wer systemisch nachhaltig führt, muss nicht nur in einer klaren und überzeugen-
den Weise mit seiner Verantwortung umgehen können. Notwendig ist dafür, dass
ich als Führungskraft Vernetzungen stiften, verschiedene Lesarten integrieren
und gleichzeitig doch verantwortlich und mit großer Entschlossenheit handeln
kann. Eine Führungskraft, die in der Lage ist, in einer Weise wirksam zu sein,
Brief 9: „Macht macht nichts!“ 99
Lektion 16:
Systemische Führung umfasst fünf Dimensionen: Wer systemisch führt, führt
wirksam und nachhaltig. Er nimmt seine Verantwortung wahr, indem er fachlich
kompetente und visionäre Klarheit gewährleistet. Zudem vermag er mit den Er-
wartungen der unterschiedlichen Akteure in einer Weise umzugehen, die Reso-
nanz erzeugt. Sein eigener Machtanspruch ist sich der eigenen Grenzen und
Begrenztheit bewusst, er hat innerlich auf die Macht verzichtet. Schließlich ver-
fügt er auch über die Fähigkeiten mit Verschiedenheit und Abgrenzung so um-
zugehen, dass die Lebendigkeit und Produktivität des Systems gewahrt bleibt.
Was ist meine Substanz, aus der heraus ich führen will? Wenn ich mir diese Fra-
ge stelle und einen wirklichen Macht-Check (Tool T) durchführe, dann gelange
ich zu einer inneren Haltung, die mir sagt, dass ich Macht nicht nötig habe und
nur dann eine wirklich gute Führungskraft sein kann, wenn ich aus diesem Be-
wusstsein heraus zu handeln vermag. „Was wäre, wenn Ihre Firma Ihnen morgen
eröffnen würde, dass man Sie nicht mehr benötigt?“ Dies ist eine beliebte Frage
in systemischen Führungskräftetrainings, in denen Führungskräfte auf die Fä-
higkeit zum inneren Machtverzicht vorbereitet werden. In einem solchen Trai-
ning, an dem ich selbst teilnahm, wurden die Teilnehmenden aufgefordert, ihr
eigenes Kündigungsschreiben zu entwerfen, in dem sie ihren Vorgesetzten (z. B.
dem Direktor oder dem Aufsichtsrat) verdeutlichen sollten, a) dass sie sich für
die Verwirklichung anderer Optionen in ihrem Leben entschieden haben, die sie
überzeugend begründen sollten, und b) dass sie zugleich auch der Auffassung
sind, dass es für das System auch ganz gut sei, einmal ohne sie zurechtzukom-
100 Brief 9: „Macht macht nichts!“
men, was sie ebenfalls glaubwürdig begründen sollten. Wie schreibt Pascal Mer-
cier in seinem Erfolgsroman „Nachzug nach Lissabon“ (ich erzählte dir in einem
meiner früheren Briefe bereits von diesem faszinierenden Buch)? Genau erinne-
re ich mich nicht an das Zitat, aber er wirft etwa sinngemäß die Frage auf:
„Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in
uns ist – was geschieht mit dem Rest?“ (Mercier 2006). Ist dies nicht auch für
Führungskräfte die alles entscheidende Frage?
Meine überraschendste Erfahrung mit der Macht ist allerdings die, dass diese
Macht, zu der uns unsere Entwicklung geführt hat, irgendwie nicht hält, was wir
uns von ihr versprochen haben. Dies ist die wohl größte Enttäuschung so man-
cher Manager. Plötzlich stellen sie überrascht fest, dass der Stoff der Kooperati-
on ein anderer ist als der der eigenen Selbstverwirklichung. Die Dinge laufen
nicht so wie geplant, und vieles erweist sich als widerständig oder schwierig.
Während die Selbstverwirklichung einem – dem eigenen – Fokus folgt, ist Füh-
rung stets multifokal, und in stillen Stunden habe ich mich gefragt, wie es wäre,
wenn man diese Konstellation einmal auswechseln würde. Der eigenen Selbst-
verwirklichung würde ein Multifokus sicherlich guttun, und auch die Führung
bedarf bisweilen eines zentralen Fokus, will man sich nicht in der Vielfalt der
Interessen, Deutungen und Ansprüche verlieren.
„Macht macht nichts!“ Sie hält nicht, was sie verspricht oder was wir uns von ihr
versprechen. Der Identitätsstoff der Macht ist flüchtig und eigentlich überhaupt
nicht wirklich nahrhaft, er zerrinnt in den Spannungslagen zwischen Eigenem
und Fremdem, Deutendem und Umdeutendem, Zugewandtem und Rücksichtslo-
sem sowie Innerem und Äußerem, wie ich aus eigener leid- und machtvoller
Erfahrung weiß.
Selbst, wenn wir Macht haben, oder gerade, weil wir Macht haben, bleiben wir
uns in ihr fremd. Andere reduzieren uns auf ihre Aspekte, und wir drohen hinter
diesen verloren zu gehen – uns selbst und den anderen. Mit der Macht sind Er-
wartungen verbunden, die uns eine Entschlossenheit abverlangen, die wir tief in
unserem Herzen oft nicht haben. Allmählich verlieren wir durch das entschlos-
sene Tun, zu dem uns unsere Macht nötigt, den Kontakt zu unserer eigenen Un-
entschlossenheit und damit auch oft zu unserer Umsicht und Vorsicht. Manager
und Managerinnen müssen deshalb diese verblassenden Dimensionen des
Machterlebens kultivieren. Viele Jahre habe ich vergeblich nach Möglichkeiten
gesucht, mir diese Zugänge zu meiner Ohnmacht zu erhalten, da ich stets intuitiv
spürte, dass ich nur dann die Macht wirklich systemisch angemessen ausüben
kann, wenn ich in einem deutlichen Bezug zu meiner Ohnmacht bleibe.
Brief 9: „Macht macht nichts!“ 101
Macht ist der Energiefokus, aus dem heraus wir deuten und umdeuten. Er speist
unsere Gewissheiten – ein Mechanismus, über den wir uns schon einmal ausge-
tauscht haben. Wer Macht ausübt, muss sich nach meiner Erfahrung mit dem
Umdeuten auskennen. Denn andere deuten bestimmte Situationen und Konstel-
lationen anders, und oftmals müssen wir im Prozess umdeuten, da wir mit der
bisherigen Lesart nicht mehr weiterkommen. Es geht dabei um die Konstruktivi-
tät und die Rigidität unseres Umgangs mit unseren Konstruktionen und denen
anderer. Das meiste habe ich von Trainings profitiert, in denen meine Perspekti-
ven vervielfältigt wurden. Es geht dabei um den „(…) Abschied vom Richtig-
Falsch-Denken und die Hinwendung zu einem iterativen Denken in Prozessen
und Schritten. Die Kraft der Intuition, die Inspiration der Mehrperspektivität und
die Bereitschaft zum Nutzen riskanter Chancen wirken beflügelnd“
(Schley/Schratz 2007, o. S.). Wer Macht hat, deutet Situationen und Zuständig-
keiten meist aus der Perspektive seiner eigenen Kontroll- und Gestaltungsmög-
lichkeiten, was soweit gehen kann, dass er den nüchternen Blick für die Gege-
benheiten bisweilen fast vollständig verliert. Dies ist die egozentrische
Verzerrung des Blickes. Immer wieder begegnet mir aber auch der umgekehrte
Sachverhalt: Jemand ist in eine Machtposition gelangt, weil er die Dinge so ver-
zerrt sieht, wie er sie sieht. Egozentrische Blickverzerrung und Macht sind somit
auch irgendwie wechselseitige Voraussetzungen für so manche Karrieren.
Es hat mich einiges an Kraft und Enttäuschungen gekostet, bis ich verstanden
habe, dass Zugewandtheit zu den anderen Akteuren eine zwingende Vorausset-
zung für ein systemisch wirkungsvolles Handeln ist, sich dieses jedoch nicht
„lohnt“ – zumindest nicht für einen selbst. Die anderen agieren nach ihren eige-
nen Maßgaben, folgen ihren Deutungen, verfolgen ihre Interessen und haben
stets Begründungen parat, mit denen sie auch die größte Rücksichtslosigkeit in
einem sachlich gerechtfertigten Licht erscheinen lassen können. Es ist schwer,
diese notwendige Zugewandtheit einerseits und die oft erlebbare Rücksichtslo-
sigkeit „auszuhalten“, zumindest mir ist dies in zahlreichen Situationen schwer-
gefallen. Meine Zugewandtheit war über viele Jahre bemüht und nicht professi-
onell. Deshalb konnte ich enttäuscht werden – ein Stoff, der keinen Ausdruck in
professionell gestalteten Beziehungen finden darf, wie ich heute weiß. Wir wer-
den als Führungskräfte dafür bezahlt, dass wir uns zuwenden, und wir werden
auch dafür bezahlt, dass wir immer und immer wieder enttäuscht werden kön-
nen. Unsere Führungsrolle ist eine sachliche Funktion, unsere Beziehungserwar-
102 Brief 9: „Macht macht nichts!“
tungen sollten wir außerhalb dieser Funktion und möglichst mit anderen Men-
schen erfüllen. Beziehungsfähigkeit ist zwar einerseits eine wichtige Vorausset-
zung für erfolgreiches Führungshandeln, gleichzeitig haben die möglichen Be-
ziehungen in machtstrukturierter Kommunikation aber auch ihre Grenzen. Die
Empathie ist wichtig, um die Energien, Vorbehalte und Motive der Beteiligten zu
spüren, die Distanz ist allerdings notwendig, um den nüchternen Blick wahren
und Entscheidungen anders als durch die Beziehungsdynamik geprägt treffen zu
können.
