Grußwort
der Landesbeauftragten für Migration und Teilhabe
anlässlich des 250. Jahrestages der Veröffentlichung
des Einladungsmanifests der Zarin Katharina II.
Das Einladungsmanifest der Zarin Ich bin davon überzeugt, dass wir
Katharina II. vom 22. Juli 1763 mar- einander besser verstehen und akzep-
kiert für die Deutschen aus Russland tieren können, wenn wir mehr vonei-
und ihre Landsmannschaft den Be- nander wissen. Es würde mich freuen,
ginn eines langen Weges. Mit der Ver- wenn auf diesem Wege dazu beige-
öffentlichung ihres Manifests hatte die tragen wird, Verständnis zu schaffen,
Zarin, die als geborene Prinzessin von Vorurteile abzubauen und das ver-
Anhalt-Zerbst selbst aus Deutschland meintlich Fremde vertrauter zu ma-
stammte, versucht, die wirtschaftliche chen.
Entwicklung und Kultivierung des
Landes mit Ausländern voranzutrei- Wir müssen verstehen lernen, dass
ben. es sich nicht um die Geschichte Frem-
der handelt, sondern um einen Teil der
Vor 250 Jahren wütete in Deutsch- deutschen Geschichte. Die Geschichte
land der Siebenjährige Krieg. So war der Russlanddeutschen ist auch unse-
es seinerzeit ein attraktives Angebot, re Geschichte. Die Erinnerung an den
Deutschland zu verlassen und - auf- Beginn des Weges der Deutschen aus
grund verbriefter Privilegien wie Re- Russland vor 250 Jahren bildet einen
ligionsfreiheit, das Recht auf Selbst- wesentlichen Baustein zur Identitäts-
verwaltung in den Siedlungsgebieten, findung dieser Zuwanderungsgrup-
Freistellung vom Militärdienst, Steu- Doris Schröder-Köpf pe. Für die Landsmannschaft ist das
erfreiheiten sowie Zuweisungen an Jubiläum daher ein wichtiges Datum.
Familien oder Gewährung zinsloser wirtschaftlichem Aufschwung und
Aufbauhilfen - nach Russland überzu- Wohlstand im 19. Jahrhundert führ- Ein historischer Überblick allein ist
siedeln. te, ehe im 20. Jahrhundert Hundert- aber nicht ausreichend, um die Situ-
tausende zu Opfern des Stalinismus ation der Spätaussiedler aus der ehe-
Die deutschen Einwanderer waren wurden: Deportation nach Sibirien maligen Sowjetunion und ihre Lage
stets begehrte Fachkräfte und Spezi- und Zentralasien und entbehrungsrei- in Deutschland verstehen zu können.
alisten, die sich unter den damaligen che Jahrzehnte unter Kommandantur Vielmehr müssen Fragen rund um
attraktiven Rahmenbedingungen ent- in Sondersiedlungen folgten. Erst die ihre Herkunft, Stellung oder ihre Be-
falten konnten. Fleiß und Tüchtigkeit Entspannungspolitik Gorbatschows deutung für Deutschland beantwortet
der Siedler haben den wirtschaftli- eröffnete den Deutschen in Russland werden. Nur so kann ihre Eingliede-
chen Aufstieg Russlands maßgeblich die Möglichkeit, die Gebiete der ehe- rung als Teil der bundesdeutschen Ge-
gefördert. Wegen ihrer Tatkraft waren maligen Sowjetunion als (Spät-)Aus- sellschaft erfolgreich sein.
die deutschen Siedler im zaristischen siedler verlassen zu können.
Russland daher willkommen und all- Die Broschüre der Landesgruppe
seits wertgeschätzt. Die Gruppe der Spätaussiedler und Niedersachsen der Landsmannschaft
ihre Familien bildeten in den letzten der Deutschen aus Russland skizziert
Mit den beiden Weltkriegen jedoch, beiden Jahrzehnten die größte Zuwan- hierzu in gelungener Art und Weise
den offenen Feindseligkeiten zwi- derungsgruppe in Niedersachsen. die Schicksalswege der Deutschen in
schen dem deutschen und russischen Russland, veranschaulicht deren Le-
Staat, verschlechterte sich zunehmend Deutsche Aussiedler aus Russland ben und ist damit ein wichtiger Bei-
auch das Verhältnis zwischen der rus- und vor allem jugendliche Spätaus- trag zur Verständigung der Menschen
sischen Bevölkerung und den deutsch- siedler haben es schwer, in Deutsch- in Niedersachsen.
stämmigen Siedlern. land als Deutsche akzeptiert zu wer-
den. Dafür gibt es viele Gründe. Ein Ihre
Für die Deutschen in Russland bzw. Grund ist die Unkenntnis über die Ge-
später in der Sowjetunion begann da- schichte der Deutschen in Russland.
mit ein weiterer Teil russlanddeut- Wer sind die Deutschen aus Russland, Doris Schröder-Köpf
scher Siedlungsgeschichte, die nach was haben sie erlebt, warum sprechen
opferreichen Anfangsjahrzehnten zu manche kaum Deutsch?
Titelbild: Statue der jungen Zarin Katharina II. in Zerbst/Anhalt. Bild: Reinhard Uhlmann.
1763 - 2013
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
Gewidmet dem 250. Jahrestag der Veröffentlichung
des Einladungsmanifests der Zarin Zarin Katharina II. der Großen
vom 22. Juli 1763,
das am Anfang der Auswanderung von Deutschen nach Russland
im größeren Umfang steht und dem im Jahr darauf
die Gründung der ersten deutschen Kolonien an der Wolga folgte
Herausgegeben
von der Landesgruppe Niedersachsen
der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V.
Inhalt
Vorwort der Landesbeauftragten Nina Paulsen: Katharina die Große:
für Migration und Teilhabe, Eine Deutsche
Doris Schröder Köpf 2 auf dem russischen Zarenthron 18, 23
Johann Kampen: Vor dem Manifest Nina Paulsen: Überblick: Der weite Weg
der Zarin Katharina II. 4 an die Wolga und zurück 19-22
Heinrich Heidebrecht: Andreas Schlüter 7 Manifest der Zarin Katharina II.
Nina Paulsen: Deutsche wandern nach Russland aus: vom 22. Juli 1763 26
Ansiedlung an der Wolga Dr. Viktor Krieger: Wolgadeutsche Republik -
und in anderen Gebieten 8 Zeittafel 30
Die Wolgadeutschen - seit 250 Jahren Im Einsatz
auf der Suche nach einer Heimat 16 für die Deutschen aus Russland 38
© 2013
Herausgeber: Landesgruppe Niedersachsen
der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V.
Gefördert durch die Landesregierung Niedersachsen.
Raitelsbergstraße 49, 70188 Stuttgart
Tel.: 0711-16650-0, Fax: 0711-2864413, E-Mail: Lmdr-ev@t-online.de, www.deutscheausrussland.de
Redaktion: Hans Kampen
Beiträge: Nina Paulsen, Johann Kampen, Dr. Viktor Krieger, Heinrich Heidebrecht.
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
I
n der Geschichtsschreibung ein bis zum 18. Jahrhundert in anderen baut. Ausländern war bereits um 1560
wenig zu kurz gekommen sind Regionen Russlands kaum ein deut- der Weinhandel erlaubt worden, was
die Aktivitäten und das Leben sches Leben gab, wie es später in Stadt sich als gute Einnahmequelle erwies.
der Deutschen in den Weiten und Land an der Wolga, in der Ukra- Die Sloboda hatte zwei Straßen, die
Russlands vor 1763, d.h. vor dem Ma- ine, im Kaukasus, in Wolhynien oder Narwskaja und die Derpskaja, zur Er-
nifest der großen Deutschen auf dem auf der Krim pulsierte. innerung an die baltischen Städte, aus
Zarenthron, Katharina II., mit dem Ein besonderes Kapitel hätten na- denen viele Bewohner der Sloboda
die gebürtige Prinzessin Sophie Frie- türlich die Baltendeutschen verdient, stammten.
derike Auguste von Anhalt-Zerbst die eine herausragende Rolle bei der 1580 zerstörten auf Befehl des Za-
ihre ehemaligen Landsleute ins Land Kolonisation Russlands gespielt ha- ren dessen Gardisten, die „Opritsch-
rief. ben. Deutsche aus Estland, Lettland niki“, die Sloboda. Die Kirche der
und Litauen dürften jedoch nichts da- Ausländer wurde geplündert und in
Mit diesem Beitrag wird der Ver- gegen einzuwenden haben, wenn sie Brand gesetzt. Die Schäden dieser Bar-
such unternommen, etwas mehr an dieser Stelle nicht der Gruppe ty- barei wurden erst unter den Nachfol-
Licht in die ferne Vergangenheit einer pischer russlanddeutscher Aussiedler gern von Iwan IV. behoben, von denen
Volksgruppe zu bringen, die ohne ihr zugerechnet werden. der ausländerfreundliche Zar Boris
Dazutun zwischen die Mühlsteine der Weitere tiefere Einblicke in die russ- Godunow (1598-1605) durch ein Dra-
Weltmächte geriet und in neuester Zeit landdeutsche Vergangenheit ergäben ma von Puschkin und eine Oper von
bedauert, dass sie selbst im Land ihrer das Wirken deutscher Kaufleute im Mussorgski historische Berühmtheit
Ahnen außer in Verbindung mit nega- Süden Russlands seit der Christiani- erlangte.
tiven Schlagzeilen kaum noch wahr- sierung der Kiewer Russ im Jahr 988 Sehr unterschiedliche Jahre warte-
genommen wird. Dass dabei haupt- und die Beziehungen der deutschen ten auf die Nemetzkaja Sloboda kurz
sächlich die Ereignisse in den beiden Hanse nach Nowgorod im Norden darauf zur Zeit der „Smuta“ (Wirren)
bedeutendsten Städten Russlands zur des Reiches ab 1229. Dazu an anderer unter den falschen Zaren Pseudodi-
Sprache kommen, liegt daran, dass es Stelle mehr. mitri I. und Pseudodimitri II. Unter
Pseudodimitri I. wurde die deutsche
Siedlung dank der guten Beziehun-
gen des deutschen Pastors Martin Bär
Moskau und seine zu ihm verschont, sie war aber unter
Deutsche Siedlung (Nemetzkaja Sloboda) Pseudodimitri II. um 1610 wieder
schwersten Brandschatzungen ausge-
setzt.
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
durch die unterschiedlichen Konfes- dazu Heimatbuch 2000 der Landsmann- Moskau nach der Besetzung durch die
sionen von Alt- und Neubürgern, die schaft der Deutschen aus Russland, Seite Truppen Napoleons I. an vielen Stel-
bis zu einem Todesurteil gegen einen 19.) len in Brand gesetzt wurde. Eine Ka-
Religionsfanatiker durch die weltliche Als Ende der Sloboda muss das tastrophe, von der sich die Deutsche
Rechtsprechung reichten. (Vergleiche Jahr 1812 angesehen werden, in dem Siedlung nicht mehr erholte.
S
chon nach der Eroberung von Ingermanland (dem späteren Gouver-
nemet Petersburg) durch die Schweden in der zweiten Hälfte des 17.
Jahrhunderts siedelten sich Deutsche in diesem Gebiet an. Durch das
Manifest des Königs Gustav Adolf vom 16. Okt. 1622 wurden deutschen
Kolonisten große Privilegien zugebilligt, wenn sie sich im Newagebiet, das da-
mals kaum besiedelt war, niederlassen wollten. In der Stadt Nyen an der Ochta
nördlich von Petersburg lebte bereits damals eine größere Zahl von Deutschen.
Hier bestand zur Zeit der Eroberung des Gebiets durch Peter I. eine deutsche
Gemeinde, die 1640 die Erlaubnis zum Bau einer Kirche erhalten hatte. Die
Hauptbesiedlung des späteren Gouvernements Petersburg fiel aber in die Zeit
der Besiedlung der Wolgagebiete durch die Kaiserin Katharina II. 1763-1768
und des Schwarzmeergebietes unter Alexander I. 1804-1824...“
(Nach dieser kurzen Einführung folgt im Heimatbuch 1962 der Landsmannschaft
der Deutschen aus Russland ein sehr detaillierter Bericht von elf Seiten von Dr. Karl
Stumpp über die deutsche Kolonisation in Russland nach 1763.)
Solche oder ähnliche Texte zur Ge- Westeuropa sollten einen doppelten
schichte der Russlanddeutschen kann Zweck erfüllen: Als junger Peter Ale-
man viele finden. Für die Zeiten vor xejewitsch wollte er neue Erkenntnis-
der Zarin Katharina II. der Großen se sammeln und als Zar aller Reußen Peter der Große
gibt es aber nur wenig authentische ausländische Fachkräfte für seine ehr-
Literatur über die ersten deutschen Pi- geizigen Zukunftspläne mit Russland niederländischer Art ohne überflüssi-
oniere in den Weiten Russlands. Und gewinnen. ges Beiwerk zu gestalten
selbst bei den umfangreichen Publi- Holländer und Deutsche hatten es Schon im ersten Jahr der Öffnung
kationen zu Peter I. dem Großen fällt ihm wohl besonders angetan. So soll eines „Fensters nach Europa“, 1703,
es dem interessierten Laien schwer, er sogar einem orthodoxen Popen ge- wurde im heutigen Sankt Petersburg
zwischen Dichtung und Wahrheit zu raten haben, den Gottesdienst nach eine evangelische Holzkirche für
unterscheiden.
Peter I., der von 1682 bis 1725 Zar
von Russland war, muss als der Be-
gründer von Russlands Größe angese-
hen werden. Vor Katharina II. war er
der bedeutendste Herrscher auf dem
Zarenthron.
Sein Blick war verstärkt Richtung
Westen gerichtet, nachdem ihm im
Norden Schweden und im Süden
Türken die Expansion seines Rei-
ches schwer gemacht hatten. Seine
Studienreisen in jungen Jahren nach
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
Andreas Schlüter
war ein bedeutender Bildhauer und
Baumeister des Barocks, dessen Be-
gabungen Peter der Große sehr
schätzte. Der um 1660 in Danzig ge-
borene Schlüter lernte bei dem
Bildhauer Saponius und ging 1694
nach Berlin, wo er Hofbildhauer
wurde und nach einem Studienauf-
enthalt in Italien 1698 die Baulei-
tung am Zeughaus und Schloss
übernahm. 1703-04 war er Direktor
der Akademie der Künste. 1996 ent-
standen für das Zeughaus die be-
rühmten 21 Masken sterbender
Krieger und zahlreiche bauplasti-
sche Arbeiten, die auf einen größe-
ren Werkstattbetrieb schließen las-
sen. 1699 bis 1708 schuf Schlüter das
Reiterdenkmal des Großen Kurfürs-
ten (Charlottenburger Schlosshof).
Als maßgeblicher Architekt der
Großbauten prägte er das Bild des
barocken Berlin, vor allem mit dem
gewaltigen Schlossbau (im II. Welt-
krieg zerstört, Ruine abgebrochen).
1709 fiel er in Ungnade, nachdem
an verschiedenen Bauwerken tech-
nische Schäden auftraten.
Ab 1713 arbeitete Schlüter für
Peter den Großen in St. Petersburg.
