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Fölling, Zwischen deutscher und jüdischer Identität

Wemer Fölling

Zwischen
deutscher und
jüdischer Identität
Deutsch-jüdische Familien und die Erziehung
ihrer Kinder an einer jüdischen Reformschule im
"Dritten Reich"

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1995


Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs 1
der earl von Ossietzky Universität Oldenburg gedruckt
mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

ISBN 978-3-8100-1269-2 ISBN 978-3-663-01395-2 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-663-01395-2

© 1995 by Springer Fachmedien Wiesbaden


Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 1995

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cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhalt

o. Einleitung ..... ..... ............. ........... ................................ ....... ......... ..... ..... .... 7
1. Berlin - Magnetfür Juden aus Ost und West ......................................... 23
Entstehung der Jüdischen Gemeinde ...................................................... 23
Emanzipation, Akkulturation und Assimilation ........ .............. ....... ..... ... 24
Das Berliner Judentum im Kaiserreich.................. ......... ....... ... ....... ....... 27
In der Weimarer Republik ...................................................................... 28
Jüdisches Leben in Berlin nach 1933 ..................................................... 28
2. Mobilität, Bildung und Berujsentwicklung in den Schüleifamilien ........ 31
Die Zuwanderung der Juden in Berlin ................................................... 31
Die Herkunft der Berliner Juden und der PriWaKi-Schülerfamilien ..... 34
Entwicklung des jüdischen Schulwesens ............................................... 41
Schu1- und Hochschulbildung in den PriWaKi-Familien ....................... 45
Berufe ..................................................................................................... 48
Berufe der Väter .............. ................... ............................... ..................... 52
Berufe der Großmütter und Mütter .......................................................... 54
Akkulturationsstufen ....... ............... ....................... ........................ ......... 57
Familien-Geschichten ............................................................................. 60
3. Spezifische Einstellungen und Identitätsmerkmale ................................. 67
Religion, Jüdische Gemeinde, Bar Mitzwah ......................................... 67
"Centralverein" und "Zionistische Vereinigung" ................................... 74
Der "Centralverein" (C.V.) .................................................................... 75
Die "Zionistische Vereinigung für Deutschland" (ZVfD) ..................... 78
Politische Orientierung und Wahlverhalten ........................................... 82
Akkulturation und Assimilation..... ........... ....... ............. ....... ....... ..... ...... 85
Jüdisches Bewußtsein ............................................................................. 91
Soziale Integration............................ ................... ...................... ....... ... ... 93
4. Geschichte der "Privaten Waldschule Kaliski"("Private
Jüdische Schule Kaliski") ...................................................................... 99
Das Jahr 1932 ......................................................................................... 99
Das Jahr 1933 ......................................................................................... 104

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Das Jahr 1934 ......................................................................................... 110
Das Jahr 1935 ......................................................................................... 113
Das Jahr 1936 ......................................................................................... 118
Das Jahr 1937 ......................................................................................... 124
Das Jahr 1938 ......................................................................................... 130
Das Jahr 1939 ......................................................................................... 134
5. Gestalt und Pädagogik einer jüdischen Reformschule (1932-1939) ...... 137
Grundschule ........................................................................................... 137
Mittelschule und -stufe ........................................................................... 140
Oberstufe ................................................................................................ 143
Tagesinternat .......................................................................................... 147
Pädagogische Ziele ................................................................................. 148
Waldschul- und Reformpädagogik im Tagesinternat... .......................... 154
Sport ....................................................................................................... 156
Formung des jüdischen Bewußtseins ..................................................... 159
Palästinakunde und Zionismus ............................................................... 169
Vorbereitung auf die Emigration ........................................................... 172
"Praktische Übungen" ........................................................................... 173
"Englische und amerikanische Examensausbildung" ............................ 175
Palästina-Gruppe .................................................................................... 181
Lehrer-Biographien ................................................................................ 186
6. Erinnerungen an das Leben im "Dritten Reich" bis 1939 ..................... 201
Bedrohung und Gewalt. .......................................................................... 203
Solidarität und Hilfe ............................................................................... 216
Freizeit ................................................................................................... 218
7. Die pädagogische und sozialisatorische Wirkung der
PriWaKi aus der Sicht ehemaliger Schülerinnen und SChüler ............... 231
Erinnerungen an das Schulleben ............................................................ 231
Die Besonderheiten der PriWaKi aus der Sicht der Schüler .................. 241
Biographische Einflüsse einer jüdischen Reformschule ........................ 245
8. Auf der Suche nach Identität .................................................................. 259
Pädagogik als Hilfsmittel der Akkulturation und Assimilation .............. 264
Der "deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens" .................................. 270
Assimilation und ,jüdischer Selbsthaß" ................................................. 274
Die Bemühungen um eine jüdische Erziehung ...................................... 289
Die Auswirkungen der jüdischen Erziehung auf die
PriWaKi-SchülerInnen ........................................................................... 295
Akkulturation und Assimilation als heimliche pädagogische
Gegenwärtige Identitäten ....................................................................... 297
9. Quellen ................................................................................................... 316

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o. Einleitung

Über das deutsche Judentum ist um 1988 in der Bundesrepublik eine Viel-
zahl historisch-sozial wissenschaftlicher Darstellungen erschienen. Äußerer
Anlaß dafür war der 50. Jahrestag des Novemberpogroms von 1938. Ein tiefer-
liegendes Motiv als das der moralischen Verpflichtung zur Erinnerung scheint
aber eher die wachsende Erkenntnis gewesen zu sein, daß eine kulturell
wichtige und wertvolle Gruppe aus Deutschland verschwunden ist und dies
speziell in liberalen gebildeten Kreisen als ein nicht mehr zu kompensieren-
der Verlust registriert wird.
Nachdem bis in die 80er Jahre hinein überwiegend allgemeinere Mono-
graphien und Artikel über die Geschichte des (deutschen) Judentums und
über den (deutschen) Antisemitismus erschienen sind, wobei vor allem die
Entstehung des Antisemitismus und die Verfolgung der Juden dargestellt
worden sind, richtet sich das Interesse in den letzten Jahren verstärkt auf die
Beschreibung des jüdischen Lebens sowie auf die von den Opfern erlebten
Situationen der Verfolgung und ihre Reaktion darauf. Das Bild der deutschen
Juden als scheinbar völlig willenlose Opfer hat sich bei genauerem Hinsehen
als zu undifferenziert erwiesen angesichts der Tatsache, daß von der "Macht-
ergreifung" 1933 bis zur Vernichtung 1942/43 fast 10 Jahre lagen, in denen
durch zunehmende Ausgrenzung eine verstärkte Hinwendung zur jüdischen
Gemeinschaft erzwungen wurde, wodurch ein intensives jüdisches Leben mit
vielen kulturellen Leistungen und Experimenten entstand. Eine dieser Initiati-
ven im sozial-kulturellen Bereich war - neben dem Programm des Kulturbun-
des - der Aufbau eines zunehmend größer werdenden und inhaltlich weit-
gehend autonomen jüdischen Schulwerks, dem nicht nur religiöse und Ge-
meindeschulen, sondern auch unabhängige Gründungen, zu denen auch die
in dieser Arbeit behandelte Private Waldschule Kaliski zählte, zuzuordnen
sind.
Zum Bild der passiven Opfer paßt auch nicht, daß etwa zwei Drittel der
deutschen Juden emigriert sind, was für jüdische Kinder und Jugendliche
nicht nur den überwiegend gelungenen Aufbau einer Existenz im Ausland,
sondern auch eine oft mehrjährige Vorbereitung auf die Emigration in Deutsch-
land einschloß, woran die jüdischen Schulen einen entsprechenden Anteil

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hatten. Damit ging eine bemerkenswerte pädagogische Leistung einher, die
das Interesse des Erziehungswissenschaftlers und Bildungsforschers bean-
spruchen darf.
Doch ist die Ära des "Dritten Reichs" nicht nur die Zeit der Vertreibung
und Vernichtung der deutschen Juden gewesen, sondern bis zum November-
pogrom 1938 auch eine Zeit der jüdischen Selbstfindung und der Umgestal-
tung ihrer deutsch-jüdischen Identität. Letztere wurde mit Beginn der rechtli-
chen und geistigen Emanzipation für die Mehrheit der in deutschen Landen
lebenden Juden ab Anfang des 19. Jahrhunderts schrittweise entwickelt und
war mit der Reichsgründung 1871 weitgehend abgeschlossen, so daß einer
gleichberechtigten Existenz als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens ei-
gentlich nichts mehr im Wege stand, hätte es nicht den Antisemitismus oder
doch zumindest ein Fremdheitsgefühl der deutschen Gesellschaft gegenüber
den Bürgern jüdischer Herkunft gegeben, das damals dazu geführt hat, daß den
Juden die volle soziale Integration, die die meisten von ihnen sehnlichst
wünschten, mehr oder weniger verweigert worden ist. Aus dem offenen oder
auch nur sozialpsychologisch subtilen Außenseiterstatus mußten zwangsläu-
fig Identitätsprobleme entstehen, die auch die Erziehung der jüdischen Kin-
der beeinflußt haben. Dies war in ganz besonderer Weise ab 1933 der Fall.
Die Private Waldschule Kaliski, mit der exemplarisch die Identitätspro-
bleme jüdischer Schüler nach 1933 aufgezeigt werden sollen, wurde 1932 von
Lotte Kaliski in Berlin als nichtjüdische Schule gegründet und im März 1939
als jüdische Schule von den Nationalsozialisten geschlossen. Mitbedingt durch
die Zeitumstände war sie mehreren Wandlungen unterworfen und integrierte
zuletzt vier pädagogische Konzepte, um den Schwierigkeiten begegnen zu
können, in denen sich Kinder jüdischer Abstammung in dieser Zeit befanden.

Zunächst war die Schule eine private höhere Schule, die sich anfangs
Oberrealschule und Reforrnrealgymnasium nannte, obwohl sie von der
Schulaufsicht bis Ende 1936 als Mittelschule eingestuft wurde. Aber von
ihrem Selbstverständnis und vom Lehrplan her verstand sie sich als re-
formiertes neusprachliches Gymnasium.
Darüber hinaus verstand sie sich als "Waldschule". Sie praktizierte als
koedukative Ganztagsschule ("Tagesinternat") vor allem nachmittags eine
Mischung aus Waldschul- und Reformpädagogik. Auch diese Pädagogik
blieb ein konstantes Merkmal der Schule.
Drittens war die ,,PriWaKi" - diese Abkürzung wurde zur gängigen Bezeich-
nung der Schule - eine jüdische Schule. Das wurde sie aber erst schrittweise
und erzwungenermaßen ab 1934. Sie mußte für die jüdische Erziehung
ein eigenes Teilcurriculum entwickeln und versuchte, bei den oft schon
weitgehend assimilierten Schülern ein jüdisches Bewußtsein aufzubauen.
Die jüdische Erziehung war eine pädagogisch besonders anspruchsvolle
Aufgabe, die Jahr für Jahr an Bedeutung zunahm.
Viertens war sie ein Soziotop, das den Schülern als Refugium vor den
Auswirkungen des nationalsozialistischen Terrors diente, wobei zugleich

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eine Emigrations-Pädagogik entwickelt wurde, um die Kinder auf das
Leben im Ausland sprachlich und psychologisch vorzubereiten und zu
ihrer Rettung vor der nationalsozialistischen Verfolgung einen konkreten
Beitrag zu leisten.

Methodisch haben sich in dem Projekt zahlreiche Schwierigkeiten zunächst


dadurch ergeben, daß es keinen Quellenbestand gab, aus dem eine zusam-
menhängende und genügend informative Darstellung der Schulgeschichte, der
Schulorganisation sowie der Schüler- und Lehrerschaft hervorgegangen wä-
re. Lotte Kaliski hatte als Schulgründerin einige Quellen gesammelt und
1983, also gut 50 Jahre nach der Schulgründung, eine kürzere biographisch
akzentuierte Schul-Erinnerung geschrieben, doch gab es keinen umfassende-
ren und geschlosseneren Quellenbestand, etwa als Schulchronologie, Klas-
senbücher oder Akten mit fortlaufendem Schriftverkehr der Schule.
Aus dem Quellenbestand der Schulgründerin L. Kaliski hat Michael Dax-
ner in früheren Jahren ein Archiv aufgebaut, das auch die Ausgangsbasis für
dieses Projekt bildete. Es enthielt neben der kurzen Schulbiographie und -ge-
schichte der Gründerin einige Werbeprospekte der Schule sowie Erinnerungen
einiger Schüler, die auch erste Einblicke in das Schulleben gewährten, z.T.
auch die Lebensläufe nach der Schul schließung beschrieben. Darüber hinaus
gab es noch diverse Bescheinigungen und kleine Zeitungsartikel etc. zu Schul-
aufführungen. (Vgl. Archiv Daxner)
Aber für eine wissenschaftliche Darstellung der Schulgeschichte, der
Schulorganisation und vor allem der soziokulturellen Merkmale der Schüler
und Lehrer war der Bestand zu fragmentarisch, bedingt durch die hastige
Flucht nach 1938 und die Kriegsfolgen.
Um mehr über die Schule, die Lehrer, ihre Schüler und deren Familien zu
erfahren, wurden 1989/90 in den USA, Israel und Deutschland insgesamt 25
ehemalige Schüler, Lehrer und andere Zeitzeugen ausführlich mündlich befragt
- unter ihnen auch die in New York lebende Schulgründerin Lotte Kaliski.
Darüber hinaus haben 60 ehemalige SchülerInnen aus allen Emigrationsländern
umfangreiche Fragebögen zum Teil sehr ausführlich beantwortet. Den Antwor-
ten waren häufig wertvolle Quellen (Schülerlisten, Zeugnisse, Briefe, Photos
etc.) beigefügt. Dank solcher Hilfen ist der Versuch gelungen, die Geschichte
und den sich permanent verändernden Schulautbau zu rekonstruieren.
Ganz entscheidend halfen dann die Schulakten weiter, die in Teilen im
Landesarchiv Berlin sowie im Zentralen Staatsarchiv in Potsdam gefunden
wurden. Zwar ging es hierbei im wesentlichen um den Kampf der Schule mit
den Behörden, um eine Schließung der Schule abzuwehren (vgl. H. Buse-
mann im Forschungs-Bericht 1992), doch enthielten die Schriftsätze auch
Daten über die Lehrer, Schüler, Zahl der Klassen, Status der Schule etc., so
daß auch hier zuverlässiges Quellenmaterial zur Verifizierung oder auch zur
Korrektur der Aussagen in den Interviews, Fragebögen und Briefen an das

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Projekt zur Verfügung stand.! Ohne die aktive und zum Teil aufwendige Un-
terstützung durch Informationsbeiträge verschiedenster Art von fast 100 ehe-
maligen Schülerinnen, Schülern, Lehrern sowie Freunden und Bekannten
von PriWaKi-Lehrern wäre das Bild der Schule mit ihrer Pädagogik und ih-
rer inneren Entwicklung nicht so klar und lebendig geworden, wie es nun-
mehr hoffentlich wahrgenommen werden kann.
Bei der Entwicklung des Fragebogens und des daran orientierten Inter-
view-Leitfadens entstand die Absicht, auch die Biographien von PriWaKi-
SchülerInnen aufzuschlüsseln und dabei die soziale Entwicklung der Famili-
en bis einschließlich der Großeltern-Generation zurückzuverfolgen. So konnte
der letzte Teil des Akkulturationsprozesses der Schüler-Familien nachge-
zeichnet werden bis zum Eintritt der Kinder in die PriWaKi und darüber hin-
aus die Umorientierung vor und nach der Emigration. Es sind damit sozialge-
schichtliche Längsschnitte über drei bis vier Generationen entstanden, die
den gravierenden sozialkulturellen Wandel in diesen Familien aufzeigen.
Dieser Wandel schloß nicht nur die Gleichstellung im Zuge des rechtlichen
Emanzipationsprozesses ein, sondern auch die Veränderungen beim Wohnort,
in den Berufen und in der Bildung. Mit diesen sozialen Veränderungen soll-
ten auch die Veränderungen in den Anschauungen, Wertorientierungen und
besonders in der Einstellung zum Judentum erfaßt werden.
Damit ist das eigentliche Erkenntnisinteresse dieser Arbeit angesprochen.
Es geht um das Problem der Identitätsbildung der jüdischen Minderheit in
Deutschland bei jeweils wechselnden historischen, sozialen und politischen
Bedingungen unter besonderer Berücksichtigung der Bemühungen in den Be-
reichen Bildung und Erziehung.
Die jüdische Minderheit wurde in Deutschland von der nichtjüdischen
Umwelt immer mehr oder weniger stark als Außenseiter oder gar als Fremd-
körper betrachtet, obwohl sie sich nach Kräften bemühte, dafür keinen Anlaß
zu bieten. Daraus entstanden Identitätsprobleme, denen auch mit pädagogi-
schen Mitteln begegnet wurde. Eine dramatische Zuspitzung der Situation er-
fuhren die Menschen jüdischer Abstammung dann nach der ,,Machtergreifung"
1933, und in bezug auf die Kinder und Jugendlichen sah sich die schon sehr
verkümmerte jüdische Erziehung innerhalb des deutschen assimilierten Ju-
dentums riesigen Ansprüchen und Herausforderungen gegenüber, die kaum
zu bewältigen waren. Die eigentliche kreative Phase für diese neue jüdische
Pädagogik dauerte bis Ende 1938. Vor dem Kriegsausbruch hatte der weitaus
größte Teil der jüdischen Kinder Deutschland verlassen. Für den verbliebenen
Rest mußten sich die jüdischen Pädagogen nunmehr im Angesicht der dro-
henden Vernichtung absoluten Ausnahme- und Extrembedingungen stellen,
die jedoch nicht mehr im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen, da die PriWaKi
im März 1939 geschlossen wurde und die große Mehrheit der SchülerInnen

Alle in dieser Arbeit zitierten Quellen befinden sich als Abschriften, Kopien und Re-
produktionen (Fotos) im Projektarchiv der Carl-von-Ossietzky-Universität Olden-
burg und können dort eingesehen werden.

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sich dem vernichtenden Zugriff der Nationalsozialisten durch Flucht entzie-
hen konnte.
Auch aus historisch-systematischen Gründen ist es legitim, die Geschich-
te des "Dritten Reiches" bis 1939 als relativ eigenständige Phase zu betrach-
ten, denn sie war zwar durch eine aggressive Politik des Terrors gegen Juden
und politische Gegner des nationalsozialistischen Regimes gekennzeichnet,
bestand aber noch nicht aus den systematischen Vernichtungs prozessen, die
während des Krieges immer grauenhaftere Formen annahmen. Bis zum No-
vember-Pogrom 1938 war es weitgehend die Gewalt der Propaganda, der Ent-
eignung und der Ausgrenzung. Es sollte der "bürgerliche Tod" (Goffman
1972, S. 26) der Juden, noch nicht der physische, herbeigeführt werden. Dem-
entsprechend hatte die jüdische Minderheit bis 1939 auch noch sehr viel größe-
re und bessere Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten und konnte - schein-
bar paradox - im Bereich der schulischen Erziehung eine große pädagogi-
sche Kreativität entfalten.
Die Vertreibung aus Deutschland bedeutete für die jüdischen Schüler
und Schülerinnen einen erheblichen biographischen Bruch, der aber auch
schon durch die Zerstörung der Existenzbedingungen in Deutschland einge-
leitet war. Die PriWaKi bemühte sich mit pädagogischen Mitteln, auf diesen
Bruch psychologisch und durch Vermittlung entsprechender Qualifikationen
vorzubereiten und so den Schülern zu helfen, ihn zu bewältigen. In dieser
Arbeit soll deshalb auch untersucht werden, inwieweit diese Bemühungen
Erfolg hatten und ob die Erziehung an der PriWaKi langfristige biographi-
sche Auswirkungen gezeitigt hat. Unter diesen Aspekten werden entsprechende
Einstellungen und Identitätskonzepte, die sich bis heute im Zusammenhang mit
den pädagogischen Ansprüchen der PriWaKi entwickelt haben, dokumentiert
und interpretiert. Es handelt sich dabei also um eine biographiebezogene
Langzeitevaluation der PriWaKi-Pädagogik durch ehemalige Schüler und Schü-
lerinnen.
Diese Arbeit ist in dreifacher Hinsicht als Fallstudie anzusehen. 2 Es ist
jeweils eine Fallstudie zur Sozialisationsgeschichte der deutschen Juden, zu

2 Fallstudien sind in der erziehungswissenschaftlichen Forschung häufiger zu finden,


u.a. auch als Institutions- und Organisations analysen von Erziehungseinrichtungen
(insbesondere Schulen) sowie als Studien über die Entwicklung und Wirkung von
pädagogischen Programmen (z.B. Richtlinien, Curricula). (Einen Überblick über die
verschiedenen Arten von Fallstudien gibt Dietlind Fischer 1982, S. 14 f. und 241 ff.)
Beide Varianten sind in dieser Arbeit enthalten. Eine verbindliche Medodik existiert
bei Fallstudien offensichtlich nicht; auch die methodische Präzision scheint extrem
unterschiedlich zu sein. Von Bedeutung ist bei den Fallstudien auch noch die Frage,
inwieweit sie repräsentativ sind. In unserem Fall können wir davon ausgehen, daß
eine weitgehende Repräsentativität existiert. Dies gilt für die Fallgruppe im sozialge-
schichtlichen und soziokulturellen Bereich, für die Schule als Erziehungseinrichtung
des liberalen großstädtischen Mittelschichtsjudentums und auch für wichtige Teile
des Lehrplans, da er sich an den allgemeinen Richtlinien der Reichsvertretung der
deutschen Juden orientierte. Glücklicherweise hat die PriWaKi aber auch noch viele

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ihren Erziehungsbemühungen besonders in der Hitlerzeit und nicht zuletzt zu
den durch die Nazi-Herrschaft gewaltsam veränderten Biographien deutsch-
jüdischer Schülerinnen und Schüler.
Als Fallstudie zur Sozialisationsgeschichte der deutschen Juden berück-
sichtigt diese Arbeit in besonderer Weise die Akkulturations- und Assimilati-
onsprozesse und damit auch die Entwicklung der deutsch-jüdischen Identität.
Dieser Prozeß ist bis 1933 weitgehend als ein Prozeß fortschreitender An-
gleichung der religiös geprägten jüdischen Kultur an die deutsche Kultur und
als soziale Angleichung an die nichtjüdische Umwelt zu verstehen und ab
1933 als ein durch den Nationalsozialismus erzwungener Prozeß, der mit Be-
griffen wie "Deemanzipation und Dissimilation"J durchaus richtig, aber unter
Berücksichtigung der wirklichen Intentionen der Nationalsozialisten und der
verheerenden Auswirkungen auf die Opfer vielleicht doch etwas zu zurück-
haltend bezeichnet wird. Deshalb möchten wir in dieser Arbeit lieber von ei-
ner gewaltsamen Reghettoisierung der deutschen Juden sprechen, die die zu-
vor schon nicht unproblematische Integration von deutscher und jüdischer
Identität in Frage stellte und nach Ersatzidentität suchen ließ. Die Suche nach
einem neuen Selbstbewußtsein wurde dann - unter sehr viel anderen Bedin-
gungen - in der Emigration fortgesetzt.
Diese Prozesse können durch die Befragung von 60 "Alumni" (ehema-
lige SchülerInnen) mit Hilfe von Fragebögen und in 12 vertiefenden Inter-
views dargestellt werden. Andere Quellen wie autobiographische Notizen,
Briefe etc. kommen hinzu. Damit besteht nicht nur die Möglichkeit, den sozial-
historischen Prozeß der jeweiligen Akkulturation und sozialen Reorientierung
näher "heranzuholen", sondern im Unterschied zu Darstellungen durch Ein-
zelbiographien (z.B. bei Monika Richarz 1982) können auch quantifizierende
Aussagen zur sozialkulturellen Entwicklung "typischer" jüdischer Berliner
Mittelschichtsfamilien gemacht werden, wobei nicht nur soziale Merkmale
wie Beruf und Bildung, sondern auch religiöse und andere weltanschaulich
geprägte Einstellungen erfaßt werden können. Dadurch gelingt es, sowohl die
Zufälligkeiten von Einzelbiographien als auch die pauschalisierenden Zu-
schreibungen "der deutschen Juden,,4 zu vermeiden und eine weitgehend re-
präsentative Teilgruppe nach ihren sozialen Merkmalen und Einstellungen
auszudifferenzieren. Eine genauere Kenntnis sozialer Merkmale und Einstel-
lungen in den Schülerfamilien ist erforderlich, um die pädagogischen Konzepte
der PriWaKi verstehen und auf ihre Angemessenheit hin beurteilen zu kön-

unverwechselbare Merkmale besessen, so daß sie auch noch als Unikat von wissen-
schaftlichem Interesse ist.
3 Peter Pulzer in Paucker 1986, S. 14
4 Eva Reichmann, die schon in den 20er und 30er Jahren eine öffentliche Vertreterin
des liberalen Judentums war, beklagte schon 1932 unzulässig verallgemeinernde
Aussagen: "Den abstrakten ,Juden an sich' gibt (es) in Wirklichkeit nicht ... " und
"eine Summierung so ungleicher Größen, wie es die ,konkreten Juden' sind, zu dem
einheitlichen Begriff ,die deutschen Juden' (ist) nur nach Vornahme höchst frag-
würdiger soziologischer Manipulationen möglich." (Reichmann 1974, S. 18)

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nen. In der Didaktik und Schulpädagogik gilt die Kenntnis soziokultureller
und anthropogener Merkmale als unverzichtbare Voraussetzung für kompe-
tentes pädagogisches Handeln, aber auch für die Analyse und Beurteilung
von pädagogischer Programmatik sowie von Unterrichts- und Erziehungspra-
xis. Bei der Analyse und Bewertung einer Erziehung, die auf die Beeinflussung
von Werthaltungen, Einstellungen und Weltanschauungen abzielt, ist eine
genaue Kenntnis der in den Schülerfamilien vorhandenen Bewußtseinsfor-
men besonders wichtig.
Eine solche differenzierende Analyse kann jedoch auch zu unerwarteten
Schwierigkeiten führen. So hat sich in dieser Arbeit Z.B. gezeigt, daß die
Prozesse der kulturellen Angleichung der PriWaKi-Familien an die nichtjüdi-
sche Gesellschaft viel zu ungleich verlaufen sind, als daß sie noch mit dem über-
greifenden Begriff der ,,Assimilation" zureichend erfaßt werden könnten, wie dies
in den meisten älteren historiographischen und allgemeinsoziologischen Arbei-
ten (z.B. in Ruppin 1920; Richarz 1982; Rürup 1987) zur Geschichte der Ju-
den meistens der Fall ist. Angenommen wird dabei, daß kulturelle Anpassung
und der Verlust des jüdischen Bewußtseins unabdingbar miteinander verbun-
den gewesen seien, was aber bei einem Teil der PriWaKi-Familien und der
deutschen Juden durchaus nicht so war. Wir haben deshalb den ersten Teil
dieser Arbeit begrifflich wieder umgestalten müssen und unterscheiden nun-
mehr systematisch zwischen Akkulturation, Assimilation und Integration.
In der historischen und älteren soziologischen Diskussion wurden bei der
Beschreibung der Entwicklung des Judentums in Deutschland vorrangig die
Begriffe "Emanzipation" und "Assimilation" benutzt.
"Emanzipation" ist der ältere Begriff, der schon mit der Emanzipations-
diskussion Mitte des 18. Jahrhunderts entstand. Darunter wurde von Anfang
an die rechtlich-politische Gleichstellung der Juden und damit ihre Befreiung
von den gesetzlichen Einschränkungen ihrer Bürgerrechte verstanden. In die-
ser Bedeutung ist der Begriff bis in die Gegenwart hinein im Grunde nicht
verändert worden. Auch in dieser Arbeit verwenden wir den Terminus in der
gleichen Bedeutung.
Mit dem Emanzipations-Begriff ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurden
auch andere Begriffe, wie etwa der der "Verschmelzung" (Rürup 1987, S. 98)
der Juden mit der christlichen Gesellschaft, verbunden, und Dohm sprach in
seiner berühmten Schrift von der "bürgerlichen Verbesserung" der Juden.
(Dohm 1781, zit. in Rürup 1987, S. 96)
Damit waren neben den gesetzlich geregelten Emanzipationsvorgängen
auch Akkulturations- und Assimilationsprozesse angesprochen. Auch der Be-
griff der "Amalgamierung" wurde verwendet, bevor er in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts zunehmend durch ,,Assimilation" abgelöst wurde. (Vgl.
Schatzker 1988, S. 16) ,,Assimilation" ist bis heute der am häufigsten verwen-
dete Begriff für den Prozeß der Übernahme deutscher Kultur durch die im
18. und 19. Jahrhundert in Deutschland lebenden Juden und den der weiteren
Angleichung an die nichtjüdische soziale Umwelt geblieben. Er schließt - so-
fern nicht explizit anders definiert - in seiner Bedeutung auch den Akkultura-

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tionsprozeß ein und wird zumeist auch dort verwendet, wo wir nur von Ak-
kulturation, nicht aber von Assimilation sprechen wollen.
Die Unterscheidung möchten wir wie folgt vornehmen: Unter Akkultura-
tion verstehen wir mit Schatzker "die Annahme der deutschen Sprache, Kultur,
Formen, Denkweisen und Mentalitäten, auch die unter der Voraussetzung des
Fortbestandes der jüdischen Substanz, Religion und Bewahrung eines noch
näher zu identifizierenden Gefühls der Zusammengehörigkeit, meist als ,jüdi-
sches Bewußtsein' bezeichnet". (Schatzker 1988, S. 17) Auf den Zusammen-
hang der beiden Teile der Definition kommt es uns besonders an, denn wir
möchten nur die Form der kulturellen Anpassung als Akkulturation bezeich-
nen, der nicht den Verlust des jüdischen Bewußtseins einschließt.
Demgegenüber verwenden wir die Begriffe Assimilation und Integration
sehr viel eingeschränkter und auch spezifischer als Schatzker, für den sie eher
Oberbegriffe bleiben. Mit Assimilation bezeichnen wir den Prozeß der Ent-
fremdung vom Judentum, also die mit der Akkulturation häufig verbundenen
(aber nicht zwangsläufig sich einstellenden) Phänomene wie ,jüdische reli-
giöse Indifferenz, das Schwinden von jüdischem Bewußtsein, von jüdischem
Zusammengehörigkeitsgefühl und von jüdischem Wissen ... " (Ebd.)
Die Notwendigkeit, zwischen Akkulturation und Assimilation analytisch
zu unterscheiden, entsteht erst, wenn differenzierende soziologische und so-
zialpsychologische Analysen von jüdischem Leben und jüdischen Bewußt-
seinsformen vorgenommen werden. Je konkreter und differenzierter diese
Analysen angelegt werden, um so deutlicher kristallisiert sich die Unterschied-
lichkeit verschiedener Formen jüdischen Selbstbewußtseins heraus, die mit
dem Assimilationsbegriff nicht mehr zureichend zu erfassen sind. Dies gilt
insbesondere für religiös eingestellte Juden, für Zionisten, aber auch schon
für engagierte Mitglieder des "Centralverein(s) deutscher Staatsbürger jüdi-
schen Glaubens" (C.V.). Feinere, z.B. biographische Unterschiede, sind dabei
noch nicht einmal berücksichtigt.
Akkulturation ist ein noch relativ junger Begriff im Zusammenhang mit
der Beschreibung jüdischer Anpassungsprozesse. Er ist vor allem durch die
angelsächsische (amerikanische) Forschung eingeführt worden, die nicht nur
die "äußere" historische Entwicklung des deutschen Judentums erfaßt hat,
sondern sehr viel stärker als sozialwissenschaftlich akzentuierte Forschung auch
die "inneren", d. h. die sozialen und sozialpsychologischen Umstände und Ent-
wicklungen. Dabei ist erkannt worden, daß der Assimilationsbegriff zu pau-
schal ist: "German Jews commonly spoke of acculturation as ,assimilation', a
usage that will be followed here, although some caution is necessary". (Poppel
1977, S. 12) Vor allem die älteren deutschen historischen Forschungsarbeiten
sind zum großen Teil von Nichtjuden mit einer entsprechenden Außen sicht,
die englisch-sprachigen überwiegend von Forschern jüdischer Herkunft ge-
schrieben worden, die sich naheliegenderweise mehr für die Gefühle, Einstel-
lungen und Identitätskonzepte des deutschen und europäischen Judentums
interessieren - vielleicht auch deshalb, weil ihre Familien häufig noch dazu-
gehört haben. (Vgl. z.B. P. Gay 1989)

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Auf diese Weise hat der Begriff der Akkulturation (acculturation,
manchmal auch adaptation - vgl. Poppel 1977, S. 11) auch Eingang in deut-
sche Forschungsarbeiten gefunden, die sich in den letzten Jahren zunehmend
mit der sozialen Wirklichkeit des jüdischen Lebens in Deutschland befaßt ha-
ben. Es ist deshalb für diese Entwicklung kennzeichnend, wenn z.B. Monika
Richarz in ihrer 1982 erschienenen Untersuchung ,,Jüdisches Leben in Deutsch-
land" sich noch mit dem Begriff Assimilation begnügt, in ihrem 1989 er-
schienenen Buch "Bürger auf Widerruf - Lebenszeugnisse deutscher Juden
von 1780 bis 1945" hingegen häufig auf den Begriff Akkulturation zurück-
greift, um zu unterstreichen, daß trotz des kulturellen Integrationsprozesses
auch für die Zeit vor 1933 nicht von einer widerstandslosen Selbstaufgabe
des jüdischen Bewußtseins gesprochen werden kann. (Vgl. Richarz 1989, S.
45) Wenn in älteren deutschsprachigen Arbeiten (von jüdischen Autoren oder
Herausgebern) auf dieses noch verbliebene jüdische Selbstbewußtsein trotz
aller Anpassung hingewiesen werden soll, werden auch Umschreibungen wie
z.B. ,,kulturelle Assimilation" benutzt. (Vgl. Ettinger 1980,S. 129ff)
Wer über soziologische Untersuchungen hinaus die Identitätsprobleme
deutscher Juden vor und nach 1933 auch in ihrer sozialpsychologischen Di-
mension erfassen will, stößt sehr bald auch auf das Problem der Integration.
"Integration" meint in der Literatur zumeist die kulturelle Integration, also
die Akkulturation, die von den Juden selbst vollzogen werden konnte, nach-
dem ihnen durch die Emanzipationsgesetze gesellschaftliche Institutionen
zugänglich geworden waren. Davon zu unterscheiden ist jedoch die soziale
Integration, die von dem Akzeptiertwerden durch die nichtjüdische Mehrheit
abhing. Die in dieser Arbeit untersuchte Identitätsproblematik war vor allem
ein Problem verweigerter sozialer Integration. In dieser Bedeutung wird der
Begriff in dieser Arbeit zumeist benutzt.
Im zweiten Teil dieser Fallstudie soll die Leistung der in der PriWaKi
praktizierten Reformpädagogik für die Bewältigung der schwierigen Situati-
on jüdischer Schüler in der Hitlerzeit untersucht werden.
Voraussetzung war dafür auch, die Schulgeschichte sowie die Entwick-
lung des Schulaufbaus zu rekonstruieren. Mit dem Zugriff auf eine Schule ist
eine soziale Institution und Organisation gewählt worden, deren Vergesell-
schaftungsfunktion für die Mitglieder gut zu erkennen und demzufolge auch
gut zu beurteilen ist. Gesamtgesellschaftliche, politische und ideologische
Entwicklungen und Umwälzungen, wie sie etwa mit der ,,Machtergreifung"
1933 eingeleitet wurden, können in ihren Auswirkungen auf die Schule gut
dargestellt und zugleich kann verfolgt werden, wie eine Weitervermitdung
und Verlagerung an die Mitglieder (Lehrer, Schüler, Familien) dieser Schule
erfolgt, und diese dann ganz konkret zu Betroffenen der Politik wurden. Eine
jüdische Schule wie die PriWaKi darf dabei aber nicht einfach als Instrument
der Transmission nationalsozialistischer Rassenpolitik gesehen werden, son-
dern muß als eine trotz aller Verfolgung noch relativ autonome und flexible
Institution mit Handlungs- und sogar einem gewissen Widerstandspotential
betrachtet werden. Auch das zeichnet sie als Objekt wissenschaftlichen Inter-

15
es ses aus. Die PriWaKi kann somit auch als Ort und Medium für die Dar-
stellung deutsch-jüdischer Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der
deutsch-jüdischen Identitätsentwicklung (aber auch ihrer eingeleiteten Zer-
störung) gesehen werden. Sie war eine gesellschaftliche Einrichtung, in der
allgemeine sozialgeschichtliche Entwicklungen des deutschen Judentums, die
rassen- und bildungspolitischen Absichten und Maßnahmen im "Dritten
Reich" sowie die Biographien der Lehrer und Schüler zusammenliefen und
miteinander verknüpft wurden. Es lassen sich also Auswirkungen von Ge-
schichte ,und Politik über die Schule bis auf die Ebene von individuellen Le-
bensläufen hin nachzeichnen. Diese Verknüpfung und Konkretisierung ist ein
zentrales methodisches Anliegen dieser Arbeit, denn die bisher vorliegenden
wichtigsten Arbeiten zu den Problemen jüdischer Schulen und Erziehung im
nationalsozialistischen Deutschland (Walk 1991, Weiß 1991, Röcher 1992)
geben zwar einen guten Überblick über die Gesamtsituation, können aber
aufgrund ihrer Konzeption die Auswirkungen auf die Betroffenen sowie de-
ren Reaktionen nicht systematisch und biographisch, sondern nur sporadisch
und illustrativ berücksichtigen.
Einen Gegenpol in methodischer Hinsicht bilden die von Monika
Richarz (1982) dokumentierten Biographien, die auch ganz konkret die Ein-
brüche gewaltsamer Politik in die Lebensläufe von Menschen darstellen, aber
Verallgemeinerungen über die damalige Situation der verfolgten Bevölke-
rungsgruppe nicht so weit zulassen wie die Geschichte einer Schule und die
Erfahrungen einer größeren Schülergruppe.
Die oben genannte Literatur über die Situation jüdischer Schüler und
Schulen im "Dritten Reich" umfaßt neben den zahlreichen Erlassen und
Maßnahmen, die überwiegend aus dem Erziehungs-, aber auch aus dem In-
nenministerium und von anderen Dienststellen kamen, auch die vielfältigen
Maßnahmen der jüdischen Gemeinschaft selbst, die sie zur Einrichtung und
zur inhaltlichen Gestaltung (Richtlinien, Lehrpläne, Unterrichtsmittel) ihres
eigenen Schulsystems getroffen hat. Obwohl in dieser Literatur auch betrof-
fene Lehrer und Schüler zu Wort kommen, muß die Situation an den Schulen
doch weitgehend einer äußeren Betrachtung unterliegen; es werden die Richt-
linien, Lehrpläne, Schulbücher sowie Verlautbarungen führender jüdischer
Pädagogen und sonstiger Repräsentanten des jüdischen Gemeinwesens be-
rücksichtigt.
Das eigentliche Schulleben und die Wirksamkeit der pädagogischen Ab-
sichten und Bemühungen kann so jedoch nur begrenzt erfaßt und beurteilt
werden, denn besonders Richtlinienpräambeln, Schulprospekte etc. zeigen
zumeist eine idealisierte "Feiertags-Pädagogik", die den Nachweis ihrer Ef-
fektivität nicht führen muß. Dieser Nachweis wird jedoch für die PriWaKi im
zweiten Teil dieser Arbeit versucht, wobei die befragten SchülerInnen unter
Bezug auf ihre Biographie nach mehr als einem halben Jahrhundert eine Be-
wertung der PriWaKi-Pädagogik vornehmen. Darüber hinaus werden aber auch
Schulerinnerungen sowie die noch vorhandenen Erinnerungen an die natio-
nalsozialistische Verfolgung während der Zeit an der PriWaKi dargestellt.

16
Es gibt zwei Buchpublikationen, die als "Schulportraits" ebenfalls Erin-
nerungen ehemaliger Schüler und Schülerinnen an eine jüdische Schule wäh-
rend des Nationalsozialismus enthalten, und zwar die von S. Heims (1987)
und L. Schachne (1989) editierten Werke über die Goldschmidt-Schule (1935-
1939) und über das Landschulheim Herrlingen (1933-1939). In den Erinne-
rungen wird auch einiges über das Schulleben und über biographische Ein-
flüsse der Erziehung erwähnt, und ein begrenzter Vergleich mit der PriWaKi
wird möglich.
Die Evaluation der nach 1933 an der PriWaKi praktizierten Reformpäd-
agogik wird in dieser Arbeit wesentlich durch die Aussagen der Schüler und
Schülerinnen vorgenommen. Da auch die Fragebögen oft überraschend aus-
führlich beantwortet worden sind, wird ein Teil der Antworten wörtlich wie-
dergegeben, damit die inhaltliche Reichhaltigkeit und Authentizität des Ge-
sagten erhalten bleibt.
Damit wird ein Stück weit auch die "Oral History" und die "biographi-
sche Methode" angewandt,S die sich besonders bei der Darstellung des Schul-
lebens und der Erlebnisse mit dem Nationalsozialismus als unentbehrlich er-
weist. Aber auch einem möglicherweise wirksam gewordenen biographischen
Einfluß der PriWaKi-Pädagogik auf die Schüler und Schülerinnen wird mit
der Anwendung dieser Methodik nachgegangen. Unter anderem soll heraus-
gefunden werden, ob der Besuch der PriWaKi den Lebenslauf erkennbar be-
einflußt hat und was aus der ehemaligen deutsch-jüdischen Identität inzwi-
schen geworden ist.
Hinter dem in dieser Arbeit zentralen und immer wieder benutzten Be-
griff der Identität stehen mehrere Identitäts-Konzepte, die kontext- und pro-
blemspezifisch ihre jeweilige heuristische Funktion erhalten: Es sind dies die
Konzepte der kulturellen Identität (vgl. Krewer, Eckensberger 1991), der
ethnischen Identität (vgl. ebd., S. 592; De Vos 1975), der sozialen Identität
(vgl. das "Me" bei G. H. Mead 1934, dt. 1973) sowie der Ich-Idenität. (Vgl.
Erikson 1971, 1970)
Die Verschiedenartigkeit der Identitäts-Konzepte läßt eine eindeutige
Definition von "Identität" nicht zu (vgl. Erikson 1970, S. 7; Fend 1991, S. 21);
gelten kann jedoch die Aussage: "Wer ,Identität' besitzt, ist unterscheidbar
von anderen und weiß dies auch selbst." (Baacke 1983, S. 141)
Wenn in dieser Arbeit von deutscher und jüdischer Identität und vom
jüdischen Bewußtsein die Rede ist, dann ist die kulturelle Identität6 gemeint.

5 Zur "Oral History" vgl. Lutz Niethammer 1985. Von Relevanz für das methodische
Vorgehen in dieser Arbeit ist besonders der Zusammenhang von Lebenslauf, Soziali-
sation und erinnerter Geschichte sowie auch eine etwas weniger strenge Form der
biographischen Methode. Vgl. dazu auch Jan Szczepanski 1967. Die niedergeschrie-
benen Interviews und die Fragebogen-Antworten, aber auch Briefe und andere
Quellen biographischen Inhalts sind in dieser Arbeit als "persönliche Dokumente"
verstanden und interpretiert worden.
6 Von einem Konzept kultureller Identität zu sprechen, ist eine Vereinfachung, die im
Rahmen dieser Arbeit allerdings notwendig ist, da angesichts der Vielfalt der Kon-

17
Dieses Konzept erfaßt das Spektrum der jeweiligen Bewußtseinsformen, die
aus der jüdischen Herkunft und aus der Sozialisation in Deutschland resultier-
ten und "das soziokulturelle Selbst des Individuums" (Krewer, Eckensberger
1991, S. 590) bestimmten. Darüber hinaus werden damit die kulturellen und
bewußtseinsmäßigen Neuorientierungen beschrieben und interpretiert, die
durch die gewaltsamen Verdrängungen aus dem sozialen und kulturellen Le-
ben in Deutschland sowie durch die Akkulturation in den neuen Zufluchts-
ländern notwendig wurden und zu einem Umbau des soziokulturellen Selbst
führen mußten.
Während das Konzept der kulturellen Identität in fast allen Kapiteln dieser
Studie seine Anwendung findet, muß das ergänzende Konzept der ethnischen
Identität seltener thematisiert werden. Aufgebaut und wirksam geworden ist die
Vorstellung einer ethnischen Identität bei den deutschen Juden vor 1933 fast
nur in der relativ kleinen Gruppe der deutschen Zionisten - und auch dort eher
halbherzig. Breiteste Akzeptanz, auch bei den PriWaKi-SchülerInnen, die nicht
zionistisch geworden sind, hat Herzls Forderung nach ethnischer Zusammen-
gehörigkeit (Herzl 1896: "Wir sind ein Volk ... ") dann durch die Kollektiv-
erfahrung der Ausgrenzung, der Vertreibung und der Vernichtung gefunden.
Bis zur Emigration und besonders nach der Machtübernahme Hitlers
drückte sich die Suche nach kultureller Identität noch in der Frage aus: Wer
bin ich als Deutscher und Jude? Oder auch (besonders ab 1933): Wer bin ich
als Jude und Deutscher? Die Frage lautete bei den weitaus meisten deutschen
Juden nicht: Bin ich Jude/Jüdin oder DeutscherIDeutsche? Jüdische Kultur
hatte sich bei den in Deutschland lebenden Juden schon im 19. Jahrhundert
mit der deutschen so weit amalgamiert, daß ein Abtrennen oder Herauslösen
nicht mehr möglich war. 7
Die Frage: "Was ist jüdisch?" konnte deshalb für die akkulturierten deut-
schen Juden empirisch nicht mehr beantwortet werden. (Vgl. Gay 1989, S.
197ff). Auch Antisemiten konnten Antworten nur durch Stereotypenbildung

zepte der Identität (bzw. des Self oder Selbst), aber auch der Kultur (vgl. Krewer,
Eckensberger 1991), sonst eine differenzierte methodologische Diskussion geführt
werden müßte, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen und ihren Charakter als hi-
storisch-empirische Schul- und Sozialisationsforschung verändern würde. Wie sei-
nerzeit Erikson, möchten wir lieber "metapsychologische Fragen denen überlassen
(.), die in dieser Art zu denken zu Hause sind."(1971, S.9) Die Diskussion auf einer
Metaebene bleibt gleichwohl notwendig, um z. B. vor Verengungen und ideologi-
schen Instrumentalisierungen des Identitätskonzepts zu warnen. Letzteres wäre der
Fall, wenn unter Bezug auf "kulturelle Identität" Konformismus und Einheit statt
Differenz und Vielfalt gefordert oder gar hergestellt würden. (V gl. Wieseltier 1995)
7 Das hat Peter Gay überzeugend nachgewiesen. (Vgl. Gay 1989; vgl. auch Gay und
Pul zer in Paucker 1986) Von einer "deutsch-jüdischen Symbiose" (Buber 1939; zit.
in Bein 1980, S. 329 ) kann vielleicht dann gesprochen werden, wenn die Amalga-
mierung deutscher und jüdischer Kultur gemeint ist. Weit weniger angebracht
scheint dieser Begriff zu sein, wenn damit die vorbehaltlose soziale Anerkennung
durch die nichtjüdische Mehrheit der Deutschen festgestellt werden soll. (Vgl.
Scholem 1987)

18
finden - darauf lief eine solche Fragestellung letztlich zumeist hinaus. (Vgl.
Dünkelsbühler 1994) Die Stereotypen, nicht die sozialen Tatsachen, lieferten
dann die Motive für die soziale Ausgrenzung bis hin zur Vernichtung.
Wenn in dieser Arbeit von deutsch-jüdischer Identität die Rede ist, dann
nicht im Sinne einer Abtrennung des Jüdischen vom Deutschen. ,,Jüdisches
Bewußtsein" oder ,jüdische Identität" meint vielmehr Bestandteile einer viel-
fältigen soziokulturellen Identität, die als "deutschjüdische" das Resultat einer
Integration beider Kulturen war. Eine Trennung konnten selbst die Nazis nicht
erzwingen, solange deutschsprachige Juden in ihrem Herrschaftsbereich noch
leben durften.
Ab 1933 wurde für jüdische Schulkinder und Jugendliche die soziale Iden-
tität (das ,,Me" i. S. v. G. H. Mead 1973) zu einem besonderen Problem. Das
,,Me" ist zu verstehen als der "verallgemeinerte Andere"; d. h. als ein Bewußt-
seinskonstrukt, das sich "durch die Übernahme der Haltungen anderer entwik-
kelt." (Ebd. 1973, S. 217)
Die Haltungen anderer waren aber für die jüdischen SchülerInnen da-
mals die hautnah erfahrenen Ablehnungen, Herabsetzungen und Aggressio-
nen durch nichtjüdische Lehrer, Schul- und Spielkameraden, feindselige Er-
wachsene etc. (Vgl. Kap. 6) Durch eine Selbstattribuierung konnte daraus
leicht ein negatives "Me" werden.
Da das "Me" jedoch mit dem "I" (Ich) korrespondiert und sich daraus
das "Self' (Ich-Identität) entwickelt (vgl. Mead 1973, S. 324), muß ein negativ
geprägtes ,,Me" zwangsläufig destruktiv auf die Ich-Identität wirken. Es entsteht
dann die Gefahr einer ,,1dentitätsdiffusion", die sich u. a. in einer ,,zersplitterung
des Selbstbildes" , einem "Verlust der Mitte" und in einem "Gefühl der Ver-
wirrung" ausdrückt. (Erikson 1971, S. 154)
Diese Formen der Identitätsdiffusion traten auch bei jüdischen Schülern
ab 1933 verstärkt auf. Darüber hinaus konnte es zur Entstehung einer
"negativen Identität" (ebd., S. 165) kommen; bei deutschen Juden drückte sie
sich als ,jüdischer Selbsthaß" (Th. Lessing 1930, P. Gay 1989, S. 210ff , S.
L. Gilman 1993) aus. 8
Deshalb mußte es den Eltern, Lehrern und vor allem den Kindern und
Jugendlichen selbst gelingen, trotz aller sozialer Ausgrenzungen und Anfein-
dungen und trotz kultureller Ausgrenzungsversuche ab 1933 eine stabile Ich-
Identität (i. S. von Erikson 1971) zu entwickeln. Darin bestand der eigentli-
che Widerstand gegen den Willen der Nazis, den Juden und dem Judentum
jeglichen menschlichen und kulturellen Wert abzusprechen. Gelingen konnte
dies nur durch den Aufbau einer von den Schülern intellektuell und emotional
akzeptierten kulturellen und sozialen Gegenwelt zur nationalsozialistisch ge-

8 " ... unbewußt integriert der Außenseiter die Tatsache, daß er abgelehnt wird, in sein
Selbstbild ... Selbsthaß entsteht, wenn die Trugbilder der Stereotypen mit der Wirk-
lichkeit verwechselt werden, wenn der Wunsch, akzeptiert zu werden, die ,Einsicht'
in die eigene ,Andersartigkeit' erzwingt." (Gilman 1993, S. 140 Gay spricht von ei-
ner ,,Identifizierung mit dem Aggressor". (1989, S. 221)

19
prägten Kultur und Gesellschaft. In dem Maße, wie der jüdischen Gemein-
schaft und den jüdischen Erziehern der Aufbau von kulturell anspruchsvollen
und sozial-emotional befriedigenden Umwelten (wenn auch nur als Enkla-
ven) gelang, hatten auch jüdische Schüler und Schülerinnen die Möglichkeit,
eine positive Ich-Identität zu entwickeln. Ihr Selbstbild war damit nicht mehr
primär durch den propagierten und auch erfahrenen Unterschied zu nichtjü-
dischen Gleichaltrigen geprägt, sondern auch durch die Unverwechselbarkeit
der eigenen Persönlichkeit in den unmittelbaren sozialen Bezugsgruppen (Familie,
Schule, Jugendgruppe etc.) innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Soweit die
Herstellung einer solchen positiven Gegenwelt gelang, wurde gerade das er-
zwungene "Abseits" zu einem relativ "sicheren Ort" (P. Brückner 1980) für
die Entwicklung einer selbstbewußten Persönlichkeit.
Dies läßt einen - zunächst nicht naheliegenden - Sichtwechsel auf den
Sozialisationsmodus jüdischer Kinder im "Dritten Reich" (bis ca. 1939) zu.
Deren identitätsbildende Prozesse sollten eher als gelingende denn als gestörte
beschrieben werden, ohne damit die Gefährdung über das angegriffene ,,Me" zu
ignorieren oder gar die nationalsozialistische Politik zu verharmlosen, denn
eine solche Normalität war nur durch die besonderen Anstrengungen der jü-
dischen Gemeinschaft und ihrer Erzieher möglich.
Wie aus manchen Reaktionen bei der Kommunikation mit den ehemali-
gen SchülerInnen der Privaten Waldschule interpretiert werden kann, wollen
sie retrospektiv den objektiven Ghetto-Zustand ihrer damaligen Lebenswelt
nicht auch als subjektiv empfundene Erfahrungswelt verstanden wissen - inso-
fern betonen sie trotz aller beklagten Diskriminierungen und Ausgrenzungen
eher ein Normalitäts-Konzept in bezug auf die damaligen Bedingungen für
ihre Persönlichkeitsentwicklung.
Die oben beschriebenen Identitätskonzepte (kulturell, ethnisch, sozial, per-
sonal) können nicht als voneinander abgrenzbare betrachtet werden, sondern
nur als Identitätsaspekte oder Faktoren eines komplexen identitätsbildenden
Prozesses. Gelungene Identitätsbildung bedeutet damit auch die Herstellung ei-
ner integrierten Identität. Das wiederum heißt nicht, daß eine solche integrierte
Identität durch und durch harmonisch und spannungsfrei sein muß. Im Gegen-
teil: Es bestanden vor allem durch die Existenz des Antisemitismus Spannun-
gen zwischen deutschen und jüdischen Elementen der soziokulturellen Identi-
tät, die auf vielerlei Weise individuell und zum Teil auch kollektiv (z.B. durch
den "Centralverein" oder die ,,zionistische Vereinigung") verarbeitet wurden.
Nicht wenige der Erfolge, die Juden in wichtigen Bereichen der deut-
schen Gesellschaft vor 1933 errungen hatten, dürften auch durch die Bearbei-
tung dieses Spannungsverhältnisses von deutsch und jüdisch mitbedingt ge-
wesen sein, indem es Engagement, Produktivität und Kreativität besonders in
kulturellen Bereichen motivierte. Der permanente Antisemitismus sorgte in-

20
des dafür, daß dieses Spannungsverhältnis nie ganz aufgelöst werden konnte,
auch bei denjenigen nicht, die ganz im "Deutschtum" aufgehen wollten. 9
Dies ließ eine harmonische Identität nicht zu, aber es muß den Betroffe-
nen überlassen bleiben, ob und inwieweit sie in ihren Identitätsproblemen
oder verschiedenen "Teilidentitäten" eher ein positives Potential oder eine
Belastung sehen.
Bei der sozialen Identität scheint die Einstellung jedoch eindeutig. Nie-
mand möchte jemals mehr ein "marginal man" sein - auch wenn ihm oder ihr
die Vertreibung aus Deutschland vielfältige und überwiegend positiv bewer-
tete Lebens- und Kulturerfahrungen eingebracht haben sollte. Die Paria-
Erfahrung in Deutschland scheint zumindest bei den SchülerInnen, die die
Phase der frühen Adoleszenz noch in Deutschland erlebten, nachhaltig trau-
matisierend gewirkt zu haben.
Inhaltlich ist die Arbeit folgendermaßen strukturiert: Zunächst (im Kap. 1)
wird die Geschichte der Berliner Juden unter besonderer Berücksichtigung
ihrer rechtlichen Emanzipation, aber auch ihres Außenseiter-Status, in einer
knappen Skizze zusammengefaßt. Damit ist die Grundkonstellation für das
Problem der deutsch-jüdischen Identität bereits angedeutet, und zugleich
existiert ein historischer Bezugsrahmen für die Darstellung der sozialen
Entwicklung der PriWaKi-Familien.
Im 2. Kapitel wird der soziale Aufstieg der PriWaKi-Familien anhand
der Mobilität, Bildungs- und Berufsentwicklung aufgezeigt. Die Darstellung
einzelner Familiengeschichten soll für die notwendige Konkretisierung und
Illustration sorgen. Um die Einwirkung auf junge Menschen durch schulische
Erziehung beurteilen zu können, müssen die vorherrschenden Einstellungen
und Weltanschauungen in den Familien dieser Schüler analysiert werden,
denn es ist vorauszusetzen, daß die Familie als primäre Sozialisationsinstanz
für die grundlegenden Einstellungen von jüdischen Schülern besonders prä-
gend war. Auch Elemente der deutsch-jüdischen Identität in den PriWaKi-
Familien bis zur "Machtergreifung" Hitlers werden mit dargestellt. (Kapitel
3)
Im darauffolgenden Kapitel 4 wird die Schulgeschichte der PriWaKi re-
konstruiert, wobei vor allem die innere pädagogische und die äußere organi-
satorische Entwicklung der Schule in Abhängigkeit von der jeweiligen natio-
nalsozialistischen Politik analysiert wird.
Das 5. Kapitel gilt der Organisation und dem Aufbau der Schule sowie
vor allem ihrer sehr umfangreichen und vielseitigen pädagogischen Pro-
grammatik, die immer wieder den zuvor geschilderten wechselnden politi-
schen Bedingungen angepaßt werden mußte.

9 Dies zeigt Gay (1989) am Beispiel von Freud und prominenten Juden in der Weima-
rer Republik.

21
Hier endet der erste Teil der Arbeit, der im wesentlichen eine umfassen-
de Schulanalyse einschließlich einer Analyse ihrer soziokulturellen Basis
sowie ihres historisch-politischen Bedingungsgefüges enthält.
Der zweite Teil dieser Arbeit besteht aus den biographiebezogenen Erinne-
rungen von ehemaligen Schülern und Schülerinnen der PriWaKi, die sich
zunächst auf die persönlichen und familiären Erfahrungen mit dem National-
sozialismus und auf das außerschulische Leben in den Jahren bis 1939 bezie-
hen (Kapitel 6), dann aber sehr umfassend auf die Besonderheiten und die
biographische Relevanz der PriWaKi. (Kapitel 7) Auf das Identitätsproblem,
dem implizit immer - wenn auch nicht ausschließlich - das Erkenntnisinter-
esse in dieser Arbeit gilt, wird in einern abschließenden Kapitel (8) noch
einmal gesondert eingegangen.
Diese Arbeit ist die gekürzte Fassung meiner Habilitationsschrift, die
1993 vorn Fachbereich 1 der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg an-
genommen worden ist. Diese ursprüngliche Schrift enthält erheblich mehr
Aussagen von ehemaligen SchülerInnen und Lehrern (überwiegend in Eng-
lisch). Dort sind alle Aussagen namentlich belegt, worauf in dieser Arbeit
häufig verzichtet worden ist. Außerdem mußten aus Platzgründen zwei grö-
ßere Kapitel ("Lehrer und Schüler"; "Überleben, Flucht und Emigration") stark
gekürzt oder gestrichen werden, die jedoch in Teilen an anderer Stelle veröf-
fentlicht werden konnten. (Vgl. Fölling in Busemann u.a. 1992) Ersatzweise
sind jedoch kurzgefaßte Biographien der wichtigsten Lehrerinnen und Lehrer
im 5. Kapitel skizziert worden. Literatur, die ab 1993 erschienen ist (z.B.
Fehrs 1993), konnte in dieser Arbeit nur noch sporadisch berücksichtigt wer-
den.
Dank schulde ich zunächst dem Präsidenten der Universität Oldenburg, Prof.
Dr. Michael Daxner, der mir diese Arbeit ermöglicht hat. Besonderer Dank
gilt der ehemaligen Schulleiterin Lotte Kaliski, die heute in New York einen noch
sehr aktiven Lebensabend verbringt und sich sehr offen gegenüber dieser Ar-
beit gezeigt hat, obwohl dadurch auch schmerzhafte Erinnerungen wachgeru-
fen wurden.
Wie schon erwähnt, haben etwa 100 Personen mehr oder weniger größe-
re Beiträge und Informationen zu dieser Arbeit geliefert. Darunter waren et-
wa 70 ehemalige Schüler und Schülerinnen und zusammen mit Lotte Kaliski
auch noch fünf ehemalige Lehrer und Lehrerinnen. Die meisten Schüler und
Schülerinnen haben einen umfangreichen Fragebogen ausführlich ausgefüllt,
was gegenüber einern ihnen unbekannten nichtjüdischen deutschen Wissen-
schaftler mit sehr viel Vertrauen verbunden gewesen sein muß, denn viele
Antworten enthielten auch Persönliches. Darüber hinaus haben nicht wenige
Alumni weiteres wertvolles Material wie Zeugnisse, Briefe und zahlreiche
Photos geschickt. Andere haben lange Korrespondenzen und teure Übersee-
Telefonate nicht gescheut, um offene Fragen zu klären.
Ihnen allen bin ich sehr zu Dank verpflichtet.

