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Kulturheilkunde:
Über das Medizinische hinaus…
Der wichtige Beitrag von Kultur für Gesundheit und Wohlergehen wird sichtbar, wenn der Zugang zu ihr begrenzt oder sogar
versperrt ist. Die im Rahmen der Pandemie durch die Politik verfügten Maßnahmen treffen den Kulturbereich besonders heftig
und verursachen Leid nicht nur für die Kulturschaffenden, sondern für alle Menschen – gerade auch für Kranke, Schwache und
Alte. Für den „inneren Arzt“ und die Selbstregulation sind Resonanzerfahrungen und das Gefühl von Kohärenz durch kulturelle
Erlebnisse unverzichtbar. Auf einem aktuellen Plakat der Initiative „Kultür Potsdam“ (http://kultuer-potsdam.de/) zur kulturellen
Teilhabe in Krisenzeiten heißt es: „Corona hat gezeigt, dass ein Kulturdefizit auch krank machen kann.“
Die internationale Gesellschaft für Natur- und Kulturheilkunde e.v. (IGNK) Die sieben Essentials der IGNK
Die IGNK, die 2016 aus zwei traditionellen Ärztegesellschaften der Naturheil- (1) Wir sind ein Zusammenschluss von
kunde hervorgegangen ist, versteht sich als Teil der weltweiten Initiativen für die Angehörigen der Heilberufe, die auf der
Verbindung von Heilung und Kultur. Sie hat sich als Ziel gesetzt, Naturheilkunde Grundlage gegenseitigen Respekts zum
mit Kulturheilkunde im Rahmen der integrativen Medizin zu verbinden. Dabei Wohle des Patienten zusammenarbeiten
geht sie davon aus, dass Heilung mehr benötigt als nur spezifische Wirkmittel. und sich einer gemeinsamen Vision
Nachhaltige Heilung braucht vielmehr Zeit und ein Resonanzfeld für Körper und verbunden fühlen.
Geist sowie für das Seelische. Ein solches Resonanzfeld bildet Kultur, die auch ein
tiefes und sehr frühes Bedürfnis von Menschen nach dem Schönen und Spieleri- (2) Unsere Vision ist es, eine Brücke zu
schen sowie nach Muße, Entschleunigung und Zweckfreiheit ausdrückt. Kultur bilden zwischen Schulmedizin und kom-
ist wohl die letzte Domäne, in der dies noch möglich ist und gibt gerade dadurch plementären Verfahren sowie beide zu einer
Impulse für Heilung. Nicht zuletzt sind Bildung und Kultur eng miteinander ver- Kunst des Heilens zu erweitern, die auch
knüpft: Bereitschaft und Möglichkeit zu einer gesünderen Lebensweise hängen die geistigen und kulturellen Potenziale
vom Grad der Bildung und Kultur ab. nutzt.
Der Begriff Kulturheilkunde ist für die IGNK darüber hinaus Ausdruck für eine (3) Wir verbinden das Bewährte der Schul-
neue Sicht auf kranke Menschen. Kulturheilkunde versucht das alte Narrativ vom medizin und der komplementären Verfah-
Patienten als „Duldenden“ oder als „Fall“ zu überwinden. Sie unterstützt kranke ren miteinander und ergänzen es durch
Menschen in ihrem Bestreben Schöpfer und Mitgestalter der eigenen Heilung achtsame Kommunikation, Empathie und
sowie Experte für sich selbst zu werden. Der Arzt ist in diesem Prozess der Experte Offenheit für spirituelle Fragen.
für das Medizinische, aber auch Begleiter des Patienten auf dem Weg zu mehr
Selbstwirksamkeit. Er gibt Impulse und steht damit in der Tradition der Mäeutik, (4) Wir stehen für Pluralismus in der
die für den Arzt der Antike den philosophischen Rahmen bildete. Medizin und den Dialog zwischen den ver-
schiedenen Richtungen auf der Grundlage
gegenseitiger Wertschätzung und der
Der Begriff Kulturheilkunde Patientenautonomie.
Kulturheilkunde ist ein noch relativ junger Begriff, auch wenn er bereits eine (5) Wir sehen Heilung als Selbstheilung
eigene Vorgeschichte hat. Mit der Gründung der Internationalen Gesellschaft für (der „innere Arzt“ heilt), die in einem Feld
Natur- und Kulturheilkunde sowie der Herausgabe der Schriftenreihe Edition der Resonanz gedeiht. Daher berücksich-
Natur- und Kulturheilkunde ist Kulturheilkunde – in der hier verstandenen tigen wir nicht nur die Krankheit, sondern
Bedeutung – untrennbar mit dem Begriff der Naturheilkunde verbunden. Beide den ganzen Menschen in seinem natürlichen
bilden jeweils eine Seite der gleichen Medaille. Etwas verkürzt, aber auf den Nen- und kulturellen Umfeld.