Das berühmte Bernsteinzimmer,
das Friedrich I. 1717 Peter dem Gro-
ßen schenkte, war sein Entwurf. Er
wirkte mit am Bau der Kunstkam-
mer sowie am Schloss Monplaisir
in Peterhof. Er und Johann Fried-
rich Braunstein waren die ersten
namentlich erwähnten Architekten
in Peterhof. Auch der Kikins Palast,
eines der ältesten Gebäude der
Stadt, war ein Werk Schlüters. Das
herrliche maritime Basreliefs des
Sommerpalasts schuf er ebenfalls.
Sein Stil war geprägt von barocker
Die Pläne für die Kunstkammer, den Petersburger „Palast des Wissens“, wurden
Bewegung und Leidenschaftlich-
von dem Berliner Bildhauer und Architekten Andreas Schlüter hinterlassen und an- keit, seine Architektursprache erin-
schließend von Georg Johann Mattarnovi und Gaetano Chiaveri 1718 bis 1734 aus- nert an das feierliche Pathos miche-
geführt. Heute dient die Kunstkammer als Museum der Anthropologie und Völker- langelesker Ordnungen.
kunde. Bild: Heinrich Heidebrecht Heinrich Heidebrecht
Handwerker errichtet, die aus Nord- von Deutschen geführt wurde, sowie Einrichtung und das deutsche Schul-
deutschland und Holland stammten eine deutsche Handwerkskammer wesen blieben mit Ausnahme der
und zumeist Anhänger Luthers wa- und deutsche Fabriken. Sogar das Kriegs- und Verfolgungsjahre über die
ren. bekannte Russische Theater in St. Pe- Jahrhunderte erhalten und sind auch
Die Stadt entwickelte sich bald nach tersburg wurde von einer deutschen heute noch wichtige Reiseziele deut-
ihrer Gründung zu einem Magneten Theatergruppe gegründet. All diese scher Touristen und Forscher.
für Handwerker aus Deutschland und
benachbarten kleineren Landen. Es Empfehlenswerte Literatur zum Thema:
blieb jedoch nicht bei Handwerkern,
Heimatbücher 1955, 1963, 1964. 1966, 1967/68, 1996, 1967/68 und 2000/1 der
denn schon 1627, als die „St. Peters- Landsmannschaft der Deutschen aus Russland.
burger Zeitung“ gegründet wurde,
Nemzy Rossiji, Band I, Moskau 2004 (in russischer Sprache).
gab es in der Stadt eine Akademie der
Wissenschaften, die im Wesentlichen Mennonitisches Lexikon, Band III, Karlsruhe 1958.
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
D
as russische Zarenreich 1762 richtete sich vor allem an die aus
vergrößerte sich ab dem Russland entflohenen Untertanen,
15. Jahrhundert um das denen bei Rückkehr nach Russland
Fünfzigfache und nahm Straffreiheit in Aussicht gestellt wur-
am Schluss bis zu einem Sechstel de. Ausländer wurden zwar als Ziel-
der Landfläche der Erde ein. Diese gruppe genannt, aber ohne jegliches
enorme Ausdehnung geschah durch Angebot.
Eroberungskriege, aber auch durch Erst das Manifest vom 22. Juli 1763,
die friedliche Eingliederung von in dem sie Ausländer nach Russland
Völkern. einlud und ihnen Privilegien (unent-
geltliche Landzuweisung, freie Religi-
Anwerbung onsausübung, Steuerfreiheit bis zu 30
Jahren, Befreiung vom Militärdienst,
In weiten Teilen Russlands gab es ge- kulturelle Autonomie, gemeindliche
gen Ende des 18. Jahrhunderts große Selbstverwaltung, keine Leibeigen-
fruchtbare und ungenutzte Landstri- schaft) zusicherte, hatte Folgen.
che. Um dem Land in den neu ge-
wonnenen, meist völlig unbewohnten Privilegien
Gebieten neue Einnahmen zu ver-
für Ansiedler
schaffen, wurden mit wenig Erfolg Viktor Hurr:
Russen angesiedelt. Die Anwerbung Missernten und Hunger.
ausländischer Kolonisten hatte im Nachdem Zarin Katharina die Gro-
Grunde das gleiche Ziel. Der Zuzug ße 1763 in ihrem Aufsehen erregen- gründeten sie die Halbstädter Koloni-
von Bauern war im Süden erforder- den Manifest zur Ansiedlung in neu- en und Gnadenfeld.
lich, um die Ostgrenze vor Überfällen en Kolonien an der Wolga eingeladen Das Manifest Alexanders I. (1777-
zu schützen und das von den Türken und dafür erhebliche Privilegien und 1825) vom 20. Februar 1804 legte be-
Fördermittel versprochen hatte, zog es sonderen Wert auf Einwanderer, die
Tausende in die russischen Werbebü- gute Landwirte, Handwerker, Winzer
ros. oder Viehzüchter waren.
Im so genannten Gnadenprivileg
Pauls I. (1796-1801) vom 6. September Auswanderungsgründe
1800 wurden den Mennoniten zusätz-
liche Vorrechte eingeräumt (Befreiung • W
irtschaftliche Not und Miss-
vom Kriegs- und Zivildienst für alle stände in Deutschland infolge
Zeiten, keine Eidesleistung vor Ge- von Kriegen (Siebenjähriger und
richt, Gewerbefreiheit etc.). Danach Napoleonischer Krieg),
• Heeres- und
Frondienste
für die eigenen
Fürsten und
die fremden
Mächte,
• Unterdrückung
durch die
eigenen Fürsten
Zarin Katharina II. und die fremde
Besatzung,
abgetretene Land neu zu besiedeln. • Missernten und
Kaum hatte Katharina II. den Thron Hunger
bestiegen, erließ sie am 14. Oktober • sowie Ein-
1762 ihr erstes Einladungsmanifest, schränkung der
das allerdings geschichtlich folgenlos Glaubensfrei-
blieb. Das Manifest vom 4. Dezember Viktor Hurr: Napoleonische Kriege. heit
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
Auswanderung aus deutschen Landen nach Russland. (Karte: Ingenieurbüro für Kartographie J. Zwick, Gießen.)
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
zwangen viele in Hessen, Rheinhes- 1999) kamen zwischen 1763 und 1772
sen, der Pfalz, Württemberg, Baden, insgesamt 30.623 Personen in Russ-
dem Elsass und Bayern zur Auswan- land an. Davon starben ungefähr ein-
derung, auch nach Russland. Überall tausend Menschen während des Auf-
im Lande waren Anwerber der Zarin enthalts bei St. Petersburg oder liefen
unterwegs. weg.
In der Umgebung der russischen
Auswanderungsströme Hauptstadt wurden 416 Personen
angesiedelt, 329 in zwei Kolonien in
Livland und Jamburg (Kingisepp).
Die Ausreise erfolgte in drei großen Weitere 1.436 wurden in verschiedene
Strömen: Gebiete Kleinrusslands (Ukraine) ge-
schickt, 337 wurden als Handwerker
• auf dem Seeweg über die Nord- auf St. Petersburg, Moskau, Reval und
und Ostsee nach St. Petersburg, von Tambow verteilt. Die restlichen 26.676
dort an die Wolga; Personen wurden an die Mittlere Wol-
• auf der Donau zum Schwarzen ga bei Saratow weitergeleitet. Davon
Meer nach Odessa, auf die Krim starben unterwegs 3.293 (12,5%) Kolo-
und in den Kaukasus; nisten. Zar Alexander I.
• auf dem Landweg quer durch Polen Die 1764 bis 1767 nach Russland
nach Südrussland. ausgewanderten Kolonisten siedelten Von der russischen Regierung beka-
auf beiden Seiten der unteren Wolga men die Ansiedler Land (35 ha je Fa-
Der Zug an die Wolga ab 1764 erfolg- (Bergseite/Westufer und Wiesenseite/ milie), landwirtschaftliche Geräte und
te überwiegend aus Rheinhessen und Ostufer) in 104 Kolonien. Davon wa- Vieh zugeteilt. Allerdings ging die
der Pfalz: Mehr als 30.000 Deutsche ren 31 katholisch und über 60 evan- Ansiedlung mit erheblichen Schwie-
folgten den großzügigen Angeboten; gelisch (unterschiedliche Angaben in rigkeiten voran, zumal die vorgefun-
an der Wolga kamen etwa 27.000 an. verschiedenen Quellen). Am 29. Juni dene Wirklichkeit nicht unbedingt mit
Nach näheren Berechnungen waren es 1764 wurde die erste deutsche Kolonie den Versprechungen des Manifestes
sogar nur circa 23.216 Personen, wie Nischnaja Dobrinka gegründet. 1914 der Zarin übereinstimmte.
Dr. Anton Bosch feststellen konnte. gab es bereits 192 deutsche Dörfer, 152 In den Jahren 1802-1859 wanderten
Laut Igor Pleve („Einwanderung evangelische, 38 katholische und zwei fast 110.000 Deutsche in das Schwarz-
in das Wolgagebiet 1764-1767“, Bd. 1, gemischte. meergebiet aus. Der Zug ans Schwar-
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
Büdingen
als Sammelplatz
der Auswanderung
an die Wolga
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
die Tätigkeit des zuvor aus Frankfurt Bereits im Januar 1764 empfahl das Endlich eingeschifft, stand diesen
ausgewiesenen Werbekommissars Fa- Kollegium für Auswärtige Angelegen- Menschen gewöhnlich eine Seereise
cius auch aus wirtschaftlichen Erwä- heiten in St. Petersburg den Seeweg von neun bis elf Tagen bevor. War das
gungen. als die geeignetste Reiseroute für den Wetter ungünstig (Flauten oder Stür-
Hier nahmen daher zahlreiche Transport von Kolonisten. Der Land- me), so konnte die Schiffsreise aber
der großen, militärisch organisierten weg hatte sich nicht nur als zu lang auch sechs Wochen dauern, so dass
Trecks ihren Ausgang, welche die erwiesen, er war auch zu teuer. Brot und Wasser knapp werden konn-
Auswanderer und ihre Habe per Wa- Die Vorstellung, die in Lübeck ten. Zudem gab es immer wieder Ka-
gen und die Flüsse hinab nach Lübeck verfügbaren Schiffe würden für den pitäne, die die Reise künstlich in die
führten, um dann die Reise über die Transport ausreichen, musste ange- Länge zogen, um so die Kolonisten zu
Ostsee nach dem russischen Hafen sichts der Auswandererzahlen aller- zwingen, ihr gesamtes für zwei Wo-
Oranienbaum fortzusetzen. Von dort dings bald korrigiert werden. Es er- chen berechnetes Reisegeld für den
aus fanden die Menschen erst Monate wies sich als notwendig, auch Schiffe Kauf von Proviant auszugeben.
später ihr Ziel und ihre neue Heimat aus Kiel und Neustadt sowie sogar Bernhard Ludwig von Platen be-
an der mittleren Wolga, aber auch bei aus England unter Vertrag zu neh- schreibt in seinem 1766-67 entstan-
St. Petersburg oder im Gouvernement men. Daneben kamen auch russische denen Poem „Reise-Beschreibungen
Tschernigow. Schiffe zum Einsatz. Die so genannten der Kolonisten wie auch Lebensart
Offizielle Akten über die Geschäf- Paketboote und Pinken, die eigent- der Rußen“ diese Seereise. Nach einer
te der russischen Kommissare, die lich nicht für einen Personentransport zweiwöchigen Wartezeit in Lübeck
sich an der Grenze zur Illegalität ab- konstruiert worden waren, brachten wurde von Platen mit anderen Kolo-
spielten, haben aber - wohl bewusst rund 3.100 Kolonisten nach Russland. nisten eingeschifft:
- nicht überdauert. Daher musste das Insgesamt traten über 22.000 Men-
Geschehen in mühsamer Kleinarbeit schen von Lübeck aus ihre Reise nach „Da ward ein jeder Mann
aus zahlreichen Indizien rekonstru- Russland an. Mit Brofiant versehen
iert werden, wobei auch Fauerbach Die Auswanderertrecks kamen ent- Und so nach Petersburg
bei Friedberg, wo ebenfalls ein Wer- weder über Regensburg, Weimar und Ins Schiff hinein zu gehen
ber tätig war, vergleichend betrachtet Lüneburg nach Lübeck, oder sie fuh- Allein condrerer Wind
wurde. Dass nicht die oft unterstellte ren zunächst von Worms den Rhein Macht uns die Reise schwer
„Wanderlust“, sondern wirtschaftli- abwärts, um dann durch Westfalen Das Brofiant ging auf
che Not und soziale Zwänge vor allem und Hannover auf dem Landweg in Die Taschen wurden leer.
junge Leute zur Emigration trieben, die Hansestadt zu gelangen. Sechs Wochen mußten wir
geht aus Personalakten hervor, die im In Lübeck angekommen, mussten Die Wasserfahrt ausstehen
Wächtersbacher Teil der Grafschaft sich die Kolonisten wegen des großen Angst, Elend, Hungersnoth
akribisch zu den Auswanderungsge- Andrangs auf eine längere Wartezeit Täglich vor Augen sehen
suchen angelegt wurden. einrichten. Den Vermögenderen unter Also daß wir zuletzt
Für so manche russlanddeutsche Fa- ihnen wies der Kommissionär Schmidt Salz-Wasser, schimmlich Brod
milie beginnt mit den Vorgängen von eine Unterkunft in einem der Bürger- Zur Lebens unterhalt
1766 in Büdingen die eigene Familien- häuser zu. Die anderen wurden in Erhielten kaum zur Noth.“
geschichte. Viele, die in den vergange- Baracken in der Nähe des Hafens un-
nen Jahren wieder nach Deutschland tergebracht. Diese Gebäude wurden Während dieser Seereisen waren
gekommen sind, treibt eine vage Er- streng bewacht, um Fluchtversuche zu auch die ersten Toten zu beklagen.
innerung an ihre Herkunft aus dem unterbinden. Der Bäckermeister Johannes Hühn
hessischen Raum dazu, eine Antwort Während der Wartezeit erhielten aus Gelnhausen gab 1766 zu Proto-
auf die Frage nach ihren Wurzeln in die Kolonisten ein Tagegeld, das nach koll, dass er mit dem Ehepaar Dölck
Büdingen zu suchen. Geschlecht und Alter differenziert und dessen beiden Töchtern auf einem
war. Männer erhielten pro Tag acht, Seefahrzeug des Schiffers Jakob Bauer
Auswanderung von Lübeck Frauen fünf, Kinder drei und Klein- von Lübeck nach Russland transpor-
kinder einen Schilling. Das Geld und tiert worden sei. Am zweiten Tag der
nach Oranienbaum
die Nahrungsmittel wurden von aus- Überfahrt seien die Töchter, die er sehr
gewählten Männern ausgeteilt, denen gut gekannt habe, an einer auf dem
Lübeck war für die meisten Ko- Amtsbezeichnungen wie Schulze, Schiff ausgebrochenen verheerenden
lonisten die letzte Reisestation auf Vogt oder Vorsteher gegeben wurden. Krankheit gestorben. Die Toten wur-
deutschem Boden. Von hier aus orga- In Lübeck war das große Echo auf den der Gewohnheit nach vor seinen
nisierte der im Dienst der russischen das Angebot der Zarin Katharina II. Augen in das Meer gelassen.
