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Der Gottesdienst in Israel.


Grundfragen, Textbeispiele und Themenfelder
Bernd Janowski

1. Homo ritualis – zur Einführung

Das Opfer gehört zu den elementaren und zugleich archaischen


Phänomenen der menschlichen Kultur, mit denen der Mensch
versucht, in Kontakt zur Welt der Götter zu treten, um deren
Einwirkung auf seine Lebenswelt zu stimulieren bzw. zu regu-
lieren. Der Opfernde, der den Göttern Erntefrüchte, Wild- oder
Haustiere, Schmuck oder Waffen als Gabe darbringt, bewegt sich
im Kontext bestimmter Handlungsabläufe (Ritus, Ritual)1, die als
performative Akte die Bewältigung kritischer sozialer und emo-
tionaler Situationen ermöglichen und damit Orientierung für das
individuelle und soziale Leben geben. 2 »Abgesehen von unserer
Gesellschaft«, so der französische Soziologe Alain Caillé, »prak-
tizieren in der einen oder anderen Form alle menschlichen Gesell-
schaften das Opfer.« Damit schaffen sie einen symbolischen Aus-
tausch zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Götter,
demzufolge sich die Dinge nicht aus einem Spiel von gleichwerti-
gen Ursachen entwickeln, sondern »aus ihrem Widerstreit oder
Gegenteil – wie das Leben aus dem Tod, das Sein aus dem Haben,

1  Mit Bernhard Lang, Art. Ritual / Ritus, HrwG 4, 1998, 442–458

kann ›Ritual‹ als Oberbegriff für religiöse Handlungen und ›Ritus‹ als die
besondere Art ihrer Ausführung bezeichnet werden. Die folgenden Ausfüh-
rungen nehmen Überlegungen von Bernd Janowski, Homo ritualis. Opfer
und Kult im alten Israel, BiKi 64 (2009), 134–140 auf und führen sie weiter.
2  Zur neueren Ritualforschung vgl. Claus Ambos / Stephan

Hotz / ­Gerald Schwedler / Stefan Weinfurter (Hg.), Die Welt der


Rituale. Von der Antike bis heute, Darmstadt 22006.
2 Bernd Janowski

das Haben aus dem Verlust und die definierte Identität aus dem
unbestimmten Chaos.«3
Das Opfer ist nur eine, wenn auch bedeutsame kulturelle Aus-
drucksform, die charakteristisch ist für die Religionen des anti-
ken Mittelmeerraums und der vorderorientalischen Antike.4 Das
deutsche Wort »Opfer« ist allerdings ambivalent, weil es sowohl
den Vollzug der Handlung (lat. sacrificium < sacrum facere, »das
Heilige vollziehen«, vgl. engl. / frz. sacrifice) als auch ihr Objekt
(lat. victima, vgl. engl. victim / frz. victime)5 bezeichnen kann.
Auch wenn man diese in manchen Sprachen nicht vorhandene
Unterscheidung beiseite lässt, ist der deutsche Begriff »Opfer«
im Sinn von (rituellem) Vollzug nicht eindeutig, weil er auf lat.
operari (»[mit rituellen Handlungen] beschäftigt sein, handeln«)
zurückgeht und ein Generalbegriff für den Vollzug des Rituals
bzw. dessen Ergebnis ist.
Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich in mehreren
Disziplinen ein lebendiges Interesse am »Opfer« entwickelt, das

3  Alain Caillé, Anthropologie der Gabe, Frankfurt a.M. 2008, 125f.,

vgl. dazu jetzt auch Marcel Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld
und Philosophie, Frankfurt a.M. 2009, 241ff.
4  Vgl. dazu Bernd Janowski / Michael Welker (Hg.), Opfer. Theolo-

gische und kulturelle Kontexte (stw. 1454), Frankfurt a.M. 2000 und Stella
Georgoudi u.a. (éd.), La cusine et l’autel. Les sacrifices en questions dans
les sociétés de la méditerranée ancienne, Turnhout 2005. Zum Opfer und zum
Gottesdienst im Alten Testament vgl. Ira Willi-Plein, Opfer und Kult
im alttestamentlichen Israel. Textbefragungen und Zwischenergebnisse (SBS
153), Stuttgart 1993; Christian A. Eberhart, Studien zur Bedeutung der
Opfer im Alten Testament. Die Signifikanz von Blut- und Verbrennungsriten
im kultischen Rahmen (WMANT 94), Neukirchen-Vluyn 2002; Werner H.
Schmidt, Alttestamentlicher Glaube, Neukirchen-Vluyn 2007, 169ff., ferner
Horst Seebass, Art. Opfer II, TRE 25, 1995, 258–267; Bernd Janowski,
Art. Opfer I, NBL 3, 2001, 36–40.43; Alfred Marx, Art. Opfer II/1, RGG4
6, 2003, 572–576 und aus praktisch-theologischer Sicht Peter Cornehl,
Der Evangelische Gottesdienst – Biblische Kontur und neuzeitliche Wirk-
lichkeit, Bd.1, Stuttgart 2006, 79ff.
5  Vgl. dazu Hildegard Canick-Lindemaier, Opfer. Religionswis-

senschaftliche Bemerkungen zur Nutzbarkeit eines religiösen Ausdrucks, in:


Hans-Joachim Althaus u.a. (Hg.), Der Krieg in den Köpfen, Tübingen,
1988, 109–120 und Walter Burkert, Griechische Religion der archaischen
und klassischen Epoche (RM 15), Stuttgart 22011, 93ff.
Der Gottesdienst in Israel 3

eine gewisse Zäsur in der wissenschaftlichen Diskussion signali-


siert. So entdeckten die Altertumswissenschaften die archaischen
Elemente des Opfers unter Rückgriff auf anthropologische, so-
ziologische und biologische Kategorien.6 In der Religions- und
Kulturwissenschaft wurde die ›Logik des Opfers‹ kulturspezi-
fisch und kulturübergreifend neu bestimmt.7 In der Theologie,
besonders in der biblischen Exegese, wurde das Verhältnis von
Opfer und Sühne neu analysiert und diskutiert.8 Neuerdings fin-
den auch die zahlreichen Opfer im altisraelitischen Alltag Beach-
tung.9
Allerdings: So elementar und vielfältig das Phänomen »Opfer«
dabei in Erscheinung tritt, es bleibt für viele fremd und anstößig,
weil es materiell vollzieht – im Fall des Tieropfers: die Tötung des
Tieres –, was spirituell wirken soll, nämlich die Begegnung mit
dem heiligen Gott. Widerspricht das eine nicht dem anderen? Um
diesen Widerspruch aufzulösen, ist es nötig, grundsätzlicher nach
der Bedeutung des kultischen Geschehens zu fragen. Ich gehe da-
für von einem Text aus, der einer Ätiologie des alttestamentlichen
Opfers gleicht.

