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TORSTEN BERGSTEN
BALTHASAR HUBMAIER
SCHOOL OF THEOLOGY
AT CLAREMONT
: Celtersie
ACTA UNIVERSITATIS UPSALIENSIS
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(BALTHASAR HUBMAIER_
SEINE STELLUNG ZU REFORMATION
UND TAUFERTUM
1521 - 1528
2)
j ad wir;
‘ ’ nn n 0
Vorwort .
Inhalt .
PROLEGOMENA
10
. Die Täuferreformation in Waldshut (April bis Juni 1525)
Die Erneuerung der Taufe 304 — Die Erneuerung des Abendmahles
311 — Hubmaier und die Schweizer Täufer 719
. Die Waldshuter Täuferkirche und die Reformation in Süddeutsch-
land und der Schweiz bis zur Niederlage Waldshuts (Juli bis De-
zember 1525) ee \ TE
Weitere Bemühungen um die Einheit und die kadiksle Reforma-
tion der Kirche 326 — Zunehmende kirchliche und politische Isolie-
rung 334 — Die Niederlage der Täuferreformation und die Re-
katholisierung Waldshuts 346
. Hubmaier und die Taufe au 599
Hubmaiers literarische Verteidigung 0 Gläubigentaufe 356 -
(Das Zeugnis der Heiligen Schrift; Zeugnisse der „alten“ Lehrer
über die Tuer Zeugnisse der neuen“ Lehrer über die Taufe) —
Hubmaiers und Zwinglis Auffassung von Taufe und Kirche 368
(Gemeinsamer Sakramentsbegriff; Zwinglis Auffassung von der
Taufe; Hubmaiers Auffassung von der Taufe)
. Hubmaier in Zürich und Augsburg (Dezember 1523 bis Juli 1526)
Der Widerruf in Zürich 383 (Der erste Widerruf; Der Vorfall im
Fraumünster; Der zweite Widerruf) — Hubmaier in Augsburg 395
. Die Täuferreformation in Nikolsburg (Juli 1526 bis Anfang 1527) 398
Die kirchliche Lage in Nikolsburg und Böhmen-Mähren vor Hub-
maier 398 — Die Täuferreformation in Nikolsburg 405 — Die letzten
Auseinandersetzungen zwischen Hubmaier und den schweizerischen
und deutschen Reformatoren 415
. Hubmaiers Stellung zu den kirchlichen Verhältnissen in Mähren
(Juli 1526 bis Anfang 1527) g ö
Die Utraquisten 424 — Dublansky Her die Hen er _ie
Böhmischen Brüder 429 — Die katholische Kirche 431
. Hubmaier und das süddeutsche Täufertum. Hubmaiers Ende
(1527 bis März 1528). a 436
Von der Freiheit des Willens 437 rer Pene von ie
Willensfreiheit; Hubmaier, Erasmus und Luther; Hubmaier und
Denck; Hubmaier und die Täufer in Augsburg) — Hubmaier und
Hut 451 (Das Nikolsburger Gespräch; Die Nikolsburger Artikel;
Vergleich zwischen Hubmaiers und Huts religiösen Auffassungen)
— Hubmaiers Ende 476
. Nachwirkungen von Hubmaiers Lebenswerk in der Zeit der Re-
formation und Gegenreformation
Mähren und Österreich 483 (Zeugnisse von es Täufer:
Katholische Polemik) — Deutschland 492 (Zeugnisse über Hub-
maier und die Schwertler; Katholische Polemik) — Schweiz 497
(Kaspar Waser über Hubmaier; Zeugnisse von Schweizer Täufern)
71
Quellenbeilagen
Akten zu den Verhandlungen zwischen Waldshut und Österreich
in Konstanz, 22. bis 26. Januar 1525
1. Waldshuts Antwort an den Schwäbischen Bund . ea 503
2. Waldshuts Bericht über die Verhandlungen in Konstanz . 508
12
Prolegomena
Unter den Täufern des ı6. Jahrhunderts nimmt der Reformator und Theo-
loge Dr. Balthasar Hubmaier eine Sonderstellung ein. Die unterschiedliche
Beurteilung, die seine Zeitgenossen und die Nachwelt ihm zukommen ließen,
ist nicht zuletzt auf die verschiedenen Auffassungen vom Täufertum zurück-
zuführen, die dem jeweiligen Urteil zugrundegelegt wurden. Für das rechte
Verständnis der Literatur über Hubmaier ist daher die Kenntnis der wissen-
schaftlichen Diskussion über die Täufer im allgemeinen unbedingt erforder-
lich. In der folgenden Übersicht über den Stand der Forschung können ledig-
lich bedeutende oder typische Arbeiten und Äußerungen aus der umfang-
reichen einschlägigen Literatur berücksichtigt werden. ! Eine Reihe von Pro-
blemkreisen der Täuferforschung sollen hier beleuchtet werden, die zwar
nicht scharf voneinander abgegrenzt werden können, durch welche jedoch
verschiedene Seiten der Bewegung in den Vordergrund gerückt werden.
14
Täufertum und Humanismus
Nach Ludwig Keller stand die Wiege des Täufertums in Basel, und er be-
trachtete folglich den Humanismus als eine Voraussetzung für das Aufkom-
men der Täuferbewegung.‘* Für diese These trat besonders Köhler ein, zu-
mal sie sich gut mit der Ansicht von der zwinglischen Herkunft der Täufer
verträgt. Nach Köhler war Erasmus wegen seines Bergpredigtchristentums
einer der geistigen Väter der Täufer. Der Moralismus, der Pazifismus, das
Interesse für die Toleranz und die spiritualistischen Neigungen der Täufer
seien alle auf Erasmus zurückzuführen. 1° Auch Leonhard von Muralt ver-
tritt die gleiche Anschauung und betont dazu, daß die späteren Täufer-
führer durch Erasmus die devotio-moderna-Frömmigkeit des ausgehenden
Mittelalters kennenlernten. 16 Die Täufer bekannten sich im allgemeinen
zur Freiheit des Willens, und nach Hans Hillerbrand beruhte das auf Ein-
wirkungen von Erasmus. !? Bender, der Grebels humanistischen Bildungs-
gang ausführlich dargelegt hat, bemüht sich dagegen, die Bedeutung des
humanistischen Einflusses auf Grebel und dessen Glaubensgenossen so ge-
ring wie möglich zu veranschlagen. Bender bezweifelt die These, daß die
Täufer einem moralistischen Bergpredigtchristentum huldigten. Was sie
jedoch wahrscheinlich von dem erasmischen Humanismus übernommen
hätten, sei die Auffassung, daß die Bibel, Gottes Wort, die Quelle des wah-
ren Glaubens sei. Nach Bender war der Pazifismus der Täufer biblischen
und nicht erasmischen Ursprungs. !$
Robert Kreider nimmt zwischen diesen beiden Ansichten einen ausglei-
chenden Standpunkt ein. Nach ihm hat der Humanismus zweifellos starken
Einfluß auf das Entstehen der Täuferbewegung ausgeübt, „not in specific
ideas and doctrines so much as in methods and attitudes“. Der Humanist
sei ein Gelehrter, dem es zunächst nur um Erkenntnis gehe, der Täufer aber
ein Jünger, ein Mensch der tätigen, das ganze Leben umfassenden Nach-
folge. 1% Emil Händiges sieht keine engere Verbindung zwischen Humanis-
mus und Täufertum, betontjedoch die formale wissenschaftliche Ausbildung,
die mehrere der frühen Täuferführer wie Grebel, Felix Mantz, Hubmaier
und Hans Denck dem Humanismus verdankten. ?°
17
Hillerbrands erwähnte Stellungnahme zu Holl ist ein Beispiel dafür, was
er selbst das Dilemma der gegenwärtigen Täuferforschung nennt: Die
Gebundenheit an die jeweiligen kirchlichen Traditionen ist nicht selten so
stark, daß man aus diesem Grunde zu verschiedenen Resultaten kommt
und aneinander vorbeiredet. 3°
Ernst Troeltsch bezeichnete das Täufertum als „Sekte“ und grenzte es da-
durch sowohl von der „Kirche“ als auch von dem individualistischen Spiri-
tualismus ab. Er stellte weiterhin fest, daß sich in ganz Mitteleuropa unter
dem Einfluß der Reformation ernste, weltabgeschiedene Christen zu Frei-
willigkeitsgemeinden zusammengeschlossen hätten. Die äußeren Kenn-
zeichen dieser Gemeinden seien die Spättaufe, die Forderung der Gemeinde-
zucht und der Freiheit von staatlichem und hierarchischem Zwang gewesen.
In stiller Duldung des Leidens und Unrechts hätten die Täufer von Eid,
Kriegsdienst und Todesstrafe Abstand genommen. Einen ersten vorzeitigen
Triumph habe durch die täuferischen Gemeindebildungen das „sektenhafte
Freikirchenprinzip“ erlebt, das der mittelalterlichen Idee von der staats-
kirchlichen Einheit der Gesellschaft schroff gegenüberstand. Es sei besonders
wichtig, daß dieses Täufertum sich auch nach England verzweigte. 3!
Troeltsch sah somit im Täufertum den Anfang des modernen protestan-
tischen Freikirchentums. Dieser Auffassung haben sich europäische Forscher
wie Blanke und Westin angeschlossen, 3? und wie Troeltsch hat auch Blanke
betont, daß die Täufer mit der mittelalterlichen Vorstellung des corpus
christianum brachen. 33 Troeltsch’ Beschreibung des Täufertums hat aber
vor allem in der neueren amerikanischen Forschung Anklang gefunden.
In einem bekannten Aufsatz hat Roland Bainton den Ausdruck The Left
Wing of the Reformation geprägt, als Sammelbegriff für Täufer, Spiritua-
listen und Sozinianer der Reformationszeit. Diese verschiedenen Richtungen
hatten nach Bainton vor allem die Forderung nach der Trennung von
Staat und Kirche gemeinsam. Andere Merkmale der Vertreter des „Linken
Flügels“ seien, daß sie die mangelhafte Auswirkung der lutherischen Refor-
18
mation auf die praktische Lebensführung ihrer Anhänger kritisierten und
gleichzeitig wünschten, das ursprüngliche Christentum wieder aufzurichten. 3
George Huntston Williams pflichtet im großen und ganzen dieser Charak-
teristik bei. Er meint aber, daß der Ausdruck „Left Wing“ weniger zutref-
fend sei, weil dadurch das Problem Staat-Kirche zu sehr in den Vordergrund
gerückt werde. Hubmaier und die Hutterischen Brüder, Müntzer und die
Münsterischen Täufer seien Beispiele dafür, daß man innerhalb des Linken
Flügels das Verhältnis zwischen Kirche, Staat und Gesellschaft auch anders
aufzufassen und zu gestalten vermochte als nach dem Prinzip „strict sepa-
ration of the church from temporal concern“. Williams schlägt statt dessen
den Terminus The Radical Reformation vor, der für ihn Täufer, Spiritua-
listen und evangelische Rationalisten umfaßt. Die Täuferbewegung unter-
teilt er weiter in drei Gruppen: die revolutionären (z. B. Müntzer), die
kontemplativen (z. B. Hans Denck) und die evangelischen Täufer (z. B.
Hubmaier, Michael Sattler, Menno Simons). 35
Nach Bainton war das Täufertum die erste religiöse Gemeinschaft, in der
drei Grundsätze verkündigt und praktiziert wurden, die heute im ameri-
kanischen Protestantismus als selbstverständlich und grundlegend gelten:
die Freiwilligkeitskirche, die Trennung der Kirche vom Staat und die Glau-
bensfreiheit.?° In Baintons Ausführungen ist auffallend, daß er nicht klar _
zwischen dem Linken Flügel und der Täuferbewegung der Reformations-
zeit unterscheidet; er beschreibt beide Erscheinungen weitgehend mit den
gleichen Ausdrücken. Lowell Zuck geht noch einen Schritt weiter, indem er
„Left Wing“ und ‚„‚Anabaptists“ zu gleichwertigen Begriffen erklärt; er gibt
aber selbst das Willkürliche eines solchen Sprachgebrauches zu. ?” Hier zeigt
sich eine amerikanische Parallele zu der Gleichsetzung von „Schwärmern“
und „Wiedertäufern“ in der deutsch-lutherischen Tradition und Forschung.
Ein wichtiger Unterschied liegt jedoch darin, daß die Bezeichnungen „Left
Wing“ und „Radical Reformation“ ausgesprochen positiveBedeutunghaben,
während der Begriff „Schwärmertum“ einen stark negativen Inhalt hat. In
_ der protestantischen Forschung Amerikas gelten die Täufer als die hervor-
ragendsten Vertreter der radikalen Reformation und Vorkämpfer eines
religiösen und kirchlichen Ideales, zu dem man sich selbst bekennt. Hier-
durch erklären sich die Würdigung und das Interesse, das die amerikanischen
Kirchengeschichtler den Täufern zukommen lassen.
34 Baınton 1941.
35 Wıruıams 1957, S. 198.
36 Baınton 1957, S. 317.
37 Zuck 1957, beachte S. 212.
19
Die Restitution des Urchristentums war nach Bainton das tiefste Anliegen
der Täufer, und es äußerte sich auch in einer strengen ethischen Forderung. °®
Franklin Littell hat den täuferischen Kirchenbegriff nach den von Bainton
gegebenen Richtlinien untersucht. Das Ergebnis hat er in dem Satz zusam-
mengefaßt, daß das vorherrschende Thema im Denken der Mehrheit der
Täufer „the recovery of the life and virtue of the Early Church“ gewesen
sei. Littell betont, daß die Täufer Vertreter eines aktiven Laienchristentums
waren und daß bei ihnen der Missionsgedanke so lebendig war wie in keiner
der offiziellen Reformationskirchen. Die Täufer seien unter den ersten ge-
wesen, die den großen Missionsauftrag als für alle Gemeindeglieder ver-
bindlich verkündigt hätten, wodurch sie zu Vorläufern der modernen Mis-
sionsbewegung geworden seien. °®
Man hat in der Forschung noch einen weiteren Versuch unternommen, das
Wesentliche des Täufertums auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen,
indem man es als eine revolutionäre Bewegung bezeichnete. Dabei ist man
mit Vorliebe von der These ausgegangen, daß Müntzer der Stammvater
aller Täufer war. Gegen Ennde seines Lebens zog der Prophet von Allstedt
revolutionäre Folgerungen aus seiner spiritualistischen Verkündigung der
radikalen Christusmystik und des unmittelbaren Geistesbesitzes. 0 Er wurde
zu einer der treibenden Kräfte im thüringischen Bauernaufstand. Zur glei-
chen Zeit, als der sogenannte deutsche Bauernkrieg in seine entscheidende
Phase eintrat, begann in Zürich die Taufbewegung, die sich bald bis nach
Süddeutschland, vor allem nach Waldshut ausdehnte. Dieses zeitliche Zu-
sammentreffen hatte zur Folge, daß man in der damaligen wie auch in
späterer Zeit den Täufern und nicht zuletzt Hubmaier die Schuld am
Bauernaufstand zugeschrieben hat. Luthers vernichtendes Urteil über die
„räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ wurde von ihm selbst,
von den Zeitgenossen und der Nachwelt auch auf die Täufer übertragen.
In Zwinglis Augen waren die Täufer Aufrührer, und von 1528 an fand die
38 Baınton 1953, S. 95 fi. Beachte die Ausdrücke bei Barton (1941, S. 127, 129)
„Christian primitivism“ und „restoration of primitive Christianity“.
39 LitteLL 1958, S. 79, 109, 112. Der Hauptteil von Littells Buch ist in folgende
drei Kapitel aufgegliedert: The Fall of the Church, The Restitution of the True
Church, The Great Commission.
40 In der folgenden Darstellung soll wiederholt auf Müntzer eingegangen werden.
20
Reichsgesetzgebung gegen Aufruhr in mehreren Reichstagsabschieden und
kaiserlichen Mandaten auf sie Anwendung. #1
PaulPeachey hat darauf hingewiesen, daß die seit der Reformation übliche
Verurteilung der angeblich revolutionären Täufer in der marxistischen Ge-
schichtsschreibung in ein Lob umgewandelt worden sei. Friedrich Engels
war der erste, der die Umwertung vornahm und die Täufer in den Rahmen
der Klassenkampfbewegung einordnete.*? Mit einer anderen Begründung
als der der sozialistischen Historiker hat Zuck den Standpunkt verfochten,
daß die gesamte Reformationsbewegung des 16. Jahrhunderts revolutionär
gewesen sei. Der Unterschied zwischen Luther und Zwingli einerseits und
den Täufern anderseits bestehe darin, daß den ersteren die Revolution
gelungen, während sie den letzteren mißglückt sei!#3
Die These, daß die Täufer die Urheber des deutschen Bauernkrieges seien,
ist energisch bestritten worden. Blanke hat geltend gemacht, daß das Täufer-
tum seinem Ursprung nach eine religiöse und keine soziale Erscheinung
war. Es habe als eine städtische Bewegung in Zürich begonnen, und auch
aus zeitlichen Gründen könne es nicht der Anstifter des Bauernaufstandes
gewesen sein. Dagegen hält Blanke es für wahrscheinlich, daß das Fehl-
schlagen der Bauernerhebung die Ausbreitung der Täuferbewegung be-
einflußte. **
Die letztgenannte Ansicht, die schon lange von führenden Forschern ver-
treten worden ist, 2° hat neuerdings Gerhard Zschäbitz aufgegriffen und in
marxistischem Sinne weiterentwickelt. Wie ihr Lehrmeister Müntzer seien
auch Hut und die pazifistischen Täufer, subjektiv gesehen, von denreligiösen
Überzeugungen ihrer Zeit bestimmt gewesen. Ihr Auftreten unmittelbar
nach dem Bauernkrieg habe sich jedoch als ein „objektiver Protest“ gegen
die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung ausgewirkt. „Huts subjek-
tiver Pazifismus darf über die objektive, obrigkeitsfeindliche Wirkung seiner
Lehre nicht hinwegtäuschen.“ 6 Als Beweis für die Richtigkeit dieser These
21
weist Zschäbitz auf die Tatsache hin, daß die Gegner auch den „passiven“
Typus des Täufertums als staatsfeindlich ansahen. 7 Zu dieser Interpretation
mag methodisch gesagt werden, daß in der vorliegenden Arbeit weder die
für die damalige Gesellschaft zweifellos gefährliche, „objektive“ Auswirkung
des Täufertums noch dessen kritische Beurteilung durch die Gegner im
Mittelpunkt des Interesses stehen sollen, sondern vielmehr das „Subjektive“,
Hubmaiers und der Täufer Glaubensauffassungen und die Art, wie sie ihr
eigenes Wirken verstanden.
Kein Ereignis hat stärkeren Einfluß auf die allgemeine Vorstellung vom
Täufertum ausgeübt als das apokalyptisch-revolutionäre Täuferregiment in
Münster und dessen Untergang 1534/35. In Joseph Lortz’ katholischem
Standardwerk über die Reformation in Deutschland beherrscht die Schilde-
rung des „Hexensabbats“ in Münster die Behandlung der „Schwärmer und
Wiedertäufer“ völlig.*® In seiner Monographie über die Täuferbewegung
weist der Sozialist Belfort Bax den Vorfällen in Münster eine ebenso zen-
trale Stellung zu wie Lortz, doch werden sie bei ihm positiv dargestellt als
Ausdruck der „Revolte gegen einen sterbenden Feudalismus“ im frühen
16. Jahrhundert. Diese sei von besonderem Interesse, da hinter der Empörung
Handwerker einer Stadt und nicht wie zehn Jahre zuvor hauptsächlich
Bauern gestanden hätten.“ Nach Zschäbitz war die Münster-Episode ein
letztes Aufbäumen der radikalen und revolutionären Kräfte in der täufe-
rischen Volksbewegung, die dann einerseits zu einer „Sekte“ erstarrt sei
und sich anderseits zu dem bürgerlichen Kapitalismus der Mennoniten ent-
wickelt habe. 50 Solcher einmal negativen und einmal positiven Überbe-
wertung der Geschehnisse in Münster steht die Auffassung gegenüber, daß
diese einen Einzelfall, eine Ausnahme darstellten. 5! Diese Ansicht wird da-
durch gestützt, daß die pazifistische Mehrheit der damaligen Täufer vom
Münsterschen Reich entschieden Abstand nahm.5? Es wäre eine wichtige
Aufgabe der Forschung, den Zusammenhang zwischen dem Anabaptismus
in Münster und der übrigen Täuferbewegung zu untersuchen. 53
22
Auch die Eigentumsgemeinschaft der mährischen Täufer ist als Vorstufe
zum modernen Sozialismus und Kommunismus betrachtet worden. Gegen
diese Theorie ist einzuwenden, daß es sich in der hutterischen Bruderschaft
um einen biblisch motivierten, religiösen „Liebeskommunismus“ handelte. 5
Diesen Ausdruck benutzt auch Lortz für den Quietismus der mährischen
Täufer im Gegensatz zum orgiastischen Radikalismus in Münster. 55
Nach der einen, hier angedeuteten Auffassung waren die Täufer gemein-
gefährliche Aufrührer, während sie nach einer anderen als Vorläufer des
Sozialismus und Bahnbrecher für eine politische Neuordnung der Gesell-
schaft angesehen werden.5® Keine der beiden Beurteilungen wird dem
eigentlichen, religiösen Anliegen der großen Schar der Täufer gerecht.
Das Täufertum
und die mittelalterlichen Reform- und Ketzerbewegungen
23
Forschung auf die Aufgabe hin, die Wurzeln des Täufertums in der Mystik
und den Sekten des Mittelalters genauer als bisher zu untersuchen. 6°
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die spätmittelalterliche devotio
moderna zweifellos durch Erasmus das Täufertum beeinflußte. Die Fröm-
migkeit des Mittelalters ist sicherlich auch in anderer Weise für das Auf-
kommen der Täuferbewegung von Bedeutung gewesen, womit nicht gesagt
sein soll, daß das Täufertum mittelalterlichen Ursprungs war, sondern ledig-
lich, daß es durch vorlaufende Reform- und Ketzerbewegungen vorbereitet
wurde.6! Diese notwendige Unterscheidung wird in der augenblicklichen
Diskussion jedoch nicht immer beachtet. Aus Zschäbitz’ Darstellung ist z.B.
nicht klar zu ersehen, wie weit sich der Einfluß auf die Täufer erstreckte,
den er den Waldensern und Hussiten zumißt. 2 Im Hinblick auf Zschäbitz’
Ausführungen fragt Hans Liermann, ob die Ähnlichkeiten der Täufer-
bewegung mit dem früheren Sektentum unbedingt als Erbe aufgefaßt
werden müßten. Könnten sie sich nicht daraus erklären, daß die „Sekte“,
soziologisch gesehen, immer dieselben Erscheinungen hervorbringe, die sich
darum zwangsläufig ähneln? #3
Abschließend sollnoch auf einige weitere, einschlägige Forschungsbeiträge
aufmerksam gemacht werden. Van der Zijpp betont, daß die devotiomoderna
den Boden für das Entstehen der holländischen Täuferbewegung vorbe-
reitete. 6 Delbert Gratz hat versucht zu beweisen, daß im Berner Gebiet eine
Kontinuität von den Waldensern bis zu den Täufern bestehe, 5 und nach
Alexander Rempel seien die Zürcher Täufer im Anfang von den Böhmischen
Brüdern beeinflußt gewesen. °% Väclav Husa hat darauf hingewiesen, daß
Müntzer bei seinem Besuch in Prag 1521 wahrscheinlich die Sitte der Böh-
mischen Brüder kennenlernte, unter gewissen Voraussetzungen die Wieder-
taufe zu üben.’ In der folgenden Darstellung soll gezeigt werden, daß
24
Müntzer durch seine Kritik an der Kindertaufe zweifellos dazu beitrug, daß
sich das Taufproblem sowohl im Kreise der radikalen Reformfreunde in
Zürich als auch bei Hubmaier zuspitzte. Aus diesen Gründen ist es wahr-
scheinlich, daß die Brüder-Unität indirekt die Entstehung des Täufertums
förderte.
Die Tatsache, daß die Frage nach dem Ursprung und Charakter des Täufer-
tums nicht ohne Grund auf so viele verschiedene Arten beantwortet worden
ist, wirft das Problem auf: Kann man mit Recht von dem Täufertum
als einer einheitlichen historischen Erscheinung sprechen? Wie schwierig
dieses Thema ist, wird u. a. dadurch deutlich, daß man in der wissenschaft-
lichen Literatur bisher noch nicht zu einer einheitlichen Definition des Be-
griffes „Täufer“ oder „Anabaptist“ gelangt ist. Für die Richtungen inner-
halb der Forschung, nach denen der Spiritualist und Revolutionär Müntzer
der Urheber der Täuferbewegung war, gelten alle die als Täufer, die die
Kindertaufe zurückwiesen und sich aus religiösen und sozialen Gründen
gegen die Reformatoren auflehnten. 8 Nach einer anderen Begriffsbestim-
mung sind nur diejenigen Täufer, die die Gläubigentaufe, Glaubenstaufe,
Bekenntnistaufe, Erwachsenentaufe, Mündigentaufe, Großtaufe, Spättaufe
übten oder selber eine solche Taufe empfangen hatten. Die letztgenannte
Definition kommt in der vorliegenden Abhandlung zur Anwendung, und
in Anlehnung an Hubmaier wird die Bezeichnung die Taufe der Gläubigen
vorgezogen.®® Daraus folgt, daß Nikolaus Storch, Karlstadt, Müntzer,
Schwenckfeld usw. hier nicht zu den Täufern gezählt werden. Dagegen
68 Vgl. ZscHÄsıtz 1958, S. 15, über BENDER 1952, S. 267f.: „Formal hat Bender
recht, wenn er erklärt, daß in Sachsen die Wiedertaufe zunächst nicht ausgeübt
wurde, wenn auch Argumente gegen die Kindertaufe zu vernehmen waren. Kann
uns aber ein wandelbares rituelles Kriterium zur Abgrenzung einer breiten reli-
giösen Strömung genügen, deren Anhänger von der Wittenberger und Zürcher
Reformation, ganz allgemein ausgedrückt, unbefriedigt blieben? Unsere Frage
gilt dem verbindenden, über den Ritus hinausgreifenden Grundanliegen dieser
Menschen, das sehr unterschiedliche religiöse Vorstellungen und praktische Ant-
worten gebar.“
69 Vgl. den Titel von HusmAIERsS Hauptwerk über die Taufe, HS, S. 65: „Von dem
Christenlichen Tauff der glaübigen“ (1525). —- In Übereinstimmung mit dem
neueren wissenschaftlichen Sprachgebrauch werden in der vorliegenden Darstel-
lung die Ausdrücke „Wiedertaufe“ und „Wiedertäufer“ vermieden; vgl. KÖHLER
1940, S. 93. Die Täufer selbst, unter ihnen Hubmaier, verneinten, daß ihre Taufe
eine Wiedertaufe sei, vgl. u. das Kapitel Hubmaier und die Taufe.