Regierung stehende Kaufmann Chris- in seinem ganzen Ausmaß erkennbar. In Kronstadt, einer Festung vor St.
toph Heinrich Schmidt die Weiterfahrt Bereits 1765 warteten hier Tausende Petersburg, angekommen, ging die
über die Ostsee nach St. Petersburg. Menschen auf ihre Einschiffung. Die Reise sofort nach Oranienbaum, dem
Nach seinem Tod übernahm der Lübe- damals im Einsatz befindlichen Schif- heutigen Lomonossow, weiter. Dort
cker Jurist Gabriel Christian Lemke ab fe waren in der Lage, 280 Passagiere konnten sich die Kolonisten gegen
dem 30. Mai 1766 diese Aufgabe. zu befördern. Vorlage einer vom Vorsteher ausge-
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
Moninger/Nischnaja
Dobrinka -
die erste deutsche
Kolonie an der Wolga 1910 lebten an der Wolga etwa 500.000 Deutsche in 204 Dörfern. Bild: Viktor Hurr.
Unter dem Namen Moninger (nach Gemeinde des gesamten Wolgage- Vor dem I. Weltkrieg gab es im ge-
dem ersten Vorsteher) wurde am 29. biets. 1845 wurde aus Stein eine Kir- samten Russischen Reich 2.416.290
Juni 1764 am rechten Ufer (auf der che gebaut und feierlich eingeweiht. Millionen Deutsche. Davon lebten
Bergseite) der Wolga die erste deutsche Von dieser Kirche ist nur eine Ruine 600.000 an der Wolga, 530.000 im
Kolonie gegründet. Die 353 Siedler geblieben. Schwarzmeergebiet, ca. 200.000 in
(Lutheraner) stammten aus Württem- 1859 hatte der Ort 159 Höfe und Wolhynien und den polnischen Pro-
berg, Darmstadt, Heidelberg, Zwei- 2.866 Bewohner, eine lutherische Kir- vinzen (damals Russisches Reich),
brücken und Isenburg und waren mit che und eine Kirchenschule. Als 1875 170.000 im Baltikum und ca. 50.000 in
Pferdewagen aus der damaligen russi- die Auswanderung nach Übersee be- und um St. Petersburg.
schen Hauptstadt Sankt Petersburg an gann, verließen nicht mehr als 30 Fa- Unter im Vergleich zur alten Hei-
der mittleren Wolga eingetroffen. Die milien die Kolonie. Zum Vergleich: mat Deutschland völlig anderen poli-
ersten 94 Familien ließen sich direkt Aus der westlichsten Kolonie Frank, tischen, sozialen, geographischen und
an der Mündung des Flusses Dobrin- die etwa gleich groß war, wanderten klimatischen Bedingungen begann
ka in die Wolga, 32 Kilometer nördlich 250 Familien in die USA und nach Ka- sich ein neues ethnisches Selbstver-
der heutigen Rayonstadt Kamyschin, nada aus. ständnis herauszubilden: Man sah
nieder. sich als stolze russische Kolonisten
Aus Dankbarkeit der russischen Tausende und wurde so auch von den Nach-
Kaiserin Katharina II. gegenüber be- barvölkern wahrgenommen. Das
kam die Siedlung 1768 den Namen
deutsche Siedlungen kennzeichnete vor allem die in einem
Dobrinka (russ. „dobraja“ – „guther in über 100 Jahren kompakten Siedlungsgebiet lebenden
zig“). Es war lange Zeit die südlichs- Wolgadeutschen mit ihrem starken
te Kolonie an der Wolga. Südlicher Aus ursprünglich 304 deutschen Zusammengehörigkeitsgefühl, die
wurde später nur die Kolonie Sarepta Mutterkolonien entstanden im Laufe sich unübersehbar zu einer neuen
von der Herrnhuter Glaubensgemein- von Jahrzehnten 3.232 Tochterkoloni- Ethnie des Übersiedlungstyps entwi-
de gegründet. Heute ist Sarepta ein en. Nach anderen Quellen zählte man ckelten.
Stadtteil von Wolgograd. in Russland vor 1914 über 6.000 deut-
Später erhielt Dobrinka weitere sche Kolonien und Siedlungen. Diese Zusammenfassung:
Namen: Nischnaja Dobrinka und so- Zahl ergibt sich, wenn man zahlreiche Nina Paulsen
gar Deutsch Dobrinka. Die Kolonie Weiler, Chutors und Einzelgehöfte (mit Ergänzungen
gehörte zuerst zum Gouvernement hinzu rechnet. von Dr. Anton Bosch),
Astrachan und ab dem Jahr 1797 zu Aus ursprünglich 100.000 Ein- nach Publikationen
Saratow. Heute gehört Nischnaja Dob wanderern war nach 135 Jahren eine der Landsmannschaft
rinka zum Rayon Kamyschin im Ge- Volksgruppe von 1,7 Millionen ge- der Deutschen aus Russland,
biet Wolgograd. worden. Die Volkszählung von 1897 des HFDR, des Bildungsvereins
In Nischnjaja Dobrinka wohnten ergab, dass 390.000 Deutsche an der für Volkskunde in Deutschland
ausschließlich Lutheraner und Bap- Wolga, 342.000 im Süden Russlands DIE LINDE und Beiträgen
tisten; später entwickelte sich die Ko- und 237.000 im Westen Russlands leb- von Dr. Alfred Eisfeld
lonie zum Zentrum der Baptistischen ten. und Dr. Viktor Krieger
15
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
Die Wolgadeutschen -
seit 250 Jahren auf der Suche nach einer Heimat
Stichpunkte zur Chronologie
1763 1773 1796
Die deutschstämmige Zarin Katha- Der Donkosake Jemeljan Puga Am 17. November stirbt die Zarin
rina II. die Große lädt in einem Mani- tschow gibt sich für den ermordeten Katharina II., die Große, geb. am 2. Mai
fest vom 22. Juli Ausländer aus den Zaren Peter III. aus und verbreitet 1729 in Stettin, in Sankt Petersburg.
deutschen Landen Hessen, der Pfalz, mit seinen Heerscharen in deutschen Während ihrer 24-jährigen Herrschaft
Westfalen, Bayern und Schwaben so- und nichtdeutschen Siedlungen an fanden die ersten Masseneinwande-
wie aus der Schweiz, dem Elsass und der Wolga Angst und Schrecken. 1774 rungen von Deutschen und anderen
Lothringen ein, sich an der mittleren wird er von zaristischen Truppen ge- Europäern nach Russland statt.
Wolga anzusiedeln. fangen genommen und 1775 in Mos-
Das war die „Sogwirkung“ der ers- kau hingerichtet. 1797
ten großen deutschen Auswanderung Am 31. Juni wird die Saratower Vor-
nach Russland. Als „Schubwirkung“ 1776 mundschaftskanzlei wieder eröffnet.
wird gerne die Lage im damaligen Am 15. August überfallen noma-
zersplitterten Deutschland nach dem disierende „Kirgiser“ das wolgadeut- 1838
Siebenjährigen Krieg von 1756-1763 sche Dorf Mariental und entführen Zar Nikolaus I. bestätigt die Privile-
bezeichnet. viele Bewohner nach Mittelasien. gien von Kolonisten.
Pastor Wernborner und über einhun-
1764 dert wehrhafte Männer, die sich den 1848
Am 29. Juni wird die erste wolga- Räubern in den Weg stellen, werden In Saratow wird das katholische
deutsche Kolonie gegründet. Sie er- ermordet. Bistum Tiraspol errichtet.
hält den Namen Nischnaja Dobrinka.
Bis zum Ende des Jahres 1767 erfolgen 1782 1854
103 weitere Gründungen deutscher Am 30. April wird das 1766 gegrün- 197 mennonitische Familien aus
Kolonien mit insgesamt 27.000 Sied- dete „Kontor der Vormundschafts- Preußen gründen im Gouvernement
lern zu beiden Seiten der mittleren kanzlei für Ausländer“ in Saratow Samara an der Wolga bis zum Jahr
Wolga. aufgelöst. Damit werden auch die 1872 zehn deutsche Dörfer, die spä-
Wolgadeutschen der allgemeinen rus- ter unter dem Namen „Am Trakt“
1765 sischen Gesetzgebung (in St. Peters- bekannt werden. Ein Großteil der
Anhänger der Herrnhuter Brüder- burg) unterstellt. Bewohner wandert 1880/1881 weiter
gemeinde aus Sachsen lassen sich in nach Mittelasien.
Sarepta in der Nähe des heutigen Wol- 1789
gograd mit dem Ziel nieder, die Kal- Der durchschnittliche Landbesitz 1861
mücken zu christianisieren. pro „Revisionsseele“, d.h. erwach- In Russland wird die Leibeigen-
senes männliches Familienmitglied, schaft abgeschafft.
1766 beträgt an der Wolga 15,5 Desjatinen
In Katharinenstadt wird die erste und geht in den nächsten 80 Jahren 1871
lutherische Dorfschule eröffnet. infolge des russischen „Mir-Systems“ Die Saratower Vormundschafts-
auf 1,5 Desjatinen zurück. Beim „Mir- kanzlei wird für immer geschlossen.
1769 System“ erben alle Söhne und nicht
Von 6.433 an der Wolga angesiedel- nur einer den ganzen Landbesitz. 1874
ten deutschen Familien eig- Deutsche Kolonisten müs-
nen sich nur 579 (9 Prozent) sen wie alle Bürger Russ-
nicht für die Landwirtschaft. lands Militärdienst leisten.
1771 1915
Nach offiziellen Angaben Am 13. Dezember plant
gibt es im deutschen Wol- die zaristische Regierung
gagebiet insgesamt zwölf die Verbannung der Wol-
Dorfschulen. In den beiden gadeutschen, ähnlich wie
folgenden Jahren eröffnet die dies bereits durch das erste
Herrnhuter Brüdergemein- „Liquidationsgesetz“ vom
de in Sarepta eine Dorfschu- 2. Februar 1915 mit den Wo-
le für Knaben und eine für lhyniendeutschen gesche-
Mädchen. Oskar Aul: Land an der Wolga. hen ist. Die Deportation der
16
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
Wolgadeutschen verzögert sich jedoch mehr als zwei Drittel der deutschen der Wolgadeutsche Rätekongress be-
und wird dank der Februarrevolution Bevölkerung hungern (299.000). reits am 29. April 1937 gegeben hat.
im März des Jahres 1917 nicht mehr
durchgeführt. 1924 1941
Am 6. Januar wird das Autonome Am 22. Juni beginnt der deutsch-
1917 Gebiet der Wolgadeutschen zu einer sowjetische Krieg, in dessen Folge alle
Vom 25. bis 27. April findet in Sa- Autonomen Sozialistischen Sowjetre- Privilegien, die mit dem Status der
ratow die „Allgemeine deutsche Kolo- publik erhoben. Die ASSR umfasst ein Wolgadeutschen als Autonomer Sow
nistenversammlung“ statt. Sie fordert Gebiet von 28.212 Quadratkilometern, jetrepublik verbunden sind, zerstört
von der Provisorischen Regierung davon 93 Prozent nutzbares Land. werden.
Selbstbestimmung und staatsbürger- Für die Gesamtbevölkerung der ASSR
liche Gleichstellung mit den anderen nennt Dr. Matthias Hagin folgende 1941
Völkern Russlands. Manches wird Zahlen: 1920: 452.629; nach dem Hun- Der Ukas des Präsidiums des Obers-
versprochen und Jahre später auch im gerjahr 1921: 350.000; 1939: 650.000. ten Sowjets der Sowjetunion vom 28.
Geiste Lenins und Stalins - anders als August „Über die Übersiedlung der
von den Delegierten aus allen wolga- 1928 Deutschen, die in den Wolgarayons
deutschen Kantonen vorgesehen - er- Die kurzen Erfolge der Neuen Öko- leben“ verbannt alle Wolgadeutschen
füllt. nomischen Politik (1921-1928), die den in asiatische Regionen der UdSSR.
wolgadeutschen Bauern eine gewisse
1917 Erholung nach den Jahren der Wirren 1941
Bald nach der Oktoberrevolution und des Hungers beschert hat, wer- Das Gebiet der ASSR der Wolga-
im Herbst werden die wolgadeut- den durch die rigoros durchgeführte deutschen wird auf die Gebiete Sara-
schen Siedlungen in die blutigen Aus- Zwangskollektivierung der Landwirt- tow und Stalingrad verteilt.
einandersetzungen von Rot, Weiß und schaft zunichte gemacht.
Banden hineingezogen. Seither gibt es keine echte deut-
1934 sche Autonomie in der Sowjetunion
1918 Spätestens ein Jahr nach der Macht- oder ihren Nachfolgestaaten mehr.
In einem Zusatzprotokoll zum ergreifung Hitlers in Berlin setzt in Die Mehrheit der Russlanddeutschen
deutsch-russischen Friedensvertrag der ASSR der Wolgadeutschen und sieht in den späteren Versprechun-
in Brest-Litowsk vom 3. März wird allen anderen deutschen Siedlungsge- gen wertlose Lippenbekenntnisse und
Russlanddeutschen gestattet, in ihr bieten der Sowjetunion ein beispiello- nimmt zur Kenntnis, dass in den Ge-
Ursprungsland Deutschland zurück- ser moralischer und körperlicher Ter- bieten, die ihnen vor 250 Jahren zu-
zukehren. ror gegen die eigenen „Faschisten“ als gewiesen wurden und die sie mit viel
Synonym für alle Deutschen ein, von Liebe, Mühe, Schweiß und Blut einst
1918 dem selbst linientreue Kommunisten kultiviert haben, heute andere Völker
Im April wird eine „Kommission nicht verschont bleiben. leben, die ihrerseits ebenfalls viel ge-
für deutsche Angelegenheiten“ unter litten haben.
der Leitung des späteren Regierenden 1937 Auf den Ukas vom 28. August 1941
Bürgermeisters von Berlin, Ernst Reu- Am 12. Dezember werden mitten folgten viele ähnliche Ukase, Erlasse
ter, gebildet. in der Zeit des „Großen Terrors“ neun und Befehle, die nicht dazu beige-
Wolgadeutsche in den Obersten Sow- tragen haben, das Vertrauen in einen
1918 jet gewählt. Staat zu stärken, dem Russlanddeut-
Am 19. Oktober wird das Auto- sche über Jahrhunderte loyal dienten.
nome Gebiet der Wolgadeutschen 1938 Zu dieser Feststellung passt auch der
unter dem Namen Deutsche Arbeits- In der Sowjetunion wird in allen verhängnisvolle Ukas vom 28. No-
Kommune gegründet. Zentrum ist deutschsprachigen Schulen außer- vember 1948, durch den die Lage der
zunächst die Stadt Baronsk, die 1919 halb der ASSR der Wolgadeutschen deportierten Deutschen durch die An-
in Marxstadt umbenannt wird. 1922 Russisch Unterrichtssprache. In der drohung von 20 Jahren Zwangsarbeit
wird der Sitz der Gebietsverwaltung ASSR gibt es zu diesem Zeitpunkt 191 für die Entfernung aus den Orten ihrer
nach Pokrowsk, dem späteren Engels, Grundschulen und 255 Mittelschulen Zwangsansiedlung weiter verschärft
verlegt. mit sieben oder zehn Klassen. Die wurde.