6  Vgl. dazu bes. Walter Burkert, Homo necans. Interpretationen alt-

griechischer Opferriten und Mythen (RGVV 32), Berlin / New York 1972;


ders., Anthropologie des religiösen Opfers (1986), in: ders., Kleine Schrif-
ten V: Mythica, Ritualia, Religiosa 2, Göttingen 2010, 3–22 und ders., Kulte
des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion, München 1998. Zur
Diskussion des Ansatzes von Burkert vgl. jetzt Anton Bierl / Wolfgang
Braungart (Hg.), Gewalt und Opfer. Im Dialog mit Walter Burkert (My-
thosEikonPoiesis 2), Berlin / New York 2010.
7  Vgl. dazu Hubert Seiwert, Art. Opfer, HrwG 4, 1998, 268–284 und

Axel Michaels, Art. Opfer, in: Christoph Auffarth u.a. (Hg.), Wör-


terbuch der Religionen, Stuttgart 2006, 382f.
8  Vgl. dazu Bernd Janowski, Art. Sühne II/1, RGG 4 7, 2004, 1843f.;

Alfred Marx, Tuer, donner, manger dans le culte sacrificiel de l’Ancien


Testament, in: Georgoudi u.a. (éd.), La cuisine (s. Anm. 4), 3–13 sowie die
Beiträge in Hans Jürgen Luibl / Sabine Scheuter (Hg.), Opfer. Ver-
schenktes Leben, Zürich 2001 und Werner H. Ritter (Hg.), Erlösung
ohne Opfer?, Göttingen 2003.
9  Vgl. dazu Thomas Staubli, Räuchern, libieren, spenden. Opfer im al-

tisraelitischen Alltag, BiKi 64 (2009), 152–157.


4 Bernd Janowski

2. Textbeispiele und Themenfelder

2.1. Das Altargesetz – zur Ätiologie des Opfers


In den Religionen des antiken Mittelmeerraums und der vorder­
orientalischen Antike ist das Opfer die heilige Handlung schlecht-
hin. Der Ort, an dem diese Handlung vollzogen wird, ist der Al-
tar, nach dem Alten Testament der »Ort, an dem geschlachtet
wird« (hebr. mizbe ach). Dessen Bedeutung lässt sich etwa dem
»Altargesetz« Ex 20,24–26 entnehmen, das zusammen mit dem
Prolog Ex 20,22f feierlich das Bundesbuch (Ex 20,22–23,33) ein-
leitet:
22 JHWH sprach zu Mose:
»So sollst du zu den Israeliten sprechen:
Ihr habt gesehen, dass ich vom Himmel mit euch geredet habe.
23 Ihr sollt nichts neben mir machen: silberne und goldene Götter
sollt ihr euch nicht machen.
24 Einen Altar aus Erde sollst du mir machen
und du sollst auf ihm schlachten deine Brandopfer und deine Heilsopfer,
dein Kleinvieh und deine Rinder.
An jedem Ort, an dem ich meines Namens gedenken lassen werde,
werde ich zu dir kommen und dich segnen.
25 Wenn du mir aber einen Altar aus Steinen machst,
so sollst du sie nicht bauen als Behauenes,
denn du würdest deinen Meißel über ihm schwingen und es dadurch
entweihen.
26 Und du sollst nicht auf Stufen auf meinen Altar hinaufsteigen,
damit deine Blöße nicht auf ihm enthüllt wird.«

Auf den ersten Blick bekommt man den Eindruck eines Durch-
einanders von verschiedenen Ritualvorschriften. Sieht man aber
genauer hin, so ergibt sich eine konzentrische Struktur mit V. 24b
als theologischer Sachmitte, wonach der Schwerpunkt auf JHWH
und seiner Reaktion auf das Opfer Israels liegt:
Der Gottesdienst in Israel 5

22 JHWH-Rede vom Himmel her: JHWH


23 keine Herstellung von silbernen + Israel
goldenen Göttern (vgl. Ex 20,4–6)
24a Altar aus Erde
Brandopfer + Heilsopfer Israel (»Du sollst …«)
Kleinvieh + Großvieh 
b An jedem Ort
Gedenken lassen seines Namens JHWH (»Ich werde …«)
Kommen + Segnen JHWHs
25f Altar aus Steinen
25 nichts Behauenes (Entweihung) Israel (»Du sollst nicht …«)
26 keine Stufen (Entblößung)

Mit Alfred Marx lassen sich diesem Text drei für die Theologie
des Opfers wichtige Hinweise entnehmen:
1. Der Altar ist der Ort des Kommens Gottes. Beim Opfer ent-
steht »dieses ganz Erstaunliche und Unerwartete, dass Gott, von
dem es einige Verse vorher hieß, dass er vom Himmel her zu sei-
nem Volke gesprochen hatte, und der so seine Transzendenz be-
kundete, jetzt seine Bereitschaft ankündigt, auf die Erde hinabzu-
steigen, um zu seinem Volk zu kommen, und dies jedes Mal, wenn
es ihn darum bittet, indem es ein Opfer darbringt«10
2. Das Feuer, das vom Opfernden angezündet wird und die
bereitgelegten Opferstücke verzehrt, ist die sichtbare Seite Got-
tes. Was im Opfer geschieht, ist eine rituelle Nachahmung des-
sen, was in der Theophanie am Sinai (Vgl. Ex 19,9) geschieht: »In
demselben Moment, an dem Gott Israel als sein Volk erklärt und
sich ihm in Blitz und Donner offenbart, erklärt er ihm auch seine
Bereitschaft, zu ihm zu kommen, jedesmal wenn es ihn darum
durch ein Opfer bittet.«11
3. Das Opfer ist das Zeichen der Gastfreundschaft gegenüber
Gott. Die Tiere, die ihm als Opfer dargebracht werden, werden
bei außergewöhnlichen Anlässen wie einem Fest (1 Sam 25,2–11
u.a.) oder Gastmahl (Gen 18,1–8 u.a.) geschlachtet und verzehrt.
Gott werden die Opfergaben nicht in rohem Zustand vorgelegt,

10  Alfred Marx, Opferlogik im alten Israel, in: Janowski / Welker

(Hg.), Opfer (s. Anm. 4), 133, vgl. ders., Art. Opfer (s. Anm. 4), 574.
11  Ders., Opferlogik, 133.
6 Bernd Janowski

sondern sie werden für ein Mahl zubereitet, d.h. enthäutet, gebra-
ten und gekocht (Lev 1,5–9; 2,13 u.a.) oder – beim vegetabilischen
Opfer – gemahlen, gebacken undgekeltert. »Wenn also Gott an-
lässlich eines Opfers kommt, so um die Gastfreundschaft seines
Volkes anzunehmen.«12
Für das Verständnis des Opfers im alten Israel erweist sich das
Altargesetz somit als grundlegend: Wenn Gott anlässlich eines Op-
fers kommt, dann nicht in Feindseligkeit, so dass man ihn – wie
immer wieder behauptet wird – gnädig stimmen müsste, sondern
um die Gastfreundschaft seines Volkes anzunehmen und um es zu
segnen (Ex 20,24b). Im Opfer erweist sich JHWH nicht als der zor-
nige, sondern als der segnende – und wie die priesterliche Sühne-
theologie pointiert: als der vergebende – Gott.13 »Jede Opfertheo-
rie, die nicht im Segen das zentrale Anliegen des Opfers sieht, muss
als unbiblisch eingeschätzt werden.«14

