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Herausgegeben von
Erasmus Gaß und Hermann-Josef Stipp
In der Tat: Die Frage nach dem Wesen der Zeit1 ist schwierig zu beantwor-
ten, und jede Antwort immer auch Ausdruck der Kultur, in der sie gegeben
wird.2 In der Regel erfahren wir Zeit als etwas, was vergeht: Der Tag beginnt
und neigt sich dem Abend zu, die Woche schreitet voran und geht vorüber,
die Monate folgen aufeinander und bilden eine Linie, die an bestimmten
Punkten des Jahres eine festliche Höhe erreicht. Dann fällt die Zeit wieder
auf eine normale Höhe herab und schreitet im Rhythmus der Tage, Wochen
und Monate weiter voran. So unumkehrbar sie sind – allen diesen Formen
des Voranschreitens und Vergehens der Zeit wohnt die Struktur der Wieder-
holung inne: die Tage, die Wochen und die Monate wiederholen sich im
Rhythmus des Jahres und gliedern unser Alltagsleben, denn sie gehören zu
den „naturalen Vorbedingungen, die unabhängig vom Menschen dessen Le-
ben ermöglichen“.3 In einem aufschlussreichen FAZ-Artikel hat R. Koselleck
vor einigen Jahren solche Wiederholungsstrukturen beschrieben und diese
der linearen, teleologischen Gedankenfigur entgegengesetzt. Diese Gedan-
kenfigur scheint omnipräsent zu sein:
„Wer von Geschichte spricht, bedient sich gerne teleologischer Modelle. Geschichte fol-
ge dem Fortschritt auf bestimmbare Ziele hin, oder sie bewege sich im Kreislauf, dessen
1
Zum augustinischen Zeitverständnis s. etwa K. FLASCH, Augustin, 263–286; L.C. SEEL-
BACH, Schöpfungslehre, 477–479 und unten Anm. 67. – Die folgenden Überlegungen
wurden am 20.11.2009 auf dem „Zeit“-Symposion der Heidelberger Akademie der Wis-
senschaften vorgetragen.
2
S. dazu etwa A. PEISL – A. MOHLER (Hg.), Zeit; T. BÖHM, HrwG 5, 397–409, und J. RÜ-
SEN, Typen des Zeitbewußtseins, 365–384.
3
R. KOSELLECK, FAZ Nr.167, 6, s. dazu auch DERS., Wiederholungsstrukturen, 96–114.
316 Bernd Janowski
Ende im Anfang enthalten sei. Und um einer Dekadenz zu entgehen, werden Fortschritt
und Kreislauf zur Spirale zusammengedacht, die aufwärts führe. Selbst ein dialektischer
Prozeß, der seine eigenen Ziele generiert, ist linear ausgerichtet. Auch der Historismus,
sofern er die Geschichte als eine Kette einmaliger Ereignisse aneinanderreiht, bleibt einer
linearen Gedankenfigur verpflichtet.“4
„Bei der Auslegung biblischer Schöpfungstexte wurde vor allem das Antimythische be-
tont und bei mythischen Schöpfungsaussagen (z.B. in Pss 74 und 89) sofort eine typisch
israelitische Historisierung des Mythos angenommen, der ebenso häufige und gewichtige
6
Vorgang der Mythisierung der Geschichte hingegen völlig ausgeblendet.“
4
R. KOSELLECK, FAZ Nr.167, 6.
5
S. dazu O. KEEL – S. SCHROER, Schöpfung, 11–13.15–29.
6
O. KEEL – S. SCHROER, Schöpfung, 22.
7
Zu den Hauptquellen für die klassische Theorie der „Ewigen Wiederkehr (des Gleichen)“
(Heraklit, Empedokles, Platon, Aristoteles, Marc Aurel, Seneca, u.a.) und ihre christli-
Was sich wiederholt 317
Geschichte immer wieder auf ein strikt lineares Konzept reduziert. Dieses
Axiom hat über F. Nietzsche Eingang in das neuzeitliche Geschichtsdenken
gefunden und die entsprechenden Hypothesen zum ‚Gegensatz von hebräi-
schem und griechischem Denken‘ bei G. Scholem, W. Benjamin, J. Taubes,
O. Spengler oder T. Boman geprägt.8 Es besagt: Während die Griechen die
Welt zyklisch denken, erscheint sie den Juden und den Christen als linear.
