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Dietmar Hüser

Kultur-Transfer-Vergleich
Zur Amerikanisierung in Frankreich und
Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg

Amerikadebatten sind keine Erfindung der zweiten Nachweltkriegszeit, als sich


die Vereinigten Staaten endgültig anschickten, die Rolle als Führungsmacht der
westlichen Welt zu übernehmen. Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts war der
Begriff „Amerikanisierung" in Europa geläufig, wenn von „modernen" Entwick-
lungen und Problemen die Rede war und es darum ging, bestimmte Aspekte des
sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Wandels schlagwortartig auf den
Punkt zu bringen. Manchmal erfuhren entsprechende Phänomene eher positive
Bewertungen, etwa auf wirtschaftlich-technologischem Gebiet. Vielfach aber
verbanden sich mit „Amerikanisierung" angstvoll-selbstgefällige Abwehr und
traumahafte Szenarien einer transatlantischen Überschwemmung europäischer
Gesellschaften durch Produkte, Leitbilder und Verhaltensformen, die tatsächlich
oder vermeintlich aus den Vereinigten Staaten stammten. Gerade einflußreichere
Sozialgruppen, darunter viele intellektuelle Meinungsfuhrer empfanden Ameri-
kanisches als unangenehm, unangemessen, unübertragbar auf die Verhältnisse in
der „Alten Welt", und besonders manche kulturelle Strömung darunter als
schlicht minderwertig.1
Keine Ausnahme machte Rock 'n' Roll, der seit Mitte der 1950er Jahre über
den Atlantik nach Europa schwappte und an dessen Beispiel wir auf den folgen-
den Seiten einige Überlegungen anstellen wollen zu „Amerikanisierung" durch
Populärkultur2 im Frankreich und im Westdeutschland der späten 1950er und

1
Anschaulich Peter Freese, Amerika - Traum und Alptraum, in: Bernd Polster (Hg.),
Westwind. Die Amerikanisierung Europas, Köln 1995, S. 8-18, hier S. 14ff. Zu den frühen
Amerikadebatten im 20. Jahrundert unter deutsch-französischen Prämissen vgl. Egbert
Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten. „Amerikanisierung" in Deutschland und Frankreich
1900-1933, Stuttgart 2003.
2
Populärkultur im folgenden verstanden als die Gesamtheit kultureller Angebote und
Aktivitäten, die unter industriegesellschaftlichen Bedingungen hergestellt (Produktion),
zumeist über massenmediale Kanäle verbreitet (Diffusion) und durch viele Menschen
398 Dietmar Hüser

frühen 1960er Jahre. Nach definitorischen Vorklärungen samt Plädoyer für eine
gegenstandsbezogene Begrifflichkeit richtet sich das Interesse vorrangig auf
Fragen französisch-westdeutscher Ähnlichkeiten und Unterschiede, zunächst was
die Rahmenbedingungen fur Diffusion und Rezeption von Rock 'n' Roll angeht,
dann was die konkreten Aneignungsprozesse des damals bahnbrechenden Genres
betrifft.
Sowohl thematisch - eine /?o/?M/ärmusikalische Artikulation wie
Rock 'n' Roll - als auch methodisch - ein Kultur-Transfer- Vergleich - betritt der
Artikel ein Stück wissenschaftliches Neuland, und fraglos sind einzelne der
dargebotenen Erklärungsansätze erst durch einschlägige Detailstudien zu über-
prüfen und zu ergänzen. Grob abgesteckt wird ein Forschungsfeld, das einerseits
Kulturvergleich und Kulturtransfer zu koppeln, andererseits Populärkulturelles als
politikrelevante Akte und Chiffren der Zeit ernst zu nehmen weiß. Denn stimmt
es wirklich, daß Musik historische Umbrüche hörbar macht und Joplin, Dylan
oder Hendrix mehr über die Befreiungsutopien der 1960er Jahre aussagen als jede
Theorie der Krise,3 dann werfen Bill Haley und sein Rock around the clock grelle
Schlaglichter auf die Vorlaufphase dieser westlichen „Kulturrevolution".4

I. Begriffe und Fragen

Als in den 1990er Jahren der Boom zeitgeschichtlicher Beschäftigung mit ameri-
kanischen Einflüssen in Westeuropa auf breiter Front einsetzte,5 war das seman-

individuell angeeignet und als lebensweltlich bedeutsam empfunden werden (Rezeption).


Dem entspricht im Französischen eher „ culture de masse " als „ culture populaire ", die -
anders als „popular culture " im Englischen oder „Populärkultur" im Deutschen - nach
wie vor stark auf „folk culture " und „Volkskultur" verweist oder auf einen einseitig-
vertikalen Prozeß der Popularisierung „eigener" hochkultureller Güter durch eine erzie-
hungsbewußte kultivierte Elite; pointiert Franfoise Gaillard, La culture populaire ä l'äge
du loisir de masse, in: Australian Journal of French Studies 35 (1998), S. 5-19.
3
Vgl. Jacques Attali, Bruits. Essai sur l'economie politique de la musique, Paris 1977,
S. 8, 12.
4
Vgl. Arthur Marwick, The Sixties. Cultural Revolution in Britain, France, Italy and the
United States, c. 1958-c. 1974, Oxford 1999, S. 3-22.
5
Für Frankreich klassisch Richard F. Kuisel, Seducing the French. The Dilemma of
Americanization, Berkeley/Calif., Los Angeles/Calif, u. London 1993; zuletzt z.B. Phi-
lippe Roger, L'ennemi americain. Genealogie de l'antiamericanisme fran?ais, Paris 2002;
Jean-Francis Sirinelli u. Jean-Pierre Rioux (Hg.), La culture de masse en France de la
Belle Epoque ä aujourd'hui, Paris 2002. Für Westdeutschland klassisch Kaspar Maase,
Bravo Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger
Jahren, Hamburg 1992; Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen?
Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Axel Schildt,
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 399

tische Umfeld des Ausdrucks „Amerikanisierung" längst abgesteckt: gängige


Diskurse über ein Modell, das als Referenz diente, das zugleich lockte und
schreckte, das allemal an zentralen Pfeilern des gesellschaftlichen und kulturellen
Selbstverständnisses der europäischen Nationen zu nagen schien. Ein weitver-
breitetes begriffliches Unbehagen war die Folge sowie eine langlebige Kontro-
verse über Fragen definitorischer Trennschärfe, analytischer bzw. heuristischer
Brauchbarkeit von „Amerikanisierung".
Nach wie vor läßt sich ein Ende der Debatte kaum absehen, obwohl doch
mittlerweile manche Alternative mit ergänzendem Erklärungshorizont oder
verlagertem Definitionskern selbstbewußt im Raum steht.6 „Amerikanismus"
etwa, um die Aufmerksamkeit stärker noch auf die Rezeptionsseite zu lenken, auf
Menschen, die Amerikanisches - aus welchen Gründen und in welcher Form auch
immer - aneignen, in den Alltag integrieren und als lebensweltlich bedeutsam
erachten.7 Oder „Modernisierung" für übergeordnete Prozesse des Wandels in
westlichen Industriegesellschaften, die häufig kaum trennscharf zu unterscheiden
sind von dem, was unter „Amerikanisierung" fallt.8
Daneben sind es vornehmlich Begriffe, die über Nordamerika als Ausgangs-
raum für gerichtete politische, sozio-ökonomische und kulturelle Diffusions-
vorgänge hinausweisen. „Europäisierung" z.B. zur Betonung „hausgemachter",
aus eigenen Antrieben gespeister spezifischer Entwicklungstrends in der „Alten
Welt", die selbst im Bereich des Massenkonsums - fur viele Europäer das Ameri-
kasymbol schlechthin - weiter zum Tragen kommen. 9 Oder „Globalisierung",
weniger um einseitige Sender-Empfänger-Modelle und Szenarien weltweiter

Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a. M.


