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Theologische Wissenschaft

Sammelwerk für Studium und Beruf

Herausgegeben von

Traugott Jähnichen
Adolf Martin Ritter
Udo Rüterswörden
Ulrich Schwab

Band 1
Walter Dietrich
Hans-Peter Mathys
Thomas Römer
Rudolf Smend

Die Entstehung des


Alten Testaments

Neuausgabe

Verlag W. Kohlhammer
1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten


© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Reproduktionsvorlage: Andrea Siebert, Neuendettelsau
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:
ISBN 978-3-17-020354-9

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pdf: ISBN 978-3-17-025340-7
epub: ISBN 978-3-17-025341-4
mobi: ISBN 978-3-17-025342-1

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Inhalt

Vorwort .................................................................................................................. 15

A. Das Alte Testament (Rudolf Smend) ....................................................... 17

I. Die hebräische Bibel ..................................................................................... 17


1. Der Kanon ...................................................................................................... 17
a) Die frühesten Zeugnisse ......................................................................... 18
b) Zahl und Anordnung der Bücher ......................................................... 18
c) Die Entstehung des Kanons .................................................................. 21
2. Der Text .......................................................................................................... 26
a) Das Nebeneinander von Textformen .................................................. 26
b) Die Fixierung des Textes ....................................................................... 28
c) Handschriften, Druckausgaben, Textkritik ........................................ 30

II. Die alten Übersetzungen .............................................................................. 32


1. Die Septuaginta ............................................................................................. 32
a) Entstehungsgeschichte und Eigenart ................................................... 33
b) Umfang und Anordnung ....................................................................... 35
c) Der Gebrauch im Judentum und im Christentum ............................ 36
2. Andere Übersetzungen ................................................................................ 39
a) Die Targume ............................................................................................ 39
b) Die Peschitta ............................................................................................ 40
c) Vetus Latina und Vulgata ...................................................................... 41

III. Die deuterokanonischen Schriften („Apokryphen“) ............................... 43


1. 3Esra ............................................................................................................... 44
2. Zusätze zu Ester ............................................................................................. 44
3. Judit ................................................................................................................. 44
4. Tobit ................................................................................................................ 45
5. 1Makkabäer ................................................................................................... 46
6. 2Makkabäer ................................................................................................... 47
7. 3Makkabäer ................................................................................................... 47
8. Gebet des Manasse ........................................................................................ 48
9. Weisheit Salomos .......................................................................................... 48
10. Jesus Sirach .................................................................................................... 49
11. Baruch ............................................................................................................. 50
12. Brief Jeremias ................................................................................................. 51
13. Zusätze zu Daniel .......................................................................................... 51
6 Inhalt

B. Der Pentateuch (Thomas Römer) .......................................................... 53

I. Der Pentateuch als ganzer ........................................................................... 53


1. Die Geschichte der Erforschung des Pentateuchs .................................... 56
a) Die traditionelle Zuschreibung des Pentateuchs an Mose und
deren erste Infragestellungen. Von den Rabbinern bis zu Spinoza 56
b) Die Anfänge der historisch-kritischen Fragestellung: Astruc,
Witter, de Wette ...................................................................................... 57
c) Die verschiedenen Erklärungsmodelle im 19. Jahrhundert und
der Siegeszug der Quellentheorie ......................................................... 58
d) Das System Wellhausens ....................................................................... 60
e) Die Weiterentwicklung des Systems (Gunkel, Noth, von Rad) ....... 61
f) Erste Kritiken .......................................................................................... 64
g) Die Infragestellung der klassischen Quellentheorie um 1975 .......... 65
h) Erste Ausarbeitung von Alternativmodellen ...................................... 66
i) Die aktuelle Diskussion ......................................................................... 69
j) Zusammenfassung .................................................................................. 82
2. Die letzten Redaktionen des Pentateuchs .................................................. 83
a) Das Problem einer „Endredaktion“ ..................................................... 85
b) Die Pentateuchredaktion ....................................................................... 86
c) Die sogenannte „Heiligkeitsschule“ ..................................................... 88
3. Die priesterliche Schicht des Pentateuchs ................................................. 90
a) Inhalt und theologische Intention ........................................................ 90
b) Der historische Kontext von P .............................................................. 93

II. Das Buch Genesis .............................................................................................. 94


1. Aufbau und Inhalt ........................................................................................ 94
2. Die letzten Redaktionen ............................................................................... 98
a) Pentateuch- und Hexateuchredaktionen ............................................ 98
b) Die Frage einer Toledot-Redaktion ...................................................... 99
c) Weitere nach-priesterliche Texte ......................................................... 100
3. Das Problem der zeitlichen und theologischen Einordnung
der Josefsgeschichte ...................................................................................... 101
4. Die priesterlichen Texte in der Genesis ..................................................... 103
5. Die vorpriesterlichen Erzählzyklen der Genesis ....................................... 105
a) Die Urgeschichte ..................................................................................... 105
b) Die Abraham- (und Isaak-) Erzählungen ........................................... 107
c) Die Jakobtraditionen .............................................................................. 108

III. Das Buch Exodus .......................................................................................... 111


1. Aufbau und Inhalt ........................................................................................ 111
2. Theorien zur Entstehung des Exodusbuches ............................................ 113
Inhalt 7

3. Die letzten Redaktionen ............................................................................... 114


a) Pentateuch- und Hexateuch-Redaktionen .......................................... 114
b) Weitere nach-priesterliche Texte ......................................................... 116
4. Die priesterlichen Texte ............................................................................... 118
5. Die dtr Version der Mose-Exoduserzählung ............................................ 119
6. Eine ältere Mose-Exoduserzählung ............................................................ 121
7. Die Ursprünge der Exodustradition und die Frage ihrer Historizität ... 122

IV. Das Buch Levitikus ....................................................................................... 124


1. Aufbau und Inhalt ........................................................................................ 124
2. Theorien zur Entstehung des Buches Levitikus ........................................ 128
3. Die letzten Redaktionen im Buch Levitikus .............................................. 130
a) Pentateuch- bzw. letzte Redaktionen ................................................... 130
b) Heiligkeitsredaktion und Heiligkeitsgesetz ......................................... 131
4. Die Priesterschrift in Lev 1–16 .................................................................... 132

V. Das Buch Numeri .......................................................................................... 135


1. Aufbau und Inhalt ........................................................................................ 135
2. Theorien zur Entstehung des Buches Numeri .......................................... 140
3. Theokratische Bearbeitungen, Penta- und Hexateuchredaktionen ....... 144
a) Theokratische Bearbeitungen in Num 1–10; 15; 18–19 und 25–36 144
b) Num 11–25 .............................................................................................. 145
4. Der literarische Ursprung des Numeribuches .......................................... 147
5. Ältere Traditionen im Numeribuch ........................................................... 147
a) Bileam ....................................................................................................... 147
b) Baal Peor .................................................................................................. 148
c) Die Eroberung des Ostjordanlandes .................................................... 148
d) Der priesterliche Segen .......................................................................... 149

VI. Das Buch Deuteronomium .......................................................................... 150


1. Aufbau und Inhalt ........................................................................................ 150
2. Theorien zur Entstehung des Buches Deuteronomium .......................... 153
a) Ursprung und Diachronie ..................................................................... 153
b) Das Deuteronomium und die Vasallenverträge ................................. 157
c) Die Entstehung des deuteronomischen Gesetzes ............................... 159
d) Ursprung und Trägergruppen des Dtn ............................................... 160
3. Die letzten Redaktionen des Dtn ................................................................ 161
a) Penta- und Hexateuchredaktionen ...................................................... 161
b) Weitere nach-deuteronomistische Überarbeitungen ........................ 162
4. Die letzten dtr Redaktionen des Dtn im Rahmen des DtrG ................... 164
5. Die „exilische“ Bearbeitung des Dtn .......................................................... 164
6. Das „Urdeuteronomium“ ............................................................................ 166
8 Inhalt

C. Die Vorderen Propheten (Walter Dietrich) ....................................... 167

I. Die Hypothese vom deuteronomistischen Geschichtswerk ................... 171


1. Entfaltung ....................................................................................................... 171
2. Bestreitung ..................................................................................................... 175
3. Differenzierung ............................................................................................. 178
a) Das sog. „Blockmodell“ .......................................................................... 179
b) Das sog. „Schichtmodell“ ....................................................................... 183
c) Kompromissmodelle .............................................................................. 185
4. Schlusserwägungen ....................................................................................... 188

II. Das Josuabuch ............................................................................................... 193


1. Redaktion ....................................................................................................... 194
a) Die priesterliche Bearbeitung ................................................................ 194
b) Der deuteronomistische Diskurs über Israels Land ........................... 195
2. Quellen ........................................................................................................... 199
a) Die Landnahme-Erzählungen ............................................................... 200
b) Die Landbesitz-Listen ............................................................................ 202
c) Zur Gestalt Josuas ................................................................................... 204

III. Das Richterbuch ............................................................................................ 206


1. Redaktion ....................................................................................................... 208
a) Der Diskurs über das Verhältnis Jhwh-Israel ..................................... 208
b) Der Diskurs über Richtertum und Königtum .................................... 214
2. Quellen ........................................................................................................... 218
a) Die Retter-Erzählungen (Ri *3–12) ...................................................... 218
b) Die Liste der „Kleinen Richter“ (Ri 10,1–5; 12,8–15) ........................ 221
c) Das Deboralied (Ri 5) ............................................................................. 223
d) Die Simson-Erzählungen (Ri 13–16) ................................................... 225
e) Die Erzählungen im sog. Anhang (Ri 17–21) ..................................... 228

IV. Die Samuelbücher ......................................................................................... 232


1. Text ................................................................................................................. 235
2. Redaktion ....................................................................................................... 236
a) Der deuteronomistische Diskurs über Staat und Dynastie ............... 236
b) Der vordeuteronomistische Diskurs über gutes Königtum .............. 243
3. Quellen ........................................................................................................... 251
a) Überlieferungen um Samuel und Saul ................................................. 251
b) Überlieferungen um die Lade ............................................................... 254
c) Überlieferungen um David ................................................................... 257
Inhalt 9

V. Die Königsbücher ......................................................................................... 260


1. Redaktion ....................................................................................................... 262
a) Der Diskurs über die Staaten Israel und Juda ..................................... 265
b) Der Diskurs über die geschichtliche Rolle der Prophetie ................. 267
2. Quellen ........................................................................................................... 269
a) Das „Buch der Salomogeschichte“ (1Kön 3–11) ................................ 269
b) Die „Tagebücher der Könige“ von Israel und Juda ............................ 271
c) Elija, Elischa, Jehu – oder das Prophetische Erzählwerk über
den Kampf Jhwhs gegen Baal ................................................................ 273
d) Kleinere Quellen ..................................................................................... 278

D. Die Hinteren Propheten (Walter Dietrich) ........................................ 283

I. Das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie .................................... 283


1. Der Prophetenkanon .................................................................................... 284
2. Zur Wahrnehmung der Prophetie in neuerer Zeit .................................. 285
3. Die Prophetenbücher ................................................................................... 287
4. Die Propheten ................................................................................................ 291

II. Das Jesajabuch ............................................................................................... 300


1. Gesamtkomposition (Jes 1–66) ................................................................... 301
a) Struktur, Inhalte und „Sitz im Leben“ des Jesajabuchs ..................... 301
b) Die Entstehung des Großjesajabuchs .................................................. 306
2. Tritojesaja (Jes 56–66) .................................................................................. 308
a) Die Gesamtanlage ................................................................................... 309
b) Der Entstehungsprozess ........................................................................ 310
3. Deuterojesaja (Jes 40–55) ............................................................................. 312
a) Der Aufbau und die Elemente .............................................................. 313
b) Die Entstehung ........................................................................................ 316
c) Der Prophet „Deuterojesaja“ ................................................................ 319
4. Protojesaja (Jes 1–39) ................................................................................... 320
a) Komposition und Buchteile .................................................................. 321
b) Die Wachstumsstufen ............................................................................ 324
c) Der Prophet Jesaja .................................................................................. 332

III. Das Jeremiabuch ........................................................................................... 335


1. Hebräische und griechische Version .......................................................... 336
2. Gesamtkomposition ..................................................................................... 339
a) Das Redaktionsmodell ........................................................................... 341
b) Das Fortschreibungsmodell .................................................................. 345
3. Buchelemente ................................................................................................ 347
a) Die Gedichtsammlungen ....................................................................... 348
10 Inhalt

b) Die Gebete oder Konfessionen ............................................................. 350


c) Die Erzählungen ..................................................................................... 353
d) Die Fremdvölkerorakel .......................................................................... 355
e) Das sog. Trostbüchlein ........................................................................... 357
4. Jeremia: Das Buch und der Prophet ........................................................... 359
a) Die Redaktionen und die Quellen ........................................................ 359
b) Der Prophet Jeremia ............................................................................... 362

IV. Das Ezechielbuch .......................................................................................... 365


1. Formen und Strukturen ............................................................................... 366
2. Themen und Farben ..................................................................................... 370
3. Entstehung ..................................................................................................... 374
4. Verfassung des Gottesvolks (Ez 40–48) ..................................................... 378
5. Der Prophet Ezechiel .................................................................................... 380

V. Das Zwölfprophetenbuch ............................................................................ 382


1. Synchrone Betrachtung, oder: Das Dodekapropheton als Buch ............ 383
a) Das System der Überschriften .............................................................. 383
b) Verbindende Themen ............................................................................ 387
c) Sprachliche Verknüpfungen ................................................................. 391
2. Diachrone Betrachtung, oder: Das Werden des Dodekapropheton ...... 393
a) Ein vorexilisches Zweiprophetenbuch (Hos-Am) ............................. 395
b) Ein exilszeitliches Vierprophetenbuch (Hos-Am-Mi-Zef) ............... 395
c) Ein exilszeitliches Zweiprophetenbuch (Nah-Hab) ........................... 397
d) Ein frühnachexilisches Zweiprophetenbuch (Hag-PrSach) ............. 398
e) Die Prophetenanthologie in der persischen Ära ................................ 399
f) Der Abschluss des Zwölfprophetenbuchs in hellenistischer Zeit .... 401
3. Hosea .............................................................................................................. 405
a) Der Aufbau der Schrift ........................................................................... 406
b) Die Entstehung der Schrift .................................................................... 407
c) Der Prophet ............................................................................................. 411
4. Joël ................................................................................................................... 415
a) Der Aufbau der Schrift ........................................................................... 416
b) Die Entstehung der Schrift .................................................................... 418
c) Der Prophet ............................................................................................. 419
5. Amos ............................................................................................................... 420
a) Der Aufbau der Schrift ........................................................................... 422
b) Die Entstehung der Schrift .................................................................... 424
c) Der Prophet ............................................................................................. 429
6. Obadja ............................................................................................................ 431
a) Der Aufbau der Schrift ........................................................................... 431
b) Die Entstehung der Schrift .................................................................... 432
c) Der Prophet ............................................................................................. 434
Inhalt 11

7. Jona ................................................................................................................. 435


a) Der Aufbau der Schrift ........................................................................... 436
b) Die Entstehung der Schrift .................................................................... 437
c) Der Prophet ............................................................................................. 438
8. Micha .............................................................................................................. 439
a) Der Aufbau der Schrift ........................................................................... 440
b) Die Entstehung der Schrift .................................................................... 441
c) Der Prophet ............................................................................................. 443
9. Nahum ............................................................................................................ 444
a) Der Aufbau der Schrift ........................................................................... 445
b) Die Entstehung der Schrift .................................................................... 446
c) Der Prophet ............................................................................................... 449
10. Habakuk ......................................................................................................... 450
a) Der Aufbau der Schrift ........................................................................... 450
b) Die Entstehung der Schrift .................................................................... 451
c) Der Prophet ............................................................................................. 454
11. Zefanja ............................................................................................................ 455
a) Der Aufbau der Schrift ........................................................................... 456
b) Die Entstehung der Schrift .................................................................... 456
c) Der Prophet ............................................................................................. 461
12. Haggai ............................................................................................................. 463
a) Der Aufbau der Schrift ........................................................................... 464
b) Die Entstehung der Schrift .................................................................... 465
c) Der Prophet ............................................................................................. 466
13. Sacharja .......................................................................................................... 468
a) Der Aufbau der Schrift ........................................................................... 470
b) Die Entstehung der Schrift .................................................................... 472
c) Der Prophet ............................................................................................. 474
14. Maleachi ......................................................................................................... 475
a) Der Aufbau der Schrift ........................................................................... 475
b) Die Entstehung der Schrift .................................................................... 477
c) Der Prophet ............................................................................................. 479

E. Die Ketubim (Hans-Peter Mathys) ....................................................... 481

I. Einführung ..................................................................................................... 481


Die poetischen Texte des Alten Testaments ............................................. 481

II. Der Psalter ...................................................................................................... 487


1. Der Psalter als Buch ...................................................................................... 488
2. Alter und Verfasserschaft der Psalmen ...................................................... 499
3. Zur Formgeschichte der Psalmen ............................................................... 500
a) Klage- und Bittpsalmen des Einzelnen ................................................ 503
12 Inhalt

b) Dankpsalmen des Einzelnen ................................................................. 504


c) Klagelied Israels ...................................................................................... 504
d) Hymnen ................................................................................................... 505
e) Weitere (kleinere) „Gattungen“ ........................................................... 506

III. Hiob ................................................................................................................... 508


1. Text ................................................................................................................. 509
2. Inhalt ............................................................................................................... 510
3. Aufbau ............................................................................................................ 511
4. Außerisraelitische „Hiobdichtungen“ ........................................................ 512
5. Besonderheiten des Buches ......................................................................... 513
6. Die Entstehung des Buches ......................................................................... 514
7. Literargeschichtliche Differenzierungen innerhalb des Dialogteils ....... 515
8. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Reden ......................... 516
9. Hiob 28: Das Weisheitskapitel .................................................................... 518
10. Die Elihureden (Hi 32–37) .......................................................................... 519
11. Die Gottesreden ............................................................................................ 520
12. Zeitliche Ansetzung; „Autor“ ...................................................................... 522

IV. Sprüche ........................................................................................................... 524


1. Allgemeine Einführung in die Weisheitsliteratur .................................... 525
2. Altorientalische Parallelen ........................................................................... 526
3. Zu den Trägern der Weisheitstexte ............................................................ 529
4. Die „Autorschaft“ ......................................................................................... 531
5. Aufbau ............................................................................................................ 531
6. Die LXX-Wiedergabe ................................................................................... 532
7. Entstehung des Buches ................................................................................. 533
8. Die „salomonische Autorschaft“ ................................................................ 537
9. Inhalte ............................................................................................................. 537
10. Formgeschichte ............................................................................................. 538

V. Rut ................................................................................................................... 540


1. Inhalt ............................................................................................................... 540
2. Formgeschichtliches ..................................................................................... 541
3. Themen .......................................................................................................... 542
4. Schriftverwendung ........................................................................................ 542
5. Datierung; literarische Integrität ................................................................ 543
6. Theologische Akzente .................................................................................. 544

VI. Das Hohelied ................................................................................................. 545


1. Das Hohelied: Aneinanderreihung von Einzelliedern oder
planvoll konzipierte Sammlung? ................................................................ 545
2. Bild-, Vorstellungs- und Rollenrepertoire des Hoheliedes ..................... 546
3. Die Gattung(en) des Hoheliedes ................................................................. 546
Inhalt 13

4. Spätere Interpretationen .............................................................................. 547


5. Was ist das Hohelied? / Was sind die in ihm enthaltenen Lieder?
Neuere Interpretationen .............................................................................. 548
6. Datierung ....................................................................................................... 549

VII. Kohelet ............................................................................................................ 550


1. Text ................................................................................................................. 551
2. Aufbau (Form) .............................................................................................. 551
3. Verfasser ......................................................................................................... 552
4. Sprache ........................................................................................................... 553
5. Literarische Integrität ................................................................................... 554
6. Datierung ....................................................................................................... 554
7. „Widersprüche“ im Buch ............................................................................. 556
8. Der Schluss / Das Nachwort; Die beiden Epiloge (12,9–14) ................... 557

VIII. Klagelieder ..................................................................................................... 559


1. Inhalt ............................................................................................................... 559
2. Name ............................................................................................................... 560
3. Form ............................................................................................................... 560
4. Entstehung, Alter .......................................................................................... 562

IX. Ester ................................................................................................................ 564


1. Inhalt ............................................................................................................... 565
2. Text ................................................................................................................. 566
3. Sprache, Gestaltung, literarische Anklänge ............................................... 566
4. Datierung ....................................................................................................... 568
5. Gattung ........................................................................................................... 569
6. Purim .............................................................................................................. 570

X. Daniel .............................................................................................................. 571


1. Inhalt ............................................................................................................... 571
2. Text ................................................................................................................. 572
3. Entstehung des Buches / zeitgeschichtlicher Hintergrund ..................... 573
4. Die Widerspiegelung der Makkabäerzeit im Danielbuch –
formal und inhaltlich .................................................................................... 576

XI. Esra und Nehemia ......................................................................................... 578


1. Allgemeines .................................................................................................... 579
2. Text ................................................................................................................. 580
3. Aufbau und Inhalt ........................................................................................ 581
4. Die Quellen .................................................................................................... 582
5. Entstehung von Esra / Nehemia ................................................................. 583
14 Inhalt

XII. Chronik .......................................................................................................... 586


1. Ein chronistisches Geschichtswerk? ........................................................... 587
2. Name ............................................................................................................... 588
3. Inhalt ............................................................................................................... 588
4. Literarischer Charakter ................................................................................ 589
5. Entstehung ..................................................................................................... 589
6. Zentrale Inhalte ............................................................................................. 592
7. Literarischer Charakter ................................................................................ 594
Vorwort

Im Jahr 1978 hat Rudolf Smend die Erstausgabe des Lehr- und Studienbuchs
vorgelegt, dessen Titel auch die hier vorliegende Neuausgabe trägt. Zwischen der
1989 erschienenen letzten, vierten Auflage der Erstausgabe und der jetzigen Neu-
ausgabe liegt ein Vierteljahrhundert. Das ist in der Forschung, auch der alttesta-
mentlichen, eine lange Zeitspanne, in der sich vieles ereignet und manches ver-
ändert. Davon geben die Unterschiede zwischen den beiden Ausgaben der
„Entstehung des Alten Testaments“ einen Eindruck. Am augenfälligsten ist: Aus
einem Autor sind vier geworden, die Last der Erarbeitung lag nicht mehr auf
zwei, sondern auf acht Schultern.
Der Erstautor zog sich bescheiden auf einen, freilich den grundlegenden Teil
des Werkes zurück. Darin präsentiert er die Entstehungsgeschichte des alttesta-
mentlichen Kanons, und zwar nicht nur des hebräischen, sondern auch des
griechischen (wobei die heute so wichtig gewordene Übersetzung der Septua-
ginta – neben anderen antiken Übersetzungen – eine wichtige Rolle spielt). Neu
werden jetzt auch die sog. Apokryphen behandelt, d. h. diejenigen Bücher, die
nicht in der hebräischen, wohl aber in der umfangreicheren griechischen (und
christlichen) Bibel enthalten sind. Von daher rechtfertigt sich der Titel „Entste-
hung des Alten Testaments“ (und nicht nur der Hebräischen Bibel) noch einmal
besonders. Die drei hinzugekommenen Autoren behandeln sodann die drei gro-
ßen Teile des hebräischen (bzw. jüdischen) Kanons: Pentateuch, Propheten und
Schriften (hebräisch: tôrā, nebi’îm und ketûbîm). Jeder Hauptabschnitt – bei
Aufteilung der nebi’îm in Vordere und Hintere Propheten sind es vier – beginnt
mit einer generellen Einführung in den betreffenden Sektor des Kanons. Danach
folgt die Behandlung der einzelnen biblischen Bücher, oftmals wieder unterteilt
in einzelne Abschnitte.
Das Hauptmerkmal der Erstausgabe der „Entstehung des Alten Testaments“
wurde in der jetzigen Fassung beibehalten, teilweise sogar noch konsequenter
durchgehalten: Anders als in „Einleitungen ins Alte Testament“ üblich, wird hier
nicht die Entstehungsgeschichte der Texte von möglichen mündlichen Vorstufen
über hypothetische Urschriften oder „Quellen“ und deren verschiedene Bearbei-
tungsstufen bis hin zum vorliegenden hebräischen Text verfolgt. Stattdessen wird
immer beim Endtext eingesetzt: der Gestalt der biblischen Bücher also, die als
einzige zweifelsfrei vorgegeben ist. Dadurch steht das, was in der neueren For-
schung etwas plakativ als „synchrone“ (gegenüber der „diachronen“) Fragestel-
lung bezeichnet wird, jeweils dezidiert am Anfang. Jedes biblische Buch wird zu
Beginn so beschrieben, wie es sich als Teil des hebräischen Kanons darbietet.
Von da aus arbeitet sich die Darstellung dann schrittweise über die späteren und
früheren Vorstufen eines Textes zurück bis zu möglichen Urstufen, bei den Hin-
teren Propheten auch bis zu den zumeist am Anfang der Überlieferung stehen-
den individuellen Prophetengestalten. (Manche Bücher freilich weisen kaum An-
16 Vorwort

zeichen einer diachronen Entstehung auf; hier kann es im Wesentlichen bei der
Analyse des Endtextes bleiben.)
Der Umfang der Neuausgabe ist gegenüber der Erstausgabe um mehr als das
Doppelte angewachsen. So wurde es möglich, eine Vielzahl zusätzlicher Informa-
tionen einzubringen: nicht zuletzt über den Fortgang der Forschung in den
letzten 25 Jahren und den derzeitigen Forschungsstand – wobei aber grundlegen-
de Forschungen früherer Zeiten nicht vergessen werden. In diesem Sinne führen
die Bibliographien von frühen Titeln bis zu solchen der Gegenwart und werden
in den Textteilen nicht nur Sachfragen und Sachverhalte dargestellt, sondern
auch wichtige Forschungspositionen referiert und diskutiert: im Prinzip un-
abhängig davon, ob und wieweit der jeweilige Autor ihnen zustimmt. Dessen
Meinung wird freilich der aufmerksamen Leserschaft nicht verborgen bleiben.
Diese soll indes von den Gegenständen kein ungebührlich vereinfachtes, sondern
ein angemessen differenziertes Bild erhalten. Darum erfährt sie nicht immer
sofort, wie es ist (bzw. gewesen sein soll), sondern auch und zuerst, wie es gesehen
wird (oder gesehen werden kann), was zu eigenem Nachvollziehen und Mit-
erwägen anregen mag. Dafür, dass dies sachgerecht geschehen kann, will dieses
Buch die nötigen Informationen bieten.
Wir danken dem Verlag – namentlich Herrn Lektor Jürgen Schneider und der
Setzerin Frau Andrea Siebert – für die geduldige, sachkundige und sorgfältige
Begleitung der Entstehung dieser „Entstehung des Alten Testaments“.

Im Frühsommer 2014 Die Verfasser


A. Das Alte Testament
(Rudolf Smend)

I. Die hebräische Bibel


F. BUHL, Kanon und Text des Alten Testaments, Leipzig 1891. – P. R. ACKROYD / C. F. EVANS / S. L.
GREENSLACH / G. W. H. LAMPE (eds.), The Cambridge History of the Bible I–III, Cambridge 1963–
1970. – M. J. MULDER (ed.), Mikra. Text, Translation, Reading and Interpretation of the Hebrew
Bible in Ancient Judaism and Early Christianity, 1988 (CRI I). – M. SÆBØ (ed.), Hebrew Bible / Old
Testament. The History of Its Interpretation I/1 Antiquity, Göttingen 1996. – N. DAVÍD et al. (eds.),
The Hebrew Bible in Light of the Dead Sea Scrolls, 2012 (FRLANT 239).

1. Der Kanon
J. FÜRST, Der Kanon des Alten Testaments nach den Überlieferungen in Talmud und Midrasch,
Leipzig 1868. – T. ZAHN, Die Geschichte des neutestamentlichen Kanons II,1, Erlangen / Leipzig
1890. – A. KUENEN, Über die Männer der großen Synagoge (1876): Ges. Abh. zur bibl. Wissenschaft,
Freiburg / Leipzig 1894, 125–160. – J. A. SANDERS, Torah and Canon, Philadelphia 1972. – S. Z.
LEIMAN (ed.), The Canon and Masorah of the Hebrew Bible. An Introductory Reader, New York
1974. – S. Z. LEIMAN, The Canonization of Hebrew Scripture. The Talmudic and Midrashic Evidence,
Hamden, Conn. 1976. – J. BLENKINSOPP, Prophecy and Canon, Notre Dame u. a. 1977. – J.-D.
KAESTLI / O. WERMELINGER (éds.), Le Canon de l’Ancient Testament. Sa formation et son histoire,
Genf 1984. – R. BECKWITH, The Old Testament Canon of the New Testament Church, London 1985.
– H. GESE, Die dreifache Gestaltwerdung des Alten Testaments (1985), in: Ders., Alttestamentliche
Studien, Tübingen 1991, 1–28. – G. STEMBERGER, Jabne und der Kanon: JBTh 3 (1988), 163–174. – A.
VAN DER KOOIJ, De canonvorming van de Hebreewse bijbel, het Oude Testament: NedThT 49 (1995),
42–65. – J. M. AUWERS / H. J. DE JONGE (eds.), The Biblical Canons, 2003 (BEThL 163). – L. M.
MCDONALD / J. A. SANDERS (eds.), The Canon Debate, Peabody, Mass. 2004. – R. ACHENBACH, Die
Tora und die Propheten im 5. und 4. Jh. v. Chr., in: R. Achenbach / M. Arneth / E. Otto, Tora in der
Hebräischen Bibel. Studien zur Redaktionsgeschichte und synchroner Logik diachronen Transforma-
tionen, 2007 (BZAR 7), 26–71. – P. S. ALEXANDER / J.-D. KAESTLI, The Canon of Scripture in Jewish
and Christian Tradition. Le canon des écritures dans les traditions juives et chrétiennes, Lausanne
2007. – L. ZAMAN, Bible and Canon. A Modern Historical Inquiry, Leiden 2008. – M. BECKER / J.
FREY (Hg.), Qumran und der biblische Kanon, 2009 (BThSt 92). – G. STEINS / J. TASCHNER (Hg.),
Kanonisierung – die hebräische Bibel im Werden, 2010 (BThSt 110). – M. WITTE, Der ‚Kanon‘
heiliger Schriften des antiken Judentums im Spiegel des Buches Ben Sira / Jesus Sirach, in: E.-M.
BECKER / S. SCHOLZ (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion, Berlin u. a. 2012, 229–255.

Die hebräische Bibel ist, wie man gern gesagt hat, eine kleine Bibliothek (vgl. B.
DUHM, Die Entstehung des Alten Testaments, Tübingen 21909). Sie enthält die
folgenden Bücher:
Gen Ex Lev Num Dtn
Jos Ri 1Sam 2Sam 1Kön 2Kön
Jes Jer Ez Hos Joel Am Obd Jon Mi Nah Hab Zef Hag Sach Mal
Ps Hi Spr Rut Hld Koh Klgl Est Dan Esr Neh 1Chr 2Chr
Wir fragen nach dem Zustandekommen dieser Bibliothek.
18 A. Das Alte Testament

a) Die frühesten Zeugnisse

Um das Jahr 95 n. Chr. schreibt der jüdische Schriftsteller Josephus in seinem


apologetischen Werk Contra Apionem (I,7f., 38–41), die Juden besäßen seit
langem eine Anzahl von Büchern, denen sie nichts hinzuzufügen, von denen sie
nichts wegzunehmen und an denen sie nichts zu ändern wagten. Es sei ihnen
allen von Kind auf selbstverständlich, in diesen Büchern Gottes Anordnungen
(ϑεοῦ δόγματα) zu finden und darum an ihnen festzuhalten, ja, wenn es sein
müsse, freudig für sie zu sterben. Weil bei den Juden nicht jeder habe Geschichte
schreiben dürfen, sondern nur die Propheten, die die Vergangenheit gemäß der
ihnen zuteil gewordenen göttlichen Inspiration (ϰατὰ τὴν ἐπιπνοίαν τὴν ἀπὸ τοῦ
ϑεοῦ) und die Gegenwart aus genauer eigener Kenntnis beschrieben hätten, gebe
es hier nicht, wie bei anderen Völkern, zahllose einander widersprechende Bü-
cher, sondern nur wenige, und diese seien völlig zuverlässig. Es handle sich um
22: zunächst 5 von Mose, die die Gesetze und die Überlieferung von der Entste-
hung des Menschen bis zum Tode des Mose umfassten; dann 13 mit der Ge-
schichte vom Tode des Mose bis zu Artaxerxes, dem Perserkönig nach Xerxes,
geschrieben von den Propheten dieser Zeit; schließlich 4 Bücher mit Hymnen auf
Gott und Lebensregeln für die Menschen. Auch die Geschichte seit Artaxerxes
sei aufgezeichnet, aber diese Schriften besäßen nicht dieselbe Glaubwürdigkeit
wie die älteren, weil für diese Zeit die wahre Nachfolge der Propheten gefehlt
habe.
Ungefähr gleichzeitig mit dem Zeugnis des Josephus ist das des Schlusskapi-
tels (14) der Apokalypse 4Esr, die aus dem babylonischen Exil zu stammen be-
hauptet, tatsächlich aber nicht die Lage nach 587 v. Chr., sondern die nach der
erneuten Zerstörung Jerusalems durch die Römer 70 n. Chr. reflektiert und of-
fenbar auch schon die Regierung des Kaisers Domitian (81–96) voraussetzt. Der
angebliche Verfasser Esra fragt im Gebet vor seiner Entrückung, wer in Zukunft
das Volk unterweisen solle; Gottes Gesetz sei ja verbrannt, so dass niemand die
Taten kenne, die Gott getan habe und die er noch tun wolle. Auf seine Bitte be-
kommt Esra, indem er einen Becher mit feuerartigem Wasser trinkt, den Heili-
gen Geist verliehen und diktiert gemäß göttlichem Befehl fünf Männern vierzig
Tage lang 94 Bücher. Die ersten 24 von ihnen werden für den allgemeinen Ge-
brauch veröffentlicht, die übrigen 70 dagegen (die Apokalypsen) den Weisen
vorbehalten.

b) Zahl und Anordnung der Bücher

Die 24 Bücher von 4Esr sind sehr wahrscheinlich ebenso wie die 22 des Josephus
mit denen identisch, die wir als das AT kennen. Dieses war demnach am Ende
des 1. Jh.s n. Chr. bereits in seinem heutigen Umfang vorhanden.
I. Die hebräische Bibel 19

Der Unterschied in der Zahl der Bücher braucht nicht zu irritieren. Nach unserer
heutigen Zählung hat das AT 39 Bücher. In alter Zeit werden Sam, Kön, die 12 Pro-
pheten, Esr/Neh und Chr als je ein Buch gezählt. Daher die Gesamtzahl 24, die bei den
jüdischen Autoren außer Josephus üblich ist. Die Zahl 22 des Josephus kommt wohl
dadurch zustande, dass Rut in Ri und Klgl in Jer einbegriffen werden, was, da beide
von Hause aus selbständige Schriften und in einem anderen Kanonteil geläufig sind,
ein auf geschichtlicher Überlegung beruhender sekundärer Akt sein dürfte. Die Zahl
22 ist also als die jüngere zu betrachten. Sie ist außer bei Josephus bei einer Reihe von
Kirchenvätern bezeugt, die die jüdische Ordnung beschreiben (Melito von Sardes,
Origenes, Euseb von Caesarea, Cyrill von Jerusalem, Athanasius, Epiphanius, Hiero-
nymus – der auch die 24 kennt –, Augustin); dabei erscheint durch Zerlegung von
Sam, Kön, Chr, Esr/Neh und Ri/Rut oder Jer/Klgl in je zwei Bücher als Alternative die
Zahl 27 (Epiphanius, Hieronymus). Beide Zahlen werden mit dem hebräischen
Alphabet in Zusammenhang gebracht: es hat 22 Buchstaben, dagegen 27 unter Ein-
rechnung der abweichenden Form, die fünf von ihnen am Ende des Wortes haben
(litterae finales). Auch die 24 ist keine gleichgültige Zahl (2 mal 12), ebenso wie die 70
der geheim zu haltenden Bücher im 4Esr. Um bloße Spielereien handelt es sich bei
alledem nicht; die Zahlen bezeichnen eine Vollständigkeit und Abgeschlossenheit der
Schriftensammlung, die keine Änderung zulässt. „Wer mehr als die 24 Bücher in sein
Haus bringt, bringt Verwirrung in sein Haus“, sagt ein rabbinischer Text (Midrasch
Kohelet 12,12).

Josephus kennt bereits die Dreiteilung der atl. Bücher, die in der Folgezeit immer
festgestanden hat. Die erste Benennung der drei Teile als Gesetz, Propheten und
Schriften (tôrāh, neḇî’îm, keṯûḇîm, νόμος, προφῆται, ἁγιόγϱαφα) wird dem
Rabban Gamaliel II. (um 90 n. Chr.) zugeschrieben; nach den hebräischen
Anfangsbuchstaben heißt das AT bei den Juden TeNaK. Die Dreiteilung als
solche ist älter als Josephus und Gamaliel II.; sie lässt sich bis ins 2. Jh. v. Chr.
zurückverfolgen.

Im Lukasevangelium (24,44) sagt der Auferstandene, es habe alles erfüllt werden müs-
sen, was „im Gesetz des Mose und den Propheten und den Psalmen“ über ihn ge-
schrieben stehe. Ob die Pss hier stellvertretend für alle „Schriften“ genannt sind, bleibt
unsicher (Bekanntschaft mit der Chr als letztem Buch des AT wird für das NT
manchmal aus der sehr zweifelhaften Beziehung von Mt 23,35; Lk 11,51 auf 2Chr
24,20f. erschlossen). Etwas älter ist das Zeugnis des Philo von Alexandria, die Thera-
peuten, eine jüdische Asketengemeinschaft, nähmen zur Lektüre „Gesetze und durch
Propheten geweissagte Worte und Hymnen und die anderen Schriften, durch die Er-
kenntnis und Frömmigkeit vermehrt und vervollkommnet werden“ (De vita con-
templativa 3,25). Am weitesten zurück führt der Prolog der griechischen Übersetzung
der Weisheit des Jesus Sirach, der mit den Worten beginnt: „Weil uns Vieles und
Großes durch das Gesetz und die Propheten und die, die auf sie folgten, gegeben ist,
wofür Israel das Lob der Gesittung und Weisheit verdient …“ Der Übersetzer (nach
132 v. Chr.) sagt dann von seinem Großvater, dem Verfasser des Buches (um 190
v. Chr.), er habe „das Gesetz und die Propheten und die anderen von den Vätern
überkommenen Bücher“ studiert. Zur Entschuldigung von Abweichungen seiner
Übersetzung vom Original weist er darauf hin, dass „auch sogar das Gesetz und die
Propheten und die übrigen Bücher in ihrer ursprünglichen (hebräischen) Fassung
nicht wenig verschieden“ (von ihrer Übersetzung) seien. Die Dreiteilung ist hier ganz
20 A. Das Alte Testament

offensichtlich schon vorhanden, für den dritten Teil ist aber noch kein fester Begriff
geprägt.

Während die Dreiteilung feststeht, variiert innerhalb dieses Rahmens die Anord-
nung der einzelnen Bücher. Das gilt natürlich nicht vom Gesetz, das immer mit
den „fünf Büchern Mose“ identisch ist, und auch kaum von der ersten der beiden
Abteilungen, in die man etwa seit dem 8. Jh. n. Chr. die Propheten zu gliedern
pflegt, den Prophetae priores (neḇî’îm ri’šônîm) im Unterschied zu den Prophetae
posteriores (neḇî’îm’aḥarônîm); die „vorderen“ (oder „früheren“) Propheten um-
fassen stets die Bücher Jos, Ri (allenfalls mit Rut), Sam und Kön. Dagegen gibt es
bei den „hinteren“ (oder „späteren“) Propheten und vollends bei den „Schriften“
weit weniger zwingende Gründe für eine bestimmte Reihenfolge; als äußerer
Umstand kommt hinzu, dass in der Regel jeweils ein Buch auf einer Rolle (aus
Papyrus, Leder oder Pergament) steht und die Rollen verschieden hintereinander
geordnet werden können (der Kodex kommt erst im 2. Jh. n. Chr. in Gebrauch).
So begegnen wir in diesem Bereich einer großen, ja verwirrenden Vielfalt.

Ein Blick auf die eingangs angeführten Zahlen des Josephus zeigt, dass die Ordnung
der Bücher bei ihm sogar sehr anders ausgesehen haben muss als in der uns geläufigen
Bibel. Sein dritter Teil umfasst nur vier Bücher, vermutlich Ps, Spr, Hld und Koh, also
die David und Salomo zugeschriebenen Bücher; die übrigen „Schriften“ stehen im
prophetischen Teil. Nun ist Josephus ein Sonderfall. In den detaillierten Aufzählun-
gen, die wir aus alter Zeit besitzen – von der LXX, deren Einflussbereich sich freilich
nicht genau eingrenzen lässt, ist hier noch nicht zu reden –, ist der Umfang der drei
großen Teile allgemein schon der uns heute geläufige; dagegen wechselt die Reihen-
folge der einzelnen Bücher. Die wichtigste Aufzählung enthält der babylonische Tal-
mud im Traktat Baba batra („letzte Pforte“) (14b). Dort ist als Reihenfolge der Pro-
pheten (nach Jos Ri Sam Kön) angegeben: Jer Ez Jes Zwölfprophetenbuch. Diese Rei-
henfolge wird mit einer eigenen Art von Scharfsinn so begründet: Hos ist, obwohl er
eigentlich am Anfang stehen müsste, mit Hag, Sach und Mal zusammengestellt wor-
den, weil seine Prophetie zusammen mit der dieser späteren Propheten aufgeschrie-
ben wurde und weil sie wegen ihrer Kürze als einzelnes Buch leicht verlorengegangen
wäre; und Jer ist, obwohl mit Ez jünger als Jes, an die Spitze gekommen, weil er wie
das Ende der Königsbücher von Zerstörung handelt, während Ez mit Zerstörung be-
ginnt und mit Tröstung endet und Jes ganz Tröstung ist, so dass nun Zerstörung bei
Zerstörung und Tröstung bei Tröstung steht. Die Reihenfolge des dritten Teils ist in
der Talmudstelle: Rut Ps Hi Spr Koh Hld Klgl Dan Est Esr (einschl. Neh) Chr. Dazu
wieder die Begründung: eigentlich hätte Hiob, der zur Zeit des Mose lebte, an den
Anfang gehört, aber mit einem Strafgericht beginnt man nicht; auch das Buch Rut
enthält ein Strafgericht, aber sein Ausgang ist glücklich, und Rut ist die Ahnin Davids,
des Verfassers der nun folgenden Pss. Eine andere Reihenfolge gibt Hieronymus (im
sog. Prologus galeatus zu den Königsbüchern in der Vulgata) als die jüdische seiner
Zeit an: die Prophetenbücher wie bei uns geläufig, außer dass Rut hinter Ri steht und
Klgl in Jer eingeschlossen sind, im dritten Teil Hi Ps Spr Koh Hld Dan Chr Esr Est. In
den hebräischen Bibelhandschriften haben die großenteils landschaftlich-schulmäßig
bedingten Unterschiede in der Reihenfolge nie ganz aufgehört. Als Beispiel sei ge-
nannt, dass in einer der berühmtesten masoretischen Handschriften, dem Codex Le-
ningradensis/Petersburgensis (L), und anderwärts Chr an der Spitze der „Schriften“
I. Die hebräische Bibel 21

steht, vermutlich um, wie nach der talmudischen Ordnung das Buch Rut, eine Art
historische Einleitung zum Psalter zu bilden.

Aber gewisse, einigermaßen feste Ordnungen haben sich allmählich doch weit-
hin durchgesetzt: bei den „späteren Propheten“ die Reihenfolge Jes Jer Ez Zwölf-
prophetenbuch, bei den „Schriften“ eine dreifache Gruppierung in
a) die am Anfang stehende Dreizahl Ps Spr Hi (bei Spr und Hi oft, z. B. auch im
Codex L, die umgekehrte Reihenfolge),
b) in der Mitte die Fünfzahl Hld Rut Klgl Koh Est, seit dem 6. Jh. in wechselnder
Reihenfolge zu den „fünf Rollen“ (Megillot) zusammengefasst, seit dem 12.
Jh. in der angegebenen Reihenfolge fest im liturgischen Gebrauch bei den
fünf wichtigsten Jahresfesten,
c) am Schluss Dan Esr/Neh Chr.

Die Kanonizität hat verschiedene Bezeichnungen und Bestimmungen. Das grie-


chische Wort Kanon (Maßstab) wird erst im 4. Jh. in der christlichen Kirche auf
die biblische Schriftensammlung angewandt (Athanasius). Das NT spricht von
den „(heiligen) Schriften“ (Lk 24,27.32.45; Röm 1,2; 2Tim 3,15 u. ö.) und „der
Schrift“ (Joh 2,22; Gal 3,8.22 u. ö.). Dem liegt jüdischer Sprachgebrauch zu-
grunde (Philo, Josephus, Mischna). Eine eigentümliche Definition der Kanoni-
zität ist bei den Rabbinen die, dass das betreffende Buch „die Hände verunrei-
nige“ (bes. Jadajim 3,5); die Heiligkeit hat hier geradezu dinglich-sakramentalen
Charakter. Auf der gleichen Linie liegt das Verbot, unbrauchbar gewordene ka-
nonische Schriften gewaltsam zu vernichten; sie sind vielmehr in einem Raum
bei der Synagoge, der sog. Geniza, zu „verbergen“ (aram. gnz) und später zu
vergraben. Es ist selbstverständlich, dass an Bestand und Wortlaut solcher Bü-
cher nichts geändert werden darf. Sie können auch nicht mehr fortgesetzt, son-
dern nur noch ausgelegt werden; dies freilich ist ständige Pflicht. Sie sind in allen
Fragen gültige Norm. Aus ihnen wird zitiert mit der Formel „es steht geschrie-
ben“ oder „wie geschrieben steht“, die uns das NT, auch hier jüdischem Brauch
folgend, reichlich belegt (γέγϱαπται bzw. ϰαϑὼς γέγϱαπται Mt 4,4.6.7.10; Röm
1,17; 2,24 usw.). Dahinter steht als Motiv und eigentliches Kriterium der Kanoni-
zität die Anschauung vom göttlichen Ursprung dieser Schriften, hauptsächlich in
Form der Lehre von der Inspiration, die in mancherlei Varianten Gemeingut der
damaligen jüdischen Theologie war. Dabei hat das Gesetz noch einen Vorrang
vor den übrigen Schriften: es ist bereits im Himmel vorhanden gewesen und dem
Mose von Gott selbst zur Gänze mündlich mitgeteilt oder schriftlich übergeben
oder in die Feder diktiert worden.

c) Die Entstehung des Kanons

Im Zusammenhang damit ist die Tradition von der Entstehung des Kanons zu
sehen. Sie hat die schon in späteren Ausläufern des biblischen Schrifttums (vgl.
22 A. Das Alte Testament

Ps 74,9; Dan 3,38 LXX; 1Makk 4,46; 9,27; 14,41) belegte Vorstellung zur Grund-
lage, dass der Inspirationsgeist zu einem bestimmten Zeitpunkt erloschen ist und
dass es seitdem keine Prophetie, mindestens nicht mehr die „wahre Nachfolge“
der Propheten gibt, von der Josephus an der eingangs zitierten Stelle spricht.
Wenn Josephus diesen Zeitpunkt unter dem Perserkönig Artaxerxes I. (464–424)
ansetzt, dann sieht er in Esra (vgl. Esr 7,1) den letzten Propheten und gleichzeitig
den letzten unter den Autoren des Kanons, deren erster Mose war.

Der babylonische Talmud (Baba batra 14b.15a) verteilt in diesem Sinn die atl. Bücher
so auf die Autoren: Mose schrieb „sein Buch“ und Hi, Josua schrieb „sein Buch“ und
Dtn 34,5–12, Samuel „sein Buch“ (die Zeit nach seinem Tode fügten Gad und Natan
hinzu, vgl. 1Chr 29,29f.), Ri und Rut, David (unter Verwendung von Älterem) die Pss,
Jeremia „sein Buch“, Kön und Klgl, Hiskija und sein Kollegium schrieben Jes, Spr, Hld
und Koh, die „Männer der großen Synagoge“ schrieben Ez, das Zwölfprophetenbuch,
Dan und Est, Esra schrieb „sein Buch“ und die Genealogien der Chr bis auf seine
eigene, die Nehemia dann ergänzte. Ob exakt Esra oder Nehemia am Ende steht,
macht wenig aus; denn Nehemia wird in 2Makk 2,13 nachgesagt, er habe eine umfas-
sende Sammlung kanonischer Bücher angelegt.

Noch größer ist die Rolle des Esra in der ihm zugeschriebenen Apokalypse, wo er
alle 24 Bücher des Kanons (und bei weitem nicht nur sie) diktiert, freilich zum
Ersatz für die verlorengegangenen Schriften. Etwa in dieser Weise hat man sich
bis ins 16. Jh. allgemein die Entstehung des Kanons vorgestellt. Eine für lange
Zeit maßgebliche Modifikation brachte 1538 der jüdische Gelehrte Elias Levita in
seinem Buch Massoreth hammassoreth: Esra „und seine Genossen“ haben die bis
dahin noch getrennt vorhandenen 24 Bücher vereinigt, in drei Teile geteilt und
geordnet (Propheten und Hagiographen allerdings noch nicht in der im Talmud
angegebenen Reihenfolge). Mit „Esras Genossen“ sind die „Männer der großen
Synagoge“ des Talmuds gemeint, eine nach KUENEN unhistorische, nachträglich
aus Neh 8–10 herausgesponnene Institution. Aber auch abgesehen davon hat
diese Theorie, obwohl auch von protestantischen Gelehrten, darunter dem Basler
J. BUXTORF d. Ä. (Tiberias, 1620), aufgegriffen und ausgebaut, der Kritik nicht
standgehalten. Sie scheitert schon daran, dass mehrere kanonische Bücher nach-
weislich in der Zeit nach Esra entstanden sind. Außerdem lässt sich die Dreitei-
lung des Kanons, wie sie uns vorliegt, unmöglich einfach aus einem einmaligen
Akt begreifen; in ihr spiegelt sich vielmehr deutlich eine längere Entwicklung.
Diese Entwicklung und also den geschichtlichen Vorgang der Kanonbildung in
den Einzelheiten zu rekonstruieren, fehlen uns die Mittel. Immerhin besitzen wir
in den Zeugnissen des Josephus und von 4Esr einen sicheren Ausgangspunkt:
Der Kanon war am Ende des 1. Jh.s n. Chr. in seinem jetzigen Umfang vorhan-
den. Es gibt allgemeine Gründe für die Annahme, dass sein Abschluss den beiden
Zeugnissen nicht weit vorausliegt. Das Judentum musste gerade zu dieser Zeit
um eine klare Definition des Bestandes seiner heiligen Schriften besorgt sein. Die
Zerstörung Jerusalems i. J. 70 und das endgültige Erlöschen des Tempelkultes
gaben diesen Schriften und ihrer Auslegung eine neue, dem bisherigen Zustand
I. Die hebräische Bibel 23

gegenüber noch wesentlich gesteigerte grundlegende Bedeutung für das Leben


der Juden; die Worte von 4Esr sind gerade in ihrer Indirektheit ein eindrucks-
voller Beleg dafür. Dazu kam die Nötigung zur Abgrenzung nach zwei Seiten hin:
einmal gegen das werdende Christentum, das die israelitisch-jüdische Tradition
wie selbstverständlich und mit dem Bewusstsein vollen Rechtes für sich in An-
spruch nahm, außerdem, und für den tatsächlichen Umfang des Kanons folgen-
reicher, gegen die drohende Überwucherung der alten maßgebenden und im
Gebrauch bewährten Schriften durch eine Unmenge neuer, dem Herkommen
theologisch nicht immer ungefährlicher Literatur, namentlich die Apokalypsen;
das Zahlenverhältnis von 24 : 70, das 4Esr angibt, wird, wie übertrieben auch
immer, doch nicht völlig aus der Luft gegriffen sein. So wahrscheinlich danach
irgendein formeller Abschluss des Kanons gegen Ende des 1. Jh.s n. Chr. anzu-
nehmen ist, so wenig besitzen wir doch sichere Nachrichten über einen solchen
Vorgang. Man pflegt dafür seit H. GRAETZ (Kohelet, Leipzig 1871) eine „Synode“
namhaft zu machen, die in Jamnia (Jabne) stattgefunden haben soll, einem Ort in
der palästinischen Küstenebene, der zwischen 70 und 135 n. Chr. Sitz des Hohen
Rates und Zentrum der Rabbinen war. Aber mit dieser Synode verhält es sich fast
so wie mit jener „großen Versammlung“: Sie ist in den Quellen nicht recht greif-
bar. Wir erfahren aus dem Talmud (Jadajim 3,5) nur von einer Szene um das
Jahr 100, wo „die 72 Ältesten“ die damals umstrittenen Bücher Hld und Koh für
„die Hände verunreinigend“, also kanonisch erklärt haben sollen. Das dürfte
immerhin ein für den Abschluss des Kanons charakteristischer Vorgang sein: Es
geht in diesem Stadium nur noch um die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit
gewisser Schriften zum dritten Kanonteil, den Hagiographen; die beiden ersten
Teile, Gesetz und Propheten, stehen fest, und das nicht erst seit gestern. Neben
den beiden genannten Schriften werden Est und Spr gelegentlich ohne Erfolg
angefochten; dass es auch Angriffe gegen den Propheten Ez gibt, ist die Aus-
nahme, die die Regel bestätigt. Auf der anderen Seite bedeutet der Abschluss des
Kanons den Ausschluss einer größeren Anzahl von Büchern aus dem tatsächli-
chen oder möglichen Kreis der heiligen Schriften. Eine Reihe dieser Bücher, bei
uns herkömmlich als Apokryphen und Pseudepigraphen zusammengefasst, ge-
wann und behielt, wenngleich nicht immer im Rang voller Kanonizität, Geltung
in verschiedenen Bereichen der christlichen Kirche und ist uns dadurch in Über-
setzungen erhalten geblieben. Unsere Kenntnis dieser und verwandter Literatur
ist in neuerer Zeit durch glückliche Handschriftenfunde, vor allem die in Chirbet
Qumran am Toten Meer seit 1947, sehr erweitert worden. Die Grenzen zwischen
dem dritten Kanonteil und dieser Literatur, die natürlich ihrerseits alles andere
als eine einheitliche Größe gewesen ist, dürften bis zum Zeitpunkt des Abschlus-
ses des Kanons, aber auch noch darüber hinaus manchmal fließend gewesen sein.
Von den Einzelheiten und im Grunde auch vom Gesamtvorgang wissen wir fast
nichts. Die Beobachtungen, die man anzuführen pflegt, wie die Zitierung nicht-
kanonischer Literatur im NT und bei Josephus, bleiben mehrdeutig. Dass man,
wie talmudische Stellen nahelegen, Sir nur gegen Widerstände aus dem Kanon
ausgeschlossen hat, ist verständlich und wahrscheinlich; aber dieses Buch hatte
24 A. Das Alte Testament

eindeutig einen nachprophetischen Verfasser und war darum nicht kanonfähig


wie etwa der theologisch viel umstrittenere Koh, den man dem Salomo zu-
schrieb, oder Dan, den man ins babylonische Exil versetzte.
Dass Dan dagegen nicht mehr unter die Prophetenbücher gelangte, wie es
doch nahegelegen hätte und wie es in der LXX tatsächlich geschehen ist, spricht
dafür, dass zur Zeit seiner Entstehung (nach 167 v. Chr.) dieser Kanonteil bereits
abgeschlossen war. Als positives Zeugnis dafür gilt das „Lob der Väter“ des
Sirach (um 190 v. Chr.), in dem nach den Hauptgestalten der alten Zeit Jes, Jer,
Ez und die Zwölf Propheten aufgezählt sind (Sir 44–49). Eine Zäsur, die sich dem
späteren Abschluss des Gesamtkanons vergleichen ließe, liegt dem allerdings
nicht voraus. Nicht nur dass ja noch ein ganzer umfangreicher Kanonteil hinzu-
treten konnte; auch die vorhandenen Prophetenbücher waren, wie etwa der Ver-
gleich zwischen dem masoretischen Text und denen der LXX und der Qumran-
Handschriften zeigt, noch mancher Änderung fähig. Bei Sir selbst fehlt das Be-
wusstsein einer starren Grenze deutlich genug; er mischt einzelne Namen und
Sachverhalte aus den Hagiographen unter diejenigen aus den Prophetenbüchern,
ja er kann umgekehrt seine eigene Lehre mit der Prophetie vergleichen (24,33),
was seinem Buch freilich angesichts der später maßgeblichen Kanontheorie
nichts genützt hat. Die Versuche, das Hinzutreten neuer Literatur zur propheti-
schen theologisch und literarisch zu bewältigen, zeigen gerade in ihrer Verschie-
denheit, wie wichtig die Prophetie als Motiv und Kriterium genommen wurde.
Und das geschah mit tiefem Recht. Jedes Prophetenwort enthält von vornherein
einen Geltungsanspruch, der es auf Kanonizität hin angelegt sein lässt, mag diese
im präzisen Sinn auch nie anders als auf dem langen und unübersichtlichen Weg
über die kleineren und größeren Sammlungen, die schriftliche Fixierung und alle
damit und mit den wechselnden Deutungen und Aktualisierungen gegebenen,
manchmal geradezu bis zur Entstellung der ursprünglichen Gestalt führenden
Modifikationen erreicht werden. So ist die Gesamtgeschichte der prophetischen
Überlieferung auch Vorgeschichte des Kanons.
Aber nicht nur sie; mutatis mutandis gilt Entsprechendes mehr oder weniger
für alle Bereiche der atl. Überlieferung. Am meisten gilt es für den Bereich, der
im Kanon unter dem Begriff Gesetz zusammengefasst ist. Das Gesetz ist den
Propheten in den entscheidenden Stadien des Weges auf die Kanonizität hin
vorangegangen. Von daher völlig sachgemäß gebraucht das NT für das AT die
formelhafte Gesamtbezeichnung „Gesetz und Propheten“ (Mt 5,17; 7,12; 22,40;
Lk 16,16; Joh 1,45; Röm 3,21) oder „Mose und die Propheten“ (Lk 16,29.31). Aus
diesen beiden Kanonteilen wird im Gottesdienst der Synagoge vorgelesen (Apg
13,15, vgl. Lk 4,17), wofür aus dem dritten Teil nur die fünf Megillot und diese
auch nur im Zusammenhang mit den fünf Festen und selbst das überwiegend
erst in späterer Zeit verwendet werden. Aber auch zwischen dem Gesetz und den
Propheten gibt es in diesem Punkt Rangunterschiede; die Prophetenlesung
(hapṭārāh „Entlassung“) steht eindeutig hinter der des Gesetzes zurück (vgl. Apg
15,21). Das ist kein Zufall. Sowenig bei der Kanonbildung eine der beiden Grö-
ßen gegen die andere ausgespielt und sosehr das prophetische Element und Prin-
I. Die hebräische Bibel 25

zip gerade hier zur Geltung gebracht wird, so unzweifelhaft ist doch die grund-
legende und maßgebende Stellung des Gesetzes. Außer der drei- und der zwei-
gliedrigen Gesamtbeziehung für das AT gibt es mit Grund die eingliedrige: das
Gesetz.

So heißt 4Esr 14,21 die Größe, die bei der Zerstörung Jerusalems verbrannt ist und
dann durch das Diktat der 24 Bücher wiederhergestellt wird. Im NT können Prophe-
ten (1Kor 14,21) und Pss (Joh 10,34; 12,34; 15,25) als „das Gesetz“ zitiert werden (vgl.
auch Röm 3,19). Ganz ebenso wird in zahlreichen rabbinischen Texten das ganze AT
Gesetz genannt. Kaum weniger eindrucksvoll kommt die Prävalenz des Gesetzes in
der rabbinischen Zweiteilung des AT in Gesetz und Überlieferung zum Ausdruck; mit
Überlieferung (qabbālāh) sind der zweite und der dritte Kanonteil gemeint.

Das entspricht nicht nur dem Schriftverständnis des beim Abschluss des Kanons
maßgebenden pharisäisch-rabbinischen Judentums, es scheint auch im ge-
schichtlichen Hergang begründet zu sein. Wir haben Anhaltspunkte dafür, dass
es ein Stadium gegeben hat, in dem allein das Gesetz den Kanon bildete – wenn
man den Ausdruck Kanon hier schon gebrauchen will. Als bei den alexandrini-
schen Juden von der Mitte des 3. Jh.s v. Chr. an die heiligen Schriften ins Grie-
chische übersetzt wurden, betraf diese Übersetzung zunächst nur den Penta-
teuch, und als im gleichen Zeitraum die Samaritaner sich von der Kultgemeinde
in Jerusalem trennten, übernahmen sie als Heilige Schrift ebenfalls nur den Pen-
tateuch, der bis heute bei ihnen in dieser Rolle geblieben ist. Was die davorlie-
gende Zeit betrifft, weiß die biblische Überlieferung von einer Versammlung zu
berichten, in der Esra das „Gesetzbuch des Mose“ verlas und das Volk sich da-
rauf verpflichtete (Neh 8–10). Nicht nur der Umfang dieses Gesetzbuchs, son-
dern die Historizität des Vorgangs überhaupt ist in der Wissenschaft heftig um-
stritten. Sollte ein historischer Kern anzunehmen sein, wäre die spätere Tradition
mit der Zurückführung des Kanons auf Esra nicht gänzlich im Unrecht; aber
Esra gehörte, anders als sie meint, nicht an das Ende, sondern an den Anfang des
Prozesses. Natürlich hätte auch dieser Anfang, und gerade er, eine längere Vor-
geschichte und womöglich sogar, in der Einführung des dtn Gesetzes durch
König Joschija (622), ein Vorbild gehabt; aber das liegt der eigentlichen Kanon-
geschichte weit voraus.
Dass es andererseits auf die Dauer nicht bei der Kanonisierung des Gesetzes
blieb, begreift sich leicht. Das Gesetz war, davon wird zu handeln sein, mehr oder
weniger künstlich aus einem größeren Zusammenhang herausgehoben worden;
die abgeschnittene Fortsetzung, unsere Prophetae priores, blieb, vermutlich doch
sogar in Verbindung mit dem Pentateuch, vorhanden, und es lag nahe, dass über
kurz oder lang die Fortsetzung einen Rang bekam, der dem des Anfangs wenn
nicht gleich, so doch ähnlich war. Die einfache Gleichsetzung von Kanon und
Gesetz konnte schon dem Pentateuch nicht gerecht werden; um so weniger war
sie in der Lage, alle weiteren Stadien der Kanonbildung zu verhindern oder auch
nur zu präjudizieren. Mag die Rolle des Gesetzes noch so übermächtig scheinen
26 A. Das Alte Testament

und sein, wir haben doch im Kanon selbst auch die Mittel, ihre Grenzen zu se-
hen.
Bevor wir von hier aus an den Pentateuch herantreten, müssen wir uns in
groben Zügen die textliche Gestalt des fertigen Kanons und seine alten Überset-
zungen vergegenwärtigen; ohne eine gewisse Kenntnis davon ist wissenschaftli-
cher Umgang mit dem AT nicht möglich.

2. Der Text
J. WELLHAUSEN, Der Text der Bücher Samuelis, Göttingen 1871. – F. DELITZSCH, Die Lese- und
Schreibfehler im Alten Testament, Berlin 1920. – E. WÜRTHWEIN, Der Text des Alten Testaments,
Stuttgart 1952, 51988. – B. J. ROBERTS, The Old Testament Text and Versions, Cardiff 1951. – P.
KAHLE, Der hebräische Bibeltext seit Franz Delitzsch, Stuttgart 1961. – P. KAHLE, Die Kairoer Genisa,
Berlin 1962. – A. JEPSEN, Von den Aufgaben der alttestamentlichenTextkritik, in: G. W. Anderson et
al. (eds.), Congress Volume Bonn 1962, 1963 (VT.S 9), 332–341. – F. M. CROSS / S. TALMON (eds.),
Qumran and the History of the Biblical Text, Cambridge, Mass. u. a. 1975. – D. BARTHÉLEMY, Etudes
d’histoire du texte de l’Ancien Testament, 1978 (OBO 21). – D. BARTHÉLEMY, Critique textuelle de
l’Ancien Testament I/II, 1982/86 (OBO 50,1.2). – J. WEINGREEN, Introduction to the Critical Study of
the Hebrew Bible, Oxford 1982. – M. H. GOSHEN-GOTTSTEIN, The Textual Criticism of the Old Tes-
tament. Rise, Decline, Rebirth: JBL 102 (1983), 365–399. – R. WONNEBERGER, Leitfaden zur Biblia
Hebraica, Göttingen 1984, 21986. – E. TOV, Textual Criticism of the Hebrew Bible, Minneapolis 1992,
3
2012 (dt. Der Text der Hebräischen Bibel, Stuttgart 1997). – S. KREUZER, Text, Textgeschichte und
Textkritik des Alten Testaments: ThLZ 127 (2002), 127–158. – R. HENDEL, The Oxford Hebrew Bible.
Prologue to a New Critical Edition: VT 58 (2008), 324–351. – A. A. FISCHER, Der Text des Alten
Testaments, Stuttgart 2009.

a) Das Nebeneinander von Textformen

Die Kanonizität schließt notwendig die Unveränderlichkeit des Textes in sich.


Man kann daher von vornherein annehmen, dass den Prozess der Kanonbildung
das Bemühen um einen festen Text begleitet hat und dass ein Abschluss dieses
Bemühens Hand in Hand mit dem Abschluss des Kanons erfolgt ist. Alle Anzei-
chen sprechen dafür, dass dies tatsächlich der Fall war. Gegen Ende des 1. Jh.s
n. Chr. wurde mit großer Wahrscheinlichkeit ein autoritativer Konsonantentext
des gesamten AT kanonisiert. Er setzte sich, obwohl gewisse Schwankungen in
Einzelheiten, z. B. der Gottesbezeichnung, sehr lange blieben, in der Folgezeit
nahezu vollständig durch; wir haben ihn im masoretischen Text (MT) vor uns.
Für die Zeit davor lässt sich ein Nebeneinander verschiedener Textformen nicht
nur grundsätzlich wahrscheinlich machen, sondern auch beobachten.
Die wichtigste Zeugin ist seit jeher die aus vorchristlicher Zeit stammende
griechische Übersetzung des AT, die Septuaginta (LXX). Sie setzt an zahllosen
Stellen einen hebräischen Text voraus, der von dem uns geläufigen mehr oder
weniger stark abweicht. Daneben ist der samaritanische Pentateuch zu nennen
(⅏), dessen Überlieferung sich, mag es auch später noch noch Berührungen
gegeben haben, wenigstens prinzipiell in hellenistischer Zeit verselbständigt hat.
I. Die hebräische Bibel 27

Seine Sprache ist hebräisch, die Schrift steht der althebräischen, die vor der sog.
Quadratschrift in Gebrauch war, noch sehr nahe; es gibt auch Übersetzungen in
andere Sprachen. Die ältesten Handschriften des Samaritanus, die wir kennen,
stammen aus dem Mittelalter. Man zählt im Samaritanus etwa 6000 Abweichun-
gen vom MT, von denen freilich die meisten orthographischer Natur sind und
einige den Garizim als Heiligtum rechtfertigen sollen; in einem Drittel der Ab-
weichungen geht der Samaritanus interessanterweise mit der LXX zusammen.
Der älteste unmittelbare Zeuge für den hebräischen Bibeltext war nach seiner
Entdeckung i. J. 1902 in Ägypten einige Jahrzehnte lang der Papyrus Nash aus
dem 2. Jh. v. Chr., der den Dekalog in einer weder dem MT von Ex 20,2–17 noch
dem von Dtn 5,6–21 genau entsprechenden Form enthält, dazu den Anfang des
„Höre Israel“ von Dtn 6,4f. Ihm sind neuerdings zwei in einem Grab am Hin-
nomtal in Jerusalem entdeckte Silberblättchen mit Teilen des aaronitischen Se-
gens (Num 6,24–26) zur Seite getreten, die zunächst ins 7. Jh. v. Chr. datiert
wurden, aber wohl aus späterer Zeit stammen (vgl. TUAT II, 929; HAHE I, 447–
456 und A. BERLEJUNG, ZAW 120, 2008, 204–230). An Umfang und Bedeutung
weitaus am wichtigsten sind die seit 1947 entdeckten Handschriften von Qum-
ran. Sie fanden sich in Höhlen (besonders den Höhlen 1, 4 und 11 = 1Q, 4Q,
11Q) nahe der antiken Siedlung einer jüdischen Sekte, wahrscheinlich der Esse-
ner, unweit des Toten Meeres. Die Bibliothek dieser Sekte scheint zu Beginn des
jüdischen Aufstandes gegen die Römer von 66–70 n. Chr. in den Höhlen ver-
steckt worden zu sein. Die Handschriften sind also allesamt älter als der Ab-
schluss des jüdischen Kanons. Ihre Entstehung reicht bis ins 2., in Einzelfällen
vielleicht sogar ins 3. Jh. v. Chr. zurück. Das größte Aufsehen erregten sogleich
zwei Handschriften des Buches Jes aus Höhle 1. Die eine von ihnen (1QIsa), voll-
ständig erhalten, weicht vom kanonischen Text bei zunächst überraschend weit-
gehender Übereinstimmung orthographisch, aber auch sachlich an vielen Stellen
ab, die andere (1QIsb), nur fragmentarisch erhalten, steht ihm näher. Im übrigen
haben sich von allen atl. Büchern mit Ausnahme von Est Fragmente gefunden,
wenngleich oft nur von winziger Größe. Dazu kommen Kommentare, pæšær
genannt, die den Text wörtlich anführen, voran der Hab-Kommentar aus Höhle
1 (1QpHab), und Zitatensammlungen verschiedener Art. Verwandtschaft mit
den uns bekannten Texttypen, dem MT, dem Samaritanus und der LXX, lässt
sich reichlich nachweisen; besonders eindrucksvoll ist etwa die Berührung von
Fragmenten aus 1/2Sam (4QSama, 4QSamb) und Jer (4QJerb) mit der LXX, die
gerade in diesen Büchern stark vom MT abweicht. Nicht endgültig geklärt ist der
Charakter der sog. „Reworked-Pentateuch-Texte“ (4Q158, 4Q364–367). Handelt
es sich bei ihnen um Bibelhandschriften oder um Überarbeitungen eines bereits
autoritativen Textes?
Sozusagen die Gegenprobe zu der Verschiedenheit der Texttypen in der vor-
kanonischen Zeit bilden die Zeugnisse aus der Zeit danach. Die griechischen
Übersetzungen des Aquila, des Theodotion und des Symmachos im 2./3. Jh.
n. Chr. setzen im Wesentlichen den einen kanonischen Text voraus, ebenso die
rabbinische Literatur in ihren Bibelzitaten, das Targum Onkelos und die Vulgata.
28 A. Das Alte Testament

Dasselbe gilt von den Textfragmenten vom Wadi Murabba’at und vom Naḥal
Ḥever am Westrand des Toten Meeres, also nicht sehr weit von Qumran, aber
ohne Zusammenhang mit den dortigen Texten, vielmehr aus dem letzten jüdi-
schen Aufstand (132–135). Natürlich sind die Texte von Qumran insofern ein
Sonderfall, als sie nicht aus dem orthodoxen Judentum stammen, und natürlich
sind die Übergänge fließend: in der Zeit vor dem Abschluss des Kanons tritt
bereits der eine Text hervor (Textfragmente aus der Bergfestung Masada am
Toten Meer, die sich im großen Aufstand bis 73 n. Chr. hielt), und in der Zeit
danach gibt es mancherlei Berührungen mit der früheren Vielfalt. Trotzdem
erlaubt das Material, von einer grundlegenden Wende zu sprechen.

b) Die Fixierung des Textes

Auf diese Wende folgte die bis in die kleinsten Einzelheiten gehende Fixierung
des kanonischen Textes. Die Arbeit daran beanspruchte rund ein Jahrtausend.
Ihre Träger in den ersten Jahrhunderten (eine genaue Abgrenzung ist nicht
möglich) nennt man die Schreiber (sôf erîm), ihre Nachfolger die Überlieferer
oder Masoreten (aram. msr „überliefern“), später auch die Punktatoren
(naqdānîm). Die Zentren der Arbeit lagen in Palästina (Tiberias) und Babylonien
(Sura, Nehardea, Pumbeditha). Eine besondere Rolle spielte vom 8. Jh. an die
Sekte der Karäer (qārā’îm oder benê miqrā’ = Anhänger der Schrift), die unter
Ablehnung der rabbinischen Tradition ausschließlich die Bibel als Autorität
betrachtete und darum an deren genauem Wortlaut besonders interessiert sein
musste.

Die Rekonstruktion der Zusammenhänge ist weitgehend ermöglicht worden durch


einen Textfund, der, wenigstens was die Menge des Materials angeht, hinter den Fun-
den vom Toten Meer nicht zurücksteht. In der Geniza der Synagoge von Alt-Kairo,
deren Inhalt nach der Vorschrift zu begraben man vergessen hatte, wurden in der 2.
Hälfte des 19. Jh.s große Mengen von biblischen und außerbiblischen Textfragmenten
– KAHLE schätzte ihre Zahl auf 200 000 – entdeckt, deren älteste bis ins 6. Jh. n. Chr.
zurückgehen. Etwa die Hälfte des Materials brachte S. SCHECHTER 1898 nach
Cambridge, das Übrige gelangte nach Oxford, St. Petersburg und an andere Orte. Für
die Geschichte des Bibeltextes wurden die Funde vor allem von P. KAHLE ausgewertet.
Sie eröffneten weithin Neuland, indem sie verschiedene Bearbeitungen des Textes vor
derjenigen bezeugten, die sich im Mittelalter durchgesetzt hat und die in den bis zum
Beginn unseres Jh.s bekannten Handschriften und den Drucken so gut wie aus-
schließlich zu Wort kam.

Dafür, nach welchen Grundsätzen zunächst der allein maßgebliche Konsonan-


tentext als solcher festgestellt wurde, lassen sich durch den Vergleich zwischen
dem uns ja bekannten Ergebnis und den vorkanonischen Textformen, soweit sie
noch greifbar sind, einige Anhaltspunkte gewinnen; auch die Untersuchung der
innerhalb des AT doppelt vorkommenden und dabei bemerkenswerterweise
nicht ganz gleichmäßig redigierten Texte (2Sam 22 = Ps 18 usw., dazu die Paral-
I. Die hebräische Bibel 29

lelen zwischen der Chr und den Büchern Sam und Kön) ist nützlich. Als eine
Haupttendenz zeigt sich dabei der Versuch, Entartungen des Textes, die uns in
den „Vulgärtexten“ sichtbar werden, wie etwa aramäische Formen oder die Ver-
wendung von Konsonanten als matres lectionis für Vokale, unter Rückgriff auf
älteres Herkommen und vermutlich auch ältere Handschriften so weit wie mög-
lich zu reduzieren.
Freilich musste gerade der so hergestellte Text in zahllosen Fällen mehrdeutig,
oft auch anstößig sein. Es wurde die Aufgabe der Überlieferung oder Masora
(māsôrāh oder māsôræt, auch massôrāh oder massôræt), das richtige Verständnis
sicherzustellen, im Sinne des vielzitierten Ausspruches des Rabbi Aqiba, eines auf
das Kleinste bedachten Exegeten (gest. 135 n. Chr.): „(Richtige) Überlieferung
(māsôræt) ist ein Zaun für das Gesetz“ (Pirqe Abot 3,13). Solche den Text be-
gleitende Überlieferung, vorwiegend in aramäischer Sprache, wurde zunächst
mündlich weitergegeben und später schriftlich fixiert. Sie wuchs sich schließlich
zu dem uns vorliegenden gewaltigen System von Masora marginalis (parva an
den Seiten, magna oben und unten) und Masora finalis aus, das ebenso ehr-
furchtgebietend wie, für den Ungeübten wenigstens, verwirrend und schwer zu
handhaben ist. Am geläufigsten ist die Angabe eines statt eines „geschriebe-
nen“(keṯîḇ) aus irgendeinem sprachlichen oder sachlichen Grund, oft gewiss weil
dafür eine gute Tradition bezeugt war, „zu lesenden“ Wortes (qerê); sie wird im
Fall des sog. Qerê perpetuum wegen der besonderen Häufigkeit unterlassen; be-
kanntestes Beispiel: statt jahwæh ist aḏonāj „der Herr“ zu lesen, wobei die Vokale
dieses Wortes (sofern nicht aram. šemā’ = „der Name“ vorausgesetzt sein sollte)
im Text in die Konsonanten jhwh eingetragen werden – Anlass für die irrtümli-
che Namensform Jehowa. In diese Kategorie gehören ferner die tiqqûnê sôf erîm
„Verbesserungen der Schreiber“ (besonders aus dogmatischen Gründen, etwa
zur Vermeidung von Anthropomorphismen), die ‛iṭṭûrê sôf erîm „Weglassungen
der Schreiber“, die puncta extraordinaria (Kennzeichnung bedenklicher Buch-
staben bzw. Wörter), das seḇîr „zu Vermutendes“ (ähnlich wie das qerê an den
Rand gesetzt). Der Großteil der masoretischen Bemerkungen betrifft die Häufig-
keit von Formen, Wörtern und Wortfolgen im jeweiligen Buch oder dem ganzen
AT. Dazu kommt (spr und vielleicht msr bedeuten auch „zählen“) die Zählung
der Buchstaben, Wörter und Verse, die Bestimmung der Mitte eines Buches oder
Kanonteils u. dgl.
Der masoretischen Arbeit im engeren Sinne lag die Einteilung des Textes in
die uns geläufigen Verse in der Hauptsache bereits vor, ebenso die weiteren Glie-
derungen in Sedarim (sedær = Ordnung) und in größere = offene (peṯûḥāh) und
kleinere = geschlossene (seṯûmāh) Paraschen (pārāšāh = Abschnitt). Die heutige
Kapiteleinteilung ist dagegen, zusammen mit der Zweiteilung der Bücher Sam,
Kön und Chr, erst im 14. Jh. aus der Vulgata übernommen worden und noch
später, im 16. Jh., dann auch die Numerierung der Verse.
Die wichtigste Leistung der Masoreten ist die Punktation gewesen. Der nur
aus Konsonanten bestehende Text war längst nicht mehr – und fortschreitend
immer weniger – allgemein lesbar und verständlich. Die Lesehilfe in Gestalt der
30 A. Das Alte Testament

matres lectionis war im Stadium der Kanonisierung sehr reduziert worden und
ließ auch abgesehen davon immer noch mehrere Möglichkeiten offen. Um dem
Mangel abzuhelfen, entwickelten die Masoreten ein umfangreiches System von
Vokalen und Akzenten, das Lesung und Aussprache genau festlegt; es ist für uns
das entscheidende Mittel zum Verständnis des Konsonantentextes, auch wenn es
diesen in vielen Fällen nicht richtig interpretiert. Genauer gesagt handelt es sich
um mehrere Systeme. Zunächst standen einander zwei mit sog. supralinearer
Punktation gegenüber, das palästinische und das babylonische; bei dem zweiten
lässt sich noch die Entwicklung aus einfachen Anfängen zu größerer Differen-
ziertheit verfolgen. Durchgesetzt hat sich eine Weiterbildung des palästinischen
Systems, die mit unüberbietbarer Genauigkeit verfahrende tiberiensische Punk-
tation. Sie hat zwei miteinander rivalisierende Hauptvertreter gehabt, Ben Naftali
und die Familie Ben Ascher. Die Stimme des Philosophen Maimonides (gest.
1204) bewirkte, dass der Text der Ben Ascher maßgebend wurde. Es haben sich
aber Handschriften mit dem Text des Ben Naftali erhalten, und eine Mischung
aus beiden, übrigens nur in Kleinigkeiten voneinander abweichenden Textge-
stalten hat den textus receptus der meisten älteren Druckausgaben gebildet.

c) Handschriften, Druckausgaben, Textkritik

Aus dem Endstadium der masoretischen Arbeit besitzen wir eine Reihe großer
Handschriften. Eine von ihnen, der sog. Petersburger Prophetenkodex aus dem
Jahre 916, ist zwar mit babylonischen Zeichen punktiert, weist aber sowohl in der
Punktationsweise als auch in der Masora starke tiberiensische Einflüsse auf und
stellt damit ein Dokument für die Durchsetzung des westlichen Systems auch im
östlichen Bereich dar. An der Spitze der Ben-Ascher-Handschriften steht der
Codex Cairensis (C), 895 von Mosche ben Ascher geschrieben, alle Propheten
enthaltend, im Besitz der Karäergemeinde in Kairo. Von Ahron ben Ascher, dem
Sohn des Mosche, ist Anfang des 10. Jh.s die wichtigste der Handschriften, der
Kodex von Aleppo, punktiert und mit der Masora versehen worden; sie befand
sich nacheinander in Jerusalem, Kairo und Aleppo und wird heute, nach dem
Verlust von etwa einem Viertel ihres Umfangs, in Jerusalem aufbewahrt. Etwa
gleich alt wie sie ist ein Londoner Pentateuch-Manuskript. Der letzte große
handschriftliche Zeuge des Ben-Ascher-Textes ist der Codex Leningradensis (L,
neuerdings auch Petropolitanus genannt) aus dem Jahre 1008, eine genaue Ab-
schrift von Handschriften des Ahron ben Ascher.
Unter den ältesten Druckausgaben ragt die „Rabbinerbibel“ des Jakob ben
Chajim hervor, 1524/25 in Venedig bei Daniel Bomberg erschienen (daher
„Bombergiana“), ein Riesenwerk mit aramäischer Übersetzung (Targum),
Kommentaren und eigener Masora, kritisch hergestellt aus mehreren Hand-
schriften, allerdings ganz auf der Grundlage des Textus receptus, die dann bis ins
20. Jh. nicht verlassen wurde. Erst in der von A. ALT und O. EISSFELDT zu Ende
geführten 3. Auflage von R. Kittels Biblia Hebraica (BHK, 1937) wurde auf den
I. Die hebräische Bibel 31

älteren Ben-Ascher-Text zurückgegriffen, und zwar in der Gestalt des Codex L;


die Wiedergabe des MT und der Masora, freilich nur der kleinen, überwachte P.
KAHLE. Der Neubearbeitung, die 1968–77 unter der Herausgeberschaft von K.
ELLIGER und W. RUDOLPH als Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS) erschien und
in der H. P. RÜGER den masoretischen Text besorgte, wurde gesondert auch die
große Masora beigegeben (I, 1971, ed. G. E. WEIL). Letztere ist fester Bestandteil
der fünften Version der Stuttgarter Biblia Hebraica, der „Quinta“ (BHQ, seit
2004), deren Bewährungsprobe in Forschung und Lehre noch nicht abgeschlos-
sen ist. Unterdessen nimmt die umfangreichste der modernen Ausgaben, The
Hebrew University Bible (HUB, ed. M. H. GOSHEN-GOTTSTEIN, C. RABIN, S.
TALMON, E. TOV, seit 1995) ihren Fortgang; sie hat den Kodex von Aleppo zur
Grundlage und bietet einen erheblich größeren und differenzierteren Apparat als
die Biblia Hebraica. Erst im Zustand der Planung befindet sich das Oxford
Hebrew Bible Project (OHB), das das Wagnis unternehmen will, keine existie-
rende Handschrift mit einem Apparat, sondern einen kritisch rekonstruierten
„eklektischen“ Text vorzuführen.
Die atl. Textkritik hat es nach alledem schwerer als die neutestamentliche.
Zwar war die orthodoxe Tradition der umgekehrten Meinung: Während sie sich
beim NT mühsam mit der Vielzahl der, oft gewichtigen, Varianten abfinden
musste, sah sie beim AT einen scheinbar in allen seinen Bestandteilen von An-
fang an wunderbar rein bewahrten Text vor sich; auch die Punktation galt weit-
hin als inspiriert; gerade die umfangreichen Variantensammlungen, die man
unternahm (KENNICOTT 1776/80, DE ROSSI 1784/88), zeigten, dass es wirkliche
Varianten nicht gab. Aber dagegen ließ sich nicht nur der verhältnismäßig späte
Ursprung der Punktation nachweisen – hier ist wieder Elias LEVITA zu nennen
und dann vor allem der reformierte Theologe L. CAPPELLUS mit seiner Schrift
Arcanum punctationis revelatum (1624) –, sondern durch die Wiederentde-
ckung des Samaritanus (Pietro DELLA VALLE 1616) und den Vergleich mit der
LXX wurde schon verhältnismäßig früh die Relativität auch des Konsonanten-
textes sichtbar, die seit den Funden von Qumran im hellen Licht liegt. Die Ein-
heitlichkeit in der Bezeugung eines bestimmten Textes ist, wie wir nun sicher
wissen, in Wahrheit kein Vorteil, sondern ein Mangel. Denn dieser Text, mag er
sich auch gerade durch die Qumrantexte weithin als unerwartet alt erweisen,
stellt doch eine gegenüber dem Urtext bzw. den Urtexten sekundäre Rezension
dar, hinter die zurückzugelangen wir nur noch wenige und nicht leicht zu ver-
wendende Mittel haben – unter ihnen nach wie vor an der Spitze die LXX.
II. Die alten Übersetzungen

1. Die Septuaginta
H. B. SWETE, An Introduction to the Old Testament in Greek, Cambridge 1902 (Neudr. 1968). – F. G.
KENYON, The Text of the Greek Bible. A Student’s Handbook, London 1937 (dt. Der Text der griechi-
schen Bibel, Göttingen 21961). – I. L. SEELIGMANN, The Septuagint Version of Isaiah, Leiden 1948. –
E. BICKERMAN, Some Notes on the Transmission of the Septuagint (1950), in: Ders., Studies in Jewish
and Christian History I, 1976, (AGJU 9,1), 137–166. – E. BICKERMAN, The Septuagint as a Translation
(1959): ebd. 167–200.– H. Frh. V. CAMPENHAUSEN, Das Alte Testament als Bibel der Kirche vom
Ausgang des Urchristentums bis zur Entstehung des Neuen Testaments, in: Ders., Aus der Frühzeit
des Christentums, Tübingen 1963, 152–196. – H. Frh. V. CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der christ-
lichen Bibel, Tübingen 1968. – S. JELLICOE, The Septuagint and Modern Study, Oxford 1968. – J.
ZIEGLER, Sylloge. Gesammelte Aufsätze zur Septuaginta, Göttingen 1971. – S. P. BROCK / C. T.
FRITSCH / S. JELLICOE (eds.), A Classified Bibliography of the Septuagint, 1973 (ALGHJ 6). – S.
JELLICOE (ed.), Studies in the Septuagint. Origins, Recensions, and Interpretations, New York 1974. –
B. M. METZGER, Manuscripts of the Greek Bible. An Introduction to Greek Palaeography, New York
u. a. 1981. – E. TOV, Die griechischen Bibelübersetzungen, in: W. Haase (Hg.), Religion (Hellenisti-
sches Judentum in römischer Zeit, ausgenommen Philon und Josephus), 1987 (ANRW II. 20.1), 121–
189. – G. DORIVAL / M. HARL / O. MUNNICH, La Bible grecque des Septante. Du judaïsme hel-
lénistique au christianisme ancien, Paris 1988. – A. AEJMELAEUS, On the Trail of the Septuagint
Translators, Kampen 1993. – M. HENGEL / A. M. SCHWEMER (Hg.), Die Septuaginta zwischen
Judentum und Christentum, 1994 (WUNT 72). – R. HANHART, Studien zur Septuaginta und zum
hellenistischen Judentum, 1999 (FAT 24). – K. H. JOBES / M. SILVA, Invitation tot he Septuagint,
Grand Rapids 2000. – H.-J. FABRY / U. OFFERHAUS (Hg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Studien
zur Entstehung und Bedeutung der Griechischen Bibel, 2001 (BWANT 153). – F. SIEGERT, Zwischen
Hebräischer Bibel und Altem Testament. Eine Einführung in die Septuaginta, Münster 2001. – S.
KREUZER / J. P. LESCH (Hg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Studien zur Entstehung und Be-
deutung der Griechischen Bibel. Band 2, 2004 (BWANT 161). – I. L. SEELIGMANN, The Septuagint
Version of Isaiah and Cognate Studies, 2004 (FAT 40). – M. TILLY, Einführung in die Septuaginta,
Darmstadt 2005. – K. DE TROYER, Die Septuaginta und die Endgestalt des Alten Testaments,
Göttingen 2005. – H.-J. FABRY / D. BÖHLER (Hg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Studien zur
Theologie, Anthropologie, Ekklesiologie, Eschatologie und Liturgie der Griechischen Bibel, 2007
(BWANT 174). – A. SCHENKER, Anfänge der Textgeschichte des Alten Testaments, 2011 (BWANT
194). – J. JOOSTEN, Collected Studies on the Septuagint, 2012 (FAT 83). – S. KREUZER u. a. (Hg.), Die
Septuaginta – Entstehung, Sprache, Geschichte, 2012 (WUNT 286).

Das AT ist uns in griechischer Sprache fast ausschließlich aus christlicher Über-
lieferung bekannt. Für das älteste Christentum war das AT wie für das gleichzei-
tige Judentum die heilige Schrift. Dass neben, ja über seine Autorität die des
Herrn trat, der sein „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist – ich aber sage
euch“ (Mt 5,21f. usw.) sprach, und dass es damit eben zum „Alten Testament“
wurde (vgl. 2Kor 3,14), ändert an dieser Tatsache nichts. Die atl. Schriften zeu-
gen von Christus (Joh 5,39), sie sind für die geschrieben, „auf die das Ende der
Zeiten gekommen ist“ (1Kor 10,11). Das Christentum aber trat bald gänzlich aus
dem jüdischen Bereich hinaus. Der Buchstabe des Gesetzes wurde preisgegeben,
das AT blieb; freilich nicht im hebräischen Original, sondern in griechischer
Übersetzung. Diese brauchte nicht neu geschaffen zu werden; sie lag seit langem
in der LXX, der Bibel der griechisch sprechenden Juden, vor. Dass das Christen-
tum sich dieser Übersetzung bemächtigte, trug dazu bei, dass das Judentum sie
II. Die alten Übersetzungen 33

preisgab und an ihre Stelle neue Übersetzungen treten ließ. Diese, die Werke des
Aquila, des Theodotion und des Symmachos, konnten freilich die Bedeutung der
LXX nie erreichen; sie sind bis auf wenige Reste, die sich paradoxerweise wiede-
rum größtenteils in christlicher Überlieferung erhalten haben, verschollen. So ist
die LXX ein christliches Buch geworden und uns als Bestandteil der christlichen
Bibel Alten und Neuen Testaments überliefert, voran in den drei berühmten
großen Majuskelhandschriften des Codex Vaticanus (B) und des Codex Sinaiti-
cus (‫א‬, S) aus dem 4., des Codex Alexandrinus (A) aus dem 5. Jh. Das ändert
nichts daran, dass die LXX von Hause aus ein jüdisches Buch ist und dass sich
die entscheidenden Anfangsstadien ihrer Geschichte im Judentum abgespielt
haben.

a) Entstehungsgeschichte und Eigenart

Über den Ursprung der LXX will der Aristeasbrief berichten, der von einem grie-
chischen Hofmann des Königs Ptolemaios II. Philadelphos (285–246) zu stam-
men behauptet, tatsächlich aber um 100 v. Chr. von einem alexandrinischen
Juden geschrieben ist.

Der Vorsteher der königlichen Bibliothek in Alexandria, Demetrios von Phaleron,


schlägt dem König Ptolemaios vor, der Bibliothek die jüdischen Gesetze einzuverlei-
ben, wofür sie ins Griechische zu übersetzen wären. Der König stimmt zu und lässt bei
dieser Gelegenheit auf Bitten des Aristeas eine große Zahl jüdischer Sklaven frei, die
unter seinem Vater als Gefangene nach Ägypten gekommen waren. Er schickt dann
den Obersten der Leibwache, Andreas, und den Aristeas nach Jerusalem zum Hohen-
priester Eleasar mit kostbaren Geschenken und dem brieflichen Ersuchen, aus jedem
Stamm sechs würdige und gelehrte Männer für die Aufgabe der Übersetzung auszu-
wählen. Eleasar tut das, die 72 Männer (deren Zahl später abgerundet unsere „LXX“
ergeben hat) reisen nach Alexandria, wo der König sie empfängt und ausgiebig be-
wirtet. Er richtet an jeden eine Frage und erhält überaus kluge Antworten. Nachdem
dies alles sehr langatmig dargestellt ist, kommt ziemlich kurz die Hauptsache: die 72
Männer führen in 72 Tagen auf der Insel Pharos das Übersetzungswerk aus; durch ge-
genseitige Vergleiche kommen sie zu voller Übereinstimmung. Demetrios liest das
fertige Werk der jüdischen Gemeinde von Alexandria vor; diese billigt es und erklärt
es für unveränderlich. Darauf wird es dem König vorgelesen; auf seine verwunderte
Frage, warum dieses Gesetz bisher so unbekannt geblieben sei, erhält er zur Antwort,
einige, die es in profanen Werken hätten verwenden wollen, seien von Gott geschla-
gen worden. Die Übersetzer werden, wiederum mit reichen Gaben, nach Jerusalem
heimgeschickt.

Der Aristeasbrief will der griechischen Übertragung des Gesetzes zu besonderer


Autorität verhelfen, indem er sie durch ein Zusammenwirken der obersten Auto-
ritäten in Alexandria und Jerusalem veranlasst, durch kompetente Gelehrte aus
Jerusalem durchgeführt und durch die Gemeinde in Alexandria sanktioniert sein
lässt. Dass der Hergang in den Einzelheiten nicht so gewesen sein kann, liegt für
34 A. Das Alte Testament

den kritischen Leser auf der Hand. Strittig ist aber, ob nicht doch ein staatliches
Interesse mitgewirkt haben könnte und darum eine wie auch immer geartete
Anregung vonseiten der Ptolemäer anzunehmen wäre. Dafür wird ins Feld ge-
führt, dass die Kulturpolitik der Ptolemäer und Seleukiden auf ein Mindestmaß
an Einheit unter den von ihnen beherrschten Völkern abzielte („Der König
schrieb seinem ganzen Reich, sie sollten alle ein einziges Volk sein“, 1Makk 1,41)
und dass in diesem Zusammenhang auch ein griechisches AT seine Rolle spielen
konnte. So richtig das sein mag, für das Zustandekommen der Übersetzung ist es
schwerlich der Grund gewesen. Dieser lag vielmehr, mindestens ganz überwie-
gend, nicht außerhalb, sondern innerhalb des Judentums, nämlich in den Be-
dürfnissen der griechisch sprechenden Diaspora. War schon die Gemeinde in
Palästina zum Verständnis der heiligen Schriften auf die aramäischen Targume
angewiesen, so galt Entsprechendes noch weit mehr von den Juden außerhalb
Palästinas, namentlich denen in Ägypten, unter denen gewiss nur wenige
Hebräisch verstehen oder richtig lesen konnten. Das Lesen ließ sich durch grie-
chische Transkriptionen mehr schlecht als recht möglich machen, für das Ver-
stehen musste früher und umfassender als bei den aramäisch sprechenden Juden
Palästinas über die jeweiligen mündlichen Übertragungen hinaus (die es auch
hier gegeben haben dürfte) eine regelrechte schriftliche Übersetzung nötig wer-
den. P. KAHLE hat sogar angenommen, die LXX sei wie die Targume allmählich
aus einer Vielzahl von zunächst mündlichen Übersetzungen entstanden. Die
Suche nach einem einzigen Urtext, wie ihn P. DE LAGARDE, A. RAHLFS und P.
KATZ postuliert haben, wäre dann sinnlos. Aber schon die Verschiedenheit der
Verhältnisse bei den griechisch und den aramäisch sprechenden Juden begüns-
tigt Kahles These nicht, und auch aus anderen Gründen hat die Alternative in
der neueren Forschung an Schärfe verloren.
Dass und wie sehr die LXX ein genuin jüdisches Werk ist, erweist vor allem
der Charakter der Übersetzung selbst. Man hat die LXX lange Zeit als das Doku-
ment der Hellenisierung der israelitischen Religion verstanden und begrüßt;
Hauptvertreter dieser Richtung ist A. DEISSMANN gewesen. Und in der Tat lässt
sich auf Schritt und Tritt das Bemühen beobachten, die biblischen Aussagen für
die neue Gegenwart und Umgebung verständlich zu machen und zu aktualisie-
ren. Aber je mehr die Erforschung der LXX in diesen Sachverhalt eindringt,
umso mehr wächst andererseits auch die Einsicht, dass die Übersetzung keine
Preisgabe des Inhalts gewesen ist.

„Die LXX strömt in einem für eine Übersetzung in die Sprache des Hellenismus
denkbar hohen Maß den Geist des AT aus und in einem denkbar geringen Maß den
hellenistischen Geist der untergehenden Antike“ (HANHART). „Man darf sagen, daß
die der Antike fremde und anstößige Eigenständigkeit der Kirche neben Staat und Ge-
sellschaft ihre ursächliche Parallele in der die Sonderexistenz der Synagoge zum Aus-
druck bringenden Sprachgestalt der LXX als Übersetzung hat. Das Gottesvolk alten
wie neuen Bundes setzt sich in Sprache und Denkform von der ‚Welt‘ ab“ (P. KATZ,
RGG3, V, 1706).
II. Die alten Übersetzungen 35

Die Geschichte der LXX ist uns nur in Umrissen sichtbar. Darin, dass der Penta-
teuch um die Mitte des 3. Jh.s v. Chr. in Alexandria übersetzt worden ist, dürfte
der Aristeasbrief recht haben; die Übersetzer sind freilich kaum palästinische,
sondern alexandrinische Juden gewesen. Die Übersetzung des Pentateuchs, der
allgemein eine besonders hohe Qualität zugeschrieben wird, hat deutlich auf die
Übersetzung einiger anderer Bücher eingewirkt. Den genaueren Hergang der
weiteren Arbeit zu rekonstruieren, fehlen die Mittel; die Reihenfolge wird sich
ungefähr nach den Stadien der Vorgeschichte des hebräischen Kanons gerichtet
haben. Ein gewisser Endpunkt deutet sich im Prolog des griechischen Sir (nach
132 v. Chr.) an, wo auf die Übertragung „des Gesetzes, der Propheten und der
übrigen Bücher“ zurückgeblickt wird.

b) Umfang und Anordnung

Die LXX gibt nach Umfang und Anordnung nicht einfach den hebräischen Ka-
non wieder, sondern enthält darüber hinaus eine Reihe weiterer Bücher und
Buchteile und gruppiert den Gesamtbestand neu. Der Überschuss, die sog.
Apokryphen (s. u. III.), ist in der LXX nicht wie in unseren protestantischen Bi-
beln den Büchern des hebräischen Kanons geschlossen als Anhang beigegeben,
sondern nach inhaltlichen Gesichtspunkten in seinen Einzelstücken dem Ganzen
eingefügt. Dieses Ganze erscheint neu gegliedert in die drei Teile der histori-
schen, poetischen und prophetischen Bücher, wobei vor allem der jüngste dritte
Teil des hebräischen Kanons aufgelöst ist und seine Bestandteile, soweit sie nicht
als „poetische Bücher“ beisammen blieben, den historischen und den propheti-
schen Schriften eingeordnet sind. So folgt Rut auf Ri, und an Kön sind ange-
schlossen Chr, das apokryphe Buch 1Esr, darauf 2Esr (= Esr + Neh); Est (mit
apokryphen Erweiterungen) und die apokryphen Bücher Jdt, Tob und 1–4Makk.
Die poetischen Bücher enthalten außer den Pss (öfters einschl. der „Oden“, einer
Sammlung poetischer Stücke aus beiden Testamenten, mitsamt dem Gebet des
Manasse), den drei kanonischen „salomonischen“ Schriften (Spr, Koh, Hld) und
Hiob noch die apokryphen Schriften Weish und Sir. Bei den Propheten stehen
die 12 Kleinen Propheten am Anfang (die ersten 6 in etwas anderer Reihenfolge
als in der hebräischen Bibel), dann folgen Jes, Jer (mit Klgl und den apokryphen
Schriften Bar und Brief des Jer), Ez und Dan (mit den Erweiterungen Gebet
Asarjas und Gesang der drei Männer im Feuerofen und den apokryphen Schrif-
ten Susanna und Bel und der Drache). Bestand und Anordnung zeigen große
Vielfalt. Est, Jdt und Tob können am Ende der poetischen Bücher und 1–4Makk
am Ende des Ganzen stehen. Selbst die Reihenfolge der großen Teile variiert: So
wichtige Handschriften wie S und A stellen die prophetischen Bücher den poeti-
schen voran. Aber die Stellung der Propheten am Ende ist die besser bezeugte,
und sie beruht offenbar auf theologischer Überlegung: Die Eschatologie soll das
letzte Wort haben. Überhaupt steckt in der Anordnung des „alexandrinischen
Kanons“ deutlich mehr Reflexion als in der des hebräischen. Ist der hebräische
36 A. Das Alte Testament

Kanon gewachsen, so ist der griechische bewusst gestaltet. Der Stoff lag vor, und
offensichtlich gab es in Alexandria (und in der frühen Kirche) eine größere Frei-
heit als im pharisäischen Judentum, ihn zu disponieren und auch zu erweitern.
Der Begriff des Kanons lässt sich hier nicht in derselben Schärfe anwenden wie
dort.

c) Der Gebrauch im Judentum und im Christentum

Das bedeutet aber durchaus nicht, dass das Bemühen um größtmögliche Nähe
des Textes zum hebräischen Original fehlte. Im Gegenteil, soweit uns die weitere
Geschichte der LXX bekannt ist, war sie überwiegend eine Geschichte von Re-
zensionen, die sich vor allem am Urtext orientierten. Zunächst im Judentum. Die
Generationen, die den hebräischen Kanon zum Abschluss brachten, haben sich
also nicht nur um eine endgültige Gestalt des hebräischen Textes bemüht, son-
dern auch um einen griechischen Text, der diesem möglichst genau entsprechen
sollte.

Wir sind dort neuerdings nicht mehr ausschließlich auf die indirekte Bezeugung
durch Philo, Josephus und die urchristliche Literatur angewiesen (von ein paar dürfti-
gen älteren Zitaten aus dem hellenistischen Judentum zu schweigen), sondern besit-
zen einige handschriftliche Fragmente der vorchristlichen LXX selbst. Es handelt sich
um Papyrusfunde aus Ägypten mit Dtn-Texten (Papyrus Rylands Greek 458 in Man-
chester, Papyrus Fouad 266 in Kairo, beide 2. Jh. v. Chr.) sowie um Funde aus der
Wüste Juda: neben einzelnen Fragmenten von Papyrus- und Lederrollen mit Lev- und
Num-Texten aus den Höhlen 4 und 7 von Qumran (1. Jh. v. Chr.) vor allem eine in
verhältnismäßig großem Umfang erhaltene Lederrolle des Zwölfprophetenbuches
vom Naḥal Ḥever (vielleicht schon 1. Jh. v. Chr., hg. v. E. TOV 1990). Diese Funde be-
legen in überraschendem Ausmaß rezensionelle Eingriffe in den Text, die diesen of-
fenbar in erster Linie dem hebräischen Urtext angleichen wollen.

Auf dieser Linie liegen auch die konsequenteren Versuche, nach der Übernahme
der LXX durch das Christentum zu einem neuen griechischen Text zu kommen.
Von ihnen hat sich nur wenig erhalten, weil das hellenistische Judentum keinen
Bestand hatte. Wir hören von einem halben Dutzend solcher Übersetzungen,
wissen von dreien nur die Zahlen, die ihnen Origenes gegeben hat (Quinta,
Sexta, Septima, die LXX als Prima gerechnet), von drei anderen etwas mehr. Die
erste von ihnen, in Bruchstücken in der Kairoer Geniza und in den Resten der
Hexapla des Origenes erhalten, wurde zu Anfang des 2. Jh.s von einem Prosely-
ten namens Aquila (α’) angefertigt; sie will in oft gewaltsamer Wörtlichkeit den
hebräischen Text wiedergeben (berühmtes Beispiel Gen 1,l: ἐν ϰεφαλαίῳ ἔϰτισεν
ϑεὸς σὺν τὸν οὐϱανὸν ϰαὶ σὺν τὴν γῆν). Die beiden anderen Übersetzer scheinen
wieder stärker auf die LXX zurückgegangen zu sein: Theodotion (θ’), nach der
Tradition ebenfalls ein Proselyt, um die Mitte des 2. Jh.s, und der etwas spätere
Symmachos (σ’), dem ebionitische Herkunft zugeschrieben wird.
II. Die alten Übersetzungen 37

Das Christentum der ersten Jh.e gebraucht die LXX mit großer Selbstverständ-
lichkeit als seine Bibel bzw. dann später als deren ersten Teil. Aber es wird doch
auch genötigt, diesen Gebrauch zu rechtfertigen, zunächst um dem jüdischen
Vorwurf zu begegnen, die LXX verfälsche den allein maßgeblichen Urtext, dann
aber auch, weil innerhalb der Kirche selbst die Unterschiede zwischen der
hebräischen und der griechischen Bibel nach Umfang und Text zum Problem
werden. Die LXX tritt nun notwendig in den Rang voller Offenbarung.

Besonders plastisch lässt sich das an den christlichen Variationen der Aristeaslegende
verfolgen. Im Aristeasbrief war der Übersetzungsvorgang durchaus natürlich gedacht:
Die Übersetzer kamen durch gegenseitige Vergleiche zur Übereinstimmung. Bei Philo
(De vita Mosis II, 25–44) wird der Vorgang zum Wunder: Die Übersetzer „weissagten
wie von der Gottheit ergriffen, nicht der eine so, der andere so, sondern alle gleich in
Bezug auf Namen und Wörter, wie wenn ein Souffleur es allen unsichtbar zugerufen
hätte“ (37). So wurde überall der beste Ausdruck getroffen, es besteht zwischen Origi-
nal und Übersetzung eigentlich gar kein Unterschied, und die Siebzig sind nicht Über-
setzer, sondern Priester und Propheten (ἱεϱοφάντες ϰαὶ πϱοφῆται). Diese Version der
Legende, für das Judentum ganz untypisch, geht dann ins Christentum hinüber, wo
außerdem die Erinnerung an das Pfingstwunder von Apg 2 hineinspielt. Nach Irenäus
(Adv. haer. III, 21,2) ließ König Ptolemaios die Übersetzer einzeln und streng von-
einander getrennt alle Bücher übersetzen; beim anschließenden Vergleich erwiesen
sich die Schriften durch die völlige Übereinstimmung der Wiedergabe als „wahrhaft
göttlich“ (ὄντως ϑεῖαι ἐγνώσϑησαν), und auch die anwesenden Heiden erkannten,
„dass die Schriften unter göttlicher Inspiration übersetzt waren“ (Κατʼ ἐπίπνοιαν τοῦ
ϑεοῦ ήϱμενευμέναι). Ähnlich Clemens Alexandrinus (Strom. I, 22, 149) und dann vor
allem, mit hübschen Details, Epiphanius (De mensuris et ponderibus 3–6).

Damit verbindet sich die Vorstellung von einer besonderen heilsgeschichtlichen


Rolle der LXX. Sie rückt die LXX etwas stärker vom Urtext ab, als es die bloße
Vorstellung von der Inspiriertheit der Übersetzung tut, und wird damit den oft
unausweichlich problematischen Unterschieden zwischen den beiden Textgestal-
ten besser gerecht. Die Übersetzung steht nun deutlich als ein zweites Buch von
nicht geringerer Würde, aber mit einer anderen Bestimmung neben dem Urtext.

In dieser Richtung äußert sich Irenäus (Adv. haer. III, 21,1f.) und dann in seinen Spu-
ren Clemens Alexandrinus (Strom. I, 22, 148f.): Gott hat mit der Übersetzung, die eine
„griechische Offenbarung“ (Ἑλληνικὴ πϱοφήτεια) ist, für die griechisch Sprechenden
Sorge tragen wollen. Besonders eindrücklich stellt Origenes (Ep. ad Africanum 4) eine
angesichts der Unterschiede zwischen dem hebräischen und dem griechischen Text
mögliche Preisgabe des letzteren als den Verzicht auf ein hohes Heilsgut hin: „Dann
hätte auch die göttliche Vorsehung keine Sorge getragen um die, welche teuer erkauft
sind, für die Christus gestorben ist“. Einen festen Platz nimmt die LXX in der heilsge-
schichtlichen Schau des Euseb (Praep. ev. VIII, 1, 5–7) ein: die göttliche Ökonomie
hat durch sie das heilvolle Wort des AT dem Widerstand der Juden zum Trotz allen
Menschen zugänglich gemacht. Die Argumente zugunsten der LXX werden endlich,
als Hieronymus bei der Übersetzung ins Lateinische auf den hebräischen Urtext zu-
rückgreift, von Augustin wiederholt zusammengefasst und weiter ausgeführt.
38 A. Das Alte Testament

Unter den christlichen Rezensionen der LXX steht die des Origenes (etwa 240–
245) obenan. Sie will dem Judentum gegenüber die volle Übereinstimmung des
in der Kirche benutzten LXX-Textes mit dem hebräischen Grundtext erweisen
bzw., wo nötig, herstellen. Origenes hat zu diesem Zweck die 50bändige Hexapla
(τὰ ἑξαπλᾶ = das sechsfältige Werk) hergestellt, in der synoptisch nebeneinander
erscheinen 1. der hebräische Konsonantentext, 2. der hebräische Text in griechi-
scher Transkription, 3. Aquila, 4. Symmachos, 5. Septuaginta, 6. Theodotion.
Gelegentlich kommen noch weitere griechische Übersetzungen hinzu. Außer der
Hexapla hat Origenes auch eine Tetrapla herausgegeben, in der der hebräische
Text fehlt. Den LXX-Text korrigierte er nach dem Urtext bzw. nach den diesen
wiedergebenden anderen Übersetzungen, besonders Theodotion. Er machte
dabei ein Plus der ihm vorliegenden LXX durch den Obelos (÷), ein Minus
durch den Asteriskos (※) kenntlich, zwei Zeichen, die auf den alexandrinischen
Philologen Aristarchos (2. Jh. v. Chr.) zurückgingen. Auch für Varianten ge-
brauchte er diese Zeichen: Er versah den überlieferten LXX-Text mit einem
Obelos und fügte die bessere Lesart mit einem Asteriskos hinzu. Die Originale
von Hexapla und Tetrapla wurden in Caesarea aufbewahrt; nach der Eroberung
durch die Araber im 7. Jh. verliert sich ihre Spur. Vollständige Abschriften hat es
kaum gegeben. Wir besitzen von der Hexapla Fragmente aus einem Palimpsest
der Mailänder Bibliothek (11 Psalmen, Kolumnen 2–6, „Mercatische Fragmen-
te“, 1895 entdeckt, 1958 veröffentlicht), daneben aus einem Palimpsest der Ge-
niza in Kairo (Ps 22 teilweise, Kolumnen 1 und 6 nicht erhalten). Von Caesarea
aus haben um 300 Pamphilus und Euseb den hexaplarischen LXX-Text für den
kirchlichen Gebrauch verbreitet. Er ist außerdem unter Beibehaltung der aristar-
chischen Zeichen 616/17 ins Syrische übersetzt worden (Syrohexaplaris). Dage-
gen fehlen die Zeichen merkwürdigerweise in den Mercatischen Fragmenten.
Hieronymus nennt (im Vorwort zur Chr in der Vulgata) neben der Text-
rezension des Origenes, die man in Palästina benutzte, zwei weitere: die des
Märtyrers Lukian von Antiochia (gest. 312), die zwischen Konstantinopel und
Antiochia, also in Syrien und Kleinasien, und die eines gewissen Hesychius, die
in Ägypten gelesen werde. Die letztgenannte hat sich bisher in der Überlieferung
kaum nachweisen lassen. Doch kann hier die weitere Erforschung des alexandri-
nischen Textes neue Aufschlüsse bringen; immerhin stammen aus diesem Be-
reich die ältesten bekannten christlichen LXX-Handschriften (Antinoopolis-
Papyri, „Berliner Fragmente“, vor allem Chester-Beatty-Papyri, alle 2.–4. Jh.).
Für die Kenntnis der Rezensionen, ohne die wir keine Aussicht haben, zur ur-
sprünglichen Gestalt oder auch den ursprünglichen Gestalten der LXX zurück-
zugelangen, sind neben den Bibel-Handschriften die Zitate bei den Kirchen-
vätern unentbehrlich. Eine spezielle Gattung bilden die sog. Katenen, in denen
seit etwa 500 n. Chr. die biblischen Texte mitsamt „ketten“artig aneinanderge-
reihten Erklärungen der Kirchenväter dargeboten wurden.

Die LXX liegt in zwei neueren Handausgaben vor. Die eine, von H. B. SWETE heraus-
gegeben (zuerst 1887–1894), bietet den Text von B (in dessen Lücken den von A) und
II. Die alten Übersetzungen 39

wichtige Varianten aus den Majuskelhandschriften. Die andere, von A. RAHLFS (zuerst
1935, revidiert von R. HANHART 2006), sucht einen Urtext herzustellen und im Appa-
rat die Varianten nach Rezensionen zu gruppieren. Jeder der beiden Handausgaben
entspricht eine große, auf Vollständigkeit des Variantenmaterials bedachte Edition:
der von SWETE die unvollständig gebliebene von A. E. BROOKE und N. MCLEAN in
Cambridge (1906–1940), der von RAHLFS die der Akademie der Wissenschaften zu
Göttingen (seit 1931; Herausgeber bisher R. HANHART, W. KAPPLER, U. QUAST, A.
RAHLFS, J. W. WEVERS, J. ZIEGLER). Neuerdings hat man die LXX auch in moderne
Sprachen übersetzt: La Bible d’Alexandrie, hg. v. M. HARL, G. DORIVAL und O.
MUNNICH, Paris seit 1986; A New English Translation of the Septuagint, hg. v. A.
PIETERSMA u. B. WRIGHT, New York – Oxford 2007; Septuaginta Deutsch, hg. v. W.
KRAUS u. M. KARRER (2009).

2. Andere Übersetzungen
F. STUMMER, Einführung in die altlateinische Bibel, Paderborn 1928. – E. LEVINE, The Aramaic
Version of the Bible: Contents and Context, 1988 (BZAW 174).

Der einzigartige Rang der LXX besteht nicht zuletzt darin, dass sie nacheinander
Besitz der Juden und der Christen gewesen ist. Von keiner der Übersetzungen,
die im Folgenden noch aufgeführt werden sollen, lässt sich dasselbe mit Sicher-
heit sagen; sie gliedern sich ohne weiteres in jüdische und christliche. Das beste
Mittel, sich den Bestand im Groben anschaulich zu machen, sind die Polyglotten
des 16. und 17. Jh.s (Complutensis, Antwerpener, Pariser und vor allem Londo-
ner Polyglotte); in einigen Fällen findet sich dort sogar noch heute der beste
erreichbare Text.

a) Die Targume

Zunächst müssen auf jüdischer Seite die Targume genannt werden, paraphrasie-
rende Übersetzungen des hebräischen Textes ins Aramäische. Sie wurden not-
wendig, als bei den palästinischen (und babylonischen) Juden der nachexilischen
Zeit die hebräische Sprache immer mehr hinter der aramäischen zurücktrat, die
im Perserreich sogar Amtssprache war („Reichsaramäisch“). Da die heiligen
Schriften (mit geringen Ausnahmen: Gen 31,47; Jer 10,11; Dan 2,4b–7,28; Esr
4,8–6,18; 7,11–26) in der fortschreitend weniger verstandenen hebräischen Spra-
che abgefasst waren, wurde im Synagogengottesdienst der Text abschnittsweise
hebräisch verlesen und dann von einem Dolmetscher (meṯurgemān) ins Aramäi-
sche übersetzt. Diese Übung wurde später auf Esra zurückgeführt (vgl. Neh 8,8).
Die Übersetzung (targûm) erfolgte mündlich und in einiger Freiheit. Aber es
entstanden bestimmte Traditionen, und diese wurden im Laufe der Zeit auch
schriftlich fixiert. Der älteste Zeuge dafür ist ein Hiobtargum, das, freilich frag-
mentarisch, in Höhle 11 von Qumran gefunden wurde (11QtgJob, Ende 2. Jh.
v. Chr., hg. v. J. P. M. VAN DER PLOEG u. A. S. VAN DER WOUDE 1971). Die beiden
40 A. Das Alte Testament

maßgeblichen Targume sind erheblich jünger: das Targum Onkelos zum Penta-
teuch und das Targum Jonathan zu den Propheten. Ihre Namen sollen von den
Übersetzern ins Griechische Aquila (Onkelos) und Theodotion (Jonathan) ge-
nommen sein; das besagt freilich nichts über ihre Herkunft, sondern allenfalls
etwas über die Bemühung um Exaktheit des Wortlauts bei der Redaktion. Beide
Werke wurden in Babylonien redigiert, Onkelos vielleicht schon um 300, Jo-
nathan später; natürlich war das Material älterer, vor allem palästinischer Her-
kunft. Die beiden Targume sind von A. SPERBER neu herausgegeben worden
(1959–1962). Daneben stehen zwei weitere Targume zum Pentateuch aus Paläs-
tina, genannt Jeruschalmi I oder Pseudo-Jonathan und Jeruschalmi II oder
Fragmententargum. Sie scheinen ein älteres palästinisches Pentateuchtargum
von großer sprachlicher, textlicher und inhaltlicher Bedeutung vorauszusetzen,
das uns heute in Fragmenten aus der Kairoer Geniza (7.–9. Jh.) und in einer
vollständigen Handschrift der Vatikanischen Bibliothek (Codex Neofiti 1, 1504,
hg. v. A. DIEZ MACHO 1968–1978) greifbar geworden ist; seine Tradition scheint
sich bis in vorchristliche Zeit zurückverfolgen zu lassen. Außerdem gibt es eine
ziemlich bunte Gruppe von Targumen zu den Hagiographen. Mögen die Tar-
gume für die Textkritik im engeren Sinne wegen ihrer Verschiedenheit und der
geringen Wörtlichkeit ihrer Übersetzungsweise nur beschränkt verwendbar sein,
so ist ihr Wert für die Exegese des Textes und die Kenntnis seiner Geschichte
insgesamt doch unschätzbar.

b) Die Peschitta

Unter den Bibelübersetzungen in den Nationalkirchen des christlichen Orients


ragt die wichtigste der syrischen, die Peschitta (𝔖), hervor. Der Name bedeutet
entweder „die allgemeine“ oder „die einfache“; letzteres wäre wohl im Gegensatz
zur Syrohexaplaris, der Übersetzung des LXX-Textes der Hexapla ins Syrische,
gemeint. Die Peschitta entstand zwischen den Anfängen des syrischen Christen-
tums im 2. und seiner Spaltung in Jakobiten und Nestorianer im 5. Jh. Die wich-
tigste uns erhaltene Handschrift, der Codex Ambrosianus in Mailand aus dem
6./7. Jh., ist jakobitisch; für die Zeit davor sind wir auf fragmentarische Hand-
schriften und Kirchenväterzitate angewiesen. Hinsichtlich der Entstehungs- und
Überlieferungsgeschichte der Peschitta tappen wir einstweilen im Dunkeln, wozu
das Fehlen einer wissenschaftlichen Ausgabe beiträgt, ein Mangel, dem nunmehr
durch die Arbeit des von P. A. H. DE BOER begründeten Leidener Peschitta-Insti-
tuts abgeholfen wird (Ausgabe seit 1972). Womöglich ist in die Peschitta eine
ältere jüdische Übersetzung des AT (oder von Teilen davon) eingegangen. Im
Pentateuch und anderswo besteht eine große Nähe zu den Targumen. Es hat
nicht den Anschein, als sei mit der Peschitta hinter den MT zurückzukommen.

Weiter sind aus dem östlichen Bereich die Übersetzungen ins Armenische (5. Jh.),
Georgische (5. Jh., mit der armenischen verwandt), Gotische (Wulfila, 4. Jh.), Arabi-
II. Die alten Übersetzungen 41

sche (erst in islamischer Zeit sicher), Koptische (ab 3. Jh., am wichtigsten die ins Sahi-
dische in Ober- und die ins Bohairische in Unterägypten) und Äthiopische (4. Jh., alle
Handschriften weit jünger) zu nennen. Ihr textkritischer Wert ist in der Regel
dadurch begrenzt, dass sie fast ausschließlich Tochterübersetzungen der LXX sind.
Eine größere Bedeutung verschafft ihnen der Umstand, dass sich in ihnen, und sei es
auch nicht im vollen kanonischen Rang, eine Reihe von Schriften finden, die weder
der hebräische noch der griechische Kanon enthält; ohne diese Übersetzungen wäre
uns ein großer Teil der sog. Pseudepigraphen unbekannt.

c) Vetus Latina und Vulgata

In der westlichen Kirche finden sich Spuren eines lateinischen Bibeltextes vom 2.
Jh. an; sicher fassbar wird er in Zitaten des Cyprian von Karthago (gest. 258). Es
handelt sich um eine Mehrzahl von Übersetzungen, die man unter dem Namen
Vetus Latina (𝔏) zusammenzufassen pflegt; für zwei angenommene Haupttypen
sind, mit unsicherem Recht, die Ausdrücke Afra und Itala in Gebrauch. Den
Übersetzungen liegt die LXX zugrunde. Vollständige Texte der Vetus Latina
besitzen wir nicht, weil die Vulgata ihre Vorgängerin größtenteils verdrängt hat.
Wichtigste Handschriften sind die Konstanzer Bruchstücke (5. Jh., Propheten-
fragmente) und der Codex Lugdunensis (7. Jh., Gen–Ri). Anstelle der alten
Sammlung von P. SABATIER (1739–1749) gibt jetzt das Vetus Latina Institut der
Erzabtei Beuron das erreichbare Material in einer großen kritischen Ausgabe neu
heraus (Vetus Latina. Die Reste der altlateinischen Bibel, seit 1949, erster Her-
ausgeber B. FISCHER OSB).
Die unübersichtliche und immer mehr verwilderte Vielfalt der altlateinischen
Übersetzungen wurde allmählich durch eine neue lateinische Bibel ersetzt, die
seit dem 16. Jh. die Vulgata (die allgemein verbreitete Übersetzung) heißt (𝔙). Sie
ist in der Hauptsache das Werk eines einzigen Mannes, des Hieronymus (ca.
347–420). Er begann 383 im Auftrag des Papstes Damasus I. die Vetus Latina
nach dem griechischen Text zu revidieren. Nach traditioneller, aber unwahr-
scheinlicher Auffassung kam auf diese Weise vom AT zunächst der als Psal-
terium Romanum noch heute in der Peterskirche in Rom verwendete Psal-
mentext zustande. Als Hieronymus nach seiner Übersiedlung in den Osten (385)
in Caesarea die Hexapla des Origenes kennengelernt hatte, legte er sie zugrunde.
So entstand ein neuer Psalter, das in die 𝔙 eingegangene Psalterium Gallicanum
(zuerst in Gallien gottesdienstlich gebraucht?); von den weiteren Ergebnissen
dieses Arbeitsganges besitzen wir vollständig nur Hi und Hld. Um 390 begann
dann die ganz neue Übersetzung aus dem hebräischen Urtext, der „Hebraica
veritas“. Obwohl Hieronymus durch (in ihrem Ausmaß umstrittene) hebräische
Sprachkenntnisse gerüstet war, sich auch von Juden helfen ließ und natürlich die
vorhandenen griechischen Übersetzungen benutzte, war das Unternehmen über-
aus schwierig und sein später allerseits anerkanntes Gelingen keine Selbstver-
ständlichkeit. Nicht zuletzt richtete es sich ja auch gegen die LXX; Hieronymus
respektierte sie zwar zeitlebens hoch, entdeckte aber viele Mängel in ihr und
42 A. Das Alte Testament

konnte sie nicht mehr in der hergebrachten Weise als inspiriert betrachten.
Augustin, der die Revisionsarbeit des Hieronymus begrüßt hatte, wandte sich mit
den ernstesten Bedenken gegen die Übersetzung. Sie wurde gleichwohl 405 abge-
schlossen und bildet in der römischen Kirchenbibel die Übersetzung aller Bücher
des hebräischen AT mit Ausnahme der Pss; das Psalterium iuxta Hebraeos des
Hieronymus hat in die 𝔙 keinen Eingang gefunden.
Mehrere Apokryphen gingen aus der Vetus Latina in die 𝔙 über (Weish, Sir,
Bar, Makk); Tob und Jdt hat Hieronymus aus dem Aramäischen neu übersetzt.
In Umfang und Reihenfolge der Bücher schließt sich die 𝔙 – natürlich variieren
auch hier die Handschriften und Drucke – nicht an die hebräische Bibel an, son-
dern an die LXX. Freilich fehlt einiges von den Apokryphen, und die zwölf Klei-
nen Propheten sind in der Reihenfolge des hebräischen Textes den übrigen Pro-
pheten nachgestellt. Am Ende der ganzen Bibel stehen 3Esr (= LXX 1Esr) und die
Apokalypse 4Esr. Die Lutherbibel folgt in ihrer Reihenfolge der 𝔙, stellt aber die
Apokryphen (mit einigen Stücken, die nur in der LXX, aber nicht in der 𝔙 ste-
hen, doch ohne 3 und 4Esr) als Anhang zusammen.
Die 𝔙 setzte sich nur langsam durch, endgültig erst im 8./9. Jh. Auf ihre mit-
telalterliche Gestalt wirkte vor allem die Revision Alkuins (gest. 804) ein (Pariser
Bibel im 13. Jh., danach die berühmten ersten Drucke: 1456 42zeilige, 1462
36zeilige Bibel usw.). Das Tridentinum erklärte 1546 die 𝔙 für maßgebend, nach
längeren Kommissionsarbeiten gaben 1590 Sixtus V. die Sixtina und 1592 Cle-
mens VIII. die Clementina als authentischen Text heraus. Eine große revidierte
Neuausgabe durch den Benediktinerorden erscheint seit 1926, eine zweibändige
kritische Handausgabe, hrsg. von R. WEBER OSB, ist 1969 erschienen.
III. Die deuterokanonischen Schriften („Apokryphen“)

J. G. EICHHORN, Einleitung in die apokryphischen Schriften des Alten Testaments, Leipzig 1795. –
O. F. FRITZSCHE / K. L. W. GRIMM, Kurzgefaßtes exegetisches Handbuch zu den Apokryphen des
Alten Testaments, Leipzig 1851–60. – E. KAUTZSCH (Hg.), Die Apokryphen und Pseudepigraphen
des Alten Testaments, 1900 (APAT I/II). – E. SCHÜRER, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter
Jesu Christi 4III, Leipzig 1909. – R. H. CHARLES (ed.), The Apocrypha and Pseudepigrapha of the Old
Testament I/II, Oxford 1913. – W. O. E. OESTERLEY, An Introduction to the Books of the Apocrypha,
London 1935 (Neudruck). – C. C. TORREY, The Apocryphal Literature, New Haven 1945. – B. M.
METZGER, An Introduction to the Apocrypha, New York 1957. – L. ROST, Einleitung in die alttesta-
mentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen, Heidelberg 1971. – W. G. KÜMMEL (Hg.), Jüdische
Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit I–V, seit 1973 (JSHRZ). – M. E. STONE (ed.), Jewish Wri-
tings of the Second Temple Period. Apocrypha, Pseudepigrapha, Qumran Sectarian Writings, Philo,
Josephus, 1984 (CRI II). – E. SCHÜRER, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ,
ed. by G. Vermes / F. Millar / M. Goodman III 1/2, Edinburgh 1986/87. – E. HAAG, Das hellenistische
Zeitalter. Israel und die Bibel im 4. bis 1. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart 2003 (Biblische Enzyklopädie
9), 112–221 (dort jeweils Lit. zu den einzelnen Schriften).

Der Begriff „Apokryphen“ bezeichnet im Protestantismus den Überschuss des


griechischen (und lateinischen) AT gegenüber der hebräischen Bibel. Dieser
Sprachgebrauch geht auf Hieronymus zurück (Prologus galeatus zu Kön). Mit
den „verborgenen“ Schriften war zunächst die apokalyptisch-pseudepigraphische
Geheimliteratur gemeint gewesen, die im Judentum noch weniger kanonfähig
war als jene in die LXX gelangten Bücher und die das rechtgläubige Christentum
als ketzerisch verwarf. Dagegen kanonisierte sowohl die römisch-katholische als
auch die orthodoxe Kirche das AT im (teilweise um einige Bücher verminderten)
Umfang der LXX (Synoden von Laodicea 360, Rom 382, Karthago 397, 419) und
bestätigte diese Entscheidungen 1546 im Tridentinum bzw. 1672 in der Synode
von Jerusalem. In diesem Bereich ist jener „Überschuss“ nicht mehr „apokryph“,
sondern „deuterokanonisch“, der Begriff des Apokryphen verbleibt den „Pseud-
epigraphen“. Anders im Protestantismus. Hier stellte A. Bodenstein von Karl-
stadt, Luthers späterer Widersacher, in seiner Schrift „De canonicis scripturis“
(1520) die Weichen, indem er den atl. Kanon auf die in der hebräischen Bibel
enthaltenen Bücher beschränkte und die übrigen apokryph nannte. Von diesen
nahm Luther die meisten (Jdt Weish Tob Sir Bar 1/2Makk sowie Stücke in Est
und Dan und, ohne Vorrede, das Gebet Manasses) in seine erste vollständige
Bibelübersetzung (1534) auf, allerdings anhangsweise und mit der berühmten
Überschrift: „Apocrypha: das sind Bücher, so der Heiligen Schrift nicht gleich
gehalten und doch nützlich und gut zu lesen sind.“ Auf dieser Linie ist der Pro-
testantismus im Ganzen geblieben, doch war die Haltung gegenüber den
Apokryphen bei den Reformierten meist kritischer als bei den Lutheranern. Der
Rückgang des für den Kanonbegriff konstitutiven Inspirationsglaubens und die
wachsende Einsicht in die Entstehungsgeschichte der Bibel haben das Problem
seither relativiert.
Die einzelnen Apokryphen können hier nur im Überblick behandelt werden.
Dabei ist die Reihenfolge maßgeblich, in der sie in Rahlfs’ LXX-Ausgabe begeg-
44 A. Das Alte Testament

nen. Es sei noch bemerkt, daß es aufgrund der verschiedenen Textgrundlagen in


einigen Büchern divergierende Verszählungen gibt.

1. 3Esra

Das Buch enthält in griechischer Übersetzung und mit Umstellungen 2Chr 35–
Esr 10; Neh 7,22–8,13a, dazu, in ursprünglichem Griechisch, das „Gastmahl des
Darius“ mit dem „Pagenstreit“ (3,1–5,6). Thema ist die dreifache Herstellung des
Jerusalemer Kultus unter Joschija, Serubbabel und Esra. Die Kompilation scheint
das Danielbuch vorauszusetzen (vgl. 4,40.58–60 mit Dan 2,20–23.37) und wird
von Josephus (Ant. XI) eifrig benutzt; sie mag im 1. Jh. v. Chr. entstanden sein.

2. Zusätze zu Ester

Sie verteilen sich in der LXX über das Buch, in 𝔙 sind sie am Schluss (als Kap.
11–16) zusammengefasst: Mordechais Traum und Aufdeckung der Verschwö-
rung (vor hebr. 1,1), Mordedikt des Artaxerxes (nach 3,13), Mordechais und
Esters Gebete (nach 4,17), Ester beim König (statt 5,1f.), Schutzedikt des
Artaxerxes (nach 8,12), Deutung von Mordechais Traum (nach 10,3), Überbrin-
gung des Buches (in der griechischen Übersetzung) nach Ägypten im 4. Jahr des
Ptolemäus und der Kleopatra (Schlussnotiz, wahrscheinlich auf 78/77 v. Chr.
datierbar, vgl. E. BICKERMAN, The Colophon of the Greek Book of Esther [1944],
in: DERS., Studies in Jewish and Christian History I, AGJU 9,1, 1976, 225–245).
Die Zusätze stellen die Gestalt des Mordechai noch stärker heraus, verstärken
den national-fremdenfeindlichen Akzent und fügen einen (im hebräischen Text
nur in 4,14 angedeuteten) religiösen hinzu.

3. Judit

Der Assyrerkönig Nebukadnezar, in Ninive residierend, lässt durch seinen Feld-


herrn Holofernes die unbotmäßigen Völker des Westens unterwerfen. Die allein
widerständigen Juden – sie sind bereits aus dem Exil zurückgekehrt – werden in
der Stadt Betulia belagert und hart bedrängt, aber durch die schöne, kluge,
fromme und tugendhafte Judit gerettet: Sie geht ins feindliche Lager, betört den
Holofernes und schlägt ihm das Haupt ab. Anders als im Esterbuch sind die
Vorgänge durchgängig religiös motiviert, sie entscheiden über die Frage, ob
Nebukadnezar Gott ist (3,8; 6,2) oder Jhwh allein die Macht hat; der Ausgang
bringt den von vornherein (5) judenfreundlichen Ammoniter Achior dazu, sich
beschneiden zu lassen (14,6). Die Erzählung, ihrer Gattung nach ein kunstvoll
gestalteter kurzer Roman, steckt voll von biblischen Reminiszenzen (vgl. E.
ZENGER, JSHRZ) und zugleich von historischen Unmöglichkeiten, angefangen
III. Die deuterokanonischen Schriften („Apokryphen“) 45

damit, dass Nebukadnezar in Wirklichkeit kein Assyrer war, nicht in Ninive


residiert hat und das Exil erst lange nach ihm zu Ende ging; nicht einmal die
Stadt Betulia ist identifizierbar. Das Buch atmet den Geist der Makkabäerkriege.
Der Schluss der 𝔙-Fassung (16,31) legt nahe, es als Legende eines regelmäßig
gefeierten Siegesfestes zu betrachten. Das Original ist hebräisch (oder aramäisch)
gewesen.

4. Tobit

Der überaus fromme Naftalit Tobit (𝔙, Luther: Tobias), mit seiner Frau Hanna
und seinem Sohn Tobias unter Salmanassar V. (726–722) nach Ninive deportiert,
von dort unter Sanherib (704–681) geflohen, weil er hingerichtete Juden begrub,
aber unter Asarhaddon (680–699) auf Initiative seines Neffen Ahiqar zurückge-
kehrt, erblindet durch Spatzendreck. Parallel dazu sind seiner Nichte Sara,
Tochter des Raguel in Ekbatana in Medien, nacheinander sieben Männer in der
Hochzeitsnacht durch den Dämon Asmodi getötet worden. Saras und Tobits
Geschick wird wunderbar gewendet, indem Tobias, begleitet vom (unerkannten)
Engel Rafael und einem Hund, nach Medien zieht, um bei einem gewissen Ga-
bael eine Schuld einzufordern, und unterwegs einen großen Fisch fängt, mit
dessen Herz und Leber der Dämon unschädlich gemacht und mit dessen Galle
die Blindheit behoben wird. Tobias heiratet Sara und zieht nach dem Tod seiner
Eltern nach Medien, wo er sich, bevor er im Alter von 99 (𝔙) oder 117 (𝔖) oder
127 Jahren (LXXBA) stirbt, noch über die Eroberung Ninives (historisch 612)
durch Nebukadnezar (604–562) freut. Die Divergenz beim Lebensalter ist ein
Indiz für die Vielfalt der Überlieferung des Buches, von dem allein drei nicht auf
einen Nenner zu bringende griechische Textformen existieren; wieder eine an-
dere, nach Aussage des Hieronymus auf eine kürzere aramäische Fassung zu-
rückgehende Form bietet 𝔙, die der Übersetzung in der Lutherbibel zugrunde
liegt. In Qumran (Höhle 4) sind ein hebräisches und vier aramäische Fragmente
gefunden worden. Die Frage, in welcher der beiden Sprachen das Buch abgefasst
war, ist noch offen. Sichtlich war es verbreitet und beliebt – nicht verwunderlich
angesichts der Kunst, in der es die novellistische Grundform mit märchenhaften
Motiven (vgl. bes. den „dankbaren Toten“ bzw. die „Braut des Unholds“ in An-
dersens „Reisekamerad“) zu einer ebenso spannenden wie erbaulichen Handlung
verbindet. Namentlich die Gebete unterstreichen den Charakter des Ganzen als
einer Führungsgeschichte, in der ein gehorsamer Glaube schließlich belohnt
wird. Die Mahnungen Tobits (4,3–19) und Rafaels (12,8–10) setzen (ganz oder
teilweise nachträglich?) einen weisheitlichen Akzent. Im griechischen Text führt
sich Tobit selbst als Erzähler ein (1,3 „Ich, Tobit“), aber das Buch ist Jh.e nach
der Zeit geschrieben, in der die Handlung spielt. Es nimmt auf Jona Bezug
(14,4.8), kennt aber, wie man aus 14,5 zu schließen pflegt, den herodianischen
Tempel noch nicht. Ohne genauere Anhaltspunkte wird es meist um 200 v. Chr.
datiert und in der östlichen Diaspora lokalisiert. Doch auch Ägypten kommt in
46 A. Das Alte Testament

Betracht (so P. DESELAERS, Das Buch Tobit, OBO 43, 1982, mit der Hypothese
einer griechischsprachigen Grundschicht aus dem 3. Jh., die bis etwa 185 v. Chr.
dreimal, teils in Jerusalem, teils in Ägypten, erweitert wurde).

5. 1Makkabäer

Das lebendig geschriebene, spannend zu lesende Buch erzählt nach einer kurzen
Einleitung über Alexander d. Gr. und seine Nachfolger (1,1–9) die Unterdrü-
ckung der jüdischen Religion durch den Seleukidenkönig Antiochus IV. Epipha-
nes (1,10–64) und den Kampf dagegen unter Führung des Mattatias aus Modeïn
(2) und seiner Söhne Judas Makkabäus (3,1–9,22), Jonatan (9,23–12,53) und
Simon (13–16). Die Erzählung umfasst die vier Jahrzehnte von 175 (Regierungs-
antritt Antiochus’ IV.) bis 134 v. Chr. (Tod Simons). Sie stellt sich bis in stilisti-
sche Einzelheiten hinein in die Tradition der alttestamentlichen Geschichts-
schreibung (Ri Sam Kön Chr), ist dabei von Begeisterung für die Heldentaten der
Makkabäer getragen, meidet die direkte Nennung Gottes (stattdessen „der
Himmel“ 3,18f. u. ö.) und lässt bei aller Gesetzestreue das Sabbatgebot durch die
Nötigung des Krieges begrenzt sein (2,29–41). Hieronymus hat das Buch noch
hebräisch gekannt (vgl. wiederum den Prologus galeatus); dass dies seine Urspra-
che war, bestätigen zahlreiche Hebraismen. Es ist von einem wohlinformierten
Parteigänger der Makkabäer (in deren Auftrag?) verfasst. Die „dtr“ Schlussnotiz
über Johannes Hyrkan (134–103), den Nachfolger des Simon (16,23f.), dürfte
seinen Tod voraussetzen (vgl. 9,22). Dann wäre 103 v. Chr. der terminus post
quem für die Abfassung. Den terminus ante quem pflegt man von dorther zu
bestimmen, dass das Buch die Römer in einem positiven Licht sieht, was nach
dem Eingriff des Pompeius 63 v. Chr. nicht mehr denkbar sei. Das Buch könnte
um 100 v. Chr. geschrieben sein. Josephus hat die griechische Übersetzung von
Kap. 1–13 fleißig ausgeschrieben (Ant. XII,241–XIII,214).
Daraus, dass Josephus die letzten drei Kapitel nicht benutzt hat, wird gelegent-
lich geschlossen, das Buch habe zu seiner Zeit nur Kap. 1–13 umfasst; doch dafür
fehlen durchschlagende sprachliche und inhaltliche Gründe. Ernsthafter ist die
Frage nach der Authentizität einer Reihe von Dokumenten, die der Darstellung
eingefügt sind (Briefe des römischen Senats 8,23–32, des Konsuls Lucius 15,16–
21, seleukidischer Könige 10,18–20.25–45; 11,30–37; 13,36–40; 15,2–9, Brief-
wechsel mit Sparta 12,6–18.20–23; 14,20–23); allgemein gilt zumindest 12,20–23
als unecht. Aufgrund des Wechsels in der Datierung zwischen einer seleukidi-
schen und einer jüdischen Ära wird die Benutzung einer seleukidischen Chronik
postuliert, ferner die einer Vita des Judas und anderer Quellen (K.-D. SCHUNCK,
Die Quellen des I. und II. Makkabäerbuches, 1954). Ein wohl vom Autor selbst
gelegentlich eingesetztes Stilmittel ist die poetische Redeweise mit dem Paralle-
lismus membrorum (vgl. besonders 1,25–28.36–40; 2,44aβbα; 3,3–9a; 7,17;
9,21.41, dazu G. O. NEUHAUS, Studien zu den poetischen Stücken im 1. Makka-
bäerbuch, fzb 12, 1974).
III. Die deuterokanonischen Schriften („Apokryphen“) 47

6. 2Makkabäer

Die Darstellung reicht bis zum Sieg des Judas Makkabäus über Nikanor (160
v. Chr.), läuft also nur 1Makk 1–7 parallel. Dafür setzt sie bereits mit dem Vor-
gänger Antiochus’ IV. ein, Seleukus IV. (187–175 v. Chr.), so dass wir hier mehr
über die Vorgeschichte des makkabäischen Aufstandes erfahren. Vorangestellt
sind zwei Briefe der Jerusalemer Juden an die in Ägypten mit dem Aufruf, das
Tempelweihfest (chanukkah) zu feiern. Der erste (1,1–10a) dürfte authentisch
sein (E. BICKERMAN, Ein jüdischer Festbrief vom Jahre 124 v. Chr. [1933], in:
DERS., Studies in Jewish and Christian History II, AGJU 9,2, 1980, 136–158), der
zweite (1,10b–2,18), angeblich aus dem Jahr 164 v. Chr., in Wahrheit ein um ein
Jahrhundert jüngeres Produkt. Der Hauptteil des Buches ist ein Auszug
(ἐπιτομή) aus dem Geschichtswerk eines Jason von Kyrene, das fünf Bücher
umfasst hat und als solches nicht erhalten ist. Vom Epitomator stammen außer
Vor- und Nachwort (2,19–32; 15,37–39) wahrscheinlich die Betrachtungen 4,17;
5,17–20; 6,12–17. Eine spätere Zutat dürfte auch das Martyriumskapitel 7 sein, in
dem die creatio ex nihilo (V. 28) und die leibliche Auferstehung begegnen (V. 9
usw.); es scheint auf eine hebräische Vorlage zurückzugehen (vgl. C. HABICHT,
JSHRZ). Jason von Kyrene hat mit Sicherheit Griechisch geschrieben, sein Buch
gehört literarisch nicht wie 1Makk in die jüdische, sondern in die „rhetorisch-
pathetische“ griechische Geschichtsschreibung. Gleichwohl ist 2Makk im Ver-
gleich mit 1Makk viel weniger patriotisch-makkabäisch und viel mehr geistlich-
religiös. Es handelt von Schuld und Strafe, von wunderbaren Erscheinungen und
vor allem (mit bezeichnender Ausnahme von Kap. 7) vom Tempel; anders als in
1Makk (2,41) kommt eine Abweichung vom Sabbatgebot nicht in Frage (8,26).
Jason, allem Anschein nach ein durchaus kundiger Zeitgenosse, hat wohl bald
nach 160 v. Chr. (in seiner nordafrikanischen Heimat?) geschrieben, der Epito-
mator, wenn man ihn mit dem ersten Festbrief (1,1–10a) in Verbindung bringen
darf (vgl. HABICHT), 124 v. Chr., sonst ebenso leicht irgendwann später.

7. 3Makkabäer

Die Erzählung spielt Jahrzehnte vor der Makkabäerzeit. König Ptolemäus IV.
Philopator (221–204) wird auf wunderbare Weise nach seinem Sieg über Antio-
chus III. bei Raphia (217) am Betreten des Jerusalemer Tempels und später an
der Tötung der Juden in Alexandria gehindert, worauf er ihnen ein Fest ausrich-
tet, dessen Legende das Büchlein darstellt (vgl. Ester und Judit, auch 2Makk
15,36). Schriftstellerisch „überbietet es an Schwulst und überkünstlicher ge-
spreizter Rhetorik, geschraubten Wendungen und unnatürlichen Wortstellungen
wohl alle anderen Erzeugnisse derselben Literaturgattung“ (E. KAUTZSCH,
APAT). Es ist wohl im 1. Jh. v. Chr. und sicher gleich griechisch abgefasst wor-
den. 𝔙 und die Lutherbibel enthalten es nicht.
48 A. Das Alte Testament

8. Gebet des Manasse

Ein individuelles Klagelied, ganz später Herkunft, durch 2Chr 33,19 veranlasst,
zuerst bezeugt in der Didaskalia und den Constitutiones Apostolorum (3./4. Jh.
n. Chr.), von LXX-Handschriften den Oden zugeordnet.

9. Weisheit Salomos

Das Buch (Σοφία Σαλωμῶνος, Liber Sapientiae) gliedert sich in drei Teile: I. Der
Fromme und der Gottlose im Blick auf ihr jenseitiges Geschick (1–5). II. Lob der
Weisheit (6–11,1, darin 9 „Salomos“ Gebet um Weisheit, 10,1–11,1 Beispiele für
ihre Kraft von Adam bis Mose). III. Gottes unterschiedliches Handeln an Ägyp-
tern und Israeliten beim Exodus (11,2–19,22, vorbereitet durch 10,1–11,1, unter-
brochen durch einen Exkurs über Götzendienst 13–15). In allen Teilen ist die
Anknüpfung an das AT offenkundig, doch werden auch neue Wege beschritten,
vor allem in Teil I durch die Umprägung der weisheitlichen Vergeltungslehre mit
Hilfe der Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele. Die Gestalt der „Weis-
heit“ ist noch über die Rolle hinausgewachsen, die sie in Spr 8f. hat (7,22–8,1
u. ö.), und ähnelt der des λόγος bei Philo von Alexandria. Hier wie sonst (vgl. die
vier Kardinaltugenden 8,7, die Präexistenz der Seele 8,19f.) wirkt griechische
Philosophie ein. Auch in der Form mischen sich atl.-jüdische und hellenistische
Elemente. Der Parallelismus membrorum herrscht nur in den Anfangspartien,
der weisheitliche Einzelspruch ist durch Lehrgedichte und Abhandlungen ver-
drängt, öfters begegnen rhetorische Schemata (Kettenschluss 6,17–20, siebenfa-
che Synkrisis = Vergleichung in Teil III). Das Buch gilt meist als einheitlich,
kleinere Widersprüche werden auf Überarbeitungen oder den Schulcharakter des
Ganzen zurückgeführt. Eine tiefe Zäsur vor Teil III hat EICHHORN fixiert: „Mit
dem elften Kapitel des Buchs der Weisheit ändert sich auf einmal alles: Salomo
scheint nicht mehr zu sprechen, die Weisheit wird nicht mehr gepriesen und
empfohlen, die Lauterkeit und Reinheit der Prinzipien ist nicht mehr so groß wie
bis dahin.“ Von da her hat man für I/II ein hebräisches Original vermutet, das
der Autor von III ins Griechische übersetzt hätte (vgl. TORREY), aber umgekehrt
konnte gerade von der ersten Hälfte gesagt werden, sie sei „more Greek than
Jewish“ (S. HOLMES, APOT). Schon Hieronymus, dem das Buch „nach griechi-
scher Eloquenz roch“ (Prologus in libris Salomonis), bestritt ihm einen hebräi-
schen Ursprung und erwähnte die Zuschreibung an Philo von Alexandria, die
aber, obwohl noch von Luther aufgenommen, schon darum keinerlei Wahr-
scheinlichkeit hat, weil Philos Logoslehre und seine allegorische Schriftauslegung
fehlen. Das Buch ist mit einiger Sicherheit im ältesten Christentum bekannt
gewesen (vgl. zuerst Röm 1,20 mit Weish 13,1, Röm 9,19–23 mit Weish 12,12f.).
Nichts spricht dafür, dass es damals ganz neu war, auch wenn man in 14,22 eine
Anspielung auf die Pax Augusta hineingelesen hat. Es wird, vielleicht unter Be-
nutzung älteren jüdischen Materials, nicht allzu lange vor oder nach 100 v. Chr.
III. Die deuterokanonischen Schriften („Apokryphen“) 49

in Alexandria abgefasst worden sein, als eine Empfehlung der jüdischen Weisheit
mit stark antiheidnischen Akzenten an jüdische Adressaten. Die Zuschreibung
an Salomo lag bei einer Weisheitsschrift nahe, konnte aber um diese Zeit das Tor
in den entstehenden Kanon längst nicht mehr öffnen, schon gar nicht einer grie-
chisch geschriebenen Schrift.

10. Jesus Sirach

Hier sind wir in der glücklichen Lage, Verfasser und Entstehungszeit benennen
zu können. Der Enkel des Verfassers hat das Buch aus dem Hebräischen ins
Griechische übersetzt; er gibt in seinem Vorwort den Namen des Großvaters mit
Jesus an und sagt von sich selbst, er sei im 38. Jahr des Königs (Ptolemäus VII.)
Euergetes, d. h. 132 v. Chr., nach Ägypten gekommen und habe hier das Buch
übersetzt.

Innerhalb des Buches erscheint der Name in 50,27 und wird dort auf verschiedene
Weise vervollständigt: in der LXX heißt er „Jesus der Sohn des Sirach des Sohnes des
Eleasar“, in der einzigen hier erhaltenen hebräischen Handschrift „Simon der Sohn
des Jesus (Jeschua) des Sohnes des Eleasar des Sohnes des Sira(ch)“. Der Verfasser-
name Simon kommt gegen das Zeugnis des Enkels im Prolog schwerlich auf (außer
wenn der Prolog nicht authentisch wäre, so B. DIEBNER, „Mein Großvater Jesus“:
DBAT 16, 1982, 1–37) und dürfte (aufgrund von 50,1?) nachträglich irrtümlich vor-
angesetzt sein. Doch in der umgekehrten Reihenfolge von Vater und Großvater des
Verfassers könnte der hebräische Text das Richtige bewahren; dann würde das in jüdi-
scher Tradition gewohnte „Ben Sira“ (vgl. auch die Schlussformel nach 51,30) den
Verfasser nicht nach seinem Vater, sondern nach seinem Großvater nennen. Der
lateinisch für das Buch gebräuchliche Name Ecclesiasticus ist wahrscheinlich eine
Variation zu Ecclesiastes (Kohelet).

Was die Datierung angeht, bietet die nach 132 v. Chr. vom Enkel des Verfassers
begonnene Übersetzung einen ungefähren Anhaltspunkt: Der Großvater dürfte
in den ersten Jahrzehnten des 2. Jh.s geschrieben haben. Eine genauere Eingren-
zung pflegt man danach vorzunehmen, dass einerseits auf den in den neunziger
Jahren regierenden Hohenpriester Simon (vgl. Jos. Ant. XII, 224f.229.238) zu-
rückgeblickt wird (Kap. 50), andererseits die seit dem Regierungsantritt Antio-
chus’ IV. 175 auf die Spitze getriebenen Hellenisierungsmaßnahmen innerhalb
des Buches keinen Niederschlag gefunden haben. Unser Autor gehört theolo-
gisch auf die Seite der sich in diesen Jahren formierenden Opposition. Indem er
den alten Satz von der Furcht Jhwhs als der Weisheit Anfang (Spr 1,7; 9,10) da-
hin steigert, dass alle Weisheit von Jhwh kommt, der sie seit Ewigkeit besitzt
(1,1), und dass sie dem Frommen anerschaffen ist (1,14), und indem er die
Weisheit unlöslich mit dem Halten des mosaischen Gesetzes verbindet (15,1.7;
19,20–24), „formuliert er die Kriegserklärung des Judentums gegen den Helle-
nismus“ (R. SMEND, Die Weisheit des Jesus Sirach erklärt, Berlin 1906, XXIII).
Zwar sind auch ihm stoische Gedanken nicht fremd (vgl. 42,22; 43,27), doch
50 A. Das Alte Testament

schon ein Vergleich mit seiner Nachbarin im griechischen Kanon, der Weisheit
Salomos, zeigt seinen genuin jüdischen Charakter. Seine kräftig ausgebildete
Vergeltungslehre, die von den Problemen Hiobs und Kohelets unerschüttert ist,
kommt noch ohne Unsterblichkeit und Auferstehung aus. Er ist ein Schriftge-
lehrter (38,24–39,11) mit geradezu prophetischem Anspruch (24,32f.), in Jerusa-
lem ansässig (50,27) und dort ein Lehrhaus betreibend (51,23.29), aber erfahren
im Reisen (31,9–13). „Er will ein vollständiges Lehrbuch der Lebensklugheit wie
der Moral geben“ (SMEND a.a.O. XXII). So behandelt er in lockerer Folge zahlrei-
che Einzelthemen, unter denen, kommt man von der älteren Weisheit her, als
spezifisch die Freundschaft (6,5–17; 9,10; 22,19–26; 27,16–21; 37,1–6), das Gast-
mahl (31,12–32,13) und der Arzt (38,1–15) auffallen. Der Form nach treten ne-
ben den Einzelsprüchen viel stärker als in Spr die Spruchgruppen und die Lehr-
gedichte hervor; die Auflösung der strengen Gattungsform und die Hereinnahme
anderer Gattungen machen das Ganze lebendiger (vgl. W. BAUMGARTNER, Die
literarischen Gattungen in der Weisheit des Jesus Sirach: ZAW 34, 1914, 161–
198). Ein großes Stück für sich und der ursprüngliche Abschluss des Buches (vgl.
50,27–29) ist der Lobpreis der Väter (44,1–50,24). Im Übrigen sorgen Ausfüh-
rungen über Weisheit und Weise für eine gewisse Gliederung (1,1–20; 4,11–19;
6,18–37; 8,8f.; 14,20–15,10; 16,24f.; 18,28f.; 24; 32,14–33,6; 37,16–26; 38,24–
39,11; 51,13–30). Von diesen (noch exakter auszugrenzenden) Texten mit redak-
tioneller Funktion wird auszugehen sein, wenn man den individuellen Anteil des
Jesus Sirach am Ganzen des Buches bestimmen will; er übertrifft mit Sicherheit
den der Sammler in Spr bei weitem, aber zweifellos ist auch hier mancherlei
überliefertes Gut verwendet.

Das Buch ist, wie seine häufige Zitierung zeigt, im rabbinischen Judentum und voll-
ends im Christentum beliebt gewesen. Sein hebräischer Text, dem Hieronymus und
bis ins Mittelalter bekannt, ging verloren und wurde in einer Reihe von Fragmenten
seit 1896 in der Kairoer Geniza, sodann in Qumran (2Q18, 11QPsa) und (1964) in
Masada zu insgesamt gut zwei Dritteln wieder aufgefunden. Im Hebräischen wie im
Griechischen hat es offenbar zwei verschiedene Textformen gegeben. Beim Nach-
schlagen und Zitieren ist zu beachten, dass in den LXX-Handschriften 30,25–33,13a
und 33,13b–36,16a vertauscht sind.

11. Baruch

Das Buch folgt in der LXX gleich auf Jer. Es will von Baruch, dem Gefährten des
Jeremia, im 5. Jahr nach der Zerstörung Jerusalems, also 582 v. Chr. (nicht ganz
eindeutige Datumsangabe 1,2), in Babylonien geschrieben und von den dortigen
Exulanten mit einer Geldsendung an die Jerusalemer Juden geschickt worden
sein (1,1–14). Auf ein großes Bußgebet (1,15–3,8) folgen eine Mahnrede an Israel
(3,9–4,4) und eine Verheißungsrede an Israel und Jerusalem (4,5–5,9). Wich-
tigstes Charakteristikum ist die durchgängige wörtliche Benutzung biblischer
Texte, besonders aus dem dtr-jeremianisch-deuterojesajanischen, aber auch dem
III. Die deuterokanonischen Schriften („Apokryphen“) 51

weisheitlichen Bereich und, für die Datierung wichtig, aus Daniel (vgl. 1,15–3,8
mit Dan 9). Das Buch ist eine „Summe der ‚Heiligen Schrift‘ zur Lage, die deren
wegweisende Aussagen zusammenzieht und durch ihre Unoriginalität zum Aus-
druck bringt, daß diese ‚Schrift‘ die Quelle der Orientierung ist, an die man sich
halten muß, und sich selbst interpretiert, wie die Verschränkung von Schriftaus-
sagen in Bar zeigt“ (O. H. STECK, Das apokryphe Baruchbuch, FRLANT 160,
1993, 281). Dieses Charakteristikum überbrückt die Zäsur zwischen dem Bußge-
bet und den beiden darauf folgenden Reden, die auch für den Stil beobachtet
worden ist (SCHÜRER: „in der ersten Hälfte hebraisierend, in der zweiten fließend
griechisch und rhetorisch“) und die seit FRITZSCHE viele Exegeten zur Teilung
des Buches in zwei erst nachträglich miteinander verbundene Hälften (1,1 bzw.
1,15–3,8 und 3,9–5,9) veranlasst hat. Eine spezielle „Lage“, zu der das Buch oder
seine Teile sprechen wollen, lässt sich nicht mehr erkennen. Man hat die Bezug-
nahme auf die Zerstörung Jerusalems (1,2) und die Aufforderung zu Opfer und
Gebet für Nebukadnezar (1,10f.) aus der Situation von 66/70 n. Chr. verstehen
wollen (vgl. bes. SCHÜRER), dabei aber wohl die „Biblizität“ dieser Motive unter-
schätzt (vgl. Jer 29,7). Die Entstehung des Buches ist seit der Mitte des 2. Jh.
v. Chr. (Dan) jederzeit möglich. Eine hebräische Vorlage wird für das Ganze oder
die erste Hälfte immer wieder postuliert, obwohl Hieronymus ihre Existenz aus-
drücklich verneint (Prol. in libro Hieremiae: „apud Hebraeos nec legitur nec
habetur“) und sich in Qumran nichts davon gefunden hat. Vielleicht ist 3,38 eine
christliche Interpolation.

12. Brief Jeremias

Eine Polemik gegen die Götzenbilder im Anschluss an Jes 44,9–20 und Jer 10,1–
16, nach dem Vorbild von Jer 29 in die Form eines Briefes des Jeremia an die
Exulanten gekleidet, wahrscheinlich in 2Makk 2,1f. vorausgesetzt, durch griechi-
sche Fragmente in Qumran um 100 v. Chr. bezeugt, aber wohl ursprünglich
hebräisch (Jer 10,5 in V. 69 nicht nach LXX verwendet), in 𝔙 und bei Luther dem
Buch Bar als Kap. 6 einverleibt.

13. Zusätze zu Daniel

Hinter Dan 3,23 schaltet die LXX (und 𝔙) das Gebet des Asarja und den Gesang
der drei Männer im Feuerofen ein, ein Volksklagelied das eine, ein Hymnus der
andere, beide nicht von vornherein für diesen Zusammenhang bestimmt (V. 38
die Situation unter Antiochus IV.?). Am Ende des Buches stehen in der LXX die
reizvollen Erzählungen von Susanna, vom Bel zu Babel und vom Drachen zu
Babel; θ (reicher bezeugt und oft abweichend) stellt die Susannaerzählung, viel-
leicht wegen der Jugendlichkeit des dortigen Daniel, dem Buch voran. Die Zu-
sätze verstärken nachträglich theologische Tendenzen des Buches. Sie sind teil-
52 A. Das Alte Testament

weise von ganz anderer Herkunft (vgl. für Susanna W. BAUMGARTNER, Susanna.
Die Geschichte einer Legende [1927/29], in: DERS., Zum AT und seiner Umwelt,
Leiden 1959, 42–67), doch könnte sich in der Drachenperikope (V. 23–42) auch
ein Stück Vorgeschichte der Erzählung von Daniel in der Löwengrube (Dan 6)
erhalten haben (R. G. KRATZ, unten Kap. E. X. [Daniel], S. 571 [Einzelunter-
suchungen] und S. 576). Für Originalsprache und Abfassungszeit der jetzigen
Texte fehlen sichere Anhaltspunkte.
B. Der Pentateuch
(Thomas Römer)

I. Der Pentateuch als ganzer


D. J. A. CLINES, The Theme of the Pentateuch, 1978 (JSOT.S 10). – R. P. KNIERIM, The Composition
of the Pentateuch, in: SBL Seminar Papers 24, Atlanta 1985, 393–415. – E. BEN ZVI, The Closing
Words of the Pentateuchal Books: A Clue for the Historical Status of the Book of Genesis within the
Pentateuch: BiNo 62 (1992), 7–10. – J. BLENKINSOPP, The Pentateuch. An Introduction to the First
Five Books of the Bible, New York et al. 1992. – K. SCHMID, Der Pentateuchredaktor: Beobachtungen
zum theologischen Profil des Toraschlusses in Dtn 34, in: T. Römer / K. Schmid (Hg.), Les dernières
rédactions du Pentateuque, de l’Hexateuque et de l’Ennéateuque, Leuven 2007 (BEThL 2003), 183–
197.

Der Pentateuch ist der erste Teil der Hebräischen Bibel (HB), der die fünf Bücher
Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium umfasst. Der Name
kommt, über das Lateinische, aus dem Griechischen he pentateuchos (biblos),
„das Fünfrollenbuch“. Der Ausdruck ist beim Kirchenvater Tertullian im 2. Jh.
n. Chr. belegt. Ihm entspricht die hebräische Bezeichnung chamischa chumsche
hattorah, „die fünf Fünftel der Tora“. Die hebräische Benennung lässt sich erst
später nachweisen und ist möglicherweise eine Übertragung des griechischen
Namens. In der jüdischen Tradition wird der Pentateuch als „Tora“ bezeichnet,
was oft, aufgrund seiner griechischen Wiedergabe durch nomos, mit „Gesetz“
übersetzt wird. Die hebräische Wurzel, aus welcher das Substantiv gebildet ist,
bedeutet jedoch lehren, unterweisen, so dass eine Übersetzung mit „Lehre,
Unterweisung“ angebrachter ist. Dem entspricht auch der Inhalt der Tora; in ihr
stehen narrative, paränetische und juristische Texte nebeneinander. Die jüdische
Tradition hat das Verständnis und die Auslegung der nach rabbinischer Zählung
613 Gesetze in den Vordergrund ihrer Beschäftigung gestellt, wohingegen die
christlichen Ausleger den Pentateuch vor allem als eine (heils-)geschichtliche
Erzählung betrachten, die von der Schöpfung bis zum Tod des Moses reicht. In
der Tat kann man den Pentateuch als eine große Geschichte lesen, die jedoch
nicht zu einem eigentlichen Abschluss kommt, sondern in den folgenden
Büchern der „Vorderen Propheten“ fortgesetzt wird. Dabei muss man dann aber
die vielen ermahnenden und gesetzlichen Texte (und damit das gesamte Buch
Levitikus) vernachlässigen, die grob geschätzt die Hälfte des Textbestands des
Pentateuchs ausmachen. Somit ist die Alternative „Gesetz“ oder „Geschichte“
aufzugeben. Die ersten fünf Bücher der Bibel bilden eine einzigartige Mischung
von narrativen und präskriptiven Texten, wobei die Erzählungen oft als die
Gebote rahmend erscheinen.
Die Unterteilung der Tora in fünf Bücher wird oft als eine späte, aus prakti-
schen Gründen erfolgte Maßnahme verstanden, durch welche fünf etwa gleich
54 B. Der Pentateuch

große Rollen geschaffen werden sollten, um die Handhabung und das Lesen zu
erleichtern. Dieser Sicht ist jedoch die Tatsache entgegenzustellen, dass das Buch
Levitikus nur halb so lang wie das Buch Genesis ist, und dass die meisten Bücher
des Pentateuchs durchaus ein eigenständiges Profil aufweisen. Das könnte be-
deuten, dass die Fünfteilung sich zum Teil aus der Entstehungsgeschichte des
Pentateuchs erklärt (siehe dazu die Darstellung der heutigen Diskussion über die
Entstehung des Pentateuchs). Die fünf Bücher werden in der hebräischen Tradi-
tion, altorientalischer Gepflogenheit gemäß, mit einem der ersten Wörter der
jeweiligen Rolle bezeichnet, wohingegen der christliche und wissenschaftliche
Sprachgebrauch die Titel der griechischen Pentateuchübersetzung übernommen
hat. Eine Besonderheit stellen die aus der lutherischen Reformation hervorge-
gangenen Bibeln dar, in welchen die Bücher des Pentateuchs als erstes bis fünftes
Buch Moses bezeichnet werden. Dies reflektiert die traditionelle Auffassung von
Mose als Verfasser des Pentateuchs. Das Buch Genesis (hebräisch berešit: „Im
Anfang“) beschreibt die Ursprünge der Welt und der Menschheit, sowie die
Anfänge des Volkes Israel und seiner Nachbarn. Im Buch Exodus (šemot: „Na-
men“) geht es um die Befreiung der Hebräer aus der ägyptischen Fronarbeit
durch den dazu von Gott berufenen Mose. Nach dem Auszug aus Ägypten
kommt Israel an den Berg Sinai, wo Gott sich ihm offenbart, und ihm Gesetze
und Vorschriften zum Bau eines tragbaren Heiligtums übermittelt. Das Buch
Levitikus (wayyiqra: „Er [Jhwh] rief“) führt die Gesetzesmitteilung am Sinai wei-
ter; es enthält im ersten Teil Vorschriften zur Ausführung des Opferkultes und
zur Unterscheidung von „rein“ und „unrein“. Im zweiten Teil geht es um die
Heiligung der gesamten Gemeinde. In Numeri (bemidbar: „In der Wüste“)
kommt nach einer ersten Volkszählung der Aufenthalt am Sinai zu einem Ende.
Nachdem die letzten Vorschriften am Gottesberg gegeben sind, bricht das Volk
in die Wüste auf, wo es zu fortwährenden Konflikten zwischen bestimmten
Gruppen bzw. zwischen dem Volk und Mose, bzw. Gott kommt. Nach der Ver-
weigerung der Landnahme muss die Auszugsgeneration in der Wüste sterben.
Eine erneute Volkszählung leitet die Zeit der zweiten Generation ein, die bis in
das Land Moab vordringt. Dort ist das Buch Deuteronomium (debarim: „Worte“)
angesiedelt, das die Abschiedsrede Moses an sein Volk darstellt, in welcher letz-
terer einige Ereignisse der Zeit am Gottesberg und in der Wüste rekapituliert. Im
Zentrum der Rede steht jedoch ein „zweites“ Gesetz, welches sich zwar als eine
Wiederholung der Gottesbergoffenbarung am Sinai bzw. Horeb präsentiert, de
facto aber viele von den Büchern Exodus und Levitikus abweichende Vorschrif-
ten enthält. Das Buch Deuteronomium endet mit dem Tod Moses, der das ver-
heißene Land betrachten darf, ohne es jedoch betreten zu können.
Damit hat der erste Teil der Hebräischen Bibel (HB) etwas merkwürdig Un-
abgeschlossenes. Deshalb stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen dem
Pentateuch und den folgenden Büchern. Das Buch Josua, das in der HB die
„Vorderen Propheten“ eröffnet, stellt tatsächlich die direkte Fortsetzung des
Pentateuchs dar, da dort der Einzug in das von Gott zugesagte (und dem Mose
gezeigte) Land berichtet wird. Dieser Erzählzusammenhang würde dann einen
I. Der Pentateuch als ganzer 55

Hexateuch (ein aus sechs Büchern bestehendes Ensemble) abdecken. Allerdings


setzt sich die Erzählung nach der Landeroberung in den Büchern Richter, Samuel
und Könige fort und kommt erst mit der Zerstörung Jerusalems und dem
Landverlust zu einem tragischen Ende. Man kann demnach die Bücher Genesis
bis Könige als einen „Enneateuch“ (ein neun Bücher umfassendes Erzählwerk)
verstehen.
Die Kohärenz bzw. Besonderheit des Pentateuchs liegt demnach nicht auf
narrativer Ebene, sondern eher darin, dass in den nachfolgenden Büchern kein
neues Gesetz mehr offenbart wird. Da Mose der alleinige Gesetzesmittler ist, ist
er die wichtigste menschliche Figur des Pentateuchs. Dementsprechend heben
auch die letzten Verse der Tora seine Unvergleichbarkeit hervor (Dtn 34,10–12).
In gewisser Weise kann man, wie von KNIERIM vorgeschlagen, den Pentateuch
als eine Biographie des Mose verstehen. Die Bücher Exodus bis Deuteronomium
decken in der Tat das Leben Moses ab: Ex 2 erzählt seine Geburt und Dtn 34
seinen wundersamen Tod. Die Genesis stellt demnach eine Art Prolog dar; der
größte Einschnitt im Pentateuch läge damit zwischen der Genesis und den fol-
genden Büchern. Die Sonderstellung des ersten Buches wird auch durch die
Buchenden der fünf Bücher der Tora bestätigt. Wie BEN ZVI beobachtet hat, sind
die Buchenden von Exodus und Deuteronomium einerseits und von Levitikus
und Numeri andererseits parallel gestaltet; für das Ende der Genesis hingegen
gibt es im Pentateuch keine Parallele. Es finden sich jedoch auch Indizien für
redaktionelle Eingriffe, die das Buch Genesis mit dem Folgenden verknüpfen
und somit das Buch Levitikus zum Zentrum der Tora machen. So findet sich in
Genesis und Deuteronomium eine Reihe aufeinander bezogener Texte, die beide
Bücher als einen äußeren Rahmen erscheinen lassen. Die erste Landverheißung
in Gen 12,7 wird in Dtn 34,4 wortwörtlich wiederholt, mit Verweis auf die drei
Patriarchen. Die 120-jährige Dauer der Lebenszeit Moses in Dtn 34,7 verweist
zurück auf die Festsetzung dieser Höchstgrenze in Gen 6,3. Der Segnung der
zwölf Söhne durch Jakob vor seinem Tod (Gen 49) entsprechen Moses letzte
Worte über die zwölf Stämme Israels in Dtn 33. Die Bücher Exodus und Numeri
bilden einen inneren Rahmen. Das Itinerar in Exodus führt von Ägypten über
die Wüste zum Sinai, während das Volk in Numeri vom Sinai über die Wüste
nach Moab zieht. Die Geschichten über Bedrängnisse und Unzufriedenheit in
der Wüste in Ex 15–18 werden in Num 11–20 teilweise „wiederholt“ und radika-
lisiert. Damit erscheint das Buch Levitikus, das als einziges vollständig am Sinai
lokalisiert ist, als „Mitte der Tora“. Die Vorschriften zum Versöhnungstag (Lev
16), welche die zwei Teile des Buches miteinander verbinden, können als theolo-
gische Spitzenaussage interpretiert werden: Trotz aller Verfehlungen und Ver-
unreinigungen gibt es beständig die Möglichkeit zu einem Neuanfang. Die zen-
trale Stellung von Levitikus spiegelt sich bis heute in der jüdischen Tradition,
nach welcher das Torastudium mit der „Priestertora“ (d. h. Lev) zu beginnen hat.
Ein weiteres Thema, das die fünf Bücher der Tora zusammenhält, ist Jhwhs
Landverheißung, die im Pentateuch breit bezeugt ist. Die spezifische Redeweise
von einem göttlichen Schwur an Abraham, Isaak und Jakob (Israel) findet sich in
56 B. Der Pentateuch

Gen 50,24, Ex 32,13; 33,1; Num 32,11, Dtn 34,4. Nimmt man den verwandten
Beleg Lev 26,42 hinzu, durchzieht dieses Theologumenon sämtliche Bücher des
Pentateuchs und kommt so in den folgenden Büchern Jos–Kön nicht mehr vor.
Diese Beobachtungen machen deutlich, dass es den Redaktoren des Penta-
teuchs daran gelegen war, dessen Kohärenz zu betonen und ihn von den folgen-
den Büchern abzugrenzen. Allerdings verdeckten sie dabei keineswegs die Diver-
sität und zum Teil auch die Widersprüchlichkeit der in ihm enthaltenen Tradi-
tionen.

1. Die Geschichte der Erforschung des Pentateuchs


Ausführlichere Darstellungen der Forschungsgeschichte finden sich in H. J. KRAUS, Geschichte der
historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 31982. – C. HOUTMAN,
Der Pentateuch. Die Geschichte seiner Erforschung nebst einer Auswertung, Kampen 1994 (CBET 9).
– E. NICHOLSON, The Pentateuch in the Twentieth Century: The Legacy of Julius Wellhausen, Oxford
1998. – A. DE PURY / T. RÖMER, Le Pentateuque en question: position du problème et brève histoire
de la recherche, in: A. de Pury / T. Römer (éds.), Le Pentateuque en question, Genève 32002, 9–80.

a) Die traditionelle Zuschreibung des Pentateuchs an Mose und deren erste


Infragestellungen. Von den Rabbinern bis zu Spinoza

Die Auffassung, dass Mose den Pentateuch verfasst hat, ist fest in jüdischer und
christlicher Tradition verankert (PHILO, De Vita Mosis, I § 84; FLAVIUS JOSEPHUS,
Antiquitates IV, 326; Mk 12,26; 2 Kor 3,15, etc.). Diese Idee hat wohl in den in
der HB öfter verwendeten Ausdrücken torat mosche („die Tora des Mose“) und
sepher torat moshe („das Buch der Mosetora“) ihren Ursprung. Die HB stellt
jedoch nirgends ausdrücklich fest, dass der gesamte Pentateuch von Mose ver-
fasst worden sei. Dieser erhält zwar bisweilen göttliche Aufträge zum Nieder-
schreiben bestimmter Gesetze oder Ereignisse (Ex 17,14; 24,4; 34,27; Dtn 31,9.24;
32,44), ohne dass jedoch seine Verfasserschaft für den gesamten Pentateuch
beansprucht wird. Diese ist seit dem ersten christlichen Jahrhundert eine gängige
Annahme, deren Probleme jedoch nicht unerkannt blieben. So zeigt die dezi-
dierte Behauptung PHILOS VON ALEXANDRIEN, dass Mose so sehr inspiriert war,
dass er von der Schöpfung der Welt reden und seinen eigenen Tod erzählen
konnte, dass die gesamte Zuschreibung des Pentateuchs an Mose schon von da-
maligen Zeitgenossen als problematisch angesehen wurde. Die rabbinische Tra-
dition zog daraus die Konsequenz, dass die letzten Verse der Tora nicht von
Mose, sondern von seinem Nachfolger Josua verfasst wurden (Talmudtraktat
Baba Batra 14b). Mehrere Kirchenväter belegen eine wohl durch IV Esra 14,19–
48 ausgelöste Tradition, nach welcher die heiligen Schriften während des babylo-
nischen Exils durch ein Feuer verlorengegangen waren, und dann von Esra dank
göttlicher Inspiration neu aufgeschrieben wurden.
Die Mosaität des Pentateuchs wurde jedoch bis zum 17. Jh. nur sporadisch in
Frage gestellt. Verdeckte Kritik übte im 12. Jh. der jüdische Gelehrte IBN ESRA,
I. Der Pentateuch als ganzer 57

der im Pentateuch eine Reihe von Post-Mosaica aufspürte, die logischerweise


nicht von Mose stammen können. So setzt zum Beispiel Gen 36,31 bereits die
Königszeit voraus, und die Bezeichnung „jenseits des Jordans“ (Num 22,1; Dtn
1,1) impliziert einen Standpunkt im Land, das Mose ja nie betreten hat. Aller-
dings drückte sich IBN ESRA recht kryptisch aus, wohl auch um Sanktionen von
Seiten der Synagoge zu vermeiden. Auch zur Reformationszeit wird an der mo-
saischen Authentizität nur selten gezweifelt. Eine Ausnahme stellt Andreas Bo-
denstein (KARLSTADT) dar, der 1520 feststellt, dass der Pentateuch, der oft von
Mose in der 3. Person spricht, nicht von ihm verfasst sein könne. Von einigen
jüdischen und christlichen Gelehrten wird ab dem 16. Jh. mehr oder weniger
verdeckt angenommen, dass in den mosaischen Pentateuch spätere Zusätze ein-
gefügt wurden. Offene Kritik kommt 1670 von BARUCH SPINOZA, der in seinem
Tractatus Theologico-Politicus (Kapitel 8–10) auf IBN ESRA aufbaut. Er bemerkt
unter anderem, dass der Enneateuch (Gen–Kön) eine durchgehende Erzählung
darstellt, die folglich erst nach den letzten dort beschriebenen Ereignissen kom-
piliert worden sein könne. Der heterogene Charakter der vorliegenden Texte
erklärt sich aus der Zusammenstellung von Traditionen und Schriftstücken ver-
schiedener Provenienz. Der Kompilator dieser unterschiedlichen Schriftwerke
(darunter auch von Mose geschriebene Stücke!) sei Esra gewesen. Das Erschei-
nen von SPINOZAs anonym veröffentlichtem Buches sorgte für einen regelrechten
Skandal, und der Verfasser wurde aus der Synagoge ausgeschlossen.

b) Die Anfänge der historisch-kritischen Fragestellung:


Astruc, Witter, de Wette

J. ASTRUC, Conjectures sur la Genèse (1753). Introduction et notes de Pierre Gibert, Paris 1999. –
W. M. L. De WETTE, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die kanonischen und apokry-
phen Bücher des Alten Testaments (neu bearbeitet von E. Schrader), Berlin 1869. – J. G. EICHHORN,
Einleitung ins Alte Testament, Leipzig 1787 (41823–1824). – H. BARDTKE, Henning Bernhard Witter:
ZAW 66 (1954) 153–181.

Die durch den Humanismus und durch die Reformation angeregte Beschäfti-
gung mit dem hebräischen Text, verbunden mit wachsendem Interesse an bibli-
schen Handschriften und an philologischen Fragen, führte zu einer immer
schärferen Wahrnehmung von stilistischen Unterschieden, Spannungen und
Widersprüchen innerhalb des Pentateuchs. Auch die zwei gleich zu Anfang der
Genesis begegnenden Gottesbezeichnungen elohim und Jhwh (damals meistens
Jehova ausgesprochen) verlangten nach Erklärung. Diese wurde 1753, in einem
wiederum anonym veröffentlichten Buch, von JEAN ASTRUC in apologetischer
Absicht geliefert. In den „Conjectures sur les mémoires dont il paroit que Moyse
s’est servi pour composer le livre de la Genèse“ will ASTRUC, der am Collège royal
(dem späteren Collège de France) in Paris Medizin lehrte, den Nachweis führen,
dass der Pentateuch trotz stilistischer und inhaltlicher Unterschiede das Werk
des Moses sei. Dieser habe für die Genesis verschiedene Dokumente benutzt: ein
58 B. Der Pentateuch

Dokument A, das den Gottesnamen elohim gebraucht, ein Dokument B, welches


Jehova benutzt, sowie eine Reihe von fragmentarischen „mémoires“. Diese hätte
Mose benutzt und zusammengestellt, um das Buch Genesis zu schreiben. Spätere
unbegabte Redaktoren seien für einige obskure Stellen und Textbrüche verant-
wortlich. Damit hatte ASTRUC, ohne es zu ahnen, die Quellenscheidung und die
„Urkundenhypothese“ erfunden.
Einige Jahrzehnte vor ihm hatte HENNING BERNHARD WITTER, Pfarrer in Hil-
desheim, eine ähnliche Idee veröffentlicht, die jedoch bis ins 20. Jh. unbeachtet
blieb. Auch die Rezeption von ASTRUC war zunächst moderat. In Frankreich
wurde er von VOLTAIRE dazu benutzt, die Unmöglichkeit mosaischer Verfasser-
schaft zu erweisen. ASTRUCs Modell wurde um 1780 von JOHANN GOTTFRIED
EICHHORN aufgenommen, der die Sintfluterzählung, wie ASTRUC in eine elohisti-
sche und eine jehovistische Quelle aufteilt, seinen Vorgänger aber nur beiläufig
erwähnt. In Bezug auf die Genesis ist EICHHORN hinsichtlich der Verfasserschaft
unsicher; für Ex–Dtn nimmt er jedoch ebenfalls Mose, sekundiert von einigen
Zeitgenossen, als Autoren an.
Die Zuschreibung des Pentateuchs an Mose wird nach den Arbeiten von
JOHANN SEVERIN VATER und dem von ihm beeinflussten in Basel lehrenden
WILHELM MARTIN LEBERECHT DE WETTE im wissenschaftlichen Diskurs weitge-
hend aufgegeben. DE WETTE suchte 1805 den Nachweis zu führen, dass die Erst-
ausgabe des Buches Deuteronomium in der Zeit Joschijas verfasst und dieses zur
Zeit des babylonischen Exils überarbeitet worden sei. Weiterhin stellte er dezi-
diert fest, dass der Pentateuch keine Geschichtsquelle sei, sondern eine mythi-
sche Darstellung von Israels Ursprüngen und eine Sammlung „juridischer My-
then“. DE WETTE war kein Anhänger der Urkundenhypothese, sondern sah im
Pentateuch das Resultat einer komplexen sukzessiven Verbindung unterschiedli-
cher Fragmente. So sei Lev später an Gen–Ex angehängt worden, und Num stelle
eine ungeordnete noch spätere Ergänzung dar. Damit wird deutlich, dass die von
ASTRUC inaugurierte Urkundenhypothese nicht allgemein akzeptiert wurde.

c) Die verschiedenen Erklärungsmodelle im 19. Jahrhundert und


der Siegeszug der Quellentheorie

J. W. GOETHE, West-östlicher Diwan (1819), Berlin 1988 (Poetische Epen III. Gedichte und Sing-
spiele [Berliner Ausgabe]). – A. GEDDES, The Holy Bible, Or The Books Accounted Sacred By Jews
And Christians; Otherwise Called The Books of the Old and New Covenants, London 1792. – K. D.
ILGEN, Die Urkunden des jerusalemischen Tempelarchivs in ihrer Urgestalt, als Beytrag zur Berichti-
gung der Geschichte der Religion und Politik, Halle 1798. – H. HUPFELD, Die Quellen der Genesis
und die Art ihrer Zusammensetzung von neuem untersucht, Berlin 1853. – A. KUENEN, Historisch-
kritische Einleitung in die Bücher des alten Testaments hinsichtlich ihrer Entstehung und Sammlung,
Leipzig 1890. – D. CONRAD, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament. Studien zu einer wis-
senschaftlichen Biographie (hg. von U. Becker), 2011 (BZAW 425).

Da es der Urkunden- oder Quellentheorie nie gelang, die verschiedenen paralle-


len Dokumente durchgängig zu rekonstruieren, wurden im Laufe des 19. Jh.s
I. Der Pentateuch als ganzer 59

zwei alternative Erklärungsmodelle in Erwägung gezogen. Die Ergänzungshypo-


these besagt, dass eine Grundschrift im Laufe der Zeit durch diverse Zusätze
ergänzt wurde. Der Gedanke wurde in gewisser Weise bereits 1819 von JOHAN
WOLFGANG GOETHE in seinem West-östlichen Diwan erwogen, in welchem er
feststellt: „Den Gang der Geschichte sehen wir überall gehemmt durch einge-
schaltete zahllose Gesetze“ (257), so dass man „sorgfältig […] sondern“ müsse,
was die „eigentliche Erzählung ist“ (258). Wissenschaftlich abgesichert wurde die
Theorie durch FRIEDRICH BLEEK und andere: Die elohistische „Quelle“ wird bei
ihnen zur Grundschrift und der Jehovist zu deren Überarbeiter. Dabei wird das
Ende der elohistischen Grundschrift im Buch Josua gesehen.
Die Fragmentenhypothese wurde vielleicht von dem schottischen Priester und
Gelehrten ALEXANDER GEDDES um 1800 aus der Taufe gehoben. Er geht davon
aus, dass der Pentateuch aus verschiedenen, ursprünglich voneinander unabhän-
gigen Fragmenten besteht, welche von einem oder mehreren Redaktoren zu-
sammengesetzt und in eine gewisse Ordnung gebracht wurden. Weitergeführt
wurden GEDDES’ Ansichten in Deutschland durch J. S. VATER, der Texte wie
Num 1–10 als Beweis dafür nahm, dass der Pentateuch in weiten Teilen ein Kon-
glomerat unterschiedlichster Teile sei, die in einer chronologischen Reihenfolge
aneinander gefügt wurden, allerdings oft in ungeschickter Art und Weise. Jedoch
sollte sich die Urkundenhypothese durchsetzen. Diese wurde zunächst 1798 von
CARL DAVID ILGEN ausgearbeitet, der in der Genesis drei verschiedene Quellen,
zwei elohistische und eine jehovistische unterscheidet, die sich ursprünglich als
selbständige Werke im Jerusalemer Tempelarchiv befunden hätten. Weiterge-
führt wurde die Hypothese durch HERRMANN HUPFELD in einer Form, die oft als
„neuere Urkundenhypothese“ bezeichnet wird. Auch er unterscheidet drei
Quellen, eine elohistische, eine „ihvhistische“ (jehovistische) sowie jüngere elo-
histische Passagen, die von einem Redaktor nicht nur mechanisch zusammen-
gefügt wurden; vielmehr habe er auch in die Texte eingegriffen und sie in der Art
einer Evangelienharmonie zusammengearbeitet. Zu den drei synoptischen Quel-
len ist das Deuteronomium als vierte Urkunde hinzuzunehmen. Die neuere Ur-
kundenhypothese ist damit eine Vierquellentheorie. Da nach DE WETTE die
Ansetzung des Ur-Deuteronomiums in das 7. Jh. v. Chr. wahrscheinlich ge-
worden war, konnte man nun versuchen, die anderen Quellen in ihrem
Verhältnis zu diesem Buch zu datieren. Einen wichtigen Beitrag zur relativen
Datierung der Urkunden lieferten in Straßburg EDOUARD REUSS und HEINRICH
GRAF. Letzterer bewies 1865 eine Intuition seines Lehrers, dass nämlich die
priesterlichen und rituellen Gesetze in Ex 25–40*, Lev und Num dem Verfasser
der deuteronomischen Gesetze, sowie den Redaktoren der Bücher Jos–Kön
unbekannt seien, und somit erst nach dem Babylonischen Exil in den Pentateuch
eingefügt wurden. Damit wurde die „elohistische Grundschrift“ zur spätesten
Urkunde. Die Auffassung Grafs über die späte Abfassung der Grundschrift
wurde von ABRAHAM KUENEN in Leiden bestätigt. KUENEN unterscheidet in den
Büchern Gen–Jos drei bzw. vier Dokumente, deren Charakterisierung und
Datierung weitgehend die Position von JULIUS WELLHAUSEN vorwegnimmt.
60 B. Der Pentateuch

d) Das System Wellhausens

J. WELLHAUSEN, Die Composition des Hexateuchs und der historischen Bücher des Alten Testa-
ments (1899), Berlin 1963. – J. WELLHAUSEN, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 1927
(Neudruck 2001).

ABRAHAM KUENEN und WELLHAUSEN haben sich gegenseitig beeinflusst, so dass


die Form, welche die neuere Urkundenhypothese 1876–1878 durch WELL-
HAUSEN erhielt, sehr viel den Arbeiten des niederländischen Gelehrten verdankt.
WELLHAUSEN hat nicht viel Neues „erfunden“, es ist ihm jedoch gelungen, eine
Hypothese so auszuformulieren, dass sie beinahe ein Jahrhundert Anerkennung
gefunden hat und auch noch heute insbesondere in der angelsächsischen Welt
benutzt wird. Auch WELLHAUSEN geht davon aus, dass die Quellen den Hexa-
teuch durchziehen. Die ältesten Quellen, die aus der Königszeit stammen, sind J
(Jahwist, wegen des Gebrauchs des Gottesnamens Jhwh) und E (Elohist; bevor-
zugte Benutzung von elohim). Diese beiden Quellen, die in sich vielschichtig sind
(J1, J2, J3; E1, E2, E3), wurden zwischen 850 und 750 verbunden. Das Resultat die-
ser Zusammenfügung ist der „Jehowist“ (JE). Im Gegensatz zu seinen Nachfol-
gern war WELLHAUSEN immer skeptisch in Bezug auf die Möglichkeit, J und E
voneinander unterscheiden zu können. D (die Erstausgabe des Deuterono-
miums) entstand um 620 v. Chr. unter Joschija, und wurde in der babylonischen
Zeit mit JE verbunden (JED). P, die Priesterschrift (WELLHAUSEN übernahm das
Siglum wohl von KUENEN, nachdem er zuerst die Abkürzung „Q“ für „Vier
[lateinisch: quattuor] Bünde-Dokument“ gebraucht hatte), die ebenfalls mehr-
schichtig ist und deren Grundbestand (Pg) nur narrativen Stoff enthielt, zu wel-
chem dann die rituellen und anderen priesterlichen Vorschriften sekundär (Ps)
hinzugefügt wurden, wurde entweder im Babylonischen Exil oder vor Esra um
450 v. Chr. in Jerusalem redigiert und dann im Zuge von Esras Reform mit JED
verbunden, womit der Hexateuch um 400 v. Chr. als Kombination von JEDP
vorlag.
Es wird oft vergessen, dass es WELLHAUSEN nicht um eine mechanische Quel-
lenscheidung ging. Für ihn stellten JE, D und P drei Etappen in der Entwicklung
der Religion Israels und Judas zum Judentum dar. Diese Entwicklung versucht
WELLHAUSEN in den Prolegomena zur Geschichte Israels nachzuzeichnen, in
denen er wichtige kultische Institutionen wie Gottesdienst, Opfer, Feste und
Priestertum untersucht. Dabei zeigt JE eine bäuerliche Freiheit und Vielfalt (die
Feste sind agrarisch, Opfer werden vom pater familias dargebracht), D eine Ten-
denz zur Historisierung und Zentralisation (die Feste werden mit Ereignissen aus
Israels Frühgeschichte in Verbindung gebracht, Opfer sind nur noch am Zen-
tralheiligtum möglich), P setzt die Zentralisation voraus und zeichnet sich durch
Ritualisierung und Betonung der priesterlichen Autorität aus (nur Priester dür-
fen Opfer darbringen, der Verlauf der Feste und Opfer wird streng geregelt).
WELLHAUSEN will nachweisen, dass die Religion des alten Israels während der
Königszeit von Spontaneität und prophetischer Ethik geprägt war. Seine Hoch-
schätzung der das Volk einigenden Monarchie ist zeitgeschichtlich leicht erklär-
I. Der Pentateuch als ganzer 61

bar (1871 entstand zum ersten Mal ein vereintes deutsches Reich). Mit dem Auf-
kommen des Gesetzes unter Joschija beginnt eine religiöse Entwicklung hin zum
Judentum, welches nach dem Verlust der Staatlichkeit in der nachexilischen Zeit
entsteht und das WELLHAUSEN negativ als Erstarrung und Vergesetzlichung der
ursprünglich freien jahwistischen Religion beschreibt. Man hat ihm deshalb oft
den Vorwurf des Antisemitismus gemacht, doch auch hier ist er ganz ein Kind
seiner (vom liberalen Protestantismus geprägten) Zeit.

e) Die Weiterentwicklung des Systems (Gunkel, Noth, von Rad)

R. SMEND SEN., Die Erzählung des Hexateuch auf ihre Quellen untersucht. Berlin 1912. – H. GUN-
KEL, Genesis übersetzt und erklärt, Göttingen, 41917. – O. EISSFELDT, Hexateuch-Synopse. Die
Erzählung der fünf Bucher Moses und des Buches Josua mit dem Anfange des Richterbuches, Leipzig
1922. – G. VON RAD, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuchs (1938), in: Ders., Gesammelte
Studien zum Alten Testament, München 1971 (TB 8), 9–86. – M. NOTH, Überlieferungsgeschichte
des Pentateuch, Stuttgart 1948. – Y. KAUFMANN, The Religion of Israel: From its Beginnings to the
Babylonian Exile, Chicago 1960. – G. VON RAD, Das erste Buch Mose. Genesis, Göttingen 91972
(ATD 2–4). – H. W. WOLFF, Gesammelte Studien zum Alten Testament, München 21973 (TB 22). –
G. FOHRER, Einleitung in das Alte Testament; begr. von Ernst Sellin, Heidelberg 121979.

KUENENs und WELLHAUSENs Modell zur Entstehung des Pentateuchs setzte sich
in großen Teilen der (protestantischen) Bibelforschung (nach anfänglichem
Zögern auch in der angelsächsischen Welt) durch. Katholische Forscher durften
sich jedoch bis 1943 kirchlicherseits nicht offen zur Urkundentheorie „beken-
nen“. Jüdische Forscher standen dem Wellhausenschen System lange skeptisch
gegenüber. Einen großen Einfluss hatte und hat hier YEHEZKEL KAUFMANN, der
zwar WELLHAUSENs Quellenscheidung akzeptierte, den ganzen Pentateuch je-
doch als vorexilisch und P als die älteste Quelle, die in die vorstaatliche Zeit
reichte, ansah.
WELLHAUSENs Zurückhaltung gegenüber einer detaillierten Aufteilung der
Quellen wurde von seinen Nachfolgern leider schnell aufgegeben. RUDOLF
SMEND SEN., OTTO EISSFELDT und GEORG FOHRER unterteilten mit verschiedenen
Bezeichnungen den Jahwisten in zwei Dokumente. Die immer weiter reichende
detaillierte Aufteilung des Hexateuchs in eine Vielzahl von Quellen und Unter-
quellen war nie wirklich konsensfähig, trotz EISSFELDTs groß angelegter Hexa-
teuchsynopse.
WELLHAUSEN war nie an der Frage nach der Herkunft des Materials der ver-
schiedenen Urkunden interessiert gewesen und reagierte kaum auf die Ver-
öffentlichung in Mesopotamien ausgegrabener Dokumente (Gilgamesch, Enuma
Elisch, Atrahasis), die verblüffende Parallelen zu den biblischen Schöpfungs- und
Sintfluterzählungen aufwiesen. Die Erkenntnis, dass die Bibel ohne ihren
altorientalischen Kontext nicht zu verstehen ist, und dass anonyme erzählende
und gesetzliche Literatur sich auf mündliche Tradition gründet, führte zur
Gründung der religionsgeschichtlichen Schule, die in HERMANN GUNKEL einen
prominenten Vertreter hatte. GUNKEL betonte in seinem bis heute lesenswerten
62 B. Der Pentateuch

Genesiskommentar, dass die „Genesis eine Sammlung von Sagen“ ist, welche aus
mündlicher Tradition hervorgingen. Die Pentateuchquellen J und E stellen ein
spätes Stadium der Entwicklung dar. Die ursprünglichen Einzelsagen wurden
zunächst noch auf mündlicher Ebene zu „Sagenkränzen“ zusammengefasst (so
muss man sich zum Beispiel die Jakobsgeschichte so vorstellen, dass zunächst
Einzelsagen kursierten, die dann in zwei Sagenkränze „Jakob–Esau“ und „Jakob–
Laban“ zusammengestellt wurden, welche dann wiederum noch vor ihrer Über-
nahme durch J miteinander verbunden wurden). J und E sind demnach eine Art
„Gebrüder Grimm“, die Volkssagen sammeln und aufschreiben. Prägend wurde
auch GUNKELs Rede vom „Sitz im Leben“: Die Form bzw. Gattung eines Textes
lässt demzufolge Rückschlüsse auf den sozialen Kontext zu, in dem der Text
entstanden sei. Damit setzte in der alttestamentlichen Forschung der Siegeszug
der Formgeschichte und der Betonung der mündlichen Tradition ein, der es
erlaubte, viele Texte des Hexateuchs in die vorstaatliche Zeit, d. h. in das zweite
Jahrtausend v. Chr., anzusiedeln und aus ihnen unzählige vorstaatliche Bräuche
und Feste zu rekonstruieren.
GUNKEL selbst hatte, wie die Mehrzahl seiner Vorgänger, seine Untersuchun-
gen auf die Genesis begrenzt. Es ist das bleibende Verdienst MARTIN NOTHs,
versucht zu haben, einen umgreifenden Entwurf zur Entstehung des Pentateuchs
vorzulegen. Eigentlich wurde aber bei ihm der Hexa- bzw. Pentateuch zu einem
„Tetrateuch“. In seinen Überlieferungsgeschichtlichen Studien (1943) stellte
NOTH die Theorie eines Deuteronomistischen Geschichtswerks auf (DtrG; siehe
dazu S. 171–175). Das Deuteronomium gehörte damit enger mit den Vorderen
Propheten zusammen als mit den Büchern Gen–Num. In der Überlieferungsge-
schichte des Pentateuch (1948) präsentierte NOTH zunächst eine Aufteilung des
Pentateuchs in die Quellen J, E und P, und sah dabei P als „literarischen Rah-
men“ des Gesamtpentateuchs an, in welchen die anderen Quellen eingefügt wur-
den. NOTHs Listen sind bis heute eine gute Orientierung über die traditionelle
Quellenscheidung. Die Parallelität von J und E führte NOTH weiter zur Annahme
einer gemeinsamen mündlichen oder schriftlichen Grundlage G, aus welcher
beide Quellen hervorgegangen seien. Wichtiger war ihm aber das Nachzeichnen
der vorliterarischen Geschichte der Pentateuchüberlieferung. NOTH stellte fest,
dass der Pentateuch aus verschiedenen Themen besteht, die ursprünglich von-
einander unabhängig tradiert wurden. Die ältesten Themen sind die „Herausfüh-
rung aus Ägypten“ und die „Hineinführung in das palästinische Kulturland“
(NOTH zufolge enthielten die alten Pentateuchquellen Landnahmeerzählungen,
die jedoch getilgt wurden, als J und E mit dem Deuteronomium und dem DtrG
kombiniert wurden). Dazu kommen die Erzvätererzählungen, die „Führung in
der Wüste“ und die Tradition von der Offenbarung am Sinai. Diese wurden
zunächst mit verschiedenen Erzählstoffen aufgefüllt und danach durch Itinerare,
Genealogien, Personen und Erzählungen wie der Josefsgeschichte miteinander
verbunden. Die Quellen J und E bzw. deren Grundlage G fanden diese Struktur
bereits vor und übernahmen sie. J stellte ihr lediglich die Urgeschichte voran.
NOTH ging es darum, die ursprüngliche Selbständigkeit der großen Penta-
I. Der Pentateuch als ganzer 63

teuchthemen zu betonen; J und E sind für ihn, wie für GUNKEL, das Ergebnis
eines langen Prozesses. Diese Sicht änderte sich schlagartig mit GERHARD VON
RAD für den der Jahwist eine schriftstellerische Persönlichkeit wurde, ja der erste
und größte Theologe des alten Israels. Der Jahwist übernahm das alte kleine „ge-
schichtliche Credo“, in welchem Exodus und Landnahme zusammengehörten
(Dtn 26,5–9) und konstruierte daraus die erste Hexateucherzählung, indem er
vor den Exodus die Ur- und Patriarchen-Erzählungen stellte, und als Verbin-
dung von Exodus und Eisodus die Wüsten- und Sinai-Traditionen einbrachte.
Für VON RAD, gibt es im Gegensatz zu seinen Vorgängern nur einen möglichen
historischen Kontext für den Jahwisten, die „salomonische Aufklärung“. Damit
wird nun im Gegensatz zu WELLHAUSEN und KUENEN J früh und genau datiert
(um 930 v. Chr.). Die „freigeistige Ära Salomos“ (ATD, 14) hat den Jahwisten
hervorgebracht, dessen Erzählung eine „der größten Leistungen der Geistesge-
schichte aller Zeiten“ darstellt (ATD, 11). Die Theologie des Jahwisten kommt in
Gen 12,1–3 exemplarisch zum Ausdruck: Gott hat seine Verheißungen an Abra-
ham mit der Errichtung des salomonischen „Großreiches“ erfüllt, ohne Zutun
seines Volkes, aus lauter Gnade.
In der Folge GERHARD VON RADs interessierte man sich auch für das
„Kerygma“ des Elohisten, des Deuteronomisten und der Priesterschrift (HANS
WALTER WOLFF, RALPH KLEIN). Damit verlagerte sich die Perspektive, beeinflusst
durch die dialektische Theologie und die Erfahrung des Nazismus und des
Zweiten Weltkriegs, hin zu der Theologie der einzelnen Pentateuchquellen. Im
Vordergrund standen nun nicht die Quellenscheidung und die Einzelerzäh-
lungen, sondern der Aufbau und die Intention der Urkunden. Durch VON RAD
und seine Mitstreiter bekam die Urkundenhypothese eine etwas andere Ausrich-
tung als unter WELLHAUSEN, insbesondere durch die Datierung von J in der salo-
monischen Zeit. Man kann diese Version der Urkundenhypothese wie folgt
beschreiben: Der Jahwist beginnt in Gen 2,4 an und endet entweder in Jos 24
oder in Dtn 34. Der Umfang des Elohisten war immer umstritten, deshalb sprach
man oft wie WOLFF von „elohistischen Fragmenten“. Oft sah man seinen Anfang
in Gen 15; er ist hauptsächlich in Gen 20–22 zu greifen, steht in seiner Theologie
den vorexilischen Propheten Hosea und Amos nahe und schreibt in der ersten
Hälfte des 8. Jh.s wohl im Nordreich. D (das Ur-Dtn) hängt mit der Kult-
zentralisation unter Joschija zusammen und vertritt eine Bundestheologie, die
von Israel die ausschließliche Verehrung Jhwhs fordert (Dtn 6,4–9; 12,13–18). P
beginnt in Gen 1,1 und endet in Dtn 34 oder Jos 18–19* und wurde vielleicht
bereits in der Exilszeit verfasst. Dem Landverlust stellt P kultische Institutionen
entgegen (Sabbat in Gen 1 und 16; die Beschneidung in Gen 17, das Passah in Ex
12).
Diese Ausarbeitung der Urkundenhypothese, die sich in den 60er Jahren des
vorigen Jahrhunderts in fast allen Einleitungen in das AT fand, wurde jedoch
relativ schnell infrage gestellt.
64 B. Der Pentateuch

f) Erste Kritiken

P. VOLZ / W. RUDOLPH, Der Elohist als Erzähler, ein Irrweg der Pentateuchkritik? An der Genesis
erläutert, Giessen 1933 (BZAW 63). – B. JACOB, Das erste Buch der Tora: Genesis, Berlin 1934. – I.
ENGNELL, A Rigid Scrutiny: Critical Essays on the Old Testament, Nashville 1962. – U. CASSUTO, A
Commentary on the Book of Genesis I–II, Jerusalem 21984. – L. PERLITT, Bundestheologie im Alten
Testament, Neukirchen-Vluyn 1969 (WMANT 36). – W. FUSS, Die deuteronomistische Pentateuch-
redaktion in Exodus 3–17, Berlin / New York 1972 (BZAW 126). – F. M. CROSS, From Epic to Canon.
History and Literature in Ancien Israel, Baltimore, MA 1998.

Der Konsens in Bezug auf die Urkundenhypothese war im Grunde nie so gewal-
tig, wie dies im Nachhinein erscheinen mag. Selbst ihre Anhänger vertraten oft
höchst unterschiedliche Konzeptionen in Bezug auf das Verständnis der vier
Quellen. Jüdische Gelehrte wie BENNO JACOB und UMBERTO CASSUTO monierten,
dass die rationalistischen Kriterien, mit denen Quellenscheidung betrieben wird
(ein Text darf weder Dubletten, noch Widersprüche, noch Stilmischung enthal-
ten), nicht der altorientalischen Literatur entsprechen. Dabei leugneten weder
JACOB noch CASSUTO das Vorhandensein verschiedener Traditionen und Quel-
len in der Tora. CASSUTO vergleicht die Entstehung des Pentateuchs mit den
Epen Ugarits und den Schriften Homers und schließt daraus, dass seine Tradi-
tionen zunächst von Barden tradiert wurden. Eine ähnliche Position wurde von
der skandinavischen Bibelwissenschaft vertreten, die davon ausging, dass die
Überlieferung der Pentateuchtraditionen bis in die babylonische oder persische
Zeit mündlich verlief, und dann erst verschriftet wurde. Die Spannungen und
Widersprüche im Pentateuch können nach IVAN ENGNELL nicht durch schriftli-
che Quellen erklärt werden; sie sind das Resultat der getreuen schriftlichen Auf-
zeichnung verschiedener mündlicher Traditionen. Dabei wurden der Tetrateuch
(Gen–Num) unter priesterlicher Ägide („P“) kompiliert und die restlichen Bü-
cher des Enneateuchs (Dtn–Kön) unter der von deuteronomistischen Schreibern
(„D“).
Bei den Vertretern der Urkundenhypothese sorgte der Elohist seit langem für
Unbehagen. Da es im Grunde nie möglich war, E auch nur annähernd zu rekon-
struieren, sprachen bereits 1933 PAUL VOLZ und WILHELM RUDOLPH von einem
„Irrweg der Pentateuchkritik“ und schlugen vor, in E dtr geprägte Zusätze zu J zu
sehen. Auch der Charakter von P wurde in Frage gestellt: Ist P wirklich eine
selbständige Urkunde, oder können die priesterlichen Texte nicht besser als
Redaktion verstanden werden? Dieses Verständnis wurde in Nordamerika be-
sonders durch FRANK M. CROSS populär. Auch an der Frühdatierung von J regten
sich verhaltene Zweifel. So stellte LOTHAR PERLITT in seiner Untersuchung zur
Bundestheologie im Alten Testament fest, dass traditionell J zugeschriebene
Texte wie Ex 19,3–9 eine Bundeskonzeption voraussetzen, die mit derjenigen des
Deuteronomiums parallel geht. So wurden viele Texte dem salomonischen J
abgesprochen und als dtr oder proto-dtr Zusätze angesehen, und immer mehr
Forscher machten sich auf die Suche nach dtr Redaktionen im Pentateuch. Das
gängige Modell wurde somit immer brüchiger.
I. Der Pentateuch als ganzer 65

g) Die Infragestellung der klassischen Quellentheorie um 1975

J. VAN SETERS, Abraham in History and Tradition, New Haven / London 1975. – H. H. SCHMID, Der
sogenannte Jahwist. Beobachtungen und Fragen zur Pentateuchforschung, Zürich 1976. – R.
RENDTORFF, Das überlieferungsgeschichtliche Problem des Pentateuch, Berlin / New York 1976
(BZAW 147).

In der Mitte der 70er Jahre war die Zeit anscheinend reif für eine generelle Infra-
gestellung der neueren Urkundenhypothese. Voneinander unabhängig und
gleichzeitig erschienen drei Bücher aus den USA, der Schweiz und Deutschland,
die auf verschiedene Weise die Pfeiler des Wellhausenschen Paradigmas ins
Wanken brachten.
In „Abraham in History and Tradition“ (1975) machte JOHN VAN SETERS dem
Mythos eines Patriarchenzeitalters im 2. Jahrtausend v. Chr. ein Ende, indem er
nachwies, dass die besten Parallelen zu Bräuchen, wie sie z. B. in Gen 16 voraus-
gesetzt werden (eine unfruchtbare Ehefrau kann sich von ihrer Magd vertreten
lassen und deren Kind „adoptieren“), in Dokumenten aus neu-assyrischer und
neu-babylonischer Zeit stammen. Damit verband sich für VAN SETERS eine Spät-
datierung des Jahwisten, den er in die exilische Zeit versetzte. Die Quelle E gab
VAN SETERS im Grunde auf und interpretierte die „elohistischen“ Texte als von J
aufgenommene Traditionen. P verstand er nicht als unabhängiges Dokument,
sondern als Redaktor von J, der gleichzeitig auch der Redaktor des Pentateuchs
war.
Eine Spätdatierung von J schlug auch HANS HEINRICH SCHMID in „Der soge-
nannte Jahwist“ vor. In diesem Buch untersuchte er die von Noth als J qualifi-
zierten Texte und stellte deren Nähe zum Deuteronomium und zu dtr Texten
fest. Auch sei festzustellen, dass außerhalb des Pentateuchs viele Themen, die in J
enthalten seien, erst in exilischer oder nachexilischer Zeit klar belegt sind (wie
z. B. Abraham). Dazu kommt, dass die Berufung Moses in Ex 3 ihre Parallelen in
Jer 1 und Ez 2 hat; die Ungehorsamstheologie in den „J-Texten“ von Num lässt
sich am besten mit dem dtr Richterschema vergleichen. Vorsichtig schlägt
SCHMID vor, den sogenannten Jahwisten im Umkreis der deuteronomischen/
deuteronomistischen Theologie, also im 7.–6. Jh. v. Chr., anzusetzen.
Der radikalste Angriff auf die Quellentheorie wurde 1976 von ROLF REND-
TORFF geführt. In seinem in Anlehnung an M. NOTH benannten Buch „Das
überlieferungsgeschichtliche Problem des Pentateuch“ weist er zunächst auf die
vielen Schwächen und Probleme der Quellenscheidung hin. Danach entwickelt
er anhand der Patriarchenerzählung seine eigene Theorie zur Entstehung des
Pentateuchs, die einer Fragmententheorie entspricht. Die Abraham-, Isaak- und
Jakob-Erzählungen wurden durch die Verheißungen miteinander verbunden,
ohne dass diese Redaktion bereits Beziehungen zu anderen Pentateuchthemen
herstellte. Damit übernimmt RENDTORFF in gewisser Weise NOTHs Idee der Pen-
tateuchthemen, die er als „größere Einheiten“ bezeichnet. Diese größeren Einhei-
ten wurden erst relativ spät durch eine dtn/dtr Redaktion miteinander verbun-
den. P ist für RENDTORFF ebenfalls eine Redaktion, die der von einer dtr Redak-
66 B. Der Pentateuch

tion kreierten Großerzählung die Urgeschichte vorschaltet. Diese Neuinterpreta-


tion der Nothschen Einsichten öffnete den Weg für neue Hypothesen zur
Entstehung der Tora.

h) Erste Ausarbeitung von Alternativmodellen

M. ROSE, Deuteronomist und Jahwist: Untersuchungen zu den Berührungspunkten beider Literatur-


werke, 1981 (AThANT 67). – E. BLUM, Die Komposition der Vätergeschichte 1984 (WMANT 57). –
J. VAN SETERS, Der Jahwist als Historiker, 1987 (ThSt 134). – E. BLUM, Gibt es die Endgestalt des
Pentateuch?, in: J. A. Emerton (ed.), Congress Volume Leuven 1989 (SVT 43), 46–57. – J. VAN
SETERS, Prologue to History. The Yahwist as Historian in Genesis, Zürich 1992. – C. LEVIN, Der Jah-
wist, 1993 (FRLANT 157). – C. LEVIN, Der Text des Jahwistischen Geschichtswerks: PDF-Dokument
http://www.at1.evtheol.uni-muenchen.de/service/texte/index.html (eingesehen September 2011). – E.
BLUM, Studien zur Komposition des Pentateuch 1990 (BZAW 189). – R. ALBERTZ, Religionsge-
schichte Israels in alttestamentlicher Zeit 1992 (GAT 8). – D. M. CARR, Reading the Fractures of
Genesis, Louisville 1996. – B. J. SCHWARTZ, „Profane“ Slaughter and the Integrity of the Priestly
Code: HUCA 67 (1996) 15–42. – E. OTTO, Das Deuteronomium im Pentateuch und Hexateuch
Tübingen 2000 (FAT 30). – C. FREVEL (Hg.), E. Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament,
Stuttgart 82012 (Studienbücher Theologie 1,1). – J. C. GERTZ u. a. (Hg.), Abschied vom Jahwisten: die
Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion 2002 (BZAW 315). – A. GRAUPNER, Der
Elohist: Gegenwart und Wirksamkeit des transzendenten Gottes in der Geschichte 2002 (WMANT
97). – J. STACKERT, Rewriting the Torah. Literary Revision in Deuteronomy and the Holiness
Legislation 2007 (FAT 52). – J. S. BADEN, J, E, and the Redaction of the Pentateuch, 2009 (FAT 68). –
T. L. YOREH, The First Book of God 2010 (BZAW 402).

H. H. SCHMID hatte auf die engen sprachlichen und zeitlichen Beziehungen zwi-
schen dem Jahwisten und dem deuteronomistischen Geschichtswerk hingewie-
sen, dabei aber die Frage nach der chronologischen Beziehung beider Werke
offen gelassen. In seiner Habilitationsschrift „Deuteronomist und Jahwist“ nahm
sich MARTIN ROSE dieser Frage an und beantwortete sie im Sinne des Titels sei-
ner Arbeit. Der Deuteronomist ist älter als der Jahwist, welcher als neuer und
theologisch modifizierter Vorspann zum deuteronomistischen Opus zu verste-
hen ist. ROSE untersucht die Parallelüberlieferungen in Dtn–Jos und Ex und Num
(wie z. B. die „jahwistische“ Version der Kundschaftergeschichte in Num 13–14
und Dtn 1,19–45, oder die Landverteilung in Num 32 und Jos 14–15) und
kommt zu dem Ergebnis, dass die dtr Texte die ältere Version darstellen und die
jahwistischen Erzählungen deren jüngere Variante. So ist zum Beispiel der dtr
Kundschafterbericht, der vom Zorn Jhwhs gegen Mose spricht (Dtn 1,37), nicht
als spätere Wiedergabe von Num 14 (J) denkbar, da diese Erzählung im Gegen-
teil auf Moses Fürbitte und sein rettendes Intervenieren für die Israeliten insis-
tiert. J ist demnach als eine Korrektur des DtrG zu verstehen. Er wurde als neue
Einleitung zum selbigen konzipiert, um aufzuzeigen, dass die menschliche Unfä-
higkeit die göttlichen Gebote zu bewahren eine anthropologische Konstante ist
(vgl. die Sündenfallgeschichte in Gen 3). Weiterhin liefert J in der Exodus-
erzählung eine ausführliche Erzählung der Befreiung des Volkes Israels nach, um
aufzuzeigen, dass Gottes rettendes Handeln der Forderung nach Gesetzesobser-
I. Der Pentateuch als ganzer 67

vanz, die in der Sinaiperikope und im Deuteronomium ausführlich thematisiert


wird, vorangeht. ROSEs recht lutheranisches Verständnis des Jahwisten verjüngt
diesen um einige hundert Jahre und löst gleichzeitig ein Problem der klassischen
Quellentheorie, nämlich die Frage des Endes der alten Pentateuchquellen. Durch
NOTHs Theorie des DtrG, dessen Einleitung das Deuteronomium darstellt,
wurde es zunehmend schwieriger den Abschluss der alten Pentateuchquellen zu
finden. NOTH sah sich zu einer Notlösung veranlasst und postulierte, dass das
ursprüngliche Ende von J/E, die ebenfalls eine Landnahmeerzählung erhielten,
bei der Zusammenfügung dieser Quellen mit dem DtrG amputiert worden sei.
Diese Annahme wird unnötig, wenn man den Jahwisten als späteren Prolog zum
DtrG versteht. Danach bestand J nie unabhängig vom DtrG, sondern war von
vorneherein unter Aufnahme älterer Traditionen als dessen neue Einleitung
konzipiert. Ein ähnliches Modell entwickelte JOHN VAN SETERS, der den Jahwis-
ten weniger als Theologen, sondern als einen dem Herodotus oder Thukydides
vergleichbaren Historiker charakterisiert, welcher dem Deuteronomisten einen
„Prologue to History“ (so der Titel eines seiner Bücher) voranstellt. Im Gegen-
satz zu ROSE rechnet VAN SETERS jedoch kaum mit älteren von J verarbeiteten
Quellen. J habe wie Herodotus aus seiner allgemeinen Kenntnis von Traditionen
geschöpft und wenn notwendig auch selbst Erzählungen und Ätiologien erfun-
den. Auch bezüglich P differieren ROSE und VAN SETERS. Während ROSE P als
einen mit J zunächst konkurrierenden Vorspann zum DtrG ansieht, ist für VAN
SETERS P der Redaktor von J und im Grunde auch der Redaktor des Pentateuchs.
Damit kann VAN SETERS den gesamten Pentateuch mit den zwei Sigeln J und P
erklären. Ob dies jedoch der Komplexität des Pentateuchs gerecht wird, bleibt
anzuzweifeln.
Auch CHRISTOPH LEVIN setzt den Jahwisten „spät“ an, nämlich zwischen dem
Deuteronomium und dem DtrG. Er versteht J jedoch als einen Redaktor, dessen
Quellen literarkritisch rekonstruierbar seien. Diese Quellen bilden keinen älteren
durchgehenden Erzählzusammenhang, sondern bestehen aus einer Mehrzahl
von ursprünglich selbständigen Überlieferungsfragmenten, die vom jahwisti-
schen Redaktor aufgenommen und in einen größeren Zusammenhang gestellt
wurden. Allerdings ist LEVINs Jahwist hauptsächlich in der Genesis und in der
ersten Hälfte des Buches Exodus aufzufinden. In Num lassen sich nach LEVIN für
J nur einige Verse in Num 10; 11; 20 und in der Bileamperikope ausfindig ma-
chen, so dass das Ende von J, welches nach LEVIN in Num 25,1 und Dtn 34,5–6*
vorliegt, doch recht abrupt erscheint.
Nachdem RENDTORFF eine Abkehr von den traditionellen Sigeln der Quellen-
theorie gefordert hatte, setzte ERHARD BLUM diese Forderung in ein neues Pen-
tateuchmodell um. In „Die Komposition der Vätergeschichte“ erklärte er das
Entstehen der Erzelternerzählungen im Sinne seines Lehrers als ein allmähliches
Zusammenwachsen von zunächst unabhängigen Einzelerzählungen und Tradi-
tionsblöcken. Die Verbindung der allmählich zusammengewachsenen Patriar-
chengeschichte mit den Mose-Traditionen erfolgte in der frühen Perserzeit
durch eine das DtrG voraussetzende D-Komposition. Gleichzeitig oder etwas
68 B. Der Pentateuch

später wirkte eine P-Komposition, welche die Urgeschichte mit den Erzväter-
und Mose-/Sinai-Traditionen verknüpfte. BLUM hat dieses Modell in seinen
„Studien zur Komposition des Pentateuch“ weiterentwickelt, wo er aufzeigen
will, dass der Pentateuch das Resultat zweier Großkompositionen ist, nämlich
eine priesterliche Komposition und eine in ihr integrierte deuteronomistische
Komposition. BLUMs Theorie wurde im deutschsprachigen Raum, aber auch
darüber hinaus (z. B. DAVID CARR), von mehreren Forschern aufgenommen und
weiterentwickelt, insbesondere im Zusammenhang mit der Theorie der soge-
nannten Reichsautorisation (s. u.). So vertrat RAINER ALBERTZ die These, dass der
Pentateuch aus einem Kompromiss zwischen einer „deuteronomistischen“ poli-
tisch führenden Laienkommission und einem Priesterkollegium hervorgegangen
sei, wobei beide Gruppen ein neues Gemeinwesen unter Akzeptanz der persi-
schen Oberherrschaft schaffen wollten.
Eine etwas andere Variante der von RENDTORFF neu angeregten Fragmenten-
hypothese hat ECKART OTTO entwickelt. Auch er geht davon aus, dass Tradi-
tionsblöcke wie die Urgeschichte, die Patriarchen- und die Mose-Exodus-
Erzählung lange Zeit unabhängig voneinander überliefert wurden, bis sie dann
erstmals in der Priesterschrift vereinigt wurden. Daneben wurde die Sinaierzäh-
lung und das Bundesbuch modifiziert in das dtr Deuteronomium übernommen.
Der Penta- bzw. Hexateuch wurde erst in der Perserzeit durch zwei konkurrie-
rende Redaktionen (Hexateuchredaktion und Pentateuchredaktion) geschaffen,
die beide priesterlichen Kreisen zuzurechnen sind.
Eine konventionellere Variante der traditionellen Quellentheorie stellt das von
PETER WEIMAR, ERICH ZENGER und anderen ausgearbeitete „Münsteraner Pen-
tateuchmodell“ dar. Auch dieses Modell geht von unabhängigen Überlieferungen
aus, die erstmals in der zweiten Hälfte des 7. Jh.s in Jerusalem in ein „Jehovisti-
sches Geschichtsbuch“ (JE) integriert wurden. Im Babylonischen Exil entsteht
ein „großes dtr Geschichtswerk“, das von Gen 2,4b bis 2 Kön 25* reicht und in
welches das Bundesbuch und das Deuteronomium integriert wurden. Das zu
Anfang der Perserzeit entstandene priesterschriftliche Werk (PG) wird nach 450
in ein „großes nachexilisches Geschichtswerk“ eingefügt, das dem Enneateuch
entspricht. Um 400 v. Chr. wird dieser Enneateuch dann in den Pentateuch und
die Vorderen Propheten aufgeteilt.
Diese verschiedenen Alternativmodelle gehen zum Teil von sehr verschiede-
nen Voraussetzungen aus und sind oft auf gewisse „Schulen“ beschränkt, so dass
sich bis heute kein neues Pentateuchmodell als weitgehend konsensfähig erwie-
sen hat. Dazu kommt, dass, obwohl in der deutschsprachigen Forschung von
vielen Seiten der „Abschied vom Jahwisten“ und der klassischen Quellentheorie
proklamiert wird, die WELLHAUSENsche Hypothese in den USA immer noch die
dominante Theorie ist. Auch der schon lange totgesagte „Elohist“ wird von Zeit
zu Zeit wieder zum Leben erweckt (GRAUPNER, YOREH). Schüler von BARUCH
SCHWARTZ, wie JOEL BADEN oder JEFFREY STACKERT, verstehen sich kämpferisch
als Vertreter der „New Documentary Hypothesis“, die über WELLHAUSEN hin-
ausgehend postuliert (ohne bis jetzt den Nachweis erbracht zu haben), dass die
I. Der Pentateuch als ganzer 69

drei bzw. vier Quellen lückenlos rekonstruiert werden können. Diese wurden
dann einfach mechanisch verbunden, ohne dass der Kompilator viel Eigenes
beigesteuert hätte.
Bei Studierenden aber auch Lehrenden kann angesichts der heutigen Situation
der Pentateuchforschung der Eindruck einer chaotischen Situation entstehen, die
es kaum erlaubt ein fundiertes Bild der Entstehung des Pentateuchs zu rekon-
struieren. In der angelsächsischen und französischsprachigen Forschung wandte
man sich deshalb verstärkt synchronen Methoden zu (Strukturalismus, Semiotik,
Narratologie, usw.), und auch in der deutschsprachigen Forschung finden sich
seit einigen Jahren vermehrt Untersuchungen, die ausschließlich die sogenannte
Endgestalt eines Textes oder Buches zum Untersuchungsgegenstand haben, wel-
che jedoch, wie BLUM dargelegt hat, eine Chimäre darstellt. Die holistischen
Methoden stellen eine verständliche Reaktion dar gegenüber einer Literarkritik,
deren Hauptanliegen die Rekonstruktion eines hypothetischen Urtextes ist, wo-
bei hermeneutische Fragen oft ausgeblendet werden oder nur sehr marginal zur
Sprache kommen. Jedoch bleibt die historisch-kritische Dimension für die Pen-
tateuchforschung wie für die gesamte biblische Exegese unaufgebbar. Zudem
zeigt der folgende Überblick über die Hauptprobleme der gegenwärtigen Penta-
teuchforschung, dass man sich vielleicht über gewisse Punkte auch über spezifi-
sche Hypothesen hinaus einigen kann.

i) Die aktuelle Diskussion

– Die Frage nach Funktion und Umfang der priesterlichen Texte des Penta-
teuchs

J. BLENKINSOPP, The Structure of P: CBQ 38 (1976) 275–292. – N. LOHFINK, Die Priesterschrift und
die Geschichte, in: J. A. Emerton, et al. (eds.), Congress Volume, 1977, 1978 (VT.S 29), 189–225. – H.
TIGAY, The Evolution of The Gilgamesh Epic, Philadelphia, PA 1982. – H. SEEBASS, Josua: BN 28
(1985) 53–65. – L. PERLITT, Priesterschrift im Deuteronomium? (1988), in: Ders., Deuteronomium-
Studien, 1994 (FAT 8), 123–143. – M. KÖCKERT, Leben in Gottes Gegenwart. Zum Verständnis des
Gesetzes in der priesterschriftlichen Literatur: JBTh 4 (1989) 29–61. – R. ALBERTZ, Religionsge-
schichte Israels in alttestamentlicher Zeit, 1992 (GAT 8). – L. SCHMIDT, Studien zur Priesterschrift,
1993 (BZAW 214). – T. POLA, Die ursprüngliche Priesterschrift. Beobachtungen zur Literarkritik und
Traditionsgeschichte von Pg, 1995 (WMANT 70). – G. FISCHER, Wege aus dem Nebel? Ein Beitrag
zur Pentateuchkrise: BN 99 (1999) 5–7. – E. ZENGER, Priesterschrift: TRE 27 (1997) 435–446. – E.
OTTO, Forschungen zur Priesterschrift: ThR 62 (1997) 1–50. – J. VAN SETERS, The Pentateuch. A
Social Science Commentary, 1999 (Trajectories). – C. FREVEL, Mit Blick auf das Land die Schöpfung
erinnern. Zum Ende der Priestergrundschrift, 1999 (HBSt 23). – E. A. KNAUF, Die Priesterschrift und
die Geschichten der Deuteronomisten, in: T. Römer (ed.), The Future of the Deuteronomistic His-
tory, 2000 (BETL 147), 101–118. – R. G. KRATZ, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten
Testaments. Grundwissen der Bibelkritik, 2000 (UTB 2157). – F. GARCÍA LÓPEZ, El Pentateuco.
Introducción a la lectura de los cinco primeros libros de la Biblia, 2003 (Introducción al estudio de la
Biblia 3a). – J.-L. SKA, Le récit sacerdotal: Une „histoire sans fin“?, in: T. Römer (ed.), The Books of
Leviticus and Numbers, 2008 (BETL 215), 631–653. – C. NIHAN, From Priestly Torah to Pentateuch:
A Study in the Composition of the Book of Leviticus, 2007 (FAT II/25). – S. SHECTMAN / J. S. BADEN
(eds.), The Strata of the Priestly Writings. Contemporary Debate and Future Directions, 2009
70 B. Der Pentateuch

(AThANT 95). – E. BLUM, Issues and Problems in the Contemporary Debate Regarding the Priestly
Writings, in: S. Shectman / J. S. Baden (eds.), The Strata of the Priestly Writings, 31–44.

Über die Existenz von priesterlichen Texten in der Tora herrscht bis auf sehr
wenige Ausnahmen (FISCHER) weitgehende Einigkeit in der Forschung, so dass
die Unterscheidung von priesterlichen und nicht-priesterlichen Texten weiterhin
als ein sicherer Ausgangspunkt historisch-kritischer Forschung gelten kann.
Umstritten ist weiterhin die Frage, ob man „P“ als ein ursprünglich selbständiges
Dokument oder als eine Redaktion älterer nicht-priesterlicher („jahwistischer“)
Quellen verstehen soll. Die Idee von P als Redaktor (VAN SETERS, ALBERTZ) stützt
sich auf die Beobachtung, dass es trotz vieler Versuche nie gelungen sei, die
Quelle P vollständig zu rekonstruieren. So muss man insbesondere in der Jakobs-
geschichte mit großen Ausfällen rechnen, in der priesterlichen Moseerzählung
erscheint Mose unvermittelt und ohne jegliche Einführung (wenn man die P-
Texte in Ex 2,23aß–25 und 6,2ff. hintereinander liest), und im Buche Numeri
scheitert die Herstellung eines durchgehenden priesterlichen Erzählfadens voll-
ends. Andererseits jedoch schließt Ex 6,2ff. gut an die Notiz über Israels Be-
drückung in Ex 2,23aß–25 an, so dass man annehmen darf, dass P bei seinen
Adressaten die Kenntnis der Gestalt des Mose voraussetzte. Weiter geht die
Annahme, dass bei der Zusammenfügung verschiedener Dokumente diese voll-
ständig erhalten blieben, von der falschen Voraussetzung aus, dass die Redakto-
ren ihre Quellen so vollständig wie möglich erhalten wollten. Beispiele aus
Mesopotamien, insbesondere das Gilgameschepos, zeigen jedoch den freien Um-
gang mit alten Dokumenten, die im Zuge einer Neuausgabe gekürzt oder um-
geschrieben werden können (TIGAY). BLUM hat das Problem, ob P ursprünglich
eine Quelle oder von jeher eine Redaktion gewesen sei, durch den Vorschlag zu
lösen versucht, die priesterliche Komposition weder als Quelle noch als Re-
daktion zu verstehen. Einige priesterliche Texte wären zunächst für sich konzi-
piert worden, bevor sie von denselben priesterlichen Kreisen zur Bearbeitung der
älteren nicht-priesterlichen Traditionen verwendet wurden. Diese Theorie läuft
im Grunde auf eine Unterscheidung eines oder mehrerer priesterlicher Doku-
mente und einer oder mehrerer priesterlichen Bearbeitungen hinaus. Ein selb-
ständiges P-Dokument ist in Genesis und Exodus durchaus wahrscheinlich zu
machen. Dies trifft jedoch für das Buch Numeri nicht zu.
Einigkeit besteht weitgehend in der Annahme, dass „P“ nicht in einem Guss
verfasst wurde, sondern, dass WELLHAUSENs Unterscheidung von Pg (die pries-
terliche Grundschrift) und Ps (sekundäre priesterliche Bearbeitungen und Nach-
träge) weiterhin sinnvoll ist. Allerdings fehlt ein Konsens in Bezug auf das Ende
der ursprünglichen Priesterschrift. Zu den zwei traditionellen Annahmen (P
habe den gesamten narrativen Umfang des Hexa- bzw. Pentateuchs erfasst),
haben sich in jüngerer Zeit Theorien gesellt, die eine weitaus kürzere Pg anneh-
men. Die Idee WELLHAUSENs, dass mit einem ursprünglichen Hexateuch zu
rechnen sei, wird in Bezug auf P von Forschern vertreten, die das Ende der
Priesterschrift in Jos 19,51 (BLENKINSOPP, LOHFINK) oder in Jos 18,1 (KNAUF,
I. Der Pentateuch als ganzer 71

SEEBASS) verorten. Dabei wird oft mit dem rahmenden Charakter von 18,1 ar-
gumentiert. Die Aussage „Die ganze Gemeinde der Israeliten versammelte sich in
Schilo, und dort richteten sie das Zelt der Begegnung auf. Das Land aber war
ihnen unterworfen“ soll eine Inklusion mit dem priesterlichen Schöpfungsauf-
trag in Gen 1,28 (wonach sich die Menschen die Erde unterwerfen sollen) dar-
stellen. Allerdings wird dabei nicht beachtet, dass Gen 1,28 die gesamte Mensch-
heit im Blick hat und keineswegs den Landbesitz des Volkes Israel. Im Rahmen
der Priesterschrift wird im Übrigen der Auftrag von Gen 1,28 nach der Sintflut in
Gen 9,1–7* korrigiert. Ein durchgehender priesterlicher Erzählstrang ist darüber
hinaus im Buch Josua nicht zu eruieren.
Die wohl am häufigsten vertretene Meinung sucht den Abschluss von P am
Ende des Pentateuchs, und zwar in Dtn 34,7–9 (dabei wird postuliert, dass Teile
des ursprünglichen priesterlichen Berichts von Moses Tod im Rahmen der
Fusion von P und den älteren Quellen verdrängt wurden). Sie geht wohl auf M.
NOTH zurück, der in Pg den narrativen Grundriss des Pentateuchs sah, und
wurde in letzter Zeit noch einmal ausführlich von LUDWIG SCHMIDT und CHR.
FREVEL vertreten. Beide betonen (wohl zu Recht), dass der Landbesitz für P kein
Hauptanliegen darstellt. Allerdings fragt sich, ob die Notiz der Einsetzung Josuas
als Nachfolger Moses in Dtn 34,7–9 einen passenden Abschluss einer Priester-
schrift darstellt. Dtn 34,9 zielt eindeutig auf eine Fortsetzung in Jos 1 ab. FREVEL
hat dieses Problem gesehen und vorgeschlagen, Dtn 34,8 (das Ende der Trauer
der Israeliten um Mose) als Finale von Pg zu verstehen. Aber auch diese Lösung
ist wenig überzeugend, denn narratologisch wird hier ebenfalls die Erwartung
einer Fortsetzung geweckt. Weiterhin hat L. PERLITT versucht den Nachweis zu
führen, dass die als priesterlich bezeichneten Verse in Dtn 34 aus sprachlichen
und inhaltlichen Gründen nicht Pg zugeschrieben werden können: Sie setzen
sekundär-priesterliche Texte wie Num 27,12–23 voraus und zeichnen sich durch
einen priesterlich-deuteronomistischen Mischstil aus, der für späte Texte charak-
teristisch ist. Somit kann das Ende von P kaum in Dtn 34 festgemacht werden
und ebenso wenig in Num 27, wie neuerdings bisweilen vorgeschlagen (SKA,
GARCÍA LÓPEZ).
Da in den Büchern Num, Dtn und Jos kein befriedigender Abschluss für Pg zu
finden ist, erstaunt es kaum, dass in letzter Zeit dieser Abschluss immer häufiger
in der Sinaiperikope gesucht wird. Am Anfang dieser Tendenz steht die Arbeit
von THOMAS POLA, in der er die These vertrat, dass Pg mit der Errichtung des
Wüstenheiligtums in Ex 40 sein Werk zum Abschluss brachte. Nach POLA unter-
scheiden sich die priesterlichen Texte in Numeri deutlich von Pg (in Num wird
Israel in den priesterlichen Texten als eine „ecclesia militans“ konstruiert, und
die Aufteilung in zwölf Stämme spielt im Gegensatz zu den Büchern Gen–Lev
eine entscheidende Rolle). Weiter argumentiert POLA mit den engen Bezügen
zwischen Pg und Ez 20. Nach Ez 20,40 sei das Ziel der Geschichte zwischen Jhwh
und Israel der Gottesdienst auf dem Zion. Daraus folgert er, dass das Heiligtum
am Sinai ursprünglich nicht als transportabel konzipiert war, sondern als eine
Projektion des Zions in die Wüste. Demzufolge scheidet POLA alle Verse, die eine
72 B. Der Pentateuch

Mobilität des Heiligtums voraussetzen, als sekundär aus und rekonstruiert das
Ende von Pg in folgenden Texten: Ex 19,1; 24,15b.16f.18a; 25,1.8a.9; 29,45f.;
40,16.17a.33b:

„Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus dem Land Ägypten, an diesem
Tag kamen sie in die Wüste Sinai. Die Wolke bedeckte den Berg. Und die Herrlichkeit
Jhwhs thronte auf dem Berge Sinai und die Wolke bedeckte den Berg sechs Tage lang;
am siebten Tage rief er Mose aus der Wolke heraus. Die Herrlichkeit Jhwhs war für die
Israeliten anzusehen, wie ein verzehrendes Feuer auf dem Gipfel des Berges. Da ging
Mose mitten in die Wolke hinein und er stieg auf den Berg. Und Jhwh sprach zu
Mose: Macht mir ein Heiligtum. Nach dem Urbild der Wohnung und nach dem Ur-
bild all ihrer Geräte, das ich dir zeigen werde, so sollt Ihr machen. Ich will inmitten
der Israeliten wohnen, und sie werden erkennen, dass ich Jhwh, ihr Gott bin, der sie
aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, um mitten unter Ihnen zu wohnen, ich
Jhwh, ihr Gott. Und Mose tat genau wie ihm Jhwh geboten hatte, so tat er, am ersten
Monat des zweiten Jahres, am ersten Tag des Monats. So vollendete Mose das ganze
Werk.“

Diese Rekonstruktion bietet zwar einen verständlichen Text, man muss sich aber
fragen, ob ein solcher Minimaltext (ungefähr zwei Prozent von Ex 19–40) einen
plausiblen Abschluss von Pg darstellt; problematisch ist bei dieser Rekonstruk-
tion, dass POLA die meisten Verse, die auf Gen 1 zurückweisen, als sekundär
bezeichnet (ähnlich OTTO, der das Ende der ursprünglichen Priesterschrift be-
reits in Ex 29,42b–46 ansetzt, da die Ausführungsbeschreibungen in Ex 35–40
nicht genau mit den Baubefehlen übereinstimmten). Die schon von den Rabbi-
nern beobachtete Parallelisierung der Schöpfung der Welt und der Errichtung
des Heiligtums (die sich im Übrigen mit altorientalischen Parallelen wie Enuma
Elisch und dem ugaritischen Baal-Mythos bekräftigen lässt) stellt jedoch ein
wichtiges Argument für die Theorie dar, nach welcher die priesterliche Erzäh-
lung mit der Einrichtung des Heiligtums einen passenden Abschluss findet.
Sollte Pg jedoch nur die Errichtung des Heiligtums und nicht auch die Einset-
zung der aaronidischen Priesterschaft und des Opferkults berichtet haben? Und
sollte man somit Lev 9 als Ende der Priesterschrift erwägen (ZENGER)? Dort wird
(allerdings mit einigen Abweichungen zu Ex 29) die Weihe Aarons und seiner
Söhne berichtet. Die auf die priesterliche Einsetzung folgende Freude und Pro-
skynese des Volkes in 9,24 stellten dann einen passenden Abschluss dar. Ein
Ende in Lev 9 ermöglicht auch die Annahme, dass Pg bereits einen Grundstock
der Ritualvorschriften in Lev 1–7* enthielt (so z. B. NIHAN). Damit entfiele die
kaum hinterfragte Annahme, nach welcher Pg ausschließlich erzählendes Mate-
rial enthalten habe. Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, die ursprüngliche
Priesterschrift bis Lev 16 laufen zu lassen, da der Versöhnungstag (jom kippur),
der Gottes Vergebung und die Möglichkeit einer immer wieder möglichen
Reinigung des Heiligtums und der Gemeinde betont, als Höhe- und Endpunkt
der Priesterschrift durchaus einleuchtend erscheint (KÖCKERT, NIHAN). Man
könnte aber auch mit KRATZ und anderen annehmen, dass Pg zunächst mit Ex 40
abschloss und Lev 1–16 (auf einer anderen Rolle) „Nachträge im Rahmen der
I. Der Pentateuch als ganzer 73

noch selbständigen Priesterschrift“ darstellen, so dass Pg zwei Rollen umfasst


hätte, eine „erzählende“ (Gen–Ex*) und eine „rituelle“ (Lev 1–16*).
Sollte dieser neue Trend der Forschung im Recht sein, nach welchem der
Abschluss der Priesterschrift in der Errichtung des Heiligtums bzw. des Opfer-
kults zu suchen sei, hätte dies für die gegenwärtige Pentateuchdiskussion ent-
scheidende Konsequenzen. Denn wenn die ursprüngliche Priesterschrift in Ex
40, Lev 9 oder 16 endet, so kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass der
Pentateuch eine Ausfüllung des durch Pg vorgegebenen Rahmens darstellt.

– Die Rückkehr der Hexateuchhypothese und die Annahme von Hexateuch-


bzw. Pentateuchredaktionen

G. VON RAD, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch (1938), in: Ders., Gesammelte Studien
zum Alten Testament, 1971 (TB 8), 9–86. – J. VAN SETERS, In Search of History. History in the An-
cient World and the Origin of Biblical History, New Haven – London 1983. – E. BLUM, Der kompo-
sitionelle Knoten am Übergang von Josua zu Richter. Ein Entflechtungsvorschlag, in: M. Vervenne /
J. Lust (eds.), Deuteronomy and Deuteronomic Literature. FS Brekelmans, 1997 (BETL 133), 181–
212. – K. SCHMID, Erzväter und Exodus. Untersuchungen zur doppelten Begründung der Ursprünge
Israels innerhalb der Geschichtsbücher des Alten Testaments, 1999 (WMANT 81). – T. RÖMER /
M. Z. BRETTLER, Deuteronomy 34 and the Case for a Persian Hexateuch: JBL 119 (2000) 401–419. –
E. OTTO, Das Deuteronomium im Pentateuch und Hexateuch. Studien zur Literaturgeschichte von
Pentateuch und Hexateuch im Lichte des Deuteronomiumsrahmen, 2000 (FAT 30). – R. G. KRATZ,
Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments. Grundwissen der Bibelkritik, 2000
(UTB 2157). – E. A. KNAUF, Josua, 2008 (ZBK.AT 6). – C. FREVEL, Die Wiederkehr der Hexateuch-
perspektive. Eine Herausforderung für die These vom deuteronomistischen Geschichtswerk, in: H.-J.
Stipp (Hg.), Das deuteronomistische Geschichtswerk, 2011 (ÖBS 39), 13–53.

Falls die Priesterschrift nicht den gesamten narrativen Rahmen des Penta- bzw.
Hexateuchs abdeckt, stellt sich die Frage nach deren Herkunft aufs Neue. Diese
Frage wird von einigen Forschern (KRATZ, FREVEL) dahingehend beantwortet,
dass der Hexateuch in den „alten Quellen“ vorgegeben war, welches zumindest
die vom Exodus bis zur Landnahme bzw. die von den Patriarchen bis zur Erfül-
lung der an sie ergangenen Landverheißungen reichende Zeitspanne abgedeckt
haben.

Nach NOTHs Theorie des DtrG (siehe dazu Kapitel C.I.1.) war es um den Hexateuch
still geworden, da nach NOTH das Deuteronomium als Anfang der bis nach 2 Könige
reichenden dtr Geschichtsdarstellung konzipiert worden war. Damit blieb vom Pen-
tateuch im Grunde nur noch ein Tetrateuch übrig und Forschung am Deuterono-
mium wurde in der Tat im Rahmen der Theorien um das DtrG betrieben. Nun sind in
letzter Zeit (zumindest in der deutschsprachigen Forschung) die Stimmen, die in der
These eines DtrG einen weiteren „Irrweg der Forschung“ sehen, immer lauter gewor-
den (auch dazu siehe S. 175–178). Mit der Bestreitung eines DtrG geht die Reanimie-
rung der Hexateuchhypothese einher.

Einige Forscher sind in der Tat zu der Annahme eines alten Hexateuchs zurück-
gekehrt, so z. B. KRATZ, der einen vordeuteronomischen „Hexateuch“ annimmt,
der in Ex 2,1 beginnt und bis Jos 12,1a.9–24 reicht (ähnlich auch K. SCHMID und
74 B. Der Pentateuch

E. A. KNAUF). Allerdings erweist sich der von ihm eruierte Zusammenhang als
kurz und lakonisch, seine Intention und Trägergruppen bleiben weitgehend im
Dunkeln (SCHMID und KNAUF nehmen eine aus dem ehemaligen Nordreich
stammende vorpriesterliche Exodus-Josua-Erzählung an).

So postuliert z. B. KRATZ aufgrund der Erwähnung des Ortes Schittim in Num 25,1a
eine direkte Fortsetzung in Jos 2,1ff.*, da Josua dort von Schittim aus Kundschafter
nach Jericho entsendet. Allerdings fehlt in diesem Übergang der Bericht über den Tod
Moses, und so sieht sich KRATZ gezwungen, zwischen beide Texte Dtn 34,5–6 einzu-
fügen. Damit stellt sich in dem von ihm postulierten Hexateuch der Übergang von
Mose zu Josua wie folgt dar: Num 20,1*; 22,1; 25,1a; Dtn 34,1a*.5–6*; Jos 2,1–7*15–
16*.22–23; 3,1.14a.16. Nun ist aber Jos 2 sicher ein junger Einschub zwischen den dtr
Texten Jos 1 und 3 (VAN SETERS, BLUM) und kann schwerlich für einen vor-dtr Hexa-
teuch in Anspruch genommen werden.

In der Diskussion um die Existenz eines Hexateuchs kommt dem letzten Kapitel
des Josuabuches, Jos 24, eine entscheidende Bedeutung zu. Es steht außer Zwei-
fel, dass der Geschichtsrückblick in Jos 24,2–15 einen „Hexateuch en miniature“
(so VON RAD) enthält. Dazu kommt, dass die nachfolgenden Handlungen Josuas
diesen bewusst in Parallele zu Mose setzen. Wie Mose schreibt Josua „diese
Worte“ in ein Buch, welches als sepher tôrat-ha’ĕlohîm (Rolle der Tora Gottes)
bezeichnet wird, und wie Moses wird Josua zu einem Bundesmittler zwischen
Israel und seinem Gott. Mehrere neuere Arbeiten haben Argumente für eine
späte nachdtr Ansetzung von Jos 24 angeführt (z. B. RÖMER / BRETTLER), wonach
ein mit Jos 24 endender Hexateuch eine späte perserzeitliche Konstruktion dar-
stellen dürfte. Damit stellt sich die Frage, ob ein solcher Hexateuch als eine eher
literarische Konstruktion (BLUM, OTTO), ein literarischer Einschnitt im Rahmen
eines größeren Enneateuch (Gen–Jos: Heilszeit; Ri–Kön: Unheilszeit; so K.
SCHMID), oder als ein konkreter Gegenentwurf einer samaritanisch-judäischen
Minderheitskoalition konzipiert war (RÖMER / BRETTLER), deren Anliegen es war,
die Einbeziehung des ehemaligen Nordreiches in Bezug auf das eroberte Land
und den Jhwh-Kult zu betonen. Der Hexateuch hat sich gegen die Befürworter
einer Mose-Tora nicht durchsetzen können. Gegenüber der Darstellung Josuas
als ein zweiter Mose in Jos 24 stellt Dtn 34,10–12 fest: „Es stand hinfort kein
Prophet in Israel auf, wie Mose, den Jhwh von Angesicht zu Angesicht gekannt
hatte …“. Wie Jos 24 bewirken auch diese Verse einen Einschnitt; sie gehen
demnach auf das Konto einer Pentateuchredaktion und trennen das Dtn von den
Büchern ab, denen es im Rahmen des DtrG als Einleitung gedient hatte, und
machen es so zum Abschluss des Pentateuchs.

– Die nicht bzw. vorpriesterlichen Texte im Pentateuch und die Frage der Ver-
bindung von Patriarchen- und Exodustraditionen

W. STAERK, Studien zur Religions- und Sprachgeschichte des alten Testaments, I. und II. Heft, Berlin
1899. – K. GALLING, Die Erwählungstraditionen Israels, 1928 (BZAW 48). – T. RÖMER, Gen 15 und
Gen 17. Beobachtungen und Anfragen zu einem Dogma der „neueren“ und „neuesten“ Pentateuch-
I. Der Pentateuch als ganzer 75

kritik: DBAT 26 (1990a) 32–47. – T. RÖMER, Israels Väter, 1990b (OBO 99). – A. DE PURY, Hosea 12
und die Auseinandersetzung um die Identität Israels und seines Gottes, in: W. Dietrich / M. Klopfen-
stein (Hg.), Ein Gott allein? JHWH-Verehrung und biblischer Monotheismus im Kontext der israeli-
tischen und altorientalischen Religionsgeschichte, 1994 (OBO 139), 413–439. – K. SCHMID, Erzväter
und Exodus, 1999 (WMANT 81). – R. G. KRATZ, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten
Testaments. Grundwissen der Bibelkritik, 2000 (UTB 2157). – C. LEVIN, Jahwe und Abraham im
Dialog: Genesis 15, in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog. FS O. Kaiser 2004 (BZAW 345),
237–257. – H.-C. SCHMITT, Arbeitsbuch zum Alten Testament, 2005 (UTB 2146). – J. C. GERTZ, Tora
und Vordere Propheten, in: J. C. Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament, 2006 (UTB 2745),
187–302. – L. SCHMIDT, Genesis xv: VT 56 (2006) 251–267. – J. VAN SETERS, The Patriarchs and the
Exodus: Bridging the Gap Between Two Origin Traditions, in: R. Roukema (ed.), The Interpretation
of Exodus. FS C. Houtman, 2006 (CBET 44), 1–15. – C. LEVIN, The Yahwist: The Earliest Editor in
the Pentateuch: JBL 126 (2007) 209–230. – H. SEEBASS, Das Buch Numeri in der heutigen Penta-
teuchdiskussion, in: T. Römer (ed.), The Books of Leviticus and Numbers, 2008 (BEThL 215), 233–
259. – T. B. DOZEMAN, Exodus, Grand Rapids, Mi 2009. – H.-C. SCHMITT, Erzvätergeschichte und
Exodusgeschichte als konkurrierende Ursprungslegenden Israels – ein Irrweg der Pentateuchfor-
schung, in: A. C. Hagedorn / H. Pfeiffer (Hg.), Die Erzväter in der biblischen Tradition. FS M. Kö-
ckert, (BZAW 400), 2009, 241–266. – R. ALBERTZ, Der Beginn der vorpriesterlichen Exoduskomposi-
tion (KEX): ThZ 67 (2011) 223–262. – D. M. CARR, The Formation of the Hebrew Bible: A New
Reconstruction, New York 2011. – L. SCHMIDT, Die vorpriesterliche Verbindung von Erzväter und
Exodus durch die Josefsgeschichte (Gen 37; 39–50*) und Exodus 1: ZAW 124 (2012) 19–37.

In der gegenwärtigen Diskussion um die Qualifizierung der nicht-priesterlichen


Texte des Pentateuchs herrscht eine etwas beunruhigende Vielfalt von Bezeich-
nungen und Sigeln, die nicht immer dieselbe Theorie bezeichnen. Studierenden
sei deshalb empfohlen, sich zunächst darüber klar zu werden, in welcher Weise
ein Autor bestimmte Sigel verwendet.

In der Nachfolge BLUMs summieren einige Forscher das Gros der ehemaligen „jah-
wistischen“ (und oft auch „elohistischen“) Texte unter die Abkürzung „D“, um damit
deren Nähe zu dtr Stil und Theologie zum Ausdruck zu bringen (ALBERTZ). Am neu-
tralsten ist natürlich die Bezeichnung „nP“ (nicht-priesterlich, vgl. GERTZ, DOZEMAN,
CARR), wobei aber unklar bleibt, ob es sich dabei um vor- oder nach-priesterliche
Texte handelt, und ob diese alle demselben Verfasserkreis zuzuschreiben sind. Aber
auch die traditionellen Siglen „J“ und „E“ werden weiter verwendet, sei es im
WELLHAUSENschen Sinn, um aus der Königszeit stammende Urkunden zu bezeichnen
(SEEBASS, SCHMIDT und die meisten nord-amerikanischen Forscher), sei es um Doku-
mente aus der Zeit des Babylonischen Exils zu qualifizieren (LEVIN, SCHMITT). Eine
recht eigenwillige Verwendung der Sigel „J“ und „E“ findet sich bei KRATZ, der J auf
die Ur- und Patriarchengeschichte in Gen 2–35 beschränkt und mit „E“ eine von Ex
2–Jos 12 reichende „Exoduserzählung“ bezeichnet. Der um die Josefsgeschichte er-
weiterte J und die durch das Bundesbuch und das Deuteronomium angereicherte E-
Urkunde wurden nach KRATZ erst im Exil miteinander verbunden. J und E bezeich-
nen demnach keine Parallelstränge mehr, sondern zwei verschiedene Ursprungsge-
schichten, deren literarische Verbindung in der gegenwärtigen Forschung oft relativ
spät angesetzt wird.

Die zwischen der Genesis und der Exoduserzählung bestehenden sprachlichen


und theologischen Unterschiede waren schon gegen Ende des 19. und zu Anfang
des 20. Jh.s beobachtet worden. So postulierten bereits STAERK und GALLING
76 B. Der Pentateuch

zwei verschiedene Erwählungstraditionen. In Gen 12ff. läge eine populäre Theo-


logie vor, in der Exodus-Tradition sei eine reflektierte und heilsgeschichtliche
Konzeption zu finden. Die traditionsgeschichtliche und literarische Autonomie
der Patriarchenerzählung wird in der gegenwärtigen Pentateuchforschung ver-
mehrt angenommen. Dabei wird die literarische Verbindung oft der Priester-
schrift zugeschrieben (RÖMER 1990b, DE PURY, SCHMID, GERTZ). Diese These
stützt sich auf die Beobachtung, dass in den vor-priesterlichen Texten in Ex–Dtn
(Jos) kein expliziter Bezug auf die Patriarchen begegnet.

So wird in der nicht-priesterlichen Erzählung der Berufung des Mose in Ex 3* das


Land in Ex 3,8 als völlig unbekannt eingeführt, ohne Referenz auf Gottes Verheißun-
gen an Abraham, Isaak und Jakob. Das grammatisch und stilistisch umständliche In-
sistieren auf der Identität Jhwhs als „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ in 3,6 und
15–16 ist einer späten Redaktion zuzuschreiben und weist ebenfalls darauf hin, dass
die Exoduserzählung ursprünglich ohne die Patriarchentradition überliefert wurde.
Dies zeigt sich auch in verschiedenen Geschichtssummarien des AT, wie z. B. in Ez 20
oder auch in den Psalmen 78, 106, 136, in welchen die Exodusereignisse ohne den
Patriarchenvorspann evoziert werden.

Der Befund in den Patriarchenerzählungen kann die These von einer erst pries-
terlichen Verbindung von Genesis und Exodus stützen. So hat erst P aus Abra-
ham einen aus Mesopotamien stammenden Erzvater gemacht und mit Gen 17
einen klaren Vorverweis auf Ex 6 geschaffen. In der vorpriesterlichen Erzeltern-
geschichte finden sich keine klaren Vorverweise auf die Auszugserzählung. Der
einzige nicht-priesterliche Text in Gen 12ff., der bewusst Abraham und die Exo-
dustradition miteinander in Beziehung setzen will, ist Gen 15. Dieser in der tra-
ditionellen Urkundenhypothese (mit Zögern) auf J und E verteilte Text wird in
der europäischen Pentateuchforschung nun häufig als nachpriesterlich und Gen
17 voraussetzend beurteilt (RÖMER, LEVIN, SCHMIDT).
Allerdings ist die Theorie, dass erst P Patriarchen- und Exodustraditionen
verbunden habe, nicht unwidersprochen geblieben, und Autoren wie VAN
SETERS, CARR, LEVIN, H.-C. SCHMITT und L. SCHMIDT haben sich für einen vor-
priesterlichen Zusammenhang zwischen den Erzvätern und dem Exodus ausge-
sprochen.

Meistens wird diese Verbindung in Texten aus der Josefsgeschichte und einigen Ver-
sen aus Ex 1 (oft Ex 1,6aα1.8–10*) gesehen (vgl. Gen 46,1–5, der stilistische und in-
haltliche Parallelen zu Ex 3 aufweist). Nun ist aber auch das Alter von Gen 37–50*
umstritten. Das Gleiche gilt für die Verheißung in Gen 46, die nicht zur ursprüngli-
chen Josefserzählung gehört.

Selbst wenn die Verbindung von Erzeltern- und Exodus-Traditionen einem


„exilischen“ Jahwisten oder anderen vorpriesterlichen Redaktoren zugeschrieben
wird, bleibt diese Verbindung weiterhin ein spätes (frühestens exilisches) Phä-
nomen. So kann man in Bezug auf die Entstehung der narrativen Teile des Pen-
tateuchs drei Erzählzyklen unterscheiden, die wohl erst ab dem 6. Jh. miteinan-
I. Der Pentateuch als ganzer 77

der verknüpft wurden: Die nicht-priesterliche Urgeschichte (Gen 2–11*), die


nicht-priesterliche Erzelternüberlieferung (Gen 12–36*) und die nicht-priesterli-
che Mose-Erzählung (Ex 1ff.*). Damit kommt die alte Fragmenten-Hypothese
wieder zu einem gewissen Recht. Wenn es nun aber keine vorexilische Verbin-
dung zwischen Genesis und Exodus gibt, stellt sich die Frage nach dem Ursprung
eines mit der Schöpfung beginnenden und über die Patriarchen, den Exodus und
die Wüstenzeit bis zum Tode des Mose bzw. zur Landeroberung reichenden
Erzählfadens. Dieser dürfte nach heutigen Erkenntnissen eine Kreation sein, die
in der zweiten Hälfte des 6. Jh.s v. Chr. von (priesterlichen?) Redaktoren ge-
schaffen wurde, um die verschiedenen Ursprungstraditionen Israels zusammen-
zudenken.

– Die Entstehung der Gesetzessammlungen

G. HÖLSCHER, Komposition und Ursprung des Deuteronomiums: ZAW 40 (1922) 161–255. – E.


OTTO, Rechtsgeschichte der Redaktionen im Kodex Ešnunna und im „Bundesbuch“: eine redaktions-
geschichtliche und rechtsvergleichende Studie zu altbabylonischen und altisraelitischen Rechtsüber-
lieferungen, 1989 (OBO 85). – L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Das Bundesbuch (Ex 20,22–23,33).
Studien zu seiner Entstehung und Theologie, 1990 (BZAW 188). – Y. OSUMI, Die Kompositionsge-
schichte des Bundesbuches Exodus 20,22b–23,33, 1991 (OBO 105). – B. RENAUD, La théophanie du
Sinaï. Ex 19–24. Exégèse et théologie, Paris 1991 (CRB 30). – F. CRÜSEMANN, Die Tora. Theologie
und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München 1992. – I. KNOHL, The Sanctuary of
Silence. The Priestly Torah and the Holiness School, Minneapolis 1995. – H. U. STEYMANS, Deutero-
nomium 28 und die adê zur Thronfolgeregelung Asarhaddons. Segen und Fluch im Alten Orient und
in Israel, 1995 (OBO 145). – C. HOUTMAN, Das Bundesbuch. Ein Kommentar, Leiden / New York /
Köln 1997. – B. M. LEVINSON, Deuteronomy and the Hermeneutics of Legal Innovation, New York /
Oxford 1997. – W. OSWALD, Israel am Gottesberg. Eine Untersuchung zur Literaturgeschichte der
vorderen Sinaiperikope Ex 19–24 und deren historischem Hintergrund, 1998 (OBO 159). – K.
GRÜNWALDT, Das Heiligkeitsgesetz Leviticus 17–26. Ursprüngliche Gestalt, Tradition und Theologie,
1999 (BZAW 271). – E. OTTO, Das Deuteronomium. Politische Theologie und Rechtsreform in Juda
und Assyrien, 1999a (BZAW 284). – E. OTTO, Innerbiblische Exegese im Heiligkeitsgesetz Levitikus
17–26, in: H.-J. Fabry / H.-W. Jüngling (Hg.), Levitikus als Buch 1999b (BBB 119), 125–196. – J. VAN
SETERS, A Law Book for the Diaspora. Revision in the Study of the Covenant Code, Oxford et al.
2003. – T. RÖMER, The So-Called Deuteronomistic History: A Sociological, Historical and Literary
Introduction, London / New York 2005. – C. NIHAN, From Priestly Torah to Pentateuch: A Study in
the Composition of the Book of Leviticus, 2007 (FAT II/25). – J. STACKERT, Rewriting the Torah.
Literary Revision in Deuteronomy and the Holiness Legislation, 2007 (FAT 52). – M. KONKEL, Sünde
und Vergebung: eine Rekonstruktion der Redaktionsgeschichte der hinteren Sinaiperikope (Exodus
32–34) vor dem Hintergrund aktueller Pentateuchmodelle, 2008 (FAT 58). – T. B. DOZEMAN, Exo-
dus, 2009 (The Eerdmans Critical Commentary). – J. PAKKALA, The Date of the Oldest Edition of
Deuteronomy: ZAW 121 (2009) 388–401. – A. MARX, Lévitique 17–27, 2011 (CAT 3b).

In Bezug auf die relative Chronologie der Gesetzessammlungen besteht ein ge-
wisser Konsens. Das sogenannte Bundesbuch (vgl. zum Namen Ex 24,7), das Ex
20,22–23,33 umfasst, wird in seinem Kern als die älteste Gesetzessammlung des
Pentateuchs verstanden. Eine gegenteilige Meinung vertritt VAN SETERS (gefolgt
von DOZEMAN), der das Bundesbuch als eine literarische Schöpfung seines exili-
schen Jahwisten ansieht, welcher das deuteronomische Gesetz in Dtn 12–26
voraussetze und umgeschrieben habe.
78 B. Der Pentateuch

Das Bundesbuch ist nicht in einem Zug entstanden. Der Epilog in 20,20–33 ist das
Werk einer späteren Redaktion, die das Bundesbuch in den narrativen Kontext der
Exodus- und Landnahmeerzählung eingliedern wollte. Innerhalb der eigentlichen ge-
setzlichen Regelungen kann man zwischen einer kasuistischen Sammlung (21,18–
22,16), deren Fälle mit „wenn“ (kî) eingeleitet werden, worauf die möglichen Sanktio-
nen folgen, und einer apodiktischen Sammlung (22,21–23,8), die absolute Verbote
ohne Strafandrohungen enthält, unterscheiden. Möglicherweise handelt es sich dabei
um zwei ursprünglich selbständige Sammlungen (OTTO 1989, u. a.), die erst relativ
spät zusammengestellt wurden. Die jetzige Einleitung des Bundesbuchs (20,2–26), die
wohl ebenfalls ein redaktioneller Zusatz ist, eröffnet wie Dtn 12 und Lev 17 die Geset-
zessammlung mit einer Vorschrift über den Opferkult. Da im Gegensatz zu Dtn 12
keine Kultzentralisation gefordert ist, und im Gegenteil von einer Vielfalt von Kult-
stätten ausgegangen wird, kann man von einer vordeuteronomischen Herkunft des
Bundesbuches ausgehen. Alternativ kann man die Kultvielfalt von Ex 20,22–26 aber
auch als Kritik der deuteronomischen Kultzentralisation verstehen, und damit das
Bundesbuch bzw. seinen Anfang als zeitgleich oder später zum deuteronomischen Ge-
setz auffassen (OSWALD).

Für den Kern des Bundesbuches bleibt jedoch eine Ansetzung in das 8. Jh. v. Chr.
die plausibelste Annahme. Dafür könnte auch die Betonung des Schutzes der
Armen und Unfreien sprechen, die sich teilweise in den prophetischen Orakeln
der Königszeit findet (CRÜSEMANN) und die sich auch in gewisser Weise von der
altorientalischen Tradition absetzt (OTTO 1989). Der soziologische Kontext des
Bundesbuches ist derjenige eines Klans, die Gesetze richten sich an Bauern mit
Grundbesitz und Sklaven. Im Gegensatz zum deuteronomischen Gesetz finden
sich weder Zentralisationsbemühungen noch eine durchgängige Überarbeitung
als Gottesrede. Die Einfügung des Bundesbuches in seinen jetzigen Erzählzu-
sammenhang wird unterschiedlich angesetzt. Nach KONKEL gehörte es bereits zu
einer vordtr Sinaierzählung, nach OSWALD wurde das Bundesbuch unter Auf-
nahme älterer Traditionen während der Exilszeit als Bestandteil einer exilischen
Gottesbergsperikope konzipiert, wohingegen die Mehrzahl der Autoren (CRÜSE-
MANN, OTTO, RENAUD) die Einfügung des Bundesbuchs, aus antiquarischem
Interesse oder als Kontrapunkt zum Deuteronomium, erst im Rahmen der Ver-
öffentlichung des Pentateuchs in der Perserzeit ansetzen.
Trotz einiger gegenteiliger Meinungen, die das Ur-Deuteronomium mit sei-
nen Gesetzestexten als ein exilisches Produkt verstehen (PAKKALA, der eine alte
These von HÖLSCHER revitalisiert; siehe dazu auch das Kapitel zum Deuterono-
mium), ist eine Ansetzung des deuteronomischen Gesetzes in der zweiten Hälfte
des 7. Jh.s v. Chr. plausibler. Dabei dürfte das Ur-Dtn, das kaum mehr als eine
Gesetzessammlung mit einer Einleitung (Dtn 6,4–7*) und abschließenden Flü-
chen und Zeugenanrufung (28,20–44*; 30,19a) beinhaltet hat (RÖMER), als eine
Aufnahme neuassyrischer Treueidsschwüre zu verstehen sein (OTTO 1999a,
STEYMANS). Die in der Erstausgabe des deuteronomischen Gesetzes erhaltenen
Vorschriften erklären sich als Ausführung der mit der joschijanischen Reform in
Verbindung zu bringenden Zentralisationsidee (Dtn 12,13–18; 13,2–10*; 14,21–
29; 15*; 16,1–17,13*; 18,1–8*; 19.2–12*) oder als Neuinterpretation von Gesetzen
I. Der Pentateuch als ganzer 79

aus dem Bundesbuch (Dtn 21–22*; 23,18–26; 24,1–25,16*). LEVINSON hat ein-
drücklich gezeigt, wie die Autoren des dtn Gesetzes das Bundesbuch zitierend
aufnehmen, um es dann aber zu modifizieren.

So nimmt Dtn 16,19: „Du sollst das Recht nicht beugen, die Person nicht ansehen und
keine Bestechung annehmen, denn Bestechung macht die Augen der Weisen blind
und verdreht die Sache dessen, der im Recht ist“ Ex 23,2–3 auf: „Du sollst nicht den
Vielen folgen und Böses tun, und bei einer Aussage in einem Rechtsstreit sollst du
dich nicht nach den Vielen richten und das Recht beugen. Auch einen Geringen sollst
du in seinem Rechtsstreit nicht begünstigen.“ Dabei streicht der dtn Verfasser die
Warnung, nicht den Vielen zu folgen und das Recht des Armen nicht zu respektieren.
Das erklärt sich daraus, dass Dtn 16 eine professionelle Richterschaft voraussetzt, und
nicht wie Ex 23 die Existenz von Laienrichtern, die leicht versucht waren, Männer, die
aus derselben sozialen Schicht (Kleinbauern) als sie selbst stammten, zu bevorzugen.
Dtn 16,9 modifiziert demnach Ex 23,2–3 und spricht sich für eine generelle Rechts-
gleichheit aus.

Das deuteronomische Gesetz, das vielleicht zunächst konzipiert wurde, um das


Bundesbuch zu ersetzen, wurde nach dem Untergang Judas so überarbeitet, dass
es nun Bestandteil einer großen Moserede wurde, die mit dem Tod des Mose
endete und das sogenannte Deuteronomistische Geschichtswerk einleitete. Erst
nach der Abtrennung des Dtn von den Büchern Josua bis Könige, wurde das
Deuteronomium zum Abschluss des Pentateuchs, so dass sich die Frage des Aus-
gleichs mit anderen ebenfalls in die Tora aufgenommenen Gesetzestexten stellte.
Im Gegensatz zum Bundesbuch und dem dtn Gesetz war die priesterliche
Gesetzgebung in Lev 1–16 wohl seit Beginn für ihren narrativen Kontext konzi-
piert. Die oft vertretene Idee, dass die priesterliche Grundschrift (Pg) keinerlei
gesetzliches Material enthielte, dürfte nach neueren Arbeiten (vgl. besonders
NIHAN) nicht mehr aufrechtzuerhalten sein. Die priesterlichen Vorschriften über
Opfer (Lev 1–7), über Rein und Unrein (Lev 11–15) sowie über den Versöh-
nungstag (Jom Kippur, Lev 16) sind in der Tat geschickt in den Erzählablauf
eingebettet (nach den Opfervorschriften folgen in Lev 9 und 10 Erzählungen
über die Salbung der ersten Priester und die Erscheinung der Gotteswolke sowie
über die Gefährlichkeit unerlaubter Opfer). Dabei haben die Autoren der Pries-
terschrift sicher auf ältere Aufzeichnungen aus der Zeit des ersten Tempels zu-
rückgegriffen und diese für ihren jetzigen Zusammenhang revidiert.
Das Heiligkeitsgesetz (HG) in Lev 17–26, das seinen Namen der häufig begeg-
nenden Ermahnung „Seid heilig, so wie ich heilig bin“ verdankt, wird in der
neueren Forschung in der Regel als die späteste Gesetzessammlung des Penta-
teuchs angesehen. Einige Forscher möchten zwar das HG P zuschreiben
(GRÜNWALDT, MARX), wobei offen bleibt, ob HG bereits P voraussetzt und wei-
terführt oder ob es sich um eine ursprünglich selbständige Sammlung handelt,
die dann in P aufgenommen wurde. Allerdings bestehen doch wichtige theologi-
sche und stilistische Unterschiede zwischen HG und P, die es raten, HG von P
abzuheben (OTTO 1999b, NIHAN), und in ihm das Resultat einer „Heiligkeits-
80 B. Der Pentateuch

Schule“ (KNOHL) zu sehen, welche einen Ausgleich zwischen der priesterlichen


und im weitesten Sinne dtr Gesetzgebung schaffen will.

So sind zum Beispiel in Lev 1–16 allein die Priester heilig, während in Lev 17–26 die
ganze angesprochene Gemeinde zur Heiligkeit aufgefordert wird. Die refrainartige
Paränese, Jhwhs Gebote zu tun (‘-s-h) und zu halten (š-m-r), die in 18,4–5.26; 19,19;
20,8 usw. begegnet, findet sich nicht in Pg und ist vom dtr Stil beeinflusst. Weiter ist
deutlich, dass das HG bestimmte existierende Gesetze ergänzen will. So wollen die
mot yumat-Gesetze in Lev 20,9ff., die Liste von Ex 21,12–17 weiterführen, wie bereits
an der Wiederaufnahme von Ex 21,17 deutlich wird. Lev 19,20–22, das den Fall einer
unrechtmäßigen sexuellen Beziehung mit einem Sklavenmädchen regelt, ist als Zusatz
zu der Bestimmung von Dtn 22,23ff. zu verstehen, wo ein solcher Fall nicht vorgese-
hen war. An anderen Stellen versuchen die Verfasser des HG ältere vorliegende Geset-
zessammlungen miteinander zu harmonisieren; dies ist zum Beispiel der Fall in Lev
17,15–16 (Verzehr eines verendeten Tieres), welches die älteren Gesetze von Ex 22,30;
Dtn 14,21 und Lev 11,39–49 miteinander auszugleichen versucht. Das eröffnende
Opfergesetz in Lev 17 kann ebenfalls als eine harmonisierende Neuinterpretation von
Dtn 12,13–18 verstanden werden, welche die dort vorliegende Erlaubnis einer Profan-
schlachtung außerhalb des Zentralheiligtums zurückzunehmen sucht.

Diese Beispiele machen deutlich, dass das HG wohl nie eine unabhängige Geset-
zessammlung darstellte, sondern für seine jetzige Stellung im Pentateuch konzi-
piert wurde. Diese Annahme wird durch die Beobachtung verstärkt, dass die
Diskurse des HG durchgehend Beziehungen auf die narrative Situation der
Sinaiperikope enthalten, die literarkritisch nicht von den Gesetzestexten getrennt
werden können. Wenn das Heiligkeitsgesetz ältere Gesetzestexte miteinander
korrelieren und harmonisieren will, ist es unwahrscheinlich, dass es geschaffen
wurde, um die deuteronomische Gesetzgebung zu ersetzen (so STACKERT). Die
Verfasser des HG sind eher als Vorläufer der rabbinischen Gesetzesauslegung zu
verstehen, die in gewisser Weise im Pentateuch selbst beginnt.
Die komplexe Entstehungsgeschichte der Gesetzessammlungen des Penta-
teuchs ermöglicht trotz oder gerade wegen ihrer Komplexität wertvolle Einsich-
ten in die hermeneutischen Entscheidungen der „Pentateuch-Redaktoren“.

– Die Veröffentlichung des Pentateuchs in der Perserzeit und die These der
sogenannten „Reichautorisation“

J. BLENKINSOPP, The Mission of Udjahorresnet and Those of Ezra and Nehemia: JBL 106 (1987) 409–
421. – U. RÜTERSWÖRDEN, Die persische Reichsautorisation der Thora: fact or fiction: ZAR 1 1995
(1995) 47–61. – H.-C. SCHMITT, Die Suche nach der Identität des Jahweglaubens im nachexilischen
Israel, in: J. Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität, Gütersloh 1995, 259–278. – J. WIESEHÖFER,
‚Reichsgesetz‘ oder ‚Einzelfallgerechtigkeit‘. Bemerkungen zu P. Freis These von der achaemenidi-
schen ‚Reichsautorisation‘: ZAR 1 (1995) 36–46. – P. FREI, Zentralgewalt und Lokalautonomie im
Achämenidenreich, in: P. Frei / K. Koch, Reichsidee und Reichorganisation im Perserreich, 21996
(OBO 55), 5–131. – E. A. KNAUF, Audiatur et altera pars. Zur Logik der Pentateuchredaktion: BiKi 53
(1998) 118–126. – J. W. WATTS (ed.), Persia and Torah. The Theory of the Imperial Authorization of
the Pentateuch, 2001 (SBL.SS 17) – G. N. KNOPPERS, An Achaemenid Imperial Authorization of
Torah in Yehud?, in: J.W. Watts (ed.), Persia and Torah, 115–134. – J.-L. SKA, „Persian Imperial
I. Der Pentateuch als ganzer 81

Authorization“: Some Question Marks, in: J. W. Watts (ed.), Persia and Torah, 161–182. – S. GRÄTZ,
Das Edikt des Artaxerxes. Eine Untersuchung zum religionspolitischen und historischen Umfeld von
Esra 7,12–26, 2004 (BZAW 337). – E. OTTO, Die Rechtshermeneutik des Pentateuch und die
achämenidische Rechtsideologie in ihren altorientalischen Kontexten, in: M. Witte / M. T. Fögen
(Hg.), Kodifizierung und Legitimierung des Rechts in der Antike und im Alten Orient, 2005 (BZAR
5), 71–116. – G. N. KNOPPERS / B. M. LEVINSON (eds.), The Pentateuch as Torah. New Models for
Understanding Its Promulgation and Acceptance, Winona Lake (IN) 2007. – C. NIHAN, The Torah
between Samaria and Judah: Shechem and Gerizim in Deuteronomy and Joshua, in: G. N. Knoppers /
B. M. Levinson (eds.), The Pentateuch as Torah, 187–223. – K.-J. LEE, The Authority and Authoriza-
tion of the Torah in the Persian Period, 2011 (CBET 64).

Es ist weitgehend anerkannt, dass der Pentateuch zwischen 400 bis 350 seine
mehr oder weniger endgültige Gestalt erhalten hat. Diese „Veröffentlichung“ des
Pentateuchs kann kaum als ein mechanisches Kombinieren verschiedener Do-
kumente verstanden werden, vielmehr müssen für eine solche Promulgation
konkrete historische, soziologische und theologische Gründe ausfindig gemacht
werden. In der Bibel berichtet Esra 7 eine öffentliche Verlesung des Gesetzes
durch Esra wohl unter Artaxerxes II. (also um 398 v. Chr.) und dessen Akzeptanz
durch das in Jerusalem versammelte Volk, wobei jedoch heftig diskutiert wird,
ob dieses Gesetz den gesamten Pentateuch oder Teile desselben (Deuterono-
mium, Leviticus 1–16, usw.) meint. Ausgehend von diesem Text hat P. FREI 1996
die Theorie einer persischen Reichsautorisation aufgestellt. Da Esra 7,25–26 das
Gesetz (aram. dat) mit dem Gesetz des persischen Königs identifiziere, sei davon
auszugehen, dass das religiöse Gesetz der Judäer durch persische Autorisation zu
einem öffentlichen Recht der Provinz Jehud wurde. Nach FREI waren die Achä-
meniden daran interessiert, lokale Rechte und Bräuche als für eine bestimmte
Provinz geltendes öffentliches persisches Recht zu legitimieren. Eine solche
Praktik würde gut erklären, warum der Pentateuch ein Kompromissdokument
ist, in welchem sich unterschiedliche Gesetzessammlungen und theologische
Konzeptionen finden. Man konnte den Persern ja nur ein Gesetz vorlegen und
musste sich deshalb auf ein „Buch“ einigen. Deswegen kann man sich die Ver-
öffentlichung des Pentateuchs am besten mit der Annahme eines Herausgeber-
gremiums erklären, in welchem die Verfasser der Priesterschrift, der dtr Texte
und andere saßen (ALBERTZ, KNAUF). Allerdings gibt es für FREIs Theorie wenig
klare Belege. Das in der Esra-Erzählung erwähnte Edikt des persischen Königs
wird bisweilen als eine Erfindung aus der hellenistischen Zeit angesehen
(GRÄTZ), von der Bestreitung der Historizität Esras ganz abgesehen.

Gerne ins Feld geführt wird die dreisprachige Inschrift von Xanthos (die sogenannte
Trilingue von Letoon). In dieser Inschrift geht es um den Erlass eines Satrapen, der
mit der Errichtung eines Kultes für zwei karische Gottheiten zusammenhängt. Um-
stritten ist dabei, ob dieses Kultedikt auf die Initiative der Xanthier zurückging, oder
ob es sich um eine persische Initiative handelte, bzw. um eine Regelung in gegenseiti-
gem Einvernehmen. Als Parallele zur Promulgation des Pentateuchs kommt dieses
Dokument kaum in Frage. Es handelt sich um eine sehr begrenztes lokales Edikt, das
nicht mit einem so komplexen Textgebilde wie der Tora vergleichbar ist.
82 B. Der Pentateuch

Dazu kommt, dass der Pentateuch nicht auf aramäisch (eine offizielle Sprache
des Perserreiches), sondern auf hebräisch verfasst ist, eine Sprache, mit der die
Perser kaum etwas anfangen konnten. Wenn die Theorie der Reichsautorisation
nicht direkt die Veröffentlichung des Pentateuchs erklären kann, so bleibt jedoch
die Möglichkeit, dass die judäischen Eliten darüber informiert waren, dass die
persische Regierung bisweilen lokalen Kulten einen offiziellen Status verlieh (wie
dies wohl auch bei Udjahorresnet in Ägypten der Fall war, siehe BLENKINSOPP)
und einen solchen auch für ihre eigenen Traditionen anstrebten (KNOPPERS
2001). Dies geht wohl auch aus dem (fiktiven) biblischen Bericht von Esra 7
hervor, sowie aus der allgemeinen Perserfreundlichkeit, die sich in der HB be-
obachten lässt. Demnach wird die Veröffentlichung des Pentateuchs wohl als ein
innerjudäischer Kompromiss verschiedener Gruppen und theologischer Optio-
nen zu verstehen sein. Dabei interessiert sich die neuere Forschung auch für die
Rolle der Samaritaner, die sicher eine größere Rolle bei der Veröffentlichung der
Tora gespielt haben müssen, als dies im Buch Esra dargestellt wird. Das jahwisti-
sche Heiligtum auf dem Garizim existierte wohl schon seit dem 5. Jh. v. Chr.
Demnach ist ein Text wie Dtn 27,4–8 als eine Konzession an die samaritanischen
Jahwisten zu verstehen. Der Pentateuch ist sicher nicht nur in Jerusalem entstan-
den, die verschiedenen Gruppen in der ägyptischen und babylonischen Diaspora
sowie die Jhwh-Verehrer in Samaria haben ebenfalls ihren Beitrag und ihre
theologischen Orientierungen eingebracht.

j) Zusammenfassung

D. M. CARR, Controversy and Convergence in Recent Studies of the Formation of the Pentateuch:
Religious Studies Review 23 (1997) 22–31. – T. RÖMER, Hauptprobleme der gegenwärtigen Penta-
teuchforschung: ThZ 60 (2004) 289–307. – J.-L. SKA, Introduction to Reading the Pentateuch,
Winona Lake, In 2006. – O. ARTUS, Le Pentateuque, histoire et théologie, 2011 (CE 156). E. ZENGER /
C. FREVEL, Theorien über die Entstehung des Pentateuch im Wandel der Forschung, in: C. Frevel
(Hg.), E. Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 82012, 85–147.

Die heutige Situation der Pentateuchforschung wird von vielen Studierenden als
verwirrend empfunden werden. Man sollte auf die Vielfalt der Hypothesen und
Modelle aber nicht mit Resignation oder Verzicht auf den historisch-kritischen
Ansatz reagieren. Vielmehr sollte man hier eine Chance sehen, selbständig die
biblischen Texte zu befragen, ohne sich gleich der einen oder anderen Lehrmei-
nung anschließen zu müssen. Zudem lassen sich trotz der großen Bandbreite der
Meinungen doch einige Punkte eruieren, die weitgehend konsensfähig sind
(einen allgemeinen Konsens hat es in der wissenschaftlichen Pentateuchfor-
schung nie gegeben). Relativ unumstritten ist die Präsenz priesterlicher Texte im
Pentateuch sowie die Unterscheidung von priesterlichen und nicht-priesterli-
chen Texten. Offen ist die Frage, wie weit „P“ ursprünglich gereicht hat und ob
es sich um ein selbständiges Dokument oder eine Redaktion handelt.
Viele Forscher gehen davon aus, dass die Verschriftung der ältesten Penta-
I. Der Pentateuch als ganzer 83

teuch-Traditionen im 8. Jh. v. Chr. anzusetzen ist. Bezüglich der Abfolge der


Gesetzessammlungen (Bundesbuch, dtn Gesetz, Lev 1–16*, Heiligkeitsgesetz)
besteht ebenfalls große Übereinstimmung. Dass Patriarchen- und Exodustradi-
tionen ursprünglich selbständige Ursprungstraditionen waren, ist auch im
Rahmen der Urkundenhypothese oft anerkannt worden. Allerdings wurde die
Verbindung beider bereits dem Jahwisten oder einem noch früheren Überliefe-
rungsstadium zugeschrieben. Schließlich besteht große Einigkeit darüber, dass
der Pentateuch in der Mitte der Perserzeit (400–350) veröffentlicht wurde. Diese
Eckdaten sollten es ermöglichen, die exegetische Arbeit am Pentateuch fortzuset-
zen – auch mit unterschiedlichen Modellen. Die zukünftige Forschung sollte die
Frage stellen, ob für alle Bücher des Pentateuchs dasselbe Entstehungsmodell
anwendbar ist. Bekanntlich war die Urkundenhypothese immer ausgehend vom
Buch Genesis entwickelt worden. Wie FREVEL, ein Anhänger der Urkundehypo-
these, zu Recht feststellt, ist diese „für Levitikus und Numeri […] weitestgehend
unbrauchbar“ (78). Vielleicht sollte man das eigenständige Profil der fünf Teile
der Tora ernster nehmen, und die Einteilung des Pentateuchs in fünf Bücher
nicht nur als ein spätes aus praktischen Gründen geschehenes Zerstückeln einer
ursprünglichen großen Rolle ansehen (warum ist dann Levitikus nur halb so
groß wie die Genesis?). Es wäre so eventuell möglich, die von der Pentateuchfor-
schung des 19. Jh.s entwickelten Modelle (Fragmenten-, Ergänzungs- und Ur-
kundenhypothese), ergänzt durch die Annahme von Fortschreibungen, auf ver-
schiedene Teile des Pentateuchs verschieden anzuwenden. Auch sollte versucht
werden, verschiedene exegetische Kulturen miteinander ins Gespräch zu brin-
gen, eine keineswegs leichte Aufgabe.

2. Die letzten Redaktionen des Pentateuchs


W. FUSS, Die deuteronomistische Pentateuchredaktion in Exodus 3–17, (BZAW 126). – P. WEIMAR,
Die Berufung des Mose: Literaturwissenschaftliche Analyse von Exodus 2,23–5,5, 1980 (OBO 32). –
E. BLUM, Studien zur Komposition des Pentateuch, 1990 (BZAW 189). – R. G. KRATZ, Redaktionsge-
schichte I. Altes Testament, TRE 28, 1979, 367–378. – C. LEVIN, Der Jahwist, 1993 (FRLANT 157). –
E. OTTO, Das Deuteronomium im Pentateuch und Hexateuch. Studien zur Literaturgeschichte von
Pentateuch und Hexateuch im Lichte des Deuteronomiumsrahmen, 2000 (FAT 30). – L. SCHMIDT,
Das 4. Buch Mose. Numeri Kapitel 10,11–36,13, 2004 (ATD 7,2). – J.-L. SKA, A Plea on Behalf of the
Biblical Redactors: Studia Theologica 59 (2005) 4–18. – J. VAN SETERS, The Edited Bible. The Curious
History of the „Editor“ in Biblical Criticism, Winona Lake (IN) 2006. – J. S. BADEN, J, E, and the
Redaction of the Pentateuch, 2009 (FAT 68).