Und: Da das zyklische Denken die Einmaligkeit und Gerichtetheit von Zeit
aufhebt, können die Griechen Zeit nicht sachgemäß denken, im Gegenteil: sie
„verräumlichen“ sogar die Zeit.
Weder die griechische noch die alttestamentlich-jüdische Tradition bestä-
tigen diesen einfachen Dual von Zyklizität vs. Linearität, wie J. Assmann, K.
Hübner, A. Momigliano, P. Vidal-Naquet u.a. gezeigt haben.9 Stattdessen ist
mit einer komplexen Verschränkung der zyklischen und der linearen Zeitebe-
ne zu rechnen, die als Zusammenhang von Vergegenwärtigung und Wieder-
holung bezeichnet werden kann. Erst das spezifische Zusammenspiel beider
Aspekte, ihre jeweiligen Ausprägungen, Verbindungen und Dominanzen ma-
chen die Besonderheit einer Kultur aus.
Man kann sich das anhand der raumzeitlichen Struktur der Lebenswelt
deutlich machen. In traditionalen Kulturen wie dem alten Israel sind Raum
und Zeit unauflöslich miteinander verbunden und bilden ein komplementäres,
das gesamte Leben prägendes Ganzes, eine, so der Ethnologe K.E. Müller,
„erlebte Raumzeit“:10
„Jahreszeiten schied man nach Umlauf und ‚Wendepunkten‘ der Sonne, konkreter jedoch
nach Warm- und Kaltphasen, Regen- und Trockenzeiten, differenziert nach der Dichte
der Niederschläge und Höhe der Temperaturen, sowie den längerfristigen viehzüchteri-
schen oder agrarischen Tätigkeitszyklen, markiert jeweils durch entsprechende, feierliche
Eingangs-, Höhepunkts- und Abschlußrituale, oft wieder zusätzlich kombiniert mit spezi-
elleren saisonspezifisch charakteristischen Vorgängen in der Natur: mit Fischzügen und
Wanderbewegungen von Tieren, der Wiederbelebung und den Wachstums- und Reife-
phasen der Wildvegetation, der Verfärbung des Herbstlaubs u.a. mehr.“11
Der Rhythmus des sozialen Lebens – „Aussaat und Ernte“ – und der
Rhythmus der erlebten, von Gott geschaffenen und erhaltenen Raumzeit –
„Sommer und Winter“ – waren, wie dieser Text zeigt, eng miteinander ver-
schränkt. Dessen ungeachtet hat sich im abendländischen Geschichtsdenken
seit Augustin ein kulturtypologischer Dualismus herausgebildet, der strikt
zwischen einer linearen Heilsgeschichte und einer zyklischen Naturgeschich-
te unterschied und diese Differenz an dem Vergleich von hebräischem und
griechischem Denken festmachte.15 Diese Kulturtypologie gilt heute als wi-
derlegt, denn:
„Jede Kultur entwickelt Formen und Institutionen der Zyklisierung wie auch der Lineari-
sierung von Zeit. Die zyklisierenden Institutionen (= Riten) dienen der Erneuerung der
Zeit und des (individuellen wie sozialen) Lebens, die linearen Institutionen dagegen die-
12
S. dazu aus religionswissenschaftlicher Sicht J. RÜPKE, Religionswissenschaft, 139f.;
zum altisraelitischen Kalender s. K. JAROŠ, NBL 2, 429–432.
13
H. WEIPPERT, Altisraelitische Welterfahrung, 184.
14
Wörtlich: „Während der Dauer aller Tage der Erde“. עו֗ דmit der Bedeutung „Wiederkehr,
Wiederholung, Dauer“ (s. dazu das Fortbewegungsverb „ עוּדzurückkehren, umkreisen“
im pi., pol., hitpol.) fungiert hier als Adverb der Zeitdauer, s. dazu W. RICHTER, ‛ōd,
175–195, und Ges18 931 s.v. ‛ עו֗ דôd 2.
15
So vor allem T. BOMAN, Denken, passim, s. dazu die Kritik von J. BARR, Time und H.
CANCIK, Rechtfertigung Gottes, 262–265.