1999.
6
Als fundierten Überblick vgl. Philipp Gassert, Amerikanismus, Antiamerikanismus,
Amerikanisierung. Neue Literatur zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte des
amerikanischen Einflusses in Deutschland und Europa, in: Archiv fur Sozialgeschichte
39 (1999), S. 531-561; ders., Was meint Amerikanisierung? Über den Begriff des Jahr-
hunderts, in: Merkur 54 (2000), S. 785-796.
7
Vgl. Kaspar Maase,,Amerikanisierung der Gesellschaft". Nationalisierende Deutung
von Globalisierungsprozessen?, in: Konrad Jarausch u. Hannes Siegrist (Hg.), Amerikani-
sierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt a. M. u. New York 1997,
S. 219-241, hier S. 224ff.
8
Vgl. Axel Schildt, Vom politischen Programm zur Populärkultur. Amerikanisierung in
Westdeutschland, in: Detlef Junker (Hg.), Die USA und Deutschland im Zeitalter des
Kalten Krieges 1945-1990, Bd. 1:1945-1968, Stuttgart u. München 2001, S. 955-965, hier
S. 957.
9
Vgl. die „Europäisierungen des europäischen Konsums" bei Hartmut Kaelble, Euro-
päische Besonderheiten des Massenkonsums 1950-1990, in: ders., Jürgen Kocka u.
Hannes Siegrist (Hg.), Europäische Konsumgeschichte, Frankfurt a. M. 1997, S. 169-203,
hierS. 191.
400 Dietmar Hüser

Kulturschmelze zu beschwören als um die verschlungenen transatlantischen


Wege hervorzuheben: das rasche „Heimischmachen" von Globalem, das mögli-
che Rückfließen von Angeeignetem und das Mehr an pluralisierten und demokra-
tisierten Lebenswelten, das hier wie dort daraus erwächst.10 Auch „Interna-
tionalisierung", ebenfalls um den Blickwinkel nicht von vornherein auf die USA
zu verengen und um anderen internationalen Einflüssen, der englisch inspirierten
Beat-Musik im Zuge der 1960er Jahre etwa, Ausdruck und Gewicht zu verlei-
hen.11 Schließlich „Westernisierung", um auf säkulare politisch-kulturelle und
ideengeschichtliche Transfers abzuheben, auf anhaltende Interaktionen zwischen
amerikanisch und europäisch geprägter Westlichkeit, über die sich eine gemein-
same Werteordnung in den Gesellschaften diesseits wie jenseits des Nordatlantiks
herausgebildet hat.12
Positive Wirkungen haben die definitorischen Klärungsversuche der letzten
Jahre vor allem deshalb gezeitigt, weil sich „Amerikanisierung" mehr und mehr
von außerwissenschaftlichen Diskursen zu lösen vermochte. Niemand redet mehr
ernsthaft einem Kulturoktroy das Wort, der als Einbahnstraße funktioniert und im
Einheitsbrei endet. Vielmehr steht „Amerikanisierung" für einen Transfer von
Waren, Normen, Werten, Symbolen und Praktiken, die amerikanisch sind oder als
solches gelten und die individueller oder gruppenspezifischer, jedenfalls selektiv-
aktiver Aneignung und Sinnzuweisung durch Menschen in anderen Ländern
unterliegen. Dies impliziert Gleichgültigkeit, Renitenz, auch Abwehr: Amerikani-
sierung im Nachkriegseuropa ließe sich auch als eine Geschichte massenhaften
Ablehnens bestimmter Produkte oder Modelle schreiben. Selbst Unternehmer-
kreise legten in Grundsatzfragen nur begrenzte „Lernwilligkeit" an den Tag,
sahen angesichts des Nachkriegsbooms wenig Anlaß, tradierte Vorstellungen und
Strategien prinzipiell zu revidieren.13 Stets bedeutet jedenfalls Aneignung ein

10
Klassisch Aijun Appadurai, Disjuncture and Difference in the Global Cultural Econo-
my, in: Theory, Culture & Society 7 (1990), S. 295-310, hier S. 295f., 306; konkreter etwa
Rob Kroes, If You've Seen One You've Seen Them All. Europeans and American Mass
Culture, Urbana/Ill. 1996, S. XI. oder Richard H. Pells, Not Like Us. How Europeans
Have Loved, Hated and Transformed American Culture since World War II, New York
1997, S. 325f.
11
Zuletzt Uta G. Poiger, Amerikanisierung oder Internationalisierung? Populärkultur in
beiden deutschen Staaten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 53 (2003), Β 45, S. 17-24 ,
hier S. 24.
12
Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Westernisierung. Politisch-ideeller und gesell-
schaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in: Axel Schildt,
Karl Christian Lammers u. Detlef Siegfried (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in
den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 311-341, hier S. 314f.
13
Für die Bundesrepublik vgl. Werner Bührer, Auf eigenem Weg. Reaktionen deutscher
Unternehmer auf den Amerikanisierungsdruck, in: Bernd Greiner (Hg.), Westbindungen.
Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999, S. 181-201, hier S. 187f., 196. Für
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 401

Aushandeln zwischen Eigenem und Fremdem, ein „Sich-Einfinden" in Vor-


gefundenes bei zeitgleichem „Um-Bedeuten" und „Zueigen-Machen".14
Keineswegs vollziehen sich solche Transfers zwischen Nationalkulturen,
verstanden als voneinander abgeschüttete, statische und homogene Einheiten.
Respektive Kontakte und Einflüsse mit Drittländern sind deshalb ebenso zu
berücksichtigen wie der teilweise Rückfluß dessen, was in einem ersten Schritt
vorgefunden, umgedeutet und zueigen gemacht worden war. Daß die Ströme -
wenn wir über Amerikanisierung sprechen - alles in allem stärker von der „Neuen
Welt" in die „Alte Welt" verlaufen als umgekehrt, liegt auf der Hand. Die Chan-
cen des Begriffs bestehen aber gerade darin, die Raum- und Richtungsfrage jener
Austauschprozesse zu präzisieren, deren Ursprünge und Experimentierfelder -
mehr oder weniger eindeutig - in den Vereinigten Staaten zu verorten sind.15
Entscheidend bleiben die Mischungsverhältnisse. Und die fallen nach Zeit und
Raum, Zeit und Gegenstand, nach Sozialgruppe, Generation oder Geschlecht
verschieden aus.
Einen Passepartout-Begriff wird es nicht geben. Zugleich macht ein „Kampf der
Schlagworte" wissenschaftlich keinen Sinn. Fatal wäre, die verschiedenen Ange-
bote, auch „Amerikanisierung" und „Westernisierung" - zuletzt am intensivsten
diskutiert - mit mehr oder weniger fadenscheinigen Argumenten gegeneinander
auszuspielen.16 Merklich ergiebiger scheint, zunächst einmal nach Komplementa-
ritätspotentialen in unterschiedlichen diachronen und synchronen Betrachtungs-
zusammenhängen zu fragen. Denn zum einen können sich realhistorisch

Frankreich vgl. Elodie Gombert, La vision du Conseil National du Patronat Fran9ais sur
l'envoi des missions de productivite aux Etats-Unis au debut des annees 1950, in: Domi-
nique Baijot u. Christophe Reveillard (Hg.), L'americanisation de l'Europe occidentale au
XX e siecle, Paris 2002, S. 73-85, hier S. 79f. Allgemein vgl. Ove Bjarnar u. Matthias
Kipping, The Marshall Plan and the Transfer of US Management Models to Europe, in:
dies. (Hg.), The Americanisation of European Business. The Marshall Plan and the
Transfer of US Management Models, London u. New York 1998, S. 1-17, hier S. 7f.
14
Vgl. Michel de Certeau, L'invention du quotidien, Bd. 1: Arts de faire, Paris 2 1990,
S. XXXIXf.; konkret z.B. Rob Kroes, American Empire and Cultural Imperialism. A
View from the Receiving End, Konferenzpapier fur die Tagung „The American Impact on
Western Europe: Americanization and Westernization in Transatlantic Perspective",
Deutsches Historisches Institut Washington, März 1999, S. 4: www.ghi-dc.org/
conpotweb/westernpapers/kroes.pdf [24.11.04].
15
Vgl. Volker Berghahn, Deutschland im .American Century" 1942-1992. Einige
Argumente zur Amerikanisierungsfrage, in: Matthias Frese u. Michael Prinz (Hg.),
Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert: regionale und
vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 789-800, hier S. 798ff.
16
Etwa mit der pauschalen Behauptung, „Amerikanisierung" werde „in fast allen Berei-
chen der Detailforschung abgelehnt", bei Alfons Söllner, Normative Verwestlichung. Der
Einfluß der Remigranten auf die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, in: Greiner,
Westbindungen (Anm. 13), S. 72-92, hier S. 89.
402 Dietmar Hüser