22
1. Berlin - Magnet für Juden aus Ost und West

Entstehung der Jüdischen Gemeinde

Die erste urkundliche Erwähnung finden Berliner Juden bereits in einem In-
nungsbrief von 1295. Darin wird den Wollwebern untersagt, bei den Juden
Garn zu kaufen. (Vgl. H. Simon in L. Geiger 1988, S. VII) Die Geschichte
der Berliner Juden, soweit sie uns bekannt ist, beginnt also mit einer typi-
schen antijüdischen Diskriminierung. Die Diskriminierung der jüdischen Be-
völkerung blieb ein Merkmal der preußischen Politik, unterbrochen eigent-
lich nur während der wenigen Jahre der Weimarer Republik, in der allerdings
der Antisemitismus in der Bevölkerung zunahm. Lange vor der Existenz des
preußischen Staates erwähnen Quellen die Existenz von Juden zwischen
1204 und 1312 in Frankfurt/Oder, Stendal, Spandau und Brandenburg. (Vgl.
Christoffel 1987, S. 33) Wie fast überall in dieser Zeit war ihnen kein ruhiges
Leben beschieden. Sie wurden von Handwerksberufen ausgeschlossen, und
ihren Lebensunterhalt mußten sie mit kleineren Geldgeschäften, Pfandleihen.
Klein- und Hausierhandel sowie Fleisch- und Viehhandel verdienen. Auch
von den Pest-Pogromen blieben sie nicht verschont: 1349 wurden ihre Häu-
ser verbrannt, sie selbst wurden getötet oder vertrieben. Aber schon 1354 gab
es wieder Neuzulassungen in Berlin. 1509 kam es zu einem für diese Zeit ty-
pischen Pogrom, bei dem die Juden ohne jeden Nachweis des Hostiendieb-
stahls beschuldigt wurden. Daraufhin wurden 38 von ihnen auf dem Scheiter-
haufen verbrannt; die anderen wurden vertrieben. (V gl. Simon in Geiger
1988, S. VII f) Kurfürst Joachim III aber mochte auf die Fähigkeiten und
Steuern der Juden nicht verzichten und holte einige zurück. Sein Günstling
wurde der Jude Lippold, der zum Münzmeister und Verwalter der kurfürstli-
chen Kasse avancierte. Auch Lippold erlitt ein Schicksal, das damalige Hof-
juden öfter ereilte: Nach dem Tode seines Herrn wurde er 1573 hingerichtet.
Die Häuser und Läden der anderen jüdischen Familien wurden geplündert und
die Juden wiederum vertrieben. Für fast hundert Jahre waren Berlin und die
Provinz Brandenburg danach ohne jüdische Bevölkerung. (V gl. Christoffel
1987, S. 34)
Die eigentliche Geschichte der Berliner jüdischen Gemeinde beginnt im
Jahre 1671, als Friedrich Wilhelm I (1640-1688), auch der Große Kurfürst
genannt, 50 jüdische Familien, die 1670 aus Wien vertrieben worden waren,

23
als Schutzjuden in Brandenburg aufnahm. (Vgl. Jersch-Wenzel, Jersch 1987,
S. 20) Seine Motive waren dabei durchaus eigennützig: Der Große Kurfürst
wollte nur vermögende Juden in seinem Fürstentum zulassen, die fähig wa-
ren, den Handel und das Manufakturwesen des rückständigen Landes aufzu-
bauen - die klassische Pionierrolle des Judentums war also gefragt. Um 1700
waren aus den 50 Familien bereits 177 Familien geworden, von denen aber
nur 70 einen Schutzbrief hatten. 1714 durfte die erste Synagoge eingeweiht
werden. In Ritus- und Unterrichtsfragen war die noch kleine jüdische Ge-
meinde autonom; der Oberälteste mußte aber durch den Staat bestätigt wer-
den.
Die Existenzbedingungen der Juden in Brandenburg-Preußen wurden im
18. Jahrhundert durch das "General-Privilegium" von 1730 und das "Revidier-
te General-Privilegium" von 1750 bestimmt. Diese Edikte hatten den Zweck,
den Anteil der jüdischen Bevölkerung möglichst niedrig zu halten, um aus ih-
nen den größtmöglichen finanziellen Nutzen zu ziehen und im Zusammenhang
damit ihre wirtschaftliche Betätigung auf Bereiche zu beschränken, die dem
absoluten Herrscher entwicklungsbedürftig erschienen. (Ebd., S. 22)
Die Judenpolitik Brandenburg-Preußens war also auch im 18. Jahrhun-
dert noch von den gleichen eigennützigen Motiven bestimmt, die dazu ge-
führt hatten, die Juden aus Wien nach Berlin und Brandenburg zu holen - also
keineswegs von Großzügigkeit und Toleranz. Andere zugewanderte Grup-
pen, wie zum Beispiel die Hugenotten, wurden weniger diskrimiert als die
Juden.

Emanzipation, Akkulturation, Assimilation

Dennoch begann mit der Aufklärung ab Mitte des 18. Jahrhunderts für die
Juden ein Fünkchen Hoffnung auf ein weniger diskriminiertes Leben zu
glimmen. Die Aufklärung beeinflußte auch die kleine Gruppe der Berliner
Juden sowie Persönlichkeiten aus den gehobenen intellektuellen christlichen
Kreisen Berlins. In der durch Zuzugsbeschränkungen klein gehaltenen, aber
wirtschaftlich überwiegend erfolgreichen jüdischen Gemeinschaft in Berlin
mußte der Wunsch nach Gleichberechtigung erwachen und artikuliert wer-
den. Die Gegner der Judenemanzipation argumentierten jedoch, daß die Ju-
den sich der deutschen Kultur, zum Beispiel in Sprache und Schrift, noch
nicht genügend angepaßt hätten.
Dieser kulturelle Anpassungsprozeß wurde im 18. Jahrhundert fast nur
durch die dünne Oberschicht, im 19. Jahrhundert dann allgemein von den in
den Städten lebenden preußischen Juden vollzogen. Dabei versuchten nicht
wenige - besonders aus der oberen Schicht - die Assimilation durch die Tau-
fe möglichst rasch zu erreichen. Die Mehrheit vollzog diese Anpassung je-
doch zunächst noch unter Bewahrung ihrer jüdischen Kultur. Dies läßt sich
am Wandel des Sprachverhaltens ablesen. (Vgl. Römer 1994) Im 17. Jahrhun-

24
dert war das Hebräische weitgehend durch das Jüdisch-Deutsche ("Jiddisch")
als Umgangssprache abgelöst worden. Dadurch konnten die nur elementar
gebildeten Juden das religiöse Schrifttum (Tora, Talmud) und die Gebete im
Gottesdienst nicht mehr verstehen. Die jüdischen Aufklärer (Maskilim) des
18. Jahrhunderts versuchten daraufhin, den jüdisch-deutschen ,,Jargon" (Ruppin
1904) durch Förderung der Zweisprachigkeit abzulösen, nämlich durch eine Re-
naissance des Hebräischen zur Wahrung der jüdischen Kultur und Identität
sowie durch Hochdeutsch zum Zwecke der Akkulturation. Wenngleich es
nicht gelang, Hebräisch als jüdische Umgangssprache wieder einzuführen,
erfuhr es doch als Literatursprache eine Aufwertung. Gleichzeitig löste das
Hochdeutsche das Jüdisch-Deutsche als Umgangssprache ab. Bis Mitte des
19. Jahrhunderts existierte eine hochdeutsche Schriftsprache mit hebräischen
Buchstaben, die zumindest von denjenigen Juden gelesen und geschrieben
wurde, die bereits Hochdeutsch gelernt hatten, sich aber noch ihre jüdische
Kultur bewahren wollten. Auch die Bibelübersetzung von Moses Mendels-
sohn ist in diesem Kontext zu sehen. Auch sie war in hochdeutscher Sprache
mit hebräischen Schriftzeichen verfaßt und wurde vorwiegend von denen
gelesen, die schon hochdeutsch sprachen. Sie war also nicht oder nicht pri-
mär ein Lehrbuch zum Erlernen des Hochdeutschen. (Vgl. Römer 1994, S.
54) Allerdings hat Mendelssohn auch ein Lesebuch speziell für die jüdische
Freischule (s. u.) mitverfaßt, in dem sowohl das lateinische, deutsche und he-
bräische Alphabet enthalten waren. Das Lesebuch thematisierte jüdische
Kultur, war aber in Hochdeutsch geschrieben. (Vgl. Dietrich, Lohmann 1994,
S.43f.)
Die Kommunikation zwischen aufgeklärten Juden und Nichtjuden wurde
gerade in Berlin besonders intensiv. Auf jüdischer Seite waren es neben Mo-
ses Mendelssohn,1O der übrigens nicht reich war und lange Zeit ohne Schutz-
brief in Berlin leben mußte, z.B. die Kaufleute und Aufklärer David Fried-
länder, Daniel Itzig und Hartwig Wessely.
Auf nichtjüdischer Seite beteiligten sich u. a. der Dichter Lessing, der
Verleger Nicolai sowie der Kriegsrat und Schriftsteller Christian Wilhelm
Dohm an der Diskussion. (Vgl. Bruer 1989, S. 61ff.) Letzterer meinte: "Der
Jude ist noch mehr Mensch als Jude" (zit. in Rürup 1987, S. 18) und schrieb
das für die jüdische Emanzipation so wichtige Buch: Über die bürgerliche Ver-
besserung der Juden (1781), das große Beachtung auch über Preußen und
Deutschland hinaus fand. In seinem Buch machte C.W. Dohm klar, daß die
beklagte fehlende kulturelle Angleichung der Juden letztlich auf ihre Un-
terdrückung zurückzuführen sei; eine "menschenfreundliche Politik" würde
"die Juden zu brauchbaren und glücklichen Gliedern der Gesellschaft (.) bil-
den ... ,,11 Mit der Verwirklichung der Emanzipation und der nachfolgenden
Akkulturation der Juden im 19. Jahrhundert sollte Dohm in vollem Umfang
bestätigt werden.

10 Zur Rolle Mendelssohns in der jüdischen Aufklärung vgl. Bruer 1989, S. 108 ff.
11 C.W. Dohm 1781, abgedruckt in Ehmann u.a., 1988, S. 55f; vgl. auch Grab 1980.

25
Doch konnte der Vorwurf der Rückständigkeit schon in dieser Zeit kaum
für die etablierten und wohlhabenden Berliner Juden gelten, die sich inzwi-
schen so weit akkulturiert hatten, daß ihre Häuser mehr und mehr zur Attrak-
tion gebildeter nichtjüdischer Kreise wurden, wobei besonders die "Berliner
Salons", in denen geistreiche jüdische Frauen wie Henriette Herz oder später
Rahel Varnhagen eine exponierte Rolle spielten, Berühmheit erlangten. 12
Um die Jahrhundertwende brachten die Kriege gegen Napoleon die
Emanzipation weiter voran. 1812 wurde ein Emanzipationsedikt erlassen, das
aus den vormaligen Schutzjuden endlich preußische "Einländer und Staats-
bürger" machte. In dem Edikt wurde den Juden Niederlassungs- und Gewer-
befreiheit zugesichert, sogar "akademische Lehr- und Schul- und Gemeinde-
Aemter" sollten sie verwalten dürfen. 13
Doch mit der Aufhebung der diskriminierenden Bedingungen des Gene-
ral-Privilegium von 1750 wurden aus den Schutzjuden dennoch nur "Bürger
zweiter Klasse". (Richarz 1989, S. 11) Zu den höheren Staats ämtern (Staats-
verwaltung, Militär, Universitätsprofessuren) wurden sie weiterhin nicht zu-
gelassen, und 1822 wurde das Recht, höhere Militärränge und akademische
Lehr- und Schulämter zu besetzen, wieder entzogen. (Vgl. Ehmann u.a. 1988,
S. 64) Außerdem galt das Gesetz nur für die Juden im preußischen Kemland
und nicht für die durch die Teilungen Polens im letzten Viertel des 18. Jahr-
hunderts hinzugewonnenen Ostgebiete wie Z.B. Posen, in denen eine zahlrei-
che jüdische Bevölkerung lebte. Die Restauration ab 1815 sorgte für einen
deutlichen Rückschritt in der rechtlichen Emanzipation, die erst nach einigen
Jahrzehnten wiederhergestellt und verbessert werden konnte.
Gleichwohl nahm das jüdische Leben in Berlin einen wirtschaftlichen
und kulturellen Aufschwung, was wiederum die Akkulturation, aber auch die
Assimilation, d.h. die Liberalisierung und Aufweichung jüdischer Religion
und Tradition begünstigte. Aufgrund der weiterhin bestehenden Einschrän-
kungen für Juden sympathisierten diese mit dem politischen Liberalismus
und beteiligten sich aktiv an der 48er Revolution, die auch eine Verbesserung
ihrer Rechte brachte, denn in der revidierten Verfassung von 1850 wurde die
Gleichheit aller Preußen festgeschrieben. (Vgl. Schoeps in Ehmann, 1988, S.
68) Dies galt nunmehr auch für die Juden aus den Ostprovinzen. Die Folge
war eine stark zunehmende Binnenwanderung in die größeren Städte und
insbesondere nach Berlin. Eine zusätzliche Sogwirkung übte der Industria-
lisierungsprozeß aus, der vielen Juden die Gründung einer Fabrikation oder
eines Geschäftes in Berlin ermöglichte.
Die 60er Jahre begünstigten die weitere Ansiedlung und das Leben in
Berlin. Mit der Reichsgründung von 1871 war die rechtliche Gleichstellung
der Juden in Deutschland gesichert. Die rechtliche Emanzipation war also er-

12 Zum Leben Berliner Juden um 1780 vgl. Henriette Herz 1984; Ehmann u.a. 1988, S.
52; Bruer 1989, S. 211ff.
13 Abgedruckt in Ehmann u.a. 1988, S. 81ff. Zur Entstehung des Emanzipationsedikts
auf Betreiben besonders von v. Hardenberg vgl. Bruer 1989, S. 291ff.

26
reicht; ebenso war die Akkulturation für die in Berlin schon länger lebenden
Juden weitgehend vollzogen. Die aus den Ostprovinzen nunmehr neu hinzu-
ziehenden Juden holten diesen Akkulturationsprozeß zumeist innerhalb kür-
zester Zeit nach, soweit sie ihn nicht schon in den Provinzstädten vollzogen
hatten.

Berliner Judentum im Kaiserreich

Die rechtliche Gleichstellung ab 1871 bedeutete aber nicht, daß die Existenz
der Berliner Juden im Kaiserreich unproblematisch gewesen wäre, denn
nunmehr war sie durch eine besondere Ambivalenz gekennzeichnet: Einer-
seits konnten sich die jüdischen Bürger im Geschäftsleben und in den freien
Berufen ungehindert entfalten und besonders auf dem Kultursektor eine gro-
ße Kreativität entwickeln; andererseits begann nunmehr ein Antisemitismus
neuer Art. Hatten nichtjüdische Kreise bis dahin den Juden u.a. ihre man-
gelnde Anpassung vorgeworfen, so wurden nunmehr ihre gelungene Akkul-
turation und die damit verbundenen geschäftlichen, beruflichen und kulturel-
len Erfolge zum Stein des Anstoßes, wobei die aus dem Osten zuwandernden
Juden als zusätzliche Fremdkörper und Bedrohung empfunden wurden.
So bedurfte es nur eines Auslösers, um den "Berliner Antisemitismus-
Streit" (ab 1879) zu entfachen. (Vgl. Boehlich 1988) Neben den Auswirkun-
gen des sogenannten "Gründerkrachs" von 1873 (vgl. Rürup 1987, S. llOf.)
war es vor allem die Schrift "Unsere Aussichten" von Heinrich v. Treitschke, in
der u.a. die wirtschaftlichen Erfolge und mehr noch "die Schärfe des jüdischen
Geistes" zur nationalen Gefahr hochstilisiert wurden: "Über unsere Ostgrenze
aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine
Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kin-
deskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen".
Die Schrift mündete in den gängigen Slogan: ,,Die Juden sind unser Unglück!,,14
Dieser neue "postemanzipatorische Antisemitismus" (vgl. Rürup 1987,
S. 114) konnte nicht mehr wie früher hinreichend mit religiösen und sozialen
Vorurteilen legitimiert werden, sondern bedurfte einer neuen zusätzlichen
Grundlage, um ihn auch in akademischen Kreisen salonfähig zu machen: Es
war dies ein pseudowissenschaftlicher Rassismus l5 , der später auch die Grund-
lage für Hitlers Ideologie und Judenvernichtungspolitik bildete. Die Juden
saßen damit in einer tödlichen Falle, aus der sie nicht einmal mehr wie früher
durch Konversion entkommen konnten.
Doch diese drohenden Wolken wurden im allgemeinen nicht gesehen;
das Sicherheitsgefühl dominierte. Denn im Kaiserreich hatten die Juden trotz
weiter existierender faktischer Beschränkungen (z.B. beim Zugang zu Offi-
ziers-, Diplomaten- und Professoren-Stellen) speziell in Berlin gute Existenz-

14 H. v. Treitschke, abgedruckt in Boehlich 1988, S. 7-14.


15 vgl. Berding 1988, S. 104ff.; Elbogen, Sterling 1988, S. 256ff.

27
bedingungen. Pogrome des Pöbels wie in Osteuropa oder unkontrollierte
Aktionen von Militärs oder paramilitärischen Organisationen wie am Anfang
und am Ende der Weimarer Republik waren im geordneten kaiserlichen Ob-
rigkeitsstaat nicht geduldet. So konnten sich die Juden in Berlin durchaus si-
cher fühlen, und sie waren ausgesprochen patriotisch oder als Liberale doch
wenigstens loyal gegenüber dem Kaiserreich eingestellt und beteiligten sich
in großer Zahl als Freiwillige am Ersten Weltkrieg. (Vgl. Elbogen, Sterling
1988, S. 28lf.)

In der Weimarer Republik

Der Erste Weltkrieg und seine Folgen verstärkten die Ambivalenz in der
Existenz deutscher und insbesondere Berliner Juden. Trotz des Engagements
jüdischer Freiwilliger wurden die Juden mit dem Vorwurf belastet, Drücke-
berger und Kriegsgewinnler zu sein. Eine Zählung jüdischer Frontsoldaten
im Jahre 1916 hätte diese Vorwürfe zwar widerlegen können, doch ließen
sich die antisemitischen Kreise durch objektive Zahlen ohnehin nicht be-
eindrucken. Die Schuld an der Kapitulation und den als unwürdig empfunde-
nen Kapitulationsbedingungen wurde den Sozialdemokraten und nicht zuletzt
den Juden vorgeworfen. Die Ermordung von Rathenau im Jahre 1922 in
Berlin, der Überfall auf die Ostjuden im Berliner Scheunenviertel und schon
ab 1931 die Überfälle von Nazis auf Juden, die öffentlich auf dem Kurfür-
stendamm stattfanden, zeigten, daß dieser Antisemitismus gegenüber dem
des Kaiserreichs gefährlicher geworden war.
Andererseits - und dies zeigt die noch größere Ambivalenz des jüdischen
Lebens in Berlin gegenüber der Kaiserzeit - wurde die Stadt für Juden noch at-
traktiver: Jegliche berufliche Einschränkungen waren gefallen; Juden konnten
nunmehr auch hohe Beamte, Minister und ordentliche Universitätsprofessoren
werden. Die Möglichkeiten und die Vielfalt im kulturellen Bereich waren so
groß wie nie zuvor. (Vgl. Gay 1989, S. 190ff.) Aus der Monarchie war end-
lich eine Republik geworden, deren liberale Verfassung eine freie Entfaltung
eines jeden Bürgers garantierte. Aber es blieb - besonders in den Krisenzei-
ten - eine "Republik der Außenseiter". (P. Gay 1987) Und die Juden, die die-
se Republik mehrheitlich unterstützten, gehörten zu diesen "Außenseitern".

Jüdisches Leben in BerUn nach 1933

Dies wurde ihnen 1933 nur allzu schnell und drastisch klar gemacht. Schon
nach dem Reichstagsbrand am 27.Februar wurden politische Gegner, unter
denen auch politisch links stehende Juden waren, verhaftet und mißhandelt.
Ende März 1933 wurden "nichtarische" Ärzte, Richter und Rechtsanwälte aus
den Berliner Krankenhäusern und Gerichten verwiesen. Am 1. April erfolgte ein

28
organisierter Boykott "nichtarischer" Geschäfte, Arztpraxen und Anwaltsbüros,
und wenige Tage später wurden alle ,,Nichtarier" aus dem öffentlichen Dienst
entlassen. Mit dem "Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und
Hochschulen" wurden Quoten für Juden an Höheren Schulen und Universitä-
ten festgelegt.
Viele Familien verloren so ihre sichere Existenz, und ihren Kindern wur-
de die Zukunft immer mehr verbaut. Unter dem Druck des Nationalsozialis-
mus griffen die Juden schon früh zur Selbsthilfe, und es wurden im Juni 1933
ein jüdischer Kulturbund und im September eine "Reichsvertretung der deut-
schen Juden" gegründet. Letztere entwickelte sich zur koordinierenden In-
stanz für jüdische Selbsthilfe in allen wichtigen Lebensbereichen und baute
neben der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Selbsthilfe auch ein jüdi-
sches Schulwesen aus. Obwohl nach den ersten schockierenden Maßnahmen
im Jahre 1933 schon einige tausend Juden aus Berlin ins Ausland geflüchtet
waren, konsolidierte sich scheinbar das Leben wieder etwas, da die jüdische
Selbstverwaltung zunehmend besser zu funktionieren begann und öffentliche
Gewaltmaßnahmen in größerem Umfang ausblieben.
Doch die Nürnberger Rassengesetze von 1935 brachten weitere erhebli-
che Diskriminierungen mit sich. "Nichtarier" verloren ihren Status als deut-
sche Bürger. Ab 1937 begannen auch die Zwangsverkäufe ("Arisierungen")
jüdischer Geschäfte und Betriebe einen größeren Umfang anzunehmen. Da-
mit verloren weitere Juden ihre materiellen Lebensgrundlagen und wurden
zur Auswanderung gezwungen. (Vgl. Barkai 1988)
Mit der Reichspogromnacht im November 1938 (vgl. Pehle 1988) ereig-
nete sich die bis dahin größte Gewaltaktion gegen die Berliner Juden. Die
Synagogen wurden zerstört und 12.000 Männer im KZ Sachsenhausen für
einige Wochen inhaftiert. War bis dahin die Stimmung bei vielen Berliner
Juden noch zwischen Hoffen und Bangen gewesen, so war jetzt endgültig das
Ende aller Illusionen gekommen. Wer konnte, flüchtete so schnell wie mög-
lich ins Ausland, obwohl die Aufnahmebereitschaft dort inzwischen nicht
mehr sehr groß war. Zurück blieben vor allem die mittellosen und älteren
Berliner Juden, von denen die meisten dann die Opfer in den Gaskammern
von Auschwitz und anderen Vernichtungszentren wurden.
Bis 1938, aber auch noch danach, war Berlin mehr denn je zum jüdi-
schen Zentrum in Deutschland geworden. In der Provinz war das Leben für
Juden besonders hart, und in Berlin war die jüdische Selbsthilfe in allen Be-
reichen am besten ausgebaut: Arbeitsvermittlung, Sozialhilfe, Kranken-
versorgung, Schulen, Kulturbund, Auswanderungsberatung und -hilfe kon-
zentrierten sich zum großen Teil in Berlin (vgl. Paucker 1986, Benz 1988),
so daß viele Juden, die nicht von ihren Heimatorten aus direkt auswandern
konnten, nach Berlin zogen, da hier die Existenz als erträglicher empfunden
wurde, obwohl bis zu 2.000 Ausnahmegesetze das Leben zuletzt mehr und
mehr einengten. (Vgl. Moser 1988)
Doch mit dem Kriegsbeginn 1939 wurden die Chancen für ein Entkom-
men drastisch verringert. Am 18.1 0.1941 begannen die ersten Deportationen

29
in das Ghetto Lodz vom S-BahnhofGrunewald aus. Am 20.1.1942 wurde auf
der "Wannsee-Konferenz" die ,,Endlösung der Judenfrage" beschlossen -
auch im absolut negativen Sinne blieb Berlin also entscheidend für das
Schicksal der deutschen Juden.
Die folgenden Deportationen gingen in die Lager-Ghettos des Ostens,
vor allem nach Lodz, Riga und Trawniki. Der erste Transport nach Auschwitz
war im Juli 1942; ab Januar 1943 bis Oktober 1944 gingen alle Transporte von
Berlin aus regelmäßig nach Auschwitz. (Vgl. Ehmann u.a. 1988, S. 323f.)
Am 10.6.1943 wurde dann die Berliner Jüdische Gemeinde ebenso aufgelöst
wie die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland.
Dies war fast das Ende des Berliner Judentums. Von den über 160.000
Berliner Juden bei der ,,Machtergreifung" 1933 konnte die Mehrheit flüchten.
Doch über 50.000 wurden umgebracht. Nur 5.000, Ehepartner von Nichtju-
den und Überlebende im Untergrund, erlebten im April 1945 die Befreiung
durch die sowjetische Armee.

30
2. Mobilität, Bildung und Berufsentwicklung in den
Schülerfamilien

Die Zuwanderung der Juden in Berlin

Um mehr über Akkulturation und Assimilation und im Zusammenhang damit


über die soziokulturell bestimmte Identität der Schüler- und Elternschaft der
Privaten Waldschule Kaliski zu erfahren, haben wir den Zeitpunkt der Zu-
wanderung der Familien bzw. der Familienzweige nach Berlin erfragt und ei-
ne Schülerliste von 1938 auf die Geburtsorte der PriWaKi-Schüler hin durchge-
sehen: Von den 405 Schülerinnen und Schülern, die 1938 die PriWaKi besucht
haben, sind ca. 80 Prozent in Berlin geboren. Jedes fünfte Kind muß also mit
seinen Eltern erst nach seiner Geburt, in der Regel also nach 1922, nach Ber-
lin gekommen sein. Von den 60 Schülerinnen und Schülern aus 50 Familien,
die den Fragebogen beantwortet haben, sind 44 in Berlin geboren worden -
also etwa 73 Prozent. Die Zahlen belegen, daß die PriWaKi noch bis 1938
überwiegend von Berliner Kindern besucht worden ist, jedoch ist der Anteil
der relativ kurz in Berlin lebenden Eltern nicht zu übersehen.
Bei der Auswertung der Antworten auf die Frage nach dem Zuzugsjahr
wird unsere Vermutung, bei den Familien der PriWaKi-Schüler habe es sich
wegen der meistens sehr weitgehenden oder gar vollständigen Akkulturation
zum weitaus größten Teil um ein altetabliertes Berliner Bürgertum gehandelt,
jedoch widerlegt, wobei wir davon ausgehen können, daß sich die Fragebogen-
Gruppe nicht signifikant von der Gesamtschülerschaft unterscheidet. Danach
sind fast zwei Drittel der Großeltern oder der Eltern der PriWaKi-Schülerschaft
erst nach 1895 zugezogen, d.h. die Familien lebten 1938 noch nicht länger
als 40 Jahre in Berlin. Nachfolgend sollen die Zeitphasen des Zuzugs nach
Berlin etwas differenzierter dargestellt werden, zunächst für die Gesamtheit
der Berliner Juden und dann für die PriWaKi-Familien, um einen Vergleich
vornehmen zu können.
Nach dem Zuzug von 50 jüdischen Familien im Jahre 1671 hielten die
Herrscher von Brandenburg-Preußen den Zuzug weiterer Juden strikt be-
grenzt. Als 1750 das General-Privilegium erlassen wurde, mußten sogar 500
der ärmsten Juden die Stadt verlassen, und nur 266 jüdische Familien mit
dem Status von Schutzjuden wurden geduldet. Dennoch gelangten durch An-
nexionen des aggressiv expandierenden Preußen besonders im 18. Jahrhun-
dert Gebiete mit einer zahlreichen jüdischen Bevölkerung an Preußen (West-

31
preußen, Posen, Schlesien); dieser blieb allerdings der Zuzug nach Berlin in
der Regel verboten, so daß 1816 erst 3.373 Juden in Berlin wohnten (1,2
Prozent der Berliner Bevölkerung).16 Das Emanzipationsedikt von 1812, das
den preußischen Juden Niederlassungsfreiheit zusicherte, galt nicht für die
Juden der Ostprovinzen, so daß der Zuzug bis 1850 weiter begrenzt blieb.
1849 gab es in Berlin 9.600 Juden, der Anteil an der Berliner Einwohner-
schaft war auf 2,33 Prozent gestiegen.
Die 48er-Revolution hatte u. a. auch eine Liberalisierung für die Juden
der Ostprovinzen zur Folge, denen jetzt Niederlassungsfreiheit gewährt wur-
de, woraufhin die Zuwanderung nach Berlin sprunghaft anstieg; 1871 wohn-
ten dort bereits 36.000 Juden, was einem Bevölkerungsanteil von 4,15 Pro-
zent entsprach.
Die zunehmende Industrialisierung und das Wirtschaftswachstum ab
1850 und besonders nach der Reichsgründung 1871 erfolgten zwar auch in
Berlin nicht ohne Krisen, doch boten sich dort attraktive Alternativen zur Pro-
vinz, so daß von 1871 bis 1895 die Zahl der in Berlin lebenden Juden auf
94.000 anstieg und mit 4,5 Prozent den höchsten Prozentsatz an jüdischer Ein-
wohnerschaft erreichte, den Berlin jemals hatte. 1910 war die Zahl auf über
142.000 gestiegen, doch war der Anteil leicht auf gut 4 Prozent gesunken.
Die größte Zuzugsdynamik entwickelte sich in der Zeit des Kaiserreichs,
was wiederum darauf hinweist, daß es gar nicht so viele alteingesessene Ber-
liner jüdische Familien gegeben haben kann, wenn man darunter verstehen
will, daß schon die Großeltern in Berlin geboren sind. 17 1871 wohnte nämlich
erst gut ein Fünftel der jüdischen Bevölkerung von 1925 in Berlin. Die Zu-
nahme der anderen vier Fünftel erfolgte dabei ausschließlich durch Zuzug
von außen, da die Geburtenrate bei der jüdischen Bevölkerung tendenziell
sank und nach der Akkulturation und dem wirtschaftlichen und sozialen
Aufstieg niedrig blieb. (Vgl. Richarz 1989, S. 16) Auch die Verluste der
Berliner jüdischen Gemeinde durch Auswanderung, Mischehen und Kon-
versionen konnten nur durch einen verstärkten Zuzug von außerhalb ausge-
glichen werden.
Der Erste Weltkrieg mit seinen verschiedenen Frontverläufen im Osten,
den Gebietsabtretungen und Nationalstaatsgründungen (z.B. Polen, Litauen)
brachte erneut einen Zustrom von jüdischen Einwohnern nach Berlin, die vor
dem Krieg und dessen Folgen geflüchtet waren und die zum Teil auch nicht
mehr in ihre alte Heimat zurück wollten. Die Zahl der jüdischen Bewohner
Berlins stieg damit weiter an. Auch die Wirtschaftskrise Anfang der 20er
Jahre brachte weitere Juden nach Berlin, so daß ihre Zahl im Jahre 1925 die

16 Zu diesen und weiteren Zahlen zur jüdischen Bevölkerung in Berlin vgl. Christoffel
1987, S. 33.
17 Wenn man nur 25 Jahre für eine Generationenfolge annimmt und von 1925 als mitt-
lerem und besonders häufigem Geburtsjahr der PriWaKi-Schülerschaft ausgeht, so
müssen die Großväter um 1875 geboren sein und die Eltern um die Jahrhundertwen-
de. Nicht selten waren sie auch schon früher geboren.

32
vermutlich maximale oder annähernd maximale Höhe von 172.672 Ein-
wohnern erreichte.
Bei der nächsten Zählung im Juli 1933 war die Zahl durch die erste
Fluchtwelle nach Hitlers Machtübernahme schon wieder auf 160.000 gesun-
ken. Trotz kontinuierlicher Emigration weiterer Berliner Juden in den Folge-
jahren gab es 1938, als die PriWaKi mit 405 Schülerinnen und Schülern ver-
mutlich ihre höchste Schülerzahl erreichte, immer noch 140.000 Berliner Ju-
den. Dies lag an dem Zuzug vor allem aus der Provinz, weil die Lebensver-
hältnisse dort fast unerträglich geworden waren. (Vgl. Ehmann u. a. 1988, S.
247) Nach dem Novemberpogrom 1938 gab es dann eine Massenflucht, so
daß 1939 nur noch etwa 75.000 Juden in Berlin lebten, von denen dann ab
1941 über 50.000 deportiert und umgebracht wurden.
Durch einen Vergleich der Zuwanderungsquoten in bestimmten Zeitab-
schnitten soll überprüft werden, ob die Quote der Familien von PriWaKi-
Schülern der jeweiligen Gesamtquote der Berliner Juden entsprach oder ob es
sich insgesamt eher um überdurchschnittlich früh zugezogene Familien gehan-
delt hat. Aufgrund der Tatsache, daß die PriWaKi-Schüler fast ausnahmslos
voll akkulturierte Eltern hatten, könnte man einen solchen überdurchschnittlich
frühen Zuzug vermuten. Das Ergebnis ist, daß nur in 4 Fällen (5,2 Prozent) ein
Familienzweig erwähnt wird, der schon 1850 in Berlin ansässig war. Damals
betrug die Zahl jüdischer Einwohner in Berlin jedoch nur etwa 10.000, d.h.,
daß unter Berücksichtigung der später niedrigen Kinderzahl in den akkultu-
rierten Berliner Familien höchstens etwa 7,5 Prozent der Berliner jüdischen
Bevölkerung der 30er Jahre Vorfahren hatten, die schon 1850 in Berlin ge-
lebt haben. Somit wäre die Quote von 5,2 Prozent bei den PriWaKi-Familien
fast normal. Allerdings sind die Ungenauigkeiten sehr groß. Für diese frühe
Zeit läßt sich mit unseren Daten eine exaktere Bestimmung nicht durchfüh-
ren; eine auffallende Abweichung der PriWaKi-Familien für diese frühe Zeit
ist jedoch weitgehend auszuschließen.
Von 1850 bis 1895 war eine Zeit des intensiven Zuzugs nach Berlin.
Von den PriWaKi-Familien sind in diesem Zeitraum 28,6 Prozent nach Ber-
lin gekommen. Zusammen mit den bereits bis 1850 ansässigen Familien ha-
ben damit kurz vor der Jahrhundertwende etwa ein Drittel (33,8 Prozent) der
Großeltern von PriWaKi-Schülern in Berlin gewohnt.
Zu dieser Zeit war die Zahl der in Berlin wohnenden Juden aber schon
auf etwa 100.000 angewachsen und entsprach damit zwei Dritteln der durch-
schnittlichen jüdischen Bevölkerungszahl der 30er Jahre. Damit ist die Zuwan-
derungsquote der PriWaKi-Großeltern für diesen Zeitraum nur halb so hoch
wie die Gesamtquote. Daraus folgt, daß es sich bei den PriWaKi-Familien
mehrheitlich um relativ spät zugezogene Familien gehandelt hat.
Die Binnenwanderung nach Berlin setzte sich nach 1895 fort, war aber
bei den PriWaKi-Großeltern bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs immer
noch nicht überdurchschnittlich hoch: Es kamen in dieser Zeit weitere Eltern-
teile (11,7 Prozent) nach Berlin, so daß 1914, als die jüdische Einwohner-
schaft Berlins mit knapp 150.000 schon den Durchschnittswert der 30er Jahre

33
erreicht hatte, erst 45,5 Prozent der Eltern in Berlin lebten und somit über die
Hälfte der PriWaKi-Eltern als Berliner Neubürger bezeichnet werden kann.
Die Wirren des Ersten Weltkriegs brachten weitere PriWaKi-Eltern nach
Berlin (10,4 Prozent), so daß Anfang 1920, als schon die ersten späteren
PriWaKi-Schülerinnen und Schüler geboren waren, über die Hälfte der Eltern
(55,9 Prozent) in Berlin lebte. Um diese Zeit muß durch den Schub der nach
Berlin gekommenen Ostjuden (ca. 70.000) die Zahl jüdischer Bewohner
kurzfristig auf über 180.000 angestiegen sein; erst mit deren teilweiser Ab-
wanderung sank sie dann bis 1925 auf gezählte 172.000. Von dieser jüngsten
Ost-Zuwanderung ist die PriWaKi-Elternschaft also nur wenig beeinflußt
worden.
Der nächste Zeitraum schließt die Dauer der Weimarer Republik ein, und
hier ist die Einwanderung von PriWaKi-Eltern bei weitgehend stagnierendem
jüdischen Bevölkerungsanteil besonders hoch und entsprechend überpropor-
tional: Von 1920 bis 1932, dem Gründungsjahr der PriWaKi, ist insgesamt
ein Drittel der Eltern (gezählt als Einzelpersonen) nach Berlin gezogen. 1933,
als Hitler an die Macht gelangte, wohnten also etwa 90 Prozent der Eltern be-
reits in Berlin; die restlichen 10 Prozent kamen dann von 1933 - 1936 wegen
der relativ besseren Lebensbedingungen dorthin.
Wir können also feststellen, daß es sich bei den Eltern der PriWaKi-
Schülerschaft in hohem Maße um Berliner Neubürger gehandelt hat, woraus
jedoch keinesfalls Schlüsse auf eine unvollständige Akkulturation gezogen
werden dürfen. Die Zeit der Weimarer Republik kann als besonders spe-
zifische Zuzugsphase für die Eltern der PriWaKi gelten. Diese kamen häufi-
ger auch als Einzelpersonen, um dann in Berlin eine Berufs- und Familien-
Existenz aufzubauen - oft war aber einer der Partner Berliner bzw. Berline-
rin. Ein besonderer Zusammenhang zwischen generationenlanger Wohndauer
in Berlin und dem Besuch der PriWaKi besteht also nicht. Es hat sogar eher
den Anschein, als ob eine weniger lange Wohndauer in Berlin vor 1933 den
Besuch der PriWaKi begünstigt habe.

Die Herkunft der Berliner Juden und der PriWaKi-


Schüleifamilien

Um mehr über den Sozialstatus und das noch vorhandene jüdische Bewußt-
sein der Berliner Juden und der PriWaKi-Familien sagen zu können, ist es
angebracht, deren Herkunft differenzierter aufzuschlüsseln. Dazu ist es not-
wendig, einen Blick auf das osteuropäische und ostdeutsche Judentum zu
werfen, denn von dort erfolgte im wesentlichen der Zuzug nach Berlin.
Das zentrale Siedlungsgebiet der europäischen Juden wurde nach den
Verfolgungen und Vertreibungen des Mittelalters das Königreich Litauen-
Polen, das bis in das 18. Jahrhundert hinein den osteuropäischen Raum be-
herrschte, bevor es den Annexionen durch Rußland, Preußen und Österreich

34
zum Opfer fiel. Die Grenzen wurden auf dem Wiener Kongreß 1815 festge-
legt und blieben bis zum Ersten Weltkrieg bestehen, wobei Rußland zwi-
schenzeitlich auch noch "Kongreßpolen" zu russischen Gouvernements mach-
te, so daß die Polen und mit ihnen die polnischen Juden bis in den Ersten
Weltkrieg hinein russische Untertanen waren. Danach kam es zur Bildung neu-
er Nationalstaaten, wozu Polen und Litauen gehörten, bis die deutsche Wehr-
macht im Zweiten Weltkrieg alle diese Länder eroberte und die Nazis das dor-
tige Judentum fast vollständig vernichteten. Im Königreich Polen-Litauen wur-
de die Ansiedlung von Juden ab dem 14. Jahrhundert gefördert, um dort das
weitgehend fehlende Bindeglied zwischen Bauern und Adel zu ersetzen. Die
Juden waren dort Händler, Verwalter und Handwerker. Das Judentum konnte
sich dort nach seiner Zerstörung in West-, Mittel- und etwas später auch in
Südeuropa (Spanien und Portugal) neu konsolidieren und entwickelte sich auch
kulturell zur neuen Blüte. Ab 1648 kam es jedoch zu großen Massakern an den
Juden durch die Kosaken, und die frühere West-Ost-Wanderung kehrte sich
allmählich wieder zu einer Ost-West-Wanderung um, die durch die Jahr-
hunderte hindurch immer stärker wurde. 18
Aber trotz der zunehmenden Einschränkungen, Diskriminierungen und
Verfolgungen, die besonders ab 1880 in zaristischen Rußland (mit Polen) als
Pogrome stattfanden und den Auswanderungsdruck verstärkten, entwickelte
sich dort ein spezifisches jüdisches Milieu, das später als Ostjudentum be-
zeichnet wurde und einen spezifisch ostjüdischen Typus prägte. (V gl. Men-
dei sohn 1983)
"Die Grundlagen des osteuropäischen Typs waren eine relativ schwache Akkulturation
und Assimilation, die Bewahrung der jiddischen Sprache und der religiösen Orthodoxie,
die Zugehörigkeit zur unteren Mittelschicht und zur Unterschicht. Typisch waren weiter-
hin eine hohe Geburten- und eine niedrige Mischehenrate". (Maurer 1986, S. 13)
Im 18. Jahrhundert war dieses Milieu voll ausgeprägt und bildete die sozio-
kulturell eigenständige Welt des Stetl-Judentums. Obwohl materiell überwie-
gend armselig, war das Leben dieser Menschen durch und durch geprägt von
einem selbstverständlichen und intensiven jüdischen Bewußtsein. Die Einhal-
tung der Gebote bestimmte auch die alltäglichen Verhaltensweisen sehr weit-
gehend mit. 19
Von diesem Ostjudentum des 18. Jahrhunderts her lassen sich Verbin-
dungen zum späteren Berliner Judentum aufzeigen. Der größte Teil des Ost-
judentums blieb weitgehend dem ostjüdischen Milieu verhaftet; trotz Auf-
weichung und Auswanderung blieb dieses Milieu im Grunde bis zu seiner
Vernichtung durch die Nazis bestehen. Aufgrund von Pogromen und schlechter
materieller Lebensbedingungen wanderten jedoch mehrere Millionen Ostju-
den aus - überwiegend nach Amerika. Auch in Deutschland und besonders in
Berlin siedelten sich trotz strenger Zuzugs beschränkungen einige Tausend

18 Zur Geschichte der Ostjuden vgl. Haumann 1990.


19 Zur Lebensweise und Kultur traditionell eingestellter Ostjuden vgl. J. Roth 1985 und
Zborowski, Herzog 1991.

35
von ihnen an, und durch den Ersten Weltkrieg gelangten besonders viele von
ihnen nach Deutschland. Sie lebten als Arbeiter im Ruhrgebiet und in mittel-
deutschen Industriestädten (z.B. Chemnitz) und natürlich in Berlin. Soweit
sie sich nicht akkulturierten, blieben sie weitgehend unter sich. In Berlin
konzentrierten sie sich im sogenannten Scheunenviertel, das Züge eines pol-
nischen Stetls annahm. Um 1918 lebten 170.000 Ostjuden in Deutschland;
etwa die Hälfte davon in Berlin. (Vgl. Adler-Rudel 1959)
Diese Zuwanderer, die sowohl durch die ausländische StaatsbÜfgerschaft
als auch durch die (vorübergehende) Beibehaltung ihrer Kultur in doppelter
Weise als ostjüdisch gekennzeichnet waren, schickten keine Kinder auf eine
Schule wie die PriWaKi, sondern eher schon auf eine jüdische Volksschule,
von denen es einige in Berlin gab. Ostjuden wurden vorranig zur antisemiti-
schen Stereotypenbildung (z.B. von Treitschke) benutzt; sie waren aber auch
bei den assimilierten Berliner Juden nicht gern gesehen, da sie wegen der an-
tisemitischen Reaktionen eine Bedrohung für das assimilierte deutsche Ju-
dentum darstellten - das jedenfalls war die damalige Meinung bei der Mehr-
heit der nichtzionistischen deutschen Juden. Ein Ostjude aus dem Scheunen-
viertel bildete in der Zeit der Weimarer Republik gewissermaßen das andere
Extrem zum assimilierten deutschen Juden in Charlottenburg oder Dahlem.
Doch das Ostjudentum blieb nicht homogen. Schon ab Mitte des 18.
Jahrhunderts drangen Ideen der Aufklärung und der jüdischen Emanzipation
auch hier ein, und es kam zu intensiven und konfliktreichen Auseinanderset-
zungen mit der Orthodoxie. (Vgl. Meisl 1919) Gerade die (relativ dünnen)
oberen und mittleren Schichten akzeptierten viele der Ideen und begannen
sich von der religiösen Orthodoxie zu emanzipieren und sich in Bildung und
Lebensweise den Nichtjuden anzugleichen. Der Akkulturationsprozeß konnte
dabei durch die Aufnahme der jeweiligen nationalen (polnischen oder russi-
schen) Kultur erfolgen, es konnte aber auch die deutsche Kultur sein, die of-
fenbar einen besonderen Reiz ausübte:
"Deutschland war für die Ostjuden das Land der Dichter und Denker, das Land Schillers
und Kants. ( ... ) Die Schriften und Gedanken der Repräsentanten des deutschen Geistesle-
bens waren bei den Juden des Ostens weit verbreitet. Zu den Füßen deutscher Professoren
zu sitzen, in ihrer Sprache zu lernen, die Freiheit und Kultur Deutschlands zu genießen,
dieser Wunsch wurde für viele zum Ideal ihrer Jugend, dessen Verwirklichung sie nach
Kräften erstrebten." (Adler-Rudel 1959, S. 12)

Wenn Ostjuden mit deutschsprachiger Erziehung und Bildung sich dann in


Deutschland niederließen, hatten sie kaum noch etwas gemeinsam mit den
Ostjuden des Scheunenviertels, sondern sie waren soziokulturell innerhalb kür-
zester Zeit voll deutsch-akkulturiert, auch wenn sie die deutsche Staatsbür-
gerschaft nicht oder erst nach jahrzehntelanger Wartezeit erhielten. Frauen er-
warben bei der Heirat eines deutschen Staatsbürgers die deutsche Staatsbürger-
schaft jedoch automatisch, auch die Kinder waren dann Deutsche.
Ein geradezu prägnantes Beispiel für einen solchen deutsch-akkulturier-
ten Ostjuden liefert Heinrich Selver, der es als ausländischer Ostjude zum pro-

36
movierten Germanisten und zum Leiter der PriWaKi brachte. 2O Außer dem
Schulleiter Selver gab es an der PriWaKi auch noch andere Eltern und Schü-
ler, die Ostjuden waren, aber soziokulturell ganz eindeutig zum "west-
europäischen Typ" gehörten, der sich aber nicht immer erst in Berlin herausbil-
dete, sondern zum Teil auch schon in Osteuropa, und der sich dort wie folgt
beschreiben läßt:
"Der westeuropäische Typ der jüdischen Gemeinschaft in Ostmitteleuropa war durch ei-
nen hohen Grad der Akkulturation sowie Assimilationsbestrebungen charakterisiert, eine
allgemeine Tendenz zur Aufgabe des Jiddischen und der Orthodoxie. Diese Gemein-
schaften gehörten meist zur Mittelschicht, waren weitgehend urbanisiert und bildeten nur
selten einen hohen Anteil der Gesamtbevölkerung". (Maurer 1986, S. 13f.)
Obwohl dieser "westeuropäische Typ", auch wenn er schon länger in Berlin
wohnte, mit Elementen des Ostjudentums noch vertraut war, versuchte er in
der Regel (und sofern er kein Zionist war), sich soziokulturell vom Ostjuden-
turn zu distanzieren. 21
Von den PriWaKi-Schülern können als ostjüdisch im engeren Sinne nur
wenige klassifiziert werden, denn es gab nur eine verschwindend kleine Zahl,
die im Osten außerhalb Deutschlands geboren war: Von den 405 Schülern
von 1938 waren es nur 8, also gerade 2 Prozent der Schülerschaft. Von den 60
Schülerinnen und Schülern der Fragebogengruppe war niemand im Osten ge-
boren. Doch verschiebt sich das Bild etwas, wenn die Nationalität berücksich-
tigt wird, die ja in rechtlicher Hinsicht über die Zugehörigkeit zum Ostjuden-
turn entschied. Von den 405 Schülern im Mai 1938 hatten 49 keine deutsche
Staatsbürgerschaft. Von diesen 49 Kindern waren 17 staatenlos, 5 tschechisch,
4 österreichisch, 2 russisch, 2 kamen aus Palästina, weitere 2 waren britische
Staatsbürger und 5 kamen aus verschiedenen anderen Staaten, davon 2 aus
dem Osten. Bei den Staatenlosen dürfte es sich in praktisch allen Fällen um
Ostjuden gehandelt haben, die nach dem Ersten Weltkrieg nicht in ihre ehe-
malige Heimat (Polen, Litauen, Rußland) zurückkehren wollten, denen aber
die deutsche Staatsbürgerschaft verweigert oder von den Nazis wieder entzo-
gen worden war, wie auch dem PriWaKi-Schulleiter Heinrich Selver. Zusam-
men mit den österreichischen Kindern, deren Eltern meistens aus Galizien ka-
men, können wir so 43 Kinder zählen, deren Eltern bzw. Väter sehr wahr-
scheinlich Ostjuden waren, wobei aber immer zu bedenken ist, daß sie schon
zum "westeuropäischen Typ" gehörten und ihre Kinder als Berliner Kinder
sozialisiert worden sind. Wird weiter berücksichtigt, daß Kinder mit deut-
scher Staatsbürgerschaft auch ostjüdische Mütter oder ostjüdische Großeltern
haben konnten, so kann geschätzt werden, daß es in mindestens einem Drittel
der PriWaKi-Familien eine direkte ostjüdische Herkunft gegeben hat. Auch

20 H. Selver war keineswegs eine seltene Ausnahme; zum Beispiel hat auch der als "Li-
teraturpapst" bekannte Reich-Ranicki als Schüler mit polnischer Staatsbürgerschaft
ein Berliner Gymnasium besucht; vgl. Reich-Ranicki 1984.
21 Zum Identitätsproblem akkulturierter Ostjuden vgl. H. Zandeck u. S. Gronemann in
Ehmann u. a. 1988, S. 163ff.

37
wenn diese Herkunft gern verdrängt wurde, so könnte sie doch bei der Wie-
derherstellung des jüdischen Bewußtseins, um das sich die Pädagogen der
PriWaKi nach 1933 bemüht haben, hilfreich gewesen sein. Die Kinder konnten
durch Befragungen ihrer Eltern und besonders der Großeltern über das jüdische
Leben in ihrer früheren Heimat authentische Eindrücke erhalten.
Darüber hinaus ist ein potentieller breiter Einfluß des Ostjudentums auf
Lehrer und Schüler der PriWaKi sehr viel indirekter; er liegt in der Regel
unter einigen Akkulturations- und auch Assimilationsschichten verborgen.
Die größten Teile des früheren Ostjudentums in Deutschland sind nämlich
nicht durch Auswanderung nach Deutschland gelangt, sondern durch die Anne-
xion von Ostgebieten durch Brandenburg-Preußen. Bereits 1742 wurde den
Österreichern Schlesien mit den Städten Breslau und Glogau abgenommen.
Durch die Teilungen Polens kamen ab 1772 Westpreußen mit den Städten
Bromberg und (etwas später) Danzig sowie die Provinz Posen zu Preußen.
Die Provinz Posen hatte einen besonders hohen jüdischen Bevölkerungsan-
teil. Gleichzeitig wurde Österreich auf Kosten Polens mit Galizien abgefun-
den, das ebenfalls eine starke jüdische Bevölkerung hatte, die zum Teil später
auch nach Deutschland bzw. Berlin kam.
Während in Polen und Galizien aber weiterhin das Judentum auch sozio-
kulturell ein Os~udentum blieb, begann im 19. Jahrhundert in Preußen ein
schneller und intensiver Akkulturationsprozeß auch bei den Ostjuden, so daß
diese schnell und frühzeitig "verwestlicht" wurden und nach Erlangung der
Niederlassungsfreiheit ab 1850 über die Provinzstädte verstärkt nach Berlin
zogen; ab 1866/1871 verstärkte sich diese Zuzugsdynamik noch. In den
knapp 50 Jahren des Kaiserreichs ist also auch soziokultuell aus dem Ostju-
dentum ein Westjudentum geworden, aber es ist anzunehmen, daß bei vielen
Großeltern der PriWaKi-Schüler noch Bewußtseinsformen und soziokulturel-
le Elemente dieses traditionellen Judentums vorhanden gewesen sein müssen,
auch wenn sie bereits als deutsche Staatsbürger geboren waren. Von der Frage-
bogengruppe wurden folgende östliche Herkunftsorte bzw. -länder der jeweili-
gen Familien genannt (ab 1870): Wien, Zossen, Thorn, Bromberg, Rogasen,
Gleiwitz, Stolp (Pommern), Glogau, Königsberg, Guben, Schneidemühl, Ho-
hensalza sowie als Länder und Regionen: Bukowina, Posen, Schlesien, Pom-
mern, Ungarn, Polen, Rußland.
Knapp 60 Prozent der PriWaKi-Familien waren östlicher Herkunft (Ost-
deutschland bzw. Ostmitteleuropa). Manchmal waren die größeren Städte wie
Breslau auch nur Zwischenstationen auf dem Weg nach Berlin. Berücksichtigt
man, daß häufiger auch mitteldeutsche und manchmal auch westdeutsche
Städte Zwischenstationen von Ostjuden waren, die dann zuletzt nach Berlin
gezogen sind, so dürfte sich der Anteil der ursprünglich ostjüdischen Pri-
WaKi-Familien auf gut zwei Drittel erhöhen. Der größte Teil der Berliner
Juden kam wahrscheinlich aus Schlesien und Posen. In seiner Biographie
"Von Berlin nach Jerusalem" charakterisiert Gershorn Scholem den typi-
schen Weg der meisten jüdischen Familien in Berlin am Beispiel seiner eige-
nen Familie:

38
"Sie hatte den Weg von der traditionellen jüdisch-orthodoxen Lebensweise der schlesi-
schen und posenschen Juden, die die überwältigende Majorität der Berliner Judenschaft
bildete, bis zur weitgehenden Assimilation an die Lebensart der Umgebung zurückge-
legt." (G. Scholem 1978, S. 11)
Und ein ehemaliger Breslauer meinte: "In meiner Jugend sagte man, daß jeder zweite
Breslauer Jude aus den Posener Landen gekommen war und jeder zweite Berliner Jude
aus Breslau. Das mag übertrieben sein, aber die Bemerkung unterstreicht den Drang von
Osten nach dem Westen in der jüdischen Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte." (Erel
1989)
Monika Richarz beschreibt die Motive dieser Wanderung:
"Mit der Abwanderung in die Stadt veränderten sich oft Objekt und Umfang des Unter-
nehmens, was in der Folge nicht selten zu einem weiteren Umzug in die Haupt- und Resi-
denzstadt führte. So bildete z.B. die Ansiedlung in Posen oder Breslau oft nur eine Etappe
auf dem Wege nach Berlin. Die Urbanisierung bot zugleich die Chance wesentlich ver-
besserter Bildungsmöglichkeiten für die Kinder, worauf in jüdischen Familien traditionell
besonders großer Wert gelegt wurde. (... ) Die Verbindung von sozialer und lokaler Mobi-
lität war ein besonderes Kennzeichen der jüdischen Sozialentwicklung und führte zu einer
Binnenwanderung größten Umfangs. Dies wiederum hatte einschneidende Folgen für die
religiöse Entwicklung, denn die Urbanisierung verursachte oft die Abschwächung der
traditionellen jüdischen Lebensform." (Richarz 1989, S. 19)
Aber trotz dieser Akkulturation, die auch schon unübersehbare assimilatori-
sche Elemente enthielt, weisen der oben zitierte Breslauer Erel und der Berli-
ner Scholem in ihren Erinnerungen darauf hin, daß es dennoch eine - wenn
auch fragmentarische und versteckte - Verbundenheit mit dem Judentum ge-
geben habe; sie sei gerade durch die östliche Herkunft weniger stark ver-
schüttet gewesen als bei den schon lange assimilierten Juden westdeutscher
Großstädte. Für die oben Genannten hat das sogar zu einer zionistischen Ein-
stellung geführt, die allerdings bei den PriWaKi-Eltern nicht sehr häufig vor-
kam.
Eine kleinere Teilgruppe der PriWaKi-Familien (aus der Fragebogen-
Gruppe ) kam aus Mitteldeutschland, und zwar aus Leipzig, Oranienburg,
Chemnitz sowie aus Mecklenburg. Dies können aber auch Zwischenstationen
von Ostjuden gewesen sein; besonders die Städte Leipzig und Chemnitz kom-
men hier in Betracht.
Überraschend groß ist jedoch der Anteil der Familien, der aus West- und
Süddeutschland eingewandert ist. Geboren worden sind dort zwar nur etwa
20 Schülerinnen und Schüler der Schülerschaft von 1938 (also 5 Prozent),
doch bei der Betrachtung der Herkunftsorte der Familien erhöht sich der An-
teil der aus West- und Süddeutschland nach Berlin gezogenen Eltern- bzw.
Familienteile beträchtlich: Gut ein Drittel der Familien aus der Fragebogen-
gruppe sind entweder komplett oder teilweise westjüdisch, wobei wir schon
festgestellt haben, daß praktisch alle diese Eltern erst nach dem Ersten Welt-
krieg nach Berlin gekommen sind. Folgende westliche Herkunftsorte und -län-
der werden in den Fragebögen genannt: Merxheim (Rheinland), Xanten, Frank-
furt, Hannover, Fürth (Bayern), Heldenbergen (Hessen), Mannheim, Burg-
sinn (Bayern), Duisburg, Darmstadt, Frankfurt, Köln, Württemberg, Holland,

39
Schweiz. Bei diesen westjüdischen Familien handelte es sich oft um Famili-
en, die schon mehrere Jahrhunderte in Deutschland lebten, die aber nur dann
besonders assimiliert waren, wenn sie schon länger in Großstädten gewohnt
hatten. Akkulturiert, zugleich aber in den meisten Fällen noch der jüdischen
Religion verbunden und insgesamt weniger assimiliert waren Westjuden,
wenn sie aus Kleinstädten kamen oder "Landjuden" (oft Viehhändler) waren.
Aus Westdeutschland stammten aber auch zum großen Teil nichtjüdische
Ehepartner(innen), die z.B. aus Wilhelmshaven, Frankfurt oder Braunschweig
kamen. Zusammen mit der schnellen und gründlichen Akkulturation der ur-
sprünglich ostjüdischen PriWaKi-Familien verstärkten diese aus West- und
Süddeutschland zugezogenen Eltern das "westliche" Element der PriWaKi-EI-
ternschaft beträchtlich.
Die erwähnte überdurchschnittliche Zuzugs quote der PriWaKi-Eltern-
schaft in der Weimarer Republik wird wesentlich durch den Zuzug der westjü-
dischen Gruppe erreicht. Dies ist ein Indikator für die Attraktivität Berlins
auch für Westjuden. Erleichtert wurde der Zuzug auch dadurch, daß es sich
bei den Eltern zu diesem Zeitpunkt um junge und entsprechend flexible und
unternehmungslustige Erwachsene gehandelt hat. Denkbar ist, daß hier ein
Motiv für die Anmeldung der Kinder an der PriWaKi vorlag, da sie die Kin-
der nachmittags betreute und beide Eltern oder alleinstehende Elternteile sich
dadurch besser der beruflichen Existenzsicherung widmen konnten. Anderer-
seits behielt die PriWaKi gewisse provisorische Züge, und sie war damit für
Neubürger auch in sozialpsychologischer Hinsicht offener. Etablierte Berli-
ner Juden ließen ihre Kinder länger auf einem nichtjüdischen Gymnasium
und schickten sie dann (ab 1935) eher auf eine jüdische Privatschule mit
voller Abiturberechtigung (z.B. auf die Goldschmidt-Schule). 1938 aber, als
die Entwicklung der PriWaKi ihren Höhepunkt erreicht hatte, waren diese
Unterschiede in der Praxis kaum noch von Bedeutung.
Obwohl der Zuzug aus den Ostprovinzen bei den meisten PriWaKi-
Familien noch nicht lange zurücklag, muß dies kein Indikator für eine un-
vollständige Akkulturation sein, wenn Bildung und Ausbildung modern und
auf hohem Niveau gewesen sind. Zur Überprüfung dieser Annahme haben
wir die Bildung und die Berufe der Großeltern und Eltern erfragt. Anhand
der Veränderung des Bildungsstatus von den Großvätern zu den Vätern und
von den Großmüttern zu den Müttern sowie anhand der Veränderungen im
Berufsstatus der Großeltern und Eltern soll versucht werden, die Akkulturati-
on als Prozeß nachzuvollziehen und den soziokulturellen Status zu be-
schreiben, den die Eltern der PriWaKi-Schülerinnen und Schüler Anfang der
30er Jahre erreicht hatten. Damit sind weitere Rückschlüsse auf den Stand
des jüdischen Bewußtseins bei dieser Sozial gruppe möglich.

