Kultur-Transfer-Vergleich
Zur Amerikanisierung in Frankreich und
Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg
1
Anschaulich Peter Freese, Amerika - Traum und Alptraum, in: Bernd Polster (Hg.),
Westwind. Die Amerikanisierung Europas, Köln 1995, S. 8-18, hier S. 14ff. Zu den frühen
Amerikadebatten im 20. Jahrundert unter deutsch-französischen Prämissen vgl. Egbert
Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten. „Amerikanisierung" in Deutschland und Frankreich
1900-1933, Stuttgart 2003.
2
Populärkultur im folgenden verstanden als die Gesamtheit kultureller Angebote und
Aktivitäten, die unter industriegesellschaftlichen Bedingungen hergestellt (Produktion),
zumeist über massenmediale Kanäle verbreitet (Diffusion) und durch viele Menschen
398 Dietmar Hüser
frühen 1960er Jahre. Nach definitorischen Vorklärungen samt Plädoyer für eine
gegenstandsbezogene Begrifflichkeit richtet sich das Interesse vorrangig auf
Fragen französisch-westdeutscher Ähnlichkeiten und Unterschiede, zunächst was
die Rahmenbedingungen fur Diffusion und Rezeption von Rock 'n' Roll angeht,
dann was die konkreten Aneignungsprozesse des damals bahnbrechenden Genres
betrifft.
Sowohl thematisch - eine /?o/?M/ärmusikalische Artikulation wie
Rock 'n' Roll - als auch methodisch - ein Kultur-Transfer- Vergleich - betritt der
Artikel ein Stück wissenschaftliches Neuland, und fraglos sind einzelne der
dargebotenen Erklärungsansätze erst durch einschlägige Detailstudien zu über-
prüfen und zu ergänzen. Grob abgesteckt wird ein Forschungsfeld, das einerseits
Kulturvergleich und Kulturtransfer zu koppeln, andererseits Populärkulturelles als
politikrelevante Akte und Chiffren der Zeit ernst zu nehmen weiß. Denn stimmt
es wirklich, daß Musik historische Umbrüche hörbar macht und Joplin, Dylan
oder Hendrix mehr über die Befreiungsutopien der 1960er Jahre aussagen als jede
Theorie der Krise,3 dann werfen Bill Haley und sein Rock around the clock grelle
Schlaglichter auf die Vorlaufphase dieser westlichen „Kulturrevolution".4
Als in den 1990er Jahren der Boom zeitgeschichtlicher Beschäftigung mit ameri-
kanischen Einflüssen in Westeuropa auf breiter Front einsetzte,5 war das seman-
10
Klassisch Aijun Appadurai, Disjuncture and Difference in the Global Cultural Econo-
my, in: Theory, Culture & Society 7 (1990), S. 295-310, hier S. 295f., 306; konkreter etwa
Rob Kroes, If You've Seen One You've Seen Them All. Europeans and American Mass
Culture, Urbana/Ill. 1996, S. XI. oder Richard H. Pells, Not Like Us. How Europeans
Have Loved, Hated and Transformed American Culture since World War II, New York
1997, S. 325f.
11
Zuletzt Uta G. Poiger, Amerikanisierung oder Internationalisierung? Populärkultur in
beiden deutschen Staaten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 53 (2003), Β 45, S. 17-24 ,
hier S. 24.
12
Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Westernisierung. Politisch-ideeller und gesell-
schaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in: Axel Schildt,
Karl Christian Lammers u. Detlef Siegfried (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in
den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 311-341, hier S. 314f.
13
Für die Bundesrepublik vgl. Werner Bührer, Auf eigenem Weg. Reaktionen deutscher
Unternehmer auf den Amerikanisierungsdruck, in: Bernd Greiner (Hg.), Westbindungen.
Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999, S. 181-201, hier S. 187f., 196. Für
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 401
Frankreich vgl. Elodie Gombert, La vision du Conseil National du Patronat Fran9ais sur
l'envoi des missions de productivite aux Etats-Unis au debut des annees 1950, in: Domi-
nique Baijot u. Christophe Reveillard (Hg.), L'americanisation de l'Europe occidentale au
XX e siecle, Paris 2002, S. 73-85, hier S. 79f. Allgemein vgl. Ove Bjarnar u. Matthias
Kipping, The Marshall Plan and the Transfer of US Management Models to Europe, in:
dies. (Hg.), The Americanisation of European Business. The Marshall Plan and the
Transfer of US Management Models, London u. New York 1998, S. 1-17, hier S. 7f.