Zahl der Lehrer an deutschen Schulen Alle späteren Autonomiezusagen,
1920 beziffert die „Enzyklopädie der Deut- Versprechungen und „Rehabilitierun-
Das katholische Priesterseminar an schen aus Russland“ mit 117.160. gen“ konnten die Masse der Russland-
der Wolga wird geschlossen. deutschen nicht von der Rückkehr in
1940 ihre historische Heimat Deutschland
1921 Auf der Tagung des Obersten Sow- abhalten. Und so wanderten sie in
Am 1. Juli erklärt das Präsidium jets der Russischen Föderation vom 28. Scharen aus, sofern die Ausreise von
des Gebietsexekutivkomitees des Au- Mai bis 2. Juni in Moskau wird endlich Moskau gestattet und von Berlin ge-
tonomen Gebiets, dass an der Wolga die Verfassung verabschiedet, die sich wünscht wurde.
17
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
K
atharina die Große gehört ten. Allerdings wusste sie auch mit
zweifelsohne zu den gro- einnehmenden Reden und Schmei-
ßen Frauen der Weltge- cheleien zu gefallen. Auf Reisen mit
schichte; sie prägte Russ- der Mutter lernte die heranwachsen-
land wie kaum eine Regentin vor ihr. de Friederike Fürstentümer und den
Die aus deutschem Adelsgeschlecht Königshof Friedrichs II. kennen. Den
stammende Zarin führte die Expan- Preußenkönig bezauberte sie durch
sionspolitik Peters des Großen fort prompte Antworten, das Beherrschen
und regierte mit scharfsinnigem von drei Sprachen und ihr Wissen.
politischem Verstand und eisernem 1742 zog die Fürstenfamilie von
Willen zur Macht. Der Dichter Ale- Stettin in das Zerbster Schloss. Dort
xander Sergejewitsch Puschkin be- lebte die Prinzessin Sophie bis Anfang
zeichnete die Politik des Zaren Peter 1744. Friedrich II. nutzte seinen Ein-
I., insbesondere den Bau von St. Pe- fluss auf die Eltern der Prinzessin, um
tersburg, als Öffnen eines Fensters seine politischen Pläne mit Hilfe der
Russlands nach Europa. Katharina II. jungen Prinzessin umzusetzen. Bald
dagegen stieß für Russland die Tü- schon stand fest, dass Friederike an
ren nach Europa auf. den russischen Hof gebracht werden
sollte.
Katharina II., Zarin des Russischen
Zarin Katharina II.
Reiches und Herzogin von Schleswig- Der Weg zum Zarenthron
Holstein-Gottorf, regierte das riesige vertrauen beseelte Staatslenkerin, die
Russische Reich 34 Jahre lang. Sie setz- es verstand, erfolgreich Weltpolitik zu
te die Politik Peters des Großen fort betreiben. Im Januar 1744 reiste sie mit ihrer
bzw. erneuerte diese selbständig auf Mutter auf Einladung der russischen
weiterentwickeltem Niveau. Als sie Heimat Stettin Zarin Elisabeth an den Zarenhof; die
1796 im Alter von 67 Jahren starb, hatte Prinzessin von Anhalt-Zerbst war als
sie verwirklicht, was Peter I. begonnen
und Zerbst Braut des Thronfolgers Russlands,
hatte: Russland war eine Großmacht, des Großfürsten Peter Fjodorowitsch,
mit der Europa rechnen musste. Katharina II. wurde am 2. Mai 1729 favorisiert worden. Vor der Hochzeit
Katharina die Große, in die Ge- als Prinzessin Sophie Auguste Friede- mit dem Thronfolger der russischen
schichte eingegangen als bedeuten- rike von Anhalt-Zerbst-Dornburg in Zarin Elisabeth trat Friederike nicht
de Herrscherin, wurde nicht zuletzt Stettin geboren. Sie war eine Tochter nur zum orthodoxen Glauben über,
durch ihre Liebschaften zur Legende. von Fürst Christian August von An- sondern wechselte auch ihren Namen.
Mehrere Filme und zahlreiche Bücher halt-Zerbst-Dornburg, dem damaligen Danach wurde die offizielle Verlo-
nähren sich von diesem oft zweifelhaf- preußischen Gouverneur von Stettin, bung mit dem Großfürsten bekannt
ten Stoff. 1774 begegnete die 45-jährige und dessen Gattin Johanna Elisabeth, gegeben, und aus der Prinzessin von
Katharina ihrer großen Liebe: Grigori geborene Prinzessin von Holstein- Anhalt-Zerbst-Dornburg wurde Ihre
Potemkin. Auch darüber gibt es ein Gottorp. Ihre Mutter, Johanna von Kaiserliche Hoheit, die Großfürstin
sehr lesenswertes Sachbuch (erschie- Holstein-Gottorp, stammte aus einer Katharina Alexejewna von Russland.
nen 2012) von Simon Sebag Montefio- hoch angesehenen, in Europa weit Katharina ging als 16-Jährige in die
re, „Katharina die Große und Fürst Po- verzweigten Adelsfamilie. Bevor So- Ehe, doch Glück war dieser Verbin-
temkin. Eine kaiserliche Affäre“. Dazu phie Auguste Friederike als Katharina dung nicht beschieden. Den Intrigen
ein Zitat aus der „Süddeutschen Zei- II. 1762 den russischen Thron bestieg, am russischen Hof und den ständigen
tung“: „Dieses angemessen kolossale, verbrachte sie ihre Jugendjahre in der Demütigungen und Liebschaften ihres
üppige, die Sinne betörende Buch ist Kleinstadt Zerbst sowie in Dornburg Mannes ausweichend, nutzte sie die
ein Meisterwerk. Und ein Glücksfall.“ an der Elbe. Zeit, sich weiterzubilden und die rus-
Nach 34 Regierungsjahren verstarb Friederike wuchs in Stettin auf. sische Sprache zu lernen. Großfürstin
Katharina am 17. November 1796 in Schon in Kindesjahren begeisterte sie Katharina war eine lebensfrohe und
St. Petersburg. Geleitet von scharfem sich für Bildung und Sprachen, hatte intelligente Frau, die sich schnell in
Verstand, willensstarkem Ehrgeiz und sie doch die blendenden Geistesgaben ihre neue Umgebung einpasste. Sie
grenzenloser Eitelkeit, war es ihr ge- der Mutter geerbt. Mit 14 Jahren war musizierte gern und las viel, mit Vor-
lungen, sich Glanz und Ansehen zu sie ein lebhaftes Mädchen mit ange- liebe historische Werke, um so ihr Ver-
verschaffen. In der Erinnerung ihrer nehmem Äußeren, in deren Benehmen ständnis für Politik zu schärfen. Vor
Zeitgenossen blieb sie eine von Selbst- sich Ernst und Entschlossenheit zeig- allem war sie stets über die Vorgänge
19
Überblick
Teil des Landes ihre Wohnorte verlas- um. Mehr als 80.000 von ihnen verlie- her) oder die Fabrik zur Herstellung
sen. Etwa ein Viertel der deportierten ßen das Wolgagebiet und zogen nach von landwirtschaftlichen Geräten in
Wolhyniendeutschen kam infolge der Turkestan, in den Trans- und Nord- Katharinenstadt, wo 1926 die ersten
Vertreibungen ums Leben. Mit dem kaukasus, nach Zentralrussland, in Kleintraktoren produziert wurden. In
Erlass vom 17. Februar 1917 sollten die Ukraine und auch nach Deutsch- der mennonitischen Kolonie Einlage
auch die Deutschen an der Wolga aus- land. Etwa 48.000 kamen zu Tode, zu- (heute Gebiet Saporoschje) entwickel-
gesiedelt werden. Die nachfolgenden meist aufgrund der Hungersnot. Vor ten die russlanddeutschen Ingenieure
revolutionären Ereignisse verhinder- dem I. Weltkrieg lebten auf dem Ge- Unger und Rempel 1921 den ersten
ten jedoch die Umsetzung der Liqui- biet der zukünftigen autonomen Wol- sowjetischen Traktor, der in Serien-
dationsgesetze. garepublik 516.289 Deutsche, bei der produktion kam. 1932 erhielten Ger-
Volkszählung 1926 waren es nur noch hard Epp, Peter Dyck und Cornelius
Autonomierechte 379.630. Unruh den Lenin-Orden für die Ent-
1924 wurde die Autonome Sozia- wicklung des „Stalinez“, des ersten
für Wolgadeutsche listische Sowjetrepublik der Wolga- Mähdreschers der UdSSR.
deutschen mit der Hauptstadt Engels Der gesellschaftliche Wandel er-
Für die neuen Machthaber waren (Pokrowsk) gegründet. Aber nur etwa griff in den ersten Jahrzehnten nach
die Siedlungsgebiete der Wolgadeut- ein Drittel der Deutschen in der Sow der Oktoberrevolution 1917 auch die
schen, in denen große Mengen von jetunion lebte in der Wolga-Republik, deutsche Bevölkerung. In Engels wa-
Getreide beschafft werden konnten, in der sie zwei Drittel der Bevölkerung ren vor allem deutsche Kulturinsti-
von lebenswichtiger Bedeutung. Nicht stellten. Größere Städte wie Pokrowsk tutionen beheimatet: das Deutsche
von ungefähr kamen deshalb die Wol- und Katharinenstadt wurden in En- Staatstheater, die Deutsche Staatsphil-
gadeutschen als erste Minderheit in gels und Marxstadt umbenannt. harmonie, das Symphonieorchester
den Genuss der verkündeten Auto- und das Deutsche Lied- und Tanzen-
nomierechte: Am 19. Oktober 1918 Kurzer wirtschaftlicher semble.
unterzeichnete Lenin als Regierungs- Das Wolgagebiet mit seinen zahl-
chef das Dekret über die Gründung
und kultureller Aufschwung reichen deutschen Siedlungen mit ver-
der Arbeitskommune (des autonomen nach 1917 schiedenen Konfessionen, Mundarten
Gebietes) der Wolgadeutschen. und Lebensweisen war ein fruchtba-
Die wolgadeutschen Bauern muss- In vielen Gebieten des Russischen res Forschungsfeld für Sprachwissen-
ten das Mehrfache an Lebensmitteln Reiches galt die Wirtschaftsweise der schaftler und Mundartforscher, die
als landesweit üblich abliefern. Die- Deutschen als ergiebig und kultiviert. ethnographische und folkloristische
se rücksichtslose Ausbeutung führte Zu den Betrieben, die einen landes- Expeditionen organisierten.
unter anderem dazu, dass die Ar- weiten und sogar internationalen 1925 wurde das Museum der ASSR
beitskommune 1921-1922 von einer Erfolg hatten, gehörten die Winzer- der Wolgadeutschen gegründet. Deut-
verheerenden Hungersnot am härtes- kooperative „Konkordia“ in Helenen- sche Theater, zahlreiche deutsche
ten getroffen wurde. Im Bürgerkrieg dorf (Kaukasus), der wolgadeutsche Zeitungen, Staatsverlage, Hoch- und
1918/21 kamen Zehntausende Wolga- Gewerbeverein Sarpinka (rund 335 Fachschulen gab es sowohl an der
deutsche durch Gewalt und Hunger Webereien stellten den Baumwollstoff Wolga als auch in Südrussland.
Trotz der
ideologischen
Einflüsse kam
es also zu ei-
nem kurzen
kulturellen
Aufschwung.
Mit dem ver-
schärften Ter-
ror der 1930er
Jahre wurden
die Eingriffe in
das deutsche
Kulturleben
aber immer
deutlicher, was
vor allem als
Begleiterschei-
nung einer
gezielten Rus-
sifizierung zu
1932: Eine der führenden deutschen Kooperationen an der Wolga. deuten ist.
20
Überblick
Kollektivierung
und politische
Repressionen
Ende der 1920er Jahre schlug die
Sowjetführung mit Stalin an der Spit-
ze einen Kurs der radikalen Umgestal-
tung der sowjetischen Gesellschaft ein.
Die verschärfte Kollektivierung der
Landwirtschaft zu Beginn der 1930er
Jahre forderte durch Hungersnöte,
Zwangsenteignung, Verschleppung
der „Kulaken“ (wohlhabende Bauern)
und willkürliche Massaker auch unter
den Russlanddeutschen Hunderttau-
sende Todesopfer, vor allem im ukrai-
nischen Schwarzmeergebiet.
Mit der Zwangskollektivierung
und fortschreitenden Russifizierung Deutsche Frauen im Zwangsarbeitslager.
(Schließung der Kirchen, Auflösung
deutscher Rayons und Verbot der Zweiter Weltkrieg - 1943/44 mit der Deutschen Wehrmacht
deutschen Sprache in den Schulen au- Deportation, Zwangsarbeit, nach Westen bewegt hatten, wurden
ßerhalb der Wolgarepublik 1938/39) Sondersiedlung 1945/46 von den Alliierten an die Sow-
verschlechterte sich die Lage der deut- jets ausgeliefert und in die asiatischen
schen Minderheit zusehends. Bei den Der Zweite Weltkrieg versetzte der Teile der UdSSR deportiert.
deutschen Kolonisten entlud sich der deutschen Minderheit in Russland den Nach dem Zweiten Weltkrieg waren
Protest gegen die Enteignungen und Todesstoß. Der Erlass des Präsidiums die Jahre der Sondersiedlung unter
religiösen Verfolgungen Ende 1929 des Obersten Sowjets der UdSSR vom Kommandanturaufsicht (monatliche
u.a. in einer massenhaften Auswande- 28. August 1941 beschuldigte die Wol- Meldepflicht, Studiums- und Berufs-
rungsbewegung. gadeutschen pauschal der Spionage verbot) geprägt von Unsicherheit,
Ab Mitte der 1930er Jahre setzten und Kollaboration und lieferte einen Angst und völliger Entrechtung.
politische Verfolgungen ein; ganze formalen Grund zur Deportation, die Durch die Auflösung der kulturel-
Gruppen und Bevölkerungsschichten auch auf Deutsche in anderen Gebie- len Institutionen an der Wolga und in
wurden rücksichtslos ausgeschaltet ten ausgedehnt wurde. Bis Ende 1941 anderen Regionen und das Verbot der
und vernichtet, darunter Geistliche wurden 799.459 Deutsche aus dem eu- deutschen Sprache wurde die Grund-
oder nationale Minderheiten. ropäischen Teil der Sowjetunion nach lage für eine eigenständige Entwick-
Die Deutschen gehörten zu den Kasachstan, Sibirien und Mittelasien lung unwiederbringlich zerstört. Wirt-
Ersten, die aufgrund ihrer nationalen „umgesiedelt“, darunter 444.115 Wol- schaftliche Plünderung, Zerschlagung
Zugehörigkeit unter die Räder des gadeutsche. der nationalen Intelligenz, diskrimi-
„Roten Terrors“ gerieten. Im Zuge Eine weitere Stufe der bürgerlichen nierende Rechtsnormen der Sonder-
der „deutschen Operation“ des Volks- Entrechtung der deutschen Minder- siedlung und das Totschweigen der
kommissariats für Innere Angelegen- heit stellte die Einweisung aller er- Existenz der Volksgruppe verwandel-
heiten wurden 1937-38 Zehntausende wachsenen Personen (Jugendliche, ten die Deutschen in der Sowjetunion
Deutsche verhaftet und zum Tod ver- Männer und Frauen im Alter von 15 in Personen „minderen Rechts“.