Amerikanisierungs- und Westernisierungstrends wechselseitig ergänzen und mit


jeweils nationalen Traditionsbeständen zu komplexen Mischungsverhältnissen
kombinieren. Zum anderen verspricht analytisch der eine oder andere Begriff zu
diesem oder jenen Zeitpunkt, in diesem oder jenen Land, in diesem oder jenen
Bereich letztlich höheren oder geringeren Erkenntnisgewinn.
Auf der politischen Ebene - um einen Aspekt näher zu erörtern - mit „Ameri-
kanisierung" zu operieren, wäre im französischen wie im westdeutschen Fall fur
die 1950er Jahre nur bedingt angemessen. Am ehesten noch auf dem Gebiet des
Politmarketing, der Parteien- und Wahlwerbung,17 kaum aber, was die konstitutio-
nellen Grundlagen in beiden Ländern anbelangt. Die Verfassung der Vierten
Republik war Resultat rein innenpolitischer Auseinandersetzungen zwischen
verschiedenen Kräften und Modellen, der endgültige Text von Oktober 1946 blieb
in seinen Grundzügen eng dem klassischen republikanischen Modell der Jahr-
hundertwende verhaftet. Erst mit den Institutionen von 1958 erfuhr es eine mar-
kante inhaltliche Neuaufladung. Doch auch die Fünfte Republik war nicht von
außen, geschweige denn amerikanisch inspiriert, sondern ging auf de Gaullesche
Lektionen aus der konstitutionellen Vergangenheit des Landes und auf nationale
Traditionsbestände zurück, die sich stark am bonapartistisch aufgeladenen Kon-
zept der autoritären Demokratie orientierten.18
Zwar war auch das Bonner Grundgesetz, wie es im Mai 1949 in Kraft trat, kein
Importprodukt. Was seine Mütter und Väter an Lehren aus Weimar und NS-Zeit
zogen, fand breit Eingang, und unverkennbar war der Wille, an demokratische
Erbschaften des deutschen Konstitutionalismus anzuknüpfen. Gleichwohl ent-
sprang es einer „überwachten Verfassungsgebung" mit eng umrissenen, nur
mühsam erweiterbaren deutschen Handlungsmargen.19 Konträre Positionen galt es
auszuhandeln, bei allem Entgegenkommen der Westalliierten wichen die Ergeb-
nisse bisweilen von den deutscherseits unterbreiteten Vorstellungen ab. Von
Amerikanisierung zu sprechen, wäre indes verfehlt. Schon wegen der komplexen,
durchaus konfliktuellen Absprachen unter den Besatzungsmächten selbst. Aber
auch weil vielfach deren Richtungs- und Rahmenvorgaben nicht prinzipiell den
Grundhaltungen der Verfassungsgeber im Parlamentarischen Rat widersprachen.

17
Vgl. Fabrice d'Almeida, L'americanisation de la propagande en Europe de l'Ouest
1945-2003, in: Vingtiäme Siecle n° 80 (2003), S. 5-14, hier S. 9, 12.
18
Vgl. Serge Berstein, Le modele republicain: une culture politique syncretique, in: ders.
(Hg.), Les cultures politiques en France, Paris 1999, S. 113-143, hier S. 138f. Zur „autori-
tären Demokratie" klassisch Rene Remond, Les droites en France, Paris 2 1982,
S. 322-333.
19
Vgl. Kurt Sontheimer, Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik
Deutschland, München 131989, S. 37; Gerhard A. Ritter, Über Deutschland. Die Bundesre-
publik in der deutschen Geschichte, München 2 2000, S. 45-48.
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 403

Eher schon ließe sich für die frühe Bundesrepublik der Westernisierungsbegriff
verwenden, erst recht mit einem Blick über Politik und Verfassung hinaus auf
Politisches und die politisch-ideellen Wertvorstellungen der Menschen. Es besteht
Konsens darüber, daß in den 1950er Jahren das Gros der Bundesbürger längst
nicht auf dem „langen Weg nach Westen" angekommen und das politische Klima
noch „sehr viel 'deutschnationaler' als die praktische Politik" war.20 Von einer
breitenwirksamen demokratischen Bewußtseinsbildung konnte damals keine Rede
sein.21 Erst nach und nach gewann die neue Ordnimg gesellschaftlichen Rückhalt,
während normative Wertsysteme und Orientierungsmuster der ersten Jahrhundert-
hälfte diesen verloren und sich verwestlichten. Der Trend wies weg vom „autori-
tären Rest", hin zur „langsamen Vollendung der Modernität",22 und mündete in
die langen 1960er Jahre als Kernphase bundesdeutscher „Fundamentalliberalisie-
rung" samt verinnerlichter demokratischer Werthaltungen.23 Für Frankreich
freilich - mit seinem seit 1789 im Kampf um die Republik geschärften Werteka-
non, mit seiner älteren und solideren politischen Liberalität - macht „Westerni-
sierung" kaum Sinn. Mehr als jede andere europäische Nation betrachtet es sich
als der Westen, dem politische Eliten im Nachbarland doch über Jahrzehnte
hinweg ein deutsches, gerade nicht-westliches Sonderbewußtsein entgegengestellt
hatten.
Deutlich wird, daß weder „Westernisierung" noch „Amerikanisierung" gener-
ellen, sondern sektoralen und nationalen Erkenntnisgewinn versprechen. Kurzum:
Es bedarf einer begrifflichen Werkzeugkiste mit nach Raum, Zeit und Gegenstand
differenziertem Instrumentarium, in der aber, Amerikanisierung" seinen berech-
tigten Platz einnimmt. Als ganz besonders einschlägig erweist sich der Begriff bei
Transfer-Vergleichen zwischen einzelnen europäischen Ländern und bei Themati-
ken, die sich mit Populärkultur nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen. Ein
solcher Kultur-Transfer-Vergleich steht im Zentrum der folgenden Ausführungen,

20
Vgl. Heinrich-August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte,
Bd. 2: Vom „Dritten Reich" bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 169.
21
Vgl. z.B. die Umfragen des Instituts für Demoskopie in Allensbach zu Mentalität,
Geschichtsbild sowie zum politischen System der Bundesrepublik, abgedruckt in: Elisa-
beth Noelle u. Peter Neumann (Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955,
Allensbach 2 1956,S. 114-142,157-181.
22
Klassisch Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München
5
1977, S. 451; Richard Löwenthal, Bonn und Weimar - Zwei deutsche Demokratien. Zum
30. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland, in: ders., Gesellschaftswandel und
Kulturkrise. Zukunftsprobleme der westlichen Demokratien, Frankfurt a. M. 1979,
S. 257-277, hier S. 267.
23
Dazu nun Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lemprozeß. Die Bundesrepublik in der
deutschen Geschichte - ein Skizze, in: ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutsch-
land. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002, S. 7-49, hier
S. 7, 14, 40.
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festgemacht an Verbreitung, Aneignung und Folgewirkung der ersten, amerika-


nisch inspirierten Rock 'n' Roll-Welle in Frankreich und Westdeutschland seit
Mitte der 1950er Jahre.

II. Rahmenbedingungen

Als Rock 'n' Roll damals seinen Siegeszug anzutreten begann, stellten sich die
Rahmenbedingungen für eine Aufnahme amerikanischer Populärkultur in Frank-
reich und Westdeutschland teilweise als recht ähnlich dar, teilweise aber auch als
grundverschieden. Offensichtlich sind zunächst Grundtendenzen sozio-ökono-
mischen und sozio-kulturellen Wandels der Zeit, die bei allen Differenzen im
kleinen doch als „tendances lourdes" hier wie dort in die gleiche Richtung
wiesen und einen Nährboden schufen fur massenhaftes Aneignen populärkulturel-
ler Angebote aus den Vereinigten Staaten. Drei eng miteinander verwobene
Entwicklungen sind in diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben.
Einmal der europäische Nachkriegsboom, eine Phase der Hochkonjunktur, die
sich in den „ trente glorieuses" und dem „Wirtschaftswunder" spezifisch aus-
prägen, Frankreich und der Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren
durchschnittliche Wachstumsraten von 5,2 % bzw. 6,3 % bescheren sollte.24
Damit einher ging - nach langen Kriegs- und Nachkriegsjahren des Mangels -
eine zweite Gemeinsamkeit: das breitenwirksame Eintreten in das Zeitalter des
Massenkonsums. Stetig verbesserte sich die Ernährungszusammensetzung, die
Arbeitszeiten sanken, die Freizeitmöglichkeiten und Haushaltseinkommen stie-
gen. Finanzielle Margen entstanden, zunächst fur Möbel und Haushaltsgeräte wie
Waschmaschine und Kühlschrank, dann auch für Zweitradios und Fernseher. Bald
wurden aus automobilistischen Träumen handfeste Realitäten, die wiederum
einem anschwellenden Tourismusstrom Vorschub leisteten. Längst mutierten
Luxusgüter zu „Normalgütern" der entstehenden Massenkonsumgesellschaft.25
Gemeinsam war schließlich beiden Ländern die beachtliche Zunahme und
Verjüngung der Bevölkerung. Damit trat nicht nur quantitativ, sondern auch
qualitativ eine andere Jugend auf den Plan. Geprägt war diese Jugend durch den