25
handelte es sich in Münster, auch der engeren Definition nach, um Täufer,
da man dort die Gläubigentaufe übte.
Auch wenn man es ablehnt, Müntzer als Täufer zu bezeichnen, ist damit
das Problem seiner Verbindungen zur Täuferbewegung nicht gelöst. Die
Frage, inwieweit Müntzer 1524 den Kreis der späteren Täufer in Zürich
unmittelbar beeinflußte, ist in der Täuferliteratur viel diskutiert worden. ?°
Es dürfte jedoch ziemlich sicher sein, daß die Zürcher Täufer keine Spiri-
tualisten im Sinne Müntzers waren.”! Dagegen fehlte es in der ersten Zeit
nicht an enthusiastischen und libertinistischen Erscheinungen innerhalb
einiger Zweige der frühen schweizerischen Täuferbewegung. ’?
Das Täufertum in Deutschland, Holland und Österreich war seinem Cha-
rakter nach zunächst bedeutend vielgestaltiger als das in der Schweiz. Der
Mennonit van der Zijpp hat betont, daß die holländische Täuferbewegung
von der Spannung zwischen Kongregationalismus und Spiritualismus ge-
prägt gewesen sei. Diese beiden Richtungen seien auch unter den deutschen
Täufern schon früh vertreten gewesen. Als Beispiel für einen „kongrega-
tionalistischen“ Täufer nennt van der Zijpp Michael Sattler, und als Typus
eines individualistischen und spiritualistischen Täufers Hans Denck. '?Denck
gehört mit Hans Hut zu den bedeutendsten Führern der ersten Täufer-
generation. Es ist überzeugend aufgezeigt worden, daß Dencks und Huts
Schriften eine Beeinflussung durch Müntzer erkennen lassen. ”* Trotzdem
haben insbesondere amerikanische mennonitische Forscher erklärt, daß
Müntzer die süddeutsche Täuferbewegung nicht entscheidend geformt
habe. 5
Thomas Müntzers Verhältnis zum Täufertum ist somit in mehrfacher
Hinsicht ein umstrittenes Forschungsproblem. Die mystisch-spiritualistische
Tendenz unter den frühen deutschen Täufern ist eine unumstößliche Tat-
sache. Während der Jahre 1525-1535 war der deutsche Zweig der Täufer-
bewegung ein Sammelbecken für verschiedene Strömungen und Glaubens-
anschauungen wie Spiritualismus und biblizistisches Gemeindechristentum,
70 Gegen eine solche Annahme sind z. B.: BENDER 1950a, S. 116 ff. und 1952, S.
275fl., FRIEDMANN 1957, Krajewskı 1957, S. 48ff. Dafür sind z. B.: KÖHLER
1925, S. 52 f. und 1940, S. 100, von MuURALT 1938, S. 19 f., GRETE MECENSEFFY
1956b, S. 252. Zu dieser Meinungsverschiedenheit siehe HILLERBRAND 1959a,
S#031.
71 BLANkE 1955, S. 66; vgl. jedoch von MuRALT 1938, S. 19£., 28.
72 Siehe YopEr 1958, $ 7, 14, 19.
73 VAN DER Zıjpp 1952, S. 23 ff. und 1957, S. 69 ff.
74 Siehe FELLMAnNns Anmerkungen. DS 2, GRETE MECENSEFFY 1956b, S. 256 f.,
FELLMANN 1958, ZscHÄBıTz 1958, S. 30 ff. und BArınG 1959, S. 155 ff.
73 FRIEDMAnN 1957c, S. 788f. und H. KLassen 1959, S. 267 ff.
Pazifismus und revolutionäre Apokalyptik. Die erwähnten voneinander ab-
weichenden Ansichten vom Ursprung des Täufertums erklären sich durch
den Umstand, daß dieses aus mehreren Quellen gespeist wurde. Durch die
schweren Verfolgungen wurden die unterschiedlichen extremen Neigungen
noch stärker ausgeprägt. Köhler scheint unter diesen Umständen recht zu
haben, wenn er einen vermittelnden Standpunkt zwischen Troeltsch und
Holl einnimmt. Er macht einen Unterschied zwischen Täufertum und Spiri-
tualismus, betont aber, daß die Grenze zwischen ihnen fließend sei. 7% Robert
Stupperich hat sich zum Sprecher einer ähnlichen Ansicht gemacht, nach
der Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Erscheinungen der Refor-
mationszeit bestanden. 77
Das Täufertum des 16. Jahrhunderts war im Anfang keineswegs einheit-
lich, aber schon früh zeigten sich sammelnde und einende Kräfte. In Süd-
deutschland gewannen Pilgram Marbecks Bemühungen in dieser Richtung
besondere Bedeutung. Neben Denck, Hubmaier, Menno Simons und Peter
Riedemann war Marbeck einer der hervorragendsten theologischen Denker
unter den Täufern. Ihm und seinem Kreis ist es zu verdanken, daß der
Spiritualismus unter den süddeutschen Täufern zugunsten eines biblisch
und reformatorisch ausgerichteten Gemeindechristentums verdrängt wurde.
Marbeck bemühte sich auch, die zersplitterten Täufergruppen zu einer
größeren Gemeinschaft zu sammeln. 8 In Norddeutschland und den Nieder-
landen setzte Menno Simons sich in gleichem Sinne wie Marbeck in Süd-
deutschland ein,?”® und in der schweizerischen Täuferbewegung begann
man bereits auf der Synode in Schleitheim 1527 den libertinistischen und
enthusiastischen Strömungen, die sich in St. Gallen und anderwärts gezeigt
hatten, bewußt entgegenzutreten. 8°
Die Voraussetzungen und die Anfänge des Täufertums stellen somit eine
Fülle von schwer zu lösenden Problemen dar. In der bisherigen Forschung
hat das Interesse in erster Linie diesen Fragen, aber auch der Ausbreitung
76 KÖHLER 1931; vgl. jedoch KöHLer 1925, S. 48 ff. und 1940, S. 99: „Die Zürche-
rische Bewegung ist unabhängig von der Zwickauer entstanden“.
77 STUPPERICH 1957, S. 150f., Anm. 1 (in Polemik gegen BENDER 1952) und 1958,
S. 13; vgl. auch ZscHÄsıtz 1958, S. 170.
78 Siehe KıwıEr 1957a und BERGSTEn 1957—1958. Ich habe (1957, S. 66) die An-
sicht geäußert, daß Marbeck und sein Kreis erst nach 1534/35 den Kampf gegen
den Spiritualismus aufnahmen. W. Krassen hat (1959) aufgezeigt, daß das wahr-
scheinlich bereits 1531 geschah. Vgl. dazu auch FRIEDMAnN 1959b.
79 Siehe MEIHUIZEn 1953, S. 259 ff. und vAn DER Zıjpp 1957, S. 76.
80 Siehe YopEr 1958, $ 14, 32 und Fast 1960.
und den führenden Gestalten der Bewegung gegolten. Heyers und Littells
bereits erwähnte Arbeiten über den Kirchenbegriff der Täufer zeigen jedoch,
daß man begonnen hat, das Täufertum als Ganzes und im Blick auf seine
Eigenart zusammenfassend zu studieren. Auch unter den Mennoniten hat
man sich bemüht, das Besondere und Verbindende in der täuferischen Glau-
bensgemeinschaft herauszustellen.
28
mung des „eigentlichen“ Täufertums bringt mit sich, daß weder Hubmaier
noch die Münsterischen Täufer zu diesen gezählt werden können.
Es ist fraglich, ob es berechtigt ist, die Abkehr der Täufer vom Staats-
und Gesellschaftsleben als den wahrsten Ausdruck ihrer historischen Eigen-
art hervorzuheben. Bender gibt selbst zu, daß die Täufer die Folgen ihrer
Stellungnahme vielleicht nicht völlig durchdacht gehabt hätten.®° Blanke
nennt die täuferische Haltung Apolitismus, politische Abstinenz, und sie
bedeute, daß man die Obrigkeit als eine göttliche Ordnung gelten lasse, sich
aber dennoch weigere, als Christ ein öffentliches Amt innezuhaben. Die
Halbheit dieser Einstellung sei schon von Hubmaier und Marbeck erkannt
worden, und Blanke bezeichnet eine solche Lösung des Problems von Christ
und Staat als unbefriedigend und falsch.8° Der reformierte Kirchenhisto-
riker Kurt Guggisberg hat eine ähnliche Kritik wie Blanke an dem apoli-
tischen Täufertum geübt. In der sittlichen Tendenz der Täufer sieht Guggis-
berg jedoch eine wertvolle Ergänzung des stark dogmatisch orientierten
Christentums der Reformationskirchen, und im Gegensatz zu diesem hätten
die Täufer den Gedanken vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen
verwirklicht. 9° Wenngleich diemennonitischen Forscher das ethische Moment
im Täufertum überbewerten, ist es doch als durchaus wesentlich anzuer-
kennen.
In diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung Hillerbrands von Inter-
esse. Er hat richtig beobachtet, daß Littells ethisch ausgerichtete Beschrei-
bung des Kirchenbegriffes der Täufer dieselbe Tendenz hat wie die Heyers,
über das Täufertum hinaus die ganze „radikale Reformation“ zu um-
fassen. 88 Dies ist ein Zeichen dafür, daß die Betonung der Restitution von
„life and virtue of the Early Church“ und des Laienchristentums in der
Reformationszeit nicht nur ein spezifisch täuferisches Anliegen war. In sei-
nem Forschungsbericht bemüht sich Hillerbrand ferner zu beweisen, daß
die täuferische Theologie von der Nachfolge und der Kirchenbegriff der
Täufer in Wirklichkeit nur zwei Seiten derselben Sache darstellen. Im ersten
Falle wird der einzelne, im zweiten die Gemeinde betont. 8° Bei dieser Fest-
stellung übersieht Hillerbrand aber, daß die Auffassung der Täufer von
der Kirche nicht nur eine ethische, sondern auch eine dogmatische Seite hat.
29
Einerseits ging es den Täufern um ein geheiligtes Leben sowohl für den
einzelnen wie für die Gesamtheit der Gemeinde. Anderseits brachten sie
dadurch, daß sie erst auf Grund eines persönlichen Glaubensbekenntnisses
tauften und Gemeindezucht übten, auch eine bestimmte Lehre von Taufe
und Gemeinde zum Ausdruck. Die Eigenart des Täufertums ist demnach
eher auf dem Gebiet des Glaubens als auf dem des christlichen Lebens zu
suchen.
Dogmatisch gesehen stand nach Hillerbrand die Täuferbewegung in der
Lehre von der Rechtfertigung dem Katholizismus näher als der Reformation.
Anderseits könne sie nur im Zusammenhang mit der Reformation verstan-
den werden. In dieser Doppelheit sieht Hillerbrand das für die täuferische
Glaubensanschauung besonders Kennzeichnende, und er folgert, daß das
Täufertum daher als eine eigene christliche Tradition zu betrachten sei."
Durch diese These wird von neuem bestätigt, daß das Verhältnis der Täufer
zur Reformation eines der aktuellen Themen in der gegenwärtigen Täufer-
forschung darstellt. j
In der vorliegenden Arbeit wird die Ansicht vertreten, daß das Täufer-
tum in erster Linie aus der Zürcher Reformation hervorgegangen ist. Die
Täufer haben ihre bleibende kirchengeschichtliche Bedeutung dadurch ge-
wonnen, daß sie sich theologisch und praktisch für die Taufe der Gläubigen
und die Freiwilligkeitsgemeinde einsetzten. Ihre Erneuerung der christ-
lichen Kirche begründeten sie mit der Heiligen Schrift und zeigten dabei,
daß sie sich von dem reformatorischen Schriftprinzip leiten ließen.
30
2. HUBMAIER IN DER FORSCHUNG
31
und Aufrührer gemacht hätten. Für die Entstehung dieser Vorstellungen
sind vor allem Aussagen Zwinglis, Bullingers und Fabris maßgebend ge-
wesen. Die Zeitgenossen, unter ihnen in erster Linie Fabri, der St. Galler
Chronist Keßler und die Täufer, haben anderseits auch positive Seiten in
Hubmaiers Persönlichkeit hervorgehoben: Redebegabung, Gelehrsamkeit,
Wahrheitsliebe, Bereitschaft zum Märtyrertum. Diese Eigenschaften des
Reformators und Täuferführers sind zwar auch in der Literatur beachtet
worden, jedoch in weit geringerem Maße als die zuvor erwähnten. !
Die beiden unterschiedlichen Arten, Hubmaier zu beurteilen, auf die
man in Quellen und Chroniken des 16. Jahrhunderts stößt, kehren auch in
einigen historischen Werken aus dem ı7. und dem Beginn des ı8. Jahr-
hunderts wieder. In der Geschichtsschreibung, die von der Tradition der
beiden Reformationskirchen bestimmt war, herrscht die kritische Einstellung
vor. Ein Beispiel dafür ist Veit Ludwig von Seckendorff, der in seiner 1692
erschienenen Geschichte des Luthertums Hubmaier als einen der ersten
Jünger des Aufrührers Müntzer im süddeutschen Raum und als den wort-
gewandten Prediger der Waldshuter beschreibt.? Er tut das in Anlehnung
an die oben erwähnte, landläufige Ansicht vom Ursprung des Täufertums.
In Johann Jakob Hottingers „Helvetischen Kirchengeschichten“ wird Hub-
maiers Werdegang in ähnlicher Weise nach Bullingers und Zwinglis Vor-
bild dargelegt. In Waldshut habe Hubmaier sich zunächst als durchaus
sorgfältig und ehrlich gezeigt, dann sei er aber „vom Seil gefallen“. Unter
unmittelbarem Hinweis auf eine Zwingli-Aussage bezeichnet Hottinger
Hubmaier als von Ehrsucht und Geldgeiz beseelt, seiner Natur nach sei er
wankelmütig gewesen. In diesen beiden Geschichtswerken wird die Gestalt
Hubmaiers somit völlig nach dem Gesichtspunkt der konfessionellen Polemik
gezeichnet.
Dem anderen Hubmaier begegnet man in dem „Märtyrerspiegel“ des
holländischen Mennoniten Tieleman van Braght, erstmalig herausgegeben
1660. Darin wird er als ein gelehrter und beredter Mann geschildert, der
sich durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes vom Papsttum getrennt und
u. a. die Kindertaufe als einen Irrtum verworfen habe. Statt ihrer habe er
kraftvoll die von Christus befohlene Taufe der Gläubigen verkündigt. Da
1 Zu den Auffassungen über Hubmaier, die im 16. Jh. geäußert wurden, s. u. be-
sonders die Kapitel Die Quellen zu Hubmaiers Leben und Nachwirkungen von
Hubmaiers Lebenswerk.
2 VON SECKENDORFF 1692, 2, S. 6. — Ueber von Seckendorff (f 1692) und seinen
Commentarius siehe TILEMANN 1943, besonders S. 214 ff.
3 HorTinGer 1707, S. 74, 273 f.; vgl. Z 8, S. 706. — Über Hottinger (t 1735)
siehe ADB 13, S. 193 £.
32
die Welt das klare Licht des Evangeliums nicht ertragen könne, sei Hub-
maier aber verfolgt worden und schließlich standhaft und seinem Glauben
getreu in den Tod gegangen. Im „Märtyrerspiegel“ steht ferner ein Hin-
weis auf ein Büchlein von Hubmaier; darin werde von den schweren Leiden
der Täufer in Zürich berichtet.* Die Ausführungen sind Hubmaiers Schrift
„Ein Gespräch auf Zwinglis Taufbüchlein“ entnommen, die folglich unter
den Mennoniten des ı7. Jahrhunderts bekannt war. Sie schätzten Hub-
maier augenscheinlich sehr und zählten ihn zu den wahren Blutzeugen und
zu ihren geistigen Vätern. Der Radikalpietist Gottfried Arnold, der wie die
Mennoniten gegen die offiziellen Kirchen kritisch eingestellt war, inter-
essiert sich in seiner „Ketzerhistorie“, wie bereits erwähnt, auch für die
Täufer; Hubmaier bezeichnet er als einen von deren ersten ‚„Urhebern“.®
Im Laufe des 18. Jahrhunderts trat in der lutherischen und reformierten
Gechichtsschreibung jedoch eine Umwertung von Hubmaiers Lebenswerk
ein. Sie hängt mit dem andersartigen Verständnis vom Christentum zu-
sammen, das durch den Pietismus gekommen war, da dieser die persönliche
Glaubensüberzeugung des einzelnen betonte. Das stand im Gegensatz zur
älteren Zeit, als der Nachdruck auf Lehre und Kircheninstitutionen gelegt
wurde. Außerdem trug ein neues Interesse für den Gehalt historischer
Quellen zu der neuen Würdigung Hubmaiers bei.
Die eigentliche Hubmaier-Forschung begann mit Johann Georg Schel-
horn, der als erster wertvolle Quellen zu Hubmaiers Leben veröffentlichte. ?
Der Sohn Johann Georg Schelhorn jr. setzte die Arbeit seines Vaters fort,
durch ihn wurde erstmalig eine Hubmaier-Schrift ungekürzt im Neudruck
zugänglich gemacht, und zwar „Eine Form zu taufen“.® Im selben Jahr-
hundert ließ auch der Schweizer Johann Conrad Füßli Hubmaiers Verhörs-
aussagen in Zürich 1526 teilweise abdrucken.®
Durch das Erschließen dieser Quellen erlangte man neues und zuver-
lässiges Wissen über Hubmaier. Bei der Schilderung seines Charakters über-
nahmen Schelhorn Vater und Sohn jedoch weitgehend die herkömmlichen
Vorstellungen. Nach Schelhorn sr. war Hubmaier einer der ersten und be-
deutendsten Wiedertäuferlehrer in Deutschland, ein gelehrter und beredter
van BrAGHT 1951, S. 465. — Über van Braght (f 1664) siehe ME 1, S. 400 £.
Siehe HS, S. 169 £.
ArnoLD 1699, 2, S. 263.
SCHELHORN SR. 1738, 1779; vgl. Hubmaiers Briefe, Nr. 8, u. S. 57.
SCHELHORN JR. 1774, S. 91—98; vgl. HS, Nr. 19. — Über Schelhorn
oanaw%ß Vater
(t 1773) und Sohn (f 1802) siehe ADB 30, S. 756 fl.
9 Füssuı 1747, S. 240—244; vgl. Hubmaiers Briefe usw., Nr. 18. — Über Füßli
(t 1775) siehe ADB 8, S. 256 fi.
53
Mann. Zugleich sei er aber hitzig und ehrgeizig gewesen, und zu seinem
Unglück sei er dem „wilden Poltergeiste“ Müntzer in die Hände gefallen. '®
Neu bei diesem Forscher ist, daß das übliche Verurteilen bei ihm durch
Mitleid ersetzt wird. Diese wohlwollende Einstellung teilte auch Schelhorn
jr., nach seiner Meinung sind Hubmaiers Schriften von einem bemerkens-
werten Scharfsinn gekennzeichnet. Auch habe sich trotz aller Schwachheiten,
die Hubmaiers Leben flüchtig und unstet gemacht hätten, immer sein red-
liches Herz gezeigt.!! In dieser Äußerung wird Hubmaiers angebliche Un-
beständigkeit als Erklärung für seine Ketzerei und seinen Märtyrertod
hervorgehoben. In verschiedenen Abwandlungen ist dieses von Fabri und
Bullinger herstammende Motiv in der Geschichte der Hubmaier-Forschung
ein häufig wiederkehrendes Thema gewesen.
Einen bedeutenden Fortschritt in der Forschung stellte in den ı820er
Jahren ein Aufsatz Georg Veesenmeyers über Hubmaier dar. !? In Überein-
stimmung mit seinen Vorgängern betont er, daß Hubmaier seine Meinung
mit Gelehrsamkeit und Scharfsinn, aber auch mit Heftigkeit und Bitterkeit
verteidigt habe. Etwas ganz Neues bei Veesenmeyer ist jedoch, daß er Hub-
maier von der alten Anklage freispricht, Aufrührer gewesen zu sein. Die
Begründung für diese Stellungnahme ist das Interessanteste in Veesen-
meyers Ausführungen. Er stellt sich kritisch zu Fabris bis dahin nie wider-
sprochener Schilderung des Ketzers und politischen Aufwieglers und weist
darauf hin, daß weder Zwingli noch Eck Hubmaier des Aufruhrs beschul-
digten. Schließlich macht Veesenmeyer noch auf Hubmaiers Abendmahls-
agende aufmerksam, in der dieser seine Gemeindeglieder zum Gehorsam
gegen die Obrigkeit ermahnt. 13 Veesenmeyers Studie zeigt, wie man all-
mählich anfing, mit Hilfe der Quellenkritik das althergebrachte Hubmaier-
Bild zu überprüfen und es mit neuen und positiveren Zügen zu bereichern.
Außerdem zeigt sich an Veesenmeyer, daß die pietistische Betonung der
individuellen Frömmigkeit den Kirchenhistorikern den Weg bahnte, auch
einen bisher verpönten Täufer wie Hubmaier in neuer Weise zu erfassen.
54
Hubmaier in katholischer Sicht
Schelhorn sr. und jr. und Veesenmeyer waren evangelisch. Es dauerte ge-
raume Zeit, ehe man katholischerseits in Hubmaier mehr sah, als den von
der Kirche verurteilten Irrlehrer. Es ist bezeichnend, daß es innerhalb der
katholischen Forschung der liberale Katholizismus des 19. Jahrhunderts
war, der Hubmaier in ein neues Licht rückte. In dieser religiösen Strömung
übte man Kritik an den Lehren und der Autorität der römischen Kirche
und befand sich dadurch auf gleicher Linie mit dem Ketzer Hubmaier.
Johann Heinrich Schreiber war der erste unter den katholischen For-
schern, der Hubmaier eine neue Anerkennung zollte; er war auch der Ver-
fasser der ersten, wenngleich unvollendeten Hubmaier-Biographie. Sie er-
schien 1839-1840. Schreiber war Priester und von 1826 an Professor der
Moraltheologie in Freiburg im Breisgau. Im Anschluß an Unstimmigkeiten
mit seinen kirchlichen Vorgesetzten wurde er 1836 in die philosophische
Fakultät übernommen; nachdem er sich 1845 dem Deutschkatholizismus
angeschlossen hatte, wurde er exkommuniziert. Den Rest seines Lebens
widmete er sich der Geschichtswissenschaft und veröffentlichte u. a. eine
Urkundensammlung zum deutschen Bauernkrieg. !* Sie enthält eine Reihe
von Dokumenten, die für das Wissen über Hubmaier und die Geschichte
Waldshuts sehr wertvoll sind. Die Originale sind zum größten Teil nicht
mehr vorhanden. Auch in seiner Hubmaier-Biographie führt Schreiber
wiederholt Primärquellen an, die nur in dieser Form der Nachwelt erhalten
geblieben sind. Seine Arbeit hat vor allem aus diesem Grunde bleibenden
Wert bekommen. Mit dieser Biographie, die mit Waldshuts Kapitulation
im Dezember 1525 abschließt, wurde der Anfang zu einem klareren Ver-
ständnis von Hubmaiers Reformationswerk in Waldshut gemacht.
Schreibers liberale Einstellung zeigt sich vor allem in seiner positiven
Bewertung der Reformation im allgemeinen und Zwinglis im besonderen.
Die Täufer zeichnet er hingegen in den üblichen dunklen Farben als Auf-
rührer, Schwärmer und Heuchler.1% Nach seinen eigenen Worten wollte
Schreiber mit seiner Arbeit über Hubmaier das harte Urteil mildern, das
nur zu häufig über diesen gefällt worden sei. Daher ähnelt die Darstellung
einer Ehrenrettung. Hubmaier wird als ein überspannter Idealist und ein
ehrenwerter, aufrichtig nach Wahrheit strebender Charakter geschildert.
Das wichtigste Problem für Schreiber ist, warum Hubmaier von der Refor-
55
mation zum Täufertum überging. Seine Lösung ist dieselbe, die man bei
Bullinger und Schelhorn jr. findet. Hubmaiers größte Schwäche sei gewesen,
daß er fremden Einflüssen allzu leicht zugänglich gewesen sei. Bei den
wichtigsten Entscheidungen seines Lebens und besonders, wenn seine Eitel-
keit berührt wurde, sei er von anderen mitgerissen worden. Von den Zürcher
Täufern „umgarnt“, habe er mit seinem bisherigen Gönner und Freund
Zwingli gebrochen, und damit nahm, nach Schreibers Meinung, die kirch-
liche Entwicklung in Waldshut einen Verlauf, den Hubmaier nicht mehr
steuern konnte. !6
Die Hubmaier-Monographie, die zeitlich als nächste nach der Schreibers
entstand, ist ebenfalls von einem Katholiken geschrieben, dem Priester in
der Diözese Brünn, Frantifek Xaver Hosek. Sein 1867 erschienenes Buch
ergänzt Schreiber, indem darin vor allem Hubmaiers Wirksamkeit in Mäh-
ren behandelt wird. Hoseks Darstellung ist stark polemisch ausgerichtet,
und sein Bild von Hubmaier ist in weit höherem Maße als das seines Vor-
gängers von den herkömmlichen Vorstellungen geprägt. So lange Hub-
maier einen erfahrenen Führer gehabt habe, sei er rechtgläubig und fromm
gewesen. Nachher sei er aber von den schlechten Seiten seiner Natur, von
Ehrgeiz und Ruhmsucht, beherrscht worden, auch habe ihm die sittliche
Selbständigkeit und Ausdauer gefehlt. 17
Hosek wirft die bedeutsame Frage auf, warum der im vorhergehenden
erwähnte Hans Hut so erfolgreich Hubmaier die Führung unter den mäh-
rischen Täufern aus den Händen nehmen konnte. Die Antwort findet er in
Hubmaiers Auffassung, nach der die Täuferreformation nur mit Hilfe und
unter Mitwirkung der Obrigkeit durchgeführt werden könne. An diesem
Punkte sei Hubmaier kein „echter“ Täufer gewesen. Der Unterschied zwi-
schen den zur bürgerlich-bäuerlichen Bevölkerung gehörenden Täufern und
dem Adel sei zu groß gewesen, als daß es zu einer dauernden Verbindung
von Utraquisten und Täufern hätte kommen können.'® Indem Ho$ek Hub-
maier somit nicht zu den „eigentlichen“ Täufern zählt, äußert er sich zu
einem Thema, das in dem einleitenden Kapitel dieser Abhandlung bereits
behandelt worden ist und mit der Problemstellung dieser Arbeit, Hub-
maiers Verhältnis zu Reformation und Täufertum, eng zusammenhängt.