Wie ich dir bereits sagte: Die eigenen Grenzen zu spüren ist Voraussetzung für
die Wirksamkeit von Macht und gelingender Biographie. Begrenzung spürt man
allerdings nur, wenn man die eigene Begrenztheit spürt. Was dabei entsteht, ist
die Grundlage jeder emotionalen Kompetenz: Erst, wenn wir begonnen haben,
unser Leben „von hinten her“ zu lesen, können wir unseren Narzissmus über-
winden und die eigentliche Substanz unseres Lebens spüren. Ich weiß, dies
klingt noch sehr allgemein und vielleicht auch ein wenig esoterisch, gleichwohl
habe ich in den letzten Monaten mehr und mehr erfahren, dass erst der Verlust
und das Loslassen uns zu einer Haltung zu führen vermögen, aus der heraus wir
erkennen können, wofür es sich im Alltag zu leben lohnt. Mir ging es so, dass
ich dabei erkennen musste, dass ich durch meinen Alltag auf den Wogen ge-
wohnheitsmäßiger Geschäftigkeit gleite und nur sehr wenige wirkliche Tiefen-
momente erlebe. Als „Tiefenmomente“ bezeichne ich solche Augenblicke, in
denen ich jede Sekunde des Lebens deutlich spüre; ich spüre mich dabei in dem
entschleunigten Erleben. Dies habe ich, nachdem ich die Kraftquelle dieses
entschleunigten Erlebens entdeckt habe, richtiggehend zu trainieren begonnen.
Mittlerweile kann ich auch im Alltag mein Erleben entschleunigen, wenn ich
spüre, dass ich mir in der Geschäftigkeit zu entgleiten drohe. Vielleicht möchtest
du auch einmal mit meinem Entschleunigungstool (Tool U) experimentieren?
Die Tiefenmomente können uns einen Weg zu unserer emotionalen Substanz
eröffnen, und nur, wenn wir mit dieser Substanz in ihrer So-und-nicht-anders-
Beschaffenheit wirklich in Verbindung gekommen sind, können wir auch lernen,
unsere emotionale Kompetenz, von der in letzter Zeit so viel die Rede ist (vgl.
Goleman 2002; 2006), zu entwickeln (Tool V). Dies ist nach meiner Erfahrung
kein Spaziergang oder gar ein Wohlfühlerlebnis, denn es begegnen einem auch
die Schattenseiten des eigenen Ich, die „Essenz“ unseres ganz eigenen Systems
(vgl. O´Connor/McDermott 2006, S. 45 f.), das unsere Beobachtung und Wahr-
nehmung steuert. So erhalten wir eine weitere Möglichkeit, die Grenzen zwi-
schen unserem Inneren und dem Äußeren zu spüren und aufzuweichen. Es ist
Brief 9: „Macht macht nichts!“ 103
In diesem letzten Brief führt Karl, der Mentor, seinen Coachingprozess zu ei-
nem – vorläufigen – Abschluss, indem er Bernhard den Rat gibt, sich im
wahrsten Sinne des Wortes „auf den Weg zu machen“. Es ist die Frage nach
der eigentlichen Substanz der Führung, die immer auch eine Selbstführung
ist. Deshalb kommt dem Referenzpunkt für das eigene Denken, Fühlen und
Handeln eine grundlegende Bedeutung zu. Diesen gilt es zu klären, womit
Karl einen Kompetenzentwicklungsprozess in den Blick rückt, der auch die
Herausbildung einer spirituellen Kompetenz beinhaltet. Diese ergibt sich
nicht einfach aus der emotionalen Kompetenz einer Führungskraft, sie wird
durch ein emotionales und selbstreflexives Lernen allerdings angebahnt. Es
ist ein Weg von der Kompetenz zur Performanz, der hierfür zu beschreiten
ist.
Lieber Bernhard,
gestern bin ich hier in Colombo gelandet, wo ich einen dreitägigen Workshop
mit Führungskräften leite, und als ich meine Mails im Business Centre des Ho-
tels sichtete, fand ich dein Schreiben, das ich sogleich las. Welch ein Zufall.
Auch ich beschäftige mich mit dem Stoff, aus dem die Macht ist, und auch in
meinem Workshop hier in Sri Lanka wird es um diese Frage gehen. Und auch in
mir ist eine große Müdigkeit bezüglich der ständig wechselnden Management-
moden, die doch alle irgendwie um die Fragen kreisen, was Führung ist, und wie
wir mit der Macht, die uns die Führung verleiht, so umgehen können, dass das
Ganze sich sinnvoll zu entwickeln vermag.
Während des Fluges las ich in einer Führungszeitschrift darüber, wie sich die
Wissenschaft immer mal wieder Gedanken darüber macht, ob und inwieweit
Führungskompetenzen überhaupt als solche universal definiert werden können.
So bedarf jede Situation anderer Kompetenzen, und eine Führungskraft, die in
einem Umfeld optimal zu wirken vermag, passt in eine andere Situation gar
nicht (Rosenstiel 2007, S. 10). Dies leuchtet mir ein. Aber ebenfalls leuchtet mir
sehr ein, was du über die eigene Begrenztheit und den Machtverzicht als Bedin-
gungen, die uns helfen können, mit Macht anders und systemisch erfolgreicher
umzugehen, schreibst. Es sind wirklich tiefe Gedanken, die ich da bei dir fand,
und sie haben mich auch angeregt, über mein eigenes Bild eines idealen Führers
oder Managers nachzudenken.
Eigentlich hatte ich ja vor, in meinem Workshop mit einem Profil zu arbeiten
(Abb. 5), in dem eine Reihe von Aspekten und Kompetenzen zusammengestellt
wurden, auf deren Grundlage ich sogar eine eigene Methode (Tool W) entwi-
ckelt habe, die einem bei der eigenen Positionsbestimmung zu helfen vermag
(„bin ich ein idealer Manager oder eine ideale Managerin?“). Nun frage ich mich
allerdings, ob ich dabei nicht vielleicht die wesentlichen inneren Aspekte über-
sehe. Sicherlich, die Führungsfähigkeit ist nicht nur von der Person des Einzel-
nen abhängig; es spielen auch zahlreiche äußere Aspekte eine Rolle, und auch
der „Einfluss der Organisationskultur auf das Führungsgeschehen“ (Frei 2007)
darf nicht übersehen werden – ein Gesichtspunkt, der auch und gerade in ande-
ren Kulturen immer wieder deutlich erlebbar ist. Und schließlich geht es nicht
nur um die Kompetenzen, sondern die Performanzen, d. h. die im Handeln er-
wiesene und bewiesene Fähigkeit, mit komplexen und vielfältigen Anforderun-
gen umgehen zu können. Für mich stellt sich der Zusammenhang so dar, dass
wir über das Erfahren und Gestalten sowie über das Lernen und Anwenden von
der Kompetenz zur Performanz gelangen, und ich kann gar nicht verstehen, wa-
rum die Führungskräfteentwickler immer so tun, als wäre mit der Kompetenz
bereits schon alles gewährleistet. Noch eines ist mir wichtig: Zur Performanz
gelangen wir nur über die Emotionale Kompetenz: Ich muss mein Können spü-
ren, bevor ich es beherrsche, und ich muss mich spüren, bevor ich in der Lage
bin, professionell zu handeln.
Kompetenz
(Fähigkeiten)
Aneignen Erfahren
Fachkompetenz Methodenkompetenz Sozialkompetenz
Gestalten
Emotionale Kompetenz
Anwenden
Spirituelle Kompetenz
Performanz
(Tätigkeiten)
Indem ich heute in dieser Weise von der Kompetenz zur Performanz blicke, nei-
ge ich auch dazu, das Erleben und Tun viel stärker zu gewichten. Ich kenne näm-
lich keine Führungskraft, die allein mit Hilfe eines Buches ihre Wahrnehmung
sowie ihr Fühlen und Handeln nachhaltig zu verändern vermochte. Peter Senge
u. a. sprechen in dem Buch, welches ich dir nannte, von dem „profound change“
(Senge u. a. 2005). Das ist genau das, worum es geht: Wir müssen zum grundle-
genden Wandel und Wandeln in der Lage sein, und die dafür notwendigen Per-
fomanzen können wir lediglich in Gestaltungs- und Anwendungskontexten erle-
ben, üben und uns aneignen. Diese Fähigkeit, sich und anderes grundlegend zu
verändern, ist ohne einen klaren Referenzpunkt nicht zu entwickeln. Führungs-
kräfteentwicklung ist deshalb stets Selbsterfahrung und Selbstklärung, in denen
sich das Spirituelle in seiner Verbindung mit dem Emotionalen deutlich artiku-
liert. Wenn es stimmt, dass wir die Welt auch so deuten, wie wir sie aushalten
können (Arnold 2005), dann hat dieses Vermögen sehr viel damit zu tun, wie wir
uns in der Welt verankert und aufgehoben finden. Es spricht deshalb m. E. viel
dafür, dass die mittlerweile populäre Suche nach den Bestimmungen von emoti-
onaler Kompetenz erst der erste Schritt auf dem Weg zu einer tieferen Veranke-
rung unserer Kompetenzprofile ist, die auch bildungstheoretisch anschlussfähig
sind.
Lektion 17:
Führungskompetenz hat die spirituelle Kompetenz zur Core-Competence. Oh-
ne einen Referenzpunkt für das Eigene kann man auch keine Verantwortung für
das Andere übernehmen. Aus einer narzisstischen Angetriebenheit, aber sub-
stanziellen Leere kann sich keine wirkliche visionäre und gestalterische Kraft
entfalten. Führungskräfte müssen deshalb immer wieder zu ihrem Referenz-
punkt zurückkehren oder diesen zunächst finden.