2.2. Schlachten, Essen, Feiern –


zu den Grundelementen des Opfers
2.2.1. Opferterminologie und Opfertiere
Es gehört zur Eigenart des altisraelitischen Opferkults, dass das
Hebräische keinen zusammenfassenden Ausdruck für »Opfer«
besitzt.15 Eine gewisse Ausnahme bilden die Termini minchah
»Gabe« (Gen 4,3ff, vgl. 1 Sam 26,19; Ps 96,8), und qorban »Dar-
bringung« (Lev 1,2, vgl. Ez 20,28; 40,43). Die übrigen Ausdrücke
bezeichnen jeweils eine bestimmte, nach der Art der Darbringung
(Schlachten, Verbrennen), des Anlasses (Dank, Freiwilligkeit,
Gelübde), des Zwecks (Schuld, Sünde), des Termins (morgens,
abends) oder der Materie (tierisch, vegetabilisch) unterschiedene
Opferart. In den späten Opferbestimmungen von Lev 1–7 wer-

12 AaO., 136.
13 Vgl. dazu unten 2.3.2.
14  Marx, Opferlogik (s. Anm. 10), 138. Ganz analog sieht Cornehl,

Gottesdienst (s. Anm. 4), 79ff. die Bedeutung des alttestamentlichen Got-
tesdienstes in der »Begegnung mit Gott in konkreten Lebenszusammenhän-
gen«.
15  Vgl. dazu Willi-Plein, Opfer (s. Anm. 4), 25ff.71ff.
Der Gottesdienst in Israel 7

den darüber hinaus die Tieropfer nach Anlass und Zweck genau
klassifiziert: Brandopfer, Heilsmahlopfer, Sündopfer und Schuld-
opfer.16 Während das Brandopfertier durch einen Schnitt in die
Halsschlagader getötet (»geschächtet«), zerteilt und vollstän-
dig verbrannt wurde (Lev 1; 6,2–6, ältere Belege in Ri 6,26 u.a.),
wurde das Heilsmahlopfer, für das ein Blutsprengungsritus cha-
rakteristisch ist, ursprünglich nach dem Brandopfer dargebracht
(Ex 20,24 u.a.) und erst später mit dem Schlachtopfer verbunden
(Lev 3, vgl. 7,11ff). Beim Sündopfer (Lev 4,1–5,13, vgl. 6,18ff) und
beim Schuldopfer (Lev 5,14ff, vgl. 7,1ff) hatte das Blut eine zen-
trale, weil sühnende Funktion.17
Das Zentrum des Tieropfers ist die rituelle Schlachtung und
Verbrennung. Sie weist nach der »Hinzubringung« des fehlerlo-
sen Opfertiers (vgl. Lev 1,2f; 3,1 u.a.) im wesentlichen die Ele-
mente Fesselung (vgl. Gen 22,9) und Schlachten des Tiers, Blut-
sprengung (an den Altar bzw. den Vorhang des Allerheiligsten),
Zerteilen mit den Einzelelementen Herausnehmen der Einge-
weide und Herauslösen der Schenkel sowie vollständige Verbren-
nung der Opferteile mit Ausnahme der Haut auf. Die nicht dar-
gebrachten Opferstücke dienten dem Unterhalt der Priester, die
oft in den Genuss der besonders geschätzten rechten Keule kamen
(Lev 7,32ff; 9,21; 10,14 u.a.).
Als Opfertiere wurden weder Gazelle, Esel, Pferd, Kamel,
Schwein (?) und Hund noch Wildtiere, sondern ausnahmslos
Haus- und Arbeitstiere wie Rinder, Ziegen und Schafe verwendet,
die für die bäuerliche Existenz von elementarer Bedeutung waren.
In besonderen Armutsfällen konnten auch Haus- und Turteltau-
ben geopfert werden. Das Opfertier musste makellos, männlich
16  Vgl. dazu Thomas Hieke, Der Kult ist für den Menschen da. Auf

Spurensuche in den Opfervorschriften von Levitikus 1–10, BiKi 64 (2009),


141–147.
17  Zur Rolle des Bluts vgl. Bernd Janowski, Sühne als Heilsgeschehen.

Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur priesterschriftlichen


Sühnetheologie (WMANT 55), Neukirchen-Vluyn 22000, 198ff.; Eber-
hart, Bedeutung der Opfer (s. Anm. 4), 222ff. und zuletzt Friedhelm
Hartenstein, Zur symbolischen Bedeutung des Blutes im Alten Testa-
ment, in: Jörg Frey / Jens Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im
Neuen Testament (WUNT 181), Tübingen 2005, 119–137.
8 Bernd Janowski

und mindestens sieben Tage alt sein (Lev 1,3; Dtn 15,21 u.a.). Was
als »Makel« galt, war im sog. Heiligkeitsgesetz geregelt:
Ein blindes, lahmes, verstümmeltes, verunstaltetes, räudiges oder grindiges
Tier dürft ihr nicht zu JHWH bringen. Von solchen Tieren dürft ihr keins
JHWH auf den Altar legen. (Lev 22,22)

Die Anlässe für die Tieropfer waren zahlreich: neben Privatop-


fern anlässlich eines Gelübdes (1 Sam 1,3), einer Weihe (1 Sam
16,3) oder der Reinerklärung eines Aussätzigen (Lev 14) waren
die öffentlichen Opfer anlässlich der drei großen Jahresfeste (Ex
23; 34, Dtn 16; Lev 23), des Großen Versöhnungstags (Lev 16)
oder der Darbringung der Erstgeburt (Ex 13 u.a.) von eminenter
Bedeutung. Anlass zum Opfer waren schließlich auch geschicht-
liche Ereignisse wie der Beginn einer Schlacht (1 Sam 13,8ff), die
Einweihung des Tempels (1 Kön 8,62ff) und Königsproklamatio-
nen (2 Sam 15,10ff).

