Studienarbeit
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ISBN: 9783346159588
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Freie Universität Berlin
Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften
Institut für Romanische Philologie
Spanische Philologie mit Lateinamerikanistik
Vorgelegt von:
Janina Isabel Weida, 20.07.2016
B.A. Filmwissenschaft/Spanische Philologie mit Lateinamerikanistik
Inhaltsverzeichnis
3. Surrealismus ................................................................................................................................... 13
4. Fazit................................................................................................................................................ 20
5. Bibliographie.................................................................................................................................. 22
6. Filmographie .................................................................................................................................. 23
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1. Zielsetzung der Hausarbeit
Julio Medem – einer der bekanntesten zeitgenössischen Regisseure Spaniens – zeichnet sich als
Filmemacher durch eine spezielle Handschrift aus, für welche vor allem ein hohes Maß an
Autoreferenzialität und Medienreflexivität konstitutiv ist. Nicht nur der autobiographische
Hintergrund Medems, die immer wiederkehrenden Motive und Thematiken seines Kinos sowie
tiefgehende Gedanken zum filmischen Medium werden dabei reflektiert, sondern auch das Medium
der Literatur hat eine starke – sowohl explizite, als auch implizite – Präsenz in seinem Werk. Bereits
die Biographie des Regisseurs macht diese Tatsache deutlich, da sich Medem schon immer intensiv
mit Literatur und Film auseinandergesetzt hat und deshalb auch selbst schreibt. „So lehnte es
Medem bisher auch immer ab, ein fremdes Drehbuch zu verfilmen, und bezeichnet sich selbst
häufig eher als Drehbuchautor denn als Regisseur.“ (Bochnig 2005: 18).
Besonders in Lucía y el sexo (Julio Medem, ES 2001), mit dem er endgültig internationale
Aufmerksamkeit erlangte, nimmt Literarizität durch die Rolle des Schriftstellers Lorenzo, den
Einfluss seines Schreibens auf den gesamten Verlauf des Films und die damit einhergehende
Vermischung von Fiktion/Literatur und 'Realität' eine wesentliche, reflexive Funktion ein. Medem
sieht dabei das Sujet der Sexualität stark verwoben mit dieser literarischen Thematik:
Die Grundlage für die spätere (sexuelle) Beziehung zwischen den Figuren bildet somit das intime Verhältnis
zwischen Leser und Autor, das Medem wie folgt beschreibt: '[D]ie Beeinflusste und der Beeinflussende oder
die Realität und die Fiktion… In der Beziehung zwischen dem, der Fiktion erschafft und dem, der sie emp-
fängt, besteht einem Abkommen gleich ein extrem enges Intimitätsverhältnis.'. (Bochnig 2005: 76–77)
Lucía y el sexo ist nicht nur deshalb von besonderem Interesse, da er sich explizit mit dem Thema
der Schriftlichkeit beschäftigt, sondern auch, da er die Komplexität der vorangehenden Werke noch
steigert und viele bisher verwendeten filmischen Motive in gewisser Weise in sich vereint.
Die Verschränkung von Film und Literatur in Lucía y el sexo soll hinsichtlich zweier literarischer
Strömungen genauer untersucht werden, die besonders oft in einem Atemzug mit Medems Filmen
genannt werden, deren Unterscheidung in vielen Schriften zu seinem Oeuvre meist jedoch nicht
eindeutig ist oder gar nicht stattfindet. Es handelt sich um den Realismo Mágico und den
Surrealismus, die beide als zentrale Tendenzen die spanischsprachige Literaturgeschichte geprägt
haben.
Ziel dieser Hausarbeit ist es, herauszufinden, inwiefern Medems Werk Analogien zu diesen
Strömungen aufweist und folglich festzustellen, ob es sich lediglich um Parallelen bzw. referentielle
Bezüge handelt oder ob dabei eine Analogie besonders hervorsticht. Dazu sollen beide Begriffe
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erklärt, für den Rahmen dieser Arbeit eingegrenzt und voneinander unterschieden werden, um vor
diesem Hintergrund am Beispiel von Lucía y el sexo literarische Referenzen bezüglich beider
Gattungen aufzuzeigen.
2. Realismo Mágico
2.1 Begriffserklärung
Der Begriff des Magischen Realismus lässt sich auf das 1925 durch den Kunstkritiker Franz Roh
veröffentlichte Buch über den deutschen Post-Expressionismus zurückverfolgen und wurde
ungefähr 20 Jahre später durch den venezolanischen Schriftsteller Arturo Uslar Pietri im Kontext
der spanischsprachigen Literatur übernommen (vgl. Llarena 1997: 22 f.). Schließlich entwickelte
sich der Realismo Mágico in Lateinamerika in eine spezifische Richtung, die nicht mehr viel mit
dem europäischen Vorreiter gemeinsam hat (vgl. Scheffel 1990: 60) und sich zunehmend als
iberoamerikanischer Ausdruck kultureller Identität manifestierte, wobei auch einige spanische und
angelsächsische Werke den Stilistiken dieser literarischen Gattung entsprechen (vgl. Cascón
Becerra o.J.: 116 f.). In dieser Arbeit wird – aufgrund der Fokussierung auf die spanischsprachige
Literatur – der Begriff Realismo Mágico verwendet. Cascón Becerra weist in seinem Artikel über
das Verhältnis zwischen dem Realismo Mágico und dem spanischsprachigen Kino auf die
„dificultad para definir un término que abarca el arte, la literatura y el cine“ (Cascón Becerra o.J.:
113) hin, die sich auch in den unzähligen Versuchen der (Literatur-)Wissenschaft widerspiegelt, den
Realismo Mágico theoretisch greifbar zu machen.1 Eine zunächst oft unklare Unterscheidung ist die
Abgrenzung des Realismo Mágico zum Realismo Fantástico oder schlichtweg zum Fantastischen.
Si bien lo fantástico y el Realismo Mágico nos hablan de dos planos de la realidad, lo natural y lo sobrenatural,
lo racional y lo irracional, en el Realismo Mágico cambia la forma en que ambos planos se relacionan entre sí,
del modo que dentro del Realismo Mágico hay una especial armonía entre ambos. (Cascón Becerra o.J.: 115)
Wie durch diese Erklärung anklingt, handelt es sich vereinfacht beim Realismo Mágico nicht um
die Konstruktion einer magischen Fantasiewelt, sondern das Magische wird als Teil der realen Welt
selbst verstanden. Gerade diese Harmonie kann bereits als Ausgangspunkt für die in diesem
Rahmen wichtigste Abgrenzung gesehen werden, d.h., die begriffliche Trennung von Realismo
Mágico und Surrealismo, die im dritten Kapitel durch die Definition des Surrealismus präzisiert
1 Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, soll hier auf genauere literaturhistorische Hintergründe über die
Entstehung dieser Strömung verzichtet werden. Der Schwerpunkt liegt auf einer knappen Begriffserklärung und
-abgrenzung, durch die die wichtigsten bzw. meist genannten Charakteristika ersichtlich werden, die sowohl auf die
Literatur als auch auf den Film bezogen werden können.
3
wird.
Cascón Becerra (o.J.: 115 f.) zählt in seinem Artikel die wichtigsten Merkmale auf, die sowohl für
den Realismo Mágico in der Literatur als auch für das Kino charakteristisch sind und die im
Folgenden von ihm übernommen werden. Wie bereits angedeutet, handelt es sich bei einem dieser
Aspekte um magische – oder als magisch wahrgenommene – Elemente, welche innerhalb der
Diegese nie erklärt werden und folglich eher intuitiver Natur sind. Das (Über-)Sinnliche ist damit
Teil der Realitätswahrnehmung und steht nicht mit ihr im Konflikt oder Kontrast. Aus alltäglichen
und gewöhnlichen Situationen können so auch metaphysische bzw. magische Erfahrungen
hervorgehen. Ein weiteres Merkmal ist die Deformierung von Zeit und eine zyklische, nicht lineare
Zeitwahrnehmung, wodurch sich die Gegenwart häufig wiederholt oder der Vergangenheit ähnelt.