ner gebracht, könnte man sagen, dass Kulturheilkunde eigentlich nichts anderes
ist als Naturheilkunde im kulturellen Kontext und in sozialer Verantwortung. (6) Wir stärken den Patienten in seiner
Selbstwirksamkeit, so dass er zum Mitge-
Auch wenn Kulturheilkunde eng mit der Naturheilkunde verbunden ist, so drückt stalter seiner Heilung und Entwicklung
sie dennoch eine therapeutische Haltung jenseits von einzelnen medizinischen wird. In diesem Prozess verstehen wir uns
Verfahren aus: Sie stellt den kranken Menschen in seinem natürlichen und kul- als Begleiter.
turellen Umfeld in den Mittelpunkt und zielt – in Anlehnung an das antike
Konzept der Diätetik – auf eine Lebenskunst, die für Gesunderhaltung und (7) Wo immer möglich und sinnvoll bevor-
Heilung förderlich ist. Kulturheilkunde beansprucht also keineswegs, ein eigen- zugen wir Heilmittel und Heilverfahren aus
ständiges Heilverfahren oder Ersatz für eine medizinisch sinnvolle Therapie zu dem reichen Fundus der Naturheilkunde.
sein. Sie hat vielmehr zum Ziel, alle Akteure des Heilungsgeschehens (Patienten, Diese verbinden wir mit dem Konzept der
Ärzte und Therapeuten sowie Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft) auf Kulturheilkunde, die wir als Lebenskunst
das Potenzial der Kultur aufmerksam zu machen. verstehen, die zu einem gesunden und
glücklichen Leben führt sowie Harmonie im
Kulturheilkunde sieht Heilung vor immer auch als Selbstheilung beziehungsweise Inneren und im Äußeren ermöglicht.
als das Wirken der Selbstheilungskräfte. Diese können angeregt werden a) durch
spezifische Wirkmittel, b) durch die innere Haltung des kranken Menschen selbst,
c) durch eine gute therapeutische an ihrem Wohnort gesund weiter lebten und sich zugleich Fluchtmöglichkeiten
Beziehung sowie d) durch äußere Im- aus dem Alltag eröffneten.
pulse aus der Umgebung und Umwelt.
Eine die Gesundheit förderliche innere Einer der Präzeptoren der Idee, Kultur und Gesundheit sinnvoll zu verbinden,
Haltung meint Achtsamkeit, Selbst- war der österreichische Arzt und Philosoph Ernst v. Feuchtersleben. Er ist weit-
fürsorge und Selbstkultivierung. Eine gehend in Vergessenheit geraten, eventuell kennen ihn einige ältere Leser noch,
passende therapeutische Beziehung sofern sie katholisch erzogen wurden. Denn Feuchterslebens „Diätetik der Seele“
bedeutet Resonanz und entsteht vor diente noch lange im 20. Jahrhundert katholischen Pädagogen als Instrument
allem aus Empathie und Begegnung zur Bändigung pubertierender Jugendlicher und viele Ärztegenerationen erhielten
auf Augenhöhe. Heilimpulse von sein Büchlein zu ihrer Approbation. Feuchtersleben schrieb u.a.: „Ruhe, innere
außen kommen aus der natürlichen wie äußere, ist das erste, unerläßliche Heilmittel in allen menschlichen Übeln,
Umwelt und dem gesamten Umfeld. inneren wie äußeren; in den meisten Fällen zur Heilung allein ausreichend, in
den übrigen zur Unterstützung der anderen Mittel nötig, in allen als Vorbeu-
Schließlich zielt Kulturheilkunde nicht gungsmittel unschätzbar; diese Ruhe aber ist eine Tochter des Geistes.“
nur auf den Einzelnen, sondern auch
auf das Kollektive. Kulturheilkunde als Fortgeführt wurden die Gedanken Feuchterslebens, Kneipps und Prießnitzs im
Naturheilkunde in sozialer Verantwor- 20. Jahrhundert durch anthroposophische Ärzte, Maximilian Bircher-Benner oder
tung scheut auch vor dem Politischen auch Otto Buchinger. Doch in Zeiten von Antibiotika und der Düsenflugzeuge,
nicht zurück. Sie sieht Medizin – in An- die Patienten oder Sinnsucher an ganz andere Orte brachten, ging die Bedeutung
lehnung an Virchow – als eine soziale von Kulturheilkunde zurück. Erst das anbrechende Dienstleistungszeitalter –
Wissenschaft. neudeutsch auch Postmoderne genannt – ließ die Notwendigkeit zu einer
ganzheitlichen, gerade auch Kultur beinhaltenden Heilkunde wieder relevant
erscheinen. Es geht nun darum, das Alte, das Erbe des 19./20. Jahrhunderts mit
Die Vorgeschichte und Anknüp- den Anforderungen der Gegenwart zu verbinden. Man lockt Patienten heute nicht
fungspunkte der Kulturheilkunde mehr mit Goethe-Versen, wohl aber mit den Idealen der Romantik. Die alte Hülle
braucht neue Inhalte und das bedeutet weit mehr als nur ein schickes und buntes
Vieles, was wir heute als Kulturheil- Etikett. Auch heutige achtsamkeitsbasierte Verfahren und die psychosomatische
kunde bezeichnen, gab es schon in der Medizin berücksichtigen zunehmend soziale und kulturelle Faktoren der Heilung.