40
Entwicklung des jüdischen Schulwesens
Bevor wir auf die Angaben der Fragebogengruppe zur Bildung und Ausbil-
dung näher eingehen, soll kurz die Entwicklung des jüdischen Schulwesens
dargestellt werden, um die Angaben der Fragebogen-Gruppe besser einord-
nen und interpretieren zu können. Da wegen des durchschnittlich sehr späten
Heiratsalters der akkulturierten deutschen Juden ein Generationenabstand von
25 bis zu 30 Jahren angenommen werden kann (vgl. Theilhaber 1911, S. 72ff.),
muß der Schuleintritt der Eltern um 1900 gewesen sein und bei den Groß-
eltern um 1870.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also etwa zur Zeit des Emanzipationse-
dikts (1812), lassen sich verschiedene Typen jüdischer Schulen in Preußen
feststellen:
Die große Masse der jüdischen Bevölkerung, die ja seinerzeit noch in
den neu erworbenen Ostprovinzen Preußens lebte und noch keine weltliche
Bildung erfahren hatte, schickte ihre Kinder noch in die Chadarim. Cheder
heißt wörtlich ,,zimmer", womit ursprünglich ein Raum im Haus des Lehrers
gemeint war. Der Cheder war die religiöse Schule des orthodoxen Judentums,
die in vollem Einklang mit den Gesetzen der jüdischen Religion stand. Der
Unterricht bestand hauptsächlich im Erlernen der Bibel und des Talmud. Die
Unterrichtssprache war Jiddisch; geschrieben wurde mit hebräischen Buch-
staben. Der Hebräisch-Unterricht selbst war nur wenig methodisch. Weltliche
Inhalte wurden praktisch nicht unterrichtet. 22 Eine vertiefte religiöse Bildung
konnten die Jungen danach mit Talmud-Thora-Studien in den oberen Klassen
des Cheder erreichen und eine höhere Bildung auf der Jeschiwa erhalten, die
auch die Basis für den Beruf des Rabbiners bildete. Auch die weiterführende
und höhere Bildung war streng religiös orientiert, das Lesen eines hoch-
deutsch geschriebenen wissenschaftlichen Buches geradezu verpönt.
Doch dieses geschlossene religiös-orthodoxe Bildungssystem erhielt
schon im 18. Jahrhundert durch die Aufklärungsbewegung (Haskala ge-
nannt), die vor allem von Berlin ausging und auch im Osten erhebliche Un-
ruhe stiftete, erste Risse. (Vgl. Meisl 1919) Schon um 1750 hatten Juden der
kleinen Berliner Oberschicht sich weitgehend an die nichtjüdische bürgerli-
che Oberschicht akkulturiert und damit begonnen, ihren Kindern eine weltli-
che Bildung zuteil werden zu lassen. Vorerst ging dies nur durch Privatleh-
rer. Bei den Vorkämpfern der Emanzipation war jedoch ein starkes Motiv
entstanden, das Judentum insgesamt aus der Unwissenheit im außerreligiösen
Bereich zu befreien und so die gesellschaftliche Gleichwertigkeit der Juden

22 Vgl. Kurzweil 1987, S. 14. Oft wird mit Cheder nur die jüdische Elementarschule
bezeichnet, was aber eine Vereinfachung ist. Im Stetl gab es den "dardecki cheder"
als Vorschule für 3-5jährige, den "chumesch cheder" für 6-1Ojährige Kinder und als
weiterführende Schule für die älteren Jungen den "g'more cheder". Die Elementar-
stufe endete also etwa im Alter von 10 Jahren. Ausführlich dazu Zborowski, Herzog
1991, S. 66ff.

41
herbeizuführen. Da aber die jüdische Orthodoxie die Bemühungen der Aufklä-
rer teilweise erbittert bekämpfte, weil sie darin zu Recht den Anfang eines
Auflösungsprozesses des Judentums sah, begannen einflußreiche und vermö-
gende Berliner Juden mit der Einrichtung von jüdischen Schulen, die einerseits
aufklärerisch wirken, andererseits aber auch das Judentum in wichtigen Ele-
menten bewahren sollten. Ganz im Sinne der Dialektik des Bewahrens und Er-
neuerns wurde dann 1781 in Berlin die erste jüdische ,,Freyschule" von Itzig
und Friedländer gegründet. Schulgründungen, die von derselben Idee getragen
waren, erfolgten auch an anderen Orten, so etwa 1791 in Breslau, 1799 in
Dessau, 1801 in Seesen und andere mehr. (Vgl. Kurzweil 1986, S. 20)
Das Schicksal der Freischule in Berlin zeigt die weitere Entwicklung der
Absicht an, durch Erziehung eine Balance zwischen religiösem Judentum
und deutscher Kultur zu finden.
Mit der Freischule, deren eigentlicher Initiator Moses Mendelssohn gewe-
sen zu sein scheint (vgl. Dietrich, Lohmann 1994, S. 38), wollten die Aufklärer
einerseits jüdische Kultur bewahren, was durch Religionsunterricht, Vermitt-
lung der hebräischen Sprache und durch hebräische Schönschrift gewährleistet
sein sollte, andererseits jedoch auch den jüdischen Kindern einen Zugang zur
nichtjüdischen Gesellschaft eröffnen mit Hilfe eines weitgehend profanen und
lebenspraktisch ausgerichteten Lehrplans, wie er auch an den nichtjüdischen
Reformschulen des späten 18. Jahrhunderts, den Philanthropinen, zu finden
war. Unterrichtsfächer waren Deutsch, Französisch, Buchhaltung, Mathematik,
Wirtschaftsgeographie, Geschichte, Zeichnen, Schönschreiben. (Vgl. ebd., S.
39) Gleichzeitig sollte eine soziale Integration auch auf direktem Wege voran-
getrieben werden. Deshalb (vielleicht auch wegen der notwendigen Qualifika-
tionen) wurden auch christliche Lehrer eingestellt. 1806 fielen Religion und
Hebräisch ganz fort (vgl. ebd.), da die Schule auch für christlichc:1_ Kinder geöff-
net wurde und man die umworbene christliche Klientel durch jÜdische Unter-
richtsinhalte vermutlich nicht verprellen wollte. Die pädagogische Zielsetzung
der Koedukation lautete, "daß die Kinder aller Confessionen in früher Jugend
sich kennen, ertragen und lieben lernen." (David Friedländer 1812; zit. in ebd.,
S. 42) Doch die Abschaffung des Religionsunterrichts ging den jüdischen El-
tern zu weit, so daß er bald wieder eingeführt wurde. (Vgl. ebd., S. 39f.)
Ohne christliche Schüler konnte die Schule fortan nicht mehr existieren.
Als mit dem Einsetzen der Restauration die preußische Verwaltung 1819 die
Koedukation verbot, mußten die christlichen Schüler die Freischule verlassen.
1825 wurde sie dann geschlossen.
Doch die Konzeption einer säkularen und zugleich jüdischen Reform-
schule wurde nun von der jüdischen Gemeinde übernommen, die gleichzeitig
mit der Schließung der Freischule 1825 eine Knabenschule eröffnete, die
auch die Schüler und Lehrer der Freischule übernahm. (Vgl. ebd., S. 45) Da-
mit war eine neue Phase in der Geschichte der jüdischen Erziehung eingelei-
tet, denn nunmehr waren die Gemeinden, aus denen einst erbitterter Wider-
stand gegen die privaten Freischulen kam, soweit liberalisiert, daß sie selbst zu
Trägern weitgehend säkularer jüdischer Schulen wurden, um trotz der fort-

42
schreitenden Akkulturation auch bei der nachwachsenden Generation die jü-
dische Identität zu sichern. Die privaten Freischulen waren damit von ihrer
ursprünglichen Funktion her überflüssig geworden und mußten teilweise
schließen oder sich pädagogisch umorientieren. Doch nach vollzogener Ak-
kulturation, etwa ab der Zeit der Reichsgründung 1871, ließ besonders in den
Großstädten auch die Unterstützung der Gemeindeschulen nach. Die nun ein-
setzende Assimilation auch bei den unteren Mittelschichten bewirkte, daß
jüdische Eltern ihre Kinder lieber auf staatliche Schulen schickten. Dies galt
besonders für die weiterfuhrenden Schulen, deren Berechtigungen die soziale
Integration weiter vorantreiben sollten.
Jüdische höhere Schulen, die eine Akkulturation, aber keine Assimilation
wollten, entstanden ab Mitte des 19. Jahrhunderts als Gründungen der neo-
orthodoxen und konservativen Strömungen des Judentums. Der moderne An-
tisemitismus ab den 1870er Jahren trug mit dazu bei, daß sich diese Schulen
dann dauerhaft stabilisieren konnten. Zahlenmäßig fielen sie jedoch für die
Erziehung der jüdischen Schüler kaum ins Gewicht.
Charakteristisch und auch zahlenmäßig bedeutsam für die Schulerzie-
hung der jüdischen Kinder war die Einrichtung zahlreicher jüdischer Elemen-
tar- und Volksschulen mit weitgehend profanen Lehrplänen durch die jüdischen
Gemeinden. Diese Schulen hatten die Funktion, jüdischen Kindern einen Über-
gang aus der traditionellen jüdischen Lebenswelt in die Kultur der sie umge-
benden Gesellschaft zu ermöglichen, ohne ihre jüdische Identität zu zerstören.
Dort, wo ein direkter Übergang auf christliche Schulen erfolgte (z.T. durch
staatliche Gesetze erzwungen, wie 1816 in Hessen), zeichneten sich nämlich
große Konflikte ab, denn bei den ebenfalls nur wenig vorgebildeten christ-
lichen Schülern, aber auch bei den Lehrern, kam es häufig zu Aggressionen
gegenüber den jüdischen Kindern. (Vgl. Schatzker 1988, S. 41 t) Dies ge-
schah besonders in den Ländern und Provinzen, in denen Aufklärung und
Emanzipation bisher weniger bewirkt hatten oder politisch verzögert worden
waren, wie etwa in den neuen Ostprovinzen (besonders in Posen), aber auch
in Baden, Hessen 23 oder Bayern. (Vgl. Prestel1994)
Die Akkulturationsbereitschaft der deutschen Juden führte also in den er-
sten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu einem Ausbau jüdischer Schulen, die
Assimilationswilligkeit ab den letzten Jahrzehnten dann wiederum zu ihrem
Rückgang, denn jüdische Schulen erweckten nach erfolgreicher Akkulturation
eher Erinnerungen an die alten Religions-Schulen der Orthodoxie und der Ghet-
tos, und davon wollten die assimilierteren deutschen Juden nun nichts mehr wis-
sen. 1910 sprach sich die Berliner Jüdische Gemeinde ausdrücklich gegen die
Gründung weiterer jüdischer Schulen aus. (Vgl. Schatzker 1988, S. 31)

23 Zu den Widerständen orthodoxer Kreise gegenüber den Reforrnrnaßnahmen der Aufklä-


rer im jüdischen Schulwesen des Königreichs Westfalen bzw. in Hessen-Kassel Anfang
des 19. Jahrhunderts vgl. Berding, Schimpf 1991. Um 1820 stritten sich die staatlichen
Stellen darüber, ob jüdische Kinder christliche Schulen besuchen sollten oder ob jüdi-
sche Elementarschulen eingerichtet werden sollten, was 1823 zugestanden wurde.

43
In Preußen besuchte 1864 von den 37500 schulpflichtigen jüdischen
Kindern knapp die Hälfte (47,3 Prozent) noch jüdische reformierte Elemen-
tarschulen, schon mehr als die Hälfte ging auf christliche Elementarschulen.
Etwa zu dieser Zeit wurden auch die PriWaKi-Großeltern schulpflichtig.
1881 besuchten nur noch 37,1 Prozent der jüdischen Kinder jüdische Elemen-
tarschulen; 1891 war es es noch 31 Prozent. Im Jahre 1901, als ein Teil der
PriWaKi-Eltern schon schulpflichtig war, besuchten immerhin noch 29 Pro-
zent aller jüdischen Kinder in Preußen jüdische Volksschulen. Selbst in Ber-
lin betrug die Quote im Jahre 1906 noch 20 Prozent. Zu dieser Zeit dürften
die meisten PriWaKi-Eltern grund schulpflichtig gewesen sein, es wird also
ein Teil von ihnen noch eine jüdische Elementarschule besucht haben. _
Insgesamt ist der Trend zum Besuch christlicher Elementarschulen auch
an der Abnahme jüdischer Schulen ablesbar. 1898, also zu der Zeit, als die mei-
sten PriWaKi-Eltern geboren wurden und ein kleinerer Teil von ihnen schon
schulpflichtig war, gab es in ganz Deutschland noch 492 jüdische Volksschulen;
1913 nur noch die Hälfte (247 Schulen). In ganz Preußen gab es 1891 noch
244 öffentliche und noch weitere 92 private jüdische Schulen. 24
Bemerkenswert ist auch die Verteilung der jüdischen Schulen in den
Ländern und Provinzen. Von den 492 jüdischen Volksschulen des Jahres 1898
in Deutschland existierten allein 306 in Preußen und 77 in Elsaß-Lothringen.
Auch die Verteilung innerhalb Preußens ist bemerkenswert: In den Provinzen
des alten Preußen (Brandenburg, Pommern, Ostpreußen), wo die Emanzipa-
tionsgesetzgebung schon ab 1812 wirksam gewesen war, gab es keine jüdi-
schen Volksschulen mehr. In den Westprovinzen (Hannover, Westfalen, Hes-
sen-Nassau, Rheinprovinz) hingegen gab es über 160 jüdische Volksschulen,
davon die Hälfte allein in Hessen-Nassau. Hier war das alteingesessene
Land- und Kleinstadtjudentum noch weniger assimiliert als in Altpreußen.
Etwa gleich stark war der Ausbau jüdischer Volksschulen in den neuen
Ostprovinzen. In Westpreußen gab es 21, in Schlesien 26 und in Posen 87
jüdische Volksschulen. Auch in Berlin gab es 1891 noch 44 jüdische Volks-
schulen. Obwohl das alteingesessene Berliner Judentum sich größtenteils
längst weitgehend assimiliert hatte, waren diese Schulen zur Akkulturation
der aus dem Osten zuziehenden Juden weiterhin von Bedeutung.
Auch der Zuzug der PriWaKi-Familien ist weitgehend aus den obenge-
nannten Ost- und Westprovinzen erfolgt. Aus den Zahlen kann gefolgert
werden, daß von den Großeltern noch jede zweite bis dritte, von den Eltern
vielleicht noch jede vierte bis fünfte Person eine jüdische Elementarschule be-
sucht hat. Da dies für Einzelpersonen gilt, ist der Anteil der Familien, in de-
nen mindestens ein Großelternteil oder ein Ehepartner noch von dem Milieu
einer jüdischen (Elementar-) Schule geprägt worden ist, entsprechend höher
anzusetzen.

24 Zu den oben und nachfolgend zitierten Zahlen über die jüdischen Schulen vgl.
Schatzker 1988, S. 37ff.

44
Schul- und Hochschulbildung in den Priwaki-Familien
Mit der Befragung wollten wir überprüfen, ob diese Rückschlüsse aus der
Statistik für die PriWaKi-Eltern und Großeltern auch tatsächlich zutreffen.
Da sich besonders die schon weitgehend assimilierten deutschen Juden nicht
gern an den Besuch jüdischer Schulen erinnerten, haben wir die Frage, wel-
che Schulen die Großeltern besucht hatten, bewußt mit der Aufforderung
versehen, "all types of school" zu nennen. (Frage 1.3)
Leider war der Erfolg so gering wie bei keiner anderen Frage: Bei den
Großvätern wurde in nur 9 von 100 Fällen der Besuch einer Elementarschule
angegeben; in keinem Fall wurde eine jüdische Schule erwähnt. Insgesamt
wurden 39 verwertbare Angaben zum Schulbesuch der Großväter gemacht;
davon bezogen sich 30 auf eine weiterführende Schulbildung (Einjähriges und
Abitur). In 8 Fällen wurde ein Studium angegeben. Unter Berücksichtigung
einiger unvollständiger Angaben können wir schätzen, daß etwa 10 Prozent
der Großväter Akademiker waren und weitere 40-50 Prozent eine weiter-
gehende Schulbildung (10 Schuljahre und mehr) hatten.
Das Fehlen der Angaben zur Volksschul bildung läßt sich folgenderma-
ßen interpretieren: Insbesondere bei den schon weitgehend assimilierten
deutschen Juden zählte weder die jüdische noch die nichtjüdische Volksschu-
le, wohl aber die weiterführende Bildung. Die assimilierteren deutschen Ju-
den hielten die jüdische Elementar-Schule für ein Relikt vergangener und
überholter Zeiten. Es ist jedoch davon auszugehen, daß die oben erwähnte
Quote für den Besuch jüdischer Elementarschulen bei den Großeltern der Pri-
WaKi-Schüler durchaus noch zutreffen könnte; lediglich bei den Eltern mag
sie wegen der praktisch schon durch die Großeltern abgeschlossenen Akkul-
turation unterdurchschnittlich gewesen sein.
Über den Besuch weiterführender Schulen (einschließlich Realschulen)
lassen sich der Statistik folgende Zahlen entnehmen (vgl. Schatzker 1988, S.
77f.): 1871 gab es in Preußen 10.000 jüdische Heranwachsende, die weiter-
führende Schulen besuchten, das waren gut ein Drittel aller jüdischen Schüler
in Preußen (einschl. Mädchen). Bis 1881 stieg ihre Zahl auf 15.000. Danach
nahm sie leicht ab: 1891 waren es 14.600 und 1897 dann 14.200. 25 1891 be-
suchte also schon knapp die Hälfte der schulpflichtigen jüdischen Kinder ei-
ne weiterführende Schule! Die Quote von 40 Prozent für die Großväter, die
wir anhand der Angaben der Fragebogengruppe für die Zeit zwischen 1870
und 1880 angenommen haben, scheint also realistisch zu sein. In diesem
Punkt dürfen die Familien der Fragebogengruppe als repräsentativ für das Ju-
dentum in Preußen gelten.
Für 1901 erhöhte sich die Quote des weiterführenden Schulbesuches für
die jüdischen Schüler in Preußen auf über 50 Prozent mit steigender Ten-

25 Die zuletzt leicht sinkenden Zahlen zeigen nicht eine niedrigere Quote an, sondern
spiegeln bereits die niedrigere Geburtenrate wider, die ein Resultat einer schon weit
fortgeschrittenen Akkulturation und des damit verbundenen sozialen Aufstiegs war.

45
denz. Für die Eltern der PriWaKi-Schülerschaft, die ab etwa 1905 die weiter-
führenden Schulen besucht haben, könnte die Quote demnach etwas über 50
Prozent betragen haben.
Die Angaben dazu in den Fragebögen lauten für die PriWaKi-Väter wie
folgt: Knapp 40 Prozent hatten bereits einen Hochschulabschluß (übewiegend
Universität), 60 Prozent eine höhere Schule besucht. Weitere Väter hatten das
"Einjährige" erworben oder eine Fachschule (z.B. Handelsschule) besucht.
Werden diese einbezogen, so kann festgestellt werden, daß fast 80 Prozent
der Väter der PriWaKi-Schülerschaft über eine gehobene Schulbildung ver-
fügt haben! Dies liegt noch deutlich über der schon hohen Durchschnitts-
quote für gleichaltrige preußische Juden und unterstreicht den hohen Grad
der Akkulturation und den Erfolg der PriWaKi-Eltern im Bildungsbereich!26
Bei den Vätern können wir über die Fragebogengruppe hinaus noch eini-
ge Angaben zur Bildung machen, da in der Schülerliste von 1938 auch die
Berufe für fast alle Väter angegeben sind. Danach hatte etwa ein Drittel der
Väter einen akademischen Beruf und demnach ein Hochschulstudium absol-
viert. Von den 113 Akademikern unter den PriWaKi-Vätern der Schülerschaft
von 1938 waren sogar zwei Drittel (n=75) promoviert. Allerdings dürfte die
Zahl der PriWaKi-Väter mit Studium noch größer sein, da nicht alle Absol-
venten einen akademischen Beruf gewählt hatten, sondern nicht wenige auch
ins Geschäftsleben gegangen waren.
Auch die Bildung der Großmütter und Mütter war relativ hoch. Immer-
hin hatten schon 18 von 100 Großmüttern der Fragebogen-Gruppe eine wei-
terführende Schule besucht; überwiegend ein Lyzeum. Berücksichtigt man
fehlende Angaben, so kann der Anteil der Großmütter mit weitergehender
Bildung auf mindestens 25 Prozent geschätzt werden. Nur 3 Großmütter hat-
ten studiert, wobei jedoch zu beachten ist, daß um 1890 ein Frauenstudium
noch Seltenheitswert hatte.
Bei den Müttern haben bereits zwei Drittel eine höhere Schulbildung er-
halten. Überwiegend wurde "Lyzeum" oder "Höhere Töchterschule" ange-
geben, einige Male auch Mittlere Reife. Es zeigt sich, daß der Anteil der
Großmütter und Mütter mit gehobener Bildung zwar niedriger ist als bei den
Männern, doch sind die Unterschiede zwischen Müttern und Vätern rein
quantitativ nicht sehr groß. Der Anteil der Großmütter und Mütter mit gehobe-
ner und höherer Bildung ist - gemessen am durchschnittlichen Bildungsgrad
der damaligen weiblichen Bevölkerung - weit überdurchschnittlich, jedoch
für den akkulturierten jüdischen Mittelstand nicht außergewöhnlich gewesen.
Allerdings war die Bildung bereits im schulischen Bereich frauenspezi-
fisch, d.h. die berufliche Welt der Männer war (noch) nicht das Bildungsziel
der damaligen jüdischen Mädchen und Frauen. Hier wirkte sich nicht nur das
allgemeine Bewußtsein des bürgerlichen Mittelstandes der damaligen Zeit aus,

26 Allerdings muß bei dem Quotenvergleich beachtet werden, daß die allgemeinen
Vergleichszahlen auch Mädchen einschließen und die Zahlen allein für Jungen ver-
mutlich etwas höher gelegen haben - vor allem im 19. Jahrhundert.

46
sondern auch ein spezifisches jüdisches Bewußtsein, das die Frau weiterhin
als Zentrum der Familie und des Hauses sah; allerdings nicht als einfache
Hausfrau, sondern möglichst als gebildete und kultivierte Partnerin des Man-
nes und Erzieherin der Kinder.
Während man bei den Großmüttern noch eher die Wahrung von Teilen der
jüdischen Tradition annehmen kann - in unseren Interviews wurde dies häufi-
ger erwähnt -, haben sich die Mütter schon als moderne und relativ assimilierte
Frauen definiert. Für die Formung des jüdischen Bewußtseins der Kinder hatte
dies gravierende Konsequenzen. Da die Ausübung der jüdischen Religion bei
traditionsorientierten Juden mehr im Haus und in der Familie als in der Syn-
agoge stattfand und der Frau dabei weitgehend die Vorbereitung dieser religiö-
sen Familienzeremonien oblag, war ihre religiöse Einstellung entscheidend für
das religiöse und jüdische Bewußtsein der Kinder. Die vollständige Zelebrie-
rung etwa eines Sederabends zu Pessach27 dürfte in vielen Großeltern-Familien
noch regelmäßig stattgefunden haben, in der Mehrheit der PriWaKi-Familien
nicht mehr oder höchstens noch als vereinfachtes Ersatzritual.
Die Rolle der modernen jüdischen Frau, so wie sie in den 20er Jahren in
Berlin definiert wurde, ließ dies im allgemeinen nicht mehr zu. Ein Zusam-
menhang zwischen moderner höherer Schulbildung der Frau und der Aufwei-
chung jüdischen Bewußtseins in den Familien war unübersehbar - noch aus-
geprägter war dieser Zusammenhang allerdings bei den Männern.
Zusammenfassend läßt sich über die Bildung der PriWaKi-Großeltern
und Eltern sagen, daß der starke Anstieg höherer Bildung von der Großel-
tern- zur Elterngeneration ein Indikator für eine vollendete Akkulturation,
aber auch für eine weitgehende Assimilation ist. Zwar wird man auch die
Großeltern schon als weitgehend oder sogar vollständig deutsch-akkulturiert
ansehen müssen, doch waren sie in vielen Fällen noch stärker der jüdischen
Tradition verbunden und insoweit noch nicht assimiliert. Wenn sie vom Osten
nach Berlin gekommen waren, hatten sie in der Regel zwar den sozialen
Aufstieg der Familie initiiert, doch geschah dies meistens noch nach dem
Muster des "Selfmademan" und damit überwiegend im geschäftlichen Be-
reich, während den PriWaKi-Eltern für die Konsolidierung bzw. den Ausbau
des Familienstatus bereits eine höhere Bildung ermöglicht wurde.
Das schnelle Anwachsen des Bildungspotentials in den PriWaKi-
Familien verweist darauf, daß nicht der Zeitraum der Familienexistenz in Ber-
lin der entscheidende Faktor für Akkulturation gewesen ist, sondern der bil-
dungsmäßige und berufliche Aufstieg, der meistens in einem sehr kurzen
Zeitraum (innerhalb zweier Generationen) erfolgt ist. Der Akkulturationspro-
zeß der PriWaKi-Familien war mehrheitlich ein besonders schneller und auch
ein besonders intensiver Prozeß.

27 Vgl. z.B. das Photo auf dem Buchumschlag bei Richarz 1989.

47
Berufe

Der starke Anstieg der höheren Bildung unter den deutschen Juden war durch
einen schon fast sprichwörtlichen Bildungshunger motiviert,der mit der
Emanzipation freigesetzt wurde und eine außerordentliche Wirksamkeit ent-
faltete. Oft sparten sich die ärmeren Juden auf dem Lande oder in Kleinstäd-
ten das Geld für den Besuch einer höheren Schule und der Universität zumin-
dest für einen ihrer Söhne buchstäblich vom Munde ab. (V gl. Schatzker
1988, S. 79) Dies darf jedoch nicht den Blick dafür verstellen, daß der An-
stieg des Sozialstatus nicht primär über die Bildung erfolgt ist, sondern zu-
nächst einmal durch die Anhebung des beruflichen Status, vorwiegend in den
Bereichen Handel und Herstellung. Erst wenn so eine materielle Besserstel-
lung der Familie erreicht war, wurde der Besuch höherer Schulen und Uni-
versitäten fast schon obligatorisch, denn auf diese Weise konnten Bildung,
(akademischer) Beruf und Einkommen zur Optimierung des Sozialstatus
miteinander kombiniert werden.
Bei den PriWaKi-Familien haben größtenteils erst die Eltern diesen letz-
ten Schritt tun können, den Großvätern und teilweise auch schon den Ur-
großvätern der PriWaKi-Schülerschaft war in der Regel der vorakadernische
Aufstieg gelungen. Bevor wir diese Annahme überprüfen, sollen der Wandel
der Berufsstruktur sowie die Veränderungen im Sozialstatus der deutschen
Juden beschrieben werden, um die Leistungen der PriWaKi-Großeltern bes-
ser zuordnen zu können.
In Berlin um 1750 waren es nur wenige Dutzend Familien, die als Groß-
händler, Bankiers und Fabrikanten einen Wohlstand erreicht hatten, der ihnen
eine Anpassung an die nichtjüdischen großbürgerlichen Kreise und darüber
hinaus eine Mitgestaltung der höheren Kultur in Berlin ermöglichte. (V gl.
Hertz 1991) Für die Masse der Juden war die soziale Situation um 1800 in
Deutschland noch denkbar schlecht. Viele lebten noch vom "Nothhandel",
d.h. vom Hausier-, Leih- und Trödelhandel, und waren sehr arm. In Bayern
waren 1822 noch über 95 v.H. der Juden im Handel tätig; fast jeder Dritte
lebte noch vom ,,Nothhandel". In Baden lebten 1816 noch 89 v.H. der Juden
vom Handel oder ,,Nothhandel", und in Württemberg wurden 1812 noch 85,5
v.H. der Juden als "Schacherhändler" bezeichnet. (Vgl. Rürup 1987, S. 33)
Handwerk und Ackerbau wurden von den Westjuden, aber auch den alt-
preußischen Juden bis Anfang des 19. Jahrhunderts nur selten betrieben, da
ihnen Landerwerb verboten war und die Handwerkerzünfte sie nicht zulie-
ßen. Deshalb lebten sie überwiegend vom Handel mit Vieh, Trödel- und Krä-
merwaren, Wein, Früchten und durch Geldverleih - zumeist an die ärmere
christliche Bevölkerung.
Die berufliche Situation der Ostjuden, die durch die Teilungen Polens zu
Preußen geworden waren, scheint demgegenüber um 1800 noch nicht so ex-
trem schlecht gewesen zu sein. Von den 12.3000 preußischen Juden des Jah-
res 1816 lebten 42 v.H. allein in der Provinz Posen. (Vgl. Silbergleit 1930, S.

48
5) In einer Statistik aus dem Jahre 1834 fällt der starke Anteil von Handwer-
kern unter den erwerbstätigen Juden in Posen besonders ins Auge. Er betrug
fast ein Viertel, während er in den alten Landesteilen Preußens zu jener Zeit
nur ein Zehntel betrug, weil hier die Zünfte jüdische Handwerker nicht zuge-
lassen und die Ausbildung jüdischer Lehrlinge verweigert hatten.
In Polen, wo es keine vergleichbaren Zünfte gab, war die Situation in
dieser Hinsicht für die Juden weit besser gewesen. Schon vor der letzten
Teilung Polens 1793 betrieb in den Gebieten, die sich Preußen einverleibt
hatte (Neu-Ostpreußen, Südpreußen und Neu-Schlesien), "eine nicht ganz
unbeträchtliche Zahl von Juden wirklich schon mannigfaltige Handwerke,
und zwar nicht bloß Kürschner-, Posamentier-, Schneider-, Schuhmacher-
und Riemerarbeiten, sondern auch selbst das Schlosser-, Schmiede-, Maurer-
und Zimmermannshandwerk". (Hoffmann, zit. in Silbergleit 1930, S. 76) An
manchen Orten im russisch besetzten Polen betrug der Handwerker-Anteil an
der erwerbstätigen jüdischen Bevölkerung bis zu einem Drittel und mehr. (Vgl.
Ruppin 1930, S. 348) Vom "Schacher- und Trödelhandel" lebten um 1834
nur noch etwa 15 v.H. der preußischen Juden. (Vgl. Silbergleit 1930, S. 77)
Die berufliche und soziale Situation der (west-)deutschen Juden verbes-
serte sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts deutlich, nur noch
eine Minderheit lebte vom Hausieren und "Nothhandel". Immer mehr Juden
gründeten feste Läden oder konnten einen ortsgebundenen Handel betreiben.
Zusätzlich erfolgte durch Initiativen der Regierungen, aber auch der jüdi-
schen Gemeinden im Westen und Süden Deutschlands eine Art Berufslen-
kung in handwerkliche Berufe und sogar in die Landwirtschaft. Der Erfolg
war für einige Jahrzehnte relativ groß: In Baden hatten sich um 1830 fast ein
Drittel der erwerbstätigen Juden dem Handwerk, dem Ackerbau oder den
Wissenschaften zugewandt, 40 v.H. betrieben eine Gastwirtschaft oder einen
ordentlichen Handel, und 27 v.H. waren noch "Nothhändler". (Rürup 1987,
S.68)
In Preußen ernährten sich 1843, als etwa die Urgroßväter der PriWaKi-
Schüler geboren wurden, von 100 erwerbstätigen Juden 43 vom Handel; fast
20 vom Handwerk, knapp 5 von einer Gastwirtschaft. Im jüdischen Gemein-
dedienst arbeitete noch jeder Zehnte. 4 v.H. waren Tagelöhner. Nur einer von
Hundert betrieb Ackerbau. In den "sonstigen, Berufen" und damit zum Teil
ohne eine ständige Beschäftigung waren 15 v.H. registriert. Von den knapp
22.000 selbständigen jüdischen Handelstreibenden gehörten 61 v.H. noch
dem Kleinhandel, Trödel- und Hausierhandel an, und erst 39 v.H. hatten eine
mittelständische Existenz erreicht; d.h., sie hatten einen Großhandel, ein Bank-
geschäft, einen offenen Laden oder ein etabliertes Kommissionsgeschäft.
(Vgl. Ruppin 1930, S. 318f.) Erst 2,7 v.H. arbeiteten 1843 in wissenschaftli-
chen ("freien") Berufen.
1861, als vermutlich die meisten Urgroßväter berufstätig waren, hatte in
Preußen eine erkennbare Verschiebung stattgefunden: Tagelöhner und "son-
stige Berufe" waren bei den Juden praktisch verschwunden, und der Anteil
am Gesinde war auf 6,7 v.H. gesunken. Dafür hatte sich der Anteil der Händ-

49
ler und Kaufleute auf über 54 v.H. erhöht. Von den 38.700 Kaufleuten waren
nunmehr 59 v.H. ,,richtige" Kaufleute, während noch 41 v.H. auf den niederen
Stufen des Handels (Krämer, Trödler etc.) tätig waren. (Vgl. Ruppin 1930, S.
319f) In den übrigen Berufssektoren haben sich nur geringe quantitative Ver-
schiebungen ergeben. Gut die Hälfte der Urgroßväter dürfte sich demnach eine
gesellschaftlich anerkannte (klein-)bürgerliche Existenz erarbeitet haben; die
übrigen zählten eher noch zu den unteren Schichten. Dies kann jedoch nicht
mehr als eine grobe Einschätzung und Folgerung aus den oben zitierten Daten
sein. Konkrete Daten über die PriWaKi-Urgroßväter haben wir nicht erhoben.
Den Großvätern, die ab etwa 1880 erwerbstätig wurden, gelang dann die
berufliche und materielle Konsolidierung der Familien auf kleinbürgerli-
chem, aber auch schon auf bürgerlichem Niveau. Sie gingen damit weitge-
hend konform mit der Gesamtentwicklung des deutschen Judentums gegen
Ende des 19. Jahrhunderts (1880/1890).
Der traditionell höhere Anteil von Handwerkern bei den Ostjuden sowie
die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Teil erfolgreiche Lenkung
in handwerkliche und landwirtschaftliche Berufe bei den Westjuden konnten
jedoch nicht weiter ausgebaut werden. Zum Teil wurde die Entwicklung so-
gar wieder rückläufig, da sie dem allgemeinen sozioökonomischen Entwick-
lungstrend in Deutschland ab etwa 1850 zuwiderlief. Denn mit' zunehmender
Dynamik des Industrialisierungsprozesses ging die Zahl der Landwirte und
Handwerker zurück, während die Zahl der Beschäftigten in den Wachstums-
branchen Industrie und Handel zunahm. Da die Juden in Deutschland nicht in
traditionellen Berufsfeldern eingebunden waren und unfreiwillig ihre Fähigkei-
ten im Handel hatten ausbilden müssen, kam ihnen die neue Entwicklung
sehr gelegen. Sie blieben im Bereich Handel, wobei aus kleinen Läden grö-
ßere Geschäfte und zum Teil sogar Warenhäuser und Ladenketten wurden.
Aus Kleinhändlern wurden Großhändler und aus Handwerkern Hersteller (oft
in Kombination mit Vertrieb und Handel) und Fabrikanten.
1895, als die Großeltern als jüngere Erwachsene voll im Berufsleben
standen und die PriWaKi-Eltern geboren wurden, sah die Berufsstruktur der
Juden im Kaiserreich wie folgt aus: Zwei Drittel (65,2 v.H.) arbeiteten im
Bereich Handel, knapp ein Viertel (22,5 v.H.) im Bereich Handwerk und In-
dustrie. Die Künstler, Akademiker und Freiberufler machten zusammen 7,1
v.H. der Erwerbstätigen aus. (Vgl. Richarz 1989, S. 23)
Von den Großvätern der PriWaKi-SchülerInnen gehörte gut die Hälfte
der Gruppe der Kaufleute und Händler an, wobei es aber oft nicht möglich ist
zu entscheiden, ob es sich jeweils um einen Kleinhändler, einen mittelstädti-
schen Ladenbesitzer oder um einen Großhändler bzw. Besitzer eines größe-
ren Geschäfts gehandelt hat. Allerdings verweisen diverse schriftliche Anmer-
kungen und mündliche Mitteilungen darauf, daß es eine deutliche Minderheit
gab, die schon zur gehobenen Mittelschicht gehörte. Andererseits lassen An-
gaben wie "Kurzwarenhändler" oder "Pferdehändler" erkennen, daß ebenfalls
eine deutliche Minderheit noch am unteren Ende der Rangskala existierte und
eher noch den Berufs- und Sozialstatus der Urgroßväter repräsentierte.

50
Zu den Bankiers und Maklern gehörte etwa jeder zehnte Großvater, wo-
bei der Berufsstatus vom kleinen Bankangestellten oder Versicherungsvertre-
ter bis zum Direktor mit eigener Bank bzw. Agentur sich bewegen konnte.
Insgesamt waren knapp zwei Drittel (62,5 v.H.) der Großväter im Sektor
Handel und Banken beschäftigt.
Handwerkliche Berufe wurden von knapp 10 v.H. der Großväter ausge-
übt; angegeben wurden Müller, Konfektionär, Drucker, Restaurateur, Mau-
rer, Dentist, Gerber, Metzger und Silberschmied. Öfter betrieben die Handwer-
ker auch einen Handel, z.B. mit Getreide, Kleidung, Fleischwaren etc., so daß
eine klare Unterscheidung von den Kaufleuten nicht problemlos möglich ist.
Ebenfalls schwierig ist die Abgrenzung von den Herstellern. Etwa jeder
zehnte unter den Großvätern stellte Kleidung oder Porzellan her oder besaß
eine Gerberei, Färberei, Druckerei. Insgesamt war somit jeder fünfte Großva-
ter (21,5 v.H.) in den Bereichen Handwerk und Industrie tätig.
Geisteswissenschaftliche und künstlerische Berufe wie Rabbiner, Schrift-
steller, Kantor, Dirigent und Lehrer haben ca. 8 Prozent der Großväter ausge-
übt. Auch die bei den deutschen Juden zunehmende Gruppe der akademisch
ausgebildeten Freiberufler zeichnet sich schon ab: Ärzte und Rechtsanwälte
waren ca. 6 Prozent der Großväter. Insgesamt haben 14,5 Prozent der Großvä-
ter akademische und künstlerische Berufe ausgeübt, womit ihr Anteil mehr
als doppelt so hoch ist wie bei den erwerbstätigen Juden des gesamten Rei-
ches und sogar noch über den Reichsdurchschnitt des Jahres 1933 liegt! Hier
deutet sich bereits die besondere Charakteristik der PriWaKi-Klientel an, die
bei den Eltern dann noch ausgeprägter sein wird.
Eine Betrachtung einzelner Berufsfelder zeigt einen deutlichen Über-
gangscharakter in der Berufsstruktur. Dies gilt auch für die Akademiker. Die
Hälfte der Akademiker unter den Großvätern gehörte zu den traditionellen
geistigen Berufen wie Rabbiner, Kantor, Lehrer, wobei sich dieser Teil der
akademischen Berufe sowohl bei der Großväter-Gruppe als auch unter den
deutschen Juden allgemein in einem Schrumpfungsprozeß befand. Dagegen
lagen die "modernen" freien Berufe - vor allem die Rechtsanwälte und Ärzte
- im Aufwärtstrend. Diese Gruppe wird bei den Vätern noch bedeutender
werden.
Im Bereich Handwerk und Industrie wird der Übergangscharakter daran
erkennbar, daß zwar einerseits die alten Handwerkerberufe noch existierten,
aber zugleich auch schon der Übergang in die Herstellerberufe erfolgte, wo-
durch aus Handwerker-Haushalten Unternehmungen oder Geschäftsbetriebe
wurden. Auch im Bereich Handel waren einerseits noch Berufe aus der Ur-
großväterzeit vorhanden (z.B. Pferdehändler, Kurzwarenhändler, Viehhändler),
doch es gab keine Trödler, Hausierer und Pfandleiher unter den Großvätern
mehr. Sie hatten zumindest einen offenen (oft noch kleinen) Laden oder ein
festes Kommissionsgeschäft oder sie waren (z.T. selbständige) Agenten, Mak-
ler und Bankiers. Der Übergang zur gehobenen Mittelschicht wird bei einem
kleineren Teil der Großeltern bereits vollzogen. Insgesamt scheint aber noch
der kleinbürgerliche und klein-mittelständische Status dominiert zu haben.

51
Etwa zwei Drittel der PriWaKi-Großeltern wird man um die Jahrhundert-
wende noch als typische Aufsteigerfamilien charakterisieren können, die aber
schon mindestens die erste Stufe einer bürgerlichen Existenz erreicht hatten.

Berufe der Väter

Bei den Vätern bzw. Eltern der PriWaKi-Schülerschaft hat die Entwicklung
in der Berufsstruktur und im Sozialstatus einen weiteren qualitativen Sprung
gemacht, wobei die Veränderungen wie schon bei den Großeltern nur zu ei-
nem Teil durch Verschiebungen der Berufsstruktur zustande gekommen sind,
sondern eher durch qualitative Veränderungen innerhalb der Branchen und
Berufsfelder.
In die Kategorie der Händler/Kaufleute im engeren Sinne gehören 38
Prozent der Väter; diese Berufsgruppe ist also gegenüber den Großvätern (52
v.H.) deutlich geschrumpft, bleibt aber die größte Berufsgruppe. Bemerkens-
wert ist auch der Aufstieg innerhalb dieses Sektors: Aus den oft noch kleinen
Ladeninhabern und Händlern sind jetzt häufig Großhändler und Inhaber grö-
ßerer Geschäfte geworden. Oft werden der Besitz oder Mitbesitz eines größe-
ren Geschäftes, manchmal auch eines Kautbauses oder einer Ladenkette an-
gegeben.
Bankiers und Makler gab es bei den Vätern nur noch 4 Prozent, bei den
Großvätern waren es fast noch 10 v.H. gewesen. Auch dies spiegelt den
Strukturwandel in der Wirtschaft wider. Für selbständige Bankiers und Makler
war die Existenz in der Weimarer Republik vor allem nach der ersten Wirt-
schaftskrise sowie durch das Anwachsen von Großbanken und Versicherungs-
konzernen schwierig geworden.
Stark reduziert ist auch die Gruppe mit handwerklichen Berufen. Während
bei den Großvätern noch gut 10 v.H. Handwerker waren, sind es bei den Vätern
nur noch 4 v.H. (Schneider und Drucker), wobei anzunehmen ist, daß auch die-
se Väter einen kleinen Betrieb oder ein Geschäft besaßen. Der weitere Rück-
gang der Handwerker-Berufe von den Großvätern zu den Vätern dokumentiert
auch den Übergangscharakter des Handwerks bei den Juden in modernen Ge-
sellschaften, auf den auch Ruppin (1920, 1930) hingewiesen hat. Nach dem
Umzug nach Berlin dienten die Handwerksberufe oft als Basis für die Grün-
dung eines produktgleichen oder ähnlichen Herstellungs- oder Geschäftsbe-
triebs. 1938 waren unter den PriWaKi-Vätern schon keine Handwerker mehr.
Mit der Produktion befaßten sich insgesamt 16 Prozent der Väter aus der
Fragebogengruppe; bei den Großvätern waren es etwa 9 Prozent gewesen,
die aber meistens nur einen Handwerksbetrieb besaßen. Der Aufstieg vom
Handwerker zum Unternehmer der mittleren und oberen Mittelschicht zeich-
net sich also klar ab.
Zusammen mit den Industrie-Managern und den Handwerkern ist der
Anteil in der Sparte "Handwerk und Industrie" bei den PriWaKi-Vätern 24

52
Prozent, wobei der Schwerpunkt sich inzwischen eher auf mittelständische
Industrie verlagert hat.
Auch bei den geistigen Berufen hat sich eine Veränderung ergeben. Noch
6 Prozent übten einen solchen Beruf aus, doch haben sich die Berufe hin zum
Künstlerischen verschoben: Es gab z.B. einen Theaterdirektor und -besitzer
(Aufricht), einen Opernsänger (y./. Guttmann) und einen bekannten Rabbiner,
der zugleich auch Schriftsteller war (E. "Bernhard" Cohn). Aus den ehemaligen
Lehrern, Rabbinern und Kantoren waren also inzwischen prominente Kultur-
schaffende geworden, oder die Berufe wurden gewechselt: Entweder ging ein
Lehrer oder dessen Sohn ins lukrativere Geschäftsleben, oder er wurde Freibe-
rufler (bevorzugt Arzt oder Rechtsanwalt). Die Gruppe der Freiberufler ist
dementsprechend deutlich angewachsen und setzt sich überwiegend aus Fach-
ärzten und Rechtsanwälten zusammen. Sie macht 28 Prozent der Gesamt-
gruppe aus.
Bei den 405 Schülerinnen und Schülern in der Liste von 1938 sind in
349 Fällen die Berufe der Vätern angegeben. Davon gehören 67,6 Prozent,
also etwa zwei Drittel, zu den Berufsgruppen KaufleuteiGeschäftsleutelBan-
kierslFabrikanten. Handwerker im engeren Sinne gab es nicht mehr. Bei 13 Schü-
lern sind die Väter Fabrikanten gewesen. Die Sparte ,,Industrie und Handwerk"
dürfte 1938 keinesfalls mehr als 5 v.H. der Berufe der Väter erfaßt haben. Auf
eine Abgrenzung zwischen "IndustrielHandwerk" und "Handel" haben wir
auch deshalb verzichtet, weil schon vor 1930 das Handwerk bei den voll ak-
kulturierten Berliner Juden fast ganz zurückgegangen war und überwiegend
nur noch von den zugewanderten Ostjuden betrieben wurde. Dies hatte sich
ja auch schon bei der (durchschnittlich älteren) Fragebogengruppe gezeigt.
Auch im Bereich "Industrie" mußten die jüdischen Fabrikanten oft schon vor
1938 ihre Tätigkeit einstellen, weil erzwungene Verkäufe und ,,Arisierungen"
sie um ihre Fabriken gebracht hatten.
Der Anteil der akademischen Berufe bei den Vätern der gesamten Schü-
lerschaft des Jahres 1938 betrug sogar 32,4 Prozent! Die mit Abstand größte
Berufsgruppe bildeten die Ärzte, gefolgt von den Rechtsanwälten. Wiederum
mit großem Abstand folgten die Ingenieure (8), Chemiker (3), Lehrer (2)
sowie je ein Redakteur, Schriftsteller, Sänger und Nationalökonom.
Aber auch ein Teil der Kaufleute war Akademiker, denn es kam bei den
deutschen Juden häufiger vor, daß Akademiker eine unabhängige kaufmänni-
sche Existenz einem akademischen Beruf vorzogen, wenn letzterer sie abhän-
gig machte und zudem noch schlecht bezahlt wurde, wie dies vor allem bei
den geisteswissenschaftlichen Berufen der Fall war.
Der selbständige und oft zugleich gebildete Geschäftsmann oder Unter-
nehmer sowie der zumeist freiberufliche und oft promovierte Akademiker
waren im Laufe der Entwicklung, die schon bei den Großvätern angelegt
war, zu den beiden vorherrschenden Berufstypen bei den Männern in den
PriWaKi-Familien geworden. Die untere Schicht im beruflichen Statusgefüge
bildete die Gruppe der Handelsvertreter, Reisenden und kleineren kaufmänni-
schen und Bankangestellten. Etwa ein Dutzend Familienväter übte nach den

53
Angaben von 1938 eine solche Tätigkeit aus. Es ist jedoch unter den Bedin-
gungen, unter denen die Juden 1938 in Deutschland leben mußten, eine weit
höhere Zahl zu vermuten. Doch für die soziale Selbsteinstufung der PriWa-
Ki-Familien zählten eher die von den Vätern bis 1933 ausgeübten Berufe. Sie
weisen die PriWaKi-Familien fast durchgängig als gebildete Familien des
Mittelstandes aus. Damit hatte die PriWaKi von den Elternhäusern her eine
gute Basis für ihre pädagogische Arbeit.

Berufe der Großmütter und Mütter

Entscheidend für das kulturelle Leben in einer Familie und damit für die Ak-
kulturation der Kinder war jedoch nicht nur der formale akademische Status
des Vaters, sondern auch die Bildung und der Beruf der Ehefrau und Mutter
bestimmten die Familien-Kultur mit. Die Berufstätigkeit der jüdischen Frau
war traditionell sehr eingeschränkt. In religiösen Familien hatte sie die Pflicht,
neben der Betreuung und Erziehung der Kinder den Haushalt korrekt nach ei-
ner Vielzahl religiöser Gebote und vor allem Verbote zu führen, was keine
leichte Aufgabe war. Lediglich in Notfällen (z.B. Krankheit oder Tod des
Ehemannes) oder wenn der Mann sich ausschließlich den religiösen Studien
widmete, was bei den orthodoxen Juden Osteuropas häufiger vorkam, ernähr-
te sie die Familie mit ihrer Arbeit, dann aber vorzugsweise mit Heimarbeit.
Die vorherrschende Einstellung zur Erwerbstätigkeit der jüdischen Frau bis
zur Weimarer Republik hat Ruppin, einer der besten Kenner des Judentums
seiner Zeit, wie folgt beschrieben:
"Neben der Verschiedenheit der Berufsgliederung kommt, wie erwähnt, für den hohen
Prozentsatz erwerbsloser Angehöriger bei den Juden als Grund in Betracht, daß sie ihre
weiblichen Angehörigen nur sehr ungern als Arbeiterinnen in gewerbliche Betriebe schik-
ken, weil sie glauben, daß die gewerbliche Handarbeit die Frauen herabwürdigt. Die jüdi-
sche Tradition beschränkt das junge Mädchen oder die Frau auf das Haus oder allenfalls
auf eine gewerbliche BeSChäftigung nichtmanueller Art, z.B. als Angestellte im Büro oder
Laden. Erst in den letzten Jahrzenten ist in bezug auf das unverheiratete jüdische Mäd-
chen hier eine gewisse Wandlung der Anschauungen eingetreten, die es dem Mädchen er-
laubt, mehr und mehr auch in den Werkstätten und Fabriken als Arbeiterin tätig zu sein.
Besonders unter den jüdischen Einwanderern in den Vereinigten Staaten ist die Beschäfti-
gung der Mädchen in Werkstätten durchaus üblich geworden. Für die verheiratete Frau
besteht aber die Abneigung gegen gewerbliche Arbeit und die Beschränkung auf Haushal-
te und Kinderpflege noch bis heute ziemlich ungeschwächt fort." (Ruppin 1930, S. 337)

Letzteres galt besonders noch um die Jahrhundertwende zu Lebzeiten der Pri-


WaKi-Großmütter. Doch konnte diese Grundeinstellung gegen die Arbeit
jüdischer Frauen vor allem im gewerblichen Bereich eine von konservativen
Juden unerwünschte Entwicklung nicht verhindern. Denn die Entwicklung zur
modernen industriellen Gesellschaft brachte es mit sich, daß immer mehr
Töchter und Frauen in jüdischen Familien, die über ein geringes Einkommen

54
verfügten, erwerbstätig wurden. Dies geschah vor allem in großen Städten wie
auch in Berlin nach der Zuwanderung. Hier boten größere jüdische Hand-
werks-, Industrie- und Dienstleistungsbranchen entsprechende Arbeitsmög-
lichkeiten für Frauen. In kleineren Städten, auch in Westdeutschland, kamen
eigentlich nur das Erlernen der Haushaltsführung für unverheiratete Töchter
sowie die Mitarbeit im eigenen Geschäft in Betracht.
Schon zu der Zeit, als die PriWaKi-Großmütter junge Erwachsene wur-
den oder waren, zeichnete sich der Trend zur Erwerbstätigkeit bei jüdischen
Frauen ab. Bereits 1886 hatten im deutschen Kaiserreich 16 v.H. aller weibli-
chen Personen jüdischen Glaubens ein Einkommen (auch Renten etc.). 1896
waren es schon 22 v.R. und 1907 dann 29 v.H .. Nimmt man als Ausgangs-
basis nur die Frauen im erwerbstätigen Alter, erhöht sich die Quote der jüdi-
schen Frauen mit eigenen Einkommen etwa auf ein Drittel. (V gl. Theilhaber
1911, S. 125) In einem Vergleich stellte Ruppin fest, daß noch 1921 in Polen
erst 17,6 v.H. der jüdischen Frauen erwerbstätig waren, während es in Preu-
ßen bereits 190721 v.H. waren, was er auf die größere Abneigung gegen die
gewerbliche Frauenarbeit ~ei den noch traditionsbewußten Ostjuden zurück-
führt. (Vgl. Ruppin 1930, S. 371) Bei der jüdischen Bevölkerung in Groß-
städten schwanden die traditionsbedingten Barrieren gegen die Frauenarbeit
jedoch schnell. In Berlin waren 1907 schon 35,8 v.H. der weiblichen jüdi-
schen Einwohner erwerbstätig. (Vgl. Ruppin 1930, S. 376) Besonders häufig
war eine Tätigkeit in der Bekleidungsindustrie (Schneiderin), als Verkäuferin
und zunehmend auch als Büroangestellte in Handel, Gewerbe und Industrie.
Doch dies war offensichtlich bei den Großmüttern der PriWaKi-Schüler
nicht der Fall. In nur 4 Fällen wurde bei 100 möglichen Angaben ein Beruf
der Großmutter genannt: Es waren zwei Musiklehrerinnen, eine Opernsän-
gerin und eine Putzmacherin. In zwei weiteren Fällen wurde auch die Mithil-
fe im elterlichen Geschäft erwähnt.
Als Arbeiterinnen in der Bekleidungs- oder Tabakwarenindustrie kamen
nur die Töchter und Frauen weniger bemittelter Zuwanderer in Betracht. Da-
für war der Status der in Berlin schon länger ansässigen PriWaKi-Familien
schon zu hoch, und in der jüdischen Mittelschicht galt um die Jahrhundert-
wende, "daß eine Frau subaltern irgendwo Arbeit sucht, sind ungern gesehe-
ne und seltene Erscheinungen". (Theilhaber 1911, S. 69)
Jüdinnen aus der Mittelschicht erhielten zwar zunehmend eine Höhere-
Töchter-Bildung, wie dies auch bei einem Teil der PriWaKi-Großmütter der
Fall war, doch mußte sie rollen- und standesgemäß sein: Klavierlehrerin und
Sängerin waren akzeptabel, auch die Mitarbeit im Familiengeschäft wurde
toleriert.
Bei den Müttern hatte sich der Anteil mit Berufsausbildung erheblich
vergrößert; sie hatten sich damit stärker der allgemeinen Entwicklung in der
Weimarer Republik angeglichen. Über die Mütter der PriWaKi-SchülerInnen
liegen in bezug auf den Beruf sowohl Angaben über die Berufsausbildung
(education) als auch über die Berufsausübung (occupation) vor; es besteht
dabei jedoch (im Unterschied zu den Männern) keine Kongruenz! Zur Be-

55
rufs ausbildung sind folgende Angaben gemacht worden: Im künstlerischen
Bereich (Musik, Ballett) sind 6 Mütter ausgebildet worden, aber wohl nicht
immer bis zur vollen Professionalität. Als Lehrerin haben sich 4 Mütter
ausbilden lassen. Kindergärtnerin haben 2 Mütter gelernt, dazu kam eine
Krankenschwester und eine Sozialarbeiterin (social work). 2 Mütter wurden
Bibliothekarin und weitere 6 erwarben Qualifikationen als Buchhalterin, Bü-
rokauffrau und Sekretärin. Zuletzt kommen noch 2 Laborantinnen und eine
Photographin hinzu. Die gewählten Berufsausbildungen der Mütter, die
überwiegend zwischen 1910 und 1920 erfolgt sein dürften, spiegeln sowohl
das damalige Selbstverständnis der jüdischen Frau als auch den Sozialstatus
ihrer Herkunftsfamilien wider. Während bei den Großmüttern nur etwa 5
v.H.eine Ausbildung erhalten hatten, waren es bei den Müttern schon 50 v.H.
Dies zeigt das veränderte Rollenverständnis bei den jüdischen Frauen, das
schon vor dem Ersten Weltkrieg begann und auf das Ruppin (siehe oben) in
den 20er Jahren bereits hingewiesen hat. Nunmehr wurde zumindest eine Be-
rufs bildung auch für Frauen toleriert oder sogar erstrebt. Sicher haben auch
die Krisenerfahrungen im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg zu der
Einstellung beigetragen, daß eine Berufsausbildung der Töchter sich als
nützlich erweisen könnte. Auch die traditionellen Normen für das Verhalten
der jüdischen Frau wurden durch den Umzug in die Großstadt und die damit
verbundene weitere Assimilation abgeschwächt. Insoweit lagen die PriWaKi-
Mütter im Trend der Moderne. Festzuhalten bleibt aber auch, daß die Hälfte
der Mütter keine Ausbildung erhalten hat. Dies dürften mehrheitlich die
Töchter derjenigen PriWaKi-Großeltern gewesen sein, die erst nach der Jahr-
hundertwende nach Berlin gekommen sind. In der Provinz und/oder bei dem
kleineren Teil der religiösen großstädtischen Juden war die Tradition für die
Töchtererziehung noch normierend. Aber auch finanzielle Gründe dürften
einen Teil der Großeltern noch davon abgehalten haben, ihren Töchtern eine
Ausbildung zu finanzieren - für die Söhne galt dies allerdings nicht, wie ge-
zeigt werden konnte, denn sie galten als eigentliche ,,Aufstiegsträger" der Fa-
milie.
Auch sind die gewählten Berufe nur teilweise mit der faktischen Be-
schäftigungsstruktur der Berliner jüdischen Frauen identisch, denn die mei-
sten dieser Frauen arbeiteten in der Industrie als Arbeiterin oder im Handel
als Bürogehilfin oder Verkäuferin, was für die meisten PriWaKi-Mütter vor
1933 nicht infrage kam, da dies nicht deren Sozialstatus entsprach.
Bei der Berufsausübung zeigt sich bei den Müttern der PriWaKi-Schü-
lerschaft ein etwas anderes Bild: In drei Fällen wird die Mitarbeit im elterli-
chen oder Familiengeschäft angegeben. Insgesamt dürfte aber die Zahl der
mitarbeitenden Töchter bzw. Frauen höher gewesen sind, insbesondere in un-
sicheren und krisenhaften Zeiten. Doch wurde eine solche (vorübergehende)
Mitarbeit wahrscheinlich nicht als Berufstätigkeit im engeren Sinne interpre-
tiert und angegeben. Nicht nur als mitarbeitende Ehefrau, sondern als Mitin-
haberin oder autonome Geschäftsinhaberin haben 3 Mütter gearbeitet. 4 Mütter
waren Lehrerin. Weitere Berufstätigkeiten waren: Künstlerin, Chemikerin,

56
Hauswirtschafterin, Photographin, Bibliothekarin, Masseuse, Buchhalterin, Bü-
rogehilfin, Laborantin, Klavierlehrerin, Krankenschwester und Physiothera-
peutin (zeitweilig auch Sekretärin), Putzmacherin, Verkäuferin, Kellnerin
und Schneiderin. In fast allen anderen Fällen wurde Hausfrau (housewife)
angegeben. Insgesamt ist also für 25 Mütter eine Berufstätigkeit angegeben
worden, die nicht Hausfrauentätigkeit war.
Dies liegt deutlich über der Quote von einem Drittel für die Erwerbstä-
tigkeit der jüdischen Frauen in Berlin um 1925. Doch ist dabei ein direkter
Vergleich nicht möglich, da die Quote von einem Drittel sich auf alle Frauen im
erwerbsfähigen Alter zu einem festgelegten Zeitpunkt bezieht. Bei den Pri-
WaKi-Müttern hingegen ist die Berufstätigkeit auch angegeben worden, wenn
sie schon vor 1925 beendet war oder erst nach 1933 angefangen hatte. Das
war bei einem beträchtlichen Teil der PriWaKi-Mütter der Fall. Der Beruf
wurde bei diesen Frauen überwiegend nicht als Lebensberuf angesehen, son-
dern hatte als Berufsausbildung eine Bildungs- und sonst eher eine Über-
gangs- und Reservefunktion. Als Übergang wurde die Berufsausübung vor
allem vor der Heirat angesehen. Die Reservefunktion kam in Notzeiten zum
Tragen, wenn z.B. das Geschäft des Mannes wegen der Wirtschaftskrise
schlecht lief oder nach der Einschränkung der Berufstätigkeit durch die Na-
tionalsozialisten und auch nach der Emigration, wenn die Männer beruflich
nicht mehr Fuß fassen konnten. Auf diese Weise haben sich die Berufstätig-
keiten der PriWaKi-Mütter auf etwa 50 Prozent summiert.
Die Berufstätigkeit behielt meistens ihre Ersatzfunktion. Der Sozialstatus
der Familie wurde hingegen durch den Beruf des Mannes bestimmt, subjektiv
auch dann noch, wenn er nach 1933 und nach der Emigration nicht mehr aus-
geübt werden konnte. Für die Kinder, also die Schüler und Schülerinnen der
PriWaKi, bedeutete das, daß die Mütter sowohl in ihrer Rolle als gebildete
Frauen, aber auch als bewährte Helferinnen in Notzeiten oftmals Persönlichkei-
ten mit entsprechend starkem erzieherischen Einfluß gewesen sein werden.
Allerdings muß bezweifelt werden, daß dies in den meisten Fällen noch mit
einer Erziehung zum Judentum verbunden war, denn die gegenüber den Groß-
müttern sprunghaft angestiegene Zahl der Mütter mit weiterführender Bildung,
Berufsausbildung und Berufstätigkeit verweist eher darauf, daß nunmehr auch
bei ihnen eine Assimilationsstufe erreicht war, die die Verbindung zum tradi-
tionellen Judentum nicht mehr so deutlich sichtbar werden ließ, wie dies bei
den Großmüttern als Erzieherinnen ihrer Kinder oft noch der Fall war.

Akkulturationsstufen

Zur Klassifizierung der verschiedenen Abschnitte des Akkulturations- und


Assimilationsprozesses der Juden in Deutschland sind Stufen- oder Phasen-
modelle benutzt worden. Mit ihnen lassen sich auch der soziale Aufstieg und
der Assimilationsprozeß in den PriWaKi-Familien erfassen.