2.2.2. Kultgeschichte und Kultkritik


Eine den Ergebnissen der neueren Religionsgeschichte Palästi-
nas / Israels entsprechende Sozial- und Kultgeschichte des Opfers
ist ein Desiderat der Forschung. Schon die Frage nach dem Opfer
der Frühisraeliten (»Patriarchenzeit«) berührt wegen der Spätda-
tierung der meisten Texte dabei Grundprobleme der Forschung.
Einigermaßen sicher ist jedoch, dass die Opfer des Gideon (Ri
6,18–21) und des Manoch (Ri 13,15–20) familiäre Gesellschafts-
strukturen widerspiegeln, die für die frühe Eisenzeit (E I: 1200–
1000 v. Chr.) typisch sind. Wie eng die Geschichte des Opfer mit
der Entwicklung der Gesellschafts- und Gottesvorstellung ver-
bunden ist, zeigt auch die Opfer- und Kultkritik der Propheten
(Am 5,21–23; Hos 6,6; Jes 1,10–17 u.ö.), die in ihrer Radikalität
eine Funktion der prophetischen Gerichtsbotschaft darstellt.
Wieder eine andere Vorstellung vertritt die deuteronomische
Opfertheorie, die in Dtn 12,13–19 zwischen Opfer (nur in Jeru-
salem) und Profanschlachtung (an jedem Ort) unterscheidet und
das Opfer unter den Gedanken der Freude und des Segens stellt.18

18  Vgl. dazu unten 2.3.1.


Der Gottesdienst in Israel 9

Einen theologisch entscheidenden Schritt vollzieht dann im


6. Jh. v. Chr. die Priesterschrift mit ihrer Betonung des Sündopfers
und der sühnetheologischen Ausrichtung des Opferzwecks. Ent-
gegen dem eingefleischten Vorurteil, dass die Opfervorschriften
von Lev 1–10 auf den ersten Blick wie »ein Zeugnis von Engstir-
nigkeit, Detailversessenheit, Skrupulantentum«19 wirken, propa-
gieren sie die Botschaft vom versöhnungswilligen Gott, der Israel
die Gabe kultischer Versöhnung geschenkt hat. 20
Im Blick auf die Opfervorschriften des Leviticusbuchs stellt
sich allerdings immer noch große Verlegenheit ein. Um diese zu
kompensieren, ist man – in vermeintlicher Übereinstimmung mit
der prophetischen Opfer- und Kultkritik – schnell bereit, von der
»Überwindung« oder dem »Ende« des Opfers zu sprechen. Hält
man sich aber an die Texte, so kommen andere Aspekte zum Vor-
schein. Als klassisches Beispiel sei Am 5,21–24.27 (ohne die Fort-
schreibungen v. 22aa.25f) zitiert:
I. Schuldaufweis
21 Ich hasse, ich verwerfe eure Feste,
und kann eure Festversammlungen
nicht riechen. Ablehnung von Festen
22 Es sei denn, ihr brächtet mir Brandopfer
dar. //Opfern:
Eure Speisopfer will ich nicht annehmen • Gabeopfer
und das Mahlopfer eures Mastviehs
nicht ansehen. • Mahlopfer
23 Fort von mir den Lärm deiner Lieder, Entfernung von Liedern
und dein Harfenspiel will ich nicht hören,  //Instrumentalmusik
24 auf dass sich Recht wie Wasser
einherwälze Fliessen von Recht
und Gerechtigkeit wie ein reissender
Bach. 21 //Gerechtigkeit

19  Hieke, Kult (s. Anm. 16), 141.


20  Vgl. dazu unten 2.3.2.
21  Zur Übersetzung von nachal ‘etan mit »reissender Bach« vgl. Jan

Dietrich, Kollektive Schuld und Haftung. Religions- und rechtsgeschicht-


liche Studien zum Sündenkuhritus des Deuteronomiums und zu verwandten
Texten (ORA 4), Tübingen, 2010, 257ff.
10 Bernd Janowski

II. Unheilsankündigung
27 So werde ich euch in die Verbannung
führen, Deportation Israels
über Damaskus hinaus,
hat JHWH gesprochen, Botenspruchformel
Gott der Heerscharen ist sein Name.

Seit der Zeit der Aufklärung, besonders aber in der Liberalen


Theologie des 19. Jahrhunderts hat man diesen Text neben Hos
6,6; Jes 1,10–17; Mi 6,6–8 u.a. gern als Kronzeugen für die radi-
kale Opfer- und Kultkritik der Propheten aufgerufen und diese
Auffassung in die Formel »Recht statt Gottesdienst / Kult« ge-
fasst. 22 Für ein sachgemäßes Textverständnis ist demgegenüber
die Beobachtung wichtig, dass »die Abweisung Gottes sachlich
beim Umfassenden, den Festen (V. 22), einsetzt und erst danach
Opfer (V. 22) und Musik (V. 23) genannt werden«23. Im Übrigen
fällt auf, dass nicht Kritik an inhaltlichen Einzelheiten des Kults
geübt, sondern – wie die Wendungen »eure Festversammlungen«,
»eure Speisopfer«, »das Mahlopfer eures Mastviehs«, »der Lärm
deiner Lieder«, »dein Harfenspiel« zeigen – »einem schuldigen
Israel … gesagt [wird], dass sein Gottesdienst Gott nicht mehr
erreicht und insofern zum ›Dienst an sich selber‹ pervertiert ist«24.
So feiert Israel seinen Gott, als ob sein Gottesverhältnis intakt
wäre, und »merkt nicht, dass er bei der Feier gar nicht anwesend
ist«25, sondern sich längst abgewendet hat (nicht riechen / nicht
annehmen / nicht ansehen / nicht hören V. *21f). Insofern ist Am
5,*21–24.27 ein Gegentext zu Ex 20,24–26 und dessen Grundmo-
tiv vom Kommen und Segnen JHWHs anlässlich des Opfers.
Noch in spätnachexilischer Zeit geht es um ähnliche Fragen,
wenn Mal 2,1–9 eine drastische Gerichtsankündigung gegen die
Priester und ihre Nachlässigkeit im Opferwesen formuliert:26
22  Vgl. dazu besonders Thomas Krüger, Erwägungen zur propheti-

schen Kultkritik, in: Die unwiderstehliche Wahrheit. Studien zur alttesta-


mentlichen Prophetie, FS Meinhold (ABG 23), Rüdiger Lux und Ernst-
Joachim Waschke (Hg.), Leipzig 2006, 37–55.
23  Jörg Jeremias, Der Prophet Amos (ATD 24/2), Göttingen 1995, 77.
24  Ders., aaO., 79.
25  Ders., Ebd.
26  Vgl. dazu Thomas Hieke, Kult und Ethos. Die Verschmelzung von
Der Gottesdienst in Israel 11

3 Und siehe: Ich bedrohe euch –


die Nachkommenschaft,
und ich werde Mageninhalt
(von Opfertieren) vgl. Lev 4,11; 8,17; 16,27
über euer Gesicht streuen,
(den) Mageninhalt (der Opfertiere)
eurer Feste vgl. Am 5,21 (»eure Feste«)
und man schafft euch zu ihm hinaus.

