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1763-2013

250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

Herausgegeben von der Landesgruppe Niedersachsen


der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V.

Gefördert durch die Landesregierung Niedersachsen


250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

Grußwort
der Landesbeauftragten für Migration und Teilhabe
anlässlich des 250. Jahrestages der Veröffentlichung
des Einladungsmanifests der Zarin Katharina II.

Das Einladungsmanifest der Zarin Ich bin davon überzeugt, dass wir
Katharina II. vom 22. Juli 1763 mar- einander besser verstehen und akzep-
kiert für die Deutschen aus Russland tieren können, wenn wir mehr vonei-
und ihre Landsmannschaft den Be- nander wissen. Es würde mich freuen,
ginn eines langen Weges. Mit der Ver- wenn auf diesem Wege dazu beige-
öffentlichung ihres Manifests hatte die tragen wird, Verständnis zu schaffen,
Zarin, die als geborene Prinzessin von Vorurteile abzubauen und das ver-
Anhalt-Zerbst selbst aus Deutschland meintlich Fremde vertrauter zu ma-
stammte, versucht, die wirtschaftliche chen.
Entwicklung und Kultivierung des
Landes mit Ausländern voranzutrei- Wir müssen verstehen lernen, dass
ben. es sich nicht um die Geschichte Frem-
der handelt, sondern um einen Teil der
Vor 250 Jahren wütete in Deutsch- deutschen Geschichte. Die Geschichte
land der Siebenjährige Krieg. So war der Russlanddeutschen ist auch unse-
es seinerzeit ein attraktives Angebot, re Geschichte. Die Erinnerung an den
Deutschland zu verlassen und - auf- Beginn des Weges der Deutschen aus
grund verbriefter Privilegien wie Re- Russland vor 250 Jahren bildet einen
ligionsfreiheit, das Recht auf Selbst- wesentlichen Baustein zur Identitäts-
verwaltung in den Siedlungsgebieten, findung dieser Zuwanderungsgrup-
Freistellung vom Militärdienst, Steu- Doris Schröder-Köpf pe. Für die Landsmannschaft ist das
erfreiheiten sowie Zuweisungen an Jubiläum daher ein wichtiges Datum.
Familien oder Gewährung zinsloser wirtschaftlichem Aufschwung und
Aufbauhilfen - nach Russland überzu- Wohlstand im 19. Jahrhundert führ- Ein historischer Überblick allein ist
siedeln. te, ehe im 20. Jahrhundert Hundert- aber nicht ausreichend, um die Situ-
tausende zu Opfern des Stalinismus ation der Spätaussiedler aus der ehe-
Die deutschen Einwanderer waren wurden: Deportation nach Sibirien maligen Sowjetunion und ihre Lage
stets begehrte Fachkräfte und Spezi- und Zentralasien und entbehrungsrei- in Deutschland verstehen zu können.
alisten, die sich unter den damaligen che Jahrzehnte unter Kommandantur Vielmehr müssen Fragen rund um
attraktiven Rahmenbedingungen ent- in Sondersiedlungen folgten. Erst die ihre Herkunft, Stellung oder ihre Be-
falten konnten. Fleiß und Tüchtigkeit Entspannungspolitik Gorbatschows deutung für Deutschland beantwortet
der Siedler haben den wirtschaftli- eröffnete den Deutschen in Russland werden. Nur so kann ihre Eingliede-
chen Aufstieg Russlands maßgeblich die Möglichkeit, die Gebiete der ehe- rung als Teil der bundesdeutschen Ge-
gefördert. Wegen ihrer Tatkraft waren maligen Sowjetunion als (Spät-)Aus- sellschaft erfolgreich sein.
die deutschen Siedler im zaristischen siedler verlassen zu können.
Russland daher willkommen und all- Die Broschüre der Landesgruppe
seits wertgeschätzt. Die Gruppe der Spätaussiedler und Niedersachsen der Landsmannschaft
ihre Familien bildeten in den letzten der Deutschen aus Russland skizziert
Mit den beiden Weltkriegen jedoch, beiden Jahrzehnten die größte Zuwan- hierzu in gelungener Art und Weise
den offenen Feindseligkeiten zwi- derungsgruppe in Niedersachsen. die Schicksalswege der Deutschen in
schen dem deutschen und russischen Russland, veranschaulicht deren Le-
Staat, verschlechterte sich zunehmend Deutsche Aussiedler aus Russland ben und ist damit ein wichtiger Bei-
auch das Verhältnis zwischen der rus- und vor allem jugendliche Spätaus- trag zur Verständigung der Menschen
sischen Bevölkerung und den deutsch- siedler haben es schwer, in Deutsch- in Niedersachsen.
stämmigen Siedlern. land als Deutsche akzeptiert zu wer-
den. Dafür gibt es viele Gründe. Ein Ihre
Für die Deutschen in Russland bzw. Grund ist die Unkenntnis über die Ge-
später in der Sowjetunion begann da- schichte der Deutschen in Russland.
mit ein weiterer Teil russlanddeut- Wer sind die Deutschen aus Russland, Doris Schröder-Köpf
scher Siedlungsgeschichte, die nach was haben sie erlebt, warum sprechen
opferreichen Anfangsjahrzehnten zu manche kaum Deutsch?

Titelbild: Statue der jungen Zarin Katharina II. in Zerbst/Anhalt. Bild: Reinhard Uhlmann.
1763 - 2013
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
Gewidmet dem 250. Jahrestag der Veröffentlichung
des Einladungsmanifests der Zarin Zarin Katharina II. der Großen
vom 22. Juli 1763,
das am Anfang der Auswanderung von Deutschen nach Russland
im größeren Umfang steht und dem im Jahr darauf
die Gründung der ersten deutschen Kolonien an der Wolga folgte

Herausgegeben
von der Landesgruppe Niedersachsen
der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V.

Gefördert durch die Landesregierung Niedersachsen.

Inhalt
Vorwort der Landesbeauftragten Nina Paulsen: Katharina die Große:
für Migration und Teilhabe, Eine Deutsche
Doris Schröder Köpf 2 auf dem russischen Zarenthron 18, 23
Johann Kampen: Vor dem Manifest Nina Paulsen: Überblick: Der weite Weg
der Zarin Katharina II. 4 an die Wolga und zurück 19-22
Heinrich Heidebrecht: Andreas Schlüter 7 Manifest der Zarin Katharina II.
Nina Paulsen: Deutsche wandern nach Russland aus: vom 22. Juli 1763 26
Ansiedlung an der Wolga Dr. Viktor Krieger: Wolgadeutsche Republik -
und in anderen Gebieten 8 Zeittafel 30
Die Wolgadeutschen - seit 250 Jahren Im Einsatz
auf der Suche nach einer Heimat 16 für die Deutschen aus Russland 38

© 2013
Herausgeber: Landesgruppe Niedersachsen
der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V.
Gefördert durch die Landesregierung Niedersachsen.
Raitelsbergstraße 49, 70188 Stuttgart
Tel.: 0711-16650-0, Fax: 0711-2864413, E-Mail: Lmdr-ev@t-online.de, www.deutscheausrussland.de
Redaktion: Hans Kampen
Beiträge: Nina Paulsen, Johann Kampen, Dr. Viktor Krieger, Heinrich Heidebrecht.

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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

Vor dem Manifest der Zarin Katharina II.

I
n der Geschichtsschreibung ein bis zum 18. Jahrhundert in anderen baut. Ausländern war bereits um 1560
wenig zu kurz gekommen sind Regionen Russlands kaum ein deut- der Weinhandel erlaubt worden, was
die Aktivitäten und das Leben sches Leben gab, wie es später in Stadt sich als gute Einnahmequelle erwies.
der Deutschen in den Weiten und Land an der Wolga, in der Ukra- Die Sloboda hatte zwei Straßen, die
Russlands vor 1763, d.h. vor dem Ma- ine, im Kaukasus, in Wolhynien oder Narwskaja und die Derpskaja, zur Er-
nifest der großen Deutschen auf dem auf der Krim pulsierte. innerung an die baltischen Städte, aus
Zarenthron, Katharina II., mit dem Ein besonderes Kapitel hätten na- denen viele Bewohner der Sloboda
die gebürtige Prinzessin Sophie Frie- türlich die Baltendeutschen verdient, stammten.
derike Auguste von Anhalt-Zerbst die eine herausragende Rolle bei der 1580 zerstörten auf Befehl des Za-
ihre ehemaligen Landsleute ins Land Kolonisation Russlands gespielt ha- ren dessen Gardisten, die „Opritsch-
rief. ben. Deutsche aus Estland, Lettland niki“, die Sloboda. Die Kirche der
und Litauen dürften jedoch nichts da- Ausländer wurde geplündert und in
Mit diesem Beitrag wird der Ver- gegen einzuwenden haben, wenn sie Brand gesetzt. Die Schäden dieser Bar-
such unternommen, etwas mehr an dieser Stelle nicht der Gruppe ty- barei wurden erst unter den Nachfol-
Licht in die ferne Vergangenheit einer pischer russlanddeutscher Aussiedler gern von Iwan IV. behoben, von denen
Volksgruppe zu bringen, die ohne ihr zugerechnet werden. der ausländerfreundliche Zar Boris
Dazutun zwischen die Mühlsteine der Weitere tiefere Einblicke in die russ- Godunow (1598-1605) durch ein Dra-
Weltmächte geriet und in neuester Zeit landdeutsche Vergangenheit ergäben ma von Puschkin und eine Oper von
bedauert, dass sie selbst im Land ihrer das Wirken deutscher Kaufleute im Mussorgski historische Berühmtheit
Ahnen außer in Verbindung mit nega- Süden Russlands seit der Christiani- erlangte.
tiven Schlagzeilen kaum noch wahr- sierung der Kiewer Russ im Jahr 988 Sehr unterschiedliche Jahre warte-
genommen wird. Dass dabei haupt- und die Beziehungen der deutschen ten auf die Nemetzkaja Sloboda kurz
sächlich die Ereignisse in den beiden Hanse nach Nowgorod im Norden darauf zur Zeit der „Smuta“ (Wirren)
bedeutendsten Städten Russlands zur des Reiches ab 1229. Dazu an anderer unter den falschen Zaren Pseudodi-
Sprache kommen, liegt daran, dass es Stelle mehr. mitri I. und Pseudodimitri II. Unter
Pseudodimitri I. wurde die deutsche
Siedlung dank der guten Beziehun-
gen des deutschen Pastors Martin Bär
Moskau und seine zu ihm verschont, sie war aber unter
Deutsche Siedlung (Nemetzkaja Sloboda) Pseudodimitri II. um 1610 wieder
schwersten Brandschatzungen ausge-
setzt.

1517 und 1521 folgten mehrere


deutsche Kanoniere dem
Ruf von Werbern und zogen in den
Während der für Iwan den Schreck-
lichen erfolgreichen Phase dieses Krie-
ges wurde in Moskau die „Nemetzka-
Erst nach dem Tod von Iwan IV.
(1584) durften die Deutschen wieder
in ihre Heimat zurückkehren oder in
Moskauer Vorort „Nalejka“ (kleinrus- ja Sloboda“ („Deutsche Siedlung“) Moskau bleiben.
sisch „Naliwka“), um die Stadt gegen gegründet. Um 1560 hatten russische 1606 gestattete Pseudodimitri I. im
die Tataren zu verteidigen. Die Na- Truppen Städte im Baltikum und an- Kreml den Bau eines hölzernen Bet-
men hatten allerdings noch nichts mit derswo erobert und siedelten viele hauses, das jedoch bereits 1610 von
der späteren „Nemetzkaja Sloboda“ Bewohner, darunter auch Deutsche, den Horden Pseudodimitris II. zer-
zu tun, sondern mit Likör. nach Wladimir, Kostroma, Nischnij stört wurde. 1612 durften die Deut-
1547 schickte Iwan der Schreckliche Nowgorod, Tula, Kasan und Uglitsch schen wieder zurückkehren, nachdem
(Iwan IV.) seinen Untertanen Hans um. In Kasan hatten sich deutsche Ka- das Militär unter der Führung von
Schütte nach Europa, um Kaufleute, noniere bei der Eroberung des Kha- Minin und Posharskij Ordnung herge-
Gewerbetreibende und Mediziner für nats unter Iwan IV. ausgezeichnet. stellt hatte.
sein Reich anzuwerben. 123 Deutsche, Als Gründungsjahr der Deutschen Im 17. Jahrhundert erstreckte sich
Holländer, Schweden, Dänen, Fran- Siedlung in Moskau werden in unter- die Aktivität deutscher und anderer
zosen, Schotten, Polen und Livländer schiedlichen Quellen 1558 oder 1570 Einwanderer in Moskau hauptsächlich
folgten diesem Ruf und wurden von angegeben. Das Jahr 1559 wird da- auf Anforderungen des Zarenhofes
Moskau aufgenommen. Im Verlauf gegen übereinstimmend als das erste und der Regierung in den Bereichen
des Livländischen Krieges (1558-1583), Jahr der evangelisch-lutherischen Ge- Handel, Militär, Manufaktur, Bauwe-
den Iwan der Schreckliche gegen den meinde in Moskau mit Timan Brackel sen und Medizin. Über 25 Jahre lang
Deutschen Orden führte, kamen wei- als Pastor genannt, und 1576 wurde arbeitete in Moskau allerdings auch
tere Ausländer hinzu, die in Livland in der Deutschen Siedlung die erste schon ein Gießereimeister namens
gelebt hatten. evangelisch-lutherische Holzkirche er- Hans Falk aus Nürnberg.

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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

hann Gottfried Gregori das erste Mos-


kauer Hoftheater. Peter I., der Große
(1672 bis 1725), der mit seinem nach
Europa gerichteten Blick ein neues
Kapitel der russischen Geschichte
aufschlug, verlegte die Führung Russ-
lands Anfang des 18. Jahrhunderts
von Moskau nach Petersburg.
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts
waren bereits 4.000 von insgesamt
150.000 Bewohnern Moskaus Deut-
sche. Nach sehr wechselvollen Ent-
wicklungen lebten in der Sloboda im
Jahr 1682 wieder 18.000 Einwohner
bei einer Moskauer Gesamtbevölke-
rung von 200.000 Einwohnern. Unter
der Bevölkerung der Sloboda überwo-
gen die Deutschen, gefolgt von Hol-
ländern, Engländern, Schotten und
Zeitgenössische Darstellung der „Nemetzkaja Sloboda“. anderen Europäern.
Es gab zwei deutsche lutherische
Für die erste Hälfte des 17. Jahr- In der zweiten Hälfte des 17. Jahr- Kirchen, eine reformierte holländi-
hunderts beziffert die Enzyklopädie hunderts war Russland sowohl hin- sche und eine anglikanische Kirche.
der Deutschen Russlands die Zahl der sichtlich seines Territoriums als auch Sprachlich dominierten Deutsch und
Deutschen in Moskau mit 1.000. Ein- mit einer Bevölkerung von über zehn Holländisch, woran sich selbst die
schränkend muss jedoch gesagt wer- Millionen Menschen das größte Land Einwanderer aus England und Schott-
den, dass Russen den Begriff „Nemzy“ Europas. Seine Hauptstadt Moskau land gewöhnten. Eine für unser Jahr-
für Deutsche in vielen Jahren ihrer hatte sich zu einem wichtigen Handels- hundert nur schwer vorstellbare Er-
Geschichte gerne auch auf benachbar- zentrum mit starken deutschen und scheinung...
te Volksstämme ausdehnten, etwa auf holländischen Initiativen entwickelt. Über Archangelsk und andere Hä-
Holländer, Dänen oder Schweizer. Die Beziehung zu Europa gewann an fen im Norden Russlands importierten
Im umgekehrten Sinne können Bedeutung. Die Verbindungen liefen Engländer vornehmlich Tuche, wäh-
Russlanddeutsche aber auch negative zunächst über Riga, ab 1667 über Wil- rend Deutsche und Holländer gerne
Attribute beklagen, die ihnen in Zei- na und später über Archangelsk. fertige Produkte aus Edelmetallen,
ten deutsch-russischer Spannungen 1672 wurde in Moskau die erste Glas und Porzellan in Augsburg und
rasch angehängt wurden. So wurden Apotheke mit Hilfe von Johann Gut- Nürnberg bezogen. Offiziere, Ärzte
Deutsche in der Ukraine zwischen mensch geöffnet, und im gleichen Jahr und Apotheker verdienten gut, aber
den beiden Weltkriegen von bösen gründete der evangelische Pastor Jo- es gab auch schon die ersten Probleme
Buben schon mal als „Prus(s)aki“ im
doppelten Sinne des Wortes bezeich-
net: mit zwei „s“ für Preußen, die in
der Regel von Russen nicht besonders
geliebt wurden, oder mit einem „s“
für Schaben als Synonym für Kaker-
laken. Eine weitere Steigerung des
antideutschen Vokabulars erfolgte in
der Sowjetunion nach der Machter-
greifung Hitlers und wurde im Zwei-
ten Weltkrieg geradezu pervertiert,
indem man alle Deutsche im In- und
Ausland als Faschisten beschimpfte,
ganz gleich, ob damit deutsche Kom-
munisten, Nationalisten oder Christen
gemeint waren.
Die ersten Moskauer Deutschen
sollen versucht haben, zwischenna-
tionale Probleme in weiser Voraus-
sicht aus der Welt zu schaffen, indem
sie beispielsweise begannen, sich wie Der später (1845-1852) von Konstantin Thon erbaute Petersburger Bahnhof in Mos-
Russen zu kleiden. kau. Bild: Heinrich Heidebrecht

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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

durch die unterschiedlichen Konfes- dazu Heimatbuch 2000 der Landsmann- Moskau nach der Besetzung durch die
sionen von Alt- und Neubürgern, die schaft der Deutschen aus Russland, Seite Truppen Napoleons I. an vielen Stel-
bis zu einem Todesurteil gegen einen 19.) len in Brand gesetzt wurde. Eine Ka-
Religionsfanatiker durch die weltliche Als Ende der Sloboda muss das tastrophe, von der sich die Deutsche
Rechtsprechung reichten. (Vergleiche Jahr 1812 angesehen werden, in dem Siedlung nicht mehr erholte.

Deutsche in der Stadt Peters I. des Großen

S
chon nach der Eroberung von Ingermanland (dem späteren Gouver-
nemet Petersburg) durch die Schweden in der zweiten Hälfte des 17.
Jahrhunderts siedelten sich Deutsche in diesem Gebiet an. Durch das
Manifest des Königs Gustav Adolf vom 16. Okt. 1622 wurden deutschen
Kolonisten große Privilegien zugebilligt, wenn sie sich im Newagebiet, das da-
mals kaum besiedelt war, niederlassen wollten. In der Stadt Nyen an der Ochta
nördlich von Petersburg lebte bereits damals eine größere Zahl von Deutschen.
Hier bestand zur Zeit der Eroberung des Gebiets durch Peter I. eine deutsche
Gemeinde, die 1640 die Erlaubnis zum Bau einer Kirche erhalten hatte. Die
Hauptbesiedlung des späteren Gouvernements Petersburg fiel aber in die Zeit
der Besiedlung der Wolgagebiete durch die Kaiserin Katharina II. 1763-1768
und des Schwarzmeergebietes unter Ale­xander I. 1804-1824...“
(Nach dieser kurzen Einführung folgt im Heimatbuch 1962 der Landsmannschaft
der Deutschen aus Russland ein sehr detaillierter Bericht von elf Seiten von Dr. Karl
Stumpp über die deutsche Kolonisation in Russland nach 1763.)

Solche oder ähnliche Texte zur Ge- Westeuropa sollten einen doppelten
schichte der Russlanddeutschen kann Zweck erfüllen: Als junger Peter Ale-
man viele finden. Für die Zeiten vor xejewitsch wollte er neue Erkenntnis-
der Zarin Katharina II. der Großen se sammeln und als Zar aller Reußen Peter der Große
gibt es aber nur wenig authentische ausländische Fachkräfte für seine ehr-
Literatur über die ersten deutschen Pi- geizigen Zukunftspläne mit Russland niederländischer Art ohne überflüssi-
oniere in den Weiten Russlands. Und gewinnen. ges Beiwerk zu gestalten
selbst bei den umfangreichen Publi- Holländer und Deutsche hatten es Schon im ersten Jahr der Öffnung
kationen zu Peter I. dem Großen fällt ihm wohl besonders angetan. So soll eines „Fensters nach Europa“, 1703,
es dem interessierten Laien schwer, er sogar einem orthodoxen Popen ge- wurde im heutigen Sankt Petersburg
zwischen Dichtung und Wahrheit zu raten haben, den Gottesdienst nach eine evangelische Holzkirche für
unterscheiden.
Peter I., der von 1682 bis 1725 Zar
von Russland war, muss als der Be-
gründer von Russlands Größe angese-
hen werden. Vor Katharina II. war er
der bedeutendste Herrscher auf dem
Zarenthron.
Sein Blick war verstärkt Richtung
Westen gerichtet, nachdem ihm im
Norden Schweden und im Süden
Türken die Expansion seines Rei-
ches schwer gemacht hatten. Seine
Studienreisen in jungen Jahren nach

Dass Sankt Petersburg an der


Newa auch schon mal Petrograd
oder über viele lahre Leningrad
hieß und nach seiner Erhebung
zur Hauptstadt Russlands in den
Jahren 1712-1724 für zwei Jahrhun-
derte vor Moskau als die Nr. 1 der
Städte des Riesenreiches fungier- Der von Andreas Schlüter und Johann Friedrich Braunstein geschaffene Große Palast
te, dürfte allgemein bekannt sein. in Peterhof. Bild: Heinrich Heidebrecht

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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

Andreas Schlüter
war ein bedeutender Bildhauer und
Baumeister des Barocks, dessen Be-
gabungen Peter der Große sehr
schätzte. Der um 1660 in Danzig ge-
borene Schlüter lernte bei dem
Bildhauer Saponius und ging 1694
nach Berlin, wo er Hofbildhauer
wurde und nach einem Studienauf-
enthalt in Italien 1698 die Baulei-
tung am Zeughaus und Schloss
übernahm. 1703-04 war er Direktor
der Akademie der Künste. 1996 ent-
standen für das Zeughaus die be-
rühmten 21 Masken sterbender
Krieger und zahlreiche bauplasti-
sche Arbeiten, die auf einen größe-
ren Werkstattbetrieb schließen las-
sen. 1699 bis 1708 schuf Schlüter das
Reiterdenkmal des Großen Kurfürs-
ten (Charlottenburger Schlosshof).
Als maßgeblicher Architekt der
Großbauten prägte er das Bild des
barocken Berlin, vor allem mit dem
gewaltigen Schlossbau (im II. Welt-
krieg zerstört, Ruine abgebrochen).
1709 fiel er in Ungnade, nachdem
an verschiedenen Bauwerken tech-
nische Schäden auftraten.
Ab 1713 arbeitete Schlüter für
Peter den Großen in St. Petersburg.
Das berühmte Bernsteinzimmer,
das Friedrich I. 1717 Peter dem Gro-
ßen schenkte, war sein Entwurf. Er
wirkte mit am Bau der Kunstkam-
mer sowie am Schloss Monplaisir
in Peterhof. Er und Johann Fried-
rich Braunstein waren die ersten
namentlich erwähnten Architekten
in Peterhof. Auch der Kikins Palast,
eines der ältesten Gebäude der
Stadt, war ein Werk Schlüters. Das
herrliche maritime Basreliefs des
Sommerpalasts schuf er ebenfalls.
Sein Stil war geprägt von barocker
Die Pläne für die Kunstkammer, den Petersburger „Palast des Wissens“, wurden
Bewegung und Leidenschaftlich-
von dem Berliner Bildhauer und Architekten Andreas Schlüter hinterlassen und an- keit, seine Architektursprache erin-
schließend von Georg Johann Mattarnovi und Gaetano Chiaveri 1718 bis 1734 aus- nert an das feierliche Pathos miche-
geführt. Heute dient die Kunstkammer als Museum der Anthropologie und Völker- langelesker Ordnungen.
kunde. Bild: Heinrich Heidebrecht  Heinrich Heidebrecht

Handwerker errichtet, die aus Nord- von Deutschen geführt wurde, sowie Einrichtung und das deutsche Schul-
deutschland und Holland stammten eine deutsche Handwerkskammer wesen blieben mit Ausnahme der
und zumeist Anhänger Luthers wa- und deutsche Fabriken. Sogar das Kriegs- und Verfolgungsjahre über die
ren. bekannte Russische Theater in St. Pe- Jahrhunderte erhalten und sind auch
Die Stadt entwickelte sich bald nach tersburg wurde von einer deutschen heute noch wichtige Reiseziele deut-
ihrer Gründung zu einem Magneten Theatergruppe gegründet. All diese scher Touristen und Forscher.
für Handwerker aus Deutschland und
benachbarten kleineren Landen. Es Empfehlenswerte Literatur zum Thema:
blieb jedoch nicht bei Handwerkern,
Heimatbücher 1955, 1963, 1964. 1966, 1967/68, 1996, 1967/68 und 2000/1 der
denn schon 1627, als die „St. Peters- Landsmannschaft der Deutschen aus Russland.
burger Zeitung“ gegründet wurde,
Nemzy Rossiji, Band I, Moskau 2004 (in russischer Sprache).
gab es in der Stadt eine Akademie der
Wissenschaften, die im Wesentlichen Mennonitisches Lexikon, Band III, Karlsruhe 1958.