Dabei ist nicht nur die Summe unserer Kompetenzen das, woraus sich unsere
Führungsfähigkeit speist, es ist auch die Summe unseres Lebens, unsere spiritu-
elle Erfahrung, die ich in das Zentrum meines Kompetenz-Modells der Führung
stelle. Mir ist bewusst, dass ich mit einer solchen Ergänzung des üblichen Kom-
petenzdenkens angreifbar werde, da uns diese Kompetenz unpräzise zu sein
scheint. Gleichwohl fließt darin meine ganze Beratungserfahrung der letzten
Jahre zusammen, und unsere europäische Skepsis gegenüber dem Spirituellen ist
eben eine europäische Form der Ausdruckslosigkeit. Meinen singhalesischen
Teilnehmern war sofort klar, was die Basis von allem ist: das Handeln von einem
Referenzpunkt aus, der zwar persönlich ist, aber über die Person hinausweist,
wie sie es ausdrücken. Führungskräfte benötigen nur selten neue Techniken oder
Verfahren; dies ist höchstens bei neu in eine Leadership-Position berufenen
108 Brief 10: „Sich selbst besiegen“
Fachkräften der Fall. Wer es mit Führung „zu tun bekommt“, wenn ich dies mal
so sagen darf, ist zunächst oft von der Widerständigkeit des Sozialen, von der du
ja auch schreibst, erschlagen und nicht selten auch enttäuscht. Dies ist die erste
Verunsicherung, mit der ich oft konfrontiert bin. Man muss zunächst einmal
aushalten lernen, dass der Stoff des Sozialen die unterschiedliche Sinndeutung
ist. Diese kann man nicht mit Rechthaberei aus dem Weg räumen, dies sehe ich
genau so wie du. Es geht darum, Unterschiedlichkeiten aushalten zu lernen. Un-
sere Welt besteht aus Konstrukten, und diese sind vielfach unterschiedlich. Man
kann aber auch nicht einfach dort der Dominanz, wo diese uns rechthaberisch zu
erdrücken scheint, weichen.
Die zweite Verunsicherung ergibt sich aus der Belanglosigkeit des Geschehens,
wenn man ihm sich ohne innere Substanz widmet. Man muss auch ganz persön-
lich wissen, warum einem dieses Tun selbst wichtig ist und welchen Stellenwert
ihm vor dem Hintergrund der eigenen Vergänglichkeit zukommt. Versuche, die
spirituelle Einbindung allen Geschehens wieder einzuholen, entgehen einem
ausschließlich pragmatistischen Führungsdenken oder bleiben ungehört bzw.
„unerhört“. So definiert z. B. der im asiatischen Raum bedeutende Denker Swa-
mi Vivekananda „Education“ ganz im humboldtschen Sinne als „the manifesta-
tion of the perfection already in man“ (Vevekananda 2007) und plädiert für eine
Synthese des wissenschaftlichen und des religiösen bzw. spirituellen Zugangs
zur Welt:
„In the East, the spiritual desire and nature of man has never been denied.
The great religions in the East have advocated the necessity of moral devel-
opment and of keeping the physical nature in subjection, and for that rea-
son, their study of the mind has not been marred by the unpleasantness and
animalism that characterize certain schools of psychology”
[Pathirana 2007, S. 2].
Brief 10: „Sich selbst besiegen“ 109
Dabei habe ich auch u. a. die Schriften von Marc Aurel nochmals genauer gele-
sen, dem griechischen Imperator, der die meiste Zeit seiner neunzehn Jahre dau-
ernden Herrschaft in Heerlagern verbrachte. Er philosophierte in Heerlagern,
d. h. während der Ruhepausen, die ihm der Kampf gegen die Barbarenstürme
ließ. Er dankt in seinen Schriften seinen Vorfahren und Begleitern, die ihn vieles
gelehrt und vermittelt haben, so u. a. „die Versöhnlichkeit und das Entgegen-
kommen meinen Widersachern und Beleidigern gegenüber, sobald sie selbst zum
Einlenken bereit seien“ (Aurel 1997, S. 22), sowie „die stetige Seelenruhe auch
Brief 10: „Sich selbst besiegen“ 111
„Was zerstreuen dich die Außendinge? Nimm dir Zeit, etwas Gutes zu ler-
nen, und lass dich nicht weiter wie ein Wind umhertreiben! Auch vor jener
anderen Verwirrung hüte dich: Denn es gibt auch Toren, die sich ihr ganzes
Leben lang abmühen, aber kein Ziel vor Augen haben, auf das sie alle ihre
Wünsche und Gedanken richten“
[ebd., S. 34].
Das eigene Ziel ergibt sich für ihn aus der aufmerksamen Selbstbeobachtung. Er
gibt uns zu bedenken, dass „wer aber nicht mit aller Aufmerksamkeit den Bewe-
gungen der eigenen Seele folgt, notwendig unglücklich werden (muss)“ (ebd.,
S.34 f.), und zeigt uns, woraus sich die Substanz eines rückgebundenen Leader-
ships ergibt:
„In dir sei heitre Klarheit, du brauchst nicht die Hilfe, die von außen
kommt, und kannst den Frieden entbehren, den andere gewähren. Stehe
selbst aufrecht, ohne von anderen aufrecht gehalten zu werden!“
[ebd., S. 45].
Diese Sätze sind von einer fundamentalen Bedeutung für die Frage nach den
Kompetenzen, die Führungskräfte benötigen. Zieht man alte Texte zurate, lieber
Bernhard, dann zeigt sich, dass es wohl schon zu allen Zeiten darum ging, auch
die spirituellen Dimensionen in der Person dessen, der da Verantwortung trägt,
zu stärken – ein Aspekt, zu dem uns die aktuellen Debatten um die Emotionale
Kompetenz unweigerlich zurückzuführen scheinen. Es geht bei dieser spirituel-
len Seite um „Gerechtigkeit“, „Wahrheit“, „Selbstbeherrschung“, „Mannhaftig-
keit“, wie Marc Aurel feststellt (ebd., S. 45), wobei er zahlreiche der Bezüge
aufgreift, über die auch wir uns in unseren Briefen ausgetauscht haben. Es geht
ihm um die Herausformung einer „(…) Seele, die hinsichtlich ihrer vernunftge-
mäßen Handlungsweise mit sich selbst, hinsichtlich dessen, was nicht in ihrer
Gewalt steht, mit dem Schicksal zufrieden ist“ (ebd.). Es geht demnach – bei
aller notwendigen Achtsamkeit und Selbstreflexion – auch um Bescheidung und
Entscheidung. Aus ihnen kann eine Haltung erwachsen, die uns in heiterer Ge-
wissheit leben lässt – immer wissend, dass wir es sind, die den Außendingen die
Bedeutung zugestehen, die sie für uns erlangen können: „Die Außenwelt hat
keinen Einfluss auf die Seele; sie hat keinen Zugang zur Seele und kann sie we-
der umstimmen noch irgend bewegen“ (ebd., S. 78).
112 Brief 10: „Sich selbst besiegen“
Darum geht es, und es ist unsere Aufgabe, diese Seelenkraft in uns zu entwickeln
und zu stärken. Dieser Prozess ist wie eine Reise, in der wir immer wieder zu
unbekannten neuen Orten aufbrechen. Wir müssen aufhören zu erwarten, dass
wir dort immer wieder dasselbe antreffen, um uns dem Neuen gegenüber zu
öffnen und uns selbst kennenzulernen. Dies ist das Prinzip des Pilgerns (vgl.
Arnold 2000). Paulo Coehlo schreibt in seinen Büchern über diese Erfahrungen,
in denen sich ein Mensch selbst entdeckt und in einer „Mischung aus Authentizi-
tät und Freiheit“ (Coelho 2001a, S. 195) seinem Leben einen Sinn, d. h. einen
Referenzpunkt, zu stiften vermag. Er schreibt:
„Der Schlüssel zu meiner Arbeit, wenn wir dies so einfach wie möglich dar-
stellen, liegt in dem, was ich die persönliche Geschichte oder den Lebens-
traum nenne, so wie er im Alchimisten vorkommt. Und obwohl es sich um
etwas Geheimnisvolles zu handeln scheint, ist er der Beweggrund unseres
Daseins. Manchmal ist er vielleicht nicht deutlich, und wir zwingen unser
Schicksal. Dann zum Beispiel, wenn wir uns schwach und feige fühlen.
Doch letztlich lebt dieser Lebenstraum in uns weiter, und wir wissen, warum
wir hier sind. Für mich ist daher die spirituelle Suche die Suche nach der
totalen Bewusstheit“
[ebd., S. 196].
Wie gesagt: Diese Suche ist weder ein Spaziergang noch eine Aufgabe der Rati-
onalität und Aufgeklärtheit und ein Rückfall in vorrationale Formen des Lebens,
wie wir in unserer westlichen Arroganz oft glauben. Meine Kontakte mit ande-
ren Kulturen, wie jetzt auch gerade mit den singhalesischen Führungskräften,
haben mich etwas anderes gelehrt. Letztlich kannst du ohne einen Bezugspunkt
in Deinem Inneren auch nicht im Äußeren „bezogen“ handeln. Es ist ein Reisen,
d. h. eine dauernde Bewegung, in der wir unserer eigenen Substanz begegnen:
Es sind solche Gedanken, lieber Bernhard, die mich mehr und mehr dazu führen
zu verstehen, dass alles Lernen letztlich ohne die gleichzeitige Reifung eines
inneren Referenzpunktes und die Entwicklung einer spirituellen Kompetenz ziel-
und orientierungslos bleiben muss. Führung als Selbstführung ist ein „Sich-
selbst-Besiegen“ – ein schwieriger, doch notwendiger Weg. Paulo Coelho be-
zeichnet diesen Zustand, in dem man sich selbst besiegt hat, als den des „Krie-
Brief 10: „Sich selbst besiegen“ 113
gers des Lichts“. In seinem „Handbuch des Kriegers des Lichts“ (Coelho 2001b)
finden sich zahlreiche Hinweise, die das Motiv des Weges mit dem der Selbstbe-
siegung verbinden und in einer sehr spirituellen Weise versuchen, den Kern des-
sen zu greifen, um das es bei Leadership geht. du kannst „Krieger“ durch „Lea-
der“ ersetzen, dann findest du bei Coelho eine spirituelle Führungslehre. Doch
auch der von mir immer wieder zurate gezogene Peter Senge weiß um diese
Tiefendimension des Eigenen, aus dem heraus allein eine Führung möglich wird,
deren innere Stimmen frei von letztlich narzisstisch motivierten Parolen ist
(Senge u. a. 2003). Denn diese Parolen bzw. inneren Stimmen (Tool R) übertö-
nen das Eigene oder vielfach auch die Tatsache, dass man da noch kein Eigenes
hat oder noch nicht zu ihm vorgedrungen ist. Aus welchen inneren Motiven her-
aus speist sich unsere Führungsrolle, und wie sieht eine spirituelle Begründung
unseres Denkens, Fühlens und Handelns als Führungskräfte aus, wenn wir unse-
re inneren Stimmen kennen gelernt und geordnet haben?