Vor allen anderen hat Johann Loserth sich Verdienste als Biograph Hub-
maiers erworben. Loserth war Professor für Geschichte, zuerst in Czerno-
witz (jetzt Chernovtsy) in der Bukowina und später in Graz, er wandte der
36
Reformation in Österreich und der Täuferbewegung großes wissenschaft-
liches Interesse zu. Nach seinem Tode 1936 wurde der Katholik Loserth von
einem evangelischen Kirchenhistoriker als „völlig unparteiischer Forscher“
und „Verteidiger des innerösterreichischen Protestantismus“ bezeichnet. 19
Loserth ist auch der „Altmeister der Täuferforschung“ genannt worden,
und als solcher zeigte er eine sehr positive Einstellung zum Täufertum. In
seinen Hubmaier-Forschungen gründete er sich auf die Arbeiten von Veesen-
meyer, Schreiber, HoSek und anderen. Nicht ‚zuletzt hatte er den Vorteil,
das umfangreiche Material zur Geschichte Hubmaiers und der Täufer aus-
werten zu können, das von Josef von Beck gesammelt worden war.?! 1891
gab Loserth eine Studie über Hubmaier und die Reformation in Waldshut
heraus.?? Nach zwei Jahren wurde sie in erweiterter Form als Teil eines
größeren Werkes, in dem Hubmaiers ganzes Leben und Wirken geschildert
ist, neu gedruckt. ?? Als Beilagen zu beiden Arbeiten veröffentlichte Loserth
eine Reihe von wichtigen Quellen zum Leben Hubmaiers.2* Durch diese
Veröffentlichungen und Darstellungen wurde eine Fülle von neuem Mate-
rial vermittelt, und auf diese Weise legte Loserth den Grund, auf dem die
ganze folgende Hubmaier-Forschung weitergebaut hat.
Infolge der großen Anerkennung und Verbreitung, die Loserths Bio-
graphie zuteil wurde, ist das darin gezeichnete Hubmaier-Bild von beson-
derer Bedeutung geworden. Nach Loserth ist Hubmaier wohl die hervor-
ragendste Persönlichkeit unter den Schweizer Taufgesinnten gewesen; an
Gelehrsamkeit und Scharfsinn habe er sogar Zwingli bei weitem über-
troffen. Gekennzeichnet durch seine Milde und Besonnenheit sei er in sitt-
licher Hinsicht ohne Makel gewesen und gewandt und mutig für das ein-
getreten, was er als wahr erkannt hätte. In seinen frühen täuferischen
Schriften habe er zwar nicht selten Hochmut und leidenschaftliche Heftig-
keit und Bitterkeit gezeigt, in seinen letzten könne man aber kaum mehr
etwas davon spüren. ?® Loserth ist der’ erste, der in wissenschaftlicher Form
0%
eine durchgehend positive Darstellung von Hubmaier gegeben hat. Gegen
Ende seines Lebens stellte er erneut Hubmaiers Leben dar, diesmal in Form
eines Lexikonartikels. Darin hat er die von Veesenmeyer herstammenden
Attribute „Heftigkeit und Bitterkeit“ ausgelassen und auch der Kritik von
Hubmaiers zeitgenössischen Gegnern die Gültigkeit abgesprochen. ?* Loserth
vollendete also die von Veesenmeyer und Schreiber begonnene Ehrenrettung
des Täuferführers von Waldshut und Nikolsburg. Das überkommene Hub-
maier-Bild wurde ins Gegenteil verwandelt: eine Gestalt trat hervor, die
ganz ohne die zahlreichen schweren Charakterfehler war, die ihr bis dahin
meistens zugeschrieben worden waren.
Unberührt von der Umwertung späterer Zeiten haben die herkömm-
lichen, polemischen Vorstellungen von dem Ketzer und Aufrührer Hubmaier
in der katholischen Lokaltradition in Waldshut weitergelebt. C. A. Birken-
mayer und August Baumhauer schildern Hubmaiers Wirksamkeit inWalds-
hut als einen bedauerlichen Zwischenfall in der sonst kaiser- und papst-
treuen Geschichte der Stadt. Mit Bullinger und dem katholischen Chronisten
Küssenberg als Vorlage beschreiben sie Hubmaier als einen gelehrten, aber
verkehrten Kopf, der durch seine akademische Bildung nicht vor dem Ab-
grund des Irrtums und der Leidenschaft geschützt worden sei. Durch den Ein-
fluß des „Oberhauptes der Wiedertäufer“, Müntzer, sei Hubmaier zu einem
Anarchisten geworden, der durch seine feurige Beredsamkeit die Walds-
huter zu kirchlichem und politischem Abfall bewegt habe. ?7
Gegen diese Art der Darstellung heben sich scharf zwei moderne katho-
lische Arbeiten ab. Der Benediktiner Leo Helbling schildert in seiner Mono-
graphie über Johann Fabri in kurzgefaßter Form Hubmaiers Leben und
seine Auseinandersetzung mit dem späteren Bischof von Wien. Leiden-
schaftslos stuft er Hubmaier als einen der kleineren Gegner Fabris ein. ?®
In einer umfassenden Geschichte der Toleranz widmet ferner der Jesuit
Joseph Lecler auch dem Täufertum ein Kapitel. Er zitiert darin u. a. Hub-
maiers Schrift „Von Ketzern und ihren Verbrennern“, die durch ihr frühes
Erscheinen (1524) bemerkenswert sei und mit zeitgenössischen Erklärungen
Erasmus’ und Luthers gleichgesetzt werden könne. Zusammenfassend stellt
Lecler fest, daß Hubmaier einen Mittelweg zwischen den revolutionären
38
Täufern wie Müntzer und dem völlig passiven Täufertum eines Michael
Sattler gegangen sei. ??
Von großem Wert ist das Verzeichnis über Dokumente in Waldshuts
Stadt- und Pfarrarchiv, das sich am Schluß von Birkenmayers und Baum-
hauers Buch befindet. Nur wenige Aktenstücke aus Hubmaiers Zeit in
Waldshut, 1521-1525, sind erhalten, und diese sind bei Birkenmayer und
Baumhauer in Regestform veröffentlicht. Ratsbücherund ähnliche Urkunden
vom damaligen inneren politischen Leben der Stadt fehlen völlig. Dieser
Umstand erklärt sich teilweise durch eine Feuersbrunst im Jahre 1726, bei
der auch das Waldshuter Rathaus niederbrannte. 3°
59
sich gehabt.%! Usteri beurteilt Hubmaier also im Vergleich mit anderen
Täufern sehr günstig. Mißt er ihn aber an Zwingli, so entdeckt er dieselben
schlechten Eigenschaften an Hubmaier wie einst Zwingli selbst. Durch diese
Betrachtung unter doppeltem Gesichtspunkt wirkt Usteris Hubmaier-Bild
unklar und entbehrt des inneren Zusammenhangs.
Der Verfasser des klassischen Werkes über Zwinglis Theologie, August
Baur, beurteilt Hubmaier ausschließlich von Zwinglis Standpunkt aus, und
seine Schilderung ist in ihrem traditionellen Negativismus weit konsegen-
ter als die Usteris. Nach Baur ist Hubmaiers Auftreten bei der Oktober-
disputation 1523 in Zürich von einer gewissen milden und vorsichtigen
Zurückhaltung gekennzeichnet. Später sei er jedoch zum vollständigen
kirchlichen und politisch-sozialen Radikalismus übergegangen. Zustimmend
führt Baur Aussagen von Zwingli und Capito an, in denen über Hub-
maiers Unzuverlässigkeit, Eitelkeit und Unbeständigkeit geklagt wird.”?
Baur rechtfertigt dann die Behandlung Hubmaiers durch Zwingli, und es
ist bezeichnend, daß er dabei eine von Zwingli selbst gegebene Mitteilung,
nach der Hubmaier in Zürich gefoltert wurde, als „eigentümlich“ und „un-
sicher“ abtut.3® Nach Baur war Zwingli seinem Gegner als Theologe weit
überlegen. Trotz seiner stilistischen und dialektischen Gewandtheit sei Hub-
maier zu keiner wirklichen Begriffsbestimmung über das Wesen der Taufe
gekommen, und seine exegetische Methode zeige, daß er wie Luther, aber
im Gegensatz zu dem humanistisch gebildeten Zwingli, in der Scholastik
„hängengeblieben“ sei.®* Die letztgenannte Aussage verrät Baurs eigene
liberale Grundkonzeption. Es fehlte ihm jegliches Verständnis für den
Menschen und Theologen Hubmaier. Dennoch bedeutete Baurs Darstellung
von der Taufauffassung des umstrittenen Täuferführers einen Fortschritt
für die Forschung.
Alfred Heglers Übersicht über Hubmaiers Leben und Glaubensanschau-
ungen gehört zu dem Besten, was darüber geschrieben worden ist. 3° Heglers
maßvoll abgewogene Urteile sind weitgehend von Walther Köhler bestätigt
worden. ?® Hegler erklärt Hubmaiers Entwicklung zum Reformator mit des-
sen Beziehungen zur Zürcher Reformation und weist mit Recht Ludwig
Kellers Theorie zurück, nach der Hubmaiers „Kapitelversammlung“ in
40
Waldshut im Frühjahr 1524 auf einen Zusammenhang zwischen der evan-
gelischen Bewegung in der Stadt und den Waldensern schließen lasse. 37
Wie bereits dargestellt worden ist, sah Keller im Täufertum eine Fortsetzung
der mittelalterlichen Laien- und Reformbewegungen, seine Ansicht von
Hubmaiers Reformationswerk in Waldshut muß in Verbindung damit ver-
standen werden.
Von besonderem Interesse sind Heglers Ausführungen über Hubmaiers
Verhältnis zu den Täufern. Es sei Hubmaiers Bestreben gewesen, das
Täufertum in besonnenen Bahnen zu halten und die nüchternen, lauteren
Elemente in ihm zur Herrschaft zu bringen. Als ein gebildeter Theologe
habe er aber nicht die unmittelbar packende Kraft wie Hans Hut gehabt.
Hegler betrachtet Hubmaier als einen Vertreter des einfachen, konservativen
Täufertums, bei dem die geniale Spekulation des Humanismus und der
Mystik gefehlt habe. Für Hubmaier habe sich alles auf das rechte Verständ-
nis von Taufe und Abendmahl konzentriert. Sein strenges, gesetzliches Prin-
zip, daß die Theologie nicht über die klaren Schriftaussagen hinausgehen
dürfe, zeige etwas von der Gewissenhaftigkeit Hubmaiers und seiner Glau-
bensgenossen unter den Täufern. Hegler bemüht sich somit, Hubmaiers
theologisches Anliegen von innen her zu verstehen. Das Ergebnis ist zu-
treffender und gerechter als dasjenige Baurs, der sich Hubmaier lediglich
vom Standpunkt der Gegner aus nähert.
Usteri, Baur und Hegler beschäftigen sich in erster Linie mit dem Theo-
logen Hubmaier. „Hubmaier als Theologe“ ist auch der Titel der, neben
Loserths, bedeutendsten Hubmaier-Monographie, die bisher erschienen ist.
Sie wurde 1914 von Carl Sachsse herausgegeben. Im ersten Teil des Buches
werden Hubmaiers sämtliche erhaltene Druckschriften und die meisten der
Schriftstücke verzeichnet, die ihm mit Recht oder Unrecht zugeschrieben
worden sind. Sachsse hat als Hubmaier-Bibliograph grundlegende und blei-
bende Arbeit geleistet, und der Wert seines Buches wird noch durch die
Quellenveröffentlichungen erhöht, die es enthält.
Im zweiten Teil wird Hubmaiers geistige und theologische Entwicklung
behandelt. Sachsse knüpft dabei an die traditionelle Auffassung an, daß
Hubmaier sein ganzes Leben hindurch anlehnungsbedürftig gewesen sei;
da man ihn leicht habe beeinflussen können, sei bei ihm stets das Handeln
der Erkenntnis vorausgegangen. Hiermit will Sachsse erklären, warum Hub-
maier sich nacheinander für Eck, Luther, Zwingli, Müntzer, Karlstadt und
die Zürcher Täufer begeistern und ihre Gedanken in die Tat umsetzen
konnte. Bei der Beurteilung der möglichen, tiefer liegenden Motive für diese
37 KELLER 1896, S. 276 £.; vgl. auch KELLER 1885, S. 375 ft.
41
Handlungsweise entschließt Sachsse sich zu einem Kompromiß: Hubmaier
sei sowohl von Eigenliebe und Neuerungssucht wie von religiöser Über-
zeugung getrieben worden. ®®
Sachsse ist ein Schüler Heinrich Böhmers und hat die im vorhergehenden
erläuterte, weite Definition der Begriffe „Täufer“ und „Schwärmer“ von
jenem übernommen. ® In Übereinstimmung mit den Absichten seines Lehr-
meisters betont er die Bedeutung Müntzers für Hubmaier. Dabei schreibt
er einer Aussage Bullingers über die beiden Männer großen Quellenwert
zu, woraus sich ergibt, daß Hubmaier als ein religiöser Stürmer und poli-
tischer Revolutionär geschildert wird. Im Laufe der Darstellung wandelt
sich jedoch das Bild, das Sachsse beim Studium von Hubmaiers Schriften
gewinnt, und er erklärt, Müntzer habe Hubmaier nur „vorübergehend“ zu
einer radikaleren Einstellung der Obrigkeit gegenüber beeinflußt. *
Im dritten und letzten Teil seines Buches bemüht sich Sachsse um eine
theologische Analyse der Schriften Hubmaiers. Sie sind nach seiner Mei-
nung populäre Volksschriften und enthalten keine Theologie in der Bedeu-
tung eines durchdachten dogmatischen Systems. An vielen Punkten zeige
Hubmaier sich als ein durchaus selbständiger Denker, aber als Folge der
vielen Beeinflussungen, die er empfangen habe, seien seine Lehren manch-
mal völlig inkonsequent.! Bei der Beurteilung des Theologen Hubmaier
vergleicht Sachsse ihn in erster Linie mit Luther und Zwingli. Ein Ergebnis
dieser Gegenüberstellung ist, daß er Hubmaier den Kleinsten unter den
Großen der Reformation nennt. Gleichzeitig sei er jedoch der Größte unter
den Täufern der Anfangszeit gewesen. Was er mit denen gemeinsam gehabt
habe, sei aber, abgesehen von der Tauflehre, nicht das für sie Charakteri-
stische gewesen. *? Nach Sachsses Ansicht stand Hubmaier somit der Refor-
mation näher als dem Täufertum.
Einige Jahre, bevor Sachsses Standardwerk erschien, wurde auch eine
Hubmaier-Biographie von dem Historiker Wilhelm Mau herausgegeben.
Darin wird Hubmaier als eine temperamentvolle und aktive Natur und als
ein scharfer und klarer, aber nicht origineller Denker dargestellt, der mit
volkstümlicher Beredsamkeit und kräftigem Humor begabt gewesen sei. *?
Mau versucht, Hubmaiers Kirchen- und Frömmigkeitstyp an Hand von
45
1936 erschien der erste Teil von Leonhard Theobalds Regensburger Refor-
mationsgeschichte. Darin wird ein wichtiger Abschnitt in Hubmaiers Leben,
die Zeit von 1516-1523, teilweise völlig neu beleuchtet. Theobald vermittelt
vor allem neues Wissen über Hubmaier als Führer der großen Wallfahrts-
bewegung in Regensburg 1519/20, und dank seiner Forschungen weiß man
jetzt, wann und wo Hubmaiers endgültiger Durchbruch zum evangelischen
Glauben geschah. % In einem Aufsatz von 1941 hat der Lutheraner Theo-
bald außerdem, nach seinen eigenen Worten, den ersten Versuch zu einer
Gesamtcharakteristik Hubmaiers unternommen. Dabei entwirft er ein ganz
anderes Bild als Mau und Stauffer, es ist vom Konfessionalismus bestimmt
und gleicht in gewisser Hinsicht dem Sachsses.
Theobald betont in diesem Zusammenhang Hubmaiers Eifer, Beredsam-
keit und seine große intellektuelle Begabung, vorherrschend seien bei ihm
aber doch die schlechten Eigenschaften gewesen: Unselbständigkeit, Ehrgeiz,
Hochmut, Verlangen nach Geld, und natürlich wird Hubmaier auch als
Revolutionär bezeichnet. Über diese althergebrachte Beschreibung hinaus
hält Theobald Hubmaier für rechthaberisch, kritiklos, unwahrhaftig, un-
keusch, mutlos und feige. Außerdem sei er ein Moralist und Rationalist
gewesen, der nicht auf dem Boden des evangelischen Glaubens gestanden
habe. Zusammenfassend heißt es, daß Hubmaier einer der kleinen oder
kleinsten Geister der Reformationszeit gewesen sei. Hier zeigt sich, daß eine
offenbar ernst gemeinte Darstellung noch immer einseitig auf die kritischen
und polemischen Aussagen aufgebaut wird, die in älterer und jüngerer Zeit
über Hubmaier gemacht worden sind, und daß zudem noch neue hinzu-
gefügt sind. Theobalds wichtigste Quelle ist eine Schrift Fabris, die er ohne
jegliche Kritik benutzt. 27 Weiterhin ist es auffallend, daß Theobald Sachsses
negative Aussagen über Hubmaier in vergröberter Form wiedergibt, wäh-
rend er die positiven übergeht. *3 In diesem eigenartigen Forschungsbeitrag
lebt der Geist der Ketzerverfolgung erneut auf, und er ist gleichzeitig ein
Beispiel dafür, daß Hubmaiers Persönlichkeit noch immer die Kraft hat,
leidenschaftlichen Widerspruch hervorzurufen. In einer jüngeren historischen
Darstellung der evangelischen Kirche Regensburgs von Robert Dollinger ist
in Anlehnung an Theobald von neuem das wohlbekannte Bild des redege-
wandten, aber ehrgeizigen und unbeständigen Hubmaier umrissen worden. *
45
der Mystik vor.55 Auf diesen Zusammenhang hatte schon ı92ı Emil Hän-
diges aufmerksam gemacht. Nach ihm sei es als sicher anzunehmen, daß
Hubmaier in seiner Lehre von der Willensfreiheit auf dem Boden der deut-
schen Mystiker gestanden habe, die seine wie auch Dencks Theologie stark
beeinflußt hätten. 5 Neuerdings hat auch Georg Huntston Williams betont,
daß Hubmaier in seiner Auffassung von der Willensfreiheit den Spiritua-
listen nahegekommen sei, °’ und Thor Hall hebt besonders Hubmaiers dies-
bezügliche Übereinstimmung mit Erasmus und Denck hervor. 5
Hier ist auf eine wesentliche, in der früheren Forschung wenig beachtete
Verbindungslinie zwischen Hubmaiers Gedankenwelt und der der spiritua-
listischen Täufer, vor allem Dencks, hingewiesen worden. Daraus ergibt
sich, daß das aktuelle, oben erörterte Problem Täufertum und Spiritualis-
mus auch Hubmaier berührt. Trotz alles dessen, was Hubmaier nach Schulzes
Meinung mit den Täufern gemeinsam hatte, nennt er ihn einen Täufer
„wider Willen“. Diese Beurteilung zeigt, daß Schulze sich nicht der Trag-
weite seiner eigenen Feststellungen bewußt ist. Die Frage nach Hubmaiers
Verhältnis zur Reformation und zum Täufertum muß auch von diesem
Gesichtspunkt aus gestellt werden, und die bisher gegebenen Antworten
sollten überprüft werden.
47
Jahrhunderts bezeichnet, wobei er u. a. auch auf die Beurteilung Sachsses
hinweist. 65° Im Gegensatz zur Mehrzahl der Forscher ist Wiswedel der An-
sicht, daß bezüglich der Grundwahrheiten des christlichen Glaubens und
Lebens keine Meinungsverschiedenheiten zwischen der Mehrzahl der Täu-
fer und Hubmaier bestanden hätten. ®
Newman, Vedder und Wiswedel haben Hubmaiers Kampf für die Glau-
bensfreiheit besonders betont. In Einklang mit dem Zweig innerhalb der
modernen Täuferforschung, der im Täufertum den Beginn des Freikirchen-
tums der neueren Zeit sieht, haben baptistische Kirchenhistoriker sich auch
für Hubmaiers Gemeindeauffassung interessiert. In Gunnar Westins Frei-
kirchengeschichte steht Hubmaier sehr im Vordergrund. In Waldshut und
Nikolsburg habe er eine freikirchliche Gemeinde geleitet und eine be-
sonnene Haltung zu Staat und Gesellschaft gezeigt. Dadurch sei er zu einem
Vorläufer des späteren Baptismus geworden. Nach Westin ging Hubmaier
einen Mittelweg zwischen zwei „schwärmerischen“ Strömungen unter den
Täufern. Die eine sei gewalttätig gewesen und habe mit der Katastrophe
in Münster geendet, die andere pazifistisch und zur Obrigkeit negativ ein-
gestellt. #7
Der Amerikaner Robert Macoskey hat ebenfalls Hubmaier von der bap-
tistischen Tradition ausgehend dargestellt. Nach ihm war Hubmaier ein
echter Freikirchler, der erste einer bedeutend größeren Gruppe, die nach
ihm kommen sollte. Die wahrhaft bekehrte Gemeinde in Waldshut sei der
größte und tätigste freikirchliche Zusammenschluß im damaligen Europa
gewesen. Bei Macoskey hebt Hubmaier sich noch eindrucksvoller als bei
Vedder von Hans Hut und dessen Anhängern ab. Hut, der grausam, fana-
tisch und von unbeherrschtem Größenwahn erfüllt gewesen sei, habe in
Nikolsburg in Verbindung mit den unsteten und aufrührerischen Elementen
der Stadt eine Empörung inszeniert. Macoskey sieht in Hubmaiers Glau-
bensanschauungen eine bemerkenswerte Synthese von den radikalen Ideen
der Täufer und den konservativen der Reformatoren. „We see then that
Hubmaier’s position is nearly identical to themodern free church attitude.“ 8
Bei diesem Verfasser sind die Gesichtspunkte, unter denen Hubmaier und
sein Lebenswerk schon von den vorher genannten baptistischen Forschern
48
betrachtet wurden, in unhistorischer und anachronistischer Weise über-
trieben worden. Während Hubmaier bei Theobald zu einem Opfer konfes-
sioneller Schwarzmalerei wird, widerfährt ihm bei Macoskey eine konfes-
sionelle Idealisierung, die kaum übertroffen werden kann.
Indessen ist Hubmaier baptistischerseits auch in einer Weise verstanden
worden, die entschieden von der bisher aufgezeigten abweicht. Gerd See-
wald vertritt die Ansicht, daß Hubmaier zweimal versucht habe, eine täu-
ferische „Staatskirche“ zu bilden. Diese habe auf freiwilliger Mitgliedschaft
aufgebaut und sei also keine „Volkskirche“ gewesen, aber im Prinzip habe
Hubmaier das gleiche Ziel gehabt wie Zwingli in Zürich und Luther in
Sachsen. Im Unterschied zu Vedder und Macoskey hält Seewald Hut keines-
wegs für einen Fanatiker. Er habe vielmehr einen Standpunkt vertreten,
der für eine schwer verfolgte Gemeinschaft in damaliger Zeitüberzeugender
und konsequenter als der Hubmaiers gewesen sei.*® Innerhalb dieser Dar-
stellung gilt Hubmaier nicht als typischer Täufer.
Das baptistische Interesse für Hubmaier hat sich auch in Bemühungen
geäußert, seine seltenen Schriften dem modemen Leser zugänglich zu
machen. Vedder bereitete die Herausgabe dieser Schriften in einer engli-
schen Gesamtausgabe vor, dieser Plan ist aber nicht verwirklicht worden. ?®
Dagegen liegen nunmehr Hubmaiers Schriften im Originaltext in einer
modernen Ausgabe vor, die durch baptistische Initiative zustandegekom-
men ist. 7!
Unter den Mennoniten des ı7. Jahrhunderts wurde, wie schon aufgezeigt,
Hubmaier als ein wahrer Märtyrer für den täuferischen Glauben ange-
sehen. Im 20. Jahrhundert hat der Mennonit Emil Händiges diese Tradi-
tion weitergeführt, indem er Hubmaier den bedeutendsten Führer der
frühen Täuferbewegung nennt und dessen Schrifttum zu den grundlegen-
den Bekenntnisschriften der Mennoniten zählt. Händiges stellt gleichzeitig
fest, daß Hubmaier durch sein Verhalten zur Obrigkeit, zum Kriegsdienst
und zum Eid eine Sonderstellung unter den übrigen ersten Täuferführern
einnahm. Händiges schildert aber auch, wie deutsche und andere Menno-
niten im ı9. Jahrhundert ihre bis dahin ablehnende Haltung zum Kriegs-
49
dienst und zur Annahme von öffentlichen Ämtern weitgehend aufgaben. ??
Diese Entwicklung ermöglichte eine weitere positive Beurteilung Hubmaiers
auch seitens der Mennoniten, wofür Händiges selbst ein Beispiel ist.
Die Mehrheit der amerikanischen Mennoniten ist dagegen dem alttäufe-
rischen Pazifismus treu geblieben, und von diesem Standpunkt aus gesehen
ist Hubmaier manchmal kritisch beurteilt worden. So wendet sich z. B.
Henry Smith gegen die baptistischen Historiker, nach denen Hubmaier der
größte unter den Täufern gewesen sei, und stellt in Frage, ob die Glaubens-
auffassungen des „konservativen“ Hubmaier überhaupt als täuferisch be-
zeichnet werden können. Sein Einfluß auf die Täufer der Reformationszeit
sei sehr gering gewesen. ? Der Nestor der amerikanischen, mennonitischen
Kirchenhistoriker, John Horsch, hat in dieser Hinsicht eine vermittelnde
Stellung eingenommen. Er rühmt Hubmaier als einen hervorragenden
Täuferführer und theologischen Schriftsteller und sagt unter Hinweis auf
Usteri, Loserth, Hegler und Sachsse, daß Hubmaiers Verteidigung der
Glaubenstaufe niemals übertroffen worden sei. Als Folge von Hubmaiers
Bejahung des Kriegsdienstes habe aber seine Gemeinde einen völlig anderen
Charakter als die der Schweizer Täufer gehabt. Hubmaiers Gemeinde in
Nikolsburg weise eine gewisse Ähnlichkeit mit den protestantischen Staats-
kirchen auf. Horsch hebt jedoch einige Schriften hervor, in denen Hubmaier
den „staatskirchlichen“ Standpunkt widerlegt habe. ”*
Ein jüngerer Vertreter derselben Forscherschule, John Yoder, ist den
Spuren Horschs gefolgt. Wie dieser lobt Yoder Hubmaiers Schriften über
die Taufe und nennt ihn einen begabten Volksredner unter den Theologen;
er habe sich auch durch ein unvergleichlich klares Herausarbeiten des refor-
matorisch-täuferischen Schriftprinzips verdient gemacht.’5 Es liegt aber
Yoder besonders daran zu zeigen, was Hubmaier von den „eigentlichen“
Täufern unterschied. In der Verfolgung habe er nicht denselben Mut wie
sie gezeigt. Zweimal, in Waldshut und in Nikolsburg, habe er eine eigene
„Staatskirche“ gehabt, und der „staatskirchliche“ Theologe und Reformator
72 Hänpıces 1921, S. 7 £., 16, 54 £., 59, 68. — Auf Händiges’ Arbeit stützt sich
STAUFFER (1933) in seiner oben angeführten Darstellung über Hubmaier.