Das Gegenbild zum Versagen der Priester zeichnen die anschlie-


ßenden Verse Mal 2,5–8, die bis zur Wurzel des Priestertums bei
Levi zurückgehen. Die eigentliche Aufgabe des Priestertums de-
finieren V. 6f dabei folgendermaßen:
6 Eine Weisung von Wahrheit war in seinem (sc. Levis) Mund,
und kein Unrecht fand sich auf seinen Lippen,
in Frieden und Aufrichtigkeit ging er mit mir, vgl. Mi 6,8
und viele veranlasste er zur Umkehr von Schuld.
7 Denn die Lippen eines Priesters bewahren Erkenntnis
und Weisung sucht man von seinem Mund.
Denn Bote von JHWH Zebaoth ist er.

Beim wahren Priestertum geht es nicht nur um die Unterschei-


dung von rein und unrein, sondern auch um die Unterweisung
von Wahrheit, Frieden, Aufrichtigkeit und um die Abkehr von
Schuld. Damit ist der Text unmerklich »von Fragen des Kultes,
des rechten Gottesdienstes, zum ›Ethos‹ im Sinne eines gerechten
Handelns«27 übergegangen. Beide Verhaltens- und Handlungs-
weisen, Kult und Ethos, entsprechen einander und qualifizieren
den homo ritualis als den homo ethicus.

2.3. Religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt –


zu den Festen Israels
Wie das Opfer so ist auch das Fest in den antiken Kulturen ein
religiöser Kontrapunkt zur Alltagswelt, der dem Leben Sinn und
Ziel durch die Unterbrechung der Alltagsroutine und die Eröff-

rechtem Gottesdienst und gerechtem Handeln im Lesevorgang der Maleachi-


schrift (SBS 208), Stuttgart 2006, 29ff.
27  Ders., aaO., 40.
12 Bernd Janowski

nung übergreifender Perspektiven verleiht. Das Fest, so definiert


Jan Assmann, ist »der Ort des Anderen«28, und zwar des Anderen
als Inbegriff all dessen, was eine Kultur im Interesse ihres alltäg-
lichen Funktionierens ausblenden muss:
»Die dem Menschen im Alltag auferlegten Handlungszwänge bedingen eine
Konzentration aufs nächstliegende und damit Horizontverengung, die of-
fenbar unerträglich ist. Die Feste müssen hier einen Ausgleich schaffen und
Orte bereitstellen, in denen sich das im Alltag ausgeblendete ›Andere‹ ereig-
nen kann. Dieses Andere ereignet sich aber nicht von selbst, es muss insze-
niert werden.«29

Mit dem Begriff der Inszenierung ist das Moment des Geformten
und Festgelegten, also ein Handeln gemeint, das sich »nicht an der
Erreichung bestimmter Zwecke, sondern am ›Wie‹ der Ausfüh-
rung, am Stil«30 orientiert.

2.3.1. Die Freude des Festes (Deuteronomium)


Die Kategorie der Form oder der »rituellen Kohärenz«31 ist auch
für die Feste Israels grundlegend.32 Nehmen wir als Beispiel das
Motiv, dass »Israel an seinem Zentralheiligtum als ganzes bei fest-
lichem Opfermahl zur reinen Freude vor seinem Gott gelangen
[soll]. Das scheint für das Deuteronomium das Wesen des Opfers

28  Jan Assmann, Der zweidimensionale Mensch: das Fest als Medium

des kollektiven Gedächtnisses, in: ders. (Hg.), Das Fest und das Heilige.
Religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt, Gütersloh 1991, 13–30, hier 13,
vgl. dazu bereits Bernd Janowski / Erich Zenger, Jenseits des Alttags.
Fest und Opfer als religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt im alten Israel,
in: Bernd Janowski, Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des
Alten Testaments 4, Neukirchen-Vluyn 2008, 39–78.
29  Assmann, aaO., 15.
30  Ders., ebd.
31  Zu diesem Ausdruck s. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis.

Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, Mün-


chen 1992, 17f.
32  Zu den Festen im alten Israel vgl. Überblick bei Schmidt, Alttesta-

mentlicher Glaube (s. Anm. 4), 175ff.; Eckart Otto, Art. Feste / Feiern II,
RGG4 3 (2000) 87–89; Ilse Müllner / Peter Dschulnigg, Jüdische und
christliche Feste (NEB.Themen 9), Würzburg 2002, 7ff. und Alfred Marx,
Feste und Wallfahrten im antiken Israel, in: Fritz Lienhard (Hg.), Feste in
Bibel und kirchlicher Praxis, Berlin 2010, 11–23.
Der Gottesdienst in Israel 13

zu sein«33. Das bringen besonders diejenigen Texte zum Ausdruck,


die Norbert Lohfink unter dem Stichwort »Wallfahrtsschema«34
zusammengefasst hat. Zu ihnen gehört auch die großartige
Passa / Mazzot-Verordnung nach Dtn 16,1–835 innerhalb des Fest-
kalenders in Dtn 16,1–17:
Chronologischer Rahmen
1a Achte auf den Monat Abib und feiere JHWH, deinem Gott, das Passa,
Passarahmen (Zeit, Opfermaterie, Ort)
1b denn im Monat Abib hat JHWH, dein Gott, dich aus Ägypten
­herausgeführt in der Nacht.
2 Als Passa sollst du JHWH, deinem Gott, Kleinvieh und Rinder
schlachten an der Stätte, die JHWH erwählen wird, um dort sei-
nen Namen wohnen zu lassen.
Passa / Mazzot-Bestimmung (3–4a: Mazzot, 4b-6: Passa)
3 Du sollst nichts Gesäuertes dazu essen. Sieben Tage lang sollst du
ungesäuertes Brot dazu essen, die Speise der Bedrängnis, denn in
Hast bist du aus dem Land Ägypten ausgezogen, damit du dein
ganzes Leben lang des Tages deines Auszugs aus Ägypten ge-
denkst.
4a In deinem ganzen Gebiet soll sieben Tage lang kein Sauerteig zu
finden sein,
--------------------------------------------------------------------
4b und von dem Fleisch, das du am Abend des ersten Tages schlach-
test, darf über Nacht bis zum Morgen nichts übrigbleiben.
5 Du darfst das Passa nicht in einem deiner Tore schlachten, die
JHWH, dein Gott, dir geben wird,

33  Norbert Lohfink, Opferzentralisation, Säkularisierungsthese und

mimetische Theorie (1992/1995), in: ders., Studien zum Deuteronomium


und zur deuteronomistischen Literatur 3 (SBAB 20), Stuttgart 1995, 219–260,
hier 239. Die »Freude« und das »Sich Freuen« (Dtn 12,7.12.18; 14,26; 16,11.14;
26,11 u.ö.) sind die Leitbegriffe der deuteronomischen Festtheorie, s. dazu
Georg Braulik, Die Freude des Festes. Das Kultverständnis des Deute-
ronomium – die älteste biblische Festtheorie (1970), in: ders., Studien zur
Theologie des Deuteronomiums (SBAB 2), Stuttgart 1988, 16–218, hier 171ff.
34  Vgl. dazu Lohfink, aaO., 232ff.
35  Zu diesem Text s. Georg Braulik, Deuteronomium 1: 1,1–16,17

(NEB.AT 15), Würzburg 1986, 116ff.; Jan Christian Gertz, Die Passa-
Massot-Ordnung im deuteronomistischen Festkalender, in: Timo Veijola
(Hg.), Das Deuteronomium und seine Querbeziehungen (SFEG 62), Hel-
sinki / Göttingen 1996, 56–80 u.a.
14 Bernd Janowski

6 sondern an der Stätte, die JHWH, dein Gott erwählt, indem


er dort seinen Namen wohnen lässt. Dort sollst du das Passa
schlachten, am Abend bei Sonnenuntergang, zur Zeit deines Aus-
zugs aus Ägypten.
Passarahmen (Ritus, Ort, Zeit)
7 Du sollst es kochen und essen an der Stätte, die JHWH, dein Gott, er-
wählt, und am Morgen sollst du dich aufmachen und zu deinen Zelten
zurückkehren.