Nicht nur die Zeit-, sondern auch die Raumwahrnehmung gehört zu den erwähnenswerten
Charakteristika. Der Raum wird oft als „mínimo y vital“ (Cascón Becerra o.J.: 116) beschrieben
und dynamisiert die Handlung wie eine Art Antriebsfaktor. Er wird dabei nicht extern, sondern
durch eine meist interne Fokalisierung wahrgenommen. Außerdem sind die Reisen der
Protagonisten hier meist nicht physischer Natur, sondern Raum und Zeit verändern sich in ihren
Gedanken oder Traumzuständen, was auch mit der Begrenztheit des Raumes übereinstimmt (vgl.
Cascón Becerra o.J.: 116).
Davon abgesehen ist die Identifizierung mit der lateinamerikanischen Identität fernab vom
europäischen Kontext ebenfalls ein wichtiges Kennzeichen, welches auch die Tatsache begründet,
dass der Realismo Mágico trotz seiner europäischen 'Wurzeln' oft als genuin iberoamerikanische
Literaturströmung beschrieben wurde (vgl. Llarena 1997: 24 f.). Die mestizaje wird passend zum
literaturhistorischen Hintergrund, der das literarische Vorbild aus Europa nach Südamerika
überträgt, selbst zum kulturellen Wesen dieser Gattung. Die prähispanischen Mythologien und
Weltbilder, die das Magische per se als Teil der Realität implizieren, sind demnach auch signifikante
Thematiken im Realismo Mágico (vgl. Cascón Becerra o.J.: 115).
2.2.1 Narration
Die Option, die Lorenzo in sein Buch einbaut – und Julio Medem in seinen Film – und die ein
zyklisches Moment der Narration ausmacht, ist das Springen in Löcher, durch welches den
Protagonisten die Möglichkeit 'gegeben' wird, den Verlauf der Geschichte zu verändern, indem sie
ab der Mitte neu beginnen. Diese Eigenschaft erinnert nicht nur an die Zirkularität in der Literatur
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des Realismo Mágico, sondern ist auch eine von zahlreichen Reflexionen der Filmgeschichte, da
andere populäre Filme wie beispielsweise Lola rennt (Tom Tykwer, DE 1998) ebenfalls mit einer
ähnlichen Option, die Diegese zu verändern, spielen. Abgesehen von der dadurch entstehenden
Zirkularität handelt es sich bei diesem Umstand zweifellos um ein magisches Element, welches
innerhalb der Figurenwelt akzeptiert und nicht hinterfragt wird, was ebenfalls typisch für den
Realismo Mágico ist. Überdies „fällt schließlich auch der Film […] am Ende in ein Loch und taucht
wieder mitten in der eigenen Geschichte auf“ (Bochnig 2005: 84 f.), was den zirkulären Charakter
und damit auch die Assoziation des Realismo Mágico gleichsam doppelt reflektiert.
Generell spricht auch die zunehmende, zeitlich-narratologische Non-Linearität im Film für einen
Vergleich zum Realismo Mágico. Durch die zyklische Natur der Geschichte und die Abwesenheit
einer chronologischen Zeitlichkeit wird die filmische Zeit ebenfalls eher als zyklisch
wahrgenommen und klassische Dichotomien wie Zukunft und Vergangenheit relativieren oder
gleichen sich gegenseitig, wie es – wie bereits erwähnt – in der Literatur des Realismo Mágico oft
zu beobachten ist. So wird beispielsweise der totgeglaubte Lorenzo, eventuell durch Lucías Fallen
in ein Loch, wieder 'zum Leben erweckt', bzw. wird nun klar, dass Lorenzo den schweren Unfall
überlebt hat, was Lucía nicht ahnt, da sie den Polizisten zu Beginn des Films am Telefon nicht
ausreden lässt und wir somit nicht erfahren, welche Information er ihr tatsächlich vermittelt. Auch
die Parallelen zwischen dem Ursprung und dem vermeintlichen Ende der Geschichte lassen auf
diese Relativierung und Zirkularität schließen. „Während die Geschichte also – chronologisch
betrachtet – mit der Zeugung von Luna auf der Insel beginnt, kehrt sie mit Lucías Flucht auf die
Insel wieder an ihren Ursprungsort zurück“ (Bochnig 2005: 74). Diese Tatsache entspricht der
Aussage aller Filme von Medem, dass ein Ende gleichzeitig auch ein neuer Anfang ist und
umgekehrt, wodurch eine lineare Auffassung von Zeit keinerlei Gültigkeit erlangt (vgl. Bochnig
2005: 87).
Ein weiteres Zeichen für diese Relativierung ist die permanente Verschränkung von Realität und
Imagination im Schreiben Lorenzos, durch welche ein Schwebezustand zwischen diesen beiden
Polen erreicht wird. Durch diesen Umstand lässt sich nicht mehr eindeutig erkennen, ob Lorenzo
die Ereignisse niederschreibt, die ihm zuvor tatsächlich widerfahren sind, seit er von seiner Tochter
weiß, oder ob die Dinge passieren, weil er sie niedergeschrieben hat – genauso wenig lässt sich
eindeutig sagen, was lediglich in seiner Fantasie und was tatsächlich geschieht.
Dieses Vermischen von filmischer Realität und Fantasie erinnert auch an eine „realidad que es
síntesis de dos mundos separados pero no enfrentados“ (Cascón Becerra o.J.: 115), wie es in Bezug
5
auf den Realismo Mágico formuliert wird. Jedoch ist fraglich, ob sich diese Synthese mit dem
zunehmenden Ineinanderfließen beider Ebenen nicht doch in eine eher surrealistisch anmutende
Dominanz des Imaginären oder Traumartigen entwickelt, wie im nächsten Kapitel ausgeführt wird.
Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als handele es sich in der Tat um eine physische
Reise vom urbanen Raum Madrids auf die Insel, kann man folglich nie mit Sicherheit wissen, ob
diese Geschehnisse wirklich stattfinden, oder ob sich nicht doch alles nur auf mentaler Ebene, also
in Lorenzos Gedanken, abspielt und seinem Buch entspringt. Dass es hierbei nicht um eine
physische, sondern ausschließlich um eine mentale Reise geht, wie es oft zum Realismo Mágico
konstatiert wird, lässt sich jedoch nicht mit Gewissheit bestätigen. Mit dem Aspekt des minimalen
Raumes könnte man das Geschehen in jedem Fall in Verbindung bringen, zumal sich die Sequenzen
in Madrid auf wenige Orte beschränken und eine Insel, die hier zudem als intim-familiärer Ort
inszeniert wird, per se immer einen begrenzten Raum darstellt. Auch die zirkuläre Bewegung der
Protagonisten, die immer wieder zum Ausgangspunkt der Geschichte zurückzuführen scheint, da sie
auf der Flucht vor der Vergangenheit mit genau dieser konfrontiert werden, suggeriert die Idee, dass
diese die einzig mögliche Raumbewegung ist und bestätigt im weiteren Sinne dieses Prinzip der
Begrenztheit ebenfalls. Darüber hinaus scheint der 'Raum' tatsächlich eine lebensnotwendige oder
zumindest einflussreiche Dynamik zu besitzen, da die Insel als Schauplatz beispielsweise
permanent mit den Vorgängen in Zusammenhang gebracht wird, zur Zugkraft für Lucías Flucht wird
und letztendlich den Raum für das Verständnis der Ereignisse und die Zusammenführung der
Protagonisten bietet. Im Kontrast dazu fungiert die Stadt als urbanes Setting für hauptsächlich
negative Ereignisse und Gefühle2, während die Insel ausschließlich positive Wirkung auf die
Geschichte ausübt.3 Generell wird die Insel nicht nur implizit, sondern auch explizit sowohl durch
Carlos, als auch durch Lorenzo als magischer Ort beschrieben (vgl. TC 00:39:00; TC 01:06:53).
Dies wird auch auf Tonebene unterstrichen, indem beispielsweise zu Beginn des Films dissonante
Töne mit beunruhigender Wirkung als Hintergrundmusik eingesetzt werden, welche mit der ersten
Weißblende erlischt, die die Ankunft auf der Insel und damit den Ortswechsel markiert. So lässt sich
in der Tat der Eindruck gewinnen, dass der Aspekt des Raumes mehr als nur ein passiver
Hintergrundfaktor ist, wie es auch im Hinblick auf den Realismo Mágico geschildert wird.
2 Ausnahme bildet hier der Flashback über das Kennenlernen und die Liebe zwischen Lucía und Lorenzo, was
ebenfalls in Madrid stattfand und positiv konnotiert ist.