73 SmırH 1950. Die erste Auflage von Smiths Mennonitengeschichte erschien 1920.
— HILLERBRAND (1960, S. 422 f., Anm. 116) hat auf die bezeichnende Tatsache
aufmerksam gemacht, daß in der englischen Übersetzung von STAUFFER 1933 in
MOR 1945 ein Abschnitt ausgelassen worden ist, in dem der Verfasser sich sehr
anerkennend über Hubmaiers politische Ethik geäußert hat.
74 HorscH 1950, S. 117, 160—168. Diese Arbeit wurde 1939 abgeschlossen. —
Über Horsch (f 1941) siehe ME 2, S. 814 f., und zu der mennonitischen Täufer-
forschung vgl. o. das Kapitel Ursprung und Charakter des Täufertums.
75 Yoper 1958, $ 9, 10, 12.
50
Hubmaier lasse sich, nach Yoder, am besten als ein folgerichtiger Zwingli-
aner mit einer von Zwingli abweichenden Tauflehre beschreiben. Er sei
somit eine Zwischengestalt zwischen dem Täufertum und der Reformation
gewesen. ?* Der Mennonit Herbert Klassen hat sich ähnlich geäußert. Nach
ihm folgte man in Hubmaiers Gemeinden in Waldshut und Nikolsburg
nicht konsequent dem täuferischen Prinzip der Freiwilligkeit hinsichtlich
Taufe und Kirchenmitgliedschaft. ?” Dagegen wird Hut als ein vorbildlicher
Täufer geschildert.
Die jetzt behandelte Diskussion, die zwischen baptistischen und menno-
nitischen Historikern geführt worden ist, verdeutlicht, daß man bei der Be-
schreibung der von Hubmaier gegründeten und geleiteten Gemeinden zu
keinerlei Übereinstimmung gelangt ist. Darüber hinaus mag noch auf Maus
bereits zitierte Ausführungen wie auf eine Aussage Schulzes hingewiesen
werden, nach der Hubmaier für den Grundsatz der Volkskirche kein Ver-
ständnis gezeigt habe. 7®
Diese Verschiedenheit der Beurteilungen ist ein Zeichen dafür, daß die
Kirche bei Hubmaier sich theoretisch und praktisch nicht ohne weiteres auf
eine moderne Formel bringen läßt, wie etwa „Staatskirche“, „Volkskirche“
oder „Freikirche“. Es fällt ferner auf, daß in den beiden freikirchlichen
Forschungsrichtungen auch die Meinungen über Hut sehr auseinander-
gehen. Schon Ho$ek versuchte an Hand eines Vergleiches mit Hut Hub-
maiers Verhältnis zum Täufertum zu umreißen. Die Beziehungen zwischen
den beiden Täuferführern stellen auch heute noch eine Forschungsaufgabe
dar, die weiterer Klärung und Bearbeitung bedarf.
of
76 Ebd. $ 9, 12, 32; siehe auch YODER 1959, S. 13: Hubmaier „became the head
an Anabaptist state church“.
77. H. Kıassen 1959, S. 183.
78 SchuLzE 1957, S. 258.
51
Frage verschiedener Meinung gewesen, ob er der Verfasser der sogenannten
Zwölf Artikel der Bauern war oder nicht. Dadurch haben besonders die-
jenigen Historiker, die zustimmend darauf geantwortet haben, Hubmaier
eine wesentliche Rolle im deutschen Bauernkrieg zugemessen. Der erste, der
in neuerer Zeit diesen Standpunkt vertreten hat, ist Alfred Stern. In einer
1868 veröffentlichten Arbeit macht er geltend, daß bisher der Prediger und
Täufer Hubmaier allzu sehr vor den Politiker und Bauemführer in den
Vordergrund gerückt worden sei. Waldshut sei, nach Stern, die Wiege der
Empörung und Hubmaier der heimlich tätige „Machinator“ gewesen, der
als der angesehenste unter den Bauernräten mit seiner geübten Feder für
die Aufständischen gearbeitet habe. Stern betrachtet Hubmaier als ein Bei-
spiel dafür, wie Täuferbewegung und Bauernkrieg zusammengeflossen
seien; damit schließt er sich einer alten Auffassung an.?® Ebenso hat der-
selbe Forscher in Übereinstimmung mit dem überkommenen Bild von Hub-
maier diesen als einen ehrgeizigen Agitator und Wortführer der rebelli-
schen Bauern dargestellt. 8°
Andere Historiker übernahmen Sterns Ansichten von Hubmaier als dem
Verfasser der Zwölf Artikel und einer einflußreichen Gestalt in der politi-
schen Geschichte der Reformationszeit. Zu ihnen zählt Wilhelm Stolze, der
sich der Ansicht des Chronisten Andreas Lettsch, nach der Hubmaier der
Urheber des ganzen Bauernkrieges gewesen sei, im wesentlichen anschließt. 8!
Wilhelm Maus schon dargestellte Haltung Hubmaiers Persönlichkeit gegen-
über erklärt, warum auch er Hubmaiers politische Tätigkeit so hoch ein-
schätzt. Diese sei während der Waldshuter Zeit immer reger und von erheb-
licher Bedeutung für die Geschichte der deutschen Bauernbewegung ge-
worden. 8?
Bezeichnend ist, daß die drei angeführten Historiker für ihre Beurteilung
Hubmaiers Fabri als wichtigste Quelle benutzen und diese für sehr glaub-
würdig halten.8%® Diejenigen Forscher, die verneinen, daß Hubmaier die
Zwölf Artikel schrieb, betrachten im allgemeinen auch sein politisches Wir-
ken.als weniger bedeutsam. Sie haben ihrerseits vielfach zu großer Vorsicht bei
der Heranziehung von Fabri als Quelle gemahnt. Das trifft im besonderen
für Heinrich Böhmer und nach ihm Sachsse zu. %
52
Auch in der marxistischen Geschichtsliteratur ist auf Hubmaier aufmerk-
sam gemacht worden. Karl Kautsky hat versucht, ihn unter den sozialisti-
schen „Vorläufern“ einzuordnen. Er spricht von der demokratischen, anti-
habsburgischen Bewegung unter Hubmaiers Leitung in Waldshut. Er habe
eine kommunistische Auffassung verteidigt, die allerdings sehr milde ge-
wesen sei. In einer seiner Schriften äußert Hubmaier sich ferner über den
Jüngsten Tag, dieser Ausdruck bedeute, nach Kautsky, in der Sprache jener
Zeit das gleiche wie Revolution. Hubmaiers nach dem Buch Daniel gemach-
ten Berechnungen zufolge sollten aber noch 1277 Jahre bis zu diesem Tage
vergehen. „Ein Revolutionär, der die Revolution erst nach 1277 Jahren er-
wartet, war allerdings höchst ungefährlich“ !8® Auch der Russe M. M. Smi-
rin hat an Hand der Quellen ausführlich über Hubmaier und seine Bedeu-
tung für den Bauernkrieg geschrieben. Es gelingt ihm aber ebensowenig
wie Kautsky, Hubmaier zu einem echten Revolutionär zu machen. Ähnlich
wie Stolze und Mau betont Smirin, daß Hubmaier sich im Verlauf der
Bauernempörung in steigendem Maße den Bauern genähert habe. Dieses
politische Interesse sei aber durch das Streben nach Neugestaltung des reli-
giösen Lebens in Waldshut verursacht worden. 8®
Die beiden zuletzt genannten Aussagen Kautskys und Smirins sind sehr
aufschlußreich. Verfügt man nämlich über eine einigermaßen gründliche
Kenntnis der Quellen, ist es beim besten Willen nicht möglich, Hubmaiers
politischen Einsatz auf Kosten seines religiös-reformatorischen zu über-
schätzen.
Die jetzt gegebene Übersicht über die Literatur, in der Hubmaier behandelt
worden ist, hat verdeutlicht, daß in der Wissenschaft die Ansichten über
seine Persönlichkeit und sein Lebenswerk weitgehend in scharfem Gegen-
satz zueinander gestanden haben. Außerdem hat sich gezeigt, daß man bei
der Beurteilung Hubmaiers nicht selten von sehr subjektiven Bewertungen
ausgegangen ist. Dieser Tatbestand stellt für die Forschung einen Anreiz
dar, sich weiterhin darum zu bemühen, den umstrittenen Reformator und
Täufertheologen objektiver und weniger moralisierend zu erfassen. Von
den mancherlei Problemen, die sich dabei ergeben, sollen an dieser Stelle
drei noch einmal besonders hervorgehoben werden.
54
3. DIE QUELLEN ZU HUBMAIERS LEBEN
Die wichtigsten Quellen zu Hubmaiers Leben und Denken sind seine eigenen
Schriften und Aussagen. Während der Jahre 1524-1527 ließ er selbst vier-
undzwanzig Schriften im Druck erscheinen, die nur in sehr seltenen Exem-
plaren erhalten geblieben, jetzt aber in einer modernen Ausgabe wie-
der veröffentlicht sind. Ferner liegen Briefe und andere Schriftstücke und
Äußerungen Hubmaiers vor, die in älterer und neuerer Zeit gedruckt wor-
den sind. Die mährischen Täufer schrieben ihm außerdem zwei Lieder zu,
wovon eines möglicherweise noch erhalten ist: „Ein Preislied des göttlichen
Wortes“. Es kann jedoch nicht bewiesen werden, daß Hubmaier tatsächlich
der Verfasser ist.?2 Nur die Schriften und sonstigen Dokumente, die ohne
jeden Zweifel auf ihn zurückgehen, sollen in das folgende Verzeichnis auf-
genommen werden.
1 Bei Sacusse 1914, S. 78—-90, ist eine Übersicht über Hubmaiers Briefe usw.
gegeben, die in mancher Hinsicht unvollständig und überholt ist; mehrere der
dort gemachten Angaben sind jedoch hier übernommen worden.
2 Zu dieser Frage siehe SacHsse 1914, S. 101 f. und HS, 58 f.
55
Eine Reihe von Schreiben und Verteidigungsschriften, die vom Walds-
huter Rat herrühren und mehr oder weniger von Hubmaiers Gedanken-
welt geprägt sind, stellen eine weitere Hauptquelle für das Wissen über
dessen reformatorisches Wirken dar. Deshalb sollen hier auch zwölf Schrift-
stücke dieser Art aufgezählt werden, von denen zwei, Nr. 6 und 7, bisher
in der Forschung nicht bekannt waren.
56
. Brief an den Rat in Regensburg 1519/20. Abgedruckt nach einer Kopie
bei SacHssE 1914, S. 226 f.
. Brief an Beatus Rhenanus 1521, lateinisch. Original in der Bibliotheque
Municipale, Selestat (Frankreich). Abgedruckt bei Horawırz & Harr-
FELDER, S. 263, Nr. 192 und u. S. 97, Anm. 18.
. Brief an Johannes Sapidus vom 26. Oktober 1521, lateinisch. Abgedruckt
nach einer Kopie in TA Elsaß ı, S. 40-42, Nr. 27 (Beilage).
. Brief an Johannes Adelphi vom 23. Juni 1522, lateinisch. Abgedruckt
bei VEESENMEYER 1826, $. 232— 234.
. Brief an Wolfgang Rychard vom ı7. Januar 1523, lateinisch. Kopie aus
dem 16. Jahrhundert in der Staats- und Universitäts-Bibliothek Ham-
burg. Abgedruckt bei ScCHELHORN sr. 1738, S. 118-120.
. Aussagen bei dem Religionsgespräch in Zürich, 26. bis 28. Oktober 1523.
Nach Lupwıc HÄTzZERs gedrucktem Bericht von 1523 veröffentlicht in
Z 2, S. 716-719, 729, 760-762, 786-788.
10. Brief an den Rat in Zürich vom 7. Dezember 13523. Original im StA
Zürich. Abgedruckt bei LosertH 1891, S. 93 £., Beilage ı.
1l. Brief an den Rat in Regensburg vom Frühjahr 1524. Auszugsweise ab-
gedruckt bei GEMEINER 1824, $. 519-521 und nach ihm bei LosertH
1893,8. 41 f.
12. Brief an den Rat in Regensburg vom 27. Juni 1524. Abgedruckt nach
einer Kopie bei SacHssE 1914, S. 227 f.
13. Supplikation an den Rat in Schaffhausen vom September 1524. Origi-
nal im StA Schaffhausen. Abgedruckt bei LosEerTH 1893, S. 200-202,
Beilage 5 und in HS, S. 76 £., zu Nr. 2.
14. Brief an Huldrych Zwingli vom Spätherbst 1524, lateinisch. Original
im Zwingli-Museum, ZB Zürich. Abgedruckt in Z 8, S. 254, Nr. 353.
15. Brief an Johann Oekolampad vom 16. Januar 1525, lateinisch. Original
im StA Zürich. Abgedruckt in OekBr ı, S. 341—343, Nr. 238.
16. Brief an den Rat in Zürich vom 10. Juli 1525. Original im StA Zürich.
Abgedruckt bei LosertH 1893, S. 203 f., Beilage 6 und in TA Zürich,
S. 8uE.#N2;82.
17. Widerruf in Zürich vom Dezember 1525. Original im StA Zürich. Ab-
gedruckt in TA Zürich, S. 148 £., Nr. 147.
18. Verhörsaussagen in Zürich 1526. Ratsprotokolle im StA Zürich. Ab-
gedruckt in TA Zürich, S. 175, 193-197, 391—393, Nr. 170, 179, 404.
Im Original findet sich folgender Zusatz von Hubmaiers Hand: „Bal-
dasar Huebmor von Fridberg bezeugt solhs mit eygner hanndschrifft.“
(Siehe TA Zürich, S. 197.)
19. Eine Rechenschaft des Glaubens, datiert Kreuzenstein den 3. Januar
1528. Zeitgenössische Kopie im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Ab-
gedruckt bei SacHsseE 1914, S. 231—271 und in HS, S. 458-491, Nr. 25.
20. Urgicht (Schuldbekenntnis vor Gericht) in Wien vom März 1528. Ge-
druckt bei FAasrı 1528c, nach ihm bei LosErtH 1893, S. 215 f. und bei
BÖHMER, Urkunden, S. 13 f.
[0]N
18
Schreiben und Verteidigungsschriften des Waldshuter Rates 1523-1528
Täuferquellen
Die letzten drei Jahre seines Lebens, 1525-1528, war Hubmaier ein sehr
bedeutender Mann innerhalb der Täuferbewegung. Aus diesem Grunde
stellen die zeitgenössischen Täuferakten eine wesentliche Quelle zu seinem
Leben dar. Unter Täuferakten werden hier Schriften, Briefe, Bekenntnisse,
Verhörsprotokolle und sonstige Dokumente verstanden, die unmittelbar von
Täufern stammen oder deren Aussagen und Anschauungen wiedergeben.
Seit 1930 werden die noch vorhandenen Täuferquellen durch umfassende
58
Veröffentlichungen der Forschung zugänglich gemacht. Für die hier vor-
liegende Arbeit sind sie von außerordentlichem Wert gewesen, unter ihnen
besonders die Ausgabe der Zürcher Täuferquellen. Auch die Editionen
Täuferakten aus Baden/Pfalz, Bayern, Straßburg und Württemberg sind
hier benutzt worden; die wichtigen Augsburger Akten liegen in älteren Ab-
drucken vor. Weitere hier verwandte Veröffentlichungen dieser Art sind die
„Glaubenszeugnisse oberdeutscher Taufgesinnter“ und Hans Dencks Schrif-
ten. In die Reihe dieser Publikationen ordnet sich auch die Neuausgabe von
Hubmaiers Schriften ein.? Teilweise konnte in dieser Untersuchung auch
ungedrucktes Material zur Geschichte der Täufer herangezogen werden.
Eine Gattung von Täuferquellen soll besonders erwähnt werden: die
Hutterischen Geschichtsbücher. Das bedeutendste unter ihnen ist von A. J.
F. Zieglschmid in einer modernen wissenschaftlichen Ausgabe veröffent-
licht worden: „Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder“. Dieses große
Geschichtswerk, das im Druck 898 Textseiten umfaßt, geht bis zum Jahre
1665. Den ersten und ältesten Teil stellte der schlesische Täufer Kaspar
Braitmichel gegen Ende seines Lebens zusammen. Er starb 1573 in Auster-
litz (Slavkov). Seine Schilderungen gehen bis zum Jahre 1542, und er hat
seinen Angaben authentisches, von den Hutterern gesammeltes Material
zugrundegelegt. Mehr als ein Fünftel der ganzen Chronik besteht aus Zitaten
aus Briefen, Glaubenszeugnissen und ähnlichen Dokumenten, darunter
auch ein Auszug aus einer Hubmaier-Schrift.* Außer dieser „Großen Chro-
nik“ der Hutterer gibt es auch eine Reihe kleinerer Geschichtsbücher, die
teilweise von dem großen abhängig sind, teilweise anderes Material ent-
halten. Neunzehn von ihnen wurden von Josef Beck gesammelt und mit
Ergänzungen in einem Band als Kompilation herausgegeben.
Die hier angeführten Chroniken der Hutterischen Brüder sind kenn-
zeichnend für deren Interesse und Verständnis für die eigene Geschichte.
Im folgenden soll an Hand von Beispielen belegt werden, daß es sich in
dieser Literatur um eine bestimmte Interpretation der Täufergeschichte
handelt. Das schließt nicht aus, daß es sich hier um Quellen und Auskünfte
von echtem historischen Wert handelt.
3 Die oben genannten Quellenausgaben werden in dieser Arbeit unter den folgen-
den Abkürzungen zitiert: TA Zürich, TA Baden/Pfalz, TA Bayern 1—2, TA
Elsaß 1—2, TA Württemberg, DS 1—3, HS. Von den veröffentlichten Augsburger
Täuferakten sind die bei MEYER 1874 gedruckten für diese Darstellung besonders
wichtig.
4 Zum Hubmaier-Zitat in der Chronik vgl. ZIEGLSCHMID, $. 49, mit HS, S. 169 r.
5 Über die Hutterische Geschichtsliteratur siehe BECK (1883), S. V ff., ZIEGLSCHMID
(1943), S. XXIIIff. und FRIEDMAnN 1955c.
59
Von der Schweizer Reformation herrührende Quellen
60
und in seinen zwei Geschichtswerken „Der Wiedertäufer Ursprung“ und
der „Reformationsgeschichte“* hat er auch Hubmaiers Entwicklung zum
Täufer geschildert. In der letztgenannten Schrift sagt Bullinger über Hub-
maier, daß dieser beredt und ziemlich belesen sei, aber von unsteter Ge-
sinnung, die ihn hin und her schwanken lasse. Obwohl zunächst ein recht-
schaffener Freund Zwinglis, sei Hubmaier durch Thomas Müntzer „gar
verkehrt“ geworden. Dieser große Aufrührer und Verführer habe nicht nur
die Wiedertaufe, sondern allerlei böse Verwirrung in Hubmaier „gepflanzt“,
der „das Haupt und der Fürnehmste in der Sekte der Wiedertäufer“ seı.®
In diesen Äußerungen wird die ausgesprochen abfällige Tendenz in Bul-
lingers Ausführungen über die Täufer deutlich. Dieser zum Trotz und ob-
gleich die zitierten Aussagen Jahrzehnte nach dem Beginn der Täufer-
bewegung niedergeschrieben wurden, zeigt Bullinger nicht selten in Einzel-
heiten, daß er auf zuverlässige Unterlagen zurückgreifen konnte. Das gilt
teilweise auch für seine Berichte über Hubmaier und die Geschehnisse in
Waldshut.
Wie bei Bullinger nimmt Hubmaiers Schicksal in Waldshut und Zürich
1525/26 auch in Johannes Keßlers „Sabbata“ einen breiten Raum ein; der
Name der Chronik soll kennzeichnen, daß sie in freien Stunden geschrieben
wurde. Als Handwerker und später als Schulmeister wurde Keßler einer der
eifrigsten Förderer der Reformationsbewegung in St. Gallen. Seine Schil-
derungen davon gehören zu dem Wertvollsten in seiner Chronik; durch
Keßler ist u. a. Hubmaiers erfolgreiche Tätigkeit in der Stadt im Jahre 1523
der Nachwelt überliefert worden. Die Aufzeichnungen in der „Sabbata“
sind ferner eine wichtige Quelle zur Geschichte der Waldshuter Täufer-
reformation, und die diesbezüglichen Angaben gehen wahrscheinlich auf
Augenzeugen zurück. Unter den Evangelischen gehörte Keßler zu denen,
die am mildesten über den „Erzwiedertäufer“ Hubmaier urteilten. Vor
seinem Übertritt zu den Täufern sei dieser als ein gelehrter evangelischer
Prediger bekannt gewesen, den das Volk gern gehört habe, weil er mit
„lieblichem und hellem Gespräch“ begabt gewesen sei. !"
61
Noch eine weitere Chronik, die innerhalb der evangelischen Bewegung
in der Schweiz entstand, enthält wertvolle Angaben über Hubmaier: Jo-
hannes Stumpfs „Schweizer- und Reformationschronik“, die jetzt in einer
modernen Ausgabe vorliegt. Stumpf war ein entschiedener Anhänger der
zwinglischen Reformation, und in seinem Geschichtswerk verteidigt er sie
gegen die Widersacher, u. a. gegen die Täufer. Der apologetische Zweck sei-
ner Ausführungen verhindert es nicht, daß deren Quellenwert mitunter
erheblich ist; im Vergleich mit Bullinger hat Stumpf seinen Stoff viel we-
niger tendenziös ausgewertet und bearbeitet. Seit 1522 war er Pfarrer in
Bubikon im Zürcher Oberland. In diesem Gebiet war die Täuferbewegung
besonders erfolgreich, und Stumpf konnte aus eigener Erfahrung über sie
berichten. Auf Grund der Tatsache, daß er das Täufertum folglich persön-
lich kannte, sollte seinen Aussagen über Hubmaier und das Waldshuter Ge-
schehen entsprechende Beachtung geschenkt werden. !!
Als eine seiner wichtigsten Vorlagen dienten Stumpf die Aufzeichnungen
zur Reformationsgeschichte, die offensichtlich auf den Zürcher Ratsherrn
Fridli Bluntschli zurückgehen. !? Die Abschnitte in Bluntschlis Berichten,
in denen die Täufer und unter ihnen auch Hubmaier erwähnt werden, sind,
gleich der Chronik Stumpfs, in jüngster Zeit veröffentlicht worden. !?
Bluntschlis und Stumpfs Darstellungen können darum leicht miteinander
verglichen werden, wobei es sich zeigt, daß Stumpf Bluntschlis Angaben
über Hubmaier teilweise wörtlich übernommen und in seine eigenen Schil-
derungen eingearbeitet hat. !* Für Hubmaiers Aufenthalt in Zürich Dezem-
ber 1525 bis April 1526 stellen Bluntschlis Notizen eine hervorragende
Quelle dar, es versteht sich aber von selbst, daß Stumpf eingehender Aus-
kunft über die Täuferbewegung in Grüningen geben kann als der Zürcher
Ratsherr.
11 Über Stumpf (1500—1577/78) und die Entstehung, Quellen und Bedeutung sei-
ner Chronik siehe H. MüLers Einleitung zu Stumpr (1952), S. VIIf. und
LÖTSCHER 1943, S. 114 ff.
12 Siehe H. MÜLLER, Einleitung zu STumPr, S. XIV £. — Über Bluntschli (t 1531)
siehe HBLS 2, S. 280, Nr. 8.
13 Bei Fast 1959, S. 168—171, in dieser Arbeit als BLUNTSCHLI angeführt.
14 Vgl. Bruntschuiı, S. 169 f., mit StumPpr, S. 290 £. 4
62
lichen Tätigkeit wurde er dann von seiner alten Kirche scharf beobachtet.
Das hat zur Folge, daß ein wesentlicher Teil des Quellenmaterials zu Hub-
maiers Leben katholischen Ursprungs ist. Ähnlich wie die Berichte und
Urteile über Hubmaier, die von der evangelischen Seite stammen, sind die
Aussagen der Katholiken über ihn begreiflicherweise überwiegend polemisch
ausgerichtet. Dennoch vermitteln die diesbezüglichen Dokumente Kennt-
nisse, die für die Lebensgeschichte und Charakteristik Hubmaiers unent-
behrlich sind. Die kirchlich-katholischen wie auch kirchlich-evangelischen
Stellungnahmen gegen den bekannten Ketzer und Täuferführer, die hand-
schriftlich oder im Druck überliefert worden sind, sind mehrfach offizieller
und autoritativer Art und zeigen dadurch die Bedeutung von Hubmaiers
Lebenswerk. Unter den zeitgenössischen katholischen Gewährsmännern, die
über Hubmaier berichtet haben, überragen zwei alle anderen an Bedeutung:
Johann Fabri und Heinrich Küssenberg.
Der spätere Bischof von Wien, Johann Fabri von Leutkirch, beendigte
einen Tag nach dem Tode seines ehemaligen Freundes und Studienkollegen
Hubmaier eine Flugschrift mit dem Titel: „Ursache warum der Wiedertäufer
Patron und erster Anfänger Doktor Balthasar Hubmaier zu Wien auf den
zehnten März 1528 verbrannt wurde.“ Nach Fabri habe Hubmaier in seinem
hoffärtigen, bösen Geist erdacht, wie er unsterblich und reich werden könne.
Zu diesem Zweck habe er seinem alten Glauben abgesagt und neue Dinge
eingeführt, was beweise, daß er nicht beständig gewesen, sondern stets von
einem in das andere gefallen sei. In dieser für das Volk bestimmten Streit-
schrift stellt Fabri Hubmaier weiter als einen Anführer und Feind der
Obrigkeit hin.!° In einer anderen lateinisch geschriebenen Auseinander-
setzung mit Hubmaier, der „Defensio“, nennt Fabri ihn jedoch einen Mann
von außerordentlichem Geist, der an Bildung alle anderen Reformatoren
übertreffe. 16 Beide Schriften waren ein Glied in dem umfassenden Kampf,
den Fabri gegen die Reformation im allgemeinen führte, und das in ihnen
gegebene Bild von Hubmaier ist begreiflicherweise überwiegend negativ.
Die „Ursache“ und die „Defensio“ enthalten eine Reihe aufschlußreicher
15 Fasrı 1528c. Der größte Teil dieser Schrift ist bei LosertH 1893, S. 210—216,
abgedruckt. Sie ist Wien, am 11. März, datiert und erschien im gleichen Jahr in
zwei Ausgaben, siehe das Verzeichnis der Werke Fabris bei HELBLInG 1941, S.
142, Nr. 21, 22.