14
Vgl. Michel de Certeau, L'invention du quotidien, Bd. 1: Arts de faire, Paris 2 1990,
S. XXXIXf.; konkret z.B. Rob Kroes, American Empire and Cultural Imperialism. A
View from the Receiving End, Konferenzpapier fur die Tagung „The American Impact on
Western Europe: Americanization and Westernization in Transatlantic Perspective",
Deutsches Historisches Institut Washington, März 1999, S. 4: www.ghi-dc.org/
conpotweb/westernpapers/kroes.pdf [24.11.04].
15
Vgl. Volker Berghahn, Deutschland im .American Century" 1942-1992. Einige
Argumente zur Amerikanisierungsfrage, in: Matthias Frese u. Michael Prinz (Hg.),
Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert: regionale und
vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 789-800, hier S. 798ff.
16
Etwa mit der pauschalen Behauptung, „Amerikanisierung" werde „in fast allen Berei-
chen der Detailforschung abgelehnt", bei Alfons Söllner, Normative Verwestlichung. Der
Einfluß der Remigranten auf die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, in: Greiner,
Westbindungen (Anm. 13), S. 72-92, hier S. 89.
402 Dietmar Hüser
17
Vgl. Fabrice d'Almeida, L'americanisation de la propagande en Europe de l'Ouest
1945-2003, in: Vingtiäme Siecle n° 80 (2003), S. 5-14, hier S. 9, 12.
18
Vgl. Serge Berstein, Le modele republicain: une culture politique syncretique, in: ders.
(Hg.), Les cultures politiques en France, Paris 1999, S. 113-143, hier S. 138f. Zur „autori-
tären Demokratie" klassisch Rene Remond, Les droites en France, Paris 2 1982,
S. 322-333.
19
Vgl. Kurt Sontheimer, Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik
Deutschland, München 131989, S. 37; Gerhard A. Ritter, Über Deutschland. Die Bundesre-
publik in der deutschen Geschichte, München 2 2000, S. 45-48.
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 403
Eher schon ließe sich für die frühe Bundesrepublik der Westernisierungsbegriff
verwenden, erst recht mit einem Blick über Politik und Verfassung hinaus auf
Politisches und die politisch-ideellen Wertvorstellungen der Menschen. Es besteht
Konsens darüber, daß in den 1950er Jahren das Gros der Bundesbürger längst
nicht auf dem „langen Weg nach Westen" angekommen und das politische Klima
noch „sehr viel 'deutschnationaler' als die praktische Politik" war.20 Von einer
breitenwirksamen demokratischen Bewußtseinsbildung konnte damals keine Rede
sein.21 Erst nach und nach gewann die neue Ordnimg gesellschaftlichen Rückhalt,
während normative Wertsysteme und Orientierungsmuster der ersten Jahrhundert-
hälfte diesen verloren und sich verwestlichten. Der Trend wies weg vom „autori-
tären Rest", hin zur „langsamen Vollendung der Modernität",22 und mündete in
die langen 1960er Jahre als Kernphase bundesdeutscher „Fundamentalliberalisie-
rung" samt verinnerlichter demokratischer Werthaltungen.23 Für Frankreich
freilich - mit seinem seit 1789 im Kampf um die Republik geschärften Werteka-
non, mit seiner älteren und solideren politischen Liberalität - macht „Westerni-
sierung" kaum Sinn. Mehr als jede andere europäische Nation betrachtet es sich
als der Westen, dem politische Eliten im Nachbarland doch über Jahrzehnte
hinweg ein deutsches, gerade nicht-westliches Sonderbewußtsein entgegengestellt
hatten.
Deutlich wird, daß weder „Westernisierung" noch „Amerikanisierung" gener-
ellen, sondern sektoralen und nationalen Erkenntnisgewinn versprechen. Kurzum:
Es bedarf einer begrifflichen Werkzeugkiste mit nach Raum, Zeit und Gegenstand
differenziertem Instrumentarium, in der aber, Amerikanisierung" seinen berech-
tigten Platz einnimmt. Als ganz besonders einschlägig erweist sich der Begriff bei
Transfer-Vergleichen zwischen einzelnen europäischen Ländern und bei Themati-
ken, die sich mit Populärkultur nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen. Ein
solcher Kultur-Transfer-Vergleich steht im Zentrum der folgenden Ausführungen,
20
Vgl. Heinrich-August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte,
Bd. 2: Vom „Dritten Reich" bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 169.