57
Mit einem Vier-Schichten-Modell hat Ruppin (1920) seinerzeit die Ge-
samtheit der um 1910 lebenden Juden soziologisch klassifiziert. Ruppin sah vor
allem in der modemen Bildung ein zersetzendes Ferment des homogenen
Ghetto- und Stetl-Judentums, das dadurch in einen Prozeß des Zerfalls gebracht
werde, der dann "in der Verbindung der kulturell fortgeschrittensten Schicht
mit dem Christentum endigt". (Ebd. S. 8) Er hat damit nicht zwischen Akkul-
turation und Assimilation systematisch unterschieden - vermutlich weil die-
ser Unterschied bis etwa 1910 noch nicht so augenfällig war. Die Schichten
beschrieb Ruppin folgendermaßen:
Die Basis des Judentums bildeten nach wie vor die orthodoxen Stetl-
Juden, von denen es noch schätzungsweise 6 Millionen (etwa die Hälfte aller
um 1910 lebenden Juden) gab, die überwiegend in Osteuropa lebten. Deren
Merkmale waren: Absonderung von der nichtjüdischen Umwelt; besonderes
Aussehen (Kaftan, Schläfenlocken); ausschließlich religiöse Bildung; kleine
Händler, Tagelöhner, Vermittler und Handwerker; arm; viele Kinder.
In Deutschland war oder wurde diese Stufe schon ab 1800 überwunden.
Die Ururgroßeltern der PriWaKi-Schüler dürften zum großen Teil noch dazu
gehört haben; wahrscheinlich auch noch einige Urgroßeltern, wenn sie in ab-
gelegenen Landgemeinden lebten.
Die zweite Schicht bildeten diejenigen, die das Stetl-Milieu vor noch
nicht allzu langer Zeit verlassen hatten und ausgewandert waren. Dazu gehör-
ten 1910 viele in Amerika (New York) lebende Juden. In Berlin waren das
um diese Zeit vor allem die ab 1900 und später auch die im Kontext des Er-
sten Weltkriegs nach Deutschland gekommenen Ostjuden, die sich zuvor in
ihrer Heimat noch nicht akkulturiert, aber die ersten Schritte zur Anpassung im
neuen Land bereits vollzogen hatten. Außerdem gehörten nach Ruppin die un-
teren Schichten der jüdischen Bevölkerung in Holland, Österreich, Ungarn,
Ostdeutschland und im Elsaß dazu. Eine Wanderung von dort nach Berlin war
möglich und kam häufig vor (auch bei den PriWaKi-Eltern, die allerdings
nicht mehr aus den unteren Schichten kamen). Zur Akkulturation gehörte auf
dieser Stufe das Erlernen der Landessprache, die nun zusätzlich zum Jiddi-
schen gesprochen wurde, das als Umgangssprache aber noch erhalten blieb.
Kaftan und Schläfenlocken wurden nicht mehr getragen, doch lebten die Ju-
den dieser Schicht noch nach den Regeln des Talmud, wenn auch mit Ein-
schränkungen. Ihre Kinder schickten sie nicht mehr in den Cheder, wohl aber
auf eine jüdische Elementarschule, in der jedoch die profane Bildung gegen-
über der religiösen den Vorrang hatte. Die Ehen waren immer noch kinder-
reich, das Einkommen aus Handel, einem kleinen Laden oder Handwerks-
betrieb war nicht hoch, aber oft für eine kleinbürgerliche Existenz ausrei-
chend.
Sozialgeschichtlich können wir diese Schicht dem deutschen Judentum
von ca. 1812/1830 bis 1870/90 zuordnen; eine genauere zeitliche Eingren-
zung ist wegen des unterschiedlichen Tempos der Akkulturation in den
Großstädten und auf dem Lande nicht möglich. Überwiegend gehörten die
Urgroßväter der PriWaKi-Schülerschaft zu dieser Schicht, doch zu einem

58
Teil auch noch die Großväter, was aus den entsprechenden Angaben zur
Schulbildung und zu den Berufen hervorgeht.
Das Gros der deutschen Juden gehörte jedoch nach Ruppin um 1910
schon zur dritten Schicht, der insgesamt etwa 2 Millionen Juden angehörten,
die außer in Deutschland fast ausschließlich in Mittel- und Osteuropa sowie
in Amerika (USA) lebten.
In dieser "freigeistigen" Schicht wurden die religiösen Vorschriften und
Rituale nur noch zu einem kleinen Teil beachtet. Auch Jiddisch wurde nicht
mehr gesprochen, und der Besuch jüdischer Schulen erfolgte nur noch aus-
nahmsweise. Immerhin heirateten die Angehörigen dieser Schicht noch jü-
dische Partner, ließen ihre Söhne beschneiden und besuchten die Synagoge.
Sie waren überwiegend mittelständische Kaufleute ("wohlhabende Bourgeoi-
sie") und hatten nur noch wenige Kinder, die sie in der Regel auf (nichtjüdi-
sche) höhere Schulen schickten. Dieser Schicht gehörte schon ein erheblicher
Teil (ca. 30-50 v.H.) der PriWaKi-Großeltern und vermutlich auch etwa die
Hälfte der Eltern an.
Die vierte Schicht schließlich hatte keine tiefere Beziehung mehr zum Ju-
dentum
"und bleibt in der Mehrzahl nur deshalb jüdisch, weil sie aus Pietät, aus Wahrhaftigkeit,
aus Ehrgefühl oder verwandtschaftlichen und gesellschaftlichen Rücksichten den Über-
tritt scheut. Heiraten mit Christen und Kindertaufen sind häufig, das Zweikindersystem
bildet die Regel. Hierher gehören die reichen Juden in den Großstädten und die akade-
misch gebildeten Juden aller Länder, etwa eine Million betragend". (Ebd., S. 10)

Geht man davon aus, daß schon mindestens ein Drittel der PriWaKi-Väter
Akademiker waren, so kommen wir bei den Eltern unter Hinzurechnung der
Fabrikanten, Direktoren und der Inhaber großer Geschäfte auf über 40 Pro-
zent der Eltern, die nach den Kriterien von Ruppin der vierten Schicht zuzu-
rechnen wären. Daneben besteht eine hohe Dunkelziffer bei den Berufsanga-
ben Kaufmann, Makler und ähnliche, da sie nichts über den endgültigen So-
zialstatus aussagen. Bei einer vorsichtigen Schätzung wird man jedoch von
etwa der Hälfte der PriWaKi-Eltern sagen können, daß sie zur vierten Schicht
gehörten. Dabei konnten wir die Angaben von Ruppin über Mischehen und
Kindertaufen jedoch nicht genauer überprüfen. Eine genauere Zuordnung ist
deshalb nicht möglich.
Wie gezeigt worden ist, eignet sich das Schichten-Modell von Ruppin so-
wohl zur Einordnung von historischen Phasen des Akkulturations- und Assimi-
lationsprozesses, in denen sich jeweils die Mehrheit der deutschen Juden be-
fand, als auch zur soziologischen Ausdifferenzierung einzelner Gruppierungen,
die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt auf unterschiedlichen Akkulturations-
stufen befanden. Ruppin selbst bezeichnete wegen der Ungleichzeitigkeit des
Akkulturationsprozesses, die es ja auch bei den PriWaKi-Familien gab, die
Schichten des Modells "als Querschnitte eines ständig fließenden Stromes, der
aus dem großen Becken des orthodoxen Judentums im östlichen Europa ge-
speist wird und in das Meer des Christentums mündet ... " (Ebenda, S. lOf.)

59
Diesen letzten Schritt hat nur eine kleine Zahl der PriWaKi-Eltern voll-
zogen, so daß zumindest eine Zeitgleichheit von Akkulturation und Assimi-
lation für diese Gruppe nicht zutrifft. Wäre der Prozeß ungestört weiter ver-
laufen, so hätten sich Ruppins Prognosen von 1910 vermutlich zu einem gu-
ten Teil bestätigt, aber erst eine oder zwei Generationen später, was die As-
similation, also auch die Distanzierung vom Judentum, angeht.
Doch der Nationalsozialismus (wie überhaupt der moderne rassistische
Antisemitismus seit den 1870er Jahren) nahm keinerlei Rücksicht auf den
Stand des Assimilationsprozesses. Im Gegenteil: Die osteuropäischen Stetl-
Juden mußten zwar für "StÜfmer"-Karikaturen herhalten, doch viele öffentli-
che Terrormaßnahmen der nationalsozialistischen Machthaber richteten sich
besonders gegen die akkulturierten und auch assimilierten Juden. Sie wurden
Opfer von Geschäftsboykotts und als Akademiker von Entlassungen oder
Einschränkungen ihrer Berufstätigkeit empfindlich getroffen.
Reiche und/oder sozial exponierte jüdische Deutsche wurden auch schon
vor 1938 häufiger von der Gestapo zu Verhören bestellt, verhaftet und auch
vorübergehend in ein Konzentrationslager gebracht. Gerade dadurch konnten
die Nationalsozialisten besonders effektiv Unsicherheit, Angst und Auswan-
derungsdruck bei den jüdischen Deutschen schaffen, die anfangs noch glau-
ben mochten, wegen ihrer Assimilation von den antijüdischen Maßnahmen
weitgehend verschont zu werden. Das Gegenteil war der Fall: Gerade die
Assimilanten waren den Nazis ein Dorn im Auge, während die Zionisten bis
1939 häufig besser behandelt wurden. So wurde also auch den völlig assimi-
lierten Juden sowie den Dissidenten und den Christen jüdischer Abstammung
das Jüdischsein auch gegen ihren Willen drastisch und mit zunehmender Dauer
der nationalsozialistischen Herrschaft immer brutaler aufgezwungen. Die Frage
nach einer jüdischen Identität konnte zwar immer noch sehr unterschiedlich
nach dem jeweiligen Stand der Akkulturation und Assimilation beantwortet
werden, aber ausweichen konnte ihr ab 1933 kein Deutscher mit einer jüdi-
schen Abstammung mehr, wie weit auch immer der Assimilationsprozeß ihn
von der Lebenswelt seiner Vorfahren entfernt haben mochte.
Den jüdischen Schulen fiel dabei die Aufgabe zu, für die Kinder, die sich
nach der Logik des Assimilationsprozesses am weitesten von der traditionel-
len jüdischen Welt entfernt hatten, mit pädagogischen Mitteln eine konstruk-
tive Hilfestellung bei der Wiederentdeckung des Judentums zu leisten.

Familien-Geschichten

Die vorangehende statistische und sozial geschichtliche Auswertung und In-


terpretation von Angaben über den Akkulturationsprozeß hat das Spezifische
der Familien nicht zum Ausdruck bringen können. Die relativ weitgehende
soziale Homogenität der PriWaKi-Elternschaft, wie sie sich besonders in den

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Berufsangaben des Jahres 1938 zeigt, verdeckt leicht eine erstaunliche Viel-
falt von einzelnen Familien-Geschichten.
Für die Ausprägung des jüdischen Bewußtseins in einer Familie ist zwar
der jeweilige soziale Status von großer Bedeutung gewesen, doch war (und ist)
die je individuelle Familiengeschichte durchaus noch differenzierend wirksam,
insbesondere bei den tiefer liegenden Bewußtseinselementen, die in der durch
die Nazis erzwungenen Reidentifizierung mit dem Judentum wieder an die
Oberfläche kamen. Die durch den Nazi-Terror den deutschen Juden aufge-
zwungene Frage: Wer sind wir, daß wir so grundlos verfolgt werden, wird
kaum ohne Bezug auf die eigene Familiengeschichte reflektiert worden sein.
Und für heutige (vor allem nichtjüdische) Menschen gilt, daß sie die jün-
gere Geschichte der Juden in Deutschland durch eine (immer auch abstrahie-
rende) Geschichtsschreibung und durch soziologische Kategorisierungen in ih-
rer ganzen Realität kaum zu erkennen vermögen. Erst die Vielfalt der Familien-
Geschichten als Ergänzung zur übergreifenden historischen und soziologischen
Erfassung kann wenigstens exemplarisch die Reichhaltigkeit jüdischer Ge-
schichte in Deutschland und in Mittelosteuropa verdeutlichen. Damit werden
zugleich die Bedingungen aufgezeigt, unter denen Juden in Deutschland auch
schon vor der Hitlerzeit immer wieder ihre soziokulturelle Identität verän-
dern mußten oder auch wollten.
Deshalb sollen nachfolgend einige dieser Familien-Geschichten wenig-
stens als knappe Zusammenfassungen wiedergegeben werden, so wie sie vor
allem in den Interviews (auf der Basis der zuvor gemachten Angaben in den
Fragebögen) geschildert worden sind.

Die Familie von Lilli Cassel


Väterlicherseits lebte die Familie viele Generationen lang im Rheinland. Ein Cousin des
Urgroßvaters von Ulli Cassel wurde nach London geschickt, wo er zum Finanzier des
Königshauses avancierte und später zum Sir Ernest Cassel geadelt wurde. Seine Tochter
ließ sich taufen, und seine Enkelin wurde Lady Mountbatten.
Der Großvater ging nach Frankfurt am Main und betrieb dort eine Drogerie. Die
Familie blieb aber noch religiös, auch Sohn Joseph, Lilli Cassels Vater, wurde noch reli-
giös erzogen, konnte aber ein nichtjüdisches Gymnasium in Frankfurt a.M. besuchen und
danach in Heidelberg Medizin studieren. 1921 ließ sich Dr. Josef Cassel als Hautarzt in
Berlin nieder. Seine besonderen Interessen galten dem Theater und der Musik. Trotz sei-
ner religiösen Erziehung war L. Cassels Vater aber später nicht mehr sehr religiös. Er
konnte (an hohen Feiertagen) die hebräischen Gebete in der Familie aber noch vorlesen.
Die Familie der Mutter kam aus Posen, aber der Großvater arbeitete schon als Mak-
ler an der Mehlbörse in Berlin. Er heiratete die Tochter eines Rabbiners, über den jedoch
in der Familie nie gesprochen wurde. Da der Großvater früh starb, arbeitete Ulli Cassels
Mutter bei einem Arzt als Laborantin, als sie 16 Jahre alt geworden war. Nachdem sie Dr.
Cassel geheiratet hatte, gab sie ihre Arbeit auf und lebte danach in der Rolle als "Frau Dr.
Cassel" und stellte für den Haushalt Dienstboten (Köchin, Kinderfräulein, Putzhilfe) ein.
Sie interessierte sich ebenfalls sehr für das Theater. Ihr Interesse am Judentum war aller-
dings gering, obwohl einer ihrer Großväter noch Rabbiner war.
Nach der Auswanderung konnte Dr. Cassel in den USA keine Zulassung als Arzt mehr
erhalten. Da die Familie kein Vermögen transferieren konnte, mußte LiIli Cassels Mutter
nunmehr Berufe wie Kellnerin und Kassiererin ausüben, um die Familie zu ernähren.

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Die Familie von Ursula Kantorowicz
Der Großvater mütterlicherseits emigrierte schon um 1850 in die USA, wo er 20 Jahre
lang blieb, um als amerikanischer Staatsbürger namens Charles Caspar um 1870 nach
Thorn zurückzukehren. Dort heiratete er A1ma Joseph und betrieb einen Laden mit Ta-
bakwaren und Spirituosen. Die Großeltern hatten vier Kinder, von denen Ursulas Mutter
das jüngste war; sie wurde 1892 in Thorn geboren.
Die Großeltern gingen nicht mehr in die USA zurück. Da die deutschen Behörden
nicht wußten, daß die amerikanische Staatsbürgerschaft des Großvaters inzwischen erlo-
schen war, wurden auch seine Söhne für amerikanische Staatsbürger gehalten und mußten
im Ersten Weltkrieg nicht zum deutschen Militär. Über die Bildung und die religiöse
Einstellung der Großeltern in Thorn ist nichts bekannt. Vermutlich hatten sie eine (jüdi-
sche) Elementarschule besucht. Die Großmutter blieb Hausfrau.
Die Großeltern väterlicherseits hießen Ignaz und Agnes Kantorowicz. Die Kantorowicz'
waren eine bekannte und weitverzweigte Familie in Posen. Der Großvater lebte als Rentier
und ging schon früh nach Berlin, denn Ursulas Vater wurde bereits 1874 in Berlin geboren.
Später studierte er in Genf und erwarb Doktortitel in Philosophie und Chemie. Da er aber bei
schlechter Gesundheit war, scheint er einen entsprechenden Beruf nicht ausgeübt zu haben,
sondern lebte wie sein Großvater als Rentier. Dr. Kantorowicz war schon 46 Jahre alt, als er
Ursulas Mutter aus Thorn heiratete; 1928 ließen sie sich wieder scheiden. Dr. Kantorowicz
war assimiliert, besuchte aber noch die Synagoge; er konnte auch noch Hebräisch lesen. Als
er älter wurde, wandte er sich verstärkt dem Judentum zu. Geheiratet haben die Eltern von
Ursula in der liberalen Synagoge in der Fasanenstraße in Berlin.
Ursulas Mutter hatte in Thorn eine Höhere-Töchter-Schule besucht und anschließend
eine Berufsfachschule für Sekretärinnen. Im Ersten Weltkrieg arbeitete sie als Kran-
kenschwester. Später wurde sie Physiotherapeutin und arbeitete in diesem Beruf in Berlin
und New York sehr erfolgreich. Sie war nicht religiös, aber zionistisch eingestellt und
auch in der zionistischen Frauenorganisation (WIZO) aktiv. Sie wäre vermutlich nach
Palästina ausgewandert, wenn sie nicht Ursulas späteren Stiefvater in Berlin kennenge-
lernt hätte, der kein Zionist war.
Dieser hatte bis zur "Machtergreifung" Hitlers als Rechtsanwalt eine Kanzlei in einer
schlesischen Kleinstadt, doch wurde er recht bald von den örtlichen Nazis gewaltsam von
dort vertrieben. Er war völlig assimiliert und hatte eine Nichtjüdin geheiratet, die ihn vor
schlimmeren Mißhandlungen bewahrte. Er flüchtete dann über Breslau nach Berlin, wur-
de später von seiner Frau geschieden und heiratete Ursulas Mutter, die deshalb auf eine
Auswanderung nach Palästina verzichtete.
In der Familie von Ursula Kantorowicz gab es viele Mischehen; die verwandtschaft-
lichen Beziehungen auch zu den nichtjüdischen Verwandten waren gut und blieben es
auch noch nach der Hitlerzeit.

Die Familie von Werner und Marianne Stein


Der Großvater mütterlicherseits hieß Samuel Rosenthai; er heiratete Julie Block. Die Familie
lebte in Duisburg/Ruhrort, wo auch die Mutter der Geschwister Stein geboren wurde. Diese
wurde Lehrerin, war aber nach der Heirat eines Rabbiners nur noch Hausfrau.
Die Großeltern väterlicherseits hießen Isaak und Ma1chen Stein. Die Familie des
Großvaters lebte schon seit Generationen in Burgsinn, einem kleinen Ort in Bayern mit
damals etwa 2.000 Einwohnern. Die Familie muß noch sehr religiös gewesen sein, denn
der Haushalt wurde koscher geführt.
Der Vater von W. u. M. Stein erhielt auf einer Jeschiwa in Burgpreppach eine Rabbi-
nerausbildung und wurde Lehrer für jüdische Religion (allerdings nicht Rabbiner). Er be-
kam eine Anstellung im westfälischen Beckum, dann in Gütersloh.
Seine politische Einstellung war deutschnational; er gehörte dem Reichsbund jüdi-
scher Frontsoldaten an. Als Kriegsteilnehmer soll er sogar zum Hauptmann befördert

62
worden sein. Er war also trotz seiner religiösen Erziehung voll akkulturiert und liebte es,
bayerisch zu essen und einen Lodenhut aufzusetzen.
Andererseits blieb er bewußt jüdisch und arbeitete auch in der jüdischen Gemeinde
mit. Der Haushalt wurde allerdings nicht mehr koscher geführt. 1920 gab er seine Stelle
als Lehrer in Gütersloh auf und ging mit der Familie nach Berlin. Dort war er nur noch
kurze Zeit Religionslehrer, dann machte er sich mit einer gekauften Plakatdruckerei er-
folgreich selbständig. Das gleiche gelang ihm nach der Emigration auch in New York.
Schon relativ früh hat sein Sohn Werner die Druckerei dort übernommen und zu einem
größeren Unternehmen ausgebaut.
Die Familie von Dimitri Hirschberg
Die Familie des Urgroßvaters (väterlicherseits) lebte in Stettin (Pommern), wo der Ur-
großvater einen Großhandel mit Agrarprodukten betrieb, die er aus Rußland importierte.
Von seinen Söhnen mußte Theodor im Familienauftrag nach Odessa übersiedeln, um dort
mit den ukrainischen Bauern Anbau- und Lieferverträge abzuschließen, Kredite zu geben
etc. Als Deutscher hatte er vermutlich keine engeren Kontakte zu den ortsansässigen
Ostjuden. Später heiratete er die Tochter eines rumänischen jüdischen Geschäftspartners,
die dann zu ihm nach Odessa zog. Die Großeltern hatten fünf Kinder, drei Jungen und
zwei Mädchen. Sohn Fritz, der Vater von Dimitri, wurde 1899 in Odessa geboren.
Die Familie war wohlhabend und lebte in einer Villa am Schwarzen Meer. Die Kin-
der erhielten eine moderne Bildung durch Privatlehrer. Jiddisch verstand nur noch die
Großmutter aus Rumänien, die es aber nicht mehr sprach, während der Großvater nicht
einmal mehr jiddisch verstand. Die Großmutter war auch noch gemäßigt religiös und fa-
stete am Yom Kippur, doch der Großvater war in keiner Weise mehr religiös. Dimitri
Hirschberg vermutet sogar, daß er seine Söhne nicht einmal zur Bar Mitzwah geschickt
habe. Dimitris Vater Fritz hatte deshalb "virtually no connection to Judaisrn".
Wenn die Söhne etwa 14 Jahre alt waren, wurden sie nach Stettin zum Onkel ge-
schickt, damit sie dort eine deutsche höhere Schule besuchen konnten. Fritz Hirschberg
wurde jedoch noch in Odessa vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs überrascht und mußte
sich auf abenteuerlichen Wegen nach Deutschland durchschlagen. Die Familie war in
Rußland zeitweise interniert. Fritz Hirschberg besuchte in Stettin ein Gymnasium. Noch
während des Krieges mußte er zum deutschen Militär und erlebte dort den Antisemitis-
mus. Nach Beendigung des Krieges ging er nach Stettin zurück und begann im Lebens-
mittelhandel und in einer Bank zu arbeiten.
Die Großeltern kamen nach Kriegsende ebenfalls sofort aus Odessa zurück und lie-
ßen sich in Berlin nieder. Noch in Stettin lernte der Vater Dimitris spätere Mutter kennen,
die aus einer nichtjüdischen Braunschweiger Familie kam und in Stettin bei einem Photo-
graphen arbeitete. Obwohl Fritz Hirschberg in keiner Weise religiös war, trat seine Frau
zum Judentum über, aber weniger aus religiöser Überzeugung, sondern auf Wunsch der
Großeltern. Etwa 1922 ging das Ehepaar Hirschberg dann nach Berlin, wo ihr Sohn Di-
mitri (nach einem Freund des Vaters benannt) 1924 geboren wurde. In Berlin arbeitete der
Vater zunächst bei der Deutschen Bank, stieg dann aber in ein Vieh-Import-Geschäft ein,
das einem holländischen Juden gehörte. Dimitri Hirschberg wurde von seinen Eltern in
keiner Weise jüdisch erzogen.
Die Familie von Herbert Samuel Kneller
Die Familie mütterlicherseits kam ursprünglich aus KattowitzJOberschlesien. Aber schon der
Großvater Adolph Holländer lebte als vereidigter Börsenmakler in Berlin, wo er Trude
Steinitz heiratete. Ihre Tochter (die Mutter von Herbert Kneller) wurde in Berlin geboren und
besuchte dort eine Höhere Töchter-Schule und eine Berufsfachschule für Buchhaltung.
Der Großvater väterlicherseits war Paul Kneller. Er war in Österreich (Galizien) im
Gaststättengewerbe tätig, ging dann aber nach Deutschland und lebte hauptsächlich von dem
An- und Verkauf von Cafe's und Restaurants, wobei die Familie fast jedes Jahr den Wohnort

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wechseln mußte. Trotz dieser erschwerten Bedingungen gelang es dem Vater von Herbert
Kneller, Lutz Kneller, das Abitur zu machen und in Heide1berg Jura und Ökonomie zu stu-
dieren und auch zu promovieren. Er wurde 1913 als Soldat eingezogen, als er noch nicht
verheiratet war und erst 1920 aus der russischen Gefangenschaft entlassen.
Nach seiner Entlassung arbeitete L. Kneller in Berlin in einer großen jüdischen Pri-
vatbank, die jedoch 1929 nach dem Börsenkrach schließen mußte. Eine gleichwertige Stel-
lung konnte Dr. Kneller nicht wiedererlangen, so daß er begann, für die Zionistische Organi-
sation in Berlin zu arbeiten, wo er u.a. mit der Zuteilung der Palästina-Einwanderer-Zerti-
fikate zu tun hatte.
Die Familie Kneller ging regelmäßig am Freitagabend in die Synagoge (in den
"Friedenstempel" zu Rabbiner Prinz), allerdings wurde am Yom Kippur nicht gefastet.
Das jüdische Bewußtsein der Familie Kneller war weniger religiös als vielmehr natio-
naljüdisch-zionistisch geprägt. Eine zionistische Einstellung hatte der Vater Dr. Lutz
Kneller bereits um 1900 erworben. Mit der Auswanderung der Familie Kneller nach Pa-
lästina wurde diese Einstellung auch in die Tat umgesetzt.
Die Familie von Günther Stensch
Mütterlicherseits kam die Familie aus Schlesien. Der Großvater hieß Karfunkelstein und
handelte mit Glas. Er heiratete Clara Blumenfeld. Die Familie war kaum noch religiös.
Gunther Stents Mutter wurde 1892 in Breslau geboren. Sie war hatte ein ausgeprägtes jü-
disches Selbstbewußtsein, ohne allerdings zionistisch oder religiös zu sein. Sie besuchte
ein Lyzeum in Breslau; später war sie Hausfrau.
Die Familie väterlicherseits kam ursprünglich aus Westpreußen und lebte später im
preußischen Berlinchen (Neumark). Von dort ging der Großvater Sigismund Stensch um
1860 nach Berlin und heiratete Cecilie Salinger aus Pommern. Der Großvater war Kurzwa-
renhändler (haberdasher) und hatte ein kleines Geschäft. Er war nicht mehr religiös. Sein
Sohn Georg, der Vater von Gunther Stent, besuchte zwar ein Gymnasium, das er jedoch vor
dem Abitur verließ. In Berlin arbeitete er sich zum Fabrikanten hoch. Er produzierte mit ei-
nem nichtjüdischen Partner Bronzefiguren, Beleuchtungskörper und Waffenmechanik.
Die Familie war nicht religiös, Synagogenbesuche waren äußerst selten und erfolgten
nur aus sozialen Anlässen (Hochzeiten etc.). Aber von Mischehen oder gar Übertritten
zum Christentum ist in dieser Familie nichts bekannt.
Die Familie von Gerd zu Klampen
Mütterlicherseits kam die Familie aus Oberschlesien; sie ging schon im 19. Jahrhundert
nach Berlin. Es war schon damals eine sehr assimilierte Familie, in der es viele Akade-
miker gab. Auch der Großvater hatte studiert und war sogar Amtsgerichtsrat geworden.
Die Mutter wuchs in Berlin auf, machte dort ihr Abitur und wurde Bibliothekarin. 1915
heiratete sie den Marineoffizier (Oberingenieur) zu Klampen aus einer nichtjüdischen ost-
friesischen Bauernfamilie und zog mit ihm nach Wilhelmshaven. Dort wurde 1917 Sohn
Gerd geboren.
1923 wurde die Ehe geschieden, und die Mutter ging mit Gerd und seinem Bruder
nach Berlin zurück, wo sie Schmuck für prominente Künstler herstellte und auch als Ge-
sellschafterin tätig war. Erst 1933 heiratete sie erneut und wieder einen Nichtjuden, der
während der Nazizeit zu ihr hielt und sie vor der Deportation bewahrte. Nach dem Krieg
emigrierte die Mutter nach New York und lebte dort von einem Antiquitätengeschäft. Sohn
Gerd überlebte den Krieg ebenfalls auf abenteuerliche Weise, emigrierte 1949 nach Bue-
nos Aires, dann nach New York und kehrte später nach Berlin zurück.
Gerd zu Klampen ist in keiner Weise jüdisch erzogen worden. Auch seine Groß-
mutter und seine Mutter haben mit ihm nie über das Judentum gesprochen.

Die Auswahl der vorgestellten Familien-Geschichten kann nicht als repräsen-


tativ, wohl aber als typisch für größere und kleinere Teilgruppen der Berliner

64
Juden zur Zeit der Weimarer Republik und während der 30er Jahre gelten.
Sie zeigt trotz einer relativ großen Homogenität, die die Elternschaft von
1938 im Bildungs-, Berufs- und Sozialstatus hatte, eine erstaunliche Vielfalt
unterschiedlicher Wege, sozialer Kontexte und somit auch unterschiedlich
ausgeprägter (jüdischer) Bewußtseinsformen.
In besonderer Weise typisch für das Berliner Judentum waren z.B. die
Familien Stensch und Kantorowicz. Sie verkörpeten das ostdeutsche Juden-
tum, das größtenteils durch Gebietsannexionen preußisch geworden war und
dann früher oder später (z.T. über Breslau) nach Berlin ging. An der Ent-
wicklung dieser Familien läßt sich auch ablesen, daß die östliche Herkunft
bei den preußischen Juden durchaus nicht mit einer geringeren Assimilation
oder gar kulturellen Rückständigkeit verbunden sein mußte. Viele von ihnen
waren kulturell viel aufgeschlossener und liberaler als alteingesessene west-
und süddeutsche jüdische Familien, zumal wenn diese in der Provinz lebten.
Die Assimilation konnte gerade bei den Juden aus dem Osten besonders aus-
geprägt und radikal sein, wie das Beispiel der Familie Kantorowicz zeigt. Sie
gehörte in Posen zu den angesehenen jüdischen Großfamilien, war aber zu-
mindest in großen Teilen sehr früh schon soweit assimiliert, daß selbst
Mischehen kein Problem mehr darstellten.
Letzteres galt offenbar auch für die Familie der Mutter von Gerd zu
Klampen, die aus Oberschlesien kam und schon in der Großvätergeneration
die vierte Phase der Assimilation erreicht hatte, denn schon diese Generation
setzte sich weitgehend aus dem moderneren freiberuflichen Akademikerturn
(Ärzte, Rechtsanwälte) zusammen. Der Großvater konnte sogar höherer Be-
amter (Amtsgerichtsrat) werden. Gerd zu Klampens Mutter schien dement-
sprechend auch keine enge Bindung an das Judentum mehr angestrebt zu ha-
ben, da sie zweimal einen Nichtjuden heiratete und ihre Söhne in keiner Wei-
se mit dem Judentum bekannt machte.
Einige dieser Beispiele zeigen, daß sich auch bei einer sehr weitgehen-
den Assimilation verschiedene Formen jüdischen Bewußtseins erhalten oder
neu einstellen konnten, die jedoch nicht mehr kollektiver Ausdruck einer
spezifischen Sozialgruppe wie etwa des orthodoxen Judentums oder der
Zionisten, sondern höchst individuell geprägt waren und deshalb letztlich nur
biographisch erfaßt werden können. Auch die Weitergabe an die Kinder
durch Sozialisation und Erziehung konnte sehr unterschiedlich sein. Es läßt
sich höchstens sagen, daß bis 1933 an die Kinder im allgemeinen noch weni-
ger an jüdischem Bewußtsein weitergegeben worden ist, als die Eltern noch
besaßen. Es war aber für die Zeit nach 1933 oft noch ein gewisses Potential
vorhanden, um den Kindern bei der Wiederherstellung oder dem Ausbau ih-
rer jüdischen Identität zu helfen.
Nicht selten aber war das Abdriften über den "Rand" des Judentums hin-
aus bereits unumkehrbar geworden. In diesen Fällen konnte auch die Stig-
matisierung durch die Nazis keine jüdische Erziehung im Elternhaus mehr in
Gang setzen - um so wichtiger wird in solchen Fällen die Schule gewesen
sein.

65
3. Spezifische Einstellungen und Identitätsmerkmale

Um die sozialkulturellen Orientierungen der PriWaKi-Familien noch diffe-


renzierter erfassen zu können, haben wir verschiedene identitäts prägende
Faktoren näher zu bestimmen versucht und entsprechende Fragen sowohl in
den Fragebögen als auch in den vertiefenden Interviews formuliert. Diese
Fragen bezogen sich auf die Religion, die Zugehörigkeit zum "Centralver-
ein", die Einstellung zum Zionismus, den jeweiligen Grad der Akkulturation
deutscher Kultur, den der Assimilation (als Abbau des jüdischen Bewußt-
seins) und den der sozialen Integration, womit die sozialen Beziehungen zur
nichtjüdischen Umgebung gemeint sind. Darüber hinaus ist auch nach der
politischen Orientierung gefragt worden.

Religion, jüdische Gemeinde, Bar Mitzwah


Während im orthodoxen Judentum selbst das Alltagsleben bis in viele Ein-
zelheiten hinein durch religiöse Gebote und Verbote geprägt und damit die
Religion ein zentraler identitätsstiftender Faktor war, der das Judentum vor
seinem Zerfall bewahrt hatte, wurde sie schon mit den ersten Akkulturations-
schritten einem Prozeß der Aufweichung ausgesetzt. Zwar wurden auf der
zweiten Akkulturationsstufe, die der größte Teil der deutschen Juden in den
ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erreichte, die religiösen Verpflich-
tungen größtenteils noch eingehalten, und auch der Haushalt wurde zumeist
noch koscher geführt, doch verzichtete diese Sozialgruppe bereits auf äußere
Zugehörigkeitsmerkmale wie Schläfenlocken oder Kaftan. Die (noch zahlrei-
chen) Kinder aus diesen Familien besuchten aber nicht mehr den aus-
schließlich religiösen Cheder, sondern eine jüdische Elementarschule mit
größtenteils profanen Bildungsinhalten.
Als Erwachsene verzichteten sie dann oft schon auf einen Teil der reli-
giösen Rituale, aber sie gingen zumindest an höheren Feiertagen noch in die
Synagoge und heirateten jüdische Partner. Ihre (nunmehr wenigen) Kinder
schickten sie auf öffentliche und zumeist weiterführende Schulen, aber auch
noch in den jüdischen Religionsunterricht und zur Bar Mitzwah.

67
Mit dem Besuch der weiterführenden Schulen und in vielen Fällen auch
der Universität wurden diese Kinder dann Anwärter für die vierte Akkul-
turationsstufe, auf der nach Ruppin (1920) die Religion praktisch bedeu-
tungslos war. Man blieb jüdisch nur noch aus verwandtschaftlichen oder ge-
sellschaftlichen Rücksichten und besuchte die Synagoge nur noch bei gesell-
schaftlichen Anlässen, wie z.B. Hochzeiten. Die eigenen Kinder wurden ent-
weder nicht einmal mehr zur Bar Mitzwah geschickt, oder die Bar Mitzwah
hatte nur noch gesellschaftliche Motive. Als Erwachsene gingen diese Kinder
nicht selten eine Mischehe ein, die Kinder aus diesen Ehen wurden dann mehr-
heitlich nicht mehr jüdisch, sondern überwiegend protestantisch oder kon-
fessionslos, weniger häufig auch katholisch.
Die Feststellung einer generellen Abschwächung und tendenziellen Aufga-
be der Religion traf auch für die PriWaKi-Schüler und -Eltern zu, die ja der
dritten und vierten Schicht, das heißt der vorletzten und letzten Akkulturations-
stufe zuzuordnen sind, was meistens auch zu einer sehr weitgehenden As-
similation geführt hatte. Es ist allerdings nicht einfach, im Judentum die Grenze
zwischen religiös und nicht-religiös zu ziehen, denn das Judentum ist weniger
durch seinen "metaphysischen Ideengehalt" (Ruppin 1920, S.l17) als durch
seinen auch sozial motivierten Gemeinschaftskultus geprägt. Jüdisches Be-
wußtsein war also nicht nur von religiöser Gläubigkeit abhängig, sondern
drückte sich auch in der Entscheidung aus, an den Zeremonien und Ritualen der
Gemeinde teilzunehmen und/oder sie im eigenen Heim zu praktizieren. Solche
Praktiken konnten also auch für wenig Religiöse ein Mittel zur Aufrechterhal-
tung ihrer sozialen Identität als einer auch jüdischen sein. Für kritische Zeitge-
nossen wie Theilhaber (1911) und Ruppin (1920) waren allerdings die "blassen
Religionsanschauungen der ,aufgeklärten' Juden" (ebd., S.130) nur eine Zwi-
schenstation auf dem Weg in die Assimilation, denn sie waren nicht mehr als
ein "Rudiment aus einer früheren Zeit, das man aus Pietät nicht ganz über Bord
wirft, mit dem man aber nichts Rechtes anfangen kann." (Ebd., S.l32)
1904 gab es in Deutschland noch 1850 jüdische Gemeinden, allerdings
mit abnehmender Tendenz, da sich viele ländliche Gemeinden wegen des Um-
zuges in eine Großstadt aufzulösen begannen. Der vorgeschriebene tägliche
Gottesdienst konnte deshalb nur noch in 480 Gemeinden stattfinden. Sonst gab
es nur am Schabbat einen Gottesdienst und in 216 Gemeinden nur noch an ho-
hen Feiertagen. (Ebd., S.133) Die Aufweichung der Religion begann schon
mit dem ersten Schritt in die nichtreligiöse Bildung, also auch schon durch
den Besuch einer jüdischen Elementarschule mit profanen Bildungsinhalten.
Die Distanz wurde dann mit dem Besuch weiterführender nichtjüdischer
Schulen schnell größer:
"Jeder Jude im Osten, der ein Gymnasium besucht oder gar akademische Bildung erlangt
hat, wird unrettbar der jüdischen Religion entfremdet. Sogar die Volks-(Elementar)-
Schule ist schon geeignet, die Anhänglichkeit an das orthodoxe Judentum zu untergraben,
und es spricht sich ein ganz richtiger Instinkt darin aus, wenn der fromme Jude hartnäckig
seine Kinder der weltlichen Volksschule fernhält und sie dem Lehrer des Hebräischen
(Melamed) zu dem viel schlechteren Unterricht im Cheder übergibt." (Ebd., S.131f).

68
In Deutschland waren am Anfang des 20. Jahrhunderts, als sich die PriWaKi-
Eltern zumeist im schulpflichtigen Alter befanden, nur noch etwa 10-15 v.H.
aller Juden orthodox, vor allem in den wirtschaftlich und kulturell rückstän-
digen kleineren Orten in Posen, aber auch in Hessen-Nassau und Süd-
deutschland. In größeren Städten wie Berlin, Hamburg und Frankfurt leb-
ten außer den eingewanderten orthodoxen ostjüdischen Familien nur noch
wenige deutsch-akkulturierte orthodoxe Juden "mit besonders stark ausge-
prägtem Familienstolze". (Ebd., S. 133) Nach einer anderen Schätzung be-
trug der Anteil der Juden, die im Deutschland der 20er Jahre noch streng
nach den religiösen Gesetzen lebten, unter Berücksichtigung der Ostjuden
etwa 10-20 v.H. (Richarz 1982, S.32) Aber auch dieser Anteil konnte nicht
darüber hinwegtäuschen, daß "die jüdische Familie für die Tradierung der
jüdischen Religion eine immer geringere Rolle (spielte)". (Ebd.)
Gegenüber dem orthodox-religiösen und neokonservativen Judentum
hatte das liberal-religiöse Judentum bei weitem das Übergewicht. Dieses
achtete jedoch nicht mehr auf die Schabbatruhe und die Speisegesetze und
bemühte sich, eine moderne Form des Gottesdienstes zu entwickeln. Es wur-
den prächtige Synagogen gebaut (besonders in Berlin), innen wurden sie
ausgeschmückt, Orgel und Chor wurden bald zur Selbstverständlichkeit. In
den Reformgemeinden sprach man schließlich nicht mehr von Bar Mitzwah,
sondern von Konfirmation oder Einsegnung. Die Annäherung an den äußeren
Rahmen christlicher Gottesdienste war unübersehbar. Dabei nahm der reli-
giöse Gehalt der Gottesdienste eher ab; sie wirkten auf einen zeitgenössi-
schen Betrachter in Kontrast zu den orthodoxen Bethäusern eher
"kalt, modern-europäisch, das nationale Element ist gewichen, die jüdische Seele hat be-
reits Toilette gemacht, sie zeigt sich nicht mehr in ihrer eigenartigen Gestalt. Hier ist alles
schön geordnet und geregelt nach Schemen und Vorschriften. Eine herrliche Musik mit
Orgel und Chor, eine bilderreiche Predigt, aber das Sichergießen der Seele fehlt, die Wär-
me ist fort. Es hat sich etwas Neues, Fremdartiges mit dem Judentum verbunden, ohne or-
ganisch zu verschmelzen. Es ist aus dem alten Bethause ein Mittelding zwischen Synago-
ge und Kirche geworden." (F. Schach 1903, zit. in Ruppin 1920, S.134)
Ebenso kritisch urteilt Ruppin selbst: "Nur mühsam schleppt sich die jüdische Reli-
gion in Westeuropa fort. Was ihre Anhänger noch zusammenhält, ist lediglich ein Gefühl
der Pietät und eine gewisse Scham vor der Fahnenflucht. Die Pietät ist freilich nur selten
wie beim osteuropäischen Juden tiefes Bedürfnis und Herzenssache, weit häufiger das
träge Beharren an dem einmal Vorhandenen." (Ebd.)

Zwar sind die oben zitierten Beobachtungen durchaus nicht falsch, aber die
Situtation wurde um 1910 doch etwas zu undifferenziert gesehen, und viel-
leicht wurde auch die soziale (nicht die religiöse) Bindungskraft der liberalen
jüdischen Religionsgemeinschaft unterschätzt. Darauf verweist z.B. auch M.
Richarz, die die Desiderate der sich in Deutschland weitgehend aufgelösten
orthodoxen jüdischen Religionsgemeinschaft wesentlich positiver beschreibt:
"Dabei war die Bedeutung der Religion ( ... ) für die meisten deutschen Juden nur noch
gering. Man darf aber nicht vergessen, daß das Judentum bis zu seiner Konfessionalisie-
rung zu Beginn des 19. Jahrhundert eine Nationalreligion gewesen ist, in der jüdisches

69
Volk und jüdische Religionsgemeinschaft identisch waren. Die nationalen, historischen
und ethischen Elemente des Judentums blieben auch noch sozial wirksam, als die Juden
Deutschlands sich nicht mehr als Angehörige eines jüdischen Volkes verstanden und die
religiöse Praxis stark nachließ. Das zeigte sich vor allem darin, daß die Mehrheit der Ju-
den weiterhin die Binnenheirat innerhalb der jüdischen Gemeinschaft bevorzugte und
damit die Kontinuität des Judentums gewährleistete." (Richarz 1982, S.26)
Vor diesem Hintergrund sind auch die Antworten der PriWaKi-Schüler (Frage-
bogengruppe) zur Bedeutung der Religion zu interpretieren. Die Frage lautete:
"Welche Bedeutung hatte die Religion in Ihrer Familie? (Synagogenbesu-
che ? Mitglied der Jüdischen Gemeinde?)"
Unerwartet war die fast vollständige Beantwortung dieser doch recht intimen
Frage nach der religiösen Einstellung der eigenen Familie. Dies zeigt, daß die
befragten Ehemaligen auch heute noch von dem Problem jüdischer Religiosi-
tät nicht unberührt sind.
Doch wird die Auswertung der Antworten durch die subjektiv unter-
schiedliche Bewertung des gleichen Sachverhaltes erschwert. So kann der
Besuch einer Synagoge an hohen Feiertagen sowohl als Beleg für die noch
vorhandene Religiosität als auch für das Fast-Nicht-Vorhandensein einer sol-
chen vom jeweiligen Antwortgeber dargestellt werden. Trotz dieser genann-
ten Schwierigkeiten zur Interpretation und Klassifikation der Antworten zur
Bedeutung der Religion in den einzelnen PriWaKi-Familien haben wir eine
Systematisierung der Antworten versucht. Insgesamt kristallisieren sich bei
den Antworten der Fragebogengruppe drei unterschiedliche Einstellungen
heraus, die sich als konservativ-liberal, liberal-reformistisch und indifferent-
distanziert kennzeichnen lassen.
Den Antworten ist zu entnehmen, daß eine ausgeprägte re positive Ein-
stellung zur jüdischen Religion beziehungsweise zur Synagogengemeinde im-
merhin noch in etwa 20 bis 25 Prozent der Elternhäuser vorherrschend war.
Auch wenn die Zuordnung nicht immer eindeutig ist und die Übergänge
fließend sind, so lassen sich diese Elternhäuser in ihrer positiven Einstellung
zur Synagoge als liberal-konservativ charakterisieren, wobei die Mehrheit si-
cherlich eher liberal als konservativ war. Typische Antworten für diese Grup-
pe waren zum Beispiel:
"Wir waren sehr jüdisch und sehr engagiert in der Synagoge Prinzregentenstraße."
"Die Religion hatte für uns eine substantielle Bedeutung. "

Einzelne Familien waren auch explizit neo-konserativ orientiert, wie etwa die
Familie des Rabbiners Emil Cohn. Seine Tocher meinte sogar:
"Wir waren orthodox, mein Vater war Rabbiner in Grunewald und einer der frühen Zio-
nisten."
Zur wirklich orhodoxen Adass-Jisroel-Gemeinde gehörte jedoch keine der
PriWaKi-Familien.
Auf etwa 50 Prozent schätzen wir den Anteil der Familien aus der Fra-
gebogengruppe, der durch eine sehr liberale bis reformistische Einstellung

70
zur jüdischen Religionsgemeinschaft gekennzeichnet war. Auch wenn diese
Eltern kaum religiös im engeren Sinne gewesen sind, so behielten sie doch
eine positive Einstellung zur Gemeinde bei und waren häufiger auch in Ge-
meindegremien (Männer) und -einrichtungen tätig. In diesen Familien waren
beide Ehepartner jüdisch, und die Söhne wurden selbstverständlich zur Bar-
Mitzwah geschickt. Diese Familien waren uneingeschränkt akkulturiert, blie-
ben aber bei ihrer religiösen Einstellung auf der vorletzten Assimilations-
stufe. Folgende Antworten waren für diese Teilgruppe typisch:
"Mitglied der Jüdischen Gemeinde. Besuch der Synagoge an den großen Feiertagen."
"Mitglieder einer liberalen Synagogen-Gemeinde."
"Wir gehörten zunächst zur Synagoge in der Lützowstraße (Rabbi Leo Baeck), da-
nach zur Synagoge in der Prinzregentenstraße (Rabbi Manfred Swarsensky) und zuletzt
zur Dahlemer Reformgemeinde (Rabbi Nussbaum). Die Gottesdienste wurden nur selten
besucht und nur an den hohen Feiertagen."
Etwa 30 Prozent der Familien waren ultra-reformistisch, indifferent oder sogar
ablehnend eingestellt. Die Antworten aus dieser Gruppe lauteten zum Beispiel:
"Religion war von geringer Bedeutung. Wir gehörten zur ultrareformistischen ,Reformge-
meinde '. Meine Eltern waren beide nicht an Religion interessiert."
"Religion hatte keinerlei Bedeutung in unserer Familie. Die Eltern besuchten beide
nicht die Synagoge. Ich glaube, sie wurden erst während der Nazi-Zeit Mitglied der Jüdi-
schen Gemeinde."
"Die Religion hatte keinerlei Bedeutung. Sie [die Eltern - W.F.] waren aber Mitglied
der Jüdischen Gemeinde."
Nur für diese Kategorie der PriWaKi-Familien trifft zu, was Ruppin (1920, S.
tOf.) im Hinblick auf die Religion über die vierte Assimilationsschicht gesagt
hat. In diesen PriWaKi-Familien wurden die Kinder kaum noch oder gar
nicht mehr mit der jüdischen Religion bekannt gemacht, in einzelnen Fällen
wurde das Judentum sogar tabuisiert. Eine jüdische Erziehung der Kinder
fand also in diesen Familien nicht mehr statt und gegen eine spätere Ehe mit
einem nichtjüdischen Partner hätten die meisten Eltern sicherlich keine Ein-
wände gehabt, denn schon mindestens in einem Drittel der Familien aus die-
ser Gruppe stammte einer der Ehepartner nicht aus einer jüdischen Familie,
wie wir aus Gesprächen und aus anderen Quellen (Briefe etc.) wissen.
Aber auch die 20 bis 25 Prozent der PriWaKi-Familien, die noch eine
stärkere Bindung an die jüdische Religionsgemeinschaft hatten, waren nicht
weniger akkulturiert als das knappe Drittel der assimilierten. Es wäre also
falsch, für die zwanziger und dreißiger Jahre bei der Einstellung zur jüdi-
schen Religionsgemeinschaft auch bei dem mehrheitlich liberalen großstädti-
schen Berliner Judentum automatisch von der Akkulturations- auf die As-
similationsstufe beziehungsweise den Grad der Religiosität zu schließen. Ein
besonders prägnantes Beispiel liefert die deutsche PriWaKi-Familie Cohn:
Der in Berlin geborene Vater Dr. Emil Cohn war konservativer Rabbiner und
war zugleich unter dem Pseudonym "Emil Bernhard" ein erfolgreicher deut-
scher Bühnen-Schriftsteller, der auch Stücke ohne jüdische Thematik schrieb,
die Jahr für Jahr auch in nichtjüdischen Theatern aufgeführt werden.

71
Bei Einbeziehung auch der liberalen Gruppe zeigt sich, daß für gut zwei
Drittel der PriWaKi-Familien noch eine gewisse Basis für die Aufrechterhal-
tung eines jüdischen Bewußtseins selbst bei voller Akkulturation vorhanden
war und von vollständiger Assimilation noch nicht gesprochen werden sollte.
Mindestens vier von fünf der Familien gehörten zur Jüdischen Gemein-
de. Bei den übrigen Familien handelte es sich zum großen Teil um Misch-
ehen. In diesen Familien wurden die Kinder nicht mehr automatisch durch
Geburt Mitglied und wurden von den Eltern zumeist auch nicht mehr gemel-
det. Ansonsten bestand auch bei den meisten assimilierten Familien eine
Mitgliedschaft, weil sie bei einer Abstammung aus einer jüdischen Familie
automatisch erfolgte. Ein Aufgeben der Mitgliedschaft konnte wie bei den
christlichen Religionsgemeinschaften nur durch eine Austrittserklärung er-
folgen. Da diese aber ab etwa 1910 im Gemeindeblatt namentlich veröffent-
licht und damit allgemein zur Kenntnis genommen wurde (vgl. Scholem
1978, S. 21), unterließen auch viele Assimilanten diesen Schritt, um sich
nicht dem Vorwurf der Pietätlosigkeit oder gar der Feigheit auszusetzen.
Die 1.611 Jüdischen Gemeinden, die es 1933 noch in Deutschland gab,
waren Körperschaften öffentlichen Rechts. Viele kleinere Provinz-Gemein-
den kämpften wegen der zahlreichen Umzüge in Großstädte ums Überleben.
Die größeren Gemeinden hingegen waren zu Organisationen geworden, die
neben den religiösen auch viele soziale Aufgaben wahrnahmen; sie unterhiel-
ten und versorgten Schulen, Krankenhäuser, Altenheime, Bibliotheken, Stif-
tungen und gewährten auch Sozialhilfe. Die Berliner Jüdische Gemeinde be-
schäftigte 1933 zur Bewältigung ihrer vielfältigen Aufgaben schon über 1500
Angestellte. (Vgl. Richarz 1982, S. 38) Die Gemeinden hatten eine Selbstver-
waltung, die fast ausschließlich von Männern oligarchisch organisiert war. Aus
den Antworten in den Fragebögen geht hervor, daß auch einige Väter von Pri-
WaKi-Schülern in den Vorständen von Synagogengemeinden waren. Erst in
der Weimarer Republik erhielten Frauen und Ostjuden nach und nach das volle
Wahlrecht in den Synagogengemeinden. Auch in Großstädten gab es fast nur
Einheitsgemeinden, doch konnte sich jeder seine Synagogen gemeinde aussu-
chen - das Spektrum reichte in Berlin von orthodox bis "ultra-reformiert". In
Berlin gab es außerdem noch die orthodoxe Austrittsgemeinde Adass Jisroel.
Während der Austritt aus der jüdischen Gemeinde wegen einer nicht un-
erheblichen sozialpsychologischen Hemmschwelle selbst bei assimilierten
deutschen Juden auch vor 1933 in der Regel unterblieb und die formale
Mitgliedschaft deshalb nur ein wenig aussagekräftiger Indikator für die reli-
giöse Einstellung ist, könnte die Nichtteilnahme der Söhne an der Bar Mitz-
wah eher eine Distanzierung zum religiösen Judentum ausdrücken und damit
eine fortgeschrittene Assimilation demonstrieren, ohne in Großstädten wie
Berlin das Risiko einzugehen, in eine gesellschaftliche Isolation zu geraten,
denn auch Assimilierte hatten privat ihre engeren Freunde oft nur in jüdi-
schen Kreisen (s.u.). Außerdem haben wir in der Frage nach der Teilnahme
an der Bar Mitzwah eine Möglichkeit gesehen, die religiöse Betroffenheit der
PriWaKi-Schüler selbst zu erfragen und nicht nur die der Eltern oder Großel-

72
tern, wenngleich die Entscheidung über eine Teilnahme maßgeblich durch die
Eltern mitbeeinflußt gewesen sein dürfte. Die Motive der Eltern werden dabei
auch von sozialen Rücksichtnahmen mitbestimmt worden sein. Aber auch bei
den Söhnen selbst haben keineswegs immer nur religiöse Motive zu einer
Teilnahme geführt, sondern in hohem Maße auch soziale und materielle Er-
wartungen - wie bei heutigen Konfirmanden. Die religiöse Einstellung dürfte
bei den PriWaKi-Schülern nach der Logik des Assimilationsprozesses eher
noch schwächer gewesen sein als bei den Eltern, wobei allerdings die Klage
über die religiöse Indifferenz der jüdischen Jugend auch schon zu der Zeit
erhoben wurde, als die Eltern noch jung waren. So schrieb die ,,Allgemeine
Zeitung des Judentums" (AJZ) bereits 1904:
"Unsere Jugend, und zwar besonders die akademische Jugend, oder wenigstens die
Schüler höherer Lehranstalten, haben sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr dem
Judentum entfremdet und liebäugeln mit den Bestrebungen und Einrichtungen ... des
Christentums." (AJZ, 4.11.1904; zit. in Schatzker 1988, S. 158)

Was schon 1904 für die Elterngeneration galt, dürfte verstärkt für die jüdi-
schen Heranwachsenden im großstädtischen Berlin Anfang der dreißiger Jahre
gegolten haben. Von daher konnte bei den Antworten auf die Frage nach der
Bar Mitzwah als Resultat erwartet werden, daß ein Teil der Schüler nicht an der
Bar Mitzwah teilgenommen hat, obwohl die Eltern noch (steuer)zahlende
Mitglieder der Jüdischen Gemeinde waren.
Bei der Bar Mitzwah handelt es sich um ein Initiationsritual für männli-
che Heranwachsende; in der Sprache eines Rabbiners ist "Bar Mitzwah der
Rang eines verantwortlichen ,Sohnes des Gottesgebotes' (Mitzwah), in den
ein Knabe mit dreizehn Jahren aufsteigt". (Trepp 1970, S. 239)
Bath Mitzwah bedeutet dementsprechend "Tochter des Gottesgebotes"
und war noch Ende der zwanziger Jahre in Berlin ein seltenes Ereignis, das
nur in Reformsynagogen stattfand. Von allen Schülerinnen aus der Frage-
bogengruppe haben nur drei in Berlin an einer Bath Mitzwah teilgenommen:
Zwei Schülerinnen in den Jahren 1936 und 1939 in der Synagoge Prinzre-
gentenstraße und eine weitere Schülerin 1939 in der ,,Jüdischen Reformgemein-
de" (vermutlich in der Synagoge Johannesstraße). In konservativen Kreisen
jedoch blieb man auch noch unter dem Druck der Nazi-Verfolgung hart: "Re-
ligious girls were not Bath Mitzwah in those days", schreibt die Rabbiner-
tochter M.Rochlin, eh. Cohn (1989). Weitere drei Schülerinnen haben eine
Bath Mitzwah nach der Emigration Anfang der vierziger Jahre in London
und Havanna (Kuba) absolviert.
Von den männlichen PriWaKi-Schülern sind gut zwei Drittel zur Bar
Mitzwah gegangen. Die anderen Schüler stammten zum Teil aus Familien
mit einem nichtjüdischen Ehepartner; andere Familien waren Dissidenten
oder freireligiös. Die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde hat also mit
wenigen Ausnahmen auch zur Bar Mitzwah geführt. Doch darf auch dies -
wie erwähnt - nicht nur als Ausdruck religiöser Einstellungen bewertet
werden. Für einen großen Teil der Schüler und Schülerinnen blieb die Zu-

73
gehörigkeit zur Synagogengemeinde und der Status eines Bar oder einer Bath
Mitzwah auch sozial motiviert. Als Beispiel mag die Einstellung von Gunther
Stent dienen. Er sagt aus, daß von Religiosität im engeren Sinne in seiner
Familie ,,keine Rede sein (konnte). Es war eine Art Gesellschaftlichkeit". Auch
für ihn habe Religion trotz seiner ,,Einsegnung" in der Reformgemeinde keine
Rolle gespielt:
,,Ich weiß auch gar nicht mehr, wann ich in der Gemeinde überhaupt im Gottesdienst war.
Wenn, dann war ich da alleine oder mit meinen Freunden. Ich war da nie mit meinen El-
tern, glaube ich. Später bin ich manchmal in die Synagoge in der Prinzregentenstraße ge-
gangen, die da um die Ecke war, wo wir wohnten. Das war teilweise zum Poussieren mit
Mädchen, aber von Gott und so weiter war da nie die Rede." (Gespräche 1989)
Erst in solchen Einstellungen und Empfindungen drückt sich weitgehende
Assimilation aus; der Verzicht auf den Status eines Bar Mitzwah scheint ein
einigermaßen sicherer Indikator für das Erreichen der letzten Assimilations-
stufe zu sein, bevor dann auch die restlichen Bindungen an das Judentum
verlorengingen. Auch in quantitativer Hinsicht scheint er in etwa für die ge-
samte PriWaKi-Schülerschaft aussagekräftig gewesen zu sein. Danach ist
etwa ein knappes Drittel der PriWaKi-Schülerschajt soweit assimiliert gewe-
sen, daß ein Bezug zum Judentum so gut wie nicht mehr vorhanden war.

"Centralverein " und "Zionistische Vereinigung"


Wie sich herausgestellt hat, waren die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde
oder auch die Bar Mitzwah in gut zwei Dritteln der PriWaKi-Familien fast
noch obligatorisch gewesen. Insofern ist die Mitgliedschaft in einer jüdischen
Gemeinde nur ein sehr grober Indikator für die Beschreibung eines jüdischen
Bewußtseins, da sich mit ihm nur die extremen Formen von Assimilation
herausfiltern lassen. Besonders aufschlußreich für das jeweilige deutsch-jüdi-
sche Identitätskonzept schien uns die Einstellung zur Politik des Centralver-
eins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (C.V.) und der ,,zionistischen
Vereinigung für Deutschland" (ZVfD) zu sein. Dies um so mehr, als die Poli-
tik des C.V. und der ZVfD zwei im Kern konträre Auffassungen über das
deutsche Judentum enthielt: Nach Meinung des C.V. gehörten die Juden in
Deutschland zum deutschen Volk und zur deutschen Nation und sollten sich
von Nichtjuden lediglich durch ihre Konfession unterscheiden. Die Zionisten
hingegen sahen in den Juden ein eigenes Volk und eine eigene Nation, die in
Zukunft auch ein eigenes Territorium anstreben sollte; wegen der histori-
schen Verbindung möglichst in Palästina. Gleichwohl sollten Juden aber auch
in Deutschland als loyale Staatsbürger ein Existenzrecht ohne Diskriminie-
rungen haben dürfen.
Hinter diesen beiden Positionen verbarg sich also ein völlig unterschied-
liches Konzept von jüdischer Identität, nämlich ein konfessionelles und ein
ethnisches, und obwohl beide Organisationen fast gleichzeitig Ende des 19.
Jahrhunderts gegründet worden waren, wurden aus den gemeinsamen anti-

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semitischen Erfahrungen, die zur Gründung geführt hatten, gegensätzliche
politische Konsequenzen gezogen - dies galt zumindest für die Ideologien
und Programmatiken dieser beiden jüdischen Organisationen.

Der" Centralverein " (e. V.)

