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Analyse

Arthur Schnitzler: Anatol


1893 wurde von dem dreißigjährigen Wiener, Arthur Schnitzler ein Einakterzyklus
veröffentlicht. Obwohl ihm der Durchbruch als Dramatiker in Wien und Berlin erst mit Liebelei
(1895) gelang, ist das Stück Anatol ein wichtiges Werk, das unter anderem dazu diente, dass
Schnitzler einer der erfolgreichsten Dramatiker seiner Zeit ist.
Das Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Wien war ein Synonym für kulturelle Entwicklung,
nicht nur in der Literatur. Es gab schnelle Veränderungen und Instabilität, die frühere Gedanken
und Überzeugungen wurden verleugnet, und die Bewohner der Stadt Wien wurden von neuen
Ideen und Theorien beeinflusst. Die moderne Literatur repräsentierten Schriftsteller von Junge
Wien, unter anderem Hugo von Hoffmanstahl, Felix Salten, Richard Beer-Hofmann, und natürlich
Arthur Schnitzler.
Schnitzler ist im Jahre 1862 in Wien, in einer jüdischen Familie geboren. Sein Vater war
Arzt, so besuchte er das Akademische Gymnasium und studierte Medizin. Er arbeitete an der
Zeitschrift Internationale Klinische Rundschau mit und interessierte sich schon früh für
Psychologie, und arbeitete als Sekundararzt bei dem Psychiater Theodor Meynert, und er setzte
Hypnose und Suggestion experimentell ein.
Anschließend war er Assistent und Sekundararzt im Wiener Allgemeinen Krankenhaus und später
Assistent seines Vaters an der Poliklinik. Danach eröffnete er eine Privatpraxis, die er mit
zunehmender literarischer Tätigkeit immer mehr einschränken musste, aber nie ganz aufgab. Nach
der Trennung von seiner Frau Olga erzog Schnitzler seinen Sohn Heinrich und seine Tochter Lili
allein. Lilis Selbstmord im Jahre 1928 erschütterte ihn tief. Er starb drei Jahre später an den
Folgen eines Gehirnschlags.
Schnitzler wird häufig als literarisches Pendant von Sigmund Freud bezeichnet. In seinen Dramen
und Novellen, die oft revolutionäre Erzähltechnik des 'Inneren Monologs' verwenden, bringt
Schnitzler das Unterbewusstsein seiner Figuren unmittelbar und drastisch zum Vorschein. Der
Einfluss von Philosophie ist in seinem Drama Anatol ebenfalls erkennbar.
Zuerst ist es aber mehr wichtiger, die grundlegenden Informationen über das Werk zu
erwähnen. Nämlich Anatol ist kein klassisches monolithisches Drama, sondern hat eine offene
Dramenform. Der Begriff wurde in dem 18. Jahrhundert von Lenz eingeführt, und für diese Form
ist die Verneigung des 3 Einheiten-Modells von Aristoteles charakteristisch: die Einheit von Ort,
Zeit und Handlung wird von mehreren Handlungen und Episoden aufgelöst. Die Kohäsion mit den
großen Zeit- und Ortsprünge wird durch die Figuren, meistens durch die Hauptcharaktere
geleistet. Anatol ist ein Einaktenzyklus, ein Zyklus von verschiedenen Episoden, die inhaltlich
kaum zusammenhängen. Durch die Figurenkonstellation von Anatol und Max kann man den Text
als eine Einheit bezeichnen. Das Drama enthält fragmentarische Ausschnitte aus dem Leben von
Anatol, wie Frage an das Schicksal, Weihnachtseinkäufe, Episode, Denksteine, Abschiedssouper,
Agonie und Anatols Hochzeitsmorgen. Durch die zyklische Struktur des Werkes wird der Leerlauf
dekadenter Lebensführung von Schnitzler sinnfällig gestaltet; von teilnehmender Beobachtung
und demaskierender Wirkungsabsicht ist die Beziehung des Autors zu seiner Titelfigur geprägt.
Den dramatischen Szenen wurde ein „Prolog zum Buche Anatol“ vorangestellt, als dessen
Verfasser, Loris zeichnete. Diese Verse zeigen in ihrer präzisen Bildersprache die zarte und
konventionelle Empfindungskultur Anatols. Hinter diesem Pseudonym verbarg sich der
achtzehnjährige Gymnasiast Hugo von Hoffmanstahl. Seitdem sind Prolog und dramatische
Szenenfolge immer wieder zusammen veröffentlicht.
Dem dramatischen Zyklus liegt immer dieselbe Situation zugrunde: Anatol, der sich als
„leichtsinnigen Melancholiker“ bezeichnet, führt Gespräche mit seinem Freund Max und mit
verschiedenen Frauen. Die Frauengestalten werden variiert, als eine Verkörperung von „ Liebe
ohne das Bedürfnis der Treue”.