Die klassische Quellentheorie maß den Redaktoren wenig Bedeutung bei. Diese
waren hauptsächlich für die Vereinigung der verschiedenen Quellenschriften
zuständig und ließen dabei bisweilen Texte aus der einen oder anderen Quelle
(insbesondere aus E) weg, um Wiederholungen oder Doppelungen zu vermei-
den, ohne dass sie dabei in den von ihnen hergestellten Text eingriffen. Diese
Sicht wird zur Zeit insbesondere von BADEN und anderen Repräsentanten der
„Neo Documentarians“ vertreten, die von einem Kompilator sprechen, welcher
84 B. Der Pentateuch

die Quellen nach ihrer Meinung beinahe vollständig erhalten und kombiniert
habe, wobei er sich mit Bindewörtern und kurzen Überleitungen begnügte. Un-
abhängig von der Frage nach der Richtigkeit der Urkundenhypothese ist die
Bestreitung substantieller redaktioneller Eingriffe nicht überzeugend. In der
deutschsprachigen Forschung wurde seit dem Beginn der 70er Jahre verstärkt
mit Redaktionen gerechnet. So fand W. FUSS im Buch Exodus eine deuterono-
mistische Redaktion, und P. WEIMAR schrieb in der Berufungserzählung des
Mose in Ex 3,1–4,18 mehrere Verse einer Pentateuchredaktion zu.

In der Tat kann man in Ex 3 leicht Textteile finden, die sich ungezwungener als re-
daktioneller Zusatz erklären lassen als Fragment einer hypothetischen Quelle. So ist
zum Beispiel in Ex 3,6 der Zusatz „der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott
Jakobs“ zu der Gottesvorstellung „Ich bin der Gott deines Vaters“ am besten als
Eingriff eines Redaktors zu verstehen, welcher den Gott von Moses Vater mit dem
Gott der Patriarchen identifizieren will und damit eine grammatische Unstimmigkeit
in Kauf nimmt. Ähnliches lässt sich in Ex 3,15 in Vergleich zu 3,14 beobachten. 3,15
gibt sich bereits durch die Einleitung „und weiter sprach Jhwh zu Mose“ und durch
die Wiederaufnahme aus V. 14 „so sollst du zu den Israeliten sprechen“ als Zusatz zu
erkennen. Seinem Verfasser ging es darum, das Wortspiel in V. 14, das ohne die expli-
zite Nennung des Tetragramms auskommt, zu verdeutlichen und gleichzeitig einen
liturgischen Ausruf in der Berufung des Mose zu verankern.
Die zweite Rede des Engels Jhwhs in Gen 22,15–18 ist bereits durch die Einleitung
(„der Bote Jhwhs sprach ein zweites Mal“) leicht als die Arbeit eines Redaktors zu ver-
stehen, der Abrahams Gehorsam gut deuteronomistisch mit göttlichem Segen beloh-
nen will. Eine Zuschreibung dieses Abschnittes zu einer anderen „Pentateuchquelle“
ist keine Alternative, da es nie gelungen ist, in Gen 22 zwei parallele Erzählstränge zu
identifizieren.

Die Annahme von Redaktoren findet sich deshalb auch bei den meisten jüngeren
Kommentatoren, die mit der Urkundenhypothese arbeiten, so z. B. im Numeri-
Kommentar von L. SCHMIDT, in welchem mehr als die Hälfte der Texte verschie-
denen Redaktoren zugeschrieben werden. Bei alternativen Modellen, wie zum
Beispiel dem Kompositionsmodell von E. BLUM oder dem redaktionsgeschichtli-
chen Ansatz von E. OTTO werden die Kompositoren bzw. Redaktoren zu den
eigentlichen Verfassern der mündlich oder schriftlich vorliegenden Traditionen.
Dementsprechend stellt KRATZ fest: „Im engeren Sinne umfasst Redaktion […]
die Komposition und Kompilation literarischer Quellen […] in einem weiteren
Sinne Sammlung und schriftliche […] Fixierung, Kodifizierung oder Neuformu-
lierung vorgegebener mündlicher Überlieferung (sog. Erstverschriftung) bis zur
literarischen Neuproduktion in einem vorgegebenen Kontext (sog. Fortschrei-
bung)“ (369).

Gegen das Konzept von Redaktoren in der Pentateuchforschung hat sich sehr vehe-
ment VAN SETERS gewandt, der in diesem eine aus der Homer-Forschung des 19. Jh.s
stammende anachronistische Idee findet. Nach VAN SETERS erklärt sich der Penta-
teuch einfach als Werk zweier Personen: Einem exilischen jahwistischen Historiker
und einem priesterlichen Überarbeiter. Dem ist jedoch mit SKA entgegenzuhalten,
I. Der Pentateuch als ganzer 85

dass die Annahme eines freischaffenden Autors anachronistischer ist als die Idee von
Redaktoren. Dazu kommt, dass selbst bei VAN SETERS „P“ ein Redaktor von J ist.

Generell ist festzustellen, dass die Schriften der Hebräischen Bibel bis auf wenige
Ausnahmen (Qoheleth, Ruth) keine Autoren-, sondern Traditionsliteratur sind.
Demzufolge ist die Entstehung des Pentateuchs zum großen Teil Redaktoren zu
verdanken.

a) Das Problem einer „Endredaktion“

F. ROSENZWEIG, Die Einheit der Bibel, in: M. Buber / F. Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeut-
schung, Berlin 1936, 46–54. – H. C. SCHMITT, „Priesterliches“ und „prophetisches“ Geschichtsver-
ständnis in der Meerwundererzählung Ex 13,17–14,31. Beobachtungen zur Endredaktion des Penta-
teuch, in: A. H. J. Gunneweg / O. Kaiser (Hg.), Textgemäß. FS E.Würthwein, Göttingen 1979, 139–
155. – E. BLUM, Gibt es die Endgestalt des Pentateuch?, in: J. A. Emerton (ed.), Congress Volume
Leuven 1989, 1991 (VT.S 43), 46–57. – J. C. GERTZ, Tradition und Redaktion in der Exoduserzäh-
lung. Untersuchungen zur Endredaktion des Pentateuch, 1999 (FRLANT 186). – K. SCHMID, Erzväter
und Exodus. Untersuchungen zur doppelten Begründung der Ursprünge Israels innerhalb der Ge-
schichtsbücher des Alten Testaments, 1999 (WMANT 81).

In der Urkundenhypothese wurde bisweilen die Abkürzung „Rp“ zur Bezeich-


nung des letzten Redaktors verwandt, ein Sigel, welches dann von ROSENZWEIG
als „Rabbenu“ („unser Meister“) interpretiert wurde. Das Konzept einer End-
redaktion begenet in der Tat oft in der exegetischen Literatur. Jedoch ist mit
BLUM festzuhalten, dass es eine „Endgestalt“ des Pentateuchs und somit eine
Endredaktion desselben nicht gibt. Die verschiedenen Fragmente von Penta-
teuchteilen aus Qumran belegen eine gewisse Variation in den protomasoreti-
schen Texttraditionen. Die griechische Übersetzung (LXX) reflektiert einen
anderen Text als der des masoretischen Pentateuchs. Insgesamt sind die Unter-
schiede zwischen griechischem und masoretischem Text des Pentateuchs gerin-
ger als in den Propheten, aber es handelt sich dennoch (insbesondere im Buch
Exodus) nicht um identische Texte. Auch der samaritanische Pentateuch stellt
eine eigene Textüberlieferung dar. Das heißt, es gibt keine endgültige abschlie-
ßende Redaktion. Bis in die Makkabäerzeit konnte noch punktuell in den Text
eingegriffen werden. So sind wohl die zum Teil von der LXX abweichenden
chronologischen Angaben in der Genesis (Lebensalter der verschiedenen Patriar-
chen) im masoretischen Text so überarbeitet worden, dass sie zusammen mit den
chronologischen Angaben in den Vorderen Propheten als Bezugspunkt die Tem-
pelneueinweihung von 164 v. Chr. haben (SCHMID). So sollte entweder die Rede
von einer Endredaktion aufgegeben werden, oder man sollte diese als die letzte
umgreifende Redaktion des Pentateuchs definieren (GERTZ).

Das Gleiche trifft auch für den bisweilen anzutreffenden kuriosen Ausdruck „nach-
endredaktionell“ zu. Dieser ist nur unter der Bedingung sinnvoll, dass damit punk-
tuelle Eingriffe in den Text gemeint sind, die nach der letzten umfassenden Redaktion
des Pentateuchs stattgefunden haben.
86 B. Der Pentateuch

Besser als von einer „Endredaktion“ sollte man von einer Pentateuchredaktion
sprechen, welcher es darum ging, die Kohärenz der Tora und die Verbindung
deren größerer Einheiten zu verstärken.

b) Die Pentateuchredaktion

D. J. A. CLINES, The Theme of the Pentateuch, 1978 (JSOT.S 10). – F. CRÜSEMANN, Die Tora. Theolo-
gie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München, 1992 . – J. C. GERTZ, Tradition
und Redaktion in der Exoduserzählung. Untersuchungen zur Endredaktion des Pentateuch, 1999
(FRLANT 186). – T. RÖMER, Deuteronomium 34 zwischen Pentateuch, Hexateuch und deuterono-
mistischem Geschichtswerk: ZAR 5 (1999) 167–178. – E. OTTO, Das Deuteronomium im Pentateuch
und Hexateuch. Studien zur Literaturgeschichte von Pentateuch und Hexateuch im Lichte des Deute-
ronomiumsrahmen, 2000 (FAT 30). – R. ACHENBACH, Die Vollendung der Tora: Studien zur Redak-
tionsgeschichte des Numeribuches im Kontext von Hexateuch und Pentateuch, 2003 (BZAR 3). – O.
ARTUS, Les lois du Pentateuque. Points de repère pour une lecture exégétique et théologique, 2005
(LeDiv 200). – C. NIHAN, From Priestly Torah to Pentateuch: A Study in the Composition of the
Book of Leviticus, 2007 (FAT II/25). – K. SCHMID, Der Pentateuchredaktor: Beobachtungen zum
theologischen Profil des Toraschlusses in Dtn 34, in: T. Römer / K. Schmid (éds.), Les dernières
rédactions du Pentateuque, de l’Hexateuque et de l’Ennéateuque, 2007 (BEThL 2003), 183–197. – T.
RÖMER, Moses, the Only Mediator? The Question of the Origin of the Two Decalogues, in: J. Pakkala /
M. Nissinen (eds.), Houses Full of All Good Things. FS T. Veijola, 2008 (Publications of the Finnish
Exegetical Society 95), 27–41. – S. GESUNDHEIT, Das Land Israels als Mitte einer jüdischen Theologie
der Tora. Synchrone und diachrone Perspektiven: ZAW 123 (2011) 325–335.

Im Gegensatz zu einer „Endredaktion“ hat es eine Pentateuchredaktion bzw.


einen Pentateuchredaktor mit großer Wahrscheinlichkeit gegeben, wie eine
Analyse des Schlusskapitels der Tora, Dtn 34, zeigt (RÖMER 1999, SCHMID).

Das Epitaph in 34,10–12, das Mose als einen Propheten bezeichnet, dem kein anderer
vergleichbar ist, da er allein mit Jhwh von Angesicht zu Angesicht verkehrte, schafft
eine Zäsur zu den folgenden Büchern. Propheten werden dort (in großer Menge) er-
scheinen, aber keiner von ihnen kommt Mose gleich. Mose ist in der Tat der einzige
Gesetzesmittler der HB (mit Ausnahme des gleich zu besprechenden Textes Jos 24),
und durch Dtn 34,10–12 erscheint der Pentateuch als die „Tora des Mose“. Auch an-
dere Verse in diesem Kapitel gehen auf das Konto des Pentateuchredaktors. Die
grammatikalisch etwas unstimmige Erwähnung der Landverheißung in Dtn 34,4:
„Dies ist das Land, von dem ich Abraham, Isaak und Jakob geschworen habe: ‚Deinem
Samen werde ich es geben‘“ erklärt sich als Zitat der ersten Landzusage an Abraham in
Gen 12,7: „Deinem Samen werde ich dieses Land geben“. Dieses Jahwewort wird in
Dtn 34 auf die drei Erzväter ausgeweitet; durch seine Erwähnung am Ende des Penta-
teuchs wird ein Bogen zurück zur Genesis geschlagen und die Zusammengehörigkeit
von Patriarchen- und Mosetraditionen unterstrichen. Weiter wird damit die Landver-
heißung und nicht der Landbesitz als zentrales Thema des Pentateuchs betont
(CLINES, GESUNDHEIT). Auch die Erwähnung der 120 Lebensjahre Moses in Dtn 34,7
kann auf den Pentateuchredaktor zurückgehen, der mit dieser Angabe auf Gen 6,3 zu-
rückverweist und Mose als „exemplarischen Menschen“ charakterisiert.

Ausgehend von Dtn 34,4 sind wohl auch die weiteren Erwähnungen eines
Schwurs (nišba‘) an die Patriarchen, die den Pentateuch durchziehen, einer Pen-
I. Der Pentateuch als ganzer 87

tateuchredaktion zuzuschreiben. Diese erscheinen in Gen 50,24; Ex 32,31; 33,1;


Lev 26,42 (mit berît anstelle des Schwurs); Num 32,11 und siebenmal im Dtn
(wobei 1,8 und 34,4 eine Rahmen bilden). Damit ist „dieses Theologumenon das
einzige, das alle fünf Bücher des Pentateuchs durchzieht“ (SCHMID, 186). Mit Dtn
34,10–12 sind Texte wie Num 12,6–8 und 14,13–20 vergleichbar, sowie Ex 4,16
und 7,1, in denen Mose als elohim bezeichnet wird, und weiter Ex 14,31 und 19,9,
die Mose wie Jhwh als Objekt des Glaubens des Volkes präsentieren. Das Bestre-
ben, Mose soweit wie möglich an Gott heranzurücken, lässt sich bestens als An-
liegen einer Pentateuchredaktion verstehen, der es darum geht, Mose und seiner
Tora einen autoritativen Status zu verleihen.
Mit der Pentateuchredaktion stand vielleicht eine Zeit lang eine „Hexateuch-
redaktion“ in Konkurrenz (RÖMER 1999, OTTO, ACHENBACH; siehe auch die
obigen Ausführungen zum Hexateuch).

Diese versuchte das Buch Josua an die Tora anzubinden und konstruierte in Jos 24
Josua als einen zweiten Mose, der ebenfalls mit dem Volk einen Bund schließt, ihm
Gebote gibt, und diese in ein göttliches Gesetzbuch schreibt (Jos 24,25–26). Für eine
solche Hexateuchredaktion finden sich auch Indizien in den Büchern des Pentateuchs.
So bleibt das Motiv des Transportes von Josefs Gebeinen (Gen 50,25 und Ex 13,17) im
Rahmen des Pentateuchs ein blindes Motiv, kommt aber im Rahmen des Hexateuchs
in Jos 24,32 zu einem passenden Abschluss. Die chronologische Angabe über die vier-
zigjährige Dauer des Mannas in Ex 16,35 wird in Jos 5,12 mit der Feststellung wieder-
aufgenommen, dass das Manna nach dem Einzug in das Land aufhörte. Vielleicht
kann das ganze Kapitel Jos 5 (Beschneidung der zweiten Exodusgeneration, Aufhören
des Mannas, himmlische Erscheinung an Josua in Jos 5,13–16, womit eine Parallele zu
Ex 3,1–6 hergestellt wird) einer Hexateuchredaktion zugeschrieben werden.

Man kann in den Hexateuchredaktoren eine Minderheitskoalition von Priestern


und Laien sehen, die das Buch Josua als Abschluss der Tora edieren wollten, um
zu zeigen, dass JHWH seine Landverheißung erfüllt hat. Demgegenüber relativiert
die Pentateuchredaktion die Wichtigkeit des Landbesitzes (was aus einer Golah-
perspektive der Perserzeit heraus durchaus Sinn ergibt) und setzt an dessen Stelle
Mose und seine Tora sowie die Landverheißung, die jede Generation von Lesern
und Hörern für sich aktualisieren muss. Nach OTTO u. a. stammt die Träger-
gruppe der Pentateuchredaktion aus priesterlichen Kreisen, genauer gesagt aus
den Zadokiden, „die das aaronidische Programm der Priesterschrift integrieren“
(OTTO, 187), nach GERTZ sind die Pentateuchredaktoren im „Umfeld des Jeru-
salemer Tempels“ anzusetzen (390). Da der Pentateuch anerkanntermaßen ein
Kompromissdokument ist, wird man sich auch die Pentateuchredaktoren als ein
Gremium verschiedener Gruppierungen vorstellen müssen. Zumindest dürften
sie Vertreter des Priestertums sowie der „dtr“ laikalen Amtsträger beinhalten,
weiter auch Repräsentanten der Diaspora und der im Land ansässigen Bevölke-
rung. Man sollte ebenfalls davon ausgehen, dass auch Vertreter der Samaritaner
an der Pentateuchredaktion beteiligt waren, da diese die Tora ebenfalls als
autoritative Grundlage anerkannten. Man darf sich die Pentateuchredaktion
88 B. Der Pentateuch

nicht als ein punktuelles Ereignis vorstellen, sondern als einen über ein oder
mehrere Jahrzehnte währenden Prozess, was auch daran erkenntlich ist, dass die
der Pentateuchredaktion zuzuschreibenden Texte eine gewisse stilistische und
inhaltliche Vielfalt zutage legen.
Die Frage, welche Texte der Pentateuchredaktion angehören, ist umstritten.
Die gewollte Parallelisierung von Gen 49 und Dtn 33 ist mit einiger Gewissheit
das Werk der Pentateuchredaktion, die dadurch das Ende der Gen und des Dtn
miteinander korreliert und Israels genealogischen Stammvater Jakob mit seinem
Gesetzgeber Mose in Verbindung setzt. Im Buch Genesis dürfte auch Gen 15 der
Pentateuch- (oder Hexateuch-?) Redaktion zuzuschreiben sein sowie 22,15–18
und ähnliche Texte. Für das Buch Exodus kann man weitgehend den Ausführun-
gen von GERTZ folgen. Die Pentateuchredaktion findet sich hier in Texten wie Ex
3,6a.15.18–20; 4,1–17; 11,1–8; 13,1–16, u. a.

Auch die Einfügung des Dekalogs in Ex 20 wird bisweilen der Pentateuchredaktion


zugeschrieben. Man könnte in der Tat erwägen, ob nicht die Einfügung der beiden
Dekalogversionen in Ex 20 und Dtn 5 die Funktion hat, die Sinaigesetzgebung mit der
des Dtn zu korrelieren (CRÜSEMANN), womit vielleicht für beide Dekaloge eine Penta-
teuchredaktion in Frage käme (ARTUS). Allerdings ist zu beachten, dass die Einleitun-
gen für beide Dekaloge, die zunächst als direkte Kundgebung Jhwhs an Israel stilisiert
sind, in Ex 19,25 und in Dtn 5,5 so überarbeitet werden, dass diese nun ebenfalls
durch Mose vermittelt wurden (RÖMER, 2008), was sich mit dem Anliegen der Penta-
teuchredaktion deckt, Mose so weit wie möglich aufzuwerten. Demnach wäre die Ein-
fügung der zwei Versionen der zehn Gebote wohl doch eher vor der Pentateuchredak-
tion anzusetzen.

Im Buch Levitikus werden insbesondere Lev 10* und 27 zur Pentateuchredaktion


gehören (nach NIHAN gehören sie zu einer „theokratischen Bearbeitung“, welche
ACHENBACH für die jüngsten Texte des Numeribuches identifiziert hat, und die
als letzte Phase der Pentateuchredaktion verstanden werden kann). In Numeri ist
der Anteil der Pentateuch- (bzw. Hexateuch-) Redaktion besonders hoch; viel-
leicht ist das ganze Buch erst durch eine sehr späte Redaktionsarbeit entstanden.
Auch das Buch Deuteronomium wurde im Rahmen der Promulgation des Pen-
tateuchs überarbeit. Dazu gehören große Teile von Dtn 4 (die „P“ und „D“ kom-
binieren) sowie Texte wie Dtn 9,7–11,25; 29,1–15, u. a.
Wenn es zutrifft, dass die ursprüngliche Priesterschrift nicht über Levitikus
hinausreicht und es keine anderen nicht-priesterlichen Dokumente gibt, die den
gesamten Pentateuch durchziehen, so ginge dessen „Endgestalt“ in der Tat auf
die Arbeit von Pentateuchredaktoren zurück.

c) Die sogenannte „Heiligkeitsschule“

E. OTTO, Das Heiligkeitsgesetz Leviticus 17–26 in der Pentateuchredaktion, in: P. Mommer / W.


Thiel (Hg.), Altes Testament. Forschung und Wirkung. FS H. Graf Reventlow, Frankfurt a. M. 1994,
65–80. – I. KNOHL, The Sanctuary of Silence. The Priestly Torah and the Holiness School, Minneapo-
lis 1995. – R. ACHENBACH, Die Vollendung der Tora: Studien zur Redaktionsgeschichte des Numeri-
I. Der Pentateuch als ganzer 89

buches im Kontext von Hexateuch und Pentateuch, 2003 (BZAR 3). – J. MILGROM, HR in Leviticus
and Elsewhere in the Torah, in: R. Rendtorff / R. A. Kugler (eds.), The Book of Leviticus. Composi-
tion and Reception, 2003 (VT.S 93), 24–40. – C. NIHAN, From Priestly Torah to Pentateuch: A Study
in the Composition of the Book of Leviticus, 2007 (FAT II/25).

Ausgehend von der Annahme, dass das „Heiligkeitsgesetz“ in Lev 17–26 die
priesterliche Gesetzgebung in Lev 1–16* voraussetzt und als Ergänzung zu der-
selben konzipiert wurde (siehe dazu oben), haben J. MILGROM und sein Schüler I.
KNOHL (allerdings mit königszeitlicher Datierung von P und H) die These einer
„Holiness School“ aufgestellt, die nicht auf Lev 17–26 beschränkt sei, sondern
auch in Lev 1–16 und anderen Texten des Pentateuchs eingegriffen habe. Tat-
sächlich gibt es im Pentateuch einige Texte, welche ein dem Heiligkeitsgesetz
vergleichbares Vokabular und Anliegen aufweisen. Der Heiligkeitsschule ging es
darum, bestimmte Kategorien von Nicht-Israeliten in den Jhwh-Bund zu inte-
grieren, aber auch die priesterliche Gesetzgebung zu radikalisieren und mit der
des Dtn zu harmonisieren.

Dies ist der Fall in Ex 12,14–50, wo die Heiligkeitsredaktion die priesterlichen Passah-
vorschriften von Ex 12,1–13 mit denen von Lev 23,5–8 harmonisiert. In Ex 12,43–49
wird Gen 17 so ausgelegt, dass nun auch der beschnittene Schutzbürger (ger) am Pas-
sahmahl teilhaben kann. In Ex 31,12–17 wird der Sabbat in Anlehnung an Gen 9,12ff.
und 17,9ff. nach dem Regenbogen und der Beschneidung über Pg hinausgehend als
ein drittes Zeichen für Jhwhs Beziehung mit Israel interpretiert. Die Übertretung des
Sabbatgebots wird über Ex 16 hinausgehend mit der Todesstrafe belegt. Eine ähnliche
Ausweitung (auf „Fremde“) und Radikalisierung lässt sich in Gen 17,9.13b*.14 fest-
stellen, wo ebenfalls „H“ am Werke ist. In Lev 1–16 gehen 7,22–36; 11,41–45 und
16,29–34 auf die Heiligkeitsredaktion zurück. Auch im Buch Numeri erinnern einige
Texte an den Stil von H, so z. B. Num 15. In Num 15,32–36 wird in einer Beispiel-
erzählung die in Ex 31,17 angedrohte Todesstrafe vollstreckt. Beide Texte können auf
derselben Ebene liegen, möglicherweise ist aber Num 15 später anzusetzen und als
eine Art Midrasch zu Ex 31,12–17 zu verstehen. Texte wie Num 1–10*; 15; 18–19 und
27–26 weisen zwar gewisse Ähnlichkeiten mit H auf, enthalten aber auch neue
Aspekte, wie z. B. die Darstellung Israels als „ecclesia militans“. Würde der Zusatz
zum Sabbatgebot in Num 9 von H stammen, bliebe es unverständlich, dass dieser
nicht in Ex 12 eingefügt wurde. Num 9 setzt vielmehr Ex 12 mitsamt den Heiligkeits-
ergänzungen voraus, führt zwei neue Fälle ein (Unreinheit durch Kontakt mit einem
Toten; Reise während des Festdatums), für welche Mose erst Jhwh befragen muss, um
die göttliche Weisung dem Volk mitteilen zu können. Somit sind die H ähnlichen Stü-
cke in Num wohl einer späteren „theokratischen“ Bearbeitung zuzuschreiben, die für
die Entstehung des Numeri-Buches verantwortlich ist (ACHENBACH, NIHAN).

Wenn die „Holiness-school“ im Buch Numeri nicht anzutreffen ist, könnte man
in ihr den ersten Versuch sehen, einen Proto-Pentateuch (noch ohne Numeri)
herzustellen. Falls sie auch in Num vorkommt, wäre sie als Vorläufer oder erste
Etappe der Pentateuchredaktion zu verstehen. Im Gegensatz zur Pentateuch-
redaktion ist die Heiligkeitsredaktion sehr eng mit dem priesterlichen Milieu
verbunden.
90 B. Der Pentateuch

3. Die priesterliche Schicht des Pentateuchs


K. ELLIGER, Sinn und Ursprung der priesterlichen Geschichtserzählung: ZThK 49 (1952) 121–143. –
Y. KAUFMANN, The Religion of Israel: From its Beginnings to the Babylonian Exile, Chicago 1960. –
N. LOHFINK, Die Priesterschrift und die Geschichte, in: J. A. Emerton et al. (eds.), Congress Volume.
Göttingen 1977, 1978 (VT.S 29), 189–225 = Studien zum Pentateuch,1988 (SBAT 4), 213–253. –
R. W. KLEIN, The Message of P, in: J. Jeremias / L. Perlitt (Hg.), Die Botschaft und die Boten. FS
H. W. Wolff, Neukirchen-Vluyn 1981, 57–66. – U. STRUPPE, Die Herrlichkeit Jahwes in der Priester-
schrift, 1988 (ÖBS 9). – B. JANOWSKI, Tempel und Schöpfung. Schöpfungstheologische Aspekte der
priesterschriftlichen Heiligtumskonzeption: JBTh 5 (1990) 37–69. – K. GRÜNWALDT, Exil und Iden-
tität. Beschneidung, Passa und Sabbat in der Priesterschrift, 1992 (BBB 85). – P. P. JENSON, Graded
Holiness. A Key to the Priestly Conception of the World, 1992 (JSOT.S 106). – L. SCHMIDT, Studien
zur Priesterschrift, 1993 (BZAW 214). – M. KÖCKERT, Das Land in der priesterlichen Komposition
des Pentateuch, in: D. Vieweger / E.-J. Waschke (Hg.), Von Gott reden. Beiträge zur Theologie und
Exegese des Alten Testaments. FS S. Wagner, Neukirchen-Vluyn 1995, 147–162. – J. BLENKINSOPP,
An Assessment of the Alleged Pre-Exilic Date of the Priestly Material in the Pentateuch: ZAW 108
(1996) 495–518. – E. ZENGER, Priesterschrift: TRE 27 (1997) 435–446. – E. A. KNAUF, Die Priester-
schrift und die Geschichten der Deuteronomisten, in: T. Römer (ed.), The Future of the Deuterono-
mistic History, 2000 (BEThL 147), 101–118. – C. NIHAN, From Priestly Torah to Pentateuch: A Study
in the Composition of the Book of Leviticus, 2007 (FAT II/25). – A. DE PURY, Die Patriarchen und die
Priesterschrift. Gesammelte Studien, 2010 (AThANT 99).

a) Inhalt und theologische Intention

Wie in der bereits dargestellten Diskussion um die priesterlichen Texte argu-


mentiert wurde, wird die ursprüngliche Priesterschrift wohl nicht über Lev 16
hinausgereicht haben. Die „priesterlichen“ Texte in Numeri sind in weitem Sinne
im priesterlichen Milieu verankert, gehören aber späteren Redaktionen an. „P“ in
Gen–Lev ist wohl doch eher eine ursprünglich selbständige Komposition, die
aber in Kenntnis der vorpriesterlichen (traditionell „J/E“) Traditionen geschrie-
ben wurde, was auch den bisweilen kurzen und lapidaren Stil erklärt (sowie die
Tatsache, dass die Person des Mose nicht eigens eingeführt wird), der aber im-
mer wieder durch große theologisch bedeutsame Texte unterbrochen wird. Die
traditionelle Unterscheidung von Pg (Grundschrift) und Ps (sekundäre Zufügun-
gen) hat insofern weiterhin ihre Berechtigung, als die P-Texte in Gen–Lev nicht
von einer Hand stammen. Das Postulat aber, dass Pg nur erzählendes Material
enthalten habe (WELLHAUSEN, NOTH u. v. a.), lässt sich literarkritisch nicht veri-
fizieren und wird durch P-Texte wie Gen 1; 17; Ex 12 usw. widerlegt, durch wel-
che in die priesterliche Erzählung Vorschriften integriert werden.
Pg konstruiert einen Spannungsbogen, der von der Schöpfung bis zur Errich-
tung des Heiligtums und der Instandsetzung des Opferkults reicht. In Gen 1,1–
2,4 wird eine ideale Schöpfung beschrieben, in welcher Mann und Frau als Eben-
bild Gottes definiert und als seine Vertreter gegenüber dem Rest der Schöpfung
eingesetzt werden, was man als eine „Demokratisierung“ der Königsideologie (in
welcher allein der König „Bild Gottes“ ist) verstehen kann. Durch den Sieben-
Tage-Rhythmus wird der Sabbat bereits in der Schöpfung verankert. Diese ideale
Schöpfung wird durch die priesterliche Fassung der Sintflutgeschichte (Gen 6,9–
I. Der Pentateuch als ganzer 91

22; 7,6.11.13–16a.17b–21.24–8,1a.2a.3b.5.13a.14.15–19; 9,1–17) insofern korri-


giert, dass der Mensch mit Ausnahme des Blutes nun Fleisch verzehren darf (in
Gen 1 sind Menschen und Tiere vegetarisch geschaffen). Gott schließt einen
Bund mit der noachitischen Menschheit, durch welchen er sich selbst verpflich-
tet, die Erde nicht noch einmal durch eine Flut zu zerstören, und als dessen Zei-
chen der Regenbogen fungiert. Die darauf folgende Völkertafel (Gen 10*) zeigt
die Verteilung der Nachkommen der drei Söhne Noahs und ein friedliches Zu-
sammenleben aller Völker der Erde „je nach ihren Sprachen, nach ihren Sippen
und in ihren Ländern“ (10,20). Der wichtigste P-Text in der folgenden Patriar-
chenerzählung ist der Bundesschluss mit Abraham (Gen 17*), der für alle Nach-
kommen Abrahams (Isaak und Ismael) gilt und dessen Zeichen die Beschnei-
dung ist. Die enge Verbindung der beiden Abrahamsöhne wird dadurch unter-
strichen, dass Ismael und Isaak zusammen ihren Vater bestatten. Ismael hat wie
Jakob zwölf Nachkommen (Gen 25,7–17). Jakobs Reise zu Laban ist nach P nicht
durch eine Flucht vor seinem Bruder begründet, sondern dadurch, dass es ihm
geziemt, sich innerhalb seiner Großfamilie zu verheiraten, im Gegensatz zu sei-
nem Bruder Esau, der eine Tochter Ismaels ehelicht (Gen 28,1–9*). Auch Isaak
wird von seinen beiden Söhnen zu Grabe getragen (35,27–29). Nach einer kurzen
Darstellung des Hinabziehens der Familie Jakobs nach Ägypten (46,6–7; 47,27b–
28) und der Unterdrückung durch die Ägypter (Ex 1,7.13–14) wird das Eingrei-
fen Jhwhs für sein Volk mit dem Patriarchenbund begründet (2,23–25*). Darauf
folgt die priesterliche Version der Beauftragung Moses, in welcher Gott seinen
wahren Namen Jhwh offenbart (Ex 6,2–8). Für P sind die sogenannten „Plagen“
eher wunderbare Erweise der Mächtigkeit Jhwhs gegenüber Pharao, der keine
Möglichkeit zu eigenständigem Handeln hat, da Jhwh selbst sein Herz verstockt
hat (Ex 7–9*). Nach der Einsetzung des Passahfests (Ex 12*) kulminieren Jhwhs
Machterweise in Ägypten mit dem Meerwunder, welches nach P (14,1.2*.3–4.8–
10a.15–18*.21*.22–23.26–27a.28–29) Gen 1 und Gen 6–8* (P) aufgreift. Wie in
Gen 1 die Schöpfung hauptsächlich durch Gottes Wort erfolgt, so ist auch in Ex
14 (P) Jhwhs Wort die Ursache für Israels Durchzug durch das gespaltene Meer.
Damit schafft P mit Ex 14 eine theologische und literarische Inklusion mit Gen 1.
Durch die Scharniertexte Gen 1; 17; Ex 6 und 14 wird der Zusammenhang zwi-
schen Urgeschichte, Patriarchen und Exodus unterstrichen. Die Schöpfung der
Welt hat für P ein doppeltes Ziel: Die „Geburt“ Israels als Volk Jhwhs in Ex 14
und die Errichtung des Wüstenheiligtums als Ort der Begegnung zwischen Jhwh
und Israel. In Ex 24,15–18 und Ex 25–31* erklärt Jhwh, dass er in einem mobilen
Heiligtum inmitten seines Volkes wohnen wolle und erteilt Mose Anweisungen
zur Errichtung desselben, welcher dann als von Gott beauftragter „Architekt“ in
Ex 35–40* die Ausführung desselben überwacht. In Ex 40,34 nimmt Jhwhs
Herrlichkeit (kabôd), wie in 29,45 angekündigt, vom Heiligtum Besitz. Danach
gibt Jhwh vom Inneren des Gotteshauses Mose Anweisungen zur Einrichtung
des Opferkults, womit die priesterlichen Vorschriften über die verschiedenen
Opferarten in Lev 1–7* eingeführt werden. Danach erst kann Mose Aaron und
seine Söhne als Priester weihen (Lev 8). Nachdem die ersten Opfer dargebracht
92 B. Der Pentateuch

sind, ist es für Mose und Aaron möglich das Heiligtum zu betreten. Die Herrlich-
keit Jhwhs erscheint dem ganzen Volk, das sich mit Freude vor Gott niederwirft
(Lev 9). Lev 9,23–24 könnten demnach den Abschluss von Pg gebildet haben
(ZENGER). Vielleicht reichte Pg aber ursprünglich bereits bis zur Einrichtung des
Versöhnungstags (jom kippur) in Lev 16 (NIHAN). In diesem Text wird jährlich
die Möglichkeit angeboten, das Heiligtum von aller Unreinheit und das Volk von
allen Vergehen zu reinigen.
Es wird deutlich, dass für P die Einrichtung des Opferkultes im Zentrum sei-
ner Darstellung steht. Wie bereits LOHFINK bemerkt hat, sind für P, im Gegensatz
zu den Deuteronomisten, die Ereignisse von 587 v. Chr. von eher geringer Be-
deutung. Durch den Opferkult im (wiedererbauten) Tempel manifestiert sich
JHWHs Treue zu seinem Volk trotz dessen Verfehlungen. P ist weiter daran gele-
gen, alle wichtigen Elemente der Jhwh-Verehrung (Sabbat, Beschneidung, Pas-
sah, Gottesdienst) in der Urzeit und in den Anfängen des Volkes zu verankern.
Man kann auch erwägen, dass die Verlegung des Heiligtums in die Wüste, gewis-
sermaßen in ein no man’s land, eine neutrale Haltung in Bezug auf Frage der
Lokalisierung des Heiligtums darstellt. Liegt hier eine diskrete Akzeptanz der
Tatsache vor, dass ein Opfergottesdienst für Jhwh nicht nur in Jerusalem, son-
dern auch auf dem Garizim stattfand?

Der Landbesitz ist für P nicht das Entscheidende. Die Erwähnung des Landes in Ex 6,4
enthält einen Rückverweis auf Gen 17,7–8. Wie M. KÖCKERT betont hat, hat P die
Landzusage an Abraham, Isaak und Jakob als bereits erfüllt betrachtet. Wenn man den
in Ex 6 gebrauchten Ausdruck ’aḥuzza als „Nutzungsrecht“ versteht, ergibt sich, dass
für P Jhwh allein der Eigentümer des Landes ist, das er den Seinen zur ewigen Nut-
zung überlässt. Die zweite Erwähnung des Landes in 6,8, ein Vers, der oft als Zusatz
verstanden wird, charakterisiert es als moraša („Besitz“), was eine Aufnahme von Ez
33,24 darstellt. Damit erscheint die Verheißung der Hereinführung in das Land als
Aktualisierung der Landgabe an die Patriarchen. Im Gegensatz zur deuteronomisti-
schen Vorstellung hat das Land für P keine geopolitische bzw. geotheologische Be-
deutung; es stellt den Rahmen dar, in welchem sich der wahre Gottesdienst Israels
realisieren kann.

Gleichzeitig vertritt P einen „inklusiven“ Monotheismus, der in seiner Theorie


der göttlichen Offenbarung in drei Stufen zum Ausdruck kommt.

Diese Theorie wird in Ex 6,2 thematisiert: „Da redete Gott mit Mose und sprach zu
ihm: Ich bin Jhwh. Abraham, Isaak und Jakob bin ich als El-Schaddai erschienen, mit
meinem Namen Jhwh aber habe ich mich ihnen nicht kundgetan.“ Nach P offenbart
sich Jhwh der gesamten Menschheit als ’elohim (Urgeschichte), Abraham und seinen
Nachkommen als El Schaddai, und allein den Israeliten durch die Vermittlung Moses
als Jhwh. Das Privileg Israels besteht also darin, dass es als einziges Volk den wahren
Namen des Gottes der ganzen Welt kennt.

Alle Völker verehren demnach, ohne es zu wissen, denselben Gott. P vertritt


somit eine „ökumenische Perspektive“ (DE PURY).
I. Der Pentateuch als ganzer 93

b) Der historische Kontext von P

Die von REUSS erwogene und dann weit übernommene Charakterisierung von P
als jüngste der vier Pentateuchquellen führte bei den meisten Vertretern der his-
torisch-kritischen Vermutung zu einer exilischen Datierung der Priesterschrift.
In der Nachfolge Y. KAUFMANNs vertreten jedoch viele israelische Wissenschaft-
ler bis heute eine Datierung von P in der Zeit des ersten Tempels. Nun ist es
möglich und sogar wahrscheinlich, dass die Opferrituale in Lev 1–5 und die
Reinheitsvorschriften in Lev 11–15 auf mündliche oder sogar schriftliche Vor-
lagen aus der Königszeit zurückgehen; allerdings kann diese Beobachtung keine
Frühdatierung der Priesterschrift tragen (BLENKINSOPP). Die Nähe der priester-
lichen Konzepte und Theologie zu Deutero-Jesaja und zu Ezechiel sprechen für
eine Datierung von P im letzten Drittel des 6. Jh.s v. Chr. DE PURY zufolge lässt
sich die Abfassungszeit von Pg recht genau bestimmen: „Die ursprüngliche Pg
entsteht in Jerusalem in den letzten Herrschaftsjahren des Kyros, etwa zwischen
535 und 530. Vom Neubau des Tempels in Jerusalem wird bereits geträumt, aber
es ist noch nichts in die Wege geleitet“ (49). Nun kann aber die Verlegung des
Heiligtums an den Sinai auch andere „ökumenische“ Gründe haben (s. o.), so
dass eine Datierung nach 515 ebenfalls möglich ist. L. SCHMIDT betont zu Recht,
dass die priesterliche Darstellung der Ursprünge Israels und seines Kultes nicht
eschatologisch zu verstehen ist, sondern eine Theologie der vom Schöpfergott ein
für allemal gesetzten Heilsordnungen vertritt. Demnach kann P auch erst nach
der Errichtung des zweiten Tempels entstanden sein. Auf jeden Fall schreibt P
eine „Ätiologie Israels als Kultgemeinde“ (SCHMIDT, 259) und definiert damit
den Platz von Jhwhs Volk in der Ökumene des Perserreiches.
II. Das Buch Genesis
Kommentare: H. GUNKEL, Genesis, Göttingen, 41917. – B. JACOB, Das erste Buch der Tora, Berlin,
1934. – W. ZIMMERLI , 1. Mose 1–11: die Urgeschichte, 1943 (ZBK.AT). – E. A. SPEISER, 1964 (AB). –
G. VON RAD, 41972 (ATD). – C. WESTERMANN, 1974–1982 (BK.AT). – W. ZIMMERLI, 1976 (ZBK.AT).
– G. J. WENHAM, 1987 (WBC). – H. J. BOECKER, 1992 (ZBK.AT) (Gen 25–36). – L. RUPPERT, 1992–
2008 (FzB 70, 48, 106). – H. SEEBASS, Genesis, Neukirchen-Vluyn 1996–2000. – J. A. SOGGIN, Das
Buch Genesis, Darmstadt, 1997. – A. SCHÜLE, 2009 (ZBK.AT) (Gen 1–11).

1. Aufbau und Inhalt


T. HIEKE, Die Genealogien in der Genesis, 2003 (HBS 39).

Das Buch Genesis (hebräisch: Bereshit: „Im Anfang“) erzählt von den Anfängen
der Welt und der Menschheit sowie des Volkes Israel und seiner Nachbarn durch
die Geschichten seiner Erzväter und -mütter. Die Erzählungen sind durch ge-
nealogische Listen unterbrochen. Die Wichtigkeit der Genealogien zeigt sich
auch an einem Überschriftensystem, das auf das Buch Genesis begrenzt ist. Elf-
bzw. zwölfmal findet sich der Ausdruck „’ele toledôt“, den man mit „dies sind die
Zeugungen bzw. Nachkommen“ oder auch mit „dies ist die Geschichte“ überset-
zen kann.

Es finden sich folgende Überschriften: „Toledot des Himmels und der Erde“ (2,4):
Von der Erschaffung des ersten menschlichen Paares bis zu Enosch; „Buch der Tole-
dot Adams“ (5,1): Genealogie von Adam bis Noach; „Toledot Noachs“ (6,9): Ge-
schichte der Sintflut; (10,1): „Toledot der Söhne Noachs“: Genealogie und Verteilung
von Sem, Ham und Jafet und ihren Nachkommen auf der Erde und Turmbau; (11,10):
„Toledot Sems“: Genealogie von Sem bis Terach; (11,27): „Toledot Terachs“: Nach-
kommen Terachs und Geschichte Abrahams; „Toldeot Ismaels“ (25,12) und „Namen
der Söhne Ismaels nach ihren Toledot“ (25,13): Genealogie der Nachkommen Ismaels;
„Toledot Isaaks“ (25,19): Geschichte Jakobs und Esaus; „Toledot Esaus“ (36,1 und 9):
Genealogie Esaus; „Toledot Jakobs“: Geschichte Josefs und Ende der Geschichte
Jakobs.

Diese Überschrift kommt bis auf Num 3,1 nicht mehr im Pentateuch vor. Sie
unterstreicht demnach die Eigenständigkeit des Buches Genesis in Bezug auf die
anderen Bücher der Tora. In der Tat geht es in den folgenden Büchern nicht
mehr um Genealogien, Mose ist kein Erzvater; seine Söhne verschwinden aus der
Erzählung und sein Nachfolger Josua entstammt nicht aus Moses Geschlecht.
Das Interesse für Genealogien und die Definition einer Identität über die Ab-
stammung ist demnach ein Spezifikum der Genesis. Hier leiten die Toledot-
Formeln entweder genealogische Listen (5,1; 10,1; 11,10; 25,12.13; 36,1.9) oder
Geschichten des Stammvaters bzw. eines seiner Nachkommen (6,1; 11,27; 25,19;
37,2) ein. Diese Beobachtung erklärt vielleicht auch das Fehlen einer „Toledot
Abrahams“, da ein solcher Titel nach der Logik der Patriarchenerzählungen die
Geschichte Isaaks einleiten müsste, die es als solche aber nicht gibt (Gen 26 ist in
die Jakob-Esau-Erzählung eingebaut).
II. Das Buch Genesis 95

Nach dem Toledot-System wäre die Genesis wie folgt zu untergliedern: 1,1–
2,3 (Incipit: Weltschöpfung); 2,4–4,26 (Anfänge der Menschheit); 5,1–6,8 (Ge-
nealogie der vorsintflutlichen Patriarchen); 6,9–9,28 (Geschichte Noahs und der
Sintflut); 10,1–11,9 (Nachkommen Noahs und Zerstreuung der Menschheit);
11,10–11,26 (Nachkommen Sems bis zur Linie Abrahams); 11,27–25,11 (Ge-
schichte Abrahams); 25,12f.–25,18 (Nachkommen Ismaels); 25,19–35,29 (Ge-
schichte Jakobs); 36,1.9–37,1 (Nachkommen Esaus); 37,2–50,26 (Geschichte
Josefs).
Die ungleiche Verteilung der Toledot-Formeln und die Dubletten in Gen 25
und 36 sprechen dafür, dass diese nicht auf eine Hand zurückgehen; die jetzige
Konstellation dürfte eher das Ergebnis eines längeren redaktionellen Prozesses
sein.
Inhaltlich kann man im Buch Genesis zwei große Teile unterscheiden: Die
Urgeschichte (Gen 1–11) und die Geschichte der Erzeltern und ihrer Kinder
(Gen 12–50), beide Teile werden durch die Genealogien Sems und Terachs (Gen
11,10–32) miteinander verbunden. In Gen 12–50 kann man grob folgenderma-
ßen unterteilen: 12–25: Abraham; 26: Isaak; 27–36: Jakob; 37–50: Josef. Diese
Grobunterteilung bringt jedoch nicht zum Ausdruck, dass die Geschichten der
Patriarchen und Josefs miteinander eng vernetzt sind. So beginnt die Abraham-
geschichte bereits mit der Genealogie Terachs in 11,27, und der Anfang der
Jakob-Esau-Geschichte wird bereits in 25,19–34 berichtet; die kurze Isaakerzäh-
lung in Gen 26 wird damit in die Jakoberzählung eingegliedert. Letztere kommt
in Gen 35 oder 36 nicht zu ihrem endgültigen Abschluss, da sich der Tod Jakobs
und seine Bestattung (Gen 49,28–50,13) im Kontext der Josefserzählung befin-
den.
Die Urgeschichte beginnt mit einem doppelten Schöpfungsbericht und der
Vertreibung des ersten menschlichen Paars aus dem göttlichen Garten (Gen 1–
3). Darauf folgt die Geschichte von Kain und Abel, die den Einbruch der Gewalt
in die menschliche Existenz erklärt. Danach findet sich die Geschichte der Sint-
flut (6–9) und zwei Versionen der Verbreitung der Menschheit auf der (den
Autoren bekannten) Welt: Die Völkertafel (Gen 10) und der Turmbau zu Babel
(Gen 11,1–9). Somit wird die Bibel mit den großen theologischen und anthro-
pologischen Fragen eröffnet, die so gut wie alle Religionen beschäftigen: Der
Ursprung des Menschen und seine Stellung und Aufgabe in der Welt, der Tod
und die Gewalt, die Fragilität der Welt sowie die Entstehung und der Sinn der
verschiedenen Kulturen und Sprachen.
Die Erzelternerzählungen werden durch den Abrahamzyklus eingeleitet, wel-
cher durch die Notiz der Geburt (11,27) und des Todes (25,7–11) des Patriarchen
gerahmt wird. Ein innerer Rahmen wird durch Gen 12,1–9 und 22,1–19 gebildet.
Im Bericht der Berufung Abrahams in 12,1–9 fordert ihn Gott auf, sich von
seiner Familie und seiner Vergangenheit zu trennen, und Abraham gehorcht
ohne Widerspruch. In 22,1–19 soll Abraham auf göttlichen Befehl seinen Sohn
opfern und damit auf seine Zukunft verzichten. Auch hier fügt er sich ohne zu
reagieren.
96 B. Der Pentateuch

Gen 12,10–20 erzählt, dass Abraham (der bis Gen 17 Abram heißt) sich nach seiner
Ankunft in Kanaan sogleich nach Ägypten begibt, dort seine Frau Sara (bis Gen 17 Sa-
rai) als seine Schwester ausgibt, wodurch sie zur Frau Pharaos wird. Nach einer Inter-
vention Jhwhs stellt der ägyptische König Abraham zur Rede und schickt ihn in sein
Land zurück. Das gleiche Erzählmotiv findet sich noch zwei weitere Male in der Gene-
sis: In Gen 20 sind Abraham und Sara zu Gast bei einem König der Philister, in Gen
26 sind es Isaak und Rebekka. In Gen 13 kommt es zu einem Territorialkonflikt zwi-
schen Abraham und Lot. Abraham stellt es Lot frei, seine Bleibe selbst zu bestimmen,
und so zieht dieser nach Sodom, eine Gegend, die als paradiesisch beschrieben wird.
Diese Erzählung setzt sich in Gen 18–19 fort, wo von Abrahams und Lots Gastfreund-
schaft berichtet wird. Abrahams Gastfreundschaft gegenüber seinen göttlichen Besu-
chern wird mit der Verheißung eines Sohnes belohnt, dessen Geburt in Gen 21,1–7
erzählt wird. Lots Verhalten rettet ihn und seine Töchter vor der Zerstörung Sodoms
(und Gomorras). Mit seinen beiden Töchtern wird Lot inzestuös zum Stammvater der
Moabiter und Ammoniter. In Gen 14 ist Abraham in einen Weltkrieg impliziert und
wird von Melchisedek dem königlichen Priester von Salem gesegnet. In Gen 15
schließt Gott mit Abraham einen Bund und verspricht ihm eine große Nachkommen-
schaft und den Landbesitz. In Gen 16 schläft Abraham auf Saras Anraten mit deren
Magd Hagar, die ihm seinen ersten Sohn Ismael gebiert. Aufgrund eines Konflikts
zwischen beiden Frauen flieht Hagar in die Wüste und begegnet dort einem Boten
Jhwhs. Eine ähnliche Erzählung findet sich in Gen 21 nach der Geburt Isaaks, die zur
Trennung zwischen Abraham und Hagar und Ismael führen. Ein zweiter Bundes-
schluss von Gott mit Abraham findet sich in Gen 17, welcher durch einen Namens-
wechsel (Abram zu Abraham, Sarai zu Sara) sowie durch die Beschneidung konkreti-
siert wird. Nach der Erzählung der nicht erfolgten Opferung Isaaks in Gen 22 geht der
Zyklus auf sein Ende zu: Gen 23 berichtet von Saras Tod und dem Grabkauf, Gen 24
von einer Brautwerbung für Isaak, Gen 25 von weiteren Nachkommen Abrahams, die
ihm dank seiner dritten Frau Ketura geboren werden, sowie seinem Tod.

Die Verschachtelung der Themen und Motive zeigen an, dass die Abrahamge-
schichte das Resultat eines komplexen redaktionellen Prozesses ist. Ihr Haupt-
thema ist die göttliche Verheißung eines Nachkommens, die Gefährdung und
schließlich die Erfüllung dieser Verheißung.
Der Jakobszyklus verbindet zwei „Sagenkränze“ (GUNKEL) miteinander: In
Gen 25,19–28,9 geht es um den Konflikt zwischen den Zwillingsbrüdern Jakob
und Esau und in 32,2–36,43 um ihre Versöhnung und Trennung. Dazwischen
eingeschoben ist in 29,1–32,1 die Erzählung von Jakobs Aufenthalt bei seinem
Onkel Laban, der ebenfalls zu Konflikten, Versöhnung und Trennung führt.
Beide Themen sind durch Heiligtumslegenden (Bethel: 28,10–22; vgl. 35,6–8;
Mahanajim: 32,2–4; Penuel: 32,23–33) miteinander verbunden.

Der Konflikt der beiden Brüder wird in zwei Varianten berichtet. Nach Gen 25,27–36
verkauft Jakob dem hungrigen Esau ein Linsengericht gegen dessen Erstgeburtstatus.
In Gen 27,1–40 täuscht Jakob mit Rebekkas Hilfe seinen alten Vater und erschleicht
sich den Segen des Erstgeborenen. Zwischen beiden Erzählungen findet sich ein kur-
zer Isaakzyklus (Gen 26), der Parallelen in der Abrahamerzählung hat (Gen 20,1–18;
21,22–34), und in welchem die beiden Söhne noch nicht geboren sind. Jakobs Aufent-
halt bei seinem Onkel Laban wird ebenfalls doppelt begründet: Jakob muss wegen sei-
nes zornigen Bruders fliehen (27,41–45); seine Mutter wünscht, dass er sich innerhalb
II. Das Buch Genesis 97

ihrer Familie verheiratet (28,1–9). Auf seinem Weg gründet Jakob das Heiligtum von
Bethel (Gen 28,10–22). Bei Laban wird aus dem Betrüger Jakob der Betrogene. Sein
Onkel verheiratet ihn gegen seinen Willen mit seiner ältesten Tochter Lea und Jakob
muss sieben weitere Jahre dienen, um die von ihm geliebte Rahel ehelichen zu können
(Gen 29,1–30). Darauf folgt in 29,31–30,24 die Geburt von Jakobs Söhnen, die vier
verschiedene Mütter haben (Lea, Rahel und deren Mägde). Jakobs Reichtum führt zu
einem Konflikt mit Laban, welcher durch einen Bundesschluss, der die Grenze zwi-
schen beiden festlegt, behoben wird. Bevor sich Jakob mit seinem Bruder Esau ver-
söhnen kann, muss er vor dem Überqueren des Jabboks mit einem mysteriösen
Gegner kämpfen, in welchem er Gott erkennt, der Jakobs Namen in „Israel“ („Gottes-
kämpfer“) ändert (32,2–33). Danach verläuft die Begegnung mit Esau friedlich und
beide Brüder lassen sich in ihren Gebieten nieder, Esau in Seïr, Jakob in Sichem (Gen
33). Gen 34 enthält eine Erzählung über eine kriegerische Auseinandersetzung zwi-
schen den Einwohnern Sichems und den Söhnen Jakobs. Gen 35 lässt Jakob noch
einmal von Sichem nach Bethel ziehen und wiederholt den Namenswechsel, weiter
wird die Geburt Benjamins und der Tod Rahels mitgeteilt. Abschließend werden die
Namen der anderen Jakobssöhne wiederholt. Gen 36 informiert über die Nachkom-
men Esaus.

Die Jakobserzählung setzt sich im Rahmen der Josefsnovelle fort, da sein Tod und
Begräbnis erst in 49,28–50,13 berichtet wird. Die Geschichte Josefs, deren hohe
künstlerische Qualität immer wieder bemerkt und bewundert wurde, erzählt
von dem von seinen Brüdern verstoßenen Josef, der in Ägypten eine erstaun-
liche Karriere macht und dadurch zum Retter seiner Brüder und seines Vaters
wird.

Träume und ihre Deutungen spielen in der Josefsnovelle eine große Rolle, in welcher
viele Motive paarweise vorkommen. Zwei Träume Josefs provozieren den Hass der
Brüder und Josefs Verkauf nach Ägypten (Gen 37; die Geschichte von Juda und
Tamar in Gen 38 unterbricht den Zusammenhang). Nachdem er von der frustrierten
Frau seines Herrn ungerechterweise wegen versuchter Vergewaltigung angeklagt ist,
landet er im Gefängnis (Gen 39), wo ihm seine Interpretation der Träume des Mund-
schenks und des Bäckermeisters des Pharaos erlauben, dessen eigene zwei Träume
richtig zu deuten und danach Maßnahmen für die kommende Hungersnot vorzu-
schlagen. Daraufhin wird er zum zweiten Mann Ägyptens und heiratet die Frau eines
ägyptischen Priesters (Gen 40–41). Die Hungersnot zwingt seine Brüder zunächst
ohne Benjamin nach Ägypten hinabzuziehen (Gen 42). Josef, den sie nicht erkennen,
fordert von ihnen, Benjamin nach Ägypten zu bringen, und behält Simeon als Geisel
zurück. Bei der zweiten Reise klagt Josef Benjamin fälschlicherweise des Diebstahls an.
Da sich die Brüder nun aber solidarisch ihm gegenüber verhalten und ihn nicht wie
einen „zweiten Josef“ behandeln, kann die Versöhnung stattfinden (Gen 43–45). Da-
nach wird Jakobs Reise und Ankunft in Ägypten berichtet (Gen 46–47). Gen 48–49
bereiten den Tod Jakobs vor. In Gen 48 adoptiert er die Josefssöhne Manasse und
Efraim, wobei er dem jüngeren Efraim den Vorzug gibt. Gen 49 enthält Segens- bzw.
Tadelsprüche über die zwölf Söhne Jakobs, welche die zwölf Stämme Israels repräsen-
tieren. Nach dem Tod und Begräbnis Jakobs (49,28–50,13) bestätigt Josef die Versöh-
nung mit seinen Brüdern und interpretiert alle Ereignisse als göttliche Fügung. Da-
nach folgt ein knapper Bericht über Josefs Tod (Gen 50,14–26).
98 B. Der Pentateuch

Die Erzählungen über Abraham, (Isaak,) Jakob und Josef besitzen jeweils ein
eigenständiges theologisches und stilistisches Profil, so dass davon auszugehen
ist, dass sie zunächst eigenständig überliefert worden sind.

2. Die letzten Redaktionen

a) Pentateuch- und Hexateuchredaktionen

E. BLUM, Die Komposition der Vätergeschichte, 1984 (WMANT 57). – J. L. SKA, El Relato del Dilu-
vio. Un relato sacerdotal y algunos fragmentos redaccionales posteriores: EsB 52 (1994), 37–62. – E.
OTTO, Die Paradieserzählung Genesis 2–3: Eine nachpriesterliche Lehrerzählung in ihrem religions-
historischen Kontext, in: A. A. Diesel u. a. (Hg.), „Jedes Ding hat seine Zeit …“. Studien zur israeliti-
schen und altorientalischen Weisheit. FS D. Michel, 1996 (BZAW 241), 167–192. – M. WITTE, Die
biblische Urgeschichte. Redaktions- und theologiegeschichtliche Beobachtungen zu Genesis 1,1–
11,26, 1998 (BZAW 265). – A. SCHÜLE, The Divine-Human Marriages (Genesis 6:1–4) and the Greek
Framing of the Primeval History: ThZ 65 (2009), 116–128. – T. RÖMER, Abraham and the Law and
the Prophets, in: P. Carstens / N. P. Lemche (eds.), The Reception and Remembrance of Abraham,
2011 (Perspectives on Hebrew Scriptures and its Contexts 13), 103–118.

Am Ende der Genesis werden in Gen 50,25–26 zwei unterschiedliche Span-


nungsbogen geschlagen: In 50,24 erwähnt Josef den Landschwur an die Patriar-
chen, der zum letzten Mal in Dtn 34,4 erscheint. Damit wird eine Klammer um
den Pentateuch hergestellt. In 50,26 findet sich eine neue Redeeröffnung. Josef
verpflichtet nun seine Brüder seine Gebeine beim Auszug aus Ägypten in das
verheißene Land mitzunehmen. Diese Verpflichtung wird in Ex 13,17 erfüllt und
findet in Jos 24,32 (Beerding der Gebeine in Sichem) ihren Abschluss. Damit
wird eine Hexateuchperspektive bzw. -redaktion sichtbar.

Bereits 1984 hat E. BLUM von einer „Jos-24-Bearbeitung“ gesprochen, zu der er in der
Genesis 33,19; 35,1–7 (Abtun der fremden Götter in Sichem) und Gen 50,25–26
rechnete. Möglicherweise liegt auch in Gen 15, der in der gegenwärtigen Forschung
als einer der spätesten Texte der Abrahamerzählung angesehen wird, eine Hexateuch-
perspektive vor; allerdings fehlt ein direkter Bezug auf Jos 24. Dass Abraham in Gen
15 mit königlichen und prophetischen Zügen ausgestattet ist, setzt eine Kenntnis der
im Entstehen begriffenen Nebiim voraus, sowie den Versuch, Tora und Nebiim zu
korrelieren, und die Vorrangigkeit der Tora zu unterstreichen. Damit gehört Gen 15
wohl eher einer Pentateuchredaktion an (RÖMER).

Vom Ende der Genesis zurückschreitend, dürfte die Einfügung von Gen 49,1–27
einer Pentateuchredaktion zugeschrieben werden, die das Ende Jakobs mit dem
des Mose (Dtn 33) parallelisiert. Auch die Überarbeitung und Einfügung der
Josefsgeschichte in ihren jetzigen Zusammenhang ist wohl das Werk der letzten
Redaktionen des Pentateuchs. In der Abrahamgeschichte gehören neben Gen 15
Texte, die den Patriarchen mit der dtr Gesetzestheologie in Zusammenhang
bringen, zur Pentateuchredaktion: Gen 18,17–19 (vielleicht auch 18,22–32*);
22,15–18; 26,2–5*. Die Frage nach-priesterlicher Redaktionen in der Urgeschich-
te wird in der neueren Forschung kontrovers diskutiert.
II. Das Buch Genesis 99

Die nicht-priesterlichen Texte in Gen 1–11, die traditionell dem Jahwisten zuge-
schrieben wurden, werden von einigen Autoren einer nach-priesterlichen Pentateuch-
redaktion zugerechnet. So behauptet OTTO, Gen 2–3 setze den priesterlichen Schöp-
fungsbericht in Gen 1,1–2,3 voraus und kommentiere diesen im Sinne der pessimisti-
schen Weisheit. SKA weist darauf hin, dass die „J-Texte“ der Sintflutgeschichte keinen
vollständigen Zusammenhang ergeben, sondern sich besser als Kommentar zur pries-
terlichen Version erklären lassen. Allerdings erklärt diese Radikallösung kaum die
offensichtlichen Widersprüche zwischen den nicht-priesterlichen und priesterlichen
Texten in Gen 1–9, die ein nach-priesterlicher Redaktor doch wohl kaum erfunden
hätte. So wird man der „Endredaktion“ in Gen 1–11 eher eine bescheidenere Rolle
zuweisen müssen (WITTE): den doppelten Gottesnamen Jhwh-Elohim, der den in Gen
1 verwendeten Term „Elohim“ mit dem in Gen 2–3 verwendeten Jhwh kombiniert
(was ein Hinweis auf die Verbindung zweier unabhängiger Texte ist), die Geographie
des Gottesgartens in 2,10–14, die den Erzählduktus unterbricht und in der Erzählung
keine weiter Funktion hat, die vom Endredaktor vorgenommene Verdoppelung des
verbotenen Baums und weitere Retuschen. In Gen 4,25–26 harmonisiert der Redaktor
die nicht-priesterliche Kain-Genealogie in 4,17–23 mit der priesterlichen Adam-
genealogie in Gen 5 und versucht die Tatsache auszugleichen, dass bereits in einigen
Erzählungen der Patriarchenzeit der Eigenname des Gottes Israels durchaus bekannt
ist (z. B. Gen 16,11; 26,25; 28,13). Er hat weiter Gen 6,1–4 (ein Exzerpt aus griechi-
scher Heldenmythologie [SCHÜLE] und vielleicht auch aus der Henoch-Tradition) als
neuen Prolog für die aus P- und nicht-P-Stücken kombinierte Sintflutgeschichte ein-
gefügt und diese in 7,1b.3.8–9.16.22–23; 8,21b u. a. überarbeitet. Die in 9,20–27 zu be-
obachtende Spannung, dass Ham gegenüber seinem Vater eine unzüchtige Handlung
begeht, der Empfänger des Fluches aber Kanaan ist, weist ebenfalls auf Überarbeitung
hin. Schließlich hat der „Endredaktor“ die priesterliche Völkertafel in Gen 10 revidiert
(nach WITTE in V. 4b, 8–10*, 12b, 14–15*, 18b.19, 21, 24, 25*, 29b–30), um diese mit
Gen 11 auszugleichen, da er wohl auch die ehemals selbständige Erzählung vom
Turmbau in 11,1–9 eingefügt hat.

Eine „Heiligkeitsredaktion“ lässt sich im Buch Genesis mit Ausnahme einiger


Verse in Gen 17 nicht ausfindig machen (s. o.).

b) Die Frage einer Toledot-Redaktion

B. D. EERDMANS, Die Komposition der Genesis, Giessen 1908 (Alttestamentliche Studien 1). – G.
VON RAD, Die Priesterschrift im Hexateuch, 1934 (BWANT 65). – M. NOTH, Überlieferungsge-
schichte des Pentateuch, Stuttgart 1948. – S. TENGSTRÖM, Die Toledotformel und die literarische
Struktur der priestlichen Erweiterungssicht im Pentateuch, 1982 (CB.OT 17). – D. JERICKE, Abraham
in Mamre. Historische und exegetische Studien zur Region von Hebron und zu Genesis 11,27–19,38,
2003 (Culture and History of the Ancient Near East 17).

Wie bereits aufgezeigt, haben die Toledot-Titel im jetzigen Kontext der Genesis
eine gliedernde Funktion. Meistens wurde und wird diese Formel zum Bestand
der Priesterschrift gerechnet. Ausgehend von Gen 5,1 haben G. VON RAD und M.
NOTH in der Nachfolge EERDMANS’ hingegen die Existenz eines Toledotbuches
postuliert, welches von der Priesterschrift aufgenommen und integriert wurde.
100 B. Der Pentateuch

Diese These ist modifiziert von JERICKE weitergeführt worden, der darauf hinweist,
dass die Toledot in unterschiedlichen grammatischen Konstruktionen auftreten. Er
isoliert eine Gruppe in Gen 5,1; 6,9; 11,10 und 27; 25,19, in welcher die Toledot-For-
mel mit einer Zeugungsnotiz verbunden ist, und schließt daraus die Existenz eines
Toledotbuches, welches die Toledot Adams (Gen 5,1ff.), Noachs (6,9ff.), Terachs
(11,27ff.) und Isaaks (ursprünglich: Abrahams, 25,19) enthielt. Dieses Buch wäre dann
in die Priesterschrift integriert worden.

Es ist schwierig, alle Toledot-Formeln als integralen Bestandteil der Priester-


schrift zu verstehen; so leitet Gen 37,2 keinesfalls einen P-Text ein, und die Dop-
pelung von 36,1 und 9 ist im Rahmen von P ebenfalls unklar. Damit lautet die
einfachste Hypothese wie folgt: Ein Teil der Toledot-Formeln gehörte zu P (ent-
weder als Vorlage oder von P verfasst), die Ausweitung der Formeln auf elf bzw.
zwölf (ohne oder mit Gen 25,13) ist einer nach-priesterlichen Redaktion zuzu-
schreiben. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Pentateuch-Redaktion, son-
dern um eine Genesis-Redaktion, welche die Eigenständigkeit des Buches unter-
streichen will.

c) Weitere nach-priesterliche Texte

E. BLUM, Die Komposition der Vätergeschichte, 1984 (WMANT 57). – E. A. KNAUF, Ismael, 1985
(ADPV). – A. ROFÉ, An Inquiry into the Betrothal of Rebeka, in: E. Blum et al. (Hg.), Die Hebräische
Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte. FS R. Rendtorff, Neukirchen-Vluyn 1990, 27–39. – J.-L.
SKA, The Call of Abraham and Israel’s Birth-certificate (Gen 12:1–4a), in: The Exegesis of the Penta-
teuch, 2009 (FAT 66), 46–66.

Zwischen den auf Penta- bzw. Hexateuch zurückgehenden Texten finden sich in
der Genesis mehrere Passagen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit als nachpries-
terlich einzustufen sind, deren genaue Einordnung aber bei der heutigen Lage
der Pentateuchforschung ein sehr schwieriges Unterfangen ist.
In der Abrahamerzählung sind folgende Texte nach P aber vor den letzten
Redaktionen entstanden:

Gen 14 ist der einzige Text, der aus Abraham einen Krieger macht. Die Begegnung
Abrahams mit Melchisedek wurde bisweilen auf die Situation der Hasmonäerzeit be-
zogen, zu welcher ein kriegerischer Abraham gut passen würde, aber es ist kaum
denkbar, dass zu dieser Zeit noch so umfangreiche Texte in den Pentateuch integriert
wurden. Damit bleibt die genaue geschichtliche Einordnung dieses Textes weiterhin
ein Rätsel. Die Berufung Abrahams in Gen 12,1–4, welche königliche Motive auf Ab-
raham überträgt, setzt P voraus und verstärkt den Zusammenhang von Ur- und Erz-
elterngeschichten, welcher bei P nur über eine Genealogie läuft (SKA). Gen 12,1–4
konstruiert die an Abraham gerichtete JHWH-Rede als eine „Antwort“ auf die Babel-
Erzählung in 11,1–9. Wollte die Menschheit sich dort einen Namen machen, ver-
spricht nun Jhwh Abraham einen großen Namen und stellt der Zerstreuung der
Menschheit in Gen 11 eine Sammlung in Abraham gegenüber. Da, wie oft beobachtet
wurde, Gen 12,1–4 eng mit Gen 22,1–14.19 zusammenhängt (vgl. z. B. den nur in 12,1
und 22,2 gebrauchten emphatischen Imperativ lek leka, der jeweils in Bezug auf ein
II. Das Buch Genesis 101

unbekanntes „Land“ gebraucht wird), dürfte auch Gen 22 auf das Konto desselben
nachpriesterlichen Bearbeiters gehen. Da auch zwischen Gen 22 und 20–21* enge
Verbindungen bestehen (in allen drei Kapitel wird überwiegend ’elohim als Gottesbe-
zeichnung gebraucht) und sich auch weitere Argumente für eine späte Ansetzung die-
ser Erzählungen finden (Gen 20 ist nach BLUM die jüngste der drei Ahnfrauerzählun-
gen und vertritt eine Diasporaperspektive, Gen 21,8–21 ist nach KNAUF ein junger
Midrasch von Gen 16, welcher Gen 22 vorbereitet), wird man auch 20,1–18 und 21,8–
21 (sowie 21,22–34?) der Gen 22-Schicht zurechnen können. Schließlich ist auch die
sich bereits durch ihren barocken Stil von den übrigen Abrahamerzählungen abhe-
bende Episode der Brautwerbung für Isaak in Gen 24 das Werk eines späten Autors,
der eine ähnliches Anliegen wie das Mischeheverbot in Esra-Nehemia vertritt. Erzäh-
lerisch ist Gen 24 den Erzählungen Daniel 2–6 und dem Buch Tobit sehr ähnlich
(ROFÉ).

Damit erscheint die Abrahamgeschichte in ihrer jetzigen Gestalt als eine sehr
junge, zum großen Teil nachpriesterliche Kreation, in welche jedoch auch ältere
Traditionen eingeflossen sind.
Im Jakobszyklus lassen sich weniger nachpriesterliche Einschübe eruieren. Der
nicht einheitliche Text Gen 34, der das in der zweiten Hälfte der Perserzeit viru-
lente Problem des Konnubiums thematisiert, dürfte zu diesen Zusätzen gehören.

3. Das Problem der zeitlichen und theologischen Einordnung


der Josefsgeschichte
G. VON RAD, Joesephsgeschichte und ältere Chokmah, in: Congress Volume, 1953 (VT.S 1), 120–127.
– L. RUPPERT, Die Josephserzählungen der Genesis. Ein Beitrag zur Theologie der Pentateuchquellen,
1965 (StANT 11). – D. B. REDFORD, A Study of the Biblical Story of Joseph (Genesis 37–50), 1970
(VT.S 20). – A. MEINHOLD, Die Gattung der Josephsgeschichte und des Estherbuches: Diaspora-
novelle I, II: ZAW 87, 88 (1975 / 1976) 306–324; 72–93. – H. DONNER, Die literarische Gestalt der
alttestamentlichen Josephsgeschichte 1976 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissen-
schaften, Philologisch-historische Klasse, Abh. 2). – W. DIETRICH, Die Josephserzählung als Novelle
und Geschichtsschreibung. Zugleich ein Beitrag zur Pentateuchfrage, 1989 (BthS). – N. KEBEKUS, Die
Joseferzählung. Literarkritische und redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Genesis 37–50,
1990 (Internationale Hochschulschriften 26). – B. J. DIEBNER, Le roman de Joseph, ou Israël en
Egypte. Un midrash post-exilique de la Tora, in: O. Abel / F. Smyth (éds.), Le livre de traverse, 1992
(Patrimoines), 55–71. – C. PAAP, Die Josephsgeschichte Genesis 37–50. Bestimmungen ihrer literari-
schen Gattung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, 1994 (EH.T 534). – J.-D. MACCHI, Israël et
ses tribus selon Genèse 49, 1999 (OBO 171). – T. RÖMER, La narration, une subversion. L’histoire de
Joseph (Gn 37–50) et les romans de la diaspora, in: G. J. Brooke / J.-D. Kaestli (eds.), Narrativity in
Biblical and Related Texts, 2000 (BETL 149), 17–29. – C. UEHLINGER, Fratrie, filiations et paternités
dans l’histoire de Joseph (Genèse 37–50*), in: J.-D. Macchi / T. Römer (éds.), Jacob. FS A. de Pury,
2001 (Le Monde de la Bible 44), 303–328. – K. SCHMID, Die Josephsgeschichte im Pentateuch, in: J. C.
Gertz et al. (Hg.), Abschied vom Jahwisten, 2002 (BZAW 315), 83–118. – A. KUNZ, Ägypten in der
Perspektive Israels am Beispiel der Josefsgeschichte (Gen 37–50): BZ 47 (2003) 206–229. – J.
WÖHRLE, Fremdlinge im eigenen Land: zur Entstehung und Intention der priesterlichen Passagen der
Vätergeschichte, 2012 (FRLANT 246).

Über die Entstehung und Intention der Josefsgeschichte gehen die Meinungen
derzeit sehr weit auseinander. Einflussreich war G. VON RADs Interpretation,
nach welcher Gen 37–50* den Geist der salomonischen Aufklärung widerspie-
102 B. Der Pentateuch

gele, und eine im 10. Jh. v. Chr. entstandene weisheitliche Lehrerzählung sei,
welche der Ausbildung junger Hofbeamter diente. VON RAD betonte zwar die
literarische Eigenständigkeit und Qualität der Erzählung, wollte sie aber dennoch
im Rahmen der Urkundenhypothese auf J und E verteilen. Der Systemzwang
eines solchen Unternehmens wurde von H. DONNER und R. REDFORD mit Recht
kritisiert, die überzeugend die Einheitlichkeit der ursprünglichen Josefsgeschich-
te nachwiesen. Da auch die Idee einer salomonischen Aufklärung weder archäo-
logisch noch historisch aufrechtzuerhalten war, wurden in der Folge neue Datie-
rungsvorschläge gemacht.

W. DIETRICH sah in der Josefserzählung eine nach 926 v. Chr. geschriebene Allegorie,
die das Nordreich und die Herrschaft des durch Josef symbolisierten Jeroboams legi-
timieren sollte. Allerdings wird Josef nie König und bleibt im Gegensatz zu Jeroboam
sein ganzes Leben lang in Ägypten. KEBEKUS schlug vor, die ursprüngliche Version der
Erzählung (Ruben-Grundschicht) in die Zeit von König Hiskija anzusetzen. Dass Josef
auch nach seinem Aufstieg „Zweiter“ bleibt, reflektiere die Situation der Nordstämme
nach dem Fall Samarias (722 v. Chr.). Aber auch diese Allegorie scheint gezwungen,
da sie nicht erklärt, warum Josef in Ägypten bleibt und dort Karriere macht.

Eine weit spätere Datierung von Gen 37–50 legt sich deshalb nahe. Sie wurde
bereits vom Ägyptologen REDFORD suggeriert, der aufzeigte, dass sich die besten
Parallelen zu den in der Josefserzählung begegnenden Namen und Bräuchen in
der saitisch-persischen bzw. hellenistischen Zeit finden. Eine späte Ansetzung
wird auch vom biblischen Befund her nahegelegt. Außer dem zur Hexateuch-
redaktion gehörenden Motiv des Transports der Gebeine Josefs (Gen 50,25; Ex
13,19 und Jos 24,32) und den späten Einfügungen in Ex 1,5b,6 und 8 begegnen
klare Anspielungen auf die Josefsgeschichte in der gesamten HB nur in Psalm
105, der anerkanntermaßen den Pentateuch in seiner jetzigen Gestalt voraussetzt.
Und selbst im Lob der Väter in Sir geht die Aufzählung direkt von Jakob zu Mose
über (44,22–45,5), Josef wird erst nachholend und in Bezug auf seine Gebeine in
49,15 erwähnt.
Damit ergeben sich wichtige Argumente für eine späte Datierung der Josefsge-
schichte (DIEBNER, RÖMER, KUNZ). Die Erzählung eines durch die Schuld seiner
Brüder nach Ägypten verschleppten jungen Israeliten, der dort eine rasante
Karriere macht, die seiner ganzen Familie zugute kommt, kann gut als eine
Diasporanovelle (MEINHOLD) erklärt werden, die der Legitimierung der ägypti-
schen Diaspora dient und dort entstanden sein könnte. Man hat oft die sehr
liberale und moderne Theologie der Josefsgeschichte bemerkt: Die in der deute-
ronomistischen Tradition kritisierten Mischehen werden hier ohne weiteres
akzeptiert. Josef heiratet die Tochter eines ägyptischen Priesters und erhält selbst
einen ägyptischen Namen (vgl. ähnlich Daniel und seine Freunde, die ebenfalls
babylonische Namen tragen). Es bestehen keinerlei theologische Probleme zwi-
schen Josef und dem Pharao, beide akzeptieren die Lenkung der Geschicke durch
’elohim, und bis auf die Verse Gen 39,2.5.21.23, die möglicherweise zu einer
späteren Bearbeitung gehören, enthält sich der Erzähler jeglichen direkten
II. Das Buch Genesis 103

Kommentars über die göttliche Einwirkung. Alle weiteren theologischen Aussa-


gen finden sich im Munde der Protagonisten (Josef, seine Brüder, der ägyptische
König), so dass es dem Leser überlassen bleibt, sich diese Aussagen zu eigen zu
machen.
Ist somit eine Datierung der ursprünglichen Josefserzählung (Gen 37*;
39,1.4b.6–20; 40–45*; 46,28–33; 47,1–12*; 50,1–11.14–21.26) in das 5. oder 4. Jh.
v. Chr. durchaus wahrscheinlich, stellt sich weiter die Frage, ob P bereits diese
Erzählung kannte und voraussetzte (so z. B. SCHMID, WÖHRLE). Allerdings sind
in der Josefsgeschichte nur wenige Texte als P identifizierbar: 37,1–2* (die aber
eher zur Jakobgeschichte gehören und die Liste von Jakobs Nachkommen in Gen
46 einleiten) und 41,46a (Altersangabe: Josef tritt mit 30 Jahren dem Pharao
gegenüber). Nach WÖHRLE hätte P (der hier als Redaktor fungiert) die Josefs-
geschichte in sein Werk integriert. Allerdings läge dann im Vergleich mit den
anderen Genesis-Traditionen eine sehr diskrete priesterliche Präsenz in der
Josefserzählung vor, so dass es wohl eine bessere Option ist, davon auszugehen,
dass P den Übergang von der Patriarchen- zur Exoduszeit durch das Hinabstei-
gen der Familie Jakobs gestaltete (vgl. auch Dtn 10,22; 26,5). Das genaue Alter
der Josefsgeschichte ist damit noch nicht bestimmt. Sicher wurde diese nach
ihrer Einfügung in den Pentateuch überarbeitet (z. B. durch die Hervorhebung
der Rolle Judas, vgl. MACCHI) und erweitert (Einfügung von Gen 38 und 46–
49*). Im Rahmen der Tora kommt mit der Josefsgeschichte eine liberale und
diasporaorientierte Stimme des Judentums zum Ausdruck.

4. Die priesterlichen Texte in der Genesis


C. MACHOLZ, Israel und das Land. Vorarbeiten zu einem Vergleich zwischen Priesterschrift und
deuteronomistischem Geschichtswerk, (Habil.), Heidelberg, 1969. – J. VAN SETERS, Abraham in
History and Tradition, New Haven / London 1975. – E. ZENGER, Gottes Bogen in den Wolken:
Untersuchungen zu Komposition und Theologie der priesterschriftlichen Urgeschichte, 1983 (SBS
112). – M. WITTE, Die biblische Urgeschichte. Redaktions- und theologiegeschichtliche Beobach-
tungen zu Genesis 1,1–11,26, 1998 (BZAW 265). – A. DE PURY, Abraham: The Priestly Writer’s
„Ecumenical“ Ancestor, in: S. L. Mckenzie / T. Römer (eds.), Rethinking the Foundations. FS J. Van
Seters, 2000 (BZAW 294), 163–181. – A. DE PURY, Sem, Cham et Japhet. De la fraternité à l’esclavage,
in: A. Kolde et al. (éds.), κορυφεω ανδρί. FS A. Hurst, Genf 2005, 495–508. – E. BOSSHARD-NEPUSTIL,
Vor uns die Sintflut: Studien zu Text, Kontexten und Rezeption der Fluterzählung Genesis 6–9, 2005
(BWANT 165). – J. BLENKINSOPP, Abraham as Paradigm in the Priestly History in Genesis: JBL 128
(2009) 225–241.

Die Ausgrenzung der P-Stücke in der Genesis ist von einigen Varianten abgese-
hen weithin anerkannt. Die Unterscheidung von Pg und Ps ist weniger konsens-
fähig. Deswegen wird im Folgenden meistens von „P“ die Rede sein, wobei
vorausgesetzt wird, dass es sich dabei nicht um einen Autor bzw. Redaktor han-
delt, sondern um eine Gruppe, die über einen längeren Zeitraum hin ihre (und
auch andere?) Texte redigiert und ediert hat.
P beginnt sein Werk in der Urgeschichte mit dem Schöpfungsbericht in Gen
1,1–2,3, in welchem ’elohim die Welt friedlich und harmonisch und die Mensch-
104 B. Der Pentateuch

heit (’adam), Mann und Frau, als Gottes Ebenbild schafft. Menschen und Tiere
sind zunächst als Vegetarier in die Welt gesetzt, sie brauchen einander nicht zu
töten, um sich zu ernähren. Danach folgt in Gen 5 eine genealogische Liste, die
vom ersten Menschen (’adam) zu Noach überleitet. Die meisten Patriarchen in
dieser Liste haben erstaunlich hohe Lebensalter (die Angaben in MT, LXX und
Sam variieren erheblich), was an die sumerische Königsliste erinnert, in welcher
sich die vorsintflutlichen Könige eines noch weit höheren Alters erfreuen. Die
priesterliche Version der Sintflutgeschichte findet sich in Gen 6,9–22; 7,6.11.13–
16a.17b–21; 7,24–8,1a.2a.3b.5.13a.14.15–19; 9,1–17. Für P ist die Sintflut die
göttliche Strafe für die „Verdorbenheit alles Fleisches“ (woher diese kam, wird
nicht explizit gesagt, es sei denn, P setze bei ihren Hörern die Kenntnis der Kain-
und Abel-Geschichte voraus). P betont Noachs Vollkommenheit, so dass Gott
die Sintflut um seinetwillen beendet (in 8,1 gedenkt Gott Noachs, wie er in Gen
19,29 an Abraham und Ex 2,23 and die Patriarchen denkt). P zufolge ändert Gott
nach der Sintflut die Schöpfungsordnung: Die Menschen dürfen fortan Fleisch
verzehren, das Blut bleibt jedoch tabu, was noch heute für das Judentum und den
Islam gilt. Weiterhin wird für das Blutvergießen eines Menschen die Todesstrafe
eingeführt, wohl um die menschliche Gewalt regulieren zu können. Am wich-
tigsten ist für P Gottes nachsintflutlicher Bund mit der gesamten Menschheit,
dessen Zeichen der Regenbogen ist. Dieser symbolisiert den Bogen, den er in die
Wolken legt, entweder als Zeichen des Gewaltverzichts oder als Symbol der Ver-
teidigung seiner Schöpfung gegen den Einbruch des Chaos (ZENGER). Im Gegen-
satz zu seinen mesopotamischen Kollegen Ziusudra und Uta-napishti bekommt
Noach nicht die Unsterblichkeit verliehen, jedoch wird er nach 9.18a.19.28–29
950 Jahre alt. Seine drei Söhne Sem, Ham und Jafet bevölkern, wie in der pries-
terlichen Völkertafel (Gen 10,1–4a.5–7.20.22.23.31–32) ausgeführt wird, die
ganze zu Anfang der Perserzeit bekannte Welt. P stellt sich, ähnlich wie in der
persischen Behistun-Inschrift, die ganze Völkerwelt als friedlich zusammen-
lebend vor (DE PURY 2005). Die Genealogie von Sem wird in 11,10–32 aufge-
nommen und bis nach Terach und Abram weitergeleitet. Damit schafft P eine
genealogische Verbindung von Ur- und Patriarchengeschichte.
In der Abrahamgeschichte liegt P in 12,4b–5; 13,6.11b.12; 16,3.15–16; 17,1–
12.15–20.22.23–27*; 19,29; 21,1b–5; 23(?); 25,7–10.13–17 vor. Die priesterliche
Genealogie macht aus Abraham einen Einwanderer, der aus Haran nach Kanaan
zieht. Diese Idee findet sich in den ältesten Überlieferungen nicht. Es fällt weiter
auf, dass für P der Bundesschluss in Gen 17 im Zentrum steht. Die Erzählungen
von der Trennung mit Lot und der Geburt Ismaels werden knapp mitgeteilt,
ohne dass irgendwelche Konflikte berichtet werden. Es ist anzunehmen, dass P
bei seinem Publikum die Kenntnis dieser Traditionen voraussetzt und sie friedli-
cher als im Original nacherzählt. Der Bundesschluss in Gen 17 besteht haupt-
sächlich aus einer Gottesrede, in welcher sich Jhwh dem Patriarchen als „El
Schaddai“ vorstellt. Die Namen der Erzeltern werden geringfügig verändert,
Abram zu Abraham und Saraj zu Sara, um deren neuen Status zu verdeutlichen.
Das Bundeszeichen, die Beschneidung, erklärt sich aus einer „exilischen“ Situa-
II. Das Buch Genesis 105

tion, da die Zirkumzision in der Levante zwar gebräuchlich war, nicht aber in
Mesopotamien. P definiert diese dabei als ein Geburtsritual und nicht mehr als
einen Pubertätsritus (Isaak wird am 8. Tag beschnitten, Ismael in seinem 13.
Lebensjahr). Weiter bestimmt Gen 17 auch das Verhältnis der beiden Abrahams-
söhne Ismael und Isaak. Ismael ist in den Bund miteinbezogen und wird zu
einem Jakob vergleichbaren Stammvater, da auch er zwölf Nachkommen (Gen
25,13–17) erhält, Isaak hingegen führt die israelitische „Hauptlinie“ weiter. P
kann sich keinen Zwist der Brüder vorstellen, er unterstreicht im Gegenteil, wie
sich beide getrennt lebenden Brüder treffen, um gemeinsam ihren Vater zu be-
statten (25,7–10).

Die Frage, ob der Kauf der Grabstelle Abrahams und Saras (Gen 23), Machpela, die
bei P zur Grabstätte aller Patriarchen wird, zu P gehört, wird in der gegenwärtigen
Forschung kontrovers diskutiert. In der Tat handelt es sich dabei um einen profanen
Immobilienkauf, bei welchem Gott völlig abwesend ist. Aber vielleicht ist diese All-
täglichkeit gewollt, um in gewisser Weise das Patriarchengrab zu „profanieren“ (VAN
SETERS), d. h. dem Grab der Patriarchen einen Wert als Gedenkort zuzugestehen, aber
gleichzeitig den in persischer Zeit noch verbreiteten Ahnenkult (Jes 65,4) abzuwehren.
Es ist ebenfalls möglich, dass mit dieser Erzählung auch Gebietsansprüche auf die Ge-
gend um Hebron verteidigt werden sollten (MACHOLZ).

Lässt sich für die Abrahamsgeschichte der P-Faden beinahe komplett rekonstru-
ieren, so ist dies für die Jakobsgeschichte nicht der Fall. Hier wird traditionell mit
Ausfällen gerechnet. Es fehlen insbesondere die Geburtsgeschichte von Jakob
und Esau, Jakobs Aufenthalt bei Laban sowie seine Heiraten und Kinder. Fol-
gende Texte können P zugeschrieben werden: 25,20; 26,34–35; 27,46; 28,1–9*;
35,6*.9–15.27–29; 36,40–43; 37,1; 46,6–7 (8–26) 27–28; 49,29–33; 50,12–13. P
interessierte sich wohl mehr für Abraham als für Jakob. Wichtig ist für P in der
Jakobserzählung die Idee, sich nicht wie Esau eine der Töchter des Landes als
Frau zu nehmen. Demnach wird Jakobs Reise zu seiner aramäischen Verwandt-
schaft nicht als Flucht dargestellt, sondern als die Konsequenz des Wunsches
seiner Mutter. Wie schon bei Abraham ist P nicht daran interessiert, von Kon-
flikten zwischen Brüdern zu berichten. Auch Jakob und Esau begraben gemein-
sam ihren Vater Isaak. Die priesterliche Jakobsgeschichte hat dann durch eine
Liste in Ex 1,1–5a, die eine Parallele in 46,8–26 (Ps?) hat, den Übergang zur
Exoduserzählung geschaffen.

5. Die vorpriesterlichen Erzählzyklen der Genesis

a) Die Urgeschichte

W. VON SODEN, Reflektierte und konstruierte Mythen in Babylonien und Assyrien: StOr 55 (1984),
147–157. – C. UEHLINGER, Weltreich und „eine Rede“. Eine neue Deutung der sogenannten Turm-
bauerzählung (Gen 11,1–9), 1990 (OBO 101). – M. WITTE, Die biblische Urgeschichte. Redaktions-
und theologiegeschichtliche Beobachtungen zu Genesis 1,1–11,26, 1998 (BZAW 265). – J. C. GERTZ,
106 B. Der Pentateuch

Von Adam zu Enosch. Überlegungen zur Entstehungsgeschichte von Gen 2–4, in: M. Witte (Hg.),
Gott und Mensch im Dialog. FS O. Kaiser (BZAW 345/I), 215–236. – A. SCHÜLE, Der Prolog der
hebräischen Bibel: der literar- und theologiegeschichtliche Diskurs der Urgeschichte (Gen 1–11),
2006 (AThANT 86). – M. ARNETH, „Durch Adams Fall ist ganz verderbt …“: Studien zur Entstehung
der alttestamentlichen Urgeschichte, 2007 (FRLANT 217).

Ähnlich wie im babylonischen Athra-Hasis-Mythos bilden die nicht-priesterli-


chen bzw. „jahwistischen“ Erzählungen von der Menschenschöpfung (Gen 2,4b–
3,23*) und der Sintflut (ungefähr 6,5–7a*.8; 7,1a.2.4.10a.12.23*; 8,1b.6.7–
12.13b.20–22*) ein Diptych, in welchem die Sintflut die ursprüngliche Schöpfung
„korrigiert“. Trotz der zum Teil sehr engen Parallelen zu Athra-Hasis und zur
Sintfluterzählung in der elften Tafel des Gilgamesch-Epos enthält die nicht-P-
Erzählung wichtige Innovationen. Die Erschaffung des ersten Menschenpaares
wird mit der Erzählung der Übertretung eines göttlichen Verbots und der Ver-
treibung aus dem Paradies (2,9*.16–17; 3,1–24*) verbunden, womit der Konflikt
zwischen den Menschen und den Göttern eine ethische Komponente erhält.
Diese wird noch dadurch verstärkt, dass der göttliche Entschluss zur Sintflut
durch die Bosheit (ra‘ah) der Menschen begründet wird. Der Mensch, der vom
Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen hat, hat sich für das Böse
entschieden. Diese Feststellung in 6,5 wird durch die Kain-Erzählung (Gen 4,1–
24) vorbereitet, die erzählt, wie die Sünde und Gewalt in die menschliche Welt
einbrechen. Zugleich wird aber der erste Mörder der Menschheit zum Erfinder
der Zivilisation und der Kulturgüter (Städte, Technik, Musik). Allerdings ist
damit die menschliche Bosheit nicht gezähmt, wie das abschließende Lameklied
(4,23–24) zeigt, das gut zu JHWHs Beschluss in 6,5–7* überleitet. Die vorpriester-
liche Sintfluterzählung, die im Gegensatz zur P-Version nicht vollständig erhal-
ten ist, erzählt, wie die mesopotamischen Parallelen, von der Erfindung des Tier-
opfers, mit dem die Götter beruhigt werden können, und nach welchem JHWH
zusagt, künftig von einer solchen Katastrophe nicht mehr Gebrauch zu machen.
Ein späterer Redaktor hat an die Flutgeschichte die dann später noch überarbei-
tete Erzählung von der Erfindung des Weines durch Noach angefügt (9,20–27),
da dieses Kulturgut in Gen 4 nicht erwähnt wird. Die Geschichte des Turmbaus
zu Babel ist in ihrer jetzigen Gestalt als eine Parallele zu Gen 3 gestaltet. Auch
hier geht es darum zu verhindern, dass die Menschen wie ’elohim werden. Man
kann diese Erzählung als einen „konstruierten Mythos“ (VON SODEN) bezeich-
nen, da es für diese Erzählung, außer einer möglichen Beziehung zu Enmerkar
und der Herr von Aratta, keine direkten mesopotamischen Analogien zur Idee
einer Sprachverwirrung gibt. Nach UEHLINGER wurde die erste Version der Er-
zählung kurz nach 705 als theologische Interpretation des Scheiterns von Sargons
II Bauprojekt Dur-Sharrukin geschrieben. In seiner jetzigen Form (ironische An-
spielung auf den Namen Babel) setzt die Erzählung bereits die Einnahme Baby-
lons durch die Perser voraus und wurde wahrscheinlich erst im 5. Jh. v. Chr.
(zusammen mit Gen 12,1–4?) in die Urgeschichte eingearbeitet.
II. Das Buch Genesis 107

b) Die Abraham- (und Isaak-) Erzählungen

B. DIEBNER, „Isaak“ und „Abraham“ außerhalb Gen 12–50. DBAT 7 (1974), 38–50. – J. VAN SETERS,
Abraham in History and Tradition, New Haven / London 1975. – E. BLUM, Die Komposition der
Vätergeschichte, 1984 (WMANT 57). – E. A. KNAUF, Ismael. Untersuchungen zur Geschichte Paläs-
tinas und Nordarabiens im 1. Jahrtausend v. Chr., 1985 (ADPV). – H. SCHMID, Die Gestalt des Isaak:
ihr Verhältnis zur Abraham- und Jakobtradition, 1991 (EdF 274). – M. KÖCKERT, Vätergott und
Väterverheißungen, 1988 (FRLANT 142). – I. FISCHER, Die Erzeltern Israels. Feministisch-theologi-
sche Studien zu Genesis 12–36, 1994 (BZAW 222). – T. RÖMER, Recherches actuelles sur le cycle
d’Abraham, in: A. Wénin (ed.), Studies in the Book of Genesis. Literature, Redaction and History,
2001 (BETL 155), 179–211. – D. JERICKE, Abraham in Mamre. Historische und exegetische Studien
zur Region von Hebron und zu Genesis 11,27–19,38, 2003 (Culture and History of the Ancient Near
East 17). – M. KÖCKERT, Die Geschichte der Abrahamüberlieferung, in: A. Lemaire (ed.), Congress
Volume Leiden 2004, 2006 (VT.S 109), 103–128. – H. SPIECKERMANN / D. M. CARR, Abraham I.
Hebrew Bible / Old Testament: EBR 1 (2009) cols 149–156. – W. OSWALD, Staatstheorie im Alten
Israel. Der politische Diskurs im Pentateuch und in den Geschichtsbüchern des Alten Testaments,
Stuttgart 2009. – T. RÖMER, Abraham Traditions in the Hebrew Bible Outside the Book of Genesis,
in: C. A. Evans et al. (eds.), The Book of Genesis. Composition, Reception, and Interpretation, 2012
(VT.S 152), 159–180.

Wenn man nicht die klassische Urkundenhypothese voraussetzen will, ist die
Datierung der ältesten Abrahamtraditionen ein recht schwieriges Unterfangen.
Ez 33,24 zeigt jedenfalls, dass die Figur des Patriarchen gegen Ende des Exils oder
zu Beginn der persischen Zeit bekannt war und von der nicht-deportierten Be-
völkerung als Legitimationsfigur verwendet wurde. Falls die Erzählung von der
Geburt Ismaels in Gen 16 eine Ätiologie der Stammesföderation Shumu’il geben
will (KNAUF), könnte man die Anfänge dieser Tradition in das 8. Jh. v. Chr. da-
tieren. Die Ursprünge der Abrahamüberlieferung liegen im Heiligtum von
Mamre, wo neben einem heiligen Baum (so LXX) wohl auch der Patriarch Abra-
ham verehrt wurde. Zur ältesten schriftlichen Abraham-Erzählung gehören
(RÖMER 2001, Köckert 2004) zunächst: Gen 12,10–20 und 16,1–2.4–8.11–13.
Beide Erzählungen sind parallel konstruiert und wohl demselben Autor zuzu-
schreiben (VAN SETERS); da Gen 12,10ff. wohl als Kritik gegenüber den nach 587
v. Chr. nach Ägypten geflüchteten Judäern zu verstehen ist (vgl. Jer 43,2), kann
die noch rekonstruierbare älteste schriftliche Abraham-Erzählung kaum vor dem
6. Jh. v. Chr. entstanden sein. Die Erzählung von der Trennung Abrahams von
Lot (Gen 13,2.5.7–10.12–13) bereitet die Erzählung der Zerstörung Sodoms in
Gen 19 (ungefähr 19,1–16*.23a.24*.26.30*–38) vor. Wurde diese bei ihrer Ver-
schriftung bereits als eine Metapher für den Untergang Jerusalems verstanden
(JERICKE)? Gen 19* erhielt in Gen 18,1–16* einen Prolog. Die Gastfreundschaft
Abrahams gegenüber den ihm unbekannten göttlichen Besuchern basiert auf
einem verbreiteten mythologischen Motiv. Das Lachen (aaq) Saras zeigt, dass
in dieser Fassung der Abraham-Erzählung der Sohn bereits Isaak (Yitaq) war,
dessen Geburt den Abschluss der älteren Abraham-Erzählung bildete (der
Abschluss wurde durch den P-Bericht in 21,1–5 verdrängt; 21,6–7* gehörten
vielleicht zu der ursprünglichen Geburtserzählung).
108 B. Der Pentateuch

Das Verhältnis der Abrahams- zu den Isaaküberlieferungen ist noch nicht


zufriedenstellend geklärt.

Isaak scheint ursprünglich eine in Beerscheba verehrte Ahnenfigur gewesen zu sein. In


der ältesten literarisch rekonstruierbaren Abrahamerzählung ist Isaak bereits zu sei-
nem Sohn geworden. Allerdings gibt es kaum spezifische Überlieferungen von ihm.
Die in Gen 26 erscheinenden Themen sind ohne Beziehung zur Jakobstradition (Re-
bekka und Isaak sind kinderlos) aber allesamt in der Abrahamserzählung verankert,
wie die Parallelen von Gen 26,1–11 mit 12,10–20; Gen 20 und Gen 26,12–32 mit
21,22–33 zeigen. Da der Aufenthalt Abrahams in Beerscheba in 21 wohl als Über-
nahme aus der Isaaktradition zu verstehen ist, mag es sein, dass die Isaaktradition nur
teilweise überliefert wurde, um Abrahams dominierende Stellung zu betonen (H.
SCHMID).

c) Die Jakobtraditionen

O. EISSFELDT, Das Alte Testament im Licht der safatenischen Inschriften: ZDMG 104 (1954), 88–118.
– A. DE PURY, Promesse divine et légende cultuelle dans le cycle de Jacob, 1975 (Etudes Bibliques). –
R. RENDTORFF, Das überlieferungsgeschichtliche Problem des Pentateuch, 1976 (BZAW 147). – E.
BLUM, Die Komposition der Vätergeschichte, 1984 (WMANT 57). – A. DE PURY, Hosea 12 und die
Auseinandersetzung um die Identität Israels und seines Gottes, in: W. Dietrich / M. Klopfenstein
(Hg.), Ein Gott allein? JHWH-Verehrung und biblischer Monotheismus im Kontext der israelitischen
und altorientalischen Religionsgeschichte, 1994 (OBO 139), 413–439. – I. FISCHER, Die Erzeltern
Israels. Feministisch-theologische Studien zu Genesis 12–36, Berlin / New York 1994 (BZAW 222). –
D. M. CARR, Reading the Fractures of Genesis, Louisville 1996. – H. M. WAHL, Die Jakobserzählun-
gen. Studien zu ihrer mündlichen Überlieferung, Verschriftung und Historizität, 1997 (BZAW 258).
– H. PFEIFFER, Das Heiligtum von Bethel im Spiegel des Hoseabuches, 1999 (FRLANT 183). – J.-D.
MACCHI / T. RÖMER (éds.), Jacob. Commentaire à plusieurs voix de Gen. 25–36. FS A. de Pury, 2001
(Le Monde de la Bible 44). – E. A. KNAUF, Towards an Archaeology of the Hexateuch, in: J. C. Gertz
et al. (Hg.), Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion,
2002 (BZAW 315), 275–294. – A. DE PURY, The Jacob Story and the Beginning of the Formation of
the Pentateuch, in: T. B. Dozeman / K. Schmid (eds.), A Farewell to the Yahwist?, 2006 (SBL.SS 34),
51–72.

Dass die in Gen 27–35 enthaltenen Jakobüberlieferungen zum Teil deutlich älter
sind als die Abrahamtraditionen, ist allgemein anerkannt. Allerdings ist auch
hier die Rekonstruktion der literarischen Konturen der ältesten Jakobserzählung
nur schwierig und hypothetisch durchzuführen. Seit GUNKEL unterscheidet man
einen Jakob-Laban- und einen Jakob-Esau-Sagenkranz, die später miteinander
verbunden wurden. Die Anspielungen auf die Jakobtradition in Hos 12 setzen
folgende Episoden voraus: Die Geburtsgeschichte Jakobs und seines Zwillings-
bruders (25,24–26), der Kampf mit Gott bzw. seinem Engel (32,23–32), die
Bethelepisode (28,10–22*), die Bereicherung Jakobs (30,25–42*), seine Flucht aus
Aram (31,1–22*) und sein Dienst um eine Frau (27,15–30*). Falls der Hoseatext
aus dem 8. Jh. v. Chr. stammen sollte (DE PURY 1994) und nicht ein viel späteres
Produkt darstellt (PFEIFFER), bedeutet das, dass wichtige Episoden aus der
Jakobserzählung zu dieser Zeit bereits bekannt waren. Außer der Geburtsge-
schichte liegen keine weiteren Anspielungen auf den Konflikt mit Esau vor, so
II. Das Buch Genesis 109

dass man erwägen kann, dass es in der ursprünglichen Erzählung von Jakobs
Geburt hauptsächlich um die volksetymologische Erklärung seines Namens geht.
Im Kontext des 8. oder 7. Jh.s ist Jakobs Aufenthalt bei Laban in Harran, der
Hauptstadt des assyrischen Westreiches als eine Erzählung zu verstehen, die auf-
zeigt, wie man sich mit etwas List mit den Assyrern bzw. Aramäern arrangieren
kann (KNAUF). Die Traumvision in Bethel (Himmelstor, ein Stufenturm, eine am
Himmelstor thronende Gottheit) erklärt sich ebenfalls leicht als eine Übernahme
neuassyrischer religiöser Vorstellungen. Insofern kann man annehmen, dass die
vor-priesterliche (und mehrschichtige) Version des Aufenthalts Jakobs bei Laban
im 8. oder 7. Jh. v. Chr. in Bethel verschriftet wurde, vielleicht zur Zeit Jero-
boams II. Dass die Erzählung von Jakobs Konflikt mit Laban weitaus älter ist,
zeigt jedoch die Szene des Bundesschlusses der beiden Kontrahenten in Gen
31,45–54*. Hier wird deutlich, dass es um die Abgrenzung zweier Territorien
und zweier Sippenverbände geht, die im Bereich Gileads, im Ostjordanland, süd-
lich des Hauran ansässig sind (EISSFELDT). Hier schimmert die älteste wohl vor-
staatliche Tradition durch, nach welcher die Jakob-Sippe ursprünglich im Ostjor-
danland ansässig gewesen war.

Auch wenn mündliche Tradition durchaus fluktuierend ist (WAHL), kann man für die
Jakobüberlieferung ein hohes Alter wahrscheinlich machen. Das Alter der Tradition
zeigt sich auch darin, dass beide Kontrahenten den jeweiligen Gott ihres Vorfahren
anrufen (31,53), ohne dass dies als ein theologisches Problem erscheint. Die älteste Ja-
kobstradition dürfte demnach von der Trennung einer aramäischen Jakobssippe von
einer anderen aramäischen Sippe gehandelt haben.

Bleibt die Frage nach dem Ursprung des Jakob-Esau-Sagenkranzes.

Im Rahmen der traditionellen Urkundenhypothese, die mit der Annahme eines davi-
disch-salomonischen Großreichs einherging, fand man in der wechselhaften Bezie-
hung zwischen Jakob (Israel) und Esau (Edom) die politische Situation des 10. Jh.s
v. Chr. reflektiert (so noch BLUM). Da aber beide Voraussetzungen kaum noch haltbar
sind, bleiben in Bezug auf die Einfügung der Esau-Episoden folgende Möglichkeiten:
a) Der Konflikt mit Edom betrifft nicht den Norden, sondern den Süden (Juda). Inso-
fern würden diese Erzählungen bereits den Untergang des Nordreichs und ein theolo-
gisches Verständnis von „Israel“ voraussetzen. Ein plausibler Hintergrund für den
Konflikt zwischen Israel und Edom wäre dann die Situation im 6. Jh. v. Chr., als die
Edomiter den südlichen Teil des ehemaligen Königreichs Juda kontrollierten. b) Die
Verbindung zwischen Jakob/Israel und Esau/Edom kann durch die Erinnerung daran
erklärt werden, dass JHWH ursprünglich ein Gott aus dem Süden war, ja vielleicht so-
gar der Gott Edoms, der dann auch in Israel verehrt wurde. c) Die Inschriften aus
Kuntillet Ajrud erwähnen einen „Jhwh von Samaria“ sowie einen „Jhwh von Teman“.
Das heißt, dass im 8. Jh. v. Chr. Jhwh zugleich als der Gott des Nordreichs und als ein
in edomitischem Gebiet verehrter Gott verstanden wurde. Insofern könnten die
Ursprünge des Jakob-Esau-Sagenkranzes in diese Zeit datiert werden.

Wann genau die Jakob- mit der Abraham-Erzählung verbunden wurde, ist
schwierig zu entscheiden. Der frühestmögliche Zeitpunkt ist das Ende des 8. Jh.s
110 B. Der Pentateuch

v. Chr. Ein plausibles Datum wäre die Zeit Joschijas, falls es zutrifft, dass dieser
König das Heiligtum Bethel annektierte bzw. kontrollierte. Im Rahmen dieser
Verbindung wurde der judäische Abraham dem israelitischen Jakob vorange-
stellt; weiter entwickelten die Redaktoren verschiedene Strategien, um beide
Patriarchen zu parallelisieren.

So entspricht Abrahams Durchquerung des Landes in 12,6–9 spiegelverkehrt den


Peregrinationen Jakobs. In exilischer Zeit wurden in beide Zyklen die meisten der
Land- und Nachkommensverheißungen eingefügt (RENDTORFF), schließlich hat P in
Antizipation von Jakobs Namenswechsel auch für Abraham einen Namenswechsel er-
funden. Das Buch Ezechiel aber zeigt, dass trotz dieser Verbindung das Bewusstsein
der Eigenständigkeit der beiden Erzväter erhalten blieb, denn Abraham sowie Jakob
werden dort an verschiedenen Stellen erwähnt, jedoch nie korreliert.
III. Das Buch Exodus
Kommentare: M. NOTH, 1959 (ATD). – R. E. CLEMENTS, 1972 (CNEB). – B. S. CHILDS, 1974 (OTL). –
J. P. HYATT, 1981 (NCBC). – J. I. DURHAM, 1987 (WBC). – J. SCHARBERT, 1989 (NEB.AT). – N. M.
SARNA, 1991 (JPSTC). – C. HOUTMAN, 1996–2000 (HCOT). – J. G. JANZEN, 1997 (Westminster Bible
Companion). – G. W. COATS, 1999 (FOTL). – W. H. SCHMIDT, 1999ff. (Ex 1–17) (BK.AT). – C.
DOHMEN, 2004 (HThK.AT) Ex (19–40). – T. B. DOZEMAN, 2009 (Eerdmans Critical Commentary). –
G. FISCHER / D. MARKL, 2009 (NSK.AT). – R. ALBERTZ (ZBK.AT) 2012 (Ex 1–18). – H. UTZSCHNEI-
DER / W. OSWALD (IEKAT) 2013 (Ex 1–15).

1. Aufbau und Inhalt


G. AUZOU, De la servitude au service. Etude du livre de l’Exode, 1961 (Connaissance de la Bible).

Die Aussage, dass Jhwh Israel aus Ägypten herausgeführt hat, wird oft als die
theologische Grundaussage der Hebräischen Bibel angesehen. Das Buch Exodus
(hebräisch: Schemot: „Namen“; so nach dem ersten Vers des Buches) enthält die
Erzählung von der Unterdrückung der Hebräer durch die Ägypter und die Her-
ausführung aus dieser Not durch Jhwh bzw. Mose, auf die in vielen anderen
biblischen Texten angespielt wird. Die zweite Hälfte des Buches leitet die Zeit des
Wüstenaufenthaltes ein und berichtet von der göttlichen Offenbarung am Berg
Sinai, die sich in den Büchern Levitikus und Numeri fortsetzt. Das Buch wird
eröffnet mit der Beschreibung der Unterdrückung der Israeliten (Ex 1) und endet
mit dem Einzug Jhwhs in sein von den Israeliten errichtetes Heiligtum (Ex 40).
Damit berichtet Exodus von einem Herrschaftswechsel: Die Diener des Pharaos
werden zu Dienern Jhwhs (AUZOU). Israel soll seinem neuen Herrn durch das
Halten seiner Gesetze (Ex 20–23) und in seinem Heiligtum (Ex 25–31; 35–40)
dienen. Das Buch ist in zwei Teile aufgebaut, 1–14; 16–40. Der Einschnitt wird
durch Ex 15 markiert, ein Hymnus bzw. Psalm, der das voranstehende Meer-
wunder poetisch rezipiert und die Erzählung des Auszugs zum Abschluss bringt.

Die Überleitung von Genesis zu Exodus wird durch eine Liste der Glieder von Jakobs
Familie in 1,1–6 geschaffen, die eine ausführlichere Parallele in Gen 46,8–27 hat. Die
Notiz über die Vermehrung des Volkes in 1,7 soll deutlich machen, dass sich die an
die Patriarchen ergangenen Mehrungsverheißungen erfüllt haben. Der Einschnitt in
Bezug auf das friedliche Zusammenleben zwischen Hebräern und Ägyptern am Ende
der Genesis wird dadurch markiert, dass in Ex 1 ein neuer Pharao auf den Thron
kommt, der sich gegenüber den Hebräern feindlich verhält, und sie einerseits zu
Frondiensten verwenden, andererseits aber auch ausrotten will (Ex 1,8–22). In dieser
Situation wird Mose von levitischen Eltern geboren. Von seiner Mutter im Nil ausge-
setzt, wird das drei Monate alte Kind von der ägyptischen Königstochter entdeckt und
adoptiert. Er erhält von ihr den ägyptischen Namen Mose („gezeugt von“, wie z. B.
Ramses: „Gezeugt von Ra“), der aber hebräisch („aus dem Wasser gezogen“) erklärt
wird. Bei derselben Gelegenheit erfährt der erstaunte Leser, dass Mose bereits eine
Schwester hat (Ex 2,1–10). Von Moses Jugend weiß das Buch Exodus nichts zu be-
richten. Er betritt erst im Erwachsenenalter wieder die Bühne. Als er einen Ägypter
tötet, der einen hebräischen Sklaven misshandelt, muss er fliehen und lässt sich im
112 B. Der Pentateuch

Land Midian nieder, wo er durch seine Heirat mit Zippora zum Schwiegersohn eines
midianitischen Priesters wird (welchem die Überlieferung verschiedene Namen gibt:
Jitro, Reguël, Hobab; Ex 2,11–25). Beim Hüten der Herde seines Schwiegervaters
verirrt sich Mose bereits zum Gottesberg, wo ihm Jhwh in einem brennenden
Dornbusch erscheint und ihn dazu beruft, die Hebräer aus Ägypten herauszuführen,
in ein Land „wo Milch und Honig fließen“. Auf verschiedene Einwände Moses, unter
anderem, dass er nicht wisse, wie er den Israeliten den Gott präsentieren solle, in
dessen Namen er spräche, antwortet Jhwh mit der bekannten Wendung „ich werde
sein, der ich sein werde“. Am Ende der Perikope betritt nun auch ein Bruder Moses,
Aaron, die Szene, welcher als Sprecher des Mose mit ihm vor Pharao treten soll (Ex
3,1–4,18; 4,27–31). Vor dem Treffen mit Aaron, auf dem Rückweg nach Ägypten,
überfällt Jhwh Mose mit der Absicht, ihn zu töten. Letzterer wird durch einen Be-
schneidungsritus seiner Frau gerettet (Ex 4,19–26). Nachdem die erste Begegnung mit
dem ägyptischen König mit einem Fiasko endet (Ex 5), offenbart sich Jhwh erneut
Mose mit seinem wahren Namen, unter dem er den Patriarchen nicht erschienen ist
(Ex 6,1–14). Nach einer Genealogie, welche die Namen der Eltern Moses und deren
levitische Abstammung präzisiert (Ex 6,14–27), folgt der Zyklus der ägyptischen Pla-
gen bzw. Wundererweise, in welchen Jhwh, vertreten durch Mose und Aaron, seine
Überlegenheit gegenüber Pharao zum Ausdruck bringt (Ex 7–14). Die ägyptischen
Zauberer können zunächst noch mithalten, müssen aber schnell anerkennen, dass
hinter Mose und Aaron ein mächtiger Gott am Werk ist. In der Endgestalt des Textes
wird die Weigerung des ägyptischen Königs, die Israeliten ziehen zu lassen, auf zwei
unterschiedliche Weisen erklärt. Der einen Tradition gemäß verstockt sich der Pharao
und wird deshalb mit immer härter werdenden Plagen geschlagen; nach der anderen
(priesterlichen) Tradition verhärtet Jhwh selbst das Herz des Pharao der somit keiner-
lei Autonomie hat. Vor der Plage der Tötung der ägyptischen Erstgeborenen, die das
Gegenstück zu Pharaos Versuch, die hebräischen Neugeborenen umzubringen (Ex
1,15–22), darstellt, wird die Erzählung durch die Einfügung des Pascha-Rituals unter-
brochen (Ex 12,1–28.43–49; 13,1–16). Der Plagenzyklus wird durch den wunderbaren
Durchzug der Israeliten durch das geteilte Schilfmeer abgeschlossen, in welchem
Pharao und seine Armee ertrinken (Ex 13,17–14,31). In 15,1–21 enthält die Erzählung
vom Auszug einen hymnischen Abschluss.

Der zweite Teil wird durch Erzählungen vom Wüstenaufenthalt der Israeliten
eröffnet (15,22–17,16), die sich im Buch Numeri fortsetzen.

Nach einer Einleitung, die bereits auf das Halten der göttlichen Gebote anspielt
(15,22–27), werden exemplarisch drei Gefahren der Wüste dargestellt und deren
Überwindung durch das durch Moses Fürbitten erwirkte göttliche Eingreifen. Der
Hunger wird durch die Gabe des Mannas überwunden, wobei die Israeliten den Sab-
bat als Ruhetag entdecken (Ex 16); der Durst wird durch Wasser aus dem Felsen ge-
stillt (17,1–7), und Israels Feinde, in 17,8–15 durch die Amalekiten repräsentiert, wer-
den durch Moses Fürbitten und Josuas Kriegführung geschlagen. Josua, der spätere
Nachfolger Moses, betritt hier zum ersten Mal die Bühne. Während die Ankunft am
Sinai erst in Ex 19 erzählt wird, berichtet bereits Ex 18, dass die Israeliten am Gottes-
berg lagern und Jitro Mose einen Besuch abstattet. Der midianitische Priester preist
dabei Jhwhs mächtige Taten und bringt ihm als erster ein Opfer dar. Weiterhin hilft er
Mose das Gerichtswesen zu rationalisieren. Ex 19 enthält die Beschreibung der Theo-
phanie am Sinai, die mit Jhwhs Ankündigung, mit seinem Volk einen Bund schließen
zu wollen, eröffnet wird. Anschließend verkündigt Jhwh die zehn Gebote (20,1–17),
III. Das Buch Exodus 113

wonach Mose aufgrund des Bittens des Volkes, das die direkte Präsenz und die
Stimme Jhwhs nicht ertragen kann, zum Mittler zwischen Israel und Jhwh eingesetzt
wird. Demnach werden in der Folge alle göttlichen Gebote von Gott dem Mose und
von Mose dem Volk mitgeteilt (20,18–21). Diese Erzählung ist vor die erste Ge-
setzessammlung des Pentateuchs, das „Bundesbuch“ (Ex 20,22–23,19), gestellt, wel-
ches durch einen Ausblick auf die Landnahme und eine Warnung, anderen Göttern
zu dienen, abgeschlossen wird (23,20–33). Der in Ex 19 angekündigte Bundesschluss,
durch welchen Israel für Jhwh zu einem priesterlichen Volk werden soll, realisiert sich
in Ex 24. Hier werden Opfer von jungen Leuten dargebracht, und Moses, Aaron und
weitere Begleiter steigen hinauf zu Jhwh und werden seiner ansichtig. Diese Unmittel-
barkeit zwischen Jhwh und seinem Volk wird jedoch durch die Erzählung vom Gol-
denen Kalb zunichte gemacht. Vor dieser Erzählung sind jedoch ausführliche Anwei-
sungen an Mose zum Bau eines mobilen Heiligtums (Ex 25–31) eingeschoben. Das
Herstellen eines goldenen Jungstiers, mit welchem die Israeliten in Abwesenheit
Moses Jhwh materialisieren wollen, führt zur ersten großen Krise. Mose zerschmettert
die Tafeln mit den göttlichen Geboten, mit denen er vom Sinai herabkam. Jhwh will
das Volk vernichten und wird davon nur durch Moses Fürbitten abgehalten. Nichts-
destotrotz töten die Leviten um die dreitausend Männer (Ex 32). Ex 33–34 berichten
die Wiederherstellung der Beziehung, allerdings nicht mehr in der Unmittelbarkeit
von Ex 24. Jhwh ist von nun an in einem „Begegnungszelt“ außerhalb des Lagers
präsent und selbst Moses, darf ihn nicht mehr sehen (33,20). Ex 35–40 nehmen die
Anweisungen von 25–31 auf und berichten, wie diese getreulich ausgeführt werden.
Die Israeliten errichten Jhwh seine Wohnstatt, und das Buch Exodus endet damit, dass
Jhwhs Herrlichkeit in Gestalt einer dichten Wolke das Heiligtum ausfüllt (40,34–40).

2. Theorien zur Entstehung des Exodusbuches


J. PEDERSEN, Passahfest und Passahlegende: ZAW 52 (1934) 161–175. – E. BLUM, Studien zur Kom-
position des Pentateuch, Berlin / New York 1990 (BZAW 189). – W. OSWALD, Israel am Gottesberg.
Eine Untersuchung zur Literaturgeschichte der vorderen Sinaiperikope Ex 19–24 und deren histori-
schem Hintergrund, 1998 (OBO 159). – J. C. GERTZ, Tradition und Redaktion in der Exodus-
erzählung. Untersuchungen zur Endredaktion des Pentateuch, 1999 (FRLANT 186). – R. G. KRATZ,
Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments. Grundwissen der Bibelkritik, 2000
(UTB 2157). – E. OTTO, Mose und das Gesetz. Die Mose-Figur als Gegenentwurf Politischer Theo-
logie zur neuassyrischen Königsideologie im 7. Jh. v. Chr., in: E. Otto (Hg.), Mose. Ägypten und das
Alte Testament, 2000 (SBS 189), 42–83. – R. ALBERTZ, Die vergessene Heilsmittlerschaft des Mose.
Erste Überlegungen zu einem spätexilischen Exodusbuch (Ex 1–34*): EvTh 69 (2009) 443–459. – J.
JEON, The Call of Moses and the Exodus Story: a Redactional-Critical Study in Exodus 3–4 and 5–13,
2013 (FAT II/60).

Im Gegensatz zur Genesis, wo sich – bei Aufgabe der Urkundenhypothese –


leicht drei große Einheiten (Urgeschichte, Patriarchen, Schöpfung) voneinander
abheben lassen, die erst spät miteinander verbunden wurden, ist die Sachlage im
Buch Exodus komplizierter. Abgesehen von der Annahme einer zunächst selb-
ständigen Exoduserzählung (Ex 1–15*), die schon von PEDERSEN als eigenstän-
dige (liturgische) Einheit identifiziert wurde, und des ursprünglich selbständigen
Bundesbuchs sowie der Identifizierung der priesterlichen Texte werden recht
unterschiedliche Modelle der Entstehung des Exodusbuches vertreten.
114 B. Der Pentateuch

E. BLUM nimmt eine vorexilische Vita Mosis an, die von der Geburt bis zum Tod des
Mose gereicht hat, und dann in eine das dtr Geschichtswerk voraussetzende KD
(„Deuteronomistische Komposition“) integriert wurde. R. KRATZ postuliert eine
Mose-Landnahme-Erzählung, die den Grundstock der Bücher Ex-Jos gebildet haben
soll. W. OSWALD eruiert neben der Exoduserzählung in Ex 18–24* eine ursprünglich
selbständige Exodus-Gottesberg-Erzählung aus der Exilszeit, die dann beide in ein
großes DtrG integriert wurden. E. OTTO und R. ALBERTZ nehmen eine ältere Mose-
Exodus-Erzählung an, die bis in den Sinai hineinreichte. ALBERTZ arbeitet eine exili-
sche Exoduskomposition (Ex 1–34*) heraus, die verschiedene Vorlagen integriert,
darunter eine aus dem 9. Jh. v. Chr. aus dem Nordreich stammende „politische Mose-
Erzählung“. Die Exodus-Komposition wurde dann von mehreren priesterlichen Be-
arbeitungen und einer spät-dtr Redaktion revidiert, bevor späte Hexateuch- und
Pentateuchredaktionen punktuelle Eingriffe vornahmen.

Die meisten neueren Modelle treffen sich trotz aller Verschiedenheit in der An-
nahme folgender Schichten: Eine ältere (vorexilische) Exoduserzählung, eine dtr
Bearbeitung, eine priesterliche Version der Exoduserzählung bzw. priesterliche
Bearbeitungen der älteren Erzählung, nach-priesterliche Hexateuch- bzw. Pen-
tateuchredaktionen. Eine solche Differenzierung lässt sich an Textbeobachtun-
gen gut deutlich machen. So ist schon lange beobachtet worden, dass in Ex 3,18
und 3,19 eine Dublette vorliegt. In 3,18 informiert Mose, der bereits den
göttlichen Auftrag zur Rückkehr nach Ägypten erhalten hat, seinen Schwieger-
vater, dass er diese Reise antreten müsse, wohingegen in 3,19 Gott ihm erst den
Auftrag zum Aufbruch erteilt. Da 3,19 an die Notiz über den Tod des Pharaos
anschließt, der in 2,23aα berichtet wird, und 3,18 den Abschluss der mit 3,1 ein-
setzenden Berufungsgeschichte des Mose bildet, kann man davon ausgehen, dass
die Fortsetzung von 2,23aα ursprünglich in 4,19 zu finden war. In diesen älteren
Erzählzusammenhang wurde dann die Berufungsgeschichte des Mose eingefügt,
die sich sowohl vom Stil als auch von der Theologie her als dtr zu erkennen gibt
(JEON). In priesterlichen Texten wie Ex 16 lassen sich leicht nach-priesterliche
Einschübe ausmachen. So wird der priesterliche Zusammenhang von der Ent-
deckung des Sabbats in Ex 16,27.30 in V. 28–29 durch eine dtr klingende Zornes-
rede Jhwhs unterbrochen, in der das Volk angeklagt wird, generell die göttlichen
Gebote zu missachten. Übergreifende Redaktionen lassen sich ebenfalls leicht
ausmachen: So macht die Notiz über die Mitnahme der Gebeine Josefs in 13,19
nur im Rahmen eines Hexateuchs Sinn, da die Beerdigung derselben im ver-
heißenen Land erst am Ende von Jos 24 berichtet wird.

3. Die letzten Redaktionen

a) Pentateuch- und Hexateuch-Redaktionen

P. WEIMAR, Die Berufung des Mose: Literaturwissenschaftliche Analyse von Exodus 2,23–5,5, 1980
(OBO 32). – B. J. DIEBNER, Ein Blutsverwandter der Beschneidung. Überlegungen zu Ex 4,24–26:
DBAT (1984) 119–126. – E. A. KNAUF, Midian. Untersuchungen zur Geschichte Palästinas und
Nordarabiens am Ende des 2. Jahrtausends v. Chr., 1988 (ADPV). – E. BLUM, Studien zur Komposi-
III. Das Buch Exodus 115

tion des Pentateuch, 1990 (BZAW 189). – J. C. GERTZ, Tradition und Redaktion in der Exodus-
erzählung. Untersuchungen zur Endredaktion des Pentateuch, 1999 (FRLANT 186). – E. OTTO, Die
nachpriesterliche Pentateuchredaktion im Buch Exodus, in: M. Vervenne (ed.), Studies in the Book of
Exodus. Redaction – Reception – Interpretation, 1996 (BEThL 126), 61–111. – K. SCHMID, Erzväter
und Exodus. Untersuchungen zur doppelten Begründung der Ursprünge Israels innerhalb der Ge-
schichtsbücher des Alten Testaments, 1999 (WMANT 81). – H.-C. SCHMITT, Das sogenannte jahwis-
tische Privilegrecht in Ex 34,10–28 als Komposition der spätdeuteronomistischen Endredaktion des
Pentateuch, in: J. C. GERTZ et al. (Hg.), Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in
der jüngsten Diskussion, 2002 (BZAW 315), 157–171. – T. RÖMER, Exodus 3–4 und die aktuelle
Pentateuchdiskussion, in: R. Roukema (ed.), The Interpretation of Exodus. FS C. Houtman, 2006
(CBET 44), 65–79.

Zu einer Pentateuchredaktion gehören, wie bereits ausgeführt, die „Patriarchen-


bearbeitung“, die in der Berufungsgeschichte des Mose in Ex 3,1–4,18 den „Gott
der Väter“ als den Gott der drei Patriarchen identifiziert (WEIMAR): 3,6aßb.15–
16*. Die „zweite Runde“ der Verhandlungen in Ex 4,1–17 wird insgesamt der
(wohl mehrstufigen) Pentateuchredaktion zuzuschreiben sein (GERTZ), da hier
bereits die priesterlichen und nicht-priesterlichen Plagenerzählungen vorausge-
setzt werden. Weiterhin wird am Ende Moses Unvergleichlichkeit betont, da er
für seinen Bruder zu einem Gott werden soll (4,16). Dieselbe Aussage findet sich
noch einmal bezüglich des ägyptischen Königs in Ex 7,1.

In der jüngeren Forschung wird bisweilen vorgeschlagen, Ex 3,1–4,18 insgesamt als


nachpriesterlich und in den Umkreis der letzten Redaktionen zu datieren (OTTO,
SCHMID). Dagegen spricht aber der diachrone Befund, der es kaum erlaubt, diese Er-
zählung als von einem Autor verfasst zu verstehen (GERTZ, RÖMER).

Weitere Erwähnungen der Patriarchen finden sich in 32,13, ein Vers, der den
Zusammenhang von 32,12 und 14 unterbricht, sowie in 33,1b. Man kann die-
selbe Bearbeitung auch in der Einfügung Josefs in die priesterliche Liste in 1,5b.6
sowie in 1,8–10 vermuten. Bei der Verbindung der nicht-priesterlichen Plagen
und der priesterlichen Machtwundererzählungen haben die letzten Redaktoren
des Öfteren eingegriffen, insbesondere in 11,1–3, der den Zusammenhang von
10,28–29 und 11,4ff. unterbricht und wiederum auf die Unvergleichbarkeit
Moses abhebt. Das Thema des Goldes und Silbers, das die Israeliten von den
Ägyptern fordern sollen (vgl. auch 3,22 und 12,35–36), wurde vielleicht ein-
geführt, um zu erklären, woraus die Israeliten in der Wüste das goldene Kalb
anfertigen konnten.
Innerhalb der Meerwundererzählung fügt die Pentateuchredaktion in 14,11–
12 das Thema der Ägyptennostalgie ein, dass sich in 16,3; 17,3–4 und dann häu-
fig in Numeri findet. Dieses Thema reflektiert die Diskussion der Perserzeit, ob
man einen neuen „Auszug“ aus Babylon bzw. Ägypten wagen soll. Die Schluss-
notiz in 14,31b, die vom Glauben der Israeliten an Jhwh und an Mose (vgl. auch
19,9) spricht, ist ebenfalls der Pentateuchredaktion zuzusprechen. Auch die Pro-
lepse der Gesetzesgabe in 15,22–27, die Anspielungen auf die Bücher Numeri
und Deuteronomium (vgl. 15,26b mit Num 12,13; 15,26a mit Dtn 7,15) enthält,
116 B. Der Pentateuch

gehört zu den letzten Einfügungen in das Buch. Eine weitere Antizipation findet
sich in der Voranstellung von Ex 18,13ff. vor die Sinaitheophanie.

In dieser Neuinterpretation von Dtn 1,19ff. geht es wohl darum, wie KNAUF es aus-
drückt, „die Einführung der Zivilverwaltung … auf die Völkerwelt“ zurückzuführen
und sie „als profan aus dem Bereich des Sakralen (Ex. 19ff.)“ auszuklammern (157). In
dieser Hinsicht ist Ex 18,13ff. durchaus mit Esra 7 vergleichbar, wo das Gesetz des
Gottes Esras und das Gesetz des persischen Königs parallelisiert werden (V. 26). Esra
7 will die Verkündigung der Tora als mit dem persischen Zivilrecht vereinbar sehen
und Ähnliches gilt auch für Ex 18,13–26. Damit dürfte der Sitz im Leben bzw. in der
Literatur von Ex 18,13ff. in der intellektuellen Bewältigung des Verlustes der politi-
schen Autonomie im Rahmen der Jerusalemer Bürger-Tempel-Gemeinde Jerusalems
der Perserzeit zu suchen sein.

Die schwer mit der Logik des Handlungsverlaufes in Einklang zu bringenden


Verse 19,20–25 werden in neueren Untersuchungen ebenfalls recht einmütig als
sehr später Eintrag in die Sinaiperikope angesehen. Diese Passage hebt Aaron
von den übrigen Priestern ab, verortet das Hohepriesteramt zu Beginn der
Sinaiperikope und macht Mose zum alleinigen Vermittler der Gesetzesoffenba-
rung, da 19,25 suggeriert, dass auch der Dekalog durch Mose übermittelt wurde.
Auch die Neuformulierung des Privilegrechts Jhwhs in 34,10–28 mag einer
Pentateuchredaktion zugeschrieben werden.
Eine Hexateuchperspektive ist klar in Ex 13,17 und 16,35 erkennbar, ein Vers,
der die Zeit des Mannas einleitet, welche in Jos 5,10–12 ausdrücklich abgeschlos-
sen wird. Auch die Erzählung der ägyptischen Hebammen, die sich dem todbrin-
genden Befehl des Pharaos widersetzen (Ex 1,15–21*) und die Überarbeitung der
Begegnung zwischen Jitro und Mose in 18,1–12, in dem der midianitische Pries-
ter in V. 10 ein hymnisches Bekenntnis zu JHWH anstimmt, welches dem der
Rahab in Jos 2 ähnelt, können auf das Konto der Hexateuchredaktion gehen, der
es um die Integration der Samaritaner und anderer Völker geht. Insofern könnte
auch die Episode von der nächtlichen Attacke Jhwhs in 4,24–26, welche die
Integration der midianitischen Frau Moses bewirkt (DIEBNER), derselben Redak-
tion zugeschrieben werden (4,21–23, die das Geschehen umdeuten wollen, wären
dann von der Pentateuchredaktion hinzugefügt worden).
Möglicherweise ist auch die Einfügung des hymnischen Abschlusses in Ex
15,1–18 der Hexateuchredaktion zuzurechnen. Diese setzt die mythologische
Deutung des Meerwunders durch P voraus und verstärkt die kosmischen Züge,
bereitet aber gleichzeitig das Thema des zweiten Teils des Buches vor, die Er-
richtung des göttlichen Heiligtums sowie die in Josua berichtete Landnahme
(V. 15b–17).

b) Weitere nach-priesterliche Texte

W. OSWALD, Israel am Gottesberg. Eine Untersuchung zur Literaturgeschichte der vorderen


Sinaiperikope Ex 19–24 und deren historischem Hintergrund, 1998 (OBO 159). – E. OTTO, Wie
III. Das Buch Exodus 117

„synchron“ wurde in der Antike der Pentateuch gelesen? (2004), in: Die Tora. Studien zum Penta-
teuch. Gesammelte Aufsätze, 2008 (BZAR 9), 447–460. – C. NIHAN, From Priestly Torah to Penta-
teuch: A Study in the Composition of the Book of Leviticus, 2007 (FAT II/25). – T. RÖMER, Provisori-
sche Überlegungen zur Entstehung von Exodus 18 – 24, in: R. Achenbach / M. Arneth (Hg.),
„Gerechtigkeit und Recht zu üben“ (Gen 18,19). Studien zur altorientalischen und biblischen Rechts-
geschichte, zur Religionsgeschichte Israels und zur Religionssoziologie. FS E. Otto, 2009 (BZAR 13),
128–154.

Zwischen den letzten Redaktionen und den Zusätzen zu P gibt es noch eine
weitere Redaktionsschicht, die man der Heiligkeitsschule zuschreiben kann.
Dazu gehören insbesondere die Passahvorschriften in Ex 12,14–20.43–50, die wie
in Lev 23 das Passah mit dem Mazzot-Fest verbinden und ebenso wie in Lev 23
den Ausdruck „ewige Ordnung“ verwenden. Auch Ex 31,12–17 enthält eine An-
zahl von Parallelen zum Heiligkeitsgesetz (NIHAN) und interpretiert den Sabbat
als ein Zeichen für Jhwhs Bund mit Israel. Der Abschnitt 35,1–3, wo Mose noch
vor dem Baubeginn diese Sabbatinterpretation dem Volk übermittelt, liegt auf
der gleichen Ebene. Einer Heiligkeitsredaktion kann man vielleicht auch Ex
19,3–8 in der jetzigen Gestalt zuschreiben. Die Aussage, Israel sei ein „König-
reich von Priestern“ (V. 6), kann als Vorblick auf das Heiligkeitsgesetz verstan-
den werden. In Lev 20,26 („Ihr sollt heilig für mich sein, denn ich, Jhwh, bin
heilig und ich habe euch von den Völkern getrennt, damit ihr mir gehört“) liegt
in der Tat eine mit Ex 19,5b–6 vergleichbare theologische Aussage vor. Ist das
Heiligkeitsgesetz als ein Ausgleichsversuch zwischen D und P zu verstehen, kann
ein solches Anliegen auch für Ex 19,3–8 festgestellt werden. Neben dtr Termino-
logie finden sich in dieser Perikope auch Wendungen und Themen, die in pries-
terlichen Texten vorliegen. So erscheint das Thema der Absonderung Israels von
den Völkern sowohl in dtr Texten als auch im Heiligkeitsgesetz. Die den Bericht
von der Gottesschau Moses, Aarons, Nadabs, Abihus und den 70 Ältesten
(24,1[2].9–11) unterbrechende Erzählung eines Blutritus und der Einsetzung
Moses als erster „Schreiber“ Israels in 24,3–8 wird oft als eine auf dem gleichen
literarischen Niveau wie 19,3–8 stehende Erzählung angesehen. Der doppelte
Blutritus in 24,6 und 8 hat seine engsten Parallelen in den priesterlichen Texten
Ex 29,19–21 und Lev 8,22–30, die von der Priesterweihe Aarons und seiner
Söhne handeln. Im Gegensatz zu P wird aber in Ex 24 das ganze Volk durch die
Blutbesprengung geheiligt, was der Theologie des Heiligkeitsgesetzes entspricht.
Vielleicht geht auch die Einfügung des Dekalogs in Ex 20 sowie in Dtn 5 auf die
Heiligkeitsschule zurück, die mit dieser Strategie die Sinaigesetzgebung, die mit
dem Bundesbuch beginnt, und die dtn Gesetzgebung in Dtn 12ff. miteinander
korrelieren wollte (RÖMER). Wie für Ex 19,3–8 kann man auch in den Dekalogen
eine an das Heiligkeitsgesetz erinnernde Sprachmischung feststellen.

Die Nähe des Dekalogs zum Heiligkeitsgesetz erweist sich nicht nur auf sprachlicher
sondern auch auf theologischer Ebene. So ist die Wurzel ‘-b-d („dienen“) im Dekalog
ein „Leitwort“ (5-mal in Ex 20, 7-mal in Dtn 5) und drückt dort die Idee eines Herr-
schaftswechsels aus. Jhwh hat Israel aus der ägyptischen Sklaverei herausgeführt, um
es zu seinem Sklaven zu machen, dementsprechend dürfen sich die Adressaten des
118 B. Der Pentateuch

Dekalogs nicht an andere Götter versklaven. Dasselbe Anliegen findet sich im Heilig-
keitsgesetz, besonders in Lev 25, wo die Adressaten als Jhwhs Sklaven bezeichnet
werden: „Denn für mich sind die Israeliten Sklaven, sie sind meine Sklaven, die ich
aus dem Land Ägypten herausgeführt habe. Ich bin Jhwh, euer Gott“ (V. 55, vgl. auch
V. 38–42).

BLUM hat eine in Ex 3,2* einsetzende und über 14,19, 23,30–34; 33,1a.2–4 bis
nach Ri 2,1–4 reichende „mal’ak-Bearbeitung“ ausgemacht, in welcher Jhwh
durch seinen Engel vertreten wird. Diese Texte beinhalten oft Aufforderungen
zur Abgrenzung von anderen Völkern und kommen sprachlich und ideologisch
spät-dtr Texten wie Dtn 7; 9,1–6, u. a. nahe.

4. Die priesterlichen Texte


P. WEIMAR, Untersuchungen zur priesterschriftlichen Exodusgeschichte, 1973 (FzB 9). – J. REINDL,
Der Finger Gottes und die Macht der Götter. Ein Problem des ägyptischen Diasporajudentums und
sein literarischer Niederschlag, in: W. E. A. Ernst (Hg.), Dienst der Vermittlung. FS Priesterseminar
Erfurt, 1977 (Erfurter Theologische Studien 37), 49–60. – M. WEINFELD, Sabbath, Temple and the
Enthronement of the Lord – The Problem of the Sitz im Leben of Genesis 1:1–2:3, in: A. Caquot / M.
Delcor (éds.), Mélanges bibliques et orientaux en l’honneur de M. Henri Cazelles, 1981 (AOAT 212),
501–512. – J.-L. SKA, Le passage de la mer. Etude sur la construction du style et de la symbolique d’Ex
14,1–31, 1986 (AnBib 109). – E. BLUM, Studien zur Komposition des Pentateuch, 1990 (BZAW 189).
– T. POLA, Die ursprüngliche Priesterschrift. Beobachtungen zur Literarkritik und Traditionsge-
schichte von Pg, 1995 (WMANT 70). – J. VAN SETERS, A Contest of Magicians? The Plague Stories in
P, in: D. P. Wright et al. (eds.), Pomegranates and Golden Bells. Studies in Biblical, Jewish, and Near
Eastern Ritual, Law, and Literature. FS J. Milgrom, Winona Lake, IN, 1995, 569–580. – T. RÖMER,
The Exodus Narrative According to the Priestly Document, in: S. Shectman / J. S. Baden (eds.), The
Strata of the Priestly Writings. Contemporary Debate and Future Directions, 2009 (AThANT 95),
157–174. – C. BERNER, Die Exoduserzählung. Das literarische Werden einer Ursprungslegende
Israels, 2010 (FAT 73).

Über die Abgrenzung der priesterlichen Texte (P) im Buch Exodus besteht weit-
gehende Einigkeit, wobei jedoch auch hier diskutiert wird, ob P zunächst eine
selbständige Erzählung darstellte, oder von Anfang an als Bearbeitung der älteren
Erzählungen konzipiert wurde. Zu P ist in Exodus zu rechnen: 1,7.13–14;
2,23aß–25; 6,2–12 (Zusatz zu P: 6,13–30); 7,8–13.19–20a.21b.22; 8,1–3.11aγb.
12–15; 9,8–12; 11,10; 12,1–13*.28.40–41; 14,1. 2*.3–4.8–10a.15*.16*.17–18.21aαb.
22–23.26.27aα.28–29; 15,22*.27; 16,1.4*.6–7*.8*10*.15–17*.19–27*.30.31*; 17,1*;
19,1–2*.10–11.14–16.18; 24,15–18a; 25–31*; 35–40* (im Rahmen dieser Über-
sicht wird die Mehrschichtigkeit der priesterlichen Texte in den Heiligtumsbau-
anweisungen und -ausführungen nicht berücksichtigt; meistens wird die Grund-
schicht auf die Kapitel 25–26*, 29* und 40* beschränkt).
Insbesondere bis zur Meerwundererzählung lassen sich die P-Texte sehr gut
als eine selbständige Erzählung lesen und verstehen.

Das oft monierte Fehlen einer expliziten Einführung der Figur des Mose (BLUM) lässt
sich durch die Annahme erklären, dass der Verfasser der P-Erzählung bei seinen
Hörern die Kenntnis des Mose bzw. einer Mose-Erzählung voraussetzte. Die dreistu-
III. Das Buch Exodus 119

fige Offenbarungstheologie von P (Gott offenbart sich der Menschheit als elohim, Gen
1, Abraham und seinen Nachkommen als El Schaddai, Gen 17, und den Israeliten
durch Mose als Jhwh, Ex 6) funktioniert ebenfalls besser, wenn die P-Texte in Genesis
und Exodus von den nicht-priesterlichen Texten getrennt werden.

Nach P’s Aussage in Ex 6,7 ist das vorrangige Ziel des Exodus die Annahme Is-
raels als Volk Jhwhs und Israels Erkenntnis, dass Jhwh sein Gott ist. Dem ent-
spricht in Ex 29,45–46 die Gottesrede, mit welcher der Sinn des Opferkultes re-
sümiert wird: „Und ich will inmitten der Israeliten wohnen und ihr Gott sein,
damit sie erkennen, dass ich Jhwh, ihr Gott bin, der sie aus dem Land Ägypten
herausgeführt hat, um mitten unter ihnen zu wohnen, ich, Jhwh, ihr Gott.“ Der
priesterliche Magierwettstreit in Ex 7–9* besteht aus fünf Szenen und lässt sich
problemlos als eine kohärente Erzählung verstehen, welche die Überlegenheit der
Gesandten Jhwhs gegenüber dem magischen „know how“ Ägyptens aufzeigt
(möglicherweise hat P hier eine ursprünglich selbständige Erzählung aufgenom-
men; so REINDL). Die priesterliche Darstellung des Meerwunders ist im Gegen-
satz zu der vor-priesterlichen Version bewusst als Mythos gestaltet. Wie Ex 6 auf
Gen 17 zurückverweist, spannt Ex 14 (P) klar ersichtlich einen Bogen nach Gen 1
(und auch nach Gen 7–8 [P]), und parallelisiert so Weltschöpfung und Schöp-
fung Israels (SKA).

Die Rückbezüge von Ex 35–40 zu Gen 1 sind des Öfteren beobachtet worden und las-
sen sich auch durch altorientalische Mythen wie Enuma Elisch und „Baal und Yam“
belegen (WEINFELD): In diesen Mythen erhält der über die chaotischen Meeresmächte
triumphierende Gott am Ende einen Tempel, in welchem er für seine Machttaten ver-
ehrt wird.

5. Die dtr Version der Mose-Exoduserzählung


W. FUSS, Die deuteronomistische Pentateuchredaktion in Exodus 3–17, 1972 (BZAW 126). – P.
WEIMAR, Die Jahwekriegserzählungen in Exodus 14, Josua 10, Richter 4 und 1 Samuel 7: Bibl. 57
(1976) 38–73. – E. BLUM, Studien zur Komposition des Pentateuch, 1990 (BZAW 189). – A. VAN DER
LINGEN, Les guerres de Yahvé: l’implication de YHWH dans les guerres d’Israël selon les livres histo-
riques de l’Ancien Testament, 1990 (LD 139). – R. ALBERTZ, Die vergessene Heilsmittlerschaft des
Mose. Erste Überlegungen zu einem spätexilischen Exodusbuch (Ex 1–34*): EvTh 69 (2009) 443–459.

Der dtr Charakter von Ex 3 war auch von vielen Vertretern der Urkundenhypo-
these anerkannt worden. Man behalf sich zur Erklärung dieser Beobachtung
entweder mit der Annahme von proto-dtr „jehowistischen“ Texten oder der
Hypothese von dtr Zusätzen zu der aus J/E bestehenden älteren Erzählung. Ein-
facher ist jedoch die Annahme, dass der Grundbestand von Ex 3 (3,1.2*.3–
4.6aα.b.7–14.16aα.b.17; 4,18) zu einer „D-Komposition“ (BLUM, ALBERTZ) ge-
hört, die das DtrG voraussetzt und diesem mit der Exoduserzählung einen neuen
Vorspann gibt. Ausgangspunkt für die Komposition von Ex 3 waren wohl die
Reflexion über den Propheten Mose in Dtn 18,15–20 sowie ein im dtr Umfeld
verankertes theologisches Interesse an der Bedeutung und der Heiligkeit des
120 B. Der Pentateuch

Jhwh-Namens. Die Landverheißungen in V. 8 und 17 spannen den Bogen min-


destens bis zu Josua; die letzte Völkerliste innerhalb der Vorderen Propheten
findet sich in 1 Kön 9,20. Da die Verwendung dieser Listen in Ex 3 einsetzt,
könnte dies ein Indiz dafür sein, dass mit Ex 3 das Konzept eines „großen dtr
Geschichtswerks“ Ex–Kön* verbunden ist. Die Berufung des Mose in Ex 3*, die
klare Parallelen zur Berufung Jeremias in Jer 1 aufweist, inauguriert ebenfalls das
spät-dtr Konzept der andauernden Sendung von Propheten durch Jhwh, welches
in 2Kön 17,13–14 abschließend referiert wird. Zur D-Komposition gehören auch
die nicht-priesterlichen Plagen-Erzählungen in 7–11*. Im Gegensatz zu P, der
betont, dass Jhwh das Herz des Pharao verhärtet hat, und dieser somit eine Art
Marionette zur Demonstration der Macht des Gottes Israels wird, hat für die dtr
Bearbeitung der ägyptische König durchaus einen freien Willen. Die Plagen stel-
len demnach die Bestrafung für den Ungehorsam des Pharaos dar und entspre-
chen der dtr Theologie, wie sie auch in dem Fluchkapitel Dtn 28 zum Ausdruck
kommt. Nach VAN SETERS hat sich D (bzw. J) bei der Ausgestaltung der Plagen-
erzählung von den in Dtn 28 angekündigten Katastrophen inspiriert, manche
Plagen erklären sich aber auch aus Naturphänomenen, wie z. B. die Heuschre-
ckenplage, oder das bisweilen rot und „blutig“ erscheinende Nilwasser. Die dtr
Version des Meerwunders (ungefähr in 14,5–7.10b.13–14.21*.24*.25.27*30)
präsentiert Jhwhs Eingreifen anders als P. Das Wasser wird nicht gespalten, son-
dern durch einen starken Wind zurückgedrängt, und das Szenario entspricht der
Gattung des „Jhwh-Krieges“ (WEIMAR). Israel sieht sich vom Feind bedrängt,
schreit (ṣ-‘-q) zu Jhwh, der auf wundersame Weise eingreift und Israels Feind
vollständig besiegt. Man hat sogar in Ex 14 von einer „Entmilitarisierung“ des
Krieges gesprochen (VAN DER LINGEN), da Israel stillehalten und die Hilfe Jhwhs
bestaunen soll (14,13–14). Zur dtr Redaktion sind wohl auch 17,1–2*.5–7* zu
rechnen, mit welchen vielleicht eine ältere ätiologische Erzählung über Massa
und Meriba überarbeitet wurde, sowie 17,8–15*, wo die dtr Redaktoren recht
unvermittelt Josua als Heeresführer einführen und mit Amalek die Figur des
Feindes Israels schlechthin konstruieren und mit Vers 14 Dtn 25,19 vorbereiten.
Die Begegnung Moses mit Jitro in Ex 18, die jetzt in einer späten Bearbeitung
vorliegt, war wahrscheinlich auch den dtr Redaktoren aus der Tradition vorgege-
ben.

Die Namen „Gottesberg“ und „Jitro“ stellen einen Bezug zu Ex 3,1–4,18* her. Dass die
Wertschätzung eines Midianiters mit der dtr Ideologie in Widerspruch steht, ist so zu
erklären, dass die midianitische Verbindung des Mose aus der vorliegenden älteren
Erzählung vorgegeben war. Dementsprechend geht es in Ex 18,1–12* darum, den
Schwiegervater Moses in Israel zu integrieren (BLUM). Nachdem Jitro Jhwh als den
Gott des Exodus anerkannt hat und ihm ein Opfer dargebracht hat, wird er von Mose
nach Hause geschickt, bevor es zur Theophanie kommt, welche allein für Israel be-
stimmt ist.

Die dtr Sinaiperikope lässt sich nur schwer literarisch rekonstruieren, sie liegt
möglicherweise in 19,2*.16*–17.19; 20,18–22a vor, worauf vielleicht das Bundes-
III. Das Buch Exodus 121

buch folgte. In 24,1–11* kann man einen älteren Bericht über die Ratifikation des
Bundesbuches vermuten, welcher aber literarkritisch nicht mehr rekonstruierbar
ist. Zur vor- bzw. nicht-priesterlichen dtr Erzählung gehören auch die Verse 12–
13, da 24,13 hier mit dem Ausdruck „Gottesberg“, welcher nicht mehr weiter
verwendet wird, auf Ex 3,1 zurückverweist. Der Aufstiegsbefehl in V. 12 bereitet
die Erzählung vom Goldenen Kalb (Ex 32–33*) vor. In der dtr Komposition re-
flektiert die Erzählung vom Goldenen Kalb nicht nur den Untergang des Nord-
reiches, der im dtr Königsbuch mit der „Sünde Jerobeams“, d. h. mit der Errich-
tung des Stierkults, begründet wird (1 Kön 12), sondern spielt auch auf das Ende
Judas an. Die dtr Redaktoren wenden sich gegen jeglichen Versuch, Jhwh zu
materialisieren, und betonen, dass der Mittler zwischen Gott und Israel nicht
eine wie auch immer geartete Statue sein kann, sondern allein Mose, da es die-
sem gelingt. Jhwh davon abzuhalten, das Volk völlig zu vernichten. So wird die
Möglichkeit eines Neuanfangs betont, die sich in den neuen Gesetzestafeln
widerspiegelt, deren Inhalt dann im sogenannten Privilegrecht Jhwhs mitgeteilt
wird, das gut dtr den Ausschließlichkeitsanspruch des Gottes Israels betont
(34,10–28*), das Verbot eine göttliche Statue herzustellen wiederholt (34,17) und
mit einer Zusammenfassung verschiedener Gesetzestexte (welche Parallelen im
Bundesbuch und im dtn Gesetz haben) endet.

6. Eine ältere Mose-Exoduserzählung


J. PEDERSEN, Passahfest und Passahlegende: ZAW 52 (1934) 161–175. – E. A. KNAUF, Midian. Unter-
suchungen zur Geschichte Palästinas und Nordarabiens am Ende des 2. Jahrtausends v. Chr., 1988
(ADPV). – M. KÖCKERT, Wie kam das Gesetz an den Sinai?, in: C. Bultmann et al. (Hg.), Vergegen-
wärtigung des Alten Testaments. Beiträge zur biblischen Hermeneutik. FS R. Smend, Göttingen 2002,
13–27. – M. GERHARDS, Die Aussetzungsgeschichte des Mose. Literar- und traditionsgeschichtliche
Untersuchungen zu einem Schlüsseltext des nichtpriesterlichen Tetrateuch, 2006 (WMANT 109). –
E. OTTO, Mose. Geschichte und Legende, 2006 (C. H. Beck Wissen 2400). – R. ALBERTZ, Der Beginn
der vorpriesterlichen Exoduskomposition (KEX): ThZ 67 (2011) 223–262.

Da der dtr Bericht von der Berufung des Mose in Ex 3,1–4,18* den narrativen
Zusammenhang von Ex 2,23aα und 4,19 sprengt, legt es sich nahe, den Anfang
der der dtr Komposition vorliegenden Moseerzählung in der Geburtserzählung
in Ex (1,22) 2,1–10* zu sehen, der vielleicht eine Beschreibung der Bedrückung
der Hebräer durch die Ägypter vorausgegangen war. Die Geschichte, wie Mose
zum Adoptivsohn der ägyptischen Prinzessin wird, hat eine assyrische Parallele.

Die Aussetzung Moses und seine Adoption entsprechen der Geburtsgeschichte des
Königs Sargon, der um 2600 v. Chr. gelebt haben soll. Kopien seiner Geburtsge-
schichte sind jedoch nur aus der neu-assyrischen Zeit belegt, so dass man davon aus-
gehen kann, dass sie zur Legitimation Sargons II. verfasst wurden. Falls der Autor von
Ex 2 die Sargonlegende als Modell benutzt hat, könnte dies auch die Abwesenheit von
Moses Vater erklären, denn auch Sargon stellt fest, dass seine Mutter eine Priesterin
war (auch Moses Mutter ist eine Tochter Levis) und er seinen Vater nicht gekannt
habe. Während Sargon von Göttern (Akki und Ischtar) adoptiert wird, wird Mose
122 B. Der Pentateuch

zum Sohn der ägyptischen Königstochter. Die Aktion der Mutter in Ex 2,1–10 ist
nicht völlig logisch, es sei denn, sie wüsste im voraus, dass Mose aus dem Nil heraus-
gezogen würde. Diese Inkongruenz erklärt sich wohl doch am besten dadurch, dass
sich der Verfasser von Ex 2,1–10 an die Sargonlegende anlehnte und zu dieser eine
„counter history“ verfasste, mit der er zeigen wollte, dass Mose eine ebenso bedeu-
tende Gestalt wie der Gründer der assyrischen Dynastie darstellt. Die Tochter des
Pharaos übernimmt dann in Ex 2 die Rolle der Götter Akki und Ischtar.
Die Parallelen zur Sargonlegende sind ohne das unerwartete Auftreten einer
Schwester sowie die Stillung Moses durch seine eigene Mutter (Ex 2,4 und 7–10aα)
noch deutlicher. Die ältere Mosegeschichte setzte sich mit seiner Flucht aus Ägypten
und seinem Aufenthalt in Midian fort (2,11–15bα. 21*–23abα; die Brunnengeschichte
in 2,15bß–20 gehört zu einer späteren Ausschmückung), darauf folgte die Rückkehr
nach Ägypten (4,19) und der Auszug. Die älteren Erzählungen sind so stark von der
dtr Komposition überarbeitet, dass eine genaue Rekonstruktion unmöglich ist. Aller-
dings gibt es in Ex 14 Hinweise auf eine ältere Erzählung, so zum Beispiel in der
Spannung zwischen 14,5a, wo der Exodus als Flucht erscheint, und 14,5b, wo der Aus-
zug der Israeliten aufgrund einer Erlaubnis des Pharao erfolgt. Schloss die aus dem
7. Jh. v. Chr. stammende Moseerzählung mit Ex 14* ab (PEDERSEN), oder brachte
Mose bereits das Volk an den Gottesberg oder sogar in das Land? Die hinter Ex 18,1–
12* stehende Tradition, nach welcher ein midianitischer Priester den Opferkult des
Gottes JHWH stiftet, kann kaum eine späte Erfindung darstellen, sondern spiegelt eine
alte Tradition wider, die später aus verständlichen Gründen radikal umgearbeitet
wurde. Damit schloss die Erzählung vielleicht mit dem Bundesschluss in Ex 24*, in
welchem Israel zum Volk Jhwhs wird, oder sie beinhaltete noch eine Version des
Golden Kalbes, mit welcher der Untergang Samarias erklärt werden sollte.

7. Die Ursprünge der Exodustradition und die Frage ihrer Historizität


P. WEIMAR / E. ZENGER, Exodus: Geschichten und Geschichte der Befreiung Israels, 1975 (SBS 75). –
R. REDFORD, An Egyptological Perspective on the Exodus Narrative, in: A. F. Rainey (ed.), Egypt,
Israel, Sinai: Archaeological and Historical Relationships in the Biblical Period, Tel Aviv 1987, 137–
161. – M. BIETAK, Comments on the Exodus, in ibid., 163–171. – M. GÖRG, Die Beziehungen zwi-
schen dem Alten Israël und Ägypten: von den Anfängen bis zum Exil, 1997 (EdF 290). – J. ASSMANN,
Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, Darmstadt 1998. – J. C. GERTZ, Mose und die
Anfänge der jüdischen Religion: ZThK 99 (2002) 3–20. – T. RÖMER, Ramsès II, pharaon de l’Exode?
La construction d’un mythe: Le Monde de la Bible Hors Série (2006) 43–45. – S. TIMM, Der Tod des
Staatsfeindes: Neues zu B3j*: VT 58 (2008) 87–100. – J. BLENKINSOPP, The Midianite-Kenite
Hypothesis Revisited and the Origins of Judah: JSOT 33 (2008) 131–153. – N. NA’AMAN, The Exodus
Story: Between Historical Memory and Historiographical Composition: JANER 11 (2011) 39–69. – E.
BLUM, Der historische Mose und die Frühgeschichte Israel, HeBAI 1 (2012) 37–63. – T. RÖMER,
L’invention de Dieu, Paris 2014.

In der Forschung so gut wie unbestritten ist die Tatsache, dass die Exodustradi-
tion eine Nordreichüberlieferung darstellt. Dies wird durch 1 Kön 12,26–32, Hos
12 sowie dem „Exodusschweigen“ in den vorexilischen Texten der judäischen
Prophetenbücher bestätigt. Viele Erwähnungen der Exodustraditionen in den
Psalmen und den Propheten kommen ohne Mose aus, so dass man sich fragen
kann, ob dieser seit jeher mit dem Exoduscredo verknüpft war. Allerdings ist die
Mosefigur keine literarische Erfindung, da man sonst wohl doch einen nicht-
III. Das Buch Exodus 123

ägyptischen Namen gewählt hätte. Der Name Mose ist eine hebräische Um-
schreibung eines ägyptischen aus der Wurzel m-s-j gebildeten Namens, der sich
zum Beispiel in Ramses („Ra hat ihn geboren“) oder Thutmosis findet. Dass
dabei das theophore Element fehlt, kann auf theologische Zensur zurückgehen,
allerdings sind solche Kurznamen auch in Ägypten belegt. Mehrere ägyptische
Texte belegen die Präsenz von hohen ägyptischen Beamten am ägyptischen Hof,
von denen einige mit dem biblischen Mose in Verbindung gebracht worden sind
(WEIMAR-ZENGER, GÖRG). Ein besonders beliebter Kandidat für den historischen
Mose war ein gewisser Beya, der um 1187 v. Chr. in einen Aufstand verwickelt
war und mit einer Gruppe von Ḥabiru (die man dann gerne mit den „Hebräern“
identifizierte) die Ägypter plündern und entfliehen wollte (KNAUF). Allerdings
sind seit einiger Zeit ägyptische Dokumente bekannt, die die Hinrichtung dieses
Beya vor seiner Flucht berichten (TIMM). Die älteste Erwähnung des Namens
Israels in einem ägyptischen Dokument, der Merneptah-Stele, bezeugt um 1205
v. Chr. die Existenz einer Menschengruppe dieses Namens in der Levante, ohne
einen Exodus zu erwähnen. Die biblischen Berichte über den Exodus sind kaum
an historischen Details interessiert. Nach 1 Kön 6,1 fand der Exodus 480 Jahre
vor der Errichtung des salomonischen Tempels statt. Dabei handelt es sich aber
um eine theologische Spekulation: 12 Priestergenerationen von Aaron bis Zadok,
die alle mit 40 Jahren Dauer berechnet werden. Im Gegensatz zu den in den Kö-
nigsbüchern in Erscheinung tretenden ägyptischen Königen bleiben die im Ex-
odusbuch erwähnten Pharaonen namenlos. Dies zeigt bereits an, dass es in der
Auszugserzählung um eine theologische und nicht eine geschichtliche Aussage
geht. Aufgrund der Erwähnung von Pithom und Ramses in Ex 1,11 wurde der
Exodus oft unter Ramses II. (1304–1238) angesetzt, wohl um Mose den berühm-
testen ägyptischen Herrscher gegenüberzustellen (RÖMER). Ex 1,11 erlaubt aber
keine Datierung des Exodus, da unklar ist, an welche Stätten der Verfasser dieser
Stelle denkt. Demnach bleiben auch die Nachzeichnungen der Exodusrouten
(BIETAK) sehr spekulativ. Die biblische Exodusüberlieferung geht nicht auf ein
präzises Ereignis zurück, sondern setzt sich aus verschiedenen „Erinnerungsspu-
ren“ (ASSMANN) zusammen, zu denen die Vertreibung der Hyksos, eine semiti-
sche Pharaodynastie um 1550 v. Chr., gehört sowie verschiedene Berichte über
Ḥabiru, die bisweilen zu Frondiensten verpflichtet waren und versuchten, dem
Pharao zu entfliehen. Dass die Einführung der Jhwh-Verehrung mit einer „Ex-
odusgruppe“ zusammenhängt, wird auch vom biblischen Bericht bezeugt. Der
dtr wie der priesterliche Bericht der Berufung Moses (Ex 3 und 6) gehen davon
aus, dass vor Mose der Name des Gottes Israels unbekannt war. Die Betonung
der Beziehung Moses zu den Midianitern mag darauf hinweisen, dass die soge-
nannte Midianiter-Hypothese, die den Ursprung Jhwhs im Süden des Negevs
und deren Vermittlung durch nomadische Gruppen vermutete, vielleicht neu zu
erwägen ist (BLENKINSOPP).
IV. Das Buch Levitikus
Kommentare: K. ELLIGER, 1966 (HAT). – M. NOTH, 41978 (ATD). – B. A. LEVINE, 1989 (JPSTC). – J.
MILGROM, 1991–2001 (AncB). – R. PÉTER-CONTESSE, 1993 (CAT). – E. S. GERSTENBERGER, 1993
(ATD). – P. J. BUDD, 1996 (NCBC). – T. STAUBLI, 1996 (NSK.AT). – R. RENDTORFF, 2004 (BK.AT)
(Lev 1–10). – A. MARX, 2011 (CAT) (Lev 17–27). – T. HIEKE 2014 (HThK.AT).

1. Aufbau und Inhalt


H.-P. MATHYS, Liebe deinen Nächsten wie dich selbst: Untersuchungen zum alttestamentlichen
Gebot der Nächstenliebe (Lev 19, 18), 1986 (OBO 71). – M. DOUGLAS, Leviticus as Literature, Oxford
1999. – W. WARNING, Literary Artistery in the Book of Leviticus, 1999 (BIS 35). – E. ZENGER, Das
Buch Levitikus als Teiltext der Tora/des Pentateuch. Eine synchrone Lektüre mit kanonischer Per-
spektive, in: H.-J. Fabry / H.-W. Jüngling (Hg.), Levitikus als Buch, 1999 (BBB 119), 47–83. – D.
LUCIANI, Sainteté et pardon, 2005 (BEThL 185). – C. NIHAN, From Priestly Torah to Pentateuch: A
Study in the Composition of the Book of Leviticus, 2007 (FAT II/25). – T. RÖMER (ed.), The Books of
Leviticus and Numbers, 2008 (BEThL 215).

Das Buch Levitikus ist das kürzeste Buch des Pentateuchs und vielleicht auch bei
vielen Leserinnen und Lesern das unbeliebteste, da es hauptsächlich rituelle und
andere Vorschriften enthält sowie eine für heutige Leser und Leserinnen scho-
ckierende Sexualethik (Homosexualität wird bei Todesstrafe untersagt) und
religiöse Intoleranz (Gotteslästerung wird ebenfalls unter Todesstrafe gestellt).
Allerdings findet sich in demselben Buch auch das Gebot der Nächstenliebe, das
in späterer rabbinischer und neutestamentlicher Überlieferung zusammen mit
dem „Höre Israel“ (Dtn 6,4–5) als Zusammenfassung der ganzen Tora verstan-
den wird.
Der Name „Levitikus“ geht auf die griechische Übersetzung zurück („das
levitische Buch“), er will den Inhalt des Buches mit Leviten zusammenbringen,
obwohl die Leviten eigentlich im Buch Numeri weitaus häufiger genannt werden.
Vielleicht waren für die Übersetzer und die Kirchenväter Leviten und Priester
identisch, denn es geht im ersten Teil dieses Buches hauptsächlich um Vor-
schriften für Priester und um die Beschreibung der von ihnen auszuübenden
Funktionen. Der hebräische Name des Buches ist wayyiqra’ („er [Jhwh] rief“)
nach dem ersten Wort des Buches. In jüdischer Tradition wird das Buch oft als
„Tora der Priester“ bezeichnet und als Eingang zur Tora verstanden, als Buch,
mit welchem das Studium des Pentateuchs beginnen sollte. Levitikus enthält sehr
wenige erzählende Texte (die Einsetzung Aarons und seiner Söhne als die ersten
Priester Israels in Lev 8–9*; die Tötung zweier Söhne Aarons durch JHWH wegen
Darbringen eines unerlaubten Opfers in 10,1–6; die Steinigung eines Gottesläste-
rers in 24,10–13*) und besteht hauptsächlich aus Vorschriften, Regeln und Parä-
nesen.
Das Buch Levitikus ist eng mit der am Ende des Buches Exodus stehenden
Errichtung des Heiligtums verbunden. Lev 1,1 markiert nur bedingt eine Zäsur,
da das Subjekt von „er rief“ nicht ausdrücklich genannt ist, und Jhwh erst in der
zweiten Vershälfte ausdrücklich genannt wird. Das doppelte Ende des Buches ist
IV. Das Buch Levitikus 125

hingegen klar markiert, da Lev 26,46, wiederaufgenommen in Lev 27,34, ab-


schließend betont, dass nun alle Gebote von Gott durch Mose auf dem Berg Sinai
gegeben wurden.

Die Lokalisierung „auf dem Berg Sinai“ verweist zurück auf 25,1, wohingegen in Lev
1,1 als Ort der Gebotsmitteilung das Zelt der Begegnung (’ohel mo‘ed) angegeben ist.
Da die Angaben zu Leuchter und Schaubroten in Lev 24 auf den Beginn der Errich-
tung des Heiligtums in Ex 25ff. zurückverweisen und sich nach der Gotteslästerungs-
perikope ein abschließendes „die Israeliten taten wie Jhwh es Mose geboten hatte“
findet, kann man davon ausgehen, dass zwischen Lev 24 und Lev 25 eine Zäsur kon-
struiert wurde, durch welche ein Redaktor den Vorschriften über Sabbat- und Jobel-
jahr eine besondere Bedeutung verleihen wollte. Allerdings ist dieses System nicht
konsequent durchgehalten: der Abschluss der Opferbestimmungen in 7,37–38 ver-
ortet die in Lev 1–7 ergangenen Weisungen ebenfalls auf dem Berg Sinai.

Mehrere Arbeiten haben sich der Frage des Aufbaus des Buches gewidmet.

WARNING hat vorgeschlagen, das Buch nach dem 35- bzw. 37-mal erscheinenden „und
Jhwh sprach zu Mose: Sprich …“ zu strukturieren. Andere Autoren haben „Ring-
kompositionen“ (DOUGLAS) bzw. chiastische Strukturen eruiert. Nach ZENGER läge in
Levitikus folgender Aufbau zugrunde: An den Rändern des Buches finden sich Vor-
schriften über Opfer bzw. Feste (1–7 und 23–26/27), danach entsprechen sich Gesetze
über Priester (Lev 8–10 und 21–22); Vorschriften, die den Alltag der Israeliten betref-
fen (11–15 und 18–20), umrahmen die Mitte des Buches in Lev 16–17, in welcher es
um „Versöhnung“ geht. Nach LUCIANI findet sich die Mitte des Buches ebenfalls in
Lev 16. Diese Mitte ist vierfach gerahmt durch 1–7 und 25–27; 8–10 und 23–24, 11–12
und 22,17–33 sowie 13–15 und 17,1–22,16. Der Vergleich dieser zwei Vorschläge
zeigt, dass bei der Definition des chiastischen Aufbaus eine gewisse Willkürlichkeit
herrscht, und die postulierten Entsprechungen bisweilen gezwungen wirken. Weiter
ist zu fragen, ob die Redaktoren dieser Rolle wirklich solche komplizierten Schemen
im Kopf hatten.

Eindeutig liegt der Haupteinschnitt des Buches nach Lev 16 vor, was in der For-
schung durch die Bezeichnung von Lev 17–26 als Heiligkeitsgesetz zum Aus-
druck kommt. Weitere narrative Einschnitte liegen nach Kapitel 9 vor, das mit
einer öffentlichen Theophanie endet (wohingegen in Lev 16 Aaron allein in den
Genuss einer solchen kommt), und wie bereits bemerkt in Lev 24. Demnach
kann man das Buch in vier Hauptabschnitte unterteilen. In Lev 1–10 geht es um
die Einrichtung des Opferkultes, in 11–16 um die Unterscheidung von rein und
unrein sowie der Reinigung der Gemeinde und des Heiligtums. In Lev 17–24
werden kultische sowie soziale und ethische Bedingungen zur Heiligung der
Gemeinde formuliert. Lev 25 hat die Wiederherstellung einer sozial gerechten
Gesellschaft im Auge (in Bezug auf die Idee der Wiederherstellung eines gestör-
ten Verhältnisses entspricht Lev 25 dem Versöhnungstag in Lev 16). Das Buch
Levitikus hat einen doppelten Abschluss in Lev 26 und Lev 27. Lev 26 beschließt
vielleicht nicht nur das Buch Levitikus, sondern den gesamten „priesterlichen“
Triteuch Gen–Lev.
126 B. Der Pentateuch

So finden sich in Lev 26 Erwähnungen von Jhwhs Bund mit den Patriarchen (V. 42)
und mit der Exodusgeneration (V. 45), wodurch noch einmal der Zusammenhang von
Gen und Ex betont wird. Die oft notierten Parallelen in den Fluchandrohungen von
Lev 26 mit denen aus Dtn 28 dienen dazu, die Sinaioffenbarung mit der Moserede des
Deuteronomiums zu korrelieren. Im Gegensatz zu Dtn 28 endet Lev 26 mit einer Ver-
heißung, dass Gott sich nach dem Eintreffen der Katastrophe seinem Volk wieder zu-
wenden will. Lev 27 verweist thematisch auf Lev 1–7 zurück (WARNING) und wurde
später angehängt, um dem Buch Levitikus eine gewisse Eigenständigkeit zu verleihen.

Detaillierter lässt sich der Aufbau und Inhalt von Levitikus wie folgt beschreiben.
In Lev 1–10 werden in 1–7 zunächst verschiedene Opferarten verhandelt:

Lev 1 eröffnet die Liste mit Ausführungen zum Brandopfer bzw. Ganzopfer (‘olah),
dem „Holocaust“, bei welchem das gesamte Tier für die Gottheit verbrannt wird. In
Lev 2 geht es um vegetarische Opfer (minḥah), wobei der Weihrauch eine große Rolle
spielt. Lev 3 enthält Ausführungen zum Gemeinschafts- oder Heilsopfer (šelamim),
das in der Regel wohl zusammen mit dem Ganzopfer dargebracht wurde. Das in Lev
4,1–5,13 behandelte Sündopfer (ḥaṭṭat) dient zur Sühnung beabsichtigter und unbeab-
sichtigter Vergehen, aber auch zur Reinigung des Heiligtums. Das Ritual variiert je
nachdem es sich um den Hohepriester, die ganze Gemeinde, den Fürsten oder ein
anderes Individuum handelt. Das Schuldopfer oder Wiedergutmachungsopfer (’ašam)
in 5,14–26 ist eng mit dem Schuldopfer verbunden und dient ähnlichen Zwecken. Lev
6–7 ist an den die Priesterschaft repräsentierenden Aaron gerichtet und präzisiert die
Ausführung der in 1–5 aufgeführten Opferrituale, insbesondere die Verteilung der
nicht für die Gottheit verbrannten Fleischstücke.

In Lev 8–9 wird der narrative Faden von Ex 40 wiederaufgenommen und die
Einsetzung Aarons und seiner Söhne als Priester durch Mose berichtet, die nach
ihrer Weihung die ersten Opfer darbringen. Im Gegensatz zu Ex 40 können da-
nach Mose und Aaron das Zelt der Begegnung betreten. Nachdem die Israeliten
Aarons Segen erhalten haben, verlässt die Herrlichkeit Jhwhs das Heiligtum und
offenbart sich dem ganzen Volk (9,22–24). Diesem positiven Abschluss wird in
Lev 10 eine Erzählung über ein unerlaubtes Opfer der Aaronsöhne Nadab und
Abihu gegenübergestellt, wofür diese durch ein göttliches Feuer getötet werden.
Danach folgt eine Diskussion zwischen Mose und Aaron, der in Trauer um seine
Söhne gewisse Opfervorschriften nicht befolgt, aber letztendlich von Mose in
seiner Haltung bestätigt wird. In Lev 11–15 schließen sich Bestimmungen über
Reines und Unreines an.

Lev 11 listet, wie Dtn 14, unreine und nicht zum Verzehr bestimmte Tiere auf und
schränkt somit den Fleischverzehr der Adressaten ein. Die Anweisungen in Lev 13–
14, die von Hautkrankheiten und Schimmel (Aussatz) an Menschen,
Kleidungsstücken und Häusern handeln, werden in Lev 12 und 15 durch Vorschriften
über verschiedene Sekretionen und deren Reinigung gerahmt. Lev 12 behandelt die
Reinigung einer Frau nach ihrer Entbindung, in Lev 15 geht es um Regelungen
verschiedener Ausflüsse bei Mann (Geschlechtskrankheiten, Samenerguss) und Frau
(Menstruation, Geschlechtsverkehr bei Menstruation).
IV. Das Buch Levitikus 127

Lev 16 beschließt den ersten Teil des Buches durch Aufnahme der Opfer- und
der Reinigungsthematik. Das aus verschiedenen Motiven zusammengesetzte
Ritual des Versöhnungstags (jom kippur) betont die Möglichkeit und Notwen-
digkeit der Reinigung des Heiligtums und der Gemeinde, deren Verfehlungen
durch den zum Wüstendämon Azazel geschickten Sündenbock weggetragen
werden.
Lev 17 leitet das sogenannte Heiligkeitsgesetz ein und wird wie das Bundes-
buch und das deuteronomische Gesetz durch Vorschriften zum Ort der Darbrin-
gung der Opfer eröffnet, wobei in Lev 17 der Schwerpunkt auf dem Bluttabu
liegt. Die folgenden Kapitel werden von den Refrains „ich bin Jhwh, euer Gott“
und „werdet heilig, denn ich, Jhwh, euer Gott, bin heilig“ durchzogen. Lev 18
und 20 enthalten Listen über illizite sexuelle Beziehungen, insbesondere inzes-
tuöse und homosexuelle Beziehungen, die mit anderen Verboten (Kinderopfer,
Nekromantie, Elternschmähung) verknüpft sind. Dabei erscheint Lev 20 als eine
Verschärfung, da die sanktionslosen Verbote aus Lev 18 nun mit der Todesstrafe
geahndet werden. Zwischen beiden Kapiteln sind in Lev 19 Vorschriften zur Hei-
ligung der Gemeinde im alltäglichen Leben eingeschoben, die viele Parallelen zu
den Zehn Geboten aufweisen und eine starke soziale Komponente enthalten. In
der Mitte dieser Ausführungen findet sich in 19,18 das Gebot zur Nächstenliebe
(MATHYS). Lev 21,1–24,9 sind kultischen und priesterlichen Angelegenheiten ge-
widmet und enthalten zum Teil Nachträge und Korrekturen zu anderen Geset-
zestexten.

Lev 21–22 präzisieren die Bedingung des Genusses von Opfergaben durch Priester,
Lev 23 enthält einen Festkalender. Lev 24,1–9 trägt Bestimmungen über den Leuchter
und die Schaubrote nach, die wohl Licht und Nahrung symbolisieren, ohne die kein
Mensch leben kann.

Die kurze Erzählung über eine Gotteslästerung und die damit verknüpften Aus-
führungen zur Todesstrafe für ein solches Vergehen in Lev 24,10–23 spannen
den Bogen zu Lev 18 und 20 zurück und beschließen den ersten Hauptteil des
Heiligkeitsgesetzes. Die Redaktoren wollten mit dieser Zäsur die Wichtigkeit von
Lev 25 betonen. Die Ausführungen zu den Sabbat- und Jobeljahren reflektieren
ein starkes soziales Engagement, da sie die Wiederherstellung des Eigentums
eines jeden fordern, die Unveräußerlichkeit des Landbesitzes von Israeliten be-
haupten, und sich gegen Zinsnahme an Israeliten aussprechen. Ähnlich wie im
Deuteronomium werden die Vorschriften des Heiligkeitsgesetzes durch die In-
aussichtstellung von Segen und Fluch abgeschlossen. Lev 27 ist ein Anhang, der
die Möglichkeit präzisiert, Gelübde und Weihegaben durch entsprechende Geld-
summen zu ersetzen.
128 B. Der Pentateuch

2. Theorien zur Entstehung des Buches Levitikus


K. H. GRAF, Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments: zwei historisch-kritische Untersu-
chungen, Leipzig 1866. – A. KLOSTERMANN, Ezechiel und das Heiligkeitsgesetz: Zeitschrift für die
lutherische Theologie und Kirche 38 (1877) 401–445. – P. GRELOT, La dernière étape de la rédaction
sacerdotale: VT 6 (1956) 174–189. – A. CHOLEWINSKI, Heiligkeitsgesetz und Deuteronomium. Eine
vergleichende Studie, 1976 (AnBib 66). – E. BLUM, Studien zur Komposition des Pentateuch, 1990
(BZAW 189). – F. CRÜSEMANN, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen
Gesetzes, München 1992. – I. KNOHL, The Sanctuary of Silence. The Priestly Torah and the Holiness
School, Minneapolis 1995. – K. GRÜNWALDT, Das Heiligkeitsgesetz Leviticus 17–26. Ursprüngliche
Gestalt, Tradition und Theologie, 1999 (BZAW 271). – H.-W. JÜNGLING, Das Buch Levitikus in der
Forschung seit Karl Elligers Kommentar aus dem Jahr 1966, in: H.-J. Fabry / H.-W. Jüngling (Hg.),
Levitikus als Buch, 1999 (BBB 119), 1–45. – A. RUWE, „Heiligkeitsgesetz“ und „Priesterschrift“:
literaturgeschichtliche und rechtssystematische Untersuchungen zu Levitikus 17–26, 1999 (FAT 26).
– C. NIHAN, From Priestly Torah to Pentateuch: A Study in the Composition of the Book of Leviticus,
2007 (FAT II/25). – J. STACKERT, Rewriting the Torah. Literary Revision in Deuteronomy and the
Holiness Legislation, 2007 (FAT 52). – T. NAEF, Auf der Suche nach dem gefundenen Gesetz: Be-
trachtungen zur Erforschung des sogenannten Heiligkeitsgesetzes – mit einer ausführlichen Biblio-
graphie zu Lev 17–26, Norderstedt 2008.

Im Rahmen der klassischen Urkundenhypothese wurde das Buch Levitikus als


hauptsächlich aus Zusätzen zur Priestergrundschrift und dem Heiligkeitsgesetz,
welches den priesterlichen Texten durch einen Redaktor hinzugefügt wurde,
erklärt. Da man im Gefolge von WELLHAUSEN und NOTH davon ausging, dass Pg
ausschließlich in erzählenden Texten vorliegt, wurden in Lev Bestandteile des ur-
sprünglichen priesterlichen Dokuments nur in Teilen von Lev 8 und 9 vermutet
(ELLIGER u. v. a.). Allerdings setzen die Weihung Aarons und seiner Söhne und
deren Darbringung von Opfer in Lev 8–9 eine Opferregelung voraus, und damit
sind diese Kapitel zumindest in Kenntnis von Lev 1–3* verfasst, wo das Ritual
der dargebrachten Opfer beschrieben wird (NIHAN). Zudem ist das Axiom, dass
Pg nur erzählende Stücke enthalten darf, kaum begründbar und nur aus dem
Postulat der Urkundenhypothese zu erklären, dass J, E und P drei parallele Er-
zählungen darstellten. Wenn man aber davon ausgeht, dass die Priesterschrift
Anliegen der judäischen Priesterschaft zu Beginn der Perserzeit widerspiegelt,
wäre es eher verwunderlich, wenn diese nicht bestimmte Rituale und andere
Vorschriften in ihr Werk integriert hätte. Insofern ist davon auszugehen, dass P
in Lev 1–16 durchaus auch rituelle Texte enthält, wiewohl auch hier mit Zusätzen
und Fortschreibungen zu rechnen ist.
Seit K. H. GRAF (1866), der in Lev 18–26 eine selbständige Sammlung von
Gesetzestexten sah, und A. KLOSTERMANN (1877), der den Namen erfand, wer-
den die Kapitel 17–26 als Heiligkeitsgesetz (HG) bezeichnet und als eigenständi-
ge Sammlung ritueller, ethischer und sozialer Vorschriften verstanden, da sie
sich von Lev 1–16 sprachlich und inhaltlich unterscheiden. Die Differenzierung
von Lev 1–16 und 17–26 ist jedoch von BLUM, CRÜSEMANN, RUWE u. a. bestritten
worden, die das gesamte Buch Levitikus derselben priesterlichen Schule bzw.
Komposition zuschreiben. Allerdings sprechen gegen diese Lösung eine Reihe
von Argumenten.
IV. Das Buch Levitikus 129

So ist in Lev 1–16 das Konzept der Heiligkeit allein den Priestern vorenthalten, wäh-
rend in Lev 17–26 die gesamte Gemeinde heilig werden soll. In Lev 1–16 geht es für
die Mitglieder der Gemeinde nicht um Heiligkeit, sondern darum, durch Anweisun-
gen der Priester nach verschiedenen Fällen von Unreinheit wieder rein werden zu
können. So ist z. B. der Geschlechtsverkehr mit einer menstruierenden Frau in Lev
15,24 zwar ein Akt, der Unreinheit provoziert, welche jedoch nur vorübergehend ist.
Dagegen wird in 18,19 ein solcher Koitus verboten und in 20,18 sogar mit der
Todesstrafe belegt.

Traditionell wurde das Heiligkeitsgesetz als eine ursprünglich ältere und selb-
ständige Gesetzessammlung angesehen, die erst später als Nachtrag zu P an Lev
16 angefügt wurde (so noch GRÜNWALDT). In der neueren Forschung ist diese
Hypothese jedoch weitgehend aufgegeben. Das Heiligkeitsgesetz wird nun als
eine die priesterliche und die deuteronomische Gesetzgebung voraussetzende
Ergänzung zur Priesterschrift angesehen (in diesem Sinne bereits ELLIGER).
Die ältere Forschung, die ein altes und autonomes Heiligkeitsgesetz postu-
lierte, sah sich zu komplizierten (und unnötigen) literarkritischen Operationen
veranlasst, um alle P sowie den narrativen Kontext der Sinaiperikope vorausset-
zenden Textstücke auszuscheiden, ein Unterfangen, das nie glückte. Dazu ge-
sellte sich das Problem, dass das Heiligkeitsgesetz in Lev 17 keine wirkliche
eigenständige Einleitung besitzt. Deswegen suchte man bisweilen den Anfang des
Heiligkeitsgesetzes in Lev 18, aber Lev 17 geht mit den Eröffnungen des Bundes-
buches und des deuteronomischen Gesetzes dahingehend überein, dass auch hier
zu Anfang ein „Altargesetz“ steht, welches einen Kompromiss zwischen Ex
22,24–26 und Dtn 12 zum Ausdruck bringt. Der direkte Anschluss an Lev 1–16
erklärt sich somit am besten durch die Annahme, dass das Heiligkeitsgesetz nie
als eine selbständige Sammlung bestand, sondern von vorneherein auf den
jetzigen Kontext hin konzipiert war. Während nach STACKERT das Heiligkeitsge-
setz verfasst wurde, um das deuteronomische Gesetz in Dtn 12–26 zu ersetzen,
haben OTTO und NIHAN aufgezeigt, dass es in Lev 17–26 eher darum geht, zwi-
schen priesterlichen und deuteronomistischen Konzeptionen zu vermitteln.
Nach OTTO wären die Verfasser des Heiligkeitsgesetzes, die sogenannte „Heilig-
keitsschule“ (Holiness school, KNOHL), mit der Endredaktion des Pentateuchs
gleichzusetzen. Dagegen spricht jedoch die eigenständige Sprache des HG, die
zeigt, dass es zwar im Pentateuch eine „Heiligkeitsredaktion“ gibt, welche jedoch
der Pentateuchredaktion vorausgeht (siehe dazu auch die Ausführungen zu den
Redaktionen des Pentateuchs). NIHAN hat unter Aufnahme von Beobachtungen
GRELOTs vorgeschlagen, aufgrund des Pascha-Papyrus aus Elephantine (419
v. Chr.), der bereits die Regelung von Lev 23 voraussetzt, die Heiligkeitsschule in
die letzten Jahrzehnte des 5. Jh.s v. Chr. zu datieren.
130 B. Der Pentateuch

3. Die letzten Redaktionen im Buch Levitikus

a) Pentateuch- bzw. letzte Redaktionen

M. FISHBANE, Biblical Interpretation in Ancient Israel, Oxford 1985. – R. O. ASHLOCK, As the Lord
Commands: Narrative Endings and Closure Strategy in Exodus, Leviticus and Numbers, Michigan,
MI 2002. – C. NIHAN, From Priestly Torah to Pentateuch: A Study in the Composition of the Book of
Leviticus, 2007 (FAT II/25).

Zu den letzten Zusätzen zum Buch Levitikus gehört sicher Lev 27, in welchem
Themen von Lev 1–7 aufgenommen und weitergeführt werden. Im Gegensatz zu
den Opfervorschriften in Lev 1–7, wo es darum geht, dass ursprünglich profane
Objekte (Tiere, vegetarische Gaben) für Jhwh geheiligt werden, handelt Lev 27
nun von der entgegengesetzten Möglichkeit, dass geheiligte Objekte unter be-
stimmten Bedingungen wieder dem profanen Bereich zugeführt werden können.

Durch die Anfügung von Lev 27 als „Appendix“ (die Abschlussformel in Lev 26,46
wurde von den Redaktoren bewusst stehen gelassen) erhielt das Buch Levitikus ein
doppeltes Ende vergleichbar mit dem doppelten Abschluss des Josua-Buches, in wel-
chem die dtr Abschlussrede Josuas in Jos 23 von der Hexateuchredaktion durch Jos 24
ergänzt wurde, um das Buch Josua so eng wie möglich an die fünf vorangehenden Bü-
cher anzuschließen. Während die Ermahnungen in Lev 26 wohl eine von Gen bis Lev
reichende Einheit zu Ende bringen wollen, geht es in Lev 27 darum, Levitikus als Buch
zu profilieren.

Zu den letzten Zusätzen zu Levitikus gehört Lev 10 (NIHAN). Die Redaktoren


dieses Kapitels bereiten in gewisser Weise den nachbiblischen Midrasch vor, in-
dem sie bestimmte priesterliche Themen aufnehmen und weiterführen, und
somit eine „innerbiblische Exegese“ priesterlicher Traditionen durchführen
(FISHBANE). Die Nadab und Abihu-Episode, die das Kapitel eröffnet (V. 1–2),
zeigt, dass das Weihrauchopfer allein dem Hohepriester vorbehalten ist. Durch
die Beseitigung Nadabs und Abihus wird der Weg für Eleasar freigemacht, der
im Buch Numeri den Nachfolger Aarons und den Hohepriester symbolisiert. Der
Tod von Nadab und Abihu erlaubt zunächst Mose in Anlehnung an Ex 29,43
und Lev 9,23 einen allgemeinen Kommentar über Sinn und Zweck des Opfer-
wesens zu geben und danach neue Bestimmungen über die Trauer von Priestern
und deren Abstinenz beim Betreten des Heiligtums anzufügen. Das Kapitel wird
abgeschlossen durch eine konstruierte Erzählung, welche die Notwendigkeit der
Auslegung und des Erforschens der Tora begründet.

In 10,16–20 wirft Mose Aaron und seinen Söhnen vor, nicht gemäß Lev 6,19 gehan-
delt zu haben, da sie die ihnen zustehenden Stücke des Sündopfers im Heiligtum ver-
schmäht haben. Darauf entgegnet Aaron, dass er an einem Tag der Bestattung seiner
verstorbenen Söhne keine Opfergabe im Heiligtum (wegen Trauer oder Unreinheit?)
verzehren könne. Interessanterweise akzeptiert Mose Aarons Auslegung des Gesetzes!

Der Abschnitt wird eingeleitet durch die doppelte Verwendung der Wurzel d-r-š
IV. Das Buch Levitikus 131

(daroš daraš, suchen, erforschen). Nach Zählung der Masoreten findet sich in
diesem Ausdruck die Mitte der Tora, die immer wieder neuer Erforschung und
Auslegung bedarf. Hier ergeht dieses „Suchen“ nun nicht (mehr) durch eine
direkte Befragung Jhwhs, sondern durch menschliche Auslegung der Schrift,
wobei Mose hier Aarons der Situation entsprechenden Interpretation recht
geben muss.

b) Heiligkeitsredaktion und Heiligkeitsgesetz

J. JOOSTEN, People and Land in the Holiness Code. An Exegetical Study of the Ideational Framework
of the Law in Leviticus 17–26, 1996 (VT.S 67). – B. J. SCHWARTZ, „Profane“ Slaughter and the Inte-
grity of the Priestly Code: HUCA 67 (1996) 15–42. – R. A. KUGLER, Holiness, Purity, the Body and
Society: The Evidence for Theological Conflicts in Leviticus: JSOT 76 (1997) 3–27. – C. NIHAN, The
Holiness Code between D and P: Some Comments on the Function and Significance of Leviticus 17–
26 in the Composition of the Torah, in: E. Otto / R. Achenbach (Hg.), Das Deuteronomium zwischen
Pentateuch und Deuteronomistischem Geschichtswerk, 2004 (FRLANT 206), 81–122. – R.
ACHENBACH, Das Heiligkeitsgesetz und die sakralen Ordnungen des Numeribuches im Horizont der
Pentateuchredaktion, in: T. Römer (ed.), The Books of Leviticus and Numbers, (BEThL 215), 145–
175. – T. RÖMER, Homosexualität in der Hebräischen Bibel? Einige Überlegungen zu Leviticus 18
und 20, Genesis 19 und der David-Jonathan-Erzählung, in: M. Bauks et al. (Hg.), Was ist der Mensch,
dass du seiner gedenkst? FS B. Janowski, Neukirchen-Vluyn 2008, 435–454.

Wie bereits ausgeführt, wurde das Heiligkeitsgesetz von Anfang an als Abschluss
der Sinaiperikope konzipiert. Demnach sind die Verse, die den narrativen Kon-
text derselbigen voraussetzen, ohne weiteres dem HG zuzurechnen, was jedoch
die Präsenz von Zusätzen in Lev 17–26 keineswegs ausschließt. So ist die Ver-
schärfung der Inzesttabus und anderer sexueller Verbote aus Lev 18 in Lev 20
späterer Überarbeitung zuzuschreiben. Auf derselben Ebene wie Lev 20 liegt der
narrative Einschub in 24,10–23, da dort ebenfalls die Todesstrafe als Sanktion
erscheint, und zwar im Falle der Gotteslästerung.

Das Verbot homosexueller Beziehungen zwischen Männern in Lev 18,22 und die An-
drohung der Todesstrafe in Lev 20,13 hat in der jüdischen und mehr noch in der
christlichen Auslegungsgeschichte eine traurige Berühmtheit erreicht, da mit diesen
Texten die Ächtung und in Extremfällen die Tötung gleichgeschlechtlich veranlagter
Personen legitimiert wurde und leider immer noch wird. Dabei ist jedoch zu beachten,
dass es in diesen Texten an erster Stelle darum geht, dass einer der Partner die (pas-
sive) Rolle der Frau einnimmt, was für antikes Denken eine Rollenkonfusion dar-
stellte, welche die Stabilität der Gesellschaft bedrohte. In diesen Texten kommt vor
allem ein bestimmtes Rollenverständnis der Geschlechter zum Vorschein als eine mo-
ralische Verdammung (RÖMER). Auch ist zu beachten, dass diese Untersagungen sich
in eine Reihe anderer sexueller Verbote eingereiht finden, die insgesamt jeden sexuel-
len Akt untersagen, der aus verschiedenen Gründen nicht der Fortpflanzung dient.

Den Autoren und Redaktoren des HG geht es darum, die priesterliche Gesetzge-
bung in Lev 1–16* zu ergänzen, zu modifizieren und diese mit dem deuterono-
mischen Gesetz zu korrelieren. Dabei wird das priesterliche Konzept der Heili-
132 B. Der Pentateuch

gung, das in Lev 1–16 allein die Priester betrifft, im HG, wie bereits im Dtn, auf
die ganze Gemeinde ausgeweitet. Das priesterliche Interesse an Ritualen und
Opfern wird durch dem Buch Deuteronomium nahestehende soziale Vorschrif-
ten ergänzt, welche in dem Gebot der Nächstenliebe in Lev 19,18 kulminieren,
das nach 19,34 auch den Migranten, den ger, einschließt.

Im HG erscheint der ger oft als eine wirtschaftlich selbständige und dem Einheimi-
schen gleichgestellte Person, die über die nötigen Mittel verfügt, Opfertiere zu kaufen
(Lev 17,8–9; 22,18–19) und sogar verarmte Judäer als Schuldsklaven erwerben kann
(Lev 25,47–54). An einigen Stellen wird betont, dass der Fremde dem Einheimischen
gleichgestellt sei (19,34; 24,22). Das HG integriert den ger auch teilweise in den Jhwh-
Kult. Er bringt wie der Einheimische bestimmte Opfer dar, die seine Eingliederung in
die Gesellschaft unterstreichen (17,8; 22,18). Deshalb soll ihn auch der Israelit lieben
wie sich selbst (Lev 19,34). Der einzige bedeutsame Unterschied zwischen diesem
Fremden und dem Ansässigen ist im HG der Landbesitz, welcher dem Fremden ver-
wehrt bleibt. Allerdings wird auch dieser Unterschied dadurch, dass auch die Adres-
saten des HG als Fremde in Bezug auf das Land qualifiziert werden, theologisch
relativiert: „Das Land aber darf nicht für immer verkauft werden, denn das Land
gehört mir, und ihr seid Fremde und Beisassen bei mir.“ (Lev 25,23).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für die Heiligkeitsschule die Sorge um
soziale Gerechtigkeit, die in Lev 19 und 25 zum Ausdruck kommt, sowie die
Befolgung der gesamten Tora den Opferkult, der in Lev 17 und 22–24 weiter prä-
zisiert wird, ergänzen sollen.

In Bezug auf den Opferkult ist 17,11–12 von Bedeutung, da es sich hier um die einzige
Stelle handelt, in welcher die Bedeutung des Bluttabus für Israel näher erläutert wird.
Die Erklärung, dass das Blut Sühne erwirkt (kipper), stellt in Bezug auf das priesterli-
che Verständnis eine Neuinterpretation dar (SCHWARTZ), da in Lev 1–16 Blut haupt-
sächlich zur Reinigung des Heiligtums und von Menschen genutzt wird.

In Lev 1–16 sind Spuren einer Heiligkeitsredaktion in 3,17, ein Vers, der mit Lev
17 zusammenhängt, in 7,22–27, wo es ebenfalls um das Bluttabu geht, sowie in
11,43–45, wo der Verzehr unreiner Tiere als Gefährdung der Heiligkeit der gan-
zen Gemeinde verstanden wird, zu finden. Die Heiligkeitsredaktion hat ebenfalls
den Ausführungen zum jom kippur in 16,29–34a einen neuen Abschluss gege-
ben, welcher sich stark an Lev 23,26–32 anlehnt, das Ritual in einen jährlichen
Rahmen stellt und auch den Übergang zum HG erleichtert.

4. Die Priesterschrift in Lev 1–16


R. RENDTORFF, Studien zur Geschichte des Opfers im Alten Israel, 1967 (WMANT 24). – P. P.
JENSON, Graded Holiness. A Key to the Priestly Conception of the World, 1992 (JSOT.S 106). – T.
SEIDL, Levitikus 16 – „Schlußstein“ des priesterlichen Systems der Sündenvergebung, in: H.-J. Fabry /
H.-W. Jüngling (Hg.), Levitikus als Buch, 1999 (BBB 119), 219–248. –C. A. EBERHART, Studien zur
Bedeutung der Opfer im Alten Testament: die Signifikanz von Blut- und Verbrennungsriten im
kultischen Rahmen, Neukirchen-Vluyn 2002 (WMANT 94). – R. RENDTORFF, Leviticus 16 als Mitte
IV. Das Buch Levitikus 133

der Tora: BI 11 (2003) 252–258 – A. MARX, The Theology of the Sacrifice According to Leviticus 1–7,
in: R. Rendtorff / R. A. Kugler (eds.), The Book of Leviticus. Composition and Reception, 2003
(Formation and Interpretation of Old Testament Literature 3), 103–120. – A. MARX, Les systèmes
sacrificiels de l’Ancien Testament, 2005 (VT.S 105). – C. NIHAN, From Priestly Torah to Pentateuch:
A Study in the Composition of the Book of Leviticus, 2007 (FAT II/25).

Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung ist davon auszugehen, dass die
Erstfassung der Priesterschrift, die vielleicht in Lev 16 zu ihrem Ende kam (siehe
dazu oben), eine Anzahl von Vorschriften in Bezug auf den Opfergottesdienst
und die Unterscheidung von rein und unrein enthielt, welche zu den wichtigsten
priesterlichen Anliegen gehören. Dabei ist es durchaus wahrscheinlich, dass
bestimmte Opferrituale und Reinheitsvorschriften auf ältere vielleicht sogar
bereits schriftlich aufgezeichnete Rollen aus der Zeit des ersten Tempels zurück-
gehen, welche von den Autoren der Priesterschrift in ihr Werk integriert wurden.
Insofern hat die Priesterschrift zumindest in Levitikus vorexilische Wurzeln, was
die Vertreter einer Datierung von P in die Königszeit richtig gesehen haben.
Allerdings ist die jetzige Zusammenstellung dieser Vorschriften im Rahmen
einer von Gen bis nach Lev (oder weiter?) reichenden Priesterschrift zu Anfang
der Perserzeit, vielleicht kurz vor der Errichtung des Zweiten Tempels in Jerusa-
lem geschehen.
Zu der Erstausgabe dieser Priesterschrift gehören Lev 1–3*, die wohl ur-
sprünglich priesterliche Checklisten waren, die man mit anderen Opferlisten des
Alten Vorderen Orients vergleichen kann. Ursprünglich schlossen sich an diese
Vorschriften unmittelbar Lev 8–9 an, welche die Errichtung des Opferkultes
berichten.

Die achttägige Feier zur Einsetzung des Opfergottesdienstes und der Priesterschaft so-
wie die Erscheinung der Herrlichkeit Gottes am achten Tag verweisen auf den
Schöpfungsbericht in Gen 1,1–2,3 zurück: Der Opferkult gehört somit in den Beginn
der Zeit nach der Schöpfung (wie im priesterlichen System der achte Tag auch den
Zeitpunkt der Beschneidung oder der wiedererlangten Reinheit einer Frau nach ihrer
Menstruation markiert).

Zwischen Lev 1–3 und 8–9 sind sukzessiv Lev 4, 5 und 6–7 eingeschrieben wor-
den.

Lev 4 (zusammen mit den Ergänzungen in Lev 16,16* und 21*) präzisiert die Unter-
scheidung von unbewussten und bewussten Übertretungen, die dann in Lev 5 fortge-
führt wird. Lev 6–7* (ohne die Zusätze der Heiligkeitsredaktion) stellen die letzte
Ergänzung zur noch selbständigen Priesterschrift dar und regeln die Frage, wem das
nach dem Opferritus verbliebene Fleisch des Tieres zukommt.

Die ursprüngliche Priesterschrift setzte sich nach 8–9* in 11–15* fort. Hier sind
wiederum ältere Listen aufgenommen und verarbeitet worden, die ebenfalls zur
Ausbildung von Priestern dienten: Eine Liste unreiner Tiere in Lev 11* und in
14,1–20 Angaben zur Wiedereingliederung Aussätziger in die Gemeinde. Dazu
134 B. Der Pentateuch

kommen in Lev 12 und 15 Vorschriften zur Reinigung einer Frau nach ihrer
Menstruation und zur Behandlung verschiedener sexueller Unreinheiten. Die
Liste unreiner Tiere in Lev 11 schränkt für die Israeliten den Verzehr von Fleisch
ein und nähert es so der ursprünglich vegetarischen Schöpfungsordnung an. Die
Wiederherstellung von Reinheit bzw. der Ausschluss im Falle von Unreinheit in
Lev 12–15 erklären sich ebenfalls als Anliegen, die von Jhwh gesetzte „reine“
Schöpfung zu bewahren. Der Abschluss der priesterlichen Texte in Lev 16 kom-
biniert zwei verschiedene Riten, ein dem babylonischen Neujahrsfest (akitu)
nahestehender Reinigungsritus, durch welchen Aaron, der den Hohepriester
symbolisiert, im Allerheiligsten Opfer darbringt und mit dem Blut derselben die
Reinigung des Heiligtums, der Priester und der ganzen Gemeinde bewirkt. Da-
mit verbunden ist ein ursprünglich selbständiges Ritual, bei welchem ein mit den
Sünden der Gemeinde beladener Bock in die Wüste zu Azazel, wohl ein Wüsten-
dämon, geschickt wird, um so die Vergehen des Volkes symbolisch wegzutragen.
Damit endet die Priesterschrift mit der Botschaft, dass die Wiederherstellung des
gestörten Gottesverhältnisses für Israel immer wieder durch die entsprechenden
Opfer und Rituale möglich ist.
V. Das Buch Numeri
Kommentare: B. BAENTSCH, 1903 (HAT). – G. B. GRAY, 1912 (ICC). – M. NOTH, 1977 (ATD). – P. J.
BUDD, 1984 (WBC). – J. MILGROM, 1990 (JPSTC). – J. SCHARBERT, 1992 (NEB.AT). – B. A. LEVINE,
1993–2000 (AncB). – D. T. OLSON, 1996 (Interp.). – L. SCHMIDT, 2004 (ATD) (Num 10,11–26,13). –
H. SEEBASS, 2007–2012 (BK.AT). – I. CARDELLINI, Numeri 1,10–10,10, Mailand 2013.

1. Aufbau und Inhalt


M. BARNOUIN, Remarques sur les tableaux numériques du livre des Nombres: RB 76 (1969) 351–364.
– D. T. OLSON, The Death of the Old and the Birth of the New. The Framework of the Book of Num-
bers and the Pentateuch, 1985 (Brown Judaic Studies 71). – R. P. KNIERIM, The Book of Numbers, in:
E. Blum et al. (Hg.), Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte. FS R. Rendtorff, Neu-
kirchen-Vluyn 1990, 155–163. – W. W. LEE, Punishment and Forgiveness in Israel’s Migratory Cam-
paign, Grand Rapids, MI – Cambridge 2003. – O. ARTUS, Les dernières rédactions du livre des
Nombres et l’unité littéraire du livre, in: T. Römer and K. Schmid (éds.), Les dernières rédactions du
Pentateuque, de l’Hexateuque et de l’Ennéateuque, 2007 (BEThL 203), 129–144. – T. B. DOZEMAN,
The Midianites in the Formation of the Book of Numbers, in: T. Römer (ed.), The Books of Leviticus
and Numbers, 2008 (BEThL 215), 261–284. – E. ZENGER / C. FREVEL, Die Bücher Levitikus und
Numeri als Teile der Pentateuchkomposition, in: T. Römer (ed.), The Books of Leviticus and Num-
bers, 35–74. – B. ZIEMER, Erklärung der wichtigsten „demographischen“ Zahlen des Numeribuches
aus ihrem kompositionellen Zusammenhang: VT 60 (2010) 271–287. – C. FREVEL et al. (eds.), Torah
in the Book of Numbers, 2013 (FAT II/62).

Das Buch Numeri behandelt die Zeit des Wüstenaufenthalts des Volkes Israels
und seinen Zug in das Ostjordanland, wo dann auch das Buch Deuteronomium
angesiedelt ist. Dabei erscheint die Beziehung zwischen Jhwh und seinem Volk
meistens in einem sehr negativen Licht; die Zeit in der Wüste ist von permanen-
ten Revolten geprägt, die sich gegen Mose und Aaron, aber auch gegen Gott
selbst richten. Sogar Mose hadert mit Jhwh, so dass er und sein Bruder vor dem
Eintritt in das verheißene Land sterben müssen. Das Buch Numeri alterniert er-
zählende und gesetzliche Texte, zu denen sich Itinerare und poetische Stücke
gesellen, so dass das Buch recht unübersichtlich und wenig strukturiert erscheint.
Der Name Numeri geht auf die lateinische Übersetzung des griechischen
Titels arithmoi zurück, den man mit „Zahlen“, bzw. mit „Zählungen“ übersetzen
kann. Der Name kann von den zwei mit ausführlichen Zahlenangaben versehe-
nen Volkszählungen in Num 1 und 26 inspiriert sein, oder auch von dem das
Buch durchziehenden Interesse an präzisen Zahlenangaben, so zum Beispiel die
Anzahl der Gaben der Stammesfürsten (Num 7), die Aufzählung der Opfer, die
an den verschiedenen Festen darzubringen sind (Num 28–29), oder die genaue
Aufzählung der im Krieg gegen die Midianiter errungenen Beute (Num 31,32–
46). Der hebräische Name bemidbar („in der Wüste“), der aus Num 1,1 stammt,
resümiert passend, dass es in Numeri hauptsächlich um die Zeit des Wüstenauf-
enthalts der Israeliten geht.
Die Struktur des Buches ist nicht einfach zu erkennen und wurde bisweilen
zum Gegenstand synchroner Analysen gemacht. Gegen die traditionelle Dreitei-
lung (1–10: Ende des Aufenthalts am Sinai; 11–20: Wüstenaufenthalt; 21–36:
136 B. Der Pentateuch

Eroberungen und Probleme im Ostjordanland), bei welcher man sich über die
genaue Abgrenzung der drei Einheiten nie einig war (so wird zum Beispiel der
erste Teil bisweilen mit dem Ende der Kultvorschriften in 9,34 abgeschlossen,
andere setzen den Einschnitt nach der letzten Gottesrede vor dem Aufbruch in
10,10 an, oder nach 10,36, der die Aufbruchsnotizen beschließt), hat D. OLSON in
einer wichtigen Monografie dafür plädiert, das Gliederungsprinzip des Buches in
den Volkszählungen in Num 1 und 26 zu sehen.

Diese zwei Listen strukturieren das Buch durch die Abfolge der zwei Wüstengenera-
tionen. In Num 1–25 geht es um die erste Generation, die in der Wüste sterben muss,
und wie Mose und Aaron nicht das von Jhwh zugesagte Land in Besitz nehmen kann,
wohingegen der zweite Teil von den Nachkommen dieser Generation handelt, die auf
den Einzug in das Land hoffen dürfen. Das Todesurteil, das Jhwh in 14,29 über die
Generation vollstreckt, die sich geweigert hatte, das Land zu erobern und nach
Ägypten zurückkehren wollte, scheint in Numeri 25 abgeschlossen. Das Urteil in
14,29 bezieht sich wohl auf die Volkszählung von Num 1 zurück: „Hier in der Wüste
sollen eure Leichen zerfallen, alle von euch, die gemustert wurden, wer zwanzig Jahre
ist, oder älter …“ Die zweite Erhebung in Num 26 betont ausdrücklich, dass nun eine
neue Generation auf den Plan tritt: „Darunter aber war keiner von denen, die von
Mose und dem Priester Aaron gemustert worden waren, als diese die Israeliten in der
Wüste Sinai musterten. Denn Jhwh hatte ihnen gesagt, sie müssten in der Wüste
sterben, und es war keiner unter ihnen übrig geblieben außer Kaleb, dem Sohn
Jefunnes, und Josua, dem Sohn Nuns“ (26,45–56).

Diese Zweiteilung des Numeribuches wird nach OLSON noch dadurch verstärkt,
dass der zweite Teil Themen des ersten Teils aufnimmt und modifiziert.

Die Kundschaftererzählung aus Num 13–14 wird in Num 32 der zweiten Generation
in Erinnerung gerufen, Vorschriften für das Pascha-Fest finden sich sowohl in Num 9
als auch in Num 28, und der Rachfeldzug gegen die Midianiter in Num 31 verweist
auf Num 25.

Allerdings lässt sich der gesamte Aufbau des Numeribuches nicht durch die Idee
von direkten Entsprechungen zwischen 1–25 und 26–36 erklären. So wurden
nach OLSON weitere Vorschläge zur Struktur von Numeri gemacht.

W. LEE hat in Nachfolge von R. KNIERIM eine Zweiteilung des Buches in 1,1–10,10
und 10,11–26,13 vorgeschlagen: Im ersten Teil sieht er den Abschluss der Bücher
Exodus und Levitikus und in Num 10–36 einen Migrationsbericht, der Motive von
Eroberungs- und Pilger-Erzählungen verbindet. Dagegen hat O. ARTUS wieder die to-
pographischen Differenzen geltend gemacht und weiter darauf hingewiesen, dass die
Einleitungs- und Schlussnotizen in Num 1,1 und 36,13 die Eigenständigkeit des Bu-
ches unterstreichen.

Die Komplexität des Aufbaus des Numeribuches und die unterschiedlichen Vor-
schläge zu seiner Struktur lassen sich diachron mit der Entstehung des Buches
erklären. Die geographische Dreiteilung: Sinai – Wüste – Ostjordanland spannt
eine Brücke von Levitikus zu Numeri, während die durch die Volkszählungen
V. Das Buch Numeri 137

suggerierte Zweiteilung die theologische Kohärenz des Buches unterstreichen


soll. Mit der Unterscheidung zwischen zwei Wüstengenerationen wird aber auch
in Bezug auf den Pentateuch in einer synchronen Perspektive suggeriert, dass die
Adressaten der Moserede im Deuteronomium durchgängig als die zweite Wüs-
tengeneration zu verstehen sind.
Die folgende Beschreibung des Aufbaus von Numeri kombiniert die geogra-
phische Dreiteilung und die durch die Volkszählung suggerierte Zweiteilung.
Num 1,1 enthält im Vergleich zu Levitikus eine geographische Verschiebung.
Während Lev 27,34 das Buch mit der Bemerkung beschließt, das dieses die „Ge-
bote, die Jhwh auf dem Berge Sinai Mose für die Israeliten gab“ enthalte, wird
Numeri mit folgender Überschrift eröffnet: „Jhwh sprach zu Mose in der Wüste
Sinai im Zelt der Begegnung …“. Während die in Levitikus enthaltenen Geset-
zesvorschriften noch auf dem Berg Sinai durch Mose offenbart wurden, ergehen
die in Numeri enthaltenen Gebote nunmehr in der Wüste. Damit wird ein qua-
litativer Unterschied suggeriert, nach welchem die Vorschriften von Numeri als
Ergänzung oder Aktualisierung der Sinaigesetzgebung zu verstehen sind.
Der erste große Abschnitt (1,1–4,49) eröffnet das Buch mit der Volkszählung
an welche sich der Zensus der Leviten (3–4) anschließt. Das Lager der Israeliten
(Num 2) ist im Gegensatz zu den vorausgehenden Büchern als ein Kriegslager
konzipiert, und zwar aus vier Dreiergruppen (ohne die Leviten) bestehend, die so
organisiert sind, dass Juda sich im Osten befindet und so das Heer anführt.

Die genaue Bedeutung der in Num 1 und 26 gegebenen Zahlen ist noch nicht befrie-
digend geklärt. Zunächst sollen die hohen Zahlen (wie in Ex 12,37 mehr als 600 000
Familienoberhäupter) unterstreichen, dass die Vermehrungsverheißungen der Gene-
sis bereits erfüllt sind. Vergleicht man die Listen in Num 1 und 26, fällt auf, dass der
Stamm Simeon auf mehr als die Hälfte schrumpft, wohingegen Manasse und Efraim
erheblich zulegen. Da der Stamm Juda in beiden Erhebungen das höchste Kontingent
stellt, könnte das Anwachsen Manasses als Zugeständnis an den „Norden“ verstanden
werden. Es ist aufgefallen, dass viele der Zahlen auf dem Sexagesimalsystem beruhen,
was auf mesopotamischen Einfluss und möglicherweise Aufnahme babylonischer
mathematischer Spekulationen hinweisen könnte (BARNOUIN). Nach ZIEMER gehören
die Zahlenangaben des Numeribuches, bei denen der Zahl 79 eine besondere Bedeu-
tung zukommt, zu einer späten masoretischen Überarbeitung der Tora, deren Anlie-
gen es ist, die Kohärenz der Pentateuchkomposition zu verstärken.

Num 5–6 werden durch das Thema „rein – unrein“ und verschiedene Rituale zu-
sammengehalten.

Diese Kapitel wurden nach 1–4 angefügt, um die Notwendigkeit der Reinheit des La-
gers zu unterstreichen (Entfernung von Aussätzigen aus dem Lager, Gottesurteil bei
Verdacht auf Ehebruch einer Frau, Anweisungen für temporär geweihte männliche
oder weibliche Personen [Nasiräat]). Der bis heute in der Liturgie gebrauchte aaroni-
dische Segen (6,22–27) war wohl als Abschluss dieses Abschnitts gedacht.

Num 7–8 nimmt die Thematik des von Mose errichteten Heiligtums (Ex 35–40)
wieder auf und berichtet von Opfern der Stammesoberhäupter, präzisiert Anga-
138 B. Der Pentateuch

ben zum Leuchter des Heiligtums, und weitet die Reinigung Aarons und seiner
Söhne (Lev 8) auf die Leviten aus. 9,1–14 greift erneut das Thema der Unreinheit
auf und präzisiert, wie bzw. ob das Paschafest im Falle von Unreinheit oder Ab-
wesenheit (Reise) zu begehen ist.
9,15–10,36 markieren die Wanderung von der „Wüste Sinai“ zur „Wüste
Paran“.

In Aufnahme von Num 2 wird der Aufbruch des Lagers berichtet, welches von Juda
angeführt wird (10,11–28). Die Wolkensäule und die Bundeslade, die beide Jhwhs Be-
gleitung während der Wüstenwanderung symbolisieren, rahmen die Aufbruchsnoti-
zen (9,15–23 und 10,33–36). Der Aufbruch soll durch silberne Trompeten verkündet
werden, die auch an Festen zum Einsatz kommen sollen (10,1–10). Vor dem Aufbruch
bittet Mose seinen Schwiegervater, der hier den Namen Hobab trägt, mitzuziehen,
welcher jedoch ablehnt. Damit umrahmt die Thematik des midianitischen Schwieger-
vaters durch Ex 18 und Num 10,29–32 die gesamte Sinaiperikope (DOZEMAN)
wodurch suggeriert wird, dass dieser während der gesamten Gottesoffenbarung und
Gesetzesmitteilung anwesend war.

Num 11–21 enthalten Konfliktgeschichten, welche die Wüstenzeit in einem ne-


gativen Licht erscheinen lassen.

Gerahmt werden diese Erzählungen durch 11,1–3 (Klagen des Volkes, Zorn Jhwhs
und Fürbitte Moses) und 21,4–9 (Revolte des Volkes gegen Mose und Jhwh, Zorn
Jhwhs und Fürbitte Moses). In beiden Texten wird kein konkreter Grund für die Un-
zufriedenheit des Volkes angegeben, und Moses Fürbitterfunktion betont, ohne wel-
che Israel den göttlichen Zorn nicht hätte überleben können. Num 21,4–9 kann aber
auch als Steigerung betrachtet werden, da die Perikope die einzige Erzählung darstellt,
in welcher das Volk nicht nur Mose, sondern explizit auch Gott kritisiert. Die Erzäh-
lung in 11,4–34, die als Ursache der Unzufriedenheit des Volkes den Mangel von
Fleisch angibt, entspricht 20,1–13, wo es um das Fehlen von trinkbarem Wasser geht.
In 11,4–34 erscheint ein weiteres Motiv, die Unzufriedenheit Moses über sein Amt.
Während dafür ein positiver Ausgang berichtet wird (Moses Geist wird auf die Leiter
des Volkes verteilt), endet 20,1–3 mit einer negativen Note. Jhwh wirft Mose und
Aaron vor, ihn nicht geheiligt zu haben, weswegen sie mit der ersten Wüstengenera-
tion nicht das verheißene Land betreten dürfen. Dementsprechend wird auch der Tod
Aarons bereits in Num 20,21–29 erzählt. Die Revolte Miriams und Aarons gegen
Mose in 12,1–15, die doppelt motiviert ist (Moses äthiopische Frau sowie die Forde-
rung Miriams und Aarons, genauso wie Mose Empfänger des göttlichen Wortes zu
sein), hat eine gewisse Entsprechung in Num 16–17, wo es ebenfalls um eine sehr
komplexe Revolte gegen Aaron (und Mose) geht (Aufstand Korachs, der Leviten,
Datans und Abirams und des gesamten Volkes gegen das Priesteramt Aarons und die
Autorität Moses). In beiden Fällen werden die Aufständigen bestraft, allerdings ist in
Num 16–17 die Sanktion härter. Während Miriam mit einem vorübergehenden Aus-
satz belegt wird, werden in Num 16–17 die Widerspenstigen auf verschiedene Art und
Weise getötet. In der Mitte der Konflikterzählungen steht damit die sogenannte
Kundschaftererzählung (Num 13–14), die insofern den Wendepunkt darstellt, da die
Weigerung des Volkes, das von Jhwh verheißene Land zu erobern, mit der Entschei-
dung Jhwhs endet, die widerspenstige Generation, mit Ausnahme Kalebs und Josuas,
in der Wüste sterben zu lassen. Allein Moses Fürbittegebet ist es zu verdanken, dass
V. Das Buch Numeri 139

Jhwh das Volk nicht völlig vernichtet. Zwischen den Erzählungen sind in Num 15 und
18–19 gesetzliche Texte eingeschoben, die wie eine Art Halacha aus der Haggada
bestimmte Vorschriften ableiten. In Num 15 geht es hauptsächlich um Sühnevor-
schriften, in 18 um die Beschreibung des Unterschieds zwischen Priestern und Leviten
und in Num 19 um die Reinigung der Gemeinde mit dem Blut und der Asche einer
roten Kuh.

Die mannigfaltigen Parallelen bzw. Beziehungen zwischen Num 11ff. und Ex 15–
18 sind oft beschrieben worden: Manna und Wachteln (Ex 16 und Num 11),
Wasser aus dem Felsen (Ex 17 und Num 20), kriegerische Auseinandersetzungen
(Ex 17 und Num 13–14), Moses Ehefrau (in Ex 18 eine Midianiterin; in Num 12
eine Kuschiterin) und Schwiegervater (Ex 18: Jitro; Num 10,29ff.: Hobab). Zwei
wichtige Unterschiede bestehen zwischen Ex 15ff. und Num 11ff. Während in Ex
15–18 alle Klagen des Volkes durch lebensbedrohende Mängel verursacht sind
(Wasser- und Nahrungsmangel, Bedrohung durch Feinde), sind die Proteste in
Num 11–21 oft Ausdruck einer allgemeinen Unzufriedenheit oder von Neid und
fehlendem Vertrauen. Das Murren des Volkes in Ex 15–17 hat Jhwhs hilfreiches
Eingreifen zur Folge, wohingegen die Unzufriedenheit des Volkes oder dessen
Führer in Num 11ff. Jhwhs Zorn und Strafe auf den Plan rufen. Dieser Unter-
schied hängt wohl mit dem Umstand zusammen, dass Ex 15–18 vor und Num
11ff. nach der Gesetzesoffenbarung am Sinai verortet sind und die Israeliten in
Num 11ff. wissen sollten, wie sie sich Jhwh gegenüber angemessen zu verhalten
haben. Weiter zeigt diese Differenz eine immer negativer werdende Sicht der
Wüstenzeit.
Verschachtelt mit dem Ende der Konflikterzählung sind der Einzug in das
ostjordanische Gebiet und die Konflikte mit den dort ansässigen Königen und
Völkern in Num 20–21.

Num 20,14–20 erzählt die Weigerung Edoms, den Israeliten den Durchzug zu gewäh-
ren. Israel leistet keinen militärischen Widerstand, wohingegen in 21,1–3 und 21,21–
35 – unterbrochen von einem Itinerar in 21,10–20 – von militärischen Siegen berich-
tet wird (Arad [das sich im gelobten Land befindet!], Sichon und Og).

Die Erzählung über den Seher Bileam in Num 22–24, die eine Reihe von Segens-
sprüchen für Israel enthält, wird durch einen Konflikt mit Moab eingeleitet. Im
Gegensatz zum Wunsch des moabitischen Königs segnet Bileam die Israeliten
anstatt sie zu verfluchen. Durch das Stichwort Moab ist die Erzählung vom Ab-
fall Jhwhs im Ostjordanland in Num 25 mit der Bileam-Perikope verknüpft.

Moabitische Frauen verführen die Israeliten, dem Baal von Peor zu huldigen. Pinhas,
der Sohn Eleasars, und somit die dritte Generation nach dem Auszug antizipierend,
bleibt Jhwh treu, tötet die Schuldigen und beendet so die göttliche Plage, wofür Jhwh
einen spezifischen Bund mit ihm schließt. Die 24 000 Toten, mit denen Jhwh den Ab-
fall bestraft, markieren das Ende der ersten Generation (vgl. 26,64–65).

Die erneute Volkszählung in Num 26 leitet den letzten großen Teil des Numeri-
buches ein, in welchem eine klare Struktur kaum zu erkennen ist. Vielmehr fin-
140 B. Der Pentateuch

den sich Indizien für Stichwortverknüpfungen und Fortschreibungen. Ein oft


auftauchendes Thema ist die Aktualisierung von in der Sinaiperikope gegebenen
Gesetzen bzw. die Frage, wie man Rechtsfälle zu entscheiden hat, für welche kei-
ne göttliche Anweisungen zur Verfügung stehen. Das wird exemplarisch am Fall
der Töchter Zelofhads in 27,1–11 und Num 36 deutlich.

Mose muss in Num 27 bei Jhwh nachfragen, ob Töchter erben dürfen, wenn kein
männlicher Nachkomme existiert. Die Frage wird von Jhwh bejaht, aber am Ende des
Buches von Mose ohne eine erneute Gottesbefragung modifiziert (Num 36,1–12):
Töchter dürfen erben unter der Bedingung, dass sie einen Mann aus ihrem Stamm
heiraten. Das Ende des Numeribuches antizipiert damit die Praxis der immer neu sich
stellenden Frage der Gesetzesauslegung.

In Num 27,12–23 wird Josua als Nachfolger Moses eingesetzt. Letzterer erhält
den Auftrag das Gebirge zu besteigen, um von dort aus das gelobte Land zu
sehen und danach zu sterben. Allerdings lässt sein Tod im jetzigen Pentateuch
auf sich warten, so dass man sich fragen kann, ob diese Perikope ursprünglich als
Abschnitt von Numeri konzipiert war, auf welchen dann das Buch Deuterono-
mium folgen sollte. Num 28–29 sind eine Aktualisierung älterer Festkalender,
Num 30 regelt das Procedere bei Gelübden von Frauen. Num 31 nimmt den Er-
zählfaden von Num 25 auf und berichtet von einem Krieg gegen die Midianiter.
Num 32 erzählt die Besiedlung eines Teils des Ostjordanlandes durch die Stäm-
me Ruben, Gad und der Hälfte Manasses. Im Gegensatz zur Kundschafter-
geschichte, welche in diesem Kontext resümiert wird, verläuft die Eroberung
erfolgreich. Num 33,1–49 fasst die Stationen der Wüstenwanderung seit dem
Auszug aus Ägypten bis zu den Steppen Moabs zusammen und war vielleicht
auch einmal als Abschluss bzw. Überleitung zum Deuteronomium konzipiert.
Num 33,50–35,34 enthalten Themen, die sich auch im Buch Josua finden (die
Grenzen des Landes, levitische und Asylstädte). Nach der erneuten Klärung des
Erbrechts der Töchter Zelofhads (36,1–12) beendet 36,13 das Buch mit einem
Epitaph, das Lev 27,34 parallel gestaltet ist (wobei der Sinai durch die Steppe
Moabs ersetzt wird).

2. Theorien zur Entstehung des Buches Numeri


E. BLUM, Studien zur Komposition des Pentateuch, 1990 (BZAW 189). – P. P. JENSON, Graded Holi-
ness. A Key to the Priestly Conception of the World, 1992 (JSOTSup 106). – C. LEVIN, Der Jahwist,
1993 (FRLANT 157). – T. POLA, Die ursprüngliche Priesterschrift. Beobachtungen zur Literarkritik
und Traditionsgeschichte von Pg, 1995 (WMANT 70). – R. G. KRATZ, Die Komposition der erzäh-
lenden Bücher des Alten Testaments. Grundwissen der Bibelkritik, 2000 (UTB 2157). – E. OTTO, Das
Deuteronomium im Pentateuch und Hexateuch. Studien zur Literaturgeschichte von Pentateuch und
Hexateuch im Lichte des Deuteronomiumrahmens, 2000 (FAT 30). – T. RÖMER, Das Buch Numeri
und das Ende des Jahwisten. Anfragen zur „Quellenscheidung“ im vierten Buch des Pentateuch, in:
J. C. Gertz et al. (Hg.), Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten
Diskussion, 2002 (BZAW 315), 215–231. – R. ACHENBACH, Die Vollendung der Tora: Studien zur
Redaktionsgeschichte des Numeribuches im Kontext von Hexateuch und Pentateuch, 2003 (BZAR
V. Das Buch Numeri 141

3). – U. FISTILL, Israel und das Ostjordanland: Untersuchungen zur Komposition von Num 21,21–
36,13 im Hinblick auf die Entstehung des Buches Numeri, 2007 (ÖBS 30). – O. ARTUS, Le problème
de l’unité littéraire et de la spécificité théologique du livre des Nombres, in: T. Römer (ed.), The
Books of Leviticus and Numbers, 2008 (BEThL 215), 121–143. – C. NIHAN, Israel’s Festival Calendars
in Leviticus 23, Numbers 28–29 and the Formation of „Priestly“ Literature, in: ibid., 177–231. – R.
ALBERTZ, Das Buch Numeri jenseits der Quellentheorie. Eine Redaktionsgeschichte von Num 20–24:
ZAW 132 (2011) 171–183, 336–347.

Seit der Entstehung der historisch-kritischen Methode wurde das Buch Numeri
bei der Ausarbeitung von Theorien zur Entstehung des Penta- bzw. Hexateuchs
stiefmütterlich behandelt. Die Vertreter der Urkundenhypothese postulierten
systemimmanent, dass sich die Pentateuchquellen auch in Numeri finden müss-
ten, ein Postulat dessen Verifizierung sich aber seit jeher als schwierig erwies. So
war in Bezug auf J und E in Numeri nie Übereinstimmung zu erzielen und auch
die Präsenz der ursprünglichen Priesterschrift (Pg) in Numeri wurde meistens
auf einige Verse in Num 10; 13–14; 20; 27 beschränkt (vgl. die Tabelle bei
JENSON). Schon NOTH hatte gemerkt, dass die traditionelle Dokumentenhypo-
these im Buch Numeri nur durch eine petitio principii zu halten ist: „Nimmt man
das 4. Mosebuch für sich, so käme man nicht leicht auf den Gedanken an
‚durchlaufende Quellen‘, sondern eher auf den Gedanken an eine unsystemati-
sche Zusammenstellung von zahllosen Überlieferungsstücken sehr verschiede-
nen Inhalts, Alters und Charakters (‚Fragmentenhypothese‘)“ (ATD, 8). In der
Tat spricht der komplexe literarische Bestand des Buches gegen ein den Büchern
Genesis oder Exodus vergleichbares Erklärungsmodell, da sich die Texte in Nu-
meri weder sprachlich noch inhaltlich ohne weiteres als Weiterführung der
priesterlichen bzw. nicht-priesterlichen Texte aus Gen – Lev verstehen lassen.

So ist in den in „priesterlichem“ Stil gehaltenen Abschnitten in Num 1–4 und 10 die
Gemeinde als eine „ecclesia militans“ dargestellt, ein Konzept, welches in den pries-
terlichen Texten in Gen – Lev nicht zu finden ist. In Num 2 und 10 begegnet der Be-
griff dägäl, der eine militärische Einheit bezeichnet und häufig in aramäischen Doku-
menten der Perserzeit verwendet wird, im AT aber sonst nicht mehr vorkommt.
Weiter unterscheiden sich die priesterlichen Texte in Numeri von Exodus und Leviti-
kus dadurch, dass sie sich ausführlich der Frage nach dem Status und den Funktionen
der Leviten widmen (Num 3–4; 8; 16; 18; 35). Diese Texte betonen, dass sie als persön-
liches Eigentum Jhwhs gelten, heben aber gleichzeitig das Opfermonopol der aaro-
nitischen Linie hervor, aus welcher der Hohepriester stammt (Num 16–17). Hier
spiegeln sich Machtkämpfe innerhalb der Priesterschaft zur Zeit des Zweiten Tempels
wider.

Wie die „priesterlichen“, so haben auch die „nicht-priesterlichen“ Texte in Nu-


meri ihr durchaus eigenes Profil.

So setzt zum Beispiel die Erwähnung des Mannas in Num 11 wohl bereits den pries-
terlichen Text in Ex 16 voraus. Num 11 kann auch nicht auf derselben Linie wie Num
12 liegen, da Num 12 eine Reaktion auf Num 11 darstellt (RÖMER): In Num 11 wird
Mose als Geistgeber für ein allgemeines Prophetentum dargestellt, während in Num
12 ausdrücklich betont wird, dass Mose viel mehr als ein Prophet ist, nämlich Gottes
142 B. Der Pentateuch

Haushalter, der sogar die „Gestalt“ (temuna) Jhwhs sieht. In Num 11 wird Mose als
jähzornig gezeichnet, der sich mit harten Worten bei Jhwh beklagt, wohingegen 12,3
klarstellt, dass Mose der sanftmütigste Mann auf der ganze Welt gewesen sei. Das be-
deutet, dass man beide Texte kaum auf der gleichen Ebene ansetzen kann, wie es zum
Beispiel E. BLUM tut, der die meisten nicht-P-Texte in Num seiner mit Ex 3 einsetzen-
den D-Komposition zuschreibt, sondern eher mit einem Fortschreibungsmodell rech-
nen muss. Die Komplexität des Befundes wird noch dadurch vergrößert, dass bereits
Num 11 zwei bzw. drei Erzählungen miteinander kombiniert (die Unzufriedenheit des
Volkes mit dem Manna sowie die Unzufriedenheit des Mose mit seinem Führungsamt
und die Geistgabe an die 70 Ältesten), die literarkritisch nicht mehr geschieden wer-
den können. Ähnliches gilt für Num 12, wo ebenfalls zwei Themen miteinander kor-
reliert sind (die Frage nach der Beziehung zwischen Mose und den Propheten sowie
die Kritik an Moses kuschitischer Frau).

Dennoch wird in neueren Kommentierungen des Buches Numeri von L.


SCHMIDT und H. SEEBASS an der Quellenhypothese als bestem Erklärungsmodell
festgehalten. Beide Autoren erkennen jedoch auch die Eigenart des Buches an. So
postuliert SEEBASS eine am Ende des 5. Jh.s v. Chr. wirkende „Numeri-Komposi-
tion“, die massiv in die Gestaltung des Buches eingegriffen habe und sich in an-
deren Büchern des Pentateuchs nicht nachweisen lasse. Auch L. SCHMIDT konze-
diert, dass der Schwerpunkt der Entstehung von Numeri in der nachexilischen
Zeit liegt, viele „priesterliche“ und „nicht-P“-Texte werden von ihm einer Pen-
tateuchredaktion oder späteren punktuellen Bearbeitungen zugeschrieben. Somit
stellt sich die Frage nach einem älteren Erzählfaden, in Numeri, welcher auf
derselben Ebene als die ältesten Erzählungen in (Gen und) Exodus anzusetzen
wäre.

Dieser Erzählfaden liegt bei SCHMIDT und SEEBASS in J und E vor, und auch C. LEVIN
postuliert die Fortsetzung des Jahwisten in Numeri. Allerdings gelingt ihm dessen Re-
konstruktion nur auf sehr begrenzte Weise, nämlich hauptsächlich in Num 11* und in
wenigen Versen der Bileamperikope. R. G. KRATZ, der einen vorexilischen „elohisti-
schen Hexateuch“ (Ex–Jos*) annimmt, schreibt diesem in Num drei Verse zu (20,1*;
22,1; 25,1a), wobei sich die Frage stellt, wie aus einem solchen „Grundstock“ das jet-
zige Numeribuch entstanden sein soll.

Die Schwierigkeit, in Numeri vorexilische Textkomplexe herauszuarbeiten, die


einer größeren Erzählung zugerechnet werden könnten, verbunden mit der Be-
obachtung, dass viele Texte oft fortschreibungsartig miteinander verknüpft sind
und dass die sogenannten „priesterlichen“ Texte in Numeri kaum zu Pg gerech-
net werden können (POLA, KRATZ), könnte durch die Annahme erklärt werden,
dass das Buch Numeri erst um 450–350 v. Chr. entstand, im Zuge der Entste-
hung des Pentateuchs, sozusagen als „Brücke“ zwischen den priesterlich gepräg-
ten Buchrollen Gen – Lev und dem deuteronomistischen Dtn (RÖMER). Der
„Nachtragscharakter“ des Numeribuches wird bereits in der Über- („Wüste
Sinai“ statt „Berg Sinai“) und Unterschrift (Imitation des Endes von Lev) deut-
lich. Die Nachträge in Num 5–9 konnten oder sollten wohl nicht mehr in Ex, Lev
V. Das Buch Numeri 143

oder Dtn integriert werden, wo manche dieser Ergänzungen einen besseren Platz
gehabt hätten.

Num 5 enthält ein Ordal bei Verdacht von Ehebruch, der auch in Dtn 22,13ff. behan-
delt wird; in Num 6 finden sich Vorschriften zur Regelung des Status eines Naziräers,
wobei es sich um einen allgemeinen Nachtrag handelt, da jener in erzählenden Texten
(1 Sam 1–3) erscheint, aber seine Situation nirgendwo „gesetzlich“ geregelt ist; Num 7
bietet einen Zusatz zur Einweihung des Heiligtums, wie Num 7,1 durch den Verweis
auf Ex 40 deutlich macht; Num 8,1–4 greift das Thema der Leuchter des Heiligtums
auf, die in Ex 25,31ff. und 37,12ff. zur Sprache kommen; Num 8,5ff. berichtet eine Le-
vitenweihe, und ergänzt damit die Priesterweihe in Lev 8–9; Num 9 beinhaltet zusätz-
liche Vorschriften zum Pascha, die gut in Ex 12 hätten eingefügt werden können.

Num 27–36 sind bereits von M. NOTH als späte Ergänzungen im Rahmen der
Entstehung des Pentateuchs erkannt worden.

Num 27 und 36 stellen fest, dass die Sinaioffenbarung nicht alle gesetzlichen Fragen
geregelt hat (siehe unter Struktur), Num 28–29 sind Nachtrag und Aktualisierung zu
Lev 23 und Dtn 16 (NIHAN). Num 30 (Frauengelübde) ist eine Ergänzung zu Dtn
23,22–24. Num 32; 34–35 haben Parallelen in Jos (zu Num 32 vgl. Jos 13; zu Num 34
vgl. Jos 15; zu Num 35 vgl. Jos 21).

Ausgehend von solchen Beobachtungen haben E. OTTO und insbesondere R.


ACHENBACH ein Entstehungsmodell vorgelegt, wonach sich in Numeri weder zu
P noch zu vor-priesterlichen „Quellen“ gehörende Texte finden. Das Buch Nu-
meri stellt sich demnach unter Aufnahme verschiedener „Traditionen“ als Re-
sultat der Hexateuch- sowie der Pentateuchredaktion und späterer Zusätze dar.
Sein eigentliches Gepräge erhält Numeri, laut ACHENBACH, durch die Interven-
tion dreier theokratischer Redaktionen, die nach der Pentateuchredaktion anzu-
setzen und auf das Buch Numeri zu begrenzen sind. Ihnen ist insbesondere das
Gros der Texte in Num 1–10 und 26–36 zuzuschreiben. Ähnlich geht auch R.
ALBERTZ davon aus, dass die Entstehung des Buches Numeri erst nach-priester-
lich entstanden ist (ALBERTZ versteht Pg als Bearbeitungsschicht von Gen – Lev).
Der erste Übergang von Lev zu Dtn wurde von einem „dtr“ Bearbeiter mit Num
10,19–14,45* und 21,1–20* geschaffen, welcher bereits Pg und die Heiligkeits-
schule („P2“) voraussetzt. Danach schließen sich eine spätpriesterliche Schicht
(nach ALBERTZ „P3“) sowie die Hexateuch- und die Pentateuchredaktion an.

Auch FISTILL kommt in seiner Untersuchung von Num 21,21–36,13 zu dem Ergebnis,
dass das Buch Numeri durch eine nach-priesterschriftliche Numeri-Redaktion geprägt
wurde. ARTUS geht von zwei bzw. drei nachpriesterlichen Schichten aus, welche die
meisten narrativen und rechtlichen Traditionen von Ex – Lev und Num bereits
voraussetzen, und diese miteinander ausgleichen bzw. neu interpretieren.

Somit zeichnet sich in der neueren Forschung ein Trend ab, das Buch Numeri als
ein spätes nachpriesterliches Buch zu verstehen. Diese Hypothese wird im Fol-
genden vorausgesetzt.
144 B. Der Pentateuch

3. Theokratische Bearbeitungen, Penta- und Hexateuchredaktionen


D. KELLERMANN, Die Priesterschrift von Num 1,1 bis 10,10 literarkritisch und traditionsgeschichtlich
untersucht, 1970 (BZAW 120). – M. ROSE, Deuteronomist und Jahwist: Untersuchungen zu den
Berührungspunkten beider Literaturwerke, 1981 (ATANT 67). – E. BLUM, Studien zur Komposition
des Pentateuch, 1990 (BZAW 189). – U. SCHORN, Ruben und das System der zwölf Stämme Israels.
Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Bedeutung des Erstgeborenen Jakobs, 1997 (BZAW
248). – E. OTTO, Das Deuteronomium im Pentateuch und Hexateuch. Studien zur Literaturge-
schichte von Pentateuch und Hexateuch im Lichte des Deuteronomiumrahmens, 2000 (FAT 30). – R.
ACHENBACH, Die Vollendung der Tora: Studien zur Redaktionsgeschichte des Numeribuches im
Kontext von Hexateuch und Pentateuch, 2003a (BZAR 3). – R. ACHENBACH, Die Erzählung von der
gescheiterten Landnahme von Kadesch Barnea (Numeri 13–14) als Schlüsseltext der Redaktionsge-
schichte des Pentateuchs: ZAR 9 (2003b) 56–123. – R. ALBERTZ, Das Buch Numeri jenseits der Quel-
lentheorie. Eine Redaktionsgeschichte von Num 20–24: ZAW 132 (2011) 171–183, 336–347. – R.
ALBERTZ, A Pentateuchal Redaction in the Book of Numbers? The Late Priestly Layers of Num 25–36:
ZAW 125 (2013) 220–233. – T. RÖMER, Egypt Nostalgia in Exodus 14–Numbers 21, in: C. Frevel et al.
(eds.), Torah in the Book of Numbers, 2013 (FAT II/62), 66–86.

a) Theokratische Bearbeitungen in Num 1–10; 15; 18–19 und 25–36

Bereits in der älteren Forschung bestand ein Konsens darüber, dass der Rahmen
um die Konflikterzählungen zu großen Teilen nachpriesterlich anzusetzen ist
(vgl. zu Num 1–10 z. B. KELLERMANN, zu Num 27ff. NOTH). Diese Feststellung
hat ACHENBACH (2003a) so weitergeführt, dass er Num 1–10 und 26–36 auf drei
theokratische Bearbeitungen verteilt hat, die nach der Pentateuchredaktion anzu-
setzen sind, und die im 4. Jh. das Buch Numeri zu einer Ursprungslegende einer
hierokratisch geführten Theokratie machen.

Der Hohepriester wird zum absoluten Machthaber stilisiert – in Num 25 ist Pinhas
eindeutig Mose übergeordnet und kommt in das Privileg eines ewigen Bundes – und
die Leviten werden der Priesterschaft eindeutig unterordnet. Die theokratische Be-
arbeitung hat ebenfalls die Ritualtexte in Num 15 und 19 in die Konflikterzählungen
eingeschrieben. Num 15 kommentiert die voranstehende und nachfolgende Revolten
durch die Betonung der notwendigen Einheit von Jhwhglaube und Thoratreue, und
bezieht, vielleicht angeregt durch die Figur Kalebs in Num 13–14, auch Fremdlinge in
die Gemeinde ein. Der stilistisch dem Heiligkeitsgesetz nachempfundene Abschluss in
Num 15,37–41, der vom Gewandzipfel als Zeichen der Zugehörigkeit zum Jhwhvolk
handelt, bereitet einen wichtigen Brauch des Judentums vor. Die Bestimmungen zum
Priesteramt in Num 18 und das Ritual der roten Kuh in Num 19 sind mit Num 15
thematisch und stilistisch verwandt. Hauptanliegen dieser „ewigen Weisungen“ ist,
Reinigungs- und Sühnerituale zu verbinden (MILGROM) und dafür zu sorgen, dass
Laien sich rituell entsühnen können, um die Reinheit des Heiligtums nicht zu gefähr-
den.

Man kann den Analysen ACHENBACHs in Bezug auf Num 1–10, 15 und 18–19
durchaus zustimmen. Allerdings ist mit ALBERTZ zu fragen, ob nicht einige der
Texte in Num 27ff. eher einer Pentateuchredaktion zuzuschreiben sind. Dies
könnte auf die Kapitel Num 32–35 zutreffen, welche Parallelen im Buch Josua
V. Das Buch Numeri 145

haben und wohl von der Pentateuchredaktion geschaffen wurden, um Letzteres


zu ersetzen und die „Landnahme“ sozusagen in den Pentateuch hineinzuholen.
Über die genaue Einordnung der verbleibenden Kapitel in Num 26ff. lässt sich
trefflich streiten. Num 26 gehört derselben Schicht wie Num 1 an, beide Texte
interpretieren die ältere Struktur des Buches in eine Abfolge zweier Generatio-
nen um, und suggerieren damit, dass das folgende Buch Deuteronomium als
Moserede an die zweite Exodus- bzw. Wüstengeneration zu verstehen ist. Das
Kapitel Num 36, welches das Anliegen von Num 27 aufnimmt und einschränkt,
gehört auf eine spätere Ebene und zeigt, dass in Bezug auf die Entstehung des
Numeribuches mit einem bedeutenden Fortschreibungsprozess zu rechnen ist.

Ob Num 28–29 auf die Ebene der Pentateuchredaktion gehört (ALBERTZ) oder zur
theokratischen Überarbeitung (ACHENBACH), ist schwer zu entscheiden. Num 30
dürfte ähnlich wie Num 5–9*, wo es hauptsächlich um Fortschreibung und Komple-
mentierung bestehender Gesetze geht, der theokratischen Überarbeitung zuzurechnen
sein. Bemerkenswert ist auch, dass sowohl Num 27 als auch Num 30 eine steigende
Bedeutung der Frauen in rechtlichen und rituellen Fragen zum Ausdruck bringen.
Der Rachefeldzug gegen die Midianiter in Num 31 setzt Num 25 voraus und ist viel-
leicht eine spätere Fortschreibung, die das etwas ambivalente Mosebild in Num 25
wieder ins rechte Licht rücken soll. Num 33,1–49 wurde vielleicht (von der Hexa-
teuchredaktion?, vgl. dieselbe Lokalisierung in Dtn 34,8) als Abschluss von Numeri
konzipiert, bevor die folgenden Kapitel von der Pentateuch- und späteren Redaktio-
nen hinzugefügt wurden.

So wird man sich damit begnügen müssen, diese späten Texte in Numeri nur
ungefähr einordnen zu können.

b) Num 11–25

Dies trifft auch auf die Texte in Num 11–25 zu, die zum großen Teil von Kon-
flikten in der Wüste berichten. Von diesen Erzählungen ist in der Rückschau
Moses in Dtn 1–3 nur die Kundschaftererzählung explizit vorausgesetzt, und in
gewisser Weise die Entlastung des Mose, die aber in Dtn 1 Ex 18 viel näher steht
als Num 11. Nachdem im Rahmen der Quellentheorie davon ausgegangen
wurde, dass Dtn 1 die nicht-priesterlichen Teile von Num 13–14 kenne, diese
Annahme aber von ROSE und BLUM widerlegt wurde, scheint es heute mit OTTO
und ACHENBACH die einfachste Lösung zu sein, anzunehmen, dass Dtn 1 und
Num 13–14 eine gemeinsame (mündliche oder schriftliche?) Vorlage aufnehmen
und diese unterschiedlich rezipieren. Allerdings finden sich im Buch Dtn an
anderen Stellen Anspielungen auf Episoden aus Num 11ff., die jedoch in der
Regel „spät“ angesetzt (SCHORN) und einer Pentateuchredaktion zugeschrieben
werden, deren Anliegen es ist, das Buch Dtn enger an den Tetrateuch anzubin-
den.

So spielt der Verweis auf Datan und Abiram in Dtn 11,2–7 auf Num 16–17 an, Dtn
146 B. Der Pentateuch

9,22–24 erwähnt Tabera sowie Kibrot-Taawa und setzt damit Num 11,1–3 voraus. Ob
Dtn 24,9 bereits Num 12,1–15 vor Augen hat (L. SCHMIDT) oder ob die Abhängigkeit
in die umgekehrte Richtung geht (ACHENBACH 2003a), ist schwer zu entscheiden.
Damit ist der Grundstock von Num 11ff. wohl früher als die „Pentateuchredaktion“,
die in die betreffenden Dtn-Stellen eingegriffen hat, anzusetzen.

Die Rebellionserzählungen in Num 11–21 lassen die Wüstenzeit in einem


äußerst negativen Licht erscheinen. In Jer 2,1–3 und Hos 9 wird der Wüstenauf-
enthalt positiv als Zeit der Begegnung bewertet; Dtn 8 bezeichnet die Zeit der 40
Jahre in der Wüste als Zeit der Erprobung und der Fürsorge JHWHs, ohne von
den Revolten des Volkes zu sprechen. Auch in den Kapiteln Ex 16–17, die in
Num 11–21 vorausgesetzt werden, ist das Bild noch nuanciert, in den Exodus-
Erzählungen ist die Klage des Volkes meistens durch konkrete Nöte bedingt. Der
Zusammenhang zwischen den Wüstenerzählungen in Exodus und den Kon-
flikterzählungen in Numeri wird durch das Thema der Ägyptennostalgie ver-
stärkt (RÖMER), das sich in Ex 14,11–12 (vgl. auch 13,17b); 16,3; 17,3; Num
11,18–20 (vgl. auch V. 5); 14,2–4; 16,12–14; 20,3–5 und 21,5 findet. Diese Texte
thematisieren die Sehnsucht des Volkes nach Ägypten und stellen die Frage nach
dem „Warum“ des Exodus. In Ex 13–14; 16–17 sind die Infragestellungen des
Exodus leicht als redaktionelle Eingriffe erkennbar. Hingegen ist das Ausschei-
den der betreffenden Verse in den Numeri-Texten bis auf Num 11,18–20 kaum
möglich. Das bedeutet, dass ein Großteil der Rebellionserzählungen, die das
Motiv der Ägyptennostalgie enthalten, auf dieselben Redaktoren zurückgehen,
die Ex 13ff. in Rebellionserzählungen umgestaltet haben. Die Radikalisierung der
negativen Sicht der Wüstenzeit hängt mit der Entstehung des Pentateuchs zu-
sammen. Im Kontext des DtrG wird der Untergang Israels und Judas mit dem im
Richterbuch beginnenden und sich in Samuel-Könige fortsetzenden Ungehor-
sam des Volkes und seiner Könige begründet, welche die im Dtn enthaltenen
Gebote der Kultzentralisation und der alleinigen Verehrung Jhwhs beständig
übertraten. Als jedoch das Dtn zum Ende des Pentateuchs wurde und dieser eine
höhere Autorität als die folgenden Bücher erhielt, stellte sich die Frage nach der
Integration des Ungehorsams des Volkes in die Thora. Dieser Ungehorsam wur-
de insbesondere in Numeri in die Wüstenzeit vorverlegt (wie auch in Ez 20),
wobei ältere Traditionen neu interpretiert wurden. Der Treuebruch gegenüber
Jhwh und seinen Geboten ist demnach nicht mehr an das Wohnen im Land ge-
bunden, wie es im DtrG der Fall war, sondern kann sich zu jeder Zeit und an
jedem Ort ereignen. Die „Wüste“ spiegelt damit auch die Situation der Diaspora
wider.
Eine genaue Abgrenzung der Pentateuch- und Hexateuchredaktionen ist
kaum möglich. Es kann jedoch festgestellt werden, dass diesen Redaktionen ein
großer Anteil in Num 11–21 zukommt. Die Einfügung der Bileamperikope in
Num 22–24 geht wahrscheinlich auf die Hexateuchredaktion zurück (ACHEN-
BACH, ALBERTZ), die eine ältere Komposition überarbeitete.
V. Das Buch Numeri 147

4. Der literarische Ursprung des Numeribuches

Kann man das gesamte Buch Numeri als im Rahmen von Hexa- und Pentateuch-
redaktion entstanden sehen oder gibt es Anzeichen für eine oder mehrere Vor-
stufen? Da sich die Kundschaftererzählung in Num 13–14 als älteste Tradition in
Num 11ff. zu erkennen gibt, ist zu überlegen, ob die ursprüngliche Verbindung
zwischen Gen – Lev und Dtn durch eine Eroberungsgeschichte des Ostjordan-
landes geschaffen wurde (ähnlich ALBERTZ und ACHENBACH). Nach dem Auf-
bruch vom Sinai 10,29–36* könnte sich direkt der Auftrag zur Eroberung des
Landes und dessen Verweigerung anschließen (Num 13–14*) und danach die
gelungene Eroberung des Ostjordanlandes (Num 20–21*). Allerdings stößt be-
reits bei der literarischen Rekonstruktion dieser ersten Verbindungsschicht die
Literarkritik an die Grenzen ihrer Möglichkeiten.

5. Ältere Traditionen im Numeribuch

a) Bileam

W. GROSS, Bileam. Literar- und formkritische Untersuchung der Prosa in Num 22–24, 1974 (StANT
38). – H. ROUILLARD, La péricope de Balaam (Nombres 22–24). La prose et les «oracles», 1985 (EtB
4). – J. VAN SETERS, The Life of Moses. The Yahwist as Historian in Exodus-Numbers, Louisville-
Kampen 1994. – E. GASS, „Ein Stern geht auf aus Jakob“: sprach- und literaturwissenschaftliche
Analyse der Bileampoesie, 2001 (ATSAT 69). – M. WITTE, Der Segen Bileams – eine redaktionsge-
schichtliche Problemanzeige zum „Jahwisten“ in Num 22–24, in: J. C. Gertz et al. (Hg.), Abschied
vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion, 2002 (BZAW 315), 191–
213. – R. ACHENBACH, Die Vollendung der Tora: Studien zur Redaktionsgeschichte des Numeri-
buches im Kontext von Hexateuch und Pentateuch, 2003 (BZAR 3). – R. BICKERT, Israel im Lande
Moab. Die Stellung der Bileamerzählung Num 22–24 in ihrem redaktionellen Kontext: ZAW 121
(2009) 189–210. – R. ALBERTZ, Das Buch Numeri jenseits der Quellentheorie. Eine Redaktionsge-
schichte von Num 20–24: ZAW 132 (2011) 171–183, 336–347.

Die Ansicht, dass die Bileamperikope in Num 22–24* ursprünglich eine selb-
ständige Einheit war, die erst sekundär in das Buch Numeri eingefügt wurde,
wird auch in der heutigen Diskussion oft vertreten. Seit der Entdeckung der
Deir-‘Alla Inschrift aus dem 9. oder 8. Jh. v. Chr., die einen Bileam, Sohn des
Beor, erwähnt und ihn als „Seher der Götter“ bezeichnet, kann es keinen Zweifel
daran geben, dass Num 22–24* eine Tradition über diesen Seher integriert. Al-
lerdings ist es schwierig, die ursprüngliche Form der Bileam-Erzählung zu eruie-
ren.

In der jetzigen Erzählung fällt auf, dass sie zwei gegensätzliche Darstellungen des
heidnischen Mantikers vereint. In der Haupterzählung erscheint Bileam als ein Seher,
der die ihm von Jhwh übermittelten Segenssprüche gegen den Willen des moabiti-
schen Königs getreu verkündet, wohingegen er in der Eselin-Episode (Num 22,21–35)
als starrsinnig und ohne seherische Fähigkeiten gezeichnet wird, womit die negative
Rezeption Bileams in frühjüdischen und christlichen Schriften vorbereitet wird. Diese
Erzählung lässt sich demnach leicht als Zusatz erkennen.
148 B. Der Pentateuch

Oft hat man sich bemüht, die erzählenden Passagen von den Orakeln zu trennen.
Diese Versuche verkennen jedoch, dass ohne die Orakel die Erzählung ihren
Sinn verliert, so dass in Num 22–24* eine literarische Zusammengehörigkeit von
Prosa- und Orakel-Texten anzunehmen ist (MILGROM, ACHENBACH). Allerdings
wird innerhalb der Erzählung und den Orakeln diachron zu differenzieren sein.
Relative Einigkeit besteht darüber, dass die letzten beiden Heilsworte ein späterer
eschatologischer Einschub sind, bzw. stark eschatologisch überarbeitet und viel-
leicht bereits messianisch verstanden wurden, was durch die Rezeption von Num
24,17 in Qumran und im Bar-Kochba-Aufstand nahegelegt wird. Die Grund-
schicht, in der Bileam im Auftrag des Königs von Moab Israel verfluchen soll,
dies aber nicht kann, wird im wesentlichen 22,1–20.36–41*; 23,1–24*; 24,10–
13.25 umfassen (WITTE). Die Datierung der ursprünglichen Erzählung ist
schwierig.

VAN SETERS hat auf Parallelen zu der von Xenophon in der Anabasis geschilderten
Divinationspraxis im Kontext der persisch-griechischen Kriege hingewiesen und den
Text seinem Jahwisten aus der frühen Perserzeit zugeschrieben. Inwieweit solche
Parallelen Datierungen tragen können, bleibt zu fragen. Aufgrund der Deir-‘Alla
Inschrift dürfte die hinter Num 22–24* stehende Tradition wohl doch älter sein, wenn
auch ihr ursprünglicher Umfang literarkritisch kaum mehr zu ermitteln sein dürfte.

b) Baal Peor

G. R. BOUDREAU, A Study of the Traditio-Historical Development of the Baal of Peor Tradition, Diss.
Emory, Ann Arbor, MI 1991. – J. A. ROETMAN / G. VISSER’T HOOFT, Nb 25 et la formation du Penta-
teuque à la croisée des enjeux postexiliques: Trans 27 (2004) 37–67. – J. THON, Pinhas ben Eleasar –
der levitische Priester am Ende der Tora. Traditions- und literargeschichtliche Untersuchung unter
Einbeziehung historisch-geographischer Fragen, 2006 (ABG 20). – J. BLENKINSOPP, The Baal Peor
Episode Revisited (Num 25,1–18): Bib. 93 (2012) 86–97.

Die wohl mehrschichtige Erzählung in Num 25 über den Abfall des Volkes zum Baal
von Peor ist anerkanntermaßen eine Erzählung der Perserzeit, die eine intolerante
Haltung gegenüber anderen Völkern vertritt. Gleichzeitig wird die Figur des Pinhas in
ein besonders positives Licht gerückt und mit ihm der Hohepriester über Mose ge-
stellt. Auf die Baal-Peor-Episode wird in Hos 9,10 angespielt. Wenn dieser Text zu
einer frühen Form des Hoseabuches gehört, stünde hinter Num 25 vielleicht eine
ältere Tradition (BOUDREAU). Da aber die anderen Anspielungen auf Baal Peor in Dtn
4,3f. und Ps 106,28 in Texten aus der Perserzeit vorliegen, bleibt die Annahme einer
Verarbeitung von Traditionsstoff in Num 25 sehr hypothetisch. Im Buch Dtn begeg-
net der Ort Beth-Peor im Zusammenhang mit der Verkündigung Moses und seinem
Tod. Durch die Vorschaltung von Num 25 wird das Dtn nun auch zum Dokument
einer Bundeserneuerung nach dem Abfall der Israeliten (ACHENBACH).

c) Die Eroberung des Ostjordanlandes

M. WÜST, Untersuchungen zu den siedlungsgeographischen Texten des Alten Testaments. I. Ostjor-


danland, Wiesbaden 1975 (BTAVO B 9). – D. E. FLEMING, The Legacy of Israel in Judah’s Bible:
V. Das Buch Numeri 149

History, Politics, and the Reinscribing of Tradition, New York, NY 2012. – T. RÖMER, Tracking Some
„Censored“ Moses Traditions Inside and Outside the Hebrew Bible: HeBAI 1 (2012) 64–76.

In Num 20–21* und Dtn 2–3* finden sich Erzählungen über die Eroberung des
Ostjordanlandes unter der Führung Moses vor dem Beginn der eigentlichen
Landeroberung durch Josua. Hinter den Berichten von Siegen über die Könige
Sihon und Og, die kaum auf dtr Erfindungsgeist zurückgehen, verbergen sich
ältere, womöglich (nord-)israelitische Traditionen, die vielleicht die Präsenz
Israels in einem auch von Moab beanspruchten Gebiet legitimierten (FLEMING).
In der Bibel werden Moses militärische Funktionen nicht sehr betont, im Gegen-
satz zu außerbiblischen Erzählungen der hellenistischen Zeit (Hekataios von
Abdera, Artapan), die Mose als mächtigen Feldherrn darstellen und möglicher-
weise ältere Traditionen aufnehmen, die keinen Eingang in die Tora fanden
(RÖMER).

d) Der priesterliche Segen

G. BARKAY u. a., The Amulets from Ketef Hinnom: A New Edition and Evaluation: BASOR 334
(2004) 41–71. – A. BERLEJUNG, Ein Programm fürs Leben. Theologisches Wort und anthropologi-
scher Ort der Silberamulette von Ketef Hinnom: ZAW 120 (2008) 204–230. – N. NA’AMAN, A New
Appraisal of the Silver Amulets from Ketef Hinnom: IEJ 61 (2011) 184–195.

Der priesterliche Segen in Num 6,24–26 ist zur Zeit der Text der HB, für den es
den ältesten materiellen Beleg gibt, da er sich beinahe wortwörtlich auf einem als
Grabbeigabe benutzten Silberamulett aus Ketef Hinnom findet, das meistens mit
den anderen Funden in das 7. Jh. v. Chr. datiert wird (BARKAY), die aber viel-
leicht eher in die frühe nachexilische Zeit gehören (BERLEJUNG, NA’AMAN). Auf
keinen Fall kann diese Parallele die These tragen, nach welcher das Ketef-Hin-
nom-Amulett die vorexilische Datierung von P, dem zuweilen Num 6,22–27
zugeschrieben wurde, bzw. des gesamten Numeribuches beweise. Es handelt sich
um einer kurzen liturgischen Text, der sicher ohne Bezug zum Numeribuch im
Umlauf war, bevor er in Num 6 aufgenommen wurde.
VI. Das Buch Deuteronomium
Kommentare: A. DILLMANN, 31897 (KEH). – C. STEUERNAGEL, 1900 (HK). – P. BUIS / J. LECLERQ,
1963 (SBi). – H. CAZELLES, 31966 (SB[J]).
 – A. D. H. MAYES, 1981 (NCBC). – G. VON RAD, 41983
(ATD). – G. BRAULIK, 1986 – 1992 (NEB.AT). – D. L. CHRISTENSEN, 1991–2002 (WBC). – M.
WEINFELD, 1991 (AncB) (Dt 1–11). – E. M. ROSE, 1994 (ZBK.AT). – NIELSEN, 1995 (HAT). – J. G.
MCCONVILLE, 2002 (Apollos Old Testament Commentary 5). – R. D. NELSON, 2002 (OTL). – T.
VEIJOLA, 2004 (ATD) (Dt 1,1–16,17). – U. RÜTERSWÖRDEN, 2006 (NSK.AT). – L. PERLITT, 2011
(BK.AT) (Dt 1,1–6,4). – U. RÜTERSWÖRDEN, 2011ff. (BK.AT) (Dt 12ff.). – E. OTTO, 2012 (HThK.AT)
(Dt 1–11).

1. Aufbau und Inhalt


P. KLEINERT, Das Deuteronomium und der Deuteronomiker: Untersuchung zur alttestamentlichen
Rechts- und Literaturgeschichte, Bielefeld – Leipzig, 1872. – F. HORST, Das Privilegrecht Jahves:
rechtsgeschichtliche Untersuchungen zum Deuteronomium, 1930 (FRLANT 45) = Gottes Recht:
Gesammelte Studien zum Recht im Alten Testament, 1961 (TB 12), 17–152. – S. HERRMANN, Die
konstruktive Restauration. Das Deuteronomium als Mitte biblischer Theologie, in: H. W. Wolff
(Hg.), Probleme biblischer Theologie. FS G. von Rad, München 1971, 155–170. – S. A. KAUFMANN,
The Structure of the Deuteronomic Law: Maarav 1 (1979) 105–158. – G. BRAULIK, Die deuteronomi-
schen Gesetze und der Dekalog: Studien zum Aufbau von Deuteronomium 12–26, 1991 (SBS 145). –
T. RÖMER, The Book of Deuteronomy, in: S. L. McKenzie / P. Gaham (eds.), The History of Israel’s
Tradition. The Heritage of Martin Noth, 1994 (JSOT.S 182), 178–212. – N. LOHFINK, Die An- und
Absageformel in der hebräischen Bibel: Zum Hintergrund des deuteronomischen Vierüberschriften-
systems, in: A. Gianto (ed), Biblical and Oriental Essays. FS W. Moran, 2005 (BeO 48), 49–77.

Das Buch Deuteronomium stellt sich als eine große Abschiedsrede Moses dar,
welche er am Abend seines Todes an die vor ihm versammelten Israeliten im
Land Moab vor dem Eintritt in das verheißene Land hält. Erzählt wird außer der
Einsetzung Josuas als Nachfolger und dem Tod Moses nichts. Das Buch Deute-
ronomium beschließt den Pentateuch, leitet aber mit der häufigen Voraussage
der bevorstehenden Überquerung des Jordans und der Landeroberung zum Buch
Josua über, mit welchem es in einer engen Beziehung steht. Die Vorausbeziehun-
gen des Dtn beschränken sich jedoch nicht auf das Buch Jos; auch der zu Anfang
der Darstellung der Richterzeit berichtete Abfall des Volkes von Jhwh wird be-
reits im Dtn ins Auge gefasst (vgl. Dtn 6,12–15 und Ri 2,12–14). Weiter findet
sich im sogenannten Königsgesetz in Dtn 17 eine Vorwegnahme der Geschichte
der Königszeit von deren Anfängen bis zu Joschija. Der Wunsch, einen König
einzusetzen wie die anderen Völker (17,14), spielt auf 1 Sam 8 an, die Warnung
vor vielen Frauen, die dem König den Kopf bzw. das Herz verdrehen, weist auf
die Salomoerzählung voraus, und die Forderung, die Thora zu studieren, kann
als Anspielung auf den frommen Joschija und dessen Buchauffindung gelesen
werden. Und auch das am Ende der Königsbücher berichtete Exil ist bereits in
den Fluchankündigungen von Dtn 28 sowie in anderen Unheilsdrohungen prä-
sent. Damit kommt dem Deuteronomium eine Scharnierfunktion zu, die zu der
Idee geführt hat, dass es die „Mitte“ des Alten Testaments darstelle (HERRMANN).
Die Wichtigkeit des Buches Deuteronomium für das frühe Judentum zeigt sich
VI. Das Buch Deuteronomium 151

darin, dass in Qumran das Buch Dtn in 30 Manuskripten existierte (Genesis in


19, Exodus in 17, Levitikus in 13 und Numeri in 7).
Der Name Deuteronomium geht auf die griechische Übersetzung von Dtn
17,18 zurück, wo dem König aufgetragen wird, sich eine Kopie des Gesetzes zu
machen, was in der LXX mit deuteronomion wiedergegeben wird. Im Rahmen
des Pentateuchs ist der Titel durchaus zutreffend, denn nach der Sinaioffenba-
rung in Ex 19–Num 10 stellt das Deuteronomium in der Tat so etwas wie ein
„zweites Gesetz“ dar. In der jüdischen Tradition trägt das Buch nach der Über-
schrift in Dtn 1,1 den Namen „Debarim“ (Worte).
Der Aufbau des Buches ist leicht zu überschauen. In Dtn 1–30 liegt haupt-
sächlich eine Moserede vor. In Dtn 31 setzt dieser dann Josua als seinen Nachfol-
ger ein, proklamiert in Dtn 32 einen in die Zukunft vorausblickenden Psalm und
in Dtn 33 den zwölf Stämmen gewidmete Sprüche, worauf in Dtn 34 sein Tod
und seine Bestattung durch Jhwh berichtet werden. Das Buch bzw. der gesamte
Pentateuch wird mit der Bemerkung abgeschlossen, dass sich in Israel nie mehr
ein Prophet wie Mose erhoben hat (Dtn 34,10–12).
Allerdings wird das lange Testament bereits in 4,41–5,1a; 27,1; 28,69–29,1
durch Verse unterbrochen, die von Mose in der dritten Person sprechen. Dazu
kommt, dass sich in Dtn 1,1 („dies sind die Worte“); 4,44 („dies ist die Tora“);
28,69 („dies sind die Worte des Bundes“) und 33,1 („dies ist der Segen“) ver-
gleichbare Redeeinleitungen finden (BRAULIK), zu welchen man noch die Einlei-
tung der Gesetzessammlung in Dtn 12,1 („dies sind die Satzungen und Rechte“)
hinzunehmen kann. Aus diesen Unterbrechungen bzw. Einleitungen ergibt sich,
dass die letzten Redaktoren im Buch Dtn fünf bzw. sechs Teile unterscheiden
wollten: Eine erste Rede, die einen Rückblick auf Ereignisse nach dem Auszug
aus Ägypten enthält (Dtn 1–4), eine zweite Rede, die ermahnenden Charakter
hat und zum Halten des von JHWH durch Mose übermittelten Gesetzes motivie-
ren will (Dtn 5–11), eine Gesetzessammlung (Dtn 12–26), Segen und Fluch (27–
28), einen Bundesschluss im Lande Moab, der mit der Einsetzung Josuas und
einem abschließenden Psalm endet (29–32), Moses letzte Worte und sein Tod
(33–34).

In Dtn 1–3 rekapituliert Mose die Irrungen und Wirrungen der Wüstenzeit. Dabei be-
richtet er zunächst die Einsetzung von Richtern (1,9–18), ohne jedoch, wie in Ex 18,
seinen midianitischen Schwiegervater zu erwähnen. Die Weigerung des Volkes, das
verheißene Land zu erobern (1,6–8 fortgesetzt in 1,19–46), begründet im Dtn auch,
warum Mose nicht das Land betreten darf, da er als Führer der rebellischen Exodus-
generation deren Strafe mittragen muss (Dtn 1,37). Dtn 2–3 berichtet anders und
ausführlicher als Num 20–21 von der Eroberung des Ostjordanlandes, insbesondere
von den Siegen über die legendären Könige Sihon und Og, sowie der Verteilung des
eroberten Gebietes an die Stämme Ruben, Gad und Halb-Manasse. Dtn 4 hebt sich
durch einen Neueinsatz zum Hören (der Dtn 6,4 vorwegnimmt) von den voranste-
henden und auf die Eroberung des Ostjordanlandes abzielenden Kapitel 1–3 ab. In
dieser auch stilistisch anders gestalteten Rede, in der Vieles refrainartig wiederholt
wird, geht es hauptsächlich um das Bekenntnis zu Jhwh als dem einzigen Gott und um
die Abweisung jeglicher bildlichen Repräsentation des Gottes Israels. In 5,1 wird
152 B. Der Pentateuch

wiederum ein Neueinsatz markiert, der die Erinnerung an die Horebereignisse mit
dem Dekalog eröffnet und begründet, wie Mose zum unabdinglichen Gebotsvermitt-
ler wurde. Das šema‘ jisrael („Höre Israel“) in Dtn 6,4–5, das bis heute im Judentum
rezitiert wird, leitet zur Mahnung über, keine „anderen Götter“ (deren Existenz im
Gegensatz zu Dtn 4 nicht bestritten wird) zu verehren. Dem schließt sich Dtn 7 an, wo
eine strikte Abgrenzung der Israeliten von den anderen Völkern gefordert wird, wel-
che mit der Idee der Erwählung Israels als Jhwhs Volk begründet wird. Zusammen mit
Dtn 9,1–6 rahmt die Abgrenzungsforderung einen erneuten Rückblick auf die Zeit des
Wüstenaufenthalts in Dtn 8, wo im Gegensatz zu Dtn 1 nicht der Ungehorsam des
Volkes betont wird, sondern Jhwhs fürsorgliches Handeln; die 40 Jahre in der Wüste
werden hier als Zeit der Erprobung interpretiert. In Dtn 9,7–10,11 wird insbesondere
die Episode des Goldenen Kalbs in Erinnerung gerufen, wobei auch hier auf Moses
Fürbittegebet abgehoben wird, das dem Volk das Überleben ermöglichte. Ab 10,12
finden sich Ermahnungen zur Befolgung der göttlichen Gesetze, die mit der Ankündi-
gung von Segen und Fluch in 11,26–32 abgeschlossen werden. Dies wiederholt sich
ausführlicher in Dtn 27–28, so dass das deuteronomische Gesetz in Dtn 12–26 durch
das Thema „Segen und Fluch“ gerahmt wird.

Die Gliederung der Gesetze in Dtn 12–26, die zum Teil Parallelen im Bundes-
buch haben, ist nicht ohne weiteres einsichtig. Meistens unterscheidet man drei
große Teile: Die sich aus dem Ausschließlichkeitsanspruch JHWHs und der For-
derung des einen Kultortes, an welchem Opfer dargebracht werden dürfen, ab-
leitenden Zentralisationsgesetze über den rechten Gottesdienst in 12,1–16,17 (12:
ein einziges Heiligtum; 13: Todesstrafe für den Abfall von Jhwh; 14: Reine und
unreine Tiere; Abgabe des Zehnten; 15: Erlassjahr; 16,1–17: Festkalender), Äm-
tergesetze in 16,18–18,22 (16,18–17,13; Richter; 17,14–20: König; 18,1–8: Leviten,
18,9–22: Propheten) und öffentliches und privates Recht in 19–25.

Im Einzelnen wird Folgendes geregelt: Asylstädte: 19,1–14; Zeugen vor Gericht:


19,15–21; Kriegsrecht: 20,1–20; 21,10–14; 23,10–15; 24,5; Entsühnung der Gemeinde
bei Mord von unbekannter Hand: 21,1–9; Familienrecht bzw. Pflichten und Privile-
gien des pater familias und Ehegesetze: 21,15–21; 22,13–23,1; 24,1–4; Gesetze, die zur
Solidarität und menschlichem und sogar tierfreundlichem Verhalten in der Gemeinde
anhalten: 22,1–8; 23,16–17.20–21.25–26; 24,6–22; 25,1–4.13–16; Gesetze über den
Ausschluss aus der Gemeinde: 23,2–9.18–19; 25,17–19; Gesetze zur Aufrechterhaltung
der Reinheit bzw. Warnung vor illiziten Vermischungen: 21,22–23; 22,9–12; 23,10–15;
24,8–9; vgl. auch Dtn 14; Gelübde: 23,22–24.

Der Abschluss Dtn 26 bietet ein liturgisches Gebet, das bei der Darbringung der
Erstlinge und des Zehnten gesprochen werden soll, und generelle Ermahnungen,
die mit der besonderen Beziehung zwischen Jhwh und Israel, der sogenannten
„Bundesformel“, begründet werden. Die Schwierigkeit, ein kohärentes Gliede-
rungsprinzip (besonders für 19–25) zu finden, und die Beobachtung, dass die
Verbindung von Themen oft assoziativ und durch Stichwortverknüpfungen ge-
schieht, bestätigt die Annahme, dass das deuteronomische Gesetzeskorpus das
Resultat mehrerer redaktioneller Überarbeitungen darstellt.
VI. Das Buch Deuteronomium 153

Alternativvorschläge zur Gliederung von Dtn 12–25 wurden von HORST gemacht, der
eine Zweiteilung vorschlug (12–18: Privilegrecht Jhwhs; 19–25: Zivilrecht), sowie von
KAUFMANN und BRAULIK, nach denen die Gesetze in Dtn 12–26 den Zehn Geboten
folgen. So würden Dtn 12–13 den ersten drei Geboten entsprechen, das Sabbatgebot
würde sich in den verschiedenen rituellen Anweisungen und Festgeboten in 14,1–
16,17* widerspiegeln, das Elterngebot entspräche gut lutherisch den Gesetzen über die
Autoritäten in 16,18–18,22, das Verbot des Tötens den Asyl- und Kriegsgesetzen in
Dtn 19,1–22,8*, das Ehebruchsverbot den Ehegesetzen in 22,9–23,18*; das Verbot des
Stehlens den Vorschriften in 23,19–24,7* zur Wahrung der Integrität der Person und
des Eigentums, das Verbot des Meineids den Gesetzen gegen die Beugung des Rechts
in 24,8–25,12* und das Verbot des Begehrens der Warnung vor betrügerischem Han-
del in 25,13–16. Wie BRAULIK selbst einräumt, lassen sich nicht alle Gesetze in Dtn
12–25 diesem Dekalog-Schema zuordnen, so dass viele Forscher die These einer
Strukturierung von Dtn 12–26 nach dem Dekalog abgelehnt haben. Allerdings ist es
möglich, dass die letzten Redaktoren sich bei der Überarbeitung des Gesetzeskorpus
frei an den zehn Geboten orientierten.

Die Anweisung für die Errichtung eines Altars auf dem Berg Ebal (MT) bzw.
Garizim (Sam.) und die dortige Verkündigung von Fluch- und Segensworten
(Dtn 27) sowie die darauf folgenden Segens- und Fluchankündigungen, die im
altorientalischen Vertragswesen Parallelen besitzen (Dtn 28), stellen einen ersten
Abschluss der Moserede dar. Danach schließt sich in Dtn 29 ein (erneuter) Bun-
desschluss zwischen Jhwh und Israel („Moabbund“) an, der ebenfalls mit der
Ankündigung von Segen und Fluch sowie mit der Aufforderung, das Leben und
nicht den Tod zu wählen, endet (30,15–20). Danach wird der Hörer bzw. Leser
auf den Tod Moses vorbereitet. Dieser setzt zuvor Josua als seinen Nachfolger ein
und verschriftet das Gesetz, damit es die Leviten regelmäßig der Gemeinde vorle-
sen (Dtn 31,1–13). Danach wird zum Psalm des Mose übergeleitet, der als eine
Vorschau auf den Abfall des Volkes von Jhwh verstanden wird (31,14–47).
Schließlich erhält Mose den Auftrag zum Aufstieg auf den Berg Nebo, um dort
zu sterben (32,48–52). Der direkte Zusammenhang zwischen diesem Abschnitt
und Dtn 34 ist im jetzigen Zusammenhang durch den Einschub von Dtn 33 un-
terbrochen. Dieser Text enthält wie Gen 49 Stammessprüche und dient dazu, die
zwei Gründungsfiguren Israels, den Stammvater Jakob und den Gesetzesmittler
Mose, miteinander zu parallelisieren.

2. Theorien zur Entstehung des Buches Deuteronomium

a) Ursprung und Diachronie

G. HÖLSCHER, Komposition und Ursprung des Deuteronomiums: ZAW 40 (1922) 161–255. – M.


NOTH, Überlieferungsgeschichtliche Studien. Die sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke
im Alten Testament, Darmstadt 1943, 31967. – G. MINETTE DE TILLESSE, Sections „Tu“ et sections
„Vous“ dans le Deutéronome: VT 12 (1962) 29–87. – O. EISSFELDT, Einleitung in das Alte Testament,
Tübingen 1964. – S. LOERSCH, Das Deuteronomium und seine Deutungen: ein forschungsgeschichtli-
cher Überblick, 1967 (SBS 22). – H. D. PREUSS, Deuteronomium, 1982 (EdF 164). – R. SMEND, Die
Entstehung des Alten Testaments, 1989 (Theologische Wissenschaft). – B.-J. DIEBNER / C. NAUERTH,
154 B. Der Pentateuch

Die Inventio des spr htwrh in 2 Kön 22: Struktur, Intention und Funktion von Auffindungslegenden:
DBAT 18 (1984), 95–118. – J. C. GERTZ, Die Gerichtsorganisation Israels im deuteronomischen
Gesetz, 1994 (FRLANT 165). – C. UEHLINGER, Gibt es eine josijanische Kultreform? Plädoyer für ein
begründetes Minimum, in: W. Gross (Hg.), Jeremia und die ‚deuteronomistische Bewegung‘, 1995
(BBB 98), 57–90. – R. G. KRATZ, Der literarische Ort des Deuteronomiums, in: R. G. Kratz / H.
Spieckermann (Hg.), Liebe und Gebot. FS L. Perlitt, 2000 (FRLANT 190), 101–120. – G. MINETTE DE
TILLESSE, TU & VOUS dans le Deutéronome, in: R. G. Kratz / H. Spieckermann (Hg.), Liebe und
Gebot. FS L. Perlitt, 2000 (FRLANT 190), 156–163. – E. AURELIUS, Die fremden Götter im Deutero-
nomium, in: M. Oeming / K. Schmid (Hg.), Der eine Gott und die Götter. Polytheismus und Mo-
notheismus im antiken Israel, 2003 (AThANT 82), 145–169. – R. HECKL, Moses Vermächtnis. Kohä-
renz, literarische Intention und Funktion von Dtn 1–3, 2004 (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte
Band 9). – N. NA’AMAN, The King Leading Cult Reforms in His Kingdom: Josiah and Other Kings in
the Ancient Near East: ZAR 12 (2006), 131–168. – H.-P. MATHYS, Wilhelm Martin Leberecht de
Wettes Dissertatio critico-exegetica von 1805, in: M. Kessler / M. Walraff (Hg.), Biblische Theologie
und historisches Denken, 2008 (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel. NF 5), 171–211.
– J. PAKKALA, The Date of the Oldest Edition of Deuteronomy: ZAW 121 (2009), 388–401.

