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AKTUELLES

Julian Nida-Rümelin
John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit – nach 40 Jahren

Vor vier Jahrzehnten erschien das epochale Werk A Theory of Justice von John
Rawls. Es wurde schnell ein Klassiker, in derselben Kategorie wie Platons Politeia,
Aristoteles’ Nikomachische Ethik, Hobbes’ Leviathan, Lockes Second Treatise,
Rousseaus Contract Social und Kants Zum ewigen Frieden.

A Theory of Justice erschien 1971, also Julian Nida-Rümelin

auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte. (*1954) ist Professor der politischen Theorie
und Philosophie an der Universität München
Überall in den westlichen Universitäts- und Vorsitzen der der Grundwertekommission
städten hatten die Studierenden aufbegehrt der SPD, er war Kulturstaatsminister.
gegen eine entpolitisierte Wissenschaft, ge- Veröff. u.a. Demokratie und Wahrheit.
gen den Vietnam-Krieg, gegen die Unge- Sekretariat.Nida-Ruemelin@
rechtigkeit in der Dritten Welt. Nichts hat- lrz.uni-muenchen.de
ten sie dabei stärker verändert als die Uni-
versitäten selbst. Aber auch das Ende des
Vietnam-Kriegs war ein Triumph dieses das zweite erklärt Ungleichverteilungen nur
Aufbegehrens. In ATheory of Justice ist die- insofern für legitim, als sie der am schlech-
ses Aufbegehren nur am Rande und meist testen gestellten Personengruppe zugute
nur mittelbar zu spüren, etwa wenn sich kommen. Man könnte sagen, Rawls gibt ei-
John Rawls in zwei Paragraphen mit den ne reformistische, sozial-liberale Antwort
Grenzen des Widerstandsrechts und der auf das Aufbegehren der Jugend.
Weigerung aus Gewissensgründen befasst. Gerechtigkeit – das ist für Rawls, wie
Das Buch skizziert vielmehr eine »fast ge- 2.500 Jahre zuvor für Platon, die oberste
rechte Gesellschaft« und diese Gesellschaft politische Tugend. Das gesamte politische
hat vieles mit den westlichen Demokratien Institutionsgefüge hat sich daran zu mes-
gemein. Es handelt sich um Verfassungs- sen, es hat gerecht zu sein.Alle anderen nor-
staaten mit vertrauten Institutionen wie mativen Aspekte sind Teil der Gerechtig-
Marktwirtschaft, Familie, Grundrechte. keit. Man könnte sagen, die Trias der fran-
Dennoch liegt in dieser zeitlichen Koinzi- zösischen Revolution – Freiheit, Gleichheit,
denz ein wesentlicher Grund für den Er- Solidarität – geht auf im Begriff politischer
folg dieses Werkes. Für die Studenten ging Gerechtigkeit.
es auch um die grundsätzliche Frage, ob ih- Das Werk verfolgt drei Ziele, zwei da-
re Ziele im demokratischen Rahmen er- von benennt der Autor selbst: Eine Alterna-
reichbar sind, oder diesen sprengen. Rawls’ tive zur damals noch dominanten ethisch-
Theorie gibt eine Antwort: Es ist der nor- politischen Theorie des Utilitarismus zu
mative, politische und legislative Rahmen entwickeln und die vertragstheoretische
westlicher Demokratien, der Gerechtigkeit Tradition des politischen Denkens zu er-
ermöglicht, ja der universelle Argumente neuern. Beide Ziele werden – mit einigen
für sich hat. Unter den Bedingungen der Abstrichen – erreicht. Das dritte Ziel wird
rationalen Wahl im Urzustand würden Re- nicht genannt, aber es ergibt sich aus der
präsentanten von Gruppen zwei Prinzi- Logik des Gesamtœuvres von John Rawls
pien der Gerechtigkeit wählen: Das erste und von diesem Ziel kann man guten Ge-
umfasst ein System gleicher maximaler wissens sagen, es wird geradezu triumphal
Grundfreiheiten, zu dem Rede-,Versamm- realisiert. Um sich das klar zu machen,
lungs- und Religionsfreiheit gehören, und müssen wir ein wenig ausholen: John Rawls