16 Fasrı 1528a, Bl. B 2r: „Is inquam electi spiritus homo fuit, ut se sua eruditione
cunctos Zuinglios, Oecolampadios, ipsumque adeo Lutherum praecellere et longe
anteire gloriatus fuerit“. Das Vorwort der Schrift ist datiert Prag, am 1. Juli 1528.
Außer den bei HeLsLing 1941, S. 143, Nr. 30, verzeichneten zwei Exemplaren
gibt es ein weiteres in der UB Olmütz.
63
Angaben über Hubmaier und dessen kirchliche und politische Tätigkeit, die
sich nur bei Fabri finden. Im folgenden sollen sie an einschlägigen Stellen
herangezogen und überprüft werden.
Heinrich Küssenbergs Chronik über die Reformation in Südwestdeutsch-
land ist nicht im Original erhalten, ist aber nach zwei Abschriften in neuerer
Zeit von Johann Huber veröffentlicht worden. In der Chronik ist ver-
merkt, daß Ulrich Wagner Küssenbergs unmittelbarer Nachfolger als
Pfarrer in Waldshuts Nachbarort Dogern gewesen sei. Dies wird in Ver-
bindung mit einer evangelischen Neuerung des Gottesdienstes erwähnt, die
Wagner zu Ostern 1525 in Dogern durchgeführt haben soll. 17 Wahrschein-
. lich hatte die Reformation den Anlaß dazu gegeben, daß der altgläubige
Küssenberg Dogern verlassen mußte, was spätestens Anfang 1524 geschah.
In einer Urkunde vom 31. Januar desselben Jahres wird nämlich Wagner
als Pfarrer in Dogern und Küssenberg als Kaplan in Klingnau erwähnt. !®
Beide Orte liegen ganz in der Nähe von Waldshut, und wahrscheinlich hatte
Küssenberg Hubmaier während dessen katholischer Zeit in Waldshut per-
sönlich kennengelernt. Von dem auf schweizerischen Gebiet gelegenen
Klingnau aus konnte Küssenberg die kirchlichen und politischen Ereignisse
in Waldshut gut verfolgen; seine Schilderungen vom Waldshuter Refor-
mationsgeschehen umfassen das Jahr 1524 und das erste Halbjahr 15235. !?
Aus der folgenden Darstellung wird hervorgehen, daß Küssenbergs An-
gaben über die kirchlichen Verhältnisse in Waldshut zu Hubmaiers Zeiten
an mehreren Punkten durch andere Quellen bestätigt werden. Für das
äußere Geschehen der Waldshuter Reformation ist diese Chronik eine der
aufschlußreichsten Quellen, die es gibt.
64
Nach Küssenberg war Hubmaier, wie bereits erwähnt, ein „gelehrter aber
verkehrter Kopf“, der 1524 angefangen habe, eine ketzerische Lehre zu ver-
teidigen, die sich sehr auf den „Lutherano-Calvinismus“ gegründet habe. 2°
Aus dieser Beurteilung wird die kritische Einstellung des Katholiken Küssen-
berg Hubmaier gegenüber deutlich. Sie zeigt auch, daß die Chronik erst
abgeschlossen wurde, als Calvin bekannt geworden war. Bei ihrer Aus-
arbeitung muß Küssenberg anderseits über Aufzeichnungen verfügt haben,
die unmittelbar im Anschluß an das Geschilderte gemacht worden waren.
Zwei weitere katholische Chronisten, Andreas Lettsch und der Abt Caspar,
haben über Hubmaiers Wirken in Waldshut berichtet. Beide Werke ent-
standen in St. Blasien im Schwarzwald, d. h., gleich der Küssenbergs, in der
Nähe von Waldshut. Das Kloster St. Blasien besaß Bürgerrecht in Walds-
hut, ?! darum hatte man besonderes Interesse daran, die Vorgänge in dieser
Stadt aufmerksam zu beobachten. Der Kleriker Andreas Lettsch stand bis
zu seinem Tode um 1534 als Notar im Dienst dieses Klosters. Gegen Ende
seines Lebens schrieb er seine Chronik. Darin erzählter u. a. von dem Bauern-
krieg im Schwarzwald und den gleichzeitigen Ereignissen in Waldshut. ??
Dieses Thema wird auch in Caspar Molitoris’ „Stiftungsbuch von St. Blasien“
ausführlich behandelt. Der Verfasser wurde 1504 in Schönau, Schwarzwald,
geboren. Sein Geschichtswerk stellte er im Kloster St. Blasien zusammen,
dessen Abt er 1541 wurde. In seinem „Stiftungsbuch“ schreibt er unter dem
Namen Abt Caspar I. die Geschichte seiner Vorgänger im Amt seit dem
14. Jahrhundert und berichtet über das kirchliche und politische Leben im
Schwarzwald bis in sein Todesjahr 1571. In der Vorrede erwähnt er aus-
drücklich, daß er bei der Ausarbeitung seines Buches im Kloster vorhandene
Briefe und Bücher benutzt habe. Von 1535 an wohnte Caspar in St. Blasien,
es ist aber nicht bekannt, ob er vorher als junger Mann den Bauernaufstand
im Schwarzwald persönlich miterlebte. ?°
Lettsch sagt in seiner Chronik über „Doktor Balthasar“, daß dieser wider
alle Obrigkeit, geistliche wie auch weltliche, gepredigt und dadurch die
Bauern gegen ihre Herren „erhitziget“ habe. Auch Abt Caspar gibt die von
Hubmaier geführte kirchliche Bewegung in Waldshut als eine Ursache des
20 KÜSSENBERG, S. 9.
21 Siehe EA A:la, S. 661.
22 Über Lettsch und seine Chronik siehe Mones Einleitung zu LETTSCH (1854),
S. 42.
23 Über Caspar Molitoris und die Entstehung des „Stiftungsbuches“ siehe Quellen-
sammlung 1 (1848), Mones Einleitung, S. 73 ff. und Stiftungsbuch (1854), S. 56f.
65
Bauernaufruhrs an.** Aussagen wie diese zeigen, wie katholische Berichter-
statter in der Nachbarschaft Waldshuts über Hubmaiers Tätigkeit dachten.
In den beiden genannten Chroniken von St. Blasien findet man außerdem
mehrere sonst unbekannte Notizen über Hubmaier und Waldshut, die im
weiteren Verlauf dieser Untersuchung verwertet werden sollen.
Schließlich mag noch auf ein Geschichtswerk kirchlich-katholischen Ur-
sprungs hingewiesen werden: Leonhard Widmanns Regensburger Chronik.
Der Verfasser, der wahrscheinlich 1511 die Priesterweihe empfangen hatte,
war bis zu seinem Tode 1557 Vikar in Regensburg. Seine Aufzeichnungen
sind eine wertvolle Quelle zu Regensburgs Geschichte.2° In dieser Stadt
wirkte Hubmaier gleichzeitig mit Widmann jahrelang als katholischer Prie-
ster, und die beiden dürften sich als Kollegen persönlich gekannt haben. In
seiner Chronik erzählt Widmann von Hubmaiers Tätigkeit als Wallfahrts-
prediger, wobei eine Doppelheit in der Beurteilung deutlich wird. Er nennt
ihn einmal ein „ehrbares Herz“, gleich danach heißt es aber, daß Hubmaier
ein „großer Schalk“ gewesen sei. Beide Äußerungen beziehen sich auf
Hubmaiers zweiten Aufenthalt in Regensburg im Winter 1522/23, daran
anschließend wird dann seine Verbrennung in Wien als „Vater der Wieder-
täufer“ erwähnt.?2* Widmanns Notizen wurden folglich erst nach Hub-
maiers Tod 1528 zusammengestellt. In der Hauptsache werden sie von
anderen Quellen bestätigt.
Die angedeutete Art Widmanns, die Gestalt des ehemaligen Kollegen zu
umreißen, und auch Vorteilhaftes an ihr zu sehen, läßt darauf schließen,
daß Hubmaier als Täufer in Regensburg nicht ausschließlich geringschätzig
betrachtet wurde, wie es sonst seitens der katholischen Kirche allgemein
geschah. Die oben angeführte Äußerung aus Fabris „Defensio“, nach der
Hubmaier ein hochbegabter Mann gewesen sei, stellt eine weitere Ausnahme
von dieser Regel dar. Es spricht sehr für Hubmaier, daß zwei katholische
Priester, die ihm persönlich nahegestanden hatten, nicht umhin konnten,
ihm trotz aller Kritik auch positive Eigenschaften zuzuschreiben.
66
Quellen aus dem Bereich der politischen Geschichte
Ein gemeinsamer Zug der drei letzten unter den vier bisher behandelten
Gruppen von Quellen zu Hubmaiers Leben und Wirken ist, daß sie in be-
stimmten kirchlich-religiösen Richtungen ihren Ursprung haben, nämlich
dem Täufertum, der Schweizer Reformation und der katholischen Kirche.
Die fünfte und letzte Kategorie von Quellen, die hier beschrieben werden
soll, ist auch weitgehend aus Anlaß der Glaubensspaltung des ı6. Jahr-
hunderts entstanden. Diese Quellen gehen aber auf Behörden und Männer
des politischen Lebens zurück und sind nicht theologisch oder kirchlich im
engeren Sinne.
Derartige in dieser Arbeit benutzte Dokumente sind u. a. die deutschen
Reichstagsakten, Urkunden, die vom Schwäbischen Bunde stammen, die
Eidgenössischen Abschiede, Instruktionen und Briefe von Erzherzog bzw. ab
1527 König Ferdinand und Berichte und Schreiben von dessen Regierungen
und Kommissaren. Hierher gehören auch die Dokumente, die aus der deut-
schen Bauernbewegung 1524/25 hervorgegangen sind und die oben ver-
zeichneten Schreiben und Schriften des Waldshuter Rates. Zu dem Quellen-
material dieser Art zählen außerdem die bereits genannten Aufzeichnungen
des Zürcher Ratsherrn Fridli Bluntschli. Wegen ihrer nahen Beziehung zu
Stumpfs Reformationschronik wurden sie jedoch unter den Quellen refor-
matorischer Herkunft angeführt.
Hubmaiers Wirken in Waldshut in den Jahren 1523-1525 isteng mitdem
Geschehen der Reformation und des Bauernaufstandes in Süddeutschland
verknüpft. Dies ist ein in der Forschung gründlich behandeltes Thema, und
eine Fülle von einschlägigen Quellen liegt dazu im Druck vor. In mehreren
Fällen wurde in dieser Abhandlung aber auch ungedrucktes Material aus
dem Bereich der politischen Geschichte benutzt. Nicht selten erwies es sich
außerdem als ergiebig, die Vorlagen bereits vollständig oder in Regestform
veröffentlichter Dokumente heranzuziehen. Im folgenden sollen die sich
ergebenden quellenkritischen Fragen an den betreffenden Stellen aufge-
griffen werden.
Abschließend mag auf noch eine Chronik eingegangen werden, die in
der kommenden Schilderung wiederholt zitiert werden wird: Heinrich Hugs
Villinger Chronik. Sie ist dem Charakter nach ein Tagebuch und umfaßt
die Jahre 1495 bis 1533. Der Verfasser war vom Anfang des 16. Jahrhunderts
an jahrzehntelang Ratsherr in der Stadt Villingen im nordöstlichen Schwarz-
wald. In dieser Eigenschaft hatte er Zugang zu den amtlichen Akten seiner
Stadt. So erklärt es sich, daß er den Brief der aufständischen Bauern an
67
Villingen vom 8. Mai 1525, den sogenannten „Artikelbrief“, wörtlich wieder-
geben konnte. ?” Hug interessierte sich zwar in erster Linie für die Ereig-
nisse in Villingen, hatte aber auch Sinn für das Geschehen außerhalb seiner
Stadt und behandelt u. a. eingehend den Bauernkrieg und die Glaubens-
spaltung in Südwestdeutschland. Er war fest im katholischen Glauben ver-
wurzelt und beurteilt von daher die Geschehnisse. In seiner Chronik zeigt
Hug sich als ein zuverlässiger Berichterstatter, dessen Angaben mehrfach
an Hand anderer Quellen bestätigt werden können. ?®
27 Über den Artikelbrief s. u. das Kapitel Hubmaier, Waldshut und der sogenannte
deutsche Bauernkrieg.
28 Über sein Leben und seine Chronik siehe Huc, S. 212 ff., d. h. das Nachwort des
letzten Herausgebers RoDER (1883). — Im Originalmanuskript fehlen u. a. die
Notizen für die Zeit Dezember 1524 bis März 1525, vgl. Huc, S. 106—110.
68
ein soweit wie möglich objektives Bild von den Beweggründen, Anschau-
ungen und Geschehnissen in Hubmaiers Leben zu gewinnen. In der gegen-
wärtigen Forschung kann man erfreulicherweise eine wachsende Bestrebung
feststellen, Hubmaier unabhängig von den überlieferten Werturteilen zu
schildern. Dabei geht man in erster Linie von Hubmaiers eigenen Schriften
und Äußerungen aus, die somit Gegenstand eines neuen und lebhaften
Interesses geworden sind.
69
Hubmaier und die Reformation
(1480/85— 1520)
Das früheste bekannte Datum aus Hubmaiers Leben ist der ı. Mai 1503.
An dem Tage wurde er an der Universität Freiburg im Breisgau immatri-
kuliert.! Diese Tatsache und einige Angaben von ihm nahestehenden Zeit-
genossen lassen darauf schließen, daß er Anfang oder Mitte der ı48oer
Jahre geboren wurde.? Folglich dürfte er mit Luther, Zwingli und seinem
vornehmlichsten theologischen Lehrer in Freiburg, Johannes Eck, etwa
79
gleichaltrig gewesen sein. Hubmaiers Geburtsstadt Friedbergliegt in Bayern,
etwa zehn km östlich von Augsburg, und nach ihr trug er den Zunamen
Friedberger oder Pacimontanus. 3 Die nunmehr allgemein übliche Namens-
form „Hubmaier“ war, abgesehen von gewissen Abweichungen, die ge-
bräuchlichste während seiner katholischen Zeit;? in den späteren Jahren
seines Lebens schrieb er seinen Namen meistens „Hubmör“ oder auch
„Huebmör“.5
In Freiburg ließ Hubmaier sich als ein Augsburger Klerikus eintragen,
was besagt, daß er vorher eine Schule für werdende Priester besucht haben
muß; dabei handelte es sich zweifellos um die Augsburger Domschule. ® In
einer Lobrede über seinen Schüler hat Eck geäußert, daß Hubmaier bei An-
tritt seines höheren Studiums über gute Vorkenntnisse in der Grammatik
und den leichteren Fächern verfügt habe.’ Nach einem Jahr an der Uni-
versität errang Hubmaier den Grad eines baccalaureus artium.® In seiner
Rede erwähnt Eck auch, daß Hubmaier aus einem unbemittelten Eltern-
haus komme, weshalb er gezwungen gewesen sei, für kürzere Zeit eine
Stelle als Lehrer in Schaffhausen anzunehmen.® Diese Unterbrechung des
Studiums geschah 1507. 1° Durch seinen Aufenthalt in Schaffhausen bekam
Hubmaier frühzeitig Beziehungen zur Eidgenossenschaft und dem Teil
Süddeutschlands, in dem Waldshut lag. In dieser Stadt sollte er sich später
zunächst zum evangelischen Reformator und dann zum Täuferführer ent-
wickeln.
Nach der Rückkehr von Schaffhausen widmete Hubmaier sich unter Ecks
Anleitung dem Studium der Theologie und erteilte auch selbst mit Erfolg
akademischen Unterricht. 1! Eck hielt schon 1505 als Neunzehnjähriger Vor-
lesungen über das Alte und Neue Testament, 1509 wurde er Professor der
Theologie. Zugleich war er Rektor des Studentenkollegs Pfauenburse. !? Als
7ı
Eck im Herbst ı510 nach Ingolstadt übersiedelte, übernahm Hubmaier
dieses Amt. Im folgenden Jahr erwarb er den Titel eines baccalaureus bibli-
cus.13 Erhaltene schriftliche Äußerungen Hubmaiers lassen darauf schlie-
ßen, daß er auch die biblischen Sprachen erlernte, was fraglos in Freiburg
erfolgte. 1* In einer seiner Schriften sagt er auch, daß er in dieser Stadt an
einer Disputation teilgenommen habe, die die wachsende Anzahl von
Feiertagen zum Gegenstand gehabt habe. Er selbst sei gegen diese Entwick-
lung gewesen. !5
In Freiburg lernte er ferner den Mann kennen, der — wie im vorher-
gehenden schon gezeigt wurde — die Auffassung der Nachwelt von Hub-
maier entscheidend beeinflußt hat: Johann Heigerlin von Leutkirch, ge-
nannt Fabri.1% Nach seinem Studium in Tübingen hielt Fabri vom Sommer
1509 an für kürzere Zeit Vorlesungen über das kanonische Recht an der
Freiburger Universität. 17 Er hat selbst berichtet, daß er mit Hubmaier zu-
sammen bei den gleichen Lehrern studiert habe, wodurch sie beide nahe
Freunde geworden seien. 18 i
Bei der Immatrikulation in Freiburg 1503 hatte Hubmaier sich „clericus
Augustanae dioecesis“ genannt, was sicherlich besagt, daß er nach dem
Empfang einer niederen Weihe eine Pfründe erhalten hatte. !% In einer Ver-
teidigungsschrift vom Jahre 1524 wies Waldshuts Rat darauf hin, daß die
Geistlichen der Stadt, unter ihnen Hubmaier, ihre Priesterweihe in Kon-
stanz bekommen hätten. ?° Daraus kann man folgern, daß auch Hubmaier
dort zum Priester eingesegnet worden war, da Freiburg zum Bistum Kon-
stanz gehörte. ?! Fabri gibt in seiner „Ursache“ zu verstehen, daß Hubmaier
13 Matrikel Univ. Freiburg 1, S. 150: Hubmaier „rector burse pavonis 10. Okt. 1510
...bacc. bibl. 1. Aug. 1511“. — Eck immatrikulierte sich in Ingolstadt am
3. September 1510. Matrikel Univ. Ingolstadt 1, Sp. 339; vgl. WIEDEMANN 1865,
S. 29 f., Anm. 9. ScHuLzE (1937, S. 225) gibt irrtümlicherweise an, daß Eck erst
1512 nach Ingolstadt zog.
14 Vgl. BircIr STOLT, HS, S. 50.
15 HS, S. 483.
16 Heigerlin wurde 1478 als Sohn eines Schmieds geboren, daher der Name Faber
oder Fabri. Bis etwa 1525 benutzte er wechselnd beide Namensformen, danach
nur noch die Form „Fabri“, die jetzt auch die gebräuchlichste ist. Vgl. HELBLING
1941, S. 2, Anm. 3.
17 Siehe Matrikel Univ. Freiburg 1, S. 188.
18 Fasrı 1528a, Bl. B2v—B 37T; zitiert bei Sachsse 1914, S. 122.
19 Matrikel Univ. Freiburg 1, S. 150; vgl. THEoBALD 1936, S. 38f. und 1941, S. 153
und SCHULZE 1957, S. 225.
20 Waldshuts Schreiben, Nr. 5a. LoserTH 1891, S. 110.
21 Vgl. THEoBALD 1941, S. 153.
72
schon in Freiburg als Priester und Prediger wirkte,2? was auch aus Ecks
erwähnter Rede hervorgeht. Darin rühmt Eck nicht nur seines Schülers
große Fortschritte im Hinblick auf die Gelehrsamkeit, sondern auch dessen
so hilfreiche Predigten vor dem Volk.2® Demnach zeigte sich schon früh
Hubmaiers Redebegabung, die eine wichtige Voraussetzung für seine spä-
teren Erfolge als religiöser Volksführer war.
Nach anderthalb Jahren folgte Hubmaier seinem Lehrmeister nach
Ingolstadt und schrieb sich am ı3. Februar 1512 an der dortigen Universität
ein. ?* Am 31. August des gleichen Jahres wurde er von Eck zum Lizentiaten
und drei Tage später zum Doktor der Theologie promoviert. Anläßlich der
ersten Promotion hielt Eck seine mehrmals angeführte Lobrede, die nach
damaliger Sitte dazu dienen sollte, den Lizentianden zu empfehlen. 5 Hub-
maier hatte damit seine akademische Ausbildung abgeschlossen. Er erhielt
eine Anstellung als Professor der Theologie an der Universität Ingolstadt;
in dieses Amt war auch die Pflicht einbegriffen, Pfarrer an der größten
Kirche der Stadt „zu unserer lieben Frau“ zu sein. Für das Studienjahr
1515/16 wurde er zum Prorektor gewählt, während Markgraf Friedrich
von Brandenburg Titularrektor war. Hubmaier blieb aber nicht lange in
Ingolstadt, noch vor Abschluß seines Jahres als Prorektor verließ er im
Januar 1516 die Stadt, um Domprediger in Regensburg zu werden. ?* Man
hat verschiedene Erklärungen dafür zu finden versucht, daß Hubmaier
seine theologische Lehrertätigkeit so schnell aufgab, jedoch lassen sich ledig-
lich Vermutungen darüber anstellen. ??
[1|
(6)
erklärt, Hubmaier sei in Freiburg und Ingolstadt sehr von Eck abhängig
gewesen, und sein Fortgang von Ingolstadt stelle darum den Anfang seiner
Verselbständigung dar. Theobald meint sogar, daß Hubmaier ein „Produkt“
seines Lehrers gewesen sei.2° Als ein Beispiel für Hubmaiers angebliche
Abhängigkeit von Eck weist Sachsse auf die judenfeindliche Gesinnung der
beiden Männer hin. Erst eine gedruckte Schrift Ecks von 1541 enthält je-
doch, nach Sachsse, die erste bekannte antisemitische Äußerung Ecks. Trotz-
dem nimmt Sachsse also an, daß Hubmaier mehr als 25 Jahre vor diesem
Zeitpunkt seine antijüdischen Anschauungen von Eck übernommen hat. ?°
Diese Hypothese erweist sich demnach als sehr schwach begründet. Im
folgenden Abschnitt soll außerdem gezeigt werden, daß Hubmaiers Kampf
gegen die Juden in Regensburg nicht zuletzt von seiner Auffassung vom
Zins bedingt war und daßEck zu dieser Frage eine völligandere Einstellung
hatte. Es gibt keinen Beweis dafür, daß Eck Hubmaier in dessen Haltung
den Juden gegenüber beeinflußt hat. Dagegen liegt es nahe, daß er eine
bedeutende theologische Wirkung auf Hubmaier ausübte.
Iserloh hat als Kenner der Theologie Ecks gesagt, dieser sei mit den ver-
schiedensten theologischen Richtungen seiner Zeit vertraut gewesen. Das
Kennzeichen der damaligen Theologie war, daß sie mehr oder weniger
eklektisch arbeitete. ®! In Freiburg und Ingolstadt waren zu Beginn des 16.
Jahrhunderts sowohl die via antiqua als die via moderna, die beiden vor-
herrschenden theologischen Schulen, vertreten. ®? In Freiburg gehörte Eck
der modernen Schule an, was u. a. aus der Tatsache hervorgeht, daß er
Leiter der Pfauenburse war, dem Sammelpunkt für Studenten der nomi-
nalistischen Richtung. In Ingolstadt stellte er sich dagegen bewußt außer-
halb aller theologischen Parteien und vertrat einen synkretistischen Stand-
punkt. Er hegte eine Vorliebe für Bonaventura und Duns Scotus und war
infolgedessen ein Anhänger der franziskanischen Theologie. In vielen Lehr-
fragen schloß er sich jedoch den Occamisten an. 3?
In Freiburg war Hubmaier ein Schüler Ecks und dessen Nachfolger als
Rektor der nominalistischen Pfauenburse gewesen. Daraus kann man
schließen, daß Hubmaier seine hauptsächliche theologische Schulung nach
der via moderna erhalten haben muß. Man hat über Ecks schriftstellerische
Tätigkeit gesagt, daß sie stark, wenn nicht ausschließlich polemisch ausge-
29 SacuHsseE 1914, S. 124 und THEOBALD 1941, S. 157; über Hubmaiers vermeintliche
„Unselbständigkeit“ siehe das Kapitel Hubmaier in der Forschung.
30 Sachsse 1914, S. 125 ff., ebenso THEOBALD 1936, S. 40.
31 IserLoH 1950, S. 22.
32 Siehe HERMELINK 1906, S. 135 und GrEvınG 1906, S. 96.
33 Siehe GrEvInG 1906, S. 3, 93 ff.
74:
richtet gewesen sei.°* Diese Feststellung trifft auch weitgehend für Hub-
maier zu. Bei der Beurteilung der Lehren der Kirchenväter und Theologen
an Hand der Heiligen Schrift folgte Hubmaier als evangelischer Reformator
und als Täufer dem gleichen Prinzip, das Eck in einer während Hubmaiers
Ingolstädter Zeit erschienenen Schrift so formuliert hatte: „sacra scriptura,
in qua est vera theologorum regula“.35
Von diesem Grundsatz ausgehend äußerte Hubmaier sich nach seinem
Übertritt zum evangelischen Glauben wiederholt sehr kritisch über die
theologische Ausbildung, die er während seiner katholischen Zeit empfan-
gen und auch selbst vermittelt hatte. Er sei Doktor geworden, ohne den
Weg ins ewige Leben gewußt und ohne die Evangelien und Pauli Briefe
ganz gelesen zu haben. Thomas, Duns Scotus, Gabriel Biel, Occam, die
Dekretalien, Heiligenlegenden und andere Autoritäten der Scholastik seien
bisher seine „höllischen Schriften“ gewesen. Die Lehren und Lehrer, die
sich nicht auf das Wort Gottes gründeten, wie Aristoteles, Thomas, Duns,
Bonaventura und Occam, müßten zu Boden fallen. 37” Als Gegenstück zu der
Uneinigkeit, die unter den Lehrern des neuen Glaubens herrschte, weist
Hubmaier auf die Glaubensstreitigkeiten innerhalb seiner alten Kirche hin
bis zu Robert Holkot, Gabriel Biel und Johannes Major von Haddington zu
Hubmaiers eigenen Lebzeiten. 38 Nichtsdestoweniger berief sich der Täufer-
theologe Hubmaier gern auf die dogmatischen Autoritäten der katholischen
Kirche, wenn immer er bei ihnen Unterstützung für seine eigene neue
Überzeugung zu finden glaubte. 3?
In seinen gedruckten Schriften, die alle nach seiner katholischen Zeit ent-
standen, erwähnt Hubmaier demnach eine Reihe von Scholastikern. Diese
gehören alle zu den Theologen, auf die auch Eck oft und gern hinwies. *
In diesem Zusammenhang kann jedoch nicht die Frage beantwortet wer-
den, welche Schlußfolgerungen man möglicherweise aus diesen Schriften
ziehen kann, insofern sie Hubmaiers Verhältnis zu den von Eck vertretenen
Lehrauffassungen und den verschiedenen Lehrrichtungen betreffen, mit
denen er während seiner Zeit als katholischer Theologe in Berührung ge-
kommen war.