urteilt. Mit 5,3 Prozent Opferanteil bei bis 55 Jahren) in NKWD-Arbeitslager Trotz der gewaltigen Menschenver-
einem Bevölkerungsanteil von nur 0,8 dar. Hier landeten auch russlanddeut- luste wurden bei der ersten zuverläs-
Prozent gehörten die Deutschen zu sche Soldaten und Offiziere, die aus sigen Volkszählung nach dem Krieg
den am stärksten verfolgten nationa- den militärischen Einheiten ausgeson- (1959) ca. 1.620.000 Deutsche in der
len Gruppen. dert wurden. UdSSR gezählt, verstreut vor allem
In den Jahren 1918 bis 1939 wurden Wie Strafgefangene wurden die über Sibirien, Kasachstan und Mittel
auf dem Gebiet der Sowjetunion fast Russlanddeutschen für schwerste und asien.
sämtliche katholischen und evange- unqualifizierte Arbeiten beim Bau von
lischen Geistlichen umgebracht bzw. Eisenbahnlinien und Industriebetrie- Verbannt in alle Ewigkeit -
verbannt, die Kirchen umfunktioniert ben, in der Öl- und Kohleförderung
oder zerstört. Der christliche Glaube oder beim Holzfällen eingesetzt. Die
halbherzige
existierte nur noch im Untergrund. ganze „deutsche Operation“ verlief Rehabilitierungsversuche
Am Vorabend des Zweiten Welt- unter Ausschluss von Presse und Öf-
kriegs lebten insgesamt rund 1,4 Mil- fentlichkeit. Der Erlass des Präsidiums des
lionen Deutsche auf sowjetischem Ter- Auch die 280.000 Russlanddeut- Obersten Sowjets von 1948, der die
ritorium. schen aus der Westukraine, die sich Verbannung der Deutschen und an-
21
Überblick
22
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
am Hof informiert. Sie besuchte jeden konnte sie in ihrem politischen Alltag „Instruction“: „Russland ist eine euro-
Gottesdienst und nahm am religiösen nur in eng gesteckten Grenzen han- päische Macht.“
Leben teil. Schon bald hatte sie die deln. Katharina II. nutzte ihre Macht,
Sympathie des russischen Hofes, aber Katharina II. las die Werke von um zweimal erfolgreich Krieg gegen
auch großer Teile des Volkes gewon- Montesquieu und Voltaire. Sie pflegte das Osmanische Reich zu führen; sie
nen. eine rege Korrespondenz mit Voltaire, verschaffte sich direkten Zugang zur
Währenddessen schuf sich Groß- den sie sehr schätzte. Er nannte sie Krim. In zwei russisch-türkischen
fürst Peter seine eigene Welt in Ora- den strahlendsten Stern des Nordens Kriegen 1768–1774 sowie 1787–1792
nienbaum (heute Lomonossow) und und sah in ihr eine Philosophin auf eroberte sie den Zugang zum Schwar-
pflegte seine Freundschaft mit Preu- dem Thron. Ihre tiefe Zuneigung und zen Meer und weite Küstengebiete.
ßen. Bewunderung zeigte sich, als sie seine Mit Preußen und Österreich verbün-
1762 verstarb die Zarin Elisabeth Vorstellungen in ihre „Große Instruk- det, führte sie die Dreiteilung Polens
Petrowna, und Großfürst Peter Fjo- tion“ mit einfließen ließ. Darüber hi durch.
dorowitsch bestieg als Zar Peter III. naus unterstützte sie ihn finanziell und Im Ergebnis der drei Teilungen Po-
den russischen Thron. Er regierte nur kaufte nach seinem Tod seine gesamte lens gewann Russland 1 Million km²
sechs Monate, da seine Amtshandlun- Bibliothek mit all seinen Werken auf, Landfläche und 6 Millionen Menschen
gen, z.B. Friedensverträge mit Preu- die sich jetzt in der Russischen Natio- dazu. Katharinas „Griechisches Pro-
ßen und Säkularisierung der Güter der nalbibliothek in Sankt Petersburg be- jekt“, d. h. die Eroberung Konstanti-
russischen Kirche sowie Bevorzugung findet. nopels und die Neugründung des by-
deutscher Militärs in der russischen Unmittelbar nach ihrer Ausrufung zantinischen Reichs unter russischer
Armee, nicht von allen führenden zur Zarin unternahm sie energische Herrschaft, scheiterte am Widerstand
Staatsmännern Russlands gebilligt Versuche, durch eine aufgeklärte Ge- Preußens und Österreichs.
wurden. Peter entpuppte sich als fa- setzgebung für Verwaltung, Wirt- Auch auf dem diplomatischen Par-
natischer Anhänger Friedrichs II.; er schaft und Militär das riesige Russi- kett Europas konnte Katharina II. Er-
wollte die russische Armee reformie- sche Reich zu reformieren. Beeinflusst folge erzielen. Durch ihre Vermittler-
ren und sie in Uniformen in den Far- vom Gedankengut der französischen rolle im Frieden von Teschen wurde
ben Preußens stecken. Er unternahm Aufklärung, führte sie einige innen- der bayerische Erbfolgekrieg beendet.
auch Angriffe gegen die orthodoxe politische Reformen durch. Die im To- Seither nahmen an allen bedeuten-
Kirche. leranzedikt festgeschriebene Duldung den Fürstenhöfen Europas russische
Katharina entschloss sich, ihren aller religiösen Bekenntnisse ist das Gesandte die Interessen ihres Landes
Gatten zu entmachten. Im Juni 1762 Spiegelbild einer Monarchin, die sich wahr. Katharina II. pflegte ihre westeu-
stürzte Katharina Alexejewna ihn mit aufgeklärt und modern gibt. ropäischen Beziehungen und förderte
Hilfe der Gebrüder Orlow und ande- Allerdings änderten ihre Bemü- die Einführung geistiger und kulturel-
rer russischer Staatsmänner und ließ hungen nichts an der bestehenden ler Leistungen, vor allem Frankreichs,
sich als Zarin Katharina II. von Russ- gesellschaftlichen Ordnung. Mit ihrer am russischen Hof.
land krönen. Seine Ermordung ord- Großmachtpolitik hielt Katharina II.
nete sie nicht direkt an, nahm sie aber Russland zusammen. Eine Abschaf- Innenpolitik
billigend in Kauf. Ihrer alleinigen und fung der Leibeigenschaft erwog aber
unumschränkten Herrschaft stand auch Katharina nicht. Der Status der
nun nichts mehr im Wege. Bauern näherte sich dem der Sklaverei. Ebenfalls vom Gedankengut der
Katharinas Krönung fand am 22. Einen Aufstand der Landbevölkerung französischen Aufklärung beeinflusst,
September 1762 in Moskau statt. Ein in der Ukraine gegen die Unterdrü- stieß Katharina II. zum Nutzen Russ-
gigantisches, prunkvolles Volksfest ckung ließ sie blutig niederschlagen. lands Reformen auf verschiedenen
trug letztendlich dazu bei, dass die Gebieten an. Innenpolitische Reform-
Einwohner Moskaus sie als ihre recht- Außenpolitik versuche glückten ihr allerdings nicht
mäßige Herrscherin akzeptierten. immer mit der erforderlichen Kon-
sequenz, da die Interessen des russi-
Widersprüchliche Außenpolitisch setzte Katharina schen Adels, der wichtigsten Macht-
II. den von Peter III. angefangenen stütze Katharinas II., mit denen der
Herrscherin preußenfreundlichen Kurs fort. Mehr Zarin wiederholt nicht zusammen-
noch: Katharina II. baute den Macht- gingen. So gab es im Reich Katharinas
Gerade aufgrund der Widersprüch- bereich Russlands in einem Maße aus auch Unruhen, z.B. unter den Bauern,
lichkeiten ihrer Persönlichkeit und ih- wie kein russischer Herrscher vor ihr. die die aufgeklärte Zarin mit repressi-
rer Herrschaft ist Katharina die Große Russland erfuhr in der Regierungs- ven Maßnahmen beantwortete.
eine der bedeutendsten Gestalten der zeit Katharinas einen ungeheuren Ge- Katharinas Verdienst war eine ein-
Weltpolitik. Die Zarin regierte das Rie- bietszuwachs. Ihr Handeln war darauf heitliche Verwaltung mit Statthal-
senreich mit eiserner Hand. Obwohl ausgerichtet, dass die anderen Staaten terschaften, Provinzen und Kreisen.
sie der Gedankenwelt der Aufklärung Europas in Russland eine Großmacht Sie gründete erste Volksschulen und
nahe stand und Russland für die eu- sehen sollten. Schon 1766 schrieb Ka- Gymnasien in den Städten sowie In-
ropäische Kunst und Literatur öffnete, tharina II. in ihrer politischen Schrift genieurfachschulen. Sie schuf Wohl-
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
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Beilage: Das Manifest der Zarin
Da Uns der weite Umfang der Länder Der große Umfang der Länder Unseres
Unseres Reiches zur Genüge bekannt, so Reiches ist Uns zur Genüge bekannt, und
nahmen Wir unter anderem wahr, daß Wir nahmen unter anderem wahr, dass
keine geringe Zahl solcher Gegenden eine nicht geringe Anzahl dieser Gebiete
noch unbebaut liege, die mit vorteilhafter unbebaut ist. Die meisten dieser Lände-
Bequemlichkeit zur Bevölkerung und Be- reien verbergen in ihrem Schoße einen
wohnung des menschlichen Geschlechtes unerschöpflichen Reichtum an kostbaren
nutzbarlichst könnte angewendet wer- Erzen und Metallen und könnten vorteil-
den, von welchen die meisten Ländereyen haft bevölkert und bewohnt werden. Da-
in ihrem Schoose einen unerschöpflichen rüber hinaus bieten sie in ausreichendem
Reichtum an allerley kostbaren Erzen und Maße Wälder, Flüsse, Seen und verwend-
Metallen verborgen halten; und weil sel- bare Meeresufer und sind daher geeignet
biger mit Holzungen, Flüssen, Seen und zum Aufbau von Manufakturen, Fabriken
zur Handlung gelegenen Meerung gnug- und anderen Anlagen. Das veranlasste
sam versehen, so sind sie auch ungemein uns, am 4. Dezember des vergangenen
bequem zur Beförderung und Vermeh- Jahres 1762 ein Manifest zum Nutzen al-
rung vielerley Manufacturen, Fabriken ler Unserer getreuen Untertanen zu pub-
und zu verschiedenen Anlagen. Dieses lizieren. Darin hatten Wir jedoch unsere
gab Uns Anlaß zur Erteilung des Manifes- Einladung an Ausländer, die das Verlan-
tes, so zum Nutzen aller Unserer getreuen gen haben, sich in Unserem Reich nieder-
Unterthanen den 4. December des abge- zulassen, nur summarisch angekündigt;
wichenen 1762 Jahres publiciert wurde. Wir haben daher zur Verdeutlichung des
Jedoch, da wir in selbigen Ausländern, die Manifestes die Bekanntmachung der fol-
Verlangen tragen würden, sich in Unse- genden Verordnung veranlasst:
rem Reich häuslich niederzulassen, Unser
Belieben nur summarisch angekündiget;
so befehlen Wir zur besseren Erörterung
desselben folgende Verordnung, welche
Wir hiermit feierlichst zum Grunde legen,
und in Erfüllung zu setzen gebieten.
1. 1.
Verstatten Wir allen Ausländern, in Unser Reich zu kommen, um Wir erlauben allen Ausländern, in Unser Reich zu kommen, um
sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich sich nach Belieben in allen Gouvernements häuslich niederzulas-
niederzulassen. sen.
2. 2.
Dergleichen Fremde können sich nach ihrer Ankunft nicht nur in Diese Fremden können sich nach ihrer Ankunft nicht nur in
Unsere Residenz bey der zu solchem Ende für die Ausländer beson- Unserer Residenz bei der eigens zu diesem Zweck für Ausländer
ders errichteten Tütel-Canzley, sondern auch in den anderweitigen errichteten Tutelkanzlei2 melden, sondern auch nach Wunsch bei
Gränz-Städten Unseres Reiches nach eines jeden Bequemlichkeit bey 1 Der Pluralis Majestatis wurde beibehalten.
denen Gouverneure, der wodergleichen nicht vorhanden, bey den 2 Auf Anweisung der Zarin am 22. Juli 1763 geschaffene „Kanzlei
vornehmsten Stadts-Befehlshabern zu melden. der Vormundschaft der Ausländer“ mit Sitz in St. Petersburg. Mit
ihrer Hilfe sollten die Angelegenheiten der Einwanderer geregelt
werden.
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Beilage: Das Manifest der Zarin
den Gouverneuren anderer Grenzstädte Unseres Reiches bzw., so-
weit diese nicht vorhanden, bei den vornehmsten Befehlshabern
der Stadt.
3. 3.
Da unter denen sich in Rußland niederzulassen Verlangen tragen- Ausländer, die sich in Russland niederlassen wollen, aber nicht
den Ausländern sich auch solche finden würden, die nicht Vermö- genügend Vermögen besitzen, um die erforderlichen Reisekosten
gen genug zu Bestreitung der erforderlichen Reisekosten besitzen: so zu bestreiten, können sich bei Unseren Ministern und bei auswär-
können sich dergleichen bey Unseren Ministern und an auswärtigen tigen Höfen melden, die sie nicht nur ohne Umstände auf Unsere
Höfen melden, welche sie nicht nur auf Unsere Kosten ohne Anstand Kosten nach Russland schicken, sondern auch mit Reisegeld verse-
nach Rußland schicken, sondern auch mit Reisegeld versehen sollen. hen sollen.
4. 4.
Sobald dergleichen Ausländer in Unserer Residenz angelangt und Sobald diese Ausländer in Unserer Residenz angelangt sind und
sich bei der Tütel-Canzley oder in einer Gränz-Stadt gemeldet haben sich bei der Tutelkanzlei oder in einer Grenzstadt gemeldet haben,
werden; so sollen dieselben gehalten sein, ihren wahren Entschluß zu sollen sie mitteilen, worin ihr Verlangen besteht und ob sie sich
eröffnen, worinn nehmlich ihr eigentliches Verlangen bestehe, und unter die Kaufmannschaft oder unter die Zünfte einschreiben las-
ob sie sich unter die Kaufmannschaft oder unter Zünfte einschreiben sen und Bürger werden wollen, und zwar in welcher Stadt, oder
lassen und Bürger werden wollen, und zwar nahmentlich, in welcher ob sie sich auf freiem und nutzbarem Grund und Boden in ganzen
Stadt; oder ob sie Verlangen tragen, auf freyem und nutzbarem Grun- Kolonien und Landflecken zum Ackerbau oder als Gewerbe Trei-
de und Boden in ganzen Kolonien und Landflecken zum Ackerbau bende niederlassen wollen. Sodann erhalten diese Leute ohne
oder zu allerley nützlichen Gewerben sich niederlassen; da sodann Verzögerung ihre Bestimmung gemäß ihrem eigenen Wunsch und
alle dergleichen Leute nach ihrem eigenen Wunsche und Verlangen Verlangen, wobei aus beiliegendem Register hervorgeht, in wel-
ihre Bestimmung unverweilt erhalten werden; gleich denn aus beifol- chen Gegenden Unseres Reiches freie und zur Ansiedlung geeig-
gendem Register zu ersehen ist, wo und an welchen Gegenden Un- nete Ländereien vorhanden sind. Darüber hinaus finden sich außer
seres Reiches nahmentlich freye und zur häuslichen Niederlassung den im Register angegebenen noch erheblich mehr ausgedehnte
bequeme Ländereyen vorhanden sind; wiewohl sich außer der in be- Gegenden und Ländereien, in denen Wir ebenfalls eine Ansiedlung
meldetem Register aufgegebenen noch ungleich mehrere weitläufige gestatten.
