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Februarrevolution
(2,794 words)
1. Krisenfaktoren
Article Table of Contents
Über Frankreich hinaus steht der Name »F.« für die Welle
1. Krisenfaktoren
revolutionärer Bewegungen, die 1848/49 viele europ.
Länder erfasste: Zwar handelte es sich hierbei nicht um 2. Verlaufskurve
eine Revolution Europas, da Russland und Skandinavien, 3. Schwächen
die Niederlande, Belgien und Spanien kaum betro fen 4. Stärken
waren, aber doch um eine europ. Revolution, weil es eine 5. Errungenschaften
ganze Reihe gemeinsamer Strukturmerkmale gab [14];
[26].
Das gilt schon für die Krisenzeit des Vormärz. Weithin, von Preußen bis zum Balkan, spitzten
sich die politisch-sozialen Verhältnisse v. a. in vier Bereichen so zu, dass eine vorrevolutionäre
Spannungslage entstand: (1) Die herrschenden spätabsolutistischen Staatsformen
(Absolutismus) und autokratischen Regierungen, die den Großteil der Bevölkerung von der
politischen Partizipation ausschlossen, unterlagen der wachsenden Kritik aufstrebender
bürgerlicher Schichten. (2) Das seit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 herrschende System
der Zensur und Vorzensur, der beschränkten Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit
wurde von Printmedien und getarnten Formen der politischen Soziabilität (Gesangs- und
Turnvereinen; Turnerbewegung), Banketten und Geheimgesellschaften zunehmend
unterlaufen. (3) Fast überall verstärkten sich ähnliche Forderungen sowohl nach politischen
Freiheiten, nach Selbstregierung und sozialen Reformen als auch nach nationaler Einheit
(Nationalstaat). (4) Das Bevölkerungs-Wachstum, die beginnende Industrialisierung und die
Reste der Feudalität (Feudalgesellschaft), zumal in Südeuropa, verstärkten die Landarmut [3]
und die Proletarisierung der Handwerker [12]: ein Pauperismus, der sich – durch die
allgemeine Subsistenzkrise von 1846/47 noch gesteigert – in Zusammenstößen protestierender
Massen mit Polizei und Militär entlud.
Rolf Reichardt
2. Verlaufskurve
/
2.1. Erste revolutionäre Ausbrüche
Zwar hatten schon im November 1847 die liberalen Schweizer Kantone im Krieg gegen den
konservativen Sonderbund eine demokratische Bundesverfassung erstritten [27], und bereits
am 12. 1. 1848 hatte in Palermo ein Aufstand gegen die Feudalherrschaft der Großgrundbesitzer
ein revolutionäres Signal für Italien gegeben [24], doch recht eigentlich war es die Pariser F.
(22.–26. 2. 1848), die europaweit »eine Kette hauptstädtischer Revolutionen« [13. 455] auslöste.
Angebahnt von der Bankettkampagne gegen das Regime des »Birnenkönigs« Louis-Philippe,
ausgelöst durch Schüsse der Linientruppen auf eine Massendemonstration, siegreich durch
den Überraschungse fekt der Barrikade und die Fraternisierung der Nationalgarde mit den
Aufständischen, setzte die F. in rascher Folge politisch-soziale Maßstäbe [1]: Erö fnung von
Nationalwerkstätten für 100 000 Arbeitslose (26.2.), Abscha fung der Adelstitel (29.2.),
Proklamation des allgemeinen Wahlrechts für Männer (1.3.) und der Pressefreiheit (Presse- und
Meinungsfreiheit) (4.3.), Ö fnung der Nationalgarde für alle Bürger (8.3.), Feiern politischer
Brüderlichkeit (20.4.), Parlamentswahlen (23.4.), Bildung einer Konstituante (4.5.).
Den Pariser Ereignissen schloss sich die Wiener Märzrevolution (13.–15.3.) unmittelbar an mit
studentischen Demonstrationen, Barrikaden gegen militärische Repressionsversuche, dem
Fabrik- und Maschinensturm der Arbeiter in den Vorstädten, der Flucht Metternichs nach
England, der Bildung einer Nationalgarde und der Oktroyierung einer halbherzigen Verfassung
durch Ferdinand I.