Anatol ist ein Frauenheld, der nicht treu sein kann, er gerät von einer Beziehung in die nächste.
Das Gestern ist tot für ihn, das Morgen unvorstellbar, er lebt von Augenblick zum Augenblick.
Anatol ist gefesselt von der unbewältigten Vergangenheit, steht unter dem selbst auferlegten
Druck der Gegenwart und hat keine Ahnung von seiner Zukunft. Er hat keine Vorstellung von
Zeit: „Weiss man denn überhaupt im Herbst, wem man zu Weihnachten etwas schenken wird?“
Nur die Leere zwischen den Augenblicken bedroht ihn. Seine Erlebnisse und Gedanken kreisen
um die Liebe. Wahrheit und Lüge, Erkenntnis und Illusion sind Begriffe, die immer wiederkehren.
Anatol sehnt sich nach Liebe, aber er lebt zugleich in einer inneren Vereinsamung. Es gibt Schein
eines unendlichen, niemals abschließbaren Daseins im Drama. Ständiger Wechsel von Illusion und
Desillusion kennzeichnen die Anatol-Szenen. Herbst und Abend sind seine Zeiten, sein Leben
zerrinnt in der Dämmerung. Gerhardt Baumann schreibt über Anatol: „Das ganze lässt sich
verstehen als ein fortwährendes Ausweichen vor dem eigenen Bewusstsein, als eine Verdrängung
des Wissens um die Wiederholung, als Flüchtigkeit und Flucht vor dem Alter.” Mit der Spannung
zwischen Betrug und Selbstbetrug, aus der Mischung von Sein und Schein bekommt die Gestalt
aber trotzdem komödienhafte Züge.
Wie es schon erwähnt wurde, war Schnitzler als Arzt und Schriftsteller von seinem
Interesse an die Seelenforschung geleitet. Er antizipiert in seinen frühen Werken
psychoanalytische Erkenntnisse und eröffnete so der Darstellung individueller und
gesellschaftlicher Zustände neue Wege. Schon im ersten Akt hypnotisiert Anatol seine Geliebte
Cora, um etwas über ihre Treue zu erfahren. Er selbst vertritt die These, dass eine Frau - Liebe hin
oder her - schon aus ihrer Natur heraus nie treu sein kann. Er fürchtet vor der Wahrheit und
bezweifelt die Verständlichkeit der Frage, so stellt er schließlich die Frage nicht. Damit hat Anatol
seine Gelegenheit zur "Frage an das Schicksal" verspielt: Cora stellt klar, dass sie sich nie wieder
hypnotisieren lassen wird. Sie wird impressionistisch, Anatol selbst hingegen als ein vom
Impressionismus gebrochener Typ dargestellt. Da die Szenen eine dominierende
Wiederholungstendenz haben, finden wir Spuren des Impressionismus auch in dem Akt
Weihnachtseinkäufe. In dieser Episode findet man aber einen der wichtigsten Charaktere von
Impressionismus, und Reflexion und Eindrücke des Autors sind ebenso wichtig, oder wichtiger,
als die Gegenstände selbst. In diesem Akt ist die Art und Weise des Sehens wichtig, nicht nur die
Gegenstände selbst: „Also ich am Klavier. Sie – zu meinen Füßen, so dass ich das Pedal nicht
greifen konnte. Ihr Kopf liegt in meinem Schoss, und ihre verwirrten Haare funkeln grün und rot
von der Ampel. Ich phantasiere auf dem Flügel, aber nur mit der linken Hand; meine rechte hat
sie an ihre Lippen gedrückt.“
Im zweiten Akt führt Anatol einen Dialog mit seiner ehemaligen Geliebten. Der Dialog, der sich
nun zwischen ihr und Anatol entwickelt, stellt das einfache, natürliche Leben in der Vorstadt dem
künstlichen, unverbindlichen Leben des Bürgertums in Wien gegenüber. Gabriele, ein Produkt
dieser "großen Welt" schaut mit Verachtung auf die "kleine Welt" herunter, in die Anatol sich
durch seine Liebschaft flüchtet. Der Grund für die Flucht ist seine Sehnsucht nach festen Werten
wie Wahrheit und reine Liebe, die er in der "großen Welt" mit ihrem unverbindlichen Liebesspiel
nicht finden konnte. Anatol erscheint hier ausgewechselt. Hier ist er nicht mehr der Augenblicks-
Mensch, sondern er nennt sich als „leichtsinniger Melancholiker“. Seine Melancholie rührt daher,
dass er über das Typische in aller Einzigartigkeit und über das Heute aller Ewigkeit weiß.