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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

Deutsche wandern nach Russland aus:


Ansiedlung an der Wolga
und in anderen Gebieten

D
as russische Zarenreich 1762 richtete sich vor allem an die aus
vergrößerte sich ab dem Russland entflohenen Untertanen,
15. Jahrhundert um das denen bei Rückkehr nach Russland
Fünfzigfache und nahm Straffreiheit in Aussicht gestellt wur-
am Schluss bis zu einem Sechstel de. Ausländer wurden zwar als Ziel-
der Landfläche der Erde ein. Diese gruppe genannt, aber ohne jegliches
enorme Ausdehnung geschah durch Angebot.
Eroberungskriege, aber auch durch Erst das Manifest vom 22. Juli 1763,
die friedliche Eingliederung von in dem sie Ausländer nach Russland
Völkern. einlud und ihnen Privilegien (unent-
geltliche Landzuweisung, freie Religi-
Anwerbung onsausübung, Steuerfreiheit bis zu 30
Jahren, Befreiung vom Militärdienst,
In weiten Teilen Russlands gab es ge- kulturelle Autonomie, gemeindliche
gen Ende des 18. Jahrhunderts große Selbstverwaltung, keine Leibeigen-
fruchtbare und ungenutzte Landstri- schaft) zusicherte, hatte Folgen.
che. Um dem Land in den neu ge-
wonnenen, meist völlig unbewohnten Privilegien
Gebieten neue Einnahmen zu ver-
für Ansiedler
schaffen, wurden mit wenig Erfolg Viktor Hurr:
Russen angesiedelt. Die Anwerbung Missernten und Hunger.
ausländischer Kolonisten hatte im Nachdem Zarin Katharina die Gro-
Grunde das gleiche Ziel. Der Zuzug ße 1763 in ihrem Aufsehen erregen- gründeten sie die Halbstädter Koloni-
von Bauern war im Süden erforder- den Manifest zur Ansiedlung in neu- en und Gnadenfeld.
lich, um die Ostgrenze vor Überfällen en Kolonien an der Wolga eingeladen Das Manifest Alexanders I. (1777-
zu schützen und das von den Türken und dafür erhebliche Privilegien und 1825) vom 20. Februar 1804 legte be-
Fördermittel versprochen hatte, zog es sonderen Wert auf Einwanderer, die
Tausende in die russischen Werbebü- gute Landwirte, Handwerker, Winzer
ros. oder Viehzüchter waren.
Im so genannten Gnadenprivileg
Pauls I. (1796-1801) vom 6. September Auswanderungsgründe
1800 wurden den Mennoniten zusätz-
liche Vorrechte eingeräumt (Befreiung • W
 irtschaftliche Not und Miss-
vom Kriegs- und Zivildienst für alle stände in Deutschland infolge
Zeiten, keine Eidesleistung vor Ge- von Kriegen (Siebenjähriger und
richt, Gewerbefreiheit etc.). Danach Napoleonischer Krieg),
• Heeres- und
Frondienste
für die eigenen
Fürsten und
die fremden
Mächte,
• Unterdrückung
durch die
eigenen Fürsten
Zarin Katharina II. und die fremde
Besatzung,
abgetretene Land neu zu besiedeln. • Missernten und
Kaum hatte Katharina II. den Thron Hunger
bestiegen, erließ sie am 14. Oktober • sowie Ein-
1762 ihr erstes Einladungsmanifest, schränkung der
das allerdings geschichtlich folgenlos Glaubensfrei-
blieb. Das Manifest vom 4. Dezember Viktor Hurr: Napoleonische Kriege. heit

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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

Auswanderung aus deutschen Landen nach Russland. (Karte: Ingenieurbüro für Kartographie J. Zwick, Gießen.)
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

zwangen viele in Hessen, Rheinhes- 1999) kamen zwischen 1763 und 1772
sen, der Pfalz, Württemberg, Baden, insgesamt 30.623 Personen in Russ-
dem Elsass und Bayern zur Auswan- land an. Davon starben ungefähr ein-
derung, auch nach Russland. Überall tausend Menschen während des Auf-
im Lande waren Anwerber der Zarin enthalts bei St. Petersburg oder liefen
unterwegs. weg.
In der Umgebung der russischen
Auswanderungsströme Hauptstadt wurden 416 Personen
angesiedelt, 329 in zwei Kolonien in
Livland und Jamburg (Kingisepp).
Die Ausreise erfolgte in drei großen Weitere 1.436 wurden in verschiedene
Strömen: Gebiete Kleinrusslands (Ukraine) ge-
schickt, 337 wurden als Handwerker
• auf dem Seeweg über die Nord- auf St. Petersburg, Moskau, Reval und
und Ostsee nach St. Petersburg, von Tambow verteilt. Die restlichen 26.676
dort an die Wolga; Personen wurden an die Mittlere Wol-
• auf der Donau zum Schwarzen ga bei Saratow weitergeleitet. Davon
Meer nach Odessa, auf die Krim starben unterwegs 3.293 (12,5%) Kolo-
und in den Kaukasus; nisten. Zar Alexander I.
• auf dem Landweg quer durch Polen Die 1764 bis 1767 nach Russland
nach Südrussland. ausgewanderten Kolonisten siedelten Von der russischen Regierung beka-
auf beiden Seiten der unteren Wolga men die Ansiedler Land (35 ha je Fa-
Der Zug an die Wolga ab 1764 erfolg- (Bergseite/West­ufer und Wiesenseite/ milie), landwirtschaftliche Geräte und
te überwiegend aus Rheinhessen und Ostufer) in 104 Kolonien. Davon wa- Vieh zugeteilt. Allerdings ging die
der Pfalz: Mehr als 30.000 Deutsche ren 31 katholisch und über 60 evan- Ansiedlung mit erheblichen Schwie-
folgten den großzügigen Angeboten; gelisch (unterschiedliche Angaben in rigkeiten voran, zumal die vorgefun-
an der Wolga kamen etwa 27.000 an. verschiedenen Quellen). Am 29. Juni dene Wirklichkeit nicht unbedingt mit
Nach näheren Berechnungen waren es 1764 wurde die erste deutsche Kolonie den Versprechungen des Manifestes
sogar nur circa 23.216 Personen, wie Nischnaja Dobrinka gegründet. 1914 der Zarin übereinstimmte.
Dr. Anton Bosch feststellen konnte. gab es bereits 192 deutsche Dörfer, 152 In den Jahren 1802-1859 wanderten
Laut Igor Pleve („Einwanderung evangelische, 38 katholische und zwei fast 110.000 Deutsche in das Schwarz-
in das Wolgagebiet 1764-1767“, Bd. 1, gemischte. meergebiet aus. Der Zug ans Schwar-

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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

Nikolajew, Jeka- im Gebiet Saporoschje (Molotschnaer


terinoslaw (heute und Chortitzaer Kolonien).
Dnjep­ropetrowsk), Aus insgesamt 204 deutschen Mut-
Cherson, Taurien terkolonien entstanden im Schwarz-
und Bessarabien, meergebiet später über 1.800 Tochter-
im Dongebiet und kolonien.
auf der Krim. Die
deutschen Koloni- Eine besondere Gruppe bildeten die
en lagen nördlich Wolhyniendeutschen, die sich zu ver-
des Schwarzen schiedenen Zeiten im 19. Jahrhundert
Meeres und er- in polnisch-russischen Grenzregionen
streckten sich von (in den Gebieten um Rowno, Schito-
Bessarabien im mir, Nowogradwolynsk) niederließen.
Westen bis zum 1816 bis 1861 wanderten Westpreußen,
Nordkaukasus im Rheinländer, Pfälzer und Schwaben
Osten. nach Wolhynien aus.
Die Besiedlung Bis zum Jahre 1871 stieg die Zahl
begann noch un- der Deutschen in diesen Regionen auf
ter Katharina II. etwa 28.560, die in ca. 139 Kolonien
und fand unter Zar lebten. 1889 waren es bereits 102.139
Alexander I. (1777- Siedler.
1825) ihren Höhe-
punkt. Der erste Auch im Kaukasusgebiet, der
größere Einwande- Landbrücke zwischen dem Schwarzen
rungsstrom in das und dem Kaspischen Meer, entstan-
Die Mariupoler Kolonien in der Ukraine. Schwarzmeerge- den Dutzende deutscher Kolonien.
biet fand zwischen Besonders der Südkaukasus war zu
ze Meer erfolgte aus Württemberg, 1789 und 1797 statt, der zweite große Beginn des 19. Jahrhunderts ersehn-
Baden, dem Elsass und Bayern (ab Schub folgte zwischen 1804 und 1824. tes Ziel vieler Auswanderer aus den
1803). Die Siedlungsräume der Deut- Ab 1789 wanderten auch mennoni- süddeutschen Ländern. Zahlreiche
schen im Schwarzmeergebiet konzent­ tische Siedler aus Westpreußen in die Ausreisewillige glaubten, gerade in
rierten sich auf Süd- oder Neuruss- südrussischen Gebiete ein und grün- diesem Gebiet das gelobte Land an-
land in den Gouvernements Odessa, deten Mutterkolonien, unter anderem zutreffen, wie es die Bibel beschrieben

Die Siedlung Selz im Schwarzmeergebiet.

12
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

hatte. Andererseits war Zar


Alexander I. stark daran inte-
ressiert, den Südkaukasus zu
besiedeln, weil dieses Gebiet
zu den russischen Eroberun-
gen jener Zeit gehörte. Ab 1817
erhielten 1.500 Familien mit ca.
9.000 Personen aus Schwaben
die Genehmigung zur Ansied-
lung im Südkaukasus; viele
von ihnen fielen unterwegs
Krankheiten und Strapazen
zum Opfer. Im Nordkaukasus
siedelten sich ab den 1840er
Jahren deutsche Kolonisten
aus dem Wolga- und Schwarz-
meergebiet sowie später auch
aus dem Molotschnaer Gebiet
an.
Ihren Siedlungen gaben die
Kolonisten oft die Namen ihrer Sammelstellen zur Auswanderung gab es in Ulm, Regensburg, Nürnberg, Frankfurt,
in der alten Heimat zurückge- Roßlau/Elbe und insbesondere im hessischen Büdingen. Bild: Viktor Hurr.
lassenen Dörfer und Städte,
etwa Basel, Darmstadt, Mariental, Ro- Politik als einer der wichtigsten Sam- Paare das Ja-Wort, denn erst als Ver-
senberg, Rheinhardt, Stuttgart, Karls- melplätze der Massenauswanderung heiratete konnte man in den Genuss
ruhe oder Mannheim. nach Russland. Neben dem anhaltini- der versprochenen Privilegien kom-
schen Roßlau an der Elbe und Fauer- men. Auskunft darüber geben die im
Die ursprüngliche Ansiedlung von bach bei Friedberg nahm Büdingen in Heiratsregister der Büdinger Pfarrei
Deutschen in Sibirien und Mittelasi- Hessen, wo es ein Werbebüro für die vermerkten Kolonistentrauungen.
en erfolgte später. Sie wurde vor allem Auswanderer gab, unter den dama- Der Reichstag und die großen
Ende des 19. Jahrhunderts und um die ligen Sammelplätzen im Deutschen Reichsstände reagierten auf die An-
Jahrhundertwende 1900 notwendig, Reich eine besondere Rolle ein. werbungen mit drastischen Verboten,
als das Land für die Deutschen im Diese resultiert vor allem aus der um eine „Reichs­entvölkerung“ zu ver-
europäischen Russland knapp gewor- großen Zahl von Trauungen, die vor hindern, so dass die Werber in kleine-
den war und die Lage der Deutschen der Auswanderung in der Büdinger re Herrschaften ausweichen mussten.
sich aus unterschiedlichen politischen Marienkirche stattfanden. Allein von Der Büdinger Landesherr, Graf Gus-
Umständen verschärfte. Im Zuge der März bis Juni 1766 gaben sich dort 375 tav Friedrich zu Ysenburg, duldete
Agrarreform durch Ministerpräsident
Stolypin 1906-1910 entstanden deut-
sche Siedlungen im Uralgebiet, ein ge-
schlossenes deutsches Siedlungsgebiet
bei Slawgorod in der Kulunda-Steppe
sowie Siedlungen in Westsibirien und
Nordturkestan, und es wurden neue
Tochterkolonien (in den Gebieten
Pawlodar, Karaganda, Nowosibirsk,
Krasnojarsk, Irkutsk u.a.) gegründet.

Büdingen
als Sammelplatz
der Auswanderung
an die Wolga

Aus Hessen erfolgte 1763 –1767 die


Hauptauswanderung in das Wolgage-
biet und Anfang des 19. Jahrhunderts
teilweise auch in das Schwarzmeerge-
biet. 1766 erlangte Büdingen kurzzei-
tig Bedeutung im Feld europäischer Büdinger Kirchenbuch.

13
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

die Tätigkeit des zuvor aus Frankfurt Bereits im Januar 1764 empfahl das Endlich eingeschifft, stand diesen
ausgewiesenen Werbekommissars Fa- Kollegium für Auswärtige Angelegen- Menschen gewöhnlich eine Seereise
cius auch aus wirtschaftlichen Erwä- heiten in St. Petersburg den Seeweg von neun bis elf Tagen bevor. War das
gungen. als die geeignetste Reiseroute für den Wetter ungünstig (Flauten oder Stür-
Hier nahmen daher zahlreiche Transport von Kolonisten. Der Land- me), so konnte die Schiffsreise aber
der großen, militärisch organisierten weg hatte sich nicht nur als zu lang auch sechs Wochen dauern, so dass
Trecks ihren Ausgang, welche die erwiesen, er war auch zu teuer. Brot und Wasser knapp werden konn-
Auswanderer und ihre Habe per Wa- Die Vorstellung, die in Lübeck ten. Zudem gab es immer wieder Ka-
gen und die Flüsse hinab nach Lübeck verfügbaren Schiffe würden für den pitäne, die die Reise künstlich in die
führten, um dann die Reise über die Transport ausreichen, musste ange- Länge zogen, um so die Kolonisten zu
Ostsee nach dem russischen Hafen sichts der Auswandererzahlen aller- zwingen, ihr gesamtes für zwei Wo-
Oranienbaum fortzusetzen. Von dort dings bald korrigiert werden. Es er- chen berechnetes Reisegeld für den
aus fanden die Menschen erst Monate wies sich als notwendig, auch Schiffe Kauf von Proviant auszugeben.
später ihr Ziel und ihre neue Heimat aus Kiel und Neustadt sowie sogar Bernhard Ludwig von Platen be-
an der mittleren Wolga, aber auch bei aus England unter Vertrag zu neh- schreibt in seinem 1766-67 entstan-
St. Petersburg oder im Gouvernement men. Daneben kamen auch russische denen Poem „Reise-Beschreibungen
Tschernigow. Schiffe zum Einsatz. Die so genannten der Kolonisten wie auch Lebensart
Offizielle Akten über die Geschäf- Paketboote und Pinken, die eigent- der Rußen“ diese Seereise. Nach einer
te der russischen Kommissare, die lich nicht für einen Personentransport zweiwöchigen Wartezeit in Lübeck
sich an der Grenze zur Illegalität ab- konstruiert worden waren, brachten wurde von Platen mit anderen Kolo-
spielten, haben aber - wohl bewusst rund 3.100 Kolonisten nach Russland. nisten eingeschifft:
- nicht überdauert. Daher musste das Insgesamt traten über 22.000 Men-
Geschehen in mühsamer Kleinarbeit schen von Lübeck aus ihre Reise nach „Da ward ein jeder Mann
aus zahlreichen Indizien rekonstru- Russland an. Mit Brofiant versehen
iert werden, wobei auch Fauerbach Die Auswanderertrecks kamen ent- Und so nach Petersburg
bei Friedberg, wo ebenfalls ein Wer- weder über Regensburg, Weimar und Ins Schiff hinein zu gehen
ber tätig war, vergleichend betrachtet Lüneburg nach Lübeck, oder sie fuh- Allein condrerer Wind
wurde. Dass nicht die oft unterstellte ren zunächst von Worms den Rhein Macht uns die Reise schwer
„Wanderlust“, sondern wirtschaftli- abwärts, um dann durch Westfalen Das Brofiant ging auf
che Not und soziale Zwänge vor allem und Hannover auf dem Landweg in Die Taschen wurden leer.
junge Leute zur Emigration trieben, die Hansestadt zu gelangen. Sechs Wochen mußten wir
geht aus Personalakten hervor, die im In Lübeck angekommen, mussten Die Wasserfahrt ausstehen
Wächtersbacher Teil der Grafschaft sich die Kolonisten wegen des großen Angst, Elend, Hungersnoth
akribisch zu den Auswanderungsge- Andrangs auf eine längere Wartezeit Täglich vor Augen sehen
suchen angelegt wurden. einrichten. Den Vermögenderen unter Also daß wir zuletzt
Für so manche russlanddeutsche Fa- ihnen wies der Kommissionär Schmidt Salz-Wasser, schimmlich Brod
milie beginnt mit den Vorgängen von eine Unterkunft in einem der Bürger- Zur Lebens unterhalt
1766 in Büdingen die eigene Familien- häuser zu. Die anderen wurden in Erhielten kaum zur Noth.“
geschichte. Viele, die in den vergange- Baracken in der Nähe des Hafens un-
nen Jahren wieder nach Deutschland tergebracht. Diese Gebäude wurden Während dieser Seereisen waren
gekommen sind, treibt eine vage Er- streng bewacht, um Fluchtversuche zu auch die ersten Toten zu beklagen.
innerung an ihre Herkunft aus dem unterbinden. Der Bäckermeister Johannes Hühn
hessischen Raum dazu, eine Antwort Während der Wartezeit erhielten aus Gelnhausen gab 1766 zu Proto-
auf die Frage nach ihren Wurzeln in die Kolonisten ein Tagegeld, das nach koll, dass er mit dem Ehepaar Dölck
Büdingen zu suchen. Geschlecht und Alter differenziert und dessen beiden Töchtern auf einem
war. Männer erhielten pro Tag acht, Seefahrzeug des Schiffers Jakob Bauer
Auswanderung von Lübeck Frauen fünf, Kinder drei und Klein- von Lübeck nach Russland transpor-
kinder einen Schilling. Das Geld und tiert worden sei. Am zweiten Tag der
nach Oranienbaum
die Nahrungsmittel wurden von aus- Überfahrt seien die Töchter, die er sehr
gewählten Männern ausgeteilt, denen gut gekannt habe, an einer auf dem
Lübeck war für die meisten Ko- Amtsbezeichnungen wie Schulze, Schiff ausgebrochenen verheerenden
lonisten die letzte Reisestation auf Vogt oder Vorsteher gegeben wurden. Krankheit gestorben. Die Toten wur-
deutschem Boden. Von hier aus orga- In Lübeck war das große Echo auf den der Gewohnheit nach vor seinen
nisierte der im Dienst der russischen das Angebot der Zarin Katharina II. Augen in das Meer gelassen.
Regierung stehende Kaufmann Chris- in seinem ganzen Ausmaß erkennbar. In Kronstadt, einer Festung vor St.
toph Heinrich Schmidt die Weiterfahrt Bereits 1765 warteten hier Tausende Petersburg, angekommen, ging die
über die Ostsee nach St. Petersburg. Menschen auf ihre Einschiffung. Die Reise sofort nach Oranienbaum, dem
Nach seinem Tod übernahm der Lübe- damals im Einsatz befindlichen Schif- heutigen Lomonossow, weiter. Dort
cker Jurist Gabriel Christian Lemke ab fe waren in der Lage, 280 Passagiere konnten sich die Kolonisten gegen
dem 30. Mai 1766 diese Aufgabe. zu befördern. Vorlage einer vom Vorsteher ausge-

14
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

gebenen Bescheinigung - eines


Billets - mit neuer Kleidung
ausstatten. Während ihres
dortigen Aufenthaltes, dessen
Dauer unbestimmt war, leiste-
ten sie auch den Treueeid auf
die russische Krone. Die Reise
in die neuen Siedlungsgebiete
ging weiter von Oranienbaum
an die Wolga.
Quelle (Источник): И.Р.
Плеве Списки колонистов при­
бывших в Россию в 1766 году.
„Рапорты Ивана Кульберга“ /
nach www.wolgadeutsche.ucos.de

Moninger/Nischnaja
Dobrinka -
die erste deutsche
Kolonie an der Wolga 1910 lebten an der Wolga etwa 500.000 Deutsche in 204 Dörfern. Bild: Viktor Hurr.

