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Dieter Henrich (Philosoph)

Dieter Henrich (* 5. Januar 1927 in Marburg) ist ein deutscher


Philosoph. Insbesondere seine umfangreichen Studien zum
Deutschen Idealismus und seine systematischen Analysen der Unterschrift Henrichs
Subjektivität haben die philosophischen Debatten in Deutschland
geprägt. Eine Reihe seiner weit über zweihundert Publikationen
wurde in andere Sprachen übersetzt.

Inhaltsverzeichnis
Leben
Werk
Philosophie des Selbstbewusstseins
Kritik an den bestehenden Selbstbewusstseinstheorien
Kritik egologischer Theorien
Reflexionsmodell
Produktionsmodell
Kritik nicht-egologischer Theorien
Entwicklung einer eigenen Theorie des Selbstbewusstseins
Beziehungsfreies Selbstbewusstsein
Bewusstsein, Selbstsein, reflexives Wissen
Das Sein als der Grund des Selbstbewusstseins
All-Einheitsontologie
Philosophiegeschichtliche Arbeiten
Konstellationsforschung
Grundlegung aus dem Ich
Werke im Werden
Rezeption
Mitgliedschaften und Ämter
Ehrungen und Auszeichnungen
Schriften
Literatur
Weblinks
Anmerkungen

Leben
Nach seinem Abitur 1946 am humanistischen Gymnasium Philippinum in Marburg studierte Dieter
Henrich von 1946 bis 1950 Philosophie, Geschichte und Soziologie in Marburg, Frankfurt und Heidelberg.
Im Jahre 1950 wurde er bei Hans-Georg Gadamer an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg mit der
Arbeit über Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers zum Dr. phil. promoviert, die 1952
veröffentlicht wurde. In Heidelberg leitete er das Collegium Academicum.

Henrichs Habilitation erfolgte 1956 mit der Schrift Selbstbewusstsein und Sittlichkeit. Anschließend lehrte
er an verschiedenen Universitäten. Im Jahre 1960 wurde er ordentlicher Professor in Berlin, 1965 dann in
Heidelberg. 1968 wurde ihm eine Professur an der Columbia University angeboten, die er ablehnte.
Stattdessen nahm er in den USA ständige Gastprofessuren an: von 1968 bis 1972 an der Columbia
University, von 1973 bis 1986 an der Harvard University. Zudem hatte er Gastprofessuren an der
Universität Tokio, University of Michigan und der Yale University inne. Während seiner Jahre in den
Vereinigten Staaten kam er in engen Kontakt mit vielen herausragenden analytischen Philosophen wie
Roderick M. Chisholm (den er später nach Heidelberg einlud), Willard van Orman Quine, Hilary Putnam
und Donald Davidson. 1981 nahm er eine Berufung an die LMU München an, wo er bis zu seiner
Emeritierung 1994 Ordinarius für Philosophie war. 1984 wurde er als ordentliches Mitglied in die
Bayerische Akademie der Wissenschaften gewählt[1], wo ihm 1987 die Leitung der Kommission für die
Herausgabe der Schriften von Friedrich Heinrich Jacobi übertragen wurde.[2]

Nach seiner Emeritierung von der LMU im Jahre 1994 leitete er weiterhin die Forschungsstelle Klassische
Deutsche Philosophie. Seit 1997 ist er Honorarprofessor der Humboldt-Universität zu Berlin. Darüber
hinaus ist Henrich unter anderem seit 1993 Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Sciences,
seit 1969 Mitglied im Comité directeur der Internationalen Gesellschaft für Philosophie. Ab 1970 war er
Präsident der Internationalen Hegel-Vereinigung.

Werk
Während sich Henrich in seiner Dissertation noch mit Max Webers Wissenschaftstheorie und Wertlehre
beschäftigte, konzentrierte er sich danach vor allem auf die Erforschung der Philosophie des Deutschen
Idealismus. Die zentralen Personen seiner historischen Analysen waren dabei Immanuel Kant, Johann
Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich
Hölderlin. Henrichs historisches Interesse war dabei stets verbunden mit einem systematischen Interesse an
der Frage der Möglichkeit der Metaphysik als philosophischer Hauptdisziplin. Im Rahmen seiner
Auseinandersetzung mit der Philosophie des Deutschen Idealismus entwickelte er eigene Ansätze zum
Phänomen des Selbstbewusstseins, dem Absoluten, Fragen der Ethik und der Theorie der Kunst.