Meine Lektüre der Bücher von Paul Coelho hat mir bei dieser Frage viele Anre-
gungen gestiftet, lieber Bernhard, weshalb ich dir einige Auszüge aus seinen
Überlegungen zusammengestellt habe und dir als Anlage zu diesem Brief sende.
So viel für heute –
mit freundschaftlichem „Buen Camino“
dein Karl
114 Brief 10: „Sich selbst besiegen“
„In dem Moment, in dem er losschreitet, erkennt ein Krieger des Lichts den
Weg.
Jeder Stein, jede Biegung des Weges heißen ihn willkommen. Er wird eins
mit den Bergen und den Bächen, findet etwas von seiner Seele in den Vö-
geln und in den Pflanzen und Tieren auf dem Felde.
Da nimmt er Gottes Hilfe und die Hilfe seiner Zeichen an und lässt sich von
seinem Lebenstraum zu den Aufgaben führen, die das Leben für ihn bereit-
hält.
In manchen Nächten hat er kein Lager zum Schlafen, in anderen bekommt er
kein Auge zu. „Das gehört dazu“, denkt der Krieger. „Ich habe mich entschie-
den, diesen Weg hier zu gehen.“
In dieser Phase steht alles in seiner Macht: Er selber hat den Weg gewählt,
auf dem er jetzt geht, und keinen Grund sich zu beklagen“ (ebd., S. 32).
„Um an seinen eigenen Weg zu glauben, muss er nicht zuerst beweisen,
dass der Weg des anderen falsch ist“ (ebd., S. 33).
„Ein Krieger weiß um seine Fehler. Aber er weiß auch, dass er nicht allein
wachsen kann und sich nicht von seinen Gefährten absondern darf“ (ebd.,
S. 41).
„Ein Krieger des Lichts weiß, dass in der Stille seines Herzens eine Ordnung
liegt, die ihm den Weg weist“ (ebd., S .43).
„Ein Krieger findet einen Mittelweg zwischen Einsamkeit und Abhängigkeit“
(ebd., S. 45).
„Um seinen Traum zu verwirklichen, braucht er einen festen Willen und
gleichzeitig die Fähigkeit, sich hinzugeben. Er hat ein Ziel, doch das heißt
nicht, dass der Weg, der ihn dahin führt, auch der ist, den er sich vorstellt“
(ebd., S. 48).
„Ein Krieger des Lichts verhält sich manchmal wie Wasser und schlängelt
sich zwischen den Hindernissen hindurch, auf die er trifft. (…) Ein Fluss passt
sich dem Weg an, der möglich ist, vergisst aber nie sein Ziel, das Meer. Zart
an der Quelle, schwillt er, durch die Flüsse gespeist, auf die er unterwegs
trifft, stetig an. Bis von einem bestimmten Punkt an seine Macht allumfas-
send ist“ (ebd., S. 49).
„Er nimmt jede Herausforderung als eine Gelegenheit an, sich selbst zu ver-
ändern“ (ebd., S. 50).
Brief 10: „Sich selbst besiegen“ 115
„Der Krieger spricht voller Begeisterung vom Weg, erzählt, wie er bestimmte
Herausforderungen gemeistert, wie er in einer schwierigen Lage eine Lösung
gefunden hat. Und er erzählt voller Leidenschaft“ (S. 62).
„Der Krieger des Lichts schreitet auch ohne Glauben voran. Er kämpft weiter,
und am Ende kehrt der Glaube wieder zu ihm zurück“ (S. 66).
Literatur 117
Literatur
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120 Literatur
Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools)
Wo, wann und wie habe ich mich als unwirksam erlebt?
Wer hat dabei was gesagt? (Bitte diese Sätze aufschreiben!)
Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools) 125
Diese Übung wurde von Erhard Meueler (Meueler 1999, S. 146 ff.) erfunden. Er
schreibt dazu:
„Diese Methode, in der der Hochseillauf als zentrale Metapher für die be-
rufliche Arbeit genutzt wird, fiel mir angesichts eines Fernsehberichts über
die Performance des französischen Drahtseilkünstlers Philippe Petit am 12.
Juni 1994 in Frankfurt/Main (1200- Jahr-Feier) ein“
[Meueler 2001, S .208].
Nimm dir 30 Minuten Zeit und notiere alle Überlegungen, Erinnerungen und
Assoziationen zu folgenden Fragen, die deine berufliche Arbeit betreffen:
Wie bin ich auf dieses hohe Seil gekommen?
Woraus besteht das Fundament, an dem mein Seil am Ausgangspunkt festge-
macht ist?
Woraus besteht das Seil? Was gibt ihm Spannung?
Wo ist das andere Ende des Seils festgemacht? Was ist das Ziel meines Hoch-
seillaufs?
Mit welchen Seitenverstrebungen (Traversen) ist das Seil gegen Windstöße
abgesichert? Wie sind sie am Boden festgezurrt?
Welche Stationen habe ich bei meinem Gang auf dem Seil bislang schon
durchquert? Wo befinde ich mich derzeit? Welche weiteren Stationen habe
ich vorgesehen?
Wie gestalte ich meine Auftritte?
Wer ist mein Publikum?
Habe ich ein Team, das mich unterstützt?
Woraus besteht meine Balancierstange? Wie balanciere ich mein Gleichge-
wicht aus?
Gibt es ein Netz?
Gibt es eine Ambulanz?
Wie ist das Verhältnis zu meinem Körper?
Worin besteht mein Training?
Welche Kleidung trage ich?
Welche Störungen, welche Windstöße bringen mein Seil zum Schwingen und
gefährden mich? Bin ich schon mal abgestürzt?
Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools) 129
Lies jemandem deine Selbstaufschreibungen vor und bitte ihn, sich die Frage zu
stellen: „Was erscheint mir durchgängig in allen Berichten?“
130 Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools)
D: Meine Timeline
Die Timeline (Zeitlinie, Erlebnislinie) ist eine Methode, mit deren Hilfe man die
Ereignisse einer Entwicklung (z. B. individueller Lebenslauf, Kooperationsge-
schichte eines Teams) mit all ihren Ereignissen, Erfolgen, Niederlagen, Chancen
und Befürchtungen visualisieren kann.
Dafür werden mit Hilfe von Schnüren oder Tüchern die Entwicklungsphasen in
einer Linie auf dem Boden in ihrem Auf und Ab dargestellt, wobei die einzelnen
Stationen und besonderen Ereignisse mit geeigneten Symbolen markiert werden
(z. B. Postkarte für Urlaube, Herz für Verliebtheit). Es ist wichtig, sich für diese
kreative Visualisierung ausreichend Zeit zu nehmen, da es darauf ankommt, dass
die Beteiligten solche Symbole wählen oder herstellen können, die ihnen eine
möglichst authentische Erinnerung ermöglichen. Christa Renolder, Eva Scala
und Reinhold Rabenstein schreiben:
Zugleich sollte man auch Abschnitte für die Gegenwart und die Zukunft auf
dieser Timeline vorsehen.
Dabei können Fragen zugrunde gelegt werden, wie:
Wie geht deine/eure Reise weiter?
Auf welche Höhepunkte steuert die Entwicklung zu?
Wo lauern welche Gefahren?
Wie würde dein Mentor-Beobachter diese Entwicklung kommentieren oder
bewerten?
Die Rolle des Mentor-Beobachters ist von dem Moderator des Prozesses einzu-
bringen. Dabei kann er unterschiedliche Funktionen erfinden, wie z. B. „der
hilfreiche Bewacher“, „die gute Fee“. Es kommt darauf an, dass der- oder dieje-
Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools) 131
nigen, die mit der Timeline arbeiten, mit der angebotenen Rolle etwas anzufan-
gen wissen und so einen Zugang zu einer Außenbeobachtung der erlebten Ge-
schichte finden.
Weitere mögliche Interventionen zur Steuerung des Reflexionsprozesses sind:
Welche Energiefelder haben dich/euch durch diese Phase getragen und ge-
stärkt?
Welche Energie-Räuber waren an welchen Stellen wirksam?
Was denken Sie, wie Ihr Partner oder Ihre Partnerin oder eine andere Person
diese Entwicklung einer Freundin erzählen würde?
Was würde X zu Y sagen, wenn Sie mit Ihren Zukunftsvorstellungen Schiff-
bruch erleiden würden?
Woran würdest du erkennen, dass ihre Befürchtungen nicht mehr berechtigt
sind?