24
Zuletzt Margrit Grabas, Der Nachkriegsboom der 1950er und 1960er Jahre in Mittel-
und Westeuropa - Modellcharakter für eine gesamteuropäische Prosperität im „postsocia-
list century"?, in: Berichte der Internationalen Wissenschaftlichen Vereinigung für Welt-
wirtschaft und Weltpolitik, November 2004, S. 8-27, hier S. 9ff„ 16ff.
25
Für Frankreich Jean Fourastie, Les trente glorieuses ou la revolution invisible de 1946
ä 1975, Paris 2 1979; für Westdeutschland vgl. Arne Andersen, Der Traum vom guten
Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt a. M.
u. New York 1997.
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 405

tiefen generationellen Graben in gemachten Erfahrungen, aktueller Weltsicht und


Visionen für die Zukunft, durch zunehmenden Wohlstand, verallgemeinertes
Taschengeld, den Berufseintritt der ersten Nachkriegskinder, kurz: durch schlag-
artig erhöhte Kaufkraft. Aber auch durch eine aufstrebende Unterhaltungsin-
dustrie, Medienkultur und Modebranche, die davon profitierten, den jungen
Menschen zugleich als willkommene Verbündete gegen elterliche Restriktionen
dienten. In Werten und Verhalten, in Sprache und Habitus, in Konsum und Frei-
zeit, in Kleidung und Musik vergleichsweise autonom gegenüber herrschenden
Elternnormen, zeichneten sich die Umrisse eines fortan prägenden Sozialtypus
eigenweltlicher Jugend ab: Symbol für all das, was Wandel, Erneuerung und
Aufbruch in eine neue Zeit veranschaulichte.26
Alles in allem: richtungsweisende Konvergenzen als Grundlage für populärkul-
turelle Amerikanisierungstrends in Frankreich und Westdeutschland, zugleich
aber fortwährende, kaum übersehbare Divergenzen zwischen beiden Ländern.
Vieles wäre erwähnenswert,27 für unseren Zusammenhang sind drei Aspekte als
wesentlich hervorzuheben.
Zunächst waren dominante Diskurse und Bilder über die Vereinigten Staaten
alles andere als deckungsgleich, und dies seit langem. Der massiven Übersee-
Auswanderung, der Präsenz von über drei Millionen Deutschen bei Ausbruch des
Ersten Weltkriegs und den damit dauerhaft etablierten Netzwerken, die kulturelle
Distanz abbauen halfen, stand französischerseits nichts Vergleichbares gegenüber.
Hinzu kam die säkulare amerikanisch-französische Rivalität, eine Konkurrenz
zwischen Pionieren der modernen politischen Demokratie, die ganz selbstver-
ständlich in zivilisatorischer Mission und mit universalem Anspruch auftraten.
Zwei Länder aber auch, die sich bei allem Rekurs auf gemeinsame revolutionäre
Ursprünge als Schwester-Republiken stets fremd und des Grabens bewußt geblie-
ben waren zwischen „american way of life" und „civilisation franqaise ",2g
Solche Differenzen der „ longue duree" verbanden sich in der frühen Nach-
kriegszeit mit konkreteren jüngeren Erfahrungen zu recht unterschiedlichen
Amerikadiskursen, die intellektuelle Meinungsführer mehrheitlich im öffentlichen
Raum pflegten. Während sich zahlreiche US-Emigranten nach der Rückkehr zu
differenzierten Aussagen veranlaßt sahen, um anti-westlichen Zivilisationskriti-

26
Prägnant Jean-Francois Sirinelli, Les jeunes, in: ders. u. Jean-Pierre Rioux (Hg.), La
France d'un siecle ä l'autre 1914-2000, Bd. 2, Paris 2 2002, S. 21-33 sowie Werner Faul-
stich, Die neue Jugendkultur, in: ders. (Hg.), Die Kultur der 50er Jahre, München 2002,
S. 277-290.
27
Vgl. Hartmut Kaelble, Die sozialen und kulturellen Beziehungen Frankreichs und
Deutschlands seit 1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 53 (2003), Β 3-4, S. 40-46.
28
Dazu Charles G. Cogan, Oldest Allies, Guarded Friends. The United States and France
since 1940, Westport/Conn. u. London 1994, S. 8-15, 199-208.
406 Dietmar Hüser

kern den Boden zu entziehen, äußerten sich französische „Mandarine", zunächst


vielfach im Dunstkreis der kommunistischen Partei, ablehnender und plakativer
gegenüber allem Amerikanischen.29 Auch in der „Großen Politik" gab es beider-
seits des Rheins keine einheitliche Linie. Zwar blieben beträchtliche Vorbehalte
auch in Westdeutschland spürbar: pro Westintegration meinte keineswegs pro
Rock 'n' Roll. Viel weniger aber als Paris gerierte sich Bonn als Garant einhei-
mischer Kulturprodukte gegenüber „Massenware" und „Unkultur" aus den Ver-
einigten Staaten. Die breite Mehrheit der Franzosen wie der Westdeutschen teilte
die Bedrohungsängste herrschender Kreise ohnehin kaum mehr.30 Es überwogen
Sympathie und Neugier, auch eine gewisse, manchmal vorbehaltlose Bewun-
derung. Zumindest war die Anziehungskraft beachtlich, die „ made in America "
in den 1950er Jahren gerade auf viele jüngere Leute ausübte.
Deutlich wird einerseits, daß innerhalb beider Länder, wenn es um Diskurse
und Bilder über Amerika ging, schichten-, generations-, geschlechter- und regio-
nalspezifische sowie weltanschauliche Trennlinien zu berücksichtigen sind.
Andererseits gilt es in vergleichender Perspektive die ungleich stärkere materielle
Nachkriegspräsenz der Vereinigten Staaten in Westdeutschland zu berücksich-
tigen, die unmittelbareren Einflußmöglichkeiten und die potentiell größere sozio-
kulturelle Eindringtiefe über Konsumartikel, Massenmedien, Amerikahäuser, etc.
Mochten Stützpunkte amerikanischer Soldaten in Frankreich etlichen jungen
Franzosen als Traumwelten erscheinen,31 der nachhaltigen lebensweltlichen
Wirkung, die Radiosender wie American Forces Network (AFN) im östlichen
Nachbarland auf Dauer zeitigten, hatten die häufig abgelegenen Stationierungs-
orte im Hexagon wenig entgegenzusetzen. Und viel mehr als dort schielten dann
auch die bundesdeutschen Macher populärer Musik auf amerikanische Verkaufs-
hitparaden, auf neue Moden und Arrangements als den Maßstäben einheimischer
Plattenproduktion.32
Neben Unterschieden in dominanten Amerikadiskursen sind zweitens - und eng
damit verknüpft - allgemeine innen- wie außenpolitische Faktoren als Erklärungs-
angebote zu beleuchten. Kaum überschätzen lassen sich etwa die gegensätzlichen
Mehrheitseinschätzungen zum Nachkriegskommunismus im jeweils eigenen

29
Vgl. Söllner, Normative Verwestlichung (Anm. 16), S. 90f.; Michel Winock,
L'antiamericanisme franfais, in: ders., Nationalisme, antisemitisme et fascisme en France,
Paris 1990, S. 50-76, hier S. 63ff.
30
Vgl. Pascale Goetschel u. Emmanuelle Loyer, Histoire culturelle de la France de la
Belle Epoque ä nos jours, Paris 2 2002, S. 152; Kuisel, Seducing the French (Anm. 5),
S. 52-69.
31
Vgl. nun Olivier Pottier, Les bases americaines en France 1950-1967, Paris 2003.
32
Dazu Elmar Kraushaar, Rote Lippen. Die ganze Welt des deutschen Schlagers, Reinbek
1983, S. 33f.
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 407