Was sich wiederholt 319
nen dem sozialen und kulturellen Gedächtnis, das auf jede (individuelle wie kollektive)
16
Identität angewiesen ist.“
Erst das spezifische Zusammenspiel von Linearität und Zyklizität macht die
Besonderheit einer bestimmten Kultur aus. Von diesem „Doppelgesicht der
Zeit“ gehe ich im Folgenden aus und erläutere dies, indem ich zunächst nach
Wiederholungsstrukturen im alttestamentlichen Zeitverständnis frage.
16
J. ASSMANN, HWP 12, 1188.
17
G. VON RAD, Theologie I, 141.
18
G. VON RAD, Theologie II, 141 (Hervorhebung von mir).
19
G. VON RAD, Theologie II, 135.
20
Zum Aufbau des Koh-Buchs s. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 46–53. Eine
abweichende Gliederung (samt Darstellung der Forschungsgeschichte) vertritt A. REI-
NERT, Salomofiktion, passim.
320 Bernd Janowski
Ausgangsfrage
3 Welchen Gewinn hat der Mensch von all seiner Mühe, Mensch im Kosmos
für die er sich abmüht unter der Sonne?
Der Text setzt mit der Leitfrage nach dem „Gewinn“ (jitrôn) ein (V. 3), die
für das Koheletbuch und seine Erörterung des Lebenssinns charakteristisch
Was sich wiederholt 321
ist.21 Das Gedicht gliedert sich dann in zwei Teile zu je vier Strophen (V. 4–7
und V. 8–11), die jeweils das Mensch-Kosmos- bzw. das Kosmos-Mensch-
Verhältnis zum Thema haben.22 Dabei fungiert V. 4 – „Eine Generation geht,
und eine Generation kommt, die Erde aber bleibt in Ewigkeit bestehen“ –
zum einen als Überschrift über den ganzen Text und zum anderen als Einlei-
tung seines ersten Teils (V. 5–7). Im Gegenüber zur Windhauch-Aussage von
1,2 – „Windhauch (hæbæl), Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Wind-
hauch, das alles ist Windhauch“ – ist damit die Spannung von Vergänglich-
keit (Mensch V. 4a) und Dauer (Erde V. 4b) gesetzt, die in Analogie zur Ele-
mentenlehre der griechischen Naturphilosophie23 detaillreich entfaltet wird:
Erde (V. 4b), Sonne (= Licht/Feuer V. 5), Wind (= Luft V. 6), Flüsse (= Was-
ser V. 7).
Das Problem von V. 4–7 besteht in der Frage, ob das hier beschriebene
kosmische Kreislaufgeschehen Ausdruck von Sinnlosigkeit ist und ob seine
Übertragung auf die Anthropologie in V. 8–11 dieser einen negativen Zug
verleiht. Das könnte zunächst so scheinen, da V. 8 ganz offensichtlich die
Begrenztheit des menschlichen Fassungs- und Ausdrucksvermögens ange-
sichts der Fülle des kosmischen Geschehens zum Thema hat:24
Dieses Thema wird so abgehandelt, dass zunächst eine These (V. 9), sodann
ein Einwand samt Widerlegung (V. 10) und abschließend eine Begründung
(V. 11) formuliert wird:
21
Zum Leitwort jitrôn (10mal in Koh) s. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 150f.
22
Zur poetischen Analyse von Koh 1,3–11 s. F.J. BACKHAUS, Zeit, 8–10; ferner N. LOH-
FINK, Wiederkehr, 98–123; A. REINERT, Salomofiktion, 57–59.
23
S. dazu F. KRAFFT, DNP 3, 978–980.
24
Vgl. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 166f.
322 Bernd Janowski
Wie ist in diesem Zusammenhang die Wendung „nichts Neues unter der
Sonne“ (V. 9b) zu verstehen? Fast alle Ausleger gehen von der These der
„Wiederkehr des Gleichen“ aus und verstehen das Gedicht und speziell V. 8–
11 als Beschreibung von Sinnlosigkeit oder Absurdität. Es kann aber auch so
verstanden werden, dass anhand des Laufs der Sonne, des Wehens des Win-
des und des Fließens der Flüsse die kosmische Ordnung vor Augen gestellt
wird und „der Mensch ... Anteil daran (hat)“,25 weil er Teil der Schöpfung ist.
Das wäre dann eine andere Perspektive.