Henrich äußerte sich auch regelmäßig zu aktuellen politischen Themen. So setzte er sich nach dem
Mauerfall mit den Essays Eine Republik Deutschland (1990) und in Nach dem Ende der Teilung (1993)
mit dem Problem einer deutschen Identität auseinander und warb für die Einheit.

Philosophie des Selbstbewusstseins

Das zentrale Thema in Henrichs Werk ist die Erforschung des Phänomens des Selbstbewusstseins[3]:19–62.
Er begründete mit seinen programmatischen philosophischen Arbeiten zusammen mit seinen Schülern
Manfred Frank, Konrad Cramer und Ulrich Pothast die von Ernst Tugendhat so genannte „Heidelberger
Schule“ des Selbstbewusstseins[4]:10,53.

Kritik an den bestehenden Selbstbewusstseinstheorien


Henrich unterscheidet egologische und nicht-egologische Selbstbewusstseinstheorien. Die egologischen
Theorien erklären das Selbstbewusstseins als Produkt oder als Vollzug von Reflexionen eines Ego. Zu
ihren Vertretern zählt Henrich zum einen die Anhänger des klassischen „Reflexionsmodells“: Descartes,
Locke, Leibniz, Hume, Rousseau und Hegel. Zum anderen aber auch Fichte, der das von Henrich so
genannte „Produktionsmodell“ des Selbstbewusstseins entwickelte. Nicht-egologische Theorien
konzipieren das Selbstbewusstsein dagegen als ein subjektloses Phänomen. Henrich zählt dazu die
phänomenologischen Theorien von Brentano, Schmalenbach und Sartre.

Kritik egologischer Theorien

Reflexionsmodell

In seiner ursprünglich 1966 in einer Festschrift für Wolfgang Cramer erschienenen Abhandlung Fichtes
ursprüngliche Einsicht[5] setzt sich Henrich erstmals eingehend mit dem Problem des Selbstbewusstseins
auseinander. Sein Ausgangspunkt ist die Kritik Fichtes am klassischen Reflexionsmodell, der er sich
weitgehend anschließt. Fichte ist für Henrich der erste Philosoph, der die Struktur des Selbstbewusstseins
zum Gegenstand seiner philosophischen Reflexion gestellt hat[5]:7. Das Reflexionsmodell erkläre das
Selbstbewusstseins als Ergebnis eines reflexiven Akts auf der Basis einer Subjekt-Objekt-Beziehung. Doch
um sich auf sich selbst zurückwenden zu können, müsse das Selbst wissen, worauf es sich bezieht. Es
müsse also bereits Selbstwissen und damit Selbstbewusstsein besitzen, wenn es sich reflexiv verhalten will.
Damit gerät das Reflexionsmodell – so Fichte und mit ihm Henrich – in einen „Zirkel“[5]:14. Dadurch wird
aber das Selbstbewusstsein nicht nur nicht erklärt, sondern „es gibt demzufolge gar kein Bewußtsein“[5]:14.

Produktionsmodell

Das Gegen-Konzept Fichtes zum Reflexionsmodell geht nach Henrich dagegen von einem Setzungsakt des
Ich aus, wodurch das Entgegengesetzte, das Nicht-Ich, gesetzt wird und das Ich Wissen von sich bzw. dem
Selbstbewusstsein hat. Henrich nennt daher Fichtes Modell eine „Theorie des Wissens als
Produktion“[5]:18, Anm. 9. Die Begründung des Selbstbewusstseins durch den Setzungsakt von einem
bereits vorliegenden Selbst sei jedoch ebenfalls zirkulär. Das Wissen von sich, das das Ich durch seinen
Setzungsakt erhält, impliziere bereits, dass das Ich entweder bereits ein Wissen von sich voraussetzt, um
sich mit sich selbst identifizieren zu können, oder es komme zu keiner Identifikation, falls ein solches
Wissen noch nicht besteht.