132 Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools)
Die Aufstellung ist eine systemische Methode, mit deren Hilfe innere Landkar-
ten und situative Energiefelder, die das eigene Denken, Fühlen und Handeln
bestimmen, sichtbar werden können. Üblicherweise geschieht dies in seminaris-
tischen Kontexten, indem man „Stellvertreter“ (andere Seminarteilnehmer) bit-
tet, sich für die Aufstellung zur Verfügung zu stellen. Dabei wählt man für jeden
Aspekt des inneren Geschehens einen Repräsentanten aus, den man so im Raum
positioniert, wie derjenige, der seine Situation aufstellt, dies spürt (vgl. Erb
2001; Schlippe/Schweitzer 2002; Ulsamer 2001; Varga von Kibéd 2002; Weber
2001). Hilfreich ist dabei in aller Regel, dass die so positionierten Menschen
dann ihre Gefühle und Eindrücke mit dem Energiefeld, in das sie hineingestellt
worden sind, frei artikulieren können, wodurch neue Perspektiven für denjeni-
gen, der diese Situation aufgestellt hat, entstehen können. Die Aufstellungsme-
thode ist eine aufdeckende Methode, da mit ihrer Hilfe Zusammenhänge und
implizite Logiken des Geschehens in den Blick rücken können, die normalerwei-
se im Verborgenen am Wirken sind.
Dies gilt auch für die Schreibtischvariante. Diese dient der eigenen Strukturie-
rung des Feldes innerer und äußerer Anforderungen, die das eigene Denken,
Fühlen und Handeln bestimmen. Diesen Anforderungen kann man „auf die
Spur“ kommen, indem man sich folgende Fragen stellt:
Welche Akteure prägen mein aktuelles Denken, Fühlen und Handeln?
Dies ist die Ausgangsfrage. Mit ihrer Hilfe entwickeln wir die Skizze unseres
inneren Anforderungsempfindens, indem wir die Akteure (zumeist Personen,
aber auch ggf. Themen) so auf einer DIN-A4-Seite in ihrem Verhältnis zu uns
(meist in der Mitte des Blattes als „Ich“ aufgeführt) und zueinander positionie-
ren, wie wir dies empfinden. So werden Personen, die uns nahestehen oder uns
ständig beschäftigen, näher „bei uns“ stehen als Personen oder Kontexte, die uns
weniger beschäftigen oder bedrängen. – Es kann auch hilfreich sein, Positionen
für Zaungäste zu notieren, die zwar nicht in unserem aktuellen Leben physisch
präsent sind, aber gleichwohl unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen
(zumeist wichtige Personen aus unserer Vergangenheit).
Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools) 133
In einem zweiten Schritt legen wir allen Akteuren – auch uns selbst – einen typi-
schen Satz in den Mund, der ihre Haltung bzw. Erwartung gegenüber uns cha-
rakterisiert, und schreiben diesen Satz in einer Sprechblase in die Aufstellung
hinein. Wenn wir dann das Gefühl haben, dass unsere Aufstellung so stimmt,
lesen wir uns die zugeordneten Sätze laut vor und beobachten sehr genau, wel-
che Gefühle diese Sätze in uns auslösen. Für jede Position sollten wir uns 10
Minuten Zeit nehmen, den Satz immer wieder laut lesen und uns dazu an pas-
sende Situationen erinnern. Es kann hilfreich sein, die Gefühle, die dabei in uns
entstehen, ebenfalls um das „Ich“ herum auf unserem Blatt zu dokumentieren.
Was höre ich? Welche Wahrnehmungsfilter (Umgang mit Anerkennung, Ab-
hängigkeit, Zuwendung, Unwirksamkeit) sind dabei bei mir aktiviert?
In diesem Schritt greifen wir auf die vier Wahrnehmungsfilter aus dem Tool A
zurück und bewerten jede der typischen Äußerungen der Lebenswelt-Akteure
daraufhin, welchen Nährstoff sie für unseren eigenen Umgang mit Anerkennung,
Abhängigkeit, Zuwendung und Unwirksamkeit liefern. Dabei können wir uns
folgende Fragen stellen:
Werde ich wertgeschätzt? Welches Bild hat diese Person von mir und meinem
Handeln?
Welche Macht hat diese Person über mich und mein Handeln?
Welche Art der Zuwendung kommt in dieser typischen Äußerung zum Aus-
druck?
Wie wirksam erlebt mich diese Person?
Wie würde ich gerne die Akteure umgruppieren?
Abschließend definieren wir Sätze, die wir von neu positionierten Akteuren ger-
ne hören würden.
134 Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools)
Hier geht es darum, zunächst die sich wandelnden externen Bedingungen des
Systems aufzuspüren und diese in einer positiven Weise so zu formulieren, dass
diese innerlich bejaht werden können. Ein weiterer Schritt bezieht sich darauf,
sich mögliche bzw. „ideale“ Zukunftsszenarios zu beschreiben, indem man sich
auch auf die wesentlichen Schlüsselkompetenzen im bisherigen Leben besinnt
und diese in die Gestaltung des Neuen einbezieht. Leitfragen könnten sein:
Welches sind die drei wesentlichen Veränderungen in meinem Leben (z. B.
der letzten 3-5 Jahre)?
Wie kann ich diese Veränderungen so beschreiben, dass die Formulierungen
nicht nach Verlust, sondern nach Chance und Aufbruch klingen?
Welches sind die drei Lebens-Leitprojekte, denen ich mich gezielt widmen
möchte?
Das suchende Lauschen ist die Voraussetzung einer neuen Achtsamkeit gegen-
über den Wirklichkeitskonstruktionen, Überzeugungen und Deutungen des Ge-
genübers in Kommunikationssituationen. Nur, indem ich diese zulasse, kann
frisches Denken vom Gegenüber und von mir unsere Kommunikation berei-
chern. Das suchende Lauschen setzt eine neue Haltung voraus. Um diese wirk-
sam und sichtbar leben zu können, sind vier Schritte wesentlich:
Am Anfang steht die Entscheidung, dass es in der Situation nicht darum geht,
eine eigene Antwort zu geben, sondern vielmehr darum, Material für eine eigene
– wirklich situationsangemessene – spätere Antwort zu sammeln. Das Durchhal-
ten dieser Entscheidung ist sehr schwierig, da wir darin trainiert sind, „antwor-
tend“ zuzuhören, d. h., zumeist bereiten wir unser Gegenargument bereits vor,
während das Gegenüber sein Argument noch darlegt, und hören entsprechend
mit nur eingeschränkter Aufmerksamkeit wirklich zu. Dies verändert sich grund-
legend, wenn ich bewusst entscheide, dass es nicht darum geht, selbst zu antwor-
ten, sondern das Vorgetragene wirklich zu verstehen.
Leitfragen:
Welche inneren Antworttendenzen bringe ich bereits in die Situation mit, und wie
kann ich diese zum Schweigen bringen bzw. „ruhig halten“?
Bestätigt meine eigene – spätere – Antwort, was ich bereits vorher wusste?
Das Vertraute kann sich mir anders darstellen, wenn ich in anderer Weise darauf
blicke. Man kann festgefahrene und erstarrte Kommunikationskontexte aufbre-
chen, indem man seine bisherige Sicht der Dinge auflöst, und wirklich der Tatsa-
che Rechnung tragen, dass die Beziehungswirklichkeit, die uns mit einem Ge-
genüber verbindet, „(...) eine Wirklichkeit zweiter Ordnung ist und durch die
Zuschreibung von Sinn, Bedeutung oder Wert an die betreffende Wirklichkeit
erster Ordnung konstruiert wird“ (Watzlawick 2006, S. 31). Indem wir mit einem
neuen Blick in vertraute Situationen zurückkehren, sind diese neu für uns, auch
wenn sich deren erste Wirklichkeit (z. B. Raum, Akteure) nicht verändert hat.
Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools) 137
Leitfragen:
Welche Aspekte meiner Situationswahrnehmung oder -vorwegnahme entspringen
meiner eigenen Sinn-, Bedeutungs- oder Wertzuschreibung?
Übernehme ich dafür wirklich die Verantwortung?
Zeige ich Toleranz gegenüber anderen – mir „falsch“ erscheinenden – Zu-
schreibungen?
H: Die Mindmapping-Technik
2. Beginnen Sie in der Mitte des Papierbogens. Tragen Sie dort das zu bear-
beitende Thema ein und umschließen Sie es mit einer Ellipse. Von hier ge-
hen Verzweigungen ab, die als Gliederungen des zu bearbeitenden Themas
dienen. Mit der Ellipse und den Verzweigungen ist das Grundmuster einer
„Gedankenkarte“ angelegt.
Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools) 139
Rollenklärung
im Vorfeld
Wichtige Aspekte
des Themas Brainstorming
identifizieren im Team
dokumentieren
Mitschrift bzw.
Protokoll
1. Schritt:
Welchen Zielen
dient die Mind-
mapping-Technik?
2. Schritt:
Komplexität
Einsatzmöglichkeiten
entzerren
der Mindmapping-
Technik?
Vortrag bzw.
Wie setze ich die Rede vorbereiten
Mindmapping-
Technik ein?
z. B. 5-Satz-
Technik
3. Schritt:
Worauf ist bei ihrem
Einsatz zu achten?
4. Schritt:
Erfahrungen, Beispiele
sowie
Vorteile und Grenzen?
Art der
Technische Gestaltung
Voraussetzungen
3. Den Verzweigungen werden möglichst nur ein bis zwei Stichwörter zuge-
ordnet – sogenannte Schlüsselwörter. Mit den Schlüsselwörtern befreien Sie
sich von unnützem Füllmaterial und verschaffen sich eine klare Zusammen-
fassung Ihrer Gedanken.
Mindmaps eignen sich besonders gut, um sich innere Bilder und Vorstellungen
zu einem Sachverhalt zu verdeutlichen. Indem ich eine Mindmap male, wird mir
der Sachverhalt transparenter, und indem ich anderen meine Mindmap zeige,
können sie erkennen, worum es geht und wie ich die Dinge im Zusammenhang
sehe. Insofern ist die Mindmapping-Technik eine systemische Technik; sie ver-
deutlicht nicht nur die Elemente eines Themas bzw. eines Gegenstandes, sondern
zeigt auch, wie ich mir die Relationen zwischen seinen einzelnen Elementen
konstruiere. Dadurch hilft diese Technik, einander zu verstehen. Dies gilt auch
und gerade für Thematiken, die eine starke innere Komponente haben und deren
Ordnungsstruktur von der Art und Weise abhängt, wie wir den Gegenstand fühlen.
Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools) 141
Antwortverschiebung
Zwar stimmt es, dass man nicht nicht kommunizieren kann, wie Paul Watzla-
wick feststellte, doch bedeutet dies nicht, dass man immer unmittelbar inhaltlich
reagiert. Je konfliktiver und deshalb emotional aufgeladener die Gesprächssitua-
tion oder das Gesprächsthema sind, desto wichtiger ist es, sich zunächst einmal
kommunikativ zu distanzieren und eine ruhige Beobachterposition zu erreichen.
Dies bedeutet nicht, dass man schweigt, es ist jedoch wichtig ausweichend und
aufschiebend zu argumentieren, wie z. B.
„Lass mich erst einmal in Ruhe nachdenken, bevor ich dazu etwas sage!“
„Vieles von dem, was Sie sagen, leuchtet mir ein, ich muss darüber aber ein-
mal in Ruhe nachdenken und auch mit einem Kollegen reden. Ich schlage
vor, wir treffen uns am Nachmittag nochmals!“
Hier geht es im Wesentlichen darum, sich über die eigenen Bedürfnisse an das
Gegenüber selbst ganz klar zu werden und diese in „Ich-Erklärungen“ zu kom-
munizieren. „Ich-Erklärungen“ sind Statements, die gleich zur Sache kommen
und sich nicht erst langatmige Begründungsargumentationen voranstellen, aber
zugleich auch mit einer Deutlichkeit vorgetragen werden, dass das Gegenüber
sich nicht sofort zu Hinterfragungen eingeladen fühlt.
Eine Alternativlösung ist etwas Drittes. Sie folgt weder hundertprozentig den
Vorstellungen des einen noch denen des anderen. Dies ist insbesondere im Kon-
flikt zwischen Führungskräften und Untergebenen nicht ganz unproblematisch,
in denen der oder die Vorgesetzte häufig gleichzeitig mit der Frage des Gesichts-
verlusts konfrontiert ist (insbesondere, wenn der Konflikt bereits „öffentlich“
geworden ist). Von entscheidender Bedeutung ist allerdings stets die Bereit-
schaft, sichtbar nachzugeben und nach einer Lösung für die Bedürfnisse des
Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin zu suchen.
142 Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools)
Umsetzung
Evaluierung
„Rückrudern“ ist eine Technik, durch die wir eine drohende Verschärfung oder
gar einen Beziehungsabbruch vermeiden können. Dies ist vor allem dann in
Erwägung zu ziehen, wenn unsere eigene konfrontative Klarheit unser Gegen-
über zu einer Verfestigung der eigenen Position führt, deren Resultat ein offener
Konflikt zu sein droht. Oft ist dies in Generations- oder Hierarchiekonflikten der
Fall, in denen es für den äußerlich Unterlegenen (den Untergebenen, den Jünge-
ren) deutlich spürbar um mehr geht als um das Durchsetzen einer sachlichen
Position, und man als der formal Stärkere auch erkennt, dass sich da jemand „um
Kopf und Kragen“ zu bringen droht.
Es ist in solchen Situationen eine Art Fürsorgepflicht des formal Stärkeren, eine
systemisch intelligente Lösung zu gewährleisten – sei es auch um den Preis ei-
nes von ihm einzuleitenden Rückzuges. Er ist der Einzige der Konfliktpartner,
der es sich leisten kann, selbst auf fortgeschrittener Eskalationsstufe dem ande-
ren die Hand zu reichen und ihm entgegenzukommen (natürlich nur bis zu einem
gewissen Punkt). Um dieses Rückrudern einzuleiten, sind drei Kunstgriffe hilf-
reich:
In Konfliktgesprächen ist unbedingte Sachlichkeit gefragt, die frei ist von jeder
Überheblichkeit. Der Vorgesetzte weiß um seine formale Stärke, er muss sie sich
nicht nochmals bestätigen lassen, indem er das „aufmuckende“ Gegenüber de-
mütigt. Aus diesem Grund ist es notwendig, einen Konflikt zunächst nochmals in
seiner Gegensätzlichkeit deutlich festzuhalten. Zum Beispiel: „Halten wir für
heute einmal fest: Es gibt hier zwei gegensätzliche Positionen, die wohl bedacht
und gegeneinander abgewogen werden wollen …. Wir sollten uns Zeit nehmen,
die beiden Positionen gründlich zu analysieren, und für unsere nächste Zusam-
menkunft einen tragfähigen Lösungsvorschlag erarbeiten.“
Man kann auch dem Gegenüber vorschlagen, einen eigenen Kompromissvor-
schlag zu entwickeln, in dem die von einem selbst vorgetragenen Bedenken und
Argumente aufgegriffen werden. Durch diese „Einladung zur Mitwirkung an
einer Lösung“ signalisieren Sie auch, dass Sie dem Konfliktpartner zutrauen,
einen solchen sachlichen Vorschlag zu erarbeiten. Die zeitliche Entzerrung allein
hat bereits einen entschärfenden Effekt, den die Autoren Haim Omer und Arist
von Schlippe mit den Prinzip „Man soll das Eisen schmieden, wenn es kalt ist“
(Omer/Schlippe 2005, S. 43) beschreiben.
144 Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools)
Mit dieser Einladung ist häufig bereits dem zugrunde liegenden Bedürfnis Rech-
nung getragen. Denn die Konfliktivität von hierarchisch oder generational
Schwächeren entstammt oft einem tiefen Bedürfnis nach „Gesehen-Werden“.
Wer nicht gesehen wurde, d. h. wer die ersten Grundlagen seines Ich-Erlebens
ohne die Spiegelung oder ermutigende Begleitung durch Vater und Mutter hat
entwickeln müssen, für den ist jede Stärke Anlass, um sich erneut um dieses
Anliegen zu bemühen. Oft ist dieses Bedürfnis unstillbar, und die so Bedürftigen
laufen von Vorgesetztem zu Vorgesetztem, um sich immer und immer wieder in
Konfliktlagen zu begeben, denen eine Entbehrung zugrunde liegt, die diese Vor-
gesetzten nicht stillen können.
Es ist deshalb wichtig zu erkennen, inwieweit in einem konkreten Konfliktfall
eine solche Tiefenentbehrung zum Ausdruck kommt, die prinzipiell unstillbar ist.
Führungskräfte müssen in einem solchen Fall die Erwartung aufgeben, einen
wirklichen Konsens mit dem Gegenüber erarbeiten zu können, und ihre Verant-
wortung für das Ganze im Blick haben, denn dieses Ganze muss sich nach ande-
ren Maßgaben entwickeln (können) als nach den Tiefenbedürfnissen Einzelner.
In jedem Fall behält der Vorgesetze oder Ältere im System die Ergebnisse seiner
Erforschung des Gegenübers für sich und bringt diese in keinen Dialog mit dem
Gegenüber ein.
1 Planende Beobachtung
Bei diesem Schritt geht es darum, das anstehende Gespräch in wesentlichen As-
pekten zu antizipieren und nicht in Kommunikationssituationen hineinzustol-
pern. Planende Beobachtung dient der mentalen, aber auch der realen Vorberei-
tung von Kommunikationssituationen. Hierfür muss man sich ca. 10 Minuten
Zeit nehmen, um u. a. folgende Fragen zu klären:
Wer sind die Stakeholder in der Thematik, um die es geht?
Wie kann ich meine Dominanz in der bevorstehenden Situation dosieren, um
dabei „schweigsam, aber stark“ (D. Tannen) zu sein?
Wo bin ich bereits festgelegt (gegenüber den Personen und Themen, die auf
mich zukommen)?
Zu welchen Ergebnissen führt mich die Aufforderung: „Stelle fest, mit wel-
chen Etiketten du dein Gegenüber versehen hast, und löse dich jeden Tag
neu von diesen!“
2 Teilnehmende Beobachtung
3 Supervision
Was sagen unse- – Blicken wir direkt an oder streifen unsere Blicke den
re Augen? anderen nur?
– Haben wir Blickkontakt? Würdigen wir uns eines
Blickes?
– Blicken wir nach innen? Was sehen wir dort?
– Sprechen wir mit gesenktem Blick?
– Sind unsere Augen ausdrucksstark?
Was „sagt“ unser – Sind wir verbissen?
Mund, wenn er – Beißen wir die Zähne zusammen?
nichts sagt? – Bleibt uns der Mund offen?
– Fällt uns der Kiefer runter?
Was sagt unsere – Sprechen wir erhobenen Hauptes?
Kopfhaltung? – Sind wir geneigt?
– Fühlen wir mit?
Was sagen unsere – Blicken wir über die Schulter?
Schultern? – Sind wir niedergedrückt (depressiv)?
– Zeigen wir die „kalte Schulter“?
– Nehmen wir etwas „auf die leichte Schulter“?
148 Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools)
Lebendigkeit drückt sich in einem ungerichteten Lebenswillen aus, der uns mit
einem „Ja“ auf den jeweils neuen Tag zugehen lässt. Diese ungerichtete Lebens-
bejahung umschreibt Erich Fromm mit dem Begriff der „Biophilie“, der Liebe
zum Leben. Es geht dieser Liebe zum Leben um „die positive Verwirklichung“
des individuellen Selbst des Menschen, d. h. darum, dass er lernt, „ (…) seine
intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten voll zum Ausdruck zu
bringen“ (Fromm 2000c, S. 9). Nach Erich Fromm sind es drei Dimensionen,
auf denen sich die eigene „Lebendigkeit und authentische Bezogenheit zur Welt“
artikuliert:
die produktive Reaktion
die innere Anteilnahme und
die Förderung des eigenen Wachstums und des Wachstums der anderen.