Unter dem Namen Moninger (nach Gemeinde des gesamten Wolgage- Vor dem I. Weltkrieg gab es im ge-
dem ersten Vorsteher) wurde am 29. biets. 1845 wurde aus Stein eine Kir- samten Russischen Reich 2.416.290
Juni 1764 am rechten Ufer (auf der che gebaut und feierlich eingeweiht. Millionen Deutsche. Davon lebten
Bergseite) der Wolga die erste deutsche Von dieser Kirche ist nur eine Ruine 600.000 an der Wolga, 530.000 im
Kolonie gegründet. Die 353 Siedler geblieben. Schwarzmeergebiet, ca. 200.000 in
(Lutheraner) stammten aus Württem- 1859 hatte der Ort 159 Höfe und Wolhynien und den polnischen Pro-
berg, Darmstadt, Heidelberg, Zwei- 2.866 Bewohner, eine lutherische Kir- vinzen (damals Russisches Reich),
brücken und Isenburg und waren mit che und eine Kirchenschule. Als 1875 170.000 im Baltikum und ca. 50.000 in
Pferdewagen aus der damaligen russi- die Auswanderung nach Übersee be- und um St. Petersburg.
schen Hauptstadt Sankt Petersburg an gann, verließen nicht mehr als 30 Fa- Unter im Vergleich zur alten Hei-
der mittleren Wolga eingetroffen. Die milien die Kolonie. Zum Vergleich: mat Deutschland völlig anderen poli-
ersten 94 Familien ließen sich direkt Aus der westlichsten Kolonie Frank, tischen, sozialen, geographischen und
an der Mündung des Flusses Dobrin- die etwa gleich groß war, wanderten klimatischen Bedingungen begann
ka in die Wolga, 32 Kilometer nördlich 250 Familien in die USA und nach Ka- sich ein neues ethnisches Selbstver-
der heutigen Rayonstadt Kamyschin, nada aus. ständnis herauszubilden: Man sah
nieder. sich als stolze russische Kolonisten
Aus Dankbarkeit der russischen Tausende und wurde so auch von den Nach-
Kaiserin Katharina II. gegenüber be- barvölkern wahrgenommen. Das
kam die Siedlung 1768 den Namen
deutsche Siedlungen kennzeichnete vor allem die in einem
Dobrinka (russ. „dobraja“ – „guther­ in über 100 Jahren kompakten Siedlungsgebiet lebenden
zig“). Es war lange Zeit die südlichs- Wolgadeutschen mit ihrem starken
te Kolonie an der Wolga. Südlicher Aus ursprünglich 304 deutschen Zusammengehörigkeitsgefühl, die
wurde später nur die Kolonie Sarepta Mutterkolonien entstanden im Laufe sich unübersehbar zu einer neuen
von der Herrnhuter Glaubensgemein- von Jahrzehnten 3.232 Tochterkoloni- Ethnie des Übersiedlungstyps entwi-
de gegründet. Heute ist Sarepta ein en. Nach anderen Quellen zählte man ckelten.
Stadtteil von Wolgograd. in Russland vor 1914 über 6.000 deut-
Später erhielt Dobrinka weitere sche Kolonien und Siedlungen. Diese Zusammenfassung:
Namen: Nischnaja Dobrinka und so- Zahl ergibt sich, wenn man zahlreiche Nina Paulsen
gar Deutsch Dobrinka. Die Kolonie Weiler, Chutors und Einzelgehöfte (mit Ergänzungen
gehörte zuerst zum Gouvernement hinzu rechnet. von Dr. Anton Bosch),
Astrachan und ab dem Jahr 1797 zu Aus ursprünglich 100.000 Ein- nach Publikationen
Saratow. Heute gehört Nischnaja Dob­ wanderern war nach 135 Jahren eine der Landsmannschaft
rinka zum Ra­yon Kamyschin im Ge- Volksgruppe von 1,7 Millionen ge- der Deutschen aus Russland,
biet Wolgograd. worden. Die Volkszählung von 1897 des HFDR, des Bildungsvereins
In Nischnjaja Dobrinka wohnten ergab, dass 390.000 Deutsche an der für Volkskunde in Deutschland
ausschließlich Lutheraner und Bap- Wolga, 342.000 im Süden Russlands DIE LINDE und Beiträgen
tisten; später entwickelte sich die Ko- und 237.000 im Westen Russlands leb- von Dr. Alfred Eisfeld
lonie zum Zentrum der Baptistischen ten. und Dr. Viktor Krieger

15
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

Die Wolgadeutschen -
seit 250 Jahren auf der Suche nach einer Heimat
Stichpunkte zur Chronologie
1763 1773 1796
Die deutschstämmige Zarin Katha- Der Donkosake Jemeljan Puga­ Am 17. November stirbt die Zarin
rina II. die Große lädt in einem Mani- tschow gibt sich für den ermordeten Katharina II., die Große, geb. am 2. Mai
fest vom 22. Juli Ausländer aus den Zaren Peter III. aus und verbreitet 1729 in Stettin, in Sankt Petersburg.
deutschen Landen Hessen, der Pfalz, mit seinen Heerscharen in deutschen Während ihrer 24-jährigen Herrschaft
Westfalen, Bayern und Schwaben so- und nichtdeutschen Siedlungen an fanden die ersten Masseneinwande-
wie aus der Schweiz, dem Elsass und der Wolga Angst und Schrecken. 1774 rungen von Deutschen und anderen
Lothringen ein, sich an der mittleren wird er von zaristischen Truppen ge- Europäern nach Russland statt.
Wolga anzusiedeln. fangen genommen und 1775 in Mos-
Das war die „Sogwirkung“ der ers- kau hingerichtet. 1797
ten großen deutschen Auswanderung Am 31. Juni wird die Saratower Vor-
nach Russland. Als „Schubwirkung“ 1776 mundschaftskanzlei wieder eröffnet.
wird gerne die Lage im damaligen Am 15. August überfallen noma-
zersplitterten Deutschland nach dem disierende „Kirgiser“ das wolgadeut- 1838
Siebenjährigen Krieg von 1756-1763 sche Dorf Mariental und entführen Zar Nikolaus I. bestätigt die Privile-
bezeichnet. viele Bewohner nach Mittelasien. gien von Kolonisten.
Pastor Wernborner und über einhun-
1764 dert wehrhafte Männer, die sich den 1848
Am 29. Juni wird die erste wolga- Räubern in den Weg stellen, werden In Saratow wird das katholische
deutsche Kolonie gegründet. Sie er- ermordet. Bistum Tiraspol errichtet.
hält den Namen Nischnaja Dobrinka.
Bis zum Ende des Jahres 1767 erfolgen 1782 1854
103 weitere Gründungen deutscher Am 30. April wird das 1766 gegrün- 197 mennonitische Familien aus
Kolonien mit insgesamt 27.000 Sied- dete „Kontor der Vormundschafts- Preußen gründen im Gouvernement
lern zu beiden Seiten der mittleren kanzlei für Ausländer“ in Saratow Samara an der Wolga bis zum Jahr
Wolga. aufgelöst. Damit werden auch die 1872 zehn deutsche Dörfer, die spä-
Wolgadeutschen der allgemeinen rus- ter unter dem Namen „Am Trakt“
1765 sischen Gesetzgebung (in St. Peters- bekannt werden. Ein Großteil der
Anhänger der Herrnhuter Brüder- burg) unterstellt. Bewohner wandert 1880/1881 weiter
gemeinde aus Sachsen lassen sich in nach Mittelasien.
Sarepta in der Nähe des heutigen Wol- 1789
gograd mit dem Ziel nieder, die Kal- Der durchschnittliche Landbesitz 1861
mücken zu christianisieren. pro „Revisionsseele“, d.h. erwach- In Russland wird die Leibeigen-
senes männliches Familienmitglied, schaft abgeschafft.
1766 beträgt an der Wolga 15,5 Desjatinen
In Katharinenstadt wird die erste und geht in den nächsten 80 Jahren 1871
lutherische Dorfschule eröffnet. infolge des russischen „Mir-Systems“ Die Saratower Vormundschafts-
auf 1,5 Desjatinen zurück. Beim „Mir- kanzlei wird für immer geschlossen.
1769 System“ erben alle Söhne und nicht
Von 6.433 an der Wolga angesiedel- nur einer den ganzen Landbesitz. 1874
ten deutschen Familien eig- Deutsche Kolonisten müs-
nen sich nur 579 (9 Prozent) sen wie alle Bürger Russ-
nicht für die Landwirtschaft. lands Militärdienst leisten.

1771 1915
Nach offiziellen Angaben Am 13. Dezember plant
gibt es im deutschen Wol- die zaristische Regierung
gagebiet insgesamt zwölf die Verbannung der Wol-
Dorfschulen. In den beiden gadeutschen, ähnlich wie
folgenden Jahren eröffnet die dies bereits durch das erste
Herrnhuter Brüdergemein- „Liquidationsgesetz“ vom
de in Sarepta eine Dorfschu- 2. Februar 1915 mit den Wo-
le für Knaben und eine für lhyniendeutschen gesche-
Mädchen. Oskar Aul: Land an der Wolga. hen ist. Die Deportation der

16
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

Wolgadeutschen verzögert sich jedoch mehr als zwei Drittel der deutschen der Wolgadeutsche Rätekongress be-
und wird dank der Feb­ruarrevolution Bevölkerung hungern (299.000). reits am 29. April 1937 gegeben hat.
im März des Jahres 1917 nicht mehr
durchgeführt. 1924 1941
Am 6. Januar wird das Autonome Am 22. Juni beginnt der deutsch-
1917 Gebiet der Wolgadeutschen zu einer sowjetische Krieg, in dessen Folge alle
Vom 25. bis 27. April findet in Sa- Autonomen Sozialistischen Sowjetre- Privilegien, die mit dem Status der
ratow die „Allgemeine deutsche Kolo- publik erhoben. Die ASSR umfasst ein Wolgadeutschen als Autonomer Sow­
nistenversammlung“ statt. Sie fordert Gebiet von 28.212 Quadratkilometern, jetrepublik verbunden sind, zerstört
von der Provisorischen Regierung davon 93 Prozent nutzbares Land. werden.
Selbstbestimmung und staatsbürger- Für die Gesamtbevölkerung der ASSR
liche Gleichstellung mit den anderen nennt Dr. Matthias Hagin folgende 1941
Völkern Russlands. Manches wird Zahlen: 1920: 452.629; nach dem Hun- Der Ukas des Präsidiums des Obers-
versprochen und Jahre später auch im gerjahr 1921: 350.000; 1939: 650.000. ten Sowjets der Sowjetunion vom 28.
Geiste Lenins und Stalins - anders als August „Über die Übersiedlung der
von den Delegierten aus allen wolga- 1928 Deutschen, die in den Wolgarayons
deutschen Kantonen vorgesehen - er- Die kurzen Erfolge der Neuen Öko- leben“ verbannt alle Wolgadeutschen
füllt. nomischen Politik (1921-1928), die den in asiatische Regionen der UdSSR.
wolgadeutschen Bauern eine gewisse
1917 Erholung nach den Jahren der Wirren 1941
Bald nach der Oktoberrevolution und des Hungers beschert hat, wer- Das Gebiet der ASSR der Wolga-
im Herbst werden die wolgadeut- den durch die rigoros durchgeführte deutschen wird auf die Gebiete Sara-
schen Siedlungen in die blutigen Aus- Zwangskollektivierung der Landwirt- tow und Stalingrad verteilt.
einandersetzungen von Rot, Weiß und schaft zunichte gemacht.
Banden hi­neingezogen. Seither gibt es keine echte deut-
1934 sche Autonomie in der Sow­jetunion
1918 Spätestens ein Jahr nach der Macht- oder ihren Nachfolgestaaten mehr.
In einem Zusatzprotokoll zum ergreifung Hitlers in Berlin setzt in Die Mehrheit der Russlanddeutschen
deutsch-russischen Friedensvertrag der ASSR der Wolgadeutschen und sieht in den späteren Versprechun-
in Brest-Litowsk vom 3. März wird allen anderen deutschen Siedlungsge- gen wertlose Lippenbekenntnisse und
Russlanddeutschen gestattet, in ihr bieten der Sowjetunion ein beispiello- nimmt zur Kenntnis, dass in den Ge-
Ursprungsland Deutschland zurück- ser moralischer und körperlicher Ter- bieten, die ihnen vor 250 Jahren zu-
zukehren. ror gegen die eigenen „Faschisten“ als gewiesen wurden und die sie mit viel
Synonym für alle Deutschen ein, von Liebe, Mühe, Schweiß und Blut einst
1918 dem selbst linientreue Kommunisten kultiviert haben, heute andere Völker
Im April wird eine „Kommission nicht verschont bleiben. leben, die ihrerseits ebenfalls viel ge-
für deutsche Angelegenheiten“ unter litten haben.
der Leitung des späteren Regierenden 1937 Auf den Ukas vom 28. August 1941
Bürgermeisters von Berlin, Ernst Reu- Am 12. Dezember werden mitten folgten viele ähnliche Ukase, Erlasse
ter, gebildet. in der Zeit des „Großen Terrors“ neun und Befehle, die nicht dazu beige-
Wolgadeutsche in den Obersten Sow- tragen haben, das Vertrauen in einen
1918 jet gewählt. Staat zu stärken, dem Russlanddeut-
Am 19. Oktober wird das Auto- sche über Jahrhunderte loyal dienten.
nome Gebiet der Wolgadeutschen 1938 Zu dieser Feststellung passt auch der
unter dem Namen Deutsche Arbeits- In der Sowjetunion wird in allen verhängnisvolle Ukas vom 28. No-
Kommune gegründet. Zentrum ist deutschsprachigen Schulen außer- vember 1948, durch den die Lage der
zunächst die Stadt Baronsk, die 1919 halb der ASSR der Wolgadeutschen deportierten Deutschen durch die An-
in Marxstadt umbenannt wird. 1922 Russisch Unterrichtssprache. In der drohung von 20 Jahren Zwangsarbeit
wird der Sitz der Gebietsverwaltung ASSR gibt es zu diesem Zeitpunkt 191 für die Entfernung aus den Orten ihrer
nach Pokrowsk, dem späteren Engels, Grundschulen und 255 Mittelschulen Zwangsansiedlung weiter verschärft
verlegt. mit sieben oder zehn Klassen. Die wurde.
Zahl der Lehrer an deutschen Schulen Alle späteren Autonomiezusagen,
1920 beziffert die „Enzyklopädie der Deut- Versprechungen und „Rehabilitierun-
Das katholische Priesterseminar an schen aus Russland“ mit 117.160. gen“ konnten die Masse der Russland-
der Wolga wird geschlossen. deutschen nicht von der Rückkehr in
1940 ihre historische Heimat Deutschland
1921 Auf der Tagung des Obersten Sow- abhalten. Und so wanderten sie in
Am 1. Juli erklärt das Präsidium jets der Russischen Föderation vom 28. Scharen aus, sofern die Ausreise von
des Gebietsexekutivkomitees des Au- Mai bis 2. Juni in Moskau wird endlich Moskau gestattet und von Berlin ge-
tonomen Gebiets, dass an der Wolga die Verfassung verabschiedet, die sich wünscht wurde.

17
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

Katharina die Große:


Eine Deutsche auf dem russischen Zarenthron

K
atharina die Große gehört ten. Allerdings wusste sie auch mit
zweifelsohne zu den gro- einnehmenden Reden und Schmei-
ßen Frauen der Weltge- cheleien zu gefallen. Auf Reisen mit
schichte; sie prägte Russ- der Mutter lernte die heranwachsen-
land wie kaum eine Regentin vor ihr. de Friederike Fürstentümer und den
Die aus deutschem Adelsgeschlecht Königshof Friedrichs II. kennen. Den
stammende Zarin führte die Expan- Preußenkönig bezauberte sie durch
sionspolitik Peters des Großen fort prompte Antworten, das Beherrschen
und regierte mit scharfsinnigem von drei Sprachen und ihr Wissen.
politischem Verstand und eisernem 1742 zog die Fürstenfamilie von
Willen zur Macht. Der Dichter Ale- Stettin in das Zerbster Schloss. Dort
xander Sergejewitsch Puschkin be- lebte die Prinzessin Sophie bis Anfang
zeichnete die Politik des Zaren Peter 1744. Friedrich II. nutzte seinen Ein-
I., insbesondere den Bau von St. Pe- fluss auf die Eltern der Prinzessin, um
tersburg, als Öffnen eines Fensters seine politischen Pläne mit Hilfe der
Russlands nach Europa. Katharina II. jungen Prinzessin umzusetzen. Bald
dagegen stieß für Russland die Tü- schon stand fest, dass Friederike an
ren nach Europa auf. den russischen Hof gebracht werden
sollte.
Katharina II., Zarin des Russischen
Zarin Katharina II.
Reiches und Herzogin von Schleswig- Der Weg zum Zarenthron
Holstein-Gottorf, regierte das riesige vertrauen beseelte Staatslenkerin, die
Russische Reich 34 Jahre lang. Sie setz- es verstand, erfolgreich Weltpolitik zu
te die Politik Peters des Großen fort betreiben. Im Januar 1744 reiste sie mit ihrer
bzw. erneuerte diese selbständig auf Mutter auf Einladung der russischen
weiterentwickeltem Niveau. Als sie Heimat Stettin Zarin Elisabeth an den Zarenhof; die
1796 im Alter von 67 Jahren starb, hatte Prinzessin von Anhalt-Zerbst war als
sie verwirklicht, was Peter I. begonnen
und Zerbst Braut des Thronfolgers Russlands,
hatte: Russland war eine Großmacht, des Großfürsten Peter Fjodorowitsch,
mit der Europa rechnen musste. Katharina II. wurde am 2. Mai 1729 favorisiert worden. Vor der Hochzeit
Katharina die Große, in die Ge- als Prinzessin Sophie Auguste Friede- mit dem Thronfolger der russischen
schichte eingegangen als bedeuten- rike von Anhalt-Zerbst-Dornburg in Zarin Elisabeth trat Friederike nicht
de Herrscherin, wurde nicht zuletzt Stettin geboren. Sie war eine Tochter nur zum orthodoxen Glauben über,
durch ihre Liebschaften zur Legende. von Fürst Christian August von An- sondern wechselte auch ihren Namen.
Mehrere Filme und zahlreiche Bücher halt-Zerbst-Dornburg, dem damaligen Danach wurde die offizielle Verlo-
nähren sich von diesem oft zweifelhaf- preußischen Gouverneur von Stettin, bung mit dem Großfürsten bekannt
ten Stoff. 1774 begegnete die 45-jährige und dessen Gattin Johanna Elisabeth, gegeben, und aus der Prinzessin von
Katharina ihrer großen Liebe: Grigori geborene Prinzessin von Holstein- Anhalt-Zerbst-Dornburg wurde Ihre
Potemkin. Auch darüber gibt es ein Gottorp. Ihre Mutter, Johanna von Kaiserliche Hoheit, die Großfürstin
sehr lesenswertes Sachbuch (erschie- Holstein-Gottorp, stammte aus einer Katharina Alexejewna von Russland.
nen 2012) von Simon Sebag Montefio- hoch angesehenen, in Europa weit Katharina ging als 16-Jährige in die
re, „Katharina die Große und Fürst Po- verzweigten Adelsfamilie. Bevor So- Ehe, doch Glück war dieser Verbin-
temkin. Eine kaiserliche Affäre“. Dazu phie Auguste Friederike als Katharina dung nicht beschieden. Den Intrigen
ein Zitat aus der „Süddeutschen Zei- II. 1762 den russischen Thron bestieg, am russischen Hof und den ständigen
tung“: „Dieses angemessen kolossale, verbrachte sie ihre Jugendjahre in der Demütigungen und Liebschaften ihres
üppige, die Sinne betörende Buch ist Kleinstadt Zerbs­t sowie in Dornburg Mannes ausweichend, nutzte sie die
ein Meisterwerk. Und ein Glücksfall.“ an der Elbe. Zeit, sich weiterzubilden und die rus-
Nach 34 Regierungsjahren verstarb Friederike wuchs in Stettin auf. sische Sprache zu lernen. Großfürstin
Katharina am 17. November 1796 in Schon in Kindesjahren begeisterte sie Katharina war eine lebensfrohe und
St. Petersburg. Geleitet von scharfem sich für Bildung und Sprachen, hatte intelligente Frau, die sich schnell in
Verstand, willensstarkem Ehrgeiz und sie doch die blendenden Geistesgaben ihre neue Umgebung einpasste. Sie
grenzenloser Eitelkeit, war es ihr ge- der Mutter geerbt. Mit 14 Jahren war musizierte gern und las viel, mit Vor-
lungen, sich Glanz und Ansehen zu sie ein lebhaftes Mädchen mit ange- liebe historische Werke, um so ihr Ver-
verschaffen. In der Erinnerung ihrer nehmem Äußeren, in deren Benehmen ständnis für Politik zu schärfen. Vor
Zeitgenossen blieb sie eine von Selbst- sich Ernst und Entschlossenheit zeig- allem war sie stets über die Vorgänge