Land. In Frankreich profitierten PCF und massenmobilisierende Vorfeldorganisa-


tionen noch Jahre und Jahrzehnte vom Blutzoll des kommunistischen Widerstands
gegen Vichy-Regime und deutsche Besatzer: ein Prestige, das weit über die
engeren Parteigrenzen hinaus reichte. Anders Westdeutschland mit seinem „dop-
pelten Basiskonsens" gegen Nationalsozialismus und Kommunismus:33 Rasch
zementierten hier Ost-West-Konflikt, deutsche Teilung und Korea-Krieg, aber
auch die Chance auf einen „abendländischen" Brückenschlag von Stalingrad nach
Bonn den antikommunistischen Grundkonsens in Politik und Gesellschaft. Kom-
promittiert war die KPD längst vor dem Verbot im August 1956.
Außenpolitisch gab es für die junge Bundesrepublik bei prioritärer Westbin-
dung und konsequentem Hinarbeiten auf Souveränitätsfortschritte zu einem
möglichst engen Schulterschluß mit den Vereinigten Staaten keine ernsthafte
Alternative, und dies in Wort und Tat. Mittelfristig setzte dies einer virulenten
Ablehnung kultureller Amerikanisierungstrends enge Grenzen und veranlaßte
etablierte Kreise, solche Ausdrucksformen zu tolerieren, zu entpolitisieren und zu
integrieren. Auch Frankreich stand außenpolitisch nach dem Krieg resolut im
westlichen Lager, und wie hätte es auch anders sein sollen, repräsentierte es doch
nicht weniger als die angelsächsischen Siegerstaaten den Westen. Trotzdem
stellten sich die Voraussetzungen fur das bilaterale Verhältnis zu Washington
ganz anders dar. Gerade im Zeichen struktureller Asymmetrie34 galt es die Rolle
eines schwierigen Partners einzunehmen, der Maximales verlangte, um Minima-
les herauszuhandeln. Und der Bedarf an Unterstützung war gewaltig, einmal
wegen immenser Wiederaufbau- und Modernisierungszwänge im Land, dann
wegen fortgesetzter Kriegsanstrengungen über den 8. Mai 1945 hinaus, zunächst
in Indochina, dann in Algerien: kostspielige Konflikte, die den französischen Weg
in die Massenkonsumgesellschaft gegenüber dem kriegsfreien bundesdeutschen
verzögerten.
Schließlich lassen sich drittens Divergenzen aus den ganz andersartigen Erfah-
rungen und Verarbeitungen der Weltkriegsjahre herauslesen sowie aus den unter-
schiedlichen Mischungsverhältnissen von Altem und Neuem, die sich nach 1945
offenbarten. Daß hier die Einschnitte in etablierte Nationsmythen im westdeut-
schen Fall gravierender ausfielen als bei der nachbarlichen Sieger-, Besatzungs-
und Schutzmacht, dürfte kaum verwundern. Die französischen 1950er Jahre
standen jedenfalls noch nicht im Zeichen des Vichy-Syndroms, eher im Zeichen

33
Vgl. Uta G. Poiger, Rock 'n' Roll, Kalter Krieg und deutsche Identität, in: Jarausch u.
Siegrist (Hg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung (Anm. 7), S. 275-289, hier S. 286.
34
Vgl. Dietmar Hüser, Politik kalkulierter Provokation im Zeichen struktureller Asymme-
trie - Frankreich und die Vereinigten Staaten, die deutsche Frage und der Kalte Krieg
1940-1950, in: Francia. Forschungen zur Westeuropäischen Geschichte 27/3 (2000),
S. 63-87.
408 Dietmar Hüser

einer wirkungsvollen Geschichtspolitik, die Vichy aus dem Nationalepos ver-


bannte, Frankreich zu einem Land im Widerstand stilisierte und die „heilige
Dreifaltigkeit" aus Revolution, Republik und Resistance beschwor.35 Die ganze
Ideenwelt national-republikanischer Selbstverständlichkeiten und Gestaltungs-
möglichkeiten war noch intakt, der Grad an Unsicherheit über die Zukunft des
Landes und die globale Ausstrahlung der „ civilisation frangaise " dagegen ver-
gleichsweise gering.
Für Deutschland lagen die Dinge anders. Selbstkritischer Umgang der Men-
schen mit dem Dritten Reich und den begangenen Verbrechen standen zwar
gesamtgesellschaftlich auch dort noch kaum auf der Tagesordnung.36 Wohl aber
waren die unmittelbaren Konsequenzen von Krieg und Holocaust über politisch-
territoriale und sozio-ökonomische Fragen hinaus bis in den Lebensalltag jedes
Einzelnen spürbar. Das Land als solches war Ausdruck der Diskontinuität deut-
scher Geschichte,37 von kratzerlosen Pfeilern nationaler Selbstverständlichkeit
konnte keine Rede sein. Viel stärker als das befreite Frankreich war das besetzte
Deutschland nicht nur innerem Wandel auf allen Ebenene ausgesetzt, sondern
auch äußeren Einflüssen durch die Siegermächte. Und weitaus mehr als die
französische war seine Gesellschaft auf der Suche nach sich selbst und nach
hilfreichen Modellen: diachron im Rückgriff auf attraktives Eigenes im Gestern
oder synchron mit Blick auf attraktives Anderes im Heute. Letztlich sind die
Differenzen, die sich aus den Kriegsjahren und Kriegsfolgen ergaben, doppelt zu
verorten: einmal auf der Angebotsseite, wo Internationales und ganz besonders
Amerikanisches im westdeutschen Fall faktisch präsenter war, dann auf der
Nachfrageseite, wo manche Sozialgruppe mehr Bereitschaft und Interesse ver-
spürte, sich tatsächlich darauf einzulassen.

III. Aneignungsprozesse

Seit langem zählt der unmittelbare Zusammenhang zwischen populärer Musik


und jugendlicher Gruppenbildung zu den sozial- und kulturwissenschaftlichen

35
Klassisch Henry Rousso, Le syndrome de Vichy 1944-198..., Paris 1987; zuletzt ders.,
Vichy. L'evenement, la memoire, l'histoire, Paris 2001.
36
Differenziert Edgar Wolfrum, Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wieder-
vereinigung, Göttingen 2002, S. 104-110.
37
Vgl. M. Rainer Lepsius, Die Bundesrepublik in der Kontinuität und Diskontinuität
historischer Entwicklungen. Einige methodische Vorüberlegungen, in: ders., Demokratie
in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen, Göttingen 1993,
S. 135-144.
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 409

Binsenweisheiten.38 Offensichtlich haben solche Wechselwirkungen seit den


späten 1950er Jahren weiter zugenommen. Mehr und mehr begannen sich junge
Leute - ob in Frankreich oder in Westdeutschland - als soziale Gruppe mit
spezifischer kultureller Handschrift, als „ culture jeune" bzw. als Jugendkultur
wahrzunehmen. Hier wie dort wartete nun Jugend mit ausgeprägt eigenen Werten
und Praktiken auf, mit eigenen Filmstreifen, Radiosendungen und Zeitschriften,
nicht zuletzt mit eigener Musik. Mit populärer Musik vorrangig, die im Zeichen
der neuen Medienkultur fast überall und individuell verfügbar war, die bald als
das Leitmedium im Alltag fungierte und die mehr als jedes andere Phänomen für
eine „ transversalite sociale de masse " stand: etwas generationell Abgrenzendes,
aber massenhaft Verbindendes quer zu allen gesellschaftlichen Unterschieden.39
Immer wieder brachten die Folgejahrzehnte neue Genres mit sich, die als
Ferment zunehmend fragmentierter Jugendkulturen dienten, und immer wieder
rauften sich besorgte Eltern ob der „audiovisuellen Extase"40 der Kinder die
Haare. Den Anfang machte 1955/56 Rock 'n' Roll, und ganz unzweideutig kam
Rock 'n' Roll mit seinen Stars aus den Vereinigten Staaten nach Frankreich wie
nach Westdeutschland, um dort im Original oder national adaptiert angeeignet zu
werden. Wieder lassen sich Ähnlichkeiten und Unterschiede aufzeigen, erneut
springen jeweils drei besonders ins Auge.
Eine erste Gemeinsamkeit bilden die maßgeblichen Vermittlungsinstanzen, die
für eine erfolgreiche Verbreitung der neuen Rhythmen verantwortlich zeichneten.
Eindrucksvoll offenbart sich ein weiteres Mal das Gewicht einer aufbrechenden,
qualitativ neuen Medienkultur. Wie ein Räderwerk griffen nun Kinostreifen und
Schallplatten, Photoromane und Comics, Radio- und Fernsehformate, Zeitschrif-
ten und Werbeträger aller Art ineinander, verstärkten und bestärkten sich mit
Blick auf die jugendliche Kundschaft, machten Stars zu Stars und Hits zu Hits.
Trotz aller Detaildifferenzen: die unterhaltungsindustrielle Grundstruktur eines
wechselseitigen Verweissystems unterschied sich in beiden Ländern kaum von-
einander. Anschauungsmaterial dafür bieten die frischen Jugendmagazine, deren
Formate sich über Jahrzehnte kaum mehr verändern sollten. Über eine Million
Käufer - die Leserzahlen lagen um ein Vielfaches höher - fanden in den frühen
1960er Jahren die westdeutsche Bravo wie auch das französische Salut les co-

38
Dazu Helmut Rösing, Musikalische Lebenswelten, in: Herbert Bruhn u. Helmut Rösing
(Hg.), Musikwissenschaften. Ein Grundkurs, Reinbek 1998, S. 130-152, hier S. 137.
39
Vgl. schon Paul Yonnet, Jeux, modes et masses. La societe fran^aise et le moderne
1945-1985, Paris 1985, S. 189.
40
Vgl. Jean-Pierre Rioux u. Jean-Franfois Sirinelli, Histoire culturelle de la France,
Bd. 4: Le temps des masses. Le XX e siecle, Paris 1998, S. 261-264, 321.
410 Dietmar Htlser

pains, das sich an eine gleichnamige, täglich ausgestrahlte Kult-Radiosendung auf