Als Vater der modernen Deuteronomiumsforschung gilt M. W. L. DE WETTE, der


1805 in seiner Dissertation das Deuteronomium mit dem laut 2 Kön 22 unter
König Joschija gefundenen Gesetzbuch gleichsetzte (siehe die Neuausgabe und
Übersetzung bei MATHYS). In der Tat finden sich eine Reihe von Parallelen zwi-
schen den durch den Buchfund veranlassten religiösen Maßnahmen Joschijas
und den Vorschriften des deuteronomischen Gesetzes, zunächst der Befehl zur
Konzentration des Kultes auf einen einzigen Ort in Dtn 12,1–28 und seine Aus-
führung durch Joschija in 2Kön 23; sodann die Aufforderung, fremde Kult-
objekte zu zerstören in Dtn 12,3 und deren Ausführung in 2Kön 23,12–14, das
Verbot von Ascheren in Dtn 12,3; 16,21 und deren Zerstörung in 2Kön 23,4ff.,
die Ächtung von Astralkulten in Dtn 17,2ff. und deren Abschaffung in 2Kön 23,4
und 11, das Verbot der Tempelprostitution in Dtn 23,18 und deren Eliminierung
in 2Kön 23,7, etc. Die Identifikation des gefundenen Buches mit dem Deuterono-
mium hatten bereits Rabbiner und Kirchenväter vorgenommen; allerdings war
DE WETTE der erste, der diese Gleichsetzung zur Datierung des Dtn benutzte, in-
dem er annahm, dass dieses Buch geschrieben worden war, um die joschijanische
Reform zu legitimieren, und damit gegen Ende des 7. Jh.s v. Chr. entstanden sei.
Damit hatte man zum ersten Mal in der Pentateuchforschung einen „archime-
dischen Punkt“ (EISSFELDT) zur Datierung einer seiner Quellen gefunden. Aller-
dings stellte sich bald die Frage, ob es sich bei dem Buchfund um eine „pia fraus“
handelte (reformfreudige Hofbeamte hätten das Dtn heimlich so im Tempel
versteckt, dass man es bei Renovierungsarbeiten leicht habe finden können) oder
ob der Buchauffindungsbericht in 2Kön 22 nicht eher legendarisch zu verstehen
sei und den Zweck hatte, ein hohes Alter und damit auch eine starke Autorität
des Dtn zu suggerieren (siehe dazu DIEBNER/NAUERTH). Recht bald erhoben sich
auch Stimmen, die die gesamte joschijanische Reform als eine spätere literarische
Erfindung betrachteten und somit das Dtn erst zur Zeit des babylonischen Exils
datieren wollten (HÖLSCHER). Allerdings blieb die Mehrheit der Forscher bei
einer zeitlichen Ansetzung in das ausgehende 7. Jh. Im Gegensatz zu DE WETTE
sprach man seit WELLHAUSEN von einem „Urdeuteronomium“, einer Erstaus-
VI. Das Buch Deuteronomium 155

gabe des Dtn, die später um diverse Zusätze angereichert worden war. Mit der
Annahme eines solchen Urdeuteronomiums stellte sich auch die Frage nach der
Entstehung des Buches, und ausgehend von der Beobachtung einer doppelten
Einleitung und eines doppelten Abschlusses der Gesetzessammlung kam man auf
die Idee, dass das Urdeuteronomium hauptsächlich auf die Gesetzessammlung in
Dtn 12–26* beschränkt gewesen sei und verschiedene voneinander unabhängige
Einzelausgaben erfahren habe (WELLHAUSEN: 1–4; 12–26; 27 einerseits und 5–11;
12–26; 28–30 andererseits; DILLMANN nahm drei parallele Ausgaben des Dtn an,
vgl. ähnlich STEUERNAGEL). Diese Ansätze wurden jedoch durch NOTHs These
vom Deuteronomistischen Geschichtswerk (DtrG) infrage gestellt, derzufolge
Dtn 1–3 nicht als Einleitung des Buches Dtn entstanden war, sondern als Eröff-
nung des gesamten DtrG. Damit beschränkte er das Urdeuteronomium auf Dtn
5–30*, woraus folgte, dass die Entstehung des Dtn am besten mit einer Ergän-
zungshypothese zu erklären ist. Als weiteres Indiz zur diachronen Differenzie-
rung wurde oft der sogenannte Numeruswechsel betrachtet, der häufige Wechsel
(manchmal innerhalb eines Verses) zwischen der 2. Person Singular und der 2.
Person Plural. Dieses Phänomen wurde von MINETTE DE TILLESSE (1962) und
anderen so erklärt, dass die älteren Texte des Dtn vor seiner Eingliederung in das
DtrG im Singular verfasst waren, die dtr Texte hingegen sich des Plurals bedien-
ten. Dies mag zum Teil zutreffend sein (siehe dazu die folgenden Ausführungen
zu Dtn 12). Allerdings darf man aus dem Numeruswechsel kein generelles Krite-
rium zur Schichtenunterscheidung machen (siehe auch MINETTE DE TILLESSE
2000), da es sich oft auch um ein stilistisches Mittel handelt (LOHFINK spricht
von einer „Numerusmischung“), das auch bei assyrischen Vertragstexten und
anderen Inschriften (Sfire) belegt ist.
Im Rahmen der Theorie des DtrG war die Funktion von Dtn 1–3 klar: Es handelt sich
um die (in sich mehrschichtige) Einleitung des gesamten Geschichtswerkes, die be-
reits das Ende in 2Kön 24–25 voraussetzt und im Blick hat. Für die Bestreiter der
Existenz eines DtrG stellt sich die Frage nach der Funktion von Dtn 1–3 erneut. Diese
bemühen sich aufzuzeigen, dass Dtn 1–3 keinen Neuanfang darstellt. Nach HECKL
finden sich in Dtn 1–3 keine Anspielungen, die über das Buch Josua hinausreichen.
Nach KRATZ setzt die Rekapitulation in Dtn 1–3* die priesterlichen und nicht-pries-
terlichen Texte in Num voraus und wurde einerseits geschaffen, um an die vorange-
hende Geschichte anzuknüpfen, andererseits um eine Buchgrenze zu markieren.
GERTZ hingegen spricht von einer die nicht-priesterlichen Texte in Numeri vorausset-
zenden relecture „zur Einbindung des Deuteronomiums in den vorliegenden Erzähl-
verlauf“ (121). Diese Idee erscheint jedoch etwas gezwungen. Hätte Dtn 1–3 dazu die-
nen sollen, das dtn Gesetz in einen bereits vorliegenden von Gen bzw. Ex bis Jos oder
Kön reichenden Zusammenhang einzubetten, wäre es doch weit logischer und ge-
schickter gewesen, auf die Exodusereignisse zurückzugreifen, um diese noch einmal
ausführlich in Erinnerung zu rufen. Weiterhin ist anzumerken, dass das Buch Dtn als
einziges Buch des Pentateuchs eine wirkliche Buchüberschrift besitzt (ohne waw
consecutivum). Über das Alter von Dtn 1,1–5* kann natürlich diskutiert werden; im-
merhin zeigen diese Verse, dass sich auch noch im Rahmen des Pentateuchs eine
gewisse Trennung zwischen Dtn und Tetrateuch widerspiegelt. Zu fragen bleibt auch,
ob der „Rückblick“ in Dtn 1–3 die (nicht-priesterlichen) Erzählungen vom Wüsten-
156 B. Der Pentateuch

aufenthalt in Ex und Num voraussetzt, wie von NOTH und GERTZ angenommen (siehe
dazu das Kapitel über Numeri).

Die genaue Differenzierung von Schichten innerhalb des Dtn bleibt ein schwieri-
ges Unterfangen. Allerdings kann man einer Beobachtung von R. SMEND folgen,
der festgestellt hat, dass sich innerhalb des Eröffnungskapitels des dtn Gesetzes
(Dtn 12) leicht drei Schichten unterscheiden lassen, die parallel gebaut sind. Jede
Schicht beginnt mit einem Verbot bzw. mit einer negativen Aussage. Im Mittel-
punkt steht dann die Aufforderung, allein an dem von JHWH erwählten Kultort
(maqôm) zu opfern, und jedes Mal endet die Ermahnung mit einem Aufruf zur
Freude. Der älteste Text liegt im singularisch gehaltenen Abschnitt 12,13–18 vor,
der zunächst durch die Verse 8–12 (wohl zusammen mit V. 28), und danach
durch 12,2–7 (wohl zusammen mit 29–31) nach vorne erweitert wurde.

Das ursprüngliche Zentralisationsgesetz in Dtn 12,13–18 setzt die Existenz des Jeru-
salemer Tempels voraus. Diese Verse gehören zur Erstausgabe des Dtn und folgten
womöglich direkt auf dessen Einleitung in 6,4–5 (zusammen ergibt sich ein Abschnitt,
in welchem sich fünfmal die Ausdrücke kol [„ganz, alle“] und zweimal ’eḥad [„ein“]
finden: Der „Einheit“ Jhwhs entspricht der „eine“ Kultort, der im Gegensatz zu den
vielen Heiligtümern steht). 12,13–18 setzt voraus, dass die Adressaten innerhalb des
Landes Israel leben, die Identität des Sprechers des Abschnitts ist nicht deutlich (es
braucht sich in diesem Abschnitt noch nicht um eine mosaische Fiktion zu handeln).
Der maqôm bezeichnet den Jerusalemer Tempel, und der von JHWH erwählte „ein-
zige“ Stamm bezieht sich eindeutig auf Juda. Diese Erwählungstheologie passt bestens
in den Kontext der joschijanischen Reform. Ob diese Schicht des Dtn mit anderen
Texten in Jos und Kön zusammenhängt (RÖMER), hängt davon ob, ob man die Ur-
sprünge des DtrG bereits in das 7. Jh. oder erst in die sog. Exilszeit ansetzt. Dtn 12,13–
18 ist der einzige Abschnitt, der sich mit den konkreten Folgen der Kultzentralisation
auseinandersetzt und die Schlachtung und den Fleischverzehr ohne Heiligtum erlaubt.
Im Gegensatz zu Dtn 12,13–18 setzen die vorangehenden Verse 8–12 die historische
Fiktion des Dtn und die Identifizierung der Adressaten mit der Landnahmegeneration
voraus (vgl. 12,10), welche für sich im Exil befindende Adressaten unmittelbar auf
ihre eigene Situation übertragbar ist. Nachdem V. 8 die Gegenwart in Bezug auf die
Kultzentralisation als eine Zeit der Unordnung beurteilt hat, stellt V. 9 fest, dass die
Hörer noch nicht in die Ruhe eingetreten sind, die Jhwh ihnen als Erbe geben will.
Damit ergibt sich durch das Thema der „Ruhe“ ein kompositioneller und redaktio-
neller Zusammenhang von Dtn 12,8ff. über Jos 21,43–45; 23*; 2 Sam 7* zu 1 Kön 8*.
Die letzte Fortschreibung in Dtn 12, zu welcher man wohl auch die Verse 12,29–31
rechnen darf, zeichnet sich durch eine besonders aggressive Haltung gegenüber den
„anderen Völkern“ aus, welche im Dtn auch in 7,1–6.22–26 und 9,1–6 zu Tage tritt.
Die hier vorliegende segregationistische Einstellung legt eine mit Esra-Nehemia zeit-
verwandte Abfassung dieser Texte nahe.

Damit legt der Befund in Dtn 12 es nahe, drei Hauptphasen der Entstehung des
Dtn anzunehmen: Eine Grundschicht aus dem 7. Jh. v. Chr. (das sog. Urdeutero-
nomium), eine Überarbeitung in der „exilischen“ (babylonischen) Zeit, die eng
mit der Eingliederung des Dtn in das DtrG verbunden sein dürfte, und eine wei-
tere dtr Redaktion, die man in etwa mit dem sogenannten DtrN – siehe dazu die
VI. Das Buch Deuteronomium 157

Ausführungen zum DtrG – gleichsetzen und in die ersten Jahrzehnte der Perser-
zeit datieren kann. Danach ist sicher mit Hexa- und Pentateuchredaktionen zu
rechnen, die das Dtn von den folgenden Büchern abtrennen und es näher an den
Tetrateuch anbinden wollten.
Neuerdings ist die These HÖLSCHERs repristiniert worden, nach welchem die
Anfänge des Dtn frühestens in der babylonischen Zeit liegen können (AURELIUS,
PAKKALA). Das Zentralisationsgesetz sei im 7. Jh. nicht vorstellbar (warum?), und
eine joschijanische Reform habe es nie gegeben. Doch ist die Existenz von mono-
latrischen Reformen im Alten Orient gut belegt (NA’AMAN), und auch die Nähe
bestimmter Texte des Dtn zu neu-assyrischen Treueiden lassen eine Ansetzung
der Anfänge des Dtn in das 6. bzw. 5. Jh. v. Chr. nicht sehr logisch erscheinen.
Zudem mutet die Idee einer totalen Erfindung der joschijanischen Reform, für
die es durchaus auch außerbiblische Argumente gibt (UEHLINGER), den judäi-
schen Schreibern doch recht viel zu. So scheint eine Ansetzung des Urdeutero-
nomiums in das 7. Jh. v. Chr. mit DE WETTE immer noch die beste Lösung zu
sein.

b) Das Deuteronomium und die Vasallenverträge

G. E. MENDENHALL, Law and Covenant in Israel and the Ancient Near East, Pittsburgh 1955. – K.
BALTZER, Das Bundesformular (WMANT 4), 1960, 21964. – W. L. MORAN, The Ancient Near Eastern
Background of the Love of God in Deuteronomy: CBQ 25 (1963), 77–87. – N. LOHFINK, Das Haupt-
gebot. Eine Untersuchung literarischer Einleitungsfragen zu Dtn 5–11, 1963 (AnBib 20). – H. U.
STEYMANS, Deuteronomium 28 und die adê zur Thronfolgeregelung Asarhaddons. Segen und Fluch
im Alten Orient und in Israel, 1995 (OBO 145). – E. OTTO, Das Deuteronomium. Politische Theolo-
gie und Rechtsreform in Juda und Assyrien, 1999 (BZAW 284). – U. RÜTERSWÖRDEN, Dtn 13 in der
neueren Deuteronomiumsforschung, in: A. Lemaire (ed.), Congress Volume Basel 2001 (VT.S 92),
185–203. – H. U. STEYMANS, Die neuassyrische Vertragsrhetorik der „Vassal Treaties of Esarhaddon“
und das Deuteronomium, in: G. Braulik (Hg.), Das Deuteronomium, 2003 (ÖBS 23), 89–152. – C.
KOCH, Vertrag, Treueid und Bund: Studien zur Rezeption des altorientalischen Vertragsrechts im
Deuteronomium und zur Ausbildung des Bundestheologie im Alten Testament, 2008 (BZAW 383). –
J. LAUINGER, Esarhaddon’s Succession Treaty at Tell Tayinat: Text and Commentary: JCS 64 (2012),
87–123. – H. U. STEYMANS, Deuteronomy 28 and Tell Tayinat: Verbum et Ecclesia (online) 34 (2013),
13 S. – K. WATANABE, Esarhaddon’s Succession Oath Documents Reconsidered in the Light of the
Tayinat Version: Orient 49 (2014), 145–170.

Der ermahnende Ton des Dtn sowie die Ankündigung von Segen und Fluch bei
Beachtung- bzw. Nichtbeachtung der Gesetze erinnert an altorientalische Ver-
träge von Großkönigen mit den ihnen untergebenen Königen. Zunächst wurde
insbesondere die Nähe des Dtn zu hethitischen Vasallenverträgen betont (MEN-
DENHALL), vielleicht auch mit dem Ziel, ein hohes Alter des Dtn verteidigen zu
können. BALTZER hat ein der altorientalischen Vertragspraxis und dem Deute-
ronomium gemeinsames Bundesformular rekonstruiert, das aus folgenden Ele-
menten besteht: Historischer Prolog (vgl. Dtn 1–3); das Hauptgebot bzw. die
grundsätzlichen Bestimmungen (Dtn 5 und 6,4–5); besondere Bestimmungen
(Dtn 12–26); Anruf von Zeugen (Dtn 30,19); Segen und Fluch (Dtn 28). In der
Tat weist das Dtn hier Entsprechungen auf, die bezeugen, dass die Autoren des
158 B. Der Pentateuch

Dtn wohl aus höfischen Kreisen stammen, die mit der „Diplomatie“ der Groß-
mächte vertraut waren. Allerdings geht es kaum an, das gesamte Deuterono-
mium in seiner jetzigen Gestalt durch das Bundesformular zu erklären. Jedoch
bleibt ein altorientalischer Einfluss auf die Gestaltung des Dtn unbestreitbar, und
zwar hauptsächlich der neuassyrischen Treueide (‘adê), wie OTTO und STEYMANS
betont haben. Besonders enge Parallelen bestehen zwischen dem Treueid, den
der assyrische König Asarhaddon 672 v. Chr. allen seinen Vasallen im Hinblick
auf die Thronfolgeregelung zugunsten seines Sohnes Assurbanipal abnahm (ab-
gekürzt VTE). OTTO hat auf die engen Beziehungen des VTE zu Dtn 6,4ff.; 13
und 28 aufmerksam gemacht.

So lässt sich Dtn 6,4ff. als eine Aufnahme von Forderungen des VTE verstehen:
„Höre, Israel: Jhwh, unser Gott, ist der eine Jhwh. Und du sollst Jhwh, deinen Gott,
lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft“ (Dtn 6,4–
5); „Du sollst keinen anderen König oder Herrn gegen ihn suchen“ (VTE § 17:195);
„Ihr sollt Assurbanipal … euren Herrn lieben wie euch selbst“ (§ 24:266). – „und diese
Worte, die ich dir heute gebiete, sollen in deinem Herzen bleiben, und du sollst sie
deinen Söhnen einschärfen …“ (Dtn 6,6–7); „Dieser Vertrag … du sollst von ihm re-
den zu deinen Söhnen und den Söhnen deiner Söhne (§ 24:283)“. Sehr eng sind auch
die Parallelen zwischen Dtn 13 und VTE § 10 und 12. In diesen Paragraphen wird
befohlen, jegliche Rebellionsversuche zu denunzieren, auch und gerade wenn diese
Abfallbestrebungen von Freunden, nahen Verwandten oder Propheten propagiert
werden. Dies wird in der ursprünglichen Version von Dtn 13 aufgenommen und auf
den Abfall von Jhwh übertragen.

H. U. STEYMANS (1995) hat die engen Parallelen zwischen den Fluchandrohun-


gen in Dtn 28 und VTE § 56 untersucht und ist zu dem Schluss gekommen, dass
der Autor des ursprünglichen Textes von Dtn 28 den assyrischen Vertragstext
vor Augen hatte.

So entsprechen sich vor allem § 56:476–479 und Dtn 28,20–21: Tod und Ortslosigkeit;
479–481 und 28,21–22: Krankheit; 483–484 und 28,26: Leichen als Tierfutter; 485–487
und 28,28–29: Dunkelheit und Anarchie; 489–490 und 28,33–35: Elend und Krank-
heiten; 490–491 und 28,38–42*: Fehlen von Nahrung und Getränk.

Diese engen Beziehungen erlauben es, trotz kritischer Gegenstimmen (VEIJOLA,


KOCH), die Erstausgabe des Dtn zwischen 672 und dem Ende der neuassyrischen
Zeit zu datieren. Bei einer Spätdatierung des Dtn stellt sich nämlich die Frage,
warum man in der babylonischen oder sogar in der Perserzeit sich eines neuassy-
rischen Modells bedienen sollte. Die jüngst in Tell Tayinat entdeckte Kopie die-
ses Treueids (LAUINGER, WATANABE) macht es umso glaubhafter, dass auch in
Jerusalem eine Abschrift desselben vorhanden war und dass vielleicht Manasse
diesen Eid hat leisten müssen (STEYMANS 2013). Es bleibt demnach die beste
Option, den VTE als Vorlage und Inspirationsquelle des Urdeuteronomiums zu
betrachten. Ob dessen Rezeption im Dtn subversiv war (Jhwh anstelle des assyri-
schen Großkönigs) oder einfach dem Zeitgeist entsprach, ist eine Frage der
Interpretation und wohl auch der theologischen Sensibilität der Ausleger.
VI. Das Buch Deuteronomium 159

c) Die Entstehung des deuteronomischen Gesetzes

R. P. MERENDINO, Das deuteronomische Gesetz: eine literarkritische, gattungs- und überlieferungs-


geschichtliche Untersuchung zu Dt 12–26, 1969 (BBB 31). – G. SEITZ, Redaktionsgeschichtliche
Studien zum Deuteronomium, 1971 (BWANT 93). – N. LOHFINK, Die Sicherung der Wirksamkeit
des Gotteswortes durch das Prinzip der Schriftlichkeit der Tora und durch das Prinzip der
Gewaltenteilung nach den Ämtergesetzen des Buches Deuteronomium (Dt 16,18–18,22) (1971), in:
Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur I, 1990 (SBAB.AT 8), 305–323.
– U. RÜTERSWÖRDEN, Von der politischen Gemeinschaft zur Gemeinde. Studien zu Dt 16,18–18,22,
1987 (BBB 65). – G. BRAULIK, Die deuteronomischen Gesetze und der Dekalog. Studien zum Aufbau
von Deuteronomium 12–26, 1991 (SBS 145). – J. C. GERTZ, Die Gerichtsorganisation Israels im
deuteronomischen Gesetz, 1994 (FRLANT 165). – B. M. LEVINSON, Deuteronomy and the Herme-
neutics of Legal Innovation, New York – Oxford 1997. – T. RÖMER, The So-Called Deuteronomistic
History: A Sociological, Historical and Literary Introduction, London / New York 2005. – U.
RÜTERSWÖRDEN, Deuteronomium: Wibilex (2008), http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/
11481/.

Neben der Rezeption assyrischer Vasallenrhetorik steht außer Zweifel, dass Dtn
12–26 enge Parallelen zum Bundesbuch aufweist (vgl. die Tabelle bei RÜTERS-
WÖRDEN 2008). Einer der Gründe für die Neuformulierung und Neuinterpreta-
tion bestimmter Gesetze aus der älteren Sammlung war die im Dtn propagierte
Idee der Kultzentralisation. Dabei bedienten sich die Autoren des Dtn bestimm-
ter Techniken, die besonders LEVINSON herausgearbeitet hat. Wahrscheinlich
sollte das dtn Gesetz ursprünglich das Bundesbuch ersetzen, welches jedoch wei-
terhin aufbewahrt und schließlich in die Sinaiperikope eingefügt wurde. In Bezug
auf die Entstehung des dtn Gesetzes steht außer Frage, dass mit mehrfacher
Überarbeitung und Zusätzen gerechnet werden muss. Die ältere Forschung hat
ausgehend von der Beobachtung, dass bestimmte Gesetze verschiedene Refrains
enthalten („du sollst ausrotten“ [bi‘artâ], „ein Greuel für Jhwh“ [to‘ebâ]) oder
thematisch miteinander verwandt sind, gefolgert, dass Dtn 12–25 sich als das
Ergebnis einer Zusammenstellung kleiner voneinander unabhängiger Sammlun-
gen erklären lässt (MERENDINO, SEITZ): die to‘ebâ-Gesetze (16,21–17,1; 18,10–
12a; 22,5; 23,18–19; 25,13–16); die bi‘artâ-Gesetze (13,2–6; 17,2–7; 19,16–19;
21,8–2; 22,13–21.23–27; 24,7); die Kriegs-, Humanitäts- und Zentralisationsge-
setze. Allerdings fragt man sich, warum dann diese Einzelsammlungen aufgebro-
chen und quer durch die neue Sammlung verstreut wurden. Die verschiedenen
Refrains und Thematiken gehen eher auf das Konto dtr Theologie und Über-
arbeitung. Eine recht einfache Lösung haben LOHFINK und BRAULIK vorgelegt:
Der erste Teil des dtn Gesetzes (12,1–16,17*) gehöre zum Urdeuteronomium, die
Ämtergesetze in 16,18–18,22 sowie die Zivilgesetze in 19–25 gingen auf das
Konto exilischer und nachexilischer Überarbeitungen. Allerdings finden sich
auch in der zweiten Hälfte des dtn Gesetzes Parallelen zum Bundesbuch, und
auch einige der Ämtergesetze lassen sich besser aus dem Kontext des 7. Jh.s
v. Chr. erklären (GERTZ, RÜTERSWÖRDEN). So wird man mit einem bereits die
Kapitel 12–26* umfassenden Grundstock rechnen müssen, der eine Aktualisie-
rung des Bundesbuches im Rahmen der Zentralisationsidee und unter Aufnahme
assyrischer Vertragsrhetorik darstellte (RÖMER).
160 B. Der Pentateuch

d) Ursprung und Trägergruppen des Dtn

G. VON RAD, Deuteronomium-Studien (1947), in: Ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament
II, München 1973 (ThB 48), 109–153. – A. ALT, Die Heimat des Deuteronomiums, in: Ders., Kleine
Schriften zur Geschichte des Volkes Israel II (1953), München 41978, 250–275. – L. PERLITT, Bun-
destheologie im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 1969 (WMANT 36). – M. WEINFELD, Deutero-
nomy and Deuteronomic School, Oxford 1972. – M. ROSE, Der Ausschließlichkeitsanspruch Jahwes.
Deuteronomische Schultheologie und die Volksfrömmigkeit in der späten Königszeit, 1975 (BWANT
106). – N. LOHFINK, Culture Shock and Theology: BTB 7 (1977), 12–22. – N. NA’AMAN, The Law of
the Altar in Deuteronomy and the Cultic Site Near Shechem, in: S. L. McKenzie / T. Römer (eds.),
Rethinking the Foundations. Historiography in the Ancient World and in the Bible. FS J. Van Seters,
2000 (BZAW 294), 141–161. – S. SCHORCH, The Samaritan Version of Deuteronomy and the Origin
of Deuteronomy, in: J. Zsengellér (ed.), Samaria, Samarians, Samaritans. Studies on Bible, History
and Linguistics, 2011 (SJ 66/StSam 6), 23–37.

Die Frage, ob das unter Joschija gefundene bzw. erfundene Dtn ältere Vorstufen
gehabt habe, wird in der Forschung weiterhin diskutiert. Beliebt war eine auf ALT
zurückgehende These, nach welcher die Ursprünge des Dtn im Nordreich lägen.
Dafür führte man die Betonung Sichems und des Garizim in Dtn 27 an, die Be-
ziehungen des Dtn zu den Nordreichspropheten und das Königsgesetz in Dtn 17,
das besser auf Zustände im Norden passe als auf die Situation im Südreich. Diese
Argumente stehen jedoch auf schwachen Füssen.

Allerdings hat kürzlich SCHORCH diese These wieder zu erhärten versucht, mit einer
etwas eigenwilligen Analyse von Dtn 12, wonach sich die Zentralisationsformel
ursprünglich auf den Garizim bezog und erst nach 722 in Juda auf Jerusalem uminter-
pretiert wurde. Richtig betont SCHORCH, dass besonders Dtn 27 eine pro-samaritani-
sche Tendenz zeigt, aber diese gehört zu einem Zusatz aus der Perserzeit (NA‘AMAN)
und kann nicht für die Vorgeschichte des Dtn in Anschlag gebracht werden. Auch ist
die Behauptung eines alten Heiligtums auf dem Garizim kaum beweisbar, da ein
solches archäologisch vor dem 5. Jh. v. Chr. nicht nachweisbar ist.

Demnach ist weiterhin eine Jerusalemer Herkunft des Dtn anzunehmen, die
WEINFELD durch seine Untersuchung zur „deuteronomischen Schule“ bestätigt
hat. Darin hat er die Beziehungen des Dtn zur Weisheit betont und damit als
Trägerkreis des Dtn Jerusalemer Hofbeamte wahrscheinlich gemacht. Diese
Theorie wird auch durch den biblischen Bericht in 2Kön 22 unterstützt, welcher
die Implikation von Schreibern und Priestern bei der Buchauffindung betont. Da
in 2Kön 22–23 der hohe Beamte Schafan eine wichtige Rolle spielt und in den dtr
Texten des Jeremiabuches (Jer 26 und 36) andere Mitglieder der Schafan-Familie
in Erscheinung treten, kann man überlegen, ob diese federführend bei der Pro-
duktion des Dtn und anderer dtr Bücher war. Die These VON RADs, dass die
Leviten die Trägergruppen des Dtn waren, stützt sich hauptsächlich auf Texte
wie Dtn 27 und 31,9–13.24–29, wo die Leviten zum Aufschreiben und regelmä-
ßigen Vorlesen des Dtn eingesetzt werden. Diese Praxis dürfte jedoch wie auch
die entsprechenden Texte nicht in das 7. Jh., sondern in die Perserzeit zu datieren
sein. Wenn, wie oben ausgeführt, der terminus a quo der ersten schriftlichen
Version des Dtn 672 v. Chr. ist, kann ROSES Theorie einer ersten dtn Sammlung
VI. Das Buch Deuteronomium 161

unter Hiskija nur mit Schwierigkeiten aufrechterhalten werden. Möglich wäre es,
dass das Dtn im Rahmen einer „Untergrundbewegung“ gegen die proassyrische
Politik Manasses entstand (LOHFINK). Allerdings steht auch der Annahme DE
WETTES, das Dtn sei im Zuge der Zentralisationspolitik Joschijas bzw. seiner
Berater entstanden, weiterhin nichts im Wege.

3. Die letzten Redaktionen des Dtn

a) Penta- und Hexateuchredaktionen

T. RÖMER, Israels Väter. Untersuchungen zur Väterthematik im Deuteronomium und in der deute-
ronomistischen Tradition, 1990 (OBO 99). – G. BRAULIK, Die Funktion von Siebenergruppierungen
im Endtext des Deuteronomiums, in: F. V. Reiterer (Hg.), Ein Gott – eine Offenbarung. FS
N.Füglister, Würzburg 1991, 37–50. – J.-P. SONNET, The Book Within the Book. Writing in Deutero-
nomy, 1997 (BIS 14). – A. D. H. MAYES, Deuteronomy 14 and the Deuteronomic World View, in: F.
García Martínez et al. (eds.), Studies in Deuteronomy. FS C. J. Labuschagne 1994 (VT.S 53), 165–181.
– T. RÖMER, Deuteronomium 34 zwischen Pentateuch, Hexateuch und deuteronomistischem Ge-
schichtswerk: ZAR 5 (1999), 167–178. – R. GOMES DE ARAÚJO, Theologie der Wüste im Deuterono-
mium, 1999 (ÖBS 17). – U. SCHORN, Rubeniten als exemplarische Aufrührer in Num. 16f.*/Deut.11,
in: S. L. McKenzie / T. Römer (eds), Rethinking the Foundations. Historiography in the Ancient
World and in the Bible. FS J. Van Seters, 2000 (BZAW 294), 251–268. – E. OTTO, Das Deuterono-
mium im Pentateuch und Hexateuch. Studien zur Literaturgeschichte von Pentateuch und Hexateuch
im Lichte des Deuteronomiumrahmens, 2000 (FAT 30). – E. OTTO, Wie „synchron“ wurde in der
Antike der Pentateuch gelesen? (2004), in: Ders., Die Tora. Studien zum Pentateuch, 2008 (BZAR 9),
447–460. – E. OTTO, Mose, der erste Schriftgelehrte. Deuteronomium 1,5 in der Fabel des Penta-
teuch, in: D. Böhler et al. (éds.), L’Ecrit et l’Esprit. FS A. Schenker, 2005 (OBO 214), 273–284. – C.
NIHAN, The Torah between Samaria and Judah: Shechem and Gerizim in Deuteronomy and Joshua,
in: G. N. Knoppers / B. M. Levinson (eds.), The Pentateuch as Torah. New Models for Understanding
Its Promulgation and Acceptance, Winona Lake, IN 2007, 187–223. – D. JERICKE, Der Berg Garizim
im Deuteronomium: ZAW 124 (2012) 213–228.

Als das Deuteronomium von den Vorderen Propheten (Jos–Kön) abgetrennt


wurde, stellte sich die Frage nach seiner Stellung und Funktion im Pentateuch,
insbesondere nach dem Verhältnis des dtn Gesetzes zur Sinaioffenbarung.
Scheinbar wollten die Pentateuchredaktoren das Dtn als Rekapitulation und
Auslegung der Sinaigesetzgebung verstanden wissen (OTTO), wie die Erweite-
rung der ursprünglichen Einleitung in 1,1–5 zeigt. Auch überarbeiteten sie das
Dtn dahingehend, dass es nun auch als eine Reflexion über die Verschriftung
und Promulgation der Thora zu verstehen ist (SONNET). Das Nebeneinander von
Hexa- und Pentateuchredaktionen wird im letzten Kapitel des Buches besonders
deutlich (RÖMER). Dtn 34,8–9, die das Ende der Trauer um Mose und das Hören
des Volkes auf Josua berichten, leiten direkt in das Josuabuch über. In der Tat
stellt Jos 1,1ff. eine gute Fortsetzung dieser Verse dar. Dtn 34,10–12 erweisen sich
als Komposition der Pentateuchredaktion, die dezidiert betont, dass mit dem
Tod Moses eine entscheidende Zäsur vorliegt. Innerhalb von Dtn 34 ist die Pen-
tateuchredaktion noch in 34,7 (Anspielung auf Gen 6,3) zu greifen sowie in der
Überarbeitung der Jhwh-Rede in 34,4, wo sie die Namen der Patriarchen einge-
162 B. Der Pentateuch

fügt hat. BRAULIK hat bemerkt, dass das Deuteronomium durch eine Anzahl von
„Siebenergruppierungen“ geprägt ist. So findet sich im Dtn siebenmal die Pa-
triarchentrias, die das gesamte Buch (1,8 und 34,4) rahmt. Durch die appositio-
nelle Gleichsetzung der Patriarchen mit den im Dtn sehr oft genannten „Vätern“
(’abôt) wird die Kohärenz des Pentateuchs betont (RÖMER 1990). Die Parallelisie-
rung von Genesis und Deuteronomium erfolgt weiter durch die Einfügung der
Stammessprüche in Dtn 33, die Mose und Jakob (Gen 49) miteinander in Bezie-
hung bringen. Auch die Anspielungen auf Episoden aus den Büchern Exodus
und Numeri in Dtn 6,16; 9,7.22–24 und 11,2–9 sind wahrscheinlich der Penta-
teuchredaktion zuzuschreiben (OTTO, SCHORN). 9,7 vertritt die Aussage, dass
Israel schon vor dem Einzug ins Land widerspenstig war, und hängt darin mit
den Versen 31,24–29 (bes. 27) zusammen, die das Moselied in Dtn 32 einbinden,
dessen Einschub ebenfalls der Pentateuchredaktion zuzuschreiben ist. Diese Tex-
te korrigieren die dtr Idee vom Abfall Israels von JHWH nach der Landnahme
durch die Vorstellung von einer sich bereits in der Mosezeit zeigenden Sünde des
Volkes. Dies ist auch in Dtn 29,1–8 der Fall, einem Text, den man ebenfalls der
Pentateuchredaktion zuschreiben kann (GOMES DE ARAÚJO).
Innerhalb der Gesetzessammlung könnte der Abschnitt Dtn 14,1–21*, der
parallel zu Lev 11 eine Klassifizierung von reinen und unreinen Tieren enthält
und somit priesterlichen Interessen entspricht (MAYES), erst von einer Penta-
teuchredaktion eingefügt worden sein.

Die verschiedenen gelehrten Glossen über frühere Bewohner des verheißenen Landes
und weitere geographische Notizen in Dtn 2,10–24*; 3,8–11*. 12b–16* gehen mög-
licherweise auch auf die Pentateuchredaktion zurück (OTTO).

Eine hexateuchische Perspektive findet sich in der Einrichtung der Asylstädte in


Dtn 4,41–43 (vgl. Jos 20) und besonders in der Betonung von Ebal, Garizim und
Sichem (zu den textkritischen Unterschieden zwischen MT und Sam. siehe
NIHAN und JERICKE) in Dtn 11,26–31 und 27*, welche sich auch in Jos 8,30–35
und Jos 24, wo ein Heiligtum Jhwhs in Sichem erwähnt wird, findet. Diese Texte
spiegeln den Einfluss der Samaritaner bei der Konstitution der Thora wieder.

b) Weitere nach-deuteronomistische Überarbeitungen

F. GARCÍA LÓPEZ, Le roi d’Israël: Dtn 17,14–20, in: N. Lohfink (Hg.), Das Deuteronomium. Entste-
hung, Gestalt und Botschaft, 1985 (BEThL 68), 277–297. – D. KNAPP, Deuteronomium 4. Literarische
Analyse und theologische Interpretation, 1987 (GThA 35). – E. OTTO, Deuteronomium 4. Die Pen-
tateuchredaktion im Deuteronomiumsrahmen, in: T. Veijola (Hg.), Das Deuteronomium und seine
Querverbindungen, 1996 (SESJ 62), 216–220. – P. DUTCHER-WALLS, The Circumscription of the
King: Deuteronomy 17:16–17 in Its Ancient Social Context: JBL 121 (2002), 601–616. – A. MICHEL,
Wem nützen Glaubensbekenntnisse? Eine Reflexion auf das heilsgeschichtliche Credo in Deutero-
nomium 26: ThQ 185 (2005), 38–51. – M. KÖCKERT, Die Entstehung des Bilderverbots, in: B. Grone-
berg / H. Spieckermann (Hg.), Die Welt der Götterbilder, 2007 (BZAW 376), 272–290. – R.
ACHENBACH, Das sogenannte Königsgesetz in Deuteronomium 17,14–20: ZAR 15 (2009), 216–233. –
W. DIETRICH, Geschichte und Gesetz. Deuteronomistische Geschichtsschreibung und deuteronomi-
VI. Das Buch Deuteronomium 163

sches Gesetz am Beispiel des Übergangs von der Richter- zur Königszeit, in: Ders., Von David zu den
Deuteronomisten, 2012 (BWANT 156), 217–235.

Dass Dtn 4 zu den spätesten Texten des Deuteronomiums gehört, ist weitgehend
anerkannt, umstritten ist jedoch die literarische Einheitlichkeit des Kapitels. Da
4,16–18 die Priesterschrift (besonders Gen 1) voraussetzt, setzen die Verteidiger
der Einheitlichkeit des Kapitels Dtn 4 insgesamt nach-priesterlich an (OTTO),
wohingegen die Befürworter einer diachronen Differenzierung die älteren Teile
von Dtn 4 noch vor-priesterlich einordnen wollen (VEIJOLA, KÖCKERT). Wäh-
rend die dtr Texte vor den „anderen Göttern“ warnen, deren Existenz aber nicht
in Frage stellen, findet sich in Dtn 4 eine an Deuterojesaja erinnernde mono-
theistische Theologie (4,32–40), die mit einer starken Polemik gegen eine bildli-
che Darstellung Jhwhs gekoppelt ist.
Wie in Dtn 4, findet sich eine monotheistische Ausrichtung und eine Auf-
nahme von priesterlichen Texten (Gen 46,27; Ex 1,5) auch in Dtn 10,14–22. Das
hier vorkommende Thema der Beschneidung des Herzens (welches vielleicht als
eine Polemik gegen die priesterliche Betonung der Beschneidung des „Fleisches“
zu verstehen ist) findet sich auch innerhalb von Dtn 30,1–40 (vgl. V. 6), so dass
diese Perikope wohl auch zu den letzten Überarbeitungen des Dtn zu rechnen ist
(zu den Beziehungen zwischen Dtn 4 und 30 vgl. KNAPP).

Nach MICHEL wäre auch das „kleine Credo“ in Dtn 26,1–9 von der priesterschriftli-
chen Darstellung des Hinabzugs und der Unterdrückung des Volkes in Ägypten (Ex
1–6, P*) abhängig. Allerdings finden sich für diese These kaum eindeutige Argu-
mente.
Der Dekalog in Dtn 5 ist vielleicht ebenfalls erst im Rahmen einer „Heiligkeitsredak-
tion“ in das Deuteronomium eingefügt worden, zur selben Zeit wie Ex 20 in das Buch
Exodus (siehe dazu die Überlegungen zur Entstehung des Buches Exodus). Die meis-
ten Forscher gehen jedoch davon aus, dass Dtn 5 zu einer dtr Redaktion des Dtn ge-
hört (OTTO, PERLITT u. v. a.).
Schwierig zu datieren ist das einzigartige Königsgesetz in Dtn 17,14–20, das meistens
entweder zur joschijanischen Ausgabe des Dtn (DUTCHER-WALLS) oder zur exilischen
dtr Überarbeitung des Dtn im Rahmen des DtrG (ROSE) gerechnet wird, oder man
nimmt einen älteren Kern an, der dtr überarbeitet wurde (GARCÍA LÓPEZ). Nach
DIETRICH ist das ganze Gesetz dtr, z. T. DtrH (exilisch), z. T. DtrN (nachexilisch). Die
Idee, dass der König dem von den Leviten verwalteten Gesetz unterworfen und seine
Macht erheblich eingeschränkt ist, kann aber auch gut im Kontext der mittleren Per-
serzeit erklärt werden (ACHENBACH). Im gesamten Pentateuch ist Dtn 17,14–20 der
einzige Text, der eine Reflexion über das israelitische Königtum enthält. Vielleicht
wurde er als Zugeständnis an eine promonarchische Fraktion eingefügt, mit der Idee,
dass ein judäischer König keinesfalls die Stabilität der persischen Weltordnung ge-
fährden sollte.
164 B. Der Pentateuch

4. Die letzten dtr Redaktionen des Dtn im Rahmen des DtrG


E. OTTO, Das Deuteronomium im Pentateuch und Hexateuch. Studien zur Literaturgeschichte von
Pentateuch und Hexateuch im Lichte des Deuteronomiumrahmens, 2000 (FAT 30). – R. F. PERSON
JR., The Deuteronomic School. History, Social Setting, and Literature, 2002 (Studies in Biblical
Literature 2). – V. SÉNÉCHAL, Rétribution et intercession dans le Deutéronome, 2010 (BZAW 408).

Zu der spätesten dtr Redaktion gehören Texte mit einer segregationistischen


Ideologie, die eine strikte Trennung „Israels“ von den Völkern fordern: Dtn 7*;
9,1–6 und 12,2–7.29–31 und die der Abgrenzungsrhetorik von Esra und Nehe-
mia nahestehen (vgl. Dtn 7,1–5 und Esra 9,1–26). In denselben Kontext gehört
auch Dtn 23,1–9*: Der dort geforderte Ausschluss der Ammoniter und Moabiter
kann mit der ammonitischen und moabitischen Opposition in Neh 13 (V. 4–9
Tobia ist Ammoniter, V. 28: Sanballat ist Moabiter) in Verbindung gebracht wer-
den. Das Gebot zur Ausrottung der Amalekiter kann ebenfalls als ein segregatio-
nistischer Midrasch von Ex 17,8–15 verstanden werden. Vielleicht gehört auch
die Neuformulierung von Ex 18* in dem Passus Dtn 1,9–18, der anerkannterma-
ßen einen Einschub in die erste Moserede in Dtn 1–3 darstellt (OTTO), in densel-
ben Zusammenhang, da im Gegensatz zu Ex 18 die Beteiligung des Midianiters
Jitro bei der Einsetzung von Richtern getilgt ist. Mit Dtn 7 ist Dtn 26,15–19 ver-
wandt, wo ebenfalls auf Israels Erwählung und seine Vorrangstellung gegenüber
allen anderen Nationen abgehoben wird.
Dtn 9,7–10,11* hängt eng mit 9,1–6 zusammen und gehört wahrscheinlich
derselben redaktionellen Schicht an. Wie SÉNÉCHAL aufgezeigt hat, stellt die
Rekapitulation der Erzählung vom Goldenen Kalb im Rahmen der dtr Vergel-
tungstheologie insofern ein Novum dar, als hier keine Sanktion berichtet wird
und dank Moses Fürbitte allein Jhwhs Vergebung betont wird.

5. Die „exilische“ Bearbeitung des Dtn


N. LOHFINK, Das Hauptgebot. Eine Untersuchung literarischer Einleitungsfragen zu Dtn 5–11, 1963
(AnBib 20). – W. RICHTER, Beobachtungen zur theologischen Systembildung alttestamentlicher
Literatur anhand des ‚kleinen geschichtlichen Credo‘, in: L. Scheffczyk et al. (Hg.), Wahrheit und
Verkündigung. FS M. Schmaus, München et al., 1967, 175–212. – L. PERLITT, Mose als Prophet
(1971), in: Ders., Deuteronomium-Studien, 1994 (FAT 8), 1–19. – L. PERLITT, Priesterschrift im
Deuteronomium? (1988), in: Ders., Deuteronomium-Studien, 1994 (FAT 8), 123–143. – H. U.
STEYMANS, Deuteronomium 28 und die adê zur Thronfolgeregelung Asarhaddons, 1995 (OBO 145).
– R. GOMES DE ARAÚJO, Theologie der Wüste im Deuteronomium, 1999 (ÖBS 17). – N. LOHFINK,
Der Zorn Gottes und das Exil. Beobachtungen am deuteronomistischen Geschichtswerk, in: R. G.
Kratz / H. Spieckermann (Hg.), Liebe und Gebot. FS L. Perlitt, 2000 (FRLANT 190), 137–155. – J. C.
GERTZ, Die Stellung des kleinen geschichtlichen Credos in der Redaktionsgeschichte von Deutero-
nomium und Pentateuch, in: R. G. Kratz / H. Spieckermann (Hg.), Liebe und Gebot. FS L. Perlitt,
2000 (FRLANT 190), 30–45. – T. RÖMER, Das deuteronomistische Geschichtswerk und die Wüsten-
traditionen der Hebräischen Bibel, in: H.-J. Stipp (Hg.), Das deuteronomistische Geschichtswerk,
2011 (ÖBS 39), 55–88.

Der ursprüngliche Text von Dtn 1–3 (1,1*.6–7a.* 8*.19–30.32–45; 2.1–3.4–9*.25–


VI. Das Buch Deuteronomium 165

30a*.31–35; 3,1–7.10a.12a.23–28*) – und daran ist wohl doch mit NOTH festzu-
halten – wurde in der neubabylonischen Zeit konzipiert, um das Dtn zur Einlei-
tung und „Lesebrille“ der dtr Geschichte in Jos – Kön zu machen. Die Rede vom
Zorn Jhwhs in Dtn 1,37, von dem auch Mose betroffen ist und der es ihm un-
möglich macht, das verheißene Land zu betreten (vgl. auch 3,26), geht über das
Dtn hinaus. Das Verb ’-n-p, welches hier verwendet wird, ist im Tetrateuch un-
gebräuchlich und erscheint zum letzten Mal in den Nebiim im abschließenden
Deutekapitel des DtrG in 2Kön 17,18. Jhwhs Grimm über Mose präludiert also in
Dtn 1 den zum Ende Israels führenden göttlichen Zorn, von dem in den letzten
Kapiteln der Königsbücher berichtet wird (LOHFINK 2000). Nach Dtn 5–6*
gehört wohl auch Dtn 8 zur exilischen Ausgabe des Dtn. Im Gegensatz zu den
Erzählungen in Numeri, in denen der Wüstenaufenthalt Israels durch fortwäh-
rende Rebellionen charakterisiert ist, erscheint die Wüste in Dtn 8 als eine Zeit
der göttlichen Fürsorge und Erprobung. Oft wird dieses Kapitel spät angesetzt
(LOHFINK 1963). Falls die Erwähnung des Mannas die Kenntnis der priesterli-
chen Erzählung in Ex 16 voraussetzt, hätte man einen Ansatz zur Datierung, aber
eine solche Abhängigkeit ist schwer zu beweisen. Da Dtn 8 eine Reihe von Aus-
drücken mit Dtn 6 teilt (GOMES ARAÚJO), ist es durchaus möglich, dass beide
Kapitel zusammen in die Dtn-Rolle eingeschrieben wurden. Der bei Nichtbeach-
tung von Jhwhs Geboten in 8,18–19 angekündigte Untergang des Volkes (’-b-d),
in Dtn 28,51.63 und 30,18 noch einmal aufgenommen, realisiert sich in 2Kön
24,2 mit der Invasion der Babylonier. Damit ist die Perspektive von Dtn 8 zu-
nächst nicht „pentateuchisch“, der Text bereitet vielmehr den Leser auf die in Jos
– Kön folgende Geschichte vor. Der dtr Übergang zur Gesetzessammlung liegt
möglicherweise in den Versen 11,16–21* vor, die an die Landthematik an Dtn 8
anknüpfen und ebenfalls Themen und Ausdrücke aus Dtn 6 wiederholen. Die
exilische Bearbeitung von Dtn 12–26 hat der ursprünglichen Einleitung in 12,13–
18 die Verse 12,8–12 vorangestellt und Dtn 13 überarbeitet. In die Ämtergesetze
wurde das „Prophetengesetz“ 18,9–21 eingefügt, in welchem Mose zum ersten
Propheten Israels erklärt wird, der die Reihe von Jhwhs Dienern, den Propheten,
eröffnet, welche dann im DtrG (erfolglos) von Jhwh gesandt werden, um sein
Volk zum Gesetzesgehorsam anzuhalten. Die exilischen Redaktoren haben wei-
terhin die Gesetze in 19–25* überarbeitet, insbesondere die Kriegsgesetze in Dtn
20 eingefügt und vielleicht Dtn 26,1–15* vor den älteren Abschluss in Dtn 28
gestellt, welchen sie ebenfalls überarbeitet haben (STEYMANS). Das „kleine ge-
schichtliche Credo“ in Dtn 26,5–9 ist kein alter liturgischer Text, sondern ein
Resümee dtr Theologie (RICHTER, GERTZ für eine noch jüngere Ansetzung s. o.).
Die Redaktoren der babylonischen Zeit ließen den „Moabbund“ in 28,69; 29,8–
28*; 30,15–20* folgen, der wie Dtn 5,3 die Aktualität des Horebbundes für die
Adressaten des Dtn betont. Nach der Einsetzung Josuas als Nachfolger Moses in
31,1–8 endete das Dtn in der exilischen Redaktion mit der Erzählung vom Tod
des Mose in Dtn 34,1–4*.5–6, in welcher sich weder ältere Quellen noch die
Priesterschrift finden (PERLITT). Der Tod Moses außerhalb des Landes stellte
eine Botschaft an die sich im Exil befindlichen Adressaten des Buches dar. Wich-
166 B. Der Pentateuch

tig ist es nicht im Land zu sterben, sondern wie Mose nach Jhwhs Willen (V. 5: ‘al
pî yhwh).

6. Das „Urdeuteronomium“
J. C. GERTZ, Die Gerichtsorganisation Israels im deuteronomischen Gesetz, 1994 (FRLANT 165). – C.
SCHÄFER-LICHTENBERGER, Der deuteronomische Verfassungsentwurf. Theologische Vorgaben als
Gestaltungsprinzipien sozialer Realität, in: G. Braulik (Hg.), Bundesdokument und Gesetz, 1995
(HBS 4), 105–118. – N. LOHFINK, Fortschreibung? Zur Technik von Rechtsrevisionen im deuterono-
mischen Bereich, erörtert an Deuteronomium 12, Ex 21,2–11 und Dtn 15,12–18, in: T. Veijola (Hg.),
Das Deuteronomium und seine Querbeziehungen, 1996 (Schriften der Finnischen Exegetischen
Gesellschaft 62), 127–171. – H. U. STEYMANS, Deuteronomium 28 und die adê zur Thronfolgerege-
lung Asarhaddons. Segen und Fluch im Alten Orient und in Israel, 1995 (OBO 145). – E. OTTO, Das
Deuteronomium. Politische Theologie und Rechtsreform in Juda und Assyrien, 1999 (BZAW 284). –
C. EDENBURG, Ideology and Social Context of the Deuteronomic Women’s Sex Laws (Deuteronomy
22:13–29): JBL 128 (2009), 43–60.

Demnach hat das Urdeuteronomium hauptsächlich die Gesetzessammlung in


12–25* enthalten, die durch das „Höre Israel“ in 6,4–5 (6–7a) eingeleitet wurde.
In der Tat schließt Dtn 12,13–18 gut an diese Verse an. Wie bereits ausgeführt
wurde, ist die Erstausgabe des Dtn durch dreierlei gekennzeichnet: a) die Abhän-
gigkeit vom Bundesbuch, das wohl durch Dtn 12–26* ersetzt werden sollte, b) die
Zentralisationsideologie, c) die Aufnahme assyrischer Vertragsrhetorik (den
Verfassern stand vermutlich eine Kopie des VTE zur Verfügung), deren Ideolo-
gie und Sprachgebrauch das Dtn entscheidend beeinflusst haben. Ohne die Assy-
rer hätte es das Dtn nie gegeben! Nach Dtn 12,13–18 (dessen ursprünglicher
Wortlaut vielleicht überschrieben wurde, LOHFINK) enthielt das dtn Gesetz den
ursprünglichen Text von Dtn 13, die Zentralisation der Abgaben in 14,21–29, die
soziale Gesetzgebung in Dtn 15*, welche die ökonomischen Umwälzungen der
Zentralisationspolitik abfedern soll, und 16,1–17 (Neuinterpretation der tradi-
tionellen Jahresfeste). Die Einsetzung von beruflichen Richtern in 16,18 und
17,8–13 (beide Texte bildeten ursprünglich eine Einheit; GERTZ) entspricht dem
Anliegen, die Rechtsprechung zu standardisieren. Dtn 18,1–8* integriert die
Leviten der Lokalheiligtümer in den Betrieb des Zentralheiligtums, und die (zu-
mindest theoretische) Schaffung von Asylstädten in Dtn 19,2–6*.11–12 (Rekon-
struktion nach GERTZ) ist eine logische Konsequenz der Kultzentralisation, da
diese nun an die Stelle der Lokalheiligtümer treten. Die Gesetze in 21,1–4.5–
9*.15–21*; 22*; 23,18–26; 24,1–25,16* sind gut altorientalisch (vgl. die Parallelen
im Codex Hammurabi und im mittelassyrischen Recht, wobei die Autoren des
Dtn in Bezug auf Rechte der Frauen eher hinter diese Gesetze zurückfallen, vgl.
EDENBURG). Beschlossen wurde die Sammlung mit Dtn 28*, wodurch das Dtn in
seiner Erstausgabe zu einem Vertrag („Bund“) zwischen JHWH und Israel stili-
siert wird, in welchem Jhwh den Platz des assyrischen Großkönigs und Israel den
seines Vasallen einnimmt.
C. Die Vorderen Propheten
(Walter Dietrich)

Im Kanon der hebräischen Bibel folgt auf die fünf Bücher der Tora der Kanonteil
„Propheten“ (nebi’îm). Er gliedert sich in zwei Teile: die sog. „Hinteren Prophe-
ten“, eigentliche Prophetenbücher (s. unten Teil D), und die sog. „Vorderen
Propheten“: sechs Bücher geschichtlichen Inhalts (Jos, Ri, 1/2 Sam, 1/2 Kön), die
zwar auch, aber keineswegs vorrangig von Propheten handeln. Diese sind im
hebräischen Kanon offensichtlich als Interpreten der Tora (s. oben Teil B)
gedacht. Der Kanon der griechischen Bibel verfolgt ein anderes Prinzip. Dort
umfasst der Prophetenkanon prinzipiell nur die „Hinteren Propheten“, die
freilich an das Ende des Alten Testaments, hinter die Weisheitsschriften (u. a. Hi,
Ps, Sir), zu stehen kommen: als eschatologischer Abschluss gewissermaßen (und
in der christlichen Bibel als Brücke zum Neuen Testament). Zwischen Schriften
und Propheten einerseits und Tora andererseits rückt die LXX eine lange Reihe
geschichtlicher Bücher: außer den Büchern der Vorderen Propheten etwa noch
Rut, 1 und 2Chr, Esr, Neh, Ester u. a. Sie alle sollen offenbar illustrieren, wie
Israel im Lauf seiner Geschichte die Tora befolgt hat (oder nicht).
Die Ordnung der hebräischen Bibel ist gegenüber derjenigen der griechischen
primär. In der Abfolge der drei Kanonteile Tora – Propheten – Schriften spiegeln
sich noch die Stufen der praktischen Kanonisierung: Zuerst war die Tora festge-
schrieben, dann die Vorderen und die Hinteren Propheten, am Ende die übrigen
Schriften. Im Prozess der Tora-Entstehung war die Einordnung des Deuterono-
miums an seiner jetzigen Stelle ein relativ später Vorgang: als „zweite Gesetzge-
bung“ nach der „ersten“, die am Sinai erfolgt und in den Büchern Ex, Lev und
Num niedergelegt ist. Das Deuteronomium – das in Wahrheit älter ist als weite
Teile der Sinai-Tora – war zu diesem Zeitpunkt bereits verbunden mit den Vor-
deren Propheten. So entstand ein großes, von der Genesis bis zu den Königsbü-
chern reichendes Textkonvolut, der sog. Enneateuch. Dieser war die Vorlage der
Chr-Bücher, die eine Kurz- und Neufassung der Geschichte von der Schöpfung
bis zum babylonischen Exil bieten; der erweiterte „Geschichts“-Kanon der grie-
chischen Bibel ist dabei noch nicht in Sicht.
Das Deuteronomium berichtet in seinen narrativen Rahmenteilen, wie Israel
vom Horeb/Sinai aufbrach (Dtn 1,6–18), die Fährnisse der Wüstenwanderung
überstand (Dtn 1,19–3,20) und schließlich in Moab anlangte, auf der Ostseite des
Jordan, wo Mose die „zweite Tora“ verkündet und dann, noch vor Übertritt ins
Gelobte Land, stirbt (Dtn 1,1–4; 3,21–28; 34,1–12). Mittlerweile ist schon die
Stabübergabe von Mose an Josua geregelt, unter dessen Führung die Landnahme
stattfinden soll (Dtn 1,8; 3,21–28; 34,1–4.9). Von dieser berichtet das Josuabuch,
das erste Buch der Vorderen Propheten: Nach der Eroberung des Westjordan-
landes (Jos 1–12) wird das Land an die Stämme verteilt (13–22); Josua trifft letzte
168 C. Die Vorderen Propheten

Anordnungen und stirbt (23f.). Das Richterbuch ist an seinem Anfang noch
weiter mit der Inbesitznahme des Landes beschäftigt (1,1–2,5), ehe es dann vom
Leben der Stämme im Land berichtet: von der Bedrohung durch äußere Feinde
und der Befreiung durch „große Retter“ (*2,6–16,31) und der Regentschaft
„Kleiner Richter“ (10,1–5; 12,8–15), schließlich vom Versinken Israels in religiö-
sem, moralischem und politischem Chaos (17–21). Die beiden letzten Richter, Eli
und Samuel, treten im 1. Samuelbuch auf (1Sam 1–7); Samuel verhilft dem ersten
König, Saul, auf den Thron (8–12) und begleitet dann dessen Abstieg (13–15)
und Davids Aufstieg (16–31). Davids Königtum ist Gegenstand des 2. Samuel-
buchs (2Sam 1–24), dasjenige seines Sohnes und Nachfolgers Salomo des An-
fangs des 1. Königsbuchs (1Kön 1–11), woraus sich dann die Geschichte der
Könige (und der Propheten!) Israels und Judas bis zur Zeit des Babylonischen
Exils entfaltet (1Kön 12–22; 2Kön 1–25). So schildern die Vorderen Propheten
die Geschichte Israels von der Landnahme bis zum Landverlust.
Neben dem kontinuierlichen, mehrere Epochen der Geschichte Israels über-
spannenden Handlungsablauf gibt es noch eine Reihe weiterer Klammern, wel-
che die Bücher der Vorderen Propheten untereinander und mit dem Deutero-
nomium verbinden.

– In Dtn 6 wird von Israel gefordert, es solle allein Jhwh verehren, in Dtn 12, es solle
ihm an nur einem einzigen Kultort dienen. Gemeint ist Jerusalem, das freilich erst
David erobert (2Sam 5,6–11), um dorthin die heilige Lade zu überführen (2Sam 6), die
wiederum von Salomo im Allerheiligsten des von ihm errichteten Tempels deponiert
wird (1Kön 8).
– Die Verehrung allein Jhwhs und einzig in Jerusalem wird zum Gradmesser für die
Qualität des Verhältnisses zwischen Israel und seinem Gott, beschworen an zahllosen
Stellen der Vorderen Propheten (z. B. Dtn 28; Jos 23f.; Ri 2; 1Sam 12; 1Kön 11; 2Kön
17; 23 usw.).
– Das Königtum ist ein weiteres Thema, das den gesamten Textkomplex durchzieht:
angefangen vom Versuch seiner verfassungsmäßigen Regelung (Dtn 17,14–20) über
Reflexionen zu seiner Entbehrlichkeit oder Unentbehrlichkeit zur Zeit der Richter (Ri
8f.; 17,6; 18,1; 19,1; 21,25) und widersprüchliche Einschätzungen seines Nutzens im
Zusammenhang seiner Einführung (1Sam 8–12) bis hin zur langen Doppelreihe der
israelitischen und judäischen Könige (1–2Kön). Frappant sind insbesondere enge,
z. T. wortwörtliche Entsprechungen zwischen dem dtn Königsgesetz und den Berich-
ten einerseits über die Einsetzung des ersten Königs, Saul (vgl. Dtn 17,14f. mit 1Sam
8,5; 10,24), andererseits über die Herrschaft des dritten Königs, Salomo (vgl. Dtn
17,16f. mit 1Kön 5,6; 10,14.26–29; 11,1–3). Und in Jos 1,4 stellt Gott dem Josua einen
Landbesitz für Israel in Aussicht, der bei weitem das übertrifft, was Josua im Folgen-
den erobert – der aber ungefähr dem entspricht, was in 2Sam 8 als Herrschaftsgebiet
Davids beschrieben wird.
– Zusammen mit dem Königtum steht die territoriale und staatliche Souveränität
Israels zur Debatte, wiederum anhebend mit Mose und endend mit dem Untergang
Judas (z. B. Dtn 8,18; 28,63f.; Jos 23,16; 1Sam 12,25; 1Kön 8,47; 9,7f.; 2Kön 17,1–6.18;
21,10–15; 24,20; 25,21).
C. Die Vorderen Propheten 169

– Bestimmte äußere Feinde begleiten Israel auf dem Weg durch seine Geschichte: die
Philister etwa (Ri 13–16; 1Sam 4; 13f.; 17f.; 31; 2Sam 5,17–25; 8,1; 18,8) oder die Ara-
mäer (Ri 3,7–11; 2Sam 8,3–12; 1Kön 11,23–25; 20; 22; 2Kön 5f.; 16,5–9) oder die
Ammoniter (Ri 10f.; 1Sam 11; 2Sam 11f.).

– In Dtn 20 werden Gesetze über die Durchführung von Kriegen erlassen, darunter
Regelungen zur sog. Bannweihe; in Jos 7; 1Sam 15 und 1Kön 20,35–43 wird erzählt,
wie Israel mit der Härte der Banngebote immer wieder in Konflikt geriet.

– In Dtn 25,17–19 wird Israel unversöhnliche Feindschaft gegenüber Amalek einge-


schärft: einem Beduinenstamm, der angeblich Israel schon kurz nach dem Exodus den
Garaus machen wollte (vgl. Ex 17,8–16). Viel später dann wird gezeigt, wie sich am
Verhalten gegenüber den Amalekitern das Schicksal der ersten Könige, Saul und Da-
vid, entscheidet (1Sam 15; 30; 2Sam 1).

– Davon, dass Gott seinem Volk im Gelobten Land „Ruhe“ verschaffen wolle bzw.
verschafft habe, ist in Dtn 12,9f.; 25,19; Jos 21,44; 2Sam 7,1 und 1Kön 5,18 die Rede.

– In Dtn 18,10f. wird Israel die Befragung u. a. von Totenbeschwörern und Wahrsa-
gern streng untersagt; in 1Sam 28,3 wird berichtet, Saul habe eben diese Mantiker aus
Israel verbannt – um dann aber doch heimlich eine Totenbeschwörerin aufzusuchen
(28,7ff.).

– Statt auf Mantiker soll Israel sich gemäß dem Prophetengesetz Dtn 18,15ff. auf Pro-
pheten verlassen. Als deren erster erscheint Samuel (1Sam 3,20), das kritische Gegen-
über Sauls, den eben jene Totenbeschwörerin noch aus dem Totenreich heraufbe-
schwört – vergebens. Nach Samuel treten, wie in Dtn 18,15.18 angekündigt, zahlreiche
weitere Propheten (und Prophetinnen) auf, die Israel auf dem Weg durch die Königs-
zeit begleiten und die alle (wenn sie nicht falsche Propheten sind!) dem in Dtn 18,22
aufgestellten Kriterium wahrer Prophetie gerecht werden: dass ihre Worte unfehlbar
in Erfüllung gehen (vgl. 2Sam 12,11.14 mit 2Sam 12,15 und 16,21f.; 1Kön 11,30–39
mit 1Kön 12,1–15; 1Kön 14,10–16 mit 1Kön 14,17 und 15,29; 1Kön 16,1–4 mit 16,12;
2Kön 1,6 mit 2Kön 1,17 usw.).

– Laut Jos 6,26 hat Gott nach der Eroberung Jerichos bei schwerer Strafe verboten, die
Stadt je wieder aufzubauen; laut 1Kön 16,34 wurde sie doch wieder aufgebaut, was
eine schwere Bestrafung nach sich zog.

– In Dtn 19,1–13 wird die Einrichtung von insgesamt sechs Asylstädten angeordnet,
in die von Blutrache bedrohte Totschläger sich flüchten können; in Jos 20 wird die
Ausführung dieser Gesetzesvorschrift berichtet.

– Der dtn Mose schärft den Israeliten immer wieder ein, sie sollten „das in den Augen
Jhwhs Rechte tun“ bzw. „das in Jhwhs Augen Böse nicht tun“ (Dtn 6,18; 12,25; 13,19;
21,9 bzw. 4,25; 17,2; 31,29); in den Rahmungen der Rettergeschichten wird immer
wieder festgestellt, dass die Israeliten „das in den Augen Jhwhs Böse taten“ (Ri 3,7.12;
4,1; 6,1; 10,6; 13,1; schon 2,11), und in den Rahmungen der Königsgeschichten, dass
Könige „das in den Augen Jhwhs Böse“, in selteneren Fällen auch, dass sie „das in den
Augen Jhwhs Rechte taten“ (z. B. 1Kön 11,6; 16,30; 2Kön 13,2; 15,9; 21,2; 23,37;
24,9.19 bzw. 1Kön 15,11; 2Kön 12,2; 18,3; 22,2); diese markante, von Dtn bis 2Kön
durchlaufende Linie verdankt sich klar redaktioneller Tätigkeit, da sie nie in älteren
Überlieferungen, sondern immer in verknüpfenden Textelementen auftaucht.
170 C. Die Vorderen Propheten

– Die strikteste Verkettung der Bücher der Vorderen Propheten geschieht durch ein
elaboriertes chronologisches System. Im Prinzip äußerst verlässliche, mit Ereignissen
aus der Umwelt Israels synchronisierbare Daten liegen für die Regierungsjahre der
Könige von Israel und Juda vor. Mit ihrer Hilfe gelangt man, mit nur wenigen Unsi-
cherheiten, von einem bestimmten Vorfall „im 37. Jahr nach der Wegführung des
Königs Jojachin von Juda“ (d. h. 562 v. Chr., 2Kön 25,27) zurück über den Untergang
Jerusalems (587/86) und die Eroberung Samarias (722) bis zum Auseinanderbrechen
der davidisch-salomonischen Personalunion (926). Von da an werden die Angaben
ungenauer, offenbar oft gerundet oder nur geschätzt. Je 40 Jahre sollen Salomo (1Kön
11,42) und David regiert haben (dieser 33 Jahre in Jerusalem und 7 bzw. 7,5 in
Hebron: 1Kön 2,11; 2Sam 5,4), ebenso wie die Richter Eli (1Sam 4,18) und Otniel (Ri
3,11); Simson hingegen werden 20 Jahre gegeben (Ri 16,31), Jiftach gar nur sechs (Ri
12,7). Seltsam präzise wirken wiederum die Angaben zu anderen Kleinen Richtern (Ri
10,1–3; 12,8–11). Von Josua dagegen heißt es lediglich, er sei 110, von Mose, er sei 120
Jahre alt geworden (Jos 24,29 bzw. Dtn 34,7). Immerhin, wir gelangen so ungefähr ans
Ende des 13. Jh.s v. Chr.

All diese durchlaufenden Linien und umgreifenden Klammern deuten darauf


hin, dass es sich bei den Vorderen Propheten (einschließlich des Deuteronomi-
ums) nicht um ein regellos und zufällig zusammengekommenes Textkonglome-
rat handelt, sondern um eine wohldurchdachte und planmäßig angelegte Text-
komposition. Wer war dafür verantwortlich?

Bis weit ins 20. Jh. dachte man dabei wie selbstverständlich an Autoren, die man auch
für die Entstehung des Pentateuchs verantwortlich glaubte: die Verfasser der sog.
Quellenschriften. O. EISSFELDT etwa oder H. SCHULTE (Lit.-Angaben unten bei I.2) ge-
hören zu den letzten, welche die Pentateuchquellen bis in die Königsbücher hinein
nachzuweisen suchten. Die dazu leitenden Gründe sind durchaus achtbar: In der For-
schung ist bis heute strittig, wo genau die Pentateuchquellen (wenn es sie denn gab)
endeten; namentlich die Landnahme, wie das Jos-Buch sie schildert, scheint für ihren
Handlungsablauf unentbehrlich. Zudem stammt eine erhebliche Zahl älterer Überlie-
ferungen sowohl im Pentateuch als auch in den Vorderen Propheten offenbar aus der
Königszeit, was zeitliche Koinzidenzen und sachliche Konvergenzen sehr wohl denk-
bar macht; warum etwa heißen die Israeliten (fast) nur im Ex- und im 1Sam-Buch
„Hebräer“, warum ähnelt die Herrschaft Salomos in manchem so sehr derjenigen des
Pharao? Ferner begegnen in den Vorderen Propheten sog. Doppelüberlieferungen, die
nicht auf zwei Erzählfäden zu verteilen einem Literarkritiker äußerst schwer fallen
muss (z. B. Ri 4/5; 1Sam 9f./11; 1Sam 16/17; 1Sam 18,10f./19,10f.; 1Sam 24/26; 1Sam
21,11–16/27,1–7; 1Sam 31/2Sam 1). Infolgedessen lagen Erklärungsmodelle nicht so
fern, wonach etwa in der ausgehenden Königszeit ein (dtr) Redaktor (RedJE) zwei
ältere Geschichtswerke – ein zur Salomozeit entstandenes, von Gen 2 bis etwa 1Kön 2
reichendes jahwistisches und ein im 8. Jh. entstandenes und bis 2Kön 17 reichendes
elohistisches – zu einem frühen „Enneateuch“ verbunden hätte, der dann später noch
um P-Stoffe angereichert worden wäre (und dies nicht nur in Gen bis Num, sondern
etwa auch in Jos!). Freilich, die Plausibilität derartiger Modelle ist unmittelbar abhän-
gig von derjenigen ihrer Vorbilder in der Pentateuchkritik, und diese hat in letzter
Zeit schwer gelitten.
I. Die Hypothese vom deuteronomistischen Geschichtswerk 171

I. Die Hypothese vom deuteronomistischen Geschichtswerk

Im Jahr 1943 hat MARTIN NOTH das Zustandekommen des Kanonteils „Vordere
Propheten“ in einer grundlegend neuen und die Forschung seither prägenden
Weise erklärt: Ein Redaktor bzw. Autor, „der Deuteronomist“, habe um die Mitte
des 6. Jh.s die Geschichte des Volkes Israel von der Landnahme bis zum Land-
verlust in einem großen, die Bücher Dtn bis Kön umfassenden „deuteronomisti-
schen Geschichtswerk“ beschrieben. Diese These hat in der wissenschaftlichen
Welt ungewöhnlich breite Zustimmung, verschiedentlich freilich auch Wider-
spruch sowie mancherlei Modifikationen erfahren.

Eine Reihe von Forschungsberichten informiert über den Gang der Diskussion: A.N.
Radwajane, Das deuteronomistische Geschichtswerk. Ein Forschungsbericht: ThR NF 38
(1974), 177–216. – H. WEIPPERT, Das deuteronomistische Geschichtswerk. Sein Ziel und
Ende in der neueren Forschung: ThR 50 (1985), 213–249. – H. D. PREUSS, Zum deute-
ronomistischen Geschichtswerk: ThR 58 (1993), 229–264. 341–395. – S. L. MCKENZIE /
M.P. GRAHAM (eds.), The History of Israel’s Traditions. The Heritage of Martin Noth,
1994 (JSOT.S 182). – T. VEIJOLA, Deuteronomismusforschung zwischen Tradition und
Innovation: ThR 67 (2002), 273–327. 391–424; 68 (2003), 1–44. – C. FREVEL, Deuterono-
mistisches Geschichtswerk oder Geschichtswerke?, in: U. Rüterswörden (Hg.), Martin
Noth – aus der Sicht der heutigen Forschung, 2004 (BThSt 58), 60–95. – W. THIEL,
Grundlinien der Erforschung des „Deuteronomistischen Geschichtswerks“, in: Ders.,
Unabgeschlossene Rückschau. Aspekte alttestamentlicher Wissenschaft im 20. Jahrhun-
dert, 2007 (BThSt 80), 63–81. – A. SCHERER, Neuere Forschungen zu alttestamentlichen
Geschichtskonzeptionen am Beispiel des deuteronomistischen Geschichtswerks: VF 53
(2008), 22–40.
Einen mit eigenen Wertungen durchsetzten Rückblick auf die durch Noth ausgelöste
Forschungsgeschichte bietet C. LEVIN, Nach siebzig Jahren. Martin Noths Überlieferungs-
geschichtliche Studien: ZAW 125 (2013), 72–92.
Eine allgemeine Einführung in die geschichtlichen, literarischen und theologischen Pro-
bleme des Kanonteils „Vordere Propheten“ präsentiert M.E. MILLS, Joshua to Kings.
History, Story, Theology, London / New York, 2006. T.W. MANNs „The Book of the For-
mer Prophets“ (Eugene, Ore 2011) bietet einen Kommentar aller Bücher von Jos bis 2Kön
(einschließlich Rut!) samt ausführlicher Ein- und Ausleitung.

Im Folgenden soll zunächst die Argumentation NOTHs und einiger, dicht bei
seinem Ansatz bleibender Forscher, danach sollen Bestreitungen und Modifika-
tionen seines Modells dargestellt werden.

1. Entfaltung
M. NOTH, Überlieferungsgeschichtliche Studien. Die sammelnden und bearbeitenden Geschichts-
werke im Alten Testament, Tübingen 1942, 21957. – H. W. WOLFF, Das Kerygma des deuteronomis-
tischen Geschichtswerks: ZAW 73 (1961), 171–186 = Ders., Ges. Stud. zum AT, 1964 (ThB 22), 308–
324. – H.-D. HOFFMANN, Reform und Reformen. Untersuchungen zu einem Grundthema der
deuteronomistischen Geschichtsschreibung, 1980 (AThANT 66). – J. VAN SETERS, In Search of
History. Historiography in the Ancient World and the Origins of Biblical Historiography, New
172 C. Die Vorderen Propheten

Haven 1983, Neudruck Winona Lake 1997. – E. T. MULLEN, Narrative History and Ethnic
Boundaries, Atlanta GA 1993. – R. ALBERTZ, Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart 2001
(Biblische Enzyklopädie 7), 210–260. – B. VAN PUTTEN, „Er starb gleich dem Wort JHWHs.“ Das
Auftreten des Propheten Elija während der Regierung des israelitischen Königs Ahasja (1 Kön 22,25 –
2 Kön 1,18): eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung, Diss. Utrecht 2005. – J. HARVEY, The
Structure of the Deuteronomistic History: SJOT 20 (2006), 237–258. – G. N. KNOPPERS, Yhwh’s
Rejection of the House Built for His Name. On the Significance of Anti-temple Rhetoric in the
Deuteronomistic History, in: A. Amit et al. (eds.), Essays on Ancient Israel in Its Near Eastern
Context, FS N. Na’aman, Winona Lake, IN 2006, 221–238. – U. RÜTERSWÖRDEN, Erwägungen zum
Abschluß des deuteronomistischen Geschichtswerkes, in: S. Gillmayr-Bucher u. a. (Hg.), Ein Herz so
weit wie der Sand am Ufer des Meeres, FS G. Hentschel, 2006 (EThSt 90), 193–203. – J. BARTON,
Historiography and Theodicy in the Old Testament, in: R. Rezetko et al. (eds.), Reflection and
Refraction, FS A. G. Auld, 2007 (VT.S 113), 27–33. – E. BLUM, Pentateuch–Hexateuch–Enneateuch?
Oder: Woran erkennt man ein literarisches Werk der Bibel?, in: T. Römer / K. Schmid (éds.), Les
dernières rédactions du Pentateuque, de l’Hexateuque et de l’Ennéateuque, 2007 (BETL 203), 67–97.
– D. JANZEN, An Ambiguous Ending. Dynastic Punishment in Kings and the Fate of the Davidides in
2 Kings 25.17–30: JSOT 33 (2008), 39–58. – W. THIEL, Martin Noths Arbeit am Deuteronomistischen
Geschichtswerk, in: T. Wagner u. a. (Hg.), Kontexte, FS H. J. Boecker, Neukirchen-Vluyn 2008, 223–
234. – S. WÄLCHLI, Jhwhs Zorn als Element deuteronomistischer Geschichtsdeutung. Ein Überblick
und offene Fragen, in: T. Naumann / R. Hunziker-Rodewald (Hg.), Diasynchron. Beiträge zur
Exegese, Theologie und Rezeption der Hebräischen Bibel, FS W. Dietrich, Stuttgart 2009, 403–414. –
H. G. M. WILLIAMSON, How Did the Deuteronomists Envisage the Past?, in: H. M. Barstad et al.
(eds.), The Past in the Past. Concepts of Past Reality in Ancient Near Eastern and Early Greek
Thought, Oslo 2009, 133–152. – H.-J. STIPP (Hg.), Das deuteronomistische Geschichtswerk, 2011
(ÖBB 39). – M. R. JACOBS / R. F. PERSON Jr. (eds.), Israelite Prophecy and the Deuteronomistic
History. Portrait, Reality, and the Formation of a History, 2013 (SBL - Ancient Israel and Its
Literature 14). – C. LEVIN, Nach siebzig Jahren. Martin Noths Überlieferungsgeschichtliche Studien:
ZAW 125 (2013), 72–92.

Das Werk Martin NOTHs bedeutete eine Umkehrung der zuvor üblichen Per-
spektiven: Statt die Geschichtsüberlieferungen Israels darauf zu untersuchen, wie
sich die tatsächlichen Ereignisse in ältesten, dann in jüngeren Quellen und
schließlich in späten, historisch kaum mehr verwertbaren Bearbeitungen
spiegeln, wendet er sich entschlossen dem letzten Glied in dieser Kette zu. Im
Mittelpunkt seines Interesses steht ganz und gar die redaktionelle und schrift-
stellerische Tätigkeit „des Dtr“. Das letzte von diesem berichtete Ereignis, die
Begnadigung des exilierten Davididen Jojachin (2Kön 25,27–30) spielt im Jahr
562; also ist er selbst kurz danach anzusetzen, d. h. in der Mitte der Exilszeit. Von
da aus blickt er auf die Geschichte Israels zurück. Er beschreibt diese nicht in
freier Eingebung, sondern stützt sich dafür auf ältere Quellen (etwa das dtn
Gesetz oder eine Sammlung von Landnahmesagen in Jos oder Erzählungen vom
Aufstieg bzw. von der Thronfolge Davids in 1/2 Sam oder Königsannalen oder
Sammlungen von Prophetenerzählungen in 1/2 Kön). Diese Dokumente ver-
knüpft er durch redaktionelle Verbindungsstücke. Diese weisen von Dtn bis
2Kön eine unverkennbare sprachlich-gedankliche Einheitlichkeit auf. Es gibt
eine typisch dtr Sprache (mit Wendungen wie „auf die Tora achten“, „das Land,
das ich euren Vätern zugeschworen habe“, „auf Höhen räuchern“, „hinter frem-
den Göttern herlaufen“ usw.). In der Sprache drückt sich eine spezifische Theo-
logie bzw. Geschichtsauffassung aus: mit einem starken Akzent auf religiösen
I. Die Hypothese vom deuteronomistischen Geschichtswerk 173

Faktoren (wie der Forderung der Alleinverehrung Jhwhs). Dazu kommt ein um-
fassender chronologischer Rahmen, in dem in Abschnitten zu 40 oder 400 Jahren
gerechnet wird.
Nach diesen grundlegenden Klärungen geht Noth nacheinander die Bücher
Dtn bis Kön durch und arbeitet im Detail den Umfang, die Art und die Zielset-
zung der dtr Editionsarbeit heraus: Einmal rahmt und verknüpft Dtr nur, was
ihm übernehmenswert erscheint (z. B. bei den Literaturwerken über die frühe
Königszeit), einmal bringt er Einzelmaterialien überhaupt erst in eine geschlos-
sene Form (etwa die politischen und Prophetengeschichten in Kön durch den
Königsrahmen), einmal verleiht er bloßen Erzählsammlungen geschichtstheolo-
gische Ausrichtung (etwa den Rettergeschichten in Ri durch die Rahmung und
die Zwischenstücke, durch die die alten Überlieferungen in einen Zeitablauf und
ein theologisch durchdachtes Gesamtbild gebracht werden). Bei geschichtlichen
Zäsuren schaltet Dtr ausführliche, selbst formulierte Stücke ein, gern führenden
Akteuren in den Mund gelegt, in denen besonders klar seine Auffassungen und
Wertungen zum Ausdruck kommen (v. a. Jos 1; 23; Ri 2; 1Sam *7–12; 1Kön 8;
2Kön 17).
Seine Beobachtungen fasst Noth zusammen unter der Überschrift „Charakter
des Werkes“: Dessen „schriftstellerische Eigenart“ sei es, dass der Endverfasser
auch ältere Texte zu Wort kommen lasse. „Gleichwohl hat Dtr doch seinem
Werke durch die Art der Gesamtgestaltung und durch die Durchführung ganz
bestimmter Grundgedanken, die das Ganze durchlaufen, jenes Mass von Ge-
schlossenheit zu geben vermocht, das heute noch so deutlich in die Augen fällt,
dass dieses Werk sich aus dem Ganzen der atl. Literatur als etwas Eigenes und
von anderen Literaturwerken klar Unterschiedenes dem prüfenden Blick ein-
wandfrei zu erkennen gibt“ (90). Was die „geschichtlichen Voraussetzungen“
angehe, sei Dtr bald nach 562 im babylonisch besetzten Juda zu Werk gegangen,
vermutlich in Betel oder Mizpa (diese beiden Orte werden im Geschichtswerk
häufig erwähnt). Sein Denken sei stark geprägt von der damals schon über ein
halbes Jh. zurückliegenden Reform Joschijas und dem Schock durch das dann
doch eingetretene Ende des Staates Juda. Die „Haltung gegenüber den über-
kommenen Überlieferungen“ beschreibt Noth als grundsätzlich positiv, doch
greife Dtr auswählend, verknüpfend, ausgleichend und auch korrigierend in das
ihm vorgegebene Material ein. An „theologischen Leitgedanken“ seien zu benen-
nen der Glaube an ein gerecht vergeltendes Handeln Gottes und die Forderung
nach unbedingtem Gehorsam gegen die dtn Tora. „Zum Mittelpunkt seiner
Darstellung der Geschichte Israels hat Dtr … das Thema der Gottesverehrung
gemacht, wie sie durch das Gesetz gefordert … war“ (103). Gegenüber dem Kult
im engeren Sinn habe Dtr „eine stark negative Haltung“ eingenommen; Lade
und Tempel seien ihm nicht als Ort der Annäherung an Gott, sondern nur als
negativer Maßstab wichtig. Zu einer möglichen Zukunft seines Volkes habe Dtr
geschwiegen; er habe lediglich aus der Vergangenheit den Nachweis vielfältigen
Abfalls von Jhwh geführt und damit eine Ätiologie bzw. Doxologie des Unter-
gangs geliefert. Für ihn war „die auch schon von Dt als Strafe für den Ungehor-
174 C. Die Vorderen Propheten

sam in das Auge gefasste Möglichkeit eines Untergangs des Volkes nunmehr als
geschichtlich vollzogene Wirklichkeit gegeben“ (109). Paradoxerweise war es
aber gerade der ungebrochene Glaube an Jhwh – und sei es an den strafenden –,
der Juda Halt zu geben vermochte im Chaos der von Assyrern und Babyloniern
durcheinandergewirbelten Welt der Völker und Religionen. Nicht zuletzt dank
Dtr konnte das biblische Israel als Volk Jhwhs die schlimmste Katastrophe seiner
Geschichte überleben.

Einige Forscher folgen weitgehend Noths Grundansatz, setzen aber etwas andere Ak-
zente.
– WOLFF stellte Noths Meinung in Frage, der Dtr verkünde nur ein Untergangs-
Kerygma; unüberhörbar sei auch der Aufruf zur Umkehr zu vernehmen und verbun-
den damit die Hoffnung auf eine neue Zuwendung Jhwhs zu Israel.
– KNOPPERS bestreitet in ähnlicher Weise, dass das dtr Geschichtswerk eine starke
Distanz zu Kult und Tempel halte. Scheinbar tempelkritische Aussagen (z. B. 1Kön
8,46–51; 9,2–9; 2Kön 21,10–16) dienten in Wahrheit dazu, den Tempel als derart be-
deutsam hinzustellen, dass Gott ihn angesichts der Versündigung seines Volkes nicht
habe bestehen lassen können. So ist die Ansage der Zerstörung paradoxer Ausdruck
hoher Wertschätzung und stiller Hoffnung auf einen Neuanfang.
– HOFFMANN sieht den vorliegenden Text des Geschichtswerks, namentlich in Kön,
als weitgehend von Dtr selbst formuliert und durch seine Ideologie geprägt. Dtr wollte
dem Leser mitnichten geschichtliche Informationen vermitteln, etwa gewonnen aus
älteren Quellen, sondern einzig und allein religiöse Lehren. Höhe- und Zielpunkt sei-
ner Darstellung ist der von der ersten bis zur letzten Zeile von ihm selbst verfasste Be-
richt über die joschijanische Reform (2Kön 22f.). Dem hier präsentierten idealen
Jhwh-Glauben und -Kult stellt er die teils negativen, teils positiven Bilder anderer Kö-
nige bzw. Epochen gegenüber, so dass der Eindruck eines ständigen Auf und Ab in
der (Glaubens-)Geschichte Israels mit insgesamt negativem Ausgang entsteht.
– VAN SETERS hält das Werk des Dtr für einen frei erfundenen Geschichtsroman. Etwa
gleichzeitig mit ihm schrieb in Griechenland Thukydides, und beide konservierten
keineswegs Quellenmaterial, sondern gestalteten ihre Werke völlig frei. Was aussieht
wie diverse Sprachstile, disparate Stoffe usw., verdankt sich einzig der Freude des
Schriftstellers an einer abwechslungsreichen Darbietung. Derartigen Texten ge-
schichtliche Daten und Fakten aus der dargestellten Zeit entnehmen zu wollen, wäre
naiv. Höchstens über die Entstehungszeit gäben sie Auskunft, doch auch dies nur ge-
brochen.
– ALBERTZ möchte das Geschichtswerk sozialgeschichtlich genauer verorten als Noth.
Er vermutet seine Autoren (trotz Festhaltens an der Einheitlichkeit des Textes spricht
er lieber in der Mehr- als der Einzahl) in der babylonischen Gola. Als Glieder der
früheren Oberschicht entwickelten sie eine im Grunde restaurative Geschichtstheolo-
gie: zwar bußbereit, was die offenbaren Fehler der Vergangenheit anlangt, ansonsten
aber voller Hoffnung auf eine Restitution der vorstaatlichen Verhältnisse. Anders als
die dtr Bearbeiter des Jer-Buchs, die sich durch die radikale Unheilsprophetie haben
beeindrucken lassen, brechen die dtr Geschichtsschreiber nicht mit den altherge-
brachten Überzeugungen von der Unverbrüchlichkeit des Gottesbundes, der Gott-
wohlgefälligkeit der Daviddynastie und der Unverlierbarkeit der Präsenz Jhwhs auf
I. Die Hypothese vom deuteronomistischen Geschichtswerk 175

dem Zion. Dementsprechend betonen sie in ihrem Werk nicht nur das Negative, son-
dern auch das Positive der Vergangenheit.
– HARVEY meint in den Büchern Dtn bis 2Kön eine ebenmäßige Struktur erkennen zu
können. Das Dtn stellt Israel für die Zukunft zwei große Dinge in Aussicht: den Besitz
des Landes und einen zentralisierten Kult. Die Landgabe erfolgt in Jos, um freilich in
Ri wieder eingeschränkt („compromised“) zu werden. Der Kult am richtigen Ort wird
in 1Kön 1–11 eingerichtet, um aber in 1Kön 12 – 2Kön 25 wieder relativiert zu wer-
den. 1–2Sam, deren Thema die Errichtung der davidischen Monarchie ist, stehen zwi-
schen jenen beiden großen Textblöcken gleichsam chiastisch eingeklammert und sind
mit ihnen vielfältig verbunden.

2. Bestreitung
G. VON RAD, Hexateuch oder Pentateuch?: VF 1947/48 (gedruckt 1949), 52–56. – O. EISSFELDT,
Einleitung in das Alte Testament, Tübingen 31964. – G. FOHRER, Einleitung in das Alte Testament
(Sellin-Fohrer), Heidelberg 111969. – H. SCHULTE, Die Entstehung der Geschichtsschreibung im
Alten Israel, 1972 (BZAW 128). – A. G. AULD, Kings without Privilege, 1994. – C. WESTERMANN, Die
Geschichtsbücher des Alten Testaments, 1994 (ThB 87). –A. MOENIKES, Die grundsätzliche
Ablehnung des Königtums in der Hebräischen Bibel, Weinheim 1995. – E. EYNIKEL, The Reform of
King Josiah and the Composition of the Deuteronomistic History, 1996 (OTS 33). – E. A. KNAUF,
L’„Historiographie Deutéronomiste“ (DtrG) existe-t-elle?, in: de Pury, A., et al. (éds.), Israël construit
son histoire, Genève 1996 (Le monde de la Bible 34), 409–418. – J. R. LINVILLE, Israel in the Book of
Kings. The Past as a Project of Social Identity, 1998 (JSOT.S 272). – H. RÖSEL, Von Josua bis Jojachin.
Untersuchungen zu den deuteronomistischen Geschichtsbüchern des Alten Testaments, 1999 (VT.S
75). – L. S. SCHAERING / S. L. MCKENZIE (eds.), Those Elusive Deuteronomists. The Phenomenon of
Pan-Deuteronomism, 1999 (JSOT.S 268). – R. G. KRATZ, Die Komposition der erzählenden Bücher
des AT, Göttingen 2000. – G. LARSSON, Possible Hellenistic Influences in the Historical Parts of the
Old Testament: SJOT 18 (2004) 296–311. – U. Y. KIM, Decolonizing Josiah. Toward a Postcolonial
Reading of the Deuteronomistic History, Sheffield 2005 (Bible in the Modern World 5). – J. VAN
SETERS, The Edited Bible. The Curious History of the „Editor“ in Biblical Criticism, Winona Lake, IN
2006. – M. WITTE u. a. (Hg.), Die deuteronomistischen Geschichtswerke. Redaktions- und religions-
geschichtliche Perspektiven zur „Deuteronomismus“-Diskussion in Tora und Vorderen Propheten,
2006 (BZAW 365). – D. T. LAMB, Righteous Jehu and His Evil Heirs. The Deuteronomist’s Negative
Perspective on Dynastic Succession, 2007 (OTM). – K. L. NOLL, Deuteronomistic History or Deute-
ronomic Debate? (A Thought Experiment): JSOT 31 (2007), 311–345. – E. OTTO, Das Gesetz des
Mose, Darmstadt 2007. – R. F. PERSON, The Deuteronomic History and the Books of Chronicles.
Contemporary Competing Historiographies, in: R. Rezetko et al. (eds.), Reflection and Refraction, FS
A. G. Auld, 2007 (VT.S 113), 315–336. – K. SCHMID, Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine
Einführung, Darmstadt 2008. – J. HUTZLI, The Literary Relationship between I–II Samuel and I–II
Kings. Considerations concerning the Formation of the Two Books: ZAW 122 (2010), 505–519. –
R. F. PERSON, The Deuteronomic History and the Book of Chronicles. Scribal Works in an Oral
World, Atlanta, GA 2010 (Society of Biblical Literature Ancient Israel and Its Literature 6).

Martin Noths Hypothese eines dtr Geschichtswerks trat in der alttestamentlichen


Wissenschaft einen fast beispiellosen Siegeszug an. Gleichwohl gab es schon früh
und melden sich in letzter Zeit ihr gegenüber vermehrt auch Zweifel und Beden-
ken.

Selbstverständlich trifft das auf Forscher zu, die an der Theorie in den Vorderen Pro-
pheten fortlaufender Pentateuch-Quellen festhalten wollten (EISSFELDT, FOHRER,
176 C. Die Vorderen Propheten

SCHULTE – wobei der Erste das hübsche Diktum von Noth als dem „eigentliche(n)
Vater des deuteronomistischen Geschichtswerkes“ prägte, 323). Doch auch von
grundsätzlich wohlwollender Seite gab es Rückfragen. VON RAD etwa meinte, zwischen
Dtn und 2 Kön seien derart viele, disparate Stoffe verarbeitet und so viele unter-
schiedliche Intentionen erkennbar, dass man besser nicht mit einem Werk eines
Autors rechne, sondern mit verschiedenen dtr Redaktionen bzw. Bearbeitungen der
einzelnen biblischen Bücher.
Die neuere Kritik an Noths These schlägt teilweise in ähnliche Kerben. WESTERMANN
betont, dass die einzelnen Abschnitte des vermeintlich zusammenhängenden Werkes
sich markant voneinander unterschieden; dass der Einsatz der Darstellung erst bei der
Landnahme (und nicht schon beim Exodus) nicht glaubhaft sei; dass Noth nicht ge-
nügend mit dem Einfließen mündlicher Tradition in den Endtext rechne; dass die von
ihm für „Dtr“ beanspruchten Texte den älteren Textbeständen eher sporadisch ange-
hängt und überdies weder sprachlich noch gedanklich einheitlich seien; dass in ihnen
kein Wille zu wirklicher Geschichtsschreibung zu erkennen sei, sondern nur zu
frommer Belehrung. RÖSEL behauptet ebenfalls die je separate Entstehung der Bücher
Jos bis Kön und begründet dies einerseits mit unterschiedlichen theologischen Über-
zeugungen in den Bearbeitungsschichten (etwa zu Sünde und Strafe), andererseits mit
der unterschiedlich intensiven redaktionellen Bearbeitung etwa von Sam und Kön
(eine wohlbekannte Tatsache, die Noth freilich mit der unterschiedlichen Art der
Quellen und ihrer Nutzung erklärt). Neuerdings findet sich relativ häufig die These, es
habe ein erstes, evtl. vorexilisches dtr Geschichtswerk nur in Sam-Kön gegeben, dem
Jos und Ri später vorgeschaltet wurden (OTTO, SCHMID u. a.).
Andere beschreiten ganz andere Wege. AULD – und ähnlich jetzt auch PERSON – pos-
tuliert für die Exilszeit ein Werk, das (nur) die Zeitspanne von David bis zum Unter-
gang Jerusalems umfasst habe und in nachexilischer Zeit stufenweise in zwei Richtun-
gen ausgebaut worden sei: einerseits zur dtr, andererseits zur chr Geschichtsschrei-
bung. LINVILLE bestreitet die Existenz eines dtr Geschichtswerks kategorisch und be-
trachtet die Königsbücher für sich allein und erst in persischer Zeit entstanden. NOLL
will gar jedes Buch der Vorderen Propheten einen eigenen Dialog mit dem Deutero-
nomium führen sehen. MÖNIKES rechnet dagegen mit relativ frühen Vorstufen des
jetzt vorliegenden Textes: einem „Efraimitischen Geschichtswerk“ (Jos 24–1Sam 12)
und einem „Hiskijanischen Geschichtswerk“ (1Kön 15–2Kön 19) aus dem 8. Jh. sowie
einem „Joschijanischen Geschichtswerk“ (Dtn 1–2Kön 23) aus dem 7. Jh., das im 6. Jh.
bis 2Kön 25 erweitert worden sei. EYNIKEL wiederum sieht die Königsbücher für sich
allein entstanden, und zwar ebenfalls stufen- bzw. blockweise: 1Kön 3–2Kön 18 im 8.
Jh., 2Kön 21–23 im 7. Jh., 2Kön 24f. im 6. Jh.. Erst auf dieser letzten Ebene sei die Ge-
schichte der Königs- mit derjenigen der vorstaatlichen Zeit verbunden worden, die
auch ihrerseits aus Blöcken mit je eigener Vorgeschichte bestehe (Jos 1–1Sam 12 und
1Sam 13–1Kön 2). KRATZ betrachtet vorrangig nicht (nur) die Bücher der Vorderen
Propheten (und das Dtn), sondern den gesamten Enneateuch von Gen bis Kön. Die-
sen sieht er über mehrere Stufen von der mittleren Königszeit bis tief in die persische
Zeit entstanden. Im Bereich der Vorderen Propheten gebe es Relikte noch aus der Zeit
des Königreichs Israel in Jos 2–8; Ri 3–16 und 1Sam 1–14, ausgeweitet im 7. Jh. zu Jos
2–12 und 1Sam 1–1Kön 2; daneben entstanden die „Tagebücher der Könige“ in
1/2Kön. Eine erste dtr Redaktion habe in der Exilszeit lediglich den Block 1Sam 1–
2Kön 25 gschaffen. Die zweite dtr Redaktion habe in nachexilischer Zeit den An-
schluss zur Hexateucherzählung hergestellt und dazu die älteren Kerne in Jos und Ri
redaktionell bearbeitet und zum Brückenglied zwischen Volks- und Königsgeschichte
I. Die Hypothese vom deuteronomistischen Geschichtswerk 177

gemacht. Noch später seien diverse dtr und nach-dtr Auffüllungen von z. T. erhebli-
chem Ausmaß hinzugekommen. SCHMID postuliert mehrere Entstehungsstufen der
„deuteronomistischen Geschichtswerke“: Anfänge in Sam und Kön in der späten assy-
rischen, deren Erweiterung um 2Kön 24f. in der babylonischen und die Zusammen-
fassung einer Vielzahl älterer Überlieferungen zu dem „Großgeschichtswerk“ Gen–
2Kön in der persischen Zeit. LAMB meint die Samuel- und Königsbücher als ein erstes
(exilisches!) Geschichtswerk separieren und dadurch charakterisieren zu können, dass
in ihm eine charismatische gegenüber einer dynastischen (also auch und gerade der
davidischen!) Monarchievorstellung bevorzugt werde: eine zwar anregende, aber doch
recht abenteuerliche Hypothese. LARSSON will gar die gesamte, vermeintlich dtr Ge-
schichtsschreibung in die hellenistische Zeit verlegen. HUTZLI will nun auch noch Sam
und Kön separieren: Das erste dtr Werk habe nur Kön umfasst; Sam sei mündlich
überliefert und Kön erst nachträglich vorgeschaltet worden.

Der große Wurf Noths droht zwischen all diesen Ein- und Widersprüchen förm-
lich zerstäubt zu werden, ohne dass bisher überzeugende neue Entwürfe über das
Zustandekommen der Vorderen Propheten vorgelegt worden wären. Auf der
anderen Seite ist nicht zu bestreiten, dass dem Entwurf Noths eine gewisse Ein-
fachheit eigen ist, die einen Teil seiner Suggestivkraft, aber auch seiner Angreif-
barkeit ausmacht. Das große Textkonvolut Dtn–2Kön bietet sich ja keineswegs
so geschlossen und glatt dar, wie es in der Darstellung Noths erscheinen mag.
Freilich, dem scharfen Blick des Altmeisters sind keineswegs die mancherlei
harten Übergänge, Brüche und Spannungen in dem (schon gar für antike Ver-
hältnisse) riesigen Werk entgangen. Seine Antwort darauf war eine zweifache:
Bei der angenommenen Arbeitsweise von „Dtr“ – seiner Ehrfurcht vor dem von
ihm aufgenommenen Quellenmaterial und seinen sehr genau gezielten Aussage-
absichten, die ihn über manches wegblicken und manches aussparen ließen –
konnte gar kein Werk ‚aus einem Guss‘ entstehen. Wo allerdings auch bei diesen
Voraussetzungen die Widersprüche zu groß, die Abschweifungen zu auffällig
sind, da postulierte Noth die Hände von Ergänzern, Glossatoren usw., welche die
ursprünglich doch durchsichtige Ordnung, die „Dtr“ verfolgte, störten.
Eben an diesem Punkt nun können ernsthafte Nachfragen einsetzen. Es gibt
innerhalb von Passagen, die ohne ernsthafte Zweifel „Dtr“ zuzurechnen sind,
schwer erträgliche sachliche (und auch sprachliche) Dissonanzen. Und es gibt
Abschnitte, die ein allein verantwortlicher Endverfasser – ungeachtet dessen,
dass in ihnen Quellenmaterial verarbeitet sein mag – eigentlich zu Klarheit und
Eindeutigkeit hätte bringen sollen.

Hier einige Beispiele:

– Die Landnahme in Jos 1–12 erscheint in der Hauptsache als grandioser Siegeszug
des geeinten Israel unter dem einen Führer Josua durch das gesamte Ost- und West-
Jordanland, bei dem die gesamte autochthone Bevölkerung verjagt oder ausgerottet
wurde. In Jos 13 und in Ri 1 ist jedoch überraschend von nicht eroberten Partien des
Landes und von einer Vielzahl nicht eroberter Städte die Rede. Und in Jos 23 wird es –
in unverkennbar dtr Diktion – als wichtigstes Anliegen der Tora (!) hingestellt, dass
Israel sich nicht einlasse und vermische mit den Völkern, die Gott nicht vor ihm her
178 C. Die Vorderen Propheten

vertrieben habe. Auch in Ri 2f. räsonieren eindeutig dtr denkende und schreibende
Autoren über den Sinn des Übrigbleibens fremder Völker (und Götter!) inmitten des
Gebietes Israels. Offensichtlich gab es also unterschiedliche dtr Vorstellungen von der
Landnahme.
– Augenscheinlich werden auch zur Institution des Königtums unterschiedliche Posi-
tionen vertreten, die sich nicht auf Unterschiede zwischen Quelle(n) und Redaktion
zurückführen lassen. In 1Sam 7–12 scheint innerhalb dtr Textpartien für und gegen
die Staatlichkeit Israels und das Königtum Stellung bezogen zu werden.
– In der dtr Reflexion über den Untergang des Nordreichs 2Kön 17,7–20, einem zen-
tral dtr Text, gibt es mancherlei Wiederholungen und Spannungen, die daran denken
lassen, dass hier mehrere Hände beteiligt waren; z. B. erscheinen die Propheten bald
als Warner, Mahner, Bußprediger, die das Unheil hätten verhindern sollen, bald als
Unheilskünder, die es lediglich anzukündigen hatten.
– Unausgeglichenheiten sind auch im Blick auf das Ende Judas zu verzeichnen. Wird
überhaupt generell in den als redaktionell einzuschätzenden Partien mit den katastro-
phalen Ereignissen von 587/86 gerechnet? Wenn ja, ist dieses dann als endgültiger Ge-
schichtsabbruch gesehen, oder besteht Hoffnung auf einen Neuanfang nach dem
Ende? Wie ist zu verstehen, dass in augenscheinlich dtr Kontexten von der „ewigen“
Daviddynastie und von der bleibenden Erwählung Jerusalems die Rede ist (z. B. 2Sam
7,24f.29; 2Kön 19,34), obwohl in 2Kön 25 der Untergang von beidem berichtet wird?

Diese und ähnliche Spannungen waren gewiss mitursächlich für die oben skiz-
zierten Bestreitungen der Theorie Noths; sie haben indes auch zu Versuchen
geführt, diese zu differenzieren.

3. Differenzierung

Wer einerseits die Argumente für einen von Dtn bis 2Kön reichenden literari-
schen Zusammenhang für überzeugend, andererseits aber die innerhalb dieses
Textbereichs beobachtbaren Spannungen für zu gravierend hält, um mit nur
einem einzigen Verfasser bzw. Redaktor zu rechnen, wird erwägen, ob nicht
mehrere Autoren an dem Werk beteiligt gewesen sein könnten. Diese Möglich-
keit befürworten derzeit wohl die meisten Fachleute. Das Problem ist freilich,
dass sie sich nicht darauf verständigen können, wie viele Autoren wann und mit
welchen Mitteln und Absichten ans Werk gegangen sind. Vielmehr häufen sich
die Vorschläge mittlerweile derart und laufen so weit auseinander, dass der Be-
trachter darob nicht nur den Überblick, sondern auch Geduld und Zutrauen
verlieren kann.

Ein wenig zu dramatisch könnte man es den Fluch der freien kritischen Wissenschaft
nennen, dass sie zu jeder größeren Thematik eine tendenziell unendliche Zahl von
Thesen hervorzubringen vermag. Die Frage ist, ob und wie sich die Thesenflut ein-
grenzen und kontrollieren lässt. Wo es um die Entstehung eines offensichtlich nicht
unkomplizierten antiken Textes geht und die hierzu aufgestellten Hypothesen kaum
mehr anders geprüft werden können als an ihrer inneren Plausibilität und an dem be-
I. Die Hypothese vom deuteronomistischen Geschichtswerk 179

treffenden Text selbst, ist auf eindeutige und unwiderlegliche Ergebnisse allenfalls in
Teilbereichen zu hoffen. Immerhin, es gibt Seitentexte zu diesem Text. Es gibt er-
probte Techniken der Textanalyse. Es gibt auch geschichtliche und literaturgeschicht-
liche Rahmenbedingungen, die nicht jede beliebige Texthypothese zulassen. Anderer-
seits sollten keine unsachgemäßen Maßstäbe angelegt werden. Texttheorien lassen
sich oft nicht als richtig oder falsch beurteilen, sondern nur als mehr oder weniger
wahrscheinlich. Entsprechend ist in Textwissenschaften Einstimmigkeit unter den
Forschenden kaum zu erreichen, wohl nicht einmal erstrebenswert. Indessen mag es
hilfreich sein, wenn sich die Vielzahl von Positionen und Meinungen auf bestimmte
Grundmodelle zurückführen lässt. In diesem Sinne ist der folgende, im Prinzip nicht
neue Versuch einer Einteilung zu verstehen.

a) Das sog. „Blockmodell“

H. WEIPPERT, Die „deuteronomistischen“ Beurteilungen der Könige von Israel und Juda und das
Problem der Redaktion der Königsbücher: Bibl 53 (1972), 301–339. – F. M. CROSS, The Themes of
the Book of Kings and the Structure of the Deuteronomistic History, in: Ders., Canaanite Myth and
Hebrew Epic. Essays in the History of the Religion of Israel, Cambridge, MA 1973, 274–289. – R.
NELSON, The Double Redaction of the Deuteronomistic History (Diss. 1973; gedruckt erst) 1981,
2
1983 (JSOT.S 18). – R. E. FRIEDMAN, The Exile and Biblical Narrative. The Formation of the Deute-
ronomistic and Priestly Works, 1981 (HSM 22). – I. PROVAN, Hezekiah and the Book of Kings, 1988
(BZAW 172). – N. LOHFINK, Kerygmata des Deuteronomistischen Geschichtswerks (1981), in: Ders.,
Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur II, 1991 (SBAB 12), 125–142. –
S. L. MCKENZIE, Art. „Deuteronomistic History“: ABD 2, 1992, 160–168. – G. N. KNOPPERS, Two
Nations under God, 2 Bde., 1993/4 (HSM 52.53). – A. F. CAMPBELL / M. A. O’BRIEN, Unfolding the
Deuteronomistic History. Origins, Upgrades, Present Text, Minneapolis MN 2000. – J. C. GEO-
GHEGAN, The Time, Place, and Purpose of the Deuteronomistic History. The Evidence of „Until This
Day“, Providence 2006 (Brown Judaic Studies 347). – S. JOO, Provocation and Punishment. The
Anger of God in the Book of Jeremiah and Deuteronomistic Theology, 2006 (BZAW 361). – K.
SCHMID, Hatte Wellhausen Recht? Das Problem der literarhistorischen Anfänge des Deuteronomis-
mus in den Königsbüchern, in: M. Witte u. a. (Hg.), Die deuteronomistischen Geschichtswerke.
Redaktions- und religionsgeschichtliche Perspektiven zur „Deuteronomismus“-Diskussion in Tora
und Vorderen Propheten, 2006 (BZAW 365), 19–44. – B. SCHMITZ, Prophetie und Königtum. Eine
narratologisch-historische Methodologie entwickelt an den Königsbüchern, 2008 (FAT 60). – T. W.
MANN, The Book of the Former Prophets, Eugene, Ore. 2011. – H.-J. STIPP, Ende bei Joschija. Zur
Frage nach dem ursprünglichen Ende der Königsbücher bzw. des deuteronomistischen Geschichts-
werks, in: Ders. (Hg.), Das deuteronomistische Geschichtswerk, 2011 (ÖBB 39), 225–268.

Das „Blockmodell“ rechnet im Grundsatz damit, dass das dtr Geschichtswerk


sich aus mehreren, zu verschiedenen Zeiten entstandenen Blöcken zusammen-
setzt. Wichtig ist, dass einer dieser Blöcke (oder auch zwei) noch aus der Königs-
zeit datieren, während ein weiterer in der Exilszeit hinzukam. Das bedeutet, dass
Noths Annahme eines einzigen Verfassers aufgegeben und ein (mehr oder min-
der großer) Teil der Redaktion in die vorexilische Zeit zurückverlegt ist.

– CROSS war der Initiator dieser Denkrichtung (wobei ihm freilich große Gelehrte aus
früheren Epochen der Forschungsgeschichte – Heinrich Ewald, Abraham Kuenen, Ju-
lius Wellhausen – in wesentlichen Punkten vorausgegangen waren). Cross’ Argu-
mentation ist nicht eigentlich literar(krit)isch, sondern rein inhaltlich-sachlich: Das
Geschichtswerk laufe nicht in toto auf den Geschichtsabbruch von 587/86 zu, sondern
180 C. Die Vorderen Propheten

blicke überwiegend positiv auf die Vergangenheit zurück und optimistisch in die Zu-
kunft voraus. Namentlich die Weissagung von der Ewigkeit der Daviddynastie 2Sam 7
werde nirgendwo zurückgenommen. Im Gegenteil, in der höchst positiven Darstel-
lung einiger Davididen, namentlich Joschijas, werde die Verheißung gerade bestätigt.
Eine eindeutig düstere Sicht habe das Werk freilich vom Nordreich, das seit seiner
Gründung die „Sünde Jerobeams“ (den Kult in Bet-El und Dan) mitschleppe und an
ihr schließlich zugrunde gehe. Doch auch diese Negativ-Linie komme zwar in 2Kön
17 zu einem negativen, in 2Kön 23 aber zu einem positiven Ziel, indem dort Joschija
den Schand-Altar Jerobeams in Bet-El entweiht. Nach Joschija freilich zeichne sich
eine tiefe Zäsur ab. Seine sämtlichen Nachfolger würden nur noch knapp und scharf
verurteilt, und auf den rasanten inneren folge fast zwangsläufig der äußere Nieder-
gang. Dieser zweite, kleine „Block“ ist um die Mitte der Exilszeit angefügt worden.
Das Hauptwerk indes entstand zur Zeit Joschijas als „a propaganda work of the Josia-
nic reformation and imperial program“.

– NELSON führte die holzschnittartige Skizze seines Lehrers Cross näher aus. Nach
einer kurzen Auseinandersetzung mit der seinerzeit schon geleisteten Forschung führt
er eine Reihe von Gründen auf, warum es eine erste Ausgabe des Geschichtswerks
schon in vorexilischer Zeit gegeben habe müsse: die mehrfach auftauchende Formel
„bis auf diesen Tag“, mit der auf keineswegs erst exilszeitliche Sachverhalte und Bräu-
che hingewiesen werde; die Unwahrscheinlichkeit, dass man im Exil so viele Ge-
schichtsquellen zur Hand gehabt hätte; das Fehlen einer theologischen Reflexion auf
das Ende des Südreichs in 2Kön 25 – wenn dies denn das Ziel des Gesamtwerks gewe-
sen wäre; das Vorhandensein literarischer Doppelungen und Widersprüche; vor
allem: die unbedingten dynastischen Verheißungen, die nicht mit dem Ende der Herr-
schaft des Davidhauses rechneten; schließlich: der Gesamtduktus, der bis hin zu König
Manasse (2Kön 21) nicht an ein unausweichlich bevorstehendes Gericht denken lasse.
Sodann hebt Nelson hervor, dass die Königsformeln bis zu Joschija eine hohe Flexibi-
lität erkennen ließen, danach aber nur noch starr und abschätzig wirkten. Freilich sei
die zweite, pessimistische Redaktion nicht nur in dem letzten, kurzen „Block“ ab Jo-
schijas Tod zu spüren, sondern schon viel früher (womit die Bezeichnung „Blockmo-
dell“ etwas fragwürdig wird). Ihre Kennzeichen seien eine Neigung zu Wortkargheit
und verkürzender Darstellung (vgl. etwa die Knappheit von 2Kön 25,22–26 gegenüber
Jer 40f.); eine krass negative Bewertung des Königtums (schon in 1Sam 8!); das Einbe-
ziehen des Volkes in die Sündenlast, die zum bitteren Ende führte; die Ankündigun-
gen eben dieses Endes schon lange vor seinem Eintreffen (etwa in Dtn 4; 29; Jos 23; Ri
*1f.; 1Kön 8,44ff.; 9,6ff.; 2Kön *17; 21,3.10–15; 23,4b.5.19f.25–30). Demgegenüber
glaube der erste Dtr fest an die unverbrüchliche Zukunft der Daviddynastie (2Sam 7;
1Kön 11,36; 2Kön 8,19); eine Konditionierung der Davidverheißung kenne er nur für
die Salomozeit, und dort ziele sie nicht aufs Exil, sondern auf die Reichsteilung.

– FRIEDMAN versuchte einem kleinen, aber auffälligen Manko des Blockmodells abzu-
helfen: dass nämlich der angeblich so negativ gefärbte zweite Block mit einem doch
positiv wirkenden Abschnitt wie dem über die Begnadigung des exilierten Königs Jo-
jachin (2Kön 25,27–30) endet. Diesen Passus erklärt er kurzerhand zu einem tertiären
Anhang an den sekundären Block. Zu dessen Absicherung sucht er noch ein paar
weitere Beobachtungen beizutragen: dass nach dem Abschnitt über Joschija David
nicht mehr als Idealkönig aufgerufen werde oder dass das Schema Verheißung bzw.
Drohung und Erfüllung nicht mehr in Erscheinung trete.
I. Die Hypothese vom deuteronomistischen Geschichtswerk 181

– Helga WEIPPERT begründete die Theorie einer nicht nur zwei-, sondern dreistufigen
Entstehung der Königsbücher. Der früheste Block, 1Kön 21,41–2Kön 17, stamme aus
der Zeit Hiskijas; er sei zur Zeit Joschijas erweitert worden zu 1Kön 11–2Kön 23,25,
und daran sei dann in der Exilszeit 2Kön 23,26–25,30 angefügt worden. Diese Blöcke
gäben sich durch voneinander abweichende Königsrahmen-Formeln zu erkennen.
Auch MANN rechnet mit einer ersten Redaktion zur Hiskija-Zeit, weist ihr aber ledig-
lich einzelne Texte zu, ohne ihre Gesamtkontur näher zu umreißen.
– PROVAN sieht gleichfalls in der Darstellung Hiskijas (2Kön 18–20) einen Wende-
punkt innerhalb des Geschichtswerks, freilich nicht im Sinne einer entstehungsge-
schichtlichen, sondern einer literarischen Zäsur: Der früheste „Block“ habe von 1Sam
1 bis 2Kön 20 gereicht, sei aber erst zur Joschijazeit entstanden. Mit ihm sollte der
junge Joschija zu jener Reform ermuntert werden, die dann im Jahr 622 stattfand.
Dieses Werk hatte eine positive Sicht der Geschichte Israels, am deutlichsten greifbar
in unkonditionierten Zusagen an das davidische Herrscherhaus. In der revidierten
Fassung aus der Exilszeit seien dann nicht nur einige Dynastieverheißungen nomis-
tisch konditioniert, es seien außer dem Block 2Kön 21–25 auch die königskritischen
Passagen in 1Sam 7–12 und das Richterbuch hinzugefügt und dadurch ein Anschluss
an den schon vorliegenden Block Dtn–Jos geschaffen worden.
– JOO meint die Aussagen des Geschichtswerks über Zorn und Strafe Gottes so vertei-
len zu können, dass in der vorexilischen Ausgabe die entsprechenden Akte von Men-
schenhand vorgenommen würden, während in der exilischen Ausgabe Gott selbst ge-
gen sein Volk vorgehe.
– SCHMITZ will aus dem Gegenüber von 1Kön 13 und 1Kön 22 – einmal wird von zwei
sich widersprechenden Prophetenworten eines als Lüge qualifiziert, das andere Mal
bleiben solche Worte unbewertet nebeneinander stehen – auf eine joschijazeitliche
(Dtr 1) und eine exilische (Dtr 2) Fassung des dtr Geschichtswerks schließen. Derar-
tige Schlüsse scheinen indes sehr gewagt.

Gewiss haben die genannten ForscherInnen – zusammen mit vielen anderen, vor
allem aus dem angloamerikanischen Raum, die mit den gleichen Prämissen ar-
beiten – zahlreiche zutreffende Textbeobachtungen zu Erklärungsmodellen zu-
sammengefügt, die das Zustandekommen des jetzt vorliegenden Textes von Dtn–
2Kön auf den ersten Blick einleuchtend erklären. Doch bei näherem Zusehen
weist dieser Ansatz markante Schwächen auf:
– Für den Nachweis der postulierten „Blöcke“ bzw. Textebenen müssten Risse
bzw. Nähte zwischen ihnen glaubhaft nachgewiesen werden. Viele der vorhin
genannten Indizien lassen sich aber als Variationen innerhalb ein und derselben
Textstufe erklären. Augenfällig ist das etwa bei den Königsrahmen-Formeln:
Gewiss weisen sie Unterschiede auf, doch diese rechtfertigen nicht die Behaup-
tung tiefer Zäsuren gerade hinter Hiskija oder Joschija.
– Ein Motiv dafür, eine dtr Grundschicht schon für die vorexilische Zeit anzu-
nehmen, ist ausgesprochen oder unausgesprochen der Wunsch, möglichst breite
Textpartien der (relativen) Spätdatierung durch Noth zu entziehen und sie
dadurch als verlässliche Geschichtsquellen für die Königszeit zu gewinnen. Wäh-
rend Noths „Dtr“ – unbeschadet seines Rückgriffs auf ältere Quellen – ein Literat
182 C. Die Vorderen Propheten

und Geschichtstheologe war, der auf die staatliche Epoche aus zeitlicher und mit
innerer Distanz zurückblickte, wird „Dtr I“ im sog. Block-Modell zu deren un-
mittelbarem und positivem Zeugen.
– Es scheint naheliegend, ist in Wahrheit aber epistemologisch wie auch theolo-
gisch bedenklich, biblische Texte (oder auch Textstufen) jeweils aus der Zeit
herleiten zu wollen, in der sie so etwas wie die mutmaßliche communis opinio
darstellen. Düstere Gedanken können jedoch nicht nur in düsteren Zeiten auf-
kommen und Hoffnungen nicht nur in hoffnungsvollen. Konkret: Positive Aus-
sagen über das Königtum oder die Daviddynastie müssen nicht aus der vorexili-
schen, genauer noch: aus der Zeit des (angeblich) erfolgreichen Königs Joschija
stammen; und umgekehrt müssen nicht alle Juden in der Exilszeit negativ und
pessimistisch eingestellt gewesen sein. Der Erste und der Zweite Jesaja sind ge-
rade Gegenbeispiele. Auch dtr Autoren sollte man nicht von vornherein für
Sprachrohre der (vermeintlich) vorherrschenden Zeitstimmung halten: unter
Joschija Propagandisten der Expansion, in der Exilszeit Propagandisten der De-
pression. Warum sollte nicht gerade das Umgekehrte richtig sein: dass die dtr
Geschichtsschreiber die jeweiligen Zeitumstände kritisch reflektierten und gewis-
sermaßen antizyklisch interpretierten?
– CROSS zeichnete in der noch sehr einfachen Ausführung seines Modells scharf
geschnittene „Blöcke“: einen großen bis Joschija und einen kleinen ab Joschija.
Seine Nachfolger suchen und finden die Nach-Joschija-Stufe auch schon in den
Vor-Joschija-Stoffen; die überall im Geschichtswerk wahrnehmbaren Spuren des
Exils zerstören die vermeintlich propagandistisch-glatte Oberfläche der ersten
Blocks. Eigentlich weicht der Charakter des ursprünglichen Blockmodells mehr
und mehr dem eines Schichtmodells: Jedenfalls für die Zeit bis Joschija (oder
Hiskija) gibt es eine vorexilische und eine exilische Textschicht, und nur in den
letzten Kapiteln von 2Kön dominiert eindeutig die letztere (wozu dann freilich
der letzte Abschnitt, 2Kön 25,27–30, in seiner optimistischen Tendenz nicht
recht passt). Damit aber hat man es in Wahrheit nicht mehr mit einem „Block“-
Modell zu tun, sondern mit übereinander gelagerten, älteren (vorexilischen) und
jüngeren (exilischen) Textschichten, also im Wesentlichen einem „Schicht“-
Modell.

Methodisch gelangt man damit in unmittelbare Nähe des zweiten, jetzt zu be-
sprechenden Modells, ja, etwas zugespitzt ließe sich sagen: Es gibt zur Differen-
zierung der Noth’schen Hypothese eigentlich nur Schichtmodelle; die Alternative
liegt wesentlich nur in der zeitlichen Ansetzung: vorexilisch-exilisch oder exi-
lisch-nachexilisch.
I. Die Hypothese vom deuteronomistischen Geschichtswerk 183

b) Das sog. „Schichtmodell“

R. SMEND, Das Gesetz und die Völker. Ein Beitrag zur deuteronomistischen Redaktionsgeschichte, in:
H. W. Wolff (Hg.), Probleme biblischer Theologie, FS G. von Rad, München 1971, 494–509 = Ders.,
Die Mitte des Alten Testaments. Gesammelte Studien, 1986 (BEvTh 99), 124–137. – W. DIETRICH,
Prophetie und Geschichte. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung zum deuteronomistischen
Geschichtswerk, 1972 (FRLANT 108). – T. VEIJOLA, Die ewige Dynastie. David und die Entstehung
seiner Dynastie nach der deuteronomistischen Darstellung, 1975 (AASF.B 193). – T. VEIJOLA, Das
Königtum in der Beurteilung der deuteronomistischen Historiographie. Eine redaktionsgeschichtli-
che Untersuchung, 1977 (AASF.B 198). – R. SMEND, Die Entstehung des Alten Testaments, Stuttgart
1978, 41988, § 19. – W. ROTH, Art. Deuteronomistisches Geschichtswerk / Deuteronomistische
Schule: TRE 8, 1981, 543–552. – E. WÜRTHWEIN, Studien zum Deuteronomistischen Geschichtswerk,
1994 (BZAW 227). – P. S. F. VAN KEULEN, Manasseh through the Eyes of the Deuteronomists. The
Manasseh Account (2 Kings 21:1–18) and the Final Chapters of the Deuteronomistic History, 1996
(OTS 38). – J. PAKKALA, Intolerant Monolatry in the Deuteronomistic History, Helsinki/Göttingen
1999. – J. NENTEL, Trägerschaft und Intentionen des deuteronomistischen Geschichtswerks. Unter-
suchungen zu den Reflexionsreden Jos 1; 23; 24; 1 Sam 12 und 1 Kön 8, 2000 (BZAW 297). – T.
VEIJOLA, Moses Erben. Studien zum Dekalog, zum Deuteronomismus und zum Schriftgelehrtentum,
2000 (BWANT 149). – W. DIETRICH, Von David zu den Deuteronomisten. Studien zu den Ge-
schichtsüberlieferungen des Alten Testaments, 2002 (BWANT 156). – B. W. MATYSIAK, Das deute-
ronomistische Geschichtswerk und sein Kerygma: Scriptura Sacra 12 (2008), 55–77. – W. DIETRICH,
Vielfalt und Einheit im deuteronomistischen Geschichtswerk, in: J. Pakkala / M. Nissinen (Hg.),
Houses Full of All Good Things. Essays in Memory of Timo Veijola, Helsinki/Göttingen 2008, 169–
183 = Ders., Die Samuelbücher im deuteronomistischen Geschichtswerk, 2012 (BWANT 201), 13–24.

Das hier zu beschreibende Modell weist zwei Hauptkennzeichen auf: Es rechnet


(entgegen dem Blockmodell, aber übereinstimmend mit Noth) nicht mit einer
ersten Redaktion des dtr Geschichtswerks in vorexilischer Zeit, sondern (abwei-
chend von Noth, aber in einer gewissen Nähe zum modifizierten Blockmodell)
mit mehreren redaktionellen Bearbeitungen ab der mittleren Exilszeit. Alle Ver-
treter dieser Hypothese unterscheiden von einer ersten Fassung des Werkes, die
bald nach 562 v. Chr. entstand, bereits den Grundbestand von Dtn 1 bis 2Kön 25
umfasste und das Siglum DtrH trägt (für einen vom Dtn geprägten Historiker),
eine spätere Redaktionsphase, die in spätexilischer und/oder nachexilischer Zeit
erfolgte, allen Nachdruck auf die genaue Einhaltung der dtn Tora legte und das
Siglum DtrN trägt (für einen auf dem Dtn basierenden Nomismus). Zwischen
diesen beiden Redaktionsschichten sehen einige Vertreter der Hypothese eine
dritte, welche verstärkt prophetische Traditionen in das Werk einbrachte und
selber Texte prophetischen Inhalts hinzufügte und darum das Siglum DtrP trägt
(für einen Dtn und Prophetie verbindenden Deuteronomismus).

– SMEND gab im Jahr 1971 den Anstoß zu dieser Forschungsrichtung, indem er nach-
wies, dass es an den Übergängen vom Dtn zu Jos und von Jos zu Ri innerhalb klar dtr
Textpassagen divergierende Auffassungen von der Landnahme gibt: einmal erscheint
sie als total und radikal, das andere Mal als partiell und tendenziell eher friedlich.
Diese zweite Auffassung wertet eine Liste uneroberter Städte in Ri 1 geschichtstheolo-
gisch dahingehend aus, Gott habe durch die im Land belassenen Nicht-Israeliten Is-
rael auf seine Verlässlichkeit und Gesetzestreue prüfen wollen. Dieser Akzent auf dem
Gesetz und seiner gehorsamen Erfüllung findet sich ebenso in Jos 23 und Jos 1,7f. Ge-
184 C. Die Vorderen Propheten

rade die letzte Stelle ist aufschlussreich: Erscheint in ihr Josuas und Israels Erfolg als
nur bedingt, so enthält eine ältere dtr Schicht in Jos 1,1–6 eine unbedingte Verhei-
ßung. Die zweite (in sich übrigens nicht unbedingt einheitliche!) Textschicht setzt
deutlich die erste voraus, knüpft an sie an, verschiebt aber ihre Aussage in eine signifi-
kant andere Richtung. Damit war die Idee des Nacheinanders einer „historischen“
und einer „nomistischen“ Redaktion geboren.
– DIETRICH fand diese Stufung in den Königsbüchern bestätigt, verfolgte sie dort aber
nicht fortlaufend, sondern nur von Fall zu Fall. (Neuerdings wurde dies, unter Aus-
wertung weiterer Arbeiten auf der Basis des Schichtmodells, nachgeholt: 2002, 252–
271.) Das Hauptaugenmerk richtete sich freilich auf ein anderes Phänomen: die starke
Präsenz der Prophetie im Geschichtswerk. Neben älterem prophetischem Überliefe-
rungsgut fällt eine größere Zahl stereotyp formulierter Texte ins Auge, die ein pro-
phetisches und dtr Mischvokabular aufweisen und sich der Sache nach immer kritisch
mit verschiedenen Königshäusern, darunter auch dem davidischen, auseinanderset-
zen, also eine dezidiert antimonarchische Färbung aufweisen. Auffällig ist ferner eine
stets wiederkehrende Struktur Weissagung-Erfüllung, die auf ein mit Dtn 18,15–22
zusammenhängendes Prophetenbild schließen lässt. Diese Sicht von Prophetentum sei
dem Geschichtswerk sekundär – nicht schon auf der Stufe von DtrH, aber auch nicht
erst auf der von DtrN – implantiert worden. Mittlerweile (2002, 236–251) meint Diet-
rich, auch die gesamte Elija- und Elischa-Überlieferung habe nicht schon DtrH, son-
dern erst DtrP aufgenommen. Und die anfänglich behauptete relativ frühe Ansetzung
der drei Bearbeitungen auf Anfang, Mitte und Ende der Exilszeit ist nunmehr ersetzt
zugunsten einer Datierung von DtrH auf die mittlere, von DtrP auf die späte Exilszeit
und von DtrN auf die frühnachexilische Zeit.
– VEIJOLA hat das „Schichtmodell“ auf die Bücher Ri und Sam ausgedehnt, wobei die
Haltung gegenüber dem Königtum als Leitfaden diente. Den in dieser Frage zentralen
Abschnitt 1Sam 7–12 hatte Noth aufgeteilt auf ältere, königsfreundliche Überlieferun-
gen und die königsfeindliche Bearbeitung durch „Dtr“. Veijola hingegen ortet die
antimonarchische Haltung erst bei DtrN, während DtrH – wohlgemerkt: nach dem
Untergang des Staates! – promonarchisch gesinnt war. Ihm seien königs- bzw.
dynastiefreundliche Passagen nicht nur in 1Sam 8 und 10,17ff., sondern auch im sog.
Anhang des Richterbuchs Ri 17–21 sowie in den Davidgeschichten zuzuweisen; die
um die Natan-Weissagung 2Sam 7 zentrierte Vorstellung einer „ewigen Dynastie“ sei
ein Proprium gerade von DtrH. Die königtumskritischen Passagen nicht nur in 1Sam
8, 10 und 12, sondern etwa auch in Ri 8f. und in 1Kön 2,2b–4 seien erst von DtrN ein-
gefügt worden. Diesem habe in Sachen Königtumskritik bereits DtrP vorgearbeitet,
den Veijola – teilweise mit Dietrich – in 1Sam 3,11–14; 15; 28; 2Sam 12; 24 am Werk
sieht. In neueren Arbeiten hat Veijola jene Schichten auch im Dtn festgestellt, neben
ihnen aber auch eine gewichtige „bundestheologische Redaktion“ (DtrB), die noch
nach DtrN anzusetzen sei (2000, 153–175) und eine unmittelbare überlieferungs- und
theologiegeschichtliche Brücke bilde zum Schriftgelehrtentum eines Esra oder auch
Ben Sira (2000, 192–240). Veijolas Sicht der Dinge ist von erheblicher Tragweite. Zur
Mitte der Exilszeit noch hätte DtrH recht positiv, fast hoffnungsvoll über die Institu-
tion des Königtums gedacht und geschrieben – wie ihm das die älteren Quellen ja
auch vorgaben. Gegen Ende der Exilszeit und danach jedoch hätte sich im Deutero-
nomismus eine königs- und staatsfeindliche Tendenz durchgesetzt, die bereits die
nicht mehr staatlich organisierte Tempelgemeinde und das orthodoxe Frühjudentum
ahnen lässt.
I. Die Hypothese vom deuteronomistischen Geschichtswerk 185

Das Schichtmodell, das seine Anhängerschaft vor allem in Europa, speziell im


deutschsprachigen Raum, gefunden hat, vermag wie das Blockmodell eine Viel-
zahl von Textphänomenen zu erklären. Gewinnend ist insbesondere die Öffnung
der dtr Epoche nach unten, zum nachexilisch-persischen Zeitalter hin, das für die
alttestamentliche Literarbildung mindestens ebenso produktiv gewesen ist wie
das exilisch-babylonische. Doch damit beginnen auch schon die Probleme des
Modells.
– Die von Anfang an vorhandenen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung und
Profilierung speziell der DtrN-Schicht – wie viele Hände waren an ihr beteiligt?
wie lange Zeit war sie wirksam? – führen bei manchen Autoren dazu, dass sie
eher an tendenziell zahllose Einzelfortschreibungen denken als eine oder zwei
kohärente Gesamtbearbeitungen des Geschichtswerks (z. B. WÜRTHWEIN, auch
NENTEL, der statt von DtrN von einer spät-dtr Redaktionsschicht DtrS spricht,
der er recht viele und diverse Texte zuweist).
– Viele Forscher – auch solche, die dem Schichtmodell mit Sympathie gegen-
überstehen (z. B. VAN KEULEN) – bekunden Mühe damit, DtrP als eigene, von
DtrH abgrenzbare Bearbeitungsschicht zu identifizieren. Ist es denkbar, dass das
Grundwerk noch keine oder nur ganz wenige prophetische Texte enthielt? Sind
die Nähte, die auf deren nachträgliche Einfügung weisen, deutlich genug?
Könnte DtrH nicht die Geschichte bewusst auch aus prophetischem Blickwinkel
gesehen und geschildert haben? Könnte er nicht gegenüber Königtum und Staat
ambivalente Empfindungen gehabt und deshalb in seinem Werk prodynastische
und königskritische Texte gemischt haben?
– Überhaupt erhebt sich gegenüber dem Schicht- wie gegenüber dem Blockmo-
dell die kritische Frage, ob derartige literarkritische Scheidungen zwischen Auto-
ren, die letztlich ja eines Sinnes, nämlich allesamt vom Dtn geprägt waren, mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit möglich und in der Abwägung von Aufwand
und Ertrag nützlich sind.
Vielleicht liegt die Lösung ja darin, zwischen den beiden Grundmodellen einen
gemeinsamen Nenner zu suchen und diesen als Erklärungsmodell für die Entste-
hung des dtr Geschichtswerks zu nehmen?

c) Kompromissmodelle

A. D. H. MAYES, The Story of Israel between Settlement and Exile. A Redactional Study of Deutero-
nomistic History, London 1983. – M. A. O’BRIEN, The Deuteronomistic History Hypothesis: A
Reassessment, 1989 (OBO 92). – T. RÖMER, The So-Called Deuteronomistic History. A Sociological
and Literary Introduction, London / New York 2005/2007.

Gelegentlich wird versucht, zwischen den vorgestellten Alternativen Kompro-


misse zu finden. In der Regel läuft dies darauf hinaus, den DtrH des Schicht-
modells mit dem joschijanischen Redaktor des Blockmodells, dessen zweiten,
186 C. Die Vorderen Propheten

exilischen Redaktor aber mit der DtrN-Schicht gleichzusetzen. (DtrP geht dabei
verloren.)

– MAYES setzt beim Dtn ein. Dessen Grundbestand – die Gesetzessammlung mit eini-
gen predigtartigen Applikationen (Dtn 6–25) – sei zur Zeit Joschijas von einem „dtr
Historiker“ (unschwer erkennt man DtrH) durch Geschichtsrückblicke gerahmt (Dtn
1–3; *5; *31; *34) und in dieser Fassung zum Auftakt des von ihm beabsichtigten Ge-
schichtswerks gemacht worden. Nun enthalte aber Dtn neben ‚historischen‘ auch aus-
gesprochen ‚nomistische‘ Passagen (z. B. in Dtn 4; 28–30), die von einem jüngeren
„deuteronomistic editor“ (leicht identifizierbar mit DtrN) eingefügt worden seien.
Dessen Hauptthemen seien die unmittelbare und enge Verbindung zwischen JHWH
und Israel, die Erwählung und der Bund; darin komme er Deuterojesaja so nahe, dass
er als exilisch einzustufen sei. Diese beiden Redaktionsfäden setzten sich nach dem
Dtn fort: in Jos und Ri in Gestalt der von Smend entdeckten beiden Schichten, in den
Samuel- und Königsbüchern u. a. in 1Sam 7–12 (hier folgt Mayes ein Stück weit Vei-
jola) und 2Kön 17 (der Reflexion auf den Untergang Nordisraels). Die Propheten-
reden in 2Kön 21,10–15; 22,16–20 gingen auf das Konto nicht etwa eines DtrP, son-
dern des exilischen „editor“ – genauso wie der gesamte Abschluss des Königsbuches
von 2Kön 23,26 an (der zweite ‚Block‘ des Blockmodells).

– O’BRIEN übt in einem Forschungsüberblick Kritik sowohl am Block- wie am


Schichtmodell und versucht sich an einem „reassessment“ des Problems. Gleich zu
Eingang präsentiert er dann in Gestalt einer Struktur-Tabelle, was er zur Erstausgabe
des Geschichtswerks rechnet: den Grundbestand von Dtn 1 bis 2Kön 23,23 (womit die
joschijanische Ansetzung bereits deklariert ist); durch Textlücken in der Tabelle wer-
den spätere Erweiterungen des Grundtextes signalisiert (natürlich aus exilischer Zeit).
Die Einzeluntersuchung ergibt, dass der Erstverfasser, „DTR“, eine Reihe teils um-
fangreicher Quellen aufnahm: das Dtn, Erzählungen über die Landnahme in Jos 1–12,
eine schon mehrfach redigierte Geschichte der Richterzeit (Ri 2–9 – also einschließ-
lich des Schuld-Strafe-Schemas in Ri 2), einen von 1Sam 1 bis 2Kön 10 reichenden
„Prophetic Record“ (dies ist eine Anleihe bei Campbell), der seinerseits bereits nach
722 um die „Tagebücher der Könige von Israel“ erweitert worden sei, und schließlich
ein judäisches Dokument über die Südreichs-Könige von der Reichsteilung bis His-
kija. In dieses Quellenmaterial brachte DTR spezifisch dtn-dtr Themen ein, nament-
lich den zentralisierten, reinen Jhwh-Kult; Gottvertrauen statt Kriegslust; David als
Ideal-König; die Herrschaft Salomos als Schlusspunkt der Landeroberung
und -sicherung, aber auch als Übergang zu neuer Gefährdung; die Geschichte der Kö-
nigszeit betont auch als eine solche des Volkes Israel; ein in der Geschichte funktionie-
rendes Schema Weissagung-Erfüllung (den Dietrich’schen DtrP). Damit ist bereits ein
Großteil dessen, was im Einheits- wie im Schichtmodell als exilisch angesprochen
wird, für die vorexilische Zeit reklamiert. Dann aber kommt das Schichtmodell doch
noch und in überraschender Weise zum Zuge: Für die exilische und frühnachexilische
Zeit rechnet O’Brien mit drei redaktionellen Bearbeitungen, die er ausdrücklich mit
DtrH, DtrP und DtrN in Beziehung setzt: Bald nach 587 habe ein erster Ergänzer die
Geschichte über Joschijas Tod und die dann noch folgenden vier Könige hinweg bis
2Kön 25,21 weitergeschrieben; theologisch hatte er nicht viel zu sagen, das nach Jo-
schija nicht zu erwartende Desaster verschlug ihm gewissermaßen die Sprache. Neue
theologische Kategorien entwickelte erst der nächste Bearbeiter: Er trug durch pro-
phetische Ankündigungen (2Kön 21,10ff.; 22,19f.) die Perspektive des Exils in die
Darstellung Manasses und Joschijas ein, schuf die Klammer zwischen 1Kön 13 und
I. Die Hypothese vom deuteronomistischen Geschichtswerk 187

2Kön 23,16ff. und brachte noch weitere Beispiele für die Entsprechung von Weissa-
gung und Erfüllung, wobei ein „anti-monarchical“ Affekt unverkennbar sei (deutlich
Dietrichs DtrP). Dieser Bearbeiter wagt Negatives nicht nur über nordisraelitische
Könige und den Davididen Manasse, sondern auch über andere Mitglieder der Da-
viddynastie zu sagen (sogar über Hiskija, was DTR niemals eingefallen wäre). Dem
dritten Bearbeiter schließlich werden Texte zugeschrieben, die im Schichtmodell für
DtrN reserviert sind, u. a. Dtn 4; 29f.; Jos 1,7–9; 23; 1Sam 12; 2Kön 17,7–19.

– RÖMER entwirft das Bild eines dreifach geschichteten Werkes; die erste Fassung wäre
in der Zeit Joschijas (um 620 v. Chr.), die zweite in der (früheren) Exilszeit, die dritte
in der (frühen) nachexilischen Zeit entstanden. Die Verfasserschaft ist eine „deutero-
nomistische Schule“, die sich im 7. Jh. in hohen höfischen Kreisen, namentlich bei den
Schreibern, herausbildete; vor allem Namen wie die in 2Kön 22,8ff. genannten Hilkija
und Schafan rechnet RÖMER hierher. Dieser Kreis sei mit der ersten Deportationswelle
im Jahr 597 nach Babylon verschleppt worden und habe dort weiter gearbeitet. Ihre
Nachkommen hätten als Angehörige der intellektuellen Elite noch zur Perserzeit das
geistige Erbe ihrer Vorfahren weiter gepflegt, ehe es um 400 v. Chr. hinter die sich
herausbildende Tora zurücktrat und sich nach und nach in eine Mehrzahl von Bü-
chern zergliederte, die wir heute im Kanon vorfinden.
– Die erste, joschijanische Version der dtr Geschichtsschreibung bestand noch nicht
aus einem durchgehenden Werk, sondern aus mehreren Teilstücken: einem Kern-
Deuteronomium (Dtn *6–28), einem Ur-Josuabuch (Jos *5–12 [*13–21]) und einem
ersten Könige-Buch (*1Sam 1 – 2Sam 8 plus 1Kön *3–11 plus eine relativ knappe
Chronik der israelitischen und judäischen Könige in *1Kön 12,1 – 2Kön 23,15). Er-
kennungsmerkmal ist das Vorhandensein ähnlicher Literaturgattungen – Vertrags-
texte, Eroberungsschilderungen, Annalen – bei den Assyrern; diese waren bis in die
Frühzeit Joschijas Besatzungsmacht in Juda, und von ihnen setzte man sich mit einem
national-judäischen Restaurationsprogramm ab. So stellen diese Werke im Grunde
Propagandaliteratur des Jerusalemer Hofes dar.
– Die zweite, exilische Version ist das erste durchgehende dtr Geschichtswerk. Es ver-
knüpft die joschijanischen Teilwerke zu einer Geschichte Israels von der Landgabe bis
zum Landverlust. (Das Ende lag in 2Kön 25,21, der Nachricht von der Deportation
Judas.) Diese Zeitspanne wurde durch große Reden bzw. Summarien (Dtn *1–30; Jos
1; 23; Ri 2,6–3,6; 1Sam 12; 1Kön 8; 2Kön 17) in Epochen gegliedert [man sieht: RÖMER
mixt Vieles, was im Schichtmodell erst DtrN zugeschrieben wird, mit dem dortigen
DtrH]. Zudem waren manche Verbindungsstücke zwischen den früheren Werken erst
neu zu schaffen, namentlich die sog. Richterzeit, die eine dtr Erfindung unter Ver-
wendung älteren Materials ist. Die hauptsächlichen Erweiterungen auf dieser zweiten
Entstehungsstufe des dtr Geschichtswerks liegen in Dtn 1–3; 5; 17f.; 31,1–8; 34,*1–6;
Jos 1; 3f.; 6f.; *10f.; 23; *Ri 2–11; 1Sam 7; 8; 10,17–27; 12; 15; 1Kön 2,1–4; 3,1–15; 8;
9,1–9; *11; 16,23–34; *21; 22,39–54; 2Kön *1,1f.17f.; 3,1–3; 8,16–29; 9,1–10,36; *11f.;
17; *21–25. Die wichtigste inhaltliche Neuerung liegt in der Einbeziehung des Unter-
gangs von Jerusalem in die Geschichtsschau der Deuteronomisten. Es entsteht eine
Art Krisenliteratur, die der entmachteten judäischen Elite helfen soll, sich mit ihrem
Schicksal zurechtzufinden. Große Zukunftsentwürfe sind in dieser Situation nicht zu
erwarten.
– Die dritte, nachexilische Version bringt in das exilische Werk wesentlich drei Ge-
sichtspunkte ein, die für das werdende Judentum von Bedeutung sind: die Forderung
nach einer strikten Separierung des Jhwh-Volkes von seiner Umwelt; das Fortschrei-
ten von einer Monolatrie (der Alleinverehrung Jhwhs, ohne dass die Existenz anderer
188 C. Die Vorderen Propheten

Götter bestritten wird) zu einem strikten Monotheismus (die Existenz anderer Götter
wird bestritten, jegliche Reverenz vor ihnen im Jhwh-Volk vehement bekämpft);
schließlich die Ausweitung des Horizonts über die (babylonische) Gola hinaus auf die
sich ausbreitende jüdische Diaspora. Die wichtigsten textlichen Erweiterungen liegen
vor in Dtn 4; 7; 10,14–22; 12,20–28; *14; 23,1–9; 30,1–14; Jos 22,9–34; 23,4–12; 1Kön
*8; 2Kön 25,27–30. Möglicherweise kam jetzt auch die David in ein ungünstiges Licht
rückende Erzählung von seiner Thronnachfolge hinzu (*2Sam 9–19).
– Das solchermaßen angewachsene dtr Geschichtswerk wurde ab 400 v. Chr., als das
Deuteronomium abgetrennt und der „Tora“ zugeschlagen wurde, in eine Reihe von
Büchern aufgegliedert. An den Buchrändern wuchsen weitere Materialien zu, die das
Bild eines durchlaufenden Geschichtswerks nachhaltig stören, insbesondere die An-
hänge an das Ri- und das Sam-Buch (Dtn *32–34; Jos 2; 24; Ri 1,1–2,5; [13–16;] 17–21;
1Sam *2; 2Sam 21–24). Auch die Erzählungen von der Lade (1Sam 4–6) sowie über
Elija und Elischa (*1Kön 17 – 2Kön 7) und über weitere Propheten (z. B. 1Kön 13; 20;
22) seien post-dtr Erweiterungen.

So löblich derartige Arbeiten in ihrer Irenik sind, sie wirken doch zuweilen etwas
generalistisch und können vor allem die Hauptdifferenz zwischen „Block“- und
„Schicht“-Modell nicht aus der Welt schaffen: Entweder gab es ein vorexilisches
dtr Geschichtswerk oder nicht. (RÖMER weicht dieser Frage etwas aus, indem er
für die Joschijazeit nicht ein Geschichtswerk, sondern mehrere Teilwerke postu-
liert.) Ein königszeitliches Geschichtswerk wäre von der Exilskatastrophe noch
unberührt und erfüllte damit das wesentlichste Grundkriterium nicht, das NOTH
für die Beschreibung des Werkes von „Dtr“ benannt hatte: die Verarbeitung eben
dieser Katastrophe. Das aber hat erhebliche, auch theologische Folgen: Es macht
einen gewaltigen Unterschied, ob eine Geschichtsschreibung als königliche Pro-
pagandaliteratur anzusprechen ist (so ausdrücklich auch RÖMER für seine frü-
heste Textschicht) oder als Versuch zum Verstehen und Bewältigen einer Krise,
die durch den Zusammenbruch von Königtum und Staat ausgelöst worden
ist.

4. Schlusserwägungen

Die vorangehende Darstellung der Forschungsdiskussion macht wenig Hoffnung


darauf, dass sich die wissenschaftliche Welt bald darüber wird verständigen kön-
nen, wie der Kanonteil „Vordere Propheten“ (inklusive Dtn) zustande gekom-
men ist. Man wird also auf absehbare Zeit mit einer gewissen Vielfalt an Erklä-
rungsmöglichkeiten und -versuchen zu leben haben. Allzu belastend muss man
das schon deswegen nicht finden, weil sich die Vorderen Propheten (und das
Dtn) auch ohne die ständige Frage nach ihrer möglichen Entstehung lesen – und
in gewissen Grenzen durchaus auch verstehen lassen. Ja, es besteht sogar der
Verdacht, dass eine zu starke Fixierung auf sog. diachrone Analysen den Blick
auf Vorzüge verstellt, die sog. synchrone Lektüren auch dieser biblischen Bücher
bieten. Das Urteil etwa über die literarische und theologische Qualität der David-
oder der Elija-Erzählungen ist nur in geringem Maße davon abhängig, dass man
I. Die Hypothese vom deuteronomistischen Geschichtswerk 189

weiß, wer sie wann und wo erzählt oder niedergeschrieben hat. Gleichwohl ist
die historische Tiefenschärfe, welche die diachrone Betrachtungsweise zu liefern
vermag, nicht nur für die Beantwortung historischer Fragen, sondern auch für
die Interpretation der Texte unverzichtbar. Für deren Verständnis ist es nicht
unerheblich, in welchen Situationen sie entstanden und danach immer wieder
wirksam geworden sind.
Nun ist es keineswegs so, dass die der Textdiachronie verpflichtete Forschung
zu den Vorderen Propheten bzw. zum dtr Geschichtswerk zu keinerlei gesicher-
ten oder zumindest höchst wahrscheinlichen Erkenntnissen geführt hätte. Es
sind sich im Grunde sämtliche Forscherinnen und Forscher darin einig, dass die
Bücher Jos bis Kön eine mehr oder weniger tief greifende Bearbeitung im Geist
des Dtn erfahren haben. Das aber bedeutet, dass die für die Formation dieses
Kanonteils entscheidende Phase in der nach-dtn Zeit gelegen hat. Über die davor
liegenden Epochen – Königszeit und vorstaatliche Zeit – erfährt man höchstens
mittelbar etwas: über in den Endtext eingeflossene Quellen. Immerhin besteht
auch darüber weitgehende Einmütigkeit, dass die Vorderen Propheten nicht
einfach ein relativ junger Geschichtsroman, sondern zu einem guten Teil aus
älteren Quellen gearbeitet, also eine eigentliche Geschichtsschreibung sind –
freilich eine von eigener Art. Sie ist geprägt von den Grundsätzen des Dtn: dem
Glauben, dass Israel alles, was es hat bzw. hatte (die eigene Existenz und Sicher-
heit, das Land, den Staat, den Tempel), der Güte seines Gottes verdankte; dass
dieser Gott wohl gütig, nicht aber gutmütig war, sondern streng auf die Einhal-
tung seiner Gebote achtete; dass innerhalb dieser Gebote dem Ersten Gebot
oberste Priorität zukam und dass Gott die Geschichte wesentlich danach lenkte,
ob und wie Israel insbesondere diesem Gebot nachkam. Dieses Gedankengut
drückt sich meist in einer bestimmten Sprache aus, die sich dem halbwegs ge-
schulten Blick leicht als dtr, d. h. vom Dtn geprägt, zu erkennen gibt.
Besteht also darüber Einmütigkeit, dass alle Bücher der Vorderen Propheten
(und auch das Dtn) in diesem Sinn dtr bearbeitet sind, so ist doch strittig, ob die
Bearbeitung durchgehend ist, ob es also ein umfassendes dtr Geschichtswerk
gibt. In der Tat sind von Buch zu Buch (und z. T. auch innerhalb einzelner Bü-
cher) gewisse Divergenzen zu erkennen, doch lassen diese sich großenteils aus
der Unterschiedlichkeit der jeweils aufgenommenen Quellen erklären. Umge-
kehrt gibt es gerade in den als dtr anzusprechenden Partien von Dtn bis Kön
viele übergreifende Elemente, die zwei oder mehr oder sämtliche Bücher durch-
ziehen (s. die Aufzählung oben zu Beginn des Kapitels). Dies spricht doch sehr
für eine literarische Einheit, in der die Vorderen Propheten und das Dtn zusam-
mengeschlossen sind.
Es bleiben indes Differenzen – wiederum gerade auch in den dtr Partien –, die
es schwer machen, an die Abfassung des Gesamtwerks durch nur einen Autor zu
glauben. Zwar hat es einen gewissen Reiz (und mag insbesondere aus didakti-
schen Gründen angebracht sein), über die Spannungen und Unebenheiten hin-
wegzulesen und den gesamten vorliegenden Text wahrzunehmen als das, was er
ist: ein weit ausladendes, unter einem Spannungsbogen stehendes und durch ein
190 C. Die Vorderen Propheten

bestimmtes (eben das dtr) Denken geformtes Geschichtswerk. Doch mit diesem
gelangt man kaum mehr in die exilische, geschweige denn in die vorexilische,
sondern nur mehr in die nachexilische Zeit; dieses dtr Geschichtswerk ist ein
Zeugnis des sich nach der Katastrophe neu konstituierenden Judentums – und
hat als solches seine unbezweifelbare Aussagekraft. Es ist jedoch schwer einzuse-
hen, warum man die Zeit zwischen den jüngsten im Geschichtswerk verarbeite-
ten Quellen und dessen endgültiger Fertigstellung, also das runde Jahrhundert
zwischen der späten Königszeit und der früheren Perserzeit, dem Nichtwis-
sen(wollen) preisgeben sollte. Dies umso weniger, als der letzte Passus des Ge-
schichtswerks ziemlich genau in die Mitte dieses Jahrhunderts führt: ins Jahr 562.
Damals bzw. kurz danach, jedenfalls noch vor dem Ende der Exilszeit, muss
zumindest ein Redaktor ans Werk gegangen sein. Viel spricht dafür, dass dies der
Erstverfasser des Gesamtwerks war – auch wenn Viele meinen, es handle sich um
den Zweitverfasser, und der Erstverfasser habe schon in der joschijanischen Zeit
gewirkt. Wohl lassen sich durch diese Annahme einer doppelten Redaktion viele
Ungereimtheiten im Geschichtswerk erklären – aber weder sind es alle, noch ist
dies der einzige mögliche Erklärungsweg. Vorexilische Textanteile des Ge-
schichtswerks sind unbestritten; doch sind sie nicht der Redaktion, sondern den
Quellen zuzuschreiben. Die positiven Züge der Darstellung, die von der Kata-
strophe unberührt scheinen, können entweder diesen Quellen – oder sie können
der politischen und theologischen Einsicht späterer Redaktionen geschuldet sein,
dass sich Israel im Lauf seiner Geschichte auch große Chancen eröffneten, dass
der Gott Israels mit seinem Volk nicht von vornherein nur Unheil im Sinn hatte.
Diese Einsicht verhält sich dialektisch zu der anderen: dass Israels im Lauf der
Zeiten aufgehäufte Schuld nicht ungesühnt bleiben konnte. Andere Einsichten
kamen hinzu: dass die Prophetie ein Proprium Israels und womöglich der heim-
liche Motor seiner Geschichte war; dass die Tora die größte Gabe Gottes für sein
Volk war – nicht das Königtum und der Staat, der Zion und der Tempel – und
dass sich in Vergangenheit und Zukunft alles an der Haltung gegenüber der Tora
entschied. Diese und andere Einsichten sind anscheinend im Geschichtswerk
nach und nach mit zunehmendem Nachdruck zur Geltung gebracht worden:
eher im Zuge einzelner, großer Neubearbeitungen als durch das Mitwirken vieler
Hände.

Dieser letzteren Vorstellung sind durch die Gegebenheiten damaliger Literaturpro-


duktion enge Grenzen gesetzt. Bücher wurden ja nicht gedruckt und vervielfältigt,
sondern per Hand auf Papyrus- oder Pergamentrollen als Unikate geschrieben. Jede
Veränderung – wenn sie nicht als kleine Glosse am Rand zu notieren war – verur-
sachte erhebliche Umstände: Sollte, durfte man die vorliegende Rolle zerstören und
wieder flicken? Sollte man sie völlig neu schreiben? Wer gab die Erlaubnis dazu? Eine
Neuanfertigung lohnte faktisch nur bei einer umfassenderen Überarbeitung. Eine sol-
che zu planen, war nicht jedermanns Sache – und wurde gewiss auch nicht jedem ge-
stattet, der diese oder jene Veränderungsidee hatte. Die Neuausgabe eines bedeuten-
den Buches bedurfte nicht nur befähigter, jedenfalls für fähig gehaltener Autoren,
sondern auch gewichtiger Autoritäten, die sie befürworteten. Andernfalls wären nach
I. Die Hypothese vom deuteronomistischen Geschichtswerk 191

und nach divergierende Ausgaben im Umlauf gewesen: eine unveränderte, eine weni-
ger stark und weitere, stark veränderte. Offenbar jedoch gab es in der Textgeschichte
keine Probleme mit einer solchen Vielzahl untereinander differierender Versionen.

Es sei in diesem Zusammenhang eine Erwägung mitgeteilt, die sich auf ein Faktum
bezieht, welches immer wieder als problematisch für die Annahme eines von Dtn bis
2Kön reichenden Geschichtswerks empfunden wurde: dass dieses nicht als durchge-
hender Text konzipiert ist, sondern sich aus verschiedenen Büchern mit je noch sehr
eigenem Gepräge zusammensetzt. Zu vernachlässigen ist hier die Aufteilung von Sam
und Kön in je zwei Teilbücher: Sie ist in keiner Weise stofflich, sondern rein buch-
technisch bedingt – die Bücher sollten nicht zu lang sein – und ist erst ab dem 15./16.
Jh. aus der griechischen in die hebräische Texttradition eingedrungen. Die anderen
Buchgrenzen sind viel markanter. Dtn und Jos sind je um eine große Führergestalt
zentriert und strukturell in sich geschlossen: Dtn durch rahmende Erzählungen, Jos
durch die Abfolge Landeroberung-Landverteilung, die in Jos 20–24 noch um eine Art
Anhänge erweitert ist. Das Ri-Buch handelt in seinem Kern davon, wie Retter und
Richter das Leben Israels im Land zu sichern versuchten (Ri 3–16); eine Einführung
gibt vorweg eine geschichtstheologische Deutung (Ri 1f.), ein Anhang schildert das
Scheitern des Experiments (Ri 17–21). Mit den Sam-Büchern beginnt eine neue Epo-
che. Samuel, selbst noch als Richter gezeichnet, setzt die beiden ersten Könige, Saul
und David, ein. In der zweiten Hälfte von 2Sam geht es vorrangig um die Nachfolge
Davids: Ein Kandidat nach dem anderen scheidet aus (2Sam 13–20), ehe am Ende
Salomo die Macht antritt und David von der Bühne abtritt (1Kön 1f.). Doch genau
bevor es dazu kommt, wird der Erzählfluss unterbrochen, offenbar, um noch einige
Begebenheiten aus dem Leben Davids nachzutragen, die schon weiter zurückliegen
(und aus anderer Quelle stammen: 2Sam 21–24). 1Kön 1f. eröffnet jetzt die Ge-
schichte Salomos, und diese wiederum die Geschichte der Reiche Israel und Juda, die
dann bis zum bitteren Ende erzählt wird. Wenn ein Buch der Vorderen Propheten
keinen deutlichen Abschluss besitzt, dann Kön: vermutlich doch, weil man die eigene
Zeit schwerlich abschließend schildern kann. Beides – die jeweilige Abgeschlossenheit
der einzelnen Bücher und die vielfältigen Klammern, die diese Bücher doch wieder
verbinden – regt zu folgender Erwägung an: Entweder war der (Erst-) Autor dieses
Werkes wirklich ein Historiograph, der die gewaltige Stofffülle, vor der er stand (und
vor die er seine Leser zu stellen beabsichtigte), dadurch bändigte, dass er sie einerseits
säuberlich in mehrere Sektoren einteilte, diese andererseits aber durch eine Vielzahl
durchgehender Elemente verknüpfte. Oder man denkt sich die Erstautorschaft als eine
Gruppe, die – angeleitet vielleicht durch einen überragenden Meister oder Lehrer –
die große Aufgabe in verteilten Rollen in Angriff nahm: Einer hatte die Mose-Tora zu
rahmen und zu bearbeiten, einer die Landnahmezeit, einer die Richterzeit, einer die
frühe Königszeit und einer die Zeit der Königreiche Israel und Juda darzustellen. (Es
sei erlaubt, als Analogie die großen Maler-Schulen der Barockzeit heranzuziehen:
Kaum einer der berühmten Meister schuf sein Œuvre allein.) Die beteiligten Autoren
waren so gut geschult und aufeinander eingespielt, dass die Einzelnen ein Stück Frei-
heit in der Darstellung ihrer Epoche behielten, und dass am Ende doch ein Gesamt-
werk von staunenswerter Geschlossenheit entstand. Eine solche Annahme würde auch
die zweite erleichtern: dass dieser Kreis über längere Zeit bestand, dass jüngere Mit-
glieder („Schüler“) in ihn nachrückten, dass mit dem Fortgang der Zeit neue Fragen
und Überlegungen zur Geschichte (und zur Zukunft!) des Gottesvolkes aufkamen,
und dass dann – eher selten und nur nach reiflicher Überlegung und aufgrund ent-
sprechender Vorarbeiten – der Beschluss gefasst wurde, von der großen, fünfbändigen
192 C. Die Vorderen Propheten

„Geschichte des Volkes Israel im Heiligen Land“ eine erneuerte und erweiterte Ver-
sion zu erstellen …

Zu fragen bleibt noch, wo das Geschichtswerk entstanden ist: im Land Juda


(NOTH, VEIJOLA) oder im babylonischen Exil (ALBERTZ)? Nach wie vor überwie-
gen die Gründe für das Erste.

– Nicht nur Quellentexte, sondern speziell auch dtr Partien weisen eine gute Kenntnis
des Landes auf (z. B. Dtn 1,1f.; 34,1–3; Jos 7,26; 1Sam 7,11f.; 1Kön 11,7; 2Kön 25,4–6).
– Gerade stark dtr bearbeitete Passagen sind gern in und um Jerusalem lokalisiert
(1Sam 8; 12; 2Sam 7; 1Kön 8; 2Kön 21ff.).
– Die zahlreichen, bei der Abfassung des Werks offenbar verwendeten Quellentexte
dürften zu einer Bibliothek gehört haben, die man sich am ehesten in Jerusalem vor-
stellen kann; dass sie vor der Zerstörung der Stadt irgendwo auf dem Land in Sicher-
heit gebracht wurde, ist viel wahrscheinlicher, als dass die Exulanten sie mit nach Ba-
bylonien geschleppt hätten.

Man muss die Alternative indes nicht überzeichnen. Es gab ein reges Hin und
Her zwischen Juda und Gola (vgl. Jer 13; 29; Ez 8; 22; 33,21), und kaum von
ungefähr schließt das Geschichtswerk mit einer Nachricht aus Babylon (2Kön
25,27–30). Jedenfalls die spät-dtr Bearbeitungsschicht zeigt deutlich geistige
Einflüsse aus der Gola (Dietrich 2002, 252ff.), worin sich womöglich die Präsenz
von Rückwanderern unter den dtr Kreisen Judas verrät. Esra wiederum, der
Anführer einer späteren Rückwanderungswelle, scheint ein „Erbe“ dtr Denkens
zu sein (Veijola 2000, 192ff.).
II. Das Josuabuch 193

II. Das Josuabuch


Kommentare: M. NOTH, 21953 (HAT). – J. A. SOGGIN, 1972 (OTL). – R. G. BOLING, 1982 (AncB). –
M. GÖRG, 1991 (NEB). – V. FRITZ, 1994 (HAT). – R. D. NELSON, 1997 (OTL). – E. A. KNAUF, 2008
(ZBK.AT). – H. RÖSEL, 2011 (Historical Commentary on the Old Testament).
Einzelstudien: A. ALT, Josua (1936 =): Ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israels, I,
München 1953, 176–192. – S. MOWINCKEL, Tetrateuch-Pentateuch-Hexateuch. Die Berichte über die
Landnahme in den drei altisraelitischen Geschichtswerken, 1964 (BZAW 90). – J. BLENKINSOPP, The
Structure of P: CBQ 38 (1976), 275–292. – A. G. AULD, Joshua, Moses, and the Land, Edinburgh
1980. – M. OTTOSSON, Tradition and History, with Emphasis on the Composition of the Book of
Joshua, in: K. Jeppesen / B. Otzen (eds.), Productions of Time, Sheffield 1984, 81–106.141–143. – H.-
J. ZOBEL, Art. Josua/Josuabuch: TRE 17, 1988, 269–278. – R. G. BOLING, Art. Joshua, Book of: ABD 3,
1992, 1002–1015. – V. FRITZ, Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart
1996 (Biblische Enzyklopädie 2). – N. LOHFINK, Landeroberung und Heimkehr. Hermeneutisches
zum heutigen Umgang mit dem Josuabuch: JBTh 12 (1998), 3–24. – R. G. KRATZ, Die Komposition
der erzählenden Bücher des AT, Göttingen 2000. – T. RÖMER, The So-Called Deuteronomistic
History. A Sociological and Literary Introduction, London/New York 2005/2007. – R. ALBERTZ, Die
kanonische Anpassung des Josuabuches. Eine Neubewertung seiner sogenannten „priesterschriftli-
chen Texte“, in: T. Römer / K. Schmid (éds.), Les dernières rédactions du Pentateuque, de l’Hexateu-
que et de l’Ennéateuque, Leuven 2007 (BEThL 203), 199–216. – E. A. KNAUF, Bundesschlüsse in
Josua: ebd. 217–224. – W. BRUEGGEMANN, Divine Presence amid Violence. Contextualizing the Book
of Joshua, Eugene, Ore. 2009. – J. VAN RUITEN / J. C. DE VOS (eds.), The Land of Israel in Bible,
History, and Theology, FS Ed Noort, 2009 (VT.S 124). – S. LEBHAR HALL, Conquering Character. The
Characterization of Joshua in Joshua 1–11, Bloomsbury 2010. – A. BRENNER / G. A. YEE (eds.), Joshua
and Judges, Minneapolis 2013 (Texts and Contexts). – C. FREVEL, Das Josua-Palimpsest. Der Über-
gang vom Josua- zum Richterbuch und seine Konsequenzen für die These eines Deuteronomistischen
Geschichtswerks: ZAW 125 (2013), 49–71.
Forschungsberichte: E. NOORT, Das Buch Josua. Forschungsgeschichte und Problemfelder, 1998 (EdF
292). – T. VEIJOLA, Deuteronomismusforschung zwischen Tradition und Innovation: ThR 67 (2002),
391–424, bes. 391–402.

Das Buch Jos setzt sich zusammen aus einer Einleitung (1: Gottes Auftrag an
Josua), zwei Hauptteilen (2–12: die Eroberung des Westjordanlandes; 13–22: die
Verteilung des Landes) und einem Schluss (23f.: Josuas Abschied und Tod). Der
erste Hauptteil schildert den Durchzug Israels durch den Jordan (3f.) und das
Vorgehen gegen einige Städte im mittleren Kanaan (Jericho: 2+6; Ai: 7f.; Gibeon:
9), woran sich zwei siegreiche Blitzkriege gegen das südliche und das nördliche
Kanaan anschließen (10 bzw. 11), ehe das Ganze in einer Liste von 31 besiegten
Kanaaniterkönigen zusammengefasst wird (12). Der zweite Hauptteil handelt
von der Zuweisung von Siedlungsgebieten an die Stämme Israels: zuerst an die
im Ostjordanland (Gad, Halb-Manasse, Ruben: 13) und im Negev (Kaleb: 14),
dann an die beiden Hauptstämme im zentralen Bergland (Juda: 15; Josef: 16f.),
danach an die im Südosten (Benjamin: 18; Schimon: 19,1–9) und schließlich an
die im galiläischen Norden (Sebulon, Issachar, Ascher, Naftali, Dan: 19,10–48);
den Abschluss bilden Listen von Asyl- und Levitenstädten (20 bzw. 21) sowie
Nachrichten über den Abzug der ostjordanischen Stämme (22).
194 C. Die Vorderen Propheten

1. Redaktion

Das eine große Thema von Jos ist die Landnahme Israels. Darin kommt zweierlei
zum Ausdruck: dass Israel nicht immer schon im Besitz „seines“ Landes war, und
dass die Frage des Landbesitzes für dieses Volk von eminenter Bedeutung war
(und nach wie vor ist). In der langen Entstehungsgeschichte des Jos-Buchs spie-
gelt sich eine intensive und anhaltende Auseinandersetzung mit dieser Proble-
matik.

a) Die priesterliche Bearbeitung

Die offenkundig jüngste Textschicht in Jos erinnert in ihrer Sprach- und Vor-
stellungswelt an die P-Schicht des Pentateuch.
Im Einzelnen geht es um folgende Texte:
– 4,2.9f.: die zwölf Steine des Jordandurchzugs werden nicht im Heiligtum von
Gilgal deponiert, sondern mitten im Fluss;
– 5,1–9: die israelitischen Männer werden, nachdem die Beschneidung in der
Wüstenzeit in Vergessenheit geraten war, beschnitten;
– 5,10–12: Israel feiert erstmals Passah im Land, die Manna-Gaben hören auf;
– 9,15–21: die „Gemeinde“ Israels schont die Gibeoniten und macht sie zu Was-
serträgern im Kult, sprich: am Zweiten Tempel;
– 18,1: die „Gemeinde“ versammelt sich in Schilo beim heiligen Zelt;
– 19,51: die Schlussformel „So vollendeten sie die Verteilung des Landes“ erin-
nert an Gen 2,1f.;
– 21,1–42: die Zusprache von 48 Städten an die Leviten entspricht weder der
sozialen Realität noch dem dtn-dtr Konzept, wonach die Leviten niedere Kleriker
und landlose Beisassen waren (vgl. z. B. Dtn 14,27–29; Jos 13,14.33; 14,3; Ri
17,7ff.);
– 22,10–34: die im Westjordanland lebende „Gemeinde“ Israels empört sich über
einen Altarbau der ostjordanischen Stämme; der Streit wird beigelegt, indem
geklärt wird, dass der Altar nicht kultischen Zwecken dient und somit nicht in
Konkurrenz steht zum einzig erlaubten Altar Jhwhs (im Zweiten Tempel);
– 24,33: der Priester und Aaronide Eleasar, der schon in 14,1 wie ein Hohepries-
ter neben den politischen Führer Josua getreten war, stirbt und wird begraben.
Man hat diesen Befund dahingehend zu deuten versucht, dass die Pentateuch-
quelle P über den Tetrateuch hinaus bis (Dtn und) Jos reiche (MOWINCKEL,
BLENKINSOPP, auch KNAUF). Dies träfe sich mit der alten (und auch wieder
neuen) Hypothese von einem „Hexateuch“, in dem Jos mit dem Pentateuch
zusammengeschlossen gewesen wäre. Dahinter steht die Grundüberlegung, dass
etwa die Landverheißungen an die Erzväter oder der Aufbruch Israels aus Ägyp-
ten unabdingbar auf die Landnahme in Kanaan zielten. Demnach hätten die
Pentateucherzählungen ihren Abschluss erst in Jos (bzw. Ri 1 gehabt). Doch
II. Das Josuabuch 195

dürfte diese Erwägung schwerlich ausreichen, die Zugehörigkeit von (Dtn und)
Jos zum dtr Geschichtswerk in Frage zu stellen (dessen Existenz freilich KNAUF
bestreitet). Nicht nur ist das Vorhandensein einer „jahwistischen“ Landnah-
metradition (alte Vorschläge: Jos 24; Ri 1) höchst strittig, es lässt sich auch kaum
von einer eigenständigen priester(schrift)lichen Landnahmedarstellung in Jos
reden. Dafür wäre etwa der Nachweis erforderlich, dass die Grenz- und Ortslis-
ten in Jos 15–19 originär zu P gehörten (was MOWINCKEL konsequenterweise
behauptet und DE VOS in abgewandelter Form wieder erwägt); doch gibt es dafür
– abgesehen von der Listenform, die aber keineswegs nur P schätzt – keine zwin-
genden Gründe. Zudem bilden die genannten, an P erinnernden Texte in sich
keinen fortlaufenden Zusammenhang; es handelt sich vielmehr um ad hoc ein-
gefügte Einzelergänzungen, d. h. um eine sekundäre (oder tertiäre) Bearbeitung
und nicht um eine selbständige Quelle. Die Hintergründe einer solchen Bear-
beitung lassen sich ahnen: Als die priester(schrift)liche Textschicht in die Bücher
Gen–Num eingebracht war und der Tetrateuch mit dem dtr Geschichtswerk zum
Enneateuch verbunden wurde, bedurfte es gewisser Klammern, die dieses riesen-
hafte Literaturgebäude wenigstens einigermaßen zusammenhielten. Dazu gehö-
ren die „priesterschriftlichen“ Passagen in Jos.
Priesterlicher und dtr Geist schließen sich übrigens nicht a limine aus, schei-
nen sich vielmehr in nachexilischer Zeit mehr und mehr einander angenähert zu
haben. Konkrete Zeichen dafür sind Stellen wie Jos 5,6, die gut dtr klingen, oder
die Sorge um die Einheit und Reinheit des Kultes in Jos 22,10ff., die das priester-
liche Denken mit dem dtn-dtr teilt.

b) Der deuteronomistische Diskurs über Israels Land

R. SMEND, Das Gesetz und die Völker, in: H. W. Wolff (Hg.), Probleme biblischer Theologie, FS
G. v. Rad, München 1971, 494–509 = Ders., Die Mitte des Alten Testaments, 1986 (BEvTh 99), 124–
137. – R. D. NELSON, Josiah in the Book of Joshua: JBL 100 (1981), 531–540. – R. SMEND, Das un-
eroberte Land, in: G. Strecker (Hg.), Das Land Israels in biblischer Zeit, 1983 (GTA 25), 91–102. –
H. N. RÖSEL, Lässt sich eine nomistische Redaktion im Buch Josua feststellen?: ZAW 119 (2007),
184–189.

Hebt man die „priester(schrift)liche“ Schicht von Jos ab, bleibt eine dtr geformte
Darstellung der Landnahme zurück. Der dtr Geist tritt an den Schaltstellen des
Geschehens deutlich hervor: Die beiden Hauptteile des Buches werden durch
Reden Jhwhs an Josua eröffnet (1,1–9; 13,1–7) und durch zwei erzählerische
Zusammenfassungen abgeschlossen (11,16–23; 21,43–45), deren Vokabular und
Gedankengut unverkennbar dtr ist. Gleiches gilt für die beiden großen Ab-
schiedsreden Josuas (23–24).
Allerdings machen gerade diese dtr Kerntexte keineswegs den Eindruck litera-
rischer Einheitlichkeit.
– Nachdem Jhwh mit hochfliegenden Zusagen Josua zum Eroberungszug er-
mutigt hat (1,1–6), beginnt er ihn plötzlich streng zu ermahnen, ja fast zu
196 C. Die Vorderen Propheten

warnen: der Erfolg sei davon abhängig, ob wirklich die Tora eingehalten werde
(1,7–9).
– Die erste Stadt jenseits des Jordan, Jericho, wird grandios erobert (2 + 6), doch
schon bei der zweiten, Ai, kommt es zu einem verlustreichen Rückschlag; Schuld
daran ist ein Israelit, der in Jericho gegen das Banngebot verstoßen hat und zu-
erst in einem komplizierten Verfahren herausgefunden, überführt und bestraft
werden muss (7,1–26), bevor die Eroberung Ais endlich gelingen kann (8,1–29).
– In 11,16 wird ausdrücklich festgestellt, dass Josua „dieses ganze Land einge-
nommen“ hatte, doch in 13,1b verlautet plötzlich, es sei noch „sehr viel Land
einzunehmen“ (mit nachfolgender Aufzählung der Gebiete, 13,2–6).
– In dem prinzipiell lückenlosen System der den Stämmen zugeteilten Gebiete
(13–19) tauchen überraschend Mitteilungen darüber auf, dass eine Reihe Enkla-
ven bestehen geblieben sind, die von Nicht-Israeliten bewohnt werden (13,13;
16,10; 17,12.18).
– In 21,43 wird konstatiert, dass Jhwh nunmehr Israel „das ganze Land gegeben“
und dieses sich darin niedergelassen habe; doch in seiner bald darauf folgenden
(ersten) Abschiedsrede (23) erweckt Josua den Eindruck, als seien bisher ledig-
lich Landanteile an die Stämme verlost worden, in denen aber noch nicht-israe-
litische Bewohner lebten; deren Land in Besitz zu nehmen, werde nur gelingen,
wenn Israel sich streng an die Tora halte und sich nicht etwa mit den Fremden
einlasse; andernfalls würden diese Israel zur Qual und zum Fallstrick, bis es am
Ende selbst wieder aus dem Land vertrieben werde.
– Diese erste Abschiedsrede doppelt sich seltsam mit einer zweiten, die Josua den
Israeliten in Sichem hält und die insgesamt einen ganz anderen Ton anschlägt:
Um Jhwhs große Taten für Israel und um Israels feste Bindung an Jhwh geht es
da (24,2–18.25–27). Doch zwischendurch sind plötzlich auch wieder unheildro-
hende Töne zu vernehmen: Israel sei gar nicht in der Lage, Jhwh treu zu dienen,
und es werde der dafür fälligen Strafe nicht entgehen (24,19–26).
Es scheint, als würden innerhalb der dtr Darstellung zwei einander widerstrei-
tende Bilder vertreten: das einer höchst erfolgreich verlaufenen, radikalen und
totalen – und das einer problembehafteten, unvollständigen Landnahme, über
der gar die Drohung des Landverlustes steht. Offenbar war das positive Bild
zuerst da, und die negativen Züge wurden sekundär in es eingezeichnet.
Das ist am deutlichsten in den beiden, die Hauptteile des Buchs eröffnenden
Gottesreden zu sehen. „Sei stark und fest, denn du sollst diesem Volk das Land
zum Erbe geben“, ermuntert Gott den Josua in 1,6 – um sich in 1,7 scheinbar
selbst zu korrigieren: „Nur: sei sehr stark und fest (darin), darauf zu achten, dass
du handelst gemäß der ganzen Tora, die ich meinem Knecht Mose befohlen
habe…“ Zwei Verse später wird zurückgelenkt zur ursprünglichen Aussage:
„Habe ich dir nicht befohlen: Sei stark und fest?! Fürchte dich nicht und er-
schrick nicht, denn Jhwh, dein Gott, ist mit dir überall, wohin du gehst“ (1,9).
Der Ergänzer, der in 1,7 eingegriffen hat, um eine erfolgreiche Landnahme an die
Bedingung des Toragehorsams zu knüpfen, hat in seinem Eifer vergessen, dass ja
eigentlich Gott selbst spricht – und nicht gut von „Jhwh, deinem Gott“ reden
II. Das Josuabuch 197

kann. – Ähnlich die zweite Gottesrede: Die Einleitung „Als Josua alt und bejahrt
geworden war, sagte Jhwh zu ihm: Du bist alt und bejahrt geworden“ (13,1aba)
zieht zwei Aufträge nach sich. Der eine ist mehr indirekt formuliert: „Es ist noch
sehr viel Land übrig, das zu besetzen ist“ (1bb); der andere ist eine direkte Auf-
forderung: „Und jetzt: Verteile dieses Land als Erbbesitz an die … Stämme“ (*7).
Doch wie soll Josua Land, das nicht besetzt ist, verteilen? Dann aber wird das
Westjordanland sehr wohl verteilt (15–19): offenbar in der Annahme, dass es
zuvor bei den Feldzügen Josuas (2–12) besetzt worden ist. Dem Schluss ist kaum
auszuweichen, dass eine erste (dtr) Version eine glatte Abfolge von Besetzung
und Verteilung des Landes beschrieb, während eine zweite (ebenfalls dtr) die
Nichtbesetzung weiter Landesteile beklagte. Laut 13,2–6 waren es die Wohnge-
biete nicht nur der Philister und Phönizier, sondern auch der Kanaaniter, die
dem Zugriff Israels vorerst entzogen blieben. Das Gleiche sagen die in die Land-
verteilungslisten eingestreuten Hinweise auf nicht besetzte Kanaaniterstädte
(13,13; 16,10; 17,12.18). In der ersten Abschiedsrede Josuas wird ausdrücklich
der Zusammenhang zwischen Toratreue und Landbesitz hergestellt (und es wer-
den dabei teils die gleichen Ausdrücke verwendet wie in 1,7f. und 13,2–6): Die
ausstehende Eroberung noch nicht besetzten Landes (23,4f.) wird an die Bedin-
gung strengen Toragehorsams geknüpft (23,6).
Im Schlussteil des Jos-Buchs kommt die doppelte Perspektive noch einmal
sehr deutlich zum Ausdruck. In der ersten Abschiedsrede, Jos 23, bietet Josua
erneut jenes eher skeptische Landnahme-Bild, das der jüngeren dtr Bearbeitung
eigen ist; ihr dürfte das gesamte Kapitel zuzuschreiben sein. Anders die zweite
Abschiedsrede, Jos 24. Bei einer Volksversammlung in Sichem rekapituliert Josua
ausführlich die bisherige Heilsgeschichte und fordert dann das Volk auf, sich
zwischen Jhwh und anderen Göttern zu entscheiden; das Volk verpflichtet sich
zum alleinigen Dienst Jhwhs, woraufhin ein feierlicher Bund geschlossen und die
Bundesurkunde bei einem heiligen Stein unter einem heiligen Baum deponiert
wird. Die Deutungs- und Datierungsvorschläge für diesen Text sind zahlreich: Er
spiegele die Gründung einer Jhwh-Amphiktyonie durch Josua (12./11. Jh.); er
bilde das furiose Finale des jahwistischen Geschichtswerks (10. Jh.); er sei ein
Reflex auf Elijas Kampf um die Alleinverehrung Jhwhs (9. Jh.); er sei ein anti-
assyrisches Pamphlet (spätes 8. oder frühes 7. Jh.) oder ein Propagandatext
aus der Zeit Joschijas (spätes 7. Jh.), er stamme aus der Exils- oder auch erst
aus der nachexilischen Zeit (zu den einzelnen Meinungen und den bibliogra-
phischen Nachweisen s. NOORT, 205–222). Wohl die meisten Argumente spre-
chen dafür, dass der Text entscheidend durch die dtr Grundredaktion (DtrH)
geprägt wurde, dass in ihn aber auch ältere Tradition einfloss (die Situierung in
Sichem und die Adressierung an Nordisrael, die Wahlmöglichkeit zwischen
verschiedenen Göttern, der Bundesschluss und die Bundesurkunde an heiliger
Stätte) und dass er schließlich noch im Sinne von Jos 23 überarbeitet wurde (v. a.
24,19–24).
Differenzen zwischen den beiden dtr Redaktionsschichten zeigen sich auch
bei einem für das Jos-Buch zentralen Motiv: dem „Bann“ (einem im alten Orient
198 C. Die Vorderen Propheten

tatsächlich geübten, grausamen Kriegsbrauch). In Dtn 20 findet sich dazu fol-


gende gesetzliche Bestimmung: Nach der Eroberung einer mit dem „Bann“ be-
legten Stadt sind „nur“ die Männer zu töten; die restliche Bevölkerung aber und
die gesamte Beute fallen an die Sieger (10–14). In den nächsten Versen wird diese
Regelung eingeschränkt auf Eroberungen im Ausland, während bei solchen im
Inland die gesamte Bevölkerung auszurotten sei, damit Israel nicht zum Dienst
fremder Götter verführt werde (15–18). Dieser Passus bezieht sich eindeutig –
und einzig! – auf die Situation der Landnahme, und zwar in der radikalen Sicht,
die der dtr Erstverfasser des Jos-Buches vertritt. Dieser hat nicht nur das dtn
Gesetz in seinem Sinne ergänzt, sondern lässt dann auch Josua entsprechend
verfahren. Speziell in den stark von ihm geprägten Abschnitten Jos 10,28–42 und
11,10–15.19f. häufen sich die Belege für den „Bann“-Begriff und wird stereotyp
davon gesprochen, dass man damals „alles Leben mit der Schärfe des Schwertes
geschlagen“ habe. Gleiches verlangt Josua auch schon vor dem Sturm auf Jericho:
In der Stadt sei alles zu „bannen“ – mit der einzigen Ausnahme der Hure Rahab
und ihrer Familie (6,17). Danach aber kommt ein neuer Ton auf: „Nur – hütet
euch vor dem Banngut, dass ihr nicht etwa Lust bekommt und etwas nehmt von
dem Banngut“; speziell Gold und Silber seien für Jhwh bestimmt und für die
Israeliten tabu (6,18f.). Jetzt geht es beim „Bann“ nicht mehr um den totalen
Landbesitz, sondern um den Gehorsam gegen Jhwh. In der nachfolgenden Er-
zählung von Achans Diebstahl (Jos 7), die komplett (oder jedenfalls ab 7,7) der
jüngeren dtr Schicht zuzurechnen ist, wird ein Exempel statuiert: Wer gegen das
klare (Bann-)Gebot Jhwhs verstößt, ist mitsamt seiner Familie auszulöschen.
(Ähnlich rabiate Maßnahmen werden in dem DtrN-geprägten Text Dtn 13 ge-
fordert.)
Die zweifache Schichtung der dtr Partien in Jos hat zuerst SMEND erkannt.
Nach ihm wäre das ältere, triumphalistische Landnahmebild DtrH zuzuschreiben
und also mitten in die Exilszeit zu datieren, während die pessimistischere Sicht
von DtrN stammte und also in die spät- oder frühnachexilische Zeit zu stehen
käme. Stimmt das, ist es ein starkes Zeugnis dafür, dass Geist und Religion nicht
immer ein Abbild der gegebenen äußeren Verhältnisse sein müssen, sondern
diesen auch Gegenbilder entgegensetzen können. DtrH versichert seinen unter
dem babylonischen Joch leidenden Adressaten, das Land, über das jetzt andere
verfügen, sei von Jhwh einst Israel zugesagt und gegeben worden. So erklärlich
angesichts des in der Zwischenzeit Vorgefallenen die jetzige Misere ist – sie ent-
spricht nicht dem ursprünglichen Willen Jhwhs! DtrN schreibt vor einem ver-
änderten Hintergrund: Der babylonische Würgegriff hat sich gelockert, für die
Juden zeichnet sich die Möglichkeit begrenzter Autonomie im eigenen Land ab.
Doch in den Augen frommer Kreise (wie sie sich vor allem in der Gola herausge-
bildet haben), ist das Land in mehrfacher Hinsicht kontaminiert: Unter babylo-
nischer Herrschaft haben sich darin fremde Sitten und fremde Menschen breit
gemacht, das Volk Jhwhs lebt nicht für sich allein und nicht streng nach der
Tora. Vor einem solchen Hintergrund gewinnen Sätze wie „Es ist noch sehr viel
Land übrig, das zu besetzen ist“ oder „Sei nur sehr stark und fest (darin), darauf
II. Das Josuabuch 199

zu achten, dass du handelst gemäß der ganzen Tora, die ich meinem Knecht
Mose befohlen habe“ einen sehr konkreten Klang.
Freilich lassen sich die beiden beobachteten Textschichten auch mit Hilfe des
sog. Blockmodells sinnvoll situieren. Hier wäre die optimistische Sicht der Land-
nahme joschijanisch, die pessimistische exilisch. In der ersten äußerte sich die
Erwartung an Joschija, dass er als neuer Josua – mit Nachdruck macht NELSON
auf die Namensähnlichkeit aufmerksam – das bis dahin assyrisch besetzte Nord-
israel erobern und den Stämmen als „Erbbesitz“ zurückgeben werde. (Dass Juda
damals souverän war und sein Land nicht erst zugeteilt bekommen musste, ist
ein kleiner Schönheitsfehler.) Der exilische Zweitverfasser schrieb unter dem
unmittelbaren Eindruck der babylonischen Besetzung. Jetzt war das gesamte
Land – der Norden wie der Süden – wieder verloren. Nur bei äußerster Tora-
treue konnte Israel hoffen, es von Jhwh noch einmal zurück zu erhalten und
bleibend behalten zu dürfen.
Wer den Text nicht in literarischen Schichten, sondern als Ganzes sehen
möchte, wird konstatieren, dass das dtr Bild von der Landnahme nicht flächig-
einfarbig ist, sondern hintergründig-mehrschichtig: Mit großzügiger Geste hat
Gott seinem Volk das gesamte Gelobte Land zum Besitz angeboten. In Wirklich-
keit aber verlief die Inbesitznahme nicht so großartig; es gab militärische Rück-
schläge und politische Rücksichten, es gab Inseln mit nichtisraelitischer Bevölke-
rung mitten in israelitischem Land, und es gab an dessen Rändern ausgedehnte
Siedlungsgebiete fremder Völker. Israels Zukunft war nicht schon durch den
Landbesitz gesichert, sie entschied sich am Gottesverhältnis. Schon im Augen-
blick des Landgewinns zeichnete sich die Möglichkeit des Landverlusts ab.
Das Licht wie der Schatten, welche aus dtr Perspektive auf die Landnahme
fallen, nehmen dieser etwas von dem Gewalttätigen und Chauvinistischen, das
ihr auf den ersten Blick anhaftet. Nicht eigentlich Israel oder gar der Heerführer
Josua sind eigentliches Subjekt des Geschehens, sondern Jhwh, der Israel ganz
unverdientermaßen ein Geschenk gemacht hat (24,13), und der es auch wieder
wegnehmen kann, wenn Israel sich dessen unwürdig erweist (24,20).

2. Quellen

Dass die dtr Redaktion zur Darstellung der Landnahme Quellen verwendet hat,
ist so gut wie unbestritten. Alles Übrige – der Umfang, die Art und das Alter des
Quellenmaterials – ist umstritten. Die einen trauen den Deuteronomisten einen
großen, die anderen einen geringen Gestaltungsspielraum zu; manche meinen
sehr viel als zeitgenössische Darstellung des Landnahmevorgangs, manche so gut
wie nichts als vor-dtr werten zu können. Die Diskussion ist hier nicht in extenso
wiederzugeben (s. wiederum den ausführlichen Bericht bei NOORT), und auch
die eigenen Lösungsvorschläge können nur in Ansätzen begründet werden.
200 C. Die Vorderen Propheten

a) Die Landnahme-Erzählungen

H. RÖSEL, Studien zur Topographie der Kriege in den Büchern Josua und Richter: ZDPV 91 (1975),
159–190. – K. BIEBERSTEIN, Josua – Jordan – Jericho. Archäologie, Geschichte und Theologie der
Landnahmeerzählungen Josua 1–6, 1995 (OBO 143).

Innerhalb von Jos 1–12 wurden im Vorangehenden vor allem die Einleitung (Jos
1) und die Achangeschichte (7) als dtr angesprochen. Hinzu kommen weitere,
wohl DtrH zuzuschreibende Partien:
– die Aufzählung „gebannter“ Städte im Süden (10,28–42);
– die Schilderung der „Bannung“ Hazors und die zusammenfassende Darstellung
der Eroberung des Nordens (11,10–23);
– die Einbeziehung der dtr Symbolkönige Sihon von Heschbon und Og von
Baschan in die Reihe der damals von Israel besiegten Könige (12,1–6, vgl. Dtn
2,26–3,11).
Unter der dtr Textschicht zeichnen sich in Jos 2–12 ausgedehnte, in Sprache
und Denken nicht dtr geprägte Textpartien ab. Überwiegend handelt es sich um
Sagen, die sich an bestimmte Lokalitäten heften: der Jordanübergang bei Gilgal
(Jos 3f.), die Eroberung von Jericho und Ai (2; 6–8), die List der Gibeoniten, die
ihnen das Leben inmitten Israels ermöglicht (9), ein Sieg Israels bei Gibeon über
eine Koalition von fünf südkanaanitischen Königen und deren anschließende
Hinrichtung (10,3–27, mit dtr Einleitung in V. 1f.), schließlich ein Sieg „am Was-
ser von Merom“ über eine Koalition nordkanaanitischer Könige (11,1f.5.7f., wohl
mit späterer Auffüllung in V. 3f.6.9). Hinzu kommt eine Aufstellung aller damals
besiegten Stadtkönige Kanaans (12,7–24).
Die genannten Erzählungen zeigen mehrere Gemeinsamkeiten:
– Sie haben das gleiche Thema: Es geht in ihnen darum, ob und wie „Israel“ ins
Westjordanland eindringen und sich ihm dort bietende Widerstände brechen
kann.
– Sie spielen im gleichen Raum: Alle genannten Orte liegen im oder doch sehr
nahe am Siedlungsgebiet des Stammes Benjamin.
– Sie weisen in ihrer Abfolge eine geographische Logik auf: Unmittelbar nach
dem Jordanübergang bei Gilgal stößt man, gegen das Gebirge hin, auf die Stadt
Jericho; Ai liegt westlich von Jericho im Bergland, Gibeon wiederum westlich
davon in Richtung Schefela, so dass insgesamt eine Ost-West-Bewegung be-
schrieben wird.
– Sie besitzen jeweils eine ätiologische Zuspitzung (oder auch deren zwei): Zur
Erinnerung an den Durchzug der zwölf Stämme durch den Jordan werden in
Gilgal zwölf große Steine aufgerichtet (vielleicht Stelen, vielleicht der Temenos
des dortigen Heiligtums: 4,4f.20); auch der Name „Gilgal“ wird aus den damali-
gen Vorgängen erklärt (5,9); die in Jericho lebende kanaanitische Sippe der
Rahab (und wohl auch ihr Haus) erinnert an die Einnahme der Stadt (6,25); von
der zerstörten Stadt Ai kündet ein großer „Trümmerhaufen“, von ihrem hinge-
richteten König ein hoher Steinhaufen, der über seinem Leichnam aufgetürmt
II. Das Josuabuch 201

wurde (8,28.29); die Existenz der kanaanitischen Enklave Gibeon erklärt sich aus
einem erschlichenen Vertrag der Bewohner mit Josua (9,15); an den grandiosen
Sieg bei Gibeon erinnert ein altes Lied (10,12–14); große Steine vor dem Eingang
einer Höhle bei Makkeda gemahnen daran, dass hier hinein die Leichen von fünf
besiegten Süd-Königen geworfen worden sind (10,27).
Wann mögen diese Sagen entstanden und wo und von wem zusammengestellt
worden sein? Jedenfalls sind sie nicht zeitgenössisch. Das zeigt sich schon daran,
dass mit ihnen – oft noch unterstrichen durch die Formel „[so ist es] bis auf
diesen Tag“ – ein gegenwärtiger Sachverhalt aus dem Damals der Landnahme
erklärt werden soll, worin sich eine größere zeitliche Distanz ausdrückt. Dies
wird von anderer Seite bestätigt: Laut archäologischem Befund existierten Jericho
und Ai zur fraglichen Zeit nicht als Städte. Dies bedeutet, dass sich der kriegeri-
sche Flair der Erzählungen wohl eher dem Aussagewillen der Erzähler als histori-
scher Realität verdankt: Man wollte das Land erobert haben! Immerhin verrät
sich darin das Bewusstsein, dass man dort nicht immer schon gewohnt hatte –
was einer allzu späten Ansetzung der Sagen widerrät. Diese werden zunächst je
für sich erzählt, recht bald aber schon zu einer Reihe von Erzählungen zusam-
mengefügt worden sein. Die dabei gewahrte geographische Konzentration auf
das Gebiet Benjamins und die Ost-West-Richtung lassen an eine benjaminitische
Landnahmesaga denken, die dem Zweck gedient haben mag, den Anspruch der
Benjaminiten auf ihr Siedlungsgebiet zwischen Jordan und Schefela zu unter-
mauern. Als Haftpunkt dieser Saga böte sich Gilgal an, das nicht nur in Jos 3f.,
sondern auch bei den folgenden Aktionen immer wieder als Ausgangs- und
Rückzugsort erwähnt wird (9,6; 10,6.7.9.15). Gilgal war ein wichtiges Heiligtum
nicht nur für Benjamin (vgl. 1Sam 7,16; 10,8; 11,15; 13,4.7; 15,33), es besaß auch
eine überregionale, sogar gesamtisraelitische Ausstrahlung (vgl. Ri 3,19; 2Kön
4,38; Hos 4,15; 9,15; 12,12; Am 4,4; 5,5). Es ist gut vorstellbar, dass gerade hier
das stattgefunden hat, was man die Israelitisierung der benjaminitischen Land-
nahmesaga nennen könnte. Diese Ausweitung des Horizonts wird vor allem
durch drei Faktoren erreicht:
– Nirgendwo ist mehr von „Benjamin“, es ist immer nur von „Israel“ bzw. den
„Israeliten“ die Rede.
– Zur Zentralfigur des gesamten Geschehens wird Josua: kein Benjaminit, son-
dern ein Efraimit und damit Angehöriger des führenden Stammes im mittelpa-
lästinischen Bergland.
– Die lokal begrenzten Vorgänge in Jos *2–9 werden durch die Anfügung von Jos
*10–12 zu einer Landnahme Israels in ganz Süd- und Nordkanaan umgestaltet.
Wann könnte diese gesamtisraelitische Landnahmesaga entstanden sein? Es
müsste ein Zeitpunkt gewesen sein, zu dem man Juda und Israel als eine (wenn
vielleicht auch nur ideale) Einheit sah. Dies war sicher zur Zeit des davidisch-
salomonischen Königtums der Fall, doch dürfte das 10. Jh. für unsere Texte zu
früh sein. Wenig wahrscheinlich ist die Epoche der beiden Königreiche, in der
zwischen beiden Staaten kaum je freundschaftliche oder gar brüderliche Ver-
hältnisse bestanden; wenn, dann wäre mit der vermuteten Landnahmesaga gegen
202 C. Die Vorderen Propheten

die Realität angeschrieben worden. Dies gilt in gewisser Weise, und doch sehr
anders, auch für die Zeit nach dem Untergang des Nordreichs (722 v. Chr.): Der
Norden war jetzt assyrische Provinz, der Süden assyrischer Vasall; so konnte eine
neue „Landnahme“ für beide bitter nötig erscheinen. Als Ausgangspunkt bot sich
Benjamin an, das lange genug Zankapfel zwischen Nord und Süd war – und über
so eindrückliche Landnahmesagen verfügte. Gilgal, der mutmaßliche Haftpunkt
dieser Überlieferungen, stand dank seiner Randlage kaum im Zentrum assyri-
scher Aufmerksamkeit und zog doch Pilger aus Nord und Süd an. Dort und
damals konnte sehr gut eine Tradition gedeihen, die scheinbar von Israels Ver-
gangenheit erzählte, in Wahrheit aber sehr transparent war auf die Gegenwart.
Dieser Versuch einer Einordnung von Jos *2–12 kommt etwa in die Mitte zu
stehen zwischen den Ansätzen von NOTH (ein „Sammler“ um 900 v. Chr.) und
FRITZ (ein dtr Autor, möglicherweise zur Joschijazeit). Bei der Ansetzung in der
assyrischen Zeit ist der Schritt zur babylonischen Epoche und damit von der
Selbständigkeit der postulierten Saga zu ihrer Aufnahme ins dtr Geschichtswerk
zeitlich und sachlich nicht mehr sehr groß.
Ein eigenes Wort verdient noch Jos 12. Dass die Einordnung von Sihon und
Og in die Reihe der Könige Kanaans (12,1–6) dtr ist, wurde schon gesagt. Glei-
ches hat für die Beschreibung des eroberten Landes (12,7f.) zu gelten. Danach
folgt eine trockene Aufzählung von 31 Stadtkönigen, die Josua besiegt haben soll.
Die beiden ersten, die Könige von Jericho und Ai (12,9), dürften – wohl auf der
Ebene der Landnahmesaga – zwecks Rückbindung an Jos 2–8 zugefügt sein
(spricht deshalb die LXX in 12,24 „nur“ von 29 Königen?). Ab V. 10 folgt eine
Liste, die, soweit sich dies an Umwelttexten und archäologischen Daten über-
prüfen lässt, recht präzise die Welt der kanaanitischen Stadtstaaten am Ausgang
der Spätbronzezeit widerspiegelt. Auch hier ist eine Spätdatierung nicht ratsam.
Woher mag ein solcher Text stammen, und wo mag er aufbewahrt worden sein?
Man möchte eher an ein königliches Archiv als an ein Heiligtum denken. Wie
auch immer, die Liste eignete sich hervorragend zur Arrondierung der postu-
lierten israelitischen Landnahmesaga.

b) Die Landbesitz-Listen

A. ALT, Judas Gaue unter Josia (1925 =), in: Ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel,
II, München 1953, 276–288. – A. ALT, Das System der Stammesgrenzen im Buche Josua (1927 =):
Ders., Kleine Schriften, I, München 1953, 193–202. – M. NOTH, Studien zu historisch-geographi-
schen Dokumenten des Josuabuches (1935 =): Ders., ABLAK I, Neukirchen-Vluyn 1971, 229–280. –
Z. KALLAI, Historical Geography of the Bible, Jerusalem 1986. – J. C. DE VOS, Das Los Judas. Über
Entstehung und Ziele der Landbeschreibung in Josua 15, Diss. theol. Groningen 2002.

Das Listenmaterial in Jos 13–19 lässt sich unterteilen in Grenzlisten (zur Be-
schreibung des Wohngebietes einzelner Stämme) und Städtelisten (zur Benen-
nung der in einem Stammesgebiet gelegenen Ortschaften).
Zunächst zu den Städtelisten. Besonders ausführlich und auf Vollständigkeit
II. Das Josuabuch 203

bedacht wirken drei Stücke mit der Aufzählung der Ortschaften Judas (15,21–
62), Benjamins (18,21–28) und Dans (19,41–46 – vor der Umsiedlung Dans in
den Norden). Die hier beschriebenen Bereiche grenzen geographisch aneinander,
weshalb ALT meinte, sie zusammen und für sich nehmen zu können; in ihnen
bilde sich ein Groß-Juda ab, das Benjamin und erhebliche Teile Philistäas ein-
schließe und am besten in die Ära Joschijas passe. Nun gibt es freilich auch in-
nerhalb anderer Stammesbeschreibungen Ortslisten, nur wirken diese nicht so
umfassend und raumdeckend wie im Falle Judas (und Benjamins). KALLAI pos-
tulierte deswegen eine einst vollständige Städteliste für alle zwölf Stammesgebiete
und datierte diese hypothetische Quelle in die frühstaatliche Zeit. Doch ist eher
das Umgekehrte wahrscheinlich: Die Grenzlisten enthielten verschiedentlich
sporadische Notizen über jeweils zugehörige Ortschaften, und lediglich im Fall
Judas (und Benjamins) wurden diese Notizen zu einem flächendeckenden Sys-
tem ausgeweitet. Letzteres könnte tatsächlich zur Zeit Joschijas oder, wie DE VOS
meint, schon zur Zeit Manasses geschehen sein.
Vor-dtr Quellenmaterial dürfte auch im System der Stammesgrenzen verarbei-
tet sein. Vorausgesetzt, diesem hätte von vornherein die Vorstellung eines Zwölf-
Stämme-Israel unter Einschluss Judas zugrunde gelegen, stellt sich die Frage,
wann bzw. ab wann diese Idee erschwinglich war. Sicher ist, dass sie in der dtr
und dann auch in der priesterlichen und chronistischen Geschichtsschreibung
vertreten wird. Ist sie aber erst damals aufgekommen? Das wäre, bedenkt man
die damalige Realität – die tiefe Trennung und zunehmende Entfremdung zwi-
schen Nord und Süd sowie die Aufsplitterung in palästinisches und in sich
nochmals vielfältiges Gola-Judentum –, sehr erstaunlich. Die Idee eines Ge-
samtisrael mochte Halt geben gegenüber dieser Realität, doch dazu musste sie in
einer anderen, früheren Realität verwurzelt sein. Wieder scheidet die Zeit der
geteilten Reiche dafür aus. Gegen die vorstaatliche Zeit (die ALT favorisiert, wo-
mit die Grenzbeschreibungen nahezu zeitgenössisch würden) spricht, dass es vor
David keine politische Einheit, erst recht keinen „Stamm“ Juda gegeben hat. So
dürfte das System in der davidisch-salomonischen Ära entworfen worden sein,
um der fragilen Einheit der Doppelmonarchie einen Vorläufer in einem vormo-
narchischen Stämme-Israel zu geben.
Eine Parallele liegt in der salomonischen Distrikt-Liste 1Kön 4,7–19 vor (wo
es um die Versorgung des Hofes für je einen Monat geht), doch ist in ihr Juda
nicht einbegriffen. In der Grenzbeschreibung 2Sam 24,5–8 hingegen (wo es um
einen Zensus durch Davids Heerführer Joab geht) sind Nord und Süd zu einem
geschlossenen Ganzen zusammengefasst, doch fehlt dessen innere Ausfüllung.
Beides zusammengenommen und zurückprojiziert in die Zeit vor dem König-
tum, ergäbe ungefähr das Bild von Jos 15–19. Allerdings gehen schwerlich alle in
diesen Kapiteln untergebrachten geographischen Informationen auf die früh-
staatliche Zeit zurück (so KALLAI). Vielmehr ist mit sukzessiven Auffüllungen in
z. T. noch erheblich späterer Zeit zu rechnen. Man wird dabei freilich nicht so
weit gehen müssen wie DE VOS, der die Grundanlage von Jos 15–19 unter Ver-
weis auf die gerade in späten P-Schichten des Pentateuch so beliebten Listen für
204 C. Die Vorderen Propheten

eine axiomatische Aufstellung aus (spät-)nachexilischer Zeit hält, in der es um


das Land weniger als geographisch-politische Realität denn als geistliche Größe
geht.
Die Kartographen der frühen Königszeit werden ihre Angaben zu den Stam-
mesgrenzen nicht aus dem Nichts kreiert, sondern sich an bestimmte Tatsachen
oder auch Ansprüche gehalten haben. Gewiss wohnten die Stämme seit ihrer
Ansiedlung im 12. und 11. Jh. ungefähr da, wo die Listen von Jos 15–19 sie loka-
lisieren. Dass sie jeweils das gesamte ihnen dort zugesprochene Gebiet bewohnt,
dass in ihm nicht noch andere Gruppen (z. B. Kanaaniter) gewohnt hätten, ist
damit nicht gesagt. Gibeon und Jebus/Jerusalem etwa werden Benjamin zugewie-
sen (18,25.27), was mehr Postulat als Realität ist. Und die Distriktliste Salomos
1Kön 4,7–19 enthält neben den israelitischen Stammes- auch kanaanitische
Stadtstaatengebiete.
Das Listenmaterial des Jos-Buches ist jetzt in das Gewand einer Erzählung
gekleidet („… Und dann warf Josua das Los für … Und zuerst kam heraus das
Los von …“ usw.). Das bedeutet, dass die ursprünglich sicher im Nominalstil
gehaltenen Listen für den Kontext der Landnahmegeschichte umgestaltet worden
sind. Es wird dies kaum schon in der frühen Königszeit geschehen sein, sondern
erst, als die benjaminitische Landnahmesaga israelitisiert, die judäische Städte-
liste innerhalb der Stämmeliste untergebracht bzw. ausgebaut und die Erzähl-
mit den Listenmaterialien zu einer großen Landnahme- und Landgabedarstel-
lung verschmolzen wurden. Mit Sicherheit ist dieser Stand in der Grundfassung
des dtr Geschichtswerks erreicht, möglicherweise aber auch schon in der Joschi-
jazeit (was nach dem Blockmodell ja in eins fällt!). Es ist sehr wohl denkbar, dass
im antiassyrischen Aufbruch unter Joschija ein „Buch von der Landnahme Is-
raels“ entstand, das einen programmatischen Anspruch von bemerkenswerter
geographisch-politischer Reichweite proklamierte und insofern eine Art Propa-
ganda- oder doch Ermutigungsschrift in einer Zeit unüberschaubarer Umbrüche
war. Man könnte sie proto-dtr nennen – nur dass die typischen sprachlichen und
theologischen Kennzeichen des Deuteronomismus noch fast völlig fehlen.

c) Zur Gestalt Josuas

Gab es einen historischen Josua, und wo in der älteren Überlieferung hat er sei-
nen ursprünglichen Ort? Die Stellen innerhalb des Pentateuch, an denen er auf-
tritt, scheiden zur Klärung dieser Frage nach übereinstimmender Meinung der
Forschung aus. Auch in den Stammes- und Städtelisten von Jos 13ff. hat er kaum
seinen genuinen Platz – abgesehen vielleicht von einer Ausnahme (vgl. dazu ALT,
Josua): Nach Jos 17,14–18a regelt er einen Konflikt um zu enge Stammesgrenzen
für die Stämme Efraim und Manasse. Die Regelung läuft darauf hinaus, dass den
Siedlern die Niederlassung in einer gebirgigen und baumreichen Gegend nahe-
gelegt wird. Hier hätte Josua eine Art Stammesführerschaft in dem sich konsoli-
dierenden „Haus Josefs“ (einem Zusammenschluss von Efraim und Manasse)
II. Das Josuabuch 205

inne, die ihn zu Schiedsgericht und gesellschaftlichen Neuerungen ermächtigte.


Tatsächlich war Josua von Herkunft Efraimit und befand sich seine Begräbnis-
stätte in einem efraimitischen Ort (24,30).
Dies wiederum macht es unwahrscheinlich, dass er an der Landnahme des
Stammes Benjamin, wie sie in Jos *2–9 abgebildet wird, beteiligt war. Sicher nicht
zu Hause ist er auch in der Erzählung von der Eroberung des Nordens, Jos 11;
denn diese ist (mit ZOBEL) als eine Fortentwicklung der Tradition von Ri 4 anzu-
sprechen. Anders die Parallelerzählung über die Eroberung des Südens, und hier
insbesondere der Bericht über die Schlacht bei Gibeon und die anschließende
Hinrichtung der an ihr beteiligten feindlichen Stadtkönige (*10,1–27). Der An-
schluss dieser Erzählung an die vorangehende von der Nicht-Eroberung Gibeons
(Jos 9) ist wohl erst auf der Ebene der israelitischen Landnahmesaga erfolgt.
Doch in der Schilderung des Schlachtverlaufs (Jhwh schleudert [Hagel-]Steine
auf die flüchtenden Feinde, V. 11) und im Zitat eines Liedes aus dem „Buch des
Aufrechten“ („Sonne, stehe still zu Gibeon, und Mond im Tal von Ajjalon“,
V. 12f.), wohl auch in der Lokalsage von der Höhle bei Makkeda (10,16–27),
stößt man auf überlieferungsgeschichtliches Urgestein. Das bestätigt der Prophet
Jesaja im 8.Jh., wenn er – offensichtlich in Umkehrung der Erinnerung an eine
große, siegreiche Schlacht bei Gibeon – schweres Unheil androht: „Wie am Berg
Perazim wird Jhwh sich erheben, wettern wie im Tal bei Gibeon, um seine Tat zu
verrichten – seltsam sein Tun! –, und sein Werk zu vollbringen – fremdartig sein
Werk!“ (Jes 28,21) Gibeon lag nahe genug am Stammesgebiet von Efraim, dass
ein efraimitischer Stammesführer sich dort in einen Kampf mit dem Stadtkönig
von Jerusalem und einigen mit ihm verbündeten Königen verwickeln konnte.
Aus der siegreich bestandenen Konfrontation erklärte sich das ungeheure Anse-
hen, das Josua genossen haben muss, um nach und nach zur Zentralfigur der
Landnahme ganz Israels avancieren zu können.
206 C. Die Vorderen Propheten

III. Das Richterbuch


Kommentare: H.-W. HERTZBERG, 1953 (ATD). – J. A. SOGGIN, 21987 (OTL). – M. GÖRG, 1993 (NEB).
– S. NIDITCH, 2001 (OBC, 176–191). – D. M. GUNN, 2005 (Blackwell Bible Commentaries). – S.
NIDITCH, 2008 (OTL). – M. E. BIDDLE, Reading Judges. A Literary and Theological Commentary,
Macon, Ga. 2012. – B. G. WEBB, 2012 (NICOT). – S. FROLOV, 2013 (FOTL).
Einzelstudien: M. NOTH, Das System der zwölf Stämme Israels, 1930 (BWANT 52); Nachdruck 1966.
– M. WEINFELD, The Period of the Conquest and of the Judges as Seen by the Earlier and the Later
Sources: VT 17 (1967), 93–113. – W. RICHTER, Die sogenannten vorprophetischen Berufungsbe-
richte, 1970 (FRLANT 101). – F. CRÜSEMANN, Der Widerstand gegen das Königtum. Die antikönigli-
chen Texte des Alten Testamentes und der Kampf um den frühen israelitischen Staat, 1978
(WMANT 49). – M. BUBER, Der Glaube der Propheten, Heidelberg 21984. –L. R. KLEIN, The
Triumph of Irony in the Book of Judges, 1988 (JSOT.S 68). – U. BECKER, Richterzeit und Königtum,
1990 (BZAW 192). – V. FRITZ, Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart
1996 (Biblische Enzyklopädie 2). – R. H. O’CONNELL, The Rhetoric of the Book of Judges, 1996 (SVT
63). – G. MOBLEY, The Empty Man. The Heroic Tradition of Ancient Israel, New York 2005. – R.
JOST, Gender, Sexualität und Macht in der Anthropologie des Richterbuches, 2006 (BWANT 164). –
I. DE CASTELBAJAC, Le cycle de Gédéon ou la condamnation du refus de la royauté: VT 57 (2007),
145–161. – G. A. YEE (ed.), Judges and Method. New Approaches in Biblical Studies, Minneapolis
2
2007. – E. T. A. DAVIDSON, Intricacy, Design and Cunning in the Book of Judges, Philadelphia, PA
2008. – G. K. OESTE, Legitimacy, Illegitimacy, and the Right to Rule. Windows on Abimelech’s Rise
and Demise in Judges 9, New York 2011 (LHBOTS 546). – W. GROSS / E. GASS, Studien zum Richter-
buch und seinen Völkernamen, 2012 (SBAB 54). – A. BRENNER / G. A. YEE (eds.), Joshua and Judges,
Minneapolis 2013 (Texts and Contexts).
Forschungsbericht: R. BARTELMUS, Forschung am Richterbuch seit Martin Noth: ThR 56 (1991), 221–
259.

Das Ri-Buch zeigt einen dreiteiligen Grundaufbau: Ein großer Mittelteil über
„Retter und Richter Israels“ (3,7–16,31) wird umschlossen von einem Eingangs-
teil über „Lebensbedingungen der Stämme Israels“ (1,1–3,6) und einem Schluss-
teil mit Erzählungen über „Wirren unter den Stämmen Israels“ (17,1–21,25).
Die Teile lassen sich weiter so untergliedern:
Eingangsteil: Neben den Israeliten bleiben Nichtisraeliten im Land (1,1–2,6); die
Richterzeit ist gekennzeichnet durch ein ständiges Auf und Ab von Treue Israels
gegen Jhwh, Untreue, Bedrängnis durch Feinde, Umkehr Israels, Erbarmen
Gottes, Aufstehen eines Retters, Rettung vor den Feinden, erneuter Untreue usw.
(2,6–19); die Nichtisraeliten im Land sollen zum Prüfstein der Treue und Stärke
Israels werden (2,20–3,6).
Hauptteil: Eine Reihe von Rettern, die aus verschiedenen Stämmen Israels stam-
men, retten Israel vor einer Reihe von Feindvölkern: der Kalibbiter bzw. Judäer
Otniel vor den Aramäern (3,7–11), der Benjaminit Ehud vor den Moabitern
(3,12–30), ein gewisser Schamgar vor den Philistern (3,31), der Naftalit Barak
und die Benjaminitin Debora vor den Kanaanitern (Ri 4f.), der Manassit Gideon
vor den Midianitern (Ri 6–9), der Gileadit Jiftach vor den Ammonitern (Ri 10–
12) und der Danit Simson vor den Philistern (Ri 13–16). Die Erzählungen über
Jiftach sind in sich wieder gerahmt durch eine Liste sog. „Kleiner Richter“, die
Israel je eine Zeitlang „regierten“ (10,1–5; 12,7–15).
III. Das Richterbuch 207

Schlussteil: Zwei Erzählfolgen handeln von der Entstehung des Heiligtums in


Dan (Ri 17f.) und von schweren Übergriffen und kriegerischen Auseinanderset-
zungen zwischen den Stämmen, voran Efraim und Benjamin (Ri 19–21).

Die im Ri-Buch verarbeiteten Stoffe – so disparat sie scheinen (und tatsächlich


auch sind) – haben ihren gemeinsamen Nenner darin, dass sie von der Zeit han-
deln, in der sich die Stämme Israels im Land niedergelassen, sich aber noch nicht
zum Staat zusammengeschlossen hatten. In der Realzeit hat diese Epoche annä-
hernd zwei Jahrhunderte gedauert; nach den chronologischen Angaben im Buch
wären es weit mehr als 300 Jahre gewesen. Diese Zeit erscheint insgesamt als
unruhig und gefährdet: bedroht durch äußere Feinde und innere Wirren, der
biblischen Darstellung zufolge aber vor allem durch die Neigung Israels zur Un-
treue gegen Jhwh. Das Buch als ganzes scheint einer absteigenden Linie zu fol-
gen: von lichten Anfängen (unter Josua) über steten Wechsel zwischen Licht und
Schatten (die wiederholte Errettung Israels aus tödlicher Gefahr) bis hin zu
einem düsteren Ende (dem Chaos von kultischer Eigenmächtigkeit und kollekti-
ver Gewalttätigkeit, in dem die Stämme versinken).

KLEIN bringt diese Beobachtung auf den nur teilweise treffenden Begriff zunehmender
„Ironisierung“. Im Eingangsteil (Ri 1–3) herrsche noch ein ernsthafter Ton vor, mit
dem der Leserschaft erklärt werde, an welchem Maßstab das Folgende zu messen sei.
Doch schon die dritte Erklärung für das Vorhandenbleiben von Nicht-Israeliten im
Lande – als Trainingspartner für den Krieg (3,1–6) – sei mit einem Augenzwinkern
geschrieben. Danach dann gerate jede einzelne Retterfigur vom Ernsthaften ins Ko-
misch-Traurige: Dem Helden Barak wird ein Teil seines Mannesstolzes durch Debora
und Jaël genommen, neben denen er recht blass wirkt. Gideon beginnt eindrucksvoll,
verkommt dann aber zu einem Götzenbild-Hersteller; erst recht sein missratener Sohn
Abimelech macht ihm alle Unehre. Jiftach, anfangs ein großer Held, ist verantwortlich
für den Tod zuerst seiner eigenen Tochter und danach von 42 000 Landsleuten aus
dem Stamm Efraim. Simson ist zwar ein starker Held, dabei aber eine grotesk-burleske
Figur, die zum traurigen Ende Wachs in den Händen einer Frau und ein – wenn auch
teures – Opfer seiner Feinde werde. In der Reihe dieser Gestalten sinke der Grad an
Ernsthaftigkeit und Gottgemäßheit, steige hingegen der an Wankelmütigkeit und
Eigenmächtigkeit. Beides werde in den Erzählungen Ri 17f.; 19; 20f. (Klein sieht hier
eine Dreiteilung) bis ins Extrem, ins Schauerlich-Absurde getrieben.
JOST geht den Frauengestalten nach, die entgegen dem ersten Augenschein im Ri-
Buch eine tragende Rolle spielen. Auch hier gibt es eine absteigende Linie: von den
siegreichen Heldinnen Debora und Jaël (Ri 4f.) über die Frau von Tebez, die den
Tyrannen Abimelech tötet (9,50–54), und die Tochter Jiftachs, die auf tragische Weise
ihrem Vater ihr Leben opfern muss (11,30–40), ferner die Frauen im Umkreis Sim-
sons – seine Mutter, die lange unfruchtbar war und dann doch gebar (Ri 13), seine
erste philistäische Gattin, die nicht zu ihm hielt und ihm vorenthalten wurde (Ri 14),
die Hure von Gaza, die ihn beinahe, und seine zweite philistäische Gattin, Delila, die
ihn vollends das Leben kostete (Ri 16) – bis zu jener namenlosen Frau, die einer Mas-
senvergewaltigung zum Opfer fiel (Ri 19), und schließlich den Mädchen von Jabesch
und Schilo, die zwangsweise den Männern des vom Aussterben bedrohten Stammes
Benjamin zugeführt wurden (Ri 21). Laut JOST spiegelt sich in den Erzählungen eine
208 C. Die Vorderen Propheten

grundlegende Erfahrung: Je weitgehender eine Gesellschaft egalitär und segmentär


strukturiert ist, desto mehr Freiraum erhalten und desto mehr Stärke entfalten
Frauen, während umgekehrt durch hierarchische Verhältnisse und ungleichmäßige
Verteilung von Macht und Einfluss zuallererst Frauen benachteiligt und behindert
werden.

Kann man also das Ri-Buch auch als durchgehend gestaltete Erzählung lesen,
bleibt dem prüfenden Blick doch nicht verborgen, dass in ihm heterogene Stoffe
erst durch redaktionelle Bearbeitung zu einer leidlich geschlossenen Einheit
verbunden worden sind.

1. Redaktion
W. RICHTER, Die Bearbeitungen des „Retterbuches“ in der deuteronomischen Epoche, 1964 (BBB
21). – A. G. AULD, Judges I and History: a Reconsideration: VT 25 (1975), 261–285. – T. VEIJOLA, Das
Königtum in der Beurteilung der deuteronomistischen Historiographie, Helsinki 1977. – R. SMEND,
Das uneroberte Land, in: G. Strecker (Hg.), Das Land Israel in biblischer Zeit, Göttingen 1983, 91–
102. – F. E. GREENSPAHN, The Theology of the Framework of Judges: VT 36 (1986), 385–396. – W.
DIETRICH, Geschichte und Gesetz, in: Ders., Von David zu den Deuteronomisten, 2002 (BWANT
156), 217–235. – R. MÜLLER, Königtum und Gottesherrschaft, 2004 (FAT 2/3 ). – M. RAKE, „Juda
wird aufsteigen!“ Untersuchungen zum ersten Kapitel des Richterbuches, 2006 (BZAW 367).

Es war eine offensichtlich dtr (und vermutlich mehrstufige) Redaktion, die dem
Ri-Buch seine jetzige Gestalt gab. Sie verfolgte hauptsächlich zwei Gesichts-
punkte, einen mehr religiösen und einen mehr politischen:
– Die Geschichte der Richterzeit sollte als wesentlich durch das Verhältnis zwi-
schen Jhwh und Israel bestimmt erscheinen.
– Es sollte gezeigt werden, wie Israel in dieser Epoche als Stämmebund organi-
siert war, welche Stärken und Schwächen dieses System hatte, und wie sich nach
und nach die Notwendigkeit zur Gründung eines Staates herausstellte.

a) Der Diskurs über das Verhältnis Jhwh-Israel

Dass Israels Ergehen in der vorstaatlichen Zeit von seinem Verhalten gegenüber
Jhwh abhing – bei Abkehr Bedrohung durch Feinde, bei Rückkehr Errettung vor
den Feinden –, hat die dtr Redaktion im Wesentlichen in zwei Textbereichen
herausgearbeitet: in der Einleitung zum Gesamtbuch (Ri 1–3) und in den Rah-
mungen der Rettergeschichten.

Um mit dem Zweiten zu beginnen: Die Rettergeschichten sind bis in einzelne


Formulierungen hinein stereotyp gerahmt:
– Israel tut das in den Augen Jhwhs Schlechte, meist ausdrücklich beschrieben als
Abwendung von Jhwh und Hinwendung zu anderen Göttern (3,7.12; 4,1; 6,1;
8,33; 10,6; 13,1).
III. Das Richterbuch 209

– Jhwh ist erzürnt und gibt Israel in die Hand eines Feindes, dessen Aktivitäten
meist noch kurz geschildert werden (3,8.12; 4,2; 6,1; 10,7; 13,1).
– Israel schreit zu Jhwh um Hilfe (3,9.15; 4,3; 6,6; 10,10).
– Jhwh lässt einen Retter erstehen (3,9.15 – danach dann jeweils ersetzt durch
eine einschlägige „Berufungserzählung“).
Die Berichte darüber, wie die Retter mit den jeweiligen Feinden fertig wurden,
sind unterschiedlich umfangreich und höchst unterschiedlich gestaltet. Am Ende
jedoch werden sie zumeist formelhaft abgeschlossen:
– Israel genießt nach dem Sieg des Retters und bis zu dessen Tod eine Zeit der
Ruhe (3,11.30; 5,31; 8,28 – nur mehr angedeutet in 11,33; 15,20/16,31: Zeichen
der absteigenden Linie im Gesamtbuch).
Danach beginnt das „Spiel“ von neuem: Israel fällt wieder zu anderen Göttern ab,
usw.
Durch diese Rahmung werden die disparaten Einzelstoffe nicht nur miteinander
verbunden, sondern auch geschichtlich und theologisch interpretiert. Für Israels
Ergehen sind nicht politische, militärische oder ökonomische Gegebenheiten
oder Entwicklungen entscheidend, sondern sein Gottesverhältnis. Jhwh lenkt die
Geschichte jeweils so, wie Israel es „verdient“, so dass zwischen dem Tun und
dem Ergehen Israels ein unmittelbarer geschichtlicher Zusammenhang entsteht
(bzw. die Geschichte im Sinne eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs funktio-
niert). Dabei will Jhwh für Israel grundsätzlich Gutes; wenn Israel aber schlecht
handelt, vergilt er ihm ohne Zögern mit Schlechtem.
Diesen Rahmungen im Mittelteil entspricht der zentrale Passus im Einlei-
tungsteil des Buches, 2,10–19. Es ist dies gleichsam eine Kurzfassung der gesam-
ten nachfolgenden Geschichte, wobei aber konkrete geschichtliche Inhalte fehlen
und nur die Gesetzmäßigkeit, nach der die Geschichte verläuft, vorgeführt wird:
– Israel tat [scil. damals, in der Richterzeit, und zwar immer wieder] das in den
Augen Jhwhs Schlechte: Es verließ Jhwh und lief anderen Göttern nach (2,10–
12).
– Jhwh war über Israels Untreue erzürnt und gab es in die Hände von „ringsum-
her“ lebenden Räubern und Feinden (2,13–15).
– Israel schrie in seiner Not zu Jhwh (in 2,16 merkwürdigerweise fehlend, aber
sinngemäß zu ergänzen).
– Jhwh ließ Richter erstehen, die Israel aus der Hand der Räuber erretteten
(2,16).

Unverkennbar wird hier eine Lesehilfe zum rechten Verständnis alles Folgenden,
ja der Geschichte Israels überhaupt gegeben: Seit seinen allerersten Anfängen
(vgl. Jos 24,14f.) besaß dieses Volk eine Neigung zum Abfall von seinem Gott, die
durch die „ringsumher“ wohnenden Völker immer wieder bestärkt wurde. Jhwh
reagierte auf die Treulosigkeit Israels, indem er es an eben jene Völker – eines
nach dem anderen – auslieferte. Israel kam daraufhin immer wieder zur Besin-
nung, wandte sich zurück zu seinem Gott; dieser erweckte einen Retter, der
210 C. Die Vorderen Propheten

seinem Volk zu einer Periode ungetrübter Harmonie mit Gott verhalf. Das
Israelbild, das hier gezeichnet wird, wirkt wenig schmeichelhaft, und auch das
Gottesbild ist nicht unbedingt gewinnend. Beides ist geprägt von bitteren
Erfahrungen, deren schlimmste, das Exil, düster durch die Zeilen schimmert.
Andererseits wird durchaus auch angedeutet, wie Israel Rettung zuteil werden
könnte: Indem es des Zornes Gottes und daraufhin seiner eigenen Sünde gewahr
wird, umkehrt und Gottes Hilfe erfährt.
Die einzelnen Facetten dieses geschichtstheologischen Systems seien noch
etwas näher beleuchtet:
– Israel bleibt so lange bei seinem Gott, wie der jeweils letzte Retter am Leben ist.
In seltsamer Weise ist dieses Denken auf den Mann an der Spitze ausgerichtet –
und damit wohl noch zutiefst monarchisch strukturiert. (In spät-dtr Textschich-
ten wird dieser Zug weichen.)
– Israels Verfehlung besteht im Abfall zu fremden Göttern: eine auffällig religiöse
Sicht von Sünde. Freilich steht im Hintergrund das Dtn, und dieses enthält kei-
neswegs nur Kult- und Religionsgesetze, sondern auch Familien-, Sozial-, Wirt-
schafts-, Kriegs- und Institutionenrecht. Insofern meint der Dienst fremder
Götter wohl nicht nur ein religiöses Fehlverhalten, sondern ein nicht JHWH-
gemäßes Leben in einem weiten Sinn.
– Dass Jhwh die Untreue seines Volkes nicht einfach hinnimmt, muss nicht als
eine aus Eifersucht geborene Negativ-Reaktion, sondern kann positiv als die
strenge Seite seiner Liebe zu Israel verstanden werden, die dieses Volk nicht
ungehindert ins Unglück laufen lassen will.
– Gott wirkt dann nicht von außen her, durch wunderhafte Eingriffe, auf die
Geschichte ein, sondern er lenkt sie gleichsam immanent. Diese Vorstellung ist
rational und transrational in Einem. Sie erfordert einerseits die sorgfältige
Wahrnehmung der Geschichte, rechnet andererseits aber mit deren Transparenz
auf das Handeln Gottes. Von Gott, davon ist der hier schreibende Autor über-
zeugt, muss geschichtlich und von der Geschichte kann nicht ohne Gott geredet
werden.
– Sobald sich Israel reumütig zu seinem Gott zurückwendet, wendet sich Gott
hilfsbereit ihm zu – und zwar wiederum dezidiert innerweltlich. Die konkrete
Bedrohung wird konkret behoben. Gott bedient sich eines Retters – einmal auch:
einer Retterin –, die ihrerseits handfeste Mittel einsetzen: Truppen, Waffen,
Überfälle, Kriegslisten, einmal auch: einen Eselskinnbacken. Durch die Helden-
taten der Retter wird nicht nur eine Phase militärisch-politischer Ruhe, sondern
auch eines ungetrübten Gottesverhältnisses erreicht.
Dem Autor, der diese Einleitung zur Richterzeit verfasst hat, ist auch die erste
Rettergeschichte zuzuschreiben. Mit ihr sollte ein Lehrbeispiel für das Funktio-
nieren des von ihm beschriebenen Geschichtsablaufs geboten und sollten zu-
gleich auch gewisse Lücken geschlossen werden, welche die Quellen ließen; denn
in den noch folgenden Rettergeschichten fehlt eine Rettergestalt aus dem Gebiet
Judas, so wie auch ein bestimmtes Feindvolk fehlt, das Israel im Lauf der Ge-
schichte immer wieder schwer zu schaffen machte: die Aramäer. Auf diesen
III. Das Richterbuch 211

beiden Eckdaten und dem dtr Richter-Schema basiert die kurze Erzählung vom
Retter Otniel, Ri 3,7–11.

Alles verläuft schulbuchmäßig:


– V. 7: Israel (offenbar unter Einschluss Judas) diente nicht mehr Jhwh, sondern
den „Baalen und Ascheren“ (einige Textzeugen haben, wohl richtiger, „Aschta-
rot“ bzw „Aschtarte“). Baal und Aschtarte waren einmal die himmlischen Reprä-
sentanten der kanaanitischen Fruchtbarkeitsreligion; in der dtr Rückschau sind
sie zu einer Vielzahl göttlicher Wesen mutiert.
– V. 8: Der Zorn Jhwhs entbrannte, und er verkaufte Israel in die Hand Kuschan-
Rischatajims, des Königs von Aram-Naharajim (das wären Aramäer im Zwei-
stromland; der Name des Königs ist pure Erfindung); Israel dient ihm acht Jahre
lang – wieder ein Element des chronologischen Gerüsts, das die dtr Geschichts-
darstellung durchzieht.
– V. 9: Die Israeliten schrien zu Jhwh, und dieser richtete ihnen einen Retter auf
in Gestalt Otniels, des Sohnes Kenaz’, des jüngeren Bruders Kalebs (ein Rückbe-
zug auf Jos 14,6ff. und vor allem 15,13ff., wo Otniel bereits auftritt und die Kalib-
biter als Untergliederung Judas vorgestellt werden).
– V. 10: Der „Geist Jhwhs“ kam über Otniel (wie dann noch über weitere Retter,
z. B. Ri 6,34; 11,29; 13,25; 1Sam 10,6) und verhalf ihm zu dauerhaftem Erfolg
über Kuschan-Rischatajim.
– V. 11: Das Land hatte vierzig Jahre lang Ruhe (wieder ein Element des chro-
nologischen Gerüsts), danach starb Otniel – woraufhin die Geschichte von Ab-
fall, Strafe usw. von neuem beginnen konnte.

Der Autor, dessen Texten wir bisher nachgegangen sind, ist der erste dtr Redak-
tor bzw. der Grundverfasser des dtr Geschichtswerks (DtrH). Seine exilische
Leserschaft wird die Botschaft von Schuld und Strafe, Umkehr und Rettung wohl
verstanden haben. Doch die Zeiten und die Bedürfnisse änderten sich. Später
drängte es andere dtr Autoren (DtrN), andere Aspekte des Jhwh-Israel-Verhält-
nisses zur Geltung zu bringen, die ihnen in dem Grundtext zu wenig betont
schienen. Die jetzt offenbar dringend gewordene Frage war die nach dem Ver-
hältnis der Jhwh-Gläubigen zu den Angehörigen anderer Völkerschaften und
Religionen, mit denen sie offenbar in unmittelbarer Berührung standen. Diese
Frage wird historisierend in die Zeit nach der Landnahme zurückverlagert. Die
Kerntexte dieser Bearbeitungsschicht sind Ri 1,1–2,6 (Ausführungen über nicht
erobertes Land) und 2,20–3,6 (Erklärungen für die Anwesenheit von Nichtisrae-
liten im Land).
Schon immer ist die umfangreiche Dublette in Jos 24,28–31 und Ri 2,6–9
aufgefallen: An beiden Stellen wird fast wortgleich mitgeteilt, dass Josua (nach
der Versammlung in Sichem) das Volk entließ, dass er danach im Alter von 110
Jahren starb und in Timnat-Serach beigesetzt wurde und dass Israel, solange er
und seine Generation lebten, treu zu Jhwh hielt. Die Doppelung erklärt sich am
ehesten so, dass mittels einer „Wiederaufnahme“ der Stoff zwischen Jos 24,32
212 C. Die Vorderen Propheten

und Ri 2,5 sekundär in einen älteren Text eingefügt wurde. Da Jos 24 und Ri
2,10ff. im Wesentlichen im Werk von DtrH standen, hat man es beim Zwischen-
stück mit einer (oder mehreren) spät-dtr Ergänzung(en) zu tun.
Ri 1 bietet etwas wie eine kurze Variante zur großen Landnahmeerzählung im
Josuabuch (AULD), nur dass diesmal das Problem des nicht eroberten Landes im
Vordergrund steht. Es beginnt noch recht positiv und legendenhaft mit Juda und
Simeon, die gemeinschaftlich den Süden Palästinas erobern, einen König namens
Adonibesek schlagen, gar Jerusalem zerstören (vgl. dagegen die Negativ-Notiz
1,21) und eine Reihe weiterer (als judäisch bekannter) Städte erobern. Die Ver-
bände der Kalibbiter und der Keniter kommen eigens zum Zuge, sehr weit im
Südland; in 1,12ff. findet sich eine Besitzstands-Ätiologie über bestimmte, von
Kaleb genutzte Quellen. Juda vermag sogar Philisterstädte zu erobern (was sicher
unhistorisch ist – und auch die von DtrH im Jos-Buch gezogenen Grenzlinien
überschreitet). Was den judäischen Süden anlangt, vertritt diese Version der
Landnahme also eine überaus positive Sicht. Dann aber, ab V. 21, kommt der
Norden in den Blick. Zu ihm zählt offenbar schon der Stamm Benjamin, der die
Jebusiter nicht aus Jerusalem vertreibt (1,21; eine merkwürdige Feststellung,
hinter der sich womöglich eine gewisse Aversion gegen Jerusalem verbirgt). Der
Hauptstamm „Josef“ – in seltsamer Unausgeglichenheit mit den nachfolgenden
Mitteilungen über „Manasse“ und „Efraim“, die sonst zusammen „Josef“ bilden –
kann immerhin Bet-El erobern (1,22–26, erzählt in Anlehnung an die Eroberung
Jerichos Jos 2+6). Von da an folgen nur noch negative Besitzanzeigen: Manasse
eroberte die Städte des Querriegels zwischen Dor und Bet-Schean nicht (1,27f.),
so wenig wie Efraim Geser besetzte (1,29) oder Sebulon Kitron und Nahalol
(1,30) oder Naftali Bet-Schemesch und Bet-Anat (1,33) oder Dan Har-Heres,
Ajjalon und Schaalbim (1,34f.), zu schweigen von Ascher, das seinerseits „unter
den Kanaanitern wohnte“ (1,31f.). Überall im Bereich der nordisraelitischen
Stämme blieben also Kanaaniter im Wohngebiet Israels wohnen; zwar wurden,
wie immer wieder betont wird, die meisten von ihnen später, als Israel
„erstarkte“ (d. h. in der Königszeit), fronpflichtig, bildeten also politisch keine
Gefahr mehr, doch ihre pure Anwesenheit bedeutete eine religiöse Gefahr.
Herkommend vom dtr Josuabuch, wird man die stereotype Feststellung „Es
besetzte nicht …“ nicht nur als bloße Tatsachenfeststellung oder gar als Ent-
schuldigung („Es vermochte nicht zu besetzen“), sondern als Tadel zu begreifen
haben: Die Nordstämme taten das nicht, was zu tun sie verpflichtet gewesen
wären, und ließen sich stattdessen auf eine Koexistenz mit Kanaan ein: ein Ver-
gehen, das in spät-dtr Texten wie Dtn 7,1–6; 12,1–4; Jos 23,12f. scharf gebrand-
markt wird. In alledem – wie auch in dem in Ri 1 zu beobachtenden, ungemein
tendenziösen Süd-Nord-Gefälle – ist sicher eine stark prägende redaktionelle
Hand am Werk zu sehen (AULD, SMEND). Andererseits dürfte die Kenntnis von
mehr als zwanzig früheisenzeitlichen Städten, die als vorisraelitische Gründun-
gen in israelitischem Siedlungsgebiet lagen, in exilisch-nachexilischer Zeit ohne
das Vorliegen einer entsprechenden Quelle kaum mehr erschwinglich gewesen
sein (vgl. die ähnlichen Phänomene in Jos 12,7–24 und 1Kön 4,7–19). So wird
III. Das Richterbuch 213

man Ri 1 als eine spät-dtr, sich aber auf ältere Informationen stützende Darstel-
lung der (unvollkommenen) Landnahme Israels zu sehen haben.
In 2,1–5 lässt der spät-dtr Redaktor den „Engel Jhwhs“ die geschichtstheologi-
sche Summe aus dem eben Mitgeteilten ziehen: Jhwh – der übrigens in Ich-Rede
spricht – habe Israel aus Ägypten ins Land geführt, und Israel hätte unter keinen
Umständen einen Bund mit den Bewohnern dieses Landes schließen, sondern
deren Altäre niederreißen sollen. Doch nun habe es nicht gehorcht und werde
die Folgen zu tragen haben: eine Bußpredigt, die das Volk in Weinen ausbrechen
lässt. (Mit dem „Weinen“ wird der Ortsname „Bochim“ erklärt: eines von meh-
reren Beispielen dafür, dass gerade die spät-dtr Redaktion das Stilmittel der
Ätiologie liebt, vgl. noch Jos 7,26; Ri 1,26 u. ö.)
Nachdem mit 2,6–9 zum älteren (DtrH-)Text zurückgelenkt und dessen Vor-
schau auf die Richterzeit in 2,10–19 rezitiert (in 2,17 auch nomistisch erweitert)
ist, wird noch einmal das Problem des uneroberten Landes zur Sprache gebracht:
Jhwh habe angesichts der fortgesetzten Untreue Israels beschlossen, die bei der
Landnahme übrig gebliebenen Fremdvölker nie mehr zu vertreiben, sondern sie
zur ständigen Prüfung Israels im Land zu lassen (2,20–23; äußert sich hier die
Einsicht in die Irreversibilität der Fremd-, genauer: der Perserherrschaft?).
Die Gedanken von 2,20–23 kehren noch einmal in 3,5f. wieder. Dieser erneute
Fall einer „Wiederaufnahme“ deutet darauf, dass der Passus 3,1–4 entweder
nochmals sekundär oder aus älterer Überlieferung in das DtrN-Stratum einge-
setzt worden ist. Die Behauptung, die fremden Völker seien als Übungspartner
Israels zum Erlernen des Kriegshandwerks im Land geblieben, würde evtl. zum
Ri-Buch des DtrH passen, könnte aber auch in späteren, politisch erhitzten Zei-
ten hinzugefügt worden sein. – Dem Grundton der DtrN-Schicht näher sind die
Abschnitte 6,7–10 und 10,10–16. Im ersten tritt ein „Prophet“ auf und ver-
pflichtet Israel einmal mehr darauf, Jhwh allein zu dienen – und nicht „den Göt-
tern der Amoriter (ein Austauschname für ‚Kanaaniter‘), in deren Land ihr
wohnt“ (6,10). Im zweiten redet Gott selbst zu den Israeliten, hält ihnen den
Abfall zu fremden Göttern vor und droht damit, ihnen nicht mehr vor den frem-
den Völkern zu helfen; Israel geht daraufhin in sich und „beseitigt“ die fremden
Götter (sprich: Götterbilder) aus seiner Mitte.
Die beiden dtr Linien, die im Jos-Buch zu beobachten waren, setzen sich somit
im Ri-Buch fort: Geht es der einen, älteren um den Besitz und die Sicherung des
Landes gegen die umgebenden Völker (darunter übrigens Kanaan: Ri 4f.!), so der
anderen, späteren um die Frage der Berührung mit bzw. der Trennung von
nicht-jahwistischen Religionen. Dabei kann, ja muss die jüngere Version eine
bescheidenere – und historisch zutreffendere! – Sicht der Landnahme vertreten
als die ältere. Die zuvor flächig israelitisch eingefärbte Landkarte Israels ist nun
durchsiebt mit kanaanitischen Städten. Mit ihnen hatte (und hat) Israel fremde
Religionen im eigenen Land. Genau genommen wird das in Ri 1 nur für den
Norden festgestellt, handelt es sich also um eine Theodizee für den Untergang
Nordisraels 722 v. Chr., evtl. auch schon um eine Abgrenzung gegen die „proto-
samaritanische“ Bevölkerung der Gebiete nördlich von Juda und Jerusalem, vgl.
214 C. Die Vorderen Propheten

2Kön 17,24–41. RAKE datiert denn auch schon den Grundbestand von Ri 1, den
sie in 1,1.2a.*4a.5f.8b.10a.11.19a.21.22a.23b–26.*27.29,34a.35 sucht, entschieden
und mit beachtlichen Gründen in die (früh)persische Periode, als das Judentum
sich verschärft gegen alles „Fremde“ und auch schon gegen „Samaria“ abgrenzte.
So richtet sich der Text untergründig auch an Juda (oder eben die persische Pro-
vinz Jehud), indem er nicht nur eine Begründung dafür bietet, dass der judäische
Staat länger existiert hat als der israelitische: Die Vorfahren haben laut Ri 1 viel
kompromissloser mit den Kanaanitern aufgeräumt als die Ahnen Nordisraels.
Doch die Verdienste der Urväter konnten, wie die Geschichte des ebenfalls von
Untreue gegen Jhwh geplagten Königreiches Juda zeigt, die Späteren nicht an
Torheiten hindern, die denen im Norden ähnlich waren. Auch in Juda wäre
Abgrenzung das oberste Gebot gewesen – und ist es noch immer! Damit deutet
sich an, was seit dem Exil für die innere Geschichte des Judentums zunehmend
wichtig wurde: Nachdem sich Jüdischsein nicht (mehr) durch die Zugehörigkeit
zur Bevölkerung eines umgrenzten Staatsgebiets bestimmen konnte, definierte es
sich einerseits über familiäre Abkunft, andererseits durch Mitgliedschaft in der
Gemeinde der Jhwh-Gläubigen. Da es vom Wesen und den Aufgaben dieser
Gemeinde unterschiedliche Auffassungen gibt, treten zu den früheren Trennli-
nien zwischen dem Gottesvolk und anderen Völkern solche hinzu, die innerhalb
des Gottesvolkes verlaufen. Innere Pluralität gehört zum Judentum von dessen
Anfängen an – wie später auch zum Christentum.

b) Der Diskurs über Richtertum und Königtum

Die „Richter“ oder „Retter“ sind im Ri-Buch dargestellt als Führer Israels, die
auftreten, wenn Not es gebietet, dem Volk eine Zeitlang Ruhe verschaffen, per-
sönlich aber keine weiter reichenden Ambitionen haben und keinen dauerhaften
Machtapparat aufbauen. Sie sind im Grunde Herrscher ad hoc und auf Zeit.
Darin unterscheiden sie sich von der damals üblichen Herrschaftsform, dem
Königtum, das prinzipiell dynastisch gedacht und auf die Schaffung bleibender
staatlicher Strukturen bedacht war. Wie ist das Verhältnis beider Herrschafts-
formen – und das biblische Bild davon – näher zu bestimmen?
CRÜSEMANN ordnete das Richtertum der akephalen Lebensform segmentärer
Gesellschaften zu und sah den im Alten Testament öfters spürbaren „Widerstand
gegen das Königtum“ in den tribalen Strukturen des frühen Israel verwurzelt:
Wer Richter hat, braucht keine Könige. Nach O’CONNOR setzt sich das Ri-Buch
(das schon zur Davidszeit entstanden sei!) nicht mit dem Königtum als solchem
auseinander, sondern hebt das gute Königtum Davids vom schlechten Sauls ab.
BUBER schlägt eine andere Differenzierung vor: Das Ri-Buch sei in seiner ersten
Hälfte antimonarchisch eingestellt, doch ab Ri 13 ändere sich der Ton, werde
das Leben der vorstaatlichen Zeit als anarchisch hingestellt und damit dem
Königtum das Wort geredet. NOTH wiederum erklärte die zweite Hälfte des Ri-
Buches (ab Ri 13) zu nach-dtr Anhängen; „Dtr“ habe mit den Rettergeschichten
III. Das Richterbuch 215

in Ri 1–12 und den königskritischen Passagen in 1Sam 8–12 eine eindeutig anti-
königliche Haltung vertreten. Dasselbe attestiert BECKER (in Anwendung des
„Schichtmodells“) dem dtr Erstverfasser, der das Richtertum als „Gegenentwurf
zum Königtum“ konzipiert und auch scharf antimonarchische Texte wie den
Gideonspruch Ri 8,22f. und die Jotamfabel 9,8–15a formuliert bzw. in sein Werk
integriert habe (so auch SCHERER); von DtrN sei diese antimonarchische Haltung
noch mit moralischen Argumenten untermauert worden. VEIJOLA ortet Königs-
kritik erst bei der DtrN-Schicht, der er neben Ri 8,22f. und 9,8–15a auch die
königskritischen Passagen 1Sam 8,6ff.; 10,18f. und 1Sam 12 zurechnet; demge-
genüber nehme DtrH eine prokönigliche Haltung ein, die ihn die Retter als
Voläufer der Könige verstehen und auch von der Installation des Königtums in
1Sam 8ff. mit Sympathie berichten lasse. In derselben Richtung votiert MÜLLER
und verweist dazu auf die Ähnlichkeit der Listen „Kleiner“ Richter in Ri 10,1–5
und 12,7–15 mit den Königsannalen der Kön-Bücher; die Richter seien im
Grundtext des Ri-Buches eine Art Vor-Könige, denen die „richtigen“ Könige un-
bedingt folgen mussten, wogegen die antiköniglichen Passagen (v. a. in Ri 8f.)
erst später peu à peu hinzugesetzt worden seien. Wie lässt sich in dieses Hypo-
thesengewirr Ordnung bringen?
Zunächst ist nüchtern festzustellen, dass das dtr Richterbuch vom Königtum
auf weiten Strecken gerade schweigt. Es schildert eine Ordnung ohne Könige, und
diese hat lichte und dunkle Seiten. Sofern Israel immer wieder in Feindesnot
gerät, und erst recht, als es sich am Ende selbst zu zerfleischen droht, ist die
nicht-staatliche Ordnung ungenügend, schreit sie nach mehr Stabilität und Si-
cherheit, eben nach Königtum und Staat. Sofern aber immer wieder Retter auf-
stehen, von Israel das Schlimmste abwenden und nach vollbrachtem Werk be-
scheiden abtreten, ist diese Ordnung zufriedenstellend, geradezu glücklich; denn
die Schattenseiten monarchisch gelenkter Staaten – die mangelhafte Sicherung
gegen Machtgier und Machtmissbrauch – waren damals sattsam bekannt und
ließen sich etwa in der Abfolge des Richters Gideon und des Königs Abimelech
(Ri 6–8) und ausführlich dann in den später folgenden Kön-Büchern nachlesen.
Insofern ist die Haltung der Grundredaktion DtrH in der Frage „Richtertum
oder Königtum“ als ambivalent zu beschreiben: Beide Ordnungen haben ihre
Vorzüge und ihre Nachteile. Freilich ist das Ri-Buch, wie eingangs gezeigt, so
angelegt, dass die Nachteile des Richtertums mit zunehmender Deutlichkeit
hervortreten. Insofern verrät DtrH eine innere Geneigtheit zum Königtum, die
freilich auch dem tatsächlichen Verlauf der Geschichte (und dem Glauben, dass
Gott sie sinnvoll gelenkt habe) geschuldet sein kann. Am markantesten ist in
dieser Hinsicht der angesichts des kultischen und politischen Wirrwarrs in der
ausgehenden Richterzeit vierfach wiederholte (und schon rein sprachlich sofort
als dtr erkennbare) Hinweis, dass es damals eben „noch keinen König gab in
Israel und jedermann tat, was in seinen Augen das Rechte war“ (Ri 17,6; 18,1;
19,1; 21,25; dass diese Stellen auf einer redaktionellen Ebene liegen, und zwar der
von DtrH, ist mit VEIJOLA gegen MÜLLER festzuhalten – womit zugleich gesagt
ist, dass die sog. Anhänge zum Ri-Buch in Ri 17–21 gegen NOTH und BECKER
216 C. Die Vorderen Propheten

nicht als nach-dtr zu betrachten sind). Blickt man im Kontext des dtr Ge-
schichtswerks über das Ri-Buch hinaus und sieht, wie die letzten beiden Vertre-
ter des Richtertums, Eli und Samuel, an persönlicher Unzulänglichkeit und an
der Unmöglichkeit, in diesem System die Sicherheit Israels dauerhaft zu gewähr-
leisten, scheitern, dann wird man DtrH die Einsicht zuzuschreiben haben, dass
Königtum und Staat zumindest nicht zu vermeiden, dass sie vielleicht sogar eine
große Chance für Israel waren. Gewiss hafteten dieser Chance auch Gefahren an,
denen am Ende sowohl der israelitische als auch der judäische Staat zum Opfer
fielen; doch dieser Ausgang stand nicht von vornherein fest.
Dieser differenzierten Sicht von DtrH steht die dezidiert antimonarchische
bzw. antistaatliche in der spät-dtr Schicht, DtrN, gegenüber. (Sofern man mit
einer gesonderten Schicht DtrP zu rechnen bereit ist, hat diese dazu die Vor-
arbeit geleistet, indem sie die Prophetie als grundsätzlich königs- bzw. staatskri-
tisch darstellte.) Laut Ri 8,22 tragen die Israeliten dem über die Midianiter sieg-
reichen Retter Gideon an, er möge ihr König werden und gleich auch noch eine
Dynastie begründen. Doch Gideon antwortet: „Ich will nicht über euch herr-
schen. Und auch mein Sohn soll nicht über euch herrschen. Jhwh soll über euch
herrschen“ (8,23). Eine solche strikte Entgegensetzung von menschlichem und
göttlichem Königtum ist im Orient einzig. Normalerweise arbeiten irdische und
himmlische Könige Hand in Hand; zwar kann es gelegentlich zu Konflikten
kommen, doch erhebt niemals sonst eine Gottheit den Anspruch, anstelle irdi-
scher Könige ein Volk zu regieren. Ri 8,22f. ist in dem von DtrH geschaffenen
Kontext sekundär (VEIJOLA, MÜLLER; freilich ist des Letzteren Aufteilung von Ri
8,22–35 in nicht weniger als acht Textschichten, von denen die „theologische
Königtumskritik“ etwa die Mitte bildet, nicht nachvollziehbar). Die Rückweisung
der Königswürde rückt Gideon in scharfen Gegensatz zu seinem „Sohn“ Abi-
melech, der, wie schon im Werk von DtrH berichtet war, nach dem Tod des
Vaters (8,32) ungefragt und äußerst brutal nach der Königskrone griff, Angst
und Schrecken verbreitete und schließlich in einem Blutbad unterging. Zwischen
die Berichte von seiner Machtergreifung (9,1–6) und seiner brutalen Machtaus-
übung (9,22ff.) schiebt sich jetzt der Auftritt eines Mannes mit dem sprechenden
Namen Jotam („Jhwh ist rechtschaffen“), der als einziger dem Massaker Abi-
melechs an seiner Familie entgangen sein soll (9,5b). Er rezitiert, hoch vom Berg
Garizim herab, die sog. Jotamfabel (9,8–15: nach BUBER „die stärkste antimonar-
chische Dichtung der Weltliteratur“) und zieht aus ihr die Lehre für den „Fall“
Abimelech (9,16–21). So wie im Reich der Bäume nicht die edlen Fruchtbäume
König werden, sondern der elende Dornstrauch, so hat auch der edle Gideon
sein Leben im Kampf gegen Midian eingesetzt, der elende Abimelech aber im
Kampf um die Macht sein ganzes Haus ausgelöscht (9,17f.). Der Jotam-Auftritt
könnte im Zusammenhang ohne weiteres fehlen. Die Schärfe der in ihm ge-
äußerten Königskritik kommt derjenigen des Gideonspruchs gleich, freilich ohne
dessen theologische Zuspitzung auf das Königtum Jhwhs. Nach VEIJOLA war
auch hier DtrN am Werk, um seiner Leserschaft mit Hilfe eines von ihm vorge-
fundenen, literarisch hochrangigen und politisch geradezu atemberaubenden
III. Das Richterbuch 217

Texts klarzumachen, wie (selbst-)zerstörerisch die Institution des Königtums


war, ist und immer sein wird. Merke: Nur die Unnützesten und Brutalsten sind
bereit, König zu werden – und nur Toren sind bereit, sie dazu zu machen.
Man könnte die Jotam-Szene indes auch DtrH belassen, wenn man annähme,
dass die Fabel nicht die Könige insgesamt anprangert, sondern nur gewalttätige
Könige wie Abimelech; dass dieser nicht dem Königsideal von DtrH entsprach,
liegt auf der Hand.
Versucht man nun, die beiden dtr Positionen gegenüber Königtum und Staat,
die kritisch abwägende und die scharf ablehnende, zeitgeschichtlich einzuord-
nen, so käme nach dem konservativeren, dem Blockmodell die eine in die späte
Königs-, die andere in die Exilszeit zu stehen. Das eine würde den Eindruck einer
blanken Propagandaschrift für Joschija etwas mildern, das andere sich scheinbar
von selbst erklären – obwohl der letzte Passus des Geschichtswerks, die Nach-
richt von der Rehabilitation des Königs Jojachin (2Kön 25,27–30), damit in er-
heblicher Spannung stünde. Dieses Problem entsteht beim zweiten, dem
Schichtmodell, nicht.
DtrH, der mitten in der Exilszeit einerseits ernüchtert, andererseits aber auch
noch hoffnungsvoll auf das Königtum blickt, zeigt in „seinem“ Ri-Buch, dass die
Staatlichkeit Israels kein krasser Sündenfall war, sondern eine wohlbegreifbare,
seinerzeit sinnvolle, sogar notwendige Entwicklung. Durch die Könige half Gott
seinem Volk aus einer zunehmend prekären Lage und verhalf ihm zu einer rela-
tiv langen Phase staatlicher Souveränität. Eine Erlösung, ein Nonplusultra war
diese Staatsform jedoch nicht, wie sich schon an Abimelech und dann an vielen
späteren Königen ablesen lässt.
Bei DtrN werden diese königtumskritischen Töne zu einem prinzipiellen
Antimonarchismus verschärft: vermutlich eine Reaktion auf die um das Ende der
Exilszeit aufkeimenden Hoffnungen auf eine Restitution des davidischen König-
tums. Die Juden sollen, so die Botschaft, ohne eigene Könige (auf die persischen
hatte man ja keinen Einfluss!) in ihren Stammes- oder Sippenformationen,
dezentral, akephal, zusammen- und der Tora leben. Man könnte das hier vertre-
tene Gesellschaftsideal, da die Begriffe Theokratie oder Hierokratie abgegriffen
und auch irreleitend sind, Tora-Kratie nennen. Juden leben nicht nur in der
persischen Provinz Jehud, sondern auch in der Diaspora: unter einem persischen
oder seleukidischen oder römischen König oder Kaiser oder Zar – oder auch
unter gar keinem Monarchen. Jude oder Jüdin zu sein ist keine Frage der Staats-
form oder gar eigener staatlicher Souveränität, sondern der religiösen Identität.
Unverkennbar kündigt sich hier das spätere rabbinische und orthodoxe Juden-
tum an, darüber hinaus aber auch bereits die Götterdämmerung des Monar-
chismus.
218 C. Die Vorderen Propheten

2. Quellen
a) Die Retter-Erzählungen (Ri *3–12)

W. RICHTER, Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Richterbuch, 1963 (BBB 18). – P.


GUILLAUME, Waiting for Josiah. The Judges, 2004 (JSOT.S 385). – A. SCHERER, Überlieferungen von
Religion und Krieg. Exegetische und religionsgeschichtliche Untersuchungen zu Richter 3–8 und
verwandten Texten, 2005 (WMANT 105). – D. BÖHLER, Jiftach und die Tora. Eine intertextuelle
Auslegung von Ri 10–12, 2008 (ÖSB 34). – M. BAUKS, Jephtas Tochter. Traditions-, religions- und
rezeptionsgeschichtliche Studien zu Richter 11,29–40, 2010 (FAT 71).

In der Forschung besteht Übereinstimmung darin, dass die dtr Redaktion in dem
Textbereich Ri 3–12 nicht frei formuliert, sondern auf älteres Material zurückge-
griffen hat. Dieses zeigt eine gute Kenntnis der geschichtlichen Lage in der Früh-
zeit Israels: Als Gegner erscheinen neben den Philistern, den Ammonitern und
den Moabitern – nicht die Edomiter, die später zum Dauerfeind Israels bzw.
Judas avancierten, wohl aber die Midianiter, die (überlieferungs-)geschichtlich in
die Frühzeit gehören und später von den Ismaelitern abgelöst wurden.
Die Frage ist nun, ob der Redaktion einzelne Sagen vorlagen, die sie erstmals
zu einem größeren Erzählzusammenhang kombinierte (BECKER), oder ob diese
Sagen bereits vor ihr zusammengestellt worden waren (RICHTER, GUILLAUME,
SCHERER). Für das Letztere spricht von vornherein, dass sämtliche Erzählungen –
abgesehen nur von derjenigen über Otniel, 3,7–11, die aber ja dtr ist – in Nord-
israel spielen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie nach dem Untergang des
Nordreichs 722 v. Chr., sei es im Norden oder im Süden, einzeln überdauert und
erst um die Mitte des 6. Jh.s in einem dezidiert judäisch und dtn geprägten Autor
ihren ersten Sammler gefunden hätten.

Das Problem bei der Annahme einer nordisraelitischen Sammlung ist freilich,
dass nach Abzug des dtr Richter-Rahmens die Verbindung zwischen den einzel-
nen Sagen nur mehr locker ist. Immerhin weisen sie eine Reihe von Gemeinsam-
keiten auf, in denen sich vermutlich die Handschrift des vor-dtr Sammlers bzw.
Autors zeigt:
– Sie alle handeln von Kriegen mit Nachbarvölkern, die Israel mit Jhwhs Hilfe für
sich zu entscheiden vermag.
– Im Mittelpunkt steht jeweils ein Kriegsheld, der, beseelt von göttlichem Cha-
risma, Israel mit sich reißt.
– Die Helden sind weder „Richter“ (dazu macht sie erst DtrH, vgl. 2,16) noch
Könige; signifikant ist hier das Nacheinander des Helden Gideon (Ri 6–8) und
des Antihelden und Königs Abimelech (Ri 9).
– Die Helden werden mit Nachdruck als Führer nicht nur ihres jeweiligen
Stammes, sondern ganz Israels vorgestellt, anders gesagt: Ursprüngliche Stam-
messagen sind bei der Zusammenführung zu einer Sammlung israelitisiert wor-
den.
III. Das Richterbuch 219

RICHTER hat das Material in mehrfachen Durchgängen detailliert untersucht und


bleibend wichtige Erkenntnisse gewonnen. Das von ihm rekonstruierte „vor-
deuteronomische Retterbuch“ umfasst den Grundbestand von Ri 3f.; 6–9 (also
nicht das Deboralied Ri 5, die Jiftach-Erzählungen samt der Liste „kleiner Rich-
ter“ Ri 10–12 und die Simson-Erzählungen Ri 13–16). Die Hand des Verfassers
wird greifbar in den Passagen Ri 3,13.27–29; 4,4a.6–9.11.17b; 6,2b–5.11b–17.25–
27a.31bb–34; 7,1.9–11a.22–25; 8,3f.10–13.22f.29.31; 9,1–7.16a.19b–21.23f.41–
45.56f. Das Werk verfolgt die Absicht, aus einer Handvoll alter Stammessagen
über Helden der Frühzeit eine Frühgeschichte Gesamtisraels zu gestalten. Dazu
wird immer wieder der geographische Horizont der Einzelerzählungen ausge-
weitet, um das nordisraelitische Staatsgebiet schon in vorstaatlicher Zeit zu präfi-
gurieren. Von zentraler Wichtigkeit ist die Institution des von Gesamtisrael
geführten Heiligen Krieges, in die auch kleine Scharmützel einzelner Stämme
oder Sippen umgedeutet werden. Israel, so die stille Botschaft, wusste damals,
unter der Führung gottgerufener Charismatiker, seine Würde und seine Existenz
zu wahren – was also sollte ihm das Königtum, und schon gar das jehuidische?
Jehu, der bei seiner Machtergreifung ein Blutbad anrichtete, darunter an 70 om-
ridischen Prinzen (2Kön 10,1–9), rückt in unheimliche Nähe zu Abimelech, der
seine 70 Stiefbrüder ermorden ließ (Ri 9,1–6) und auch sonst in Blut watete. Die
Alternative ist schlagend: Während „Retter“ mit Hilfe Gottes Israels Feinde
schlagen, erschlagen Könige gegen den Willen Gottes ihre innenpolitischen Geg-
ner.
Laut RICHTER endet das postulierte „Retterbuch“ in Ri 9; Jiftach werde nicht
mehr als Feldherr eines Jhwh-Krieges stilisiert. Nun beginnt zwar Jiftachs „Kar-
riere“ tatsächlich nicht eben rühmlich (11,1–3), doch befällt dann auch ihn der
„Geist Jhwhs“ (11,29) und wird auch auf ihn die so typische Formel von der
Übereignung der Feinde angewandt (11,30, vgl. auch 11,9; davon klar unter-
scheidbar ist der dtr Passus Ri 11,12–28). Folgerichtig rechnet SCHERER die Jif-
tach-Geschichte zu einer von ihm postulierten vor-dtr Sammlung von „JHWH-
Kriegserzählungen“. In dieser seien ihr die Erzählungen von Ehud, von Barak
und Debora (nicht das Deboralied!) sowie von Gideon vorangegangen. Der
Gideon-Zyklus war damals allerdings noch recht schmal (die Grundbestände von
Ri 6,2b–5.11–24.25–31.33–35; 7,1–22; 8,4–21.24–27aa.29f.32); erst später wurde
er durch eine „Abimelech-Redaktion“ um das Problem des Königtums angerei-
chert (7,*1; 6,32; 8,*29.31.35, dazu Ri 9), ehe die (erste) dtr Redaktion Ri 6–9 in
einen großen geschichtstheologischen Rahmen stellte (6,1.2a.*3b.4ab.6.*33;
7,*12; 8,22f.[!].28.33f.) und schließlich noch einige spät-dtr Zusätze hinzutraten
(6,7–10.36–40; 7,23–8,3; mit einer eigenen Redaktionsschicht DtrN rechnet
SCHERER nicht). Die älteste Stufe, der Jhwh-Kriegszyklus, zeigt eine enge ideolo-
gische Nachbarschaft zur (nord-)israelitischen Kriegsprophetie, die vor allem in
den Aramäerkriegs-Erzählungen des Elischa-Zyklus zu greifen ist und in der Zeit
der Jehu-Dynastie (Mitte 9. bis Mitte 8. Jh.) ihren Höhepunkt hatte – eine be-
merkenswerte Koinzidenz mit dem zeitlichen Ansatz RICHTERs.
Die Retter-Erzählungen in Ri *3–12 sind nicht erst durch die dtr Redaktion,
220 C. Die Vorderen Propheten

sondern jedenfalls vor dem Untergang Samarias, wahrscheinlich während der


Zeit der Jehu-Dynastie, d. h. vor 750 v. Chr., in Nordisrael zu einer Sammlung
über Jhwh-Kriege in der vorstaatlichen Zeit Israels ausgestaltet worden. (Damit
sind die Thesen GUILLAUMEs, wonach das Retterbuch in seinem Kern eine zuerst
pro-assyrische, dann antiassyrische Propagandaschrift aus dem Juda des 7. Jh.s
darstelle, welche in der babylonischen Zeit um die Jiftach- und die Simson-Er-
zählungen ausgeweitet und erst um 200 v. Chr. als Brücke zwischen Jos und Sam
eingepasst worden sei, abgewiesen.)

– Die Ehud-Geschichte – von Haus aus eine Moritat vom Attentat eines verwege-
nen Draufgängers aus Benjamin auf einen Moabiterkönig – wurde nicht nur dtr
gerahmt (3,*12–15.30), sondern offenbar zuvor schon ins Gesamt(nord)israeliti-
sche ausgeweitet und zu einer Jhwh-Kriegserzählung ausgestaltet (3,*13.27–29).
So wurde sie zum Auftakt einer größeren Erzählreihe zum Thema „Kriege
Jhwhs“.
– In diesem Sinne wurde auch die Barak-Geschichte Ri 4 überarbeitet. Deren
Kernbestand ist – nach Abtrag des dtr Rahmens in 4,*1–3.23f. – eine Doppel-
episode: zuerst vom überwältigenden Sieg der Stämme Naftali und Sebulon unter
ihrem Anführer Barak über ein mit Streitwagen ausgerüstetes Heer der Kanaa-
niter unter der Führung eines gewissen Sisera (4,*6a.10.12f.14b–16), dann von
der Tötung eben dieses Sisera durch eine Beduinenfrau namens Jaël (4,17–22).
Eine Erweiterungsschicht (in 4,4–9.11.14a) macht aus dieser Geschichte eine
gesamtisraelitische Jhwh-Kriegserzählung. Dazu wird eine weitere weibliche
Hauptfigur eingeführt: Debora, die einerseits als Richterin vorgestellt, anderer-
seits als „Prophetin“ tituliert wird (4,4f.; man denke an die nordisraelitische
Kriegsprophetie à la Elischa oder 1Kön 20,35–43!). Als eine Art hebräische
Jeanne d’Arc treibt sie Barak zum Kampf, wobei ihr die für die Jhwh-Kriegster-
minologie so kennzeichnende Übereignungsformel in den Mund gelegt wird
(4,7.14a).
– Die Gideon-Abimelech-Geschichten in Ri 6–9 dürften eine mehrstufige Entste-
hungsgeschichte im Sinne SCHERERs durchlaufen haben, ehe sie in die Sammlung
der Rettergeschichten Eingang fanden (s.o.).
– Die Jiftach-Geschichten in Ri 11f. bilden in sich einen kleinen, aus verschiede-
nen Elementen zusammengefügten Zyklus. Die erste Geschichte (in 11,1–11)
berichtet von Jiftachs Vertreibung infolge seiner fragwürdigen Herkunft und
seiner Rückholung angesichts der zunehmenden Bedrohung Gileads durch die
Ammoniter (eine Konstellation, die sich in 1Sam 11 wiederholt). Die zweite
Geschichte (in 11,29–40) handelt vom Sieg über Ammon, der aber nur um den
Preis einer Tragödie errungen wird: Jiftach muss aufgrund eines Gelübdes seine
Tochter opfern; damit wird ein von den „Töchtern Israels“ geübter Brauch be-
gründet (11,40; nach BAUKS wäre die Grunderzählung 11,29–38a mit der phöni-
zischen Praxis von Kinderopfern in Verbindung zu bringen und nachexilisch zu
datieren, während 11,38b.40 von der griechischen Iphigenie-Traditions beein-
flusst und noch später zugefügt sei). Die dritte Geschichte (in 12,1–7) berichtet
III. Das Richterbuch 221

von einem Kampf zwischen Gileaditern und Efraimiten (dabei das berühmte
„Schibbolet“, das auf Dialektunterschiede zwischen den Stämmen rekurriert:
12,5f.); Streitpunkt war angeblich die (Nicht-)Beteiligung am Krieg gegen Am-
mon – Zeichen einer verknüpfenden Bearbeitung, die möglicherweise auch die
Anpassung an die Jhwh-Kriegsideologie vollzogen hat (vgl. die Rede vom Geist
Jhwhs 11,29 und die Übereignungsformel 11,32; 12,3).

b) Die Liste der „Kleinen Richter“ (Ri 10,1–5; 12,8–15)

M. NOTH, Das Amt des „Richters Israels“ (1950), in: Ders., Ges. Stud. II, München 1959, 71–85. – A.
ALT, Die Ursprünge des israelitischen Rechts (1934): Ders., Kleine Schriften zur Geschichte des
Volkes Israel, I, München 1953, 278–332. – H. NIEHR, Herrschen und Richten. Die Wurzel špṭ im
Alten Orient und im Alten Testament, 1986 (FzB 54). – R. D. NELSON, Ideology, Geography, and the
List of Minor Judges: JSOT 31 (2007), 347–364. – A. SCHERER, Die „kleinen“ Richter und ihre Funk-
tion: ZAW 119 (2007), 190–200.

Die Jiftach-Geschichten sind jetzt gerahmt durch zwei Aufzählungen von Män-
nern, die man sich angewöhnt hat, „kleine Richter“ zu nennen. Sie tragen in der
Tat den Titel „Richter“ (schofē†), „klein“ heißen sie aber nur wegen ihrer Nach-
barschaft zu den „großen Richtern“, die in Wahrheit freilich nicht Richter, son-
dern Retter waren.
Die Grenzen zwischen den Kategorien sind jetzt etwas verwischt, und zwar
namentlich durch die dtr Redaktion. Diese nennt im Vorspann zum Ri-Buch die
Retter „Richter“ (2,16–18) und verleiht diesen Titel auch Simson (15,20; 16,31).
Umgekehrt lässt sie den ersten der „kleinen Richter“, Tola, „aufstehen, um Israel
zu retten“ (10,1). Dies ist insofern sehr geschickt, als voran die Geschichte von
Abimelech geht, der Israel in innere Wirren und sich selbst ins Unglück stürzte,
so dass Israel nun durch die ordnende Hand eines „Richters“ „gerettet“ werden
musste. Auch die Figur der Debora schillert ein wenig, sofern sie neben dem
Retter Barak im Krieg agiert, zuvor aber als Richterin und obendrein als „Pro-
phetin“ vorgestellt worden ist (4,4f.). Und schließlich wird Jiftach einerseits als
„Retter“ geschildert (so ausdrücklich in 12,3) und figuriert andererseits in der
Liste der „kleinen Richter“ (12,7).
Ursprünglich standen die beiden Aufzählungen „kleiner Richter“ wohl zusam-
men. DtrH sprengte sie an der Stelle auf, an der aus der Sammlung der Retterge-
schichten die Jiftach-Geschichten einzusetzen war.

Die Einträge zu den einzelnen „Richtern“ in der Liste enthalten regelmäßig die
folgenden Glieder:
– Nach X war Y aus dem Stamm Z Richter in Israel;
– er hatte oder tat dieses oder jenes (hier finden sich Rudimente von Erzäh-
lungen);
– er richtete Israel N Jahre;
– Y starb und wurde in der Ortschaft A begraben.
222 C. Die Vorderen Propheten

Das System hat eine gewisse Nähe zu den Königsannalen, aus denen in den Kön-
Büchern zitiert wird. Vielleicht sollten die „Richter“ als eine Art Vorläufer der
Könige erscheinen. Dem dient auch die Israelitisierung ihres Wirkens; denn
ursprünglich wirkten diese Männer deutlich nur in einem Stamm. Dabei nun ist
interessant, dass neben „Richtern“ aus Issachar, Gilead (zweimal!), Sebulon und
Efraim mit Ibzan aus Betlehem (12,8–12) auch ein Judäer einbezogen ist (ohne
dass freilich dieser Stammesname fällt). Damit zeigt die Liste eine großisraeliti-
sche, Nord und Süd zusammenschließende Perspektive. Bei den „großen Ret-
tern“ war es erst DtrH, der mit Otniel (3,7–11) Juda ins Spiel brachte. Sollte auch
die Liste der „kleinen Richter“ erst durch dtr Redaktion erstellt (und dann wohl
frei erfunden) worden sein? Dafür spricht eigentlich nichts; von dtr Theologie
und auch Sprache ist in den dürren Texten, anders als in 3,7–11, kaum etwas zu
greifen. Auf der anderen Seite war das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit
von Nord und Süd vielleicht schon seit der Vereinten Monarchie der frühen
Königszeit, mit Sicherheit aber seit dem Untergang des Nordreichs 722 stark
ausgeprägt; die judäischen Bearbeitungen israelitischer Werke wie der Jakob-
und Josefsgeschichte oder der Bücher Amos und Hosea belegen das. So wird man
die Liste der „kleinen Richter“ jedenfalls auf die Königszeit zurückzuführen ha-
ben.
Offenbar hielt sich noch in der staatlichen Zeit die Erinnerung an bedeutende
Stammesführer der vorstaatlichen Epoche. Davon geben die „kleinen Richter“
kaum weniger Zeugnis als die großen Retter. Doch anders als bei diesen, die
kriegerischen Ruhm erlangten, ist bei jenen nicht leicht zu sagen, welches eigent-
lich ihre Aufgabe war. Schwerlich waren sie Künder und Wahrer eines amphi-
ktyonischen Rechts, wie ALT und NOTH einst meinten; dies nicht nur deswegen,
weil die Amphiktyonie-Hypothese sich weitestgehend überlebt hat, sondern
auch, weil die gesamtisraelitische Ebene – genauso wie bei den „Rettern“ – erst
auf relativ später literarischer Stufe erreicht wird. Gleichwohl sollte man sie nicht
vorschnell aus der Sphäre des Justizwesens verabschieden; denn Rechtsangele-
genheiten, die nicht „im Tor“, d. h. in den einzelnen Ortschaften, gelöst werden
konnten, gab es in einer Stämmegesellschaft gewiss. So werden denn auch De-
bora (Ri 4,4f.) und Samuel (1Sam 7,15–17) überörtliche richterliche Funktionen
zugewiesen, womit nach SCHERER die eigentliche Funktion der „kleinen Richter“
erfasst ist. Allerdings hat der Wortstamm šfṭ zwei Bedeutungsbereiche: einen
juridischen und einen politischen (NIEHR). So kann šōfēṭ sowohl „Richter“ als
auch „Regent“ bedeuten – oder auch beides; denn fast unvermeidlich fielen
einem Stammesführer (wie später dem König) auch richterliche – und mitunter,
wie das Beispiel Jiftach zeigt, außerdem noch militärische Aufgaben zu. (Man hat
dazu gern auf die auch sprachlich enge Parallele der Sufeten in phönizisch-puni-
schen Gemeinden verwiesen, die ebenfalls mehrere dieser Aufgaben auf sich
vereinen konnten, vgl. den betreffenden Eintrag in Der Kleine Pauly, 1975, V,
413f.)
III. Das Richterbuch 223

c) Das Deboralied (Ri 5)

V. FRITZ, Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart 1996 (Biblische En-
zyklopädie 2), 121–128. 179–184. – H.-D. NEEF, Deboraerzählung und Deboralied, 2002 (BThSt 49;
hier auch mehrere forschungsgeschichtliche Überblicke: 3–19.54–59.70–76.99–104). – C. LEVIN, Das
Alter des Deboralieds, in: Ders., Fortschreibungen, 2003 (BZAW 316), 124–141. – E. A. KNAUF,
Deborah’s Language. Judges Ch. 5 in Its Hebrew and Semitic Context, in: B. Burtea et al. (eds.), Studia
Semitica et Semitohamitica, FS Rainer Vogt, 2005 (AOAT 317), 167–182. – H. PFEIFFER, Jahwes
Kommen von Süden. Jdc 5; Hab 3; Dtn 33 und Ps 68 in ihrem literatur- und theologiegeschichtlichen
Umfeld 2005 (FRLANT 211), 19–116. – C. L. ECHOLS, „Tell Me, O Muse“. The Song of Deborah
(Judges 5) in the Light of Heroic Poetry, New York 2008 (LHBOTS 487). – R. DE HOOP, Judges 5
Reconsidered. Which Tribes? What Land? Whose Song?, in: J. van Ruiten / J. Cornelis de Vos (eds.),
The Land of Israel in Bible, History, and Theology, FS Ed Noort, 2009 (VT.S 124), 151–166. – J. L.
WRIGHT, Deborah’s War Memorial: ZAW 123 (2011), 516–534.

Es handelt sich um das einzige größere Stück Poesie im Ri-Buch. Text und Spra-
che sind außerordentlich schwer zugänglich und machen einen ausgesprochen
antiken Eindruck. Manches an dem Lied (z. B. bewusste Wortwiederholungen)
erinnert an die Epik Ugarits, einer bronzezeitlichen Stadt mit gleichsam proto-
kanaanitischer Kultur.

Aufbau und Inhalt sind einigermaßen deutlich:


1: Überschrift (wobei ursprünglich nur Debora „sang“, nicht auch Barak)
2–5: Aufforderung zum Anstimmen eines Siegeslieds auf das kampfbereite
„Volk“ und den an seiner Seite kämpfenden Jhwh
6–8: Schilderung der verzweifelten Lage Israels vor Beginn des Kampfs (geschlos-
sene Verkehrswege, anscheinend Rückgang der Bevölkerung, Mangel an Waffen,
wohl auch an Brot – „bis ich aufstand, Debora, ich aufstand, eine Mutter in Is-
rael“, 7)
9–12: Einladung zu Feier und Gesang (Jhwh soll gesegnet werden, Hohe und
Niedere sollen seine und seines Volkes Taten besingen; „wach auf, wach auf,
Debora … steh auf, Barak!“, 12)
13–18: Lob der Stämme, die am Kampf teilnahmen (Sebulon, Issachar und Naf-
tali aus Galiläa, Efraim, Machir (= Manasse) und Benjamin aus Mittelpalästina)
und Tadel derer, die fernblieben (Dan und Ascher im Norden, Gilead und Ruben
im Osten)
19–22: Schilderung der Schlacht („Kanaans Könige“ unter Führung eines gewis-
sen Sisera werden „bei Taanach, an den Wassern von Megiddo“, am Bach
Kischon, von den „Sternen“ besiegt und in die Flucht geschlagen)
23: Fluch gegen Meros (eine sonst nicht bekannte Ortschaft), dessen Bewohner
„Jhwh nicht zu Hilfe kamen“ (möglicherweise, indem sie Sisera entkommen
ließen)
24–27: Rühmung Jaëls (einer Beduinenfrau aus dem Stamm der Keniter, die
Sisera – vielleicht bei oder nach einem Vergewaltigungsversuch an ihr – mit
Zeltpflock und Hammer tötete)
28–30: Verhöhnung der Mutter Siseras (die sehnsüchtig auf die Rückkehr ihres
224 C. Die Vorderen Propheten

Sohnes wartet und sich ausmalt, wie viele Beutefrauen er und seine Krieger mit-
bringen werden)
31a: Schlussfolgerung (Jhwhs Feinde gehen zugrunde, die Seinen sind wie die
aufgehende Sonne)

In diesem „Preislied“ (FRITZ, ähnlich ECHOLS: heroisches Siegeslied) klingt Jubel


über einen unverhofft errungenen Sieg über einen überlegenen Gegner auf. Die
gegen Kanaan zu Felde ziehenden Israeliten erscheinen als Verbündete Jhwhs,
dem sie „zu Hilfe“ eilen (5,23). Er seinerseits scheint im Land nicht fest ansässig
zu sein, sondern wird „der vom Sinai“ genannt und kommt aus Seïr, dem tief im
Süd(ost)en gelegenen Land Edoms (vgl. Gen 33,16), zum Kampf herbei. Dieser
findet offenbar am Südrand der Jesreel-Ebene statt. Dort kann der Gegner mit
seinen Streitwagen (28) gut operieren, während es für die Krieger der Berg-
stämme riskant ist, ins Flachland „hinunterzusteigen“ (13f.). Die feindlichen
Truppen werden geführt von einem Mann, der einen illyrischen, luwischen oder
punischen, jedenfalls aber keinen semitischen Namen trägt. Sisera könnte Phi-
lister gewesen sein; Texte wie 1Sam 4; 13; 31 belegen, dass die Philister zur fragli-
chen Zeit in dieser Gegend präsent waren. Auf der Gegenseite stehen die Krieger
nicht von zwölf, sondern von sechs Stämmen, deren Wohnsitze in den Bergen
nördlich und südlich der Jesreel-Ebene liegen; vier weitere Stämme haben sich
ferngehalten, Juda und Schimon werden nicht einmal vermisst. Von da her fällt
ein bezeichnendes Schlaglicht auf das „Israel“ der vorstaatlichen Zeit: In Notfäl-
len gehen die Stämme Koalitionen ein, aber nur freiwillig und nie vollzählig; der
Süden ist ohnehin nicht dabei. Eben dieses Bild zeichnen ja auch die umgeben-
den Rettergeschichten.
Wie ist das Verhältnis des Liedes zur Erzählung Ri 4? Die beiden Texte stim-
men in Vielem überein, in Manchem aber auch nicht. In Ri 4 spielt Jhwh die
zentrale Rolle beim Sieg, in Ri 5 unbestimmter eine plötzlich aufkommende Flut
(5,20f.) sowie die tapferen IsraelitInnen. Nach Ri 4 haben nicht sechs, sondern
nur zwei Stämme, Naftali und Sebulon, Barak Gefolgschaft geleistet, und ihre
Krieger sind nicht aus dem Bergland „herabgestiegen“, sondern haben sich vom
Berg Tabor herab auf den Feind gestürzt. Dieser verfügte über nicht weniger als
900 eiserne Streitwagen, die aber gegen die von Jhwh kommende „Verwirrung“
nichts ausrichten konnten. Ihr Befehlshaber, Sisera, „floh zu Fuß“ (4,15) und
wurde von der Keniterin Jaël geradezu in ihr Zelt gelockt, von ihr verpflegt,
sorgfältig zugedeckt – und erschlagen. In der Dichtung dagegen, wo er „zwischen
ihren Füßen“ zusammensinkt (5,27), könnte ein Vergewaltigungsversuch ange-
deutet sein (so JOST). Die in Ri 5 zentrale Gestalt der Debora (vgl. neben 5,1 auch
5,7.12), hat, wie vorhin angedeutet, in der Grundgestalt von Ri 4 wohl gefehlt
und ist erst auf der Stufe des ‚Retterbuchs‘ in den Text gekommen. Vermutlich
war ihr Bekanntheitsgrad so groß, dass sie nicht mehr übergangen werden
konnte. Dies wiederum könnte durch das Lied bewirkt worden sein, das bis da-
hin für sich (oder in einer Liedersammlung) überliefert worden war. Doch nicht
schon der Sammler der Retter-Erzählungen, sondern erst DtrH hat das Debora-
III. Das Richterbuch 225

lied an seinen jetzigen Platz gestellt. Darauf deutet die angehängte, für den dtr
Richter-Rahmen kennzeichnende Formel „Und das Land hatte 40 Jahre Ruhe“
(5,31b). Diesem Abschluss korrespondiert der dtr Anfang in 4,1–3. So band
DtrH die beiden Texte, die einander so nah und doch auch wieder grundver-
schieden waren, zusammen. Offenbar war er weitherzig oder auch quellentreu
genug, um die Spannungen zwischen ihnen zu ertragen, ja sie vielleicht sogar
bereichernd zu finden. (Übrigens war es wohl DtrH, der Sisera zum Feldherrn
des Königs Jabin von Hazor machte [4,2, vgl. auch 4,17b]; vermutlich leitete ihn
dabei die Absicht, eine Brücke zurück zu Jos 11 zu schlagen.) Nach WRIGHT hin-
gegen wären der Grundbestand des Liedes (5,2–5.8–11.13f.16–23) und die Er-
zählung unabhängig voneinander entstanden und handelten von zwei verschie-
denen Schlachten in der Jesreel-Ebene, und erst sekundär seien beide Texte
durch Erweiterungen im Lied aufeinander abgestimmt worden.
Die vorgebrachten Beobachtungen und Erwägungen deuten auf ein hohes
Alter des Deboralieds: nicht unbedingt in seinem gesamten jetzigen Umfang und
Wortlaut, aber doch im Grundbestand (den etwa SOGGIN in 5,6–8.[12.]13–30
sucht, ECHOLS in 5,6–9a.10–30, PFEIFFER sehr viel wählerischer in 5,*12.13a.18–
21a.22.*24–30; NEEF grenzt 5,2–5.9–11a als sekundäre Zutaten aus, WRIGHT
dagegen 5,6f.12.15.24–30). Viele sehen in dem Lied bzw. in seinen alten Bestand-
teilen eines der wenigen biblischen Textzeugnisse, wenn nicht sogar das einzige,
aus vorstaatlicher Zeit (FRITZ; ECHOLS wagt eine genauere Festlegung: zwischen
1150 und 1020 v. Chr., eine sehr genaue NEEF: 1030/1020; etwas zurückhaltender
datiert KNAUF aufgrund von Sprachindizien einen Grundtext mit Beteiligung
von nur sieben Stämmen ins 10. Jh., DE HOOP einen noch schmaleren mit ledig-
lich vier beteiligten Stämmen – Efraim, Benjamin, Machir, Sebulon – wieder ins
11. od. 10. Jh.; PFEIFFER kommt auf ursprünglich nur noch zwei Stämme – Naf-
tali und Sebulon – und begnügt sich mit einer vagen Datierung in vorstaatliche
Zeit). Demgegenüber vermögen die Gründe, mit denen LEVIN es für eine sekun-
däre Entwicklung aus der Erzählung Ri 4 erklären will, nicht zu überzeugen.
Wohl aber ist das Lied in späterer Zeit erkennbar ‚fromm‘ überarbeitet worden;
nicht von ungefähr stehen fast alle Belege für das Tetragramm in sicher sekundä-
ren Passagen (5,3.4.5.9.10.23.31). PFEIFFER meint, auch die oft für alt gehaltene
Vorstellung des Kommens Jhwhs aus dem Süden sei erst nachstaatlich aufge-
kommen (eine wenig glaubhafte Hypothese); der früheste Kern des Deboralieds
sei sogar ganz ohne Jhwh ausgekommen; als numinose Kraft hätten sich einzig
die Sterne an der Schlacht beteiligt.

d) Die Simson-Erzählungen (Ri 13–16)

H. M. NIEMANN, Die Daniten. Studien zur Geschichte eines altisraelitischen Stammes, 1985
(FRLANT 135). – J. KIM, The Structure of the Samson Cycle, Kampen 1993. – H.-J. STIPP, Simson,
der Nasiräer: VT 45 (1995), 337–369. – M. WITTE, Wie Simson in den Kanon kam: ZAW 112 (2000),
526–549. – T. MEURER, Die Simson-Erzählungen, 2001 (BBB 130). – S. WEITZMAN, The Samson Story
as Border Fiction: Biblical Interpretation 10 (2002), 158–174. – C. HOUTMAN / K. SPRONK, Ein Held
226 C. Die Vorderen Propheten

des Glaubens? Rezeptionsgeschichtliche Studien zu den Simson-Erzählungen, Leuven u. a. 2004. – P.