75
Der Judengegner
Zu Beginn des Jahres 1516 übernahm Hubmaier das Amt des Dompredigers
in Regensburg. Die ungefähr fünf Jahre, über die sich sein erster Aufent-
halt in dieser Stadt erstreckte, waren in politischer und kirchlicher Hinsicht
ein dramatischer Abschnitt in Regensburgs Geschichte. Während dieser Zeit
erreichte ein seit Jahrzehnten andauernder Kampf gegen die jüdische Be-
völkerung der Stadt ihren Höhepunkt und Abschluß. Dieses Geschehen und
seine Ursachen sind zum Gegenstand einiger neuerer wissenschaftlicher
Untersuchungen geworden, auf denen die folgende Darstellung teilweise auf-
baut.*!Die Bedeutung, dieHubmaier für den Untergang der Regensburger
Judengemeinde hatte, und auch seine Einstellung zur Judenfrage sind aber
bis jetzt nicht genügend klargelegt worden. Durch eine neu erschienene
Quellensammlung ist die Lösung dieser Aufgabe wesentlich erleichtert wor-
den. ? Im folgenden soll kurz auf das darin enthaltene Material über Hub-
maier hingewiesen werden, das teilweise bisher noch nicht ausgenutzt wor-
den ist.
Das Problem der Regensburger Juden im ausgehenden Mittelalter kann
unter drei verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden: dem wirt-
schaftlichen, religiösen und dem politischen. Unter diesen drei Aspekten soll
auch Hubmaiers Kampf gegen die Juden in Regensburg zusammengefaßt
behandelt werden; eine ausführliche Darstellung der Vorkommnisse ist im
Rahmen dieser Arbeit nicht möglich.
Zins UND WuchHer. Für die einst führende süddeutsche Reichs- und Han-
delsstadt an der Donau begann im ı5. Jahrhundert die Zeit des Nieder-
gangs. Diese Entwicklung muß in Zusammenhang mit der allgemein fallen-
den Tendenz innerhalb der europäischen Wirtschaft im 14. und ı5. Jahr-
hundert gesehen werden. #3 Regensburg verlor neben Augsburg und Nürn-
41 Straus 1932, Grau 1934 und THEOBALD 1936, S. 33—49. — Die Angaben im
folgenden, die nicht mit Quellenhinweisen belegt sind, gehen auf Straus’, Graus
und Theobalds Darstellungen zurück. Diese sind, jede in ihrer Art, davon geprägt,
daß sie im Deutschland der 1930er Jahre entstanden. Als Jude betrachtet Straus
die Dinge von einem anderen Ausgangspunkt als Grau und Theobald es tun; vgl.
besonders THEOBALD 1936, S. 49.
42 STRAUS, Urkunden (1960). Dieser Quellenband lag schon 1933 in Korrektur vor,
konnte aber aus politischen Gründen nicht herausgegeben werden. Er wurde von
Straus und Grau in den vorher genannten Arbeiten benutzt, in denen Hubmaier
jedoch nur beiläufig behandelt worden ist. Zur Geschichte von Straus’ Quellen-
sammlung siehe das Geleitwort, S. 5* ft.
43 Siehe Postan 1952, S. 191 ff.
76
berg immer mehr an Bedeutung. Die handwerkliche Produktion ging ver-
hängnisvoll zurück, das Bürgertum verarmte, und die Verschuldung wurde
immer belastender. Dies ist die wichtigste Erklärung dafür, daß die Juden-
frage in Regensburg an der Wende zur neueren Zeit so brennend wurde.
Die große Regensburger Judengemeinde hatte seit Jahrhunderten eine
führende Stellung innerhalb des deutschen Judentums innegehabt. Der
offene Kampf gegen sie begann in den 1470er Jahren und war 1519 zu
Ende, als die jüdische Bevölkerung der Stadt insgesamt vertrieben und ihre
Synagoge zerstört worden war.
Die traditionelle, rechtmäßige Einnahmequelle der Juden war im Mittel-
alter das Darlehensgeschäft, das auf Grund des kanonischen Zinsverbotes
für den Christen grundsätzlich nicht statthaft war. Im Laufe des ı5. Jahr-
hunderts erlangte außerdem der unerlaubte Warenhandel der Juden immer
erheblichere Bedeutung. Der wachsende ökonomische Einfluß der Juden
veranlaßte den Rat in Regensburg, eine aktiv judenfeindliche Politik zu
betreiben, hinter die sich auch die kirchliche Obrigkeit der Stadt stellte. Seit
1507 war der Pfalzgraf Johannes electus und Administrator von Regens-
burg. Er empfing nie die Bischofsweihe, sondern blieb ein weltlicher Fürst.
In seiner Haltung zu den Juden war er von der mittelalterlichen Wirt-
schaftsethik bestimmt, wofür ein 1512 erlassenes Diözesanmandat gegen
den Wucher der Juden ein Beispiel ist; das Mandat wurde am 7. Juli 1517
vom Papst bekräftigt.** Aus diesem Anlaß soll Hubmaier, nach Angaben
der Juden, von der Kanzel gesagt haben: „Wir haben von Rom Bullen aus-
gebracht, kraft welcher jeder im Bann ist, der einem Juden zu seinen wuche-
rischen Zinsen verhilft.“ 5 In einer Verhörsaussage in Zürich 1526 gestand
Hubmaier selbst, in Regensburg gegen den „großen, überschwenglichen
Wucher“ der Juden gepredigt zu haben, unter welchem die Bürger schwer
gelitten hätten.** Das war das Hauptmotiv in Hubmaiers antijüdischer
Verkündigung in Regensburg, und seine Auffassung vom Zins und Wucher
gibt eine wesentliche Erklärung für seine grundsätzliche Haltung den Juden
der Stadt gegenüber.
In einer seiner Schriften verwirft Hubmaier ohne jegliche Einschränkung
das Erheben von Zinsen. Er tut das in Polemik gegen den Papst, der dem
klaren Worte Christi zum Trotz 5 °/o Zinsen „et paulo plus“ zugelassen
77
habe. Das Christus-Wort, auf das Hubmaier in diesem Zusammenhang
hinweist, ist die für das Zinsnehmen klassische Bibelstelle aus der Berg-
predigt bei Lukas: „Vielmehr liebet eure Feinde; tut wohl und leihet, daß
ihr nichts dafür hoffet, so wird euer Lohn groß sein.“ ?” In einer anderen
Schrift legt Hubmaier das gleiche Bibelwort so aus: „Wenn rechte brüder-
liche Liebe unter uns wäre, würde dieselbe uns lehren, Zins zu geben und
zu nehmen.“ #8
Hubmaier will somit sagen, daß der Zins dann keine Schwierigkeiten
innerhalb der menschlichen Gesellschaft bereiten würde, wenn die Liebe
regieren dürfte. Da jedoch ein anderer Geist unter den Menschen herrsche —
so muß offensichtlich der Zusammenhang zwischen den beiden Auslegungen
von Luk. 6 gesehen werden — müsse Christi Wort vom Leihen ohne Hoff-
nung auf Entgelt als ein Verbot für das Zinsnehmen verstanden werden.
Wenn die Liebe nicht da sei, müsse das Gesetz an deren Stelle treten. In
einer Aufzählung von Lastern nennt Hubmaier u. a. Wucher als Beispiel
für einen „gottlosen und schändlichen Wandel“.*° Eine Folge dieser ange-
deuteten Grundeinstellung war, daß er sich gegen jegliches Erheben von
Zinsen wandte und es mit Wucher gleichsetzte.
Hubmaiers Ansicht vom Zins und Wucher stand völlig in Einklang mit
der alten kirchlichen Tradition. Seit der Zeit Karls des Großen galt das
Zinsnehmen als gleichbedeutend mit Wucher und war als eine schwere
Sünde im kirchlichen und staatlichen Recht verboten. Das kirchliche Zins-
verbot wurde noch vom 5. Laterankonzil 1517 ermeuert, aber die zuneh-
mende Bedeutung des Kapitals und der Geldwirtschaft zu Beginn derneueren
Zeit brachte es mit sich, daß es immer unmöglicher wurde, dieses Verbot
praktisch aufrechtzuerhalten. Die katholische Kirche wußte seit altersher
um Wege, es zu umgehen. Auch Luther und Zwingli sahen sich genötigt,
unter gewissen Bedingungen einen mäßigen Zins von im allgemeinen 5 /o
anzuerkennen. Im Prinzip hielten jedoch beide Reformatoren an dem Stand-
punkt des kanonischen Rechtes fest, wonach jeder Zins als Wucher verwerf-
lich war. 5° Sie begründeten diese Auffassung ganz ähnlich wie Hubmaier. 51
Der erste, der gegen eine einstimmige kirchliche Tradition versuchte, das
47 „Jtem, als bald der Babst dem geystlosen hauffen vnd Stifften erlaubet fünff
gulden (et paulo plus) vom hundert zü nemen, wider das klar vnnd haytter wort
Christj, Luce am 6. c.“ HS, S. 341. — Über die Bedeutung von Luk. 6,35 in der
kirchlichen Tradition siehe Ramp 1949, S. 8, 27, 63.
A487 HS,82707
49 HS, S. 363.
50 Siehe AsseL 1948, Ramp 1949 und ScHMipD 1959, S. 179 ff.
51 Siehe Ramp 1949, S. 28, 63,
maßvolle Zinsnehmen theoretisch zu rechtfertigen, war Johann Eck. Von
1514 an trat er öffentlich als Verteidiger eines Zinssatzes von 50/0 auf;
wegen seiner Zinslehre hat man ihn einen Bahnbrecher für eine neue Wirt-
schaftstheorie genannt. 5
Nach Straus nahmen die Regensburger Juden 12—20°/o Zinsen, was nach
damaligen Verhältnissen durchaus nicht übermäßig war. Grau behauptet
dagegen, daß der jährliche Zinssatz der Juden sich auf 43!/4%/o belaufen
habe.°3 Da Hubmaier im Gegensatz zu Eck bezüglich der Zinsen am kano-
nischen Recht festhielt, dürfte für ihn deren Höhe nicht das Wesentliche
gewesen sein, sondern sein Kampf galt dem Zinsnehmen an sich.
79
Der dogmatische Inhalt von Hubmaiers antijüdischer Verkündigung ist
nur durch diese kurzen Andeutungen bekannt. Sie genügen aber, um zu
zeigen, daß Hubmaier ein wesentliches Motiv der spätmittelalterlichen
Judenmission, die Anklage der Gotteslästerung, aufgegriffen hatte. Als
Eiferer gegen den Wucher und den Irrglauben der Juden stand er ganz
unter dem Einfluß der kirchlichen Tradition. Bis zum Ende seines Lebens
blieb er der überkommenen Lehre der Kirche treu, nach der Maria die Mut-
ter Gottes und eine keusche, unbefleckte Jungfrau „vor, in und nach“ der
Geburt Christi gewesen sei. In diesem Punkte übte er weiterhin Kritik an
den Juden. ??
Als Domprediger und Judengegner führte Hubmaier eine kirchliche
Tradition weiter, die schon lange vor ihm in Regensburg bestanden hatte.
Er war nicht der erste, der in dieser Stadt gegen die vermeintliche Gottes-
lästerung der Juden predigte. 1474 hielt der Dominikanermönch Peter
Schwartz (Nigri) in Regensburg eine Reihe antijüdischer Predigten, die
nachher lateinisch und deutsch veröffentlicht wurden. Darin werden die
Dreieinigkeit, die Inkamation und die Jungfräulichkeit Marias als die
wesentlichsten Glaubensfragen hingestellt, in bezug auf welche die Juden
sich des Frevels schuldig gemacht hätten.°® In den auf Schwartz’ Juden-
mission folgenden Jahrzehnten scheint es geradezu ein Amtsobliegen des
Regensburger Dompredigers gewesen zu sein, von der Kanzel aus gegen die
Juden zu sprechen. 5° Der genannte Ostrofrankus ist ein Beispiel dafür, daß
Hubmaiers antijüdische Verkündigung bei den Geistlichen der Stadt große
Befriedigung auslöste. Dieser Mönch schrieb nämlich u. a.: Durch Gottes
innigste Barmherzigkeit sei, gleichsam vom Himmel her, der HerrBalthasar
als Prediger gesandt worden, und durch seine Predigt habe er die Juden zu
einer solchen Raserei getrieben, daß sie ihn öffentlich geschmäht und sein
Haus mit Schreien und Würfen angegriffen hätten. ® In dieser Schilderung
spürt man die heftige Leidenschaft, die dieser Streit unter den Christen wie
unter den Juden der Stadt hervorgerufen hatte.
In den Zerwürfnissen spielte Hubmaier eine führende Rolle, wobei er
von wirtschaftlichen und dogmatischen Beweggründen ausging. Der Kampf
57 Hubmaiers Briefe usw., Nr. 19 (1528). HS, S. 470 £.; vgl. u. das Kapitel Hub-
maier und das süddeutsche Täufertum.
38 P. SCHWARTZ, Tractatus contra Judaeos (Eßlingen 1475) bzw. Der Stern des
Messias (Eßlingen 1477). In der vorliegenden Abhandlung zitiert nach GRAU
1934. — Über Schwartz und seine Predigten siehe Grau 1934, S. 61ff., 185f.,
Anm. 5; vgl. auch Straus, Urkunden, Nr. 283.
59 Siehe Straus 1932, S. 28 f. und Grau 1934, S. 85f.
60 Srtraus, Urkunden, 5.385 und KRoNsEDER 1898, S. 43; vgl. GEMEINER 1824, S. 314.
80
gegen die Juden war ein schwerwiegendes Moment in der gleichzeitigen
politischen Auseinandersetzung zwischen dem Kaiser und der Stadt Regens-
burg. Durch seine judenfeindliche Tätigkeit wurde Hubmaier daher auch
in dieses politische Geschehen mit hineingezogen.
Kaıser unD StApr. Ende des 15. Jahrhunderts war die Reichsstadt Regens-
burg unter habsburgische Herrschaft gekommen. Das stellte einen bedeut-
samen Erfolg für die kaiserlichen Bestrebungen dar, die städtischen Frei-
heiten zu beschränken. 1499 wurde dem Rat in Regensburg ein Reichs-
hauptmann mit weitgehenden Vollmachten an die Seite gestellt, von 1512
an verwaltete Thomas Fuchs dieses Amt.*! In Übereinstimmung mit den
allgemeinen spätmittelalterlichen Rechtsverhältnissen standen die Regens-
burger Juden ihrerseits unmittelbar unter dem Schutz des Kaisers und stellten
politisch eine Stadt in der Stadt dar. 1503 wurden sie noch mehr in den
direkten Machtbereich des Kaisers hineingezogen, als der bayerische Herzog
das Mitbestimmungsrecht über sie verlor.®® Während der Zeit, in der der
Kampf gegen die Juden in Regensburg andauerte, unterstützte der Kaiser
sie tatkräftig. So befahl z. B. Friedrich III. 1475 den Regensburgern, den
Juden zu gestatten, gebührlichen Zins zu nehmen, und im selben Jahr ge-
bot er dem Bischof der Stadt, gegen die Priesterschaft einzuschreiten, die
sich den Juden gegenüber rechtswidrig verhalten habe. Friedrichs Nach-
folger Kaiser Maximilian I. setzte die judenfreundliche Politik seines Vaters
fort. 64
Durch seine antijüdische Verkündigung war Hubmaier also auch in Kon-
flikt mit den Interessen des Kaisers geraten. Anfang 1518 überbrachte ein
kaiserlicher Sekretär in Regensburg eine Anklage gegen Hubmaier, weil
dieser gegen die Juden gepredigt habe. In Gegenwart von u. a. dem Haupt-
mann Fuchs, Vertretern der Klöster und der Geistlichkeit der Stadt und
außerdem von Eck mußte Hubmaier sich schriftlich verteidigen. Ecks oben
bereits dargelegte Einstellung zum Zins erklärt, daß seine Anwesenheit vom
Standpunkt des Kaisers gesehen erwünscht war; in Regensburg begegnete
Eck somit seinem ehemaligen Schüler und Professorenkollegen unter ande-
ren Voraussetzungen als früher in Freiburg und Ingolstadt.
61 Siehe TuEosALD 1936, S. 3, 5ff. und DoLLinGEr 1959, S. 37; vgl. HS, S. 279,
wo Hubmaier Fuchs’ Namen erwähnt.
62 Siehe Straus 1932, S. 3f., 42 ff. und GRAU 1934, S. 9.
63 STRAUS, Urkunden, Nr. 189, 190.
64 Siehe z. B. ebd. Nr. 808. — Über die Ursachen der judenfreundlichen Haltung
der beiden Kaiser siehe StrAus 1932, S. 4. f., 10 und Grau 1934, S. 101 ft.
81
Hubmaier erklärte bei dieser Gelegenheit, daß die Kleriker in Regens-
burg nicht gegen den Wucher der Juden an sich gepredigt hätten, sondern
lediglich den christlichen Richtern verboten, über Wucher Recht zu sprechen.
Sie hätten betont, daß die kaiserlichen Privilegien den Juden den Wucher
nicht gestatteten, sie hätten aber nichts gesagt, was nicht vor dem Kaiser
zu verantworten sei.65 Durch seine Predigt gegen das rechtmäßige Zins-
nehmen der Juden hatte Hubmaier ein kaiserliches Gebot übertreten. Dem
kaiserlichen Gesandten gegenüber versuchte er diese Tatsache abzu-
schwächen, indem er auf das Problem der Rechtsprechung zwischen Juden
und Christen hinwies.® Da die Juden nicht unter der Jurisdiktion der
Kirche standen und darum nicht von deren Strafmaßnahmen erreicht wer-
den konnten, drohte man kirchlicherseits den Richtern der Stadt mit dem
Bann und anderen Strafen, um sie daran zu hindern, in Wucherfragen
Urteile zu fällen. 6°” In dieser Weise wollte man die rechtliche Entscheidung
zwischen Juden und Christen vereiteln und die Privilegien der Juden ent-
kräften, ohne eine kaiserliche Verfügung unmittelbar verletzen zu müssen.
Infolge der Drohung seitens des Kaisers sah Hubmaier sich gezwungen,
seine Zuflucht zum kirchlichen Asylrecht zu nehmen. Seinen eigenen An-
gaben nach habe er das getan, um einer härteren Bestrafung, als es der
Stadt lieb gewesen wäre, zu entgehen. # Aus dieser Äußerung geht hervor,
daß der Stadtrat — gleich der kirchlichen Obrigkeit — Hubmaier beschützte.
Die erwähnte kaiserliche Abordnung war auf Grund jüdischer Beschwerden
nach Regensburg entsandt worden, und auf die vorgebrachten Anschuldi-
gungen hin verfaßte der Administrator Johannes ein Schreiben an die
österreichische Regierung in Innsbruck, das vom ıı. Januar 1518 datiert
ist. Darin trat er für Hubmaier und die Regensburger Prediger ein, außer-
dem fügte er dem Schreiben eine schriftliche Erklärung des Dompredigers
bei, die jedoch nicht erhalten ist. 6°
Das Regensburger Judenproblem wurde von einer städtischen immer
mehr zu einer Reichsangelegenheit, die sogar vor den Kaiser gebracht wurde.
Ende Juni 1518 traf Maximilian in Augsburg ein, um dem Reichstag bei-
zuwohnen, der bereits für den ı8. April des gleichen Jahres ausgeschrieben
82
worden war.?° Anfang Juli sandte Regensburg den Bürgermeister Hans
Schmaller als Beauftragten wegen der Judenfrage nach Augsburg, ”! und
auch Hubmaier begab sich dorthin. Am 22. Juli schrieb Schmaller nach
Regensburg, daß der Domprediger sich vor dem kaiserlichen Hof gegen die
Anklagen der Juden verteidigt habe, die Regensburger gegen die jüdische
Bevölkerung aufgewiegelt zu haben. ?? Dieses Erscheinen Hubmaiers vor
dem Kaiser kehrte dann mit Vorliebe in den Volksliedern wieder, die an-
läßlich der Judenverfolgung in Regensburg gedichtet wurden. 73
Der Kaiser ließ sich indessen nicht beirren. Am 24. Juli, als Hubmaier
noch in Augsburg weilte, befahl ein kaiserlicher Gesandter dem Regens-
burger Rat, den Prediger Doktor Balthasar der Stadt zu verweisen; am
gleichen Tag kam der Rat nur widerstrebend diesem Befehle nach. ”* Unter-
dessen fuhren in Augsburg die Juden mit ihren Anschuldigungen gegen
Hubmaier fort, der Administrator Johannes und ein Kardinal setzten sich
aber für ihn ein. Das Ergebnis war, daß es dem Domprediger gestattet
wurde, in seinem Amt zu verbleiben, allerdings unter der Bedingung, daß
er sich nicht wieder gegen die kaiserliche Obrigkeit und die Vorrechte der
Juden vergehen dürfe. 75
Der kaiserliche Abgeordnete in Regensburg Anfang ı518 legte Hub-
maier zur Last, er habe durch seine Predigten „Widerwillen und Aufruhr“
unter der christlichen Bürgerschaft und den Juden hervorgerufen. 7% Wäh-
rend Hubmaiers Zeit in Regensburg wurde somit zum ersten Mal von öster-
reichischer Seite die Anklage gegen ihn erhoben, Aufrührer zu sein. Später
sollte sich zeigen, daß die Kaiserlichen nicht vergessen hatten, welche Rolle
er in der Judenverfolgung in Regensburg gespielt hatte.” Das Eingreifen
84
vornherein entschieden. Die landläufige Abneigung der Christen gegen die
Juden äußerte sich u. a. in der Vorstellung, daß das jüdische Volk von
Grund auf schlechter als andere Völker sei; dieser Gedanke ist bezeichnend
für die spätmittelalterliche antijüdische Propaganda. 8
Es läßt sich nicht entscheiden, ob Hubmaier diese Ansicht vom jüdischen
Volk teilte. In seinen Schriften findet man nur eine Aussage über die Juden,
und zwar die bereits erwähnte, nach der er die Juden, weil sie die Jung-
fräulichkeit der Maria leugneten, tadelte.® In seiner oben angeführten
Verhörsaussage über die Judenverfolgung in Regensburg erklärt er ledig-
lich, daß er gegen den Wucher der Juden und ihre Schmähung der Gottes-
mutter aufgetreten sei. Ein erhaltenes Dokument gibt darüber Aufschluß,
daß Hubmaier sich in einem Falle sogar für ein Mitglied der Regensburger
Judengemeinde einsetzte. 1518 richtete der Jude Götz von Fiderholz ein
Bittschreiben auf Hebräisch an einen Regensburger Ratsherrn. In seinem
eigenen und dem Namen seiner Geschwister klagte Götz darin über das
wirtschaftliche Unrecht, das nach seiner Auffassung sein Stiefvater Menzel
Schamosch ihnen zugefügt habe. Der Stiefvater sei ein Verräter und Böse-
wicht. Dieses Schreiben übersetzte Hubmaier ins Deutsche und fügte der
Übersetzung eine Nachschrift bei, in der er beteuerte, den Brief Wort für
Wort übertragen zu haben, allein in der Absicht, daß die Erkenntnis der
Wahrheit an den Tag komme. ®5
Hier schaltete sich Hubmaier somit in einen Streit zwischen zwei jüdi-
schen Partnern ein. Die näheren Umstände, die ihn dazu bewegten, sind
nicht bekannt. Bezeichnend ist, daß das anläßlich einer Begebenheit ge-
schah, wo nach seiner Ansicht Wahrheit und Gerechtigkeit unterdrückt
worden waren. Hubmaier war sicherlich davon überzeugt, daß er nicht nur
bei dieser Gelegenheit, sondern mit seinem Kampf gegen die Regensburger
Juden überhaupt für eine gerechte Sache eintrat. Die Richtschnur, an der
83 Siehe Zitate von Ostrofrankus bei KRONSEDER 1898, S. 42 und in STRAUS, Ur-
kunden, S. 385: „perfidis Judaeis perfidissimi generis hominibus“, „hos nauci
homines, ad nil aliud utiles quam in clibanum mittantur“ und von Peter Schwartz
bei Grau 1934, S. 73. — In der zweiten von den angeführten Aussagen Ostro-
frankus’ werden die Juden „wertlose“ Menschen genannt, die zu nichts anderem
nützlich seien, als in den Ofen geschickt zu werden. Ostrofrankus sprach damit ein
Urteil aus, das in unheimlicher Weise in Erfüllung gegangen ist. — Für einen
Vergleich mit Luthers Einstellung zu den Juden siehe STÖHr 1960.
84 HS, S. 471.
85 Srraus, Urkunden, Nr. 957; das Original ist erhalten. Aus den weiteren Urkun-
den, in denen dieser Streit erwähnt wird (ebd. Nr. 958 ff.), geht eindeutig her-
vor, daß Götz Jude war. — Über die Unstimmigkeiten innerhalb der Regensbur-
ger Judengemeinde siehe Grau 1934, S. 13 fl.
85
er das Verhalten der Juden maß, war die Lehre der Kirche vom Zins und
Wucher, das trinitarische Dogma und der Glaube an die jungfräuliche
Mutter Gottes. Dabei ließ er sich von Vorstellungen leiten, die für die da-
malige Zeit ganz allgemein charakteristisch waren.
Der Wallfahrtsprediger
86 Siehe THEoBALD 1936, S. 50. Die Wallfahrtsbewegung zur „Schönen Maria“ ist
ebd. S. 49—98 ausführlich beschrieben. Diejenigen Angaben im folgenden, die
nicht mit Quellenhinweisen belegt sind, sind Theobalds Darstellung entnommen.
87 TA Zürich, S. 392.
88 Tagebuchaufzeichnungen von Peter Krafft, S. 35; vgl. WıDMAnn, S. 32.
89 Siehe THEoBALD 1936, S. 84.
86
brachten. Regensburger und auswärtige Priester lasen in der Kapelle Mes-
sen, deren Anzahl bald in die Tausende stieg. In einer päpstlichen Bulle
vom ı. Juni 1519 wurde den bußfertigen Pilgern, die die Regensburger
Wallfahrtskapelle an gewissen Feiertagen besuchten, hundert Tage Ablaß
gewährt. Die hölzerne Kapelle wurde bald für den gewaltigen Ansturm zu
klein. An ihrer Stelle plante man, einen großartigen, sechseckigen Zentral-
bau zu errichten. Um ihm Platz zu machen und die Rückkehr der Juden zu
verhindern, wurde fast die ganze Judenstadt abgerissen. Am 9. September
legte der Regensburger Weihbischof Peter Krafft unter großen Feierlich-
keiten auf dem „Judenplatz“ den Grundstein, ®° und wie bei der Altarweihe
im März hielt Hubmaier bei dieser Feierlichkeit die Festpredigt.