3 Lorenzo erzählt Luna zwar von einer imaginären Insel, die jedoch einige Parallelen zur im Film gezeigten Insel
aufweist, z.B. durch die Löcher, von denen er spricht.
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Medem beschreibt die im Film namenlose Insel als einen Ort voller Magie: die Insel hat keine Verbindung zum
Meeresgrund, weshalb sie bei starkem Seegang schwankt wie der Boden eines Schiffes. Das Meer zwischen
Festland und Insel kann dabei als eine Art Grenze angesehen werden, hinter der alles Negative und Belastende
zurückbleibt. (Bochnig 2005: 83)
Genauso wenig wie die Funktion der Löcher innerhalb der Geschichte werden diese Eigenarten der
Insel, geschweige denn ihr Name, und ihre Auswirkung auf die Bewohner hinterfragt. Ihre
metaphysische/magische Typisierung wird also wie im Realismo Mágico als natürlich
hingenommen.
In Bezug auf den Ton als filmisches Parameter ist vor allem das Lied Un rayo de sol zu erwähnen,
da es das Geschehen gewissermaßen doppelt kreisförmig begleitet, zumal es einerseits in mehreren
Situationen von Lucía gesungen oder gesummt wird und außerdem das Symbol der Sonne bereits
im Namen trägt (vgl. Strigl 2007: 204). Zum ersten Mal singt Lucía das Lied in der Dusche,
nachdem sie Lorenzo kennengelernt hat (vgl. TC 00.24:45). Beim zweiten Mal steht sie singend am
Fenster, während Lorenzo am Computer seine neue Geschichte schreibt, wobei ihr Gesicht durch
das helle Sonnenlicht kaum noch zu sehen ist (vgl. TC 00:36:06). Beim dritten Mal hört man sie das
Lied zuerst aus dem Off singen, während sie den Sonnenuntergang aus ihrem Zimmer in Elenas
Gästehaus erblickt (vgl. TC 00:42:32). Gleichzeitig fungiert dieser Gesang als Übergang zur
nächsten Einstellung, in der sie nun in Elenas Küche steht – ebenfalls am Fenster – und singend im
Bild zu sehen ist. Auch hier wird ihr Gesicht hell beleuchtet und auch hier setzt sich Elena an den
Computer und schreibt in ihrem Blog über Lucías Gesang, was eine klare Parallele zur zweiten
Szene bildet, in der Lucía dieses Lied singt, während Lorenzo schreibt. Diese Analogien auf
narrativer Ebene akzentuieren die Zirkularität als elementare Eigenschaft der Geschichte und
inszenieren zugleich Lucía als eine Art Inspirationsquelle für das Schreiben beider Protagonisten.
Der Terminus Un rayo de sol in Assoziation mit dem Namen Lucía, der – abgeleitet vom Verb lucir
– für scheinen oder leuchten steht, bekräftigt diese Interpretationsmöglichkeit und verbindet die
Protagonistin direkt mit dem Symbol der Sonne, welches im nächsten Kapitel genauer erläutert
wird. Am Ende des Films wird das Lied erneut von Lucía gesummt, als sie zusammen mit Lorenzo
glücklich am Fenster im Sonnenlicht steht (vgl. TC 01:59:51).
Auch auf Dialogebene finden sich zahlreiche Wiederholungen, die der zyklischen Struktur
entsprechen. So macht Elena Lucía darauf aufmerksam, sie sei „la mejor cocinera de la isla“ (TC
00:42:03), was daran erinnert, dass sie Lorenzo Jahre zuvor – also im ersten Flashback – erzählt hat,
sie sei „una de las mejores Paelleras de todo el Mediterráneo (TC 00:13:45). Eine solche
Wiederholung lässt sich auch beobachten, als Elena Lucía die ausgedruckte Erzählung zeigt, die ihr
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noch unbekannter Chatpartner – Lorenzo – zur Konsolation für sie verfasst hat (vgl. TC 01:19:57).
Elena wiederholt vor Lucía teilweise die gleichen Worte, mit denen ihr Lorenzo die Erzähung
erklärt hat: „Es un cuento lleno de ventajas porque al final habrá un agujero, por donde te puedas
escapar hasta la mitad del cuento, para cambiarte el rumbo“ (TC 01:38:55). Am Ende des Films
werden Lorenzos Worte erneut durch ein Voice-Over wiederholt, wobei der Film selbst zur Mitte
zurückgekehrt zu sein scheint, zu einem Zeitpunkt, an dem alle Figuren glücklich sind (vgl. TC
01:58:50). Die Wiederholungen unterstreichen also nicht nur die komplexe Verbindung der
einzelnen Figuren zueinander, sondern auch das zirkuläre Ineinanderfließen der Erzählebenen.
Auch wenn die Geschichte des vorliegenden Films selbst sehr wenig mit Cien años de soledad von
García Márquez – einem der berühmtesten Werke des Realismo Mágico – gemeinsam hat, lässt sich
generell in der Verknüpfung von alltäglichen und übersinnlichen Elementen sowie in der zyklischen
Wahrnehmung eine grundlegende, strukturelle Gemeinsamkeit erkennen: „Es scheint […] als ob
sich die Zeit im Kreise drehe. Charaktereigenschaften und Ereignisse, die bereits aufgetreten sind,
stellen sich erneut ein“ (Meyer-Minnemann 2012: 303).
2.2.2 Mise-en-scène
Die zyklische Zeitwahrnehmung findet sich auch in signifikanten Symbolen der Mise-en-scène
wieder, dazu zählen insbesondere die Sonne und der Mond. Beide Sinnbilder sind für Medem
typische, bedeutungsgeladene Leitmotive, die sein gesamtes Œuvre durchziehen, wodurch sich auf
doppelter Ebene ein 'Kreislauf' ergibt, d.h., sowohl innerhalb von Lucía y el sexo im Speziellen als
auch innerhalb von Medems Gesamtwerk. In Bezug auf den vorliegenden Film lässt sich eine
Vielzahl von Bedeutungen dieser beiden Symbole erkennen. Rein geometrisch betrachtet handelt es
sich bei beiden Motiven – wie auch bei den narrativ bedeutsamen Löchern – um eine Kreisform, da
die Sonne per se eine runde Erscheinungsform hat und der Mond nie als Sichel oder Halbkreis,
sondern immer im Zustand des Vollmonds auftritt, was bereits auf eine zeitliche Gleichmäßigkeit im
Sinne eines Zyklus hinweist. Auf interpretatorischer Ebene kann man ebenso postulieren, dass beide
Phänomene abwechselnd für den Tagesrhythmus verantwortlich sind und somit buchstäblich den
Kreislauf der Zeit darstellen. Das sieht man unter anderem in der Szene, in der kurz vor
Sonnenuntergang sowohl die Sonne als auch der Mond am Himmel zu sehen sind, der die Sonne
ablösen wird, weshalb Lucía noch einmal tief durchatmet und die Sonne fokussiert (vgl. TC
00:08:17–00:08:35). Durch den bereits erwähnten Kontrast der nächtlichen Ereignisse und
derjenigen, die von Sonnenlicht begleitet werden, besonders von dem extrem hellen Sonnenlicht auf
8
der Insel, gewinnen beide Faktoren durch den Schein des Einwirkens auf die Geschehnisse eine
magische Reminiszenz. Wie bereits im Hinblick auf die Narration angedeutet wurde, hat Lucía
sowohl hinsichtlich ihres Namens, als auch in Bezug auf die Bildebene eine besondere Verbindung
zum Symbol der Sonne, zum Beispiel wendet sie sich mehrmals vom Mond zur Sonne hin ab, auch
wenn es sich nur um eine aufgemalte Sonne auf ihrer Nachttischlampe handelt (vgl. TC 00:08:30;
TC 00:08:44). Zudem erfährt man durch einen Dialog mit Carlos ihre Vorliebe für Sonnenlicht
gegenüber der Dunkelheit, wobei hier die Dunkelheit unter Wasser gemeint ist: „Es que yo prefiero
el aire...el aire libre y el sol“ (TC 00:38:23). Diese Szenen deuten darauf hin, dass die Sonne eher
für die Gegenwart und der Mond für die Vergangenheit stehen könnte, von der sich Lucía gerne
abwenden möchte (vgl. Bochnig 2005: 83). Außerdem wird die Protagonistin meist in traurigen
Momenten vom Mond begleitet (vgl. TC 01:41:15; TC 00:05:58), wohingegen die Sonne als
Symbol der Hoffnung eingesetzt wird. „Der Mond kann darüber hinaus auch als eine Art
unsichtbare Kraft angesehen werden, welche die Figuren zusammenhält und ihr Schicksal
bestimmt“ (Bochnig 2005: 84), da er nicht nur alle Protagonisten begleitet, sondern auch auf
signifikante Weise mit den Geschehnissen in Verbindung steht. Ausgangspunkt hierfür ist die
Vollmondnacht, in der Elena und Lorenzo ihre Tochter Luna zeugen, von der Lorenzo erst Jahre
später erfahren soll, wodurch die Kehrtwende der Geschichte und der Beziehung zu Lucía ihren
Lauf nimmt. Bezeichnend ist auch der Name der Tochter, die nicht nur explizit nach dem Mond,
sondern damit auch als symbolisches Komplementärstück zu ihrem Vater benannt ist, da Luna
Mond und Lorenzo umgangssprachlich Sonne bedeutet. Gerade dadurch, dass dem Vollmond eine
entscheidende Bedeutung für den Anfang der Geschichte beigemessen wird, kündigt sich in diesem
Symbol der zirkuläre Charakter des gesamten Films bereits wie eine Mise en abyme an. Die sich
abwechselnde Präsenz beider Symbole durch die gesamte Geschichte hinweg entspricht dem
Ineinanderfließen von Vergangenheit und Zukunft im Realismo Mágico, da der Mond immer
wiederkehrt, so wie die Figuren schließlich auch von der Vergangenheit eingeholt werden bzw. sich
dieser stellen.