antiken Heilkunst unter der Bezeich-
nung der Diätetik sowie in der klassi-
schen Naturheilkunde bei Kneipp und Die Praxis der Kulturheilkunde und die kulturheilkundliche Praxis
Prießnitz als Regeln zur Lebensfüh-
rung. Kurorte, wie sie von Prießnitz, In der Heilkunst der Antike war die Gestaltung von Heilstätten von allergrößter
Kneipp, ihren Konkurrenten und Wichtigkeit. Ein Blick auf ein Askleipion lässt dies ohne Zweifel erkennen. Ein
Nachfolgern aufgebaut wurden, bein- Problem des gegenwärtigen Gesundheitswesens kann darin gesehen werden,
halteten immer auch ein kulturelles dass es trotz der medizinischen Fortschritte bisher nicht gelungen ist, die Stätten
Begleitprogramm, das Konzerte oder der Heilung, d.h. Apotheken, Kliniken und Praxen, auch zu heilsamen Umgebungen
Theateraufführungen beinhaltete. Es werden zu lassen. Eine zu enge, funktionale und rein monetäre Sicht auf Abläufe,
wurden auch, so im „Jungborn“ im Prozesse und Strukturen führt vielmehr dazu, dass das große Potenzial von Heil-
Harz, Kurse für Patienten angeboten, impulsen durch eine passende Gestaltung im Außen sowie eine förderliche
die sich künstlerisch betätigen wollten. Haltung der Akteure im Innen ungenutzt bleibt.
Auf diese Weise gelang es, die Patienten
zu noch mehr Aufenthalten in der Der Nutzen gestalterischer Maßnahmen in Kliniken und Praxen ist indes durch
freien Natur zu veranlassen. Zwanglos Studien gut belegt. Menschen in einer angenehmen Umgebung werden seltener
wurden therapeutische Ansätze und krank, gesunden im Falle einer Erkrankung schneller und brauchen weniger Me-
kulturelle Betätigung verbunden, bei- dikamente. Das Umfeld beeinflusst Blutdruck und Herzfrequenz sowie weitere
spielsweise durch (therapeutische) wichtige Parameter des menschlichen Wohlbefindens. Die IGNK hat sich vor
Atemübungen im Rahmen von Schau- diesem Hintergrund das Ziel gesetzt, eine „HeilKultur“ in Apotheken, Kliniken
spielkursen. Ziel war es, den kranken und Praxen durch eine Zertifizierung und ein Qualitätssiegel zu fördern. Folgende
Menschen Wege aufzuzeigen, wie sie Themen stehen dabei im Mittelpunkt:
auch nach Ende ihres Kuraufenthaltes
Kultur der Haltung: Wie durch Empathie und Resonanz Heilimpulse entstehen Kulturheilkunde als
Kultur des Mentalen: Wie Rituale und Psychohygiene das Bewusstsein kultivieren integrale Diätetik
Kultur der Achtsamkeit: Wie Kultur mit Essen, Bewegen und Ruhe im Alltag
verbunden werden kann Nicht unerwähnt bleiben soll, dass in
Kultur der Gestaltung: Wie sich heilsame Umgebungen in Apotheken, Kliniken gleicher Weise, in der Kultur Gesund-
und Praxen einrichten lassen heit und Heilung fördern kann, die
Kultur der Begegnung: Wie sich durch Teilhabe an Kultur Resilienz fördern lässt Nicht-Teilhabe an Kultur ein größeres
Kultur der Selbstwirksamkeit: Wie durch Chronobiologie, Ordnungstherapie Risiko zu erkranken impliziert bzw. den
und Persönlichkeitsdiagnostik Potenziale und Ressourcen sichtbar und damit Prozess der Heilung erschweren kann.