Die Zahl der Pilger kann mit Hilfe der Menge von verkauften Zeichen,
auf denen Maria mit dem Kinde abgebildet war, geschätzt werden. Im
ersten Jahr wurden ı0 ı72 bleierne und 2430 silberne Zeichen verkauft,
1520 waren die entsprechenden Ziffern 109 198 und 9763. Diese Volks-
bewegung nahm nicht nur an Umfang zu, sie wurde auch immer unge-
stümer und schwärmerischer. Ein Bericht darüber, der auf Hubmaier zu-
rückgeht, ist erhalten geblieben. Sein Freund, der Ulmer Stadtarzt Wolf-
gang Rychard, hat in einem Brief geschildert, wie es zuging, als die gnaden-
volle Maria in Regensburg zu „sprossen“ begann: Familienmütter, Bauern
und Bedienstete verließen wie rasend ihre Arbeit und rannten vom bloßen
Gerücht getrieben eiligst herbei. An einem Tage seien mehrere Tausend
gekommen, die nicht zu laufen, sondern zu fliegen schienen. Hubmaier habe
ihm, Rychard, mitgeteilt, daß er zusammen mit Ratsherren zu dem Heilig-
tum der Schönen Maria gegangen sei. Dort habe er eine ungeheure Menge
von Menschen beiderlei Geschlechts gefunden, die getanzt und wie das Vieh
geschrien hätten. ®!
Die Regensburger Wallfahrtsbewegung, die 1520 ihren Höhepunkt er-
reichte, zeigt, welche unbändige Kraft der katholischen Volksreligiosität zur
Zeit der beginnenden Reformation innewohnte. Diese Massenbewegung
87
entstand außerordentlich plötzlich und hatte den Charakter eines leiden-
schaftlichen Marienkultes. Die beiden Tatsachen erklären sich vor allem aus
der unmittelbar vorhergegangenen Vertreibung der Juden. Die Gottes-
mutter hatte über ihre Verächter gesiegt, und in die begeisterte Huldigung,
die ihr entgegengebracht wurde, mischte sich der Judenhaß. ®?
Die Anziehungskraft, die die Regensburger Madonna ausübte, ist nicht
zuletzt auf die Heilungen und andere Wunder zurückzuführen, die ihr zu-
geschrieben wurden. Am 16. September 1519 reichte Hubmaier beim Stadt-
rat ein Verzeichnis der Wunder ein, die sich in der Zeit von der Altarweihe
im Frühjahr bis zur Grundsteinlegung für die neue Kirche im September
zugetragen hatten. In einem Begleitschreiben erklärt er, daß der Rat ihn
als den ersten gewählten Kaplan der Schönen Maria darum gebeten habe,
die dort geschehenen Guttaten zu verzeichnen. °? Hubmaier scheint diesen
Auftrag auf seinen eigenen Vorschlag hin bekommen zu haben. In einem
undatierten Schreiben aus der Zeit, bevor er Kaplan wurde, hatte er näm-
lich bei dem Regensburger Administrator Johannes darum angesucht, dem
Priester, den der Rat berufen würde und der in der Heiligen Schrift gelehrt
und erfahren sei, u. a. folgende Anweisungen zu geben: Er solle in der
neuen Kapelle das Wort Gottes an Feiertagen und wenn Fremde kämen
verkündigen. Auf die Bitte des Rates hin möge der Administrator den be-
rufenen Prediger mit einem anderen Priester als Zeugen die Wunder unter-
suchen lassen, die geschehen würden. % Theobald hat, wahrscheinlich mit
Recht, dieses Schreiben auf Ende April oder Anfang Mai 1319 datiert. ®%
Es steht fest, daß Hubmaier vor September desselben Jahres das Amt als
Kaplan an der Schönen Maria übernahm. 9
Aus dem zuletzt zitierten Dokument geht hervor, daß Hubmaier diesen
Dienst sowohl vom Stadtrat als auch vom Administrator erhalten hatte.
88
Schon während des Kampfes gegen die Juden hatten ihm diese beiden Be-
hörden ihre Anerkennung und ihr Vertrauen zugesichert, und als Führer
der großen Wallfahrtsbewegung wurde ihm die gleiche Behandlung zuteil.
Dennoch bereitete ihm seine Stellung als Wallfahrtsprediger in ihrer gleich-
zeitigen Abhängigkeit von der weltlichen und geistlichen Obrigkeit nach
und nach immer größere Schwierigkeiten.
Regensburgs schlechte finanzielle Lage war durch die Vertreibung der
Juden nicht besser geworden, und der Geldbedarf war unverändert groß.
Der Pilgerstrom zur Schönen Maria führte aber der Stadt neue und will-
kommene Reichtümer zu, und von vornherein war der Stadtrat bestrebt,
die Wallfahrtsbewegung finanziell auszunutzen. Er förderte sie in jeder
Weise, und es ist kein Wunder, daß der Rat den bewährten Volksprediger
Hubmaier zum Kaplan an der Schönen Maria ernannte. Ebenso wie die
Stadt war der Administrator Johannes ständig verschuldet,” darum hatte
auch er großes Interesse an den Einkünften durch die neue Kapelle. Schon
am Anfang der Wallfahrtsbewegung legte er dem Stadtrat seine dies-
bezüglichen finanziellen Forderungen vor. Der Rat wollte sich aber in sei-
nem Patronatsrecht nicht beeinträchtigen lassen. Auf beiden Seiten suchte
und fand man Unterstützung in Rom. Im Mai 1520 wandte sich der Rat
an den Papst, woraufhin der Administrator dieselbe Maßnahme ergriff.
Der Streit wurde somit an die Kurie weitergegeben und währte bis Ende
1521.
In diese erbitterte Auseinandersetzung wurde Hubmaier mit hineinge-
zogen. Anfang Juni 1520 schickten seine kirchlichen Vorgesetzten ihn zum
Stadtrat. Dort legte er dar, wie er selbst auf Geheiß des Rates dem Volk
gepredigt habe, es solle Almosen zum Bau der hölzernen Kapelle geben.
Diese sei somit durch Almosen und nicht mit Hilfe der Stadt errichtet wor-
den, und der Rat könne deshalb keinen Anspruch darauf erheben, Patro-
natsrechte über sie auszuüben. Bis zur Fertigstellung der neuen Marien-
kirche würde der Administrator alle ihr zufließenden Einkünfte für den
Bau verwenden lassen. Hubmaier erinnerte den Rat weiter daran, daß er
sich vor dem Kaiser und den Fürsten in Augsburg um das Wohl der Stadt
bemüht habe und daß er gegen die Juden gewesen sei. Mit allen seinen
Vorstellungen konnte er bei den Ratsherren jedoch nichts erreichen.
Nach Theobald soll Hubmaier im ersten Jahr der Marienwallfahrt nur
einmal, nämlich am 21. Januar 1520, Gottesdienst in der Kapelle gehalten
89
haben, was sich durch die Spannung zwischen Domkapitel und Rat er-
kläre.% Dieser Behauptung kann man aber Theobalds eigene Angaben
gegenüberstellen, nach denen Hubmaier, wie erwähnt, schon 1519 bei der
Altarweihe dort predigte. Außerdem muß berücksichtigt werden, was Hub-
maier selbst über seine Verkündigung an der Schönen Maria berichtet
hat. 100 Es ist allerdings unverkennbar, daß er durch die Streitigkeiten zwi-
schen dem Rat und dem Administrator in seiner Tätigkeit als Wallfahrts-
prediger behindert wurde. Sie waren sicherlich auch ein wesentlicher Grund
dafür, daß Hubmaier Ende 1520 von Regensburg fortging.!"! In einem
Brief, geschrieben im Oktober 1521 in Waldshut, hat er selbst angegeben,
daß er wegen einer verderblichen Seuche aus Bayern geflohen sei. 1% Ende
1520 wütete in Regensburg die Pest. Sie war für Hubmaier offensichtlich
der unmittelbare äußere Anlaß, die Stadt zu verlassen, vielleicht hatten ihn
auch Schwierigkeiten, die er bei der Erlangung kirchlicher Anstellungen
hatte, mit dazu bewegt. !%
Ein Schreiben Hubmaiers gibt ein Beispiel für seine Bemühungen in
dieser Richtung. !% Darin bittet er den Regensburger Rat eindringlich, ihm
die Pfründe eines alten Priesters zu überlassen, der sich bereit erklärt habe,
darauf zu verzichten. Er erinnert an die große Gunst, die er immer beim
Rat genossen habe, und weist wie im Juni 1520 auf die Mühe und Gefahr
hin, die er zum Wohle der Stadt auf sich genommen habe. Hubmaier unter-
zeichnet als Kaplan, ohne ein Datum anzuführen, das Schreiben stammt
aber zweifellos aus den Jahren 1519/20, nachdem Hubmaier Prediger an
der Schönen Maria geworden war. !0 Er bekam jedoch einstweilen die ge-
wünschte Pfründe nicht. 106
Die Frage, warum Hubmaier inmitten der blühenden Wallfahrtsbewe-
gung Regensburg verließ, ist mit dem bisher Angeführten aber noch nicht
genügend beantwortet worden. Nach einer alten Angabe soll Hubmaier
90
wegen Ketzerei aus Regensburg vertrieben worden sein. 107” Daher meinte
man in älterer Zeit, er sei auf Grund lutherischer Neigungen gezwungen
worden, aus der Stadt fortzugehen. !% Diese Auffassung wird u. a. durch
das Gerücht bestärkt, daß Hubmaier von Regensburg wie vier Jahre früher
von Ingolstadt „heimlich entronnen“ sei. Gegen diese Beschuldigung hat
Hubmaier sich entschieden gewehrt. Als Zeugen seines Abschiedes von der
Stadt gibt er den Administrator, den kaiserlichen Hauptmann, den Stadt-
kämmerer und den Stadtrat an. Der letztere habe ihm einen Empfehlungs-
brief gegeben, und ein namentlich genannter Ratsherr habe am hellen
Tage ihn und seinen Hausrat auf seinem Schiff nach Ulm geführt!0 Dem-
nach verließ Hubmaier Regensburg in vollem Einvernehmen mit dem Rat.
Zwei Jahre später berief dieser den ehemaligen Domprediger erneut zum
Kaplan der Schönen Maria, was ebenfalls davon zeugt, daß das Vertrauen
zu ihm unerschüttert weiter bestand. !10
Während seiner Zeit als Wallfahrtsprediger änderte Hubmaier seine
Einstellung zu der Volksbewegung, deren Führer er war. In dem bereits
angeführten Schreiben vom Frühjahr 1519, d. h. aus der Anfangszeit der
Bewegung, bittet er den Administrator, vier, fünf oder mehr von den bis
dahin geschehenen Wundern durch seinen Vikar untersuchen und bestätigen
zu lassen. Diejenigen, die als glaubwürdig und wahrhaftig erfunden wür-
den, sollten dann dem Volke verkündigt werden. !!! Hier geht Hubmaier
davon aus, daß durch die Regensburger Madonna wirklich wundersame
Dinge geschahen. Es ist aber schon geschildert worden, wie die große Wall-
fahrtsbewegung hernach ausartete.
Hubmaier hat später rückblickend erklärt, daß an der Schönen Maria ein
„Mißbrauch“ aufkam, der darin bestand, daß man vor und in der Kapelle
niedergefallen sei. Ein anschauliches Bild von diesem ekstatischen Kultus
bei der Kapelle gibt ein Holzschnitt eines Augenzeugen, des Künstlers
Michael Ostendorfer.t!? Hubmaier selbst hat seiner Abneigung diesem
107 „Ratisponae infectus est haeresi, et cum primum ea res innotuisset, inde est
eiectus“. Annales Ingolst. Academiae 1, S. 97.
108 Siehe SCHREIBER 1839, S. 19f., HoSeK 1867, Kap. 1, STERN 1881, S. 265 und
KELLER 1885, S. 378.
109 HS, S. 279. Hier kann auch Hubmaiers zweiter Regensburger Aufenthalt 1522/23
gemeint sein, aber wahrscheinlich bezieht sich die Schilderung auf den ersten von
1516—1520. Vgl. LosertH 1893, S. 25 und u. das Kapitel Die Anfänge der
Waldshuter Reformation.
110 Vgl. Sacusse 1914, S. 129 und u. das Kapitel Die Anfänge der Waldshuter Re-
formation.
111 Sachsse 1914, S. 224.
112 Der im germanischen Museum Nürnberg aufbewahrte Holzschnitt ist bei DoLLIN-
GER 1959, S. 448, abgebildet; vgl. auch ebd. S. 99 £.
gl
„Mißbrauch“ gegenüber deutlich Ausdruck verliehen und dazu ermahnt,
man solle das unterlassen, was auch mit der Zeit geschehen sei. 1? Diese
Aussage deckt sich mit Wolfgang Rychards früher erwähnten Mitteilungen,
denenzufolge Hubmaier seinem Freund berichtete, wie er mit Pilgern zu-
sammengetroffen sei, die an dem wilden Tanz vor der Schönen Maria teil-
genommen hätten. Auf seine Frage nach dem Anlaß hätten sie geant-
wortet, daß eine plötzliche Blutaufwallung sie gezwungen habe, die ande-
ren nachahmend, zu tanzen und daß eine Melancholie sie befallen habe. 114
Aus diesen beiden Äußerungen geht hervor, daß Hubmaier den ekstatischen
Erscheinungen an der Wallfahrtskapelle ausgesprochen kritisch gegenüber-
stand und mit Hilfe des befreundeten Arztes sogar eine rein medizinische
Erklärung dafür suchte.
Theobald hat behauptet, daß Hubmaier als Wallfahrtsprediger seine
Augen zu Beginn absichtlich schloß und es mit den Wundern nicht so genau
nahm; es habe ihm vor allem daran gelegen, daß der neue, herrliche
Marientempel errichtet werde. Später habe er sich aber über das Treiben
der Pilger aufgeregt und dagegen gepredigt, weil es nicht ein Ausdruck der
Frömmigkeit, sondern nur Wahnsinn oder Unfug gewesen sei.1!5° Andere
Forscher haben dagegen betont, daß Hubmaier aus ehrlicher Überzeugung
die Wallfahrt gefördert habe und als frommer Katholik leidenschaftlich
daran beteiligt gewesen sei.11% Auf der gleichen Linie liegt Schulzes Auf-
fassung, nach der man Hubmaiers später in Zürich geäußerte Kritik an der
Regensburger Wallfahrtsbewegung mit Vorsicht betrachten müsse. 117
Es liegt kein Grund dafür vor zu bezweifeln, daß Hubmaier an die
Wundertätigkeit der Regensburger Maria wirklich glaubte. Man denke
beispielsweise nur an seinen Vorschlag, daß die an der Wallfahrtskapelle
geschehenen Wunder neben dem Wort Gottes dem Volk gepredigt werden
sollten. 118 Es steht aber auch fest, daß er schon in Regensburg von der dort
sich entfaltenden Volksreligiosität Abstand nahm, da er sie für ausgeartet
und krankhaft hielt. Hubmaiers negative Erfahrungen als Wallfahrts-
prediger haben ihn zweifellos mit dazu bewegt, aus der Stadt fortzuziehen.
Sie trugen sicherlich auch dazu bei, ihn für die reformatorische Botschaft
empfänglich zu machen, die gerade im Laufe der Jahre 1516-1520 hervor-
92
brach und die allgemeine Aufmerksamkeit immer mehr anzog. Mau findet
es „befremdlich“, daß Hubmaier, der doch zu Luthers großem Gegner
Johann Eck von früher her gute Beziehungen besaß, während der Regens-
burger Zeit an dem Glaubenskampf keinen Anteil nahm. !!% Es ist schon
betont worden, daß Hubmaier damals äußerlich offensichtlich noch keine
reformatorischen Neigungen zeigte. Aus der folgenden Darstellung wird
aber hervorgehen, daß die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann,
daß er schon in dieser Stadt anfing, sich für Luthers Lehre zu interessieren.
In Regensburg war Hubmaier im großen und ganzen noch ein ergebener
Diener der katholischen Kirche, und als Judengegner und noch mehr als
Wallfahrtsprediger vertrat er Anschauungen, die im Spätmittelalter allge-
mein üblich. waren. Durch seine dortige Tätigkeit wurde er ein bekannter
Mann. Einen Beweis dafür geben die verschiedenen Chroniken und Ge-
schichtswerke der Reformationszeit, in denen das Bild des katholischen
Volksführers Hubmaier festgehalten worden ist. Die Darstellungen von
Ostrofrankus, Widmann und Laurentius Hochwart sind bereits erwähnt
worden. In Wenzislaus Hagecius’ böhmischer Chronik über die Vertreibung
der Regensburger Juden wird Hubmaier als ein „vornehmer“ Prediger be-
zeichnet, der heftig gegen die Religion der Juden und auch gegen ihren
Wucher gesprochen habe. 12° Auch die Geschichtsbücher der mährischen Täu-
fer vermerken Hubmaiers antijüdische Predigt,!?! und ebenso Sebastian
Franck und Heinrich Bullinger. Bei den beiden Letztgenannten tritt aber
die Regensburger Wallfahrtsbewegung mehr in den Vordergrund. Franck
schildert sie ausführlich und kritisiert sie auch. 12? Nach Bullinger habe Dok-
tor Balthasar an der Schönen Maria „in derselben unsinnigen, wütenden
Fahrt“ wie gegen die Juden gepredigt, und er habe nicht wenig zu der Ent-
stehung und dem Fortgang der Pilgerbewegung beigetragen. !?3
95
2. DIE ANFÄNGE DER WALDSHUTER REFORMATION
(1521-1523)
94
Waldshut hatte das Vorrecht, seine Leutpriester selbst wählen zu dürfen, ?
die Wahl mußte aber vom Nonnenkloster Königsfelden bei Brugg im eid-
genössischen Aargau bestätigt werden. Dieses Kloster hatte das Patronats-
recht über die Waldshuter Pfründen, und damit war die sogenannte Kom-
petenzpflicht verbunden, d. h. die Königsfelder Nonnen mußten für den
Lebensunterhalt der betreffenden Pfarrer sorgen. Die gegenseitigen Rechte
und Pflichten wurden jeweils durch einen Bestallungs- oder Lehensbrief
geregelt.® Bern war der Schirmherr des Klosters und war darum berechtigt,
in Waldshuts kirchliche Angelegenheiten einzugreifen. Erhaltene Akten
zeugen davon, daß die Berner diese Möglichkeit wiederholt benutzten.
Waldshuts Abhängigkeit von Österreich war das entscheidende Hindernis
für die Freiheitsbewegung, in die die Stadt während Hubmaiers Zeit dort
hineingezogen wurde. Die städtische Freiheit wurde aber auch durch die
erwähnte Eingliederung Waldshuts in die kirchliche Organisation be-
schnitten. Das schloß die Möglichkeit zu mancherlei Konflikten in sich ein.
Dafür ist eine Auseinandersetzung Waldshuts mit Königsfelden, die bereits
zu Beginn von Hubmaiers Tätigkeit in der Stadt erfolgte, ein Beispiel.
Hubmaier wurde in Waldshut Pfarrer an der oberen, der größeren Pfarrei,
sein Kollege an der unteren war der betagte Konrad Armbroster.? Am8.No-
vember 1521 richtete Bern ein Schreiben an Waldshut, aus dem hervorgeht,
daß die „geistlichen Frauen“ in Königsfelden den Waldshutern auf deren
Bitte hin Hubmaier zum Pfarrer gegeben hätten. Er habe seinerseits ge-
schworen und mit Brief und Siegel bestätigt, das zu tun und zu lassen, was
ihm nach altem Brauch gebühre. Nichtsdestoweniger hätten die Königsfelder
Nonnen sich jetzt darüber beschwert, daß Hubmaier mit dem ihm zustehen-
den Unterhalt nicht zufrieden sei. Bern wies diese Klage als unbillig zurück
und bat nachdrücklich, man solle die Nonnen in Ruhe lassen, da ihnen
sonst Bern mit Hilfe der übrigen Eidgenossen dazu verhelfen würde. !% Aus
Anlaß dieses Streites führte Bischof Hugo im März 1522 einen Vertrag
zwischen dem Kloster Königsfelden einerseits und den Waldshuter Pfarrern
S. 10, 19 und König Ferdinands Vertrag mit Waldshut vom 12. April 1527. Ko-
pie im GLA Karlsruhe, 227, Akten Waldshut Stadt, Fasz. 75, S. 7. Regest bei
BIRKENMAYER & BAUMHAUER 1927, S. 255 f. In diesem Dokument wird der sogen.
Fuchsische Vertrag vom 14. März 1526 bestätigt. Original im PfA Waldshut,
Regest bei BIRKENMAYER & BAUMHAUER 1927, S. 317.
[1 Siehe ScHig 1959, S. 356.
8 Vgl. WäLrtı 1952, S. 46 f., 56 ff. In dieser Arbeit wird an Hand des Klosters Ein-
siedeln ein Fall untersucht, der dem Falle Königsfelden— Waldshut ähnelt.
9 Vertragsurkunde vom 11. März 1522. Kopie im PfA Waldshut, Regest bei BIRKEN-
MAYER & BAUMHAUER 1927, S. 316 und KÜSsENBERG, S. 9 f.
10 STECK & TOBLER, S. 8.
95
Hubmaier und Armbroster anderseits herbei.!! Die Vermittlung fiel zu-
gunsten der Priester aus. In einem Schreiben an den Konstanzer Bischof
verwahrte Bern sich dagegen, daß den Nonnen trotz der vorliegenden Le-
hensbriefe mehr als das sonst übliche auferlegt werden sollte. Im Hinblick
auf die Mühe, die Seine Gnaden sich in dieser Sache gemacht habe, wolle
Bern aber dennoch die Klosterfrauen dazu bewegen, den eingegangenen
Vertrag anzunehmen. Man ersuchte jedoch den Bischof dringend, andere
Priester, die auch ihren Unterhalt von Königsfelden empfingen und die ein
ähnliches Gesuch einbrächten wie die Waldshuter, abzuweisen. !?
Dies ist eines der wenigen urkundlich belegten Ereignisse, die aus Walds-
huts kirchlichem Leben in Hubmaiers ersten Jahren als Pfarrer der Stadt
bekannt sind. Der Zwischenfall zeigt, daß Hubmaier ein Priester war, für
den der Bischof sich verwandte. Demnach hatte man im Frühjahr 1522 in
Konstanz offensichtlich noch nichts an dem neuen Pfarrer in Waldshut zu
beanstanden. Fabri, der von Konstanz aus Hubmaiers kirchliche Tätigkeit
in der Stadt am Rhein gut verfolgen konnte, hat auch bezeugt, daß Hub-
maier sich in Waldshut zwei Jahre so verhielt, wie es einem christlichen
Pfarrer gebühre. Insbesondere habe er das heilige Sakrament durch die
Einführung neuer Zeremonien und Prozessionen geehrt. Als Beispiel dafür
erwähnt Fabri u. a., daß Hubmaier bei der Austeilung des Sakramentes in
der Karwoche und während des ÖOsterfestes stets zwei Ratsmitglieder als
Helfer beim Altar gehabt habe. '3:
Diese Angaben findet man in den beiden Schriften über Hubmaier, die
Fabri nach dessen Tode herausgab. Fabris Schilderung von Hubmaiers frü-
herer Wirksamkeit als treuer Diener der katholischen Kirche hatte den
Zweck, die Schuld des späteren Abtrünnigen und Ketzers zu vergrößern.
Dennoch ist die an konkreten Einzelheiten reiche Darstellung durchaus
glaubwürdig, und nach Fabris Aussage bestätigte Hubmaier selbst am Ende
seines Lebens deren Wahrheit. ' Wie zuvor in Regensburg trat Hubmaier
also in den ersten Waldshuter Jahren immer noch als eifriger Förderer des
katholischen Sakramentswesens auf. Innerlich vollzog sich aber gleichzeitig
bei ihm eine entscheidende religiöse und theologische Wandlung.
11 _Vertragsurkunde vom 11. März 1522. BIRKENMAYER & BAUMHAUER 1927, S. 316.
12 Schreiben vom 26. März 1522. STECK & TOBLER, S. 16.
13 Fasrı 1528a, Bl. H 2 und 1528c, S. 210.
14 Fasrı 1528a, Bl. H 2: Fabri: Hubmaier, „qui pluribus annis presbiter parochus
Ingolstadii, praedicator Ratisponae, atque aliis locis fueris, qui in Waltzhut toto bien-
- mio verno et aestivo tempore sub aedis sacrae portas procedens venerabile sacra-
mentum praetendens tempestates adversas depraecatus sis...“ Hubmaier: „Esi
vero ita, ut ais...“ Für das Zitat siehe weiter SAcHsse 1914, S. 131.
96
Hubmaiers Entwicklung zum evangelischen Reformator
97
det sich auf einem Exemplar der ersten Ausgabe. Der Inhalt der kurzen
Nachricht läßt darauf schließen, daß Hubmaier sie irgendwann im Laufe
des Jahres 1521 niederschrieb und beweist, daß er zu diesem Zeitpunkt be-
reits Beziehungen zu Rhenanus hatte. ?°
Hubmaier teilt Rhenanus u. a. mit, daß er die Oekolampad-Schrift von
Ulm mitgebracht habe. Sicherlich hatte er diese Stadt auf dem Wege von
Regensburg nach Waldshut um die Jahreswende 1520/21 besucht, d. h. zu
der Zeit, als das „Judicium“ erschien.?! In einem früheren Zusammenhang
ist erwähnt worden, daß Hubmaier dem Ulmer Stadtarzt Wolfgang Rychard
von seinen Erfahrungen an der Kapelle zur Schönen Maria in Regensburg
berichtet hatte. Dies geschah wahrscheinlich in Ulm, unmittelbar nachdem
er Regensburg verlassen hatte. °? Zwei Jahre später schrieb Hubmaier einen
Brief an Rychard, in dem er diesen seinen liebsten Freund und Bruder
nennt. Am Schlusse des Briefes bestellt er Grüße an den Pfarrer Sebastian
Löschenbrand, an Ärzte und einen Apotheker in Ulm.2® Hubmaier hatte
dort einen Kreis von Freunden, der sich anscheinend vor allem aus medi-
zinisch gebildeten Menschen zusammensetzte. Während seines Studiums in
Freiburg war er selbsteine Zeitlang geneigt gewesen, Medizin zu studieren. **
Rychard war nicht nur ein geschätzter und vielbeschäftigter Arzt, sondern
auch ein hochgebildeter Humanist mit weit verzweigten Beziehungen zu
zeitgenössischen Gesinnungsgenossen. Seine Beurteilung der Regensburger
Wallfahrtsbewegung ist ein Beweis für sein aufgeklärtes Denken. Dieser
Mann wurde zu einem der bedeutendsten Führer der beginnenden Refor-
mation in Ulm.?5 Der erste Beleg für seine prolutherische Einstellung ist
vom Januar 1521 datiert, 26 stammt also gerade aus der Zeit, als Hubmaier
98
wahrscheinlich mit ihm in Verbindung stand. Die Begegnung mit dem
Humanisten und Freunde der Reformation Rychard kann nicht ohne Be-
deutung für Hubmaier und dessen geistige Entwicklung gewesen sein.