Auch zahlreiche Spiegelungen prägen den vorliegenden Film und lassen sich mit Borges als
Vorreiter des Realismo Mágico assoziieren, bei dem Spiegelungen – vor allem im Sinne einer Mise
en abyme – eine wichtige Rolle spielen.4 Zum Beispiel in El Aleph, einer seiner erfolgreichsten
Erzählungen, handelt es sich um das Faszinosum der Unendlichkeit des Universums als magisches,
4 Da das Werk von Borges von vielen verschiedenen Einflüssen geprägt ist und oft über seine vollständige
Zugehörigkeit zum Realismo Mágico debattiert wird, wenngleich seine Bedeutung in diesem Zusammenhang
dennoch oft hervorgehoben wird, soll in diesem Rahmen von Borges als Vorreiter gesprochen werden, wohingegen
García Márquez als exemplarischer Vertreter der Strömung thematisiert wird.
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unerklärliches Element der Realität, welches gewissermaßen durch unendliche Spiegelungen eines
Punktes dargestellt wird (vgl. Borges 1998). Borges thematisiert demnach nicht nur Spiegelungen
im wörtlichen5, sondern auch im übertragenen Sinne, wobei man Widerspiegelungen eines
Sachverhaltes immer auch als Teil einer zyklischen Weltsicht begreifen kann.
Lucía spiegelt sich beispielsweise auf dem Weg von Madrid auf die Insel im Zugfenster, wodurch
sich ihr Abbild mit dem Sonnenaufgang überschneidet (vgl. TC 00:07:13), was den positiven
Einfluss der Sonne auf die Protagonistin und die Verbundenheit zu diesem magisch erscheinenden
Naturphänomen bildlich ausdrückt. Außerdem spiegelt sie sich nackt im schwarzen Bildschirm auf
Lorenzos Computer, was nahelegt, dass sie und die körperlich-sexuelle Beziehung zu ihr eine
Inspiration für Lorenzos Schaffen darstellen, zumal der Bildschirm zu diesem Zeitpunkt noch
schwarz ist (vgl. TC 00:24:32). Im Weiteren spiegeln sich Lorenzo und Lucía ebenfalls in diesem
Bildschirm auf den Buchstaben seines neuen Romans, was sie bildlich zum Teil dieses Texts
werden lässt und wodurch auch die voranschreitende Vermischung von Lorenzos Fantasie und
Realität suggeriert wird, zumal die Protagonistin seines Textes vorgibt, aus Malta zu sein, wie Lucía
kurz nach ihrer Ankunft auf der Insel (vgl. TC 00:35:52; TC 00:10:15). Auch Elena spiegelt sich in
dem Bildschirm ihres Computers in der Szene, in der sie in ihrem Forum über „Lucía, un rayo de
sol“ (TC 00:43:12) schreibt, wodurch die im vorangehenden Kapitel bezüglich Lucías Gesangs
erwähnten Parallelen beider Szenen erweitert werden und die Verbindung der Geschichten von
Elena und Lucía bereits in dieser Spiegelung verbildlicht wird. Beachtet man das Detail, dass der
erste Teil von Medems Drehbuch zum vorliegenden Film zunächst den Titel Lucía, un rayo de sol
trug (vgl. Medem 2001: 2 f.), erhält diese Spiegelung eine noch konkretere Bedeutung, da sie Elena
als Teil dieser Fiktion und gleichzeitig als Verfasserin des Titels reflektiert und damit ebenfalls die
Grenzen zwischen filmischer Realität und Imagination, Autor und Leser hinterfragt, was wiederum
die zyklische Struktur des Films bestätigt.
Das Wasser lässt sich ebenfalls als eine Art Leitmotiv beschreiben, welches den Kreislauf der Dinge
und die magische Wirkung der Natur auf die Geschichte zum Ausdruck bringt. Luna wird nicht nur
im Wasser gezeugt, sondern kehrt auch innerhalb der Traumsequenz, welche ihren Tod beschreibt,
in die Unterwasserwelt zurück, die kurz zuvor bereits durch die Dekoration ihres Zimmers mit ihr in
Verbindung gebracht wird (vgl. TC 01:06:35). Der Blick auf das Meer und die Wellen, den sowohl
Lucía (vgl. TC 00:07:33), als auch Elena (vgl. TC 01:13:35) bei ihrer Flucht auf die Insel haben, bei
5 Ein Beispiel zahlreicher Werke von Borges, die den Terminus „Spiegel“ bereits im Titel enthalten, ist das Gedicht
Al espejo, in dem die infinite Spiegelung, z.B. im Wasser oder im Kristall, als magischer, aber auch beunruhigender
Teil der Natur beschrieben wird (vgl. Borges 1989: 110).
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der sie beide jeweils ihren Schatten im Schaum der Wellen sehen, verdeutlicht ebenfalls die
repetitive Struktur der Geschichte und kennzeichnet die Funktion des Wassers als Umgebung und
Schwelle zum magischen Ort der Insel. Als sich die Erzählebenen zunehmend miteinander
verknüpfen und Elena bei einem Gespräch mit Lucía erahnt, dass es sich bei Lorenzo um den Vater
ihrer Tochter handelt, ist auf dem immer wieder fokussierten Wandkalender, der den Geburtsmonat
von Lorenzo und Luna anzeigt, ein Bild vom Meer abgebildet, abschließend sogar in
Großaufnahme (vgl. TC 01:34:50). Dabei handelt es sich um ein stürmisches Meer mit hohen
Wellen und auf offener See, was die tragische Verbindung zwischen Lorenzo und Elena
kennzeichnen könnte. Dementsprechend wird Elena von einem Schwindel überfallen und schwankt,
als sei sie ebenfalls auf hoher See, woraufhin Lucía bestätigt „eso es por el mar, que debe de estar
muy revuelto“ (TC 01:34:49), während sie auf das Bild in Großaufnahme verweist.
Der Einsatz von Kamera und Montage verstärkt sowohl die zyklische Temporalität, als auch die
Dynamisierung des Raumes und die metaphysische Verschränkung von Realität und Fantasie.
So sind die Großaufnahmen der bereits erwähnten Symbole, Sonne und Mond, auffällig und
verstärken die Bedeutung und magische Einwirkung als Sinnbilder eines natürlichen Kreislaufes.