21
Vgl. z.B. die Umfragen des Instituts für Demoskopie in Allensbach zu Mentalität,
Geschichtsbild sowie zum politischen System der Bundesrepublik, abgedruckt in: Elisa-
beth Noelle u. Peter Neumann (Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955,
Allensbach 2 1956,S. 114-142,157-181.
22
Klassisch Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München
5
1977, S. 451; Richard Löwenthal, Bonn und Weimar - Zwei deutsche Demokratien. Zum
30. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland, in: ders., Gesellschaftswandel und
Kulturkrise. Zukunftsprobleme der westlichen Demokratien, Frankfurt a. M. 1979,
S. 257-277, hier S. 267.
23
Dazu nun Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lemprozeß. Die Bundesrepublik in der
deutschen Geschichte - ein Skizze, in: ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutsch-
land. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002, S. 7-49, hier
S. 7, 14, 40.
404 Dietmar Hüser
II. Rahmenbedingungen
Als Rock 'n' Roll damals seinen Siegeszug anzutreten begann, stellten sich die
Rahmenbedingungen für eine Aufnahme amerikanischer Populärkultur in Frank-
reich und Westdeutschland teilweise als recht ähnlich dar, teilweise aber auch als
grundverschieden. Offensichtlich sind zunächst Grundtendenzen sozio-ökono-
mischen und sozio-kulturellen Wandels der Zeit, die bei allen Differenzen im
kleinen doch als „tendances lourdes" hier wie dort in die gleiche Richtung
wiesen und einen Nährboden schufen fur massenhaftes Aneignen populärkulturel-
ler Angebote aus den Vereinigten Staaten. Drei eng miteinander verwobene
Entwicklungen sind in diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben.
Einmal der europäische Nachkriegsboom, eine Phase der Hochkonjunktur, die
sich in den „ trente glorieuses" und dem „Wirtschaftswunder" spezifisch aus-
prägen, Frankreich und der Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren
durchschnittliche Wachstumsraten von 5,2 % bzw. 6,3 % bescheren sollte.24
Damit einher ging - nach langen Kriegs- und Nachkriegsjahren des Mangels -
eine zweite Gemeinsamkeit: das breitenwirksame Eintreten in das Zeitalter des
Massenkonsums. Stetig verbesserte sich die Ernährungszusammensetzung, die
Arbeitszeiten sanken, die Freizeitmöglichkeiten und Haushaltseinkommen stie-
gen. Finanzielle Margen entstanden, zunächst fur Möbel und Haushaltsgeräte wie
Waschmaschine und Kühlschrank, dann auch für Zweitradios und Fernseher. Bald
wurden aus automobilistischen Träumen handfeste Realitäten, die wiederum
einem anschwellenden Tourismusstrom Vorschub leisteten. Längst mutierten
Luxusgüter zu „Normalgütern" der entstehenden Massenkonsumgesellschaft.25
Gemeinsam war schließlich beiden Ländern die beachtliche Zunahme und
Verjüngung der Bevölkerung. Damit trat nicht nur quantitativ, sondern auch
qualitativ eine andere Jugend auf den Plan. Geprägt war diese Jugend durch den
24
Zuletzt Margrit Grabas, Der Nachkriegsboom der 1950er und 1960er Jahre in Mittel-
und Westeuropa - Modellcharakter für eine gesamteuropäische Prosperität im „postsocia-
list century"?, in: Berichte der Internationalen Wissenschaftlichen Vereinigung für Welt-
wirtschaft und Weltpolitik, November 2004, S. 8-27, hier S. 9ff„ 16ff.
25
Für Frankreich Jean Fourastie, Les trente glorieuses ou la revolution invisible de 1946
ä 1975, Paris 2 1979; für Westdeutschland vgl. Arne Andersen, Der Traum vom guten
Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt a. M.
u. New York 1997.
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 405
26
Prägnant Jean-Francois Sirinelli, Les jeunes, in: ders. u. Jean-Pierre Rioux (Hg.), La
France d'un siecle ä l'autre 1914-2000, Bd. 2, Paris 2 2002, S. 21-33 sowie Werner Faul-
stich, Die neue Jugendkultur, in: ders. (Hg.), Die Kultur der 50er Jahre, München 2002,
S. 277-290.
27
Vgl. Hartmut Kaelble, Die sozialen und kulturellen Beziehungen Frankreichs und
Deutschlands seit 1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 53 (2003), Β 3-4, S. 40-46.