Gegenden und allerley Ländereyen finden, allwo Wir gleichergestalt
verstatten sich häuslich niederzulassen, wo es sich ein jeder am nütz-
lichsten selbst wählen wird.
5. 5.
Gleich bei der Ankunft eines jeden Ausländers in Unser Reich, der Gleich bei der Ankunft in Unserem Reich hat jeder Ausländer, der
sich häuslich niederzulassen gedenket und zu solchem Ende in der für sich ansiedeln möchte und sich zu diesem Zweck in der Tutelkanzlei
die Ausländer errichteten Tütel-Canzley oder aber in anderen Gränz- oder in einer anderen Grenzstadt Unseres Reiches angemeldet hat,
Städten Unseres Reiches meldet, hat ein solcher, wie oben im 4ten wie im Paragraphen 4 angegeben, vor allem sein Vorhaben mitzu-
§ vorgeschrieben stehet, vor allen Dingen seinen eigentlichen Ent- teilen und nach seinem Religionsritus den Eid der Untertänigkeit
schluß zu eröffnen, und sodann nach eines jeden Religions-Ritu den und Treue zu leisten.
Eid der Unterthänigkeit und Treue zu leisten.
6. 6.
Damit aber die Ausländer, welche sich in Unserem Reiche nieder- Damit aber die Ausländer, die sich in Unserem Reich niederlas-
zulassen wünschen, gewahr werden müssen, wie weit sich Unser sen wollen, sehen, wie weit Unser Wohlwollen zu ihrem Vorteil
Wohlwollen zu ihrem Vorteile und Nutzen erstrecke, so ist, dieser und Nutzen geht, ist dies Unser Wille:
Unser Wille:
1. Gestatten Wir allen in Unser Reich ankommenden Ausländern 1. Wir gestatten allen in unserem Reich ankommenden Auslän-
unverhindert die freie Religions-Übung nach ihren Kirchen-Satzungen dern die freie Religionsausübung nach ihren Kirchensatzungen und
und Gebräuchen; denen aber, welche nicht in Städten, sondern auf Gebräuchen. Denjenigen, die sich nicht in Städten, sondern auf
unbewohnten Ländereyen sich besonders in Colonien oder Land- unbewohnten Ländereien und besonders in Kolonien oder Land-
flecken nieder zu lassen gesonnen sind, erteilen Wir die Freyheit, flecken niederlassen wollen, geben wir die Freiheit, Kirchen und
Kirchen und Glocken-Türme zu bauen und dabey nöthige Anzahl Glockentürme zu bauen und die benötigte Anzahl von Priestern
Priester und Kirchendiener zu unterhalten, nur einzig den Klosterbau und Kirchendienern zu beschäftigen; ausgenommen ist nur der
ausgenommen. Jedoch wird hierbey jedermann gewarnt keinen in Klosterbau. Allerdings wird jedermann dringend davor gewarnt,
Rußland wohnhaften christlichen Glaubensgenossen, unter gar kei- einen in Russland wohnhaften christlichen Glaubensgenossen zur
nem Vorwande zur Annehmung oder Beypflichtung seines Glaubens Annahme oder zum Beitritt zu seinem Glauben und seiner Gemein-
und seiner Gemeinde zu bereden oder zu verleiten, falls er sich nicht de zu überreden und zu verleiten, sofern er sich nicht der Strafe
der Furcht der Strafe nach aller Strenge Unserm Gesetze auszusetzen nach aller Strenge Unseres Gesetzes aussetzen will. Davon ausge-
gesonnen ist. Hiervon sind allerley an Unsere Reiche angrenzende nommen sind an Unser Reich angrenzende Nationen mohamme-
dem Mahometanischen Glauben zugethane Nationen ausgeschlos- danischen Glaubens; wir erlauben einem jeden, sich nicht nur auf
sen; als welche Wir nicht nur auf eine anständige Art zur christlichen anständige Weise der christlichen Religion zuzuwenden, sondern
Religion zuneigen, sondern auch sich selbige unterthänig zu machen, diese auch anzunehmen.
einem jeden erlauben und gestatten.
2. Soll keiner unter solchen zur häuslichen Niederlassung nach 2. Keiner der zur häuslichen Niederlassung nach Russland gekom-
Rußland gekommene Ausländer an unsere Cassa die geringsten Ab- menen Ausländer soll gezwungen werden, auch nur die geringsten
gaben zu entrichten, und weder gewöhnliche oder außerordentliche Abgaben an Unsere Reichskasse zu entrichten, gewöhnliche oder
Dienste zu leisten gezwungen, noch Einquartierung zu tragen ver- außerordentliche Dienste zu leisten oder für Einquartierung zu
bunden, sondern mit einem Worte, es soll ein jeder von aller Steuer sorgen. Vielmehr soll, mit einem Wort, jeder folgendermaßen von
und Auflagen folgendermaßen frey sein: diejenigen nehmlich, wel- allen Steuern und Auflagen frei sein: Wer mit vielen Familien und in
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Beilage: Das Manifest der Zarin
che in vielen Familien und ganzen Colonien eine bisher noch unbe- ganzen Kolonien eine bis dahin unbekannte Gegend besiedelt, ge-
kannte Gegend besetzen, genießen dreyßig Frey-Jahre; die sich aber nießt 30 Freijahre. Wer sich in Städten niederlassen und sich ent-
in Städten niederlassen und sich entweder in Zünften oder unter der weder in Zünften oder unter die Kaufmannschaft eintragen lassen
Kaufmannschaft einschreiben wollen, auf ihre Rechnung in Unserer will - auf seine Rechnung in Unserer Residenz Sankt Petersburg
Residenz Sankt-Petersburg oder in benachbarten Städten in Lifland, oder in benachbarten Städten in Livland, Estland, Ingermanland,
Estland, Ingermanland, Carelien und Finland, wie nicht weniger in der Karelien und Finnland, genauso in der Residenzstadt Moskau -, ge-
Residenz-Stadt Moscau nehmen, haben fünf FreyJahre zu genießen. nießt fünf Freijahre. Außerdem soll jeder, der nicht nur für kurze
Wonechst ein jeder, der nicht nur auf einige kurze Zeit, sondern zur Zeit, sondern zur wirklichen Ansiedlung nach Russland kommt, ein
würklichen häuslichen Niederlassung, nach Rußland kommt, noch halbes Jahr lang freies Quartier haben.
über dem ein halbes Jahr hindurch frey Quartier haben soll.
3. Allen zur häuslichen Niederlassung nach Rußland gekommenen 3. Allen Ausländern, die nach Russland gekommen sind, um sich
Ausländern, die entweder zum Kornbau und anderer Handarbeit, oder hier niederzulassen, und Ackerbau und andere Handwerke betrei-
aber Manufacturen, Fabriken und Anlagen zu errichten geneigt sind, ben bzw. Manufakturen, Fabriken und Anlagen errichten wollen,
wird alle hülfliche Hand und Vorsorge dargeboten und nicht allein wird jede Hilfe und Vorsorge geboten. Diese orientiert sich an der
hinlanglich und nach eines jeden, erforderlichen Vorschub gereichet Notwendigkeit und dem künftigen Nutzen der zu errichtenden Fa-
werden, je nachdem es die Notwendigkeit und der künftige Nutzen briken und Anlagen, besonders aber von solchen, die bis jetzt in
von solchen zu errichtenden Fabriken und Anlagen erheischet, beson- Russland noch nicht errichtet worden sind.
ders aber von solchen, die bis jetzo in Rußland noch nicht errichtet
gewesen.
4. Zum Häuser-Bau, zu Anschaffung verschiedener Gattung im 4. Zum Häuserbau sowie zur Anschaffung von Vieh und von
Hauswesen benöthigten Viehes, und zu allerley wie beym Ackerbau, Instrumenten, Zubehör und Materialien, die beim Ackerbau und
also auch bey Handwerken, erforderlichen Instrumenten, Zubehöre beim Handwerk benötigt werden, soll jedem aus Unserer Reichs-
und Materialien, soll einem jeden aus unserer Cassa das nöthige Geld kasse das nötige Geld ohne alle Zinsen vorgeschossen werden.
ohne alle Zinsen vorgeschossen, sondern lediglich das Kapital, und Lediglich das Kapital soll im gleichen Umfang nach zehn Jahren
zwar nicht eher als nach Verfließung von zehn Jahren zu gleichen Thei- zurückgezahlt werden.
len gerechnet, zurück gezahlt werden.
5. Wir überlassen denen sich etablir- 5. Wir überlassen den Kolonien und
ten ganzen Colonien oder Landflecken die Landflecken, die sich gebildet haben, die
innere Verfassung der Jurisdiction ihrem innere Rechtssprechung nach ihrem eige-
eigenen Gutdünken, solcher-gestalt, daß nen Gutdünken, wobei die von Uns einge-
die von Uns verordneten obrigkeitlichen setzten obrigkeitlichen Personen an ihren
Personen an ihren inneren Einrichtungen inneren Einrichtungen keinen Anteil neh-
gar keinen Antheil nehmen werden, im men werden. Im Übrigen aber sind diese
übrigen aber sind solche Colonisten ver- Kolonisten verpflichtet, sich Unserem Zi-
pflichtet, sich Unserem Civil-Recht zu un- vilrecht zu unterwerfen. Sollten sie aber
terwerfen. Falls sie aber selbst Verlangen selbst wünschen, von Uns eine besondere
trügen eine besondere Person zu ihrem Person zu ihrem Vormund bzw. zur Wah-
Vormunde oder Besorger ihrer Sicherheit rung ihrer Sicherheit und Verteidigung zu
und Verteidigung von uns zu erhalten, bis erhalten, bis sie sich mit ihren Nachbarn
sie sich mit den benachbarten Einwohnern bekannt gemacht haben, so soll diesem
dereinst bekannt machen, der mit einer Wunsch entsprochen und die Person mit
Salvegarde von Soldaten, die gute Manns- einer Schutzwache von Soldaten, die zu
zucht halten, versehen sey, so soll Ihnen unbedingtem Gehorsam verpflichtet sind,
auch hierinnen gewillfahret werden. ausgestattet werden.
6. Einem jeden Ausländer, der sich in 6. Jedem Ausländer, der sich in Russ-
Rußland niederlassen will, gestatten Wir land niederlassen will, gestatten Wir die
die völlige zollfreie Einfuhr seines Vermö- völlig zollfreie Einfuhr jedweden Vermö-
gens, es bestehe dasselbe worinn es wolle, gens, jedoch unter dem Vorbehalt, dass
jedoch mit dem Vorbehalte, daß solches es nur zum eigenen Gebrauch, nicht aber
Vermögen in seinem eigenen Gebrauche Viktor Hurr: Anwerbung. zum Verkauf bestimmt ist. Jeder Familie,
und Bedürfnis, nicht aber zum Verkaufe die außer den eigenen Habseligkeiten
bestimmt sey. Wer aber außer seiner eigenen Nothdurft noch eini- Waren zum Verkauf mitbringt, gewähren wir freien Zoll für einen
ge Waaren zum Verkaufe mitbrächte, dem gestatten Wir freyen Zoll Warenwert von 300 Rubeln nur für den Fall, dass sie mindestens
für jede Familie vor drey Hundert Rubel am Werte der Waaren, nur zehn Jahre in Russland bleibt. Andernfalls wird bei der Rückreise
in solchem Falle, wenn sie wenigstens zehn Jahre in Rußland bleibt: Zoll sowohl für die mitgebrachte als auch für die ausgeführte Ware
widrigenfalls wird bey ihrer Zurück-Reise der Zoll sowol für die einge- verlangt.
kommene als ausgehende Waaren abgefordert werden.
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Beilage: Das Manifest der Zarin
8. Sobald sich Ausländer in der für sie errichteten Tütel-Canzley 8. Sobald sich Ausländer in der für sie errichteten Tutelkanzlei
oder sonst in Unsern Gränz-Städten gemeldet und ihren Entschluß oder in Unseren Grenzstädten gemeldet und ihren Entschluss be-
eröffnet haben, in das Innerste des Reiches zu reisen, und sich da- kannt gegeben haben, in das Innerste des Reiches zu reisen und
selbst häuslich niederzulassen, so bald werden selbige auch Kostgeld, sich dort anzusiedeln, werden sie am Ort ihrer Bestimmung Kost-
nebst freyer Schieße an den Ort ihrer Bestimmung bekommen. geld nebst freier Munition3 erhalten.
9. Wer von solchen in Rußland sich etablirten Ausländern derglei- 9. Ausländern, die sich in Russland eingerichtet sowie Fabriken,
chen Fabriken, Manufacturen und Anlagen errichtet, und Waaren Manufakturen und Anlagen errichtet und Waren hergestellt haben,
daselbst verfertigt, welche bis dato in Rußland noch nicht gewesen, die es bis dahin in Russland noch nicht gegeben hat, erlauben Wir,
dem gestatten Wir, dieselben Zehn Jahre hindurch, ohne Erlegung ir- diese zehn Jahre lang ohne inländische See- oder Grenzzölle frei zu
gend einigen inländischen See- oder Gränze-Zolles frey zu verkaufen, verkaufen und aus Unserem Reich zu exportieren.
und aus Unserm Reiche zu verschicken.
10. Ausländische Capitalisten, welche auf ihre eigenen Kosten in 10. Ausländischen Kapitalisten, die auf eigene Kosten in Russ-
Rußland Fabriken, Manufacturen und Anlagen errichten, erlauben land Fabriken, Manufakturen und Anlagen errichten, erlauben Wir,
Wir hiermit zu solchen ihren Manufacturen, Fabriken und Anlagen die für diese Manufakturen, Fabriken und Anlagen erforderlichen
erforderliche leibeigene Leute und Bauern zu erkaufen. Wir gestatten leibeigenen Leute und Bauern zu kaufen. Wir gestatten auch
auch:
11. Allen in Unserm Reiche sich in Colonien oder Landflecken nie- 11. allen Ausländern, die sich in Unserem Reich in Kolonien oder
dergelassenen Ausländern, nach ihrem eigenen Gutdünken Markt- Landflecken angesiedelt haben, nach ihrem eigenen Gutdünken
Tage und Jahrmärkte anzustellen, ohne an Unsere Cassa die gerings- Markttage und Jahrmärkte zu veranstalten, ohne an unsere Reichs-
ten Abgaben oder Zoll zu erlegen. kasse die geringsten Abgaben oder Zölle zu entrichten.
7. 7.