Ein Beispiel hierfür ist der Vollmond in Großaufnahme, welcher in den runden, positiven
Schwangerschaftstest von Elena übergeht (vgl. TC 00:14:43). Diese häufig fließenden Übergänge –
sei es durch formale Assoziationen wie in diesem Fall, Überblendungen oder halbkreisförmige
Schwenks – lassen sich als bedeutungstragende Komponenten der Montage erkennen. Einer dieser
Schwenks, der ebenfalls die kreisförmige Verknüpfung zwischen Lucía, Lorenzo und Elena
widerspiegelt, bewegt sich von Elena, die mit ihrer Tochter im Kinderwagen spazieren fährt, auf das
Haus an der Seite zu und fährt über die Hauswand und das Fenster in Lorenzos Wohnung hinein,
wo dieser am Schreibtisch den Beginn seines Buches schreibt (vgl. TC 00:35:35). Ein weiterer
Schwenk, der eine kreisförmige Bewegung imitiert und zudem als Übergang zu einem neuen
Schauplatz fungiert, lässt sich beim Kennenlernen von Lucía und Lorenzo beobachten, als sie
zusammen vom Café in die Diskothek gehen und auch als sie von dort in Lorenzos Wohnung gehen,
folgt ein halbkreisförmig angedeuteter Schwenk (vgl. TC 00:21:40; TC 00:22:11). Diese Übergänge
lassen sich als Antizipation der zyklischen Geschichte deuten, die die Beziehung der beiden
Protagonisten prägen wird und sowohl im Realismo Mágico, als auch in den filmischen Welten von
Julio Medem als Teil jeder zwischenmenschlichen Beziehung dargestellt wird.
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Ein signifikantes Beispiel für die genannten Überblendungen ist der Übergang von Lunas Foto zur
noch lebendigen Luna am Ende des Films, dem Moment, in dem Elena das Foto gemacht hat (vgl.
TC 01:58:59). Hier werden nicht nur die angesprochene Relativierung von Vergangenheit und
Zukunft, sondern auch das Vermischen von Realität und Fantasie ausgedrückt, zumal offen gelassen
wird, ob es sich tatsächlich um einen Neuanfang in der Mitte der Erzählung handelt, ob der zweite
Teil der Geschichte in Wirklichkeit nur in der Fantasie stattfand und Luna nie gestorben ist, oder ob
der Übergang lediglich eine visualisierte Erinnerung ist, in welcher das Mädchen 'weiterlebt'.
Kennzeichnend sind auch generell die Parallelmontagen, beispielsweise die, in der Elenas Leben als
werdende und schließlich alleinerziehende Mutter mit dem gemeinsamen Leben von Lucía und
Lorenzo verbunden wird (vgl. TC 00:32:28–00:36:13).
Des Weiteren sind die Flashbacks aussagekräftige Stilmittel der Montage, die die nicht lineare
Temporalität des Films und damit auch die bereits erläuterte Relativierung von Vergangenheit und
Zukunft hervorheben. Der erste Flashback wird mit dem Zwischentitel „El sexo. 6 años antes“
eingeleitet und bezieht sich auf den One-Night-Stand zwischen Elena und Lorenzo, während dem
ihre Tochter Luna gezeugt wird (vgl. TC: 00:12:08), woraufhin das Kennenlernen zwischen Lucía
und Lorenzo, die Anfangsphase ihrer Liebesbeziehung und Elenas Entbindung gezeigt werden.
Durch eine Weißblende findet wieder ein Flashforward auf die Insel statt (vgl. TC 00:36:12). Der
zweite Flashback geht zur Beziehung zwischen Lucía und Lorenzo zurück, zu dem Moment, in dem
Lucía gerade ein neues Buch von Lorenzo ein wenig enttäuscht aufgrund der fehlenden Tragik
fertig liest (vgl. TC 00:46:02), was bereits als Vorausdeutung auf die echte Tragik seines neuen
Buches bzw. der eigenen Geschichte gesehen werden kann. Die nächste Rückblende findet nach
dem Streit zwischen dem depressiven Lorenzo und der wütenden Lucía statt, worauf ein Zeitsprung
folgt, in dem Pepe und Lorenzo im Krankenhaus gezeigt werden (vgl. TC 01:27:58). In einem
weiteren kurzen Flashback liest Lucía am Schreibtisch das Ende von Lorenzos Buch, nachdem
Elena ihr die Vermisstenanzeige von Belén und ihrer Mutter gezeigt hat (vgl. TC 01:31:45). Diese
Rückblende dient also zur Verbildlichung ihrer Erinnerung an Lorenzos Erzählung und der
Verdeutlichung der immer stärker werdenden Parallelen zwischen Realität und Fiktion. Die
Flashbacks und Flashforwards verdeutlichen die Parallelen zur Non-Linearität im Werk von García
Márquez, zumal dieser ebenfalls Pro- und Analepsen in seine zyklische Erzählung einbaut (vgl.
Meyer-Minnemann 2012: 303).
12
3. Surrealismus
3.1 Begriffserklärung
Der Surrealismus lässt sich auf das Jahr 1924 in Paris zurückführen, genauer, auf das surrealistische
Manifest von André Breton, welcher der Meinung war, dass die historische Situation eine neue
Kunst benötigte, die das Innenleben des Menschen erforscht bzw. aus dem tiefsten Innenleben
entspringt, um den Menschen in seiner Ganzheit begreifbar zu machen (vgl. Breton 1995: 329–
331). Bereits in diesem Manifest wird deutlich, was schließlich auch zahlreiche spanischsprachige
Autoren – unter anderem José María Hinojosa, Federico García Lorca und Octavio Paz – in ihrem
Schaffen übernommen und mitgestaltet haben. Als Anhänger von Freuds Psychoanalyse war Breton
der Meinung, dass diese ideale Voraussetzungen für den künstlerischen Schaffensprozess liefere.
Wichtigste Kondition für diesen Prozess ist der psychische Automatismus, also Denken in
Abwesenheit rationaler Kontrolle. Eine bedeutende Rolle spielen demnach unterbewusste Zustände
wie der des Träumens. Jegliche Formen der Logik und Rationalität werden zugunsten des
Automatismus verworfen, durch den eine 'höhere' menschliche Realität offengelegt werden soll
(vgl. Breton 1995: 329–331). Verborgene und auch – aufgrund gesellschaftlicher Tabus – verbotene
Gedanken oder Empfindungen werden deshalb zu einer Inspirationsquelle und schamlos, oft sogar
provokativ, dargestellt und das 'Hässliche' wird ästhetisiert (vgl. Nadeau 1986: 41).
Als direkte Vorgänger des Surrealismus lassen sich Kubismus, Futurismus und Dadaismus nennen,
Breton beispielsweise war zuvor ebenfalls in der dadaistischen Bewegung aktiv (vgl. Nadeau 1986:
12). So lässt sich auch in Bezug auf den spanischsprachigen Surrealismus und den Realismo
Mágico eine hybride Berührung beider Tendenzen verorten, was unter anderem dadurch bedingt
war, dass das Werk einiger Schriftsteller wie Julio Cortázar unter dem Einfluss beider Strömungen
stand, was eine Unterscheidung oft zusätzlich erschwert (vgl. Fuentes 2005: 249). Dennoch lassen
sich unter Bezugnahme auf das Manifest Bretons einige wesentliche Punkte zur Differenzierung
erkennen. Abgesehen vom geografischen und historischen Kontext, vor welchem sich beide Stile
entwickelten, ist die hierbei wohl wichtigste Unterscheidung die Tatsache, dass es sich beim
Realismo Mágico um das Magische handelt, das in der (inneren und äußeren) Realität des
Menschen selbst liegt und durch die Synthese fantastischer/übernatürlicher und realer
Begebenheiten zum Ausdruck kommt. Es geht also um ein harmonisches Verhältnis beider
Komponenten, wohingegen beim Surrealismus ganz klar der psychische Automatismus im
Vordergrund steht und die aus ihm gewonnenen, übernatürlichen Eindrücke des menschlichen
Seelenlebens entscheidend sind. Während es sich also bei ersterem um die Verschmelzung von
13
Realität und Magie handelt, negiert letztere Tendenz geradezu jegliche Realität bzw. stellt die
Existenz dieser in Frage. Ebenso wird auch sprachliche Logik und Rationalität verworfen,
wohingegen der Sprachstil im Realismo Mágico durchaus wichtig ist und die Ereignisse meist
präzise und klar beschrieben werden (vgl. Nadeau 1986: 18 f.; Cascón Becerra o.J.: 115).
Verwirrungen können letztendlich dennoch entstehen, wenn es von der Interpretation des Werks
abhängt, ob es sich um eine – innerhalb der Diegese – reale Geschichte mit fantastischen
Komponenten handelt, oder ob sich alle Ereignisse als eine Art Bewusstseinsstrom deuten lassen.