Kritik nicht-egologischer Theorien

Nicht-egologische Theorien fassen nach Henrich das Selbstbewusstsein als ein subjektloses Phänomen auf.
Sie gehen davon aus, dass das Selbstbewusstsein ohne Anwesenheit eines Ego bzw. Subjekts zustande
kommt. Das Bewusstsein wird als „eine Relation von jeweils einzelnen Inhalten oder Daten zu sich selbst“
konzipiert.[6]:261. Das Selbstbewusstsein entstehe dabei ohne reflexive Zuwendung eines Ichs, als ein
objektiver Prozess individueller Bewusstseins-Elemente. Henrich kritisiert an den nicht-egologischen
Theorien, dass sie den Sachverhalt des Bewusstseins letztlich nicht erklären können. Im Bewusstsein finde
sich immer ein aktiver Akteur, dessen Aktivität das Selbstbewusstsein erzeugt: „Bewusstsein ist nämlich
immer Gewahren einer Relation zwischen verschiedenen Gegebenheiten. Ohne dass sich eine von der
anderen abhebt, tritt Bewusstsein faktisch niemals auf. Das macht seine synthetische Struktur aus, die vor
allem von Kant theoretisch ausgebeutet wurde“[6]:262.

Entwicklung einer eigenen Theorie des Selbstbewusstseins


Beziehungsfreies Selbstbewusstsein

In seinem 1970 erschienenen Aufsatz Selbstbewusstsein. Kritische Einleitung in eine Theorie[6] entwickelt
Henrich gegen die traditionellen Konzepte das Modell eines beziehungsfreien Selbstbewusstseins. Er geht
aus von der täglichen Erfahrung mit dem Phänomen des Selbstbewusstseins, in der es nur durch seine
Wirkung in Erscheinung tritt. Das Selbstbewusstsein kann nicht an sich erfahren werden, da es kein
isoliertes Phänomen ist, sondern nur durch einen anderen Sachverhalt, der vom Selbstbewusstsein
ermöglicht wurde. Das Selbstbewusstsein ist nach Henrich präreflexiv, weil es vor jedem Reflexionsakt
schon da ist. Es ist zugleich die Voraussetzung aller unserer theoretischen und praktischen Aktivitäten.
Henrich betont den Aspekt der unmittelbaren Vertrautheit mit unserem Selbstbewusstsein. Diese übertrifft
die Vertrautheit, die wir mit allen anderen Sachverhalten haben: „Die Vertrautheit mit Bewusstsein kann
überhaupt nicht als Resultat eines Unternehmens verstanden werden. Sie liegt ja schon vor, wenn
Bewusstsein eintritt. Und niemand wird sagen, er habe in der Weise versucht, zu Bewusstsein zu kommen,
in der er sich um Introspektion, Reflexion und Beobachtung bemühen kann“[6]:271. Da das
Selbstbewusstsein schon immer und unmittelbar gegeben ist, hat es für Henrich einen „ich-losen“[6]:282
Charakter. Es ist „anonym und keinesfalls Eigentum oder Leistung des Selbst“[6]:279. Implizit gehört das
Selbstbewusstsein aber immer schon zu einem Ich und kann von diesem expliziert werden, um eine
objektive Erfahrung zu bilden.