Chronologischer Rahmen
8 Sechs Tage lang sollst du ungesäuertes Brot essen, und am siebten Tag ist
eine Festversammlung für JHWH, deinen Gott; da sollst du keine Arbeit
tun.

Hier werden Passa und Mazzot miteinander verschmolzen und


auf den Neumond des Monats Abib (14. Nisan) festgelegt, so dass
das Passa jetzt lediglich den Anfang der ganzen Feier in Jerusa-
lem (mit der nächtlichen Exodus-Memoria) bildet. Am folgenden
Tag geht man wieder nach Hause (»zu deinen Zelten« V. 7b), wo
das Essen der ungesäuerten Brote sich noch sieben Tage lang hin-
zieht. Zentral für das deuteronomische Kultverständnis ist nicht
nur das Essen der Mazzen – der, wie die wohl späte Bearbeitung
präzisiert, an den Ur-Exodus erinnernden
»Speise der Bedrängnis« (V. 3a) –, sondern auch das gemeinsame Essen des
Passatieres, das die Einheit des Volkes und die communio mit seinem Gott
stiftet: »Es lässt zugleich jeden Israeliten persönlich erleben, dass auch er in
die beim Auszug erfahrene Befreiung einbezogen ist. Wer so den Exodus
liturgisch vollzieht, kann seiner dann auch im Alltag gedenken, das heißt,
diese Rettungstat Gottes im eigenen Leben bestimmend werden lassen.«36

Heiligkeit bedeutet Gottesnähe. Diese vollzieht sich für das Deu-


teronomium in seinen Festen. Das heißt aber nicht, dass immer
mehr Lebensbereiche aus der Nähe Gottes ausgegrenzt werden,
sondern umgekehrt, dass »alle Lebensbereiche Israels in diese
Nähe Gottes«37 hineingeholt werden. Erfahrbar wird diese Got-
tesnähe, wie am Ende des Festkalenders Dtn 16,1–17 resümierend

36  Braulik, aaO., 117.


37  Lohfink, aaO., 252.
Der Gottesdienst in Israel 15

festgestellt wird, in der Gabe des »Segens« (berakah), der seiner-


seits die religiöse Wurzel der Festfreude ist:
(16b) Man soll nicht mit leeren Händen hineingehen, um das Gesicht JHWHs
(zu) ‹sehen›,
(17) sondern jeder mit seiner Gabe, entsprechend dem Segen JHWHs, deines
Gottes, den er dir gegeben hat. (Dtn 16,16b-17)

Dass etwas glückt und man sich gemeinsam über dieses Glück
freuen kann, ist nicht selbstverständlich.38 Wenn es aber eintrifft,
ist Dankbarkeit die angemessene Haltung gegenüber Glück. Die
Freude, die das Deuteronomium verlangt (»du sollst fröhlich
sein …«)39, ist Ausdruck solcher Dankbarkeit, und zwar für den
von JHWH geschenkten Segen. Dieser Dank für den erfahrenen
Segen unterscheidet das deuteronomische Festverständnis von
der priesterlichen Kulttheologie, die mit ihrer rituellen Konsti-
tuierung der Gegenwelt zur Welt der Unreinheit und Verfehlung
anderen Parametern folgt.

2.3.2. Das Geschenk der Versöhnung (Priesterschrift)


Aus dem Alltag herausgenommen, in eine besondere Zeit und an
einen besonderen Ort hineingestellt und in der Aura der Fest-
lichkeit sich vollziehend: Diese für Dtn 16,1–8 charakteristischen
Aspekte des Festes gelten ausnahmslos auch für Lev 16,1–34, die
Überlieferung vom Großen Versöhnungstag. Zusammen mit Lev
17 stellt Lev 16 die kompositorische und konzeptionelle Mitte des
Leviticusbuchs dar und propagiert »die Botschaft vom versöh-
nungswilligen Gott, der ganz Israel die Gabe bzw. die Gnade kul-
tischer Versöhnung geschenkt hat«40.
In Lev 16, dem »›Schlussstein‹ des priesterlichen Systems der
Sündenvergebung«41, sind mehrere Rituale miteinander verbun-
38  Vgl. Braulik, Freude des Festes (s. Anm. 35), 186.
39  Zur deuteronomischen »Mahnung zur Freude« vgl. ders., aaO., 179ff.
40  Erich Zenger, Das Buch Levitikus als Teiltext der Tora / des Penta-

teuch, in: Heinz-Josef Fabry / Hans-Winfried Jüngling (Hg.), Leviti-


kus als Buch (BBB 119), Berlin / Bodenheim 1999, 47–83, hier 71.
41  Theodor Seidl, Levitikus 16 – »Schlussstein des priesterlichen

­Systems der Sündenvergebung«, in: Fabry / Jüngling (Hg.), aaO., 219–248,


vgl. zum Folgenden auch Bernd Janowski, Das Geschenk der Versöhnung.
16 Bernd Janowski

den und im jetzigen Text zu einer Handlungseinheit verschmol-


zen:
– Aaron bringt für sich und sein Haus einen Sündopferstier (V. 3) und für
Israel einen Sündopferbock (V. 5) dar, wobei er vom Blut der beiden Tiere
nimmt, es ins Allerheiligste trägt und dort an die kapporæt sprengt (V. 14).
Der Blutritus hat für Aaron und Israel sühnende Wirkung (V. 16).
– Mit dem Blut des Sündopferstiers und des Sündopferbocks wird auch der
Brandopferaltar im Vorhof besprengt und auf diese Weise von den Un-
reinheiten Israels gereinigt und geheiligt (V. 18f).
– Aaron legt einem zweiten Sündopferbock (V. 5), dem sog. »Sündenbock«
(V. 10), seine beiden Hände auf, bekennt dabei alle Verschuldungen und
Übertretungen der Israeliten und lässt ihn mit Hilfe eines Begleiters in die
Wüste laufen (V. 20–22).