1893 erhielten die Antisemiten-Parteien so viele Stimmen wie nie zuvor und
16 Sitze im Reichstag. Dies mußte bei den deutschen Juden zur besonderen
Irritationen führen, da die Akkulturation, die man ihnen noch zwei Genera-
tionen zuvor als Vorleistung für eine Anerkennung als gleichwertige Bürger
abverlangt hatte, inzwischen bei den meisten deutschen Juden vollendet war.
Nunmehr mußten sie jedoch die Erfahrung machen, daß in Deutschland der
Antisemitismus nicht verschwunden war, sondern lediglich seine Vorbehalte
ausgewechselt hatte: Nicht fehlende Akkulturation, sondern die angeborene
Zugehörigkeit zur einer angeblich für die deutsche Kultur und das deutsche
Volk fremdartigen und schädlichen Rasse wurde ihnen nunmehr vorgehalten.
Den akkulturierten und schon weitgehend assimilierten deutschen Juden,
viele mit einem an einer deutschen Universität erworbenen Examen oder
Doktortitel, die nichts anderes als die deutsche Kultur kannten, kam dies
reichlich absurd vor, und sie glaubten, daß dies Hirngespinste einer zum Teil
noch unaufgeklärten Minderheit im deutschen Volk seien, denen man mit ei-
nem "Abwehrkampf', das hieß mit einer Mischung von Aufklärung und Ein-
satz von politischen und juristischen Mitteln gegen antisemitische Hetze und
Verleumdungen, beikommen könne. So wurde der C.V. zunächst als Abweh-
rorganisation gegen solche Angriffe im Jahr 1893 gegründet.
Der C.V. wollte darüber hinaus eine Synthese aus Deutschtum und Ju-
dentum, wobei das Deutschtum besonders betont wurde, denn man rekla-
mierte auch die Zugehörigkeit zum deutschen Volk, während das Judentum
nur noch als Konfession betrachtet wurde, mit der allerdings ein Rest an ,jü-
discher Eigenart" (Reichmann 1974, S. 30) erhalten bleiben sollte. Dies war
eine verwässerte Variante des Konzepts des "Bürgers zweier Welten", wie es
einst von Moses Mendelssohn erträumt worden war.
Durch die Zunahme des Antisemitismus im Ersten Weltkrieg und in den
Jahren danach, als das "Schmachdiktat von Versailles" maßgeblich den deut-
schen Juden mitangelastet wurde, nahm die Mitgliederzahl des C.V. stark zu.
Eva G. Reichmann, Referentin des C.V., machte dazu 1930 folgende Anga-
ben: ,,Er zählt gegenwärtig etwa 60.000 Einzelmitglieder (... ), vertritt aber, da
ihm eine Reihe von Körperschaften angeschlossen sind, insgesamt etwa
300.000 deutsche Juden". (Ebenda, S. 23) Da Ostjuden nicht umworben wur-
den und auch Kinder und zum Teil Frauen bei den genannten 300.000 Mitglie-
dern vermutlich nicht erfaßt waren, läßt sich schließen, daß der weitaus
größte Teil der deutsch-jüdischen Familien in der Regel über den Vater di-
rekt oder indirekt Mitglied im C.V. war. Legt man nicht die formale Mit-

75
gliedschaft zugrunde, so kann man schätzen, daß um 1925 etwa 85-90 Pro-
zent der deutschen Juden sich weltanschaulich und in ihren Interessen vom
C.V. vertreten fühlten. (Vgl. Poppe11977, S. 34)
Für die PriWaKi-Familien erscheint uns diese Zahl etwas zu hochgegrif-
fen, da einige konservative religiöse, ostjüdische und auch zionistische Fa-
milien nicht dazugerechnet werden können. Deshalb schließen wir aus den
schon ermittelten sozio-kulturellen Daten und Merkmalen der Familien, daß
sie zu etwa 75 bis 80 Prozent C.V.-orientiert gewesen sind.
Die weltanschauliche und politische Orientierung des C.V. im Jahr 1930
kommt in folgendem programmatischen Postulat der C.V.-Referentin Eva G.
Reichmann zum Ausdruck:
"Daß in der Idee des Volkstums nichts liegen könne, was den Juden die Zugehörigkeit
zum Deutschtum verwehre, ist der Sinn der deutschen Arbeit des Centralvereins. (... ) Das
deutsche Judentum hält durch sein bloßes Dasein, durch seine ,geeinte Zwienatur' ( ... ) die
Unhaltbarkeit eines Volksbegriffs, der auf Rassen- und Stammesexklusivität aufgebaut
ist, für erwiesen. Es bringt dem deutschen Volkstum die gleiche glühende Liebe zur deut-
schen Kultur wie zu einer jüdischen Eigenart. Es fordert für beide Anerkennung."
(Ebenda, S. 30)
Es liegt auf der Hand, daß die PriWaKi-Eltem, die in einem kaum noch zu
überbietenden hohen Maße akkulturiert waren, in Deutschland ihre soziale,
kulturelle und geistige Heimat sahen und deshalb auch eine Zugehörigkeit
zum deutschen Volk beanspruchten. Deshalb mußte die Übereinstimmung
mit der c.V.-Programmatik mehr oder weniger selbstverständlich sein. Die
PriWaKi-Eltern waren, von den erwähnten Ausnahmen abgesehen, eine ge-
radezu idealtypische C.V.-Klientel. Bei unserer Frage nach der Einstellung
zur Anschauung und Politik des C.V. haben wir einen entsprechend hohen
Prozentsatz zustimmender Antworten erwartet.
Doch die meisten aus der Fragebogengruppe haben diese Frage nicht be-
antwortet oder geschrieben "don't know". Insgesamt 16 Befragte kannten die
Einstellung ihrer Eltern zum C.V.; darunter waren zwei Geschwisterpaare, so
daß die Einstellung von 14 der 50 Familien aus der Fragebogengruppe bekannt
ist. In 12 Familien war sie positiv, in einer zionistisch eingestellten Familie
ausgeprägt negativ und in einer zweiten wahrscheinlich negativ, weil auch
diese Familie stark zionistisch geprägt war. Die positiven Antworten sind in-
haltlich nicht ausdifferenziert. Doch dürfte folgende Antwort die vorherr-
schende Einstellung in den PriWaKi-Familien treffen: "They thought it re-
presented their interests and were members and received the C.V. newspa-
per."
Wie erwähnt, hielt der C.V. an einem Entwurf jüdischer Identität fest,
der modellhaft bereits Mitte des 18. Jahrhunderts von den Aufklärern ent-
wickelt worden war: Es war das Modell der "Bürger zweier Welten" und der
"deutsch-jüdischen Symbiose". Das Problem dabei war, daß zwar bei dem
größten Teil der deutschen Juden der Akkulturationsprozeß Anfang des 20.
Jahrhunderts bereits abgeschlossen war und damit die Voraussetzungen für eine
solche Symbiose jüdischerseits längst gegeben waren, doch die vollständige

76
Integration von der nichtjüdischen Gesellschaft verweigert wurde. Der C.V.
hingegen setzte sich das Ziel, diese Verweigerung nicht hinzunehmen und die
Integration quasi zu erzwingen, indem sich seine Mitglieder auch national und
z.T. auch ethnisch als Deutsche definierten. Nicht der deutsche Jude, sondern
der jüdische Deutsche war das Leitbild, und dies erklärt auch den zum Teil
erbitterten Kampf von C.V.-Anhängern gegen den Zionismus, der eine natio-
nale oder gar ethnische Zugehörigkeit zum deutschen Volk verneinte und ein
eigenes Nationaljudentum dagegensetzte und damit dem C.V. in den Rücken
fiel. Denn der Zionismus lieferte damit antisemitisch eingestellten Kreisen
unfreiwillig Argumente: Auch Antisemiten verneinten ja gerade die Zugehö-
rigkeit der Juden zum deutschen Volk und gingen insoweit konform mit den
Zionisten, die allerdings den Rassismus der Antisemiten bekämpften, indem
sie betonten, daß die sozialen Besonderheiten des Judentums überwiegend
Resultat seiner jahrhundertelangen Verfolgung seien.
Die Identitätsbalance, die der C.V. für die jüdischen Deutschen anstrebte,
blieb also labil, denn es kann nicht ohne eine Beeinträchtigung der Selbst-
achtung von Menschen oder Volksgruppen bleiben, wenn sie von denjeni-
gen, die sie zurückweisen, immer wieder Anerkennung verlangen. Zum Teil
führte dies geradezu zu einer Überidentifikation mit dem Deutschtum und zu
ausgesprochen deutschnationalen Einstellungen - besonders aus den Kreisen
ehemaliger jüdischer Frontsoldaten. 28 Doch wählten in Berlin bei der Wahl
der jüdischen Gemeindevertretung 1930 nur zwei Prozent diese Gruppe und
die damit verbundene Form deutsch-nationalistischen Denkens. Unter den
PriWaKi-Eltern war sie nicht verbreitet, auf jeden Fall ist uns nichts davon
bekannt geworden. Es gab allerdings eine deutliche Minderheit deutsch-natio-
nal eingestellter Eltern beziehungsweise Väter, die politisch der rechten Mitte
zuzurechnen sind und DVP- beziehungsweise "Staatspartei"-Wähler waren.
Immerhin schickten einige von ihnen ihre Söhne in den jüdischen Jugend-
bund "Schwarzes Fähnlein", der viele Merkmale eines politisch rechten Ju-
ge nd verbandes hatte. Die Mehrheit war aber liberal eingestellt.
Es wäre jedoch falsch, die Mitgliedschaft im C.V. nur an den Widersprü-
chen im Verhältnis zum deutschen Volk messen zu wollen. Tatsache ist, daß
diejenigen, die im C.V. Mitglied wurden, zwar die volle deutsche Akkultura-
tion realisierten und zum Teil (über)betonten, sie aber gleichzeitig in ihrer
Mehrheit durchaus am Judentum festhalten wollten und darum den Weg der
Assimilation gerade nicht bis zum Letzten, das heißt bis zur völligen In-
differenz, Distanzierung oder gar dem Verlassen des Judentums beschritten.
Für diese Eltern sollte das Judentum seinen Wert behalten, sei es religiös,
traditionell oder sozial.

28 Ein besonders prägnantes Beispiel für eine solche Überidentifikation mit dem
Deutschtum lieferte eine Gruppe um den Rechtsanwalt Dr. Naumann, die sich 1921
vom C.V. wegen dessen politisch liberaler GrundeinsteIlung abspaltete und den Ver-
band nationaldeutscher Juden gründete, der die Duldung von Ostjuden in Deutsch-
land ablehnte und sogar zur Wahl der antisemitischen DNVP aufrief. (Vgl. Richarz
1982, S. 38; Rheins 1980)

77
Allerdings blieb auch ohne die verweigerte Akzeptanz durch Nichtjuden
für den C.V. ein Problem: Soweit er sich der Bekämpfung des Antisemitismus
widmete, war er sicherlich die Stimme der großen Mehrheit des liberalen deut-
schen Judentums und vertrat auch die Interessen nicht nur der akkulturierten,
sondern auch der weitgehend assimlierten Teile des deutschen Judentums -
selbst zu den Zionisten gab es in diesem Punkt keinen Widerspruch.
Das Problem blieb das Verhältnis des C.V. zur Religion, denn da ein
großer Teil der Mitglieder nicht religiös war, hatte der C.V. zunehmend
Schwierigkeiten zu definieren, was man denn unter ,jüdischem Glauben" ver-
stehen sollte. Im Gegensatz zum orthodoxen, aber auch neo-konservativen Ju-
dentum konnte der C.V. jedoch nie eine befriedigende Antwort geben. Auch
dies spiegelte einen Teil des ungelösten Identitätsproblems seiner Mitglieder
wider. Anscheinend konnten die Zionisten eine sehr viel klarere und radika-
lere Antwort auf die Frage nach der jüdischen Identität anbieten.

Die "Zionistische Vereinigungjür Deutschland" (ZVjDJ


Wie bereits erwähnt, vertraten die Zionisten bei der Definition der jüdischen
Identität in einem zentralen Punkt eine entgegengesetzte Position wie der "Cen-
tralverein". Die Zionisten glaubten nicht, daß die Juden eines Tages vorur-
teilsfrei integriert werden würden wie andere Minderheiten und meinten, daß
sie deshalb einen eigenen Nationalstaat benötigten. Später lehnten sie auch
von sich aus die "geschenkte Assimilation" ab und bestanden darauf, daß die
Juden auch unabhängig von antisemitischen Etikettierungen ein eigenes Volk
und eine eigene Nation seien und dazu stehen müßten. Erst die Verwirklichung
einer Nation, möglichst auf eigenem Territorium, werde sie zu einem nor-
malem Volk mit ungebrochener Identität machen. Das jüdische Volk würde
dann nicht mehr in unwürdiger Bittsteller- oder Verteidigerhaltung bei den
jeweiligen "Gastvölkern" um volle Anerkennung nachsuchen müssen.
Der Zionismus war im Westen eine postassimilatorische Bewegung. Das
drückt sich auch in den biographischen Erfahrungen seines Begründers
Theodor Herzl aus. Denn dieser mußte die Erfahrung machen, daß ihn völli-
ge Akkulturation und auch weitestgehende Assimilation nicht davor bewah-
ren konnten, von seiner Studentenverbindung in würdeloser Weise fallenge-
lassen zu werden. Auch der Dreyfusprozess in Frankreich hatte ihn schok-
kiert. Eindringlich formulierte er seine Erfahrungen, die zugleich aber auch
die vieler anderer akkulturierter und assimilierter Juden waren:
"Die Judenfrage besteht. Es wäre thöricht sie zu leugnen. ( ... ) Wir sind ein Volk, Ein
Volk. Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft un-
terzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man läßt es nicht zu. Verge-
bens sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwängliche Patrioten, vergebens
bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger, vergebens bemühen
wir uns den Ruhm unserer Vaterländer in Künsten und Wissenschaften, ihren Reichthum
durch Handel und Verkehr zu erhöhen. In unseren Vaterländern, in denen wir ja auch

78
schon seit Jahrhunderten wohnen, werden wir als Fremdlinge ausgeschrieen ... Wer der
Fremde im Lande ist, das kann die Mehrheit entscheiden; es ist eine Machtfrage ... Wenn
man uns in Ruhe ließe ... Aber ich glaube, man wird uns nicht in Ruhe lassen." (Herzl
1896, S. 51)
Sein Buch ..Der Judenstaat", das 1896 erstmals erschien, war die Initialzün-
dung für die Entstehung der Zionistischen Bewegung und Organisation, ob-
wohl auch früher schon akkulturierte Juden ähnliche Erfahrungen gemacht
und entsprechende Konsequenzen für das jüdische Volk gefordert hatten, wie
zum Beispiel der aus Odessa stammende Arzt Leon Pinsker mit seinem Buch
,,Autoemanzipation". (Pinsker 1882) Es nahm Herzls Begründung für den Zio-
nismus argumentativ bereits vorweg, und so war es folgerichtig, daß in späte-
ren Jahren dieses Buch an der PriWaKi von den Schülern gelesen und disku-
tiert wurde. (Vgl. Stent, Gespräch 1989)
Aber erst zur Zeit Herzls war das kollektive Unbehagen auch von größeren
Teilen des mitteleuropäischen Judentums so groß geworden, daß eine Bewe-
gung und 1897 eine Zionistische Organisation daraus entstehen konnte, die bis
zum Ersten Weltkrieg maßgeblich von Deutschland aus geleitet wurde.
Bemerkenswert ist, daß es auch schon unter den PriWaKi-Großvätern
und Vätern solche frühen Zionisten gab, deren Erfahrungshintergrund und
Konversionszeitpunkt Ähnlichkeiten mit der Biographie Herzls aufwiesen. Zu
erwähnen ist hier die Rabbinerfamilie Cohn, deren Tochter Miriam schreibt:
..Due to antisemitic experiences my grandfather Dr. Cohn turned toward tradi-
tional Judaism and national Judaism about 1896." (Fb 1989) Und über die
zionistische Einstellung ihrer Familie und ihres Vaters Emil Cohn sagt sie
weiter: ..... we always feIt national jüdisch".
Ein anderer früher Zionist war Dr. Lutz Kneller, der Vater der PriWaKi-
Schüler Herbert und Rudolf Kneller. Er wandte sich fast zur gleichen Zeit
(1886) dem Zionismus zu wie der Großvater von Miriam Cohn. Wie wahr-
scheinlich auch bei Großvater Cohn wurde die Bekehrung zum Zionismus
durch das 1896 von Herzl veröffentlichte Buch ..Der Judenstaat" ausgelöst.
(V gl. R. Kneller 1990)
Der Vater Lutz Kneller hat auch in den dreißiger Jahren in der zionisti-
schen Organisation gearbeitet und bei der Organisierung der Auswanderung
nach Palästina mitgeholfen. In diesem Zusammenhang hatte er auch mit der
PriWaKi zu tun, da diese die ..Palästina-Gruppe" zur Auswanderung führen
wollte. (Vgl. Paul J acob, Brief vom 26.1.1939)
Die zionistischen Biographien von Cohn und Kneller sind besonders be-
eindruckend, da die Hinwendung zum Zionismus schon recht früh und prak-
tisch zeitgleich mit der Entstehung des Zionismus als Organisation erfolgte.
Bemerkenswert ist auch, daß ein großer Teil der PriWaKi-Lehrer während der
dreißiger Jahre zunehmend zionistischer wurde und nach Palästina ausgewan-
dert ist. Aber die Familien Cohn und Kneller waren nicht die einzigen unter den
PriWaKi-Eltern und Schülern mit einer zionistischen Einstellung. Insgesamt
waren zwanzig Prozent der PriWaKi-Eltern vor 1933 zionistisch eingestellt,
wobei das Spektrum von ..sehr engagiert" bis ..lauwarm (lukewarm)" reichte.

79
Auf Dauer ist jedoch von der Fragebogengruppe mit prozionistischen
Elternhäusern nur die Familie Kneller in Palästina geblieben. Andere Famili-
en aus der Fragebogengruppe, die heute in' Israel leben, hatten damals keine
ausgeprägt prozionistischen Elternhäuser. Die Mehrheit der prozionistisch ein-
gestellten Familien aus der Fragebogengruppe ist nicht nach Palästina gegan-
gen. Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf den deutschen Zionismus und auf
die Einstellung der Mehrheit der jüdischen Deutschen dem Zionismus ge-
genüber.
Die Einstellung der deutschen Zionisten zum Zionismus war nämlich -
aus heutiger Sicht - widersprüchlich und inkonsequent, denn nur eine kleine
Minderheit von etwa 2000 der in Deutschland lebenden über 500.000 Juden
verwirklichte vor 1933 dessen Ziel, in Palästina zu siedeln und so eine Heim-
stätte für das jüdische Volk zu schaffen, wie es auf dem ersten Zionisten-Kon-
gress in Basel 1897 beschlossen worden war. Davon kehrte ca. die Hälfte wie-
der zurück, und von den in Palästina Verbliebenen dürfte ein großer Teil aus
den in Deutschland lebenden ostjüdischen Familien gekommen sein, wie zum
Beispiel die soziale Zusammensetzung der Gruppe "Kibbuz Cheruth" zeigt,
die von 1928-1930 mit etwa 50 Mitgliedern aus Deutschland nach Palästina
emigriert ist. (Vgl. Fölling, Melzer 1989) Bei genauem Hinsehen dürften es
also in den über 35 Jahren des organisierten deutschen Zionismus von der
Gründung der "Zionistischen Vereinigung für Deutschland" (ZVfD) im Jahre
1897 bis zur ,,Machtergreifung" Hitlers nur wenige hundert deutsche Zioni-
sten gegeben haben, die sich konsequent nach ihrer Überzeugung verhalten
haben. Nach dem Holocaust wurde und wird diese Zahl in zionistischen Krei-
sen mit Kopfschütteln genannt, denn hatten nicht alle deutschen Juden ähnli-
che Erfahrungen gemacht wie Herzl? Warum dachten also nicht mehr jü-
dische Deutsche zionistisch und warum gingen nicht mehr deutsche Zioni-
sten nach Palästina?
Die Antwort darauf ist naheliegend. Die akkulturierten deutschen Juden
hatten es inzwischen zu einem beachtlichen Sozialstatus in Deutschland ge-
bracht. Palästina war demgegenüber eher ein Entwicklungsland; eine Emi-
gration hätte das Aufgeben des erreichten Sozialstatus und für viele ein Le-
ben in Unsicherheit und Armut bedeutet. Kein vernünftiger Mensch konnte
darin eine Alternative zum Leben in Deutschland sehen, zumal hier der Anti-
semitismus vor 1933, verglichen mit Osteuropa, durchaus noch erträglich er-
schien, sofern man nicht allzu sensibel war.
So wurde auch in vier von fünf PriWaKi-Familien gedacht, wie etwa aus
folgenden Antworten auf die Frage nach der Einstellung der Eltern zum
Zionismus hervorgeht:
"Das vorherrschende Bewußtsein meiner Eltern war deutsch und nur sehr zweitrangig jü-
disch, besonders vor 1933. Sie wollten vom Zionismus überhaupt nichts wissen, nicht
einmal nach 1933, obwohl ihre Einstellung dann weniger negativ wurde. Aber sowohl vor
als auch nach 1933 zeigten sie wenig oder gar kein Interesse an Palästina und hatten abso-
lut keine Neigung, dorthin zu gehen."
"Sie glaubten nicht an den Zionismus."

80
"Ihre Einstellung war ablehnend. Sie hatten das Gefühl, daß die Zukunft unserer Fa-
milien in Deutschland gesichert sei und sahen keine Notwendigkeit für eine nationaljüdi-
sche Heimstatt."
"Obwohl ein Bild von Theodor Herzl im Haus meines Großvaters hing, haben meine
Eltern den Zionismus nicht unterstützt und niemals in Erwägung gezogen, nach Palästina
auszuwandern. "
"Meine Eltern hielten nur sehr wenig vom Zionismus. Sie waren assimilierte Deut-
sche. Mein Vater war blond, blauäugig und Mutter ebenso. Er hatte im Ersten Weltkrieg
das Eiserne Kreuz bekommen und meinte: ,Uns wird man nichts antun'."
"Meine Mutter hatte zwar zionistische Freunde, aber sie fühlte sich sicher und wohl
als deutsche Bürgerin mit jüdischer Konfession."

Um eine Nichtauswanderung nach Palästina zu begründen, entwickelten auch


die deutschen Zionisten analog zum dualistischen Identitäts-Konzept des
"Deutschen Staatsbürgers jüdischen Glaubens" das Konzept der "zwei Zions".
Das erste Zion sollte das geistige oder ideelle Zion sein und verpflichtete nur
zu einem nationaljüdischen Bekenntnis und zu Spenden für Palästina; das
andere war das "physische Zion" und als solches nur für die verfolgten und
darbenden Brüder und Schwestern aus dem Osten gedacht, wie Bodenhei-
mer, einer der Mitbegründer der ZVfD, treffend die damalige Einstellung der
deutschen Mehrheitszionisten formulierte. (Vgl. PoppeI1977, S. 29) So blieb
der Zionismus in Deutschland eher "eine psychologische Notwendigkeit"
(Laqueur 1975, S. 610) für diejenigen, die auf den Antisemitismus sensibler
reagierten als die große Mehrheit.
Sieht man also von der kleinen Minderheit der Pionier-Zionisten in den Ju-
gendbewegungen einmal ab, so war der deutsche Zionismus eher ein typischer
Vereinszionismus. Er "war charakterisiert durch Posener Mürbekuchen oder
Oberschlesische Gänseleber, d.h. Sitte, Essen, die Gemütlichkeit des Lebens
(... ) Das Ziel dieser Zionisten war, in Deutschland zu leben. Die Vorstellung
des Nach-Palästina-Gehens war kaum vorhanden." (Kurt Blumenfeld; zit. in
Fölling, Melzer 1990, S. 263. Vgl. auch Blumenfeld 1962, S. 90f.)
Auch die Nichtzionisten erkannten diese Diskrepanz zwischen Anspruch
und Wirklichkeit im deutschen Zionismus sehr wohl, und sie machten sich
nicht selten darüber lustig, wie etwa die Eltern des PriWaKi-Schülers Gün-
ther Stensch:
"Ihre Einstellung (gegenüber dem Zionismus) war sehr negativ, sowohl vor als auch noch
nach 1933. Unter den Freunden meiner Eltern war nur eine zionistisch eingestellte Fami-
lie, die man wegen ihrer absurden Idee eines jüdischen Staates immer gern belächelt hat.
Als Zionist definierten sie einen Menschen, der andere dazu brachte, in Palästina zu sie-
deln, wo er aber selbst nicht einmal begraben sein wollte".

Diese Einstellung hielt bei vielen PriWaKi-Eltern und anderen assimilierten


deutschen Juden zum Teil noch bis 1935 und darüber hinaus vor. Danach
war es für die meisten Eltern wegen der Einwanderungsbeschränkungen zu
spät für eine Flucht nach Palästina.
Die meisten SchülerInnen teilten die Einstellung ihrer Eltern über den
Zionismus. Einige waren jedoch durch die jüdische Jugendbewegung vor al-

81
lern nach 1933 zionistisch beeinflußt worden. Insgesamt aber war die Einstel-
lung der PriWaKi-SchülerInnen vor allem bis 1935/36 nur wenig zionistisch.
Dies mußte die Schule in ihrem Erziehungsprogramm berücksichtigen.

Politische Orientierung und Wahlverhalten

Die Interessen der Juden im Deutschland des 19. Jahrhunderts wurden am


ehesten vom Liberalismus programmatisch vertreten, denn dieser forderte die
bürgerlichen Freiheiten und damit die Beseitigung aller Diskriminierungen.
Für die Juden des 19. Jahrhunderts waren religiöse Toleranz und die freie
Entfaltung als Wirtschaftsbürger von besonderer Bedeutung. Deshalb wand-
ten sich zunächst diejenigen, die bewußt die Emanzipation anstrebten, dem
Liberalismus zu, um mit gleichgesinnten nichtjüdischen Bürgern schon ab
Mitte des 18. Jahrhunderts in Berlin eine liberale Kultur und eine entsprechende
politische Perspektive zu entwickeln. Die bereits erwähnte Schrift von Dohm
kann als ein Resultat dieser Gleichgerichtetheit von bürgerlichen Interessen an-
gesehen werden. Doch blieben dies immer kleine Zirkel. Das Zusammengehen
liberal gesinnter jüdischer und christlicher Bürger war deshalb möglich, weil
auch die gebildeten christlichen Bürger seinerzeit noch ein Interesse an wei-
terer Emanzipation in Preußen hatten. Später, nach dem Erreichen der
Emanzipation, sollte sich dies wieder ändern, denn nun wurden die gebilde-
ten und freiberuflich tätigen Juden zu unerwünschten Konkurrenten.
Zwischen 1815 und 1848 waren schon sehr viel mehr Juden weltlich
gebildet als noch Mitte des 18. Jahrhunderts. Entsprechend große Unterstüt-
zung fand der Liberalismus. So verwundert es nicht, daß sich Juden sehr
zahlreich an der bürgerlichen Revolution von 1848 beteiligten. Doch die an-
tisemitischen Ausschreitungen zeigten schon damals, daß die erhoffte Ge-
meinsamkeit weit von den politischen und sozialen Realitäten in Deutschland
entfernt war.
Es ist bekannt, daß sich nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution
von 1848 in der politischen Entwicklung Deutschlands ein unheilvoller Son-
derweg herauskristallisierte, der im Liberalismus einen Rechtstrend und spä-
ter auch dessen Untergang bewirkte. Damit standen auch die politischen Er-
wartungen der deutschen Juden unter einem schlechten Stern: Das Rettungs-
boot ,,Liberalismus", an das sie sich klammerten, versank selbst immer tiefer
in den nationalistischen Fluten, bis es schließlich ganz unterging und mit ihm
das mittel-osteuropäische Judentum. Schon Bismarck trug zum Niedergang
des deutschen Liberalismus maßgeblich bei, indem er die nationale Einigung
gegen eine demokratische Verfassung ausspielte und damit die politische
Kultur auch des Bürgertums zunehmend als eine antiliberale mitprägte.
Nach dem Rechtsruck der Nationalliberalen unter Bismarck gründeten
die jüdischen Liberalen Lasker und Bamberger die linksliberale Partei des
Freisinns (ab 1910 Fortschrittliche Volkspartei), die von der Mehrheit der

82
jüdischen Bürger gewählt wurde, da sie konsequent die verfassungsmäßigen
Rechte auch der Juden vertrat. (Vgl. Richarz 1989, S. 44) Bei der in Deutsch-
land nationalistisch und antisemitisch durchsetzten politischen Kultur des Bür-
gertums konnte es nicht ausbleiben, daß außer den Juden immer weniger Bür-
ger liberal wählten, und die liberale Partei wurde bald als ,)udenschutztruppe"
diffamiert. Ähnlich wurde dann später die Weimarer Republik als ,)udenrepu-
blik" von den Rechten angefeindet, weil ihre Verfassung auf den Prinzipien
des Liberalismus basierte.
Im Kaiserreich wählten die meisten Juden liberal, da dies ihrer Klassen-
lage entsprach. Eine deutliche Minderheit - insbesondere Intellektuelle - unter
den Juden fühlte sich aber auch schon damals durch sozialdemokratische Ideen
angezogen, zumal die Sozialdemokraten Gegner antisemitischer Parteien und
Gruppen waren. Aber auch unter den jüdischen Angestellten und Klein-
gewerbetreibenden fanden die Sozialdemokraten vor 1918 schon eine Wähler-
schaft von schätzungsweise 15 Prozent der jüdischen Wahlberechtigten. (Vgl.
ebd.) Die Konservativen wählten die "Reichspartei". Aber auch das "Zentrum"
wurde von religiös-orthodoxen, politisch-konservativen und nationalistisch
eingestellten deutschen Juden gewählt. (Vgl. Hamburger, Pulzer 1985, S. 4f.)
Nach dem Ersten Weltkrieg gab es zunächst einen hoffnungsvollen Neu-
beginn mit der Gründung der liberalen Deutschen Demokratischen Partei
(DDP),
"zu deren Gründern bekanntlich Juden gehörten, wie Albert Einstein, der Zeitungsver-
leger Rudolf Mosse und der StaatsrechtIer Hugo Preuß, der die Weimarer Verfassung
entwarf und daher eine Hauptzielscheibe der Antisemiten war. Die DDP wählten nach
zeitgenössischen Schätzungen 60 v.H. aller deutschen Juden, und sie wurde entsprechend
als ,Judenpartei ' diffamiert. Als die Partei an Wählerstimmen verlor, orientierte sie sich
weiter nach rechts und verband sich 1930 mit dem faschistischen jungdeutschen Orden.
Damit war die liberale Mitte verschwunden und das deutsche Bürgertum hatte sich mehr-
heitlich Rechtsparteien angeschlossen". (Richarz 1989, S. 45)
Die DDP nahm von 18,6% der deutschen Wählerstimmen i.J. 1919 ab auf
nur noch 5,79% iJ. 1924. Schätzungsweise jede fünfte Stimme erhielt sie
1924 von jüdischen Bürgern.
Es wiederholte sich also der gleiche Prozeß wie im Kaiserreich: Die
Tragik der deutschen Juden blieb, daß sie sich mehrheitlich politisch reif
zeigten für eine westliche Demokratie pach den Grundsätzen des Liberalis-
mus, daß dies aber nicht für die große Mehrheit des deutschen Volkes galt.
Um herauszufinden, wie sich in dieser für Juden schwierigen Situation
die PriWaKi-Elternschaft politisch orientiert hat, haben wir den ehemaligen
Schülerinnen und Schülern folgende Frage (1.4) gestellt: "Wie waren nach
Ihrer Erinnerung Ihre Eltern vor 1933 politisch orientiert? (Welche Partei
könnten sie gewählt haben?)"
Bei Nichtberücksichtigung von doppelten Angaben bei Geschwistern ha-
ben wir für 39 (von 50) Familien Angaben zur politischen Einstellung und
zum Wahlverhalten der Eltern erhalten. Diese große Zahl von Angaben ist
bemerkenswert, denn nach 1932 konnten die Eltern nicht mehr wählen, und

83
bei der letzten freien Reichstagswahl waren die Schüler der Fragebogen-
gruppe mehrheitlich erst zwischen acht und dreizehn Jahre alt. Die politische
Einstellung scheint auch später wichtiges Diskussionsthema in den meisten
Familien gewesen zu sein.
Obwohl vom Sozialstatus der Familie her eine Orientierung am politi-
schen Liberalismus vermutet werden konnte, wählte die größte Teilgruppe (16
von 39) der Eltern sozialdemokratisch! Erst dann folgte die Gruppe der liberal
("liberal", "democratic") eingestellten und wählenden Eltern (14 von 39),
wobei dies allerdings nach der in den USA gebräuchlichen Terminologie auch
sozialdemokratisch bedeuten könnte. Jedenfalls läßt sich sagen, daß etwa
drei Viertel der PriWaKi-Familien zuletzt Mitte-Links-Wähler waren oder ei-
ne entsprechende politische Einstellung hatten.
In fünf Familien wurde eine Mitte-Rechts-Partei gewählt. Die Angaben
lauteten: konservativ-liberal (vermutlich DVP - W.F.), Catholic (Zentrum -
W.F.), Adenauer-Party (Zentrum - W.F.), Staatspartei, Wirtschaftspartei.
In drei Familien wurde "deutsch-national" und in einer weiteren Familie
"Hindenburg" angegeben. Hierbei fällt die Zuordnung zu Parteien schwerer:
Vermutlich wurde in diesen Familien DVP gewählt, die Nachfolgerin der
Nationalliberalen Partei im Kaiserreich, die jetzt zu einer rechtsliberalen und
mehr kleinbürgerlichen Partei geworden war, in der sich nunmehr auch Anti-
semitismus breitrnachte.
Die nationaldeutsch eingestellte jüdische Wählerschaft wich wegen des
zunehmenden Antisemitismus in der DVP oft auf konservative Splitterpar-
teien aus, die weniger antisemitisch waren. Hier boten sich das katholische
Zentrum sowie die rechtsliberale Wirtschaftspartei an. Ein großer Teil des
Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten (R.j.F.), der 1932 auf 30.000 Mit-
glieder angewachsen war, favorisierte allerdings weiterhin die DVP. (V gl.
Hamburger, Pulzer 1985, S. 21)
Damit kann folgende Verteilung in der politischen Orientierung und im
Wahlverhalten bei den PriWaKi-Familien nachgewiesen werden: Knapp die
Hälfte wählte sozialdemokratisch, ein gutes Drittel liberal (DDP), ein Fünftel
Mitte-Rechts (DVP, Zentrum und rechtsliberale Splitterparteien). Alles in allem
spiegelt diese Verteilung die Situation um und nach 1930 wider, denn für
diese Zeit deckt sie sich weitgehend mit dem Wahlverhalten des deutschen
Judentums. (Vgl. Hamburger, Pulzer 1985; Richarz 1989, S. 49 f.)
Die verschieden politischen Orientierungen drücken das Dilemma aus, in
dem sich die deutschen Juden am Ende der Weimarer Republik befanden.
Mit dem Niedergang und dem Ende der DDP hatte die Anfang der zwanziger
Jahre mehrheitlich liberal eingestellte und wählende jüdische Bevölkerung
keine Partei mehr, die ihre Interessen umfassend vertrat. Als Ersatz fungierte
deshalb für viele die Sozialdemokratie, auch wenn sie sozialökonomisch nicht
den Interessen des jüdischen Mittelstandes dienen konnte. Aber sie war von der
Programmatik her nicht antisemitisch und war für die Beibehaltung einer de-
mokratischen Republik. Gerade weil die Sozialdemokratie eigenständige politi-
sche Ziele hatte, die nicht vom Mittelstand, sondern von der Arbeiterschaft ge-

84
tragen wurden, war sie nicht so anfällig gegenüber antisemitischen Vorurteilen.
Diese Haltung wurde von einer bemerkenswert großen Zahl der PriWaKi-
Eltern honoriert, insbesondere von den Zionisten unter ihnen und von den Müt-
tern, die unabhängig von den Vätern eine eigenständige politische Meinung
herausgebildet hatten. Somit scheint die PriWaKi-Elternschaft in ihrer zu-
nehmenden SPD-Orientierung nicht von der Mehrheit der deutschen Juden
abgewichen zu sein, denn bereits vor 1930 hat etwa ein Viertel der deutschen
Juden sozialdemokratisch gewählt und nach 1930 "suchten wohl mehr als die
Hälfte der jüdischen Wähler bei der SPD Halt gegen den Nationalsozialismus".
(Richarz 1989, S. 45) Der hohe Anteil von SPD-Wählern unter der PriWaKi-
Elternschaft hing wahrscheinlich auch mit dem hohen Anteil von Akademikern
zusammen, denn diese wählten gegen Ende der zwanziger Jahre bevorzugt
sozialdemokratisch. Kommunisten scheint es unter den PriWaKi-Eltern keine
gegeben zu haben.

Akkulturation und Assimilation

In den vorangehenden Kapiteln sind die PriWaKi-Familien im Kontext der


Akkulturation der deutschen Juden beschrieben worden. Auch wenn bereits
die ersten Schritte der Akkulturation zentrifugale Kräfte freisetzten, die in
Richtung Assimilation wirksam wurden, so handelt es sich bei den von uns
beschriebenen Anpassungen der PriWaKi-Familien und -Vorfahren vor allem
in den Bereichen Bildung und Beruf primär um fundamentale Akkultura-
tionsprozesse, die eher verallgemeinernde Aussagen über den Sozialstatus
dieser Gruppierung als über das jüdische Bewußtsein in den einzelnen Fami-
lien zulassen, auch wenn diese Familien bei einer etwas weniger differenzier-
ten Betrachtung überwiegend als typische assimilierte deutsche Mittelschichts-
Juden eingestuft werden können. Doch wurde von der Mehrheit eine völlige
Assimilation bewußt vermieden, und dies nicht nur von den noch religiösen
oder neokonservativen Eltern sowie von den Zionisten, sondern auch von den
Eltern, die sich an der Position des C.V. orientierten. Auch diese Eltern wollten
sich und der Familie Reste eines jüdischen Bewußtseins bewahren, obwohl
sie in religiösen Fragen liberal bis gleichgültig eingestellt waren. Wie aus den
bisher ausgewerteten Antworten zur religiösen Einstellung zu entnehmen ist,
scheint nur knapp ein Drittel der PriWaKi-Familien von ihrer Einstellung her
auf Assimilation im engeren Sinne ausgerichtet gewesen zu sein.
Das Akkulturationskonzept der liberalen deutschen Juden geht - wie
schon erläutert - im Grunde auf die Vorstellungen von Moses Mendelssohn zu-
rück, der die Angleichung in Sprache, Bildung und Sozialstatus und damit die
Integration in die nichtjüdische Gesellschaft anstrebte, der aber ein starkes reli-
giös geprägtes Judentum als Konfessionsjudentum erhalten wollte. Damit ent-
standen die für das liberale deutsche Judentum so kennzeichnenden wie pro-
blematischen Konzepte des "Bürgers zweier Welten", der "deutsch-jüdischen

85
Symbiose" und schließlich auch das des "Deutschen Staatsbürgers jüdischen
Glaubens". Auf den ersten Blick schien dieses Konzept eine ideale Lösung
der ,,Judenfrage" (Bein 1980) in Deutschland zu ermöglichen; am Beispiel
der PriWaKi-Großeltern und Eltern haben wir eine geradezu mustergültige
Akkulturation nachzeichnen können. Doch mußte, wie gezeigt worden ist, eine
volle Akkulturation keineswegs auch eine vollständige Assimilation nach sich
ziehen, wie wir bereits anhand der spezifischen Einstellungen der Eltern zur
Religion etc. ermitteln konnten. Danach lassen sich etwa 70 Prozent der Fami-
lien zwar als voll akkulturiert, nicht aber als voll assimiliert charakterisieren.
Wie die PriWaKi-Schülerinnen und Schüler den Akkulturations - oder auch
Assimilationsgrad ihrer Familien selbst einschätzen, sollte mit folgender di-
rekter Frage ermittelt werden:
"Do you think that your parents were assimilated (adapted to the German culture) hefore
1933?"
Als Antworten waren drei Möglichkeiten vorgegeben:
1. fes, (almost)jullyadapted.
2. fes, hut with reservations.
3. Not very much (why not?).
Insgesamt haben wir 59 von 60 möglichen Antworten bekommen. Dies zeigt
auch, wie wichtig den PriWaKi-Ehemaligen das Verhältnis ihrer Familien
zur deutschen Kultur auch heute noch ist. Die erste Antwort wurde insgesamt
55 mal angekreuzt! Die zweite Antwort wurde nur viermal angekreuzt und
die dritte Antwort gar nicht.
Damit wird - wie schon bei der Bildung und den Berufen - der außeror-
dentlich hohe Grad der Akkulturation und gegebenenfalls auch der Assimi-
lation der PriWaKi-Familien bestätigt, ohne daß hier allerdings systematisch
zwischen Akkulturation und Assimilation unterschieden werden könnte. Die-
sen Unterschied wollten wahrscheinlich die vier Schüler und Schülerinnen
zum Ausdruck bringen, die die zweite Antwort angekreuzt haben. Aber selbst
Töchter und Söhne aus zionistischen und/oder religiös-konservativen Fa-
milien haben nicht immer von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die zweite
Antwort als Zeichen für eine gewollt eingeschränkte Assimilation anzukreu-
zen, sondern haben ebenfalls die erste Antwort angekreuzt, um zu unter-
streichen, daß ihre Familien im kulturellen Bereich (Sprache, Bildung, Beruf)
einen uneingeschränkte Akkulturation erreicht hatten. Mit Zusatzbemerkun-
gen wurde jedoch darauf hingewiesen, daß dies nicht Assimilation im Sinne
einer Distanzierung vom Judentum bedeutet habe. So schreibt z.B. die ehe-
malige Schülerin Miriam Cohn:
"Mein Vater (Pseudonym: Emil Bernhard) erhielt in den frühen 20ern den Messner-Preis.
Wir konnten deutsche Kultur aufnehmen ohne den deutschen Nationalismus; als Bestand-
teil einer kosmopolitischen Erziehung" (M. RochIin 1989)

Auch die Gebrüder Kneller differenzieren für ihre Familie zwischen Akkul-
turation und Assimilation. Während der jüngere Bruder Shmuel (Herbert)

86
Kneller die Frage nach der Übernahme deutscher Kultur durch die Familie
mit "Ja, aber mit Einschränkungen" beantwortet, meint Rudolf Kneller: "Ja,
sie waren voll akkulturiert, haben sich aber niemals als Deutsche gefühlt."
Worin die Einschränkung in den anderen Familien bestanden haben, die
einer Angleichung ihrer Familien mit Vorbehalt zugestimmt haben, wissen
wir nicht, da hier keine Anmerkungen gemacht worden sind, und weil es sich
auch nicht immer um religiös eingestellte Familien gehandelt hat.
Bemerkenswert ist, daß die erste Antwort - "yes, (almost) fully adapted"
- oft durch Unterstreichen noch einmal besonders betont worden ist. Insge-
samt zwölf der 54 Schülerinnen und Schüler, die die erste Antwort angekreuzt
haben, haben entweder das leicht einschränkende "almost" durchgestrichen
und/oder "fully adapted" unterstrichen! Damit wollten diese PriWaKi-Schü-
ler vor allem das volle Ausmaß der Akkulturation hervorheben. Dies ist mög-
licherweise auch als späte Reaktion von unschuldig Vertriebenen zu inter-
pretieren, die damit demonstrieren wollen, daß es keine objektiven Gründe
gegeben hat, die deutschen Juden mit dem Stigma der Andersartigkeit oder
des Fremden zu versehen und davonzujagen.
Daß Akkulturation nicht Assimilation bedeuten mußte, fanden wir be-
reits in neokonservativen und/oder zionistischen Familien Cohn und KneBer.
Es gibt jedoch darüber hinaus auch Beispiele bei den C.Y.-Mitgliedern, wie
z.B. in den Familien Weinberger oder Stein.
Die Familie Weinberger kam vor dem Ersten Weltkrieg aus Österreich
nach Berlin, der Vater aus Galizien, die Mutter aus Wien. Die Großeltern
lebten ebenfalls in Berlin. Sie waren noch sehr religiös und führten einen ko-
scheren Haushalt, während die Eltern sich in Berlin schnell assimilierten: Ver-
zicht auf einen koscheren Haushalt, seltener Synagogenbesuch, äußert erfolg-
reicher ökonomischer und gesellschaftlicher Aufstieg durch den Aufbau ei-
ner Ladenkette ("Otto Türmer") mit zuletzt 250 Geschäften und über 1.000
Angestellten. Zur Einstellung seines Vaters sagt Siegbert Weinberger:
"Mein Vater kommt aus Galizien ( ... ) Im ersten Weltkrieg war mein Vater in der österreichi-
schen Armee, er ist dreimal verwundet worden, und ein Bruder von ihm war ebenfalls in der
österreichischen Armee. Die waren sehr patriotisch ... Mein Vater wohnte schon damals in
Berlin, aber da er damals Österreicher war, wurde er zur österreichischen Armee berufen. Er
wurde - wie gesagt - dreimal verwundet und hat sechs Auszeichnungen bekommen ( .. ) Mein
Vater war immer sehr deutsch-national gesinnt, er war außerordentlich patriotisch. ( ... ) Er hat
niemals versucht zu denken, daß er nicht jüdisch sei. Gerade das Gegenteil! ( ... )
"Ich mußte Bar-Mitzweh werden, gegen meinen Willen. Mein Vater wollte das
hauptsächlich, meine Mutter war weniger drauf erpicht." (S. Weinberger 1989)

Die Familiengeschichte der Steins ist bereits erzählt worden. Beide Eltern
kamen aus einer religiösen Familie, die Mutter aus einer Rabbinerfamilie,
und Vater Stein hatte sogar eine Jeschiwa besucht und war Religionslehrer
geworden. Dieser Hintergrund läßt eher auf wenig Assimilation schließen.
Dem war jedoch nicht so. Er hat den Beruf des Religionslehrers aufgegeben
und ist im großstädtischen Berlin Geschäftsmann geworden.Werner Stein
sagt zur "Assimilation" seines Vaters:

87
"Die deutschen Juden waren deutsch! Ohne Zweifel! Besonders ein Mann wie mein Va-
ter, der von Bayern kam, bayerisch geredet hat, einen grünen Hut aufgehabt hat, nur Bier
getrunken hat und sein Lieblingsessen war: Kasseler Rippchen mit Sauerkraut." Anderer-
seits blieb er ausgesprochen jüdisch eingestellt. Der Haushalt war zwar nicht mehr ko-
scher, "aber die Feiertage wurden hundertprozentig eingehalten. Wie ich sagte, er war im
Centralverein im Vorstand. Er war auch im Vorstand vom Reichsbund jüdischer Frontsol-
daten."
Vater Stein war zwar voll akkulturiert, aber zugleich auch "hundertprozentig
jüdisch". Auch in der Gemeinde - Synagoge in der Prinzregentenstraße war
er "sehr aktiv und sehr involviert". (Werner Stein: Gespräch 1989)
Die beiden zitierten Väter waren bei allen Unterschieden Anhänger des
dualistischen C.V.-Konzepts des Deutschen Staatsbürgers jüdischen Glau-
bens. Sie waren nach landläufiger und damals üblicher Terminologie assimi-
liert, h?tten sich jedoch, wie gezeigt werden sollte, ein starkes jüdisches Be-
wußtsein erhalten, so daß richtiger von Akkulturation und Teilassimilation
gesprochen werden müßte.
Was hinderte diese akkulturierten Väter daran, sich vollends zu assimilie-
ren? Vermutlich nichts anderes als die "preußische" Einstellung, daß ,,Fahnen-
flucht" etwas zutiefst Verachtenswertes sei. Hier spielte auch der psychologi-
sche Faktor des "Trotzjudentums" eine Rolle: Beide Väter waren sehr stolz
und damit besonders empfindlich gegnüber antisemitischen Diffamierungen.
Darüber hinaus war es bei beiden Vätern wohl nur noch das Gefühl der Pietät
und vor allem der sozialen Zugehörigkeit, das sie wie auch andere akkultu-
rierte deutsche Juden, die dem vom Centralverein vertreten Konzept des
Deutschen jüdischer Konfession anhingen, von der weiteren Assimilation ab-
hielt. Ob und inwieweit dieses Konzept eine Zukunft gehabt hätte, muß offen
bleiben. Immerhin zeigen die Beispiele, daß ein Gleichschritt von Akkul-
turation und Assimilation, wie ihn Ruppin noch auf Grund seiner Eindrücke
- im wesentlichen vor dem Ersten Weltkrieg - gewonnen hatte, in der Wei-
marer Republik längst nicht immer anzutreffen war. Die beiden PriWaKi-
Väter Stein und Weinberger waren auch keineswegs seltene Ausnahmen.
Neokonservative und/oder Zionisten hatten mit dem neu belebten Kon-
zept des Nationaljudentums anscheinend einen festeren Halt. Aber auch sie
standen als deutsch-akkulturierte Juden vor dem Problem zu definieren, wie
ein wiederbelebtes Judentum aussehen könnte, nachdem die Gläubigkeit der
Orthodoxie dahin war. Der PriWaKi-Religionslehrer Cohn schrieb zu diesem
Problem im Jahr 1923:
"Schwer, furchtbar schwer ist der Griff nach dem Judentum. Wohl wirbelten in den letz-
ten Jahren der Krise viel Worte durch die Köpfe der Juden, unter ihnen keines, das den
Empfänglichen so aufhorchen ließ, wie das Wort vom lebendigen Judentum. Ah, so sucht
ihr also das Leben? Auch ich suche es, seit zwanzig Jahren suche ich im Judentum das
Leben. Aber wo steckt es? Das ist die qualvolle Frage. (... ) Ist es das bekannte ,Wesen des
Judentums', von dem in den Büchern so viel die Rede ist? So viel ich auch in diesen Bü-
chern suchte, ich fand immer nur einen Versuch, aus dem Schlamm der Jahrhunderte das
Gold herauszuwaschen, alles, was ich sah, war ein Akt des Herausschälens gewisser un-
zweifelhafter Grundwahrheiten des Judentums, eine Systematisierung der Lehre oder des

88
Prophetenturns allenfalls. Daß dies, Wesen' sei, begriff ich nicht, Leben war es auf keinen
Fall. Also wieder: wo steckt das Leben?" (Cohn 1923, S.67f.)
Eine klare Antwort konnte auch der Rabbiner Cohn nicht geben. Er ant-
wortete weniger inhaltlich als emotional:
"Eines ist dabei klar: Leben ist da! Denn ohne Leben wären diese abgrundtiefen, uner-
meßlichen Jahrtausende nicht möglich gewesen." (Ebenda, S. 68). Und: "Tieferes ist vom
Juden niemals ausgesagt worden, als daß er eben das Rätsel Jude sei." (Ebenda 1923, S.
69)
Aber auch Zionisten standen vor der Frage, wie denn eine neue national-
jüdische Kultur aussehen könnte. Vor allem, wenn sie nicht konsequent an
die Auswanderung nach Palästina dachten, sondern mit dem Konzept der "zwei
Zions" in Deutschland leben wollten, konnte es zu diesem Problem keine kla-
re Antwort geben.
Ein anderes Beispiel für die Auswirkungen deutscher Akkulturation bei
Nichtassimilanten gibt der zeitweilig und nebenamtlich an der PriWaKi tätige
Hebräisch-Lehrer Dr.jur. (Universität Heidelberg) Fritz Kost, der aus Galizi-
en stammte und als Zionist schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg fließend
Neuhebräisch lernte und in den dreißiger Jahren nach Israel auswanderte, wo
er heute noch lebt. Ihm machte der Klassenlehrer
"mit preußischem Charme das Kompliment vor der Klasse: ,Und schämt ihr euch nicht,
daß der kleine galizische Judenjunge besser Deutsch kann als ihr alle!' ( ... ) Das war in der
dritten Vorschulklasse, da war ich acht Jahre alt. Solche Vorkommnisse gab es natürlich
mehr, und ich gehörte nicht hier hin und nicht dort hin, nicht zu den (reIigiösen-W.F)
Großeltern und nicht komplett nach Deutschland. Und ich bin auch heute noch schizo-
phren. Ich lese fast gar nicht mehr zum Vergnügen, sondern nur noch, was ich für die Ar-
beit brauche, aber wenn, dann aber Goethe und Hölderlin. Ich kann nicht trennen, was bel
mir deutsch ist und was jüdisch - ausgeschlossen!" (Fritz Kost, Gespräch 1989)

Die Akkulturationsleistungen der Juden in Deutschland waren ohne Zweifel


außerordentlich groß und beeindruckend, und wie es scheint, ist ihnen diese
Akkulturation sehr leicht gefallen, denn trotz aller verbliebener Diskriminie-
rungen war gerade die gehobene deutsche Kultur, repräsentiert durch Les-
sing, Schiller und Goethe, für die ursprünglich jiddisch sprechenden Ostju-
den besonders attraktiv. Doch bedeutete dies ein weitgehendes, wenn auch
bei den meisten kein vollständiges Aufgeben des Judentums, wobei aber im
allgemeinen kein zufriedenstelIendes Verhältnis zwischen Akkulturation und
Assimilation gefunden werden konnte. Daraus erwuchs vielfach eine große
psychologische Problematik. (Vgl. dazu Scholem 1987, S. 20ff.)
Da lag es nahe, dieser "deutsch-jüdischen Kompliziertheit" (L. Ithai, Ge-
spräch 1990) dadurch zu entgehen, daß man versuchte, möglichst alles Jüdi-
sche hinter sich zu lassen. Für Arthur Ruppin war es kurz nach der Jahrhun-
dertwende ohnehin klar, daß die "Geringschätzung der Religion", die bei der
Mehrheit der deutschen Juden schon zu erkennen war, "schließlich zur Misch-
ehe und Taufe" (Ruppin 1920, S. 100) führen müsse. Dieser Weg wurde
durchaus beschritten, doch nur von einer Minderheit.

89
Assimilationswillige Juden hatten mehrere Möglichkeiten. Am leichte-
sten erschien es manchen, ihr Judentum ,,ruhen" zu lassen und zu "vergessen"
und/oder durch eine allgemeine, mehr oder weniger reflektierte ethische Welt-
anschauung zu ersetzen. Diese Menschen verzichteten dann auch gänzlich auf
den Besuch der Synagoge und schickten ihre Kinder nicht zur Bar Mitzwah
oder in den jüdischen Religionsunterricht. Der nächste Schritt war der Aus-
tritt aus der Jüdischen Gemeinde, der formell und öffentlich vollzogen werden
mußte. Damit wurde man zum "Dissidenten", blieb aber konfessionslos oder
bezeichnete sich als "gottgläubig". Ein weitergehender Schritt war dann die
Taufe, wobei die weitaus meisten zum Protestantismus übertraten. Der wei-
testgehende Schritt aber war die Mischehe (in Kombination mit einer der drei
oben genannten Möglichkeiten), wobei der nichtjüdische Partner und die
Kinder christlich blieben bzw. wurden.
"Die Mischehe drückte die Bereitschaft zur Absorption aus, da erfahrungsgemäß drei
Viertel der aus ihr hervorgehenden Kinder dem Judentum verloren gingen (... ) Zu Beginn
des Jahrhunderts gingen von 100 Heiratenden im Reichsdurchschnitt 8 Prozent eine
Mischehe ein, 1910 schon 11 Prozent und 1930 etwa 20 Prozent. In Berlin erreichte 1928
der Anteil der Juden, die Christen heirateten, 27 Prozent, in Hamburg sogar 33 Prozent.
Die Zahl der Übertritte zum Christentum war dagegen in der Weimarer Republik rück-
läufig im Vergleich mit dem Kaiserreich und betrug für die protestantische Kirche etwa
200 Personen jährlich." (Richarz 1982, S. 15)

Auch an der PriWaKi gab es gemischte Familien und getaufte Kinder. Die
Schülerliste von 1938 weist 2 Dissidenten und 6 evangelische Schüler aus; das
waren also nur gut 2 Prozent aller Schüler, die nicht als "Glaubensjuden" defi-
niert waren. Allerdings hatten viele ,,Mischlinge" - insbesondere die mit ,,ari-
schen" Vätern - zu diesem Zeitpunkt die PriWaKi schon verlassen. Unter den 50
PriWaKi-Familien , deren Kinder die Fragebögen ausgefüllt haben, waren
mindestens 10 Prozent gemischte Familien; von unseren Interview-Partnern
stammten sogar 30 Prozent aus solchen Familien. Da diese Gesprächspartner
zumeist zu den älteren PriWaKi-Schülern gehörten, kann davon ausgegangen
werden, daß der Anteil von Schülerinnen und Schülern aus gemischten und
ggfs. auch konvertierten Familien bis Anfang 1934 noch recht hoch und inso-
fern auch ein Merkmal der PriWaKi für die Jahre 1932/33 war.
Die jüdische Oberschicht Berlins war die erste soziale Gruppe, die sich der
Aufklärung verschrieb und nicht beim "Bürger zweier Welten" stehenblieb,
sondern schnell durch Taufe den Weg in die nichtjüdische bürgerliche Ober-
schicht fand. Auch im 19. Jahrhundert gab es den schnellen Übergang von dem
noch konservativen Judentum zur Taufe häufiger. Für diesen verhältnismäßig
kleinen Teil von Juden war die Integrationsbereitschaft auf nichtjüdischer Seite
vorhanden, denn sie realisierten das, was die nichtjüdische Umgebung von
der Emanzipation der Juden erwartete: Letztlich war es nämlich die gänzliche
Aufgabe des Judentums. Vielfach ging die Rechnung der Assimilanten jedoch
nicht auf, und sie gerieten in psychologischer Hinsicht vom Regen in die Trau-
fe. Gerade bei den Intellektuelleren und Sensibleren unter ihnen, die den Aus-
tritt nicht aus innerer Gleichgültigkeit vollzogen hatten, entstand eine tiefe

90
Identitätskrise, die nicht selten bis zu einem destruktiven und selbstaggressi-
ven ,jüdischen Selbsthass" eskalierte. 29 Für die innere Zerrissenheit eines
Assimilanten lieferte schon Heinrich Heine ein bekanntes und vielzitiertes Bei-
spiel.
Das psychologische Problem bestand jedoch nicht einfach in dem
schlechten Gewissen, ,,Fahnenflucht" begangen zu haben, sondern entwickel-
te sich vor allem wegen der nach wie vor existierenden Vorbehalte der nichtjü-
dischen Umwelt, die auch dem Konvertiten einen letzten Rest von Anerken-
nung vorenthielt, weil sie in ihm letztlich doch den ethnischen Fremden sah und
es ihn im alltäglichen Leben in vielen Kleinigkeiten spüren ließ. Hinzu kam
dann der offene Antisemitismus und ab 1933 dann die gesetzliche Stigmati-
sierung als rassisch minderwertig, die auch PriWaKi-SchülerInnen, die nicht
mehr zu den "Glaubensjuden" gehörten, einbezog.

Jüdisches Bewußtsein

Bei allen Schwierigkeiten und letztlich auch der Unmöglichkeit, zwischen


Akkulturation und Assimilation zu trennen, kann als Befund festgehalten
werden, daß die volle Akkulturation bestimmend war für fast alle PriWaKi-
Familien. Diese Feststellung gilt nicht nur für die objektiven Indikatoren wie
Bildung, Beruf und Sozialstatus, bei denen diese Familien weit über dem
Durchschnitt der nich~üdischen deutschen Familien gelegen haben, sondern
auch im Hinblick auf die Selbsteinschätzung dieser Familien. Ob diese Akkul-
turation auch einen stärkeren Abbau des jüdischen Bewußtseins und damit
einen entsprechend hohen Grad an Assimilation mit sich gebracht hat, sollte
mit folgender Frage überprüft werden:
"Was there something like a Jewish consciousness (Jewishness) in your fa-
mily? How was it expressed?"
Obwohl auch diese Frage die Intimität der jeweiligen Familie berührte, wur-
de sie fast vollständig beantwortet. Die Frage des (damaligen) jüdischen Selbst-
verständnisses in ihrer Familie bewegt die PriWaKi-Schüler offensichtlich
auch heute noch stark.
Bei 57 verwertbaren Antworten wurde in 19 Fällen die Frage mit "nein",
"kaum", "selten", "etwas" oder "gelegentlich" beantwortet. Auch diese Ant-
worten zeigen ähnlich wie die Antworten zur religiösen Einstellung, daß bis
1933 etwa ein Drittel der Familien als assimiliert im engeren Sinne einzustufen
war, zwei Drittel also nach der Erinnerung der Kinder noch ein mehr oder
weniger ausgeprägtes jüdisches Bewußtsein auch vor 1933 besessen haben.
Die meisten Antworten zeigen, daß das Vorhandensein von jüdischem Be-
wußtsein primär an der Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft und der
Ausübung zumindest einiger religiöser Gebräuche festgemacht wurde.

29 Vgl. dazu auch Gershorn Scholern 1987, S. 37 und ausführlich Kap. 8 dieser Arbeit.

91
Zahlreiche andere Antworten zeigen jedoch, daß jüdisches Bewußtsein
nicht immer mit der Ausübung religiöser Gebräuche einherging, sondern sich
auch aus kulturellen, sozialen und psychologischen Elementen des Juden-
tums entwickeln konnte. Solche entsprechende Antworten auf die Frage, ob
und wie jüdisches Bewußtsein ausgedrückt worden ist, lauteten:
"Ja, auf kultureller Basis".
"Ja, es war subtil, aber es durchdrang jeden Aspekt des Alltagslebens" .
"Wir spürten genau, wer jüdisch war und wer nicht".
Ja,nach 1933. Wir beendeten die Assimilation, gingen zur Kaliski-Schule, und es
kam zu zunehmenden Kontakten zu jüdischen Freunden, weil viele andere sich ab-
wandten."
"Wir gehörten zum Jüdischen Kulturbund".
"Nach 1933: Bar Mitzwah, Besuch jüdischer Schulen (im Zug der Ereignisse), Be-
such der kulturellen Veranstaltungen des Kulturbundes und so weiter."