Bewusstsein, Selbstsein, reflexives Wissen

In seinem lange Zeit unpublizierten Text von 1971, Selbstsein und Bewusstsein[7], korrigiert Henrich noch
einmal seine alte Selbstbewusstseinskonzeption. Er erklärt darin das Zustandekommen des
Selbstbewusstseins als Resultat objektiv neuronaler Prozesse: „Wenn aber, was offenbar scheint,
Gehirnstruktur und Bewusstseinsstruktur aufeinander beziehbar bleiben müssen, so kann keine Rede mehr
sein von einem Selbst oder einer Person, das oder die in Beziehung auf das Bewusstsein bestünde. Das
Gehirn hat in ihm selbst keinen Eigentümer. Es fungiert. Wohl aber kann gesagt werden, dass in seinem
Fungieren etwas geschieht, das mit dem korrespondiert, was ‚Bewusstsein‘ genannt wird“[7]:12. Henrich
führt drei Elemente des Selbstbewusstseins an: „Bewusstsein“, „Selbstsein“ und den „formalen Selbstbezug
im Wissen“[7]:6. Diese drei Elemente sind zwar grundsätzlich getrennt, wirken aber in einem Prozess
zusammen. Das Bewusstsein versteht Henrich als ich-losen „Raum“[7]:11, „in dem etwas auftaucht“[7]:5.
Im Bewusstsein finden dann Aktivitäten statt, die sich als Ereignisse, Ereigniskomplexe oder Prozesse
äußern können. Diese Aktivitäten führen zu einem grundsätzlichen Wandel im Bewusstsein: das
präreflexive und anonyme Bewusstsein wird zu einem reflexiven Bewusstsein. Henrich nennt diese
artikulierende Aktivität „Selbstsein“. Die Beziehung zwischen dem Bewusstsein und dem Selbstsein stellt
Henrich durch ein drittes Element des Selbstbewusstseins her, dass in der formalen Selbstbeziehung im
Wissen besteht. Diese Selbstbeziehung können wir letztlich nicht mehr „weiter explizieren“[7]:2, sie bleibt
für Henrich im Dunkeln. Diesen Aspekt betont er später noch einmal in seinem Aufsatz Dunkelheit und
Vergewisserung, in dem er explizit die Unmöglichkeit hervorhebt, die Grundstruktur des
Selbstbewusstseins zu erschließen: „Wir wissen in vollkommener, unübersteigbarer Klarheit, DASS wir
sind, und in einem Sinn, der genauer einzugrenzen wäre, auch WER wir sind. Wir wissen aber nichts über
den Ursprung und die innere Möglichkeit solchen Wissens, also nichts über irgendwelche Funktionen, über
die sich solches Selbst-Wissen ausbildet. Die Bedingungen und die Weise des Eintretens von
Selbstverhältnis sind innerhalb des Grundverhältnisses schlechtweg im Dunkeln“[8]:41. Henrich sieht darin
Ähnlichkeiten seiner Gedanken mit der Philosophie des Ostens.

Das Sein als der Grund des Selbstbewusstseins


Um eine philosophische Begründung für die Unmittelbarkeit und die Undenkbarkeit des
Selbstbewusstseins zu finden, wendet sich Henrich zunächst der Philosophie des Ostens und der Mystik zu.
Mit der Mystik sei es möglich, „eine Beschreibung der Welt als ganzer zu gewinnen“[8]:36ff.. Sein weiteres
Interesse gilt dann aber nicht der Mystik, sondern der Philosophie Hölderlins. Den Ausgangspunkt bietet
eine zweiseitige Notiz Hölderlins mit dem Titel Urteil und Sein[9]. Henrich schließt sich der Auffassung
Hölderlins an, dass dem Bewusstsein ein Grund vorausliegen müsse, der nicht selbst die Verfassung von
Bewusstsein hat[10]. Das Selbstbewusstsein hat für Henrich im Anschluss an Hölderlin die Struktur, dass
sich ein Ich-Subjekt auf ein ich-Objekt bezieht. Zugleich mit dieser Differenz bleibt das Selbstbewusstsein
dennoch mit sich identisch. Die Identität und die Differenz von Ich-Subjekt und Ich-Objekt müssen als
„Produkt der Teilung einer vorgängigen Einheit“ gedacht werden[11]. Diese Einheit ist für Hölderlin und
Henrich das Sein[12]:56. Das Sein ist als der Grund des Selbstbewusstseins und des Denkens selbst
undenkbar. Es manifestiert sich im Selbstbewusstsein, ist aber selbst ich-los und setzt kein Subjekt voraus.

All-Einheitsontologie

Henrich entwickelt nun aus seinem neuen Ansatz des Seins als Ursprung des Selbstbewusstseins eine „All-
Einheitsontologie“[8]. Diese soll aus einer umfassende Perspektive die Realität als Ganzes beschreiben. Das
Bedürfnis danach kommt nach Henrich aus dem Wesen des Menschen selbst. Die Menschen wollen sich
ihrer selbst vergewissern, was innerhalb ihrer alltäglichen Erfahrungen nicht erreicht werden kann. Wir
kommen nicht umhin, „die Welt als Ganze zu denken und aus diesem Gedanken die uns vertraute
Wirklichkeit zu verstehen“[13]:208. Die Einheit der Welt ist mit unserer bewussten Selbstbeziehung
verflochten. Das Subjekt fungiert dabei als „das Zentrum aller Zuschreibung überhaupt, sowohl zur Person
als auch zu irgendeinem anderen Einzelnen in der Welt“[13]:208. Das Ziel der All-Einheitsontologie ist es,
ein bewusstes Leben zu führen. Das heißt, sich nicht den Antrieben, die gerade dominieren, und den
Nötigungen des Alltags zu überlassen[14].