Aller obengenannten Vorteile und Einrichtung haben sich nicht In den Genuss der genannten Vorteile und Einrichtungen kom-
nur diejenigen zu erfreuen, die in Unser Reich gekommen sind, sich men nicht nur diejenigen, die sich in unserem Reich angesiedelt
häuslich nieder zu lassen, sondern auch ihre hinterlassene Kinder haben, sondern auch ihre Kinder und ihre Nachkommenschaft,
und Nachkommenschaft, wenn sie auch gleich in Rußland geboren, auch wenn sie in Russland geboren wurden. Ihre Freijahre sind von
solchergestalt, daß ihre Freyjahre von dem Tage der Ankunft ihrer dem Tag der Ankunft ihrer Vorfahren in Russland zu berechnen.
Vorfahren in Rußland zu berechnen sind.
8. 8.
Nach Verfließung obangesetzter Freyjahre sind alle in Rußland Nach Ablauf der angesetzten Freijahre sind alle Ausländer, die
sich niedergelassene Ausländer verpflichtet, die gewöhnlichen und sich in Russland niedergelassen haben, verpflichtet, die gewöhnli-
mit gar keiner Beschwerlichkeit verknüpften Abgiften zu entrichten, chen und mit keiner besonderen Belastung verbundenen Abgaben
und gleich Unsern anderen Unterthanen, Landes-Dienste zu leisten. zu entrichten und ebenso wie Unsere anderen Untertanen Landes-
dienste zu leisten.
9. 9.
Endlich und zuletzt, wer von diesen sich niedergelassenen und Schließlich und endlich: Ausländern, die sich in Russland nie-
Unsrer Bothmäßigkeit sich unterworfenen Ausländern Sinnes würde, dergelassen und Unserer Herrschaft unterworfen haben und beab-
sich aus Unserm Reiche zu begeben, dem geben Wir zwar jederzeit sichtigen, Unser Reich zu verlassen, geben Wir dazu zwar jederzeit
dazu die Freyheit, jedoch mit dieser Erleuterung, daß selbige ver- die Freiheit, jedoch unter der Maßgabe, dass sie verpflichtet sind,
pflichtet seyn sollen, von ihrem ganzen in Unserm Reiche wohlerwor- einen Teil ihres in Unserem Reich erworbenen Vermögens an Un-
benen Vermögen einen Theil an Unsere Cassa zu entrichten; diejeni- sere Reichskasse zu entrichten. Wer ein bis fünf Jahre in Unserem
gen nehmlich, die von Einem bis Fünf Jahre hier gewohnet, erlegen Land gewohnt hat, entrichtet ein Fünftel seines Vermögens, wer
den Fünften, die von fünf bis zehen Jahren und weiter, sich in Unsern von fünf bis zehn Jahre hier gewohnt hat, ein Zehntel. Danach darf
Landen aufgehalten, erlegen den zehenden Pfennig; nachher ist je- jeder ungehindert dorthin reisen, wo es ihm gefällt.
dem erlaubt ungehindert zu reisen, wohin es ihm gefällt.
10. 10.
Wenn übrigens einige zur häuslichen Niederlassung nach Rußland Im Übrigen sollen sich Ausländer, die sich in Russland niederlas-
Verlangen tragenden Ausländer aus einem oder anderen besonde- sen und aus dem einen oder anderen besonderen Beweggrund au-
ren Bewegungsgründen, außer obigen noch andere Conditiones und ßer den oben genannten noch andere Konditionen und Privilegien
Privilegien zu gewinnen wünschen würden; solche haben sich des- erhalten wollen, schriftlich oder persönlich an Unsere für Auslän-
halb an Unsere für die Ausländer errichteten Tütel-Canzley, welche der errichtete Tutelkanzlei wenden, die Uns alles vortragen wird.
uns alles umständlich vortragen wird, schriftlich oder persönlich zu Daraufhin werden Wir nach Prüfung der Umstände nicht zögern,
wenden: worauf Wir alsdann nach Befinden der Umstände nicht an- eine wohlwollende Allerhöchste Entscheidung zu treffen, die jeder
stehen werden, um so viel mehr geneigte Allerhöchste Resolution zuversichtlich von Unserer Gerechtigkeitsliebe erwarten kann.
ertheilen, als sich ein jeder von Unserer Gerechtigkeitshiebe zuver-
sichtlich versprechen kann. Erlassen zu Peterhof am 22. Juli 1763,
im zweiten Jahr Unserer Regierung
Gegeben zu Peterhof, im Jahre 1763 den 22ten Juli,
im Zweyten Jahre Unserer Regierung Das Original hat Ihre Kaiserliche Majestät
allerhöchst eigenhändig
Das Original haben Ihre Kayserliche Majestät folgendermaßen unterschrieben:
Allerhöchst eigenhändig
folgendergestalt unterschrieben: Gedruckt beim Senat am 25. Juli 1763.
Gedruckt beym Senate den 25. Juli 1763. 3 Ob damit das Wort "Schieße" im Originaltext korrekt über-
setzt wurde, ist fraglich.
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
1918
1. bis 14. Februar: Kongress der
Abgeordneten der ländlichen Kör-
perschaften in Warenburg, der auf
Grundlage des deklarierten Selbst-
bestimmungsrechts eine territoriale
Autonomie für die Wolgadeutschen
verlangt.
3. März: Frieden von Brest-Litowsk
mit gegenseitiger Repatriierungsklau-
sel für russischstämmige Bürger in
Deutschland bzw. deutschstämmige
Bürger in Russland.
April: Vertreter der Warenburger
Konferenz und des Verbandes der Blick auf Katharinenstadt, das spätere Marxstadt.
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
tonomen Gebiet 452.629 Einwohner, (NÖP; 1921-1928), die begrenztes Pri- bis nach Deutschland. Wegen gras-
darunter mehr als 96 Prozent Deut- vateigentum und Eigeninitiative zu- sierender Seuchen und minderwerti-
sche. lässt. ger Ernährung erreichen bei weitem
Im Laufe des Jahres geht die Ge- nicht alle Hungerflüchtlinge die ange-
1921 bietsbevölkerung um 20,5 Prozent auf strebten Orte. Hinzu kommen 47.777
März bis April: Hungeraufstände 359.460 Menschen zurück. Offiziell ver- erfasste Todesfälle, in ihrer Mehrheit
in mehreren wolgadeutschen Dörfern, lassen 74.084 Bewohner das nationale Hungeropfer, denen immerhin 18.701
die brutal niedergeschlagen werden. Gebiet und ziehen nach Turkestan, in Geburten gegenüber stehen.
März: Übergang im ganzen Land den Trans- und Nordkaukasus, nach 30. November: Der bedeutende
zur „Neuen Ökonomischen Politik“ Zentralrussland, in die Ukraine und Polarforscher Fridtjof Nansen besucht
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
als Leiter des internationalen „Kinder- schan) zur Gründung der Union der ASSR der Wolgadeutschen, Wilhelm
hilfswerks“ Marxstadt, das Zentrum Sozialistischen Sowjetrepubliken, d.h. Kurz, bei denen er Unterredungen
des Hungergebietes. der UdSSR. über wirtschaftliche und kulturelle
Dem Aufruf der Sowjetregierung Beziehungen der Wolgarepublik mit
zur Linderung der Hungersnot folgen 1923 Deutschland führt.
zahlreiche ausländische Hilfsorganisa- Neugründung der ältesten und 27. August: Das Politbüro des ZK
tionen wie das Deutsche Rote Kreuz, wichtigsten pädagogischen Anstalt der WKP(B) erlaubt der Wolgarepub-
die American Relief Administration, in der Wolgarepublik, des Marxstäd- lik, direkte Kontakte mit Deutschland
das „Kinderhilfswerk“, das Hilfswerk ten Deutschen Pädagogischen Techni- aufzubauen, um so ihre „politische
der wolgadeutschen Emigranten und kums (Fachschule). Bedeutung“ zu stärken.
andere. 13. Dezember: Das Politbüro 9. Juni: Gründung des Zentralmu-
In Berlin konstituiert sich der hu- des ZK der Bolschewistischen Partei seums der ASSRdWD in Pokrowsk.
manitäre Ausschuss „Brüder in Not“, [WKP(B)] unter Stalins Vorsitz stimmt Erster Direktor wird der bekannte
um für die „notleidenden deutschen in einer streng geheimen Sitzung dem Sprachwissenschaftler Prof. Georg
Kolonisten in Russland“ Sammlun- Vorschlag aus Pokrowsk zu, das Wol- Dinges.
gen, Paketsendungen und andere gadeutsche Gebiet in eine autonome
Hilfsaktivitäten zu organisieren. Republik umzuwandeln. 1926
31. Januar: Der 3. Rätekongress
1922 1924 der ASSRdWD nimmt die erste wol-
Im Deutschen Gebiet haben die 6. Januar: Auf der Sitzung des gadeutsche Verfassung an, die weit-
American Relief Administration und Zentralexekutivkomitees der Arbeits- gehende Kompetenzen der Republik
das „Kinderhilfswerk“ seit November kommune (des Autonomen Gebietes) vorsieht. Aber auch nach mehrmaliger
1921 mehr als 80.000 Kinder verpflegt; der Wolgadeutschen in Pokrowsk Überarbeitung wird der Entwurf nicht
hinzu kommt in den Sommermona- wird die Autonome Sozialistische von den übergeordneten Organen der
ten die zusätzliche Verpflegung von Sowjetrepublik der Wolgadeutschen RSFSR bzw. der Union bestätigt.
181.000 Erwachsenen. Anfang 1922 (ASSRdWD) feierlich proklamiert. März bis April: Delegationen aus
darf eine medizinische Hilfsexpediti- 20. Februar: Die Regierung der der Wolgarepublik in Deutschland. Sie
on des Deutschen Roten Kreuzes mit Russländischen Föderativen Sowjetre- werden von Johannes Schwab, dem
Stützpunkt in Saratow ihre Tätigkeit publik bestätigt in einem Dekret offi- Vorsitzenden des Zentralexekutivko-
zur Bekämpfung der Seuchengefahr, ziell die Umwandlung des Gebietes in mitees der ASSRdWD (in den Medien
vor allem durch Cholera, Typhus und eine autonome Republik. als „Staatspräsident“ tituliert), und
Malaria, aufnehmen. Auf Druck der 19. Mai: Verabschiedung von Maß- dem Volkskommissar für Bildungs-
sowjetischen Behörden müssen aller- nahmen zur Einführung der deutschen wesen, Josef Schönfeld, geleitet.
dings alle ausländischen Hilfsorga- Sprache in allen gesellschaftlichen und 17. Dezember: Laut der ersten uni-
nisationen 1924 ihre Tätigkeit in der kulturellen Bereichen der Republik. onsweiten Volkszählung leben in der
UdSSR einstellen. ASSR der Wolgadeutschen 571.578
22. Juni: Die Regierung der Russ- 1925 Menschen, davon 379.630 Deutsche
ländischen Sozialistischen Föderati- März bis Mai: Längerer Aufent- (66,4 Prozent), 116.561 Russen (20,4
ven Sowjetrepublik (RSFSR) stimmt, halt in Berlin des Regierungschefs der Prozent), 68.561 Ukrainer (12,0 Pro-
ungeachtet der strikt ablehnenden
Haltung der Saratower Gouverne-
mentsführung, einer „Abrundung“
des Wolgadeutschen Gebietes durch
die Eingliederung von russischen und
ukrainischen Siedlungen im Bezirk
Pokrowsk zu. Die Hauptstadt des Ge-
bietes wird nach Pokrowsk (ab 1931
Engels) verlegt.
Die Gesamtfläche der Autono-
mie vergrößert sich dadurch um 29
Prozent auf 25.447 km², die Bevölke-
rungszahl um 64 Prozent auf 527.876.
Administrativ-territorial besteht das
neue Gebiet nun aus 14 Kantonen
(Landkreise).
30. Dezember: Deklaration der vier
damaligen Unionsrepubliken Russ-
land (RSFSR), Ukraine, Weißrussland
und Transkaukasische Föderation
(Georgien, Armenien und Aserbaid- Sarepta, Zentrum der Baumwollweberei an der Wolga.
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
1932-33
Zweite große Hungersnot an der
Wolga, in Kasachstan und in der Ukra-
ine als direkte Folge der überstürzten
Kollektivierung. Zwischen 35.000 und
„Tag der Presse“ in Mariental. 40.000 Wolgadeutsche werden Opfer
dieser stalinschen „Umgestaltung der
zent) und andere zahlenmäßig kleine- 20. Dezember: Beginn massenhaf- Landwirtschaft“.
re Nationalitäten. ter Unruhen. Widerstand und Proteste Die wieder aktiv gewordene Ak-
der Bauern gegen die Verschickungen tionsgemeinschaft „Brüder in Not“,
1927 von „Kulaken“ und die zwangsweise die Geldüberweisungen und Lebens-
6. Dezember: Beschluss des Überführung in die Kolchosen; beson- mittelpakete aus Deutschland an die
Zentralexekutivkomitees der RSFSR, ders heftig in den Kantonen Kamenka Betroffenen weiterleitet, wird von
Ortschaften ihre deutschen Namen und Frank. sowjetischen Propagandisten als Hit-
zurückzugeben, die sie bis 1914 ge- ler-Hilfe denunziert. Die Empfänger
führt haben. 1930 der Hilfen werden wegen „antisow-
6. Januar: Offizielle Eröffnung des jetischer Handlungen“ öffentlich ver-
1928 bis 1932 Deutschen Staatlichen Pädagogischen urteilt und nicht selten strafrechtlich
Abkehr von der Politik der NÖP. Instituts (Pädinstitut) in Pokrowsk. belangt.
Zwangskollektivierung der selbstän- 30. Januar: Verhaftung des ersten
digen Bauernwirtschaften, verbun- Prorektors des deutschen Pädinsti- 1932
den mit der restlosen Enteignung der tuts, Prof. Georg Dinges. Auftakt zum Januar: Unweit von Engels wird
wohlhabenden Bauern („Kulaken“) Kampf gegen den „deutschen bürger- das größte Fleischkombinat der UdSSR
und ihrer Verbannung nach Kasachs- lichen Nationalismus“ in der Repub- aufgebaut.
tan und in den Hohen Norden. Ursa- lik.
che der großen Hungersnot 1932-33. 23. Juli: Beschluss des Zentralexe 1933
kutivkomitees der ASSRdWD über 18. Oktober: Inmitten der grassie-
1928 die Gründung des nationalen deut- renden Hungersnot Feierlichkeiten
28. Juni: Die Republik wird Teil schen Theaters. zum 15. Gründungstag der Wolga-
der Unteren Wolgaregion. deutschen Autonomie. Die Zentral-
5. Oktober: Beschluss der Regie- 1931 zeitung „Prawda“ preist mit einem
rung der RSFSR über die Gründung 9. Januar: Beschluss über die Grün- großen Aufmacher die Erfolge der Re-
des Deutschen Pädagogischen Insti- dung des Deutschen Landwirtschaftli- publik und „entlarvt“ das wirtschaft-
tuts in Pokrowsk zur Ausbildung von chen Instituts. liche und soziale Elend im faschisti-
Lehrern für Mittelschulen mit deut- 27. Februar: Erste Gebietskonfe- schen Deutschland.
scher Unterrichtssprache. renz der wolgadeutschen proletari-
schen Schriftsteller. 1934
1929 März: Der 8. Räte(Sowjet)-Kon- 10. Januar: Die Untere Wolgaregi-
5. Januar: Breit angelegte Feier- gress der ASSRdWD beschließt, dass on wird aufgelöst, die ASSR der Wol-
lichkeiten zum 10. Jahrestag der Grün- die Republik der Wolgadeutschen zu gadeutschen Teil der Saratower Regi-
dung der Wolgadeutschen Autonomie, einer Musterrepublik der kompakten on.
in Anlehnung an das Dekret vom 19. Kollektivierung werden muss. Schon Januar: Gründung des Wolgadeut-
Oktober 1918 und den Beschluss von früher tauchte der Slogan „Muster- schen Philharmonischen Orchesters,
Anfang Januar 1924 zur Umwandlung oder Vorreiterrepublik“ mehrmals das später in die Wolgadeutsche Phil-
in eine Autonome Republik. auf, aber vor allem danach prägt die- harmonie umgewandelt wird.