Es waren also nach 1933 nicht mehr viele deutsche Juden, die sich im engeren
Sinne assimiliert, das heißt distanziert gegenüber dem Judentum verhielten.
Vermutlich machten viele aus der Not eine Tugend, denn wenn die nichtjüdi-
schen Freunde auf Distanz gingen, wandten sich assimilierte Familien natürlich
wieder stärker jüdischen Kreisen zu. Auch Organisationen wie der jüdische
Kulturbund kompensierten teilweise die Ausgrenzung aus dem öffentlichen
Kulturleben. Darüber hinaus war man immer mehr auf das soziale Netzwerk
der jüdischen Gemeinde angewiesen, sei es materiell, wenn Arbeit und Ein-
kommen verlorengingen, sei es, weil man Rechtsberatung oder etwa Informa-
tionen über die Möglichkeiten der Emigration brauchte. Aber die Reidentifizie-
rung war nicht nur pragmatisch, sondern auch psychologisch motiviert als
Auflehnung gegen die Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft.
Doch war ,jüdisches Bewußtsein" keineswegs nur bei den weniger as-
similierten PriWaKi-Eltern oder nur in der Ghetto-Situation des ,,Dritten Reichs"
vorhanden, sondern auch noch bei den stärker assimilierten Eltern, wobei die im
vorigen Kapitel bereits erwähnte besondere psychologische Problematik die-
ser Menschen von ihren Kindern durchaus wahrgenommen worden ist, wie
zum Beispiel folgende Antwort zeigt:
"Es gab deshalb ein ganz spezifisches Element des Widerspruchs im Selbstbewußtsein
meiner Eltern. Einerseits identifizierten sie sich vollständig als Deutsche und weniger
gern als Juden; andererseits schienen sie ihre Jüdischkeit (Jewishness) innerlich durchaus
zu verspüren, wie sich an ihren kulturellen und sozialen Orientierungen und Kontakten
zeigte, obwohl dies nicht zugaben."
Noch deutlicher führt ein anderer PriWaKi-Schüler die Ambivalenz jüdi-
schen Bewußtseins bei assimilierten deutschen Juden aus und verweist dabei
auf das psychologische Phänomen, daß selbst Assimilierte ein solches Be-
wußtsein auch schon vor 1933 gar nicht verdrängen konnten, auch wenn sie
es gewollt hätten:
"Es gab im Vorkriegsdeutschland keine Juden, die sich nicht auch bewußt waren, jüdisch
zu sein. Das galt auch für diejenigen, die sich hatten taufen lassen und sogar für diejeni-

92
gen, deren E I t ern sich hatten taufen lassen, es sei denn, sie hätten an Autismus gelitten.
Das machte sich bei meinen Eltern in einer paradoxen Mischung von Überiegenheits- und
Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber den Nichtjuden (Gentiles) bemerkbar und in einer
ständigen Angst vor dem Antisemitismus."

Unter den sozialen und psychologischen Bedingungen, die es in Deutschland


für assimilierte Juden aufgrund einer eingeschränkten Akzeptanz durch die
nichtjüdische Umwelt gab, konnte die innere Assimilation der äußeren nicht
folgen; dies führte dann zu der vielzitierten "seelischen Zerrissenheit" und zu
einer "unausgeglichenen Bewußtseinslage und einer Identitätskrise" (Schatzker
1988, S. 22), die gerade für die Generation der PriWaKi-Eltern besonders aus-
geprägt gewesen sein soll. Dafür sprechen zwei Dinge: Einmal gerieten diese
Eltern noch als jüngere Erwachsene in den Antisemitismus des Ersten Welt-
kriegs hinein, der viele völlig überrascht hat, und zum anderen hatten sie
mehrheitlich einen größeren Assimilationssprung gegenüber ihren Großeltern
gemacht. Es liegt auf der Hand, daß sie so für ihre Kinder keine guten VOf-
bilder für die Formung eines weniger widersprüchlichen jüdischen Bewußt-
seins sein konnten, selbst wenn sie mehrheitlich noch nicht vollständig as-
similiert waren.

Soziale Integration

Die Frage nach dem Grad der sozialen Integration der deutschen Juden in der
nichtjüdischen Bevölkerung ist nur sehr schwer zu beantworten, und zwar
aus zwei Gründen. Einmal fehlen entsprechende mikrosoziologische Studi-
en,30 zum anderen besteht das Problem einer extrem unterschiedlichen Wahr-
nehmung durch die Betroffenen selbst. Wenn eine jüdische Familie auch
nichtjüdische Bekannte hatte, Mitglied in nichtjüdischen Vereinen war und kei-
nen größeren antisemitischen Erlebnissen persönlicher Art ausgesetzt war, so
konnten diese Menschen leicht den Eindruck gewinnen, ihre soziale Integration
sei im großen und ganzen gut gelungen. Dies galt besonders für die oberen
Schichten, denn prominente und besonders erfolgreiche Juden hatten zumeist
zahlreiche Kontakte zu prominenten Nichtjuden, was sie leicht vergessen
machte, daß sie eigentlich und auch noch in den 1920er Jahren zur ,,Präerni-
nenz,,31 gehörten, die nur in den Vorräumen der deutschen Gesellschaft zuge-
lassen waren - Ausnahmen bestimmten die Regel.

30 Monika Richarz meint: " Über die Struktur solcher Sozialbeziehungen des Alltags ist
bisher nicht geforscht worden, und Memoiren allein reichen dafür als Quellen nicht
aus. Es ist in den hier vorliegenden Erinnerungen unbekannter Juden oft nur schwer
festzustellen, wieweit die Verfasser Sozialkontakte zu Juden und zu Nichtjuden un-
terhielten und welche überwogen." (Richarz 1982)
31 Th. Veblen, zit. in Scholem 1987, S. 38.

93
Auf dem Land und in den Kleinstädten war die gesellschaftliche Distanz
zwischen Juden und Nichtjuden oft deutlicher spürbar geblieben/2 aber im
großstädtischen Berlin der 20er Jahre gab es größere Wahl- und damit mehr
Ausweichmöglichkeiten, z.B. beim Wohnviertel, den Schulen für die Kinder,
den Clubs und Vereinen. Wenn man die als antisemitisch bekannten sozialen
Organisationen und Institutionen mied, so hatte man kaum antisemitische
Erlebnisse und umso mehr konnte man sich sozial integriert fühlen. Hinzu
kam natürlich, daß Ärzte, Rechtsanwälte und Geschäftsleute auch beruflich
ständig mit nichtjüdischen Patienten, Klienten, Kunden und Geschäftspart-
nern zu tun hatten, wobei der Umgang durchaus nicht immer verkrampft sein
mußte. Es gibt zahlreiche Autobiographien, in denen berichtet wird, daß man
als Kind oder sogar Jugendlicher vom Antisemitismus persönlich fast nichts
gespürt habe. 33
Doch wer genauer hinschaute und sensibilisiert war für das Problem,
konnte dies, oft ausgelöst durch ein kleines, scheinbar unbedeutendes Ereig-
nis, wie etwa eine Bemerkung eines Lehrers (z.B. bei dem schon zitierten
PriWaKi-Lehrer Kost, 1989) oder eines Klassenkameraden, plötzlich ganz an-
ders sehen. Hatte man aber erst einmal eine andere Wahrnehmungsperspek-
tive eingenommen, so fand man überall Beweise für die Nichtakzeptanz der
Juden durch die nichtjüdische Umwelt, die sich meistens nicht als offene
Ablehnung ausdrückte, sondern eher eine gläserne Scheidewand oder ein "un-
sichtbares Ghetto" (Blumenfeld 1962, S. 90) schuf. Gerade im privaten Umgang
miteinander, wenn es überhaupt dazu kam, herrschte nicht selten eine gewis-
se Verkrampfung und Unsicherheit, die nur schwer zu beseitigen war:
"Die Unehrlichkeit des gesellschaftlichen Lebens, in dem es unmöglich war, offen über
die menschlichen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden zu sprechen, hat viel dazu
beigetragen, bei den Juden eine schwere Täuschung entstehen zu lassen. Es entwickelten
sich in der Weimarer Republik und schon vorher die Meister der gesellschaftlichen Mi-
mikry." (Ebenda, S. 183f.)

Aber eine solch kritische Meinung über die soziale und auch psychologische
Situation der deutschen Juden stammt fast nur von späteren Zionisten, die da-
mals schon die Wahrnehmungsperspektive gewechselt hatten. (Vgl. auch
Scholem 1978, S. 39)
Um festzustellen, wie es um die soziale Integration bei den PriWaKi-Fa-
milien aus der Sicht ihrer Söhne und Töchter bestellt war, haben wir gefragt:
"Hatten Ihre Eltern privat Kontakte mit Nichtjuden? (Nahmen Nichtjuden
zum Beispiel an Familienfeiern teil? r
Mit der Formulierung der Frage sollte verhindert werden, daß Kontakte zu
Geschäftspartnern, Kunden, Klienten, Patienten etc. angegeben wurden, denn

32 Vgl. z.B. die Erfahrungen von Akiba Avni (Hans Stein) in Emden in den 20er Jah-
ren. In: Melzer, Fölling 1989, S. 3lf. u.40.
33 Vgl. z.B. Bendix 1985, S. 219f., Ruppin 1985, S. 64f., Blumenfeld 1962, S. 27 und
33, Scholem 1978, S. 83.

94
sie waren keine echten Indikatoren für eine wirkliche soziale Anerkennung;
dies konnten nur zwanglose und intimere soziale Beziehungen zu gleichge-
stellten Nichtjuden sein, die man auch ohne irgendein geschäftliches Kalkül
zu privaten Familienfeiern einlud, weil man ihre Gesellschaft auch emotional
als Bereicherung empfandt.
Insgesamt haben 57 ehemalige SchülerInnen die Frage beantwortet. Er-
staunlich und unerwartet war, daß nur dreimal die Frage mit ,,Nein" beantwor-
tet ist. In weiteren acht Antworten, die für sieben Familien gelten, wurden
deutliche Einschränkungen gemacht; zum Beispiel in folgenden Antworten:
,,Ja, gelegentlich"; "wahrscheinlich wenige (Kontakte), wenn überhaupt"; "Fast
gar keine"; "gelegentlich" u.a.m. In den restlichen 46 Antworten wurde der
engere Sozialkontakt zu Nichtjuden ohne wesentliche Einschränkung bejaht.
Es läßt sich also sagen, daß nach diesen Antworten nur zehn bis fünfzehn
Prozent der PriWaKi-Eltern keine oder keine engeren privaten Sozialkontak-
te zu Nichtjuden hatten! Danach muß der gesamtgesellschaftliche Integrati-
onsgrad dieser Familien hoch gewesen sein. Zustimmende Antworten laute-
ten zum Beispiel:
"Ja, wir hatten private Kontakte mit Nichtjuden; sie nahmen gelegentlich auch an Famili-
enfeiern teil."
"Ja, wir hatten zahlreiche nichtjüdische Bekannte und Freunde."
"Viele unserer engsten (nichtjüdischen) Freunde nahmen sogar an den Schabbat- und
Festtagsfeiern in unserer Familie teil."
"Ja, unsere Familie bewegte sich häufig in nichtjüdischen Kreisen und hatte viele
nichtjüdische Freunde."
"Ja, weil mein Vater als Opernsänger im öffentlichen Leben stand, hatten meine El-
tern viele nichtjüdische Freunde zusätzlich zu den Verwandten, die mit Nichtjuden ver-
heiratet waren."

Die Antworten scheinen zu belegen, daß es neben Geschäftsbeziehungen


zahlreiche Möglichkeiten zu Kontakten mit Nichtjuden gab. Doch muß dabei
differenziert werden: Bei der PriWaKi-Fragebogengruppe gaben fast 70 Pro-
zent private Sozialkontakte zu Nichtjuden an. Hierunter fallen zunächst ein-
mal die ca. 30 Prozent der Assimilierten, von denen ein großer Teil in gemisch-
ten Familien und Verwandtschaften lebte. Nichtjüdische Verwandte gab es dar-
über hinaus auch noch in liberal eingestellten Kreisen. Weitere wichtige Unter-
scheidungsmerkmale bildeten der Wohnort, Bildung, Berufe und Sozialsta-
tus. In kleineren Städten mit eigener jüdischer Gemeinde und überwiegend
nichtakademischen kleinbürgerlichen Geschäftsleuten blieben die Juden pri-
vat eher unter sich. In Berlin hingegen scheint eine größere soziale Offenheit
bestanden zu haben, die vor allem erfolgreichen jüdischen Geschäftsleuten
und Fabrikanten der gehobenen und oberen Schichten zahlreiche Sozialkon-
takte zu Nichtjuden ermöglichte; dies traf auch für einige PriWaKi-Familien
zu.
Auch die akademisch gebildeten Freiberufler fanden außerhalb der Uni-
versitäten offenbar genügend Kontaktmöglichkeiten zu Nichtjuden, beson-
ders wenn gemeinsame kulturelle oder politische Interessen vorhanden wa-

95
ren. Am leichtesten hatten es Künstler und Schriftsteller, nichtjüdische Freunde
zu gewinnen, wie an den drei PriWaKi-Familien Aufricht (Theater), W. Gutt-
mann (Oper) und E. Cohn (Bühnenstücke) ablesbar ist.
In anderen Fällen könnten gegenseitige Vorteile die Kontakte begünstigt
haben. Wenn sich Juden z.B. in nichtjüdischen Vereinen engagierten, dann
kam dies auch den nichtjüdischen Mitgliedern zugute. Einladungen in die
Häuser sozial höher stehender jüdischer Familien werden auch für Nichtjuden
oftmals schmeichelhaft gewesen sein. Umgekehrt wird es solche Einladungen
vermutlich weit weniger gegeben haben. Auch bei Mischehen hatte die nicht-
jüdische Ehepartnerin zumeist einen niedrigeren Sozialstatus als der jüdische
Ehepartner. Dies sind Beispiele dafür, daß die soziale Anerkennung teilweise
auch "erkauft" war, wenngleich dies von den Betroffenen in der Regel ver-
drängt wurde. Allerdings wurde ein Teil dieser Kontakte nicht immer schon
1933 aufgegeben, sondern hielt oft bis zur Emigration, z.B. bei den PriWaKi-
Familien Cohn, Stein, Weinberger. (Vgl. Pb. und Interviewst
Es bleibt festzuhalten, daß der Grad der Integration in die deutsche nicht-
jüdische Gesellschaft bei den Familien der Fragebogengruppe wahrscheinlich
überdurchschnittlich groß war, wofür spezifische soziale Merkmale dieser
Gruppe angegeben werden konnten.
Doch zeigt sich bei genauerem Hinsehen auch, daß die Beziehungen
nicht immer gleichwertig waren mit denen zu Juden. Dies wird z.B. in der fol-
genden Antwort ausgesprochen:
"Als Geschäftsleute hatten meine Eltern viele zusätzliche private Kontakte mit Nichtju-
den, obwohl nur sehr wenige davon wirklich persönliche Freunde waren."
Auch in dieser sehr assimilierten Familie blieb also eine gewisse Distanz und
ein Fremdheitsgefühl gegenüber den meisten nichtjüdischen Bekannten er-
halten, und so wird es auch in vielen PriWaKi-Familien gewesen sein.
Das Urteil über das Ausmaß echter Sozialbeziehungen der PriWaKi-
Familien zu Nichtjuden bleibt nach wie vor vom mehr oder weniger genauen
Hinsehen abhängig. Als unstrittiges Resultat läßt sich jedoch festhalten, daß
in den meisten Familien die innerjüdischen Sozialbeziehungen sowohl in
quantitativer wie auch in qualitativer Hinsicht die Beziehungen mit Nichtju-
den überwogen, wobei die gemischten Familien möglicherweise eine Aus-
nahme bildeten.
Doch grundsätzlich läßt sich das Problem der Inkommensurabilität zwei-
er Sichtweisen nicht übersehen. Wo der eine bei den Sozial beziehungen zu
Nichtjuden ein festes Gebäude mit einigen auszubessernden Mängeln vor
Augen hatte, sah der andere nur ein Kartenhaus, das über kurz oder lang zu-
sammenfallen würde. Und beide Sichtweisen waren nicht falsch; beide konnten

34 Möglicherweise sind solche und andere positiven Erfahrungen mit Kontakten zu


Nichtjuden in Deutschland auch mit ein Grund dafür, daß die Söhne und Töchter aus
diesen Familien unsere Fragebögen ausgefüllt haben. Dann wäre allerdings die Fra-
gebogengruppe in diesem Punkt nicht unbedingt repräsentativ für die PriWaKi-Fami-
lien.

96
mit Fakten belegt und begründet werden. 35 Doch ab 1933 wurde auch die
Skepsis der Zionisten von den Ereignissen weit übertroffen.
Die bis hierher durchgeführte Analyse der Akkulturationsprozesse sowie
der in den Familien der PriWaKi-SchülerInnen vorherrschenden Einstellun-
gen und Bewußtseinsformen in bezug auf Politik, Religion, Zionismus und vor
allem auf das komplizierte Verhältnis von "deutsch" und ,jüdisch" hat gezeigt,
daß diese Familien kaum von den weitgehend assimilierten deutschen Mittel-
schichtsjuden abwichen. Die Fragebogengruppe von 60 SchülerInnen bzw. 50
Familien scheint insofern weitgehend repräsentativ zu sein, denn die Merkmale
und auch die statistischen Resultate decken sich überwiegend mit vorliegenden
Forschungsergebnissen. Dennoch konnten durch die Auswertung der Befra-
gungen einer überschaubaren Gruppe sowohl die Anonymität schon vorhan-
dener Statisken als auch die Zufälligkeiten von Einzelbiographien vermieden
werden. Es wurden sowohl allgemein aussagefähige, als auch noch genügend
konkrete und differenzierte Ergebnisse zur vorherrschenden Lebens- und
Bewußtseinslage deutscher Mittelschichtsjuden aufgezeichnet und damit ein
Stück Authentizität gewahrt. Damit sollte auch ein kleiner Beitrag zur Sozi-
algeschichte der deutschen Juden geleistet werden.
Wenn eine Erziehung erfolgreich sein will, muß sie die soziokulturellen
Merkmale und die damit verbundenen Einstellungen, Bewußtseinsformen
und Verhaltensmuster ihrer Klientel berücksichtigen. Das gilt zwar für jede Er-
ziehung und jede Schule, galt aber ganz besonders für eine von Juden geleitete
Privatschule ohne staatliche Unterstützung gegen Ende der Weimarer Republik
und damit auch für die "Private Wald schule Kaliski". Dabei kam der Akkul-
turationsprozeß augenscheinlich dem reformpädagogischen Konzept dieser
Schule entgegen. Die Offenheit, Vielseitigkeit und Modernität dieser Erzie-
hungs- und Bildungskonzeption fand offensichtlich eine Entsprechung in der
Weltoffenheit, Liberalität, Mobilität und Ethik in den meisten Elternhäusern.
Die Assimilation hingegen mußte die Erziehung eher erschweren, denn sie
verhinderte zumindest in den ersten Jahren nach 1933 nicht nur ein klares
Konzept religiöser und/oder nationaljüdischer Erziehung, sondern schuf zu-
gleich subtile und widersprüchliche Formen jüdischen Bewußtseins, mit de-
nen die LehrerInnen anfangs nur schwer umgehen konnten - zumal sie auch
selbst davon betroffen waren. Wie diese Aufgabe dennoch psychologisch
und pädagogisch angemessen bewältigt wurde, soll im folgenden Teil dieser
Arbeit dargestellt werden

35 So etwa bei Peter Gay, der die Weimarer Republik einmal als "Republik der Außen-
seiter" (1989) bezeichnet und dazu auch die hinter dieser Demokratie stehenden jü-
dischen Deutschen zählt, und an anderer Stelle feststellt, daß die Juden der Weimarer
Zeit "in Deutschland zu Hause" (1986, S. 31) gewesen seien. Beide Feststellungen
lassen sich vielfach belegen.

97
4. Geschichte der "Privaten Waldschule Kaliski"
("Private jüdische Schule Kaliski")

Das Jahr 1932

Im Dezember 1931 reiste die 23jährige Lotte Kaliski von ihrem Geburts- und
Studienort Breslau nach Berlin. Aus familiären und persönlichen Gründen
wollte Lotte von ihren Eltern unabhängig werden. Sie war zwar noch einge-
schriebene Mathematikstudentin in ihrer Heimatstadt Breslau, doch beabsich-
tigte sie nicht mehr, das Studium zu Ende zu führen, denn kurz zuvor hatte sie
die Mittelschullehrer-Prüfung absolviert. Nach den damaligen liberalen Be-
stimmungen in Preußen war dazu für Universitäts studenten nach 6 Semestern
kein spezielles Pädagogik-Studium mehr notwendig; Kandidaten mußten
beim Schulkollegium lediglich eine kleinere schriftliche Examensarbeit ein-
reichen. (Vgl. Kaliski, Gespräch 1989)
Es ist anzunehmen, daß Lotte Kaliski nach Berlin gegangen ist, um sich
dort nach Arbeitsmöglichkeiten als Lehrerin umzusehen. Durch den Hinweis
oder die Vermittlung eines Verwandten besuchte sie auch die höhere Wald-
schule an der Heerstraße, von deren pädagogischer Konzeption sie besonders
angetan war, so daß sie spontan beschloß, ebenfalls eine solche "Waldschule"
zu gründen. (Vgl. Kaliski 1983) Daß eine 23jährige Studentin ohne pädagogi-
sche Kenntnisse und Erfahrungen spontan beschließt, eine Reformschule zu
gründen und dies auch wenige Monate später in die Tat umsetzt, erscheint vor
allem aus heutiger Sicht kaum glaublich; auch für damalige Verhältnisse war
eine solche Gründung nicht unbedingt selbstverständlich. Aber es gab ver-
schiedene Faktoren und Motive, die das Unternehmen begünstigt und ihm
zum Durchbruch verholfen haben:
Der administrative Spielraum für Privatschul-Gründungen war in der
Weimarer Republik und speziell in Preußen groß. Der Staat wurde durch
die Privatschulen finanziell entlastet. Es kam häufiger vor, daß als Leh-
rerin ausgebildete Frauen aus der Mittelschicht, vor allem, wenn sie nicht
verheiratet waren, mit einer eigenen Schule oder einer kleinen Schüler-
gruppe ihren Lebensunterhalt bestritten. Lotte Kaliski hatte als Kind
selbst eine solche Schule (Weinhold-Schule) in Breslau besucht. (E.
Steinitz, Gespräch 1989) In Berlin hatten schon mehrere Frauen jüdi-
scher Herkunft Privatschulen gegründet: Anna Pelteson (1898), Luise

99
Zickel (1912) und Toni Lessler (1912).36 Darin mag Lotte Kaliski ermuti-
gende Beispiele gesehen haben.
Auch Persönlichkeitseigenschaften spielten eine maßgebliche Rolle. Ihre
Freundin attestiert ihr "eine ungeheuere Willenskraft - auch heute noch!
Und sie tut, was sie will! Absolut!" (Stephanie Landsberger, Gespräch
1989) Erworben wurden diese Eigenschaften unter anderem in den hart-
näckigen und unablässigen Versuchen von Lotte Kaliski, ihre Polio-
Behinderung, die sie als siebenjähriges Kind im Juli 1915 bekommen
hatte, zu überwinden oder zu kompensieren. Unter dem Druck ihrer Mut-
ter, aber auch mit eigenen Anstrengungen, unterwarf sie sich einem rigo-
rosen körperlichen Training, um ihre Behinderung so weit wie möglich
zu reduzieren.
Zudem fehlten berufliche Alternativen. Im Falle einer Bewerbung an ei-
ner öffentlichen oder auch privaten Schule hätte sie mit aller Wahr-
scheinlichkeit Anfang 1932 sowohl wegen der Wirtschaftskrise als auch
wegen ihrer körperlichen Behinderung kaum Chancen gehabt, eingestellt
zu werden. Da sie aber unbedingt auf eigenen Füßen stehen wollte und
sonst keine gleichwertigen beruflichen Möglichkeiten bestanden, blieb
ihr keine andere Wahl, als mit der Schulgründung ein eigenes Unter-
nehmen zu starten.
Einige glückliche Umstände halfen ihr weiter. Sie konnte zum Beispiel die
Wohnung einer Familienfreundin als "Büro" mit Telefonanschluß benutzen.
Außerdem erhielt sie eine kleine vorgezogene Erbschaft von ihrem Großva-
ter, so daß sie ein Startkapital von 2.000 Mark hatte. (Vgl. Kaliski 1989)
Nachdem der Entschluß zur Schulgründung gefaßt war, waren drei große
Probleme zu lösen: Zunächst mußte ein passendes Schulgebäude gefunden
werden, dann galt es Eltern zu überzeugen, ihre Kinder in die geplante Schu-
le zu schicken, und eine Konzession für den Schulbetrieb mußte erworben
werden. Hier entstand bereits ein ungelöstes Problem, denn Lotte Kaliski er-
innert sich nicht, überhaupt eine Lizenz für ihre Schule beantragt zu haben. 37

36 Vgl. H. Gläser in Wilmersdorf Museum 1992, S. 4ff. Die Schulgründungen waren


dadurch motiviert worden, daß jüdische Lehrerinnen an öffentlichen Schulen vor
1918 kaum eingestellt wurden und in der Weimarer Republik auch wegen der Leh-
rerarbeitslosigkeit geringere Chancen hatten. Auch war die Einrichtung von höheren
Schulen für Mädchen vernachlässigt worden, und jüdische Mädchen, die besonders
stark und zahlreich nach höherer Bildung drängten, fanden häufig keine Schule, die
sie aufnahm, da die wenigen öffentlichen Schulen überfüllt waren und Privatschulen
mit Quoten einen zu hohen Anteil jüdischer Schülerinnen zu verhindern suchten.
Couragierte jüdische Frauen, wie die oben genannten, begannen deshalb eigene
Schulzirkel und Schulen zu gründen, wobei die Behörden sich als einigermaßen tole-
rant erwiesen, da auch sie ein Interesse daran hatten, die Engpässe im öffentlichen
Schulwesen ohne Mehrkosten zu beseitigen, denn staatliche Zuschüsse gab es für
diese Schulen nicht.
37 Gespräch 1989. Lotte Kaliskis Erinnerungen an organisatorische und administrative
Strukturen und Bedingungen der PriWaKi sind meistens lückenhaft. Das liegt auch

100
Wahrscheinlich glaubte sie, daß mit einer Anmeldung bei der Schulaufsicht
(Schulkollegium) und der nachgewiesenen formalen Lehrerinnenqualifikati-
on keine weiteren Bedingungen für die Aufnahme eines privaten Schulbe-
triebs zu erfüllen seien. Schließlich hatte sie auch das Glück, daß ihr der
Sportclub Charlottenburg (SCC) im Eichkamp schnell und unbürokratisch
einige Räume zur Nutzung vermietete, weil ihm wegen der großen Arbeits-
losigkeit seiner Mitglieder finanziell das Wasser bis zum Hals stand. (Vgl.
dazu Forschungsbericht 1992, S. 67)
Nun fehlten nur noch die Schüler. Zu diesem Zweck inserierte Lotte Ka-
liski mehrfach. Am 17. Januar 1932 erschien ihre erste Annonce in der Vos-
si sehen Zeitung.
"Waldschulheim Eichkamp
für Knaben und Mädchen
ab Sexta nach den amt!. Lehrplänen
Schulgeld u. Verpflegung je 30 M. monatl.
Tagesinternat 9-18 Uhr
Gymnastik, Duschen, Höhensonne, Liegeterasse
Individuelle Behandlung
Leiterin: Latte Kaliski
staatl. gepr. Lehrerin (Akademikerin)
Anmeldung für Ostern
11-12 oder nach tel. Vereinbarung
Rankestr. 29 Gths. Bavaria 6754. "
Diese Anzeige wurde mehrfach wiederholt bis zum 27.3.1932. Sie erschien
ebenfalls leicht gekürzt im Berliner Tageblatt in der Zeit vom 31.1.1932 bis
zum 27.3.1932. In jüdischen Zeitungen erschien die Anzeige 1932 jedoch
nicht. 38
Dies belegt, wie auch schon der Text der Anzeige, daß es sich bei der
geplanten Schule anfangs nicht um eine jüdische Schule handeln sollte, we-
der in weltanschaulicher Hinsicht noch in der sozialen Zusammensetzung der
Lehrer- und Schülerschaft.
Das pädagogische Konzept der Schule ist aus den Erinnerungen der
Schulgründerin sowie aus dem Anzeigentext schon rekonstruierbar: Es sollte
eine "Waldschule" sein, d.h. eine Schule mit Naturnähe, die durch die Lage im
Eichkamp gegeben war, denn der Sportclub Charlottenburg lag am Rande eines
größeren Waldgebietes. Die Bezeichnung "Waldschulheim" verweist auf den
programmatischen Kontext mit den Landerziehungsheimen, deren pädagogi-
sche Ideen Lotte Kaliski bekannt waren. (Vgl. Kaliski 1983, 1989)

daran, daß sie die Verwaltung der Schule schon nach kurzer Zeit an H. Selver abge-
geben hat.
38 Durchgesehen für das Jahr 1932 wurden das Gemeindeblatt der jüdischen Gemeinde
zu Berlin, die Mitteilungen der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin, die Jüdisch-li-
berale Zeitung, das Israelitische Familienblatt, die zionistische Jüdische Rundschau
und die C.V.-Zeitung, unter deren Abonnenten wahrscheinlich der größte Teil der jü-
dischen Klientel der geplanten Schule zu suchen war.

101
Lotte Kaliski war aber weniger theoretisch als praktisch orientiert. Dieser
Pragmatismus, zusammen mit ihrer Willensstärke, ließ sie eine Marktlücke
erkennen und nutzen. Es gab (und gibt) hauptsächlich zwei Motive, derent-
wegen Mittelschichtseltern ihre Kinder nicht in öffentliche höhere Schulen,
sondern in Internate und Ganztagsschulen schicken: Dies sind zunächst ein-
mal familiäre Probleme, wie sie zum Beispiel durch die Berufstätigkeit bei-
der Eltern, bei Alleinerziehenden oder durch die Erkrankung eines Elternteils
etc. auftreten. Für diese Eltern ist es eine Entlastung, wenn ihre Kinder ent-
weder ein Internat oder eine Ganztagsschule besuchen.
Das "Tages internat", also die Ganztagsschule, die Lotte Kaliski anbot,
bildete für solche Eltern einen willkommenen Komprorniß. Die Kinder waren
ganztags untergebracht und wurden sinnvoll betreut, waren aber nicht wie bei
einem Internatsaufenthalt dauernd von den Eltern getrennt. Außerdem koste-
te die Unterbringung in einer Ganztagsschule mit anfangs 30 Mark pro Mo-
nat weit weniger als die Unterbringung in einem Internat.
Das zweite Problem, das diese Schule lösen half - und dies wurde mit
"individuelle Behandlung" deutlich genug offeriert -, war die Kompensation
verschiedenartiger Lemschwierigkeiten, die einen Schulerfolg an einer öf-
fentlichen höheren Schule fraglich erscheinen ließen. Es ist an Hand unseres
Materials (Fragebögen, Interviews, Briefe) möglich, bei der großen Mehrheit
der Schülerinnen und Schüler des ältesten Jahrgangs (geboren bis 1921) und
bei der Mehrzahl der interviewten Schülerinnen und Schüler das Vorhanden-
sein des einen und/oder anderen Problems nachzuweisen. Versehen mit dem
Qualitätsmerkmal "Waldschule", also dem Etikett einer modemen Pädago-
gik, war das Unternehmen durchaus marktfähig, zumal es an Konkurrenz noch
fehlte, denn die vergleichbaren anderen Privatschulen waren bis 1933 noch
reine Mädchenschulen. Ähnlich wie bei den Landerziehungsheimen war es die
Mischung von progressiver Pädagogik und praktischen Vorteilen für die ei-
gene Familie und das Kind, die eine Schule wie die PriWaKi für die Eltern
attraktiv machte.
So verwundert es nicht, daß die ersten neugierigen Eltern zur Informati-
on und später zu gemeinsamen Besprechungen in die Wohnung von Frau La-
band in die Rankestraße 29 kamen, wo ihnen Lotte Kaliski das Konzept der
neuen Schule erläuterte. Zweifel der Eltern, ob sie denn als unerfahrene Stu-
dentin den Ansprüchen überhaupt würde gewachsen sein, wischte sie ener-
gisch vom Tisch. (Vgl L.Kaliski, Memories 1983) Wie es scheint, gab es
auch schon vor der Eröffnung der Schule im Eichkamp in der Rankestraße
Unterricht für einige Schüler in Form eines Schulzirkels. (Vgl. Bob Sommer
1989) Jedenfalls konnte Lotte Kaliski zuletzt genügend Eltern zu einer ver-
bindlichen Anmeldung bewegen, so daß die Schule am 7. April 1932 ihr
Schuljahr 1932/33 mit 26 Schülerinnen und Schülern der Klassen Sexta,
Qinta und Quarta beginnen konnte. (L. Kaliski 1983)
Die Schule sollte überkonfessionell und inhaltlich nicht jüdisch geprägt
sein. Aber die Schüler waren von Anfang an zum größten Teil jüdisch; dies
scheint allerdings weder im Unterricht noch unter den Schülern selbst the-

102
matisiert worden zu sein. Die durchschnittliche soziale Zusammensetzung,
die sich allerdings schnell änderte, war für das erste Schuljahr (1932/33)
bzw. bis zum Sommer 1933 ungefähr so: Etwa die Hälfte der Schüler hatte
jüdische Eltern, ein Viertel hatte einen jüdischen Elternteil und ein weiteres
Viertel hatte ausschließlich nichtjüdische Eltern. (Vgl. Fölling 1993, S. 131f.)
Für Lotte Kaliski scheint der Nationalsozialismus noch kein ernstzuneh-
mender Faktor im Zusammenhang mit der Schulgründung gewesen zu sein.
Sie hatte zwar während ihres Studiums Erfahrungen mit dem antisemitischen
Physiker Lenart gemacht, doch bemerkte sie nach eigener Aussage nicht die
drohenden Wolken am politischen Horizont des Jahres 1932.
Die scheinbare oder tatsächliche Unbekümmertheit, mit der Lotte Kaliski
die Schule eröffnet hatte, schien sie zunächst auch noch beibehalten zu ha-
ben, denn sie war nicht unbedingt der Meinung, daß sie sich als Besitzerin
und Leiterin während der Unterrichtszeit ständig in der Schule aufhalten
müßte. Und so kam es, daß der zuständige Stadtschulrat sie bei seinem ersten
(unangemeldeten) Inspektionsbesuch an einem Samstagmorgen dabei er-
wischte, wie sie vorzeitig nach Hause fahren wollte. Darüber zeigte er sich
sehr ungehalten, denn mit seiner preußischen Pflichtauffassung erwartete er
vermutlich, daß eine Schulleiterin nur als letzte die Schule verlassen dürfe.
(Vgl. L. Kaliski, 1983) Lotte Kaliski war damit gewarnt. Außerdem eröffnete
ihr der Schulrat, daß die Konzessionierung der Schule noch ausstehe; ohne
diese könne die Schule nicht weitergeführt werden. Das veranlaßte Lotti Ka-
liski, nach einem fähigen Direktor zu suchen, der ihr die Administrations-
und Organisationsaufgaben abnehmen sollte. Sie fand für diese Aufgaben
durch den Hinweis einer Schülermutter einen bestens geeigneten Mann, der
sich für den Weiterbestand und die Weiterentwicklung der Schule bald als
unentbehrlich erweisen sollte: Dr. Heinrich Selver.
Selver war als Kind mit seinen Eltern vor mehr als einem Vierteljahr-
hundert aus Polen eingewandert und hatte gerade erst die deutsche Staatsbür-
gerschaft erhalten. Er hatte sich bis zum promovierten Germanisten hochge-
arbeitet und war weitgehend assimiliert, obwohl er vor seiner Anstellung an
der Kaliskischule einige Zeit an der zionistischen Theodor-Herzl-Schule ge-
arbeitet hatte. Doch war dies eher eine Verlegenheitsstelle, da er für den hö-
heren Schuldienst trotz Promotion formal nicht hinreichend qualifiziert war.
Die Möglichkeit, die ihm die PriWaKi als eine Mittelschule im Aufbau bot,
erkannte er sofort, und er war gern bereit, die Leitung der Schule zu über-
nehmen. Die "Erlaubnisurkunde", also die Konzession für die Leitung der
Schule, wurde vom Provinzial-Schulkollegium am 14. September 1932 auf
Heinrich Selver ausgestellt. Die Schule erhielt auch offiziell die Bezeichnung
"Private Wald schule Kaliski" bestätigt, doch Lotte Kaliski wurde weitgehend
entmachtet, denn es hieß in der Urkunde: "Der Inhaberin der Anstalt ist es
nicht gestattet, den von ihr beschäftigten Lehrern Weisungen bezüglich ihres
Unterrichts zu erteilen". (Bez. Verw. Zehlendorf, Schul III 23; 14.9.32, LA
Berlin) Auch Einstellungen und Entlassungen von Lehrern durfte sie nur in
Übereinstimmung mit Sei ver durchführen. Da die Konzession mit dem Aus-

103
scheiden Selvers erlöschen sollte, hätte ihn Lotte Kaliski auch nicht entlassen
können. Selver war damit schulintern zum autonomen Direktor geworden. Die
Schülerzahl wurde allerdings auf nur 40 beschränkt; das entsprach in etwa der
Zahl der SchülerInnen, die die PriWaKi im September 1932 hatte. Auch eine
Erweiterung durch "Vorschulklassen" (Grundschüler) wurde untersagt. Es war
deutlich erkennbar, daß die Schule klein gehalten werden sollte.
Die Lehrerschaft scheint um die Jahreswende 1932/33 mindestens zur
Hälfte noch nichtjüdisch gewesen zu sein. (L. Kaliski, Gespräch 1989)

Das Jahr 1933

Die "Machtergreifung" Hitlers am 30. Januar 1933 traf auch die PriWaKi
völlig unvorbereitet und wirkte wie ein Schock. Zunächst waren eher die
Väter und damit die Familien der jüdischen PriWaKi-Schüler betroffen: Ab
dem 1.4.1933 kam es zu einem planmäßigen Boykott jüdischer Geschäfte
und Freiberufler-Praxen (vor allem bei Ärzten und Rechtsanwälten), der den
wirtschaftlichen Niedergang dieser Berufsgruppen und damit ihrer Familien
einleitete. Auch wenn der Erlaß nur die NSDAP-Mitglieder zum Boykott
verpflichtete und die SA-Wachen vor den Geschäften bald wieder abgezogen
wurden, war der Rückgang der Berufs- und Geschäftstätigkeit und damit
auch des Einkommens bei der jüdischen Bevölkerung eingeleitet. Der näch-
ste harte Schlag traf Teile des deutschen Judentums am 7.4.1933 mit dem
"Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns", das die Entlassung
von Beamten durchsetzte, "die nicht arischer Abstammung sind". Ausge-
nommen waren Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg und die Angehörigen von
Gefallenen. (Zit. in Walk, 1981, S. 12)
Damit wurden auch die meisten jüdischen Lehrer, die bisher an nichtjüdi-
schen öffentlichen Schulen unterrichtet hatten, entlassen. Nach einer Meldung
in der Jüdischen Rundschau vom 4.4.1933 hatte zuvor schon der Kommissari-
sche Stadtschulrat sämtliche Berliner Bezirksämter angewiesen, alle "dem Blut
nach jüdischen Lehrkräfte" an den städtischen Schulen sofort zu beurlauben.
Auch an der PriWaKi war die Herrschaft des Nationalsozialismus recht
bald und unmittelbar spürbar. Die gelassene und heitere Stimmung des Jahres
1932, die von Schülern mehrfach erinnert wird, war dahin, als die Schüler
sich auch an der PriWaKi in strammer Haltung Hitler-Reden anhören muß-
ten, weil dies damals noch für alle Schulen vorgeschrieben war. "Wir wußten
überhaupt nicht, was da vor sich ging", meinte einer der älteren Schüler. (W.
Guttmann 1982)
Wenig später wurde einer der nichtjüdischen PriWaKi-Lehrer das erste
Opfer der Nazis:
"Das war ein Herr Kunze, der ganz am Anfang bei der Kaliski-Schule war und ein sehr
guter Lehrer war. Kurz nach der Machtübernahme von Hitler - nach ein oder zwei Wo-
chen - kam er nicht mehr zum Dienst, und wir dachten erst, er wäre krank. Aber dann

104
sprach es sich herum, daß man ihn verhaftet hatte und er wohl im KZ umgekommen ist.
Ich habe nie gehört, was aus ihm geworden ist, aber es war evident, daß er wohl ein
Kommunist war und auf der Verhaftungsliste stand." (Werner Guttman 1990)

Es bewarben sich aber recht bald schon entlassene Lehrer an der PriWaKi.
Einer von ihnen war Max Rackwitz, ein angeblich von der Universität entlas-
sener Sporttherapeut, der im Winter 1933/34 an der PriWaKi angestellt wur-
de. Da er nicht jüdisch war, mußte er 1934 die Schule wieder verlassen. (Vgl.
Bob Sommer, Brief 1990)
Doch nichtjüdische Lehrer waren jetzt leicht zu ersetzen durch jüdische
Lehrer, die aus dem öffentlichen Schuldienst entlassen wurden. Auf diese
Weise gelang es Lotte Kaliski und Heinrich Selver leicht, hervorragend qua-
lifizierte Lehrkräfte einzustellen.
Im wesentlichen vollzog sich der Lehreraustausch schon im Schuljahr
1933/34. Auch jüdische Schüler an nichtjüdischen Schulen erlebten den
Machtwechsel recht bald und hautnah. Sie mußten nicht nur an nationalen
Feiertagen nationalsozialistische und antisemitische Lieder singen und den
Arm zum Hitlergruß heben (vgl. Weiss 1991, S. 91), sondern viele von ihnen
wurden bereits kurz nach der "Machtergreifung" diskriminiert, beschimpft
oder sogar von ihren Mitschülern auf dem Schulhof oder auf dem Nach-
hauseweg verprügelt, wie zum Beispiel der neunjährige Dimitri Hirschberg:
,,Etwa einen Monat später gab es den ersten ,Boykott' [1. April 1933 - W.F.], und wäh-
rend der Schulpause beschlossen ungefähr tausend nichtjüdische Jungen, ihren Patriotis-
mus auf Kosten der sieben jüdischen Mitschüler zu beweisen, während die Lehrer in
Gruppen beieinander standen, sich unterhielten und so taten, als ob sie nichts von dem
bemerkten, was auf dem Schulhof vor sich ging. Zusammen mit dem Sohn eines Kantors
konnte ich zu dessen in der Nähe gelegenem Haus flüchten. Seine Mutter rief dann meine
Mutter an, die dann kam und mich sicher nach Hause brachte." (1982)

Vielen Schülern erging es ähnlich wie Dimitri Hirschberg. Und so verwundert


es nicht, daß sich zahlreiche Eltern bemühten, eine Schule zu finden, die ihren
Kindern eine physische und psychische Sicherheit bot. Neben den bestehenden
öffentlichen jüdischen Schulen der jüdischen Gemeinde boten auch die Privat-
schulen in jüdischem Besitz und unter jüdischer Leitung eine willkommene
Alternative für jüdische Eltern, aber das Angebot jüdischer nichtorthodoxer hö-
herer Schulen war selbst in Berlin 1933 nur sehr schmal; neben dem "Israeli-
tischen Reformrealgymnasium und Oberlyceum" der orthodoxen Austrittsge-
meinde Adass Jisroel, das für die liberale oder gar assimlierte jüdische Eltern-
schaft auch ab 1933 noch nicht in Betracht kam, gab es nur die liberale Mittel-
schule der jüdischen Gemeinde für Knaben und Mädchen (vgl. Weiss 1991, S.
27), was bei weitem nicht ausreichte, um die Bewerber aufzunehmen. Da
gleichzeitig exzellente, zum Teil von Universitäten entlassene Wissenschaftler
und Pädagogen als Lehrer zur Verfügung standen, brauchte sich die PriWaKi
ab Ostern 1933 von der Nachfrage her um ihre Existenz nicht mehr zu sorgen.
Aber die Existenz der Schule wurde von anderer Seite bedroht. Der
Sportclub Charlottenburg geriet schon 1933 mehr und mehr in das Fahrwas-

105
ser des Nationalsozialismus, und es war zu erwarten, daß er eine Schule mit
jüdischer Leitung nicht mehr lange in seinen Räumen dulden würde. Doch
die Kündigung des Mietvertrages erfolgte nicht durch den Sportclub selbst,
sondern durch die Stadt Berlin, die nun ihrerseits einen größeren Teil des Ge-
bäudekomplexes anmietete, um darin das Theodor-Mommsen-Gymnasium
unterzubringen. 39 Es läßt sich nicht nachweisen, daß die Kündigung zu die-
sem Zeitpunkt schon antisemitisch motiviert war. Doch die PriWaKi mußte
sich ein neues Domizil suchen.
Inzwischen wurde der Lehrer- und Schüleraustausch vollzogen. "Ari-
sche" Schüler und Lehrer verließen die PriWaKi, "nichtarische" kamen hin-
ein. Notwendig wurde dies durch den politischen Druck der Nazis, der sich
schon in der Boykottaktion vom April 1933 gewalttätig Ausdruck verschafft
hatte und dann durch ein Dekret des preußischen Kultusministers vom
15.9.1933, wonach ab Ostern 1934 im Zuge der Rassentrennung auch an den
Privatschulen keine "arischen" Kinder mehr von jüdischen Lehrern unterrich-
tet werden durften.4{) Danach dürften zu Ostern 1934 die letzten "arischen"
Lehrer und Schüler die PriWaKi verlassen haben. Einige der nichtjüdischen
Lehrer und Schüler verließen die PriWaKi nur ungern und kamen später noch
einmal zu Besuch, nicht selten in einer SA- oder Hitlerjugend-Uniform. (Vgl.
L. Kaliski 1983)
Wegen der Kündigung des Mietvertrages mußte die PriWaKi Ende Ok-
tober 1933 in die Bismarckalle 37 umziehen, wo die Schule allerdings nur
ein kleines Grundstück hatte und sich die ca. 270 m2 Wohnfläche der ange-
mieteten Villa bald als zu klein für den Schulbetrieb erwiesen. Um die Nach-
barn nicht zu stören, wurden die Schüler zur strikten Disziplin ermahnt. Die
großen Freiheiten, die sie im Eichkamp vor der "Machtergreifung" noch ge-
nossen hatten, waren dahin, wie viele der betroffenen Schüler nachträglich
bedauerten. Außerdem hatte die Schule keine Konzession auf Dauer bekom-
men und mußte im Sommer 1933 einen Antrag auf Neukonzessionierung
stellen, der von der Schulaufsicht lange in der Schwebe gehalten wurde. Die
Schulverwaltung in Berlin war offenbar unsicher, ob sie die Schule weiter
bestehen lassen sollte, und wollte die Entwicklung abwarten. Aus diesem
Grunde schob die PriWaKi die von der Baupolizei verlangten Umbauten vor
sich her. Eine Schließungs verfügung hätte täglich eingehen können; mit die-
ser existentiellen Unsicherheit mußte die Schule leben. 41 Doch gegen Ende
1933 wurde die Konzession verlängert. Der schon erwähnten Erlaubnisur-
kunde wurde folgender Passus hinzugefügt:
"Die Private Waldschule Kaliski ist mit dem 1. Oktober 1933 nach Berlin-Grunewald,
Bismarckallee 35/37 verlegt worden. Die Verlegung wird mit der Maßgabe genehmigt,
daß in die Schule nur Kinder nicht arischer Abstammung aufgenommen werden dürfen.
Der Staatskommissar der Hauptstadt Berlin-Schulabteilung." (A.a.O., ohne Datum)

39 Vgl. H. Selver, Schreiben an den Staatskommissar, 21.8.1936, LA Berlin.


40 Vgl. Zentralblatt für die gesamte Kultusverwaltung in Preußen 1933, S. 250f.
41 Vgl. H. Selver, Schreiben an die Baupolizei vom 8.6.1934, LA Berlin.

106
Damit war die Schule auf dem Weg, jüdisch zu werden, und obwohl noch
keine Auflage bestand, die nichtjüdischen Schüler zu entlassen, dürfte die
PriWaKi nach ihrem Umzug in die Bismarckallee kaum noch jüdische Schü-
ler gehabt haben.
Die Schule wandelte sich auch inhaltlich zu einer jüdischen Schule. Ab-
lesbar ist das unter anderem daran, daß bereits im März 1934 von der Pri-
WaKi das jüdische Purimfest gefeiert wurde, bei dem alle Lehrer und Schüler
mit Kostümen verkleidet waren. Mitten in diese Szenerie hinein platzte der
Schulrat Spanier, der etwas irritiert war über den Mummenschanz, der sich
ihm bot, und der schockierten Schulleitung eröffnete, daß die Schule ge-
schlossen werden solle.
"In jenen Tagen bedurfte es dafür kaum einer Begründung. Heinrich Selver und ich waren
jüdisch, ebenso die meisten Lehrer und Schüler. Das waren genügend Gründe, um uns
etwas unter den Füßen wegzureißen, das unser Lebenswerk werden sollte. Ich weiß nicht
mehr, wie tief enttäuscht wir waren, aber ich erinnere mich noch an die nachfolgenden
Verhandlungen. Erstaunlich war, daß es 1934 überhaupt noch Verhandlungen mit den
zuständigen Behörden geben konnte. Aber ich glaube, daß die Städtischen Schulauf-
sichtsbehörden und auch das Provinzial Schulkollegium noch nicht vom politischen Kli-
ma jener Zeit vergiftet waren. Irgendwie wurde eine Übereinkunft erreicht, wonach das
Lehrpersonal und die Schüler nur noch jüdisch sein durften. Alle nichtjüdischen Schüler
und Lehrer, die noch geblieben waren, mußten sofort entlassen werden. Die Private Wald-
schule Kaliski mußte von nun an auf behördliche Anweisung ,Jüdische Private Waldschu-
le Kaliski' genannt werden.,,42

Man kann also auch nach dieser Aussage davon ausgehen, daß die Schule zu
Ostern 1934 vollständig jüdisch geworden war. Genauer: Sie hatte nur noch
Schüler und Lehrer, bei denen mindestens ein Elternteil jüdischer Abstam-
mung war. Wie es scheint, war die eher konservativ und noch nicht national-
sozialistisch geprägte Schulverwaltung 1933 oft noch unsicher darüber, wie
sie mit den jüdischen höheren Schulen umgehen sollte43 , obwohl für die öf-
fentlichen höheren Schulen bereits am 25.4.1933 ein richtungsweisendes Ge-
setz mit entsprechendem Ausführungsbestimmungen veröffentlicht wurde.
Es handelte sich um das "Gesetz gegen Überfüllung deutscher Schulen und
Hochschulen" (Reichsgesetzblatt I, S. 215) sowie der "Erste(n) Verordnung
zur Durchführung des Gesetzes ..... (Reichsgesetzblatt I, S. 225). Von beson-
derer Bedeutung war § 8 der Durchführungsverordnung, da hier Quoten für
den Besuch höherer Schulen durch jüdische Schüler festgelegt wurden:
"Die Anteilszahl ( ... ) für die Neuaufnahmen wird auf 1,5 von Hundert, die Verhältniszahl
( ... ) für die Herabsetzung der Zahl von Schülern und Studenten auf 5 von Hundert im
Höchstfall festgesetzt."

42 L. Kaliski, Memories 1983, S. 5. In der letzten Aussage irrt sich Lotte Kaliski je-
doch. Die PriWaKi wurde erst Ende 1936 in Private Jüdische Schule Kaliski umbe-
nannt. (S.u.)
43 Vgl. dazu auch Walk 1991, S. 42.

107
Nur 1,5 v.H. der im Schuljahr 1933/34 neu aufgenommenen Schüler durften
also jüdisch sein, sofern der Anteil der jüdischen Schüler an der jeweiligen
Schule nicht mehr als 5 v.H. betrug. Da in Berlin relativ viele Schüler an den
höheren Schulen jüdisch waren, gab es an etwa 25 höheren Schulen wesentlich
mehr als 5 v.H. jüdische Schüler,44 die zum Teil entlassen werden mußten.
Zumindest durften solche Schulen keine jüdischen Schüler neu aufnehmen.
Schüler, die wegen einer zu hohen Verhältniszahl an einzelnen Schulen ent-
lassen wurden, wurden bei einem Schul wechsel unter die Neuaufnahmen ge-
zählt und fielen damit ebenfalls unter die 1,5 v.H. - Quote. Damit war ein ef-
fektives Instrument geschaffen worden, um jüdische Kinder und Jugendliche
von höherer Schul- und Hochschulbildung in Deutschland abzuhalten.
Doch war die Effektivität in der Praxis nicht ganz so groß wie von jüdi-
scher Seite zunächst befürchtet. So wurden Kinder von Frontkämpfern des
Ersten Weltkrieges ebenso von der Quote ausgenommen wie auch nichtdeut-
sche jüdische Schüler - letztere wegen negativer Reaktion des Auslandes.
Außerdem fielen Kinder mit einem "arischen" Elternteil zunächst nicht unter
die Quote. Insgesamt erwies sich der Anteil der so geschützten Kinder auch
in späteren Jahren als erstaunlich hoch. (Vgl. Weiss 1991, S. 109)
Auch scheint 1933 noch eine erhebliche Unsicherheit über die Durchfüh-
rung des Gesetzes bestanden zu haben. Die Quoten von 1,5 v.H. bzw. 5 v.H.
galten nicht nur schulintern für einzelne nichtjüdische Schulen, sondern bezo-
gen sich auch auf die jeweilige Gesamtzahl der jüdischen höheren Schüler in
einer Stadt, wobei die Schüler der jüdischen höheren Schulen miteinbezogen
wurden. Es gab deshalb eine Reihe von Verhandlungen zwischen den Schul-
behörden und der "Reichsvertretung der Juden in Deutschland" mit dem Ziel,
die Bestimmungen im Hinblick auf die jüdischen höheren Schulen zu lok-
kern. 1933 blieb eine definitive Entscheidung noch aus. In der Praxis wurde
so verfahren, daß die Ostern 1933 eingestuften Sextaner größtenteils an den
jüdischen Schulen blieben. (Vgl. Walk 1991, S. 105ff.) Was bedeuteten die
schulpolitischen Maßnahmen und Absichten der Nazis im Jahre 1933 nun für
die PriWaKi?
Quellen darüber, wie die Schulleitung auf das Gesetz gegen die Überfül-
lung reagiert hat, sind nicht vorhanden. Gleichwohl läßt sich einiges rekon-
struieren. Zunächst einmal gab es das Problem, daß die PriWaKi im Mai
1933, als das Gesetz gegen die Überfüllung bekannt wurde, strenggenommen
noch nicht als jüdische Schule anzusehen war, wie wir anhand der Zusam-
mensetzung des ältesten Jahrgangs bereits zeigen konnten. Deshalb hätten die
Quoten, hier vor allem die 5 v.H.-Quote, spätestens zum Beginn des Schul-
jahres 1934 schulintern angewandt werden müssen, was aber wegen der
überwältigenden Mehrheit jüdischer Schüler an dieser formal noch nichtjüdi-
schen Schule faktisch zur Auflösung der Schule geführt hätte.
Dies war ja zunächst auch beabsichtigt, wie der von L. Kaliski geschil-
derte Auftritt des Schulrats Anfang März 1934 deutlich gezeigt hat. Die Schule

44 Vgl. Jüdische Rundschau vom 3.5.1934.

108
konnte auch wegen der zu Ostern 1934 drohenden Anwendung des "Überfül-
lungsgesetzes" nur dadurch gerettet werden, daß sie jüdisch wurde. Hinzu kam
auch der bereits erwähnte Ministerialerlaß, wonach "nichtarische" Privatschul-
leiter und Privatlehrer nur dann noch eine Unterrichtserlaubnis erhalten konn-
ten, wenn der Unterricht ausschließlich an "nichtarische" Kinder erteilt wur-
de. 4S
Aus dem geschickten Umgang des Direktors Dr. Selver mit den Schul-
behörden kann geschlossen werden, daß er die Einschulung der Bewerber für
die Sexta zu Ostern 1933 vorgenommen hat und die weitere Entwicklung
abwartete. Aus einem Schreiben Selvers vom 4.12.1933 (LA Berlin) im Zu-
sammenhang mit der baupolizeilichen Genehmigung des Schulbetriebs in der
Bismarckallee 37 geht hervor, daß die Schule 1933 eine Sexta eingerichtet
hatte und zahlenmäßig weiter expandierte. In dem Schreiben heißt es:
,,1) Die Schule umfaßt gegenwärtig die vier Klassen einer höheren Lehranstalt Sexta bis
Untertertia. Als fünfte Klasse wird ihr Ostern 1934 die Obertertia angegliedert (... )
2) Die Durchschnittszahl der Schüler in jeder Klasse beträgt zur Zeit zwölf, wovon zwei
Drittel Jungen und ein Drittel Mädchen sind."
Aus den Angaben wird ersichtlich, daß die Schule im Dezember 1933 ca. 48
Schüler hatte, womit die genehmigte Zahl von 40 SchülerInnen schon über-
schritten war, was aber von der Schulaufsicht geduldet wurde. Da die Schule
Ostern 1932 mit 26 Schülern begonnen hatte und Ende des Jahres 1932 um
etwa 10 weitere Schüler angewachsen war (vgl. Gerd zu Klampen, Gespräch
1989), kann gefolgert werden, daß Ostern 1933 jede der bereits bestehenden
drei Klassen etwa 12 Schülerinnen und Schüler hatte und eine vierte Klasse,
die neue Sexta, mit ebenfalls etwa 12 Schülerinnen und Schülern Ostern 1933
hinzukam. So errechnet sich der von Selver angegebene Klassendurchschnitt
von zwölf Schülerinnen und Schülern für alle vier Klassen und die Gesamtzahl
von 48 für NovemberlDezember 1933. Ob dabei die Schule Ostern 1933 schon
eine Aufnahmebeschränkung praktiziert hat, wissen wir nicht. Selver spricht
im Dezember 1933 hier jedoch offen über den weiteren Ausbau der Schule
für das Jahr 1934. Er spricht dabei aber - vielleicht aus taktischen Gründen -
nicht von der Neuaufnahme einer Sexta, sondern von der Angliederung einer
Obertertia, obwohl dies keine neue Klasse, sondern die alte Untertertia sein
würde. Wie es scheint, hat sich Selver in Bezug auf die Quoten sowohl
Ostern 1933 als auch Ostern 1934 geschickt durchlaviert.
Der Runderlaß vom September 1933 scheint tatsächlich die Umorientie-
rung der PriWaKi von einer konzeptionell nichtjüdischen zu einer jüdischen
Schule bewirkt zu haben. Dies belegen auch die Inserate, die ab dem
11.10.1933 nunmehr in jüdischen Zeitungen erschienen; zunächst in der c.v.-
Zeitung. Die Schule hieß weiterhin "Private Waldschule Kaliski" und als
Adresse wurde noch die des Sportclubs Charlottenburg angegeben. (Vgl. C.V.-

45 Vgl. Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen, 15.9.1933, S.


250.

109
Zeitung vom 12.10.1933) An gleicher Stelle war das Inserat einer anderen,
zuvor nichtjüdischen Waldschule für Mädchen zu finden: Es handelte sich
um die "Private Waldschule LESSLER Grunewald - bestehend seit 1912".
Die Lessler-Schule war schon weiter ausgebaut als die PriWaKi und verfügte
bereits über eine Grundschule und Lycealklassen von VI (Sexta) bis I (Pri-
ma); ebenso über ein "Tagesheim". Aus dem Anzeigentext geht nicht hervor,
daß sie zu diesem Zeitpunkt schon Jungen aufnahm. Als nichtreligiöse ko-
edukative private jüdische Ganztagsschule war die PriWaKi also in Berlin
um diese Zeit wahrscheinlich noch einmalig.
Am 28.10.1933 teilte der Schulleiter Selver der Baupolizei mit, daß die
Schule sich bereits in der Bismarckalle 37 befinde und beantragte die Ge-
nehmigung für den Schulbetrieb. Im Briefkopf bezeichnete sich die Schule
als "Oberrealschule" und "Reforrnrealgymnasium". Dies war zu diesem Zeit-
punkt etwas hochgestapelt. Die Bezeichnungen wurden im Briefkopf aber
noch bis einschließlich 1935 beibehalten, danach entfielen sie. In den Anzei-
gen wurden diese Bezeichnungen jedoch nicht benutzt; dort nannte die
Schule nicht ihre Schulform, sondern schrieb nur "Klassen ab Sexta". In den
Briefen an die Behörden ist von einer "höheren Lehranstalt" die Rede, für die
Schulaufsicht hatte sie bis Ostern 1937 den Status einer preußischen Mittel-
schule.