28
Dazu Charles G. Cogan, Oldest Allies, Guarded Friends. The United States and France
since 1940, Westport/Conn. u. London 1994, S. 8-15, 199-208.
406 Dietmar Hüser
29
Vgl. Söllner, Normative Verwestlichung (Anm. 16), S. 90f.; Michel Winock,
L'antiamericanisme franfais, in: ders., Nationalisme, antisemitisme et fascisme en France,
Paris 1990, S. 50-76, hier S. 63ff.
30
Vgl. Pascale Goetschel u. Emmanuelle Loyer, Histoire culturelle de la France de la
Belle Epoque ä nos jours, Paris 2 2002, S. 152; Kuisel, Seducing the French (Anm. 5),
S. 52-69.
31
Vgl. nun Olivier Pottier, Les bases americaines en France 1950-1967, Paris 2003.
32
Dazu Elmar Kraushaar, Rote Lippen. Die ganze Welt des deutschen Schlagers, Reinbek
1983, S. 33f.
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 407
33
Vgl. Uta G. Poiger, Rock 'n' Roll, Kalter Krieg und deutsche Identität, in: Jarausch u.
Siegrist (Hg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung (Anm. 7), S. 275-289, hier S. 286.
34
Vgl. Dietmar Hüser, Politik kalkulierter Provokation im Zeichen struktureller Asymme-
trie - Frankreich und die Vereinigten Staaten, die deutsche Frage und der Kalte Krieg
1940-1950, in: Francia. Forschungen zur Westeuropäischen Geschichte 27/3 (2000),
S. 63-87.
408 Dietmar Hüser
III. Aneignungsprozesse
35
Klassisch Henry Rousso, Le syndrome de Vichy 1944-198..., Paris 1987; zuletzt ders.,
Vichy. L'evenement, la memoire, l'histoire, Paris 2001.
36
Differenziert Edgar Wolfrum, Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wieder-
vereinigung, Göttingen 2002, S. 104-110.
37
Vgl. M. Rainer Lepsius, Die Bundesrepublik in der Kontinuität und Diskontinuität
historischer Entwicklungen. Einige methodische Vorüberlegungen, in: ders., Demokratie
in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen, Göttingen 1993,
S. 135-144.
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 409
38
Dazu Helmut Rösing, Musikalische Lebenswelten, in: Herbert Bruhn u. Helmut Rösing
(Hg.), Musikwissenschaften. Ein Grundkurs, Reinbek 1998, S. 130-152, hier S. 137.
39
Vgl. schon Paul Yonnet, Jeux, modes et masses. La societe fran^aise et le moderne
1945-1985, Paris 1985, S. 189.
40
Vgl. Jean-Pierre Rioux u. Jean-Franfois Sirinelli, Histoire culturelle de la France,
Bd. 4: Le temps des masses. Le XX e siecle, Paris 1998, S. 261-264, 321.
410 Dietmar Htlser
41
Zur Bravo vgl. Kaspar Maase, Bravo Amerika (Anm. 5), S. 104-111. Zu Salut les
copains vgl. Anne-Marie Sohn, Age tendre et tete de bois. Histoire des jeunes des annees
1960, Paris 2001, S. 78-93; Jean-Francis Sirinelli, Les baby-boomers. Une generation
1945-1969, Paris 2003, S. 141-168.
42
Vgl. David Ewen, All the Years of American Popular Music, Englewood Cliffs/N.J.
1977, S. 554.
43
Vgl. Die Zeit, 4.10.1956, S. 19, zitiert nach Thomas Grotum, Die Halbstarken. Zur
Geschichte einer Jugendkultur der 50er Jahre, Frankfurt a. M. u. New York 1994, S. 159.