Europe 1 ankoppelte.41
Eine andere Gemeinsamkeit im Aneignen von Rock 'n' Roll bestand in seinem
Ablehnen. Massiv geschah dies zunächst durch eine Erwachsenenwelt, die sich
schwertat mit dem Wandel tradierter Normen und mit Neuem schlechthin, wie es
Musik- und Jugendkultur signalisierten. „Marseillaise der Teenager-Revolution"42
für die einen, war Rock around the clock fur andere „banalster Kitsch, ja
Schund."43 Zu (afro-)amerikanisch die Ursprünge, hieß es gerade in bürgerlichen
Elternhäusern, zu wild und körperlich Musik und Tanz, zu proletarisch die Fange-
meinden als solche und zu gewaltbereit die Auffalligsten, die „ blousons noirs "
bzw. die „Halbstarken", mit denen viele Zeitgenossen die Rock 'n' Roll-Hörer
umstandslos gleichsetzten. Betont lässig und provokant traten die „Halbstarken"
auf, trugen mit Vorliebe Röhrenjeans, enge T-Shirts und schwarze Lederjacken.
Ihre Freizeit verbrachten die meist aus Arbeiterfamilien stammenden Jugendli-
chen vorzugsweise, indem sie möglichst sichtbar in Stadtparks oder auf öffentli-
chen Plätzen herumlungerten. Sich als Bürgerschreck zu gerieren, war ein Leich-
tes. Doch bei allen Ausschreitungen, Krawallen und Schlägereien, die es tatsäch-
lich zu verzeichnen gab, besonders wochenends im großstädtischen Raum, ent-
sprach die Realität nicht den medinvermittelten Bedrohungsszenarien junger
Asozialer, die tagsüber faulenzten, nachts den Bürgerfrieden störten und früher
oder später auf die schiefe Bahn geraten mußten.44
Auf Widerstand traf Rock 'n' Roll freilich über die Erwachsenenwelt hinaus,
die Abwehrfront reichte bis in die Generation der Kinder und Kindeskinder.
Populäre Musik für Massen kaufkräftiger junger Zuhörer: das war eine kulturhis-
torisch einschneidende Begebenheit. Doch weder bedeutete dies, daß künftig alle
ausnahmslos und gleichermaßen jedes Genre schätzten, das auf den Markt kam,
noch daß sich die breite Mehrheit unter den Jugendlichen nunmehr vollkommen
und ausschließlich auf eine einzige Stilrichtung kaprizierte. Die meisten blieben
„Allesfresser", die sich anders als die engeren, meist männlichen Kerngruppen

41
Zur Bravo vgl. Kaspar Maase, Bravo Amerika (Anm. 5), S. 104-111. Zu Salut les
copains vgl. Anne-Marie Sohn, Age tendre et tete de bois. Histoire des jeunes des annees
1960, Paris 2001, S. 78-93; Jean-Francis Sirinelli, Les baby-boomers. Une generation
1945-1969, Paris 2003, S. 141-168.
42
Vgl. David Ewen, All the Years of American Popular Music, Englewood Cliffs/N.J.
1977, S. 554.
43
Vgl. Die Zeit, 4.10.1956, S. 19, zitiert nach Thomas Grotum, Die Halbstarken. Zur
Geschichte einer Jugendkultur der 50er Jahre, Frankfurt a. M. u. New York 1994, S. 159.
44
Ebd., S. 151f.; Sohn, Äge tendre (Anm. 41), S. 269ff. Zeitgenössisch Rolf Fröhner
(Hg.), Wie stark sind die Halbstarken? Beruf, Berufsnot, politische, kulturelle und see-
lische Probleme der deutschen Jugend im Bundesgebiet und Westberlin, Bielefeld 1956,
S. 17f.
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 411

einer Jugendkultur nicht festlegen wollten. Und Offerten gab es reichlich: von
simpel gestrickten Schlagern aller Art bis hin zu anspruchsvollen Chansons, die
gleichwohl in beiden Ländern auf unterschiedliche Resonanz stießen. Während in
Westdeutschland die Heimat- und Fernweh-Schlager, Italien- und Südsee-Schnul-
zen die Hitparaden beherrschten,45 erlebte in Frankreich das nonkonformistisch-
engagierte Chanson - an humanistischen Leitbildern orientiert und fur amerika-
nische Einflüsse undurchlässig - eine weitere Blüte.46
Daneben war es Jazz, der in zahlreichen Varianten auch zu Zeiten früher
Rock 'n' Roll-Euphorie Anhängerscharen diesseits wie jenseits des Rheins be-
hielt. Hoch war der Beliebtheitsgrad vornehmlich unter Mittel- und Ober-
schichten· Jugendlichen aus bildungsprivilegierten Elternhäusern, die cool und
leger daherkamen, wildes Tanzen ablehnten und jegliche Körperlichkeit hint-
anstellten. In Musik, Mode und Habitus galt es sich von den Altersgenossen aus
Arbeiterkreisen abzugrenzen, häufig verband aber die vielfach schattierte Jazz-
Jugend anti-proletarische Grundhaltungen mit konventionslos-antibürgerlichen
Attitüden zu einer sehr spezifischen Form der Gegenkultur. Gerade im Hexagon
boomte in den 1950er Jahren eine mehr und mehr Eigenständigkeit beanspruchen-
de Szene. Dicht davor, sich endgültig als schichtenübergreifendes Massenphäno-
men zu etablieren, machten dann angelsächsische Rock-Musik und deren franzö-
sische Ableger dem Jazz ein sicher geglaubtes jugendliches Publikum abspen-
stig.47
Allen anfanglichen Vorbehalten musikalisch anders orientierter junger Musik-
hörer zum Trotz bestand dann bald eine dritte Gemeinsamkeit in den An-
steckungspotentialen, durch die Rock 'n' Roll und nachfolgende Spielarten fast
die gesamte Jugend, schließlich fast die ganze Gesellschaft in den Bann ziehen
sollte.48 Angeeignet zu Beginn im Milieu städtischer Arbeiteijugend, entdeckten
seit den frühen 1960er Jahren immer mehr Mittel- und Oberschichtenjugendliche
rockmusikalische Sparten für sich und kopierten einschlägige Dress- oder Sprach-
codes. Nachahmungseffekte von „unten" nach „oben": ein neues Phänomen und
ein fundamental zukunftsweisender Vorgang. Nicht zuletzt durch Musik war
Jugend nun Jugend quer zu den Sozialgruppen, bei abnehmenden Bindungen aller

45
Vgl. die Zusammenschau bei Hans-Otto Hügel u. Gert Zeisler (Hg.), Die süßesten
Früchte. Schlager aus den Fünfzigern, Berlin 1992; Thommi Herrwerth, Katzenklo &
Caprifischer. Die deutschen Hits aus 50 Jahren, Berlin 1998, S. 7-37.
46
Vgl. Paul Garapon, Metamorphoses de la chanson fran^aise 1945-1999, in: Esprit
n° 254 (1999), S. 89-118, hier S. 93.
47
Vgl. Eric J. Hobsbawm, Uncommon People. Resistance, Rebellion and Jazz, London
1998, S. 281 f.; Ludovic Toumes, New Orleans sur Seine. Histoire du jazz en France, Paris
1999, S. 11 f., 223-261, 336ff.
48
Vgl. Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur
1850-1970, Frankfurt a. M. 1997, S. 236.
412 Dietmar Hüser