GALPAZ-FELLER, Samson. The Hero and the Man. The Story of Samson (Judges 13–16), Bern 2006
(Bible in History 7). – B. LANG, The Three Sins of Samson the Warrior, in: I. Kottsieper u. a. (Hg.),
Berührungspunkte, FS R. Albertz 2008 (AOAT 350), 179–192.

Wie die Gideon- und die Jiftach-Geschichten, so bilden auch diejenigen von
Simson einen eigenen Zyklus. Dieser setzt sich aus drei größeren Abschnitten
zusammen, in denen jeweils wieder mehrere Einzelsagen und Untermotive ver-
flochten sind. (KIM, der den ganzen Zyklus als eine einheitliche „narrative
poetry“ ansieht, sieht drei „Canti“, die sich in 10 „Subcanti“ bzw. 30 „Canticles“
unterteilen: ein allzu manieriertes System, das sich nur mit Hilfe einiger Gewalt-
samkeiten gegenüber den Texten durchführen lässt und das vor allem diachrone
Fragestellungen völlig ausblendet.)
– 13,1–25: Simsons wunderbare Geburt: Ein Gottesmann bzw. Engel kündigt
einer zuvor kinderlosen Frau die Geburt eines Sohnes an und bestätigt diese
Verheißung auch ihrem Gatten Manoach; die Mutter soll sich des Alkohols und
unreiner Speisen enthalten, ihr Kind soll ein Nasiräer werden (13,5, vgl. Num 6).
– 14,1–16,3: Simson als starker und schlauer Held: Der herangewachsene Simson
freit eine Philisterin, zerreißt auf dem Weg zur Hochzeitsfeier mit bloßen Hän-
den einen Löwen, gewinnt aus diesem Erlebnis ein Rätsel, das dreißig Festteil-
nehmer nicht zu lösen vermögen, dessen Lösung sie aber über die Braut in Erfah-
rung bringen, worauf der Bräutigam, vom Jhwh-Geist befallen (!), alle dreißig
erschlägt (14,1–20); als er sich später um seine Frau betrogen sieht, rächt er sich,
indem er 300 Füchse, je zwei an den Schwänzen zusammengebunden und mit
einer brennenden Fackel daran, durch die Felder jagt und so die Ernte der Phi-
lister vernichtet (15,1–8); danach liefern ihn Judäer, in deren Gebiet er sich zu-
rückgezogen hat, gefesselt an die Philister aus, doch dank Jhwhs Geist zerreißt er
seine Fesseln und erschlägt mit einem Eselskinnbacken tausend Mann (15,9–19,
ausmündend in zwei Ortsätiologien); aus der Philisterstadt Gaza, in die er sich
zwecks eines Bordellbesuchs begeben hat, entkommt er, indem er das Stadttor
aus den Angeln hebt und in die Berge trägt (16,1–3).
– 16,4–31a: Simsons tragisch-heroisches Ende: Die „Fürsten der Philister“ wollen
die geheimnisvolle Quelle der unbändigen Kraft Simsons herausfinden, um ihn
zu vernichten; zum Erfolg verhilft ihnen Simsons philistäische Geliebte Delila,
die er zwar dreimal über die wahren Gründe seiner Kraft täuschen kann, der er
dann aber doch verrät, dass diese aus seinem Haupthaar kommt, das er als Nasi-
räer nie schert; als es ihm im Schlaf abgeschnitten worden ist, wird er gefangen
und geblendet; er stirbt bei einem Fest im Tempel Dagons, indem er – sein Haar
ist inzwischen wieder gewachsen! – das Tempeldach zum Einsturz bringt und
mehr Philister mit sich in den Tod reißt, als er sein Leben lang zu töten ver-
mochte.

Simson unterscheidet sich markant von den „Rettern“ in Ri 3–12. Wenn er sich
mit den Philistern herumschlägt, dann eher aus privaten Gründen, nicht um
„Israels“ willen. (LANG meint sogar, Simson sei geradezu ein negatives Lehrbei-
III. Das Richterbuch 227

spiel dafür, wie ein Held nicht zu sein habe.) Er ist immer nur auf sich allein
gestellt, nie erscheint er als Anführer einer Kriegerschar oder als Führer in einem
Jhwh-Krieg. So gehörte der Erzählzyklus über ihn nicht zur vor-dtr Sammlung
von Rettergeschichten, sondern wurde erst durch DtrH mittels der typischen
Rahmenformeln 13,1.5b; 15,20; 16,31b ins Ri-Buch bzw. ins dtr Geschichtswerk
aufgenommen (nach WITTE sogar erst durch DtrN bzw. die „Endredaktion“).
Die Erwähnungen des „Geistes Jhwhs“ hingegen, der den Helden immer wieder
überkam und zu ungewöhnlichen Taten trieb (13,25; 14,6.19; 15,14), wurden
nicht erst von dtr Hand eingesetzt, um Simson den charismatischen Rettern
anzugleichen, sondern sind bereits einer früheren Bearbeitung der Simson-Ge-
schichten zuzuschreiben.

Der vor-dtr Textbestand von Ri 13–16 lässt zumindest zwei Entstehungsstufen


erkennen:
– Der Kern der Simson-Tradition liegt in (dem Grundbestand von) Ri 14f. Die
hier zusammengestellten Erzählungen spielen im Grenzgebiet zwischen Juda und
Philistäa, in und bei der Ortschaft Timna (vgl. deren Erwähnung in 14,1.2.5 so-
wie in der judäischen Grenzliste Jos 15,10). Anscheinend suchte der Stamm Dan,
dem Simson bzw. sein Vater zugerechnet wird (Ri 13,2), in dieser Gegend Fuß zu
fassen (vgl. die Erwähnung von Timna in der danitischen Städteliste Jos 19,43
sowie von Zora und Eschtaol in Jos 19,41 und Ri 13,25). Die Erzählungen in Ri
14f. veranschaulichen die zugleich intensiven und explosiven Berührungen zwi-
schen beiden Bevölkerungsgruppen (vgl. dazu WEITZMAN). Eine Entscheidung
über ihr Alter ist nicht leicht zu treffen. War Simson eine historische Persönlich-
keit, die sich gar mit NIEMANN auf ca. 1100 v. Chr. datieren lässt? Wann kamen
die ersten Geschichten über ihn in Umlauf, und wann nahmen sie (und nahm er)
die sagenhaften Konturen an, die den ganzen Zyklus kennzeichnen? Wann wur-
den seine Krafttaten auf das Wirken des Geistes Jhwhs zurückgeführt: erst auf
der zweiten Stufe der Textentstehung (so NIEMANN) oder schon auf der ersten
(so WITTE)?
– Die Erzählungen von Simsons Geburt und seinem Tod (Ri 13 und 16) weisen
laut NIEMANN gegenüber den ältesten, in Ri 14f. zusammengestellten einige
Neuerungen auf: planvollen Aufbau und kunstreiche Erzähltechnik, eine starke
geschichtstheologische Akzentuierung, eine Ausweitung ins Nationale, die Über-
höhung des Kraftmenschen Simson ins Titanische, schließlich die Einführung
des Nasiräer-Motivs. WITTE plädiert mit Verweis auf die wunderhaften Züge in
diesen Texten, wegen der in 14,1–4 angeblich verhandelten Mischehenproble-
matik (vgl. Esr 10) und wegen des im Haarmotiv sich möglicherweise zeigenden
griechischen Einflusses für eine Entstehung nicht vor dem 5. Jh. Das ist zu
schnell und übers Ziel hinaus geschossen, wie ein Blick allein schon auf Ex 15,21;
Gen 29,17f. und 2Sam 14,26 zeigen kann. Der Simson-Zyklus muss vor DtrH,
also wohl vorexilisch, und er wird, danitische Trägerschaft und die schließliche
Zugehörigkeit von Dan zum Nordreich vorausgesetzt (vgl. nur 1Kön 12,29), vor
722 v. Chr. abgeschlossen gewesen sein. Viel mehr wird sich kaum sagen lassen.
228 C. Die Vorderen Propheten

Im Ri-Buch als ganzem zeichnet sich eine konfliktreiche Frühgeschichte des


Stammes Dan ab: In Ri 13ff. hält er sich (oder hält sich doch die Sippe Simsons)
noch im Süden auf; in Ri 17f. wird von einer Süd-Nord-Wanderung der Daniten
berichtet (vgl. den folgenden Abschnitt), und das Deboralied ortet Dan bereits
im Norden („bei den Schiffen“ – doch wohl Phöniziens, Ri 15,17). So gesehen,
repräsentieren die Simson-Erzählungen ein frühes (überlieferungs)geschichtli-
ches Stadium, in dem sich durchaus noch Erinnerungen an die vorstaatliche Zeit
erhalten haben könnten.

e) Die Erzählungen im sog. Anhang (Ri 17–21)

H.-W. JÜNGLING, Richter 19 – ein Plädoyer für das Königtum, 1981 (AnBib 84). – H. M. NIEMANN,
Die Daniten. Studien zur Geschichte eines altisraelitischen Stammes, 1985 (FRLANT 135). – H.
PFEIFFER, Sodomie in Gibea. Der kompositionsgeschichtliche Ort von Jdc 19, in: A. C. Hagedorn / H.
Pfeiffer (Hg.), Die Erzväter in der biblischen Tradition, FS M. Köckert, 2009 (BZAW 400), 267–289.

Der Abschnitt zerfällt in zwei Teile. Der erste erzählt, wie die Daniten aus Efraim
ein Götterbild entwendet und im Heiligtum von Dan installiert haben (Ri 17f.);
der zweite handelt davon, wie es infolge eines abscheulichen Verbrechens zu
einem Krieg aller Stämme gegen Benjamin kam und das Überleben dieses Stam-
mes nur knapp gesichert wurde (Ri 19–21). Verbunden sind die Teile – abgese-
hen von dem dtr „Refrain“, dass es „damals keinen König gab in Israel“ (17,6;
18,1; 19,1; 21,25) – eher oberflächlich dadurch, dass in beiden das Bergland von
Efraim sowie ein Levit eine Rolle spielen; entstehungsgeschichtlich haben sie
wohl nichts miteinander zu tun.
Ri 17f. führt zunächst ins Gebirge Efraim, in das Haus eines offenbar wohlha-
benden Mannes namens Micha, der sich ein eigenes Heiligtum mit eigenem
Priester leistet. Auf etwas undurchsichtige Weise ist er in den Besitz verschiede-
ner Kultgegenstände gekommen, von denen in der Folge vor allem ein Götterbild
eine wichtige Rolle spielt. Als Geistlichen hat er einen Leviten engagiert. Dieser
bildet die Brücke zur nächsten Episode: Er ist persönlich bekannt mit einer
Gruppe danitischer Kundschafter, die auf der Suche nach Land unterwegs sind.
Er kann ihnen ein günstiges Orakel geben, und tatsächlich finden sie im hohen
Norden Israels ein geeignetes Siedlungsgebiet. Als der Stamm daraufhin gen
Norden zieht, entführt er, natürlich gegen den Willen Michas, den Leviten samt
den von ihm betreuten Kultgegenständen, erobert und zerstört die Stadt Lajisch,
gründet an ihrer Stelle Dan und stellt in einem neuen Heiligtum Michas Götter-
bild auf. Dieses, so heißt es abschließend, habe sich dort befunden und sei von
einer Mose abstammenden Priesterschaft versorgt worden „bis zur Zeit der Exi-
lierung des Landes“ (18,30f.).
Diese letzte Bemerkung ist historisch interessant. Sie spielt offenbar auf die
Eroberung Galiläas durch die Assyrer 733 v. Chr., im Zuge des sog. syrisch-
efraimitischen Krieges, an (vgl. 2Kön 15,29). In 1Kön 12,28f. wird historisch
glaubhaft berichtet, der erste König Nordisraels, Jerobeam I. (926–906 v. Chr.),
III. Das Richterbuch 229

habe in Bet-El und in Dan Staatskulte eingerichtet und dazu jeweils ein goldenes
Stierbild als Repräsentanz Jhwhs gestiftet. Wie verhält sich dieses zu „Michas
Götterbild“? Hält man Ri 17f. für eine insgesamt junge, judäische Polemik gegen
den Kult im Norden, dann wäre es ein Seitenstück zu dem in Juda verächtlich so
genannten „goldenen Kalb“ (vgl. neben 1Kön 12,26–32 auch Ex 32); doch hätte
sich ein judäischer Autor dessen Erwähnung entgehen lassen? Sieht man in Ri
17f. ältere, danitische Tradition aufbewahrt, dann wäre jenes Götterbild ein
Vorläufer oder auch ein Konkurrent des Stierbildes Jerobeams.
NIEMANN nimmt in diesem Sinne an, der vorliegende Text sei zu großen Tei-
len eine aus vorköniglicher Zeit stammende, danitische Ätiologie des Heiligtums
in Dan und seines Gottesbildes. Sie sei nach der Gründung des Königreichs Israel
und anlässlich der Einrichtung des Staatskults in Dan durch eine „Jerobeam-
redaktion“ überarbeitet worden, die einerseits das Götterbild Michas als aus
kriminellen Vorgängen heraus entstanden diffamiert (17,2–4) und andererseits
das Königtum als dringend benötigten Ordnungsfaktor gepriesen habe (17,6;
18,1; doch sind dies ja gerade dtr Formeln). Nach dem Untergang des Nord-
reichs, im 7. oder 6. Jh., habe es eine weitere Redaktion gegeben, der es haupt-
sächlich um die Priesterschaft von Dan gegangen sei, ehe der Text am Ende ins
dtr Geschichtswerk gelangt und dabei namentlich in 18,27f. im Stile der Bann-
kriegserzählungen umgeformt worden sei (dies Letztere leuchtet jedenfalls ein).
Dass Ri 17f. einen wichtigen Baustein in der Rekonstruktion der Frühge-
schichte des Stammes Dan bildet, dass in den Kapiteln mancherlei schwer er-
findbare Einzelheiten mitgeteilt werden, dass schließlich eine speziell judäische
Polemik gegen den Kult von Dan nicht zu spüren ist, macht es wahrscheinlich,
dass hier relativ alte, am Heiligtum von Dan haftende, danitische Tradition auf-
bewahrt ist. Allerdings setzt für den jetzigen Textbestand – abgesehen von den
dtr Zugaben – der Erzählschluss in 18,30f. das Jahr 733 v. Chr. als terminus a
quo. Nach der Zerstörung Dans durch die Assyrer mag die Erinnerung an den
einst dort gepflegten Stammeskult von Überlebenden und Flüchtlingen – am
ehesten Priestern – weiter getragen und schließlich in den judäischen Süden
gebracht worden sein. Dort verstand man sie, geleitet durch die Kenntnis des
traurigen Endes und der Präferenz für den eigenen, den Jerusalemer Tempel,
sicher als eine Negativ-Ätiologie: Warum musste der Jhwh-Tempel in Dan un-
tergehen? Weil man dort ein Götterbild verehrte! In diesem Sinne hat dann auch
DtrH die Geschichte aufgefasst und in 17,6 und 18,1 entsprechend kommentiert.

Einigermaßen anders stellt sich der Sachverhalt in dem Abschnitt Ri 19–21 dar.
Anders als in den beiden vorangegangenen Kapiteln findet sich hier eine ganze
Reihe von Stoffen, die anderswoher aus dem Alten Testament bekannt sind.
– Die überschwängliche Gastfreundschaft des Schwiegervaters des Leviten, mit
der dieser und seine Nebenfrau zu überlangem Bleiben in Betlehem genötigt
werden (Ri 19,3ff.), erinnert an 1Kön 13,11ff., wo ein Prophet einen nach Bet-El
gekommenen Gottesmann zu einem allzu langen Aufenthalt bewegt und damit
ebenfalls ein Unglück heraufbeschwört.
230 C. Die Vorderen Propheten

– Der Levit und seine Nebenfrau kehren auf dem Heimweg bei einem in Gibea
wohnenden Beisassen zum Übernachten ein; die auf sie eindringende Horde
geiler Männer kann der Gastgeber nicht einmal durch die Preisgabe seiner
Tochter ablenken (Ri 19,11ff.) – so wie die Männer von Sodom über zwei fremde
Männer (!) herfallen wollen und dafür die Töchter des gastgebenden Beisassen
Lot verschmähen (Gen 19,1ff.).
– Das Delikt der Vergewaltigung wird mehrfach als „Schandtat (nebālāh) in Is-
rael“ bezeichnet (Ri 19,23.24; 20,6.10) – genauso wie die Vergewaltigung Tamars
durch Amnon (2Sam 13,12).
– Die Frau des Leviten überlebt die dann stattfindende Massenvergewaltigung
nicht, er zerteilt ihren Leichnam in zwölf Teile und versendet diese ins ganze
Gebiet Israels (Ri 19,29ff.); ganz ähnlich zerhackt Saul seine beiden Rinder in
Stücke und schickt diese im ganzen Gebiet Israels umher (1Sam 11,6ff.); beide
Male setzen sich auf diese drastische Aufforderung hin die Krieger Israels in
Bewegung, um das Ungeheuerliche, das geschehen ist, zu rächen.
– Es kommt zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Benjamin und
allen anderen Stämmen Israels (Ri 20,9ff.); auch unter Jiftach schon hat es Krieg
zwischen Efraim und Gilead gegeben (Ri 12,1ff.).
– Per Losorakel wird entschieden, dass Juda im Kampf vorangehen soll (Ri
20,18); genau so war es auch in Ri 1,1f. erzählt.
– Vor dem Sturm auf Gibea holt man wieder Orakel ein und versichert sich so
der Hilfe Jhwhs (Ri 20,18.23); genauso hatte es Josua vor dem Sturm auf Ai ge-
halten (Jos 8,8).
– Zweimal scheitert der Versuch, Gibea im Sturm zu nehmen, weil es den Gibea-
nitern gelingt, einen Ausfall zu machen (Ri 20,19ff.) – so wie die Verteidiger von
Ai und von Rabbat Ammon erfolgreiche Ausfälle gegen die israelitischen Belage-
rer unternehmen (Jos 7,4f.; 2Sam 11,17).
– Beim dritten Anlauf haben die Israeliten Erfolg, weil sie einen Hinterhalt gelegt
und die Gibeaniter in die Zange genommen haben (Ri 20,29ff.); ganz genauso ist
die Stadt Ai eingenommen worden (Jos 8,1ff.).
– Gibea und alle anderen Städte Benjamins werden von den Israeliten niederge-
brannt (Ri 20,48); das erinnert daran, dass einst Sodom und Gomorra samt allen
Städten der Umgebung im göttlichen Feuersturm untergegangen sind (Gen
19,24f.).
– Nach dem grandiosen Sieg stellt man fest, dass sich bestimmte Krieger, näm-
lich die von Jabesch in Gilead, nicht am Kampf beteiligt haben (Ri 21,8f.); im
Deboralied wird beklagt, dass sich einige Stämme aus dem Krieg herausgehalten
haben (Ri 5,15ff.).

Diese Häufung von Parallelen, z. T. mit in der Bibel höchst seltenen Stoffen und
Motiven, erweckt den Eindruck eines kompilierenden, fast schon schriftgelehrten
Midraschs. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man feststellt, dass die hier
genannten Orte – Betlehem, Gibea, Rama, Jebus=Jerusalem, Mizpa, Bet-El,
Jabesch, Schilo – allesamt biblisch und besonders im 1. Samuelbuch wohlbelegt
III. Das Richterbuch 231

sind. In Schilo, Mizpa, Rama und Bet-El ist die Samuel-Tradition verankert;
Jabesch ist eng mit Saul verbunden (1Sam 11; 31,11ff.); Gibea ist Geburts- und
Residenzort Sauls, Bethlehem der Geburtsort, Jerusalem die Residenz Davids.
Auffälligerweise geschieht in Betlehem etwas Gutes (die Aussöhnung jenes Levi-
ten mit seiner Nebenfrau und deren Vater), in Gibea dagegen etwas ausgespro-
chen Grässliches (die Massenvergewaltigung), ja, Gibea wird geradezu mit So-
dom analogisiert. Nimmt man hinzu, dass auch einige der vorhin aufgewiesenen
Sachparallelen auf die Samuelbücher verweisen, wird man Ri 19–21 wohl als eine
verdeckte – oder fast schon nicht mehr verdeckte – Polemik gegen Saul und
Benjamin (Nordisrael? Samaria?) und als Werbung für David und Juda (mit
Anspruch auf Gesamtisrael?) sehen müssen.
Wann mag derlei erdacht und geschrieben worden sein? Die vorstaatliche Zeit
(für die noch HERTZBERG plädiert hat) scheidet mit Sicherheit, die frühe Königs-
zeit (die etwa CRÜSEMANN und JÜNGLING bevorzugen) mit Wahrscheinlichkeit
aus, weil die beigezogenen biblischen Stoffe zeitlich nicht so weit hinaufreichen.
Die Königszeit hingegen käme unter diesem Gesichtspunkt in Betracht; judäi-
sche Polemik gegen den Norden machte hier zu fast jedem Zeitpunkt Sinn.
BECKER schlägt mit Verweis auf Hos 9,9; 10,10 die mittlere Königszeit vor – al-
lerdings nur für Ri 19, während Ri 20 und 21 jünger seien. Einer (relativ) frühen
Ansetzung steht im Wege, dass die Versammlung Israels wiederholt „Gemeinde“
genannt wird (‘ēdāh: 20,1; 21,10.13.16) – eine fast nur priesterschriftliche Be-
zeichnung für die Kultgemeinde (um die es hier aber natürlich nicht geht; vgl.
auch die Verwendung des Begriffs in Ps 82,1). Zudem wird in 20,48; 21,10f. eine
Bann-Vorstellung sichtbar, die über diejenige von DtrH hinausgeht. Gewiss kann
man versuchen, solche „späten“ Züge (zusammen mit den völlig unrealistischen
Zahlenangaben) literarkritisch herauszulösen, um einen „frühen“ Grundbestand
zu gewinnen. Doch ist auch die Möglichkeit zu erwägen, ob hier nicht ein insge-
samt junger, d. h. nachexilischer Text vorliegt, der nachträglich ins dtr Ge-
schichtswerk eingefügt wurde. Dafür müsste man freilich annehmen, dass die
Formel vom fehlenden Königtum in 19,1 und 21,25 nicht originär dtr, sondern
17,6; 18,1 nachempfunden wäre. Und die Tendenz des Nachtrags wäre der anti-
monarchischen Haltung von DtrN gerade entgegengesetzt.
IV. Die Samuelbücher
Kommentare: H. GRESSMANN, 21921 (SAT 2/1). – W. CASPARI, 1926 (KAT). – H. J. STOEBE, I 1973, II
1994 (KAT). – P. K. MCCARTER JR., I 1980, II 1984 (AncB). – F. STOLZ, 1981 (ZBK.AT). – J.P.
FOKKELMAN, Narrative Art and Poetry in the Books of Samuel, I 1981 (SSN 20), II 1986 (SSN 23), III
1990 (SSN 27), IV 1993 (SSN 31). – R. W. KLEIN, I 1983 (WBC 10). – A. A. ANDERSON, II 1989
(WBC). – W. BRUEGGEMANN, 1990 (Interpretation). – S. SCHROER, 1992 (NSKAT). – A. CAQUOT / P.
DE ROBERT, 1994 (CAT). – G. HENTSCHEL, I, II 1994 (NEB.AT). – R. ALTER, The David Story, New
York / London 1999. – K. VOM ORDE, II 2002 (Wuppertaler Studienbibel). – A. F. CAMPBELL, I 2003,
II 2005 (FOTL). – D. T. TSUMURA, I 2007 (NICOT). – S. BAR-EFRAT, I 2007 (BWANT 176), II 2008
(BWANT 181). – D. G. FIRTH, 1 & 2 Samuel 2009 (Apollos OT Commentary 8). – J. W. H. WIJK-BOS,
2011 (Reading the OT). – W. DIETRICH, 2011 (BKAT, Teilbd. 1; Lieferungen zu Teilband 2: 2012ff.).
Forschungsberichte: W. DIETRICH, David in Überlieferung und Geschichte: VuF 22 (1977), 44–64. –
W. DIETRICH / T. NAUMANN, Die Samuelbücher, 1995 (EdF 287). – T. VEIJOLA, Deuteronomismus-
forschung zwischen Tradition und Innovation, Teil II: ThR 67 (2002), 391–424. – D. A. BOSWORTH,
Evaluating King David. Old Problems and Recent Scholarship: CBQ 68 (2006), 191–210. – W.
DIETRICH, Tendenzen neuster Forschung an den Samuelbüchern, in: C. Schäfer-Lichtenberger (Hg.),
Die Samuelbücher und die Deuteronomisten, 2010 (BWANT 188), 9–17. – W. DIETRICH, Von den
ersten Königen Israels. Forschung an den Samuelbüchern im neuen Jahrtausend: ThR 77 (2012),
135–170.263–316.401–425.

Die Samuelbücher beschreiben den Abschnitt der Geschichte Israels von den
letzten „Richtern“ über den ersten König Israels, Saul, bis zu David, dem großen
Reichs- und Dynastiegründer. Ungeachtet der verschiedenen, in ihnen zur Spra-
che gebrachten Themen durchzieht sie (jedenfalls bis 2Sam 20) ein leidlich
durchlaufender Erzählfaden, der sich in drei Abschnitte gliedern lässt:

A. Samuel und Saul


1Sam 1–3: Samuel wird wunderbar geboren, kommt ans Heiligtum von Schilo und
steigt am dortigen Priester Eli vorbei auf.
1Sam 4–6: Israel unterliegt in einem Kampf den Philistern und verliert die Heilige
Lade, die sich aber im Feindesland selbst zu helfen weiß.
1Sam 7–12: Samuel installiert sich als Richter und Retter, setzt dann aber auf Bitten
des Volkes einen König ein: Saul. Dieser bewährt sich in einem Krieg gegen die Am-
moniter, Samuel gibt die Führung ab.
1Sam 13–15: Saul versagt in Kriegen gegen die Philister und die Amalekiter, Samuel
kündigt seine Ersetzung durch einen anderen an.
B. Saul und David
1Sam 16–18: David wird heimlich gesalbt, kommt an Sauls Hof, besiegt Goliat und
steigt im Heer und in der Königsfamilie auf; Saul wird misstrauisch.
1Sam 19–27: Saul vertreibt David und jagt ihn so lange, bis er in den Dienst der Phi-
lister tritt; David profiliert sich als starker und edler, kluger und frommer Führer.
1Sam 28–31: Die Philister fordern Saul zur Entscheidungsschlacht; David bleibt die
Teilnahme erspart; Saul gerät in Verzweiflung und stirbt im Kampf von eigener Hand.
2Sam 1–5: David klagt um Saul und dessen Sohn, seinen Freund Jonatan; die restli-
chen Sauliden verlieren Einfluss und Leben, David wird zum Herrn von Juda, Israel
und Jerusalem.
C. Davids Herrschaft
2Sam 6–8: David holt die Lade nach Jerusalem, erhält vom Propheten Natan eine Dy-
nastieverheißung und unterwirft annähernd alle Nachbarvölker.
IV. Die Samuelbücher 233

2Sam 9–13: Am Königshof sorgt David für Jonatans Sohn Meribaal, beschafft sich die
Frau seines Offiziers Urija, Batscheba, die ihm Salomo gebiert, und erlebt, wie es unter
seinen Kindern zu Vergewaltigung (Amnon an Tamar) und Mord (Abschalom an
Amnon) kommt.
2Sam 14–20: David muss sich mit Abschalom auseinandersetzen und schlägt einen
von diesem geführten Putsch und gleich danach noch die Revolte des Benjaminiten
Scheba nieder.
2Sam 21–24: Anhangsweise werden vor Davids Tod (vgl. 1Kön 1) noch einige Bege-
benheiten aus seinem Leben, Namen und Taten seiner Entourage sowie zwei angeb-
lich von ihm gedichtete Lieder mitgeteilt.

Die Samuelbücher sind ein literarisches Kleinod. Gerade bei ihnen scheint die
Frage nach der Textentstehung nicht besonders vorrangig. Schon immer haben
sie (auch) zu ganz anderem angeregt als zu historischer Kritik. Die in ihnen
geschilderten Ereignisse und Gestalten – voran David, aber auch andere wie
Samuel, Saul, Michal, Batscheba, Abschalom – haben in der Religions- und
Kunstgeschichte einen enorm vielstimmigen Widerhall gefunden; die Menge der
davon zeugenden Malereien und Skulpturen, Oratorien und Instrumentalstücke,
Gedichte und Romane, Nacherzählungen, Predigtreihen usw. ist kaum zu über-
blicken.

Einblicke in die äußerst facettenreiche Wirkungsgeschichte der Samuelbücher bieten u. a.:


H. STEGER, David rex et propheta. König David als vorbildliche Verkörperung des Herr-
schers und Dichters im Mittelalter, Nürnberg 1961 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und
Kunstwissenschaft 6). – A. DE PURY / T. RÖMER / J.-D. MACCHI (éds.), Figures de David à
travers la Bible, Paris 1999. – C. HOURIHANE (ed.), King David in the Index of Christian
Art, Princeton 2002. –R. COUFFIGNAL, „Le saint roi David“. La figure mythique et sa for-
tune, Paris 2003. – W. DIETRICH / H. HERKOMMER (Hg.), König David – biblische Schlüs-
selfigur und europäische Leitgestalt, Fribourg/Stuttgart, 2003. – G. HENTSCHEL, Saul.
Schuld, Reue und Tragik eines „Gesalbten“, Leipzig 2003 (Biblische Gestalten 7), 206–232.
– M. PIETSCH, „Dieser ist der Sproß Davids …“ Studien zur Rezeptionsgeschichte der
Nathanverheißung, 2003 (WMANT 100). – R. HUNZIKER-RODEWALD, König Saul und die
Geister. Zur Entwicklung des Saulbildes in der Bibel und in der Geschichte ihrer Rezep-
tion, Habilitationsschrift Bern 2005. – W. DIETRICH, David. Der Herrscher mit der Harfe,
Leipzig 2006 (Biblische Gestalten 14), 201–357. – T. LINAFELT / C. V. CAMP / T. BEAL (eds.),
The Fate of King David. The Past and Present of a Biblical Icon, New York / London 2010
(LHBOTS 500). – W. BRUEGGEMANN, David and His Theologian. Literary, Social, and
Theological Investigations of the Early Monarchy, Eugene, Ore. 2011. – J. BLENKINSOPP,
David Remembered. Kingship and National Identity in Ancient Israel, Grand Rapids, MI
2013.

Die wenigsten der Künstler und Interpreten, die sich mit den Samuelbüchern
beschäftigten, fragten nach deren Zustandekommen. Meist betrachteten sie die
Texte so, wie sie jetzt vorliegen – und blieben dabei keineswegs nur an der Ober-
fläche. Dies vermutlich deshalb, weil sie die Texte nicht eindimensional erfasst,
sondern in andere Kontexte – biblische und nichtbiblische, hermeneutische und
ästhetische, historische und gegenwärtige – eingezeichnet haben. Auch in der
heutigen Exegese werden, jedenfalls außerhalb der europäischen und speziell der
234 C. Die Vorderen Propheten

deutschsprachigen Forschung, derartige Annäherungsweisen der rein historisch-


kritischen Analyse zumeist vorgezogen. Verschiedenste Perspektiven und Me-
thoden finden dabei Anwendung. Die Stichwörter reichen von kanonisch über
ästhetisch, literarisch, poetisch, strukturell über wirkungsgeschichtlich, holis-
tisch, intertextuell und kontextuell bis tiefenpsychologisch, befreiungstheologisch
und feministisch. Und in der Tat lassen sich mit all diesen Fragestellungen bei
den Samuelbüchern mehr oder weniger beachtenswerte Ergebnisse erzielen.

Als Beispiele solcher Lektüren, die man – etwas missverständlich – unter dem Begriff
„synchron“ (im Gegensatz zu „diachron“, d. h. nach der Textentstehung fragend) zusam-
menfassen kann, seien folgende Arbeiten genannt: S. BAR-EFRAT, Literary Modes and
Methods in the Biblical Narrative in View of 2 Sam 10–20 and 1 Kings 1–2: Imm. 8
(1978), 19–31. – D. M. GUNN, The Story of King David. Genre and Interpretation, 1978
(JSOT.S 6). – C. CONROY, Absalom Absalom! Narrative and Language in 2 Sam 13–20,
1978 (AnBib 81). – D. M. GUNN, The Fate of King Saul, 1980 (JSOT.S 14). – A. BERLIN,
Characterization in Biblical Narrative. David’s Wives: JSOT 23 (1982), 69–85. – M.
GARSIEL, The First Book of Samuel. A Literary Study of Comparative Structures, Analogies
and Parallels, Ramat-Gan 1985. – P. D. MISCALL, 1 Samuel. A Literary Reading,
Bloomington 1986. – U. BERGES, Die Verwerfung Sauls. Eine thematische Untersuchung,
1989 (FzB 61). – W. BRUEGGEMANN, David’s Truth in Israel’s Imagination, Philadelphia
1985. – L. M. ESLINGER, Kingship of God in Crisis. A Close Reading of 1 Samuel 1–12,
1985 (BiLiSe 10). – D. Vikander EDELMAN, King Saul in the Historiography of Judah, 1991
(JSOT.S 121). – J. C. EXUM, Tragedy and Biblical Narrative. Arrows of the Almighty,
Cambridge 1992. – R. POLZIN, Samuel and the Deuteronomist. Bloomington 1993. – R.
POLZIN, David and the Deuteronomist, Bloomington 1993. – A. BRENNER (ed.), A Feminist
Companion to Samuel and Kings, Sheffield 1994. – R. COUFFIGNAL, Saül, héros tragique
de la Bible, Paris 1999. – P. ECKSTEIN, König David. Eine strukturelle Analyse des Textes
aus der Hebräischen Bibel und seine Wiederaufnahme im Roman des 20. Jahrhunderts,
Bielefeld 2000. – H.-J. DALLMEYER / W. DIETRICH, David – ein Königsweg. Psychoanaly-
tisch-theologischer Dialog über einen biblischen Entwicklungsroman, Göttingen 2002. –S.
NICHOLSON, Three Faces of Saul. An Intertextual Approach to Biblical Tragedy, 2002
(JSOT.S 339). – J. VETTE, Samuel und Saul. Ein Beitrag zur narrativen Poetik des Samuel-
buches, Münster 2005 (Beiträge zum Verstehen der Bibel 13). – T. CZÖVEK, Three Seasons
of Charismatic Leadership. A Literary-Critical and Theological Interpretation of the Nar-
rative of Saul, David and Solomon, Oxford 2006. – R. GILMOUR, Representing the Past. A
Literary Analysis of Narrative Historiography in the Book of Samuel, 2011 (VT.S 143).

Das vorliegende Buch fragt nach der „Entstehung des Alten Testaments“. Natür-
lich ist diese Fragehinsicht auch bei den Samuelbüchern fruchtbar. Sie verhilft
der Textwahrnehmung zu einer höchst nützlichen (literatur-)historischen Tie-
fenschärfe. Da wir vom vorliegenden Text aus, Schritt um Schritt zurück, seine
mutmaßliche Entstehungsgeschichte zu erkunden suchen, ist es im Fall der Sa-
muelbücher angebracht, als erstes die Textgeschichte – von den vorhandenen
(Übersetzungen und) Versionen zurück zu dem gedachten ersten vollständigen
und fertigen Sam-Text – in den Blick zu nehmen.
IV. Die Samuelbücher 235

1. Text
J. WELLHAUSEN, Der Text der Bücher Samuelis, Göttingen 1871. – H. TIKTIN, Kritische Untersu-
chungen zu den Büchern Samuelis, 1922 (FRLANT 16). – E. ULRICH, The Qumran Text of Samuel
and Josephus, 1978 (HSM 19). – E. TOV (ed.), The Hebrew and Greek Texts of Samuel, Jerusalem
1980. – D. BARTHÉLEMY, Critique textuelle de l’Ancien Testament, 1. Josué, Juges, Ruth, Samuel,
Rois, Chroniques, Esdras, Néhémie, 1982 (OBO 50/1). – S. PISANO, Additions or Omissions in the
Books of Samuel. The Significant Pluses and Minuses in the Massoretic, LXX and Qumran Texts,
1984 (OBO 57). – A. AEJMELAEUS, The Septuagint of 1 Samuel, in: L. Greensporn / O. Munnich, VIII
Congress of the International Organization for Septuagint and Cognate Studies Paris 1992, Atlanta
1995, 109–129. – P. GRILLET / M. LESTIENNE, La bible d’Alexandrie, 9.1, Premier livre des Règnes,
Paris 1997. – A. FINCKE, The Samuel Scroll from Qumran. 4QSama restored and compared to the
Septuagint and 4QSamc, Leiden 2001 (Studies in the Texts of the Desert of Judah 43). – C. E.
MORRISON, The Character of the Syriac Version of the First Book of Samuel 2001 (MPIL 11). – F. M.
CROSS / D. W. PARRY / R. J. SALEY / E. ULRICH, Qumran Cave 4 XII. 1–2 Samuel, Oxford 2005 (DJD
XVII). – J. HUTZLI, Die Erzählung von Hanna und Samuel. Textkritische und literarische Analyse
von 1. Samuel 1–2 unter Berücksichtigung des Kontextes, 2007 (AThANT 89). – Jong-Hoon KIM, Die
hebräischen und griechischen Textformen der Samuel- und Königebücher. Studien zur Textge-
schichte ausgehend von 2Sam 15,1–19,9, 2009 (BZAW 394). – P. HUGO / A. SCHENKER (eds.), Ar-
chaeology of the Books of Samuel. The Entangling of the Textual and Literary History, 2010 (VT.S
132).

Bibelleserinnen und Bibelleser ohne ursprachliche Ambitionen verlassen sich in


der Regel auf eine oder zwei als „gut“ geltende Übersetzungen in ihre Mutter-
sprache. Im Fall der Samuelbücher ist das besonders problematisch, weil sie zu
den Büchern des Alten Testaments gehören, in denen der masoretische Text der
Hebräischen Bibel (MT) und der griechische Text der Septuaginta (LXX) weit
auseinander laufen. Hinzu kommt als weiterer gewichtiger Zeuge (neben kleine-
ren) eine große Textrolle aus der vierten Höhle von Qumran, welche die Sam-
Bücher zwar nicht komplett, aber doch auf beträchtliche Strecken enthält
(4QSama). Welchem dieser Textzeugen also sollte eine Übersetzung folgen –
noch ganz abgesehen von abweichenden Lesarten in alten Übersetzungen und
Zitationen und von Differenzen zwischen einzelnen Handschriften, die von all
diesen Werken im Lauf der Texttradierung angefertigt wurden?
Ein in gewisser Weise unanfechtbares Verfahren wäre es, nur einer der großen
Texttraditionen, der hebräischen oder der griechischen, zu folgen und allenfalls
noch deren innere Differenzen zu bereinigen. Damit würde man auf die Rekon-
struktion (oder sogar auf die Annahme) eines einmal da gewesenen Ur-Textes
verzichten. Doch zwingen die vorhandenen Textzeugen keineswegs zu der Hy-
pothese, es habe die Sam-Bücher von Anfang an nur in einer Mehrzahl von Ver-
sionen gegeben. Vielmehr lassen sich bei (fast) allen wichtigeren Abweichungen
zwischen den Textzeugen Gründe benennen, warum sich einmal diese, einmal
jene Version von der gedachten Urfassung entfernt hat.
LXX-Sam ist nicht, wie man meinen könnte, aus MT-Sam (bzw. seiner dama-
ligen Vorform), sondern aus einer von MT sich recht stark unterscheidenden
hebräischen Vorlage übersetzt worden. Diese konnte man lange Zeit nur postu-
lieren – bis neuerdings in Gestalt von 4QSama ein hebräischer Text aufgetaucht
ist, der mit demjenigen der LXX (bzw. deren Vorlage) oft, wenn auch keineswegs
236 C. Die Vorderen Propheten

immer, übereinstimmt. Bei jeder Differenz zwischen diesen Hauptzeugen ist


festzustellen, ob und wie zwei von ihnen zusammengehen, und abzuwägen, ob
und wie sich der Weg von der einen zur anderen Fassung nachzeichnen lässt. In
Erwägung zu ziehen sind vor allem: handfeste Versehen und Abschreibfehler
(z. B. Verwechslung von Buchstaben, Überspringen einer Zeile usw.), Eigenhei-
ten oder auch Unzulänglichkeiten eines Übersetzers (z. B. Probleme beim
Transfer einer Aussage aus einer semitischen in eine indogermanische Sprache
oder von einer früheren in eine spätere Zeit), aber auch willentliche Abweichun-
gen (z. B. wegen der tatsächlichen oder vermeintlichen Unverständlichkeit oder
Unvollständigkeit oder Unerträglichkeit des überkommenen Textes). Mit zu-
meist hoher, manchmal auch niedrigerer Wahrscheinlichkeit lässt sich so ein
hypothetischer, hinter MT, LXX und 4QSama liegender Ur-Text rekonstruieren.
Dessen Abfassung wäre für den Zeitpunkt zu postulieren, da der Prozess der
Literaturbildung in den Sam-Büchern abgeschlossen war.

Dieser Zeitpunkt war nach Ausweis der Redaktionsgeschichte für den allergrößten
Teil der Sam-Bücher um die Mitte des 5. Jh.s gekommen. Abgesehen von einzelnen
Glossen traten danach – gewissermaßen nach-redaktionell – nur noch einzelne Texte
hinzu: etwa das tiefgründige Hannalied 1Sam 2,1–10, das streckenweise unverkennbar
spätalttestamentlichen Geist atmet, evtl. auch die beiden Psalmlieder 2Sam 22,1–51
und 23,1–7. Da diese poetischen Stücke in mancher Hinsicht miteinander korrespon-
dieren, mögen sie als Lese- und Gebetsanleitung gemeinsam am Anfang und am Ende
der Sam-Bücher eingesetzt worden sein.

2. Redaktion

Schon immer hat man bemerkt, dass die Sam-Bücher eine weniger starke dtr
Redaktion erfahren haben als die anderen Bücher der Vorderen Propheten.
Gleichwohl gibt es in bestimmten Abschnitten unverkennbar dtr Bearbeitungs-
spuren, welche die Annahme der Zugehörigkeit auch der Sam-Bücher zum dtr
Geschichtswerk rechtfertigen. Dass diese Spuren aber schwächer sind als an-
derswo, lässt darauf schließen, dass es im Bereich der Sam-Bücher bereits vor-dtr
Redaktionsarbeit gegeben hat, die den Deuteronomisten ihre weitgehende Zu-
rückhaltung ermöglichte. Dieser Eindruck wird sich im Folgenden bestätigen.

a) Der deuteronomistische Diskurs über Staat und Dynastie

J. WELLHAUSEN, Die Composition des Hexateuchs und der historischen Bücher des Alten Testa-
ments, Berlin 31899 = 41963. – M. NOTH, Überlieferungsgeschichtliche Studien, Tübingen 1943,
3
1967. – D. J. MCCARTHY, II Samuel 7 and the Structure of Deuteronomic History: JBL 84 (1965),
131–138. – H. J. BOECKER, Die Beurteilung der Anfänge des Königtums in den deuteronomistischen
Abschnitten des I. Samuelbuches, 1969 (WMANT 31). – W. DIETRICH, Prophetie und Geschichte,
1972 (FRLANT 108). – T. VEIJOLA, Die ewige Dynastie, 1975 (AASFB 193). – T. VEIJOLA, Das Kö-
nigtum in der Beurteilung der deuteronomistischen Historiographie, 1977 (AASFB 198). – H.
DONNER, Die Verwerfung des Königs Saul (1983), in: Ders., Aufsätze zum AT, 1994 (BZAW 224),
IV. Die Samuelbücher 237

133–164. – F. FORESTI, The Rejection of Saul in the Perspective of the Deuteronomic School, Rom
1984. – C. LEVIN, Die Verheißung des neuen Bundes in ihrem theologiegeschichtlichen Zusammen-
hang ausgelegt, 1985 (FRLANT 137). – U. BECKER, Der innere Widerspruch der deuteronomistischen
Beurteilung des Königtums, in: M. Oeming / A. Graupner (Hg.), Altes Testament und christliche
Verkündigung, FS A. H. J. Gunneweg, Stuttgart 1987, 246–270. – W. DIETRICH, David, Saul und die
Propheten, 21992 (BWANT 122). – R. WONNEBERGER, Redaktion. Studien zur Textfortschreibung im
AT, 1992 (FRLANT 156). – M. KLEER, „Der liebliche Sänger der Psalmen Israels“. Untersuchungen
zu David als Dichter und Beter der Psalmen, 1996 (BBB 108). – J. VAN SETERS, In Search of History,
Winona Lake 1997. – J. VERMEYLEN, La loi du plus fort. Histoire de la rédaction des récits davidiques
de 1 Samuel 8 à 1 Rois 2, 2000 (BETL 154). – W. DIETRICH, Geschichte und Gesetz, in: Ders., David
und die Deuteronomisten, 2002 (BWANT 156), 217–235. –S. ISSER, The Sword of Goliath. David in
Heroic Literature, Atlanta, GA 2003 (Studies in Biblical Literature 6). – M. PIETSCH, „Dieser ist der
Sproß Davids …“, 2003 (WMANT 100). – R. MÜLLER, Königtum und Gottesherrschaft, 2004 (FAT
2/3). – T. VEIJOLA, Geographie im Dienst der Literatur in ISam 28,4, in: W. Dietrich (Hg.), David und
Saul im Widerstreit – Diachronie und Synchronie im Wettstreit, 2004 (OBO 206), 256–271. – A. A.
FISCHER, Flucht und Heimkehr Davids als integraler Rahmen der Abschalomerzählung, in: R. Lux
(Hg.), Ideales Königtum. Studien zu David und Salomo, Leipzig 2005 (Arbeiten zur Bibel und ihrer
Geschichte 16), 43–70. – H. A. TANNER, Amalek. Der Feind Israels und der Feind Jahwes, Zürich
2005. – D. WAGNER, Geist und Tora. Studien zur göttlichen Legitimation und Delegitimation von
Herrschaft im Alten Testament anhand der Erzählungen über König Saul, Leipzig 2005 (Arbeiten zur
Bibel und ihrer Geschichte 15). – W. OSWALD, Nathan der Prophet. Eine Untersuchung zu 2. Samuel
7 und 12 und 1. Könige 1, 2008 (AThANT 94). – J. VAN SETERS, The Biblical Saga of King David,
Winona Lake, IN 2009.

Dtr Geist und dtr Sprache konzentrieren sich in bestimmten Kapiteln der Sam.-
Bücher: 1Sam 2f.; 7–12; 15; 28; 2Sam 7; 12; evtl. auch 21–24.

Diese Feststellung basiert auf bestimmten exegetischen Voraussetzungen, und sie hat
erhebliche literarische und historische Konsequenzen. Vorausgesetzt ist, dass man – wie
grundlegend von NOTH vorgeführt – zwischen dtr und nicht-dtr bzw. vor-dtr Texten
unterscheiden kann und muss.
– Dies bestreitet etwa VAN SETERS, wenn er im Grunde die gesamten Sam-Bücher (mit
Ausnahme der Erzählung von Davids Thronnachfolge, die nachexilisch sei!) für die
Schöpfung des dtr Geschichtsschreibers hält, der dazu nicht einmal ältere Quellen ver-
wendet, sondern – vergleichbar mit Herodot – allenfalls mündlich übermittelte Informa-
tionen in seine Darstellung eingewoben habe. Im exegetischen Dämmerlicht werden alle
Katzen grau und alle Texte dtr. Etwas anders, aber doch ähnlich gelagert ist der Fall bei
ISSER: Er meint, die Erzählungen der Samuelbücher seien aus einem breiten Reservoir
populärer Heldengeschichten („heroic literature“, „fairy tales“) geschöpft. Faktisch habe
erst „the Dtr“ (gedacht offenbar als eine von 620 bis 450 v. Chr. wirkende Gruppe) der
Darstellung die heutige Form und Reihenfolge gegeben. Auch wenn hier der dtr Redak-
tion nur relativ wenige Eigenbeiträge zugeschrieben werden, wird ihr doch insgesamt zu
viel zugemutet.
– Ähnliche Bedenken wie gegenüber diesen Gesamtentwürfen bestehen auch gegenüber
der These FISCHERs, in der Abschalom-Erzählung 2Sam 14–19 sei nur ein kleiner Über-
lieferungskern (18,1–19,9) quellenhaft, während die breiten Ausführungen über Davids
Flucht und Heimkehr von und nach Jerusalem (15,18–17,29; 19,10–41) einer „spät-dtr“
Redaktion zugehören sollen, die im Geschick Davids dasjenige der babylonischen Gola
abbilden wolle. Mahanajim ist aber nicht Babylon, und 2Sam 15–17 und 19 sind keine dtr
Texte.
238 C. Die Vorderen Propheten

– WAGNER möchte einem (!) „Verfasser der Sam-Bücher“, der in frühnachexilischer Zeit
(!) wirkte, zwar nicht alle, aber doch höchst unterschiedliche Texte in dem von ihm unter-
suchten Bereich zurechnen: nicht nur solche, die in mehrstufigen Redaktionsmodellen auf
frühere und spätere Deuteronomisten verteilt werden, sondern auch solche, die gemein-
hin als quellenhaft gelten (z. B. 1Sam 11,1–13).
– Demgegenüber bewies Timo VEIJOLA ein feines Gespür für den Unterschied zwischen
quellenhaften und redaktionellen Texten – nur dass er speziell DtrH auch Abschnitte
zuwies, die vermutlich zu einer älteren Redaktion gehören (s. dazu unten 2b). Dies betrifft
vor allem Aussagen über die „ewige Dynastie“ Davids. Unter diesem kleinen Vorbehalt
seien hier – im Sinne eines Vermächtnisses – alle Passagen aufgelistet, die dieser Meister
der Redaktionskritik als dtr ausgegrenzt hat:
 DtrH: 1Sam 2,27–36; 4,4b.11b.17ba.19ag.21b.22a; 7,5–15.17; 8,1–5.22b; 9,16b; 10,16b.
17.18aα.19b–27; 11,12–14; 13,1; 14,47–51; 20,12–17.42b; 22,18bg; 23,16–18; 24,18–23a;
25,21f.23b.24b–26.28–34.*39a; 2Sam 3,9f.17–19.28f.38f.; 4,2b–4; 5,1f.4f.11a.12a.17a; 6,*21;
7,8b.11b.13.16.18–21.25–29; 8,1a.14b.15; 9,1.*7.*10.11b.13aβ; 15,25f.; 16,11f.; 19,22f.29;
21,2b.7; 24,1.19b.23b.25bα.
 DtrP: 1Sam 3,11–14; 22,19; 28,17–19aα; 2Sam 12,*7b–10.13f.; 24,3.4a.10–14.15aβ.17.
21bβ.25bβ.
 DtrN: 1Sam 7,2–4; 8,6–10.18–22a; 10,18aβgb.19a; 12,1–25; 13,13f.; 2Sam 5,12b; 7,1b.6.
11a.22–24; 22,1.22–25.51.

Wir gehen jetzt die Schwerpunkte dtr Redaktionstätigkeit in den Sam-Büchern


entlang, notieren die jeweiligen inhaltlichen Aussagen und referieren knapp
einige Forschungsarbeiten.
– Die Verwerfung des elidischen Priesterhauses (1Sam *2f.): Nachdem in 1Sam
2,11–25 der fromme Samuel und die schlechten Eliden gegeneinander profiliert
worden sind, tritt in 2,27–36 ein „Gottesmann“ auf, um Eli Strafe anzukündigen;
in 3,11–14 bestätigt Gott diese Ansage dem Samuel in nächtlicher Offenbarung.
Beide Passagen sind dtr oder doch dtr bearbeitet; im zweiten Fall wurde dadurch
ein älteres Gotteswort an Samuel (mutmaßlich über seine eigene Zukunft) er-
setzt.

2,27–36 dürfte weder komplett vor-dtr sein (so CAQUOT / DE ROBERT: zadokidische
Redaktion) noch komplett dtr (VEIJOLA: DtrH); vielmehr wurde eine ältere Version
des Orakels, welche Eli die Katastophe von 1Sam 4 ankündigte (2,*27–32), dtr über-
arbeitet und erweitert (DIETRICH: 2,28a.30a.34–36), womit sich der Horizont enorm
ausweitete: zurück bis zum Exodus und voraus fast bis zum Exil (vgl. 1Kön 2,26f.;
2Kön 23,8f.). In 3,12–14 wird auf diese erweiterte Fassung von 2,27–36 zurückgegrif-
fen. An beiden Stellen dürfte DtrP am Werk sein, der hier ein wunderbares Beispiel
für die Verlässlichkeit prophetischer Weissagung fand bzw. schuf.

– Die Einführung des Königtums (1Sam 7–12): In dem Textabschnitt gibt es un-
terschiedliche, ja gegensätzliche Einstellungen zur Gründung eines Staates in
Israel, zum ersten König und zur Institution des Königtums überhaupt. Die For-
schung ist sich einig darin, dass dtr Textanteile vor allem in 1Sam 7f.; 10,18f(f.)
und 12 zu sehen sind. Die neuere Diskussion tendiert dahin, dem Deuterono-
mismus insgesamt eine ambivalente Einschätzung von Königtum und Staat zu-
IV. Die Samuelbücher 239

zuschreiben; die völlige Ablehnung von Königtum und Staat wurde offenbar erst
in (früh)nachexilischer Zeit propagiert.

WELLHAUSEN u. a. unterschieden in dem Abschnitt eine königsfreundliche (9,1–10,16;


11) von einer königsfeindlichen Textreihe (7f.; 10,17–27; 12) und hielten die eine für
alt und historisch glaubhaft, die andere für jung und rein ideologisch. NOTH nahm das
auf und wies die jüngere Reihe „Dtr“ zu, wobei er ihr aber (im Jahr 1943!) größeren
Respekt entgegenbrachte als andere zuvor. BOECKER wurde darauf aufmerksam, dass
die dtr Passagen keineswegs eindeutig antimonarchisch eingefärbt sind und attestierte
der Redaktion eine ambivalente bzw. dialektische Haltung gegenüber Königtum und
Staat. VEIJOLA teilte die dtr Texte so auf, dass DtrH nur königtumsfreundliche Passa-
gen zufielen, DtrN hingegen alle königtumskritischen (s. die obige Liste); es war auch
erst DtrN, der das (in sich alte) sarkastische „Königsrecht“ 8,11–17 einbrachte.
BECKER wollte die beiden Schichten auch unterscheiden, schrieb ihnen beiden aber
eine ambivalente Haltung zum Königtum zu. DIETRICH stimmte Veijola darin zu, dass
die scharfe Königtumskritik tatsächlich erst von DtrN stamme, bestritt aber erstens,
dass der Abschnitt 10,20–27 (über Sauls Königswahl) überhaupt dtr sei, und zweitens,
dass DtrH ein bedingungsloser Royalist sei; vielmehr habe er im Königtum Vor- und
Nachteile gesehen und zum Ausweis der Nachteile auch bereits das „Königsrecht“
aufgenommen. Nach MÜLLER hingegen wäre dieses „Recht“ kein älterer Text, sondern
insgesamt eine spät-dtr Kreation, die ad hoc in den Text eingeschrieben wurde: nach
mehreren vorangegangenen und mehreren noch folgenden dtr Bearbeitungen. Eine
Gegenposition bezieht WAGNER, indem er den gesamten Text bis auf V. 8 für einheit-
lich frühnachexilisch, das „Königsrecht“ freilich für einen vorgegebenen Text hält.

– Der Kampf mit Amalek (1Sam 15): Das schaurige Kapitel über Sauls Verwer-
fung durch Samuel nach der unvollständigen Durchführung eines Bannbefehls
scheint im Kontext nicht besonders fest verankert: Es folgt nach den Schlussnoti-
zen über Saul (14,47–52) und doppelt sich mit einer vorangegangenen Verwer-
fungserzählung (13,7b–15). Obwohl in dem Kapitel älteres Erzählgut enthalten
sein mag, zeigt es (spät-)dtr Gedankengut und dürfte nachträglich ins Werk von
DtrH aufgenommen worden sein.

Galt 1Sam 15 etwa NOTH oder HERTZBERG noch fraglos als alt, so wird es mittlerweile
überwiegend für jung gehalten: BERGES und DONNER sehen in ihm ein rein theologi-
sches Konstrukt, STOLZ geradezu einen „Schlüssel“ der dtr Redaktion. FORESTI teilt
den Text auf zwei dtr Schichten auf: DtrP (1aa.2f.*4–11.13–15a.16–19.23b.30f.34.
35aa) und DtrN (der Rest). TANNER lehnt dies ab (durchaus vorhandene Doppelun-
gen deuten nicht auf verschiedene Hände, sondern sind Stilmittel des einen Autors)
und erklärt das Kapitel zu einer sekundären Ausgestaltung von 13,7b–15 unter Auf-
nahme einer Reihe weiterer Motive aus den vorangehenden Kapiteln (vgl. z. B. 15,4
mit 7,9 und 11,15; 15,11 mit 12,20; 15,17 mit 9,21; 15,25.30 mit 11,15). DIETRICH re-
konstruiert einen mehrstufigen Vorgang: Eine knappe alte Erzählung vom Zusam-
menwirken Sauls und Samuels in einem Amalekiterkrieg (15,4f.6aab.7.8a.12b.13a.
32f.) wurde bei der Aufnahme in eine Sammlung hofkritischer Prophetenerzählungen
in eine Konfliktgeschichte umgewandelt (15,1aa.3.8b.9.13b–16aa.27.28a.30.31.34.
35a), von DtrP ins Werk von DtrH eingebaut (15,1abb.2.6ab.10–12a.16abb–23.35b)
und schließlich noch durch DtrN überarbeitet (15,24–26.28b.29; hier die Korrektur
240 C. Die Vorderen Propheten

der Rede von Jhwhs „Reue“ in 15,11.35). MOMMER folgt diesem Entwurf weitgehend,
nur dass er nicht mit mehreren Deuteronomisten rechnet. WAGNER wiederum hält
das gesamte Kapitel, abgesehen von einigen wenigen Zusätzen, für einheitlich früh-
nachexilisch.

– Die Beschwörung des toten Samuel (1Sam 28): Eine alte Erzählung darüber, wie
Saul vor der Entscheidungsschlacht gegen die Philister zu einer Totenbeschwöre-
rin ging, um sich sein Schicksal voraussagen zu lassen, wurde durch dtr Hand
umgearbeitet zu einer Begegnung Sauls mit dem Gerichtspropheten Samuel.

FORESTI meinte die gesamte Erzählung 1Sam 28 auf DtrP zurückführen zu können
(was aber wegen vieler vollkommen un-dtr Inhalte unmöglich ist). VEIJOLA (gefolgt
von DIETRICH) schrieb zunächst nur die Verse 17–19aa, in denen sich „Samuel“ aus-
drücklich auf 1Sam 15 bezieht, dem DtrP zu, später auch das geographische „Setting“
in V. 3f., womit DtrP für den Einschub dieser Erzählung ins dtr Werk verantwortlich
würde; zudem stamme die Entgegensetzung von Nekromantie und Prophetie in V. 9f.
– genau wie das Prophetengesetz Dtn 18,9–22, wo eben dieser Gegensatz auch postu-
liert werde – von DtrP. Ähnlich bilden nach WAGNER die Verse 3b.9f.12.17–19aa,
dazu 30b.21b.22aa, eine späte Bearbeitungsschicht zu einem im Übrigen älteren Text.

– Die Dynastieverheißung (2Sam 7): Ursprünglich im judäischen Hofzeremoniell


verwurzelt, wurde die Natan-Weissagung schon relativ früh in die David-Erzäh-
lungen integriert und später von den Deuteronomisten zu einem ihrer Zentral-
texte ausgebaut. Besonders lag ihnen daran, den Zusammenhang zwischen dem
„Haus Davids“ und dem (dann von Salomo gebauten) „Haus Jhwhs“ sowie das
Verhältnis zwischen Davidbund und Israelbund zu klären. Zudem unterstrichen
sie mit dem Gebet, das sie David in den Mund legen (7,18ff.), die Gottergeben-
heit und Frömmigkeit dieses Herrschers.

NOTH hielt 2Sam 7 großenteils für vor-dtr, im Kern sogar davidszeitlich; lediglich
7,13a.22–24 reklamierte er für „Dtr“. LEVIN, um die extreme Gegenposition zu mar-
kieren, sah in dem Kapitel nichts weiter als zwei nachexilische (!) „Fortschreibungs-
ketten“ zu den Themen Tempel und Dynastie. Eben aufgrund dieser Doppelthematik
erklärte MCCARTHY dieses Kapitel zu einer der tragenden Säulen des dtr Geschichts-
werks, ohne freilich den dtr Textanteil näher zu bestimmen. VEIJOLA arbeitete aus
dem jetzt vorliegenden Text zwei schon königszeitliche Orakel heraus – das eine zum
Haus Gottes (1a.2–5.7), das andere zum Haus Davids (8a.9f.12.14f.17) –, die DtrH
miteinander verbunden und kommentiert habe (8b.11b.13.16.18–21.25–29), ehe DtrN
noch 1b.6.11a.22–24 hinzufügte. Laut DIETRICH gab es nur ein älteres Orakel (*11b–
15a), das bereits vor-dtr in den jetzigen Erzählkontext integriert und damit historisiert
worden ist; erst DtrH brachte das Tempelbauthema ein (1–5.8abb.9.16–21.25–29),
was DtrN zu einigen tempelkritischen Bemerkungen und zur Vorordnung des Israel-
bundes vor den Davidbund herausforderte (5b–8aa.10.11a.22–24). Ähnlich PIETSCH:
Eine alte Dynastiezusage (*11–16) wurde von einer vor-dtr Redaktion historisiert
(1a.2–5.8aβb.9a.*12.13.14b.15b.18–21.25–27), ehe sie dtr (9b–11a.22–24) und nach-
dtr (1b.6a–8aa sowie 28f.) mehrfach bearbeitet wurde.
IV. Die Samuelbücher 241

– Natans Strafrede an David (2Sam *12): Nachdem David sich an Batscheba und
Urija vergriffen hat, wird er vom Propheten Natan zur Rede gestellt und zur
Buße geführt. Nicht die gesamte Natan-Szene (12,1–15a), wohl aber bestimmte
Passagen in Natans Rede an David dürften von dtr Hand stammen. Durch sie
wird Natan dem dtr Prophetenbild angeglichen, das sich durch Unerschrocken-
heit der Kritik an den Königen und durch eine fast unheimliche Treffsicherheit
der Strafankündigungen auszeichnet.

Im Gefolge älterer Ansätze hat DIETRICH den gesamten Natan-Auftritt als (sekun-
där-)dtr Einfügung zu erklären versucht; es wäre dann auf den Ehebruch und Mord
Davids (2Sam 11) unmittelbar der Tod des aus dem Ehebruch hervorgegangenen
Kindes gefolgt (12,15b–23; VEIJOLA hat dann noch diesen Passus für sekundär erklärt,
womit ursprünglich auf 2Sam 11 sogleich die Mitteilung der Geburt Salomos [12,24]
gefolgt wäre). So faszinierend diese Möglichkeit ist: Natan dürfte doch nicht erst von
der dtr Redaktion ins Spiel gebracht worden sein, sondern schon von einer vor-dtr (s.
den nächsten Abschnitt). Der Prophet trägt dem König bekanntlich eine Parabel vor,
die diesen dazu bringt, sich ungewollt selbst zu verurteilen (12,1–7a). Die nachfol-
gende Deuterede Natans weist einige Doppelungen auf. Nach DIETRICH begrenzte sich
der ältere, vor-dtr Textbestand auf 12,9a.10a.11f. (einen knappen Schuldaufweis, die
Ankündigung, von Davids Haus werde das Schwert nicht mehr weichen, und die kon-
krete Drohung, ihm würden „Frauen weggenommen“). Ein Dtr – am ehesten DtrP –
hat dem einen Rückblick auf die bisherigen Erfolge Davids (12,7b.8) und einige Rich-
tigstellungen im Blick auf seine Schuld (12,9b.10b) zugefügt; vor allem aber lässt er
den König in die Knie gehen und ein Schuldgeständnis sprechen (12,13).

– Nachträge zu den Davidgeschichten (2Sam 21–24): Die vier Kapitel unterbre-


chen den durchgehenden Zusammenhang von 2Sam 9–20 zu 1Kön 1f. In ihnen
werden mancherlei Informationen geboten, die im Hauptkorpus der Davidge-
schichten fehlen und die David in ein nicht unbedingt günstiges Licht rücken.
Der Abschnitt ist sorgfältig chiastisch strukturiert. Möglicherweise hat ihn schon
die dtr Redaktion an den jetzigen Platz gestellt; er könnte, ganz oder teilweise,
aber auch später hinzugekommen sein.

Die vier Kapitel zeigen einen chiastischen Aufbau (VEIJOLA, KLEER, KLEMENT):
21,1–14 Erzählung: David und der Tod von sieben Sauliden
21,15–22 Aufreihung: Krafttaten davidischer Krieger
22,1–51 Lied: Sieg des Königs und Gottes Hilfe
23,1–7 Lied: Gerechtigkeit des Herrschers und Gottes Treue
23,8–39 Aufreihung: Krafttaten davidischer Krieger, Liste der „Dreißig“
24,1–25 Erzählung: Davids Volkszählung, die Pest und der Kultplatz
Laut VEIJOLA hat bereits DtrH die Erzählungen und die Aufreihungen in sein Werk
aufgenommen; 2Sam 24 wurde in der Gestalt des Gerichtspropheten (!) Gad durch
DtrP bearbeitet (so auch DIETRICH), und DtrN platzierte die beiden Lieder in der
Mitte. Nach einer interessanten Theorie ISSERs hat „the Dtr“ in Kap. 21 und 23 Kurz-
fassungen ausführlicher „fairy tales“ untergebracht, die so beliebt waren, dass er sie
nicht ganz übergehen konnte, die ihm aber für die von ihm angestrebten Ziele als
nicht wichtig oder gar als unpassend erschienen. Es fällt auf, dass David in den Auf-
reihungen und Erzählungen keine sehr gute Figur macht; ist er in den einen nicht der
242 C. Die Vorderen Propheten

Hauptakteur, so agiert er in den anderen undurchsichtig bis unverantwortlich (BRÜG-


GEMANN, KLEMENT). Hätte tatsächlich DtrH diese Texte eingesetzt, zeigte er darin ein
recht nüchternes Davidbild. Von den Liedern ist das erste mit Ps 18 weitestgehend
identisch; seine Aufnahme in die Sam-Bücher ist eine Vorstufe zur späteren Davidi-
sierung des Psalters (KLEER). In ihrer Tora-Frömmigkeit (22,22–25) und ihrer Zwei-
Wege-Theologie (vgl. 23,3–5 mit Ps 1) weisen die Lieder typische Züge frühjüdischer
Frömmigkeit auf. KLEER gelangt zu der Ansicht, der gesamte Anhang sei erst in nach-
dtr Zeit von einer Hand gestaltet und am Ende der Sam-Bücher eingestellt worden.

Im Rückblick auf die mutmaßlich dtr Texte in den Sam-Büchern zeigt sich, dass
sie nicht das tragende Grundgerüst der Gesamtdarstellung bilden, sondern eher
ad hoc vorgenommene Eingriffe sind. Doch sind diese Zusätze keineswegs mar-
ginal und nebensächlich. Die umfangreichsten und gewichtigsten finden sich in
1Sam 7–12. Die Deuteronomisten erkannten, wie bedeutsam der Übertritt Israels
von der Stämme- zur Staatsordnung war, und sie beurteilten ihn einerseits als
notwendig und chancenreich, andererseits aber auch als problematisch und ge-
fahrenreich. Zwar verlangten das zunehmende innere Chaos und die abneh-
mende äußere Sicherheit in der Richterzeit nach einer Neuordnung, doch drohte
diese den bisherigen zyklischen Wechsel von Treue und Untreue im Verhältnis
Israels zu Jhwh umschlagen zu lassen in eine grundsätzliche und dauerhafte
Entfernung und Entfremdung Israels von seinem Gott. Wo sich menschliche
Macht ballt, wächst die Bedrohung durch ihren Missbrauch. Allerdings war Jhwh
nach dtr Auffassung von Anfang an auf Schadensbegrenzung bedacht: negativ
dadurch, dass er Propheten über den ersten Königen wachen und sie bei Fehl-
verhalten in die Schranken weisen ließ (1Sam 12; 15; 28; 2Sam 12; 24), positiv,
indem er – wiederum durch einen Propheten – einerseits Israel, andererseits
David und dessen Dynastie seiner unverbrüchlichen Zuneigung und Treue versi-
cherte (1Sam 12; 2Sam 7). Durch diese Einträge erhält die Darstellung der
Staatsbildung in Israel eine ernste Note, ohne dass sie doch von vornherein zum
Desaster erklärt wird. Auf der durch die ersten Könige und Propheten gelegten
Grundlage kann Israel seinen Weg durch die neue Epoche suchen, und man wird
sehen, was sich daraus entwickelt.
Herkömmlich schreibt man der dtr Redaktion nicht nur eher punktuelle Eingriffe in
die Sam-Bücher, sondern deren eigentliche Komposition zu. Man denkt, es habe vor
„Dtr“ (so NOTH, auch VERMEYLEN) bzw. dem Erstverfasser des dtr Geschichtswerks
(so die Anhänger mehrstufiger Redaktionsmodelle) keine durchlaufende Darstellung
der frühen Königszeit in Israel gegeben. Sehr wohl aber habe es sehr alte Teildarstel-
lungen gegeben, auf die die dtr Redaktion zurückgreifen konnte: eine Vita Samuels,
eine Darstellung Sauls, eine Erzählreihe über das Geschick der Lade sowie eine Auf-
stiegs- und eine Thronfolgegeschichte Davids (VERMEYLEN: eine Saul-David-Ge-
schichte, eine Abschalom-David-Geschichte und einige kleinere Quellenwerke in
2Sam 21; 23; 1Kön 1f.). Diese Werke stammten aus der frühköniglichen Zeit und seien
über Jahrhunderte treulich tradiert worden, bis die dtr Redaktion sie aufgriff und zu
einem durchgehenden Erzählfaden zusammenfügte. Im Folgenden wird zu zeigen
sein, dass beide Grundannahmen fragwürdig sind: Es gab keine derart ausgearbeiteten
Teilgeschichtswerke aus der Frühzeit, und es gab nicht erst in dtr Zeit ein Gesamtge-
schichtswerk.
IV. Die Samuelbücher 243

b) Der vordeuteronomistische Diskurs über gutes Königtum

Im Jahr 1926 stellte ROST die Hypothese auf, in 2Sam 9–20 und 1Kön 1f. sei uns
eine aus der Salomozeit stammende „Überlieferung von der Thronnachfolge
Davids“ erhalten, deren heimliche und am Schluss offen gestellte Zielfrage sei:
„Wer wird sitzen auf dem Thron Davids?“ Es ist nicht der Saulide Meribaal, nicht
Amnon, Abschalom oder Adonija, es ist Salomo. Er, der Zehnte in der Reihe der
Davidsöhne, bedarf einer Legitimierung, und so erzählt der Autor in brillantem
Stil – ROST belegt dies mit einer sorgfältigen stilistischen Untersuchung der ge-
nannten Kapitel – die nicht immer sehr erbauliche, aber jederzeit hoch span-
nende Geschichte vom Ausscheiden der anderen und vom Sieg des einen, von
David und von Gott Gewollten – letztlich „in maiorem Salomonis gloriam“. An
den Anfang seines Werkes habe er zwei Fremdquellen gesetzt, die zu seinem
Thema hinführten: die Erzählungen vom Geschick der Lade (1Sam 4–6; 2Sam 6),
die in 2Sam 6,16.20–23 die Thronfolgefrage schon aufblitzen lassen, indem dort
von der Kinderlosigkeit Michals nach einem Streit mit David die Rede ist; aus
dieser Verbindung wird der Thronfolger also nicht hervorgehen. Darauf folgt die
Natanverheißung 2Sam 7, die nachdrücklich von einem leiblichen Nachkom-
men, ja sogar von einer endlosen Dynastie auf dem Thron Davids redet. Und
dann beginnt die eigentliche Erzählung… ROSTs Hypothese hat die Forschung
überaus stark angeregt, was hier nur andeutend dokumentiert werden kann.

An wichtiger Literatur seien genannt: L. ROST, Die Überlieferung von der Thronnachfolge
Davids (1926, BWANT 42 =), in: Ders., Das kleine Credo und andere Studien zum Alten
Testament, Heidelberg 1965, 119–253. – G. VON RAD, Der Anfang der Geschichtsschrei-
bung im alten Israel (1944 =), in: Ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, 1965
(TB 8), 148–188. – L. DELEKAT, Tendenz und Theologie der David-Salomo-Erzählung, in:
F. Maass (Hg.), Das ferne und das nahe Wort, FS L. Rost, 1967 (BZAW 105), 26–36. –
R.N. WHYBRAY, The Succession Narrative, 1968 (SBT II/9). – E. WÜRTHWEIN, Die Erzäh-
lung von der Thronfolge Davids – Theologische oder politische Geschichtsschreibung?,
1974 (ThSt 115). – F. CRÜSEMANN, Der Widerstand gegen das Königtum, 1978 (WMANT
49). – P. K. MCCARTER, „Plots, True or False“. The Succession Narrative as Court Apolo-
getic: Interp. 35 (1981), 355–367. – J. CONRAD, Der Gegenstand und die Intention der
Geschichte von der Thronfolge Davids: ThLZ 108 (1983), 161–176. – E. BLUM, Ein Anfang
der Geschichtsschreibung? Anmerkungen zur sog. Thronfolgegeschichte und zum Um-
gang mit der Geschichte im alten Israel: TRUMAH. Zeitschrift der Hochschule für Jüdi-
sche Studien Heidelberg 5 (1996), 9–46. – S. SEILER, Die Geschichte von der Thronfolge
Davids (2Sam 9–20; 1 Kön 1–2), 1998 (BZAW 267). – A. DE PURY / T. RÖMER (Hg.), Die
sogenannte Thronfolgegeschichte Davids. Neue Einsichten und Anfragen, 2000 (OBO
176). – W. DIETRICH, Das Ende der Thronfolgegeschichte (2000), in: Ders., Von David zu
den Deuteronomisten, 2002 (BWANT 156), 32–57. – T.A. RUDNIG, Davids Thron. Redak-
tionskritische Studien zur Geschichte von der Thronnachfolge Davids, 2006 (BZAW 358).
– B. SUCHANEK-SEITZ, So tut man nicht in Israel. Kommunikation und Interaktion zwi-
schen Frauen und Männern in der Erzählung von der Thronnachfolge Davids, Münster
2006 (Exegese in unserer Zeit 17). – M. ZACH, Die Ambivalenz des David-Bildes in II Sam
9–20; I Kön 1+2, Oldenburg 2006 (Oldenburgische Beiträge zu Jüdischen Studien 19). – F.
AHUIS, Das „Großreich“ Davids und die Rolle der Frauen. Eine Untersuchung zur Erzäh-
244 C. Die Vorderen Propheten

lung von der Nachfolge auf dem Thron Davids (2. Sam *10–20; 1. Kön *1+2) und ihrer
Trägerinnengruppe, 2007 (BThSt 83). – J. HUTTON, The Transjordanian Palimpsest. The
Overwritten Texts of Personal Exile and Transformation in the Deuteronomistic History,
2009 (BZAW 396). – R. G. SMITH, The Fate of Justice and Righteousness During David’s
Reign. Narrative Ethics and Rereading the Court History According to 2 Samuel 8:15–
20:26, New York 2009 (LHBOTS 508). – L. L. GRABBE (ed.), Israel in Transition 2: From
Late Bronze KK to Iron IIA (c. 1250–850 BCE). The Texts, 2010 (LHBOTS 521). – W.
DIETRICH (Hg.), Seitenblicke. Literarische und historische Studien zu Nebenfiguren im
zweiten Samuelbuch, 2011 (OBO 249).

VON RAD hat Rosts Hypothese geschichtstheologisch ausgebaut, um nicht zu


sagen: überhöht. Gleich an diesem „Anfang der Geschichtsschreibung im alten
Israel“ (kritisch dazu BLUM) habe Israel seine unübertroffene Fähigkeit zu psy-
chologisch glaubhafter Personenzeichnung, zu historisch plausibler Ereignisdar-
stellung und zu theologisch tiefgründiger Geschichtsdeutung unter Beweis
gestellt; die lückenlose innerweltliche Kausalitätskette lasse keinen Raum für
wunderhafte Eingriffe Gottes, vielmehr lenke dieser nur hintergründig das Ge-
schehen (vgl. die entsprechenden „Deutestellen“ in 2Sam 11,27; 12,24; 17,14).
DELEKAT widersprach als erster der Behauptung, die Erzählung sei prosalomo-
nisch – sie sei vielmehr äußerst kritisch gegen David und Salomo; nach SMITH
schildert sie (aufgrund einer fragwürdigen Abgrenzung auf 2Sam 8,15 – 20,26)
den Verfall von ‚Recht und Gerechtigkeit‘ unter Davids Herrschaft. CRÜSEMANN
dagegen erkannte in ihr eine nur milde, weisheitliche Königskritik, MCCARTER
(und ähnlich HUTTON) sogar pure Hofapologetik. WÜRTHWEIN suchte zu erwei-
sen, dass die höfisch-apologetischen Passagen sekundär in einen ursprünglich
scharf antimonarchischen, quasi prä-demokratischen Grundtext eingefügt wor-
den seien. SEILER verfocht wiederum die Einheitlichkeit und die prosalomonische
Ausrichtung der Thronfolgegeschichte.
Die Hypothese litt von vornherein unter der nicht klaren Abgrenzbarkeit des
postulierten Werkes. Ist es schon ungewöhnlich, dass dieses mit der Wiedergabe
zweier Fremdtexte angefangen haben sollte, so ist noch gravierender, dass viele
Einzelzüge der Erzählung ohne Informationen aus den vorangehenden David-
erzählungen eigentlich nicht verständlich sind. Z. B. muss man die Liste der
Davidsöhne aus 2Sam 3,2–5; 5,13–15 kennen, um die Ansprüche der einzelnen
Thronprätendenten zu verstehen; die Meribaal-Episode 2Sam 9 setzt die in 1Sam
20; 2Sam 1 geschilderte Freundschaft Davids mit Jonatan voraus; auch die weite-
ren Sauliden-Episoden in 2Sam 16 und 19 knüpfen an die früheren Berichte vom
Verhältnis Davids zu Saul und seiner Familie (etwa in 2Sam 2–4) an. Gerade in
den Saulidenszenen häufen sich die Merkmale einer apologetischen Tendenz, wie
sie auch die gesamte Darstellung von Davids Aufstieg prägt. Solche Passagen
herauszutrennen, wie WÜRTHWEIN es versucht hat, zerstört stellenweise die
Grundsubstanz der Erzählung. Diese ist also offenbar keine separate Quelle,
sondern Teil einer – offensichtlich nicht erst dtr – Gesamtdarstellung Davids.
Schon ROST hatte eher beiläufig erwähnt, vor der Thronfolgegeschichte sei in
den Sam-Büchern eine eigene Aufstiegsgeschichte Davids verarbeitet. Diesen Ball
IV. Die Samuelbücher 245

nahmen Spätere auf und reklamierten den Stoff von 1Sam 16 bis 2Sam 5 (oder 7
oder 8) für ein solches eigenes Geschichtswerk. Dieses sei noch älter als die
Thronfolgegeschichte, also unmittelbar zeitgenössisch, was sich etwa an der
weniger starken erzählerischen Durchgestaltung und an dem eher einer Samm-
lung entsprechenden Kompositionsstil zeige. Gleichwohl deuteten mancherlei
durchgehende Züge und wiederkehrende Formulierungen auf eine gezielt zu
Werk gehende Gesamtredaktion. Deren Tendenz sei ohne jegliche Abstriche als
prodavidisch zu bezeichnen.

Die Literatur zur „Aufstiegsgeschichte“ ist weniger umfangreich als die zur Thronfolgegeschichte: H.-
U. NÜBEL, Davids Aufstieg in der Frühe israelitischer Geschichtsschreibung, Diss. ev. theol. Bonn
1959. – F. MILDENBERGER, Die vordeuteronomistische Saul-Davidüberlieferung, Diss. ev. theol.
Tübingen 1962. – A. WEISER, Die Legitimation des Königs David. Zur Eigenart und Entstehung der
sogen. Geschichte von Davids Aufstieg: VT 16 (1966), 325–354. – J. H. GRØNBÆK, Die Geschichte
vom Aufstieg Davids (1.Sam.15 – 2.Sam.5), 1971 (AThD 10). – R. RENDTORFF, Beobachtungen zur
altisraelitischen Geschichtsschreibung anhand der Geschichte vom Aufstieg Davids, in: H. W. Wolff
(Hg.), Probleme biblischer Theologie, FS G. von Rad, München 1971, 428–439. – P. K. MCCARTER,
The Apology of David: JBL 99 (1980), 489–504. – K. W. WHITELAM, The Defence of David: JSOT 29
(1984), 61–87. – K.-P. ADAM, Saul und David in der judäischen Geschichtsschreibung. Studien zu 1
Samuel 16 – 2 Samuel 5, 2007 (FAT 51). – A. HEINRICH, David und Klio. Historiographische Ele-
mente in der Aufstiegsgeschichte Davids und im Alten Testament, 2009 (BZAW 401). – J. HUTTON,
The Transjordanian Palimpsest. The Overwritten Texts of Personal Exile and Transformation in the
Deuteronomistic History, 2009 (BZAW 396). – J. R. SHORT, The Surprising Election and Confirma-
tion of King David, 2010 (HThS 63).

Die Einwände, die sich gegen die These einer separaten Aufstiegsgeschichte
erheben lassen, sind z. T. mit denen gegen die Thronfolgegeschichte verwandt:
Warum sollte das Geschichtswerk mit 2Sam 5 (oder 7 oder 8) enden, wenn doch
die Geschichte einiger hier vorgestellter Personen – Joab, Abischai, Michal, Me-
ribaal, Amnon, Abschalom, Adonija, natürlich David – später weitergeht? Die
Abgrenzung nach vorn ist nicht viel markanter: Die Auftakterzählung über Da-
vids Salbung (1Sam 16,1–13) ist verknüpft mit denjenigen über Sauls Salbung
und Verwerfung (1Sam 9,1–10,16; 15). Die Philister, die mit Davids Auf- und
Sauls Abstieg viel zu tun haben, sind schon vorher auf dem Plan (1Sam 4; 13f.).
Die langsame (Selbst-)Zerstörung Sauls setzt ebenfalls schon früh ein (1Sam
10,21.27; 13f.). Gewisse sprachliche Elemente verbinden die sog. Aufstiegsge-
schichte mit anderen Partien der Sam-Bücher (z. B. das Motiv vom Mitsein
Jhwhs: 1Sam 3,19; 10,7; 16,18; 17,37; 18,14.28; vgl. auch 2Sam 8,6.14 und 1Kön
1,37). Andererseits gibt es innerhalb des angeblich geschlossenen Werkes Span-
nungen und Widersprüche, die etwa NÜBEL und MILDENBERGER zu ziemlich
gewagten Schichtungstheorien, HUTTON zum Postulat zweier „Histories of
David’s Rise“, HEINRICH zur Annahme eines undurchdringlichen Geflechts von
„Fortschreibungen“ bewegten. Kaum glaubhafter ist die Behauptung, die Auf-
stiegserzählung sei glatt prodavidisch, ja geradezu ein Stück orientalischer Hof-
propaganda (WEISER, MCCARTER, WHITELAM, HUTTON u. a.); als ob es in ihr
nicht für das Davidbild so heikle Stellen wie 1Sam 21,3.6; 22,22; 25,22; 29,8;
2Sam 1,10; 3,36 gäbe. Es hilft auch nicht weiter, wenn SHORT das Rad der For-
246 C. Die Vorderen Propheten

schungsgeschichte zurückdrehen und 1Sam 13–31 (schlicht in der MT-Fassung!)


als einheitliches Werk verstehen will, das einer gläubigen Gemeinschaft – wohl
der des nachexilischen Judentums – vor Augen führen möchte, wie wunderbar
Gott seine Entscheidung für David zu bewahrheiten wusste. Das kommt Theo-
rien nahe, die Davidgeschichte sei von „dem Deuteronomisten“ völlig frei ge-
staltet worden (POLZIN, VAN SETERS).
Vermutlich trifft keine der extremen Forschungshypothesen die Wahrheit
über die Entstehung der Samuelbücher. Vielmehr scheint es, als habe es schon in
der staatlichen Zeit, d. h. vor der dtr Redaktion, eine zusammenhängende Dar-
stellung der frühen Königszeit in Israel gegeben, die sich wiederum aus verschie-
denen älteren Quellen speiste. In neuerer Zeit mehren sich die Arbeiten, die in
diese Richtung votieren.

T. VEIJOLA, Salomo – der Erstgeborene Bathsebas (1979), in: Ders., David. Gesammelte Studien zu
den Davidüberlieferungen des Alten Testaments, Helsinki / Göttingen 1990, 84–105. – F.
LANGLAMET, David et la maison de Saül. Les épisodes «benjaminites» des II Sam., IX; XVI,1–14;
XIX,17–31; I Rois, II,36–46: RB 86 (1979), 194–213. 385–436.481–513; 87 (1980), 161–210; 88 (1981),
321–332. – W. L. HUMPHREYS, From Tragic Hero to Villain. A Study of the Figure of Saul and the
Development of 1 Samuel: JSOT 22 (1982), 95–117. – A. F. CAMPBELL, Of Prophets and Kings. A Late
Ninth-Century Document (1Samuel 1 – 2Kings 10), 1986 (CBQ.MS 17). – O. KAISER, David und
Jonathan. Tradition, Redaktion und Geschichte in I Sam 16–20: EThL 66 (1990), 281–296. – W.
DIETRICH, Die frühe Königszeit in Israel. 10. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart 1997 (Biblische Enzyklo-
pädie 3), 229–273. – S. K. BIETENHARD, Des Königs General. Die Heerführertraditionen in der vor-
staatlichen und frühen staatlichen Zeit und die Joabgestalt, 1998 (OBO 163). – J. VERMEYLEN, La loi
du plus fort. Histoire de la rédaction des récits davidiques de 1 Samuel 8 à 1 Rois 2, 2000 (BEThL
154). – J. KLEIN, David versus Saul. Ein Beitrag zum Erzählsystem der Samuelbücher, 2002 (BWANT
158). – W. DIETRICH, Die zweifache Verschonung Sauls durch David (I Sam 24 und I Sam 26), in:
Ders. (Hg.), David und Saul im Widerstreit – Diachronie und Synchronie im Wettstreit, 2004 (OBO
206), 232–253. – I. WILLI-PLEIN, ISam 18–19 und die Davidshausgeschichte: ebd., 138–171. – A. A.
FISCHER, Von Hebron nach Jerusalem. Eine redaktionsgeschichtliche Studie zur Erzählung von König
David in II Sam 1–5, 2004 (BZAW 335). – W. DIETRICH, David. Der Herrscher mit der Harfe, 2006
(Biblische Gestalten 14), 26–51. – J. HUTTON, The Transjordanian Palimpsest. The Overwritten Texts
of Personal Exile and Transformation in the Deuteronomistic History, 2009 (BZAW 396). – D. BODI,
The Demise of the Warlord. A New Look at the David Story, Sheffield 2010 (Hebrew Bible Mono-
graphs 26).

VERMEYLEN unterscheidet in den Sam.-Büchern vier Haupttextstraten: I. älteste Quel-


len (aus der David- und beginnenden Salomozeit); II. zwei prosalomonische Redak-
tionen (aus der späteren Salomozeit); III. drei deuteronomistische Redaktionen
(DtrH, DtrP und DtrN, alle im 6. Jh.); IV. späte Nachträge (aus der Perserzeit). Dass
schon in der Salomozeit weitgehend der heutige Textbestand hergestellt und erst ab
der Exilszeit wieder in den Text eingegriffen worden wäre, ist eine sehr problemati-
sche Annahme. Demgegenüber postuliert CAMPBELL (und HUTTON folgt ihm darin)
eine weit ausladende, von 1Sam 1 bis 2Kön 10 reichende, aus dem späten 9. Jh. (nach
HUTTON evtl. aus der 1. Hälfte des 8. Jh.s) stammende und von prophetischen Kreisen
verfasste Geschichtsschreibung: eine Hypothese, die denn wohl doch allzu divergente
Stoffe ineinander mischt, gleichwohl aber einiges richtig sieht (eben die Spuren einer
umfassenden vor-dtr Redaktion und die Beteiligung prophetischer Kreise – wenn
schon nicht an der Abfassung der Sam-, so doch an der bestimmter Partien der Kön-
Bücher). VEIJOLA und LANGLAMET legen im Bereich der sog. Thronfolgegeschichte
IV. Die Samuelbücher 247

eine redaktionelle Textschicht frei, in der es um die Entlastung Davids von allzu
schweren Verdächtigungen geht (dass nämlich sein Thronerbe Salomo die un-
mittelbare Frucht des Ehebruchs mit Batscheba bzw. dass er für die Ausrottung des
Hauses Sauls verantwortlich gewesen sei). KAISER unterscheidet in dem Abschnitt
1Sam 16–20 alte, ‚echte‘ Erzählungen von jüngeren, ‚konstruierten‘ (letztere in 16,1–
13; 17,1–18,4.*6.*.10–30; 19,1–8.10b–24); die jüngere Textebene datierte er auf die
Zeit nach 722 v. Chr. BIETENHARD hält gerade dies erst für die entscheidend formative
Phase: Ein Redaktor „S2“ habe damals aus verschiedenen älteren Quellen eine 2Sam
13–20 umfassende, verhalten prodavidische Thronfolgeerzählung geschaffen, die
dann ein weiterer Redaktor zur Joschijazeit zu einer entschieden prodynastischen
Großerzählung (2Sam 2–20; 1Kön 1f.) ausgebaut habe, ehe endlich die Deuterono-
misten das Ganze in ihr Werk einsetzten. KLEIN entdeckt in den Samuelbüchern (ab
1Sam 9 bis 2Sam 20 und weiter bis 1Kön 1f.) ein ganzes „Erzählsystem“, das in Gestalt
offener und verdeckter Vergleiche David gegenüber Saul aufwertet, ohne Letzterem
aber den Respekt zu versagen; es sei dies eines der Mittel, mit denen ein nach 722
v. Chr. zu Werke gehender Autor ihm vorliegende, heterogene Stoffe zu einem Er-
zählganzen zusammengefügt und die Geschichte des Übergangs der Macht von Saul
auf David, vom israelitischen Norden auf den judäischen Süden als sinnhaft darge-
stellt habe. FISCHER unterscheidet in dem Abschnitt 2Sam 1–5 Quellentexte (z. B. in
1,1–4.11f.17–27; 2,12–16; 3,1–8. 23–27; 4,5f.; 5,6–8, jeweils im Grundbestand) und dtr
Redaktion (z. B. in 3,9f.17f.28f.; 4,4; 5,1f.) von einer vor-dtr Gesamtredaktion (z. B. in
1,5–10.13–16; 2,1–7.25–29; 3,31–37; 4,7–12; 5,3f.9f.17–21), die zur Zeit Manasses
(696–641 v. Chr.) den Stoff erstmals zu einem fortlaufenden Zusammenhang geformt
habe. BODI hält die beiden Kapitel 2Sam 11f. für eine erst im 7. Jh. unter mesopotami-
schem („amoritischem“) Einfluss laut gewordene Kritik an König David. Die Position
DIETRICHs wird im Folgenden ausführlicher zu Wort kommen.

Die meisten der genannten Untersuchungen stimmen darin überein, dass sie die
postulierte vor-dtr Redaktion auf die Zeit nach 722 v. Chr. ansetzen, d. h. in die
Regierungszeit der Könige Hiskija oder Manasse (kaum mehr in diejenige Jo-
schijas, in der bereits der dtn Geist dominant gewesen sein dürfte). Das Nord-
reich war untergegangen, das Südreich bestand – wenn auch in Abhängigkeit
von Assyrien – fort. Es gab einen Flüchtlingsstrom vom Norden in den Süden,
nachweisbar etwa im enormen Wachstum Jerusalems zu jener Zeit, und mit den
Übersiedlern kamen nordisraelitische Überlieferungen nach Juda (z. B. über
Jakob, die „Retter“ oder Samuel und Saul). Das Thema „Nord und Süd“ ist in den
Sam-Büchern in vielerlei Weise präsent: nicht nur im Gegenüber der Herrscher-
gestalten Saul und David, sondern etwa auch im Aufstieg Davids zum König
zuerst über Juda, dann über Israel, in den immer wieder eingestreuten Nach-
richten über Davids Verhalten gegenüber den Sauliden und in den hauptsächlich
vom Norden getragenen Aufständen gegen seine Herrschaft (2Sam 15–20).
Allem Anschein nach wurden in einem „Höfischen Erzählwerk über die frühe
Königszeit“ (DIETRICH) diese heiklen Themen in der Weise angesprochen, dass
das Königtum Davids (und der Davididen) als letztlich gottgewollt, dasjenige
Sauls (und der späteren Nordreichsdynastien) nun aber nicht verteufelt, sondern
als begreifbarer und achtbarer, letztlich jedoch aussichtsloser Versuch des Nor-
dens dargestellt wurde, an Jerusalem und dem Davidshaus vorbei eine eigene
248 C. Die Vorderen Propheten

staatliche Identität zu gewinnen und zu bewahren. Das Erzählwerk, das die Sam-
Bücher in allen wichtigen Zügen und im Großteil seines Textbestands geprägt
hat, ist ein dringlich-sanfter Versuch, den (politisch vorerst an die Assyrer verlo-
renen) Norden mit seinem Schicksal und mit dem Süden zu versöhnen.
Die Frage nach der Legitimität der Herrschaft im Norden und im Süden
durchzieht die gesamten (vor-dtr) Sam-Bücher. Da ist zuerst die Gestalt Samuels,
der zuerst Saul auf den Schild hebt (1Sam 9–11), dann einsehen muss, dass dies
ein Missgriff war (1Sam 13), daraufhin David zu salben hat (1Sam 16) und diesen
gegen Sauls Nachstellungen in Schutz nimmt (1Sam 19,18–24). Da ist das Bemü-
hen um den Nachweis, dass Davids Aufstieg ausgerechnet unter dem Schutz und
mit Hilfe der Philister von ihm nicht gewollt, sondern durch das unsinnige Wü-
ten Sauls erzwungen war (1Sam 19–27). Da ist die ein ums andere Mal wieder-
holte Versicherung, dass David mit den vielen Todesfällen im Hause Sauls nicht
das Mindeste zu tun hatte, dass er umgekehrt immer wieder die Gelegenheit
gehabt hätte, Saul und andere Mitglieder seiner Familie aus dem Weg zu räumen,
dass er darauf aber großmütig verzichtet und diejenigen, die dann doch zuschlu-
gen, streng bestraft habe (1Sam 24–26; 2Sam 2; 4; 9; 16,1–14; 19,27–31; man
beachte, wie anders sich die Sachlage in 2Sam 21 darstellt!). Überhaupt hat David
die Macht keineswegs mit unlauteren Mitteln errungen, sondern sie ist ihm
durch eine (un)glückliche Verkettung von Umständen förmlich zugefallen bzw.
von den Nordisraeliten selber angetragen worden (2Sam 1–5). Und bei den Auf-
ständen gegen ihn, die wesentlich vom Norden ausgingen, beschränkte er sich
auf die unvermeidlichen militärischen Gegenmaßnahmen; nirgendwo ist zu
hören, dass die Nordisraeliten politische oder ökonomische Nachteile zu erleiden
hatten (2Sam 18–20).
Diese Darstellung darf nicht vorschnell als durchsichtige Propaganda verdäch-
tigt werden. Immerhin liegt die Davidszeit Jahrhunderte zurück, so dass es sich
eher um ein geistiges als um ein tatsächlich politisches Ringen handelt. Auch ist
David keineswegs als Hochglanz-Gestalt geschildert (wie in orientalischen Kö-
nigsinschriften oder in sog. Apologien orientalischer Herrscher – z. B. Sargons d.
Gr. oder Hattuschilisch’ III. – üblich). David zeigt Mängel und Schwächen: Er ist
schuldig am Tod der Priester von Nob (1Sam 21f.), er plant eine blutige Vendetta
gegen einen unbotmäßigen Herdenbesitzer (1Sam 25), er kooperiert merkwürdig
gut mit den Philistern (1Sam 27; 29), er bekommt die Herrschaftsinsignien Sauls
und das Haupt Eschbaals gebracht – in der Hoffnung auf Belohnung selbstver-
ständlich (2Sam 2; 4), er nimmt sich die Frau eines Offiziers und lässt diesen
umbringen (2Sam 11), er vermag Vergewaltigungen und Morden in der eigenen
Familie nicht zu wehren (2Sam 13), er lässt sich von dem gewalttätigen Abscha-
lom bzw. seinem General Joab täuschen (2Sam 14f.), er vermag sich gegen den
mörderischen Joab nicht durchzusetzen (2Sam 19f.), er scheint am Ende senil
und willenlos gegen andere zu sein (1Kön 1f.). Das ist die eine, die dunkle Seite
Davids. Er hat aber auch eine lichte: Er vermag Schuld einzusehen und zu be-
reuen (1Sam 22; 2Sam 12), er kann auf die Ratschläge Anderer hören (1Sam 25;
2Sam 12; 14; 19), er ist ein musischer Mensch (1Sam 16; 2Sam 1), er ist fähig zu
IV. Die Samuelbücher 249

Mitgefühl (2Sam 1; 3; 12; 14; 19) – und er kann, für einen orientalischen Herr-
scher ungewöhnlich, auf die Durchsetzung noch so legitimer Interessen und auf
die Anwendung scheinbar gerechtfertigter Gewalt verzichten (s.o.).
Saul, auf der anderen Seite, ist keineswegs ein Finsterling, sondern ebenfalls
ein Mensch mit positiven und mit negativen Eigenschaften, am Ende eher eine
tragische als eine bösartige Gestalt. Am Anfang wirkt er bescheiden (1Sam 9f.),
lässt sich aber vom göttlichen „Geist“ mitreißen und gewinnt die jubelnde Zu-
stimmung seines Volkes (1Sam 10f.). Dann beginnt er zwar kraftvoll, aber doch
ungeschickt zu agieren und überwirft sich mit Samuel (1Sam 13f.), wird von
einem „bösen Geist von Jhwh her“ befallen und kann nur mehr mit Musik beru-
higt werden (1Sam 16), wird zunehmend misstrauisch gerade gegen den, der ihn
beruhigt – mit Recht, wie der Leser weiß (1Sam 18f.), verstrickt sich dann immer
mehr in seiner Verfolgungswut (1Sam 19–26), erscheint in seiner Hilflosigkeit
fast bemitleidenswert (1Sam 26; 28) und fällt am Ende, heroisch und elend zu-
gleich, von eigener Hand (1Sam 31). Auch die Bemühungen, sein Erbe fortzuset-
zen, verlaufen unglücklich (2Sam 2–4). Es liegt ein düsterer Schatten über dieser
Königsgestalt, und doch oder gerade deswegen wird sie mit einer gewissen
Wärme und Sympathie gezeichnet.

Ähnliches gilt für die Figurenführung in dem Höfischen Erzählwerk überhaupt. Es ist
erstaunlich, wie da offenbar mit Hilfe disparaten, über verschiedene Zusammenhänge
verstreuten und doch kunstvoll miteinander verbundenen Materials höchst ein-
drucksvolle Charakterbilder geschaffen werden: etwa von Samuel (in 1Sam 1–3; 7–10;
13; 16; 19, evtl. 28), von der Prinzessin Michal (in 1Sam 18f.; 25; 2Sam 3; 6), von dem
Saul-Enkel Meribaal (in 2Sam 4; 9; 16; 19), vom Heerführer Joab (in 2Sam 2f.; 10–12;
18–20; 1Kön 1f.), oder vom Propheten Natan (in 2Sam 7; 12; 1Kön 1). Der Verfasser
erweist sich als hoch artifizieller Literat, der ältere Traditionen sorgfältig aufnimmt
und souverän umgestaltet, der Vorgegebenes und Eigenes zu einem übergreifenden
Zusammenhang fügt, der dem Ganzen klare Perspektiven gibt und doch eine gewisse
Vielstimmigkeit belässt – und der auf diese Weise ein überaus facettenreiches Tradi-
tionswerk von doch bewundernswerter innerer Geschlossenheit schafft. Einige der
von ihm eingesetzten literarischen Mittel seien andeutend benannt:
– Mehrere Einzelüberlieferungen, die erkennbar das gleiche Thema haben, es aber
sehr unterschiedlich behandeln, werden nebeneinander gesetzt und nur, wo sie sich
direkt widersprechen, aufeinander abgestimmt. So gibt es zwei Geschichten über den
Beginn der Karriere Davids am Hof Sauls (16,14–23; 17,1–18,4), zwei Prinzessinnen,
mit denen er verheiratet werden soll (18,17–19; 18,20–27), zweimal einen Übertritt
Davids zu den Philistern (1Sam 21,11–16; 27,1–7), zwei Erzählungen über Sauls Ver-
schonung durch David (1Sam 24; 26), zwei Darstellungen von Sauls Tod (1Sam 31;
2Sam 1), drei Salbungen Davids (1Sam 16,13; 2Sam 2,4; 5,3), zwei Trauerlieder Davids
über getötete Sauliden (2Sam 1,17–27; 3,33f.), zwei Listen mit Söhnen Davids (2Sam
3,2–5; 5,13–15), zwei Erzählungen von Übergriffen auf Frauen im Haus Davids (2Sam
11; 13), zwei Parabeln, mit denen David überlistet wird (2Sam 12,1–6; 14,4–17), zwei
„weise“ Frauen, die politisch Einfluss nehmen (2Sam 14; 20), zwei Aufstände gegen
David (2Sam 15ff.; 20), zwei Prinzen mit klaren Thronambitionen (2Sam 15; 1Kön 1).
– Auch dort, wo nicht verschiedene Überlieferungen zur Verfügung stehen, liebt der
Autor die Verdoppelung von Motiven, um auf diese Weise Textabschnitte zusam-
250 C. Die Vorderen Propheten

menzubinden und bestimmte Gedanken einzuschärfen. So nimmt Samuel zwei Kö-


nigssalbungen vor, diejenige Sauls und diejenige Davids (1Sam 10,1; 16,13), wird
dreimal ein Siegeslied der israelitischen Frauen zitiert, das David mehr rühmt als Saul
(1Sam 18,7; 21,12; 29,5), wird zweimal das Sprichwort erklärt „Ist auch Saul unter den
Propheten?“ (1Sam 10,12; 19,24), setzt Saul zweimal seinen Spieß gegen David ein –
und einmal noch gegen Jonatan (1Sam 18,11; 19,10; 20,33), führen David und Saul
zweimal einen Dialog über Schuld und Versöhnung (1Sam 24,10–23; 26,17–25), lässt
David zwei Königsmörder hinrichten (2Sam 2; 4), verschont David zwei Sauliden, die
sich auf Abschaloms Seite geschlagen haben (2Sam 19,17–24; 19,25–31), gibt es zwei
packende Darstellungen von Botenläufen (2Sam 18,19–32; 1Kön 1,41–49). Hierhin
gehören auch viele der von KLEIN gefundenen „Vergleichsbrücken“ zwischen Saul und
David.
– Der Höfische Erzähler ordnet zu verarbeitende Stoffe gern chiastisch an. Die beiden
Erzählungen von der Verschonung Sauls 1Sam 24 und 26 erhalten als Mittelstück die
Abigajilgeschichte 1Sam 25, so dass eine Art Triptychon entsteht zur Frage nach Ge-
walt und Gewaltverzicht. Ähnlich kommt das Ringen zwischen David und Abschalom
(2Sam 17f.) in die Mitte zu stehen zwischen eine Erzählung über Davids Flucht von
Jerusalem nach Mahanajim (2Sam 15f.) und über seine Rückkehr von Mahanajim
nach Jerusalem (2Sam 19), wobei die einzelnen Episoden genau spiegelbildlich ange-
ordnet sind.
– Quellen, deren Einzelepisoden an verschiedene Stellen des von ihm geschaffenen
Gesamtzusammenhangs gehören, trennt der Höfische Erzähler auseinander und fügt
die Teile an entsprechender Stelle ein: so geschehen bei den Lade-Erzählungen 1Sam
4–6 und 2Sam 6 – wobei der Erzählung von der Überführung der Lade nach Jerusalem
zwei höchst unterschiedliche, für die Gesamtdarstellung aber wichtige Episoden
angefügt wurden: diejenige vom Zerwürfnis zwischen Michal und David, 2Sam
6,16.20–23, und diejenige von Natans Weissagung an David, 2Sam *7,11–16. Der ur-
sprüngliche Erzählzusammenhang 1Sam 9,1–10,16; 13f. wurde unterbrochen durch
Überlieferungen von der Königserhebung Sauls (1Sam 10,17–11,15), und der Bericht
über einen Ammoniter-Krieg 2Sam 10; 12,26–31 durch die Schilderung der
Batscheba-Urija-Affäre, 2Sam 11; 12,1–25. (Zu weiteren, vom Autor möglicherweise
eingearbeiteten Quellen vgl. das folgende Kapitel.)
– Der Höfische Erzähler verfolgte die Absicht, die Geschichte Davids zwar keineswegs
als makellose Erfolgsgeschichte, aber doch als von Gott gelenkte und vor allzu
schlimmen Abstürzen bewahrte Lebensgeschichte darzustellen. Zu diesem Zweck hat
er an heiklen Stellen David wiederholt in ein günstig(er)es Licht zu rücken versucht.
Hierhin gehören längere, von ihm verfasste Redestücke bzw. Dialoge (z. B. mit seinen
Kriegern und mit Saul in 1Sam 24 und 26, oder mit Abigajil in 1Sam 25, oder mit Ab-
ner in 2Sam 3, oder mit der Frau von Tekoa in 2Sam 14, oder mit seinen Generälen
vor der Schlacht mit Abschalom in 2Sam 18). Verschiedentlich hat er den Stoff so
arrangiert, dass möglichst keine Schatten des Verdachts auf David fielen (vgl. z. B. die
sorgfältige geographische Entfernung Davids von den Schlachtfeldern in 1Sam 29f.
und 2Sam 18, oder die Belastung namentlich Joabs und Abischais, der „Söhne der
Zeruja“, mit Bluttaten, die hauptsächlich David nützten). Von Davids – angeblich
oder wirklich – vorbildlichem Verhalten gegenüber allen Sauliden war schon die Rede
(vgl. dagegen aber 2Sam 21).
– Ein kleines Detail mag in diesem Zusammenhang aufschlussreich sein. In der Aus-
einandersetzung zwischen David und Saul begegnet erstaunlich häufig das Wort
jād/jādajim, „Hand/Hände“, das im Hebräischen auch die Konnotation von „Macht,
Gewalt“ hat. Davids Hand hält die Leier (1Sam 16,16.23; 18,10); nie erhebt er sie gegen
IV. Die Samuelbücher 251

seine Widersacher (24,7.13.14; 25,26.33; 26,9.11.23), auch dann nicht, wenn Gott ihm
diese in die Hand zu geben scheint (24,5.11.19; 26,8.23). Saul hingegen hält den Spieß
in der Hand und zögert nicht, ihn einzusetzen (18,10; 19,9; 20,33; 22,6); er versucht zu
arrangieren, dass die Philister Hand an David legen (18,17.21.25), und als er ihn später
selbst zu greifen sucht, verhindert Gott immer wieder, dass David ihm in die Hand
fällt (23,7.14.17.20; 24,14). All diese Belegstellen dürften vom Höfischen Erzähler
selbst geschaffen sein.

Wiederholt wurde betont, dass der Höfische Erzähler sein Werk nicht freiweg
gestaltet, sondern ein Traditionswerk geschaffen hat, in dem sich Eigenes mit
Überkommenem mischt (so wie dies dann auch im dtr Geschichtswerk der Fall
ist, dem wiederum das Höfische Erzählwerk als Quelle gedient hat). Den mögli-
chen Quellen des Erzählwerks soll nun noch nachgegangen werden.

3. Quellen

a) Überlieferungen um Samuel und Saul

I. HYLANDER, Der literarische Samuel-Saul-Komplex (I.Sam.1–15). Traditionsgeschichtlich unter-


sucht, Uppsala 1932. – A. WEISER, Samuel. Seine geschichtliche Aufgabe und religiöse Bedeutung,
1962 (FRLANT 81). – M. NOTH, Samuel und Silo: VT 13 (1963), 390–400 = Ders., ABLAK 1, 148–
156. – L. SCHMIDT, Menschlicher Erfolg und Jahwes Initiative, 1970 (WMANT 38). – B. C. BIRCH,
The Rise of the Israelite Monarchy, 1976 (SBL.DS 27). – J. T. WILLIS, Samuel versus Eli. I Sam. 1–7:
ThZ 35 (1979), 201–212. – P. MOMMER, Samuel. Geschichte und Überlieferung, 1991 (WMANT 65).
– M. WHITE, „The History of Saul’s Rise“. Saulide State Propaganda in 1 Samuel 1–14, in: S.M. Olyan
et al. (eds.), „A wise and descerning mind“, FS B. O. Long, Providence 2000, 271–292. – B. LEHNART,
Prophet und König im Nordreich Israel, 2003 (VT.S 96). – R. HUNZIKER-RODEWALD, König Saul und
die Geister, Habilitationsschrift Bern 2005. – J. VETTE, Samuel und Saul. Ein Beitrag zur narrativen
Poetik des Samuelbuches, Münster 2005. – D. WAGNER, Geist und Tora. Studien zur göttlichen
Legitimation und Delegitimation von Herrschaft im Alten Testament anhand der Erzählungen über
König Saul, 2005 (ABG 15). – J. HUTTON, The Transjordanian Palimpsest. The Overwritten Texts of
Personal Exile and Transformation in the Deuteronomistic History, 2009 (BZAW 396). – W.
DIETRICH, Samuel, 2011 (BKAT 8/1; Lieferungen zu 8/2: 2012ff.).

Zeigen die Sam-Bücher insgesamt – wesentlich unter dem Einfluss des Höfischen
Erzählers – eine judäisch-davidische Perspektive, so scheinen doch namentlich
im 1. Sam-Buch Traditionen erhalten zu sein, die ihre Wurzeln in Nordisrael
haben. Viele Erzählungen haften an nordisraelitischen Ortschaften (z. B. Rama-
tajim, Schilo, Rama, Eben-Eser, Mizpa, Bet-El, Gilgal, Gibea, Jabesch/Gilead,
Michmas, Nob, En-Dor, Bet-Schean, Mahanajim), und viele der tragenden Cha-
raktere sind Nordisraeliten, zumeist Efraimiten und Benjaminiten.
Samuel etwa war Efraimit (1Sam 1,1). Die Geschichten über seine Kindheit
und Jugend spielen in Ramatajim und Schilo. Gern sprach man im Blick auf
1Sam 1–3 früher von einer „Jugendgeschichte Samuels“ als einem separaten
Überlieferungsgebilde. Doch weisen die Kapitel weit über sich hinaus. Wo liefe
die Geschichte des in 1Sam 3 aufgestiegenen Samuel weiter wenn nicht in 1Sam
7ff., und wo würde der dort als Königsmacher agierende Samuel vorgestellt wenn
252 C. Die Vorderen Propheten

nicht in 1Sam 1ff.? Es gibt indes noch viel klarere, verbale Brücken hinüber und
herüber. Das Leitwort in 1Sam 1 ist das Verb š’l „fragen, (er)bitten“ (1,17.20.
27.28, auch 2,20): Die kinderlose Hanna hat von Jhwh einen Sohn „erbeten“ und
erhalten; später machte sie den kleinen Samuel zu einem von Jhwh „Erbetenen“,
d. h. sie schenkte ihm den Knaben gewissermaßen zurück, indem sie ihn zum
Heiligtum von Schilo brachte, wo er aufwuchs. Das Partizip Passiv von š’l lautet
šā’ūl, „der Erbetene“ – just der Eigenname des ersten Königs. (Eher notdürftig
wird in 1,27 der Name „Samuel“ mit š’l erklärt.) HYLANDER hat daraufhin die
kühne These aufgestellt, das Kapitel sei ursprünglich die Geburtsgeschichte
Sauls, nicht Samuels gewesen. Da aber keine der š’l-Stellen zum Handlungskern
der Erzählung gehört, wird man eher an eine absichtsvoll hergestellte, redaktio-
nelle Verknüpfung zwischen beiden Männern denken.

Hier ist die Handschrift eines Erzählers zu erkennen, der Samuel gleichsam pränatal
als kommenden Königsmacher kennzeichnen wollte. Dazu griff er auf eine alte, in
Schilo verwurzelte Erzählung von der wunderbaren Geburt des berühmten Gottes-
mannes Samuel zurück. Diese älteste Traditionsstufe läuft anscheinend in 1Sam 3
weiter, wo (in einer ursprünglichen Fassung) erzählt wird, wie Samuel zum führenden
Mann am überregional bedeutsamen Heiligtum von Schilo aufstieg. Da dieses wenig
später durch die Philister zerstört wurde (vgl. 1Sam 4 und Jer 7,12; 26,6; Ps 78,60),
verlagerte sich die Tradition von dem Priester (und Stammesführer?) Samuel weiter
nach Süden, nach Benjamin (Rama, Mizpa) – und kam dort mit der Tradition um den
Benjaminiten Saul in Berührung.

An späterer Stelle findet sich eine Ätiologie für den Namen „Saul“, die gleichfalls
mit dem Verb š’l operiert. Da soll auf einer Versammlung der nordisraelitischen
Stämme in Mizpa ein geeigneter Mann zum König bestimmt werden. Man be-
dient sich dazu eines kultisch abgesicherten Losverfahrens und findet auf diese
Weise zuerst den Stamm Benjamin, dann die Sippe Matri und schließlich „šā’ūl,
den Sohn des Kisch“ heraus (1Sam 10,20f.). Als man den Gefundenen auf den
Schild heben will, ist er überraschenderweise nicht zu finden. „Da befragten sie
(wajjiš’alū, von š’l) nochmals Jhwh: ‚Ist der Mann (überhaupt) gekommen?‘ Und
Jhwh sagte: ‚Siehe, er hat sich beim Tross versteckt‘“ (10,22). Man holt ihn von
dort herbei, und als er unter das Volk tritt, da „überragte er alles Volk von der
Schulter an aufwärts“ (10,23). Daraufhin bricht das Volk in den Jubelruf aus:
„Es lebe der König!“ (10,24b). In dieser alten Überlieferung von Sauls Kür zum
König (vgl. dazu HUNZIKER-RODEWALD) erscheint Saul als ein Mann, der sich
nicht nach dem Amt drängt, den aber Jhwh und „das Volk“ zielsicher heraus-
finden und der sich dann durch seine stattliche Erscheinung als Anführer
empfiehlt.
Nun gibt es neben dieser ersten eine zweite Überlieferung von Sauls Königs-
erhebung: diejenige von seiner Rettungstat für Jabesch in Gilead (1Sam 11), die
damit endet, dass das siegreiche Heer von Gilead nach Gilgal zieht und dort
seinen Anführer „vor Jhwh zum König macht“ (11,15). In dieser Erzählung agiert
Saul (noch) ganz im Stile der charismatischen Führer und Kriegshelden der vor-
IV. Die Samuelbücher 253

königlichen Zeit, nur dass die Krieger ihn nach vollbrachter Tat nicht ins Glied
zurücktreten lassen, sondern zum König küren.
Um diese beiden konkurrierenden Überlieferungen von Sauls Königswahl
miteinander in Ausgleich zu bringen, ließ man in 11,14 Samuel auftreten und
dazu auffordern, das Königtum (nur) zu erneuern. Derselbe Autor führt Samuel
noch an einer Reihe weiterer Stellen in die Texte ein. Samuel ist es jetzt, der die
Volksversammlung nach Mizpa einberuft und leitet (10,*20f.), der dem Volk Saul
als den präsentiert, „den Jhwh sich erwählt hat“ (10,24a), der ein „Königsrecht“
verkündet und „vor Jhwh“ deponiert, der am Ende das Volk entlässt (10,25).
Derselbe Autor weiß auch von einer Spaltung zu berichten, die damals eingetre-
ten sei: in solche, die mit Saul ziehen, weil Jhwh „ihr Herz angerührt hat“, und
solche, die sich von Saul distanzieren (10,26f.). Damit wird ein Beweis für die
Legitimität seiner Wahl nötig, den Saul sogleich mit dem Kriegszug gegen die
Ammoniter antritt. Es ist jetzt aber nicht nur er, dem die Krieger folgen sollen,
sondern Samuel (11,7); von Samuel verlangt das Volk die Bestrafung jener
Quertreiber (11,12), und eben: Samuel ruft zur „Erneuerung“ des Königtums in
Gilgal auf (11,14).
Damit zeichnet sich eine recht alte, nämlich nicht nur vor-dtr, sondern auch
vor dem Höfischen Erzählwerk liegende Textebene ab, die zumindest 1Sam *1–3
und 10,20–11,15 umfasst.

Vermutlich gehörten ihr noch weitere Texte an: Samuels Aktivitäten als Priester und
als Volkstribun (1Sam 7,7ff.) und als Richter im Bereich von Benjamin (7,15ff.), ferner
das Summarium über das Umfeld des Heerkönigs Saul und seine Kriege (1Sam
14,47ff.). Nicht auf dieser Ebene liegen hingegen die große Erzählung davon, „Wie
Saul auszog, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und eine Königskrone fand“ (so die
schöne Bezeichnung, die einst GRESSMANN der Erzählung 1Sam 9,1–10,16 gegeben
hat) und die damit verbundene (vgl. 10,8!) von Sauls Sieg über die Philister (13,1–
14,46); denn in der Szene vom Zerwürfnis zwischen Samuel und Saul (13,7b–15) und
in der Herabminderung Sauls zugunsten Jonatans (13,3; 14,1–46) wird deutlich die
Hand des Höfischen Erzählers spürbar, der auf die Ablösung Sauls durch David zu-
strebt. Möglicherweise hatte er dazu außer den genannten noch weitere Überlieferun-
gen zur Hand, die in einem – ebenfalls schon judäisch gefärbten – Erzählkranz über
Aufstieg und Niedergang der Sauliden zusammengestellt waren (z. B. 1Sam 31; 2Sam
*3–5, so DIETRICH 1997, 242–247).

Thema der Geschichtsschreibung von Samuel und Saul ist die Gründung des
Staates (Nord-)Israel. Es ist dem Autor wichtig, dass der Gottesmann und der
erste König diesen politisch so bedeutsamen Schritt Seite an Seite tun. Alles ist
dabei von Jhwh gelenkt: schon die Geburt des späteren Königsmachers, sein
Aufstieg, seine Präsenz in Benjamin, die Wahl des Benjaminiten Saul, dessen
glänzende Bewährung und erfolgreiche Regierung. Diese Samuel-Saul-Ge-
schichte muss nicht übermäßig alt, sie wird aber doch im Nordreich, d. h. vor
722 v. Chr. entstanden (und dort vielleicht längere Zeit überliefert worden) sein,
ehe der Höfische Erzähler sie aufgriff und an die Spitze seiner Darstellung der
frühen Königszeit stellte. Sie bot ihm wichtige Informationen über einen seiner
254 C. Die Vorderen Propheten

Hauptprotagonisten, Saul. Und dass Saul hier mit Samuel so eng verbunden
erschien, gab dem Höfischen Erzähler die Möglichkeit, diese Verbindung zerbre-
chen und durch eine neue Verbindung mit David ersetzt werden zu lassen (1Sam
13,7b–15; 16,1–13; 19,18–24).

Hieraus ergibt sich für das Werden des biblischen Bildes von Samuel und Saul Fol-
gendes:
– In den frühesten Überlieferungen von Samuel erscheint dieser als geistliche, wohl
auch politische Autorität im südefraimitischen und benjaminitischen Stammesland.
In diesen Erzählungen mögen sich tatsächlich Erinnerungen an die späte vorstaatliche
Zeit spiegeln.
– Zum Königsmacher wird Samuel erst auf einer späteren Stufe der Überlieferungs-
bzw. Textbildung, nämlich auf der des zu postulierenden Samuel-Saul-Erzählers. Die-
sem liegt daran, dass in der Gestalt des großen Gottesmannes das israelitische König-
tum eine göttliche Legitimation gewinnt. Warum und wann dies geschah, wird sich
kaum mehr eruieren lassen. In Betracht kommt die gesamte Zeitspanne zwischen dem
Zerbruch der Doppelmonarchie (926 v. Chr.) und dem Untergang des damals ge-
gründeten Nordreichs (722 v. Chr.). Schon die Trennung vom Süden kann einen
Legitimationsbedarf geweckt haben. Danach waren Dynastien und einzelne Könige
immer wieder bestritten, wie die Nachrichten von Putschen zeigen (1Kön 15,27;
16,9.16; 2Kön 9). Den Propheten Amos und Hosea (um die Mitte des 8. Jh.s) werden
dezidiert könig(tum)skritische Aussagen zugeschrieben (Am 7,9f.; Hos 1,5; 7,3; 10,3.9;
nach HUNZIKER-RODEWALD wären die Saul-Geschichten erst hiergegen entworfen
worden).
– Zum Königskritiker wurde Samuel erst im Kontext der höfisch-judäischen Ge-
schichtsschreibung (1Sam 13f.; MOMMER hingegen hält gerade die Königskritik für das
älteste Element der Samuelüberlieferung). Auch zum Propheten wird Samuel erst auf
dieser Stufe (1Sam 3,20; 9,1–10,16; 19,18–24).
– Im betrachteten Textbereich gibt es zwei relativ alte Überlieferungen von Sauls
Königserhebung (1Sam 10,20ff.; 1Sam 11); wegen der auch in anderem literarischem
Kontext belegten besonderen Beziehung zwischen Saul und Jabesch/Gilead (vgl. 1Sam
31,8–13; 2Sam 2,4–7) spricht viel dafür, dass es einen Krieg mit Ammon um Gilead
gegeben hat; ob aber in diesem Zusammenhang Saul zum König gekürt wurde, ist un-
sicher.
– Ein historischer Kern könnte auch in 1Sam 9,1–10,16 liegen – nur dass dort in der
Grundüberlieferung ein namenloser Prophet agiert zu haben scheint, der erst nach-
träglich mit Samuel identifiziert wurde (SCHMIDT; insofern ist es problematisch, wenn
LEHNART gerade hier die älteste Überlieferung über Samuel ortet). Sauls Erhebung
zum Führer Israels erscheint als subversiver Akt (1Sam 9,18–10,1), der sich gegen die
damals dominanten Philister richtet (1Sam 10,5.7; 13f.).
– Alt und historisch weitgehend zuverlässig dürfte das Summarium 14,47–52 über
Sauls Familie und seine kriegerischen Erfolge sein; denn wer hätte einen solchen Text
im später die Literaturbildung prägenden judäischen Klima noch erfinden sollen?

b) Überlieferungen um die Lade

G. FOHRER, Die alttestamentliche Ladeerzählung: JNWSL 1 (1971), 23–31 = Ders., Studien zu alttes-
tamentlichen Texten und Themen, 1981 (BZAW 155), 3–10. – F. SCHICKLBERGER, Die Ladeerzählun-
IV. Die Samuelbücher 255

gen des ersten Samuel-Buches, 1973 (FzB 7). – P. D. MILLER JR. / J. J. M. ROBERTS, The Hand of the
Lord. A Reassessment of the „Ark Narrative“ of 1 Samuel, Baltimore / London 1974. – A. F. Camp-
bell, The Ark Narrative (1 Sam 4–6; 2 Sam 6), 1975 (SBL.DS 16). – D. L. SEOW, Myth, Drama, and the
Politics of David’s Dance, 1989 (HSM 44). – K. A. D. SMELIK, Hidden Messages in the Ark Narrative,
in: Ders., Converting the Past, 1992 (OTS 28), 35–58. – W. BRUEGGEMANN, Ichabod Toward Home.
The Journey of God’s Glory, Grand Rapids / Cambridge 2002. – C. SCHÄFER-LICHTENBERGER, Be-
obachtungen zur Ladegeschichte und zur Komposition der Samuelbücher, in: C. Hardmeier u. a.
(Hg.), Freiheit und Recht, FS F. Crüsemann, Gütersloh 2003, 323–338. – W. DIETRICH, Samuel, 2011
(BKAT 8/1).

In 1Sam 4–6 wird weder von Samuel noch von Saul erzählt, sondern vom Schick-
sal eines Kultgegenstands, genannt „Lade“ (hebr. ’arôn, wörtl. „Kasten“), den die
Israeliten – offenbar im Glauben, damit Jhwh bei sich zu haben – mit in eine
Schlacht gegen die Philister nahmen und an diese verloren; bei dieser Gelegen-
heit verloren auch die Hüter der Lade, die Priesterfamilie der Eliden, fast voll-
zählig das Leben (1Sam 4). Schon in 1Sam 2,12–17.22–25.*27–33 war von der
Verderbtheit der Söhne Elis und dem Zorn Gottes darüber berichtet worden:
offensichtlich zur Erklärung der Katastrophe. Dann aber, als die Philister die
kostbare Trophäe in ihren Städten herumreichen, beginnt für sie die Katastro-
phe: Götterstatuen stürzen um, die Menschen werden krank; alsbald wird man
dessen gewahr, dass alles Unheil einzig von der Lade kommt, und in einem aus-
geklügelten divinatorischen Verfahren spediert man sie zurück in Richtung
Heimat (1Sam 5f.). Später dann, als David sich in Jerusalem niedergelassen hat
(2Sam 5), rückt die Lade plötzlich wieder in den Vordergrund: David holt sie in
wiederholtem Anlauf und unter umfangreichen kultischen Vorkehrungen in
seine Residenz, wo sie vorerst in einem Zelt untergebracht wird (2Sam 6), ehe
Salomo sie ins Allerheiligste des von ihm errichteten Tempels platziert (1Kön
8,1–13).

Schon Leonhard ROST hatte im Jahr 1926 behauptet, die vier Kapitel 1Sam 4–6 + 2Sam
6 bildeten eine eigene Quelle, nämlich den Hieros Logos des wichtigsten Kultgegen-
standes im salomonischen Tempel. Da der zur Zeit Salomos schreibende Rost’sche
Thronfolgeerzähler diese Quelle in sein Werk integrierte, müsste es sich um ein Do-
kument aus der Davidszeit handeln. Spätere Spezialuntersuchungen haben diese Hy-
pothese zu bestätigen, zu modifizieren oder zu widerlegen versucht. FOHRER wollte,
wenig überzeugend, in den Texten vier Schichten unterscheiden. SCHICKLBERGER er-
klärte, viel plausibler, den Grundbestand von 1Sam 4 als eine sehr alte Katastrophen-
erzählung, die dann zu einer Ladegeschichte ausgebaut worden sei; zu dieser habe al-
lerdings 2Sam 6 (und erst recht 1Kön 8) nicht gehört. Auch MILLER / ROBERTS trenn-
ten 2Sam 6 ab, nahmen dafür aber erstmals die Eliden-Szenen 1Sam 2,12–16.22–25
hinzu.

Gegen eine Begrenzung der Ladegeschichte auf 1Sam 4–6 sprechen neben dem in
1Sam 4,4 und 2Sam 6,2 verwendeten Titel des „Kerubenthroners“ auch die diversen
Hinweise auf die Präsenz der Lade im davidischen Jerusalem (2Sam 11,11; 15,24–29)
und im salomonischen Tempel (außer 1Kön 8,1–9 noch 1Kön 6,19; Ps 132,8). Das
gern geltend gemachte Argument, der geographische Schlusspunkt von 1Sam 4–6 in
1Sam 7,1 entspreche nicht dem Startpunkt in 2Sam 6,1, signalisiert eher textliche als
256 C. Die Vorderen Propheten

sachliche Probleme. Allerdings darf man sich, zumal wenn man 1Kön 8,1–9 hinzu-
rechnet, die Ladegeschichte nicht als glatt gestalteten, durchgehenden Text vorstellen,
sondern (mit CAMPBELL) als eine Komposition aus alten Überlieferungen (1Sam 4;
2Sam 6; 1Kön 8, vor allem 8,12f.) und deutenden und verbindenden Elementen von
der Hand des Kompositors (namentlich 1Sam 5f., aber auch 1Sam 4,6–8a oder der
„Kerubenthroner“).

Die Zielsetzung des Werkes tritt gleich in dem Passus deutlich hervor, den der
Autor in die alte Katastrophenerzählung eingefügt hat: 1Sam 4,6–8a. Hier lässt er
die Philister angesichts der Lade die Geschichte von der Befreiung Israels aus
Ägypten reflektieren. Auf diese Thematik wird dann noch einmal explizit in
1Sam 6,8 angespielt, implizit aber in den gesamten Kapiteln 1Sam 5f. Die in die
Hände der Philister gefallene Lade wirkt wie eine Chiffre für das einst in die
ägyptische Sklaverei geratene Israel der Exodusgeschichten (keineswegs aber, wie
SMELIK vorschnell meint, für die Juden in der Babylonischen Gefangenschaft).

Die Bezüge zwischen der Exodus- und der Ladegeschichte sind zahlreich: Vgl. 1Sam
5,6; 6,5 mit Ex 9,3 (die „Hand Jhwhs“ wirkt); 1Sam 5,10.12 mit Ex 10,5f.12.15; 11,6;
12,30 (wer der einen Plage entkommt, wird von der nächsten getroffen; die Betroffe-
nen „schreien“); 1Sam 6,2.8 mit Ex 7,11; 10,7 (der bzw. die Philisterfürsten bzw. der
Pharao rufen Religionsfachleute, die zum Nachgeben raten); 1Sam 6,8 mit Ex 8,11.28;
9,7.34 (Jhwh „verstockt“ den Feind); 1Sam 6,3.9 mit Ex 10,2 u. ö. (aus der Not er-
wächst die Erkenntnis Jhwhs); 1Sam 6,3 mit Ex 3,21 (die Lade bzw. Israel soll nicht
„leer“ entlassen werden); 1Sam 6,8 mit Ex 3,22; 11,2; 12,35 (der Feind muss goldene
Gegenstände stiften); 1Sam 6,14 mit Ex 10,25 (der Feind bringt für Jhwh Brandopfer
dar).

Die Parallelisierung der Geschicke der Lade mit dem Geschick Israels beim Exo-
dus scheint das eigentliche Anliegen des Lade-Erzählers zu sein. Nun ist aber die
Exodus-Tradition ein nordisraelitisches Spezifikum (vgl. insbesondere 1Kön
12,28 und Hos 13,4). Es ist, als wolle der Lade-Erzähler diese Nord- durch eine
Süd-Tradition überbieten oder doch wenigstens aufwiegen. Zu welcher Zeit mag
er ans Werk gegangen sein? Terminus a quo ist der Tempelbau Salomos. (Nur
wer 1Sam 4–6 für sich nimmt, wie etwa MILLER / ROBERTS, kann eine Datierung
in die vorstaatliche Zeit für möglich halten.) Verschiedene Faktoren aber – die
Aufnahme nicht nur des Exodus-Themas, sondern auch der gleichfalls nord-
israelitischen Katastrophenerzählung 1Sam 4, die Verarbeitung unterschiedlicher
Überlieferungen von der Lade, das sehr ausgearbeitete Bild von den Philistern (in
1Sam 5f. sind die Philisterstädte als enge politische Union gezeichnet) – lassen
auf einen erheblichen Abstand von der frühen Königszeit schließen. Wieder liegt
es nahe, an die Zeit nach dem Untergang des Nordreichs zu denken, als Nord-
Traditionen verstärkt in den Süden gelangten. Die Botschaft der Ladegeschichte
wäre dann: Mag die Exodus-Tradition mit dem Nordreich ihre ursprüngliche
Trägerschaft verloren haben – die Fähigkeit Jhwhs, mit bedrohlichen Feinden
Israels fertig zu werden, ist nicht verloren gegangen.
IV. Die Samuelbücher 257

c) Überlieferungen um David

W. DIETRICH, Die frühe Königszeit in Israel, Stuttgart 1997 (Bibl. Enzyklopädie 3), 242–259. – S. K.
BIETENHARD, Des Königs General. Die Heerführertraditionen in der vorstaatlichen und frühen
staatlichen Zeit und die Joabgestalt, 1998 (OBO 163). – I. WILLI-PLEIN, ISam 18–19 und die Davids-
hausgeschichte, in: W. Dietrich (Hg.), David und Saul im Widerstreit – Diachronie und Synchronie
im Wettstreit. Beiträge zur Auslegung des ersten Samuelbuches, 2004 (OBO 206), 138–171. – W.
DIETRICH, David, der Herrscher mit der Harfe, Leipzig 2006 (Biblische Gestalten 14).

In der Darstellung der Davidszeit hat der Höfische Erzähler, wie oben gezeigt,
vieles selber formuliert, doch hat er in erheblichem Umfang auch älteres Quel-
lenmaterial aufgenommen. Fraglich ist, in welcher Form ihm dieses Material
vorlag: ob schon weitgehend zu einem großen Textzusammenhang ausgestaltet
oder in der Gestalt von unterschiedlichen Einzelerzählungen und -texten,
Sammlungen, Novellen usw.
Das eine Modell wird von WILLI-PLEIN vertreten. Sie rechnet mit einer um-
fangreichen, bereits im 9. Jh. fertiggestellten „Davidshausgeschichte“, die den
Großteil aller Texte zwischen 1Sam 18 und 2Sam 21 sowie in 1Kön 1f. umfasst
habe. Darin sei die gesamte Geschichte Davids erzählt gewesen: seine Erfolge in
der Umgebung Sauls, seine Vertreibung und seine Jahre als Freibeuter und Phi-
listervasall, sein Aufstieg zum König von Juda und von Israel, die Auseinander-
setzungen um Urija, Amnon, Abschalom und Scheba, schließlich die Klärung des
Nachfolgestreits zwischen Adonija und Salomo und Davids Ableben. Praktisch
unversehrt sei diese Großerzählung in das Höfische Erzählwerk und dieses dann
wieder ins dtr Geschichtswerk übernommen worden, wobei es nur vergleichs-
weise wenige Erweiterungen gegeben habe.

Einige Texte werden der „Davidshausgeschichte“ überraschend zugewiesen (etwa die


reinen Saul-Geschichten 1Sam 28 und 31 oder Abschnitte aus dem Anhang in 2Sam
21 sowie die Ministerliste Salomos in 1Kön 4,1–6), andere ihr ebenso überraschend
abgesprochen (etwa die Erzählungen in 1Sam 16f., mit einem gewissen Zögern auch
die Verschonungsgeschichten 1Sam 24 und 26 sowie der Großteil des Kriegs-Summa-
riums in 2Sam 8). Auf den Höfischen Erzähler werden anscheinend zurückgeführt:
die Erzählungen vom jungen David (1Sam 16f.), seine Begegnungen mit Samuel
(1Sam 16,1–13; 19,18–24), seine Freundschaft mit Jonatan (1Sam 19,1–7; 20; 23,16–18
– nicht hingegen das Trauerlied auf Jonatan 2Sam 1,17–27, auch nicht die Meribaal-
Szenen 2Sam 9; 16,1–4; 19,25–31, merkwürdigerweise aber die von 2Sam 4,2–4), zu
großen Teilen offenbar auch die Erzählungen über Sauls Verschonung durch David
(1Sam 24; 26); auf dtr Hand werden die knappen Passagen 1Sam 28,17f.; 2Sam 2,10f.;
3,9f.17f.; 5,1f.4f.11f.; 15,24–26; 16,11f. sowie längere Abschnitte in 2Sam 7 und 12 zu-
rückgeführt. Unklar bleibt die Zuweisung der angeblichen Erweiterungen 2Sam 6,1–9;
8,3–13; 10,14–19; 18,18; 21,1–7.

Wäre diese Theorie im Recht, dann erklärte sich sehr einfach, wie der Höfische
Erzähler rund zwei Jahrhunderte nach den geschilderten Ereignissen an so viele
detaillierte, überwiegend offenbar zutreffende, teilweise jedenfalls unerfindliche
Informationen kommen konnte: Ein Vorgänger hätte ihm, noch relativ nah an
258 C. Die Vorderen Propheten

der frühen Königszeit, auf weite Strecken vorgearbeitet. Dass die postulierte
„Davidshausgeschichte“ in sich wieder ein Traditionswerk ist, zusammengesetzt
aus zahlreichen Einzelüberlieferungen, muss nicht betont werden. Erstaunlich
ist, wie disparat diese Überlieferungen sind: von dem in einem eigenen Lieder-
buch aufgezeichneten Trauerlied (2Sam 1,17–27) über reine Saul-Traditionen
(1Sam 28; 31) und solche vom Verhältnis Davids zu den Sauliden (in 2Sam 9; 16;
19; 21) oder über die Einholung der Lade nach Jerusalem (2Sam 6) bis zu Be-
richten über Palast-interne Affären und Intrigen (2Sam 11; 13; 1Kön 1): Sollte
das alles in einer, noch dazu so alten Quelle vereinigt gewesen sein?
Wer eine solche Hypothese zu kühn findet, wird mit einem eher fragmentierten
und gestuften Entstehen und Anwachsen verschiedener David-Überlieferungen
und mit einer stärkeren Eigentätigkeit des Höfischen Erzählers bei der Zusam-
menstellung und Kommentierung des von ihm aufgenommenen Materials rech-
nen. Als mögliche Vorarbeiten und Vorstufen zu seinem Werk zeichnen sich
außer den schon erwähnten Erzählkompositionen über die Lade und über Sa-
muel und Saul die folgenden ab:
– ein Lieder-„Buch des Aufrechten“, aus dem das Trauerlied auf Saul und Jo-
natan 2Sam 1,19–27 zitiert wird;
– Aufzeichnungen aus der königlichen Kanzlei, aus der diverses, in die Erzählun-
gen eingestreutes Listenmaterial stammt (z. B. 1Sam 30,26–31; 2Sam 3,2–5; 5,13–
15; 8,1–14a; 8,16–18; 20,23–26; aus dieser Quelle dürften auch die Listen im sog.
Anhang stammen: 2Sam 21,15–22; 23,8–39);
– ein Erzählkranz über David als Freibeuter: eine eher locker gefügte Komposi-
tion von Geschichten, die herkömmlich der „Aufstiegsgeschichte“ zugerechnet
werden (die Grundbestände v. a. von 1Sam 16–19; 21–25; 27; 30; 2Sam 5);
– eine Erzählreihe über Aufstieg und Niedergang der Sauliden, in der nicht nur
die Größe der ersten Herrscherfamilie Israels, sondern auch Davids Korrektheit
und Großzügigkeit ihr gegenüber ins rechte Licht gerückt werden (die Grundbe-
stände von 1Sam 9f.; 13f.; 17f.; 20; 26; 28; 31; 2Sam 2–4; 21; 9; 16,1–13; 19,17–31;
20);
– eine Batscheba-Salomo-Novelle, die in fast ehrenrühriger Weise erzählte, wie
Davids Nachfolger auf die Welt und auf den Thron kam (der Grundbestand von
1Sam 11f. und 1Kön 1f.; in diesen Kapiteln sowie in 2Sam 2f. sieht auch
BIETENHARD einen Joab-zentrierten und höchst davidkritischen „ursprünglichen
Bericht“, der dann in einer dreistufigen Redaktionsgeschichte immer weiter
abgemildert wurde);
– Erzählungen über Amnons Schandtat an Tamar (2Sam 13) und den Aufstand
Abschaloms gegen David (2Sam 15f.; 18), die nicht von schneidend scharfer
Ablehnung, aber doch von einer kritisch-differenzierten Wahrnehmung des
Königshauses zeugen.

Der Höfische Erzähler hat dieses disparate Material zu einer fortlaufenden Geschichte
der frühen Königszeit geordnet und es durch gezielte Zufügungen der beabsichtigten
Gesamtintention angepasst, wobei er vor allem zwei Mittel nutzte: die Konstruktion
IV. Die Samuelbücher 259

neuer Geschichten (die sich eben durch ihre Konstruiertheit als nicht quellenhaft zu
erkennen geben: z. B. 1Sam 13,7b–15; 16,1–13; 19,18–24; 29,1–11; 2Sam 1,1–16;
6,16.20–23; 14; 17) und die Einfügung längerer Reden (die er handelnden Personen in
den Mund legt und in denen er seine eigenen Ansichten besonders gut zum Ausdruck
bringen konnte: außer in den eben genannten Texten v. a. in 1Sam 24; 25; 26; 2Sam 3;
4; 7; 12; 18; 1Kön 1f.). Die Einzelheiten können hier nicht vorgeführt, sondern müs-
sen, soweit nicht schon erforscht, künftigen Analysen vorbehalten bleiben.

Die vorgestellten Hypothesen erklären zweierlei: warum die David-Überlieferung


in den Sam-Büchern einerseits sehr viele korrekte oder zumindest plausible
Nachrichten birgt, die auf Nähe zu der geschilderten Zeit schließen lassen, und
andererseits doch derart facettiert und hoch reflektiert wirkt, dass man sie kaum
als unmittelbares Zeitzeugnis werten kann. In der Darstellung dieses Königs
mischt sich beides: sorgfältige geschichtliche Information und freie künstlerische
Imagination.
V. Die Königsbücher
Kommentare: A. ŠANDA, I 1911, II 1912 (EHAT). – J. FICHTNER, I 1964 (BAT). – J. GRAY, I, II 31977
(OTL). – M. NOTH, I/1 1968, 21983 (BKAT). – G. HENTSCHEL, I 1984, II 1985 (NEB). – E.
WÜRTHWEIN, I 1977 (21985), II 1984 (ATD). – T.R. HOBBS, II 1985 (WBC). – S.J. DE VRIES, I 1985
(WBC). – M. COGAN / H. TADMOR, II 1988 (AB). – B. O. LONG, I 1984, II 1991 (FOTL). – R. D.
NELSON, I, II 1987 (Interpretation). – J. T. WALSH, I 1996 (Berit Olam). – V. FRITZ, I 1996, II 1998
(ZBK.AT). – M. J. MULDER, I/1 1998 (Historical Commentary on the OT). – M. A. SWEENEY, I/II
2007 (OTL). – A. L. LAFFEY, I/II 2011 (New Collegeville Bible Commentary [Old Testament]).
Zur Textgeschichte: P. S. F. VAN KEULEN, Two Versions of the Solomon Narrative. An Inquiry into the
Relationship between MT 1 Kgs. 2–11 and LXX 3 Reg. 2–11, Leiden 2004. – A. SCHENKER, Älteste
Textgeschichte der Königsbücher. Die hebräische Vorlage der Septuaginta als älteste Textform der
Königsbücher, 2004 (OBO 199). – M. PIETSCH, Von Königen und Königtümern. Eine Untersuchung
zur Textgeschichte der Königsbücher: ZAW 119 (2007), 39–58. – A. S. TURKANIK, Of Kings and
Reigns. A Study of Translation Technique in the Gamma/Gamma Section of 3 Reigns (1 Kings), 2008
(FAT 2.30).

Haben die 55 Kapitel der Sam-Bücher rund ein halbes Jahrhundert geschildert,
so beschreiben die 47 Kapitel der Kön-Bücher eine Zeitspanne von rund 400
Jahren. Das erste dargestellte Ereignis ist die Machtübernahme des Davidsohnes
Salomo (um die Mitte des 10. Jh.s), das letzte die Begnadigung des in Babylon
gefangenen Davididen Jojachin (562 v. Chr.). Der in den Kön-Büchern
behandelte Stoff lässt sich in drei Teile gliedern: mit zwei knapperen Seitenteilen
und einem ausführlichen Mittelteil (ein triptychonartiger Aufbau, der an den des
Ri-Buches erinnert).

A) Die Zeit der Doppelmonarchie Juda/Israel (1Kön 1–11)


– 1Kön 1f.: Salomo übernimmt die Macht und schaltet seine Gegner aus.
– 1Kön 3,1–5,14: Salomo installiert seine Herrschaft (Traumoffenbarung in Gibeon
und Salomonisches Urteil 1Kön 3, Listen von Ministern und Provinzen 1Kön 4, Si-
cherheit des Landes und Versorgung des Hofes 5,1–8, Salomos Weisheit 5,9–14).
– 1Kön 5,15–8,66: Salomo baut und weiht den Jerusalemer Tempel (ökonomische
Vorbereitungen 5,15–32, Bau des Tempels 6,1–37, Bau des Palastes 7,1–12, Ausstat-
tung des Tempels 7,1–51, Einweihung des Tempels 8,1–21, Tempelweihgebet 8,22–
66).
– 1Kön 9–11: Salomo vergrößert und verspielt seine Erfolge (Warnung Gottes 9,1–9,
Städtebau und Staatsökonomie 9,10–28, Besuch der Königin von Saba 10,1–13,
Staatswirtschaft und Außenhandel 10,14–29, Vielweiberei und -götterei und Jhwhs
Einspruch 11,1–13, Misserfolge nach außen 11,14–28, prophetische Designation Jero-
beams 11,29–40, Tod Salomos 11,41–43).

B) Die Zeit der Königreiche Juda und Israel (1Kön 12 – 2Kön 17)
– 1Kön 12f.: Der Norden trennt sich vom Süden (Lossagung der Nordstämme von der
Davididenherrschaft 12,1–24, Konsolidierung der Herrschaft Jerobeams in Nordisrael,
Gründung eines Staatskults 12,25–33, Legende vom Auftritt eines Propheten gegen
Jerobeam 1Kön 13).
– 1Kön 14–16: Die beiden Reiche ringen um Identität und Vorrang (im Süden drei
Davididen – Rehabeam, Abia, Asa –, im Norden zwei scheiternde Dynastiebildungs-
Versuche – Jerobeam, Bascha – und mehrere Putsche, bis Omri an die Macht kommt).
V. Die Königsbücher 261

– 1Kön 17–19; 21; 2Kön 1: Elija kämpft für Jhwh und gegen die Omriden (Hungers-
not als Gottesstrafe 1Kön 17, Jhwhs Sieg über Baal auf dem Karmel und Wiederkehr
des Regens 1Kön 18, Elijas Flucht und Gottesbegegnung auf dem Horeb 1Kön 19, der
Skandal um Nabots Weinberg 1Kön 21, Elijas Auftritt gegen König Ahasja 2Kön 1).
– 1Kön 20; 22: Propheten agieren in Aramäerkämpfen (die von Propheten bewirkte
Rettung Israels aus der Aramäernot 1Kön 20, der von Micha ben Jimla angesagte Tod
Ahabs im Aramäerkrieg 1Kön 22).
– 2Kön 2,1–8,15: Elischa betätigt sich als Wundertäter und Politiker (Elischa als
Nachfolger Elijas 2Kön 2, sein Einsatz im Krieg gegen Moab 2Kön 3, Wundertaten
gegen Hunger und Tod 2Kön 4, Wunderheilung am Aramäergeneral Naaman 2Kön 5,
Wundertaten gegen die Aramäer 2Kön 6f., Einsatz für sozial Schwache 8,1–6, Mitwir-
kung an einem Putsch in Damaskus 8,7–15; weitere Elischa-Legenden noch in 13,14–
21).
– 2Kön 8,16–11,20: Jehu und Joasch putschen gegen die Omriden (Salbung Jehus
durch einen Elischa-Schüler 9,1–10, Tötung des israelitischen und des judäischen Kö-
nigs sowie Isebels 9,11–37, Ausrottung beider Königshäuser 10,1–14, Vorgehen gegen
die Baalsdiener 10,15–27, Schlussnotizen zu Jehu 10,28–36, Tötung der Omridin
Atalja in Jerusalem 11,1–20).
– 2Kön 12–17: Juda und Israel geraten in politische Turbulenzen (Renovierung und
Plünderung des Tempels unter Joasch 12,1–21; diverse Könige Israels und Judas 1Kön
13–15, dabei rasche Thronwechsel im Norden 15,8–31, syrisch-efraimitischer Krieg
und Bau eines nicht-jahwistischen Altars in Jerusalem 16,1–20, Untergang des Nord-
reichs und Reflexion der Ursachen 17,1–23, Entstehung einer Mischbevölkerung im
Norden 17,24–41).
C) Die Zeit des Königreichs Juda nach dem Untergang Israels (2Kön 18–25)
– 2Kön 18–20: Juda übersteht dank Jesaja und Hiskija die Assyrergefahr (Hiskijas Re-
gierung 18,1–12, erste Bedrohung Jerusalems und Auftritt des Rabschake 18,13–19,8,
zweite Bedrohung und Errettung Jerusalems 19,9–37, Hiskijas Krankheit und Gene-
sung 2Kön 20).
– 2Kön 21,1–23,30: Juda erlebt seinen schlimmsten und seinen besten König (Manas-
ses Sünden 2Kön 21, Auffindung eines Gesetzbuches unter Joschija 2Kön 22, Joschijas
Reform 2Kön 23).
– 2Kön 23,31–25,30: Juda wird von Babylon unterworfen (die Könige Joahas, Jojakim,
Jojachin und die erste babylonische Invasion 23,31–24,16, König Zidkija und die Zer-
störung Jerusalems 24,17–25,26, die Begnadigung Jojachins 25,27–30).

Literarisch ist in den Kön-Büchern ein Wechsel zu beobachten zwischen Ab-


schnitten, in denen anschaulich und breit erzählt wird (1Kön 1–3; 10–12; 17–22;
2Kön 1–11; 18–20), und solchen, in denen nüchtern und gedrängt informiert
wird (1Kön 4–9; 13–16; 2Kön 12–17; 21–25). Was die Könige betrifft, fällt auf,
dass in Juda in (fast) ununterbrochener Folge Angehörige der Davidsdynastie
regieren, während die Reihe der israelitischen Könige durch zahlreiche Umbrü-
che und Unruhen gekennzeichnet ist. Zwei wichtige israelitische Dynastien he-
ben sich heraus: diejenige Omris (1Kön 16 – 2Kön 8) und die Jehus (2Kön 9 –
15). Ihnen gegenüber stehen die beiden herausragenden Prophetengestalten Elija
(1Kön 17 – 2Kön 1) und Elischa (2Kön 2–8; 13). Überhaupt erscheint die Ge-
schichte der Königszeit ebenso sehr als Propheten- wie als Königsgeschichte.
Licht und Schatten wechseln sich während der gesamten geschilderten Zeit stän-
262 C. Die Vorderen Propheten

dig ab – wobei jedoch eindeutig am Anfang das Licht und am Ende der Schatten
überwiegt (auch dies erinnert an die Anlage des Ri-Buchs). So ergibt sich der
Eindruck eines zwar nicht geradlinigen, aber doch unaufhaltsamen Niedergangs,
an dessen Ende der Absturz ins Exil steht.
In die bunte Vielfalt der Erzählungen und Informationen ist ein Gerüst einge-
zogen, das den Lesenden immer wieder die Orientierung im Fluss der Zeiten
ermöglicht. Prinzipiell jeder König wird bei seiner Thronübernahme mit einer
Einleitungsformel eingeführt und bei seinem Tod mit einer Schlussformel verab-
schiedet. (Keine Einführungsformel erscheint da, wo lange Berichte über die
Thronbesteigung vorliegen, keine Schlussformel, wo Könige deportiert wurden,
beides nicht bei der Un-Königin Atalja, 2Kön 11.) Dieser sog. Königsrahmen
weist immer die gleichen, freilich zwischen Nordreichs- und Südreichskönigen
leicht unterschiedlichen und in Ausnahmefällen auch stärker variierenden, for-
melhaften Bestandteile auf.

Einführungsformel:
– Synchronistische Datumsangabe („X/Israel wurde König im Jahr des Y/Juda“)
– Alter bei der Thronbesteigung (nur bei judäischen Königen)
– Dauer der Herrschaft (incl. Thronbesteigungsjahr und evtl. Ko-Regentschaften)
– Name der Königsmutter (nur bei judäischen Königen)
– Religiöse Beurteilung
Schlussformel:
– Quellenverweis (öfters mit Angabe besonderer Ereignisse oder Leistungen)
– Feststellung des Todes
– Nachricht über Bestattung „bei den Vätern“ (nur bei judäischen Königen)
– Name und Königwerdung des Nachfolgers

Der Quellenverweis in der Schlussformel macht klar, dass das Grundgerüst der
Königsbücher von einer Redaktion stammt, die sich dazu einer bestimmten
Quelle bedient hat. Die meisten der Angaben im Königsrahmen sind dieser
Quelle entnommen (vgl. unten 2b) – nicht aber die Königsbeurteilungen. Diese
stellen fest, ob ein König „das Schlechte in den Augen Jhwhs“ (z. B. 2Kön 21,2,
von Manasse) oder „das Rechte in den Augen Jhwhs“ getan hat (z. B. 2Kön 22,2
von Joschija). Das Urteil bemisst sich nicht nach den politischen Leistungen des
jeweiligen Königs, sondern daran, ob er der Forderung nach alleiniger
Verehrung Jhwhs am einzig legitimen Kultort, Jerusalem, gerecht geworden ist
oder nicht. Dieses Kriterium ist eindeutig dem Dtn entnommen (z. B. Dtn 6,4
und Dtn 12) und darum klar dtr. Wenn das Grundgerüst der Kön-Bücher dtr
(mit)geprägt ist, kann es keine vor-dtr Gesamtkomposition gegeben haben.

1. Redaktion
Daraus, dass die Kön-Bücher erst von der dtr Redaktion geschaffen worden sind, erklärt sich, dass
sich viele der Arbeiten zum dtr Geschichtswerk hauptsächlich mit den Kön-Büchern befassen oder
doch bei ihnen ihren Ausgangspunkt nehmen. Deshalb ist ein Großteil der oben unter I.1–3 aufge-
V. Die Königsbücher 263

führten Literatur auch hier einschlägig (im Folgenden nur die Autorennamen und Publikationsjahre,
zu den näheren bibliographischen Angaben siehe oben): W. DIETRICH 1972, H. WEIPPERT 1972, F. M.
CROSS 1973, H.-D. HOFFMANN 1980, R. NELSON 1981, I. W. PROVAN 1988, S. L. MCKENZIE 1991,
G. N. KNOPPERS 1993/1994, A. G. AULD 1994, E. EYNIKEL 1995, P. VAN KEULEN 1996, R. MÜLLER
2004, B. VAN PUTTEN 2005.
Hinzu kommen noch folgende Spezialuntersuchungen: G. V. RAD, Die deuteronomistische Ge-
schichtstheologie in den Königsbüchern (1947 =): Ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament,
1961 (TB 8), 189–204. – E. ZENGER, Die deuteronomistische Interpretation der Rehabilitierung
Jojachins: BZ NF 12 (1968), 16–30. – Z. ZEVIT, Deuteronomistic Historiography in 1 Kings 12 – 2
Kings 17 and Reinvestiture of the Israelian Cult: JSOT 32 (1985), 57–73. – A. LEMAIRE, Vers l’histoire
de la rédaction des livres des Rois: ZAW 98 (1986), 221–236. – F. GARCIA LOPEZ, Construction et
destruction de Jérusalem. Histoire et prophétie dans les cadres rédactionnels des Livres des Rois: RB
94 (1987), 222–232. – E. T. MULLEN, The Sins of Jeroboam. A Redactional Assessment: CBQ 49
(1987), 212–232. – R. D. NELSON, The Anatomy of the Book of Kings: JSOT 40 (1988), 39–48. – B.
HALPERN / D. S. VANDERHOOFT, The Editions of Kings in the 7th–6th Centuries B. C. E.: HUCA 62
(1991), 179–244. – G. N. KNOPPERS, „There Was None Like Him“. Incomparability in the Books of
Kings: CBQ 54 (1992), 411–431. – B. LEHNART, Prophet und König im Nordreich Israel, 2003 (SVT
96). – J. B. KOFOED, Text and History. Historiography and the Study of the Biblical Text, Winona
Lake, IN 2005. – B. BECKING, From David to Gedaliah. The Book of Kings as Story and History, 2007
(OBO 228). – M. PIETSCH, Von Königen und Königtümern. Eine Untersuchung zur Textgeschichte
der Königsbücher: ZAW 119 (2007), 39–58. – F. B. WISSMANN, „Er tat das Rechte …“ Beurteilungs-
kriterien und Deuteronomismus in 1Kön 12 – 2Kön 25, 2008 (AThANT 93). – J. WÖHRLE, Die
Rehabilitierung Jojachins. Zur Entstehung und Intention von 2 Kön 24,17–25,30, in: I. Kottsieper
u. a. (Hg.), Berührungspunkte, FS R. Albertz, 2008 (AOAT 350), 213–238. – M. LEUCHTER / K.-P.
ADAM (eds.), Soundings in Kings. Perspectives and Methods in Contemporary Scholarship, Minnea-
polis 2010.

An den Kön-Büchern entscheidet sich, sofern man überhaupt mit einem dtr
Geschichtswerk zu rechnen bereit ist, ob es davon eine vorexilische Grundfas-
sung gegeben hat (so das sog. Block-Modell) oder ob es erst in bzw. ab der Exils-
zeit entstanden ist (so die Einheits- und Schicht-Modelle). Diese Alternative ist
von großer Bedeutung im Blick nicht nur auf literargeschichtliche, sondern auch
auf historische und theologische Fragen. Die Analyse des Königsrahmens prä-
judiziert die Antwort: Da dieses System hinunterreicht bis zur Exilszeit (vgl.
König Jojachin in 2Kön 24,8–15 und 25,27–30) und da die leichten Variationen
innerhalb des Systems die Annahme mehrerer Verfasser nicht rechtfertigen (s.
VAN KEULEN u. a.), kann die Grundredaktion des Geschichtswerks nicht vor der
mittleren Exilszeit angesetzt werden; weitere dtr Bearbeitungen fallen dement-
sprechend in die spät- bzw. nachexilische Zeit.
An den Kön-Büchern wird die Arbeitsweise der dtr Redaktoren besonders klar
sichtbar.
– Einerseits erweisen sie sich hier als wirkliche Geschichtsschreiber, die ihnen
bekannt gewordene Daten und Fakten aus der Königszeit auch um ihrer selbst
willen aufbewahrt und weitergegeben haben. Gewiss lag ihnen dabei ein modern-
historistisches Ideal fern, machen sie kein Hehl daraus, dass sie die Geschichte
von einem bestimmten Standpunkt aus interpretieren – doch sie dokumentieren
sie auch. Allein die streng chronologische Anlage mit der Angabe von Regie-
rungszahlen für jeden König zeugt von echt historischem Interesse. Selbst Kö-
264 C. Die Vorderen Propheten

nige, die nur wenige Monate regiert haben und von denen eigentlich nichts
außer ihrem kurzzeitigen Dagewesensein mitzuteilen ist, werden sorgfältig auf-
geführt, damit die Königsreihe, wie sie aus den Quellen abzulesen war, vollstän-
dig sei. Auch unangenehme und peinliche Tatsachen werden nicht verschwiegen:
etwa die Inaugurationsvision Salomos im Heiligtum von Gibeon (1Kön 3,1–15)
oder sein Verkauf israelitischer Dörfer und Städte an Phönizien (1Kön 9,11), die
politische Dummheit, die zur Reichsteilung führte (1Kön 12), die Mutlosigkeit
Elijas (1Kön 19,3f.), die Geringschätzung der Propheten (2Kön 9,11), der friedli-
che Tod „böser“ und der gewaltsame Tod „guter“ Könige (1Kön 22,40; 2Kön
21,18; 23,29), die Herrschaft der Unkönigin Atalja (2Kön 11), die Aufstellung
heidnischer Kultsymbole im Jerusalemer Tempel (2Kön 21,3–5). Nur aus den
Kön-Büchern ist zu erfahren, was andere Quellen (archäologische oder außer-
biblische) überhaupt nicht oder allenfalls höchst andeutungsweise verraten: dass
das judäische Königtum zwei zu unterscheidende staatsrechtliche Größen ver-
einte: die Landschaft Juda und den Stadtstaat Jerusalem; dass das Königtum in
Israel und in Juda sehr unterschiedlich ausgeprägt war: eine göttlich legitimierte
und unverrückbar regierende Dynastie hier, eine eher tribal geprägte Herr-
schaftsvorstellung und darum häufige Dynastiewechsel dort; oder dass die kriti-
sche Prophetie, die so bedeutsam wurde für das Selbstverständnis auch der judä-
isch-jüdischen Religiosität, ihren Ausgang offenbar in Nordisrael genommen hat.
– Andererseits hat die Redaktion das ihr zur Verfügung stehende Quellenmaterial
nicht unverändert reproduziert, sondern sie hat ausgewählt, geordnet, verknüpft,
gewichtet und kommentiert. Die Spuren der Redaktionsarbeit sind an vielen
Stellen greifbar, am deutlichsten dort, wo sich die Redaktoren anlässlich beson-
ders wichtiger Vorgänge ausführlich zu Wort melden. So spricht Salomo anläss-
lich der Tempeleinweihung ein langes Gebet, das voll ist von dtr Theologie: teils
der des Erstverfassers (1Kön 8,15–21), teils derjenigen späterer dtr Bearbeiter
und nach-dtr Ergänzer (8,22–61). Zweimal redet Jhwh Salomo auf gut (spät-)dtr
Weise ins Gewissen (1Kön 9,1–9; 11,9–13). Der Prophet Ahija von Schilo hält
dem kommenden Reichsgründer Israels, Jerobeam, eine dtr (in sich übrigens
mehrstufige) Inaugurationsrede (1Kön 11,29–39) und später dann eine dtr er-
weiterte Verwerfungsrede (1Kön 14,7–11). Überhaupt kündigen Propheten di-
versen Königen bevorstehendes Unheil auf stereotyp dtr Weise an (1Kön 16,1–4;
21,19–24; 2Kön 97–10; 21,10–15; 22,15–20). Durch und durch dtr (und auch
wieder mehrschichtig) ist die Reflexion über die Gründe für den Untergang des
Nordreichs (2Kön 17,7–23).
Hauptsächlich, so zeigt sich, sind es zwei Themen, welche die dtr Redaktion an
der Königszeit beschäftigen: a) Was waren die Chancen, was die Probleme der
beiden israelitischen Staaten, warum gingen sie beide unter, und zwar zuerst das
Nord- und dann das Südreich? b) Welche Rolle spielten in dem Geschehen die
Propheten, wie waren sie in die politisch-geschichtlichen Vorgänge involviert,
inwiefern sogar deren Triebfeder?
V. Die Königsbücher 265

a) Der Diskurs über die Staaten Israel und Juda

Die dtr Redaktion war nicht von vornherein und grundsätzlich antistaatlich und
antiköniglich eingestellt (s. oben IV.2.a). Die Inauguration des Königtums durch
Samuel und Saul hat sie als ambivalent dargestellt, die Einrichtung des davidi-
schen Königtums überwiegend mit Beifall begrüßt. Zu erklären war nun, warum
das nordisraelitische Königtum nur etwa zwei Jahrhunderte, das judäische noch
einmal gut ein Jahrhundert länger Bestand hatte. Der Keim des Unheils war in
der Institution von vornherein angelegt, er hätte sich aber nicht so entfalten
müssen, wie er es tat. Offenbar neigten die Könige und neigte Israel unter den
Königen in einer verhängnisvollen Weise zum Abfall von Jhwh. (Gleiches galt ja
schon für die Richterzeit, nur dass damals die Könige noch fehlten.) Insbeson-
dere war es die staatliche Religionspolitik, die den beiden Staaten Schaden
brachte. Die Nordreichskönige trugen von Anfang an und bis zum bitteren Ende
an der Hypothek, dass sie Staatsheiligtümer in Bet-El und in Dan, im Süden und
im Norden ihres Landes, und später auch noch in der Hauptstadt Samaria unter-
hielten, die nach Auffassung der dtr Geschichtsschreiber heidnischen Einflüssen
offen standen oder sogar ganz heidnisch waren. Jhwh recht verehren konnte man
nur im Tempel von Jerusalem, und dieser stand naturgemäß nur den judäischen
Königen zur Verfügung. Freilich hielten sich auch von diesen viele nicht nur an
dieses eine Heiligtum, sondern betrieben oder duldeten daneben „Höhen“, Orts-
heiligtümer in Juda, und einige sollen sogar den Jerusalemer Tempel paganisiert
haben.

Die dtr Autoren der Kön-Bücher durchmustern die staatliche Geschichte Israels
und messen jeden einzelnen König am Gebot der alleinigen und der reinen Ver-
ehrung Jhwhs. Besonders gute Noten erhält dabei Joschija (2Kön 22,2; 23,25);
faktisch an ihm und seinem Handeln werden alle seine Vorgänger und seine
wenigen Nachfolger gemessen. Der Untergang des Staates Juda im Jahr 587
v. Chr. wie auch schon der des Staates Israel 722 v. Chr. erscheinen letzten Endes
als Folge fortgesetzter Übertretung des Ersten Gebots. Umgekehrt lässt sich sa-
gen: Da die Staaten Israel und Juda untergingen und die Könige durch die man-
gelnde Alleinverehrung Jhwhs die Hauptschuld daran trugen, war das Königtum,
war der Staat nicht die Organisationsform, die Sicherheit und Existenz des Vol-
kes Israel zu gewährleisten im Stande gewesen wäre.

An zwei besonders sprechenden Beispielen sei diese dtr Perspektive auf das Königtum
vor Augen gestellt.

Die dtr Darstellung der Herrschaft Salomos lässt diese zu Beginn als vollauf gelungene
Fortsetzung der Reichsgründung unter David erscheinen: Salomo gelingt es, seine
Macht über die Doppelmonarchie zu konsolidieren (1Kön 1f.), eine glanzvolle Herr-
schaft zu errichten (1Kön 3,1–5,14) und auf dieser Basis den Bau des Jerusalemer
Tempels zu bewerkstelligen (5,15–8,14). Anlässlich der Tempelweihe tut er in einer
(von DtrH verfassten) öffentlichen Erklärung kund, Jhwh habe nunmehr seine Ver-
266 C. Die Vorderen Propheten

heißung an David wahr gemacht, ihm einen Nachfolger geschenkt und durch diesen
den Tempel bauen lassen (8,15–21). Damit steht eigentlich alles zum Besten: Die
Dynastie ist installiert, der Ort rechter Jhwh-Verehrung vorhanden. In seinem an-
schließenden Gebet richtet Salomo an Jhwh die Bitte, auch künftig seine Verspre-
chungen einzuhalten – sofern die Könige nur getreulich „vor ihm wandelten“ (8,22–
25: eine für DtrN typische Konditionierung der zuvor unkonditionierten Verhei-
ßung). Und in einem abschließenden Segenswunsch fordert Salomo Israel unter
Berufung auf Jhwhs „Knecht Mose“ zur Einhaltung der „Gebote, Satzungen und
Rechte“ Jhwhs auf (8,54–61; auch hier die typische DtrN-Sprache). Im jetzigen Text
hat er davor noch ein langes Gebet vorgetragen, in dem er Gott um Zuwendung in
verschiedenen Situationen bittet – darunter die des Gefangenseins in fernem Land,
8,47f.! – Mit der Einweihung des Tempels hat Salomo den Gipfel des Erfolges und der
Gottesnähe erklommen. Es sind ihm bis dahin (dank dtr Regie) keine Fehler unter-
laufen, alles lief ab wie von langer Hand geplant und von starker Hand geschützt.
Doch nun folgt sogleich eine (im Stil von DtrN gehaltene) strenge göttliche Vermah-
nung an Salomo, er und seine Nachfolger hätten unbedingt Gottes „Satzungen und
Rechte“ einzuhalten und dürften keinesfalls „anderen Göttern dienen“; andernfalls
werde Israel aus seinem Land vertrieben und der Tempel zerstört (9,1–9). Darauf fol-
gen Nachrichten, die man jetzt nicht mehr erwartet hätte: Wie schon in 1Kön 4f. geht
es wieder um diverse Regierungsmaßnahmen, nur dass diesmal alles noch übertriebe-
ner wirkt und förmlich strotzt von Gold und Ruhm. Damit wird unüberhörbar ein
Bezug hergestellt zum Königsgesetz Dtn 17,14–20, das dem König auferlegt, eifrig die
Tora zu studieren – und nicht viele Rosse, Frauen und Reichtümer zu sammeln und
Israel „zurück nach Ägypten“ zu führen (vgl. damit die Notizen über Salomos Pferde-
handel mit Ägypten in 1Kön 10,26–29 und seine Heirat einer ägyptischen Prinzessin
in 1Kön 9,24; 11,1). Auch die Erzählung von der überaus reichen und gescheiten „Kö-
nigin von Saba“, die sich von Salomo tief beeindruckt zeigt (10,1–13), werden die
Deuteronomisten mit einem Gefühl der Beunruhigung gelesen haben. Schließlich bre-
chen sie mittels der Nachrichten über Salomos zahllose Frauen und seine Toleranz ge-
gen deren Religionen (1Kön 11,1–8) endgültig den Stab über ihn (in 11,9–13 wieder
eine charakteristische DtrN-Passage) und berichten danach nur noch über Zerfalls-
erscheinungen an den Rändern, aber auch im Innern des Reichs (11,14–40) und be-
reiten damit auf die Erzählung vom Zerbrechen der Doppelmonarchie vor (1Kön 12).

Der dtr Kommentar zum Untergang des Nordreichs 2Kön 17,7–23 ist offenbar von
mehreren Händen verfasst worden. Die früheste Stufe (DtrH) dürfte in 17,7–11.20
vorliegen. Hier wird geklärt, dass Israel untergegangen ist (nicht wegen einer ungüns-
tigen politischen Großwetterlage, sondern) weil es sich den Kulten anderer Völker ge-
öffnet hat, obwohl Jhwh bei der Landnahme doch alle fremden Völker vor ihm ver-
trieben hatte – eine Vorstellung, wie sie in der dtr Grundfassung des Josuabuches be-
gegnet. Unter dem Druck von außen hatte man sich vom Ersten Gebot entfernt: eine
kaum verhüllte Ansprache an die derzeit unter babylonischem Druck stehenden Juden
in Juda wie im Exil. Dieser Text wurde um den Passus 17,12–19 (DtrN) erweitert, in
dem ein gesetzesstrenger Grundton vorherrscht. Die Propheten hatten keine andere
Aufgabe, als Israel zu warnen und auf Gesetzestreue zu verpflichten (17,13). Vergeb-
lich, Israel tat, was Jhwh verboten (17,12.15), und es tat nicht, was er geboten hatte
(17,13.15). Alle möglichen Formen von Synkretismus und Paganismus werden Israel
vorgeworfen (17,9f.15–17), darunter auffälligerweise auch solche, die im Geschichts-
werk allein Juda zur Last gelegt werden (etwa Kinderopfer, die laut 2Kön 16,3; 21,6
von den judäischen Königen Ahas und Manasse dargebracht wurden); damit wird der
V. Die Königsbücher 267

Untergang Israels bereits transparent auf denjenigen Judas. Eine dritte Hand (DtrP)
wird in 17,21–23 greifbar. War in 17,8 nur knapp und allgemein von den „Gesetzen
der Könige Israels“ die Rede, nach denen Israel gehandelt habe, so wird in 17,21f. ver-
deutlichend nachgeholt, was das größte Handikap Israels war: dass es, kaum hatte es
sich vom Haus Davids losgerissen (vgl. den gleichen Ausdruck in 1Kön 11,31) und
Jerobeam ben Nebat zum König gemacht, sich von diesem dazu bringen ließ, „eine
große Sünde zu begehen“: nämlich den Kult um Stierbilder in den Staatsheiligtümern
von Bet-El und Dan, in den Königsbeurteilungen des Nordens immer wieder bezeich-
net als „die Sünde Jerobeams“. Israel hielt an dieser „Sünde“ fest, bis Jhwh es verstieß
– nicht ohne dies immer wieder durch seine „Knechte die Propheten“ ankündigen zu
lassen (17,23).

b) Der Diskurs über die geschichtliche Rolle der Prophetie

Das Resümee über den Untergang des Nordreichs in 2Kön 17 kommt zweimal
auf die Propheten Israels zu sprechen: Das eine Mal sind sie als Warner und
Bußprediger beschrieben, die Israel zum Toragehorsam rufen sollten (17,13), das
andere Mal als Unheilsboten, die das über Israel hereinbrechende Unheil voraus-
gesehen und angekündigt haben (17,23). Eben diese letztere Funktion wird in
einer Vielzahl von Texten, die sich wie ein Netz über die gesamten Kön-Bücher
(und noch darüber hinaus) ausbreiten, entfaltet.

Dabei sind drei Arten von Texten zu unterscheiden: vor-dtr Überlieferungen von
Propheten, die von der dtr Redaktion aufgenommen, z. T. erweitert und ihrer eigenen
Intention dienstbar gemacht worden sind; dtr konstruierte Prophetenauftritte, die
überall dort zu verzeichnen sind, wo ein wichtiges Ereignis anzusagen war, dafür aber
ältere Tradition nicht zur Verfügung stand; schließlich dtr Erfüllungsvermerke, die
das Eintreffen früherer ergangener Prophezeiungen im Geschichtsverlauf konstatie-
ren.
– Schon in Quellen über die vor- und frühstaatliche Zeit fand die dtr Redaktion ver-
schiedene Prophetengestalten erwähnt: Debora (Ri 4,4), Samuel (1Sam 3,20; 9,9),
anonyme Prophetengruppen (1Sam 10,5.10–12; 19,18–24), Gad (1Sam 22,5; 2Sam
24,11–13), Natan (2Sam 7; 12; 1Kön 1). In den Kön-Büchern mehren sich die Pro-
phetentexte. Auffällig häufig handeln sie von Konflikten zwischen Propheten und Kö-
nigen (z. B. 1Kön 13; 14; 17; 18; 21; 22; 2Kön 1). Es ist, als solle den weltlichen Herr-
schern eine geistliche Gegeninstanz beigegeben werden. Im Bereich der (offenbar
schon vor-dtr miteinander verbundenen) Elija- und Elischageschichten (1Kön 17 –
2Kön 8) tritt das prophetische Element derart stark in den Vordergrund, dass sich der
Eindruck einer separaten Quelle aufdrängt (s. unten 2c), die en bloc ins Geschichts-
werk eingesetzt wurde. Immer wieder wurden Thesen vertreten, wonach Teile dieses
Erzählblocks erst nach-dtr an ihren jetzigen Ort gelangt seien (SCHMITT, WÜRTHWEIN,
MCKENZIE, STIPP: der Elischa-Zyklus; OTTO: der Großteil des Elija-Zyklus und der ge-
samte Elischa-Zyklus). Doch wegen der großen Bedeutung der Prophetie für die
(spätere) dtr Theologie empfiehlt sich eher die Annahme, dieser Einbau sei zwar nicht
auf der ersten, aber doch auf einer sekundären dtr Redaktionsstufe erfolgt (DIETRICH:
DtrP; LEHNART: DTR II – allerdings nur für den Elischa- und Teile des Elija-Zyklus).
Analoges gilt für den Grundstock der Jesaja-Legenden (2Kön 18–20, s. unten 2d).
268 C. Die Vorderen Propheten

– Die dtr-prophetische Redaktion hat verschiedentlich in ältere Überlieferungen ein-


gegriffen, damit das, was unbedingt zu sagen war, durch Prophetenmund gesagt
werde (so schon in 1Sam 2,27–36; 28,17f.; 2Sam 12,*7–12, so auch in 1Kön 14,7–11;
21,21–24; 2Kön 9,7–10a). Sie hat aber auch, wo ein gezieltes prophetisches Wort nötig
war und eine geeignete prophetische Gestalt fehlte, Prophetenauftritte bzw. -reden
selbst konzipiert. So lässt sie Ahija von Schilo nicht nur als Unheilskünder gegen Jero-
beam auftreten (1Kön 14), sondern zuvor als den, der ihm das Königtum über Nord-
israel zuspricht (und es damit dem Süden abspricht: 1Kön 11,*29–39); ein sonst unbe-
kannter Prophet namens Jehu ben Hanani kündigt Bascha das Ende seiner Dynastie
an (1Kön 16,1–4); namentlich nicht genannte Propheten treten gegen Manasse auf
(2Kön 21,10–15); die Prophetin Hulda, von der es wohl ein älteres Orakel über Jo-
schija gab (2Kön 22,20), weissagt jetzt auch das Ende des Königreichs Juda (2Kön
22,15–17). Alle genannten Texte zeigen das gleiche Strukturmuster (Anrede, Schelt-
wort, Botenformel, Drohwort) und ein stereotypes Vokabular, das teilweise „typisch
dtr“ klingt, teilweise aber auch prophetische Wortgewalt nachzuahmen sucht.
– Ein dtr Spezifikum sind zahlreiche Querverweise zwischen prophetischen Ankündi-
gungen und ihnen entsprechenden geschichtlichen Ereignissen: Die joschijanische
Kultuszentralisation wird in 1Kön 13, aber auch schon in 1Sam 2,27–36 angesagt.
Hier wiederum, in der Rede eines namenlosen Gottesmannes an Eli, kommen auch
Ereignisse in den Blick, von denen in 1Sam 4 und 21f. sowie in 1Kön 1 berichtet wird.
Jeder Dynastiewechsel in Nordisrael, aber auch das Ende Judas werden von Propheten
vorausgesagt, und fast immer wird nach dem Eintreten des Ereignisses auf das betref-
fende Prophetenwort zurückverwiesen. Auch dies wieder geschieht in einer stereo-
typen Form: Das und das geschah „gemäß dem Wort Jhwhs“ (oder: „um aufzurichten
das Wort Jhwhs“), „das er geredet hatte durch“ diesen oder jenen Propheten (so 1Kön
12,15; 15,29; 16,11f.; 22,38; 2Kön 9,36; 10,17; 24,2; evtl. quellenhaft in 2Kön 1,17). Die
Geschichte Israels, so wird der Leserschaft bedeutet, hat ihr Movens nicht in inner-
weltlichen Kausalitäten oder im Kalkül irdischer Machthaber, sondern im Willen und
im Wort Jhwhs (VON RAD, DIETRICH 1972).

Die prophetischen Materialien, welche die prophetisch-dtr Redaktion aufge-


nommen (und auch die, die sie selbst formuliert) hat, sind ausnahmslos in nar-
rativem Stil gehalten; Sammlungen von Prophetenworten fanden nicht Eingang
ins dtr Geschichtswerk (wo sie dem Stil nach auch nicht hingehören), sondern
wurden zu eigenen Büchern zusammengestellt. Insofern muss das Fehlen von
Amos, Hosea, Micha von Moreschet, Nahum, Zefanja, Jeremia in der dtr Ge-
schichtsdarstellung nicht verwundern und nicht auf eine der sog. Unheilspro-
phetie entgegengesetzte Haltung schließen lassen. (Jesaja immerhin kommt vor,
wenn auch auf eine sehr spezifische Weise.) Was die Propheten gesagt, z. T.
auch, was sie erlebt hatten, war an anderer Stelle gesammelt; darüber war die
Redaktion des dtr Geschichtswerk im Bilde, und das musste sie nicht duplizieren.
Doch kommt der Geist der Prophetie im Geschichtswerk auch so stark genug
zum Ausdruck, ja, er wird hier gleichsam in Geschichtserzählung umgesetzt – so
wie umgekehrt die Redaktion vieler Prophetenbücher und dann des gesamten
Prophetenkanons in dtr Geist und mithilfe von Daten aus dem dtr Geschichts-
werk erfolgte.
V. Die Königsbücher 269

2. Quellen

a) Das „Buch der Salomogeschichte“ (1Kön 3–11)

A. ALT, Israels Gaue unter Salomo (1913 =): A. Alt, Kleine Schriften II, München 1953, 31964, 76–89.
– A. ALT, Die Weisheit Salomos (1951=): Kleine Schriften II, 1953, 31964, 90–99. – T. A. BUSINK, Der
Tempel von Jerusalem von Salomo bis Herodes I., Vol. I, Leiden 1970. – J. PRITCHARD (ed.), Solomon
& Sheba, London 1974. – V. FRITZ, Salomo: MDOG 117 (1985) 47–67. – W. DIETRICH, Das harte
Joch (1.Kön 12,4). Fronarbeit in der Salomo-Überlieferung (1986 =): Ders., Von David zu den Deute-
ronomisten, 2002 (BWANT 156), 157–163. – K. I. PARKER, Repetition as a Structuring Device in
1.Kings 1–11: JSOT 42 (1988) 19–27. – A. FRISCH, Structure and Its Significance: The Narrative of
Solomon’s Reign: JSOT 51 (1991), 3–14. – A. G. AULD, Salomo und die Deuteronomisten – eine
Zukunftsvision?: ThZ 48 (1992), 343–355. –O. KEEL / C. UEHLINGER, Jahwe und die Sonnengottheit
von Jerusalem, in: W. Dietrich / M. A. Klopfenstein (Hg.), Ein Gott allein? JHWH-Verehrung und
biblischer Monotheismus, 1994 (OBO 139), 269–306. – P. SÄRKIÖ, Die Weisheit und Macht Salomos
in der israelitischen Historiographie, 1994 (SESJ 60). – V. FRITZ, Die Verwaltungsgebiete Salomos
nach 1 Kön 4,7–19, in: M. Weippert / S. Timm (Hg.), Meilenstein, FS H. Donner, 1995 (ÄAT 30), 19–
26. – S. WÄLCHLI, Der weise König Salomo, 1999 (BWANT 141). – N. NA’AMAN, Solomon’s District
List (1 Kings 4:7–19) and the Assyrian Province System in Palestine: UF 33 (2001), 419–436. – J.-P.
SONNET, Salomon construit le Temple (1 Rois 5–10), in: C. Focant (éd.), Quelle Maison pour Dieu?,
Paris 2003, 111–142. – M. S. SMITH, In Solomon’s Temple (1 Kings 6–7). Between Text and Ar-
chaeology, in: S. Gitin et al. (eds.), Confronting the Past, Winona Lake 2006, 275–282. – C. DUNCKER,
Der andere Salomo. Eine synchrone Untersuchung zur Ironie in der Salomo-Komposition 1 Könige
1–11, Bern 2010.

Die dtr Redaktion hat den verhältnismäßig umfangreichen Abschnitt über Sa-
lomo (1Kön 1–11) chiastisch so aufgebaut, dass in die Mitte Bau und Weihung
des Tempels und davor eher günstige, dahinter eher ungünstige Nachrichten
über diesen König zu stehen kommen.

FRISCH eruiert folgende Struktur (die bemerkenswerterweise das inhaltlich noch zu


den Sam-Büchern gehörende Stück 1Kön 1f. einschließt): A) 1,1–2,46 Salomos Sieg im
Thronfolgestreit; B) 3,1–15 Jhwhs Unterstützung für Salomo; C) 3,16–5,14 Salomos
Herrschaft: Weisheit, Regierungskunst, Reichtum, Ruhm; D) 5,15–32 Kooperation
mit Hiram und Fronarbeit in Vorbereitung des Tempelbaus; E) 6,1–9,9 Bau und Ein-
weihung des Tempels (und des Palastes); D’) 9,10–23 Abgeltung an Hiram und Fron-
arbeit beim Städtebau; C’) 9,24–10,29 Salomos Herrschaft: Weisheit, internationale
Beziehungen, Reichtum, Ruhm; B’) 11,1–13 Jhwhs Verwarnung für Salomo; A’)
11,14–43 Salomos außen- und innenpolitische Probleme und sein Tod.

DtrH hat im Stil des Königsrahmens eine Schlussformel für Salomo verfasst –
eine Einführungsformel erübrigte sich wegen des ausführlichen Berichts 1Kön 1f.
– und darin auf eine Quelle verwiesen, die er für seine Salomo-Darstellung be-
nutzt habe: „Und der Rest der Angelegenheiten Salomos und alles, was er getan
hat, und seine Weisheit: Steht das nicht geschrieben im Buch der Angelegenhei-
ten Salomos?“ (1Kön 11,41) Vorausgesetzt, diese Angabe wäre nicht einfach
fiktiv, stellt sich die Frage, was in diesem Buch einmal gestanden haben mag.
Sicher war es nicht der gesamte Textbestand von 1Kön 3–11, da manche Passa-
gen (namentlich in 1Kön 5; 8; 9,1–9; 11,1–13) klar dtr und andere aus anderen
270 C. Die Vorderen Propheten

Quellen entnommen sind (z. B. wohl große Teile der Baubeschreibung in 1Kön
6f. oder der Abschluss der Lade-Erzählung 8,*1–8 oder der Weihespruch 8,12f.,
der nach dem verbesserten LXX-Text wie Jos 10,12f. und 2Sam 1,17–27 aus dem
„Buch des Aufrechten“ stammt). Als zentrales Stichwort hebt die Quellenangabe
in 11,41 die „Weisheit“ Salomos hervor; anscheinend rühmte das Buch über
Salomo vor allem dessen Weisheit und ihre positiven Folgen für Staat und Ge-
sellschaft (vgl. WÄLCHLI).

Hiernach mag zum „Buch der Salomogeschichte“ Folgendes gehört haben (wobei ein-
zelne Erweiterungen und Glossierungen hier zu vernachlässigen sind): die Inaugural-
vision in Gibeon 3,4–15, das Salomonische Urteil 3,16–28, die Minister- und die Dis-
triktliste 1Kön 4,1–6.7–19, die Notizen zur Wirtschafts-, Handels-, Kultur- und
Außenpolitik Salomos 5,1–14; 9,10–14.24–28; 10,14–29; 11,1.3a, der Staatsbesuch der
Königin von Saba 1Kön 10,1–13, evtl. auch Auseinandersetzungen mit bestimmten
Gegnern, dann aber wohl mit positivem Ausgang 1Kön 11,*14–40. Vielleicht gehörte
auch schon die Kurzfassung eines Tempel- und Palastbauberichts dazu. Es ist nicht si-
cher, eher sogar unwahrscheinlich, dass die jetzige Reihenfolge der Texte derjenigen
der Quelle entspricht (auch wenn die ersten beiden Erzählungen sachnotwendig am
Anfang stehen). Nicht leicht zu klären ist zudem, was in dem Buch überkommene
Überlieferung und was redaktionelle Zufügung gewesen sein mag. Am ehesten dürf-
ten summarisch-wertende Bemerkungen (sofern nicht dtr!) vom Autor des Quellen-
werks stammen (so etwa 3,28; 5,9.14; 10,4f.23f.). – Auf eine literarhistorische Stufung
völlig verzichten möchte DUNCKER.

Dort, wo der Autor aus den Kulissen der Erzählung tritt und eigene Urteile ab-
gibt, wird erkennbar, dass das „Buch der Salomogeschichte“ seine Titelfigur mit
sehr großem Wohlwollen beschreibt. An wenigen Stellen nur (etwa in den Wi-
dersacher-Erzählungen in 1Kön 11,14ff. oder in der Notiz von der Abtretung
israelitischer Ortschaften an Hiram von Tyrus in 1Kön 9,10–13) fallen leise
Schatten auf das Bild Salomos. Im Übrigen aber äußert sich – sowohl in den eher
trockenen Aufzählungen wie in den schön ausgeschmückten Erzählungen – eine
spürbare Begeisterung für die dem König Salomo nachgesagten Vorzüge, na-
mentlich für seine Weisheit und seinen Reichtum. Welch ein Glück, muss die
Leserschaft denken, dieses Königs Untertan gewesen zu sein! Falls 1Kön 5,5 kein
später Zusatz ist – das eschatologisch formulierte Gegenstück in Mi 4,4 könnte
daran denken lassen –, hat der Autor die Ära Salomos geradezu für ein Goldenes
Zeitalter gehalten, in dem „Juda und Israel sicher lebten, ein jeder unter seinem
Weinstock, unter seinem Feigenbaum“. Solcher Jubel hätte, wäre er als zeitgenös-
sisch einzustufen, einen schalen Beigeschmack, lassen sich in solcher Weise doch
sonst Despoten und Tyrannen rühmen. Doch spricht die Zusammengesetztheit
des Werkes aus Texten unterschiedlichster Gattung und verschiedensten Inhalts
für ein längeres traditionsgeschichtliches Wachstum. Dieses könnte, namentlich
in den Listen, schon nahe an der Salomozeit eingesetzt, dann aber bis in die
mittlere oder gar spätere Königszeit angehalten haben (vgl. exemplarisch für
1Kön 4,7–19 NA’AMAN). Insgesamt bietet das „Buch der Salomogeschichte“ eher
V. Die Königsbücher 271

eine phantasievoll entworfene und hübsch kolorierte Zeichnung als eine exakte
Photographie des ersten Nachfolgers Davids.

b) Die „Tagebücher der Könige“ von Israel und Juda

J. BEGRICH, Die Chronologie der Könige von Israel und Juda, 1929 (BHTh 3). – A. JEPSEN, Die Quel-
len des Königsbuches, Halle 1953, 21956. – S. BIN-NUN, Formulas from Royal Records of Israel and of
Judah: VT 18 (1968), 414–432. – H. SPIECKERMANN, Juda unter Assur in der Sargonidenzeit, 1982
(FRLANT 129). – S. TIMM, Die Dynastie Omri, 1982 (FRLANT 124). – J. H. HAYES / P. K. HOOKER, A
New Chronology for the Kings of Israel and Judah, Atlanta 1988. – C. HARDMEIER, Umrisse eines
vordeuteronomistischen Annalenwerkes in der Zidkijazeit: VT 40 (1990), 165–184. – G. GALIL, The
Chronology of the Kings of Israel and Judah, 1996 (SHANE 9). – J. FINEGAN, Handbook of Biblical
Chronology, Peabody MA 21998. – M. C. TETLEY, The Reconstructed Chronology of the Divided
Monarchy, Winona Lake, IN 2005. – M. KÜHLMOOS, „Die übrige Geschichte“. Das „Rahmenwerk“
als Grunderzählung der Königsbücher, in: L. Jonker u. a. (Hg.), Behutsames Lesen, FS Christof
Hardmeier, 2007 (ABG 28), 216–231.

In jeder Königs-Schlussformel ruft der (Erst-)Verfasser des dtr Geschichtswerks


eine Quelle auf, die er bei der Darstellung des jeweiligen Königs benutzt hat:
„Der Rest der Angelegenheiten des NN, alles was er getan hat [hier folgen
manchmal noch Hinweise auf gewisse Begebenheiten]: Steht das nicht geschrie-
ben im Buch der Angelegenheiten der Tage der Könige von Juda“ (bzw. „von
Israel“)? Demnach hatte der Autor Zugriff auf eine Art Königsannalen („res
gestae“), die an den Königshöfen Nordisraels und Judas geführt worden zu sein
scheinen. Das ist gut möglich, beschäftigten doch schon David und Salomo
„Schreiber“ (2Sam 8,17; 20,25; 1Kön 4,2) und sind Königschroniken auch von
anderen Höfen, etwa dem assyrischen oder neubabylonischen, bekannt (vgl.
TUAT I/4). Den „Tagebüchern“ der israelitischen und judäischen Könige konnte
DtrH wichtige Angaben zur Gestaltung des „Königsrahmens“ entnehmen: das
Alter des jeweiligen Königs bei der Thronbesteigung, den Namen der Mutter, die
Dauer seiner Herrschaft und/oder den Synchronismus mit dem König im Bru-
derland, den Begräbnisort und den Namen des Nachfolgers. Dies setzt voraus,
dass die nordisraelitischen „Tagebücher“ nach 722 v. Chr. in den Süden gelangt
sind. Ob dort die beiden Annalenwerke schon vor-dtr zu einer „synchronisti-
schen Chronik“ vereint wurden (so JEPSEN) oder ob erst DtrH aus den Regie-
rungsjahren der einzelnen Könige die Synchronismen errechnet hat, ist kaum zu
entscheiden.

Während HARDMEIER mit einer Entstehung bzw. Vollendung des „Annalenwerks“ erst
in der Zeit des letzten judäischen Königs, Zidkija, rechnet – also im frühen 6. Jh. – ,
setzt KÖHLMOOS die in den annalenartigen Texten greifbare „Grunderzählung“ der
Kön-Bücher schon in die Zeit Hiskijas an – also ins späte 8. Jh. Dies erinnert wieder
an die früheren Debatten um mögliche Frühstufen der dtr Geschichtsschreibung (s.
oben I.3).
Hinzuweisen ist auf eine Reihe in der internen Chronologie der Kön-Bücher begeg-
nender Ungereimtheiten. Die nordisraelitischen Könige von Jehu bis Hosea hätten zu-
272 C. Die Vorderen Propheten

sammen 143 Jahre regiert, die gleichzeitigen judäischen hingegen 166. Joram von
Israel trat sein Amt laut 2Kön 1,17 im zweiten, laut 2Kön 3,1 im 18. Jahr Joschafats
von Juda an. Omri von Israel, der angeblich im 31. Jahr Asas von Juda auf den Thron
kam und 12 Jahre regierte (1Kön 16,23), soll aber schon im 38. Jahr Asas, d. h. nach
sieben Jahren, von seinem Sohn Ahab beerbt worden sein (1Kön 16,29). Man kann
solche Spannungen, sofern man nicht mehr oder weniger willkürlich die Zahlen än-
dern will, einfach orientalischer Großzügigkeit zuschreiben oder ihnen durch die An-
nahme der Doppelzählung von sich überlappenden Regierungszeiten (vgl. die Vor-
gänge beim Wechsel von David auf Salomo, 1Kön 1f., und von Usija auf Jotam, 2Kön
15,5) oder kalendarischer Unstimmigkeiten (Zählung bzw. Nichtzählung von Thron-
besteigungs- und Todesjahren, Jahresbeginn im Herbst oder im Frühjahr) beizukom-
men versuchen, s. die angegebene Fachliteratur, in der es zu Divergenzen um Jahre,
nie aber um Jahrzehnte kommt.

Die Datenreihe der Kön-Bücher lässt sich über einige Scharniere mit altorientalischen
Textzeugnissen und so mit der absoluten Chronologie des Vorderen Orients verbin-
den. Auf diese Weise datierbar sind: die (erste) Unterwerfung Jerusalems durch Ne-
bukadnezar II. 597 v. Chr. (vgl. 2Kön 24 mit der Chronik der neuabylonischen Kö-
nige, TGI2 72–74); die Belagerung Jerusalems durch Sanherib 701 v. Chr. (vgl. 2Kön
18,13–16 mit dem sog. Tonprisma Sanheribs, TGI2 67–69); die Eroberung Samarias
722 v. Chr. (vgl. 2Kön 17,1–6 mit den Annalennotizen bei Salmanassar IV. bzw. Sar-
gon II., TGI2 60); der Misserfolg der sog. syrisch-efraimitischen Koalition 733/32
v. Chr. (vgl. 2Kön 16,5 mit der Eponymenliste und den Annalen Tiglatpilesers III.,
TGI2 57f.); der gewaltsame und folgenreiche Wechsel von der Omriden- zur Jehu-Dy-
nastie um 845 v. Chr. (vgl. 2Kön 9f. mit den Annalen Salmanassars III. von 853 und
841, mit der Stele des Mescha von Moab, TGI2 49–53, sowie mit der neu gefundenen
aramäischen Stele von Tel Dan, vgl. W. Dietrich, Die frühe Königszeit, Stuttgart 1997,
136–141); der Feldzug des Pharaos Schoschenk / Schischak nach Syrien-Palästina im
dritten Viertel des 10. Jh.s v. Chr. (vgl. 1Kön 14,25f. mit der Städteliste Schischaks,
ANET 263f. – wobei hier die Daten beiderseits recht unsicher sind und die ägyptische
Quelle viele Städte nennt, nur nicht Jerusalem, welches wiederum in der Bibel als ein-
ziges Angriffsziel des Pharaos genannt ist). Durch diese Korrelierungsmöglichkeiten
erweisen sich die Daten der Kön-Bücher, ungeachtet kleinerer Unsicherheiten, als
insgesamt zuverlässig.

Neben den wichtigsten Angaben für den Königsrahmen entnahm die dtr Redak-
tion den „Tagebüchern“ diverse, ihr bedeutsam erscheinende und in ihre Kon-
zeption passende Nachrichten über geschichtliche Ereignisse, die zur Zeit des
betreffenden Königs stattgefunden hatten: z. B. militärische und außenpolitische,
vor allem aber kultpolitische, speziell: den Jerusalemer Tempel betreffende Ge-
schehnisse und Maßnahmen (falls nicht die vielen Nachrichten über den Tempel
aus einer eigenen Quelle stammen, die man mit SPIECKERMANN „Tempelreges-
ten“ nennen könnte).
Diejenigen Epochen, zu denen es keine anderen, ausführlichen Quellen gab,
deckte die Redaktion allein mit Nachrichten aus den „Tagebüchern“, so nament-
lich die Zeitspanne zwischen Reichsteilung und Omridenherrschaft sowie nach
Jehus bzw. Jojadas Umsturz bis zum Ende des Nordreichs (1Kön 14–16 und
2Kön 14–17). Geschickt streute sie Daten und Informationen aus den „Tagebü-
V. Die Königsbücher 273

chern“ aber auch zwischen Prophetenerzählungen ein, die aus anderer Quelle
stammten (s. unten c), und passte diese so in den Gesamtrahmen des Werkes ein
(1Kön 22,41–54; 2Kön 1,1.*17.18; 3,1–5; 8,16–29; 9,14.15a; 10,34–36; 12,1–3.17–
21; 13,1–13.22–25).
In den „Tagebüchern“ waren die wichtigen Ereignisse, die sich während der
Herrschaft eines Königs zugetragen hatten (darunter durchaus auch unerfreuli-
che!), in schmucklos-schnörkellosem Stil festgehalten, der sich in bemerkens-
werter Weise vom dröhnenden Hofstil etwa assyrischer oder babylonischer
Königsannalen oder pharaonischer Inschriften abhebt. Doch konzentrieren sich
die Angaben hier wie dort ganz auf den Königshof (wozu im Falle Jerusalems der
Tempel gehört!) und auf die staatlich-politische Geschichte. Über das Denken
und Empfinden der Menschen, gar der sog. kleinen Leute, über das alltägliche
Leben und Wirtschaften und auch über die Religiosität im Land erfährt man
nichts. Was alttestamentliche Geschichtsdarstellung sonst auszeichnet – hohe
Kunstfertigkeit, menschliche Authentizität und theologische Reflexion –, kommt
in den „Tagebüchern“ kaum zum Zuge. Dafür werden hier aber, wenn auch
gefiltert durch die dtr Redaktion, kostbare Einzelheiten aus der Geschichte der
Königszeit übermittelt.

c) Elija, Elischa, Jehu – oder das Prophetische Erzählwerk über den Kampf
Jhwhs gegen Baal

Übergreifendes: A. VAN DAALEN, „Tell me all the Great Things Elisha Hath Done“. Connections
within the Stories in I Kings 17 – II Kings 13: ACEBT 5 (1984), 118–134. – S. L. MCKENZIE, The
Prophetic History and the Redaction of Kings: HAR 9 (1985), 203–220. – A. F. CAMPBELL, Of Pro-
phets and Kings. A Late Ninth Century Document (1 Samuel 1 – 2 Kings 10), 1986 (CBQ.MS 17). –
A. ROFÉ, The Prophetical Stories. The Narratives about the Prophets in the Hebrew Bible, Jerusalem
1988. – R. B. COOTE, Elijah and Elisha in Socioliterary Perspective, Atlanta 1992. – E. BEN-ZVI,
Prophets and Prophecy in the Compositional and Redactional Notes in I–II Kings: ZAW 105 (1993),
331–351. – M. C. WHITE, The Eijah Legends and Jehu’s Coup, 1997 (Brown Judaic Studies 311). – S.
OTTO, Jehu, Elia und Elisa, 2001 (BWANT 152). – W. DIETRICH, Der Eine Gott als Symbol politi-
schen Widerstands. Religion und Politik im Juda des 7. Jahrhunderts, in: Ders., Theopolitik, Neukir-
chen-Vluyn 2002, 204–223. – W. DIETRICH, Prophetie im deuteronomistischen Geschichtswerk, in:
Ders., Von David zu den Deuteronomisten, 2002 (BWANT 156), 236–251. – B. LEHNART, Prophet
und König im Nordreich Israel, 2003 (SVT 96).

Elija: G. FOHRER, Elia, Zürich 21968 (AThANT 53). – O. H. STECK, Überlieferung und Zeitgeschichte
in den Elia-Erzählungen, 1968 (WMANT 26). – R. SMEND, Der biblische und der historische Elia
(1975 =): Ders., Zur ältesten Geschichte Israels, München 1987 (BEvTh 100), 229–243. – R. SMEND,
Das Wort Jahwes an Elia. Erwägungen zur Komposition von 1 Reg. XVII–XIX (1975 =): Ders., Die
Mitte des Alten Testaments, 1986 (BEvTh 99), 138–153. – G. HENTSCHEL, Die Elijaerzählungen. Zum
Verhältnis von historischem Geschehen und geschichtlicher Erfahrung, 1977 (EThSt 33). – G. F.
WILLEMS (éd.), Élie le prophète. Bible, tradition, iconographie, Bruxelles 1985. – W. THIEL, Deutero-
nomistische Redaktionsarbeit in den Elia-Erzählungen, in: J. A. Emerton (ed.), Congress Volume
1989 (VT.S.43), 148–171. – W. THIEL, Zu Ursprung und Entfaltung der Elia-Tradition, in: K. Grün-
waldt / H. Schroeter (Hg.), Was suchst du hier, Elia? Ein hermeneutisches Arbeitsbuch, Rheinbach-
Merzbach 1995, 27–40. – M. BECK, Elia und die Monolatrie, 1999 (BZAW 281). – R. ALBERTZ, Elia.
Ein feuriger Kämpfer für Gott, Leipzig 2006 (Biblische Gestalten 13). – P. HUGO, Les deux visages
274 C. Die Vorderen Propheten

d’Élie. Texte massorétique et Septante dans l’histoire la plus ancienne du texte de 1 Rois 17–18, 2006
(OBO 217). – J. MAJOROS-DANOWSKI, Elija im Markusevangelium, 2008 (BWANT 180).

Elischa: J. M. MILLER, The Elisha Cycle and the Accounts of the Omride Wars: JBL 85 (1966), 441–
454. – H.-C. SCHMITT, Elisa, Gütersloh 1972. – H. SCHWEIZER, Elischa in den Kriegen, 1974 (StANT
37). – H.-J. STIPP, Elischa – Propheten – Gottesmänner, 1987 (ATSAT 24). – N. C. BAUMGART, Gott,
Prophet und Israel. Eine synchrone und diachrone Auslegung der Naamanerzählung und ihrer
Gehasiepisode (2 Kön 5), 1994 (ETS 68).
1Kön 20 und 22: S.J. DE VRIES, Prophet against Prophet. The Role of the Micaiah Narrative (I Kings
22) in the Development of Early Prophetic Tradition, Grand Rapids 1978. – H. WEIPPERT, Ahab el
campeador? Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu 1 Kön 22: Bib. 69 (1988), 457–479. – W.
DIETRICH, Bannkriege in der frühen Königszeit, in: Ders., Von David zu den Deuteronomisten, 2002
(BWANT 156), 146–156. – A. SCHENKER, Älteste Textgeschichte der Königsbücher. Die hebräische
Vorlage der Septuaginta als älteste Textform der Königsbücher, 2004 (OBO 199), bes. 86ff.
Jehus Putsch: L. M. BARRÉ, The Rhetoric of Political Persuasion. The Narrative Artistry and Political
Intentions of II Kings 9–11, 1988 (CBQ.MS 20). – Y. MINOKAMI, Die Revolution des Jehu, 1989
(GTA 38). – M. MULZER, Jehu schlägt Joram, 1992 (ATSAT 37). – M. WHITE, Naboth’s Vineyard and
Jehu’s Coup. The Legitimation of a Dynastic Extermination: VT 44 (1994), 66–76. – C. LEVIN, Die
Entstehung der Rechabiter, in: I. Kottsieper u. a. (Hg.), „Wer ist wie du, HERR, unter den Göttern?“,
FS O. Kaiser, Göttingen 1994, 301–317. – W. DIETRICH, Jehus Kampf gegen den Baal von Samaria, in:
Ders., Von David zu den Deuteronomisten, 2002 (BWANT 156), 164–180. – J. M. ROBKER, The Jehu
Revolution – a Royal Tradition of the Northern Kingdom and Its Ramifications, 2012 (BZAW 435).

In dem umfangreichen Abschnitt 1Kön 17 – 2Kön 10 beschränken sich die Ex-


zerpte aus den „Tagebüchern“ auf relativ schmale Textpassagen, während den
weitaus größten Teil des Textbestandes Erzählungen ausmachen: über Elija
(1Kön 17f.; 21; 2Kön *1), über mehrere anonyme Propheten und Micha ben
Jimla (1Kön 20 und *22), über Elischa (2Kön *2–8) und über den durch einen
Elischa-Schüler zum Putsch animierten Jehu (2Kön 9f.). Erkennbar haben alle
diese Erzählzyklen ihre je eigene Entstehungsgeschichte (dazu weiter unten),
doch weisen sie auch klare Spuren einer gemeinsamen, vor-dtr Bearbeitung auf:
– Sie alle handeln, wenn auch mit unterschiedlichem Nachdruck, von der Aus-
einandersetzung darum, ob in Israel Jhwh oder Baal zu verehren sei.
– Sie alle sind in die gleiche Zeit situiert: in die der Omri- und der beginnenden
Jehu-Dynastie.
– Sie alle spielen zwar in Nordisrael, beziehen aber mehrfach auch Juda ein
(1Kön 22; 2Kön 3; 9f.).
– Sie alle werden zusammengebunden durch den Auftrag Jhwhs an Elija, er solle
(den Aramäerkönig) Hasaël, Jehu und Elischa „salben“ (1Kön 19,15f.; interes-
santerweise geschieht dann alles ungefähr, aber nichts genau so, wie hier ange-
ordnet, vgl. 1Kön 19,19–21; 2Kön 8,7–15; 9,1–10).
– Sie alle kreisen um das Verhältnis zwischen Propheten und Königen.

Dieses Verhältnis wird als ambivalent beschrieben. Die Propheten können mit den
Königen des Nordreichs – auch den Omriden! – durchaus kooperieren (1Kön 18,41ff.;
20,1–34; 2Kön 3; 6–8; 13,14–19), häufiger aber liegen sie mit ihnen – speziell den Om-
riden! – im Streit (1Kön 17,1; 20,35ff.; 21; 22; 2Kön 1; 9,1–10). Ein gänzlich ungebro-
chenes Verhältnis zu den Omriden haben nur falsche Propheten (1Kön 18; 22). Die
V. Die Königsbücher 275

wahren Propheten bringen einerseits dem Davididen Joschafat Respekt entgegen, se-
hen aber anscheinend ohne Bedauern dessen Sohn und Nachfolger Ahasja mit einem
Großteil seiner männlichen Verwandtschaft dem Putsch des Jehu zum Opfer fallen
(2Kön 9,27–29; 10,12–14).

Speziell zwischen den Elija- und den Elischageschichten gibt es eine Reihe dichter
Verknüpfungen: Beide Propheten bezeichnen sich als „vor Jhwh stehend“ (der dabei
als ein Herrscher gedacht wird: 1Kön 17,1; 18,15; 2Kön 3,14; 5,16), beide tragen die
Ehrentitel „Streitwagenkorps Israels und seine Gespanne“ (2Kön 2,12; 13,14) und
„Mann Gottes“ (1Kön 17,18.24; 2Kön 1,9ff.; 2Kön 4,7.21f.; 5,8 u. ö.), beide sind zu
Wundertaten – beide sogar zu der gleichen: der Erweckung eines toten Knaben – fä-
hig (1Kön 17; 2Kön 4–6), beide haben mit Dürre und Hungersnot zu tun (1Kön 17;
2Kön 8,1), beide kümmern sich um die sozialen Belange von in Not geratenen oder
ungerecht behandelten Menschen (1Kön 17,10–16; 21; 2Kön 4,1–7; 8,1–6); vor allem
aber: Beide führen als Propheten Jhwhs den Streit gegen Baal in Israel an (1Kön 18;
2Kön 1; 9f.).

Eine Klammer eigener Art besteht zwischen der Elija-, der Micha-ben-Jimla und der
Jehu-Geschichte: In 1Kön 21,17–24 (teilweise dtr!) bedroht Elija Ahab und Isebel we-
gen des Justizmords an Nabot mit tödlicher Vergeltung, in 1Kön 22,29–38 geht die
Drohung an Ahab in Erfüllung, in 2Kön 9,26 beruft sich Jehu bei der Tötung König
Jorams auf ein Gotteswort gegen dessen Vater Ahab, und in 2Kön 9,36 wird (dtr) die
Tötung Isebels mit dem Drohwort Elijas in 1Kön 21 in Verbindung gebracht.

Die verbindenden Klammern zwischen den verschiedenen Erzählkreisen sind


sicher redaktioneller, nur zum geringsten Teil aber dtr Natur. Offenbar ist hier
schon vor-dtr ein umfassender Erzählzusammenhang geformt worden, in dem es
um das Verhältnis zwischen Propheten und Königen und um die Frage nach
dem wahren Gott geht. Das sich abzeichnende Werk ist ein Erzähl-Werk, inso-
fern es von Anfang bis Ende im Erzählstil gehalten ist. Fast durchgehend spielen
in ihm Propheten die entscheidende Rolle; sie ringen mit den (meist gottlosen)
Königen um die Anerkennung Jhwhs als des Gottes Israels. Mag es andere Götter
geben – bei den Aramäern oder den Moabitern –: Sie können sich mit Jhwh
nicht messen. Noch am gefährlichsten ist Baal, weil er sich in Israel (und Juda)
breitmacht, wo doch auf Israel (und Juda) Jhwh allein Anspruch hat! Nicht ein
förmlicher Monotheismus wird hier vertreten, wohl aber dezidiert eine Jhwh-
Monolatrie propagiert. Damit führt das Erzählwerk bis unmittelbar vor die
Schwelle, die durch das Schema‘ Jisra’el in Dtn 6,4 markiert ist. Es ist aber weder
dtn noch gar dtr geprägt, insofern es (noch) nicht auf Tora und Tempel zentriert
ist.

Dass die Prophetie als Speerspitze im Kampf gegen den Baalismus erscheint, spiegelt
mindestens ebenso sehr die Gegebenheiten in Juda wie in Nordisrael – freilich erst im
7. Jahrhundert. Damals wurde die Prophetie tatsächlich zu einem der wichtigsten Trä-
ger des Widerstandes gegen die politische und religiöse Selbstauslieferung an die assy-
rische Fremdherrschaft. Namen wie Nahum und Habakuk sind hier zu nennen (vgl.
W. DIETRICH, Der Eine Gott als Symbol politischen Widerstands. Religion und Politik
im Juda des 7. Jahrhunderts, in: Ders., Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik
276 C. Die Vorderen Propheten

des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2002, 204–223). Die prophetischen Kreise


sahen sich nach Ausweis unseres Erzählwerkes in der Nachfolge der alten, nordisraeli-
tischen Prophetie und ihres Kampfes gegen Baal. – CAMPBELL dagegen postulierte ein
Erzählwerk über Propheten und Könige, das von 1Sam 1 bis 2Kön 10 gereicht habe
und gegen Ende des 9. Jh.s v. Chr. entstanden sei. Die Zäsur nach 2Kön 10 ist richtig
gesehen, doch kaum zu Recht ist hier hinzugenommen, was sich uns oben (s. IV.2.b)
als „Höfisches Erzählwerk über die frühe Königszeit“ gezeigt hat. Die Erzählungen der
Kön-Bücher kreisen schwerpunktmäßig um andere Themen als die der Sam-Bücher;
die Trägerschaft ist nicht am Hof, sondern in prophetischen Kreisen zu suchen.
Zudem führt die Thematik „Jhwh oder Baal“ in die Nähe des Dtn und der in ihm pro-
pagierten Jhwh-Monolatrie, also ins Juda des 7. Jh.s. Dazu passt die deutlich (pro-)
judäische Perspektive in einigen Erzählungen (vor allem 1Kön 22; 2Kön 3). – ROBKER
dagegen postuliert eine „Israel Source“ ohne die Elija- und Elischa-Erzählungen, die
von 1Kön 11 bis 2Kön 10 reiche und unter Jerobeam II. (786–746 v. Chr.) entstanden
sei, um die Legitimation des Nordreichs und besonders der Jehu-Dynastie zu stärken.
Im Hintergrund werde die Israel- und Königskritik Hoseas und Amos’ spürbar. So
würden (etwa in 1Kön 20 und 22 sowie in 2Kön 9) bewusst Propheten für das König-
tum vereinnahmt. Die Quelle sei in späterer Zeit judäisch überarbeitet und schließlich
ins dtr Geschichtswerk eingesetzt worden.

Zu der Ansetzung des hier angenommenen, die Elija- und Elischa-Tradition einschlie-
ßenden Erzählwerkes ins 7. Jh. (statt ins 8. oder gar 9.) führen nicht nur religions-,
sondern auch literargeschichtliche Gründe. Die mehrfache Erweiterung, Bearbeitung
und schließliche Verschmelzung etwa des Elija- und des Elischa-Zyklus benötigen
eine erhebliche Zeitspanne. Daß speziell das ‚leise‘ Kapitel 1Kön 19 auf die Komposi-
tion 1Kön 17f. folgt und sanft gegen die tatsächlichen und vorgeblichen Grausam-
keiten (Jehus und) Elijas protestiert, setzt zumindest die hoseanische Reflexion (Hos
1,4f.) voraus. Die Aufnahme und Weiterführung nordisraelitischer Tradition in Juda
ist kaum vor 722 v. Chr. zu erwarten. Manche, speziell in späteren Textschichten
angesiedelte Vorstellungen weisen auf eine relativ späte Zeit und insbesondere auf die
Nähe des Deuteronomiums: etwa dass im Zentrum allen Redens und Handelns der
Propheten die Frage nach der Alleinverehrung Jhwhs gestanden habe. Stutzig macht
auch der Gebrauch der gehäuft erst ab Jeremia und in der dtr Literatur auftretenden
Wortereignisformel („Und es geschah das Wort Jhwhs zu XY“) auf vielleicht nicht
einmal der jüngsten Stufe der Elija-Überlieferung (1Kön 17,2.8; 18,1).

So spricht vieles dafür, dass unser Erzählwerk zwar von Geschehnissen im 9. Jh.
berichtet, in Wahrheit aber auf die Situation des 7. Jh.s zielt. Jhwh, so lautete die
Botschaft, hat sich im (mittlerweile untergegangenen) Bruderland durch Wort
und Tat seiner Propheten offenbart und gegen alle Widersacher im Himmel
(Baal) und auf Erden (eigene wie fremde Könige) als der einzige, wahre und
mächtige Gott erwiesen – wer in Juda Ohren hat zu hören, der höre! Im Spiegel-
bild von Gestalten wie Ahab und Isebel wird das Regime des Mannes sichtbar,
den die Bibel als den Ketzerkönig schlechthin zeichnet: Manasse (696–641
v. Chr.). Ihn noch deutlicher zu porträtieren, gar beim Namen zu nennen, wäre
damals vermutlich nicht opportun gewesen. Doch auch so bot das Erzählwerk
seiner Leserschaft deutliche Orientierung in den aktuellen Auseinandersetzun-
gen und bereitete sie auf den Umschwung unter Joschija vor.
V. Die Königsbücher 277

Auch das postulierte „Prophetische Erzählwerk“ ist ein Stück Traditionslitera-


tur, denn es hat, wie auf den ersten Blick ersichtlich, verschiedene Quellen in sich
aufgenommen, die z. T. schon mehrstufig angewachsen waren.

Da ist zunächst der Elija-Zyklus. Er zerfällt schon vom äußeren Augenschein her in
eine „Dürre-Komposition“ (1Kön 17f.), eine sich daran anschließende Geschichte von
Elijas Gottesbegegnung am Horeb (1Kön 19) sowie die beiden Einzelerzählungen von
Nabots Weinberg (1Kön 21) und von der Gottesbefragung des Ahasja (2Kön 1). Die
Ahasjageschichte stellt im Kern Jhwh dem Baal (von Ekron) als in Israel allein zustän-
digen Gott gegenüber; die vermutlich sekundäre Szene 1,9–16 handelt vom „Gottes-
mann“ Elija und erinnert darin und im gedanklichen Kolorit an Elischa: eine weitere
Brücke in der Gesamtkomposition. Die Nabotgeschichte endete ursprünglich kaum
schon mit 1Kön 21,16 (so WÜRTHWEIN), zeigt aber im Elija-Auftritt ab 21,19b deutli-
che Wachstumsspuren: bis hinunter in (spät-)deuteronomistische Zeit. Zur Dürre-
Komposition bildet 1Kön 19 klar einen Anhang. Einerseits wird hier an 1Kön 18 aus-
drücklich angeknüpft und am Schluss der Bogen hinüber zum Elischa-Zyklus geschla-
gen, andererseits wird Jhwh von den Naturphänomenen (unter denen etwa der Sturm
gern mit Baal assoziert wurde) und wird er von aller Gewalttätigkeit (wie sie Elija
selbst laut 18,40 und noch schrecklicher Jehu laut 2Kön 9f. verübt hat) gerade distan-
ziert. Innerhalb von 1Kön 17f. umgreift der alte (und in sich auch schon nicht einheit-
liche!) Rahmen 17,1 und 18,41–46 einige spätere Stücke; diese wurden, teilweise
durchaus ein wenig gewaltsam, alle der Jhwh-Baal-Problematik untergeordnet, wobei
die Karmel-Szene 18,19–39 eine (positive!) Reaktion auf 2Kön 10,18–27 sein dürfte
(SMEND). Vielleicht lassen sich aufgrund dieser Beobachtungen die Dürre-Komposi-
tion in die Zeit zwischen dem Umsturz Jehus (845 v. Chr.) und dem darüber laut Hos
1,4f. sehr kritisch denkenden Hosea (um 730), 1Kön 19 dagegen deutlich später ein-
ordnen. In 1Kön 21 und 2Kön 1 tritt Elija als unausrechenbarer, unbestechlicher Geg-
ner der Könige in Erscheinung; dies muss kein Zeichen fortgeschrittener Traditions-
bildung sein, sondern kann, zusammen mit dem Regenmacher-Motiv (1Kön
18,19f.41–46), gerade einen Kern der Elija-Überlieferung ausmachen (S. OTTO,
ALBERTZ).

Die kleine Sammlung 1Kön 20 und 22 vereinigt in sich recht disparate Einzelüberliefe-
rungen. Sie wollen die Überlegenheit Jhwhs über die Götter der Nachbarvölker (hier:
Aram) und auch über die Macht des eigenen Königs unter Beweis stellen. So wie die
beiden Kapitel jetzt in die Kön-Bücher eingeordnet sind – wobei übrigens die LXX sie
unmittelbar aufeinander folgen lässt und damit laut SCHENKER die ursprüngliche
Textfolge bewahrt hat –, ist der israelitische König, dem die Propheten teils helfen,
teils widerstehen, Ahab. Doch sein Name fällt nur einmal; sonst ist schlicht vom
„König Israels“ die Rede. Da aber die Omriden mit den Aramäern Frieden hatten,
Jehu und seine Nachfolger hingegen Krieg, und da die Propheten hier so auffällig gut
mit dem König kooperieren, hat man mit guten Gründen angenommen, die Erzäh-
lungen spiegelten in Wahrheit die Verhältnisse zur Zeit der Jehu-Dynastie. Vermut-
lich wurden sie schon relativ früh mit den thematisch verwandten Elischa-Erzählun-
gen 2Kön 3 und 6f. zu einer Sammlung verbunden, in der es um die Mitwirkung von
Propheten im Krieg ging (SCHMITT, S. OTTO, LEHNART).

Der Elischa-Zyklus setzt sich laut SCHMITT aus drei Sammlungen zusammen: einer mit
Wunder- (2Kön 4; 6), einer mit Aramäerkriegs- (2Kön 5; 8,7–15; 13,14–19) und einer
mit Sukzessorgeschichten (1Kön 19,19–21; 2Kön 2); sie seien nacheinander im 9., 8.
278 C. Die Vorderen Propheten

und 7. Jahrhundert entstanden, in sich aber mehrfach erweitert worden (vor allem
durch eine sog. Jahwe- und eine Gottesmannbearbeitung – was sie mit dem Elija-
Zyklus in seiner Endgestalt verbindet). BAUMGART meint allein in 2Kön 5 um die zehn
Wachstumsschichten unterscheiden zu können. Laut S. OTTO wäre kurz nach Mitte
des 6. Jh.s eine Sammlung (teilweise recht alter) „Kriegserzählungen“ (1Kön 20; 22;
2Kön 3; 6,24–7,20) sekundär ins dtr Geschichtswerk eingesetzt, gegen Ende des 6. Jh.s
1Kön 17f. vorgeschaltet und in frühnachexilischer Zeit 1Kön 19 zusammen mit einer
aus dem 8. Jh. stammenden Elischa-„Biographie“ eingeschaltet worden (1Kön 19,19–
21; 2Kön 2,1–15.19–25a; 4,1–6,23; [8,7–15;] 13,14–21); dieses recht komplizierte Mo-
dell rechnet für die Elischa-Überlieferung also nicht nur mit separat entstandenen Er-
zählsammlungen, sondern damit, dass diese sich teils frühzeitig mit anderen Prophe-
tenüberlieferungen verbanden, teils über Jahrhunderte für sich tradiert wurden, um
schließlich nach und nach in das schon fertige dtr Geschichtswerk eingebaut zu wer-
den. Demgegenüber scheint das hier vertretene Modell, wonach eine (zuvor gewiss
sukzessiv angewachsene) Elischa-Überlieferung in ein vor-dtr Prophetisches Erzähl-
werk eingepasst und dieses komplett ins Geschichtswerk eingesetzt wurde, doch einfa-
cher.

In der Jehu-Novelle (2Kön 9f.) betreten wir ein ganz anderes literarisches Feld als in
den zuvor betrachteten Prophetenüberlieferungen. Nicht der Glaube steht hier im
Vordergrund, sondern die Politik. Doch so wenig der Glaube der Propheten unpoli-
tisch ist, so sehr spielt das Religiöse in die Umsturzgeschichte hinein. Der neue König
wird von einem Propheten gesalbt; sein Kampf gilt nicht nur dem politischen Gegner,
sondern auch dessen baalistischen Neigungen (10,17–27: keineswegs, wie WÜRTH-
WEIN und MINOKAMI meinen, ein sekundärer Zusatz!). Das Geschehen wird nicht, wie
in den Propheten-Zyklen, in Anekdoten und Episoden, sondern es wird in einer dra-
matisch bewegten Handlungsfolge geschildert; vom literarischen Stil her handelt es
sich um eine Art Novelle. Spannung stellt sich ein; es wird niemals klar, ob Jehu die
Sympathien des Erzählers gehören – und ob ihm unsere gehören sollten (demgegen-
über meinen S. OTTO u. a., 2Kön 9f. diene der Legitimierung des blutigen Putsches).
Isebel wird weder karikiert noch deminuiert; sie zeigt Größe und Kraft, wenn auch
nicht zum Guten. Man wird kaum fehlgehen, wenn man diese Erzählung relativ nah
an den Ereignissen entstanden denkt. Bei ihrer Einarbeitung in das Prophetische
Erzählwerk, vielleicht auch später noch, mag sie die eine oder andere Erweiterung
erfahren haben (vor allem in der Prophetenszene am Anfang von 2Kön 9). Doch ob
das in so erheblichem Umfang und über so viele Stufen hinweg geschah, wie das etwa
MINOKAMI und LEVIN annehmen, ist höchst fraglich.

d) Kleinere Quellen

1Kön 12: I. PLEIN, Erwägungen zur Überlieferung von I Reg 11,26 – 14,20: ZAW 78 (1966), 8–24. – H.
DONNER, „Hier sind deine Götter, Israel“ (1973 =): Ders., Aufsätze zum Alten Testament, 1994
(BZAW 224), 67–75. – K. BODNER, Jeroboam’s Royal Drama, New York 2012 (Biblical Refigurations).

1Kön 13: M. A. KLOPFENSTEIN, 1. Könige 13 (1966 =): Ders., Leben aus dem Wort, 1996 (BEAT 40),
75–116. – A. H. J. GUNNEWEG, Die Prophetenlegende 1 Reg 13, in: V. Fritz u. a. (Hg.), Prophet und
Prophetenbuch, FS O. Kaiser, 1989 (BZAW 185), 73–80. – J. T. WALSH, The Contexts of 1 Kings XIII:
VT 39 (1989), 355–370.
V. Die Königsbücher 279

2Kön 11f.: C. LEVIN, Der Sturz der Königin Atalja, 1982 (SBS 105). – C. LEVIN, Die Instandsetzung
des Tempels unter Joasch ben Ahasja: VT 40 (1990), 51–88. – P. DUTCHER-WALLS, Narrative Art,
Political Rhetoric. The Case of Athaliah and Joash, 1996 (JSOT.S 209).
2Kön 18–20: B. S. CHILDS, Isaiah in the Assyrian Crisis, London 1967. – R. E. CLEMENTS, Isaiah and
the Deliverance of Jerusalem, 1980 (JSOT.S 13). – F. J. GONÇALVES, L’expédition de Sennacherib en
Palestine dans la littérature hébraïque ancienne, Paris 1986. – L. CAMP, Hiskija und Hiskijabild.
Analyse und Interpretation von 2 Kön 18–20, 1990 (MThA). – C. HARDMEIER, Prophetie im Streit
vor dem Untergang Judas, 1990 (BZAW 187). – P. DUBOVSKÝ, Hezekiah and the Assyrian Spies.
Reconstruction of the Neo-Assyrian Intelligence Services and Its Significance for 2 Kings 18–19, 2006
(BibOr 49).

2Kön 22f.: W. DIETRICH, Josia und das Gesetzbuch (2 Reg. XXII): VT 27 (1977), 13–35. – N.
LOHFINK, Die Gattung der „Historischen Kurzgeschichte“ in den letzten Jahren von Juda und in der
Zeit des Babylonischen Exils: ZAW 90 (1978), 319–347. – H. SPIECKERMANN, Juda unter Assur in der
Sargonidenzeit, 1982 (FRLANT 129). – C. LEVIN, Josia im Deuteronomistischen Geschichtswerk:
ZAW 98 (1984), 351–371. – N. LOHFINK, Zur neueren Diskussion über 2 Kön 22–23, in: Ders. (Hg.),
Das Deuteronomium. Entstehung, Gestalt und Botschaft, 1985 (BEThL 68), 24–48. – C. UEHLINGER,
Gibt es eine joschijanische Kultreform? Plädoyer für ein begründetes Minimum, in: W. Groß (Hg.),
Jeremia und die ‚deuteronomistische Bewegung‘, 1995 (BBB 98), 57–90. – C. HARDMEIER, König
Joschija in der Klimax des DtrG (2Reg 22f.) und das vordtr Dokument einer Kultreform am Resi-
denzort (23,1–15*), in: R. Lux (Hg.), Erzählte Geschichte, 2000 (BThSt 40), 81–145.

Abschließend sollen mehrere, recht unterschiedliche Quellen zusammengefasst


besprochen werden. Zwei von ihnen – die Erzählungen vom Auftreten eines
Gottesmannes aus Juda in Bet-El (1Kön 13) und die Jesaja-Legenden (2Kön 18–
20) – scheinen erst auf der zweiten, prophetisch-dtr Redaktionsstufe ins Ge-
schichtswerk gelangt zu sein. Die andern – die Erzählungen vom Zerbrechen der
Doppelmonarchie (1Kön 12), vom Putsch gegen Atalja und von Joaschs Fürsorge
für den Tempel (2Kön 11f.) sowie Berichte von der Reform Joschijas und vom
Untergang Jerusalems (2Kön 22–25) – gehörten offenbar schon zum Grundwerk
(DtrH). Diese Texte, so verschieden sie sind, haben eine Gemeinsamkeit darin,
dass sie anscheinend zu keiner der drei großen Quellen gehören, aus denen die
Redaktion sonst die Kön-Bücher gestaltet hat. Die Vielfalt des verwendeten
Textmaterials deutet darauf hin, dass die Deuteronomisten über eine recht um-
fangreiche Bibliothek verfügt haben müssen – am ehesten die des Palastes (und
des Tempels) von Jerusalem, die man rechtzeitig aus dem untergehenden Jeru-
salem zu retten vermochte.

1Kön 12,1–20: Die Erzählung vom Auseinanderbrechen der davidisch-salomonischen


Doppelmonarchie, eine ursprünglich wohl nordisraelitische Überlieferung, ist jetzt
eine judäisch geprägte Ätiologie des Vorhandenseins zweier israelitischer Königtü-
mer. Ihr zufolge ist nach Salomos Tod dessen Sohn Rehabeam in Juda offenbar an-
standslos zum Nachfolger erhoben worden, während der Norden Verhandlungen
darüber erzwingt, unter welchen Bedingungen die Personalunion fortbestehen könne.
Verlangt wird die Verringerung der von Salomo auferlegten staatlichen Lasten – ein
markantes Schlaglicht auf die Art der Davididenherrschaft und ihre Einschätzung je-
denfalls im Norden. Rehabeam berät sich zuerst mit Ratgebern, die schon Salomo ge-
dient hatten, dann mit jungen Beratern seiner eigenen Generation. Die einen raten
zum Abschluss eines moderaten Königsvertrages, die anderen fordern klare, autori-
280 C. Die Vorderen Propheten

täre Verhältnisse – und dies in einer ausgesprochen vulgären Sprache. Ihnen folgt
Rehabeam – und löst damit hellen Aufruhr aus, muss sich überstürzt zurückziehen,
entsendet den Fronminister (ausgerechnet ihn!) zur Unterdrückung der Unruhen,
doch dieser wird gesteinigt und Jerobeam zum König eingesetzt. Mit der sicher etwas
stilisierten Darstellung soll die schier unfassbare Tatsache erklärt werden, dass den
Davididen der Grossteil des Reiches verloren gegangen ist. Der eigentliche Grund lag
in der Auspressung Israels durch Salomo, Auslöser war die undiplomatische Arroganz
der Leute um Rehabeam. Der Autor, unverkennbar ein Judäer, hält die Separation für
einen zwar von Rehabeam nicht unverschuldeten, aber doch verwerflichen Aufruhr
gegen die legitime Herrschaft der Davididen (12,19). DtrP fügte hinzu, das Unheil sei
genau so gekommen, wie es zuvor der Prophet Ahija von Schilo angekündigt hatte
(12,15, einer der charakteristischen Erfüllungsvermerke, der auf 11,29–32 zurückver-
weist). In der LXX ist hinter 12,24 noch eine Sonderversion der Jerobeam-Erzählung
eingeschaltet, die in vielem der Darstellung in 1Kön 11–14 entspricht, in manchem
aber auch davon abweicht. Wahrscheinlich handelt es sich um eine midraschartige
Nach- und Neuerzählung, nicht um eine alte Sonderquelle.
1Kön 13: Die einigermaßen bizarre Erzählung von einem Gottesmann aus Juda, der
Jerobeam I. bei der Einweihung des Altars von Bet-El entgegentritt und dank eines
göttlichen Wunders nicht verhaftet werden kann, der sich dann aber von einem Pro-
pheten aus Bet-El zu einem Verstoß gegen seinen Auftrag verführen lässt und prompt
von einem Löwen getötet wird, ist in ihrem Alter und ihrer Intention nicht leicht zu
fassen. Offenbar äußern sich hier judäische Animositäten gegen den Staatskult im
Norden (nach einer alten These handelte es sich um eine volkstümliche Überlieferung
vom Auftreten des Amos gegen Jerobeam II. [!] in Bet-El). Andererseits geht es um
das Thema Prophet gegen Prophet, wobei die beiden hier gezeichneten Gestalten
Größe und Schwäche zugleich zeigen. Sicher ist die Legende in Prophetenkreisen –
zunächst vielleicht nordisraelitischen, dann judäischen – umgelaufen und dabei ange-
wachsen. In die von DtrH geschaffene Darstellung des Wirkens Jerobeams I. wurde sie
erst sekundär eingesetzt (vgl. die Wiederaufnahme von 12,30–32 in 13,33f.). Für DtrP
war dabei verlockend, an ihr gleich mehrfach den ihm so wichtigen, unverbrüchlichen
Zusammenhang zwischen Weissagung und Erfüllung demonstrieren zu können (vgl.
13,3 mit 13,5 und 13,2 mit 2Kön 23,15 sowie 13,20–22 mit 13,28–30 und 2Kön 23,16–
18).
2Kön 11f.: In diesen Kapiteln wird berichtet, wie nach einer höchst turbulenten Zeit,
in der eine Frau und gar eine Omridin (2Kön 8,26) als Königin regieren konnte, in Je-
rusalem wieder die Normalität des davidischen Erbkönigtums einkehrte. 2Kön 11
schildert den Putsch gegen Atalja, inszeniert von einem Priester, der einen jungen Da-
vididen auf den Schild heben und die Königin töten ließ. Atalja war nach einem Mas-
saker an die Macht gekommen, das angeblich sie, das in Wahrheit aber Jehu an den
Mitgliedern des Davidhauses angerichtet hatte (vgl. 2Kön 10,11–14). Von ihrer Herr-
schaft erfahren wir nichts, nur von ihrem Sturz. Der Bericht darüber ist nach Abtrag
verschiedener Bearbeitungsspuren äußerst konzise (nach LEVIN liegt er in 11,*1–
6.8a.12b.*13f.16.*17.19b.20a vor). Es geht daraus hervor, dass für die Wiederherstel-
lung der dynastischen Ordnung das „Volk des Landes“ gesorgt hat, während Atalja
ihren Rückhalt offenbar bei den Bewohnern der Stadt hatte (11,20a) – eine Konstella-
tion, die schon beim Kampf zwischen Adonija und Salomo um die Nachfolge Davids
zu beobachten war (1Kön 1). Von dem anstelle Ataljas auf den Thron gelangten
Joasch wird in 2Kön 12 berichtet, er habe ein Spendensystem zur Finanzierung von
Renovationsarbeiten am Tempel eingeführt. Laut FRITZ und LEVIN handelt es sich hier
V. Die Königsbücher 281

um eine Rückprojektion aus der Zeit des Zweiten Tempels. Das wäre dann unmöglich,
wenn in 2Kön 22,4–7 auf 2Kön 12,4–16 zurückgegriffen würde (und nicht umgekehrt,
wie LEVIN meint). Es ist nicht leicht zu sagen, woher Berichte wie die in 2Kön 11 (und
12) stammen: aus dem „Tagebuch“ der Könige von Juda – oder doch aus separater
Quelle?
2Kön 18,17–20,19: Die Jesajalegenden malen von den aufregenden Ereignissen des
Jahres 701 v. Chr., als der Assyrerkönig Sanherib Jerusalem belagerte, ein dramati-
sches Bild: Ein hoher assyrischer Offizier, der Rabschake, versucht mit ebenso ge-
schickten wie gotteslästerlichen Reden die Verteidiger zum Aufgeben zu bewegen,
weckt damit aber den Widerstandsgeist des Königs Hiskija und vor allem des Pro-
pheten Jesaja (2Kön 18,17–19,8). Ein nochmaliger Überredungsversuch führt zu
einem ergreifenden Klage- und Bittgebet Hiskijas und einer hochgemuten Heilsweis-
sagung Jesajas (19,9–34) – und noch in derselben Nacht erschlägt der Engel Jhwhs
185.000 Mann im Lager der Assyrer; der Großkönig zieht ab und wird wenig später
ermordet (19,35–37). Es folgen noch zwei Einzelerzählungen, die Prophet und König
zuerst in innigem, dann in gespanntem Verhältnis zeigen (2Kön 20,1–19). Nach
HARDMEIER entstand die „Erzählung von der assyrischen Bedrohung und der Befrei-
ung Jerusalems“ (2Kön 18,9f.13 – 19,9a.36f.) im Jahr 588, kurz vor der endgültigen
Eroberung Jerusalems, als Lehr- und Kampfschrift gegen die damals von Jeremia ein-
genommene unterwürfige Haltung gegenüber Babylon: Nicht Kapitulation sei ange-
sagt, sondern Gottvertrauen und Widerstand – wie (angeblich) im Jahr 701; verblüf-
fende Parallelen stellen sich ein zwischen dem assyrischen Rabschake und Jeremia und
zwischen dem Jesaja der Legenden und dem Heilspropheten Hananja, Jeremias Ge-
genspieler (vgl. Jer 27f.). 1Kön 20,12–19, wo Jesaja Hiskija wegen dessen Verhandlun-
gen mit Babylon verwarnt, bilde hierzu einen warnenden „Epilog“. Auf einer späteren
Textstufe stünden die „narrative Nachinterpretation“ 19,9b–35 und die Wunderhei-
lungsgeschichte 20,1–11; hier gehe es nicht mehr um konkrete politische Stellung-
nahmen in bestimmter historischer Situation, sondern um fromme Bilder davon, wie
ein frommer König und ein vollmächtiger Prophet einem frechen Gottesfeind wider-
stehen. CAMP hat auf der Basis des Schichtmodells diese jüngere Textstufe DtrN zu-
gewiesen (wohl mit Recht), die ältere dagegen auf DtrH und DtrP so aufgeteilt, dass
ersterem die ältere Belagerungserzählung und letzterem lediglich 20,12–19 zufällt. Es
scheint einfacher, DtrH nur die Rahmentexte zu Hiskija (2Kön 18,*1–16 + 20,20f.) zu
belassen, die ein völlig anderes Bild der Ereignisse von 701 bieten als die Jesajalegen-
den: Hier wird die Stadt mittels eines schweren Tributs freigekauft – eine Version, die
im Wesentlichen mit „echten“ Jesajaworten (Jes 1,4–9; 22,1–11) und dem Bericht
Sanheribs (TGI2, 67–69) übereinstimmt. Dieses eher trübe Bild hat DtrP mit Hilfe der
(älteren) Hiskija-Jesaja-Legende etwas aufgehellt, aber auch schärfer konturiert: Jesaja
tritt zuerst als Unterstützer, dann als Kritiker Hiskijas auf. Die Episode von dessen
Verhandlungen mit dem Babylonier Merodach-Baladan (20,12–19) könnte durchaus
auf Informationen aus der Zeit vor 701 v. Chr. beruhen. Damals könnte Hiskija tat-
sächlich versucht haben, den aramäischen Stammesführer Marduk-aplu-idinna (so
sein eigentlicher Name), der den Assyrern im ausgehenden 8. Jahrhundert schwer zu
schaffen machte, als Verbündeten zu gewinnen – und Jesaja (diesmal der „echte“)
wäre ihm bei diesen Machtspielen entgegengetreten. Ob er dabei förmlich die Kata-
strophe von 587 angesagt hat (so 20,17f.), kann dahingestellt bleiben. DtrP jedenfalls
stellte diese Episode sehr bewusst ans Ende der Jesaja-Hiskija-Geschichten; einerseits
entsprach sie seiner generell königskritischen Haltung, andererseits bereitete sie den
Leser auf das Ende des Staates Juda vor.
282 C. Die Vorderen Propheten

2Kön 22f.: Eine eigene Quelle mag auch ein Bericht über kultische Reformen des Kö-
nigs Joschija sein, der in 2Kön 22f. eingearbeitet zu sein scheint. Während LEVIN hier
überhaupt keinen vor-dtr Kern entdecken kann und WÜRTHWEIN diesen als ausge-
sprochen winzig veranschlagt (2Kön 23,11.12a), rechnen ihm SPIECKERMANN und
HARDMEIER immerhin den Grundbestand von 23,1–15 und LOHFINK zusätzlich noch
die Erzählung von der Auffindung des Gesetzbuchs und der Befragung der Prophetin
Hulda zu (2Kön *22; etwas zurückhaltender DIETRICH). Nach einer berühmten These
W. M. L. DE WETTEs (1806) ist das hier erwähnte Buch das (Ur-)Deuteronomium.
Dieses wäre „im 18. Jahr Joschijas“ (2Kön 22,3, d. h. 622 v. Chr.) lanciert worden und
hätte die in 2Kön 23 geschilderte Kultreform – die Reinigung des Jerusalemer Kults
von Relikten namentlich der Assyrerherrschaft sowie die Konzentrierung des Opfer-
dienstes auf den Tempel von Jerusalem (vgl. Dtn 12) – ausgelöst. Die alte Theorie,
wonach der „Reformbericht“ vom „Fundbericht“ separiert und damit die Reform
zeitlich nach vorne verschoben werden könnte, ist weder nötig noch angebracht; die
gegen Assur und seinen Lakaien Manasse gezielte Stoßrichtung der joschijanischen
Maßnahmen ist auch so deutlich (vgl. 2Kön 23,5 mit 21,3). Die Deuteronomisten ha-
ben den reziproken Zusammenhang zwischen früheren kultischen Sünden und jetzi-
ger Reinigung und Sühnung noch verstärkt (z. B. durch die Erweiterung der entspre-
chenden Register bei Manasse und Joschija). Für sie war diese Reform viel mehr als
die lokal und zeitlich begrenzte religionspolitische Maßnahme eines judäischen
Königs im Zusammenhang mit dem Niedergang Assurs. Für sie war Joschija, der die
Tora Moses wieder in Kraft setzte, neben David der hellste Lichtblick in der überwie-
gend düsteren Geschichte der Königszeit. Also ließen sie ihn auch in Bet-El und in
vielen anderen Heiligtümern des israelitischen Nordens für Ordnung sorgen (2Kön
23,15–20; die oft wiederholte Behauptung, Joschija habe die Wiederherstellung des
davidisch-salomonischen „Reiches“ erstrebt und weitgehend erreicht, kann sich somit
einzig auf die Nachricht von seinem Tod anlässlich einer Militäraktion bei Megiddo
stützen, 2Kön 23,29).
2Kön 24f.: Schließlich konnten die dtr Redaktoren – sofern man nicht von ihrer eige-
nen Augenzeugenschaft ausgehen will – auf einen Bericht vom Untergang Jerusalems
zurückgreifen, der den Grundstock von 2Kön 24f. bildet. Von dort wurde er nach Jer
52 und teilweise nach Jer 39 übernommen, während umgekehrt die Gedalja-Episode
2Kön 25,22–26 von Jer 40–43 (oder einer gemeinsamen Vorlage?) abhängig zu sein
scheint. Laut WÜRTHWEIN sind neben dieser noch eine Reihe anderer Passagen nach-
träglich in die dtr Grunddarstellung eingefügt worden. Etwa von bestimmten, gola-
zentrierten Äußerungen (z. B. 25,21b) mag man das in der Tat annehmen. Doch die
abschließende Notiz von der Begnadigung Jojachins (25,27–30) ist schwerlich sekun-
där, sondern der sehr bewusst gesetzte, positive Schlusspunkt des Gesamtwerks. Die
beiden Schlusskapitel der Königsbücher berichten über die traumatischen Vorgänge
zu Beginn des 6. Jh.s in äußerst nüchternem Ton. Zwar zittert das Entsetzen in ihnen
nach, doch fehlen hier alle theologischen Bewertungen und Deutungen, die den Deu-
teronomisten sonst so wichtig sind. Freilich ist die Leserschaft längst darauf vorberei-
tet, wie sie die traurigen Fakten zu beurteilen hat und worauf sie allenfalls ihre Hoff-
nung setzen kann: nur sehr bedingt auf das Königtum, gewiss aber auf Jhwh, der sei-
nem Volk schon vor der Staatenbildung, ja vor der Einwanderung in Kanaan seinen
guten Willen in Gestalt der Tora kundgetan und diesen Willen durch die gesamte Ge-
schichte hindurch unverdrossen und unbeirrbar zur Geltung gebracht hat. Ihm gilt es
jetzt sich zu beugen und künftig zu folgen.
D. Die Hinteren Propheten
(Walter Dietrich)

I. Das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie


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284 D. Die Hinteren Propheten

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1. Der Prophetenkanon

Während die „Vorderen Propheten“ (s. oben C) im wesentlichen Geschichts-


erzählung enthalten, in der Propheten eine wichtige (aber keineswegs die vor-
rangige) Rolle spielen und Prophetenworte allenfalls in narrativem Gewand er-
scheinen, ist bei den „Hinteren Propheten“ das Verhältnis umgekehrt: Hier gibt
es nur relativ wenige Prophetenerzählungen, dafür aber eine große Menge von
Aussprüchen, die Propheten getan haben (sollen). Es fällt sofort auf, dass diese
Prophetensprüche und -reden weit überwiegend in gebundener Sprache gehalten
sind. Wichtigstes Merkmal hebräischer Poesie ist der Parallelismus membrorum;
weitere Kennzeichen sind vergleichsweise kurze Sätze, gehobene Wortwahl und
großer Bilderreichtum. Die eigentlich prophetischen Bücher sind in gewissem
Sinn poetische Bücher.

Die „Hinteren Propheten“ der Hebräischen Bibel gliedern sich in vier große
Bücher: das Jesaja-, das Jeremia-, das Ezechiel- und das Zwölfprophetenbuch.

Eine andere Abfolge nennt der Talmud (Baba Batra 14b): Jer-Ez-Jes-Zwölfpropheten-
buch. Hier sind die Bücher vermutlich der Länge nach geordnet: Jer hat 21 835, Ez
18 730, Jes 16 932, das Dodekapropheton 14 355 Wörter. In der Haupttradition der
LXX begegnet eine wieder andere Reihenfolge: Dodekapropheton-Jes-Jer-Ez. Die
Spitzenstellung des Zwölfprophetenbuchs erklärt sich vermutlich daraus, dass zuerst
ein Überblick über die Prophetie geboten werden sollte, ehe man zu den Einzelpro-
pheten kam. Zudem steht der Prophetenkanon in der LXX am Schluss des Alten Tes-
taments und ist gegenüber der hebräischen Bibel erheblich erweitert: Dem Jer-Buch
sind, wohl aus sachlichen Gründen, die Threni und die apokalyptische Baruchschrift
beigeordnet, und das Ganze wird mit dem apokalyptischen Dan-Buch (wiederum in
einer längeren Fassung als bei MT) abgeschlossen.

Die Abfolge im Hebräischen Kanon hat vielleicht die Ratio, die beiden Bücher,
die faktisch nur von der relativ schmalen Epoche der Exilszeit handeln, Jer und
Ez, durch zwei Bücher zu rahmen, die einen viel weiteren geschichtlichen Hori-
zont aufweisen; denn das Jes- und das Zwölfprohetenbuch reichen faktisch von
der assyrischen bis in die persische Zeit, ja eigentlich bis zur Endzeit. In seiner
Spitzenstellung erhält Jesaja die Rolle des paradigmatischen Propheten. Jesus
Sirach schildert ihn denn auch so: „Gewaltigen Geistes schaute er die letzten
I. Das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie 285

Dinge und tröstete die Trauernden in Zion. Für alle Zeiten verkündete er das
Zukünftige und das Verborgene, bevor es eintritt“ (Sir 48,24f.).
Das Vorhandensein eines umfangreichen antiken Schriftkorpus (mit zusam-
men 232 biblischen Kapiteln!), in dem weit überwiegend nichts als Propheten-
worte mitgeteilt werden, ist ein literatur- und religionsgeschichtlich einmaliges
Phänomen. Zwar gab es auch in anderen altorientalischen Kulturen – wie übri-
gens auch in der altgriechischen, der römischen und der frühchristlichen – Pro-
phetie und Sehertum. Doch von den Männern und Frauen, die sich dort prophe-
tisch gaben und äußerten, ist allermeist nur aus Berichten anderer zu erfahren;
große Textsammlungen, in denen angeblich oder wirklich von ihnen stammende
Worte und Reden wiedergegeben und zum eigenen Buchgenre geworden sind,
finden sich nur im Alten Testament.

Vielleicht lassen sich dem noch die Apokalypsen aus frühjüdischer und -christlicher
Zeit zur Seite stellen, doch ist dies eine neue Textsorte mit neuen, eben apokalypti-
schen Inhalten. Die Apokalyptik ist mit der Prophetie in vielem verwandt, in gewis-
sem Sinn ihre Tochter. Der Hauptunterschied ist, dass sie die Gläubigen (meist eine
kleine Schar Auserwählter) auf die unmittelbar bevorstehende Äonenwende bzw. das
Weltende vorbereiten, auf den Gang des Weltgeschehens und auf die Weltgestaltung
aber keinen Einfluss mehr nehmen will. Prophetie hat an ihren Rändern apokalypti-
sche Züge, nimmt in ihrem Kern jedoch entschieden das diesseitige Leben in den
Blick und stellt sich der Herausforderung seiner möglichst sinnvollen Gestaltung.

2. Zur Wahrnehmung der Prophetie in neuerer Zeit

Das Bild der alttestamentlichen Propheten und die Auslegung der nach ihnen
benannten Bücher waren im Lauf der Zeiten starken Wandlungen unterworfen.
– In der vorkritischen, von den Grundüberzeugungen der jeweiligen Religions-
gemeinschaft geprägten Wissenschaft galten die Propheten vornehmlich als
Ausleger der Tora (jüdisch) oder als Künder des kommenden Christus (christ-
lich).
– In der ersten Hochblüte der kritischen alttestamentlichen Wissenschaft, bis
zum Ersten Weltkrieg (EWALD, WELLHAUSEN, DUHM, CORNILL u. a.), sah man in
den Propheten große, geniale Einzelgänger, die den Weltlauf weit besser durch-
schauten als ihre Zeitgenossen, die Juda und Israel in den weltpolitischen Tur-
bulenzen des 8. bis 6. Jahrhunderts zwar nicht äußerlich, aber innerlich bewahr-
ten, die den Volksgott Jhwh zum Weltgott machten, die überdies wunderbare
Schriftsteller waren, die bei alledem aber von ihrer Mitwelt und im Grunde auch
von ihrer Nachwelt kaum recht verstanden wurden, weshalb die nach ihnen
benannten Bücher vieles jüngere Material enthalten, das gegenüber ihren geisti-
gen und geistlichen Höhenflügen weit abfällt.
– In der Zwischenkriegszeit und der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg lernte
man die Propheten mehr und mehr einbetten in die großen geistigen Traditio-
nen Israels. Sie aktualisierten in ihren jeweiligen Lebenszusammenhängen das,
286 D. Die Hinteren Propheten

was den Glauben Israels seit jeher ausmachte: Exodus, Landgabe, Heiliger Krieg,
Gottesrecht, Zion, Davidverheißung, Jhwhs Offenbarsein und seine Beziehung
zu Israel, seine Unvergleichlichkeit und letztlich Einzigkeit (BUBER, VON RAD,
FOHRER, KOCH, WOLFF). Manche gingen so weit, den Propheten regelrechte
Ämter im israelitischen Kultwesen zuzuweisen (REVENTLOW, WÜRTHWEIN).
Andere sagten ihnen eine quasi-revolutionäre Verbundenheit mit dem einfachen
Volk, namentlich den armen und verarmten Leuten nach (SCHWANTES). Man
ging den Sprachformen nach, welche die Propheten verwendeten, und stellte fest,
dass sie durchaus konventionell waren: entweder in dem Sinne, dass sie von
anderswoher aufgenommen und adaptiert worden waren, oder indem sie als
typisch prophetische Redegattungen zur Redekonvention wurden (WES-
TERMANN). Zunehmend gewann auch die Einsicht an Bedeutung, dass die israe-
litische Prophetie keineswegs so völlig unvergleichbar war mit anderen altorien-
talischen Prophetien (NOORT, WEIPPERT, NISSINEN).
– In der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart konzentriert sich die
Forschung stärker auf die Prophetenbücher als auf die wirklich oder vermeintlich
hinter ihnen stehenden Propheten. Statt die Fortschreibungen und redaktionel-
len Bestandteile der Bücher wie Dickicht beiseite zu schieben, hinter dem der
klare Quell der Prophetie sprudelt, wendet man sich eben diesen Elementen
gezielt zu. Ja, mehr und mehr verstärkt sich die Tendenz, gar nicht mehr hinter
sie zurückfragen zu wollen, sondern im Buch das Einzige zu sehen, was man
wirklich hat. Die Bücher werden ernst genommen als literarische Gemälde von
Prophetengestalten, die es gegeben haben mag oder nicht. Methodisch bedeutet
dies eine Konzentration auf kompositions- und redaktionskritische Fragestellun-
gen. Damit kommen neue, meist späte Zeitepochen näher in den Blick: Nicht so
sehr, was Propheten im 8. bis 6. Jahrhundert gesagt haben könnten, steht im
Vordergrund, sondern wie man sie sich im 5. bis 3. Jahrhundert vorgestellt und
wie man in ihrem Geist in die jeweilige Gegenwart hinein zu reden versucht hat
(ZIMMERLI, JEREMIAS, BLENKINSOPP, STECK, KRATZ u. v. a.).
– In neuester Zeit wird, vor allem in einem bestimmten Sektor der deutschspra-
chigen Forschung mit zunehmender Verve die Auffassung vertreten, in vorexili-
scher Zeit seien die Propheten wenn, dann einzig Hof- oder auch Heilspropheten
gewesen. Eine politisch und kultisch noch einigermaßen intakte Umwelt – es gab
noch eigene Könige und eigene Heiligtümer, insbesondere das in Jerusalem –
habe keinen Anlass zu Kritik gegeben. Der Judäer Amos etwa habe lediglich das
(mehr oder weniger feindliche) Nordisrael kritisiert, der Jerusalemer Jesaja sei
nichts als judäischer Hof- und Tempelprophet gewesen. Alle kritischen Äuße-
rungen dieser und der übrigen vorexilischen Propheten, die man jetzt in den
nach ihnen benannten Büchern liest – sei es gegen innere Missstände, sei es ge-
gen eine verfehlte Außenpolitik –, stellten eine Reaktion bzw. Reflexion auf den
Untergang des Nord- und vor allem dann des Südreichs dar; sie verdankten sich
dem Wunsch, ja dem Zwang, die politischen Katastrophen zu verstehen, ihnen
einen Grund und einen Sinn zu geben (BECKER, KRATZ, LEVIN u. a.). Doch die
Annahme, dass alle prophetische Kritik erst post festum in die Prophetenschrif-
I. Das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie 287

ten hineingeschrieben worden wäre, ist mitnichten zwingend, sie ist vielmehr
unbeweisbar und in hohem Maß unwahrscheinlich. Die particula veri an ihr liegt
darin, dass man die kritischen Passagen in den betreffenden Büchern in exilisch-
nachexilischer Zeit in genau diesem Sinn verstanden hat: Das Unheil war nicht
unversehens, nicht ohne Vorwarnung, nicht gegen den Willen Jhwhs hereinge-
brochen, es war vielmehr ein Ausfluss des Zornes Jhwhs über die Verfehlungen
seines Volks. Die Unheilsprophetie wurde in der Zeit weitgehender politischer
Ohnmacht Israels geradezu zum Erweis der ungebrochenen Macht Jhwhs. Dies
schließt nicht aus, dass in späterer Zeit zu ‚echten‘ Droh- und Unheilsworten der
alten Propheten weitere hinzugetreten, dass neue Lebensbereiche (namentlich
religiöse!) als durch die Schuld Israels kontaminiert dargestellt worden sind. In
der Hauptsache freilich war nach dem Verlust der Eigenstaatlichkeit Trost ge-
fragt – und Weisung darüber, wie unter radikal veränderten Lebensumständen
der Jhwh-Glaube weiter gelebt werden konnte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass keine der beschriebenen Sichtweisen auf
die Prophetie völlig obsolet ist, dass aber keine von ihnen (vor allem nicht die
letzte) verabsolutiert werden sollte.
Dem Grundansatz des vorliegenden Buches gemäß, sollen nunmehr zuerst die in
den Hinteren Propheten versammelten Bücher, mithin die „modernere“ Frage
nach der Buchentstehung – und damit naturgemäß eine relativ späte Zeit – in
den Blick genommen werden, danach die „ältere“ nach den Propheten und ihrer
zeit- und geistesgeschichtlichen Verankerung. (Genau so wird auch in den
nachfolgenden Kapiteln zu den einzelnen Büchern des Prophetenkanons verfah-
ren.)

3. Die Prophetenbücher

Es ist möglich, die Prophetenbücher – wie alle anderen biblischen Bücher –


„nur“ auf der Oberfläche des jetzt vorliegenden Textes zu betrachten. Diese naive
oder nach-naive Betrachtungsweise (die in früheren Zeiten selbstverständlich
geübt wurde) kann durchaus Beachtenswertes zutage fördern. Dies gilt bereits für
den Prophetenkanon als ganzen. Es ist nicht unerheblich, ob die Propheten zwi-
schen Tora und Ketubim stehen, wie im hebräisch-jüdischen Kanon, oder am
Ende des Alten Testaments, wie im griechisch-christlichen Kanon (s. oben I.1).
Jede der unterschiedlichen Anordnungen der vier großen Prophetenbücher
macht Sinn (s. oben I.2). Weiter: Es ist gewiss kein Zufall, dass in allen vier Bü-
chern eine Bewegung von einer eher düster-drohenden zu einer eher heilvoll-
lichten Färbung der Aussagen stattfindet und dass sich diese Abfolge noch in-
nerhalb der Bücher verschiedentlich wiederholt (z. B. Jes 28–32 oder Mi 1–6).
Mehrere Bücher bzw. Schriften sind nach einem dreistufigen Schema aufgebaut:
Drohungen gegen das eigene Volk – Drohungen gegen fremde Völker – Heil für
das eigene Volk und evtl. für andere Völker (so Protojesaja, Jer-LXX, Ez, Zef).
288 D. Die Hinteren Propheten

Bestimmte Themen und Motive (z. B. der „Tag Jhwhs“ oder der „Zion“ oder die
quasi familiären Beziehungen zwischen Jhwh und Israel oder das Verhältnis
Israels zu den Völkern oder bestimmte innere Gegensätze innerhalb des Gottes-
volks) kehren buchübergreifend immer wieder, so dass die Schriftprophetie als
ganze ein gemeinsames Gepräge gewinnt. Auf der anderen Seite haben die ein-
zelnen Prophetenbücher und -schriften durchaus ihr je eigenes, unverwechselba-
res Profil, das im Gesamt des Prophetenkanons zu beschreiben und zu schärfen
ist.
Wie bei jeder Textinterpretation, so ist auch bei derjenigen von Prophetentex-
ten die sorgfältige Untersuchung von Sprache und Stil des vorliegenden Endtex-
tes unentbehrlich. Neben einigen Büchern in den Ketubim (Psalmen, Hiob) sind
die Prophetenschriften bevorzugter Gegenstand poetologischer Analysen. Hinzu
kommt die Betrachtung der hier verwendeten Sprachformen bzw. Textgattun-
gen; denn offenbar hatte man in Israel bestimmte Vorstellungen davon, wie Pro-
pheten reden – gleichgültig, ob sie wirklich so geredet haben oder spätere
Textautoren sie so reden ließen.

Bei unbefangener Lektüre der Prophetenbücher fällt eine oft verwirrende Vielfalt an
Gedanken- und Sprachelementen ins Auge. Zwar gibt es verschiedentlich längere, zu-
sammenhängende Erzählungen (Jes 6–8; 36–39; Jer 37–44; Jona 1–4) oder Passagen,
die sich als ausgedehnte Diskurse zu bestimmten Themen (z. B. Jer 27–29; Ez 40–48;
Am 1f.) oder als Zusammenstellung verwandter Aussagen lesen lassen (z. B. Jes 5,8–
24; Jer 22f.; Sach 2–8 oder die Völkerspruchsammlungen Jes 13–22; Jer 46–50 MT; Zef
2). Doch immer wieder stößt man auch auf Abschnitte, in denen sich eine durch-
schaubare Ordnung kaum erkennen lässt, wo die Stimmen, Perspektiven, Textformen
scheinbar planlos durcheinander gehen (z. B. Jes 24–27; 40–66; Jer 2–6; Hos 4–10; Am
2–6; Mi 4–6; Zef 3). Neuerdings mehren sich die Versuche, solche Passagen als eine
Art Rollenbücher für virtuelle oder tatsächliche Aufführungen bzw. Rezitationen pro-
phetischer „Dramen“ aufzufassen. Das scheinbar disparate Material kann an innerer
Kohärenz gewinnen, wenn man sich vorstellt, in ihm kämen mehrere „Sprecher“ zu
Wort (z. B. Gott, Prophet, Chor/Gemeinde, Feinde), deren Beiträge ein Thema von
verschiedenen Seiten beleuchten. Ausgearbeitete Vorschläge zu einem „dramatischen“
Verständnis prophetischer Texte gibt es mittlerweile zu Jes 24–27 und 40–55 sowie zu
Mi und Zef.

Außer solch synchronen gibt es diachrone Analysemethoden, welche die Tatsa-


che in den Vordergrund rücken, dass die Prophetenbücher nicht in einem Zuge,
sondern nach und nach entstanden sind, und die sich bemühen, ihre Entste-
hungsgeschichte Schritt um Schritt zurückzuverfolgen. Es sind dabei fünf Ebenen
redaktioneller Arbeit zu unterscheiden:
1. Verschiedentlich umspannen redaktionelle Klammern zwei oder mehr
Prophetenbücher oder sogar den ganzen Prophetenkanon. Um die umfassendste
zuerst zu nennen: In Mal 3,22–24 ist nicht nur von Elija (vgl. 1Kön 17ff.), son-
dern auch von Jhwhs „Satzungen und Rechten“ und vom „Gesetz Moses“ die
Rede: ein klarer Rückgriff auf Jos 1,7, durch den Vordere und Hintere Propheten
zusammengebunden werden. Das Jes- und das Zwölfprophetenbuch umfassen
I. Das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie 289

nicht nur den gleichen, großen Zeitraum – von der Assyrer- bis zur hellenisti-
schen Zeit –, anscheinend wurden sie auch im Aufbau aufeinander abgestimmt;
an einer Stelle gibt es sogar eine explizite Textwiederholung (Jes 2,1–4; Mi
4,1–3).
2. Jedes der Prophetenbücher ist durch redaktionelle Mittel zu einem Ganzen
geformt worden. Hier nur ein paar Beispiele:
– Das Jes-Buch wird von Themen wie „Verstockung“ und „Krankheit und Hei-
lung“ ganz durchzogen. In Jes 1,2f. und Jes 66,13, also gleich am Anfang und fast
am Ende des Buches, erscheint Gott im Bild der Mutter seines Volkes. Jes 35 ist
ein Brückentext zwischen Jes 1–39 und 40–55 und speist sich sprachlich wie
gedanklich von beiden Seiten.
– Das Jer-Buch redet an seinem Anfang (Jer 1,10) und seinem Ende (45,4: in der
LXX das Schlusskapitel) von Gottes „Ausreißen und Niederreißen“ und seinem
„Pflanzen und Aufbauen“. Babylon ist gleich zu Beginn in der Vision des „von
Norden“ überkochenden Kessels und ganz am Ende, in einer ausgedehnten anti-
babylonischen Weissagung (Jer 50f.: in MT das letzte Jeremia-Wort), und es ist
eigentlich im ganzen Buch präsent.
– Das Ez-Buch gibt sich durchgehend als prophetische Autobiographie und ist
durch die regelmäßige Angabe genauer Daten für die einzelnen Auditions- und
Visionserlebnisse klar strukturiert. Die „Herrlichkeit Jhwhs“ entfernt sich zu
Beginn des Buches von Jerusalem in östlicher Richtung (Ez 3,12; 10,4.18f.; 11,23)
und kehrt gegen Buchende von Osten nach Jerusalem zurück (Ez 43,1–5; 44,4).
– Das Zwölfprophetenbuch folgt (wie Jes) den großen geschichtlichen Epochen
der Assyrer-, Babylonier-, Perser- und Griechenzeit. Die einzelnen Schriften sind
durch ein System historisierender Überschriften verbunden, wodurch der An-
schein einer prophetischen Sukzession entsteht. Zudem wurden die Schriften
durch mannigfaltige Stichwort- und Motivverknüpfungen miteinander ver-
netzt.
3. Ehe die großen Prophetenbücher entstanden, gab es kleinere Sammlungen,
die in sich bereits redaktionell gestaltet waren.
– In Jes 5,8–24 findet sich eine Sammlung von Weherufen zu inneren Problemen
Judas und in Jes 28–32 eine solche zu außenpolitischen Problemen. In der zwei-
ten Sammlung folgt auf jedes Wehewort ein Heilswort, so dass Judas Weg (mehr-
fach?) „durch Unheil zum Heil“ führt.
– In das Jeremiabuch sind einige, ehedem separate Schriften integriert worden:
in Jer 21–23 eine über „Prophet und König“, in Jer 27–29 eine über „Prophet
gegen Prophet“, in Jer 30–33 ein sog. „Trostbüchlein“.
– In Ez 4f. wurde eine Sammlung von Berichten über prophetische Symbol-
handlungen zusammengestellt.
– In Hos 1–3 liegt eine kleine, ehedem separate Schrift vor über die Ehe des Pro-
pheten als Bild für das Verhältnis Jhwhs zu Israel.
– In Hos und Am wurden mittels diverser Nachträge Prophetien, die sich ur-
sprünglich an Nordisrael richteten, auf Juda bezogen und zugleich die beiden
Schriften aneinander angeglichen.
290 D. Die Hinteren Propheten

– In Sach 2–8 wurde eine Reihe sog. „Nachtgesichte“ zusammengestellt, die


deutlich schriftstellerische Gestaltung verrät.
– Die in mehreren Prophetenbüchern und -schriften begegnenden Sammlungen
von Fremdvölkerworten existierten möglicherweise zunächst separat und wur-
den erst nachträglich in den jetzigen Kontext eingestellt.
4. Eine noch kleinräumigere Fortschreibungstätigkeit betrifft oft nur einzelne
Prophetenworte: sei es, dass diese erklärt oder dass sie einer veränderten Situa-
tion angepasst werden sollen. Wiederum nur ein paar Beispiele:
– Das Gedicht von der zur Hure gewordenen Stadt Jerusalem, die Gott läutern
und wieder in ihren früheren Stand versetzen will (Jes 1,21–26), erhielt einen
Anhang, der die Unaufhebbarkeit des Unterschiedes zwischen Frommen und
Gottlosen betont (1,27f.).
– Der Auftrag an Jesaja, seine Landsleute zu verstocken (Jes 6,9f.), wird interpre-
tiert durch das Bild vom Baum, von dem nach dem Fällen noch ein Stumpf
bleibt, woran sich die Bemerkung schließt, dieser Stumpf sei „heiliger Same“
(6,13).
– In Jer 29 wird ein Brief Jeremias an die erste Gola zitiert: Man solle sich in
Babel einrichten, ja, sogar um das Wohl der Stadt besorgt sein (Jer 29,5–7). Die-
ser wahrhaft erregende Text gab zu mancherlei Klarstellungen Anlass: Prophe-
ten, die Günstigeres weissagten als Jeremia, seien Lügenpropheten (29,8f.); nach
70 Jahren werde sich das Geschick der Exulanten wenden (29,10); Gott habe
letztlich Heil, nicht Unheil im Sinn (29,11); er lasse sich von denen, die ihn su-
chen, auch im Exil finden (29,12–14).
– In Ez 18,1–9 findet sich eine Reaktion auf das geflügelte Wort von den Söhnen,
deren Zähne stumpf werden, weil die Väter saure Trauben gegessen haben: Nie-
mand müsse für die Sünden anderer, sondern nur für die eigenen büßen, so wie
jedem auch sein eigenes Rechttun angerechnet wird. Darauf folgen nun fast lega-
listische Ausführungen: Das Prinzip der Inividualhaftung gelte auch für den
Gerechten, der einen ungerechten Sohn hat (18,10–13), genauso wie für den
gerechten Sohn eines ungerechten Vaters (18,14–18). Nach einer nochmaligen
Feststellung des Prinzips (18,19f.) wird gefragt, wie das mit einem sei, der sich
vom Bösen zum Guten, und mit einem anderen, der sich vom Guten zum Bösen
verändere (18,21–29). Der Diskurs wird abgeschlossen mit einem Aufruf zu
rechtzeitiger Bekehrung (18,30–32).
– Die kleine Schrift über Hoseas Ehe endete einst in Hos 3,3f. mit der harschen
Mitteilung des Propheten an seine der Untreue verdächtige Frau, sie werde nun
für längere Zeit auf jeglichen Verkehr mit Männern, ihn selbst eingeschlossen, zu
verzichten haben – so wie Israel jetzt für lange Zeit auf König und Kult werde
verzichten müssen. Darauf folgt jetzt ein versöhnlicher Schluss: Israel werde sich
dereinst seinem Gott und dem König David (!) wieder zuwenden.
5. Zumindest in manchen Passagen der Prophetenbücher ist eine Redaktions-
tätigkeit festzustellen, die auf Eingriffe in das überlieferte Material verzichtet und
dieses lediglich zusammenstellt und anordnet. Vielleicht waren an dieser ersten
Verschriftungsstufe schon die Propheten selbst beteiligt (vgl. Jes 8,16; 30,8; Jer
I. Das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie 291

36); zumeist werden dafür aber andere, nämlich Anhänger des jeweiligen Pro-
pheten, gesorgt haben. Dies ist ja im Grunde genommen schon in Jer 36 der Fall,
wo neben Jeremia Baruch eine tragende Rolle spielt; vielleicht liegt in Jer 2–6
noch ein (Teil-?)Produkt ihrer Zusammenarbeit vor. Ähnliche, äußerst sparsam
redigierte Sammlungen sind Jes 41–45; Am 4–6; Mi 1–3.

Vor diesen fünf Stufen liegt das Prophetenwort – vielleicht. Auf weite Strecken,
zu dieser Einsicht gelangt die Forschung mehr und mehr, ist die alttestamentli-
che Prophetie ein vorrangig oder sogar ausschließlich schriftliches Phänomen.
Die mündliche Botschaft der Propheten, wo es eine solche gegeben hat, steht
naturgemäß nicht mehr zur Verfügung. Großenteils dürfte sie, wie die aller-
meisten Worte anderer Akteure der (Religions-)Geschichte Israels, in Verges-
senheit geraten sein. Und wo es zu schriftlichen Aufzeichnungen kam, da werden
– wegen der Vergänglichkeit des in Israel-Palästina benutzten Schreibmaterials –
auch diese verloren gegangen sein. Nur vergleichsweise wenige Dokumente blie-
ben bewahrt und gelangten in den biblischen Kanon, und auch sie nicht unver-
ändert, sondern in redigierter und hernach meist noch mehrfach abgewandelter
Form. Biblische Literatur ist nicht Archiv-, sondern Traditionsliteratur. Dies gilt
in erhöhtem Maße von der prophetischen Literatur. Die sog. Schriftpropheten
waren keine allgemein anerkannten Meinungsführer, sondern eher marginali-
sierte Oppositionelle. Nachrichten über sie und Worte von ihnen gelangten der
Nachwelt nicht deshalb zur Kenntnis, weil ihre Bedeutung sofort erkannt worden
wäre, sondern weil die Katastrophen von 722 und 587/86 und die Beinahe-Kata-
strophe von 701 sie bestätigten. Das prägte fortan das Bild des Propheten in den
Prophetenschriften. Und die Exegese tut gut daran, zwischen den originären
„Schriftpropheten“ und den späteren „Schreiber-Propheten“ keine überscharfen
Grenzen zu ziehen. Gleichwohl werden im nächsten Abschnitt die Propheten
selbst näher in den Blick genommen.

4. Die Propheten

Das Phänomen der Prophetie ist äußerst vielgestaltig. Das zeigt sich schon an der
Begrifflichkeit.
– Der Generalbegriff in der griechischen Bibel für Prophetie/prophezeien ist
προφήτης/προφητεύειν. Spätestens in christlicher Zeit und in den Bahnen des
Denkschemas von „Weissagung und Erfüllung“ verstand man die Wortgruppe
einseitig im Sinn eines „Vorhersagens von Zukünftigem“. Dabei bezeichnete sie
ursprünglich viel umfassender die „Funktion des Aussprechens, Verkündens,
Bekanntmachens“ (ThWNT VI, 794), im Falle von homines religiosi: das Auftre-
ten und Sprechen im Namen der Gottheit.
– Der hebräische Normalbegriff für „Prophet“ ist ‫( נביא‬nābî’), im ursprünglichen
Wortsinn vielleicht „Rufer“, eher „Gerufener“ bzw. „Berufener“. Hiervon gibt es
auch die weibliche Form (Ri 4,4; 2Kön 22,14; Jes 8,3) sowie die Pluralbildung ‫בני‬
292 D. Die Hinteren Propheten

‫„( הנבאים‬Prophetensöhne“). Amos möchte so nicht genannt werden (Am 7,14),


doch heißen sonst auch Schriftpropheten so (jedenfalls die jüngeren ab Jeremia),
aber auch Gestalten der Frühzeit wie Mose und Samuel (Dtn 34; 1Sam 3) sowie
generell die Propheten der Königsbücher tragen diesen Titel.
– Der ‫( ראה‬ro’æh) ist der „Seher“. Laut 1Sam 9,9 (vgl. auch Jes 29,10) ist dies der
ältere Wechselbegriff für ‫נביא‬, und tatsächlich wird er vor allem auf Figuren aus
der älteren Geschichte Israels angewendet: Bileam (Num 24), Samuel (1Sam 9).
Auch Amos (9,1) und Jesaja (6,1.5) berichten von Seher-Erfahrungen. Die Be-
zeichnung hebt die Visualität des Offenbarungsempfangs hervor.
– Gleiches gilt für den Begriff ‫( חזה‬chozæh) „Visionär“. Davids Berater Gad heißt
so (2Sam 24,11), doch anscheinend auch Schriftpropheten wie Amos, Jesaja und
Habakuk (vgl. Am 7,12; Jes 1,1; 2,1; 30,10; Hab 2,2f.); freilich können auch Geg-
ner der Schriftpropheten so bezeichnet werden (Jes 29,10; Mi 3,6f.).
– Als ‫’( אישׁ האלהים‬îš hā’ælohîm) „Gottesmann“ werden – mit der einzigen Aus-
nahme Davids (Neh 12,24.36; 2Chr 8,14) – nur als Propheten bekannte oder
erkennbare Personen bezeichnet: Mose (Dtn 33,1; Ps 90,1), Samuel (1Sam 9,6ff.),
Elija (1Kön 17,18.24; 2Kön 1,9ff.), Elischa (2Kön 4,7ff.), Schemaja (1Kön 12,22)
sowie einige Anonymi (1Sam 2,27ff.; 1Kön 13,1ff.; 1Kön 20,28); der Titel wird
stets mit großem Respekt vor der außergewöhnlichen Wirkmacht des Betreffen-
den gebraucht.

So facettenreich wie die Terminologie sind die Erscheinungsformen der Prophe-


tie; es lassen sich folgende Kategorien unterscheiden:
– Gruppenpropheten, die sich – oft unter Führung einer großen Prophetengestalt:
Samuel,Elija, Elischa – zu einer Art Orden zusammenschlossen, dem sich die
Mitglieder als „Söhne“ (‫ )בני הנביאים‬zugehörig fühlten und in dem eine bruder-
schaftliche Lebensweise und ekstatische, nicht-sprachliche Phänomene eine
wichtige Rolle spielten; Genossenschaften dieser Art sind nur für die frühe und
bis in die mittlere Königszeit bezeugt (1Sam 10,5f.10–13; 19,18–24; 1Kön
20,35ff.; 2Kön 2; 4; 9,1ff.);
– Hofpropheten, die den Königen beratend und helfend zur Seite standen, so
angeblich Samuel dem Saul (1Sam 9f.; 13), Gad und Natan dem David (1Sam
22,5; 2Sam 24 bzw. 2Sam 7; 1Kön 1), Elija, Elischa und weitere, namentlich nicht
genannte Propheten nordisraelitischen Herrschern (1Kön 18,41–46; 20; 22; 2Kön
3; 13,14–19), auch Jesaja dem Ahas und dem Hiskija (Jes 7; 37), Jeremia dem
Zidkija (Jer 38,14–28) und Sacharja dem Serubbabel (Sach 4,6–10); hofpro-
phetischen Geist atmen die meisten der Fremdvölkerorakel in den Propheten-
büchern;
– Tempelpropheten, die an Heiligtümern angestellt waren oder dort doch ihre
Dienste – namentlich die Erteilung von Orakeln an Amts- oder Privatpersonen
(Beispiel: Thr 3,57) – anboten; ihre enge kultische Bindung kommt in der häufig
wiederkehrenden (und meist negativ konnotierten) Wortverbindung „Priester
und Prophet(en)“ zum Ausdruck (z. B. 2Kön 23,2; Jes 28,7; Jer 2,8; 4,9; 8,1; 13,13;
26,16; 29,1; Mi 3,11); Hananja (Jer 28) dürfte ihr typischer Vertreter sein, doch
I. Das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie 293

werden ihnen immer wieder auch Nahum und Habakuk zugerechnet – höchs-
tens mit teilweisem Recht;
– oppositionelle Einzelpropheten, die weder an eine Gruppe noch an Hof oder
Tempel, die also nicht institutionell gebunden und dadurch prädestiniert sind zu
besonders freier Rede und unangepasstem Verhalten; die Erzählungen über
Ahija von Schilo (1Kön 14) und Micha ben Jimla (1Kön 22) geben ein besonders
klares Bild von ihnen. Gewiss sind auch ein Amos und ein Jeremia und wohl die
meisten der alttestamentlichen Schriftpropheten hierhin zu rechnen. Allerdings
sollten auch hier die Trennlinien nicht zu scharf gezogen werden: Einzelprophe-
ten erscheinen zuweilen als Führer von Prophetengruppen, dann wieder als Hof-
propheten; Hof- und Tempelpropheten werden zumindest in Jerusalem weitge-
hend identisch gewesen sein; beide können durchaus auch scharfe Kritik an den
herrschenden Kreisen üben. Besonders schwierig ist eine präzise Bestimmung
und Abgrenzung der Kategorie „oppositionelle Einzelpropheten“, in der sich
soziale („einzeln“) und inhaltliche („oppositionell“) Elemente mischen; warum
sollte es nicht oppositionelle Tempel- oder einzelne Hofpropheten gegeben
haben? Hier ist mit fließenden Übergängen zwischen den Kategorien und
auch mit einem Hinüber und Herüber bei einzelnen Prophetengestalten zu rech-
nen.

Aufschlussreich sind Blicke über die Hebräische Bibel und Altisrael hinaus in die alt-
orientalische Umwelt. Prophetie ist nämlich keineswegs ein nur biblisches Phänomen.
Sie begegnet ähnlich (und doch anders) auch in Nachbarkulturen (vgl. zum Folgenden
TUAT II.1). Schon aus der Zeit der Wende vom 3. zum 2. Jahrtausend sind prophetie-
artige Texte bekannt (z. B. die sog. Schulgi-Prophetie aus dem sumerischen Ur, 21. Jh.
v. Chr., sowie die sog. Weissagung des Neferti aus der ägyptischen 12. Dynastie, 20. Jh.
v. Chr.), die sich aber bei näherem Zusehen als reine vaticinia ex eventu, d. h. als Ge-
genwartsdeutung in Gestalt fiktiver Voraussagen, entpuppen. (Derlei gibt es, wohlver-
standen, auch im Alten Testament.) Echte Prophetien sind mittlerweile bekannt v. a.
aus Mari am Eufrat, wo in rund 30 Briefen aus der Umgebung des Königshauses auf
Prophetenauftritte Bezug genommen wird (18./17. Jh.); im Reisebericht des Wen-
Amun, in dem prophetische Ekstatiker in Byblos beschrieben werden (11. Jh.); aus
dem ostjordanischen Deir-Alla, wo eine außerbiblische Version der Prophetie des
auch aus Num 22–24 bekannten moabitischen Sehers Bileam aufgefunden wurde (um
700 v. Chr.); schließlich aus den Palastarchiven der neuassyrischen Könige Assarhad-
don (681–669) und Assurbanipal (629–627), wo ca. 30 Tontafeln mit prophetischen
Orakeln aufbewahrt wurden. Die in diesen Texten sichtbar werdenden Prophetinnen
und Propheten erinnern in Vielem an die des Alten Testaments: Sie treten als Boten
der sie sendenden Gottheiten auf, deren Worte sie – oft eingeleitet durch die sog. Bo-
tenformel – in der Ich-Form rezitieren. Ihre Sprache ist metaphernreich, zuweilen et-
was enigmatisch, aber durchaus rational nachvollziehbar. Sie reden auf Anfrage, aber
auch ungefragt. Sie inszenieren mitunter Zeichenhandlungen. Die Mitwelt begegnet
ihnen überwiegend mit Respekt, zuweilen aber auch mit Misstrauen und Abneigung.
Dabei sind es – abgesehen einzig von Bileam – prinzipiell nur Heilsbotschaften, die sie
überbringen: Zusagen persönlichen Wohlwollens und Schutzes, Ermutigungen zu tat-
kräftigem Handeln, allenfalls Warnungen vor drohenden Gefahren oder Mahnungen
zu angemessenem Verhalten. Auch das alles gibt es bekanntlich im Alten Testament.
294 D. Die Hinteren Propheten

Doch derart umfassende und vernichtende Anklagen und Ansagen, wie sie von bibli-
schen Propheten überliefert sind, sucht man im alten Orient vergeblich. Kritik an
herrschenden Zuständen oder am Königshaus betrifft einzig die angebliche oder wirk-
liche Vernachlässigung kultischer Obliegenheiten. Dazu passt, dass die prophetischen
Sprecher und Sprecherinnen fast sämtlich am Königshof oder an königlich geför-
derten Heiligtümern angestellt oder diesen zumindest zugeordnet sind, also zu den
Kategorien der Hof- und Tempelpropheten gehören.