44
Ebd., S. 151f.; Sohn, Äge tendre (Anm. 41), S. 269ff. Zeitgenössisch Rolf Fröhner
(Hg.), Wie stark sind die Halbstarken? Beruf, Berufsnot, politische, kulturelle und see-
lische Probleme der deutschen Jugend im Bundesgebiet und Westberlin, Bielefeld 1956,
S. 17f.
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 411
einer Jugendkultur nicht festlegen wollten. Und Offerten gab es reichlich: von
simpel gestrickten Schlagern aller Art bis hin zu anspruchsvollen Chansons, die
gleichwohl in beiden Ländern auf unterschiedliche Resonanz stießen. Während in
Westdeutschland die Heimat- und Fernweh-Schlager, Italien- und Südsee-Schnul-
zen die Hitparaden beherrschten,45 erlebte in Frankreich das nonkonformistisch-
engagierte Chanson - an humanistischen Leitbildern orientiert und fur amerika-
nische Einflüsse undurchlässig - eine weitere Blüte.46
Daneben war es Jazz, der in zahlreichen Varianten auch zu Zeiten früher
Rock 'n' Roll-Euphorie Anhängerscharen diesseits wie jenseits des Rheins be-
hielt. Hoch war der Beliebtheitsgrad vornehmlich unter Mittel- und Ober-
schichten· Jugendlichen aus bildungsprivilegierten Elternhäusern, die cool und
leger daherkamen, wildes Tanzen ablehnten und jegliche Körperlichkeit hint-
anstellten. In Musik, Mode und Habitus galt es sich von den Altersgenossen aus
Arbeiterkreisen abzugrenzen, häufig verband aber die vielfach schattierte Jazz-
Jugend anti-proletarische Grundhaltungen mit konventionslos-antibürgerlichen
Attitüden zu einer sehr spezifischen Form der Gegenkultur. Gerade im Hexagon
boomte in den 1950er Jahren eine mehr und mehr Eigenständigkeit beanspruchen-
de Szene. Dicht davor, sich endgültig als schichtenübergreifendes Massenphäno-
men zu etablieren, machten dann angelsächsische Rock-Musik und deren franzö-
sische Ableger dem Jazz ein sicher geglaubtes jugendliches Publikum abspen-
stig.47
Allen anfanglichen Vorbehalten musikalisch anders orientierter junger Musik-
hörer zum Trotz bestand dann bald eine dritte Gemeinsamkeit in den An-
steckungspotentialen, durch die Rock 'n' Roll und nachfolgende Spielarten fast
die gesamte Jugend, schließlich fast die ganze Gesellschaft in den Bann ziehen
sollte.48 Angeeignet zu Beginn im Milieu städtischer Arbeiteijugend, entdeckten
seit den frühen 1960er Jahren immer mehr Mittel- und Oberschichtenjugendliche
rockmusikalische Sparten für sich und kopierten einschlägige Dress- oder Sprach-
codes. Nachahmungseffekte von „unten" nach „oben": ein neues Phänomen und
ein fundamental zukunftsweisender Vorgang. Nicht zuletzt durch Musik war
Jugend nun Jugend quer zu den Sozialgruppen, bei abnehmenden Bindungen aller
45
Vgl. die Zusammenschau bei Hans-Otto Hügel u. Gert Zeisler (Hg.), Die süßesten
Früchte. Schlager aus den Fünfzigern, Berlin 1992; Thommi Herrwerth, Katzenklo &
Caprifischer. Die deutschen Hits aus 50 Jahren, Berlin 1998, S. 7-37.
46
Vgl. Paul Garapon, Metamorphoses de la chanson fran^aise 1945-1999, in: Esprit
n° 254 (1999), S. 89-118, hier S. 93.
47
Vgl. Eric J. Hobsbawm, Uncommon People. Resistance, Rebellion and Jazz, London
1998, S. 281 f.; Ludovic Toumes, New Orleans sur Seine. Histoire du jazz en France, Paris
1999, S. 11 f., 223-261, 336ff.
48
Vgl. Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur
1850-1970, Frankfurt a. M. 1997, S. 236.
412 Dietmar Hüser
49
Dazu Simon Frith, Performing Rites. On the Value of Popular Music, Oxford 1996,
S. 251ff.
50
Über zwei Millionen angemeldete Geräte in Westdeutschland standen 1958 knapp eine
Million im Hexagon gegenüber. Vgl. Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenme-
dien und „Zeitgeist" in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, S. 268 sowie
den Anhang bei Marie-Fran^oise Levy (Hg.), La television dans la Republique. Les
annees 50, Brüssel 1999, S. 220-223.