18 à Weiter auf Seite 23


Überblick

Der weite Weg an die Wolga und zurück

Auswanderung sie durften das Reich jederzeit


von Deutschen verlassen.
unter Katharina II.
und Alexander I. Herkunftsgebiete
der Auswanderer
In weiten Teilen Russlands gab
es Ende des 18. Jahrhunderts große Aus Hessen erfolgte 1763–
fruchtbare und ungenutzte Landstri- 1767 die Hauptauswanderung
che; auch der Krieg mit der Türkei in das Wolgagebiet und Anfang
führte zu einer gewaltigen Ausdeh- des 19. Jahrhunderts auch in das
nung des Russischen Reiches in der Schwarzmeergebiet. Die Aus-
Südukraine. Um dem Land neue wanderer stammten aus Rhein-
Einnahmen zu verschaffen, erließ Za- hessen, der Pfalz, Württemberg,
rin Katharina II. am 22. Juli 1763 ein Baden, dem Elsass und Bayern.
Manifest, in dem sie Ausländer nach Aus Westpreußen kamen Men-
Russland einlud und ihnen Privile- noniten (1789-1804), aber auch
gien zusicherte. Nur 55 Prozent der Katholiken und Evangelische.
Kolonisten, die dem Aufruf der Zarin Aus Polen zogen 1814 bis 1842
folgten, waren Bauern. die früher aus Preußen und
Im so genannten Gnadenprivileg Württemberg eingewanderten
Pauls I. (1796-1801) vom 6. September Deutschen nach Bessarabien.
1800 wurden den Mennoniten zusätz- Nach Wolhynien wanderten in
liche Vorrechte eingeräumt (Befreiung drei Schüben (1812/1831/1861)
vom Kriegs- und Zivildienst für alle Deutsche aus verschiedenen Ge- Viktor Aul, „Das Manfest der Zarin“, Umschlag-
Zeiten, keine Eidesleistung vor Ge- genden Deutschlands und Po- bild: Oskar Aul. Erhältlich im Bücherangebot der
richt, Gewerbefreiheit etc.). lens aus. Landsmannschaft der Deutschen aus Russland.
Das Manifest Alexanders I. (1801-
1825) vom 20. Februar 1804 legte be- Vertreibungen Ein Erlass vom 18. August 1914 ver-
sonderen Wert auf Einwanderer, die bot den Gebrauch der deutschen Spra-
gute Landwirte, Handwerker, Winzer
im Ersten Weltkrieg che in der Öffentlichkeit, in Schule
oder Viehzüchter waren. und Kirche. Den Deutschen wurde das
Je mehr Ansehen sich die Deutschen Recht auf Versammlungen untersagt,
Auswanderungsgründe erarbeiteten, desto stärker wurden sie die deutschen Zeitungen wurden ver-
als Fremdkörper empfunden. Der Ers- boten. Den Höhepunkt dieser Hetz-
und Privilegien te Weltkrieg lieferte erst einen gewis- kampagne bildeten die vom Zaren
sen Vorgeschmack darauf, wie Deut- Nikolaus II. erlassenen Liquidations-
Not und Missstände infolge der sche in Russland und später in der gesetze, laut denen die in Grenzgebie-
Kriege, vor allem in Hessen und Süd- Sowjetunion als Spielball der großen ten lebenden Deutschen ausgesiedelt,
westdeutschland, zwangen viele zur Politik instrumentalisiert wurden. ihr Land und letztendlich auch das
Auswanderung. Außerdem spielten Die patriotisch gestimmte Presse der Wolga- und Sibiriendeutschen li-
politische Unterdrückung durch die schürte eine Spionage- und Verdäch- quidiert werden sollte. Zuerst wurden
eigenen Fürsten und die fremde Be- tigungshysterie: Die seit mehreren die deutschen Bauern aus frontnahen
satzung, Heeres- und Frondienste für Generationen im Zarenreich lebenden Gebieten, aus dem Baltikum und Po-
die eigenen Fürsten und für fremde Deutschen wurden als mögliche Spi- len, hinter die Wolga ausgesiedelt. Ihr
Mächte oder die Beeinträchtigung der one und Verräter dargestellt. Dabei Vieh und ihre landwirtschaftlichen
Glaubensfreiheit eine entscheidende dienten in der russischen Armee um Geräte, die sie nicht einmal zu Schleu-
Rolle. Den Auswanderern wurden die 300.000 russische Staatsbürger derpreisen loswurden, beschlagnahm-
Vergünstigungen wie unentgeltliche deutscher Herkunft als Soldaten, Un- te die Armee.
Landzuweisung, freie Religionsaus- teroffiziere und Offiziere, 15.000 Men- In Moskau kam es im Mai 1915 zu
übung, Steuerfreiheit bis zu 30 Jahren, noniten leisteten Sanitätsdienst in den einem antideutschen Pogrom, der
Befreiung vom Militärdienst, kultu- Lazaretten und Spitälern der russi- mehrere Menschenleben und Verwun-
relle Autonomie und gemeindliche schen Armee, etwa 50.000 Wolgadeut- dete forderte.
Selbstverwaltung zugesichert. Die sche waren an der türkisch-russischen Bis 1916 mussten etwa 200.000 Wo-
Kolonisten waren keine Leibeigenen, Front im Einsatz. lhyniendeutsche aus dem westlichen

19
Überblick

Teil des Landes ihre Wohnorte verlas- um. Mehr als 80.000 von ihnen verlie- her) oder die Fabrik zur Herstellung
sen. Etwa ein Viertel der deportierten ßen das Wolgagebiet und zogen nach von landwirtschaftlichen Geräten in
Wolhyniendeutschen kam infolge der Turkestan, in den Trans- und Nord- Katharinenstadt, wo 1926 die ersten
Vertreibungen ums Leben. Mit dem kaukasus, nach Zentralrussland, in Kleintraktoren produziert wurden. In
Erlass vom 17. Februar 1917 sollten die Ukraine und auch nach Deutsch- der mennonitischen Kolonie Einlage
auch die Deutschen an der Wolga aus- land. Etwa 48.000 kamen zu Tode, zu- (heute Gebiet Saporoschje) entwickel-
gesiedelt werden. Die nachfolgenden meist aufgrund der Hungersnot. Vor ten die russlanddeutschen Ingenieure
revolutionären Ereignisse verhinder- dem I. Weltkrieg lebten auf dem Ge- Unger und Rempel 1921 den ersten
ten jedoch die Umsetzung der Liqui- biet der zukünftigen autonomen Wol- sowjetischen Traktor, der in Serien-
dationsgesetze. garepublik 516.289 Deutsche, bei der produktion kam. 1932 erhielten Ger-
Volkszählung 1926 waren es nur noch hard Epp, Peter Dyck und Cornelius
Autonomierechte 379.630. Unruh den Lenin-Orden für die Ent-
1924 wurde die Autonome Sozia- wicklung des „Stalinez“, des ersten
für Wolgadeutsche listische Sowjetrepublik der Wolga- Mähdreschers der UdSSR.
deutschen mit der Hauptstadt Engels Der gesellschaftliche Wandel er-
Für die neuen Machthaber waren (Pokrowsk) gegründet. Aber nur etwa griff in den ersten Jahrzehnten nach
die Siedlungsgebiete der Wolgadeut- ein Drittel der Deutschen in der Sow­ der Oktoberrevolution 1917 auch die
schen, in denen große Mengen von jetunion lebte in der Wolga-Republik, deutsche Bevölkerung. In Engels wa-
Getreide beschafft werden konnten, in der sie zwei Drittel der Bevölkerung ren vor allem deutsche Kulturinsti-
von lebenswichtiger Bedeutung. Nicht stellten. Größere Städte wie Pokrowsk tutionen beheimatet: das Deutsche
von ungefähr kamen deshalb die Wol- und Katharinenstadt wurden in En- Staatstheater, die Deutsche Staatsphil-
gadeutschen als erste Minderheit in gels und Marxstadt umbenannt. harmonie, das Symphonieorchester
den Genuss der verkündeten Auto- und das Deutsche Lied- und Tanzen-
nomierechte: Am 19. Oktober 1918 Kurzer wirtschaftlicher semble.
unterzeichnete Lenin als Regierungs- Das Wolgagebiet mit seinen zahl-
chef das Dekret über die Gründung
und kultureller Aufschwung reichen deutschen Siedlungen mit ver-
der Arbeitskommune (des autonomen nach 1917 schiedenen Konfessionen, Mundarten
Gebietes) der Wolgadeutschen. und Lebensweisen war ein fruchtba-
Die wolgadeutschen Bauern muss- In vielen Gebieten des Russischen res Forschungsfeld für Sprachwissen-
ten das Mehrfache an Lebensmitteln Reiches galt die Wirtschaftsweise der schaftler und Mundartforscher, die
als landesweit üblich abliefern. Die- Deutschen als ergiebig und kultiviert. ethnographische und folkloristische
se rücksichtslose Ausbeutung führte Zu den Betrieben, die einen landes- Expeditionen organisierten.
unter anderem dazu, dass die Ar- weiten und sogar internationalen 1925 wurde das Museum der ASSR
beitskommune 1921-1922 von einer Erfolg hatten, gehörten die Winzer- der Wolgadeutschen gegründet. Deut-
verheerenden Hungersnot am härtes- kooperative „Konkordia“ in Helenen- sche Theater, zahlreiche deutsche
ten getroffen wurde. Im Bürgerkrieg dorf (Kaukasus), der wolgadeutsche Zeitungen, Staatsverlage, Hoch- und
1918/21 kamen Zehntausende Wolga- Gewerbeverein Sarpinka (rund 335 Fachschulen gab es sowohl an der
deutsche durch Gewalt und Hunger Webereien stellten den Baumwollstoff Wolga als auch in Südrussland.
Trotz der
ideologischen
Einflüsse kam
es also zu ei-
nem kurzen
kulturellen
Aufschwung.
Mit dem ver-
schärften Ter-
ror der 1930er
Jahre wurden
die Eingriffe in
das deutsche
Kulturleben
aber immer
deutlicher, was
vor allem als
Begleiterschei-
nung einer
gezielten Rus-
sifizierung zu
1932: Eine der führenden deutschen Kooperationen an der Wolga. deuten ist.

20
Überblick

Kollektivierung
und politische
Repressionen
Ende der 1920er Jahre schlug die
Sowjetführung mit Stalin an der Spit-
ze einen Kurs der radikalen Umgestal-
tung der sow­jetischen Gesellschaft ein.
Die verschärfte Kollektivierung der
Landwirtschaft zu Beginn der 1930er
Jahre forderte durch Hungersnöte,
Zwangsenteignung, Verschleppung
der „Kulaken“ (wohlhabende Bauern)
und willkürliche Massaker auch unter
den Russlanddeutschen Hunderttau-
sende Todesopfer, vor allem im ukrai-
nischen Schwarzmeergebiet.
Mit der Zwangskollektivierung
und fortschreitenden Russifizierung Deutsche Frauen im Zwangsarbeitslager.
(Schließung der Kirchen, Auflösung
deutscher Rayons und Verbot der Zweiter Weltkrieg - 1943/44 mit der Deutschen Wehrmacht
deutschen Sprache in den Schulen au- Deportation, Zwangsarbeit, nach Westen bewegt hatten, wurden
ßerhalb der Wolgarepublik 1938/39) Sondersiedlung 1945/46 von den Alliierten an die Sow-
verschlechterte sich die Lage der deut- jets ausgeliefert und in die asiatischen
schen Minderheit zusehends. Bei den Der Zweite Weltkrieg versetzte der Teile der UdSSR deportiert.
deutschen Kolonisten entlud sich der deutschen Minderheit in Russland den Nach dem Zweiten Weltkrieg waren
Protest gegen die Enteignungen und Todesstoß. Der Erlass des Präsidiums die Jahre der Sondersiedlung unter
religiösen Verfolgungen Ende 1929 des Obersten Sowjets der UdSSR vom Kommandanturaufsicht (monatliche
u.a. in einer massenhaften Auswande- 28. August 1941 beschuldigte die Wol- Meldepflicht, Studiums- und Berufs-
rungsbewegung. gadeutschen pauschal der Spionage verbot) geprägt von Unsicherheit,
Ab Mitte der 1930er Jahre setzten und Kollaboration und lieferte einen Angst und völliger Entrechtung.
politische Verfolgungen ein; ganze formalen Grund zur Deportation, die Durch die Auflösung der kulturel-
Gruppen und Bevölkerungsschichten auch auf Deutsche in anderen Gebie- len Institutionen an der Wolga und in
wurden rücksichtslos ausgeschaltet ten ausgedehnt wurde. Bis Ende 1941 anderen Regionen und das Verbot der
und vernichtet, darunter Geistliche wurden 799.459 Deutsche aus dem eu- deutschen Sprache wurde die Grund-
oder nationale Minderheiten. ropäischen Teil der Sowjetunion nach lage für eine eigenständige Entwick-
Die Deutschen gehörten zu den Kasachstan, Sibirien und Mittelasien lung unwiederbringlich zerstört. Wirt-
Ersten, die aufgrund ihrer nationalen „umgesiedelt“, darunter 444.115 Wol- schaftliche Plünderung, Zerschlagung
Zugehörigkeit unter die Räder des gadeutsche. der nationalen Intelligenz, diskrimi-
„Roten Terrors“ gerieten. Im Zuge Eine weitere Stufe der bürgerlichen nierende Rechtsnormen der Sonder-
der „deutschen Operation“ des Volks- Entrechtung der deutschen Minder- siedlung und das Totschweigen der
kommissariats für Innere Angelegen- heit stellte die Einweisung aller er- Existenz der Volksgruppe verwandel-
heiten wurden 1937-38 Zehntausende wachsenen Personen (Jugendliche, ten die Deutschen in der Sowjetunion
Deutsche verhaftet und zum Tod ver- Männer und Frauen im Alter von 15 in Personen „minderen Rechts“.
urteilt. Mit 5,3 Prozent Opferanteil bei bis 55 Jahren) in NKWD-Arbeitslager Trotz der gewaltigen Menschenver-
einem Bevölkerungsanteil von nur 0,8 dar. Hier landeten auch russlanddeut- luste wurden bei der ersten zuverläs-
Prozent gehörten die Deutschen zu sche Soldaten und Offiziere, die aus sigen Volkszählung nach dem Krieg
den am stärksten verfolgten nationa- den militärischen Einheiten ausgeson- (1959) ca. 1.620.000 Deutsche in der
len Gruppen. dert wurden. UdSSR gezählt, verstreut vor allem
In den Jahren 1918 bis 1939 wurden Wie Strafgefangene wurden die über Sibirien, Kasachstan und Mittel­
auf dem Gebiet der Sowjetunion fast Russlanddeutschen für schwerste und asien.
sämtliche katholischen und evange- unqualifizierte Arbeiten beim Bau von
lischen Geistlichen umgebracht bzw. Eisenbahnlinien und Industriebetrie- Verbannt in alle Ewigkeit -
verbannt, die Kirchen umfunktioniert ben, in der Öl- und Kohleförderung
oder zerstört. Der christliche Glaube oder beim Holzfällen eingesetzt. Die
halbherzige
existierte nur noch im Untergrund. ganze „deutsche Operation“ verlief Rehabilitierungsversuche
Am Vorabend des Zweiten Welt- unter Ausschluss von Presse und Öf-
kriegs lebten insgesamt rund 1,4 Mil- fentlichkeit. Der Erlass des Präsidiums des
lionen Deutsche auf sowjetischem Ter- Auch die 280.000 Russlanddeut- Obersten Sowjets von 1948, der die
ritorium. schen aus der Westukraine, die sich Verbannung der Deutschen und an-

21
Überblick

derer “bestrafter” Völker auf „ewig” deutschsprachige Rund-


festlegte, verschärfte die Bedingungen funksendungen.
der Sondersiedlung weiter. Verstöße Diese Maßnahmen wa-
wurden mit bis zu 20 Jahren Zwangs- ren vor allem als Mittel
arbeit bestraft. der ideologischen Einwir-
Der Regierungserlass vom 13. De- kung auf die Deutschen in
zember 1955 schaffte den Status als der Sowjetunion gedacht
Sondersiedler für die Deutschen zwar und wurden unter diesem
ab, aber eine Rückkehr in die ange- Vorbehalt auch geduldet.
stammten Herkunftsgebiete war nicht Gleichzeitig sollten sie der
erlaubt. So siedelten sich ab 1956 vie- Weltöffentlichkeit zeigen,
le russlanddeutsche Familien in wär- dass die Deutschen in der
meren Regionen Mittelasiens an und Sowjetunion ein gleichbe-
blieben nach wie vor Vertriebene im rechtigter Teil des Vielvöl-
eigenen Land. kerstaates waren.
Auch die teilweise Rehabilitierung Die im Zuge der po-
durch den Erlass von 1964 (Freispruch litischen Liberalisierung
von der Schuld des Verrats) brachte der 1960er Jahre entstan-
kaum nennenswerte Veränderungen: dene Autonomiebewe-
Eine Rückkehr in die ehemaligen gung (zwei Delegationen
Heimatkolonien gab es nach wie vor nach Moskau 1965 mit
nicht. Erst der Regierungserlass von der Forderung nach einer
1972 hob die Einschränkungen in der Autonomie für die Russ-
Die Heimatbücher der Landsmannschaft der Deutschen
Wahl des Wohnortes auf. landdeutschen) wurde un- aus Russland erscheinen seit rund sechs Jahrzehnten
Nach dem „großen Schweigen“ terbunden. 1968 wurden und vereinen in sich Beiträge von Wissenschaftlern,
wurde 1955 die erste deutschsprachi- alle Autonomiebestrebun- Publizisten, Kulturschaffenden und Zeitzeugen zur
ge Zeitung „Arbeit“ in Barnaul, Sibiri- gen verboten. Geschichte der Deutschen aus Russland.
en, gegründet, die allerdings 1957 we-
gen autonomistischer Bestrebungen Politischer Aufbruch forderten. Als engagierte Vertrete-
geschlossen wurde. Ab 1957 erschie- rin der nationalen Interessen trat die
nen die deutschsprachigen Zeitungen
und kulturelle im März 1989 gebildete Gesellschaft
„Neues Leben“ (Moskau) und „Rote Wiederbelebung nach 1985 „Wiedergeburt“ auf.
Fahne“ (Slawgorod, Altairegion) und Im April 1991 verabschiedete der
ab 1965 die republikanische deutsch- Die Liberalisierung nach dem Oberste Sowjet der Russischen Sow-
sprachige „Freundschaft“ in Kasachs­ Machtantritt von Michail Gorbatschow jetrepublik ein Gesetz „Über die Reha-
tan (Zelinograd). Nach dem Erlass schuf Voraussetzungen für die Aufar- bilitierung der repressierten Völker“,
von 1964 gab es in einigen Regionen beitung der Geschichte der deutschen das nach dem Zerfall der Sowjet­union
Minderheit und ihre weitere Re- zur Aufarbeitung von Unrechtsakten
habilitierung. Zahlreiche Beiträge aufforderte. Bezüglich der Deutschen
in Zeitungen und Zeitschriften, ist das Anliegen dieser Gesetzgebung
Radio- und Fernsehsendungen bisher nur teilweise eingelöst worden.
sowie wissenschaftliche Veröf- Das bereits erarbeitete Gesetz zur Re-
fentlichungen gingen auf die habilitierung der Russlanddeutschen
Geschichte und Gegenwart der konnte sich bisher nicht durchsetzen.
Russlanddeutschen ein. Gegenwärtig leben noch etwa eine
Das im Dezember 1980 eröff- Million Deutsche in Russland, Ka­
nete Deutsche Theater in Temir- sachstan und den anderen Nach-
tau (später in Alma-Ata) veran- folgestaaten der Sowjetunion. Die
staltete mit viel Erfolg Festivals gescheiterten Hoffnungen lösten An-
der deutschen Kultur und Kunst, fang der 90er Jahre eine massenhafte
ging auf Tournee in die Gebiete, Ausreisewelle aus. Im Jahr der letzten
in denen Deutsche lebten, und sowjetischen Volkszählung 1989 leb-
trug vielerorts zur kulturellen ten 2.040.000 Deutsche in der UdSSR:
Wiederbelebung bei. 960.000 in Kasachstan, 840.000 in Russ-
Es bildeten sich Gruppen von land (davon nur 35.000 an der Wolga),
Aktivisten, die 1988 eine dritte über 100.000 in Kirgisien, 40.000 in Us-
und danach eine vierte Delegati- bekistan und nur 38.000 wieder in der
on nach Moskau zusammenstell- Ukraine.
ten, die die Wiederherstellung Zusammenfassung:
Auswanderung nach Übersee. der Deutschen Wolgarepublik Nina Paulsen