Das Jahr 1934

Wie bereits erwähnt, drohte der Schule im März 1934 die Schließung, die nur
dadurch verhindert werden konnte, daß sie sich verpflichtete, bedingungslos
jüdisch zu werden. Wie die Quotenregelungen von 1933 gezeigt hatten, wa-
ren die Nationalsozialisten daran interessiert, vor allem den Anteil der Juden
in den öffentlichen höheren Schulen zu reduzieren. Sie erkannten recht bald,
daß die privaten jüdischen Schulen bei der Ausgrenzung der Juden aus den
öffentlichen Schulen hilfreich sein konnten. 46 Wegen der bestehenden Quoten
war nicht zu befürchten, daß die Anzahl höherer Schüler aus jüdischen Fa-
milien so groß bleiben würde.
Die Schulverwaltung war noch nicht überwiegend von nationalsoziali-
stischen Beamten besetzt. Sie verhielt sich vergleichsweise tolerant gegen-
über den jüdischen Schulen. So wurde auch zu Ostern 1934 nicht mit allen
Mitteln für eine Entlassung von jüdischen Schülern aus öffentlichen höheren
Schulen und schon gar nicht aus jüdischen höheren Schulen gesorgt. Es blie-

46 Dieses Umschwenken in der Politik gegenüber jüdischen höheren Privatschulen


scheint aber auf höherer Ebene, also bei den Ministerialbeamten, erst ab Anfang
1935 stattgefunden zu haben, wie die noch im September 1934 erzwungenen Entlas-
sungen von Sextanern an der orthodoxen Berliner Adass-Jisroel-Schule zeigt. (S.u.)
Die Schulräte erkannten eher die Nützlichkeit der jüdischen höheren Privatschulen
und unterstützten diese, aus weIchen Motiven auch immer.

110
ben deshalb gewisse Spielräume, die von den Leitern jüdischer Schulen ge-
nutzt wurden:
"Noch Anfang 1934 glaubten die jüdischen Direktoren, sich durch das Wirrwarr der ver-
schiedenen selbständig vorgehenden Instanzen (Reich, Länder, Kommunen) erfolgreich
hindurchschlängein zu können, wobei sie auf die mehr oder weniger bewußte Hilfe von
Schulbehörden rechnen durften." (Walk 1991, S.106).
Dies traf auch für die PriWaKi zu. 1934 wurde erneut ein Sextanerjahrgang
aufgenommen. Nach den Erinnerungen einiger Schüler aus dem Jahre 1934
betrug die Anzahl der Schüler zumindest Ende 1934 etwa 100. Außerdem
wurden bereits 1934 einige Grundschüler aufgenommen, ohne daß schon ei-
ne Grundschule genehmigt worden war. (Vgl. I. Forstenzer 1982)
Die Neuaufnahme von Schülern an der PriWaKi hätte zum Schuljahr
1934/35 eigentlich nicht erfolgen dürfen, denn am 4. April 1934 wurde im
Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen ein Erlaß ver-
öffentlicht (ebenda, S. 127), der den mittleren und höheren jüdischen Schu-
len (auch den Privatschulen) eine Neuaufnahme von Schülern für das kom-
mende Schuljahr untersagte. (Vgl. Röcher 1992, S. 55) Es kann aber als si-
cher gelten, daß die PriWaKi sich nicht an diesen "Sperrungserlaß" gehalten
hat und daß der zuständige Schulrat Spanier die Neuaufnahme einer Sexta
geduldet haben muß. 47 Dies galt ebenso für die erstmalige Aufnahme von
Grundschülern; denn erst zu Ostern 1936 wurde die Einrichtung einer Grund-
schule offiziell genehmigt. Es spricht einiges dafür, daß zwischen Spanier
und Selver ein stillschweigendes Einverständnis über die Erweiterung der
Schule auch zu Ostern 1934 bestanden hat. Sollte die PriWaKi weiterbeste-
hen, woran Spanier auch ein administratives Interesse hatte, war sie schon
wegen ihrer geringen Größe auf Zuwachs angewiesen. Spanier scheint zu den
konservativen Beamten gehört zu haben, die sich noch eine relative Hand-
lungsautonomie gegenüber den nationalsozialistischen Funktionären erlaub-
ten. Diese scheint durch die administrative Unübersichtlichkeit der Jahre
1933/34 erleichtert worden zu sein. Der "Sperrungserlaß" wurde im April
1935 rückwirkend aufgehoben. (Vgl. ebenda, S. 96)
Die Zahl der höheren jüdischen Schüler nahm in Deutschland bereits
1934 erkennbar ab. 1932 besuchten noch 21.000 jüdische Schülerinnen und
Schüler eine höhere Schule, davon 3.000 eine jüdische. Anfang 1934 muß
die Zahl jüdischer Schüler an höheren Schulen bereits um einige tausend ge-
ringer gewesen sein, denn 1935 betrug sie nur noch 13.000. Gleichzeitig
hatte sich die Zahl der höheren Schüler an den jüdischen Schulen nur ge-
ringfügig auf etwas über 3.000 erhöht. Insgesamt war also die Zahl der jüdi-
schen höheren Schüler deutlich zurückgegangen, was auf Auswanderung,
Entlassung und auch auf eine Verlagerung in sogenannte Privatzirkel zurück-

47 Andere jüdische Schulen haben Schüler entlassen müssen; so mußten die orthodoxe
Kölner Jawne-Schule Ende April 1934 und auch die orthodoxe "Adaß-Jisroel-
Schule" in Berlin ihre Ostern 1934 eingerichteten Sexten wieder auflösen. (Vgl. Rö-
cher 1992, S. 96)

111
zuführen war, von denen ab 1933 sich viele entwickelten, weil auch die ent-
lassenen und arbeitslosen Lehrer nach Beschäftigungsmöglichkeiten suchten.
Schüler aus solchen Privatzirkeln hatten allerdings keine Möglichkeit mehr,
an öffentliche Schulen zurückzugehen und konnten auch nicht mehr das Ab-
itur machen, da bereits mit Erlaß vom 25.8.1933 durch den Preußischen Mi-
nister für Wissenschaft und Erziehung (Pr.M.Wiss.) verfügt worden war, daß
Externe "nichtarischer" Abstammung künftig zur Reifeprüfung nicht mehr
zuzulassen seien. (Zit. in Walk 1981, S. 48) Vor dem Hintergrund dieser Ent-
wicklung muß auch folgender Erlaß vom 18.4.1934 interpretiert werden:
"Das Gesetz gegen Überfüllung gilt auch für Privatschulen. Jüdische Privatschulen, die
schon bestehen, werden nicht geschlossen, aber es ist darauf zu achten, daß die in dem ge-
nannten Gesetz bestimmte Verhältniszahl jüdischer Schüler (1,5% innerhalb des Schul-
orts) eingehalten wird. Die Eröffnung neuer Judenschulen (außer jüdischen Volksschulen)
ist nicht zu genehmigen ... " (Erlaß d. RMI, zit in Walk 1981, S.77)
Die vom Stadtschulrat Spanier zu Ostern 1934 erzwungene Umwandlung der
Schule in eine jüdische war also gerade noch rechtzeitig gekommen und hatte
die Schule gerettet. Mit diesem Erlaß hatte die PriWaKi darüberhinaus quasi
eine Bestandsgarantie als jüdische Privatschule zumindest auf der Basis na-
tionalsozialistischer Schulpolitik gewonnen.
Eine Bedrohung erwuchs der Schule aber noch 1934 durch einen natio-
nalsozialistischen Nachbarn, der die Schließung der Schule mit allen Mitteln
erzwingen wollte, sich aber gegenüber den Schulbehörden und dem Erzie-
hungsministerium nicht durchsetzen konnte. 48
Die Schülerzahl dürfte im Herbst 1934 ca. 80-100 betragen haben, wenn
man von fünf Mittelstufen-Klassen ausgeht und die neuen Grundschüler hin-
zuzählt. Schon mit einer linearen Hochrechnung (eine neue Sexta sowie Ver-
größerung durch die Grundschüler) mußte die Schule ab Ostern 1935 von
mehr als 100 Schülern ausgehen. In den Inseraten wurde weiterhin das Wald-
schulprogramm, also "Sport, Gymnastik, Gartenbau" angegeben. 49 Allerdings
dürfte sich das kleine Gelände in der Bismarckallee 37 gerade für diese Ak-
tivitäten nicht gut geeignet haben. Auch deshalb begann die Suche nach ei-
nem neuen, größeren Schulgebäude und Grundstück.
Wie bereits erwähnt, wurde die Schule 1934 nicht nur wegen ihrer aus-
schließlich "nichtarischen" Lehrer und Schüler jüdisch, sondern allmählich
auch inhaltlich. Die Purim-Feier Anfang März 1934 ist dafür ein deutliches
Indiz. Das Feiern von Ereignissen aus der langen Geschichte des Judentums
wurde zu einem zentralen Element der PriWaKi-Pädagogik. Da die Feiern
überwiegend mit eigens dafür entworfenen Bühnenstücken begangen wur-
den, war es möglich, auch die kreativen Fähigkeiten der Kinder in Bereichen
wie Schauspiel, Musik und gestaltender Kunst (Bühnenbilder, Kostüme etc.)
zu fördern. Weil die Feste nicht als religiöse Feste im engeren Sinne gefeiert
wurden, konnten Kinder aus assimilierten, religiösen oder auch zionistischen

48 Vgl. dazu Forschungsbericht 1992. S. 96ff.


49 Zum Beispiel in Jüdische Allgemeine Zeitung vom 21.11.1934

112
Elternhäusern ihnen jeweils gemäße Verbindungen und Identifikationen auf-
bauen. Keine Gruppierung wurde also verprellt. Auch in anderen Fächern,
wie Literatur, Geschichte und Religionslehre, wurde das Judentum wesent-
lich stärker thematisiert. Die Emigration scheint aber 1934 noch kein Thema
gewesen zu sein. Hebräisch wurde im Schuljahr 1934/35 eingeführt, aber
noch als Teilfach im Rahmen von Religionslehre. so Gelegentlich war auch
schon vom Zionismus die Rede. sl

Das Jahr 1935

Die Suche nach einem Gebäude mit einem größeren Grundstück schien zu-
nächst erfolgreich zu verlaufen, denn aus einem Schreiben des Schulleiters
am 7.3.1935 an die Aufsichtsbehörden geht hervor, daß die PriWaKi in den
Osterferien 1935 in die Heerstr. 85 umziehen wollte. Doch aus unbekannten
Gründen zerschlug sich diese Möglichkeit, und die Schule mußte weiter in
der Bismarckalle 37 bleiben, obwohl sie ab Ostern 1935 wie erwartet an
Schülerzahl zunahm.
Erst im Oktober 1935 hatte die Schule endlich eine realistische Aussicht
auf ein geeignetes Gebäude im Grunewald, Delbrückstr. 6A. Sie schloß mit
der Besitzerin Lucia Ephraimson, der Mutter der PriWaKi-Schüler Hans und
Max Ephraimson, einen Mietvertrag zum 1. Januar 1936 ab. Pikanterweise
war aber das Gebäude vom "Staatssicherheitsdienst" (SD) bewohnt, der dort
die Schulung von SS-Angehörigen betrieb. Der SD hatte den erzwungenen
Mietvertrag zum 1. Januar gekündigt, so daß Frau Ephraimson froh gewesen
sein wird, es an die jüdische Privatschule ihres Sohnes Max weitervermieten
zu können. (Vgl. Ephraimson-Abt 1991)
Damit eröffnete sich für die PriWaKi endlich eine gute Perspektive, denn
die innere Entwicklung der Schule machte Fortschritte. Dies geht aus einem
Antrag hervor, den Selver am 30.10.1935 an die Baupolizei richtete. Darin
suchte er um Genehmigung für den Schulbetrieb in der Delbrückstraße nach.
In dem Schreiben heißt es unter anderem:
"Unsere Schule gehört zu den privaten mittleren oder höheren Schulen; sie unterrichtet im
Pensum der entsprechenden öffentlichen Anstalten."
"Die Schule benötigt zur Zeit für Unterrichtszwecke sechs Klassen; sie sieht indes-
sen in dem neuen Grundstück und zwar spätestens ab Ostern 1936 die Verwendung von
zehn Klassenräumen vor, da uns erstens der weitere Ausbau der Abschlußklasse Un-
tersecunda genehmigt ist, und da wir zweitens für die Schüler zwischen 10 und 14 Jahren
3 - 4 Parallelklassen einzurichten gedenken."
"Die Schule umfaßt zur Zeit ca. 120 Schüler im Alter von 10 bis 15 Jahren, der eine
Gruppe von 15 Schülern im Alter von 8 bis 10 Jahren angeschlossen ist." (Selver, 30.10.
1935, LA Berlin)

50 Vgl. Zeugnisse des Schuljahres 1934/35 von P. Landsberg.


51 Vgl. Gespräche mit L. Ithai u. H. Neumann 1990.

113
Zur Situation der PriWaKi läßt sich aus diesem Schreiben folgendes entneh-
men:
Die Schule war immer noch eine Mittelschule (und unterlag weiter der Schulaufsicht
von Spanier, der für die Volks- und Mittelschulen zuständig war).
Die Schule hat zu Ostern 1936 die Genehmigung für die Einrichtung einer Oberse-
kunda erhalten und war damit auf dem Weg zu einer vollwertigen höheren Schule.
Für den ersten Abschlußjahrgang der Mittelschule zu Ostern 1936 eröffnete sich
damit eine weitergehende Perspektive.
Die Schülerzahl war inzwischen auf 120 Schülerinnen und Schüler in den Klassen
Sexta bis Untersekunda angewachsen; auch Ostern 1935 war also eine neue Sexta
eingeschult worden, obwohl immer noch die 1,5 v.H.-Quote für Neuaufnahmen galt.
Die durchschnittliche Klassenfrequenz war auf 20 gestiegen, was vermutlich auch
auf Einsteiger in höheren Klassen zurückzuführen war.
Die Grundschulgruppe gab es weiterhin, sie war inzwischen auf 15 angewachsen.
Aus Altersangaben (acht bis zehn Jahre) ist zu entnehmen, daß es sich um ein drittes
und viertes Schuljahr handelte. Eine offizielle Institutionalisierung war immer noch
nicht erfolgt. 52
Die Schule hatte die Absicht, durch Einrichtung von Parallelklassen in der Mittelstu-
fe ab Ostern 1936 kräftig zu expandieren.
Wodurch war eine solch kräftige Expansion und die Aussicht auf eine weite-
re deutliche Vergrößerung der Schule ab Ostern 1936 möglich geworden?
Zur Erklärung muß die Entwicklung der nationalsozialistischen Rassen- und
Schulpolitik des Jahres 1935 herangezogen werden. 1935 war das Jahr der
"Nürnberger Gesetze"; d.h., daß die "Rassentrennung" und damit die Aus-
grenzung der Juden aus der deutschen Gesellschaft weiter vorangetrieben
wurde. Dies war der eigentliche Grund für das Anwachsen und das pädago-
gische Aufblühen des jüdischen Schulwesens und auch der PriWaKi. Man
darf also nicht vergessen, daß die gesamte, scheinbar positive Entwicklung
für die jüdischen Schulen und auch für die PriWaKi letztlich nur möglich war
auf Grund der Ausgrenzung, die ihrerseits auf Vertreibung und ab 1941 auf
die Vernichtung der Juden hinauslief. Letzteres wußte man natürlich noch
nicht, denn sonst hätten Funktionäre und Repräsentanten des deutschen Ju-
dentums, insbesondere die Zionisten, an der Ausgrenzung nicht auch positive
Aspekte gesehen. (Vgl. Walk 1991, S. 58)
Am 15.9.1935 wurden das "Reichsbürgergesetz" und das "Gesetz zum
Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" veröffentlicht (Reichs-
gesetzblatt I, S. 1146f.), die den bisherigen Gipfel der Ausgrenzung und ras-
sistischen Diskriminierung darstellten. Menschen jüdischer Abstammung
konnten keine Reichsbürger und damit keine "Träger politischer Rechte"
mehr sein. Eheschließungen und außerehelicher Verkehr zwischen Juden und
"Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes" wurden verboten;
bei Zuwiderhandlung drohte Zuchthaus! Auch wenn sich durch diese Gesetze

52 Die Grundschulgruppen scheinen für die PriWaKi im Sinne der früheren gymna-
sialen Vorschulen als Nachwuchsreservoir gedient zu haben. Von einer wohlwol-
lenden Duldung der Schulaufsicht zu diesen Zeitpunkt konnte Selver weiterhin aus-
gehen, da er für Ostern 1936 die behördliche Genehmigung beantragt hatte.

114
im Alltagsleben der meisten deutschen Juden nicht solch unmittelbare Ver-
änderungen ergaben wie etwa durch die Entlassung oder die Boykottmaß-
nahmen im April 1933, so waren die psychologischen Auswirkungen gravie-
rend, denn diese Gesetze bedeuteten die Entrechtlichung und Entmündigung
als Bürger und verletzten das Ehrgefühl gerade der gebildeten und assimi-
lierten deutschen Juden zutiefst. Auch in diesen Kreisen, die ja in den jüdi-
schen Gemeinden und in der "Reichsvertretung" die Politik maßgeblich be-
stimmten, mußte man nun allmählich erkennen, daß Juden in Deutschland
keine Zukunft mehr haben würden. Bislang war deren Politik noch überwie-
gend auf das Bleiben und Ausharren in Deutschland ausgerichtet gewesen.
Mit einer zeitlichen Verzögerung von etwa einem Jahr wurde die sich
nunmehr abzeichnende Notwendigkeit der Emigration schrittweise auch in
den nichtzionistischen Schulen wie der PriWaKi pädagogisch berücksichtigt
(1936/37). Zeitgleich und im Zusammenhang mit dem Reichsbürgergesetz
gab es am 10.9.1935 einen Erlaß des Erziehungsministers Rust (zit. in Walk
1981, S. 126), der eine Anweisung zur Durchführung der "Rassentrennung"
an Volksschulen ab Ostern 1936 enthielt. Es war vermutlich dieser Erlaß, der
den PriWaKi-Schulleiter dazu gebracht hat, die bis dahin nur informell exi-
stierende "Vorschule" der PriWaKi zu Ostern 1936 als eine vollständige
Grundschule auch offiziell einzurichten. Von einer Genehmigung seines An-
trags konnte er unter diesen Umständen ausgehen. 53 Am 20.9.1935 warnte
das Erziehungsministerium sogar die Kommunen davor, den jüdischen Schu-
len die finanzielle Unterstützung zu entziehen, da diese sonst vielleicht
schließen müßten. (Vgl. Walk 1991, S. 131) Dies zeigt, wie stark das Interes-
se der Nationalsozialisten an einem eigenständigen jüdischen Schulwesen in-
zwischen geworden war. Am 30.9.1935 gab das Erziehungsministerium ei-
nen Erlaß heraus, in dem die Gewährung von Staatszuschüssen an jüdische
Privatschulen gestattet wurde, da inzwischen viele jüdische Schüler von den
öffentlichen auf private Schulen übergewechselt seien und die wirtschaftliche
Lage der Juden in Deutschland sich erheblich verschlechtert habe. Auch dies
unterstreicht auch noch einmal sehr deutlich die Richtung der nationalsoziali-
stischen Schulpolitik Ende 1935. Doch die PriWaKi war nicht Nutznießer
dieses Erlasses, denn sie erhielt weder staatliche Zuschüsse noch solche der
jüdischen Gemeinde oder der "Reichsvertretung".54 Am 5.3.1935 gab es ei-
nen Erlaß, der die "Neuaufnahme nichtarischer Schüler an mittleren und hö-
heren Lehranstalten" regelte, wobei die alte 1,5%-Quote noch einmal bestä-
tigt wurde:
"Höhere und mittlere Lehranstalten für jüdische Schüler dürfen nicht mehr neue Schüler
als ein Prozent der im Vorjahr am Schulort insgesamt neuaufgenommenen Schülerzahl
aufnehmen. Kinder von Frontkämpfern und Ausländern fallen nicht unter die Aufnahme-

53 Die Beschulung jüdischer Kinder an öffentlichen Volksschulen blieb aber bis 1939
staatlich garantiert.
54 VgI.J. Walk, Brief vom 6.5.1990.

115
zahlen. Die Aufnahmezahl für die jüdischen Schulen ist auf die nichtarischen Schüler an
den allgemeinen Schulen (nicht mehr als 1,5% am Schulort) anzurechnen.,,55
Aber 1935 scheint diese Quote schon kein Hindernis mehr gewesen zu sein.
Zur Erinnerung: Im Schuljahr 1935/36 gab es nur noch 13.000 jüdische hö-
here Schüler, von denen inzwischen 3500 eine jüdische Schule besuchten.
Das bedeutet, daß ganz im Sinne der nationalsozialistischen Schulpolitik die
Zahl der jüdischen Schüler an höheren Schulen drastisch abgenommen hatte.
An privaten jüdischen höheren Schulen war sie nur wenig gestiegen, da dort
keine entscheidende Erweiterung der Kapazität stattgefunden hatte. Nach wie
vor war auch der Anteil der Ausnahme-Schüler (Kinder von Frontkämpfern,
Ausländer) groß. Dies galt auch für die PriWaKi.
Ein bemerkenswertes Ereignis, das belegt, wie wohlwollend Ministerium
und städtische Schulaufsicht dem Ausbau auch der höheren jüdischen Schu-
len inzwischen gesonnen waren, war die Neugründung der privaten jüdischen
Goldschmidt-Schule, die von Anfang an über alle Schulstufen einschließlich
einer Oberstufe verfügte und damit schon in ihrem Gründungsjahr 1935
weiter ausgebaut war als die PriWaKi, die erst einmal nur die Genehmigung
für die Einrichtung einer Obersekunda ab Ostern 1936 erhalten hatte. 56
Obwohl die Existenz und die Erweiterung der PriWaKi den schulpoliti-
schen Zielen des nationalsozialistischen Erziehungsministers entsprach, war
die Schule auch 1935 bedroht. Die nationalsozialistisch eingestellte Nachbar-
schaft in der Bismarckallee wollte die ihr mißliebige Schule immer noch zur
Schließung zwingen, blieb jedoch 1935 insgesamt ohne Erfolg.
Ein anderes Ereignis hätte jedoch leicht das "Aus" für die PriWaKi be-
deuten können. Es wird von Lotte Kaliski in ihren Memories (1983) geschil-
dert. Danach soll an der Schule ein Lehrer namens Neumann beschäftigt ge-
wesen sein, der in dem Verdacht stand, kein Jude, aber ein Spion der Nazis
zu sein. Eines Tages wurden Lotte Kaliski und Heinrich Selver zur Gestapo
bestellt und verhört. Man warf ihnen vor, in der PriWaKi hätten Kinder auf
einer Hakenkreuzfahne herumgetreten. Kaliski und Selver konnten diese
Vorwürfe offenbar entkräften und wurden entlassen. Als sie erleichtert hin-
ausgingen, sahen sie auf dem Flur des Gestapohauptquartiers den Spion
Neumann. Es entspann sich eine Prügelei zwischen Selver und diesem Spion,
die seltsamerweise für die Schule ohne Konsequenzen blieb. Von wahr-

55 RMfWEV, Erlaß v. 5.3.1935, DWEV 1937, S.347.


56 Möglicherweise galt die Goldschrnidt-Schule der Schulaufsicht als das solidere Un-
ternehmen, da sie durch den Ehemann der Gründerin, einem Rechtsanwalt und No-
tar, besser gegenüber den Behörden abgesichert war und in der Person von Frau Dr.
Goldschmidt auch über eine formal qualifizierte Gymnasiallehrerin als Direktorin
verfügte, während die Kaliski-Schule "nur" von zwei Mittelschullehrern geleitet
wurde, von denen der Konzessions-Inhaber (Selver) nach seiner Ausbürgerung nicht
einmal mehr deutscher Staatsbürger war, was auch den Entzug des Unterrichtser-
laubnischeins möglich gemacht hätte. Doch dies lag nicht im Interesse der Schulauf-
sicht.

116
scheinlieh demselben Ereignis gibt es auch eine andere Version, die von der
Schülerin Hanni Stein so berichtet wird:
"Wir hatten mal einen Lehrer, ich weiß nicht wie er hieß, der hat mit Kindern zusammen
auf einer jüdischen Flagge rumgetreten - in der jüdischen Schule hat er was Antisemiti-
sches gemacht - ein Lehrer! Der ist dann geflogen, aber ich weiß nicht mehr, wer das
war." (Hanni Neumann, Gespräch 1990)
Es ist nicht möglich, anhand von anderen mündlichen oder gar schriftlichen
Quellen eine dieser beiden Schilderungen zu verifizieren. Die unterschied-
lichen Darstellungen zeigen jedoch, daß bei der Erinnerung auch viel Psycho-
logisches mitspielt. Tatsache bleibt jedoch, daß solche Zwischenfälle, die
leicht das Ende der PriWaKi hätten bedeuten können, das Gefühl der Bedro-
hung erhöhten, auch wenn sich die Schulleiter Kaliski und Selver offenbar
mit Erfolg bemühten, Bedrohungen der Schule möglichst persönlich aufzu-
fangen und abzuwenden, um das Schulklima nicht zu belasten.
Auch ein zweites Ereignis Ende 1935 zeigte der PriWaKi, daß sie trotz
aller schul politischen Konformität immer dann in ihren Rechten ungeschützt
war, wenn sie mit zentralen Interessen des nationalsozialistischen Gewaltap-
parates kollidierte. Im Dezember 1935 wurde der Schule völlig überraschend
eröffnet, daß der Staatssicherheitsdienst das für den 1.1.1936 angemietete
Gebäude in der Delbrückstraße 6A nicht freigeben wollte. 57 Die Schule war
also im Dezember 1935 in einer äußerst verzwickten Situation. Sie mußte, da
sie zum Schuljahresbeginn Ostern 1936 vollends aus allen Nähten platzen
würde, unbedingt ein neues, größeres Gebäude finden.
Im Schulcurriculum wurde die Orientierung am Judentum, die bereits
1934 eingesetzt hatte, verstärkt ausgebaut. Insbesondere die jüdischen Feste
wurden immer aufwendiger vorbereitet und mit der Schulgemeinschaft ge-
feiert. Auch der Zionismus scheint stärker thematisiert worden zu sein. Der
PriWaKi-Schüler Gunther Stent erinnert sich, daß er in diesem Jahr als Elf-
jähriger das Buch "Autoemanzipation" von Leon Pinsker an der PriWaKi ge-
lesen hat. In diesem 1882 erstmals erschienenen Buch wurde die zionistische
Thematik bereits vorweggenommen. Zum Jahresende (Chanukka-Fest) wur-
de das vom späteren Direktor Paul Jacob geschriebene und inszenierte Stück
"Die blinden Passagiere" aufgeführt. 58 Doch darf nicht der falsche Schluß ge-
zogen werden, daß die Schule inzwischen schon zionistisch geworden wäre.
Zionismus wurde an der PriWaKi, wie bereits erwähnt, auch schon früher
thematisiert, aber sie blieb im Kern eine liberale Schule für Nichtzionisten;
doch einige Lehrer begannen bereits, zionistische Ideen stärker zu thematisie-
ren.

57 Statt dessen wurde die Besitzerin 1938 gezwungen, es an die SS zu verkaufen. Der oh-
nehin niedrige Preis wurde von der SS nie bezahlt. Vgl. Hans Ephraimson-Abt 1991.
58 Thema des Stückes war die phantastische Reise einer Schülergruppe nach Palästina,
auf der sie diverse Abenteuer erlebte. Das Stück enthielt schon zionistische Motive.

117
Hebräisch wurde ab 1935 als ein eigenständiges Fach an der PriWaKi
eingeführt; in diesem Jahr wurde auch der Hebräischlehrer Fritz Kost zur
Verstärkung eingestellt. (Vgl. Fritz Kost 1989)
Die Vorbereitung auf die Emigration hingegen war bis einschließlich
1935 noch kein ausgebautes Programm an der PriWaKi, obgleich den mo-
dernen Fremdsprachen in der Praxis dieser Schule immer ein hoher Stellen-
wert zukam, was manche Kinder auch veranlaßte, sich gegen den Hebräisch-
Unterricht zu sperren, da zumindest schon absehbar war, daß die Zukunft
eher in einem englisch- oder vielleicht auch französischsprachigen Land lie-
gen würde. Fast jeder der Schüler hatte innerhalb seines Bekannten- oder
Verwandtenkreises jemanden, der schon emigriert war oder an die Emigrati-
on dachte. Insofern war die Notwendigkeit oder Möglichkeit einer Emigrati-
on um diese Zeit sicher schon im Bewußtsein vieler Eltern und Schüler. Aber
ein schulisches Programm ist daraus 1935 nicht mehr geworden.

Das Jahr 1936

Anfang 1936 muß der äußere Druck, der auf der Schule lastete, besonders
groß gewesen sein, da das Gebäude in der Bismarckallee nicht nur wegen der
Beschwerden der Nachbarn, sondern auch im Hinblick auf die zahlreichen
Neuanmeldungen und die geplante Erweiterung um vier Klassen viel zu klein
und die gute Alternative in der DelbfÜckstraße 6A nun endgültig durch die
SS-Willkür zerstört war. Doch die PriWaKi hatte Glück im Unglück. Ihr ge-
lang es, eine große Villa in Dahlem, Im Dol 2-6, anzumieten. Das Gebäude
hatte 670 m 2 Wohnfläche und lag in einem fast parkähnlichen Gelände mit
Schwimmbad. Es war geradezu ideal für die wachsende Schule. Die Besitze-
rin war eine jüdische Witwe, die in London lebte, und die Villa hatte bisher
leergestanden. Auch der Schulweg war günstig, wie aus einer Annonce her-
vorgeht, die am 30.1.1936 in C.V.-Zeitung erschien. Es wird auf den nahe-
liegenden U-Bahnhof Podbielski-Allee hingewiesen sowie auf die gute Bus-
verbindung.
Der Umzug war von Lehrern und Schülern schon herbeigesehnt worden
und wurde richtiggehend gefeiert. (Vgl. Fölling 1993, S. 150f.)
Die Schülerzahl muß 1936 geradezu explosionsartig angewachsen sein,
denn in einem Schreiben des Stadtpräsidenten der Reichshauptstadt Berlin an
das Erziehungsministerium (22.9.1937) werden Zahlen für den Februar 1937,
also noch für das Schuljahr 1936/37 genannt:
"Die Schule wies im Februar d. Js. [1937 - W.F.] in vier Grundschulklassen 84 und in
neun höheren Klassen von VIa bis VII 236, zusammen 320 Schüler - 218 Knaben, 102
Mädchen - nach." (ZStA Potsdam)

118
Die Ende 1935 für Ostern 1936 formulierten Absichten auf Schulerweiterung
konnten also voll umgesetzt werden, insbesondere auch die Etablierung einer
Grundschule mit vier Jahrgangsklassen.
Ostern 1936 erwarb die älteste Klasse, die Ostern 1932 als Quarta einge-
schult worden war, mit der Beendigung des zehnten Schuljahres und der Ver-
setzung von Untersekunda nach Obersekunda den qualifizierten Abschluß
der Mittelstufe (Mittlere Reife) und wurde deshalb auch ,,Abschlußjahrgang"
genannt. Die - allerdings sehr kleine - Klasse ging mehrheitlich in die Ober-
sekunda über; eine Genehmigung hatte die Schule inzwischen ja erhalten, wie
aus dem bereits zitierten Schreiben von SeI ver hervorgeht. Die Klasse be-
gann zunächst mit dem Lernprogramm der Obersekunda; das angestrebte
Oberstufen-Ziel war das deutsche Abitur. Dafür lag allerdings zu diesem
Zeitpunkt noch keine Genehmigung vor. Doch erschien das deutsche Abitur
als Abschluß der Oberstufe im Verlauf des Schuljahres 1936/37 einem Teil
der Schüler immer zweifelhafter, da an ein Studium an einer deutschen Uni-
versität ohnehin nicht mehr zu denken war und ein Teil der Schülerinnen und
Schüler andere, nichtakademische Berufsziele hatte oder ins Ausland emi-
grieren wollte. Im Verlauf des Jahres 1936 kam es deshalb zu einer Motivati-
onskrise in der Obersekunda der PriWaKi.
Als entweder durch ein Zeitungsinserat oder auch nur durch ein Gerücht
bekannt wurde, eine der anderen jüdischen Privatschulens9 biete die Mög-
lichkeit zur englischen Reifeprüfung, verließ die Klasse (wahrscheinlich im
Herbst 1936) die PriWaKi und ging vorübergehend zu der anderen Schule.
Als sich jedoch herausstellte, daß dort auch noch keine Genehmigung vorlag,
gingen sie wieder an die PriWaKi zurück und erhielten dann eine Einladung,
für einige Monate als Gastschüler eine englische Internatsschule zu besu-
chen. Sie nahmen die Einladung an und gingen Anfang 1937 bis etwa April
1937 nach Cambridge. 60 Diese Ereignisse führten dazu, daß die englische
Reifeprüfung als Wahlmöglichkeit im Rahmen der Oberstufe zum Schuljahr
1937/38 festgelegt wurde. Diese Umorientierung von der deutschen zur eng-
lischen und auch zur amerikanischen Hochschulreife macht deutlich, daß
nunmehr auch die Erziehung zur Emigration, deren Notwendigkeit sich mit
der Veröffentlichung des rassistischen Reichsbürgergesetzes vom September
1935 mehr und mehr herauskristallisiert hatte, mit konkreten pädagogischen
Maßnahmen in Angriff genommen wurde.
Dies drückte sich auch darin aus, daß Elemente der Waldschul- und Re-
formpädagogik, die die körperlichen und praktischen Tätigkeiten (z.B. Gar-
tenarbeit) im Rahmen des Nachmittagsunterrichts betonten, nunmehr zu ei-
nem Programm "praktischer Übungen" verdichtet wurden. Die Kinder lern-

59 Nach Auskunft einer der beteiligten Schülerinnen war es die Lessler-Schule. Vgl.
Hanni Neumann, Gespräch 1990. Auch die Goldschrnidt-Schule hat sich mög-
licherweise noch vor der PriWaKi um die Zulassung zur englischen Reifeprüfung
bemüht.
60 Vgl. Gespräche mit L. Ithai u. H. Neumann 1990.

119
ten ,,Fensterputzen, Kakao kochen, ein Spiegelei machen, ein Fahrrad repa-
rieren" (L. Ithai, Gespräch 1990) und sollten damit auf eine ungewisse Zu-
kunft vorbereitet werden.
Hebräisch war als Unterrichtsfach 1936 unter den Lehrern nicht mehr um-
stritten. Es gab an der PriWaKi inzwischen mindestens zwei Hebräisch-Leh-
rer: Kost und Kuttner. Allerdings war Hebräisch nicht unbedingt bei allen
Schülern beliebt, vor allem dann nicht, wenn die Eltern längst die Auswande-
rung nach England oder in die USA beschlossen hatten.
Jüdische Elemente wurden auch verstärkt in Fächern wie Geschichte und
Deutsch (Literatur) aufgenommen, wobei Selver immer darauf achtete, daß
eine gewisse Ausgewogenheit beibehalten wurde. (Vgl. L. Ithai, 1990) Auch
die Palästinaorientierung spielte 1936 weiter eine Rolle, doch noch nicht im
Sinne einer ge zielten zionistischen Erziehung. (Vgl. S. Kneller, 1989)
Allgemein läßt sich sagen, daß 1936 das Jahr war, in dem an der Pri-
WaKi die Notwendigkeit erkannt wurde, für die Emigration zu erziehen und
auszubilden. Die Umsetzung in den Lehrplänen erfolgte zum größten Teil
aber erst ab 1937.
Das Bekenntnis zum Judentum scheint auch 1936 noch nicht ganz ohne
ambivalente Züge gewesen zu sein, denn am 3. September 1936 stand im Is-
raelitischen Familienblatt eine Anzeige der PriWaKi, in der sie immer noch
als "Private Waldschule Kaliski" firmierte und noch nicht als jüdische Schu-
le. In der Anzeige werden Klassen von Sexta bis Obersekunda sowie eine
Grund- und Volksschule ausgewiesen. Auch ist von "fremdsprachiger Kon-
version", aber noch nicht von einer englischen Examensvorbereitung die Re-
de. Ausdrücklich erwähnt werden auch "Werkarbeit, Gartenarbeit, Sport".
Obwohl sich also die Schule im Hinblick auf Schülerzahlen und Klassen
sowie auch curricular sehr zufriedenstellend und erfolgreich entwickelte,
blieb sie doch nicht von Kritik auch aus jüdischen Kreisen verschont. Im Jahr
1936 entwickelte sich nämlich eine Diskussion um das Für und Wider jüdi-
scher Privatschulen. An dieser Diskussion hat sich auch der PriWaKi-
Schulleiter Selver beteiligt. Die Kritik kam aus den Reihen der jüdischen Ge-
meinde und des Schulausschusses der "Reichsvertretung", also von etablier-
ten Kreisen des deutschen Judentums. Einer ihrer Sprecher, L. Schutz, veröf-
fentlichte im "Israelitischen Familienblatt" vom 26.11.1936 einen Artikel mit
der Überschrift "Gemeindeschule oder Privatschule?". In diesem Artikel be-
dauert der Autor zunächst, daß es trotz aller Probleme immer noch keine jü-
dische Gemeinschaft in Deutschland gebe, sondern nur jüdische "Gemein-
den, Vereine, Gesellschaften, Clubs usw." Dementsprechend uneinheitlich
sei auch das jüdische Schulwesen gestaltet. Nur in den Schulen der jüdischen
Gemeinde werde auf ein gemeinschaftliches Judentum hin erzogen. Bei den
jüdischen Privatschulen hingegen sieht Schutz "eine Verschwommenheit ih-
rer geistigen Gestalt", die "Gefahr eines Abgleitens ins rein Materielle" und
verlangt "eine mehr einheitliche Führung und Beaufsichtigung der Privat-
schulen im Sinne der zu schaffenden jüdischen Gemeinschaft in Deutsch-

120
land". In der jüdischen Gemeinde sieht er die "berufene Aufsichtsbehörde für
sämtliche jüdische Schulen".
Der "Privatschulleiter" Selver parierte diesen Angriff an gleicher Stelle.
(Ebd.) Einleitend konstatiert er:
"Jüdische Gemeinde - und Privatschulen stehen nicht im Verhältnis der Konkurrenz zu-
einander, leider auch nicht im Verhältnis bewußter und organisatorisch durchgebildeter
Zusammenarbeit an einer gemeinsamen Aufgabe. Diese Zusammenarbeit fehlt bereits den
Privatschulen untereinander, sie fehlt erst recht mit dem Schulwerk der Gemeinde."
Dann kommt Selver jedoch auf den Kern des Vorwurfs zu sprechen. Er wi-
derspricht der Unterstellung, Privatschulen seien ein großes Geschäft und
verweist auf die hohen Investitionen und auf die Unsicherheit und das Risiko,
die "der jüdische Schulunternehmer" zu tragen habe. Wenn eine Schule pri-
vat geführt werde, so das marktwirtschaftliche Argument, könne sie sich nur
halten, wenn sie eine gute Schule sei. Würde sie sich hingegen "dem Zerrbild
einer ,Juden schule , nähern", sei das ihr materieller Tod. Er läßt jedoch kei-
nen Zweifel daran, daß auch die Privatschulen jüdische Schulen seien, in de-
nen die Kinder zur jüdischen Bildung und Gesinnung geführt würden. Insbe-
sondere aber lobt Selver die Lehrer an den Privatschulen als besonders quali-
fizierte und engagierte Erzieher, gerade auch bei der "Behandlung jüdischer
Erziehungsfragen". Ihr Engagement werde dadurch, daß sie keine Beamte
seien, eher gefördert. Zugleich bedauert er, daß seine wiederholten Bestre-
bungen zur Zusammenarbeit mit der jüdischen Gemeinde und der Reichsver-
tretung "zu keinem praktischen Erfolg" geführt hätten. Er appelliert an die
Reichsvertretung, eine Führungsrolle bei der Zusammenarbeit und dem Zu-
sammenschluß aller jüdischen Schulen - auch der privaten - zu übernehmen,
damit "ein Organ entsteht, welches die Autorität hat, aus einer Gesamtverant-
wortung heraus zu prüfen, zu fordern, zu bestimmen." (H. Selver 1936)
Aus der gesamten Auseinandersetzung wird deutlich, daß das jüdische
Schulwesen noch Ende 1936 nicht nur pluralistisch gestaltet, sondern auch
noch durch Konkurrenz und schulpolitische Auseinandersetzungen bestimmt
war. Diese Auseinandersetzungen gab es von 1933 bis 1938. Sie belegen,
daß der Ernst der Lage bis zum Novemberpogrom noch nicht richtig begrif-
fen wurde. (Vgl. Weiss 1991, S. 65ff.)
Vom Schulausschuß der Reichsvertretung wurden Koordinations- und
Richtlinienarbeiten vor allem für den Volksschulbereich vorgenommen. Die
Volksschulen gehörten in der Regel zu den Gemeinden, aber selbst dort war
es schwer genug, die verschiedenen Weltanschauungen und Interessen der
Orthodoxen, Konservativen, Liberalen, Reformisten und Zionisten miteinander
in Einklang zu bringen. Für die höheren Schulen war dies noch schwieriger.
Doch da ihre Bedeutung wegen der Entakademisierung und verstärkten be-
ruflichen Umorientierung der jüdischen Jugend zurückging, waren in diesem
Bereich die Bemühungen nicht so vordringlich und intensiv, so daß jede hö-
here Schule ihren eigenen pädagogischen und curricularen Weg suchen
mußte. Die nunmehr anstehende Erziehung zur Emigration verlangte deshalb

121
von der Lehrerschaft der PriWaKi ein Höchstmaß an Innovationsbereitschaft
und pädagogischer Kreativität.
Mit den bisher geschilderten Problemen des Jahres 1936 - drohende
Abwanderung des ersten Oberstufenjahrgangs, Kritik aus dem Establishment
des organisierten deutschen Judentums, mangelnde Kooperation der jüdi-
schen Schulen - konnten die PriWaKi-Schulleiter Selver und Kaliski fertig
werden, zumal gleichzeitig die Schule sowohl pädagogisch als auch von den
Schülerzahlen her in dem neuen Domizil in Dahlem aufblühte.
Dennoch hing auch im Jahr 1936 eine dunkle Wolke der Bedrohung über
der PriWaKi, die aber von den meisten Lehrern sowie von den Schülern und
Eltern nicht wahrgenommen wurde; jedenfalls wurde sie in keiner der Erin-
nerungen thematisiert. Die Bedrohung entstand - ähnlich wie in der Bis-
mare kalle 37 - durch nationalsozialistische Nachbarn. Vor allem der Nazi-
Funktionär Brinckmann, Schatzmeister der Deutschen Arbeitsfront, der in
der Nähe der Schule ein Grundstück erworben hatte, versuchte, der Schule
die Genehmigung für die Nutzung des Villengrundstückes entziehen zu lassen.
Anfang 1936 hatte zwar die Schulaufsicht beim Staatskommissar (Ab-
teilung für Volks- und Mittelschulen) die Genehmigung für die Einrichtung
der erweiterten PriWaKi in der Villa in Dahlem erteilt, doch als wegen der
explosionsartigen Zunahme der Schülerzahlen (von 120 im Herbst 1935 auf
ca. 300 ab Ostern 1936) der Bau einer Schulbaracke beantragt wurde, stellte
die Baupolizei Zehlendorf den Schulbetrieb grundsätzlich in Frage, da es sich
bei dem Villenviertel um ein privilegiertes Wohngebiet handele, in dem die
Ansiedlung von Gewerbebetrieben mit Lärmbelästigung laut Bauordnung
untersagt sei. Ein Dispensantrag bei der Hauptabteilung der Baupolizei sei
deshalb erforderlich; nur mit einer solchen Befreiungs- bzw. Ausnahmege-
nehmigung hätte die Schule überhaupt erst ihren Betrieb aufnehmen dürfen -
unabhängig von den beantragten Baracken.
Der Dispensantrag wurde von Selver am 8.4.1936 eingereicht, der Schul-
rat von Zehlendorf schrieb an die Baupolizei, daß gegen den Schulbetrieb
auch in der geplanten Schulbaracke keinerlei Einwände bestünden.
Doch kam es zu mehreren Einsprüchen von Grundstücksnachbarn gegen
den Schulbetrieb, wobei Brinckmann sich als besonders hartnäckig erwies; er
veranlaßte auch die NSDAP-Ortsgruppe Dahlem zu einer Beschwerde bei der
Baupolizei, die sich scharf gegen den Betrieb einer "Judenschule" und deren
Ausbau auf ca. 350 Schüler wandte. Auch Staatskommissar Lippert erhielt
die Beschwerde. Seiver konnte nur noch darauf verweisen, daß ohne Dispens
die Schule ruiniert sei; dies stehe aber im Gegensatz zur nationalsozialisti-
schen Rassen- und Schulpolitik, die ja gerade auf eine Trennung von "ari-
schen" und "nichtarischen" Schülern abziele. Dennoch lehnte die Baupolizei
(Hauptabteilung) den Dispensantrag am 19.6.1936 ab, räumte jedoch eine
Beschwerdefrist ein. Die Schule wurde also nicht geschlossen. Über einen
Anwalt wurde formell eine Beschwerde eingereicht, die Begründung reichte
Selver dann am 21.8.1936 nach, wobei er in seiner Argumentation wiederum
auf die besondere Eignung des Geländes und auch auf die Intention der Na-

122
tionalsozialisten, eine Trennung von "arischen" und "nichtarischen" Schülern
durchzuführen, einging. Er spielte also die privaten Interessen der Dahlemer
Nazis gegen die übergeordneten Ziele des Nationalsozialismus aus. Es kam
zu einem weiteren Gerangel zwischen den verschiedenen Behörden, immer
wieder angeheizt von dem Nationalsozialisten Brinckmann.
Die Schulabteilung versuchte dabei immer wieder, sich durchzusetzen,
weil der angekündigte Ausbau der Schule an ihrem jetzigen Standort auch in
ihrem Interesse war; etwa 100 von den ca. 300 Kindern stammten aus dem
Bezirk Dahlem-Zehlendorf. Der Streit war Ende 1936 noch nicht entschie-
den, doch wurde die PriWaKi auch nicht geschlossen. 61
Es gab jedoch 1936 auch noch einen anderen, eher stillen Konflikt der
PriWaKi bzw. ihres Schulleiters Selver mit der Schulaufsicht; dabei ging es
um die Namensänderung der Schule. Diese ist nämlich keinesfalls schon
1934 erfolgt, wie Lotte Kaliski in ihren "Memories" (1983) geschrieben hat,
sondern erst im November 1936.
Am 3. August 1936 verfügte der zuständige Zehlendorfer Schulrat Pott, daß "der Leiter
der privaten Wald schule Kaliski Dr. Heinrich Selver" bei ihm in der Sprechstunde zu er-
scheinen habe und dabei "zu ersuchen (ist), einen entsprechenden Antrag auf Änderung
der Anschrift an den Herrn Staatskommissar zu richten." Als Begründung wurde ver-
merkt: "Aus der Anschrift der privaten Wald schule Kaliski ist nicht ersichtlich, daß es
sich um eine jüdische Privatschule handelt. Außerdem ist die Bezeichnung ,Waldschule'
irreführend." (Bezirksverw. Zehlendorf, Schul III 23, LA Berlin)
Doch stellte Sei ver diesen Antrag nicht, sondern der Schulrat Pott selbst be-
antragte am 13.8.1936 beim Staatskommissar die Änderung. Die Begründung
lautete nunmehr:
"Aus der Bezeichnung der privaten Waldschule Kaliski geht nicht hervor, daß es sich um
eine jüdische Privatschule handelt. Die falsche Bezeichnung hat dazu geführt, daß arische
Kinder zur Anmeldung gebracht wurden. Ich bitte, die Bezeichnung der Schule in
,Jüdische Privatschule Kaliski' zu ändern." (Ebenda)
Der Staatskommissar der Hauptstadt Berlin, Abteilung 11 (Volks- und Mittel-
schulwesen) ordnete dann (über den Schulrat Pott) mit einer Verfügung vom
19. November 1936 "an den Leiter der Privaten Waldschule Kaliski" die Na-
mensänderung an und begründete diese wie folgt:
"Da der bisherige Name der von Ihnen geleiteten Schule geeignet ist, irrige Vorstellungen
über den Charakter der Schule zu erwecken, ordne ich hiermit an, daß die Schule von
heute ab den Namen ,Private jüdische Schule Kaliski, Leiter Dr. Heinrich Selver' zu füh-
ren hat. Die Ihnen erteilte Erlaubnisurkunde ist mir sofort zur Eintragung eines entspre-
chenden Nachtrags einzusenden." (Ebenda)
Doch Selver unterließ die Einsendung. Statt dessen erwirkte er eine Fristver-
längerung bis zum 10.12. Er wollte eine Schulbesichtigung durch den Schul-
rat erreichen, um damit die Vorurteile gegenüber der "Juden schule", wie sie

61 Zur gesamten Auseinandersetzung vgl. Forschungsbericht 1992, S. 122ff sowie Bu-


semann u. a. 1992, S. 227ff.

123
von ihren nationalsozialistischen Gegnern genannt wurde, auszuräumen.
Doch hätte dies die Namensänderung nicht mehr verhindern können, was aus
einer handschriftlichen Notiz des Schulrats Pott hervorgeht: "Ich habe den
Schulleiter nicht in Zweifel gelassen, daß eine später vorzunehmende Besich-
tigung der Schule mit dem Antrag auf Namensänderung nichts zu tun hat."
(Ebenda, 14.12.1936) Der Anlaß für diesen Vermerk war, daß der Staats-
kommissar über die Nichteinsendung der Erlaubnis-Urkunde verärgert war und
am 5.12.1936 nochmals verfügt hatte, "meine Verfügung vom 19.11.1936 - 11
D Priv. Sch. Kaliski - nunmehr binnen 3 Tagen zu erledigen". Wegen der
Dringlichkeit wurde Selver der Inhalt sogar telefonisch vorab mitgeteilt. Den-
noch versuchte er in einem Schreiben vom 12.12.36 nochmals "eine Nachfrist"
für die Übersendung der Urkunde zu erreichen, obwohl dies völlig sinnlos
war, wie ihm dann der Schulrat Pott am 14.12. klargemacht hat. Es ist er-
staunlich, daß Selver wegen der ohnehin unabwendbaren Namensänderung
einen für die Schule doch auch riskanten Widerstand geleistet hat.
Auch in einer anderen Sache operierte Sei ver hinhaltend. Es ging dabei
um die Aufhebung der Koedukation. Obwohl der Unterricht der jüdischen
Privatschulen nicht unmittelbar kontrolliert wurde, mußte sich die PriWaKi
in allen rechtlichen und schul organisatorischen Fragen dem Verlangen der
Schulaufsichtsbehörden beugen, so auch bei der Frage der Koedukation, die
schon vor der eigentlichen Schulreform (1937) aufgehoben wurde, da Ko-
edukation der Naziideologie von der natürlichen Bestimmung der Geschlech-
ter zuwiderlief. Selver versuchte dabei, zumindest in den weniger besuchten
höheren Klassen ab Untertertia die Koedukation beizubehalten und die Tren-
nung in der Quarta aufzuschieben. Er machte dafür schulorganisatorische
und wirtschaftliche Gründe geltend. 62

Das Jahr 1937

1937 verhärteten sich die Fronten weiter. In einem internen Bericht für den
Stellvertreter des Stadtpräsidenten schrieb der politische Referent beim
Staatskommissar (Hüber), der sich stärker an den Interessen der Dahlemer
Nazis orientierte, am 18.2.1937:
"Die Schule wird von 300 jüdischen Schülern besucht. Von diesen 300 jüdischen Schü-
lern wohnen nur 89 in dem ausgewiesenen Wohngebiet [Dahlem-Zehlendorf - W.F.].
Mithin 216 in anderen Bezirken. Die meisten Schüler stammen aus den Bezirken Charlot-
tenburg und Wilmersdorf. Aus dieser Zahlengegenüberstellung ergibt sich, daß ein Be-
dürfnis für die Errichtung einer ludenschule in dem in Frage kommenden Wohngebiet
nicht besteht. Hinzu kommt, daß zweifellos durch eine Schule, die von 300 jüdischen Schü-
lern besucht wird, eine nicht unerhebliche Unruhe in ein Wohngebiet getragen wird, mag
auch das Grundstück durch Buschwerk auch von der Straße abgetrennt sein. Zu berücksich-

62 Antrag H. Sei ver vom 13. VIII 1936, Bezirksverwaltung Zehlendorf, Schul III 23,
LA Berlin

124
tigen ist ferner, daß es sich um eine ludenschule handelt. Es hat sich nicht umsonst das ge-
flügelte Wort herausgebildet: ,Das ist ja wie in einer ludenschule'." (LA Berlin)

Diese Stellungnahme, die uns auch über die lokale Herkunft der PriWaKi-
Schüler informiert, läßt an antisemitischer Deutlichkeit nichts zu wünschen
übrig. Sie ging über den Stellvertreter Steeg an den Stadtpräsidenten Lippert,
der jedoch auch die Ziele nationalsozialistischer Schulpolitik berücksichtigen
mußte und einen Kompromiß suchte: Er genehmigte den Schulbetrieb u. a.
mit der Auflage, daß die Schülerzahl auf 100 gesenkt werden müsse und kei-
ne Belästigung der Nachbarn stattfinden dürfe. 63
An diesem Bescheid war nur positiv, daß die PriWaKi nicht schließen
mußte; doch die Reduzierung auf 100 Schüler bis zum Herbst 1937 war für
die PriWaKi mit inzwischen über 350 Schülern nicht tragbar. Der Schulleiter
Seiver nutzte die Gelegenheit, um sich direkt an das Erziehungsministerium
zu wenden, weil er die nicht unberechtigte Hoffnung hegte, daß diese höchste
schulpolitische Instanz ihre Interessen, die zugleich mit den unmittelbaren In-
teressen der PriWaKi übereinstimmten, würde durchsetzten können. In der
Tat hatte er sich nicht verrechnet. Am 11. Oktober 1937 wies das Ministerium
(RMfWEV) die Abteilung für höheres Schulwesen beim Stadtpräsidenten an,
"von der Durchführung der auf Beschränkung der Schülerzahl gerichteten
Anordnung abzusehen". (LA Berlin) Die PriWaKi war damit vorläufig geret-
tet. 64
Auf schulpolitischer Ebene fielen 1937 aber auch andere Entscheidun-
gen, die für die PriWaKi relevant waren. Am 12.März 1937 wurde durch ei-
nen Erlaß des Erziehungsministeriums (RMfWEV) die Aufnahme von Schü-
lern in jüdischen Schulen weiter erleichtert. Gegenüber dem Stand von 1934
durften sogar vermehrt Schüler aufgenommen werden, "wenn die Vermeh-
rung darauf zurückzuführen ist, daß Schüler von einer allgemeinen mittleren
oder höheren Schule auf eine jüdische Schule übergegangen sind." (Zit. in
Walk 1981, S. 185)
Damit und im Zusammenhang mit dem starken absoluten Rückgang der
Zahl der jüdischen höheren Schüler wurde die Verlagerung auch an jüdische
Privatschulen weiter gefördert. Die Zahl der Schüler an der PriWaKi konnte
deshalb 1937 auf über 350 steigen. In dem zitierten Erlaß spiegelte sich die
(durch die Rassengesetze von 1935 verstärkte) schulpolitische Intention des
Erziehungsministeriums wider, jüdische Schüler, insbesondere auch höhere
Schüler, aus den nichtjüdischen höheren Schulen möglichst vollständig aus-
zusondern. Vor diesem Hintergrund muß auch der Widerstand des Erzie-
hungsministeriums gegen die versuchte Schließung bzw. Reduzierung der
Schülerzahlen an der PriWaKi durch interessierte Nazi-Funktionäre gesehen
werden. Diese Absichten hätten die Pläne des Ministers empfindlich gestört.
Dies hatte Selver sehr wohl erkannt und für den Weiterbestand der PriWaKi
argumentativ genutzt!