Von Wien sprang der revolutionäre Funke einerseits auf Berlin (Märzrevolution 1848/49),
andererseits auf die Länder der Donaumonarchie über: hier zuerst auf Buda-Pest, wo eine
Massendemonstration der magyarischen Nationalbewegung (15.3.) die Bildung eines
selbständigen ungar. Staates, die Wahl einer Nationalversammlung und Reformgesetze u. a. zur
Bauernbefreiung bewirkte [6]. Gleichzeitig erfasste die Revolution auch weite Teile Italiens:
von Aufständen für eine demokratische Verfassung in Neapel (15.3.) über Barrikadenkämpfe
(18.–22.3.) gegen die österr. Besatzung und die Bildung einer provisorischen Regierung der
Lombardei in Mailand bis hin zur Vertreibung der Österreicher und zur Proklamation der
Republik in Venedig und Umgebung (17.3.–22.3.) [23].
Schien die Revolution somit im Februar und März 1848 auf ganzer Linie siegreich, so begannen
sich schon ab April ihre Grenzen abzuzeichnen. Während die Revolutionäre in Baden noch auf
dem Vormarsch waren, brach die engl. Regierung vorbeugend die Brisanz der
basisdemokratischen Chartismus-Bewegung und erstickte deren Londoner
Großdemonstration für eine People's Charter am 10.4. mit einem Massenaufgebot von über 100
000 Konstablern, Soldaten und Hilfspolizisten [30]. Wirkungsvolle Revolutionsprophylaxe
praktizierten auch die österr. Festungskommandanten von Krakau und Prag: der eine, indem er
den zurückkehrenden Exilpolen durch Au ösung der Nationalgarde und Bombardierung der
Stadt die Agitationsbasis entzog (25./26.4.); der andere, indem er das Manifest des Prager
/
Slawenkongresses (Panslawismus) an die europ. Völker und den P ngstaufstand der
Studentischen Legion (13.6.) mit Erschießungen, Massenverhaftungen, Schließung der Clubs
und Au ösung des Kongresses beantwortete [19].
Die eigentliche Wende der F. markierte jedoch die erbitterte Pariser Junischlacht zwischen den
von der Schließung der Nationalwerkstätten bedrohten Arbeitern und den Truppen der
mehrheitlich bürgerlichen Nationalversammlung (23.–28.6.): Es gelang General Cavaignac, den
Siegesmythos der Barrikade zu brechen – allerdings um den Preis von 1 500 Toten auf jeder
Seite, 12 000 Verhafteten und 4 500 Deportierten, davon die meisten Handwerker und Gesellen
[32].
Der weitere Abschwung der Revolutionskurve verlief zweigleisig. Einerseits beobachtet man
eine zweite – schwächere – Welle regional begrenzter Bewegungen. So erkämpften im
Donaufürstentum Walachei [25] rumän. Studenten im Bündnis mit Fron-Bauern ein
revolutionäres Regierungskomitee (21.–27.6.). In Wien folgte der Praterschlacht um die Löhne
der Notstandsarbeiter (23.8.) ein Aufstand von Akademischer Legion und Nationalgarde
(6./7.10.), der den Hof zeitweise nach Olmütz vertrieb. Und in Rom bildete sich nach der
Erstürmung des Quirinalpalastes (15.11.) und der Ausrufung der Repubblica Romana (9. 2. 1849)
noch im Mai 1849 ein Triumvirat der linken Nationalbewegung unter Giuseppe Mazzini, das
den Großgrundbesitz der kath. Orden an landarme Bauern verteilen wollte [4].
Andererseits aber gewann die Reaktion schrittweise die Oberhand: Am 8. 8. 1848 marschierte
der österr. Feldmarschall Graf Radetzky wieder in Mailand ein, während die bourbonische
Armee im September Sizilien für Ferdinand II. zurückgewann und auch die Revolution in der
Walachei unterdrückt wurde (25.–28. 9. 1848). Die Rückeroberung Wiens durch Fürst
Windischgrätz Anfang November forderte fast so viele Opfer wie die Pariser Junischlacht. Und
mit der Zerschlagung der Röm. Republik durch Soldaten Louis Napoleons (3. 7. 1849) sowie mit
der Kapitulation Venedigs (22. 8. 1849) und des ungar. Heeres (20. 10. 1849) vor österr. Truppen
waren auch die letzten Ausläufer der F. besiegt.