Allerdings – und so setzt auch der zweite Teil V. 8–11 ein – geht der
Mensch und mit ihm jede Generation (vgl. V. 4) im Unterschied zur ge-
heimnisvollen Ordnung des Kosmos einen Weg ohne Wiederkehr. Er tritt „für
kurze Zeit in einen Kreislauf ein, den er aber schon bald wieder verlässt, um
anderen Platz zu machen“26 – die ihrerseits tun, was vor ihnen getan wurde
(V. 9aβ, vgl. V. 10b). So gibt es „nichts Neues unter der Sonne“ (V. 9b). Wie
ist hier das Adjektiv „neu“ (¥ādāš) zu verstehen: im Sinn der Erschaffung des
nie Dagewesenen („qualitativ Neues“) oder im Sinn der Wiederherstellung
des Gewesenen („Erneuerung“)?
Wesentlich für das Verständnis von V. 9b scheint der logische Ausgangs-
punkt zu sein. Wenn das „Neue“, wie die meisten Ausleger annehmen, für
Kohelet einen positiven Klang hatte, muss seine Negation als Ausdruck der
Enttäuschung und Resignation empfunden werden. Anders wird es, wenn das
„Neue“ die Wiederkehr des Alten, also die Wiederherstellung des Gewesenen
impliziert wie in den Gedankenfiguren vom „neuen Exodus“ oder von der
„neuen Schöpfung“. „Etwas Kommendes“, so N. Lohfink, „ist ‚neu‘, wenn es
das alte, bei der Schöpfung grundgelegte Urmuster möglichst stark und mög-
lichst rein wiederholt“27 – so wie der Sabbat, der Israel immer wieder neu mit
dem Uranfang verbindet, oder wie der Neumond (¥odœš),28 der nach 28 Ta-
gen wieder aufleuchtet, oder wie der Morgen, der immer wieder „ganz frisch
und neu“ (EG 440, vgl. Klgl 3,22-23) ist.29 Nicht das Gewesene wird also im
25
L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 160, vgl. 166.167f. u.ö; N. LOHFINK, Wie-
derkehr, 124; T. KRÜGER, Kohelet, 116.118–122, und A. REINERT, Salomofiktion, 60–62.
26
L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 166.
27
N. LOHFINK, Wiederkehr, 119, vgl. DERS., Kohelet, 21f.
28
Etwa 280 der insgesamt 350 Belege der Wurzel ¥dš beziehen sich auf den Neumond
(¥odœš), das „Muster einer stetigen Wiederkehr“ (C. LEVIN, Verheißung, 140 Anm. 28).
29
Vgl. N. LOHFINK, Wiederkehr, 117f.
Was sich wiederholt 323
30
Zitiert nach R. KOSELLECK, Wiederholungsstrukturen, 104.
31
Vgl. Jes 42,9; 43,18-19; 48,3.6; 65,17; 66,22 u.ö.
32
Vgl. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 175f.
33
S. dazu oben Anm. 14.
34
Nach Gen 1,14–19 bestimmen die regelmäßigen Bewegungen der Himmelskörper, die als
Geschöpfe Elohims diesem subordiniert sind, die kultischen Ereignisse und den Festka-
lender, s. dazu M. ALBANI, Israels Feste, 111–156. Bezeichnend ist wieder der diesbe-
zügliche Kommentar zu Gen 1,14ff. bei G. VON RAD: „Um die Bedeutung dieser Sätze zu
ermessen, muß man bedenken, daß sie formuliert sind in einer kulturell-religiösen
Gesamtatmosphäre, die geschwängert war von allerlei astrologischem Afterglauben. Das
gesamte altorientalische (nicht das alttestamentliche!) Zeitdenken ist bestimmt von dem
zyklischen Lauf der Gestirne“ (Das erste Buch Mose, 35). Dieser Exegese ist zu wider-
sprechen: Nicht das zyklische Zeitverständnis ist für Gen 1,14–19 das Problem, sondern
die schöpfungstheologische Subordination der Gestirne – deren regelmäßiges Erscheinen
am Tages- und Nachthimmel und ihre damit verbundene ‚Herrschaft über die Zeit‘ vom
Text mit keinem Wort in Zweifel gezogen wird, s. dazu auch M. ALBANI, Der eine Gott,
12f.