51
Dazu Sohn, Äge tendre (Anm. 41), S. 266f. Vgl. schon die Frankreich-Hinweise bei
Günther Kaiser, Randalierende Jugend. Eine soziologische und kriminologische Studie
über die sogenannten „Halbstarken", Heidelberg 1959, S. 100.
52
Andeutungsweise Madelaine Reberioux, La culture au pluriel, in: Andre Burguiere
(Hg.), Histoire de la France. Bd. 3: Choix culturels et memoire, Paris 2000, S. 233-291,
hier S. 259f.
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 413
Originalen aus Übersee nahe. Mehr noch als in Westdeutschland haben dort
offenbar Jugendliche die amerikanischen Stars erst zu Beginn der 1960er Jahre
über französische Ableger wie Johnny Hallyday oder Eddy Mitchell kennenge-
lernt.53 Rasch wurden sie über die „generation ye-ye" als autochthone Version
der angelsächsischen „ beat-generation " vermarktet und - mit hohem Medienein-
satz bis heute - zum Mythos erhoben. Auch im Nachbarland gab es einheimische
Rock 'n' Roll-Stars, schon seit 1956. Eigenständig deutsch waren aber Peter
Kraus oder Ted Herold weniger als authentische Straßen-Rocker denn als schla-
gerhafte „Soft-Versionen" amerikanischer Originale, die sich über herrschende
Moralvorstellungen nur ausnahmsweise hinwegsetzten.54 Eine größere Fange-
meinde erreichten sie nur kurzzeitig. Über den deutschsprachigen Raum hinaus
bekannt wurden weder sie noch nachfolgende Teenager-Idole, während Inter-
preten aus Frankreich zuweilen auch beim östlichen Nachbarn gewisse Erfolge
verzeichneten und in den Jugend-Medien auftauchten.55
Einiges deutet daraufhin, daß die französische Jugendkultur der späten 1950er
und frühen 1960er Jahre eine markantere nationale Note besaß. Musikalische
Stilblüten wie der deutsche Western-Song, eine bezeichnende Art populärer
Überidentifikation mit den Vereinigten Staaten, konnte im Hexagon weder markt-
fähig noch erfolgreich sein. Gewiß war auch die „Sozialkultur des Wiederauf-
baus" in der Bundesrepublik noch sehr deutsch.56 Dennoch scheint die Eindring-
tiefe musikalischer Amerikanisierung über Rock 'n' Roll wie über andere Genres
in Frankreich geringer als dort gewesen zu sein, der Wille hingegen umso größer,
im Zuge der Aneignung daraus eine ureigene Richtung ä la frangaise, eine „syn-
these locale" zu basteln.57 Daß dies ohnehin französischer Tradition entsprach,
mag angehen, daß sich die Tendenz, internationale Musik-Produkte national-
republikanisch zu überformen, seit Mitte der 1970er Jahre verflüchtigt habe,58
scheint aber fragwürdig. Jüngere Entwicklungen, alternative Punk- oder Rock-
sparten etwa, sprechen Bände. Und gerade zuletzt hat sich mit frankophoner Rap-
Musik ein hochgradig autonomes Genre ausgebildet, das sich bewußt in säkulare
53
Vgl. Sirinelli, Les baby-boomers (Anm. 41), S. 189f.
54
Vgl. Nicole Tiedemann, Musik regiert die Welt. Ein Rückblick auf die Schlager der
Petticoatzeit, in: Doris Foitzik (Hg.), Vom Trümmerkind zum Teenager. Kindheit und
Jugend in der Nachkriegszeit, Bremen 1992, S. 133-145, hier S. 142f.
55
Vgl. z.B. Franfoise Hardy, die seit Mitte der 1960er Jahre gleich mehrfach die Bravo
zierte; vgl. Bravo n° 15 (1965), 43 (1965), 10 (1966), 23 (1967), 34 (1967), 7 (1968).
56
Vgl. Schildt, Ankunft im Westen (Anm. 5), S. 82.
57
Vgl. Mario d'Angelo, Socio-economie de la musique en France: diagnostic d'un
systeme vulnerable, Paris 1997, S. 19.
5
Vgl. Jean-Pierre Rioux, Resistances, in: ders. u. Sirinelli (Hg.), La culture de masse
(Anm. 5), S. 259-301, hier S. 273ff.