Philosophiegeschichtliche Arbeiten

Konstellationsforschung

In seinen historischen Arbeiten zur Philosophie des Deutschen Idealismus verwendet Henrich die Methode
der „Konstellationsforschung“. Es geht ihm nicht in erster Linie um die Entwicklung der Gedanken eines
einzelnen Denkers, sondern um die relevanten Konstellationen des Denkraums, in dem die philosophischen
Gedanken entstanden sind. Dabei berücksichtigt er neben den philosophischen Werken der untersuchten
Personen auch ihre Briefe und die in ihrem Umfeld geführten Diskussionen und Gespräche. Henrich
unterscheidet zwei Arten von Konstellationen: „zum einen die Konstellation zwischen den Begriff- und
Systembildungen der großen Theorien und zum anderen die Konstellationen des philosophischen
Gesprächs, die für die Ausbildung der Systeme nach Kant und Fichte und wohl auch für Fichtes eigenen
Weg in Jena und über Jena hinaus eine nicht ignorable Bedeutung gehabt habe“[12]:42. Eines der
wichtigsten Ergebnisse dieser Forschung ist die Entdeckung der Rolle Hölderlins in der Entwicklung der
nachkantischen Philosophie[3]:42.

Grundlegung aus dem Ich

Im Kant-Jahr 2004 veröffentlichte Henrich sein historisches Hauptwerk Grundlegung aus dem Ich, in dem
er die Genese des Deutschen Idealismus rekonstruierte. Das Werk ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen
Recherche zu den von ihm entdeckten Papieren des Tübinger Kantianers Immanuel Carl Diez[15].
Henrichs Leitfrage ist, wie es dazu kam, dass sich schon kurz nach dem Erscheinen von Kants
Hauptwerken eine neue philosophische Bewegung bilden konnte. Er untersucht dabei die Rolle einer
Reihe von bedeutenden, aber weniger bekannten Gestalten, die dem eigentlichen Idealismus vorausgingen:
Johann Benjamin Erhard, Friedrich Gottlieb Süskind, Friedrich Immanuel Niethammer und vor allem
Immanuel Carl Diez, der am Tübinger Stift Hölderlin und Hegel zu seinen Zuhörern zählte.

Werke im Werden

In Werke im Werden (2011) untersucht Henrich die Entstehung von philosophischen Konzeptionen.[16]
Sein Ziel ist es, wesentliche Züge am Werden von „Hauptwerken“ der Philosophie herauszuarbeiten. Diese
müssen nach Henrich folgende Kriterien erfüllen:

1. Sie haben ihren Ursprung in einer plötzlichen, sich einmalig im Leben einstellenden
philosophischen Einsicht.
2. Die philosophische Einsicht mündet in eine „philosophische Konzeption“, die für das
weitere Leben des Autors relevant ist.
3. Die Konzeption ist von einem Gestaltungsplan getragen (z. B. als Gerichtsprozess in Kants
Kritik der reinen Vernunft).
4. Das Werk verändert „die Horizonte des Denkens“ in seiner Zeit[17]:47 und darüber hinaus.

Als Beispiele für solche „Hauptwerke“ nennt Henrich Descartes' Meditationen, Spinozas Ethik, Kants
Kritik der reinen Vernunft, Hegels Phänomenologie des Geistes, Hobbes' Leviathan, Heideggers Sein und
Zeit sowie Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Philosophische Einsichten geht die Erfahrung
eines Defizits und anhaltendes Nachdenken darüber voraus. Die gewonnene Einsicht muss sich dann
bewähren und einem Prozess anhaltender Begründung unterzogen werden, will sie über den Status dessen
hinausgehen, was Henrich „Sekundenphilosophie“ nennt[17]:21. Philosophische Einsichten gelingen nach
Henrich zumeist „in jüngeren Jahren des Lebens“[17]:63. Wer sie einmal gewonnen hat, verliere meist die
Offenheit für neue Entdeckungen; dieselbe Deutlichkeit lasse „sich kaum je wiedergewinnen“[17]:69.
Zumeist bedürfen Philosophen zur Herausbildung ihrer Gedanken eines „Gegenspielers“[17]:72, denn kein
großes philosophisches Werk werde so einfach „aus dem Kopf herausgewunden“[17]:76.