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ist zur Analytischen Philosophie zu zählen. Theory of Justice geht die Phase eines do-
Diese ist weniger durch inhaltliche Positio- minierenden ethischen Subjektivismus in
nen, denn durch bestimmte philosophische der Analytischen Philosophie zu Ende.
Methoden charakterisiert. Sie versteht sich Der Utilitarismus hatte dem Ansturm
als systematisch, nicht als historisch, befasst des analytischen Subjektivismus noch am
sich nicht oder allenfalls am Rande mit ehesten standgehalten. Rawls will jedoch
Textexegese, und ist optimistisch, was die zeigen, dass der Utilitarismus in der norma-
Lösbarkeit philosophischer Probleme an- tiven politischen Philosophie nicht über-
geht. In ihrer Frühphase ist sie zu großen zeugen kann. Sein zentrales und überzeu-
Teilen positivistisch und weist der Philo- gendes Argument ist das der separateness
sophie die Rolle der logischen und wissen- of persons. Der Einzelne kann um eines
schaftstheoretischen Klärung von Frage- späteren Vorteils willen heute einen Nach-
stellungen zu, die in den Einzelwissenschaf- teil in Kauf nehmen. Aber der Vorteil des
ten aufgeworfen werden. Die Praktische Einen rechtfertigt nicht die Benachteili-
Philosophie, die Ethik, die Politische Philo- gung des Anderen – es handelt sich ja um
sophie als normative Disziplinen darf es zwei getrennte Personen. Die theoretische
nach diesem Verständnis nicht geben. Umsetzung dieses Argumentes ist der
John Rawls hatte sich in seiner ersten Rückgriff auf das Vertragsargument.
Aufsatz-Publikation mit der Frage befasst, Rawls wollte die vertragstheoretische
wie eine ethische Theorie begründet wer- Tradition systematisch erneuern. Er bezog
den könnte. Er entwickelt eine Entschei- sich dabei am deutlichsten auf Immanuel
dungsprozedur (Outline of a Decision Pro- Kant, aber auch Elemente von John Locke
cedure for Ethics, 1951), die sich anlehnt an und Jean-Jacques Rousseau sind erkennbar.
übliche, in der Wissenschaftstheorie ana- Das gemeinsame Grundmotiv der Vertrags-
lysierte Verfahren der (induktiven) Theo- theoretiker ist, dass jede Herrschaft gegen-
riebildung. In A Theory of Justice wird das über Allen gerechtfertigt werden muss. Es
Überlegungsgleichgewicht, das reflective gibt keine Herrschaft von Natur. Eine legi-
equilibrium präsentiert, das jede Theorie time politische Ordnung muss daher im
anstrebt oder jedenfalls anstreben sollte. Interesse jedes Einzelnen sein. Nur eine all-
Die Rawlssche Theorie, Gerechtigkeit als gemein zustimmungsfähige Ordnung kann
Fairness zu rekonstruieren, erhebt diesen als gerecht gelten. John Rawls steht dabei in
Anspruch ein Gleichgewicht herzustellen, der Tradition von Kant, weil der Vertrag als
zwischen dem, was er als well considered Test verstanden wird, weil die Zustimmung
moral judgements bezeichnet, also den wohl- unter Bedingungen erfolgt, die nie realisiert
überlegten normativen Urteilen hinsicht- sind. Es handelt sich um einen fiktiven Ver-
lich der Gerechtigkeit einerseits und der trag. Der Rawlssche Vertrag sichert Fair-
theoretischen Begründung, hier in Gestalt ness, weil er so konstruiert ist, dass nie-
eines ursprünglichen Vertrages, anderer- mand benachteiligt werden kann. Er sichert
seits. Rawls entwickelt eine substanzielle gleiche Freiheit, weil die Ausgangsbedin-
Theorie der Gerechtigkeit und stellt damit gungen diese garantieren.
seine Kritiker vor eine unangenehme Alter- Für John Rawls ist die gerechte Gesell-
native: Entweder sie lehnen das gesamte schaft ein Kooperationsgefüge. Die Vorteile
Unterfangen ab und können dann inhalt- der Kooperation gilt es fair zu verteilen.
lich dazu nicht Stellung nehmen, oder sie Soziale Gerechtigkeit realisiert gleiche Frei-
nehmen dazu Stellung und akzeptieren da- heit. Es ist kein Zufall, dass die Theorie von
mit implizit, dass es möglich ist, eine Theo- John Rawls auf die Programmatik der So-
rie der Gerechtigkeit zu diskutieren. Mit der zialdemokratie stärker eingewirkt hat als
intensiven und kritischen Rezeption der auf die anderer Parteien.

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