Was lässt sich angesichts der vielfältigen und variantenreichen Erscheinungs-


formen von Prophetie als deren gemeinsamer Nenner, als das „eigentlich Pro-
phetische“ bestimmen? WEIPPERT (Aspekte, FS Deller, 289f.) bietet folgende, das
inner- und das außerbiblische Material einbeziehende Definition: „Ein(e) Pro-
phet(in) ist eine Person männlichen oder weiblichen Geschlechts, die 1. in einem
kognitiven Erlebnis, einer Vision, Audition, einem Traum o.ä., der Offenbarung
einer Gottheit oder mehrerer Gottheiten teilhaftig wird, und 2. sich durch die
betreffende(n) Gottheit(en) beauftragt weiß, die Offenbarung in sprachlicher
oder metasprachlicher (Symbol- oder Zeichenhandlungen) Form an einen Drit-
ten, den eigentlichen Adressaten, zu übermitteln“. Das Hauptmerkmal der Pro-
phetie ist also der Anspruch der Gottunmittelbarkeit. Die Normalsterblichen
bekommen über sie Einblick in eine Welt, die ihnen sonst verschlossen ist und
die doch über ihr Leben und Schicksal bestimmt.
Propheten und Prophetinnen sagen – entgegen landläufigem Verständnis –
keineswegs nur Zukünftiges voraus. Was die Gottheit ihnen eröffnet hat, kann
wie die Zukunft, so auch die Gegenwart und die Vergangenheit betreffen. Dank
ihrem direkten Kontakt zur Transzendenz vermögen sie nicht nur vorherzusa-
gen, was kommt, sondern auch hervorzusagen, was verborgen ist und was alle
wissen möchten oder sollten, aber nicht wissen können oder wollen.
Um ihren Adressaten ihre Botschaften zu übermitteln, benutzen die bibli-
schen Propheten eine geschliffene, bilderreiche, manchmal schockierende, aller-
meist hochpoetische Sprache. Zudem bedienen sie sich der unterschiedlichsten
Sprachformen; kaum ein Lebens- und Sprachbereich, aus dem sie nicht ihnen
geeignet Erscheinendes entlehnt hätten.

Hier einige Beispiele, paradigmatisch dem Protojesajabuch entnommen und mit


knappen Hinweisen zum ursprünglichen Gebrauch der Redeformen versehen:
– In Jes 5,1 scheint Jesaja ein Liebeslied anzustimmen (das dann aber jäh in eine An-
klage umschlägt): „Singen will ich von meinem Freund, das Lied meines Freundes von
seinem Weinberg“. Im „Lied der Lieder“ ist der „Freund“ oder „Geliebte“ ständige
Anrede im Munde der Geliebten (z. B. Hld 7,11.12) und der „Weinberg“ bevorzugte
Metapher für die Geliebte (z. B. Hld 7,13).
– In Jes 1,10–17 verkündet der Prophet eine (ins Negative gewendete) Priestertora:
Gott weist all die Opfer und Feste und Lieder und Gebete, mit denen man sich ihm
nähert, zurück; man möge stattdessen Gerechtigkeit üben! Nach dem Buch Leviticus
haben die Priester über der Korrektheit und Gottwohlgefälligkeit der Opfer zu wachen
(Lev 1–7; 11) und für gerechte Verhältnisse unter den Jhwh-Gläubigen zu sorgen (Lev
19–26).
I. Das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie 295

– Zuweilen führen Propheten Disputationsreden, wie sie in der weisheitlichen Bildung


gepflegt worden sein dürften. In Stellen wie Jes 28,7–13; 31,1–3 dürften sich Aus-
einandersetzungen spiegeln, in denen der Prophet mit geistlichen und weltlichen Rat-
gebern des Königshofes darum streitet, was „Einsicht“ und was „weise“ sei. Als profa-
ne Parallele diene der Beraterwettstreit in 2Sam 17,1–13.
– Verschiedentlich ahmen die Propheten Plädoyers vor Gericht nach. Jes 1,2f. ist eine
Zeugenanrufung von „Himmel und Erde“ (vgl. die profane Parallele in Rut 4,9), Jes
3,13–15 eine Anklagerede gegen die „Ältesten und hohen Beamten“ Judas (vgl. Jer
26,11), Jes 5,3f. eine Aufforderung zur Urteilsfindung gegen Jhwhs „Weinberg“ (vgl.
1Sam 24,13)
– In Jes 1,21–23 klingt ein Klagelied auf (allerdings nicht auf eine verstorbene Person,
sondern auf die noch sehr lebendige, aber todgeweihte Stadt Jerusalem): „Ach, wie ist
zur Hure geworden die treue Stadt, die angefüllt war von Recht, in der Gerechtigkeit
wohnte“… Es gilt in der ersten Zeile den Ausklang jedes Wortes mit einem klagenden
„-ah“ sowie den schmerzhaft-hinkenden Rhythmus 3 + 2 mitzuhören. Der erste Satz
der biblischen „Klagelieder“ ist im gleichen Rhythmus gehalten und lautet: „Ach, wie
sitzt so einsam die Stadt, einst reich an Volk!“ (Thr 1,1); auch David unterstreicht in
den Klagen um Saul, Jonatan und Abner (2Sam 1,17ff.; 3,33) den Schmerz des Ver-
lustes durch die Rühmung der einstigen Größe dieser Männer.
– In Jes 1,4 ist ein Weheruf zu vernehmen: „Wehe (hôj) dem sündigen Volk, der Na-
tion schwer von Schuld, dem Samen von Bösewichtern, den verderbten Söhnen! Sie
haben Jhwh vergessen…“ Bei der Bestattung eines „Gottesmannes“ rufen die Trau-
ernden: „Ach (hôj), mein Bruder!“ (1Kön 13,30), und um den König Jojakim soll nicht
geklagt werden: „Ach (hôj), mein Bruder, ach meine Schwester, ach Herr, ach, seine
Herrlichkeit!“ (Jer 22,18) Prophetische Weherufe (vgl. die Sammlung in Jes 5,8–24
und 28–31) sind also im Grunde Todesrufe.

Eine Redegattung ist genuin prophetisch, hat aber ebenfalls profane Wurzeln. In
Jes 7,3f.7 findet sich der Bericht von einer Botenbeauftragung: „Jhwh sagte zu
Jesaja: Geh hinaus [dem König] Ahas entgegen… und sage zu ihm: … So spricht
der Herr Jhwh“… Ganz ähnliche Botenbeauftragungen finden sich in den Er-
zählungen der Genesis. Jakob sendet, kurz vor der Begegnung mit Esau, diesem
Boten entgegen; „und er befahl ihnen: So sollt ihr zu meinem Bruder Esau sagen:
So spricht dein Knecht Jakob: Bei Laban weilte ich“… (Gen 32,5). Und Josef
sendet zu Jakob: „(Er sagte zu seinen Brüdern:) Geht hinauf zu meinem Vater
und sagt zu ihm: So hat dein Sohn Josef gesprochen: Gott hat mich zum Herrn
über ganz Ägypten eingesetzt“ … Ein Bote hat demnach beim Adressaten seine
Funktion durch die sog. Botenformel („So spricht XY“) auszuweisen und dann
die ihm aufgetragene Botschaft in der Ich-Rede des Sendenden vorzubringen. Er
ist gleichsam Sprachrohr oder Tonträger, verantwortlich nicht für den Inhalt des
Mitzuteilenden, sondern dafür, dass dieses ohne Verfälschung vom Auftraggeber
an den Adressaten gelangt. Ganz in diesem Stile wird Jesaja zu einem hohen
Beamten namens Schebna gesandt: „So hat der Herr Jhwh Zebaot gesprochen:
Geh hinein zu diesem Verwalter… [es fehlen die Elemente: … und sage: Jhwh
hat gesagt:] Ich werde dich aus deinem Amt stoßen!“ (Jes 22,15.19) Judäischen
Großgrundbesitzern hat der Prophet zu melden, Jhwh Zebaot habe ihm ins Ohr
gesagt (ein Ersatz für die Botenformel!), dass ihre schönen großen Häuser dem-
296 D. Die Hinteren Propheten

nächst verwüstet und leer stehen und ihre vielen Äcker und Weinberge nur lä-
cherlichen Ertrag bringen würden (Jes 5,8–10). Hier kommen einige Besonder-
heiten der prophetischen Botenrede zum Vorschein: Die Qualifizierung der
Adressaten als rücksichtloser Landhaie (5,8) geht gleichsam noch auf die eigene
Rechnung des Propheten; dann erst folgt der Verweis auf das Reden Jhwhs (5,9b)
und schließlich die Mitteilung dessen, was mit den zusammengerafften Häusern
und Feldern geschehen wird (5,9b.10). Die Zukunftsansage verantwortet also der
Prophet nicht mehr, für sie beruft er sich auf Gott. Bemerkenswert ist dabei die
enge Entsprechung zwischen dem Schuldaufweis (indem die Attackierten Güter
zusammenraffen, berauben sie andere ihrer Existenz und bleiben am Ende allein
als Vollbürger übrig) und der göttlichen Strafansage (das Zusammengeraffte
wirft keinen Gewinn ab, sondern bringt Verluste, ja den Tod). Diese Zweiteilig-
keit prophetischer Gerichtsreden hat man mit verschiedenen Begriffen belegt:
Scheltwort–Drohwort, Beschreibung der Lage–Benennung der Konsequen-
zen, Gegenwartsanalyse–Zukunftsansage. Weitere Beispiele – bei denen je-
weils die Botenformel zwischen die beiden Hälften der Prophetenrede tritt –
finden sich etwa in Am 4,1–3; 5,1–3; Mi 2,1–3 sowie in der Erzählung 1Kön
21,17–19.
Die Propheten haben nicht nur durch die Selbstdeklaration als Gottesboten,
sondern auch auf andere Weise ihr Reden als von Gott her kommend legitimiert.
Immer wieder werden prophetische Reden eingeleitet mit der sog. Wortereig-
nisformel („Und das Wort Jhwhs geschah zu XY“) oder wird auf sie zurückver-
wiesen mit der sog. Erfüllungsformel (dies oder jenes geschah „gemäß dem Wort
Jhwhs, das er geredet hatte durch XY“); prophetische Botschaften werden am
Schluss bekräftigt mit „Spruch Jhwhs“ oder „Ja, der Mund Jhwhs hat’s geredet“.
Von vielen Propheten gibt es Darstellungen ihrer Berufung; verschiedentlich
kommt darin ein starkes eigenes Widerstreben zum Vorschein, was klar macht,
dass diese Männer sich nicht nach ihrem Auftrag gedrängt haben (Jes 6; Jer 1; Ez
1–3; Am 7–9*; Jona 1; vgl. Ex 3; 1Kön 22). Jesaja beschreibt sich als von Gottes
Hand „gepackt“ (Jes 8,11); von Jeremia sind Gebete überliefert, die ihn als von
Gott zum Prophetenamt genötigt zeigen (Jer 15,15–18; 20,7–9); Ezechiel fühlt
sich gezwungen, eine Buchrolle voller Unheilsbotschaften förmlich zu verspeisen
(Ez 2,9–3,3); dem Jeremia schwinden beim Offenbarungsempfang die Sinne (Jer
23,9), Habakuk beschreibt ihn als äußerst schmerzhaften Vorgang (Hab 3,16),
ein anderer Prophet vergleicht ihn mit den Presswehen einer Gebärenden (Jes
21,3).
Wir berühren damit einen Zug der Prophetie, der tief in ihr verwurzelt und
inner- wie außerbiblisch (vgl. TUAT II/1, 92f.) belegt ist: die Ekstase. Schon die
erste in der Bibel geschilderte Prophetengenossenschaft befindet sich im Zustand
der Raserei, als Saul auf sie trifft und von ihr in den Bann gezogen wird (1Sam
10,10–13, vgl. 19,18–24). Das von nābî’ abgeleitete Verb hinnabê’ (Hitp. von nb’)
bedeutet nicht nur „als Prophet reden“ (z. B. 1Kön 22,8.18), sondern oft geradezu
„in Verzückung geraten, rasen“ (z. B. Num 11,24–30; 1Sam 10,5f.; 18,10; 1Kön
18,29). Elischa, als er auf einem Feldzug um ein Orakel angefragt wird, muss sich
I. Das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie 297

erst durch Musik in Trance bringen lassen, bis „die Hand Jhwhs über ihn
kommt“ (2Kön 3,15). Es gibt prophetische Symbolhandlungen, die man eher von
Psychopathen erwarten würde (Ez 4f.; 24,15–18; vgl. auch Jes 20; Jer 16,1–9). In
der Tat galten die Propheten wegen ihres ungewöhnlichen Verhaltens manchen
als verrückt („meschugge“: 2Kön 9,11; Jer 29,26; Hos 9,7).
Die ekstatischen (oder auch exzentrischen) Phänomene sind nichts anderes
als sinnenfälliger Ausdruck des Kontakts zur Transzendenz. Wenn ein Prophet,
eine Prophetin einfach nur wäre wie alle anderen, wie könnte dann der Anspruch
auf Gottunmittelbarkeit glaubhaft sein? Freilich kann, mit welchen Worten und
Handlungen auch immer, der Beweis des Gesandtseins durch die Gottheit kaum
je zweifelsfrei erbracht werden. Immer besteht der Verdacht, der oder die Be-
treffende gebärde sich nur prophetisch. In Mari wurden von Prophetinnen und
Propheten, die Warnungen an den König gerichtet hatten, „Haarschopf und
Gewandsaum“ zum Pfand genommen, damit man sie hernach bei ihrer Botschaft
behaften konnte (TUAT II/1, 90.92.93). Der israelitische Schwarzseher Micha
ben Jimla wurde gleich persönlich in Haft genommen (1Kön 22,26f.). Besonders
schwer durchschaubar wurde die Situation, wenn in einer bestimmten Angele-
genheit Prophetenwort gegen Prophetenwort stand. Das klassische Beispiel ist
der Zusammenprall zwischen Jeremia und Hananja: Beide Propheten traten sehr
bestimmt im Namen Jhwhs auf, beide vollzogen eindrucksvolle Zeichenhandlun-
gen – und doch konnte nur einer im Recht sein (Jer 27f.; vgl. ähnlich schon 1Kön
22,5–20). In den biblischen Prophetenbüchern kehrt das Thema „Prophet gegen
Prophet“ oder „Wahre und falsche Prophetie“ immer wieder. Es gibt beißende
Kritik der Oppositionspropheten an ihren Gegenspielern, die das sagen, was ihre
Brotgeber von ihnen erwarten (Mi 3,5) oder was ein Lügengeist (1Kön 22,22f.)
oder eitle Wunschträume (Jer 6,14; 23,16; 29,9) ihnen eingeben. Natürlich zahlte
die Gegenseite mit gleicher Münze zurück – wie konnten Außenstehende wissen,
wer im Recht war? Ein eher hilfloser Versuch, dem Problem beizukommen, wird
im Prophetengesetz des Deuteronomiums unternommen: Der Prophet, der
Recht behält, ist der wahre (Dtn 18,21f.); das mag in der Regel stimmen, doch
gibt es von nicht als „falsch“ verschrienen Propheten unerfüllte Weissagungen
(z. B. 1Kön 21,19; Jes 43,14; 45,2f.; Jer 22,18f.); vor allem lässt sich dieser Maßstab
immer erst im Nachhinein anwenden. Die Prophetenbücher selbst bieten etwas
besser handhabbare Kriterien: Ein Prophet, der nicht den Normen biblischer
Ethik genügt, macht sich verdächtig (Jer 23,14); und: Ein Heils- steht eher als ein
Unheilsprophet (Jer 28,8f.) und ein beamteter eher als ein freier Prophet (Am
7,14f.; Mi 3,5.8) im Verdacht der Gefälligkeitsprophetie.
Wir sind mit diesen Darlegungen tief in eine Sphäre vorgedrungen, die weit
hinter den jetzt vorliegenden Prophetenbüchern liegt. In den Blick kamen pro-
phetische Gestalten, die konkreten Adressaten bestimmte Botschaften übermit-
telten. In der Tat lassen die Prophetenschriften ungezählte solcher Szenerien
zumindest schemenhaft vor Augen treten. Dennoch muss man sich klar machen,
dass es in der Bibel nur schriftliche, keine mündlichen Prophetenworte gibt, dass
wir über keine Auftrittsprotokolle verfügen, sondern nur über schriftliche Ar-
298 D. Die Hinteren Propheten

rangements prophetischer Auftritte und Reden. Der Weg vom einen zum andern
muss nicht immer sehr lang gewesen sein. Und doch sind die Prophetenschrif-
ten, wie die allermeisten Schriften des Alten Testaments, insgesamt Traditions-
literatur. Das heißt, Erinnerungen an und Überlieferungen von Propheten wur-
den bewahrt und in neue Situationen und Zeiten übertragen, wobei sie starken
Veränderungen unterworfen waren. Und dies nicht nolens volens, etwa weil die
Übermittlungswege und -medien Exaktheit verhinderten, sondern mit vollem
Bewusstsein. Denn das Proprium der alttestamentlichen Prophetie ist nicht
eigentlich ihre Mündlichkeit – Prophetie in Israel und im Orient war grundsätz-
lich mündlich –, sondern gerade ihre Schriftlichkeit. In den Palastarchiven von
Mari und Ninive fanden sich zwar schriftliche Aufzeichnungen von Propheten-
worten, und zwar in relativ verlässlicher, die mündliche Botschaft recht genau
wiedergebender Form; doch diese Prophetien waren archiviert, d. h. dem öffent-
lichen Diskurs entzogen und damit bald ein reines Vergangenheitsphänomen.
Nicht so in Israel. Hier dürften zwar Prophetenworte ebenso aufgezeichnet und
womöglich archiviert worden sein, nur (leider) auf vergänglicherem Material als
auf Tontafeln. Doch in Israel und Juda wurde Prophetie auch und vor allem
tradiert und dabei transformiert. Ein wichtiger Auslöser dazu war sicher, dass
gerade die Oppositionspropheten, die zu ihrer Zeit wenig geschätzt waren und
die man am liebsten bald verdrängt hätte, durch die politischen Katastrophen
Israels und Judas auf drastische Weise ins Recht gesetzt wurden. Diese Erfahrung
nährte die Überzeugung, dass gerade ihre Botschaften in der jeweiligen Ur-
sprungssituation nicht auf- und also mit dieser nicht untergingen. So zeitbezogen
sie von Haus aus waren: Sie bargen einen Überschuss, der gleichsam überzeitlich
war, ein Wissen von Gott und Mensch, das über Normalmaß weit hinausging.
Das machte sie kostbar auch für künftige Generationen. Freilich mussten diese
jeweils erst herausfinden, worin ihre bleibende Gültigkeit bestand, und dazu
mussten sie sich die überkommenen Prophetien anverwandeln. Auf diese Weise
erstarrte die prophetische Überlieferung in Israel und Juda nicht zur Buchsta-
benprophetie, sondern blieb lebendiger Geist. Aus eben diesem Grund sind die
späteren „Buchpropheten“ nicht minderwertiger als die alten „Schriftpropheten“.
Die „ipsissima vox prophetarum“ kann auch in spätesten Stücken zu vernehmen
sein.
Anscheinend besaßen schon die „Schriftpropheten“ – und darum tragen
sie diesen Titel mit einem gewissen Recht – ein Bewusstsein der Überzeitlich-
keit ihrer Botschaften und gaben deshalb schon selbst Anstöße zu dem Über-
lieferungsprozess, der am Ende zu den nach ihnen benannten Büchern führ-
ten.

– Amos musste, nachdem er wegen seiner radikalen Unheilsbotschaft in Israel untrag-


bar geworden war, in seine judäische Heimat zurückkehren (7,10–17). Von dort aus
konnte er bzw. konnten seine Schüler beobachten, wie seine düsteren Voraussagen in
Erfüllung gingen, der Staat Israel in Turbulenzen geriet und unterging. In Juda begriff
man das als Warnzeichen (vgl. etwa „Zion“ in 6,1 und „Beerscheba“ in 8,14 oder die
ethischen Admonitive in 5,14f.).
I. Das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie 299

– Jesaja scheiterte mit seiner politischen Botschaft sowohl im syrisch-efraimitischen


Krieg 734/33 v. Chr. als auch in der Assyrerkrise 705–701 v. Chr. Doch das eine Mal
„versiegelt“ er die „Weisung“ in seinen „Schülern“ und ist überzeugt, er und die „Kin-
der“ würden zu „Zeichen“ (für das nämlich, was kommt: 8,16.18), das andere Mal
vernimmt er den Auftrag: „Geh hinein und schreib es auf eine Tafel und zeichne es
auf in einem Buch, damit es für einen künftigen Tag zum Zeugen werde auf immer!“
(30,8) Die Botschaft wird also zum „Zeugnis“ auf eine Zeit hin, wo man sie verstehen
wird.
– Habakuk, der durch die Nichterfüllung seiner prophetischen Ankündigung schwer
enttäuscht worden ist, stellt sich auf einen Turm (!), hält Ausschau nach dem, was da
kommt – und verlangt Auskunft von seinem Gott (2,1). Die Antwort: „Schreib das
Gesicht auf und beurkunde [es] auf den Tafeln, damit der, der es ausruft, loslaufen
kann. Denn noch ist es ein Gesicht auf bestimmte Zeit, und es ist ein Zeuge fürs Ende,
und es trügt nicht“ (2,2f.). Die Verschriftung der Botschaft dient also dem späteren
Erweis ihrer Wahrheit.
– Jeremia erhält von Jhwh den Befehl: „Nimm dir eine Buchrolle und schreibe in sie
alle Worte, die ich dir gesagt habe über Israel und über Juda und über alle Völker“
(36,2); daraufhin diktiert der Prophet seinem Freund, dem Schreiber Baruch ben
Nerija, was er in den Jahren zuvor verkündigt hat (wohl nicht die erste, aber die erste
schriftlich bezeugte Prophetenbuchrolle!). König Jojakim, dem sie verlesen wird,
meint die Botschaft aus der Welt schaffen zu können, indem er die Rolle in Streifen
schneidet und verbrennt (die erste schriftlich bezeugte Buchverbrennung!), doch Je-
remia und Baruch fertigen eine neue, noch ausführlichere Rolle an. Diese dürfte zum
Grundstock des entstehenden Jeremiabuchs geworden sein.

Solche, von den Propheten selbst gegebenen Anstöße zu schriftlicher Traditions-


bildung wurden in prophetisch inspirierten Kreisen aufgenommen und weiter-
geführt, wobei die mündliche zunehmend abgelöst wurde durch schriftliche
Prophetie. Die alten Botschaften lösten sich aus ihren Ursprungssituationen und
passten sich neuen Situationen an. Was sie von ihrer ursprünglichen Konkretheit
verloren, gewannen sie an neuer Aktualität hinzu. Zudem setzten sie neue, kon-
krete Prophetien aus sich heraus, die wiederum tradiert, interpretiert und redi-
giert wurden. Im Zug des Überlieferungsprozesses wurde aus Zeit- und Situa-
tionsgebundenheit mehr und mehr Überzeitlichkeit und Allgemeingültigkeit.
Am Ende stand das einzigartige Phänomen der biblischen Prophetie.
300 D. Die Hinteren Propheten

II. Das Jesajabuch


Kommentare (nach den Autorennamen die jeweils ausgelegten Kapitel): B. DUHM, 1–66, 1892, 41922
(GHKAT). – G. FOHRER, 1–23, 1960, 31991; 24–39, 1962, 31991; 40–66, 1964, 21986 (ZBK.AT). – O.
KAISER, 1–12, 1960, 51981; 13–39, 1973, 31983 (ATD). – H. WILDBERGER, 1–12, 1972, 21980; 13–27,
1978; 28–39, 1982 (BKAT). – K. ELLIGER, 40–45, 1978, 21989 (BKAT). – C. WESTERMANN, 40–66,
1966, 41981 (ATD). – R. KILIAN, 1–12, 1986; 13–39, 1994 (NEB). – P. HÖFFKEN, 1–39, 1993; 40–66,
1998 (NSK.AT). – M. A. SWEENEY, 1–39, 1996 (FOTL). – K. BALTZER, 40–55, 1999 (KAT). – B. S.
CHILDS, 1–66, 2001 (OTL). – J. BLENKINSOPP, 1–39, 2000; 40–55, 2002; 56–66, 2003 (AB). – W. A. M.
BEUKEN, 1–12, 2003 (ThKAT). – H.-J. HERMISSON, 45–49, 2003 (BKAT). – G. GOLDINGAY / D.
PAYNE, 40–55, 2 Bde. 2006 (ICC). – U. BERGES, 40–48, 2008 (HThKAT). – R. R. LESSING, 40–55, 2011
(Concordia Commentary). – S. M. PAUL, 40–66, 2012 (Eerdmans Critical Commentary).
Textgeschichte: R. L. TROXEL, LXX-Isaiah as Translation and Interpretation. The Strategies of the
Translator of the Septuagint of Isaiah, Leiden / Boston 2007 (Suppl. to the Journal for the Study of
Judaism 124).
Forschungsberichte: M. A. SWEENEY, The Book of Isaiah in Recent Research: CR.BS 1 (1993), 141–
162. – P. HÖFFKEN, Jesaja. Der Stand der theologischen Diskussion, Darmstadt 2004. – Themenheft
„Jesaja“, BiKi 61 (2006), 189–243.
Auslegungsgeschichte: J. BLENKINSOPP, Opening the Sealed Book. Interpretations of the Book of Isaiah
in Late Antiquity, Grand Rapids 2006. – C. M. MCGINNIS / P. K. TULL (eds.), „As Those Who Are
Taught“: The Reception of Isaiah from the LXX to the SBL, Atlanta 2006. – R. L. WILKEN (trans. and
ed.), with A. R. CHRISTMAN / M. J. HOLLERICH, Isaiah. Interpreted by Early Christian and Medieval
Commentators, Grand Rapids 2007 (The Church’s Bible).

Die 66 Kapitel des Jes-Buchs sind in sich schon eine kleine, über Jahrhunderte
gewachsene prophetische Bibliothek. Es begegnen darin höchst unterschiedliche
Themen und Formen. Da wird Kritik geübt an inneren Zuständen in Juda, da
rücken Kriegsbedrohung und Fremdherrschaft vor Augen, da gibt es hinreißende
Verheißungen einer neuen, guten Zukunft, da wird Gericht angedroht gegen
fremde Völker, da öffnen sich Ausblicke auf das Ende der Zeiten und die Zu-
kunft der ganzen Welt. An Formen finden sich Einzelsprüche verschiedenster
Gattung (z. B. Bänkellied, Leichenlied, Heilsorakel, Gerichtsplädoyer, Orakel-
antwort, Mahnrede, Droh- und Scheltrede, Diskussionswort, Heroldsruf, Hym-
nus, Volksklage u. a. m.), ferner große, mehrstrophige Gedichte (z. B. in Jes 2
und 5), Spruchreihen (z. B. Weherufe in Jes 5 und 28–31), thematische Kompo-
sitionen (z. B. in Jes 1 über die Botschaft Jesajas, in Jes 7f. über den syrisch-
efraimitischen Krieg, in Jes 13–23 über Nachbarvölker, in Jes 28–31 über die
assyrische Bedrohung, in Jes 45–49 über Babylon und Kyros), vereinzelt finden
sich auch Erzählungen (Ich-Berichte in Jes 6 und 8, Fremdberichte in Jes 7 und
20) und sogar ein ganzer Erzählkranz (über Jesaja, Hiskija und die Bedrohung
Jerusalems durch Sanherib, Jes 36–39).
Gleichwohl ist das Jes-Buch kein zufällig zustande gekommenes Konglomerat,
sondern eine mit Bedacht angelegte Komposition. Schon dem oberflächlichen
Blick zeigt sich, dass das Buch im Prinzip chronologisch angeordnet ist: Der erste
Buchteil (bis Jes 39) handelt vom Juda der Königszeit, genauer: des ausgehenden
8. Jh.s, der zweite (bis Jes 55) von der Babylonischen Gefangenschaft und ihrem
Ende im 6. Jh., der dritte (Jes 56–66) vom Juda der frühnachexilischen Zeit, etwa
II. Das Jesajabuch 301

im 5. Jh. Die Buchüberschrift Jes 1,1 versetzt die Leserschaft in die „Tage der
judäischen Könige Usija, Jotam, Ahas und Hiskija“, also ins 8. Jh.; alles, was folgt,
soll als „Schauung“ des damals lebenden Propheten Jesaja begriffen werden.
Dieser nahm demnach nicht nur Einfluss auf seine Zeit, sondern er nahm die
kommenden Zeiten bis über das Exil hinaus vorweg. Aus der geschichtlichen
Anordnung des Buchs resultiert ein thematischer Spannungsbogen: Man sieht,
gleichsam mit den Augen Jesajas, schweres göttliches Gericht auf das Königreich
Juda zukommen, man sieht mit ihm voraus, dass Gott sich seinem von dem Ge-
richt getroffenen Volk wieder zuwenden und ihm helfen wird, und man sieht mit
seinem prophetischen Blick, wie Gottes Volk sich jenseits des Gerichts neu kon-
stituiert.

1. Gesamtkomposition (Jes 1–66)


R. RENDTORFF, Zur Komposition des Buches Jesaja: VT 34 (1984), 295–320. – C. A. EVANS, To See
and Not Perceive. Isaiah 6.9–10 in Early Jewish and Christian Interpretation, 1989 (JSOT.S 64). –
C. R. SEITZ, Zion’s Final Destiny, Minneapolis 1991. – O. H. STECK, Der Abschluß der Prophetie im
Alten Testament, 1991 (BThSt 17). – K. PFISTERER DARR, Isaiah’s Vision and the Family of God,
Louisville KY 1994. – R. H. O’CONNELL, Concentricity and Continuity. The Literary Structure of
Isaiah, 1994 (JSOT.S 188). – B. M. ZAPFF, Schriftgelehrte Prophetie. Jes 13 und die Komposition des
Jesajabuches, 1995 (FzB 74). – R. F. MELUGIN / M. A. SWEENEY (eds.), New Visions of Isaiah, Sheffield
1996. – U. BERGES, Das Buch Jesaja. Komposition und Endgestalt, Freiburg u. a. 1998 (Herders Bibli-
sche Studien 16). – Z. KUSZTÁR, „Durch seine Wunden sind wir geheilt“. Eine Untersuchung zur
Metaphorik von Israels Krankheit und Heilung im Jesajabuch, 2002 (BWANT 154). – K. SCHMID,
Herrschererwartungen und -aussagen im Jesajabuch. Überlegungen zu ihrer synchronen Logik und
zu ihren diachronen Transformationen, in: Ders. (Hg.), Prophetische Heils- und Herrschererwartun-
gen, 2005 (SBS 194), 37–74. – D. JANTHIAL, Le livre d’Isaïe ou la fidélité de dieu à la maison de David,
2007 (CEv 142). – J. FERRY, Isaïe: „Comme les mots d’un livre scellé …“, Paris 2008. – G. EIDEVALL,
Prophecy and Propaganda. Images of Enemies in the Book of Isaiah, Winona Lake, IN 2009. – T.
UHLIG, The Theme of Hardening in the Book of Isaiah. An Analysis of Communicative Action, 2009
(FAT 2/39). – U. BERGES, Jesaja. Der Prophet und das Buch, Leipzig 2010 (Biblische Gestalten 22). –
B. HROBON, Ethical Dimension of Cult in the Book of Isaiah, 2010 (BZAW 418). – B. H. LIM, The
„Way of the LORD“ in the Book of Isaiah, 2010 (LHBOTS 522). – U. F. BERGES, Isaiah. The Prophet
and His Book. Transl. Philip Sumpter, Sheffield 2012.

a) Struktur, Inhalte und „Sitz im Leben“ des Jesajabuchs

Außer dem großen (zeit)geschichtlichen Bogen, der sich über das Jes-Buch
spannt, gibt es eine Reihe einzelner Themen, die sich durch die verschiedenen
Teile des Buchs hindurch verfolgen lassen.

Wenig fruchtbar erscheint O’CONNELLs Versuch, das Jes-Buch als formal durchgestal-
tete Einheit zu erfassen. Angeblich ist es planvoll aus sieben „rhetorischen“ Einheiten
zusammengesetzt (1,1–2,5; 2,6–22; 3,1–4,1; 4,2–12,6; 13,1–39,8; 40,1–54,17; 55,1–
66,24), in denen jeweils um eine Mittelachse herum eine Vielzahl rhetorischer Ele-
mente spiegelbildlich angeordnet ist. Im Einzelfall ist das gar nicht unplausibel (etwa
bei Jes 1 oder auch bei Jes 55–66, s. unten II.2). Doch abgesehen von dem eklatant
302 D. Die Hinteren Propheten

unterschiedlichen Umfang dieser „Einheiten“ (zuerst drei einzelne Kapitel, dann


gewaltige Abschnitte) fragt sich, wer wann das Jes-Material in eine derart diffizile
Form gebracht – und wer beim Lesen diese Formgebung bemerkt haben sollte. Nicht
durchsetzen dürfte sich auch FERRYs Versuch, das Jes-Buch als ganzes aufzuteilen in
zwei mathematisch ziemlich gleich große Teile: Kap. 1–33 und 34–66. Deutlich in die
Augen springen dagegen durchlaufende inhaltliche Züge, die zugleich Einblick geben
in die Inhalte und die Eigenart dieses komplexen Prophetenbuches. Im Folgenden sol-
len acht von ihnen hervorgehoben werden. (FERRY behandelt recht sorgfältig vier:
Verstockung, Gerechtigkeit, Gottesknecht[e], Zion.)

Juda und die Völkerwelt: Die quasi-chronologische Anordnung des Jes-Buchs


wird ermöglicht bzw. ist bedingt durch das regelmäßige Auftreten verschiedener
Völker, welche die Geschichte Judas vom 8. bis zum 5. Jh. bestimmt haben (vgl.
zum Folgenden auch die Darstellung EIDEVALLs). Im großen Fremdvölkerzyklus
Jes 13–23 werden sie gleichsam synchron auf die Bühne beordert: Babylon,
Assur, Philistäa, Moab, Edom, Aram-Damaskus, Nordisrael, Ägypten-Kusch,
Kedar (Arabien), Tyrus, Sidon; nur Persien fehlt noch, dafür taucht überra-
schend Juda selbst auf (Jes 22). Doch die Völker sind schon vorher im Jes-Buch
präsent. Nach der berühmten Weissagung 2,2–5 werden sie „am Ende der Zei-
ten“ alle zum Zion wallfahren, sich dort in der Tora unterweisen lassen und dann
ihre „Schwerter zu Pflugscharen“ umschmieden. Vorerst aber zeigen sie noch
ihre Gefährlichkeit: Juda wird verwüstet (1,7), Frauen werden zu Kriegerwitwen
(3,16–4,1), Jhwh selbst ruft die Feindarmeen ins Land (5,26–30). In Jes 7f. stehen
Aram und Israel ante portas, im Hintergrund agiert schon Assyrien (7,18; 8,4).
Dieses hat in Jhwhs Auftrag Israel in die Schranken zu weisen, muss dann aber
selbst in die Schranken gewiesen werden (10,5–15). In der apokalyptisch ge-
prägten Spruchsammlung Jes 24–27 mischen sich Bilder von Vernichtung der
Feinde (24,21; 26,21) und Versöhnung mit ihnen (25,6, vgl. schon 19,18–24). Ein
Zyklus von Weherufen in Jes 28–31 und die Jes-Legenden in 36–39 befassen sich
mit der Assyrerkrise im Jahr 701 v. Chr. Ab Jes 40 hat dann Babylon Assur ab-
gelöst, die judäische Gola leidet im Exil. Hoffnung erwächst aus dem – von Jhwh
bewirkten – Aufstieg des Persers Kyros (Jes 45). Er wird Babel mit seinen Göttern
zu Fall bringen (Jes 46f.), die Gefangenen dürfen aus der Fremde in die Heimat
ziehen (Jes 50–55). Dort konstituiert sich die Gemeinde des Zweiten Tempels, zu
der nicht nur Juden, sondern auch Fremde und Ausländer gehören (56,1–8 –
freilich keinesfalls Edomiter, 63,1–6! vgl. schon 34,1–17); alle möglichen Völker
werden mit ihren Reichtümern kommen und Jhwh dienen (Jes 60; 66,18f.). Hier
schließt sich ein Bogen zurück nach 2,1–5: sicher eine bewusste kompositorische
Klammer.

Sozialkritik und Sozialethik: Gleich im ersten Kapitel tritt der Prophet für die
personae miserae (1,10–17) und gegen die besitzgierige Führungselite Jerusalems
ein (1,21–26). Der Oberschicht in Stadt und Land wirft er vor, das Volk auszu-
rauben (3,13–15), Landhaien stellt er die Nutzlosigkeit ihrer Raffgier in Aussicht
(5,8–12), den Behörden unterstellt er eine nur zulasten der kleinen Leute ge-
II. Das Jesajabuch 303

hende Gesetzesproduktion (10,1–3). Die soziale Frage bleibt in den späteren


Buchteilen virulent: In 33,15f. und 58,6–12 finden sich soziale Tugendkataloge,
in 61,1–4 erklingt das „Evangelium der Armen“, das Jesus in Lk 4,16–21 auf-
nimmt. (Im „babylonischen“ Mittelteil des Buches tritt dieses Thema zurück,
vermutlich, weil die Frage sozialen Zusammenlebens im Exil überlagert war
durch die pure Frage des Überlebens.)

Zion und Jerusalem: Das ganze Jes-Buch lässt sich als eine große Abhandlung zu
diesem Thema lesen. (BERGES sieht folgende Kompositionsstruktur: Jes 1–12
Zion zwischen Wunsch und Wirklichkeit; 13–27 Zions Feinde und Freunde; 28–
35 Der göttliche König und die Zionsgemeinde; 36–39 Bedrohung und Errettung
des Zion; 40–55 Aus Babel und den Völkern zum Zion; 56–66 Zions Gegenwart
und Zukunft.) Sucht man die Zion-Aussagen im Zusammenhang zu sehen,
ergibt sich ein eigentümliches Mosaik aus partikularen und universalen Elemen-
ten, aus hellen und dunklen Farben, wobei sichtlich die lichten Töne zunehmen.
Als zentrale Texte heben sich heraus: die tödliche Bedrohung Jerusalems (1,4–9),
die Völkerwallfahrt zum Zion (2,1–5), Jesajas Berufung im Jerusalemer Tempel
(Jes 6), der Angriff der syrisch-efraimitischen Koalition auf Jerusalem (Jes 7f.),
der Jubel der Bewohner Zions (12,1–6), Zion als Zuflucht der Elenden (14,28–
32), die schwere Gefährdung und unerwartete Bewahrung Jerusalems (22,1–14),
Jhwhs Festmahl für die Völker auf seinem Berg (25,6), Jhwhs „Eckstein“ auf dem
Zion (28,16), Bedrohung und Errettung des „Ariel“ (29,1–8), die Verheißung von
Fruchtbarkeit und Wohlstand an die Bewohner Zions (30,18–26), Gottes Schutz
für den Zion (31,5), Jhwh als Retter und König auf dem Zion (Jes 33), die Rück-
kehr der Befreiten nach Zion (35,4–9), das Scheitern der Assyrer am Zion (36–
39), die Freudenbotin Zion (40,9–11), die Restitution Jerusalems (Jes 51f.), das
neue Jerusalem und sein Kinderreichtum (Jes 54), der Wiederaufbau Jerusalems
(Jes 62), Gottes Einwohnung auf dem Zion (Jes 66).

Verstockung und „Entstockung“: Der unfassliche Verstockungsauftrag in Jes 6,9f.


zittert im ganzen Buch nach (vgl. EVANS und FERRY). Auch in 28,21 und 29,9f.
erscheint Jhwh als deus absconditus, der „befremdlich“ handelt und seinem Volk
die Wahrnehmungsfähigkeit nimmt. In 42,18–20; 43,8; 44,18 wird eben dieses
Volk als „blind“, d. h. verblendet, angesprochen, zugleich aber der Zuwendung
Jhwhs versichert; in 63,17 fragt es fast vorwurfsvoll: „Gott, warum hast du uns
verhärtet?“, während in 29,18; 32,3f.; 35,5; 48,4–6; 51,6f.; 61,1 wiederholt in Aus-
sicht gestellt wird, die Blinden würden wieder sehend werden usw. Dem Thema
hat inzwischen UHLIG eine ausführliche, auf die rhetorische und kommunikative
Funktion der einschlägigen Texte achtende Untersuchung gewidmet.

Krankheit und Heilung: Diesem Motiv rechnet KUSTÁR die folgenden Stellen zu:
1,4–9 (das kranke und zerschlagene Jerusalem), 6,10 (die Verstockung soll so
sein, dass das Volk „nicht etwa Heilung findet“), 30,18–26 (Gott will sein Volk
wieder heilen), 33,24 (die Verheißung, dass „niemand mehr krank“ sein werde),
38,1–8 (die Krankheit und Heilung Hiskijas), 53,1–12 (durch die Wunden des
304 D. Die Hinteren Propheten

Gottesknechts werden andere geheilt) und 57,14–19 (Gott will „bei den Zer-
schlagenen thronen“). KUSTÁR hat diese Stellen als Schlüsseltexte für mehrere
Entstehungsstufen des Jes-Buchs zu begreifen versucht (s. unten).

Liebes- und Familienbeziehungen: Aussagen hierzu ziehen sich in erstaunlicher


Dichte durch das gesamte Jes-Buch, wobei Bilder heftiger Konflikte mehr und
mehr durch solche der Fürsorge und Zärtlichkeit abgelöst werden: Jhwh führt
Klage über seine rebellischen Kinder (1,2f.), gefolgt von einem „Wehe über das
sündige Volk, das Volk schwer von Schuld, den Samen von Bösewichtern, die
verderbten Söhne“ (1,4). Im berühmten Weinberglied fließen verschiedene Bild-
ebenen ineinander: Erotik, Scheidungsverfahren und Gerichtsankündigung (5,1–
7; die Wendung ins Negative wird revoziert in 27,2f.). Eine Klage an Gott bedient
sich der Metaphorik der Geburtsschmerzen (26,17f.), der Zuspruch Gottes derje-
nigen der Geburtshilfe (44,2–4). Es sind Verheißungen des Kinderreichtums für
das entvölkerte Jerusalem (49,20f.; 54,1; 66,7–9) und des Endes der Kindersterb-
lichkeit zu vernehmen (65,20.23). Jhwh stellt in Abrede, er habe sich von der
„Mutter“ Israels (Zion? dem Land?) scheiden lassen (50,1). Israel bekennt ihn als
seinen „Vater“ (64,8), und er will sein Volk „trösten, wie einen seine Mutter
tröstet“ (66,13). DARR hat einige dieser Stellen (in rein synchroner Lesung) un-
tersucht und sie in ihrer Sequenz als Appell an die Adressaten gedeutet, nicht
(mehr) rebellisch zu sein gegen Gott, sondern ihm Vertrauen entgegenzubrin-
gen.

Herrschererwartungen: Über das gesamte Jes-Buch zieht sich ein Netz von Aus-
sagen, die von einem künftigen Herrscher oder künftiger Herrschaft – zuvorderst
über Israel, letztlich aber weit darüber hinaus – sprechen: In Jes 6,1 schaut der
Prophet den „König“ Jhwh; 7,14 und 8,9 reden geheimnisvoll von einem „Imma-
nuel“, der geboren werden soll; 9,1–6 von der Geburt eines herrscherlichen Kin-
des; 11,1–5 von einem „Schössling aus dem Stumpf Isais“, der seinem Volk
Gerechtigkeit (nach 11,6–9 sogar den Frieden unter den Tieren und in der
Schöpfung) bringen soll; 32,1–5 wieder von einem gerechten Herrscher; 44,28
und 45,1 von Kyros als dem von Jhwh eingesetzten Herrscher; 55,3 davon, dass
die „Solidaritätserweise Davids“ an das Gottesvolk übergehen sollen; 60–62 (bes.
60,12.15; 62,4.11f.) vom Eintreten Zions in die Rolle der Königin; 66,1 dezidiert
wieder von Jhwhs Königsherrschaft über die ganze Welt. Diese Texte, obwohl
sichtlich aus verschiedenen Zeit stammend, sind im Buchganzen aufeinander
bezogen und lassen vor dem Auge der Lesenden Bilder guter Herrschaft in ge-
schichtlicher Folge und bis an das Ende der Zeiten erstehen (vgl. SCHMID; auch
JANTHIAL, der freilich auch den „Gottesknecht“ in DtJes zu den Herrschergestal-
ten rechnet).

Jhwhs Heiligkeit und Einzigkeit: Programmatisch ist die Erscheinung Jhwhs bei
Jesajas Berufung als „hoch und erhaben“ beschrieben (6,1). Im Serafengesang 6,3
fallen mehrere, für das Gottesbild des Jes-Buchs kennzeichnende Begriffe: die
Gottesbezeichnung „Jhwh Zebaot“ (62 Belege in allen Teilen des Buches – ge-
II. Das Jesajabuch 305

genüber etwa gleich vielen bei Jer, aber keinem bei Ez), das Adjektiv „heilig“
(qādôš: 24 Belege in allen Teilen des Buches – gegenüber nur je zweien bei Jer
und Ez) und das Attribut „Herrlichkeit“ (kābôd: 19 Belege in allen Teilen des
Buches – gegenüber 17 bei Ez und nur 4 bei Jer). Der solchermaßen gekenn-
zeichnete Gott fährt in dem Strophengedicht 2,6–22 mit unerhörter Wucht daher
und erniedrigt alles Hohe; er benutzt Weltmächte als Werkzeuge (10,5–15), holt
ihre Armeen herbei und verjagt sie wieder (z. B. 5,26–30; 17,12–14); neben ihm
erscheinen alle anderen Götter als lächerlich, ja als schlicht inexistent (z. B.
40,12–26; 45,5).
Der „Weg Jhwhs“: Die Metapher spielt in Protojesaja eine Rolle nur in Jes 34f.
und dann eine prominentere in Deutero- und Tritojesaja (vgl. LIM). Immerhin
ist auch dies eine Klammer, die die verschiedenen Teile des Buches zusammen-
bindet.
Diese sich durch das gesamte Buch ziehenden Züge verleihen der Prophetie, die
unter dem Namen „Jesaja“ firmiert, ein bestimmtes Profil, das sich von dem
anderer Prophetenbücher klar abhebt. Teilweise wurden, so scheint es, verbin-
dende thematische Motive gezielt eingesetzt, um verschiedene Teile des Buches
zu verknüpfen. Oft aber scheinen diese Elemente eher unwillkürlich aufzutreten:
so, als seien die beteiligten Autoren und Redaktoren – und zwar über Jahrhun-
derte hinweg – von einem bestimmten „jesajanischen“ Geist geprägt gewesen.
Dieser hat unverkennbar das spezifische Kolorit Jerusalems, der Metropole Ju-
das, und die Traditionen – um nicht zu sagen: den Mythus – vom Zion als Jhwhs
Wohnsitz in sich aufgenommen. Da die aufgewiesenen Themenbögen jeweils
vom ersten Buchteil an und, das sei vorweggenommen, in ältesten Texten der
Jes-Überlieferung begegnen, scheint es vorstellbar, dass das „Jesajanische“ des
Buchs seinen Ursprung bei dem Propheten des 8. Jh.s hatte, dass es dann über
lange Zeit hinweg gepflegt und auf immer neue Situationen und Herausforde-
rungen angewendet wurde, und dass dieser Traditionsbildungsprozess nach und
nach im werdenden Jes-Buch seinen Niederschlag gefunden hat.
Schon öfter ist erwogen worden, ob es nicht eine „Jes-Schule“ gegeben haben
könnte. Schon der Prophet des 8. Jh.s hatte offenbar eine Jüngergruppe um sich
(8,16: limmudaj, „meine Schüler“). Die große Vielfalt an Texten im Jes-Buch bei
doch gemeinsamer Prägung lockt zu der Überlegung, ob diese Gruppe vielleicht
über lange Zeit hinweg Bestand hatte und ob sie nicht das Jes-Buch hervorge-
bracht hat. Dieser Gedanke gewänne an Plausibilität, wenn man sich nicht einen
informellen Kreis Gleichgesinnter vorstellte – einem solchen würde man so viel
Konstanz und Kohärenz über Jahrhunderte hinweg kaum zutrauen –, sondern
eine feste Institution. Die Zentrierung des Jes-Buches auf den Zion und die hohe
Poetizität sehr vieler seiner Texte – speziell auch im zweiten und dritten Buchteil
– lässt an eine Gilde von Tempelsängern bzw. -poeten (zugleich auch Tempel-
propheten?) denken, deren Mitglieder zuerst noch am Ersten Tempel Dienst
taten, dann mit den Vornehmen aus Jerusalem nach Babylon verschleppt wur-
den und von dort zum Dienst am Zweiten Tempel zurückkehrten. Dies bleibt
306 D. Die Hinteren Propheten

eine Spekulation – vielleicht aber eine einladende und vieles im Jes-Buch er-
klärende.

b) Die Entstehung des Großjesajabuchs

Bei dem Versuch, die Entstehungsstufen des Jes-Buchs zurückzuverfolgen bis zu


den Ursprüngen, ist zu unterscheiden zwischen dem Wachstum einzelner Buch-
teile und dem Zusammenwachsen dieser Buchteile zum Gesamtbuch (wobei
beide Wachstumsvorgänge ineinander gegriffen haben können, so dass ein be-
stimmter Vorgang hier zusammengefallen wäre mit einem dort). Das Großjesa-
jabuch besteht – dies die Bahn brechende Erkenntnis DUHMs – aus drei Haupt-
teilen: einem ersten, in dem es (auch) um Ereignisse in der vorexilischen Zeit,
hauptsächlich im 8. Jh., geht (Jes 1–39, „Protojesaja“/ PrJes); einem zweiten, der
vom Exil handelt (Jes 40–55, „Deuterojesaja“/DtJes), und einem dritten, der im
Juda der nachexilischen Zeit spielt (Jes 56–66, „Tritojesaja“/TrJes). Es gibt meh-
rere Denkmöglichkeiten, sich das Zusammenkommen dieser Teilbücher vorzu-
stellen:
– PrJes war zuerst vorhanden und wurde zuerst um DtJes, dann um TrJes erwei-
tert (dies die konventionelle Auffassung);
– DtJes war zuerst vorhanden, dem wurde PrJes vorgeschaltet und TrJes ange-
hängt (so z. B. RENDTORFF);
– PrJes und DtJes wuchsen je für sich an und wurden dann zusammengefügt
(wobei TrJes die Rolle der verbindenden Klammer oder eines Anhangs zukom-
men kann).
Zur letztgenannten Möglichkeit gibt es inzwischen mehrere einigermaßen
ausgearbeitete Versuche. (Im Folgenden bezeichnen Textangaben oft nur den
jeweiligen Grundbestand.)

– SWEENEY hat im Zug seiner Auslegung von Jes 1–39 auch das Gesamtjesajabuch in
den Blick genommen und dabei folgende Entstehungsstufen postuliert: 1) Schon im 8.
Jh. lag ein Kern von PrJes im Bereich von Jes 6–10; 14; 28–32 vor. 2) Aus der Joschi-
jazeit datiert eine Erweiterungsstufe in Jes 5–12; 14–23; 28–32; 36f. 3) Frühnach-
exilisch wurden DtJes (40–55) und aus TrJes bereits Jes 60–62 an PrJes angefügt, im
selben Zug aber auch Jes 2f. vor- und Jes 35; 36–39 zwischengeschaltet (dass auch Jes
24–27 schon hierher gehört habe, ist sehr unwahrscheinlich); 4) schon in der früheren
Perserzeit wurde das Gesamtbuch fertig gestellt, wobei stärkere Eigenanteile des End-
verfassers in Jes 1–4; 33f.; 56–59; 63–66 auszumachen sind.
– KUSTÁR eruiert anhand der Krankheits- und Heilungstexte im Jes-Buch folgende
Entstehungsstufen: 1) Eine frühexilische Redaktion, die ein erstes PrJes-Buch (im Be-
reich von Jes 1–10) zusammenstellte, nahm 1,4–8 auf und formulierte 6,10 neu. 2) In
frühnachexilischer Zeit, als das Jes-Buch auf 1–33 + 36–39 ausgedehnt wurde, fand
1,4–8 in 38,1–8 gleichsam ein Gegenstück, während 30,18–26 und 33,24 als Zwischen-
glieder dienten. 3) Um 500 v. Chr. wurde der Großteil von DtJes, Jes 40–52, angefügt
und dazu 52,12–53,13 geschaffen – als neues Gegenstück zu 1,4–8. 4) In der ersten
Hälfte des 5. Jh.s kam TrJes hinzu, und zwar zuerst Jes 60–62, danach Jes 56–59 (mit
II. Das Jesajabuch 307

dem jüngsten Krankheitstext) und 63–66. Dies ist ein kühnes Kompositionsmodell,
entwickelt auf schmaler Textbasis.
– STECK denkt, bis zum Ausgang der Perserzeit seien PrJes und DtJes separat geblie-
ben und auf den Stand von Jes 1–34; 36–39 einerseits und Jes 40–55 mit 60–62 ande-
rerseits angewachsen. Die Entwicklung zum Großjesajabuch erfolgte erst spät, und
zwar auf drei „Fortschreibungs“-Stufen: 1) In der Zeit Alexanders d. Gr. fügte ein Be-
arbeiter PrJes und DtJes zusammen, indem er (von kleineren Zufügungen zwischen
Jes 10 und 62 abgesehen) Jes 35 als Brückentext einsetzte und mit Jes 24–27 die voran-
gehenden Fremdvölkerworte zum Szenario eines universalen Völkergerichts auswei-
tete. 2) Im ausgehenden 4. Jh. erweiterte ein Ergänzer dieses Buch (abgesehen von
kleineren Einträgen zwischen Jes 1 und 63) vor allem um 56,9–59,21 und zeigte damit
an, dass in das Völkergericht auch Teile Judas einbezogen würden. 3) Im frühen 3. Jh.
erreichte das Jes-Buch den endgültigen Umfang, indem ein Redaktor – neben kleine-
ren Zusätzen – vor allem 12,1–6; 56,1–8 sowie Jes 65f. beifügte und den Frommen –
Juden wie Nichtjuden! – eine neue Heilszukunft eröffnete.
– BERGES hat das bisher elaborierteste Modell vorgelegt. Ihm zufolge sind PrJes über
fünf und DtJes über drei Stufen bis in die frühnachexilische Zeit hinein separat ange-
wachsen (dazu unten bei II.3 und II.4), ehe dann die Geschichte des Großjesajabuchs
begann, die in sich nochmals sieben Stufen aufweist: 1) Jes 1–23; 28–32 und 40–52
wurden mittels des Brückentextes Jes 33 eher mechanisch zusammengefügt. 2) Die
sog. „zweite Jerusalemer Redaktion“ (die erste betraf nur das noch selbständige DtJes-
Buch) reagierte auf das Ausbleiben des erwarteten Wunders, indem sie das 3. Gottes-
knechtslied (50,4–9) und die ermutigenden Worte 40,6–8 und 55,10f. in den über-
kommenen Textbestand einbrachte, im Bereich von PrJes aber nichts änderte.
3) Aufgrund zeitgeschichtlicher Umstände kam das Anti-Edom-Wort Jes 34 hinzu,
worauf ein neuer „Brückentext“ zwischen PrJes und DtJes, Jes 35, nötig wurde. 4) Auf
der nächsten Textstufe, der sog. „Umkehrredeaktion“, wuchs der Buchumfang auf Jes
1–23; 28–35; 40–62 an, wobei der Fokus am Buchanfang und am Buchende (1,27f.;
2,2–4 bzw. 56–59 zusammen mit Jes 60–62) auf das neue Thema ausgerichtet wurde:
die Nichtzugehörigkeit von Juden und die Zugehörigkeit von Nichtjuden zur Gemein-
de Jhwhs. 5) Die in sich zweistufige „Redaktion der Knechtsgemeinde“ brachte nicht
nur das 4. Gottesknechtslied ein, sondern am Buchanfang 1,29–31, die Legenden 36–
39 (mit Jes 38 als Überschuss über 2Kön 18–20 hinaus) und den Buchschluss 63–66,
so dass eine Klammer zwischen 1,31 und 66,24 entsteht; inhaltlich ging es dieser Re-
daktion um die Einbeziehung der ganzen Welt in Gottes Heil. 6) Die ‚kleine Apoka-
lypse‘ Jes 24–27 wurde als „Aktualisierung der Völkersprüche“ eingefügt. 7) Um 300
v. Chr. machten die Zusätze 11,11–16 und 27,12f. das kommende Heil zur Gabe vor
allem an die jüdische Gola.

Die vorgestellten Entwürfe differieren in einer Reihe von Punkten, konvergieren


aber doch in einigen wichtigen. Es zeichnet sich ab, dass und wie sich die Entste-
hung des Großjesajabuchs zurückverfolgen lässt bis zu dem Punkt, an dem PrJes
und DtJes noch zwei getrennte Bücher waren.
– Als sehr junges Sonderstück lässt sich der protoapokalyptische Abschnitt 24–27
herausheben. Er ist freilich kein Fremdkörper im Jes-Buch, sondern weitet die
vorangehende Sammlung von Einzelworten gegen bestimmte Völker zu einer
universalen Sicht auf das Verhältnis zwischen Völkerwelt und Gottesvolk aus.
Aus allen älteren Teilen des Jes-Buches tauchen Motive und Elemente wieder
auf, oft in markanter Abwandlung – besonders eindrücklich in 27,2–5, wo der
308 D. Die Hinteren Propheten

Wiederaufbau des „Weinbergs“ Israel angekündigt wird, dessen Zerstörung in


5,1–7 vorausgesagt war.
– Die nächst jüngeren Textschichten liegen vor allem am Buchschluss, in kleine-
rem Umfang auch am Buchbeginn. Ein gewisser Konsens besteht darin, dass in
TrJes die jüngsten Kapitel 63–66 und auch 56–59 sind. Interessanterweise haben
sie in Jes 1f. (vor allem 1,27–31; 2,1–5) thematische Gegenstücke. Aber auch der
Hymnus 12,1–6 liegt auf dieser Ebene. In 65,25 wird wörtlich die Verheißung des
Tierfriedens in 11,6f. aufgenommen, bezeichnenderweise aber um ein Wort
gegen die Schlange angereichert.
– Jes 60–62 scheint in einem relativ frühen Stadium zu DtJes hinzugetreten zu
sein: eher als in sich schon länger tradiertes Stück denn als Fortschreibung.
– Die Verbindung von PrJes und DtJes wurde, wie leicht einleuchtet, hauptsäch-
lich an der Trennlinie zwischen beiden Buchteilen bewerkstelligt, d. h. im Be-
reich von Jes 33–39. Die Legenden 36–39 werden (gegen MELUGIN) doch aus
2Kön 18–20 übernommen worden sein. Sie eigneten sich (mit SEITZ, MELUGIN
und KUSTÁR) hervorragend als Brücke zwischen den Buchteilen: nicht nur in
dem zugefügten Kap. 38 mit dem ‚gut jesajanischen‘ Motiv von Krankheit und
Heilung (KUSTÁR), sondern vor allem, weil sie die im Gesamtbuch dominante
Zionstheologie eindrucksvoll veranschaulichen, genauer: weil sie in der Schilde-
rung der Nicht-Eroberung (oder soll man sagen: Nicht-Zerstörbarkeit?) Jerusa-
lems eine Brücke schlagen über die Eroberung im Jahr 586 v. Chr. und das an-
schließende Exil hinweg zum Wiederaufbau in der Perserzeit und gar zur himm-
lischen Glorie in der Endzeit. Jes (33 und) 35 geben sich in ihrer Nähe zu DtJes
und in der massiven Aufnahme gesamtjesajanischer Themen als konstruierte
Brückentexte zur Verklammerung der Buchteile zu erkennen (wobei Jes 34 als
aktueller Text mit ein Grund für die Doppelheit der beiden Texte gewesen sein
mag).
Noch weiter zurück auf der Zeitleiter gelangte man dann zu je einem gesonder-
ten PrJes- und DtJes-Buch. Wann diese vereinigt und auf welchen Stufen bzw. zu
welchen Zeiten sie weiter angereichert worden sein mögen, ist schwer zu sagen.
Das Ende der Exilszeit ist terminus post quem. Wenn DtJes Bearbeitungen nach
der Rückkehr erfahren haben sollte (s. II.3.b), kommen wir schon tiefer, als
SWEENEY meint, in die nachexilische Zeit hinein – aber auch nicht gleich in die
hellenistische, wie STECK meint. Die in den jüngeren TrJes-Texten sich andeu-
tenden Spaltungen in der Gemeinde lassen das Ende der insgesamt ruhigen Per-
serzeit ahnen, und die Übergänge zur Apokalyptik weisen zumindest ins ausge-
hende 3. Jh. So könnte man als formative Phase für das entstehende und noch
anwachsende Großjesajabuch die Zeit zwischen 450 und 200 v. Chr. angeben.

2. Tritojesaja (Jes 56–66)


S. SEKINE, Die Tritojesajanische Sammlung (Jes 56–66) redaktionsgeschichtlich untersucht, 1989
(BZAW 175). – K. KOENEN, Ethik und Eschatologie im Tritojesajabuch, 1990 (WMANT 62). – O. H.
STECK, Studien zu Tritojesaja, 1991 (BZAW 203). – W. LAU, Schriftgelehrte Prophetie in Jes 56–66,
II. Das Jesajabuch 309

1994 (BZAW 225). – B. SCHRAMM, The Opponents of Third Isaiah, 1995 (JSOT.S 193). – L.
RUSZKOWSKI, Volk und Gemeinde im Wandel. Eine Untersuchung zu Jesaja 56–66, 2000 (FRLANT
191). – J. GOLDENSTEIN, Das Gebet der Gottesknechte. Jesaja 63,7–64,11 im Jesajabuch, 2001
(WMANT 92). – K.-C. PARK, Die Gerechtigkeit Israels und das Heil der Völker, 2003 (BEAT 52). –
E. S. GERSTENBERGER, Israel in der Perserzeit, Stuttgart 2005 (Biblische Enzyklopädie 8). – J.
GÄRTNER, Jesaja 66 und Sacharja 14 als Summe der Prophetie. Eine traditions- und redaktionsge-
schichtliche Untersuchung zum Abschluss des Jesaja- und des Zwölfprophetenbuches, 2006
(WMANT 114).
Forschungsbericht: R. F. MELUGIN, Isaiah 40–66 in Recent Research, in: A. J. Hauser (ed.), Recent
Research on the Major Prophets, Sheffield 2008, 142–194.

a) Die Gesamtanlage

Auch wenn sich im Vorangehenden bereits abgezeichnet hat, dass TrJes kaum
ein Werk aus einem Guss ist, zeigen die Kapitel doch insgesamt einen planmäßi-
gen, ja ebenmäßigen Aufbau (was beweist, dass Ergänzer durchaus auch ästheti-
sche Kriterien im Blick haben können). Es lässt sich eine ringförmige bzw. chias-
tische Struktur beobachten, die aber nicht von Statik, sondern von einer ge-
schichtsteleologischen Dynamik geprägt ist (vgl. zum Folgenden HÖFFKEN).
A) 56,1–8: Juden und Nichtjuden können gemeinsam Anteil am Heil haben;
B) 56,9–58,14: In der Gemeinde haben einige Anteil am Heil, andere nicht;
C) 59,1–15: Volksklage als Notschilderung und Schuldbekenntnis; D) 59,16–21:
Gott kommt zu Gericht und Heil; E) 60–62: Heilsansagen für Zion; D’) 63,1–6:
Kommen Gottes zum Gericht an Edom; C’) 63,8–64,12: Volksklage als Bitte um
neuerliche Hilfe; B’) 65,1–66,17: Aus der Gemeinde werden die einen Anteil am
ewigen Heil bekommen, die anderen nicht; A’) 66,18–24: Nichtjuden werden von
Juden für das gemeinsame Heil gewonnen.
So deutlich die Absicht der ringförmigen Anlage ist, so wenig hat man den
Eindruck, hier entwerfe ein Dichter eine große, strophische Dichtung. Vielmehr
wird unterschiedliches Material im Sinne der gewünschten Struktur zusammen-
gestellt. So dürfte das Gerichtswort über Edom (D’), das doch nur sehr formal
dem Wort vom Kommen Gottes zu Gericht und Heil (D) entspricht, ein zu-
nächst unabhängiges Drohwort gewesen sein, das an passender Stelle in die Ge-
samtstruktur eingefügt wurde. (Der analoge Vorgang in Jes 34, aber etwa auch
die Prophetie Obadjas zeigen, dass in der nachexilischen Zeit das Vorrücken der
Edomiter/Idumäer nach Norden – ausgelöst wiederum durch das Vorrücken der
Nabatäer – für Juda bzw. die Provinz Jehud ein drängendes Problem darstellte).
Eine einfühlsame Nachgestaltung der weiteren Inhalte von TrJes findet sich bei
GERSTENBERGER.
Die Mittelachse von Jes 56–66 sind die Zionsweissagungen in 60–62. Sie ste-
hen noch ganz im Zeichen von DtJes (genauer: im Duktus von Jes 49–55): Zion
erfährt die heilvolle Zuwendung Gottes, und alle, die sich auf dem Zion aufhalten
bzw. sich zum Zion halten, werden des nahenden Heils teilhaftig. Von diesem
Mittelteil heben sich die umgebenden Kapitel vor allem dadurch ab, dass in
ihnen darüber reflektiert wird, wer auf das Heil hoffen darf und wer nicht. Es
310 D. Die Hinteren Propheten

gibt eine Bruchlinie zwischen würdig und unwürdig, zwischen gläubig und un-
gläubig, und diese trennt nicht nur Juden von Juden, sondern auch Nichtjuden
von Nichtjuden (wobei unter den Letzteren nur eine Minderheit – anscheinend
etwas wie Proselyten – Aussicht auf das Heil hat).
Heil – ja oder nein: diese Frage ist in 60–62 entschieden; das Heil kommt.
Heilsteilhabe – ja oder nein: diese Frage ist laut Jes 56–59 und 63–66 offen. Es ist
keine Frage der ethnischen Zugehörigkeit, sondern der ethischen Tadellosigkeit
und der religiösen Zuverlässigkeit. Wer des Heils auf Zion teilhaftig werden will,
soll sich um seine Mitmenschen und darf sich nicht um andere Götter kümmern!

b) Der Entstehungsprozess

Die geschilderten Differenzen innerhalb von TrJes machen es von vornherein


unwahrscheinlich, dass man es hier mit einem (prophetischen) Autor zu tun hat.
Allenfalls könnte man für das Kernstück Jes 60–62 (mit auffälligen Ich-Formulie-
rungen in Jes 61) derlei annehmen. Der Verfasser dieser Texte befände sich noch
nah am dtjes Einflussbereich. Existierte aber jemals ein eigenständiges Buch
TrJes? Nach dem Vorbild anderer Prophetenbücher hat man sich dies gelegent-
lich so vorgestellt, dass eine Grundschicht – immer mit Jes 60–62 als Kern – von
späteren Ergänzern und Redaktoren aus anderen Quellen oder von eigener Hand
erweitert und so zu einem eigenen prophetischen Buch ausgebaut worden wäre,
das zu einem späteren Zeitpunkt an (PrJes und) DtJes angefügt wurde.

SEKINE zählt zum Grundbestand 57,14–19; 60–62; 65,16b–23.25; 66,7–16, KOENEN et-
was mehr, nämlich 57,14–16.18f.; 58,3–12; 59,1–4.9–15a; 60–62; 65,16–24; 66,7–14.
Nach SEKINE gab es außer der Grundschicht sieben kleinere Quellen, nach KOENEN
sechs größere Einzeltexte (63,7–64,11; 65,3–8; 57,3–13a; 65,1–7.8–15; 66,18–22), die
ein Redaktor mit dem Grundbestand zusammengeführt hätte. LAU beschränkt die
Grundschicht auf 60–62 und sieht daneben drei Sammlungen sowie mehrere Einzel-
texte (darunter wiederum die Volksklage 63,7–64,11), die ebenfalls ein Redaktor ver-
eint hätte. RUSZKOWSKI glaubt nicht mehr an den großen Redaktor, sondern postuliert
eine Vielzahl von Einzelfortschreibungen, die sich vom Kern 60–62 aus in alle Rich-
tungen gebildet hätten. Unvermeidlich haben derartige Modelle etwas Hypotheti-
sches, und kaum steigt der Grad ihrer Plausibilität mit der Zahl behaupteter Redak-
tions- und Fortschreibungsstufen.

Die Annahme eines einst selbständigen TrJes-Buches hat mit einem doppelten
Problem zu kämpfen: Viele TrJes-Texte sind mit solchen in PrJes und DtJes der-
art eng verknüpft, dass sie ohne Kenntnis der Prätexte kaum zu verstehen sind –
wie sollten sie dann separat überliefert worden sein? Auch lässt sich in einer
hypothetischen Entwicklungsgeschichte von TrJes schwerlich ein Punkt benen-
nen, bis zu dem es eine Sonderentwicklung gegeben und ab dem sich die Verbin-
dung mit PrJes und DtJes spürbar ausgewirkt hätte. So spricht vieles für ein Mo-
dell sukzessiver Erweiterung des schon vorhandenen Großjesajabuchs (PrJes +
DtJes) im Bereich von TrJes.
II. Das Jesajabuch 311

Neuere Analysen tendieren in diese Richtung, differieren aber in Einzelpunk-


ten.

Nach STECK hätte es nie auch nur ein Stück von TrJes gegeben, das selbständig ent-
standen wäre; vielmehr wäre schon 60,1–61,11 eine Fortschreibung von DtJes gewe-
sen, ehe die gesamtjesajanische „Heimkehrredaktion“ den Textbestand Jes *1,1–63,6
hergestellt hätte. BERGES hingegen denkt, Jes 60–62 sei noch separat entstanden und
dann mit Hilfe von Jes *56–59 („Umkehr-Redaktion“, s. oben II.1.b) an den Schluss
des Großjesajabuchs angefügt worden; die „Redaktion der Knechtsgemeinde“ habe
den Bestand dann bis Jes 66 erweitert. Ähnlich postuliert GOLDENSTEIN eine noch
separate Entstehung von 60,1–61,11, doch sei dieser Abschnitt auf der zweiten von
neun (!) Bearbeitungsstufen sogleich ans Großjesajabuch angehängt worden, worauf-
hin sich dessen Schluss noch siebenmal nach hinten verschoben habe: eine zugleich
einfache und doch auch wieder komplizierte Annahme, wenn man sich etwa vorstellt,
das gesamte Jes-Buch habe bei jeder dieser Erweiterungen neu geschrieben werden
müssen; dächte man sich freilich eine Buchrolle, die zunächst etwas zu lang und also
am Ende leer war und dann nach und nach ausgefüllt wurde, wäre so etwas denkbar.

Oben wurde festgestellt, dass es Brücken gerade von den letzten Kapiteln in TrJes
zum Anfang von PrJes gibt (speziell zu Jes 1f. und 11f.). Dies legt den Gedanke
nahe, Jes 63–66 sei von vornherein als Abschluss des Großjesajabuchs geplant
und geschrieben worden. (GÄRTNER behauptet dies für Jes 56,1–8 und Jes 65f.).
Dass die genannten Kapitel eine Spiegelstruktur gegenüber Jes 56–59 aufweisen
(s. oben a), lässt auf ein beträchtliches ästhetisches Vermögen der Verfasserschaft
schließen. Diese hat offenbar nicht nur Eigentexte formuliert, sondern vorge-
formte Stücke (z. B. den Edomspruch Jes 63,1–6 oder die Volksklage 63,7–64,11
– laut GÄRTNER der ursprüngliche Buchschluss) aufgenommen und so eingeord-
net, dass sich die beabsichtigte chiastische Textstruktur ergab. Inhaltlich ging es
offenbar darum, die eher konkreten und gegenwartsbezogenen Fragen und Aus-
sagen von Jes 56–59 ins Grundsätzliche und Ewiggültige zu erhöhen und
dadurch dem Gesamtjesajabuch einen zeitlos-universalen Abschluss zu schaffen.
Die protoapokalyptischen Obertöne – etwa in der Verheißung eines neuen
Himmels und einer neuen Erde (65,17–25) – lassen an eine relativ späte Entste-
hung, etwa im 4. Jh., denken.
Eine Stufe weiter zurück scheint der Textbestand noch auf DtJes und TrJes,
genauer: Jes 40–62, begrenzt gewesen zu sein. Viel spricht dafür, dass der zuvor
selbständige Textblock Jes 60–62 mittels Jes 56–59 an DtJes angefügt wurde. In
diesen Kapiteln wird versucht, die hochfliegenden Ankündigungen von DtJes
(und Jes 60–62) an die offenbar bescheidene Realität im nachexilischen Juda
anzupassen. Da sind nicht nur ökonomische Engpässe und soziale Ungleichge-
wichte, da sind auch interne Streitigkeiten und religiöse Rivalitäten zu bewälti-
gen, da werden Grenzen zuungunsten von Mitjuden und zugunsten von Nicht-
juden gezogen, da wird Schuld eingestanden und Besserung verlangt – und dann
folgt, ganz in dtjes Stil, die große (neue) Heilsverheißung von 60–62. Es ist, als
würde hochfliegende Prophetie gleichsam geerdet, als sollten die Möglichkeiten
ihrer Realisierung erkundet und benannt werden. Dies muss nicht allzu spät in
312 D. Die Hinteren Propheten

der persischen Ära geschehen sein. Von sozialen Konflikten und religiösen
Spannungen hören wir auch in den Büchern Hag, PrSach, Neh und Esr. Es
leuchtet ja ein, dass die Phase der Konsolidierung im Lande, der Einrichtung der
Provinz Jehud und des Wiederaufbaus Jerusalems von derartigen Problemen
nicht unbelastet war. Die erste trjes Erweiterung von (PrJes und) DtJes trägt
diesen Problemen Rechnung, indem sie das Heil konditioniert, ohne dass sie es
redimensioniert.
Die hier vorgeschlagene dreifache Schichtung – 1. Jes 60–62 (vermutlich noch
separat); 2. Jes 56–62 (als Erweiterung von DtJes, evtl. schon in Verbindung mit
PrJes); 3. Jes 56–66 (als Abschluss des Großjesajabuchs) – ist sicher etwas grob-
körnig; natürlich kann es von den jeweils jüngeren Stufen Ableger in den älteren
geben und werden kleinere Passagen noch nachredaktionell in den Endtext ge-
langt sein. Sehr wohl möglich ist auch, dass für die drei bezeichneten Entste-
hungsstufen nicht nur je ein Individuum verantwortlich ist, sondern dass eine
Gruppe dahinter steht, die in der nachexilischen Zeit das jesajanische Traditions-
gut pflegte und insbesondere im Bereich von TrJes weiter ausbaute. (Es sei an die
oben [II.1.b] angedeutete Theorie einer Tempelsänger-Gilde erinnert.) Rein
pragmatisch ist es indes hilfreich, sich TrJes (und, damit zusammenhängend, das
Großjesajabuch) nicht als Resultat einer tendenziell endlosen Zahl von Einzel-
aktivitäten vorzustellen, sondern als Ergebnis einiger größerer, mit Bedacht vor-
genommener Arbeitsgänge. Dass hinter diesen eine gewisse Vielstimmigkeit zu
vernehmen ist, sei damit nicht bestritten.

3. Deuterojesaja (Jes 40–55)


Einzelstudien: J. BEGRICH, Studien zu Deuterojesaja (1938), 1963 (TB 20). – C. WESTERMANN, Spra-
che und Struktur der Prophetie Deuterojesajas, in: Ders., Gesammelte Studien I, München 1964, 92–
170. – R. F. MELUGIN, The Formation of Isaiah 40–55, 1976 (BZAW 141). – K. KIESOW, Exodustexte
im Jesajabuch, 1979 (OBO 24). – T. N. D. METTINGER, A Farewell to the Servant Songs, Lund 1983. –
F. MATHEUS, Singt dem Herrn ein neues Lied. Die Hymnen Deuterojesajas, 1990 (SBS 141). – R. G.
KRATZ, Kyros im Deuterojesajabuch, 1991 (FAT 1). – O. H. STECK, Gottesknecht und Zion, 1992
(FAT 4). – J. VAN OORSCHOT, Von Babel zum Zion, 1993 (BZAW 206). – H. G. M. WILLIAMSON, The
Book Called Isaiah. Deutero-Isaiah’s Role in Composition and Redaction, Oxford 1994. – J.
SCHARBERT, Deuterojesaja – der ‚Knecht Jahwes‘?, Hamburg 1995. – B. JANOWSKI / P. STUHLMACHER
(Hg.), Der leidende Gottesknecht, 1996 (FAT 14). – H. M. BARSTAD, The Babylonian Captivity of the
Book of Isaiah, Oslo 1997. – A. LABAHN, Wort Gottes und Schuld Israels. Untersuchungen zu Moti-
ven deuteronomistischer Theologie im Deuterojesajabuch, 1999 (BWANT 148). – J. WERLITZ, Re-
daktion und Komposition. Zur Rückfrage hinter die Endgestalt von Jesaja 40–55, 1999 (BBB 122). –
R. ALBERTZ, Die Exilszeit, Stuttgart 2001 (Biblische Enzyklopädie 7). – A. SCHENKER, Knecht und
Lamm Gottes (Jesaja 53). Übernahme von Schuld im Horizont der Gottesknechtslieder, 2001 (SBS
190). – J. W. ADAMS, The Performative Nature and Function of Isaiah 40–55, 2006 (LHBOTS 448). –
C. EHRING, Die Rückkehr JHWHs. Traditions- und religionsgeschichtliche Untersuchungen zu Jesaja
40,1–11, Jesaja 52,7–10 und verwandten Texten, 2007 (WMANT 116). – Ø. LUND, Way Metaphors
and Way Topics in Isaiah 40–55, 2007 (FAT 2/28). – F. HÄGGLUND, Isaiah 53 in the Light of Home-
coming after Exile, 2008 (FAT 31). – R. OOSTING, The Role of Zion/Jerusalem in Isaiah 40–55. A
Corpus-Linguistic Approach, 2013 (SSN 59).
II. Das Jesajabuch 313

Forschungsberichte: H. HAAG, Der Gottesknecht bei Deuterojesaja, 1985 (EdF 233). – H.-J. HER-
MISSON, Neue Literatur zu Deuterojesaja: ThR 65 (2000), 267–284. – R. F. MELUGIN, Isaiah 40–66 in
Recent Research, in: A. J. Hauser (ed.), Recent Research on the Major Prophets, Sheffield 2008, 142–
194.

Spiegelt sich in TrJes deutlich die (früh)nachexilische Zeit, so in DtJes noch


deutlicher die des Exils (was, wie sich noch zeigen wird, nachexilische Bearbei-
tung nicht ausschließt). Das Land Juda und die Stadt Jerusalem sind zerstört
(44,26.28; 49,19; 51,3), Zion ist gefangen und ohne „Kinder“ (52,2; 54,1), die
Bevölkerung in die Ferne verschleppt (43,5f.14; 48,20; 49,12). Doch nicht Kata-
strophenstimmung und Depression herrscht in dem Buch, sondern Jubelton und
Aufbruchstimmung. Das tausendfache Leid, das über das jüdische Volk gekom-
men ist, ist wohl noch zu spüren, doch es ist im Begriff, überwunden zu werden.
Den schwer Geschlagenen und Bedrängten wird Mut zugesprochen und eine
neue, strahlende Zukunft in Aussicht gestellt. Die noch in Babylon Gefangenen
werden ausziehen und in einem wunderbaren Wüstenzug (41,17–20; 43,16–21;
49,8–12; 55,12f.) zum Zion zurückkehren, der in neuem Glanz erstrahlen wird
und der zahlreichen neuen Bevölkerung kaum genügend Platz bieten kann
(49,14–23; 52,7–12; 54,1–3.11–17). Es ist eine Wendezeit von düsterem Unheil
zu leuchtendem Heil. Am politischen Himmel ist ein Stern aufgegangen: der von
Erfolg zu Erfolg eilende Perserkönig Kyros (vgl. 41,1–5; 44,28; 45,1–7.13; 46,9–
11; 48,12–16a). Der Stern Babels ist am Sinken; in der Mitte des DtJes-Buches
wird der Untergang der großen Feindin besungen (47,1–15; wie groß muss die
Enttäuschung gewesen sein, als Kyros im Jahr 539 v. Chr. Babylon keineswegs im
Sturm nahm und in Schutt und Asche legte, sondern als Befreier in die unver-
sehrte Stadt einzog und sich von deren Establishment als neuer König von
Marduks Gnaden feiern ließ, vgl. den Kyros-Zylinder, TGI 82–84).
In DtJes spiegelt sich ein Epochenbruch, dessen Wirkung über Jahrhunderte
andauern sollte. Das uralte System der Großreiche am Nil und im Zweistrom-
land und der dazwischen liegenden Kleinstaaten wurde ersetzt durch die persi-
sche Ökumene, die den gesamten Vorderen Orient umfasste. Die Juden, eines
der vielen Opfer im Streit der alten Großmächte, erkannten die Chance, unter
Verzicht auf außenpolitische Ambitionen sich im persischen Weltreich als ak-
zeptierte Minderheit einzurichten. Für die Exulanten in Babylon und für das
zerstörte Jerusalem gab es neue Hoffnung. Diese gewinnt in DtJes ihre Sprache.
Es ist eine eigentümliche, einerseits von der Jes-Tradition, andererseits von
Psalmtönen geprägte Sprach- und Denkwelt, die sich hier auftut.

a) Der Aufbau und die Elemente

DtJes ist offenkundig aus einer Vielzahl kleinerer Einheiten zusammengesetzt –


meist nimmt man ungefähr 50 an, BEGRICH sogar 70 –, von denen sich viele ganz
bestimmten Gattungen zuordnen lassen.
314 D. Die Hinteren Propheten

Im Anschluss an WESTERMANN lassen sich im Einzelnen benennen:


– Heilsorakel (41,8–13.14–16; 43,1–3a.5–7; 44,2–5; 54,4–6)
– Heilsankündigungen (41,17–20; 42,25–16; 43,14–15.16–21; 49,14–21)
– Disputationsworte (40,12–17.21–31; 44,24–28; 46,9–11; 48,1–11; 50,1–2)
– Gerichtsreden gegen Völker (41,1–4.21–29; 43,8–13; 44,6–8; 45,20–25)
– Gerichtsreden gegen Israel (42,18–25; 43,22–28)
– Königsorakel (45,1–7.11–13; 48,12–16a)
– Hymnen (42,10–13; 44,23; 45,8; 48,20–21; 49,13; 51,3; 52,9–10)

Es ist auffällig, dass die meisten Beispiele klarer Gattungszugehörigkeit aus dem
Anfangsteil des Buches stammen. In dessen zweitem Teil mehren sich neu kre-
ierte Formen (z. B. ein Imperativgedicht in 51,9f.17; 52,1f.) und Kompositionen
aus unterschiedlichen Gattungselementen (z. B. die in die Imperativ-Aufrufe
eingelassenen Abschnitte, von denen man kaum sagen kann, ob es sich um
Heilszusagen, Disputationsworte, Klagen oder Gerichtsworte handelt). Mit dieser
formalen Beobachtung trifft sich eine inhaltliche: Bis Jes 48 geht es um das Ge-
schick der Exilsgemeinde und ab Jes 49 um die Zukunft Zions; entsprechend
wechselt der geographische Horizont von Babylon nach Jerusalem. Es ist also
eine Zweiteilung feststellbar in einen „Jakob-Israel“-Teil (40–48) und einen
„Zion-Jerusalem“-Teil (49–55). Die Zäsur zwischen beiden Teilen markiert der
vierte (mittlere) der sieben Hymnen des Buches: „Zieht aus von Babel … Losge-
kauft hat Jhwh seinen Knecht Jakob“ (48,20, mit anschließender Erinnerung an
die Wüstenwanderung des frühen Israel). Es liegt nahe, auch die anderen Hym-
nen als Gliederungsmarken zu nehmen – vielleicht auch als Gelegenheit für die
Hörerschaft oder Leserschaft, gemeinsam zu respondieren. (Nicht von ungefähr
sieht BALTZER in DtJes eine Art Libretto für dramatische Aufführungen. Albertz
schwächt diese steile und so kaum beweisbare Hypothese zu der eines „Vorlese-
buchs“ ab. So oder so käme den Hymnen die Funktion zu, die prophetische Dar-
bietung in regelmäßigen Abständen zu unterbrechen und das Publikum einzube-
ziehen.)
Eine für DtJes charakteristische Textsorte sind Fremdgötterpolemiken; sie
finden sich in 40,19f.; 41,6f.; 42,17; 44,9–20; 45,16f.20b; 46,5–8 – allesamt also im
„babylonischen“ Buchteil. In ihnen spiegelt sich die religiös geradezu verzweifelte
Lage der Exulanten. Ihr Gott wurde besiegt, die Götter der Sieger feiern in Baby-
lon pompös-triumphalistische Kulte. Freilich löst dies bei den Jhwh-Verehrern
des DtJes-Buchs nicht Resignation aus, sondern eher Aggression. Sie machen
sich lustig und erheben sich über die angeblich primitiven Gottesvorstellungen
der anderen. Weder Mühe noch Aufwand scheut man, um Achtung gebietende
Götterbilder herzustellen – doch die bleiben, was sie sind: Holzkerne mit Metall-
überzug, mühsam zum Stehen gebracht und ständig vom Umfallen bedroht,
keiner Sinneswahrnehmung und keiner Aktivität fähig, kurzum: nutzlose Po-
panze. Der Spott unterschreitet das Niveau, das die Religionen und Theologien
Mesopotamiens erreicht haben. Doch auf seiner Kehrseite zeigen sich zwei der
kostbarsten Errungenschaften der Religion Israels: der Monotheismus und das
bildlose Gottesbild.
II. Das Jesajabuch 315

DUHM war der Erste, der die vier sog. Gottesknechtslieder (GKL) aus dem
Korpus von DtJes ausgesondert und einem nachexilischen Verfasser zugewiesen
hat. Er gab ihren Umfang mit 42,1–4; 49,1–6; 50,4–9; 52,13–53,12 an. (HAAG
lässt nur 42,1–3a.4a; 49,1–5a.6; 50,5b.6.7b.9b; 53,*3–10 als Grundbestand gelten;
andere nehmen angefügte Kommentare hinzu und kommen auf 42,1–9; 49,1–9;
50,4–11; 52,13–53,12). Die Lieder ergeben nacheinander gelesen etwas wie eine
(Lebens-)Geschichte: Im ersten wird der „Knecht“ von Gott präsentiert als der,
der „Recht und Weisung“ bis an die Enden der Erde bringen solle; im zweiten
stellt sich der „Knecht“ selbst vor als von Gott berufen, von Israel freilich abge-
lehnt, gleichwohl aber bestellt zum „Licht der Völker“; im dritten beschreibt er
sich als einen, der, obwohl er den „Müden Erquickung“ bringt, unter Verfolgung
zu leiden hat, dies aber im Vertrauen auf Gott schweigend erträgt; im vierten
bekennt sich Gott zu ihm – allerdings, wie es scheint, postum –, woraufhin die
Mächtigen dieser Erde verstummen und eine Gruppe von Menschen die Er-
kenntnis äußert, dass der von ihnen Verachtete stellvertretend für sie gelitten
und Sühne für ihre Schuld bewirkt hat. Wer ist dieser „Knecht“? Der Begriff
begegnet auch außerhalb der GKL, meint dort aber jeweils klar Israel bzw. die
Gola. In den GKL dagegen handelt es sich um eine von Israel unterschiedene,
geheimnisvolle Größe. (Diese Differenz ist trotz METTINGER nicht zu leugnen –
auch wenn der „Knecht“ in 49,3 ausdrücklich mit „Israel“ gleichgesetzt wird:
nach der Meinung der Meisten ein Zusatz, der den Hiat zwischen Liedern und
Kontext überbrücken soll. Bestehen bleibt in jedem Fall der Unterschied, dass die
Lieder nicht nach außen gerichtete Verkündigung sind, sondern eher stille, nach
innen gewandte Reflexion.) Es hat zur Identifizierung des „Knechts“ zahllose
Vorschläge gegeben (vgl. HAAG). Die Hauptunterscheidung ist die zwischen
kollektiven oder individuellen Deutungen. Auf der einen Seite kommen dann
Israel, eine prophetische Gruppe oder die Gola in Betracht (Letzteres neuerdings
bei HÄGGLUND, der im „Knecht“ die Heimkehrer, in der Wir-Gruppe die
Altjudäer verkörpert sieht), auf der anderen diverse königliche oder prophetische
Gestalten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, z. B. Kyros, Jojachin, ein
künftiger Davidide, Christus (vgl. Apg 8!), Jeremia oder „Deuterojesaja“. Die
Sachlage wird noch komplizierter, wenn die GKL in den Redaktionsprozess des
DtJes-Buches einbezogen und verschiedenen Textschichten zugeordnet werden
(s. unten 3b), was zur Folge hat, dass Profil und Identität des „Knechts“ von Lied
zu Lied wechseln können.
Nach wie vor viel für sich hat die Gleichsetzung des „Knechts“ mit dem Exils-
propheten, der als Auslöser der dtjes Prophetie und Literatur zu vermuten ist
(vgl. z. B. HERMISSON, SCHARBERT). Dieser Mann hätte sich mit einem großen
Auftrag betraut gefühlt, wäre an ihm von außen betrachtet gescheitert, hätte sich
aber niemals widerlegt gesehen und nie klein beigegeben, hätte ein trauriges
Ende gehabt, wäre im Nachhinein aber als der erkannt und verehrt worden, der
Resignation, Schuld und sogar den Tod überwunden hat. Doch wie alle Deutun-
gen, so hat auch diese den Respekt davor zu wahren, dass der „Gottesknecht“ mit
einer geheimnisvollen Aura umgeben ist, die verschiedene Interpretationen zu-
316 D. Die Hinteren Propheten

lässt. Besonderes Gewicht kommt dabei dem Kontext-Argument zu: Wenn der
„Knecht“ sonst in DtJes das Gottesvolk ist, dann liegt es nahe, dass es auch mit
dem „Knecht“ der Lieder identifiziert worden ist. Wie auch immer, in dieser
Gestalt wird die gängige Logik und Praxis durchbrochen, wonach Schuld Strafe
bewirkt, Schwäche Verachtung, Stärke Erfolg, Sterben Vergessen. Beim „Gottes-
knecht“ liegt im Leiden Kraft, in der Niederlage Sieg, in der Schuldübernahme
Vergebung, im Tod Leben.

b) Die Entstehung

Seit DUHM Jes 40–55 aus dem Jes-Buch ausgegrenzt und BEGRICH die darin ent-
haltenen Redegattungen im Prinzip zutreffend bestimmt hatte, war klar, dass
man es in DtJes mit einer Sammlung oder Komposition unterschiedlicher, ver-
mutlich über längere Zeit hinweg entstandener Texte zu tun hat. Angenommen
selbst, dahinter stünde die mündliche Verkündigung eines Propheten, den wir
mangels besserer Information „Deuterojesaja“ nennen, so wäre davon doch die
Entstehung des DtJes-Buches zu unterscheiden. Sollte jener Prophet selbst seine
Worte niedergeschrieben und zu einem Korpus zusammengestellt, d. h. redigiert
haben? Oder war DtJes von vornherein Literatur, entstanden womöglich erst
erhebliche Zeit nach dem Exil? Oder soll man sich ein Zwischending vorstellen –
etwa, dass ein von „Deuterojesaja“ oder einem seiner Schüler verfasster Buchkern
später und evtl. mehrstufig ausgeweitet worden ist, oder dass es sich um das
Gemeinschaftswerk einer dtjes „Schule“ oder Gruppe handelt oder um einen
anonymen Textbildungs- und Fortschreibungsprozesses, an dem tendenziell
zahllose Hände beteiligt waren? – Einige redaktionsgeschichtliche Modelle seien
hier kurz skizziert:

– KIESOW nimmt eine Grundsammlung an, im wesentlichen identisch mit dem Israel-
Jakob-Teil (40,3–5.13–31; 41–48), sodann eine erste Erweiterung, die von Babylon
zum Zion führt (40,1f.9–11; 49–52), und schließlich eine zweite Erweiterung, die den
Endstand des Buches herstellt (40,6–8; 53–55).
– STECK sieht ähnlich in 40–48 + 52,7–12 eine bald nach 539 entstandene Grund-
schicht, die anlässlich der Thronbesteigung des Darius 522 v. Chr. um eine „Kyros-
Ergänzungsschicht“ (dies nach KRATZ) sowie die ersten drei GKL, wenig später dann
um drei „Zionsfortschreibungen“ im Bereich von Jes 49–52 und schließlich um 53–55
schrittweise ausgeweitet wurde.
– ALBERTZ rechnet im Gefolge von WERLITZ mit zwei „Buchausgaben“, für die nicht
einzelne Autoren verantwortlich sind, sondern die „DtJes-Gruppe“. Sie schuf die erste
Ausgabe um 521 v. Chr., blickte aber zurück bis in die Zeit vor 539; der Umfang des
Werkes reichte von 40,1 bis 52,12 (einschließlich Fremdgötterpolemiken und GKL 1–
3, wobei im „Knecht“ die DtJes-Gruppe zu sehen ist). Dem wurde das vierte GKL als
Anhang beigefügt (wobei der „Knecht“ jetzt Israel ist und das bekennende „Wir“ die
anderen Völker). Die zweite Ausgabe, gegenüber der ersten angereichert um einige
Zusätze und vor allem um den Buchschluss Jes 54f., entstand um 480 und diente nicht
zuletzt der Zusammenfügung von DtJes mit PrJes (dazu z. B. der Bezug in 40,3.6 auf
Jes 6).
II. Das Jesajabuch 317

– EHRING steht offenbar ein sehr ähnliches Modell der Buchentstehung vor Augen: Jes
40,1–11 (ohne V. 6–8) und 52,7–10 bildeten den Rahmen einer dtjes Grundschrift, die
hauptsächlich von der Rückkehr des „Königs“ Jhwh – noch nicht: der Exulanten! –
nach Jerusalem handelte. Die Vorstellung einer Gottheit, die ihren angestammten
Wohnsitz im Zorn verlässt und in Erbarmen dorthin zurückkehrt, findet sich auch in
mesopotamischen Texten der Zeit, namentlich in der Babylon-Stele Nabonids. In ein
solches, nur aus dem exilszeitlichen Milieu erklärbares, Konzept kann sehr wohl auch
schon die Kritik an fremden Göttern eingeschlossen sein (z. B. Jes 46,1f.). – Es liegt auf
der Hand, dass die Vfn. den von ihr nicht behandelten Schlussteil des DtJes-Buchs für
später zugewachsen hält.
– BERGES hält 40,12–46,11 für eine vor 539 entstandene Sammlung von Worten eines
anonymen Propheten, der eine durch Kyros herbeigeführte Heilswende ankündigt.
Noch vor 521 sei diese Sammlung von der sog. Gola-Redaktion bis 48,21 ausgedehnt
worden, wobei nicht nur das erste GKL, sondern auch Hymnen hinzukamen. Die
„erste Jerusalemer Redaktion“ erweiterte nach 515 das Buch nach vorne (ab 40,1) und
hinten (bis 52,12; dabei u. a. das zweite GKL); Zielpunkt war der Aufruf an die
Diaspora zum Aufbruch in die Heimat 52,7–12. Eine „zweite Jerusalemer Redaktion“
stellte den jetzigen Textbestand her (durch Einfügung u. a. von 40,6–8 und 55,10f. so-
wie des dritten GKL) und verknüpfte DtJes mit PrJes.
– VAN OORSCHOT postuliert eine Grundschicht in *40,12–46,11, die um 550 in Baby-
lon entstanden sei. Um 521/20 habe eine Jerusalemer Redaktion ein Buch geschaffen,
das von 40,1 bis 52,12 reichte. Danach erst und separat wurden die GKL 1, 2 und 4
eingebaut. Eine „Naherwartungsschicht“ habe um 500 die Passagen 42,5–9.10–13;
46,12f.; 48,12–16; 49,7–13 eingesetzt. Erst um 450 sei durch eine „sekundäre Zions-
schicht“ der endgültige Textbestand erreicht worden (dabei Einbau von 40,6–8 und
drittem GKL). Darauf seien noch eine Bearbeitung „Gehorsam und Segen“ (43,22–29;
48,1–11.17–19) sowie die Götzenpolemik-Schicht gefolgt.

Die exegetische Literatur nimmt einige Textsignale auf, die auf eine gestufte
Entstehung des DtJes-Buchs weisen.
1) Die früheste Stufe der Textentstehung führt hinter das Jahr 539 v. Chr.
zurück. Zu eindeutig widersprechen sich die Erwartung einer Vernichtung Ba-
bylons und die tatsächlichen Vorgänge bei der Einnahme der Stadt durch Kyros,
als dass man hier nicht echte Voraussagen anzunehmen hätte, die sich so nicht
erfüllt haben. Andererseits dürften die ersten großen Erfolge Kyros’ (gegen Me-
dien 550, gegen Lydien 546 v. Chr.) Auslöser der in DtJes verkündeten Schick-
salswende sein. Also hat ein in der jesajanischen Tradition stehender Mann (al-
lenfalls auch eine Gruppe) in den Jahren kurz vor Kyros’ Einzug in Babylon den
in der Babylonischen Gefangenschaft lebenden Juden die baldige Wendung ihrer
Lage in Aussicht gestellt. Ob das auf mündlichem oder nicht von vornherein
schriftlichem Wege geschah, muss offen bleiben; für das eine spricht die Leben-
digkeit der Auseinandersetzung etwa in den Disputationsworten, für das andere
die geschliffene Gedichtform der einzelnen Texteinheiten.
2) Dieser Grundstock dtjes Weissagungen wird in dem Jakob-Israel Teil 41–48
erstmals Buchgestalt angenommen haben. (Eine Zäsur schon nach 46,11, die
manche Exegeten sehen, ist nicht auszumachen.) Als Einleitung wurde der
Schrift 40,1–5 vorangestellt: die Botschaft, dass Israels Schuld beglichen sei und
318 D. Die Hinteren Propheten

nunmehr alles gut werde. „Tröstet, tröstet mein Volk“, lautet das Motto über
dem Buch. Dieser Imperativ, dessen Subjekt Gott ist, ermächtigt den oder die
Schreibenden zu ihrem Tun. Daraufhin wird der Ruf laut, in der Wüste entstehe
eine ebene Bahn, eine Art babylonischer Prozessionsstraße, auf der die Gefange-
nen mühelos in ihre Heimat ziehen können (40,3f.). Das Exodus-Motiv wird am
Buchende (48,20–22) wieder aufgenommen: Jhwh hat schon einmal sein Volk
durch eine Wüste geführt und dafür zu sorgen gewusst, dass es nicht verdurstete.
Der Erinnerung an den ersten Exodus geht der Aufruf zu einem zweiten voran:
„Zieht hinaus aus Babel, flüchtet aus Chaldäa!“ (Solche Stellen widerstreiten der
Annahme BARSTADs und LUNDs, das DtJes-Buch sei auch nicht in einem Grund-
bestand im babylonischen Exil, sondern sogleich in Juda entstanden.) Offenbar
stehen die persischen Truppen im babylonischen Kernland oder schon vor Ba-
bylon. Nichts und niemand soll die Juden mehr im Land ihrer Gefangenschaft
zurückhalten. (Laut 2Chr 36,22f.; Esr 1; 6,3–5 hat Kyros gleich nach der Macht-
übernahme in Babylon der jüdischen Gola die Rückkehr in die Heimat erlaubt,
ihr die von den Babyloniern geraubten Tempelgeräte ausgehändigt und sie zum
Neubau eines Tempels in Jerusalem ermächtigt.)
3) Ein erneuter, fast noch dringlicherer Aufruf zum Aufbruch findet sich in
52,7–12, doch er ist deutlich nicht mehr in Babylon verfasst, sondern richtet sich
von Jerusalem aus an die Juden dort: „Weg, weg! Zieht aus von dort(!), fasst
nichts Unreines an, zieht weg aus ihrer (d. h. Babylons!) Mitte, haltet euch rein,
ihr Träger der Geräte Jhwhs!“ (52,11) Hier werden die von den Persern rücker-
statteten Tempelgeräte eigens erwähnt. Anscheinend hat es bei ihrer Rückfüh-
rung wie bei der Repatriierung der Juden Verzögerungen gegeben. Erst unter
Kyros’ übernächstem Nachfolger, Darius I. (521–485), wurden die Pläne zum
Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels wieder energisch vorangetrieben (vgl.
Esr 6; Sach 4,9). Damals dürfte der ‚babylonische Ur-DtJes‘ neu bearbeitet und
bis Jes 52,7–12 erweitert worden sein. (Womöglich gehört hierher die von KRATZ
eruierte Kyros-Ergänzungsschicht, in der dem Usurpator Darius im Bild des
großen Reichsgründers Reverenz erwiesen wird.) Das erweiterte DtJes-Buch
nimmt die einst in Babylon ergangene früh-dtjes Botschaft nochmals auf, sucht
die Enttäuschung zu überwinden, welche die nur zögerliche und unvollkommene
Erfüllung der damaligen Weissagungen ausgelöst hat, und ermutigt die Adres-
saten zu unverdrossener Hoffnung und erneutem Aufbruch. Der Buchanfang
wird jetzt um den Passus 40,9–11 erweitert; von der hier erwähnten „Freuden-
botin Zion“ spannt sich ein Bogen zu den „Füßen der Freudenboten“, die Zion
frohe Kunde bringen (52,7).
4) Der volle Textbestand des DtJes-Buchs wird auf der nächsten und letzten
Erweiterungsstufe erreicht. Am Ende kommt der Textblock 52,13–55,13 hinzu,
am Anfang der Passus 40,6–8, in dem ein neues Thema angeschlagen wird: Ver-
gänglich ist das menschliche Leben, „das Wort unseres Gottes aber bleibt auf
ewig“. Dieser Gedanke kehrt im neuen Schlussabschnitt mehrfach wieder. Im
vierten GKL bekennt sich Gott zu seinem „Knecht“ und spricht ihm Erfolg noch
über sein vergängliches Leben hinaus zu (52,13; 53,11f.). Und fast am Ende des
II. Das Jesajabuch 319

Buches versichert Gott, dass sein „Wort nicht leer“ zu ihm zurückkehre, sondern
das bewirke, was er wünsche, und erfolgreich sei in dem, wozu er es sende
(55,10f.). So war es bei dem „Knecht“, so wird es auch bei den anschließenden
Verheißungen sein: Jerusalem, das einer kinderlosen, verlassenen Frau gleicht,
wird überreichlich Kinder bekommen (54,1–17), und die Segnungen des Da-
vidbundes sollen auf Israel übergehen (55,1–5). In dem Letzten spiegelt sich die
definitive Abkehr des nachexilischen Judentums von der Erwartung auf ein er-
neuertes davidisches Königtum, die in der frühesten persischen Zeit durchaus
noch virulent war (vgl. z. B. Hag 2,20–23; Sach 4); mit der Endfassung des DtJes-
Buchs bewegen wir uns also schon recht tief im 5. Jh.

Die Verbindung von DtJes mit PrJes dürfte eher auf der letzten als auf der vor-
letzten der skizzierten vier Stufen vorgenommen worden sein (d. h. eher im Zu-
sammenhang der zweiten Buchausgabe nach ALBERTZ als auf der Ebene der 2.
Jerusalemer Redaktion nach BERGES, s. dazu unten 4.b). Die Ausweitung um
TrJes erfolgte noch später, und zwar nochmals in mindestens zwei Schritten (s.
oben 2.b).

c) Der Prophet „Deuterojesaja“

Bleibt abschließend noch die Frage nach der Person des Propheten, der hinter
der dtjes Traditionsbildung stehen mag. (Wer DtJes für das Gemeinschaftswerk
einer Gruppe oder das Ergebnis eines anonymen Fortschreibungsprozesses hält,
wird diese Frage überflüssig bis verfehlt finden.) Auf dem gegenwärtigen Er-
kenntnisstand verbietet es sich, den gesamten Textbestand von Jes 40–55 auf
einen einzigen Propheten zurückzuführen – es sei denn, man stellte sich diesen
als Orator und Autor und Redaktor zugleich und überdies als sehr langlebig vor.
Die natürlichste Annahme ist, dass sein Wirken vor 539 v. Chr. einsetzte, als er
die große babylonisch-persische Zeitenwende kommen und darin den Gott
Israels am Werk sah. Die Heilsorakel und -ankündigungen, die Disputations-
worte und Fremdgötterpolemiken in Jes 41–48 dürften im Wesentlichen auf ihn
zurückgehen. Ob er sie selbst zu einem Schriftkorpus vereint und dabei z. B. die
hymnischen Stücke eingefügt oder ob das ein anderer für ihn getan hat, muss
offen bleiben. Jedenfalls scheint er in 48,16b mit seinem „Ich“ hervorzutreten.
Stammt auch der Aufruf zum Aufbruch aus Babel 48,20f. von ihm, dann war
er gewiss unter denen, die ihm Folge leisteten. Allerdings waren die Umstände
der Rückwanderung und die Zustände in der Heimat keineswegs so wunderbar,
wie in seinen himmelstürmenden Verheißungen erträumt. Jerusalem erstrahlte
nicht in neuem Glanz, sondern lag nach wie vor in Trümmern – während Baby-
lon, das zertrümmert sein sollte, kaum etwas von seinem Glanz verloren hatte.
Zudem wurden die Rückkehrer kaum nur mit offenen Armen aufgenommen,
gehörten sie doch der früheren Oberschicht an, ohne die man sich im Land leid-
lich eingerichtet hatte und deren alte Ansprüche man fürchtete (vgl. die Span-
320 D. Die Hinteren Propheten

nung zwischen Altjudäern und Golajuden, die in Texten wie Jer 29; Ez 11,14–21;
33,23–29; Sach 5,1–4 knistert). Möglicherweise spiegelt sich in den ersten drei
GKL – vorausgesetzt, sie dürften individuell und auf den Propheten gedeutet
werden – etwas von den Anfechtungen und Anfeindungen, die aus alldem er-
wuchsen. Die erweiterte, bis 52,12 reichende Fassung des DtJes-Buchs könnte
somit durchaus noch unter den Augen des Propheten zustande gekommen sein.
Die in Jes 49–52 zusammengestellten Ermunterungen und Ermahnungen an die
verzagende Zionsgemeinde und die Aufrufe an die Gola zu unverzagter Rück-
kehr zum Zion passen zu dem großen Namenlosen, dessen Sache Kleinglaube
und Furcht weder damals in Babylon noch jetzt in Jerusalem waren. Die letzte
Textstufe indes kann man mit ihm kaum mehr in unmittelbare Verbindung
bringen: nicht nur, weil er dann mehr als ein halbes Jahrhundert gewirkt haben
müsste, sondern weil – wiederum die Deutbarkeit auf ihn vorausgesetzt – das
vierte GKL auf seinen Tod zurückblickt. Hinzu treten, wie gezeigt, Themen aus
der fortgeschrittenen Perserzeit. Doch müssen die Trennlinien nicht überscharf
gezeichnet werden: Jes 54 etwa unterscheidet sich von den früheren Kapiteln
kaum. Im dritten GKL hieß es, der „Knecht“ höre mit „Jünger-Ohren“ (50,4); so
war der Prophet, dessen Bild wir zu skizzieren versuchten, nicht allein, sondern
war von einem Kreis von „Jüngern“ bzw. Schülern umgeben – wie schon der
„alte“ Jesaja (vgl. 8,16). Die Annahme einer Jesaja-Schule, die seither und noch
über DtJes hinaus das jesajanische Traditionsgut wahrte und ausweitete, macht
allzu präzise personale Zuschreibungen und Konturen so unmöglich wie unnö-
tig.

4. Protojesaja (Jes 1–39)


Einzelstudien: G. FOHRER, Entstehung, Komposition und Überlieferung von Jes 1–39 (1962): Ders.,
Studien zur atl. Prophetie, 1967 (BZAW 99), 113–147. – W. DIETRICH, Jesaja und die Politik, 1976
(BEvTh 74). – H. BARTH, Die Jesaja-Worte in der Josiazeit, 1977 (WMANT 48). – J. VERMEYLEN, Du
prophète à l’apocalyptique. Isaïe I–XXXV, Paris I 1977, II 1978. – C. HARDMEIER, Prophetie im Streit
vor dem Untergang Judas, 1990 (BZAW 187). – S. DECK, Die Gerichtsbotschaft Jesajas, 1991 (FzB
67). – C. R. SEITZ, Zion’s Final Destiny. The Development of the Book of Isaiah. A Reassessment of
Isaiah 36–39, Minneapolis 1991. – H.-M. PFAFF, Die Entwicklung des Restgedankens in Jesaja 1–39,
1996 (EHS XXIII/561). – J. BARTHEL, Prophetenwort und Geschichte. Die Jesajaüberlieferung in Jes
5–8 und 28–31, 1997 (FAT 19). – U. BECKER, Jesaja – von der Botschaft zum Buch, 1997 (FRLANT
178). – E. BLUM, Jesajas prophetisches Testament: ZAW 108 (1996), 547–565; 109 (1997), 12–29. –
E. BOSSHARD-NEPUSTIL, Rezeptionen von Jesaja 1–39 im Zwölfprophetenbuch, 1997 (OBO 154). –
F. HARTENSTEIN, Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum. Jesaja 6 und der Wohnort JHWHs in
der Jerusalemer Kulttradition, 1997 (WMANT 75). – U. BERGES, 1998 (s. oben II.1). – A. SCHOORS,
Die Königreiche Israel und Juda im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart 1998 (Biblische Enzyklo-
pädie 5). – R. SCHOLL, Die Elenden in Gottes Thronrat. Stilistisch-kompositorische Untersuchungen
zu Jesaja 24–27, 2000 (BZAW 274). – J. T. HIBBARD, Intertextuality in Isaiah 24–27. The Reuse and
Evocation of Earlier Texts and Traditions, 2006 (FAT 2/16). – M. KÖCKERT / U. BECKER / J. BARTHEL,
Das Problem des historischen Jesaja, in: I. Fischer / K. Schmid / H. G. M. Williamson (Hg.), Prophe-
tie in Israel, Münster 2003 (Altes Testament und Moderne 11), 105–135. – J. BARTON, Jesaja – Pro-
phet in Jerusalem. Eine Einführung zu Themen in Jesaja 1–39, Göttingen 2006. – S. ERNST, Ahas,
König von Juda. Ein Beitrag zur Literatur und Geschichte des Alten Israel, 2006 (ATSAT 80). – S. A.
II. Das Jesajabuch 321

NITSCHE, Jesaja 24–27, ein dramatischer Text, 2006 (BWANT 166). – T. WAGNER, Gottes Herrschaft.
Eine Analyse der Denkschrift (Jes 6,1–9,6), 2006 (VT.S 108). – M. J. DE JONG, Isaiah among the
Ancient Near Eastern Prophets. A Comparative Study of the Earliest Stages of the Isaiah Tradition
and the Neo-Assyrian Prophecies, 2007 (VT.S 117). – U. BERGES, Jesaja. Der Prophet und das Buch,
Leipzig 2010 (Biblische Gestalten 22). – F. HARTENSTEIN, Das Archiv des vorborgenen Gottes. Stu-
dien zur Unheilsprophetie Jesajas und zur Zionstheologie der Psalmen in assyrischer Zeit, 2011
(BThSt 74). – R. MÜLLER, Ausgebliebene Einsicht. Jesajas „Verstockungsauftrag“ (Jes 6,9–11) und die
judäische Politik am Ende des 8. Jahrhunderts, 2011 (BTh 124). – K. WEISSFLOG, Zeichen und
Sinnbilder. Die Kinder der Propheten Jesaja und Hosea, Leipzig 2001 (Arbeiten zur Bibel und ihrer
Geschichte 36).
Forschungsberichte: R. KILIAN, Jesaja 1–39, 1983 (EdF 200). – C. HARDMEIER, Jesajaforschung im
Umbruch, VF 31 (1986), 3–31. – U. BECKER, Jesajaforschung (Jes 1–39): ThR 65 (1999), 1–37.117–
152. – P. HÖFFKEN, 2004 (s. oben II). – H. C. P. KIM, Recent Scholarship on Isaiah 1–39, in: A. J.
Hauser (ed.), Recent Research on the Major Prophets, Sheffield 2008, 118–141.

a) Komposition und Buchteile

Das PrJes-Buch ist in sich eine kleine prophetische Anthologie. Nach formalen
und inhaltlichen Gesichtspunkten lassen sich relativ leicht mehrere Buchteile
voneinander unterscheiden:
– Jes 1–12: Sprüche gegen (und für) Juda
– Jes 13–23: Sprüche gegen einzelne Völker
– Jes 24–27: Worte über die Zukunft der gesamten Völkerwelt
– Jes 28–32: Worte anlässlich einer außenpolitischen Bedrohung Judas
– Jes 33–35: Verheißungen für Juda, Drohung gegen Edom
– Jes 36–39: Erzählungen von der Rettung Jerusalems
Das Teilbuch Jes 1–12 gliedert sich wiederum in drei Abschnitte:
– Jes 1,1–2,5: Gesamtporträt der Prophetie Jesajas. Es setzt sich zusammen aus
folgenden Elementen: 1,1 Überschrift; 1,2f. Anrufung von Himmel und Erde
gegen Gottes „Söhne“ (Israel); 1,4–9 Das beinahe vernichtete Jerusalem; 1,10–17
Priestertora: kein Gottesdienst ohne ethisches Verhalten; 1,18–20 Sündenverge-
bung – eine unmögliche Möglichkeit?; 1,21–26 Leichenlied auf das (fast) tote
Jerusalem; 1,28–31: Gericht und Heil; 2,1–5: Künftige Völkerwallfahrt zum Zion.
– Jes 2,6–4,6: Unheil und Heil für Zion. Im einzelnen: 2,6–22 Gericht über hoch-
fahrende Männer; 3,1–15 Jhwhs Rechtsstreit mit den Verderbern seines Volkes;
3,16–4,1 Gericht über hochmütige Frauen; 4,2–6 Heil für Jerusalem.
– Jes 5–12: Gericht über Juda und Assur. In den Kapiteln 5–10 legen sich drei
konzentrische Ringe um einen Kern 6,1–9,6: A) 5,1–7 Weinberglied gegen Israel
und Juda; B) 5,8–24 Weherufe gegen die Oberen Judas; C) 5,25–30: Gottes „aus-
gereckte Hand“ und das „Volk aus der Ferne“; C’) 9,7–20 Kehrversgedicht von
Gottes „ausgerecktem Arm“; B’) 10,1–4 Weheruf gegen die Oberen Judas; A’)
10,5–15 Lied gegen das selbstherrliche Assur. Der Mittelteil ist im Grunde auch
chiastisch komponiert: X) 6,1–13 Ich-Erzählung von Jesajas Begegnung mit Jhwh
und seinem Auftrag; Y) 7,1–17: Fremdbericht von Jesajas Begegnung mit König
Ahas (mit angehängten Einzelsprüchen in 7,18–25); X’) 8,1–20 Ich-Erzählung
322 D. Die Hinteren Propheten

von Jesajas Familie und seinen Jüngern (mit einem verheißungsvollen Ausklang
in 9,1–6). Der Buchteil schließt mit einer großen messianischen Weissagung in
Jes 11 (Reis aus dem Stumpf Isais, Tierfriede) und einem Hymnus in Jes 12.
Die Sammlung von Völkerworten in Jes 13–23 setzt sich zusammen aus Worten
gegen Babylon (13,1–14,23), Assur (14,24–27), Philistäa (14,28–32), Moab (15,1–
16,14), Aram-Damaskus und Nordisrael (17,1–11), ein (assyrisches?) Vielvölker-
heer (17,12–14), Kusch/Äthiophien (18,1–7), Ägypten (19,1–17), Ägypten und
Kusch (20,1–6), Babylon (21,1–10), Edom (21,11f.), Kedar/Arabien (21,13–17),
Tyrus und Sidon (23,1–18). Die allermeisten Sprüche tragen die Überschrift
maśśssā’ „Lastspruch“. Eine geographische oder sonstige sachliche Ordnung ist
in dieser Abfolge nicht zu erkennen. Allenfalls ließe sich sagen, dass die einzige
Datierung in 14,28 (Todesjahr Usijas = 736 v. Chr.) 13,1–14,27 in die Zeit davor
verweisen möchte. Der Babel-Spruch Jes 13 hat kompositorische Funktion, in-
dem er Verbindungslinien zu Jes 2 (Jhwhs Gericht gegen die Hochmütigen), zu
Jes 21,1–10 (wiederum: gegen Babel) sowie zu DtJes (Gericht gegen Babel, Jes 47)
aufweist (BOSSHARD-NEPUSTIL, ZAPFF). Überraschend schieben sich in die Ge-
richtsworte gegen Fremdvölker in 19,18–25 Heilsworte über Ägypten und Assy-
rien (vermutlich Chiffren für das Ptolemäer- und das Seleukidenreich) und in
22,1–14.15–25 Unheilsworte über Juda bzw. über hohe judäische Beamte.
Die sog. Jes-Apokalypse Jes 24–27 kündet von der Endzeit der Welt: von der
dann über die ganze Erde hereinbrechenden Katastrophe (24), von den Völkern,
die teils vernichtet, teils zu Gottes großem Mahl auf dem Zion eingeladen und
vom Todesschicksal befreit werden (25), von Erlösung und Auferstehung der
Gerechten (26), von der Wiederherstellung des Weinbergs Israel, der Verwüs-
tung der Großreiche und der Heimkehr der Diaspora (27). Die Texte zeigen
einige, aber keineswegs alle Zeichen der Apokalyptik (vgl. etwa Dan 2; 7–12 und
dann die „apokryphen“ Apokalypsen); vielleicht könnte man sie proto-apoka-
lyptisch nennen. Bemerkenswert sind vor allem die Aussagen über die Vernich-
tung des Todes (25,8) und die Auferstehung der Toten (26,19; die herkömmliche
Anschauung noch in 26,14). In allen Kapiteln (24,10–12; 25,2f.; 26,1–6; 27,10f.)
ist von der Verwüstung einer feindlichen Stadt die Rede; man hat sie auf Ninive,
Babylon, Samaria oder gar Karthago gedeutet, doch ist offenbar keine konkrete
Größe gemeint, sondern die Stadt als Symbol des Gottfeindlichen. In die Augen
fällt ein Wechsel von Weissagungen und Liedern, so dass für das Ganze Bezeich-
nungen wie Kantate oder Liturgie gefunden wurden; vielleicht ist in diesem Fall
„prophetisches Drama“ am angemessensten.

NITSCHE denkt sich, gestützt auf Textsignale und auf die Textgraphik der Jes-Rolle von
Qumran, Jes 24–27 als Textbuch für reale oder virtuelle szenische Aufführungen. Das
Ganze wird eingeteilt in 15 Abschnitte bzw. Auftritte (etwa: 24,1–15 „Das kosmische
Weltgericht“, 24,16–20 „Die Angst Frau Zions“, 25,1–5 „Dankgebet“, 26,1–10 „Zions
Zukunft und ihre Zweifel“, 26,16–19 „Prophetische Fürbitte, Zions letzte Klage und
Vertrauen“, 27,2–8 „Der Weinberg des Heils und die Frage nach dem Schicksal Ja-
kobs/Israels“). In jedem Abschnitt treten eine oder mehrere Figuren auf, nämlich: der
II. Das Jesajabuch 323

„Prophet“ (24,1f.4–14b.21f.; 25,1–5.9?; 26,1–8a.16.21; 27,12), Jhwh (26,20; 27,2–5),


„Frau Zion“ (24,16–20; 26,8b–10.17–19), der „Chor“ (24,3.14c.15.23; 25,10f.; 26,12.15;
27,1.13), der „Chorführer“ (25,6–8.12?; 26,11.13f.) sowie zwei „Sprecher“ (27,6–11, im
Wechsel). Auf diese Weise gewinnt der Text, dem ein klarer Gedankenfortschritt
kaum zu entnehmen ist, an Kohärenz und Plausibilität. Dass er auch in diesem Fall
keineswegs in einem Zuge niedergeschrieben sein muss, wird noch zu zeigen sein.

Jes 28–32 handelt erkennbar von der Krisensituation 701 v. Chr., als Sanherib das
in einem antiassyrischen Bündnis führend engagierte Juda angriff und Jerusalem
einschloss. Der Abschnitt gibt sich als Sammlung von fünf Wehe-Reden (hôj in
28,1; 29,1.15; 30,1; 31,1), deren jede in drohendem Ton anhebt und in versöhnli-
chem und verheißungsvollem Ton endet. Die erste (28,1–29) wendet sich zuerst
gegen Samaria (das bekanntlich 722 v. Chr. erobert und zerstört wurde!), um
dann religiös und politisch führende Kreise in Juda mit ihrer selbstsicheren und
leichtfertigen Bündnispolitik aufs Korn zu nehmen und schließlich in das sog.
Bauerngleichnis auszumünden, das darauf hinweist, dass auf dem Lande nicht
nur gehackt und gedroschen, sondern auch gesät und sorgsam geerntet wird. Jes
29 beginnt mit einem Gedicht über „Ariel“, offenbar ein Code-Name für den
Tempel auf dem Zion, der schwer bedrängt, dann aber wunderbar gerettet wer-
den soll; daran schließen sich Worte über die Verblendung der Menschen und
über ihre endliche Heilung an. Jes 30 und 31 setzen jeweils mit Wehe-Worten
gegen das Bündnis Judas mit Ägypten (gegen Assyrien) ein, das katastrophale
Folgen haben werde, mahnen beide zur Umkehr und stellen Jhwhs persönliches
Einschreiten gegen Assur in Aussicht. Die Sammlung wird in Jes 32 abgeschlos-
sen durch eine messianische Weissagung, nicht ohne noch einmal die Unaus-
weichlichkeit des Gerichts vor dem Kommen des Heils zu betonen.

Die Kapitel Jes 33–35 wurden bereits als Schnittstelle zwischen PrJes und DtJes
besprochen (s. oben II.1.b). Die Kapitel 33 und 35 könnten genauso gut in DtJes
stehen; ihr Nebeneinander wird durch das nachgetragene Edom-Wort Jes 34
bewirkt sein, das auf die Zerstörung dieses Kleinstaats durch den letzten Babylo-
nierkönig Nabonid im Jahr 553/52 anspielen dürfte (vgl. auch Mal 1,2–5; Ob 16–
18; Jer 49,12f.; Jes 63,1–6).

Die Legenden Jes 36–39 wurden aus 2Kön 18–20 übernommen (vielleicht nicht
in einem Zug, sondern zuerst nur 36f.: BECKER) und in Jes 38,9–20 um das „Ge-
bet Hiskijas“, ein individuelles Klage- und Bittgebet, erweitert. Die Kapitel die-
nen als Rückblick auf die letzte Wirkungsperiode Jesajas in der Zeit der San-
herib-Bedrohung und zugleich als Übergang zum Folgenden; denn Jes 39 weist
auf das babylonische Exil voraus, in welchem DtJes, ganz wie der Jesaja der Le-
genden, Jhwhs Eintreten für den Zion verkünden wird.

Bei der Komposition der Teilstücke von PrJes war offenbar ein „biografischer“
Aufbau beabsichtigt. In 1,1 wird als Wirkungszeit Jesajas die Regierungszeit der
324 D. Die Hinteren Propheten

Könige Usija (786–756 [736]), Jotam (756–742), Ahas (742–725) und Hiskija
(725–696) angegeben. 6,1 datiert die (Berufungs-)Vision Jesajas ins Todesjahr
Usijas (736 v. Chr.; gewiss war die Redaktion der Meinung, Jes 1–5 stammten aus
der Zeit davor, also aus der Zeit Usijas bzw. seines Mitregenten und Nachfolgers
Jotam, vgl. 2Kön 15,5). Mit Jes 7 befinden wir uns bereits in der Zeit Ahas’ und
des syrisch-efraimitischen Kriegs (734/33). In 14,28 findet sich eine nächste (in-
terne) Datierung, nämlich ins Todesjahr des Ahas (725). Jes 20, die Erzählung
von einer Symbolhandlung Jesajas, wird datiert in das Jahr, in dem Aschdod von
den Assyrern belagert und erobert wurde; dies führt ins Jahr 711. Mit Jes 28–31
und 36–39 gelangen wir in die Zeit des antiassyrischen Aufstands unter Hiskija
705–701 v. Chr. Das PrJes-Buch spiegelt in seiner Anlage also eine mindestens
35-jährige Wirksamkeit Jesajas.

b) Die Wachstumsstufen

Das jüngste Textstück in PrJes ist die sog. Apokalypse Jes 24–27. Mit Vorstellun-
gen wie Weltgericht (24,1–15), Völkerengeln (24,21) und Totenauferstehung
(26,19) führt sie nahe an das Dan-Buch heran und damit in die hellenistische
Zeit. Auch wenn sie nicht in einem Stück entstanden sein muss, kommt man
doch mit keinem Teil von ihr über die nachexilische Zeit zurück.

WILDBERGER unterscheidet drei Wachstumsschichten und eine Vielzahl an Zusätzen:


eine erste, grundlegende Schicht in 24,1–6.14–20; 26,7–21 (mit Zusätzen in 24,7–13),
die zweite mit „eschatologischen Bildern“ in 24,21–23; 25,6–10a (mit Zusätzen in
25,10b–12), die dritte mit „Stadtliedern“ in 25,1–6; 26,1–6, schließlich eine Serie von
Nachträgen („eschatologische Impressionen“) in 27,1–13. NITSCHE konzediert diverse
Nachträge, betont aber, dass die Ergänzer das Genre dramatischer Prophetie genau
kannten und sich daran hielten. Im einzelnen sieht er: Erweiterungen existierender
Figurenrede (24,7–9.11–13; 25,10b.11; 26,19), die Einfügung einer neuen Rede für
einen schon existierenden Charakter (25,12), die Einführung eines neuen Charakters
(etwa der beiden Sprecher in 27,6–11) sowie den Einbau einer neuen Szene (z. B.
24,21–23; 25,6–10).

Die Abschnitte Jes 33–35 und 36–39 wurden oben bereits als redaktionell einge-
setzte Brückenstücke bei der Schaffung des Großjesajabuchs und insofern als
relativ späte, nachexilische Elemente angesprochen.

Differenzierter ist die Sachlage bei der Sammlung von Völkerworten Jes 13–23.
– Eindeutig aus exilisch-nachexilischer Zeit stammen die Worte gegen Tyrus und
Sidon in 23 (Sidon wurde 343 von den Persern erobert, Tyrus 332 von Alexander
d. Gr.), gegen Edom in 21,11f. und gegen Babel in 13f. und 21,1–10 (wobei hier
freilich antiassyrische Worte zugrunde liegen könnten, die hernach absichtsvoll
auf Babylon umgedeutet wurden – laut BOSSHARD-NEPUSTIL von einer eigenen,
exilszeitlichen „Assur-Babel-Redaktion“, deren Hand auch in Jes 20 und 22 sowie
II. Das Jesajabuch 325

beim Einbau der Legenden 36–39 spürbar sei). Nicht einzuordnen ist der kurze
Spruch gegen Kedar (21,13–16).
– Die Moab-Worte Jes 15f. sind in sich mehrschichtig und werden sehr verschie-
den datiert. Ein Grundbestand könnte noch auf die assyrische Zeit zurückgehen,
als Moab möglicher Bündnispartner Judas gegen Assur war, spätere Stücke hin-
gegen durch einen Feldzug Nebukadnezars 582 v. Chr. ausgelöst sein, bei dem
das bis dahin noch existierende Staatswesen ausgelöscht wurde.
– Ägypten, das in 18–20 im Vordergrund steht, war zu fast jeder Zeit ein Macht-
faktor im Vorderen Orient; es spielte z. B. eine wenig glückliche Rolle in den
letzten Jahren des Königreichs Juda (vgl. 2Kön 23,29.34f.; 24,7; Jer 37,5–7) und
war in der hellenistischen Ära in Gestalt des Ptolemäerreiches wieder präsent
(hierhin dürfte Jes 19 gehören). Allerdings weist die Erwähnung von „Kusch“ in
18,1 und 20,3–5 in die Zeit der 25., der „kuschitischen“ oder äthiopischen
Dynastie, die von ca. 720 bis 663 v. Chr. regierte. Sie bemühte sich alsbald, den
Einfluss Assurs auf Syrien-Palästina zurückzudrängen (vgl. die assyrischen Zeug-
nisse aus den Jahren 720 und 716 in TGI2 62) und unterstützte aktiv antiassyri-
sche Bündnisbestrebungen in den Jahren 713–711 und 705–701 (vgl. die Notiz in
37,9 sowie die Erwähnung von Ägypten und Meluhha/Nubien in Feldzugsbe-
richten Sargons II. und Sanheribs aus den Jahren 712 und 701 v. Chr., TGI2
64.68). Da Jesaja gegen diese Bündnisse war (vgl. 30,1–5; 31,1–3), kann er sehr
wohl einer ägyptisch-äthiopischen Verhandlungsdelegation mit Drohworten
gegen ihr Heimatland entgegengetreten sein (Jes 18) und mit einer drastischen
Zeichenhandlung seine Landsleute vor diesen Verbündeten gewarnt haben (Jes
20).
– In die assyrische Epoche gehören mit hoher Wahrscheinlichkeit neben den
Worten gegen Assur (14,24–27, evtl. 17,12–14) auch die gegen die Philister
(14,29–32, vgl. immerhin die Datierung in 14,28) sowie gegen die Aramäer und
Nordisraeliten (17,1–11, am natürlichsten zu beziehen auf den syrisch-efraimiti-
schen Krieg 734/33; danach gab es Aram-Damaskus nicht mehr).
– In die Zeit Jesajas dürften auch die antijudäischen Worte Jes 22 gehören. In
22,1–14 wird der ausgelassene Jubel kritisiert, der in Jerusalem nach dem Abzug
Sanheribs im Jahr 701 ausgebrochen zu sein scheint. Die Worte über zwei Palast-
Minister (zum Titel vgl. 1Kön 4,6) – zuerst Schebna, der wegen eines kostbaren
Grabes attackiert wird (22,15–19), dann Eljakim, der zuerst gelobt, dann des
Nepotismus bezichtigt wird (22,20–25, vgl. 36,3) – führen ebenfalls in die Jesaja-
Zeit, nicht zuletzt, nachdem man nahe Jerusalem das Grab eines solchen Minis-
ters ausgegraben hat (vgl. TGI2 65f.).

Die Völkerspruchsammlung Jes 13–23 birgt also Texte aus verschiedenen Zeiten
in sich. Vermutlich ist sie mehrstufig gewachsen. BLENKINSOPP kommt auf drei
Schichten: eine Grundschicht in 14,24–19,15 (noch aus assyrischer Zeit), eine
Rahmung durch Babel-Worte in 13f. und 21,1–10 (aus der babylonischen Zeit)
und eine Erweiterung um 21,11–23,1, die gleichzeitig die verbindenden massā’-
Überschriften eingebracht habe. Diese Einteilung ist mit unseren Beobachtungen
326 D. Die Hinteren Propheten

nicht unvereinbar, doch muss klargestellt sein, dass auf der letzten Stufe altes Gut
aufgenommen sein kann (Jes 22).

Der Abschnitt Jes 28–32 kreist – wie die Legenden 36–39 – um die Ereignisse des
Jahres 701. Freilich trifft man hier auf einen anderen Jesaja als dort. Kündigt er
dort glaubensstark und kühn das Scheitern Sanheribs am Zion und den baldigen
Tod des Großkönigs an (37,6f.22–35), so rechnet er hier mit der Niederlage de-
rer, die sich Assur in den Weg stellen, und der schweren Demütigung Zions
(28,7–15.18f.; 29,1–4; 30,1–7; 31,1–3); dazu kommen harte Vorwürfe an die
Adresse Judas, man verschließe sich Jhwhs Erwartungen und Weisungen (28,20–
22; 29,9–16; 30,8–17). Diese düsteren Aussagen werden nun aber durchbrochen
und aufgehoben durch Zusagen der Treue Jhwhs zu seinem Volk, der Rettung
des Zion und der Vernichtung Assurs (28,16f.23–29; 29,17–24; 30,18–33; 31,4–9)
sowie durch Verheißungen eines gerechten Königs und ewigen Friedens (32,1–
8.9–20). Es ist, als solle sich die Leserschaft anhand dieses Ab und Auf in der
Einsicht üben, dass es durch Gericht zum Heil geht, dass auf Finsternis Licht
folgt. Es kann kaum zweifelhaft sein, dass sich hierin die Erfahrung des Exils und
seines Endes ausdrückt. Doch wie bei den vorherigen Kompositionen, so ist auch
bei dieser zu bemerken, dass die Sammler über z. T. altes jes Traditionsgut ver-
fügten. Denn gerade die Differenz zwischen dem Jesaja der Legenden und dem
der Weherufe und Drohworte in Jes 28–32 legt den Schluss nahe, dass hier
authentisches Spruchgut vorliegt. Vermutlich bildeten die „Negativ-Texte“ in Jes
28–31 ursprünglich eine eigene, nahe an dem Schicksalsjahr 701 entstandene
Sammlung; denn in 30,8 wird der Auftrag Gottes an Jesaja mitgeteilt, er solle „es“
– sicherlich die Botschaft jener Zeit – „auf eine Tafel schreiben und in ein Buch
ritzen, damit es (bewahrt) sei für eine spätere Zeit, als Zeuge für immer“. Hier
sieht man förmlich eine Buchrolle entstehen, die in der Jes-Schule aufbewahrt
und studiert wurde, bis das in ihr angekündigte Gericht eingetroffen war; und als
sich jenseits dessen eine neue Zukunft abzeichnete, war die Zeit gekommen, sie
von Grund auf neu zu bearbeiten.

Bleibt der große Eröffnungsteil Jes 1–12.


– Das Gesamtporträt Jesajas in 1,1–2,5 enthält eindeutig sehr junge (das Endge-
richt in 1,27–31, die Völkerwallfahrt in 2,1–5), aber auch mutmaßlich alte, nach
aller Wahrscheinlichkeit ‚echt‘ jes Elemente (die Klage über das geschlagene
Jerusalem, 1,4–9, wohl von 701 v. Chr; die Polemik gegen unaufrichtigen Gottes-
dienst 1,10–17, eine Reprise von Am 5,21–24; das Totenlied auf das von seinen
Oberen umgebrachte Jerusalem, 1,21–26). Unsicher ist die Sachlage bei 1,2f.18–
20 (nach DIETRICH möglicherweise politisch zu deuten und in die Assyrerkrise zu
datieren). Oben wurde erwogen, dass Jes 1 als Einleitung für das gesamte PrJes-
oder gar das Großjesajabuch diente; allerdings hätten auch jetzt noch die Verfas-
ser über authentisches Material verfügt (oder es älteren Vorstufen des Buchs
entnommen und an die Spitze gesetzt, so WILLIAMSON).
– Ein zweiter Introitus ist Jes 2–4. Auch in ihm mischen sich alte, mutmaßlich
II. Das Jesajabuch 327

‚echt‘ jes Abschnitte mit später entstandenen. Die Polemik gegen die Hochmüti-
gen und Machtbewussten – Männer (2,6–22; 3,1–9) wie Frauen (3,16–4,1) –
passt gut zum Menschen- und Gottesbild Jesajas (auch wenn die pedantische
Aufzählung weiblicher Toilettenartikel und Kleidungsstücke in 3,18–23 nachge-
tragen sein mag). Auch die Sozialkritik in 3,12–15 fügt sich in den damaligen
sozialgeschichtlichen Kontext, war doch das spätere 8. Jh. eine Zeit sich ver-
schärfender sozialer Gegensätze und haben sich neben Jes (vgl. noch 1,10–26;
5,8–10; 10,1–4) auch Am und Mi für die sozial Bedrohten eingesetzt. Demgegen-
über weist die innerjüdische Binnendifferenzierung Gerechte-Frevler in 3,10f.
auf die nachexilische Zeit (vgl. 1,28–31; 65f. sowie z. B. Ps 1), und die Zionsver-
heißung 4,2–6 ist DtJes zumindest nahe. Auch hier also stellt sich wieder der
Eindruck ein, dass späte(re) Jes-Tradenten altes jes Gut aufgenommen und in
eine Textkomposition eingebaut haben, über der das Motto stehen könnte:
„durch Gericht zum Heil“ (vgl. die analoge Bewegung in Jes 28–32).
– Von dem Abschnitt Jes 5–12 wurde oben schon gesagt, dass 11f. späte Anhänge
sind (obwohl man immer wieder die messianische Weissagung 11,1–9 für Jesaja
zu retten versucht hat) und dass in 5–10 eine dreifache Inklusio den Kern 6,1–9,6
einschließt. Dies deutet zwar auf redaktionelle Tätigkeit, doch stoßen wir in die-
sem Bereich auf einen Nukleus der Jes-Tradition. Das Weinberglied 5,1–7, eine
ausgefeilte, mehrbödige Parabel, verrät einen ungemein kritischen Geist und
hochpoetischen Sprachvirtuosen. In den Weherufen in 5,8–24 und 10,1–4 –
gerichtet gegen Landhaie, Alkoholselige, (politisch) Leichtfertige, Werteverkeh-
rer, Selbstgefällige, Korrupte und Rechtsverdreher – wird die Generalabrechnung
des Weinberglieds konkretisiert, nur dass wir die konkreten Situationen, auf die
sie gemünzt sind, nicht mehr kennen. Die Schilderung der unwiderstehlichen
Feindarmee in 5,26–30 dürfte die Assyrer meinen und als Warnung an Juda
gemeint sein. In 10,5–15 ergeht umgekehrt ein Weheruf an die Assyrer, weil sie
nicht das Werkzeug des Weltherrn, sondern selbst die Herren der Welt sein
wollen (mit sehr präzisen Angaben zu ihrer Westexpansion bis nach Samaria).
Das Strophengedicht 9,7–20 ist ein in den Einzelheiten kaum mehr
aufzuhellender prophetischer Geschichtsrückblick mit warnendem Unterton.
Auch wenn diese Texte hier und da nachträglich erweitert sind – am deutlichsten
in dem Heils-Passus 10,16–27 –, dürften sie im Grundbestand auf Jesaja zurück-
gehen. (Dies gegen BECKER, der dem ‚echten‘ Jes nur knapp 20 Verse belässt, die
ihn als reinen Heilspropheten ausweisen, weil angeblich Unheilsaussagen vor
dem Exil nicht denkbar seien; nicht so radikal, in der Tendenz aber ähnlich DE
JONG. In Wahrheit aber werden Unheilsaussagen ab dem Exil immer unwahr-
scheinlicher! Die Analysen von HARTENSTEIN und MÜLLER rechnen wieder mit
‚echt‘ jes Unheilstexten und datieren diese in die Zeit kurz vor 701 v. Chr.). Der
Überlieferungskern in 6,1–9,6 enthält authentisches Material vor allem in den
Ich-Berichten 6,1–11 und 8,1–18, in denen Jesaja seine Berufung und seinen –
vergeblichen – Versuch schildert, Juda während des syrisch-efraimitischen
Kriegs für eine Haltung des Vertrauens auf Jhwh und politische Neutralität zu
gewinnen; am Ende steht der abwartende Rückzug auf den Schülerkreis (8,16f.;
328 D. Die Hinteren Propheten

der Verstockungsbefehl 6,9f. mag übrigens auf Grund nachträglicher Reflexion


später nachgetragen sein; nach MÜLLER wurde der gesamte Bericht Kap. 6 erst
um 701 formuliert). Der Er-Bericht 7,1–17 ist demgegenüber deutlich sekundär,
enthält aber Elemente, die sich bestens mit Jes 6 und 8 vereinbaren lassen
(namentlich in 7,4–9, evtl. auch in 7,10–16). Das Erzähl-Triptychon scheint
schon relativ früh zu einer „Denkschrift“ zusammengestellt worden zu sein –
freilich nicht schon von Jesaja (so aber wieder T. WAGNER; dagegen HARTEN-
STEIN: in der Manasse-Zeit). Der Gesamtbestand 6,1–9,6 wurde erst später
erreicht; die berühmte Weissagung 9,1–6 ist mit guten Gründen auf Joschija
gedeutet worden (BARTH).

Wir können nach dieser Sichtung des Materials nunmehr abschließend die Frage
nach dem Zustandekommen des PrJes-Buchs in Angriff nehmen.
Zuerst seien einige wichtigere Forschungspositionen knapp skizziert (wozu
wieder zu bemerken ist, dass die Stellenangaben oft nur den Grundbestand mei-
nen).

– FOHRER hatte eine Art Quellenmodell vor Augen: Die eben vorgestellten Buchteile
entstanden jeweils für sich (wobei Jes 1–12 bereits aus drei Unterquellen zusammen-
gesetzt ist: Jes 1; 2–5 + 9f.; 6–8, mit Anhängen in 11f.). Erst relativ spät und mecha-
nisch, d. h. ohne erhebliche redaktionelle Eingriffe, wurden diese Quellen zu PrJes
vereint.
– BARTH folgte einem Kristallisationsmodell: Zwei kleine Kernsammlungen ‚echter‘
Jes-Worte (v.a. in 6–8 und 28–31) wurden in der Joschijazeit von einer Anti-Assur-
Redaktion verbunden und um einige neue Stücke angereichert (namentlich die mes-
sianische Weissagung in 9,1–6 sowie antiassyrische Prophetien in 10,5–15 und 14). So
entstand eine Tendenzschrift, die Joschija in der Politik der Loslösung von Assyrien
bestärken wollte. (Dass sich an diese Schrift später noch weitere Schichten ankristalli-
sierten, liegt auf der Hand.)
– KAISER entwickelte in seinem Kommentar (im ersten Teilband [zu Jes 1–12] erst ab
der zweiten Auflage) ein Fortschreibungsmodell, demzufolge in PrJes nicht mehr mit
‚echten‘ Jes-Texten, sondern nur mit einer anonymen Literaturproduktion gerechnet
werden kann, die in der Exilszeit (!) mit der Abfassung der Legenden 36–39 einsetzte
(!) und über mindestens neun Fortschreibungsstufen nach und nach den jetzigen
Textbestand erreichte.
– BECKERs Sicht ist kaum weniger radikal. Hier bleiben nur wenige Verse reiner Heils-
prophetie (vor allem in 6,1–8; 8,1–4; 17,1–6; 28,1–10) für den Jesaja des 8. Jh.s. Das
PrJes-Buch beginnt erst mehrere Jahrhunderte später zu wachsen: 1) Eine frühnach-
exilische „Neuedition“ verwandelt die Heils- in Unheilsprophetie und schafft dabei
u. a. die sog. ‚Denkschrift‘ in Jes 6 und 8. 2) Fortschreibungen in Jes 5 und 9 rahmen
die ‚Denkschrift‘ und zeigen dem Volk seine Schuldverfallenheit auf. 3) Eine zions-
ideologische „Assur-Redaktion“ (nicht zu verwechseln mit derjenigen BARTHs aus
immerhin noch assyrischer Zeit) fügt Jes 10,5–11 + 14,24.25a sowie 29,1–4; 31,1.3.8a
und die Jes-Legenden (zunächst nur Jes 36f.) ein. 4a/b) Zwei neue Bucheinleitungen
werden sukzessive vorgebaut: (Jes 3* und 2*). 5) In „protochronistischer Zeit“ wird als
negatives Gegenbeispiel zum frommen Hiskija (Jes 36–38) die Erzählung vom un-
gläubigen Ahas (Jes 7) geschaffen. 6) Eine sog. „Ungehorsams-Redaktion“, die mit se-
kundären Texten in DtJes verwandt ist, ergreift namentlich in 1,2–20 und 28–31 das
II. Das Jesajabuch 329

Wort. (Es lässt sich ahnen, dass die in diesem Entwurf nicht intensiv behandelten
Texte in Jes 13–23; 24–27; 33–35 sowie in DtJes und TrJes noch viele weitere Fort-
schreibungsstufen nötig machen werden.)
– BARTHEL legt ein viel moderateres Modell mit viel mehr authentischem Stoff und
weniger Entstehungsstufen vor: 1) Vom ‚echten‘ Jesaja gibt es – wohlgemerkt: inner-
halb des untersuchten Textbereichs 6–8; 28–32! – Äußerungen einerseits aus der Zeit
des syrisch-efraimitischen Krieges, die weitgehend heilsprophetischen Charakter tra-
gen (6,1–11; 7,4–9a.14b.16; 8,1–4.5–8.11–15.16–18), andererseits aus den Jahren 713–
711 und 705–701, die unheilsprophetisch geprägt sind (7,18f.20; 28,1–4.7–13.14–
18.21.23–29; 29,1–4.9f.13–16; 30, 1–5(.12–14.16–17); 31,1–3.4). 2) In der Manassezeit
kommt die Erzählung 7,1–17 hinzu, die aus Heil Unheil für das Davidhaus werden
lässt. (In 36–39 wird dazu später ein positives Gegenbild entworfen.) 3) In der Joschi-
jazeit verbindet die „Assur-Redaktion“ (vgl. BARTH) die beiden Überlieferungskerne
und fügt selbst die Abschnitte 9,1–6; 29,5–8; 30,27–33; 31,5–9; 32,1–5 hinzu. 4) Exili-
sche Erweiterungen liegen u. a. vor in: 6,12f.; 7,23ff.; 8,9f.19–22; 29,11f.; 30,6–11; 32,9–
14. 5) Nachexilische Zusätze sind zu sehen u. a. in: 6,13bβ; 7,15.21f.; 28,5f.; 29,17–24;
30,18–26; 32,15–20; 31,6f.
– BLUM sucht in dem Buchteil Jes 1–12 ein kurz vor 701 geschaffenes, recht umfang-
reiches jesajanisches „Testament“ nachzuweisen, das einen chiastischen Aufbau zeige:
A) 1,21–26 Läuterung Jerusalems; B1) 2,7.10.12–17 Erniedrigung des Hohen; B2) 3,1–
7.(12f.)14.15a.16–24 Gericht an der Elite; C1) 5,*1–24a Sozialkritik; C2) 5,24b–29 Ge-
richt an Juda; D) (6,1–11;) 7,1–17; 8,1–8a.11–18 (Berufung) Denkschrift zum syrisch-
efraimitischen Krieg; C2’) 9,7–20 Gericht an Israel; C1’) 10,1–4 Sozialkritik; B2’) Ge-
richt an Assur; B1’) 10,27b–34 Sturz des Hohen, Fall des Libanon; A’) 11,1–5 Erneue-
rung des Königtums.
– BOSSHARD-NEPUSTIL entwickelt ein umfassenderes und diffizileres Modell, das von
der schrittweisen Ausweitung eines einzigen Buchkerns ausgeht, wobei fünf Stufen
noch in die Lebenszeit Jesajas zu liegen kommen: 1) Am Anfang der jes Literaturbil-
dung stand die kleine Schrift 6,1–11; 7,1–17; 8,1–8a.11–18 aus der Zeit des syrisch-
efraimitischen Krieges. 2) Sie wurde nach 722 v. Chr. erweitert um 5,1–7; 9,7–20;
17,4–6 – Texte, die sich mit dem (untergegangenen) Nordreich Israel befassen. 3) Die
nächste Ausweitung erfolgte zwischen 722 und 711 v. Chr., und zwar um 1,21–26;
5,8–24; 10,1–3.33a; 11,1–5; damals wandte sich Jesaja also inneren, sozialen Proble-
men Judas zu, kündigte Gericht an, stellte aber auch einen Neubeginn in Aussicht.
4) Zwischen 711 und 701 v. Chr., also in der Zeit der Assyrerkrise, kam eine Reihe von
Drohungen gegen Juda und seine leichtfertige Kriegspolitik hinzu: 1,2f.10–15; 5,25–
29; 8,19f.; 10,27–32; (15,1–8?) 28,1–4.7–22; 29,1–6.9f.13–15; 30,1–5.8–17. 5) In Reak-
tion auf die Beinahe-Katastrophe von 701 v. Chr. klagt Jes über das damals erlittene
Leid, wendet sich aber auch gegen den hochmütigen Assyrer: 1,4–8; 3,16f.24; 10,5–15;
14,4b–20a; 31,1.3f.8a; 32,9–14. – Wäre all dies richtig, dann hätte der Prophet des 8.
Jh.s ein schon recht umfangreiches Buch hinterlassen, bestehend aus großen Teilen
von Jes 1; 3; 5–11; 14f.; 28–32. Dieser ‚authentische PrJes‘ wurde dann noch auf weite-
ren acht Stufen fortgeschrieben: 6) In der Manassezeit, genauer: nach der Unterwer-
fung Ägyptens durch Assur, kamen 18,1–6 und 19,1–10 hinzu, daneben Passagen in
2,6–9; 3,1–5 und 10,10f. 7) Auf eine größere Redaktion zur Joschijazeit (vgl. BARTH)
gehen zurück: 8,9f.; 9,1–6; 10,16–19; 14,5.20b.21.24–27; 17,12–14; 29,8; 30,27–33;
31,5.8b.9; 32,1–5.15–20; unter diesen Texten sind zwei messianische Weissagungen
und einige Zusagen göttlichen Schutzes für Jerusalem vor anstürmenden Feinden.
8) Im Juda der Exilszeit reflektiert eine Assur-Babel-Redaktion das Verhalten und Er-
gehen des Gottesvolkes in der Bedrängnis durch die beiden östlichen Großmächte; ihr
330 D. Die Hinteren Propheten

sind hauptsächlich zuzuschreiben 2,10–18; 3,6–9.12–15; 7,18–25; 10,33f.; 13,2–8.14–


16; 14,28–32; 20,1–5; 21.1–9a; 22,1–25 sowie die Anfügung der Legenden 36–39. 9) In
der ausgehenden Exilszeit, als die Erfolge Kyros’ bekannt werden, kündet eine Babel-
Redaktion vom baldigen Ende der Zwingherrin an, und zwar vornehmlich in folgen-
den Textpassagen: 11,6–9; 13,1.17–22; 14,22f.; 16,1–5; 21,9b–15; 28,5f.23–29; 33,1–
13.17–24. 10) In der Perserzeit fügt eine Völker-Redaktion die Passagen 2,2–4; 11,10
und 34,1.5–15 hinzu. 11) In der späten Perser- und der Alexanderzeit gibt es Ergän-
zungen namentlich in 19,11–15 und 23. 12) Eine Heimkehr-Redaktion (vgl. STECK)
fügt um 312/11 v. Chr. neben Stücken wie 10,20–27a; 11,11–16; 13,9–13 vor allem die
‚Apokalypse‘ 24–27 ein; angeblich jetzt erst tritt DtJes inkl. 60–62 hinzu (vgl. wiede-
rum STECK). 13) Die Schlussredaktion erstellt zwischen 301 und 270 das komplette
Großjesajabuch.
– BERGES nimmt für PrJes „nur“ fünf Entstehungsstufen (und dann eine wesentlich
frühere Verbindung mit DtJes) an: 1) Aus dem 8. Jh. stammt (der Kern von) 6,1–8,18.
2) Dieser wurde in der Manassezeit auf 5,1–10,4 ausgeweitet. 3) Nach 605 erfolgte die
Erweiterung auf 5,1–10,15 +14,24f. (die Anti-Assur-Worte also post eventum: Ninive
wurde 612 v. Chr. zerstört). 4) Frühnachexilisch war das Teilbuch 1–11 im Prinzip ab-
geschlossen; bei dieser Gelegenheit wurden die ‚echten‘ Worte 1,21–26; 2,12–17 auf-
genommen und der Verstockungsgedanke 6,9–11 sowie die Immanuel-Weissagung
7,10–14a eingetragen. 5) Um die Mitte des 5. Jh.s wurden die Wehe-Sammlung 28–31
(in der ‚echte‘ Texte enthalten sind) sowie eine Sammlung von zehn Völkersprüchen
in 13–23 integriert, womit der Textbestand auf 1–23; 28–32 anwuchs. Dieses Korpus
wurde dann erstmals mit DtJes verbunden usw. (s. oben II.1.b).

Koinzidenzen und Differenzen zwischen diesen Entwürfen und Beobachtungen


an den Texten führen zu folgendem (notwendig nur grob zu skizzierenden) Bild
vom Werden des PrJes-Buches:
1) Im 8. Jh. entstanden offenbar zwei kleine Jes-Schriften, die auf die Hand des
Propheten selbst zurückgehen: 6,1–8.11; 8,1–4.11–18 einerseits und 28,7–15.18–
22; 29,1–4.9–16; 30,1–17; 31,1–3 andererseits. Daneben scheint es eine Samm-
lung von Fremdvölkerworten gegeben zu haben, die von 14,24 bis 19,15 reichte
und von Philistern, Moabitern, Aramäern, Israeliten und Ägyptern handelte:
Völkern, mit denen es Juda im 8. Jh. zu tun hatte. Hinzu kommen einzelne Ge-
dichte, Lieder, Weherufe, Aphorismen, die notiert und vielleicht auch schon zu
kleinen Sammlungen (etwa in Jes 5) zusammengestellt wurden. Dass dies alles
schon zu Jesajas Lebzeiten zu einem größeren Buch verbunden gewesen wäre
(BOSSHARD-NEPUSTIL, auch BLUM), scheint schwer vorstellbar. Offenbar war mit
dem Vorgang der Aufbewahrung und Tradierung von vornherein ein Kreis von
Jes-Schülern befasst (vgl. 8,16–18; 30,8; unter II.1.a wurde erwogen, dass es sich
um eine im Tempeldienst stehende Gruppe gehandelt haben könnte).
2) Zur Zeit Joschijas (639–609) wurde die Schrift von Jes *6; *8 zur sog.
„Denkschrift“ im Umfang von 6,1–9,6 ausgebaut, wobei durchaus auch ‚echtes‘
jes Gut verwendet worden zu sein scheint (das in der Jes-Schule ja zirkulierte). Es
kamen jetzt hinzu: der Verstockungsgedanke (6,10f.), die Ahas-Erzählung (7,1–
17), Worte drohenden Inhalts, in denen sich die Erfahrung der Assyrerzeit spie-
gelt (7,18–25; 8,19–23), schließlich die geheimnisvolle Weissagung vom „Kind“
(9,1–6) – vermutlich Joschija, vgl. 2Kön 22,1 –, das ein Ende der blutigen
II. Das Jesajabuch 331

Fremdherrschaft und eine Ära der Gerechtigkeit und des Friedens bringen
werde. Möglich, aber nicht sicher ist, dass damals bereits eine Art Ur-PrJes ent-
stand, zu dem neben einigen Anti-Assur-Worten in 14 und 17 auch der Zyklus
28–32 gehörte (so BARTH, BARTHEL, auch BOSSHARD-NEPUSTIL). In jedem Fall
zeichnet sich ein Weg durch Dunkel zum Licht ab: Die Jesaja aufgetragene Un-
heils- und Verstockungsbotschaft hat voll gewirkt; jetzt aber hat die Wende zum
Guten, ja zum Heil eingesetzt. (Leider blieb die Renaissance unter Joschija eine
Episode; alsbald sollten die Babylonier die Rolle der Assyrer übernehmen – mit
den bekannten katastrophalen Folgen für Juda.)
3) Im Juda der Exilszeit entstand das erste größere Jesajabuch (PrJes A), das
den Hauptbestand von Jes 5–10; 14–20; 28–32 umfasste. Es bot einen Rückblick
auf das Kommen der Katastrophe und deren Gründe, es weitete aber auch den
Blick auf Jhwhs weltweites Planen und Handeln und weckte die Hoffnung auf
sein helfendes Eingreifen. Das Buch ist um drei ältere Kerne aufgebaut: die
„Denkschrift“ 6,1–9,6, eine Sammlung von Fremdvölkerworten in 14–19 und die
kleine Schrift über die Assyrerkrise in 28–31. Um die Denkschrift wurde jetzt
jener dreifache Ring gelegt, der die Schuld sowohl Israels und Judas (Jes 5,1–24;
9,7–20; 10,1–4) als auch Assurs aufweist (10,5–15). Daran schloss unmittelbar
das Anti-Assur-Wort 14,24–27 an (die jetzt dazwischen liegenden Stücke 10,16–
14,23 sind später eingebracht) und damit der Fremdvölkerzyklus, der zeigt, dass
von den damaligen Umwälzungen im Vorderen Orient keineswegs nur Juda
betroffen und dass in ihnen die mächtige Hand Jhwhs wirksam war. In 28–32
richtet sich der Fokus wieder auf (Israel und) Juda. Anders als in der alten jes
Schrift geht es jetzt aber nicht mehr nur um Gericht und Strafe, sondern immer
wieder auch um Begnadigung und Heil (s. oben), am leuchtendsten in den ab-
schließenden Weissagungen vom kommenden König der Gerechtigkeit und von
den paradiesischen Zuständen im Land. Hier wird kühn das Gegenbild entwor-
fen zur tristen Realität der babylonischen Herrschaft (wie es, keineswegs zufällig,
zur gleichen Zeit DtJes im Exil tut).
4) In frühnachexilischer Zeit weitet sich der Textbestand beträchtlich aus
(PrJes B). Das Buch umfasst jetzt den Großteil von Jes 2–23; 28–33. Am Buch-
anfang steht ein Introitus 2,5–4,6 (mit einem abschließenden Heilswort für
Zion), am Buchschluss ein strahlendes Zionslied 33; die durch die Perserherr-
schaft geweckte Erwartung eines Wiederaufblühens Jerusalems nach dem baby-
lonischen Trauma ist mit Händen zu greifen. Im Buchinnern sind in der Haupt-
sache zwei Zuwächse zu verzeichnen: einerseits der Abschnitt 10,16–11,16 (mit
Drohungen an die Feinde und Verheißungen an das Gottesvolk, vor allem mit
der großartigen Messiasweissagung 11,1–9; vielleicht kam jetzt auch schon das
Danklied 12,1–6 hinzu); andererseits die Klammer aus Anti-Babylon-Worten um
den Fremdvölkerzyklus (13,1–14,23 und 21,1–10, wobei in 13f. ältere Anti-
Assur-Worte auf Babel umgemünzt und in 20–22 alte, auf Juda gemünzte Texte
aufgenommen werden).
5) Auf der nächsten Stufe, um die Mitte des 5. Jh.s, kommt das erste Großjesa-
jabuch zustande. In dem Augenblick, da DtJes (auf der vierten Wachstumsstufe,
332 D. Die Hinteren Propheten

s. oben 3.b) seinen vollen Umfang erreicht, erfolgt der Zusammenschluss mit
PrJes B (was den Umfang 1–23 + 28–55 ergibt). Die wichtigsten Veränderungen
sind der Vorbau des zweiten Introitus in 1,1–2,5 (mit der Weissagung von der
Völkerwallfahrt zum Zion als Abschluss) und der Einbau des Brückentextes Jes
35 (zusammen mit dem Edom-Wort 34) sowie der Legenden 36–39 (beides
zentriert um den Zion). Dieses erste Großjesajabuch ist Zeugnis der „Wiederver-
einigung“ zweier zuvor getrennter Gruppen der Jes-Schule: der im Land geblie-
benen und der ins Exil gegangenen und nunmehr heimgekehrten. Ob das im
vierten GKL geschilderte Geschick des „Gottesknechts“ etwas von diesen wo-
möglich schmerzhaften Vorgängen verrät?
6) Als sich das Jes-Buch nach hinten um den Beginn von TrJes (56–62) erwei-
tert, wird am Buchanfang 1,27f. zugefügt (vgl. BERGES’ „Umkehrredaktion“).
Offenbar ist ein neues Thema virulent geworden: die Unterscheidung innerhalb
des Gottesvolkes zwischen wirklichen und nur scheinbaren Jhwh-Verehrern
(1,27f.; 57–59) und, im Gegenzug, die Aufnahme frommer Nichjuden in die
Jhwh-Gemeinde (56,1–8).
7) Auf der nächsten Erweiterungsstufe (vgl. BERGES’ „Redaktion der Knechts-
gemeinde“) kommen am Buchanfang 1,29–31 und am Buchende 63–66 hinzu. So
greift der letzte Vers des Gesamtbuchs im Bild des unauslöschbaren Feuers auf
1,31 zurück. Der universale Horizont von Gericht und Heil, der sich in den neu
zugefügten Texten öffnet, führt nahe an die Welt der Apokalyptik heran. Sollte
auf dieser Stufe der Text 19,18–25 eingetragen worden sein, in dem „Assyrern“
und „Ägyptern“ (wohl Chiffren für das Seleukiden- und das Ptolemäerreich) der
Weg zum Zion und zu Jhwh geebnet wird, dann befänden wir uns jetzt im helle-
nistischen Zeitalter.
8) Auf der letzten Stufe wird hinter den Fremdvölkerworten die ‚Apokalypse‘
24–27 eingesetzt. Damit (wohl erst gegen Ende des 3. Jh.s) ist der Vollumfang des
Buches erreicht (1–66). Auf dessen Abschluss blickt um 190 v. Chr. Jesus Sirach
offenbar zurück, wenn er im „Lob der Väter“ über den Propheten Jesaja sagt: „Im
Geiste der Kraft schaute er die Endzeit und tröstete die Trauernden Zions. Bis in
ferne Zeiten tat er kund, was da kommen solle, und die verborgenen Ereignisse,
ehe sie kommen“ (Sir 48,24f., Übersetzung G. SAUER).

c) Der Prophet Jesaja

Aus dem Vorangehenden ergibt sich, dass sich ein gewisser Teil der in PrJes (vor
allem in 1–12 und 28–31, aber auch im Fremdvölkerzyklus) gesammelten
Überlieferung auf den Propheten Jesaja des 8. Jh.s zurückführen lässt. Aus dem
mutmaßlich authentischen Gut lassen sich recht prägnante Konturen seiner
Person und seiner Botschaft gewinnen. (Es ist erfreulich festzustellen, dass die
neueste Darstellung [BERGES 2010, 11–36] nach mancherlei minimalistischen
Abirrungen in der jüngeren [deutschen] Forschungsgeschichte wieder zu einem
volleren und dabei plausiblen Bild des Propheten des 8. Jh.s zurückkehrt.)
II. Das Jesajabuch 333

Jesaja (hebr. ješa‘jāhû „Jhwh hilft/ist Hilfe“), Sohn eines Amoz (1,1), war wohl
von Geburt Jerusalemer und hatte Zutritt zu hohen Kreisen bei Hofe und am
Tempel (7,3; 8,2; 18,1–3; 28,7–11). Er war verheiratet mit einer Frau, die er „Pro-
phetin“ nennt (nebî’āh, 8,3), und hatte (von ihr? nur?) zwei Söhne, denen er rät-
selhaft-anstößige Symbolnamen gab: „Rest-kehrt-um“ und „Eile-Beute-raube-
bald“ (7,3; 8,3f.). Um sich hatte er einen Kreis von Schülern oder Jüngern (8,16).
Er wirkte im letzten Drittel des 8. Jh.s und war damit Zeuge eines besonders
turbulenten Abschnitts der Geschichte (Israels und) Judas.
Das neuassyrische Reich erlebte unter König Tiglatpileser III. (745–727) eine
ungeahnte Entfaltung seiner Macht und Ausweitung seines Gebiets. Binnen
weniger Jahrzehnte wurden die kleinen und mittleren Staaten Syrien-Palästinas
in den Status der Vasallität versetzt und, bei mangelnder Botmäßigkeit, in zwei
Schritten ganz dem Reich einverleibt. Israel widerfuhr eben dies in den Jahren
733 (nach dem verlorenen syrisch-efraimitischen Krieg) und 722. Juda wurde
733 Vasall und erlebte, nachdem es sich zuerst zögerlich, dann entschlossen anti-
assyrischen Aufstandsbewegungen angeschlossen hatte, 701 eine erste, ernsthafte
Bestrafungsaktion. Wie sehr die Expansion des Assyrerreichs und der „Kultur-
kontakt“ mit ihm die Prophetie Jesajas und der Jesajatradenten prägte, wird in
der neuesten Forschung zunehmend sichtbar (v.a. HARTENSTEIN).
Von Jesaja gibt es datierte bzw. datierbare Texte aus der Zeit zwischen 736
(dem Todesjahr Usijas, 6,1) und 701 (vgl. 1,4–9; 22,1–15). Dass er schon früher
gewirkt habe, suggeriert zwar das Buch (indem 6,1 nicht am Anfang steht), doch
beruht das eher auf redaktionellen Prozessen als auf (lebens)geschichtlichen
Gegebenheiten. Der Prophet selbst lässt auf den Bericht von seiner Berufung (das
und nichts anderes ist Jes 6) den von seinem Verhalten im syrisch-efraimitischen
Krieg folgen (Jes 8); beides lag also zeitlich eng beieinander. Jesaja versuchte,
indem er Juda als unter Jhwhs Schutz (7,6–9; 8,1–4) und die antiassyrische Koa-
lition als auf verlorenem Posten stehend hinstellte (7,4f.16; 8,1–4; 17,1–6), seine
Landsleute und den König davon abzuhalten, in dem Konflikt Partei zu ergreifen
(8,11–15) – vergebens, man warf sich Assur an den Hals. Der Prophet zog sich
auf seinen Jüngerkreis zurück, um abzuwarten, was geschehen würde (8,16–18).
Wohl möglich, dass er sich in der Folge verstärkt sozialen Problemen zuwandte:
der sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich, der Sorglosigkeit der höhe-
ren Schichten angesichts einer explosiven Situation (1,10–26; *2f.; 5; 10,1–3;
22,15–25). Dass er den Blick für Vorgänge in der Völkerwelt nicht verlor, zeigen
einzelne Fremdvölkerworte (z. B. 14,29–32; *15f.?). Im Jahr 722 schlugen die
Assyrer gegen Nordisrael zu, das sich nicht willfährig genug gezeigt hatte; die
Vorgänge spiegeln sich in düsteren Worten über Israel (9,8–21; 28,1–5), aber
auch in scharfen Attacken gegen Assur, das nicht tat, was Jhwh, sondern was es
selbst wollte (10,5–15; 14,24–27). Später dann, als sich Juda in antiassyrische
Koalitionen und kriegerische Abenteuer verwickeln ließ, hielt Jesaja das für un-
angebracht und gefährlich, letztlich für ungläubig, weil nicht im Vertrauen auf
Jhwh gegründet, sondern auf politisch-militärisches Kalkül. Was sonst oft zu-
sammengeht, gerät hier in Gegensatz: Gottvertrauen und Kampfbereitschaft.
334 D. Die Hinteren Propheten

Wer auf Jhwh, den auf dem Zion Gegenwärtigen, traut, braucht keinen Krieg
(17,12–14; 18; 28,7–19; 30,15–17); wer trotzdem Krieg sucht, kann nicht auf
Jhwhs Hilfe rechnen (1,2f.; 7,18–20; 8,6–8; 20; 29,1–4; 30,1–7; 31,1–3). Als im
Jahr 701 die Assyrer brandschatzend an die Mauern Jerusalems vordrangen, war
Jesaja entsetzt über das eingetretene Leid und die nicht einmal jetzt gebrochene
Uneinsichtigkeit seiner Landsleute (1,4–9; 22,1–14). Danach verliert sich seine
Spur in geschichtlichem Dunkel.
Jesajas Gottes- und Menschenbild ist bereits im Berufungsbericht Jes 6 enthal-
ten. „Jhwh Zebaot“, der Herr über himmlische Heere, thront als „König“ auf dem
Zion; unendlich groß ist er und machtvoll, voller „Heiligkeit“ und „Herrlichkeit“.
Seine Anwesenheit ist keineswegs beruhigend, sondern höchst beunruhigend.
Jesaja ist, als er seiner (bzw. seines Mantelsaums) ansichtig wird, sofort klar, dass
er und sein Volk vor diesem Gott keinen Bestand haben; sie alle haben „unreine“
Lippen. Ihm kann durch eine glühende Kohle (unter Schmerzen gewiss) geholfen
werden – was aber wird aus dem Volk? Jesaja hat ihm mitzuteilen, dass in Kürze
das Land verwüstet und die Leute verschleppt sein würden. Jhwh ist alles leid: die
„Kinder“, die störrisch und voll Unverstand gegen ihn freveln (1,2f.); den
„Weinberg“, der keine brauchbare Frucht hervorbringt (5,1–7); die „fest gegrün-
dete Stadt“, die zur „Hure“ geworden ist (1,21); einen Gottesdienst, der rein
äußerlich bleibt (1,10–17). In Juda nicht nur, sondern überall auf der Welt statt
Demut und Bescheidenheit lauter Hochmut und Selbstherrlichkeit, was der
erhabene Gott sich nicht bieten lassen wird (2,6–22; 3,16; 5,8–10.21; 10,5–15;
18,1–6; 22,12–14; 29,13–16; 30,13–15; 30,9–14; 31,1–3). Das einzige, was hülfe,
wäre stilles, vertrauensvolles Sich-Bergen beim Herrn des Zion (7,4.9b; 14,25.30;
28,12.16; 30,15).
Es ist ein eigentümliches, unauflösliches Ineinander von Locken und Drohen,
von Zurechtweisung und Ermutigung, von Worten gegen das eigene Volk und
gegen fremde Völker, von Ermächtigung und Entmachtung, das Jesajas Botschaft
durchzieht. Er bezieht seine Warte außerhalb und oberhalb einer Welt, die sich
mit Kategorien wie Rechts oder Links, Schwarz oder Weiß, Wir oder Ihr, Gut
oder Böse, Gericht oder Gnade, Heil oder Unheil begreifen und ordnen ließe.
Dadurch wird seine Prophetie unverrechenbar und unerschöpfbar, deshalb wird
sie bewahrt und tradiert und interpretiert und variiert und weitergeführt, bis
nach Jahrhunderten das Jes-Buch abgeschlossen und, in Aufnahme einer For-
mulierung G. VON RADs, das „gewaltigste theologische Phänomen des ganzen
Alten Testaments“ geworden ist.
III. Das Jeremiabuch
Kommentare: B. DUHM, 1901 (KHC). – W. RUDOLPH, 31968 (HAT). – J. SCHREINER, 1–25, 1981; 26–
52, 1984 (NEB). – R. P. CARROLL, 1986 (OTL). – W. L. HOLLADAY, 1–25, 1986; 26–52, 1989 (Her-
meneia). – W. MCKANE, Jeremiah, 1–25, 1986; 26–52, 1996 (ICC). – P. C. CRAIGIE / P. H. KELLEY /
J. F. DRINKARD, 1–25, 1991; G. L. KEOWN / P. J. SCALISE / T. G. SMOTHERS, 26–52, 1995 (WBC). – W.
BRUEGGEMANN, A Commentary on Jeremiah: Exile and Homecoming, Grand Rapids 1998. – J. R.
LUNDBOM, 1–20, 1999; 21–36, 2004; 37–52, 2004 (AncB). – G. WANKE, 1–25, 1999; 26–52, 2003
(ZBK). – K. M. O’CONNOR, Jeremiah, 2001 (Oxford Bible Commentary, 487–528). – G. FISCHER, 1–
25, 2005; 26–52, 2005 (HThK). – L. C. ALLEN, 2008 (OTL). – T. LONGMAN, 2008 (New International
Biblical Commentary). – WALSER, G. A. Jeremiah: A Commentary based on Ieremias in Codex
Vaticanus, Leiden 2012. – W. H. SCHMIDT, 1–20, 2008; 21–52, 2013 (ATD).
Einzeluntersuchungen (Weiteres unten bei 2. „Gesamtkomposition“ und 3. „Buchelemente“): P.-M.
BOGAERT (éd.), Le livre de Jérémie. Le prophète et son milieu, les oracles et leur transmission, 1981,
2
1997 (BEThL 54). – L. G. PERDUE / B. W. KOVACS (Hg.), A Prophet to the Nations. Essays in
Jeremiah Studies, Winona Lake 1984. – R. LIWAK, Der Prophet und die Geschichte. Eine literar-
historische Untersuchung zum Jeremiabuch, 1987 (BWANT 121). – T. ODASHIMA, Heilsworte im
Jeremiabuch. Untersuchungen zu ihrer vordeuteronomistischen Bearbeitung, 1989 (BWANT 125). –
N. KILPP, Niederreißen und Aufbauen. Das Verhältnis von Heilsverheißung und Unheilsverkün-
digung bei Jeremia und im Jeremiabuch, 1990 (BThSt 13). – H.-J. STIPP, Jeremia im Parteienstreit.
Studien zur Textentwicklung von Jer 26.36–43 und 45 als Beitrag zur Geschichte Jeremias, seines
Buches und judäischer Parteien im 6. Jahrhundert, 1992 (BBB 82). – K. SEYBOLD, Der Prophet
Jeremia. Leben und Werk, 1993 (Urban TB 416). – W. GROSS (Hg.), Jeremia und die deuteronomis-
tische Bewegung, 1995 (BBB 98). – U. WENDEL, Jesaja und Jeremia. Worte, Motive und Einsichten
Jesajas in der Verkündigung Jeremias, 1995 (BThSt 25). – R. JOST, Frauen, Männer und die
Himmelskönigin, Gütersloh 1995. – M. SCHULZ-RAUCH, Hosea und Jeremia, 1996 (CThM 16). – B.
HUWYLER, Politische Prophetie in der Zeit der babylonischen Bedrohung (7./6. Jh. v. Chr.): ThZ 52
(1996), 193–205. – G. WANKE, Weisheit im Jeremiabuch, in: B. Janowski (Hg.), Weisheit außerhalb
der kanonischen Weisheitsschriften, Gütersloh 1996, 87–108. – A. H. W. CURTIS / T. RÖMER (eds.),
The Book of Jeremiah and Its Reception, 1997 (BEThL 128). – B. SEIDEL, Freunde und Feinde
Jeremias unter den Beamten Judas der spätvorexilischen Zeit: BZ 41 (1997), 28–53. – A. BAUER,
Gender in the Book of Jeremiah: A Feminist-Literary Reading, New York 1999 (Studies in Biblical
Literature 5). – J. HILL, Friend or Foe? The Figure of Babylon in the Book of Jeremiah MT, Leiden
1999 (Biblical Interpretation Series 40). – H.-J. HERMISSON, Weisheit im Jeremiabuch, in: R. G. Kratz
u. a. (Hg.), Schriftauslegung in der Schrift, FS O.H. Steck, 2000 (BZAW 300), 175–191. – R. ALBERTZ,
Die Exilszeit, Stuttgart 2001 (Biblische Enzyklopädie 7). – J. PSCHIBILLE, Hat der Löwe erneut
gebrüllt? Sprachliche, formale und inhaltliche Gemeinsamkeiten in der Verkündigung Jeremias und
Amos’, 2001 (BThSt 41). – M. HÄUSL, Bilder der Not. Weiblichkeits- und Geschlechtermetaphorik im
Buch Jeremia, 2003 (HBS 37). – J. KISS, Die Klage Gottes und des Propheten. Ihre Rolle in der
Komposition und Redaktion von Jer 11–12, 14–15 und 18, 2003 (WMANT 99). – M. RONCACE,
Jeremiah, Zedekiah, and the Fall of Jerusalem, 2005 (LHBOTS 423). – J. B. JOB, Jeremiah’s Kings: A
Study of the Monarchy in Jeremiah, Aldershot 2006. – M. LEUCHTER, Josiah’s Reform and Jeremiah’s
Scroll. Historical Calamity and Prophetic Response, Sheffield 2006 (HBM 6). – W. BRUEGGEMANN,
The Theology of the Book of Jeremiah, Cambridge 2007. – C. DEMPSEY, Jeremiah: Preacher of Grace,
Poet of Truth, Collegeville 2007. – M. KÖSZEGHY, Der Streit um Babel in den Büchern Jesaja und
Jeremia, 2007 (BWANT 173). – R. J. R. PLANT, Good Figs, Bad Figs. Judicial Differentiation in the
Book of Jeremiah, 2008 (LHBOTS 483). – H. BARSTAD / R. G. KRATZ (eds.), Prophecy in the Book of
Jeremiah, 2009 (BZAW 388). – K. M. O’CONNOR, Jeremiah. Pain and Promise, Minneapolis 2011. –
K. M. ROCHESTER, Prophetic Ministry in Jeremiah and Ezekiel, Leuven 2012 (Contributions to
Biblical Exegesis and Theology 65). – D. EPP-TIESSEN, Concerning the Prophets. True and False
Prophecy in Jeremiah 23:9–29:32, Eugene 2012.
Forschungsberichte: W. THIEL, Ein Vierteljahrhundert Jeremia-Forschung: VF 31 (1986), 32–52. – S.
HERRMANN, Jeremia. Der Prophet und das Buch, 1990 (EdF 271). – R. P. CARROLL, Century’s End:
336 D. Die Hinteren Propheten

Jeremiah Studies at the Beginning of the Third Millennium: CR.BS 8 (2000), 18–58. – G. FISCHER,
Jeremia. Der Stand der theologischen Diskussion, Darmstadt 2007. – R. P. CARROLL, Surplus
Meaning and the Conflict of Interpretations. A Dodecade of Jeremiah Studies (1984–95), in: A. J.
Hauser (ed.), Recent Research on the Major Prophets, Sheffield 2008, 195–216. – A. R. P. DIAMOND,
The Jeremiah Guild in the Twenty-First Century. Variety Reigns Supreme, in: A. J. Hauser (ed.),
Recent Research on the Major Prophets, Sheffield 2008, 232–248.

Jer ist das längste alttestamentliche Prophetenbuch; es zählt 21.835 Wörter ge-
genüber 18.730 von Ez, 16.932 von Jes und 14.355 des Zwölfprophetenbuchs.
Vielleicht deshalb werden die vier Bücher im Talmud (Baba Batra 14b) in eben
dieser Reihenfolge genannt. – Anders als bei Jes liegt der Anfang der Jer-Tradi-
tion nicht im 8., sondern im ausgehenden 7. Jh. Laut der Überschrift 1,1–3 wurde
Jeremia im 13. Jahr Joschijas berufen (627 v. Chr.) und wirkte weiter unter Joja-
kim (608–598) und Zidkija (597–586). Laut Jer 43f. geriet er nach der Zerstörung
Jerusalems in eine Gruppe, die ihr Heil in der Flucht nach Ägypten suchte, wo
sich dann seine Spur verliert. In dem nach ihm benannten Buch spiegeln sich
also die letzten Jahrzehnte und der Untergang des Staates Juda und damit die
folgenschwerste Katastrophe der biblischen Geschichte. Von unmittelbarer Zeit-
zeugenschaft kann man aber nur bedingt reden, weil das Buch beim Untergang
Judas keineswegs abgeschlossen, sondern erst im Entstehen begriffen war. In ihm
werden die traumatischen Erfahrungen der damaligen Zeit nicht nur geschildert,
sondern – vielleicht mehr noch – verarbeitet. Wie lang der Entstehungsprozess
des Jer-Buchs dauerte, ist strittig. Manche Exegeten meinen, er sei zur Hauptsa-
che schon im 6. Jh. beendet gewesen, andere, er habe bis ins hellenistische Zeit-
alter angedauert. Die Klärung dieser Frage wird noch dadurch erschwert, dass es
im Grunde zwei Jer-Bücher gibt: das der hebräisch-masoretischen und das der
griechisch-christlichen Tradition.

Im Folgenden richten sich die Stellenangaben nach dem masoretischen Text: erstens,
weil er der „vollständigere“, zweitens, weil er natürlich in der Biblia Hebraica wieder-
gegeben ist, drittens, weil er allen gängigen Bibelübersetzungen zugrunde liegt. Wo
nötig wird auf abweichende Positionen im griechischen Text verwiesen.

1. Hebräische und griechische Version


J. G. JANZEN, Studies in the Text of Jeremiah, 1973 (HSM 6). – S. SODERLUND, The Greek Text of
Jeremiah, 1985 (JSOT.S 47). – Y. GOLDMAN, Prophétie et royauté au retour de l’exil. Les origines
littéraires de la forme massorétique du livre de Jérémie, 1992 (OBO 118). – H.-J. STIPP, Das masoreti-
sche und alexandrinische Sondergut des Jeremiabuches, 1994 (OBO 136). – B. HUWYLER, Jeremia
und die Völker, 1997 (FAT 20). – G. FISCHER, Zum Text des Jeremiabuches: Bib 78 (1997), 305–328.
– J. R. LUNDBOM, Haplography in the Hebrew Vorlage of LXX Jeremiah: HS 46 (2005), 301–320.

Das Jer-Buch ist das biblische Buch mit den stärksten Abweichungen zwischen
der hebräischen (H) und der griechischen (G) Textüberlieferung. Jer-G ist um
etwa ein Siebtel kürzer und hat rund 3000 Wörter weniger als Jer-H, und beide
Textversionen ordnen den Stoff unterschiedlich an.
III. Das Jeremiabuch 337

In Qumran wurden vier Fragmente hebräischer Jer-Handschriften gefunden,


von denen drei den Texttypus H repräsentierten, eines aber – und das ist bedeut-
sam – den Typus G. Dabei zeigt sich, dass G nicht etwa eine unbegreiflich freie
Wiedergabe von H ist, sondern die recht wortgetreue Übersetzung einer von H
weit abweichenden hebräischen Vorlage.

Hier die Bezeichnungen und Charakteristika der Handschriften sowie die in ihnen
enthaltenen Textpartien:
4QJera, entstanden ca. 200 v. Chr., Texttypus Proto-H, enthaltend 7,1f.15–19; 7,28–
9,2; 9,7–15; 10,9–23; 11,3–30; 12,3–13,7; 13,27–14,8; 15,1f.; 17,8–26; 18,15–19,1;
20,15–18; 22,3–16; 26,10;
4QJerb, entstanden ca. 150 v. Chr., Texttypus G, enthaltend 9,22–10,18; 43,3–9; 50,4–6;
4QJerc, entstanden ca. 30 v. Chr., Texttypus H, enthaltend 4,5.13–16; 8,1–3; 8,20–9,5;
10,12f.; 19,8f.; 20,2–5.7f.14f.; 21,6–10; 22,4–6.10–28; 25,7f.15–17.24–26; 26,10–13;
27,1–3.14f.; 30,6–31,14; 31,16–26; 33,16–20;
2QJer, entstanden kurz nach der Zeitwende, Texttypus H, enthaltend Jer 42,7–11.14;
43,3–11; 44,1–3.12–14; 46,27–47,7; 48,7.25–39.43–45.

Demnach muss sich schon deutlich vor dem 2. Jh. die (hebräische) Text-Über-
lieferung von Jer gespalten und in zwei recht unterschiedliche Fassungen aus-
einander entwickelt haben. Die beiden gemeinsame Urform, die immerhin sechs
Siebtel des H-Gesamttextes umfasst haben muss, ist nicht mehr zu greifen. Ent-
stehung und Pflege derart unterschiedlicher Textversionen dürften mit der Auf-
spaltung des Judentums nach der Katastrophe von 586 v. Chr. zusammenhängen.
Viel spricht dafür, dass Jer-H in Babylon (und Palästina) beheimatet war, Jer-G
hingegen in Ägypten, wo dann ja die LXX entstand.
Für die Forschung lag es nahe anzunehmen, dass die kürzere Version (G)
generell näher am Original geblieben, die längere (H) dagegen das Ergebnis von
Fortschreibungs- und Auffüllungsvorgängen gewesen ist (so mit z. T. starken
Argumenten z. B. JANZEN, GOLDMAN, HUWYLER, STIPP). Das stimmt in vielen,
aber nicht in allen Fällen: schon allein deswegen, weil es auch kleine Überschüsse
in G gegenüber H gibt (z. B. 2,28; 3,18; 9,13). Auch lassen sich viele (jedoch nicht
alle!) Auslassungen in G als Haplographien aufgrund von Homoioarkton oder
Homoioteleuton erklären (LUNDBOM benennt allein aus Jer 1–20 mehr als fünf-
zig Fälle; vgl. auch FISCHER). Wie ist es ferner zu bewerten, dass in H mitunter
ganze Passagen wörtlich wiederholt werden, diese Wiederholungen in G aber
fehlen (z. B. 6,13–15 H/G = 8,10b–12 H; 15,13f. H/G = 17,3f. H): Hat man es in
solchen Fällen mit Wucherungen in H oder mit Kürzungen in G zu tun? So zeigt
sich, dass man Differenzen zwischen den beiden Texttraditionen von Fall zu Fall
zu prüfen hat – und nicht unbedingt hoffen darf, jedes Mal den „ursprünglichen“
Text herauszufinden.

In den Überschüssen von H gegenüber G lassen sich bestimmte Schwerpunktsetzun-


gen ausmachen:
– Es besteht eine Tendenz zu verstärkter „Historisierung“ in Gestalt zusätzlicher Da-
tierungen und Lokalisierungen (z. B. 7,1f.; 27,1). Zudem bietet H in 39,4–13 eine Col-
338 D. Die Hinteren Propheten

lage aus 2Kön 25,1–12 und Jer 52,4–16. Nur H übermittelt in 52,28–30 die (zutref-
fende) Nachricht einer dritten Deportationswelle aus Juda im Jahr 582/1 (nach denje-
nigen von 598/7 und 587/6).
– Verstärkt wird die Polemik gegen die Verehrung fremder Götter (z. B. 10,6–10;
17,1–4).
– Ein besonderer Fokus liegt auf dem Geschick und der ersehnten Rückkehr der nach
Babylon Deportierten – möglicherweise ein Hinweis auf den Ort von H (z. B. 27,*18–
22; 51,45–48; 52,15).
– Verstärkung der Verheißungen und Zukunftshoffnungen – und zwar sowohl für
Juda als auch für Ägypten, Moab und Ammon (30,10f.22.37; 33,14–26; 46,26; 48,47;
49,6).

So gewichtig wie die Textdifferenzen zwischen G und H ist der Umstand, dass
die beiden Texttraditionen den Stoff des Buches unterschiedlich anordnen:

G H
Unheilsworte gegen Juda 1,1–25,13 1,1–25,13 Unheilsworte gegen Juda
Fremdvölkerworte 25,14–32,13;
Elam Ägypten Babel 32,14–38
Philistäa Edom Ammon
Kedar Damaskus Moab
Erzählungen und Trostbuch 33–51 26–45 Erzählungen und Trostbuch
25,14–38; Fremdvölkerworte
46–51 Ägypten Philistäa Moab
Ammon Edom Damaskus
Kedar Elam Babel
Historischer Anhang 52 52 Historischer Anhang

Der Hauptunterschied zwischen H und G liegt bei der Sammlung von Fremdvöl-
kerworten, und zwar bei deren Platzierung als ganzer wie bei ihrer inneren An-
ordnung. In beidem wird man G den Vorrang gegenüber H zu geben haben.

Was die Stellung des Fremdvölkerzyklus im Buchganzen betrifft, erscheint sie bei G
als schlüssig, bei H hingegen als gestört.
– G schreibt in 25,13: „Und ich bringe über jenes Land alle meine Worte, die ich ge-
gen es gesprochen habe, alles, was aufgeschrieben ist in diesem Buch“: ursprünglich
(vor dem Einschub von 25,11f.) wohl die Schlussformel für 1,1–25,12, verstanden als
große Sammlung von Gerichtsworten gegen Juda. Der nachfolgende Block von
Fremdvölkerworten in 25,14–32,12 wird abgeschlossen durch 32,13: „Dies hat Jeremia
über alle Völker prophezeit“ – woran sich, etwas nachklappend und wohl nachgetra-
gen, in 32,15–38 die Ankündigung eines allgemeinen Völkergerichts im Bild des
‚Taumelbechers‘ anschließt. Danach kommen, zusammen mit den Erzählungen, die
Heilsworte. Diese Abfolge entspricht übrigens derjenigen in anderen Prophetenbü-
chern: A) Unheilsverkündigung gegen das eigene Volk (Jes 1–12; Ez 1–24; Zef 1).
B) Unheilsankündigungen an fremde Völker (Jes 13–23; Ez 25–32; Zef 2). C) Heil für
das eigene Volk (Jes 24–35 bzw. 24–66; Ez 33–48; Zef 3).
– H schreibt in 25,13a: „Und ich bringe über dieses Land alle meine Worte, die ich ge-
gen es geredet habe“ – so weit mit G, um dann aber in 13b fortzufahren: „… alles was
III. Das Jeremiabuch 339

in diesem Buch niedergeschrieben ist, was Jeremia über alle Völker prophezeit hat“.
Dieses Nacheinander macht keinen rechten Sinn; man spürt, dass vor diesem Satz der
Fremdvölkerblock entfernt worden ist. Die Ungereimtheit soll durch den seltsam ne-
bulösen Vers 25,14 (ein Plus gegenüber G) überdeckt werden: „Denn es werden ihnen
[wem?] dienen auch jene [wer?], viele(n) Völker(n) und große(n) Königreiche(n), und
ich werde an ihnen [wem?] Vergeltung üben gemäß ihren [wessen?] Taten und dem
Tun ihrer [wessen?] Hände“, woran sich – weit abgetrennt von den Völkerworten –
das Wort vom ‚Taumelbecher‘ anschließt (25,15–38). Offenbar wollten die Tradenten
von H die fremden Völker nicht in der Buchmitte, sondern am Buchende haben.
Was die interne Abfolge der Fremdvölkerworte betrifft, so ist bei G keinerlei planvolle
Ordnung zu erkennen; in H dagegen wird eine Reihenfolge von Südwest nach Nord-
ost eingehalten – mit Babel am Schluss: ein furioses Finale nicht nur für den
Fremdvölkerzyklus, sondern für das ganze hebräische Jer-Buch, das diesen Zyklus ja
ans Ende stellt. Die Annahme liegt nahe, dass diese reflektiertere Version gegenüber
der noch unprätiösen bei G die sekundäre ist (anders WANKE, der die geographische
Anordnung von H für ursprünglich hält, weil sie auch in den Völkerworten Am 1, Jes
13–20 und Ez 25–32 befolgt werde).

2. Gesamtkomposition
S. MOWINCKEL, Zur Komposition des Buches Jeremia, Kristiania 1914. – W. THIEL, Die deuterono-
mistische Redaktion von Jeremia 1–25, 1973 (WMANT 41). – K. POHLMANN, Studien zum Jeremia-
buch, 1978 (FRLANT 118). – W. THIEL, Die deuteronomistische Redaktion von Jeremia 26–45, 1981
(WMANT 52). – C. LEVIN, Die Verheißung des neuen Bundes in ihrem theologiegeschichtlichen
Zusammenhang ausgelegt, 1985 (FRLANT 137). – M. E. BIDDLE, A Redaction History of Jeremiah
2:1–4:2, 1990 (AThANT 77). – T. RÖMER, Y a-t-il une rédaction deutéronomiste dans le livre de
Jérémie?, in: A. de Pury et al. (éds.), Israël construit son histoire, 1996 (MoBi 34), 419–441. – K.
SCHMID, Buchgestalten des Jeremiabuches. Untersuchungen zur Redaktions- und Rezeptionsge-
schichte von Jer 30–33 im Kontext des Buches, 1996 (WMANT 72). – B. HUWYLER, Jeremia und die
Völker, 1997 (FAT 20). – T. RÖMER, How Did Jeremiah Become a Convert to Deuteronomistic
Ideology?, in: L. S. Schaering / S. L. McKenzie (eds.), Those Elusive Deuteronomists. The Phenome-
non of Pan-Deuteronomism, 1999 (JSOT.S 268), 189–199. – G. H. PARKE-TAYLOR, The Formation of
the Book of Jeremiah. Doublets and Recurring Phrases, 2000 (SBL.MS 51). – C. J. SHARP, Prophecy
and Ideology. Struggles for Authority in the Deutero-Jeremianic Prose, London / New York 2003.

Das Jer-Buch ist im Blick auf die Inhalte wie auf die Sprachformen ein hoch
komplexes Gebilde. Was den Inhalt anlangt, lässt sich ein grober Überblick
rasch, ein detaillierter nur schwer gewinnen. Hier ein Orientierungsversuch:

– Jer 1: Die Berufung des Propheten.


– Jer 2–25: Jeremias Reden zu seinen Landsleuten, dabei: Gedichte über einen ge-
heimnisvollen „Feind aus dem Norden“ (4–6); eine Rede wider falsche Tempel-Gläu-
bigkeit (7); eine förmliche Todesfuge (9); mehrere persönliche Gebete (in 11; 15; 17;
18; 20); zwei Symbolhandlungen (13 und 19); Worte gegen Könige (22f.) und gegen
Propheten (23); und immer wieder: Ankündigungen bevorstehenden Unheils.
– Jer 26–29: Erzählungen über Jeremia, nämlich von den Umständen und Folgen sei-
ner Tempelrede (26, vgl. 7), von Auseinandersetzungen mit anderen Propheten, vor
allem Hananja (27f.), sowie von seinem Brief an die erste Gola und den Folgen (29).
340 D. Die Hinteren Propheten

– Jer 30–33: Heilsworte an Juda, nämlich das sog. „Trostbüchlein“ mit Heilsorakeln
(30f.), die Ich-Erzählung von einem zeichenhaften Ackerkauf in Anatot und dessen
Deutung (32) sowie weitere Verheißungen (33).
– Jer 34f.: Zwei symbolträchtige Vorgänge in politisch angespannter Lage: die revo-
zierte Sklavenfreilassung während der zweiten (34) und die Anwesenheit der Rekabi-
ter bei der ersten Belagerung Jerusalems (35).
– Jer 36–45: Erzählungen über Jeremia: von der Schriftrolle mit Prophetenworten, die
Jeremia und Baruch verfassten, die vor Jojakim verlesen und von ihm vernichtet und
dann in erweiterter Form neu geschrieben wurde (36), von Jeremias Verhaftung, Ge-
fangensetzung und Befreiung während der zweiten Belagerung Jerusalems (37f.), von
der Eroberung Jerusalems (39), vom versuchten und gescheiterten Neuanfang unter
dem Statthalter Gedalja in Mizpa (40f.) und von der Auswanderung einer Gruppe
unter Mitnahme Jeremias nach Ägypten (42–44; dazu ein persönliches Heilsorakel an
Baruch in 45).
– Jer 46–51: Worte gegen Fremdvölker (die einzelnen bedrohten Länder oben bei 1.).
– Jer 52: Ein historischer Anhang mit nochmaligem Bericht vom Untergang Jerusa-
lems.

Was die Sprachformen anlangt, so ist die erste, grundlegende (und bereits von
DUHM getroffene) Unterscheidung diejenige zwischen Rede- und Erzähltexten.
Mehr als jedes andere Prophetenbuch enthält Jer ausgedehnte Erzählpartien,
zum kleineren Teil in der Ich-, zum größeren in der Er-Form (einerseits 1; 13;
16,1–3; 19; 27; 32, andererseits 20,1–6; 26; 28; 36; 37–44). Doch kommt daneben
in Jer, wie in den anderen „schriftprophetischen“ Büchern auch, ausführlich die
Stimme des Propheten in direkter Rede zu Wort (wobei Propheten- und Gottes-
rede oft ineinander übergehen). Bei den Redepartien ist zu unterscheiden zwi-
schen poetisch geformtem Spruchgut (2–6; 8–10; 21–23; 46–51) und in Prosa
gehaltenen Reden (z. B. in 7; 11; 18; 25; 34f.).
In einer Zeit, da die kritische Forschung gern in Quellenmodellen dachte,
wurden die beobachteten Differenzen auf verschiedene, ins Jer-Buch eingeflos-
sene Quellen zurückgeführt. Lange beherrschte eine von MOWINCKEL entwi-
ckelte 5-Quellen-Theorie das Feld.

MOWINCKELs „Quellen“ sind: A) Prophetensprüche (in poetischer Form: *1–25);


B) Fremderzählungen (von der Hand Baruchs: 19f.; 26; 28f.; 36–44); C) Predigten (dtr
Prägung in 7; 11; 18; 21; 25; 32; 34; 35; 44); D) Heilsweissagungen (nachexilisch: 30f.);
E) Fremdvölkersprüche (nachjeremianisch: 46–51). Diese „Quellen“ wurden, so
MOWINCKELs Vorstellung, nach und nach, ohne stärkere Eingriffe in ihren Bestand
und also ohne intensive Redaktionsarbeit, schlicht zusammengefügt; der erste dieser
Schritte erfolgte um 500 v. Chr. (A + B), der letzte um 165.

Mehr als jedes andere Prophetenbuch ist das Jer-Buch – hauptsächlich in den
Reden (MOWINCKELs Quelle C), in geringerem Maß aber auch in den erzählen-
den und hier und dort auch in den poetischen Partien – deuteronomistisch ge-
prägt (wobei der Deuteronomismus hier eine durchaus eigene, jer Färbung hat).
THIEL hat in diesem Bereich grundlegende Arbeit geleistet, indem er in minutiö-
ser Untersuchung und wesentlich anhand sprachlicher und stilistischer Kriterien
III. Das Jeremiabuch 341

festlegte, welche Textpartien als vor-dtr, welche als dtr (Siglum: „D“ – nicht zu
verwechseln mit MOWINCKELs D) und welche als post-dtr („PD“) zu gelten ha-
ben.

Es ist und bleibt nützlich, bei der Arbeit an Jer-Texten zu wissen, welche Textpassagen
THIEL „D“ zugewiesen hat. Hier eine Auflistung (angelehnt an O. KAISER, Einleitung
in das Alte Testament, Gütersloh 51984, 256): 1,*1–3.7bβ.9f.16–19; 2,5b.20b.26b; 3,*6–
18 (ohne 12aβ.13bα); 4,3f.; 5,18f.; 6,18f.?; 7,1–34 (ohne 4.9a.*10a.*11.12?14.18abα.
21b.27b.28); 8,1–3.19b; 9,11–15; 10,1–16; 11,1–20.(*21–23?), 12,(1–5.)6; 12,14–17;
13,10.11–14; 14,1.(2–10.)11–21; 15,1–4; 16,3b.4b.10–13.16–21; 17,19–27; 18,1.7–12.18;
19,2b–9.11b–15; 20,*1.*6; 21,1–10; 22,1–5.8f.11f.17b.25–27.*28.29?30b?; 23,1–4.7f.17.
32.34–40; 24,1–10; 25,1–38; vgl. 26,3.4b.5.*6.13; 27,5–10.12–22; 28,*1aα.16bβ; 29,2.4b.
8–24.*25.31aβb.32aβb; 30,1–3; 31,27–34.(35–40); 32,(1–6a.)16–44; (33,1–26;) 34,1.
2a*b.8a.9aβb.*12b.13b–17.18aβ.19–22; 35,1.7bβ.13–18; 36,2b.3.7.31; 37,1f.19; 38,2.22f.;
39,1f.4–10.13.15b.16aβ.17.18b; 40,*1.2b.3; 42,10–16.17aβ*bβ.18–22; 43,*1.4.7.(13);
44,1–14.*15.17aβ.18b.20–23.24aα*b.25a.26a.27.28b; 45,1b.2.5bα.
Die Fremdvölkerorakel (46–51) hielt THIEL für nicht dtr bearbeitet. Mittlerweile wur-
den auch hier dtr Bearbeitungsspuren postuliert: von HUWYLER in 46,25 (mit 46,27f.);
48,13.29–38a; 49,1.2b, von ALBERTZ darüber hinaus in 50,2.4–7.44–46; 51,24.27–
29.44.47.52.

a) Das Redaktionsmodell

Das Vorhandensein einer breiten dtr Textschicht musste, nach dem Vorgang des
dtr Geschichtswerkes, die Frage aufkommen lassen, ob sich nicht auch das Jer-
Buch grundlegend dtr Redaktionsarbeit verdanke.

Noch nicht MOWINCKEL, dem seine Vorstellung von C als „Quelle“ den Blick in dieser
Richtung verstellte, wohl aber RUDOLPH in seinem (noch immer benutzenswerten)
Kommentar äußerte aufgrund des Umstands, dass die C-Stücke das tragende Gerüst
des ganzen Buchs bildeten, die Vermutung, ihr Autor könne der „Hauptredakteur“
von Jer gewesen sein. Eben dies hat THIEL nachzuweisen versucht. Nach seiner Auffas-
sung schuf der Verfasser der „D“-Schicht um 550 v. Chr. aus ihm vorliegendem
Quellenmaterial (im Wesentlichen den Grundbeständen der MOWINCKEL’schen Quel-
len A, B und D) ein großes, von Jer 1 bis 45 reichendes Jer-Buch (mit einer quellenbe-
dingten Zäsur nach 25,1–13). Wichtigstes Gestaltungsmittel waren ihm die Reden, in
denen er seine teils aus dem Dtn, teils aus jer Gedankengut geschöpften Überzeugun-
gen ausbreiten konnte. Gern leitete er sie stereotyp mit der sog. Wortereignisformel
ein („Das Wort Jhwhs, das an Jeremia von Jhwh her erging“: 7,1; 11,1; 18,1; 21,1; 25,1;
30,1; 34,1.8; 35,1; 40,1; 44,1; auch 45,1). Zuweilen nahm er jer Selbst-Berichte auf (je-
weils der Kern von 13; 18; 19; 27; 32; 35), dann wieder baute er um ein überliefertes Je-
remia-Diktum oder um den Bericht von einer Handlung des Propheten eine Rede auf
(z. B. 7,14; 13,9f.; 14,12a; 16,1–3a.4a.5–8; 19,1.2a.10.11a), wieder andere hat er frei
entworfen (11; 17; 24). Wichtige Sprachformen der Reden sind die „Alternativpredigt“
(7,1–15; 17,19–27; 22,1–5, jeweils mit dem Schema: Einleitung, Prophetenbefehl,
Hörbefehl, Botenformel, einleitender Imperativ, Alternative A [zum Guten], Heilszu-
sage, Alternative II [zum Bösen], Gerichtsankündigung) sowie die „Gerichtsbegrün-
342 D. Die Hinteren Propheten

dung im Frage-Antwort-Stil“ (5,19; 9,11–15; 16,10–13; 22,8f.). Beides weist laut THIEL
auf eine Predigtpraxis bei gottesdienstlichen Feiern in der Exilszeit. Insgesamt war Je-
remia für „D“ in erster Linie ein Gerichtsprophet und Bußprediger, der zu seiner Zeit
abgelehnt wurde, unter dessen Botschaft man sich aber jetzt, nachdem das von ihm
angekündigte Unheil eingetroffen war, zu beugen hatte. Zugleich jedoch eröffnete er
die Hoffnung auf eine heilvolle Zukunft jenseits des Gerichts (ohne dass schon, wie
bei DtJes, konkret Kyros in den Blick käme).

THIELs Entwurf ist unverkennbar in den Bahnen der NOTH’schen Hypothese


vom dtr Geschichtswerk gedacht – und folgerichtig kam es in der anschließen-
den Forschungsdiskussion zu ähnlichen Bestreitungen und Differenzierungen,
wie sie gegenüber NOTH geltend gemacht wurden (s. oben C I). So hieß es etwa,
die Reden im Jer-Buch seien gar nicht dtr, geschweige denn redaktionell; es
werde in ihnen einfach die seit Joschija gängige Sprache gesprochen, deren sich
gewiss auch Jeremia bedient habe, wenn er mit oder zu den Leuten sprach
(WEIPPERT). Oder die angeblich dtr Partien in Jer unterschieden sich markant
von denen im Geschichtswerk, hätten eine viel stärker prophetische und jere-
mianische Färbung; statt künstlich Trennlinien zwischen Quellen und Redaktion
zu ziehen, gälte es der inner-jeremianischen Sprach- und Literaturentwicklung
nachzuspüren (SCHMID). Doch solche Einwände schaffen THIELs (und schon
MOWINCKELs) Grundeinsicht nicht aus der Welt, dass die Schicht „D“ (resp. die
Quelle C) viel stärker als die Erzählungen und erst recht als die Dichtungen dtr
geprägt ist und dass ihre weite und dichte Streuung die Funktion als Redaktions-
schicht sehr wahrscheinlich macht. (Dieser Grundannahme folgt auch die neu-
este Kommentierung durch W. H. SCHMIDT.) Unterschiede der dtr Jer-Redak-
tion zu der des Geschichtswerks erklären sich einerseits aus der inneren Vielfalt
dort (und vielleicht auch hier, s. im Folgenden), andererseits aus der Unter-
schiedlichkeit der verarbeiteten Stoffe; die Jer-Deuteronomisten waren im Her-
zen auch „Jeremianer“.
Einige Forschungsbeiträge stellen nicht den redaktionsgeschichtlichen Ansatz
in Frage, sondern die gewisse Einlinigkeit, mit der ihn THIEL, ungeachtet aller
Subtilität, verwendet hat. Ist es sicher und auch nur wahrscheinlich, dass ein
einziger Redaktor schon so früh (um 550 v. Chr.) das Jer-Buch in allen wesentli-
chen Zügen bereits fertiggestellt hat und für die Zeit danach nur noch mit in sich
zusammenhanglosen „post-dtr Zusätzen“ zu rechnen ist? Sollte es nicht – wie
beim dtr Geschichtswerk auch – über längere Zeit hinweg mehrere dtr Redak-
tionsgänge (und danach noch einzelne Erweiterungen und Glossierungen) gege-
ben haben? Ist Thiels „D“-Schicht wirklich einheitlich, oder lassen sich aus ihr
die einen oder anderen Bestandteile herauslösen und als spätere Bearbeitungen
erklären?

POHLMANN möchte die (bei THIEL zu D gezählten) Texte 21,1–10; 24,1–10, evtl. 32,16–
44 und dazu eine Redaktionsschicht in *37–44 (die nur teilweise in THIELs Liste figu-
riert, weil sie nur teilweise typisch dtr Merkmale aufweist: 37,1–10; 38,1–6; 39,1–40,10;
41,4–7.16–18; 42,*1.6.*8.[12.]15.17–21; 41,4–7; 43,1–7; 44) einer gesonderten gola-
III. Das Jeremiabuch 343

orientierten Redaktion zuweisen. Zentraltext ist Jer 24, die Vision von den zwei Obst-
körben, von denen der eine, der das Land Juda symbolisiert, verfaultes Obst enthält,
der andere, der für die Exulantenschaft steht, dagegen frisches. Deutlich wird hier der
Anspruch der Gola auf eine Sonderrolle und auf die Führerschaft im Judentum for-
muliert. In Jer 32 kommt der Anspruch auf Landbesitz hinzu. Im Gegenzug wird mit
(der überarbeiteten Form von) 37–44 der Eindruck erweckt, es seien alle, die nach der
Katastrophe von 586 im Land blieben, nach Ägypten ausgewandert und hätten sich
obendrein des Abfalls von Jhwh schuldig gemacht, womit nur mehr die babylonische
Gola als wahres Gottesvolk übrig bleibt. Angeblich hat diese Bearbeitung frühestens
im 4. Jh. stattgefunden (doch sind Primatansprüche der Gola ja schon ab 597 denkbar
und jedenfalls ab dem Eintreffen der ersten Rückwanderergruppen in der Provinz
Jehud erwartbar).

RÖMER meint, die gesamte dtr Redaktionsarbeit am Jer-Buch habe in der babyloni-
schen Gola stattgefunden. Diese habe zwar Jeremia hoch geschätzt, seine Entschei-
dung aber, nach 586 mit den kleinen Leuten im Land zu bleiben, nicht goutiert. So
habe sie gleichsam die Flucht nach vorn angetreten und eine erste, dtr bearbeitete
Ausgabe des unbequemen Propheten in Gestalt von Jer 7–35 herausgebracht, in der
sie ihr Interesse am Land (und an ihrem eigenen Vorrang) zur Geltung brachte (21,1–
10; 24,1–10!). Eine zweite dtr Edition habe dieses Buch ausgeweitet: einerseits um 2–6,
andererseits um eine ‚Schreiber-Chronik‘ in *37–44, die in der Sache anstößig und da-
rum im Sinne der Gola zu überarbeiten war (vgl. POHLMANN). Das Ganze wurde ge-
rahmt durch die aufeinander bezogenen Kapitel 1 und 45. (Dieser an sich elegante
Entwurf hat zwei Schwächen: Kaum hat die gesamte Jer-Redaktion in Babylon statt-
gefunden, und Zäsuren vor 7 und nach 35 lassen sich kaum ausmachen.)

MAIER postuliert ebenfalls eine zweistufige Redaktion, zieht die Grenzlinien aber ganz
anders. Sie analysiert einige Texte, die als Kernstücke der THIEL’schen „D“-Schicht
gelten können: 7,1–8,3; 11,1–17; 17,19–27; 22,1–5; 26,1–24 und 34,8–22 (dazu, ihrer
Themenstellung gemäß, einige weitere, an denen ausdrücklich von „Tora“ gesprochen
wird). Ihr ergibt sich ein Bild in zwei Facetten. Zuerst – in der dtr Grundredaktion aus
der Exilszeit – erscheint Jeremia als Prophet, der in großer Strenge das Gericht an-
kündigt und das Volk zur Buße ruft (7,2–4.*9–15.18–24.27–30; 11,3aβ.*4.6.8b–
10a.11–17; 34,8–11.*18–22; dazu auch 6,19; 9,11–15; 16,10–13; man könnte hier von
einer Gerichtsätiologie sprechen, vergleichbar DtrH im Geschichtswerk). In einer
nachexilischen Bearbeitung (die MAIER nicht mehr für dtr hält, die man aber als spät-
dtr bezeichnen könnte) erfuhr dieses Bild eine gewichtige Veränderung: Jeremia er-
scheint jetzt als einer, der seinen Landsleuten die Tora einschärft – einerseits als Aus-
druck des Bundes zwischen Jhwh und Israel, andererseits als Maßstab zwischen-
menschlichen, sozialen Verhaltens (7,5–8.*10–14.25f.; *11,1–5.10b.17b; 17,19–27;
22,1–5; 26,10–16; 34,12–17; diese Linie setzt sich fort in Texten, die nur in H, nicht in
G enthalten sind).

WANKE rechnet mit einer ersten dtr Redaktion, die bereits in der frühen Exilszeit die
Spruchsammlungen in *2–6; 8–10 und *21–23 verbunden, den Komplex 11–20 selbst
geschaffen und das Ganze durch 1 und 45 gerahmt habe. Das Thema dieses Werks sei
eine Ätiologie des erfolgten Gerichts gewesen. In einer zweiten, spätexilischen oder
frühnachexilischen Ausgabe seien dann die in mehreren Schritten hinzugefügten Er-
zählungen 27–29; 32–35 und 37–43 (zum Letzten vgl. POHLMANN) eingeschlossen ge-
wesen. Jetzt komme erstmals die Möglichkeit künftigen Heils in den Blick. Diese
Heilsperspektive sei auf einer dritten Stufe durch die Zufügung von 21–24; 30–31 und
344 D. Die Hinteren Propheten

46–51 ausgeweitet worden: freilich unter Fokussierung auf bestimmte Gruppen im


nachexilischen Juda; Jer erscheine jetzt auch als Völkerprophet. Schließlich habe es
noch zahlreiche Ergänzungen gegeben (z. B. in 3,14–18; 4,23–26; 10,1–16; 12,14–17;
17,5–11).
ALBERTZ postuliert „drei dtr Jer-Bücher“, die sukzessive und alle noch im 6. Jh. im
Land Juda entstanden seien: 1) „JerD1“ verfasste um 550 v. Chr. (vgl. THIELs Anset-
zung von „D“) ein Buch, das durch 1,1–3.11–19 und 25,1–13 gerahmt war und den
Hauptbestand der dazwischen liegenden Texte (ohne z. B. 18 und 24) enthielt. Im
Aufbau zeigt es einen regelmäßigen Wechsel zwischen vorgegebenen Sammlungen
(2–6; *8–10; *21–23) und neu verfassten Reden (7; 11; 21,1–10). Die Redaktoren hät-
ten sich um eine chronologische Anordnung des Stoffs bemüht (und damit zu großen
Teilen auch das Richtige getroffen). Inhaltlich ging es vornehmlich um eine Begrün-
dung des Gerichts, das nicht etwa unverhofft eingetreten, sondern lange zuvor ange-
kündigt gewesen sei – und das zu vermeiden gewesen wäre, hätte man auf Jeremia ge-
hört. 2) JerD2 entstand bereits wenig später, nämlich 545–540 v. Chr., als Ausweitung
von JerD1, und zwar durch Vorschaltung von 1,4–10, Einfügung von 18 und Anfü-
gung von *26–45 (ohne 30–34). Dieser neue Hauptblock zeige einen Wechsel von vor-
dtr Erzählungen (26–29; 36–39; 40–43) und dtr Reden (35; 40,1–6; 44) und werde
durch das Schlusswort 45 beendet (das mit 1,4–10 eine Inklusio bilde). Die Erzählun-
gen, die teilweise datiert sind (26,1; 27,1; 28,1; 36,1), folgen nur bedingt der Chronolo-
gie; Jer 36 (die Zerstörung der Buchrolle durch Jojakim) hätte vor 27–29 stehen müs-
sen, begründet jetzt aber den Untergang Jerusalems. Auch hier also geht es um
Gerichtsbegründung, zugleich aber um den Nachweis verpasster Heilschancen (z. B.
26,3; 35,14–16; 36,3.7), die es jetzt zu ergreifen gelte. Der Untergang Babylons kommt
bereits in den Blick (29,10). 3) JerD3 ist in die frühnachexilische Zeit (525–520 v. Chr.)
zu datieren. Jetzt werden zum bisherigen Bestand die Abschnitte *30–34 (ohne 33)
und *46–51 hinzugefügt. 4) Schließlich benennt ALBERTZ eine ganze Reihe nach-dtr
Zusätze: 3,16–18; 9,22–25; 10,1–16; 15,21; 16,14f.19–21; 17,5–13; 23,4–8.18–20.23–40;
25,9aβ.11b.12.13b–38; *27; 29,16–20; 30,8f.; 33,1–26; 45,1; 51,46.
SHARP erkennt in den dtr Reden zwei einander widerstreitende Tendenzen, die sie als
zwei Bearbeitungsstufen identifiziert. Die erste spiegelt die Haltung und die Interessen
der nach 597 im Land Verbliebenen: Das göttliche Gericht ist (oder war) unvermeid-
bar; Gottes Zorn gilt freilich nicht nur Juda, sondern allen Völkern, gerade auch Ba-
bylon; Unterwürfigkeit oder gar Anbiederung gegenüber der Großmacht ist also ver-
fehlt. Hierher sind folgende Passagen zu rechnen: 7,4.13b.15f.21–28; 11,14; 14,11;
26,*1–11a.13–17.*19–33; 26,5.6b–8.9b.17–19.24; 28,8f.; 29,8f.15.21f.; 35,1–19; 44,1–
4.11.27. Die zweite Bearbeitung erfolgte in der babylonischen Gola. Sie predigt die
Unterwerfung unter Nebukadnezar, plädiert für einen Neubeginn im Schatten Baby-
lons und hält das ganze Land Juda samt den dort Wohnenden und sogar den Jerusa-
lemer Tempel für verunreinigt. Hierhin gehören: 7,1–3.5–13a.14.17–19.30–34; 8,1–3;
24,1–10; 26,9b.11b.12a.18; 26,1–4.6a.9a.10–16; 27,1–22; 28,1–7.10–17; 29,1–7.10–
14.16–19.23–32; 44,7.9f.12–23.26.28–30. An diesem Entwurf beeindruckt die Unter-
scheidung innerhalb der dtr (!) Redaktion zwischen Juda- und Gola-Orientierung,
doch wird dieser Gegensatz und damit auch die Redaktionstätigkeit zu eng auf die
Zeit unmittelbar nach 597 begrenzt (wo die Fronten übrigens z. T. umgekehrt verlie-
fen, vgl. 29; 40f.).

Den neueren redaktionskritischen Arbeiten ist gemeinsam, dass sie zwar auf den
von THIEL gelegten Grundlagen aufbauen, jedoch nicht mit nur einer, sondern
III. Das Jeremiabuch 345

mit mehreren Redaktionsstufen von der Exilszeit bis in die (früh)nachexilische


Zeit rechnen. Als Leitlinien der Nachbearbeitung(en) werden eine verstärkte
Zukunftserwartung, eine markante Gola-Orientierung und eine betont nomisti-
sche Akzentuierung genannt. Dem ist später weiter nachzugehen. Vorerst aber
ist ein ganz anderer Erklärungsansatz für die Entstehung des Jer-Buches vorzu-
stellen.

b) Das Fortschreibungsmodell

Schon DUHM hatte gemeint, weite Teile des Jer-Buchs seien „langsam gewachsen,
fast wie ein unbeaufsichtigter Wald“; da könne „von einer methodischen Kom-
position, einer einheitlichen Diktion … keine Rede sein“. In neuerer Zeit erklä-
ren denn auch einige Exegeten, gern unter Berufung auf DUHM, die Entstehung
des Jer-Buchs nicht mehr anhand eines Redaktions-, sondern eines Fortschrei-
bungsmodells, d. h. sie rechnen nicht mit einer oder mit wenigen großen litera-
turbildenden Phasen (und danach noch mit einzelnen Ergänzungen), sondern
mit einer Vielzahl kleinräumiger und sich über lange Zeit erstreckender Kristalli-
sationsprozesse.
In gewisser Weise haben hier die Kommentare von MCKANE und CARROLL
vorgearbeitet. Zwar stellen sie eine umfassende dtr Bearbeitung der Jer-Tradition
nicht in Abrede, doch zerfließt diese bei CARROLL in tendenziell unendlich viele
Einzelaktivitäten von beteiligten Personen und Gruppen, die sich historisch und
geistesgeschichtlich kaum mehr festmachen lassen, während MCKANE das Dik-
tum vom Jer-Buch als einem „rolling corpus“ prägte, in dem einzelne Kernstellen
immer neu interpretiert, die Interpretationen miteinander vernetzt und dann
wieder fortgeschrieben wurden usf. (wobei übrigens zwischen poetischen und
prosaischen Passagen prinzipiell kein Unterschied besteht). Der biblische Text
wird zum Produkt gelehrter exegetischer Schreibtischarbeit. Die Konturen des
Propheten Jeremia und seiner Zeit lösen sich bei solchen Verfahren in nebulöse
Schemen auf. Dies belegen auch mehrere neue Spezialuntersuchungen, die nach
dem Fortschreibungsmodell gearbeitet sind.

BIDDLE will den Nachweis führen, dass Jer 2f. nicht etwa eine Sammlung authentischer
Jer-Worte, sondern das Produkt eines mehrstufigen Redaktions- (besser würde man
sagen: Fortschreibungs-)Prozesses ist: 1) Der Anfang war, dass der Sammlung Jer 4–6,
die angeblich in Reaktion auf die Exilskatastrophe entstanden war, eine Präambel
vorangestellt wurde (2,14–25.33–37); in ihr wurde das Gericht als verdiente Strafe für
(politisches) Fehlverhalten interpretiert, so dass von einer „Schuldübernahme-Redak-
tion“ gesprochen werden kann. 2) Auf der zweiten Stufe wurden Texte angefügt, in
denen die Möglichkeit einer Vergebung durch Jhwh ins Auge gefasst und zur Umkehr
aufgerufen wurde (3,1–12a.14–25); jetzt ging es nicht mehr um politische, sondern um
religiöse Schuld, die benannt und bekannt werden musste, damit Jhwh sie verzeihen
würde. 3) In einigem zeitlichem Abstand zur Katastrophe von 586 weitete eine „Gene-
rationen-Redaktion“ den Schuld-Vorwurf von der einen, durch die Exilierung be-
troffenen Generation auf das gesamte Volk in allen Generationen aus (2,4–13.26–32);
346 D. Die Hinteren Propheten

sie stand dem Deuteronomismus geistig nahe. 4) Zuletzt wurde der Rahmen 2,2b und
4,1f. um den entstandenen Textkomplex gelegt, in dem wieder die Möglichkeit der
Vergebung in den Vordergrund rückte. – Es ist bemerkenswert, dass „Redaktion“ hier
nicht als Verknüpfung älterer, poetisch geformter Einheiten verstanden wird, sondern
als Fortschreibungskette aus poetisch geformten Zusätzen.
LEVIN hat an einem kleinen, aber gewichtigen Abschnitt des Jer-Buchs ein vierstufiges
Fortschreibungsmodell entwickelt, in dem die jüngeren Schichten jeweils nicht nur
die vorangehende Textstufe, sondern auch andere Texte aus Jer fortschreiben und zu
wieder anderen Texten in Querverbindung stehen: 1) Den Anfang der Textentwick-
lung in 31,27–34 bildeten zwei „frühexilische Heilsworte“: das eine darüber, dass die
Söhne fortan nicht mehr ‚stumpfe Zähne‘ bekommen sollen, wenn die Väter ‚saure
Trauben‘ gegessen haben (31,27a.29aβγb–30a), das andere darüber, dass Gottes-
erkenntnis künftig nicht mehr gelehrt werden muss, sondern wie von selbst da ist
(31,31a.34abα1). 2) Beiden Worten wurden Anfang des 5. Jh.s „Ergänzungen“ beige-
fügt: dem einen die Verheißung einer ‚Neusaat‘ (31,27b–29aα, gespeist aus 1,10.12),
dem anderen die Verheißung eines ‚neuen Bundes‘ (31,31b.32.33b.34bα2βγ, gespeist
aus 11,4.10; 6,13). 3) Der ‚neue Bund‘ zog eine „spätalttestamentliche Erläuterung“
nach sich: Fortan solle die Tora ins Herz geschrieben sein (31,33a, gespeist aus 11,4).
4) Die ‚Neusaat‘ erfuhr noch eine spätere Glossierung: Jeder, der ‚saure Trauben‘ isst,
bekommt ‚stumpfe Zähne‘ (31,30b). – Mehreres fällt an diesem Modell auf: Zu den
einzelnen Textstufen gehören sehr fragmentierte Textpassagen; die Verfasser der Fort-
schreibungen waren im Grunde Exegeten, die die Jer-Überlieferung hin und her
durchforschten und auslegten. Dabei werden ihre geschichtlichen Konturen nicht
recht deutlich – was nicht hindert, ihnen bedeutsamste Worte zuzuschreiben (vom
neuen Bund, von der Tora im Herzen); unklar bleibt die rein technische Seite der
Vorgänge: In welchen Schriftdokumenten wurden die Fortschreibungen wie realisiert?
Wie kommt es, dass noch die „spätalttestamentliche Erläuterung“ in der H- wie in der
G-Tradition zu finden ist (31,33 bzw. 38,33), also vor deren Auseinandertreten schon
eingeschrieben gewesen sein muss?
SCHMIDs Modell ist noch ambitionierter und komplizierter. Auch er setzt im Bereich
des „Trostbüchleins“ ein, allerdings in dessen voller Breite. Er eruiert in Jer 30–33
zehn Schichten, von denen er die meisten auch im restlichen Buchkorpus wiederfindet
(und zusätzlich zwei weitere, die in 30–33 noch nicht vertreten sind). Jede Stufe reprä-
sentiert eine neue „Buchgestalt“ des entstehenden Jer-Buchs: 1) Im frühen 6. Jh. wer-
den Sammlungen authentischer, nicht als Gottesrede formulierter Unheilsansagen,
Klagen usw. zusammengestellt (Grundbestände von 4–6; 8–10; 11–23; 46–49).
2) Nach 586 wird dieser Erstbestand gerahmt durch eine theologisierende Nachinter-
pretation, welche die Katastrophe als verdiente Strafe für begangene Schuld hinstellt
(in 2f. und 50f.). 3) Vor 540, d. h. noch vor Kyros’ Sieg über Babylon, wird, im Wider-
spruch gegen die Stufen 1 und 2, die Hoffnung auf eine Restituierung Israels im eige-
nen Land geäußert (Texte in 2–23; 46–51, dazu 30,5–7.12–17.*18–21; 31,4f.15–22.26).
4) Um 530 zentriert sich die Hoffnung auf Juda und den Zion (31,6.10–14). 5) Noch
vor 522 (Herrschaftsantritt des Darius, Beginn des Tempelbaus) wird in mehreren
Anläufen die Verzögerung des zuvor Verheißenen reflektiert, wobei Streitigkeiten von
Gola-Rückkehrern und Altjudäern um Besitztitel zur Sprache kommen (a. 32,6b–14;
b. 32,1–6a.15; c. 32,*16–44). 6) Nach 521, ausgelöst durch die Niederschlagung baby-
lonischer Aufstände durch Darius, wird die „70-Jahr-Schicht“ eingetragen, die Babel
ins Zentrum rückt (in 1; 25f.; 36; 37–43; speziell 25,12; 29,10; 30,8f.). 7) Im frühen 5.
Jh. betont eine Gola-orientierte Redaktion den Vorranganspruch der Gola von 597 im
Judentum (1; 24; Erweiterungen in 26–44; dazu 32,16–35.42–44). 8) Nach 450 ver-
III. Das Jeremiabuch 347

heißt eine diasporaorientierte Redaktion allen unter die Völker verstreuten Juden Heil
(23,7f.; 29,14; 32,37–41). 9) Um 400 wird wegen der Verzögerung des Heils die Heim-
kehrverheißung an vorgängige Umkehr gebunden (in 2; 3,1–4,2). 10) Um 350, nach
Kanonisierung der Tora und in Fortschreibung von 31,35–37 und von Ez 11,19; 18,31;
36,26 wird die Verheißung eines ‚neuen Bundes‘ eingetragen (30,1–3; 31,27–34).
11) Um 330, in der Alexanderzeit, werden vorhandene Gerichtstexte zur Erwartung
eines Weltgerichts universalisiert (1,14; 25,27–38; 45,4f.; 30,23f.; 31,1–3). 12) Nach 300
(und nur in der H-Version) wird die Hoffnung auf eine Restitution des davidischen
Königtums laut (33,14–26). – Mehreres fällt ins Auge: Die einzelnen „Buchgestalten“
entstehen in Widerspiegelung von (kaum je: in Widerspruch zu) benennbaren zeit-
und geistesgeschichtlichen Vorgängen. So sind die „70 Jahre“ selbstverständlich vati-
cinium ex eventu; der Ackerkauf in Anatot (Jer 32) ist Symbol für Besitzstreitigkeiten
im postexilischen Judäa (wohl, weil Jeremia keine hoffnungsträchtige Symbolhand-
lung zuzutrauen ist); die Verheißung des ‚neuen Bundes‘ und der ‚Tora im Herzen‘ ist
eine Reaktion auf Ezechiel und Esra (wo doch das Umgekehrte viel einleuchtender
wäre). Die einzelnen Stufen werden anhand inhaltlicher, nicht sprachlicher Kriterien
festgelegt; an die Stelle von Literar- ist Tendenzkritik getreten.
Wesentlich in den Bahnen von Schmid bewegt sich JOB bei seiner Untersuchung der-
jenigen Jer-Texte, die vom judäischen und vom babylonischen Königtum handeln. Im
Mittelpunkt der Untersuchung stehen die Kapitel 21–24. Aus ihnen werden diejeni-
gen Worte, die sich direkt an einzelne Könige richten, Jeremia selbst zugewiesen. Die
weitere Textentwicklung erfolgte dann über noch mehr Stufen, als sie schon Schmid
postuliert hat. Vornehmlich geht es darin um messianische Erwartungen, die sich zu-
nächst an der Gestalt Serubbabels festmachen, dann aber weit hinaus in eine eschato-
logische Zukunft weisen.

Die Fortschreibungstheorie öffnet den Blick für möglicherweise noch sehr späte,
gleichsam exegetische Beschäftigung mit der Jer-Tradition; in der Tat zeigen das
Vorhandensein der H- und der G-Fassung und die fast fünfzig Textdubletten
vorwiegend in H (vgl. die sorgfältige Einzeluntersuchung durch PARKE-TAYLOR),
dass die Textbildung nicht schon in dtr Zeit abgeschlossen war. Andererseits löst
sich in dieser Perspektive das Jer-Buch in eine, fast möchte man sagen: beliebig
große Zahl von Schichten und Stufen auf, während die Frage nach großen, prä-
genden Phasen der Buchentstehung, nicht zuletzt nach der dtr Redaktion, aus
dem Blick gerät.

3. Buchelemente

Unübersehbar heben sich innerhalb des Jer-Buchs verschiedene Texteinheiten


durch ihre sprachliche Gestaltung und ihr inhaltliches Profil voneinander ab. Sie
bieten eine willkommene Orientierungshilfe bei dem Versuch, sich jeweils von
den späten Stufen zu den Anfängen der Jer-Tradition zurückzutasten.
348 D. Die Hinteren Propheten

a) Die Gedichtsammlungen

C. RIETZSCHEL, Das Problem der Urrolle, Gütersloh 1966. – R. ALBERTZ, Jer 2–6 und die Frühzeitver-
kündigung Jeremias: ZAW 94 (1983), 30–47. – H.-J. HERMISSON, Die „Königsspruch“-Sammlung im
Jeremiabuch – von der Anfangs- zur Endgestalt, in: E. Blum u. a. (Hg.), Die Hebräische Bibel und
ihre zweifache Nachgeschichte, FS R. Rendtorff, Neukirchen-Vluyn 1990, 277–299. – C. HARDMEIER,
Geschichte und Erfahrung in Jer 2–6: EvTh 56 (1996), 3–29. – K. M. O’CONNOR, The Tears of God
and Divine Character in Jeremiah 2–9, in: FS W. Brueggemann, Minneapolis 1998, 172–185. – H.-J.
HERMISSON, Der Feind aus dem Norden (Jer 4–6). Zu einem Gedichtzyklus Jeremias, in: F. Harten-
stein u. a. (Hg.), Schriftprophetie, FS J. Jeremias, Neukirchen-Vluyn 2004, 233–251. – C. HARDMEIER,
Realitätssinn und Gottesbezug. Geschichtstheologische und erkenntnisanthropologische Studien zu
Genesis 22 und Jeremia 2–6, 2006 (BThSt 79).

Die erste Hälfte des Jer-Buches (1–25) enthält offenbar mehrere Einzelsammlun-
gen poetisch geformter Texte:
– 2,1–4,2: Worte, die um das Thema der Untreue Israels gegen seinen Gott krei-
sen und an die Prophetie Hoseas erinnnern (und wie bei diesem wegen ihrer
Gender-Metaphorik speziell die Aufmerksamkeit feministischer Exegetinnen
gefunden haben: BAUER, HÄUSL). Wenn die kleine Sammlung (trotz BIDDLE)
jedenfalls im Grundbestand jeremianisch ist, dann dürfte sie (mit ALBERTZ) zur
Frühzeitverkündigung des Propheten gehört und könnte sich ursprünglich an
die Nordisraeliten gerichtet haben (vgl. die häufige Rede von „Israel“). Indem sie
jetzt mit 4–6 verbunden ist, nimmt sie aber auch schon Juda in den Blick, das
nicht weniger untreu ist als Israel und zur Umkehr ebenso unfähig (3,1–5) – und
also fürs Gericht ebenso reif.
– 4,3–6,30: Den Kern der Sammlung von Unheilsworten gegen Juda macht ein
Zyklus von fünf hochpoetischen Gedichten über einen geheimnisvollen „Feind
aus dem Norden“ aus (4,5–8; 4,11–18; 4,19–21; 4,29–31; 6,1–8). Man hat diese
Chiffre auf die Skythen oder die Babylonier deuten wollen, doch ist sicher mit
Bedacht kein Name genannt; es ist die gottgeschickte Gefahr, die da auf Juda
zustürmt (und dann sehr wohl in den Babyloniern Gestalt gewinnt). Mit dieser
Textreihe ist eine andere verflochten, in der der Prophet mit Gott in einen Dialog
tritt, um zu erkunden, ob es Rettungsmöglichkeiten gibt (es gibt keine): 5,*1–9;
5,12–14(?); 6,9–15; 6,27–30. Laut HERMISSON sind diese beiden Reihen der
(authentische) Grundbestand der Sammlung, der dann in der Exilszeit (z. T. klar
dtr: 3,21–4,4.8.18; 5,6.7a.10f.18f.30f.; 6,16f.[18–20.]21) und in der nachexilischen
Zeit (4,23–28; 5,15–17; 6,22–26) noch kräftig erweitert worden sei.

Die Doppelsammlung 2–6 hat als Eingangsstück des Jer-Buchs das besondere Inte-
resse der Forschung gefunden.
– RIETZSCHEL identifizierte sie tale quale als die „Urrolle“, von deren Entstehung Jer 36
berichtet.
– ALBERTZ differenzierte dieses – sicher zu pauschale und schlichte – Urteil: Es habe
zwei, aus verschiedenen Zeiten stammende, dann aber (von Jeremia persönlich!) zu-
sammen- und in die Urrolle eingefügte Teilsammlungen gegeben: A) 2,1–4,2 und B)
4,3–6,30. In A gehe es um Israel (9-mal erwähnt, Juda nur 2-mal), in B um Juda (21-
mal erwähnt, Israel nur 4-mal). Israel werde wegen religiösen und politischen, Juda
III. Das Jeremiabuch 349

auch wegen religiösen, vor allem wegen sozialen Fehlverhaltens angeklagt. Israel er-
halte eine Heilschance, Juda nicht. A widerspiegele die Verkündigung des jungen Je-
remia, B die der Jahre 609–605.
– HARDMEIER (1996; 2006, 133ff.) hält 2–6 (abzüglich einiger dtr Bearbeitungsspuren)
für eine bewusst gestaltete Komposition aus der Zidkijazeit. Aus verschiedenen Be-
standteilen (d. h. früher ergangenen Worten) sei ein „richterliches Plädoyer im fiktiv
inszenierten Ehebruchsprozess zwischen Jhwh und seiner Stadt Jerusalem“ geformt
worden, in dem Gott durch den Propheten als Ankläger und als Schlichter zugleich
fungiere, der bemüht ist, „die Angeklagte vor dem Tode zu bewahren“. Die Rede setze
sich zusammen aus einem aus der Geschichte gewonnenen Schuldaufweis (Kap. 2),
der Erklärung Jhwhs auf Rechtsverzicht (3,1–5, vgl. Dtn 24,1–4), der Androhung
ernstester Konsequenzen, letztlich der Todesstrafe (Kap. 4 u. 6) und einer zwischenge-
schalteten „aktuellen Schuldüberprüfung“ (Kap. 5). Den Schluss bilde ein höchst
skeptischer Epilog aus dem Mund Jeremias (6,27–30). Dieses Ganze bilde eine „inte-
grale Einheit“, deren aktueller Entstehungshintergrund die beginnende Belagerung
Jerusalems im Jahr 588 sei. Insgesamt wolle Jeremia die Sinnlosigkeit weiteren Wider-
stands gegen Babylon dartun.

– 8–10: Die kleine Sammlung (die in 8,1–3; 9,11–15.22–25; 10,1–16 überwiegend


dtr Zusätze aufweist) ist vom Ton der Klage beherrscht (vgl. O’CONNOR). Einmal
klagt der Prophet (8,4–7), dann scheint Gott selbst zu klagen (8,13.18–22), dann
wieder das als Beduinenfrau vorgestellte Juda (10,19–22). In 9,16–21 findet sich
eine kulturgeschichtlich höchst aufschlussreiche Aufforderung an Klagefrauen,
ihres Amtes zu walten (mit dem von ihnen zu singenden Klagelied im Qina-
Metrum: 9,19). Die Texte haben eine innere Affinität zu den sog. Konfessionen,
die aber erst in der Komposition 11–20 auftreten (s. unten b). Die Doppelung
von 8,8–13 mit 6,12–15 („Friede, Friede – und es ist kein Friede“) zeigt, dass die
beiden Sammlungen unabhängig voneinander entstanden sind.
– 21–23: Auch diese Sammlung bestand ursprünglich für sich (was sich z. B. an
der Dublette 23,19f. / 30,23f. zeigt). Es geht hier um zwei tragende Säulen der
damaligen Gesellschaft: das Königtum und die Prophetie (die nach Meinung des
Textes beide eine Hauptverantwortung trugen für die Katastrophe). Bei den
Worten über das Königtum mischen sich allgemeine Äußerungen über die In-
stitution (21,11f.; 22,1–9; 23,1–8) mit Worten über einzelne Könige. Vor allem
bei den letzteren trifft man auf authentisches Gut: Jeremia zeigt Mitgefühl mit
dem nach Ägypten verschleppten Joahas (22,10f.), kühle Distanz dagegen zu dem
nach Babylon deportierten Jojachin (22,24–30) und flammenden Zorn gegen den
prahlsüchtigen und selbstherrlichen Jojakim (dem er Joschija als leuchtendes
Beispiel sozialer Gerechtigkeit entgegenhält, während er ihm selbst ein „Eselsbe-
gräbnis“ androht: 22,13–19).

HERMISSON rekonstruiert ein vierstufiges Wachstum der kleinen Sammlung: von


‚echten‘ Worten nur über Jojakim und Jojachin über eine erste dtr Redaktion, die
Worte über Joahas und Zidkija hinzufügte, einen weiteren Redaktor, dem das Thema
„Recht und Gerechtigkeit“ beim (zukünftigen) König am Herzen lag (Zufügung u. a.
von 21,11–14 und 23,5f.), bis zu einer zweiten dtr Redaktion, deren Interesse weniger
350 D. Die Hinteren Propheten

dem Königtum als dem Schicksal und der Zukunft des Volkes galt (Zufügung von
21,8–11a; 22,15; 23,1–4.7f.).
WANKE setzt die authentische Schicht etwas breiter an (21,11f.; 22,10; 22.13–19;
22,*24–30) und rechnet mit nur einer dtr Redaktion (in 22,1–5.11f.25–27.*28–30),
dafür aber mit dem Kompositor von 21–23 (in 21,13f.; 22,6f.20–23). Die „heilkün-
dende Komposition“ 23,1–8 sei in sich wieder dreistufig: 23,1–4 dtr, 23,5f. messia-
nisch, 23,7f. diaspora-orientiert.

In den Worten über die Prophetie in 23,9–39 kommt nur die Institution als ganze
in den Blick (vgl. aber die Erzählungen von Auseinandersetzungen Jeremias mit
einzelnen Propheten in 28 und 29). Die Falschpropheten „träumen“ (23,25f.) von
„Schalom“ (23,17), während ein wahrer Prophet wie Jeremia etwas von einem
Gott weiß, der sich nicht nur in der „Nähe“, sondern auch in der „Ferne“ aufhält
(23,23) und dessen Wort ist „wie Feuer“ und „wie ein Hammer, der Felsen zer-
schlägt“ (23,29).

b) Die Gebete oder Konfessionen

W. BAUMGARTNER, Die Klagegedichte des Jeremia, 1917 (BZAW 32). – A. H. J. GUNNEWEG, Konfes-
sion oder Interpretation im Jeremiabuch?: ZThK 67 (1970), 395–416. – P. WELTEN, Leiden und
Leidenserfahrung im Buch Jeremia: ZThK 74 (1977), 123–150. – N. ITTMANN, Die Konfessionen
Jeremias. Ihre Bedeutung für die Verkündigung des Propheten, 1981 (WMANT 54). – J. VERMEYLEN,
Essai de Redaktionsgeschichte des ‚Confessions de Jérémie‘, in: P.-M. Bogaert (éd.), Le livre de
Jérémie. Le prophète et son milieu, les oracles et leur transmission, 1981, 21997 (BEThL 54), 239–270.
– F. AHUIS, Der klagende Gerichtsprophet, 1982 (CThM 12). – D. H. BAK, Klagender Gott – klagende
Menschen. Studien zur Klage im Jeremiabuch, 1990 (BZAW 193). – M. S. SMITH, The Laments of
Jeremiah and their Contexts, 1990 (SBL.MS 42). – H. BEZZEL, Die Konfessionen Jeremias. Eine re-
daktionsgeschichtliche Studie, 2007 (BZAW 378). – J. KISS, Die letzte Konfession. Jer 20,7–18: ZAW
124 (2012), 369–384.

Aus der Komposition 11–20 heben sich fünf Texte heraus, die nicht eigentlich
Verkündigung, sondern Gebete sind: 11,18–12,6; 15,10–21; 17,12–18; 18,19–23;
20,7–18. Sie folgen alle einem bestimmten Aufbau, der demjenigen der „Klage-
lieder des Einzelnen“ in den Psalmen (Anrufung, Schilderung der Not, Ausdruck
des Vertrauens bzw. der Hoffnung, Bitte um Hilfe [evtl. mit Begründung], Dank
für schon erfolgte oder als sicher erwartete Hilfe) ähnlich ist.

Die Elemente und Inhalte im Einzelnen:


– Anrufung: in allen „Konfessionen“, ausgenommen die angehängte Klage 20,14–18.
– Schilderung der Not: Hinterlistige Pläne der eigenen Sippe in Anatot zwecks Unter-
bindung der Prophetie (11,18f.21); Bespitzelung des Propheten und Bedrohung seines
Lebens (18,18.20–23); Denunziation (20,10); Verfolgung (15,15); unbegreifliches
Glück der Bösen (12,1f.4); Probleme des Propheten mit dem „Wort Jhwhs“ bzw. mit
Jhwh selbst (15,16–18); Verhöhnung, weil das Wort Jhwhs ausbleibt (17,15f.); Verfüh-
rung des Propheten durch Gott, Zwang zum Ausrichten der Gerichtsbotschaft (20,7–
9); Verfluchung des Tags der eigenen Geburt (20,14–18).
– Vertrauensäußerung: Jhwh weiß und prüft alles (12,3).
III. Das Jeremiabuch 351

– Bitten, Wünsche: Gott soll den Beter an seinen Feinden rächen (11,20; 15,15; 17,18;
20,12), er soll ihnen nicht verzeihen (18,23), er soll ihn selbst heilen (17,14), ihn nicht
im Stich lassen (17,17), auf ihn Acht haben (18,19).
– Selbstrechtfertigungen (als Begründung der Bitten): Der Beter habe sich bei Gott für
den Feind eingesetzt (15,11), er habe Gott nie zum Unheil gedrängt (17,16).
– Dank für erwartete Hilfe: Der auf dem „Thron der Herrlichkeit“ wird die Abtrünni-
gen zur Rechenschaft ziehen (17,12f.), er hält zu dem Beter „wie ein Held“ (20,11.13).
– Auffälligerweise werden dem Klagenden verschiedentlich Gottesantworten zuteil:
die Zusage göttlicher Hilfe (11,22f.); die Mitteilung, dass der Beter über drohende
Gefahren von Jhwh selbst ins Bild gesetzt worden sei (11,18; 12,6); die Aufforderung,
durchzuhalten und noch Schlimmeres zu gewärtigen (12,5); ein Tadel dafür, dass der
Beter „Gemeines“ geredet hat, aber auch die bedingte Verheißung, wieder Gottes
„Mund“ sein zu dürfen (15,19); die Zusage, Gott werde den Propheten retten und zur
„festen Mauer“ machen (15,20f.).

Seit BAUMGARTNER, der die Texte erstmals isoliert hat, hielt und hält man sie für
ein kostbares Spezifikum jer Prophetie (z. B. AHUIS, ITTMANN, PARKE-TAYLOR,
W. H. SCHMIDT u. v. a.): Der Prophet gebe Einblick in sein Inneres, in seine
äußeren und inneren Nöte; er zeige sich als nicht fraglos funktionierendes
Sprachrohr Gottes, sondern als verwundbares und verwundetes, gegen mensch-
liche und göttliche Zumutungen sich zur Wehr setzendes Individuum.

ITTMANN hat die Reihenfolge der Texte, um ein logisch-biographisches Nacheinander


zu gewinnen, noch etwas umgestellt. Demnach bildeten die Klagen in Kap. 18, 11 und
12 die erste Stufe, auf der Gott den Propheten dazu bringt, sich statt auf seine Gegner
auf seinen eigenen Auftrag zu konzentrieren. In Kap. 17 wird Jeremia deutlich, dass
das Unheil, das er den Gegnern wünscht, auch ihn selbst treffen wird. Auf der dritten
Stufe, in Kap.15 und 20, rückt das Leiden des Propheten ins Zentrum: Er realisiert,
dass ihm das ganze Volk zum Feind geworden, er also ganz allein ist – und dass auch
Gott ihn im Stich zu lassen scheint („Trugbach“), womit sein eigener Gehorsam, ja
sein ganzes Leben seinen Sinn verlöre; Gott aber hält an dem Angefochtenen fest.

Die gewissermaßen autobiographische Deutung der Konfessionen wird indes


von einigen Exegeten in Frage gestellt (GUNNEWEG, WELTEN, VERMEYLEN, BAK,
BEZZEL). Die Texte stammten nicht von Jeremia selbst, sondern seien ihm von
späteren Bearbeitern in den Mund gelegt, um seine Person und sein Wirken in
einem bestimmten Sinn zu deuten. Die Misserfolge und Anfeindungen, die in so
vielen Texten des Jer-Buchs zum Ausdruck kommen, drängten dazu, diesen
Propheten als exemplarischen Leidenden neben alle anderen zu stellen, die ihr
Leid klagend vor Gott bringen. Dazu habe man vorhandene Klagelieder durch
leichte Anpassung an den prophetischen Kontext zu Klagen Jeremias gestaltet.

Besonders kompliziert ist das von BEZZEL entworfene redaktionsgeschichtliche Mo-


dell. Die Konfessionen seien erst ab 400 v. Chr. ins Jer-Buch eingefügt worden, und
zwar nicht etwa als schon vorliegende (und allenfalls in den Kontext eingepasste)
Texte, sondern als „Einschreibungstexte“, d. h. jeweils ad hoc verfasst. Das früheste
Textstadium umfasste die Abschnitte 11,18–23; 15,15.16a.17–20; 17,14–18; 18,18f.
20b–23; 20,7.8b–11. Diese Texte, die Jeremia als Typus des leidenden Propheten
352 D. Die Hinteren Propheten

zeichnen, seien die Schlusspunkte eines vielstufigen Wachstumsprozesses, den ihre


einzelnen literarischen Kontexte durchgemacht hätten. Nachdem sie also „einge-
schrieben“ waren, wurden sie – seltsamerweise nur sie und nicht auch andere Teile
des Jer-Buchs – noch durch zwei „Konfessionenredaktionen“ umgestaltet: eine kol-
lektiv-exemplarische und eine kollektiv-repräsentative; dabei oszillierte das Bild des
Propheten vom personifizierten Hiat zwischen Erwählung und Leid zum leidenden
Gerechten überhaupt und schließlich zum Repräsentanten des leidenden Gottesvolks.
Am Ende ist Jeremia das Urbild des leidenden Menschen schlechthin. Wie kompli-
ziert die dabei angenommenen Fortschreibungsvorgänge sein können, lässt sich an
der dritten Konfession zeigen. Der Grundbestand 17,14–18 sei „mehrfach nach vorne
fortgeschrieben“ worden: „zunächst in der weisheitlichen Antithese des ‚verfluchten‘
und ‚gepriesenen‘ Mannes von 17,5–8, dann im tempelfrommen Lobpreis der Wir-
Gruppe von 17,12f. Jünger als beide sind vermutlich die Glossen über die Natur des
menschlichen Herzens 17,9–10a sowie das Rebhuhngleichnis von 17,11, die ihrerseits
beide durch V. 10b unter Verwendung von 32,19 interpretiert werden“ (166).

Nun mag es Zweifelnden und Angefochtenen in nachjeremianischen Zeiten


tatsächlich eine Hilfe gewesen sein, auch einen Jeremia zweifelnd und angefoch-
ten zu sehen. Gleichwohl leuchtet kaum ein, dass sich erst diesem Wunsch Späte-
rer die „Konfessionen“ als ganze verdanken (einzelne Nachträge, wie von KISS
für 20,14–18 behauptet, seien unbestritten).

Die wichtigsten Gegengründe finden sich schon bei ITTMANN:


– In den Klageliedern der Psalmen werden gerade keine Antworten Gottes mitgeteilt,
sondern allenfalls die (dankbare) Reaktion von Betern darauf; in Jer werden die Ant-
worten mitgeteilt und zu erkennen gegeben, dass sie nicht in einfachem Zuspruch,
sondern mitunter noch in der Verschärfung des Anspruchs bestanden.
– In den Klagepsalmen lassen sich nicht wirklich konkrete Individuen ausfindig ma-
chen; zwar spricht oft ein „Ich“, doch ist es ein Rollen-Ich: der Kranke, der Verfolgte,
die Unterdrückte usw. Die Konfessionen hingegen zeigen die klaren Konturen eines
prophetischen, dem „Volk“ und damit den üblichen Betern gerade gegenüber stehen-
den Individuums, das in seinen menschlichen Erwartungen enttäuscht und in seinem
persönlichen Glauben angefochten ist und hart um seine prophetische Identität ringt.
– Die Psalmbeter zeigen – sei es demonstrativ, sei es in Konformität mit der Gattung –
ein unerschütterliches Gottvertrauen; dem Sprecher der Konfessionen aber ist dieses
abhanden gekommen, und das in einem Ausmaß, das nur noch bei Hiob, nicht aber
in den Psalmen (auch nicht in Ps 88) begegnet.
– Hinzu kommt, dass die Konfessionen festes Element in der (dtr) Komposition von
11–20 bzw. in den „stilisierten Verkündigungsszenen“ sind, die das Rückgrat dieser
Komposition bilden (THIEL, ALBERTZ). Folglich können sie nicht erst spät, gleichsam
als Summe der Leidenserfahrungen Jeremias und des jüdischen Volks, in den jetzigen
Kontext eingestellt worden sein.

Allerdings: die Absicht der (dtr) Redaktion bei der Einarbeitung der Klagen ins
Jer-Buch mag ungefähr dem entsprochen haben, was jene Exegeten vermuten:
Jeremia wird zum exemplarisch Leidenden, der neben die leidenden Juden der
(nach)exilischen Zeit tritt. Damit ist er nicht mehr der mit Scheu und Misstrauen
beäugte Unheilsprophet, sondern einer, der das Leid, das er anzukündigen hat,
schon bevor es eintritt, selbst erfährt. Die Klagen präfigurieren seine wenig später
III. Das Jeremiabuch 353

erzählte persönliche Leidensgeschichte, die erzählt, wie er das Leid seines Volks
bis zum bitteren Ende geteilt hat. Beides macht ihn zum leidenden Propheten
schlechthin: der Grund, aus dem in der Septuaginta die Threni zu „Klageliedern
Jeremias“ wurden und ihren Platz hinter dem Jer-Buch fanden.

c) Die Erzählungen

G. WANKE, Untersuchungen zur sogenannten Baruchschrift, 1971 (BZAW 122). – H. MIGSCH, Gottes
Wort über das Ende Jerusalems. Eine literar-, stil- und gattungskritische Untersuchung des Berichtes
Jeremia 34,1–7; 32,2–5; 37,3–38,28, 1981 (ÖBS 2). – A. GRAUPNER, Auftrag und Geschick des Pro-
pheten Jeremia, 1991 (BThSt 15). – H.-J. STIPP (s. oben III) Jeremia im Parteienstreit. Studien zur
Textentwicklung von Jer 26.36–43 und 45…, 1992 (BBB 82). – H. MIGSCH, Jeremias Ackerkauf. Eine
Untersuchung von Jeremia 32, 1996 (ÖBS 15). – H. M. WAHL, Die Entstehung der Schriftprophetie
nach Jer 36: ZAW 110 (1998), 365–389. – C. HARDMEIER, Schriftgebrauch und Literaturbildung im
Milieu der Jerusalemer Führungseliten in spätvorexilischer Zeit (Jeremia 36), in: I. Kottsieper u. a.
(Hg.), Berührungspunkte, FS R. Albertz 2008 (AOAT 350), 267–290. – M. AVIOZ, „I Sat Alone“.
Jeremiah among the Prophets, Piscataway, NJ 2009.

Wie im Jes-Buch (Jes 6; 8) und noch viel ausgiebiger im Ez-Buch, so finden sich
auch im Jer-Buch einige Ich-Erzählungen. Die erste berichtet von der Berufung:
Zwei Alltagswahrnehmungen – ein „erwachender“ Blütenzweig, ein „von Nor-
den“ überkochender Kessel – werden zur Vision bevorstehenden Unheils, das
anzukündigen Jeremias Auftrag sei (1,11–15). Die nächsten vier Texte schildern
Zeichenhandlungen, mit denen der Prophet das kommende Unheil vorwegzu-
nehmen hat: Er darf angesichts der bevorstehenden Katastrophe keine Familie
gründen (16,1–3), er soll am Eufrat (!) einen Gürtel verrotten lassen (13), er soll
einen neu gekauften Krug vor Zeugen zerschmettern (19 – falls hier ursprünglich
ein Ich-Bericht vorliegt), und er muss unter einem Rinderjoch – Symbol babylo-
nischer Herrschaft – durch Jerusalem laufen (27). Als nächstes folgt ein Hoff-
nungszeichen: Jeremia kauft, kurz vor dem Untergang Jerusalems, demonstrativ
einen Acker in seinem Herkunftsort Anatot (32; „in diesem Land wird man wie-
der Häuser und Äcker und Weinberge kaufen“, 32,15). Im letzten Text schließ-
lich stellt Jeremia die Rekabiter – offenbar ein erzkonservativer Verband, dessen
Mitglieder jeglichen Lebensgenuss verachten – in ihrer Treue gegen die ererbten
Sitten und Gesetze den laxen Jerusalemern als vorbildlich hin. Diese sieben Texte
sind, ungefähr in biographischer Ordnung, über das ganze Buch verteilt, und sie
weisen alle erhebliche dtr Textanteile auf bzw. sind dtr stark erweitert (s. die
THIEL-Liste oben bei 1). Das lässt darauf schließen, dass sie der dtr Redaktion als
wichtiges Element in der Ausgestaltung des (ersten) Jer-Buches dienten. Es
scheint, als hätte es eine kleine Sammlung eher knapp gehaltener Ich-Berichte
gegeben, in der symbolträchtige Aktionen und ihre Bedeutung dokumentiert
waren. Nichts spricht dagegen, dass Jeremia selbst diese Vermerke angefertigt
oder diktiert hat.
354 D. Die Hinteren Propheten

Der Ich-Bericht vom Joch-Tragen (27) ist jetzt zusammengebunden mit einem
Fremdbericht über einen Zusammenprall mit dem Propheten Hananja, der Jeremias
Joch zerbricht (28), und Nachrichten über einen Brief Jeremias, in dem er der ersten
Gola empfiehlt, sich auf längere Zeit (nicht: auf ewig!) im Exil einzurichten – was wü-
tende Reaktionen bei den Betroffenen, namentlich bei zwei Exilspropheten, auslöst,
die dafür wiederum mit persönlichen Unheilsorakeln bedacht werden (29). Der ge-
meinsame Nenner der zunächst wohl selbständigen Schrift 27–29 (erkennbar z. B. an
der vom übrigen Buch abweichenden Schreibweise der Namen Nebukadnezar, Zidkija
und Jeremia) ist „wahre und falsche Prophetie“: ein ebenso schwieriges wie brennen-
des Thema. Beim Einbau in den jetzigen Kontext wurde die kleine Schrift um ausge-
dehnte (dtr) Passagen erweitert (z. B. um die Rede in 27,5–10, nach der Jhwh seinem
„Knecht“ Nebukadnezar die Weltherrschaft übertragen habe, den indirekten Rückver-
weis in 28,9 auf das Prophetengesetz Dtn 18,22, oder die vaticinia ex eventu auf den
Untergang Jerusalems in 27,18–22 und 29,16–19).

Zu den Ich-Berichten treten ausführliche Fremd-Berichte. Sie konzentrieren sich


auf den zweiten Teil des Jer-Buchs, sind dort zunächst ebenfalls als Einzelerzäh-
lungen eingestreut, um dann aber in einen großen zusammenhängenden Erzähl-
block auszulaufen. Gemeinsamer Gegenstand ist das Tun und das Geschick des
Propheten, so dass man von einer „Biographie“ gesprochen hat – mit nur teilwei-
sem Recht, sind doch die Erzählungen dafür nicht vollständig genug und zudem
nicht immer passend angeordnet.

Im Einzelnen wird Folgendes berichtet:


20,1–6: Der Oberaufseher des Tempels lässt Jeremia – wann, bleibt unklar – körper-
lich züchtigen, was dieser mit einem persönlichen Unheilsorakel quittiert;
26: Jeremia wird (laut 26,1 im Jahr 609) aufgrund einer tempelkritischen Rede (vgl. Jer
7) vor ein königliches Gericht gestellt, kommt aber frei, weil Vertreter der Landbevöl-
kerung für ihn eintreten und auf ähnliche Reden Michas von Moreschet verweisen
(vgl. Mi 3).
28: Jeremia führt (laut 28,1 im Jahr 593) eine Auseinandersetzung mit dem Heilspro-
pheten Hananja um die Frage, ob man sich Babylon unterwerfen soll oder nicht.
36: Jeremia diktiert (laut 36,1 im Jahr 605) dem Schreiber Baruch seine bisherige Ver-
kündigung; als die Rolle vor König Jojakim verlesen wird, vernichtet dieser sie und
befiehlt – erfolglos – die Festnahme des Urhebers; Jeremia und Baruch fertigen eine
noch ausführlichere zweite Niederschrift an.
37–44: Der fortlaufende Erzählzusammenhang handelt von Jeremias Geschick vor, bei
und nach der Eroberung Jerusalems 586 v. Chr.: wie er gefangen gesetzt wurde (37;
Anlass war der in 32 berichtete Ackerkauf in Anatot), in eine Zisterne geworfen, aber
aus ihr gerettet wurde (38), wie die Babylonier Jerusalem erstürmten und ihn befreiten
(39, vgl. die Paralleldarstellungen in 2Kön 25 und Jer 52), wie sie ihm die Wahl ließen,
ins Exil zu gehen oder im Land zu bleiben, und wie er sich für das Letztere entschied,
wie aber die zaghaften Konsolidierungsversuche unter dem babylonischen Statthalter
Gedalja durch einen politischen Terroranschlag zunichte gemacht wurden (40f.), wie
die Überlebenden sich gegen Jeremias dringenden Rat zur Flucht nach Ägypten ent-
schlossen (42f.), wie sie unterwegs auch noch zur „Himmelskönigin“ abfielen (44, vgl.
schon Jer 7,18 – ein speziell für Feministinnen reizvolles Thema). Danach verlieren
sich die Spuren der Flüchtlingsgruppe und damit auch Jeremias.
III. Das Jeremiabuch 355

Der Unterschied zwischen dem großen Erzählzusammenhang 37–44 und den


vorangehenden Einzelerzählungen ist so markant, dass die Zusammengehörig-
keit der MOWINCKEL’schen „Quelle B“ öfters angefochten wurde. Es ließe sich an
ihr festhalten, dürfte man annehmen, dass ein Gesamtautor in den Einzelerzäh-
lungen älteres Gut aufgenommen, ab 37 aber frei formuliert hätte (so GRAUPNER;
die zweistufige Entstehung von Jer 36 als eigener „Tendenzerzählung“ betont
HARDMEIER, ohne auf die Frage nach der Vernetzung mit den anderen Er-Er-
zählungen einzugehen). Denkbar ist auch, dass von den dtr Redaktoren diverse
Erzählmaterialien vorgefunden und in den Gesamtentwurf des entstehenden
Buchs eingeordnet wurden. Es fällt auf, dass bei der Abfolge der Einzelerzählun-
gen von 20 bis 36 der chronologisch-biographische Gesichtspunkt nicht der
leitende ist. Offenbar sollte die Buchverbrennung in 36 als besonders symbol-
trächtig an den Schluss zu stehen kommen. Gerade in dieser Erzählung spielt
Jeremias Freund und Mitarbeiter Baruch ben Nerija eine tragende Rolle (von
dem inzwischen Siegelabdrücke gefunden wurden: „Dem Berechjahu ben Neri-
jahu, dem Schreiber“). Derselbe Baruch hat in Jer 45 ein Schlusskolophon hin-
terlassen: ein berührend persönliches, verhaltenes Heilsorakel Jeremias für ihn,
das eben damals ergangen sei, als er Jeremias Buchrolle niedergeschrieben habe
(45,1). Das sieht nach einem direkten Anschluss von 45 an 36 aus – womit der
gesamte, große Bericht 37–43(44) als eine Art Nachtrag erschiene. Da eigentlich
nichts gegen und sehr viel für die alte These spricht, dass Baruch der Verfasser
der Fremd-Berichte über Jeremia war, könnte er möglicherweise zwei kleine
Schriften mit „Erzählungen über Jeremia“ verfasst haben: die erste in Jerusalem
im Jahr 605 (mit 45 als Abschluss), die zweite bald nach 586 in Ägypten. Auch in
die zweite hätte er sich selbst eingeschrieben (43,3.6), ohne sich doch an dem
tragischen „Helden“ seiner Erzählungen vorbei in den Vordergrund zu schieben.
Das Porträt, das alle Erzählungen zusammengenommen vom Propheten Jere-
mia zeichnen, ist eindrücklich und bedrückend zugleich. Da ist ein Mann, der für
seine Überzeugungen einsteht und dafür leidet, der keine Macht hat außer sei-
nem Wort und dem Vertrauen auf seinen Gott und den man immer wieder seine
Ohnmacht spüren lässt. Diese Schilderung fügt sich erstaunlich gut zu vielen
poetischen Sprüchen (und auch zu Reden) im Jer-Buch, so dass bei aller Diffe-
renz der Textsorten und erst recht der Einzeltexte doch ein recht geschlossenes
Gesamtbild entsteht: das Bild eines schrillen Rufers und stillen Dulders, eines
ebenso unbestechlichen wie ungeliebten Warners, eines wehrlos leidenden und
dabei doch seltsam starken Propheten.

d) Die Fremdvölkerorakel

H. BARDTKE, Jeremia der Fremdvölkerprophet: ZAW 53 (1935), 209–239; 54 (1936), 240–262. – B.


HUWYLER, Jeremia und die Völker, 1997 (FAT 20). – M. KÖSZEGHY, Der Streit um Babel in den
Büchern Jesaja und Jeremia, 2007 (BWANT 173).
356 D. Die Hinteren Propheten

Obwohl die Fremdvölkerworte bei Jer-G vermutlich in der richtigen Reihenfolge


überliefert sind, halten wir uns jetzt an die Ordnung von Jer-H. Hier finden wir
Orakel gegen Ägypten, Philistäa, Moab, Ammon, Edom, Damaskus, Kedar, Elam
und Babel. In der Makrostruktur des Jer-Buchs signalisiert eine solche Samm-
lung, dass der Prophet, der Juda so unerbittlich das Gericht Jhwhs ansagte (1–
25), dies nicht tat, weil er sein Volk für besonders schlecht und andere (z. B.
Babylon!) für viel besser gehalten hätte. Nein, auch sie konnten sich dem Ge-
richtswillen Jhwhs nicht entziehen (46–51), während Juda letzten Endes der
Heilswille Jhwhs galt (29–33).
Die Frage ist, ob solche Überlegungen schon Jeremia bewegten. Ist es denkbar,
dass ein Prophet, der sich so intensiv mit Fehlentwicklungen in Juda beschäftigt
und so massiv deren Ahndung angekündigt hat, sich gleichzeitig mit den Fehlern
anderer Völker und ihrer Bestrafung befasste? Kann er speziell gegen Babylon,
das er nach vielen Textzeugnissen für den Vollstrecker des göttlichen Gerichts an
Juda hielt, zugleich auch vor Wut und Vergeltungswünschen zitternde Orakel
ausgestoßen haben (50f.)?
BARDTKE meinte diese Frage noch mit einem klaren Ja beantworten zu kön-
nen. „Jeremia muß als Fremdvölkerprophet auch wider Babel das Gericht ver-
kündigt haben“. Und seine probabylonische Haltung jedenfalls in den letzten
Jahren des Staates Juda? Nun, die nahm er erst gegen Ende seines Lebens ein.
Sämtliche Fremdvölkerworte, und so auch die gegen Babel, sind „jungjeremia-
nisch“, d. h. aus der frühesten Wirkungsepoche des Propheten zur Joschijazeit.
Mittlerweile ist man in diesem Punkt erheblich zurückhaltender. Manche halten
die gesamte Sammlung für unjeremianisch, andere gehen den Mittelweg und
suchen zwischen ‚echt‘ und ‚unecht‘ zu unterscheiden.

Nach HUWYLER sind authentisch:


– 46,3–12: Ansage einer Niederlage Ägyptens unter Necho am Eufrat, in 46,2 sehr
einleuchtend datiert auf die siegreiche Schlacht Nebukadnezars 605 v. Chr. bei
Karkemisch;
– 46,14–24: Ansage der Besetzung Ägyptens von „Norden“ her, was sich genau zu den
Gedichten vom „Feind aus dem Norden“ in 4–6 fügt, von dem nur zu erwarten ist,
dass er nicht an der Südgrenze Judas stehen bleibt;
– 47,2–6: Orakel gegen die Philister, denen mit Wasser gedroht wird, das „vom Nor-
den“ her ansteigt –geographisch eine Unmöglichkeit, als politische Metapher aber
wohlverständlich; hervorgehoben werden die Philisterstädte Gaza und Aschkelon und
als deren Verbündete Tyrus und Sidon: eine im frühen 6. Jh. durchaus plausible
Konstellation;
– 48,1–4.6–9: Orakel gegen Moab, dessen Bewohner zur Flucht aufgerufen werden;
von der auffällig umfangreichen Moab-Perikope könnte laut HUWYLER noch der Kla-
geruf 49,3–5 ‚echt‘ sein, dazu das Edom-Wort 49,7–11.14–16.22.
– 49,*23–27: Drohspruch gegen Damaskus, wobei in 49,27 regelrecht der Kehrvers
von Am 1 („Feuer gegen die Paläste“ …) zitiert wird.

In diesen Prophetien, die nur einen relativ geringen Teil des Textumfangs von
Jer 46–51 ausmachen, zeigt sich der Prophet nicht als Chauvinist, dessen Un-
III. Das Jeremiabuch 357

heilsansagen an andere Völker letztlich das Heil des eigenen im Blick haben,
sondern als Realist – wer will, könnte auch sagen: als Pessimist –, der voraussieht,
dass die politische Katastrophe, die über sein Volk hereinbrechen wird, auch
andere Völker in Mitleidenschaft zieht. Das ist anders namentlich bei den Pro-
phetien gegen Babel (50f.). Durch sie wird Jeremia, der zu seiner Zeit Babel als
Gerichtsbüttel Jhwhs sah, nachträglich eingereiht in die Front derer, die den
Untergang dieser meistgehassten Feindin Judas beschwören oder bejubeln. Nach
KÖSZEGHY stammen diese Texte – man könnte sagen: ironischerweise – von
Hananja selbst oder von mit ihm verbundenen Kreisen Jerusalem, kurz vor dem
Untergang der Stadt. Später dann wird die „Hure Babylon“ zur Chiffre für jede
gottfeindliche Macht, etwa für Rom: so jüdisch die Sibyllischen Orakel (5,158), so
christlich die Johannesoffenbarung (Apk 14,8; 17,5).

e) Das sog. Trostbüchlein

S. HERRMANN, Die prophetischen Heilserwartungen im Alten Testament, 1965 (BWANT V/5), bes.
159ff. – S. BÖHMER, Heimkehr und neuer Bund. Studien zu Jeremia 30–31, 1975 (GTA 5). – C. LEVIN,
Noch einmal: Die Anfänge des Propheten Jeremia: VT 31 (1981), 428–440. – N. LOHFINK, Der junge
Jeremia als Propagandist und Poet, in: P.-M. Bogaert (éd.), Le livre de Jérémie. Le prophète et son
milieu, les oracles et leur transmission, 1981 21997 (BEThL 54), 351–368. – C. LEVIN, Die Verheißung
des neuen Bundes in ihrem theologiegeschichtlichen Zusammenhang ausgelegt, 1985 (FRLANT 137).
– N. KILPP, Niederreißen und Aufbauen. Das Verhältnis von Heilsverheißung und Unheilsverkündi-
gung bei Jeremia und im Jeremiabuch, 1990 (BThSt 13). – G. FISCHER, Das Trostbüchlein. Text,
Komposition und Theologie von Jer 30–31, 1993 (SBB 26). – M. A. SWEENEY, Jeremiah 30–31 and
King Josiah’s Program of National Restoration and Religious Reform: ZAW 108 (1996), 569–583. – B.
BECKING, Between Fear and Freedom. Essays on the Interpretation of Jeremiah 30–31, 2004 (OTS
51). – H.-J. STIPP, Die Verfasserschaft der Trostschrift Jer 30–31: ZAW 123 (2011), 184–206.

In Jer 30–33 geht es, anders als sonst meist im Jer-Buch, um heilvolle Erwartun-
gen. Die (stark sekundär aufgefüllte) Ich-Erzählung in Kap. 32 berichtet, wie der
Prophet mitten in der Belagerungszeit mit einem Ackerkauf in Anatot ein Hoff-
nungszeichen setzte. In Kap. 33 sind einige, in Prosa gehaltene Heilsworte zu-
sammengestellt: über Jerusalem (33,1–13 H = 40,1–13 G) und die Daviddynastie
(33,14–26 H, fehlend in G); hier hat man es nach einhelliger Meinung der Exe-
gese mit spät(est)en Textzuwächsen zu tun. Es bleibt das sog. „Trostbüchlein“ in
Kap. 30f.

BECKING hat eine sorgfältige formale (und auch inhaltliche) Untersuchung dieser
„poetic composition“ vorgelegt, nach der sie sich aus einer Einleitung und zehn ur-
sprünglich selbständigen Liedern ungleicher Länge zusammensetzt. Die Grenzen seien
aufgrund der setumah- und petuchah-Setzung in antiken Handschriften und aufgrund
moderner poetologischer Einsichten so zu ziehen: 30,1–4 (Einleitung); 30,5–11;
30,12–17; 30,18–31,1; 31,2–6; 31,7–14; 31,15–22; 31,23–26; 31,27–30; 31,31–37; 31,38–
40. Jeder dieser „sub-cantos“ bestehe aus ein bis drei „canticles“ und diese wiederum
aus zwei bis vier Strophen. So erweist sich der Gesamttext als eine höchst kunstvoll
gestaltete Gedichtsammlung.
358 D. Die Hinteren Propheten

Es hat zahlreiche Versuche gegeben, in den beiden Kapiteln zwischen ‚echten‘


und ‚unechten‘ Texten zu unterscheiden.

BÖHMER erklärte 30,12–15.23f.; 31,2–6.15–20 für authentisch, LOHFINK 30,5–7.12–


15.18–21; 31,2–6.15–22, ODASHIMA 30,5–7.10f.16–21; 31,7–14.21f., KILPP 31,4f.15–
16a.18–20 – man sieht, die Vorschläge konvergieren in einigen, aber leider nicht in
allen Punkten. Eine sehr eigenwillige Sicht vertritt LEVIN. Danach hätten am Anfang
zwei ‚echte‘ Jer-Worte gestanden, 30,5f. und 31,15 – gerade Gerichts- und nicht
Heilsworte! Eine exilische „2. sg. fem.-Schicht“ brachte in den sich erweiternden Text
(30,12–17; 31,3b–5a.16.21.22a) die Wende von der Unheils- zur Heilsbotschaft, und
daran knüpften sich dann immer weitere Fortschreibungen. Demgegenüber plädiert
STIPP (vor allem in Wendung gegen K. Schmid, s. oben bei 2b) wieder für die „Echt-
heit eines Grundbestandes von Jer 30–31“, ohne diesen freilich näher festzulegen.

Gern hat man die für authentisch gehaltenen Abschnitte in 30f. der frühesten
Verkündigungsperiode Jeremias zugewiesen. Diese begann laut 1,2 im 13. Jahr
Joschijas. Nach verbreiteter (aber keineswegs gesicherter!) Ansicht strebte Jo-
schija die (Rück?-)Gewinnung des ehemaligen Nordreichs an. So meinte man die
in Jer 30f. (wie auch in 2f., s. oben 3a!) häufige Rede von „Israel“ prägnant neh-
men und auf die Exulanten und Bewohner Nordisraels beziehen zu können.
LOHFINK erklärte daraufhin den jungen Propheten zum „Propagandisten“ – eine
angesichts des späteren Jeremia befremdliche Vorstellung. Allerdings ist einzu-
räumen, dass sich Joschija gegen Assur (und das damals mit diesem verbündete
Ägypten) gewandt und damit faktisch die Sache Babylons betrieben hat; das trifft
sich in seltsamer Weise mit der Botschaft des späten Jeremia, Juda solle sich
Babylon unterwerfen und dürfe nicht auf Ägypten vertrauen.
Alle solche Spekulationen leiden allerdings unter dem Zweifel, ob die Angabe
von 1,2 korrekt ist – oder ob 627 in Wirklichkeit vielleicht das Geburtsjahr Jere-
mias war (so HOLLADAY) und sein prophetisches Wirken erst in der Regierungs-
zeit Jojakims (609–598) einsetzte (so LEVIN, SEYBOLD). Dann erübrigte es sich,
nach einer joschijanischen Phase in seiner Verkündigung Ausschau zu halten
und dieser ‚echte‘ Worte aus dem Trostbüchlein zuzuweisen.
Womöglich ist die Differenzierung in ‚echt‘ und ‚unecht‘ ohnehin obsolet –
dann nämlich, wenn BECKING damit Recht hätte, dass die von ihm eruierten
zehn Gedichte in Jer 30f. zwar je für sich entstanden sind, jedoch alle denselben
Autor haben: nicht Jeremia selbst, sondern einen künstlerisch hoch begabten,
theologisch äußerst tiefgründigen „anonymous prophet from his school“ aus der
späten Exilszeit. In der Tat ist es schmerzlich, etwa die berühmte Weissagung
vom Neuen Bund (31,31–34) durch scharfsinnige Exegese in mehrere Schichten
zerlegt zu sehen, deren eine, wenig aufschlussreich „spätalttestamentliche Erläu-
terung“ genannt, die kostbare Metapher von der „ins Herz geschriebenen Tora“
hervorgebracht haben sollte (LEVIN). Ob es da nicht besser ist, das „Trostbüch-
lein“ als kleinen, in sich stimmigen Gedichtband zu betrachten, der so, wie er
war, von einer nachexilischen Redaktion ins Jer-Buch eingesetzt wurde? Dies
führt zur abschließenden Betrachtung.
III. Das Jeremiabuch 359

4. Jeremia: Das Buch und der Prophet

Als Ertrag aus dem Bisherigen sei jetzt versucht, den Weg vom vorliegenden
(H-)Text des Jer-Buchs zurück zu seinen Anfängen und von dort zum Propheten
Jeremia zu gehen. Es werden dabei – eher im Sinne des Redaktions- als des Fort-
schreibungsmodells – drei Bearbeitungsstufen und davor eine größere Zahl von
„Quellen“ zu unterscheiden sein.

a) Die Redaktionen und die Quellen

Das (proto-)apokalyptische Jer-Buch: Diejenigen Textüberschüsse von Jer-H ge-


genüber Jer-G, die nicht als Kürzung durch G, sondern als Zuwachs in H zu
erklären sind, zeigen mitunter einen eschatologischen, um nicht zu sagen: proto-
apokalyptischen Oberton. Das gilt etwa für die dreifache Ankündigung einer
Heilswende für Völker, die in vorangegangenen Orakeln hart bedroht worden
waren (46,26; 48,27; 49,6), oder für „messianische“ Erwartungen wie die von der
Restitution des Davidhauses in 33,14–26. Die Aufspaltung von G- und H-Tradi-
tion und das Weiterwachsen der letzteren dürfte demnach erst relativ spät, ver-
mutlich in der hellenistischen Zeit, stattgefunden haben. Damals werden noch
weitere Texte entstanden sein, die eine Zeitenwende in den Blick nehmen (z. B.
3,16–18; 4,23–28; 9,24f.; 16,14f.; 17,5–13; 23,5–8; 25,27–38; 51,45f.). Vielleicht
gehören auch einige späte Passagen hierher, die betont weisheitlich geprägt und
um die Gewinnung genereller anthropologischer Lehren bemüht sind (HER-
MISSON nennt 4,22; 5,20–29; 9,11.22f.; 10,1–16; 13,23; 17,5–11, WANKE zusätzlich
8,8f.; 10,23f.; 12,1–4; 18,18). Auch wenn also bis in die spätalttestamentliche Zeit
am Jer-Buch weitergearbeitet wurde, war dessen Bestand (nicht: sein Aufbau!)
damals doch weitgehend festgelegt.

Das spät-dtr Jer-Buch: Als sich nach dem Ende der Babylonierherrschaft das
Judentum – teils noch oder wieder im Land, teils als babylonische, teils als ägyp-
tische Gola – neu formierte, wurde dasjenige Prophetenbuch, in dem sich das
Zustandekommen dieser neuen Situation am deutlichsten spiegelte und das am
ehesten zu seiner Bewältigung beitragen konnte, einer gründlichen Revision
unterzogen. Eine ganze Reihe von Gesichtspunkten war dabei zu bedenken:
– Jeremia konnte nicht nur die Katastrophe angesagt, er musste auch die Chance
auf einen Neubeginn nach ihr vorausgesehen haben; also wurden jetzt die Ge-
dichtsammlung 30f. und der Selbst-Bericht 32,6–15 aufgenommen und beides zu
dem Trostbuch 30–33 ausgebaut.
– Jeremia musste vorhergesehen haben, dass Babel sich als der schlimmste Feind
Gottes und seines Volkes erweisen würde; also wurde die (inzwischen über ihren
Ursprungsbestand hinausgewachsene) Sammlung von Fremdvölkerworten 46–
49 aufgenommen und um die Babel-Orakel 50f. erweitert (deren Konstruiertheit
u. a. daraus hervorgeht, dass 50,41–43 auf 6,22–24 und 51,15–19 auf 10,12–16
360 D. Die Hinteren Propheten

beruht; ähnlich ist auch der jetzt abschließend zugefügte historische Bericht 52
weitgehend aus Jer 39 und 2Kön 25 kombiniert).
– Jeremia war Zeuge geworden, wie die drei großen Gruppen des nachexilischen
Judentums entstanden, und hatte sich zweifellos bereits Gedanken über ihr ge-
genseitiges Verhältnis gemacht und dabei – das verrät die geistige Heimat der
Redaktion – dem babylonischen Zweig einen gewissen Vorrang eingeräumt; also
wurden die vielen Unheilsworte und -reden über Juda in 1–25 unabgemildert
übernommen und noch verstärkt (s. gleich), wurde ferner der zweite Baruch-
Bericht 37–43 (s. oben 3c) aufgenommen und gegen Schluss um einige Partien
angereichert, die das palästinische und das ägyptische Judentum eng zusammen
und miteinander in ein negatives Licht rückten (etwa 42,17–21; 43,*4f.; 44), und
wurden schließlich Texte ausgebaut oder neu geschaffen, die das babylonische
Judentum positiv darstellten (wie 21,1–10; 24,1–10; 29,10–14; 32,36–44). (Die
theologischen Implikationen dieser Kategorisierungen untersucht PLANT mit
dem Ergebnis, dass von Gott verhängtes Unheil nie grundlos trifft, sondern nur
jeweils in besonderer Weise Schuldige, während von Gott kommendes Heil ein-
zig in Gottes Gnade begründet ist.)
– Jeremia musste die Lebensgrundlage des nachexilischen Judentums – die Tora
und ihre getreuliche Befolgung als Ausdruck des nie zerstörten Bundes zwischen
Jhwh und seinem Volk – mit gelegt haben; also wurde der Prophet zum Prediger
der Tora, der seinen Zeitgenossen (und insgeheim den Lesern „seines“ Buchs)
einschärfte, dass nur Gehorsam gegen Gottes Gebot zum Leben führe, Ungehor-
sam dagegen in Leid und Unheil (5,18–20; 7,5–7; 9,11–15; *11,1–10; 17,19–27;
22,1–5; 34,13–17).
– Jeremia hatte gewiss schon die Hauptgefahr für den Fortbestand des jüdischen
Volkes erkannt: dass es sich nicht entschieden genug gegen fremde, vor allem
fremdreligiöse, Einflüsse abgrenzte (ein in der persischen Vielvölker-Ökumene
dringendes Problem, vgl. etwa DtrN im Jos-Buch oder Esr-Neh); also legte man
Jeremia eindringliche Warnungen davor in den Mund, sich auf fremde Sitten
und Kulte einzulassen und an der alleinigen Verehrung Jhwhs irgendwelche
Abstriche zu machen (7,16–20; 10,1–16; 11,9–14; 16,10–13; 18,13–17; 19,3–9;
22,8f.; 44; 46,25; 48,13; 49,1; 50,2; 51,47.52).
Viele der eben aufgeführten Themen und Motive sowie der Sprachformen, in
denen sie dargeboten werden, erinnern deutlich an die DtrN-Schicht im dtr
Geschichtswerk (vgl. nur Dtn 29,23–27; Jos 1,7–9; 23; Ri 2,1–5; 1Sam 12,14f.24f.;
1Kön 8,9f.; 9,4–7; 2Kön 17,12–19), wobei eher die skizzierte Jer-Redaktion von
DtrN abhängig ist als umgekehrt. So lässt sich dieses (zweite) dtr Jer-Buch kaum
vor die Mitte des 5. Jh.s datieren. Immerhin wurde damals bereits ein sehr großer
Teil seines Endbestandes erreicht (von Kap. 1 bis 52).

Das erste dtr Jer-Buch: In der Exilszeit – eher gegen Ende als schon um die Mitte
des 6. Jh.s – entstand das erste große Jer-Buch, das bereits den Großteil von 1–29;
34–36; 45 umfasste. (Es fehlten vor allem noch das Trostbüchlein 30–33, der
Bericht 37–44, die Völkerorakel 46–51 sowie der historische Schluss 52.) Ge-
III. Das Jeremiabuch 361

schaffen wurde dieses Buch durch eine dtr Redaktion, deren Gedankengut etwa
demjenigen von DtrH und DtrP im dtr Geschichtswerk entspricht. Von ihr
stammt der größte Teil der generell als dtr geltenden Texte im Jer-Buch. Am
deutlichsten ist ihre Handschrift im Grundbestand der Reden (MOWINCKELs
„Quelle C“) zu erkennen, doch griff sie in kleinerem Maße auch in die von ihr
aufgenommenen Quellen ein. Diese ordnete sie im Prinzip in zeitlicher Abfolge.
Die Lektüre vermittelt den Eindruck, man verfolge das Wirken Jeremias von
seiner Berufung bis zu seinem Verstummen. Neben den chronologischen beach-
tete die Redaktion aber auch literarische Gesichtspunkte. Erwähnt sei die kunst-
volle Klammer, die sie in 1,10 und 45,4 um ihr gesamtes Buch legte: In 45,4
(Quelle) erfährt Baruch von Jeremia, dass Gott das, was er gebaut habe, jetzt
niederreißen werde, in 1,10 (dtr) erhält Jeremia von Gott den Auftrag, niederzu-
reißen und wieder aufzubauen (1,10); in der leisen Perspektivverschiebung spie-
gelt sich das Eintreten der Katastrophe – und bereits die Hoffnung auf einen
möglichen Neubeginn. In 2–6; 8–10 und 21–23 konnte die Redaktion auf schon
fertige Sammlungen zurückgreifen, während sie den Abschnitt 11–20 weitgehend
selbst gestaltete; dazu schuf sie sich ein Gerüst von vier „stilisierten Verkündi-
gungsszenen“ (11,1–12,6; 14,1–15,21; 18,1–23; 19,1–20,18), die jeweils nach dem
Schema „Anlass zur Verkündigung – Gerichtsbotschaft – Verfolgung – Klage“
aufgebaut sind (THIEL, ALBERTZ; ein komplizierteres, mehrstufiges Modell ver-
tritt demgegenüber KISS); das repetitive Element gibt der Darstellung etwas
Dringliches, zeigt aber auch das Vergebliche von Jeremias Bemühen. Die Grund-
entscheidung der Redaktion, zuerst überwiegend Propheten-Worte zu Gehör zu
bringen und dann überwiegend Propheten-Erzählungen, ist von tiefer Be-
deutung: Jeremia soll als Mann des Wortes erscheinen; im Vordergrund steht
nicht seine Person, sondern seine Verkündigung. Gleichwohl muss er am Ende
mit seiner Person, mit allem, was er tut und erleidet, einstehen für das, was er im
Auftrag Gottes gesagt hat. Seine insgesamt bedrückende Botschaft wird besiegelt
durch sein bedrückendes Geschick (und wurde dann bewahrheitet durch den
Gang der Geschichte).