414 Dietmar Hüser
Traditionen des engagierten Chansons einordnet und das nichts mehr beschwört
als die praktische Umsetzung republikanischer Werte und Prinzipien.59
Ein dritter Unterschied hat schließlich mit gesellschaftlichen und politischen
Dimensionen populärkultureller Artikulationen zu tun. Fraglos hat das Aneignen
amerikanischer Populärkultur in Frankreich wie in Westdeutschland beträchtlich
dazu beigetragen, jugendlichen Habitus und Lebensstil zu verändern, und dies mit
Konsequenzen, die hier wie da dauerhaft spürbar blieben. Nur war dies politisch-
kulturell und damit auf mittlere Sicht für die Grundlegung der jungen Bundesre-
publik von weitaus größerer Bedeutung als für das Nachbarland. Eine junge
Bundesrepublik, die sich eben noch nicht durch eine mehrheitlich demokratisch
geläuterte Bürgerschaft auszeichnete. Hohe Veränderungsdynamik und latente
Zukunftsangst der Nachkriegsjahre kompensierten die Menschen nämlich zu-
nächst durch Rückbesinnung auf tradierte Orientierungsmuster, die lebensweltli-
che Anker in prekären Zeiten versprachen. Bei allem institutionellen Neuanfang:
die ideellen Komponeneten und der Wandel des normativen Wertesystems hink-
ten deutlich hinterher, die Frühphase westdeutscher Geschichte war janusköpfig
und die Ausgangslage prekär.
Erst allmählich nahm auch die Wertschätzung für die Demokratie zu: Ergebnis
politischer Effizienz, wirtschaftlicher Erfolge und materieller Besserstellung
immer breiterer Schichten, die dies der neuen Ordnung zuschrieben.60 Was sich
damit seit den späten 1950er Jahren auszubilden begann, das waren Verhaltens-
muster moderner Massenkultur, die „dahin wirkten, die Massendemokratie als
politisches und soziales System zu stabilisieren."61 Ohne Zweifel leistete Populär-
kultur wichtige Beiträge: fur das Öffnen ungeahnter Horizonte, für zügig plurali-
sierte Lebenswelten und individualisierte Lebensstile, für rückläufige Pflicht- und
steigende Selbstentfaltungswerte, für neue Formen öffentlicher Selbstinszenie-
rung, für energisches Aufbegehren gegen etablierte Autoritäten und Hierarchien,
für modifizierte Diskurse und Praktiken in vielen, lange moralisch tabuisierten
Gesellschaftsfragen. Ob und inwieweit freilich moderne Jugendkultur und globale
Rockmusik „als ausschlaggebende Faktoren des Wandels" zu gelten haben, „der
59
Vgl. Dietmar Hüser, RAPublikanische Synthese. Eine französische Zeitgeschichte
populärer Musik und politischer Kultur, Köln 2004.
0
Pointiert Axel Schildt, Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesell-
schaft der fünfziger Jahre, in: Faulstich (Hg.), Die Kultur der 50er Jahre (Anm. 26),
S. 12-21.
61
Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Dimensionen von Amerikanisierung in der deut-
schen Gesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 1-34, hier S. 23; ähnlich
Diethelm Prowe, The „Miracle" of the Political-Cultural Shift. Democratization between
Americanization and Conservative Reintegration, in: Hanna Schissler (Hg.), The Miracle
Years. A Cultural History of West Germany 1949-1968, Princeton/N.J. u. Oxford 2001,
S. 451-458, hier S. 456f.
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 415
sich politisch und sozial dann nur noch niederschlug,"62 das wird nur durch
empirische Detailstudien näher zu klären sein.
Allemal festhalten läßt sich, daß eine populärkulturelle „Amerikanisierung von
unten" hochrelevant war für die Stabilisierung des jungen Staatswesens. Zu-
mindest sollte deren Gewicht nicht zu gering veranschlagt werden, selbst gegen-
über klassischen Aspekten einer „Amerikanisierung von oben", dem Prozeß
kontrollierter Verfassungsgebung etwa oder dem außenpolitischen Absichern der
Adenauerschen Westintegrationspolitik. Daß die „culture jeune" fur ähnliche
sozio-kulturelle Entwicklungen im Hexagon mitverantwortlich zeichnete, steht
außer Frage. Politisch aber, als konsolidierender Faktor demokratischer Verhält-
nisse, ließ sich Jugend- und Populärkultur dort vernachlässigen. Das Problem als
solches stellte sich gar nicht angesichts zivilgesellschaftlicher Verwurzelung und
fortwährender Wirkmächtigkeit des republikanischen Modells. Mithin sind aus
dieser, Populärkultur und Politische Kultur verknüpfenden Warte Amerikanisie-
rung im westlichen Nachkriegsdeutschland und Amerikanisierung im Nachkriegs-
frankreich dann doch zwei paar Schuhe.