Während das unlebendige Leben dem Motto folgt „Ich bin, was ich habe und
konsumiere“ lebt der lebendige Mensch nach dem Grundsatz „Ich lasse Neues
entstehen, weil ich Mut habe zu antworten und loszulassen“ (ebd.).
Die Frage nach der eigenen Lebendigkeit ist die Frage nach den genannten drei
Dimensionen:
Produktive Reaktion
Wo schaffe ich Neues, das für mich und andere Menschen innerlich berei-
chernd ist?
Wo greife ich neue Ideen und Impulse in meinem Leben auf?
Wo kooperiere ich im Interesse einer Sache, die nicht nur mir nützt?
Wer schätzt mich als Impulsgeber oder Problemlöser?
Welche neuen Wege bin ich im letzten Jahr gegangen?
150 Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools)
Innere Anteilnahme
Was weiß ich über die Lebenssituation und Lebenspläne, die Sorgen und Nöte
der Menschen, die mit mir zusammen sind?
Wem widme ich Zeit?
Wie oft führe ich persönliche Gespräche?
An welchen Menschen bin ich wirklich interessiert?
Worauf richtet sich dieses Interesse?
Habe ich eine Vorstellung davon, wie ich mich innerlich entwickeln möchte?
Was tue ich, um mit meinem inneren Entwicklungsprozess voranzukommen?
Wem helfe ich wirklich selbstlos, d. h. ohne dass es sich in einer subtilen Wei-
se doch wiederum „für mich“ auszahlt?
Sehe ich, wer in meinem Umfeld welche Unterstützung von mir benötigt?
Unterstütze ich nur „zu meinen Bedingungen“ oder auch zu denen des Ge-
genübers?
Erich Fromm weist an verschiedenen Stellen seines Werkes darauf hin, dass die
Liebe des Lebens und die Liebe zu anderen die Liebe zu sich selbst voraussetzt.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (vgl. Fromm 2000d) bedeutet eben
auch, dass man sich selbst zunächst lieben muss. Deshalb kann diese Übung zur
eigenen Lebendigkeit auch noch um zwei weitere Fragen ergänzt werden:
Was schätzen die Menschen aus meinem Umfeld an mir am meisten? (Es sollte
eine möglichst vollständige Liste erstellt werden, auf der alle wichtigen Per-
sonen aufgeführt sind.)
Was macht mir am meisten Spaß? Wonach sehne ich mich? Was gönne ich mir
viel zu selten oder überhaupt nie? (Liste mit drei Aktivitäten erstellen!)
Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools) 151
Diese und ähnliche Fragen stiften einen Dialog mit Ihrem inneren Kind, der sich
sehr eigenen Themen widmen und sehr eigene Formen annehmen kann. Es ist
wichtig, sich darin zu üben, mit dem eigenen inneren Kind wie mit einem Ge-
genüber in Beziehung zu treten. Dadurch wird dieses mehr und mehr zu einem
täglichen Gesprächspartner, und sie lernen darauf zu achten, wie es diesem in
Ihnen wohnenden Gegenüber in bestimmten Situationen und Lagen geht. Mit der
Zeit sind Sie auch und besonders in Entscheidungssituationen ganz stark mit
diesem inneren Gegenüber im Gespräch, und Ihr inneres Kind hört mit der Zeit
auf, sich ungebeten in Ihr Leben einzumischen; Sie beide sind dann darin geübt,
aufeinander zu achten und miteinander in Kontakt zu stehen.
Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools) 153
1 Mentale Vorübung
Es geht zunächst darum, sich nochmals die Geschichte und die Bindung zu der
zu verabschiedenden Person oder Situation möglichst genau vorzustellen. Dafür
ist es hilfreich, in der Erinnerung nochmals an die Orte und in die Situationen zu
gehen, in denen noch alles voller Perspektive und Lebendigkeit gewesen ist. Das
Gefühl, welches man zu dieser Erinnerung verspürt, gilt es in eine dankbare
Äußerung zu kleiden. Z.B.: „Ich habe mit dir vieles erreicht!“ Oder: „Du hast
mir geholfen, meine Pläne zu verwirklichen!“
Diese Äußerung soll auf ein Kärtchen geschrieben werden, wobei darauf zu
achten ist, dass es sich wirklich um die zentrale emotionale Erinnerung handelt,
die ausgewählt wird. Die erste Idee ist dabei keineswegs die wichtigste, wie die
Erfahrung lehrt. Es kann in Einzelfällen auch sinnvoll sein, bis zu drei solcher
Äußerungen zu identifizieren und aufzuschreiben oder gar der zu verabschie-
denden Person einen kurzen Brief zu schreiben.
2 Abschiedszeremonie
3 Selbstvertrag
Im abschließenden Schritt wird der Klient aufgefordert, den Satz „Ich gehe jetzt
meinen eigenen Weg!“ durch eine Reihe von Zusätzen zu konkretisieren, die
möglichst konkrete und nachprüfbare Absichten darstellen. Zum Beispiel: „Ich
suche mir bis zum 1.2. eine eigene Wohnung!“ Oder: „Ich werde mir einen ande-
ren Job suchen, meine jetzige Tätigkeit aber spätestens bis zum 1.3. kündigen!“
Der Coach oder andere Seminarteilnehmer können nun auf der Basis dieser
Selbstvertrags-Bestimmungen mit dem Klienten vereinbaren, dass sie bei ihm
nachfragen, mit ihm in Kontakt bleiben, ihn begleiten oder auch konkret bei der
Umsetzung einzelner Schritte helfen.
Wichtig ist abschließend, dass der Klient auch Gelegenheit erhält zu definieren,
welche Unterstützung er wann benötigt, um die einzelnen Punkte seines Selbst-
vertrages Wirklichkeit werden zu lassen.
Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools) 155
Mit welchem Satz motivierst du dich morgens beim Aufstehen oder wenn du
müde und ausgebrannt bist und eigentlich etwas ganz anderes machen
möchtest?
Kleide dieses Gebot nach Möglichkeit in einen Aufforderungssatz! (Z. B.:
„Du sollst …!“)
156 Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools)
Welche Signale möchtest du den Menschen, die dir täglich begegnen, geben?
Was teilst du ihnen über deine Wahrnehmung und Absichten mit, ohne etwas
zu sagen?
Kleide dieses Gebot nach Möglichkeit in einen Auforderungssatz! (Z. B.: „Be-
handle dein Gegenüber so, dass …!“)
Was teilst du in der Art und Weise, wie du Freundschaften pflegst, deinen
Freunden mit?
Was erwarten deine Freunde von dir, was erwartest du von ihnen?
Kleide dieses Gebot nach Möglichkeit in einen Aufforderungssatz! (Z. B.:
„Du sollst …!“)
Was würde der Mensch, den du liebst oder geliebt hast, zu der Frage sagen,
welches das zentrale Gebot ist, das du mit deiner Liebe ausdrückst?
Wie würde dies jemand ausdrücken, von dem du dich getrennt hast?
Kleide dieses Gebot nach Möglichkeit in einen normativen Satz! (Z. B.: „Lie-
ben bedeutet …!)
Wie würden Menschen, die dir nahestehen, den Grundsatz beschreiben, nach
dem du mit deinem Geld bzw. mit Besitz und Reichtum umgehst?
Kleide dieses Gebot in einen normativen Satz! (Z. B.: „Besitzen heißt …!“)
Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools) 157
Wie würden Menschen, die dir nahestehen, den Grundsatz beschreiben, nach
dem du mit deiner Zeit umgehst?
Kleide dieses Gebot in einen Aufforderungssatz! (Z. B.: „Du sollst deine Zeit
…!“)
Wie würden Menschen, die dich beruflich und/oder privat gut kennen, den
Grundsatz beschreiben, nach dem du dich in Konflikten mit anderen ver-
hältst?
Kleide dieses Gebot in einen Aufforderungssatz! (Z. B.: „Du sollst …!“)
Wie würden Menschen, die dir nahestehen, den Grundsatz beschreiben, nach
dem du Hilfe gewährst oder verweigerst?
Kleide dieses Gebot in einen Aufforderungssatz! (Z. B.: „Helfen heißt …!“)
Am Ende dieser Arbeit verfügt der Klient oder die Klientin über eine Liste sei-
ner/ihrer ganz persönlichen Gebote. Mit dieser Liste nun kann man versuchen,
die emotionale Basis des Beliefsystems genauer auszuloten. Hierzu können Fra-
gen dienen, wie: „Was müsste geschehen, um gegen dieses Gebot zu verstoßen?“
– „Stelle dir genau vor, wie du dich fühlen würdest, wenn du etwas tun würdest,
was diesem Gebot zuwiderläuft!“ – „Versuche dem Gefühl, gegen das dabei
verstoßen wird, einen Namen zu geben, und notiere diesen zu dem jeweiligen
Gebot!“
158 Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools)
Diese Methode bringt die inneren Stimmen der Führungskraft nach außen. Da-
durch wird sichtbar, welche Parolen, Botschaften oder inneren Verpflichtungen
ihr Handeln leiten. Die Methode beginnt mit der Frage des Moderators:
e) Gibt es Menschen in Ihrem Leben, die diese oder ähnliche Sätze zu Ih-
nen gesagt haben? Wenn ja: Wer ist das gewesen? (Frage an den Aufstel-
lenden)
f) Wie fühlen sich die Repräsentanten in ihrer Beziehung zum Fokus? Wie
erleben sie den Fokus? (Befragung jeder einzelnen Person)
g) Welchen Satz würden die Repräsentanten selbst gerne noch als „Bot-
schaft“ ergänzen?
h) Welcher Stimme folgen Sie (gemeint der Aufstellende) am häufigsten?
i) Gibt es Stimmen, denen Sie gerne widersprechen würden? (Frage an den
Aufstellenden)
j) Wenn Sie eine Stimme zum Schweigen bringen könnten, welche wäre
dies? (Frage an den Aufstellenden) – Der Repräsentant dieser Stimme
setzt sich.
k) Wenn Sie eine Stimme ergänzen würden, welche wäre dies? (Frage an
den Aufstellenden) (dann ggf. Fragen c-e)
l) Wie würden Sie die Stimmen gerne umstellen?