22
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

am Hof informiert. Sie besuchte jeden konnte sie in ihrem politischen Alltag „Instruction“: „Russland ist eine euro-
Gottesdienst und nahm am religiösen nur in eng gesteckten Grenzen han- päische Macht.“
Leben teil. Schon bald hatte sie die deln. Katharina II. nutzte ihre Macht,
Sympathie des russischen Hofes, aber Katharina II. las die Werke von um zweimal erfolgreich Krieg gegen
auch großer Teile des Volkes gewon- Montesquieu und Voltaire. Sie pflegte das Osmanische Reich zu führen; sie
nen. eine rege Korrespondenz mit Voltaire, verschaffte sich direkten Zugang zur
Währenddessen schuf sich Groß- den sie sehr schätzte. Er nannte sie Krim. In zwei russisch-türkischen
fürst Peter seine eigene Welt in Ora- den strahlendsten Stern des Nordens Kriegen 1768–1774 sowie 1787–1792
nienbaum (heute Lomonossow) und und sah in ihr eine Philosophin auf eroberte sie den Zugang zum Schwar-
pflegte seine Freundschaft mit Preu- dem Thron. Ihre tiefe Zuneigung und zen Meer und weite Küstengebiete.
ßen. Bewunderung zeigte sich, als sie seine Mit Preußen und Österreich verbün-
1762 verstarb die Zarin Elisabeth Vorstellungen in ihre „Große Instruk- det, führte sie die Dreiteilung Polens
Petrowna, und Großfürst Peter Fjo- tion“ mit einfließen ließ. Darüber hi­ durch.
dorowitsch bestieg als Zar Peter III. naus unterstützte sie ihn finanziell und Im Ergebnis der drei Teilungen Po-
den russischen Thron. Er regierte nur kaufte nach seinem Tod seine gesamte lens gewann Russland 1 Million km²
sechs Monate, da seine Amtshandlun- Bibliothek mit all seinen Werken auf, Landfläche und 6 Millionen Menschen
gen, z.B. Friedensverträge mit Preu- die sich jetzt in der Russischen Natio- dazu. Katharinas „Griechisches Pro-
ßen und Säkularisierung der Güter der nalbibliothek in Sankt Petersburg be- jekt“, d. h. die Eroberung Konstanti-
russischen Kirche sowie Bevorzugung findet. nopels und die Neugründung des by-
deutscher Militärs in der russischen Unmittelbar nach ihrer Ausrufung zantinischen Reichs unter russischer
Armee, nicht von allen führenden zur Zarin unternahm sie energische Herrschaft, scheiterte am Widerstand
Staatsmännern Russlands gebilligt Versuche, durch eine aufgeklärte Ge- Preußens und Österreichs.
wurden. Peter entpuppte sich als fa- setzgebung für Verwaltung, Wirt- Auch auf dem diplomatischen Par-
natischer Anhänger Friedrichs II.; er schaft und Militär das riesige Russi- kett Europas konnte Katharina II. Er-
wollte die russische Armee reformie- sche Reich zu reformieren. Beeinflusst folge erzielen. Durch ihre Vermittler-
ren und sie in Uniformen in den Far- vom Gedankengut der französischen rolle im Frieden von Teschen wurde
ben Preußens stecken. Er unternahm Aufklärung, führte sie einige innen- der bayerische Erbfolgekrieg beendet.
auch Angriffe gegen die orthodoxe politische Reformen durch. Die im To- Seither nahmen an allen bedeuten-
Kirche. leranzedikt festgeschriebene Duldung den Fürstenhöfen Europas russische
Katharina entschloss sich, ihren aller religiösen Bekenntnisse ist das Gesandte die Interessen ihres Landes
Gatten zu entmachten. Im Juni 1762 Spiegelbild einer Monarchin, die sich wahr. Katharina II. pflegte ihre westeu-
stürzte Katharina Alexejewna ihn mit aufgeklärt und modern gibt. ropäischen Beziehungen und förderte
Hilfe der Gebrüder Orlow und ande- Allerdings änderten ihre Bemü- die Einführung geistiger und kulturel-
rer russischer Staatsmänner und ließ hungen nichts an der bestehenden ler Leistungen, vor allem Frankreichs,
sich als Zarin Katharina II. von Russ- gesellschaftlichen Ordnung. Mit ihrer am russischen Hof.
land krönen. Seine Ermordung ord- Großmachtpolitik hielt Katharina II.
nete sie nicht direkt an, nahm sie aber Russland zusammen. Eine Abschaf- Innenpolitik
billigend in Kauf. Ihrer alleinigen und fung der Leibeigenschaft erwog aber
unumschränkten Herrschaft stand auch Katharina nicht. Der Status der
nun nichts mehr im Wege. Bauern näherte sich dem der Sklaverei. Ebenfalls vom Gedankengut der
Katharinas Krönung fand am 22. Einen Aufstand der Landbevölkerung französischen Aufklärung beeinflusst,
September 1762 in Moskau statt. Ein in der Ukraine gegen die Unterdrü- stieß Katharina II. zum Nutzen Russ-
gigantisches, prunkvolles Volksfest ckung ließ sie blutig niederschlagen. lands Reformen auf verschiedenen
trug letztendlich dazu bei, dass die Gebieten an. Innenpolitische Reform-
Einwohner Moskaus sie als ihre recht- Außenpolitik versuche glückten ihr allerdings nicht
mäßige Herrscherin akzeptierten. immer mit der erforderlichen Kon-
sequenz, da die Interessen des russi-
Widersprüchliche Außenpolitisch setzte Katharina schen Adels, der wichtigsten Macht-
II. den von Peter III. angefangenen stütze Katharinas II., mit denen der
Herrscherin preußenfreundlichen Kurs fort. Mehr Zarin wiederholt nicht zusammen-
noch: Katharina II. baute den Macht- gingen. So gab es im Reich Katharinas
Gerade aufgrund der Widersprüch- bereich Russlands in einem Maße aus auch Unruhen, z.B. unter den Bauern,
lichkeiten ihrer Persönlichkeit und ih- wie kein russischer Herrscher vor ihr. die die aufgeklärte Zarin mit repressi-
rer Herrschaft ist Katharina die Große Russland erfuhr in der Regierungs- ven Maßnahmen beantwortete.
eine der bedeutendsten Gestalten der zeit Katharinas einen ungeheuren Ge- Katharinas Verdienst war eine ein-
Weltpolitik. Die Zarin regierte das Rie- bietszuwachs. Ihr Handeln war darauf heitliche Verwaltung mit Statthal-
senreich mit eiserner Hand. Obwohl ausgerichtet, dass die anderen Staaten terschaften, Provinzen und Kreisen.
sie der Gedankenwelt der Aufklärung Europas in Russland eine Großmacht Sie gründete erste Volksschulen und
nahe stand und Russland für die eu- sehen sollten. Schon 1766 schrieb Ka- Gymnasien in den Städten sowie In-
ropäische Kunst und Literatur öffnete, tharina II. in ihrer politischen Schrift genieurfachschulen. Sie schuf Wohl-

23
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

fahrtsprojekte, etwa in Form von Hos- tur öffnete, konnte


pitälern und Obdachlosenasylen. sie in ihrem poli-
Im Toleranzedikt vom 17. Juni tischen Alltag nur
1773 versprach sie die Duldung aller in eng gesteckten
religiösen Bekenntnisse. Davon aus- Grenzen handeln.
genommen war allerdings die große Entgegen dem Ein-
Zahl von Juden, die seit der Ersten druck, den sie als
Teilung Polens ihre Untertanen wa- gelehrige Schülerin
ren. Im Toleranzedikt verbot die Zarin der französischen
ausdrücklich alle religiös begründeten Enzyklopädisten
Verfolgungen und stellte damit ihre hinterlassen woll-
moderne, durch die Gedanken der te, bewirkten ihre
Aufklärung geschulte Ausrichtung innenpolitischen
unter Beweis. Dieser Erlass kam vor R e f o r m ve r s u c h e
allem den „Altgläubigen“ zugute, je- keine nachhalti-
nem Zweig der russisch-orthodoxen ge Änderung der
Kirche, der sich Mitte des 17. Jahrhun- bestehenden So-
derts offiziell von der Staatskirche ab- zialordnung. Ihr
gespaltet hatte und von der Kirchen- aufgeklärter Geist
synode 1666 exkommuniziert und regte zwar einige
verdammt worden war. Modernisierungen
Nachhaltig waren ihre Maßnahmen an, offensichtliche
auf dem Gebiet des Erziehungswe- Missstände ver-
sens und bei der Besiedlung und Ur- schärften sich unter
barmachung des russischen Südens, ihrer Regentschaft
indem sie Einwanderer aus Deutsch- aber noch mehr.
land und anderen europäischen Län- So stärkte die
dern anwerben ließ. Kaum den Thron Monarchin die
bestiegen, erließ Katharina II. am 14. überlieferte Sozi- Das Denkmal der Zarin in Zerbst. Bild: Reinhard Uhlmann
Oktober 1762 ihr erstes Einladungs- alordnung, indem
manifest, das allerdings geschichtlich sie die leibeigenen Bauern völlig dem und Urbarmachung des russischen
folgenlos blieb. Das Manifest vom 4. grundbesitzenden Adel auslieferte. Südens, indem sie Einwanderer aus
Dezember 1762 richtete sich vor al- Sie weitete die Leibeigenschaft auf die Deutschland und anderen europäi-
lem an die aus Russland entflohenen bis dahin freien Bauern in der Ukraine schen Ländern anwerben ließ.
Untertanen, denen bei Rückkehr nach aus. Gleichzeitig stärkte sie die Pri- Auch aus Zerbst lud Katharina im-
Russland Straffreiheit in Aussicht ge- vilegien des Adels. Die Verelendung mer wieder Bürger zu sich ein. Mit
stellt wurde. Ausländer wurden zwar und Entrechtung der Bauern führte zu dieser Stadt fühlte sie sich zeitlebens
als Zielgruppe genannt, aber ohne jeg- massiven sozialen Unruhen, die 1773 verbunden. Als hier 1772 eine Hun-
liches Angebot. im Aufstand der Donkosaken unter gersnot ausbrach, veranlasste sie, dass
Erst das Manifest vom 22. Juli 1763, Pugatschow gipfelten. Der Aufstand große Mengen Roggen zollfrei nach
in dem sie Ausländer nach Russland wurde im Jahre 1774 blutig nieder- Zerbst geschickt und an die Bürger
einlud und Privilegien (unentgeltliche schlagen, der Anführer in Moskau der Stadt verteilt wurden. Als Katha-
Landzuweisung, freie Religionsaus- öffentlich hingerichtet, und von den rina am 17. November 1796 in Zarsko-
übung, Steuerfreiheit bis zu 30 Jahren, bescheidenen Versuchen einer Neu- je Selo starb, läuteten die Glocken in
Befreiung vom Militärdienst, kultu- ordnung und Dezentralisierung des Zerbst vier Wochen lang für sie. Ein-
relle Autonomie, gemeindliche Selbst- Staates gingen kaum Impulse aus. blicke in das Leben der 1729 gebore-
verwaltung, keine Leibeigenschaft) nen Prinzessin gewährt seit 1995 das
zusicherte, hatte Folgen. Der Zuzug Russland profitiert bundesweit einzige Katharina-Muse-
von Bauern war im Süden erforder- um in Zerbst.
lich, um die Ostgrenze vor Überfällen
bis heute
zu schützen und das von den Türken vom Wirken Katharinas
Katharina-Denkmal
abgetretene Land neu zu besiedeln.
Katharina II. förderte die Weiter- Katharina II. förderte unter ande-
in Zerbst
entwicklung von Kunst, Kultur und rem die kulturelle, wirtschaftliche und
Wissenschaft. In ihrer Regierungszeit geistige Bindung zwischen Russland Ein Symbol für die Bindung zwi-
erblühte St. Petersburg zu einer der und Deutschland. Sie holte bedeu- schen Russland und Deutschland ist
schönsten Hauptstädte Europas. tende Leute nach Russland, darunter das erste Denkmal der russischen Za-
Obwohl sie der Gedankenwelt der Künstler, Kaufleute und Gelehrte, rin im sachsen-anhaltinischen Zerbst.
Aufklärung nahe stand und Russland aber auch Handwerker und Bauern. Die knapp fünf Meter hohe Bronzesta-
für die europäische Kunst und Litera- Und sie unterstützte die Besiedlung tue steht auf einem Sockel vor der

24
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

barocken Stadthalle im historischen


Schlossgarten Zerbst. Die Statue, die
in St. Petersburg in Bronze gegossen
wurde und die junge Prinzessin So-
phie Auguste Friederike zeigt, wurde
am 9. Juli 2010 in Zerbst feierlich ein-
geweiht.
Das Katharinen-Denkmal ist ein
Geschenk des russischen Bildhau-
ers Michail Perejaslawez an die Stadt
Zerbst. Initiiert wurde die Aufstellung
der gegossenen Statue, komplett von
russischer Seite finanziert, vom In-
ternationalen Förderverein Kathari-
na II. e.V. Zerbst. Der 1992 in Zerbst
gegründete Förderverein zählt rund
130 Mitglieder, darunter Künstler und
Wissenschaftler aus Russland und der
Ukraine, aus Westeuropa, Japan und
den USA.
1994 wurden die 1. Internationalen
Katharina-Festtage in Zerbst durchge-
führt, denen 1995 die zweiten Festtage
folgten. Während der 2. Internationa-
len Katharina-Festtage wurde im Sep-
tember 1995 im Beisein des Botschaf-
ters der Russischen Föderation in der
Bundesrepublik die Sammlung Katha-
rina II. in Zerbst eröffnet. Mäzen die-
ser ständigen Sammlung ist der Baron
Eduard von Falz-Fein. Der Förderver-
ein initiierte 1994 die Unterzeichnung
eines offiziellen Vertrages einer Städ-
tepartnerschaft zwischen Puschkin bei
St. Petersburg und Zerbs­t. Der Förder-
verein unterstützt den jährlich statt-
findenden Jugendaustausch zwischen
beiden Städten, er organisiert Konzer-
te und Ausstellungen mit russischen
Künstlern in Anhalt-Zerbst und zeigt
seine mobile Fotoausstellung zum Le-
ben und Wirken Katharinas II. im In-
und Ausland.
Vor dem Katharinen-Denkmal in Marx/Wolga.
Denkmal für Katharina II.
erhielt Baron von Klodt. Er stellte Ka- Originalentwürfe, die von Klodt wäh-
in Marx/Wolga tharina in einer römischen Toga auf rend der Vorbereitungsarbeiten ange-
dem Thron sitzend dar, in der Hand fertigt hatte. 2005 fasste dann der Ge-
Seit dem 29. November 2007 gibt es den berühmten Erlass über die An- sellschaftsrat bei der Kreisverwaltung
auch in Marx/Wolga, dem ehemaligen siedlung von Kolonisten. Die Skulp- den Beschluss, das Denkmal wieder
Katharinenstadt, im Verwaltungsge- tur wurde in Bronze gegossen. Um die zu errichten. Den Auftrag erhielt der
biet Saratow wieder ein Monument Skulptur herum entstand der Kathari- Petersburger Bildhauer Jurij Kissel-
der russischen Zarin. Es kehrte an den nengarten. jow.
Ort zurück, an dem es im Herbst 1851, Bis in die Sowjetzeit stand das bron-
87 Jahre nach der Erstansiedlung von zene Denkmal des Bildhauers von Zusammenfassung: Nina Paulsen
Deutschen, mit Spenden deutscher Klodt in der Stadt, 1941 wurde es „für (Ergänzungen von Dr. Anton Bosch),
Kolonisten und der Anschrift „Der den Bedarf der Front“ zerstört und nach Publikationen der
Zarin Katharina in Dankbarkeit von abtransportiert. Es ist eine getreue Landsmannschaft der Deutschen aus
den ausländischen Siedlern“ errichtet Kopie der ursprünglichen Skulptur. Russland (VadW)
wurde. Den Auftrag für das Denkmal In St. Petersburg stieß man sogar auf und online-Artikeln

25
Beilage: Das Manifest der Zarin

Manifest der Zarin Katharina II.


vom 22. Juli 1763
Originaltext: Entschlackte Übersetzung:
Von Gottes Gnaden Von Gottes Gnaden
Wir Catharina die Zweite, Zaarin und Selbstherrscherin aller Reu- Wir1, Katharina II., Zarin und Selbstherrscherin aller Russen zu
ßen zu Moskau, Kiew, Wladimir, Nowgorod, Zaarin zu Casan, Zaarin Moskau, Kiew, Wladimir und Nowgorod, Zarin zu Kasan, Zarin zu
zu Astrachan, Zaarin zu Sibirien, Frau zu Pleskau und Großfürstin zu Astrachan, Zarin zu Sibirien, Frau zu Pleskau und Großfürstin zu
Smolensko, Fürstin zu Esthland und Lifland, Carelien, Twer, Jugorien, Smolensk, Fürstin zu Estland und Livland, Karelien, Twer, Jugo-
Permien, Wjatka und Bolgarien und mehr anderen; Frau und Groß- rien, Permien, Wjatka, Bolgarien u.a.m., Frau und Großfürstin zu
fürstin zu Nowgorod des Niedrigen Lan- Nowgorod des Niedrigen Landes, von
des, von Tschernigow, Resan, Rostow, Ja- Tschernigow, Rjasan, Rostow, Jaroslawl,
roslaw, Belooserien, Udorien, Obdorien, Belooserien, Udorien, Obdorien, Kondini-
Condinien, und der ganzen Nord-Seite, en und der ganzen Nordseite, Gebieterin
Gebieterin und Frau des Jurischen Lan- und Frau des Jurischen Landes, der Ka-
des, der Cartalinischen und Grusinischen ralinischen und Grusinischen Zaren und
Zaaren und Cabardinischen Landes, der des Kabardinischen Landes, der Tscher-
Tscherkessischen und Gorischen Fürsten kessischen und Gorischen Fürsten sowie
und mehr anderen Erb-Frau und Beherr- Erbfrau und Beherrscherin von anderen
scherin. Gebieten.

Da Uns der weite Umfang der Länder Der große Umfang der Länder Unseres
Unseres Reiches zur Genüge bekannt, so Reiches ist Uns zur Genüge bekannt, und
nahmen Wir unter anderem wahr, daß Wir nahmen unter anderem wahr, dass
keine geringe Zahl solcher Gegenden eine nicht geringe Anzahl dieser Gebiete
noch unbebaut liege, die mit vorteilhafter unbebaut ist. Die meisten dieser Lände-
Bequemlichkeit zur Bevölkerung und Be- reien verbergen in ihrem Schoße einen
wohnung des menschlichen Geschlechtes unerschöpflichen Reichtum an kostbaren
nutzbarlichst könnte angewendet wer- Erzen und Metallen und könnten vorteil-
den, von welchen die meisten Ländereyen haft bevölkert und bewohnt werden. Da-
in ihrem Schoose einen unerschöpflichen rüber hinaus bieten sie in ausreichendem
Reichtum an allerley kostbaren Erzen und Maße Wälder, Flüsse, Seen und verwend-
Metallen verborgen halten; und weil sel- bare Meeresufer und sind daher geeignet
biger mit Holzungen, Flüssen, Seen und zum Aufbau von Manufakturen, Fabriken
zur Handlung gelegenen Meerung gnug- und anderen Anlagen. Das veranlasste
sam versehen, so sind sie auch ungemein uns, am 4. Dezember des vergangenen
bequem zur Beförderung und Vermeh- Jahres 1762 ein Manifest zum Nutzen al-
rung vielerley Manufacturen, Fabriken ler Unserer getreuen Untertanen zu pub-
und zu verschiedenen Anlagen. Dieses lizieren. Darin hatten Wir jedoch unsere
gab Uns Anlaß zur Erteilung des Manifes- Einladung an Ausländer, die das Verlan-
tes, so zum Nutzen aller Unserer getreuen gen haben, sich in Unserem Reich nieder-
Unterthanen den 4. December des abge- zulassen, nur summarisch angekündigt;
wichenen 1762 Jahres publiciert wurde. Wir haben daher zur Verdeutlichung des
Jedoch, da wir in selbigen Ausländern, die Manifestes die Bekanntmachung der fol-
Verlangen tragen würden, sich in Unse- genden Verordnung veranlasst:
rem Reich häuslich niederzulassen, Unser
Belieben nur summarisch angekündiget;
so befehlen Wir zur besseren Erörterung
desselben folgende Verordnung, welche
Wir hiermit feierlichst zum Grunde legen,
und in Erfüllung zu setzen gebieten.

1. 1.
Verstatten Wir allen Ausländern, in Unser Reich zu kommen, um Wir erlauben allen Ausländern, in Unser Reich zu kommen, um
sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich sich nach Belieben in allen Gouvernements häuslich niederzulas-
niederzulassen. sen.

2. 2.
Dergleichen Fremde können sich nach ihrer Ankunft nicht nur in Diese Fremden können sich nach ihrer Ankunft nicht nur in
Unsere Residenz bey der zu solchem Ende für die Ausländer beson- Unserer Residenz bei der eigens zu diesem Zweck für Ausländer
ders errichteten Tütel-Canzley, sondern auch in den anderweitigen errichteten Tutelkanzlei2 melden, sondern auch nach Wunsch bei
Gränz-Städten Unseres Reiches nach eines jeden Bequemlichkeit bey 1 Der Pluralis Majestatis wurde beibehalten.
denen Gouverneure, der wodergleichen nicht vorhanden, bey den 2 Auf Anweisung der Zarin am 22. Juli 1763 geschaffene „Kanzlei
vornehmsten Stadts-Befehlshabern zu melden. der Vormundschaft der Ausländer“ mit Sitz in St. Petersburg. Mit
ihrer Hilfe sollten die Angelegenheiten der Einwanderer geregelt
werden.

26
Beilage: Das Manifest der Zarin
den Gouverneuren anderer Grenzstädte Unseres Reiches bzw., so-
weit diese nicht vorhanden, bei den vornehmsten Befehlshabern
der Stadt.

3. 3.
Da unter denen sich in Rußland niederzulassen Verlangen tragen- Ausländer, die sich in Russland niederlassen wollen, aber nicht
den Ausländern sich auch solche finden würden, die nicht Vermö- genügend Vermögen besitzen, um die erforderlichen Reisekosten
gen genug zu Bestreitung der erforderlichen Reisekosten besitzen: so zu bestreiten, können sich bei Unseren Ministern und bei auswär-
können sich dergleichen bey Unseren Ministern und an auswärtigen tigen Höfen melden, die sie nicht nur ohne Umstände auf Unsere
Höfen melden, welche sie nicht nur auf Unsere Kosten ohne Anstand Kosten nach Russland schicken, sondern auch mit Reisegeld verse-
nach Rußland schicken, sondern auch mit Reisegeld versehen sollen. hen sollen.

4. 4.
Sobald dergleichen Ausländer in Unserer Residenz angelangt und Sobald diese Ausländer in Unserer Residenz angelangt sind und
sich bei der Tütel-Canzley oder in einer Gränz-Stadt gemeldet haben sich bei der Tutelkanzlei oder in einer Grenzstadt gemeldet haben,
werden; so sollen dieselben gehalten sein, ihren wahren Entschluß zu sollen sie mitteilen, worin ihr Verlangen besteht und ob sie sich
eröffnen, worinn nehmlich ihr eigentliches Verlangen bestehe, und unter die Kaufmannschaft oder unter die Zünfte einschreiben las-
ob sie sich unter die Kaufmannschaft oder unter Zünfte einschreiben sen und Bürger werden wollen, und zwar in welcher Stadt, oder
lassen und Bürger werden wollen, und zwar nahmentlich, in welcher ob sie sich auf freiem und nutzbarem Grund und Boden in ganzen
Stadt; oder ob sie Verlangen tragen, auf freyem und nutzbarem Grun- Kolonien und Landflecken zum Ackerbau oder als Gewerbe Trei-
de und Boden in ganzen Kolonien und Landflecken zum Ackerbau bende niederlassen wollen. Sodann erhalten diese Leute ohne
oder zu allerley nützlichen Gewerben sich niederlassen; da sodann Verzögerung ihre Bestimmung gemäß ihrem eigenen Wunsch und
alle dergleichen Leute nach ihrem eigenen Wunsche und Verlangen Verlangen, wobei aus beiliegendem Register hervorgeht, in wel-
ihre Bestimmung unverweilt erhalten werden; gleich denn aus beifol- chen Gegenden Unseres Reiches freie und zur Ansiedlung geeig-
gendem Register zu ersehen ist, wo und an welchen Gegenden Un- nete Ländereien vorhanden sind. Darüber hinaus finden sich außer
seres Reiches nahmentlich freye und zur häuslichen Niederlassung den im Register angegebenen noch erheblich mehr ausgedehnte
bequeme Ländereyen vorhanden sind; wiewohl sich außer der in be- Gegenden und Ländereien, in denen Wir ebenfalls eine Ansiedlung
meldetem Register aufgegebenen noch ungleich mehrere weitläufige gestatten.
Gegenden und allerley Ländereyen finden, allwo Wir gleichergestalt
verstatten sich häuslich niederzulassen, wo es sich ein jeder am nütz-
lichsten selbst wählen wird.