Die Rock 'n' Roll-Welle, die sich im Übergang von den 1950er zu den 1960er
Jahren Bahn brach, läßt sich für Frankreich wie für Westdeutschland als Sattelzeit
beschreiben. Immer mehr Menschen traten aus der Mangelgesellschaft der Nach-
kriegsjahre heraus und unternahmen erste Schritte in die Massenkonsumgesell-
schaft. Trotz fortbestehender Unterschiede nach Zeit und Raum, nach Schicht und
Einkommen, nach Alter und Geschlecht ging es den meisten Franzosen und
Bundesbürgern materiell besser denn je. Und bei allen symbolischen Kämpfen,
die Altes und Neues noch miteinander austrugen: Längst deutete sich auch der
tiefe sozio-kulturelle Umbruch an, der in den langen 1960er Jahren vollends zum
Tragen und unwiderruflich in eine „zweite Französische Revolution" bzw. die
Kernphase westdeutscher „Fundamentalliberalisierung" einmündete.63
Daß in diesen beiden Ländern wie auch in anderen Gegenden der westlichen
Welt populärkulturelle, besonders populärmusikalische Ausdrucksformen maß-
62
Vgl. Werner Faulstich in seiner Besprechung zu Matthias Frese, Julia Paulus u. Karl
Teppe (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als
Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003, in: H-Soz-u-Kult, 11.3.2004.
63
Vgl. Henri Mendras, La Seconde Revolution franfaise 1965-1984, Paris 2 1994, S. 16f.;
Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß (Anm. 23), S. 28ff.
416 Dietmar Hüser
64
Über den französischen und westdeutschen Fall hinaus vgl. Eric Hobsbawm, Das
Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München u. Wien 1995,
S. 251 f., 406-419; Marwick, The sixties (Anm. 4), S. 16-20.
65
Französisch-westdeutsche Transfers, wie sie damals sehr einseitig vom westlichen ins
östliche Nachbarland verliefen und Ausdruck fanden in der sog. Exi-Jugend, in der
Rezeption gerade sozialkritischer Chansonniers oder später dann, im Laufe der 1960er
Jahre, in einer breitenwirksameren Vermarktung französischer Interpreten. Vgl. dem-
nächst Dietmar Hüser, „Rock around the clock". Überlegungen zu amerikanischer Popu-
lärkultur in der französischen und westdeutschen Gesellschaft der 1950er und 1960er
Jahre, in: Hartmut Kaelble u. Chantal Metzger (Hg.), Deutschland - Frankreich - Nord-
amerika. Transfers, Emigrationen, Beziehungen (i.Dr.).
Kultur-Transfer-Vergleich. Zur Amerikanisierung in Frankreich und Westdeutschland 417
Praxis zuweilen fruchtbare Synergien erzeugen.66 Zum anderen gilt es die bisheri-
gen Schwerpunkte etablierter Kulturtransferforschung um eine zeitgeschichtliche
und eine populärkulturelle Dimension zu erweitern. Denn fur die Zeit nach 1945
wissen wir weiterhin wenig über solche Arten nachbarlicher Anleihen, über
wechselseitiges Beeinflussen und Durchdringen, über Wege der Vermittlung,
Räume der Überlagerung und Formen der Aneignung. Daß schließlich populär-
kulturelle Phänomene als politikrelevante Akte und Chiffren der Zeit anerkannt
werden sollten, auch daß eine Politische Kulturforschung, die sich nicht allein
vom Politischen, sondern gleichberechtigt vom Kulturellen her begreift, in diesem
Zusammenhang hohe Erklärungspotentiale aufzuweisen hat, dürfte auch am
Beispiel von Rock 'n' Roll deutlich geworden sein.67
66
Prägnant Etienne Francis, Les vertus du bilateral, in: Vingtieme Siecle n° 71 (2001),
S. 91-95; Hartmut Kaelble, Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer,
in: ders. u. Jürgen Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-,
Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2003, S. 469-493.
67
Ausführlich am Beispiel von Rap-Musik: Hüser, RAPublikanische Synthese (Anm. 59),
S. 29-42.