35
S. dazu L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 177–179.
324 Bernd Janowski
auf das Maß und den Rhythmus der Schöpfung, an deren Wiederholungs-
strukturen der Mensch zeit seines Lebens partizipiert. Dieser „Weg von der
Anthropozentrik zur Kosmozentrik“36 gibt der Position Kohelets eine große
Gelassenheit, die nicht mit Enttäuschung oder Resignation zu verwechseln
ist. Im Gegenteil: „Damit dem Augenblick Dauer zukomme, muss der
Mensch der Geschichte entkommen. Die anscheinend gerade Linie seiner
Zeit muss sich als immer wieder in sich selbst zurücklaufender Kreis er-
weisen.“37 Der Aufruf, den rechten Augenblick zu ergreifen (vgl. Koh 3,1–8),
hat hier seinen Grund.
36
L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 180.
37
N. LOHFINK, Wiederkehr, 117f. Ob man mit C. LEVIN, Verheißung, 139 Anm. 27, Kohe-
lets Einsicht als „eine Randerscheinung des Alten Testaments“ bezeichnen soll, ist m.E.
mehr als zweifelhaft.
38
S. dazu bereits B. JANOWSKI, Vergegenwärtigung, 40–49; die dortigen Überlegungen
werden im Folgenden weitergeführt.
39
J. RÜSEN, Typen des Zeitbewußtseins, 365.
40
Dtn 26,1–2.5a*.10b.11 sind nach dem „Wallfahrtsschema“ gestaltet, das alle Gesetze des
Dtn prägt, die den Gang zum Zentralheiligtum fordern, s. dazu N. LOHFINK, Opferzentra-
lisation, 232–240.
41
Innerhalb des dtr Rahmens V. 1–2.10b.11 dürften V. 3–4 und V. 10a zu einer Fortschrei-
bungsschicht gehören, vgl. J.C. GERTZ, Stellung, 36–38. Die Rekapitulation der Heilsge-
schichte V. 5–9 stammt demgegenüber aus dtn-dtr Hand.
Was sich wiederholt 325
Ritueller Rahmen
(1) Wenn du in das Land, das JHWH, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, hineinziehst, es in
Besitz nimmst und darin wohnst, (2) dann sollst du von den ersten Erträgen aller Feld-
früchte, die du in dem Land, das JHWH, dein Gott, dir gibt, eingebracht hast, etwas neh-
men und in einen Korb legen. Dann sollst du zu der Stätte gehen, die JHWH, dein Gott,
erwählt, um dort seinen Namen wohnen zu lassen. (3) Du sollst vor den Priester treten,
der dann amtiert, und sollst zu ihm sagen: Heute bestätige ich vor JHWH, deinem Gott,
dass ich in das Land gekommen bin, von dem ich weiß: Er hat unseren Vätern geschwo-
ren, es uns zu geben. (4) Dann soll der Priester den Korb aus deiner Hand nehmen und
ihn vor den Altar JHWHs, deines Gottes, stellen. (5a*) Du aber sollst anheben und vor
JHWH, deinem Gott, sagen:
Gebetsformular (Credo)
Ereignisse vor der Volkwerdung in Ägypten
5a*.b „Mein Vater war ein umherirrender/heimatloser Aramäer.
Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten
und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk.
Not
6 Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos
und legten uns harte Fronarbeit auf.
Klage
7a Wir schrieen zu JHWH, dem Gott unserer Väter,
Erhörung
7b und JHWH hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit,
unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis.
Rettung
8 JHWH führte uns aus Ägypten mit starker Hand und hoch
erhobenem Arm,
unter großen Schrecken, unter Zeichen und Wundern,
9 und er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land,
ein Land, in dem Milch und Honig fließen.“
Bestätigung
(10a) Und nun, hiermit bringe ich die ersten Erträge von den Früchten des
Landes, das du mir gegeben hast, JHWH.
Ritueller Rahmen
(10b) Wenn du den Korb vor JHWH, deinen Gott, gestellt hast, sollst du dich vor JHWH,
deinem Gott, niederwerfen. (11) Dann sollst du fröhlich sein über alles Gute, das JHWH,
dein Gott, dir und deiner Familie gegeben hat: du und der Levit und der Fremde in deiner
Mitte.