Rolf Reichardt
3. Schwächen
Die Kürze und die schnelle Unterdrückung der Teilrevolutionen von 1848/49 erklären sich aus
einer Reihe gemeinsamer Grundzüge. Durch ihre Spontaneität im Zeichen der Barrikade
hatten die Aufstände fast überall sogleich spektakuläre Anfangserfolge; dies konnte aber ihren
Mangel an revolutionärer Programmatik und realistischer Planung ebenso wenig ersetzen wie
die pathetische Berufung franz. [7], dt. [29] und ital. »Jakobiner« [21] (Jakobinismus) auf die
Französische Revolution. Beides ließ die Revolutionäre vielmehr verkennen, dass die alten
Mächte ihre Polizei und ihr Militär nur kurzfristig zurückzogen, um desto vernichtender
zurückzuschlagen. Auch blieben die revolutionären Bewegungen trotz der internationalen
Verbindungen ihrer führenden Köpfe vereinzelt und unkoordiniert: »Die Internationale der
Gegenrevolution war erfolgreicher als die Versuche der Revolutionäre, einen internationalen
Revolutionsverbund zu scha fen« [22. 8]. Zudem fehlte den revolutionären Bewegungen der
/
breite soziale Rückhalt; denn nach anfänglichen Fraternisierungen setzte sich die kulturelle
Fremdheit zwischen Bürgertum und Unterschichten durch [12]: In dem Maße, in dem der
plebejische Radikalismus Versammlungen im Freien, spontanen Aktivismus (Charivari) und
Gewaltbereitschaft auf der Straße kultivierte, bevorzugten die liberalen Bürger regelmäßige,
gewaltlose Erörterungen und Planungen langfristiger Ziele in geschlossenen Räumen.
Rolf Reichardt
4. Stärken
Die zweite – organisatorische – Säule der Revolution bildete das vielfältige politische
Vereinswesen (Verein), insbes. populäre Clubs wie die Gesellschaft der Volksfreunde in Wien, die
Jungungarn in Buda-Pest, der radikaldemokratische Circolo populare und der moderate Circolo
Romano in Rom. Im dt. Raum mobilisierte die revolutionäre Club-Bewegung über 500 000
Mitglieder in 1 400 Sozietäten (Frühjahr 1849). In Paris stieg ihre Zahl binnen sechs Wochen
von fünf auf 203 Clubs mit zusammen etwa 70 000 Mitgliedern (15. 5. 1848), allen voran die
Société fraternelle centrale Étienne Cabets mit rund 6 000 Aktivisten, darunter ein Sechstel
Frauen. Wenn die Vernetzung dieser Sozietäten durch gemeinsame Sitzungen, Club-Zeitungen
und Massendemonstrationen auch keine Stetigkeit gewann, so formierten sich doch hier die
demokratischen Kräfte, die noch 1851 den Aufstand der Republikaner gegen Louis Napoléons
Staatsstreich trugen [2].
/
Mit den Revolutionsclubs eng verbunden waren die
Arbeitervereine, in denen sich 1848 verarmte
Kleinmeister, Gesellen und quali zierte Fabrikarbeiter
der größeren Städte organisierten: so die Arbeiter der
Nationalwerkstätten in Paris mit ihrer Zeitung Le Tocsin
des Travailleurs [11], der Wiener Arbeiterverein mit seinen
rund 8 000 Mitgliedern [16] und das Berliner Central-
Comité der Arbeiter.
Trotz des Scheiterns der F. galt »der Völker Frühling« von 1848 den Demokraten der Folgezeit
daher als politisches Vermächtnis, als Vorbote einer idealen Universalrepublik. Seine Kämpfe
und Proklamationen, seine Helden und Märtyrer gingen im Süden, im Westen [20] sowie im
Osten [15] Europas in die nationalen wie auch in die internationalen Erinnerungskulturen ein
(vgl. Abb. 2).
Rolf Reichardt
Bibliography
Robespierre Kossuth Hecker
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[3] E. B , Das Agrarproblem in der europ.
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»Dürfen's denn das?« Die fortdauernde Frage zum Jahr
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/
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ausdeutete. Es prophezeit den
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zu seinem Ziel wie der mächtige
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Vordergrund zertrümmert am
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Boden liegen. Diese utopische
1848–1851, 1967
Fortschrittsallegorie steht im
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Portraitmedaillons an die
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2003 Armand Carrel und Godefroy
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Arbeiterbewegung. Demokratie und soziale Frage in der
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Wiener Revolution von 1848, 1979
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[30] J. S , 1848: The British State and the Chartist Movement, 1987