Rychard sammelte und verbreitete Schriften, die infolge der Reformation
entstanden waren.’ Daher liegt es sehr nahe, daß Hubmaier gerade in Ulm
Oekolampads Judicium über Luther kennenlernte. Diese Schrift stellt eine
begeisterte Huldigung für Luther dar und ein Bekenntnis zu dessen Lehre. ?®
Der Umstand, daß Hubmaier sich kurz nach seinem Fortgang von Regens-
burg ein solches Büchlein erwarb und es auch anderen vermittelte, läßt
darauf schließen, daß sein Interesse für den neuen Glauben schon in Regens-
burg zu erwachen begonnen hatte. ?®
Der Brief an Sapidus gewährt einen aufschlußreichen Einblick in Hub-
maiers inneres Leben während seiner ersten Zeit in Waldshut. Er rühmt
Sapidus’ Lauterkeit und Besonnenheit im Vergleich mit seinen eigenen
Versehen und seiner eigenen Unwürdigkeit. ?° Er macht Anspielungen auf
die antike Mythologie und Literatur, und als Zeichen seiner Freundschaft
übersendet er zusammen mit dem Brief je ein Werk von Juvenal und Per-
sius als Geschenk. Aus dem Schreiben geht aber auch hervor, daß Hubmaier
nicht nur der klassischen Bildung, sondern auch den biblischen Studien
Beachtung schenkte. Er sagt, daß er die Theologen unter den Gelehrten
verehre und schätze, und vor allem solche, die von den Quellen der pauli-
nischen „Theosophie“ tränken, womit er zunächst Erasmus meint. Er bittet
nämlich Sapidus, dafür zu sorgen, daß der Überbringer des Briefes, ein
Neffe Hubmaiers, die Paraphrasen von Erasmus über Pauli Briefe und
dessen Kompendium über die wahre Theologie nicht vernachlässigen möge,
ebenso nicht die Terenzlektüre. ?!
Seinem Briefe legte Hubmaier ein im Umlauf befindliches Spottgedicht
bei. Darin wird Papst Leo X., nachdem er von einem Feinde zu einem
Freunde des Kaisers geworden sei, mit Herodes, dem Freunde Pilatus’, ver-
9
glichen. Wie diese einmal Christus töteten, versuchten jene jetzt, Luther zu
beseitigen. Christus sei ein sanftmütiger, armer Knecht gewesen, der sein
Kreuz getragen habe. Der Papst dagegen lasse sich hochmütig von hab-
gierigen Dienern tragen und halte alle Reiche der Welt in den Händen. ??
Hubmaier läßt somit Sapidus auch wissen, daß er die Kirche, der er bisher
mit solcher Hingabe gedient hatte, jetzt kritisch betrachtet und Sympathien
für Luther hegt.
Die beiden Briefe vom Jahre 1521 lassen den Humanisten Hubmaier
erkennen. In Rychard und Rhenanus hatte er schon gleichgesinnte Freunde
gewonnen, nun bemühte er sich darum, auch Sapidus’ Freundschaft zu
erlangen. Er schätzte Erasmus’ theologische Schriften sehr, interessierte sich
aber auch für das, was über Luther geschrieben wurde. In den ersten Jahren
nach 1517 fand Luther in erster Linie unter den Humanisten begeisterte
Anhänger. Diese begrüßten es besonders, daß Luther die Scholastik ab-
lehnte und die Heilige Schrift in den Vordergrund stellte.?® Wenn Hub-
maier im Brief an Sapidus die „Quaestiologie“ verwirft, d.h. die scholastische
Lehrmethode, nach der er selbst ausgebildet worden war, und statt dessen
auf die paulinische Theologie hinweist, bekennt er sich damit zu einem
humanistischen Ideal. 3%
Im Oktober 1521 hatte Hubmaier sich an Sapidus gewandt. Acht Monate
später schrieb er einen Brief an Johann Adelphi. Dieser hatte sich 1514 als
Stadtarzt in Schaffhausen niedergelassen, also mehrere Jahre nach Hub-
maiers Aufenthalt dort im Jahre 1507. Als Arzt, Humanist und Laien-
reformator war er ein Gegenstück zu Rychard in Ulm, und wie dieser setzte
er sich früh für die evangelische Lehre ein. Er war ein fleißiger Schrift-
steller, und als ein Freund Erasmus’ übersetzte er u. a. eine von dessen
Schriften ins Deutsche und veröffentlichte sie. Ein Brief vom Mai 1521 be-
weist, daß er zu dem Zeitpunkt schon zu den Anhängern Luthers gehörte:
Auf einer Reise nach Basel und Freiburg habe er festgestellt, daß fast alle
die Gelehrten Lutheraner, d. h. gute Christen seien. Er habe Schriften von
Luther gelesen, und Melanchthons Apologie sei ihm von Beatus Rhenanus
empfohlen worden. 35
Aus Hubmaiers Brief an Adelphi vom 23. Juni 1522 geht hervor, daß die
beiden Männer sich kannten und schon schriftlich miteinander verkehrt
32 TA Elsaß 1, S. 42.
33 Siehe MoELLER 1959, S. 50 fi.
34 „Et licet in albo doctorum non sim, candidioris tamen, non quaestiologiae, sed
theologiae alumnos et candidatos ex cordis meditullio colo, veneror et observo, et
inprimis hos qui Paulinae theosophiae fontes imbiberunt.“ TA Elsaß 1, S. 417.
35 Siehe Wırr 1929, S. 78 fl.
100
hatten. 3° Ein Vergleich zwischen dem erwähnten Brief von Adelphi und
Hubmaiers drei erhaltenen Schreiben aus den Jahren 1521/22 lehrt weiter,
daß die Verfasser die gleichen Interessen und ähnliche persönliche Bezie-
hungen hatten. Hubmaier teilt dem Schaffhauser Freund mit, er sei gerade
dabei, die Korintherbriefe des Paulus zu studieren, danach wolle er mit dem
Römerbrief anfangen. Für diese Arbeit brauche er gewisse, anscheinend bei
Melanchthons Paulusvorlesungen gemachte Aufzeichnungen und bitte Adel-
phi, sie ihm zu besorgen. ?” Hubmaier fragt Adelphi auch nach dessen Urteil
über Luthers Buch ‚sub utraque specie“ und fügt hinzu, daß er noch eine
Schrift Luthers „de Coena“ besitze. 38
Weiter berichtet Hubmaier Adelphi, daß er kürzlich eine Reise nach Basel
und Freiburg unternommen habe. Freiburg habe er nicht „frei“, sondern
„gefangen“ vorgefunden, belastet durch Zwietracht und Spaltungen. Hub-
maier hatte demnach beobachtet, wie in seiner ehemaligen Universitätsstadt
um die Reformation gekämpft wurde. 3° In Basel sei er davon beeindruckt
worden, daß Nonnen heirateten und Mönche ihre Klöster verließen. In die-
ser Stadt sei er mit seinen „besten Freunden“ zusammengekommen, und
er erwähnt namentlich Erasmus, Glarean und Pellikan. Folglich hatte er
persönliche Verbindung zu dem Basler Kreis der Humanisten und Refor-
mationsfreunde, dem auch Rhenanus angehörte. Von Erasmus habe er den
Eindruck gewonnen, er spreche frei, schreibe aber „eng“! Er habe mit ihm
über das Fegefeuer geredet und besonders über die Worte in Joh. 1: „Weder
aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen des Mannes“.?
101
Das Ergebnis der bisherigen Darstellung von Hubmaiers geistiger und
religiöser Entwicklung mag an diesem Punkt zusammengefaßt werden. In
Regensburg mißbilligte er die Ausartungen, die in Verbindung mit der
Wallfahrtsbewegung zur Schönen Maria vorkamen. Sein Glaube an die
Wunder, die dort angeblich geschahen und Maria zugeschrieben wurden,
scheint jedoch nicht erschüttert worden zu sein. In dieser Hinsicht wie auch
als Judengegner war Hubmaier ein typischer Vertreter landläufiger mittel-
alterlicher Vorstellungen. Während der beiden ersten Jahre in Waldshut
erfüllte er noch weiterhin untadelig seine priesterlichen Verpflichtungen.
Aus dieser Zeit stammt allerdings auch das erste bekannte Zeugnis dafür,
daß Hubmaier der zeitgenössischen Kritik an der katholischen Kirche und
am Papst beipflichtete.
Die ablehnende Haltung dem damaligen kirchlichen Leben gegenüber
war ein gemeinsamer Zug des Humanismus und der Reformation. Aus
den drei soeben behandelten Briefen Hubmaiers aus den Jahren 1521/22
geht hervor, daß er unter der Einwirkung dieser beiden Geistesströmungen
stand. Schon das Lobgedicht auf Eck, das Hubmaier am Anfang seiner
Regensburger Zeit, etwa 1516, verfaßt hatte, läßt erkennen, daß er vom
Humanismus beeinflußt war. Es enthält nämlich die für die Humanisten
charakteristischen Anspielungen auf die Antike. *! Die fünf Jahre später in
Waldshut entstandenen Briefe zeigen, daß Hubmaier zu der Zeit hinsicht-
lich seiner persönlichen Beziehungen und seiner Denkweise ausgesprochen
humanistisch eingestellt war, aber auch, daß er der Reformationsbewegung
volle Beachtung schenkte. Das Interesse für den Humanismus hatte er auch
mit seinen Freunden Eck und Fabri gemeinsam.
Seit Loserth ist man in der Forschung allgemein der Ansicht gewesen,
daß Hubmaier weder in Regensburg noch während der ersten Zeit in Walds-
hut irgendwelche evangelischen Neigungen hegte.*? Im vorhergehenden
wurde erläutert, daß man — allerdings mit anderer Begründung — dennoch
mit der älteren Forschung *? durchaus annehmen kann, daß Hubmaier be-
41 Z.B.: „Haud Cleopatream priscus satis extulit umbram / Obicient doctum sae-
cula nostra virum.“ Hubmaiers Briefe usw., Nr. 1. LosertH 1893, S. 17, Anm. 1.
THEOoBALD (1936, S. 39) hat die Vermutung ausgesprochen, Hubmaier habe sich
schon in Freiburg dem Humanismus zugewandt.
42 Siehe LosErtH 1893, S. 25, VEDDER 1905, S. 49, 52, Mau 1912, S. 9 £., SACHSSE
1914, S. 130 f., THEOBALD 1936, S. 83, 111 und ScuuLze 1957, S. 228.
43 S.o. das Kapitel Hubmaier vor der Waldshuter Zeit. Vgl. dazu auch MAcoskEr
(1956, S. 73), der Hubmaiers Fortgang von Regensburg irrtümlicherweise auf
Ende 1521 datiert und sagt: „It may well be true that just at this time he began
reading some of Luther’s writings.“
102
reits in Regensburg begann, sich mit der reformatorischen Botschaft zu be-
schäftigen. Bei der Hinwendung zum evangelischen Glauben hat offensicht-
lich das von Erasmus und den Wittenberger Reformatoren angeregte Stu-
dium der paulinischen Theologie die entscheidende Rolle gespielt. Zweifel-
los waren Freunde wie Rychard und Adelphi auch von großer Bedeutung
für seine innere Wandlung gewesen.
Die negativen Erfahrungen im Zusammenhang mit der Schönen Maria-
Bewegung mögen bei Hubmaier das Interesse für Humanismus und Re-
formation gefördert haben. Hubmaier stellt ein eindrucksvolles Beispiel für
einen Menschen aus der Zeit der beginnenden Reformation dar, dessen reli-
giöses Leben und Denken von erheblichen Spannungen beherrscht war.
Der innere Zwiespalt löste sich, indem Hubmaier offen den Schritt zur
evangelischen Seite hinüber tat. Innerhalb der Reformation und der daraus
hervorgegangenen Täuferbewegung leistete er dann seinen bedeutendsten
Einsatz als Theologe und kirchlicher Führer. Der Humanismus hatte ihn
in seiner Entwicklung zum Reformator und Täufer wesentlich beeinflußt,
und der Eindruck, den er dadurch gewonnen hatte, war bleibender Art.
Das zeigte sich, als er sich später im Streit um die Willensfreiheit auf Seiten
Erasmus’ stellte; in dieser Hinsicht ähnelte er unter anderen Täufern be-
sonders Hans Denck.** Man kann Hubmaier jedoch nicht während seiner
evangelischen und täuferischen Periode als Humanist im engeren Sinne
des Wortes bezeichnen. Er war seiner Veranlagung nach kein Gelehrter,
sondern eine geistliche Führernatur; als solche hatte er sich schon in Regens-
burg einen Namen gemacht. Auch als evangelischer Reformator und als
Täufertheologe war er vor allem ein volkstümlicher Prediger, der an der
Spitze religiöser Volksbewegungen stand.
103
wieder Prediger an der Schönen Maria zu werden. Nach langem Überlegen
habe er schließlich diesen Dienst für ein Jahr übernommen. #5
Während Hubmaiers Abwesenheit war der Streit zwischen dem Rat und
dem Administrator Johannes beigelegt worden und ein wesentlicher Grund
für Hubmaiers damaliges Scheiden somit weggefallen.*# Die Pilgerbewe-
gung war inzwischen stark zurückgegangen.*’ Aus dem Bestallungsbrief
vom 22. Dezember, der vom Rat und Hubmaier selbst mit Siegeln versehen
wurde, geht hervor, daß der Rat jetzt hoffte, der ehemalige Domprediger
könne die Bewegung wieder beleben. Seine religiöse Entwicklung in der
Zwischenzeit macht es verständlich, daß Hubmaier zögerte, den Ruf des
Rates anzunehmen. Nach dem Bestallungsbrief versprach er indessen, jede
Woche drei Ämter zu singen oder auf eigene Kosten singen zu lassen. Wei-
ter verpflichtete er sich, bei oder in der Kapelle zu predigen, Prozessionen
zu veranstalten, die geschehenen Wunder zu untersuchen und zu verbreiten
und immer das zu tun, was „zur Aufhaltung und Erhebung dieser Wall-
fahrt“ für nötig und gut zu erachten sei. *8
In seiner Regensburger Chronik berichtet Leonhard Widmann über den
Verlauf von Hubmaiers erneuter Tätigkeit in der Stadt. Am 8. Dezember
taufte der Weihbischof einen Juden bei der Schönen Maria, wobei Hub-
maier die Predigt hielt. Das dürfte ein Augenblick des Triumphes für den
Mann gewesen sein, der vor Jahren so feurig gegen die Gotteslästerung der
Juden gesprochen hatte. Am Sonntag nach Weihnachten, dem „Tag der
Kindlein“, habe Hubmaier eine Wiege in einer Prozession nach der Wall-
fahrtskapelle tragen lassen und auch sonst oft Prozessionen durchgeführt.
Er habe im Freien vor der Kapelle und bei Regen in der Kirche der Augu-
stiner gepredigt. *
45 SCHELHORN SR. 1738, S. 119. Hubmaier sagte 1526 in Zürich, daß er „von Sant
Martins tag bis uff reminiscere“ in Regensburg gewesen sei und dort gepredigt
habe, d. h. vom 11. Nov. 1522 bis 1. März 1523. TA Zürich, S. 391. — Hubmaiers
oben zitierte Angabe vom Januar 1523 über seine Ankunft in Regensburg muß
dieser späteren vorgezogen werden.
46 Siehe THEOBALD 1936, S. 97 und oben.
47 Die Einnahmesummen an der Schönen Maria betrugen: 3184 Gulden 1520/21,
718 Gulden 1521/22 und 181 Gulden 1522/23. TuEoBALD 1936, S. 90.
48 SachHsseE 1914, S. 225 f.
49 WIDMAnNN, S. 49 f. und STrAus, Urkunden, Nr. 1139; vgl. Tagebuchaufzeich-
nungen von Peter Krafft (S. 42) zum Jahre 1522: „illo die Conceptionis baptisavi
hic Judeum in area Judeorum“. — Bei WıpMann, S. 50, heißt es irrtümlicher-
weise: Hubmaier „machet ein procession..., thet auff ein grossen schalk“.
GEMEINER (1824, S. 466) hat die richtige Lesart dieser Aussage gegeben: Hub-
maier „machte ein Procession.... thäts oft. Ein grosser Schalk“. Über diese Äuße-
ßerung Widmanns siehe auch o. das Kapitel Die Quellen zu Hubmaiers Leben.
104
In seinem Brief an Rychard erwähnt Hubmaier nichts von irgendwelchen
Prozessionen, sondern berichtet von dem für ihn Wesentlichen, nämlich von
seiner Verkündigung. Er habe begonnen, das Lukas-Evangelium in zahl-
reichen Predigten auszulegen, und anschließend habe er vor, mit einem
anderen Bibelbuch anzufangen. Er teilt weiter mit, daß in Nürnberg Chri-
stus kühn gepredigt werde, und in Bayern seien viele „mit uns“ und ver-
kündigten die evangelische Lehre.5° Gleich vor Weihnachten ı522 hatte
Hubmaier ein offizielles Dokument persönlich versiegelt, in dem er ver-
sprach, seine frühere Tätigkeit als Wallfahrtsprediger in Regensburg erneut
kraftvoll zu betreiben. Weniger als einen Monat später rechnete er sich zu
den Evangelischen. Zwischen diesen beiden Begebenheiten war demnach
die entscheidende Wendung in seiner religiösen Entwicklung erfolgt.
Im Jahre 1522 bestand in Regensburg bereits ein größerer Kreis von
Handwerkern, die durch Luthers Schriften dessen überzeugte Anhänger
geworden waren, die aber noch die katholischen Gottesdienste besuchten.
Ihr Führer war der Blaufärber Hans, Blabhans genannt, der in seinem
Hause Andachtsstunden hielt. Daran nahm auch Hubmaier teil, und inner-
halb dieses Kreises erfolgte sein Durchbruch zum neuen Glauben. ! Zu der
Zeit, als Hubmaier an Rychard schrieb, beabsichtigte er seinen Worten nach,
in einem Jahr das Lukasevangelium zu beenden, und nichts in dem Briefe
deutet darauf hin, daß er nicht das versprochene Jahr in Regensburg blei-
ben werde.5? Sechs Wochen später, am ı. März 1523, verließ er aber die
Stadt und kehrte nach Waldshut zurück. 53 In diesen Wochen muß es ihm
klar geworden sein, daß er den Erwartungen nicht mehr entsprechen konnte,
die man für ihn als Wallfahrtsprediger hatte. Diese Annahme wird von
Widmanns Chronik bestätigt. Es heißt darin, daß es Hubmaier während
seines zweiten Aufenthaltes in Regensburg nicht „geraten“ wollte.
Genau wie zwei Jahre zuvor scheint Hubmaier mit dem Einverständnis
des Stadtrates fortgegangen zu sein. Beim ersten Abschied hatte er 40 Gul-
50 ,„Nobiscum per Bavariam multi sunt, qui satis callent et evangelizant Evangelicam
institutionem.“ SCHELHORN SR. 1738, S. 119 £.
51 Siehe GEMEINER 1824, S. 477, THEoBALD 1936, S. 109 ff. und DoLLInGER 1959,
SAL
52 „Auspicatus sum itaque Lucam Evangelistam, quem creberrimis sermonibus hoc
anno absolvam.“ SCHELHORN SR. 1738, S. 119. — Nach THEoBALD (1936, S. 112)
berichtet Hubmaier in diesem Brief über seine Tätigkeit in Regensburg so, „daß
man merkt, er sei beklommen, betroffen, er fühle selbst, daß er längst hätte fort-
gehen sollen“. Dies ist ein Beispiel dafür, wie Theobald manchmal die Quellen
überfordert.
53 TA Zürich, S. 391; vgl. o. S. 104, Anm. 45.
54 WIDMANnN, S. 50.
den als Gabe bekommen, diesmal wurden ihm ı5 Gulden geschenkt. ® Auch
nach Hubmaiers endgültigem Fortgang von Regensburg im Frühjahr 1523
nahm der Rat weiterhin eine wohlwollende Haltung ihm gegenüber ein.
Der wahrscheinliche Grund dafür soll in einem späteren Zusammenhang
angegeben werden.
Die innere Wandlung Hubmaiers, die sich über Jahre erstreckt hatte,
war im Winter 1522/23 in Regensburg abgeschlossen. Diese Datierung wird
durch spätere Aussagen Hubmaiers bestätigt, 5° und in einem Gespräch mit
Fabri Ende 1527 im Gefängnis schilderte Hubmaier, wie er selbst seine
religiöse Entwicklung erlebt habe. Als er durch Fabri auf seine frühere
Tätigkeit als katholischer Priester aufmerksam gemacht wurde, erklärte er,
daß er damals so gehandelt habe, weil die Offenbarung der Wahrheit ihm
erst später gekommen sei. Am Anfang habe er auch das Evangelium nicht
recht verstanden, schließlich sei aber der Heilige Geist zu ihm gekommen. ??
Vom März 1523 an lebte Hubmaier wieder in Waldshut. Sicherlich hatte
ihn das Stattfinden der ersten Zürcher Disputation Ende Januar des glei-
chen Jahres mit dazu bewegt, in das Städtchen an der Schweizer Grenze
zurückzukehren. Das Religionsgespräch erregte nämlich weit und breit Auf-
sehen; bereits Mitte Februar wußte man z. B. davon in Nürnberg, wo der
Reichstag versammelt war.°® Hubmaier dürfte sich schon zu diesem Zeit-
punkt für das reformatorische Geschehen in Zürich und der Eidgenossen-
schaft, an dem er selbst bald aktiv teilnehmen sollte, interessiert haben.
Bis zum Zeitpunkt der Rückkehr nach Waldshut im Frühjahr 1523 wurde
seitens der katholischen Kirche, soweit man weiß, keinerlei Klage gegen
Hubmaier erhoben. Sein Übertritt zum evangelischen Glauben war all-
mählich und im stillen geschehen. Nach dem zweiten Aufenthalt in Re-
gensburg änderte er allerdings sein Auftreten. In einem Bericht vom Februar
1524 beschwert der Konstanzer Bischof sich über Hubmaier, weil dieser am
106
Sonntag des guten Hirten die Priesterschaft geschmäht habe, indem er die-
jenigen als Seelenmörder und Satans Pfaffen bezeichnet habe, die die Un-
wahrheit verkündigten, Träume von Mönchen undKirchenvätern predigten
und den Menschen das Evangelium vorenthielten. 5% Diese Predigt muß
Hubmaier am Sonnntag Misericordia 1523, d. h. am ı9. April, gehalten
haben. Demnach begann er bald nach seiner Rückkehr von Regensburg,
seine alte Kirche öffentlich anzugreifen.
In Waldshut hatte Hubmaier anfänglich noch Verbindung mit Fabri in
Konstanz gehalten.®! Dieser hatte sich wie Hubmaier dem Humanismus
zugewandt; und als Luther auftrat, begrüßte er ihn, wie die meisten Huma-
nisten, als einen Erneuerer der Kirche. Von der Leipziger Disputation 1519
an begann Fabri aber, sich von Luther abzukehren, und 1522 tat erdurch eine
Streitschrift offen kund, daß er von der evangelischen Bewegung Abstand
genommen hatte. Er und Hubmaier entwickelten sich folglich in ent-
gegengesetzte Richtungen und kamen ungefähr gleichzeitig zu klaren kirch-
lich-theologischen Stellungnahmen. Vom Jahre 1523 an gehörten die beiden
bisherigen Freunde zwei sich gegenseitig bekämpfenden kirchlichen Lagern
an, und Fabri wurde einer von Hubmaiers eifrigsten und einflußreichsten
Gegnem.
Zur gleichen Zeit brach Eck mit seinem ehemaligen Freund und Kollegen
aus Ingolstadt. Einen Teil des Jahres 1523 weilte Eck in Rom, wo er eine
Reihe von Denkschriften anläßlich der Kirchenspaltung verfaßte und dem
Papst vorlegte. In einem Abschnitt, der offensichtlich nach dem Tode Ha-
drians VI. im September 1523 entstand, wird neben Zwingli und anderen
auch Hubmaier als der lutherischen Ketzerei verdächtig erwähnt. 3 Dieser
hatte seine Wirksamkeit als Waldshuts Reformator begonnen, und die
Kunde davon war bis nach Rom gedrungen. Hubmaiers bisherige Kirche
beobachtete ihn von jetzt an mit immer schärferer Kritik.
Die Reformation in Waldshut wurde somit durch Hubmaier eingeführt,
und es ist nichts darüber bekannt, daß in der Zeit außer Hubmaier andere
59 Sachsse 1914, S. 230. — Sachsse (S. 229, Anm. 2) hat angenommen, daß das
Schreiben von Fabri abgefaßt wurde. Im Februar 1524 weilte dieser aber nicht
mehr in Konstanz. Über das Aktenstück siehe weiter unten.
60 Der gute Hirte (Joh. 10,11—16), das Evangelium des zweiten Sonntags nach
Ostern, d. h. Misericordia domini. 1523 fiel der Ostersonntag auf den 5. April;
vgl. Sacusse 1914, S. 230, Anm. 2.
61 So, S.,97,,Anm.418;
62 Siehe HeLsLing 1941, S. 5 ft.
63 Eck, Denkschriften, S. 241 und die Einleitung ihres Herausgebers FRIEDENBURG,
ebd. S. 159 fi.; vgl. auch THEOBALD 1936, S. 113.
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evangelische Prediger in der Stadt wirkten. In der Literatur ist oft wieder-
holt worden, daß der spätere Täuferführer Melchior Hofmann um 1523
das Evangelium in Waldshut und sogar in Zürich verkündigt habe. Diese
Angabe ist sehr zweifelhaft und muß als unkontrollierbar übergangen
werden. ®*
64 Diese Angabe scheint erstmalig bei Antje Brons 1884 vorzukommen. Als Quelle
weist die Verfasserin auf einen Brief Zwinglis an Vadian hin, der jedoch nirgends
aufzufinden ist, siehe KAwErAU 1954, S. 1. Neuerdings hat sich Payne (1958,
S. 126) auf diesen Brief bezogen.
65 S. u. Karte 2.
66 TA Zürich, S. 194. — Der St. Galler Sebastian Ruggensberger wurde 1525 Täu-
fer, widerrief aber später seinen täuferischen Glauben, siehe PEACcHEY 1954,
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her hätten sich die Menschen in und vor seiner Herberge versammelt, wo
Hubmaier den Brief des Paulus an die Galater ausgelegt habe. Dabei sei
jedem Hunger und Durst nach der Wahrheit gekommen. #7 Keßler kehrte
erst im November 1523 nach anderthalbjährigem Studium in Wittenberg
nach St. Gallen zurück. Er hat folglich die erwähnten, von ihm geschilderten
Ereignisse nicht persönlich miterlebt, aber in seiner Heimatstadt hatten
zweifellos Augenzeugen ihm darüber berichtet;zu diesen zählte wahrschein-
lich Ruggensberger,