Im kultischen Leben Israels wird also einmal im Jahr der Zeitpunkt erreicht,
an dem der Familienvater sich und den Seinen öffentlich die Wirklichkeit
seines Lebens deutet, indem er sein Bekenntnis zum Gott des Exodus ablegt.
Grundsätzlich muss Zeit, die als Werden und Vergehen, Geburt und Tod,
326 Bernd Janowski
Wandel und Dauer erfahren wird, auch gedeutet werden, damit sich der
Mensch in ihr orientieren und sein Leben auf sie beziehen kann.42 Nach Dtn
26,5*–9 ist der Deutehorizont der von JHWH geleitete Weg des Gottesvolks
von Ägypten bis in das Land, „in dem Milch und Honig fließen“ (V. 9bβ).
Dabei suggeriert das geschichtsdeutende Modell „Not – Klage – Erhörung –
Rettung“ zwar das lineare Fortschreiten Israels auf einem von Gott gelei-
teten Weg, der aus der Sklaverei in Ägypten bis zur Ankunft im gelobten
Land führt.43 Beachtet man aber, dass dieses Credo in den jährlichen Ritus
der Darbringung der Erstlingsfrüchte eingebettet ist (V. 1–2.10b.11), so
zeigt sich, dass Israel im Aussprechen dieses Bekenntnis nicht nur gedanklich
an den Anfangspunkt seines Geschichtswegs „zurückkehrt“, sondern auch,
dass es dies im Rhythmus des agrarischen Jahres tut. Dadurch entsteht ein
sprachlich-kulturelles Muster, das auf den beiden Grundpfeilern der „Wieder-
holung“ und der „Vergegenwärtigung“ beruht.44 Während die Wiederholung
gewährleistet, dass jede Begehung – die Darbringung der Erstlingsfrüchte –
im zeitlichen Ablauf an die vorhergehende Begehung – die Feier des Vor-
jahrs – anknüpft, holt die Vergegenwärtigung ein weit zurückliegendes Ge-
schehen – wie den Auszug aus Ägypten („Urzeit“) – in die jeweilige Gegen-
wart („Jetztzeit“) hinein und verleiht dieser damit einen übergreifenden Hori-
zont.
Es bedarf aber bestimmter Orte und Zeiten, um diese Vergegenwärtigung
der Geschichte in Gang zu bringen und in Gang zu halten. Diese Orte und
Zeiten sind die Feste Israels, die als religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt45
den Blick auf die großen Zusammenhänge wie die Schöpfung oder den Exo-
dus freigeben und damit eine „doppelte Zeiterfahrung“ ermöglichen, nämlich
die Erfahrung der grundlegenden Urzeit und die Erfahrung der historischen
Jetztzeit.46 Dieser Zusammenhang ist in der „Theologie des Alten Testa-
ments“ von G. von Rad übersehen bzw. marginalisiert worden.47 Der Grund
dafür liegt in von Rads Auffassung des „hebräischen Geschichtsdenkens“,
wonach Zeit und Geschichte immer als „gefüllte Zeit“ verstanden werden
und „alles Geschehen ... seine bestimmte zeitliche Ordnung“48 hat. Alles, was
42
S. dazu J. RÜSEN, Typen des Zeitbewußtseins, 365–369.
43
G. VON RAD, Theologie I, 136, spricht gar von einer „strengen Konzentration auf die ob-
jektiven Geschichtsfakten“.
44
Vgl. J. ASSMANN, Gedächtnis, 17f.
45
S. dazu B. JANOWSKI – E. ZENGER, Jenseits des Alltags, 63–102, mit der dort angegebe-
nen Lit.
46
Vgl. auch F. HARTENSTEIN, Unzugänglichkeit Gottes, 231f.242f.