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
1936
5. Dezember: Annahme der sog.
stalinschen Verfassung, die eine direk-
te oder indirekte Beschränkung der
Rechte von Personen aufgrund ihrer
Volkszugehörigkeit oder die Propa-
gierung von Nationalitätenhass unter
Strafe stellt. Gleichzeitig kommt die
ASSRdWD aus der „Obhut“ von Sara-
tow und wird den Zentralorganen der
Das Pädagogische Institut (oben) und die Technische Hochschule in Engels, der RSFSR direkt unterstellt.
Hauptstadt der Wolgadeutschen Republik.
1937
29. April: Der Außerordentliche 10.
Sowjetkongress der ASSRdWD nimmt
die Konstitution der Republik an. Das
Grundgesetz besteht aus 113 Artikeln;
darunter Art. 15: „Das Territorium der
ASSR der Wolgadeutschen kann ohne
Einverständnis der ASSR der Wolga-
deutschen nicht geändert werden.“
26. Juli: Plenarsitzung des Gebiets-
parteikomitees, das die Absetzung des
Ersten Parteisekretärs Eugen Frescher
bestätigt. Seither und bis zum Ende
der Republik stehen an der Spitze der
Parteiorganisation nur nichtdeutsche
Kader (Jakow Popok, Iwan Anoschin,
Sergej Malow und andere).
12. Dezember: Neun Wolgadeut-
sche werden in den Obersten Sowjet
der UdSSR, das „höchste Organ der
Staatsgewalt“, gewählt.
17. August bis 1. September: Lite- publik in 21 Kantone und die Haupt-
raten der Republik nehmen am Grün- stadt Engels. 1938
dungskongress des Schriftstellerver- 12. Dezember: Erster Auftritt des 26. Juni: Wahlen in den Obersten
bandes der UdSSR teil. Auftritt des deutschen Kolchos-Sowchos-Theaters Sowjet der ASSRdWD.
Leiters der Delegation, Franz Bach, in Balzer. 25. bis 27. Juli: Konstituierte Sit-
vor dem Kongress am 31. August und Das ganze Jahr bis in den Frühling zung des Obersten Sowjets (OS) der
Wahl in den Vorstand des Schriftstel- 1936 Berichte der Zentralmedien über Republik. Zum Regierungschef wird
lerverbandes der UdSSR.
5. November: Das ZK der WKP
(B) verschickt eine Anordnung in alle
Landesteile, die zum Kampf gegen
„Faschisten“ unter den Russlanddeut-
schen auffordert. Eine Welle von Re-
pressionen erfasst die Wolgarepublik.
1935
14. Januar: Neue Aufteilung des
Territoriums der Wolgadeutschen Re- Ausweis des Regierungschefs der Republik, Alexander Heckmann.
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
1988
Bildung und Entsendung von drei
russlanddeutschen Delegationen
nach Moskau, die von den zentralen
Machtorganen die vollständige Reha-
bilitierung der Volksgruppe verlan-
gen; dazu gehört die Verabschiedung
eines staatlich finanzierten Rückkehr-
programms in die wieder hergestellte
autonome Republik an der Wolga.
1989
16. Januar: Dekret des Präsidiums
des Obersten Sowjets der Sowjetunion
„Über zusätzliche Maßnahmen zur
Wiederherstellung der Gerechtigkeit
hinsichtlich der Opfer der Repres-
sionen im Zeitraum der 1930er und
1940er sowie zu Beginn der 1950er
Jahre“.
Im März wird in Moskau die Ge-
sellschaft „Wiedergeburt“ gegründet,
deren primäres Ziel die Wiedererrich-
tung der deutschen Autonomie ist.
14. November: Erklärung des
Obersten Sowjets der UdSSR „Über
die Bewertung der Repressionsakte
gegen Völker, die gewaltsam umge-
siedelt wurden, als ungesetzlich und
verbrecherisch und über die Gewähr
der Rechte dieser Völker“.
1991
12. bis 15. März: Außerordentli- Denkmal für die russlanddeutschen Opfer der Verfolgung in Engels.
cher Kongress der gewählten Vertre-
ter der deutschen Bevölkerung, der zin, den Autonomieplänen eine un- zum 70. Jahrestag der Deportation der
die unverzügliche Wiederherstellung missverständliche Absage. Deutschen in der ehemaligen UdSSR
der autonomen Republik an der Wol- 21. Februar: Jelzin erlässt den Ukas und der Auflösung der Wolgadeut-
ga fordert. „Über sofortige Maßnahmen zur Re- schen Republik.
24. April: Russland erklärt mit dem habilitation der Russlanddeutschen“, 28. August: Nach langen Quere-
Gesetz „Über die Rehabilitierung der in dem ein deutscher nationaler Ra len Enthüllung des Denkmals für die
repressierten Völker“ die seinerzei- yon im Gebiet Saratow und ein Land- deutschen Opfer der Deportation,
tigen Repressionen gegen Russland- kreis im Gebiet Wolgograd vorgese- das durch private Spenden errichtet
deutsche und andere Völker für geset- hen sind. Diese Absichten bleiben auf wurde, im eingezäunten Innenhof
zeswidrig und verbrecherisch. dem Papier. des ehemaligen Zentralarchivs der
ASSR der Wolgadeutschen in Engels.
1992 2011 Ministerpräsident Medwedew, Pre-
8. Januar: In einer Rede im Ge- Zahlreiche Maßnahmen und Ge- mierminister Putin und andere füh-
biet Saratow erteilt der Präsident der denkveranstaltungen in Deutschland, rende Politiker blieben dem Ereignis
Russländischen Föderation, Boris Jel- in Russland und anderen GUS-Staaten demonstrativ fern.
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
Wendelin Jundt:
Bundesverdienstkreuz und
Landesverdienstkreuz
für besonderes Engagement
Als Zeichen der Anerkennung der
Verdienste in der Integrationsarbeit
wurde Wendelin Jundt 1993 mit dem
Bundesverdienstkreuz am Bande des
Verdienstordens der Bundesrepublik
Deutschland gewürdigt. 2004 erhielt
er für sein besonderes Engagement
und langjähriges Wirken zum Wohle
der Allgemeinheit in Niedersachsen
das Verdienstkreuz am Bande des
Niedersächsischen Verdienstordens.
Der Nienburger stammt aus Selz,
Odessa, wo er 1930 geboren wur- Frieda Dercho:
de. 1973 durfte er mit seiner Familie „Niedersachsen-Ross“
Lilli Bischoff nach Deutschland ausreisen. Der da- für beispielhafte
mals 43-Jährige engagierte sich zu- Integration
Lilli Bischoff: erst im BdV und später vor allem in
Bundesverdienstkreuz als der Landsmannschaft der Deutschen Im Oktober 1990 „landete“ Frieda
Zeichen der Anerkennung aus Russland. 1984 gründete er die Dercho in Osnabrück und wurde be-
Ortsgruppe Nienburg, wurde deren reits ein Jahr später in den Vorstand
langjährigen Engagements Vorsitzender und bald darauf Motor der Ortsgruppe Osnabrück der Lands-
Als Zeichen der Anerkennung ihrer und Vorsitzender der Landesgruppe mannschaft gewählt. Die ehemalige
ehrenamtlichen Tätigkeit wurde Lilli Niedersachsen (1990-2002). Lehrerin aus Sibirien kümmerte sich
Bischoff 2007 das Bundesverdienst- Mit großem Erfolg organisierte um Familienzusammenführung und
kreuz am Bande des Verdienstordens er sieben Landestreffen mit bis zu Beratung, wurde dann stellvertreten-
der Bundesrepublik Deutschland ver- 10.000 Teilnehmern. Hervorzuheben de Vorsitzende und steht seit 2000 en-
liehen. sind seine Verdienste in der Sozialbe- gagiert an der Spitze der Ortsgruppe.
Die Tatkraft von Lilli Bischoff, die ratung auf allen Ebenen bis hin zum Im Rahmen des landesweiten Pro-
im Arbeitsamt Hannover arbeitet, ist berufenen Referenten des Bundesvor- jektes „Angekommen“ wurde sie 2007
erstaunlich. Gleich nach ihrer Ankunft standes der Landsmannschaft, dem er mit dem „Niedersachsen-Ross“ für
1988 in Deutschland gründete sie in von 1993 bis 1995 angehörte. Für sein eine beispielhafte Integration ausge-
ihrem Wohnort Barsinghausen eine unermüdliches Engagement wurde zeichnet.
Ortsgruppe der Landsmannschaft und Wendelin Jundt mit der goldenen Eh- Geboren 1935 in Mariental, Wolga,
stürzte sich in die Integrationsarbeit rennadel des Vereins ausgezeichnet. wurde Frieda Dercho nach Sibirien
mit Aussiedlern. Besonders beispiel-
haft ist ihr Einsatz für die Integration
von Jugendlichen in Barsinghausen.
Seit 2006 ist sie Vorsitzende der
Landesgruppe Niedersachsen der
Landsmannschaft, deren Bundesvor-
stand sie über Jahre angehörte.
Außerdem kümmert sich Lilli Bi-
schoff um Hilfsmaßnahmen für die
Menschen in Kowel, Ukraine, die vom
Atomreaktorenunglück von Tscherno-
byl betroffen sind. 1995 gründete sie
den Verein „Kinderhilfe Ukraine“, der
sich für kostenlose Erholungsmaßnah-
men für die Kinder aus Kowel und ei-
nen Kulturaustausch einsetzt. Beste Glückwünsche für Wendelin Jundt (Mitte)
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
(Altairegion) deportiert. Dem Traum, tionen nach Hannover. Vom ersten Tag aufgelöst wurde. So begann Andreas
Ärztin zu werden, stand ihre deutsche an setzte sich Peter Reger als ehren Maurer eine Lehre bei der Post und
Nationalität im Wege. So wurde sie amtlicher Mitarbeiter der Landsmann wurde Postbeamter.
Lehrerin und blieb der pädagogischen schaft für die Belange der Deutschen Seit 15 Jahren ist der fünffache Vater
Tätigkeit 36 Jahre lang treu. aus Russland ein. Unzählige Hilfesu parteipolitisch aktiv. 2001 kandidierte
Als sich die Hoffnungen auf eine chende hat er beraten und begleitet. er zum ersten Mal für den Gemein
Wiederherstellung der Wolgarepub Nicht wegzudenken war sein Enga derat und wurde Ratsmitglied im
lik als Illusion erwiesen, wanderte sie gement bei Eingliederungsseminaren Gemeinderat der Samtgemeinde Art
nach Deutschland aus. Vom ersten Tag und Informationsveranstaltungen der land. Bei den Kommunalwahlen 2011
an unterstützte sie ihre Landsleute mit Landsmannschaft, die den Neuan wurde Maurer Kreistagsabgeordneter
Rat und Tat. kömmlingen das nötige Rüstzeug für in Osnabrück.
2010 wurde Frieda Dercho mit dem die Eingliederung vermittelten. Nicht Innerhalb der Landsmannschaft
Yilmaz-Akyürek-Preis der Stadt Osna unerwähnt darf auch seine zentrale der Deutschen aus Russland engagiert
brück ausgezeichnet. Es ist die Aner Rolle bei der Organisation von acht sich Maurer auf Orts-, Landes- und
kennung der ehrenamtlichen Tätigkeit niedersächsischen Landestreffen blei Bundesebene.
einer mutigen Frau. Mit der Auszeich ben.
nung wurden Verdienste anerkannt, Seine über 25-jährige Tätigkeit an Ludmilla Neuwirth:
die sich Frieda Dercho insbesondere der Spitze der Ortsgruppe Hannover Politisch erfolgreich
durch ihr außerordentliches Engage war gekennzeichnet von Bemühun
ment bei der Landsmannschaft der gen, die Zusammenarbeit mit allen
in Wolfsburg
Deutschen aus Russland und ihre Un Einrichtungen und politischen Ent
terstützung der in Osnabrück leben scheidungsträgern auf Stadt- und
den Aussiedler erworben hat. Landesebene aufzubauen und auf
rechtzuerhalten.
Peter Reger:
Ehrenorden des Landes Andreas Maurer:
Niedersachsen für Engagement in der
vorbildliches Engagement Integrationsarbeit
und Kommunalpolitik
Ludmilla Neuwirth
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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
Ludmilla Neuwirth begann als Sozi- parlament gewählt. 2005 trat er in die Seit vielen Jahren ist sie ehrenamt-
alpädagogin für die Betreuung junger Junge Union ein und wurde Jugendre- lich bei der Landsmannschaft der
Spätaussiedler beim Diakonischen gionspräsident der Region Hannover, Deutschen aus Russland aktiv, in der
Werk Wolfsburg. 2000/02 studierte sie ein Jahr später Mitglied der CDU. Seit Ortsgruppe Hannover und im nieder-
berufsbegleitend und ist seitdem auch 2006 ist er Ratsmitglied in Laatzen, sächsischen Landesvorstand. 2009-
Diplom-Sozialwirtin. aktuell Vorsitzender des Ausschusses 2012 leitete sie zusammen mit Anna
Besonderen Erfolg hat Ludmilla für Wirtschaft und Vermögen. Welz das landesweite Projekt „Stark
Neuwirth als Kommunalpolitikerin. Ab 2006 engagierte sich Paul Dera- und offen in Niedersachsen“.
2005 wurde sie Ortsbürgermeisterin bin als beratendes Mitglied im Stadt-
von Westhagen und 2006 Ratsfrau im verbandsvorstand und Pressesprecher Lilli Hartfelder:
Rat der Stadt Wolfsburg. Schwerpunk- der Jungen Union in Laatzen. Gegen- Offenes Ohr für die Nöte
te ihrer Ratstätigkeit sind Integration, wärtig ist er Mitglied im Arbeitskreis
Soziales und Jugend. Migranten der CDU in Niedersachsen,
Anderer
der Aussiedlerbeauftragtenkonferenz
Paul Derabin – der CDU Deutschlands und im Ar-
sieht sich als Bindeglied beitskreis Junger Integrationspolitiker
der Konrad-Adenauer-Stiftung.
zwischen Politik
und Spätaussiedlern Svetlana Judin:
Ehrenamtliches und
berufliches Engagement
in der Integrationsarbeit
Lilli Hartfelder
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