5. 5.
Gleich bei der Ankunft eines jeden Ausländers in Unser Reich, der Gleich bei der Ankunft in Unserem Reich hat jeder Ausländer, der
sich häuslich niederzulassen gedenket und zu solchem Ende in der für sich ansiedeln möchte und sich zu diesem Zweck in der Tutelkanzlei
die Ausländer errichteten Tütel-Canzley oder aber in anderen Gränz- oder in einer anderen Grenzstadt Unseres Reiches angemeldet hat,
Städten Unseres Reiches meldet, hat ein solcher, wie oben im 4ten wie im Paragraphen 4 angegeben, vor allem sein Vorhaben mitzu-
§ vorgeschrieben stehet, vor allen Dingen seinen eigentlichen Ent- teilen und nach seinem Religionsritus den Eid der Untertänigkeit
schluß zu eröffnen, und sodann nach eines jeden Religions-Ritu den und Treue zu leisten.
Eid der Unterthänigkeit und Treue zu leisten.

6. 6.
Damit aber die Ausländer, welche sich in Unserem Reiche nieder- Damit aber die Ausländer, die sich in Unserem Reich niederlas-
zulassen wünschen, gewahr werden müssen, wie weit sich Unser sen wollen, sehen, wie weit Unser Wohlwollen zu ihrem Vorteil
Wohlwollen zu ihrem Vorteile und Nutzen erstrecke, so ist, dieser und Nutzen geht, ist dies Unser Wille:
Unser Wille:

1. Gestatten Wir allen in Unser Reich ankommenden Ausländern 1. Wir gestatten allen in unserem Reich ankommenden Auslän-
unverhindert die freie Religions-Übung nach ihren Kirchen-Satzungen dern die freie Religionsausübung nach ihren Kirchensatzungen und
und Gebräuchen; denen aber, welche nicht in Städten, sondern auf Gebräuchen. Denjenigen, die sich nicht in Städten, sondern auf
unbewohnten Ländereyen sich besonders in Colonien oder Land- unbewohnten Ländereien und besonders in Kolonien oder Land-
flecken nieder zu lassen gesonnen sind, erteilen Wir die Freyheit, flecken niederlassen wollen, geben wir die Freiheit, Kirchen und
Kirchen und Glocken-Türme zu bauen und dabey nöthige Anzahl Glockentürme zu bauen und die benötigte Anzahl von Priestern
Priester und Kirchendiener zu unterhalten, nur einzig den Klosterbau und Kirchendienern zu beschäftigen; ausgenommen ist nur der
ausgenommen. Jedoch wird hierbey jedermann gewarnt keinen in Klosterbau. Allerdings wird jedermann dringend davor gewarnt,
Rußland wohnhaften christlichen Glaubensgenossen, unter gar kei- einen in Russland wohnhaften christlichen Glaubensgenossen zur
nem Vorwande zur Annehmung oder Beypflichtung seines Glaubens Annahme oder zum Beitritt zu seinem Glauben und seiner Gemein-
und seiner Gemeinde zu bereden oder zu verleiten, falls er sich nicht de zu überreden und zu verleiten, sofern er sich nicht der Strafe
der Furcht der Strafe nach aller Strenge Unserm Gesetze auszusetzen nach aller Strenge Unseres Gesetzes aussetzen will. Davon ausge-
gesonnen ist. Hiervon sind allerley an Unsere Reiche angrenzende nommen sind an Unser Reich angrenzende Nationen mohamme-
dem Mahometanischen Glauben zugethane Nationen ausgeschlos- danischen Glaubens; wir erlauben einem jeden, sich nicht nur auf
sen; als welche Wir nicht nur auf eine anständige Art zur christlichen anständige Weise der christlichen Religion zuzuwenden, sondern
Religion zuneigen, sondern auch sich selbige unterthänig zu machen, diese auch anzunehmen.
einem jeden erlauben und gestatten.

2. Soll keiner unter solchen zur häuslichen Niederlassung nach 2. Keiner der zur häuslichen Niederlassung nach Russland gekom-
Rußland gekommene Ausländer an unsere Cassa die geringsten Ab- menen Ausländer soll gezwungen werden, auch nur die geringsten
gaben zu entrichten, und weder gewöhnliche oder außerordentliche Abgaben an Unsere Reichskasse zu entrichten, gewöhnliche oder
Dienste zu leisten gezwungen, noch Einquartierung zu tragen ver- außerordentliche Dienste zu leisten oder für Einquartierung zu
bunden, sondern mit einem Worte, es soll ein jeder von aller Steuer sorgen. Vielmehr soll, mit einem Wort, jeder folgendermaßen von
und Auflagen folgendermaßen frey sein: diejenigen nehmlich, wel- allen Steuern und Auflagen frei sein: Wer mit vielen Familien und in

27
Beilage: Das Manifest der Zarin
che in vielen Familien und ganzen Colonien eine bisher noch unbe- ganzen Kolonien eine bis dahin unbekannte Gegend besiedelt, ge-
kannte Gegend besetzen, genießen dreyßig Frey-Jahre; die sich aber nießt 30 Freijahre. Wer sich in Städten niederlassen und sich ent-
in Städten niederlassen und sich entweder in Zünften oder unter der weder in Zünften oder unter die Kaufmannschaft eintragen lassen
Kaufmannschaft einschreiben wollen, auf ihre Rechnung in Unserer will - auf seine Rechnung in Unserer Residenz Sankt Petersburg
Residenz Sankt-Petersburg oder in benachbarten Städten in Lifland, oder in benachbarten Städten in Livland, Estland, Ingermanland,
Estland, Ingermanland, Carelien und Finland, wie nicht weniger in der Karelien und Finnland, genauso in der Residenzstadt Moskau -, ge-
Residenz-Stadt Moscau nehmen, haben fünf FreyJahre zu genießen. nießt fünf Freijahre. Außerdem soll jeder, der nicht nur für kurze
Wonechst ein jeder, der nicht nur auf einige kurze Zeit, sondern zur Zeit, sondern zur wirklichen Ansiedlung nach Russland kommt, ein
würklichen häuslichen Niederlassung, nach Rußland kommt, noch halbes Jahr lang freies Quartier haben.
über dem ein halbes Jahr hindurch frey Quartier haben soll.

3. Allen zur häuslichen Niederlassung nach Rußland gekommenen 3. Allen Ausländern, die nach Russland gekommen sind, um sich
Ausländern, die entweder zum Kornbau und anderer Handarbeit, oder hier niederzulassen, und Ackerbau und andere Handwerke betrei-
aber Manufacturen, Fabriken und Anlagen zu errichten geneigt sind, ben bzw. Manufakturen, Fabriken und Anlagen errichten wollen,
wird alle hülfliche Hand und Vorsorge dargeboten und nicht allein wird jede Hilfe und Vorsorge geboten. Diese orientiert sich an der
hinlanglich und nach eines jeden, erforderlichen Vorschub gereichet Notwendigkeit und dem künftigen Nutzen der zu errichtenden Fa-
werden, je nachdem es die Notwendigkeit und der künftige Nutzen briken und Anlagen, besonders aber von solchen, die bis jetzt in
von solchen zu errichtenden Fabriken und Anlagen erheischet, beson- Russland noch nicht errichtet worden sind.
ders aber von solchen, die bis jetzo in Rußland noch nicht errichtet
gewesen.

4. Zum Häuser-Bau, zu Anschaffung verschiedener Gattung im 4. Zum Häuserbau sowie zur Anschaffung von Vieh und von
Hauswesen benöthigten Viehes, und zu allerley wie beym Ackerbau, Instrumenten, Zubehör und Materialien, die beim Ackerbau und
also auch bey Handwerken, erforderlichen Instrumenten, Zubehöre beim Handwerk benötigt werden, soll jedem aus Unserer Reichs-
und Materialien, soll einem jeden aus unserer Cassa das nöthige Geld kasse das nötige Geld ohne alle Zinsen vorgeschossen werden.
ohne alle Zinsen vorgeschossen, sondern lediglich das Kapital, und Lediglich das Kapital soll im gleichen Umfang nach zehn Jahren
zwar nicht eher als nach Verfließung von zehn Jahren zu gleichen Thei- zurückgezahlt werden.
len gerechnet, zurück gezahlt werden.

5. Wir überlassen denen sich etablir- 5. Wir überlassen den Kolonien und
ten ganzen Colonien oder Landflecken die Landflecken, die sich gebildet haben, die
innere Verfassung der Jurisdiction ihrem innere Rechtssprechung nach ihrem eige-
eigenen Gutdünken, solcher-gestalt, daß nen Gutdünken, wobei die von Uns einge-
die von Uns verordneten obrigkeitlichen setzten obrigkeitlichen Personen an ihren
Personen an ihren inneren Einrichtungen inneren Einrichtungen keinen Anteil neh-
gar keinen Antheil nehmen werden, im men werden. Im Übrigen aber sind diese
übrigen aber sind solche Colonisten ver- Kolonisten verpflichtet, sich Unserem Zi-
pflichtet, sich Unserem Civil-Recht zu un- vilrecht zu unterwerfen. Sollten sie aber
terwerfen. Falls sie aber selbst Verlangen selbst wünschen, von Uns eine besondere
trügen eine besondere Person zu ihrem Person zu ihrem Vormund bzw. zur Wah-
Vormunde oder Besorger ihrer Sicherheit rung ihrer Sicherheit und Verteidigung zu
und Verteidigung von uns zu erhalten, bis erhalten, bis sie sich mit ihren Nachbarn
sie sich mit den benachbarten Einwohnern bekannt gemacht haben, so soll diesem
dereinst bekannt machen, der mit einer Wunsch entsprochen und die Person mit
Salvegarde von Soldaten, die gute Manns- einer Schutzwache von Soldaten, die zu
zucht halten, versehen sey, so soll Ihnen unbedingtem Gehorsam verpflichtet sind,
auch hierinnen gewillfahret werden. ausgestattet werden.

6. Einem jeden Ausländer, der sich in 6. Jedem Ausländer, der sich in Russ-
Rußland niederlassen will, gestatten Wir land niederlassen will, gestatten Wir die
die völlige zollfreie Einfuhr seines Vermö- völlig zollfreie Einfuhr jedweden Vermö-
gens, es bestehe dasselbe worinn es wolle, gens, jedoch unter dem Vorbehalt, dass
jedoch mit dem Vorbehalte, daß solches es nur zum eigenen Gebrauch, nicht aber
Vermögen in seinem eigenen Gebrauche Viktor Hurr: Anwerbung. zum Verkauf bestimmt ist. Jeder Familie,
und Bedürfnis, nicht aber zum Verkaufe die außer den eigenen Habseligkeiten
bestimmt sey. Wer aber außer seiner eigenen Nothdurft noch eini- Waren zum Verkauf mitbringt, gewähren wir freien Zoll für einen
ge Waaren zum Verkaufe mitbrächte, dem gestatten Wir freyen Zoll Warenwert von 300 Rubeln nur für den Fall, dass sie mindestens
für jede Familie vor drey Hundert Rubel am Werte der Waaren, nur zehn Jahre in Russland bleibt. Andernfalls wird bei der Rückreise
in solchem Falle, wenn sie wenigstens zehn Jahre in Rußland bleibt: Zoll sowohl für die mitgebrachte als auch für die ausgeführte Ware
widrigenfalls wird bey ihrer Zurück-Reise der Zoll sowol für die einge- verlangt.
kommene als ausgehende Waaren abgefordert werden.

7. Solche in Rußland sich niederlassende Ausländer sollen wäh-


rend der ganzen Zeit ihres Hierseins, außer dem gewöhnlichen Land- 7. Ausländer, die sich in Russland niederlassen, sollen während
Dienste, wider Willen weder in Militär noch Civil-Dienst genommen der gesamten Dauer ihres Aufenthaltes außer dem gewöhnlichen
werden; ja auch zur Leistung dieses Land-Dienstes soll keines eher als Landdienst gegen ihren Willen weder zum Militär- noch zum Zi-
nach Verfließung obangesetzter Freyjahre verbunden seyen: wer aber vildienst verpflichtet werden, und auch zum Ableisten des Land-
frey-willig geneigt ist, unter die Soldaten in Militär-Dienst zu treten, dienstes sollen sie erst nach Ablauf der angesetzten Freijahre
dem wird man außer dem gewöhnlichen Solde bey seiner Enrollie- eingesetzt werden. Wer aber freiwillig den Militärdienst antritt,
rung beym Regiment Dreißig Rubel Douceur-Geld reichen. erhält neben dem gewöhnlichen Sold bei seiner Registrierung eine
zusätzliche Zahlung in Höhe von 30 Rubeln.

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Beilage: Das Manifest der Zarin
8. Sobald sich Ausländer in der für sie errichteten Tütel-Canzley 8. Sobald sich Ausländer in der für sie errichteten Tutelkanzlei
oder sonst in Unsern Gränz-Städten gemeldet und ihren Entschluß oder in Unseren Grenzstädten gemeldet und ihren Entschluss be-
eröffnet haben, in das Innerste des Reiches zu reisen, und sich da- kannt gegeben haben, in das Innerste des Reiches zu reisen und
selbst häuslich niederzulassen, so bald werden selbige auch Kostgeld, sich dort anzusiedeln, werden sie am Ort ihrer Bestimmung Kost-
nebst freyer Schieße an den Ort ihrer Bestimmung bekommen. geld nebst freier Munition3 erhalten.

9. Wer von solchen in Rußland sich etablirten Ausländern derglei- 9. Ausländern, die sich in Russland eingerichtet sowie Fabriken,
chen Fabriken, Manufacturen und Anlagen errichtet, und Waaren Manufakturen und Anlagen errichtet und Waren hergestellt haben,
daselbst verfertigt, welche bis dato in Rußland noch nicht gewesen, die es bis dahin in Russland noch nicht gegeben hat, erlauben Wir,
dem gestatten Wir, dieselben Zehn Jahre hindurch, ohne Erlegung ir- diese zehn Jahre lang ohne inländische See- oder Grenzzölle frei zu
gend einigen inländischen See- oder Gränze-Zolles frey zu verkaufen, verkaufen und aus Unserem Reich zu exportieren.
und aus Unserm Reiche zu verschicken.

10. Ausländische Capitalisten, welche auf ihre eigenen Kosten in 10. Ausländischen Kapitalisten, die auf eigene Kosten in Russ-
Rußland Fabriken, Manufacturen und Anlagen errichten, erlauben land Fabriken, Manufakturen und Anlagen errichten, erlauben Wir,
Wir hiermit zu solchen ihren Manufacturen, Fabriken und Anlagen die für diese Manufakturen, Fabriken und Anlagen erforderlichen
erforderliche leibeigene Leute und Bauern zu erkaufen. Wir gestatten leibeigenen Leute und Bauern zu kaufen. Wir gestatten auch
auch:

11. Allen in Unserm Reiche sich in Colonien oder Landflecken nie- 11. allen Ausländern, die sich in Unserem Reich in Kolonien oder
dergelassenen Ausländern, nach ihrem eigenen Gutdünken Markt- Landflecken angesiedelt haben, nach ihrem eigenen Gutdünken
Tage und Jahrmärkte anzustellen, ohne an Unsere Cassa die gerings- Markttage und Jahrmärkte zu veranstalten, ohne an unsere Reichs-
ten Abgaben oder Zoll zu erlegen. kasse die geringsten Abgaben oder Zölle zu entrichten.

7. 7.
Aller obengenannten Vorteile und Einrichtung haben sich nicht In den Genuss der genannten Vorteile und Einrichtungen kom-
nur diejenigen zu erfreuen, die in Unser Reich gekommen sind, sich men nicht nur diejenigen, die sich in unserem Reich angesiedelt
häuslich nieder zu lassen, sondern auch ihre hinterlassene Kinder haben, sondern auch ihre Kinder und ihre Nachkommenschaft,
und Nachkommenschaft, wenn sie auch gleich in Rußland geboren, auch wenn sie in Russland geboren wurden. Ihre Freijahre sind von
solchergestalt, daß ihre Freyjahre von dem Tage der Ankunft ihrer dem Tag der Ankunft ihrer Vorfahren in Russland zu berechnen.
Vorfahren in Rußland zu berechnen sind.

8. 8.
Nach Verfließung obangesetzter Freyjahre sind alle in Rußland Nach Ablauf der angesetzten Freijahre sind alle Ausländer, die
sich niedergelassene Ausländer verpflichtet, die gewöhnlichen und sich in Russland niedergelassen haben, verpflichtet, die gewöhnli-
mit gar keiner Beschwerlichkeit verknüpften Abgiften zu entrichten, chen und mit keiner besonderen Belastung verbundenen Abgaben
und gleich Unsern anderen Unterthanen, Landes-Dienste zu leisten. zu entrichten und ebenso wie Unsere anderen Untertanen Landes-
dienste zu leisten.

9. 9.
Endlich und zuletzt, wer von diesen sich niedergelassenen und Schließlich und endlich: Ausländern, die sich in Russland nie-
Unsrer Bothmäßigkeit sich unterworfenen Ausländern Sinnes würde, dergelassen und Unserer Herrschaft unterworfen haben und beab-
sich aus Unserm Reiche zu begeben, dem geben Wir zwar jederzeit sichtigen, Unser Reich zu verlassen, geben Wir dazu zwar jederzeit
dazu die Freyheit, jedoch mit dieser Erleuterung, daß selbige ver- die Freiheit, jedoch unter der Maßgabe, dass sie verpflichtet sind,
pflichtet seyn sollen, von ihrem ganzen in Unserm Reiche wohlerwor- einen Teil ihres in Unserem Reich erworbenen Vermögens an Un-
benen Vermögen einen Theil an Unsere Cassa zu entrichten; diejeni- sere Reichskasse zu entrichten. Wer ein bis fünf Jahre in Unserem
gen nehmlich, die von Einem bis Fünf Jahre hier gewohnet, erlegen Land gewohnt hat, entrichtet ein Fünftel seines Vermögens, wer
den Fünften, die von fünf bis zehen Jahren und weiter, sich in Unsern von fünf bis zehn Jahre hier gewohnt hat, ein Zehntel. Danach darf
Landen aufgehalten, erlegen den zehenden Pfennig; nachher ist je- jeder ungehindert dorthin reisen, wo es ihm gefällt.
dem erlaubt ungehindert zu reisen, wohin es ihm gefällt.

10. 10.
Wenn übrigens einige zur häuslichen Niederlassung nach Rußland Im Übrigen sollen sich Ausländer, die sich in Russland niederlas-
Verlangen tragenden Ausländer aus einem oder anderen besonde- sen und aus dem einen oder anderen besonderen Beweggrund au-
ren Bewegungsgründen, außer obigen noch andere Conditiones und ßer den oben genannten noch andere Konditionen und Privilegien
Privilegien zu gewinnen wünschen würden; solche haben sich des- erhalten wollen, schriftlich oder persönlich an Unsere für Auslän-
halb an Unsere für die Ausländer errichteten Tütel-Canzley, welche der errichtete Tutelkanzlei wenden, die Uns alles vortragen wird.
uns alles umständlich vortragen wird, schriftlich oder persönlich zu Daraufhin werden Wir nach Prüfung der Umstände nicht zögern,
wenden: worauf Wir alsdann nach Befinden der Umstände nicht an- eine wohlwollende Allerhöchste Entscheidung zu treffen, die jeder
stehen werden, um so viel mehr geneigte Allerhöchste Resolution zuversichtlich von Unserer Gerechtigkeitsliebe erwarten kann.
ertheilen, als sich ein jeder von Unserer Gerechtigkeitshiebe zuver-
sichtlich versprechen kann. Erlassen zu Peterhof am 22. Juli 1763,
im zweiten Jahr Unserer Regierung
Gegeben zu Peterhof, im Jahre 1763 den 22ten Juli,
im Zweyten Jahre Unserer Regierung Das Original hat Ihre Kaiserliche Majestät
allerhöchst eigenhändig
Das Original haben Ihre Kayserliche Majestät folgendermaßen unterschrieben:
Allerhöchst eigenhändig
folgendergestalt unterschrieben: Gedruckt beim Senat am 25. Juli 1763.

Gedruckt beym Senate den 25. Juli 1763. 3 Ob damit das Wort "Schieße" im Originaltext korrekt über-
setzt wurde, ist fraglich.

29
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

Dr. Viktor Krieger


Wolgadeutsche Republik - Zeittafel
1917 deutschen Sozialisten an der Wolga stützt mit mehreren Wortmeldungen
6. Februar: Die Gesetze zur Li- werden nach Moskau entsandt, um den Vorschlag.
quidierung des Landbesitzes der mit der Zentralregierung die Frage 19. Oktober: Der Rat der Volks-
russischen Bürger „feindlicher“ Ab- der Selbstbestimmung auszuhandeln. kommissare der RSFSR genehmigt per
stammung werden auch auf das Gou- 18. April: Stalin als Volkskommis- Dekret die Errichtung der Gebietsau-
vernement Saratow und Samara aus- sar (Minister) für Nationalitätenan- tonomie (Arbeitskommune) der Wol-
gedehnt. gelegenheiten empfängt die Sozia- gadeutschen mit Katharinenstadt als
27. Februar: Bürgerliche demokra- listendelegation aus Saratow und Zentrum.
tische Revolution in Russland. Formie- unterstützt ihr Ansinnen bezüglich ei-
rung nationaler Bewegungen verschie- ner Autonomie der Wolgadeutschen. 1919
dener Völker und Völkerschaften. Wenige Tage später wird das „Kom- März: Trotz heftiger Widerstände
25. bis 27. April: Erster Kongress missariat für deutsche Angelegenhei- der Saratower Partei- und Sowjetor-
der Wolgadeutschen in Saratow. ten im Wolgagebiet“ mit Ernst Reuter gane können 214 deutsche Dörfer im
19. bis 22. September: Zweiter an der Spitze konstituiert, der mit sei- neuen nationalen Territorium verei-
Kongress der Wolgadeutschen in nen Mitarbeitern bereits am 26. April nigt werden, die in den drei Bezirken
Schilling. Forderungen der national- in Saratow eintrifft. Katharinenstadt, Seelmann und Balzer
kulturellen Autonomie und des freien 21. April: Im Volkskommissariat für organisiert sind. Das wolgadeutsche
Gebrauchs der deutschen Sprache. Nationalitätenangelegenheiten wird Gebiet besteht zunächst aus mehre-
25. Oktober: „Oktoberrevolution“, eine Deutsche Abteilung gegründet. ren, nicht immer miteinander verbun-
Machtergreifung der Bolschewiki. 29. Mai: Verabschiedung der all- denen Territorien und Einsprengseln
2. November: Verkündung der gemeinen Satzung des „Kommissari- unterschiedlicher Größe auf beiden
„Deklaration der Rechte der Völker ats für deutsche Angelegenheiten im Seiten der Wolga. Die Gesamtfläche
Russlands“, in der die Bolschewiki un- Wolgagebiet“. beträgt 19.694 km².
ter anderem das Recht der zahlreichen 30. Juni bis 1. Juli: Tagung des 4. Juni: Umbenennung von Katha-
Völker des einstigen Zarenreiches auf ersten Räte-Kongresses der deutschen rinenstadt in Marxstadt.
freie nationale Selbstbestimmung bis Siedlungen an der Wolga in Saratow, Die zentrale Repub­likzeitung
hin zu einer Loslösung und Bildung der eine „Föderation der Arbeiter- und „Nachrichten“ erscheint vorerst in
eines selbständigen Staates verspre- Bauernräte in den deutschen Wolga­ Marxstadt und von 1922 bis zum 30.
chen. kolonien“ ausruft. August 1941 in Pokrowsk/Engels.
17. bis 18. Oktober: Besprechung
1918 bis 1921 der Frage der Autonomie der Wolga- 1920
Aus den deutschen Siedlungen deutschen in den Zentralgremien. Re- 28. August: Die erste sowjetrussi-
bzw. dem deutschen Gebiet werden gierungschef Wladimir Lenin unter- sche Volkszählung registriert im Au-
im Zuge der Lebensmitteleintreibun-
gen Hunderttausende Tonnen Getrei-
de und andere Lebensmittel requiriert,
was den Hauptgrund für die schreck-
liche Hungerkatastrophe 1921-22 dar-
stellt.