Art zusammengehalten durch musikvermittelte Einstellungs- und Verhaltens-


muster, die im öffentlichen Raum mehr und mehr an Sichtbarkeit gewannen.
„Feine Unterschiede" lebten allerdings fort, einmal durch die unaufhaltsame
Fragmentierung populärer Genres, dann durch Distinktionsgewinne innerhalb
einzelner Stile, mit denen sich eingeweihte Szene-Eliten von der dumpfen Masse
an „Milieu-Mitläufern" abzusetzen gedachten.49
Neben ähnlichen Entwicklungslinien offenbaren sich auch im Aneignen von
Rock 'n' Roll mancherlei Unterschiede. Zunächst lassen sich gewisse Zeitver-
schiebungen ausmachen, etwa was die Präsenz der skizzierten Vektoren angeht.
Länger als beim östlichen Nachbarn bewahrte das französische Radio seine
maßgebliche Rolle für die Verbreitung populärer Musik, während sich die private
TV-Ausstattung in der Bundesrepublik schon früher auf höherem Niveau beweg-
te.50 Verspätet im Vergleich zur Bravo, die seit August 1956 wöchentlich auf den
Markt kam, erschien das monatliche Pendant Salut les copains: fast vier Jahre
verstrichen bis zur ersten Nummer im Juli 1962. Ebenfalls zeitversetzt verlief der
öffentliche Aufmerksamkeitsschub für die „Halbstarken". Bundesdeutsche Ga-
zetten sprangen gleich 1956 nach ersten Tumulten auf den Medienzug auf. Da-
gegen tauchten in der französischen Presse weder die Pariser „Bandenkämpfe"
vom Frühsommer 1955 allzu prominent auf, noch die Ausschreitungen bei Bill
Haley-Konzerten im Jahr darauf. Auf breiter Front machten die „ blousons noirs "
dort erst 1959 ihre Aufwartung, blieben dann aber jahrelang medial präsent.51
Inwieweit ein kausaler Nexus zwischen verspäteter Mediatisierung und den
Psychosen der letzten gewalttriefenden Algerienkriegsjahre in der Metropole
besteht, wäre weiter zu untersuchen.52
Eine zweite Divergenz im Aneignen von Rock 'n' Roll bezieht sich auf die
jeweiligen nationalen Populärkultur-Kontexte. Ein erster Blick auf die frühen
Rock 'n' Roll-Szenen legt fur den französischen Fall größeres Gewicht, höhere
Authentizität und dauerhaftere Präsenz einheimischer Künstler verglichen mit den

49
Dazu Simon Frith, Performing Rites. On the Value of Popular Music, Oxford 1996,
S. 251ff.
50
Über zwei Millionen angemeldete Geräte in Westdeutschland standen 1958 knapp eine
Million im Hexagon gegenüber. Vgl. Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenme-
dien und „Zeitgeist" in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, S. 268 sowie
den Anhang bei Marie-Fran^oise Levy (Hg.), La television dans la Republique. Les
annees 50, Brüssel 1999, S. 220-223.
51
Dazu Sohn, Äge tendre (Anm. 41), S. 266f. Vgl. schon die Frankreich-Hinweise bei
Günther Kaiser, Randalierende Jugend. Eine soziologische und kriminologische Studie
über die sogenannten „Halbstarken", Heidelberg 1959, S. 100.
52
Andeutungsweise Madelaine Reberioux, La culture au pluriel, in: Andre Burguiere
(Hg.), Histoire de la France. Bd. 3: Choix culturels et memoire, Paris 2000, S. 233-291,
hier S. 259f.
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 413

Originalen aus Übersee nahe. Mehr noch als in Westdeutschland haben dort
offenbar Jugendliche die amerikanischen Stars erst zu Beginn der 1960er Jahre
über französische Ableger wie Johnny Hallyday oder Eddy Mitchell kennenge-
lernt.53 Rasch wurden sie über die „generation ye-ye" als autochthone Version
der angelsächsischen „ beat-generation " vermarktet und - mit hohem Medienein-
satz bis heute - zum Mythos erhoben. Auch im Nachbarland gab es einheimische
Rock 'n' Roll-Stars, schon seit 1956. Eigenständig deutsch waren aber Peter
Kraus oder Ted Herold weniger als authentische Straßen-Rocker denn als schla-
gerhafte „Soft-Versionen" amerikanischer Originale, die sich über herrschende
Moralvorstellungen nur ausnahmsweise hinwegsetzten.54 Eine größere Fange-
meinde erreichten sie nur kurzzeitig. Über den deutschsprachigen Raum hinaus
bekannt wurden weder sie noch nachfolgende Teenager-Idole, während Inter-
preten aus Frankreich zuweilen auch beim östlichen Nachbarn gewisse Erfolge
verzeichneten und in den Jugend-Medien auftauchten.55
Einiges deutet daraufhin, daß die französische Jugendkultur der späten 1950er
und frühen 1960er Jahre eine markantere nationale Note besaß. Musikalische
Stilblüten wie der deutsche Western-Song, eine bezeichnende Art populärer
Überidentifikation mit den Vereinigten Staaten, konnte im Hexagon weder markt-
fähig noch erfolgreich sein. Gewiß war auch die „Sozialkultur des Wiederauf-
baus" in der Bundesrepublik noch sehr deutsch.56 Dennoch scheint die Eindring-
tiefe musikalischer Amerikanisierung über Rock 'n' Roll wie über andere Genres
in Frankreich geringer als dort gewesen zu sein, der Wille hingegen umso größer,
im Zuge der Aneignung daraus eine ureigene Richtung ä la frangaise, eine „syn-
these locale" zu basteln.57 Daß dies ohnehin französischer Tradition entsprach,
mag angehen, daß sich die Tendenz, internationale Musik-Produkte national-
republikanisch zu überformen, seit Mitte der 1970er Jahre verflüchtigt habe,58
scheint aber fragwürdig. Jüngere Entwicklungen, alternative Punk- oder Rock-
sparten etwa, sprechen Bände. Und gerade zuletzt hat sich mit frankophoner Rap-
Musik ein hochgradig autonomes Genre ausgebildet, das sich bewußt in säkulare

53
Vgl. Sirinelli, Les baby-boomers (Anm. 41), S. 189f.
54
Vgl. Nicole Tiedemann, Musik regiert die Welt. Ein Rückblick auf die Schlager der
Petticoatzeit, in: Doris Foitzik (Hg.), Vom Trümmerkind zum Teenager. Kindheit und
Jugend in der Nachkriegszeit, Bremen 1992, S. 133-145, hier S. 142f.
55
Vgl. z.B. Franfoise Hardy, die seit Mitte der 1960er Jahre gleich mehrfach die Bravo
zierte; vgl. Bravo n° 15 (1965), 43 (1965), 10 (1966), 23 (1967), 34 (1967), 7 (1968).
56
Vgl. Schildt, Ankunft im Westen (Anm. 5), S. 82.
57
Vgl. Mario d'Angelo, Socio-economie de la musique en France: diagnostic d'un
systeme vulnerable, Paris 1997, S. 19.
5
Vgl. Jean-Pierre Rioux, Resistances, in: ders. u. Sirinelli (Hg.), La culture de masse
(Anm. 5), S. 259-301, hier S. 273ff.
414 Dietmar Hüser

Traditionen des engagierten Chansons einordnet und das nichts mehr beschwört
als die praktische Umsetzung republikanischer Werte und Prinzipien.59
Ein dritter Unterschied hat schließlich mit gesellschaftlichen und politischen
Dimensionen populärkultureller Artikulationen zu tun. Fraglos hat das Aneignen
amerikanischer Populärkultur in Frankreich wie in Westdeutschland beträchtlich
dazu beigetragen, jugendlichen Habitus und Lebensstil zu verändern, und dies mit
Konsequenzen, die hier wie da dauerhaft spürbar blieben. Nur war dies politisch-
kulturell und damit auf mittlere Sicht für die Grundlegung der jungen Bundesre-
publik von weitaus größerer Bedeutung als für das Nachbarland. Eine junge
Bundesrepublik, die sich eben noch nicht durch eine mehrheitlich demokratisch
geläuterte Bürgerschaft auszeichnete. Hohe Veränderungsdynamik und latente
Zukunftsangst der Nachkriegsjahre kompensierten die Menschen nämlich zu-
nächst durch Rückbesinnung auf tradierte Orientierungsmuster, die lebensweltli-
che Anker in prekären Zeiten versprachen. Bei allem institutionellen Neuanfang:
die ideellen Komponeneten und der Wandel des normativen Wertesystems hink-
ten deutlich hinterher, die Frühphase westdeutscher Geschichte war janusköpfig
und die Ausgangslage prekär.
Erst allmählich nahm auch die Wertschätzung für die Demokratie zu: Ergebnis
politischer Effizienz, wirtschaftlicher Erfolge und materieller Besserstellung
immer breiterer Schichten, die dies der neuen Ordnung zuschrieben.60 Was sich
damit seit den späten 1950er Jahren auszubilden begann, das waren Verhaltens-
muster moderner Massenkultur, die „dahin wirkten, die Massendemokratie als
politisches und soziales System zu stabilisieren."61 Ohne Zweifel leistete Populär-
kultur wichtige Beiträge: fur das Öffnen ungeahnter Horizonte, für zügig plurali-
sierte Lebenswelten und individualisierte Lebensstile, für rückläufige Pflicht- und
steigende Selbstentfaltungswerte, für neue Formen öffentlicher Selbstinszenie-
rung, für energisches Aufbegehren gegen etablierte Autoritäten und Hierarchien,
für modifizierte Diskurse und Praktiken in vielen, lange moralisch tabuisierten
Gesellschaftsfragen. Ob und inwieweit freilich moderne Jugendkultur und globale
Rockmusik „als ausschlaggebende Faktoren des Wandels" zu gelten haben, „der