Das vor-dtr Quellenmaterial: Das Jer-Buch ist gekennzeichnet durch einen


authentischen Klang und ein zeitgerechtes Kolorit. Die Gedichte und Gebete,
Berichte und Orakel zeigen einen Propheten mit einem sehr bestimmten ge-
danklichen und sprachlichen Profil, der erkennbar auch seine Schüler, ja noch
seine Editoren geprägt hat. In den Fremderzählungen bilden sich nicht nur die
Konturen dieses Propheten, sondern auch die vieler Zeitgenossen und die der
Zeitgeschichte in großer Lebendigkeit und Genauigkeit ab. Dies alles war mög-
lich, weil die dtr Redaktoren nicht nur ambitionierte Autoren waren, sondern
auch gewissenhafte Traditoren. Sie schrieben nicht aus freier Hand einen Jere-
mia-Roman, sondern stützten ihre Darstellung auf Quellen ab. Dies gilt für die
beiden postulierten dtr Redaktionsstufen; beide Male gelangte eine Reihe vor-dtr
Quellen in den Text. (Vielleicht ist es nützlich, sich dabei jeweils nicht nur einen
Redaktor vorzustellen, sondern eine kleine Gruppe gebildeter und von der jere-
362 D. Die Hinteren Propheten

mianischen Theologie beeindruckter Personen, die sich womöglich auf einzelne


der „Quellen“ spezialisiert hatten.)

Die vor-redaktionellen Quellen seien hier noch einmal aufgezählt.


Ins zweite dtr Jer-Buch gelangten:
– die vermutlich von einem Schüler Jeremias stammende Gedichtsammlung 30f.;
– der zweite Baruch-Bericht 37–43;
– eine teils jeremianische, teils nachjeremianische Sammlung von Völkerorakeln in
46–49.
Selbstverständlich lag dieser Redaktion das gesamte erste dtr Jer-Buch vor.
Ins erste dtr Jer-Buch fanden Eingang:
– Sammlungen überwiegend jeremianischen, freilich hier und dort dtr und nachdtr
noch angereicherten Spruchguts (2–6; 8–10; 21–23, wohl auch in *11f.; 14f.; 18);
– eine kleine Schrift mit Gebeten Jeremias (die „Konfessionen“: 11,18–12,6; 15,10–21;
17,12–18; 18,19–23; 20,7–18);
– eine Sammlung von Ich-Berichten Jeremias (die dieser nicht persönlich aufgeschrie-
ben haben muss, sondern diktiert haben kann: die Grundbestände von 1; 13; 16; 18;
24; 25,15–29; 27; 32; 34; 35);
– die erste Erzähl-Reihe Baruchs über Jeremia (19,1–20,6; 26; 28; 36; 45).
Fraglich ist, ob und wieweit dieser Redaktion schon in der vermuteten „Urrolle“ bzw.
deren erweiterter Neufassung vorgearbeitet war.

b) Der Prophet Jeremia

Kein prophetisches Buch gibt von dem Propheten, nach dem es benannt ist, ein
lebensvolleres, farbigeres und differenzierteres Porträt als das Jer-Buch. Freilich,
lückenlos ist es nicht, und zudem haben spätere Tradenten noch daran mitge-
staltet. Was sich aus den älteren Quellen, so wie sie sich uns oben dargestellt
haben, als einigermaßen plausibel zu erkennen gibt, sei im Folgenden nachge-
zeichnet.
Laut der Buchüberschrift wurde Jeremia im Jahr 627 zum Propheten berufen
(1,2); dann wäre er wohl um die Mitte des 7. Jh.s geboren. Sollte 627 ursprüng-
lich das Geburtsjahr gewesen sein, wäre er wohl nach dem Tod Joschijas 609
v. Chr. berufen worden. Dazu würde passen, dass er sich zur joschijanischen
Reform nicht geäußert hat, während sein Wirken unter den Königen Jojakim
(609–598) und Zidkija (597–586) gut dokumentiert ist. Die letzten Nachrichten
über ihn stammen aus der Zeit kurz nach 586 (40–43). Demnach wäre er, je nach
Ansatz, etwa 60 oder nur 40 Jahre alt geworden.
In jedem Fall war Jeremia Zeitzeuge der letzten Jahrzehnte des Staates Juda
und seines Endes. Er erlebte diese Ereignisse in der Stadt Jerusalem, im Zentrum
aller Turbulenzen sozusagen. Sein Geburtsort freilich war Anatot (1,1), ein ben-
jaminitisches Dorf rund 5 km nördlich von Jerusalem. Dieser Umstand macht es
gut denkbar, dass ihm das Geschick Nordisraels am Herzen lag und er mit der
Prophetie eines Hosea vertraut war, was beides aus 2f. hervorzugehen scheint;
wenn, dann sind in diesen Kapiteln (und kaum, wie manchmal angenommen, in
III. Das Jeremiabuch 363

30f.) Reminiszenzen an seine früheste Wirksamkeit, womöglich noch in Anatot,


erhalten. Jeremias Vater, Hilkija, war von Beruf Priester. Viele hundert Jahre
früher hatte Salomo den Priester Abjatar aus Jerusalem nach Anatot verbannt; ob
es zwischen beiden Nachrichten eine historische Verbindung gibt, muss offen-
bleiben. Da das Priesteramt erblich war, dürfte Jeremia in ihm unterwiesen wor-
den sein. Doch hat er sich offenbar schon bald mit seiner Familie überworfen;
diese schätzte es nicht, dass er und wie er als Prophet wirkte (11,11). Eine eigene
Familie wollte bzw. durfte er nicht gründen, damit sie nicht Opfer der bevorste-
henden Katastrophe werde (16,1–3). Dass diese drohte, war ihm seit seiner Be-
rufung klar (1,11–16). Er konnte und sollte dieses Wissen nicht für sich behalten.
Vielleicht waren die Gedichte vom „Feind aus dem Norden“ (in 4–6) seine ersten
und poetisch bereits hochrangigen Versuche, seinen Ängsten und Besorgnissen
Ausdruck zu verleihen. Er suchte, fand und benannte Gründe, aus denen das
Unheil kommen würde: „Von den Kleinen zu den Großen: sie alle sind hinter
Gewinn her; vom Priester zum Propheten: sie alle produzieren Lüge. Sie heilen
den Zerbruch meines Volkes leichthin und sagen: Schalom, Schalom – und es ist
kein Schalom!“ (6,13.14a) Oder: „Sie alle sind Ehebrecher, eine Bande Treuloser.
Sie spannen ihre Zunge als ihren Bogen, Lüge und nicht Verlässlichkeit ‚hat‘ die
Macht im Land. Ja, von Bosheit zu Bosheit schreiten sie – und mich kennen sie
nicht, Ausspruch Jhwhs. Ein jeder hüte sich vor seinem Freund, keiner vertraue
seinem Bruder; denn jeder Bruder treibt Hinterlist, und jeder Freund ist darauf
aus zu verleumden“ (9,1b–3).
Wer derlei sagt, macht sich keine Freunde. Und wer schon den Tod sieht, „der
durch unsere Fenster steigt und in unsere Paläste eindringt, um den Säugling
auszurotten von der Gasse und die jungen Männer von den Plätzen“ (9,20), der
wird überall auf Ablehnung stoßen. Doch Jeremia scheut niemanden, auch mit
Königen geht er ins Gericht (22,10–27): Dem Despoten Jojakim kündigt er an,
kein Mensch werde um ihn trauern, dem deportierten Jojachin, er werde keine
Nachkommen haben (die er dann aber doch hatte!). Der nach Babylon ver-
schleppten Oberschicht rät er, sie solle „den Schalom der Stadt suchen“, in die
Jhwh sie verbannt habe (29,7) – ein unerhörtes Ansinnen. Alle Versuche – schon
gar militärischer Art –, das Joch Babylons abzuschütteln, erklärt Jeremia für
sinnlos und selbstmörderisch, weil dem Willen Gottes widersprechend. Ein ums
andere Mal rät er, als die Belagerer den Ring um Jerusalem geschlossen haben,
dem zaudernden Zidkija und den auf ein Wunder hoffenden Verteidigern, auf-
zugeben und sich zu unterwerfen: was für eine unheroische Haltung! (Dass man
durch sie Menschenleben retten könnte, wollen die Verantwortlichen nicht
wahrhaben.)
Ein Prophet wie Jeremia kann nicht beliebt sein. Seine „Konfessionen“ legen
Zeugnis ab von seiner Einsamkeit und Angefochtenheit, von seiner ohnmächti-
gen Wut gegen ihm übel gesinnte Menschen und sein Aufbegehren gegen einen
Gott, von dem er sich überfordert und im Stich gelassen fühlte. Gleichwohl gab
ihm die Beauftragung durch diesen Gott ein hohes Selbstbewusstsein und eine
kühne Unnachgiebigkeit; er verfügte über eine Waffe, die ihn stark machte: das
364 D. Die Hinteren Propheten

Wort Gottes, das ist „wie ein Hammer, der Felsen zerschlägt“ (23,29). Jeremia
war jedoch kein harter Mensch, eher ein zart besaiteter, und er litt unter der
Härte, die er zeigen musste, weil die Zeit und vor allem: weil Gott hart war –
damals.
Jeremia traute seinem Gott durchaus zu, dass er nicht nur und nicht immer
hart sein werde; doch was er an Aussagen über Gottes Güte und Freundlichkeit
zu bieten hat, wirkt eher zaghaft und begrenzt: Den Nordisraeliten räumt er, zu
Beginn seines Wirkens, die Chance ein, zum „gütigen“ Gott umzukehren
(3,12f.22); der ersten Gola sagt er zu, dass sie in Babylon überleben und dort
auch Jhwh „finden“ könne (29,5f.11–14a); dem Äthiopier Ebedmelech, seinem
Lebensretter, und Baruch, seinem treuen Mitstreiter, stellt er in Aussicht, sie
würden ihr „Leben als Beute davontragen“ (39,18; 45,5); den Belagerten in Jeru-
salem signalisiert er, es werde wieder eine Zeit geben, da man „Äcker kauft in
diesem Land“ (32,43). Gerade in ihrer Verhaltenheit wirken diese Hinweise auf
ein Jenseits-des-Gerichts bewegend aufrichtig und zeigen, dass dieser Prophet
nicht sozusagen von Charakter ein Schwarzseher und Defätist war (vgl. KILPP).
Jeremia erfuhr denn auch mit seiner Botschaft nicht nur Ablehnung, sondern
fand das Gehör Einsichtiger: vom einfachen Landvolk (26) bis hinauf zu höchs-
ten Kreisen in Religion und Politik (20; 36; 38). Die Babylonier sollen ihn gera-
dezu hofiert haben (40,5f.) – nicht ganz unglaubhaft bei der Annahme eines
einigermaßen funktionierenden Geheimdienstes. Jeremia aber wählte noch ein-
mal den unteren Weg, suchte den zaghaften Neuanfang im Land zu stützen
(auch dies ja ein Ausdruck von Hoffnung), doch wurde er durch eine Woge von
Gewalt und Furcht weggerissen in Richtung Ägypten: ein trauriges Ende eines
traurigen – und doch mitnichten sinnlosen Lebens.
IV. Das Ezechielbuch
Kommentare: W. EICHRODT, 1–18, 41977; 19–48, 21969 (ATD). – W. ZIMMERLI, Ezechiel 1–24, 21979;
25–48, 21979 (BK). – H. F. FUHS, 1–24, 1986; 25–48, 1988 (NEB.AT). – K. F. POHLMANN, 1–19, 1996;
20–48, 2001 (ATD). – M. GREENBERG, 1–20, 2001; 21–37, 2005 (HThK). – F. SEDLMEIER, 1–24, 2002
(NSK.AT). – P. M. JOYCE, London 2008. – J. MILGROM / D. I. BLOCK, 38–48, Eugene 2012.

Einzeluntersuchungen: H. GESE, Der Verfassungsentwurf des Ezechiel (Kap. 40–48) traditionsge-


schichtlich untersucht, 1957 (BHTh 25). – W. ZIMMERLI, Erkenntnis Gottes nach dem Buche Eze-
chiel, in: Ders., Gottes Offenbarung. Gesammelte Aufsätze, 1963 (TB 19), 41–119. – W. ZIMMERLI,
Der „neue Exodus“ in der Verkündigung der beiden großen Exilspropheten, in: Ders, ebd., 192–204.
– W. ZIMMERLI, Ezechiel. Gestalt und Botschaft, 1972 (BSt 62). – W. ZIMMERLI, Die Botschaft des
Propheten Ezechiel, in: Ders., Studien zur alttestamentlichen Theologie und Prophetie, 1974 (TB 51),
104–134. – J. GARSCHA, Studien zum Ezechielbuch. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung von
Ez 1–39, 1974 (EHS.T 23). – F.-L. HOSSFELD, Untersuchungen zu Komposition und Theologie des
Ezechielbuches, 1977, 21983 (FzB 20). – W. ZIMMERLI, Das Phänomen der Fortschreibung im Buche
Ezechiel, in: J. A. Emerton, Prophecy, FS G. Fohrer, 1980 (BZAW 150), 174–191. – B. LANG, Kein
Aufstand in Jerusalem. Die Politik des Propheten Ezechiel, 21981 (SBB 7). – B. WILLMES, Die sog.
Hirtenallegorie Ez 34, 1984 (BET 19). – R. BARTELMUS, Ez 37,1–14, die Verbformen weqatal und die
Anfänge der Auferstehungshoffnung: ZAW 97 (1985), 366–389. – E. KUTSCH, Die chronologischen
Daten des Ezechielbuches, 1985 (OBO 62). – T. KRÜGER, Geschichtskonzepte im Ezechielbuch, 1989
(BZAW 180). – S. OHNESORGE, Jahwe gestaltet sein Volk neu. Zur Sicht der Zukunft Israels nach Ez
11,14–21; 20,1–44; 36,16–38; 37,1–14.15–28, 1991 (FzB 64). – F. FECHTER, Bewältigung der Katastro-
phe. Untersuchungen zu ausgewählten Fremdvölkersprüchen im Ezechielbuch, 1992 (BZAW 208). –
K. F. POHLMANN, Ezechielstudien, 1992 (BZAW 202). – D. VIEWEGER, Die literarischen Berührungen
zwischen den Büchern Jeremia und Ezechiel, Frankfurt 1993. – F.-L. HOSSFELD, Ezechiel und die
deuteronomisch-deuteronomistische Bewegung, in: W. Groß (Hg.), Jeremia und die deuteronomisti-
sche Bewegung, 1995 (BBB 98), 271–295. – F. VAN DIJK-HEMMES, The Metaphorization of Woman in
Prophetic Speech. An Analysis of Ezekiel 23, in: A. Brenner (ed.), The Feminist Companion to the
Bible, vol. 8, Sheffield 1995, 244–255. – K. R. STEVENSON, Vision of Transformation. The Territorial
Rhetoric of Ezekiel 40–48, 1996 (SBL.Diss. 154). – W. DIETRICH, Wem das Land gehört. Ein Beitrag
zur Sozialgeschichte Israels im 6. Jahrhundert v. Chr., in: R. Kessler u. a. (Hg.), „Ihr Völker alle,
klatscht in die Hände!“, FS E. S. Gerstenberger, Münster 1997 (Exegese in unserer Zeit 3), 350–376. –
T. RENZ, The Rhetorical Function of the Book of Ezechiel, 1999 (VT.S 76). – T. RUDNIG, Heilig und
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Hirt und Herde. Ein Beitrag zum alttestamentlichen Gottesverständnis, 2001 (BWANT 155). – M.
KONKEL, Architektonik des Heiligen. Studien zur zweiten Tempelvision Ezechiels, 2001 (BBB 129). –
C. UEHLINGER / S. MÜLLER TRUFAUT, Ezekiel 1, Babylonian Cosmological Scholarship and Icono-
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Geschichte und Theologie des Jerusalemer Tempels, 2002 (QD 191), 154–179. – K. SCHÖPFLIN,
Theologie als Biographie im Ezechielbuch. Ein Beitrag zur Konzeption alttestamentlicher Prophetie,
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chiel-Zyklus von Dura Europos und die Rezeption von Ez 37 in der Apokalypse des Johannes, in: A.
Weissenrieder et al. (eds.), Picturing the New Testament. Studies in Ancient Visual Images, 2005
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Ezechiel als Menschensohn. Zur Vorgeschichte der Menschensohngestalt im Danielbuch: FS H. F.
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schichtliche Untersuchungen zu Ez 34–39, 2008 (BZAW 391). – M. SAUR, Der Tyroszyklus des
Ezechielbuches, 2008 (BZAW 386). – J. MOL, Collective and Individual Responsibility: A Description
of Corporate Personality in Ezekiel 18 and 20, 2009 (SSN 53). – K. OTT, Die prophetischen Analogie-
handlungen im Alten Testament, 2009 (BWANT 185). – B. BIBERGER, Endgültiges Heil innerhalb von
366 D. Die Hinteren Propheten

Geschichte und Gegenwart. Zukunftskonzeptionen in Ez 38–39, Joel 1–4 und Sach 12–14, 2010 (BBB
161). – D. O’HARE, „Have You Seen, Son of Man?“ A Study of the Translation and Vorlage of LXX
Ezekiel 40–48, Atlanta, GA 2010 (SBLSC 57). –W. A. TOOMAN / M. A. LYONS (eds.), Transforming
Visions. Transformations of Text, Tradition, and Theology in Ezekiel, Eugene, Ore. 2010 (Princeton
Theological Monograph Series). – D. L. PETTER, The Book of Ezekiel: Patterned after a Mesopota-
mian City Lament?, 2011 (OBO 246). – I. E. LILLY, Two Books of Ezekiel. Papyrus 967 and the
Masoretic Text as Variant Literary Editions, 2012 (VT.S 150). – T D. MAYFIELD, Literary Structure
and Setting in Ezekiel, 2012 (FAT 2.43). – I. M. C. OBINWA, „I Shall Feed Them with Good Pasture“
(Ezek 34:14). The Shepherd Motif in Ezekiel 34. Its Theological Import and Socio-political Implica-
tions, 2012 (FzB 125). – B. N. PETERSON, Ezekiel in Context. Ezekiel’s Message Understood in Its
Historical Setting of Covenant Curses and Ancient Near Eastern Mythological Motifs, Eugene, Ore.
2012. – K. M. ROCHESTER, Prophetic Ministry in Jeremiah and Ezekiel, Leuven 2012 (Contributions
to Biblical Exegesis and Theology 65). – S. GEHRIG, Leserlenkung und Grenzen der Interpretation.
Ein Beitrag zur Rezeptionsästhetik am Beispiel des Ezechielbuches, 2013 (BWANT 190).
Forschungsberichte: B. LANG, Ezechiel. Der Prophet und das Buch, 1981 (EdF 153). – U. FEIST, Eze-
chiel. Das literarische Problem des Buches forschungsgeschichtlich betrachtet, 1995 (BWANT 138). –
K. P. DARR, Ezekiel among the Critics, in: A. J. Hauser (ed.), Recent Research on the Major Prophets,
Sheffield 2008, 249–259. – R. L. KOHN, Ezekiel at the End of the Twentieth Century: ebd. 260–272. –
R. L. KOHN, Ezekiel into the Twenty-First Century: ebd. 273–277. – K.-F. POHLMANN, Ezechiel. Der
Stand der theologischen Diskussion, Darmstadt 2008.

1. Formen und Strukturen

Laut ZIMMERLI setzt sich das Ez-Buch aus fünfzig Rede- bzw. Texteinheiten ver-
schiedener Länge zusammen (wobei, wie HOSSFELD vermerkt, im vorderen
Buchteil kürzere, im hinteren längere Einheiten überwiegen). Die gesamte Text-
masse – das Ez-Buch ist das zweitlängste der Prophetenbücher! – zentriert sich
um ein großes Thema: die Bestrafung und Wiederherstellung Jerusalems und
Judas. Unverkennbar wird dabei die politische Katastrophe des 6. Jh.s verarbeitet.
Aus der Perspektive der 597 v. Chr. nach Babylon Deportierten reflektiert das
Buch das letzte Jahrzehnt des (schon arg ramponierten) Königreichs Juda, fasst
dann das Geschick der Nachbarvölker ins Auge und wendet schließlich den Blick
einer möglichen neuen Zukunft Israels zu.
Ez ist – wie PrJes, Jer-G und Zef – nach dem dreiteiligen Schema „Unheil fürs
eigene Volk – Unheil für fremde Völker – Heil fürs eigene Volk“ aufgebaut. Ganz
glatt geht freilich dieses Schema nicht auf (woran sich zeigt, dass es einem vorge-
gebenen und zuweilen sperrigen Stoff übergestreift wurde): Im Abschnitt „Un-
heil für Jerusalem“ (1–24) finden sich Heilsaussagen (11,14–21; 14,11; 16,59–63;
17,22–24; 20,32–44), im Abschnitt „Unheil für die Völker“ (25–32) anrührende
Klagen um die von Leid Betroffenen (26,15–21; 27; 28,11–19; 32,1–15.17–32), im
Abschnitt „Heil für Israel“ (33–48) auch Unheilsansagen (33,23–29; 34,1–10)
sowie der doch nicht recht ins Schema passende „Verfassungsentwurf“ (40–48).

Unter Berücksichtigung formaler Kriterien ergibt sich folgender Aufbau:

1,1–3,15 Visionsbericht Jhwhs Thronwagen; Verzehr einer Buchrolle


3,16–21 Gottesrede Einsetzung Ezechiels ins Wächteramt
IV. Das Ezechielbuch 367

3,22–5,4 Zeichenhandlungen Gefangenschaft, Belagerung, Schuld, Gefangenen-


speise, Schwert
5,5–7,27 Drohreden Untergang Jerusalems, der „Berge Israels“, Tag des
Endes
8–11 Visionsbericht Entrückung nach Jerusalem, Fremdgötterei dort,
Bestrafung der Untreuen, Weggang des kebôd
jhwh, das „Fleisch im Topf“
12 Zeichenhandlungen Loch in der Wand, zitternd essen und trinken;
Diskussion
13f. Drohreden Gegen Falschpropheten, Gerichtsansage
15–17 Bildreden Das unnütze Rebholz, das Findelkind, Adler und
Weinstock
18 Diskussion Individuelle Schuldzurechnung
19 Bildrede Klage über Untergang des Königtums
20 Diskussion Alter und neuer Exodus
21 Zeichen/Bildrede Nebukadnezar auf dem Weg nach Jerusalem
22,1–24,14 Bildreden Blutstadt Jerusalem, Ohola und Oholiba, Feuer
unterm Kessel
24,15–27 Zeichenhandlung Ezechiel und der Tod seiner Frau
25 Drohreden Gegen Ammon, Moab, Edom, die Philister
26–28 Drohreden Gegen Tyrus und Sidon
29–32 Drohreden Gegen Ägypten
33,1–9 Gottesrede Ezechiel als Wächter
33,10–23 Diskussionen Gottes Vergebung, Ansprüche der Altjudäer,
Falschprophetie
34 Drohrede Gegen die falschen Hirten
35 Drohrede Gegen die Berge Edoms
36 Verheißung Zuspruch an die Berge Israels
37,1–14 Visionsbericht Auferstehung der toten Gola
37,15–28 Zeichenhandlung Wiedervereinigung Israels und Judas
38f. Drohrede Gegen Mog von Magog
40–48 Visionsberichte Neuer Tempel und Neues Gemeinwesen

Die große Schlussvision 40–48 lässt sich so gliedern:


40–42: Visionäre Führung durchs Tempelgelände; Vermessung; ein Modell für einen
neuen Tempel
43,1–12: Rückkehr des kebôd jhwh, feierliche Ankündigung fortan ständiger Präsenz
Jhwhs
43,13–46,24: Erlass verschiedener Vorschriften betr. Altar, Klerus, Tempelgelände, Opfer,
Rechte des nāśî
47,1–12: Die Tempelquelle als wunderbar sich vermehrender Paradiesstrom, der die
Wüste Juda erblühen lässt
47,13–48,29: Neuverteilung des (Westjordan-)Landes an die zwölf Stämme
48,30–35: Die Tore des neuen Jerusalem

Der Überblick zeigt, dass das gesamte Textmaterial in relativ wenige Sprachfor-
men gebracht worden ist. Dies bewirkt eine gewisse stilistische Einförmigkeit, die
noch unterstrichen wird durch die Wiederkehr immer gleicher Formeln.
Im Einzelnen sind dies: die Wortereignisformel („Das Wort Jhwhs geschah zu
368 D. Die Hinteren Propheten

mir“), die Botenformel („So spricht Jhwh“), die Gottesspruchformel („… Spruch
des Herrn Jhwh“), die Bekräftigungsformel („… denn ich, Jhwh, habe gespro-
chen“), die Herausforderungsformel („Siehe, ich will an dich!“), die Hinwen-
dungsformel („Wende dein Antlitz gegen …“), die Erkenntnisformel („Sie sollen
erkennen …“), die Selbstvorstellungsformel („Ich bin Jhwh“). Die letzten beiden
Formeln werden oft zusammengeführt in dem von ZIMMERLI so genannten „Er-
weiswort“, das in Ez 54-mal (mit Abwandlungen ca. 80-mal) begegnet (z. B.
12,17–20; 25,6f.). Dessen beide Satzteile haben unterschiedliche Sitze im Leben:
der erste im Gerichtswesen (jd‘ als Fachausdruck für das Beweisen und Überfüh-
ren z. B. in Gen 42,34), der zweite in der Sprache und Theologie der Selbstkund-
gabe Gottes (z. B. Ex 3,6; 6,2; 20,2). In der Verbindung beider kommt zum Aus-
druck, dass im Grunde alles Geschehen Selbstkundgabe Gottes ist und dass Gott
auf die Einsicht der Menschen (Israels, der Völker, sogar der Kreatur!) in diesen
Sachverhalt drängt.
Die einzelnen Texteinheiten im Ez-Buch sind von oft großer Länge und zeigen
zuweilen eine gewisse Redundanz. Da kann überaus sorgfältig bis langfädig ar-
gumentiert werden (etwa zur Frage der kollektiven oder der individuellen
Schuldzurechnung in Ez 18, wo die Sünden und die Tugenden der Väter und der
Söhne mehrfach in immer gleichen Katalogen aufgezählt werden – was gewiss
die Einprägsamkeit erhöht und eine Folgewirkung etwa in Mt 25,31–46 hat); da
werden Vorgänge äußerst deutlich, fast quälend detailliert ausgemalt (etwa in
den Kapiteln mit Frauenmetaphorik Ez 16 und 23 – eine Herausforderung spe-
ziell für Feministinnen, vgl. VAN DIJK-HEMMES u. a.). Bei der Lektüre stellt sich
der Eindruck ein, der Geist der Prophetie habe hier eine theologisch-wissen-
schaftliche und priesterlich-pedantische Färbung angenommen. Dessen unge-
achtet behalten die Visionsschilderungen etwas Ekstatisches und die Berichte
von Zeichenhandlungen etwas Skurriles; dieser Prophet sieht Unerhörtes (etwa
die Auferstehung des toten Israel: 37,1–14), und er tut Unglaubliches (statt wie
Jeremia eine Buchrolle beschriften zu lassen, verspeist er sie: 2,8–3,3).
Die vielleicht bedeutsamste formale Eigenheit des Ez-Buches ist, dass es
durchgehend als prophetische Ich-Rede gestaltet ist. Während in anderen Pro-
phetenbüchern Ich-Berichte nur gelegentlich eingestreut sind, gibt sich das Ez-
Buch (mit Ausnahme der Verse 1,3 und 24,24) als eine einzige große Selbstmit-
teilung des Propheten. Die autobiographische Perspektive des Buches halten die
Meisten – zumindest im Kern – für authentisch, einige aber (mit besonderem
Nachdruck SCHÖPFLIN, auch KLEIN) für eine literarische Fiktion späterer
Bucheditoren. Jedenfalls will das Ez-Buch nicht so sehr Prophetenwort übermit-
teln oder über einen Propheten erzählen (wie dies bei anderen Prophetenbüchern
der Fall ist); es will vielmehr das Leben und Wirken des Exilspropheten Ezechiel
aus seiner eigenen Binnensicht wiedergeben. Dies darf indes nicht missverstan-
den werden: Nicht um das Ego des Propheten geht es, sondern um den an sei-
nem Ich und durch dieses Ich wirkenden Gott; denn „durch das ganze Buch Ez
hin [ist] die Aktivität fast ausschließlich ins Wort und Tun Jhwhs verlegt“
(ZIMMERLI, BK 36*).
IV. Das Ezechielbuch 369

Die Anordnung der Texte des Ez-Buches ist, jedenfalls der Intention nach,
chronologisch. Besonders augenfällig wird dies in dem System von Datierungen
einzelner Worte bzw. Handlungen des Propheten (grundlegend dazu KUTSCH).
Ausgangsdatum ist jeweils das Jahr 597 v. Chr. als das erste (und einzige) Regie-
rungsjahr des alsbald nach Babylon deportierten Königs Jojachin – und nicht
etwa des von da an elf Jahre in Jerusalem regierenden Zidkija; dieser zählte of-
fenbar nicht: ein deutlicher Hinweis zumindest auf den geistigen, wohl auch auf
den historischen Standort des bzw. der Verfasser.
Die Datumsangaben seien hier aufgelistet:

Stelle Jahr Monat Tag Stelle Jahr Monat Tag


[1,1 30 4 5] 29,17 27 1 1
1,2 5 4? 5 30,20 11 1 7
3,16 5 4? 12 31,1 11 3 1
8,1 6 5 5 32,1 11 12 1
20,1 7 5 10 32,17 12 1 15
24,1 9 10 10 33,21 11 10 5
26,1 11 1? 1 40,1 25 10 1

An der Reihe fällt Mehreres auf:


– In 1,1 und 1,2 wird offenbar ein und dasselbe Ereignis ins fünfte und ins drei-
ßigste Jahr datiert. Eine alte und immer noch einleuchtende Vermutung besagt,
mit „5“ sei Ezechiels Berufungsjahr (im fünften Jahr nach der Verschleppung
Jojachins), mit „30“ dagegen ausnahmsweise ein biographisches Datum gemeint:
nämlich Ezechiels Alter zum Zeitpunkt der Berufung. Wäre er damals tatsächlich
30-jährig gewesen (und das gesamte Zahlenwerk keine reine Fiktion), dann wäre
Ezechiel 623 v. Chr. geboren worden, d. h. ein Jahr vor Joschijas Reform; er wäre
14-jährig gewesen, als Joschija fiel, Joahas verschleppt wurde und Jojakim auf
den Thron kam (609 v. Chr.), 18-jährig im Jahr der Schlacht von Karkemisch, als
Nebukadnezar faktisch die Weltherrschaft errang (604 v. Chr.), und 25-jährig, als
Nebukadnezar Jerusalem belagerte, Jojachin sich ergab und die „Oberen Zehn-
tausend“ (vgl. 2Kön 24,14), darunter der junge Priester Ezechiel, nach Babylon
deportiert wurden (598/7 v. Chr.). Im fünften Jahr danach (d. h. 594 v. Chr.)
wäre Ezechiel zum Propheten berufen worden. So war es entweder biographisch-
historisch oder jedenfalls in der Vorstellung des Buches bzw. seiner Verfasser.
– Die Fremdvölkerworte sind besonders regelmäßig datiert, allerdings in sprach-
lich etwas abweichender Form. Während die Zeitangaben sonst in den jeweiligen
Berichtskontext stilistisch eingewoben sind, sind sie bei den Fremdvölkerworten
Teil einer separaten Überschrift (vgl. z. B. 8,1 mit 29,1). Zudem sollen all diese
Orakel aus dem 11./12. Jahr (Jojachins), d. h. dem Krisenjahr 587/86 stammen,
was offenbar besagen soll, dass in den Untergang Judas die ganze umgebende
Völkerwelt verstrickt war.
– Die Datumsangabe in 29,17 fällt aus dem Rahmen bzw. aus der Reihe; nach der
sonstigen Zählung wiese sie ins Jahr 571 v. Chr., was keinen rechten Sinn macht.
370 D. Die Hinteren Propheten

– Die letzte anscheinend korrekte Zahl (40,1) führt ins 25. Jahr der Verbannung;
damals wäre Ezechiel nach obiger Rechnung 50-jährig gewesen – laut HOSSFELD
das „Pensionsalter der Priester“.

2. Themen und Farben

Das Ez-Buch hebt sich aus dem Prophetenkanon durch eine ganz eigene, eben
‚typisch ezechielische‘ Prägung heraus. Anders als das Jesaja- und das Zwölfpro-
pheten-, aber vergleichbar dem Jer-Buch ist es sehr weitgehend auf die ge-
schichtlichen Umbrüche des 6. Jh.s konzentriert. Während aber das Jer-Buch
sein Augenmerk vorrangig auf das Ergehen der im Land Juda überlebenden und
weiterlebenden Judäer richtet (und am Ende noch kurz auf die ägyptische
Diaspora), widerspiegelt das Ez-Buch die Situation der nach Babylonien ver-
schlagenen Teile der judäischen Bevölkerung, der sog. Gola (vielleicht auch der
späteren Diaspora, so KLEIN). In immer neuen Anläufen wird die Frage reflek-
tiert, wie es zu der jetzigen Lage hat kommen können und wie es weitergehen
könne. So spielt im gesamten Ez-Buch die Geschichte eine wichtige Rolle (vgl. vor
allem KRÜGER).
Ins Auge stechen namentlich die breiten, allegorisierten Rückblicke auf die
Geschichte Israels und Judas in Ez 16 und 23. Hier erscheint Juda in der Rolle des
leichten bzw. käuflichen Mädchens, in Kap. 23 gleich auch noch Israel als dessen
(nicht ganz so leichtsinnige) Schwester. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten sich
wahllos Freiern hingegeben: „auf jedem hohen Hügel und unter jedem grünen
Baum“. Die „Buhlerei“ der beiden jungen Frauen meint die angebliche oder
wirkliche Anfälligkeit Israels und Judas für nichtjahwistische Religionen und
Kulte. Damit tritt das große Thema der Alleinverehrung Jhwhs ins Blickfeld. Der
israelitisch-jüdische Monotheismus erreicht in der Exilszeit – unter den Bedin-
gungen des Ausgeliefertseins an fremde Mächte und auch Religionen – seinen
klarsten Ausdruck; hier berührt sich Ez mit DtJes und der deuteronomistischen
Theologie, wie sie sich in den Vorderen Propheten und in Jer niedergeschlagen
hat. Alles Unglück der Exilszeit, so lautet es hier unisono, rührt daher, dass man
nicht „Jhwh allein“, sondern auch anderen Göttinnen und Göttern die Ehre ge-
geben hat. Jhwh wird solche „Untreue“ Judas und Israels unnachsichtig ahnden:
natürlich eine Anspielung auf die politischen Katastrophen von 722 und 587
v. Chr. Dass Ez hierzu – wie zuvor schon Hos und Jer, nur drastischer – zu einer
Frauen-Metaphorik greift, und wie er das tut, ist durchaus problematisch.
Ein anderes geschichtliches Thema, das Ez (wie DtJes) aufgreift, ist der Exo-
dus als herausragendes Faktum der israelitischen Heils- bzw. Glaubensge-
schichte. Doch in Ez 20 wird nicht einfach ein neuer Exodus (aus Babylon)
zwecks neuer Landnahme in Aussicht gestellt, sondern ein Auszug in die Wüste
zwecks Läuterung des Gottesvolks und seine Scheidung in Getreue und Unge-
treue.
Ein weiteres wichtiges Thema ist die Politik. Im Fokus steht dabei die Politik
IV. Das Ezechielbuch 371

des Königreichs Juda in den letzten Jahren seines Bestehens. Die Perspektive
dabei ist dezidiert die der Gola (während im Jer-Buch die binnenjudäische Per-
spektive im Vordergrund steht). Durch die Deportation nach Babylonien im Jahr
597 v. Chr. waren der bisherigen Oberschicht – den „Oberen Zehntausend“ von
2Kön 24,8–17 – die Hebel der Macht aus der Hand genommen. In Juda waren
die wichtigen Positionen in Politik und Gesellschaft und war offenbar auch eini-
ges vom Eigentum der Exulanten an eine neue Führungselite gefallen. Deren Tun
und Lassen verfolgte man aus dem Exil mit Argwohn und mit Argusaugen (vgl.
DIETRICH). Die neuen Machthaber nahmen nicht nur unverfroren und teilweise
mit Gewalt, was ihnen nicht zustand, sie beanspruchten obendrein den Vorrang
im Gottesvolk – wo sie in Wahrheit doch anderen Göttern frönten und sich um
Jhwhs Tora nicht scherten (Ez 7; 8; 11; 22; 24; 33,23–29). Doch die Führungsriege
um den König Zidkija – wiederholt präzise als ‘am hā-ārætz, „Volk des Landes“,
betitelt – ruinierte das Land nicht nur von innen heraus, sie lieferte es auch dem
äußeren Ruin aus, indem sie eine halsbrecherische, gegen Babylon gerichtete
Aufstands- und Bündnispolitik betrieb (Ez 12; 17; 19; 21,23–37, vgl. LANG). In
diesem Punkt trifft sich die politische Prophetie in Ez überraschend mit derjeni-
gen in Jer, die ebenfalls dezidiert gegen eine chauvinistischen Politik Stellung
nimmt (z. B. Jer 28f.; 37f.). Doch weder in der Gola noch in Juda scheint sich die
besonnene prophetische Position durchgesetzt zu haben. Chauvinistische, zum
aussichtlosen Krieg treibende Stimmen behielten hier wie dort die Oberhand.
Das erschütternde Ergebnis dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass die in
Ez (wie in Jer) vertretene Haltung gewissermaßen kanonsfähig wurde.
Eine Eigentümlichkeit des Ez-Buches ist ein starker priesterlicher Einschlag.
Dieser unterscheidet sich jedoch in Vielem von der priesterschriftlichen Litera-
tur; Theologumena wie Schöpfung, Gottebenbildlichkeit, Bund, Institutionen wie
das aaronitische bzw. das Hohepriestertum fehlen (noch). Freilich gibt es Berüh-
rungspunkte mit dem priesterlich geprägten sog. Heiligkeitsgesetz Lev 17–26
(vgl. die sakralrechtlichen Formen in Ez 14,1–11 und Lev 17; 20,1–6; die Pries-
terordnungen in Ez 44 und Lev 21f.; die Thematik von Fluch und Segen, bis hin
zu identischen Fluchbildern, in Ez 34,25–31 und Lev 26,4–13). Auffällig ist die
Präsenz eines typisch priesterlichen Themas wie das Unterscheiden zwischen
Rein und Unrein (etwa 4,9–16). Die Ausführungen über Schuld und Sühnung in
Ez 18 sind als eine Art Priester-Tora anzusprechen. Zu alledem fügt sich, dass
Ezechiel laut Ez 1,3 von Haus aus Priester war.
Zugleich aber zeigt das Ez-Buch ein dezidiert prophetisches Profil. Dieses ist in
vielfacher Hinsicht an der früheren Prophetie geschärft.
– Das Entführtwerden durch den Geist (Ez 3,12; 8,3; 37,1) erinnert an die Him-
melfahrt Elijas (2Kön 2).
– Das „Befragen“ des Propheten, d. h. das Ersuchen um ein Orakel (14,1; 33,31),
ist ein altes prophetisches Motiv (z. B. 1Sam 9,6–8; 1Kön 14,2f.; 2Kön 6,32;
22,12f.; negativ: Jes 30,2; Hos 4,12).
– Der ezechielische Berufungsbericht (Ez 1–3) liegt in der Traditionslinie der
prophetischen Visionsschilderungen 1Kön 22,19–23 und Jes 6.
372 D. Die Hinteren Propheten

– Das Jhwh-Wort aus der vierten Amos-Vision, wonach „das Ende gekommen“
sei für Israel (Am 8,2), findet Widerhall in Ez 7,2f.
– Die Ehe- und Ehebruchsmetaphorik in Ez 16 hat ihren Vorläufer in Hos 2.
– Die Bildrede Jesajas von dem „Schermesser“ Assur, mit dem an Juda eine
Ganzkörperrasur durchgeführt werden solle (Jes 7,20), setzt sich um in die Zei-
chenhandlung Ezechiels, in der er seine eigenen Haare abschert und zerhackt (Ez
5,1f.).
– Jesaja sah sich und seine „Kinder“ als „Zeichen“ zur Beglaubigung seiner Bot-
schaft (Jes 8,18), und auch auf Ezechiel und sein Ergehen wird der „Zeichen“-
Begriff angewandt (môfet in Ez 12,6.11; 24,24.27).
– Das Ausschmelzen der Schlacke aus dem Silber wird als Bild für ein Läute-
rungsgericht in Jes 1,22.25 und wieder in Ez 22,17–22 gebraucht.

Besonders eng und häufig sind Berührungen mit der Jer-Tradition (wobei immer
in Jer die gebende und in Ez die nehmende Seite zu sehen ist, vgl. VIEWEGER).
– Jeremia „verschlingt“ Jhwhs Worte (Jer 15,16), Ezechiel eine ganze Buchrolle
(Ez 3,1–3).
– Jer 23,1–6 handelt von schlechten Hirten, wie dann, viel ausführlicher, auch Ez
34.
– In Jer 3,6–13 erscheinen Israel und Juda als „Schwestern“ in der Untreue gegen
Jhwh, in Ez 23 wird dies ausgebaut.
– Die Rede vom „neuen Bund“ in Jer 31,31–34 (selbst schon nachjeremianisch!)
wird in Ez 36,26–28 weitergeführt.

Hinzu kommen spezifisch ‚ezechielische‘ Züge. Sie betreffen – abgesehen von


den sprachlichen und formalen Eigenheiten des Buches – gleichermaßen das
Propheten-, das Gottes- und das Israel-Bild.
Immer wieder wird der Prophet von Gott als „Menschensohn“ angeredet, als
wäre dies ein besonderer Titel (vgl. dazu HAAG). Da aber alle Menschen Men-
schensöhne (oder -töchter) sind, wird das Besondere im Fall Ezechiels darin zu
suchen sein, dass er als (einziger?) Vertreter der Gattung Mensch unmittelbar
vor Gott steht. Dieser betraut ihn mit dem Amt eines „Wächters“ über Israel und
macht ihn für das Wohl und Wehe seines Volkes haftbar (3,16–21; 33,1–9). Zu
dieser Metaphorik gibt es zwar Vorstufen – in Jer 6,17 heißen Propheten ganz
allgemein „Wächter“, und laut Hab 2,1 steigt Habakuk auf einen Ausguck, um
nach Zukünftigem Ausschau zu halten –, doch nirgendwo ist die Ausdrucksweise
so prägnant wie bei Ezechiel. Zahlreicher als in jedem anderen Prophetenbuch
sind bei Ezechiel die Berichte über Zeichenhandlungen. Das bedeutet: Der Ver-
kündiger ist nicht nur mit Kopf und Mund beteiligt, sondern mit Leib und Le-
ben. Die Zeichen sind mehr als Bekräftigung, sie sind Vorwegereignung des
Angekündigten. (Nach K. OTT freilich sind die „Analogiehandlungen“ lediglich
eine nonverbale Form der Verkündigung, die jedes magischen Charakters ent-
behrt.) Bis 587 v. Chr. (d. h. cum grano salis bis Ez 24) hat Ezechiel das kom-
mende Gericht anzusagen, und er tut das mit einer schneidenden, geradezu er-
IV. Das Ezechielbuch 373

schreckenden Härte. Das nahende und eintretende Leid betrifft zwar – nament-
lich in den von ihm vorgenommenen Zeichenhandlungen – unmittelbar auch
den Propheten selbst (Ez 3,25f.; 4,4–8.9–17; 24,15–24), doch anders als etwa in
Jer oder Am ist von Mit-Leid bei Ez nichts zu spüren. Es kommt, was kommen
muss; zu jammern ist da nichts!
Entsprechend streng, fast unnahbar ist das Gottesbild im Ez-Buch. Als unge-
mein souverän und majestätisch erscheint Gott. Alles, was geschieht, alles auch,
was Ez sagt und tut, ist von Gott veranlasst; von ihm wird im Sinne der Mono-
kausalität geredet, er ist der alles (auch Schlimmstes!) Verursachende. Dabei
kommt es aber zu keinen Ausmalungen im Einzelnen, keiner wirklichen An-
schaulichkeit, zu keinen theologischen oder gar mystischen Spekulationen.
Vielmehr konkretisiert sich das Gottesbild an geschichtlichen Vorgängen, die
Gott herbeiführt und durch die er sich kundgibt. Hierzu fügen sich die Sprach-
formen der Selbstvorstellung und des Erweisworts (s. oben). Schon die Beru-
fungsvision (Ez 1–3) erfüllt eine schaurig-unheimliche Atmosphäre; was der
Thronende zu tun gedenkt, bleibt weitgehend unklar. Erst in den Zeichenhand-
lungen von Ez 4f. wird andeutungsweise, in Ez 7 wird explizit deutlich, was er im
Sinn hat: Gericht wird er bringen über sein Volk. Betroffen wird vor allem Jeru-
salem sein. Seine Bewohner werden ins Exil wandern (Ez 12). Später personali-
siert sich die Bedrohung in dem zielstrebig gegen Jerusalem vorrückenden Ba-
bylonierkönig Nebukadnezar und seinem alles fressenden „Schwert“ (Ez 21).
Gottes Härte entspringt nicht etwa bloßer Willkür, sondern seiner Gerechtig-
keit. Das Ez-Buch hat ein durchweg negatives Bild Israels als eines durch und
durch unwürdigen Gottesvolkes. Nie war Israel Gott gegenüber etwas anderes als
schuldig; auch für die Frühzeit rechnet Ez (im Unterschied zu Hos 2) nicht mit
einem ungetrübten Gottesverhältnis: „Schon in Ägypten trieben sie Hurerei“ (Ez
23,3) – ein Satz, der transparent ist auf die (letztlich verhängnisvollen) Liebäuge-
leien mit Ägypten in den Jahren vor dem Untergang des Königreichs Juda. Die
politischen und militärischen Versuche, sich des babylonischen Drucks zu er-
wehren, werden nicht als ehrenwert gewertet, sondern als Untreue und Vertrags-
bruch (Ez 17). Treulosigkeit herrscht nicht nur gegen Außen, sondern auch im
Innern; Jerusalem ist eine „Blutstadt“ (Ez 22). Der Wert des „Weinstocks“
Juda/Jerusalem lässt sich nur mehr nach dem Brennwert seines Rebholzes be-
messen (Ez 15). Die Gola, die entmachtete und nach Babylon verschleppte
frühere Führungsschicht, gibt im Grund kein besseres Bild ab. Im Exil betreibt
man ebenso Götzendienst wie in der Heimat (vgl. 14,1–11 mit 8,7–18). Die Pro-
pheten, die die Leute eigentlich warnen und leiten müssten, taugen allesamt
nichts (Ez 13).
Erklärt sich so Gottes Gerichtshandeln, so fragt sich doch, woraus sich sein
Heilshandeln erklärt, von dem im Schlussteil des Buches zunehmend die Rede
ist. Sicher nicht aus den Vorzügen Israels. Eher schon aus dem Eingetroffensein
des Gerichts, was einen Neuanfang Gottes mit Israel und Israels mit Gott ermög-
licht. Noch mehr vielleicht aus der sich im hart geschlagenen Gottesvolk aus-
breitenden Zerknirschung und Entmutigung: Der große Gott kann sein armes
374 D. Die Hinteren Propheten

Volk nicht ewig leiden sehen. Letztlich aber erklärt sich sein Heilshandeln aus
seiner eigenen Wesensart: Er ist, bei aller Härte, seinem Volk treu. Er will nicht
den Untergang des Sünders, sondern dass er sich bekehre und lebe (so Ez 18).
Der Gott Israels will – auch nach diesem, zuweilen so stählern-unerbittlich wir-
kenden Prophetenbuch – aufs Leben, nicht auf den Tod hinaus (vgl. nur Ez 37).
Im Gegenzug verlangt er von seinem Volk, als Mindestes, das Eingeständnis
seiner Schuld und Schuldverfallenheit – und damit der Rechtmäßigkeit des er-
gangenen Gerichts. So präsentiert sich Ez auch als Buß- und Umkehrprediger.
Doch es bedarf noch mehr als menschlicher Buße, dass künftig und auf Dauer
wirklich Leben herrschen könne und nicht mehr der Tod. Letztlich von Gott
muss das Neue kommen. Er selbst wird den Seinen ein neues, fleischernes Herz
anstelle des früheren, steinernen einsetzen (Ez 36,22–32). Bei seinem erneuerten
Volk will er dann aufs Neue wohnen, und zwar diesmal auf Dauer, unverrückbar
(vgl. den Wiedereinzug seines kabôd in Jerusalem, Ez 43,1–12).

3. Entstehung

Bei aller inhaltlichen und formalen Geschlossenheit ist das Ez-Buch nicht aus
einem Guss.
Das zeigt sich u. a. an zwei ‚biographischen‘ Details.
– In 33,22 wird mitgeteilt, Ezechiel habe in dem Augenblick, als ein Bote den
Deportierten die Nachricht vom Fall und der Zerstörung Jerusalems über-
brachte, seine Sprache wieder gewonnen. Demnach war er irgendwann zuvor –
vermutlich als Zeichen des angsterfüllten Wartens auf die Schreckensbotschaft –
verstummt. Auf der ältesten Textebene war der Eintritt dieses körperlichen Ge-
brechens offenbar nicht eigens vermerkt. Ein späterer Bearbeiter bemerkte die
Lücke und füllte sie, indem er in 24,24–27 an den bewegenden Bericht, wonach
Ezechiel um seine verstorbene Frau – die „Lust seiner Augen“ und die „Sehn-
sucht seines Herzens“ – nicht trauern durfte, einen ganz unverkennbaren Nach-
trag anschloss: „Menschensohn, wenn alsbald Jerusalem und seine Bewohner, die
Lust eurer Augen und die Sehnsucht eurer Herzen, zugrunde gehen und ein Bote
euch das melden kommt, wirst du nicht mehr stumm sein“. Diese (nachgetra-
gene) Ankündigung erfüllt sich dann in 33,22. Nach dem jetzigen Text freilich
redet Ezechiel in der Zwischenzeit durchaus und recht wortreich: in den
Fremdvölkerorakeln – ein klares Indiz dafür, dass diese Sammlung erst auf einer
dritten Stufe an ihren jetzigen Ort gelangt sein kann.
– Laut 33,1–9 ist Ezechiel nach dem Fall Jerusalems von Jhwh zum „Wächter
Israels“ ernannt worden. Jemand, dem diese Beauftragung an dieser Stelle zu spät
kam, gestaltete in 3,16–21 (und in Konkurrenz zur großen Berufungsvision 1,1–
3,15) eine Art zweiter Berufung, die allein um das Motiv des Wächteramtes
kreist, so dass der Prophet mit diesem von Beginn seines Wirkens an beauftragt
erscheint.
Auffällig ist auch, dass die Fremdvölkerorakel (als wahrscheinlich ursprüng-
IV. Das Ezechielbuch 375

lich selbständige Sammlung) in 28,25f. durch eine Art Resümee abgeschlossen


werden und dass 39,23–29 wie ein früherer Buchabschluss wirkt, bevor die große
Schlussvision 40–48 hinzukam.
Das sukzessive Zustandekommen des Ez-Buchs stellt man sich hauptsächlich
auf zwei Weisen vor.
1. Die oft übertrieben-umständliche, offenbar immer neue Gedanken bzw.
neue Situationen und Intentionen aufnehmende Argumentationsweise in Ez
hat als erster ZIMMERLI auf eine literarische Fortschreibungstechnik zurück-
geführt. Nach dieser Vorstellung wären Kerntexte (die auf Ezechiel selbst zu-
rückgehen mögen oder nicht) von einem oder mehreren Späteren sukzessive
„fortgeschrieben“ worden, bis am Ende der Textbestand erreicht war, der jetzt
vorliegt.

Hierzu drei Beispiele:


Für das schon erwähnte Kapitel 18 über die Anrechenbarkeit von Schuld (das Zim-
merli für einheitlich hielt) postuliert POHLMANN einen „Fortschreibungsprozeß“ mit
folgenden Wachstumsstufen:
1. Der „Ursprungstext“ (18,2.*5–13) handelte von Schuld und Bestrafung bzw. Ge-
rechtigkeit und Straffreiheit von Königen (rasch assoziieren sich die Namen Joschijas
und seiner Nachfolger).
2. Die nächste Stufe (18,14–20) diskutiert breiter das Problem generationsübergrei-
fender Kollektivhaftung, bestreitet deren Unentrinnbarkeit und plädiert für eine Indi-
vidualhaftung.
3. Auf der dritten Ebene (18,21–32) wird weiter differenziert: Kaum ein Mensch ist
eindeutig und immer entweder „gerecht“ oder „ungerecht“, weshalb das Tat-Tatfolge-
Muster nicht starr, sondern flexibel zu denken ist. Jederzeit möglich und wünschens-
wert ist die „Umkehr“ in die richtige Richtung (18,32).
4. Das Ergebnis des gesamten, in Ez 18 geleisteten Reflexionsprozesses wird schließ-
lich in 18,3f. festgehalten.

Der Komplex der Tyros-Orakel in Kapitel 26–28 ist nach der Analyse SAUR’s in fünf
Schritten angewachsen (vgl. die Tabelle 78f.):
1. Am Anfang standen drei „Grundworte“ (26,2–5a.6b; 27,3bβ–9a.25b.26.28–32;
29,2aγb.7–10a).
2. Sie wurden auf zwei Stufen „zeitnah fortgeschrieben“ (um 26,1b.15–18; 27,1f.3bα;
28,1.2aβ.10b).
3. Dieser Grundbestand wurde später „mit älterem Überlieferungsmaterial vernetzt“
(noch direkt greifbar in der Handelsliste 27,12–25a und einer Qina 28,*12–18).
4. Eine „Alexander-Redaktion“ brachte die Erstürmung der Stadt ein (26,5b.8b–
12.14aγ; 27,10f.; 28,13aγ).
5. Schließlich wurde das Ganze datiert, d. h. ins Leben Ezechiels eingeordnet (26,1a).
Insgesamt schufen die an diesem Entstehungsprozess beteiligten Autoren ein „Kom-
pendium der exilisch-nachexilischen prophetischen Tyroskritik“ (312), wobei sie sich
in Kap. 26 auf die Zerstörung der Stadt konzentrierten, in Kap. 27 auf ihre Wirtschaft,
in Kap. 28 auf ihre Religion.
Für das Kapitel 34, das von schlechten und guten „Hirten“ (d. h. politischen Führern)
handelt, rechnet ZIMMERLI mit einem „Prozeß mählicher Weiterung zu seiner End-
form“ (847):
376 D. Die Hinteren Propheten

1. Ezechiel selbst habe in V. 1–15 und V. 17–22 die schlechten Hirten attackiert und
Jhwh selbst als guten Hirten Israels ausgerufen.
2. Diesen (recht umfangreichen und nicht auf den ersten Blick einheitlich wirkenden!)
Text habe noch Ezechiel selbst um V. 23f., die Verheißung eines neuen David, erwei-
tert.
3. Die umfassende Verheißung von Frieden und Wohlstand für Jhwhs ‚Herde‘ in
V. 25–30 samt dem redaktionellen Abschluss in V. 31 sei dem „Schülerkreis Ezechiels“
zuzuweisen.
Im Vergleich damit differenziert HUNZIKER-RODEWALD (163–166) viel stärker und
gelangt auf der Zeitschiene weiter hinunter. Schon in dem Passus Ez 34,2–10 seien
zwei Stufen zu unterscheiden: eine erste, die die Hirten als ausbeuterisch und Jhwh als
Retter der Herde beschreibt (V. 2b–4.9f.), und eine zweite, auf der die Hirten als
gleichgültig gegenüber der Herde erscheinen, diese sich daraufhin verläuft – eine
Spiegelung der Situation der Gola! – und nun von Jhwh wieder gesammelt werden
muss (V. 5–8). Auf das Letztere bezieht sich dann die Verheißung V. 11–15 von Jhwh
als dem Hirten, der sein Volk in die Heimat zurückführen will: eine „(Heim-
kehr-)Propaganda“ an die Adresse der Gola, laut geworden wohl Ende des 6. oder
Anfang des 5. Jh.s. In V. 17–22 sei dann erkennbar, wie viel problematischer die Rea-
lität in der Heimat ausfiel als angekündigt, woraufhin eine Scheidung innerhalb der
Herde ins Auge gefasst wird. (Über den Fortgang des Kapitels äußert sich HUNZIKER-
RODEWALD nicht, doch ist klar, dass hier noch weitere Fortschreibungsstufen hinzu-
kommen.)

2. Neben solch kleinräumiger Fortschreibungstätigkeit innerhalb einzelner Text-


einheiten gibt es im Ez-Buch aber auch Hinweise auf eine großflächig und plan-
mäßig zu Werke gehende Redaktionsarbeit. Diese muss keineswegs auf nur einer
Stufe gedacht werden; oben wurde bereits der Einbau der Fremdvölkerorakel als
offenbar tertiär angesprochen. Die Grundlinien der Bucharchitektur werden
durch das elaborierte Datierungssystem bestimmt. Offenbar dienten datierte
Einheiten als Gerüst, in das nichtdatiertes Material so eingefüllt wurde, dass sich
zeitlich und sachlich plausible Zusammenhänge ergaben. Dabei wurden Aus-
arbeitungen, die den einzelnen Texteinheiten mittlerweile zugewachsen waren –
etwa auch Heil verheißende Zusätze im ersten Buchteil – nicht wieder herausge-
trennt (bzw. konnten dies nicht mehr, da sie nicht mehr als solche erkennbar
waren). Daraus resultierten zwar Störungen des intendierten Grundaufbaus
Unheil-Heil, doch nahm man dies in Kauf: nicht zum Nachteil des Ganzen,
wurde so doch eine allzu grobe Schematik Dunkel-Hell vermieden.
Offenbar sehr bewusst wurden auch thematische Verknüpfungen vorgenom-
men, die weit entfernte Buchteile miteinander verklammern. So ist vom „Wäch-
teramt“ des Propheten in 3,16–21 und 33,1–9 die Rede; von der Stummheit des
Propheten in 3,26f. und in 33,21f.; von der Verwüstung der „Berge Israels“ in
Kap. 6, von ihrer Wiederherstellung in Kap. 36; vom Auszug der „Herrlichkeit
Jhwhs“ aus dem Jerusalemer Tempel in 10,4.18f.; 11,22f., von ihrer Wiederkehr
in 43,2–5; vom „Fleisch im Kessel“ als positiver Metapher in 11,1–11, als negati-
ver Metapher in 24,3–11; von unlauterer Prophetenbefragung in 14,1–11 und
33,30–33. Es ist, als solle der Stoff des Ez-Buches außer durch die Längsfäden des
Datierungssystems auch durch solche thematischen Querfäden zusammen-
IV. Das Ezechielbuch 377

gehalten werden. Auf solche Weise wurde dieses Prophetenbuch, obwohl er-
kennbar nicht von einer Hand, zum vielleicht geschlossensten im Propheten-
kanon.

Dies hält POHLMANN nicht davon ab, ein recht kompliziertes und über Jahrhunderte
ausgreifendes redaktionsgeschichtliches Modell zu entwerfen:
– Am Anfang der Ez-Tradition standen Untergangsklagen wie Ez *19,1–9; *19,10–14;
*31, in denen sich die Katastrophe von 587/6 spiegelt, ohne dass das tragische Gesche-
hen schon gewertet oder mit Jhwh in Verbindung gebracht wird. Solche Texte stam-
men aus dem Königshof nahestehenden Kreisen.
– Ein erstes prophetisches Ez-Buch entstand in der zweiten Hälfte des 6. Jh.s. Es
diente dem Nachweis, wie sicher Prophetenwort in Erfüllung geht. Jene Untergangs-
klagen etwa wurden zu warnenden Voraussagen. Im Aufbau folgte das Buch bereits
dem Schema Unheil-Heil. Es war völlig auf Jerusalem/Juda ausgerichtet und ist dort
wohl auch entstanden. Zu ihm gehörten – jeweils nur im Grundbestand – Passagen in
Ez 4–7; 11,1–13; 12,21ff.; 14,1–20; 17,1–18; 18; 19/31; 15,1–6; 21,1–15; 24; 36,1–15;
37,11–14.
– Im ausgehenden 5. Jh. ging eine „golaorientierte“ Redaktion ans Werk. Ihre Arbeit
ist greifbar in Ez 1,*1–3; 2,9f.; 3,*1.2f.*10–15.16–21; 6,11aβ–13aα.14; 8,*1.*3;
11,*1.*13b-21.24b.25; 14,21-23; 15,*4b-8; 17,*19-24; 24,2.21b.*25-27; 33,21–29; *37,1–
14. Erst auf dieser Ebene erhielt das Buch sein ‚babylonisches Gepräge‘: Die Depor-
tierten von 597 rückten in den Mittelpunkt, und der Prophet Ezechiel wurde zu einem
von ihnen, der sich einzig an sie wandte. Die Deportation des König Jojachin diente
als chronologischer Fixpunkt, an dem ein elaboriertes Datierungssystem festgemacht
wurde. Die Prärogative Israels wurde eindeutig der Gola zugeschrieben, nur sie hatte
eine Heilsperspektive. Den im Land Verbliebenen drohte die vollkommene Vernich-
tung, alle von ihnen erhobenen weltlichen und geistlichen Ansprüche waren null und
nichtig.
– Das golaorientierte Ez-Buch erfuhr bis ins 4. Jh. noch mancherlei „diasporaorien-
tierte Fortschreibungen“.
– Das nächste formative Bearbeitungstadium zeigt bereits „apokalyptisierende Ten-
denzen“, wird also ins 3. (und womöglich 2.) Jh. zu datieren sein. Hierhin gehören
etwa Abschnitte in Ez 1–3 und 8–11, „die die Einsichtnahme in die Sphäre göttlichen
Hintergrundwirkens ausgeweitet haben“ (ATD 34), oder die geheimnisvoll-düstere
Schilderung des Endzeitkampfes gegen Gog von Magog (Ez 38f.).
– Weitere, zeitlich kaum fassbare Phasen des Buchwachstums betreffen die Einfügung
der Fremdvölkerworte (Ez 25–32) und die Anfügung der großen Schlussvision (Ez
40–48).

Eine ähnliche „fortschreibungsgeschichtliche“ Arbeit hat, unter Konzentration auf die


Heilstexte in Ez 34–39, KLEIN vorgelegt. Ihrer Meinung nach liegen diesem Textkom-
plex keine mündlich verkündeten Prophetenworte zugrunde, sondern handelt es sich
um von vornherein schriftliche Prophetie. Es lassen sich angeblich sieben Erweite-
rungsstufen unterscheiden, die überwiegend einem späten Abschnitt der alttesta-
mentlichen Literaturgeschichte angehören und sich bereits dem Danielbuch und der
jüdischen Apokalyptik nähern. Den gesamten Prozess charakterisiert eine ständige
Bezugnahme auf ältere, namentlich prophetische, Literatur, so dass das Ez-Buch als in
hohem Maße „schriftgelehrt“ zu bezeichnen ist und etwas wie „Kompendiencharak-
ter“ besitzt. Schon in der „Grundschicht“ (v.a. *36,1–11 und *37,1–6) und ihren ersten
378 D. Die Hinteren Propheten

Erweiterungen (u. a. *34,1–10; *35,1–12; *37,11–19) werden klassische Topoi prophe-


tischer Heilserwartung aufgenommen und weitergeführt: die Restitution des Landes
und die Heimführung der babylonischen Gola. Dies geschieht in einer stark bildhaften
Sprache (Schafe, Totengebein usw.), was Spätere zu Ausdeutung und Ausführung
reizt. Es treten mit der Zeit weitere, schon aus älterer Literatur bekannte Themen
hinzu wie die Sammlung der weltweiten Diaspora, die Rolle der Völkerwelt, der „neue
Bund“ und der kommende davidische Herrscher. Immer mehr häufen sich wörtliche
„Schriftzitate“, was zeigt, dass die prophetische Offenbarung für im Grunde abge-
schlossen gehalten wird; es gilt sie nur mehr auszulegen und zu aktualisieren. Damit
ist man auf dem Weg zur jüdischen Midraschexegese.

Die inhaltliche und auch formale Kohärenz des Ez-Buchs einerseits und die in
ihm zu vernehmende Vielstimmigkeit andererseits legen den Schluss nahe, dass
es in der Gola und dann in Juda eine Gruppierung von Menschen gegeben hat –
ZIMMERLI spricht von einer „Ezechielschule“, andere denken mehr an schriftge-
lehrte Kreise –, die sich intensiv und anhaltend mit dem ‚ezechielischen‘ Gedan-
ken- und Traditionsgut befasst haben und denen dieses Prophetenbuch sein
spezifisches Gepräge verdankt.

4. Verfassung des Gottesvolks (Ez 40–48)

Die neun Schlusskapitel des Buches geben sich als eine einzige große Vision.
Doch finden sich eigentlich visionäre Textpassagen vor allem am Anfang des
Ganzen (namentlich in Ez *40–43). Dazwischen schon und gehäuft danach be-
gegnen ganz andersartige Texte: Anweisungen zu einem Altarbau (43,13–27),
Priester- und Opferordnungen (44,6–31), Anordnungen über Opfer und Feste
(45,9–25), Regelungen hinsichtlich des „Fürsten“ (hebr. nāśî’: 46,1–18), die Um-
schreibung und Zuteilung des gesamten Landes (45,1–8; 47,13–48,29) und die
Schilderung einer neuen Stadt mit zwölf Toren (48,30–35). Wie ist dieses Text-
konglomerat zustande gekommen?
ZIMMERLI (und vor ihm ähnlich schon GESE) meinten, drei Entstehungsstufen
unterscheiden und diese alle im 6. Jahrhundert unterbringen zu können.

Eine Grundschicht liegt in den eigentlich visionären Teilen vor. Der Prophet sieht sich
in die Heimat entrückt und zum Zeugen eines symbolträchtigen Vorgangs werden:
Ein „Bronzener“ vermisst vor seinen (inneren) Augen ein großes, ummauertes Ge-
bäude mit mehreren Vor- und Außenhöfen: offenbar ein Heiligtum (40,1–37.47–49;
41,1–4) – wobei auffälligerweise viele Längen- und Breitenmaße, kaum aber Höhen-
maße genannt werden, so dass der Eindruck einer Planskizze entsteht, die anschaulich
und zugleich unanschaulich vor den Lesenden ausgebreitet wird. Bald – wohl noch
durch den Propheten selbst – kamen Maßangaben zu dem Gesamtgelände hinzu
(41,5–15a; 42,15–20). Das Ganze zielt auf die Rückkehr des kebôd jhwh an das Jerusa-
lemer Heiligtum (43,1–11) und auf das wunderhafte Aufbrechen heilender Quellen in
dessen Bereich (47,1–12). Eine nächste Textschicht handelt von dem nāśî’ und seinem
Volk (44,3; 45,21–46,12; auch 48,1–29), eine weitere, noch jüngere vom Verhältnis
zwischen Priestern und Leviten (*44). Wie lassen sich die Schichten zeitlich einord-
IV. Das Ezechielbuch 379

nen? Zur ersten gehört die in 40,1 gegebene Datierung ins 25. Jahr der Wegführung
Jojachins und ins 14. Jahr der Eroberung Jerusalems, d. h. auf 573 v. Chr.; dies könnte
eine authentische Angabe Ezechiels selbst sein. Für die zweite Schicht gibt die Tatsa-
che einen Datierungshinweis, dass Scheschbazzar, ein um 538 v. Chr. vom Perserkö-
nig Kyros nach Jerusalem entsandter Davidide, laut Esr 1,8 den Titel nāśî’ getragen
hat. Die dritte Schicht schließlich weiß noch nichts von einem Hohenpriester, wie er
am Zweiten Tempel (eingeweiht 515 v. Chr.) immer geamtet hat (vgl. z. B. Lev 21,10;
Sach 3).

Auch KONKEL rechnet mit drei Wachstumsstufen, von denen er freilich nur die
erste in die exilische, die zweite aber in die frühnachexilische und die dritte in die
spätnachexilische Zeit ansetzt.

– Die Grundschicht entwirft in Ez *40,1–43,10 den Plan eines Tempels, der mit einem
Palast, also mit weltlicher Herrschaft, dezidiert nichts zu tun hat. Strikt wird das Hei-
lige von allem Profanen geschieden.
– Eine erste Fortschreibung, die Ez 44,1–3; 46,1–3.8–10.12; *47,1–48,29 umfasst und
unmittelbar nach der Einnahme Babylons durch Kyros (538 v. Chr.) erfolgt ist, weist
dem nāśî’ und seinem Volk einen festen Platz im Kult zu. Auch nimmt sie das Land –
nicht nur Judas, sondern ganz Israels! – und dessen Neuverteilung unter die Stämme
in den Blick, wobei freilich eine Tempeldomäne ausgespart wird.
– Eine zweite Fortschreibung fordert in Ez 40,38–43.46b; 42,1–14; *44–46; 48,11f. die
Fernhaltung Fremder vom Temenos, beschreibt den dort zu betreibenden Kult, defi-
niert die Rechte der für ihn Verantwortlichen und stellt einen Festkalender auf. Diese
Schicht setzt bereits die priester(schrift)liche Literatur voraus.

RUDNIG nimmt einen wesentlich komplizierteren, vom frühen 5. bis ins frühe 3.
Jahrhundert andauernden Wachstumsprozess an.

– Den Grundstock habe in der ersten Hälfte des 5. Jh.s die (POHLMANN’sche, s. oben
Abschnitt 2) Golaredaktion gelegt, und zwar mit Ez 40,1.*2b.*4.17.28aα; *40,47b–41,4;
*41,15b–20a; 43,6a.7a; 44,5aα; 45,17a.21a.22–25; 46,4–7; 47,1.*8.9aβbβ.12a; *47,13aβ.
*15b–20; 48,35b. Hier gleiche der geplante Tempel noch sehr dem salomonischen,
und der nāśî’ sei ein Davidide aus der Linie Jojachins; eine Liste von Grenzpunkten
(*47,13ff.) wehre Landansprüche der Altjudäer ab.
– In der zweiten Hälfte des 5. Jh.s habe eine „diasporaorientierte Fortschreibung“ den
Sonderstatus der (ersten) Gola bestritten und deren nāśî’-Ideal hinterfragt; dies ge-
schehe in Ez *43,7b–9; *44,6f.; 45,8b.9; 46,16–18; 47,13ab*γ.14.15a.21; 48,1–8aα.23b–
29 (wie auch in verwandten Texten des übrigen Ez-Buches).
– Ab dem frühen 4. Jh. hätten auf mehreren Stufen priesterlich-zadokidische Kreise
ihre eigenen Ansprüche gegen die Gola, den nāśî’ und die Leviten angemeldet, und
zwar in *40,6–16.*18–27.*28aβ–37.*47a; 41,*5–15a.26; 43,1–12.*13.*20; 43,*7b.8a;
44,*6–16; 45,*1–8a; 48,*8aβ–23a (wobei diese Ansprüche in Fortschreibungen immer
höher geschraubt worden seien).
– Danach sei ein „sühnetheologisches Beziehungsgeflecht“ in die Texte eingeflochten
worden, nämlich in Ez 43,13–17.*18–24; 45,15b.16.17b–20a; 46,19–24.
– Letzte größere Eingriffe seien um die Wende vom 4. zum 3. Jh. in 43,10–12; 44,*1–5
erfolgt. Erst jetzt sei der „Bronzene“ der geworden, der anstelle Jhwhs den Visionär
380 D. Die Hinteren Propheten

führt, und sei es der kebôd jhwh, der in den Tempel einziehe (40,3f.; 42,*15–20;
43,*1f.4.5b.6b; 47,*3–7).
Die Bemerkung sei erlaubt, dass der Plausibilitätsgrad einer literarkritischen Hypo-
these mit dem Grad der von ihr vorausgesetzten bzw. bewirkten Textatomisierung
eher sinkt als steigt.

Vielleicht lässt sich aufgrund der neueren und neuesten Forschung Folgendes
festhalten: Die früheste Textstufe in dem „Verfassungsentwurf“ Ez 40–48 liegt in
den visionären Bestandteilen zu dessen Beginn vor. Allenfalls sie könnten dem
Zweiten Tempel, seinem Priestertum und seinem Kultbetrieb voraus liegen. Auf
den späteren Textstufen aber verschafft sich die Realität dieses Tempelkults
nachdrücklich Geltung. Der nāśî’ stellt den Versuch dar, eine politische Führung
zu denken, die sich einem auf Gott ausgerichteten und um den Tempel zentrier-
ten Gemeinwesen harmonisch einfügt.

5. Der Prophet Ezechiel

Hier hängt alles davon ab, ob man die autobiographischen Angaben im Buch,
namentlich die Datierungen, für fiktional (SCHÖPFLIN, KLEIN) und/oder redak-
tionell (POHLMANN, RUDNIG) – oder aber für im Prinzip authentisch hält. Die
nachfolgende Skizze steht insofern unter einem Vorbehalt: Entweder zeichnet sie
ein nur literarisch entworfenes – oder aber das Bild eines Propheten, den es tat-
sächlich gegeben hat und der eine spezifische Botschaft für die Exulanten in
Babylon hatte.
Dieser Ezechiel war von Haus aus Priester und wurde, zusammen mit den
sprichwörtlichen „Oberen Zehntausend“, im Jahr 597 v. Chr. von Jerusalem nach
Babylon verschleppt. Die Situation der Gola wird im Ez-Buch recht gut erkenn-
bar: Sie ist zwar von der Heimat getrennt, hat aber Kontakt zu ihr. Sie lebt nicht
zerstreut über das babylonische Reich, sondern in Babylon sowie in Tel Aviv,
nahe der Stadt Nippur, zusammen. Sie genießt Versammlungs- und Redefreiheit;
materielle Not scheint kein vorrangiges Problem zu sein. Gleichwohl machen
sich Verunsicherung und Resignation breit, im Wechsel mit heißblütiger Hoff-
nung auf eine Schicksalswende, woraus wiederum Sorgen um das Ergehen des
Reststaates Juda und der Stadt Jerusalem erwachsen, wo ja Verwandte, Freunde,
Bekannte leben. Es herrscht ein starkes Misstrauen, ja eine unverkennbare Feind-
seligkeit gegen die neue Führungsschicht in Jerusalem.
Den Angaben des Buchs zufolge wurde Ezechiel als 30-jähriger, im Jahr 593
v. Chr., zum Propheten berufen und wirkte von da an vielleicht 25 Jahre. Mehr-
fach wird berichtet, wie er in seinem Haus (!) sitzt, die Ältesten der Exils-
gemeinde um sich versammelt, und wie man von ihm eine Weisung Jhwhs
erwartet. Zuweilen hat er offenbar durch auffälliges Gebaren (Zeichenhand-
lungen, „Straßentheater“) Leute angelockt. Seine Person indes – die Herkunft,
das Auskommen, die geographischen, familiären, gesellschaftlichen Rahmen-
IV. Das Ezechielbuch 381

bedingungen seines Wirkens – bleibt im Hintergrund. Er schildert sich als im


Zwiegespräch mit seinem Gott, immer wieder auch als von diesem einer Vision
gewürdigt, und er gibt von diesen inneren Erlebnissen in Worten und Zeichen
Kunde. Wichtig ist allein die Botschaft, nicht der Bote.
Manche meinten – namentlich wegen der z. T. skurrilen Zeichenhandlungen
– an Ezechiel psychische Deformationen diagnostizieren zu sollen. Doch das ist
gänzlich unsicher und geht wohl zu weit. In der Tat aber erscheint dieser Mann
als hochsensibel, von seinen Erfahrungen und Einsichten bis ins Innerste auf-
gewühlt; wiederholt verfällt er in tranceartige Zustände. Er hört den Befehl, sein
Brot „mit Beben“ und sein Wasser „mit Zittern“ zu sich zu nehmen. Er erstarrt
beim Tod seiner Frau usw. ZIMMERLI spricht von einer „autodramatischen“ Fä-
higkeit, wenn Ezechiel etwa Bildworte in persönlich-physisches Erleben umsetzt
(z. B. das ‚Verschlingen‘ einer Buchrolle, wo Jeremia ‚nur‘ Gottesworte ver-
schlungen hatte).
Nach wenigen Jahren prophetischer Tätigkeit war Ezechiel konfrontiert mit
der einschneidenden Erfahrung des Untergangs der geliebten – und zugleich
doch aus dem Exil so scharf kritisierten – Heimatstadt Jerusalem. Für ihn fiel die
nationale Katastrophe zusammen mit einer persönlichen: dem jähen Tod seiner
Frau, der ihm zum Zeichen wurde für das große Sterben in der Heimat. Das
traumatische Geschehen löste in ihm physisch-psychische Störungen, ja Zerstö-
rungen aus. Wenn die angegeben Daten zutreffen, war er damals rund 35-jährig.
Es folgte eine Phase langsamen Wieder-Mutfassens: für Ezechiel selbst, im
Blick aber auch auf das Schicksal der Gola und auf dasjenige Judas. Dem Pro-
pheten stellen sich Hoffnungsbilder ein, etwa das höchst eindrückliche von der
Wiederbelebung des toten Israel (Ez 37). Womöglich hatte er auch eine Vision
von einem neuen Tempel; nach Ez 40,1 wäre dies im Jahr 573 v. Chr. gewesen.
Laut 2Kön 25,27–30 wurde der gefangene König Jojachin im Jahr 562 begnadigt,
ab 550 ging der Stern des Perserkönigs Kyros auf, 539 fiel Babylon an ihn, ab
dann durften jüdische Exulanten in die Heimat zurückkehren, und 520 wurde
der Grundstein des Zweiten Tempels gelegt. Ezechiel hätte 100-jährig werden
müssen, um das alles zu erleben.
V. Das Zwölfprophetenbuch
Kommentarreihen: J. WELLHAUSEN, 1892, 41963 (Hos–Mal). – E. SELLIN, 1922, 2.31929/30 (KAT: Hos–
Mal). – T. H. ROBINSON / F. HORST, 1936, 31964 (HAT: Hos–Mal). – A. WEISER / K. ELLIGER, 1949,
6
1975/71975 (ATD: Hos–Mal). – A. PETER, 1970 (GSL.AT: Zef, Nah, Hab). – R. VON UNGERN-
STERNBERG, 1960 (BAT: Hab, Zef, Jona, Nah). – W. RUDOLPH, 1966–1976 (KAT, 4 Bde: Hos–Mal). –
H. W. WOLFF, 1963–1985 (BK: Hos, Joel/Am, Ob/Jona, Mi, Hag). – R. L. SMITH, 1984 (WBC: Mi–
Mal). – C. L. MEYERS / E. M. MEYERS, 1984 (AncB: Hag, PrSach). – D. L. PETERSEN, 1984 (OTL: Hag,
Sach, Mal). – A. DEISSLER, 1981–1988 (NEB, 3 Bde: Hos–Mal). – D. STUART, 1987 (WBC: Hos–Jona).
– O. P. ROBERTSON, 1990 (NICOT: Nah, Hab, Zef). – O. WAHL, 1990 (GSL.AT: Mi, Ob, Hag). – K.
SEYBOLD, 1991 (ZBK: Nah, Hab, Zef). – J. J. ROBERTS, 1991 (OTL: Nah, Hab, Zef). – R. MASON, 1991
(OTG: Mi, Nah, Ob); 1994 (OTG: Zef, Hab, Joel). – H. Graf REVENTLOW, 1993 (ATD: Hag, Sach,
Mal). – E. H. MERRILL, 1994 (Exegetical Commentary: Hag, Sach, Mal). –P. REDDITT, 1995 (NCB:
Hag, Sach, Mal). – J. JEREMIAS, 1983; 1995; 2007 (ATD: Hos, Am, Joel/Ob/Jona/Mi). – E.
ACHTEMEIER, 1996 (New International Biblical Commentary: Hos–Mal). – M. A. SWEENEY, 2000
(Berit Olam: Hos–Mal). – J. BARTON, 2001 (OTL: Joël, Ob). – L. PERLITT, 2004 (ATD: Nah, Hab, Zef).
– I. WILLI-PLEIN, 2007 (ZBK: Hag, Sach, Mal). – P. P. JENSON, 2008 (LHBOTS: Ob, Jon, Mi). – J.
GOLDINGAY / P. S. SCALISE, 2009 (NICOT: Nah–Mal). – R. COGGINS / J. H. HAN, 2011 (Blackwell
Bible Commentaries: Nah–Mal). – J. D. NOGALSKI, 2011 (Smyth & Helwys Bible Commentary: Hos–
Jona, Mi–Mal).

Einzeluntersuchungen: B. DUHM, Anmerkungen zu den Zwölf Propheten: ZAW 31 (1911) 1–43.81–


110.161–204. – R. E. WOLFE, The Editing of the Book of the Twelve: ZAW 53 (1935), 90–130. – U.
CASSUTO, The Sequence and Arrangement of the Biblical Sections (1947 =): Biblical and Oriental
Studies, Jerusalem 1973. – P. WEIMAR, Obadja. Eine redaktionskritische Analyse: BN 27 (1985), 35–
99. – E. BOSSHARD, Beobachtungen zum Zwölfprophetenbuch: BN 40 (1987), 30–62. – P. R. HOUSE,
The Unity of the Twelve, 1990 (JSOT.S 77). – E. BOSSHARD / R. G. KRATZ, Maleachi im Zwölfpro-
phetenbuch: BN 52 (1990), 27–46. – O. H. STECK, Der Abschluß der Prophetie im Alten Testament.
Ein Versuch zur Frage der Vorgeschichte des Kanons, 1991 (BThSt 17). – L. BAUER, Zeit des zweiten
Tempels – Zeit der Gerechtigkeit. Zur sozio-ökonomischen Konzeption im Haggai-Sacharja-Ma-
leachi-Korpus, 1992 (BEATAJ 31). – J. NOGALSKI, Literary Precursors to the Book of the Twelve,
1993 (BZAW 217). – J. NOGALSKI, Redactional Processes in the Book of the Twelve, 1993 (BZAW
218). – B. A. JONES, The Formation of the Book of the Twelve. A Study in Text and Canon, 1995
(SBL.DS 149). – J. JEREMIAS, Die Anfänge des Dodekapropheton: Hosea und Amos: VT.S 61 (1992),
87–106 = Ders., Hosea und Amos, 1996 (FAT 13), 34–54. – A. SCHART, Die Entstehung des Zwölf-
prophetenbuchs. Neubearbeitungen von Amos im Rahmen schriftenübergreifender Redaktionspro-
zesse, 1998 (BZAW 260). – J. D. NOGALSKI / M. A. SWEENEY (eds.), Reading and Hearing the Twelve,
Atlanta 2000. – P. L. REDDITT / A. SCHART (eds.), Thematic Threads in the Book of the Twelve, 2003
(BZAW 325). – E. ZENGER, „Wort JHWHs, das geschah …“ (Hos 1,1). Studien zum Zwölfpropheten-
buch, 2003 (HBS 35). – M. BECK, Der „Tag YHWHs“ im Dodekapropheton. Studien im Spannungs-
feld von Traditions- und Redaktionsgeschichte, 2005 (BZAW 356). – M. LEUENBERGER, Herrschafts-
verheißungen im Zwölfprophetenbuch, in: K. Schmid (Hg.), Prophetische Heils- und Herrscher-
erwartungen, 2005 (SBS 194), 75–111. – M. ROTH, Israel und die Völker im Zwölfprophetenbuch.
Eine Untersuchung zu den Büchern Joel, Jona, Micha und Nahum, 2005 (FRLANT 210). – J.
GÄRTNER, Jesaja 66 und Sacharja 14 als Summe der Prophetie. Eine traditions- und redaktionsge-
schichtliche Untersuchung zum Abschluss des Jesaja- und des Zwölfprophetenbuches, 2006
(WMANT 114). – M. BECK, Das Dodekapropheton als Anthologie: ZAW 118 (2006), 558–581. – R.
KESSLER, Nahum-Habakuk als Zweiprophetenschrift. Eine Skizze, in: Ders., Gotteserdung. Beiträge
zur Hermeneutik und Exegese der Hebräischen Bibel, 2006 (BWANT 170), 137–145. – P.-G.
SCHWESIG, Die Rolle der Tag-JHWHs-Dichtungen im Dodekapropheton, 2006 (BZAW 366). – J.
WÖHRLE, Die frühen Sammlungen des Zwölfprophetenbuches, 2006 (BZAW 360). – A. SCHART, Das
Zwölfprophetenbuch als redaktionelle Großeinheit: ThLZ 133 (2008), 227–246. – M. B. SHEPHERD,
Compositional Analysis of the Twelve: ZAW 120 (2008), 184–193. – J. WÖHRLE, Der Abschluss des
Zwölfprophetenbuches, 2008 (BZAW 389). – J. WÖHRLE, „No Future for the Proud Exultant Ones“.
V. Das Zwölfprophetenbuch 383

The Exilic Book of the Four Prophets (Hos., Am., Mic., Zeph.) as a Concept Opposed to the Deutero-
nomistic History: VT 58 (2008), 608–627. – E. BEN ZVI / J. D. NOGALSKI, Two Sides of a Coin. Juxta-
posing Views on Interpreting the Book of the Twelve/the Twelve Prophetic Books, Piscataway, N.J.
2009 (Analecta Gorgiana 201). – B. BIBERGER, Endgültiges Heil innerhalb von Geschichte und Ge-
genwart. Zukunftskonzeptionen in Ez 38–39, Joel 1–4 und Sach 12–14, 2010 (BBB 161). – B.
BIBERGER, Umkehr als Leitthema im Zwölfprophetenbuch: ZAW 123 (2011), 565–579. – A. C.
HAGEDORN, Die Anderen im Spiegel. Israels Auseinandersetzung mit den Völkern in den Büchern
Nahum, Zefanja, Obadja und Joel, 2011 (BZAW 414). – C. LEVIN, Das „Vierprophetenbuch“. Ein
Nachruf: ZAW 123 (2011), 221–235. – R. ALBERTZ / J. D. NOGALSKI / J. WÖHRLE (eds.), Perspectives
on the Formation of the Book of the Twelve, 2012 (BZAW 433). – A. SCHART / J. KRISPENZ (Hg.), Die
Stadt im Zwölfprophetenbuch, 2012 (BZAW 428).

Forschungsberichte: J. JEREMIAS, Neuere Tendenzen der Forschung an den kleinen Propheten, in:
F. G. Martinez / E. Noort (eds.), Perspectives in the Study of the Old Testament and Early Judaism,
1998 (VT.S 73), 122–136. – A. SCHART, Zur Redaktionsgeschichte des Zwölfprophetenbuchs: VF 43
(1998), 13–33. – I. WILLI-PLEIN, Das Zwölfprophetenbuch: ThR 64 (1999) 351–395. – P. L. REDDITT,
The Formation of the Book of the Twelve. A Review of Research: P. L. Redditt / A. Schart (eds.),
Thematic Threads in the Book of the Twelve, 2003 (BZAW 325), 1–26.

1. Synchrone Betrachtung, oder: Das Dodekapropheton als Buch

Im Unterschied zu den bisher behandelten Büchern Jes, Jer und Ez, die jeweils
auf einen „großen“ Propheten zurückgeführt werden, vereint das Dodekapro-
pheton (so der Name in der LXX) die Schriften von zwölf „kleinen“ Propheten
(weshalb die Vulgata von „prophetae minores“ spricht). Nicht diese Propheten
sind „klein“, sondern die nach ihnen benannten Schriften.

a) Das System der Überschriften

Alle zwölf Schriften des Dodekapropheton sind mit Überschriften versehen, wel-
che hier zusammengestellt seien:

1) Hos 1,1: Das Wort Jhwhs, das an Hosea ben Beeri erging in den Tagen Usijas,
Jotams, Ahas’ und Hiskijas, der Könige von Juda, und in den Tagen Jerobeams
ben Joasch, des Königs von Israel.
2) Joël 1,1: Das Wort Jhwhs, das an Joël ben Petuel erging.
3) Am 1,1: Die Worte des Amos, der ein Viehzüchter von Tekoa war, die er ge-
schaut hat über Israel in den Tagen Usijas, des Königs von Juda und in den
Tagen Jerobeams ben Joasch, des Königs von Israel, zwei Jahre vor dem Erd-
beben.
4) Ob 1: Die Schauung Obadjas.
5) Jona 1,1: Und es erging das Wort Jhwhs an Jona ben Amittai …
6) Mi 1,1: Das Wort Jhwhs, das an Micha den Moraschtiter erging in den Tagen
Jotams, Ahas’ und Hiskijas, der Könige von Juda, das er geschaut hat über Sama-
ria und Jerusalem.
384 D. Die Hinteren Propheten

7) Nah 1,1: Lastspruch über Ninive, Buch der Schauung Nahums des Elkoschi-
ters.
8) Hab 1,1: Der Lastspruch, den der Prophet Habakuk geschaut hat.
9) Zef 1,1: Das Wort Jhwhs, das an Zefanja ben Kuschi ben Gedalja ben Amarja
ben Hiskija erging in den Tagen Joschijas ben Amon, des Königs von Juda.
10) Hag 1,1: Im 2. Jahr des Königs Darius im 6. Monat am 1. Tag erging das
Wort Jhwhs durch den Propheten Haggai an Serubbabel ben Schealtiel, den
Statthalter Judas, und an Josua ben Jehozadak, den Hohenpriester.
11) Sach 1,1: Im 8. Monat des 2. Jahres des Darius erging das Wort Jhwhs an den
Propheten Sacharja ben Berechja ben Iddo.
12) Mal 1,1: Lastspruch. Das Wort Jhwhs an Israel durch Maleachi.
Durch die Überschriften werden die einzelnen Schriften gewissermaßen biogra-
phisch markiert, mehrfach auch historisch datiert. Insgesamt scheint in ihrer
Abfolge eine chronologische Ordnung beabsichtigt zu sein:
– Die ersten sechs Schriften werden auf die zweite Hälfte des 8. Jh.s zurückge-
führt. Damals expandierte das neuassyrische Großreich gegen Syrien-Palästina.
738 v. Chr. fiel Damaskus, die Hauptstadt des Königreichs Aram, 722 Samaria,
die Hauptstadt Israels, und 701 stand ein Belagerungsheer vor Jerusalem. Diese
grundstürzenden Ereignisse hallen in Hos, Am und Mi wider. In den Über-
schriften zu diesen Schriften werden die Namen von Königen aufgeführt, die zu
jener Zeit in Israel und Juda regierten. Jona wird hier zugeordnet, weil in 2Kön
14,25 ein Prophet namens Jona ben Amittai erwähnt wird, der unter König Jero-
beam II. (vgl. Hos 1,1 und Am 1,1) aufgetreten ist und Israel Heil angekündigt
hat: eine schattenhafte Figur, die der – in Wahrheit viel später lebende – Erzähler
des Jonabuchs zum Helden seiner Novelle gemacht hat. Joël und Obadja, ob-
gleich in Wirklichkeit ebenfalls jünger, sind unter inhaltlichen Gesichtspunkten
an ihren jetzigen Platz gestellt worden: Obadja redet über Edom – wie zuvor
Amos (Am 1,11f.; 9,12). Joël kündet von Gericht gegen Israel – wie Hosea, dazu
vom Tag Jhwhs und von einem Völkergericht – wie Amos; und schließlich ist in
Joël 4,10 von „Pflugscharen“ die Rede, die zu „Schwertern umgeschmiedet“ wer-
den sollen, während in Mi 4,1–5 (scheinbar) das genaue Gegenteil in Aussicht
gestellt wird; damit schien der richtige Platz für Joël angewiesen.
– In den drei ersten Quartalen des 7. Jh.s beherrschten die Assyrer Juda, ehe sie
im letzten von den Babyloniern abgelöst wurden. In die Zeit dieses Umbruchs
gehören der Gesamtredaktion zufolge Nah, Hab und Zef. Nahum schreit auf
gegen die Aggressivität und Überheblichkeit Ninives (seit ca. 700 v. Chr. die
stolze Kapitale Assyriens) und verkündet deren Untergang, Habakuk bedroht,
offenbar noch bevor die Babylonier in Juda das Heft an sich gerissen haben, die
eigene Oberschicht, dann aber auch die babylonische Besatzungsmacht, Zefanja
beklagt kultische und soziale Missstände, die unter assyrischem Einfluss in Jeru-
salem eingerissen zu sein scheinen (und die der Reformkönig Joschija 622 v. Chr.
angegangen haben soll – es gibt fast wörtliche Entsprechungen zwischen Zef 1
und 2Kön 23).
V. Das Zwölfprophetenbuch 385

– Hag und Sach schließlich fordern nach dem Zusammenbruch des babyloni-
schen Reiches und der Machtübernahme durch die Perser unter Kyros (539
v. Chr.) den Neubau des Jerusalemer Tempels; ihre beiden Schriften werden
nach der Regierungszeit des dritten Perserkönigs Darius (521–485 v. Chr.) da-
tiert. Maleachi wiederum ist thematisch engstens verwandt vor allem mit dem
zweiten Teil von Sach.
So zeichnen sich im Zwölfprophetenbuch drei Untergruppen ab: die ersten sechs
und dann zweimal drei Schriften.
Beachtung verdient hier der Umstand, dass die Abfolge der einzelnen Schrif-
ten in der hebräischen und der griechischen Bibel unterschiedlich ist. (Es gibt
allerdings Hinweise darauf, dass die griechischen Übersetzungen der Zwölf ur-
sprünglich einmal in der ‚hebräischen Reihenfolge‘ angeordnet gewesen sein
könnten.)

Hebräische Bibel Griechische Bibel


1 Hosea 1 Hosea
2 Joël 2 Amos
3 Amos 3 Micha
4 Obadja 4 Joël
5 Jona 5 Obadja
6 Micha 6 Jona
7 Nahum 7 Nahum
8 Habakuk 8 Habakuk
9 Zefanja 9 Zefanja
10 Haggai 10 Haggai
11 Sacharja 11 Sacharja
12 Maleachi 12 Maleachi

Die Reihenfolge in LXX wirkt unter chronologischen Gesichtspunkten einleuch-


tender: 1–3: 8. Jh.; 7–9: 7. Jh.; 10–12: 6. Jh.; dazwischen 4–6: Schriften ohne klare
chronologische Signale. Sollte die Zeitfolge auch in der hebräischen Bibel das
Ordnungsprinzip abgegeben haben, wären hier Joël und Ob – irrig – ins 8. Jh.
datiert. Doch ist die Chronologie offenbar nicht das einzige, nicht einmal das
wichtigste Kriterium der Anordnung; denn sonst müsste Am vor Hos stehen
(vgl. die Königsnamen in den Überschriften) und Zef vor Hab (weil sich in Zef
noch die assyrische Ära zu spiegeln scheint, in Hab die babylonische). Laut
SWEENEY wollte die LXX zuerst das Schicksal des Nordreichs vor Augen stellen
(1–3), dann überleiten zu dem Judas und der Völkerwelt (4), danach das der
Völker in den Blick nehmen (5–7) und dann dasjenige Judas und Jerusalems (8–
11), um am Ende noch einmal alles zusammenzufassen (12); in der hebräischen
Bibel hingegen ginge es von vornherein immer auch um das Schicksal Judas und
Jerusalems im Gegenüber zu dem Israels und der Völker.
Die Gesamtzahl von zwölf Prophetenschriften ist traditionsgeschichtlich und
symbolisch hoch aufgeladen. Israels Erzvater Jakob hatte zwölf Söhne, die laut
Gen 29f. die Stammväter der zwölf Stämme Israels wurden. (Kaum zufällig ist
386 D. Die Hinteren Propheten

gegen Ende der ersten Schrift im Zwölfprophetenbuch ausführlich – und übri-


gens recht kritisch – vom Erzvater Jakob die Rede [Hos 12,4f.] und beginnt die
letzte mit einer – sehr positiven – Reminiszenz an Jakob [Mal 1,2].) Offenbar also
will das Zwölfprophetenbuch die Botschaft der Propheten Jhwhs an sein Volk
durch die Geschichte hindurch zusammenfassen.
Doch nicht nur auf dem Hintergrund der Genesis, d. h. letztlich der Tora, ist
die Gesamtbotschaft des Dodekapropheton zu sehen. Hos, Am, Mi, Zef werden
den Regierungszeiten bestimmter Könige zugeordnet; Nachrichten über diese
Könige finden sich in den Königsbüchern, also dem Kanonsteil Vordere Pro-
pheten (s. oben C). Dort können sich Interessierte über die geschichtlichen Hin-
tergründe der jeweiligen Botschaft kundig machen. Die hier tätige Redaktion
scheint Wert darauf zu legen, dass das Prophetenwort nicht zeit- und ortlos,
sondern zeitgeschichtlich einzuordnen ist. Prophetie ist kein überirdisches Phä-
nomen, sondern ein kontingent geschichtliches; sie vermittelt keine esoterischen
Geheimnisse, sondern den Willen Gottes in konkreten Situationen.
Die Botschaften der Propheten Haggai und Sacharja werden auf den Monat,
sogar auf den Tag genau, ins zweite Regierungsjahr des persischen Grosskönigs
Darius datiert. Diese Art der präzisen Datierung einzelner Prophetenworte ha-
ben wir bereits im Ezechielbuch angetroffen. Dort (und auch im Jeremiabuch)
werden sehr viele Texte durch die „Wortereignisformel“ (‫ויהי דבר יהוה‬, „und es
geschah das Wort Jhwhs“) eröffnet, durch die eine prophetische Botschaft als
nicht nur verbales, sondern als geradezu materiales Faktum deklariert wird: Et-
was „Geschehenes“ lässt sich nicht leicht überhören und beiseite schieben, es hat
Gewicht und Beharrungsvermögen. Nun fällt ins Auge, dass nicht weniger als
acht der zwölf Überschriften im Dodekapropheton diese Wortereignisformel
enthalten (Hos, Joël, Jona, Mi, Zef, Hag, Sach, Mal). So verschieden die in diesen
Schriften enthaltenen Botschaften sind, so sehr sind sie doch, jede einzeln und
alle gemeinsam, Gottes Wort. Das Wirken der (wahren) Propheten ist also von
Gott selbst autorisiert – und deshalb von großer und bleibender Bedeutung.
Die Botschaft der vier anderen der zwölf Kleinen Propheten (Am, Ob, Nah,
Hab) wird nicht durch die Kategorie des (göttlichen) Wortes qualifiziert, sondern
durch die der Schauung (ausgedrückt durch das Verb ‫ חזה‬oder ein davon abgelei-
tetes Nomen). Seit alters gab es in Israel immer wieder „Seher“ (‫חֹזֶה‬, z. B. 2Sam
24,11; Jes 30,10; Am 7,12; vgl. auch Jes 2,1; Mi 1,1). Sie galten als solche, die mehr
sahen, als andere sahen, die über die Begrenzungen der Immanenz hinaus Ein-
blick hatten in die Transzendenz. Organ solchen „Schauens“ ist das innere Auge
(so wie das prophetische Hören auf Gottes Wort mit dem inneren Ohr ge-
schieht).
Gott, so geben die Überschriften im Dodekapropheton zu verstehen, hat sich
bei seinen Propheten hören oder sehen lassen. Die es mit ihnen zu tun bekamen
(und bekommen), bekamen (und bekommen) etwas von Gott zu hören oder zu
sehen. Gedacht ist dabei zunächst an die vorgestellten Adressaten im 8., 7. oder 6.
Jh., darüber hinaus aber an alle spätere LeserInnen des Buches: Gottes Wort und
Gottes Antlitz, gefasst in und abzulesen von Prophetenbotschaften.
V. Das Zwölfprophetenbuch 387

Spätestens an dieser in den Überschriften zutage tretenden Wort- und


Visions-Theologie wird deutlich, dass das Dodekapropheton nicht einfach eine
Sammlung von zwölf zeitgeschichtlich verschieden einzuordnenden historischen
Dokumenten sein will (in denen dann wieder zahllose Einzelworte dokumentiert
sind), sondern eine Gesamtdarstellung prophetischer Verkündigung als zwar
zeitbezogen-vielgestaltiger, aber doch grundlegend-gültiger Nachrichten über
das Verhältnis Gottes zu den Menschen, insonderheit zu seinem Volk Israel.
Zuweilen hat man gedacht, die Kleinen Propheten seien lediglich deswegen
zusammengefasst worden, weil auf diese Weise eine Buchrolle gefüllt werden
konnte, die annähernd so umfangreich war wie die Bücher der Großen Prophe-
ten. Solch eine Erklärung bliebe jedoch weit unter dem kanonischen Niveau. Die
Redaktion(en), denen das Zwölfprophetenbuch zu verdanken ist, war(en) nicht
von derart pragmatischen, sondern von hochtheologischen Motiven erfüllt.

b) Verbindende Themen

Der Hinweise, dass das Dodekapropheton sehr bewusst zu einem Buch gestaltet
worden ist, gibt es noch viel mehr. Sie liegen nicht zuletzt auf der Inhalts-Ebene.
Quer durch die verschiedenen Schriften des Zwölfprophetenbuchs kehren stets
gleiche Themen wieder.
Eines ist das Verhältnis Israels/Judas zu anderen Völkern. Besonders anschau-
lich wird dies etwa an dem kleinen südöstlichen Nachbarvolk der Edomiter. Es
wird im Dodekapropheton nicht weniger als neunmal erwähnt – und allermeist
mit einem sehr negativen Unterton (Joël 4,19; Am 1,6.9.11; 2,1; 9,12; Ob 1,1.8;
Mal 1,4). In der Genesis figuriert Esau, der Urahn Edoms, als Zwillingsbruder
Jakobs: der dichteste Verwandte gewissermaßen, zugleich aber der schärfste
Konkurrent (Gen 25; 27), der sich freilich auch erstaunlich großzügig und ver-
söhnlich zeigen kann (Gen 33). In der Königszeit gab es immer wieder Aus-
einandersetzungen zwischen den Nachbarn, bis dann Edom beim Untergang des
Königreiches Juda mit den Babyloniern gemeinsame Sache gemacht und sich
danach zunehmend in ehemals judäischem Gebiet festgesetzt zu haben scheint.
Von da an galt Edom (und später Idumäa) als Intim- und Todfeind Judas – und
darum spielt es im Zwölfprophetenbuch eine so wichtige und negative Rolle. Es
spielt diese freilich nur gleichsam stellvertretend für die vielen Völker, die sonst
noch Israel und Juda zu schaffen gemacht haben. Hosea redet vom Hin- und
Hergerissensein Israels zwischen den Großmächten Assyrien im Norden und
Ägypten im Süden; Joël von einem göttlichen Gericht über die ganze Völkerwelt;
Amos von den Verbrechen der Nachbarvölker Israels, die Gott demnächst ahn-
den werde (freilich ebenso auch die Verbrechen Israels); Obadja handelt von
Gottes Gericht über Edom und über alle Völker der Welt; Jona muss in der assy-
rischen Metropole Ninive predigen – und hat dabei überraschenden Erfolg;
ebenso überraschend kündet Micha von einer Völkerwallfahrt zum Zion, bei der
sich alle Heiden zur Tora und zum Frieden bekehren werden – freilich auch von
388 D. Die Hinteren Propheten

der Zerschlagung eines feindlichen Völkeransturms auf den Zion; bei Nahum
konkretisiert sich dies zu einer scharfen Attacke auf das über die Stränge schla-
gende Assur und seine Hauptstadt Ninive, die dem Untergang geweiht wird;
Habakuk setzt diesen anscheinend schon voraus und wendet sich gegen den
nächsten Weltherrscher, Babylon; bei Zefanja finden sich Reden gegen fremde
Völker in allen vier Himmelsrichtungen, doch daneben klingen auch ganz an-
dere Töne auf: von Völkern, die vom Gericht Jhwhs verschont werden und sich
zu ihm bekehren sollen; Haggai und Sacharja befassen sich mit der inneren Lage
Judas, vor allem mit der Wiedererrichtung des Jerusalemer Tempels, unter persi-
scher Oberherrschaft, doch in Sach 9–14 kommt wieder der Topos vom Völker-
und Weltgericht zum Vorschein – und von der Rettung des Zion und der sich an
ihn klammernden frommen Juden aus Untergang und Chaos (laut GÄRTNER
wird das Thema in Sach 14 unter Rückgriff auf Mi 4,11–13 bewusst „buchab-
schließend“ verhandelt); Maleachi schließlich versichert Israel der Vorliebe
Jhwhs gegenüber Edom – nicht ohne von einem künftigen Gericht auch über die
Unfrommen in Israel zu reden. Wie an Edom, so ließe sich das Thema „Israel
und die Völker“ auch an Assur bzw. seiner Hauptstadt Ninive exemplifizieren,
welche in immerhin der Hälfte der zwölf Schriften als große Bedrohung Israels
erscheinen (Hos, Jona, Mi, Nah, Zef, Sach, ohne Namensnennung auch Am).

ROTH untersucht das Thema an Joël 3f.; Jona; Mi 7 und Nah und erkennt an diesen
Stellen einen im Juda des 5. und 4. Jh.s geführten literarischen Diskurs um bis dahin
noch nicht erfüllte Heils- und Unheilsankündigungen der früheren Prophetie. Die
Blickrichtung ist eine grundsätzlich eschatologische, d. h. die Erwartungen sind von
überzeitlicher bzw. endzeitlicher Natur. Die Völker nehmen dabei verschiedene Posi-
tionen ein: als zu vernichtende Feinde Israels, als künftige Jhwh-Verehrer, als Unter-
tanen der nahenden Königsherrschaft Jhwhs, als dem bevorstehenden universalen
Weltgericht zu Unterwerfende. Israel bleibt durch die Vorgänge nicht unberührt, son-
dern ist in sie involviert; Bewegungen und Scheidungen in der Völkerwelt betreffen
jeweils unmittelbar auch das Gottesvolk.

Ein zweiter durchgehender (und noch wesentlich größerer) Themenkreis im


Gesamtdodekapropheton ist damit bereits angesprochen: der von Gericht und
Heil für Israel/Juda. In fast allen Einzelschriften werden Sünden des biblischen
Gottesvolks aufgedeckt und angeprangert, die nach Überzeugung der Propheten
ein Einschreiten Jhwhs provozieren werden (bzw. schon ausgelöst haben). Oft ist
von Israel oder Juda pauschal die Rede, zuweilen jedoch wird unterschieden
zwischen eher Unschuldigen und wirklich Schuldigen: Das Gericht kann Un-
schuldige mit treffen, Gott kann aber auch genau unterscheiden zwischen sol-
chen, die Schonung verdienen, und denen, die er zur Rechenschaft ziehen wird.
Dieses Richten Gottes ist teilweise als ein innerweltliches Geschehen gedacht
(fremde Völker fallen mit der Erlaubnis, ja auf Geheiß Jhwhs in Israel bzw. Juda
ein), teilweise aber auch als endzeitliches, fast außer- oder überzeitliches Gesche-
hen. Zeitweise schillert die Gerichtserwartung im Zwölfprophetenbuch schon
fast apokalyptisch. – Auf der anderen Seite das Heil. Wie verträgt sich der Heils-
V. Das Zwölfprophetenbuch 389

wille Gottes mit seinem Unheilswillen? Besonders bewegend wird darüber gleich
in der ersten Schrift, Hosea, reflektiert: Gott will, muss, wird sein Volk strafen,
setzt auch schon an dazu, hält dann aber inne, kann nicht anders, als seiner alten,
unauslöschlichen Liebe zu Israel Raum geben. Joel verheißt die große Geistaus-
gießung über das Gottesvolk am Ende der Tage, und zwar unabhängig von Ge-
schlecht, Alter und sozialem Stand: ein Volk von Geisterfüllten. Die Amosschrift,
voll grimmiger Gerichtsprophetie, berichtet doch, wie der Prophet sich gegen
den Gerichtsbeschluss Gottes anfangs wehrt und für den „kleinen Jakob“ um
Schonung bittet (letztlich vergebens); mit einem zaghaften „vielleicht“ wird doch
auch hier der Hoffnung auf die sich durchsetzende Gnade Jhwhs Ausdruck gege-
ben, und am Ende steht eine Verheißung von der wieder aufzurichtenden „Hütte
Davids“. Die Micha-Schrift beginnt mit unerhört scharfen Gerichtsworten, um
dann in einen Wechsel von Heils- und Unheilsaussagen überzugehen, bei dem
das Heil mehr und mehr die Oberhand zu gewinnen scheint; von der Friedens-
wallfahrt der Völker zum Zion ist da die Rede oder vom Messias aus Betlehem-
Efrata. Besonders eindrücklich (oder auch verwirrend) ist das Ineinander von
Unheil und Heil in der Zefanja-Schrift: Am Anfang steht überwiegend Gerichts-
androhung gegen Juda (worein sich aber schon Andeutungen von einem künfti-
gen Weltgericht mischen); dann folgt eine kleine Serie von Unheilsworten gegen
Fremdvölker (zwischendurch aber auch Heilsansagen für Juda, das vom Nieder-
gang der Nachbarn profitieren wird); und schließlich kommt es zu einem nicht
leicht nachzuvollziehenden Wechsel von Unheilsansage an Juda, Rückblick auf
geschehenes Unheil bei Nachbarvölkern, Vorblick auf die Verschonung fremder
Völker in kommendem Unheil – bis endlich Gott die „zerstreuten und hinken-
den“ (Schafe) Judas einsammeln und mit ihnen auf dem Zion feiern wird. Die
Sacharja-Schrift vollzieht in ihrem zweiten Teil mehrere Wenden zwischen Heil
und Unheil: für oder gegen das Gottesvolk, als Ganzes oder in Teilen, für oder
gegen Nichtjuden.

Lässt sich eine bestimmte Anordnung der lichten und der düsteren Farben im Ge-
samtgemälde des Dodekapropheton ausfindig machen? HOUSE behauptet das zuver-
sichtlich. Er tastet das Gesamtbuch an der Textoberfläche ab und meint eine grund-
sätzliche Dreiteilung feststellen zu können: 1. Aufdeckung von Sünde – sowohl im
Gottesvolk als auch bei anderen Völkern (Hos bis Mi); 2. Androhung von Strafe –
wieder bei beiden (Nah bis Zef); 3. Ankündigung von Rettung (Hag bis Mal). Genau
um diese Abfolge zu erreichen, seien die einzelnen Schriften in der jetzigen Reihenfol-
ge angeordnet. So entsteht ein eigentliches Drama: mit breiter Darstellung des Kon-
flikts, mit Ausleuchtung der Möglichkeit eines negativen Ausgangs und der schließ-
lichen Präsentation des zu erhoffenden positiven Endes. Das Zwölfprophetenbuch sei,
grob gesprochen, ein Drama nicht mit negativem, sondern mit positivem Ausgang,
also keine Tragödie, sondern eine Komödie: dies aber nicht im Sinne seichter Unter-
haltung, sondern tiefgründiger Belehrung. Die Tragödie lässt einen großen Charakter
in schwere Verwicklungen geraten und am Ende scheitern; die Komödie lässt einen
wenig heldenhaften Charakter durch Schwierigkeiten zu einem erhöhten Schluss-
punkt gelangen. Um den Helden (Israel und die Völker, also den Menschen) in seiner
Nicht-Heldenhaftigkeit zu zeigen, bieten die Endverfasser zunächst eine Disposition
390 D. Die Hinteren Propheten

(Hos, Joël) und dann eine immer mehr zunehmende Komplikation des Konflikts (Am
bis Mi) – des Konflikts nämlich zwischen Mensch und Gott. Die nächsten drei
Schriften beschreiben die Krisis, den Wendepunkt vom an sich nötigen Unheil (Nah,
Hab) zum dann doch noch möglichen Heil (Zef). Am Ende stehen die Wiederher-
stellung des zuvor doch arg zerzausten Helden und ein strahlender Ausklang. In
diesem Drama treten, von Kapitel zu Kapitel voneinander unterscheidbar, verschiede-
ne Charaktere auf: Gott natürlich, Propheten, die Völker, Israel; Israel kann wiederum
zwei Rollen verkörpern: die des unbußfertig-Bösen und die des bußfertig-Guten.
Neben diesen Akteuren gibt es den ‚impliziten Autor‘, der mit dem Text eine be-
stimmte Absicht verfolgt, und die Zuhörerschaft bzw. Leserschaft (‚audience‘), an die
sich der Text wendet und die dazu angeleitet werden, bald diesen, bald jenen Charak-
ter, bald diese, bald jene Handlung oder erwartete Entwicklung in den Blick zu
nehmen und daraus ihre Schlüsse zu ziehen. – Vielleicht kann diese Betrachtungs-
weise zur verschärften Wahrnehmung der vielfachen Denkbewegungen in einem
Werk wie dem Dodekapropheton anregen. Der vielfältigen Rätsel Lösung oder eine
umfassende Auslegung bietet sie aber nicht. Allein schon die Klassifizierung der ver-
schiedenen Blöcke von Schriften trifft so nicht zu: In Hos bis Mi gibt es nicht nur
Schuldaufweis, sondern auch massiv Heilsansage; Sach und Mal künden umgekehrt
nicht nur von Rettung und Wiederherstellung, sondern auch von Weltgericht an den
Völkern wie von Läuterungsgericht innerhalb des Gottesvolkes. HOUSE’s Annäherung
geht auch an jeglichen historischen Kategorien völlig vorbei, die immerhin in den
Überschriften mit ihren Königsdatierungen klar angelegt sind und in politischen
Größen wie Nordisrael, Juda, Assur, Griechenland („Söhne Jawans“) wie auch in
sozial- und kultpolitischen Dimensionen (Schuldsklaverei, Tempelneubau usw.) zum
Ausdruck kommen. Kaum auch haben wir ein zielstrebig entworfenes Theaterstück
vor uns, sondern ein von zahlreichen Tradenten und Redaktoren geschaffenes und
verschiedene Epochen widerspiegelndes Traditionswerk, das weniger eine durch-
gehende, logische Handlungsfolge aufweist als vielmehr eine Anthologie propheti-
scher Texte und dadurch ausgelöster Reflexionen darstellt.

Ein einzelnes Motiv, das sich durch alle Schriften des Dodekapropheton zieht
und das neuerdings zu Recht Aufmerksamkeit gefunden hat, ist das der Herr-
schaft, genauer: von Menschen- und von Gottesherrschaft (vgl. LEUENBERGER).
In Hos steht die Kritik am irdischen, israelitischen Königtum im Vordergrund,
geäußert aus der Sicht des wahren Herrn Israels, Jhwh; in 3,5 freilich klingt un-
erwartet Davidshoffnung auf. Wie in Hos, so erscheint auch in Joël (4,16–18)
und Am (1,2; 9,13) Jhwh als der eigentliche Herr Israels, der den Staat Nordisrael
in die Krise stürzt (Am 2,6–16; 7,9), am Ende aber wieder eine Perspektive auf
das Davidkönigtum eröffnet (Am 9,11f.). Das theokratische Element dominiert
erneut in Ob 16f., und in Jona erscheint der Weltherr Jhwh als machtvoll und
großzügig genug, selbst dem Großkönig von Ninive Vergebung zu gewähren. In
Mi (vor allem 5,1–5) wird das erhoffte irdisch-messianische Königtum deutlich
der Herrschaftsmacht Jhwhs untergeordnet. Nah ruft den machtvoll-zürnenden
Jhwh (1,2f.) gegen die Macht Ninives auf den Plan (2,4–3,19) und setzt damit
einen Gegenakzent zu Jona. Hab beschreibt Babylon als Jhwhs Strafwerkzeug,
das dieser freilich auch wieder verwerfen kann. Laut Zef wird sich Jhwhs Herr-
schermacht zunächst gegen die Mächtigen in Juda und bei den Fremdvölkern
V. Das Zwölfprophetenbuch 391

wenden und dann den Niederen seines Volkes Heilung bringen („Der König
Israels, Jhwh, ist in deiner Mitte, du brauchst kein Unheil mehr zu fürchten“,
3,15). Bei Hag und Sach verbindet sich eine betont theokratische Perspektive –
Jhwh als Herr des wieder aufzurichtenden Zion (Hag 2,6–9; Sach 2,13–17) – mit
Zusagen an den Davididen Serubbabel (Hag 2,20–23; Sach 4,1–14), Absagen an
zeitgenössische, gewalttätige Herrschaftsformen (Sach 9,9–11) sowie Aussagen
über Jhwhs endzeitliche Weltherrschaft (Sach 8,20–23; 14). Mal setzt diese theo-
kratische Linie fort (z. B. 3,5.16–18). Aufs Ganze gesehen tritt im Dodekapro-
pheton irdische Herrschaft immer stärker hinter die Gottesherrschaft zurück.
Ferner hat BIBERGER die „Umkehr als Leitthema im Zwölfprophetenbuch“
entdeckt. Das Motiv der Umkehr Israels oder auch Jhwhs ziehe sich nicht
gleichmäßig durch das ganze Buch, sondern präge rahmenartig dessen Beginn
(Hos, Joël, Am) und Ende (Sach, Mal); die Umkehr Ninives (Jona) stehe in der
Mitte. Abgesehen von Hos handele es sich um eine Thematik erst aus (exilischer
und) nachexilischer Zeit; sie diene als kompositionelles Mittel zur Formung des
Buchganzen.
BECK und SCHWESIG haben fast zeitgleich intensive Untersuchungen zum
Motiv vom „Tag Jhwhs“ im Dodekapropheton vorgelegt. In sieben, über das
gesamte Buch verstreuten Texten ist dieses Thema zentral: Joël 2,1–11; Joël 4,1–
3.9–17; Am 5,18–20; Ob; Zef 1; Sach 14; Mal 3,13–24. Die Rede vom „Tag Jhwhs“
kann einen für Israel/Juda hoffnungsvollen oder auch einen bedrohlichen Klang
entfalten. Wenn nämlich Gott an seinem „Tag“ erscheint und Gericht hält, kann
dies entweder fremde, Israel feindlich gesinnte Völker treffen (so Joël 4 und Ob)
oder aber das eigene (so Joël 2, Am und Zef). Er kann aber auch über alle zuerst
Unheil und danach Heil bringen (so Sach), oder beides, individualisierend, auf
„Frevler“ und „Gerechte“ verteilen (so Mal). Die Tag-Jhwh-Texte lassen sich sehr
wohl synchron lesen, verlangen in ihrer höchst unterschiedlichen Ausprägung
und ihren vielfältigen gegenseitigen Bezügen aber auch nach diachroner Analyse,
wie sie in den beiden genannten Arbeiten vorgenommen wird.

Es ist deutlich: Das Zwölfprophetenbuch ist kein ungeordnetes Konglomerat,


sondern ein bei aller Disparatheit der Stoffe und Themen doch geordnetes Gan-
zes. Die variierende Wiederkehr großer Grundthemen und einzelner Motive
erinnert an eine Symphonie, die freilich nicht von einem einzelnen Komponisten
geschaffen, sondern aus einer ganzen Anzahl in sich schon mehrfach überarbei-
teter und dann aufeinander abgestimmter Kompositionen arrangiert wurde.

c) Sprachliche Verknüpfungen

Das Zwölfprophetenbuch weist nicht nur thematische, sondern auch sprachliche


Verknüpfungen auf. Offenbar gibt es ein System von Stichwörtern, die gezielt an
den Enden und Anfängen der einzelnen Schriften so eingesetzt werden, dass
jeweils zwei von ihnen wie Glieder einer Kette ineinandergreifen. Auf diese
392 D. Die Hinteren Propheten

Weise entsteht der Eindruck eines fortlaufenden prophetischen Diskurses über


das gesamte Dodekapropheton bzw. über die durch es abgedeckten Jahrhunderte
hinweg.
Wohl nicht zufällig sind zuerst jüdische Exegeten auf den Sachverhalt auf-
merksam geworden. Isaak Abrabanel hat um 1500 in seinem „Kommentar zu
Hosea mit einem Vorwort zu den Zwölf Propheten“ eine Reihe von Stichwort-
verbindungen zwischen den Einzelschriften festgestellt. Dem ist 1947 CASSUTO
weiter nachgegangen.

CASSUTO weist auf folgende Verkettungen – wohlgemerkt: im hebräischen Kanon –


hin:
– Hos 14 und Joël 2 werden durch das Leitverb ‫בוא‬, „hineingehen“, verknüpft.
– In Joël 4,16 und Am 1,2 findet sich die Dublette „Jhwh brüllt vom Zion her, von
Jerusalem lässt er seine Stimme erschallen“.
– In Am 9,12 wird angekündigt, Juda werde dereinst Edom demütigen – ähnlich wie
es anschließend mehrmals Obadja ankündigt.
– Hab 2,20 („Jhwh ist in seinem heiligen Tempel – Still [‫ ]חַס‬vor ihm, alle Welt!“)
bildet eine enge Parallele zu Zef 1,7 („Still [‫ ]חַס‬vor dem Herrn Jhwh, denn nahe ist der
Tag Jhwhs!“).

Am gründlichsten hat NOGALSKI das Phänomen der Stichwortverbindungen


(„catchwords“) im Dodekapropheton untersucht. Im ersten Band seines Dop-
pelwerkes (S.21–57) listet er alle von ihm gemachten, einschlägigen Beobachtun-
gen auf, stellt aber zunächst nur fest, ob und wie die antiken Versionen solche
Wortverknüpfungen im hebräischen Text aufgenommen und weitergegeben
oder aber übersehen und verwischt haben (eher das Letztere ist der Fall). Im
Fortgang der Arbeit untersucht er dann, ob und inwiefern diese Stichwort-
anknüpfungen – neben anderen Gegebenheiten – Hinweise auf eine planvolle
redaktionelle Arbeit und somit auf das literaturgeschichtliche Werden des
Zwölfprophetenbuchs geben. Es stellt sich heraus, dass Stichwortassoziationen
(und thematische Verknüpfungen) nicht erst auf der Endstufe des Textes, son-
dern schon in vorangehenden Teilsammlungen dazu dienten, disparate Texte
aneinander zu binden und so einen leidlichen Zusammenhang zwischen ihnen
herzustellen.

Hier einige der von NOGALSKI (über CASSUTO hinaus) festgestellten Verbindungen:
– In Hos 14,11 und in Joël 1,5 ist von („Korn“ und) „Wein“, die Rede, welche man im
Land genießen oder nicht mehr genießen könne.
– Joël 4 und Am 1 werden nicht nur durch den „vom Zion donnernden Jhwh“
zusammengebunden, sondern durch die (jeweils negative) Erwähnung der Philister
und der Edomiter.
– Von Am 9 und Ob war schon die Rede. Ob schlägt aber auch Brücken hinüber zu
Mi 1 (nämlich in den Stichwörtern „Jakob“, „Feuer“, „Berg“, „Feld Samarias“) sowie
zu Jon 1 (nämlich in der Wendung vom Loswerfen und dem Begriff des Bösen).
– Der Gesang im Fischbauch (Jona 2) ist mit Mi 1 in einer Reihe kultischer Ausdrücke
verbunden.
V. Das Zwölfprophetenbuch 393

– Mi 7 und Nah 1 sind gleich durch eine ganze Serie von Stichwörtern verkettet:
„Feind“, „Dunkelheit“, „Tag“, „Berg“, „Land“, „Einwohner“, „Karmel“, „Baschan“,
„Staub“, „Erde“, „Meer“, „Zorn“, „vorübergehen“.
– Nah 3 und Hab 1 weisen eine gemeinsame militärische Sprache auf (Pferd, Reiter,
Töten, Nationen, Festung, Macht, Gefangenschaft, Verwüster, überwältigen, flüchten,
König, Volk, schlachten).
– Hab 3 und Zef 1 reden – einmal unter der Überschrift „YHWH Goes to Battle“,
einmal unter „The Day of YHWH“ – gemeinsam von: Erde, Hügel, Land, See, Don-
ner, Unheil, Tag des Schreckens.
– Zef 3 und Hag 1 hängen zusammen in der mehrfach verwendeten Formel „an jenem
Tag“ sowie im Begriff „Volk/Völker“.
– Hag 2 und Sach 1 sprechen gleichermaßen von „Erde“, „jedermann“, „Streitwagen-
fahrern“, „Pferden“ sowie „Knecht(en Gottes)“.
– Sach 8 (nicht das jetzige Schlusskapitel dieser Schrift, Sach 14!) und Mal 1 sind ver-
bunden durch eine große Zahl gemeinsamer Stichwörter: „eure Hände“, „das Volk“,
„der Fluch gegen die Völker“, „ich (Gott) bin umgekehrt“, „Liebe“, „hassen“, „Vater“,
„das Böse“, „Antlitz (Gottes)“.

Diese Beweisketten sind eindrucksvoll. Freilich gilt es zu bedenken, dass es neben


dem hebräischen eben den griechischen Kanon mit einer anderen Abfolge der
Schriften gibt. Auch bedeuten vorliegende Wortanklänge nicht immer Sinnkon-
gruenz. Zudem verkürzt die Konzentration jeweils nur auf die Schluss- und die
Anfangskapitel der Schriften die Perspektive: Es gibt Anklänge auch sonst zwi-
schen den Schriften des Zwölfprophetenbuchs. Dies wiederum weckt die Frage,
inwieweit man es dabei immer mit gezielten, redaktionell hergestellten Ver-
knüpfungen – oder nicht oft auch mit Zufall bzw. einer gemeinsamen ‚Sprach-
welt des Prophetischen‘ zu tun hat. Gleichwohl ist nicht zu bezweifeln, dass das
Dodekapropheton nicht als bloße Anthologie, sondern als ein aufeinander abge-
stimmtes Ganzes gedacht ist, in dem sich die Prophetie Israels spiegelt.

2. Diachrone Betrachtung, oder: Das Werden des Dodekapropheton

Die Existenz des Zwölfprophetenbuchs als ganzen ist erstmals im frühen 2. Jh.
v. Chr. bezeugt: im sog. „Lobpreis der Väter“ des Jesus Sirach. Neben vielen an-
deren Heroen der biblisch-jüdischen Geschichte – darunter Jesaja, Jeremia und
Ezechiel – werden auch die „Zwölf Propheten“ aufgerufen: „Ihre Gebeine mögen
von ihrer Stätte emporsprossen. Sie brachten Heilung für Jakobs Volk und halfen
ihm durch zuverlässige Hoffnung“ (49,10). ‚Heilung‘, das deutet auf Krankheit,
auf schmerzhafte Prozesse, ‚Hoffnung‘ auf Trost und Zuversicht. Mit den beiden
Begriffen werden die Hauptpole der prophetischen Verkündigung, Gericht und
Heil, treffend benannt. Dass Israel hier ‚Jakobs Volk‘ heißt, ist nicht nur Kon-
vention, sondern deutet auch auf die Hervorhebung Jakobs in Hos (12) und Mal
(1), also am Anfang und am Schluss des Dokekapropheton. Damit ist der Anfang
des 2. Jh.s als terminus ad quem für dessen Fertigstellung erwiesen.
Es gibt im Zwölfprophetenbuch Passagen (proto)apokalyptischen Gepräges –
394 D. Die Hinteren Propheten

etwa in Joël, Zef und DtSach –, die auf eine Entstehungszeit nicht lange vor dem
Siraciden verweisen. Andererseits machen allein schon die Überschriften der
einzelnen Schriften darauf aufmerksam, dass in dieses Buch Traditionen aus dem
6. und 7., ja dem 8. Jh. Eingang gefunden haben (sollen). Damit zeichnet sich ein
Traditionsprozess von über einem halben Jahrtausend ab! Wie hat man ihn sich
im Einzelnen vorzustellen?
Die einfachste Möglichkeit wäre, auf nähere Vorstellungen schlicht zu ver-
zichten und hilfsweise anzunehmen, älteres Spruchgut sei lange Zeit mündlich
überliefert und erst spät niedergeschrieben worden – oder gar, die Worte von
„Zwölf Propheten“ seien insgesamt eine späte Fiktion, mit der man ein möglichst
vielfältiges Bild von der Prophetie Israels zeichnen wollte. Eine solche Auskunft
wäre indes wissenschaftlich nicht vertretbar und theologisch nicht verantwort-
bar. Zu deutlich sind die Spuren der Jahrhunderte in die Texte des Dodekapro-
pheton eingegraben, zu entschieden ist prophetische Verkündigung auf konkrete
Menschen und Situationen bezogen, als dass es nötig und statthaft wäre, auf die
Rückfrage nach Vorstufen des heute vorliegenden Gesamttextes zu verzichten.
Im Folgenden soll aus Gründen der Nachvollziehbarkeit ausnahmsweise nicht
der nicht der Weg vom Endbestand zurück zu möglichen Vorstufen einge-
schlagen werden, sondern der umgekehrte, der von den älteren zu den jüngeren
Stufen führt.

Die folgende Darstellung trifft sich in vielem mit, unterscheidet sich aber in einigem
auch von der Sicht SCHARTs, der sechs Wachsstumsstufen unterscheidet (die neu hin-
zukommenden Schriften jeweils kursiv):
1. ein Zweiprophetenbuch Hos-Am
2. ein dtr Vierprophetenbuch (Hos-Am-Mi-Zef)
3. eine sechsteilige „Nahum-Habakuk-Komposition“ (Hos-Am-Mi-Nah-Hab-Zef)
4. ein achtteiliges „Haggai-Sacharja-Korpus“ (Hos-Am-Mi-Nah-Hab-Zef-Hag-
PrSach)
5. ein zehnteiliges „Joël-Obadja-Korpus“ (Hos-Joël-Am-Ob-Mi-Nah-Hab-Zef-Hag-
PrSach)
6. das Zwölfprophetenbuch, nun mit Jona, DtSach und Mal.
Auf jeder dieser Stufen traten nicht nur jeweils zwei weitere Schriften hinzu, sondern
wurden jeweils auch die zuvor schon vereinten Schriften neu bearbeitet. So erhielt das
Sechsprophetenbuch der Stufe 3 einen schöpfungstheologischen, das Achtpropheten-
buch der Stufe 4 einen heilsprophetischen, das Zehnprophetenbuch der Stufe 5 einen
eschatologischen Akzent.

Gegen Scharts Analyse hat BECK grundlegenden Widerspruch eingelegt. Aufgrund


seiner Nachprüfung hält er das stufenweise Entstehen eines Mehrprophetenbuchs für
nicht nachweisbar. Vielmehr sei jede einzelne Schrift für sich sehr lang eigenständig
tradiert und fortgeschrieben worden. Erst im 3. Jahrhundert entstand das erste, bereits
zehn Schriften umfassende Vielprophetenbuch, das bis Sach 14 reichte und außer Mal
auch Jona noch nicht enthielt. Diese beiden Schriften kamen beim nächsten, zum
heutigen Dodekapropheton führenden Schritt hinzu. Bei den beiden Kombinations-
vorgängen seien „punktuelle Verkettungen“ (also Stichwortanschlüsse zwischen den
aneinander angrenzenden Schriften), sonst aber keine redaktionellen Angleichungen
V. Das Zwölfprophetenbuch 395

vorgenommen worden. Schriftübergreifende thematische Berührungspunkte oder


wörtliche Übereinstimmungen seien in aller Regel zufällig bzw. traditionsgeschicht-
lich, nicht aber redaktionsgeschichtlich zu erklären. Dieser radikale Gegenentwurf zu
dem im Folgendenen vertretenen sei hier erwähnt, aber nicht weiter kommentiert.

a) Ein vorexilisches Zweiprophetenbuch (Hos-Am)

JEREMIAS (1996, 34–54) meint – und die Untersuchungen von SCHART haben ihn
weitgehend bestätigt –, dass eine Kombination der Schriften Hos und Am den
Anfang der Zwölfprophetentradition gebildet habe. Zwar seien die beiden Pro-
pheten, nach denen sie benannt seien, zeitlich und räumlich nicht weit von-
einander aufgetreten – im Nordreich Israel um die Mitte des 8. Jh.s –, doch sei
der eine Nordisraelit, der andere Judäer gewesen, so dass beide sehr unterschied-
liche geistesgeschichtliche Hintergründe hatten. Dennoch seien gemeinsame
Tradentenkreise schon recht bald – zwischen dem Ende des Nordreichs 722 und
der Reform Joschijas 621 v. Chr. – daran gegangen, die Hinterlassenschaften
beider Propheten aufeinander hin zu lesen und einander gegenseitig auslegen zu
lassen.

Als Beweis führt JEREMIAS zwei Stellen aus der Hos- und mehrere aus der Am-Schrift
auf, welche nicht zum ältesten Textstratum gehörten und jeweils die Denk- und
Sprachwelt der anderen Prophetenschrift spiegelten.
– Hos 4,15 sei ein „Mischzitat“ aus Am 4,4; 5,5 und 8,14. Dem ist kaum zu wider-
sprechen. Bezeichnenderweise bleibt ein von Amos desavouierter Wallfahrtsort aus-
gespart: das im äußersten Norden Israels gelegene und deshalb von Juda aus nicht
erreichbare Dan; Gilgal und Bet-El dagegen lagen nahe der Südgrenze und werden so
für Judäer Attraktivität behalten haben (vgl. z. B. noch 2Kön 23,15ff.).
– Hos 8,14 klinge an Am 1,3ff.; 3,11 an. Auch dies leuchtet ein (vgl. besonders das
Stichwort ‫ארמנות‬, „Paläste“).
– Weniger überzeugend wirken die Beispiele aus der Amos-Schrift: Die Belege Am
1,5; 2,8; 5,25; 6,8; 7,9, die in Sprache und Thematik typisch hoseanisch sein sollen,
passen teils gut zu Amos und atmen teils eher deuteronomisch-deuteronomistischen
Geist (z. B. in den Begriffen ‫ פקד‬,‫ עון‬,‫)במות‬.

Laut JEREMIAS war die Hos-Schrift als erste abgeschlossen. Dass sie jetzt an der
Spitze des Dodekapropheton steht, erklärt sich aus ihrem literarischen (nicht:
historischen!) Prae vor der Amos-Tradition.

b) Ein exilszeitliches Vierprophetenbuch (Hos-Am-Mi-Zef)

Im Übrigen recht unterschiedliche Arbeiten wie etwa die von WOLFE, WEIMAR,
NOGALSKI, SCHART und WÖHRLE treffen sich darin, dass sie ein im 6. Jh. entstan-
denes, deuteronomistisch geprägtes Mehrprophetenbuch annehmen. Ihm hätten
die Schriften Hos, Am, Mi und Zef (jeweils in Grundbeständen) angehört.
(WOLFE möchte noch Nah und Hab, WEIMAR Jona hinzunehmen, was sich aber
396 D. Die Hinteren Propheten

nicht bewährt hat. Umgekehrt hat LEVIN, wohl etwas vorschnell, einen „Nachruf“
auf das Vierprophetenbuch veröffentlicht.)
Die wichtigsten Argumente zugunsten dieser Annahme sind:
– Hos weist keine klar dtr Bearbeitungsspuren auf – dazu war diese Schrift zu
früh abgeschlossen –, fügte sich aber inhaltlich bestens zu den Intentionen dtr
Theologie (etwa in der Polemik gegen nicht-jahwistische Kulte und Nicht-Jeru-
salemer Kultstätten).
– Am wurde erkennbar dtr bearbeitet (s. unten Abschn. 5).
– Mi und Zef handeln – sei es originär oder redaktionell – wiederum vom Pro-
blem der Kultreinheit und Kulteinheit.
– Diese vier Schriften weisen gut dtr Einleitungen auf: mit Zuordnung zu be-
stimmten, im dtr redigierten Kön-Buch abgehandelten Königen.
– Bei Hos, Mi und Zef wird in der Einleitung die Wortereignisformel gebraucht
(bei Am wohl nur deswegen nicht, weil eine ältere Überschrift im Weg stand);
diese Formel erfreute sich kaum vor Jer, aber verstärkt in dtr-prophetischen
Kreisen grosser Beliebtheit (vgl. 1Kön 16,1; 21,28 u. ö.). Dass sie auch in jüngeren
Buchüberschriften wieder verwendet wird (Joël, Jona), zeigt nur, dass man das in
ihr zum Ausdruck kommende Jhwh-Wort-Verständnis auch später für wichtig
und richtig gehalten hat.
– Mit Hos und Am sind zwei Propheten, die im Nordreich, und mit Mi und Zef
zwei, die im Südreich gewirkt haben, zusammengefasst, womit ein schönes
Äquilibrium zwischen Nord und Süd hergestellt ist (NOGALSKI). NOGALSKI meint
redaktionelle Textstücke benennen zu können, die auf der Stufe des dtr Mehr-
prophetenbuches als Verbindungsstücke eingeschaltet worden seien: Am 9,1–6
und Mi 1,2–7; zumindest im Fall von Am 9 ist das eine kühne Behauptung,
handelt es sich hier doch um die fünfte Vision im sog. Visionenzyklus (s. unten
bei 5).

Wesentlich weiter ist hier WÖHRLE (2006) vorgedrungen. Nach ihm verdanken
sich folgende Passagen dtr Redaktionsarbeit: Hos 3,1–4.*5; 4,*1.10.15; 8,1b.4b–
6.14; 13,2f.; 14,1; Am 2,4f.9–12; 3,1b.7; 4,*13; 5,11.25f.; 7,10–17; 8,5.6b.11f.; 9,7–
10; Mi 1,5b–7.9.12b; 5,9–13; 6, 2–4a.*9–15; Zef 1,4–6; 2,*1–9; 3, 1–4.6–8a.11–13.
Hier überall wird der Zusammenbruch zuerst des Nord-, dann des Südreichs als
unausweichliche Folge fortwährender kultischer und sozialer Verfehlungen hin-
gestellt. Die im dtr Geschichtswerk positiv geschilderten Kultreformen Hiskijas
und Joschijas erscheinen lediglich als göttliche Läuterungsgerichte; sie können
der Katastrophe nicht entgegenwirken, sind vielmehr nur deren Vorankündi-
gung. Vollkommen zu Recht ist die alte, verderbte Oberschicht bestraft und
verschleppt worden; auch von ihren Nachkommen, der Gola, ist nichts zu er-
hoffen. Nur die im Land Verbliebenen sind der legitime Rest Israels; einzig die
Niederen und Armen im Lande haben noch eine Zukunft. Anzusetzen ist diese
Bearbeitungsschicht und damit das Vierprophetenbuch zwischen 539 und 520
v. Chr., d. h. nach der Einnahme Babylons durch die Perser und vor der Rück-
kehr von Exulanten nach Juda.
V. Das Zwölfprophetenbuch 397

Das (spät)exilische Vierprophetenbuch ist einer von mehreren Versuchen in der


alttestamentlichen Literatur, die Exilskatastrophe geistig zu bewältigen. Im We-
sentlichen besteht er in einer Ätiologie des Gerichts, d. h. in dem Eingeständnis,
dass Gott dieses zu Recht verhängt habe. Allerdings gibt es (Haupt-)Verantwort-
liche dafür: die Führungsschicht zur Zeit des noch bestehenden Königtums.
Anders als im etwa zeitgleich entstandenen dtr Geschichtswerk werden die
Gründe für die Katastrophe nicht nur in kultischem, sondern auch in sozialem
Fehlverhalten gesehen (WÖHRLE, VT 2008). Hoffnung auf Gottes Zuwendung
können sich jetzt allenfalls noch die sozial Schwachen und vor Gott Demütigen
machen.

c) Ein exilszeitliches Zweiprophetenbuch (Nah-Hab)

Im grundsätzlich chronologischen Aufbau des Zwölfprophetenbuchs stehen die


drei Schriften Nah, Hab und Zef für die Zeit der assyrischen und babylonischen
Oberherrschaft über das allein noch bestehende Juda (in Jahreszahlen wäre das
die Zeitspanne von ca. 720 bis ca. 540 v. Chr.). Diese Zuweisung der drei Schrif-
ten ist nachvollziehbar, spielt in ihnen doch das Königreich Israel keine Rolle
mehr, steht vielmehr Juda allein dem neuassyrischen und dem neubabylonischen
Großreich gegenüber. Das eine ist in Nah und Zef präsent: gelegentlich unter
dem Namen „Assur“ (Nah 3,18; Zef 2,13), überwiegend aber in der Gestalt seiner
Hauptstadt Ninive (Nah 2–3; Zef 2,13–15). Demgegenüber treten in Hab die
„Chaldäer“ auf den Plan (Hab 1,6), die etwa auch im Jer-Buch für das neubaby-
lonische Reich stehen.
Macht also die Einordnung der drei Schriften in die assyrisch-babylonische
Epoche Sinn, so verwundert doch die Reihenfolge: Warum ist Hab, wo Babylon
das Gegenüber ist, nicht hinter Nah und Zef platziert, die von Assur handeln,
sondern dazwischen?
Wenn die Hypothese eines exilszeitlichen Vierprophetenbuchs Hos-Am-Mi-
Zef richtig ist, dann war diese letzte Schrift bereits frühzeitig in den Prozess einer
entstehenden Prophetenanthologie einbezogen. Offen ist aber, wann Nah und
Hab hinzukamen und warum diese beiden Schriften vor Zef eingeordnet wurden.
Zur Beantwortung dieser Frage kann von der davor liegenden Entstehungs-
geschichte dieser beiden Schriften nicht ganz abgesehen werden, die weiter unten
zu behandeln ist. Im Vorgriff ist hier nur zu sagen, dass sowohl Nahum als auch
Habakuk in der ausgehenden Assyrerzeit als Kritiker der außenpolitischen Bin-
dung Judas an Assur und der innenpolitischen Verhältnisse im eigenen Land
aufgetreten sind. Beide kündigten einen Umsturz der bestehenden Ordnung an,
wobei Nahum sich stärker (aber nicht nur!) auf das übermächtige und unersättli-
che Ninive fokussierte (Nah 2f.), Habakuk mehr auf die ungerechten und un-
sozialen Gegebenheiten in Juda (Hab *1f.). Während Nahum nicht ausdrücklich
sagt, wer dem Assyrerreich (und seinen judäischen Lakaien) den Garaus machen
wird, macht Habakuk dafür die Chaldäer namhaft.
398 D. Die Hinteren Propheten

Diese Erwartung ging mit der Ablösung des assyrischen durch das babyloni-
sche Großreich (Selbständigkeit Babylons 625, Zerstörung Ninives 612) und
speziell in Juda mit der Ablösung der Ära Manasses (696–640) durch diejenige
Joschijas (639–609) in Erfüllung: Umbrüche, die im Nachhinein die Glaubwür-
digkeit der (vermutlich schriftlich niedergelegten) Prophetie Nahums und Haba-
kuks bestätigten. Für Juda war indes an die Stelle der assyrischen die babyloni-
sche Fremdherrschaft getreten: bis hin zu den traumatischen Ereignissen 587/6
und dem Babylonischen Exil. Dies rief nach einer Neuausrichtung der Nah- und
der Hab-Überlieferung. Während man bei Nah dort, wo „Ninive“ gesagt war,
leicht „Babylon“ mithören konnte, wurde in beiden Schriften die Kritik an den
(früheren) judäischen Machthabern umgewandelt in eine Kritik an der östlichen
Großmacht (z. B. in Nah 2,1a.3a; Hab 1,9f.; 2,8.13.18f.). Diese Überarbeitung
erfolgte wohl zeitgleich und durch dieselbe Hand an beiden Schriften, die dabei
zu einer Doppelschrift zusammengefügt wurden (so KESSLER, DIETRICH) und
auch ihre einander so ähnlichen, sich aus dem Dodekapropheton herausheben-
den Überschriften erhielten (Nah 1,1; Hab 1,1). Die Reihenfolge beider Schriften
war nichts als logisch: Ninive war die Vorgängerin Babylons. Doch wie Ninive
untergegangen war, so würde auch Babylon untergehen (eine Erwartung, die sich
so nicht erfüllt hat!). Die Doppelschrift Nah-Hab ist somit als Trostschrift an die
Adresse des unter dem babylonischen Joch ächzenden Juda anzusprechen.

d) Ein frühnachexilisches Zweiprophetenbuch (Hag-PrSach)

Die Schriften Hag und PrSach (d. h. Sach 1–8) spiegeln unverkennbar Themen
der frühnachexilischen Zeit: ein neu erwachtes Interesse an Jerusalem, den
Wunsch nach Wiedererrichtung des Tempels, die Rückkehr von Exilierten nach
Juda, das Verhältnis zwischen Rückkehrern und Altjudäern, die Frage nach
geistlicher und/oder weltlicher Führung der jüdischen Volksgruppe, nicht zuletzt
auch Probleme der Ökonomie (dazu BAUER). Zudem zeigen die beiden Schriften
auffällige formale Gemeinsamkeiten, insbesondere eine gemeinsame Technik zur
Datierung einzelner Prophetenworte. So wurde schon öfter angenommen, sie
seien relativ bald zu einem Doppelbuch zusammengefügt und dann gemeinsam
in das entstehende Zwölfprophetenbuch eingeordnet worden (so z. B. NOGALS-
KI). WÖHRLE hat diese Vorgänge im Detail zu erhellen versucht.

Nach WÖHRLE (2006) entstand die Doppelschrift Hag-PrSach in der ersten Hälfte des
5. Jh.s in Juda. Spuren der redaktionellen Verknüpfungsarbeit finden sich vor allem in
PrSach (Sach 1,1–6.*14–17; 2,10–14; 4,9b; 6,15; 7,1.7.9–14; 8,1–5.7f.14–17.19b). Die
Redaktion hat die drei Datumsangaben in Sach (1,1.7; 7,1) nach dem Muster der Da-
tierungen in der Haggai-Schrift (Hag 1,1; 2,1.10.20) gestaltet. Gezählt wird hier wie
dort nach den Regierungsjahren des Perserkönigs Darius I. (521–485 v. Chr.). Dabei
wird das erste Datum in Sach (1,1: 8. Monat des 2. Jahres) bewusst so angesetzt, dass
eine in Sach 1,2–6 mitgeteilte Predigt, die Leute sollten umkehren zu ihrem Gott
Jhwh, vor die Gründung des Tempels zu liegen kommt (laut Hag 2,10.20 forderte
V. Das Zwölfprophetenbuch 399

Haggai diese Gründung noch im 9. Monat des 2. Jahres). Auf diese Weise wird die
Umkehr des Volkes zur Voraussetzung für den Tempelbau und die davon erhoffte
Zuwendung Gottes zu seinem Volk. Die Aufforderung, die Fastentage der tempellosen
Zeit durch Freudentage zu ersetzen, wird zwei Jahre nach Beginn des Tempelbaus
angesetzt (7,1–6; 8,18f.) – und sogleich um eine neuerliche Bußpredigt ergänzt, welche
die Behebung eingerissener sozialer Missstände einfordert (7,8–14).

Die Komposition Hag-PrSach knüpft die unbedingten Verheißungen, die im


älteren Bestand von Hag und Sach enthalten waren (z. B. Hag 2,1–9.20–23; Sach
8,6.9–13; auch die sog. „Nachtgesichte“ Sach *1–6), an Bedingungen: Die Leute
sollen ihr Verhältnis zu Gott und zum Nächsten in Ordnung bringen; erst dann
kann und wird Gott seine Versprechungen wahr machen. Es lässt sich hier eine
ganz ähnliche Intention erkennen wie in Jes 56–59 (vgl. oben II.2.b). Offenbar
hatte die Wende von der Babylonier- zur Perserherrschaft hohe Erwartungen
geweckt, die von Propheten mit hochfliegenden Verheißungen bekräftigt wur-
den. Als dann die politische und wirtschaftliche Realität im frühnachexilischen
Juda hinter den Hoffnungen zurückblieb und Enttäuschung sich breitmachte,
galt es, die kühnen Träume mit der ernüchternden Gegenwart in Einklang zu
bringen. Dies geschah nicht, indem die Verheißungen zurückgenommen, son-
dern indem sie an ein entsprechendes Verhalten der Menschen gebunden wur-
den.

e) Die Prophetenanthologie in der persischen Ära

Die in den vorangehenden Abschnitten beschriebene Tendenz, einzelne kleinere


Prophetenschriften zu größeren Kompositionen zu verbinden, birgt in sich eini-
ge Faktoren, die auf einen Fortgang dieses Prozesses drängten.
– Das exilische Vierprophetenbuch handelte von Propheten des 8. und 7., das
frühnachexilische Zweiprophetenbuch von solchen des 6. Jh.s. Der Gedanke lag
nahe, beide Kompositionen zu vereinen und so eine Art „Geschichte der Pro-
phetie in Israel“ zu gewinnen.
– Das Vierprophetenbuch trug, seiner Zeit und seiner Absicht gemäß, einen
vorwiegend düsteren Grundton. Als die Depression der Exils- und Nachexilszeit
nachließ, konnte und wollte man es dabei nicht belassen. So wurden die Schriften
Hos, Am, Mi und Zef offenbar in nachexilischer Zeit um ausgedehnte heilspro-
phetische Passagen erweitert (z. B. Hos 2,20–25; 3,5; 14; Am 4,13; 5,8; 9,6.7–15;
Mi 4–7; Zef 3) – ein Vorgang, wie er ja auch in den Büchern der „Großen Pro-
pheten“ zu beobachten war.
– Das Zweiprophetenbuch Nah-Hab wurde ebenfalls um heilvolle, insbesondere
hymnische Züge bereichert (vgl. die Psalmen Nah 1,2–8 und Hab 3,1–19). Hinzu
traten auch Joël und Ob: sei es als schon fertige, sei es als eigens für ihren jetzigen
Kontext geschaffene Texte (dazu später). Diese Schriften enthalten – darauf hat
WEIMAR hingewiesen – in ihrer jetzigen Gestalt keine Unheilsdrohungen (mehr)
gegen Israel/Juda, sondern nur gegen Assur, Babel, Edom, überhaupt gegen eine
400 D. Die Hinteren Propheten

feindselige Völkerwelt. Unheil gegen Feinde aber bedeutet letztlich Heil für
Israel/Juda. So liegen diese Schriften in dieser Hinsicht auf einer Linie mit dem
heilsprophetisch erweiterten Vierprophetenbuch und der an Heilsverheißungen
ebenfalls reichen Hag-Sach-Komposition.
Das bisher ausdifferenzierteste Modell zum Zusammenwachsen und Anwachsen eines
Mehrprophetenbuchs hat WÖHRLE (2008) vorgelegt. Er unterscheidet für das 5. und 4.
Jh. drei Stufen (und für das 4. und 3. Jh. noch einmal sechs weitere, vgl. unten f).
1. In der ersten Hälfte des 5. Jh.s wurde angeblich die Hos-Schrift vom Vierprophe-
tenbuch abgetrennt (eine recht schwierige und nicht zwingend nötige Annahme!).
Dafür erhielt die Sammlung im Grundbestand der Joël-Schrift eine neue Einleitung,
die eine große Dürre als Vorzeichen des „Tages Jhwhs“ deutet, zu Klage und Buße
aufruft und Jhwhs Zuwendung in Aussicht stellt (Joël *1f.). Gleichzeitig wurden den
nachfolgenden Schriften markante Heilsworte angefügt (Am 9,13aα.14f.; Mi 7,8–10a;
Zef 3,14–17). Insgesamt bildet sich so ein Weg „vom Gericht zum Heil“ ab, der vom
Gottesvolk mehrfach – in Am, Mi und Zef je aufs Neue – durchlaufen werden muss.
Nicht nur der Untergang der Staaten Israel und Juda, sondern auch die Not der früh-
nachexilischen Zeit erscheint nun als Gericht Jhwhs für die Sünde des Volkes. Zu-
gleich aber wird dieses des Heilswillens Jhwhs versichert.
2. An der Wende vom 5. zum 4. Jh. entstand ein sog. „Fremdvölker-Korpus I“, wel-
ches das Vierprophetenbuch (mit Joël und angeblich ohne Hos), das Zweipropheten-
buch Hag/PrSach und neu auch Nah (im Grundbestand) umfasste. Auf dieser Stufe
traten zu den älteren Schriften zahlreiche redaktionelle Zusätze hinzu: neben Ergän-
zungen in Joël 1f. mehr oder weniger ausgedehnte Passagen in Joël 4; Mi 4–7; Zef 2f.;
Hag 2; Sach 9f.; 12; 14. In ihnen wird noch einmal unterstrichen, dass die negativen
Geschichtserfahrungen Israels/Judas die verdiente Strafe für vielerlei Sünden waren.
Daneben aber wird nun die Schuld auch der anderen Völker betont (vgl. nur Nah und
Ninive!) und als Konsequenz auch ihnen Gericht angedroht. Die damit verbundene
Heilswende zugunsten des Jhwh-Volkes wird nicht von dessen Umkehr und richtigem
Verhalten abhängig gemacht, vielmehr ruft, so WÖHRLE, die zunehmende Bedrängnis
der Juden in der späten Perserzeit nach einem Eingreifen Jhwhs ohne Vorbedingun-
gen.
3. Im 4. Jh. nimmt die Hoffnung auf ein helfendes Eingreifen Gottes konkrete Gestalt
in der Erwartung eines neuen David an. In das Mehrprophetenbuch werden mehrere
sog. „messianische“ Weissagungen eingefügt (Am 9,11.12b; Mi 4,8; 5,1.*3.4a; Sach
9,9f.). Das in ihnen entworfene Herrscherbild ist frei vom Gestus militärischer Macht;
der verheißene König wird sich durch das Wort, nicht mit Gewalt durchsetzen, er
wird nicht Krieg, sondern weltweiten Frieden bringen.

Einen überraschenden Weg schlägt BOSSHARD (1987) ein, um eine bestimmte, relativ
späte Redaktionsstufe des Mehrprophetenbuches konkret zu fassen: Er sieht eine
Strukturanalogie zwischen diesem und dem Protojesajabuch, wobei eindeutig Jes das
Modell abgab, nach dem die Kleinen Propheten geformt wurden. Laut BOSSHARD lässt
sich Jes 1–39 grob in mehrere Abschnitte aufteilen, zu denen die ersten sechs Schriften
des Dodekapropheton (und zwar in ihrer jetzigen Abfolge!) in thematischer Entspre-
chung stehen:
– Gericht gegen das eigene Volk: Jes 1–11 // Hos; Joël 1
– Gericht gegen einzelne Fremdvölker: Jes 13–23 // Joël 2–4; Am 1
– allgemeines Völkergericht: Jes 24–27 // Ob
– Heil für das eigene Volk: Jes 34–35 // Zef
V. Das Zwölfprophetenbuch 401

Über einige Schriften spricht BOSSHARD nicht. Man könnte versuchen, Mi, Nah und
Hab dem Thema ‚Gegen fremde Völker‘ und Hag/PrSach dem Thema ‚Heil für das
eigene Volk‘ zuzuordnen, würde dabei aber das Argument der Anordnung schwä-
chen. BOSSHARD vermerkt ausdrücklich, dass bestimmte Schriften nicht in den dem Je-
sajabuch entsprechenden Aufriss passen und darum auf späterer Redaktionsstufe hin-
zugekommen seien: solche nämlich, die Gericht und Heil nicht nach Fremdvölkern
und eigenem Volk aufteilen, sondern beides beiden, Gojim wie Juden, ansagen, die
also eine Scheidung in Gerechte und Ungerechte unter allen Völkern erwarten. Das
betrifft Jona sowie Sach 9–14 + Mal.

Es zeichnet sich für die fortgeschrittene Perserzeit, d. h. für die zweite Hälfte des
5. und die erste des 4. Jh.s, die Herausbildung einer größeren, bis zu zehn Schrif-
ten umfassenden Prophetenanthologie ab. Folgende Schritte wurden dazu getan:
– Das exilszeitliche Vierpropheten- und das frühnachexilische Zweipropheten-
buch wurden zusammengefügt, womit sich eine „Geschichte der Prophetie“
einstellte. Hierdurch (sowie durch entsprechende Heilszusätze) wurde die düs-
tere Grundsicht des Vierprophetenbuchs aufgehellt: Durch das Gericht führte
ein Weg zum Heil.
– Neue Schriften kamen hinzu: Joël, Ob, Nah und Hab (jeweils im Grund-
bestand). Die ersten beiden, die sich gegen die Völkerwelt und speziell gegen
Edom richten, wurden möglicherweise ad hoc verfasst. Die anderen beiden wur-
den redaktionell so bearbeitet, dass ältere, israel-kritische Töne verschwanden
und Assur bzw. Babylon zum alleinigen Gegenstand göttlichen Zorns wurden (s.
dazu unten 3.9 und 3.10). So trat neben die Selbstkritik Israels (in den älteren
Schriften) scharfe Kritik an anderen Völkern, die das Gericht mindestens ebenso
verdient hatten wie Israel. Die Hoffnung auf eine grundlegende, für Israel
heilbringende Wende der weltpolitischen Verhältnisse brach sich Bahn.

f) Der Abschluss des Zwölfprophetenbuchs in hellenistischer Zeit

Zur Erforschung der Schlussredaktion(en) des Dodekapropheton hat STECK


wichtige Anstöße gegeben. Er schlug vor, unterschiedliche, in den jüngsten
Textschichten begegnende Positionen zu der Frage, wer denn auf künftiges Heil
hoffen dürfe – ganz Israel oder nur Teile Israels, nur Israeliten oder auch Nicht-
israeliten, und wenn ja: welche –, zur Unterscheidung verschiedener Redaktions-
stufen zu nutzen. Dabei stellte sich ein facettenreiches Bild ein.

STECK nimmt zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung gezielt die letzten Kapitel des
Dodekapropheton, d. h. DtSach und Mal. Die ältesten Textstücke in diesem Bereich
ortet er unerwartet in Mal 1. Freilich habe es sich dabei noch um keine unabhängige
Schrift gehandelt, sondern um eine Fortschreibung von Hag/PrSach aus dem frühen 5.
Jh., die erklären wollte, warum der wirtschaftliche Segen, den Haggai und Sacharja für
den Fall des Tempelbaus in Aussicht gestellt hatten, nach Vollendung des Tempels
nicht sogleich eintrat. Die Antwort: Weil im (neuen) Tempel, genauer: bei den Pries-
tern, Kultfrevel unterliefen. Die weiteren Wachstumsschritte erfolgten wesentlich
402 D. Die Hinteren Propheten

später, nämlich nach dem weltgeschichtlichen Epochenbruch von der Perser- zur Ma-
kedonenherrschaft und merkwürdigerweise genau an der (postulierten) Nahtstelle
zwischen Hag/PrSach und Mal:
1. Gegen Ende des 4. Jh.s sei hinter PrSach das Kapitel Sach 9 eingeschoben worden.
Dass hier „den Söhnen Jawans“, d. h. „Joniens“, göttliches Gericht und den von ihnen
unterworfenen Völkern einschließlich Israel Heil angesagt werde, weise auf eine Ent-
stehung kurz nach dem Siegeszug Alexanders d. Gr. hin, den der Autor also gar nicht
begrüßte!
2. Nach Errichtung der Diadochenreiche folgte mit Sach 10 die nächste Erweiterung.
Wenn darin von bevorstehendem Gericht an „Assur“ und „Ägypten“ die Rede ist, so
meine das die Seleukidenherrschaft in Syrien und die Ptolemäerherrschaft in Ägypten.
Diesmal freilich scheinen die Nachbarvölker Israels in das Gericht einbezogen, und
einzig Israel (als Ganzes!) darf noch auf Rettung aus dem Unheil hoffen.
3. Eine Zwischenstufe, die in Sach/Mal nicht vertreten ist, erweitert das Gericht zum
allgemeinen Weltgericht, wiederum darf einzig Israel Heil erhoffen.
4. Gemäß der nächsten Erweiterung, Sach 11–13, wird das Weltgericht nun auch
Israel treffen, während Jerusalem und Juda Läuterung und schließliches Heil zu ge-
wärtigen haben. Auf dieser Stufe tritt eine interessante, doppelte Differenzierung auf:
einerseits zwischen Israel und Juda, was auf die endgültige Loslösung der Samaritaner
vom Jerusalemer Judentum weist (die tatsächlich um 300 v. Chr. stattgefunden hat),
andererseits innerhalb Judas zwischen Frevlern und Frommen, denn nur dadurch
wird eine Läuterung nötig. Diese letztere Spaltung zielt auf den Hellenisierungspro-
zess, den die Ptolemäer bei einem Teil der jüdischen Oberschicht ausgelöst haben und
den andere im Judentum scharf ablehnten.
5. Nunmehr kommen mit Sach 14 und Mal 2f. (sowie Zef 3) Texte hinzu, in denen
sich eine wieder neue Vorstellung ausdrückt: Das Weltgericht trifft teilweise auch
Juda. D. h. die Spannungen sind so scharf geworden, dass einem Teil des Gottesvolkes
das Geschick der Heidenvölker droht. Und: das Weltgericht vernichtet nicht mehr alle
Völker außer Israel bzw. Juda, es lässt vielmehr hier wie dort einen Rest übrig. Fast
noch überraschender: Dieses Gericht wird als schon geschehen betrachtet, d. h. man
blickt auf schlimme Ereignisse bereits zurück (laut STECK auf ein gewaltsames Vorge-
hen von Ptolemaios I. gegen Jerusalem im Jahr 301). Damals blieben tatsächlich so-
wohl Juden als auch Nichtjuden am Leben. Und noch eine weitere Überraschung:
Diese Entronnenen werden allesamt einem erneuten Läuterungsgericht unterworfen,
welches die Ungehorsamen von den Gehorsamen sondert und nur den Letzteren das
Heil eröffnet. Solche Erwartungen seien in einer Epoche relativer Ruhe zwischen 240
und 220 (nach dem 3. Syrischen Krieg) gekeimt, als fromme Kreise im immer noch
ptolemäisch beherrschten Juda die endgültige Aufteilung in Gute (Toratreue) und
Böse (Hellenisten) erhofften.
(Auf der nächsten und letzten Stufe wird laut STECK Mal von Sach abgetrennt und zur
eigenen Schrift gemacht, womit dann das Zwölfprophetenbuch erreicht wäre, s. unten
14.)
6. Die letzte Stufe fällt bereits in die Seleukidenzeit Palästinas, die um 200 begann.
Damals räumten die neuen Herrscher den von ihnen übernommenen Juden erhebli-
che Privilegien ein – bzw. wollten das, wurden aber durch die jetzt vordringenden
Römer zu Rigorosität (v. a. im Geldeintreiben für die Aufrüstung …) gezwungen.
Nach dieser Enttäuschung und angesichts sich abzeichnender neuer Epochenbrüche
rücken die Spannungen innerhalb (Israels und) Judas in den Hintergrund; Mal 2,10–
12 und 3,22–24 erwarten die eschatologische Rettung ganz Israels am Ende der Tage.
Wir sind nah an oder schon mitten in der Apokalyptik – und wir haben jetzt erstmals
V. Das Zwölfprophetenbuch 403

das Zwölfprophetenbuch; denn auf dieser Stufe ist auch Mal 1,1 anzusetzen, eine zwi-
schengeschobene Überschrift, die bewirkt, dass eine eigene Prophetenschrift entsteht:
die zwölfte eben, und das mit Bedacht. Zugleich verweist 3,22–24 in einer wörtlichen
Anspielung zurück auf Jos 1,7f. (wo Mose den Josua zu Toratreue ermahnt), und das
bedeutet: Die Vorderen und die Hinteren Propheten werden jetzt (erstmalig) als ein
großer Zusammenhang gesehen und über allem die Tora des Mose als Leitstern wahr-
genommen …

Die Konstruktion STECKs ist überaus feinsinnig und artifiziell. Nicht alle Ent-
scheidungen und Begründungen sind leicht nachzuvollziehen: etwa dass drei
Ergänzer Texte zwischen PrSach und den Grundstock von Mal eingeschoben
haben sollen und dass später genau an dieser Stelle der letzte Ergänzer eine
Buchüberschrift implantiert habe; oder dass jede der behaupteten Textstufen
durch einen bestimmten politischen Vorgang ausgelöst worden sei (wobei übri-
gens auf die Erhebung sozialgeschichtlicher Hintergründe völlig verzichtet wird).

Eine etwas andere Sicht der Dinge hat WÖHRLE (2008) entwickelt. Ihm zufolge
hat das Mehrprophetenbuch in der hellenistischen Epoche ebenfalls sechs
Wachstumsstufen durchlaufen; dort, wo als Abgrenzungskriterium ebenfalls die
Weite des Gerichts-Horizontes dient, sind die Ergebnisse denjenigen STECKs
ähnlich.

1. An der Wende vom 4. zum 3. Jh. entstand laut WÖHRLE das „Fremdvölker-Korpus
II“ (zum „Fremdvölker-Korpus I“ s. oben bei e). Es enthält Fortschreibungen der bis-
her verbundenen Schriften (namentlich in Joël 4 und in DtSach, dazu aber auch Am
1,9–12; 9,*12f.). Neu hinzu kommt zudem ein Grundbestand von Mal (1,1.4f.) sowie
der für den Kontext verfasste Grundtext von Ob (1–16.17b.18–21; doch da es hier um
Edom geht und Edom für Juda in der Exilszeit zu einem Hauptfeind wurde, erscheint
diese Spätdatierung als nicht zwingend). In den genannten Texten spiegeln sich Über-
griffe gegen die Juden, die sich beim Umbruch von der persischen zur hellenistischen
Epoche die Griechen, aber auch die Phöniker, Philister und Edomiter haben zuschul-
den kommen lassen. Damals wurde Jerusalem belagert und erobert, Bewohner wur-
den in die Sklaverei verkauft. Einerseits räumen die fraglichen Texte ein, dass auch
dieses Gericht das Gottesvolk nicht unverschuldet getroffen hat, andererseits aber he-
ben sie die Schuld der anderen Völker hervor und stellen in Aussicht, dass Jhwh dem-
nächst gegen sie eingreifen und sein Volk von ihnen befreien werde.
2. Etwa zur gleichen Zeit wurde die Hab-Schrift ins Mehrprophetenbuch integriert,
ohne dass dafür größere redaktionelle Eingriffe nötig waren. (Diese Sonder-These zu
Hab erscheint recht kompliziert. Warum sollte die Schrift nicht früher, nämlich zu-
sammen mit Nah, aufgenommen worden sein?)
3. War bis jetzt das Mehrprophetenbuch von der Erwartung des Gerichts an den Völ-
kern dominiert, so entsteht in der ersten Hälfte des 3. Jh.s ein „Heil-für-die-Völker-
Korpus“. Die Tendenzwende wird durch relativ wenige Eingriffe bewirkt, nämlich
durch völkerfreundliche Fortschreibungen namentlich in Joël 3,1–5; Ob 17a; Mi 4,1–
4; Zef 3,9f.; Sach 2,15f.; 8,20–23; 14,16–19. Die neue Weltsicht ist, so WÖHRLE, das Re-
sultat einer Öffnung bestimmter Kreise im Judentum gegen den Hellenismus in seiner
Völker verbindenden kulturellen Funktion. Die Prophetie Israels nimmt jetzt einen
betont universalistischen Klang an.
404 D. Die Hinteren Propheten

4. Diese neue Tendenz wird, in der zweiten Hälfte des 3. Jh.s, unterstrichen im sog.
„Gnaden-Korpus“, das aus der letzten großen Bearbeitung des Mehrprophetenbuchs
hervorgegangen sei. (Wieder fragt sich: Ist dies wirklich eine eigene Stufe?) Die
Kenntexte dieser Schicht sind Joël 2,12–14; Mi 7,18–20; Nah 1,2b.3a; Mal 1,9 – und
vor allem die Jona-Schrift, die bei ihrem Einbau durch die „Gnaden“-Redaktion nicht
unwesentlich erweitert worden sei (z. B. in dem Psalm Jona 2,2–10). Den hier tätigen
Theologen geht es darum, die Voraussetzungen, Wirkungsweisen und Grenzen göttli-
cher Vergebungsbereitschaft auszuloten. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Langmut
und Selbstbeherrschung Gottes Juden wie Nichtjuden offensteht – falls sie bereit sind,
in sich zu gehen und sich dem Willen Gottes entsprechend zu verhalten.
5. Gegen Ende des 3. Jh.s wird das Mehrprophetenbuch in den biblischen Propheten-
kanon eingebunden: In Mal 3,22–24 werden Bögen geschlagen einerseits zu Jos 1,7,
andererseits zur Gestalt Elijas (1Kön 17–2Kön 2).
6. Angeblich als letzter Akt erfolgt die (Wieder-)Einordnung der Hos-Schrift an der
Spitze des gesamten Korpus. Die „Gnaden“-Redaktion hatte den Weg dazu frei ge-
macht, wird in Hos (insbesondere in Hos 11) doch eine ähnliche Theologie der Reu-
mütigkeit und Vergebungsbereitschaft Gottes vertreten wie etwa in Jona. Erst auf die-
ser letzten Stufe entsteht also wirklich das Zwölfprophetenbuch.

Der Vorzug der Konstruktion WÖHRLEs gegenüber derjenigen STECKs ist es, dass
sie sich nicht auf die Analyse weniger Kapitel, der letzten im Dodekapropheton,
beschränkt, sondern die Redaktionslinien jeweils durch das gesamte Korpus
hindurch auszieht. So sind seine Ergebnisse in mancher Hinsicht überzeugend;
andererseits erscheinen sie mitunter als über-kompliziert.
In einer Art vereinfachender Synthese der beiden vorgestellten Entwürfe las-
sen sich einige plausible Annahmen über den Abschluss des Zwölfpropheten-
buchs in der hellenistischen Epoche treffen. (Ob dabei jeweils an geschlossene
und voneinander abgrenzbare Redaktionen bzw. Buchkorpora zu denken ist,
muss hier nicht entschieden werden.)

In den jüngsten Textschichten des Dodekapropheton sind unterschiedliche Re-


aktionen auf die Herausforderungen des Hellenismus zu beobachten:
a) Auf der einen Seite wird eine Tendenz zu scharfer Abgrenzung Israels ge-
gen die Völkerwelt spürbar (insbesondere in Joël 4; Ob 15ff.; Sach 10f.; Mal 1).
Man erwartet „für die anderen“ Gericht, für sich selbst Heil. Derartige Wünsche
und Hoffnungen sind aus den politischen Turbulenzen und militärischen Zu-
sammenstößen, aber auch aus den sich verschlechternden sozio-ökonomischen
Bedingungen in der Folge des großen Umbruchs von der Perser- zur Makedo-
nenherrschaft und der Auseinandersetzungen zwischen den Diadochenreichen
sehr wohl erklärlich.
b) Auf der anderen Seite sind Tendenzen einer Öffnung Israels hin zur umge-
benden Völkerwelt zu verzeichnen. Nicht nur die Angehörigen des Gottesvolks,
auch diejenigen anderer Völker dürfen auf Gottes Gnade hoffen (so besonders
Jona; Mi 4; Zef 3; Sach 14). Dies ist ebenfalls eine erklärliche Reaktion auf die
damaligen Entwicklungen. Die Jhwh-Religion enthielt neben partikularistischen
auch universalistische Potenziale, die es ihren Anhängern ermöglichten, sich in
V. Das Zwölfprophetenbuch 405

dem Völker verbindenden hellenistischen Kulturraum zurechtzufinden und auch


einzurichten.
c) Unter dem Druck und den Verlockungen der veränderten Verhältnisse
kam es zu differenten Einschätzungen der Identität des Gottesvolks und seiner
Rolle in der Völkerwelt. Wen würden erwartete göttliche Strafgerichte treffen:
nur Nichtjuden oder auch Juden, und wenn Juden: alle oder nur bestimmte?
Wem würden Gottes Heilserweisungen gelten: Israel als ganzem oder nur den
wahrhaft Getreuen – oder auch Nichtjuden oder gar der gesamten Völkerge-
meinschaft? Solche Fragen werden namentlich in Zef 3; Sach 10–13 und Mal 2f.
diskutiert.

Der Diskurs über diese Fragen verleiht dem entstehenden Zwölfprophetenbuch


nicht nur Aktualität in der damaligen Zeit, sondern auch neue sachliche Tiefen-
schärfe. Zudem erreichte es nun auch quantitativ bzw. numerisch seinen vollen
Umfang. Bis dahin hatte es eine sukzessive angewachsene Prophetenanthologie
von bis zu zehn Schriften gegeben. Die symbolträchtige Zwölfzahl wurde erst
jetzt erreicht: durch die Aufnahme von Jona und die Separierung von Mal. Die
letzten Verse dieser letzten Schrift (Mal 3,22–24) machten das abgeschlossene
Dodekapropheton zum letzten Buch der prophetischen Bibliothek in der entste-
henden Hebräischen Bibel.

3. Hosea
Einzelkommentare: F. I. ANDERSEN / D. N. FREEDMAN, 1980 (AncB). – T. E. MCCOMISKEY in: Ders.
(ed.), The Minor Prophets, Vol 1: Hosea, Joel, Amos, Grand Rapids, MI 1992, 1–237. – E. BONS, 1996
(NSK.AT 23/1). – A. A. MACINTOSH, 1997 (ICC). – E. BEN ZVI, 2005 (OTL). – J. A. DEARMAN, 2010
(NICOT). – F. LANDY, 22011 (Readings).
Zu Kommentarreihen siehe oben bei V.

Einzeluntersuchungen: A. ALT, Hosea 5,8 – 6,6. Ein Krieg und seine Folgen in prophetischer Be-
leuchtung, in: Ders., Kl. Schriften II, München 31964, 163–187. – W. RUDOLPH, Präparierte Jung-
frauen?: ZAW 75 (1963), 65–73. – H. W. WOLFF, Hoseas geistige Heimat: Ders., Gesammelte Studien
1964 (TB 22), 232–250. – H. W. WOLFF, „Wissen um Gott“ bei Hosea als Urform von Theologie, in:
Ders., Gesammelte Studien 1964 (TB 22), 182–205. – I. WILLI-PLEIN, Vorformen der Schriftexegese
innerhalb des Alten Testaments, 1971 (BZAW 123). – H. UTZSCHNEIDER, Hosea. Prophet vor dem
Ende. Zum Verhältnis von Geschichte und Institution in der alttestamentlichen Prophetie, 1980
(OBO 31). – H. BALZ-COCHOIS, Gomer oder die Macht der Astarte: EvTh 42 (1982), 37–65. – T. D.
SETEL, Prophets and Pornography. Female Sexual Imagery in Hosea, in: L. M. Russell (ed.), Feminist
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ditionen Israels in der Verkündigung des Propheten Hosea, 1987 (BZAW 169). – G. A. YEE, Compo-
sition and Tradition in the Book of Hosea. A Redactional Critical Investigation, Atlanta, GA 1987. –
M. KÖCKERT, Prophetie und Geschichte im Prophetenbuch: ZThK 85 (1988), 3–30. – D. R. DANIELS,
Hosea and Salvation History. The Early Traditions of Israel in the Prophecy of Hosea, 1990 (BZAW
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(BWANT 131). – M. NISSINEN, Prophetie, Redaktion und Fortschreibung im Lichte von Hos 4 und
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406 D. Die Hinteren Propheten

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allein? …, 1994 (OBO 139), 329–248. – E. KRAGELUND HOLT, Prophesying the Past. The Use of
Israel’s History in the Book of Hosea, 1995 (JSOT.S 194). – F. CRÜSEMANN, Hosea und die Entste-
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The Rejection of Cult and Politics by Hosea: Henoch 19 (1997), 3–15. – N. MENDECKI, Postdeutero-
nomistische Redaktion des Buches Hosea?, in: K.-D. Schunck / M. Augustin (Hg.), „Lasset uns Brü-
cken bauen …“, 1998 (BEATAJ 42), 223–244. – R. TÖRNKVIST, The Use and Abuse of Female Sexual
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Die Ehe des Propheten Hosea: TThZ 108 (1999), 1–20. – H. PFEIFFER, Das Heiligtum von Bethel im
Spiegel des Hoseabuches, 1999 (FRLANT 183). – A. A. KEEFE, Woman’s Body and the Social Body in
Hosea, 2001 (JSOT.S 338). – W. GISIN, Hosea. Ein literarisches Netzwerk beweist seine Authentizität,
2002 (BBB 139). – E. BEN ZVI, Observations on the Marital Metaphor of YHWH and Israel in its
Ancient Israelite Context. General Considerations and Particular Images in Hosea 1.2: JSOT 28
(2003/4), 363–384. – B. E. KELLE, Hosea 2. Metaphor and Rhetoric in Historical Perspective, Leiden /
Boston 2005. – S. RUDNIG-ZELT, Hoseastudien. Redaktionskritische Untersuchungen zur Genese des
Hoseabuches, 2006 (FRLANT 213). – K. KEITA, Gottes Land. Exegetische Studien zur Land-Thematik
im Hoseabuch in kanonischer Perspektive, Hildesheim u. a. 2007. – R. VIELHAUER, Das Werden des
Buches Hosea. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung, 2007 (BZAW 349). – R. S. CHALMERS,
The Struggle of Yahweh and El for Hosea’s Israel, Sheffield 2008. – W. SCHÜTTE, „Säet euch Gerech-
tigkeit!“ Adressaten und Anliegen der Hoseaschrift, 2008 (BWANT 179). – E. BLUM, Hosea 12 und
die Pentateuchüberlieferungen, in: FS M. Köckert, 2009 (BZAW 400), 291–321. – K. WEISSFLOG,
Zeichen und Sinnbilder. Die Kinder der Propheten Jesaja und Hosea, Leipzig 2011 (Arbeiten zur
Bibel und ihrer Geschichte 36).

Forschungsberichte: S. BITTER, Die Ehe des Propheten Hosea. Eine auslegungsgeschichtliche Untersu-
chung, Göttingen 1975. – J.-G. HEINTZ / L. MILLOT, Le livre prophétique d’Osée. Textobibliographie
du XXème siècle, Wiesbaden 1998. – S. RUDNIG-ZELT, Die Genese des Hoseabuches. Ein Forschungs-
bericht, in: FS Peter Weimar, Münster 2003, 351–383. – B. E. KELLE, Hosea 1–3 in Twentieth-Century
Scholarship: CBR 7.2 (2009), 179–216.

a) Der Aufbau der Schrift

Hos gliedert sich in drei Teile (Kap. 1–3, 4–11 und 12–14), die in sich eine Art
konzentrische Struktur bilden: Im ersten und dritten Teil geht es um Israel als
Jhwhs Frau, im mittleren um Israel als Jhws Kind bzw. Sohn (YEE).
Im Anfangsteil Hos 1–3 wird diese Bildsprache grundlegend entfaltet: Hos 1
erzählt als Er-Bericht von der Eheschließung Hoseas und der Geburt dreier Kin-
der, die allesamt erschreckende Symbolnamen erhalten. In Hos 2 wendet sich ein
enttäuschter Ehemann (eher Jhwh als Hosea!) mit Vorwürfen und Drohungen an
seine offenbar treulose Frau und deren Kinder, um am Schluss aber eine Versöh-
nung in Aussicht zu stellen. Hos 3 schließlich berichtet im Ich-Stil, wie Hosea
seine untreue Frau (zurück)gewinnt. Die drei Kapitel sind wiederum chiastisch
angelegt: Zwei Berichte rahmen eine Rede.
Der Mittelteil Hos 4–11 ist ein in seiner Struktur nicht leicht durchschaubares
Gewebe aus überwiegend zornig-drohenden, aber auch zärtlich-verheißenden
Reden des Propheten bzw. seines Gottes an und über Israel. Die Kritik richtet
sich sowohl gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen Israels (soziale und ethi-
V. Das Zwölfprophetenbuch 407

sche Mängel, kultische Depravationen) als auch gegen politische, insbesondere


außenpolitische Fehlentscheidungen (Königsstürze, Kriegshändel, Kungeleien
mit auswärtigen Mächten). Die verschiedenen Reden und Redeteile gleiten ohne
markante Einleitungs- oder Schlussformeln ineinander über. Als Gliederungs-
signale mag man immerhin Imperative in 4,1; 5,1.8; 8,1 und 9,1 ansprechen. In
Hos 9 und 10 heben sich als Bildreden („Wüste“, „Weinstock“) gestaltete Ge-
schichtsrückblicke heraus, in Hos 11 wird ein Ton der Klage und endlich der
Hoffnung auf Heilung laut. Das Ganze scheint im Prinzip zeitgeschichtlich ge-
ordnet zu sein: Während in 4,1–5,7 von kriegerischen Verwicklungen noch
nichts zu erkennen ist, spiegelt sich in 5,8–6,6 anscheinend der sog. syrisch-
efraimitische Krieg (734/33) und gelangt man danach in die letzten Jahre des
Bestehens des Königreichs Israel (das 722 unterging).
Der Schlussteil Hos 12–14 ist überwiegend in einem meditativen Stil gehalten.
Ins Auge fallen intensive Reflexionen auf die frühere Heilsgeschichte Israels
(Erzvater Jakob, Exodus). Schwere Anklagen und harte Ankündigungen münden
in einen abschließenden Heilsausblick (14,2–9). Auch diese Texte könnten in das
letzte Jahrzehnt des Nordreichs Israel führen.
Sollte auch der Eingangsteil chronologisch angeordnet sein, dann erhielte man
in Hos 1–3 und 4–14 zwei zeitlich zueinander parallele Textreihen, die jeweils
ungefähr das Vierteljahrhundert von 750 bis 725 abdecken (so KELLE).

b) Die Entstehung der Schrift

Wie die Hos-Schrift entstanden sein mag, darüber ist sich die neuere und neueste
Forschung fast deprimierend uneinig. Während die einen einen möglichst gro-
ßen Teil des Textbestandes auf einen im 8. Jh. wirkenden Propheten Hosea
zurückführen möchten, rechnen die anderen mit einem vielstufigen Redaktions-
prozess, der im 8. Jh. höchstens einsetzte, dann aber weit hinunter bis ins persi-
sche, gar ins hellenistische Zeitalter fortdauerte. Zwischen diesen beiden Eck-
gibt es eine Vielzahl von Zwischenpositionen. In der Art eines knappen Kalei-
doskops sei die Komplexität der Forschungslage vor Augen geführt.

– Laut GISIN ist die gesamte Hos-Schrift – einschließlich der Überschrift 1,1 und
sämtlicher Erwähnungen Judas – von Hosea persönlich zwischen 728 und 725 v. Chr.
niedergeschrieben worden. Den Beweis soll ein sprachliches „Netzwerk“ liefern, das
die gesamte Schrift durchziehe und aus spezifischen Sprachformen wie Alliterationen,
Metaphern, Chiasmen, Wiederholungen, Zitaten, aber auch Amoszitaten, Judaerwäh-
nungen, Geschichtsrückblicken usw. bestehe. Das Vorhandensein solcher sprachlicher
Phänomene erkläre sich so, dass Hosea, wie alle Autoren, eine Neigung besitze, einmal
gefundene Begriffe, Satzfolgen, Metaphern usw. immer wieder aufzugreifen. So gebe
es zwar in Hos sekundäre Partien, doch seien dies Nachträge von Hosea selbst.
– MACINTOSH hält den Großteil der Hos-Schrift für das Werk Hoseas selbst: „a literary
composition, forged from a blend of the matter of his public oracles, of his personal
amplifications and of his meditations upon them“. Zunächst – d. h. vom Ende der Re-
408 D. Die Hinteren Propheten

gierungszeit Jerobeams II. bis zum syrisch-efraimitischen Krieg – sei der Prophet
öffentlich mit Reden aufgetreten; sie ließen sich noch gut fassen in 2,4–15 und den
Kapiteln 4–7. Nach dem Krieg habe er sich zurückgezogen, seine Reden niederge-
schrieben, mit Metaphern und anderen sprachlichen Kunstmitteln angereichert und
zu einem literarischen Ganzen geformt (i. W. Hos *2 und 4–8). In den Jahren vor 722
habe er eine Reihe von Meditationen angefügt, in denen er Folgerungen aus seinen
bisherigen Einsichten zog (Hos 9–14). Seinen Schülern enthüllte er damals, dass sein
persönliches Leben ein Gleichnis des Schicksals Israels sei. Er selbst oder ein Schüler
schrieb daraufhin die Kapitel 1–3 und setzte sie vor das Hauptcorpus 4–14. Die Schrift
sei nach dem Fall Samarias nach Juda gelangt und sei dort – vorwiegend im 7. Jh. –
mit einem Dutzend aktualisierender judäischer Einträge versehen worden (1,7; 3,5;
4,5.15; 5,5; 6,11; 9,4; 10,11; 11,10; 12,1.3; 14,10). Dazu kamen dann nur noch wenige
(nach-)exilische Glossen und die Überschrift 1,1.
– Für DEARMAN ist so gut wie die ganze Hos-Schrift das Werk Hoseas selbst und/oder
seines engsten Schülerkreises. Fast nichts in dem gesamten Text erfordere eine Datie-
rung nach dem 8. Jh. Selbst die Überschrift 1,1 gehe auf Schüler zurück, die nach dem
Untergang Israels 722 v. Chr. nach Juda übersiedelten.
– Auch KELLE hält die Hos-Schrift als ganze für weitestgehend authentisch. Ausge-
hend von einer bestimmten Interpretation und Datierung von Hos 2 (s. unten bei c)
postuliert er eine chronologische Abfolge der Texteinheiten in Hos 1–3 (wie auch in
Hos 4–14): Hos 1 spiegele die Zeit um 750, Hos 2 die um 731, Hos 3 die um 725; eine
ähnliche Zeitspanne umfasse die Sammlung Hos 4–14: von 747 (Hos 4) bis ca. 720
(Hos 14).
– SCHÜTTE deutet die häufigen Personenwechsel in Hos nicht, wie es sonst oft ge-
schieht, als Hinweis auf verschiedene Redaktionsstufen, sondern als Ausdruck einer
Kommunikationsstruktur. „Samaria“ sei selbstverständlich die Hauptstadt des König-
reichs Israel, „Efraim“ aber nicht, wie meist angenommen, ein Wechselbegriff für
„Israel“, sondern eine Bezeichnung nur der Führungsschicht des Nordreichs; von ihr
handelten auch in der 3. Pers. Pl. gehaltene, nicht näher adressierte Worte. Die in der
2. Pers. Sing. oder Pl. Angeredeten würden nun aufgefordert, sich von dieser Ober-
schicht fernzuhalten. Diese eigentlichen Adressaten der Schrift, die offenbar dem Kult
nahe stehen und in einem gesonderten Sozialgefüge zusammenleben, bestimmt
SCHÜTTE als levitische Kreise, denen auch der Prophet selbst angehöre. Zwischen den
einzelnen Buchteilen gibt es nun gewisse Differenzen hinsichtlich dieser Personage,
was auf unterschiedliche Entstehungszeiten hindeute: In 4,4–11,11 begegnet die 2.
Pers. im Sing. und im Pl., in 12,1–14,1 hingegen nur als (kollektiver) Sing. Diese bei-
den Sammlungen seien noch im Nordreich entstanden. Anders die übrigen Buchteile,
in denen sich nur mehr die Anrede in 2. Pers. Pl. findet, „Efraim“ dagegen fehlt; sie
stammten aus der Zeit nach 722. 14,2–10 sei als Abschluss der Großsammlung Hos 4–
14 konzipiert worden, während die Vorschaltung von 1,1–4,3 den Wechsel der Hos-
Tradition in einen judäischen Kontext erkennen lasse. Demnach stamme die Hos-
Schrift insgesamt also aus einem relativ kurzen „archaischen“ Zeitraum und richte
sich an ein sehr begrenztes Lesepublikum, was die Rätselhaftigkeit mancher Anspie-
lungen erkläre.
– Nach WOLFF enthielte die Schrift weitgehend hoseanische Überlieferung – freilich
nicht mehr in der ursprünglichen Gestalt mündlicher Verkündigungseinheiten, son-
dern längerer „Auftrittskizzen“, die nicht im Wortlaut die Reden des Propheten wie-
dergäben, in die vielmehr auch Repliken aus der Zuhörerschaft und Hoseas Reaktio-
nen darauf eingeflossen seien. Niedergeschrieben hätten dies, zeitlich nah am Gesche-
hen, Hoseas Schüler.
V. Das Zwölfprophetenbuch 409

– Laut WILLI-PLEIN liegt authentisches Material innerhalb der Passagen 2,16–24; 4,16–
19; 6,7–10; 7,3–7.13–16; 8,7–10; 9,*7–17; 10,9–13; 11,1–7; 12,*1–15 vor, und zwar in
Gestalt von neunzehn, streng im Parallelismus membrorum gehaltenen „Grundwor-
ten“. Diese seien im Laufe eines vielgestaltigen und vielstufigen Redaktionsprozesses
zur heutigen Hos-Schrift ausgebaut worden: 1) Noch in der Wirkungszeit des Pro-
pheten entstand die Sammlung 5,8–6,6. 2) Schüler verfassten bald nach 722 eine „bio-
graphische Denkschrift“: 1,2–3,4. 3) Eine mündlich tradierte Sammlung von Hosea-
Worten wurde schon vor 722 begonnen, aber erst später in Juda vollendet: 4,1–9,9.
4) Eine Sammlung zu (heils-)geschichtlichen Themen ist in 9,10–11,9 erhalten.
5) Wohl zur Zeit Manasses entstand eine aktualisierende Sammlung von Droh- und
Scheltworten in 12,1–14,9. 6) Die Hos-Schrift als ganze, einschließlich der Überschrift
1,1, wurde während der Exilszeit zusammengestellt. 7) Nachexilisch wurde die Schrift
für liturgische Zwecke neu eingeteilt; hierhin gehören Einträge in 1,7; 2,1–3; 3,5; 4,16;
5,15b–6,3; 7,10; 8,14; 10,10b.*12; 11,10f.; 12,6f.; 14,3f. 8) 14,10 ist das „Nachwort eines
Lehrers“.
– YEE bestimmt das authentische Hosea-Material anders (und schmaler!) und rechnet
danach nur noch mit drei Redaktionsstufen: 1. Die ‚echten‘ Hosea-Worte stammen
aus der Zeit des syrisch-efraimitischen Krieges (2,*4.5.7b.12; 4,4.5b.12b.18.19a;
5,1.2a.3.*5.8–13a.14; 6,8–10; 7,1–3.5–9.13–15; 8,8–10; 9,11–13.16; 10,11.13a; 12,1a.2–
4.8f.13.15; 13,12f.15; 14,1). – 2. Ein Sammler, der nach 722 in Juda wirkte, eröffnete
dieses Corpus durch einen ‚Berufungsbericht‘ in Hos 1 und schloss an die Drohungen
in Hos 2 eine Verheißung an (seine Textbeiträge: 1,2–4.*6.8f.; 2,4a.8.7a.*18.21.22a). –
3. Ein erster Redaktor, der zur Zeit Joschijas wirkte und deuteronomistisch geprägt
war, deutete den von Hosea politisch gemeinten Vorwurf der „Hurerei“ Israels ins
Religiös-Kultische um (wichtigste Texte: 2,*10–15; 4,*1–6.*13–19; 5,6f.; 6,6f.; 8,*1–6;
10,1–8). – 4. Ein zweiter, exilszeitlicher Redaktor war verantwortlich für die Endge-
stalt der Hos-Schrift; er schuf deren dreiteilige Gesamtstruktur (wichtigste Texte: 1,1;
3,1–5; 4,3; 11,1–11; 14,2–10).
– Auch JEREMIAS möchte den Großteil von Hos aus dem 8. Jh. herleiten. Doch die Su-
che nach einer ipsissima vox prophetae sei aufzugeben. Man könne nicht weiter zu-
rückgelangen als bis zu einer sorgfältig komponierten, in sich dicht verschränkten
Schrift, in welche Hoseaschüler bald nach ihrer Flucht aus dem untergehenden Nord-
reich die Verkündigung ihres Meisters umgeformt hätten. Sie bilde den Grundbestand
von Hos 4–14 und sei nur in relativ wenigen, aus verschiedenen Zeiten stammenden
Zusätzen an judäische Verhältnisse angepasst worden. Demgegenüber seien die drei
Sprucheinheiten des Eingangsteils (Hos 1, 2 und 3) lange je für sich überliefert und
erst spät unter der Perspektive „durchs Gericht zum Heil“ zusammengefügt worden.
– Auch NAUMANN vermag innerhalb von Hos 4–14 nur relativ wenige Verse als
„Nachinterpretationen“ zu erkennen: 4,3.5aβ.15; 5,5bβ; 6,11a.b; 7,10; 8,1b.14; 9,4b;
11,10; 12,1b.6; 14,2–4a.b.10, dazu noch kleinere interpretatorische Eingriffe in 9,10;
10,11 und 12,3. Ihnen, nicht dem ‚echten‘ Hosea, wendet er freilich sein ganzes
Augenmerk zu. Mit oft nur wenigen Worten verstünden es „Hoseas Erben“, ur-
sprünglichen Prophetenworten eine ganz neue Ausrichtung zu geben. Die Struktur
der Hos-Schrift ernsthaft verändern konnten und wollten sie allerdings nicht mehr.
– VIELHAUER macht „mündliche Verkündigung“ noch in 5,8–11; 6,7–9; 7,5f.8b.9 aus:
Passagen, die sich nach seinem Urteil „gut in die konventionelle Heils- und Mahn-
prophetie des Alten Orients“ fügen. Erst nach dem Untergang Samarias, in der ersten
schriftlichen Komposition 5,1f.; *6,7–7,12, wurde diese Normalprophetie zur unbe-
dingten Gerichtsprophetie umgeformt. Eine „Ergänzungsschicht“ im späten 8. Jh. be-
zieht dann Juda in das Gericht ein (durch 5,8–14 und 8,7–10). Ebenfalls noch im 8. Jh.
410 D. Die Hinteren Propheten

tritt eine „kultpolemische Ergänzungsschicht“ hinzu (namentlich in 4,*1–14; 5,5f.;


*5,15–6,6; *8,1–3; 9,*3–9). Der so entstandenen Schrift Hos 4,1–9,9 wachsen, wohl im
7. Jh., die Grundbestände von Hos 2 (in 2,4a.7b.12) und Hos 11 zu (11,1.3aα.4b.5a):
Ansatzpunkte für die Entwicklung des Anfangs- und des Schlussteils der Schrift. In
einer Ergänzungsschicht von Hos 2 und in der Grundschicht von Hos 10 zeichnen
sich erstmals dtr Denkmuster ab – womit wir uns in (nach-)exilischer Zeit befinden.
Peu à peu treten dann noch die Geschichtsrückblicke im Schlussteil und die biografi-
schen Abschnitte im Anfangsteil des Buches hinzu. – Dieses Entstehungsmodell, das
sichtlich von der Idee eines kreisförmigen Wachstums um einen Kern in Hos 5–7 be-
stimmt ist, schließt eine Frühdatierung von Texten in Hos 1–3 und 10–14 praktisch
aus.
– Demgegenüber erkennt RUPPERT in Hos 1–3 sieben Entstehungsstufen, von denen
allein vier Hosea gehören und noch vor den syrisch-efraimitischen Krieg zu liegen
kommen. Eine „Schülerredaktion“ habe dem schon vor 725 den Grundstock von Hos
1 vorgeschaltet, ehe um 620 „levitische Kreise in Juda“ „unter großjudäischem
Aspekt“ den Hauptbestand von Hos 3 hinzufügten. In der Exilszeit schließlich habe
eine „Endredaktion“ den jetzigen Text hergestellt.
– NISSINEN, der vor allem Hos 4 und 11 untersucht, sieht den ältesten Kern in *4,1–3
und *11,1–4: prophetischen – aber nicht hoseanischen! – Klagen um den Untergang
Samarias. Diese seien nicht lange nach 720 von einer ersten Redaktion zu einer Klage-
schrift ausgebaut worden, die bereits erhebliche Teile von Hos 4–11 umfasste und
durch Imperative sowie thematische Schwerpunktsetzungen gegliedert war. Der
nächste Bearbeitungsschritt erfolgte erst sehr viel später, in nachexilischer Zeit, im
Geiste einer dtr Bundestheologie (greifbar v.a. in 4,4–9; 6,4–7; 8,1b.4; 12,1–3; 13,4–8).
Den Abschluss bildet eine in sich nicht einheitliche heilseschatologische Schicht
(2,13.16–25; 3,1–5; 11,8–11; 14,2–9 u. a.).
– Auch ZELT-RUDNIG vermag in Hos überhaupt kein authentisches hoseanisches Gut
mehr festzustellen. Die lange Wachstumsgeschichte der Schrift habe erst nach 720 be-
gonnen, und nicht einmal in prophetischen Kreisen! Folgende Stufen seien zu unter-
scheiden: 1) Am Anfang standen einige weisheitliche Bildworte über den Untergang
des Nordreichs, ersonnen und kolportiert von höfischen Beamten im Südreich Juda
(in 7,8b.11a; 9,13a.16a.; 10,7). – 2) Diese Bildworte seien noch vorexilisch zu einer
„kommentierten Sammlung“ ausgebaut worden. – 3) In frühnachexilischer Zeit
machten daraus priesterkritisch gesonnene Kreise eine Prophetenrede (durch Zufü-
gung einiger Halb- und Viertelverse in 5,1.10a; 6,4b.9; 7,3.4.5.7; 9,8). – 4) Diese Pries-
terkritik sei nachträglich in die Sprachform eines Rechtsstreits gegossen worden. –
5) Ein spät-dtr Geschichtstheologe habe dem bis dahin vorliegenden Textbestand (zu-
sammen vielleicht zwanzig Verse!) in 1,1.2b–4.6 eine „Prophetenlegende“ vorange-
stellt und die Schrift des „Hosea ben Beeri“ – ins Zwölfprophetenbuch eingefügt. 6) In
chronistischer Zeit habe eine „Redaktorengruppe“ mittels „kleinteiliger Zusätze“ (im
Bereich von 1,8f.; 2,4–25; 5,12–6,3; 12,3–7.13f.; 14,2–8 u. a.) eine „Konglomerats-
schicht“ zum Thema „Abfall und Umkehr“ eingebracht, in der die Menschen im (sa-
marischen) Norden denen im (judäischen) Süden gleichgestellt werden. – 7) Die
nächste „Konglomeratsschicht“ namens „junge Samaria-Polemik“ attackiere wieder
einseitig den (samarischen) Norden (etwa in 1,5; 4,2b; 5,3; 6,8; 10,6; 12,15; 13,1–3),
was aber anschließend sogleich wieder „relativiert“ worden sei (z. B. in 4,3; 7,12;
10,10). – 8) Am Ende stehe die „jüngste Samariapolemik“ (u. a. in 3,1–4; 5,4; 7,13–16),
die indes auch wieder „relativiert“ wurde (in 3,5; 14,5b). Es ist deutlich, dass man sich
mit den letzten Schichten in der hellenistischen, der Zeit des jüdisch-samaritanischen
Schismas befindet.
V. Das Zwölfprophetenbuch 411

Was tun angesichts einer derart disparaten, um nicht zu sagen: desperaten For-
schungslage? Es seien thetisch einige Maximen formuliert, deren Subjektivität
angesichts der vorangehend dargestellten Diskussion offenkundig ist.
1. Die eigentümliche nordisraelitische Prägung der Hos-Überlieferung – greif-
bar in zeitgeschichtlichen Anspielungen, geographischen Angaben, traditionsge-
schichtlichen Rückgriffen, wohl auch einer spezifischen Dialektfärbung der Spra-
che (vgl. dazu besonders MACINTOSH) – lässt darauf schließen, dass zumindest
ihre Anfänge im noch bestehenden Nordreich Israel gelegen haben.
2. Zahlreiche Indizien weisen darauf hin, dass ein Prophet namens Hosea vor,
während und nach der Zeit des syrisch-efraimitischen Krieges (734/33) in Nord-
israel gewirkt hat. Möglicherweise spiegeln sich im Eingangsteil Hos 1–3 fami-
liäre Beziehungen dieses Mannes. In einer dazwischengefügten Reflexion werden
diese Informationen – vielleicht unter Verwendung ‚echten‘ Gutes – mit dem
derzeit zerrütteten, am Ende aber wiederherzustellenden Verhältnis Jhwhs zum
Land und Volk Israel in Beziehung gesetzt (Hos 2).
3. Die in Hos 4–14 zusammengestellten Prophetenreden scheinen eine chro-
nologische Folge abbilden zu wollen (von ca. 750 bis ca. 725 v. Chr.). Abgesehen
von einer schwachen Zäsur hinter Hos 11 sind derart wenige klare Struktur-
merkmale auszumachen, dass eine mündliche Verkündigung, wenn sie über-
haupt zugrunde liegt, äußerst stark schriftlich überformt worden sein muss – ob
vom Propheten selbst oder ihm Nahestehenden, sei dahingestellt. Hier wäre
weniger von „redaktioneller“ als von „schriftstellerischer“ Tätigkeit zu reden.
4. Relativ wenige Bearbeitungsspuren zeugen von der Aufnahme und Überlie-
ferung der Hos-Tradition im weiter existierenden Königreich Juda und auch
noch in der Zeit danach (dies betont BEN ZVI).
5. Scheinbare oder wirkliche Unklarheiten und Unebenheiten, Sprünge und
Spannungen können – unter dem hohen Risiko arbiträrer und zirkulärer
Schlussfolgerungen – als Spuren einer vielschichtigen, kleinfächerigen Auffüll-
und Redaktionsarbeit, sie können aber auch als Merkmale eines betont antiken
Textes verstanden werden, dessen Autor(en) sich nicht zuerst Idealen wie Ratio-
nalität, Folgerichtigkeit und Eindeutigkeit verpflichtet fühlte(n), sondern eine
Vorliebe besaß(en) für Metaphorik und Poesie, für Anspielungen und Verschlüs-
selungen, für intuitive und meditative Assoziationen, und die von späteren Tra-
denten wie Exegeten nicht mehr in jedem Punkt verstanden wurden.

c) Der Prophet

Angesichts der aufgezeigten literarischen Gegebenheiten und literargeschichtli-


chen Unsicherheiten empfiehlt es sich, nicht allzu dezidiert auf eine konkrete,
klar konturierte, in ihren Worten und Taten historisch sicher einzuordnende
prophetische Persönlichkeit abzuheben, sondern mehr auf das Bild eines nord-
israelitischen Propheten des 8. Jh.s, das in Hos offensichtlich gemalt werden soll
(und das allem Anschein nach in wichtigen Zügen authentisch gemalt ist). Dieses
412 D. Die Hinteren Propheten

Bild setzt sich aus einer Reihe von Facetten zusammen, denen hier nachgegangen
werden soll.

Der Eingangsteil verrät einiges über die familiären Verhältnisse dieses Propheten.
Der Er-Bericht Hos 1 erzählt von seiner Heirat mit Gomer, der Tochter eines
gewissen Diblajim. (Die alte Idee, dies sei eine Dualform von d ebelāh, „Feigenku-
chen“, und bezeichne den Preis für eine Dirne – erwogen noch in HALAT 200 –,
entspringt fragwürdiger Männerphantasie.) Die Charakterisierung der Frau und
der von ihr geborenen Kinder als „hurerisch“ (√ znh) ist vermutlich aus Hos 2
eingetragen (JEREMIAS). Ursprünglich erhielt der Prophet nur den Auftrag, eine
bestimmte Frau zu heiraten und mit ihr Kinder zu haben, denen er dann er-
schreckende Symbolnamen gab. Hos 3 bietet einen Ich-Bericht über das gleiche
Geschehen (nicht eine zweite Heirat, auch nicht eine Wiederverheiratung mit
Gomer – dies erst die Meinung der Redaktion). Hosea soll eine Frau heiraten, die
„von einem anderen geliebt und ehebrecherisch“ ist, was vermutlich nicht viel
mehr besagt, als dass sie nach damaliger Vorstellung (!) nicht mehr ganz unbe-
scholten ist und ihre Heirat darum als riskant zu gelten hat – so riskant, wie
Jhwhs Bindung an Israel (3,1). Der Prophet entrichtet den Brautpreis (3,2) und
verpflichtet die Frau zu Treue ihm gegenüber (3,3a). Der nächste Satz „… und
auch ich nicht zu dir“ (3,3b) ist unverständlich; ob ein Verb zu ergänzen ist („ich
gehe nicht zu dir“), bleibt unsicher, und wenn, dann bereitet dies womöglich nur
die – nach HAAG nachgetragene – Drohung gegen Israel (3,4) und die abschlie-
ßende Verheißung (3,5) vor. Zwischen diese beiden Berichte tritt mit Hos 2,4–25
die große Rede eines enttäuschten, weil betrogenen Gatten. Damit wird, in Auf-
nahme von 3,1, Hoseas (vermeintlich) missglückte Ehe zum Abbild der Bezie-
hung zwischen Jhwh und dem Land (nicht dem Volk!) Israel: Dieses ist Jhwh
untreu geworden und hat sich „Liebhabern“ hingegeben in der Meinung, von
ihnen Getreide, Wasser, Wolle, Flachs, Wein und Öl zu bekommen – wo doch
Jhwh ihm all dies gegeben habe! Unverkennbar übernimmt Israels Gott hier die
Rolle des Fruchtbarkeitsgottes, um sie „Baal“ bzw. „den Baalen“ streitig zu ma-
chen (2,10.15). Die ungetreue ‚Frau‘, d. h. das Land, will er damit bestrafen, dass
er ihm den Bewuchs nimmt und es so ‚entkleidet‘ und ‚bloßstellt‘ (dass dies, real-
physisch ausgeführt, damals eine Strafe für untreue Ehefrauen gewesen wäre, ist
weder aus Hos 2 noch sonst irgendwo zu belegen und entspringt wiederum
sexistischer Phantasie). Wenn dann die ‚Ehefrau‘ reumütig zu ihrem ‚Mann‘
zurückkehrt – unmerklich verschiebt sich die Metaphorik vom Land zu dessen
Bewohnern –, will Jhwh sich ihr neu anverloben: wie einst in der Jugendzeit, in
der Wüste, d. h. nach dem Auszug aus Ägypten und vor dem Einzug ins Gelobte
Land (2,16f.).
BEN ZVI unternimmt einen beachtlichen Versuch, die Ehe-Metaphorik von
Hos 2 soziologisch zu situieren, d. h. nachvollziehbar zu machen, wie sie auf
damalige Leser wirkte. Seinerzeit und zumal in männlicher Perspektive galt die
Ehe als asymmetrische Beziehung. So konnte sie als Bild für die Beziehung zwi-
schen Jhwh und einem am Ende hart bestraften Israel verwendet werden, das
V. Das Zwölfprophetenbuch 413

also wohl schwer gesündigt haben musste. Eine positiv-starke Frauenrolle konnte
unter dieser Voraussetzung nicht gezeichnet werden. Das Einzige, was diese
‚Frau‘ konnte, war, die Ehre ihres ‚Mannes‘ zu beschädigen. Das war in der Ver-
gangenheit geschehen und soll für die Zukunft ausgeschlossen werden. So er-
scheint Israel nach strenger Belehrung am Ende als ‚gute‘ Ehefrau (2,16–25). Die
in Aussicht genommene Rolle als Gemahlin Gottes wird die Leserschaft mit der
wenig vorteilhaften Rolle der Ehebrecherin zu Beginn versöhnt haben. Auch die
Zumutung, dass der Prophet eine ‚hurerische‘ bzw. ‚ehebrecherische‘ Frau zu
heiraten hat (1,2; 3,1), zeigt zugleich an, dass Israel, ungeachtet aller Fehlbarkeit,
von Jhwh erwählt ist. Und nur scheinbar nahm dieser dabei in Kauf, in seiner
Ehre verletzt zu werden; denn in Wahrheit gab es ja gar keine Nebenbuhler für
ihn. Zudem dienten die anderen Völker ihm noch viel schlechter als Israel. Eines
Tages, so die Hoffnung, würde nicht nur Israel, sondern die ganze Völkerwelt
ihm in Treue gehören …
Hos 2,16f. ist nur eine von mehr als einem Dutzend Stellen, an denen auf die
(Heils-)Geschichte Israels zurückverwiesen wird. Mehrere Epochen kommen
dabei in den Blick: die der Patriarchen (genauer: Jakobs), diejenige von Exodus
und Wüstenwanderung, die der Niederlassung in Kanaan und die staatliche Zeit
bis hinein ins 8. Jh. (womit Hos zum wichtigen terminus ad quem für einige
Pentateuch-Traditionen wird: nach DANIELS in schon verbundener, nach BLUM
in separierter Form). In Hos erscheint die gesamte Geschichte Israels als Einheit;
allein Jhwh ist es, der sie in freier Zuwendung zu gerade diesem Volk ermöglicht,
während Israel sie durch schuldhaftes Verhalten gefährdet (CRÜSEMANN).
Worin besteht Israels Schuld, womit zieht es die schweren Unheilsdrohungen
Hoseas auf sich herab? Gerade von Hos 2 her hat man dafür immer wieder reli-
giöses Fehlverhalten namhaft gemacht: synkretistische Gottesvorstellungen, eine
Vermischung von Jhwh- und El-Verehrung (so CHALMERS mit Blick auf angeb-
lich in Bet-El gepflegte Traditionen), eine ‚baalistische‘ bzw. ‚kanaanisierte‘
Fruchtbarkeitsreligion (gedacht meist als orgiastischer Kult, dem angeblich auch
Gomer verfallen war, so WOLFF, RUDOLPH, HAAG u. a.). Hoseas Plädoyer für
Treue zu Jhwh wäre dann ein Meilenstein auf Israels Weg vom Polytheismus
über den Heno- zum Monotheismus geworden (so ZOBEL, KRAGELUND HOLT
u. v. a.).
Dem gegenüber steht die Möglichkeit, dass Hosea sich vor allem gegen politi-
sche Fehlentwicklungen gewandt habe, wobei man sowohl an soziale und ökono-
mische als auch an außen- und staatspolitische Probleme zu denken hat.
– KEEFE deutet die Metaphorik von treuloser Frau, Hurenkindern, Prostitution
und Liebhabern als Kritik vorwiegend an einer sich schon lange anbahnenden,
um die Mitte des 8. Jh.s aber kulminierenden Entwicklung von einer kleinbäuer-
lich-kleinräumigen Subsistenzwirtschaft zu einer großflächigen und großräumi-
gen, international vernetzten, markt- und gewinnorientierten, von einer städti-
schen Elite dominierten Ökonomie. Themen, die ein Amos oder Micha direkt
ansprechen, werden von Hosea in eine Bildsprache gekleidet, die an Deutlichkeit
und Schärfe gleichwohl nichts zu wünschen übrig lässt. Die sexuell gefärbten und
414 D. Die Hinteren Propheten

oft sexistisch gedeuteten Bilder hätten nichts mit patriarchaler Geringschätzung


der Frau zu tun, sondern prangerten das Verhalten einer Lug und Trug nicht
scheuenden wirtschaftlichen und politischen Führungsschicht an. In der Gewalt-
haltigkeit mancher dieser Bilder spiegelten sich bloß die gewaltförmigen sozio-
ökonomischen Verhältnisse jener Zeit.
– Laut KEITA handeln die vom „Land“ sprechenden Texte (z. B. 1,2; 2,16f.; 8,1;
10,1) von ökonomischer Ausbeutung des Landes Israel und der es von Haus aus
bewirtschaftenden Kleinbauern.
– KELLE bestreitet gar, dass in Hos 2 eine Ehemetaphorik vorliege. Vielmehr sei
die ‚Frau‘, nach wohlbekannter Bildsprache, eine Stadt, nämlich Samaria. Deren
‚Untreue‘ bestehe nicht in religiöser Abkehr von Jhwh, sondern darin, dass sie
sich auf „Liebhaber“, d. h. auf Bündnispartner, einlasse, die sie ins Unglück
stürzten. ba‘al meine nicht die altkanaanitische Gottheit, sondern im Wortsinn
„Herr“, hier im Sinn von politischer Oberherrschaft. Gegenstand des Diskurses
seien sehr konkrete politische Vorgänge im Zusammenhang des sog. syrisch-
efraimitischen Kriegs, den Israel 734/33 v. Chr. im Schlepptau Arams gegen Juda
führte und gegen Assur (und Juda) verlor und in dessen Gefolge es zu einem
Bürgerkrieg zwischen dem für die desaströse Bündnis- und Kriegspolitik verant-
wortlichen König Pekach und dem assyrischen Protegé Hosea kam. Der Prophet
fordere nun Israel dazu auf, Seite an Seite mit Juda (vgl. 2,2!) den Pro-Aramäer
Pekach zu stürzen. Demnach wäre Hosea proassyrisch eingestellt gewesen!
(Ähnlich meint BONS, Hosea habe für Israel „die Chance einer relativen politi-
schen Selbständigkeit unter neuassyrischer Oberhoheit“ gesehen, die die herr-
schende Klasse am Ende aber verpasst habe. SWEENEY hält Hosea, gerade umge-
kehrt, für antiassyrisch und proaramäisch eingestellt. Offenbar sind die Texte
doch zu verschlüsselt, um ihnen klare politische Informationen entnehmen zu
können.)

Zuweilen werden auch Zwischenwege zwischen einer innen- und einer außen-
politischen Deutung der hoseanischen Kritik eingeschlagen.
– Für MOENIKES fallen falscher Kult und verkehrte Politik bei Hosea schlicht in
eins.
– YEE hält die Rede von „Ehebruch“ und „Hurerei“ für die bildhafte Benennung
intriganter ökonomischer und politischer Händel des Königreichs Nordisrael mit
fremden Mächten, für die nicht nur die politisch führende Schicht, namentlich
das Königshaus, sondern auch die Priesterschaft verantwortlich seien. Ein späte-
rer, vermutlich unter Joschija wirkender Redaktor habe diese Kritik an der Wirt-
schafts- und Außenpolitik des Staates Israel in eine Kritik nichtjahwistischer
Kultpraktiken umgedeutet.
– Laut JEREMIAS lassen sich, weil Hos 4–14 im Prinzip chronologisch geordnet
sei, drei Verkündigungsperioden unterscheiden, denen das ‚echte‘ Gut aus Hos
1–3 jeweils zuzuordnen sei. Demnach äußerte sich Hosea zu Beginn seines Auf-
tretens (nach 750) zum baalistisch kontaminierten Kultbetrieb in Israel (2,4–15;
4,4–5,7); während des syrisch-efraimitischen Krieges (733/32) wandte er sich
V. Das Zwölfprophetenbuch 415

außenpolitischen Themen zu (5,8–9,9); vor dem Untergang des Nordreichs


(731–724) setzte er sich mit kultischen und politischen Fehlentwicklungen aus-
einander (2,16f.; 3,1–4; 9,10–14,1).
Auffällig und in der Forschung strittig ist das Neben- und Ineinander von
Unheils- und Heilsaussagen bei Hosea. Früher und bis heute galten häufig die
Unheilsankündigungen als ‚echt‘ und alt, die Heilsweissagungen dagegen als spät
und nachgetragen (so auch heute MENDECKI, wenn er die Verheißungen in 2,1–
3.18–25; 3,5; 11,8–11; 14,2–9.10 einer „post-dtr“ Redaktionsstufe zurechnet).
Neuerdings findet sich zuweilen die gerade Umkehrung: Hosea sei ein „Heils-
und Mahnprophet“ gewesen; die Unheilsbotschaften seien erst post festum, d. h.
frühestens nach 722, in die Hos-Überlieferung eingebracht worden (VIELHAUER,
ähnlich NISSINEN und ZELT-RUDNIG). Ist die erste Position zu stark von der Vor-
stellung geprägt, ein Prophet müsse ein einsamer Oppositioneller sein, so die
zweite von der gegenteiligen, er müsse dem Zeitgeist entsprochen haben. Bei
Hosea sind Unheils- und Heilsaussagen derart eng und unlösbar ineinander
verflochten, dass sich kaum das eine für primär und das andere für sekundär
erklären lässt. Es scheint, als habe dieser Prophet das eine befürchtet und doch
das andere erhofft (so JEREMIAS, SWEENEY u. a.; vgl. auch IRSIGLER, der nach de-
taillierter form- und literarkritischer Untersuchung Hos 11, ein von besonders
anrührenden Heilszusagen geprägtes Kapitel, für großenteils authentisch und
noch vor 720 im Schülerkreis verschriftet und redigiert erklärt).

Ein Wort noch zur Sprache Hoseas, der besonders gründlich MACINTOSH in
seinem Kommentar nachgegangen ist. Er nennt Hosea „simply a master of lan-
guage“. Mehr als jeder andere Prophet wage er es, für Gott und in seinem Namen
zu sprechen. Er integriere in seine Texte Gebete, Meditationen, juristische
Sprachformen, ausgefallene Metaphern (nicht zuletzt auch zur Beschreibung
Gottes), Stilmittel wie Wiederholung, Alliteration, Wortspiel u. a. Und dann, mit
einem Zitat S.R. Drivers, eines Auslegers des 19. Jh.s: „Hosea’s style seems to be
the expression of the emotion which is stirring in his heart: his sensitive soul is
full of love and sympathy for his people; and his keen perception of their moral
decay, and of the destruction toward which they are hastening, produces in
consequence a conflict of emotions, which is reflected in the pathos, and force,
and artless rhythm of sighs and sobs, which characterise his prophecy.“

4. Joël
Kommentare: R. B. DILLARD, in: T. E. McComiskey (ed.), The Minor Prophets, Vol 1: Hosea, Joel,
Amos, Grand Rapids, MI 1992, 239–313. – U. DAHMEN (/ G. Fleischer), Die Bücher Joel und Amos,
2001 (NSK 23/2).
Zu Kommentarreihen siehe oben bei V.
Einzeluntersuchungen: M. TREVES, The Date of Joel: VT 7 (1957), 149–156. – J. BOURKE, Le jour de
Yahvé dans Joël: RB 66 (1959), 5–31. – E. KUTSCH, Heuschreckenplage und Tag Jahwes in Joel 1 und
2: ThZ 18 (1962), 82–95 = Ders., Kleine Schriften zum AT, 1986 (BZAW 168), 231–244. – J. M.
416 D. Die Hinteren Propheten

MYERS, Some Considerations Bearing on the Date of Joel: ZAW 74 (1962), 177–195. – H. W. WOLFF,
Die Botschaft des Buches Joel, 1963 (ThEx NF 109). – H.-P. MÜLLER, Prophetie und Apokalyptik bei
Joel: Theologia Viatorum 10 (1965/66), 231–252. – W. RUDOLPH, Wann wirkte Joel?: F. Maas (Hg.),
Das ferne und das nahe Wort, FS L. Rost, 1967 (BZAW 105), 193–198. – E. G. MEDD, An Historical
and Exegetical Study of the „Day of the Lord“ in the Old Testament with Special Reference to the
Book of Joel, 1968. – R. F. STEPHENSON, The Date of the Book of Joel: VT 19 (1969), 224–229. – B.
REICKE, Joel und seine Zeit: H. J. Stoebe (Hg.), Wort – Gebot – Glaube, FS W. Eichrodt, 1970
(AThANT 59), 133–141. – G. W. AHLSTRÖM, Joel and the Temple Cult of Jerusalem, 1971 (SVT 21).
– G. S. OGDEN, Joel 4 and Prophetic Responses to National Laments: JSOT 26 (1983), 97–106. – W. S.
PRINSLOO, The Theology of the Book of Joel, 1985 (BZAW 163). – P. L. REDDITT, The Book of Joel
and Peripheral Prophecy: CBQ 48 (1986), 225–240. – S. BERGLER, Joel als Schriftinterpret, 1988
(BEAT 16). – F. E. DEIST, Parallels and Reinterpretation in the Book of Joel – a Theology of the Yom
Yahweh?: FS F. C. Fensham, 1988 (JSOT.S 48), 63–79. – J. JEREMIAS, Art. Joel/Joelbuch: TRE 17, 1988,
91–97. – W. S. PRINSLOO, The Unity of the Book of Joel: ZAW 104 (1992), 66–81. – J. S. CRENSHAW,
Who Knows What YHWH Will Do? The Character of God in the Book of Joël, in: A. B. Beck et al.
(eds.), Fortunate the Eyes That See, FS D. N. Freedman, Grand Rapids 1995, 185–196. – E. R.
WENDLAND, The Discourse Analysis of Hebrew Prophetic Literature. Determining the Larger Textual
Units of Hosea and Joel, Lewiston/Queenston/Lampeter 1995. – J. D. NOGALSKI, Joel as Literary
„Anchor“ for the Book of the Twelve, in: Ders. / M. A. Sweeney (eds.), Reading and Hearing the Book
of the Twelve, Atlanta, GA 2000, 91–109. – R. SCORALICK, „Auch jetzt noch“ (Joel 2,12a). Zur Eigen-
art der Joelschrift und ihrer Funktion im Kontext des Zwölfprophetenbuchs, in: E. Zenger (Hg.),
„Wort JHWHs, das geschah …“ (Hos 1,1). Studien zum Zwölfprophetenbuch, 2002 (HBS 35), 47–69.
– M. A. SWEENEY, The Place and Function of Joel in the Book of the Twelve, in: P. L. Redditt / A.
Schart (eds.), Thematic Threads in the Book of the Twelve, 2003 (BZAW 325), 133–154 = Ders.,
Form and Intertextuality in Prophetic and Apocalyptic Literature, 2005 (FAT 45), 189–209. – J. R.
LINVILLE, Bugs Through the Looking Glass. The Infestation of Meaning in Joel, in: R. Rezetko (ed.),
Reflection and Refraction, FS A. G. Auld, 2007 (VT.S 113), 283–298. – J. STRAZICICH, Joel’s Use of
Scripture and the Scripture’s Use of Joel. Appropriation and Resignification in Second Temple Ju-
daism and Early Christianity, Leiden / Boston 2007 (Biblical Interpretation Series 82). – A. K.
MÜLLER, Gottes Zukunft. Die Möglichkeit der Rettung am Tag JHWHs nach dem Joelbuch, 2008
(WMANT 119). – B. SCHLENKE / P. WEIMAR, „Hab Mitleid, JHWH, mit deinem Volk!“ (Joel 2,17).
Zu Struktur und Komposition von Joel (I): BZ NF 53 (2009), 1–28. – B. SCHLENKE / P. WEIMAR, „Und
JHWH eiferte für sein Land und erbarmte sich seines Volkes“ (Joel 2,18). Zu Struktur und Komposi-
tion von Joel (II): BZ NF 53 (2009), 212–237. – E. ASSIS, The Structure and Meaning of the Locust
Plague Oracles in Joel 1,2–2,17: ZAW 122 (2010), 401–416. – E. ASSIS, The Book of Joel. A Prophet
between Calamity and Hope, London 2013.

Forschungsbericht: R. COGGINS, Joel: Currents in Biblical Research 2.1 (2003), 85–103.

a) Der Aufbau der Schrift

Joël gliedert sich nach der Überschrift 1,1 in zwei große Teile: einen ersten mit
Klagen und Umkehrrufen angesichts der Bedrohung Jerusalems und Judas durch
eine Heuschrecken- und Dürreplage sowie durch eine Feindinvasion, und einen
zweiten mit Zusagen der Hilfe Jhwhs für sein Volk und seines Eingreifens gegen
die Feinde, gipfelnd in der Ankündigung des göttlichen Geistes für das Gottes-
volk und eines universalen Gerichts gegen die Völker.
Wo genau die Hauptzäsur und danach die Unterzäsuren anzunehmen sind, ist in
der Forschung strittig. Hier seien vier Gliederungsversuche aufgeführt, die jeder
für sich eine gewisse Plausibilität aufweisen:
V. Das Zwölfprophetenbuch 417

SWEENEY legt die Hauptzäsur schon hinter 2,14 und rechnet überdies mit einem
dreiteiligen Aufbau:
A 1,2–20: Prophet’s Call to Communal Complaint concerning the Threat of the
Locust Plague
B 2,1–14: Prophet’s Call to Communal Complaint concerning the Threat of Invasion
C 2,15–4,21: Prophet’s Announcement of YHWH’s Response to Protect People from
Threats

STRAZICICH sieht die Hauptzäsur hinter 2,17 und erkennt im ersten Hauptteil zwei, im
zweiten vier Unterteile (die sich jeweils noch weiter aufgliedern):
I 1,2–2,17: Aufrufe zu allgemeiner Klage und Buße angesichts des Tages Jhwhs
A 1,2–20: Aufrufe zu allgemeiner und individueller Klage angesichts von
Naturkatastrophen
B 2,1–17: Erneuter Klageaufruf angesichts militärischer Bedrohung
II 2,18–4,21: Jhwhs großmütige Antwort auf Judas Klage
A 2,18–20: Vergewisserung des gnädigen Gottes
B 2,21–27: Verheißung geheilter Natur nach der Heuschrecken- und Dürre-
plage
C 3,1–4,17: Ankündigung der Rettung Zions am Tag Jhwhs
D 4,18–21: Jhwhs Herrschaft auf dem Zion und Judas Sicherheit

Auch SCHLENKE / WEIMAR (und ähnlich schon WENDLAND) legen die Hauptzäsur
hinter 2,17 und erkennen davor und danach ringförmig angeordnete Doppelstruktu-
ren (d. h. etwa: A entspricht D, B1 entspricht C2 usw.):
A 1,2–20
1) 1,2–14: Aufruf zur Klage angesichts gegenwärtiger Bedrängnis
2) 1,15–20: Die Nähe des Tages Jhwhs
B 2,1–17
1) 2,1–11: Alarmruf angesichts des bevorstehenden Tages Jhwhs
2) 2,12–17: Aufruf zur Umkehr
C 2,18–3,5
1) 2,18–27: Ansage der Heilswende
2) 3,1–5: Vorzeichen der Heilswende (Geistausgießung)
D 4,1–21
1) 4,1–17: Der Tag Jhwhs als Heil für Juda und Gericht für die Völker
2) 4,18–21: Bilder der anbrechenden Heilszeit

DAHMEN sieht die Hauptzäsur erst hinter 2,27 und postuliert in den Kapiteln 1f. und 4
gesonderte Ringstrukturen:
1,2f.: Höraufruf
1,4–20: Heuschrecken- und Dürrenot
2,1–11: Feindesnot
2,12–17: Klage und Bitte des Volkes
2,18–19: Zuwendung Jhwhs
2,20: Abwendung der Feindesnot
2,21–26a: Beseitigung der Dürre- und Heuschreckennot
2,26b–27: Abschließende Verheißung
4,1: Restauration Judas
4,2: Völkergericht in Joschafat
4,3–8: Sklaverei Israels
418 D. Die Hinteren Propheten

4,9–16a: Völkergericht in Joschafat


4,16b–21: Restauration Judas

In jedem Fall ist der Aufbau der Schrift aufs Ganze gesehen bestechend einfach –
auf menschliches Klagen folgen göttliche Zusagen –, während die Ausgestaltung
im Einzelnen recht artifiziell zu sein scheint. Ins Auge fallen mehrfache Repeti-
tionen, die zu einer raffinierten Perspektivverschränkung führen (so DEIST): etwa
zu der zwischen Heuschrecken und Feinden (1,2–20 / 2,1–17, vgl. auch 2,10f. /
4,14–17). Auch einzelne Ausdrücke oder Phrasen werden mehrfach wiederholt,
wobei aber die Bedeutung variiert, was der Schrift eine sinnfällige Geschlossen-
heit bei gleichzeitiger Sinnoffenheit verleiht (MARCUS). Ein die gesamte Schrift
bestimmendes Motiv ist das des „Tages Jhwhs“ (vgl. dazu BOURKE, MEDD,
MÜLLER, SCHLENKE / WEIMAR); er wird fünfmal ausdrücklich ausgerufen (1,15;
2,1f.11; 3,4; 4,14), steht aber durchgehend im Hintergrund und trägt einen zu-
nächst für Juda, dann für die Völker bedrohlichen, für Juda aber rettenden
Klang.

b) Die Entstehung der Schrift

Lange Zeit galt der Forschung als ausgemacht, dass Joël auf (mindestens) zwei
Stufen entstanden ist: einer früheren, möglicherweise schon vorexilischen, die in
der Hauptsache von einer Heuschreckenplage und der durch sie geforderten
Hinkehr zu Jhwh handelte (1,2–2,17), und einer späten, bereits protoakalyptisch
gefärbten, die diesen konkreten Anlass zu einem Universalgemälde vom Kampf
der Völker gegen den Zion und vom göttlichen Gericht über sie ausweitete
(2,18–4,21). Auch wenn solche Positionen nach wie vor vertreten werden (z. B.
REDDITT, BARTON), setzt sich doch mehr und mehr die Annahme literarischer
Einheitlichkeit durch. Für sie lässt sich der planvolle Aufbau der Schrift geltend
machen (siehe bei a), aber auch durchgehende inhaltliche Züge. Zu ihnen gehört
insbesondere ein Phänomen, das zu Recht in der Forschung viel Aufmerksamkeit
gefunden hat (vgl. z. B. WOLFF, WENDLAND, NOGALSKI, BERGLER, COGGINS): die
ungewöhnliche Dichte und Häufigkeit von Zitaten aus und gedanklichen Anlei-
hen bei anderen prophetischen Schriften.

Die Liste der Parallelen ist eindrucksvoll: Vgl. 1,7 mit Hos 10,1; 1,10.12 mit Jes 24,7;
1,12 mit Hag 2,19; 1,15 mit Jes 13,6, Ez 30,2, Am 5,18.20 und Zef 1,7; 2,2 mit Zef 1,14–
16; 2,4 mit Nah 3,2; 2,3 mit Jes 51,3; 2,6 mit Nah 2,11; 2,10a mit Jes 13,13; 2,10b mit
Jes 13,10; 2,11 mit Mal 3,2.23; 2,13 mit Ex 34,6f., Jona 4,2 und Nah 1,3; 2,14 mit Am
5,15 und Jona 3,9; 2,18 mit Sach 8,12; 2,19 mit Hos 2,24 und Sach 8,12; 2,20 mit Jer
1,14f. u. ö.; 2,27 mit Jes 45,5.6.18 sowie Hos 13,4; 3,1 mit Ez 39,29; 3,5 mit Ob 17; 4,6
mit Am 1,6–10; 4,1 mit Jer 33,15; 4,2 mit Jes 66,18; 4,4 mit Ob 15; 4,9 mit Jer 6,4; 4,10
mit Mi 4,4 und Jes 2,4; 4,13 mit Mi 4,13, Jer 25,30 u. ö.; 4,16 mit Am 1,2; 4,17 mit Jes
8,18; 4,17 mit Jes 52,1; 4,18 mit Am 9,13.
V. Das Zwölfprophetenbuch 419

In den meisten dieser Fälle ist eindeutig Joël die nehmende Seite, nur selten ist an
die umgekehrte Abhängigkeitsrichtung zu denken. Ein solches Spiel mit Inter-
textualität setzt eine erhebliche Gelehrsamkeit des Autors, aber auch eine gewisse
literarische Bildung des Publikums voraus. Dass gerade auch junge Texte aufge-
rufen werden, weist auf ein relativ spätes Entstehungsdatum der Schrift. Kon-
krete Anhaltspunkte für deren exakte Datierung gibt es nicht. Sollte an ihrem
Anfang eine Heuschrecken- oder Dürreplage gestanden haben (was zunehmend
bezweifelt wird: vgl. etwa OGDEN, SCORALICK, LINVILLE), lässt sich ein solches
Ereignis doch kaum näher datieren. So verwundert es nicht, dass die zeitlichen
Ansetzungen weit auseinanderlaufen. Die Dodekapropheton-Redaktion hat Joël
der Prophetie des 8. (MT) bzw. des 7. Jh.s (LXX) zugeordnet. Die Ansätze der
neueren Forschung umspannen von da an mehr als ein halbes Jahrtausend: von
der Assyrerzeit (KELLER) über die babylonische (RUDOLPH, ASSIS), die frühe
(AHLSTRÖM, REICKE, MYERS), die mittlere (BARTON) und die späte Perserzeit
(WOLFF, JEREMIAS, STEPHENSON, BERGLER, STRAZICICH) bis zur hellenistischen
(TREVES) oder gar makkabäischen Zeit (DUHM).
Eine Anzahl von Indizien spricht am ehesten für die späte Perserzeit: In 3,1
wird Ob 17 zitiert – und damit eine frühestens exilische Schrift. In 1,9.14.16;
2,17; 4,18 wird der (Zweite) Tempel erwähnt, der 515 v. Chr. eingeweiht wurde,
in 2,9 die Mauer Jerusalems, die Nehemia um 450 v. Chr. wieder aufgebaut hat.
Andererseits wird in 4,19 noch die Existenz Edoms innerhalb seines ange-
stammten Gebietes vorausgesetzt, womit es infolge des Vordringens der Naba-
täer spätestens um 300 v. Chr. ein Ende hatte. Ebenso werden in 4,4 Sidon und
Tyrus als freie Städte genannt; die eine wurde 343 v. Chr. von Artaxerxes, die
andere 333 von Alexander d. Gr. zerstört. Auch das Bild eines schwungvollen
Sklavenhandels von Griechenland bis Arabien mit der Levante als Drehscheibe
(4,3.6.8) passt am ehesten in die späte Perserzeit.

c) Der Prophet

Die Schrift wird in 1,1 einem Joël ben Petuël zugeschrieben. Den ersten Namen
trägt ein Dutzend weiterer Personen im AT (allermeist übrigens in späten
Schriften), der zweite begegnet nur hier. Zeigt die Kargheit dieser Angaben, dass
Joël seinerzeit allgemein bekannt und als prophetische Autorität anerkannt war
(DILLARD)? Oder handelt es sich um einen Programmnamen („Jhwh ist Gott“),
hinter dem gar keine konkrete Prophetenpersönlichkeit stehen muss? So sehen
die einen in Joël wegen seiner Nähe zur priesterlichen Welt (1,9.13.14.16; 2,1.15–
17) und zum Jerusalemer Tempel (mit seiner Bibliothek!) einen Tempelprophe-
ten (z. B. AHLSTRÖM) oder Kultpropheten (STRAZICICH), während andere be-
zweifeln, dass jemals ein Mann dieses Namens im Sinne der früheren Prophetie
mit einer Botschaft öffentlich aufgetreten ist; „Joël“ sei vielmehr von Anfang an
eine prophetisch-theologische Programmschrift gewesen (DEIST), abgefasst wo-
möglich bereits mit Blick auf eine verbindende Funktion in der entstehenden
420 D. Die Hinteren Propheten

Anthologie „kleiner“ Propheten (so NOGALSKI, SCORALICK, auch DAHMEN, der


freilich 4,4–8.18–21 als sekundäre Textteile ausgrenzt).
Wenn Joël in der ausgehenden Perserzeit – sei es: wirkte, sei es: geschrieben
wurde, so scheint sich in seiner Erwartung grundstürzender weltgeschichtlicher
Ereignisse und in seiner Hoffnung auf einen wunderbaren Neuanfang für das
Gottesvolk der Umbruch zum hellenistischen Zeitalter bereits anzukündigen. In
den sich abzeichnenden Turbulenzen soll den jüdischen Frommen die Beschäfti-
gung mit den noch nicht erfüllten Drohungen und Verheißungen der früheren
Prophetie Rückhalt und Anhalt bieten. Dazu wird die prophetische Tradition
nicht nur zitiert und interpretiert, sie wird vielmehr ganz neu zum Sprechen
gebracht und so zu einem Leitfaden auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft
gemacht (WOLFF, BERGLER, besonders auch STRAZICICH, der von „Aneignung“
und „Neudeutung“ spricht). Insofern ist die Joël-Schrift Zeugnis einer nicht nur
epigonalen, sondern durchaus authentischen Prophetie aus dem nachexilischen
Zeitalter.

5. Amos
Kommentare: F. I. ANDERSEN / D. N. FREEDMAN, 1989 (AncB). – J. NIEHAUS, in: T. E. McComiskey
(ed.), The Minor Prophets, Vol 1: Hosea, Joel, Amos, Grand Rapids, MI 1992, 315–488.
Zu Kommentarreihen siehe oben bei V.

Einzeluntersuchungen:
 Text: W. E. GLENNY, Finding Meaning in the Text. Translation Technique and Theology in the
Septuagint of Amos, 2009 (VT.S 126).
 Allgemein: A. C. HAGEDORN / A. MEIN (eds.), Aspects of Amos. Exegesis and Interpretation, 2010
(LHBOTS 536).
 Komposition und Redaktion: W. H. SCHMIDT, Die deuteronomistische Redaktion des Amosbuches:
ZAW 77 (1965), 168–193. – P. WEIMAR, Der Schluss des Amos-Buches: BN 16 (1981), 60–100. – H.
GESE, Komposition bei Amos (1981=), in: Ders., Alttestamentliche Studien, Tübingen 1991, 94–115.
– V. FRITZ, Amosbuch, Amos-Schule und historischer Amos, in: V. Fritz u. a. (Hg.), Prophet und
Prophetenbuch, FS O. Kaiser, 1989 (BZAW 185), 29–43. – J. JEREMIAS, Amos 3–6. Beobachtungen
zur Entstehung eines Prophetenbuches: ZAW 100 (1988), 123–138 = Ders., Hosea und Amos, 1996
(FAT 13), 142–156. – J. JEREMIAS, Die Mitte des Amosbuches (Am 4,4–13; 5,1–17): a.a.O. (FAT 13),
198–213. – H. N. RÖSEL, Kleine Studien zur Entwicklung des Amosbuches: VT 43 (1993), 88–101. –
C. LEVIN, Das Amosbuch der Anawim: ZThK 94 (1997), 407–436 = Ders., Fortschreibungen. Ge-
sammelte Studien zum Alten Testament, 2003 (BZAW 316), 265–290. – A. SCHART, Die Entstehung
des Zwölfprophetenbuchs. Neubearbeitungen von Amos im Rahmen schriftenübergreifender Redak-
tionsprozesse, 1998 (BZAW 260). – T. S. HADJIEV, The Composition and Redaction of the Book of
Amos, 2009 (BZAW 393). – J. RADINE, The Book of Amos in Emergent Judah, 2009 (FAT 2/45).
 Doxologien: F. HORST, Die Doxologien im Amosbuch (1929=), in: Ders., Gottes Recht,1961 (TB
12), 155–166. – W. BERG, Die sogenannten Hymnenfragmente im Amosbuch, 1974 (EHS.T 45). – K.
KOCH, Die Rolle der hymnischen Abschnitte in der Komposition des Amos-Buches: ZAW 86 (1974),
504–537. – J. L. CRENSHAW, Hymnic Affirmation of Divine Juistice, Missoula 1975. – S. GILLINGHAM,
„Der die Morgenröte zur Finsternis macht“: EvTh 53 (1993), 109–123. – J. R. LINVILLE, Amos and the
Cosmic Imagination, Abingdon 2008.
 Visionen: G. BARTCZEK, Prophetie und Vermittlung. Zur literarischen Analyse und theologischen
Interpretation der Visionsberichte des Amos, 1980 (EHS.T 120). – W. BEYERLIN, Bleilot, Brecheisen
oder was sonst? Revision einer Amos-Vision, 1988 (OBO 81). – J. JEREMIAS, Völkersprüche und
V. Das Zwölfprophetenbuch 421

Visionsberichte im Amosbuch: V. Fritz u. a. (Hg.), Prophet und Prophetenbuch, FS O. Kaiser, 1989


(BZAW 185), 82–97 = Ders., Hosea und Amos, 1996 (FAT 13), 157–171. – J. JEREMIAS, Das
unzugängliche Heiligtum. Zur letzten Vision des Amos (Am 9,1–4): FS K. Baltzer, Göttingen 1993,
155–167 = Ders., a.a.O. (FAT 13), 244–256. – C. UEHLINGER, Der Herr auf der Zinnmauer. Zur
dritten Amos-Vision (Am VII 7–8): BN 48 (1989), 89–104. – E.-J. WASCHKE: Die fünfte Vision des
Amosbuches (9,1–4) – eine Nachinterpretation: ZAW 106 (1994), 434–445. – P. RIEDE, Vom Erbar-
men zum Gericht. Die Visionen des Amosbuches (Am 7–9*) und ihr literatur- und traditionsge-
schichtlicher Zusammenhang, 2008 (WMANT 120).
 Völkersprüche: M. L. BARRÉ, The Meaning of l’ ’šybnw in Amos 1:3 – 2:6: JBL 105 (1986), 611–631.
– V. FRITZ, Die Fremdvölkersprüche des Amos: VT 37 (1987), 26–38. – B. GOSSE, Le recueil d’oracles
contre les nations du livre d’Amos et l’ „histoire deutéronomique“: VT 38 (1988), 22–40. – W.
DIETRICH, JHWH, Israel und die Völker beim Propheten Amos: ThZ 48 (1992), 315–328 = Ders.,
„Theopolitik“. Studien zur Theologie und Ethik des AT, Neukirchen-Vluyn 2002, 194–203. – J.
JEREMIAS, Die Entstehung der Völkersprüche im Amosbuch, in: Ders., Hosea und Amos, 1996 (FAT
13), 172–182.
 Kultkritik: H. M. BARSTAD, The Religious Polemics of Amos. Studies in the Preaching of Am 2,7b–
8; 4,1–13; 5,1–27; 6,4–7; 8,14, 1984 (VT.S 34). – J. JEREMIAS, Tod und Leben in Am 5,1–17, in: R.
Mosis / L. Ruppert (Hg.), Der Weg zum Menschen, FS A. Deissler, Freiburg i. Br. 1989, 134–152 =
Ders., Hosea und Amos, 1996 (FAT 13), 214–230.
 Sozialkritik: M. FENDLER, Zur Sozialkritik des Amos. Versuch einer wirtschafts- und sozialge-
schichtlichen Interpretation alttestamentlicher Texte: EvTh 43 (1973), 32–53. – W. SCHOTTROFF, Der
Prophet Amos. Versuch der Würdigung seines Auftretens unter sozialgeschichtlichem Aspekt, in:
Ders. / W. Stegemann, Der Gott der kleinen Leute, München 1979, 39–66. – J.-L. VESCO, Amos de
Teqoa, Défenseur de l’homme: RB 87 (1980), 481–513. – B. LANG, Sklaven und Unfreie im Buch
Amos (II 5; VIII 6): VT 31 (1981), 482–488. – G. FLEISCHER, Von Menschenverkäufern, Baschankü-
hen und Rechtsverkehrern. Die Sozialkritik des Amosbuches in historisch-kritischer, sozialgeschicht-
licher und archäologischer Perspektive, 1989 (BBB 74). – J. JEREMIAS, Am 8,4–7 – ein Kommentar zu
2,6f., in: W. Gross u. a. (Hg.), Text, Methode und Grammatik, FS W. Richter, St. Ottilien 1991, 205–
220 = Ders., Hosea und Amos, 1996 (FAT 13), 231–243. – R. KESSLER, Frühkapitalismus, Rentenka-
pitalismus, Tributarismus und antike Klassengesellschaft. Theorien zur Gesellschaft des alten Israel:
EvTh 54 (1994), 413–427
 Traditionen: E. WÜRTHWEIN, Amos-Studien: ZAW 62 (1950), 10–52 = Ders., Wort und Existenz,
Göttingen 1970, 68–110. – H. Graf REVENTLOW, Das Amt des Propheten bei Amos, 1962 (FRLANT
80). – H. W. WOLFF, Amos’ geistige Heimat, 1964 (WMANT 18). – H. J. STOEBE, Überlegungen zu
den geistlichen Voraussetzungen der Prophetie des Amos, in: H. J. Stoebe u. a. (Hg.), Wort – Gebot –
Glaube, FS W. Eichrodt, 1970, 209–225. – H. KAHLERT, Zur Frage nach der geistigen Heimat des
Amos: DBAT 4 (1973), 1–12. – J. JEREMIAS, Jakob im Amosbuch, in: M. Görg (Hg.), Die Väter Israels,
FS J. Scharbert, Stuttgart 1989, 130–154 = Ders., Hosea und Amos, 1996 (FAT 13), 257–271.
 Sprache und Botschaft: R. SMEND, Das Nein des Amos: EvTh 23 (1963), 404–423 = Ders., Die Mitte
des Alten Testaments, Ges. Stud. I, 1986 (BEvTh 99), 85–103. – H. W. WOLFF, Die Stunde des Amos.
Prophetie und Protest, München 1969. – H. WEIPPERT, Amos – seine Bilder und ihr Milieu, in: H.
Weippert / K. Seybold / M. Weippert, Beiträge zur prophetischen Bildsprache in Israel und Assyrien,
1985 (OBO 64), 1–29. – E. ZENGER, Die eigentliche Botschaft des Amos, in: E. Schillebeeckx (Hg.),
Mystik und Politik, FS J. B. Metz, Mainz 1988, 394–406. – G. PFEIFER, Das Ja des Amos: VT 39
(1989), 497–503. – H.-P. MÜLLER, Ein Paradigma zur Theorie der alttestamentlichen Wissenschaft.
Amos, seine Epigonen und Interpreten: NZSTh 35 (1991), 112–139. – M. SCHWANTES, Das Land
kann seine Worte nicht ertragen. Meditationen zu Amos, München 1991. – H. REIMER, Richtet auf
das Recht. Studien zur Botschaft des Amos, 1992 (SBS 217). – H. N. RÖSEL, Kleine Studien zur Ausle-
gung des Amosbuches: BZ 42 (1998), 2–18. – J. BARTON, The Theology of the Book of Amos,
Cambridge 2012 (Old Testament Theology).
422 D. Die Hinteren Propheten

a) Der Aufbau der Schrift

Die Amos-Schrift gliedert sich in drei Teile:


1. Am 1–2: ein Zyklus von Fremdvölkersprüchen, gekennzeichnet durch eine
markante Stropheneinteilung und einen wiederkehrenden Refrain, irritierender-
weise aber ausmündend in eine Israel-Strophe.

Nach der Buchüberschrift (1,1) und einem Eingangsmotto (1,2) folgen sieben sehr
ebenmäßig geformte Liedstrophen, von denen sich die ersten drei gegen Städte im
Norden und Westen Israels richten – das aramäische Damaskus (1,3–5), das philistäi-
sche Gaza (1,6–8), das phönizische Tyrus (1,9–10) –, die nächsten vier gegen Klein-
staaten im Osten und Süden Israels – Edom (1,11–12), Ammon (1,13–16), Moab (2,1–
3), Juda (2,4–5). Am Ende kommt, sprachlich und auch sachlich vom Vorangehenden
in manchem unterschieden, Israel selbst ins Visier (2,6–16). Alle acht Strophen begin-
nen mit der formelhaften Wendung „So spricht Jhwh: Wegen der drei Vergehen von
XY, wegen der vier nehme ich es nicht zurück“, worauf die Benennung eines Verge-
hens folgt (nur in der Israel-Strophe sind es mehrere); in den ersten sechs Strophen
geht es um Vergehen im Krieg, im Fall Judas um Vergehen gegen die Tora, im Fall
Israels um soziale und kultische Vergehen. An diese Schuldaufweise schließen sich
Strafankündigungen an, in den ersten sieben Strophen eröffnet mit der Formel: „Ich
sende Feuer gegen XY, und es wird die Paläste von YZ fressen“. Danach werden je-
weils die katastrophalen Folgen dieses gewaltsamen Eingreifens Jhwhs geschildert.
Fünf Strophen – nicht die dritte, vierte und siebte – schließen mit der Bekräftigungs-
formel: „Jhwh hat’s gesagt“.

Sammlungen von Fremdvölkerorakeln finden sich auch in den Büchern der sog.
Großen Propheten. Am 1f. unterscheidet sich davon nicht so sehr materialiter als
vielmehr formaliter. Die beiden Kapitel weisen eine große strukturelle und
sprachliche Geschlossenheit auf; lediglich die Israelstrophe bildet – schon allein
in ihrer Länge – eine gewisse Ausnahme. Jedes Mal gibt es eine Zweiteilung: in
den Aufweis begangener Untaten einerseits und die Ansage der bevorstehenden
Ahndung andererseits. Und das Ganze ist durchzogen von einem einigermaßen
gleichbleibenden Formelwerk. So hat man hier den Eindruck einer durchgehen-
den, planvollen Gestaltung, bei den Großen Propheten hingegen den der Zu-
sammenstellung mehr oder minder heterogener Materialien. (Dass Am 1f.
gleichwohl nicht aus einem Guss ist, wird unten noch zu zeigen sein.)

2. Am 3–6: eine Sammlung von Prophetensprüchen an die Adresse Israels, aller-


meist negativen Inhalts, untergliedert durch die dreimal gebrauchte Eröffnungs-
formel „Höret dies Wort“ (3,1; 4,1; 5,1).

Laut JEREMIAS (ZAW 1988) ist die Formel in 4,1 weniger gewichtig als in 3,1 und 5,1;
sie leite hier nur die Sprucheinheit 4,1–3 ein. Auf diese Weise ergeben sich zwei
Hauptabschnitte: Kap. 3–4 mit Gottesworten, Kap. 5–6 mit Prophetenworten: eine
Anordnung, hinter der sich das Bild des Propheten als Sprachrohr Gottes verbirgt. In-
haltlich malen die Kapitel – nach einer Ouvertüre über das unheimliche Wirken Got-
tes und den Auftrag des Propheten (3,1–8) – ein durch und durch düsteres Bild von
V. Das Zwölfprophetenbuch 423

Israels Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: von seiner notorischen Unbelehrbar-


keit seit jeher (4,6–13); von Unrecht und Gewalttat namentlich seitens der Ober-
schicht jetzt (3,9–11; 4,1–3; 5,7.10–12; 6,1–6.12); vom bevorstehenden Strafhandeln
Gottes (3,13–15; 5,16f.27; 6,7–11.13f.); von der Verfehltheit jeglicher Rettungserwar-
tung (3,12; 5,18–20) und von der Nutzlosigkeit des gesamten Kultbetriebs (4,4f.;
5,4.21–26). Nur an ganz wenigen Stellen schimmern in dem düsteren Gemälde kleine
Hoffnungszeichen auf (5,6.13–15, evtl. 5,8f.).

Dieser Mittelteil der Amos-Schrift darf als das Exempel biblischer Unheilspro-
phetie gelten. Er ist besonders stark geprägt von der Grundform prophetischer
Rede in der älteren Zeit: der sog. Schelt- und Drohrede, in der sich ein Schuld-
aufweis klar von einer Strafansage unterscheiden lässt. Die beiden Teile sind –
entsprechend dem Denkschema des Tun-Ergehen-Zusammenhangs – oft dem
Inhalt, z. T. aber auch dem Wortlaut nach eng aufeinander bezogen; und ver-
schiedentlich wird einzig die Strafansage als Gottesrede deklariert, erscheint
somit der Schuldaufweis als Eigenbeitrag des Propheten (z. B. 3,9–11; 4,1–3;
6,1–7).

3. Am 7–9: im Kern ein Zyklus von fünf Visionen (7,1–3.4–6.7–9; 8,1–3; 9,1–6),
in denen Amos Jhwh als zum Gericht Entschlossenen schaut, den er zu Beginn
noch zum Einhalten bewegen, dann aber nicht mehr beeinflussen kann; nach
der dritten eingesetzt findet sich ein Bericht von der Konfrontation zwischen
dem Propheten und dem Oberpriester Amasja (7,10–17), nach der vierten
eine Reihe von Unheilsworten (8,4–14); nach der fünften zunächst eine Doxo-
logie (9,5f.; s. unten), dann eine Gottesrede über Unheil und Heil (9,7–10),
schließlich ein Heilswort über den Wiederaufbau der „zerfallenen Hütte Davids“
(9,11–15).

In der ersten Vision sieht Amos, dass jemand einen Heuschreckenschwarm bildet, der
beim Aufsprossen der Saat über das Land herfallen und es kahlfressen will; auf seine
Fürbitte hin wird dem Geschehen Einhalt geboten. In der zweiten Vision droht das
Land samt allen Wasserspeichern in einem Feuerregen zu verglühen; wieder ist der
Prophet mit seiner Fürbitte erfolgreich. In der dritten Vision schaut der Prophet Gott
über einer Mauer: an sich ein Bild von Schutz und Sicherheit; doch Gott kündigt ihm
bevorstehendes Gericht an (laut WOLFF, indem er ein Senkblei an die – schiefe –
Mauer anlegt, laut BEYERLIN, RIEDE u. a., indem er Zinn – kostbarer Bestandteil bron-
zener Waffen, d. h. also feindliche Krieger – hinter die Mauer bringt) und erklärt so-
gleich, jetzt werde er „nicht mehr schonend vorübergehen“, womit sich jegliche Für-
bitte erübrigt. In der vierten Vision schaut Amos einen Erntekorb, dessen Bezeich-
nung (‫ )כלוב קיץ‬ihm transparent gemacht wird auf das Kommen des „Endes“ über
Israel (‫)בא הקץ‬. Die gleiche Aussage findet sich noch einmal in der vierten Vision (8,2).
In der fünften Vision schaut er Jhwh, auf einem Altar stehend, und hört sich aufge-
fordert, auf einen Säulenknauf einzuschlagen – was ihm dann als Sinnbild für das be-
vorstehende Dreinschlagen Jhwhs gegen Israel gedeutet wird.

Der Fremdbericht über die Auseinandersetzung mit dem Oberpriester des Kö-
nigsheiligtums in Bet-El 7,10–17 birgt wichtige Informationen über das (Selbst-?)
424 D. Die Hinteren Propheten

Verständnis Amos’ nicht als regulärer Prophet, dem ein Priester allenfalls Befehle
erteilen könnte, sondern als ein von Jhwh „hinter der Herde weg“ ergriffener
freier Gottesbote, der Weisungen einzig von dem ihn Sendenden entgegen-
nimmt. Dem Priester, der sich verpflichtet fühlt, für Ordnung und Königstreue
zu sorgen und der den lästigen Störer des Heiligtums und des Landes verweisen
(ihm vielleicht gar das Leben retten) will, schleudert Amos ein schweres Un-
heilsorakel entgegen.
Zumindest die Reihe der ersten drei Visionen erinnert in der Stringenz des
Aufbaus und der Konsistenz der Aussage an das Völkergedicht in Am 1. In der
jetzigen Ausformung freilich ist der dritte Teil der Amos-Schrift eine facettenrei-
che und offenbar mehrschichtige Komposition, in der sich verschiedene Interes-
sen und Intentionen kreuzen.

Die Teile 1–3 werden verklammert durch drei sog. Doxologien in 4,13; 5,8 und
9,5f. In ihnen wird Jhwhs Schöpferhandeln und seine Macht über die Welt wie
über die Zukunft der Menschen gerühmt. Hintereinander gelesen, nehmen sie
sich aus wie drei Strophen eines Hymnus, der, typisch für diese Textgattung, eine
Vielzahl von Partizipialformen enthält, die das machtvolle Wesen Jhwhs be-
schreiben. Jede Strophe zielt, refrainartig, auf die Ausrufung des Jhwh-„Na-
mens“, der zweimal noch mit dem Epitheton „Gott der Heere“ (‫ )אלהי צבאות‬ge-
schmückt wird (4,13; 9,5). In 9,5 dürfte das Motiv sichtbar werden, aus dem
gerade dieser Hymnus in die Amos-Schrift eingesetzt wurde: „… der die Erde
anrührt, dass sie wogt“ – offenbar Ausdruck für ein Erdbeben. Ein solches wird
auch in 2,13 („Ich mache es schwankend unter euch“) sowie in 8,8 („Sollte dar-
über die Erde nicht erzittern?“) angedroht und als wichtiges Datum bereits in der
Buchüberschrift (1,1) genannt.

b) Die Entstehung der Schrift

Die Überschrift in 1,1 („Die Worte des Amos, der unter den Viehzüchtern von
Tekoa war, die er geschaut hat gegen/über Israel in den Tagen Usijas, des Königs
von Juda, und in den Tagen Jerobeams ben Joasch, des Königs von Israel, zwei
Jahre vor dem Erdbeben“) ist auf den ersten Blick nicht aus einem Guss. Dass
Prophetenworte geschaut werden, ist zumindest ungewöhnlich; auffällig ist auch
der doppelte Relativsatz („der unter den Viehzüchtern war“ und „die er geschaut
hat“, jeweils mit ‫)אשׁר‬, und schließlich fällt die zweifache Datierung – einmal
nach Königen, einmal nach einem (übrigens nicht sicher datierbaren) Erdbeben
– ins Auge.
Vermutlich spiegeln sich in den verschiedenen Facetten der Überschrift
redaktionsgeschichtliche Vorgänge. Womöglich stand eine kurze Fassung („Die
Worte des Amos, der [unter den Viehzüchtern] von Tekoa war“) einst über
einem Kern der zentralen Sammlung Am 3–6 (so SCHART). Einige dann hinzu-
gekommene Formulierungen scheinen auf die beiden Seitenteile zu verweisen:
V. Das Zwölfprophetenbuch 425

der Relativsatz „die er geschaut hat gegen/über Israel“ auf den Visionenzyklus,
die Zeitbestimmung „zwei Jahre vor dem Erdbeben“ sowohl auf den Völker- als
auch auf den Visionen-Teil (vgl. 2,13 und 8,8). Die beiden Königsnamen wurden
noch später eingefügt, nämlich durch die Redaktion des dtr Vierprophetenbuchs
(s. oben D.V.2.b). Einerseits nannte sie Jerobeam II. von Israel (786–747 v. Chr.),
weil dessen Name in 7,9.10.11 immerhin dreimal genannt ist und Amos offen-
sichtlich im Nordreich, speziell in Samaria (vgl. 4,1–3; 6,1–11) und Bet-El (vgl.
neben 7,10–17 auch 4,4f.; 5,4f.), wirkte. Andererseits erwähnte sie den Judäer
Usija (786–736), weil der Prophet aus Juda, genauer: aus Tekoa, stammte (vgl.
neben 1,1 auch 7,12; von einem nordisraelitischen Tekoa, das zuweilen postuliert
wurde, gibt es keine Spur).

Am Grund der Traditionsbildung über Amos liegen mehrere Sammlungen bzw.


Dichtungen, deren Grenzen noch in der heutigen Dreiteilung der Amos-Schrift
erkennbar sind.

Im Visionenzyklus ist die Schilderung jedenfalls der ersten drei Visionen (7,1–8)
derart in sich geschlossen, dass man sie sich nur in einem Zuge entstanden den-
ken kann. Jemand – vielleicht der Prophet selbst oder ein ihm Vertrauter – hat
Visionserfahrungen, die sich über eine unbekannte Zeitstrecke hin eingestellt
haben mögen, aufgezeichnet und damit Wesentliches über das (Selbst-)Ver-
ständnis des Amos festgehalten: Von Anfang an sah dieser Mann Bedrohliches
über Israel aufsteigen, doch zu Beginn stemmte er sich dem entgegen. Zweimal
trat der Visionär bei Gott für den „kleinen Jakob“ ein und erwirkte dessen Ver-
schonung. Doch beim dritten Mal bekam er die Gelegenheit dazu nicht mehr,
wurde vielmehr vor ein Fait accompli gestellt: „Ich gehe nicht länger schonend
an ihm vorüber“ (7,8). In der vierten Vision, falls sie von Beginn an zum Zyklus
gehörte, wird dies mit gleichen Worten noch einmal bestätigt (8,1f.). Das be-
deutet: Ein Seher ist von einer wohlmeinend positiven Grundhaltung gegenüber
Israel zu einer hart negativen geführt worden: „Das Ende ist gekommen für mein
Volk Israel“ (8,2). Offenbar diente der Visionenzyklus der Rechtfertigung dieser
gewiss angefeindeten Haltung als einer von Gott erzwungenen. Die fünfte Vision
fällt zwar nicht inhaltlich, aber formal etwas aus der Reihe. Zuweilen wird ihr
Nachtragscharakter zugesprochen: von der Hand des Amos selbst oder eines
Schülers oder gar erst einer dtr Redaktion (WASCHKE); dagegen behauptet RIEDE
mit guten Gründen die Einheitlichkeit des gesamten Zyklus und dessen Ent-
stehung noch vor dem Untergang des Nordreichs.

Der Fremdvölkerzyklus ist im Kern eher noch gleichmäßiger gestaltet als die
Reihe der Visionsberichte, woraus sich vielleicht auf eine bestimmte Sprech-
situation schließen lässt: Der Prophet wendet sich gegen eine Reihe von Nach-
barvölkern, am Ende aber überraschend auch gegen Israel. Freilich lassen Inko-
härenzen im heutigen Text ein sukzessives Wachstum erkennen. Von den
Fremdvölkersprüchen bildeten die gegen Damaskus, Ammon und Moab (so
426 D. Die Hinteren Propheten

DIETRICH; die meisten anderen nehmen noch die Gaza-Strophe hinzu) den An-
fang. Den drei Nachbarn werden Kriegsverbrechen zum Vorwurf gemacht: den
Aramäern und Ammonitern im (israelitischen) Gilead, den Moabitern – er-
staunlicherweise – an Edom. Später haben Ergänzer die Reihe vervollständigt (s.
unten). Die Israelstrophe gehörte von Beginn an dazu; darauf verweisen die
mancherlei formalen Ähnlichkeiten mit den Fremdvölkerstrophen (Botenein-
gangs- und Schlussformel, Zahlenspruch, Abfolge von Schuldanklage und Straf-
ansage). Freilich war sie ursprünglich offenbar kürzer. Sicher sekundär ist die
geschichtliche Reflexion 2,9–12 (WOLFF, JEREMIAS: nur 2,10–12). Zuweilen wer-
den aus der Reihe der Anklagen gegen Israel (2,6b–8) allein die kultischen An-
spielungen (in 2,8) herausgenommen (WOLFF, JEREMIAS), doch dürfte die radi-
kalere Reduktion einzig auf den Vorwurf des Verkaufs Armer in die Sklaverei
(2,6b) zu bevorzugen sein (DIETRICH). Ähnlich beschränkt sich die jetzt sehr
wortreiche Strafankündigung (2,13–16) ursprünglich wohl auf die Drohung,
Jhwh werde durch ein übernatürliches Eingreifen (Erdbeben?!) die Armee Israels
außer Gefecht setzen (2,13–15aα). – Die ähnliche Technik der Reihen- bzw.
Strophenbildung legt es nahe, den Fremdvölker- und den Visionenzyklus (jeweils
im Grundbestand) auf die gleiche Hand zurückzuführen: womöglich auf die des
Amos selbst (wogegen etwa FRITZ und GOSSE Stellung beziehen).

Die Sammlung Am 3–6 entstand entweder im Kern schon recht früh und separat
(etwa im Kreis von Amos-Schülern), oder sie wurde erst im Zuge der Entstehung
der Amos-Schrift erschaffen (s. den nächsten Abschnitt). So oder so dürfte eine
Reihe von Textelementen auf die Zeit und wohl auf die Hand des Amos zurück-
gehen: etwa die Attacken auf Samaria und die dortige Oberschicht (3,9–4,3;
5,11f.; 6,1–11) oder die Bestreitung der Rechtmäßigkeit des Kultes in Bet-El und
Gilgal (4,4f.; 5,4f.21–24) oder die rückhaltlose Zerstörung jeder Rettungshoff-
nung in Israel (5,18–20; 6,13f.). Diese Partien decken sich in der Intention mit
dem Fremdvölker- wie dem Visionenzyklus. Mit dem letzteren berührt sich be-
sonders eng das eröffnende Stück 3,1–6.8, in dem die Berufung zum Propheten
nicht als selbstgesucht, sondern als Nötigung von außen erscheint: Jhwhs Reden,
das sei wie das Brüllen eines Löwen, habe ihn zum „Fürchten“ und zum „Pro-
phezeien“ (‫ )הנבא‬getrieben.

Eine erste Amos-Schrift entstand nach 722 v. Chr. in Juda, indem die beiden
Zyklen rahmend um den Mittelteil aus Amos-Worten gelegt wurden. Ob nun
Flüchtlinge aus dem Norden die Amos-Tradition mit in den Süden brachten
oder diese dort schon zuvor Aufmerksamkeit erweckt hatte: Jedenfalls waren
diese Prophetien durch den Untergang des Nordreichs beglaubigt. Doch das
Interesse der Redaktion war nicht nur rückwärts, auf das zerstörte Nordreich,
gerichtet, sondern auch auf das noch existierende, nun aber ebenfalls schwer
gefährdete Südreich. Die strengen Analysen und düsteren Prognosen des Amos
hatten nach Meinung der Tradenten auch hier Gültigkeit. So fügten sie zu den
Namen der von Amos angegriffen israelitischen Heiligtümer Bet-El und Gilgal
V. Das Zwölfprophetenbuch 427

auch den des judäischen Beerscheba hinzu (5,5; 8,14). Vermutlich waren sie es,
die die Israel-Strophe des Fremdvölkerzyklus ausweiteten (2,7f.*15f.), um den
Ernst der Lage auch für Juda hervorzuheben. Andererseits wandelten sie in 5,13–
15 die harte Gerichtsankündigung des Amos zu einer Mahnung ab, bei deren
Beherzigung Gott „vielleicht“ noch Gnade vor Recht ergehen lassen werde. Vor
allem aber brachten sie die Erzählung 7,10–17 ein: als Negativbeispiel dafür, wie
man mit der unbequemen Botschaft dieses Propheten nicht umgehen sollte. Den
Anschluss an die vorangehenden Visionsberichte schufen sie mit 7,9, wo „Amos“
König Jerobeam und seinem Haus das „Schwert“ androht – was so in der älteren
Amos-Überlieferung nicht der Fall ist, in 7,11 aber vorausgesetzt wird. Die Über-
schrift 1,1, welche die drei Teile der Schrift überspannt, geht wesentlich auf sie
zurück.
Bei der Aufnahme ins deuteronomistische Vierprophetenbuch erfuhr die Grund-
schrift recht beträchtliche Erweiterungen. Im Fremdvölkerzyklus kamen die
Strophen über Gaza, Tyrus und Edom hinzu: Nachbarn, die Juda bei der Zerstö-
rung durch die Babylonier zusätzliches Leid zugefügt hatten. Zudem wurde die
Juda-Strophe eingefügt, die – gut dtr – den Untergang dieses Staates mit man-
gelndem Gehorsam gegen die Tora, insbesondere gegen das Fremdgötterverbot,
erklärt. Ferner dürften die verschiedenen, in der Amos-Schrift anzutreffenden
geschichtlichen Rückblenden – 2,9–12; 4,4–12; 5,25 – von der dtr Redaktion
eingesetzt (nicht unbedingt selbst verfasst) sein. Bemerkenswert ist, dass in 3,1f.
– wiederum gut dtr – der Exodus aus Ägypten aufgerufen, nun aber nicht als
Zeichen besonderer Güte, sondern besonderer Strenge Jhwhs gegen sein Volk
gewertet wird. In 3,7 setzt die dtr Redaktion einen kleinen, aber markanten Hin-
weis auf ihre spezifische Prophetentheologie ein: Alles, was geschieht, tut Jhwh
zuvor durch „seine Knechte, die Propheten“ kund; exakt diese Anschauung (und
Ausdrucksweise) prägt die Prophetendarstellung bzw. die prophetische Redak-
tion des dtr Geschichtswerks (s. oben C.I.3.b).
Eine nachexilische Bearbeitung (oder waren es mehrere?) brachte die Amos-
Schrift auf ihren endgültigen Umfang. In 1,2 setzte sie ein Motto über das Buch:
Jhwhs „Brüllen vom Zion her“ (vgl. die ähnliche Metapher in 3,8) bringt das
Land zum Verdorren. Mit diesem dumpfen Paukenschlag wird der hohe Ernst
der Amos-Verkündigung signalisiert, zugleich aber die Schöpfungsthematik in
den nachfolgend eingesetzten Doxologien (4,13; 5,8f.; 9,5f.) präludiert. In diesen
mischen sich in die anfangs düsteren mehr und mehr lichte Töne. Der Gedanke
an Jhwh als Herrn über Kreatur und Kosmos unterfängt und überwindet die
Gerichtsbotschaft des Amos und die in der Geschichte eingetretenen Katastro-
phen. Entsprechend wird in einem an die exilische Amos-Schrift angehängten
Abschnitt zunächst das ergangene Gericht als Läuterungsgericht (mit letztlich
positiver Zielsetzung) interpretiert (9,8–10) und den so Geläuterten ein neues
Heilshandeln Jhwhs in Aussicht gestellt: Die Davidherrschaft wird wiederkehren,
im Lande neuer Wohlstand aufblühen, das Gottesvolk in Sicherheit wohnen
(9,11–15).
428 D. Die Hinteren Propheten

Die hier vorgenommene Stufung profitiert in vielem, unterscheidet sich aber


auch in manchem, von schon früher vorgeschlagenen.

WOLFF unterschied sechs Schritte in der Entstehung der Amos-Schrift:


1. Die Basis bilden authentische Amos-Worte, die entweder mündlich vorgetragen
wurden (so die kürzeren Sprucheinheiten) oder von Beginn an schriftlich aufgezeich-
net waren (so der Visionenzyklus); so wäre Amos auch im engeren Wortsinn der erste
„Schriftprophet“.
2. Als nächstes wurden die drei Kernstücke der Amos-Tradition – eine Spruchsamm-
lung und zwei sie rahmende Zyklen – zusammengestellt; dies könnte durchaus noch
von Amos’ eigener Hand geschehen sein.
3. In die bestehende Grund-Schrift trugen dann – in Juda lebende – „Schüler“ des
Amos Interpretationen und Fortschreibungen ein (z. B. *1,1; 5,13–15; 6,2.6b; 7,9–17;
8,3–10.13f.; 9,8–10).
4. Zur Joschija-Zeit habe dann eine „Bethelinterpretation“ allerlei Kritisches gegen
dieses soeben zerstörte und kontaminierte Heiligtum (vgl. 2Kön 23,15–18) vorge-
bracht (Am 1,2; *3,14; 5,6).
5. In der Exilszeit wurde eine dtr Redaktion tätig. Ihr sind namentlich die Passagen
1,*1.9–12; 2,4f.10–12; 3,7 (5,25f.; 6,11f.) zuzuschreiben.
6. Nachexilisch sei einzig der Heil verheißende Abschluss der Schrift 9,11–15.

SCHART, der das Wachstum der Amos-Schrift mit demjenigen des gesamten Dodeka-
propheton korreliert, kommt auf ebenfalls sechs Stufen, die sich z. T. aber von denen
WOLFFs unterscheiden:
1. Den Anfang machte eine Kap. 3–6 zugrunde liegende „Wortesammlung“. In ihr
seien mündlich verkündigte Worte des Amos schlicht zusammengestellt worden:
ohne starke redaktionelle Bearbeitung, mit nur leichten „Reformulierungen“, um sie
in die beiden Abschnitte „Hört dies Wort!“ (*3–4) und „Totenklage“ (*4–5) einzupas-
sen. Auf diese Stufe gehören 3,3–6.8.12.15; 4,1–5; 5,1–5.7.10.12b.14–21.22aβb–24.27;
6,1.3–7.9–14.
2. Sogenannte „Tradenten“ fanden außer der Wortesammlung auch die beiden Zyklen
und die Erzählung 7,10–17 vor und formten daraus den Grundbestand von Am 1–9,
den sie mit der Hos-Grundschrift verbanden. Ihre Eigenformulierungen sind zu grei-
fen in 2,8aβ.bβ.9(?); 3,1a.2.9–11(?).13f.; 5,12a; 6,8; 7,9.11b(?).17bβ; 8,3.14; 9,*3.4b.
3. Die dtr Redaktion, die das Vierprophetenbuch Hos-Am-Mi-Zef schuf, fügte 1,1f.9–
12; 2,4f.10–12; 3,1b.7; *4,6–11; 5,11.*25f.; 8,4–7.11f. und *9,7–10 hinzu.
4. Die „Hymnen-Schicht“ trug die schon vorher fixierten Doxologien und dazu einige
Eigenformulierungen ein: 4,12f.; 5,8f.; 8,8(?); 9,5f. In diesem Zuge entstand ein Sechs-
prophetenbuch (mit Nah und Hab).
5. Eine „Heilsschicht“ ist verantwortlich für Am 9,11–15 und das Achtprophetenbuch
(mit Hag und PrSach).
6. Eine Redaktion, welche die Prophetie ganz unter eschatologischer Perspektive sah,
fügte *4,9; *9,12f. hinzu und erweiterte das Gesamtkorpus um zwei weitere Schriften
(Joël, Ob).

HADJIEV schlägt wieder ein etwas einfacheres Modell vor:


1a. Eine „Repentence Scroll“ entstand zwischen 733 und 722, wollte Israel zur Buße
rufen und umfasste den Großteil von Am 4,1–6,7.
1b. Eine „Polemical Scroll“, ebenfalls zwischen 733 und 722 entstanden, dient der
V. Das Zwölfprophetenbuch 429

Abwehr von Anfeindungen des Propheten; ihr gehörte der Kern von Am 1f. und Am
7–9 (in z. T. anderer Textfolge als heute) an.
2. In Juda wurde, vor 701, die „Repentence Scroll“ auf den Umfang von 3,9–4,16 ge-
bracht.
3. Im 7. Jh. wurden die beiden Schriften zusammengefügt, teilweise neu geordnet und
mit dem Übergangsstück 3,1f. sowie den Hymnenfragmenten 1,2; 4,13; 5,8f. und 9,5f.
angereichert.
5. Aus der Exilszeit stammen Erweiterungen in 1,9–12; 2,4–6.7b.10–12; 5,25–27; 7,9;
8,3–14; 9,8b.11–15.

Demgegenüber betrachtet LINVILLE die gesamte Am-Schrift einzig aus perserzeitlicher


Perspektive. Damals sei sie als Verkündung ewiger Wahrheiten begriffen worden (Am
1f.: die Sündenverfallenheit der Welt; Am 3–6: der Widerstreit zwischen menschli-
chen und göttlichen Absichten; Am 7–9: die drohende Katastrophe für die ganze
Schöpfung; Am 9,7–15: die Aussicht auf Rettung). Hinter einem solchen Bild ver-
schwimmen die historischen Konturen und sozialgeschichtlichen Kanten der Am-
Botschaft.

c) Der Prophet

Legt man die mutmaßlich authentischen oder doch sehr nah an Amos heranfüh-
renden Passagen zugrunde, zeichnet sich ein recht markantes Bild dieses Pro-
pheten ab.
Amos wirkte um die Mitte des 8. Jh.s in Israel. Das ist daran erkennbar, dass
seine Worte mit dem noch existierenden Nordreich (mit der Hauptstadt Samaria
und dem Staatsheiligtum Bet-El) rechnen, dass aber die Assyrer, die in der zwei-
ten Hälfte des Jh.s den Druck auf Syrien-Palästina verstärkten, noch nicht wirk-
lich präsent sind. In Israel scheint sich großer Wohlstand angesammelt zu haben
(allerdings nur bei der Oberschicht): Kennzeichen einer länger andauernden
Friedensperiode. In 2Kön 14,25 ist bezeugt (und in Am 6,13f. wird bestätigt),
dass Jerobeam II. (786–746) die Kontrolle über das Ostjordanland zurückgewin-
nen konnte, die einst die Könige der Omri-Dynastie ausgeübt, dann aber die der
Jehu-Dynastie an die Aramäer verloren hatten. Ein Nachklang der erbitterten
Auseinandersetzungen mit Aram ist noch in der Damaskus-Strophe des Völker-
gedichts (1,3) zu vernehmen. Doch diese schlimmen Zeiten sind vorbei, wohl
nicht zuletzt dank der zunehmenden Südwestexpansion des neuassyrischen
Reichs.
Amos war nicht Israelit, sondern Judäer. Er stammte aus dem ca. 15 km süd-
lich von Jerusalem gelegenen Tekoa. Laut 1,1 war er „Viehzüchter“, laut 7,14 soll
er sich Amasja gegenüber als „Rinderhirt“ und „Sykomorenritzer“ bezeichnet
haben (Letzteres eine Tätigkeit, bei der der bitteren Maulbeerfeige Saft entzogen
und dadurch eine Zuckergärung in Gang gesetzt wird). Ob er diese Arbeiten als
gut situierter Landwirt (so die meisten) oder als armer Landarbeiter (so
SCHWANTES) ausgeübt hat, ist kaum zu entscheiden. Jedenfalls scheint eine sol-
che Berufstätigkeit für (Gruppen- oder Hof-)Propheten unüblich gewesen zu
430 D. Die Hinteren Propheten

sein; Amos will denn anscheinend auch nicht zu ihnen gerechnet werden. Jhwh
habe ihn, so soll er dem Amasja erklärt haben, „hinter der Herde weg“ geholt; das
klingt, als sei er nicht freiwillig Prophet geworden. In den Visionsberichten deu-
tet sich an, dass er gegen seinen Willen von einer ursprünglich positiven zu einer
negativen Weltsicht (bzw. Sicht Israels) gebracht wurde; RIEDE spricht von einer
„Art Lernprozess“. Und laut 3,8 war es Jhwhs Reden, das dem Brüllen eines Lö-
wen glich, welches ihn zum Prophezeien trieb.
Was Amos über die Verhältnisse in Juda dachte, ist unbekannt. Im Fokus aller
seiner Wahrnehmungen, Befürchtungen und Drohungen steht allein das Bruder-
reich im Norden. Dorthin ist er anscheinend gegangen, um seine beunruhigende
Botschaft auszurichten. Er sah auf das Land eine Katastrophe zukommen, unter
der es zerbrechen würde. Jhwh selbst, Israels Gott, ließ das furchtbare Geschehen
nicht nur zu, sondern setzte es in Gang. Grund dafür war sein grenzenloser Zorn
über die Zustände dort. Die Reichen sonnten sich in Luxus auf Kosten der Ar-
men (3,13–15; 4,1–3; 6,1–11). Die Niederen litten unter Ausbeutung und Ent-
rechtung (2,6; 5,7.10–15.24; 8,4–6). Religion und Kult dienten der Stabilisierung
unhaltbarer Zustände (4,4f.; 5,4f.21–24; 9,1–4). Jhwh würde all das hinwegfegen:
vornean das Militär, das die Mächtigen schützte (2,13–15; 5,3); danach würden
Tod und Verderben überall eindringen (5,1f.16f.; 6,8–11; 8,7–10; 9,1–6), und
gerade die Vornehmen und Verwöhnten würden in die Verbannung verschleppt
(4,3; 5,27; 7,17). Ob jemand und wer überlebt und im Land bleiben darf, sagt
Amos nicht; auf keinen Fall werden die jetzt Wohllebenden darunter sein.
Dieser radikalen, wahrhaftig umstürzlerischen Botschaft – die freilich nieman-
den zum Umsturz aufrief, sondern diesen von selbst bzw. von Jhwh her kommen
sah – wurde durchaus widersprochen. In 5,18–20 wendet sich Amos gegen die
Hoffnung auf einen rettenden „Tag Jhwhs“, die man seiner Unheilserwartung
offenbar entgegenhielt. In 9,7 destruiert er das auf dem Exodusgeschehen basie-
rende Erwählungsbewusstsein Israels; Jhwh habe nicht nur Israel „heraufge-
führt“, sondern ebenso die Philister und die Aramäer! Besonders scharfen Ein-
spruch gegen Amos’ Wirken hat laut der Erzählung 7,10–17 der Oberpriester des
Staatsheiligtums von Bet-El erhoben. Angeblich ließ er dem König melden, das
Land könne „Amos’ Worte nicht ertragen“; sein Einschreiten gegen den Pro-
pheten, der keiner sein wollte, trug ihm einen harten persönlichen Drohspruch
ein. Es bleibt offen, wie die Konfrontation ausging. Die „Vitae Prophetarum“, ein
jüdischer Text aus dem 1. Jh. n. Chr., weiß zu berichten: „Amos war aus Tekoa.
Und nachdem Amasias ihn oftmals auf dem Hinrichtungsblock geschlagen hatte,
tötete ihn dann am Ende dessen Sohn, indem er mit einer Keule (auf) seine
Schläfe schlug. Und noch atmend kam er in seine Heimat(stadt). Und nach
(einigen) Tagen starb er und wurde dort begraben.“ Ob es so war, lässt sich nicht
nachprüfen; es könnte so gewesen sein.
V. Das Zwölfprophetenbuch 431

6. Obadja
Kommentare: P. R. RAABE, 1996 (AncB). – U. STRUPPE, 1996 (NSK: Ob, Jona). – W. MEISSNER, Joel
und Obadja, 2000 (EdC.B: Joël, Ob). – J. RENKEMA, 2003 (Historical Commentary on the OT).
Zu Kommentarreihen siehe oben bei V.
Einzeluntersuchungen: M. HALLER, Edom im Urteil der Propheten: FS Karl Marti, 1925 (BZAW 41),
109–117. – W. RUDOLPH, Obadja: ZAW 49 (1931), 222–231. – H. W. WOLFF, Obadja – ein Kultpro-
phet als Interpret: EvTh 37 (1977), 273–284 = Ders., Studien zur Prophetie, 1987 (TB 76), 109–123. –
G. FOHRER, Die Sprüche Obadjas (1966=): Ders., Studien zu alttestamentlichen Texten und Themen,
1981 (BZAW 155), 69–80. – J. R. BARTLETT, Edom and the Fall of Jerusalem 587 B. C.: PEQ 114
(1982), 13–24. – G. S. OGDEN, Prophetic Oracles Against Foreign Nations and Psalms of Communal
Lament. The Relationship of Psalm 137 to Jeremiah 49:7–22 and Obadiah: JSOT 24 (1982), 89–97. –
M. WEIPPERT, Art. Edom und Israel: TRE 9 (1982), 291–299. – P. WEIMAR, Obadja. Eine
redaktionskritische Analyse: BN 27 (1985), 35–99. – J. WEHRLE, Prophetie und Textanalyse. Die
Komposition Obadja 1–21 interpretiert auf der Basis textlinguistischer und semiotischer Konzeptio-
nen, St. Ottilien 1987. – R. B. ROBINSON, Levels of Naturalization in Obadiah: JSOT 40 (1988), 83–97.
– S. D. SNYMAN, Cohesion in the Book of Obadiah: ZAW 101 (1989), 59–71. – P. R. ACKROYD, Art.
Obadiah, Book of: ABD 5 (1992), 2–4. – B. DICOU, Edom, Israel’s Brother and Antagonist, 1994
(JSOTS 169). – W. DIETRICH, Obadja / Obadjabuch: TRE 24 (1994), 715–720. – D. EDELMAN
VIKANDER (ed.), You Shall Not Abhor an Edomite for He Is Your Brother, Atlanta, GA 1995. – E.
BEN ZVI, A Historical-Critical Study of the Book of Obadiah, 1996 (BZAW 242). – A. MEINHOLD,
Weisheitliches in Obadja, in: B. Janowski (Hg.), Weisheit außerhalb der kanonischen Weisheits-
schriften, Gütersloh 1996, 70–86. – V. TANGHE, Die Trinker in Obadja 16: RB 104 (1997), 522–527. –
W. DIETRICH, Art. Edom: RGG4 2 (1999), 1062f. – T. LESCOW, Die Komposition des Buches Obadja:
ZAW 111 (1999), 380–398. – J. JEREMIAS, Zur Theologie Obadjas. Die Auslegung von Jer 49,7–16
durch Obadja, in: R. Lux (Hg.), Die unwiderstehliche Wahrheit. Studien zur alttestamentlichen
Prophetie, FS A. Meinhold, Leipzig 2006 (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 23), 269–282. – W.
DIETRICH, Israel und die Völker in der Hebräischen Bibel, in: R. Schwinges / M. Konradt (Hg.), Juden
in ihrer Umwelt. Akkulturation des Judentums in Antike und Mittelalter, Basel 2009 (a), 7–27. – W.
DIETRICH, Israel, seine Ahnen und die Völker. Ambivalenz als Grundkategorie der biblischen Erz-
elternerzählungen und der Erfahrungen Israels mit seinen Nachbarn, in: Ders. / K. Lüscher / C.
Müller, Ambivalenzen erkennen, aushalten und gestalten. Eine neue interdisziplinäre Perspektive für
theologisches und kirchliches Arbeiten, Zürich 2009 (b), 73–128. – M. DUBACH, Trunkenheit im
Alten Testament. Begrifflichkeit – Zeugnisse – Wertung, 2009 (BWANT 184).

a) Der Aufbau der Schrift

In dieser kürzesten Schrift der Hebräischen Bibel verbinden sich zwei Themen:
der Aufruf an die Völkerwelt zu einem Strafgericht an Edom, weil dieses sich
gegen seinen „Bruder“ Juda vergangen habe (1b–14.15b), und die Ankündigung
eines göttlichen Gerichts an der Völkerwelt, aus dem nur Jhwhs Volk errettet
wird, um sich anschließend gegen Edom und alle anderen feindlichen Nachbarn
wenden zu können (15a.16–21). Im Vers 15 verzahnen sich beide Ebenen: 15a
redet schon von der Völkerwelt, 15b wieder von Edom.
Von Edom handeln drei kleine Sprucheinheiten, die durch Schlussformeln
voneinander getrennt sind. Das Nachbarvolk im Südosten erscheint in einem
vollkommen negativen Licht. Ganz zu Unrecht fühlt es sich sicher ob der Unzu-
gänglichkeit seiner Siedlungen in abgelegenen Felsregionen (man denke nur an
Petra!); Jhwhs Hand wird es trotzdem finden (2–4). Edoms Feinde – seine bishe-
432 D. Die Hinteren Propheten

rigen Bundesgenossen – werden plündernd bis in die letzten Verstecke vordrin-


gen (5–7). Nichts und niemand wird Edom retten, nachdem es so schändlich an
Juda gehandelt, mit dessen Feinden gemeinsame Sache gemacht, sich auf seine
Kosten bereichert und seine Flüchtlinge getötet oder ausgeliefert hat (8–14.15b).
Die Völkerwelt wird eingangs aufgeboten zum Krieg gegen Edom (1b), doch
wird sie am Tag Jhwhs selbst dem Gericht verfallen; einzig Jhwhs Volk wird
Zuflucht finden auf dem Zion (16f.). Von dort aus wird es alles wieder in Besitz
nehmen, was andere ihm weggenommen haben: die Edomiter sowohl wie die
Philister und Kanaaniter. Ganz Nordisrael einschließlich des ostjordanischen
Gilead sowie der Negev werden Juda zufallen (18–21a). Nicht etwa um die Wie-
derherstellung des Königreichs Davids und Salomos geht es dabei, sondern um
die Aufrichtung des Königtums Jhwhs (21b).

b) Die Entstehung der Schrift

Die Überschrift des Büchleins (1) ist offenbar nicht einheitlich: Während 1b von
einer „Kunde“ oder „Nachricht“ spricht, dass Edom bestraft werden solle (was
gut zu den nachfolgenden Versen passt), redet 1a umfassender von der „Schau-
ung Obadjas“ (die das Völkergericht im zweiten Teil der Schrift mit umfassen
könnte).
Von da her legt sich eine mehrstufige Entstehung der Schrift nahe: Am An-
fang stand ein dreiteiliges Orakel gegen Edom (2–14.15b) mit der Überschrift 1b.
Dieser Grundtext wurde erweitert um die Ankündigung eines allgemeinen Völ-
kergerichts (15a.16–18), seinerseits eröffnet durch die Überschrift 1a und abge-
schlossen mit der Schlussformel „Ja, der Mund Jhwhs hat’s geredet“. Auf eine
dritte Stufe (nach BARTON noch auf die zweite) gehört die Idee eines Großreichs
Juda (bzw. Jhwhs!) auf Kosten der Nachbarn (19–21).
RENKEMA lehnt die Annahme einer mehrstufigen Entstehung von Ob ab. Er
sieht die gesamte Schrift (abgesehen einzig von dem Nachtrag V. 20) als planmä-
ßig aus fünf „sub-cantos“ (1–4.5–7–8–12.23–16.17–19+21) konstruiert.
Das Edom-Orakel dürfte nicht lange nach den traumatischen Ereignissen des
Jahres 587/86 v. Chr. entstanden sein. Bei der Zerschlagung des Königreichs Juda
scheinen die Edomiter eine für die Judäer besonders schmerzliche Rolle gespielt
zu haben. Schon in den Jahren zuvor waren sie anscheinend an militärischen
Destabilisierungsmaßnahmen der Babylonier beteiligt (2Kön 24,2, falls dort
„Aram“ durch „Edom“ zu ersetzen ist) und expandierten in judäisches Gebiet
(Jer 13,19). Bei Verhandlungen über eine antibabylonische Allianz im Jahr 594 in
Jerusalem waren sie zwar mit von der Partie (vgl. Jer 27,3), zogen sich von den
Planungen aber offenbar rechtzeitig zurück, um beim Dreinschlagen der Babylo-
nier mit diesen gemeinsame Sache zu machen. Darauf reagiert eine Reihe alttes-
tamentlicher Texte mit blankem Zorn: neben Ob noch Jes 34; 63,1–6; Jer 49,7–
22; Ez 25,12–14; 32,29; 35,1–15; Am 1,11f.; 9,11f.; Joël 4,19; Mal 1,2–5; Ps 60,3–
11; 137,7; Thr 4,21f.
V. Das Zwölfprophetenbuch 433

WEHRLE sieht für die prophetischen Anti-Edom-Texte zwei Hauptentstehungsstufen:


Exilisch seien diejenigen in Jer, Ez, Am, Ob und Mi, nachexilisch die in Jes, Joël und
Mal. – Die engste Paralle zu Ob 2–11 liegt in Jer 49,7–22 vor. Literarische Abhängig-
keit ist kaum zu bezweifeln, doch bleibt bis heute strittig, welche der drei Möglichkei-
ten zutreffend ist: dass beide Texte auf ein älteres Vorbild zurückgehen (so BEN ZVI,
BARTON), dass Jeremia die gebende Seite ist (so z. B. RAABE) oder gerade umgekehrt
Obadja. Eine Reihe von Gründen spricht am ehesten für die dritte Lösung: die größere
Ausführlichkeit von Jer 49, die größere Prominenz des Namens Jeremia, auch Jere-
mias politische Haltung in der Zeit der babylonischen Krise, die ein Wettern gegen
einen Verbündeten Babylons kaum erwarten lässt. (Dies ist zugleich ein Urteil gegen
die Ursprünglichkeit des Edom-Orakels in Jer 49).