Liest man Lev 16,2–28.34b als synchronen Text, d.h. unbeschadet


der redaktionellen Erweiterungen,42 so lässt sich dessen Struktur
– ohne den narrativen Anfang V. 1 ( Zwischenfall mit Nadab
und Abihu Lev 9,1–10,20) und ohne den paränetischen Schluß
V. 29–34a (R Festkalender Lev 23,26–32; Num 29,7–11) – wie
folgt gliedern:43
1 Narrative Einleitung ( Lev 9,1–10:20)
2–28 Ritual des Großen Versöhnungstages
A Beginn des Rituals (2–5)
Rede JHWHs zu Mose (2)
Vorbereitungshandlungen Aarons (3–5)
B Losritus (6–10)
C Sündopferriten
Ritus an der kapporæt (11–17)
Ritus am Brandopferaltar (18–19)
B‘ »Sündenbock«-Ritus (20–22)

Leviticus 16 als Schlussstein der priesterlichen Kulttheologie, in: Thomas


Hieke / Tobias Nicklas (ed.), The Day of Atonement – der große Versöh-
nungstag, Leiden 2011 (im Druck).
42  Vgl. dazu im einzelnen Seidl, aaO., 221ff.228ff. und Christophe Ni-

han, From Priestly Torah to Pentateuch. A Study in the Composition of the


Book of Leviticus (FAT II/25), Tübingen 2007, 362ff.
43  Zur Textgliederung s. Seidl, aaO., 228ff.; Benedikt Jürgens, Heilig-

keit und Versöhnung. Levitikus 16 in seinem literarischen Kontext (HBS 28),


Freiburg/Basel/Wien 2001, 57ff. und Nihan, aaO., 340ff.
Der Gottesdienst in Israel 17

A‘ Abschluß des Rituals (23–28)


Kleiderwechsel, Darbringung des Brandopfers (23–25)
Reinigungsriten, Beseitigung der Kadaver (26–28)
29–34a Paränetischer Schluß (R Lev 23,26–32)
34b Ausführungsbericht

Wie die übrigen JHWH-Reden des Leviticusbuchs will auch Lev


16 eine Antwort auf die Frage geben, wie Israel seine Sünden und
Unreinheiten überwinden und so in der Nähe seines heiligen
Gottes leben kann. Aus diesem Grund wird im Leviticusbuch
»ein System verschiedener Rituale eingeführt […], mit denen das Heiligtum
immer wieder in den Zustand versetzt werden kann, den es ursprünglich,
unmittelbar nach seiner Weihe durch Mose in der Wüste Sinai [sc. in Lev
8–9], besessen hat. Die verschiedenen Sühneriten, die chatta’t, der ’ašam und
natürlich das in Lev 16 beschriebene Ritual haben die Funktion, die Heilig-
keit des Heiligtums nach einer Sünde wiederherzustellen und damit die Mög-
lichkeit der Begegnung zwischen JHWH und seinem Volk zu sichern. Auf
diese Weise wird es möglich, dass nach einer Sünde die Versöhnung zwischen
den beiden Partnern rituell im Opfergottesdienst gefeiert wird – sei es in der
Darbringung eines zœbach šelamîm, bei dem das Opfertier zwischen JHWH
und dem sacrifiant geteilt wird und die Menschen anschließend vor JHWH
Mahl halten, sei es in der vollkommenen Hingabe eines ganzen Opfertieres
an JHWH bei einer ‘olah«44.

Der Höhe- und Schlußpunkt der priesterlichen Sühneriten ist der


Große Versöhnungstag (Lev 16, vgl. Lev 23,27f; Num 25,9), an
dem der Hohepriester Aaron die zentralen Sündopferriten an der
kapporæt »Sühneort, Sühnmal« und am Brandopferaltar durch-
führt (V. 11–19) und damit dem sündigen Israel Versöhnung mit
dem heiligen Gott ermöglicht:45
11 Und Aaron bringt den Sündopferstier dar, der für ihn ist, und schafft
Sühne für sich und sein Haus. Und er schlachtet den Sündopferstier, der für
ihn ist. 12 Und er nimmt eine Feuerpfanne voll von glühender Kohle vom
Altar vor JHWH und beide Hände voll von wohlriechendem feinem Räu-
cherwerk und bringt es hinter den Vorhang. 13 Und er gibt das Räucherwerk
auf das Feuer vor JHWH. Und die Wolke des Räucherwerks bedeckt die

44 Jürgens, aaO., 425.


45 Vgl. dazu Janowski, Sühne als Heilsgeschehen (s. Anm. 17), 183ff.423ff.
(Lit.), vgl. ders., Art. Sühne 1, EKL3 4, 1996, 552–555. Zur kapporæt vgl.
ders., Sühne als Heilsgeschehen, 277ff.443f. (Lit.).
18 Bernd Janowski

kapporæt, die auf dem Zeugnis ist, damit er nicht stirbt. 14 Und er nimmt
vom Blut des Stiers und sprengt (es) mit seinem Finger vorn auf die kapporæt
ostwärts.46 Und vor die kapporæt sprengt er siebenmal vom Blut mit seinem
Finger. 15 Und er schlachtet den Sündopferbock, der für das Volk ist. Und
er bringt sein Blut hinter den Vorhang und verfährt mit seinem Blut, wie
er mit dem Blut des Stiers verfahren ist. Und er sprengt es auf die kapporæt
und vor die kapporæt. 16 Und er schafft dem Heiligtum Sühne wegen der
Unreinheiten der Israeliten und wegen ihrer Übertretungen hinsichtlich al-
ler ihrer Sünden. Und so verfährt er mit dem Begegnungszelt, das bei ihnen
wohnt inmitten ihrer Unreinheit. 17 Und niemand soll im Begegnungszelt
sein, wenn er hineingeht, um Sühne im Heiligtum zu schaffen, bis er heraus­
kommt. Und er schafft Sühne für sich und sein Haus und für die ganze Ver-
sammlung Israels.

Wenn man die Riten an der kapporæt innerhalb des Vorhangs


(Lev 16,11–17) mit den vor dem Allerheiligsten und dem Vorhang
vollzogenen Sühneriten von Lev 4f und Lev 9 vergleicht, dann
wird das sündige Israel nach der Komposition des Leviticusbuchs
»schrittweise an das Heilige Jahwes angenähert«47 und auf diese
Weise in die unmittelbare Nähe Gottes gebracht. Dem entspricht
gleichsam spiegelbildlich, dass der mit den Verschuldungen Israels
beladene Sündenbock von einem dafür Bereitstehenden aus dem
Heiligtumsbereich in die Wüste geführt wird (V. 20–22):
20 Und er vollendet, das Heiligtum, das Begegnungszelt und den Altar zu
sühnen. Und er bringt den lebenden Bock dar. 21 Und Aaron stemmt seine
beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bocks. Und er bekennt auf ihm
alle Verschuldungen der Israeliten und alle ihre Übertretungen hinsichtlich
aller ihrer Sünden. Und er gibt sie auf den Kopf des Bocks. Und er schickt
ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste. 22 Und der Bock trägt
auf sich alle ihre Verschuldungen in ein abgeschnittenes Land. Und er schickt
den Bock in die Wüste.

