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Antiklerikalismus
(946 words)

1. Mittelalter und Frühe Neuzeit


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Schon im MA und in der Frühen Nz. lässt sich sowohl bei
1. Mittelalter und Frühe
den gebildeten Ständen als auch in den diversen
Neuzeit
Sozialgruppen des »gemeinen Volkes« harte Kritik an den
Klerikern beobachten (Geistliche). Aus religiösen 2. Au lärung bis Moderne
Gründen, um des wahren Glaubens willen, warf man den
»Mönchen« und »Pfa fen« Doppelmoral, Herrschsucht,
Habgier und Wollust vor. Der Reichtum zahlreicher Klöster, das von Nahrungssorge
unberührte, nicht steuerp ichtige, daher vergleichsweise bequeme und nicht selten luxuriöse
Leben vieler Inhaber von Pfründen und die vielfältigen symbolischen Praktiken einer
Unterwerfung der Gläubigen unter die Autorität des Klerus im Namen der Kirche waren einige
der sog. Gravamina, der im 15. Jh. auch politisch artikulierten Reformanliegen im Alten Reich.

Die Reformation verstärkte dieses Anliegen in weitverbreiteten volkssprachlichen Traktaten


und zahlreichen illustrierten Flugschriften; auch M. Luther verfasste Pamphlete gegen Bischöfe
und den Papst (Papsttum). Dieser antiklerikale Protest erhielt jedoch eine neue, nicht bloß
moralische, sondern religiöse Legitimität in der reformatorischen Entdeckung eines
»Priestertums aller Gläubigen«; entsprechend nahmen die Bibelübersetzungen und
Katechismen an Bedeutung zu; die grundlegenden kirchlichen Reformen schlossen nun den
rituellen Bereich ein und machten auch den Laien z. B. den Abendmahlskelch zugänglich
(Sakramente). V. a. aber scha fte die Reformation durchweg die religiöse Basis eines
privilegierten Klerus, die Priesterweihe, ab.

Der neue protest. Pfarrerstand (Pfarramt) de nierte sich primär über Bildungsideale und ein
sehr hohes, dominant asketisches Professionsethos, während das Konzil von Trient (sessio
XXIII, 1563) das kath. Weihepriestertum und seine religiöse Überlegenheit über den Laienstand
erneuerte. Trotz der Reformen im Gefolge des Konzils, die auch den Klerus betrafen, gewann
daher der A. in den kath. Ländern und Gegenden Europas insgesamt ein sehr viel größeres
Gewicht als in den protest. geprägten Territorien.

Friedrich Wilhelm Graf /


2. Au lärung bis Moderne

Die Religions-, Christentums- und Kirchenkritik vieler Au lärer (Au lärung), v. a. in
Frankreich (prominent Voltaire) und in Großbritannien ( D. Hume), sowie der um der Freiheit
der Bürger willen forcierte ideenpolitische Kampf gegen klerikale Fremdbestimmung von
Kultur und politischem Gemeinwesen ließen seit dem 18. Jh. einen neuen A. entstehen. Er
spielte nicht mehr die christl. Moral (Ethik) gegen eine korrupte »Klerisei« aus, sondern warf
auf der Grundlage spezi sch moderner Wissenskonzepte v. a. den röm.-kath. Klerikern geistige
Inferiorität und dumpfe Borniertheit, den Jesuiten auch politische Unterwanderung vor. Auch
im protest. Deutschland führte die au lärerische Kritik am kirchlichen Traditions- und
Deutungsmonopol zur Wiederbelebung der These vom »Priesterbetrug« ( S. H. Reimarus).