Rezeption
Henrich gilt sowohl in der englischsprachigen als auch in der kontinentalen Tradition als Hauptvertreter der
heutigen Selbstbewusstseinsrenaissance[3]:24. Dan Zahavi charakterisierte Henrichs Beiträge zur Klärung
des Selbstbewusstseins als einen der wichtigsten in der neueren deutschen Philosophie[18]. Henrich
beeinflusste mit seinen Arbeiten zum Thema Selbstbewusstsein auch Vertreter der sprachanalytischen
Philosophie, wie Hector-Neri Castañeda und Roderick M. Chisholm[19]. Er trug mit seinen Arbeiten
wesentlich dazu bei, die anglo-amerikanische analytische Philosophie und die kontinentale Philosophie
zusammenzubringen[20]. Seine Arbeiten bildeten den Anstoß für eine Auseinandersetzung mit dem
Phänomen des Selbstbewusstseins in der Philosophie des Geistes[3]:24, Anm. 30.

Henrichs Selbstbewusstseinskonzeption wurde von seinen Nachfolgern und jüngeren


Selbstbewusstseinstheoretikern wie Ulrich Pothast, Manfred Frank und Saskia Wendel angenommen und
weiterentwickelt. Ernst Tugendhat kritisierte hingegen in seinem Werk Selbstbewusstsein und
Selbstbestimmung Henrichs Konzeption des Selbstbewusstseins[4]. Von Jürgen Habermas wurde Henrich
einer konservativen „Rückkehr zur Metaphysik“ bezichtigt[21].

In philosophiegeschichtlicher Hinsicht wurde Henrichs bedeutende Rolle für die Neuentdeckung der
philosophischen Relevanz der Epoche des Deutschen Idealismus überhaupt, vor allem der Philosophie
Fichtes hervorgehoben[3]:25.
Mitgliedschaften und Ämter
1971: Ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
1984: Senator der Universität München
1984: Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
1989: Mitglied der Academia Europaea
1993: Ausländisches Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Sciences
1998: Ordentliches Mitglied der Académie Internationale de Philosophie de l'Art

Ehrungen und Auszeichnungen


1995: Friedrich-Hölderlin-Preis der Universität und der Universitätsstadt Tübingen
1999: Ehrendoktorwürde der Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
2003: Hegel-Preis der Stadt Stuttgart
2002: Ehrendoktorwürde der Theologie der Philipps-Universität Marburg
2004: Internationaler Kant-Preis der ZEIT-Stiftung
2005: Ehrendoktorwürde der Philosophie der Universität Jena
2006: Deutscher Sprachpreis
2006: Bayerischer Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst
2008: Dr. Leopold-Lucas-Preis der Universität Tübingen
2008: Kuno-Fischer-Preis der Universität Heidelberg