Man verzieh es Edom nicht, dass es in der Zeit schlimmster Not nicht nur nicht
an der Seite Judas stand, sondern dessen Untergang mit Wohlgefallen zur
Kenntnis nahm, ja sich offenbar tatkräftig daran beteiligte und nach Kräften
davon profitierte. Das edomitische Siedlungsgebiet weitete sich im 6. Jh. in den
judäischen Negev aus. In hellenistischer und römischer Zeit bewohnte das aus
Edom hervorgegangene Idumäa die Region von Beerscheba bis nördlich von
Hebron (wobei freilich zu bedenken ist, dass die ursprünglichen Wohngebiete
Edoms östlich der Araba an die Nabatäer verloren gegangen waren). Im Zuge
dieser Entwicklung avancierte Edom zu dem Feind Judas, dessen Name schließ-
lich als Chiffre für jegliche antijudäische bzw. antijüdische Macht dienen konnte,
einschließlich Roms.

Das war nicht selbstverständlich, figuriert doch in den Jakob-Esau-Erzählungen der


Genesis Esau-Edom dezidiert als Bruder, ja Zwillingsbruder Jakobs bzw. Israels/Judas.
Hier bildet sich eine Feind-Freundschaft zwischen beiden Völkern ab, in der Esau-
Edom teilweise die Rolle des Bevorrechtigten, Stärkeren, auch Edleren zufällt, Jakob
freilich von Anfang an die des Erwählten und gegenüber Esau Bevorzugten. So mag
das Selbstgefühl Israels gegenüber Edom in der mittleren Königszeit gewesen sein, aus
der diese Erzählungen stammen dürften. Viele Texte aus den alttestamentlichen Ge-
schichtsbüchern lassen auf eher feindselig-kriegerische Beziehungen zwischen beiden
Nachbarvölkern schließen, wobei, entsprechend den politisch-militärischen Stärke-
verhältnissen, Israel/Juda überwiegend der überlegene und herrschende, Edom der
unterlegene und leidende Teil war (z. B. 1Sam 14,47; 2Sam 8,13f.; 11,15; 1Kön 22,48;
2Kön 3; 14,7.22; Gegenbeispiele: 2Kön 8,20–22; 16,6). Mit dem Untergang des Nord-
reichs gegen Ende des 8. Jh.s verschoben sich die Kräfteverhältnisse (Edom war assyri-
scher Vasall wie Juda), und im 6. Jh. kehrten sie sich um (Edom überlebte den Sturz
Judas und expandierte auf dessen Kosten). Diese für Israel/Juda schmerzlichen Verän-
derungen spiegeln sich in den Anti-Edom-Worten der Hebräischen Bibel.

Führt die Grundstufe von Ob in die Exilszeit und vermutlich recht nah an 587/6
heran, so sind die Erweiterungsstufen zeitlich bzw. zeitgeschichtlich kaum zu
fassen. Die einzelnen, hier verwendeten Motive sind im spätprophetischen
Schrifttum recht weit verbreitet.

Das Motiv des „Tages Jhwhs“ (15) ist ein Bindemittel in der Gesamtkomposition des
Dodekapropheton (vgl. dazu die oben bei V. genannte Monographie von SCHWESIG).
434 D. Die Hinteren Propheten

Anders als in Am 5,18.20; Joël 1,15; 2,1.11; Zef 1,7–2,3 kommt der „Tag“ hier nicht
mehr gezielt auf Israel zu, sondern auf die ganze (Völker-)Welt – so wie in den späten
Belegen Joël 3,4; 4,14; Sach 14,1; Mal 3,23. – Die Belege für das Motiv des göttlichen
Zornesbechers (16) häufen sich in spätprophetischen Partien (bes. Jes 51,17.22; Jer
25,15.17; 49,12; Ez 23,33; 23,32f.; Hab 2,16, dazu DUBACH 252–258). In dem „Becher“
wird zwar nicht Gift verabreicht, doch immerhin werden – immer noch erschreckend
genug – die Menschen, statt einen guten Trunk zu genießen, gezwungen, etwas zu
trinken, dessen Wirkung „von Erbrechen … über Bewegungsstörungen, … Ent-
blössung … und geistige Umnachtung bis zu Zerfall und Tod“ reicht (DUBACH 254). –
Zur „Rettung auf dem Zion“ (17) gibt es im Dodekapropheton die engsten Parallelen
in Joël 3,5; 4,16, zur (Wieder-)Inbesitznahme edomitischer Gebiete (18) in Am 9,11f.
(vgl. auch Zef 2,7).

c) Der Prophet

Dass es einen Propheten Obadja gegeben hat, ist nicht völlig sicher. Denkbar
wäre auch, dass man einer anonymen Schrift einen fiktiven und in gewisser
Weise typischen bzw. sprechenden Namen vorangestellt hat (so wie dies bei
Maleachi = „Mein Bote“ der Fall ist).

Die Textüberlieferung bietet zwei Ausformungen des Namens: einerseits „Obadja“ (so
MT und LXXB: ὀβείου), andererseits „Abdija“ (so LXXA: ἄβδιας). Das eine ist eine
Partizipialform („Der Jhwh Verehrende“; in 1Kön 18,3ff. heißt so auch ein betont
Jhwh-treuer Minister (allerdings mit dem vollen theophoren Element „-jahu“), das
andere eine Konstruktusverbindung („Der Knecht Jhwhs“). Beides würde sich sehr
wohl als Kunstname eignen.

Freilich ist nicht ausgeschlossen, dass ein prophetisch begabter Mann dieses
Namens tatsächlich gelebt hat – wenn, dann wohl in der früheren (laut RENKEMA
in der mittleren) Exilszeit in Juda. Sein Auftreten wäre ausgelöst durch das als
treulos empfundene Verhalten der Edomiter in der Katastrophensituation von
587/6. Die Zerstörung des Königreichs Edom durch den letzten Babylonierkönig
Nabonid im Jahr 553 scheint indes noch nicht vorausgesetzt zu sein; vielmehr
könnte dieses Ereignis als Beglaubigung der Prophetie Obadjas gegolten haben.
Ist Obadja also „einer der von Jeremia bekämpften Heilspropheten“ (so
RUDOLPH 230)? Dies lässt sich nur sehr bedingt sagen; denn anders als etwa Ha-
nanja (Jer 27f.) verkündete Obadja nicht Juda Heil, sondern Edom Unheil; erst
die sekundären Zusätze in 18–21 lassen Edoms Unheil Juda zum Heil Judas aus-
schlagen. (RENKEMA meint sogar, Obadja sei in vorexilischer Zeit Gerichtspro-
phet wie Jeremia gewesen und habe diesen nach der Katastrophe vollmächtig
ausgelegt: Ob 1–7.16 sei eine Interpretation von Jer 49,7–22 – doch dürfte das
Verhältnis beider Stellen eher umgekehrt sein.) Die Problematik der Ob-Schrift
liegt weniger in der Fage von Heil oder Unheil als vielmehr in dem scharfen
Gegensatz zwischen Juda und Edom. Der Edom-Hass in der Hebräischen Bibel,
dessen frühester Vertreter Obadja sein könnte, ist theologisch-ethisch durchaus
problematisch.
V. Das Zwölfprophetenbuch 435

ROBINSON sucht dem Problem etwas von seiner Schärfe zu nehmen, indem er auf selt-
sam schwebende Zeit- und Aussageebenen in Ob hinweist: Die Strafankündigungen
in 2–10 zeigen unterschiedliche Zeitformen und wehren so der Fixierung auf be-
stimmte geschichtliche Erwartungen oder Ereignisse. Die Schuldzuweisungen in 11–
14 sind merkwürdigerweise als Verbote formuliert („Schau nicht hin!“, „Mach deinen
Mund nicht groß!“, „Tritt nicht ein!“ usw.), so als ginge es nicht um vergangenes,
sondern um künftiges Fehlverhalten. Die ‚Vertauschung‘ von 15a und 15b gibt den
Edom-Worten eine eschatologische (statt nur einer geschichtlichen) Dimension. Der
Gebrauch von „Esau“ im Wechsel mit „Edom“ (in 6.8.9, auch 18.19.21) erinnert an die
Jakob-Esau-Geschichten, in denen Esau-Edom kein rein negatives Bild abgibt, eher im
Gegenteil (vgl. dazu DIETRICH 2009 b).

Problematisch sind aber erst recht Vorwürfe des Partikularismus und des Chau-
vinismus an die Adresse der Hebräischen Bibel, speziell auch an Ob, die leicht
einen antijüdischen bzw. antisemitischen Zungenschlag bekommen (HALLER
113: „die Juden“ waren „zu allen Zeiten gute Hasser“). Dagegen ist festzuhalten,
dass das Recht auf Partikularität, auf die Überzeugung eigener Besonderheit und
Erwähltheit, auch auf die Empörung über fremdes Unrecht, einem Volk nicht
streitig zu machen sind, zumal wenn es unter Übergriffen anderer so schwer und
oft zu leiden hatte und zu eigenen Übergriffen zumeist so wenig in der Lage war
wie das jüdische. Auf der anderen Seite will auch beachtet sein, dass die Hebräi-
sche Bibel nicht nur der Abgrenzung, sondern auch der Offenheit gegen andere
Völker – einschließlich Edoms – das Wort redet (vgl. EDELMAN 1995; DIETRICH
2009 a).

7. Jona
Kommentare: U. SIMON, Jona. Ein jüdischer Kommentar, 1994 (SBS 157). – U. STRUPPE, 1996 (NSK:
Ob, Jona). – P. CARY, Jonah, Grand Rapids 2008 (Brazos Theological Commentary on the Bible).
Zu Kommentarreihen siehe oben bei V.
Einzeluntersuchungen: N. LOHFINK, Jona ging zur Stadt hinaus (Jon 4,5): BZ NF 5 (1961), 185–203. –
K. H. MISKOTTE, Wenn die Götter schweigen, München 1963, 418–435. – W. RUDOLPH, Jona, in: A.
Kuschke / E. Kutsch (Hg.), Archäologie und Altes Testament, FS Kurt Galling, Tübingen 1970, 233–
239. – G. VON RAD, Der Prophet Jona, in: Ders., Gottes Wirken in Israel, Neukirchen-Vluyn 1974,
65–78. – L. SCHMIDT, „De Deo.“ Studien zur Literarkritik und Theologie des Buches Jona, des Ge-
sprächs zwischen Jahwe und Abraham in Gen 18,22ff. und von Hi 1, 1976 (BZAW 143). – T. E.
FRETHEIM, Jonah and Theodicy: ZAW 89 (1978), 227–237. – H. H. WITZENRATH, Das Buch Jona.
Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung, 1978 (ATS 6). – E. M. GOOD: The Absurdity of God,
in: Ders., Irony in the OT, 1981, 39–55. – J. MAGONET, Form and Meaning. Studies in Literary Tech-
niques in the Book of Jonah, Sheffield 1983. – E. LEVINE, Jonah as a Philosophical Book: ZAW 96
(1984), 235–245. – H. GESE, Jona ben Amittai und das Jonabuch: Theol. Beiträge 16 (1985), 256–272.
– O. KAISER, Wirklichkeit, Möglichkeit und Vorurteil. Ein Beitrag zum Verständnis des Buches Jona,
in: Ders., Der Mensch unter dem Schicksal, 1985 (BZAW 161), 41–53. – J. L. CRENSHAW, The Expres-
sion mî jôdēʽa in the Hebrew Bible: VT 36 (1986), 274–288. – F. W. GOLKA, Jonaexegese und Anti-
judaismus: Kirche und Israel 1 (1986), 51–61. – S. HERRMANN, Hans Walter Wolffs Verständnis des
Buches Jona, in: Ders., Ges. Studien zur Geschichte und Theologie des AT, 1986 (TB 75), 221–231. –
H. W. WOLFF, Humor als Seelsorge. Erzählerische Eigenarten des Jonabuches, in: Ders., Studien zur
Prophetie, 1986 (TB 86), 124–128. – J. EBACH, Kassandra und Jona. Gegen die Macht des Schicksals,
436 D. Die Hinteren Propheten

Frankfurt 1987. – T. KRÜGER, Literarisches Wachstum und theologische Diskussion im Jona-Buch


(1991=), in: Ders., Kritische Weisheit, Zürich 1997, 41–65. – R. LUX, Jona. Prophet zwischen „Ver-
weigerung“ und „Gehorsam“. Eine erzählanalytische Studie, 1994 (FRLANT 162). – U. STEFFEN, Die
Jona-Geschichte. Ihre Auslegung und Darstellung im Judentum, Christentum und Islam, Neukir-
chen-Vluyn 1994. – J. JEREMIAS, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung, 21997
(BThSt 31), 98–109. – H. J. OPGEN-RHEIN, Jonapsalm und Jonabuch. Sprachgestalt, Entstehungsge-
schichte und Kontextbedeutung, 1997 (SBB 38). –Y. SHERWOOD, Cross-Currents in the Book of
Jonah. Some Jewish and Cultural Midrashim on a Traditional Text: Biblical Interpretation 6 (1998),
49–79. – H. W. WOLFF, Studien zum Jonabuch [mit einem Anhang von J. Jeremias über die For-
schung seit Wolff], 32003 (BSt 47). – W. DIETRICH, Ninive in der Bibel, in: Ders., Theopolitik. Studien
zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2002, 239–254. – M. GERHARDS,
Studien zum Jonabuch, 2006 (BThSt 78). – L. K. HANDY, Jonah’s World. Social Science and the
Reading of Prophetic Story, London 2007. – J. JEREMIAS, Der Psalm des Jona (Jona 2,3–10), in: M.
Bauks u. a. (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5). Aspekte einer theologi-
schen Anthropologie, FS Bernd Janowski, Neukirchen-Vluyn 2008, 203–214. – B. WEBER, Jona. Der
widerspenstige Prophet und der gnädige Gott, Leipzig 2012 (Biblische Gestalten 27).

a) Der Aufbau der Schrift

Die Jona-Schrift ist, im Unterschied zu allen anderen Schriften des Dodekapro-


pheton, weit überwiegend ein Erzähltext. (Nur in 2,3–10 ist ein von Jona gebete-
ter Psalm eingeschaltet.) Erzählt wird von einem Propheten Jona ben Amittai,
den Gott nach Ninive sendet, weil dessen große Bosheit ihm zu Ohren gekom-
men sei, der aber statt zu Fuß nach Osten per Schiff nach Westen, Richtung
Tarschisch (wohl in Spanien) reist, woraufhin Gott einen „großen Wind aufs
Wasser schleudert“, die Schiffsbesatzung zur Verzweiflung und schließlich dazu
treibt, Jona als den an dem Unheil Schuldigen ins Meer zu werfen; das Meer
beruhigt sich sofort, Jona wird von einem Fisch aufgeschnappt, singt im Fisch-
bauch einen Psalm, wird drei Tage lang gen Osten befördert, irgendwo in Syrien
an Land gespien und geht von da aus wirklich nach Ninive; einen Tag lang läuft
er in die riesenhafte Stadt hinein, hält dann eine kurze, raue Predigt – und wird
zum erfolgreichsten Bußprediger aller Zeiten: Die ganze Stadt, vom König bis
hinab zu den Tieren, tut Buße – und wird prompt verschont; Jona indes ist damit
gar nicht zufrieden, sondern rügt Gott ob seiner Milde, worauf dieser ihn ebenso
sanft wie nachdrücklich für seine versöhnliche Sicht der Dinge zu gewinnen
sucht.
Die Erzählung zerfällt in zwei, parallel zueinander aufgebaute Hälften:

Jona 1–2 Jona 3–4


Gott sendet Jona nach Ninive Gott sendet Jona nach Ninive
Jona geht nach Tarschisch Jona geht nach Ninive
Jona befindet sich auf dem Meer Jona befindet sich in Ninive
Gott greift ein (durch den Sturm) Gott greift ein (durch Jonas Predigt)
Die heidnischen Seeleute sind gottes- Die heidnischen Nineviten tun Buße
fürchtig und werden gerettet und werden begnadigt
Jona widersteht Gott, doch der lässt ihn Jona widersteht Gott, doch der wirbt
leben um ihn
V. Das Zwölfprophetenbuch 437

Die Erzählung ist von höchster Kunstfertigkeit. Unter einem einfach-märchen-


haften Sprachgewand (in dem z. B. das kindliche Adjektiv „groß“ einen Leitfaden
bildet) zeichnen sich gewichtige und schwierige Probleme ab: die Relation zwi-
schen menschlichem Unrecht und göttlicher Gerechtigkeit, das Verhältnis zwi-
schen dem Gottesvolk und ihm feindlich gesinnten Völkern, die Frage nach der
Reichweite göttlicher Barmherzigkeit, die Diskrepanz zwischen prophetischer
Erwartung und tatsächlichem Geschehen. Unkonventionelle Lösungen deuten
sich an, werden jedoch erzählerisch in der Schwebe gehalten. Das abschließende
Werben Gottes um das Einverständnis Jonas (und des Lesers) bleibt ohne Ant-
wort.

b) Die Entstehung der Schrift

Es kann kaum ein Zweifel daran sein, dass die Jona-Erzählung einheitlich und
das Werk eines großen Künstlers und Theologen ist. (Der Versuch SCHMIDTs,
zwischen der ersten und der zweiten Hälfte der Schrift literarkritisch zu scheiden,
hat mit Recht keine Gefolgschaft gefunden – auch wenn die Elemente „Stillung
eines Sturms aufgrund eines Menschenopfers“ und „Rettung einer Stadt auf-
grund kollektiver Buße“ motivgeschichtlich divergente Hintergründe haben.)
Strittig ist einzig, ob der Psalm 2,3–10 primär zur Jona-Schrift gehört oder ihr
sekundär eingefügt worden ist. Im einen Fall hätte der Jona-Erzähler das Lied
selbst verfasst oder es allenfalls anderswoher in seinen Text übernommen; im
anderen Fall hätte ein Späterer das Lied für den jetzigen Kontext gedichtet oder
es seinerseits anderswoher genommen und mit mehr oder weniger Anpassungen
an seine jetzige Stelle gesetzt. Im Grunde ist der Unterschied nicht sehr gravie-
rend. Die Entscheidung hängt davon ab, inwieweit aus dem Erzähl- und dem
Liedtext unterschiedliche oder gar gegensätzliche Intentionen herauszuhören
sind. Je stärker die Divergenz, desto unwahrscheinlicher, dass ein und derselbe
Autor für beides verantwortlich ist.
Manche Elemente des Gebets passen ausgezeichnet in den Kontext: Der Beter
sieht sich schon im Totenreich (V. 3), fühlt sich ins Meer geworfen (V. 4), dem
Blick Gottes entzogen (V. 5), den Kopf von Tang umwickelt (V. 6), alle Lebens-
kraft schwindend (V. 8). Er rechnet auf Gottes Hilfsbereitschaft (V. 3.7.8), hofft
auf Rettung (V. 5) und stellt für diesen Fall Gelübdeopfer in Aussicht (V. 10).
Doch genau diese Züge und Bilder könnten auch der Grund dafür gewesen sein,
dass gerade dieses Lied Jona nachträglich in den Mund gelegt wurde. Dafür wie-
derum spricht, dass manche seiner Aussagen wenig situationsgemäß erscheinen:
überhaupt schon ein solch wohlgesetzter Gesang in einem Fischbauch, sodann
die mehrfache Rede vom Tempel (V. 5.8 – wo doch zunächst die Reise nach
Ninive bevorsteht), die Polemik gegen andere Götter (V. 9 – wo doch die Heiden
in der Jona-Schrift ein durchweg positives Bild abgeben), vor allem aber: die
große, gewissermaßen konventionelle Frömmigkeit dieses Gebets, die zu einem
gegen Gott so widerspenstigen und kritischen Mann wie Jona nicht recht passen
438 D. Die Hinteren Propheten

will. Der geradezu aufreizend offene Schluss würde mit diesem frommen Lied
gleichsam unterlaufen – was womöglich gerade die Absicht bei seiner Einfügung
war. Diese dürfte also wohl eher sekundär als primär erfolgt sein (gegen
MAGONET, SIMON u. a. mit WOLFF, JEREMIAS u. a.).

JEREMIAS (2008) führt zur Stützung noch ein kleines, aber gewichtiges textkritisches
Argument an: In V. 5b äußert sich Jona nach der hebräischen Textüberlieferung zu-
versichtlich: „Doch (‫ )אַך‬ich werde wieder aufblicken zu deinem heiligen Tempel!“
Eine griechische Version hingegen (Theodotion) formuliert hier skeptisch: „Wie
(griech. πῶς, entsprechend hebr. ‫ )אֵיך‬könnte ich je wieder aufblicken …?“). Diese
zweite Fassung, so JEREMIAS, sei ursprünglich und habe in dem noch selbständigen
Lied gestanden; bei dessen Einbau in die Jona-Schrift sei sie abgewandelt worden,
wodurch Jona in ein günstigeres Licht rücke und eine positive Antwort auf Gottes
Schlussfrage wahrscheinlicher werde.

Vieles in der Jona-Schrift weist „eindeutig in nachexilische Zeit“ (WOLFF). Die


Sprache zeigt Anklänge an späte Schriften des AT wie Chr, Qoh und Dan (vgl.
etwa ‫ שֶׁ־‬als Relativpartikel in 1,7.12; 4,10 oder die Bezeichnung „Himmelsgott“ in
1,9). In 3,9; 4,2 scheint Joël 2,13f. zitiert zu sein – seinerseits ein nachexilischer
Text. Jonas Flucht und Verzweiflung gemahnen an den mutlosen Elija von 1Kön
19: einen in der Elija-Überlieferung jungen Text. Geographische Angaben und
Vorstellungen (Jafo als Hafenstadt, Ninive als riesenhafter Stadtstaat) verraten
weiten zeitlichen Abstand von den vorgestellten Ereignissen. Heidnische Matro-
sen, die „Ehrfurcht“ vor Jhwh zeigen und zu ihm beten (1,14f.), sind nicht fern
den „gottesfürchtigen“ Proselyten der zwischen- und neutestamentlichen Zeit.
Die interesseleitende Frage nach Heilsmöglichkeiten für fremde Völker erinnert
an ausgesprochen junge Texte wie Jes 19,18–25; Zef 2,11; 3,9; Sach 14,9.16. Mit
WOLFF wird man aus all diesen Gründen die Jona-Schrift „nicht vor dem letzten
Drittel des 4. Jh.“ und „sogar lieber im 3. Jh.“ ansetzen. (Demgegenüber plädiert
neuerdings HANDY wieder für einen früheren Zeitpunkt: das 5., allenfalls das
frühe 4. Jh.)

c) Der Prophet

Einen Propheten namens Jona ben Amittai hat es gegeben. Laut einer wohl aus
den „Tagebüchern der Könige von Israel“ stammenden Notiz in 2Kön 14,25
kündigte er die außenpolitischen Erfolge Jerobeams II. (786–746 v. Chr.) an.
Demnach war er ein Hof- und/oder Heilsprophet, wie es sie davor und danach
(und nicht nur in Israel) immer wieder gegeben hat (vgl. nur 2Sam 7,8–17; 1Kön
20,13f.28; 22,10–12; Jer 28,1–4 sowie die meisten der Fremdvölkerorakel in den
Prophetenbüchern).
Der ‚Held‘ der Jona-Erzählung soll dieser Jona des frühen 8. Jh.s sein, ist es
aber nicht. Statt wie jener Heil für Israel, sagt er Unheil für Ninive an. Obwohl
im 8. Jh. beides ein Stück weit deckungsgleich hätte sein können, reflektiert die
V. Das Zwölfprophetenbuch 439

Jona-Schrift doch nicht auf mögliche heilvolle Folgen eines Untergangs Ninives
für Israel, sondern auf Gottes zuweilen schwer erträgliche Großmut gegen das
Böse, verkörpert in Ninive. Die Antwort fällt äußerst differenziert aus: Der Gott
Israels, der der Gott der ganzen Welt ist, sorgt sehr wohl für die Durchsetzung
seines Willens – gerade auch bei der „bösen“ Großmacht (laut HANDY eine ver-
kappte Kritik an der Perserherrschaft). Doch räumt er allen Menschen, auch
Nichtjuden und sogar eklatant bösen Menschen, eine Chance auf Umkehr und
Besserung ein. Anständigen und frommen Menschen wie Jona scheint seine
Großzügigkeit zuweilen zu weit zu gehen. Dabei gilt seine Güte nicht der Bosheit,
sondern den Bösen, sofern sie vom Bösen lassen (was die Niniviten genau taten:
3,8). Diesen Unterschied zu machen, fällt den unter der Bosheit Leidenden
schwer; sie fürchten, Gott sei immer nur „gnädig und barmherzig“ und lasse sich
des Unheils gegen die, die es verdient hätten, jederzeit „gereuen“ (4,2). Jona zi-
tiert an dieser Stelle die sog. „Gnadenformel“, die in ihrer Grundfassung (Ex
34,6f.) Gottes Großmut seinen Strafwillen zur Seite stellt. Von dieser strengen
Seite Gottes sieht Jona nichts, und insofern ist sein Unmut berechtigt. Überhaupt
geht der Erzähler mit Jona viel weniger ironisch und streng ins Gericht, als viele
Ausleger – z. T. mit einem bedenklich antijüdischen Zungenschlag – meinen
(vgl. HERRMANN, EBACH, GOLKA, SHERWOOD).
Der „Jona“ des frühen 8. Jh.s konnte etwas nicht wissen, was Erzähler wusste
(und die Ausleger ebenfalls wissen sollten): Das assyrische Großreich, das sich im
Fortgang des 8. und im 7. Jh. jener (fiktionalen) Bekehrung auf „Jonas“ Predigt
hin nicht mehr entsann und sich zur „bösesten“ Macht entfaltete, die Israel bis
dahin erlebt hatte, bekam alsbald die strenge Seite Gottes zu spüren: Im Jahr 612
war Ninive zerstört. Davon wird innerhalb des Zwölfprophetenbuchs die
Nahum-Schrift handeln.

8. Micha
Kommentare: J. L. MAYS, 1976 (OTL). – R. KESSLER, 1999 (HThKAT). – H. UTZSCHNEIDER, 2005
(ZBK). – B. K. WALTKE, Grand Rapids 2007.
Zu Kommentarreihen siehe oben bei V.

Einzeluntersuchungen: J. JEREMIAS, Die Deutung der Gerichtsworte Michas in der Exilszeit: ZAW 83
(1971), 330–354. – I. WILLI-PLEIN, Vorformen der Schriftexegese innerhalb des Alten Testaments,
1971 (BZAW 123). – H. W. WOLFF, Mit Micha reden, München 1978. – J. N. CARREIRA, Micha – ein
Ältester von Moreschet?: TThZ 90 (1981), 19–28. – J. N. CARREIRA, Kunstsprache und Weisheit bei
Micha: BZ NF 26 (1982), 50–74. – H. W. WOLFF, Wie verstand Micha von Moreschet sein propheti-
sches Amt?, in: Ders., Studien zur Prophetie, 1987 (TB 76), 79–92. – E. OTTO, Techniken der Rechts-
satzredaktion israelitischer Rechtsbücher in der Redaktion des Prophetenbuches Micha: SJOT 2
(1991), 119–150. – G. V. PIXLEY, Micah – A Revolutionary, in: D. Jobling et al. (eds.), The Bible and
the Politics of Exegesis, FS N. K. Gottwald, Cleveland 1991, 53–60. – E. OTTO, Art. Micha/Micha-
buch: TRE 22 (1992), 695–704. – T. LESCOW, Zur Komposition des Buches Micha: SJOT 9 (1995),
200–222. – JUN-HEE CHA, Micha und Jeremia, 1996 (BBB 107). – R. OBERFORCHER, Entstehung,
Charakter und Aussageprofil des Michabuches: BiKi 51 (1996), 150–154. – B. M. ZAPFF, Redaktions-
geschichtliche Studien zum Michabuch im Kontext des Dodekapropheton, 1997 (BZAW 256). – G.
440 D. Die Hinteren Propheten

METZNER, Kompositionsgeschichte des Michabuches, 1998 (EHS 23.635). – S. MITTMANN, Eine


prophetische Totenklage des Jahres 701 v. Chr. (Micha 1:3–5a.8–13a.14–16): JNSL 25 (1999), 31–60.
– B. M. ZAPFF, Die Völkerperspektive des Michabuches als „Systematisierung“ der divergierenden
Sicht der Völker in den Büchern Joël, Jona und Nahum? Überlegungen zu einer buchübergreifenden
Exegese im Dodekapropheton: BN 98 (1999), 86–99. – R. KESSLER, Das Buch Micha als Mitte des
Zwölfprophetenbuchs. Einzeltext, redaktionelle Intention und kontextuelle Lektüre, in: E. Zenger
(Hg.), „Wort JHWHs, das geschah …“ (Hos. 1,1). Studien zum Zwölfprophetenbuch, 2002 (HBS 35),
139–148 = Ders., Gotteserdung, 2006 (BWANT 170), 129–136. – J. JEREMIAS, Micha 4,5 und die
nachexilische Prophetie, in: M. Köckert / M. Nissinen (Hg.), Propheten in Mari, Assyrien und Israel,
2003 (FRLANT 201), 90–115. – C. HARDMEIER, Die Propheten Micha und Jesaja im Spiegel von
Jeremia 26 und II Regum 18–20, in: Ders., Erzähldiskurs und Redepragmatik im Alten Testament.
Unterwegs zu einer performativen Theologie der Bibel, 2005 (FAT 46), 273–289.

Forschungsbericht: A. VAN DER WAL, Micah. A Classified Bibliography, Amsterdam 1990.

a) Der Aufbau der Schrift

Mi 1–3 künden weit überwiegend (Ausnahme: 2,12f.) von Unheil gegen Israel
und Juda, insbesondere gegen die Hauptstädte Samaria und Jerusalem, aber auch
gegen eine Reihe judäischer Landstädte (1,10–15). In Mi 4–5 tritt die Völkerwelt
auf den Plan: zuerst in einer großen Wallfahrt zum Zion (Mi 4,1–4, fast wort-
gleich mit Jes 2,1–4), dann als feindseliges Gegenüber, aus dessen Mitte die Ver-
sprengten Israels befreit werden müssen (4,5–8) und das am Ende hart zu be-
strafen ist (4,11–13; 5,4–8); seines Volkes Israel aber wird sich Jhwh annehmen,
besonders glanzvoll in der Gestalt eines Messias aus Betlehem (5,1–3). In Mi 6–7
tritt das Völker-Thema zurück, stattdessen wird von der erneut notwendigen
inneren Reinigung des Gottesvolks und von dessen endlicher Erlösung gehan-
delt, ehe das Ganze in einen psalmartigen Hymnus ausklingt (7,8–20).
Zu dieser oft befolgten Dreiteilung nach inhaltlichen Gesichtspunkten fügt
sich nur teilweise ein auffälliges Gliederungsmerkmal der Mi-Schrift: die sog.
Höraufrufe (‫שׁמעו‬, „hört!“) in 1,2; 3,1; 6,1. Die drei so entstehenden Abschnitte
(Mi 1–2; 3–5; 6–7) beginnen jeweils mit Unheilsworten und enden mit Heilsper-
spektiven (so etwa RUDOLPH). So oder so: Zwischen den drei Hauptteilen gibt es
diverse Verklammerungen und Überlappungen: In 4,9.11.14 beginnen drei
Sprucheinheiten jeweils mit ‫„( עתה‬Jetzt!“); 4,8 und 5,1 wenden sich mit einem
„Du“ (‫ )אתה‬jeweils an eine Ortschaft; 1,2 und 5,14 richten sich an die Völkerwelt
und scheinen so Mi 1–5 zu einem Ganzen zusammenzuschließen; die Heilszu-
sage in 2,12f. öffnet die drohenden Kapitel 1–3 auf die nachfolgenden lichteren
Kapitel hin; umgekehrt handelt 6,9–16 wieder, wie 2,1f. und 3,1–3, von sozialem
Unrecht in Juda.
Kurzum: Die Mi-Tradenten haben keine klare und eindeutige Ordnung her-
gestellt, sondern muten der Leserschaft ein ständiges Überraschtwerden und
Neubedenken zu. (UTZSCHNEIDER hält die Endgestalt der Schrift denn auch für
einen „dramatischen“, in „Akte“ einteilbaren Text). Bei der Lektüre durch-
schreitet man die theologische Abfolge „Durch Unheil zum Heil“ mehrfach, und
das Ganze beschreibt nur sehr ungefähr den quasi-geschichtlichen Bogen „Von
V. Das Zwölfprophetenbuch 441

den Katastrophen des 8. Jh.s zur endzeitlichen Erlösung“. Der Gedanke liegt
nahe, dass die formalen und inhaltlichen Diskrepanzen (auch) durch diachrones
Textwachstum bedingt sind.

b) Die Entstehung der Schrift

Die Überschrift 1,1 spricht von einem Micha aus Moreschet-Gat, der sich in den
Tagen der judäischen Könige Jotam (756–742), Ahas (742–725) und Hiskija
(725–696) zum Schicksal Samarias und Jerusalems geäußert habe. Seit der Mitte
des 8. Jh.s expandierten die Assyrer in die südliche Levante. Samaria ging 722
unter, Jerusalem geriet schon im syrisch-efraimitischen Krieg (734/33) und mehr
noch bei einem Feldzug Sanheribs 701 in schwerste Bedrängnis. Aus anderen
Quellen, nicht zuletzt aus Prophetenschriften, ist bekannt, dass in dieser Zeit
neben äußeren Bedrohungen auch innere, vor allem soziale Spannungen die
Königreiche Israel und Juda erschütterten. In der Mi-Schrift findet sich tatsäch-
lich Einiges, das in diesen historischen Kontext passt.

Seit dem Ende des 19. Jh.s zeichnet sich ab und spätestens seit WOLFF ist man sich
weithin einig, dass solches authentisches Gut im Grunde nur in Mi 1–3 zu suchen ist.
Die Einzelabgrenzungen differieren allerdings: OBERFORCHER etwa möchte 1,3–
5a.6.7b–13a.14–16; 2,*1–11; 3,1–12 für ‚echt‘ halten, KESSLER noch 1,10–16; 2,1–3.6–
11; 3,1–12, UTZSCHNEIDER nur 1,10–16; 2,1–5.8f.; 3,12. Gelegentlich werden auch
Passagen aus den späteren Kapiteln Micha zugeschrieben: 5,1.3a (JEREMIAS); 6,9–15
(WILLI-PLEIN); 4,9–5.3; 6,9–16 (CARREIRA).

Allem Anschein nach hat der Landjudäer Micha die Ausbeutung der Landschaft
Juda durch die Oberschicht nicht nur beklagt, sondern scharf attackiert und
insbesondere der judäischen Hauptstadt (wie schon der nordisraelitischen, vgl.
1,5f.) eine schwere Katastrophe angekündigt, vor der sie auch der Tempel Jhwhs,
der ihr Sicherheit zu gewähren schien, nicht schützen werde. Ausgelöst durch
diese Botschaft ist die Mi-Schrift offenbar über mehrere Stufen und Jahrhunderte
hinweg sukzessive angewachsen.
Die von der Forschung entwickelten Entstehungsmodelle treffen sich in den
Grundzügen, weichen allerdings in Einzelheiten voneinander ab.

– WOLFF (ähnlich WAHL): (1) Drei von Micha selbst verfasste „Auftrittskizzen“:
1,6.7b–13a.14–16; 2,1–4.6–11; 3,1–12. (2) Überarbeitung im Geist dtr Theologie:
1,1.3–5.7a.13b; 2,5, Eingriffe auch in 2,3f.; 3,4f.8. (3) Sukzessive Fortschreibungen im
Kontext exilszeitlicher Klagefeiern: 4,9–5,1.3.4a.5b; 2,12f.; 4,6.7a; 5,6–14; 4,1–5.7b.8;
5,2; 1,2. (4) „Heilsprophetisch-eschatologische Traditionen“ aus der frühen Perserzeit:
6,2–7,7, redaktionell eingebunden durch 6,1. (5) Liturgischer Abschluss zwecks Verle-
sung im Gottesdienst: 7,8–20.
– OTTO: (1) Drei von Micha selbst stammende Prophetenworte: *3,1–12. (2) Eine
exilszeitliche, dtr gefärbte Sammlung, die ältere Micha-Worte (2,1–5.8–10; 3,1–4.9–
11) durch Kap. 1 einleitet und um die Vorwürfe verkehrten Kultes (1,5.7; 2,10), ver-
fehlten Vertrauens auf militärische Stärke (1,13b) und verlogener Prophetie (2,6f.11;
442 D. Die Hinteren Propheten

3,5–8) anreichert: Mi *1–3. (3) Eine nachexilische Sammlung von Trostworten mit
Akzent auf Völkerkampf- und Messias-Motiven, die in 4,9f. eine (spätvor)exilische
Vorstufe und in 4,1–5; 5,9–12 eine „Nachinterpretation“ aufweist: *4,9–5,5. (4) Ein
weiterer nachexilischer „Spruchkomplex“ mit einem dtr-exilischen „Überlieferungs-
kern“ in 6,*9–15 und verschiedenen Ausweitungen im Kontext (trito)jesajanischer
Tradition: Mi 6–7. Auf allen Redaktionsebenen sei mit Vorliebe die Technik der
Ringkomposition (A-B-B’-A’ usw.) verwendet worden – wogegen LESCOW allerorten
Kompositionen nach dem sog. „Stufenschema“ (A-B-C usw.) meint feststellen zu
können.
– KESSLER: (1) „Micha-Denkschrift“ von der Hand „nachmichanischer Tradenten“:
1,10–16; 2,1–3.6–11; 3,1–12. (2) Bald nach 587/86: 4,8–5,3. (3) In der frühen Perser-
zeit: die „Komposition“ Mi *1–5. (4) In der zweiten Hälfte des 5. Jh.s, nachdem hoch-
fliegende Erwartungen verflogen sind: 6,1–7,7. (5) In der späten Perser- oder schon
der hellenistischen Zeit: 4,5; 5,4f.8; 7,8–20.

Ein wenig vereinfacht lässt sich die Entstehungsgeschichte der Mi-Schrift etwa so
vorstellen:
– Es ist nicht mehr sicher zu klären, ob der Prophet Micha selbst oder ihm
Vertraute noch zu seinen Lebzeiten oder bald danach Teile seiner Verkündigung
aufgezeichnet haben; wenn, dann betrifft dies wohl lediglich Passagen aus Mi 1–
3. Jedenfalls waren michanische Spitzensätze den Menschen in Juda noch hun-
dert Jahre später präsent (vgl. Jer 26,18 mit Mi 3,12, dazu besonders HARD-
MEIER); und wenn der Prophet Jeremia Manches aus der Verkündigung Michas
aufgenommen hat (so mit beachtlichen Gründen, freilich manchmal etwas weit
ausgreifend, JUN-HEE CHA), wird ihm diese wohl schriftlich vorgelegen haben.
– Mittels der Überschrift 1,1 und einiger Erweiterungen im Geist dtr Theologie
wurde eine erste, kaum über die ersten drei Kapitel hinausgehende (und 2,12f.
gewiss noch nicht enthaltende) Fassung der Mi-Schrift in das exilszeitliche Vier-
prophetenbuch eingereiht (vgl. oben V 2 b).
– Die schockierende Ankündigung von 3,12, der Zion solle „umgepflügt“ wer-
den, hat sich nicht schon 701, wohl aber 587/86 erfüllt. Beides, die vorläufige
Verschonung und die dann doch erfolgte Zerstörung Jerusalems, zogen in früh-
nachexilischer Zeit Weissagungen von der bleibenden und noch wachsenden
Bedeutung Zions, dem Wiedererstarken Judas und einem aus „Betlehem Efrata“
hervorgehenden eschatologischen Heilskönig an (Mi *4,1–5,3). Freilich stand
den Ergänzern die zunächst zu erleidende Exilskatastrophe deutlich genug vor
Augen (4,9f. – in deutlichem Rückgriff auf exilszeitliche Texte wie 2Kön 25,11
und Jer 6,24). Die in Mi *1–5 erreichte Bewegung „vom Unheil zum Heil“ fügt
sich bestens zu den Konturen der entstehenden perserzeitlichen Propheten-
anthologie (vgl. oben V 2 d).
– Im 5. und 4. Jh. (so METZNER, KESSLER, UTZSCHNEIDER) wuchsen der Schrift in
6,1–7,7 sukzessive weitere, thematisch an die Mi-, aber auch an die Jes-Tradition
anknüpfende prophetische Texte zu.
– Einige Passagen – jedenfalls der psalmartige Abschluss 7,8–20 (UTZSCHNEI-
DER), vermutlich auch 4,11–13 und 5,9–12 (JEREMIAS) – kamen wohl erst in der
Ptolemäer-Zeit hinzu.
V. Das Zwölfprophetenbuch 443

c) Der Prophet

Nach Ausweis von 1,5f. (evtl. auch 3,9) lebte bzw. wirkte Micha schon vor der
Belagerung und Zerstörung Samarias 724–722. Anscheinend lässt sich Mi 1,3–
5a.8–13a.14–16 entnehmen, dass er noch den Vormarsch der Assyrer auf Jeru-
salem 701 hautnah miterlebt hat: in dezidierter Opposition zur Aufstandspolitik,
speziell zur Philisterpolitik des Königs Hiskija (so MITTMANN; gemäß assyri-
schen Quellen hat Hiskija den proassyrischen König Padi von Ekron gefangen
gesetzt.)
Entgegen einem neueren Trend in der deutschen Prophetenforschung ist im
Falle Michas festzustellen, dass er, wenn überhaupt, dann (einzig?) Unheilspro-
phet war. Mit einiger Sicherheit lässt sich lediglich ein Grundbestand der Kap. 1–
3 auf ihn zurückführen, der keinerlei Heilsankündigungen enthält. Dementspre-
chend zitieren im Jahr 608 Älteste aus der Landschaft Juda, als in der Hauptstadt
der Tempelkritiker Jeremia in Bedrängnis gerät, zu dessen Entlastung die harte
Drohung Michas gegen den Zion (Jer 26,17f.; interessanterweise wird in diesem
Zusammenhang freilich vermerkt, dass diese Drohung Buße ausgelöst und damit
– vorerst – Heil bewirkt habe).
Heimat- und Wohnort Michas war laut der Überschrift 1,1 Moreschet-Gat,
eine Ortschaft 35 km südwestlich von Jerusalem, gelegen am Abfall der judäi-
schen Schefela zur Küstenebene hin, nicht weit der Philisterstadt Gat. In ihrer
Umgebung befanden sich große Grenzfestungen des Königreichs Juda (Lachisch,
Aseka, Marescha), was eine starke Präsenz von Oberschichtsangehörigen aus
Jerusalem – Offiziere, Beamte, wohl auch Latifundienbesitzer – zur Folge hatte.
Micha beobachtet deren Wirken aus der Perspektive der ländlichen Bevölkerung.
Diese, gerade auch ihre Frauen und Kinder, nennt er „mein Volk“ (1,9; 2,9;
3,3.5), sie sieht er von den Mächtigen schändlich ausgebeutet (2,1f.8f.; 3,10f.), ja
geradezu kannibalisch massakriert (3,2f.). Die Propheten und die Priester, statt
den Ausbeutern in den Arm zu fallen, machen mit ihnen gemeinsame Sache
(3,5–7.11). Micha tritt, „erfüllt von Kraft und von Recht und von Stärke“, dem
unguten Treiben entgegen (3,8). Zum Guten wenden kann er es nicht, nur ihm
ein böses Ende voraussagen (1,8–16; 2,3–5; 3,12).
Wie kommt Micha zu dieser geradezu revolutionären (PIXLEY) Haltung? Et-
was wie einen Berufungsbericht von ihm gibt es nicht. Er selbst spricht immerhin
davon, dass ihn der „Geist Jhwhs“ treibe. WOLFF hat ihn – nicht zuletzt aufgrund
von Jer 26,17f. – als einen der Ortsältesten von Moreschet identifiziert; als sol-
cher sei er sowohl über die schlimmen Zustände im Land als auch über das, was
nach altem Herkommen gut und richtig wäre, wohl informiert gewesen.
(CARREIRA bestreitet dies mit dem Argument, die Ältesten hätten zu der von
Micha attackierten Führungsschicht gehört – doch konnte sich ja auch einer der
Ihren gegen sie wenden). Jedenfalls zeigt der Landjudäer Micha streckenweise
ein deutlich anderes geistig-geistliches Profil als der Stadtjerusalemer Jesaja (s.
oben II.4.c). Gleichwohl läuft die Verkündigung der beiden etwa zeitgenössichen
Propheten in Vielem auf das Gleiche hinaus.
444 D. Die Hinteren Propheten

9. Nahum
Kommentare: K. SPRONK, 1997 (Historical Commentary on the OT). – J. M. O’BRIEN, Nahum, 2002
(Readings). – H.-J. FABRY, 2006 (HThKAT). – D. L. CHRISTENSEN, 2009 (AncB).
Zu Kommentarreihen siehe oben bei V.

Einzeluntersuchungen: C. BEZOLD, Ninive und Babylon, Bielefeld/Leipzig 1909 (Monographien zur


Weltgeschichte 18). – P. HUMBERT, Essai d’analyse de Nahoum 1,2–2,3: ZAW 44 (1926), 266–280. –
P. HUMBERT, Le problème du livre de Nahoum: RHPhR 12 (1932), 1–15. – J. JEREMIAS, Kultprophetie
und Gerichtsverkündigung in der späten Königszeit Israels, 1970 (WMANT 35), 11–55. – C.-A.
KELLER, Die theologische Bewältigung der geschichtlichen Wirklichkeit in der Prophetie Nahums:
VT 22 (1972), 399–419. – J. MCKAY, Religion in Judah under the Assyrians, London 1973. – H.
SCHULZ, Das Buch Nahum. Eine redaktionskritische Untersuchung, 1973 (BZAW 129). – A. S. VAN
DER WOUDE, The Book of Nahum. A Letter Written in Exile, in: F. F. Bruce et al. (eds.) Instruction
and Interpretation, 1977 (OTS 20), 108–126. – W. RÖLLIG, Assur, Geißel der Völker. Zur Typologie
aggressiver Gesellschaften: Saeculum 37 (1986), 116–127. – B. RENAUD, La composition du livre de
Nahum: ZAW 99 (1987), 198–219. – K. SEYBOLD, Profane Prophetie. Studien zum Buch Nahum,
1989 (SBS 135). – M. A. SWEENEY, Concerning the Structure and Generic Character of the Book of
Nahum: ZAW 104 (1992), 364–377. – W. DIETRICH, Art. Nahum / Nahumbuch: TRE 23, 1994, 737–
742. – W. DIETRICH, Der Eine Gott als Symbol politischen Widerstands. Religion und Politik im Juda
des 7. Jahrhunderts, in: Ders. / M. A. Klopfenstein (Hg.), Ein Gott allein? JHWH-Verehrung und
biblischer Monotheismus …, 1994 (OBO 139), 463–490. – B. BECKING, Divine Wrath and the Con-
ceptual Coherence of the Book of Nahum: SJOT 9 (1995), 277–296. – T. LESCOW, Die Komposition
der Bücher Nahum und Habakuk: BN 77 (1995), 59–85. – W. MAYER, Politik und Kriegskunst der
Assyrer, 1995 (ALASP 9). – K. SPRONK, Synchronic and Diachronic Approaches to the Book of
Nahum, in: J. C. de Moor (ed.), Synchronic or Diachronic? A Debate on Method in Old Testament
Exegesis, 1995 (OTS 34), 159–186. – W. J. WESSELS, Nahum, an Uneasy Expression of Yahweh’s
Power: OTEs 11 (1998), 615–628. – E. BALL, ‚When the Towers Fall‘. Interpreting Nahum as Chris-
tian Scripture, in: E. Ball (ed.), In Search of True Wisdom, FS R. E. Clements, 1999 (JSOT.S 300),
211–230. – H.-D. NEEF, JHWH und die Völker. Beobachtungen zur Theologie der Bücher Nahum,
Habakuk, Zephanja: ThBeitr 31 (2000), 82–91. – G. H. JOHNSTON, Nahum’s Rhetorical Allusions to
Neo-Assyrian Conquest Metaphors: BS 159,633 (2002), 21–45. – G. BAUMANN, Gottes Gewalt im
Wandel. Traditionsgeschichtliche und intertextuelle Studien zu Nahum 1,2–8, 2005 (WMANT 108).
– A. BERLEJUNG, Erinnerungen an Assyrien in Nahum 2,4–3,19, in: R. Lux (Hg.), Die unwiderstehli-
che Wahrheit. Studien zur alttestamentlichen Prophetie, FS A. Meinhold, Leipzig 2006 (Arbeiten zur
Bibel und ihrer Geschichte 23), 323–356. – R. KESSLER, Nahum-Habakuk als Zweiprophetenschrift.
Eine Skizze, in: R. Kessler, Gotteserdung. Beiträge zur Hermeneutik und Exegese der Hebräischen
Bibel, 2006 (BWANT 170), 137–145. – A. PINKER, Nineveh’s Defensive Strategy and Nahum 2–3:
ZAW 118 (2006), 618–625. – A. SCHERER,Lyrik im Dienst der Prophetie. Beobachtungen zur Eigen-
art des Nahumbuches, in: R. Lux (Hg.), Die unwiderstehliche Wahrheit. Studien zur alttestament-
lichen Prophetie, FS A. Meinhold, Leipzig 2006 (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 23), 301–
321. – J. M. O’BRIEN, The Problem of the Other(ed) Woman in Nahum, in: D. R. Edwards et al.
(eds.), The Archaeology of Difference, FS E. M. Meyers, 2007 (AASOR 60/61), 109–117. – D. G.
GARBER, Facing Traumatizing Texts. Reading Nahum’s Nationalistic Rage: RExp 105 (2008), 285–
294. – L. MARE / J. SERFONTEIN, The Violent, Rhetorical-Ideological God of Nahum: OTEs 22 (2009),
175–185.
Zum Nahum-Pescher in Qumran: G. L. DOUDNA, 4Q Pesher Nahum. A Critical Edition, Sheffield
2001. – H.-J. FABRY, Die Nahum- und Habakuk-Rezeption in der LXX und in Qumran, in: E. Zenger
(Hg.), „Wort JHWHs, das geschah …“ (Hos 1,1). Studien zum Zwölfprophetenbuch, 2002 (HBS 35),
159–190. – S. L. BERRIN, The Pesher Nahum Scroll from Qumran. An Exegetical Study of 4Q169,
Leiden 2004. – D. FLUSSER, Pharisees, Sadducees, and Essenes in Pesher Nahum, in: Ders., Judaism of
the Second Temple Period. Volume 1: Qumran and Apocalyticism, Grand Rapids, MI 2007, 214–257.
– R. G. KRATZ, Der Pescher Nahum und seine biblische Vorlage, in: Ders., Prophetenstudien. Kleine
Schriften II, 2011 (FAT 74), 99–145.
V. Das Zwölfprophetenbuch 445

Forschungsberichte: D. L. CHRISTENSEN, The Book of Nahum. A History of Interpretation, in: J. W.


Watts / P. R. House (eds.), Forming Prophetic Literature, FS J. D. Watts, Sheffield 1996 (JSOT.S 235),
187–194. – M. WEIGL, Current Research on the Book of Nahum. Exegetical Methodologies in
Turmoil?: Currents in Research. Biblical Studies 9 (2001), 81–130.

a) Der Aufbau der Schrift

In der (Doppel-)Überschrift „Lastspruch über Ninive. Buch der Schauung Na-


hums, des Elkoschiters“ (1,1) deutet sich bereits die Zweiteilung der Schrift an:
Der erste, kürzere Teil schildert eine Theophanie (1,2–2,1), der zweite, längere
handelt vom Untergang Ninives, seit Ende des 8. Jh.s Hauptstadt des neuassyri-
schen Reichs (2,2–3,19).
Im ersten Teil „schaut“ der Prophet den „eifernden und rächenden Gott“, der
zwar auch langmütig ist, vor allem aber zornig und hart (1,2.3a). Ihn besingt er
als den, der die Natur erschüttert (1,3b–6), der die Seinen schützt und rettet
(1,7.12f.; 2,1), der aber seine Feinde verfolgt und vernichtet (1,8–11.14). Der
Textabschnitt ist in hymnischem Stil und anfangs in der Form eines Akrostichs
gehalten, d. h. jeder Parallelismus setzt mit dem nächsten Buchstaben des Alpha-
bets ein – wobei freilich die Reihe in 1,11 mit Kaph, also etwa in der Mitte des
Alphabets, endet. Danach wechseln in auffälliger Weise Heils- und Unheilsaus-
sagen einander ab: 1,11 Drohung; 1,12f.: Heilswort; 1,14: Drohung; 2,1: Heils-
wort.
Der zweite Teil enthält eine Reihe von Gedichten über Ninive: nach einem
drohenden Auftakt (2,2f.) ein breit angelegtes, flammendes Gemälde vom In-
ferno bei der Eroberung der Stadt (2,4–11); ein kleines Spottlied auf die Löwen-
höhle, in die jetzt Jäger eindringen (2,12–14); ein wütendes „Wehe“ auf die
„Blutstadt“, die sich schamlos bereichert hat und nun überfallen und an den
Pranger gestellt wird (3,1–7); ein Vergleich bzw. eine Gleichsetzung Ninives mit
No-Amon, dem einst von den Assyrern eroberten oberägyptischen Theben (3,8–
15a); eine Satire auf die scheinbar grenzenlos Mächtige, die unwiderstehlich wie
ein Heuschreckenschwarm über die Welt übergefallen ist und jetzt wie ein sol-
cher davongejagt wird (3,15b–17); schließlich eine Drohung gegen den König
von Assur (3,18f.). Obwohl aus verschiedenen Einheiten zusammengefügt, bildet
der Ninive-Teil doch ein zusammenhängendes Ganzes. Drei Spottklagen ant-
worten refrainartig auf vorangehende Unheilsszenarien (2,12–14; 3,7; 3,18f.). In
2,12 und 3,5 findet sich wortgleich die sog. Herausforderungsformel („Ich will an
dich!“).

Die Nahum-Schrift ist eine Anfechtung für alle friedlich und versöhnlich Ge-
sinnten. Sie zittert vor Zorn und Schadenfreude. Unter poetologischen Gesichts-
punkten indes ist sie unzweifelhaft von hohem Rang (vgl. dazu vor allem
SEYBOLD). Ihre Sprache ist voll wilder Kraft: bûkah ûmebûqah ûmebullaqah, lautet
ein donnernder Wortreim (2,11, etwa: „Leere, Entleerung, Verheerung“). Expres-
sionistisch reihen sich Eindrücke von der Erstürmung der Stadt aneinander:
446 D. Die Hinteren Propheten

„Peitschenknall und Räderrasseln, jagende Rosse und tanzende Wagen, flam-


mende Schwerter und blitzende Spieße, so viele Durchbohrte und eine Menge
von Leichen“ (3,2f.). Höhnisch wird Mitleid gemimt: „Jeder, der dich sieht,
weicht zurück vor dir und ruft: Verwüstet ist Ninive. Wer klagt um sie? Ich finde
keinen, der dich trösten mag“ (3,7) – als ob wirklich einer danach suchte!
Um einen solchen Text angemessen zu verstehen und zu würdigen, ist die
Kenntnis seiner Entstehungshintergründe unabdingbar.

b) Die Entstehung der Schrift

Der Ninive-Teil 2,2–3,19 ist, wie festgestellt, aus mehren Teileinheiten zusam-
mengewoben. Allerdings heben sich die Verknüpfungen sprachlich und sachlich
so wenig vom Kontext ab, dass wohl das gesamte Textgefüge auf einen einzigen
Autor zurückzuführen ist, der dabei freilich auf verschiedene, wohl je für sich
entstandene Gedichte gegen Ninive zurückgegriffen haben dürfte.

LESCOWs Vorschlag, einen „Grundtext“ auf 2,2.4–13; 3,1–4.7–12.18f. zu beschränken


und dann mit drei „Fortschreibungen“ zu rechnen, überzeugt nicht. Erst recht finden
sich für JEREMIAS’ These (1970), die Lieder hätten sich ursprünglich gegen Jerusalem
gerichtet und seien erst sekundär zu einer Anti-Ninive-Komposition umgestaltet wor-
den, kaum genügend Anhaltspunkte.

Grundlegend anders und wesentlich komplizierter ist die Sachlage in dem Theo-
phanie-Teil 1,2–2,1. Nach dem (halben) Akrostich 1,2–8 und einem Überlei-
tungsvers 1,9 lassen sich sprachlich und gedanklich klare Strukturen kaum mehr
erkennen (oder, wie DUHM etwas deutlicher formuliert, hier geht „alles wie Kraut
und Rüben durcheinander“; vgl. auch LESCOW, der „eine midraschartige Exegese
von 1,8“ aus „nachalttestamentlicher Zeit“ [sic!] postuliert). An dieser Stelle ist
JEREMIAS’ These (1970) hilfreich, wonach in 1,9–2,3 zwei Textschichten zu
unterscheiden seien: eine ältere, drohende (1,11.14; 2,2f.) und eine jüngere,
tröstliche (1,9f.12f.; 2,1). Die Drohworte wenden sich zunächst (1,11) gegen
einen „Böses planenden Ratgeber“, der aus Jerusalem (2. Pers. fem. sing.) hervor-
gegangen ist; sodann (1,14) gegen jemand, der im (Jerusalemer!?) Gotteshaus
Götterbilder aufgestellt haben und dafür zur Rechenschaft gezogen werden soll.
(2,2f. dürfte eine Drohung doch eher gegen Ninive als gegen Jerusalem sein.) Die
Aussagen sind einigermaßen kryptisch; es handelt sich offenbar um Fragmente,
vielleicht Zitate oder Notizen aus längeren Reden oder Aufzeichnungen. Immer-
hin zeichnet sich in ihnen noch klar genug das Bild eines Propheten ab, der zu
führenden politischen, religiösen und militärischen Kreisen im Jerusalem seiner
Zeit in Opposition stand.
Von den jüngeren Passagen verheißt eine (1,12f.) Jerusalem (Suffix der 2. Pers.
fem. sing.), es solle fortan nicht mehr gedemütigt, vielmehr sollten sein Joch
zerbrochen und seine Fesseln zerrissen werden; eine andere (2,1) kündet von
V. Das Zwölfprophetenbuch 447

Frieden für Juda und davon, dass es jetzt wieder Feste feiern und seine Gelübde
erfüllen könne.

Gerade diese letzte Passage, 2,1, hat eindeutig verknüpfende Funktion im Ganzen der
Nahum-Schrift: Mit dem Verb krt wird eine Brücke zu 1,14; 2,14; 3,15 geschlagen, mit
dem Verb ‘br zu 3,19, mit dem Nomen belijja‘al zu 1,11. Offenbar hat man es hier mit
redaktioneller Arbeit zu tun. Weil dem Redaktor Deuterojesaja augenscheinlich be-
kannt ist (vgl. die Wendung von den „Füßen des Freudenboten auf den Bergen“, Jes
52,7) und weil er offenbar die Wiederaufnahme des Kultes im Zweiten Tempel in den
Blick nimmt, ist er in die (früh)nachexilische Zeit anzusetzen.

Es scheint, dass in nachexilischer Zeit ältere, bedrohliche alternierend mit tröstli-


chen Texten durchsetzt wurden. Analoge Vorgänge sind im Jesajabuch zu be-
obachten, aber auch in anderen Schriften des Zwölfprophetenbuchs, die einen
vorexilischen Kern haben (Am, Mi, Hab, Zef). Anscheinend war nach dem Ende
der Exilszeit das Bedürfnis überstark, sich nicht immer nur an die Katastrophe
erinnern und diese als verdiente Strafe akzeptieren zu müssen, sondern sich
Wege in eine neue Zukunft weisen und der unverbrüchlichen Treue Gottes ver-
sichern zu lassen. Diesem Bedürfnis verdanken sich auch die jüngeren Passagen
innerhalb von Nah 1,9–2,1.
Auf eine noch spätere Bearbeitungsstufe gehört der Psalm 1,2–8. (Nach
KESSLER wäre er als Einleitungsstück für die Doppelschrift Nah-Hab gedacht.) Er
ist kaum von der Redaktion selbst formuliert, sondern wurde von ihr anderswo-
her an seinen jetzigen Platz versetzt.

Das zeigt sich an den Verletzungen, die der Akrostich bei diesem Vorgang offenbar
erlitten hat. Vielleicht erklärt sich der Umstand, dass er nur bis zum Buchstaben kaph
reicht, daraus, dass nach Meinung der Redaktion bis dahin schon alles Wesentliche
gesagt war. (Moderne Exegeten indes ließen sich nicht daran hindern, durch Verlän-
gerungen und Veränderungen doch noch bis zum taw oder wenigstens bis zum
samech oder nun zu gelangen – ein wohl aussichtsloses Unterfangen.) Auch der vor-
liegende, wohl gekürzte Text weist noch Unregelmäßigkeiten auf: Auf das aleph in 1,2
folgen drei volle Distichen – offenbar, weil das harte Gottesbild von 2a durch eine An-
spielung auf die sog. „Gnadenformel“ von Ex 34,6f. differenziert werden sollte. Ande-
res scheint weggelassen oder abgeändert zu sein; denn die Zeilenanfänge mit dalet,
zajin und jod muss man erst wieder rekonstruieren. Augenscheinlich lag der Redak-
tion weniger am Erhalt der Kunstform als an der Klarheit der beabsichtigten Aussage.

Der Psalm schildert Jhwh als machtvoll-stark, unerbittlich gegen seine Feinde
und gütig gegen die Seinen – ein durchaus angemessenes Präludium zur Nah-
Schrift. Freilich entsteht jetzt, zumal nach der Überschrift 1,1, leicht der
Eindruck, die Unheilsworte in Nah richteten sich einzig gegen einen äußeren
Feind: Ninive, während Juda nichts als Heil verheißen werde. Insbesondere
christliche Ausleger witterten darin einen unangenehmen jüdischen Chauvi-
nismus, der hinter die Toleranz der Jona-Schrift zurückfalle (was mehr anti-
jüdische Befangenheit verrät als exegetisches und historisches Urteilsvermögen).
448 D. Die Hinteren Propheten

Von großem Gewicht für eine sachgerechte Einschätzung der Nah-Prophetie ist
die Frage nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung. Wenn 1,9–2,1 (früh)nachexi-
lisch überformt ist, dann dürften die darin verarbeiteten älteren Partien ebenso
wie die nachfolgenden Anti-Ninive-Gedichte aus der vorexilischen, genauer: aus
der assyrischen Epoche der Geschichte Israels stammen. Terminus ad quem ist
damit 612 v. Chr., das Jahr der Zerstörung Ninives.

Dies gegen SCHULZ, der eine insgesamt nachexilische Entstehung annimmt. HUMBERT
deutete Nah als Festliturgie für den Neujahrsgottesdienst eben dieses Jahres: mit Ein-
gangspsalm, Wechselgesängen, Anti-Ninive-Vorträgen, Gemeinderefrains usw. – eine
These, die an der Textdiachronie des Eingangteils scheitert. Man wird mit dem
Grundbestand von Nah also weiter ins 7. Jh. zurückgehen müssen.

Terminus a quo ist ein geschichtlicher Vorgang, der sich in 3,8–10 spiegelt: 663
v. Chr. eroberten die Assyrer des oberägyptische Theben (= „No Amon“). Mit
der Niederwerfung des Antipoden am Nil erreichte das neuassyrische Reich den
Gipfel seiner Macht – um ihn alsbald zu überschreiten. Theben wurde bereits 655
wieder befreit. Um 650 erschütterte ein Krieg zwischen König Assurbanipal und
seinem in Babylon mitregierenden Bruder Šamaš-šum-ukīn das Reich bis in die
Grundfesten. In Jerusalem regierte derweil der unerschütterlich Assur-treue
Manasse (696–641), ehe nach einigen Thronwirren die Ära Joschijas begann
(639–609), der sich aus der Abhängigkeit von Assur löste.
Wenn in 1,11 ein „Berater Belials“ attackiert wird, wenn in 1,14 ein Herrscher
beschuldigt wird, das „Haus seines Gottes“ mit Götterbildern gefüllt zu haben,
und seine Linie daraufhin von der Thronfolge ausgeschlossen wird, wenn in 2,2–
3,19 eine Attacke nach der anderen gegen die Reichshauptstadt Ninive und am
Ende gegen den König von Assur persönlich geritten wird, dann weist dies alles
kaum in die Zeit Joschijas, sondern in diejenige Manasses. Wäre es so, dann hätte
man im Grundbestand von Nah keine chauvinistische Heilsprophetie, sondern
eine Assur- und Manasse-kritische Oppositionsprophetie vor sich.

Ein ganz anderes Modell der Textentstehung präsentiert HAGEDORN (Die Anderen
41–81):
– Stufe I: Eine anonyme, „profane Prophetie“, überschrieben mit 1,1a, umfasste drei
Gedichte gegen Ninive (2,2.4–11; 3,1–3.7aβ; 3,8–15*), die von Beginn an durch Zwi-
schentexte (2,12f.; 3,4.16–19*) verbunden waren. Sie stammt aus der Zeit zwischen
663 und 612, am ehesten aus der Zeit Manasses (bis 640 v. Chr.), weil sonst die Ano-
nymität kaum nötig gewesen wäre. Juda-kritische Worte enthielt die erste Stufe nicht.
– Stufe II: In der babylonischen, d. h. der Exilszeit wurde die Anti-Assur- in eine Anti-
Babylon-Prophetie umgewandelt, und zwar durch Beifügung von 1,11–14; 2,14; 3,5–7.
– Stufe III: Bald nach dem Ende des Exils kamen die an DtJes sich anlehnenden Passa-
gen 2,1.3 hinzu, die Juda die Wiederherstellung verheißen.
– Stufe IV: Im Hymnus 1,2–10 ist ein – womöglich recht alter – Kern (1,2a.3b–6) von
einer „Deuteebene“ (1,2b.3a.7–10) zu unterscheiden. Wegen der hier vorgenomme-
nen scharfen Entgegensetzung von Gerechten und Frevlern ist der Gesamttext kaum
vor der hellenistischen Zeit anzusetzen.
V. Das Zwölfprophetenbuch 449

c) Der Prophet

In der Überschrift 1,1 trägt Nahum (sein Name bedeutet „Trostreich, Tröster“)
den Beinamen „der Elkoschiter“. Damit ist kaum der Name des Vaters, sondern
der des Herkunftsortes gemeint. Dieser lässt sich nicht sicher lokalisieren. Die
meisten suchen ihn nach einem Hinweis bei Pseudo-Epiphanias im südlichen
Juda, manche im Gefolge des Hieronymus in Galiläa, einige gar in der Nähe von
Mossul, wo Muslime das angebliche Grab Nahums (wie auch dasjenige Jonas)
verehren. (Dieser letzten Spur folgend, ortet VAN DER WOUDE Nahum unter der
nordisraelitischen Gola, woraus sich seiner Meinung nach die guten Ortskennt-
nisse zu Ninive z. B. in 3,13f. erklären.)
Allem Anschein nach war Nahum ein Oppositionsprophet, der um die Mitte
des 7. Jh.s den damaligen Machthabern in Juda und ihren Hintermännern im
fernen Ninive den Kampf, besser: das Eingreifen Jhwhs, ansagte. Diejenigen
seiner Prophetien, die den Redaktionsprozess am wenigsten beschädigt über-
standen, die Anti-Ninive-Lieder, weisen ihn als Dichter von großer, fast wilder
Sprachkraft aus. Vermutlich waren seine Worte gegen die judäischen Handlan-
ger Ninives ursprünglich von gleicher Qualität.
Nahum wandte sich gegen ein übermächtiges System, dessen Ende er sich
offenbar vorzustellen vermochte, als es den meisten noch völlig unüberwindbar
erschien. Schenkt man einer (dtr formulierten) Nachricht in 2Kön 21,10–15
Glauben, dann trat gegen Manasse eine unbekannte Zahl von Propheten auf –
unter ihnen vermutlich Nahum. Gleich die nächste Notiz besagt, dass dieser
König „sehr viel unschuldiges Blut vergoss, bis er Jerusalem damit gefüllt hatte
von einem Ende bis zum anderen“ (2Kön 21,16). Über das persönliche Schicksal
Nahums ist indes nichts bekannt.
Zwar wurde Manasse, entgegen Nahums Erwartung (1,14), ordentlich bestat-
tet und trat sein Sohn die Nachfolge an (2Kön 21,18). Doch alsbald schon (und
wohl postum) bekam der Prophet Recht: Joschija schlug eine völlig andere politi-
sche und kultische Linie ein als Manasse. Und das neuassyrische Reich, Manasses
Schutzmacht, brach überraschend schnell zusammen, keine hundert Jahre später
auch des neubabylonische. Diese Erfahrung war es wohl, die Tradenten der
nachexilischen Zeit dazu veranlasste, die Botschaft Nahums (wie die anderer
Oppositionspropheten) der Nachwelt zu übermitteln. Sie gestalteten sie zu einem
Trostbuch für das Volk Jhwhs aus, das so schwer und so lange unter fremden
Mächten zu leiden hatte. Bei der Einstellung ins Zwölfprophetenbuch (vielleicht
mittels des einleitenden Psalms, 1,2–8), trat die Nah-Schrift in eine stille Zwie-
sprache mit der Jona-Schrift (s. oben D.V.7). War dort zu hören, dass Gott dem
„bösen“ Ninive eine Chance einräumte, so ertönt hier ein schneidendes „Zu
spät!“ In Sachen Ninive hat Nahum, nicht Jona, das letzte Wort. (Im griechischen
Kanon folgen beide Schriften sogar unmittelbar aufeinander.) Anders gesagt:
Gott ist wohl langmütig gegen die Bösen, aber nicht gleichgültig gegen das Böse.
Zuletzt muss das Unrecht an der Gerechtigkeit Gottes scheitern.
450 D. Die Hinteren Propheten

10. Habakuk
Zu Kommentarreihen siehe oben bei V.
Einzeluntersuchungen: J. JEREMIAS, Kultprophetie und Gerichtsverkündigung in der späten Königs-
zeit Israels, 1970 (WMANT 35), 55–110. – C.-A. KELLER, Die Eigenart der Prophetie Habakuks: ZAW
85 (1973), 156–167. – E. OTTO, Die Stellung der Wehe-Worte in der Verkündigung des Propheten
Habakuk: ZAW 89 (1977), 73–107. – E. OTTO, Art. Habakuk / Habakukbuch: TRE 14, 1985, 300–306.
– E. OTTO, Die Theologie des Buches Habakuk: VT 35 (1985), 274–295. – A. H. J. GUNNEWEG, Haba-
kuk und das Problem des leidenden ‫צדיק‬: ZAW 98 (1986), 400–415. – W. ZWICKEL, Zu Habakuk
1,15f.: BN 38/39 (1987), 72–74. – R. D. HAAK, Habakkuk, 1991 (VT.S 44). – G. FOHRER, Das „Gebet
des Propheten Habakuk“ (Hab 3,1–16), in: Ders., Studien zum Alten Testament (1966–1988), 1991
(BZAW 196), 70–79. – M. A. SWEENEY, Structure, Genre and Intent in the Book of Habakkuk: VT 41
(1991), 63–83. – M. E. W. THOMPSON, Prayer, Oracle and Theophany. The Book of Habakuk: Tyn-
dale Bulletin 44 (1993), 33–53. – O. DANGL, Habakuk – Prophet der Opfer der Gewalt: Protokolle zur
Bibel 3 (1994), 25–40. – T. LESCOW, Die Komposition der Bücher Nahum und Habakuk: BN 77
(1995), 59–85. – J. VAN RUITEN, „His Master’s Voice“? The Supposed Influence of the Book of Isaiah
in the Book of Habakkuk, in: J. van Ruiten et al. (eds.), Studies in the Book of Isaiah, FS W. A. M.
Beuken, 1997 (BEThL 132), 397–411. – H.-D. NEEF, JHWH und die Völker. Beobachtungen zur
Theologie der Bücher Nahum, Habakuk, Zephanja: ThBeitr 31 (2000), 82–91. – B. HUWYLER, Haba-
kuk und seine Psalmen, in: B. Huwyler u. a. (Hg.), Prophetie und Psalmen, FS Klaus Seybold, 2001
(AOAT 280), 231–259. – W. DIETRICH, Habakuk – ein Jesajaschüler (1994 =), in: Ders., Theopolitik.
Studien zur alttestamentlichen Theologie und Ethik, Neukirchen-Vluyn 2002, 255–269. – H.
PFEIFFER, Jahwes Kommen von Süden. Jdc 5; Hab 3; Dtn 33 und Ps 68 in ihrem literatur- und theo-
logiegeschichtlichen Umfeld, 2005 (FRLANT 211), 117–177. – R. KESSLER, Nahum-Habakuk als
Zweiprophetenschrift. Eine Skizze, in: Ders., Gotteserdung. Beiträge zur Hermeneutik und Exegese
der Hebräischen Bibel, 2006 (BWANT 170), 137–145. – N. LISSOVSKY, Hukkok, Yaquq and Habak-
kuk’s Tomb. Changes over Time and Space: PEQ 140,2 (2008), 103–118. – N. MATHEWS, Performing
Habakkuk. Faithful Reenactment in the Midst of Crisis, Eugene, Oreg. 2012.
Zum Habakuk-Pescher in Qumran: K. KOCH, Neutestamentliche Profetenauslegung in vorchristlicher
Zeit? Der Habakuk-Peschär aus Qumran, in: R. G. Kratz u. a. (Hg.), Schriftauslegung in der Schrift,
FS O. H. Steck, 2000 (BZAW 300), 321–334. – H.-J. FABRY, Die Nahum- und Habakuk-Rezeption in
der LXX und in Qumran, in: R. Kessler / E. Zenger (Hg.), „Wort JHWHs, das geschah …“ (Hos 1,1).
Studien zum Zwölfprophetenbuch, Freiburg 2002 (Herders biblische Studien 35), 159–190. – Jong-
Hoon KIM, Intentionale Varianten der Habakukzitate im Pesher Habakuk. Rezeptionsästhetisch
untersucht: Bib. 88 (2007), 23–37.
Forschungsbericht: P. JÖCKEN, Das Buch Habakuk. Darstellung der Geschichte seiner kritischen
Erforschung mit einer eigenen Beurteilung, 1977 (BBB 48).

a) Der Aufbau der Schrift

Die Überschrift in 1,1 ist ungewöhnlich knapp und rätselhaft: „Der Ausspruch /
die Last (‫)משׂא‬, welche(n) schaute (‫ )חזה‬Habakuk, der Prophet (‫“)הנביא‬. Über den
Inhalt der Prophetie und die Person des Propheten wird nichts mitgeteilt.
Das nachfolgende Buchkorpus gliedert sich in drei Teile:
a) 1,2–2,5: Zwei Klagen (1,2–4; 1,12–17) werden jeweils beantwortet durch die
Ankündigung bevorstehenden göttlichen Handelns (1,5–11; 2,1–5).
b) 2,6–20: Eine Reihe von vier (PERLITT), fünf (DANGL, LESCOW), sechs (NEEF)
oder sieben (HAAK) Weherufen – je nach Einteilung – richtet sich gegen einen
Gegner, der bald individuelle, bald kollektive Züge trägt.
V. Das Zwölfprophetenbuch 451

c) 3,1–19: Ein Theophanie-Psalm beschließt das Büchlein.

a) Die erste Klage spiegelt „die Erfahrung der Gewalt innerhalb des Gottesvolkes“;
doch das „Hauptproblem und Ärgernis für den Propheten ist … die Untätigkeit Jah-
wes“ (DANGL). Das erste Orakel stellt Jhwhs Handeln in Gestalt eines Ansturms der
„Chaldäer“ in Aussicht. In der zweiten Klage wird zunächst wieder Gewalt gegen Un-
schuldige (1,13), dann aber die Gewalttätigkeit einer großen Macht angeprangert, die
die Völker einfängt wie mit einem Fischernetz (1,14–17). Das zweite Orakel kündigt
die Rettung des Gerechten und die Bestrafung des Gewalttäters an (der einmal als
„stolzer Mann“, einmal als völkerverschlingende Großmacht erscheint).
b) Die Weherufe sind nicht immer nach ‚regulärem‘ Muster aufgebaut (wie etwa in Jes
5,8–24): voran ein ‫„( הוי‬Wehe!“), gefolgt von einer Partizipialform, die den Bedrohten
und sein Vergehen benennt, woran sich die Androhung des göttlichen Strafhandelns
und der dadurch bei den Betroffenen ausgelösten Folgen anschließt. Bei Hab ist der
Aufbau unregelmäßig, zuweilen könnte auch die Versfolge durcheinander geraten
sein (HAAK). Auch hier geht es einmal offenbar um innerjudäische, genauer: soziale
(2,6f.9.12.15f.), einmal um (inter-)nationale Probleme (2,8.10.13.17), ehe am Schluss
überraschend der Götzendienst zum Thema wird (2,18–20).
c) Der Theophanie-Hymnus besingt Gottes Kommen aus dem edomitisch-arabischen
Südosten und die umstürzenden Folgen für Natur und Menschheit. Das Ziel ist die
Rettung des Gottesvolkes und die Vernichtung seiner Feinde. Der Sprecher reagiert
auf diese Schau zuerst mit Zittern und Zagen, am Ende mit Jubel und Freude.

Die Kürze der Schrift und die Unbestimmtheit sowohl derer, über die sie spricht,
als auch derer, an die sie sich richtet, hat zu einer fast entmutigenden Vielfalt an
Interpretationen geführt, die JÖCKEN am Ende seiner forschungsgeschichtlichen
Darstellung so zusammenfasst: „1,2–4 wird zumeist verstanden als Klage über
Juden oder Babylonier, aber auch Assyrer, Ägypter, Griechen und Syrer … 1,5–
11 gilt als Ankündigung oder als Schilderung, u.zw. der Skythen, der Perser, der
Griechen und der Syrer … Die Weherufe 2,6ff. bezieht man auf die Babylonier,
die Skythen, die Assyrer, die ungläubigen Juden, die Ägypter, die Griechen und
die Syrer“. Es gibt also kaum eine denkbare Deutung, die nicht schon vertreten
worden wäre. Versuchen wir die Wirrnis etwas zu ordnen.

b) Die Entstehung der Schrift

Die Gesamtredaktion des Dodekapropheton hat Hab in die Schriften aus der
späten judäischen Königszeit eingeordnet. Deshalb sowie wegen des Titels ‫נביא‬
und des quasi-liturgischen Aufbaus der Schrift (Klage und Zuspruch – Weherufe
– Hymnus) hat man Hab gern für ein Exempel der Kultprophetie gehalten, die
sonst im Corpus Propheticum nur rar vertreten ist: gerichtet gegen (äußere)
Feinde und bedacht auf die Tröstung und Erbauung der Jhwh-Gemeinde. Eine
solche Annahme setzt indes die Einheitlichkeit der Schrift voraus, die keineswegs
gesichert ist. Insbesondere der Schlusspsalm wird mit einer Überschrift in 3,1
neu eingeleitet und in dem in Qumran gefundenen Habakuk-Pescher nicht mit
ausgelegt, so dass er erst spät zur Hab-Schrift hinzugetreten sein dürfte. Und
452 D. Die Hinteren Propheten

auch in den ersten beiden Kapiteln ist, wie sich gleich zeigen wird, nicht alles von
einer Hand.

JEREMIAS, der die Hypothese vom Kultpropheten Hab mit Nachdruck vertritt, nimmt
insofern eine Sonderstellung ein, als er ihn gerade als solchen auch als Gerichtspro-
pheten sieht. Mit gleicher Härte wie die sog. Oppositionspropheten kritisiere er soziale
Missstände im eigenen Land, doch anders als sie erwarte er kein umfassendes göttli-
ches Gericht, sondern „nur“ die Bestrafung der Schuldigen, hingegen Heil für die von
ihnen Bedrängten. Der Schlusspsalm stamme i. W. von Habakuk selbst, während die
klar antibabylonischen Passagen in Hab 1f. einer spätexilischen Bearbeitung ange-
hörten, wie sie auch in Nah anzutreffen sei.

Die Erwähnung der „Chaldäer“ in 1,6 verweist Hab jedenfalls in die babylonische
Epoche, d. h. in die Zeit zwischen dem späten 7. und dem ausgehenden 6. Jh.
(Babylon errang 625 Selbständigkeit gegen Assur und wurde 538 von Kyros
eingenommen). Auch damit freilich verbleiben noch erhebliche Spielräume:
Entstand Hab noch in vorexilischer oder erst in exilischer Zeit? Wenn Ersteres,
eher früher oder eher später: etwa in der Ära Joschijas (640–609) oder in der
Jojakims (609–598)? Wenn Letzteres: Hätte das gesamte Buch als exilszeitlich zu
gelten oder nur Teile daraus bzw. eine Redaktion?

1894 sah Wilhelm ROTHSTEIN in Hab einen Propheten, der gegen innere Missstände
in Juda das Eingreifen Gottes durch die Babylonier ankündigte. Karl BUDDE modifi-
zierte dies 1893 dahingehend, dass Babylon Strafwerkzeug gegen die in Juda noch
herrschenden Assyrer sein sollte.

Verfechter einer einheitlichen Lesung gab und gibt es auch in neuerer Zeit. HAAK
deutet den „Frevler“ und den „Gerechten“ von 1,4 auf zwei königliche Gestalten: Joja-
kim einerseits und den nach Ägypten deportierten Joahas andererseits (vgl. 2Kön
23,31–35); Hab stehe auf der Seite des Joahas und damit der probabylonischen Partei
– ähnlich wie Jeremia. Während HAAK (und etwa auch DEISSLER, RUDOLPH, KELLER
oder PERLITT) Habakuk nach der Schlacht von Karkemisch 605 wirken sehen, in der
die Babylonier von den Ägyptern das Heft in der Levante übernahmen, plädieren
ROBERTSON und ROBERTS für die Jahre davor, als Jojakim noch offen als Vasall der
Ägypter agierte.

Überwiegend aber werden Thesen von einer stufenweisen Entstehung der Schrift ver-
treten. OTTO unterscheidet drei Stufen: 1. einen ‚Ur-Hab‘, der sich gegen die maßlose
Selbstbereicherung der Jerusalemer Oberschicht wandte (1,2–4.12.13f.; 2,6f.9.11f.15f.),
ihr das Dreinschlagen Babylons, ihren Opfern aber die Hilfe Gottes ankündigte (1,5–
11; 2,1–5); 2. eine exilszeitliche antibabylonische Bearbeitung, die den Zorn Jhwhs ge-
gen die maßlos gierige Großmacht sich wenden ließ (v.a. in 1,15–17; 2,8.10.13.17);
und 3. eine frühnachexilische Ergänzungsschicht, die die Götzenpolemik 2,18f. und
den Psalm Hab 3 hinzufügte. LESCOW rechnet mit einem kleineren Grundbestand:
1,2–4.13; 2,1–4.6b.9.12.15.19a. Ähnlich JÖCKEN, der auch noch eine Umordnung vor-
nimmt: 1,2–4.13; 2,1–3; 1,5–11; 2,6f.9.11f.15f.; danach habe es nur noch eine, nämlich
die antibabylonische Bearbeitung gegeben, der auch Hab 3 zugehöre. Anders wiede-
rum PERLITT: Nach ihm wirkte Habakuk um 600 v. Chr.; es ist ihm neben der Grund-
schicht der Weherufe (die „primäre Sozialkritik“ im Unterschied zur „sekundären
V. Das Zwölfprophetenbuch 453

Staatskritik“) eine Kriegsdichtung in Kap. 1 zuzuschreiben: ähnlich derjenigen Na-


hums, freilich gegen die Babylonier gerichtet (1,5–11.14–17). Der abschließende
Psalm habe mit dem Propheten nichts zu tun.

Eine sehr spezielle Position entwickelt SEYBOLD. Ihm zufolge trat der ‚echte‘ Prophet
Habakuk schon um 630 v. Chr. auf (so auch OTTO und JÖCKEN), und zwar als „Visio-
när“, dem die „Reitervision“ 1,5–11 und die Weherufe in Kap. 2 (bis auf 2,4 vollstän-
dig!) gehörten. Er „sah heraufziehende Gefahren auf der grossen Weltbühne wie auch
schleichende Gefahren in einer Gesellschaft ohne Solidaritätsbewußtsein“. Um 550
v. Chr. deutete eine Redaktion diese Prophetie auf die Babylonier (z. B. in 1,6) und
fügte zwei vorexilische Hymnen an (3,1–7.15.8–13a.16). Eine nachexilische Bearbei-
tung erweiterte dieses Buchkorpus um ein in mehrere Stücke aufgeteiltes Psalmgebet
(1,2–4.12f. + 2,4.20 + 3,13b.14.17–19a). Lässt sich aber Kap. 3 so aufteilen, und lassen
sich die Klagen in Kap. 1 aus ihrem Kontext herauslösen? (Zur Kritik – nicht nur Sey-
bolds, sondern literar- bzw. redaktionskritischer Ansätze überhaupt – vgl. auch
HUWYLER. Sein eigener Vorschlag indes, Hab 1–3 durchgehend als „prophetische In-
szenierung“ durch Habakuk persönlich zu lesen, dürfte auch keine Lösung sein.
Ebenso unbefriedigend bleibt die rein strukturelle Betrachtungsweise SWEENEYs und
ähnlich THOMPSONs, in der die gesamte Hab-Schrift als eine Reflexion über die Ge-
schichtsmächtigkeit Jhwhs angesichts der Macht Babylons erscheint.)

In Aufnahme und Abgrenzung von in der neueren Forschung vertretenen Posi-


tionen sei hier der folgende Vorschlag einer dreistufigen Entstehung der Hab-
Schrift gemacht:
1. Im ausgehenden 7. Jh. v. Chr. geißelte ein Prophet namens Habakuk soziale
Missstände in Juda und erwartete das Dreinschlagen der Babylonier gegen die
derzeit herrschende Oberschicht. Seine Verkündigung wurde auf zwei kleinen
Schriftrollen festgehalten: einer, die den Propheten in bitterer Klage vor Gott
treten und ihm zwei Antworten Gottes zuteil werden lässt (*1,2–2,5), und einer
anderen mit einer Reihe von Weheworten gegen die Herrschenden in Juda (*2,6–
17).
2. Weil mit dem Verlust der Staatlichkeit und eigener politischer Gestaltungs-
fähigkeit die Prophetie Habakuks ihre Relevanz einzubüßen drohte, auch weil
das Eingreifen der Babylonier längst stattgefunden und verheerende Folgen ge-
zeitigt hatte, jetzt aber durch das Aufkommen der Perser und Meder sich eine
Wende abzeichnete (oder schon eingetreten war), wurden in spätexilischer (oder
frühnachexilischer) Zeit die beiden kleinen Schriften vereint und in ein anti-
babylonisches Pamphlet umgestaltet (1,1–2,19). Habakuks Klagen und Erwar-
tungen richten sich nunmehr in erster Linie gegen die Unterdrückung der Völ-
kerwelt und insbesondere Judas durch Babylon.
3. Die (frühnach)exilische Hab-Schrift wurde in (spät)nachexilischer Zeit
mittels einer Überleitung (2,20) um einen Theophaniepsalm erweitert (3,1–19) –
wobei strittig ist, ob dieses Lied, namentlich in seinem Mittelteil 3,3–12, alte und
älteste Traditionen enthält (so die Meisten) oder erst in später Zeit entstanden ist
(so PFEIFFER). Hab 3 bildet zusammen mit Nah 1,2–8 einen Rahmen um die
offenbar zunächst für sich bestehende Doppelschrift Nah-Hab; von da her erklä-
454 D. Die Hinteren Propheten

ren sich auch die einander auffallend ähnlichen Überschriften Nah 1,1 und Hab
1,1 (KESSLER).

c) Der Prophet

Die Überschrift teilt uns über die Person Habakuks nicht viel mehr mit als seinen
Namen. Man hat diesen von einem akkadischen Wort chambaququ herleiten
wollen, das eine Gemüseart bezeichnet. Möglich ist auch die Verbindung mit
dem hebräischen Verb chbq, „umarmen, liebevoll herzen“, wovon der Name eine
Passivform darstellte. Über die Zeit- und Lebensumstände des Propheten lässt
sich nur aus seinen Worten etwas erschließen.
Habakuk leidet an der sozialen Ungerechtigkeit, die sich zu seiner Zeit in Juda
breitgemacht hat. Seine Wahrnehmungen trägt er klagend – und auch ankla-
gend! – Gott vor. Es wird ihm bedeutet, dem Treiben solle durch das gewaltsame
Vorrücken der „Chaldäer“ ein Ende gemacht werden. Als dies trotz sehnsüchti-
gen Wartens nicht geschieht und der Prophet sich beschwert, versichert ihn Jhwh
seiner Verlässlichkeit und fordert ihn auf, das Geschaute auf „Tafeln“ festzuhal-
ten (2,2f.). Dies scheint Habakuk getan – und damit die Grundlage für die spä-
tere Hab-Schrift gelegt zu haben. In einer Serie von Weherufen hat er zudem das
soziale Fehlverhalten der Jerusalemer Oberschicht gegeißelt. So tritt er, auch
wenn seine literarische Hinterlassenschaft quantitativ gering ist, ebenbürtig ne-
ben „Oppositionspropheten“ wie Amos, Jesaja, Micha oder Jeremia. Die Nähe zu
ihrem Denken schlägt sich auch in seiner Sprache nieder.

Dafür nur ein paar Beispiele, die sich leicht vermehren ließen: Zur Klage des auf Got-
tes Eingreifen sehnsüchtig wartenden Propheten vgl. Jeremias „Konfessionen“; zu bgd
„abtrünnig sein“ in 1,13 vgl. Jer 3,8.11.20; 5,11; 12,1.6. Zum Aufschreiben einer Bot-
schaft auf eine Tafel in 2,2 vgl. Jes 8,1; 30,8; zur Wendung „die Erde voll von Jhwhs
Herrlichkeit“ in 2,14 vgl. Jes 6,3; zum „Nicht-Hören“ Gottes in 1,2 vgl. Jes 1,15; zum
Nebeneinander von ’āwon und ‘āmāl in 1,3 vgl. Jes 10,1; zum „Starren auf Jhwhs Tat“
in 1,5 vgl. Jes 29,9f. (Die von DIETRICH aufgestellte These von „Habakuk als Jesa-
jaschüler“ wird von VAN RUITEN bestritten, von THOMPSON aber im Grunde bestätigt.)

Die geistige Verwandtschaft vor allem mit Jesaja und Jeremia spricht dafür, dass
Habakuk ein Jerusalemer war; an die Landjudäer Amos und Micha erinnert in
seinen ‚authentischen‘ Worten nur wenig. Wann genau er gewirkt hat, und wie
lange, entzieht sich unserer Kenntnis.

In Untergaliläa (Koordinaten 1952/2546) gibt es einen heiligen Platz namens „Grab


des Propheten Habakuk“ und nahebei einen „Mount Habakkuk“ sowie ein arabisches
(seit 1948 aufgegebenes) Dorf Yaquq. Die schriftliche Bezeugung des Grabes setzt
freilich erst im Mittelalter, und zwar in Reiseberichten jüdischer, später auch christli-
cher Pilger ein (LISSOVSKY). Eine reale Verbindung zum alttestamentlichen Propheten
lässt sich nicht herstellen.
V. Das Zwölfprophetenbuch 455

11. Zefanja
Einzelkommentare: A. BERLIN, 1994 (AncB). – J. VLAARDINGERBROEK, 1999 (Historical Commentary
on the OT). – H. IRSIGLER, 2002 (HThK).

Zu Kommentarreihen siehe oben bei V.

Einzeluntersuchungen: H. DONNER, Die Schwellenhüpfer. Beobachtungen zu Zephanja 1,8f.: JSS 15


(1970), 42–55. – A. S. KAPELRUD, The Message of the Prophet Zephaniah. Morphology and Ideas,
Oslo 1975. – H. IRSIGLER, Gottesgericht und Jahwetag. Die Komposition Zef. 1,1–2,3 untersucht auf
der Grundlage der Literarkritik des Zefanjabuches, 1977 (ATSAT 3). – G. KRINETZKI, Zefanjastudien.
Motiv- und Traditionskritik + Kompositions- und Redaktionskritik, 1977 (RSTh 7). – G. RICE, The
African Roots of the Prophet Zephaniah: JRT 36 (1979), 21–31. – D. L. CHRISTENSEN, Zephaniah 2:4–
15. A Theological Basis for Josiah’s Program of Political Expansion: CBQ 46 (1984), 669–682. – R.
EDLER, Das Kerygma des Propheten Zefanja, 1984 (FThSt 126). – N. LOHFINK, Zefanja und das Israel
der Armen: BiKi 39 (1984), 100–108. – K. SEYBOLD, Satirische Prophetie. Studien zum Buch Zefanja,
1985 (SBS 120). – K. SEYBOLD, Die Verwendung der Bildmotive in der Prophetie Zefanjas, in: H.
Weippert / K. Seybold / M. Weippert, Beiträge zur prophetischen Bildersprache in Israel und Assy-
rien, 1985 (OBO 64), 30–54. – M. OEMING, Gericht Gottes und Geschicke der Völker nach Zef 3,1–
13: ThQ 167 (1987), 289–300. – I. J. BALL, Zephaniah. A Rhetorical Study, Berkeley 1988. – P. R.
HOUSE, Zephaniah. A Prophetic Drama, 1988 (JSOT.S 69). – E. BEN-ZVI, A Historical-Critical Study
of the Book of Zephaniah, 1991 (BZAW 198). – G. GORGULHO, Zefanja und die historische Bedeu-
tung der Armen: EvTh 51 (1991), 81–92. – M. A. SWEENEY, A Form-Critical Reassessment of the
Book of Zephaniah: CBQ 53 (1991), 388–408. – K.-D. SCHUNCK, Juda in der Verkündigung des
Propheten Zefanja, in: J. Hausmann / H.-J. Zobel (Hg.), Alttestamentlicher Glaube und Biblische
Theologie, FS H.-D. Preuss, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, 174–179. – W. DIETRICH, Der Eine Gott als
Symbol politischen Widerstands. Religion und Politik im Juda des 7. Jahrhunderts, in: Ders. / M. A.
Klopfenstein (Hg.), Ein Gott allein? JHWH-Verehrung und biblischer Monotheismus im Kontext der
israelitischen und altorientalischen Religionsgeschichte, 1994 (OBO 139), 463–490. – M. WEIGL,
Zefanja und das „Israel der Armen“. Eine Untersuchung zur Theologie des Buches Zefanja, 1994
(ÖBS 13). – A. BERLIN, Zephaniah’s Oracle against the Nations and an Israelite Cultural Myth, in:
A. B. Beck et al. (eds.), Fortunate That Eyes That See, FS D.N. Freedman, Grand Rapids 1995, 175–
184. – D. H. RYOU, Zephaniah’s Oracles against the Nations. A Synchronic and Diachronic Study of
Zephania 2:1–3:8, Leiden 1995 (Biblical Interpretation Series 13). – W. DIETRICH / M. SCHWANTES
(Hg.), Der Tag wird kommen. Ein interkontextuelles Gespräch über das Buch des Propheten Zefanja,
1996 (SBS 170). – G. A. KING, The Message of Zephaniah. An Urgent Echo: AUSS 34 (1996), 211–
222. – H.-D. NEEF, Glaube als Demut. Zur Theologie des Propheten Zephanja: ThBeitr 96 (1996),
145–158. – C. SHEEHAN, Kingdom through Covenant. The Structure and Theology of Zephaniah: The
Baptist Review of Theology 6 (1996), 7–21. – P. WEIMAR, Zef 1 und das Problem der Komposition
der Zefanjaprophetie, in: M. Dietrich / I. Kottsieper (Hg.), „Und Mose schrieb dieses Lied auf“.
Studien zum Alten Testament und zum Alten Orient, FS Oswald Loretz, 1998 (AOAT 250), 809–832.
– M. HARL, Sophonie 3,7b–13 selon la Septante et dans la tradition chrétienne ancienne, in: J.-M.
Auwers et al. (eds.), Lectures et Relectures de la Bible, FS Pierre-Maurice Bogaert, 1999 (BEThL 144),
209–229. – H.-D. NEEF, JHWH und die Völker. Beobachtungen zur Theologie der Bücher Nahum,
Habakuk, Zephanja: ThBeitr 31 (2000), 82–91. – C. HARDMEIER, Zwei spätvorexilische Diskurse in
Zefanja 1,1–3,8. Jhwhs Schlachtopfertag (1,7) und der Tag seines Ingrimms (1,15.18), in: T. Naumann /
R. Hunziker-Rodewald (Hg.), Diasynchron, FS Walter Dietrich, Stuttgart 2009, 139–183. – A. C.
HAGEDORN, Die Anderen im Spiegel. Israels Auseinandersetzung mit den Völkern in den Büchern
Nahum, Zefanja, Obadja und Joel, 2011 (BZAW 414). – C. LEVIN, How This Book Became Prophecy,
in: L. L. Grabbe / M. Nissinen (eds.), Constructs of Prophecy in the Former and Latter Prophets and
Other Texts, Atlanta, GA 2011 (Ancient Near East Monographs 4), 117–139.
Forschungsbericht: M. A. SWEENEY, Zephaniah. A Paradigm for the Study of the Prophetic Books:
Currents in Research. Biblical Studies 7 (1999), 119–145.
456 D. Die Hinteren Propheten

a) Der Aufbau der Schrift

Mit seinen nur 53 Versen ist Zef doch ein Kaleidoskop biblischer Prophetie, das
von düsterster Unheils- zu lichtester Heilsansage reicht. Das Büchlein gliedert
sich, nach der Überschrift 1,1, in drei Hauptabschnitte:
1. Zef 1,2–2,3: Der Tag Jhwhs bricht über die ganze Erde (1,2f.17f.) und insbe-
sondere über Juda und Jerusalem herein (1,4–16), Letzteres wegen zahlreicher
sozialer und religiöser Vergehen der hauptstädtischen Oberschicht; einzig die
„Armen des Landes“ können sich allenfalls retten (2,1–3).
2. Zef 2,4–3,8: Das Gericht über die Völker trifft zunächst Judas Nachbarn im
Westen und Osten, die Philister bzw. die Moabiter und Ammoniter (2,4–7.8f.),
sodann die großen Mächte im Süden und Norden, Kusch/Ägypten und
Ninive/Assur (2,12.13–15). Zwischendurch wird „den Heideninseln“ die Offen-
barung des wahren Gottes in Aussicht gestellt (2,11), und am Ende werden wie-
der Jerusalem und seine Oberen scharf kritisiert (3,1–8).
3. Zef 3,9–20: Eine neue weltweite Heilsordnung kündigt sich an: Jhwh sondert
aus den Völkern seine Verehrer aus (3,9f.). Auf der anderen Seite wendet er sich
gegen die „Prahler“ in Jerusalem, hilft aber dem „armen und geringen Volk“
(3,11–13). Himmel und Erde jubeln ihm zu (3,14f.16f.), zumal, wenn er am Ende
die Versprengten seines Volkes heimbringt (3,18–20).
Es gibt auch andere Vorschläge zur Einteilung. BALL und SHEEHAN sehen die gesamte
Schrift als eine chiastisch angelegte Komposition, deren Spiegelachse in 2,1–7 bzw.
2,11 liege. Nach LOHFINK und WEIGL hätte der Prophet selbst drei chiastisch geformte
Systeme (1,2–18; 2,1–3,5; 3,6–15) geschaffen, nach SWEENEY hätten wir es mit zwei
(1,2–18; 2,1–3,20), nach VLAARDINGERBROEK mit vier (1,2–2,3; 2,4–15; 3,1–8; 3,9–20)
von ihm selbst formulierten Traktaten zu tun. Solchen Entwürfen steht die Einsicht
entgegen, dass namentlich im Schlussteil der Schrift mit seiner durch und durch ver-
heißungsvollen Grundstimmung jüngere Erweiterungen vorliegen. Sie scheinen nicht
von einer Hand geformt, sondern aus verschiedenen Einzelprophetien hervorgegan-
gen zu sein, die sich teils an älterem Zef-Gut (vgl. 3,11 mit 2,15; 3,12 mit 2,3; 3,13 mit
2,7), teils an DtJes (3,14–17!) orientieren. Möglicherweise hat man auch an sukzessive
Entstehung mit sehr späten Fortschreibungen zu denken (nach BOSSHARD, STECK etwa
in 3,18–20 oder 3,9f.). Sind aber die Passagen 3,10.19f. mit ihrem auffällig weiten
ökumenischen Blickwinkel jung, dann dürften es auch die universalistischen Passagen
1,2f.17f.; 2,10f. sein.

Angesichts der vielfältigen thematischen Facetten der Zef-Schrift wird zur syn-
chronen die diachrone Betrachtung treten müssen.

b) Die Entstehung der Schrift

Zu Beginn seien drei Modelle zur Textentstehung dargestellt, die von der nachfolgend
vertretenen markant abweichen.
Nach HARDMEIER standen am Anfang der Textentwicklung nicht, wie meist ange-
nommen, einzelne „Logien“, sondern ein „Diskurs“ Zefanjas anlässlich der blutigen
V. Das Zwölfprophetenbuch 457

Wirren nach dem Tod Manasses (640 v. Chr.); ihm hätten die Passagen 1,7–9*.12*.17
und 3,1.3–5 zugehört. Diesen Diskurs habe Zefanja selbst um 614/612 verschriftet und
ausgeweitet, indem er eine babylonische Invasion ankündigte und diese als „Tag
Jhwhs“ deutete; die so entstandene Zef-Grundschrift habe bereits den Großteil von 1,2
– 3,8 umfasst. In (nach)exilischer Zeit seien noch 1,2f.6b.12aα.13b; 2,2b.3.8–11.15;
3,2.9–20 hinzugekommen. Die Rekonstruktion eines aus verstreuten Teilstücken be-
stehenden „frühzefanjanischen Diskurses“ und die Annahme seiner „spätzefanjani-
schen“ Bearbeitung, vor allem aber die punktgenaue Zuweisung beider Textebenen an
ganz bestimmte Zeitereignisse sind m. E. mit zu vielen Unsicherheiten behaftet.
Nach LEVIN bilden den Ausgangspunkt der Textwerdung weder Einzellogien noch ein
längerer „Diskurs“, sondern ein einziger kultischer Jubelruf zur Begrüssung (!) des
jôm jhwh (1,7abβ.14a.15bγ.16a – ein doch recht freihändig zusammengesuchtes Text-
konglomerat!). Dieser Textkern wäre dann nicht weniger als sechsfach „fortgeschrie-
ben“ worden (ein textgenetisch ganz unklar bleibender Vorgang): Zuerst (und ver-
mutlich erst in der Exilszeit) wäre jener heilsprophetische Ruf in Anlehnung an Am
5,18–20 ins Unheilsprophetische gewendet, in nachexilischer Zeit daraus eine Deu-
tung der Exilskatastrophe gemacht, danach bestimmte Personengruppen beschuldigt,
dann das Ganze ins Apokalyptische gesteigert worden usw. Die hierzu jeweils vorge-
nommenen Textschnitte wirken wenig begründet; sie zerstören Zusammenhänge, die
im Text erkennbar sind, und schaffen neue, die aus verstreuten Textstücken erst ge-
schaffen werden müssen.
Wieder anders – und sehr kompliziert – denkt sich HAGEDORN (Die Anderen 111–
168) die Zef-Schrift entstanden. Der Ausgangspunkt seien nicht kult- oder sozialkriti-
sche Worte, sondern Fremdvölkerorakel gegen die Philister, Moab und Ammon in
2,4–9*, eingeleitet mit einem Prolog in 1,14–16*. Demnach wäre Zefanja, wenn, dann
ein Heilsprophet gewesen. Die Worte gegen Kusch und Ninive in 2,12–15 seien Er-
gänzungen noch ganz in der heilsprophetischen Linie, ebenso wie 3,1–5*, wo Juda ur-
sprünglich Heil zugesagt gewesen sei, was aber jetzt in unheilvolle Richtung umgebo-
gen ist. Dies wiederum sei der Auslöser für die judakritischen Worte in 1,8–13 und,
noch einmal später, für die Tag-Jhwh-Thematik in Zef 1 geworden. Längst befinde
man sich hier in exilisch-nachexilischer Zeit, ehe die Zef-Schrift durch Verklamme-
rungen in Kap. 3 ins Dodekapropheton eingepasst und am Ende in 1,2f.17f.; 3,8b mit
einer apokalyptischen Färbung versehen wird.

Die Entstehung der Zef-Schrift dürfte sich über die folgenden vier Stufen vollzo-
gen haben:

1.
Auf einen in der späten Assyrerzeit wirkenden Propheten namens Zefanja lassen
sich dreizehn Sprüche bzw. Spruchfragmente zurückführen, nämlich

aus Kap. 1: V. 2 / 4f. / 7 / 8aβb.9 / 10aβb.11 / 12aβb.13a / 14–16 / 17aαb;


aus Kap. 2: V. 1–3 / 4–6 / 9* / 13–15;
aus Kap. 3: V. 1.3f.(*5).

In diesen Textpartien wird eine Führungsschicht in Jerusalem angegriffen, die


blühende Geschäfte betreibt und sich zu Lasten der einfachen Leute bereichert,
458 D. Die Hinteren Propheten

die sorglos dahinlebt und ein Eingreifen Jhwhs nicht fürchtet, die dabei keines-
wegs gottlos ist, wohl aber einen eher synkretistischen Kult pflegt und sich auch
sonst ausländischen Einflüssen öffnet. Erwähnt werden Priester, deren Amtsbe-
zeichnung, kemarîm (1,4), ein Lehnwort aus dem Akkadischen ist; angeprangert
wird, dass auf den Dächern Gestirnskult betrieben wird (1,5); kritisiert werden
Prinzen, die sich nach fremdländischer Mode kleiden (1,8). Das alles sind Züge,
die auf die Präsenz und Dominanz einer fremden Macht in Jerusalem weisen.
Davon zeugt auch die kleine Sammlung von Fremdvölkerworten in 2,4–15. Laut
1,1 wirkte Zefanja unter Joschija von Juda (639–609 v. Chr.). In dessen frühen
Jahren – und erst recht zur Zeit seines Vor(vor)gängers Manasse – stand Juda
unter assyrischer Vorherrschaft. In der Tat übten die Assyrer auf ihre Vasallen-
staaten nicht nur politischen und militärischen, sondern auch sozial-ökonomi-
schen und religiös-kulturellen Druck aus (vgl. SPIECKERMANN, 1982; DIETRICH,
1994). Dagegen scheint Zefanja sich zu wehren. Nun war allerdings die assyri-
sche Macht spätestens seit dem Tod des Großkönigs Assurbanipal (669–631
v. Chr.) im Rückgang begriffen. Das spürte Joschija und führte 622 v. Chr. eine
Kultreform durch, die nicht zuletzt auf die Rückdrängung assyrischer Einflüsse
aus dem Jerusalemer Staatskult zielte (2Kön 22f., bes. 23,4f.11f.; vgl. SPIECKER-
MANN, 1982). Zudem war Joschija laut Jer 22,15f. ein ausgesprochen sozial
gesinnter Herrscher. Von alledem ist in den genannten Texten noch kaum etwas
zu spüren, was eine Datierung in die Frühzeit Joschijas wahrscheinlich macht.
(SEYBOLD meint umgekehrt, die joschijanische Reform habe nicht nachhaltig
gewirkt, und gerade das kritisiere Zefanja.)
Zefanja war offenbar Jerusalemer, er kannte seine Stadt genau (1,10–12). Von
Herkunft stand er den Kreisen bei Hofe (1,8f.; 3,3) und im Tempel (1,4f.7; 3,4)
nahe; möglicherweise war er sogar von königlichem Geblüt (1,1). Sein Herz aber
schlug für die Gedemütigten und Entrechteten (1,9; 2,1–3; vgl. auch 3,12f.). Diese
litten unter ihren eigenen Oberen, die wiederum durch das von Assur errichtete
politische System gestützt wurden. Also musste das gesamte jetzige politische
System beseitigt werden. Besorgen würde dies nicht eine irdische Macht – Baby-
lon ist noch nicht voll im Blick –, sondern Jhwh selbst. Sprachlicher Ausdruck
dessen ist die Rede vom „Tag Jhwhs“, besonders eindrucksvoll ausgestaltet in
1,14–16 und von dort aus zum Leitmotiv des ganzen 1. Kapitels geworden.
Mit der Botschaft vom „Tag Jhwhs“, der dem Volk Jhwhs nicht – wie man
wohl gemeinhin hoffte – Licht und Heil, sondern Finsternis und Unheil bringen
würde, stellt sich Zefanja in die Nachfolge des Judäers Amos, der dem zu seiner
Zeit noch bestehenden Nordreich Israel den Untergang ansagte (vgl. besonders
Am 5,18–20). Doch auch der Einfluss des Jerusalemers Jesaja – vornehmer
Abkunft und dabei ungemein kritisch wie Zefanja – ist zu spüren (vgl. besonders
Jes 2,12–17). Vielleicht waren es Stimmen wie die des Zefanja, die König Joschija
zu seinen kultischen Reformen anspornten (vgl. 2Kön 23) und in seiner sozialen
Einstellung bestärkten (vgl. Jer 22,15f.).
V. Das Zwölfprophetenbuch 459

2.
Die im Gedächtnis gebliebenen Zefanja-Worte wurden in spätvorexilischer Zeit
zu einer Sammlung zusammengestellt: wohl nicht vom Propheten selbst, sondern
von einem Getreuen. Sie umfasste den (großen) Grundbestand von Zef 1,2–3,8
mit kritischen Worten gegen die Oberen des eigenen Landes (*1,2–18; *3,1–8)
wie gegen eine Reihe anderer Länder (*2,4–15); zwischendurch allerdings ließ sie
eine zaghafte Hoffnung auf das Überleben wenigstens der Niederen in Jerusalem
und Juda aufscheinen (2,1–3). Der geschichtliche Hintergrund dieser frühesten
Zefanjaschrift ist irgendwo im Zeitraum zwischen dem Untergang Ninives (612
v. Chr.) und dem Jerusalems (586 v. Chr.) zu suchen; aufgrund der Erfahrung des
ersteren wird vor dem Eintreten des letzteren gewarnt. Aus den Büchern Kön
und Jer ist zu entnehmen, dass sich die innenpolitischen Zustände in Juda spä-
testens nach dem vorzeitigen Tod Joschijas (609 v. Chr.) verschlechterten und
dass am Ende außenpolitisches Abenteurertum das Königreich Juda den tödli-
chen Schlägen Babylons aussetzte. Aus dem Jer-Buch, insbesondere aus Jer 27f.,
lässt sich für die Zeit des letzten judäischen Königs, Zidkija (597–586 v. Chr.), ein
Ringen zwischen zwei Parteien herauslesen: einer, welche die Unterwerfung
unter das babylonische Joch, und einer, die den Aufstand gegen Babylon propa-
gierte. Stimmt es, dass die abschließende Texteinheit der frühesten Zefanja-
schrift, *3,6–8, aus dem Jahrzehnt zwischen der ersten und der zweiten Erobe-
rung Jerusalems stammt (wofür sich gute Gründe geltend machen lassen), dann
sieht man, wo deren Sammler bzw. Autor sich positionierte: an der Seite Jeremias
bei der Friedenspartei, während die Editoren der Jes-Legenden sich mit Jeremias
Gegenspieler Hananja auf der Seite der Kriegspartei engagierten. Diese zweite
Partei gewann die Oberhand, und dann kam das, was Zefanja als den schreckli-
chen „Tag Jhwhs“ vorausgesehen hatte.

3.
Nach dem Zusammenbruch Judas, während der Exilszeit, schuf eine deuterono-
mistisch geprägte Redaktion aus Hos, Am, Mi und Zef ein Vierprophetenbuch (s.
oben D.V.2.b), in dem die ersten beiden Schriften den Untergang des Nord-
reichs, die letzten beiden den des Südreichs voraussagten bzw. widerspiegelten.
Die Absicht dieser Komposition dürfte einerseits der Wunsch nach einer Pro-
phetenanthologie sein, weil man in der Prophetie – namentlich der kritischen
bzw. Oppositionsprophetie – ein wesentliches Element der Geschichte Israels mit
seinem Gott Jhwh erkannt hatte; andererseits konnte eine solche Sammlung
unheilsprophetischer Schriften der wichtigsten Aufgabe dienen, der sich der
Deuteronomismus verschrieben hatte: die politischen Katastrophen von 722 und
586 als Erweise nicht von Jhwhs Machtlosigkeit, sondern gerade seiner Macht
sehen zu lehren. Israel und Juda waren nicht unschuldige Opfer einer sinnlos
oder schlicht nach dem Gesetz des Stärkeren verlaufenden Geschichte, sondern
sie hatten für Schuld zu büßen, die sie gegen Gott auf sich geladen hatten. Die
kritischen Propheten hatten diese Schuld angeprangert und ihre schlimmen
Folgen vorausgesagt. Die Lektüre der Prophetenworte aus der vorexilischen Zeit
460 D. Die Hinteren Propheten

konnte helfen, die trostlose Lage der Exilszeit zu verstehen und zu ertragen, viel-
leicht auch: auf ihre Wende zu hoffen. Denn falls das Gottesvolk wieder zum
wirklichen Volk Gottes würde, konnte sich Gott ihm dann nicht wieder zuwen-
den? Im Vordergrund steht solche Hoffnung im dtr Vierprophetenbuch (wie
überhaupt in der dtr Literatur) freilich nicht. Vielmehr geht es vorerst noch und
in erster Linie um eine Ätiologie der Katastrophe und eine Doxologie des Ge-
richts: Jhwh hatte Assur und Babel ermächtigt, gegen sein Volk dreinzuschlagen,
und Israel hatte anzuerkennen, dass dieses Unheil verdient war.
Stark hatte die dtr Redaktion in die spätvorexilische Zef-Schrift nicht einzu-
greifen, um sie den genannten Zielen anzupassen. Vor allem stellte sie mit der
Überschrift 1,1, die ja den Überschriften Hos 1,1, Am 1,1 und Mi 1,1 sehr gleicht,
den Eindruck einer Sukzession zwischen den verschiedenen „kleinen“ Gerichts-
propheten her. Mehr noch: Erstmals entstand so ein Mehrprophetenbuch, in
dem die einzelnen Schriften zwar noch gut erkennbar, zugleich aber Teile eines
Ganzen waren. Es gab nicht mehr nur einen Hosea oder einen Zefanja, sondern
es gab die Prophetie Israels und Judas. Weniger sicher, aber hinreichend wahr-
scheinlich ist, dass die dtr Redaktion hier und dort auch in den vorgefundenen
Textbestand eingegriffen bzw. ihn ein wenig erweitert hat. Dies mag bei den
sekundären Passagen 1,6.13b; 2,8; 3,2 der Fall sein, aus denen man dtr Sprache
oder dtr Denken heraushören kann.

4.
In der mittleren oder späten Perserzeit, jedenfalls noch vor der hellenistischen
Ära, d. h. im 5. oder 4. Jahrhundert, wurde das Vierprophetenbuch zu einer Pro-
phetenanthologie ausgeweitet, deren vornehmstes Ziel nicht mehr die Verarbei-
tung der Exilskatastrophe war, sondern die Bestärkung und Ermutigung des über
das ganze persische Großreich verstreuten jüdischen Volkes. Die Kritik der
‚alten‘ Prophetenschriften an die eigene Adresse half die in Vielem schmerzhafte
frühere Geschichte verstehen und eine dem Gottesvolk angemessene religiöse
und moralische Haltung zu entwickeln. Die Kritik an fremden Völkern war ge-
eignet, die eigene Identität zu schärfen und einer übertriebenen Anpassung ge-
gen Außen zu wehren. Vor allem aber galt es, die feinen Spuren der Hoffnung in
den alten Texten auszubauen, indem man von hier und von dort passende und
beeindruckende prophetische Heilsverheißungen aufnahm. Diese mussten nicht
nur das eigene Volk, sie konnten auch Angehörige fremder Völker betreffen,
sofern diese nicht zugunsten des jüdischen Wohls zurückzutreten hatten und
sich ganz der Jhwh-Verehrung zuwandten. Die Erwartung einer solchen umfas-
senden Heilswende machte, in prä-apokalyptischer Manier, eine grundsätzliche
Erneuerung der Weltverhältnisse denkbar, ja fast notwendig.
Auf diese jüngste Stufe gehören kleinere Einschübe im ersten und zweiten Teil
der Zef-Schrift (1,3.17aβb.18; 2,7.9b–11) und vor allem ihr jubelnder Abschluss
im dritten Teil (3,8–20). Erst mit diesen Erweiterungen erhielt die Zef-Schrift die
Gestalt, die oben unter 1. beschrieben wurde. Zugleich ist dies die Gestalt,
die mannigfache Bezüge zu anderen (späten) Schriften und Schichten nament-
V. Das Zwölfprophetenbuch 461

lich des Dodekapropheton und des Jesajabuchs, aber auch des Pentateuchs auf-
weist.

So berühren sich: 2,11 mit Mal 1,11 (weltweite Jhwh-Verehrung); 3,10 mit Hos 10,6
(„Gabe herbeibringen“); 3,13 mit Mi 4,4 („keiner schreckt auf“); 3,14 mit Sach 2,14;
9,9f. (Freudenaufruf an Zion); 3,20 mit Hos 6,11; Am 9,14 („Wende des Geschicks“).
Noch zahlreicher sind die Bezüge zu Jes, vgl. 1,18a mit Jes 30,27.30; 33,11.14 (fressen-
des Feuer); 1,18b mit Jes 10,23; 28,22 (Gott „bewirkt Vernichtung an der ganzen
Erde“); 2,11 mit Jes 41,1; 49,1; 51,5 („Inseln“ und „Völker“); 3,11 mit Jes 13,3 („hoch-
mütige Prahler“); 3,14 mit Jes 12,6; 54,1 (Freudenaufruf an Zion); 3,15 mit Jes 44,6
(Jhwh als „König Israels“); 3,16 mit Jes 54,4 (Aufruf zur Furchtlosigkeit an Zion); 3,17
mit Jes 62,5; 65,19 (Gottes Freude an Zion); 3,19 mit Jes 60,14 („deine Unterdrücker“).
Hinzu kommen Berührungen mit dem Pentateuch: Das in 1,3 angekündigte kosmi-
sche Gericht über die ‚Erde‘, über ‚Mensch‘ und ‚Vieh‘ und ‚Vögel des Himmels‘ und
‚Fische des Meeres‘ ist gleichsam eine Rücknahme der Schöpfung und Wiederholung
der Sintflut (vgl. Gen 1; 6–9). Zef 3,17 trifft sich mit Dtn 30,9, Zef 3,18–20 mit Dtn
30,3f.

Es fällt ins Auge, dass zu dezidiert jungen Textbereichen des AT – etwa den spät-
priesterlichen Schichten des Pentateuchs, Esr-Neh, Chr, Jes 24–27 und Dan –
Parallelen fehlen. Dieser Umstand hilft bei der relativen Datierung: Auch die
abschließende Bearbeitung von Zef fällt nicht erst in die späteste (d. h. spätpersi-
sche und hellenistische) Zeit des AT. Vermutlich auch verbirgt sich dahinter eine
bewusste Absicht der Redaktion: Zef sollte noch zur vorexilischen Zeit der Ge-
schichte Israels gehören. Die Propheten bis zu ihm hin kündeten die bevorste-
hende Katastrophe an, benannten Gründe dafür, wiesen aber auch – jedenfalls in
der Endfassung der Schriften – Wege aus dem Unheil in eine neue, heilvolle
Zukunft. In dieses Mosaik bringt Zef ganz eigene Farben ein: die Schilderung der
schlimmen Zustände im Juda der späten Königszeit, die Ankündigung des da-
raufhin unvermeidlichen „Tages Jhwhs“, aber auch die Hoffnung auf das Wei-
terleben eines armen, auf Jhwh vertrauenden Gottesvolks, das den Kern einer auf
den einen wahren Gott ausgerichteten Völkerökumene bildet. Das ist hoch be-
deutsam: Während sonst im AT und speziell im Dodekapropheton partikularisti-
sche (Nah!) und universalistische (Jona!) Perspektiven oft weit auseinanderlau-
fen, treffen sie sich in Zef (vgl. 2,11 und 3,9f. mit den Völkerorakeln!).

c) Der Prophet

Zefanja (sein Name bedeutet: „Jhwh hat geborgen“) wird in 1,1 mit einem wegen
seiner Vielgliedrigkeit ungewöhnlichen Stammbaum eingeführt: „… der Sohn
des Kuschiters des Sohnes Gedaljas des Sohnes Amarjas des Sohnes Hiskijas“.
Die letzte Angabe lässt natürlich an den König gleichen Namens denken. Auch
wenn die Gleichsetzung kaum beweisbar ist, bleibt sie doch möglich. Rechnet
man nämlich vom Beginn der Regierungszeit Hiskijas an (725–696) für die fol-
462 D. Die Hinteren Propheten

genden vier bis fünf Generationen mit einem runden Jahrhundert, dann gelangt
man in die Zeit um 625 v. Chr., die ungefähr die Wirkungszeit des Propheten
gewesen sein könnte. Dass sein Vater „Kuschiter“ heißt, steht dem nicht im
Wege; es könnte sich dabei ja um den Sohn einer dunkelhäutigen Mutter und des
genannten Gedalja handeln (RICE; demgegenüber meint VLAARDINGERBROEK, bei
„Kuschi“ sei nicht an das Gentilizium zu denken, sondern an einen Eigennamen
wie „Black, Brown, or De Moor“, die auch niemand wörtlich nehme).
Ob nun königlichen Geblüts oder nicht: die mit einiger Sicherheit authenti-
schen Worte weisen Zefanja als einen ungemein harten Gerichtspropheten aus.
Seine Kritik der Zustände im spätkönigszeitlichen Juda ist an Schärfe kaum zu
überbieten. Korruption und Besitzgier, Selbstgefälligkeit und Hartherzigkeit,
Opportunismus und Agnostizismus attestiert er den führenden Kreisen in
Hauptstadt und Staat. Jhwh ist darüber glühend zornig und zum Dreinfahren
entschlossen. In das neuentstandene Markt- und Geschäftsviertel im Nordwesten
der Stadt wird er einbrechen, in die geheimsten Verstecke der „Fettgewordenen“
vordringen. In donnerndem Stakkato werden die Schrecken des „Tages Jhwhs“
beschworen, vor dem es kein Entkommen gibt.

Die mutmaßlich ‚echten‘ Zefanjaworte weisen einen geschliffenen Sprachstil und ho-
hes Bildungsniveau auf – nicht unbedingt aber absolute Originalität. Unübersehbar
sind Anleihen bei der älteren Prophetie, vgl. etwa zum „Einsammeln“ Gottes (1,2) Jer
8,13; zum „Füllen des Palastes“ (1,9) Am 3,20; zum „Tag Jhwhs“ (1,4–16) Am 5,18–20;
zum Liegen „auf der Hefe“ (1,12) Jer 48,11; zu „Recht und Gerechtigkeit“ (2,3) Jes 5,7;
Am 5,7.24; zum „Suchen Jhwhs“ und zum „Vielleicht“ der Rettung (2,3) Am 5,4.6.14;
Jes 30,2 bzw. Am 5,15; zur ‚Ständepredigt‘ (3,3f.) Jes 1,23–26; 3,1–3; Mi 3,1–12.

Freilich geht das aus solchen Beobachtungen gewonnene Urteil KAPELRUDs „Zepha-
niah was no original creator … He did not possess the creative power of men like
Amos, Isaiah“ viel zu weit – zumal es auch immer wieder Bezugnahmen späterer pro-
phetischer Texte auf Zefanja gibt. Nicht nur hat er das Thema des „Tages Jhwhs“ sehr
viel weiter geführt als Amos und wurde darin von Joël aufgegriffen (vgl. Joël 2,1f. mit
Zef 1,15f.). Ez 7,19 redet wie Zef 1,18 von der Nutzlosigkeit des Reichtums am Tag
Jhwhs. Und bei den Fremdvölkerworten kann man über die jeweilige Beeinflussungs-
richtung streiten, vgl. Zef 2,8–10 mit Jer 48,29; 49,18; Zef 2,14 mit Jes 13,21f.; 34,13–
15; Zef 2,15 mit Jes 23,7; 47,8.

Mögen die von Zefanja aufgegriffenen Themen und verwendeten Sprachformen


nicht in allem neu sein, seine Prophetie hat doch ein eigenes, prägnantes Profil.
Was sie auszeichnet, ist neben ihrer Härte ihre Dringlichkeit; insbesondere das
Poem über den „Tag Jhwhs“ wirkt erschreckend (und das über den Text des
Requiems bis hinein in unsere Zeit). Die Botschaft dieses Propheten ist todernst,
aber nicht völlig hoffnungslos. Zwar erwartet er für die Elite Jerusalems und den
durch sie repräsentierten Staat nichts mehr, doch den kleinen Leuten auf dem
Land eröffnet er ein „Vielleicht“ – sofern sie weiter auf der „Suche“ nach „Ge-
rechtigkeit“ und „Bescheidenheit“ bleiben (2,3; vgl. auch den wohl sekundären
Passus 3,11b–13).
V. Das Zwölfprophetenbuch 463

Ob dieser Mann mit seinen Worten noch etwas Positives zu erreichen hoffte?
Kaum wird er gedacht haben, der Tag Jhwhs lasse sich durch irgendetwas (etwa
die Reformbemühungen eines frommen Königs) noch aufhalten. Wohl aber
kann er gehofft haben, bei den Armen im Lande könnten Lauterkeit und Stand-
haftigkeit befördert und sie damit vor dem Gerichtswillen Jhwhs bewahrt wer-
den. Die jedenfalls, die nach ihm kamen und seine Botschaft weitertrugen, gaben
ihm in beidem Recht: in seiner harten Gerichts- wie in seiner verhaltenen Heils-
verkündigung. Sie weiteten beides ins Grundsätzliche und Universale aus. So
wurde die kleine Zef-Schrift eine Art ‚biblische Prophetie in nuce‘.

12. Haggai
Kommentare: W. A. M. BEUKEN, Haggai-Sacharja 1–8, Assen 1967. – D. L. PETERSEN, Haggai and
Zechariah 1–8, 1984 (OTL). – C. L. MEYERS / E. M. MEYERS, Haggai, Zechariah 1–8, 1987 (AncB
25B). – T. MEADOWCROFT, Haggai, Sheffield 2006.
Zu Kommentarreihen siehe oben bei V.

Einzeluntersuchungen: H. W. WOLFF, Haggai, 1951 (BSt 1). – F. HESSE, F., Haggai, in: A. Kuschke
(Hg.), Verbannung und Heimkehr, FS W. Rudolph, Tübingen 1961, 109–134. – G. SAUER, Serubbabel
in der Sicht Haggais und Sacharjas, in: F. Maass (Hg.), Das ferne und das nahe Wort, FS L. Rost, 1967
(BZAW 105), 199–207. – K.-M. BEYSE, Serubbabel und die Königserwartungen der Propheten Haggai
und Sacharja. Eine historische und traditionsgeschichtliche Untersuchung, 1972 (AzTh I/48). – K.
SEYBOLD, Die Königserwartung bei den Propheten Haggai und Sacharja: Judaica 28 (1972), 69–78. –
S. JAPHET, Sheshbazzar and Zerubbabel: ZAW 94 (1982), 86–105; 95 (1983), 218–229. – H. W.
WOLFF, Art. Haggai/Haggaibuch: TRE 14 (1985), 355–360. – H. W. WOLFF, Haggai literarhistorisch
untersucht, in: Ders., Studien zur Prophetie, 1987 (TB 76), 129–147. – W. J. WESSELS, Haggai from a
Historian’s Point of View: OTEs 1 (1988), 47–61. – K. KOCH, Haggais unreines Volk, in: Ders., Spu-
ren hebräischen Denkens, Neukirchen-Vluyn 1991, 206–219. – L. BAUER, Zeit des zweiten Tempels –
Zeit der Gerechtigkeit. Zur sozio-ökonomischen Konzeption im Haggai-Sacharja-Maleachi-Korpus,
1992 (BEATAJ 31). – D. L. CHRISTENSEN, Poetry and Prose in the Composition and Performance of
the Book of Haggai, in: J. C. de Moor / W. G. E. Watson (eds.), Verse in Ancient Near Eastern Prose,
1993 (AOAT 42.1), 17–30. – D. J. A. CLINES, Haggai’s Temple, Constructed, Deconstructed and
Reconstructed: SJOT 7 (1993), 51–77. – J. E. TOLLINGTON, Tradition and Innovation in Haggai and
Zechariah 1–8, 1993 (JSOT.S 150). – P. R. BEDFORD, Discerning the Time. Haggai, Zechariah and the
„Delay“ in the Rebuilding of the Jerusalem Temple, in: S. W. Hollaway / L. K. Handy (eds.), The
Pitcher is Broken, FS G. W. Ahlström, 1995 (JSOT.S 190), 71–94. – M. H. FLOYD, The Nature of the
Narrative and the Evidence of Redaction in Haggai: VT 45 (1995), 470–490. – R. ALBERTZ, Die ge-
scheiterte Restauration, in: E. Blum u. a. (Hg.), Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachge-
schichte, FS Rolf Rendtorff, Neukirchen-Vluyn 2000, 1–12. – M. J. BODA, Haggai. Master Rhetori-
cian: TynB 51 (2000), 295–304. – J. KESSLER, The Book of Haggai. Prophecy and Society in Early
Persian Yehud, 2002 (VT.S 91). – E. ASSIS, Haggai. Structure and Meaning: Bib 87 (2006), 531–541. –
E. ASSIS, To Build or Not to Build. A Dispute between Haggai and His People (Hag 1): ZAW 119
(2007), 514–527. – R. ROTHENBUSCH, Serubbabel im Haggai- und im Protosacharja-Buch. Konzepte
der Gemeindeleitung im frühnachexilischen Juda, in: S. Steingrimsson / K. Olason (Hg.), Literatur-
und sprachwissenschaftliche Beiträge zu alttestamentlichen Texten, FS W. Richter, 2007 (ATSAT 83),
219–264. – A. SCHENKER, Gibt es eine graeca veritas für die hebräische Bibel? Die „Siebzig“ als Text-
zeugen im Buch Haggai als Testfall, in: H.-J. Fabry / D. Böhler (Hg.), Im Brennpunkt: Die Septuagin-
ta, Bd. 3, 2007 (BWANT 174), 57–77. – R. RENDTORFF, Ist Haggai auch unter den Propheten?, in: I.
Kottsieper u. a. (Hg.), Berührungspunkte, FS Rainer Albertz, 2008 (AOAT 350), 291–294. – R.
KASHER, Haggai and Ezekiel. The Complicated Relations between the Two Prophets: VT 59 (2009),
464 D. Die Hinteren Propheten

556–582. – R. LUX, Prophetie und Zweiter Tempel. Studien zu Haggai und Sacharja, 2009 (FAT 65). –
M. HALLASCHKA, Haggai und Sacharja 1–8, 2010 (BZAW 411).

Forschungsbericht: M. J. BODA, Majoring on the Minors. Recent Research on Haggai and Zechariah:
CBR 2 (2003), 33–68.

a) Der Aufbau der Schrift

Die kleine Hag-Schrift kreist um ein einziges Thema: den Einsatz Haggais für
den Wiederaufbau des im Jahr 587/6 v. Chr. von den Babyloniern zerstörten
Jerusalemer Tempels.
Anders als bei den vorangegangenen Schriften des Zwölfprophetenbuchs ist
Hag 1,1 keine Gesamtüberschrift, sondern die Überschrift zu einem einzelnen
Orakel, worauf danach noch drei weitere folgen. Seine vier Auftritte sind auf den
Tag genau datiert, und zwar nach der Regierungszeit des Perserkönigs Darius I.
(522/1–486/5), genauer: in dessen zweites Amtsjahr. Es ergibt sich folgender
zeitlicher und literarischer Aufriss:

Datierung Inhalt
1. 1,1 2. Jahr / 6. Monat / 1. Tag 1,1–15 Diskussionsrede über die Not-
(= 29. August 520) wendigkeit des Tempelbaus; die
Angeredeten reagieren positiv,
die Arbeiten werden in Angriff
genommen
2. 2,1 7. Monat / 21. Tag 2,1–9 Schmerzliche Erinnerung an
(= 17. Oktober 520) den Glanz des Ersten Tempels
und Ankündigung großer
Reichtümer aus den Völkern
für den Bau des Zweiten
3. 2,10 2. Jahr / 9. Monat / 24. Tag 2,10–19 Priesterliche Auskunft über das
(= 18. Dezember 520) Problem der „Unreinheit“ und
Ankündigung göttlichen Se-
gens vom Tag der Grundstein-
legung an
4. 2,20 24. Tag 2,20–23 Ankündigung einer Theopha-
nie und der Erhöhung Serub-
babels

Als Adressaten der Reden Haggais erscheinen das Volk von Juda, der Statthalter
Serubbabel ben Schealtiël (laut 1Chr 3,17 ein Enkel des 597 v. Chr. deportierten
Davididen Jojachin) und der Hohepriester Joschua (Enkel des laut 2Kön 25,18
im Jahr 586 von den Babyloniern hingerichteten Priesters Seraja und Sohn des
laut 1Chr 5,4 deportierten Jozadak). Am Anfang scheinen noch starke Wider-
stände gegen den Bau eines neuen Tempels bestanden zu haben, am Ende steht
die Grundsteinlegung (2,18). Demnach war Haggai ein ungemein erfolgreicher
Prophet.
V. Das Zwölfprophetenbuch 465

Die Hag-Schrift als ganze will eine Erzählung sein: Als „das Wort Jhwhs durch
Haggai geschah“ (1,1), „hörten“ die Angeredeten darauf (1,12); Haggai „sprach“
ihnen Mut zu (1,13), Jhwh „weckte“ ihren Geist, so dass sie die Arbeit am Tem-
pel aufnahmen. In der Folge „geschahen“ weitere Worte Jhwhs (2,1.10). Haggai
„redete“ mit den Priestern über die Frage der Unreinheit (2,13f.). Schließlich
„geschah“ das „Wort Jhwhs“ über sein Kommen und Serubbabels hohe Bestim-
mung. All dies ereignete sich innerhalb von knapp vier Monaten.

b) Die Entstehung der Schrift

Die narrative Struktur der Haggai-Schrift dürfte das Werk einer Redaktion sein
(mit WOLFF, LUX gegen FLOYD, TOLLINGTON u. a.). Selbst wenn der Prophet
eigenhändig Notizen über seine Auftritte niedergeschrieben und sie mit Daten
versehen hätte (WOLFF spricht von „Auftrittskizzen“), ist deren planmäßige
Reihung zu einem fortlaufenden Geschehen doch im Rückblick auf das Ganze
erfolgt. Dass dabei von Haggai in der 3. Person die Rede ist, weist auf einen von
ihm zu unterscheidenden Verfasser. Dieser schrieb „a brief apologetic historical
narrative“ zur Legitimierung des Tempelbaus und der Rolle Haggais dabei
(PETERSEN). Zugleich wird er derjenige sein, der die Doppelschrift Hag/PrSach
geschaffen hat (REDDITT).

Ein recht kompliziertes redaktionsgeschichtliches Modell entwickelt HALLASCHKA.


Demnach wären in Hag sechs Schichten zu unterscheiden: I (Grundschicht zum
Tempelbau, um 520 v.Chr): 1,*1.4.8; 1,15b–2,1.3.9a; II (Fluch und Segen, um 500):
1,5–7; *2,15–19; III (erzählerischer Rahmen – etwa die oben genannte „Redaktion“,
um 500): 1,1–3.12a.14.15a; 1,15b–2,2; IV (über Unreinheit des Volkes, Perserzeit):
2,10–14; V (verschiedene Zusätze): 2,*4f.6–8.9b.17.18b; VI (Zerubbabel-Orakel, helle-
nistisch): 2,20–23. Zumindest diese letzte Einordnung weckt Zweifel, scheint doch ge-
rade 2,20–23 vom zeitgeschichtlichen Kolorit der frühen Perserzeit geprägt.

Der Redaktion lag alles daran, Haggai als mit höchster prophetischer Autorität
und Vollmacht ausgestattet zu zeichnen. Fünfmal wird er in den narrativen
Rahmenteilen „der Prophet“ genannt (1,1.3.12; 2,1.10), einmal „der Bote Jhwhs“
(‫מלאך יהוה‬: 1,13); fünfmal wird auf seine Reden die Wortereignisformel angewen-
det (‫היה דבר יהוה‬: 1,1.3; 2,1.10.20), achtmal die Botenspruchformel (‫אמר יהוה‬:
1,2.5.7.8; 2,6.7.9.11), zwölfmal die Gottesspruchformel (‫נאם יהוה‬: 1,9.13; 2,4tris.8.9.
14.17.24tris). Es soll kein Zweifel daran bleiben, dass in der Verkündigung (und
im Erfolg) dieses Propheten Gott selbst am Werk war.
Alle vier Auftritte sind dramatisch ausgestaltet: Eine Krise baut sich auf, Gott
greift mittels seines Wortes ein, das Problem löst sich. Man kann somit in der
Wirksamkeit des göttlichen Wortes „the central theme“ der Schrift sehen
(KESSLER); dabei ist zu bedenken, dass aus der Sicht der Redaktion bisher nur die
den Tempel betreffenden Ankündigungen in Erfüllung gegangen sind, während
die viel weiter reichenden – das Kommen Jhwhs, die Erschütterung der Welt-
466 D. Die Hinteren Propheten

ordnung und die Einsetzung eines davidischen (Welt-)Herrschers – noch ausste-


hen, durch die Existenz des Tempels aber bekräftigt sind.
Mit welchen ihr vorgegebenen Textmaterialien hat die Hag-Redaktion ge-
arbeitet? Zieht man ihre Beigaben ab, bleiben von der ersten Texteinheit ein
Diskussionswort des Propheten (1,2–11), die erschrockene Reaktion des Volkes
(1,12b), der Zuspruch des Propheten (1,13) und die Nachricht von der Auf-
nahme der Bau- bzw. der Aufräumungsarbeiten (1,14bβ.15). Nichts spricht da-
gegen, diese Textbestandteile auf Haggai selbst (oder doch einen nahen Zeugen)
zurückzuführen. Analoges gilt auch für die restlichen drei Einheiten: Abzüglich
der narrativen Anteile lassen sie sich gut als relativ zuverlässige Wiedergabe tat-
sächlich erfolgter Auftritte bzw. Ansprachen des Propheten Haggai im Jahr 520
v. Chr. verstehen.
Offenbar war bei den ersten drei Auftritten das Gegenüber Haggais ursprüng-
lich allein das „Volk“, beim letzten dann allein Serubbabel. Demgegenüber
scheint das im jetzigen Text immer wieder auftauchende politisch-geistliche
Führungsduo Serubbabel-Joschua (1,1.12a.14abα; 2,2.4) eine Schöpfung erst der
Redaktion zu sein (ROTHENBUSCH). Die Einführung des Priesters Joschua neben
Serubbabel (in Sach 3 dann an seiner Stelle!) ist vermutlich aus Gründen der
‚political correctness‘ erfolgt: Die Perser sahen sich durch bei den Juden aufkei-
mende davidisch-messianische Hoffnungen (vgl. nicht zuletzt Hag 2,21–23!)
anscheinend veranlasst, das Amt Serubbabels zurückzustufen oder ihn gar daraus
zu entfernen (so ALBERTZ; nach LUX wäre dies sehr bald nach der Grundsteinle-
gung geschehen). Erst in der Folge dessen begann sich in Jehud jene Theokratie
bzw. Hierokratie herauszubilden, deren erster Repräsentant Joschua war und die
bis in die makkabäische Zeit hinein (und noch darüber hinaus) Bestand haben
sollte.

c) Der Prophet

Über die Person Haggais wird in keiner der vier Überschriften mehr mitgeteilt
als sein Name (er ist abgeleitet vom Nomen ‫ חג‬und bedeutet „der am Fest Gebo-
rene“), dreimal gefolgt vom Titel „der Prophet“ (‫)הנביא‬. Haggais Herkunft bleibt
völlig unbestimmt. Seine Nichterwähnung in den Rückkehrerlisten Esr 2; 8; Neh
7 könnte darauf deuten, dass er im Land geboren wurde. Dafür spricht auch sein
großes Interesse an landwirtschaftlichen Fragen (1,6–11; 2,16f.).
Haggai gilt, zusammen mit Sacharja, der biblischen Überlieferung als eine der
treibenden Kräfte beim Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels (vgl. Esr 5,1;
6,14). Angeblich hatte dazu schon Kyros (538–529 v. Chr.) Order gegeben (Esr
1,1–4), zumindest sandte er die von den Babyloniern entwendeten Kultgeräte des
Ersten Tempels zurück (Esr 1,7–11). Doch nicht der damit beauftragte Beamte
Scheschbazzar, sondern erst der von Kambyses (529–522) oder von Darius I.
(522–486) als „Statthalter Judas“ (‫פחת יהודה‬, Hag 1,1.14; 2,2.21) eingesetzte
Serubbabel leitete den Neubau in die Wege. Wie erklärt sich der Verzug, und wie
V. Das Zwölfprophetenbuch 467

der dann doch erfolgte Aufbruch? Es scheint, als ließe sich der Hag-Schrift eini-
ges dazu entnehmen.
Die erste Texteinheit 1,1–15 handelt von Widerständen gegen den Tempelbau
und ihrer Überwindung durch Haggai. Gern nahm man an, die Menschen im
ausgebluteten Juda hätten eher an sich und ihr eigenes Überleben als an Jhwh
und ein ihm zu weihendes Gotteshaus gedacht. Doch wahrscheinlich standen
dem frommen Werk weniger ökonomische als vielmehr politische und religiöse
Hindernisse entgegen. Das Desaster von 587/6 war von oppositionellen Kreisen
vorausgesehen und vorweg als Ausdruck des Zornes Jhwhs gedeutet worden (Mi
3,9–12; Jer 26). Im babylonisch besetzten Juda breitete sich eine Bußbewegung
aus, die die Katastrophe als gerechtes Gericht Gottes begriff (vgl. z. B. 2Kön 21–
25; Jes 39; Jer 7; 11,1–15; 16,9–13; 41,4f.; Sach 7,1–7; Ps 79; 89; Thr 1f.; 4f.). Ab
wann nun konnte man annehmen, dass der Zorn Gottes verflogen war und er
sich seinem Volk wieder zuwenden würde? Wollte er jemals auf dem durch
Sünde und Leid schwer belasteten Berg Zion wieder verehrt werden? Zwar
mochten der Niedergang Babylons, der Aufstieg des Kyros und die Rückerstat-
tung der Tempelgeräte ermutigende Signale sein – doch waren es sichere Zeichen
der Versöhnung Gottes? Die von Haggai registrierten Reserven gegen einen
Tempelbau (1,2) erwuchsen wohl vor allem aus solchen tiefinneren Skrupeln
(BEDFORD). Um seine Landsleute aus der Depressivität zu reißen und zur Akti-
vität anzuspornen, ging Haggai ein großes Wagnis ein: Er führte die damalige
schlechte ökonomische Situation auf das Fehlen des Tempels zurück und stellte
für den Fall des Wiederaufbaus eine bessere Lage Aussicht (1,5–11; 2,15–18). Es
ist nicht überliefert, ob dieses Versprechen in Erfüllung gegangen ist.

Auch die zweite Texteinheit 2,1–9 kreist um wirtschaftliche Sorgen, diesmal we-
gen fehlender Mittel für den Tempelbau. Offenbar floss die vom persischen Hof
zugesagte finanzielle Unterstützung (Esr 6,8) nicht eben reichlich. Wieder ris-
kierte Haggai viel, indem er weltpolitische Erschütterungen ankündigte, in deren
Folge große Reichtümer nach Jerusalem strömen und alle Geldsorgen beheben
würden – eine Ankündigung, die in persischen Ohren nicht unbedenklich ge-
klungen haben dürfte.

In der dritten Texteinheit 2,10–19 geht es um das Problem der „Unreinheit“ der
am Bau Beteiligten. Nach einer geläufigen Hypothese sind damit die Samaritaner
gemeint (WOLFF, HESSE, ASSIS u. a.). Es könnten indes auch (Alt-)Judäer im Blick
sein, die der Tempelbauidee aus den genannten Gründen mit Skepsis gegenüber-
standen; „Unreinheit“ bezöge sich dann auf die Kontamination durch babyloni-
sche Einflüsse während der Exilszeit – oder auf die zu lang währende Gleichgül-
tigkeit gegen den Tempelbau (MEYERS/MEYERS u. a.). Es könnte auch das ge-
samte Volk angesprochen sein, Altjudäer wie Heimkehrer, die einfach deshalb
„unrein“ waren, weil sie so lange eines regulären Tempelbetriebs entbehren
mussten, und denen jetzt eine Reinigung durch den bald aufzunehmenden Kult-
betrieb in Aussicht gestellt wird (so KOCH, ähnlich KESSLER). Nach dem LXX-
468 D. Die Hinteren Propheten

Text resultierte die Unreinheit aus sozialer Ungerechtigkeit, welcher sich die
führenden Leute in Juda schuldig gemacht hätten (SCHENKER). Wie auch immer:
Gott hat die Verunreinigten mit wirtschaftlichen Einbußen geschlagen, doch mit
der Grundsteinlegung steht Besserung in Aussicht.
Die vierte Texteinheit 2,20–23 zeigt, dass zu Haggais wichtigstem Verbündeten
im Kampf um den Tempel der Statthalter Serubbabel wurde. Dieser trug, als im
Exil Geborener, einen babylonischen Namen (Zēr-Bābili = „Spross Babels“), war
aber legitimer Spross der davidischen Herrscherfamilie und damit gewisserma-
ßen deren Rechtsnachfolger in Jerusalem und Eigentümer des dortigen Palast-
und Tempelareals. Wenn, dann konnte er den Wiederaufbau des Tempels vo-
rantreiben – wenn er denn den Willen und den Mut dazu aufbrachte. (Nach dem
LXX-Text hätten er und Joschua dem Projekt zunächst sogar aktiven Widerstand
entgegengesetzt, vgl. SCHENKER). Anscheinend bedurfte es der Ermutigung und
Motivierung durch so kraft- und geistvolle Unterstützer, wie Haggai (und wie
auch Sacharja) einer war. Am Tag der Grundsteinlegung sprach ihm der Prophet
Haggai förmlich die „Königswürde“ (SEYBOLD), ja geradezu die künftige Welt-
herrschaft zu (BEYSE; dass er sich gleichwohl hütete, die Perser direkt herauszu-
fordern, betont KESSLER). Haggai revoziert ausdrücklich eine Äußerung, die
Jeremia einst über Jojachin, den von den Babyloniern deportierten Großvater
Serubbabels, getan hatte: Dieser sei wie ein von Jhwhs Hand gerissener Siegelring
(Jer 22,24). Haggai nimmt das Bild auf und kehrt es ins Positive: „Ich mache dich
[Serubbabel] wie einen Siegelring, denn dich habe ich erwählt“ (2,23). Mit dieser
und vielen anderen Aussagen präsentiert sich Haggai als Erbe und Erneuerer der
vorexilischen Prophetie (TOLLINGTON). Gern hat man ihm aufgrund seines En-
gagements für den Tempel das Etikett eines „Kultpropheten“ angeheftet; doch
weisen ihn seine Distanz zur priesterlichen (2,11–15) und seine Nähe zur davidi-
schen Tradition (2,20–23) mindestens ebenso sehr als „Hofpropheten“ aus
(SAUER) – wobei freilich Serubbabel nie in die Lage kam, einen Königshof zu
bilden.
Haggai scheint, als er als Prophet für den Tempelbau eintrat, schon höheren
Alters gewesen zu sein. Ob er noch viel länger gewirkt (und gelebt) hat als die
knapp vier Monate, die sich aus den Datumsangaben der Hag-Schrift ergeben,
muss offen bleiben. Im Bericht über die 515 v. Chr. erfolgte Tempelweihe in Esr
6,13–22 wird er jedenfalls nicht erwähnt. Dem Anschein nach hat dieser Mann
den Tag, der der Tag seines größten Triumphes gewesen wäre, nicht mehr erlebt.

13. Sacharja
Kommentare: W. A. M. BEUKEN, Haggai-Sacharja 1–8, Assen 1967. – D. L. PETERSEN, Haggai and
Zechariah 1–8, 1984 (OTL). – C. L. MEYERS / E. M. MEYERS, Haggai, Zechariah 1–8, 1987 (AncB
25B). – D. L. PETERSEN, Zechariah 9–14 and Malachi, 1987 (OTL). – P. REDDITT, Zechariah 9–14,
Stuttgart 2012 (IECOT).
Zu Kommentarreihen siehe oben bei V.
V. Das Zwölfprophetenbuch 469

Einzeluntersuchungen: K. GALLING, Die Exilswende in der Sicht des Propheten Sacharja, in: Ders.,
Studien zur Geschichte Israels im persischen Zeitalter, Tübingen 1964, 109–126. – H.-G. SAUER,
Serubbabel in der Sicht Haggais und Sacharjas, in: F. Maass (Hg.), Das ferne und das nahe Wort, FS
L. Rost, 1967 (BZAW 105), 199–207. – H.-M. LUTZ, Jahwe, Jerusalem und die Völker. Zur Vorge-
schichte von Sacharja 12,1–8 und 14,1–5, 1968 (WMANT 27). – K.-M. BEYSE, Serubbabel und die
Königserwartungen der Propheten Haggai und Sacharja. Eine historische und traditionsgeschichtli-
che Untersuchung, 1972 (AzTh I/48). – K. SEYBOLD, Spätprophetische Hoffnungen auf die Wieder-
kunft des davivischen Zeitalters in Sach 9–14: Judaica 29 (1973), 355–374. – H. GESE, Anfang und
Ende der Apokalyptik, dargestellt am Sacharjabuch, in: Ders., Vom Sinai zum Zion, München 1974,
202–230. – K. SEYBOLD, Bilder zum Tempelbau, 1974 (SBS 70). – I. WILLI-PLEIN, Prophetie am Ende.
Untersuchungen zu Sacharja 9–14, 1974 (BBB 42). – R. A. MASON, The Relation of Zech 9–14 to
Proto-Zechariah: ZAW 88 (1976), 227–239. – C. JEREMIAS, Die Nachtgesichte des Sacharja. Untersu-
chungen zu ihrer Stellung im Zusammenhang der Visionsberichte des Alten Testaments und zu
ihrem Bildmaterial, 1977 (FRLANT 117). – R. A. MASON, Some Echoes of the Preaching in the
Second Temple? Tradition Elements in Zechariah 1–8: ZAW 96 (1984), 221–235. – A. S. VAN DER
WOUDE, Serubbabel und die messianischen Erwartungen des Propheten Sacharja: ZAW 100 (1988),
138–156. – U. FISTILL, Sacharja 12–14. Ein Verstehensversuch. Diplomarbeit Innsbruck (1991). – T.
LESCOW, Sacharja 1–8. Verkündigung und Komposition: BN 68 (1993), 75–99. – J. E. TOLLINGTON,
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exilischen Herrschererwartung, 2003 (FAT 35). – J. GÄRTNER, Jesaja 66 und Sacharja 14 als Summe
der Prophetie. Eine traditions- und redaktionsgeschichtliche Untersuchung zum Abschluss des
Jesaja- und des Zwölfprophetenbuches, 2006 (WMANT 114). – J. HAUSMANN, Jerusalem und die
Völker. Beobachtungen zu Sacharja 14, in: R. Lux (Hg.), Die unwiderstehliche Wahrheit. Studien zur
alttestamentlichen Prophetie, FS A. Meinhold, Leipzig 2006 (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte
23), 389–399. – T. PRÄCKEL, Alles wird gut!? Beobachtungen zu Sacharja 7, in: F. Hartenstein / M.
Pietsch (Hg.), „Sieben Augen auf einem Stein“ (Sach 3,9), FS I. Willi-Plein, Neukirchen-Vluyn 2007,
309–325. – R. ROTHENBUSCH, Serubbabel im Haggai- und im Protosacharja-Buch. Konzepte der
Gemeindeleitung im frühnachexilischen Juda, in: S. Steingrimsson / K. Olason (Hg.), Literatur- und
sprachwissenschaftliche Beiträge zu alttestamentlichen Texten, FS W. Richter, 2007 (ATSAT 83),
219–264. – R. LUX, Prophetie und Zweiter Tempel. Studien zu Haggai und Sacharja, 2009 (FAT 65). –
M. R. STEAD, The Intertextuality of Zechariah 1–8, London / New York 2009. – M. HALLASCHKA,
Haggai und Sacharja 1–8, 2010 (BZAW 411). – H.-P. MATHYS, Anmerkungen zur dritten Vision des
Sacharja (Sacharja 2,5–9): ThZ 66 (2010), 103–118. – A. R. PETTERSON, Behold Your King. The Hope
for the House of David in the Book of Zechariah, London / New York 2010. – A. FINITSIS, Visions
and Eschatology: A Socio-historical Analysis of Zechariah 1–6, New York 2011 (Library of Second
Temple Studies 79).

Forschungsbericht: M. J. BODA, Majoring on the Minors. Recent Research on Haggai and Zechariah:
CBR 2 (2003), 33–68.
470 D. Die Hinteren Propheten

a) Der Aufbau der Schrift

Nach einer redaktionellen Einleitung (s. unten bei b) folgt ein Zyklus von acht
„Nachtgesichten“ (1,7–6,15), d. h. nächtlichen Visionen, in denen geheimnisvolle
Bilder auftauchen, die dem Seher z. T. von einem angelus interpres gedeutet wer-
den müssen.
In Vision I schaut der Prophet einen Reiter und Pferde, die zuerst bleierne Ruhe über
der Welt, dann aber Jhwhs Eifer für Jerusalem und seinen Zorn gegen die Völker fest-
stellen. In II werden Schmiede aufgeboten, die vier Hörner niederwerfen, von denen
Juda zuvor gestoßen worden ist. In III soll ein Mann mit der Messschnur Jerusalem
ausmessen und sicherstellen, dass dort Platz ist für die Rückkehrer aus der Gola. In IV
wird der Hohepriester Joschua gegen den Satan verteidigt, symbolisch gereinigt und
ins Amt eingesetzt. In V erscheint ein Leuchter mit einer Schale, flankiert von zwei
Ölbäumen, die als der Davidide Serubbabel und der Priester Joschua gedeutet werden.
In VI symbolisiert eine riesige, fliegende Schriftrolle die Wahrheit, die alle Diebe und
Meineidigen überführen wird. In VII ist ein Vorratskrug mit einer darin eingesperrten
Frau Bild für alles Böse, das aus Juda entfernt und nach Babylon geschafft wird. In
VIII erscheinen vier Wagen mit verschiedenfarbigen Gespannen, die in Jhwhs Auftrag
die Welt, namentlich den Norden, aufwirbeln.

Von diesen acht Szenen spielen vier im Himmel bzw. am Himmelstor (I, IV, V,
VIII) und vier auf der Erde (II, III, VI, VII), woraus sich folgender ebenmäßiger
Aufbau ergibt (so LUX):
I (1,7–17) Reiter, Pferde
II (2,1–4) Hörner, Schmiede
III (2,5–17) Messschnur
IV (3,1–10) Joschua
V (4,1–14) Leuchter
VI (5,1–4) Schriftrolle
VII (5,5–11) Frau im Krug
VIII (6,1–8) Pferde, Wagen

Es gibt indes gute Gründe, die Szene IV, die sich nicht wie die übrigen Nachtge-
sichte um einen symbolhaften Gegenstand dreht, aus der Reihe herauszuneh-
men, wodurch eine Siebenerreihe mit noch ebenmäßigerem Aufbau entsteht: Die
Szenen I–III und V–VII bilden sprachlich und sachlich eine doppelte Trias, die
sich um die Mittelszene IV legt: die einzige, in der der Visionär Jhwh selbst
schaut. Die Szenen I und VII, II und VI sowie III und V stehen zueinander in
einem komplementären und reziproken Verhältnis (MEYERS / MEYERS):

I (1,7–17) Reiter, Pferde Universal


II (2,1–4) Hörner, Schmiede Juda/Grossmächte
III (2,5–17) Messschnur Jerusalem
IV (4,1–14) Leuchter Serubbabel und Joschua
V (5,1–4) Schriftrolle Jerusalem
VI (5,5–11) Frau im Krug Juda/Grossmächte
VII (6,1–8) Pferde, Wagen Universal
V. Das Zwölfprophetenbuch 471

Die Visionsberichte durchzieht eine formelhafte Sprache; in allen sieben begeg-


nen die Wendungen „Ich sah/sehe“, „(und) siehe“ sowie die um Aufklärung
bittende Frage des Visionärs: „Was/wo/wohin?“.
Zweimal finden sich eingelagert in die (narrtiven) Visionsberichte ausgedehn-
tere (poetische) Wortpassagen, die das betreffende Gesicht weiter ausdeuten
(2,10–17; 4,6b–10a; 6,9–15). In Kap. 7f. dann folgt eine größere Sammlung pro-
phetischer Orakel. Das erste befasst sich mit der Frage, ob am Gedenktag der
Zerstörung Jerusalems weiterhin gefastet werden solle; die Antwort ist: Nein
(7,1–7; ähnlich 8,18f.; laut LESCOW wäre nur die „Fastentora“ 7,4f. + 8,19a ‚echt‘
von Sacharja). Es schließt sich eine Buß- und Mahnrede an (7,8–14) und an diese
wiederum eine Reihe von Verheißungen für Juda und Jerusalem (8,1–23).
Das Ganze von Sach 1–8 wird durch eine verbindende Phraseologie zusam-
mengehalten, z. B. die Wortereignisformel (1,1.7; 7,1; 8,1.8), die um das Gottes-
epitheton Zebaot erweiterte Botenformel (1,3.4.14.17; 2,12; 3,7; 6,12; 7,9 sowie
zehnmal in Kap. 8) oder das „Ausrufen“ (qr’) der Botschaft (1,4.17; 7,7.13).
Von diesem ersten Teil des Buches (PrSach) hebt sich deutlich ein zweiter ab
(DtSach, Kap. 9–14). Sein prägendes Kennzeichen ist die „Schriftauslegung“,
insofern nicht mehr neue Prophetenworte kreiert, sondern ältere in neue Kon-
texte hinein ausgelegt werden (HO FAI TAI). So erweist sich die „Prophetenüber-
lieferung als eine ruhelose und ‚lebendige‘ Größe“ (SÆBØ). DtSach gliedert sich
wiederum in zwei Unterteile: einen ersten, in dem es noch um geschichtliche
Größen bzw. Völker geht (freilich in typisierter und verrätselter Weise: 9–11),
und einen zweiten, der das Ende der Geschichte und die nachfolgende Voll-
endung in den Blick nimmt (12–14). Auch wenn 12–14 klar jünger ist als 9–11,
ist das Ganze doch durch mannigfaltige interne Bezugnahmen zu einer Einheit
gestaltet, in der sich der Übergang von der Prophetie zur Apokalyptik abbildet
(WILLI-PLEIN).
Innerhalb der beiden Unterteile lassen sich wiederum je zwei Teileinheiten
unterscheiden. Während SÆBØ bei ihrer Festlegung den Kapitelgrenzen folgt (9–
10; 11; 12–13; 14), bestimmt HO FAI TAI präziser: (a) 9,1–11,3, (b) 11,4–16 [17],
(c) 12,1–13,6 [7–9] und (d) 14,1–21. Jede Teileinheit sei als „Fortschreibung“ der
jeweils vorangehenden entstanden. In (a) werden unter dem Eindruck des Ale-
xanderfeldzugs (332 v. Chr.) ältere Verheißungen als noch ausstehend deklariert;
in (b) wird das Negativereignis des samaritanischen Schismas im Licht früherer
Weissagungen beleuchtet; in (c) entschwindet Israel aus dem Gesichtskreis, alles
konzentriert sich – unter der Perspektive von Ez 36–39 – auf die Zukunft Jerusa-
lems und des Tempelkults; in (d) wird für die Völkerwelt eine Vision für die
Endzeit nach dem „Tag Jhwhs“ entwickelt. Nach GÄRTNER wäre dieser Ab-
schlussteil (d) mehr als nur eine Fortschreibung von (c), er hätte eine „buchab-
schließende“ Funktion für das gesamte Zwölfprophetenbuch.
472 D. Die Hinteren Propheten

b) Die Entstehung der Schrift

Die Sach-Schrift entstand in mehreren Schritten über rund drei Jahrhunderte


hinweg.
Der Kern von PrSach ist der Zyklus der (ursprünglich: sieben) „Nachtge-
sichte“. In ihnen werden Themen aufgenommen, die wir (und vielleicht auch der
Autor) aus anderen Prophetenbüchern kennen; zu erwähnen sind hier z. B. Aus-
sagen zu kommendem Heil, fremden Völkern, zur Bedeutung von Priesterschaft
und Tempel, zur Möglichkeit der Reinigung von Sünden, wie sie namentlich bei
DtJes, Jer und Ez begegnen (NURMELA, DELKURT, STEAD). Die Bilderwelt der
Visionen indes nährt sich weithin aus der Bildsprache der altorientalischen Iko-
nographie (vgl. KEEL, UEHLINGER). Offenbar ist diese Welt von Symbolsystemen
von einem visionär begabten Menschen aufgenommen worden, hat sich vor
seinem inneren Auge neu formiert und ist dann fast eruptiv aus ihm hervorge-
drungen (so LUX).
Anlage und Inhalte des Zyklus ermöglichen die Annahme, dass sämtliche
Visionen aus einer einzigen Nacht datieren. In 1,7 wird als Datum dafür der 24.
Tag des 11. Monats des 2. Jahres des Darius benannt. Der Anfang der Regie-
rungszeit dieses Perserkönigs (522–486 v. Chr.) war überschattet durch den Auf-
stand des Magiers Gaumata, in dessen Verlauf an vielen Orten des Riesenreichs
Autonomiebestrebungen aufgeflammt sein dürften. In Juda hoffte man auf die
Restitution des davidischen Königtums unter Serubbabel (vgl. Hag 2,20–23, für
Sach vgl. PETTERSON). Darius’ Sieg über Gaumata machte solchen Erwartungen
ein Ende. Die Hoffnungsbilder des Sacharja könnten ein Gegenmittel gegen die
aufkommende Resignation gewesen sein (LUX). Möglicherweise waren sie ur-
sprünglich an die noch in der Diaspora lebenden Juden gerichtet und forderten
sie zur Heimkehr auf (REDDITT).

Wie für Hag, so entwirft HALLASCHKA auch für PrSach ein recht kompliziertes redak-
tionsgeschichtliches Modell mit angeblich acht Stufen: I (erste Vision, um 519
v. Chr.): 1,8.9a.10.11b; 2,5f.; II (fünf weitere Visionen, um 500): 1,9b.14; 2,7a.8; *4,1–
6.14; 5,1.3; 6,1–8; III (Tempelorakel, Verbindung mit Hag, 5. Jh.): 1,16f.; 2,10a.11.14;
*4,6–10; IV (Nachtgesichte, Perserzeit?): 5,5–11; 2,1–4; 3,1–10; 6,9–15; V (Fastenfrage,
Perserzeit): 7,2f.; 8,18.19a; VI (Heilsorakel, spätpersisch): Datum in 7,1; 8,1–13; VII
(Aufruf zu Umkehr und Gerechtigkeit, persisch/hellenistisch): 1,1–6; 7,7–14; 8,14–
17.19b; 2,20–23; VIII (Heil für die Nationen, hellenistisch): 2,15f.; 6,15a; 8,20–23.

Es fällt auf, dass Sach 7f. viel engere sprachliche und inhaltliche Verbindungen zu
Hag aufweist als Sach 1–6. Das spricht dafür, dass diese beiden Kapitel mit der
Schaffung des Zweiprophetenbuchs Hag/PrSach (siehe oben V.2.c) zu tun haben
könnten. Vermutlich sind sie als Abschluss nicht so sehr von PrSach als der
Doppelschrift Hag/PrSach verfasst worden (so MEYERS / MEYERS, die glauben,
dass die Komposition relativ früh, um 518 v. Chr., entstand, und zwar von der
Hand Sacharjas selbst – dies auch die Meinung WILLI-PLEINs – oder eines ihm
sehr nahe Stehenden).
V. Das Zwölfprophetenbuch 473

LESCOW meint in Sach 7f. einen Fortschreibungsprozess beobachten zu können: ‚Echt‘


sacharjanisch sei eine „Fastentora“ in 7,4f. + 8,19a; diese sei in 7,1–12 + 8,14–19 zu
einer „dtr Fastenpredigt“ ausgeweitet worden; noch einmal später seien drei Heils-
worte (8,2–5 an Jerusalem, 8,6–8 an die Diaspora, 8,9–13 über den Tempelbau) ein-
gefügt worden.

Bei der Schaffung der Doppelschrift Hag/PrSach war ein wichtiges Bindemittel
das chronologische System, das sich von Hag nach PrSach fortsetzt.

– Das erste Datum in Sach (1,1: 8. Monat, 2. Jahr) fällt allerdings aus dem System her-
aus. Ihm fehlt auffälligerweise die Tagesangabe; vor allem aber greift es hinter den in
Hag 2 schon erreichten Zeitpunkt zurück. Nach LUX wäre dies Zeichen einer nach-
träglichen, tertiären Einschaltung des Bußaufrufs Sach 1,2–6, der die Umkehr zu Jhwh
zur Voraussetzung nicht für den Tempelbau, sondern für die weitere Existenz Judas
überhaupt macht. Doch ist nicht ausgeschlossen, dass dieser Konnex schon von der
Hag-Sach-Redaktion hergestellt wurde (WÖHRLE).
– Das schon erwähnte, zweite Datum (1,7: 24. Tag, 11. Monat, 2. Jahr) situiert die
nachfolgenden „Nachtgesichte“ zwei Monate nach dem Tag der Grundsteinlegung
(vgl. Hag 2,10.20), wodurch der Eindruck entsteht, dass der eine Tempelbauprophet
(Hag) den Stab unmittelbar an den zweiten (Sach) weitergegeben habe. Laut LUX gab
es dafür einen handfesten Anlass: Die Verheißung von Hag 2,23 erfüllte sich nicht,
woraufhin sich die Hag-Sach-Redaktion gedrängt fühlte, an die Stelle des (noch) nicht
Geschehenen das von Sacharja (schon) Geschaute zu setzen.
– Die letzte Zeitangabe in Sach (7,1: 4. Jahr, 9. Monat, 4.Tag) – für HALLASCHKA Teil
seiner Redaktionsstufe VI – führt mitten in die Tempelbauzeit hinein und erklärt so
Sacharjas Empfehlung, nicht weiter um den Ersten Tempel zu trauern (7,2–7), fak-
tisch mit dem Fortschritt der Bauarbeiten am Zweiten.

Noch einmal später könnte die Szene von der Investitur Joschuas (3,1–10 – laut
HALLASCHKA auf Stufe IV seines Modells eingetragen) in die Serie der Nachtge-
schichte eingefügt worden sein. Es geht in ihr um mehr als nur um die Amtsein-
führung eines Hohenpriesters; vielmehr nimmt dieser auch königliche Züge an
(in Ablösung des aus dem Bild verschwundenen Serubbabel) und steht für den
gesamten Sühnekult am Zweiten Tempel (POLA).
Die Datierung (der einzelnen Teile) von DtSach ist umstritten.

– Es sei noch einmal an die zeitliche Einordnung durch STECK (vgl. oben V 2 e) erin-
nert, der freilich die Grenzen der Teileinheiten etwas anders zieht, als oben mit neue-
ren Forschungen vorgeschlagen:

Sach 9 Gericht für Jonien, Heil für Israel nach 333


Sach 10 Gericht an Seleukiden und Ptolemäern, Rettung Ende 4. Jh.
Israels
Sach 11–13 Gericht an Israel, Läuterungsgericht in Juda und nach 300
Jerusalem
Sach 14 Verschonung von Juden und Nichtjuden im Endge- 240–220
richt
474 D. Die Hinteren Propheten

– Nicht ganz unähnlich datiert HO FAI TAI 9,1–11,3 und 11,4–16 noch ins späte 4. Jh.,
während die beiden Einheiten in Sach 12–14 sukzessive wohl im 3. Jh. hinzu kamen.
– KUNZ gelangt für die von ihm untersuchten Teile von Sach 9f. zu wesentlich späte-
ren Ansätzen: Das Bild von dem nicht durch Waffen, sondern von Gott geschützten
Messias von 9,1–10 sei ein Gegenbild zur Herrscherverehrung des Antiochus III.
(223–187 v. Chr.) und datiere vom Ende des 3. Jh.s. In die Zeit kurz vor Ausbruch des
Makkabäeraufstands 165 v. Chr. führe 9,11–17, in die Zeit kurz danach 10,3–12. Wäre
das richtig, ahnte man, wie spät Sach 12–14 zu liegen kämen – und hätte anzunehmen,
dass zu dem von Sirach (Anfang des 2. Jh.s) erwähnten Zwölfprophetenbuch (Sir
49,10) PrSach und Mal, nicht aber DtSach gehörten: eine nicht eben wahrscheinliche
Annahme.
– Demgegenüber hält FISTILL nur einzelne Passagen innerhalb von Sach 12–14 für
promakkabäische Nachträge: 12,*1.2.6f.; 12,10–13,1; 13,2f.*7; 14,*7.9.19.

Wenn DtSach in einer Reihe sukzessiver Fortschreibungen entstanden ist, dann


scheint es am plausibelsten, die relativ frühesten Einheiten (in Sach 9–11) mit
dem Vordringen der Griechenherrschaft Ende des 4. Jh.s in Verbindung zu brin-
gen und die jüngeren (in Sach 12–14) ins 3. Jh., also in die Zeit der Ptolemäer-
herrschaft, anzusetzen.

c) Der Prophet

DtSach ist eine von mehreren Händen stammende, anonyme schriftgelehrte


Prophetie, hinter der sich kein prophetisches Individuum ausmachen lässt. An-
ders bei PrSach, insbesondere bei den „Nachtgesichten“. Auch wenn diese zu
einer kunstvollen Komposition ausgestaltet sind, steht hinter ihnen doch unver-
kennbar das visionäre Erleben einer bestimmten Person. Es besteht kein Grund
zu zweifeln, dass es sich dabei um den in 1,1.7 vorgestellten Sacharja ben Be-
rechja ben Iddo handelt. Von ihm haben wir Kenntnis auch aus anderer literari-
scher Quelle. In Neh 12,1–9 findet sich eine Auflistung von Priestern und Levi-
ten, die unter der Führung Serubbabels und Joschuas (eben der Zentralfiguren
der vierten Vision!) aus Babylonien nach Juda zurückkehrten. In der Folge erfah-
ren wir, dass Joschuas Sohn und Nachfolger im Hohenpriesteramt Jojakim ge-
heißen habe (Neh 12,10), und dann, welche Oberhäupter von Priesterfamilien
unter ihm Dienst getan hätten – unter ihnen Sacharja aus dem Geschlecht Iddos
(Neh 12,16). In Esr 5,1; 6,14 wird Sacharja ben Iddo neben Haggai als ein Pro-
phet bezeichnet, der den Tempelbau wesentlich vorangetrieben habe (vgl. die
Erwähnung der Grundsteinlegung für den Tempel in Sach 6,9 und 8,9f.).
Fügt man all dies zusammen, ergibt sich folgendes Porträt: Sacharja stammte
aus priesterlichem Haus, kehrte mit Serubbabel von Babylon nach Jerusalem
zurück, wirkte dort als Prophet, amtete aber auch als Priester am neu errichteten
Tempel. Seine Prophetie bewegt sich teilweise in gewohnten Bahnen (vor allem
in Sach *7f.), teils aber auch in sehr ungewöhnlichen: Eine Serie nächtlicher
Visionen voller Symbolbilder, die von einem angelus interpres noch gedeutet
V. Das Zwölfprophetenbuch 475

werden müssen, begegnet einzig hier in der prophetischen Literatur, wird dann
aber formgebend für die Apokalyptik.
Anscheinend war Sacharja ein jüngerer Zeitgenosse Haggais (POLA). Dessen
Anliegen – das Voranbringen des Tempelbaus unter führender Beteiligung des
Davididen Serubbabel – teilt er, doch zeigen die auf ihn zurückzuführenden
Texte einen weiteren Horizont und vielfältigere Interessen. Er tastet die weltweite
persische Ökumene nach Anzeichen heilvoller Bewegung ab (Nachtgesichte I
und VII), er sucht nach dem Ort Judas in der Völkerwelt (II und VI) und er er-
strebt eine Integration der Rückwanderer in Jehud (III und V). Sacharja ist ein
Prototyp der in die Heimat zurückkehrenden Golajuden, die der persischen
Provinz Jehud wesentlich ihr Gepräge gaben, indem sie an Früheres anknüpften
und es doch den neuen Gegebenheiten anpassten. Das gilt für soziale und politi-
sche Größen – Jerusalem und Tempel, Priesterschaft und Davidshaus – genauso
wie für geistig-geistliche: Sacharja ist Priester und Prophet zugleich – wie vor
ihm Jeremia oder Ezechiel –, doch ist er nicht mehr Zeitzeuge des Untergangs,
sondern Promoter des Neuanfangs. Seine Prophetie nährt sich weitgehend aus
derjenigen des 6. Jh.s – Jer, Ez, DtJes –, verstärkt aber deren visionäres Element
und nimmt zudem die orientalische Symbolwelt in sich auf. So wird er zum tra-
ditionalistischen Neuerer auf der Schwelle zu einem neuen Zeitalter.

14. Maleachi
Einzelkommentare: T. LESCOW, Das Buch Maleachi. Texttheorie – Auslegung – Kanontheorie, 1993
(AzTh 75). – A. E. HILL, 1998 (AncB). – A. MEINHOLD, 2006 (BK.AT).
Zu Kommentarreihen siehe oben bei V.
Einzeluntersuchungen: S. L. MCKENZIE / H. N. WALLACE, Covenant Themes in Malachi: CBQ 45
(1983), 549–563. – H. UTZSCHNEIDER, Künder oder Schreiber? Eine These zum Problem der
„Schriftprophetie“ auf Grund von Maleachi 1,6–2,9, 1989 (BEATAJ 19). – E. BOSSHARD / R. G.
KRATZ, Maleachi im Zwölfprophetenbuch: BN 52 (1990), 27–46. – A. MEINHOLD, Zustand und
Zukunft des Gottesvolkes im Maleachibuch, in: Ders. / R. Lux (Hg.), Gottesvolk, FS S. Wagner, Berlin
1991, 175–192. – M. KRIEG, Mutmaßungen über Maleachi. Eine Monographie, 1993 (AThANT 80). –
A. MEINHOLD, Die theologischen Vorsprüche in den Diskussionsworten des Maleachibuches, in: P.
Mommer u. a. (Hg.), Gottes Recht als Lebensraum, FS H. J. Boecker, Neukirchen-Vluyn 1993, 197–
209. – T. HIEKE, Kult und Ethos. Die Verschmelzung von rechtem Gottesdienst und gerechtem
Handeln im Lesevorgang der Maleachischrift, 2006 (SBS 208). – R. KESSLER, Strukturen der Kommu-
nikation in Maleachi, in: L. Jonker u. a. (Hg.), Behutsames Lesen, FS C. Hardmeier, Leipzig 2007
(Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 28), 232–244. – S. LAUBER, Das Buch Maleachi als litera-
rische Fortschreibung von Sacharja? Eine Stichprobe: Bib. 88 (2007), 214–221. – R. KESSLER, Maleachi
– ein dramatisches Gedicht, in: S. Gehrig / S. Seiler (Hg.), Gottes Wahrnehmungen, FS Helmut
Utzschneider, Stuttgart 2009, 160–176.

a) Der Aufbau der Schrift

Mal ist eine ausgesprochene Diskussionsschrift. Begegnet die Gattung „Diskus-


sionswort“ auch sonst gelegentlich in Prophetenschriften (etwa bei DtJes), so
476 D. Die Hinteren Propheten

prägt sie hier – abgesehen von einer offensichtlich redaktionellen Rahmung –


den gesamten Text. In sechs (nach manchen: sieben) Gesprächsgängen wird eine
Reihe seinerzeit offenbar dringender Probleme diskutiert (zwischen denen es
gelegentlich zu Überschneidungen und Variationen kommt):
– I. Ist Israel noch Jhwhs auserwähltes Volk? Besitzt es noch einen Vorrang z. B.
vor dem Brudervolk der Edomiter? (1,2–5)
– II. Erfüllt der Tempelkult noch seinen Zweck? Haben sich im Opferdienst
Missstände breitgemacht, die seine Wirksamkeit beeinträchtigen? (1,6–2,9)
– III. Wie sind gewisse gesellschaftliche Entwicklungen zu beurteilen? Dürfen
etwa Männer ihre Ehe auflösen und andere, womöglich nichtjüdische Frauen
nehmen? (2,10–16)
– IV. Wie ist damit umzugehen, dass nicht in erster Linie Gottesfürchtige durch
Erfolg belohnt werden, sondern gerade solche, die sich um Gott und Moral nicht
scheren? (2,17–3,5)
– V. Kann angesichts der unentwegten Treulosigkeit Israels auf die unwandel-
bare Treue Jhwhs zu seinem Volk und Land gerechnet werden? (3,6–12)
– VI. Ist Treue gegen Gott nicht letztlich doch vergeblich? Haben die Treulosen
nicht mehr Glück? Nimmt Gott vom Geschick der Seinen überhaupt Notiz?
(3,13–21)
Der Aufbau der verschiedenen Diskussionsworte ist – ungeachtet ihrer wech-
selnden Länge – im Prinzip immer gleich. Am Anfang steht jeweils eine Fest-
stellung von Seiten Gottes oder des Propheten, die das nachfolgend behandelte
Thema anschlägt. Es folgt eine Widerrede seitens der (gedachten) Adressaten.
Diese wird dann mehr oder weniger ausführlich widerlegt, wobei sich gelegent-
lich die Adressaten nochmals mit Einwänden zu Wort melden. Am Ende kann
das alle befriedigende Ergebnis festgestellt werden.

Die ersten beiden Aufbauglieder seien hier im Einzelnen aufgeführt:

Nr. Göttliche/prophetische Feststellung Einwand der Adressatenschaft


I. Ich habe euch geliebt. Wie hast du uns geliebt?
II. Wenn ich Vater bin, wo ist meine Wie haben wir deinen Namen geringge-
Ehre, wenn ich Herr bin, wo ist Furcht schätzt?
vor mir?
III. Haben wir nicht alle denselben Vater, Warum handeln wir treulos, ein jeder an
hat nicht ein und derselbe Gott uns seinem Bruder, und entweihen den
geschaffen? Bund unserer Väter?
IV. Mit euren Worten ermüdet ihr Jhwh. Womit haben wir ihn ermüdet?
V. Ich, Jhwh, habe mich nicht verändert. Womit haben wir dich betrogen?
Ihr aber seid abgewichen von meinen
Satzungen.
VI. Heftig waren eure Worte gegen mich. Was haben wir gegen dich geredet?

Die Schrift macht formal, aber auch inhaltlich einen geschlossenen Eindruck.
Viele betrachten und behandeln sie deshalb als literarische Einheit (z. B. KESSLER,
V. Das Zwölfprophetenbuch 477

HIEKE, WILLI-PLEIN). Andere sind, etwa aufgrund der unterschiedlichen Länge


der Redegänge oder gewisser innerer Inkonsistenzen in der Argumentation, der
Ansicht, der Text sei nicht aus einem Guss.

Wenn dem im Folgenden nachgegangen wird, sollte die Warnung WILLI-PLEINs im


Ohr bleiben, dass die Unterscheidung zwischen einem angeblichen Grundmuster und
angeblichen Ausweitungen der Diskussionsworte mangels klarer Gattungskriterien
letztlich nur aus Mal selbst gewonnen werden kann, womit dann aber Zirkelschlüsse
drohen.

b) Die Entstehung der Schrift

Mehrere neue Entwürfe stimmen in der grundlegenden Annahme überein, dass


in Mal eine Grundschicht von späteren Zutaten zu unterscheiden sei. Die Einzel-
abgrenzungen und Datierungen gehen freilich recht weit auseinander.

LESCOW rechnet einer „Grundschrift“ sechs „Torot“ zu, die jeweils als „kommunikati-
ves Handlungsspiel“ (in Gestalt von Zitaten, Repliken, Debatten) und nach dem sog.
„Stufenschema“ (einer prinzipiellen Dreiteiligkeit: A/B/C) gestaltet sind. Auch die Ge-
samtschrift ist als Dreischritt gestaltet. Im Einzelnen: A) Einleitung: 1,2a/2b.3a./4;
B) Vier „Konkretionen“: (1) 1,6.7b.8a./10b;/2,3a.9a; (2) 2,10b.14a/14b/16a; (3) 2,17;
/3,1a./5; (4) 3,6.7b./10aα./11; C) Schluss: 3,13.14a.15a./18./20a.21. Diese Grundschrift
sei „von vornherein literarisch konzipiert und anonym verfaßt“ gewesen. Entstanden
sei sie um 480 v. Chr. in levitischen Kreisen, die von dtn-dtr Denken geprägt waren.
Um 450 dann wurde der Grundbestand umgestaltet zu einer „Themapredigt“, und
diese sei später wiederum „kommentiert“ und am Ende noch einmal „glossiert“ wor-
den. Ganz am Schluss kam ein „redaktionelles Rahmenstück“ hinzu, das die Einglie-
derung der Schrift in das Corpus Propheticum und auch in das Dodekapropheton
bewirkte (1,1; 3,22–24).
Zeitgleich mit LESCOW legte KRIEG einen ganz andersartigen Entwurf vor. Er unter-
scheidet „nur“ zwei Schichten, die er beide in die hellenistische Zeit datiert. Die
frühere, mit etwa zwei Dritteln des Textbestands, wurde zwischen 250 und 200 ver-
fasst – möglicherweise von dem Hohepriester Sim(e)on II., „dem Gerechten“. Bald
nach dessen Tod (192 v. Chr.) enstand in hasidäischen Kreisen die Ergänzungsschicht.
Die Grundschicht war laut KRIEG ein „Siebenwort“: (1) 1,2–5; (2) 1,6a.7b.9.10; 2,1.2a;
1,*14b; (3) 1,14a.*b.7a.12b.13a.8a.13b; 2,3; 1,11a; (4) 2,7a.5.6.11a.14a.10.14b.15b.16a;
(5) 2,15a.17; 3,1f.5b; (6) 3,13–16a.19–21.18a; (7) 3,6.*7a.8–12. Sichtlich leidet diese
Rekonstruktion an den zahlreichen, nie je beweisbaren Versumstellungen. Dies und
die sehr gewagte Datierung haben eine geringe Rezeption dieses Entwurfs bewirkt.
MEINHOLDs Vorgehensweise ist bedeutend behutsamer. Nach seinen Analysen wurde
eine aus fünf (nicht sechs oder sieben!) Diskussionsworten bestehende Grundschicht
mehrfach überarbeitet: freilich nicht in durchgehenden Redaktionsschichten, sondern
punktuell und sukzessive. Die aus der 1. Hälfte des 5. Jh.s stammenden Grundworte
waren: (1) 1,2–5; (2) 1,6–8a + 2,1.9a; (3) 2,10.14–16; (4) 2,17 + 3,1a.5; (5) 3,6–12. Die
Fortschreibungen bestimmt und datiert MEINHOLD wie folgt: 3,1b–4 kam um die
Mitte des 4. Jh.s hinzu, 1,11–13.14b gegen Ende der Perserzeit, 2,17–3,5 sowie 3,13–21
zwischen Ende des 4. und Mitte des 3. Jh.s. Die Überschrift 1,1 habe (nicht vor Ende
der Perserzeit) Mal zur Abschlussschrift des Dodekapropheton gemacht, der Schluss-
478 D. Die Hinteren Propheten

passus 3,22.23f. (in der 2. Hälfte des 3. Jh.s) zum Abschluss des gesamten Propheten-
kanons.
Nach BOSSHARD / KRATZ hätten nur drei Diskussionsworte zur Grundschicht gezählt
(1,2–5; 1,6–2,9; 3,6–12), zwei weitere hingegen zu einer Überarbeitungsschicht (2,17–
3,5; 3,13–21), der Rest (darunter 2,10–12 sowie 1,1 und 3,22–24) zur Schlussschicht.
Die Besonderheit dieser Arbeit ist, dass sie Verbindungen von den einzelnen Schich-
ten zu Texten außerhalb von Mal zieht: Die Grundschicht habe ursprünglich unmit-
telbar an Sach 1–8 angeschlossen und die Mangelerfahrungen der nachexilischen Zeit
mit den hochfliegenden Erwartungen von Haggai und Sacharja in Ausgleich bringen
wollen; die Überarbeitungsschicht reagiere zusammen mit Sach 14 auf Sach 9–13 und
die dort diskutierten Antagonismen innerhalb Israels wie auch der Völkerwelt; die
Schlussschicht beziehe Mal ins Dodekapropheton und ins Corpus Propheticum ein.
(LAUBER macht gegen diese Sicht beachtliche Einwände geltend: etwa, dass die be-
haupteten literarischen Anklänge nicht spezifisch genug seien oder dass Mal mit Sach
14 strukturell nichts gemein habe.)

Einmütigkeit besteht immerhin darin, dass die Überschrift 1,1 und der Abschluss
3,22–24 (vielleicht in zwei Schritten: 3,22 und 3,23f., so MEINHOLD) der Schrift
nachträglich zugesetzt wurden. Diese redaktionelle Rahmung leistet Mehreres:
1,1 bindet Mal in die prophetische Tradition Israels ein. Als „Lastspruch“ (‫)משׂא‬
werden auch anderwärts Prophetenworte gekennzeichnet (z. B. Jes 13,1; 15,1;
17,1; 19,1; 22,1; Nah 1,1), als „Wort Jhwhs“ (‫)דבר יהוה‬, das „durch“ (‫ )ביד‬einen
Propheten ergeht, gleichfalls (z. B. 1Kön 16,12; 17,16; 2Kön 24,2). 3,23 nimmt
Bezug nicht nur auf Elija, eine zentrale Gestalt aus den Vorderen Propheten,
sondern mit dem „Tag Jhwhs“ auf ein im Dodekapropheton immer wieder auf-
klingendes Leitthema. 3,22 ist ein fast wörtliches Zitat aus Jos 1,7, also dem An-
fang des Corpus Propheticum. Mit der Rahmung wird also Mal dezidiert zur
Prophetenschrift, und zwar derjenigen, die das Zwölfprophetenbuch komplet-
tiert und gar den Kanonteil Nebi’im abschließt. Es ist klar, dass wir uns hier im
hellenistischen Zeitalter befinden.
Was den großen Rest von Mal anlangt, kommt die Forschung (abgesehen von
vereinzelten Ausnahmen: KRIEG) darin überein, dass zumindest eine Grundfas-
sung, wenn nicht faktisch schon die Endfassung der Diskussionsworte auf die
(frühe?) Perserzeit zurückgeht. Dafür lässt sich eine Reihe von Argumenten gel-
tend machen. Die harten Aussagen über die Zerstörung Edoms in 1,3f. setzen
wohl nicht nur das Vorgehen des letzten Babylonierkönigs Nabonid (556–539)
gegen diesen ostjordanischen Kleinstaat, sondern auch das anschließende Vor-
dringen der Nabatäer in die edomitischen Stammlande voraus. In 1,8 ist von
einem (persischen) „Statthalter“ Judas (‫ )פחת‬die Rede – wie auch in Esr 6,7. Die
Diskussion des Themas „Mischehen“ in 2,11f. erreicht noch nicht die Schärfe
von Esr 10. Die Vorwürfe gegen einen laxen Kultdienst in 1,6ff. deuten auf eine
routinemäßige Nachlässigkeit, die sich in den Betrieb des 515 eingeweihten
Zweiten Tempels eingeschlichen zu haben scheint. Die hohe Wertschätzung der
Leviten (2,4.8) ist kennzeichnend für das nachexilische Zeitalter.
V. Das Zwölfprophetenbuch 479

UTZSCHNEIDER stellt in seiner Studie zu Mal 1,6–2,9 Rückgriffe auf Texte aus allen Ka-
nonteilen fest, nämlich auf Gen 32f.; Num 25; Dtn 15,20f.; 1Sam 2,31; Ez 36; 44; Ps
113,3f.; Neh 9,32. Die Bezüge bestehen in Stichwortanklängen, nicht in eigentlichen
Auslegungen, anders: die älteren Texte werden zur Stützung der eigenen Argumenta-
tion benützt. Dies weist von vornherein auf Schriftlichkeit der Textgenese (UTZ-
SCHNEIDER spricht von „prophetischen Schreibern“). Eine scheinbar auf Mündlichkeit
verweisende Sprachform wie die Botenformel ist bei Mal nur mehr „Stilelement“. In
der Datierung der Schrift legt sich UTZSCHNEIDER nicht fest; ihm erscheinen Einord-
nungen zwischen dem 5. und dem 2. Jh. als denkbar.

c) Der Prophet

Die Überschrift scheint mit ihrer Formulierung klarmachen zu wollen, dass


Mal’achi, „durch den“ das „Wort Jhwhs an Israel“ erging, eine prophetische
Gestalt war. Sein Name wäre ein sog. Vertrauensname („Mein [schützender]
Engel [ist Jhwh]“). Unmöglich ist es nicht, dass ein Mann dieses Namens hinter
den Diskussionsworten von Mal steht. Er wäre dann ins Jerusalem des 5. Jh.s
anzusetzen. Vermutlich hätte man ihn priesterlichen, eher noch: levitischen
Kreisen zuzurechnen. Gestützt auf ältere, namentlich prophetische Tradition
hätte er eine Diskussionsschrift zu damals drängenden Fragen verfasst. Die von
ihm gefundenen Antworten zeigten das Profil eines konventionell-frommen,
national gesinnten Mannes, der auf gesellschaftliche und religiöse Entwicklungen
seiner Zeit sensibel reagierte, im Volk umlaufende Besorgnisse und Ansichten
aufmerksam registrierte, sich um zeitgemäße Antworten wie um das Einver-
ständnis seiner Adressatenschaft bemühte. Dieser Mal’achi wäre einer der Kon-
strukteure bzw. Restauratoren des sich im nachexilischen Jehud herausbildenden
jüdischen Selbstverständnisses gewesen.
Freilich gibt es von einem Propheten Mal’achi – anders als etwa von Haggai
oder Sacharja – außer jenem knappen Hinweis in 1,1 keinerlei Kunde. Und an-
ders als bei diesen beiden zeigte auch die nach ihm benannte Schrift keine
typisch prophetischen Konturen, sondern die eines eher zurückgezogenen, nach-
denklichen Schriftstellers: eines Typus von „Schriftprophet“, wie man ihn eher
unter den späteren Redaktoren von Prophetenschriften erwarten würde. So legt
sich für Mal 1,1 eine andere als die biographische Erklärung nahe. Das Wort
„Mal’achi“ begegnet als Bezeichnung oder Titel („Mein Bote“) noch zwei- bzw.
dreimal in der Schrift: In 2,7 wird so „der Priester“ genannt, der vor Gott Ver-
antwortung für die rechte Auslegung der Tora trägt. In 3,1 sagt Gott: „Siehe, ich
sende meinen Boten“ (‫)מלאכי‬, den „Boten des Bundes“ (‫)מלאך־הברית‬, um ihm,
Gott, den Weg zu bereiten. Dies ist eine geheimnisvoll-verheißungsvolle Antwort
auf die in 2,17 gestellte Theodizee-Frage („Wo ist der Gott des Rechts?“): Der
„Bote“ bzw. er selbst, Gott, werde kommen, um Recht zu schaffen in seinem
Volk. Durch die Überschrift 1,1 nun wird die Mal-Schrift als das durch den „Bo-
ten“ und Propheten „Mal’achi“ ergangene Wort Gottes an Israel gedeutet. Auf
diese Weise wird im Grunde die Eschatologie von 3,1 präsentisch. Andererseits
480 D. Die Hinteren Propheten

bleibt durch die Beifügung von 3,23 (Elija als Vorbote des Tages Jhwhs) ihre
futurische Dimension gewahrt.
E. Die Ketubim
(Hans-Peter Mathys)

I. Einführung

Während die Anordnung der Bücher im Pentateuch feststeht (keine andere sein
kann) und in den (hinteren) Propheten nur geringfügig schwankt, variiert die
Reihenfolge innerhalb der Ketubim zum Teil beträchtlich. Durchgesetzt hat sich
in modernen Ausgaben die des Kodex Leningradenis (Firkovitch) – mit einer
gewichtigen Änderung: Die Chronik nimmt in diesem getreu palästinensischer
Tradition die Spitzenstellung ein, in BHK/BHS steht sie am Schluss, was babylo-
nischer Tradition entspricht. Der Talmudtraktat Baba Bathra Fol. 14b, der eine
kürzere Diskussion zur Reihenfolge der Bücher im zweiten und dritten Kanonteil
enthält, bietet folgende Reihenfolge: Rut, Psalmen, Hiob, Sprüche, Kohelet, Das
Hohelied, Klagelieder, Daniel, Ester, Esra (schließt Nehemia ein), 1/2 Chronik.
Hiob und Sprüche tauschen gelegentlich noch die Plätze.

Die poetischen Texte des Alten Testaments


K. BUDDE, Das hebräische Klagelied: ZAW 2 (1882), 1–52. – E. KÖNIG, Stilistik, Rhetorik, Poetik in
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SEYBOLD, Poetik der prophetischen Literatur im Alten Testament, Stuttgart 2010. – J. LUCHSINGER,
Poetik der alttestamentlichen Spruchweisheit (Poetologische Studien zum Alten Testament 3),
Stuttgart 2010.

Ein Teil der Ketubim (wie auch der hinteren Propheten) besteht ganz oder aus-
schließlich aus poetischen Texten. Deshalb ist hier kurz auf die Eigenheiten alt-
testamentlicher Poesie einzugehen.
482 E. Die Ketubim

Nach Aristoteles’ klassischer Definition (Poet. 1447a, 21f.) zeichnet sich Poesie
aus durch τὴν μίμησιν ἐν ῥύθμῳ καὶ λόγῳ καὶ ἁρμονίᾳ, also durch Rhythmus,
Sprache (Wort) und Metrum.
Das Alte Testament selbst hat keinen Begriff für das, was bei den Griechen
unter Poesie fällt – und folglich auch keine Kennzeichen einer solchen. Die Sache
freilich ist ihm nicht fremd: Es kennt Gattungsbegriffe (Lied, Psalm, Spruch
usw.) und – womöglich noch gewichtigeres Indiz – die vers- und strophenweise
Anordnung von poetischen Texten (Psalmen) in den Texten von Qumran, also
in den ältesten biblischen Handschriften. In die gleiche Richtung weist mög-
licherweise Sir 44,5 (Massada-Handschrift: ‫וק לע‬, LXX: μέλη μουσικῶν). Griechi-
sche Fachausdrücke tauchen dann bei Josephus und Philo auf, also in Texten aus
dem 1. Jh. n. Chr. Nach Ant. II,346 verfasste Mose nach der Rettung am Schilf-
meer ein Lied ἐν ἑξαμέτρῳ τόνῳ, im Versmaß des Hexameters, und Hexameter
soll er nach Ant. IV,303 auch für Dtn 32 verwendet haben. Der von der Last der
Kriegsführung befreite David begann Lieder und Hymnen zu verfassen, und
zwar in unterschiedlichen Metren (μέτρου ποικίλου), einige in Trimetren, andere
in Pentametern (Ant. VII,305). Wie der Hexameter bei den Griechen Epen, ins-
besondere der Ilias und der Odyssee, vorbehalten ist, also den hervorragendsten
ihrer Dichtwerke, so unter den alttestamentlichen Autoren Mose; David muss
sich mit weniger begnügen. Kanonstheologisch ausgewertet: Der Pentateuch ist
mehr als der Psalter, Mose steht über David.
Die poetischen alttestamentlichen Texte par excellence sind die Psalmen,
Sprüche und Hiob sowie Klagelieder und ein Teil der prophetischen Literatur.
Weiter finden sich Psalmen zerstreut über alle Kanonteile; oft gehören sie zu
jungen redaktionellen Schichten und bilden die interpretierende – vor allem
dankbare – Antwort auf berichtetes Geschehen.
Die Eigenart der alttestamentlichen Poesie lässt sich – außer durch den gleich
zu behandelnden „Parallelismus membrorum“ – vor allem negativ fassen: Sie
kennt keine festen Versmaße und nur ganz wenige Endreime, fast keine Stab-
reime. Einen Endreim (zugleich ein Wortspiel mit der unterschiedlichen Bedeu-
tung von ‫ אמן‬in Hif‘il und Nif‘al) enthält Jes 7,9: ‫„( אִם לֺא תַ ֲאמִינוּ כִּי לֺא תֵ אָמֵנוּ‬Glaubt
ihr nicht, so bleibt ihr nicht.“)
Strophenbildung, im Alten Testament am besten an Refrains zu erkennen,
kommt auch eher selten vor; sie ist nicht gleich streng wie etwa bei deutschen
Gedichten. Refrains finden sich in Ps 42f. („Was bist du so gebeugt, meine Seele,
und so unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihn wieder preisen, ihn,
meine Hilfe und meinen Gott“; 42,6.12; 43,5); Ps 46 („Der Herr der Heerscharen
ist mit uns, eine Burg ist uns der Gott Jakobs. Sela“; V. 8.12; vielleicht auch in
V. 4 einzufügen); Ps 80 („Gott [der Heerscharen], lass uns zurückkehren, und
lass dein Angesicht leuchten, so ist uns geholfen“; V. 4.8.15.20); Ps 107 („Preisen
sollen sie den Herrn für seine Gnade und für seine Wunder an den Menschen“;
V. 8.15.21.31).
I. Einführung 483

Viele poetische Texte zeichnen sich durch eine gehobene Sprache aus; Artikel
und Relativpronomen fehlen häufig. Der Poesie steht – von ihr oft nur schlecht
abzuheben – die sog. „Kunstprosa“ nahe.
Zwei Faktoren erschweren die – eh schwierige – Erhebung von Metren in den
Psalmen zusätzlich: 1) Viele unter ihnen sind im Laufe ihrer Überlieferung stark
überarbeitet, „zerschrieben“ worden, liegen also nicht mehr in ihrer ursprüngli-
chen Gestalt vor, in der sie im Tempelgottesdienst zur Aufführung gelangten.
2) Das Hebräische entwickelte sich im Verlauf der Geschichte stark weiter (vgl.
etwa ursprüngliches *malku/i/a [Nominativ, Genetiv, Akkusativ] respektive
*malk mit der im Kodex Leningradensis belegten Form mäläk (‫ ֶמלְֶך‬für „König“).
Während dem zweiten Faktor praktisch nie Rechnung getragen wird, dient der
erste gelegentlich dazu, metri causa (des Metrums wegen) größere oder kleinere
Teile eines Psalmes als spätere Ergänzung auszuscheiden oder im Gegenteil
Textausfall zu postulieren.
Dass es so etwas wie Metren gegeben haben muss, zeigen u. a. Untersuchun-
gen zu poetischen Texten aus Ägypten, dem Zweistromland und, für Israel be-
sonders aufschlussreich, aus Ugarit.
In der Forschung standen und stehen einander zwei Modelle gegenüber: das
akzentuierende und das alternierende; die Theorie, das zweite habe im Verlauf
der Geschichte das erste abglöst, setzte sich nicht durch, auch wenn mit histori-
schen Entwicklungen gerechnet wird.
Das akzentuierende System, zu dem LEY und BUDDE Beiträge lieferten und
dessen umfassende Erarbeitung durch SIEVERS erfolgte, beruht auf folgenden
Prämissen und Postulaten: Grundlegend für den hebräischen Rhythmus ist der
Akzent (die Akzentuierung), wobei metrische und grammatische Betonung zu-
sammenfallen.
Der wichtigste Versfuß im Hebräischen hat zwei unbetonte und eine betonte
Silbe (++’, „Anapäst“). Die Zentralstellung dieses Versfußes hängt zentral damit
zusammen, dass die hebräischen Wörter meist auf der letzten (ultima), respek-
tive vorletzten (paenultima) Silbe betont werden.
Die Zeilen (Kola) eines Psalms / Gedichts / Sprichwortes bestehen nach SIE-
VERS nun (meist) aus Zweiern, Dreiern sowie Doppelzweiern und -vierern. Pfer-
defuß dieses Ansatzes: Die Zahl der unbetonten Silben ist nicht fest, sondern
schwankt zwischen 0 und 3; es kann also nicht von Anapästen im strengen Sinn
des Begriffs gesprochen werden, sondern nur vom anapästischen Charakter des
hebräischen Verses. In diesem System können auch zwei betonte Silben auf-
einanderstoßen (Synkope).
Das alternierende System geht von einem strengen Wechsel einer unbetonten
und einer betonten Silbe aus, was in etwa dem griechischen Versfuß „Jambus“
enspricht: +’ (Grundform), Nebenformen: ’+, ++’. Für dieses System spricht vor
allem die Dreiradikalität der hebräischen Verben, die häufig mit Zweisilbigkeit
der von ihnen aus gebildeten Wörter (insbesondere Nomen) einhergeht. Zudem
wird dieses System dem Nebenton gerechter, den die Masoreten durch Meteqset-
zung postulieren.
484 E. Die Ketubim

Auf der Grundlage dieser beiden Systeme ergeben sich vielfältige Variationen.
Die meisten hebräischen Verse bestehen aus zwei Hemistichen (Halbver-
se, -zeilen). Als Methoden, um sie deutlich voneinander abheben zu können,
dienen in neuerer Zeit Stichometrie (Silbenzählung) und Kolometrie (Konso-
nantenzählung). Entwickelt hat diese Verfahren LORETZ am Beispiel der ugariti-
schen poetischen Texte. Ihnen liegt folgende Annahme zugrunde: Zwischen der
Anzahl an Silben / Konsonanten der zwei Hemistichen eines Verses besteht ein
ungefähres Gleichgewicht.
Das hervorstechende Merkmal der alttestamentliche Poesie (in Abgrenzung
von deutscher, französischer etc.) besteht im sogenannten Parallelismus mem-
brorum, der im Alten Orient weitverbreitet ist und insbesondere die Texte von
Ugarit prägt, die zwar nicht zeitlich, aber geographisch-kulturell den alttesta-
mentlichen Texten am nächsten stehen und mit ihnen verglichen werden kön-
nen.
Die – überraschend späte – Entdeckung des „parallelismus membrorum“,
angebahnt durch den jüdischen Gelehrten AZARJA DEI ROSSI aus Mantua (1511–
1578), geht zurück auf Robert LOWTH (1710–1787). Er verwendet die feste Ver-
bindung „parallelismus membrorum“ allerdings nicht. Seine nach wie vor noch
nicht überholte Definition des parallelismus membrorum lautet wie folgt: „The
correspondence of one Verse, or Line, with another, I call Parallelism. When a
Proposition is delivered, and second is subjoined to it, or drawn under it,
equivalent, or contrasted with it, in Sense; or similar to it in the form of
Grammatical Construction; these I call Parallel Lines; and the words, or phrases,
answering one to another in the corresponding Lines, Parallel Terms. Parallel
Lines may be reduced to Three Sorts; Parallels Synonymous, Parallels Antithetic,
and Parallels Synthetic.“ Nachdem LOWTHs Erkenntnis die längste Zeit nur
(höchstens) mit leichten Modifikationen weitergegeben wurde, entwickelte sich
die Parallelismusforschung in jüngster Zeit geradezu explosionsartig weiter: In
die Untersuchung werden neben Texten neu auch Bilder einbezogen; die Ent-
deckung, dass der Parallelismus auch zu den integrierenden Merkmalen etwa
chinesischer Literatur gehört, beraubt die altorientalischen Literaturen diesbe-
züglich ihrer Sonderstellung, die sie bis dahin völlig unbestritten genossen
hatten. Der Begriff des Parallelismus membrorum, den man zunehmend häufiger
auch auf Prosatexte anwendet, ist grammatisch nicht indifferent, sondern er-
fordert oder ermöglicht eigene Satzstrukturen.
Dass der Parallelismus membrorum eine kognitiv-noetische Dimension be-
sitzt, ist kaum umstritten, wird aber zu wenig bedacht. Was er inhaltlich leistet,
ist umstritten.
Es gibt drei Grund- und einige Spezialgestalten des Parallelismus membro-
rum:
Beim synonymen Parallelismus wiederholt der zweite Stichos leicht abgewan-
delt die Aussage des ersten:
I. Einführung 485

Spr 19,8f.
Wer Verstand erwirbt, liebt sich selbst,
wer Einsicht bewahrt, findet sein Glück.
Ein falscher Zeuge bleibt nicht ungestraft,
wer Lügen flüstert, geht zugrunde.

Beim antithetischen Parallelismus, der konzentriert etwa in Spr 10–15 vorliegt,


wird die Aussage des erstes Stichos im zweiten in ihr Gegenteil verkehrt:

Spr 11,12
Wer seinen Nächsten schmäht, dem fehlt der Verstand;
aber ein einsichtiger Mann schweigt.

Beim synthetischen Parallelismus wird der Gedanke des ersten Stichos im zweiten
auf vielfältige Weise weitergeführt.

Spr 18,21
Tod und Leben sind in der Gewalt der Zunge,
und wer sie liebt, isst ihre Frucht.

Spr 16,31
Eine prächtige Krone ist graues Haar;
auf dem Weg der Rechtlichkeit wird sie erlangt.

Synonymer und antithetischer Parallelismus sind häufig mit einem Chiasmus


verbunden:

Spr 16,11
Waagbalken und richtige Waagschalen gehören Jahwe;
sein Werk sind alle Steine im Beutel.

Spr 11,14
Ohne Steuerung kommt ein Volk zu Fall;
Aber Hilfe ist, wo es viele Ratgeber gibt.

Zu den Sonderformen: Der klimaktische oder Stufenparallelismus, gerne bei


Trikola verwendet, zeichnet sich durch eine Kombination von Wiederholung
und Steigerung aus.

Ps 93,3f.
Fluten erhoben sich, Herr,
Fluten erhoben sich, Herr,
Fluten erheben ihr Tosen.
Gewaltiger als das Tosen vieler Wasser,
gewaltiger als die Brandung des Meeres,
gewaltig ist der Herr in der Höhe.

Als internen bezeichnet man einen Parallelismus, der sich nicht über zwei Kola
erstreckt, sondern nur auf eines:
486 E. Die Ketubim

Spr 26,1
Wie Schnee im Sommer und Regen zur Erntezeit,
so unpassend ist Ehre für einen Toren.

Schließlich ist der parabolische Parallelismus zu nennen, bei dem Bild- und
Sachhälfte einer Aussage parallel zueinander stehen:

Ps 103,11–13
Denn so hoch der Himmel über der Erde ist,
so hoch ist seine Huld über denen, die ihn fürchten.
So weit der Aufgang entfernt ist vom Untergang,
so weit entfernt er die Schuld von uns.
Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt,
so erbarmt sich der Herr über alle, die ihn fürchten.

Häufig wird im zweiten Kolon ein Element des ersten nicht wiederholt:

Ps 29,6
Er lässt den Libanon hüpfen wie ein Kalb,
wie ein Wildstier den Sirjon.

Einen besonderen Platz in der alttestamentlichen Poesie nehmen akrostichische


Gedichte und Psalmen ein (Akrostichon: Versspitze, -anfang). Es handelt sich
um eine spezielle Art von Gedichten: Die Anfangsbuchstaben (bei Alphabet-
sprachen) respektive die Anfangszeichen (im Ägyptischen und Akkadischen) der
einzelnen Zeilen eines Akrostichons ergeben, senkrecht gelesen, ein Wort oder
einen ganzen Satz.
Im Alten Testament sind Akrosticha auffällig gut belegt, allerdings nur als
„Alphabetgedichte“ (güldenes Alphabet): In ihm ergeben die Anfangsbuchstaben
der einzelnen Zeilen aneinandergereiht die Buchstaben des Alphabets. Belege: Ps
37; 111; 112; Spr 31,10–31. In Ps 119 und Klgl 3 liegt eine Steigerung des akrosti-
chischen Prinzips vor, beginnen doch alle 8, respektive 3 Zeilen der jeweiligen
Strophen mit dem gleichen Buchstaben. In Klgl 1, 2 und 4 hängt das Akrostichon
jeweils nur an der 1. der drei (1; 2), respektive zweilinigen (4) Strophen. In Ps 145
fehlt die ‫נ‬-Zeile (vgl. aber LXX), in Ps 34 (mit zusätzlicher ‫פ‬-Zeile am Schluss)
gibt es keine ‫ו‬-Zeile. Noch mehr Unregelmäßigkeiten weist Ps 9f. auf (unter an-
derem fehlen ‫ד‬, ‫מ‬, ‫נ‬, ‫ס‬, ‫)צ‬, und nur bis zum Buchstaben ‫ כ‬führt das Akrostichon
von Nah 1,2–8; in ihm fehlt zusätzlich ‫( ד‬an seiner Stelle ‫ )א‬und ‫( ז‬dafür ‫ ;)ל‬zu-
dem stehen zwischen ‫א‬- und ‫ב‬-Zeile zwei Stichoi, die sich nicht ins Akrostichon
fügen. Einige dieser Unregelmäßigkeiten lassen sich text- oder literarkritisch
erklären, „beseitigen“, andere nicht. Für Texte, die nicht streng akrostichisch
sind, hat sich der Begriff „alphabetisierend“ eingebürgert.
Einige Akrosticha bezeugen eine ältere Gestalt des hebräischen Alphabets, in
der ‫ פ‬vor ‫ ע‬stand: Ps 9f.; Spr 31,10–31; Klgl 2–4; Sir 51,23f.
Wichtige außeralttestamentliche Akrosticha sind: Sir 51,13–30; 11QPsa
XXI,11–17; 11QPsa XXII,1–15; XXIV,3–17 (= apokrypher Ps 155, syr. Ps III).
II. Der Psalter
Kommentare: F. DELITZSCH, 1859/60 (BC). – F. BAETHGEN, 1892, 31904 (HK II/2). – B. DUHM, 1899,
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488 E. Die Ketubim

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Psalmenexegese und Psalterexegese. Eine Forschungsskizze, in: Ders. (ed.), The Composition of the
Book of Psalms, 2010 (BEThL 238), 17–65.

1. Der Psalter als Buch

Der Psalter als Buch liegt in verschiedenen „Ausgaben“ vor, von denen sich die
in M durchgesetzt hat. Etappen seines Wachsens lassen sich durch das Studium
der Texte aus Qumran rekonstruieren. Unter den biblischen Büchern ist dort der
Psalter sehr gut vertreten.
Es liegen folgende Handschriften vor – viele unter ihnen enthalten nur kleine
bis kleinste Textausschnitte:
1Q10 (1QPsa) – 1Q11 (1QPsb) – 1Q12 (1QPsc) – 2Q14 (2QPs) – 4Q83 (4QPsa)
– 4Q84 (4QPsb) – 4Q85 (4QPsc) – 4Q86 (4QPsd) – 4Q87 (4QPse) – 4Q88 (4QPsf)
– 4Q89 (4QPsg) – 4Q90 (4QPsh) – 4Q91 (4QPsj) – 4Q92 (4QPsk) – 4Q93 (4QPsl)
– 4Q94 (4QPsm) – 4Q95 (4QPsn) – 4Q96 (4QPso) – 4Q97 (4QPsp) – 4Q98
II. Der Psalter 489

(4QPsq) – 4Q98a (4QPsr) – 4Q98b (4QPss) – 4Q98c (4QPst) – 4Q98d (4QPsu) –


5Q5 (5QPs 119) – 6Q5 (6QpapPs?) – 8Q2 (8QPs) – 11Q5 (11QPsa) – 11Q6
(11QPsb) – 11Q7 (11QPsc) – 11Q8 (11QPsd) – 11Q9 (11QPse).
Von diesen ist 11QPsa, die aus einer Rolle und fünf zu ihr gehörigen Fragmen-
ten besteht, mit Abstand die wichtigste. Datiert wird sie um 30–50 n. Chr. Mit
Ausnahme des akrostichischen Psalmes 119 werden die Texte wie Prosatexte
geschrieben, das Tetragramm in Paläohebräisch.
Die Rolle enthält 39 Psalmen aus den Büchern 4 und 5 des Psalters, dazu Da-
vids letzte Worte (2Sam 23,1–7), Sir 51, Ps 151 A+B, Ps 154, Ps 155 (vor Auffin-
dung der Qumranmanuskripte hebräisch nicht belegt), sowie fünf weitere Stücke
(Catena; Plea for Deliverance, Apostrophe to Zion, Hymn to the Creator, David’s
Composition).
Die Anordnung der masoretischen Psalmen in 11QPsa weicht zum Teil be-
trächtlich von der im Kodex Firkovitch ab: 101 – 102 – 109 – [110]; 118 – 104 –
147 – 105 – 146 – 148 [+120] – 121 – 122 – 123 – 124 – 125 – 126 – 127 – 128 –
129 – 130 – 131 – 132 – 119 – 135 – 136 – Catena – 145 [+weiterer Psalm?] – 154
– Plea for Deliverance – 139 – 137 – 138 – Sirach 51 – Apostrophe to Zion – 93 –
141 – 133 – 144 – 155 – 142 – 143 – 149 – 150 – Hymn to the Creator – David’s
Last Words – David’s Composition – 140 – 151A – 151B [leere Kolumne].
Nach SKEHAN liegt in 11QPsa eine liturgische Neuanordnung des masoreti-
schen Psalters vor. WILSON, der mit einer Einteilung in 5 „segments“ rechnet,
streicht heraus, dass sich die Rolle zunehmend auf einen davidischen Messias
fokussiert. Auch FLINT weist auf die zentrale Stellung Davids in 11QPsa hin,
weiter auf den solaren Kalender, der „David’s Composition“ zugrunde liege. (Der
364 Tage zählende Solarkalender [Lunarkalender: 354 Tage], der nicht die baby-
lonischen Monatsnamen verwendet, sondern die Monate nur zählt, gilt einigen
Forschern als wichtig[st]er Grund für die Trennung der Qumrangemeinschaft
von Jerusalem.)
Holzschnittartig formuliert erlaubt 11QPsa zwei Interpretationen: Entweder
handelt es sich bei ihr um eine ältere Gestalt des Psalters oder um einen Alterna-
tivpsalter der Qumrangemeinschaft.
Mit anderen Qumranschriften zusammen zwingt 11QPsa möglicherweise zu
einer Neufassung des Kanonbegriffes: Bedeutet Kanon zwingend einen von
Umfang und Textgestalt her unveränderlichen Text? Oder können auch zwei
verschiedene Gestalten des gleichen Buches kanonische, verbindliche Bedeutung
besitzen?
Für die These, wonach in 11QPsa ein „geschlossener“ Kanon vorliege (WIL-
SON), bringt KLEER ein zusätzliches Argument bei: Die Rolle setzt mit Ps 101 ein
und enthält genau 50 Psalmen (zusätzlich noch DavComp); auch sie setzt also die
runde Zahl 150 voraus. Eine ausgesprochen prononcierte Davidisierung liegt in
11QPsa vor. Die Rolle schließt mit Ps 151, in dem David eine eigentliche (religiö-
se) Autobiographie vorlegt. Der Psalmendichter und -sänger, Instrumentenbauer
(und -erfinder) schlüpft wahrscheinlich auch in das Gewand Orpheus’, dem
sogar Berge, Hügel und Bäume zuhören.
490 E. Die Ketubim

Das Buch der Psalmen steht in einem Gutteil der Handschriften – so auch in der
LXX – an der Spitze der Ketubim, jedoch nicht im Kodex Leningradensis, wo die
Chronik diese Position einnimmt. Die übliche Überschrift für das Buch geht auf
die LXX zurück, welche die verbreitetste Überschrift bei Einzelpsalmen (‫ ִמוְמוֹר‬:
am wahrscheinlichsten kantilierender Sprechgesang mit Begleitung eines Saiten-
instruments) mit ψαλμός (vgl. ψάλλειν) übersetzt (vgl. Kodex Vaticanus, 4. Jh.
n. Chr.). Das Neue Testament hat den Begriff übernommen; im Christentum hat
er sich durchgesetzt. Das Judentum bezeichnet das Buch als ‫( = ) ֵספֶר( תְּ ִהלִּים‬Buch
der) Preisungen; der Ausdruck findet sich bereits in 11 QPsa, in „David’s Com-
position“, in der David als Verfasser von 3600 ‫ תְּ ִהלִּים‬und 450 ‫ִירים‬ ִ ‫ שׁ‬gilt. Flavius
Josephus und Philo verwenden den Ausdruck ὕμνοι, der von seiner Bedeutung
her ‫ תְּ ִהלִּים‬nahekommt. In der Überschrift ‫ תְּ ִהלִּים‬versteckt sich eine Gesamtquali-
fikation des Psalters: Er enthält Lob; dadurch werden Klage und Bitte, im Psalter
auch prominent vertreten, dem Lob untergeordnet. Diese Einschätzung ist inso-
fern berechtigt, als das Wachsen des Psalters mit einer immer stärkeren Beto-
nung des Gotteslobes einhergeht.
Der Psalter bildet die Zusammenstellung von 150 Psalmen, poetischen Klein-
werken, denen im Deutschen Gedichte am nähesten stehen. Er ist in einem lan-
gen, nicht einlinigen Wachstumsprozess entstanden, der sich am deutlichsten in
den Vorformen der Psalmenmanuskripte von Qumran widerspiegelt. Die An-
nahme einer planmäßigen Schlussredaktion des Psalters drängt sich von daher
nicht auf. Als vorläufige Abschlüsse sind vorgeschlagen worden und denkbar: der
Königspsalm 89 (bildete mit Ps 2 zusammen den Rahmen zu einem „messiani-
schen Psalter“; s. RÖSEL); Ps 100 (Schlussdoxologie eines sogenannten „theokrati-
schen Psalters, s. TATE, SEYBOLD), Ps 117 (s. SEYBOLD), Ps 119 (rahmt zusammen
mit dem anderen Gesetzespsalm 1 einen „Psalter“, WESTERMANN), Ps 136 (LEVIN).

Die Zahl von 150 Psalmen ist künstlich (angestrebt). Das Akrostichon Ps 9f. (in
der LXX ein Psalm) ist auf zwei Psalmen aufgeteilt worden. Auch einen einzigen
Psalm bildeten ursprünglich Ps 42f., wie ihr Inhalt und die gleiche strophische
Gestaltung mit Refrain zeigen. Ps 108 besteht aus Ps 57,8–12 und 60,7–14. Eine
Auskoppelung aus Ps 40,14–18 liegt in Ps 70 vor. Eine klare Dublette bilden Ps
14 und 53 (erklärbar dadurch, dass sie ursprünglich verschiedenen Teilsamm-
lungen angehörten).
M und LXX weisen verschiedene Zählungen auf. Ps 9 und 10 sowie Ps 114
und 115 (M) fasst die LXX jeweils zu einem einzigen Psalm zusammen, Ps 116
und 147 (M) teilt sie je in zwei auf. Die LXX enthält einen zusätzlichen Psalm. Es
entsprechen sich also:

M LXX
1–8 1–8
9–10 9
11–113 10–112
114–115 113
116,1–9 114
II. Der Psalter 491

116,10–19 115
117–146 116–145
147,1–11 146
147,12–20 147
148–150 148–150
151

Nach verbreiteter Meinung zerfällt der Psalter in fünf „Bücher“ – eine Gliede-
rung, die in das Buch in Analogie zu der der fünf Bücher Mose eingeführt wor-
den sei; schon bei den Kirchenvätern finden sich Hinweise in diese Richtung,
allerdings auch Gegenstimmen (s. dazu unten). Die ersten vier „Bücher“ enden
mit einer kurzen Doxologie, das fünfte mit einer langen Schlussdoxologie (Ps
146–150) = kleines Hallel.

1. „Buch“: Psalm 1–41


(Schlussdoxologie Ps 41,14: „Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels, von Ewig-
keit zu Ewigkeit. Amen, Amen“.)

2. „Buch“: Psalm 42–72


(Schlussdoxologie Ps 72,19: „Und gepriesen sei sein herrlicher Name in Ewigkeit,
und die ganze Erde werde voll seiner Herrlichkeit“.)

3. „Buch“: Ps 73–89
(Schlussdoxologie Ps 89,53: „Gepriesen sei der Herr in Ewigkeit. Amen, Amen“.)

4. „Buch“: Ps 90–106
(Schlussdoxologie Ps 106,48: „Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels, von Ewig-
keit zu Ewigkeit. Und alles Volk spreche: Amen. Hallelujah“.)

5. „Buch“: Ps 107–150
(Schlussdoxologie: Ps 146–150.)

Neben den Doxologien gibt es weitere Gliederungssignale, die für eine redaktio-
nelle Unterteilung des Psalters in fünf „Bücher“ sprechen: Die Psalmen 72 und
89 sind Königspsalmen, zusammen mit Ps 41 werden sie David zugeschrieben.
Die zweite Teilsammlung beginnt mit einer Untersammlung (Psalmen Korachs:
Ps 42–49), ebenfalls die dritte (Asafpsalmen: Ps 73–83). Einen zusätzlichen Glie-
derungshinweis – ein Kolophon (K.: kurzer Text am Ende einer Schrift, der über
ihre Produktionsbedingungen orientiert, also über Auftraggeber und Schreiber
sowie Zeit und Ort ihrer Herstellung, u. a. m.) – enthält Ps 72,20: „Zu Ende sind
die Gebete Davids, des Sohnes Isais“.
Umstritten ist, ob die Doxologien auf einen einzigen Redaktor zurückgehen
oder aber unterschiedlichen Redaktionen zuzuweisen sind. Keine Einigkeit
herrscht weiter darüber, wie stark ihre trennende Wirkung ist. Erstmals nachwei-
sen lässt sich die These eines fünfgeteilten Psalters im 4. Jh. n. Chr., und zwar bei
492 E. Die Ketubim

Eusebius von Cäsarea und Epiphanius von Salamis. Der Midrasch Tehillim klei-
det sie in einen Vergleich zwischen Mose und David: „Du findest, dass alles, was
Mose tat, auch David tat … Mose gab Israel die fünf Bücher der Tora, und David
gab Israel die fünf Bücher, die im Psalter sind.“ Wie wenig selbstverständlich
diese Einteilungen waren, gegen die Hieronymus heftig polemisierte, geht daraus
hervor, dass sie sowohl bei Pseudo-Hippolyt wie im Midrasch explizit genannt
werden (müssen). Nach GESE, der u. a. auf die unterschiedliche Ausgestaltung
der Doxologien und das Fehlen einer solchen am Schluss von Ps 150 hinweist,
verdankt sich die Fünfteilung des Psalters den Zufälligkeiten der Psalterwerdung
(vgl. auch BRÜTSCH).

Eine Stufe unter den „Büchern“ liegen die Sammlungen. Der bereits früh als
selbständige Sammlung identifizierte sogenannte „elohistische Psalter“ (Ps 42–
83) hebt sich durch die Verwendung des Gottesnamens „Elohim“ von seiner
Umgebung ab. Nach landläufiger Theorie verdankt er sich einer Redaktion, die
das Tetragramm JHWH durch „Elohim“ ersetzte. Die Existenz dieser Sammlung
wird gelegentlich durch den Hinweis darauf bestritten, die Wahl der Gottesbe-
zeichnung sei theologisch motiviert; zudem finde sich ‫ ֱאלֺהִים‬auch anderswo.
Eine eigene Sammlung bilden die Wallfahrtspsalmen Ps 120–134, die alle die
gleiche Überschrift tragen: Wallfahrtslied (zu dieser s. mehr unten).
Deutlich heben sich als eigenständige Sammlungen auch Psalmengruppen ab,
die von levitischen Sängerfamilien verfasst wurden, die in der Zeit des zweiten
Tempels in helleres Licht treten – Korach, Asaf, Etan – und in ihr um die Vor-
herrschaft kämpften. Die Korachpsalmen Ps 42–49 werden von einem Asafpsalm
(Ps 50) abgeschlossen, die Sammlung von Asafpsalmen von zwei Korachpsalmen
(Ps 84; 85).
Die Geschichte der einzelnen Sängerfamilien nachzuzeichnen fällt schwer.
Den bekanntesten, fast alternativlosen Rekonstruktionsversuch hat GESE vorge-
legt. Stichwortartig seien die einzelnen Phasen dieser Geschichte genannt: Nach
Es 2 / Neh 7 (vor 515 v. Chr.) sind Sänger und Musikanten – allein Asafiten –
den Leviten nach- und den Türhütern vorgeordnet. – Neh 11,3–19; 1Chr
9,1b(2)–18 (Maßnahmen Nehemias): Subsumierung der Sänger unter die Levi-
ten; es erscheint eine Jedutungruppe. – In den Chronikbüchern finden sich zwei
Traditionen von der Reihenfolge der Sängerfamilien: eine wohl ältere, vor allem
in den erzählenden Teilen vertretene A (Asaf, Heman, Jedutun) und eine jüngere
B (Heman, Asaf, Ethan = anderer Name für Jedutun), in den sekundären Be-
standteilen der Chronik. Ein zentrales Detail: Heman leitet sich genealogisch von
Korach, einer so durchsetzungswilligen wie -fähigen Gruppe ab, die das Priester-
amt anstrebte, das ihr jedoch vorenthalten blieb (Num 16,8–11). Dies dürfte
ihren Aufstieg innerhalb der Sängerfamilien erklären.
Schließlich sind die in allen fünf Büchern belegten Sammlungen von Davids-
psalmen zu nennen – schwergewichtig konzentrieren sie sich in der ersten Hälfte
des Psalters –: Ps 3–41; 51–72; 101–103; 108–110; 138–145; ihr wichtigstes ver-
bindendes Element ist die Überschrift ‫לְדָ ִוד‬.
II. Der Psalter 493

Ganz im Dunkeln stehen die Verfasser der einzelnen Psalmen, die nicht nur
ihre Anonymität wahren, sondern auch kaum über ihr Tun reflektieren. Eine
Ausnahme bildet der Verfasser von Psalm 45. Er weiß zu berichten (V. 2): Mein
Herz fließt über von froher Kunde, ich weihe mein Lied dem König. Meine
Zunge gleicht dem Griffel des flinken Schreibers; vgl. auch die „Worte Agurs“,
Spr 30,1–3.7.
Die Identifizierung von Sammlungen erfolgt stärker von den Überschriften
der Psalmen als deren Inhalt her (inhaltlich einheitlich ist etwa die erste Samm-
lung von Davidspsalmen: Sie enthält vor allem Klage und Dank). Gewichtig
wiegt auch das doppelte Vorkommen von Psalmen: Es lässt sich nicht anders als
mit dem Vorliegen von Teilsammlungen erklären.
Die genaue Entstehung des Psalters, die, wie seine „Vorstufen“ in Qumran
zeigen, in einem komplizierten und vielschichtigen Redaktionsprozess verlaufen
sein dürfte, lässt sich kaum mehr rekonstruieren.

Während frühere Forschung vor allem die einzelnen Psalmen (und -gattungen)
untersuchte, steht seit einiger Zeit der Psalter als Ganzes, als Buch im Fokus des
Interesses, d. h. primär die Anordnung der Psalmen in einer Sammlung, die eine
eigene theologische Aussage enthält. Die einzelnen Psalmen sind miteinander
vor allem über Stichworte verbunden (concatenatio) (Bsp.: Durch die Stich-
wortverbindung „Wohl dem, der …“ [Ps 1,1; 2,12] entsteht eine Inclusio zwi-
schen Ps 1 und 2; von daher ist es möglich, die beiden Psalmen und nicht nur
den ersten als Proömium zum ganzen Psalter zu betrachten). Häufig gelten un-
mittelbar benachbarte Psalmen als aufeinander abgestimmt (so etwa Ps 3 und 4
als Morgen- und Abendpsalm: „Ich lag und schlief, nun bin ich erwacht, denn
der Herr hält mich“ [Ps 3,6]; „In Frieden will ich mich niederlegen und schlafen,
denn du allein, Herr, lässt mich sicher wohnen“ [Ps 4,9]).
Großer Beliebtheit erfreut sich die These, wonach viele (Teil-)Sammlungen
des Psalters einen chiastischen Aufbau aufweisen (der sich nicht dem Zufall ver-
dankt); das klarste und am häufigsten angeführte Beispiel dafür ist Ps 15–24:

A Ps 15: Tempeleinlassliturgie
B Ps 16: Vertrauensgebet
C Ps 17: Bitt- und Dankgebet
D Ps 18: Königspsalm
E Ps 19: Ehre Gottes, Tora
D’ Ps 20f.: Königspsalm
C’ Ps 22: Bitt- und Dankgebet
B’ Ps 23: Vertrauensgebet
A’ Ps 24: Tempeleinlassliturgie

Ps 19 bildet das Zentrum dieser Teilsammlung und enthält die theologisch zen-
tralen Aussagen. Ps 19 ist mit Ps 15 und Ps 24, welche in ihr die Eckpositionen
einnehmen, weiter durch das Stichwort „Knecht des Herrn“ verbunden.
494 E. Die Ketubim

In der jüngsten Forschung wird – unter anderem unter Hinweis auf Qumran,
wo die Abfolge der Einzelpsalmen noch keine feste ist – die Pertinenz dieser
Kriterien bestritten: Viele Stichwortverbindungen verdankten sich dem Zufall,
die Chiasmen wirkten gekünstelt, konstruiert.
Weitgehende Einigkeit herrscht darüber, dass sich die (relativ) frühen Psal-
men(sammlungen) eher im vorderen Teil des Psalters konzentrieren, die späten
dagegen eher im hinteren. Die jüngere Psalmenforschung macht es sich zum
Ziel, das Wachsen des Psalters so genau wie möglich nachzuzeichnen. Sie unter-
scheidet dabei zwischen der redaktionellen Zusammenfügung von Einzelsamm-
lungen und punktuellen Eingriffen, die sich auf einen Psalm beschränken kön-
nen oder aber mehrere betreffen. Nach ihr sind diese Wachstumsstufen, insbe-
sondere in den letzten Phasen, mit bestimmten theologischen Akzentsetzungen
verbunden. Dieser Prozess kann – cum grano salis – mit der Geschichte christli-
cher Gesangsbücher verglichen werden: Sie unterscheiden sich nicht nur in Zahl
und Anordnung der einzelnen Lieder voneinander, sondern weisen auch – zeit-
bedingt – verschiedene theologische Akzente auf. Zudem werden auch die ein-
zelnen Lieder überarbeitet: durch Hinzufügung oder Weglassung von Strophen,
durch sprachliche Modernisierung einzelner Ausdrücke, unbeabsichtigte Kor-
rekturen (Fehler), Ausscheiden anstößiger Aussagen usw.

Aus Ägypten und Mesopotamien sind Psalmen in ihrer Erstgestalt auf uns ge-
kommen. Das trifft für die alttestamentlichen nicht zu; sie sind stark zerredet
und zerschrieben; aus ihnen eine Urgestalt zu gewinnen, scheitert in den meisten
Fällen. Besonders von den älteren Psalmen dürften viele nur in stark überarbei-
teter Gestalt erhalten sein. Den genauen Umfang dieser Überarbeitungen zu
bestimmen, fällt auch deshalb schwer, weil vergleichbares Material aus dem sy-
risch-palästinischen Raum, aus dem „Übernahmen“ am ehesten erfolgten, nicht
vorliegt (vgl. höchstens Berührungen mit den mythisch-epischen Texten etwa
aus Ugarit, was Motivik und poetische Gestalt betrifft). Einzige Ausnahme ist der
schon im 19. Jahrhundert (wahrscheinlich bei Theben [Ägypten]) gefundene
auf Aramäisch verfasste und mit demotischen Buchstaben niedergeschriebene
Papyrus Amherst 63 (literarischen Inhalts). Obwohl schwer zu entziffern und
folglich auch zu interpretieren, ist deutlich: Ein Teil von Kolumne 12 berührt
sich so eng mit Ps 20, dass Abhängigkeit vorliegen muss. Nur: Bildet Papyrus
Amherst 63,12 die Paganisierung eines älteren israelitischen Hymnus, erfolgte
die Übernahme in umgekehrter Richtung, oder gehen Ps 20 und der Paralleltext
Amherst 63,12 auf eine gemeinsame Vorlage zurück? Klar ist: Die in ihm
enthaltenen Gottesnamen (auch Jahwe?) und Ortsnamen weisen auf das Nord-
reich – entweder auf den Tempel von Bethel oder nach Phönizien. Vielleicht ent-
hält der Papyrus noch weitere biblische Parallelen (RÖSEL), nämlich zu Ex 15; Ps
19 und 75.
Zu den großredaktionellen Themen des Psalters: Am deutlichsten ist, dass der
Psalter auf das Gotteslob zuläuft, schließt er doch mit einer großen Doxologie (Ps
146–150) und diese ihrerseits mit einem gesteigerten Halleluja (Ps 150).
II. Der Psalter 495

Ps 1 und 2 werden durch einen Makarismus zusammengehalten (s. o.). Sie


bilden das Eingangstor zum Psalter, eine Art Leseanleitung: Die „Tora“ (Ps 1)
und der „Gesalbte“ (Ps 2) sind die beiden Themen, von denen her es den Psalter
zu lesen gilt. Nach der Meinung des Redaktors (der Redaktoren), der (die) sie an
den Anfang stellte(n), gehören sie zu den zentralen Themen des Psalters, wenn
nicht des ganzen Alten Testaments.
Die besondere Stellung von Ps 1–2 und 146–150 geht auch daraus hervor, dass
sie keinem Autoren zugeschrieben werden und keine Regieanweisungen enthal-
ten; ihre theologische Funktion tritt dadurch noch klarer hervor.
Etwas weniger deutlich, aber immer noch klar zu erkennen sind zwei weitere
thematische Strukturierungen (ZENGER: Horizont) der Psalterredaktion, die sich
inhaltlich einerseits eng miteinander berühren, andererseits aber auch in Kon-
kurrenz zueinander stehen: Messianismus (die davidischen Könige) und Theo-
kratie (Gott als König); es geht um die Frage, wer die Herrschaft ausübt und wie
die Gottes mit der seines Gesalbten zusammengeht.
Der Messias erscheint bereits im Eingang des Psalters, Ps 2 – in den V. 8–10
allerdings theokratisch interpretiert. Seine Bedeutung geht besonders daraus
hervor, dass zweites und drittes Psalterbuch durch einen Königspsalm abge-
schlossen werden. Weiter stehen Königspsalmen am Anfang oder Schluss von
Teilsammlungen: So eröffnet Ps 101 eine kleine Davidkomposition und stehen
Ps 110 und 144 am Ende einer solchen. Redaktionell weniger stark exponiert sind
Ps 122; 127; 132.
Während die messianischen Psalmen und also auch ihre redaktionell glie-
dernde Funktion deutlich zu erkennen ist, weist das Thema der Gottesherrschaft
(Theokratie) verschwommenere Konturen auf. Ihm zugerechnet werden (von
Zenger) Ps 8; 19; 29; 45–48; 93–100; 145; 146–150. Diese Gruppen zerfallen
deutlich in zwei Gruppen: eine erste, in der Gott als König akklamiert wird (‫י ְה ָוה‬
‫ ָמלְָך‬-Psalmen) – sie weisen sich formgeschichtlich durch den gleichen Psalmen-
eingang als solche aus – und durch eine klare Verhaftung im Kult, während die
zweite, aufs Ganze gesehen sicher jüngere Gruppe das Thema von Gottes Herr-
schaft allgemeiner, stärker theologisch durchdrungen gestaltet. Der Messias do-
miniert die ersten drei Sammlungen, während die theokratische Sichtweise stark
in den beiden letzten zum Tragen kommt.
Zu den großredaktionellen Themen des Psalters gehört weiter die Gestalt
Davids (KLEER): Im Verlaufe seines Wachstums wurde das Buch immer stärker
davidisiert. Doch der literarische Aufstieg Davids als Sänger setzt schon früher
ein; er ist in einigen Erzählungen aus den Samuelbüchern angelegt. David
kommt als Zitherspieler an den Hof Sauls (1Sam 16,16). Als die Lade nach Jeru-
salem überführt wird, tanzt er vor ihr (2Sam 6,14). Er gilt als Verfasser zweier
Leichenlieder – für Saul und Jonathan (2Sam 1,17–27) und Abner (2Sam 3,33f.).
Einen großen Karriereschritt bedeutet die Überschreibung von Ps 18 mit ‫– לְדָ וִד‬
und dann vor allem dessen Aufnahme in die Samuelbücher (2Sam 22, gelegent-
lich als älter als Ps 18 betrachtet), wobei dieser durch die Überschrift stark bio-
graphisiert wurde. In 2Sam 23,1–7, den sog. „letzten Worten“ Davids, avanciert
496 E. Die Ketubim

dieser weiter zum inspirierten Propheten Jahwes, mit dem er direkt verkehrt –
sowie zum „lieblichen Sänger der Psalmen Israels“ (V. 1, umstrittene Überset-
zung). Die beiden Texte gehören mit dem Hannalied möglicherweise zur
Schlussredaktion der Samuelbücher.
Die Überschrift ‫( לְדָ וִד‬in den beiden ersten Davidspsaltern) war ursprünglich
nicht im Sinne einer Verfasserangabe gemeint. Vielmehr diente sie in der „Iden-
titätskrise der Exilszeit“ als Identifikationsangebot: Der geplagte Beter macht bei
der Lektüre dieser Psalmen die Erfahrung, dass David ähnlich wie er gelitten hat,
verfolgt – aber schließlich auch gerettet wurde. Fast folgerichtig schloss sich hier
die Suche nach Situationen im Leben Davids an, die den in den Psalmen geschil-
derten entsprachen (6./5. Jh. v. Chr.). Erst später wurde David auch als Psalmen-
dichter gesehen; in diese Zeit gehört auch die Einfügung von 2Sam 22f. in die
Samuelbücher. Innerhalb der einzelnen Psalmenbücher kommt David eine je
leicht andere Bedeutung zu, erscheint er stärker als (frommer) Beter oder als
König.
Im Väterlob bei Jesus Sirach erscheint David als Sänger und Verfasser von
(vor allem) Lob- und Dankpsalmen (Sir 47,8–10); gegenüber dem Psalter treten
Klage und Bitte zurück. Der Siracide betont die Musikalität Davids stark, der
Musikinstrumente herstellt, möglicherweise sogar erfunden hat. Die Psalmen in
ihrer Gesamtheit sind auf David „hingeordnet“. Er ist der Psalmenbeter par
excellence.
Die Redaktion in den Psalmen beschränkt sich jedoch nicht auf diese Themen:
„Es hat in Israel so viele Arten der Neuinterpretation gegeben, wie es religiöse
Strömungen und Interessen gab“ (BECKER 1966, 32). Es seien nur die zwei wich-
tigsten genannt:
– Beträchtlichen Raum nimmt nach LEVIN in den Psalmen der Gegensatz von
Gerechten und Frevlern ein; er erscheint meist in der Gestalt redaktioneller
Überarbeitungen. Von daher bezeichnet LEVIN den Psalter als „Gebetbuch der
Gerechten“. Recht eigentlich zu ihrem eigenen Buch gemacht haben ihn – in der
Schlussphase seiner Entstehung – die Anawim und die Asidäer, welche sich in
makkabäischer Zeit gleichsam als „ecclesiola“ vom religiös mehr oder weniger
indifferenten Judentum ablösten.
– Innerhalb der Wallfahrtspsalmen, in der durch redaktionelle Arbeit auch ein
Bezug auf den Zion und den Gesalbten (Messias) hergestellt wird, fällt am deut-
lichsten eine Israelredaktion auf: Vom Hüter des Beters, der nicht schlummert
(Ps 121,3), heißt es in V. 4: „Siehe, nicht schlummert und nicht schläft der Hüter
Israels“, und in Ps 130, der von Sünde und Vergebung (für den Einzelnen) han-
delt, verlautet ganz am Schluss (V. 8): „Und er wird Israel erlösen von allen sei-
nen Sünden“.
Kleinstgruppen innerhalb des Psalters bilden die sogenannten „Zwillingspsal-
men“, zwei aufeinanderfolgende Psalmen, die sich formal und inhaltlich stark
miteinander berühren: Ps 111f. (Gott und sein Handeln; der Jahwe-fürchtige
Mann; zentraler Begriff: Die Jahwefurcht); Ps 106f. (Heils- und Unheilsge-
schichte).
II. Der Psalter 497

Die intensive redaktionelle Arbeit an den Psalmen erfolgte auf verschiedenen


Stufen: Sie betrifft Einzelpsalmen, Teilsammlungen und schließlich das Buch-
ganze. Wegen der Disparatheit dieser Überarbeitungsprozesse weist der Psalter
keinen ganz klaren Aufbau auf – kann es nicht; deshalb müssen (implizite) Ver-
suche, die in M vorliegende Abfolge der Psalmen als praktisch einzig mögliche zu
betrachten, als gescheitert gelten. Diese Rekonstruktionen gehen zudem von der
falschen Voraussetzung aus, dass es den Lesern des Psalters möglich ist, alle in
ihn eingetragenen Interpretationen gleichzeitig zu erfassen.

Die bisher beschriebenen Phänomene bewegen sich vor allem auf redaktioneller
Ebene, d. h. der des Buches. Wo hat dieses seinen Sitz im Leben? Bei dessen Be-
stimmung orientierte man sich lange an seiner liturgischen Verwendung. Es galt
als Gesangbuch des 2. Tempels; die Frage, wem es seine endgültige Gestalt ver-
dankt, interessierte in der gattungsgeschichtlich geprägten Psalmenforschung
nur wenig und fand eine – oft implizite – Antwort im Hinweis auf den Tempel.
Eine Variation dieser These liegt in der Bestimmung des Psalters als „Gesang-
und Gebetbuch der synagogalen Liturgie“ vor.
Heute erfreut sich eine andere These wachsender Beliebtheit: Levitische
(Weisheits-)Lehrer „verfassten“ im 3. und 2. Jh. v. Chr. den Psalter. Für diese
Sicht spricht die starke Anbindung der Leviten an den Tempel, insbesondere ihre
Verantwortung für die Tempelmusik und ihre „Lehrtätigkeit“. Sie hätten das
Werk, wie das etwa auch die Propheten taten, einer breiteren interessierten Öf-
fentlichkeit in einer definitiven, gewissermaßen offiziellen Edition zur Verfügung
gestellt. Gestützt wird die These durch die Beobachtung, dass sich damals erste
Privatbibliotheken nachweisen lassen.
Diese postulierte Schlussredaktion durch Leviten hinterließ im Psalter aller-
dings kaum literarische Spuren. Auf sichereren Boden kommt man erst in den
Chronikbüchern zu stehen, welche die zunehmende Bedeutung von Tempel-
musik und -gesang widerspiegeln. Der Pentateuch schweigt von ihr ganz, die
historischen Bücher enthalten zu ihnen nur wenige, zudem verstreute Hinweise.
Die Chronik nun berichtet in 1Chr 16 u. a. von der Einrichtung und Regelung
der Tempelmusik durch David; er tritt gewissermaßen an die Stelle Moses, der
am Sinai keine diesbezüglichen Bestimmungen erlassen hat. David setzt nach der
Überführung der Lade Leviten ein „als Diener vor der Lade des Herrn, damit sie
den Herrn, den Gott Israels, priesen und ihm dankten und ihn lobten“ (V. 4).
Betont verweist V. 7 auf diesen Gründungsakt: „An jenem Tag, damals, ließ Da-
vid zum ersten Mal dem Herrn durch Asaf und dessen Brüder danken.“ Dieses
„erste Mal“ steht an Stelle von „wie es geschrieben steht“; diesem Verweis kommt
das „erste Mal“ an Autorität zwar nicht gleich, ermangelt ihrer aber auch nicht
ganz. Im Zentrum und auf dem Höhepunkt dieses ersten stark musikalisch be-
stimmten Gottesdienstes steht ein Kompositpsalm, der aus Ps 105,1–15; Ps 96
und Ps 106,1.47f. besteht und so etwas wie eine Zusammenfassung chronistischer
Theologie bildet.
Ein weiteres Indiz für die Wichtigkeit des Psalmengesanges in der Chronik
498 E. Die Ketubim

bildet der regelmäßig verwendete liturgische Kehrvers „denn (er ist gut,) ewig
währt seine Güte“ (1Chr 16,34.41; 2Chr 5,13; 20,21). Schließlich spielen in ihr die
Sängerfamilien eine wichtige Rolle, die nach den Überschriften bestimmter
Psalmen als deren Vertreter gelten: Asaf, Heman, Jedutun, Korach (gelegentlich
werden die Sänger generell als Asafiten bezeichnet).
Schließlich enthält die Chronik auch einige Hinweise zur Praxis der Instru-
mentalmusik im Tempelgottesdienst. Wichtiges Detail: Die Trompete löst das
Horn (‫ )שׁוֹפָר‬ab.
Den oben genannten levitischen Sängerfamilien wird die Autorschaft be-
stimmter Psalmen zugeschrieben: Korachpsalmen 42–49, Asafpsalm 50; Asaf-
psalmen 73–83, Korachpsalmen 84–89. Die Forschung hält diese Autorenanga-
ben für ganz, teilweise oder überhaupt nicht zutreffend; im letzteren Fall rechnet
man mit einer Legende aus der Zeit des Chronisten, der diese Sänger auf die
gleiche Weise zu Psalmenverfassern gemacht habe, wie das mit David passiert
sei.
Die Korachiten gelten gelegentlich als Vermittler von Zions- und Tempeltheo-
logie. Bezüglich der Asafpsalmen wird unter anderem die prononcierte These
vertreten, einige unter ihnen – die ältesten – seien im Nordreich entstanden und
enthielten auch typische Nordreichthematik.
Deutlich als eigene Sammlung geben sich die Psalmen 120–134, die sogenann-
ten „Wallfahrtspsalmen“ zu erkennen. Sie tragen alle die Überschrift ‫שִׁיר ַה ַמּעֲלוֹת‬
(s. die Wurzel ‫ ָעלָה‬hinaufziehen / heimkehren), aus deren Deutung zum Teil
direkt auf ihre Verwendung geschlossen wird. Fünf Thesen werden vertreten: 1.
Es handelt es sich um die Lieder, welche die aus dem babylonischen Exil
zurückkehrenden Juden sangen (vgl. Esra 2,1; 7,9). 2. Die Psalmen wurden im
Rahmen einer Wallfahrt verwendet, führen vom Aufbruch zuhause an den Tem-
pel und von dort wieder zurück; Ps 122 selber handelt von einer Wallfahrt. SEY-
BOLD sieht in diesen Psalmen Laiengedichte, in denen sich eine deutlich pronon-
cierte Theologie widerspiegelt, in der die Direktheit des Gottesbezuges eine
zentrale Rolle spielt. Gehen diese beiden Deutungen also vom Sitz im Leben der
Psalmen aus, so erklären die drei folgenden den Ausdruck ‫ שִׁיר‬literarisch-poe-
tisch. 3. Mit ihm wird eine Reihe von Liedern bezeichnet, die zusammenhängen.
4. Der Begriff erklärt sich von der Verwendung der Anadiplosis in den Psalmen
her, d. h. das letzte Wort eines Verses / einer Zeile wird zu Beginn des / der da-
rauffolgenden wieder aufgenommen. Beispiel:

Ps 121,1f.
… Woher kommt meine Hilfe?
Meine Hilfe kommt von dem Herrn, …

5. ‫ ַמ ֲעלָה‬bezeichnet die Stufen eines Altars oder eines Thrones. Von daher wird
der Ausdruck auf den Ort (Stufen) bezogen, von dem aus die einzelnen Psalmen
vorgetragen wurden.
II. Der Psalter 499

2. Alter und Verfasserschaft der Psalmen

Gelingt es gelegentlich, ältere Psalmen und -sammlungen von jüngeren abzuhe-


ben, so fällt ihre absolute Datierung sehr schwer. Fast überdeutlich wird das bei
137, in dem die (wenigstens literarisch) im babylonischen Exil weilenden Judäer
ihr Geschick beklagen. Während das Klagelied Teilen der skandinavischen
Schule (v. a. MOWINCKEL und seinen Schülern) als jüngster Psalm gilt, halten
ihn andere für den ältesten; sie datieren eine große Zahl an Psalmen in die
Zeit der Makkabäer: In ihnen spiegelten sich die damaligen Parteistreitigkeiten
wider.
Viele der Psalmen tragen Überschriften, eine oder mehrere. Sie beziehen sich
auf ihre Autoren, die Umstände ihrer Abfassung oder die Art ihres Vortrags.
Als Psalmendichter gelten neben den bereits erwähnten Sängergilden David,
Salomo und Mose. Während Mose nur ein Psalm zugeschrieben wird (Ps 90)
und Salomo zwei (Ps 72; 127), gilt David in M als Verfasser von insgesamt 73
Psalmen (andere Zahlen in Qumran und der LXX; auch deren Überschriftensys-
teme weichen zum Teil beträchtlich von dem in M ab).
Zur Bedeutung von (‫ ְל‬in) ‫לְדָ וִד‬: Erwogen werden drei Möglichkeiten: 1. Der
Ausdruck bedeutet „zur Sammlung von Davidpsalmen gehörend“, ist also Re-
gistervermerk; er ist denen vergleichbar, die sich bei ugaritischen Epen und My-
then finden (lb‘l: zum Baalszyklus gehörend). 2. Ein Psalm über David. 3. Es
handelt sich um ein ‫ ל‬auctoris; diese Deutung drängt sich von den Psalmen her
auf, in denen eine historische Einordnung anschließt (Bsp. Ps 3,1: „Ein Psalm
Davids, als er vor seinem Sohn Absalom floh“). Von ihnen her legt sich diese
Interpretation auch bei den Psalmen nahe, in denen eine historische Einordnung
fehlt.
Keinesfalls darf ‫ לְדָ וִד‬als historische Information verstanden werden, so als
habe David selbst Psalmen verfasst. Zum Psalmenverfasser wurde David viel-
mehr aufgrund eines hermeneutischen Prozesses, der auf biblischen Vorgaben
beruht und der in der Chronik einen Niederschlag gefunden hat: David wirkte
als Lautenspieler am Hofe Sauls (1Sam 16,16ff.; 18,10; 19,9). (Schwer einzuord-
nen ist die Nachricht von Amos 6,5, wo David auch mit Instrumentalmusik in
Verbindung gesetzt wird.) Er gilt als Verfasser von Totenklagen (2Sam 1,17ff.;
3,31ff.; freilich kann nicht ganz ausgeschlossen werden, dass hier der gleiche
Prozess vorliegt wie bei der Zuschreibung bestimmter Psalmen an David). Neben
diesen Anknüpfungspunkten gibt es solche stärker inhaltlicher Art: Die Samuel-
bücher stellen David als frommen König dar; er praktiziert eine Frömmigkeit,
wie sie auch Klage- und Dankpsalmen auszeichnet. An diesen klagenden und
dankenden König knüpfen die Redaktoren an, die ihm in erster Linie Klage- und
Dankpsalmen zuweisen – und diesen (durch die historisierenden Überschriften)
einen präzisen Sitz im Leben zuweisen. Eine ähnliche enge Beziehung wie das
redaktionelle ‫ לְדָ וִד‬in den Psalmen weisen die Zuschreibungen in der Chronik auf,
die wesentlich zahlreicher sind als in den Königsbüchern: man vgl. etwa die
Totenklage, die Jeremia auf Josija gehalten haben soll (2Chr 35,25); diese Zu-
500 E. Die Ketubim

schreibung erfolgt, weil (nur) der damals berühmteste (religiöse) Dichter den
frommen König literarisch betrauern konnte und also musste.
Die Zuweisung von Ps 72 an König Salomo ist inhaltlich begründet: Der
Psalm zeichnet einen idealen König, unter dessen Regiment Land und Leute
prosperieren; das entspricht dem Bild des „rex magnificus“ von 1Kön 3–10. Ps
127 gilt wohl als von ihm verfasst, weil auch er – wie der Herr – ein Haus gebaut
hat (V. 1). Mose als Verfasser von Psalmen ist aus dem Pentateuch bekannt (Ex
15; Dtn 32f.); ein in die Augen springender Grund dafür, warum er Ps 90 ge-
dichtet haben soll, ist nicht erkennbar.
Mose, David und Salomo gehören zu den bedeutendsten Gestalten des Alten
Testamentes; dass neben ihnen keine weitere Einzelgestalten als Psalmenverfas-
ser erscheinen (vgl. dagegen die LXX, die auch Jeremia und Ezechiel [LXX 64],
respektive Haggai und Sacharja [LXX 145–148] und schließlich auch den Söhnen
Jonadabs [LXX 70] Psalmen zuschreibt), zeigt auch, in wie hohem Ansehen der
Psalter stand, der eine Zeitlang möglicherweise für sich allein den dritten Ka-
nonteil bildete. Gegenprobe: Hiskija, der in seiner Krankheit auch eine Art Psalm
betete (Jesaja 38), werden im Psalter keine Psalmen zugeschrieben – dagegen gilt
er als Sammler von Sprichwörtern, die nicht die gleiche Autorität genossen ha-
ben dürften wie der Psalter.

3. Zur Formgeschichte der Psalmen

Überschrieben sind viele Psalmen mit einer fast verwirrenden Fülle an Angaben,
die sich auf die Psalmgattung und die Aufführungspraxis beziehen.
Zu den im Psalter verwendeten Gattungsbezeichnungen (die sich nur teilweise
mit den in der Formgeschichte eingeführten decken):
– Die häufigste Bezeichnung ist ‫ ; ִמזְמוֹר‬sie bezeichnet wahrscheinlich eine Art
Sprechgesang mit Begleitung durch ein Saiteninstrument. Da der Ausdruck vor
allem in David – dem Leierspieler! – zugeschriebenen Psalmen verwendet wird,
ist denkbar, dass er nicht auf die ursprüngliche Vortragsweise der Psalmen
übertragen werden darf.
– Nur schwer von ‫ ִמזְמוֹר‬abheben lässt sich ‫ ;שִׁיר‬gelegentlich stehen die beiden
Ausdrücke nebeneinander.
– Klage- und Bittpsalmen tragen recht häufig die Überschrift ‫( תְּ ִפלָּה‬Gebet); mit
‫( תְ פִלּוֹת‬Davids, des Sohnes Isais) wird in Ps 72,20 die zweite Psalmensammlung
(auch inhaltlich recht sachgemäß) abgeschlossen.
– Als Überschrift eines einzelnen Psalmes ist ‫ תְּ ִפלָּה‬nur einmal belegt (Ps 145,1);
recht häufig findet sich der Ausdruck hingegen innerhalb einzelner Psalmen. Als
zusammenfassende Bezeichnung von Psalmen hat ‫ תְּ ִהלִּים‬es verdrängt. Der Aus-
druck taucht (im Plural) in 11 QPsa auf („David’s Composition“). Das Judentum
bezeichnet die im Psalter versammelten Einzelpsalmen auch mit diesem Begriff;
bekanntgeworden ist seine deutsche Wiedergabe durch Buber: „Preisungen“.
– Nicht geklärt ist die Bedeutung von ‫שׂכִּיל‬ ְ ‫ ; ַמ‬von dem diesem Nomen zugrunde-
II. Der Psalter 501

liegenden Verb ‫ שׂכל‬her liegt es nahe, den recht häufig verwendeten Ausdruck
mit „Lehrgedicht“ zu übersetzen.
– Ganz im Dunkeln liegt die Bedeutung des ebenfalls gut belegten Nomens
‫ ִמכְתָּ ם‬.
– Hapax legomenon ist ‫שׁגָּיוֹן‬ ִ (Ps 7,1), am besten von Akkadisch šegû („Klage-
lied“) her zu erklären.
Angaben zur Aufführungspraxis (in Auswahl):
– ‫ ַל ְמנַ ֵצּ ַח‬: Wie die Übersetzung dieses Ausdruckes durch die LXX (εἰς τὸ τέλος)
zeigt, wurde er schon früh nicht mehr verstanden. Von der Verbalwurzel ‫נצח‬
(beaufsichtigen, leiten, leuchten) her schlug man folgende Bedeutungen vor: „für
den Musikmeister, Chorleiter“, respektive „gnädig stimmen“ (~ leuchten lassen;
Kultterminus). Das Verb bedeutet auch „dirigieren, leiten, musizieren“; davon
abgeleitet die Übersetzung „für die musikalische Aufführung“.
– ‫ ֶסלָה‬: Die (etymologische) Herleitung des Ausdrucks von ‫( סלל‬erheben) führt zu
zwei Erklärungen: Es geht um das Erheben der Stimme oder das der Augen. Zur
ersten: Es wird in eine höhere Stimmlage gewechselt. Zur zweiten: Man erhebt
die Augen, d. h. wandert im Text nach oben und wiederholt ihn dann (‫ ֶסלָה‬als
„Wiederholungszeichen“: da capo). Von einer aramäischen Wurzel ‫„( סל‬beugen“,
„beten“) her denkt man an eine Verbeugung, die an der Stelle erfolgt, da der
Ausdruck ‫ ֶסלָה‬steht. Weitere Vorschläge: Der Ausdruck führt ein musikalisches
Zwischenspiel ein oder enthält die Regieanweisung „Tutti“: Nun haben alle (und
nicht mehr allein der Vorsänger) zu singen.
– Auch die meisten übrigen Angaben, welche die Vortragsweise, insbesondere
die Melodie, zu der der Psalm aufgeführt wird, betreffen, sind in ihrer Bedeutung
dunkel. Sie seien in Auswahl nur eben aufgeführt: „‫עַל־ ַהגִּתִּ ית‬, nach githitischer
Weise“, „‫שּׁמִינִית‬ ְ ‫עַל־ ַה‬, auf achtseitigem Instrument“.
Einen Umbruch in der Erforschung der Psalmen bedeutete ihre Interpretation
unter formgeschichtlichen Gesichtspunkten durch Hermann GUNKEL zu Beginn
des 20. Jahrhunderts. Ansätze für dieses Verständnis finden sich bei Johann
Gottfried EICHHORN und Johann Gottfried HERDER, welche anregten, die Psal-
men auf dem Hintergrund ihrer Entstehung und der mit ihnen verbundenen Ab-
sichten zu verstehen. Sie blieben jedoch lange weitgehend unbeachtet. Wichtigs-
ter Vorgänger von GUNKEL ist jedoch DE WETTE, der die Psalmen in Hymnen,
Nationalpsalmen, Zions- und Tempelpsalmen, Königspsalmen, Klagepsalmen
sowie religiöse und moralische Psalmen einteilte. Auch ihm gegenüber bedeutet
GUNKEL einen bedeutenden Fortschritt. Er ist es, der die formgeschichtliche
Untersuchung der Psalmen als zentral zu ihrem Verständnis bezeichnete, sie
zum Programm erhob und dieses in eine eigenständige Methode umsetzte.
In der formgeschichtlichen Methode geht es darum, bei jedem einzelnen
Psalm zu rekonstruieren, wo im Gottesdienst er Verwendung fand. Den unter-
schiedlichen Anlässen entsprechen unterschiedliche Gattungen, die sich charak-
teristisch voneinander abheben. Von einer Gattung kann man sprechen, wenn
Texte sich durch eine gemeinsame Formensprache, einen gemeinsamen Schatz
von Gedanken und Stimmungen und schließlich die Zugehörigkeit zu einer
502 E. Die Ketubim

bestimmten Gelegenheit im Gottesdienst, d. h. einen „Sitz im Leben“ auszeich-


nen.
Nach GUNKEL gibt es folgende Gattungen:

– Hymnen
– Lieder von Jahwes Thronbesteigung
– Klagelieder des Einzelnen
– Danklieder des Einzelnen
– Klagelieder des Volkes
– Kleinere Gattungen: Segens- und Fluchworte, Wallfahrtslied, Danklied Israels, Le-
gende, Tora
– Prophetische Gattungen
– Weisheitsdichtungen
– Mischungen, Wechselgedichte, Liturgien.

Freilich nimmt GUNKEL an, dass sich die Psalmen schon relativ früh vom Kult
lösten und als „geistliche Lieder“ in die Krankenstube und vergleichbare Orte
abwanderten, wo sie vom (für das) Individuum gesprochen/gebetet wurden.
In diesem letzten Punkte folgte MOWINCKEL seinem Lehrer GUNKEL nicht. Er
betrachtet mit Ausnahme von (ursprünglich drei, später) elf Psalmen alle Texte
des Psalters als im Kult verankert. Eine vermittelnde Position nimmt VON RAD
ein: Er belässt die Psalmen im Kult, rechnet aber damit, dass sie dort von Leviten
stark spiritualisiert wurden.
Die Sicht MOWINCKELs setzte sich zuerst, wenn auch in modifizierter Gestalt,
durch. Vor allem wurde die Existenz von Untergattungen und damit verbunden
präziser Sitze im Leben behauptet. Diese Ausdifferenzierung erfolgte bei den
vom Einzelnen verwendeten Psalmen. So postulierte man u. a. die Existenz von
Krankenpsalmen, Feindpsalmen, Gebeten der Angeklagten, Asylpsalmen – und
den je dazu passenden Sitz im Leben. Da jedoch Psalmen, insbesondere was Not-
und Feindschilderungen betrifft, zumeist allgemein gehalten sind, ist Vorsicht
geboten. Ihre „schwammigen“ Schilderungen erlauben es, mit einem Psalm un-
terschiedliche Situationen abzudecken; er kann unter Umständen von Kranken,
Verfolgten und Angeklagten gleichermaßen gebetet werden.
Die formgeschichtliche Methode bedeutete einen Meilenstein in der Erfor-
schung der Psalmen und dominierte sie lange. Sie darf in ihrem Leistungsvermö-
gen jedoch nicht überschätzt werden. Die Psalmen liegen großenteils nicht mehr
in der Gestalt vor, in der sie im Gottesdienst verwendet wurden; sie sind „zer-
lesen“ und „zerschrieben“, überarbeitet. Zudem gibt es im Psalter viele Texte, die
von Hause aus nach- oder nichtkultisch sind; sie räumen der Reflexion breiten
Raum ein.
Bei MOWINCKEL, dem bedeutendsten Vertreter der sog. Skandinavischen
Schule, ist die Formgeschichte der Psalmen in eine kultische Gesamttheorie ein-
gebaut, in der das Thronbesteigungsfest den zentralen Platz einnimmt. Dieses
Fest fand an Neujahr als Teil des Laubhüttenfestes statt. An ihm wurde Jahwe
wieder in seine Herrschaft eingesetzt, was sich auf Natur und Gesellschaft positiv
II. Der Psalter 503

auswirkte. Dieses Fest entspricht dem babylonischen Neujahrsfest, in dem der


dortige Staatsgott Marduk inthronisiert wurde (mit dem Ruf „Marduk ist Kö-
nig“). Zu diesem Thronbesteigungsfest gehören neben allen Thronbesteigungs-
(Ps 47; 93; 95–95) noch weitere Psalmen. Bei einer später erfolgten Eschatologi-
sierung des Festes wurden die positiven Auswirkungen, die man von der Thron-
besteigung Jahwes erwartete, auf die Zukunft übertragen. (GUNKEL dagegen
nimmt an, dass die Thronbesteigungspsalmen nachexilisch und also von Anfang
an eschatologisch ausgerichtet waren.)
Im Zentrum des Thronbesteigungsfestes steht nach MOWINCKEL der Ruf ‫י ְהוָה‬
‫ ָמלְָך‬, von ihm mit „Der Herr ist König geworden“ übersetzt. Von der Grammatik
her liegt jedoch eine präsentische Wiedergabe – „Der Herr ist König“ – näher,
womit der These eines Thronbesteigungsfestes ihre Basis entzogen ist.
Im Folgenden seien wichtige Gattungen kurz vorgestellt. Dabei gilt es zu be-
achten, dass sich eine eindeutige Terminologie für die Gattungen und eine klare
Abgrenzung zwischen ihnen bis heute nicht durchgesetzt haben.

a) Klage- und Bittpsalmen des Einzelnen

Es handelt sich mit 35–40 Exemplaren um die wichtigste Gattung innerhalb des
Psalters. Der Klage- und Bittpsalm setzt mit einer – in seinem weiteren Verlauf
manchmal wiederholten – Anrufung Gottes ein. Es folgt die Schilderung der Not:
Krankheit (von GUNKEL betont); Bedrängung durch Feinde (MOWINCKEL
identifizierte sie zu Unrecht mit Zauberern), etwa durch Anklage – der Beter
befindet sich nach Schmidt in einer Art „Untersuchungshaft“ im Tempel, wo er
auf das göttliche Urteil wartet, das am Morgen erfolgt (wie Hilfe durch Gott im
allgemeinen); BEYERLIN rechnet allgemeiner mit einem kultischen Gottesgericht;
DELEKAT schreibt gewisse Psalmen Verfolgten zu, die im Tempel Asyl suchen. Es
wird Gott geklagt – gelegentlich wird er sogar angeklagt – und nach Dauer,
Grund und Ziel des Leidens gefragt. Schließlich bittet der Beter Gott, einzugrei-
fen und der Not ein Ende zu setzen. Zu diesen Elementen können weitere hinzu-
treten: Unschulds- und Vertrauensbekenntnis (gelegentlich als Lied entfaltet),
Lobgelübde.
Innerhalb der Klage- und Bittpsalmen erfolgt gelegentlich ein Stimmungsum-
schwung von der Klage zum Vertrauen. Er wird auf drei Weisen interpretiert:
1. Nachdem der Beter seine Not geklagt hat, holt der Priester bei Gott ein Orakel
darüber ein, ob sie gewendet wird. Die Antwort fällt positiv aus. Der Priester teilt
diese dem Beter mit, der darauf mit einer Vertrauensaussage antwortet. 2. Die
beiden Teile des Psalms bilden im Tempel aufbewahrte Formulare, die man se-
kundär miteinander verband. 3. Wer Gott sein Leid klagt, setzt implizit voraus,
dass dieser helfen kann – und wird; zudem wirkt Klagen selbst entlastend. Nach
WEBER (2005) ist der Stimmungsumschwung (in Ps 13) nicht so jäh und unver-
mittelt wie gerne behauptet; der Dank knüpft an die Klage an.
504 E. Die Ketubim

b) Dankpsalmen des Einzelnen

Oft nicht deutlich von Klage- und Bittpsalmen getrennt, weisen die Dankpsal-
men auch formgeschichtlich ein weniger klares Profil auf als diese. Häufig richtet
sich der Beter an Gott (2. Pers.) und an die anwesende Gemeinde, der er von der
Hilfe berichtet, die er von Gott erfahren hat (3. Pers.): Er kann in diesem Psalm
auf die Not zurückblicken, in der er sich befand, und von der Anrufung Gottes
und seiner Erhörung berichten. Bsp.: „Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn“
(Ps 6,2); „Gehört hat der Herr mein Flehen“ (Ps 6,10). Entsprechend dieser
Zweiteilung unterscheidet man terminologisch zwischen Dankrede und Zeugen-
rede. Mit der Gemeinde, die den Beter ins Heiligtum begleitete, hält er nach
seiner Wiederherstellung (Genesung, Errettung) eine Opfermahlzeit ab.
Bei der Auslegung von Klage- und Dankpsalmen stellt sich die Frage nach der
Identität des „Ich“, das spricht. Unter ihm ist im Gefolge von BALLA ein Indivi-
duum zu verstehen – respektive jeder Einzelne, der den jeweiligen Psalm betet.
Die gegenteilige Meinung vertrat SMEND sen.: Nach ihm bezieht sich das Ich auf
Israel / die Gemeinde (im Gegensatz zu den Außenstehenden). Seine kollektive
Deutung besitzt ein relatives Recht: Nicht nur vertreten sie (LXX) Targum und
Midrasch; auch das Alte Testament kollektiviert gelegentlich Individualpsalmen
(redaktionell, s. etwa 121,4). Zudem steht das Konzept der „corporate persona-
lity“, wie es WHEELER-ROBINSON und FRAINE entwickelten, einer scharfen Tren-
nung zwischen Individuum und Gemeinschaft entgegen. Dieses – umstrittene –
Konzept besagt: Eine Gruppe leitet sich von einem (konkreten) Individuum ab
(Ahne; Herrschergestalt) oder wird konkret in einem Individuum zusammenge-
fasst, repräsentiert.
In den Individualpsalmen nehmen die Widersacher des Beters einen zentralen
Platz ein. Allerdings ist schwer zu sagen, wer sie sind. Sie erscheinen stark ste-
reotyp dargestellt und bilden Projektionen des Beters (KEEL). Sie werden gerne
mit wilden Tieren verglichen, sind überaus groß an Zahl, stolz und schadenfroh;
sie verfolgen und bedrängen den Beter, stellen ihm Fallen und sind auf seinen
Tod aus. Die Bezeichnungen für die Feinde zerfallen nach KEEL in zwei Gruppen:
Die erste betont die „reine Gegensätzlichkeit“ von Beter und Feind (Typ ‫)אוֹיּ ֵב‬,
während im Typus ‫ ָרשָׁע‬dieser Feind auch moralisch gewertet wird; der erste Typ
erscheint viel stärker als der zweite vor allem als handelnde Person dargestellt.
Innerhalb des ‫רשָׁע‬-Typus
ָ gilt es weiter zu differenzieren: Immer stärker werden
sie zu Gegnern Gottes, zu (allerdings nicht nur) Gottlosen.

c) Klagelied Israels

Dem Klagepsalm des Einzelnen entspricht der des Volkes (12; 44; 58; 60; 74; 79f.;
83; 85; Psalmteile sowie weitere alttestamentliche Texte). Seinen Sitz im Leben
bilden gottesdienstliche Versammlungen des Volkes angesichts nationaler Kala-
mitäten (Hungersnöte [u. a. verursacht durch Heuschreckenplagen]; Kriege, bei
II. Der Psalter 505

denen der ganze Staat, insbesondere aber die Stadt Jerusalem und der Tempel in
Mitleidenschaft gezogen werden); unter den damit verbundenen Riten nimmt
das Fasten einen zentralen Platz ein. Die wichtigen Elemente dieser Gattung
bilden Anrede Gottes, Klage und Bitte. Das Volk bekennt seine Sünden und
spricht die Gewissheit aus, dass Gott ihm helfen kann; gelegentlich enthalten
diese Psalmen Lobgelübde. Das Volk versucht Gott zum Eingreifen zu bewegen
und argumentiert dabei mit der gegenwärtigen Not – die im Gegensatz zu Gottes
früherem Eingreifen zu seinen Gunsten steht –, mit seinem Namen und seiner
Ehre.
Die Existenz einer eigenständigen Gattung „Danklied Israels“, früher häufig
aus Gründen der Symmetrie postuliert, steht nicht fest; die zu dieser Gruppe ge-
rechneten Psalmen (67; 124; 129) unterscheiden sich formal kaum von Hymnen.

d) Hymnen

Die Hymnen, auch kollektive Lobpsalmen genannt, lassen sich aufgrund forma-
ler, im Folgenden aufgeführter Eigenheiten von allen Gattungen am leichtesten
als solche bestimmen. Trotzdem schwankt die Zahl der ihr zugerechneten Psal-
men – je nachdem ob man allein auf formale Gemeinsamkeiten abhebt oder auch
den Sitz im Leben eines Psalmes und den damit verbundenen Hauptinhalt be-
rücksichtigt. Im zweiten Fall betrachtet man etwa die (Thronbesteigungs-),
Jahwe-Königspsalmen sowie die Königspsalmen, die es (auf verschiedene Weise)
mit dem davidischen König (Messias) als religiöser Gestalt zu tun haben, als
eigene Gattungen. Zu den Hymnen rechnet man dann vor allem diejenigen
Psalmen, deren Inhalt weniger spezifisch ist, die stärker Gottes Größe und Han-
deln in Schöpfung und Geschichte zum Gegenstand haben und also in den regel-
mäßigen Tempelkult gehören. Der Hymnus hat seinen Sitz im Leben im (Tem-
pel-)Gottesdienst; gerade diese Gattung weist jedoch auch eine große Zahl an
Exemplaren auf, für die man außerkultische Herkunft und Verwendung an-
nimmt. Die neuere Forschung unterscheidet zwischen zwei Formen des Hym-
nus: dem partizipialen und dem imperativischen. In letzterem werden die Got-
tesdienstteilnehmer – meist in der 2., seltener in der 3. Person – im ersten Teil
dazu aufgefordert, Gott die Ehre zu geben (dankt; lobt; singt; sie sollen rühmen;
segne, meine Seele; ich will erheben; gesegnet sei Jahwe). Die Durchführung
diese Lobes erfolgt im zweiten Teil (gerne Hauptstück genannt), häufig mit ‫כִּי‬
(emphatischem „denn“, „ja“) eingeleitet. Inhaltlich zeichnet es sich durch großen
Reichtum aus: Es deckt Gottes Handeln in Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
kunft ab – wobei darunter auch sein Schöpfungswirken fällt, das nicht nur nach-
erzählt, sondern auch kommentiert wird (groß sind seine Werke) –, zudem all-
gemeine Aussagen über Gott, die in der klassischen Dogmatik unter seinen
„proprietates“ (Eigenschaften) abgehandelt werden („groß ist Gott“). Teile dieses
Hauptstückes erscheinen gelegentlich schon in der Aufforderung, bevorzugt in
Appositionen zum Gottesnamen („der dir alle deine Sünden vergibt“), wodurch
506 E. Die Ketubim

die Unterteilung in Aufforderung und Hauptstück zu verschwimmen beginnt. Ps


148 besteht fast ganz aus einer Einladung zum Gotteslob; in es wird die ganze
Kreatur einbezogen.
Der sogenannte partizipiale Hymnus besteht aus Partizipien, die im Deut-
schen als Hauptsätze wiedergegeben werden können; sein Inhalt unterscheidet
sich prinzipiell nicht von dem der imperativischen Hymnen.
Die beiden Ausgestaltungen des Hymnus kommen auch in Mischungen vor
(s. etwa Ps 33).
In spätalttestamentlicher Zeit sind häufig in erzählende Werke, gelegentlich
auch in prophetische Schriften, Psalmen(teile) (vor allem Hymnen) eingefügt
worden: bereits vorhandene oder eigens für diesen Zweck verfasste: das Schilf-
meerlied (Ex 15,1–18), das Mirjamlied (Ex 15,21), das Lied der Hanna (1Sam
1,2–10), der Psalm Davids (2Sam 22), seine letzten Worte (2Sam 23,1–7), das
Trishagion der Seraphim (Jes 6,3), der Dankpsalm Hiskijas (Jes 38,10–20), die
Doxologien im Amosbuch (Am 4,13; 5,8[f.]; 9,5f.), 1Chr 16 sowie Epiphanie-
schilderungen (u. a. Dtn 33,1f.; Ri 5,4f.), Hab 3 u. a. m. Diese Psalmen(stücke)
bilden die Antwort (der Israeliten) auf Gottes Handeln, das durch sie erst zu
seinem eigentlichen Abschluss gelangt; gleichzeitig interpretieren sie dieses gött-
liche Handeln, indem sie es in einen größeren Zusammenhang stellen und die
Prinzipien aufweisen, die in ihm wirksam sind.
Die gleiche Funktion kommt Psalmen (vergleichbar: Gebeten) auch im nach-
alttestamentlichen Schrifttum zu; sie gewinnt in ihm noch an Bedeutung. Beach-
tung verdient etwa der Gesang der drei Männer im Feuerofen (Dan 3,52–90), der
sich nur in der LXX findet und innerhalb des Danielbuches eine sekundäre Er-
gänzung bildet.
Der Psalter enthält eine recht große Zahl von „Psalmen im nachkultischen
Raum“; STOLZ rechnet dazu: Ps 22; 32; 37; 39; 49; 62; 73; 77; 94. Kultische und
nachkultische Psalmen stehen nicht zwingend in einer zeitlichen Abfolge. Sie
verhalten sich etwa zueinander wie katholische Messe und evangelischer Gottes-
dienst. Sie zeichnen sich aus durch Distanz zu überkommenen und selbstver-
ständlichen Ordnungen und Werten; dadurch eröffnen sie Raum zur Reflexion.

e) Weitere (kleinere) „Gattungen“

Begriff (und Sache) gehen auf GUNKEL zurück. Er rechnet zu ihnen: Segens- und
Fluchworte, Wallfahrtslied, Siegeslied, Danklied Israels, Legende, Tora.
a) Segens- und Fluchworte. Erstere lassen sich in die (zahlreicheren), auch
außerhalb des Psalter belegten Segenssprüche und -wünsche unterteilen (Segens-
wünsche finden sich auch im Klagelied des Einzelnen). Sie bilden insofern keine
eigene Gattung, als sie in „größere“ Gattungen integriert sind. Vergleichbares gilt
für Fluchsprüche und -wünsche. Beispiel:
b) Wallfahrtslied(er): Diese Lieder, inhaltlich geprägt durch den Lobpreis
Jerusalems, die Sehnsucht nach dem Zion und den Wunsch, Jahwe zu sehen,
II. Der Psalter 507

sang man beim Antritt der (gemeinschaftlich unternommenen) Wallfahrt sowie


bei der Ankunft in Jerusalem.
c) Siegeslied Israels: an Siegenfeiern vorgetragen. In seinem Zentrum steht –
zumeist in Gestalt einer Erzählung – der errungene Sieg über die Feinde und
darin zentral das Heldenlob und der Preis auf Jahwe, der der eigentliche Sieger in
der besungenen Schlacht ist.
d) Danklied Israels: nach GUNKEL nur in wenigen Exemplaren erhalten und
schwer zu fassen; Inhalt: Dank für die „Wendung des Unheils“.
e) Mit letzterem ist vom Stoff her die Legende verwandt, die allerdings auch
nach GUNKEL keine selbständige Gattung ist, sondern in Psalmen integriert
wurde. Die Legenden stellen in relativer Breite das Handeln Gottes oder die Sün-
den Israels dar; Beispiele: Ps 78; Dtn 32.
f) Tora: auch keine selbständige Gattung (nicht mit den Toraliturgien zu ver-
wechseln, welche die Zulassungsbedingungen für die Tempelbesucher festlegen:
Ps 15; 24), im Psalter nur in Ps 50,8.14f.22f. belegt; die gottesdienstliche Tora –
die von den Priestern erteilt wird – zeichnet sich durch den singularischen Impe-
rativ aus.
III. Hiob
Kommentare: F. Delitzsch, 1864, 21876 (BC). – B. Duhm, 1897 (KHC). – G. Fohrer, 1963 (KAT). – F.
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1978 (ZBK). – A. de Wilde, 1981 (OTS 22). – A. van Selms, 1982. – N. C. Habel, 1985 (OTL). – H.
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III. Hiob 509

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351–388.