nutzbar gemacht werden Kulturheilkunde ist daher ein Gebot
Kultur des Ausdrucks: Wie man durch künstlerische Therapieverfahren etwas der Stunde. Die einfache Botschaft der
ausdrücken und loslassen kann Kulturheilkunde lautet: So natürlich,
Kultur des Erzählens und Schreibens: Wie man durch Geschichten, Storytelling d.h. im Einklang mit der Natur, und so
und Schreiben Heilimpulse geben kann kulturvoll, d.h. in Harmonie mit sich
selbst, den Mitmenschen und dem
Was die Kultur der Gestaltung betrifft, so gibt es mittlerweile zahlreiche und gute Transzendenten wie möglich leben
Anknüpfungspunkte, die noch viel zu wenig genutzt werden. So hat die Technische und nur so technischartifiziell wie
Universität Berlin einen Forschungsschwerpunkt „Healing Architectures“ aufge- nötig. Damit ist Kulturheilkunde ein
baut, in dessen Rahmen überzeugende praktische Konzepte entwickelt werden. Plädoyer für eine integrale Diätetik.
Kulturheiltage
Im Entstehen begriffen ist im Rahmen der Kulturheilkunde auch ein neues Ver-
anstaltungsformat, dass die Ideengeber (der Philosoph Christoph Quarch und
der Vizepräsident der IGNK Hartmut Schröder) Kulturheiltage nennen. Die Idee
der Kulturheiltage ist es außerhalb der „Logik“ von Beschleunigung, Wachstum
und Zweckorientierung Zeit und Raum für Genuss, Muße und Stille zu bieten.
Dadurch soll ein zumindest temporärer Ausstieg aus äußeren Zwängen ermöglicht
werden. Gleichzeitig soll erfahrbar werden, dass sowohl kulturelle Partizipation
als auch kulturelle Eigentätigkeit heilsame Effekte haben. Kulturheiltage sollen
für die Teilnehmenden zu einer Art Zeitinsel werden, auf der sie die heilende
Kraft der Kultur spüren. Durch eine begleitende kulturheilkundliche Sprech-
stunde bei Therapeuten, Künstlern und Philosophen sollen schließlich Anstöße
für Menschen von heute gegeben werden: Im Dialog entstehen für jeden
Einzelnen alltagstaugliche Konzepte für einen natürlichen und kulturvollen
Lebensstil.
Auszüge aus Dokumenten der WHO culture affects perceptions, access and
experiences of health and well-being. By
Abstract der WHO-Studie: supplementing quantitative data with qua-
Fancourt D, Finn S. What is the evidence on the role of the arts in improving health and litative studies from the social sciences
well-being? A scoping review. Copenhagen: WHO Regional Office for Europe; 2019 (Health and broader health humanities, the CCH
Evidence Network (HEN) synthesis report 67). project aims to enhance our understanding
Over the past two decades, there has been a major increase in research into the effects of people’s needs, values, perceptions and
of the arts on health and well-being, alongside developments in practice and policy acti- experience of the world around them in
vities in different countries across the WHO European Region and further afield. This re- order to improve the health and well-being
port synthesizes the global evidence on the role of the arts in improving health and of all. The HEN report on arts and health
well-being, with a specific focus on the WHO European Region. Results from over 3000 was developed as part of this work. For
studies identified a major role for the arts in the prevention of ill health, promotion of he- more information, please visit:
alth, and management and treatment of illness across the lifespan. The reviewed evidence www.euro.who.int/en/cch
included study designs such as uncontrolled pilot studies, case studies, small-scale cross- WHO Factsheet „What ist the evidence on
sectional surveys, nationally representative longitudinal cohort studies, community-wide the role of the arts in improving health
ethnographies and randomized controlled trials from diverse disciplines. The beneficial and well-being in the WHO European Re-
impact of the arts could be furthered through acknowledging and acting on the growing gion? Online:
evidence base; promoting arts engagement at the individual, local and national levels; https://www.euro.who.int/__data/as-
and supporting cross-sectoral collaboration. sets/pdf_file/0020/412535/WHO_2pp_Ar
Online: https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/329834/978928905-4553- ts_Factsheet_v6a.pdf
eng.pdf
Weiterführend:
Evidence for health and well-being in context WHO: Behavioural and cultural insights
The WHO Regional Office for Europe and its Member States recognize the importance of for health
culture in shaping health and well-being throughout the life course. Operating under the Online: https://www.euro.who.int/en/he-
Evidence for Health and Well-being in Context initiative, the Cultural Contexts of Health alth-topics/health-determinants/beha-
and Well-being (CCH) project has been established as a cross-cutting initiative within vioural-and-cultural-insights-for-health
the Regional Office and sets out to take a more systematic approach to research into how
Autoren
Prof. Dr. Hartmut Schröder
Bis 2020 Lehrstuhlinhaber für Sprachgebrauch und Therapeutische
Kommunikation an der Europa-Universität in Frankfurt (Oder)
Therapeium – Zentrum für Natur- und Kulturheilkunde
Hohenzollernstr. 12
14163 Berlin
E-Mail: h.schroeder@therapeium.de