47
S. dazu ausführlicher B. JANOWSKI, Vergegenwärtigung, 37–61.
48
G. VON RAD, Theologie II, 109.
Was sich wiederholt 327
in diesen Zeit- und Geschichtsbegriff nicht hineinpasst, rückt auf die Seite
der „zyklischen Naturordnung“, die wie das „mythische Kreislaufdenken“
wesentlich „geschichtslos“ ist. Signifikant dafür ist das folgende Zitat:
„Das Weltbild des alten Orients ist mehr oder minder deutlich geprägt von einem mythi-
schen Kreislaufdenken, also von einem Denkschema, das gerade das sakrale Geschehen
vom Rhythmus naturhafter Ordnungen her begriff. Diese umfassende Vorstellungswelt
entstammte dem Anschauen der Gestirnwelt und der davon abhängigen naturhaften
Rhythmik der Erde. Im Mythus verarbeitete der Mensch der Frühe urtümliche Macht-
erlebnisse, die ihn in seinem Lebensraume beschäftigten, – und auch Ordnungen sind
Machterlebnisse! Es ist der Grund der Welt und das sie tragende rhythmische Geschehen,
das er in ihnen wahrnimmt und das er gottheitlich anschaut. In den theogonischen My-
then ebenso wie in den Mythen vom göttlichen ἱερός γάµος und in denen vom Götter-
sterben ist es immer diese im Grunde zyklische Naturordnung, der die altorientalischen
Völker göttliche Dignität zuerkannt haben und die sie ganz unmittelbar als ein gottheit-
liches Geschehen wahrnahmen. Dieses sakrale Weltverständnis ist wesentlich geschichts-
los; jedenfalls hat in ihm gerade das, was Israel als für seinen Glauben konstituierend an-
sah, nämlich die Einmaligkeit innergeschichtlicher göttlicher Heilstaten, schlechterdings
49
keinen Raum.“
Leitend für von Rads Auffassung ist die scharfe Antithese von linearem
Geschichtsglauben und zyklischer Naturordnung, die er erstmals in seinem
frühen Aufsatz „Das theologische Problem des alttestamentlichen Schöp-
fungsglaubens“ formuliert und in seiner späten Studie „Aspekte alttestament-
lichen Weltverständnisses“ wiederholt hat.50 Konstitutiv für den alttestament-
lichen Geschichtsglauben ist dabei der Prozess der „Historisierung“, der we-
sentlich als „Umdeutung“ bzw. „Umprägung“ des Mythos, eben als „Prozeß
einer tiefgehenden Entmythologisierung“51 verstanden wird. Dieses Theorem
ist vielfach aufgenommen worden und hat leider bis hinein in die Lehrbücher
gewirkt.52
49
G. VON RAD, Theologie II, 120.
50
G. VON RAD, Das theologische Problem, 136–147, und DERS., Aspekte alttestamentlichen
Weltverständnisses, 311–331. Das Problem ist dabei von Rads undifferenzierte, um nicht
zu sagen: defizitäre Verwendung des Naturbegriffs, demzufolge die „zyklische Naturord-
nung“ ebenso „geschichtslos“ ist wie das „mythische Kreislaufdenken“. Zu einem diffe-
renzierten Umgang mit dem alttestamentlichen Naturverständnis s. demgegenüber O.
KEEL – S. SCHROER, Schöpfung, 30–36.
51
G. VON RAD, Theologie I, 40, vgl. 37 und DERS., Theologie II, 117f.
52
So etwa bei W.H. SCHMIDT, Glaube, 176: „Diese sog. Historisierung, d.h. die nachträg-
liche Einfügung ursprünglich nicht geschichtlich verstandener Phänomene in geschicht-
liches Denken, ist im altorientalischen Bereich ganz ungewöhnlich und verrät ein anderes
Gottes- und Menschenverständnis.“ Abgesehen von der Frage, ob Schmidts Urteil über
die altorientalischen Religionen das Richtige trifft (s. dazu nach wie vor H. GESE, Ge-
328 Bernd Janowski
schichtliches Denken, 81–98), wird auch hier die Behauptung eines Primats des Ge-
schichtsdenkens gegenüber mythischen, d.h. „ursprünglich nicht geschichtlich verstande-
nen Phänomenen“ deutlich.
53
Nach dem Entmythologisierungsprogramm von R. BULTMANN, Mythologie, 27–69, ist
der Mythos in existenzbezogene Begrifflichkeit zu übersetzen – was faktisch auf eine Eli-
minierung des Mythos hinausläuft, s. dazu von alttestamentlicher Seite H. GRAF REVENT-
LOW, Hauptprobleme, 168–183; H.-P. MÜLLER, Entmythologisierung, 179–202, ferner K.
HÜBNER, Wahrheit des Mythos, 324–348; D. FERGUSSON, Entmythologisierung, 1328–
1330, u.a.