1. Text
Vom Buch Hiob haben sich in Qumran nur kleine Fragmente erhalten: 4Q101
(4QpaleoJobc; Hi 13,18–20.23–27; 14,13–18), aufgrund paläographischer Krite-
rien ins ausgehende 2. Jh. v. Chr. datiert; 2Q15 (2QJob; Hi 33,28–30), 4Q99
(4QJoba, Hi 7,11–13; 31,14–19; 32,23–30; 34,28f.; 35,11.16; 36,8–37,5) sowie
4Q100 (4QJobb, Hi 8,15; 13,4; 14,4–6; 31,21) aus dem 1. Jh. v. Chr.
Die älteste bekannte Übersetzung Hiobs bietet wohl das um 100 v. Chr. zu
datierende Targum (11QtgIob), eine recht wörtliche Wiedergabe des Textes; es
deckt (in Fragmenten) Hi 17,14–42,12 ab. Es handelt sich bei ihm gleichzeitig um
das älteste (erhaltene) Targum eines alttestamentlichen Buches überhaupt. Frag-
mente eines weiteren Hiobtargums (ca. 40–50 n. Chr.) mit Resten von Hi 3,5–9;
4,16–5,4 stammen aus Höhle 4 (4QtgIob).
510 E. Die Ketubim

Die ins 2. Jh. v. Chr. gehörende – ziemlich freie – griechische Übersetzung des
Hiobbuches ist um fast ein Fünftel kürzer als die hebräische Vorlage, wobei sich
die Kürzungen vor allem im letzten Drittel des Buches konzentrieren. In seinem
Rahmen nimmt der Übersetzer einige wichtige Änderungen – Ergänzungen –
vor: Hi 2,9a–e enthält eine Klage von Hiobs Frau über den Verlust ihrer Kinder;
42,17b–e bietet ausführliche Angaben über die geographische und familiäre Her-
kunft Hiobs. Er wird nach Edom (ins Grenzgebiet von Idumäa und Arabien)
versetzt und in die Familie Esaus integriert; er soll früher den Namen Jobab ge-
tragen haben, also einer der Edomiterkönige gewesen sein (Gen 36,33). Auch die
Freunde Hiobs erscheinen im LXX-Zusatz als Könige, respektive Tyrannen. Hiob
soll einmal zusammen mit denen, die der Herr auferweckt, wieder auferstehen
(42,17b). Nach ihm wurde Hiob aus dem „Syrischen“ (Aramäischen) übersetzt.
Dieser Zusatz in der LXX lässt sich bis Aristeas zurückverfolgen.
Von den späteren griechischen Übersetzungen (Aquila, Symmachus, Theodo-
tion) sind nur einige Fragmente erhalten. Origenes schloss im 3. Jh. n. Chr. die
Lücken in der LXX mithilfe anderer griechischer Übersetzungen – wohl vor
allem mit der sklavisch genauen Übersetzung Theodotions.

2. Inhalt

Das Buch Hiob nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Vorstellung seines Prota-
gonisten, nach dem es auch benannt ist: Dieser hat eine große Familie, ist reich
und gottesfürchtig gleichzeitig. Nach der Einführung Hiobs wechselt die Szene:
Im himmlischen Hofstaat, dessen einzig namentlich genanntes Mitglied der
Satan ist, weist Jahwe diesen auf den untadeligen Lebenswandel Hiobs hin. Der
Satan stellt sich dieser – erzähltechnisch notwendigen – Herausforderung und
antwortet mit der Frage: „Ist Hiob ohne Grund gottesfürchtig?“ Wenn er nur
seine Habe verliere, so werde er Gott ins Angesicht lästern. Gott geht auf diese
Wette ein, beharrt aber darauf, dass der Satan Hiob selbst nicht berühre. Dieser
verliert nun alles, aber versündigt sich nicht gegen Gott. Bei einer weiteren Ver-
sammlung im himmlischen Hofstaat muss der Satan eingestehen, die Wette
verloren zu haben. Er schlägt eine zweite vor: Wenn Gott Hiobs körperliche
Integrität nicht wahre, dann werde ihm dieser ins Angesicht fluchen. Gott nimmt
auch diese Wette an und besteht nur darauf, dass der Satan Hiob das Leben be-
lässt. Als dieser darauf mit bösen Geschwüren geschlagen wird, fordert Hiobs
Gattin ihren Mann auf, Gott zu fluchen – erfolglos: „Das Gute nehmen wir an
von Gott, und das Böse sollten wir nicht annehmen?“ (Hi 2,10).
Hiob erhält nun den Besuch dreier Freunde, die sich zu ihm setzen. Sieben
Tage und Nächte bleiben sie auf der Erde sitzen, dann stimmt Hiob seine – um-
fassende – (Lebens-)Klage an (Kap. 3). An sie schließt ein Dialog zwischen den
drei Freunden an, in dem diese in fester Reihenfolge jeweils auf eine Rede Hiobs
antworten. Nach einem „Zwischenstück“ (Loblied auf die Weisheit, Kap. 28)
fordert Hiob Gott zum Rechtsstreit heraus. Doch dieser antwortet nicht sogleich.
III. Hiob 511

Es erscheint ein weiterer Freund Hiobs, Elihu, der sich selbst als jünger denn die
anderen Freunde vorstellt, Hiob eingangs anklagt, sich für gerechter als Gott zu
halten, und seine drei Freunde beschuldigt, keine Antwort gefunden und Gott so
ins Unrecht gesetzt zu haben. Elihu hält vier Reden. Im Anschluss daran ergreift
Gott zweimal das Wort. Auf seine erste Rede hin gelobt Hiob, nun schweigen zu
wollen, in der zweiten Antwort gibt er – getröstet – vor dem allmächtigen Gott
auf und verzichtet auf weiteres Argumentieren. Überraschend wendet Gott sich
mit dem Satz an Elifas von Teman, im Unterschied zu seinen Freunden habe
Hiob richtig von ihm gesprochen (Hi 42,7). Die drei Freunde bringen, wie Gott
es ihnen befiehlt, ein Brandopfer von je sieben Stieren und Widdern dar; sie
fordern Hiob auf, für sie zu beten, damit ihnen nichts Übles widerfahre. Der
Herr wendet darauf das Geschick Hiobs und gibt ihm doppelt so viel, wie er vor
den beiden Prüfungen besessen hat. Auch Kinder werden ihm wieder geschenkt,
wiederum sieben Söhne und drei Töchter, die im Unterschied zu den Söhnen
Namen tragen. Sie erhalten, was den Bestimmungen der Tora widerspricht, wie
ihre Brüder Anteil am Erbbesitz. Hiob lebt noch hundertvierzig Jahre, darf noch
vier Generationen an Kindern und Enkeln sehen und stirbt dann alt und lebens-
satt.

3. Aufbau

1–2 Prolog: Hiobs Reichtum und Frömmigkeit, die beiden Himmels-


szenen mit anschließender Probe und Bewährung; der Besuch der
drei Freunde
3 Hiobs (Lebens-)Klage
4–11 Erster Redegang
Elifas von Teman (4f.), Antwort Hiobs (6f.)
Bildad von Schuach (8), Antwort Hiobs (9f.)
Zofar von Naama (11), Antwort Hiobs (12–14)
15–21 Zweiter Redegang
Elifas von Teman (15), Antwort Hiobs (16f.)
Bildad von Schuach (18), Antwort Hiobs (19)
Zofar von Naama (20), Antwort Hiobs (21)
22–27 Dritter Redegang
Elifas von Teman (22), Antwort Hiobs (23f.)
Bildad von Schuach (25), Antwort Hiobs (26f.)
28 Gedicht von der Weisheit
29–31 Herausforderung Gottes zum Rechtsstreit
32–37 Vier Reden Elihus
38,1–40,2 Erste und zweite Gottesrede
40,3–5 Erste Antwort Hiobs
40,6–41,26 Dritte Gottesrede
42,1–6 Zweite Antwort Hiobs
512 E. Die Ketubim

42,7–17 Epilog: Zurechtweisung der Freunde Hiobs, seine Wiederherstel-


lung (1), Besuch von Verwandten und Bekannten Hiobs, seine
Wiederherstellung (2), Tod

Nach FOHRER ist anders zu gliedern: Die drei Redegänge beginnen je mit einer
Rede Hiobs, auf welche die drei Freunde antworten. Bei dieser Gliederung setzt
der erste Redegang mit der Leidensklage Hiobs ein (3). Gegen FOHRERs These
spricht, dass Kap. 3 allgemeiner gehalten ist als die folgenden Reden, in denen es
zentral um die Gerechtigkeit Hiobs geht, die das Kapitel 3 inhaltlich nicht be-
stimmt.

4. Außerisraelitische „Hiobdichtungen“

Das Buch Hiob hat – wesentlich ältere – Verwandte aus Mesopotamien, in denen
das Leiden des Gerechten thematisiert wird. Es handelt sich – in zeitlicher Folge
geordnet – um die folgenden Werke:
1. Der sumerische Hiob (die Klage eines [schuldlosen] Einzelnen), 2000 v. Chr.
oder älter.
2. Die babylonische Theodizee (Klage eines Leidenden), ca. 800 v. Chr. (Endge-
stalt); sie weist die engsten Berührungen mit dem Hiobbuch auf.
3. Der babylonische Hiob: Ludlul bēl nēmeqi („Ich will preisen den Herrn der
Weisheit“), ca. 1500 v. Chr. (während der [Fremd-]Herrschaft der Kassiten über
Babylon verfasst).
4. Die babylonische Theodizee / der babylonische Kohelet (Gespräch zwischen
einem Leidenden und einem Freund, der ähnlich argumentiert wie Hiob; es
schließt mit der Bitte um göttliches Eingreifen), ca. 1000–800 v. Chr.
Auch in der ägyptischen Literatur gibt es Werke, die sich mit Hiob berühren –
allerdings nur schwach.
Diese wesentlich früher als der biblische Hiob verfassten Werke weisen struk-
turelle Übereinstimmungen mit ihm auf; die wichtigste ist das Gegenüber des
Individuums, das einen Wert in sich hat und das sich seiner Schuld – notwendig
– bewusst ist, und eines persönlichen Gottes (was eine Relativierung des Poly-
theismus nach sich zieht).
Hängt das Hiobbuch (literarisch) von seinen mesopotamischen Verwandten
ab? Die Frage wird – meist relativ allgemein – positiv wie negativ beantwortet.
Zu den positiven Stimmen: STAMM rechnet mit Parallelentwicklung aufgrund
vergleichbarer geistesgeschichtlicher Voraussetzungen, CRÜSEMANN argumen-
tiert ähnlich von sozial-ökonomischen Zuständen / Entwicklungen her. Ange-
nommen, es besteht eine Abhängigkeit: Wo und wann geschah die Übernahme
des Stoffes? BALL macht auf den Gedankenaustausch während des babylonischen
Exils aufmerksam, MÜLLER weist auf einen bronzezeitlichen Text (R.S. 25.460)
aus der nordsyrischen Hafenstadt Ugarit (Ras Schamra) hin, ohne mit diesem
Hinweis allerdings eine bestimmte These zu verbinden. Er sei in modifizierter
III. Hiob 513

Gestalt aufgenommen: Die „Übernahme“ – wenn denn eine stattfand – könnte in


achämenidischer Zeit in einer der phönizischen Handels- und Schiffahrtsstädte
erfolgt sein, die auch als Drehscheiben für den Austausch geistiger Güter dien-
ten.
Zur formgeschichtlichen Einordnung des Hiobbuches: Sein Rahmen weist
Elemente der in der modernen Literaturwissenschaft „Novelle“ genannten Gat-
tung auf. (Er ist kurz, klar strukturiert und weist einen einzigen Erzählstrang
auf.) Was den zentralen Dialogteil betrifft, sind die verschiedensten Vorschläge
gemacht worden.
Während ein Teil der neueren Forschung die Einheitlichkeit des Werkes be-
tont, gibt es gleichzeitig eine Wiederbelebung von literarkritischen Modellen. Sie
seien zusammen mit den älteren vorgestellt.

5. Besonderheiten des Buches

Das Buch Hiob weist einige Besonderheiten auf, durch die es sich deutlich von
anderen alttestamentlichen Büchern abhebt. Sie müssen vorgängig der Behand-
lung der klassischen einleitungswissenschaftlichen Fragen behandelt werden;
Überschneidungen lassen sich nicht ganz vermeiden:
– Der Verfasser des Buches ist – darin etwas Ezechiel vergleichbar – hoch gebil-
det, was u. a. in einem reichen Wortschatz (mit vielen Hapax legomena) zum
Ausdruck kommt; es enthält zudem viele Aramaismen. Der Text ist oft schwer
verständlich; die Übersetzungen, insbesondere die LXX, helfen selten weiter.
– Der Protagonist des Buches ist Ausländer wie auch seine drei Freunde (vgl.
auch Rut): Hiob (Bedeutung des Namens möglicherweise: „Wo ist der Vater?“)
stammt aus Nordwestarabien, Elifas aus Edom, Bildad aus dem Gebiet des Mitt-
leren Euphrat, Zofar aus Südarabien, während Elihu in Westarabien zuhause ist
(mehr dazu unten). Die Wohnorte dieser Hauptprotagonisten decken geogra-
phisch einen weiten, gleichzeitig klar umschriebenen Raum ab. Sie enthalten
wahrscheinlich eine versteckte und sich uns nicht mehr erschließende theo-poli-
tische Aussage.
– Während im Rahmen des Buches der Gottesname „Jahwe“ verwendet wird,
bleibt er den Disputanden im Hauptteil verwehrt: Sie reden – als Ausländer – vor
allem von El, Eloah und Schaddai; der Jahwename findet sich in diesen Kapiteln
nur fünfmal, zudem konzentriert in Redeeinleitungen.
– Dass Hiob ein eigenartiges Buch ist, realisierten auch die Schreiber von Qum-
ran, die eine Handschrift in paläohebräischer Schrift herstellten, und vor allem
die Rabbiner, die als seinen Verfasser Mose nennen und es damit ein Stück weit
als Toraauslegung verstehen.
Die Besonderheiten des Buches Hiob erklären sich am besten, wenn man es
von seiner (prinzipiellen) Zugehörigkeit zur Autoren- und nicht zur Traditions-
literatur her erklärt. Erstere umfasst Werke, die einen Autor haben (der durchaus
mit vorliegenden Quellen arbeiten kann), während Traditionsliteratur sich
514 E. Die Ketubim

dadurch auszeichnet, dass an einem bereits vorliegenden Werk immer wieder


weitergeschrieben wird. Eine extreme Version dieses Modells vertritt TREVES mit
folgender Außenseiterposition: Beim Buch Hiob handle es sich um ein philoso-
phisches Gespräch über göttliche Gerechtigkeit (Theodizee) und des Menschen
Einstellung zum Unglück. Sein Verfasser verbinde, darin Boethius (De consola-
tione philosophiae; Vom Trost der Philosophie, 6. Jh. n. Chr.!) zu vergleichen,
Poesie und Philosophie. TREVES verbindet diese Einordnung mit einer extremen
Spätdatierung des Buches: Hiob sei um 200 v. Chr. von einem Dichter verfasst
worden, der außer der hebräischen auch griechische Dichtung kannte.

6. Die Entstehung des Buches

Das Hiobbuch zerfällt deutlich in zwei Teile: den Erzählrahmen, in gehobener


Kunstprosa verfasst (1f.; 42,7–17), sowie den Dialogteil und die anderen in Poe-
sie gehaltenen, oben aufgeführten Stücke. Man rechnet für diese beiden Teile
grundsätzlich mit zwei verschiedenen Autoren: Das „Volksbuch“, wie man den
Rahmen gelegentlich nennt, gilt als älter denn die poetischen Stücke. Diese Be-
urteilung geht im wesentlichen auf Wellhausen zurück, der mit Formulierungen
wie „Volkssage“, „populäre himmlische Gestalten“, „merkwürdig einfache Dar-
stellungsmittel“ etc. die Wahrnehmung von Hiob für lange Zeit maßgeblich
prägte. Er wies jedoch auch auf die Raffinesse hin, welche den Rahmen als Gan-
zes auszeichne.
Nach der lange Zeit dominierenden These wurde der Dialogteil sekundär in
das ältere Volksbuch eingefügt; als noch spätere Einfügungen gelten die Elihu-
reden.
Ein Teil der jüngeren Forschung nimmt vom „Volksbuch“ jedoch resolut
Abschied und ordnet die Rahmenerzählung der jüngeren Kunstprosa zu. Und
während früher der Rahmen als eindeutig älter galt denn der Dialogteil, vertreten
heute viele Hiobausleger die gegenteilige These. Doch wie auch immer: Vor
allem der Dialogteil kann nach der Mehrheitsmeinung schwerlich ohne Einfüh-
rung bestanden haben. Deshalb darf die Möglichkeit nicht a priori ausgeschlos-
sen werden, dass Rahmenerzählung und Dialogteil von Anfang an zusammenge-
hörten – etwa so, wie das im perserzeitlichen, auf Aramäisch verfassten Achiqar-
buch der Fall ist, dessen Rahmen ein Roman bildet, in den (ältere) Sprüche
eingefügt wurden. Gegen diese These sprechen auch nicht die Unterschiede zwi-
schen den beiden Teilen, von denen einer schon genannt wurde. Ein nicht stark
ins Gewicht fallender: Während Hiob im Rahmen als reicher Nomadenscheich
dargestellt wird, ist er (s. vor allem Kap. 29) im Dialogteil Städter. Dieser Unter-
schied verdankt sich dichterischer Lizenz, die sich so etwas ohne weiteres her-
ausnehmen kann. Schwerer wiegt schon, dass Hiob im Prolog sein Leiden klaglos
hinnimmt, während er in den Dialogen auf seiner Schuldlosigkeit beharrt und
deshalb behaupten muss, ungerechtfertigt zu leiden. Dazu vorläufig Folgendes:
Dieser Widerspruch kann nicht als unüberwindlich empfunden worden sein;
III. Hiob 515

andernfalls wäre es unmöglich gewesen, die beiden Teile miteinander zu verbin-


den.

7. Literargeschichtliche Differenzierungen innerhalb des Dialogteils


Ausgehend von einer Untersuchung des 3. Redegangs (21–27[28]), der sich ge-
genüber dem ersten und zweiten durch einige Besonderheiten auszeichnet (24;
sprachlich auffällig; Kürze der dritten Rede Bildas; Fehlen einer solchen bei
Zofar; Überlänge der Rede Hiobs 26–31, die, zu Beginn an die Freunde gewandt,
in einen Monolog ausmündet; theologische Auffälligkeiten) entwickelt WITTE
eine Redaktionsgeschichte des ganzen Buches. Auf den ursprünglichen Hiob-
dichter gehen zurück – abzüglich kleinerer redaktioneller Elemente –: die Reden
Hiobs und seiner drei Freunde (ohne die 3. Bildadrede) sowie ein umfangreicher
Grundbestand der Gottesrede in 38f. Die drei Redaktionen, die WITTE im 3. Re-
degang ausmacht, findet er auch in den beiden ersten Redegängen. Sie weisen je
ein eindeutiges theologisches Profil auf: Die Niedrigkeitsredaktion findet sich in
der Erweiterung der Elifasreden, der Komposition der dritten Bildadrede und der
Unterwerfung Hiobs. Auf die Majestätsredaktion gehen zurück die Erweiterung
der Hiobreden (insbesondere von Teilen aus Kap. 28, dem Weisheitskapitel), die
Komposition einer Hiobrede (26,1–4) sowie der Ausbau der Gottesrede (39,13–
18). Durch die Gerechtigkeitsredaktion werden die Reden Hiobs und sein Reini-
gungseid erweitert, die Gottesrede umgestaltet und Hiobs Antwort aufgeteilt.
Witte vermutet, dass sich im Rahmen, der nach ihm auch eine mehrschichtige
Redaktion aufweist, auch Majestäts- und Gerechtigkeitsredaktion niedergeschla-
gen haben. Die Charakterisierung Hiobs als untadelig und rechtschaffen, Gott
fürchtend und das Böse meidend sowie die beiden Satansszenen schlägt Witte
tentativ der Majestäts- und Gerechtigkeitsredaktion zu. Zur literatur- und theo-
logiegeschichtlichen Einordnung dieser Redaktionen: Die Niedrigkeitsredaktion
betont die Geschöpflichkeit des Menschen, der sich darin und in der damit ver-
bundenen Sündhaftigkeit stark vom allein gerechten und heiligen Gott getrennt
weiß. Die nächsten Parallelen zu dieser Theologie finden sich in IQS, IQH, Qum-
ranschriften, die möglicherweise ins 2. Jh. v. Chr. zurückreichen. Die Niedrig-
keitsredaktion im Hiobbuch geht vielleicht auf eine protochassidische Bewegung
zurück.
Die Majestätsredaktion, am deutlichsten in Hi 28 zu greifen, betont Gottes
alleinige Weisheit und Schöpfermacht; er ist über Natur, Menschen und Ge-
schichte erhaben. Diese Schicht steht zwischen Spr 8 einerseits und Sir 24; Bar 3
andererseits – und in relativer Nähe zu 11QPsa18. Sie datiert wie die Niedrig-
keitsredaktion ins 3. Jh. v. Chr.
Die Gerechtigkeitsredaktion betont die „innerweltliche vergeltende Gerechtig-
keit Gottes, insbesondere hinsichtlich ihres strafenden Charakters; sie entschärft
(gezwungenermaßen) Hiobs Anklagen gegen Gott“ (215). WITTE situiert diese
Theologie bei den mit Schultexten arbeitenden Weisheitslehrer am palästini-
schen Lehrhaus.
516 E. Die Ketubim

Niedrigkeits-, Majestäts- und Gerechtigkeitsredaktion reagieren auf die Krise,


die im ursprünglichen Hiobbuch zum Ausdruck kommt, und tragen dadurch
gleichzeitig zu ihrer Lösung bei. In ihnen vollzieht sich eine Entwicklung vom
Leiden zur Lehre.
WEIMAR, der von der ursprünglichen Selbständigkeit von Dialogteil und Rah-
menhandlung ausgeht, unterscheidet in dieser grob gesprochen drei Elemente:
eine ältere und eine jüngere Fassung – beides weisheitliche Lehrerzählungen –
sowie eine jüngere redaktionelle Bearbeitung, die den Bezug zum Dialogteil her-
stellt. Die ältere Fassung umfasst 1,1–2.3b.6–9; 2,5–13* (ohne 2,11αβ); 42,10aαb.
16–17, die jüngere 1,3a.4–5.10 – 42,11–13. Während es in der älteren Fassung
um die Bestätigung der Tugend Hiobs und damit um seine Bewährung geht,
steht in der zweiten stärker die Bewährung Gottes im Zentrum. 2,11aβ + 42,7–
9.10aβ.14–15 setzen die Hiobdichtung voraus und bilden die jüngst redaktionelle
Bearbeitungsschicht. 42,7–9 enthalten eine Abrechnung mit den Elihureden.

8. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Reden

Welches ist die geistes-, respektive form- und gattungsgeschichtliche Folie, auf
deren Hintergrund das Hiobbuch zu verstehen ist? Drei Vorschläge – selten in
Reingestalt vertreten – stehen zur Diskussion: Weisheit, Psalmen und Recht.
Die Einordnung des Buches unter die Weisheit erfolgt vor allem aufgrund
seines Inhaltes, d. h. der in ihm aufgeworfenen Fragen und gegebenen Antworten
(Gerechtigkeit Gottes, Tun-Ergehen-Zusammenhang etc.). Doch auch von Form
und Gattung des Buches her wird sie vorgenommen: Man verweist auf weisheit-
liche Sentenzen (5,26; 6,5; 11,12) und den Zahlenspruch (5,17–26; vgl. 13,20–22)
oder vergleicht die Auseinandersetzung zwischen Hiob und seinen Freunden mit
dem Rätselwettstreit, in dem sich Salomo und die Königin von Saba messen
(1Kön 10). Mit diesem Wettstreit gelangt man auch zum außerisraelitischen
Vergleichsmaterial. Verwiesen wird auf die literarische Streitschrift von Papyrus
Anastasi 1 und – zeitlich und örtlich weit entfernt – die Dialoge Platos oder,
noch genereller, die griechische Philosophie. MERX erwähnt als – zeitgenössische
– Parallelen die arabischen maqama (eine Art Sitzung) und den musamira, eine
nächtliche Unterhaltung, wie sie Semiten eigentümlich sei. LINDBLOM schließlich
macht auf die Orientalen eigene und auch im Buche Hiob anzutreffende Geistes-
disposition beim Diskutieren aufmerksam: Für sie ist eine Behauptung dann
wahr, wenn sie selber fest daran glauben.
Vielfältig sind die Erklärungen des Buches von den Psalmen (Klageliedern)
her. Prägnant begründet VOLZ sie: Es geht im Buche Hiob „nur um den persönli-
chen Fall, nicht um die allgemeine Frage“ – also nicht um Weisheit. WESTERMANN
spricht von einer dramatisierten Klage. – KUHL, der dem Weisheitsparadigma
eine particula veri zugesteht, macht in Hiob drei Motive (Themen) aus, die sich
eng mit der Klage berühren: 1) Bitte um Erlösung vom Leiden durch den Tod;
2) bald verzweifelte, bald ironische oder sarkastische Anklagen gegen Gott; 3) Be-
III. Hiob 517

teuerung seiner Unschuld und Gerechtigkeit. Schwäche dieser Erklärung: Die


meisten ihrer Vertreter streichen die Gotteserscheinung und Gottesrede als nicht
ursprünglich. – MÜLLER bringt exegetische Einzelbeobachtungen in die Diskus-
sion ein: 1) Hiob schreitet nur zaghaft von der Klage zur Bitte fort, die er zudem
nur als Wunsch äußert, a) er möge sterben, b) Gott möge von ihm ablassen,
c) sein Anliegen möge gehört werden und d) ihm möge eine Gottesbegegnung
zuteil werden. 2) Das Gotteslob erfolgt nur als Lob der Majestät Gottes; 3) Hiob
äußert die Hoffnung auf einen Zeugen / Bürgen im Himmel; 4) Indem sich Hiob
zunehmend von den Freunden ab- und allein Gott zuwendet, findet bei ihm eine
innere Wandlung statt. Doch die Lösung der Spannung erfolgt erst durch die
Antwort Gottes.
Die juridischen Interpretationen unterscheiden sich voneinander, was die
postulierte Parteienkonstellation und den angenommenen Verfahrensablauf
betrifft. Nach VOLZ führt Hiob einen Prozess gegen Gott. Er erklärt sich von der
babylonischen Beschwörungsreligion her, in welcher der Kranke einen Prozess
gegen feindliche Mächte führt. Der Leidende bittet Gott um Hilfe gegen sie. Die-
ser führt schließlich den Prozess gegen den Dämon. Bei Hiob vereinigt sich alles
in Gott, und dieser selbst nimmt deshalb schließlich dämonische, ja satanische
Züge an (vgl. SPIECKERMANN).
Zum Durchbruch verhalf der juridischen Interpretation KÖHLER mit seiner
eingängigen und einnehmenden Darstellung der hebräischen Rechtsgemeinde,
deren Rekonstruktion stark auf dem Buche Hiob aufruht. Dieses schildert einen
eigentlichen Rechtsstreit. Dabei bilden die Freunde, die in ihren Charakteren
nicht ausdifferenziert werden, eine Partei. Die Reden der Freunde und Hiobs
erinnern an die von Staatsanwalt und Verteidiger, die sich in Replik und Duplik
antworten und dabei immer wieder die gleichen Argumente vorbringen. Der
dritte Freund Hiobs kommt am Schluss nicht mehr zur Rede, was bedeutet: Seine
Partei hat versagt, Hiob den Sieg errungen; das zieht die Herausforderung Gottes
nach sich. (Radikaler interpretiert STIER dieses Verstummen: Die Verteidiger
Gottes ziehen sich zurück, dieser wird damit als schuldig und Hiob als unschul-
dig erklärt.) – STAMM sieht im Buch Hiob einen Rîb (Rechtsstreit) mit klarer
Rollenverteilung: Hiob ist Kläger, Gott der Angeklagte, und die Freunde amten
als Richter. – Als wesentlich differenzierter nimmt GEMSER die Parteienkonstel-
lation wahr: „Job is the plaintiff and prosecutor, the friends of Job are witnesses
as well as co-defendants and judges, while God is the accused and defendant, but
in the background and finally the ultimate judge of both Job and his friends“
(135). – Am stärksten sieht RICHTER das Buch Hiob als durch juridische Vorstel-
lungen bestimmt an; nach ihm lassen sich in ihm die einzelnen Teile des Verfah-
rens deutlich voneinander abheben: vorgerichtliches Schlichtungsverfahren (4–
14), Schlichtungsverfahren (15–31), Gottesurteilverfahren (38,1–42,6). Weiter
nimmt er an, dass dem Verfasser des Hiobbuches sowohl das babylonische wie
das ägyptische Rechtsverfahren bekannt war. Auch die Elihureden integriert er in
sein juridisches Erklärungsmodell: Sie bilden die „Wiederaufnahme des Rechts-
streits mit Hiob“. Eine Variante dieser stark juridischen Interpretation bietet
518 E. Die Ketubim

HORST, der im Buch juridische Fachtermini in großer Dichte ausmacht, darunter


sogar aus dem Pfand- und Bürgschaftsrecht. Beachtung verdient der Hinweis
von BOECKER auf Hi 16,21, wo er den „Schlichter“ im Rechtsstreit sieht, der Gott
und Hiob einander gegenüberstellt. – Eine originelle Interpretation des Buches
auf juridischem Hintergrund schlägt MÜLLER vor: „Da die Freunde so schlechte
Anwälte Gottes und des Menschen sind, soll der große Prozeß nun zwischen
Hiob und Gott allein ausgetragen werden“ (1978, 98).
Die drei Erklärungen schließen sich gegenseitig nicht zwingend aus; sie kön-
nen, wie eine vierte besagt, alle eine particula veri aufweisen. Sie überlappen sich
auch inhaltlich miteinander: Juridische und weisheitliche Erklärung bauen beide
auf dem Thema der Gerechtigkeit auf; die Klage als Reaktion auf erfahrenes Leid
verbindet psalmistische und juridische Erklärung miteinander.

9. Hiob 28: Das Weisheitskapitel


Das Gedicht von der Weisheit (Hi 28) entfaltet die These, wonach alles gefunden
werden kann, die Weisheit aber nicht. Obwohl schon früh Bedenken an ihrer
Ursprünglichkeit innerhalb des Hiobbuches aufkamen (DE WETTE), wurde diese
doch auch verteidigt, und zwar äußerst vielseitig. Man fand in diesem Kapitel
etwa die dritte, im Dialogteil fehlende Rede Zofars. Auch Hiob selbst wies man
die Rede zu: Dies ist unter der Voraussetzung möglich, dass in Hi 27 + 28 ein
corpus poeticum vorliegt, in dem sich Hiob als der gleiche vorbildliche Fromme
präsentiert, der er in der Rahmenerzählung ist. Die Ursprünglichkeit des Ge-
dichtes suchte man auch dadurch zu retten, dass man es als abschließendes Urteil
über die vorangehenden Diskussion verstand (was der Text als sekundärer aller-
dings auch sein kann) oder es an seinen postulierten ursprünglichen Platz ver-
setzte – unmittelbar hinter die Gottesreden.
Gelegentlich wird Hi 28 dem Verfasser des Buches belassen, aber angenom-
men, es handle sich bei diesem Gedicht um ein Fragment aus seiner Hand, das
mit dem Buche nichts zu tun habe oder das erst nachträglich – allerdings für
seinen Einsatz im Buche – verfasst worden sei.
Gegen die Ursprünglichkeit von Hi 28 werden vor allem drei Gründe (unter-
schiedlichen Gewichts) ins Feld geführt. 1) Das Kapitel, das mit Spr 8 (die perso-
nifizierte Weisheit vor Gott) verwandt ist, verrät griechischen Einfluss (νοῦς im
Kosmos). Dem steht entgegen, dass im Hellenismus die σοφία (als personifizierte
göttliche Gestalt) erst relativ spät bezeugt ist. Zudem erscheint die Weisheit in Hi
28 nicht als Person; ihre Charakterisierung als „numinose Materie“ oder „Welt-
plan, -gesetz und -weisheit“) sind sachgemäßer. 2) Das Buch Hiob will überzeu-
gen, Hi 28 dagegen enthält – neutral präsentierte – Reflexion. 3) Während Hi
38,1–42,17 eine „reich facettierte Lösung“ des Hiobproblems enthält, enttäuscht
Hi 28 diesbezüglich (MÜLLER). Nach Fohrer macht der Hinweis auf die Unzu-
gänglichkeit der Weisheit die folgenden Gottesreden eigentlich überflüssig.
Einer beliebten These entgegen stehen Unauffindbarkeit (V. 12–14) und
Nichtkäuflichkeit (V. 15–19) der Weisheit nicht zwingend in Widerspruch zu-
III. Hiob 519

einander: Bei beiden Aussagen geht es darum, dass der Mensch nicht in ihren
Besitz gelangen kann; sie verstärken sich also gegenseitig. Literarkritische Opera-
tionen innerhalb des Kapitels erübrigen sich deshalb. Während Spr 1–9 fast em-
phatisch dazu einlädt, Weisheit zu erwerben, hält Hi 28 ebenso bestimmt fest,
dass dies unmöglich sei. Bildet etwa Spr 8 einen Angriff auf die Skepsis von Hi 28
(PFEIFFER), oder antwortet im Gegenteil dieses skeptische Lied auf den „harmlo-
sen, ungetrübten Glauben an die Möglichkeit des Erwerbs und Begriffs der
Weisheit“? (BUDDE XVIII).

10. Die Elihureden (Hi 32–37)

Die Elihureden bilden, wie schon EICHHORN erkannte und sogar der konservati-
ve DELITZSCH zugestand, einen sekundären Bestandteils des Hiobbuches; sie sind
nach einer neueren These die „Ausgabe letzter Hand“.
Für ihren sekundären Charakter spricht schon der große rhetorische Auf-
wand, mit dem Elihus Auftritt eingeleitet und begründet wird: Bisher, so Elihu,
habe er noch nicht in die Debatte eingegriffen, da er dies, als noch jung an Jah-
ren, für unziemlich hielt. Er nimmt für sich indirekt eine höhere Legitimation als
die des Alters in Anspruch: die Begabung durch Geist (durch den Allmächtigen,
32,8).
Von den drei Freunden weist nur Elifas eine biblische Verankerung auf (Gen
36,11.15); alle drei werden sie zudem nur mit ihrem Herkunftsort eingeführt,
nicht aber genealogisch eingeordnet. Anders Elihu: Er wird mit Vatername
(Sohn des Barachel) und als Buziter aus der Sippe Ram vorgestellt. Der Sippen-
name Buz verweist auf Gen 22,21, wo Uz und Buz als Brüder erscheinen. Nun
stammt Hiob aus Uz und Elihu aus Bus; folglich sind Hiob und Elihu eng mit-
einander verwandt. Bei der „Sippe Ram“ (1Chr 2,9; Rut 4,19) assoziiert man fast
automatisch den Clan aus dem Stamme Juda, aus dem König David hervorging.
Die beiden Herkunftsangaben widersprechen einander nicht notwendig. Sie
enthalten einen doppelten Anspruch (auf vornehme Abstammung) und bringen
damit das hohe Selbstbewusstsein zum Ausdruck, das der Verfasser des Hiob-
buches Elihu zuspricht. Ausgezeichnet wird Elihu – vgl. damit die Namen der
drei Freunde Hiobs! – durch seinen Namen (Er ist [mein] Gott) wie durch den
seines Vaters (Gott segnet / hat gesegnet; segne, Gott).
Auch formal geben sich die Elihureden als etwas Eigenes zu erkennen: Sie
enthalten ausgesprochen viele Aramaismen. Elihu verzichtet in ihnen weitge-
hend auf Vergleiche, holt ausgesprochen weit aus, redet wie ein „schwülstiger
Rabbi“ (DUHM). Allerdings argumentiert er auch sauberer und präziser als die
drei Freunde Hiobs: Er nimmt die Behauptungen Hiobs einzeln auf, zitiert, be-
streitet und widerlegt sie und schließt daran eigene Ausführungen an. Die Ver-
geltungslehre, wie sie die Freunde Hiobs vertreten, überzeugten diesen be-
kanntlich nicht. Elihu modifiziert sie, indem er sich weniger mit dem Grund des
Leidens als mit dessen Zweck auseinandersetzt: Es bildet eine Erziehungsmaß-
520 E. Die Ketubim

nahme Gottes, die dem Sünder erlaubt, sich als solcher zu erkennen und sich
schließlich Gott zu unterwerfen – Hi 42,5f. liegt ganz auf der Linie Elihus.
Seine Reden sind ausgezeichnet in den Kontext eingepasst, vor allem Hi
36,22–37,24: Dieser Hymnus auf den großen und erhabenen Schöpfergott be-
rührt sich aufs engste mit den Gottesreden und imitiert diese – die erste sogar
formal, wie ihre vielen „rhetorischen“ Fragen zeigen.
Dem Verfasser der Elihureden ist ein Meisterstück gelungen: Er erkennt die
Fragen Hiobs als berechtigt an und ergreift auch nicht einseitig für dessen
Freunde Partei. Sie und Hiob haben versagt, wie er gleich zu Beginn seiner Aus-
führungen festhält. Er, Elihu, bietet eine neue Lösung an: die alte in neuem Kleid,
inhaltlich zudem um eine Art „Gottesrede“ erweitert und damit mit einem zwei-
ten Stempel der Orthodoxie versehen.
In Elihu den Verfasser des Hiobbuches zu sehen geht nicht an; er ist einer
seiner letzten Interpreten, wenn auch nicht der Letztinterpret.
Wer ist der Verfasser der Elihureden? Am genausten weiß es MENDES: Beim
Autor von Hi 32–37 handelt es sich nach ihm um einen Mann, der sich als inspi-
rierter Weiser versteht und mit prophetischer Vollmacht auftritt – etwas, was ihn
vom klassischen, traditionellen Weisen unterscheidet. EV (der Verfasser der
Elihureden) „identifiziert“ sich mit dem Ideal eines Weisen, wie es Sir 38,24–34
entwirft – allerdings nicht mit der politischen Führungsaufgabe, die diesem dort
zugewiesen wird. Die Elihureden bilden eine Antwort auf die Herausforderungen
der „Zwischenzeit“, in der EV lebt – allerdings mit einem eschatologischen Hori-
zont. Das Gericht über Israel ist abgeschlossen, man wartet auf eine noch ausste-
hende Vollendung. EV versucht die überkommene Tradition beizubehalten und
eine mit dieser vereinbare Antwort auf die Herausforderungen durch den Helle-
nismus zu geben, insbesondere auf deren σοφία-Lehre. Interpretament für die
Gegenwart bildet die Idee der göttlichen Erziehung. Das Erziehungshandeln
Gottes wird allerdings nicht mehr als eine Züchtigung Israels durch Leiden gese-
hen, sondern als eine Belehrung des Einzelnen in seinem Leiden. Dadurch erfolgt
auch ein Brückenschlag zum hellenistischen Paideiagedanken.
Unter dem Einfluss einschneidender Ereignisse während der Herrschaft
Antiochus’ III. und Antiochus’ IV. sind nach MENDES die Elihureden noch drei-
mal überarbeitet worden, wobei diese Redaktionen auch in anderen Teilen des
Hiobbuches greifbar werden.

11. Die Gottesreden

Für die Gesamtdeutung des Hiobbuches entscheidend sind die drei (!) Gottes-
reden (38,2–39,30; 40,1f.; 40,6–41,26), an deren erste und dritte jeweils eine Ant-
wort Hiobs anschließt. In ihnen erwartet man die Antwort auf Hiobs Not wie das
an ihm durchexerzierte Problem. Nicht so VOLZ, HEMPEL und BAUMGÄRTEL,
welche die Lösung im Dialogteil suchen – und finden. Sie und andere meinen, in
den Gottesreden werde Hiobs Anliegen zurückgewiesen. Nach HESSE schloss das
III. Hiob 521

Hiobbuch ursprünglich mit einer bloßen Theophanie (Hi 38,1), auf die nur noch
eine kurze Reaktion Hiobs folgte (Hi 42,5f.); er vertritt mit dieser These eine
Minderheitenposition.
Auch viele (der zahlreicheren) Vertreter ihrer Ursprünglichkeit rechnen mit
umfangreichen sekundären Ergänzungen. Misstrauen erweckt allein schon die
Mehrzahl der Reden, mit der vielleicht die Wiederholung der Wortwechsel im
Dialogteil imitiert wird; reichte bei Gott nicht eine Antwort? Große Einigkeit
herrscht in Bezug auf 41,4–26: Der Verfasser dieses Abschnitts beschreibt fast
ausschweifend – zudem ohne die für die erste Gottesrede charakteristischen
rhetorischen Fragen Gottes, der zusammen mit diesen selber verschwindet.
EICHHORN und EWALD gingen noch weiter und erklärten alle zoologischen
Ausführungen in der zweiten Gottesrede für sekundär. Auch den Abschnitt über
den Strauß halten viele für später zugefügt.
Keine Notwendigkeit zu literarkritischen Operationen besteht nach KUBINA:
Beide Gottesreden und beide Antworten Hiobs gehören zum ursprünglichen
Bestand des Buches.
Ein einfaches Modell vertritt BUDDE: Er rechnet mit einer Gottesrede, 38,1–
39,20; 40,15–41,3; 40,2.8–14, an die sich eine Antwort Hiobs (40,3–5; 42,2.3b.5f.)
anschloss.
Ein so kompliziertes wie originelles Entstehungsmodell vertritt MAAG. Hi
31,40 hält fest, dass Hiobs Worte zu Ende sind, und auch nach Hi 42,7 („Als der
Herr diese Worte zu Hiob gesprochen hatte“) ist mit einer Antwort Hiobs auf die
Gottesreden nicht zu rechnen. Das Buch Hiob schloss ursprünglich also mit einer
Gottesrede (den Abschnitt über den Strauß in 29,13–18 scheidet er als sekundär
aus). Die erste Antwort Hiobs auf Gottes Rede (40,3–5*) bildete nach ihm zuerst
eine solche auf Elihus Reden, insbesondere eine solche auf 33,32f. (vgl. die fol-
gende Gegenüberstellung):

33,32f.
Hast du Worte, so gib mir Antwort;
Sag an; denn gerne gäbe ich dir Recht.
Wenn nicht, so höre du mir zu:
Schweige, so will ich dich Weisheit lehren.

40,3–5
So antwortete Hiob und sprach:
Ich bin zu gering, was soll ich dir antworten?
Ich lege meine Hand auf meinen Mund,
Einmal habe ich geredet und antworte nicht mehr,
zweimal, und tue es nicht wieder.

Der erste Teil der zweiten Gottesrede (40,6–14) beinhaltet eine brutale Macht-
demonstration Gottes (in Gestalt einer Aufforderung zum Ringkampf), auf die
Hiob nicht anders als mit einer Unterwerfung reagieren kann (Hi 42,2.6). Die in
522 E. Die Ketubim

diesen Versen zu greifende Redaktion will die Dichtung mit der Erzählung ver-
binden und so der „Orthodoxie“ zum Durchbruch verhelfen.
Revolutioniert hat die Auslegung der Gottesreden KEEL. Er bezieht die mit den
einzelnen Tieren verbundenen, je spezifischen (religiösen) Vorstellungen in die
Untersuchung mit ein und weist auf diesem Weg die Doppelung der Reden als
gewollt auf. Die erste antwortet auf den Vorwurf, die Erde sei ein Chaos (s. vor
allem Hi 3), und verteidigt demgegenüber die Schöpfung als weise geplantes Un-
ternehmen. Sie verweist zu diesem Zwecke auf den immer neu Kosmos schaffen-
den Gott und auf Jahwe in Gestalt des vorderasiatischen Herrn der Tiere. Die
zweite Gottesrede antwortet auf den Vorwurf, die Erde sei der Gewalt eines ‫ָרשָׁע‬
(Verbrechers) ausgeliefert. Sie verteidigt diesem Vorwurf gegenüber die Gerech-
tigkeit Jahwes und betont zu diesem Zweck den Kampf, den Jahwe immer wieder
von neuem gegen die ‫שׁעִים‬ ָ ‫ ְר‬austrägt; Jahwe kämpft in Gestalt des ägyptischen
Horus gegen Nilpferd und Krokodil, die das Böse schlechthin verkörpern.

12. Zeitliche Ansetzung; „Autor“

Am meisten Zustimmung findet die Ansetzung des Buches in die persische Zeit.
HURVITZ vertritt sie aus sprachlichen Gründen: Sein Rahmen weise sprachlich in
diese Zeit. (Nach ZUCKERMAN ist der Rahmen sprachlich jünger als die Rahmen-
handlung.) KNAUF führt für diese Datierung ein ganzes Bündel von Argumenten
ins Feld: Die Überfälle der räuberischen Sabäer und Chaldäer, die im Prolog
unverzichtbar sind, setzen nach ihm den Aufenthalt Nabonids, des letzten neu-
babylonischen Herrschers, in Arabien zwischen 552 und 539 v. Chr. voraus. Der
Verfasser von Hiob zeichne das damalige Nordwest-Arabien so, wie es ein Be-
wohner Palästinas in der Perserzeit wahrnahm. Er, der selbst in Palästina lebte,
wähle dieses fiktive Milieu aus einem ganz bestimmten Grund: Der Sicherheit
und Stabilität, die (auch Palästina) in der persischen Zeit auszeichnet, traue der
Verfasser nicht; ihre (potentielle) Gefährdung illustriere er am Beispiel der
vorangehenden chaotischen Zeit unter Nabonid (die in Gen 6–8 in der Gestalt
der Sintflut erscheint).
Der Verfasser Hiobs bedient sich hebräisch-arabischer Wortspiele (3,14: hebr.
‫ ח ֳָרבוֹת‬entspricht sabäisch mḥrb [Palast]; damit wird auf die „felix et deserta
Arabia“ angespielt. – Hiob will seine Worte für immer in Stein gehauen sehen
(19,23f.) – möglicherweise Hinweis auf die Graffiti, die in Nordarabien zwischen
5. und 3. Jh. v. Chr. verbreitet waren. Die Zelte der Verwüster (12,6) verweisen
auf die besondere Lebensform der Beduinen und deren hohe Gewaltbereitschaft,
die Lehmhäuser (4,19.21) findet man am ehesten in nordarabischen Oasenstäd-
ten. Aus dem starken arabischen Kolorit des Hiobbuches schlossen FORSTER und
MÜLLER sogar, beim Buch Hiob handle es sich um eine Übersetzung aus dem
Arabischen; dagegen spricht allein schon die starke Vertrautheit des Autors mit
biblischen Stoffen und Texten.
Von den „Arabismen“ am stärksten ins Gewicht fällt der Name von Hiobs
III. Hiob 523

Heimat: Der Verfasser des Buches wählt für sie nicht einen der aus Gen 10; 25,1–
4 bekannten Namen aus, sondern ‫ = עוּץ‬arab. ‘Auḍ, was „Wechsel“, „Wechsel der
Zeiten“ bedeutet und damit die Thematik des Buches aufs beste bezeichnet.
Von seinem sozialen Status her gehört Hiob nicht nach Arabien, erscheint er
doch als – außerordentlich reicher – Großgrundbesitzer. Wahrscheinlich war er
selbst keiner, sondern sympathisierte mit den Anliegen dieser Klasse, die sich
stark im internationalen Handel betätigte und häufiger als niedrigere Schichten
Mischehen einging. Hiob erhebt also den Anspruch: Auch der Reiche hat ein
Recht auf seinen Gott; auch er kann fromm und rechtschaffen sein und der gött-
lichen Zuwendung gewiss.
Der Verfasser des Buches gehört wie Kohelet zu den „Intellektuellen“. Diese
Einordnung beruht auf 1) seiner ausgezeichneten Bildung, 2) seinem virtuosen
Umgang mit vorhandener Schrift. Zu 1: Der Verfasser von Hiob ist mit Mytho-
logie vertraut, kennt sich in der Kosmologie aus, verfügt – damit verbunden –
über astronomisch-astrologische Kenntnisse, schildert die Entstehung des Men-
schen in einer naturwissenschaftlich anmutenden Weise, beeindruckt durch
seine zoologischen Ausführungen und ist auch rechtlich beschlagen. Seine
Kenntnisse bezieht er nicht allein aus seiner unmittelbaren Umgebung und aus
einem einzigen Kulturkreis: Ägypten, Mesopotamien und Arabien sind in sei-
nem Werk gleichermaßen vertreten, und auch Griechenland fehlt in ihm nicht.
Zu den Schriftbezügen: Sie sind sehr unterschiedlicher Art und erstrecken sich
über fast das ganze Alte Testament: Der Erzählrahmen in der Novelle erinnert so
stark an den der priesterschriftlichen Flutgeschichte, dass man ohne die An-
nahme direkter Abhängigkeit nicht auskommt. Inhaltlich unterscheidet sich
Hiob allerdings stark von den beiden theologischen Hauptströmungen des Pen-
tateuch, P und D: Während nach P der Mensch in einer stabilen Welt lebt, tut er
das nach Hiob nicht. Wer sich nach D toragemäß verhält, braucht nichts zu
fürchten, etwas, was Hiob vehement bestreitet; sein Ergehen wird in deuterono-
mistischer Diktion beschrieben (vgl. Hi 2,7 mit Dtn 28,35). – Wie Abraham und
Isaak (Gen 25,8; 35,29) stirbt auch Hiob hochbetagt und satt an Lebenstagen
(42,17). – Hi 4 enthält eine kritische Auseinandersetzung mit der Prophetie,
insbesondere mit dem Offenbarungsempfang. Aus der Prophetie übernimmt
Hiob auch die Gestalt des Satan, der in der Rahmenerzählung eine zentrale Rolle
spielt. – In Hi 7,17–19 weist Hiob in enger sprachlicher Anlehnung an Ps 8,7
(„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“) aufs schärfste die Anthropolo-
gie dieses Psalmes zurück: Nicht das gekrönte, gottnahe Wesen ist der Mensch,
sondern eines, das Gott jeden Morgen aufs neue heimsucht. Die sich an diese
Klage anschließende Frage: „Wie lange schaust du nicht weg von mir?“ ist
deutlich im Anschluss an Ps 39,14 formuliert: „Schau weg von mir.“
IV. Sprüche
Kommentare: F. DELITZSCH, 1873 (BC). – G. WILDEBOER, 1897 (KHC). – B. GEMSER, 1937, 21963
(HAT). – J. VAN DER PLOEG, 1952 (BOT). – H. RINGGREN, 1962, 31980 (ATD). – R. B. Y. SCOTT, 1965
(AncB). – W. MCKANE, 1970, 21977 (OTL). – R. N. WHYBRAY, 1972 (CNEB). – O. PLÖGER, 1984
(BK). – A. MEINHOLD, 1991 (ZBK). – R. N. WHYBRAY, 1994 (NCBC). – R. E. MURPHY / E. HUWILER,
1999 (NIBC). – R. J. CLIFFORD, 1999, 2001 (OTL). – L. G. PERDUE, 2000 (Interpretation). – H. F.
FUHS, 2001 (NEB).

Einzeluntersuchungen: P. DE LAGARDE, Anmerkungen zur griechischen Übersetzung der Proverbien,


Leipzig 1863. – BEHNKE, Spr. 10,1.25,1: ZAW 16 (1886), 122. – D. C. STEUERNAGEL, Die Zahl der
Sprüche und Lieder Salomos (I Reg 512): ZAW 30 (1910). 70f. – N. M. NATHAN, Sprüche 101 – 2216
25–29: ZAW 30 (1910), 71. – H. GRESSMANN, Die neugefundene Lehre des Amen-em-ope und die
vorexilische Spruchdichtung Israels: ZAW 42 (1924), 272–296. – A. ERMAN, Eine ägyptische Quelle
der „Sprüche Salomos“, 1924 (SPAW XV), 86–93. – J. FICHTNER, Die altorientalische Weisheit in
ihrer israelitisch-jüdischen Ausprägung, 1933 (BZAW 62). – K. KOCH, Gibt es ein Vergeltungsdogma
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9. Eine exegetische und sozialgeschichtliche Studie, 1995 (OBO 144). – R. SCORALICK, Einzelspruch
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IV. Sprüche 525

Neukirchen-Vluyn 1995, 233–245. – G. BAUMANN, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1–9.


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of the Book of Proverbs, in: M. V. Fox u. a. (eds.), Texts, Temples and Traditions. FS M. Haran,
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Proverbs? Concerning the Hellenistic Colouring of LXX Proverbs, 1997 (VT.S 69). – R. SCHÄFER, Die
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Komposition und Redaktion von Proverbia 10,1–22,16, 1999 (WMANT 83). – E. TOV, Recensional
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A. EMERTON, The Teaching of Amenemope and Proverbs XXII 17–XXIV 22. Further Reflections on a
Long-Standing Problem: VT 51 (2001), 431–465. – V. KIEWELER, Erziehung zum guten Verhalten
und zur rechten Frömmigkeit. Die Hiskianische Sammlung, ein hebräischer und ein griechischer
Schultext, 2001 (BE ATA 49). – C. R. YODER, Wisdom as a Woman of Substance. A Socioeconomic
Reading of Proverbs 1–9 and 31:10–31, 2001 (BZAW 304). – R. SCORALICK, Salomos griechische
Gewänder. Beobachtungen zur Septuagintafassung des Sprichwörterbuches, in: K. Löhning (Hg.),
Rettendes Wissen. Studien zum Fortgang weisheitlichen Denkens im Frühjudentum und im frühen
Christentum, 2002 (AOAT 300), 43–75 – J. ASSMANN, Kultur und Gedächtnis, Frankfurt 1988. – K.
BROCKMÖLLER, Eine Frau der Stärke – wer findet sie? Exegetische Analysen und intertextuelle Lektü-
ren zu Spr 31,10–31, 2004 (BBB 147). – I. FISCHER, Gotteslehrerin. Ein Streifzug durch Spr 31,10–31
auf den Pfaden unterschiedlicher Methodik: BZ 49 (2005), 237–253. – B. U. SCHIPPER, Die Lehre des
Amenemope und Prov 22,17–24,22. Eine Neubestimmung des literarischen Verhältnisses: ZAW 117
(2005), 53–72.232–248. – L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Den Ruf der Weisheit hören. Lernkon-
zepte im Buch der Sprichwörter, in: B. Ego / H. Merkel (Hg.), Religiöses Lernen in der biblischen,
frühjüdischen und frühchristlichen Überlieferung, 2005 (WUNT 180), 69–82. – J. A. LOADER,
Metaphorical and Literal Readings of Aphorisms in the Book of Proverbs: HTS 62 (2006), 1177–1199.
– I. MÜLLNER, Lehrerin und Gegenstand zugleich. Didaktische Aspekte der personifizierten Weisheit
in Spr 1–9, in: I. Riedel-Spangenberger / E. Zenger (Hg.), »Denn Gott bin ich, kein Mann«. Beiträge
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Strang zwischen den Testamenten: ZAW 120 (2008), 366–386. – C. B. ANSBERRY, Be wise, my son,
and make my heart glad. An exploration of the courtly nature of the book of Proverbs, 2011 (BZAW
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Forschungsberichte: I. KOTTSIEPER, Alttestamentliche Weisheit. Proverbia und Kohelet I/II: ThR 67


(2002), 1–34.201–237. – R. N. WHYBRAY, The Book of Proverbs. A Survey of Modern Study, 1995
(History of Biblical Interpretations Series 1).

1. Allgemeine Einführung in die Weisheitsliteratur


Die Weisheitsliteratur ist ein internationales Phänomen, nicht national ausge-
richtet. Sie hat zum Gegenstand die Ordnung(en), die 1) der Welt zugrundelie-
gen und 2) die im Zusammenleben der Menschen zu gelten haben. Nur am
Rande geht es ihr um das Kontingente, Einmalige – das vor allem als Störung
wahrgenommen wird; sie interessiert sich vor allem für das Regelmäßige. Es gilt,
die Ordnungen, die Gott dem Kosmos gleichsam eingepflanzt, eingeimpft hat, zu
entdecken, das Leben an ihnen auszurichten – und so glücklich zu werden.
Der Teil der Weisheit, der es mit der Ordnung / den Ordnungen der Welt zu
526 E. Die Ketubim

tun hat, darf als Vorform moderner Wissenschaft gelten. Ihre wichtigste Ausprä-
gung, im Alten Testament allerdings nur schwach vertreten (vgl. allerdings 1Kön
5,13), besteht in den Wortlisten, die ihren Ursprung bei den Sumerern haben.
Israel bildete Teil Syrien-Palästinas und des Alten Orients. Seine Weisheit,
insbesondere die der Sprüche, berührt sich recht eng mit der seiner – in erster
Linie näheren – Nachbarn. Dass zwischen ihnen in dieser Sache ein reger Aus-
tausch bestand, machen die Vergleiche in 1Kön 5,10f. deutlich: „Die Weisheit
Salomos war größer als die Weisheit aller Söhne des Ostens und alle Weisheit
Ägyptens. Er war weiser als alle Menschen …“; vgl. weiter u. a. Jer 49,7: Weisheit
in Edom (Teman). Ein besonders wichtiges Zentrum der Weisheitspflege dürften
die phönizischen Handels- und Hafenstädte (Byblos, Tyros, Sidon), Drehschei-
ben nicht nur für Handels-, sondern auch geistige Güter, gebildet haben; nicht
zufällig gilt der König von Tyros als „voll von Weisheit“ (Ez 28,12).
Doch so deutlich die Hinweise auf die Weisheit bei den (unmittelbaren)
Nachbarn auch sind, so spärlich fließen die einschlägigen Quellen. In den
Amarnabriefen (Korrespondenz ägyptischer Pharaonen u. a. mit Lokalpotenta-
ten aus Syrien-Palästina) aus dem 14. Jh. v. Chr. finden sich zwei Sprichwörter,
von denen sich eines recht eng mit Spr 6,6; 30,25 berührt: „Wenn Ameisen ge-
schlagen werden, so nehmen sie das nicht (passiv) hin, sondern beißen die Hand
dessen, der sie schlägt“ (EA 252,16–18; unsichere Übersetzung).
Nur unwesentlich jünger sind die mythischen und epischen Texte aus der
nordsyrischen Hafenstadt Ugarit. Zwei stilistische Auffälligkeiten der Proverbien
lassen sich auch in Ugarit nachweisen: 1) der sogenannte gestaffelte Zahlen-
spruch (Drei Dinge sind mir unbegreiflich, vier vermag ich nicht zu fassen; 30,18
u. ö.) sowie der sogenannte Doppelvergleich.
Sicher kursierten in Palästina auch Exemplare des Achiqar-Romans (6./5. Jh.
v. Chr.) und der in sie eingebauten Achiqar-Sprüche, die wesentlich älter als der
Rahmen sind und ins 8. Jh. v. Chr. datieren. Das älteste erhaltene Exemplar
dieses Werkes ist bei den jüdischen Militärkolonen von Elephantine gefunden
worden (achämenidische Epoche). Die Achiqar-Gestalt fand auch Eingang in die
Tobiterzählung, sogar in das Schrifttum von Qumran; das Buch muss sich also in
Israel großer Beliebtheit erfreut haben. Einige Sprüche aus Proverbien weisen
recht enge Berührungen mit solchen aus Achiqar auf (23,12–14; 27,3.7; 31,6f.)

2. Altorientalische Parallelen

Aus Mesopotamien und Ägypten ist uns eine reichhaltige Weisheitsliteratur


erhalten. Die Heimat der Sprichwörter liegt in Sumer (ca. 1700 v. Chr.) Von
ihnen übernahmen sie die Babylonier und Assyrier, die sich in dieser Literatur-
gattung freilich nicht produktiv betätigten. Verbreitet waren zweisprachige su-
merisch-akkadische Sammlungen von Sprichwörtern. Für das Zweistromland
dagegen weniger charakteristisch sind Lehren. Die Lehre des Schuruppak, welche
dieser an seinen Sohn Zisudra (= Utnapischtim), den sumerischen Sintfluthel-
IV. Sprüche 527

den, richtet, gehört zu den ältesten literarischen Texten aus dem Zweistromland
(ca. 2500 v. Chr.). Sie liegt auch in einer (fragmentarischen) akkadischen Version
vor. – In die kassitische Zeit Babylons (ca. 1600–1150 v. Chr.) gehören die sog.
Ratschläge der Weisheit, die erst in einer viel späteren Abschrift vorliegen. In
diesem Werk, das in 10 Abschnitte zerfällt, geht um den zwischenmenschlichen
Umgang. Eigens behandelt wird auch das Verhalten eines hohen Beamten sowie
die Teilnahme am Kult (dieser spielt in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur
praktisch keine Rolle). – Der „babylonische Fürstenspiegel“, in der Bibliothek
Assurbanipals (668–632 v. Chr.) in Ninive gefunden, auch als „Rat an einen
Prinzen“ bekannt, überrascht formal, besteht er doch aus Omina.
Die Weisen aus dem Zweistromland, die das Alte Testament erwähnt (s. Jes
47,10.13; Jer 50,35f.) – wie die aus Ägypten (Gen 41,8; Ex 7,11; Jes 19,11f.) –,
haben es großenteils mit mantischer Weisheit zu tun, die dem Buch der Prover-
bien fremd ist.
Von der mesopotamischen unterscheidet sich die ägyptische Weisheit in zwei-
erlei Hinsicht: Formgeschichtlich dominieren in ihr die Lehren (sb’j.t), und in-
haltlich nimmt in ihr die Ordnung der ganzen Wirklichkeit etwas mehr Platz ein
als im Zweistromland, wo der Akzent auf dem menschlichen Handeln ruht. Die
Ordnung, der gemäß es zu leben gilt, heißt Maat, eine komplexe Größe: „Maat,
ein kompakter Begriff, den wir im Deutschen mit der Vierheit von Wahrheit,
Gerechtigkeit, Ordnung und Sinn umschreiben müssen, ist der Inbegriff des
Echten, Beständigen und Unvergänglichen. Auf Maat beruht der Kosmos und
bezieht aus diesem Fundament seine zyklische Unendlichkeit, auf Maat beruht
der Staat und bezieht daraus seine Beständigkeit Der Mensch gewinnt durch das
Tun und Sagen der Maat Anteil an dieser Unvergänglichkeit“ (ASSMANN, 98).
Zu den einzelnen Lehren: 1) Lehre des Ptahhotef, im Alten Reich entstanden,
älteste Handschrift aus dem Mittleren Reich; wirkte über die Ende der ägypti-
schen Kultur hinaus. Der Text, neben Prolog und Epilog aus 37 Maximen beste-
hend, gilt der Bildung der höheren Beamtenschaft. P. will ihn, alt geworden, auf
Genehmigung durch den Pharao für seinen Sohn und präsumptiven Nachfolger
verfasst haben. – 2) Lehre für Kagemni, wohl aus der 6. Dynastie (ca. 2325–2155
v. Chr.), in die 5. Dynastie zurückdatiert; Anweisungen zu richtigem Verhalten. –
3. Mahnworte des Ipuwer, blicken auf den Zusammenbruch des Alten Reiches,
respektive der 1. Zwischenzeit mit ihren desolaten Verhältnissen zurück; Klage
über die anarchischen Zustände, die sich bis zum Vorwurf gegenüber Gott /
König steigert, seine Herde vernachlässigt zu haben. – 4. Lehre für Merikare,
erster Fürstenspiegel; ältestes Exemplar aus der 18. Dynastie; sie spiegelt wohl
wirre Verhältnisse am Ende der 1. Zwischenzeit und zu Beginn des Mittleren
Reiches (ca. 2134–1715 v. Chr.) wider. Der König warnt seinen Sohn u. a. vor Re-
bellen und Aufrührern. Wichtigste Befähigung des Königs, vor allem im Umgang
mit seinen Beamten, ist die Rede. Der Text schließt mit einer religiösen Kompo-
sition. – 5) Lehre des Amenemhet, dem ersten König der 12. Dynastie (1939–
1909 v. Chr.) in den Mund gelegt. Ihr Verfasser, der einem Attentat zum Opfer
gefallen ist, redet quasi als Toter. Der Text trägt Züge eines Testaments und einer
528 E. Die Ketubim

Autobiographie. Amenemhet gesteht schwere und folgenreiche Fehler ein, ob-


wohl er sich grundsätzlich maatgemäß verhalten haben will. Die Lehre dürfte auf
Veranlassung seines Sohnes Sesostris I. durch einen gewissen Cheti veranlasst
worden sein. – 6. Lehre des Cheti (s. 5), gilt als einer der glanzvollsten Lehrer. Im
ersten Teil seiner Lehre wertet Cheti satirisch jeden handwerklichen Beruf ab
und lässt nur den des Schreibers gelten, der als einziger Berufsmann keinen Vor-
gesetztern hat, sondern selbst Vorgesetzter ist. Der zweite Teil der Lehre enthält
Ratschläge an die Beamten. – 7) Lehre des Ani, material nur sehr schlecht erhal-
ten, von einem Tempelschreiber im Neuen Reich verfasst. Sie gehört in die Nähe
der sog. „Persönlichen Frömmigkeit“. Die Beziehung zum frei handelnden, stark
transzendenten persönlichen Gott ist in ihr wichtiger als die Einbindung in die
Weltordnung (die Maat). In der Lehre dominiert Persönliches. – 8) Lehre des
Amenemope: enthält als erste Lehre eine Zählung nach Kapiteln; jeder Vers ent-
spricht einer Zeile. Das äußerst beliebte Werk, ca. 1000 v. Chr. entstanden, ist
ganz von der persönlichen Frömmigkeit geprägt. Gott ist – im Unterschied zu
den Menschen – nicht an die Weltordnung gebunden. Maatgemäßes Verhalten
wird nicht automatisch belohnt; der Mensch steht Gott gegenüber auf jeden Fall
im Unrecht. Das einzige Motiv zu Verhalten nach der Maat bildet für den Men-
schen die Gottesliebe; Ziel des Lebens ist innere Zufriedenheit. – 9) Papyrus
Chester Beatty IV, aus der Ramessidenzeit, 19./20. Dynastie, 1306–1080 v. Chr.;
Sammelhandschrift mit verschiedenen Werken (für den Schulunterricht); u. a.
Warnung vor dem Beruf des Soldaten, Lob des Schreiberberufes (Bücherschrei-
ben macht unsterblich). – 10) Sehr kurze, häufig verschlüsselte religiöse Sprüche
und Maximen auf Skarabäen, als Schmuck an Fingern und um Hals getragen. –
11) Spruchsammlung des Anch-Scheschonki, ca. 400 v. Chr. (?) mit Sprichwör-
tern, Einzelsprüchen von einer Zeile. Sie behandeln praktische Fragen. Es besteht
eine z. T. enge Verwandtschaft mit Proverbien, Jesus Sirach, Achiqar, erklärbar
auf dem Hintergrund einer im Mittelmeerraum während der Perserzeit beste-
henden Kulturökumene. – 12) Lehre des Papyrus Insinger (= demotisches Weis-
heitsbuch), ca. 300 v. Chr., sehr populär; aus einzeiligen Sprüchen bestehenden,
25 durchgezählten und je mit einer Überschrift versehenen Kapiteln. Inhalt:
Fragen der Lebensführung. 24f. behandeln das Gottesverhältnis, für welches das
Gottvertrauen zentral ist. Der Mensch kann den Tun-Ergehen-Zusammenhang
nicht berechnen. – 12) Grabinschrift des Petosiris, eines Hohenpriesters aus
Hermopolis, entstanden nach der Eroberung Ägyptens durch Alexander den
Großen. Im Unterschied zu den Bildern seiner Grabanlage in Tuna el-Gebel ist
der Text nicht griechisch beeinflusst, sondern beruht ganz auf ägyptischer Weis-
heit. Thematisch im Vordergrund steht die Plötzlichkeit des Todes und damit
verbunden die Vergänglichkeit irdischer Güter.
IV. Sprüche 529

3. Zu den Trägern der Weisheitstexte

Die Geistesbeschäftigung, die in weisheitlichen Texten ihren Niederschlag findet,


ist ein Unternehmen, dem alle Menschen nachgehen können – aber dieses Un-
ternehmen schlägt sich nicht notwendig in Texten nieder, um die es im Folgen-
den geht.
Wer war für die Weisheitspflege verantwortlich? Und wie war die Ausbildung
von Schreibern (Beamten, Geistlichen, „Intellektuellen“) organisiert? Erfolgte sie
vor allem an Schulen, oder spielte bei ihr die Famulatur (Lehre) eine wichtigere
Rolle? Mit großer Sicherheit gab es an den Höfen Samarias und Jerusalems
Schreiberschulen oder vergleichbare Einrichtungen, und ebenso wahrscheinlich
ist, dass in vorexilischer Zeit Palast- und Tempelschule zusammenfielen – schon
wegen der relativ geringen Größe der beiden Staaten Israel und Juda. Die Tem-
pelschule der nachexilischen (staatenlosen) Zeit dürfte neben den „Geistlichen“
auch die einheimischen Beamten ausgebildet haben, welche den Teil der lokalen
Verwaltung besorgten, in den die Perser nicht hineinredeten.
Neben Hof (und) / Tempel verfügten auch einflussreiche und begüterte Ein-
zelpersonen über Schreiber; das Beispiel Baruchs, des Sekretärs Jeremias (Jer 32;
36; 43; 45), dürfte kaum das einzige gewesen sein. Von den Schreibern / Schrift-
kundigen arbeiteten die meisten – in heutiger Terminologie ausgedrückt – als
Diplomaten, Sekretäre sowie höhere und niedrige Verwaltungsbeamte. Für die
„höheren“ unter ihnen war Schreiben nur eine notwendige, aber nicht hinrei-
chende Qualifikation zur Ausübung ihres Berufes. Zu ihnen sind auch die Ver-
fasser der Weisheitsliteratur zu rechnen. Sie gehörten in staatlicher Zeit in die
Nähe des Hofes und der Schulen; genauere Festlegungen verbieten sich. Erst in
spätachämenidischer und vor allem hellenistischer Zeit dürfte sich eine Klasse
von selbständigen Intellektuellen herausgebildet haben; zu ihnen gehören Kohe-
let und der Verfasser des Hiobbuches. Ein Gutteil der ägyptischen Weisheitslite-
ratur diente der Beamtenausbildung. Die Proverbien enthalten wenigstens keine
klaren Hinweise darauf, dass es sich in Israel / Juda gleich verhielt.
Es fällt schwer, die Trägerkreise der alttestamentlichen Weisheitsliteratur,
insbesondere der Sprüche, mit Sicherheit zu bestimmen. Einflussreich war lange
Zeit die These einer sogenannten Sippenweisheit. Nach WOLFF bilden deren
Basis die Erfahrungen, welche die Großfamilien machten. Das Resultat ihres
Nachdenkens über diese Erfahrungen schlug sich in konzentrierter Gestalt als
Sprichwörter nieder; zu den wichtigen Formen dieser Sippenpädagogik gehören
etwa die didaktischen Fragen. Der Prophet Amos ist nach WOLFF in der Sippen-
weisheit beheimatet. Seine These scheitert daran, dass der Inhalt der Sprüche und
ihre kunstvolle Gestaltung eher an ein anderes Milieu denken lassen (dass in
Sippe und Familie Belehrung erfolgte, bleibt davon unberührt).
Von anderen Beobachtungen ausgehend vertritt WESTERMANN eine der
WOLFFschen vergleichbare These: Das Genus der Sprichwörter hat nach ihm
seine Blütezeit in noch schriftlosen Kulturen. In modifizierter Gestalt vertritt
diese These auch GOLKA; er verweist auf den altestamentlichen vergleichbare
530 E. Die Ketubim

afrikanische Königssprichwörter, die eindeutig im Volke entstanden sind. Als


Gewährsmann seiner These beansprucht WESTERMANN auch DOLL. Dieser wies
nach, dass die Weltschöpfung erst in den jüngeren Teilen des Sprüchebuches
erscheint, während die Erschaffung des einzelnen Menschen bereits in den
ältesten Teilen des Buches belegt ist.
Lange vor den Genannten vertrat SKLADNY die These, die Weisheit der
Sprüche sei die von Handwerkern und Bauern. Sie beruht unter anderem auf
einem zu direkten Schluss von den Inhalten der Sprüche auf ihre Träger.
Dass die Weisheit am Hof (an den Höfen) einen wichtigen Sitz im Leben
hatte, liegt aus den genannten allgemeinen Gründen auf der Hand – ob es jedoch
einen eigenen Stand von Weisen gab (vgl. Jer 18,18), muss offenbleiben. Dazu
kommen speziellere Gründe. Das Alte Testament verbindet die Weisheit mit
Königen allgemein – die Herrscher repräsentieren die ‫ ָח ְכמָה‬und bedürfen ihrer
gleichzeitig –; dabei ist auch an ihr politisches Handeln und ihr Geschäftsgebah-
ren gedacht (s. etwa Jes 10,13; Ez 28; Spr 20,26; 31,1–9). Zugleich kümmern sich
die Könige um die Pflege der Weisheit (s. 1Kön 3,4–14; 5,9–26; 10,1–13 und die
Parallelstellen in der Chronik).
Spr 25,1 nennt die Männer Hiskijas, die Sprichwörter Salomos gesammelt /
übernommen haben sollen. Die Weisheit geht auf König Salomo zurück (mythi-
sche Rückbindung); für ihre Pflege zeichnet der König (im vorliegenden Fall
Hiskija) verantwortlich (konkrete Rückbindung), der dafür auf Spezialisten (die
Männer Hiskijas) zurückgreift, deren Tätigkeit als „technische“ bezeichnet wer-
den kann. Warum gerade Hiskija? Vielleicht deshalb, weil es während seiner
Herrschaft kein Nordreich mehr gab (wie unter König Salomo noch kein eige-
nes), Israel also „geeint“ war. Vermutet wird weiter, nach dem Fall des Nord-
reichs sei auch Weisheitsgut von dort nach Juda gelangt.
Eine (zu) schematische Zuteilung der Sprüche an verschiedene Schichten
nimmt WHYBRAY vor, und zwar vor allem aufgrund der Einstellung zu Reichtum
und Armut, die in ihnen zum Ausdruck kommt: 1) 10,1–22,16; 25–29 und Teile
aus 24,23–34; 5,15–23; 6,1–19 bringen die Haltung von Leuten mit bescheidenen
Mitteln zum Ausdruck, die vor allem ihr eigenes Land bearbeiten. 2) In 22,17–
24,22; 1–9 haben sich die Interessen gebildeter, wohlhabender und erwerbs-
orientierter Städter niedergeschlagen. 3) 31,1–9 hat es mit den Belangen des
Königs zu tun. 4) Das Lob der tüchtigen Hausfrau (31,10–31) zeichnet das Bild
einer Familie, die ihren Reichtum harter Arbeit verdankt.
Für die Weisheit – und vor allem ihre Weitergabe – zeichnen in erster Linie
Männer verantwortlich. Das Verhältnis zwischen Lehrer / Lehrmeister und
Schüler wird gerne mit dem zwischen Vater und Sohn verglichen; deshalb auch
die häufige Anrede „mein Sohn“ in den Sprüchen. In der (häuslichen) Erziehung
kommt jedoch auch den Müttern ein gewichtiger Platz zu (vgl. programmatisch
am Anfang der 1. Sammlung, 1,8: „Höre, mein Sohn, auf die Mahnung des
Vaters, und die Lehre deiner Mutter verwirf nicht“). Weiter kennt das Alte
Testament eine bemerkenswert hohe Zahl an weisen Frauen: Siseras Mutter ist
von weisen Frauen umgeben (Ri 5,29); 2Sam 14,1–20: die weise Frau von The-
IV. Sprüche 531

koa; 2Sam 20,15–22: die weise Frau von Abel-Bet-Maacha. Diese Frauen haben
es jedoch nicht mit institutioneller Weisheitspflege zu tun, sondern intervenieren
in (militärischen) Notlagen.

4. Die „Autorschaft“

Das Buch der Sprüche – hebräisch ‫שׁלֵי‬ ְ ‫ ִמ‬, griech. παροιμίαι, lat. liber proverbio-
rum – wird als Ganzes König Salomo zugesprochen – unter anderem deshalb,
weil er als der weise König katexochen gilt und 3000 Sprichwörter verfasst haben
soll (1Kön 5,12).
Es handelt sich dabei nicht um eine Autorenangabe im modernen Sinn; das
Buch wird vielmehr – wie das Hohelied und Kohelet – unter die Autorität Salo-
mos gestellt, an seine (mythische) Person rückgebunden (vgl. die Überschrift zu
Teilsammlung 5). Nach DE PURY geschah dies im 2. Jh. v. Chr. durch die Rabbi-
nen, welche nicht umhinkamen, diese drei populären Bücher zu kanonisieren;
durch ihre Zuschreibung an Salomo, einen sittlich nicht über jeden Verdacht
erhabenen König, hätten sie ihre Vorbehalte diesen Schriften gegenüber zum
Ausdruck gebracht.

5. Aufbau

Das Buch der Sprüche zerfällt, hebt man auf seine Überschriften ab, in sieben
Sammlungen; die Überschrift der ersten Sammlung, in der die Vorstellung Salo-
mos am ausführlichsten ausfällt, dient zugleich als solche für das ganze Buch:

1. 1–9 Die Sprüche Salomos, des Sohnes Davids, des Königs von Israel
2. 10,1–22,16 Die Sprüche Salomos
3. 22,17–24,22 (ohne Überschrift; 22,17: ‚Neige dein Ohr den Worten von
Weisen‘ …)
4. 24,23–34 Auch dies sind Worte von Weisen
5. 25–29 Auch dies sind Sprüche Salomos, die die Männer Hiskijas, des
Königs von Juda, zusammengestellt haben
6. 30 Die Worte Agurs, des Sohns des Jake, von Massa
7. 31 Die Wörter Lemuels, des Königs von Massa, die ihn seine Mut-
ter gelehrt hat

TOURNAY (vgl. LORETZ) bringt diese Siebenzahl fragend mit dem Ausdruck „sie-
ben Säulen“ von Spr 9,1 in Verbindung; dieser Vers enthielte also einen buch-
internen Hinweis auf den Aufbau des Werkes. Weiter meint er in diesem Zusam-
menhang, die 30-Zahl in 22,20 beziehe sich auf die 30 Häuser (Kapitel) der
Weisheit des Amenemope.
Von formgeschichtlichen Kriterien her lässt sich mit MEINHOLD das Buch der
Sprüche in 9 größere und kleinere Sammlungen unterteilen:
532 E. Die Ketubim

A Hauptsammlung 1–9
B Hauptsammlung 10,1–22,16
c Kleine Sammlung 22,17–24,22
d Kleine Sammlung 24,23–34
E Hauptsammlung 25–29
f Kleine Sammlung 30,1–14
g Kleine Sammlung 30,15–33
h Lehre 31,1–9
i Gedicht 31,10–31

6. Die LXX-Wiedergabe

Die Septuaginta, die ihre Vorlage sehr frei übersetzt, bietet auch eine von M
abweichende Reihenfolge mit zum Teil auch eigenen Überschriften: Spr 1–9:
Sprüche Salomos, des Sohnes Davids, der König war in Israel – Spr 10,1–22,16;
ohne Überschrift – Spr 22,17–24,22: Den Worten von Weisen nähere dein Ohr –
Spr 30,1–14: Meine Worte, Sohn, fürchte – Spr 24,23–34: Dies rate ich euch, von
den Weisen aufmerksam anzunehmen – Spr 31,1–9: Meine Worte sind von Gott
mitgeteilt; Ausspruch für einen König (eines Königs), den seine Mutter unter-
richtete – Spr 25–29: Dies sind die vermischten Lehren Salomos, die niederge-
schrieben haben die Freunde Hiskijas, des Königs von Juda – Spr 31,10–31 (kei-
ne Überschrift; Lob der tüchtigen Hausfrau). In diesem Überschriftensystem ver-
schwinden die beiden ausländischen Verfasser von Sprüchen, Agur und Lemuel,
womit die Verfasserschaft Salomos stärker hervortritt.
Die LXX lässt zahlreiche Passagen aus M (ganz) weg, enthält aber auch Texte,
die in M fehlen. Weiter zeichnet sie sich durch Doppelübersetzungen aus, in
denen ganze Verse, Wendungen, aber auch nur einzelne Ausdrücke, auf zwei
verschiedene Weisen wiedergegeben werden (2,21; 11,13; 14,22.30; 15,6.18).

Beispiel: Spr 31,30 (Doppelübersetzung von ‫)יראת‬:


M: Eine gottesfürchtige Frau möge sich preisen.
LXX: Eine verständige Frau / die Weisheit möge gepriesen werden.

Drei Deutungen dieser Doppelwiedergaben sind möglich: 1) Eine schon vorhan-


dene Übersetzung wurde später durch die Hinzufügung einer zweiten dem he-
bräischen Text angepasst (Rezension). 2) Der Übersetzer verstand den Text nicht
und schlug deshalb zwei verschiedene Wiedergaben vor. 3) Eine damit eng ver-
wandte Alternative: Er fand im hebräischen Text zwei Aussagen, die nach ihm
eine Doppelübersetzung erfordern.
Insgesamt ist das griechische Sprüchebuch trotz einiger Weglassungen (u. a.
1,16; 4,7; 8,33; 16,1.3; 20,14–19 [teilweise anderswo erhalten]) länger als das he-
bräische.
Zu den Abweichungen im Einzelnen: Spr 1,7: Einfügung von Ps 111,10
(110,10) – 2(15–17): Aus der Warnung vor der fremden Frau wird die vor
IV. Sprüche 533

schlechtem Rat, womit möglicherweise der hellenistische Zeitgeist gemeint ist. –


3,16a: Einfügung von Jes 45,23 und Spr 31,26 – 6,8a–c enthält ein Plus, das Lob
der fleißigen und erfolgreichen Biene, die der Weisheit Ehre erweist. Die im AT
schlecht beleumdete Biene genießt in der griechisch-hellenistischen Literatur
einen guten Ruf. Am Beispiel dieses Tieres veranschaulicht der Übersetzer kon-
kret, was ihm ganz allgemein wichtig ist: die Macht, die von der Weisheit aus-
geht. – 8: Zurückdrängung der Weisheitsgestalt – 9,18a–d: längere Hinzufügung,
Warnung vor der Verführerin, unter anderem in Anknüpfung an das Bild vom
gestohlenen Wasser in V. 17. – 24,22a–e: Sprüche über den König – 30,31: „der
Hahn, der sich über die Hennen erhebt“.
Die massiven Abweichungen der LXX gegenüber dem masoretischen Text
weisen kein einheitliches Profil auf; dementsprechend schwierig ist es, sie zu
interpretieren. Der These, wonach der Übersetzer sehr frei mit seiner Vorlage
umgegangen sei, sie in hellenistischer Art und Weise, insbesondere moralisie-
rend und spiritualisierend, ausgelegt habe, steht die andere gegenüber, nach der
als Vorlage für die griechische Übersetzung ein vom protomasoretischen abwei-
chender Text Verwendung gefunden habe. Besonders auffallend: Die Weisheits-
gestalt von Spr 8 verliert in der LXX an Bedeutung.
Auf relativ viel Zustimmung ist COOKs These gestoßen, der griechische Über-
setzer von Spr habe dieses Buch im 2. Jh. v. Chr. in eher konservativem Geist
überarbeitet (mit recht starken, allerdings nicht expliziten Hinweise auf die
Tora).

7. Entstehung des Buches

Vielfach ist versucht worden, redaktionelle Vorgänge im Sprüchebuch ge-


matrisch zu erklären. Die Zahl der Sprüche der salomonischen Sammlung 10,1–
22,16, 375, entspricht dem gematrischen Wert des Namens Salomo (‫ = שׁ‬300; ‫= ל‬
30; ‫ = מ‬40; ‫ = ה‬5). Bei der hiskijanischen Sammlung – 137 Sprüche – geht die
Rechnung nur dann (fast!) auf, wenn man statt der 25,1 belegten Namensform
‫ ִחזְ ִקיּ ָה‬ein zusätzliches ‫ ו‬ansetzt, also ‫ = ח( חִז ִקיּ ָהוּ‬8; ‫ = ו‬7; ‫ = ק‬100; ‫ = י‬10; ‫ = ה‬5; ‫= ו‬
6; Summe = 136). Das ganze Buch der Sprüche enthält 932 Zeilen. Auf die Zahl
930 kommt man – so die spekulative Vermutung von SKEHAN –, wenn man die
gematrischen Werte von Salomo (375), David (14) und Israel (541) zusammen-
zählt. Warum gerade diese drei Namen? Ähnliche gematrische Vermutungen
sind für die Zahl der Sprichwörter (3000) und der Lieder (1005) Salomos (1Kön
5,12) formuliert worden. Dort liegt die Einladung zur gematrischen Auflösung
allerdings auf der Hand: Die Zahlen sind genannt.
Die sieben Sammlungen, von denen einige ihrerseits Resultat eines Samm-
lungsprozesses sind, weisen je ein eigenes Profil auf; eine genaue Datierung fällt
in den meisten Fällen schwer.
Die 1. Sammlung besteht aus 10 Lehrreden, in denen der Vater (Lehrer) sich
an seinen Sohn (Schüler) richtet, und drei Reden der personifizierten Weisheit
534 E. Die Ketubim

am Anfang und am Schluss dieser Sammlung (Spr 1,8–33; 8f.). Die 10 Lehrreden
sind nach einem festen Schema aufgebaut: Anrede und (begründete) Aufforde-
rung zum Hören; Mahnungen, Verbote; Hinweise auf Folgen des Verhaltens
(Smend, Lang). In ihren drei Lehren lädt Frau Weisheit, die auf den Straßen und
Plätzen auftritt, dazu ein, auf sie zu hören: Sie war bei der Schöpfung dabei, ist
für Herrscher von zentraler Bedeutung. Gleich wie Frau Torheit wirbt sie um
Anhänger und macht auf die Konsequenzen aufmerksam, die sich aus der Ent-
scheidung für oder gegen sie ergeben. Wahrscheinlich bildet die Frau Weisheit
die Personifikation eines Abstraktums, das heißt eine Gestalt, deren eindeutiges
Subjekt (eine Person) mit einer Vielzahl von Prädikaten (d. h. Eigenschaften und
Handlungen) verbunden werden kann. Ob die Weisheit auch orientalische /
ägyptische Göttinnen beerbt hat, etwa die israelitische Ausprägung der Maat
(oder von Isis) bildet oder griechisch gefärbt ist, muss offenbleiben.
Wahrscheinlich wurde die 1. Sammlung von Anfang an im Hinblick auf das
ganze Buch konzipiert und bestand nie für sich allein. Deutlich jedenfalls bezieht
sich die Überschrift 1,1–7 auf das ganze Buch: Sie enthält in den V. 2–6 eine
formale Bestimmung seines Inhalts; in der Vielzahl der neben ‫„( ָח ְכ ָמה‬Weisheit“)
verwendeten Ausdrücke kommt die inhaltliche Breite dessen zum Ausdruck, was
das Buch behandelt: Es lässt sich nicht auf einen Begriff bringen. V. 7 enthält
einen Mottosatz, den der Verfasser der Sammlung den Lesern des Buches als
Leseanleitung mitgibt: „Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis.“
Der Begriff der Jahwe-Furcht erscheint an weiteren zentralen Stellen des Buches:
9,10; 15,33 (vgl. 31,30: „die Jahwe-fürchtige Frau“; andere mögliche Übersetzung:
„die Jahwefurcht“). Spr 1–9 lässt sich als theologische Weisheit charakterisieren,
durch welche auch die Sammlungen, die nicht-theologische Themen abhandeln,
theologisch eingemeindet werden.
Eine Minderheitsposition vertritt KAYATZ: Vor allem aufgrund von Berührun-
gen mit ägyptischen Texten setzt sie die Sammlung in vorexilischer Zeit an.
In gewisser Weise das Pendant zur 1. bilden die 6. und 7. Sammlung, die zwei
arabischen Weisen zugeschrieben werden (zur sprichwörtlichen Weisheit der
Araber vgl. 1Kön 5,11; Jer 49,7). Kaum zufällig berührt sich insbesondere Spr 30
inhaltlich eng mit dem Buch Hiob, das geographisch stark in Arabien verhaftet
ist. Im Buch Hiob und in Spr 30, das weiter Anspielungen auf Dekaloggebote, die
Kanonformel (Dtn 4,2; 13,1) und 2Sam 22,31 enthält und über das Wort Gottes
reflektiert, spiegelt sich möglicherweise der Aufstieg der Araber in persischer /
achämenidischer Zeit. Das akrostichische Lied von der tüchtigen Hausfrau (Spr
31,10–31) weist so starke Bezüge zur Frau Weisheit der 1. Sammlung auf, dass es
nicht ohne diese konzipiert worden sein kann (Stichworte: Vergleich der Weis-
heit und der tüchtigen Hausfrau mit Korallen; Thema „Haus“, Stichworte
„Beute“, Jahwefurcht). Vor allem identifiziert das Buch über ein Wortspiel die
tüchtige Hausfrau mit der Weisheit: Das Wort ‫( צוֹ ִפיּ ָה‬sie überwacht, V. 27) bildet
eine unüberhörbare lautliche Anspielung an die σοφία. Mit der Gestalt der tüch-
tigen Hausfrau, die Züge einer phönizischen Handelsfrau trägt, korrigiert der
Verfasser von Spr 31,10–31 zugleich die Gestalt der Weisheit aus der ersten
IV. Sprüche 535

Sammlung: Sie wird betont zu einer irdischen, praktisch veranlagten Gestalt.


Anders als Spr 31 fällt es bei Spr 30 schwer, den Grund für seine Einfügung zu
bestimmen.
Mit das älteste Material im Sprüchebuch enthalten die Sprüche Salomos
(2. Sammlung). Sie zerfällt in zwei Teile (10,1–15,33; 16,1–22,16). Diese unter-
scheiden sich formal (antithetisch / synonym formulierte Sprüche), von ihrem
(ländlichen / städtischen Milieu) Milieu her und in Bezug auf ihre Inhalte: Land-
wirtschaft / Handel, Wirtschaft (Reichtum, Armut), Königtum, Recht; die erste
Teilsammlung stellt zudem häufig Gerechte und Frevler einander gegenüber.
Von ihrer Thematik her wird die zweite Sammlung oft als „Unterweisung für
Beamte“ bezeichnet. Innerhalb der Teilsammlungen lässt sich kein stringenter
Aufbau nachweisen. Die Sammlung schreitet über Assoziationen und Stichworte
sowie Lautanklänge voran. Sie besteht im Wesentlichen aus aneinandergereihten
Einzelsprüchen. Wie Wiederholungen des gleichen Spruches zeigen, dürften der
Sammlung ihrerseits Teilsammlungen zugrunde liegen; sie lassen sich nicht mehr
rekonstruieren.
Die 3. Sammlung, „Worte der Weisen“, ist (vor allem) an ihrem Anfang (bis
23,11) seit längerem als eine Adaption von Teilen aus der Lehre des Amenemope
erwiesen, die aus dem 12. Jh. v. Chr. (Übergang von der 20. zur 21. Dynastie)
stammt. Ob diese Lehre direkt über Ägypten nach Israel gelangte oder über eine
sog. „kanaanäische“ – und das heißt am wahrscheinlichsten: phönizische – Ver-
mittlung, ist umstritten. Nicht bestimmen lässt sich auch der Zeitpunkt der
Übernahme, wurde die ägyptische Lehre doch bis ins 2. Jh. n. Chr. weitertradiert.
Großer Beliebtheit erfreut sich nach wie vor die These, die Übernahme sei in der
Königszeit erfolgt. SCHIPPER grenzt innerhalb dieses Zeitraumes noch weiter ein
– auf das späte 8. bis frühe 7. Jh. v. Chr., als sich Ägypten wieder verstärkt nach
außen zu orientieren begann und zwischen ihm und Israel enge Beziehungen
bestanden.
Wie hängen die beiden Texte genau voneinander ab? Drei Möglichkeiten
werden erwogen: 1) Amenemope und Spr 22,17–24,22 schöpfen aus der gleichen
Quelle. 2) Amenemope hängt von Spr 22,17–24,22(23,11) ab (äußerst unwahr-
scheinlich). 3) Der ägyptische Text bildet die Vorlage des biblischen. Durchge-
setzt hat sich Lösung 3 – sie drängt sich angesichts des beträchtlichen kulturellen
Gefälles zwischen Ägypten und Israel geradezu auf: Ihr liegt die Beobachtung
zugrunde, dass der biblische Text die ägyptische Vorlage aufnimmt – gelegent-
lich recht wörtlich, dann nur thematisch – und die beiden Texte an einigen Stel-
len voneinander abweichen (der Verfasser von Spr lässt weg, ergänzt und stellt
um). Gleich geht auch der Verfasser von Amenemope mit seinen Quellen, älte-
ren ägyptischen Weisheitslehren, um (Lehre des Ani, des Ptahhotep). In einem
weiteren Punkt arbeitet der Redaktor der 3. Sammlung ähnlich wie seine ägypti-
schen Kollegen: Es fällt auf, dass Spr 22,17–24,22 nur Sentenzen aus Amenemope
übernimmt, die in diesem Werk am Anfang oder am Ende eines Kapitels stehen
(HELCK). Darin reflektiert sich ein in Ägypten übliches Lektüreverfahren, das
beim Lesen von Weisheitstexten praktiziert wurde, die ja in erster Linie als
536 E. Die Ketubim

Schultexte dienten: Die Schüler memorierten Texte mit Hilfe der Zeilen- und
Kapitelanfänge der studierten Werke; deutlichen Hinweis darauf bilden Ostraka,
welche nur Zeilen- oder Kapitelanfänge enthalten.
Spr 22,17–24,22 kommt zusammen mit den Chronikbüchern insofern grund-
sätzliche Bedeutung für die Arbeitsweise biblischer Autoren zu, als diese beiden
Texte aufzeigen, welche Möglichkeiten bestanden, mit Quellen umzugehen.
Während der Chronist (s. unten) sich bemüht, seinen – starke Autorität besit-
zenden – Quellen nicht offen zu widersprechen (auch wenn er dies de facto tut),
so geht der Verfasser von Spr 22,17–24,22 mit der seinen freier um: Er benutzt
einen beliebten Text dazu, ihm wichtige Themen und Ideen zu propagieren, d. h.
in sein Werk aufzunehmen; konkret heißt das: Tun-Ergehen-Zusammenhang,
Jahwefurcht.
Die kürzeste, nur 12 Verse umfassende 4. Sammlung, die sich inhaltlich mit
Spr 6,6–11 berührt, bildet wahrscheinlich einen Nachtrag – ob zur 2. oder zur 2.
und 3., lässt sich allerdings nicht sagen.
Die 5., hiskijanische Sammlung ist der 2. (Sprüche Salomos) zu vergleichen.
Wie diese zerfällt sie in zwei Teile (25–27; 28f.), wobei sich die beiden formal wie
inhaltlich voneinander unterscheiden: Die erste enthält viele Vergleiche, die
zweite bevorzugt antithetische Sprüche. Auch inhaltlich unterscheiden sich die
beiden Teile ähnlich voneinander wie die von Sammlung 2: Im ersten nehmen
Landwirtschaft und Handwerk viel Platz ein, im zweiten Bestimmungen für
(hohe) Beamte und Könige (man hat in ihm eine Art Regentenspiegel gesehen).
Die 2. und 5. Sammlung, von allen Sammlungen am stärksten durch Erfah-
rungsweisheit bestimmt, sind die ältesten des Sprüchebuches. Ist diese relative
Altersbestimmung unbestritten, so gehen die Meinungen bezüglich ihres abso-
luten Alters auseinander. Häufig gilt die Zuweisung der 5. Sammlung an Hiskija
und also ins 8. Jh. v. Chr. als vertrauenswürdig. Begründet wird dies damit, dass
Juda während seiner Regierung ein starker Staat mit gefestigter Verwaltung und
Organisation war. Mit einem vorexilischen Grundbestand im Sprüchebuch muss
auf jeden Fall gerechnet werden; anders lassen sich die konkreten, präzisen Aus-
sagen zu Beamten und vor allem Königen nur schwer verstehen – sie setzen die
Auseinandersetzung mit einem bestehenden Staat voraus.
Die weiteren Teilsammlungen, die ein schärferes theologisches Profil aufwei-
sen, sind jünger und mit großer Wahrscheinlichkeit in nachexilischer Zeit ent-
standen. Das Wachstum des Buches dürfte bis ins 4./3. Jh. v. Chr. angehalten
haben. Terminus post quem non ist Jesus Sirach (frühes 2. Jh. v. Chr.), der das
Sprüchebuch (vgl. Spr 1,6) in Sir 47,17 möglicherweise inhaltlich aufnimmt; sein
Enkel hätte es unter „übrige Schriften“ eingereiht.
IV. Sprüche 537

8. Die „salomonische Autorschaft“


Wie schon angetönt, hat die Zuschreibung des Buches an König Salomo theolo-
gisch-ideologische Gründe. Diese allerdings beruhen auf biblischer Überliefe-
rung: Nach 1Kön 5,9–14 gab Gott Salomo Weisheit, so dass er der weiseste
Mensch auf Erden war – weiser gar als die Weisen des Ostens – und man aus
allen Völkern nach Jerusalem kam, seiner Weisheit zuzuhören (so unter anderem
die Königin von Saba, 1Kön 10). Er soll 3000 Sprüche und 1005 Lieder verfasst
und von Bäumen und Tieren gesprochen haben (1Kön 5,12), was u. a. auf die
Listenweisheit verweist, wie sie etwa im Onomastikon des Amenenope, 1100
v. Chr. vorliegt; an ihr soll sich nach einer älteren Sicht Salomo orientiert haben.
Keine oder wenig Probleme damit, zumindest einen Teil der Sprüche Salomo zu-
zuordnen, hatte, wer mit einem salomonischen Großreich und einer salomoni-
schen Aufklärung rechnet. 1Kön 5 und 10 gelten heute jedoch überwiegend als
spätere, in die achämenidische Zeit zu datierende Texte. Wie David – in Anleh-
nung an sein frommes, in Sam beschriebenes Verhalten, unter anderem Saul
gegenüber – viele Psalmen zugewiesen werden, so dem weisen König Salomo die
weisheitlichen Texte; die beiden Könige konkurrenzieren sich nicht.

9. Inhalte
Vor allem die älteren Teile des Sprüchebuches enthalten viel aus dem Alltags-
leben abgeleitete Erfahrungsweisheit, in deren Zentrum der „Tun-Ergehen-Zu-
sammenhang“ steht, den Jahwe der Welt, einem Siegelabdruck gleich, als bestän-
dige Ordnung eingestiftet hat: Wer sich richtig verhält, dem geht es gut. Diesen
Zusammenhang entfalten die Sprüche nach vielen Seiten hin. Er wird nur selten
direkt auf Jahwe zurückgeführt; dass er auf ihn zurückgeht, gilt als selbstver-
ständlich – so selbstverständlich, dass es nicht ausgeführt zu werden braucht;
man vgl. etwa Spr 25–27, in denen Jahwe nur einmal erscheint (Spr 25,22: …
„und der Herr wird es dir vergelten“). Es ist allerdings auch möglich, hier von
rein profaner Weisheit zu sprechen, d. h. einer Weisheit, die sich mit dem Zuta-
geliegenden begnügt. In Spr 10–15 liegt insofern eine besondere Ausgestaltung
des „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“ vor, als Gerechte und Frevler typisiert
erscheinen, ihnen ein Charakter / Habitus zugeschrieben wird (und nicht nur
einzelne Handlungen). Die Sprüche, die nüchtern und kühl über den Menschen
urteilen (grundsätzlich gilt: Arme sind für ihr Ergehen selbstverantwortlich)
vertreten eine Ethik der Mitte, zwischen wohlerwogener Selbstliebe und Altruis-
mus. Dass diese Ethik gelegentlich widersprüchlich wirken kann, hängt mit ihrer
Situationsbezogenheit zusammen, mit der Suche nach der richtigen Zeit, einem
Zentraltopos in den Sprüchen. Besonders deutlich wird das in Spr 26,4f., wo zwei
sich widersprechende Mahnworte unmittelbar aufeinanderfolgen: „Antworte
dem Dummen nicht nach seiner Torheit, damit du nicht wirst wie er.“ „Ant-
worte dem Dummen nach seiner Torheit, damit er sich nicht selbst für weise
hält.“ Je nach Situation gilt es, die eine oder die andere Maxime zu befolgen.
538 E. Die Ketubim

An der älteren Weisheit innerhalb des Sprüchebuches wird besonders deut-


lich, dass das Alte Testament kein ausschließlich religiöses Buch ist, sondern viel
enthält, was zum kulturellen Erbe Israels gehört – bis hin zur Unterhaltung in
Form von Rätseln. Die jüngere Weisheit ist gegenüber der älteren theologisiert
und verbindet etwa die Frage nach dem richtigen Verhalten mit dem Begriff der
Jahwefurcht. Insgesamt dominiert im Buch das, was in moderner Begrifflichkeit
unter „Ethik“ subsumiert wird; folgerichtig wurde die alttestamentliche Ethik
denn auch im 19. Jahrhundert anhand der Weisheitsschriften, insbesondere der
Sprüche, traktiert – und nicht anhand der Tora.
Gegenüber der „Ethik“ treten andere Themen deutlich zurück: Ganz fehlen
die Stationen der Heilsgeschichte (Exodus, Sinai, Landnahme …). Bezeugt ist
dagegen die Schöpfung von Welt und Mensch durch Gott: In ihr gründen die
Welt und menschliches (Zusammen-)Leben begründenden Ordnungen.

10. Formgeschichte

Die beiden wichtigsten Gattungen, insbesondere in den älteren Teilen des Bu-
ches, sind Aussage- und Mahnspruch; letzterer führt häufig eine Begründung bei
sich.

Aussagespruch (Spr 13,3):


Wer seine Lippen hütet, schützt sein Leben,
wer seinen Mund aufreißt, den trifft das Verbrechen.

Mahnspruch (Spr 25,17):


Betritt nur selten das Haus deines Nächsten, sonst hat er dich satt und ver-
schmäht dich.

Zwischen Aussage- und Mahnspruch darf nicht zu scharf getrennt werden: Aus-
sagen enthalten häufig implizite Mahnungen, und Mahnungen verweisen auf
Erfahrungen, die sich in Feststellungen niederschlagen. Eine besondere Ausprä-
gung des Aussagespruchs bildet der Vergleichsspruch: „Besser in einer Ecke auf
dem Dach wohnen als mit einer streitsüchtigen Frau im gleichen Haus“ (Spr
21,9). Weiter zu nennen ist der Makarismos: „Wohl dem Menschen, der Weis-
heit gefunden hat, und dem Menschen, dem Einsicht zuteil wird“ (Spr 3,13).
Verbreitet ist in den Proverbien der gestaffelte Zahlenspruch. Nach einer
Einleitung (Es gibt x, x + 1 Tatbestände) werden diese aufgeführt. Zwei Beispiele:

Spr 30,15f.
Drei sind es, die nicht satt werden,
vier, die nie sagen: Es ist genug!
Das Totenreich und der verschlossene Mutterleib,
die Erde, die nicht satt wird von Wasser,
und das Feuer, das nie sagt: Es ist genug!
IV. Sprüche 539

Spr 30,18f.
Drei Dinge sind es, die zu wunderbar für mich sind,
und vier kann ich nicht begreifen:
der Weg des Geiers am Himmel,
der Weg einer Schlange auf dem Felsen,
der Weg eines Schiffes mitten im Meer
und der Weg eines Mannes mit einer Frau.

Auf dem letzten Glied der Aufzählung ruht der Nachdruck. Diese Form des Aus-
sagespruches verrät seine Verankerung im Unterricht besonders deutlich.
Außerhalb des Alten Testaments findet er sich in ugaritischen Texten (14. Jh.
v. Chr.) und in einem Spruch bei Achiqar (8./7. Jh. v. Chr.), also in zeitlich weit
auseinanderliegenden Werken.

KTU 1.4. III 17–21


Wahrlich, zweierlei Gastmähler hasst Baal,
ein drittes der auf Wolken Einherfahrende:
ein Gastmahl der Schande und ein Gastmahl des Zwistes
und ein Gastmahl, (auf dem) die Mägde (was) zu tuscheln haben.

Achiqar 92f.
Zwei Dinge sind ein Schmuck (?),
und das dritte ist eine Lust (?) für Schamasch:
Wer Wein trinkt und ihn (Andere) schlürfen lässt (?);
wer die Weisheit bezwingt …;
Wer ein Wort hört und es nicht kundtut;
Siehe, das ist kostbar für Schamasch.

Die Geistesbetätigung, die hinter dem gestaffelten Zahlenspruch steht, berührt


sich ein Stück weit mit der in der Listenweisheit bezeugten. Von ihr unterschei-
den sich einige Sprüche dadurch, dass sie ein Phänomen aus dem menschlichen
Leben, auf das der Spruch zielt, von Naturphänomenen her erhellen.
Mit der Theologisierung der Weisheit entstehen neue Formen. Die Lehr- oder
Mahnrede, welche die ausgebildete Form eines Mahnwortes bildet, besteht aus
Einleitung (häufig Aufmerksamkeitsruf), Hauptteil und Schluss in Gestalt einer
(wertenden) Zusammenfassung. Stark variiert der Hauptteil, die Lehre, als die
etwa eine Erzählung dienen kann; beliebt sind in ihr auch rhetorische Fragen.
Eine spezielle Gattung bilden die Reden von Frau Weisheit (1,20–33; 8,1–36;
9,1–12) und Frau Torheit (9,13–18), in der diese Gestalten – nachdem sie vorge-
stellt worden sind – für ihre Sache im Ich-Stil werben und – am Schluss – auf die
Konsequenzen hinweisen, die sich aus der Ablehnung dieser Einladung ergeben.
Auf das Gesamte gesehen ein Fremdkörper im Sprüchebuch ist das Gebet von
Spr 30,7–9, in dem sich Agur direkt mit Bitten an Gott wendet; im Kapitel selbst,
einer Art theologischen Florilegiums, ist es das nicht.
V. Rut*
V. Rut
Kommentare: W. RUDOLPH, 1939, 1962 (KAT). – P. JOÜON, Rom 1953, 21986. – G. GERLEMAN, 1965,
2
1981 (BK). – E. WÜRTHWEIN, 1969 (HAT). – E. F. CAMPBELL, 1975 (AncB). – J. M. SASSON, 1979,
2
1995. – R. E. MURPHY, 1981 (FOTL). – E. ZENGER, 1986, 21992 (ZBK). – R. L. HUBBARD, 1988
(NICOT). – C. FREVEL, 1992 (NSK.AT). – J. SCHARBERT, 1994 (NEB). – F. BUSH, 1996 (WBC). – K.
NIELSEN, 1997 (OTL). – K. D. SAKENFELD, 1999 (Interpretation). – I. FISCHER, 2001 (HThKAT). – E.
ZENGER, 2004 (SAT). – M. KÖHLMOOS, 2010 (ATD).

Einzeluntersuchungen: H. GUNKEL, Ruth (1905), Reden und Aufsätze, Göttingen 1913, 65–92. – O.
EISSFELDT, Stammessage und Menschheitserzählung in der Genesis. Wahrheit und Dichtung in der
Ruth-Erzählung, 1965 (SSAW.PH 110,4). – H. H. WITZENRATH, Das Buch Rut. Eine literaturwissen-
schaftliche Untersuchung, 1975 (StANT 40). – A. MEINHOLD, Theologische Schwerpunkte im Buch
Ruth und ihr Gewicht für seine Datierung: ThZ 32 (1976), 129–137. – R. VUILLEUMIER, Stellung und
Bedeutung des Buches Ruth im alttestamentlichen Kanon: ThZ 44 (1988) 193–210. – M. D. GOW,
The Book of Ruth: Its Structure, Theme and Purpose, Leicester 1992. – J. EBACH, Fremde in Moab –
Fremde aus Moab. Das Buch Ruth als politische Literatur, in: Ders. / R. Faber (Hg.), Bibel und
Literatur, München 1995, 277–304. – I. FISCHER, Der Männerstammbaum im Frauenbuch:
Überlegungen zum Schluß des Rutbuches (4,18–22), in: R. Kessler u. a. (Hg.), „Ihr Völker alle,
klatscht in die Hände!“, FS E. Gerstenberger, Münster 1997, 195–213. – Y. ZAKOVITCH, Das Buch
Rut. Ein jüdischer Kommentar, 1999 (SBS 177). – M. KORPEL, The Structure of the Book of Ruth,
Assen 2001. – A. SIQUANS, Foreignness and Poverty in the Book of Ruth: JBL 128 (2009), 443–452. –
K. M. SAXEGAARD, Character Complexity in the Book of Ruth, 2010 (FAT 2/47). – P. H. W. LAU,
Identity and Ethics in the Book of Ruth, Berlin u. a., 2011 (BZAW 416).

Rut nimmt in über 60 Handschriften sowie in der Aufzählung von bBB 14b im
dritten Kanonteil den Spitzenplatz ein, noch vor den Psalmen. Da das Büchlein
mit dem Stammbaum Davids schließt, bedeutet dies möglicherweise eine Ver-
stärkung der davididischen Ausrichtung des Psalters.

1. Inhalt

Die Rolle erzählt die Geschichte zweier Frauen, Naomi und Rut. Anlässlich einer
Hungersnot begibt sich der Betlehemiter Elimelech mit seiner Frau Naomi als
Fremdling nach Moab. Nach seinem Tode nehmen sich seine beiden Söhne,
Machlon und Kiljon, moabitische Frauen, Orpa und Rut. Nach zehn Jahren Auf-

* Die im Folgenden (Kap. V.–IX.) behandelten (fünf) Megillot (‫ ְמגִלָּוֹת‬, Plural von ‫ ְמגִלָּה‬: „Rolle“) –
Rut, Das Hohelied, Kohelet, Klagelieder, Ester – bilden innerhalb der Ketubim eine eigene
Untergruppe, die als solche allerdings erst seit dem 6. Jh. n. Chr. bezeugt ist (zu ihrer vorherigen
Einordnung s. die Einführung zu den Ketubim). Sie heißen auch „Festrollen“, weil sie an den
fünf wichtigsten jüdischen Festen verlesen werden: Rut: Schabuot; Das Hohelied: Pesach; Kohe-
let: Sukkot; Klagelieder: TischabAb; Ester: Purim. Diese dem Festkalender folgende Reihenfolge
ist erst seit dem 12. Jh. n. Chr. belegt.
Anders, stärker nach inhaltlichen Kriterien, ordnet die LXX: Die im Büchlein Rut geschilderten
Ereignisse sollen sich während der Richterzeit abgespielt haben (1,1); dementsprechend schließt
es an Richter an. Ester folgt auf Nehemia, respektive Judit; auch das entspricht der historischen
Abfolge der in diesen Schriften dargestellten Ereignisse. Jeremia gilt als Verfasser der Klagelieder;
von daher erklärt sich die Abfolge Jeremia – Klagelieder. Kohelet und Das Hohelied zählen zu
den libri poetici (didactici) und schließen an die Sprüche an.
V. Rut 541

enthalt in Moab sterben auch die beiden Söhne Elimelechs, und Naomi be-
schließt, nach Betlehem zurückzukehren. Auf ihr Drängen hin bleibt Orpa in
Moab, während Rut darauf beharrt, mit ihrer Schwiegermutter nach Betlehem
zurückzukehren; sie setzt sich durch. Rut darf bei Boaz, einem Verwandten Eli-
melechs, Ähren lesen, d. h. Nachlese halten; er behandelt sie überhaupt in jeder
Beziehung gut. Wiederum auf Anregung ihrer Schwiegermutter legt sich Rut
eines Nachts in einer Tenne neben Boaz, der, als er sie überrascht bemerkt, ihr
zusagt, sie zu lösen (s. dazu unten), wenn der ihr noch näherstehende Löser auf
dieses Recht verzichte. Am nächsten Tag versammelt Boaz im Tor der Stadt zehn
Männer und unterbreitet diesem (namenlosen) Löser den Vorschlag, das Grund-
stück, das Elimelech gehört, Naomi abzukaufen. Dieser verzichtet darauf, als er
vernimmt, dass er mit dem Kauf des Ackers auch Rut erwirbt, mit der er deren
verstorbenem Mann zu einem Sohn verhelfen soll. Danach tritt Boaz in die Stel-
lung des Lösers ein. Rut gebiert ihm einen Sohn namens Obed, dessen Enkel
David ist. Das Büchlein schließt mit einem zehn Glieder umfassenden Stamm-
baum, der von Perez bis David reicht.

2. Formgeschichtliches

Beim Büchlein Rut handelt es sich um eine dichte Erzählung, die linear verläuft,
keine Nebenstränge aufweist und nur erzähltechnisch unbedingt notwendige
Rückblenden enthält (Bsp.: 2,19–21; 3,10). Dies fällt umso mehr auf, als von den
85 Versen der Erzählung nicht weniger als 55 direkte Rede enthalten. Die Zahl
der Schauplätze ist wie die der Personen aufs absolut Nötige beschränkt, wie es in
den vier Kapiteln überhaupt keine überflüssigen Informationen gibt. Weiter
zeichnet sich Rut durch die starke Konzentration von Leitwörtern aus (FISCHER).
Neben ‫( הלך‬gehen), ‫( עזב‬verlassen), ‫( מות‬sterben), ‫( נתן‬geben), ‫( עַם‬Volk), ‫( שׁוב‬zu-
rückkehren), ‫[( לקט‬Ähren] lesen), ‫( שׁכב‬liegen), ‫( קנה‬erwerben) sind vor allem
‫( ֶחסֶד‬Güte) und ‫( גאל‬lösen) zu nennen – der theologische, respektive juridische
Zentralbegriff des Büchleins. Eine ähnliche Funktion wie die Leitwörter erfüllen
die Eigennamen: Machlon und Kiljon – der „Schwächliche“ und „Gebrechliche“
(Zenger) – sterben, kaum sind sie in die Erzählung eingeführt. Naomi erweist
sich als lieblich (und will dann „Mara“, die Bittere genannt werden). Orpa, „die
den Rücken Kehrende“, kehrt tatsächlich ihrer Schwiegermutter den Rücken,
und Boaz, „in ihm ist Kraft“ – auch Namen einer der beiden Säulen des salomo-
nischen Tempels (1Kön 7,21) – wird seinem Namen voll gerecht. Die Bedeutung
des Namens Rut ist unsicher; die bereits von der Peschitta vertretene Deutung
„Gefährtin“ lässt sich philologisch nicht halten. Die ausgefeilte Leitworttechnik
und den starken Einsatz von programmatischen Eigennamen teilt Rut mit jünge-
ren Büchern des Kanons, im Pentateuch mit Numeri und in den Schriften mit
der Chronik. Mit ihnen berührt es sich auch in der starken Aufnahme, Ver-
arbeitung und Interpretation von älteren Bibeltexten.
Die formgeschichtliche Einordnung des Rutbüchleins als „Novelle“ oder
542 E. Die Ketubim

„short story“ wird dem Werk nur bedingt gerecht, auch nicht seine schon von
Goethe verwendete Charakterisierung als „idyllisch“ – in ihm geht es um den
Überlebenskampf zweier Frauen (EBACH). Als „idyllisch“ können die vier Kapitel
allerdings insofern gelten, als sich die handelnden Personen (vielleicht mit Aus-
nahme des ersten Lösers) alle vorbildlich verhalten, es in ihnen keinen ausge-
sprochenen Bösewicht gibt. Darin unterscheidet sich Rut toto coelo von der mit
ihr formgeschichtlich verwandten Esternovelle.

3. Themen

Drei Themen bestimmen das Buch: die soziale und wirtschaftliche Stellung von
Frauen, die „Institutionen“ von Levirats-/Schwagerehe und Löser sowie die Ein-
stellung zu Fremden.
Die Geschichte, die das Büchlein entfaltet, wird stark aus der Perspektive der
beiden Protagonistinnen dargestellt. Dass es sich bei ihm um ein ausgesproche-
nes „Frauenbuch“ handelt, geht etwa auch aus den bewusst eingesetzten Verwei-
sen auf Lea und Rahel (4,11: „Der Herr mache die Frau, die in dein Haus kommt,
wie Rahel und Lea, die beide das Haus Israel gebaut haben“) und auf Thamar
(4,12: „Dein Haus werde wie das Haus des Perez, den Tamar dem Juda gebar“)
hervor, weiter aus der Bezeichnung Ruts als tüchtiger Frau (3,11) sowie dem
Ausdruck „Mutterhaus“ (1,8).
Rut verbindet in eigenartiger Weise zwei „Institutionen“, die sonst nur ge-
trennt erscheinen, die des Lösens (‫ ) ְגּ ֻאלָּה‬und die der Levirats- oder Schwagerehe.
Ein Löser (‫ )גּוֹאֵל‬hat die Pflicht, Erbbesitz, das überschuldete Verwandte von ihm
verkaufen mussten, zurückzuerwerben (vgl. Lev 25,24ff.). Leviratsehe bedeutet:
Der Bruder eines verheirateten Mannes, der ohne Sohn gestorben ist, hat die
Verpflichtung, dessen Witwe zu heiraten; der erste Sohn, der dieser Verbindung
entspringt, gilt als Nachkomme des Verstorbenen. Wer sich der Schwagerehe
entzieht, wird geächtet (Dtn 25,5ff.). Mit der Verbindung dieser Rechts-
institutionen, deren konkreter geschichtlicher Hintergrund sich schwer erheben
lässt, betreibt der Verfasser des Rutbüchleins gleichzeitig Gesetzesauslegung, d. h.
Torainterpretation.

4. Schriftverwendung

Diese prägt das Büchlein in starkem Maße. Am deutlichsten wird das bei der
Heirat Boaz’ mit der Moabiterin Rut. Das Gemeindegesetz von Dtn 23 untersagt
die Aufnahme von Ammonitern und Moabitern in die Gemeinde des Herrn –
Begründung (V. 5): „weil sie euch nicht mit Brot und Wasser entgegengekom-
men sind auf dem Wege, als ihr aus Ägypten auszogt …“. Rut 1 macht indirekt
deutlich, dass die Moabiter Elimelech und seine Familie freundlich aufgenom-
men haben. Der Grund, dessetwegen das Gesetz erlassen wurde, ist weggefallen –
und damit braucht es auch nicht mehr angewendet zu werden.
V. Rut 543

Nicht nur Gesetzestexte interpretiert das Büchlein Rut. Mit dem Motiv etwa,
dass ein Ehepaar wegen einer Hungersnot im eigenen Land in die Fremde zieht,
spielt der Verfasser auf Gen 12,10 und 26,1 an: Abraham zieht mit seiner Frau
nach Ägypten, Isaak mit der seinen zum Philisterkönig Abimelech von Gerar.
Allerdings erfolgt die Schriftauslegung in Rut nicht durch direkte Verweise
(„wie geschrieben steht …“), sondern indirekt.
Noch weiter geht BUDDE, der ganz Rut als Midrasch (Auslegung) von 1Sam
22,3f. charakterisiert; nach dieser Stelle brachte der von Saul bedrängte David
seine Eltern zum König von Moab in Sicherheit. Das Büchlein seinerseits gehöre
zum „Midrasch des Buches der Könige“ (den der Chronist in 2Chr 24,27 als
Quelle für einen Teil der Geschichte Joas’ nennt). Diese These ist höchst unwahr-
scheinlich, da 2Chr 24,27 zu den nur dem Chronisten eigenen und von ihm er-
fundenen Quellen gehört. BUDDEs These besitzt allerdings eine particula veri:
1Sam 22,3f. dürfte erklären, warum Elimelechs Familie vor der Hungersnot nach
Moab und nicht nach Ammon floh.

5. Datierung; literarische Integrität

Die lange Zeit beliebte Ansetzung von Rut in die Königszeit – von G. VON RAD
mit dem blühenden Geistesleben während der sog. „salomonischen Aufklärung“
begründet – lässt sich (zusammen mit dieser selbst) nicht halten. Das am häu-
figsten vorgebrachte Argument für diese Datierung, man habe David nach Erlass
des Gemeindegesetzes (Dtn 23; frühestens unter Josija) nicht mehr eine edomiti-
sche Urgroßmutter zuschreiben dürfen, ist hinfällig (s. oben). Diese These ging
einher mit der Behauptung, die vier Kapitel enthielten historisch vertrauenswür-
dige Nachrichten.
Auch vom Sprachbefund her legt sich diese Datierung nicht nahe. Das Büch-
lein enthält zwar Formen, die man als archaisch interpretieren kann; wahr-
scheinlicher handelt es sich bei ihnen jedoch um archaisierende Elemente. Für
eine spätere Abfassung sprechen auch die – allerdings nicht zahlreichen – Ara-
maismen des Buches.
In die nachexilische Zeit weist der literarische Charakter des Textes (s. oben).
Allerdings erlaubt er keine genauere Festlegung innerhalb dieser Epoche; zudem
hängt diese ein Stück weit auch vom Alter der aufgenommenen und interpre-
tierten Texte ab. Präzisere Datierungen erfolgen aufgrund inhaltlicher Kriterien.
Gelegentlich wird die These vertreten, im Büchlein spiegle sich die Thematik
„Rückkehr aus dem babylonischen Exil“; doch dafür gibt es kaum belastbare
Anhaltspunkte. Eine andere erfreut sich größerer Beliebtheit: Das Büchlein Rut,
das implizit Mischehen verteidigt, bildet die Gegenposition zu den Büchern Esra
und Nehemia, in denen diese vehement verurteilt und bekämpft werden (Esr 9f.;
Neh 10,31; 13,1–3.23–30). Achillesferse dieser These: Der Protest gegen Esras
rigorose Mischehenpolitik wäre in Rut nur indirekt erfolgt.
Auch für eine nachexilische Datierung spricht die Wichtigkeit von Familie
544 E. Die Ketubim

und Frauen im Büchlein; sie lässt sich auch in anderen Texten aus dieser Zeit
beobachten.
Die literarische Integrität von Rut wird von zwei Seiten her bestritten: mit
schwachen Argumenten von den Vertretern mündlicher Vorstufen des Büch-
leins, mit überzeugenderen aufgrund der Datierung des Werkes in der Königs-
zeit: Nach ihren Vertretern bildet die Genealogie in 4,18ff. einen späteren Zusatz.
Inhaltlich geht sie mit der von 1Chr 2,4–15 parallel (bei Weglassung der Neben-
linien); formal wirkt sie den Genealogien der Priesterschrift nachempfunden.
Dass dem Büchlein eine auf David zusteuernde Genealogie angefügt ist, hängt
nach ZENGER mit einer „Revitalisierung“ messianischer Hoffnungen zusammen.
Diese These überzeugt mehr als die andere, wonach zwischen dem Boaz in Rut
und dem der Chronikgenealogie nur eine Namensgleichheit bestehe, die dann im
Sinne einer Personenidentität verstanden worden sei.
Der Abschluss von Rut durch eine Genealogie kann auch durch das Vorbild
der Erzvätererzählungen bedingt sein: Auch in ihnen schließen Genealogien die
Geschichten ab, zu denen sie gehören (Bsp.: Gen 25,12–19; 35,23–26).
Die Genealogie setzt bei Perez, dem Sohn Judas und Tamars ein (Gen 38,29),
und nicht beim Mann, von dem erzählt wird. Dadurch schafft der Verfasser von
Rut einen lückenlosen Anschluss an die Väterzeit, die im Buch durch die drei
Frauen Rahel, Lea und Tamar repräsentiert wird; über zehn Generationen ge-
langt er aus ihr über die Richterzeit bis zum ersten König Israels. Er umgreift in
seinem Buch eine lange Zeitspanne. Der Bucheinsatz „Und es geschah in den
Tagen, in denen die Richter richteten“ dürfte zur Schaffung der „Richterzeit“ als
eines Epochenbegriffs in der Geschichte Israels beigetragen haben. Durch ihn
wird das Geschehen geschichtstheologisch in die vordavidische Epoche einge-
ordnet.

6. Theologische Akzente

Gott gibt / schenkt, vergilt (in positivem Sinne). Diese Aussagen erscheinen in
verschiedenen Ausformungen recht häufig in den Reden der Protagonisten; Gott
selber wird dagegen nur zwei Mal als Handelnder eingeführt (1,6; 4,13); das
Wort ergreift er nie. Was VON RAD als typisch für die Thronfolgegeschichte her-
ausgestellt hat, gilt mutatis mutandis auch für Rut. Das relative Zurücktreten
Gottes hängt auch damit zusammen, dass der Fokus der Geschichte auf der In-
tegration Ruts in das Gottesvolk liegt. Als theologisch gewichtigste Stelle des
Büchleins hat deshalb 2,12 zu gelten: „Der Herr vergelte dir dein Tun, und voller
Lohn werde dir zuteil von dem Herrn, dem Gott Israels, zu dem du gekommen
bist, dich unter seinen Flügeln zu bergen.“ Die Schrift stellt dem Leser zwar keine
ideale Welt ohne Not und Leid vor Augen, aber doch eine, wie sie besser kaum
sein könnte: Gott wie Menschen üben ‫( ֶחסֶד‬Güte), zeichnen sich also durch
überpflichtgemäßes Handeln aus.
VI. Das Hohelied
Kommentare: F. DELITZSCH, 1875 (BC). – K. BUDDE, 1898 (KHC). – W. RUDOLPH, 1962 (KAT). – G.
GERLEMAN, 1965 (BK). – E. WÜRTHWEIN, 21969 (HAT). – M. H. POPE, 1977 (AncB). – G. KRINETZKI,
1980 (NEB). – O. KEEL, 1986, 21992 (ZBK). – R. E. MURPHY, 1990 (Hermeneia). – H.-P. MÜLLER,
1992 (ATD). – J. G. SNAITH, 1993 (NCB). – W. BÜHLMANN, 1997 (NSK.AT). – T. LONGMAN, 2001
(NICOT). – Y. ZAKOVITCH, 2004 (HThKAT).

Einzeluntersuchungen: H. SCHMÖKEL, Heilige Hochzeit und Hoheslied, 1956 (AKM 32,1). – H.-P.
MÜLLER, Die lyrische Reproduktion des Mythischen im Hohenlied: ZThK 73 (1976), 23–41. – F.
LANDY, The Song of Songs and the Garden of Eden: JBL 98 (1979), 513–528. – R. E. MURPHY, The
Unity of the Song of Songs: VT 29 (1979), 436–443. – F. LANDY, Paradoxes of Paradise. Identity and
Difference in the Song of Songs, 1983 (BiLiSe 7). – M. V. FOX, The Song of Songs and the Ancient
Egyptian Love Songs, Madison 1985. – H.-J. HEINEVETTER, „Komm nun, mein Liebster, Dein Garten
ruft Dich!“ Das Hohelied als programmatische Komposition, 1988 (BBB 69). – A. BRENNER, The
Song of Songs, 1989 (OTGu). – D. A. DORSEY, Literary Structuring in the Song of Songs: JSOT 46
(1990), 81–96. – W. G. E. WATSON, Some Ancient Near Eastern Parallels to the Song of Songs, in: J.
Davies et al. (eds.), Words Remembered, Texts Renewed, FS J. F. A. Sawyer, 1995 (JSOT.S 195), 253–
271. – E. BOSSHARD-NEPUSTIL, Zu Struktur und Sprachprofil des Hohenlieds: BN 81 (1996), 45–71. –
K. SEYBOLD, Zur Sprache des Hohenlieds: ThZ 55 (1999), 112–120. – A. WAGNER, Das Hohe Lied –
theologische Implikationen seines literarischen Charakters als Sammlung von Liebesliedern: ZAW
119 (2007), 539–555. – S. FISCHER, Das Hohelied Salomos zwischen Poesie und Erzählung, 2010 (FAT
72).

Durch seine Überschrift „Lied der Lieder“ (‫ִירים‬


ִ ‫ )שִׁיר ַהשּׁ‬gibt sich das Hohelied als
Ganzes und nicht einfach als eine Sammlung von Einzelliedern zu erkennen. Der
Ausdruck ‫ שִׁיר‬lässt gleich an fröhliche Lieder denken. Es handelt sich bei ihnen –
grob gesprochen – um Liebeslieder. In ihnen werden die Frau und (wenn auch
seltener) der Mann als schön und begehrenswert beschrieben; die beiden drü-
cken in vielfältigen Variationen den Wunsch aus, beieinander zu sein. Durch den
(reflektierenden) Superlativ von 1,1 wird implizit ein Vergleich mit – nicht ge-
nannten – anderen Liebesliedern angestellt und der Anspruch erhoben, es handle
sich bei ihm um ein bedeutendes Werk, ja das bedeutendste von allen.

1. Das Hohelied: Aneinanderreihung von Einzelliedern oder


planvoll konzipierte Sammlung?

Konsens ist: Das Hohelied besteht aus einzelnen, längeren oder kürzeren Lie-
dern. Die Bestimmung ihrer Zahl variiert zwischen 19 (nach masoretischer Un-
terteilung) und 52 (KRINETZKI). Dieser Unterschied erklärt sich einerseits daher,
dass die Lieder wenige eindeutige Gliederungssignale enthalten, und andererseits
redaktionell zwischen den Einzelliedern auch Verbindungen geschaffen wurden,
welche die ursprünglichen Grenzen zwischen den einzelnen Teilen verwischen.
Strittig ist, ob im Buch eine übergreifende Kompositionsstruktur (etwa mit
Chiasmen) vorliegt oder es als eine Sammlung lose aneinandergefügter Einzel-
texte besteht. Eine Zwischenposition vertritt WAGNER, der das Hohelied – wie
den Psalter – als Sammlung betrachtet. Während eine Kompositionsstruktur nur
546 E. Die Ketubim

so und nicht anders sein und also interpretiert werden kann, gilt nach ihm für
eine Sammlung: Die Prinzipien, nach denen ihre einzelnen Bestandteile
aneinandergefügt wurden, hätten auch andere sein können. Bei einer Sammlung
können sich die Kriterien (nicht zwingend nur eins!), nach denen gesammelt
wird, ändern.

2. Bild-, Vorstellungs- und Rollenrepertoire des Hoheliedes

Diesbezüglich ist das Hohelied äußerst reich. Es enthält viele Vergleiche („Deine
Augen sind wie Tauben“: 5,12), Metaphern („Deine Augen sind Tauben“: 1,15;
4,1), Travestien (Königs-, Hirten-, Schwestertravestie), typische Situationen
(Liebe unter Bäumen) etc. Sie geben dem Buch sein spezifisches, unverwechsel-
bares Profil. Freilich ist vieles davon schwer verständlich. Beim Versuch, die
Bilder und Vergleiche zu enträtseln, ist – nach einem Modell konzentrischer
Kreise – zuvörderst das Hohelied nach Parallelen abzusuchen, dann das ganze
Alte Testament, in einem nächsten Schritt das Land (Israel) und schließlich,
wenn alle diese Arbeitsschritte keine Resultate ergeben haben, der ganze Alte
Orient, nicht zuletzt dessen reichhaltiges ikonographische Repertoire (so KEEL).
Das Material, dessen sich der Verfasser des Hoheliedes bedient, stammt schwer-
gewichtig aus der Kultur und nicht aus der Natur: „Art is born of art and not of
nature“. Da Israel innerhalb des Alten Orients (inklusive Ägyptens) vor allem
Durchgangsland war, darf bei der Suche nach Vergleichsmaterial nicht eine
„Kultur“ oder ein Land bevorzugt behandelt werden.

3. Die Gattung(en) des Hoheliedes

Wie über die Abgrenzung der einzelnen Lieder, so herrscht auch über ihre form-
geschichtliche Einordnung, besser gesagt: Unterteilung, keine Einigkeit. 1935
präsentierte HORST einen Katalog von nicht weniger als acht Gattungen, auf die
sich die Lieder des Hoheliedes aufteilen lassen; KRINETZKI ergänzte die Liste um
drei weitere: Vergleiche und Allegorien; Beschreibungslieder (vgl. wazf); Sehn-
suchtslieder; Erlebnisschilderungen; Selbstschilderung; Prahllied; Scherzgespräch
(HORST); Beschwörungslied; Aufforderung zur Freude; Wechselgespräch (KRI-
NETZKI). Diese Kategorien sind insofern künstlich, als sich einige unter ihnen
überlappen und recht viele Texte nicht nur einer dieser „Gattungen“ zugeordnet
werden können, sondern gleich mehreren.
Der Autor des Hoheliedes hat mit seinem Werk gleichzeitig eine neue Gat-
tung geschaffen, die im Alten Testament nur einmal belegt ist: nämlich eine
Sammlung von Liebesliedern.
VI. Das Hohelied 547

4. Spätere Interpretationen

Das Hohelied verdankt seine Aufnahme in den Kanon wahrscheinlich seiner


Zuschreibung an König Salomo, also einem Autoritätsargument. Seines Inhaltes
wegen war jedoch sein Platz in ihm häufig umstritten und musste – wo die Auto-
rität seines Verfassers allein nicht ausreichte – begründet werden. Das geschah
am stärksten durch allegorisierende und spiritualisierende Uminterpretationen,
die allerdings erst recht spät einsetzten. Noch die LXX übersetzt ganz wörtlich,
schwächt das erotische Element also keineswegs ab. Die jüdische Auslegung
„rettet“ das Buch, indem sie ihm bestimmt den Charakter weltlicher Liebeslieder
abspricht. In einer anonymen Überlieferung aus dem Ende des 1. Jh.s heißt es:
„Wenn jemand einen Vers aus dem Hohenlied als (profanes) Lied singt oder
wenn jemand in einem Gasthaus einen Schriftvers zur ungeeigneten Zeit vorliest,
bringt er Unglück über die Welt.“ Und Rabbi Aqiba wandte sich (135 n. Chr.)
mit folgenden Worten gegen eine profane Verwendung des Hoheliedes: „Jene,
die ihre Stimme bei Festen / Hochzeiten mit dem Hohenlied vibrieren lassen und
es wie ein Lied behandeln, haben keinen Anteil an der künftigen Welt.“ (tSan
12,10).
Die allegorisierende Ausdeutung des Hoheliedes lässt sich – einem lange
gültigen Konsens entgegen – alttestamentlich rechtfertigen. Hosea sowie Jeremia
interpretieren das Verhältnis zwischen Jahwe und Israel metaphorisch als das
von Mann und Frau; von daher konnte man problemlos das Gegenüber von
Geliebter und Geliebtem, Braut und Bräutigam im Hohelied auf das Verhältnis
zwischen Gott und Israel übertragen – und in Folge davon das ganze Buch als
bildliche Veranschaulichung der Heilsgeschichte Israels lesen. Beliebt war im
Judentum auch eine Deutung auf Gott und die Tora, respektive die Schechina
(Einwohnung Gottes auf Erden). Die Allegorisierung des Buches drängte sich
nach Ende der Hasmonäerherrschaft mit einer gewissen Logik auf, da damals
profanes und religiöses Leben stärker als vorher auseinanderzutreten begannen
und der Tanach sich gleichzeitig aus einem Buch, das auch „patrimoine culturel“
(kulturell-zivilisatorisches Erbe) gewesen war, in ein rein religiöses Buch ver-
wandelte.
Im Christentum findet sich eine beeindruckende Fülle von allegorisch-spiri-
tualisierenden Interpretationen des Hoheliedes. Im männlichen und weiblichen
Partner des Buches entdeckt man: Christus und die Kirche (den mystischen Leib
Christi), Christus und die einzelne Seele, später (seit Rupert von Deutz, 1070–
1129) Christus und Maria. Luther, der kaum innovierte, setzt die Braut mit dem
alttestamentlichen Gottesstaat in eins.
548 E. Die Ketubim

5. Was ist das Hohelied? / Was sind die in ihm enthaltenen Lieder?
Neuere Interpretationen

Vom 18. Jahrhundert an wurde die allegorisch-spiritualisierende Auslegung des


Hoheliedes zunehmend zurückgedrängt und durch drei neue Interpretationen
ersetzt, die in der Reihenfolge wachsender Wahrscheinlichkeit vorgestellt seien.
1. Man erklärte – auf dem Hintergrund der Entdeckung des Alten Orients – das
Hohelied von Kulten göttlicher Paare, der Heiligen Hochzeit her (Dumuzi und
Inanna bei den Sumerern; Tammuz und Ischtar in Babylon; Baal und
Anat/Astarte im syrischen Raum). Diese Deutung scheitert daran, dass nichts im
Hohelied auf Kult hinweist und das Kultdrama, das sich in ihm spiegeln soll, nur
um den Preis gewagter Textumstellungen zu gewinnen ist.
2. Auf RENAN geht die von WETZSTEIN weiterentwickelte These zurück, das
Hohelied enthalte die Lieder, die an (sieben Tage dauernden) Hochzeiten gesun-
gen worden seien. An ihnen pflegte man das Brautpaar, das auf einem Dresch-
brett thronte, als König und Königin anzureden. In den palästinischen Liedern,
die vor allem die Schönheit einer Frau (weniger des Mannes) preisen, glaubte
man Verwandte des Hoheliedes vor sich zu haben. Doch gelten diese Lieder nur
selten den Brautleuten; dies spricht – zusammen mit der Tatsache, dass die Lie-
benden im Hohelied nicht als König und Königin angesprochen werden – gegen
diese These. Sie erfreute sich auch deshalb großer Beliebtheit, weil sie voraus-
setzt, dass, wer das Hohelied singt, auch ein Hohelied auf die Monogamie
anstimmt.
3. Durchgesetzt hat sich das Verständnis des Hoheliedes als Sammlung von Lie-
besliedern, als Liebeslyrik, in der die Erfahrungen Liebender „poetisch-fiktiv“
zum Ausdruck gebracht werden. Auch unter Vorherrschaft des allegorischen
Verständnisses war diese Interpretation nie ganz ausgestorben. Befördert wurde
diese Deutung durch die Entdeckung altägyptischer Liebeslieder, die sich zum
Teil eng mit dem Hohelied berühren – beide sind sie ausgeprägt Sehnsuchtslie-
der. Diese Berührungen sind deutlich enger als diejenigen, die zur späteren grie-
chischen Liebeslyrik bestehen, die vor allem von denjenigen angeführt wird, die
eine Datierung des Hoheliedes in die hellenistische Zeit vorschlagen. Doch müs-
sen die Fragen nach Alter und Herkunft eventuell übernommener Lieder und die
nach der Datierung des Hoheliedes als Buch deutlich voneinander getrennt wer-
den. Relativ altes Gut konnte erst sehr viel später in ein Werk eingearbeitet wer-
den. Zudem ist Liebeslyrik nicht so zeitgeistabhängig wie andere Literatur.
Wenn das Hohelied auch aus „profanen“ Liebesliedern besteht: Ihren beson-
deren Charakter erhalten sie von daher, dass die Liebenden in ihnen mit Attri-
buten und Teilen des Vorstellungsvokabulars versehen werden, die im Alten
Orient mit Gottheiten verbunden sind. So kommt es in ihnen zu einer „theo-
morphen Steigerung des Menschlichen“, und das Hohelied kann als „lyrische
Reproduktion des Mythischen“ verstanden werden (MÜLLER). Das erkannte –
zur Zeit der Abfassung des Buches – jedoch nur der überdurchschnittlich Gebil-
dete.
VI. Das Hohelied 549

6. Datierung

Eine Ansetzung ins 10. Jh. v. Chr. erfolgt, wenn die „Autorenangabe“ (Salomo)
als zutreffend betrachtet wird oder aber das kulturelle Ambiente des Buches als
Widerspiegelung desjenigen der reichen und aufgeklärten salomonischen Epoche
gilt. Das Buch würde damit zu einem Bruder des Jahwisten aus der klassischen
Urkundenhypothese, den man mit der salomonischen Aufklärung in Verbin-
dung brachte – einer Zeit, zu der sehr enge Kontakte mit Ägypten bestanden.
Beide sind tot: der Jahwist aus dem 10. Jh. v. Chr. und die salomonische Aufklä-
rung.
KEEL setzt einen Grundbestand des Buchs zur Zeit Hiskijas an, als Ägypten
und Israel auch in regem Austausch standen; erst in dieser Epoche seien die
vielen Aramaismen denkbar, die das Buch enthält. Frühestens ins Ende des 7.
Jh.s v. Chr. führt die in 1,14 erwähnte Oase von En-Gedi; der Ort wurde damals
erstmals besiedelt. Eine noch spätere Ansetzung legten ein aus dem Persischen
übernommenes Wort (‫פּ ְַרדֵּ ס‬, „Park“, „Baumgarten“) und ein aus dem Griechi-
schen entlehnter Ausdruck (‫ ַאפּ ְִריוֹן‬, „Sänfte“) nahe. Schließlich gehöre die Bekrö-
nung des Gatten (3,11) erst in hellenistische Zeit. Weisen schon diese Indizien
zumindest auf eine Schlussredaktion in hellenistischer Zeit, so führen auch
Überlegungen allgemeinerer Art in diese Epoche, als sehr enge Beziehungen der
Juden zu Alexandria bestanden. Die Liebeslyrik Theokrits, Apollonius’ von Rho-
dos sowie Kalimachos’, deren Werke in der weltberühmten Bibliothek dieser
Stadt standen, könnten einen Juden veranlasst haben, ein – typisch jüdisches! –
Konkurrenzprodukt dazu verfasst zu haben.
VII. Kohelet
Kommentare: F. HITZIG, 1847 (KEH). – E. DELITZSCH, 1875 (BC). – K. SIEGFRIED, 1898 (HK). – G.
WILDEBOER, 1898 (KHC). – V. ZAPLETAL, 1905 (CF). – G. A. BARTON, 1908 (ICC). – H. W.
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N. LOHFINK, 1980, 41993 (NEB). – J. L. CRENSHAW, 1987 (OTL). – R. N. WHYBRAY, 1989 (NCeB). –
R. MURPHY, 1992 (WBC). – C.-L. SEOW, 1997 (AncB). – T. LONGMAN, 1998 (NIC). – W. BROWN,
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VII. Kohelet 551

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unter der Sonne. Zehn Jahre Kohelet-Forschung (1987–1997): ThRv 94 (1998), 363–376. – I. KOTT-
SIEPER, Alttestamentliche Weisheit: Proverbia und Kohelet I/II: ThR 67 (2002), 1–34.201–237 – L.
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128 (2003), 1123–1138.

1. Text

Die beiden in Qumran gefundenen Koheletfragmente (4Q109) sind zwar in eini-


gen wenigen Fällen textkritisch relevant; zur Annahme einer Vorlage, die signifi-
kant von der von M abwiche, zwingen sie nicht. Die LXX-Fassung des Buches
stimmt in einigen ihrer Charakteristika mit denen von Aquila überein;
BARTHÉLEMY vertrat deshalb die These, sie sei ein Werk dieses jüdischen Konver-
titen, der sich um eine möglichst wörtliche Übersetzung des hebräischen Textes
bemühte.

2. Aufbau (Form)

Das Buch Kohelet ist der erste und gleichzeitig einzige philosophische Traktat
über die Bedeutung, insbesondere die Sinnhaftigkeit des Lebens, welchen das
Alte Testament enthält.
Einfach und einnehmend unterscheiden BÜHLMANN/KNAUF in ihm nur zwi-
schen zwei Teilen, einer inhaltlich konsistenten Fundamentalphilosophie in 1–6
(Alles ist ‫ ) ֶהבֶל‬und einer praktischen Philosophie in 7–12, in der auch Wider-
sprüche zugelassen werden.
Bei einem philosophischen Traktat wie Kohelet, einem einheitlichen Buch
also, stellt sich die Frage nach Aufbau und Struktur besonders dringlich. Von den
verschiedenen, teilweise stark voneinander abweichenden Gliederungen stieß vor
allem die LOHFINKs auf breite Zustimmung. Er rechnet im Buch mit der Präsenz
zweier Struktursysteme, von denen das eine stärker formal, das andere eher in-
haltlich bestimmt ist. Das formale orientiert sich an der von den Kynikern, einer
griechischen Philosophenschule, entwickelten Form der philosophischen Diatri-
be und rechnet mit einer linearen Struktur (genaue Abgrenzung schwankend): I.
1,2–3,15 (exordium); demonstratio; II. 3,16–6,9 (explicatio); III. 6,10–9,10 (refu-
tatio); IV. 8,16–12,8 (applicatio u. peroratio).
Daneben enthält das Buch nach LOHFINK eine palindromische (chiastische)
Gesamtstruktur:
552 E. Die Ketubim

1,2f. Rahmen
1,4–11 Kosmologie (Gedicht)
1,12–3,15 Anthropologie
3,16–4,16 Gesellschaftskritik I
4,17–5,6 Religionskritik (Gedicht)
5,7–6,10 Gesellschaftskritik II
6,11–9,6 Ideologiekritik
9,7–12,7 Ethik (am Ende: Gedicht)
12,8 Rahmen

In dieser – für das Alte Testament typischen – Form spiegelt sich nach LOHFINK
auch das Bestreben des Autors wider, das eigene Erbe neben dem griechischen zu
bewahren.

3. Verfasser

Die Überschrift des Buches nennt kurz alles, was man über seinen Verfasser
wissen muss: Name, Abstammung, Tätigkeit und Ort, an dem diese erfolgt. Für
den Traktat wird die Autorität Kohelets, des „Sohnes Davids“, in Anspruch ge-
nommen (vgl. damit die Autorisierung der „Sprüche“ durch Salomo, obwohl in
diesem Buch auch auf spätere Redaktionstätigkeit [„Männer Hiskijas“, Spr 25,1]
hingewiesen und weitere Verfasser genannt werden). Beim Sohn Davids ist in
erster Linie an Salomo gedacht – in diese Richtung weisen auch die ersten beiden
Kapitel des Buches, in denen eine Königstravestie durchgespielt wird und in
denen man – teils gebrochene – Anspielungen auf das Salomobild des 1. Königs-
buches erkennen kann. „Sohn Davids“ erlaubt es jedoch auch, an andere Nach-
kommen auf dem Thron Davids zu denken. Ab dem 3. Kapitel „spielt“ Kohelet
nicht mehr König, und im Nachwort wird er als Weiser (Gelehrter) bezeichnet,
wodurch sich die anfängliche Königstravestie definitiv als solche entlarvt. Durch
diese teilweise „Selbstentmachtung“ gibt der Autor dem Leser auch die Möglich-
keit, sich kritisch mit dem Inhalt des Buches auseinanderzusetzen; er selbst tut
dies seinem fiktiven Autor „Kohelet“ gegenüber.
Zum Namen: ‫( קֺ ֶהלֶת‬Kohelet) ist die Segolatform des weiblichen Part. fem. Qal
des Verbs ‫קהל‬. Grammatikalisch gleich gebildet sind die beiden Namen der
Nachkommen der Diener Salomos (Esr 2,55.57): ‫„ = הַסֹּפ ֶֶרת‬der Schreiber“; ‫פֹּכ ֶֶרת‬
‫„ = ַה ְצּ ָבי ִים‬der Gazellenfänger“; sie wurden ihren Trägern sicher von ihren Herren
gegeben und verwandelten sich von Amts-, Berufsbezeichnungen in Personen-
namen (sie sind nur für diese späte Zeit belegt). Auf diesen in Esr 2,55.57 greif-
baren Usus dürfte der Verfasser des Buches zurückgreifen und damit auf die
Hauptaufgabe Kohelets hinweisen – oder auf das, was ihn am stärksten charakte-
risiert. (Für diese zweite Möglichkeit ist auf den Namen des zeitgenössischen
Kyrenäers Hegesias zu verweisen, der den Spitznamen „Selbstmordempfehler“
trug.) Zur ersten Möglichkeit: Da ‫ ָקהָל‬die Versammlung bezeichnet, enthält
VII. Kohelet 553

Kohelets Namen möglicherweise einen Hinweis darauf, dass er wie griechische


Wanderphilosophen Leute um sich scharte – gleichsam einen philosophischen
Zirkel aufbaute (vgl. auch die Symposien) – und diese gegen Bezahlung unter-
richtete; sein Werk kann im Rahmen dieser Lehrtätigkeit entstanden sein, so wie
das auch bei griechischen Philosophen der Fall war. Eine denkbare Alternative,
die in seiner Namenswahl zum Ausdruck kommt: Kohelet repräsentiert in
irgendeiner Weise das Volk.
Kohelet ist der einzige im Alten Testament greifbare Autor, der – wenn auch
in literarischer Fiktion – ausführlich über sich selbst als Person reflektiert (vgl.
immerhin noch Spr 30,1–3.7). Weiter enthält das Buch im 1. Epilog, auch dies
ungewöhnlich, eine Charakterisierung seiner literarischen Tätigkeit (12,9f.): „Er
hörte und prüfte, er hat viele Sprichwörter selbst in Form gebracht. Kohelet hat
sich bemüht, gut formulierte Worte zu entdecken, und hier sind diese wahren
Worte sorgfältig aufgeschrieben.“

4. Sprache

Die Sprache des Buches ist das sogenannte Späthebräisch (gelegentlich auch
Mittelhebräisch genannt), das dem Hebräisch der Mischna vorausgeht und eini-
ge von dessen Charakteristika teilt. Sie steht dem gesprochenen Idiom nahe und
unterscheidet sich gleichzeitig vom Hebräisch etwa der Chronikbücher, dessen
Verfasser sich bemüht, „klassisches“ (älteres) Hebräisch zu schreiben, respektive
das, was er dafür hält. Zu den Charakteristika von Kohelets Sprache gehören: die
häufige Verwendung von ‫שׁ‬ ֶ , respektive ‫ ֲאשֶׁר‬als Konjunktion, die Vereinfachung
des Verbalsystems und seine Anpassung an das aramäische; ins Auge springt
weiter der Ersatz des Narrativs wajjiqtol durch das „Perfekt“ weqatal. Ohne diese
Einordnung ganz zurückzuweisen, betont Dahood stärker die kanaanäisch-phö-
nizische Beeinflussung des Hebräischen Kohelets, der in Morphologie, Syntax,
Lexikon und lexikalischen Phrasen greifbar sei. Besonders wichtig: der starke,
keineswegs erstaunliche ökonomische Einschlag des Vokabulars: Die Phönizier
waren ausgesprochene Händler und Seefahrer!
Da Kohelet in seinem Werk ganz neue Themen behandelt und „philoso-
phiert“, sieht er sich auch gezwungen, neue Begriffe zu prägen, respektive vor-
handene mit einer neuen Bedeutung zu füllen: So erhält etwa ‫י ִתְ רוֹן‬, „Gewinn“
zusätzlich die Bedeutung „Sinn“.
Das Fehlen griechischer Lehnwörter darf gegen SEOW nicht zwingend als Ar-
gument für eine Ansetzung Kohelets in persischer Zeit ins Feld geführt werden.
Kohelet setzt seinen Ehrgeiz möglicherweise darein, zu beweisen, dass Hebräisch
durchaus eine Philosophensprache ist.
554 E. Die Ketubim

5. Literarische Integrität

Bis auf die beiden Epiloge / Nachworte in 12,9–11 und 12,12–14 sowie mög-
licherweise einige kleinere dogmatische Korrekturen (2,26a; 3,17a; 5,18; 7,26b;
8,12b.13; 11,9b) gilt das Buch der neueren Forschung als literarisch einheitlich;
auch die eben genannten Teile fallen zunehmend nicht mehr unter das Verdikt
„sekundär“. Abrupt wirkende Übergänge und scheinbare Widersprüche werden
anders erklärt, als dies in literarkritisch-redaktionsgeschichtlichen Modellen
geschieht. Einige kurze Bemerkungen zu diesen: SIEGFRIED etwa rechnete mit
neun Schichten: neben dem Grundbestand eines „pessimistischen Philosophen“
mit vier Glossierungen: durch einen sadduzäischen Epikuräer, einen Weisen,
einen Chasid sowie eine Gruppe von Glossatoren, die der Weisheit nahestehen,
weiter mit zwei Redaktoren und den zwei Epilogisten. Dieses Modell, welches –
dies ist sein Verdienst – die inhaltlich-theologische Breite des Buches schön
widerspiegelt, hat so wenig Anklang gefunden wie die von ROSE vertretene
These, wonach der Traktat Kohelets, dessen voller Name Kohelet ben Schima
laute, noch im 5. Jh. v. Chr., also in persischer Zeit entstanden sei; es umfasse nur
gerade 20 Verse und passte, schriebe man nur klein genug, problemlos auf
Vorder- und Hinterseite einer Postkarte („Postkartenliteratur“). Eine erste
Überarbeitung aus der frühen Diadochenzeit stellte das Werk unter das Siegel
der totalen Sinnlosigkeit, die zweite Überarbeitung, die an den Ausgang des 3. Jh.
v. Chr. gehört, versuchte die Spannung zwischen Lebensfreude und Sinnlosigkeit
aufzuarbeiten.

6. Datierung

Mit Bestimmtheit vertritt SEOW die Datierung von Kohelet in achämenidisch-


persischer Zeit (s. o.). Vieles von dem, was als typisch hellenistisch (ptolemäisch)
gilt, gab es nach ihm schon unter den Persern. Die hebräischen Ausdrücke, in
denen man die Übersetzung stoischer und epikuräischer Begriffe zu erkennen
meinte (‫ = ֶהבֶל‬τῦφος; ‫ = תור‬σκέπτομαι, τηρέω; ‫ = י ִתְ רוֹן‬ὄφελος) werden in der
LXX nicht mit diesen griechischen Termini wiedergegeben. Kohelet enthält zu-
dem kein einziges griechisches Lehnwort; Redewendungen, die man unter „Grä-
zismen“ klassifizierte – wie etwa „unter der Sonne“ – sind schon früher belegt.
Ein Cluster von Audrücken, von denen die meisten aus dem Gebiet der Wirt-
schaft stammen, findet sich (zusammen!) nur in Kohelet ungefähr zeitgenössi-
schen Dokumenten: ‫( ֶחסְרוֹן‬Defizit), ‫( ֶחשְׁבּוֹן‬Berechnung, Resultat), ‫( נְכָסים‬Aktiva),
‫( שָׁלט‬verfügen können über), ‫( חֹפֶן‬Handvoll), ‫( כּף‬Handvoll), ‫( ַט ֲחנָה‬Mühle), ‫בֵּית‬
‫ֲסוּרים‬
ִ ‫( ָהא‬korr. Text: Gefängnis). Das Gleiche trifft auch für feste sprachliche
Verbindungen zu.
Das Buch Kohelet zeichnet sich generell durch ein starkes Interesse an der
Wirtschaft aus, wie weitere, häufig verwendete Ausdrücke zeigen: ‫( הָמוֹן‬Reich-
tum), ‫( ֵחלֶק‬Anteil), ‫( י ִתְ רוֹן‬Surplus), ‫( ֶכּסֶף‬Geld), ‫( ְסגֻלָּה‬Privateigentum), ‫( עֺשֶׁר‬Reich-
VII. Kohelet 555

tum), ‫( ָעשִׁיר‬reich), ‫שׂכָר‬ ָ (Entlöhnung), ‫( נַ ֲחלָה‬Erbe), ‫( ָעֺבֵד‬Arbeiter), ‫( ָעמָל‬Mühe,


Ertrag der Mühen), ‫( ִענְי ָן‬Unternehmen), ‫( תְּ בוּאָה‬Ertrag). Dieses Interesse charak-
terisiert nun nach SEOW nicht allein die Ptolemäer, sondern auch schon die
Achämeniden, zumindest im 5. und 4. Jh. v. Chr. In dieser Zeit vollzog sich der
Wechsel von einer Natural- zu einer Geldwirtschaft. Diese Monetarisierung,
respektive eine der sich aus ihr ergebenden Konsequenzen, nimmt Kohelet aufs
Korn – Hinweis darauf, dass sie auch in Palästina zum Tragen kam: Wer das
Geld liebt, bekommt vom Geld nie genug (5,9; vgl. 10,19). Zu dieser Zeit nahm,
wie auch archäologisch eindrücklich bezeugt, der Handel stark zu (vgl. etwa Neh
13,15f.20).
Das neue Wirtschaftssystem der Perser baute stark auf einem elaborierten
System an „property grants“ auf, mit welchem sie bevorzugt Individuen, Militär
und Tempelgemeinschaften bedachten. Kohelet interpretiert das Glück, das der
Mensch in seinem Leben erlangen kann, mit Vokabular, das bei der Regelung
dieser „grants“ Anwendung findet. Da in das System ein gehöriges Maß an Will-
kür eingebaut war, bot es ebenso viele Chancen wie es Gefahren enthielt; sicher
konnte man sich deshalb nie fühlen, vor allem nicht Leute aus niederen Schich-
ten.
SEOW vertritt auch mit seiner Datierung eine Minderheitenposition. Terminus
ante quem für die Ansetzung des Buches bildet möglicherweise Jesus Sirach –
wenn er sich, was umstritten ist, implizit mit gewissen Passagen aus Kohelet
auseinandersetzt – und ein Qumranmanskript, das zwischen 175 und 150 v. Chr.
angesetzt wird.
Verbreitet ist eine Ansetzung Kohelets in die 2. Hälfte des 3. Jh.s v. Chr., als
sich die Herrschaft der Ptolemäer über Palästina stabilisiert hatte und auch die
geistige Hellenisierung in der Oberschicht der Juden schon tiefere Wurzeln ge-
schlagen hatte. Unter den Ptolemäern nahm die Wirtschaft einen ungeheuren
Aufschwung. Die ihnen unterworfenen Gebiete wurden von ihnen wirtschaftlich
systematisch erschlossen und genutzt; der sprichwörtliche „einfache Mann“
merkte das vor allem an der systematischen Art und Weise, in der Steuern einge-
zogen wurden. Die Bedeutung, welche für die Ptolemäer die Wirtschaft besaß,
spiegelt sich im Buche Kohelet direkt wider: Sie ist in ihm allgegenwärtig – und
verdrängt die „Politik“ ein Stück weit. Vor allem ein grundlegender Wechsel
wurde damals als Schock erlebt: die Ablösung der Subsistenzwirtschaft durch
eine Ökonomie, welche die Profitmaximierung zum zentralen Ziel des Wirt-
schaftens erhob und in der die Zinssätze zwischen 60 und 80 % betragen konn-
ten. Dieser Wechsel warf viele Gewissheiten über den Haufen, wodurch auch
neue Literatur nötig wurde, da man in der älteren, etwa dem Buch der Sprüche,
nicht mehr Antworten auf die drängenden Probleme der Gegenwart fand. Zu-
dem galt es, die neue Situation auch intellektuell und theologisch zu durchdrin-
gen.
Der wirtschaftliche Erfolg der Ptolemäer war gleichzeitig derjenige eines Tei-
les der jüdischen Oberschicht. Sie begann sich auch geistig zu hellenisieren. Dies
bedeutete in erster Linie den Erwerb der griechischen Sprache, die Anstellung
556 E. Die Ketubim

eines Privatlehrers für die eigenen Kinder – vielleicht kam es im 3. Jh. v. Chr.
auch zur Gründung einer griechischen Elementarschule in Jerusalem –, und
überhaupt die Übernahme des hellenistischen „way of life“. Der griechische Bil-
dungskanon bestand aus Homer, Hesiod, Lyrikern und Dramatikern (in erster
Linie Euripides). Die intellektuelle Debatte bestimmten allerdings nicht sie oder
andere klassische griechische Schriftsteller, sondern Populärphilosophen aus
verschiedenen Schulen (der kynischen, kyrenäischen, skeptischen, epikuräischen,
stoischen). Mit ihnen tritt der Verfasser von Kohelet in einen Dialog, wobei er
ihre Vertreter allerdings nicht direkt zitiert – und auch nicht einfach kritiklos
übernimmt. Das zeigt sich schon daran, dass er am Hebräischen festhält und
nicht wie andere jüdische Autoren, die kurz nach ihm schrieben, zum Griechi-
schen übergeht. Er übernimmt griechische philosophische Systeme und Gedan-
ken auch nicht unhinterfragt, sondern interpretiert sie – zwar nicht von der
Heilsgeschichte Israels, aber vom souveränen Gott des Alten Testaments her.

7. „Widersprüche“ im Buch
Das Buch Kohelet wirkt gleichzeitig einheitlich (Sprache, Art des Argumentie-
rens, Inhalte) und widersprüchlich, von Spannungen bestimmt. Nachdem lite-
rarkritische Versuche, diese Widersprüche zu beseitigen, gescheitert waren, ka-
men andere Erklärungsversuche zum Tragen. ZAPLETAL nimmt an, Kohelet habe
seine Gedanken festgehalten, wie sie ihm eben in den Sinn kamen; dabei konnte
er seine Meinung auch ändern (gattungskritische Variante dieses Modells bei
FOX, LONGMAN). Auf wesentlich mehr Zustimmung als diese originellen Vor-
schläge stieß die sogenannte Zitatentheorie, welche ansatzweise Moses MENDEL-
SOHN (1771) formulierte und die LOHFINK, WHYBRAY und MICHEL ausbauten
und solide begründeten. Nach dieser Sicht erklären sich „Widersprüche“ bei
Kohelet damit, dass nicht alles in seinem Buch von ihm selbst stammt, sondern
er Meinungen zitiert, die er anschließend widerlegt. So führe er „orthodoxe“
Überzeugungen an – als Zitate –, die er anschließend als falsch zurückweise. Als
besonders spektakuläres Beispiel für diese Arbeitsweise könnten Kohelets Äuße-
rungen zu den Frauen betrachtet werden. 7,26 („Und nun finde ich: Die Frau ist
bitterer als der Tod, sie ist eine Schlinge …“) ist Zitat und gibt nicht Kohelets
eigene Sicht wieder. Diese finde sich vielmehr in 9,9 („Genieße das Leben mit
einer Frau, die du liebst …“). Eine Weiterentwicklung und Korrektur dieses
Modells bietet KRÜGER im Anschluss an HITZIG: „Vielem, was der Vf. sagt,
[kommt] nur augenblickliche Geltung zu … als einem Ring in der Kette der
Deduktionen. Es thut seine Dienste und wird überwunden; die spätere Behaup-
tung hebt die frühere auf; und definitiv lehrt Kohelet nur Dasjenige, was am
Ende unwidersprochen stehen bleibt“ (HITZIG, 124f.). Umformuliert und weiter-
entwickelt lautet die These: Der Verfasser von Kohelet spielt in seinem Werk mit
Anspielungen auf bekannte Texte, er formuliert bewusst mehrdeutig – und lädt
so seine Leser zum Nachvollzug seiner Argumentation ein. Eine vergleichbare
Funktion haben die zahlreichen Leerstellen, welche das Buch enthält.
VII. Kohelet 557

8. Der Schluss / Das Nachwort; Die beiden Epiloge (12,9–14)

Die Überschrift umreißt grob die Möglichkeiten, die sechs Verse zu verstehen.
12,9–11.12–14 wollen nicht von Kohelet verfasst sein, sondern vom Herausgeber
des Buches (und einem Ergänzer). Das zeigt deutlich der in der 3. Person formu-
lierte Eröffnungssatz von V. 9 „Kohelet war nicht nur ein Weiser / Gelehrter,
sondern lehrte auch das Volk Erkenntnis“. Nach FOX u. a. stammt das Buch von
einem Verfasser / Herausgeber, der nicht mit Kohelet identisch ist, dem er aber
im Buch das Wort erteilt (das dieser in Form einer langen Rede ergreift); in 1,1f.;
12,9–14 spricht dieser Herausgeber selbst und gibt zu erkennen, wie Kohelets
Worte einzuordnen und zu beurteilen sind; ähnlich urteilt KRÜGER, nach dem
diese Verse „eine Reihe von hintergründigen, ironisch-kritischen Brechungen
und Anspielungen enthalten“ (365), in denen die Lehrautorität Kohelets noch
einmal kritisch relativiert wird.
Der – ältere – relative Konsens sah in diesen sechs Versen zwei verschiedene
Ergänzer am Werk. In der ersten Ergänzung stellt ein Schüler (?) Kohelets diesen
als Mann vor, der nicht nur (professioneller) Weiser war, sondern sich auch an
das einfache Volk wandte. Er überprüfte einerseits überkommene Weisheitssen-
tenzen und verfasste andererseits selbst solche. Indem dieser erste Epilogist die
Worte Kohelets als von einem Hirten geschrieben bezeichnet, behauptet er indi-
rekt ihre Inspiriertheit und verrät damit auch, dass er sich der Frage nach den
verbindlichen Büchern (der „Kanonfrage“) stellen musste. Der zweite Ergänzer
ist beunruhigt über die Wirkungen, welches das seines Erachtens ketzerische
Buch Kohelet entfaltet; durch seinen Nachtrag (und einige im Buch selbst plat-
zierte Ergänzungen) will er ihm eine akzeptable, orthodoxe Interpretation geben.
Eine zugespitzte, mit einer kanongeschichtlichen Erwägung verbundene These
vertritt LOHFINK: Etwa ein Jahrhundert nach Abfassung von Kohelet entstand
nach ihm die Idee eines Kanons heiliger Schriften. Das Kriterium, nach dem die
Aufnahme einer Schrift in ihn erfolgte, war nicht Rechtgläubigkeit oder ihre
Abfassung durch einen bestimmten Autor, auch kein Stichdatum, sondern ihre
Verwendung in Tempel oder Synagoge. Da dort nicht nur Schriften Verwendung
fanden, die dem Gottesdienst oder der Rechtspflege dienten, sondern auch
Schulbücher, gelangte Kohelet als Schulbuch in den Kanon. Zu einem solchen
wurde es dank der Intervention besorgter Eltern, die zwar ihre Kinder weiter an
der offiziellen Tempelschule ausbilden lassen wollten und nicht an der griechi-
schen Elementarschule, die aber auch befürchteten, viele Schüler könnten die
„offizielle“ Schule verlassen, würde die Ausbildung nicht leicht angepasst, d. h.
ein neues Lehrbuch eingeführt, das zwar die jüdische Identität respektierte, aber
gleichzeitig auf die (berechtigten) Anliegen der Hellenisten einging. Dieses
„Kompromisslehrbuch“ ist Kohelet, das durch die Überschrift und das erste
Nachwort – darin den Sprüchen und vielleicht auch dem Hohelied vergleichbar
– zu einem salomonischen Werk wurde. Vielleicht wendet sich das zweite Nach-
wort auch gegen die Einführung von Jesus Sirach, einem gegenüber Kohelet
konservativeren – und längerem, die Schüler ermüdenden – Buch als Lehrmittel.
558 E. Die Ketubim

Indirekt behauptet der zweite Epilogist weiter, Gottesfurcht, Halten der Gebote
sowie das göttliche Gericht – Themen, die in Jesus Sirach einen zentralen Platz
einnehmen – zeichneten neben den Proverbien auch Kohelet aus; das Werk
dürfe also durchaus als orthodox gelten und brauche als Lehrbuch nicht durch
das viel längere Buch Jesus Sirach ersetzt werden.
VIII. Klagelieder
Kommentare: W. RUDOLPH, 1939, 1962 (KAT). – M. HALLER, 1940 (HAT). – H. J. KRAUS, 1956, 41983
(BK). – H. J. BOECKER, 1985 (ZBK). – H. GROSS, 1986 (NEB). – O. KAISER, (4)1992 (ATD). – J.
RENKEMA, 1998 (HCOT). – U. BERGES, 2002 (HThKAT). – F. W. DOBBS-ALLSOPP, 2002 (Interpre-
tation). – R. B. SALTERS, 2010 (ICC).

Einzeluntersuchungen: H. JAHNOW, Das hebräische Leichenlied im Rahmen der Völkerdichtung,


1923 (BZAW 36). – B. ALBREKTSON, Studies in the Text and Theology of the Book of Lamentations,
1963 (STL 21). – G. BRUNET, Les lamentations contre Jérémie. Réinterprétation des quatre premières
lamentations, Paris 1968. – S. BERGLER, Threni V – nur ein alphabetisierendes Lied? Versuch einer
Deutung: VT 27 (1977), 304–320. – W. H. SHEA, The qinah Structure of the Book of Lamentations:
Bib. 60 (1979), 103–107. – R. BRANDTSCHEIDT, Gotteszorn und Menschenleid. Die Gerichtsklage des
leidenden Gerechten in Klgl 3, 1983 (TThSt 41). – G. BRUNET, La cinquième Lamentation: VT 33
(1983), 149–170. – R. W. C. GWALTNEY, The Biblical Book of Lamentations in the Context of Near
Eastern Lament Literature, in: W. W. Hallo u. a., Scripture in Context II, Winona Lake 1983, 191–
211. – B. JOHNSON, Form and Message in Lamentations: ZAW 97 (1985), 58–73. – P. MICHALOWSKI,
The Lamentation over the Destruction of Sumer and Ur, Winona Lake 1989 (Mesopotamian Civili-
zations 1). – C. FREVEL, Zerbrochene Zier. Tempel und Tempelzerstörung in den Klageliedern
(Threni), in: O. Keel / E. Zenger (Hg.), Gottesstadt und Gottesgarten. Zu Geschichte und Theologie
des Jerusalemer Tempels, 2002 (QD 181), 99–153. – A. LABAHN, Trauern als Bewältigung der Ver-
gangenheit zur Gestaltung der Zukunft. Bemerkungen zur anthropologischen Theologie der Klage-
lieder: VT 52 (2002), 513–527. – U. BAIL, „Die verzogene Sehnsucht hinkt an ihren Ort“. Literarische
Überlebensstrategien nach der Zerstörung Jerusalems im Alten Testament, Gütersloh 2004. – O.
KEEL, Das je verschiedene theologische Profil der Klagelieder und der Volksklagen, in: D. Böhler / I.
Himbaza (éds.), L’écrit et l’esprit, Fribourg / Göttingen 2005 (OBO 214), 128–142. – E. BOASE,
Constructing Meaning in the Face of Suffering: Theodicy in Lamentations: VT 58 (2008), 449–468.

Forschungsbericht: C. WESTERMANN, Die Klagelieder. Forschungsgeschichte und Auslegung, Neukir-


chen-Vluyn 1990.

1. Inhalt

Obwohl das Buch eine einheitliche Thematik – Klage über die Zerstörung Jeru-
salems (dafür häufig Zion, Tochter Zion) – aufweist, unterscheiden sich die fünf
Lieder, aus denen es sich zusammensetzt, inhaltlich deutlich voneinander. In
Kap. 1, in dem das Schicksal der gefallenen Stadt beklagt wird, erscheint Jerusa-
lem als Witwe, die von ihren Feinden verachtet und schamlos beraubt worden
ist; zentrale Aussage ist, wie das wiederkehrende Stichwort ‫ נחם‬deutlich macht:
Sie hat keinen Tröster (V. 2.9.16.17.21). – Kap. 2 betont, vor allem im ersten Teil,
dass dies alles auf Jahwes Handeln zurückgeht. Jerusalem ließ sich von (falschen)
Propheten in die Irre führen. Seine Bewohner liegen alle danieder. – In Kap. 3
tritt die Thematik der Zerstörung Jerusalems stark zurück, am Anfang vollständig.
Es handelt sich bei diesem Lied wesentlich um den Psalm eines Einzelnen, der
klagt und sich gleichzeitig vertrauensvoll an Jahwe wendet. Im zweiten Teil klagt
ein Kollektiv. Das Kapitel endet mit der Bitte des Beters, Gott möge seine Rechts-
sache führen und den Feinden nach ihrem Tun vergelten. – Inhaltlich nicht so
einheitlich ist Kap. 4, das wieder zur ursprünglichen Thematik zurückführt:
560 E. Die Ketubim

Jerusalem ist gezüchtigt, Zion vermag seine Kinder nicht mehr zu ernähren. An
Zions Schuld, die schwerer wiegt als die Sodoms, tragen Propheten und Priester
eine besondere Verantwortung. Das Kapitel schließt mit einer Gerichtsansage
über Edom und der Ankündigung, dass es mit der Schuld der Tochter Zions zu
Ende ist. – Kap. 5, eine Kollektivklage mit in sie eingebautem Sündenbekenntnis,
enthält eine Beschreibung der katastrophalen Lebensbedingungen unter der
Fremdherrschaft. Es endet mit zurückhaltend formulierten Bitten, es möge nicht
immer so bleiben; bezeichnend für ihren Ton ist V. 22: „Oder hast du uns ganz
und gar verworfen, bist du über alle Maßen zornig auf uns?“

2. Name

Den Namen Klagelieder (bzw. Threni = latinisierte Form von griech. θρῆνοι)
verdanken die fünf Kapitel ihrer Interpretation im Judentum. Das Buch trägt in
ihm die beiden Überschriften ‫( אֵי ָכה‬1,1; vgl. ‫אֵיְך‬, „wie“; Wort, mit dem die Toten-
klage eingeleitet wird), respektive ‫( קִינוֹת‬Leichenklagelieder); es gilt seinem Ver-
fasser also als Totenlied auf die Stadt Jerusalem, das ihre Einnahme und Zerstö-
rung im Jahre 587 v. Chr. thematisiert. Die Bezeichnung ‫ קִינוֹת‬die im Buche selbst
fehlt, enthält implizit eine Aussage über den unterstellten Autor des Werkes,
nämlich den Propheten Jeremia. Nach 2Chr 35,25 hielt dieser Totenklage über
Josija, und bis auf den heutigen Tag würden über diesen König von Sängern und
Sängerinnen ‫ קִינוֹת‬gesungen; sie seien aufgezeichnet in den ‫ ִקינוֹת‬. Eben diese
identifiziert traditionelle jüdische Auslegung mit Klagelieder, wobei sie allerdings
Josija als Beklagten durch die Stadt Jerusalem ersetzt. Auf unterschiedliche Art
und Weise vertreten oder bekräftigen auch die Übersetzungen diese
Zuschreibung: die LXX einerseits implizit durch die Reihenfolge der Schriften
Jeremia – Baruch – Klagelieder – Brief des Jeremia, andererseits explizit durch
die (in M nicht vorhandene) Überschrift, die sie dem Buch voranstellt: „Und es
geschah, nachdem Israel in die Gefangenschaft geführt und Jerusalem verwüstet
worden war, setzte sich Jeremia weinend nieder und stimmte dieses Klagelied auf
Jerusalem an.“ Die Vulgata übernimmt und erweitert diese Überschrift und
schreibt zusätzlich noch Kapitel 5 eigens dem Propheten zu. Der jüdischen Tra-
dition fiel die Zuschreibung an Jeremia umso leichter, als sie die fünf Kapitel mit
der Rolle identifizieren konnte, auf welche dieser seine Worte niedergeschrieben
hatte (Jer 36).

3. Form

Das Buch Klagelieder setzt sich aus fünf Liedern zusammen, deren Grenzen mit
denen der Kapitel zusammenfallen. Sie verwenden nicht durchgehend das sog.
Qinametrum mit 3 + 2 Hebungen pro Kolon. Bei den ersten vier handelt es sich
um Akrosticha. Im Unterschied zu den ersten beiden Kapiteln, bei denen jeweils
VIII. Klagelieder 561

nur die erste Zeile jeder „Strophe“ den Alphabetbuchstaben enthält (a-x-y; b-x-y,
etc.), beginnen im dritten jeweils alle mit diesem Buchstaben (a-a-a-; b-b-b etc.);
Klgl 3 gibt sich dadurch wie durch seinen konzentrischen Aufbau als zentral für
das ganze Buch zu erkennen. Kapitel 4 enthält anders als die ersten drei nur noch
zwei Bikola pro „Strophe“ und ist ansonsten wie Kap. 1 und 2 konstruiert. Das
fünfte, kürzeste Lied folgt nicht mehr dem hebräischen Alphabet, kann aber als
alphabetisierend bezeichnet werden, da es 22 Bikola umfasst, also gleich viele wie
das hebräische Alphabet Buchstaben. In Klgl 2; 3; 4 findet sich die alte Alpha-
betfolge ‫ פ‬/ ‫ע‬, die jüngere ‫ ע‬/ ‫פ‬, die sich schließlich durchsetzte, in Klgl 1. Ob
dieser Unterschied als Hinweis auf ein unterschiedliches Alter der Stücke gelten
darf oder als bewusstes Kunstmittel eingesetzt wurde, durch das Kap. 1 vom Rest
der Komposition abgehoben werden soll, ist umstritten; kaum je wird er als rein
zufällig beurteilt. Die akrostichische Form wählten die Verfasser von Klgl 1–5
kaum aus mnemotechnischen Gründen. Mit ihr bringen sie (auch) ihre Kunst-
fertigkeit zum Ausdruck. Möglich ist weiter, dass sich mit Akrosticha die Vor-
stellung von Vollständigkeit verbindet oder sie Sicherheit und Orientierung in
unsicherer Zeit vermitteln sollen.
Formgeschichtlich steht die Sammlung Klagelieder 1–5 ohne enge Parallele
da. Geschaffen wurde die Gattung, um eine neue, einschneidende Erfahrung
(Eroberung und Zerstörung Jerusalems) zu verarbeiten. Dies geschieht zentral
dadurch, dass sie von verschiedenen Seiten her (aspektiv) beleuchtet wird: von
der Klage und Vertrauensäußerung eines Einzelnen (Klgl 3), den Folgen der
Verwüstung (Klgl 1), schließlich von ihrem Verursacher, Jahwe (Klgl 2), her. In
die fünf Kapitel sind Elemente der Totenklage einerseits, der individuellen und
kollektiven Leidklage andererseits eingegangen (die Totenklage schaut in die
Vergangenheit; in ihr fehlt eine an Gott gerichtete Bitte um Hilfe; diese Bitte
zeichnet die Leidklage aus, die auf die Zukunft gerichtet ist); der multiperspekti-
vische Zugang betrifft also auch die Zeit.
Zum Vergleich mit den Klageliedern verwies man lange auf die Stadtunter-
gangsklagen (über die Städte Ur; Sumer und Ur; Nippur; Uruk und Eridu) aus
dem 19. Jh. v. Chr. Auslöser für die Abfassung dieser literarischen Werke bildete
der Zusammenbruch der 3. Dynastie von Ur (Südmesopotamien) gegen Ende
des 3. Jt.s v. Chr. Die Stadtuntergangsklagen, die in Strophen (kirugus) aufgeteilt
sind, handeln von der Zerstörung der Städte und ihrer Heiligtümer sowie von
den Nöten, unter denen die Bevölkerung im Gefolge davon zu leiden hat. Diese
Katastrophen gehen zurück auf den letztlich willkürlichen Entscheid der Götter,
allen voran von Anu und Enlil, ihre Tempel zu verlassen. Dass diese Stadtunter-
gangsklagen als Modell für die Klagelieder dienten, ist schon deshalb unwahr-
scheinlich, weil zwischen ihrer Niederschrift und der Abfassung der Klagelieder
mehr als anderthalb Jahrtausende liegen. Allerdings erlebten diese Stadtunter-
gangsklagen in Gestalt der sog. balag (Harfenlied), die von GALA/kalû-Priestern
verfasst und vorgetragen wurden, eine Renaissance; in gelehrten Kreisen Baby-
lons existierten diese Klagen bis in die seleukidische Zeit weiter. Sie sind in Eme-
sal verfasst, einem Frauen (auch Göttinnen) vorbehaltenen Dia-/Soziolekt, der
562 E. Die Ketubim

u. a. in Liebesliedern und Klagedichtungen Verwendung findet. Gegenüber den


ursprünglichen Stadtuntergangsklagen sind sie allgemeiner und handeln nicht
nur ein einzelnes, individuelles Ereignis ab. Die Verfasser einzelner Kapitel der
Klagelieder orientierten sich möglicherweise an diesen balag und gestalteten
dieses Vorbild gleichzeitig tiefgreifend um.
Gelegentlich werden zwei weitere Klagegattungen als Parallelen zu den Klage-
liedern ins Spiel gebracht – im besten Fall handelt es sich um weit entfernte Ver-
wandte: 1. In den Eršemma-Lieder geht es darum, eine zürnende Gottheit zu
besänftigen, und zwar anlässlich von „rites de passage“ und regelmäßig wieder-
kehrenden Feiern (wie etwa dem Neujahrsfest, akk. Akītu); 2. Die Eršaḫunga-
Lieder (Klage zur Herzberuhigung [des Gottes]), in denen Einzelne die Gottheit
darum bitten, sich ihnen wieder zuzuwenden.

4. Entstehung, Alter

Die jeremianische Verfasserschaft der Klagelieder, erstmals von Hermann VON


DER HARDT in Zweifel gezogen (Threnos, quos vulgus Jeremiae tribuit, 1712),
wird in der neueren Forschung nicht mehr vertreten. Gegen sie sprechen u. a. die
in Qumran gefundenen Manuskripte, die keinen Bezug zu Jeremia aufweisen. In
einem weiteren Punkt herrscht weitgehend Konsens: Die fünf Kapitel haben
nicht einen gemeinsamen Verfasser, sondern verdanken sich verschiedenen
Händen und entstanden zu unterschiedlichen Zeiten. Außer der Einnahme und
der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar im Jahre 587 v. Chr. enthält das
Buch Klagelieder keine eindeutigen Hinweise auf geschichtliche Ereignisse, es sei
denn, man wolle das Nebeneinander von Ägypten und Assur in Klgl 5,6 auf die
Konkurrenz der zwei Nachfolgereiche Alexanders des Großen, die Ptolemäer
(Ägypten, Alexandria) und Seleukiden (Babylon) interpretieren, womit man ins
beginnende 3. Jh. v. Chr. käme. Auch was im Buch (an Kritik) über Priester,
Propheten, Älteste, Prinzen und den König verlautet, führt nicht weiter, da zu
allgemein.
In Ermangelung harter Datierungskriterien versucht man es mit weichen, d. h.
vor allem dem Versuch, theologiegeschichtliche Parallelen zu anderen Teilen des
Alten Testaments aufzuweisen – ein Verfahren, das gleich zwei Schwächen auf-
weist: Auch diese Paralleltexte lassen sich häufig nicht mit Sicherheit datieren,
und zudem bedeutet inhaltliche Verwandtschaft nicht unbedingt zeitliche Nähe,
sondern kann sich auch literarischer Imitation verdanken.
Wer in den Klageliedern einen unmittelbaren Reflex auf die Einnahme und
Zerstörung Jerusalems erblickt, datiert das Gros der Kapitel ins 6. Jh. v. Chr. So
setzt etwa BERGES – aufgrund postulierter theologischer Entwicklungen – Klgl 1
um 550, Klgl 2 kurz nach 587 und Klgl 4f. zwischen 520 und 500 v. Chr. an. Al-
lerdings fragt es sich, ob das Buch nicht aus stärkerem zeitlichem Abstand zur
Zerstörung Jerusalems geschrieben ist und auf sie so ausführlich eingegangen
wird, weil es sich bei ihr um ein Ereignis handelt, das in späterer Zeit exemplari-
VIII. Klagelieder 563

sche Bedeutung für die Interpretation von Notsituationen gewann. Ein relativer
Konsens geht dahin, dass die Kapitel 2 und 4, die auch die ältere Alphabet-
reihenfolge aufweisen, die beiden ältesten Teile des Werkes bilden, das Kapitel 3
mit seiner so ganz anderen Thematik dagegen das jüngste. Von diesem relativen
Konsens weicht etwa RUDOLPH in bezeichnender Weise ab: Er betrachtet Klgl 1
als den ältesten Bestandteil des Werkes – aus der Zeit nach der ersten Deporta-
tion von Judäern nach Babylon im Jahre 597 v. Chr.; das Kapitel berühre sich eng
mit dem Gedankengut Jeremias. Nach UEHLINGER gehört Klgl 3 in die Nähe der
späten Weisheit, insbesondere Hiob; Klgl 5 handle von einer länger andauernden
Notsituation, darin dem sehr jungen Gebet von Neh 9 zu vergleichen.
IX. Ester
Kommentare: M. HALLER, 1940 (HAT). – H. RINGGREN, ATD (1958). – H. BARDTKE, 1963 (KAT). –
E. WÜRTHWEIN, 21969 (HAT). – C. A. MOORE, 1971 (AncB 7B). – G. GERLEMAN, 1973 (BK). – J. L.
LOADER, 1980 (De Prediking van het Oude Testament). – A. MEINHOLD, ZBK (1983). – D. J. A.
CLINES, 1984 (NCeB). – J. L. LOADER, 41992 (ATD). – F. W. BUSH, 1996 (WBC). – J. D. LEVENSON,
1997 (OTL). – I. KOTTSIEPER, 1998 (ATDA, Zusätze zu Ester). – M. T. WACKER, 2004 (SAT). – H.-M.
WAHL, Das Buch Esther. Übersetzung und Kommentar, Berlin 2009.

Einzeluntersuchungen: L. A. ROSENTHAL, Die Josephsgeschichte, mit den Büchern Ester und Daniel
verglichen: ZAW 15 (1895), 278–284. – S. TALMON, „Wisdom“ in the Book of Esther: VT 13 (1963),
419–455. – W. DOMMERSHAUSEN, Die Estherrolle. Stil und Ziel einer alttestamentlichen Schrift, 1968
(SBM 6). – H. J. COOK, The A-Text of the Greek Versions of the Book of Esther: ZAW 81 (1969),
369–371. – J. C. H. LEBRAM, Purimfest und Estherbuch: VT 22 (1972), 208–222. – H. BARDTKE,
Zusätze zu Esther, 1973 (JSHRZ I/l). – A. MEINHOLD, Die Gattung der Josephsgeschichte und des
Estherbuches: Diasporanovelle I und II: ZAW 87 (1975) 306–324; 88 (1976) 72–93. – A. MEINHOLD,
Theologische Erwägungen zum Buch Esther: ThZ 34 (1978), 321–333. – B. BERG, The Book of Esther.
Motifs, Themes and Structure, Missoula 1979 (SBL.DS 44). – C. A. MOORE (ed.), Studies in the Book
of Esther. Selected with a Prolegomenon, New York 1982. – E. TOV, The „Lucianic“ Text of the
Canonical and the Apocryphal Sections of Esther. A Rewritten Biblical Book: Textus 10 (1982), 1–25.
– R. L. BERGEY, The Book of Esther – Its Place in the Linguistic Milieu of Post-Exilic Biblical Hebrew
Prose. A Study in Late Biblical Hebrew, Ph. D. Diss, Philadelphia 1983. – A. MEINHOLD, Zu Aufbau
und Mitte des Estherbuches: VT 33 (1983), 435–445. – D. J. A. CLINES, The Ester Scroll. The Story of
the Story, 1984 (JSOT.S 30). – R. ZADOK, On the Historical Background of the Book of Esther: BN
(1984), 18–23. – M. V. FOX, The Redaction of the Books of Esther, 1991 (SBL.MS 40). – M. FOX,
Character and Ideology in the Book of Esther, Columbia (S. C.) 1991 (Studies on Personalitie in the
Old Testament). – J. MILIK, Les modèles araméens du livre d’Esther dans la Grotte 4 de Qumrân: RQ
15 (1991/92), 321–406. – K. M. CRAIG, Reading Esther. A Case for the Literary Carnivalesque,
Louisville 1995 (Literary Currents in Biblical Interpretation). – L. DAY, Three Faces of a Queen.
Characterization in the Books of Esther, 1995 (JSOT.S 186). – K. JAROŠ, Esther. Geschichte und
Legende, Mainz 1996. – K. H. JOBES, The Alpha-Text of Esther. Its Character and Relationship to the
Masoretic Text, 1996 (SBL.DS 153). – C. DOROTHY, The Book of Esther. Structure, Genre and
Textual Integrity, 1997 (JSOT.S 187). – K. DE TROYER, The End of the Alpha-Text of Esther.
Translation and Narrative Techniques in MT 8.1–17, LXX 8.1–17 and AT 17,14–41, 2000 (SCSt 48). –
A. BERLIN, The Book of Esther and Ancient Storytelling: JBL 120 (2001), 3–14. – K. DE TROYER, The
Letter of the King and the Letter of Mordecai: Textus 21 (2002), 175–207. – J. MARBÖCK, Das Gebet
der Ester. Zur Bedeutung des Gebetes im griechischen Esterbuch, in: R. Egger-Wenzel / J. Corley
(ed.), Prayer from Tobit to Qumran, Berlin 2004 (Deuterocanonical and Cognate Literature. Year-
book), 73–94. – M.-T. WACKER, Mit Toratreue und Todesmut dem einen Gott anhangen. Zum
Esther-Bild der Septuaginta, in: F. u. M. Crüsemann (Hg.), Dem Tod nicht glauben, FS L. Schottroff,
Gütersloh 2004, 312–332. – K. BUTTING / G. MINNAARD / M.-T. WACKER (Hg.), Ester, Wittingen
2005. – J.-D. MACCHI, Le livre d’Esther: regard hellénistique sur le pouvoir et le monde perses:
Transeuphratène 30 (2005), 97–135. – B. EGO, Die Geschichtskonzeption des Esterbuches als Para-
digma historischer Sinnkonstruktion in der Spätzeit des Alten Testaments, in P. Mommer / A.
Scherer (Hg.), Geschichte Israels und deuteronomistisches Geschichtsdenken, FS W. Thiel, 2010
(AOAT 380, 85–105). – B. EGO, The Book of Esther – A Hellenistic Book: JAJ 4 (2011), 279–302.

Forschungsberichte: G. J. BOTTERWECK, Die Gattung des Buches Esther im Spektrum neuerer Publi-
kationen: BiLe 5 (1964), 274–292. – H. BARDTKE, Neuere Arbeiten zum Estherbuch: Ex Oriente Lux
19 (1967), 519–549. – W. HERRMANN, Ester im Streit der Meinungen, 1986 (BEATAJ 4). – H. M.
WAHL, Esther-Forschung: ThR 66 (2001), 103–130. – S. W. CRAWFORD / G. GREENSPOON (eds.), The
Book of Esther in Modern Research, 2003 (JSOT.S 380).
IX. Ester 565

1. Inhalt

Das Esterbuch erzählt von der Gefährdung und schließlichen Rettung der Juden
in Susa während der Herrschaft des persischen Königs Xerxes (486–465 v. Chr.)
– hebräisch Achaschwerosch. Auf ihre Weigerung hin, an einem Bankett ihre
Schönheit zu zeigen, wird die Gattin Xerxes’, Königin Waschti, ihres Amtes ent-
hoben. (1) Den daraufhin ausgetragenen Schönheitswettbewerb zu ihrer Erset-
zung gewinnt die Jüdin Ester, die Adoptivtochter / Cousine des Juden
Mordochai; sie wird an einem Bankett zur neuen Königin eingesetzt. Mordochai
deckt eine Verschwörung zweier Perser gegen den König auf; Ester berichtet
diesem davon. (2) Als Mordochai die Proskynese vor Haman, dem Ersten in
Xerxes’ Reich, verweigert, wird dieser zornig; vom König erreicht er den Erlass
eines Dekrets, das die Ermordung aller Juden anordnet. (3) Auf Bitten
Mordochais erklärt sich Ester bereit, wiederum beim König zu intervenieren –
und zwar, nachdem alle Juden drei Tage gefastet haben. (4) An einem Festmahl
bewegt Ester den König dazu, zusammen mit Haman an einem weiteren Bankett
teilzunehmen, das sie ausrichten will. So geschieht es; an ihm erfolgt die Einla-
dung zu einem Festmahl am nächsten Tage. Bei einer erneuten Begegnung zwi-
schen Haman und Mordochai verhält sich dieser wiederum nicht so ehrerbietig
wie von ihm erwartet. Im Kreise seiner Familie und Freunde prahlt Haman; sein
Glück sei allerdings erst dann vollkommen, wenn er Mordochai nicht mehr im
Königstor sitzen sehe. Auf Anraten seiner Frau und seiner Freunde hin lässt er
einen Pfahl aufrichten und beschließt, am folgenden Tag den König um den
Kopf Mordochais zu bitten. (5) Während der nun folgenden schlaflosen Nacht
liest König Xerxes in den Annalen des Reiches und entdeckt bei dieser Lektüre,
dass Mordochai ein Komplott aufgedeckt hat, ihm dafür aber noch nicht gedankt
wurde. Als er daraufhin Haman fragt, was er jemandem schenken würde, den er
zu ehren gedenke, antwortet dieser – in der Meinung, es ginge um ihn –, er
würde ihn (königlich) gekleidet paradieren und ihn ehren lassen. Eben diese
Ehrung soll Haman für Mordochai vorbereiten. Zu Hause muss der zornige und
traurige Haman von seiner Frau erfahren, dass er gegen Mordochai, den Verur-
sacher seines Falles, nichts ausrichten werde, wenn dieser aus der Nachkommen-
schaft der Judäer stamme. (6) Am zweiten Bankett Esters bittet diese den König,
ihr und ihrem Volke das Leben zu schenken; sie nennt Haman als den Mann, der
ihren Untergang plante. Er wird auf Anordnung des Königs an einem Pfahl auf-
gehängt; eine Bitte bei Ester, sie möge ihm das Leben retten, hat nichts gefruch-
tet. (7) Noch besteht das Dekret gegen die Juden, und da es unmöglich ist, es zu
annulieren, erlässt Xerxes ein Gegendekret, das es ihnen erlaubt, alle (potentiel-
len) Feinde, wo im Reiche sie auch seien, auszurotten. Mordochai verlässt, hoch
geehrt und mit einem königlichen Kleide angetan, den König. Bei den Juden
allüberall herrscht große Freude. (8) Das Massaker findet statt – im ganzen Reich
und insbesondere in der Hauptstadt Susa, wo auch die zehn Söhne Hamans auf-
gehängt werden. Daraufhin feiern die Juden ihren Sieg mit zwei Banketten. In
einem Schreiben an alle Juden im persischen Reich werden diese darauf ver-
566 E. Die Ketubim

pflichtet, zur Erinnerung an die Tage, an denen sie befreit wurden, künftig jedes
Jahr den 14. und 15. Adar mit einem fröhlichen Fest zu begehen: Purim. So ge-
schieht es seither. (9) Das Buch endet mit einer Schilderung der prachtvollen und
erfolgreichen Herrschaft Mordochais, des zweiten Mannes im persischen Reich.
(10)

2. Text

Das Buch Ester, in Qumran mit keinem Manuskript vertreten, liegt in drei ver-
schiedenen Textgestalten vor: Neben dem masoretischen Text gibt es zwei grie-
chische Fassungen: den B (LXX)- und den Alphatext, fälschlich auch „lukiani-
sche“ Fassung genannt (er geht nicht auf Lukian zurück und ist nur durch vier
mittelalterliche Manuskripte belegt). Der LXX-Text basiert auf einem hebräi-
schen Original, das M nahesteht; er enthält sechs Einfügungen, durch welche das
Buch, in dem jede direkte Gottesbezeichnung fehlt, „theologisiert“ wird; er ist
um etwa 70 % länger als M. Früher durch die Stellenangabe markiert, an denen
sie eingefügt sind, tragen diese Einfügungen heute Großbuchstaben: A: Der
Traum Mordochais und die Aufdeckung der Verschwörung; B: Edikt Hamans
zur Durchführung des Pogroms; C: Gebete von Mordochai und Ester; D: Ester
begibt sich zur Audienz; E: Edikt des Königs zum Schutz der Juden; F: Deutung
des Traumes von Mordochai, Überbringung des Buches nach Ägypten. Der Al-
phatext beruht auf einer Vorlage, die stark von M abweicht; die Zusätze der LXX
sind sehr spät in ihn eingefügt worden. Das Verhältnis zwischen den drei Rezen-
sionen wird kontrovers beurteilt. Während einige mit der Abfolge M – LXX –
Alpha rechnen, erblicken andere in der hebräischen Vorlage von Alpha (ohne die
Zusätze) den ältesten Text.

3. Sprache, Gestaltung, literarische Anklänge

Das Hebräisch des Esterbuches kann dem anderer junger Bücher des Alten Tes-
taments verglichen werden kann: 1/2Chronik, Daniel, Kohelet. Es enthält zahl-
reiche persische und aramäische Wörter (in ihrer Bedeutung nicht alle klar).
Dass griechische Ausdrücke fehlen, bedeutet keinesfalls, dass eine Abfassung des
Werkes in hellenistischer Zeit ausgeschlossen werden kann. Der „nationalistisch“
gesinnte Verfasser des Werkes könnte solche bewusst vermieden haben.
Das Werk zeichnet sich durch redundanten Stil aus (Bsp.: „sein Wohlgefallen
und seine Gnade“ [2,17]; „dass alle Juden auszurotten, umzubringen und auszu-
merzen seien“ [3,13]), weiter durch viele Nebensätze, Vor- und Rückverweise,
Parenthesen, Wiederholungen – also eine Erzählweise, die nicht zielgerichtet
wirkt. Dem entsprechen in gewisser Weise die vielen Wechsel des Schauplatzes.
Von der Gattung her ist Ester eine Erzählung, die Kennzeichen der Novelle
wie des Romans hat. Wie eine Novelle weist sie eine dominierende Handlung
IX. Ester 567

auf, in der nur wenige Personen eine tragende Rolle spielen; mit einem Roman
lässt sich Ester insofern vergleichen, als in die Haupthandlung auch kleinere
Nebenhandlungen mit vielen Personen eingebaut sind.
Das Esterbuch (M) ist ausgesprochen Autorenliteratur. Zusätze enthält es
kaum, und Versuche, in ihm etwa drei urprünglich voneinander unabhängige
Geschichten zu entdecken (Mordochai / Ester / Haman, Mordochai, Ester), die
erst sekundär zusammengefügt worden seien, wirken gekünstelt.
Als spätes Buch, das in die hellenistische Zeit anzusetzen ist (s. unten), enthält
es (wie viele andere damals geschriebene Bücher) eine starke Auseinanderset-
zung – oft nur in Form von Anspielungen – mit älterer Literatur, von der selbst-
verständlich vorausgesetzt wird, dass der Leser sie kennt. Am engsten ist die
Verwandtschaft mit der Josefsgeschichte, die wie Ester auch von den Lebensbe-
dingungen in der Diaspora handelt (vgl. auch Daniel). Weiter: 3,1 heißt Haman
„Agagiter“; er ist also ein Amalekiter (vgl. 1Sam 15,8). Mordochai stammt von
Schimi, dem Sohn des Kisch ab (2,5). Mit diesen Namen wird einerseits auf den
Konflikt zwischen Amalek (dessen König Agag), einem Todfeind Israels, und
Saul (dem Sohne des Kisch) von 1Sam 15 verwiesen, in dem sich Saul nicht be-
währt, weswegen die Königswürde an David übergeht. Ex 17,8–16 und Dtn
25,17–19 halten fest, dass zwischen Israel und Amalek ewige Feindschaft besteht,
die erste Stelle weiter, dass die Amalekiter das Gottesvolk Israel nie endgültig
vernichten können. All das ist transparent auf die Situation der Deportierten in
Susa hin. Sie und ihre Gegner stehen sich ebenso als Todfeinde gegenüber wie
seinerzeit (und für immer) Israel und Amalek.
Am weitesten, was literarische Vorbilder betrifft, geht GERLEMAN. Er versteht
Ester als „relecture“ von Ex 1–12. Beide Erzählungen handeln von einem Juden
an einem fremden Hof, der gefährdet ist. Nach seiner und des Volkes dramati-
scher Errettung kommt er zu großer Ehre, an den Unterdrückern dagegen wird
furchtbare Rache geübt. An die Errettung schließt ein Fest an, das zur Erinne-
rung an die Ereignisse alle Jahre gefeiert werden soll (Parallele in Exodus:
Päsäch). Die Berührungen zwischen Ester und Ex 1–12 erstrecken sich nach
GERLEMAN jedoch nicht nur auf den Plot, sondern betreffen auch Einzelheiten.
So entspricht das Verhältnis zwischen dem vor allem hinter den Kulissen wir-
kenden Mordochai und der öffentlichen auftretenden Ester dem zwischen Mose,
der kein Mann der Rede ist, und Aaron. Diese Parallele könne auch erklären,
warum im Esterbuch – was erzählökonomisch nicht überzeugt – zwei Protago-
nisten auftreten. Die eigenartige Konstruktion „Der Mann Mordochai“ (‫ָהאִישׁ‬
‫מ ְָרדֳּ כַי‬, 9,4) mit dem Namen in Zweitposition, nur selten belegt, sei in Analogie zu
„der Mann Mose“ (Ex 11,3; Num 12,3) zu verstehen. Zur Einschätzung dieser
Berührungen: Dient das Buch Exodus nur als Materiallieferant, oder sieht der
Verfasser von Ester tatsächlich frappante Analogien zwischen dem Exodusge-
schehen und dem Schicksal der Juden in Susa? Wie auch immer: Die beiden
Geschehen unterscheiden sich grundlegend darin voneinander, dass die Israeli-
ten aus Ägypten fliehen, währenddem in Ester die Perspektive einer Rückkehr
nach Jerusalem auch nicht von ferne in den Blick kommt. Am auffälligsten ist
568 E. Die Ketubim

zweifellos, dass das Purim am 14./15. Adar, Päsach am 14./15. Nissan gefeiert
wird, Purim also für die in der Diaspora Lebenden das für die Juden dieser Zeit
wichtigste Fest, Päsach, ersetzt.

4. Datierung

Der Verfasser des Buches erweckt – vor allem im 1. Kapitel – den Eindruck, über
präzise Kenntnisse des persischen Hofes (unter Xerxes) und des Reiches im all-
gemeinen zu verfügen; zudem wimmelt es in ihm von persischen Namen. Es galt
aus diesen Gründen lange als in persischer Zeit verfasst und wurde deshalb – und
wird von Althistorikern bis in die jüngste Zeit hinein – als wertvolle Quelle für
die Rekonstruktion der Geschichte des an persischen Originaldokumenten ar-
men achämenidischen Reiches herangezogen. Ester soll in der östlichen (babylo-
nischen) Diaspora verfasst sein. Die vorgeschlagenen Datierungen decken jedoch
den Zeitraum von der ausgehenden Perserzeit (400 v. Chr.) bis in die Makka-
bäer-, ja Hasmonäerzeit ab; in jüngerer Zeit setzt sich eine Spätdatierung zuneh-
mend durch.
Eine eingehende Untersuchung des persischen Lokalkolorits des Buches
ergibt, dass dieses sich kaum Originalquellen oder gar eigener Anschauung sei-
nes Verfassers verdankt, sondern seiner guten Kenntnis der klassischen Autoren,
die sich stark für die Perser interessieren, angefangen bei Herodot über Thukydi-
des, Ktesias, Plutarch bis zu Justin. Die Berührungen Esters mit diesen Schrift-
stellern sind so stark, dass das Buch den Namen „Persica des Alten Testamentes“
(MACCHI) verdient. Die Übereinstimmungen mit den klassischen Autoren be-
treffen vor allem: die vorausgesetzte Einheit von Persien und Medien, Angaben
über die Größe des Reiches und seine Administration, insbesondere das Gre-
mium von sieben hohen Beamten. Griechische und lateinische Autoren interes-
sieren sich – wie Ester – stark für das Leben am Hof, den Palast, die Eunuchen
und ihre Komplotte, die Bankette und die Trunkenheit des Königs. Auch für
einzelne Episoden der Erzählung lassen sich Parallelen aus dem griechischen
Schrifttum beibringen. So findet etwa die Darstellung von Esters Aufstieg eine
enge Entsprechung in der Geschichte Aspasias, einer armen Ausländerin, die an
den Hof Kyros’ des Jüngeren kommt und den König wie Ester mit ihren eigenen
Werten einzunehmen versteht (vgl. als mögliche literarische Quelle aber auch
2Kön 5). Trifft diese These zu, so ist das Buch Ester kaum in der östlichen
Diaspora geschrieben worden, sondern in Alexandria, das über die in hellenis-
tischer Zeit weltweit größte Bibliothek verfügte. Diese Ansetzung erlaubt auch,
den Judenhass zu erklären, der zentrales Element des Buches bildet, den es aber
unter Xerxes so nicht gab. Die ptolemäischen Könige standen den Juden generell
sehr positiv gegenüber, während die griechische Gesellschaft vor allem Alexan-
drias sie hasste. Diese unterschiedliche Einstellung den Juden gegenüber spiegelt
sich im Buche Ester: König Xerxes verhält sich den Juden gegenüber positiv, zu-
mindest neutral, während Haman ihnen gegenüber eine offen feindliche Haltung
IX. Ester 569

einnimmt. Der Verfasser lässt seine Geschichte jedoch nicht im hellenistischen,


ptolemäischen Alexandria spielen, sondern versetzt sie an den zeitlich und ört-
lich weit entfernten persischen Hof von Susa. Mit ihr gibt er seinen Lesern zu
verstehen: Juden, die in der Diaspora leben, sind immer höchst gefährdet, kön-
nen aber in der Fremde auch Erfolg haben, ja in höchste politische Ämter auf-
steigen. Ester gehört damit – zusammen mit der Josefsnovelle und Teilen des
Danielbuches – zur Diasporaliteratur, deren charakteristischstes Merkmal eben
dieser Gegensatz von Gefährdung und Aufstieg(smöglichkeiten) bildet.
Gegen eine Ansetzung von Ester bereits in achämenidischer Zeit sprechen
weiter der phantastische Charakter gewisser Episoden sowie historisch offen-
sichtlich falsche Angaben: So ist etwa der Name von Xerxes Frau bekannt; er
lautet Amestris, nicht Waschti; zudem scheint es nach Herodot (III,84) so gewe-
sen sein, dass der König seine Gattin aus sieben vornehmen Familien auswählen
musste. Wie wenig sich der Verfasser des Buches um historische Glaubwürdig-
keit bemüht, zeigt auch die Tatsache, dass er Mordochai zu den Exulanten von
587 v. Chr. zählt (2,6); er müsste also im zwölften Jahre des Xerxes (3,7) mindes-
tens 120 Jahre alt gewesen sein – und Ester also keine begehrenswerte junge Frau
mehr, die dank ihrer Schönheit die Gunst des Perserkönigs errang.
Das Buch Ester enthält, darin dem Hohelied vergleichbar, keine direkte Nen-
nung Gottes, schon gar nicht einen Beleg des Tetragramms. Das kann freilich
auch bedeuten, dass die Rettung der Juden so selbstverständlich Gott zugeschrie-
ben wird, dass es sich erübrigte, noch eigens darauf zu verweisen. Zwei Stellen
können zudem als versteckte Anspielungen auf Gott verstanden werden: „wird
den Juden Befreiung und Rettung von anderem Ort entstehen …“ (4,14); „Ort“
verstanden die Rabbinen später wie „Himmel“ als verhüllende Ausdrucksweise
für Gott. 9,1 spricht von einer Umkehrung (Wurzel ‫)הפך‬: anstatt der Juden wer-
den ihre Feinde überwältigt; der die Wende bewirkt, könnte Gott sein. Treffen
diese Deutungen zu, kann das Fehlen der Gottesnamen gar als Programm be-
trachtet werden. Die LXX allerdings empfand es als Mangel und führte Gott in
das Buch ein.

5. Gattung
Ihre Bestimmung hängt entscheidend davon ab, ob man Kap. 9f. als ursprüngli-
chen Bestandteil des Buches betrachtet oder als ihm sekundär angefügt. In seiner
Endgestalt bildet das Buch eine Ätiologie (hieros logos, LOADER) des Purimfestes.
Geht man nur (oder stärker) von den Kapiteln 1–8 aus, drängen sich andere
Bestimmungen auf. Der größten Beliebtheit erfreut sich die Einordnung des
Buches unter die Novellen (spezifiziert als „historical novel“, „early jewish
novel“, „Diasporanovelle“). Weitere Vorschläge geben sich als Verlegenheits-
lösungen zu erkennen: geschichtlicher Roman, Haremsgeschichte; court narra-
tive/legend; chronicle of the Persian court, historicized wisdom-tale; entsakrali-
sierte Erzählung; wenig überzeugend, da überzeichnet: Parodie / Satire (cartoon,
aber nicht Drama, Greenstein).
570 E. Die Ketubim

Ein stark strukturierendes Element bilden die zahlreichen Gastmähler, die in 4


Paare eingeteilt werden können (1. 1,3 – 1,5; 2. 1,9 – 2,18; 3. 5,4–8 – 6,14–7,8; 4.
9,18 – 9,19), die am Anfang, in der Mitte und am Ende der Komposition stehen.
Was die weitergehende Strukturierung des Buches betrifft, herrscht Uneinigkeit.
Unter den gemachten Vorschlägen dominiert der Chiasmus. Jedoch wird dessen
zentrales Element unterschiedlich bestimmt. MEINHOLD erblickt es („geistige
Mitte“) in 4,13f.; Mordochai gelingt es, Esther auf seine Seite zu ziehen. Der Um-
bruch wird entweder in 6,1 angesetzt – der schlaflose König lässt sich aus dem
Buch der denkwürdigen Ereignisse vorlesen – oder noch später in 6,7–14, d. h.
bei der Ehrung und der anschließenden Prozession mit Haman. Wer im Ester-
buch einen linearen Verlauf entdeckt, ist davon entbunden, mit nur einem Um-
bruch zu rechnen. Nach der Exposition entfaltet sich das Geschehen – von eini-
gen Komplikationen und Verzögerungen abgesehen – relativ gradlinig.

6. Purim

Das Fest, auf das Ester zuläuft – in 2Makk 15,36 Mordochaitag genannt –, ist von
seinem Charakter her, sind denn die Informationen in Est 9 einigermaßen voll-
ständig, ein fröhlicher weltlicher Anlass, gekennzeichnet durch Festmähler und
den Austausch von Speisen und Geschenken (Portionen). Versuche, es als Erbin
und interpretatio israelitica eines nichtisraelitischen Festes zu erweisen, erbrach-
ten kein überzeugendes Resultat. Weder das babylonische Neujahrsfest noch das
baylonisch-persische Sakäenfest oder schließlich das Fest, das Darius I aus Anlass
des Magiermordes stiftete (Herodot III,68–79), berühren sich eng mit Purim. Die
Erklärung von 9,24, wonach Haman das Pur – das ist das Los (‫גּוֹרל‬ ָ ) – geworfen
habe, um die Juden in Verwirrung zu stürzen und dann auszumerzen, verwirrt
mehr, als dass sie das Rätsel aufhellt. Am wahrscheinlichsten ist eine Ableitung
von akk. pūru = „Los, Anteil“, was ausgezeichnet zum Geschenkaustausch passt.
Von etwas Ähnlichem berichtet mit leicht anderer Terminologie (‫מָנוֹת‬: Anteile)
Neh 8,10.12, was der These zusätzliches Gewicht verleiht.
X. Daniel
Kommentare: J. A. MONTGOMERY, 1927, 21950, 31964, 1972 (Reprint) (ICC). – A. BENTZEN, 1937,
2
1952 (HAT). – N. W. PORTEOUS, 1962, 41985 (ATD). – O. PLÖGER, 1965 (KAT). – A. LACOCQUE,
1976 (CAT). – L. F. HARTMAN / A. A. DI LELLA, 1978 (AncB). – J. J. COLLINS, 1984 (FOTL). – J. J.
COLLINS, 1993 (Hermeneia). – J.-C. LEBRAM, 1984 (ZBK). – J. E. GOLDINGAY, 1989 (WBC). – E.
HAAG, 1993 (NEB). – D. BAUER, 1996 (NSK.AT).

Einzeluntersuchungen: G. HÖLSCHER, Die Entstehung des Buches Daniel: ThStKr 92 (1919), 113–138.
– M. NOTH, Zur Komposition des Buches Daniel, 1926 = Ders., Gesammelte Studien zum Alten
Testament II, 1969 (TB 39), 11–28. – H. H. ROWLEY, The Servant of the Lord, Oxford 21965, 247–280.
– H.-P. MÜLLER, Magisch-mantische Weisheit und die Gestalt Daniels: UF 1 (1969), 79–94. – J. C.
LEBRAM, Apokalyptik und Hellenismus im Buche Daniel: VT 20 (1970), 503–524. – J. J. COLLINS, The
Apocalyptic Vision of the Book of Daniel, 1977 (HSM 16). – J. SCHREINER, »wird der Gott des Him-
mels ein Reich errichten, das in Ewigkeit nicht untergeht« (Dan 2,44). Gestalt und Botschaft apoka-
lyptischen Redens von Gott am Beispiel von Daniel 2, in: H. Merklein / E. Zenger (Hg.), »Ich will euer
Gott werden«. Beispiele biblischen Redens von Gott, 1981 (SBS 100), 123–149. – E. HAAG, Die Er-
rettung Daniels aus der Löwengrube: Untersuchungen zum Ursprung der biblischen Danieltradition,
1983 (SBS 110). – D. HELLHOLM (ed.), Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near
East, Tübingen 1983. – A. LACOCQUE, Daniel et son temps, 1983 (MoBi 8). – P. R. DAVIES, Daniel,
1985 (OTGu 4). – K. KOCH, Deuterokanonische Zusätze zum Danielbuch, 1987 (AOAT 38). – R.
ALBERTZ, Der Gott des Daniel. Untersuchungen zu Daniel 4–6 in der Septuagintafassung sowie zur
Komposition und Theologie des aramäischen Danielbuches, 1988 (SBS 131) – D. N. FEWELL, Circle
of Sovereignty. A Story of Stories in Dan 1–6, 1988 (JSOT.S 72). – H. S. KVANVIG, Roots of Apoca-
lyptic, 1988 (WMANT 61). – H. GESE, Die dreieinhalb Jahre des Danielbuches, in: D. R. Daniels u. a.
(Hg.), Ernten, was man sät, FS K. Koch, Neukirchen-Vluyn 1991, 399–421. – R. KRATZ, Translatio
imperii. Untersuchungen zu den aramäischen Danielerzählungen und ihrem theologiegeschichtli-
chen Umfeld, 1991 (WMANT 63). – R. STAHL, Von Weltengagement zu Weltüberwindung. Theolo-
gische Positionen im Danielbuch, Kampen 1994. – K. KOCH, Die Reiche der Welt und der kommende
Menschensohn. Studien zum Danielbuch, Neukirchen-Vluyn 1995. – K. MÜLLER, Studien zur früh-
jüdischen Apokalyptik, 1991 (SBAB 11). – A. S. VAN DER WOUDE (ed.), The Book of Daniel in the
Light of New Findings, 1993 (BEThL 106). – J. J. COLLINS / P. W. FLINT (eds.), The Book of Daniel,
2001 (VT.S 83). – P. NISKANEN, The Human and the Divine in History. Herodotus and the Book of
Daniel, 2004 (JSOT.S 396). – H.-D. NEEF, Menschliche Hybris und göttliche Macht. Dan 4 LXX und
Dan 4 Th im Vergleich: JNWSL 31 (2005), 59–89. – H.-D. NEEF, Das Gebet des Asarja – Daniel 3,26–
45 LXX und Theodotion, in: H. Lichtenberger / U. Mittmann-Richert (eds.), Biblical Figures in
Deuterocanonical and Cognate Literature, Berlin / New York 2009 (Deuterocanonical and Cognate
Literature Yearbook 2008), 123–145. – M. ALBANI, Daniel. Traumdeuter und Endzeitprophet, Leipzig
2010 (Biblische Gestalten 21).

Forschungsberichte: W. BAUMGARTNER, Ein Vierteljahrhundert Danielforschung: ThR NF 11 (1939),


59–83.125–144.201–228. – K. KOCH u. a., Das Buch Daniel, 1980 (EdF 144).

1. Inhalt
Das Buch Daniel hat als Thema, wie Gott über die Welt herrscht und wie sich
seine Herrschaft und die der weltlichen Herrscher zueinander verhalten. Wäh-
rend im ersten Teil des Buches (in einer älteren Gestalt) – an Geschichten ent-
faltet – eine theokratische Position vertreten wird, findet sich im zweiten – durch
Visionen bestimmt – eine apokalyptische. Formal zusammengehalten wird das
Buch durch die Gestalt Daniels, über den im ersten Teil berichtet wird und der
im zweiten selbst redet.
572 E. Die Ketubim

1 Auf Befehl von König Nebukadnezzar gelangen Daniel (umbenannt in Belt-


schazzar) und seine drei Genossen, Chananja (Schadrach), Mischael (Meschach)
und Asarja (Abed-Nego), alle königlichen Geblütes, von ausgesprochener
Schönheit und hochbegabt, an den babylonischen Hof, wo sie in den Dienst des
Königs treten. Sie halten sich an die jüdischen Speisegebote, was ihnen gut be-
kommt. 2 Daniel deutet König Nebukadnezzar die aus vier Materialien beste-
hende Statue, die dieser in einem Traum gesehen hat. Sie beziehen sich auf die
Abfolge von vier Reichen, deren erstes Nebukadnezzar selbst innehält. 3 Daniel
und seine drei Genossen werden in einen Feueroffen geworfen, weil sie sich wei-
gern, ein von Nebukadnezar gemachtes Bild anzubeten; sie bleiben unversehrt.
4 Nebukadnezzar verliert einem Traum gemäß – ein Baum wächst in die Höhe
und wird dann abgehauen – für sieben Jahre den Verstand und führt das Leben
eines Tieres. 5 Auf einem üppigen Mahl missbraucht König Belschazzar die aus
Jerusalem deportierten Kultgeräte. Daraufhin erscheint auf der Wand eine
Schrift (Mene Mene Tekel Upharsin; von da abgeleitet der Ausdruck „Menete-
kel“ = unheilkündendes Vorzeichen), aufgrund derer der König noch in der
gleichen Nacht sterben muss. 6 Die Amtsträger des Königreiches geben Daniels
und seiner Kollegen wegen einen Erlass heraus – es darf u. a. keine Bitte an einen
Gott gerichtet werden; sie übertreten ihn, und man wirft sie in eine Löwengrube,
wo sie aber überleben. 7 In einer ersten Vision sieht Daniel vier Tiere, die aus
dem Meer steigen und vier verschiedene Reiche repräsentieren. Der „Hochbe-
tagte“ hält Gericht, und die Herrschaft wird an den Menschensohn übergeben.
8 Ein zweihörniger Widder und ein Ziegenbock erscheinen Daniel in der zwei-
ten Schauung. Der Ziegenbock bringt den Widder um. Diesem wachsen vier
Hörner nach, aus einem unter diesen wächst wieder eines nach, das schreckliche
Dinge tun wird. 9 erklärt, wie die von Jeremia vorausgesagten 70 Jahre der Ver-
ödung der Stadt Jerusalem (Jer 25,11–14) zu verstehen seien. 10–12 In zwei
Visionen (10,1–12,4; 12,5–13) erscheint Daniel ein in weißes Leinen gekleideter
Mann; sie enthalten eine nur leicht verhüllte Darstellung der Geschichte der
letzten Perserkönige bis zur endgültigen Rettung des Volkes, das vor dieser Erlö-
sung allerdings zwei Zeiten und eine halbe bedrängt werden wird. – In der LXX
schließen daran die Geschichten von Susanna im Bade (13) und von Bel und
dem Drachen (14) an.

2. Text

Die LXX enthält zusätzlich zu den eben genannten Kapiteln 13f. noch weitere
Einschübe: das Gebet des Asarja (samt überleitender Erzählung) (3,24–45.46–50)
und den Lobgesang der drei Männer im Feuerofen (3,51–90). Die Kapitel 4–6 der
LXX beruhen auf einer anderen Vorlage als dem masoretischen Text, von dem
sie stark abweichen. Im 3. Jh. n. Chr. ersetzte eine Vorform von Theodotion, die
dem aramäischen Daniel nahesteht, den „gewöhnlichen“ LXX-Text.
Daniel ist zweisprachig: 1,1–2,4a sowie 8–12 sind hebräisch verfasst, während
X. Daniel 573

2,4b–7,28 in Aramäisch vorliegen. 1,1–2,4a bilden wahrscheinlich eine Überset-


zung aus dem Aramäischen (vgl. u. a. die Aramaismen), was auf 8–12 nicht zu-
trifft. Der Sprachenwechsel fällt nicht mit der inhaltlichen Zweiteilung des Bu-
ches zusammen; er ist bis heute unerklärt. Die Rückübersetzung des Anfangs
kann man mit SMEND sen. als Versuch verstehen, die Einheitlichkeit des Buches
herauszustreichen. Wird in 2,4b–7,28 das Aramäische („Chaldäische“) verwen-
det, um das Lokalkolorit zu unterstreichen, während Daniel als Jude ganz selbst-
verständlich die „heilige“ Sprache, Hebräisch reden muss (?). Der Begriff „heilige
Sprache“ existiert allerdings noch nicht.

3. Entstehung des Buches / zeitgeschichtlicher Hintergrund

Der Abschluss des Buches, das Jesus Sirach noch nicht kennt und auf das erst in
1Makk 2,59f. angespielt wird, fällt in die Jahre zwischen der Entweihung des
Jerusalemer Tempels durch den seleukidischen König Antiochus Epiphanes IV.
(175–164 v. Chr.) im Jahre 167 v. Chr. und der Wiederaufnahme des jüdischen
Kultes (164 v. Chr.). Während die Ausführungen zur Geschichte bis 167 v. Chr.
deutlich als solche zu erkennende vaticinia ex eventu sind, setzt danach „echte“
Prophezeiung ein, die durch die folgenden Ereignisse nicht mehr gedeckt, son-
dern widerlegt wird. Das Buch gehört in seiner jetzigen Gestalt also in die Mak-
kabäerzeit, was auch der Grund dafür sein dürfte, dass es nicht mehr in den Ka-
non der Propheten aufgenommen wurde, der zu dieser Zeit schon abgeschlossen
gewesen sein dürfte. In LXX (und Vulgata) wird Daniel allerdings zu den Pro-
pheten gerechnet; das Buch tritt dort zwischen Ezechiel und das Dodekapro-
pheton – nach Ezechiel kommt es wohl zu stehen, weil dieser im Exil wirkte und
das Danielbuch auch in dieser Zeit angesetzt wird, vor die zwölf Propheten des-
halb, damit seine besondere, hervorgehobene Stellung deutlich wird. Gelegent-
lich bezeichnet man das griechische Danielbuch als den vierten großen Prophe-
ten. Dass ihm der Platz unter den Propheten deshalb verweigert wurde, weil es
sich bei ihm um das einzige apokalyptische Buch des Alten Testaments handelt
und diese theologische Strömung stark umstritten war, ist möglich; dagegen
sprechen allerdings die große und kleine Apokalypse im Jesajabuch (24–27; 33).
Daniel soll nach 1,1 im 3. Jahre des Königs Jojakim (606 v. Chr.) nach Babylon
gekommen sein – davon ist ansonsten nichts bekannt ( kombiniert der Verf. hier
2Kön 24,1 und 2Chr 36,5–8?); in 9,1 erwähnt er selber Xerxes, der 486–465
v. Chr. herrschte; Daniels Wirken müsste also mindestens 120 Jahre gedauert
haben. Doch nicht nur aus dieser offensichtlichen Unmöglichkeit geht hervor,
wie schlecht die Verfasser des Buches über die von ihnen referierte Geschichte
Bescheid wissen: Einen Meder Darius, Sohn des Xerxes (6,1; 9,1) gab es nicht;
Belschazzar war Sohn Nabonids und nicht Nebukadnezzars (usw.). Geschichtlich
exakte Angaben bietet das Buch erst für die Zeit von Alexander bis Antiochus
Epiphanes IV.
Das Konzept von der Abfolge der vier Reiche fand der Verfasser von Kap. 2
574 E. Die Ketubim

vor. Allerdings fällt es schwer, die vier Teile der Statue eindeutig mit bestimmten
Reichen zu identifizieren. Das älteste ist das babylonische, das jüngste das Alex-
anders; dazwischen dürften das medische und persische liegen, ohne dass dar-
über allerdings absolute Sicherheit herrscht. In Kapitel 7 können die vier Reiche
mit folgenden Tieren identifiziert werden: Löwe mit Adlersschwingen: Babylon;
Panther mit vier Flügeln und vier Köpfen: Persien; das griechische Reich wird –
als besonders schlimm – durch eine Art Chaosdrachen dargestellt. Bei den zehn
Hörnern, die ihm entspringen, handelt es sich um zehn Könige, angefangen von
Alexander dem Großen über neun Seleukiden von Seleukus I. Nikator bis
Demetrius Soter. Sollte Alexander bei diesen Königen nicht mitgezählt sein – was
unwahrscheinlich anmutet –, müsste den neun Seleukiden ein Ptolemäer zuge-
sellt werden. Antiochus IV. Epiphanes erkennt man leicht am einzelnen Horn,
das in den beiden Visionen von Kap. 7 und 8 erscheint.
Eine eigentliche – unverhüllt und mit vielen Details dargestellte – Geschichts-
schreibung, in der die Könige allerdings nicht mit Namen genannt werden, ent-
hält Kap. 11. Es handelt der Reihe nach von den Perserkönigen (V. 2), Alexander
dem Großen (V. 3f.), den Ptolemäern (den „Königen des Südens“) und den Se-
leukiden (den „Königen des Nordens“) bis auf Antiochus III. (V. 10–19), Seleu-
kos IV. (V. 20) und – ausführlich – von Antiochus IV. Epiphanes (V. 31–39);
erwähnt werden seine beiden ägyptischen Feldzüge, die Entweihung des Tempels
von Jerusalem durch den „Greuel der Verwüstung“ (V. 31), d. h. einen heidni-
schen Altar, sowie die Erhebung der Makkabäer, die als „kleine Hilfe“ bezeichnet
wird (V. 34). Ab V. 40 folgt echte Weissagung – vom tatsächlichen Geschichts-
verlauf nicht bestätigt; vor allem enthält diese Prophetie keinen Hinweis auf den
Tod Antiochus IV. Epiphanes und die Wiedereinweihung des Tempels von Jeru-
salem.
Angesichts der drückenden Bedrängnis der observanten Juden, vor allem
unter Antiochus IV. Epiphanes, wurde die Sehnsucht nach Befreiung unter ihnen
immer größer. Die Enttäuschung über ihr Ausbleiben schlägt sich möglicher-
weise in der immer höheren Zahl an Tagen nieder, die man bis zu ihrem Eintritt
warten muss (3 Zeiten und eine halbe [Jahre?]: 7,25; 1150 Tage: 8,14; 1290 Tage:
12,11; 1335 Tage: 12,12); diese unterschiedlichen Zahlen sind gleichzeitig Hin-
weis auf ein sukzessives Wachsen der einzelnen Visionen.
Die aufs Ganze gesehen späte Entstehung des Buches spiegelt sich auch in der
hohen Zahl an persischen und griechischen Lehnwörtern; Beispiel: ‫הַדָּ בַר‬: Stück
(altpersisch), ‫סוּמְפֹּנְיְי ָא‬: Doppelflöte (griechisch συμφωνία).

Zum Wachstum des Buches: Grob gesehen enthalten die Kapitel 1–6 die älteren
und 7–12 die jüngeren Bestandteile des Buches. Sie deutlich voneinander zu
trennen legt sich unter anderem aus folgendem Grunde nahe: Sieht man von
Nebukadnezzar ab, der nur in 1–4 auftaucht, handeln die beiden Teile der Reihe
nach die gleichen Könige ab, nämlich Belschazzar (5; 7f.), Darius (6; 9) und
Kyrus (6,29; 10–12).
Der erste Teil, 1–6, enthält eine Reihe von Hofgeschichten: An einem fremden
X. Daniel 575

Hofe lebende Juden (ein einzelner Jude) werden ihrer Volkszugehörigkeit / ihrer
Religion wegen verfolgt, können sich aber behaupten, respektive werden von
Gott auf wunderbare Art und Weise gerettet. Vergleichbare Hofgeschichten
finden sich in der Josefsgeschichte, im Buch Ester (sowie im aramäischen
Achiqarroman). In dieser Gestalt lassen sie sich erstmals in achämenidischer Zeit
nachweisen; sie kannten ein langes Nachleben – bis in die Renaissanceliteratur
hinein. Das Hofmilieu ist gegenüber dem Büchlein Ester weniger penetrant ge-
zeichnet – Hinweis darauf, dass eine erste Fassung von Daniel früher als es ent-
standen ist, etwa in der ausgehenden Perserzeit.
Zum Wachstum des Buches im Einzelnen: Es werden stark divergierende
Modelle vertreten. Relative Einigkeit herrscht darüber, dass auch Teilsammlun-
gen auf Einzelüberlieferungen, Einzelgeschichten zurückgehen können. Nach-
weisen lässt sich dies für Dan 4, das im Gebet Nabonids aus Qumran einen tra-
ditionsgeschichtlichen Verwandten besitzt.
– Das einfachste Modell vertritt J. J. COLLINS; es ist nur der leicht erweiterte Kon-
sens: Die Erzählungen von Daniel 1–6, in der Diaspora des Ostens entstanden,
wurden später durch die Visionen 7; 8–12 erweitert, welche sich der Jerusalemer
Oberschicht verdanken.
– R. ALBERTZ nimmt seinen Ausgangspunkt bei der besonderen Gestalt von Dan
4–6 in der griechischen Überlieferung. Deren drei Einzelerzählungen, auf hebräi-
schen und aramäischen Vorlagen basierend, gehen ins 4./3. Jh. v. Chr. zurück
und wurden später vom hellenistischen Judentum Ägyptens aufgenommen. Im
Aramäischen wird durch die Einfügung von 3 das Leiden als neues Thema ein-
geführt. Kapitel 2 und 7 rahmen diese Komposition, die später durch 1 und 8–12
erweitert wurde.
– Eine vergleichbare Position vertrat bereits HAAG. Aus Dan 3–6 lassen sich zwei
weisheitliche Lehrerzählungen herausschälen, die den weisen und gerechten
Daniel zum Gegenstand haben: 4*; 6*; sie gehören ins 5./4. Jh. v. Chr. Daneben
liefen zwei Texte um, welche den Untergang Babels zum Gegenstand haben:
4,25–30*; 5,1–30*. Durch die Vereinigung dieser beiden Komplexe entstand
Ende des 3. Jh. v. Chr. die Grundschicht von 4–6*. Später traten die paränetische
Erweiterung (1–3*) und der visionäre Ausblick (7–8*) dazu. Nach 167 v. Chr.
wurde das Buch neu bearbeitet und vor allem um die Kapitel 9–12* erweitert.
Weiter nimmt HAAG eine Bearbeitung in nachmakkabäischer Zeit an.
– Mit einer größeren Komposition als Ausgangspunkt rechnet LEBRAM, nämlich
einer aramäisch verfassten und durch ihren symmetrischen Aufbau als einheit-
lich zu erkennenden Apokalypse. Sie wurde durch zwei Redaktionen erweitert.
Durch die erste 1; 8* wird aus Daniel eine „hebräische“ Schrift – und so auch für
die Jerusalemer Priesterschaft akzeptabel; sie macht aus Daniel, der noch in 2,13
zu den Weisen Babylons gezählt wird, respektive zu einem der aus Juda Wegge-
führten (2,25), ein Mitglied des judäischen Hofes. Durch 8* wird Antiochus III.
in die Schrift eingeführt. Die zweite Redaktion ist provoziert durch das Handeln
Antiochus. Ihr gehören die Kapitel 9–12 an sowie Teile aus 8*, welche dieses auf
Antiochus IV. uminterpretieren.
576 E. Die Ketubim

– KRATZ postuliert drei Schichten. Die älteste umfasst 1,1–2,4a* (Aramäisch),


2,4b–39*; 3–6; ihr terminus a quo ist 539 v. Chr.; sie vertritt eine theokratische
Sicht, bewertet die Herrschaft der heidnischen Großkönige – und das bedeutet
insbesondere der achämenidischen – in der Abfolge der Weltreiche positiv. Eine
zweite Schicht, nur in den Kapiteln 2 und 7 zu greifen, gehört ins 3. Jh. v. Chr.
und führt eschatologische Akzente ein. Die dritte umfasst neben Spuren ebenfalls
in diesen beiden Kapiteln 8–12; sie wurde zwischen 168 und 163 v. Chr. verfasst.
Die Gründe für die Vereinigung der unterschiedlichen Teile des Buches sind
formaler wie inhaltlicher Natur: Der formale liegt in der Person Daniels, der
nicht historische Figur, sondern ideale Gestalt ist. Er taucht als gerechter, auch
mantisch/magisch begabter König erstmals in Ugarit auf (KTU 1.17–19) und
erscheint dann mit Noah und Hiob zusammen im Ezechielbuch als Gerechter
par excellence (Ez 14,14.20); Ez 28,3 bezeichnet den König von Tyrus als „weiser
als Daniel, kein Geheimnis bereitet dir Kummer“. Es sind wohl diese traditions-
geschichtlichen Vorstellungen und Vorgaben, die zur Wahl Daniels als Hand-
lungsträger und Visionär in der Schrift führten. Dabei verwandelt sich der ge-
rechte allerdings in einen frommen, observanten Mann und wird unter der Hand
die Definition des idealen Mannes / Königs inhaltlich neu gefüllt.
Selbst wenn man die positive Einstellung fremden Herrschern gegenüber in
1–6* als nicht so ausgeprägt betrachtet wie KRATZ, bestand doch angesichts der
Bedrückung der observanten Juden unter Antiochus IV. Epiphanes die Nöti-
gung, diese Sicht zu kritisieren. Dies geschieht vereinfacht ausgedrückt durch die
Ergänzung von 8–12 und die inhaltlich damit parallel gehenden vor allem apo-
kalyptischen Korrekturen im ersten Buchteil. Die beiden Teile entsprechen sich
in gewisser Weise wie Proto- und Deuterojesaja; sie entfalten vergleichbare The-
men inhaltlich je anders, der erste Teil des Buches ist im Sinne des zweiten über-
arbeitet.

4. Die Widerspiegelung der Makkabäerzeit im Danielbuch –


formal und inhaltlich

Das harte Vorgehen Antiochus’ IV. Epiphanes zwang zu einer radikal neuen
Sicht der Geschichte: Juda war untergegangen. Es folgten sich nacheinander vier
Weltreiche, Babylonier, Meder, Perser und Griechen, unter denen sich die Be-
drückung der Juden ins Unerträgliche steigerte. Der Untergang der drei ersten
macht deutlich: Auch das letzte wird von der Bühne der Geschichte verschwin-
den. Ihm folgt ein Reich, das nicht vergeht, da vom Gott des Himmels errichtet.
Apokalyptisch ist das Buch in einem doppelten Sinn: formal darin, dass einem
Seher der Ablauf der Weltgeschichte enthüllt wird, inhaltlich darin, dass es zu
einem Abbruch der Geschichte kommt.
Jahwe, dessen Namen im Danielbuch nur in 9 erscheint – an seine Stelle tritt
„Gott / Herr / König des Himmels“ – bleibt universaler Gott, seinem Volk aber
so in besonderer Weise verbunden, dass seine Verehrer (7 auch die „Heiligen des
X. Daniel 577

Höchsten“ genannt) zusammen mit dem „Menschensohn“ (7), einer Art Völ-
kerengel (wie Michael, 12,1), die Herrschaft in seinem Reiche ausüben.
Dan 12,1–4.13 ist neben Jes 26,19 und Ez 37* der älteste Text, welcher die
„Auferstehung der Toten“ kennt. Diese Vorstellung bildete sich vielleicht deshalb
aus, weil die bisherigen Versuche, die Störungen des Tun-Ergehen-Zusammen-
hangs zu erklären, nicht mehr befriedigten und dieser vor allem wegen des Mär-
tyrertodes von Makkabäern neu bestimmt werden musste: Lohn und Strafe er-
folgen nicht mehr im Leben eines Menschen, sondern erst nach Tod und Aufer-
stehung.
XI. Esra und Nehemia
Kommentare: E. BERTHEAU, 1862 (KEH). – C. F. KEIL, 1870 (Neudruck 1990) (BC). – C. SIEGFRIED,
1901 (HAT). – A. BERTHOLET, 1902 (KHC). – L. W. BATTEN, 1913 (ICC). – G. HÖLSCHER, 41923
(HSAT). – W. RUDOLPH, 1949 (HAT). – K. GALLING, 1954 (ATD). – J. M. MYERS, 1965 (AncB). – F.
MICHAËLI, 1967 (CAT). – P. R. ACKROYD, 1973 (TBC). – R. J. COGGINS, 1976 (CNEB). – F. C.
FENSHAM, 1982 (NICOT). – D. J. A. CLINES, 1984, 1992 (NCB). – H. G. M. WILLIAMSON, 1985
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2001 (Handbook on the Historical Books). – K. N. SCHOVILLE, 2001 (NIV). – T. HIEKE, 2005 (NIV). –
K. LARSON / K. DAHLEN, 2005 (Holman Old Testament Commentary). – K.-D. SCHUNCK, 2009 (BK:
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XI. Esra und Nehemia 579

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gen 2006. – J. BODA / P. L. REDDITT (ed.), Unity and Disunity in Ezra-Nehemiah, 2008 (Hebrew Bible
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Forschungsberichte: T. C. ESKENAZI, Current Perspectives on Ezra-Nehemiah and the Persian Period:


Currents in Research. Biblical Studies 1 (1993), 59–86. – B. BECKING, Ezra on the Move … Trends
and Perspectives on the Character and His Book, 1998 (VT.S 73), 154–179. – K. DE TROYER, Zerub-
babel and Ezra. A Revived and Revised Solomon and Josiah? A Survey of Current 1 Esdras Research:
Currents in Biblical Research 1 (2002), 30–60. – T. WILLI, Zwei Jahrzehnte Forschung an Chronik
und Esra-Nehemia: ThR 67 (2002), 61–104.

1. Allgemeines

Die beiden Bücher bilden in der hebräischen Überlieferung ein einziges, wie das
Schlusskolophon im Anschluss an Neh 13,31 und die Markierung seiner Mitte
nach Neh 3,31 zeigen. Daran hält das Judentum fest, wie aus bBB 15a; Sanh 93b
und rabbinischen Kommentaren hervorgeht; s. auch die frühe jüdische Tradition
(s. die Kanonliste bei Melito von Sardes). Erstmals bei Origenes bezeugt, setzt
sich jedoch danach die Aufteilung in Esra und Nehemia im griechischen Bereich
durch und geht von daher auch in die lateinischen Bibelübersetzungen über.
Beide Traditionen haben ihr sachliches Recht: Auf der einen Seite stellt Esr/Neh
zum Teil einen engen Zusammenhang zwischen der Wirksamkeit dieser beiden
Männer her (wenn vielleicht auch nur auf redaktioneller Ebene, s. dazu unten).
Auf der anderen Seite ist in Esr vor allem von Esra, in Neh schwergewichtig von
Nehemia die Rede. Zudem bildet Neh 1,1 („Die Worte Nehemias, des Sohns von
Chachalja“) einen starken, vielleicht den stärksten Einschnitt im Buch.
So disparat seine einzelnen Teile auch sind und so stark sich die beiden Per-
sönlichkeiten Esra und Nehemia auch voneinander unterscheiden: Was sie mit-
einander verbindet, ist stärker als das, was sie trennt – sei es auf geschichtlicher
oder literarischer Ebene. Wie Pentateuch und „deuteronomistisches Geschichts-
werk“ als Ätiologie von Landgewinn und -verlust einander gegenübergestellt
werden können, so Gen–2Kön und Esr / Neh: Der Geschichte des Scheiterns (bis
zum babylonischen Exil) steht die – wenn auch vielfach gefährdete und mit vie-
len Problemen belastete – Restauration Jehuds in der achämenidischen Zeit ge-
genüber. Esr / Neh kann als Fortsetzung von 2Kön konzipiert worden sein. Für
diese Einordnung des Werks spricht unter anderem, dass die Rückkehr der Exu-
580 E. Die Ketubim

lanten aus dem babylonischen Exil als zweiter Exodus dargestellt wird. Esr / Neh
will Geschichtsschreibung sein, eine Darstellung des Jahrhunderts zwischen dem
Machtantritt der Perser (Kyros II., 539 v. Chr.) bis zum Abschluss der Wirksam-
keit Nehemias (32. Jahr Artaxerxes I., 433 v. Chr.) bieten. Die Art der Ge-
schichtsschreibung in Esr/Neh hebt sich sowohl von der deuteronomistischen
wie der der Chronik deutlich ab.

2. Text

Neben dem masoretischen gibt es noch einen weiteren, gelegentlich zu den


Apokryphen gerechneten Text, der 2Chr 35 – Esr 10; Neh 7,72–8,13 (Esraerzäh-
lung!), das „Gastmahl des Darius“ sowie den Wettstreit der Pagen (3,1–5,6)
enthält und sich in LXX findet: Esdras α / III Ezrae. (IVEzrae ist eine – syrisch
und lateinisch erhaltene – Apokalypse aus sehr viel späterer Zeit, deren Abfas-
sung dem biblischen Esra zugeschrieben wird [folgende Tabelle nach WITTE].)

MT LXX V Mod.
Übersetzungen
Esdras α III Ezrae 3Esr
Esra Esdras β I Ezrae Esra
Nehemia Esdras γ II Ezrae Nehemia
IV Ezrae 4Esra

Auf Esdras α, dessen Status stark umstritten ist – noch Josephus folgt dieser
Quelle in der Darstellung der Geschichte Israels in nachexilischer Zeit –, muss
hier vor der Behandlung des masoretischen Textes eingegangen werden (folgen-
de Tabelle nach POHLMANN).

Esdr α M
1,1–20 = 2Chr 35,1–19
1,21f. ohne Parallele
1,23–55 = 2Chr 35,20–36,21
2,1–5a = 2Chr 36,22–23 (= Esr 1,1–3a)
2,5b–14 = Esr 1,3b–11
2,15–25 = Esr 4,7–24
3,1–5,6 ohne Parallele
5,7–70 = Esr 2,1–4,5
6,1–9,36 = Esr 5,1–10,44
9,37–55 = Neh 7,72–8,13a

3Esr beginnt unvermittelt (und Josija beging in Jerusalem das Passa), endet mit-
ten in einem Satz und gilt deshalb als Fragment.
Während frühere Forschung Esdr α überwiegend als Exzerpt aus 2Chr, Esr
und Neh betrachtete oder als Beweis für die Existenz eines chronistischen Ge-
XI. Esra und Nehemia 581

schichtswerkes (dessen ursprünglichen Schlusses) respektive voneinander ge-


trennter Überlieferungen zu Esra und Nehemia betrachtete, rechnet BÖHLER mit
einem höheren Alter von Esdr α und vertritt die These, Esdr α, eine freiere Über-
setzung einer hebräischen Vorlage, sei älter als Esr/Neh und enthalte die Kon-
zeption, wonach der Wiederaufbau Jerusalems bereits unter Scheschbazzar er-
folgte und nicht erst auf Nehemia zurückgeht. BÖHLER betrachtet (Esr)Neh als
spätere Redaktion aus der Makkabäerzeit, durch welche die politische Autono-
mie des Gemeinwesens gegenüber dem Tempel stärker hervorgehoben werde.
Das bedeutete, dass Nehemia, der nur am Rande auftaucht, eine fiktive Gestalt
würde. Auch Esdr α lässt sich auf dem Hintergrund der Makkabäerzeit verste-
hen: nämlich als (lauter oder leiser) Protest gegen die politischen Bestrebungen
der Makkabäer.

3. Aufbau und Inhalt

Esr 1–6 Wiederaufbau des Tempels von Jerusalem


1–2 Kyrosedikt; Rückkehr der Deportierten aus Babylon nach Jerusa-
lem
3–6 Tempelbau (und, damit verbunden, Widerstände äußerer Feinde)

Esr 7–10 Die Mission Esras


7–8 Erlass des Artaxerxes, Entsendung Esras nach Jerusalem
9–10 Kampf gegen die Mischehen; Selbstverpflichtung der Israeliten
(Bundesschluss) (mit vorausgehendem Bußgebet Esras)

Neh 1–7 Wiederaufbau der Stadtmauern unter Nehemia


1,1–2,10 Erlass des Artaxerxes, Entsendung Nehemias nach Jerusalem
2,11–7,72 Mauerbau, durch Widerstände innerer und äußerer Feinde behin-
dert

Neh 8–12 Verpflichtung auf das Gesetz


8 Verlesung des Gesetzes durch Esra, Wiederholung der Selbstver-
pflichtung der Israeliten, Feier des Laubhüttenfestes
9 Bußgebet des Volkes
10 Schriftliche Verpflichtung auf das Gesetz
11 Zwangsbesiedlung Jerusalems (Synoikismos)
12 Das Tempelpersonal und seine Entlöhnung; dazwischen: Mauer-
einweihung
13 Ausschluss von Fremden aus der Gemeinde, verschiedene Kultbe-
stimmungen, Auflösung der Mischehen

Der stärkste Einschnitt fällt nicht mit der Unterteilung zwischen Esra und
Nehemia zusammen, sondern liegt zwischen Esr 1–6 (Heimkehr, Tempelbau;
582 E. Die Ketubim

Ereignisse aus der 2. Hälfte des 6. Jh.s v. Chr.; die dominierenden Figuren sind
Serubbabel und Jeschua) und Esr 7–Neh 13 (innerer Aufbau „Jehuds“ [Stadt und
ihre Mauern], Wirken Esras und Nehemias [wohl in der Mitte des 5. Jh.s
v. Chr.]).

4. Die Quellen

Ein relativer Konsens geht dahin, dass der/die Verfasser von Chr und Esr / Neh
nicht miteinander identisch sind. Hingegen gelten einzelne Teile von Esr / Neh
als Bearbeitung in chronistischem Geiste. Auch breites Einvernehmen herrscht
darüber, dass Esr / Neh in einem komplizierten Prozess entstand, der weitgehend
im Dunkeln liegt. Im Folgenden werden zuerst die in Esr / Neh eingearbeiteten
Quellen erhoben und darauf Modelle ihres möglichen Zusammenwachsens vor-
gestellt. Zu ihrem besseren Verständnis sei ihnen eine Zusammenstellung der
achämenidischen Herrscher vorangestellt:

Kyros II.: ca. 559–530


Kambyses: 530–522
Darius I.: 522–486
Xerxes I.: 486–465
Artaxerxes I.: 465–424
Xerxes II.: 424
Darius II.: 424–404
Artaxerxes II.: 404–358
Artaxerxes III.: 358–338
Darius III.: 335–331

1. Esr 4,8–6,18 ist in Aramäisch verfasst, wobei in 4,7 der Sprachwechsel signali-
siert wird. Der Abschnitt enthält schwergewichtig die Korrespondenz zwischen
Jerusalem und den persischen Königen im Zusammenhang mit dem Tempelbau
und schildert die mit diesem verbundenen Auseinandersetzungen. Vor allem die
ältere Forschung rechnet damit, dass die in den drei Kapiteln enthaltenen Briefe
zeitgenössische Archivalien enthalten. Nach MEYER weisen die Schreiben Merk-
male des persischen Kanzleistiles auf und passt ihr Inhalt zu der Politik, welche
die Perser ihren Untertanen gegenüber verfolgten. Die gegenteilige Sicht vertritt
SCHWIDERSKI: Nach ihm weichen die aramäischen Briefe (4,11–16.17–22; 5,7–17;
6,6–12) in wesentlichen Punkten vom in achämenidischer Zeit verbreiteten
Briefformular ab und gehören in die hellenistische Zeit (3. Jh. v. Chr.), die damit
auch zum terminus quo für den Abschluss des ganzen Buches wird. Die An-
ordnung der Stücke in 4,8–6,18 erfolgt nicht in chronologischer Reihenfolge. Am
Anfang (4,6–23) steht der Bericht über die Ereignisse aus der Zeit von Xerxes I.
und Artaxerxes I. (Widerstand gegen den Wiederaufbau der Stadt). Erst daran
schließt in 5f. der Bericht vom Tempelbau unter Darius I. an, der trotz starken
und erbitterten Widerstands (von verschiedenen Seiten) schließlich zu einem
XI. Esra und Nehemia 583

erfolgreichen Abschluss gelangt. Dieser Umstellung liege wahrscheinlich ein


theologisch-darstellerisches Motiv zugrunde: Der Widerstand gegen den Stadt-
bau soll direkt an den gegen den Tempelbau anschließen (4,1–5).
2. Das Beauftragungsschreiben Artaxerxes für Esra (Esr 7,12–26) wird gleich
kontrovers beurteilt wie die Briefe. GRAETZ datiert den Brief in die hellenistische
Zeit; er enthält nach ihm eine königliche Schenkung / Stiftung, wie sie in helle-
nistischer Zeit verbreitet waren.
3. Die Nehemiadenkschrift, auch Nehemiamemoiren oder -quelle genannt (*Neh
1,1–7,5; 12,31–43; 13,4–31): eine in der 1. Person verfasste – nicht neutrale –
Rechenschaftsablage des Statthalters über sein Wirken, die erstaunlich modern
wirkt. Charakteristisch für sie sind etwa die Bezeichnung der Monate mit Namen
(und nicht Zahlen) sowie die Gedenkformel (Neh 5,19; 13,14.22; 13,31 [Bsp.:
„Erinnere dich meiner, mein Gott, mir zum Besten, erinnere dich all dessen, was
ich für dieses Volk getan habe! 5,19]). Diese Nehemiadenkschrift wird mit vielen
antiken Gattungen verglichen: Gebeten eines Angeklagten (Nehemia wendet sich
wie ein solcher an Gott), altorientalischen Königsinschriften, Votiv- und Stifter-
inschriften sowie Gedenkstelen. Einige dieser Vorschläge leiden darunter, dass
die miteinander verglichenen Texte zeitlich weit auseinanderliegen. Die überzeu-
gendste Parallele liegt in der Inschrift des Udjahorresnet, eines ägyptischen
Oberarztes, vor, die ins Jahr 519/18 v. Chr., also in die zeitliche Nähe des Auf-
tretens Nehemias, datiert und sich mit dessen Denkschrift auch literarisch
erstaunlich eng berührt. Es ist denkbar, dass Nehemias Denkschrift im Tempel
aufbewahrt wurde. Ihre Authentizität wurde vor allem mit dem Argument be-
stritten, sie wirke schriftgelehrt, berühre sich insbesondere mit biblischen Füh-
rungsgeschichten und enthalte legendarische Elemente. Da die Nehemiadenk-
schrift ein starkes propagandistisches und also idealisierendes Element enthält,
spricht dieses Argument nicht notwendig gegen ihre Authentizität.
4. Das Buch enthält recht viele Listen, darin den Büchern Numeri und Chronik
vergleichbar, die in die spätachämenidische, respektive frühhellenistische Zeit
datieren.

5. Entstehung von Esra / Nehemia

Im Folgenden wird weitgehend von der These eines „chronistischen Geschichts-


werkes“, bestehend aus 1/2Chr und Esr / Neh, abgesehen (zu ihm s. unter Chro-
nik): Auszugehen ist von folgenden Beobachtungen: Esra und Nehemia enthalten
eine Doppelung (die Heimkehrerliste von Esr 2; Neh 7). Die beiden Hauptteile
berühren sich inhaltlich noch in weiteren Punkten: Tempel; Laubhüttenfest;
Bußgebete; die persischen Könige sind dem jüdischen Volk wohlgesinnt und
wirken zusammen mit Gott oder für ihn. Allerdings bestehen zwischen ihnen
auch wichtige Unterschiede: Die beiden Bußgebete legen unterschiedliche Ak-
zente: die Leviten spielen in ihnen je eine andere Rolle, und auch das Verständnis
von „Tora“ ist nicht das gleiche. Dieses Nebeneinander von starker Verwandt-
584 E. Die Ketubim

schaft und deutlichen Unterschieden erklärt, warum über das Wachstum / die
Entstehung des Buches auch nicht ansatzweise Einigkeit herrscht und (beson-
ders) in jüngerer Zeit radikale und/oder komplizierte Modelle des Wachstums
vorgeschlagen wurden. (Das starke Interesse an Esr/Neh und die damit parallel
gehende große Zahl an Modellen, was das literarische Werden des Buches be-
trifft, beruht u. a. auf einer starken Nachfrage von Seiten der [eines Teils der]
Pentateuchforschung, die in Esr/Neh Hinweise zur Lösung der eigenen Probleme
vermutet.)
– Ein in den Grundzügen einfaches Modell vertreten KRAEMER, VAN DER KAM,
BECKING. Nach ihnen gehörten Esr und Neh ursprünglich nicht zusammen;
dagegen spreche die Doppelung der Heimkehrerliste sowie die oben erwähnten
unterschiedlichen theologischen Akzente.
– Mit einer komplizierten Entwicklung, insgesamt 7 Straten innerhalb Neh,
rechnet (in Weiterführung eines KRATZ’schen Ansatzes) WRIGHT: Das 1. Stratum
enthält den Baubericht des Nehemia, das 2. und 3. enthalten Ergänzungen dazu.
Im 4. erscheint Nehemia zum ersten Mal in wenigen Versen als Gouverneur, im
5., u. a. durch die wiederkehrende Bitte „Gedenke meiner …“ charakterisiert,
dominiert Nehemia der Reformer. In diesem Stadium bildet der Baubericht Teil
des Berichtes von Judas Restauration. Das 6. und 7. Stratum haben es schwerge-
wichtig mit der Verpflichtung der Juden auf die Tora zu tun. Auf dem 6. Stratum
gleicht Neh vergleichbaren jüdischen „histories“ aus hellenistischer Zeit. Mit
diesen 7 Straten sind die einzelnen Bestandteile aus Esr kunstvoll verwoben. Das
6. setzt Esr 1–6 voraus; zusammen bilden diese beiden Textblöcke einen erwei-
terten Bericht von Judas Restauration. Das letzte Stratum schließlich setzt die
Erweiterung von Esr 1–6 durch Esr 7f.; 9 und 10 voraus.
– BECKER, der von der Existenz eines chronistischen Geschichtswerkes ausgeht,
findet in Esr/Neh die gleiche midraschhafte Darstellung wie in Chronik und
betrachtet auch Quellen aus diesem Buch, die in der Forschung generell als ver-
trauenswürdig gelten, wie etwa die Nehemiamemoiren (präziser: einen Grund-
stock davon), als fiktive Produkte. Das seien auch und in noch höherem Maße
die Ichberichte Esras, weiter die Namenslisten. Aus der Fiktivität dieser Texte
darf nach ihm allerdings nicht der Schluss gezogen werden, Esra und Nehemia
seien fiktive Personen. Vor allem die Historizität Nehemias sei gut gesichert.
– Die Besonderheit von PAKKALAs Modell liegt in seiner Kombination mit der
Frage, welchen Umfang der Pentateuch aufwies. Der älteste Teil der Esramemoi-
ren, die sog. „Ezra source“, umfasst neben Esr 10* und Neh 8* nur einige wenige
Vers(teil)e aus Esr 7. Zum Inhalt dieser Quelle, die in die 2. Hälfte des 5. Jh.s
v. Chr. gehört: Ein Toraschreiber namens Esra kommt nach Jerusalem, um die
geschriebene Tora, die offensichtlich keine Rolle gespielt hatte, dort wieder ein-
zusetzen. Der Verfasser dieser Quelle hängt stark von Dtn 7,1–6 ab und könnte
selbst noch ein späterer Deuteronomist gewesen sein, der ursprünglich in Baby-
lon wirkte; er bezeugt die Existenz einer Gruppe, welche die Tora als für die Ge-
meinschaft der Israeliten zentral betrachtete. Durch spätere Bearbeitungen ver-
wandelt sich Esra zunehmend in einen Priester (der auch die Tempelgeräte nach
XI. Esra und Nehemia 585

Jerusalem zurückbringt). Priesterliche und levitische Interessen treten in den


Vordergrund. Mit seinem Modell versucht PAKKALA auch die Frage (neu) zu be-
antworten, welchen Umfang das „Gesetz“ aufwies, das Esra nach Neh 8 verlas.
War es der ganze Pentateuch oder nur ein Teil daraus?
– Nach der geläufigsten Theorie handelt es sich um den fertigen Pentateuch oder
eine Vorform davon (prominentester Vertreter: WELLHAUSEN), die später nur
noch unwesentlich erweitert wurde. Eine Variante dieser These vertritt OTTO:
Die Esramemoiren setzen nach ihm voraus, dass eine von ihm so genannte „Pen-
tateuchredaktion“ stattgefunden hat, die sich über Gen 1 bis Dtn 34 erstreckt.
– KELLERMANN identifiziert Esras Tora mit dem deuteronomischen Gesetzbuch;
er hat einen Vorgänger: SPINOZA, der 1670 die These aufstellte, beim Gesetzbuch
Esras handle es sich um das Deuteronomium.
– Andere Kandidaten für das von Esra promulgierte Gesetz sind die Priester-
schrift, respektive das sogenannte Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26) – sie haben ge-
genüber früher an Beliebtheit verloren.
– Schließlich werden Kombinationen der zwei zuletzt genannten Thesen vertre-
ten: Teile aus dem Deuteronomium und aus dem Rest des Alten Testaments.
– PAKKALA differenziert in gewagter Weise: In der ältesten Gestalt der
Esramemoiren, der ES und im Gebet Esras (Esr), einer Fortschreibung dieser
Quelle, werde nur auf das Deuteronomium rekurriert; die Golaredaktion, in der
es um das Verhältnis der Deportierten zu den im Lande Verbliebenen geht, greift
auf eine Version von Lev 23 zurück, die man später kürzte. Die jüngsten
Bestandteile des Buches, die auf Leviten zurückgehenden Kapitel Neh 8–10,
verrieten die Kenntnis des ganzen Pentateuchs.
XII. Chronik
Kommentare: E. BERTHEAU, 1854 (KEH). – C. F. KEIL, 1870 (BC) (1990). – I. BENZINGER, 1901
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1. Ein chronistisches Geschichtswerk?

Zusammen mit Esra und Nehemia galten die beiden Chronikbücher lange als
Teil eines sog. „chronistischen“ Geschichtswerkes. Bei der Abtrennung von Esra
und Nehemia von den Chronikbüchern sei das Kyrosedikt, das den deportierten
Juden die Heimkehr erlaubte, aus einsichtigen Gründen gedoppelt worden (2Chr
36,22f.; Esr 1,1–3): Durch es erhielten die Chronikbücher, die ansonsten mit der
Wegführung nach Babel geendet hätten, einen positiven Abschluss.
Diese These hat stark an Zustimmung eingebüßt. Esra gilt nicht mehr als
Fortsetzung der Chronik-, sondern der Königsbücher (KNAUF). Von daher er-
klärte sich die Doppelung des Kyroserlasses ganz einfach: Der Chronist legt sei-
nem Werk als Quellen Gen 1,1 – Esr 1,1–3 zugrunde – und schließt es mit den
ersten drei Versen aus Esra ab. Gegen die Existenz eines „chronistischen Ge-
schichtswerkes“ spricht auch die Reihenfolge Esra/Nehemia – Chronik: In einem
solchen stünde die Chronik am Anfang; zu erklären, warum die Reihenfolge
dann umgekehrt wurde, fällt schwer.
588 E. Die Ketubim

Während die sprachliche Untersuchung der Bücher es kaum erlaubt, die Exis-
tenz eines chronistischen Geschichtswerkes zu erweisen oder zu verneinen, führt
ihre inhaltliche Analyse weiter. Die Werke unterscheiden sich grundsätzlich
voneinander. In Esra und Nehemia spielen – anders als in der Chronik – die
Davididen und das Vergeltungsdogma praktisch keine Rolle. Die beiden Bücher
zeichnen sich auch durch ein anderes Israelverständnis aus: Esra ist an ganz
Israel interessiert, während die Chronik stark auf die ausschließliche Legitimität
Judas pocht. Inhaltlich-theologische Berührungen erklären sich von der zeitli-
chen Nähe der beiden Werke her.

2. Name

Ihren gebräuchlichen Namen verdankt die Chronik dem lateinischen Kirchen-


vater Hieronymus (347/8–420 n. Chr.); er nannte das Werk „Chronicon totius
divinae historiae“, „Chronik der ganzen göttlichen Geschichte“. In der hebräi-
schen Bibel heißt das Werk ‫דִּ ב ְֵרי ַהיָּמִים‬, eine Überschrift, welche die Vulgata
übernahm: verba dierum. In der Septuaginta, welche erstmals die Aufteilung des
Werkes in zwei Bücher vornimmt, heißt es Paraleipomena, „das Übergangene“.
Dieser Titel, in dem sich auch die geringe Wertschätzung des Werkes – vor allem
in der frühen christlichen Kirche – widerspiegelt, bezieht sich auf die Materia-
lien, welche nur die Chronik enthält, nicht aber (insbesondere) Samuel / Könige.

3. Inhalt

Die Chronik besteht einerseits aus Texten, die ihr Verfasser der oben genannten
Quellen, insbesondere Samuel und Könige, entnahm, andererseits dem soge-
nannten „Sondergut“.
Die Vorlagen für die erstgenannten weichen vom masoretischen Text ab und
berühren sich gelegentlich mit der Textfassung von Samuel und Könige, wie sie
in den Manuskripten von Qumran bezeugt und in der LXX greifbar ist. Jedoch
sind die Abweichungen vom masoretischen Text bei Samuel stärker als bei den
Königsbüchern. Diese textgeschichtliche Situation erschwert die Auslegung,
muss doch bei Abweichungen der Chronik gegenüber ihren Quellen in jedem
einzelnen Fall geprüft werden, ob sie bewusst geschah oder sich einer nicht mit
M übereinstimmenden Vorlage verdankt.
Das Werk schildert – grob formuliert – die Geschichte des Königtums Gottes,
wie es sich in der Dynastie der Davididen manifestiert. Es setzt jedoch bei Adam
ein und führt bis zum Kyrosedikt.
Die Chronik lässt sich wie folgt gliedern:
XII. Chronik 589

I 1–10: Genealogische Vorhalle: Von Adam bis zum Tode Sauls


1,1–2,2: Von Adam bis zu den zwölf Söhnen Israels
2,3–4,43: Der Stamm Juda (inklusive Simeon)
5,1–26: Die Ostjordanstämme (Ruben, Gad, Halbmanasse)
5,27–6,66: Der Stamm Levi (insbesondere die Sänger, inklusive der
Aaroniden)
7,1–40: Issachar, Benjamin, Naftali, Manasse, Efraim, Ascher
8,1–40: Benjamin, insbesondere Saul und seine Nachkommen
9,1–34: Die Einwohner Jerusalems (nach dem Exil)
9,35–44: Sauls Abstammung
10,1–14: Die Schlacht bei Gilboa und Sauls Tod; Übergang des
Königtums an David
I 11–29 Das Königtum Davids
II 1–9 Das Königtum Salomos
II 10–12 Rehabeam; Reichsteilung
II 13–36 Geschichte Judas bis zur Zerstörung Jerusalems und zur Wegfüh-
rung nach Babel; Erlass des Kyrosedikts

4. Literarischer Charakter

Während etwa Samuel- und Königsbücher als Traditionsliteratur bezeichnet


werden können, die in einem langen Wachstumsprozess entstanden ist, gehört
die Chronik grundsätzlich zur Autorenliteratur aus achämenidisch-hellenisti-
scher Zeit. Der Verfasser der Chronik ist eine Einzelgestalt, die nicht an einem
Werk weiterschreibt, sondern ein eigenes schreibt – und dabei stark auf bereits
vorhandene Quellen zurückgreift. Dass ein Grundbestand der Chronik später
sekundär überarbeitet wurde, ändert an dieser literatursoziologischen Einord-
nung grundsätzlich nichts.

5. Entstehung

An den verschiedenen Modellen, die im Laufe der Forschungsgeschichte vorge-


schlagen worden sind, lassen sich – so schön wie nur bei wenig anderen Büchern
– die verschiedenen Tendenzen ablesen, die jene prägen.
Nach F. M. CROSS, der mit der Existenz eines chronistischen Geschichtswerkes
rechnete, lassen sich drei verschiedene Editionen voneinander abheben: Bei der
ältesten handelt es sich um eine prodavidische Rechtfertigungsschrift. CROSS
datiert sie außerordentlich früh; sie entstand nach ihm vor 520 v. Chr., also spä-
testens 20 Jahre nach Übernahme der Herrschaft durch die Achämeniden. Sie
umfasst 1Chr 10–2Chr 34 und die Vorlage von 3Esr 1,1–5,65 (= 2Chr 34,1–Esr
3,13). Von ihrer theologischen Ausrichtung her unterscheidet sich die zweite,
nach dem Auftreten Esras (458 v. Chr.) entstandene Fassung nicht stark von der
ersten, ist sie doch auch messianisch-monarchisch geprägt. Sie umfasst die Esra-
590 E. Die Ketubim

geschichte in der älteren Fassung, weiter Esr 5,1–6,19 und die Serubbabelge-
schichte (3Esr 3,1–5,6). Auf der letzten Stufe schließlich erfolgt die Einfügung
der genealogischen Vorhalle (1Chr 1–9) sowie der Nehemiamemoiren. Diese
Edition, aus der die promonarchischen Texte wieder ausgeschieden werden (3Esr
3,1–5,6) und die CROSS als von klerikalen Interessen bestimmt sieht, datiert er
um 400 v. Chr. Eine Kritik dieses vor allem aus wissenschaftsgeschichtlichen
Gründen referierten Modells kann sich auf seinen Ansatzpunkt beschränken: Er
setzt eine extreme Frühdatierung der Quellen des Chronisten voraus und –
nähme man sie als zutreffend an – deren Überarbeitung sehr kurz nach ihrem
Abschluss.
Überholt ist auch GALLINGs These eines zweiten Chronisten, der um 200 v. Chr.
die Erstedition überarbeitete, die ungefähr ein Jahrhundert früher entstanden
war. Die beiden Ausgaben unterscheiden sich nach ihm auch in ihrer theologi-
schen Ausrichtung nicht grundsätzlich voneinander. Die zweite ist stärker kul-
tisch ausgerichtet und um einige Ansprachen sowie die Nehemiamemoiren er-
weitert.
Verbreiteter als diese starr wirkenden Modelle sind Ergänzungsmodelle. Zu
den sekundären Teilen geschlagen werden vor allem gewichtige Teile aus der
genealogischen Vorhalle (1Chr 1–9) sowie kultische Texte (insbesondere 1Chr
23–27). Weiter rechnet man mit vielen punktuellen Ergänzungen. Hilfreich ist
der deskriptiv, nicht wertend gemeinte Ausdruck „wilde Wucherung“, mit dem
Noth das Textwachstum in der Chronik charakterisiert.
Die jüngere Forschung ist durch drei Tendenzen charakterisiert: Mit anderen
zusammen argumentiert OEMING literatursoziologisch: Er weist auf die Schwie-
rigkeiten hin, den Wachstumsprozess in den beiden Büchern der Chronik zu
erhellen. Dass sich ihre Grund- und Überarbeitungsschicht inhaltlich eng berüh-
ren, erklärt sich am einfachsten, wenn man mit einer Schule rechnet, in der die-
ses Werk verfasst und überarbeitet wurde.
Eine originelle Sicht vertritt KRATZ. Eine Grundschrift, die auf 2Sam–2Kön
aufbaut und mit einer Liste der 12 Söhne Israels und einer Davidsgenealogie
einsetzt, wurde später in einem langen Prozess erweitert und mit Sondergut
ergänzt, und zwar in einer doppelten hermeneutischen Bewegung: einerseits als
Auslegung der übernommenen Quellen, andererseits als Selbstauslegung.
Die elaborierteste These vertritt STEINS. Er rechnet mit einer Grundschrift,
zwei Bearbeitungen und späteren punktuellen Erweiterungen. Während in der
ersten Bearbeitungsschicht zunächst die Leviten im Vordergrund des Interesses
stehen, verschiebt sich dieses später auf eine Unterabteilung, nämlich die Musi-
ker und ihre Klassen und schließlich auf die Leitungsfunktionen innehabenden
Musiker und Torwächter. In der zweiten Bearbeitung dominiert der ‫ ָקהָל‬, die
Gemeinde (zusammen mit ihren Oberen), die sich zusammen mit dem König
um den Kult kümmern. In ihr erfolgt auch eine Angleichung der Hiskija- und
Josijageschichten aneinander. Die späteren Ergänzungen betreffen vor allem
kultrechtliche Detailfragen; zu ihnen rechnet Steins auch 1Chr 27 (Heerführer
Davids).
XII. Chronik 591

Zur zeitlichen Ansetzung der Chronik: Die von CROSS favorisierte Frühanset-
zung wird kaum mehr vertreten. Die Datierungen schwanken zwischen 400
v. Chr., also der spätachämenidischen und der frühmakkabäischen Zeit.
Harte Datierungskriterien enthält die Chronik selbst kaum. Der Chronist
versucht klassisches, „biblisches“ Hebräisch zu schreiben, respektive das, was er
dafür hält; häufig unterlaufen ihm dabei jedoch „Fehler“; er verfällt dann in das
zu seiner Zeit geläufige Idiom, das u. a. der Verfasser von Kohelet selbstverständ-
lich verwendet. Das Fehlen persischer und vor allem griechischer Fremd- oder
Lehnwörter darf nicht als Datierungskriterium verwendet werden; der Chronist
dürfte sie bewusst meiden.
Die achämenidische Münze Dareike (1Chr 29,7) wurde frühestens 515 v. Chr.
eingeführt, war aber noch in hellenistischer Zeit in Umlauf – und scheidet aus
diesen Gründen als Hinweis auf die Abfassung der Chronik in achämenidischer
Zeit aus.
Weiche Datierungskriterien enthält die Chronik deutlich mehr. Sie zeichnet
sich durch eine außerordentlich hohe Zahl an Schriftzitaten (und Anspielungen)
aus, die ihr Verfasser nicht nur seinen Hauptquellen, 2Sam–2Kön, sondern einer
Vielzahl alttestamentlicher Bücher entnimmt. Er verfügt ganz selbstverständlich
über sie; passende Stellen liegen ihm immer zur Hand, wenn er sie braucht. Sein
Werk verrät zumindest ein einsetzendes Kanonsbewusstsein, wenn nicht mehr.
Die Art seiner Schriftverwendung berührt sich gelegentlich mit den hermeneuti-
schen Regeln, welche die Rabbiner bei der Toraauslegung anwandten. Vor allem
gelingt es ihm, sich – scheinbar – widersprechende Schriftstellen glaubhaft mit-
einander auszugleichen. Spektakulärstes Beispiel: Ex 12,8f. verlangt, das Passa-
lamm am Feuer zu braten, Dtn 16,7 dagegen gebietet, es zu kochen. Der Chronist
harmonisiert in 2Chr 35,13 durch Addition: „Und sie brieten das Passa nach der
Vorschrift im Feuer, und das Heilige kochten sie in Kesseln.“ So gut es geht,
versucht der Chronist, seinen Quellen, auf die er sich stützt, nicht fundamental
zu widersprechen; er meistert diese Herausforderung mit Bravour. Er „korri-
giert“ seine Quellen stärker durch Weglassung oder Einfügung von Textpassagen
als durch andere Verfahren. Diese Art des Schriftumgangs, die einen hohen Grad
an Technizität aufweist, widerrät einer allzu frühen Datierung der Chronik. Sie
erweist sie auch als „Literatur von Schriftgelehrten für Schriftgelehrte“.
MATHYS versucht den Nachweis, dass die beiden Chronikbücher stark vom
hellenistischen Zeitgeist geprägt sind, zwar dessen Philosophie vehement be-
kämpfen, aber viel Zivilisatorisches aus dieser Epoche übernehmen und den
davididischen Königen zuschreiben. So macht der Chronist König Usia zum Er-
finder der Katapulte (2Chr 26,9), die Alexander (in großer Zahl) bei der Er-
oberung von Tyrus einsetze und die man in Jerusalem von daher kannte. MATHYS
versteht die Chronik als Pendant zu den Werken von Manetho, Hekataios auf
der einen und Berossos auf der anderen Seite, die sogenannte „Nationalge-
schichtsschreibungen“ verfassten, in denen sie die These aufstellten, der Ur-
sprung der Kultur / Zivilisation liege bei den Ägyptern, respektive den Babylo-
niern. Damit versuchten diese Historiker auch den Nachweis zu erbringen, dass
592 E. Die Ketubim

die Ptolemäer, respektive die Seleukiden über den besseren Teil des nach seinem
Tode auseinandergefallenen Alexanderreiches regierten. Die Chronik bildet eine
vergleichbare Nationalgeschichte, in der Israel allerdings nicht für sich bean-
sprucht, der Ursprung der menschlichen Zivilisation zu, aber das Ziel des Han-
delns Gottes. Sie ist (auch) der kleine(re) Bruder von Manetho, Hekataios und
Berossos – ob als Reaktion auf sie entstanden oder nicht, muss offenbleiben.
In eine ähnliche Richtung weisen die Untersuchungen von WELTEN. Im chro-
nistischen Sondergut findet er nur wenig historisch zuverlässiges Material, so
unter anderem den Hinweis auf den Tunnelbau des Hiskija (2Chr 32,30) und
eine Festungsliste Rehabeams (2Chr 11,5–12). Ein Großteil der Bauberichte so-
wie der Notizen über die Heeresverfassung weisen nach ihm in hellenistische
Zeit, insbesondere in die Zeit der Auseinandersetzungen zwischen Ptolemäern
und Seleukiden: sie spiegeln zeitgenössische Ereignisse und Zustände. Die vier
Kriegsberichte, die zum chronistischen Sondergut gehören (2Chr 13,3–20; 14,8–
14; 20,1–30; 26,6–8), spielen in vier eng umgrenzten geographischen Räumen –
die mit denen identisch sind, aus denen sich die Gegner Jehuds in nachexilischer
Zeit rekrutierten. Der Chronist steigert diese Auseinandersetzungen jedoch zu
„Weltkriegen“ – ein Vorgang, der zudem die Existenz hellenistischer Massen-
heere voraussetzt (KAISER).
Viel Platz nimmt – in Unterschied zu ihren Quellen – in der Chronik die
Wirtschaft/Landwirtschaft ein. Darin spiegelt sich nach MATHYS die hohe Be-
deutung wider, welche bei den Ptolemäern die Wirtschaft besaß.
Das Gebet Davids in 1Chr 29, in dem der König mit Nachdruck alles Gott
zuweist, versteht er als Rückweisung des Herrscherkultes, der mit Alexander dem
Großen einsetzte und dann insbesondere bei den Ptolemäern einen gewaltigen
Aufschwung nahm. Auch eine hellenistische Figur ist David als der Euergetes
(Wohltäter), der aus seinem Privateigentum zum Tempelbau beiträgt.
Wesentlich später setzt STEINS die Chronik an: Die Kriegsberichte aus dem
Sondergut zeigen, wie stark die in der Makkabäerzeit ausgelösten Erschütterun-
gen waren, die Reformberichte enthalten indirekt eine Rückweisung allen helle-
nistischen Wesens und den Aufruf, sich auf die eigenen Traditionen zu besinnen.
In die gleiche Richtung, und also in die makkabäische Zeit, weisen die kanoni-
schen Ansätze in seinem Werk.
Über den Autor (die Autoren) der Chronik lässt sich nur wenig Sicheres sa-
gen. Er stammt aus schriftgelehrtem Milieu. Man sucht ihn gerne unter den Le-
viten, da die Chronik diese im allgemeinen positiver beurteilt als die Priester.

6. Zentrale Inhalte

Die Chronik weist einige sehr charakteristische Theologumena auf. Sie unter-
schlägt zwar den Exodus nicht, geht aber nur sporadisch und beiläufig auf ihn
ein. So kann fast der Eindruck entstehen, dass Israel im Lande Kanaan autoch-
thon war.
XII. Chronik 593

Im Zentrum des chronistischen Interesses steht das Königtum der Davididen.


Genau genommen ist es allerdings nur das Jahwes (Theokratie), das die Davidi-
den ausüben (Ähnliches trifft auf die Tora zu: Sie ist die Jahwes, Mose nur ihr
Vermittler). Juda ist der durch Jahwe legitimierte Staat, das Nordreich Israel ist
das nicht. Auf ihn geht der Chronist denn auch nur da ein, wo sich seine Ge-
schichte mit der Judas berührt. In achämenidischer Zeit beginnen sich die Span-
nungen zwischen Jerusalem und den Samaritanern zu verschärfen. Der Chronist
steht diesen – als Individuen! – jedoch nicht feindlich gegenüber, sondern schlägt
ihnen gegenüber einen geradezu werbenden Ton an; Leute aus dem Norden
dürfen jederzeit am legitimen Jahwekult teilnehmen. Gelegentlich verhalten sie
sich vorbildlich – vorbildlicher als die Judäer (2Chr 28). Anders als früher gerne
angenommen, bezeugt die Chronik nicht das vollzogene samaritanische Schisma;
die endgültige Trennung zwischen Jerusalem und Samaria fand erst später statt.
Die Tora setzt der Chronist ganz selbstverständlich voraus. Immerhin nimmt
er noch eine wichtige Ergänzung vor, lässt er David doch Ordnungen für die
Kultmusik erlassen, die ihm stark am Herzen liegt (1Chr 16) und zu deren
Patron er wird; sie besitzen jedoch nicht die Würde von ‫תּוֹר ֹת‬.
Die Chronik wirkt ausgesprochen „demokratisch“. Häufig handeln die Könige
zusammen mit dem Volk und dessen Führern. Dieses ihr Zusammenwirken
verdankt sich dem Bemühen des Chronisten, seine Quellen mit der Realität der
Gegenwart in Übereinstimmung zu bringen – sie widersprechen sich über weite
Strecken: Aus den Vorlagen übernimmt er die Könige, die handeln, ihnen fügt er
das Volk und dessen Führer hinzu, die zu seiner Zeit das Sagen haben.
Den auffälligsten Zug in der Theologie des Chronisten bildet seine „Ge-
schichtsphilosophie“, das Vergeltungsdogma: Wer gut handelt, wird belohnt, wer
sich schlecht verhält, den ereilt die gerechte Strafe; aus der umgekehrten Per-
spektive formuliert: Wem es gut geht, der hat auch gut gehandelt, schlechtes
Ergehen weist auf vorangegangene Sünde hin. Es gilt also nicht: „Die Söhne ha-
ben saure Trauben gegessen, und uns werden die Zähne davon stumpf“. Das
Vergeltungsdogma führt der Chronist konsequent durch, was ihn häufig dazu
zwingt, seine Quellen zu überarbeiten. Er tut das so, dass er ihnen nicht offen
widerspricht. Das beste Beispiel dafür bildet König Manasse, der in 2Kön 21 als
gottlosester König gilt, der je gelebt hat, aber – bildlich gesprochen – friedlich im
Bett starb, für seine Sünden nicht büssen musste. Diese Vorgaben übernimmt der
Chronist integral, aber er zerschneidet die Vorlage aus dem Königsbuch: König
Manasse wird wegen seiner Sünden bestraft und von den Assyrern nach Babel
deportiert. Da er sich dort jedoch zu Jahwe bekehrt, darf er nach Jerusalem zu-
rückkehren und weiterregieren – und schließlich friedlich sterben (einen be-
kehrten Sünder hat Gott gern). Im Bericht von der Deportation Manasses nach
Babel liegt keine vertrauenswürdige Quelle, d. h. Sondergut, vor, welche histo-
risch ausgewertet werden darf.
594 E. Die Ketubim

7. Literarischer Charakter

Die Chronik ist tertiäre Geschichtsschreibung (im Unterschied zur deuterono-


mistischen, die sekundäre ist, und auf primärer, d. h. Originalquellen, beruht);
vor allem ist sie in ausgesprochen starkem Maße Auslegungsliteratur (der erste
„biblische“ Kommentar), wobei man mit WILLI grob zwischen „Redaktion“ und
„Interpretation“ unterscheiden kann. Die Redaktion zerfällt in (1) orthographi-
sche und grammatische Abänderungen, (2) kleinere Auslassungen und Kürzun-
gen, (3) verdeutlichende Zusätze und Änderungen, die Interpretation in (4)
Adaption, (5) theologische Modifikationen, (6) Rezension, (7) Typologie, (8)
glossierende Elemente. Beispiele zu den acht Kategorien (Zählung von der WILLIs
abweichend): 1. Der Chronist bevorzugt die Form der Eigennamen mit -jahu
(gegenüber -jah) und archaisiert damit künstlich. 2. In der Chronik fehlt der
Bericht vom Palastbau (1Kön 7,1–12); es bestünde sonst die Gefahr, dass der
Tempel in den Schatten des Palastes träte. 3. Der Chronist spezifiziert, indivi-
dualisiert und historisiert: In 2Chr 23,10 wird gegenüber der Vorlage die Waffe
genannt: „Spieß“. Individualisierung: Statt „sie“ o. ä. findet sich etwa „Juda und
Jerusalem“, überhaupt erhalten Einzelne, Familien und Völker Namen. Beson-
ders deutlich wird dies in den Quellenverweisen. 4. Der Chronist streicht in 1Chr
15,29 die Information, wonach David vor dem Herrn tanzte. Er stärkt die Rolle
der Leviten und fügt sie auch dort ein, wo sie ursprünglich fehlen – wohl eine
Anpassung an ihre gewachsene Bedeutung am zweiten Tempel. 5. Der Chronist
konkretisiert den „Wandel vor mir“ als „Wandel in meiner Tora“. 6. Der Chro-
nist orientiert sich eng an vorliegender Schrift und „normalisiert“ Geschichtsbe-
richte. In 1Chr 17,1.10 fehlt gegenüber der Vorlage die „Ruhe“ unter David.
Damit vermeidet er es, zum möglichen Widerspruch zwischen 2Sam 7,1.11 und
1Kön 5,17 Stellung beziehen zu müssen, und nimmt die Aussage ernst, wonach
erst der Friedenskönig Salomo den Tempel errichten konnte (1Chr 22,9; 2Chr
5,1; 8,16). 7. Die Notiz, wonach bei der Einweihung des Tempels dieser von einer
Wolke erfüllt wurde (2Chr 5,13), ist Ex 40,34f. (Stiftshütte) nachempfunden.
Jakob heißt – gut biblisch – in der Chronik immer Israel, weil er für das (ganze)
Volk steht. 8. 1Chr 17,13 („Meine Gnade aber werde ich nicht von ihm weichen
lassen, wie ich sie von dem habe weichen lassen, der vor dir war“) enthält die
Begründung dafür, warum 1Chr 10 (Das Ende Sauls) vom Chronisten in sein
Werk aufgenommen worden ist.

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