59
Vgl. Dietmar Hüser, RAPublikanische Synthese. Eine französische Zeitgeschichte
populärer Musik und politischer Kultur, Köln 2004.
0
Pointiert Axel Schildt, Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesell-
schaft der fünfziger Jahre, in: Faulstich (Hg.), Die Kultur der 50er Jahre (Anm. 26),
S. 12-21.
61
Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Dimensionen von Amerikanisierung in der deut-
schen Gesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 1-34, hier S. 23; ähnlich
Diethelm Prowe, The „Miracle" of the Political-Cultural Shift. Democratization between
Americanization and Conservative Reintegration, in: Hanna Schissler (Hg.), The Miracle
Years. A Cultural History of West Germany 1949-1968, Princeton/N.J. u. Oxford 2001,
S. 451-458, hier S. 456f.
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 415

sich politisch und sozial dann nur noch niederschlug,"62 das wird nur durch
empirische Detailstudien näher zu klären sein.
Allemal festhalten läßt sich, daß eine populärkulturelle „Amerikanisierung von
unten" hochrelevant war für die Stabilisierung des jungen Staatswesens. Zu-
mindest sollte deren Gewicht nicht zu gering veranschlagt werden, selbst gegen-
über klassischen Aspekten einer „Amerikanisierung von oben", dem Prozeß
kontrollierter Verfassungsgebung etwa oder dem außenpolitischen Absichern der
Adenauerschen Westintegrationspolitik. Daß die „culture jeune" fur ähnliche
sozio-kulturelle Entwicklungen im Hexagon mitverantwortlich zeichnete, steht
außer Frage. Politisch aber, als konsolidierender Faktor demokratischer Verhält-
nisse, ließ sich Jugend- und Populärkultur dort vernachlässigen. Das Problem als
solches stellte sich gar nicht angesichts zivilgesellschaftlicher Verwurzelung und
fortwährender Wirkmächtigkeit des republikanischen Modells. Mithin sind aus
dieser, Populärkultur und Politische Kultur verknüpfenden Warte Amerikanisie-
rung im westlichen Nachkriegsdeutschland und Amerikanisierung im Nachkriegs-
frankreich dann doch zwei paar Schuhe.

Bilanz und Ausblick

Die Rock 'n' Roll-Welle, die sich im Übergang von den 1950er zu den 1960er
Jahren Bahn brach, läßt sich für Frankreich wie für Westdeutschland als Sattelzeit
beschreiben. Immer mehr Menschen traten aus der Mangelgesellschaft der Nach-
kriegsjahre heraus und unternahmen erste Schritte in die Massenkonsumgesell-
schaft. Trotz fortbestehender Unterschiede nach Zeit und Raum, nach Schicht und
Einkommen, nach Alter und Geschlecht ging es den meisten Franzosen und
Bundesbürgern materiell besser denn je. Und bei allen symbolischen Kämpfen,
die Altes und Neues noch miteinander austrugen: Längst deutete sich auch der
tiefe sozio-kulturelle Umbruch an, der in den langen 1960er Jahren vollends zum
Tragen und unwiderruflich in eine „zweite Französische Revolution" bzw. die
Kernphase westdeutscher „Fundamentalliberalisierung" einmündete.63
Daß in diesen beiden Ländern wie auch in anderen Gegenden der westlichen
Welt populärkulturelle, besonders populärmusikalische Ausdrucksformen maß-

62
Vgl. Werner Faulstich in seiner Besprechung zu Matthias Frese, Julia Paulus u. Karl
Teppe (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als
Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003, in: H-Soz-u-Kult, 11.3.2004.
63
Vgl. Henri Mendras, La Seconde Revolution franfaise 1965-1984, Paris 2 1994, S. 16f.;
Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß (Anm. 23), S. 28ff.
416 Dietmar Hüser

geblich zum Wandel beitrugen, darüber besteht mittlerweile Konsens.64 Auch


darüber, daß häufig wichtige Anstöße zunächst einmal aus den Vereinigten
Staaten stammten und von dort aus über den Atlantik auf den europäischen
Kontinent schwappten. Fundierte Studien und Synthesen liegen mittlerweile für
Frankreich wie für die Bundesrepublik vor, behandeln allerdings fast durchweg
Amerikanisierung unter jeweils nationalen Auspizien, d.h. Kulturtransfers in das
eine oder in das andere Land. Weder spielen Vergleichsperspektiven zwischen
den „Aufnahmeländern" eine Rolle, noch das Verhältnis zwischen transatlanti-
schen und innereuropäischen, konkret: französisch-westdeutschen Strömen.65
Demgegenüber wollte dieser Beitrag den Rahmen fur einen systematischen
Kultur-Transfer-Vergleich abstecken. Ziel war unter anderem, den Nutzen eines
breit angelegten Amerikanisierungsbegriffs darzulegen sowie seine hohe Ein-
schlägigkeit für die zweite Nachweltkriegszeit, sobald komparatistische Dimen-
sionen und sobald populärkulturelle Artikulationen zur Debatte stehen. Ermög-
licht wurden Einsichten in Ähnlichkeiten und Unterschiede der Rock 'n' Roll-
Rezeption, damit zugleich der Eindringtiefe des amerikanischen Einflusses auf
die französische bzw. westdeutsche Gesellschaft bis hin zu dessen politisch-
kulturellen Konsequenzen. Ungeachtet zahlreicher Gemeinsamkeiten zeigt sich
doch, wie verschieden damals globale Musikströme national angeeignet worden
sind, wie vielfältig die Kultur-, Gesellschafts- und auch Politikbedeutung von
Amerikanischem letzten Endes ausfallen kann, je nachdem auf welche Rahmen-
bedingungen es vor Ort trifft.
Grundsätzlich ging es darum, erste Pflöcke in ein Forschungsfeld „Deutsch-
französischer Kultur-Transfer-Vergleich" einzuschlagen. Zum einen sind dabei
Aspekte des Kulturtransfers und des Kulturvergleichs zu koppeln, die methodisch
zwar unterschiedlichen Logiken gehorchen mögen, die sich realiter aber eher
wechselseitig bedingen und ergänzen als ausschließen und die in der analytischen

64
Über den französischen und westdeutschen Fall hinaus vgl. Eric Hobsbawm, Das
Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München u. Wien 1995,
S. 251 f., 406-419; Marwick, The sixties (Anm. 4), S. 16-20.
65
Französisch-westdeutsche Transfers, wie sie damals sehr einseitig vom westlichen ins
östliche Nachbarland verliefen und Ausdruck fanden in der sog. Exi-Jugend, in der
Rezeption gerade sozialkritischer Chansonniers oder später dann, im Laufe der 1960er
Jahre, in einer breitenwirksameren Vermarktung französischer Interpreten. Vgl. dem-
nächst Dietmar Hüser, „Rock around the clock". Überlegungen zu amerikanischer Popu-
lärkultur in der französischen und westdeutschen Gesellschaft der 1950er und 1960er
Jahre, in: Hartmut Kaelble u. Chantal Metzger (Hg.), Deutschland - Frankreich - Nord-
amerika. Transfers, Emigrationen, Beziehungen (i.Dr.).
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 417

Praxis zuweilen fruchtbare Synergien erzeugen.66 Zum anderen gilt es die bisheri-
gen Schwerpunkte etablierter Kulturtransferforschung um eine zeitgeschichtliche
und eine populärkulturelle Dimension zu erweitern. Denn fur die Zeit nach 1945
wissen wir weiterhin wenig über solche Arten nachbarlicher Anleihen, über
wechselseitiges Beeinflussen und Durchdringen, über Wege der Vermittlung,
Räume der Überlagerung und Formen der Aneignung. Daß schließlich populär-
kulturelle Phänomene als politikrelevante Akte und Chiffren der Zeit anerkannt
werden sollten, auch daß eine Politische Kulturforschung, die sich nicht allein
vom Politischen, sondern gleichberechtigt vom Kulturellen her begreift, in diesem
Zusammenhang hohe Erklärungspotentiale aufzuweisen hat, dürfte auch am
Beispiel von Rock 'n' Roll deutlich geworden sein.67

66
Prägnant Etienne Francis, Les vertus du bilateral, in: Vingtieme Siecle n° 71 (2001),
S. 91-95; Hartmut Kaelble, Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer,
in: ders. u. Jürgen Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-,
Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2003, S. 469-493.
67
Ausführlich am Beispiel von Rap-Musik: Hüser, RAPublikanische Synthese (Anm. 59),
S. 29-42.

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