So wird das Ritual des Großen Versöhnungstages


»zwischen den beiden äußersten Polen der den Texten der Bücher Exodus bis
Numeri zugrunde liegenden konzentrischen Heiligtumskonzeption vollzo-
gen: dem Allerheiligsten im Innersten des Begegnungszeltes auf der einen
und der Wüste (midbar Lev 16,10a.12.21d.22b) bzw. dem ›abgeschnittenen

46  Wörtlich: »auf die Vorderseite der kapporæt nach Osten/ostwärts«, d.h.

auf die Ostseite der kapporæt.


47  Seidl, aaO., 239.
Der Gottesdienst in Israel 19

Land‹ (’æræsz g ezerah Lev 16,22a) auf der anderen Seite. Alle zwischen die-
sen beiden extremen Punkten liegenden Orte werden im Lauf des Rituals
berührt«48.

Beide Orte, das Allerheiligste im Innersten des Begegnungszeltes


und die Wüste außerhalb von Heiligtum und Lager, verhalten sich
als Kontrastelemente der religiösen Topographie komplementär
zueinander. Dieser Text ist deshalb so zentral, weil in Lev 16 meh-
rere Riten zu einer »Art ›Groß-chatta(’)t zur Entsündigung von
Priestern, Volk und Heiligtum«49 verschmolzen sind. Während
der »Sündenbock« die Verschuldungen Israels aus dem Heiligtum
in die Wüste hinausträgt und damit buchstäblich »entsorgt«, er-
wirkt der Hohepriester Versöhnung für Israel, indem er das Blut
eines anderen Bocks an das »Sühnmal« (sog. kapporaet) im Innern
des Allerheiligsten sprengt und damit in die unmittelbare Nähe
Gottes bringt. Beide Riten – der Sündenbock wird nach außen in
die Wüste geführt und das Sündopferblut wird nach innen an die
kapporaet gebracht – verhalten sich komplementär zueinander und
propagieren zusammen die Botschaft vom versöhnungswilligen
Gott, der seinem Volk die Gabe kultischer Versöhnung schenkt.
Dass diese Aufhebung der Distanz zwischen dem heiligen Gott
und seinem unreinen Volk durch den Blutritus an der kapporæt auf
der einen und den Sündenbockritus auf der anderen Seite geschieht,
ist der bleibende Anstoß, den das Ritual des Großen Versöhnungs-
tages dem Verstehen bis heute bietet.

3. Überholter Opferkult? – Schlussbemerkungen

Ziehen wir ein Fazit: Am Anfang meiner Überlegungen, die nur


einen kleinen Ausschnitt aus der komplexen Thematik bieten
konnten, stand die Beobachtung, dass Opfer und Kult für den
modernen Menschen offenbar etwas Peinliches haben, weil sie
materiell vollziehen, was spirituell wirken soll. Die Kultkritik der
Propheten »im Sinne einer Überwindung kultischen Denkens,

48  Jürgens, aaO., 75.


49  Seidl, aaO., 239.
20 Bernd Janowski

was auch immer man sich darunter im einzelnen vorstellen mag,


gilt überwiegend als ausgemacht. Die daraus abgeleitete Parole
vom ›überholten Opferkult‹ liefert rasche Antworten in theologi-
schen Examina und hurtig spiritualisierenden Predigten«50. Diese
Klage ist nur allzu berechtigt und betrifft vor allem die protes-
tantische Theologie und ihr liberales Erbe. Es ist schon so, dass,
wie Norbert Lohfink urteilt, die alttestamentlichen Ritual- und
Kultüberlieferungen
»zu dem in der Bibel (gehören), was die Christen und Theologen am deut-
lichsten kalt lässt und ihnen als absolut überflüssig, ja eher störend erscheint.
Diese Einstellung schwappt selbst auf viele Alttestamentler über. Und doch
bin ich überzeugt, dass man auch alles andere im Alten Testament nicht
versteht, wenn man nicht eine geistige Perspektive besitzt, in der gerade
diese Dokumentationen des Kultes Israels einen echten und positiven Platz
einnehmen«51.

Sicher, weder im Judentum noch im Christentum gibt es tierische


Opfer oder kultische Manipulationen mit Blut. Aber die Rede
vom »Ende des Opfers« ist, weil sie ausschließlich auf das histori-
sche Resultat fixiert ist, wenig geeignet, komplexe (religions-)ge-
schichtliche Prozesse verständlich zu machen. Statt vom »Ende«
ist eher von der »Transformation des Opfers« zu sprechen. Diese
hat aber nicht erst in der Spätantike52, sondern bereits zur Zeit des
Alten Testaments eingesetzt und ist auch für das Neue Testament
charakteristisch.
Inzwischen gibt es auch andere Stimmen, die betonen, dass
es im Opferkult Israels um etwas ›Geistiges‹, die Begegnung
von Gott und Mensch in den Gegebenheiten von Raum und Zeit
geht53, und die sogar vom »Zauber der Rituale« sprechen.54 Die
Frage, worin dieser »Zauber« besteht, hat Gerd Theissen jüngst

50 Willi-Plein, Opfer (s. Anm. 4), 7.


51 N. Lohfink, Alttestamentliche Exegese und Liturgiewissenschaft,
TThZ 108 (1999), 313–318, hier 313.
52  Vgl. dazu Guy G. Stroumsa, La fin du sacrifice, Paris 2005.
53  Zu Wesen und Funktion des Kults im alten Israel s. auch Cornehl,

Gottesdienst (s. Anm. 4), 132ff.


54  Vgl. dazu Gerd Theissen, Vom Zauber der Rituale. Ist eine protestan-

tische Ritualkultur möglich?, in: Lienhard (Hg.), Feste (s. Anm. 32), 43–60.
Der Gottesdienst in Israel 21

unter Hinweis auf das anthropologische Potential beantwortet,


das die Rituale besitzen und immer wieder freisetzen. Dazu ge-
hören die Aufwallung der Gefühle (Ergriffenheit), die Vergewis-
serung der Gemeinschaft (Integration) und das Erlebnis der Fülle
(Sinn). Alle drei Aspekte sind auch für den Gottesdienst in Is-
rael konstitutiv und machen ihn zum »Ort des Anderen«, d.h. zu
einem religiösen Kontrapunkt zur Alltagswelt.55 Darüber hinaus
wäre es, wie Theissen zu Recht schreibt, »unehrlich […], sich nicht
einzugestehen, dass unser rituelles Verhalten eine archaische Vor-
geschichte hat«56. Um diese Vorgeschichte, die zur Vorgeschichte
des christlichen Gottesdienstes gehört, geht es, wenn wir nach
dem Gottesdienst im alten Israel fragen.

55  Vgl. dazu oben 2.3.


56  ders., aaO., 60.

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