Der neue A., der im revolutionären Frankreich der Jahre 1789–1801 zur Zerschlagung der
kirchlichen Strukturen zugunsten eines Kultes der Vernunft und zu blutiger Verfolgung des
Klerus führte, stützte sich auf die Garantiemacht von »autonomer Wissenschaft« (Wissen und
Wissensideale) sowie auf spezi sch au lärerische und dann bürgerlich-liberale
Wertorientierungen (Bürgerlichkeit). Die Entstehung eines Bildungsbürgertums war auch in
Deutschland nicht selten von antikirchlichen Ressentiments begleitet, z. B. bei J. W. Goethe.
Überdies wurde, inspiriert von den entstehenden Nationalismen (Nationalismus), den röm.-
kath. Klerikern eine internationalistische, die normativen Grundlagen des Staates und des
Volkes unterminierende Gesinnung vorgeworfen. Die Au ebung des Jesuitenordens, der schon
in einigen Staaten verboten war, durch den Papst (1774) stellte einen Versuch dar, dem
allgemeinen A. eine Spitze zu nehmen.

Häu g waren die Sprachen antiklerikalen Protests durch misogyne Geschlechtskodierungen


geprägt, so dass kath. Kleriker als unmännlich und weibisch galten (vgl. die Abb. bei
Androgynität), auch wenn sie gleichzeitig ideologischer wie sexueller Verführung ihres
weiblichen Publikums, machtsüchtiger Politisiererei und eitler Propagandarhetorik bezichtigt
wurden. Je mehr die röm.-kath. Kirche im 19. Jh. auf sozial-kulturelle Di ferenzierungsprozesse
durch »ultramontane«, d.h. in ihrer Orientierung streng am Vatikan ausgerichtete
Uniformierungszwänge (Ultramontanismus), durch abgrenzende Amtstheologie, durch
Behauptung der lehramtlichen Unfehlbarkeit des Papstes (Erstes Vatikanisches Konzil,
1869/70) sowie durch die Bildung kirchenzentrierter Sonderwelten und geschlossener Milieus
reagierte, desto mehr provozierte sie die antiklerikale Herrschaftskritik liberaler Eliten. Analog
reagierten in den protest. Gesellschaften Europas viele Bürger und Arbeiter auf einen neuen
protest., konfessionalistischen Klerikalismus, der dem Amtsträger grundlegenden
Autoritätsvorsprung von Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung gegenüber der
Gemeinde zuerkannte; die Folge hiervon waren forcierte Kirchenkritik, die Betonung der
»christl. Freiheit« des einzelnen Gläubigen auch gegenüber der Kirche und die Bildung von
Freikirchen oder freireligiösen Gemeinden.

Moderner A. lässt sich strukturell als Reaktion auf die dezidiert konservative
Selbstmodernisierung der kirchlichen Institutionen deuten; er ist bemüht, den Ein uss der
Kirchen bzw. ihres Personals auf die Gestaltung ö fentlichen Lebens zu reduzieren oder
/
gänzlich zu eliminieren. Inhaltlich kennzeichnend ist dabei die Kritik am »Missbrauch« der
Religion zu politischen Zwecken oder umgekehrt: am Bemühen, die Politik in den Dienst der
Kirche zu stellen. Gerade diese Argumentation trug nicht unwesentlich dazu bei, dass die
Kirche aus ihren traditionalen Bildungs- und Gesellschaftsinstitutionen bzw.
vollverantwortlichen Trägerschaften (insbes. bei Schulen und Krankenhäusern)
zurückgedrängt wurde.

Nach dem Kulturkampf, dem Au ommen des Laizismus und der ihm folgenden Trennung von
Kirche und Staat (in Frankreich 1905) wurde der Katholizismus gesellschaftlich isoliert. Es ist
au fällig, dass die Säkularisierung der Gesellschaften, die sich in protest. geprägten Regionen
grundsätzlich früher vollzog, keine antiklerikalen Elemente ausbildete, während im
Katholizismus nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) eine antiklerikale, d. h.
antiröm. Grundhaltung als Modus innerkath. Kirchenkritik nochmals an Bedeutung gewann.

Verwandte Artikel: Geistliche | Kirche und Staat | Pfarramt | Politik und Religion | Papsttum |
Priesteramt | Reformation

Friedrich Wilhelm Graf

Bibliography

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Graf, Friedrich Wilhelm, “Antiklerikalismus”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in
Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst
Poeschel Verlag GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_240174>
First published online: 2019

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