Schriften
Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen 1952.
Selbstbewußtsein und Sittlichkeit. Habilitationsschrift (Schreibmaschinenskript), Heidelberg
1956.
Der ontologische Gottesbeweis, Tübingen 1960.
Fichtes ursprüngliche Einsicht, Klostermann, Frankfurt am Main 1967.
Hegel im Kontext. Frankfurt: Suhrkamp, 1971.
Identität und Objektivität, Heidelberg 1976.
Fluchtlinien. Philosophische Essays. Frankfurt am Main 1982.
Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen
deutschen Philosophie. Stuttgart 1982.
als Hrsg. mit Wolfgang Iser: Funktionen des Fiktiven. München 1983.
Der Gang des Andenkens. Beobachtungen zu Hölderlins Gedicht. Stuttgart 1986.
Ethik zum nuklearen Frieden. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990. ISBN 3-518-58017-5.
Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie
(1789–1795). Stuttgart: Klett-Cotta, 1991. ISBN 3-608-91360-2.
Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794/95). Stuttgart:
Klett-Cotta, 1992. ISBN 3-608-91613-X (2. erw. Aufl. 2004).
Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik,
Reclam, Stuttgart 1999.
Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität – Weltverstehen – Kunst. München: Carl
Hanser, 2001. ISBN 3-446-19857-1.
Fixpunkte. Abhandlungen und Essays zur Theorie der Kunst. Frankfurt: Suhrkamp, 2003.
ISBN 3-518-29210-2.
Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen –
Jena 1790–1794. Frankfurt: Suhrkamp, 2004. ISBN 3-518-58384-0.
Die Philosophie im Prozeß der Kultur. Frankfurt: Suhrkamp, 2006. ISBN 978-3-518-29412-3.
Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität. Frankfurt: Suhrkamp, 2007. ISBN
978-3-518-58481-1.[22]
Endlichkeit und Sammlung des Lebens. Mohr Siebeck 2009, ISBN 978-3-16-149948-7
Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten, C.H. Beck: München,
2011. ISBN 978-3-406-60655-7.
Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, C.H. Beck: München,
2016. ISBN 978-3-406-66324-6.
Dies Ich, das viel besagt. Fichtes Einsicht nachdenken, Klostermann: Frankfurt, 2019. ISBN
978-3-465-04317-1.
Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie. C.H. Beck: München, 2021. ISBN
978-3-406-75642-9.

Literatur
Dieter Freundlieb: Dieter Henrich and Contemporary Philosophy. The return to subjectivity.
Ashgate, Aldershot [u. a.] 2003, ISBN 0-7546-1344-5.
Placidus Bernhard Heider: Jürgen Habermas und Dieter Henrich. Neue Perspektiven auf
Identität und Wirklichkeit. Freiburg/München 1999.
Dietrich Korsch (Hrsg.): Subjektivität im Kontext: Erkundungen im Gespräch mit Dieter
Henrich. Tübingen 2004.
Fitzerald Kennedy Sitorus: Das transzendentale Selbstbewusstsein bei Kant. Zu Kants
Begriff des Selbstbewusstseins im Lichte der Kritik der Heidelberger Schule. Dissertation.
Dr. Kovač, Hamburg 2018, ISBN 978-3-339-10526-4 (d-nb.info (https://d-nb.info/109588394
1/34)).
Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Philosophie und Leben. Erkundungen mit Dieter Henrich.
Wallstein, Göttingen 2018, ISBN 978-3-8353-3238-6.

Weblinks
Literatur von und über Dieter Henrich (https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch
&query=119207648) im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Dieter Henrich, in: Internationales Biographisches Archiv 44/2011 vom 1. November 2011,
im Munzinger-Archiv (Artikelanfang (https://www.munzinger.de/document/00000024718) frei
abrufbar)
Webseite von Dieter Henrich an der LMU mit Bibliographie. (https://www.philosophie.uni-mu
enchen.de/lehreinheiten/philosophie_2/personen/henrich/index.html) Abgerufen am
21. März 2021.
Forschungsstelle Jena-Projekt an der LMU (https://www.philosophie.uni-muenchen.de/forsc
hung/projekte/jena_projekt.html) Abgerufen am 17. August 2021.