Des Weiteren sind einige Sujets, wie zum Beispiel Traumwelten, in beiden Strömungen von
Bedeutung und können somit ebenfalls für Unklarheiten der tendenziellen Einordnung
verantwortlich sein.
3.2.1 Narration
Zu den provokativen Themen des Surrealismus zählt zweifellos auch die Erotik, welche oft mit
einem traumartigen Zustand verbunden wird und mit der sich vor allem Freuds Psychoanalyse
intensiv als essentiellen Teil des menschlichen Innenlebens beschäftigte, weshalb sie ein häufig
verwendetes Motiv der surrealistischen Literatur ist (vgl. Barreiro León 2014: 457–460). Dem Sex
als zentrales Thema in Lucía y el sexo kann somit ebenfalls ein surrealer Charakter zugeschrieben
werden, wenn man die filmische Narration genauer ergründet. Er ist nicht nur der direkteste
Ausdruck von Sinnlichkeit, sondern auch ein Moment, in dem körperliche Realität mit der Fantasie
im Kopf verschmilzt. Der Moment der Erregtheit, der sich getrennt von rationalem Denken einstellt,
lässt sich mit einem tranceartigen Zustand vergleichen, der die Idee von Produktivität und Kreation
im Surrealismus ideal widerspiegelt. Analog dazu lässt sich das Verhältnis zwischen Lucía, Lorenzo
und ihrer Sexualität beobachten. Lorenzos schriftstellerische Kreativität befindet sich
gewissermaßen in einer Synthese mit seinem Sexleben. Als er von seiner Tochter erfährt, beginnen
die dramatischen Verwicklungen der Geschichte und damit auch seine Schreibkrise, worunter auch
seine sexuelle Liebesbeziehung zu Lucía leidet, die schließlich gewissermaßen einer 'schmutzig'-
pornographisch konnotierten, sexuellen Annäherung zu Belén weicht, welche als Ursache für den
tragischen Tod von Luna dargestellt wird. Sieht man seine Tochter als ein Produkt des
Geschlechtsverkehrs, den Lorenzo mit Elena einige Jahre zuvor vollzog, kann man sogar so weit
gehen, den Sex als eigentlichen Auslöser der Geschichte zu begreifen und damit – im übertragenen
Sinne – als den schöpferischen Zustand, aus dem heraus die Geschichte 'geschrieben' wurde.
14
Die sexuelle Thematik wird nicht nur durch Belén, sondern auch durch Elena weitergeführt, indem
sie Lucía von ihrer rein körperlichen Beziehung zu Carlos berichtet, bei der es sich nur um „sexo
salvaje“ (TC 00:44:52) handelt, woraufhin Lucía antwortet, „en esta isla ya se puede“ (TC
00:44:55) und damit die Insel als traumartigen Ort beschreibt, wo sich (intime) Fantasien frei
ausleben lassen. Generell lässt sich beobachten, dass sich die filmische Realität immer mehr sowohl
mit der sexuellen Fantasie als auch mit der literarischen Fiktion Lorenzos vermischt.
„Die erdrückende Atmosphäre der Geschichte, die zur Metapher seines eigenen Seelenlebens wird,
überträgt sich hier auch zunehmend auf die Außenwelt“ (Bochnig 2005: 81). Versteht man also die
Handlung der Geschichte und die Atmosphäre, von der diese begleitet wird, als Abbild bzw.
Produkt der Psyche von Lorenzo, ließe sich in der Tat auch von einer surrealistischen
Vorgehensweise sprechen. Sieht man das Ineinanderfließen von Realität und Imagination weniger
als den Ausdruck des Magischen innerhalb der menschlichen Realität, sondern eher als die sich
steigernde, verwirrungsstiftende Dominanz der subjektiven Gedankenwelt, lassen sich damit
ebenfalls Aspekte für eine surrealistische Argumentation finden. Vor allem ab der zweiten Hälfte
des Films beginnt das Vermischen von Realität und Imagination immer stärker und komplexer zu
werden. Nach Lunas Tod wird das sich steigernde Chaos zum Beispiel durch den starken Wind
untermalt, der den Raum erfüllt, nachdem Lucía das Fenster öffnet und versucht, Lorenzo zu
animieren (vgl. TC 01:15:05). Seine Aussage „eres demasiado buena para comprender esta mierda
que tengo dentro“ (TC 01:16:06) trägt zur Unklarheit darüber bei, ob sich die Geschichte lediglich
in seinem Kopf abspielt und seine gegenwärtige Depression als Ausdruck einer Schreibkrise
interpretiert werden kann. Dass Pepe Lorenzos Werk mit einer „Tochter“ gleichsetzt und die Idee
der eigenen Tochter als Anreiz für die „historia de su vida“ (TC 00:49:40) bezeichnet, bestätigt
diese Verwirrung gleichermaßen. Die Vermischung von Realität und Fiktion verstärkt sich noch, als
beispielsweise klar wird, dass Belén und ihre Mutter verschwunden sind, nachdem Lorenzo in
seinem Buch Mutter und Tochter durch Selbstmord ausgelöscht hat, woran sich auch Lucía beim
Lesen der Vermisstenanzeige erinnert (vgl. TC 01:31:14). Dass Carlos und Antonio, welcher mit
beiden Frauen zusammengelebt hat, ein und dieselbe Person sind, steigert die Verknüpfung
zwischen den Erzählebenen noch zusätzlich.
Des Weiteren zählt Selbstreflexivität zu beliebten Methoden des Surrealismus (vgl. Strigl 2007: 151
f.) und ist auch bei Medem sehr häufig anzutreffen. Bereits im Vorspann des vorliegenden Films
wird die extradiegetische Realität mit der Fiktion auf selbstreflexive Weise verknüpft, indem die
Namen der Schauspieler wie von einem Computer eingetippt werden, als ob Lorenzo – dessen Rolle
15
so nicht mehr genau unterscheidbar von Medems Person ist – genau hier begänne, seine Geschichte
zu schreiben. Passend dazu vermischt sich „in Medems Filmen immer wieder die eigene Realität
mit der Phantasie und es finden sich in seinen Werken immer auch Hinweise auf seine eigene
Biographie“ (Bochnig 2005: 85 f.). Der eigentlich noch im extradiegetischen Bereich liegende
Vorspann und die dort genannten Darsteller werden somit bereits als Teil der Diegese eingeführt
bzw. der Übergang beider Bereiche ist nicht mehr konkret zu trennen. Gerade die Involvierung der
Darsteller in diesen Prozess ist bezeichnend, zumal diese innerhalb der Filmographie Medems oft
entweder in ähnlichen oder auch in anderen Rollen wiederkehren oder verschiedene
Schauspielerinnen für einen wiederkehrenden Rollentyp besetzt werden, was teilweise wie eine
filminterne Reinkarnation wirkt, wie zum Beispiel bei Lucía, die Medem selbst als Reinkarnation
der Ana aus Los amantes del círculo polar (Julio Medem, ES 1998) begreift, bei der es sich
interessanterweise um die Darstellerin der Elena aus Lucía y el sexo handelt (vgl. Medem 2001: 1).
Zu den surreal wirkenden Elementen des Films zählt beispielsweise die Traumsequenz oder
Wunschvorstellung, in der Lorenzo mit Luna alleine am Strand der Insel ist, die er auch in seine
Erzählung mit einbaut bzw. dieser entspringt, was zum einen durch den tonalen Übergang vom
Tippgeräusch und Voice-Over seines Erzählerkommentars in den Dialog als On-Ton innerhalb
dieser Traumsequenz und schließlich – wieder umgekehrt – in den Off-Ton des Voice-Overs
deutlich wird. Zum anderen erkennt man auch auf Bildebene durch den Wechsel von der
Traumsequenz zu Lorenzo, der vor seinem Computer sitzt, dass es sich um einen imaginativen
Dialog zwischen den beiden handelt. Auch die Sequenz, die parallel zum Tod seiner Tochter abläuft,
findet in dieser Traumwelt statt, was bezüglich der Montage noch näher erläutert wird.
Die Szene, in der Lucía wie außer sich mit großen, hastigen Schritten am Strand läuft und dabei
unzusammenhängend klingende Dinge murmelt, die scheinbar direkt ihren wirren Gedanken und
ihrem verzweifelten Seelenleben entspringen, fungiert als subjektiver Ausdruck ihres aufgrund des
'Verlustes' von Lorenzo verstörten Seelenlebens und hat demnach ebenso eine surrealistische
Konnotation, was das übersteigerte, fast absurd wirkende Schauspiel noch verdeutlicht (vgl. TC
00:10:19–00:10:46).