Interessant ist es, dass je bürgerlicher oder städtischer die Frauen sind, desto problematischer ist
die Beziehung für Anatol. Kleinbürgerliche Frauen bedeuten für ihn Vergnügen, sozial höher
gestellte Frauen bringen ihn bis zur Verzweiflung. Zum Beispiel verkehren Bianca und Annie
Anatols „Wahrheiten“ (Kunst und Schauspiel wird Spiel mit Illusion und Realität), Cora und Ilona
aus der Vorstadt stehen Anatol relativ vertrauensvoll, entspannt gegenüber, Else und Emilie (aus
höherer Schicht) stehen Anatol eher vernünftig, realistisch, kritisch gegenüber. Gabriele aus der
Stadt, aus Anatols Vergangenheit erscheint distanziert und realistisch. Diese Erscheinung hängt
bestimmt mit dem sozialen Zustand der Gesellschaft um Jahrhundertwende zusammen. Damals
war die Assimilation des Bürgertums und der höheren, adeligen Schichten unvorstellbar, die
Bürger waren nicht an der Macht und hatten Angst davor, dass sie die Macht verlieren.
Der Begriff Entindividualisierung charakterisiert die Beziehung von Anatol und die Frauen. Die
Beziehung und die Machthierarchie zwischen Anatol und die Frauen werden im dritten Akt
bestimmt. Wenn er Bianca ein „armes Kind“ nennt, betont er, dass er stärker ist, als die Frauen.
Natürlich wird aber diese Illusion wieder „desillusionisiert“, wenn Bianca Max besucht. Die
Schwäche von Anatol wird klar, und die ganze Hierarchie wird umgekehrt.
Für Anatol geht es nicht um die Frauen als Individuen, sondern um das Erlebnis und die
Erfahrung, die er dadurch hat: „O nein. Jedes Päckchen trägt irgendeine Aufschrift: Einen Vers,
ein Wort, eine Bemerkung, die mir das ganze Erlebnis in die Erinnerung zurückrufen. Niemands
Namen – denn Marie oder Anna könnte schließlich jede heißen.“
Man könnte sagen, es geht im Anatol-Zyklus um nur eine Person (Anatol), und alle anderen
Personen dienen als Requisite zu seiner Reflexion. Genau gesagt ist aber nicht er selbst, der sich
einen Spiegel vorhält, sondern sein Leben. Anatols Introvertiertheit, und sein impressionistischer
Charakter führen zur Flucht aus der Verantwortung in den zeitlosen Augenblick. In diesen
Momenten lässt sich Anatol fallen, doch diese Entspannung bezieht sich nicht auf seine
persönliche Handlungsweise, die von fremdbestimmten Erwartungen und gesellschaftlichen
Normen gemischt wird. Anatol gibt die Verantwortung ab und stürzt sich in eine allgemeine Rolle,
deren Spiel er tragischerweise nicht beherrscht. Illusion und Desillusion wechseln sich laufend ab,
während seine Identität zerfällt.
Die dominierende Widerspruchstendenz basiert auf Anatol selbst. Er lebt in Illusion aber kennt die
Wahrheit auch. Deshalb kommt es immer wiederkehrend vor, dass er die Sachen begrifflich nicht
begreifen kann. Als Beispiel könnte man wieder den ersten Akt hervorheben: „Treu! Wie heißt
das eigentlich: Treu? Denke dir… sie ist gestern in einem Eisenbahnwaggon gefahren, und ein
gegenübersitzender Herr berührte mit seinem Fuße die Spitze des ihren. Jetzt, mit diesem
eigentümlichen, durch den Schlafzustand ins Unendliche gesteigerten Auffassungsvermögen, in
dieser verfeinerten Empfindungsfähigkeit, wie sie ein Medium zweifellos in der Hypnose besitzt,
ist es gar nicht ausgeschlossen, dass sie auch das schon als einen Treubruch ansieht.“ Diese
Tendenz zeigt den Einfluss der Philosophie von Ernst Macht, die sagt, dass es kein einheitliches
Ich gibt, weil das menschliche Subjekt aus Eindrücken besteht.
Wichtig ist noch, den Charakter von Max ein bisschen zu analysieren. Nämlich Max ist der genaue
Gegenteil von Anatol, er ist überlegt und vernünftig. Er verkörpert die Rationalität, und dadurch
die Ideologie des Bürgertums um die Jahrhundertwende. Er steht Anatol immer mit gutem Rat bei
Seite und ist immer für ihn da. So ergänzen sie einander wie Tag und Nacht, und leisten die
Kohäsion und Zusammenhang zwischen den Episoden.
In den Szenen von Anatol gibt es keinen kritisierenden Erzähler. Dennoch finden wir
gewisse Kritik und zwar von Schnitzler selbst. In manchmal ironischer, manchmal komischer und
fast lächerlicher Weise lehrt Schnitzler Anatol, dass er nicht immer ganz so frei, leichtsinnig und
genussorientiert sein kann, wie er sich das vorstellt. Tragischer als das einfache Scheitern ist
allerdings die Tatsache, dass er nicht etwa an einem eifersüchtigen Gatten einer Geliebten oder an
seiner Gesundheit scheitert, sondern an sich selbst.

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