54
Zu diesen drei Merkmalen des Festes, denen auf Seiten des Alltags die Merkmale der
„Kontingenz“, der „Knappheit“ und der „Routine“ gegenüberstehen, s. J. ASSMANN,
Mensch, 13–30.
55
G. VON RAD, Theologie II, 118.
56
S. dazu die Zusammenstellung bei A. BERLEJUNG, Heilige Zeiten, 16–36. Speziell zu Dtn
16,1–8 s. neuerdings auch M. GEIGER, Befreiung, 55–63.
Was sich wiederholt 329
57
Zur Korrelation von Linearität und Zyklizität im Alten Testament s. L. SCHWIENHORST-
SCHÖNBERGER, ³LThK 10, 1409–1411; DERS., „Für alles“, 356–364; O. KEEL – S.
SCHROER, Schöpfung, 11.22 u.a.
58
J. ASSMANN, Gedächtnis, 17, vgl. 56–59 zu Fest und Ritus als „primäre(n) Organisations-
formen des kulturellen Gedächtnisses“.
59
Vgl. F. HARTENSTEIN, Unzugänglichkeit, 231f.243.
60
Zum Fest als „Medium des kollektiven Gedächtnisses“ s. J. ASSMANN, Mensch, 13–30.
61
S. dazu B. JANOWSKI, Vergegenwärtigung, 37–61.
330 Bernd Janowski
„... weder die Kategorie der Dauer, die sich durch die Wiederholung des Gleichen bestä-
tigt, noch die Kategorie der diachron aneinandergereihten einmaligen Ereignisse – gleich
ob progressiv oder historisch gelesen – für sich genommen (sind) geeignet ..., menschli-
62
N. LOHFINK, Wiederkehr, 119, vgl. oben S. 322f.
63
J.C. GERTZ, Tora, 219, vgl. E. ZENGER, Heilige Schrift, 21–33.
64
S. dazu M. WITTE, Geschichtswerke, 53–81, und K. SCHMID, Literaturgeschichte, 216–
221.
65
Vgl. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Für alles“, 363f.
Was sich wiederholt 331
che Geschichten zu deuten. Die geschichtliche Natur des Menschen, oder wissenschafts-
theoretisch formuliert, die historische Anthropologie ist angesiedelt zwischen diesen bei-
den Polen ... stetiger Wiederholbarkeit und ständiger Innovation.“66
66
R. KOSELLECK, Sinn, 97f.
67
Bis weit in die Neuzeit hinein hat das christliche Abendland demgegenüber in der
Nachfolge der augustinischen Unterscheidung von historia profana und historia sacra im
Bann einer radikalen Linearisierung der kulturellen Zeit gelebt, d.h. im Bann einer Zeit-
konstruktion, die „auf der Unterscheidung einer heiligen und einer profanen Geschichte
basierte und und die heilige Geschichte mit der linearen, die profane dagegen mit der
zyklischen Zeit gleichsetzte. Für Augustinus war der Kreuzestod Christi das schlechthin
einmalige und irreversible Ereignis, das für alle, die an ihn glauben, die Zeit zur Linie
formt. Während die Heiden im Kreis herumirren, d.h. in der zyklischen Zeit der historia
profana leben, laufen die Christen in der zyklischen Zeit der historia sacra auf das Ziel
der Erlösung zu“ (J. ASSMANN, Einführung, 9). Der biblische Beleg für die Auffassung,
daß die Heiden im Kreis herumirren, ist nach AUGUSTIN, Confessiones XII,14 Ps 12,9, s.
dazu auch K. LÖWITH, Weltgeschichte, 179 mit Anm. 15.
68
Vgl. dazu das Gedankenexperiment, das R. KOSELLECK, Sinn, 97, anstellt: „Wenn sich
alles in immer gleicher Weise wiederholen würde, gäbe es keine Veränderung und auch
keine Überraschung – weder in der Liebe noch in der Politik, noch in der Wirtschaft oder
sonstwo. Gähnende Langeweile breitete sich aus. Wenn dagegen alles nur neu und inno-
vativ wäre, fiele die Menschheit von einem Tag auf den anderen in ein schwarzes Loch,
hilflos und bar jeder Orientierung.“
332 Bernd Janowski
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