Anmerkungen
1. Mitglied der BAdW (mit Foto) (https://badw.de/gelehrtengemeinschaft/mitglieder.html?tx_bad
wdb_badwperson%5Bper_id%5D=1251&tx_badwdb_badwperson%5BpartialType%5D=BA
DWPersonDetailsPartial&tx_badwdb_badwperson%5BmemberType%5D=&tx_badwdb_ba
dwperson%5Baction%5D=show&tx_badwdb_badwperson%5Bcontroller%5D=BADWPerso
n)
2. Leitung der Jacobi-Kommission (https://books.google.de/books?id=guZAnT_Hi0sC&pg=PA
78&lpg=PA78&dq=Jacobi+Kommission+Bayerische+Akademie+der+Wissenschaften+Diet
er+Henrich&source=bl&ots=wLX9u-adF5&sig=ylzluDIwVzx2KlsI8fUoOPH_r7g&hl=de&sa=
X&ved=0ahUKEwjOqvWs5rLcAhVH6KQKHRUAB4A4ChDoAQgtMAA#v=onepage&q=Jac
obi%20Kommission%20Bayerische%20Akademie%20der%20Wissenschaften%20Dieter%
20Henrich&f=false)
3. Fitzerald Kennedy Sitorus: Das transzendentale Selbstbewusstsein bei Kant. Zu Kants
Begriff des Selbstbewusstseins im Lichte der Kritik der Heidelberger Schule. Dissertation.
Dr. Kovač, Hamburg 2018, ISBN 978-3-339-10526-4 (d-nb.info (https://d-nb.info/109588394
1/34)).
4. Ernst Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische
Interpretationen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-518-27821-5
(Erstausgabe: 1979).
5. Dieter Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht (= Wissenschaft und Gegenwart. Heft 34).
Klostermann, Frankfurt am Main 1967 (Erstausgabe: 1966).
6. Dieter Henrich: Selbstbewusstsein. Kritische Einleitung in eine Theorie. In: Rüdiger Bubner,
Konrad Cramer, Reiner Wiehl (Hrsg.): Hermeneutik und Dialektik. Festschrift für Hans-Georg
Gadamer. Band 1. Mohr, Tübingen 1970, S. 257–284.
7. Dieter Henrich: Selbstsein und Bewusstsein. e-Journal Philosophie der Psychologie, 2007
(philo.at (http://www.jp.philo.at/texte/HenrichD1.pdf) [PDF; abgerufen am 22. März 2021]
Erstausgabe: 1971).
8. Dieter Henrich: Dunkelheit und Vergewisserung. In: Dieter Henrich (Hrsg.): All-Einheit.
Wege eines Gedankens in Ost und West. Veröffentlichungen der Internationalen Hegel-
Vereinigung;. Band 14. Stuttgart 1985, S. 33–52.
9. Friedrich Hölderlin: Sein und Urtheil. In: Sämtliche Werke. Band IV. Stuttgart 1969,
S. 216–217.
10. Dieter Henrich: Der Grund im Bewusstsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794-
1795). Stuttgart 1992, S. 670.
11. Dieter Henrich: Selbstbewusstsein und Gottesgedanke. In: Rudolph Langthaler, Michael
Höfer (Hrsg.): Selbstbewusstsein und Gottesgedanke. Ein Wiener Symposion mit Dieter
Henrich über Philosophische Theologie. 2008, S. 34.
12. Dieter Henrich: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen
Philosophie (1789-1795). Stuttgart 1992.
13. Dieter Henrich: Selbstverhältnisse. Frankfurt am Main 1982.
14. Dieter Henrich: Bewusstes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und
Metaphysik. 1999, S. 12.
15. Immanuel Carl Diez: Briefwechsel und Kantische Schriften: Wissensbegründung in der
Glaubenskrise Tübingen–Jena (1790–1792). Hrsg.: Dieter Henrich. Klett-Cotta, Stuttgart
1997, ISBN 3-608-91659-8 (Digitalisat (https://books.google.de/books?id=PNt7lJV4_-4C&p
g=PP1&hl=de) [abgerufen am 7. März 2021]).
16. Zum Folgenden vergleiche: Wolfgang Hellmich: Dieter Henrich: Werke im Werden. Über die
Genesis philosophischer Einsichten. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Band 66,
Nr. 2, 2012, S. 339–342.
17. Dieter Henrich: Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten. C. H.
Beck, München 2011.
18. Dan Zahavi: The Heidelberg School and the Limits of Reflection. In: Sara Heinämaa, Vili
Lähteenmäki, Pauliina Remes (Hrsg.): Consciousness. From Perception to Reflection in the
History of Philosophy (= Studies in the History of Philosophy of Mind. Band 4). Dordrecht
2007, S. 270.
19. Vgl. Manfred Frank: Conditio Moderna. Essays Reden Programm. Leipzig 1993, S. 112.
20. Dieter Freundlieb: Dieter Henrich and Contemporary Philosophy. The return to subjectivity.
Ashgate, Aldershot [u. a.] 2003, ISBN 0-7546-1344-5, S. VI.
21. Jürgen Habermas: Rückkehr zur Metaphysik? Eine Sammelrezension. In: Jürgen Habermas
(Hrsg.): Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Suhrkamp, Frankfurt am
Main 1988, S. 267–279.
22. Jörg Noller: Rezension zu: Dieter Henrich: Denken und Selbstsein. In: Philosophisches
Jahrbuch 117/2 (2010), S. 416–418.

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