1918
1. bis 14. Februar: Kongress der
Abgeordneten der ländlichen Kör-
perschaften in Warenburg, der auf
Grundlage des deklarierten Selbst-
bestimmungsrechts eine territoriale
Autonomie für die Wolgadeutschen
verlangt.
3. März: Frieden von Brest-Litowsk
mit gegenseitiger Repatriierungsklau-
sel für russischstämmige Bürger in
Deutschland bzw. deutschstämmige
Bürger in Russland.
April: Vertreter der Warenburger
Konferenz und des Verbandes der Blick auf Katharinenstadt, das spätere Marxstadt.

30
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

tonomen Gebiet 452.629 Einwohner, (NÖP; 1921-1928), die begrenztes Pri- bis nach Deutschland. Wegen gras-
darunter mehr als 96 Prozent Deut- vateigentum und Eigeninitiative zu- sierender Seuchen und minderwerti-
sche. lässt. ger Ernährung erreichen bei weitem
Im Laufe des Jahres geht die Ge- nicht alle Hungerflüchtlinge die ange-
1921 bietsbevölkerung um 20,5 Prozent auf strebten Orte. Hinzu kommen 47.777
März bis April: Hungeraufstände 359.460 Menschen zurück. Offiziell ver- erfasste Todesfälle, in ihrer Mehrheit
in mehreren wolgadeutschen Dörfern, lassen 74.084 Bewohner das nationale Hungeropfer, denen immerhin 18.701
die brutal niedergeschlagen werden. Gebiet und ziehen nach Turkestan, in Geburten gegenüber stehen.
März: Übergang im ganzen Land den Trans- und Nordkaukasus, nach 30. November: Der bedeutende
zur „Neuen Ökonomischen Politik“ Zentralrussland, in die Ukraine und Polarforscher Fridtjof Nansen besucht

31
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

als Leiter des internationalen „Kinder- schan) zur Gründung der Union der ASSR der Wolgadeutschen, Wilhelm
hilfswerks“ Marxstadt, das Zentrum Sozialistischen Sowjetrepubliken, d.h. Kurz, bei denen er Unterredungen
des Hungergebietes. der UdSSR. über wirtschaftliche und kulturelle
Dem Aufruf der Sowjetregierung Beziehungen der Wolgarepublik mit
zur Linderung der Hungersnot folgen 1923 Deutschland führt.
zahlreiche ausländische Hilfsorganisa- Neugründung der ältesten und 27. August: Das Politbüro des ZK
tionen wie das Deutsche Rote Kreuz, wichtigsten pädagogischen Anstalt der WKP(B) erlaubt der Wolgarepub-
die American Relief Administ­ration, in der Wolgarepublik, des Marxstäd- lik, direkte Kontakte mit Deutschland
das „Kinderhilfswerk“, das Hilfswerk ten Deutschen Pädagogischen Techni- aufzubauen, um so ihre „politische
der wolgadeutschen Emigranten und kums (Fachschule). Bedeutung“ zu stärken.
andere. 13. Dezember: Das Politbüro 9. Juni: Gründung des Zentralmu-
In Berlin konstituiert sich der hu- des ZK der Bolschewistischen Partei seums der ASSRdWD in Pokrowsk.
manitäre Ausschuss „Brüder in Not“, [WKP(B)] unter Stalins Vorsitz stimmt Erster Direktor wird der bekannte
um für die „notleidenden deutschen in einer streng geheimen Sitzung dem Sprachwissenschaftler Prof. Georg
Kolonisten in Russland“ Sammlun- Vorschlag aus Pokrowsk zu, das Wol- Dinges.
gen, Paketsendungen und andere gadeutsche Gebiet in eine autonome
Hilfsaktivitäten zu organisieren. Republik umzuwandeln. 1926
31. Januar: Der 3. Rätekongress
1922 1924 der ASSRdWD nimmt die erste wol-
Im Deutschen Gebiet haben die 6. Januar: Auf der Sitzung des gadeutsche Verfassung an, die weit-
American Relief Administ­ration und Zent­ralexekutivkomitees der Arbeits- gehende Kompetenzen der Republik
das „Kinderhilfswerk“ seit November kommune (des Autonomen Gebietes) vorsieht. Aber auch nach mehrmaliger
1921 mehr als 80.000 Kinder verpflegt; der Wolgadeutschen in Pokrowsk Überarbeitung wird der Entwurf nicht
hinzu kommt in den Sommermona- wird die Autonome Sozialistische von den übergeordneten Organen der
ten die zusätzliche Verpflegung von Sowjetrepublik der Wolgadeutschen RSFSR bzw. der Union bestätigt.
181.000 Erwachsenen. Anfang 1922 (ASSRdWD) feierlich proklamiert. März bis April: Delegationen aus
darf eine medizinische Hilfsexpediti- 20. Februar: Die Regierung der der Wolgarepublik in Deutschland. Sie
on des Deutschen Roten Kreuzes mit Russländischen Föderativen Sowjetre- werden von Johannes Schwab, dem
Stützpunkt in Saratow ihre Tätigkeit publik bestätigt in einem Dekret offi- Vorsitzenden des Zentralexekutivko-
zur Bekämpfung der Seuchengefahr, ziell die Umwandlung des Gebietes in mitees der ASSRdWD (in den Medien
vor allem durch Cholera, Typhus und eine autonome Republik. als „Staatspräsident“ tituliert), und
Malaria, aufnehmen. Auf Druck der 19. Mai: Verabschiedung von Maß- dem Volkskommissar für Bildungs-
sowjetischen Behörden müssen aller- nahmen zur Einführung der deutschen wesen, Josef Schönfeld, geleitet.
dings alle ausländischen Hilfsorga- Sprache in allen gesellschaftlichen und 17. Dezember: Laut der ersten uni-
nisationen 1924 ihre Tätigkeit in der kulturellen Bereichen der Republik. onsweiten Volkszählung leben in der
UdSSR einstellen. ASSR der Wolgadeutschen 571.578
22. Juni: Die Regierung der Russ- 1925 Menschen, davon 379.630 Deutsche
ländischen Sozialistischen Föderati- März bis Mai: Längerer Aufent- (66,4 Prozent), 116.561 Russen (20,4
ven Sowjetrepublik (RSFSR) stimmt, halt in Berlin des Regierungschefs der Prozent), 68.561 Ukrainer (12,0 Pro-
ungeachtet der strikt ablehnenden
Haltung der Saratower Gouverne-
mentsführung, einer „Abrundung“
des Wolgadeutschen Gebietes durch
die Eingliederung von russischen und
ukrainischen Siedlungen im Bezirk
Pokrowsk zu. Die Hauptstadt des Ge-
bietes wird nach Pokrowsk (ab 1931
Engels) verlegt.
Die Gesamtfläche der Autono-
mie vergrößert sich dadurch um 29
Prozent auf 25.447 km², die Bevölke-
rungszahl um 64 Prozent auf 527.876.
Administrativ-territorial besteht das
neue Gebiet nun aus 14 Kantonen
(Landkreise).
30. Dezember: Deklaration der vier
damaligen Unionsrepubliken Russ-
land (RSFSR), Ukraine, Weißrussland
und Transkaukasische Föderation
(Georgien, Armenien und Aserbaid- Sarepta, Zentrum der Baumwollweberei an der Wolga.

32
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

se Vorstellung die Handlungsweise


der örtlichen Führungsschicht und
erscheint in den Erinnerungen vieler
Zeitzeugen.
20. April: Verurteilung von 20
Priestern im Prozess gegen die wol-
gadeutsche katholische Geistlichkeit.
Die Verhaftungen haben Ende 1929
begonnen.
6. Juni: Verurteilung von weiteren
16 Priestern im selben Prozess.
19. Oktober: Die Hauptstadt der
ASSRdWD, Pokrowsk, wird in Engels
umbenannt.

1932-33
Zweite große Hungersnot an der
Wolga, in Kasachstan und in der Ukra-
ine als direkte Folge der überstürzten
Kollektivierung. Zwischen 35.000 und
„Tag der Presse“ in Mariental. 40.000 Wolgadeutsche werden Opfer
dieser stalinschen „Umgestaltung der
zent) und andere zahlenmäßig kleine- 20. Dezember: Beginn massenhaf- Landwirtschaft“.
re Nationalitäten. ter Unruhen. Widerstand und Proteste Die wieder aktiv gewordene Ak-
der Bauern gegen die Verschickungen tionsgemeinschaft „Brüder in Not“,
1927 von „Kulaken“ und die zwangsweise die Geldüberweisungen und Lebens-
6. Dezember: Beschluss des Überführung in die Kolchosen; beson- mittelpakete aus Deutschland an die
Zentral­exekutivkomitees der RSFSR, ders heftig in den Kantonen Kamenka Betroffenen weiterleitet, wird von
Ortschaften ihre deutschen Namen und Frank. sow­jetischen Propagandisten als Hit-
zurückzugeben, die sie bis 1914 ge- ler-Hilfe denunziert. Die Empfänger
führt haben. 1930 der Hilfen werden wegen „antisow-
6. Januar: Offizielle Eröffnung des jetischer Handlungen“ öffentlich ver-
1928 bis 1932 Deutschen Staatlichen Pädagogischen urteilt und nicht selten strafrechtlich
Abkehr von der Politik der NÖP. Instituts (Pädinstitut) in Pokrowsk. belangt.
Zwangskollektivierung der selbstän- 30. Januar: Verhaftung des ersten
digen Bauernwirtschaften, verbun- Prorektors des deutschen Pädinsti- 1932
den mit der restlosen Enteignung der tuts, Prof. Georg Dinges. Auftakt zum Januar: Unweit von Engels wird
wohlhabenden Bauern („Kulaken“) Kampf gegen den „deutschen bürger- das größte Fleischkombinat der UdSSR
und ihrer Verbannung nach Kasachs- lichen Nationalismus“ in der Repub- aufgebaut.
tan und in den Hohen Norden. Ursa- lik.
che der großen Hungersnot 1932-33. 23. Juli: Beschluss des Zentralexe­ 1933
kutivkomitees der ASSRdWD über 18. Oktober: Inmitten der grassie-
1928 die Gründung des nationalen deut- renden Hungersnot Feierlichkeiten
28. Juni: Die Re­publik wird Teil schen Theaters. zum 15. Gründungstag der Wolga-
der Unteren Wolgaregion. deutschen Autonomie. Die Zentral-
5. Oktober: Beschluss der Regie- 1931 zeitung „Prawda“ preist mit einem
rung der RSFSR über die Gründung 9. Januar: Beschluss über die Grün- großen Aufmacher die Erfolge der Re-
des Deutschen Pädagogischen Insti- dung des Deutschen Landwirtschaftli- publik und „entlarvt“ das wirtschaft-
tuts in Pokrowsk zur Ausbildung von chen Instituts. liche und soziale Elend im faschisti-
Lehrern für Mittelschulen mit deut- 27. Februar: Erste Gebietskonfe- schen Deutschland.
scher Unterrichtssprache. renz der wolgadeutschen proletari-
schen Schriftsteller. 1934
1929 März: Der 8. Räte(Sowjet)-Kon- 10. Januar: Die Untere Wolgaregi-
5. Januar: Breit angelegte Feier- gress der ASSRdWD beschließt, dass on wird aufgelöst, die ASSR der Wol-
lichkeiten zum 10. Jahrestag der Grün- die Republik der Wolgadeutschen zu gadeutschen Teil der Saratower Regi-
dung der Wolgadeutschen Autonomie, einer Musterrepublik der kompakten on.
in Anlehnung an das Dekret vom 19. Kollektivierung werden muss. Schon Januar: Gründung des Wolgadeut-
Oktober 1918 und den Beschluss von früher tauchte der Slogan „Muster- schen Philharmonischen Orchesters,
Anfang Januar 1924 zur Umwandlung oder Vorreiterrepublik“ mehrmals das später in die Wolgadeutsche Phil-
in eine Autonome Republik. auf, aber vor allem danach prägt die- harmonie umgewandelt wird.

33
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

Ansprachen von wolgadeutschen Best-


und Stachanowarbeiter in Moskau
bei Unionsberatungen der Landwirt-
schaftskader. Katharina Grauberger,
Adolf Dehning, Jakob Schlund und
weiteren Deutschen werden Staatsor-
den und andere Auszeichnungen ver-
liehen.

1936
5. Dezember: Annahme der sog.
stalinschen Verfassung, die eine direk-
te oder indirekte Beschränkung der
Rechte von Personen aufgrund ihrer
Volkszugehörigkeit oder die Propa-
gierung von Nationalitätenhass unter
Strafe stellt. Gleichzeitig kommt die
ASSRdWD aus der „Obhut“ von Sara-
tow und wird den Zentralorganen der
Das Pädagogische Institut (oben) und die Technische Hochschule in Engels, der RSFSR direkt unterstellt.
Hauptstadt der Wolgadeutschen Republik.

1937
29. April: Der Außerordentliche 10.
Sowjetkongress der ASSRdWD nimmt
die Konstitution der Republik an. Das
Grundgesetz besteht aus 113 Artikeln;
darunter Art. 15: „Das Territorium der
ASSR der Wolgadeutschen kann ohne
Einverständnis der ASSR der Wolga-
deutschen nicht geändert werden.“
26. Juli: Plenarsitzung des Gebiets-
parteikomitees, das die Absetzung des
Ersten Parteisekretärs Eugen Frescher
bestätigt. Seither und bis zum Ende
der Republik stehen an der Spitze der
Parteiorganisation nur nichtdeutsche
Kader (Jakow Popok, Iwan Anoschin,
Sergej Malow und andere).
12. Dezember: Neun Wolgadeut-
sche werden in den Obersten Sowjet
der UdSSR, das „höchste Organ der
Staatsgewalt“, gewählt.
17. August bis 1. September: Lite- publik in 21 Kantone und die Haupt-
raten der Republik nehmen am Grün- stadt Engels. 1938
dungskongress des Schriftstellerver- 12. Dezember: Erster Auftritt des 26. Juni: Wahlen in den Obersten
bandes der UdSSR teil. Auftritt des deutschen Kolchos-Sowchos-Theaters Sowjet der ASSRdWD.
Leiters der Delegation, Franz Bach, in Balzer. 25. bis 27. Juli: Konstituierte Sit-
vor dem Kongress am 31. August und Das ganze Jahr bis in den Frühling zung des Obersten Sowjets (OS) der
Wahl in den Vorstand des Schriftstel- 1936 Berichte der Zentralmedien über Repub­lik. Zum Regierungschef wird
lerverbandes der UdSSR.
5. November: Das ZK der WKP
(B) verschickt eine Anordnung in alle
Landesteile, die zum Kampf gegen
„Faschisten“ unter den Russlanddeut-
schen auffordert. Eine Welle von Re-
pressionen erfasst die Wolgarepublik.

1935
14. Januar: Neue Aufteilung des
Territoriums der Wolgadeutschen Re- Ausweis des Regierungschefs der Republik, Alexander Heckmann.

34
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

Alexan­der Heckmann, zum Staats- 26. Oktober:


präsidenten, dem Vorsitzenden des Einführung von
Präsidiums des Obersten Sowjets der Studiengebühren
ASSR der Wolgadeutschen, Konrad an Fachoberschu-
Hoffmann gewählt. len (Technika) bzw.
18 Oktober: Breit angelegte Feier- Hochschulen und
lichkeiten in der ganzen Republik an- von Schulgeld für
lässlich des 20. Gründungsjahres. die höheren Klassen
Nach lückenhaften Angaben sind in der Mittelschule. Da-
der Wolgarepublik nicht weniger als raufhin bricht fast
6.698 Menschen Opfer des „Großen die Hälfte der Stu-
Terrors“ geworden; davon wurden denten in Engels ihr
3.632 (54,2 Prozent) erschossen. Studium ab.
Der Deutsche
1939 Staatsverlag in En-
17. Januar: Die Volkszählung gels druckt bis Kriegsausbruch jedes der Zentralbibliothek der Wolgarepub-
registriert in der Republik 606.532 Jahr Dutzende Lehrbücher und me- lik sowie des Deutschen Staatsverlags.
Menschen, davon 366.685 Deutsche thodische Hilfsmittel für Schulen und Schließung aller deutschsprachigen
(60,4 Prozent), 156.027 Russen (25,7 höhere Bildungsanstalten zum Unter- allgemeinbildenden Schulen, Einstel-
Prozent) und 58.248 Ukrainer (9,6 richt in der deutschen Muttersprache. lung des Erscheinens aller deutsch-
Prozent). In den Städten leben 51.955 sprachigen Zeitungen und Zeitschrif-
Deutsche oder 14,2 Prozent. Ungeach- 1941 ten, Beendigung deutschsprachiger
tet eines starken natürlichen Zuwach- 22. Juni: Angriff von NS-Deutsch- Radiosendungen, Vernichtung der
ses, hat sich ihre absolute Zahl gegen- land auf die Sowjetunion. deutschsprachigen Bücher- und Zei-
über 1926 verringert und ist fast um 15. Juli: Das Staatliche Verteidi- tungsbestände öffentlicher und Schul-
ein Viertel niedriger als 1920! Es sind gungskomitee beschließt, in der Re- bzw. Behördenbibliotheken.
direkte Folgen der beiden Hungerka- publik sechs operative Flugplätze ne- 6. September: Das Politbüro des
tastrophen der zwanziger und dreißi- ben den Orten Mariental, Friedenfeld, ZK der Bolschewistischen Partei be-
ger Jahre. Neu-Urbach und anderen durch mo- schließt die Aufteilung des Territori-
28. Mai: Bei einer Sitzung des Na- bilisierte Bewohner bauen zu lassen. ums der Wolgarepublik auf die Gebie-
tionalitätenrates des Obersten Sowjets 26. August: Das Politbüro des te Saratow und Stalingrad.
der UdSSR hebt der Regierungschef ZK der Bolschewistischen Partei mit 7. September: Das Präsidiums des
der ASSRdWD, Alexander Heckmann, Stalin an der Spitze beschließt die Obersten Sowjets der UdSSR legali-
„große Erfolge der Republik in der so- Verbannung der Deutschen aus der siert diesen geheimen Beschluss durch
zialistischen Landwirtschaft, der In- ASSR der Wolgadeutschen sowie den einen entsprechenden Erlass.
dustrie und im Kulturaufbau“ hervor: angrenzenden Gebieten Saratow und 22. September: Das Saratower Ge-
vier Hochschulen, 14 Fachoberschulen Stalingrad (seit 1961 Wolgograd). bietsparteikomitee geißelt in seiner
(Technika) mit ca. 5.000 Studenten, 28. August: Der Erlass des Prä- Sitzung die „beispiellosen Plünderun-
zwei Musikschulen, fünf Theater (da- sidiums des Obersten Sowjets der gen“ der herrenlosen Häuser und des
von drei Kolchos-Sowchos-Theater) UdSSR „Über die Übersiedlung der Kolchosen- bzw. Staatseigentums in
usw. Deutschen, die in den Wolgarayons den verlassenen Ortschaften.
Die Textilindustrie ist zum bedeu- wohnen“ legalisiert den Politbürobe-
tendsten Industriezweig in der Wol- schluss zur Zwangsaussiedlung der 1942 bis 1944
garepublik geworden und stellt ei- Deutschen aus der Wolgaregion. In den Gebieten Saratow und Sta-
nen wichtigen Standort für die ganze 30. August bis 20. September: lingrad werden die deutschen Namen
UdSSR dar. Zu den größten Betrieben In dieser Zeit werden nach offiziellen durch russische ersetzt. Aufgrund
zählen neben den Weber- und Trikota- Angaben 371.164 Personen aus der mehrerer Partei- und Regierungsbe-
gefabriken in Balzer (1.377 bzw. 1.118 Wolgarepublik, 46.706 aus dem Gebiet schlüsse werden in den Rayons der
Arbeiter) und Kratzke (679) vor allem Saratow und 26.245 aus dem Gebiet ehemaligen Wolgarepublik Flüchtlin-
die Spinnwollefabrik in der Arbeits- Stalingrad verbannt, zu 80 Prozent ge aus den westlichen Regionen so-
siedlung Krasny Tekstilstschik mit nach West- und Ostsibirien und zu 20 wie Bauern aus der Ukraine und der
1.904 Beschäftigten. Prozent nach Nordkasachstan. RSFSR angesiedelt.
Schließung und Auflösung aller
1940 bildungskulturellen Einrichtungen: 1942 bis 1946
1. April: Durch territoriale Verände- des Deutschen Pädagogischen und Nach der Einweisung in die
rungen beträgt die Fläche der Repub­ des Landwirtschaftsinstituts, aller Zwangsarbeitslager finden Dutzen-
lik zuletzt 28.200 km². Administrativ Fachoberschulen, des Akademischen de Geheimprozesse gegen ehemalige
gliedert sie sich in 22 Kantone, drei Deutschen Staatstheaters und der Kol- wolgadeutsche Partei-, Staats- und
Städte, Balzer, Marxstadt und Engels, chos-Sowchos-Bühnen in Balzer und Wirtschaftsfunktionäre, gegen Abge-
sowie fünf Arbeitssiedlungen. Marxstadt, des Zentralmuseums und ordnete und Intellektuelle statt, die