Welches sind die zehn zentralen Tätigkeiten bzw. Zuständigkeiten, die erfolg-
reich bewältigt werden müssen?
Welche drei Kriterien eines erfolgreichen Handelns stehen dabei im Vorder-
grund?
Worin und wann zeigt sich die visonäre Kraft der Führung?
Worin zeigt sich Verantwortungsübernahme?
T: Macht-Check
Abschiede:
Was würde ich in der ersten Sekunde fühlen, was nach drei Wochen?
Welche Abschiede würden mir am schwersten fallen?
Wie würden Sie diese Abschiede gestalten?
Was würde mir am meisten fehlen?
Von wem erwarte ich welche Abschiedsworte?
Was würde ich antworten, wenn man mich fragt, was ich beruflich mache?
Mit wem aus dem alten Kontext würde ich Kontakt halten?
Wem würde ich aus dem Weg gehen?
Neubeginn:
Imagination
Es gibt zahlreiche Situationen, in denen wir uns nicht mehr bewusst erleben, da
wir von unseren Routineprogrammen geleitet und auch abgelenkt werden. Die
folgenden Aufgaben stellen Verschreibungen oder Hausaufgaben dar, die wir uns
selbst oder unseren Klienten verordnen können (z. B. jede Woche eine Aufgabe
ggf. mehrmals durchleben und danach notieren, was dabei erlebt wurde).
Suchen Sie einen Ort auf, zu dem Sie sonst nicht gehen (z. B. ein Cafe, ein Pfer-
derennen, eine Demonstration), und lassen Sie sich auf die Erfahrung dieses
neuen Ortes ein.
Widmen Sie sich einem Aspekt Ihres täglichen Lebens einmal mit erstaunter
Aufmerksamkeit (z. B. Ihrem Garten, Ihren Büchern, Ihren Kleidern), und ver-
suchen Sie das Erstaunliche und Besondere dieser Dinge zu würdigen.
Nehmen Sie sich pro Tag eine halbe Stunde, in der Sie nichts tun als nur die
Stille um sich herum zu genießen. Vermeiden Sie Grübeleien und achten Sie nur
auf Ihren Atem und Ihren Herzschlag.
Fahren Sie an einen abgelegenen Ort, und verbringen Sie drei Tage nur mit sich,
ohne einen anderen Menschen zu treffen (ohne Telefon, PC etc.), und schweigen
Sie mehrere Tage.
Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools) 165
Gehen Sie immer mal wieder einen Tag lang wandern, und atmen Sie die Natur
bewusst in sich ein. Jeder Atemzug ist ein Ja zum Leben.
Teilen Sie den wichtigen Menschen in Ihrem Umfeld mit, wie Sie sie wertschät-
zen („ich schätze an dir ganz besonders …“).
Wenden Sie sich einem Kind zu und versuchen Sie zu spüren, was dieses Kind
gerade bewegt. Lernen Sie es mit seinen Interessen, Fragen und Neigungen ge-
nauer kennen.
Widmen Sie einem älteren Menschen (ehemalige Kollegen, Eltern etc.) Zeit und
versuchen Sie herauszufinden, wie es sich anfühlt, älter zu sein und auf sein
Leben zurückzublicken.
Schreiben Sie einen langen Brief an einen guten Freund, in dem Sie erzählen,
was Sie derzeit bewegt, und ihn nach seiner Situation fragen. Knüpfen Sie an
dem an, was Sie verbindet.
166 Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools)
Bereich: Selbstmanagement
Selbstkontrolle Können Sie Ihre negativen
Emotionen und Impulse be-
herrschen?
Stressstabilität Bleiben Sie in einer Krise ruhig
und besonnen?
Transparenz Handeln Sie selbst im Ein-
klang mit Ihren Werten, und
geben Sie auch eigene Fehler
zu?
Authentizität Stellen Sie Menschen, die sich
unethisch verhalten, offen zur
Rede?
Anpassungsfähigkeit Akzeptieren Sie die unver-
meidbare Ambivalenz des
Arbeitslebens, und können Sie
mit Neuem umgehen?
Leistungsfähigkeit Streben Sie fortwährend nach
einer Verbesserung Ihrer eige-
nen Leistung, und setzen Sie
klare Leistungsziele für sich?
Teamleistung Sind Sie ständig bemüht, die
Leistungsfähigkeit Ihres Teams
zu optimieren?
Initiative Ergreifen und schaffen Sie
Gelegenheiten, und setzen Sie
sich notfalls auch über Regeln
hinweg?
Optimismus Können Sie Rückschläge
wegstecken und in diesen
auch das Positive („Lernge-
schenk“) sehen?
Bereich: Soziales Bewusstsein
Empathie Können Sie sich in die Emoti-
onen eines anderen Menschen
oder einer Gruppe hineinver-
setzen?
Integrativität Können Sie gut mit Menschen
mit unterschiedlichem sozia-
lem und kulturellem Hinter-
grund auskommen?
168 Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools)
Diese zehn Fragen kann man am besten für sich alleine durcharbeiten. Sie sind
aber auch für Gruppenarbeiten geeignet, in denen die Mitglieder schon sehr lan-
ge miteinander arbeiten. Dann ist es hilfreich, von der „Ich-Erzählung“ des Un-
ternehmens XY zu sprechen.
Es handelt sich bei dieser Methode um einen Selbstcoaching-Impuls, der Füh-
rungskräften hilft, über ihre biographische Ist-Situation nachzudenken und diese
für sich unter wesentlichen Aspekten zusammenzufassen. Hierzu muss man ih-
nen ausreichend Zeit lassen. Die Arbeit mit dem 10-Punkte-Schema ist deshalb
für Eigenarbeitsblöcke im Seminar ebenso geeignet, wie für Hausaufgaben wäh-
rend des Coaching-Prozesses oder auch für Einzelinterviews im Kleingruppen-
kontext.
Die Fragen im Einzelnen:
1. Wenn Sie Ihr Leben in drei bis fünf Kapitel einteilen könnten, welches wären
dann die Kapitelüberschriften?
2. Welches waren die für Sie wichtigsten und lehrreichsten Kapitel?
3. Welches waren die jeweils wichtigsten Lektionen (Einsichten, Lehrsätze) in
diesen Kapiteln?
4. Wer sind Sie in den einzelnen Kapiteln gewesen? Was hat sich verändert?
Was ist gleich geblieben?
5. Gab oder gibt es in Ihrem Lebensbuch neben Ihnen eine weitere Hauptper-
son? Wer ist das und warum?
6. Welche Kapitel würden Sie gerne umschreiben oder neu schreiben? Was wäre
dann anders und warum?
7. Gibt es Möglichkeiten, die Sie verpasst oder Träume, die Sie nicht realisieren
konnten? Wie beurteilen Sie das heute?
8. Welches waren die krisenhaftesten Erfahrungen in Ihrem Leben? Wie haben
Sie diese Krisen bewältigt?
9. Wer sind Sie heute? Und wer werden Sie noch sein?
10. Was bedeuten Leben und Tod für Sie? Was wird von Ihnen bleiben?
Der Autor 173
Der Autor
Rolf Arnold,
Prof. Dr., ist Professor für Pädagogik (insbesondere
Berufs- und Erwachsenenpädagogik) sowie Aufsichts-
ratsvorsitzender und Wissenschaftlicher Direktor des
Distance and International Studies Centres (DISC) an
der TU Kaiserslautern, Verwaltungsratsvorsitzender des
Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung (DIE/
Bonn) sowie systemischer Berater im nationalen und
internationalen Rahmen (Schwerpunkt: Führungskräfte-
sowie Bildungssystementwicklung). Er lehrt an den
Universitäten Kaiserslautern, Bern, Heidelberg und
Klagenfurt.
Rolf Arnold steht für eine systemisch-konstruktivistische Konzeption von Ler-
nen, Veränderung und Wandel. Seine Forschungsarbeiten haben die Erwachse-
nenbildung und Personalentwicklung als Beitrag zur Transformation von Indivi-
duen, Organisationen und Gesellschaften zum Thema, wobei er seinen Arbeiten
das Konzept eines Emotionalen Konstruktivismus zugrunde legt. „Menschen
sehen die Welt nicht nur so, wie sie sie deuten, sondern auch so, wie sie sie aus-
zuhalten vermögen“ – so lautet die These in seinem Buch „Die emotionale Kon-
struktion der Wirklichkeit“ (2005). Welche Konsequenzen sich hieraus für das
Lernen, die Kompetenzentwicklung sowie die Führung in Organisationen sowie
für die Erziehung ergeben, hat Arnold in seinen 2007 erschienenen Büchern „Ich
lerne, also bin ich!“ und „Aberglaube Disziplin“ dargelegt.
Seine Ideen und Lösungsvorschläge finden ihren Ausdruck u. a. in zahlreichen
Studien-, Trainings- sowie Coachingaktivitäten, in denen insbesondere Füh-
rungskräfte sowie Bildungs- und Personalverantwortliche ihre persönlichen und
systemischen Kompetenzen im gestaltenden Umgang mit den „Gegebenheiten“
zu entwickeln lernen.
Bei Interesse an Coachings, Seminaren oder Vorträgen wenden Sie sich bitte an
das Netzwerk Systhemia (www.systhemia.com).