Auch die leichte, meist kaum hörbare Hintergrundmusik, die oft mit einem hauchenden
Atemgeräusch untersetzt ist, klingt deliriös oder traumartig und lässt die Ereignisse in einem
surrealen Schwebezustand verharren. Ein Beispiel ist die Sequenz, in der Lucía mit dem Roller auf
der Suche nach Carlos ist und Elena Lorenzo mit dem Auto begegnet. Die Motorengeräusche sind
hier zugunsten dieser subjektiven Hintergrundtöne nur noch gedämpft hörbar (vgl. TC 01:50:30).
16
3.2.2 Mise-en-scène
Der Mond als häufiges Symbol in der Mise-en-scène lässt sich nicht nur mit dem Realismo Mágico
in Verbindung bringen, sondern könnte ebenfalls ein surrealistisches Merkmal sein. Im filmischen
Kontext lässt es sich kaum vermeiden, bei der Aufnahme eines Mondes an die berühmte Szene aus
Buñuels Un chien andalou (Luis Buñuel, FR 1929) zu denken, in der der Mond mit dem Auge der
Frau assoziiert wird, welches schließlich von einer Rasierklinge durchtrennt wird. Dass vor dem
Mond zunächst Wolkenfäden herziehen, die dann mit der Rasierklinge assoziiert werden und sich
auch im vorliegenden Film oft ähnliche Wolkenfäden vor dem Mond bewegen, untermalt diese
bildliche Parallele (vgl. TC 01:41:26). Auch Sandra Strigl erkennt hier eine Anspielung auf den
surrealistischen Filmemacher durch die „vorherrschende Kreisform“ (Strigl 2007: 183) in beiden
Werken.
Ein weiteres surrealistisch anmutendes Element ist die helle Farbigkeit, die insbesondere die
Atmosphäre auf der Insel prägt und einen Großteil der Vorgänge in ein weißes Licht taucht, welches
wie eine kontinuierliche Relativierung oder Negation der Realität wirkt und somit den Eindruck
erweckt, das Geschehen fände ausschließlich in einer surrealen Welt statt, beispielsweise im Traum
oder in der unterbewussten Gedankenwelt von Lorenzo oder auch Lucía.
Denkt man an die Bedeutung von Spiegeln in der Psychoanalyse – vor allem bei Lacan – lassen sich
hier auch Argumente für die Verwendung dieser Symbolik in einem surrealistischen Kontext über
Narzissmus und Selbsterkenntnis anführen (vgl. Strigl 2007: 136–138).
Lorenzos Spiegelung im Fernsehbildschirm während der Sequenz, in der Beléns Erzählung über das
Verhältnis zu ihrer Mutter, einer Pornodarstellerin, und die sexuelle Zuneigung zu deren Liebhaber
deutlich mit der Version aus Lorenzos Fantasie interferiert, bricht die Grenzen zwischen Realität
und Imagination noch stärker auf und betont weniger eine harmonische Dualität, sondern eher den
Ausdruck der verborgenen sexuellen Fantasien aus Lorenzos Innerem, in denen er sich zunehmend
zu verlieren droht (vgl. TC 00:59:35). Hier wird, wie Julia Bochnig treffend formuliert,
[…] vor allem Lorenzos Rolle als Schöpfer von Fiktion deutlich und dementsprechend sieht man […], wie sich
dieser selbst im Fernsehbildschirm spiegelt und seine eigene Phantasiewelt betrachtet. Dieses Stilmittel findet
sich an mehreren Stellen des Films und Medem lässt Lorenzos Manuskripte dabei zu virtuellen Welten werden,
in welchen sich der Autor frei bewegen kann. (Bochnig 2005: 80)
Diese freie Bewegung ist jedoch auch der Grund dafür, dass die Realität immer mehr dieser
virtuellen Welt zu weichen scheint, wodurch generell die Rationalität und Realität in Frage gestellt
wird, was dem Surrealismus ebenfalls gleicht.
Überdies lassen sich einige wiederkehrende, sexuell konnotierte Symbole in der Mise-en-scène des
17
Films erkennen, beispielsweise der Leuchtturm als Phallus-Symbol und komplementär dazu die
Löcher, wie Medem selbst bestätigt (vgl. Medem 2001: 1). Zum einen wird der Leuchtturm mit
Lorenzo in Verbindung gebracht, der sich selbst im Chat mit Elena als Leuchtturmwärter bezeichnet
und somit nicht nur Lucías Wunsch reflektiert, ihre in Form von Lorenzo verlorene Sexualität
zurückzugewinnen, sondern auch als Andeutung seiner tatsächlichen Rückkehr verstanden werden
kann. Zum anderen entscheidet sich Lucía an einer Kreuzung auf der Suche nach Carlos, von
dessen großem Phallus sie durch Elena erfahren hat und der bereits kurz davor war, Lucía zu
verführen, für den Weg, der in Richtung Leuchtturm führt (vgl. TC 01:49:44). Die Löcher, die
zusammen mit dem Leuchtturm das Panorama der Insel prägen, können als komplementäres
Gegenstück zum Phallus interpretiert werden und spiegeln durch ihre Ambivalenz die Macht der
Sexualität über die Fantasie der Figuren – vor allem die von Lorenzo – wider. Denn trotz der
Möglichkeit, die Geschichte zu verändern, stehen die Löcher auch für die Gefahr, sich innerhalb
dieser Geschichte zu verlieren, wie es auch Lorenzo passiert: „Estoy en un agujero y lo he
intentado, pero no sé volver. Me he perdido para siempre“ (TC 00:02:25). Die Sexualität als
Ausdruck bzw. Antriebsfaktor des Unterbewussten ist somit stets implizit durch diese Symbolik
präsent. Laut Christel Dauster (2006: 57 f.) sind phallische Motive charakteristisch für den
Surrealismus, was auch ihre Bedeutung in der Psychoanalyse von Freud und Lacan nahelegt.
Die in Bezug auf den Realismo Mágico bereits genannte assoziative Montage darf im Kontext des
Surrealismus nicht außer Acht gelassen werden, da es sich hierbei um eine der beliebtesten
Methoden der Surrealisten handelt. Gerade diese Tatsache bekräftigt den Gedanken über die
Parallelen zu Buñuel, die bereits zur Mise-en-scène hinsichtlich des Mondes als Leitmotiv erwähnt
wurden (vgl. Strigl 2007: 183).
Im Allgemeinen lassen sich einige Point-of-View-Einstellungen erkennen, die ideale
Voraussetzungen zur Einsicht in das Innenleben der Protagonisten liefern und damit an die
Grundidee des Surrealismus erinnern. Am Anfang des Films lässt ein Point-of-View aus Lucías
Perspektive die nächtlichen Lichter beim Blick aus dem Fenster durch ihre Tränen verschwimmen,
indem die Einstellung unscharf wird (vgl. TC 00:06:15). Dieses Stilmittel verbildlicht nicht nur ihre
subjektivierte Wahrnehmung, sondern durch das Verschwimmen der nächtlichen Lichter wird
bereits das 'Verschwimmen' der Geschichte angedeutet, mit der sich Lucía selbst konfrontiert sieht.
Auch die Unklarheit des Zuschauers darüber, was Fantasie oder Realität ist, wird hier bereits
vorweggenommen.
18
Auch Szenen, in denen keine eindeutige Perspektive verortet werden kann, geben die starke
Verknüpfung von Realität und Imagination sowie die Täuschung der Protagonisten und auch der
Zuschauer wieder. Ein Beispiel hierfür ist eine Einstellung, die zunächst wie der Point-of-View von
Lucía wirkt, aus dem sie jedoch schließlich selbst heraustritt. Beim Erscheinen von Lucía in ihrem
eigenen Point-of-View wird die Perspektive der Einstellung nicht zu der eines neutralen
Beobachters, sondern ist dennoch eng an die subjektive Innenwelt der Figur gekoppelt (vgl. TC
00:08:11). Eine ähnliche Technik lässt sich später auch bei der ersten Begegnung zwischen Carlos
und Lucía beobachten (vgl. TC 00:37:45).