35
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

die Existenz einer „5. Kolonne“ und sich die Parteispit-


die verräterischen Absichten der be- ze jedoch für eine
troffenen Volksgruppe „beweisen“ Kompromisslösung
und somit ihre Deportation im Nach- und schlägt vor,
hinein rechtfertigen sollen. ein Dekret über die
Teilrehabilitierung
1947 der „Sowjetbürger
25. Februar: Gesetz über die Ände- deutscher Nationa-
rung der Unionsverfassung, in der die lität“ doch anzu-
ASSRdWD nicht mehr erwähnt wird. nehmen.
24. Juli: Ab-
1955 schließende Be-
13. Dezember: Erlass über die ratung in der
Aufhebung des Sondersiedlerstatus Rechtsabteilung
und Befreiung von der Kommandan- des Präsidiums des
turaufsicht. Verbot der Rückkehr in Obersten Sowjets
die früheren Wohnorte. der UdSSR mit Ver-
tretern der Staatssi-
1961 cherheit, des Obers-
17. bis 31. Oktober: 22. Parteitag ten Gerichts und
der KPdSU, auf dem Stalin und seine der Staatsanwalt-
Politik ungewöhnlich scharf öffentlich schaft der UdSSR,
kritisiert werden. Darauf folgen mas- die den Entwurf ei-
senhafte Umbenennungen von Städ- nes entsprechenden Liebevoll auf Ton geprägte Karte der Wolgadeutschen Re­
publik.
ten, Straßen, Betrieben, Kolchosen etc., Ukases abstimmen.
die seinen Namen tragen. Entfernung 29. August: Nach der Bestätigung 1965 bis 1973
aller Stalin-Denkmäler und -Porträts, des ausgearbeiteten Entwurfes durch Autonomieanhänger werden in den
von Szenen aus Filmen und Theater- das ZK der KPdSU wird er durch die nachfolgenden Monaten und Jahren
stücken, die mit ihm in Verbindung formale Staatsgewalt, das Präsidium vom KGB, der Staatsanwaltschaft, Mi-
stehen, usw. des Obersten Sowjets der UdSSR, liz und Partei, von gesellschaftlichen
Die Beschlüsse des Parteitags geben mittels eines Erlasses bestätigt. Darin Organisationen und Arbeitskollekti-
einen starken Impuls zur Erstarkung wird zwar der Vorwurf des Verrats ven überwacht, eingeschüchtert, unter
und Entfaltung der deutschen Protest- als unbegründet aufgehoben, aber die Druck gesetzt und als Nationalisten
und Autonomiebewegung. Wiederherstellung der Autonomie diffamiert.
und die Rückkehr der einstigen Be- Enttäuschung und der verstärk-
1963 bis 1964 wohner abgelehnt. Auch darf dieser te Wunsch machen sich breit, in die
Im Zuge des heranrückenden Rechtsakt nicht öffentlich bekannt ge- Bundesrepublik Deutschland auszu-
200-jährigen Jubiläums der Ansied- macht werden. wandern, um dort Glaubens- und Ge-
lung an der Wolga entstehen zahl- 28. Dezember: Nach der heftigen wissensfreiheit, rechtliche Gleichheit
reiche individuelle und kollektive Kritik der enttäuschten Russlanddeut- und die erhoffte sprachlich-kulturelle
Eingaben für die höheren Partei- und schen entscheidet man sich jedoch Umgebung zu finden.
Staatsorgane, die sich für eine vollstän- dafür, den Ukas in den amtlichen Der Prozess des erzwungenen Iden-
dige Rehabilitierung der Deutschen in „Nachrichten des Obersten Sowjets titätswandels ist besonders plausibel
der UdSSR einsetzen. Vielerorts wird der UdSSR“ sowie in der Moskauer in der Samisdat-Schrift „Von dem Ge-
eine repräsentative Abordnung nach Zeitung „Neues Leben“ in deutscher danken über die Autonomie zum Ge-
Moskau vorbereitet. Übersetzung zu publizieren. In den danken über die Emigration“ aus dem
Massenmedien, in Schulbüchern oder Jahr 1973 dargelegt.
1964 populärwissenschaftlichen Werken
Mai bis Juni: Angesichts zahlrei- wird dieses „Rehabilitierungs“-Dekret 1985 bis 1991
cher Unmutsäußerungen und Protes- weiterhin totgeschwiegen. Tiefgreifender Reformversuch
te von Betroffenen setzt sich eine vom in der Sowjetunion, der unter dem
ZK der KPdSU einberufene Kommis- 1965 neuen Generalsekretär der KPdSU,
sion mit der deutschen Problematik Im Januar und Juli reisen zwei Ab- Michail Gorbatschow, als die Periode
auseinander und empfiehlt, keinen ordnungen von Russlanddeutschen von Perestroika und Glasnost in die
zusätzlichen Rechtsakt anzunehmen nach Moskau und versuchen in Ge- Geschichte eingeht. Wachsende Kritik
und „den 200. Jahrestag der Einwan- sprächen mit Vertretern des Zentral- an den stalinistischen bzw. kommu-
derung der Kolonisten nach Russland komitees und dem Staatsoberhaupt nistischen Verbrechen seit 1917. Unter
nicht zu würdigen“. Anastas Mikojan vergeblich, eine anderem werden Forderungen nach
3. Juli: Bei einer Sitzung im Sekre- substanzielle Wiedergutmachung zu einer stärkeren Berücksichtigung der
tariat des Zentralkomitees entscheidet erreichen. Rechte der deportierten Völker laut.

36
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

1988
Bildung und Entsendung von drei
russlanddeutschen Delegationen
nach Moskau, die von den zentralen
Machtorganen die vollständige Reha-
bilitierung der Volksgruppe verlan-
gen; dazu gehört die Verabschiedung
eines staatlich finanzierten Rückkehr-
programms in die wieder hergestellte
autonome Republik an der Wolga.

1989 bis 1992


Wie schon oft in der Vergangen-
heit massive Proteste der russischen
Bevölkerung, vornehmlich im Gebiet
Saratow, mit deutlicher Stoßrichtung
gegen eine Rückkehr der einst Depor-
tierten und ihrer Nachkommen und
gegen eine Neugründung der deut-
schen Republik.

1989
16. Januar: Dekret des Präsidiums
des Obersten Sowjets der Sowjetunion
„Über zusätzliche Maßnahmen zur
Wiederherstellung der Gerechtigkeit
hinsichtlich der Opfer der Repres-
sionen im Zeitraum der 1930er und
1940er sowie zu Beginn der 1950er
Jahre“.
Im März wird in Moskau die Ge-
sellschaft „Wiedergeburt“ gegründet,
deren primäres Ziel die Wiedererrich-
tung der deutschen Autonomie ist.
14. November: Erklärung des
Obersten Sowjets der UdSSR „Über
die Bewertung der Repressionsakte
gegen Völker, die gewaltsam umge-
siedelt wurden, als ungesetzlich und
verbrecherisch und über die Gewähr
der Rechte dieser Völker“.

1991
12. bis 15. März: Außerordentli- Denkmal für die russlanddeutschen Opfer der Verfolgung in Engels.
cher Kongress der gewählten Vertre-
ter der deutschen Bevölkerung, der zin, den Autonomieplänen eine un- zum 70. Jahrestag der Deportation der
die unverzügliche Wiederherstellung missverständliche Absage. Deutschen in der ehemaligen UdSSR
der autonomen Republik an der Wol- 21. Februar: Jelzin erlässt den Ukas und der Auflösung der Wolgadeut-
ga fordert. „Über sofortige Maßnahmen zur Re- schen Republik.
24. April: Russland erklärt mit dem habilitation der Russlanddeutschen“, 28. August: Nach langen Quere-
Gesetz „Über die Rehabilitierung der in dem ein deutscher nationaler Ra­ len Enthüllung des Denkmals für die
repressierten Völker“ die seinerzei- yon im Gebiet Saratow und ein Land- deutschen Opfer der Deportation,
tigen Repressionen gegen Russland- kreis im Gebiet Wolgograd vorgese- das durch private Spenden errichtet
deutsche und andere Völker für geset- hen sind. Diese Absichten bleiben auf wurde, im eingezäunten Innenhof
zeswidrig und verbrecherisch. dem Papier. des ehemaligen Zentralarchivs der
ASSR der Wolgadeutschen in Engels.
1992 2011 Ministerpräsident Medwedew, Pre-
8. Januar: In einer Rede im Ge- Zahlreiche Maßnahmen und Ge- mierminister Putin und andere füh-
biet Saratow erteilt der Präsident der denkveranstaltungen in Deutschland, rende Politiker blieben dem Ereignis
Russländischen Föderation, Boris Jel- in Russland und anderen GUS-Staaten demonstrativ fern.

37
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

Im Einsatz für Deutsche aus Russland

Wendelin Jundt:
Bundesverdienstkreuz und
Landesverdienstkreuz
für besonderes Engagement
Als Zeichen der Anerkennung der
Verdienste in der Integrationsarbeit
wurde Wendelin Jundt 1993 mit dem
Bundesverdienstkreuz am Bande des
Verdienstordens der Bundesrepublik
Deutschland gewürdigt. 2004 erhielt
er für sein besonderes Engagement
und langjähriges Wirken zum Wohle
der Allgemeinheit in Niedersachsen
das Verdienstkreuz am Bande des
Niedersächsischen Verdienstordens.
Der Nienburger stammt aus Selz,
Odessa, wo er 1930 geboren wur- Frieda Dercho:
de. 1973 durfte er mit seiner Familie „Niedersachsen-Ross“
Lilli Bischoff nach Deutschland ausreisen. Der da- für beispielhafte
mals 43-Jährige engagierte sich zu- Integration
Lilli Bischoff: erst im BdV und später vor allem in
Bundesverdienstkreuz als der Landsmannschaft der Deutschen Im Oktober 1990 „landete“ Frieda
Zeichen der Anerkennung aus Russland. 1984 gründete er die Dercho in Osnabrück und wurde be-
Ortsgruppe Nienburg, wurde deren reits ein Jahr später in den Vorstand
langjährigen Engagements Vorsitzender und bald darauf Motor der Ortsgruppe Osnabrück der Lands-
Als Zeichen der Anerkennung ihrer und Vorsitzender der Landesgruppe mannschaft gewählt. Die ehemalige
ehrenamtlichen Tätigkeit wurde Lilli Niedersachsen (1990-2002). Lehrerin aus Sibirien kümmerte sich
Bischoff 2007 das Bundesverdienst- Mit großem Erfolg organisierte um Familienzusammenführung und
kreuz am Bande des Verdienstordens er sieben Landestreffen mit bis zu Beratung, wurde dann stellvertreten-
der Bundesrepublik Deutschland ver- 10.000 Teilnehmern. Hervorzuheben de Vorsitzende und steht seit 2000 en-
liehen. sind seine Verdienste in der Sozialbe- gagiert an der Spitze der Ortsgruppe.
Die Tatkraft von Lilli Bischoff, die ratung auf allen Ebenen bis hin zum Im Rahmen des landesweiten Pro-
im Arbeitsamt Hannover arbeitet, ist berufenen Referenten des Bundesvor- jektes „Angekommen“ wurde sie 2007
erstaunlich. Gleich nach ihrer Ankunft standes der Landsmannschaft, dem er mit dem „Niedersachsen-Ross“ für
1988 in Deutschland gründete sie in von 1993 bis 1995 angehörte. Für sein eine beispielhafte Integration ausge-
ihrem Wohnort Barsinghausen eine unermüdliches Engagement wurde zeichnet.
Ortsgruppe der Landsmannschaft und Wendelin Jundt mit der goldenen Eh- Geboren 1935 in Mariental, Wolga,
stürzte sich in die Integrationsarbeit rennadel des Vereins ausgezeichnet. wurde Frieda Dercho nach Sibirien
mit Aussiedlern. Besonders beispiel-
haft ist ihr Einsatz für die Integration
von Jugendlichen in Barsinghausen.
Seit 2006 ist sie Vorsitzende der
Landesgruppe Niedersachsen der
Landsmannschaft, deren Bundesvor-
stand sie über Jahre angehörte.
Außerdem kümmert sich Lilli Bi-
schoff um Hilfsmaßnahmen für die
Menschen in Kowel, Ukraine, die vom
Atomreaktorenunglück von Tscherno-
byl betroffen sind. 1995 gründete sie
den Verein „Kinderhilfe Ukraine“, der
sich für kostenlose Erholungsmaßnah-
men für die Kinder aus Kowel und ei-
nen Kulturaustausch einsetzt. Beste Glückwünsche für Wendelin Jundt (Mitte)

38
250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

(Altairegion) deportiert. Dem Traum, tionen nach Hannover. Vom ersten Tag aufgelöst wurde. So begann Andreas
Ärztin zu werden, stand ihre deutsche an setzte sich Peter Reger als ehren­ Maurer eine Lehre bei der Post und
Nationalität im Wege. So wurde sie amtlicher Mitarbeiter der Landsmann­ wurde Postbeamter.
Lehrerin und blieb der pädagogischen schaft für die Belange der Deutschen Seit 15 Jahren ist der fünffache Vater
Tätigkeit 36 Jahre lang treu. aus Russland ein. Unzählige Hilfesu­ parteipolitisch aktiv. 2001 kandidierte
Als sich die Hoffnungen auf eine chende hat er beraten und begleitet. er zum ersten Mal für den Gemein­
Wiederherstellung der Wolgarepub­ Nicht wegzudenken war sein Enga­ derat und wurde Ratsmitglied im
lik als Illusion erwiesen, wanderte sie gement bei Eingliederungsseminaren Gemeinderat der Samtgemeinde Art­
nach Deutschland aus. Vom ersten Tag und Informationsveranstaltungen der land. Bei den Kommunalwahlen 2011
an unterstützte sie ihre Landsleute mit Landsmannschaft, die den Neuan­ wurde Maurer Kreistagsabgeordneter
Rat und Tat. kömmlingen das nötige Rüstzeug für in Osnabrück.
2010 wurde Frieda Dercho mit dem die Eingliederung vermittelten. Nicht Innerhalb der Landsmannschaft
Yilmaz-Akyürek-Preis der Stadt Osna­ unerwähnt darf auch seine zentrale der Deutschen aus Russland engagiert
brück ausgezeichnet. Es ist die Aner­ Rolle bei der Organisation von acht sich Maurer auf Orts-, Landes- und
kennung der ehrenamtlichen Tätigkeit niedersächsischen Landestreffen blei­ Bundesebene.
einer mutigen Frau. Mit der Auszeich­ ben.
nung wurden Verdienste anerkannt, Seine über 25-jährige Tätigkeit an Ludmilla Neuwirth:
die sich Frieda Dercho insbesondere der Spitze der Ortsgruppe Hannover Politisch erfolgreich
durch ihr außerordentliches Engage­ war gekennzeichnet von Bemühun­
ment bei der Landsmannschaft der gen, die Zusammenarbeit mit allen
in Wolfsburg
Deutschen aus Russland und ihre Un­ Einrichtungen und politischen Ent­
terstützung der in Osnabrück leben­ scheidungsträgern auf Stadt- und
den Aussiedler erworben hat. Landesebene aufzubauen und auf­
rechtzuerhalten.
Peter Reger:
Ehrenorden des Landes Andreas Maurer:
Niedersachsen für Engagement in der
vorbildliches Engagement Integrationsarbeit
und Kommunalpolitik

Ludmilla Neuwirth

Die Dipl. Sozialpädagogin/Dipl. So­


zialwirtin Ludmilla Neuwirth ist seit
beinahe 30 Jahren beim Diakonischen
Der damalige Oberbürgermeister von Andreas Maurer Werk Wolfsburg tätig.
Hannover und heutige niedersächsische Im sibirischen Barnaul, Altairegi­
Ministerpräsident Stephan Weil über-
reichte Peter Reger (rechts) den Ehrenor- „Je mehr Deutsche aus Russland on, studierte sie am Institut für Kultur
den des Landes Niedersachsen. sich in der Kommunalpolitik enga­ und unterrichtete anschließend an der
gieren, desto mehr können wir für Fachschule für Kultur im Fach „Kul­
Im April 2008 wurde der lang­ unsere Landsleute erreichen“, so die turmanagement und Organisation von
jährige Vorsitzende der Ortsgruppe Überzeugung von Andreas Maurer, Kinder- und Jugendprojekten“. 1987
Hannover der Landsmannschaft, Pe­ der in Quakenbrück und Umgebung kam sie mit ihrem Ehemann Walde­
ter Reger, für seinen unermüdlichen als engagierter Kommunalpolitiker mar und zwei Töchtern nach Deutsch­
ehrenamtlichen Einsatz mit dem Eh­ bekannt ist. land. Da beide schon im Vorfeld gute
renorden des Landes Niedersachsen Geboren in Schachtinsk, Karagan­ Deutschkenntnisse hatten, stand die
ausgezeichnet. da, kam er 1988 mit 18 Jahren nach berufliche Integration von Anfang
Sein Lebensweg führte ihn von Deutschland, schaffte den Realschul­ an im Vordergrund. Waldemar Neu­
Omsk, Sibirien, wo er 1929 geboren abschluss und begann ein Studium wirth stieg als Betriebsschlosser bei
wurde, 1976 nach vielen Zwischensta­ an der Polizeischule, die jedoch bald den Stadtwerken Wolfsburg ein, und

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250 Jahre russlanddeutscher Geschichte

Ludmilla Neuwirth begann als Sozi- parlament gewählt. 2005 trat er in die Seit vielen Jahren ist sie ehrenamt-
alpädagogin für die Betreuung junger Junge Union ein und wurde Jugendre- lich bei der Landsmannschaft der
Spätaussiedler beim Diakonischen gionspräsident der Region Hannover, Deutschen aus Russland aktiv, in der
Werk Wolfsburg. 2000/02 studierte sie ein Jahr später Mitglied der CDU. Seit Ortsgruppe Hannover und im nieder-
berufsbegleitend und ist seitdem auch 2006 ist er Ratsmitglied in Laatzen, sächsischen Landesvorstand. 2009-
Diplom-Sozialwirtin. aktuell Vorsitzender des Ausschusses 2012 leitete sie zusammen mit Anna
Besonderen Erfolg hat Ludmilla für Wirtschaft und Vermögen. Welz das landesweite Projekt „Stark
Neuwirth als Kommunalpolitikerin. Ab 2006 engagierte sich Paul Dera- und offen in Niedersachsen“.
2005 wurde sie Ortsbürgermeisterin bin als beratendes Mitglied im Stadt-
von Westhagen und 2006 Ratsfrau im verbandsvorstand und Pressesprecher Lilli Hartfelder:
Rat der Stadt Wolfsburg. Schwerpunk- der Jungen Union in Laatzen. Gegen- Offenes Ohr für die Nöte
te ihrer Ratstätigkeit sind Integration, wärtig ist er Mitglied im Arbeitskreis
Soziales und Jugend. Migranten der CDU in Niedersachsen,
Anderer
der Aussiedlerbeauftragtenkonferenz
Paul Derabin – der CDU Deutschlands und im Ar-
sieht sich als Bindeglied beitskreis Junger Integrationspolitiker
der Konrad-Adenauer-Stiftung.
zwischen Politik
und Spätaussiedlern Svetlana Judin:
Ehrenamtliches und
berufliches Engagement
in der Integrationsarbeit

Lilli Hartfelder

„Ehrenamt und die Menschen, die


es ausüben, sind für mich etwas Be-
Paul Derabin sonderes“, sagt Lilli Hartfelder. Sie ge-
hört zu denen, die für die Sorgen und
Paul Derabin studiert Rechtswis- Nöte der Anderen immer ein offenes
senschaften in Hannover und ist als Ohr haben.
studentische Hilfskraft am Lehrstuhl Im Oktober 1989 kam die zweifa-
für öffentliches Recht und Rechtsphi- che Mutter aus Kasachstan nach Han-
losophie tätig. Seit zehn Jahren enga- nover. Hier studierte die ehemalige
giert er sich in der parteipolitischen Svetlana Judin Deutschlehrerin Sozialpädagogik mit
Arbeit und wurde 2006 in den Laatze- Diplomabschluss und absolvierte eine
ner Stadtrat als jüngstes Ratsmitglied Seit Jahren leistet Svetlana Judin Ausbildung im Case-Management in
gewählt. eine beispielhafte ehrenamtliche und der Sozialarbeit mit Migranten.
„Ich sehe mich in Deutschland als berufliche Arbeit im Bereich der Integ­ Sieben Jahre arbeitete Lilli Hart-
Bindeglied zwischen Politik und Spät- ration der Zuwanderer aus der ehe- felder im Beratungszentrum für In-
aussiedlern, die von der Politik Hilfe maligen Sowjetunion. tegrations- und Migrationsfragen bei
benötigen, um besser leben zu kön- Sie wurde 1965 in Kant, Kirgisien, der AWO – Region Hannover, war
nen. Integration ist erst dann erfolg- geboren und lebt seit 1993 in Hanno- als Sozialarbeiterin in der Migrations-
reich, wenn sie aktiv ist“, sagt er. ver. Nach dem Hochschulstudium als erstberatung der Landsmannschaft in
1988 in Russland geboren, kam er Lehrerin für russische Sprache und Hannover tätig und führte Familien-
1999 mit seinen Eltern aus Sibirien Literatur arbeitete sie in Frunse, Kir- betreuung und Sprachförderung in
nach Niedersachsen, lernte die deut- gisien. In Deutschland studierte sie Kindertagesstätten von Lehrte durch.
sche Sprache ohne größere Schwierig- Sozialwesen in Hannover und qualifi- Seit 1992 engagiert sich Lilli Hart-
keiten und lebte sich schnell ein. zierte sich weiter in ihrem Beruf. Sie felder in der Landsmannschaft der
Schon sehr früh zeigte er Interes- sammelte Erfahrungen in der Arbeit Deutschen aus Russland, sowohl in
se an parteipolitischer Tätigkeit. 2003 mit Spätaussiedlern, u.a. bei der Kin- ihrer Ortsgruppe Hannover als auch
wurde er in das Laatzener Jugend- derbetreuung und Suchtberatung. auf niedersächsischer Landesebene.

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