Eine weitere subjektive Einstellung lässt sich beobachten, als Lorenzo im Krankenhaus liegt und die
Kamera zu schwanken beginnt (TC 01:28:18), was einerseits das Innere Lorenzos reflektieren
könnte, zumal dieser förmlich zwischen Leben und Tod 'schwankt' und das Wassergeräusch aus dem
Off darauf hinweisen könnte, dass er sich seiner Tochter nähert, die nach ihrem Tod bildlich ins
Meer zurückgekehrt ist. Andererseits könnte das subjektive Schwanken auch bedeuten, dass er
gerade träumt. Da die darauffolgende, sexuell konnotierte Sequenz zwischen Lucía und Carlos, die
beide nackt am Strand im Schlamm liegen, erneut von der Sequenz mit Lorenzo im Krankenhaus
unterbrochen wird, handelt es sich bei jener Szene möglicherweise um einen Traum, von dem er
gerade aufwacht (vgl. TC 01:30:30). Wie schon erwähnt, begleitet die schwankende
Kamerabewegung kurz darauf auch Elena (vgl. TC 01:35:24). Diese Bewegung verbindet die
Schicksale der beiden und spiegelt ihr Seelenleben, welches nach dem Tod der Tochter wörtlich 'ins
Schwanken' geraten ist.
Davon abgesehen unterstützen auch die vielen Großaufnahmen den Eindruck, dass sich die Kamera
dem Innenleben der Figuren stark annähert und erzielen – ähnlich wie die Point-of-Views – eine
eher subjektive Wirkung.
Besonders im Hinblick auf die Sex-Szenen fällt die Nähe der Kamera zu den Protagonisten und
ihren Körpern auf, die nicht nur durch Groß- und Detailaufnahmen, sondern auch durch Jump-Cuts
erreicht wird (vgl. Strigl 2007: 121 f.). Diese Nähe zur Intimität lässt keinen Raum zur
distanzierten, neutraleren Betrachtung und unterstreicht somit den intuitiven Charakter der
Sexualität, der auch Imagination und Realität schließlich ineinander übergehen lässt.
Außerdem sind es auch häufig die Parallelmontagen, die die Steigerung des verwirrenden
Ineinanderfließens von Realität und Fiktion akzentuieren. Ein relevantes Beispiel ist hier die
Parallelmontage zwischen Lorenzos Verführung durch Belén und der Traumsequenz, in der Luna
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sich zunächst in Gegenwart von Lorenzo auf der Insel befindet und daraufhin in ein Loch springt
und unter Wasser von ihrer Mutter als Meerjungfrau empfangen wird, was ihren Tod verbildlicht.
Aufgrund des Changierens zwischen diesen beiden Erzählebenen kann es sich sowohl um die
filmische Realität und eine euphemistische, fiktive Assoziation des tragischen Ereignisses handeln,
es ist jedoch auch möglich, dass beide Ebenen Lorenzos Fantasie entspringen.
Auch die Überblendungen enthalten nicht nur Analogien zum Realismo Mágico, sondern auch zum
Surrealismus. Kennzeichnend ist hier die Überblendung von Lucías Gesicht in Großaufnahme mit
der nackten Lucía am Strand in einer Totalen (vgl. TC 00:45:17). Durch diese surrealistisch
anmutende Überblendung lässt sich nicht genau sagen, ob sich Lucía in der zweiten Einstellung
tatsächlich nackt am Strand befindet, oder ob es sich lediglich um eine visualisierte Fantasie
handelt, in der sie nackt und damit sozusagen befreit von allen Lastern ist. Da ihr Elena zuvor von
dem großen Phallus von Carlos erzählt, lässt sich die Szene auch als Wunsch nach sexueller
Befreiung deuten.
Mehrere Weißblenden werden als Übergänge zu Sequenzen genutzt, die auf der Insel stattfinden
und verstärken somit den surrealen Charakter dieses Ortes, der generell stark überbelichtet gefilmt
ist, was eine traumartige, fast halluzinatorische Wirkung hervorruft, wie bereits im vorhergehenden
Kapitel angedeutet wurde (vgl. TC 00:07:18; TC 00:36:19).
4. Fazit
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich im Hinblick auf die analysierten Parameter des
vorliegenden Films sowohl Analogien zur Literatur des Realismo Mágico, als auch zum
Surrealismus erschließen lassen, die jedoch auch von der Interpretation der jeweiligen Stilistiken
abhängen. In Bezug auf den Realismo Mágico sind während der Analyse aller drei Parameter
besonders die zyklische Struktur, die Verknüpfung von Naturphänomenen wie Sonne, Mond und
Wasser mit dem Leben der Figuren und die magische Wirkung der Insel aufgefallen, was sich
kontinuierlich durch den Film zieht und eine Assoziation mit den literarischen Welten des Realismo
Mágico unvermeidbar macht. Eine für den Realismo Mágico charakteristische Komponente, die
hier offensichtlich fehlt, ist der Ausdruck einer spezifischen, kulturellen Identität im Kontext
prähispanischer Mythologien, der beispielsweise in Vacas (Julio Medem, ES 1992) durch die
Thematisierung einer baskischen Familienhierarchie und deren Leben mit Tradition und Natur
tatsächlich von der lateinamerikanischen Literatur ins spanische Kino übertragen scheint. Dennoch
könnte man hier aufgrund der zahlreichen, im Laufe der Arbeit erläuterten Analogien
20
argumentieren, dass sich Lucía y el sexo auf moderne, filmische Weise zumindest Grundstrukturen
des Realismo Mágico aneignet.
Was den Vergleich zur surrealistischen Literatur betrifft, lässt sich eine deutliche Steigerung der
surrealistischen Konnotation in der zweiten Hälfte des Films erkennen, da das Ineinanderfließen
von Realität und Imagination, wie schon beschrieben, immer unübersichtlicher wird und die
filmische Realität zunehmend in Frage gestellt wird. Dennoch verliert man nie gänzlich den Faden
der Erzählung und obwohl viele Erklärungen offengelassen werden, geht der Film nie so weit, wie
zum Beispiel bei Buñuel, in einem einzigen Bewusstseinsstrom zu münden. Es sind vor allem
einzelne Elemente wie Traumsequenzen, Überbelichtung, stark subjektivierte Perspektiven, teils
dissonante Hintergrundtöne, phallische Symbole oder motivische Parallelen zu Buñuel, die
surrealistische Assoziationen evozieren. So lässt sich konstatieren, dass der vorliegende Film in der
Tat einige Parallelen zu beiden literarischen Strömungen enthält, wobei keine der beiden Tendenzen
zur eindeutigen Charakterisierung des Werks bzw. als alleinige literarische Referenz ausreicht,
zumal das (selbst-)referentielle Spektrum in allen Filmen von Medem zu vielseitig ist und einige
Kennzeichen, wie zum Beispiel die subjektiven Kameraeinstellungen oder die Spiegel in der Mise-
en-scène, mögliche Parallelen zu beiden Strömungen aufweisen. Demnach ist die innerhalb der
Filmkritik und theoretischen Literatur starke Präsenz und Konfusion beider Begriffe in Bezug auf
sein Œuvre verständlich, wobei zu beachten ist, dass die Verwendung dieser Termini teils von der
Interpretation des Films und teils von den jeweiligen Elementen abhängt, auf die sie sich bezieht.
Hinsichtlich der Analyseergebnisse dieser Arbeit könnte man als Fazit ziehen, dass die
grundlegende Struktur des vorliegenden Films vom Realismo Mágico geprägt ist, jedoch auch
Elemente oder tendenzielle Einflüsse des Surrealismus vorliegen. Im Allgemeinen ist nicht die
Sexualität das vorherrschende Thema des Films, wie der Titel zunächst suggeriert, sondern die
Referenz zur Literatur ist – ausgehend von der Rolle des Schriftstellers Lorenzo und seiner Leserin
Lucía – permanent wahrnehmbar: „Während die Darstellung der Sexualität zwischen Lucía und
Lorenzo auf einen zusammenhängenden Erzählblock konzentriert ist, zieht sich die Beziehung
zwischen Autor und Leserin subtil durch den gesamten Film hindurch“ (Bochnig 2005: 78).
21
5. Bibliographie
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22
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Luis Buñuel, FR 1929
• Vacas
Julio Medem, ES 1992
• Lola rennt
Tom Tykwer, DE 1998
• Lucía y el sexo
Julio Medem, ES 2001
(DVD: Twentieth Century Fox Home Entertainment España S.A.)
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