63 Bescheid des Stadtpräsidenten vom 22.3.1937, LA Berlin.


64 Zu den weiteren Auseinandersetzungen vgl. Forschungsbericht 1992,S. 153ff.

125
Zu den oben angeführten bildungspolitischen Absichten paßte auch der
Runderlaß des Erziehungsministeriums vom 12.3.1937, daß jüdischen An-
tragstellern die Erlaubnis, jüdische Kinder privat zu unterrichten, nicht ver-
weigert werden sollte. (Vgl. DWEV 1937, S. 157) Dieser Erlaß begünstigte
den Ausbau weiterer kleinerer Privatschulen und Privatzirkel, die jedoch von
den Vertretern der jüdischen Gemeinde und der Zionistischen Organisation
nach wie vor nicht gerne gesehen wurden, weil man argwöhnte, daß die
Formung des jüdischen Bewußtseins in diesen privaten Einrichtungen nur
ungenügend betrieben würde.
Auch in der Schulorganisation und im Lehrplan der PriWaKi ergaben
sich 1937 einschneidende Veränderungen. Im Januar 1937 ging die für die
PriWaKi zuständige Schulaufsicht (Stadtpräsident Berlin) von der Abteilun§
für Volks- und Mittelschulwesen auf die Abteilung für höhere Schulen über. 5
Damit wurde nicht nur der Tatsache Rechnung getragen, daß die PriWaKi ab
1936 eine Obersekunda und damit eine Oberstufen-Klasse hatte, sondern
Ostern 1937 machte sich auch die Schulreform bemerkbar, die die Mittelstu-
fe um ein Jahr verkürzte, wodurch bereits nach neun Schuljahren die Ober-
stufe begann. Auf diese Weise bekam die PriWaKi zu Ostern 1937 gleich
zwei neue Oberstufenklassen dazu. Außerdem wurden Mittelschulen ab 1937
als höhere Schulen ("Oberschulen") eingestuft.
Am 24.9.1937 inserierte die PriWaKi als "Private jüdische Waldschule
Kaliski" und umging damit zum Teil die 1936 aufgezwungene Namensände-
rung. In Schreiben an die Behörden verfuhr die PriWaKi nunmehr so, daß sie
einen Briefbogen mit der alten Bezeichnung benutzte, "Wald" durchstrich und
dafür ,jüdische" einsetzte. Aus ,,Private Waldschule Kaliski" wurde dann "Pri-
vate jüdische Schule Kaliski", wobei der ursprüngliche Name deutlich sicht-
bar blieb. 66
In dem schon erwähnten Schreiben des Stadtpräsidenten der Reichs-
hauptstadt Berlin, Abteilung für höheres Schulwesen an den Erziehungsmini-
ster (RMfWEV) vom 23.9.1937 ("betr.: Antrag der privaten jüdischen Schule
Kaliski wegen Aufhebung der Beschränkung der Schülerzahl auf 100") wer-
den auch die Schülerzahlen erwähnt:
"Die Schule wies im Februar d. Is. [1937] in 4 Grundschulklassen und in 9 höheren Klas-
sen von VIa bis UII zusammen 320 Schüler - 218 Knaben 102 Mädchen - nach. UII ist
nach wie vor die höchste Klasse, die Schülerzahl ist dabei im Sommer d. Is. auf 351 ge-
wachsen. An Lehrkräften sind 22-25 nachgewiesen, so dass bei der am Schluss des An-
trags angegebenen Mitarbeiterschaft von 40 Personen auch andere Persönlichkeiten z.B.
der Hausmeister gerechnet werden müssen." (ZStA Potsdam)

Die Feststellung "U 11 ist nach wie vor die höchste Klasse" ist jedoch nur für
Februar 1937 korrekt, denn im September 1937 gab es an der PriWaKi schon
drei Oberstufenklassen, von denen nur das 10. Schuljahr die Bezeichnung

65 Vgl. Schreiben des Stadtpräsidenten an den RMfWEV, 23.9.1937, ZStA Potsdam.


66 Vgl. Schreiben der PriWaKi an den RMfWEV vom 17.8.1937, ZStA Potsdam.

126
"Secunda" hatte. Da durch die Schulreform ab Ostern 1937 die Mittelstufe
um eine Klasse gekürzt worden war, war aus der Obertertia eine Sekunda als
unterste Klasse in der Oberstufe geworden, aus dem Abschlußjahrgang (mitt-
lere Reife) 1937 wäre normalerweise eine Obersekunda und aus dem Ab-
schlußjahrgang 1936 eine Unterprima geworden. Wie noch zu zeigen sein
wird, war es jedoch so, daß an der PriWaKi ab Ostern 1937 auch schon das
11. Schuljahr ebenso wie das aus England zurückkehrende 12. Schuljahr zu
Vorbereitungsklassen für die englische Reifeprüfung umgestaltet und gegen-
über der Schulbehörde nicht mehr als "deutsche Klassen" ausgewiesen wur-
den. Dadurch wurden die hohen Schülerzahlen, die die PriWaKi ja ohnehin
reduzieren sollte, etwas niedriger.
Das komplette Programm der PriWaKi im ersten Schulhalbjahr 1937/38
können wir einer Anzeige in der zionistischen Jüdischen Rundschau vom
24.9.1937 entnehmen:

"Private jüdische Waldschule Kaliski


I Grundschule
II Sexta bis Secunda
III Examensausbildung: Englisches Cambridge School Certificate
Amerikanisches College Entrance Examination
Unterricht durch englische Lehrkräfte"

Die Klassenbezeichnungen ("Sexta bis Secunda") belegen, daß die PriWaKi


die Schulreform mitgemacht, aber nur das 10. Schuljahr als Oberstufenklasse
nach deutschem Lehrplan eingerichtet hat. Aber schon in der Sekunda erfolg-
te ab Herbst 1937 eine innere Differenzierung nach Schülern, die die Engli-
schabschlüsse anstrebten und solchen, die sich nach dem alten Lehrplan mit
der vormaligen mittleren Reife begnügten. Schüler, die das deutsche Abitur
anstrebten, gab es an der PriWaKi Ende 1937 nicht mehr in genügender An-
zahl, so daß über die Secunda (zehntes Schuljahr) hinaus nur noch die Eng-
lisch-Klassen eingerichtet wurden, in denen die Schüler eine Zugangsbe-
rechtigung für eine englische oder amerikanische Hochschule erwerben
konnten.
Anfang 1937 hatten sowohl die Goldschmidt-Schule als auch die Pri-
WaKi mit einer gezielten Vorbereitung für die englische ("Matric") und die
amerikanische Reifeprüfung begonnen. Zu diesem Zeitpunkt müssen die bei-
den Schulen von der Universität Cambridge die Zusage erhalten haben, daß
man entsprechend vorbereitete Kandidaten einer solchen Prüfung unterziehen
werde. Ab April 1937 unterrichteten Lehrer aus England an der PriWaKi; für
Matric-Kandidaten fand der Unterricht weitgehend in englischer Sprache
statt.
Die älteste Gruppe, inzwischen auch die "select four" genannt, bestand
erfolgreich das Examen im Dezember 1937 in London; gleichzeitig mit einer
Gruppe aus der Goldschmidt-Schule. Die nachfolgenden Kurse mußten nicht
mehr nach England reisen, sondern konnten im Juli 1938 ihre Prüfung in
Berlin absolvieren. Zu weiteren englischen Reifeprüfungen ist es an der Pri-

127
WaKi wahrscheinlich auch noch im Dezember 1938 gekommen. 61 Darüber
hinaus offerierte die PriWaKi ab September 1937 auch die Vorbereitung für
die in Amerika anerkannte College Entrance Examination. Die Prüfung
konnte ebenfalls in Berlin ablegt werden. Es kam 1937 durch Selver auch ei-
ne Vereinbarung mit einem Chicagoer YMCA-College zustande, das den Se-
kundaabschluß (frühere mittlere Reife) in Verbindung mit entsprechenden
sprachlichen Fertigkeiten als ausreichende Zugangsqualifikation anerkannte.
Damit war die Schule ab 1937 vom Lehrplan und von den Abschlüssen her
weitgehend auf Emigration eingestellt.
Bei einem Vergleich mit der Lessler- und der Goldschmidt-Schule, die
am 8.10.1937 gemeinsam in der "Jüdischen Rundschau" inserierten, werden
Gemeinsamkeiten und Unterschiede sichtbar. Die Lessler-Schule firmierte
weiter als "Private jüdische Wald schule Grunewald", die nun auch ab Okto-
ber 1937 die "Vorbereitung auf die englische Reifeprüfung" beginnen wollte.
Sie nannte sich nun gemäß den veränderten Bezeichnungen nach der Schul-
reform "Oberschule" und bot immer noch Unterricht in den Klassen von
Sexta bis Prima nach dem (von jüdischen Schulen modifizierten) Lehrplan
der deutschen Oberschule an. 68 Die PriWaKi konnte da nicht mithalten, war
dafür aber mit dem englischen Lehrprogramm (Matric-Ausbildung) voraus.
Die Goldschmidt-Schule, die durch die Beziehungen ihrer Gründerin
nach England wahrscheinlich die Hauptinitiative bei der Anerkennung als
Vorbereitungsschule für die Matric-Prüfung hatte, empfahl sich mit "eng-
lische Reifeprüfung an der Schule von allen engl. u. amerik. Universitäten
anerkannt" und als "EXAMINATION CENTER OF THE UNIVERSITY OF
CAMBRIDGE".
Darüber hinaus hatte die Goldschmidt- Schule auch noch eine vollstän-
dige Oberstufe nach (modifiziertem) deutschen Lehrplan eingerichtet, und
bereits am 8.10.1937 war in der Jüdischen Rundschau zu lesen, daß die er-
sten Abiturienten am 29.9.1937 ihre deutsche Reifeprüfung vor einer staatli-
chen Prüfungskommission abgelegt hätten und auch die englische Reife-
prüfung für die Universität Cambridge noch im Dezember 1937 ablegen
würden.
Diese Meldung belegt, daß die Goldschmidt-Schule und die PriWaKi ihr
Englisch-Programm gleichzeitig begonnen und zum Dezember 1937 die er-
sten Prüfungskandidaten hatten. Sie waren damit die ersten jüdischen Schu-

67 Gesichert ist zumindest, daß sich im Dez. 1938 in Berlin noch PriWaKi-Schüler Ad-
ditional-Prüfungen unterzogen haben, wenn sie in der Juli-Prüfung die erforderlichen
Leistungen noch nicht ganz erbracht hatten. Vgl. G. Nothmann, Brief vom
10.3.1993.
68 Die Lessler-Schule hatte sich 1930 in "Private Waldschule Grunewald" umbenannt.
Ab 1933 nahm sie auch Jungen in getrennten Klassen auf. (Vgl. Gläser in Wilmers-
dorf Museum 1992, S. 15f.)

128
len zumindest in Berlin, dicht gefolgt von der Lessler-Schule. Beim deut-
schen Abitur hingegen mußte die PriWaKi passen. 69
1937 war das Jahr der großen Umorientierung in den Inhalten und der
Organisation des Unterrichtsprogramms auf die Emigration hin. Praktisch
alle Abschlüsse wurden nun auf einen Übergang zu einer ausländischen
Schule hin ausgerichtet; überwiegend auf englische bzw. amerikanische High
Schools und Colleges.
Auch Palästina spielte nicht mehr nur als ideelles Ziel im Sinne einer
Palästinaorientierung eine Rolle. Insbesondere mit Unterstützung des späte-
ren Schulleiters Paul Jacob wurde Ende 1937 auch eine "Palästina-Gruppe"
eingerichtet, deren ausdrückliches Ziel die Auswanderung nach Palästina war
und die deshalb ein intensiviertes Sprachprogramm in Hebräisch absolvierte
und darüber hinaus auch eine praktische Vorbereitung auf das Leben in
nichtakademischen Berufen in Palästina erfuhr. (Vgl. S. Kneller, Gespräch
1989) Hebräisch war allerdings 1937 für alle Schüler Pflichtsprache, aber nur
bis zum Ende des 10. Schuljahres.
Auch wurde das ursprüngliche Wald- und Reformschulprogramm im Be-
reich praktischer und körperlicher Aktivitäten (Werken, Reparaturen, Kochen
und Nähen, Gartenarbeit, Sport) insbesondere auch in der Mittelstufe für die
gesamte Schülerschaft verstärkt. Einer von den Repräsentanten des deutschen
Judentums zuletzt immer stärker geforderten "Umschichtung" des Judentums -
ursprünglich eine zionistische Forderung - von den akademischen und kauf-
männischen Berufen zu den mehr praktischen wurde in einem gewissen Maße
Rechnung getragen. Aus der Not konnte die PriWaKi jetzt eine Tugend ma-
chen, denn fast alle daraus resultierenden pädagogischen Maßnahmen verban-
den sich nahtlos mit dem ursprünglichen Wald- und Reformschulprogramm.
1937 wurden die Auswanderer unter den PriWaKi-Familien zahlreicher.
Auch die ersten Lehrer wanderten aus, wie zum Beispiel der beliebte Sport-
und Physiklehrer Edwin Heinrich, der sich auch als guter Organisator an der
PriWaKi bewährt hatte. Ein anderer Emigrant war der Tagesinternatsleiter
Wilhelm Lewinski. Damit verlor die Schule zwei tüchtige Pädagogen aus
dem bewährten Team. In einem Abschiedsbrief schrieb der Schulleiter:
"Lieber Herr Lewinski, Fräulein Kaliski und ich haben von Ihrem höchst offiziellen Brief
vom 28. ds. Mts. mit den gemischten Gefühlen Kenntnis genommen, die der Lage angemes-
sen sind: Ein Glück, daß jemand den Weg nach draussen findet, schmerzlich, wieder einen
Mitarbeiter, der unserer Sache nach besten Kräften gedient hat, zu verlieren. Die Fälle fangen
an sich zu häufen, und ich sehe dunkel in die Zukunft." (H. Selver, 30.12.1937)

69 Die Meldung in der IR v. 8.10.37 widerlegt jedoch die Aussagen von L.Kaliski
(Memories 1983) und von verschiedenen Schülerinnen und Schülern der PriWaKi,
jüdische Schüler hätten keine Möglichkeit mehr gehabt, die Abiturprüfung abzule-
gen.

129
Das Jahr 1938
1938 war das Jahr, in dem die PriWaKi den Höhepunkt ihrer Entwicklung er-
reichte und zugleich mit dem Novemberpogrom ihr Niedergang eingeleitet
wurde. Die zahlenmäßige Weiterentwicklung bis zum Novemberpogrom war
nicht unbedingt zu erwarten, denn die Zahl der jüdischen höheren Schüler in
Deutschland ging weiter zurück. Mitte 1938 gab es an nichtjüdischen höheren
Schulen im ganzen "Reich" nur noch gut 1000 jüdische Schüler, das waren 24
v.H. aller jüdischen höheren Schüler. 3.600 Schülerinnen und Schüler (76 v.H.)
besuchten private höhere Schulen. Zum Vergleich: Im Schuljahr 1933/34 gab
es noch 21.000, im Schuljahr 1935/36 noch 13.000 höhere Schülerinnen und
Schüler mit jüdischer Abstammung in Deutschland. Nur noch 200 jüdische Schü-
lerinnen und Schüler machten im gesamten Reich 1938 das Abitur. Dies zeigt,
daß das Abitur um diese Zeit zahlenmäßig kaum noch eine Rolle gespielt hat. 70
Insgesamt hatte das jüdische Schulwerk in Deutschland schon 1937 sei-
nen Höhepunkt erreicht und überschritten: Die PriWaKi konnte dagegen bis
1938 noch etwas zulegen. Sie erreichte etwa im Frühsommer 1938 den zah-
lenmäßigen Höhepunkt mit 405 Schülerinnen und Schülern (vgl. Schul-
prospekt 1938 c, Schülerliste 1938). Werden die 94 Grundschüler nicht be-
rücksichtigt, betrug die Schülerschaft der höheren Schule 311. Das waren zu
diesem Zeitpunkt immerhin fast 7 Prozent aller jüdischen höheren Schüler im
"Reich". Ab Ostern 1938 hatte die PriWaKi fünf Mittelstufenjahrgänge und
drei Englisch-Klassen, die auf englische und amerikanische Examina vorbe-
reiteten. Im Juli 1938 legten Kandidaten erstmals die Reifeprüfung für die
Universität Cambridge an der PriWaKi ab. Die Prüfung wurde auch von an-
deren englischen und amerikanischen Universitäten anerkannt. Die letzten
Prüfungen waren im Dezember 1938.
Wie schon erwähnt, gab es laut Schülerliste des Schuljahres 1938/39
(Mai 1938) an der PriWaKi 405 Schülerinnen und Schüler. Dies war wahr-
scheinlich die maximale Zahl an der PriWaKi. In einem behördlichen "Fra-
gebogen für höhere Schulen" (PZ Berlin), der den Stand vom 25. Mai 1938
erfassen sollte, wurde als "amtliche Bezeichnung (Name der Schule)" ange-
geben "Private Jüdische Schule Kaliski", und bei der "genaue(n) Angabe der
Schulart" wurde eingetragen: "Jüdische Privatschulen. dem Lehrplan einer
Oberschule f. Jungen + Mädchen". Das jährliche Schulgeld betrug 420 Mark.
Die Auswanderung nahm 1938 deutlich zu - auch schon vor dem No-
vember-Pogrom. Selver war bereits 1937 in den USA gewesen, um die An-
erkennung von Abschlüssen für amerikanische Colleges bzw.Universitäten
zu erreichen. Er hat sich wahrscheinlich auch schon nach den Möglichkeiten
einer Auswanderung erkundigt. Am 10.8.1938 war es dann soweit. An den
Vater der PriWaKi-Schüler Herbert und Rolf Kneller schrieb er:
,,Lieber, verehrter Dr. Kneller, ich hätte mich gerne noch einmal persön-
lich gemeldet, aber von allen schweren Geschäften, die ich bisher erledigt

70 Zu allen oben genannten Zahlen vgl. Walk 1991, S. 110f.

130
habe, ist Auswandern das Schwerste."n L. Kaliski wanderte im August 1938
ebenfalls in die USA aus, nachdem sie sich im April 1938 bereits in den USA
aufgehalten und sich um ihre Affidavits gekümmert hatte. Obwohl ihre
Schwester inzwischen in Palästina lebte und Lotte Kaliski sie dort 1936 be-
sucht hatte, zog sie eine Auswanderung nach Palästina "aus persönlichen
Gründen" nicht in Erwägung. (L. Kaliski, Gespräch 1989)
Ab dieser Zeit, also im Spätsommer 1938, hatte die PriWaKi den Höhe-
punkt ihrer Entwicklung offensichtlich überschritten. Dies geht auch aus dem
Brief hervor, den die Lehrerin Käthe Fränkel an den inzwischen ausgewan-
derten Erzieher Dr. Lewinski nach Südamerika schrieb:
"Lieber Herr Lewinski ... Wie mag es Ihnen, Ihrer Frau u. dem Jungen gehen? (... ) In der
Schule hat sich einiges geändert, wie Sie sicher schon wissen. Der Chef ist losgewandert
und hat das Scepter Dr. Jacob übergeben, der mit Milde und Menschlichkeit waltet.
Schüler gehen fast täglich fort, allerdings kommen auch noch einige dazu, aber nur vor-
übergehend. Herr Mühlhauser will in nächster Zeit nach Palästina, Frl. Ehrrnann bekam
gestern das Affidavit für Amerika. Von meiner Klasse ist Peter Abraham vorige Woche
nach Amerika gegangen, vorher Günter Rosenkranz. Beide hatten Sie ganz besonders
verrnißt ... Neue Gesichter sind auch da, sowohl bei den Lehrern als auch in der Klasse;
aber die neuen Kollegen sind alle Studienräte, u. zwar Herren Studienräte, die sich in
hochtrabenden jüd. Arbeitsgemeinschaften gegenseitig an Geist überbieten, doch ist mir
das Menschliche noch nicht besonders wohltuend aufgefallen. So geht es denn von Tag
zu Tag weiter im alten Trott, man weiß nicht, was der nächste Tag bringen wird und freut
sich, wenn der gegenwärtige einen nicht zur Besinnung kommen läßt. (... ) Doch nun ge-
nug für heute. Erfreuliches gibt's ja doch nicht zu melden. - Frl. KaI. ist natürlich auch
weg, dagegen ist Frau S. noch hier ... Auch Frau Laband ist im Begriff zu gehen, dafür ar-
beitet Frau Wilhelm Guttmann (die Frau des Sängers) in der Küche. Von allen ... soll ich
herzlich grüßen, ganz besonders von den Kindern."n
Auch schon vor dem Novemberpogrom beschlichen also Sorgen und Ängste
diejenigen, die für sich keine Möglichkeit der Auswanderung sahen. So schrieb
Frau Fränkel in ihrem Brief auch:
"An Auswandern kann ich leider nicht denken, da ich meine Schwester nicht allein ihrem
Schicksal überlassen kann. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen erzählte, daß sie körperlich und
geistig etwas schwächlich ist. Vor Jahresfrist glaubte ich noch, sie hierlassen zu können;
aber heute könnte ich das nicht mehr verantworten. So warte ich denn mein Schicksal ab."
(Ebenda)
Wie aus dem Brief der Lehrerin Fränkel hervorgeht, war inzwischen Dr. Paul
Jacob der Schulleiter der PriWaKi geworden. Die Schulaufsichtsbehörde
wurde darüber schon frühzeitig informiert, denn am 13.5.1938 beantragte der
Stadtpräsident (Abteilung für höheres Schulwesen) beim Erziehungsministeri-
um (RMtwEV), "dem Studienrat i.R. Paul Jacob" die Genehmigung zur Lei-
tung der "Privaten Jüdischen Schule Kaliski" in Berlin-Dahlem zu erteilen,
da "der bisherige Leiter und Konzessionsträger der Privaten Jüdischen
Schule Kaliski in Berlin Dahlem, Dr. Heinrich Selver beabsichtigt, im Juli

71 H. Selver, Brief vom 10.8.1938.


72 Käthe Fränkel, Brief an Lewinski, Berlin, 19.9.1938.

131
1938 auszuwandern." Der Minister genehmigte den Antrag schon am 14.
Juni 1938 ohne Einwände. Am 24.8.1938 schrieb der neue Schulleiter Jacob
an die Baupolizei Zehlendorf, um einige der noch zu erfüllenden Umbau-
Auflagen zu vermeiden. Dabei erwähnte er auch die ständige Verminderung
der Schülerzahl wegen der "in den letzten Monaten beschleunigten Auswan-
derung".
Obwohl also der Weggang und die Auswanderung langjähriger PriWa-
Ki-Lehrer und Schüler einen Aderlaß für die PriWaKi bedeutete, konnte eine
Journalistin, die die Schule im Sommer 1938 besuchte, immer noch ein reges
Schulleben beobachten und ein angenehmes Lehrer-Schüler-Verhältnis regi-
strieren. Für Außenstehende zeigte sich die PriWaKi also immer noch als re-
formpädagogische Idylle. Die Journalistin beschreibt die Möglichkeiten die-
ser Schule, wie sie mit dem Sportplatz und dem Schwimmbassin gegeben
waren, umschreibt die Funktion der Schule für den ,jüdischen Mittelstand",
erwähnt aber auch, daß etwa 5 v.H. der Schüler Freistellen hätten und ein
größerer Teil der Schüler nur die Hälfte oder zwei Drittel des Schulgeldes zah-
len müsse. Weiterhin wird das kameradschaftliche Verhältnis zwischen den oft
sehr jungen Lehrern und den Schülern hervorgehoben. Der Schulleiter Jacob
wird als sehr menschlich dargestellt und die Schule als "Insel mitten im
Durcheinander unseres Daseins". Weiterhin registriert die Journalistin den
Englischunterricht bei englischen Lehrern sowie die Tatsache, daß mehrere
Klassen Unterricht im Freien hatten. An vielen Einzelbeispielen kann sie er-
kennen, daß in der PriWaKi ein "betont jüdischer Geist herrscht".73
Ein in der Erinnerung sehr positiv besetztes Ereignis war das Sportfest
am 22.9.1938 auf dem Sportplatz Grunewald. Dieser Sportplatz gehörte der
jüdischen Gemeinde und stand den jüdischen Schulen für ihr alljährliches
Sportfest zur Verfügung. Das Sportfest 1938 scheint vor allem deshalb vielen
Schülern in Erinnerung geblieben zu sein, weil viele von ihnen vermutlich
ahnten, daß es das letzte sein würde. Die Teilnehmerzahlen sind etwa um ein
Drittel niedriger als die Schülerzahl in der Liste vom Mai 1938.74
Obwohl also im Herbst 1938 schon ein Schatten über der PriWaKi und
den anderen jüdischen Schulen lag, trafen die Ereignisse der Reichspo-
gromnacht sie dennoch völlig überraschend und mit voller Wucht. Eine ehe-
malige Schülerin beschreibt die damaligen Ereignisse aus ihrer Erinnerung
so:
"Am 10. November 1938 gingen wir alle wie gewohnt zur Schule, obwohl schreckliche
Gerüchte zirkulierten. Damals war Dr. Paul Jacob der Direktor, wenn ich mich richtig er-
innere, und die Zahl der Schüler hatte schon beträchtlich abgenommen. Wir wurden zu
einer Versammlung gerufen und erhielten eine kurze Zusammenfassung über die Greuel
der ,Kristallnacht', und es wurde uns gesagt, es sei besser, wenn wir an diesem Tag nicht
in der Schule blieben. Wir wurden in kleinen Gruppen nacheinander nach Hause ge-
schickt. Am folgenden Tag wurde mein Vater durch die Gestapo verhaftet und nach Ora-
nienburg geschickt. Als ich wieder in die Schule kam, hörte ich, daß viele andere Väter

73 Mala Laaser, Israelitisches Familienblatt Nr. 36 vom 8.9.1938, S. 8.


74 Vgl. Listen zum Sportfest 1938 und zahlreiche Fotos; Kopien im Projektarchiv.

132
auch verhaftet worden waren. Die Schule war danach nie mehr das, was sie vorher gewe-
sen war. Viele von uns hatten Probleme, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, und ich er-
innere mich besonders, daß Willi Gottfeld, der damals unser Geschichtslehrer war, plötz-
lich mitten im Satz stoppte, auf den Boden starrte und anfing, Selbstgespräche zu führen.
Seine Eltern, schon im höheren Alter, waren aus ihrem Haus vertrieben worden - ich habe
nie herausgefunden, was wirklich genau passiert ist -, und er fragte immer wieder, warum
sie denn nicht ihn genommen und dafür seine Eltern in Frieden gelassen hätten." (Lilli
Lamp11982)
Diese Erinnerung läßt den Schock erahnen, der PriWaKi-Familien und -Leh-
rer völlig unvorbereitet und offenbar weit verheerender traf als die Boykott-
maßnahmen, Entlassungen und Schikanen der Jahre 1933 und 1934 sowie
die erniedrigende Rassengesetzgebung von 1935. Diesmal war die Gewalt of-
fener und brutaler gewesen als je zuvor. Zu Verhaftungen von PriWaKi-Leh-
rern unmittelbar im Zusammenhang mit dem Pogrom vom 9./10. November
scheint es nicht gekommen zu sein. Aber der Sportlehrer Hecht wurde wegen
Waffenbesitzes denunziert. Nur weil er überzeugend klar machen konnte,
daß es sich um eine Startpistole handelte und weil er zugleich wie ein deut-
scher Sportlehrer zackig vor den Gestapobeamten auftrat, konnte er seine
Verhaftung abwenden. (Vgl. H. Hadar, Gespräch 1989) Auch das Schulge-
bäude blieb unversehrt. Das könnte an dem noblen Dahlemer Wohnviertel
gelegen haben oder auch dran, daß das Schulgebäude einer Engländerin ge-
hörte und die Nazis sich bis Kriegsausbruch gegenüber dem Besitz von Aus-
ländern eher zurückhielten. Die beschützende Funktion der PriWaKi wurde
für die Kinder jetzt noch wichtiger und vorrangiger, auch wenn die verhafte-
ten Väter bald wieder aus dem KZ entlassen wurden.
Nach dem 10. November 1938 herrschten zunächst vor allem Verwir-
rung, Unsicherheit und Angst. Wie würden die Nazis nunmehr mit jüdischen
Schulen verfahren? Die Reaktion des Erziehungsministers Rust in Form eines
Runderlasses kam bereits am 15.11.1938 und klang bedrohlich:
"Nach der ruchlosen Mordtat von Paris kann es keinem deutschen Lehrer ... mehr zu-
gemutet werden, an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von
selbst, daß es für deutsche Schüler unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu
sitzen .. , [Ich] ordne daher mit sofortiger Wirkung an: Juden ist der Besuch deutscher
Schulen nicht gestattet. Sie dürfen nur jüdische Schulen besuchen ... Diese Regelung er-
streckt sich auf alle mir unterstellten Schulen einschließlich der Ptlichtschulen." (Zit. in:
Walk 1981, S. 256)
Obwohl jetzt eine Massenflucht aus Deutschland einsetzte und deshalb auch
viele Schüler die PriWaKi verließen, führte dieser Runderlaß dazu, daß die
Lücken zumindest in der Grundschule und Mittelstufe durch neue Schüler
von öffentlichen Schulen weitgehend wieder aufgefüllt wurden. Dabei wur-
den die jüdischen Schulen zum Teil überfordert, so daß der Erziehungsmini-
ster mit Runderlaß vom 17.12.1938 einen begrenzten Aufschub der Anord-
nung vom 15.11.1938 verfügte, damit jüdische Volksschüler nicht ohne Un-
terricht blieben. Doch der psychische Druck, die öffentlichen Schulen zu
verlassen, blieb bestehen.

133
Das Jahr 1939

Durch diese kurzfristigen Neuzugänge scheint sich die Schülerzahl insgesamt


bis Anfang 1939 an der PriWaKi nicht allzu stark verringert zu haben. Am
30.11.1938 schrieb die Abteilung für höheres Schulwesen an das Er-
ziehungsministerium und bat um die Erhaltung der Kaliski-Schule. In dem
beiliegendem Bericht ist noch von 335 Schülerinnen und Schülern die Rede.
Doch war dies nur ein sehr kurzfristiger Zustand, denn das Ende der Schule
war schon eingeläutet. Zunächst schien die Schule sich noch weiter mit Er-
folg behaupten zu können, denn am 13.1.1939 erklärte das Erziehungsmini-
sterium gegenüber der Schulaufsicht sein Einverständnis zur vorläufigen
Weiterführung der Schule. Dies war jedoch nur ein Pyrrhussieg, denn inzwi-
schen hatte eine mächtigere nationalsozialistische Institution ein begehrliches
Auge auf die Villa geworfen; es war das Auswärtige Amt mit dem Außenmini-
ster Ribbentrop. Dagegen konnte sich die Schulaufsicht nicht auflehnen, und
selbst wenn sich das Erziehungsministerum für den weiteren Bestand der
PriWaKi verwendet hätte, was zu diesem Zeitpunkt aber kaum noch vorstell-
bar war, so hätte dies wahrscheinlich zu keinem Erfolg geführt. 75
Nur wenige Tage nach der Pogromnacht, am 15.11.1938, schrieb ein Rechts-
anwalt an die Baupolizei, daß das Auswärtige Amt die Villa kaufen möchte.
Ribbentrop höchstpersönlich erschien zur Besichtigung. Frau Jacob, die Frau
des Schulleiters, zeigte ihm die Schule und das Gelände, wobei sich Ribben-
trop als höflicher und fürsorglicher Mensch erwies. Er bat Frau Jacob, sich
doch ihren Mantel holen zu lassen, damit sie sich bei dem kühlen Wetter
nicht erkälte!76 Anfang 1939 wurde Dr. Jacob zur Gestapo bestellt oder sogar
verhaftet, kam jedoch bald wieder frei. 77
Am 11.2.1939 wurde ein Kaufvertrag zwischen der in London lebenden
Besitzerin und dem Auswärtigen Amt abgeschlossen. Inwieweit es sich dabei
um einen Zwangsverkauf handelte, ist nicht zu erfahren, da ein Kaufvertrag
nicht gefunden wurde und das Datum dieses Vertrages nur aus einem Schrift-
stück der Baupolizei Zehlendorf vom 29.3.1939 bekannt ist.
Das Gebäude mußte zum 1. April 1939 geräumt werden; damit wurde
auch die Schule aufgelöst. Obwohl die Schule also schon ab Dezember 1939
um ihr bevorstehendes Ende wußte, verfiel sie nicht in Agonie.
Im Dezember 1938 nahmen PriWaKi-Schüler noch an einer englischen
Sprach-Prüfung (Proficiency) teiC8 Die letzten Zeugnisse wurden Ende März

75 Zur schwachen Position des Erziehungsministers Rust in der Nazi-Hierarchie vgl. J.


Walk 1991, S. 44ff.
76 Vgl. F. Jacob, "Zwei unvergeßliche Augenblicke", ca. 1982; Gespräch 1989.
77 Vgl. F. Jacob, Gespräch 1989. Über den Grund konnte Frau Jacob keine Angaben
machen, erinnerte sich jedoch noch, daß eine der Lehrerinnen sich sogleich Sorgen
um die Auszahlung ihres Gehalts machte.
78 Vgl. Rolf Kneller, Brief vom 7.8.1990.

134
1939 ausgestellt,79 Der Schulstempel lautete erst jetzt auf: ,,Private jüdische
Schule Kaliski"; im Kopf des Zeugnisses führte die Schule aber weiterhin den
alten Namen!
Noch zur Purim-Zeit im März 1939 gelang trotz der restriktiven und auch
in psychologischer Hinsicht bedrückenden Bedingungen eine große Schul-
aufführung: "Estherspiel ohne Haman". (P. Jacob 1939) Sie enthielt auch ei-
ne für den dabeisitzenden und sich amüsierenden Gestapo-Mann deutlich er-
kennbare ironische Anspielung auf die nationalsozialistische Judenverfol-
gung und auf die Person Hitlers! (Vgl. F. Jacob, Gespräch 1989) Vor ihrer
endgültigen Schließung hatte die Schule nur noch wenige Kinder und Lehrer.
Doch wurde der Schulbetrieb aufrecht erhalten, denn die Kinder "mußten ir-
gendwie beschäftigt werden". (Ch. Hadar, Gespräch 1989) Die Schule war in-
zwischen eher eine Fürsorgeanstalt für die ihr anvertrauten Kinder und Ju-
gendlichen geworden. Ein geregelter Unterricht fand nur noch eingeschränkt
statt. Die Eltern waren vollauf damit beschäftigt, die Auswanderung zu be-
treiben, was inzwischen eine ausgesprochen schwierige und komplizierte
Angelegenheit geworden war, da in den Haupteinwanderungsländern USA,
England und Palästina strenge Quoten eingeführt worden waren. Deshalb
wurde auch der Betrieb in der Küche des Tagesinternats noch aufrecht erhal-
ten. Frau Guttmann und ihr Sohn Werner, ein inzwischen zum Hotelfach-
mann ausgebildeter ehemaliger PriWaKi-Schüler, bemühten sich nach Kräf-
ten, die Kinder zu versorgen. (Vgl. W. Guttmann 1990)
Der Schulleiter Paul Jacob kümmerte sich intensiv um Emigrationsmög-
lichkeiten für die Schüler. Die Nationalsozialisten hatten ihm einen Paß aus-
gestellt, mit dem er nach Belieben ins Ausland reisen und zurückkommen
konnte. (Vgl. F. Jacob, Gespräch 1989) Wahrscheinlich hat er sich vor allem
bemüht, die Möglichkeiten der Kindertransporte zu nutzen; diese gingen En-
de 1938/Anfang 1939 überwiegend nach England, teilweise auch nach Pa-
lästina (Kinder- und Jugendalija). So gelang es ihm z.B., die von ihm geför-
derte "Palästina-Gruppe" der PriWaKi im Frühjahr 1939 in das Jugenddorf
Ben Shemen nach Palästina zu schicken. (Vgl. R. Lewinsohn 1991)
Es geschah also noch sehr viel in den letzten Monaten, in denen die
Schule noch existierte. Aber jeder Schüler und Lehrer mußte nun zusehen,
wo er blieb. Es gab viele gegenseitige persönliche Hilfen, aber keinen orga-
nisierten Wechsel der Schule mit Schülern und Lehrern ins Ausland. Dazu
reichten weder die Beziehungen der Schulleiter noch ihre finanziellen Mittel
aus. Unseres Wissen ist erst gar nicht der Versuch einer Schul verlegung ge-
macht worden. In dieser Hinsicht war die Goldschmidt-Schule konsequenter.
Sie baute Ende 1938 in England sofort eine neue Schule auf, auf die die
Schüler aus Berlin überwechseln konnten. In Berlin blieb die Goldschmidt-
Schule bis zum Herbst 1939 (Kriegsausbruch) weiter bestehen. (Vgl. S. Heims
1987) So lag es nahe, daß sich auch PriWaKi-SchülerInnen um eine Auf-

79 Vgl. Meta Wreschner, eh. Kochmann, School Leaving Report vom 24.3.1939.

135
nahme bei der Goldschmidt-Schule bemühten, sofern sie nicht sofort auswan-
dern konnten. (Vgl. Fölling 1993, S. 172, Anm. 51)
Der letzte Schulleiter, Paul Jacob, arbeitete bis zum Sommer 1939 in Pa-
ris als Lehrer und wanderte im September mit seiner Frau Franziska nach
Palästina aus.
Einige PriWaKi-Lehrer blieben noch länger in Deutschland, um entwe-
der bei der Auswanderung mitzuhelfen (z.B. Hecht) oder um die noch ver-
bliebenen Kinder weiterhin pädagogisch zu betreuen, wie z.B. die Lehrer AI-
fred Cohn und Ludwig Kuttner, die nach Schniebinchen gingen, einer selbst-
verwalteten zionistischen Bildungs- und Ausbildungsstätte, die auf die Aus-
wanderung nach Palästina vorbereitete. Frau Guttmann, die bis zuletzt in der
PriWaKi-Küche gearbeitet hatte, überlebte mit ihrer Tochter Steffi unter kaum
glaublichen Umständen das "Dritte Reich" in Deutschland. Andere wurden
von der Vernichtungsmaschinerie noch in den Emigrationsländern Holland,
Belgien und Frankreich erfaßt.
Etwa 40 Schüler und 4 Lehrer wurden Holocaustopfer. 80
Für über 90 Prozent ihrer Schülerinnen und Schüler hatte jedoch die
PriWaKi zur rechtzeitigen Emigration und damit zur Rettung beigetragen. sl

80 Ausführlich dazu Fölling 1993, S. 279ff.; Ders. in Busemann u.a. 1992, S. 311ff.
81 Vgl. dazu das Kapitel "Überleben, Flucht und Emigration" in: Fölling 1993, S.
287ff.; Ders. in: Busemann u.a. 1992, S. 320ff.

136
5. Gestalt und Pädagogik einer jüdischen
Reformschule (1932-1939)

Die PriWaKi begann 1932 als Mittelschule. Die Mittelschule und ab 1937 die
Mittelstufe einer Oberschule bildeten immer den eigentlichen Kern der Schu-
le, der auch die mit Abstand größten Schülerzahlen aufwies. Eine Grundschule
sowie eine Oberstufe bekam die Schule erst ab Ostern 1936. Das "Tages-
internat" hingegen war keine eigenständige Schulform, sondern eine Kenn-
zeichnung für den ganztägigen Schulbetrieb, den es als Ergänzung zum Vor-
mittagsunterricht in allen Schulstufen gab.
Im Frühsommer 1938 war der Schulaufbau am weitesten fortgeschritten.
Nach der Schülerliste des Schuljahres 1938/39 gab es im Mai 1938 405
Schülerinnen und Schüler. Davon waren 94 in der Grundschule (1.-4. Schul-
jahr); in der höheren Schule (Mittelstufe der Oberschule, 5.-9. Schuljahr) wa-
ren 266 Schülerinnen und Schüler, und im Bereich "Englische und amerika-
nische Examensausbildung" gab es 45 Schülerinnen und Schüler in den drei
Klassen Eu, Ern, Eo.
Ab Mai 1938 gab es weitere Gruppen, die sich in Abendkursen auf Pro-
ficiency-Prüfungen (Sprachprüfungen) vorbereiteten. (Vgl. Schülerprospekt
1938b) Diese Kurse wurden aber als eigenständige Kurse im Rahmen von
Erwachsenenbildung durchgeführt; die Teilnehmer wurden nicht als Ange-
hörige der Schülerschaft im engeren Sinne betrachtet.

Grundschule

Im Schulprospekt (1938 a) steht über die Grundschule:


"Grundschule (1. bis 4. Schuljahr)
Sie folgt im al1gemeinen dem Lehrgang der staatlichen Grundschulen, unter besonderer Ent-
faltung des kindlichen Gestaltungstriebes und unter betonter Einbeziehung der jüdischen
Vorstel1ungs- und Bildungswelt. Hebräisch wird vom 1. Grundschuljahr an gelehrt.
Der Eintritt in die Sexta der höheren Schule kann nach den hierfür geltenden be-
hördlichen Richtlinien bei geeigneten Kindern schon nach dreijährigem Besuch der
Grundschule erfolgen."

137
In einem von der Schulbehörde ausgegebenen ,,Fragebogen für höhere
Schulen" (Stand vom 25. Mai 1938) ist vermerkt: "Der Schule sind noch vier
Vorschulklassen mit 52 Schülern und 40 Schülerinnen angeschlossen." (Fra-
gebogen für höhere Schulen, PZ Berlin) In der Schülerliste 1938, die etwa
zur sei ben Zeit aufgestellt worden ist, sind 94 genannt. Im Mai 1938 waren
im 1. und 2. Schuljahr je 19, im 3. Schuljahr 29 und im 4. Schuljahr 27 Schü-
ler und Schülerinnen. Die Zahlen liegen deutlich unter denen der Mittelstu-
fenjahrgänge. Das liegt wahrscheinlich daran, daß die nationalsozialistische
Schulpolitik von Anfang an primär darauf abzielte, vor allem Juden aus öf-
fentlichen höheren Schulen zu entfernen, an der (auch staatlich finanzierten)
Volksschulpflicht aber bis Anfang 1939 festhielt.
Parallel dazu richteten die jüdischen Gemeinden, unterstützt vom "Schul-
werk" der "Reichsvertretung der deutschen Juden" vor allem Volksschulen ein,
so daß für Grundschüler das Angebot breiter und vor allem kostengünstiger
war. Wenn dennoch Grundschüler auf relativ teure Privatschulen wie die Pri-
WaKi gingen, so können dafür Engpässe bei den öffentlichen jüdischen Ge-
meindeschulen eine Ursache gewesen sein, denn deren Kapazität und finanziel-
le Mittel für den Ausbau weiterer jüdischer Grund- bzw. Volksschulen gerieten
ab 1937 wegen der zunehmenden Verarmung der deutschen Juden an ihre
Grenze. (Vgl. Walk 1991, S. 101) Es kam so auch zu einer Überfüllung der jü-
dischen Volksschulen. Viele Eltern ließen ihre jüngeren schulpflichtigen Kin-
der deshalb trotz aller Diskriminierungen auch weiterhin auf staatlichen öffent-
lichen Schulen, so daß dort 1937 noch 35 v.H. der schulpflichtigen jüdischen
Kinder registriert waren. (Vgl. Gaertner 1963, S. 332)
Die Kapazitätsgrenzen der öffentlichen jüdischen Gemeindeschulen waren
jedoch keineswegs immer der Grund für den Besuch einer privaten Grundschule.
Viele Eltern sahen darin eine Möglichkeit, ihre Kinder den Diskriminierungen an
staatlichen Schulen zu entziehen. Gerade jüngere Kinder hatten psychisch beson-
ders unter der Ausgrenzung zu leiden, da sie diese am wenigsten begreifen konnten.
Für viele Eltern aber war die Ganztagsbetreuung im "Tagesinternat" aus-
schlaggebend. Dessen ehemaliger Leiter, (Dr. jur.) Lewinski, ein aus dem Staats-
dienst entlassener Jurist, beschreibt das Tagesinternat etwa für das Schuljahr
1936/37:
"Als Tagesinternatsleiter beaufsichtigte ich die Mittagsspeisung, alsdann die kurze
Mittagsrast, Spaziergänge in den nahen Grunewald, beaufsichtigte die Anfertigung der
Schulaufgaben und sorgte für Abwechslung durch Spiele etc. Ich will betonen, daß ich
nur die Jungen und Mädchen der unteren Klassen (6-12 Jahre alt) betreute. Nach einer
Ausgabe von Kakao und Butterbrot wurden die Schüler gegen 17.00 Uhr entlassen.
Nicht alle Kinder blieben im Internat. Meine Gruppe umfaßte etwa 25 Kinder im
Durchschnitt. Die Eltern der von mir Betreuten schickten ihre Kinder ins Internat, weil
sie berufstätig waren, oder aber einige nur einen Elternteil hatten. Ihre Motive waren
wohl auch bedingt durch die offizielle Rassenhetze und den Ausschluß von deutschen
Schulen. 82 Die mir unterstellten Kinder hatten fast ausnahmslos ein geordnetes Farni-

82 Es gab für die genannte Altersgruppe bis Anfang 1939 aber keinen gesetzlichen Aus-
schluß aus öffentlichen Grund- bzw. Volksschulen.

138
lienleben und kamen aus den wohlhabenden Berliner Familien, sprachen aber schon von
diesem oder jenem Angehörigen, der auswanderte.
Das Schulklima war recht zufriedenstellend. Wir versuchten, die erkennbare Angst
vor den Nazis, soweit es möglich war, zu bannen." (Wilhelm Lewinski, Brief vom 7.7.
1989)
Wie schon erwähnt, war die "Vorschule" zunächst auf das 3. und 4. Schul-
jahr beschränkt. Sie existierte in einer Art administrativer Grauzone, aber si-
cher nicht ohne Kenntnis und Duldung des zuständigen Schulrats Spanier.
Öffentlich, etwa in Anzeigen, ist auf die Grundschul-Gruppe unseres Wissens
zu dieser Zeit noch nicht hingewiesen worden. 83 Das änderte sich dann Ende
1935, als Selver die Genehmigung für die Leitung einer Volksschule bean-
tragt haben muß, denn diese Genehmigung wurde am 18.1.1936 erteilt. 84
Der Entschluß, ab Ostern 1936 eine vollständige Grundschule einzurich-
ten, muß im Kontext der Rassengesetzgebung von 1935 gesehen werden, der
eine weitere Ausgrenzung "nichtarischer" Schüler aus den öffentlichen Schu-
len vorsah. In einem Runderlaß des Erziehungsministers vom 10.9.1935
wurde nämlich eine deutliche Drohung ausgesprochen:
"Eine Hauptvoraussetzung für jede gedeihliche Erziehungsarbeit ist die rassische Übe-
rinstimmung von Lehrer und Schüler. Kinder jüdischer Abstammung bilden für die Ein-
heitlichkeit der Klassengemeinschaft und die ungestörte Durchführung der nationalsozia-
listischen Jugenderziehung auf den allgemeinen öffentlichen Schulen ein starkes Hinder-
nis. Die auf meine Anordnung bisher vorgenommenen Stichproben ... haben gezeigt, daß
die öffentlichen Schulen noch immer in nicht unerheblichem Maße von jüdischen Schü-
lern und Schülerinnen besucht werden. Vornehmlich ist dies der Fall in den größeren
Städten ... " (Zit. in Gamm 1984, S. 143)
Als weitere Maßnahme sah der Runderlaß vom 10.9.1935 vor, "vom Schul-
jahr 1936 ab für die reichsangehörigen Schüler aller Schularten eine mög-
lichst vollständige Rassentrennung durchzuführen" und eine "verschärfte Ab-
trennung" der jüdischen Schüler an den öffentlichen weiterführenden Schu-
len vorzunehmen. (Ebenda) Allerdings wird für die Volksschulen und damit
auch für die Grundschulen eine Einschränkung gemacht:
"Bei den Pflichtschulen ist mit Rücksicht auf die auch für Nichtarier nach wie vor beste-
hende Schulpflicht eine Verweisung auf private Volksschulen nicht angängig. Vielmehr
wird die Errichtung öffentlicher Volksschulen notwendig werden."
Auch dieser Passus unterstreicht noch einmal, daß die Entscheidung jüdi-
scher Eltern, ihre Kinder aus der öffentlichen Volksschule zu nehmen, von
der rechtlichen Seite her gesehen noch nicht notwendig war, zumal in vielen

83 Es hat sich wohl eher um einen speziellen Service der Schule gegenüber einem be-
sonders interessierten Elternkreis gehandelt. (Vgl. auch Schlochauer-Nelson, Ge-
spräch 1989). Vielleicht sollte damit auch das Neuaufnahmeverbot für die Mittelstu-
fe umgangen werden, denn die Schule war wegen der wenigen Schüler auf Neuzu-
gänge zu Ostern 1934 unbedingt angewiesen.
84 Erwähnt in einem Schreiben der Abteilung für höheres Schulwesen vom 13.5.1938
an das Erziehungsministerium, LA Berlin.

139
Kommunen eine öffentliche jüdische Volksschule oder eine spezielle jüdi-
sche Klasse eingerichtet wurde. (Vgl. Eilers 1963,S. 99)
Auch wenn also die Absichten zur Rassentrennung an den Schulen vor
1939 nicht so radikal verwirklicht worden sind, wie sie zunächst angekündigt
worden waren - dies war typisch für das Verhalten des Erziehungsministers
Rust -, mußte auch die PriWaKi mit einem stärkeren Andrang von Volks-
bzw. Grundschülern zu Ostern 1936 rechnen, da für viele Eltern auch der
psychische Druck ein ausschlaggebendes Motiv für einen Schulwechsel wur-
de. Außerdem hatten die PriWaKi-Grundschuleltern eine Option für den un-
problematischen Übergang ihrer Kinder in die Mittelstufe erworben, wo der
Andrang ungleich größer war und später auch Aufnahmeprüfungen stattfan-
den. (Vgl. S. Kneller, Gespräch 1989) Dies alles erklärt, warum Ostern 1936
zwar eine vollständige Grundschule an der PriWaKi eingerichtet worden ist,
diese aber nicht annähernd die Größe einer Mittelstufe erreicht hat.

Mittelschule und -stufe

Die PriWaKi war bis Ostern 1937 als preußische Mittelschule konzipiert, die
ihren Abschluß mit der Versetzung von UII nach Oll erreichte. Als Mittel-
schule begann sie Ostern 1932 mit insgesamt 26 Schülern der Klassen VI
(Sexta), V (Quinta), IV (Quarta); in den Folgejahren wurde jeweils eine
Klasse aufgestockt. Dabei blieben die beiden oberen Klassen, also die Quinta
und Quarta des Anfangsjahres 1932/33 ziemlich klein, während die nachfol-
genden Klassen aufgrund der zunehmenden nationalsozialistischen Restrik-
tionen gegenüber Juden an öffentlichen höheren Schulen besonders ab Ostern
1936 einen regen Zulauf erhielten und bald zweizügig geführt werden muß-
ten. Die ersten beiden noch relativ kleinen Klassen erreichten 1936 und 1937
den UII-Abschluß (Mittlere Reife).
1937 fand in Deutschland eine Schulreform statt; dadurch wurde die
Mittelstufe der höheren Schulen um 1 Jahr von 6 auf 5 Jahre verkürzt. (Vgl.
Eilers 1963, S. 59f.) Aus vielen Mittelschulen wurden ab Ostern 1937 "Ober-
schulen" mit dem Status von höheren Schulen. Für die PriWaKi scheint die
Status änderung von einer preußischen Mittelschule zu einer höheren Schule
schon etwas früher erfolgt zu sein, da bereits ab Januar 1937 die Abteilung
für höhere Schulen beim Stadtpräsidenten Berlin die Schulaufsicht über-
nommen hatte. Jedenfalls paßte sich die PriWaKi als nunmehr höhere Schule
der Schulreform förmlich an. Im Schulprospekt heißt es dazu:
"Der Lehrplan VI bis DIll (... ) führt auf Grund der jüngsten Verordnungen zur deutschen
Schulreform bereits nach 5 Jahren zu einem Abschluß, der der früheren ,mittleren Reife'
entspricht." (Schulprospekt 1938a)

Die Verkürzung der Mittelstufe um ein Schuljahr führte auch für die Pri-
WaKi in formaler Hinsicht zu einem Kuriosum: Die om und damit die Mit-

140
telstufe "schließt mit einer Versetzung nach Oll" (Schulprospekt 1938a) und
nicht nach UII wie in früheren Jahren.
Der Klassenautbau der Mittelstufe sah für die einzelnen Schuljahre folgen-
dermaßen aus:
Schuljahr Klassen
1932/33 VI V IV
1933/34 VI V IV VIII
1934/35 VI V IV VIII OIII
1935/36 VI V IV VIII OIII VII
1936/37 VI V IV VIII OIII VII
1937/38 1(VI) 2(V) 3(VI) 4(VIII) 5(OIII)
1938/39 1. 2. 3. 4. 5.
Durch die Oberstufenreform 1937 entfiel nicht nur die UII; auch die Klas-
senbezeichnungen änderten sich. Aus der Sexta wurde die 1. Klasse, aus der
Quinta die 2. Klasse etc. Die Mittelstufe endete mit der 5., die Oberstufe der
deutschen Oberschule mit der 8. Klasse. In der PriWaKi übernahm man diese
neuen Klassenbezeichnungen nur für offizielle Anlässe und Dokumente (z.B.
Zeugnisse); gleichzeitig wurden aber auch die lateinischen Klassenbezeich-
nungen beibehalten. (Vgl. Schülerliste 1938) Vor allem in der Umgangssprache
benutzte man an der PriWaKi weiter die lateinischen Bezeichnungen. (Vgl. z.B.
M. Friedlander, Brief vom 6.5.37) Dies war vermutlich nicht nur eine Prestige-
Angelegenheit, sondern auch ein Akt der Distanzierung von der "Arisierung"
der höheren Schule.
Sieht man von der informellen Grundschüler-Gruppe ab, so bestand die
Schule bis Ostern 1936 ausschließlich aus einer Mittelstufe, die ab Ostern
1935 erstmals vollständig ausgebaut war, also das 5. bis 10. Schuljahr (Sexta
bis Untersekunda) einschloß.
Bis Ostern 1937 galt die PriWaKi als preußische Mittelschule; dies war
ein spezieller preußischer Schultyp. Die Schulaufsicht oblag dem Stadtschul-
rat, Abteilung für Volks- und Mittelschulwesen beim Stadtpräsidenten Ber-
lin, wie aus dem Schriftverkehr der Schule mit den Behörden hervorgeht. Bis
1936 war der Schulrat Spanier für die Schule zuständig; er scheint die Exi-
stenz der PriWaKi insgesamt wohlwollend unterstützt zu haben.
Doch wollte die Schule schon bald höher hinaus, da sie im Briefkopf bis
zum Umzug nach Dahlem am 15.2.1936 die Bezeichnungen "Oberrealschule"
und "Reformrealgymnasium" geführt hat. 8s Diese Bezeichnungen wurden
nach dem Umzug nach Dahlem ersatzlos aus dem Briefkopf gestrichen, ob-

85 Diese Bezeichnungen galten den sich Ende des 19. Jahrhunderts als Konkurrenzun-
ternehmen des altsprachlichen Gymnasiums herausgebildeten 9jährigen höheren
Schulen mit Abiturberechtigung ab 1900. Betont wurden Naturwissenschaften und
moderne Sprachen. Das Realgymnasium verlangte Latein als Pflichtsprache, was sich
aber an der PriWaKi nicht durchsetzen konnte. Zur Entstehung der Oberrealschule
und des Realgymnasiums vgl. Blankertz 1982, S. 167ff.

141
wohl die Schule ab Ostern 1936 eine Obersekunda hatte. In dem Schulpro-
spekt (1938 a), der etwa im Mai/Juni 1938 gedruckt worden ist, beschreibt
die PriWaKi ihre Mittelstufe folgendermaßen:
"Höhere Schule (5. bis 9. Schuljahr)
Sie unterrichtet getrennt für Jungen und Mädchen, nach den Lehrplänen der Unter-
und Mittelstufe der deutschen Oberschule und schließt mit der Versetzung nach 0 II.
Außer Hebräisch werden als Fremdsprachen Englisch und Französisch, bzw. Latein
gelehrt. Die nach modernen Grundsätzen aufgebaute Lehrweise der Fremdsprachen zielt
besonders auf Sprechgewandtheit ab. Sie wird verstärkt durch freiwillige Teilnahme an
kleineren Konversationsgruppen und auf der Mittelstufe durch einen zusätzlichen Unter-
richt bei englischen Lehrkräften.
Der Lehrplan von VI bis 0 III erreicht eine gute Allgemeinbildung mit einem ersten
historischen Überblick über die Gesamtentwicklung bis zur Gegenwart." (Schulprospekt
1938a)
Die Schülerinnen und Schüler erhielten nach Beendigung der Mittelstufe ein
"Schlußzeugnis", wenn sie in die englische und amerikanische Examensaus-
bildung der PriWaKi gingen; andernfalls gab es ein ,,Abgangszeugnis".
Ende 1937 wurde noch im 10. Schuljahr, das damals schon zur Oberstufe
gehörte, eine schulinterne Abschlußprüfung zur Mittleren Reife abgehalten, über
die eine der betroffenen Schülerinnen folgendes schrieb:
"Nun noch einiges von der Schule: Mitte Dezember [1937] haben wir so etwas ähnliches
wie ein Einjähriges gemacht. Das war sozusagen die Aufnahmeprüfung für die englische
Klasse. Ich bin mit Pauken und Trompeten durchgerasselt. In Englisch, Französisch und
Deutsch. Nur Mathematik war gut. Sogar sehr gut. Ich habe nämlich die beste Arbeit der
Klasse geschrieben. Das hat mir aber wenig genutzt. Nun sitze ich also in der deutschen
Klasse. Einerseits ist das sehr gemütlich, denn wir sind hier nur 8, andererseits ist es we-
niger gemütlich sich zu denken, zu den Schlechtesten zu gehören. Aber weißt Du, noch
für eineinhalb Jahre Paukerei, und noch dazu eine solche wie fürs Matric, habe ich jetzt
doch kein Sitzfleisch. Bis zum Dezember war ich im Tagesinternat, jetzt bin ich nur noch
Vormittagsschülerin, bin also außer an den Tagen, an denen ich Turnen habe, nachmittags
frei. Ich werde dann abgehen und an eine irgendeine Mode- oder Textilzeichenschule ge-
hen. Was dann weiter wird, werden wir sehen.,,86

Die PriWaKi hielt also noch möglichst lange an ihrer alten Ausbildung ein-
schließlich dem 10. Schuljahr fest. Aus den Zeugnissen ist auch das Fächer-
spektrum der Mittelstufe vor und nach der Schulreform bekannt. Die Zeug-
nisformulare wiesen folgende Fächer aus: Religionslehre, Hebräisch, Deutsch,
Französisch, Englisch, Lateinisch, Geschichte, Erdkunde, Rechnen u. Mathe-
matik, Physik, Chemie, Naturgeschichte u. Biologie, Zeichnen, Musik, Wer-
karbeit, Nadelarbeit, Leibesübungen, Handschrift.
Im Lehrplan der PriWaKi lag der Schwerpunkt auf den modemen Fremd-
sprachen. Dazu die damalige Schülerin (1937/38) Marianne Glaser:
"Die Kaliski-Schule (.) legte besonderen Wert auf Sprachen, was sie bereits vor der Schul-
reform getan hatte, so daß ich in dieser Hinsicht im Nachteil war. Die Schulreform hat

86 M. Friedlander, eh. Glaser, Brief vom 15.1.1938. M. Glaser war Ende 1936 von einer
öffentlichen höheren Schule an die PriWaKi gekommen.

142
aber nicht nur ein Schuljahr gestrichen (eine Secunda), sondern die Schulen mußten sich
für Ostern 1937 entscheiden, ob sie ,Sprach'- oder ,Wissenschaftliche' Schulen sein wür-
den. Die Kaliski-Schule entschied sich für ,Sprachen', und so mußten wir in diesem Jahr
auch noch mit Latein anfangen. Chemie war auch ein neues Fach in diesem Jahr, was un-
ter dem vorherigen Plan erst ein Jahr später gelehrt wurde." (Brief vom 9.12.1990)
Die "Oberschule Jungen" unterschied sich von der "Oberschule Mädchen"
nach der Schulreform auch im Lehrplan. Während vorher die Unterschiede
nur darin bestanden, daß Jungen keine Nadelarbeiten und Mädchen meistens
keine Werkarbeiten machten, bekamen die Jungen nunmehr als zweite
Pflichtfremdsprache Latein und als dritte Pflichtfremdsprache Französisch.
Die Mädchen hatten weiterhin nur zwei Pflichtfremdsprachen: Englisch und
Französisch. Latein war vor der Schulreform an der PriWaKi für alle Schüler
nur Wahlfach gewesen. In der 0111 des Schuljahres 1938/39 wurde die Ko-

°
edukation aber nicht mehr aufgehoben; auch nicht in den höheren Klassen.
Die III wurde als "Oberschule Jungen" weitergeführt, obwohl die Klasse
zu einem kleineren Teil aus Schülerinnen bestand, die dann auch Latein ler-
nen mußten.

Oberstufe

Als Ostern 1936 der älteste Jahrgang, der 1932 als Quarta begonnen hatte,
die Untersekunda beendete, standen Schüler, Eltern und vor allem die Schul-
leitung vor der Entscheidung, was mit den Schülern weiter geschehen sollte, da
ein Übergang auf eine öffentliche höhere Schule zu dieser Zeit praktisch nicht
mehr möglich war. Schon in früheren Jahren scheint das Ziel gewesen zu sein,
die PriWaKi zu einer höheren Schule mit Oberstufe auszubauen. Darauf wei-
sen jedenfalls die Bezeichnungen "Oberrealschule" und "Reformrealgymna-
sium" hin, die noch 1934 den Briefkopf der PriWaKi zierten, dann aber - mög-
licherweise auf Anordnung der Schulaufsicht - verschwanden. Aber Selver
scheint 1935 rechtzeitig und erfolgreich den Antrag gestellt zu haben, ab
Ostern 1936 auch ein 11. Schuljahr (Obersekunda) einrichten zu dürfen, denn
in einem Schreiben an die Baupolizei Wilmersdorf heißt es, daß der Schule
"der weitere Ausbau der Abschlußklasse Untersecunda genehmigt ist..." (H.
Selver, 30.10.1935, LA Berlin)
So wurde aus der Abschlußklasse ab Ostern 1936 zunächst eine Oberse-
kunda, wie auch aus den Anzeigen der Schule nach Ostern 1936 hervorgeht.
Aber der Start in die Oberstufe stand zunächst unter keinem guten Stern.
Schon als Untersekunda hatte die neue Obersekunda nur bis zu 10 Schülerin-
nen und Schüler gehabt, von denen Ostern 1936 mehrere abgingen. Auch die
noch verbliebenen Schüler hatten nicht alle den unbedingten Willen, das deut-
sche Abitur zu machen, da der Zugang zu einer deutschen Universität praktisch
unmöglich geworden war. Die daraus sich entwickelnde Krise schildert die da-
malige Schülerin Hanni Stein:

143
"lch (wollte) weggehen in einen Kibbuz. Wir waren doch nur eine Klasse von nur sieben
oder acht Schülern. (00.) Eines Tages haben wir beschlossen: Wir wollen nicht weiterler-
nen! (00.) Wir haben beschlossen, daß wir weggehen. Dann wurden wir bearbeitet von al-
len Seiten, von Lehrern, von Eltern, von Freunden, daß wir weitermachen sollten. (00.)
Und ich weiß, daß der Ernst Schlochauer und Helmut Bernstein gern weiterlernen woll-
ten. Aber wegen zwei Schülern hätte man die Klasse nicht halten können. (00.) Damals
bestand ja noch gar nicht die Möglichkeit, (das englische) Abitur zu machen. Diese Sache
mit England, die kam ja erst durch uns. Denn wenn die Schule uns weiter halten wollte,
mußte sie einen Weg finden, uns einen weitergehenden Abschluß zu ermöglichen."
(Hanni Neumann, eh. Stein, Gespräch 1990)
Die Klasse erhielt dann eine Einladung, an englischen Schulen zu kospitie-
ren. Noch vor der Abreise der Gruppe nach England Anfang 1937 scheint
entschieden worden zu sein, daß auch die PriWaKi die Vorbereitung auf die
englische und amerikanische Reifeprüfung, auch Matric genannt, als Lehr-
programm der Oberstufe einführen würde, denn die Obersekunda begann
schon im Herbst 1936 mit einer provisorischen Vorausbildung (vgl. L. Ithai,
Gespräch 1990), die nach der Rückkehr der Klasse im April 1937 mit dem
englischen Lehrer Jones an der PriWaKi fortgeführt wurde. Zuletzt blieben
nur noch zwei Schülerinnen (Hilde Richard, Johanna Stein) und zwei Schüler
(Helmut Bernstein, Ernst Schlochauer) übrig, die im Dezember 1937 nach Eng-
land zurückfuhren und dort erfolgreich die Zulassungsprüfung für die Uni-
versität Cambridge ablegten. 87
Damit hatte die Klasse nach knapp 12 Schuljahren ihren Abschluß er-
reicht. Kandidaten für das deutsche Abitur gab es nicht mehr in dieser Klas-
se. Ähnlich dürfte es sich mit dem nachfolgenden Jahrgang verhalten haben,
der Ostern 1937 die UII abgeschlossen hatte. Da ab Ostern jedoch englisches
Lehrpersonal an die Schule geholt worden war (Mr. Jones und nach einigen
Monaten auch Mr. Plotnick; später auch weitere Lehrkräfte), wurde bereits in
der Mittelstufe (0 III) mit einem speziellen Englisch-Programm auf frei-
williger Basis begonnen (vgl. M. Glaser, Brief v. 6.5.37), so daß die nach-
folgenden Hauptkurse gestrafft werden konnten. Der nachfolgende Jahrgang
hat die englische Matric-Prüfung, die nun auch in Berlin abgelegt werden
konnte, bereits im Juli 1938 absolviert. 88
Ostern 1937 fand aber auch die Kürzung der Mittelstufe um ein Jahr auf-
grund der Schulreform statt, wodurch nicht nur die Absolventen der UII in
die Oberstufe wechselten, sondern auch die Schüler der OIII. Aus der Sicht
einer betroffenen Schülerin ergab sich damit folgende Perspektive für die
Oberstufe, die sie in einem Brief an einen bereits emigrierten Bekannten be-
schrieb:
"Du hast vielleicht etwas über die deutsche Schulreform gelesen oder gehört. Die wirkt
sich gerade in unserer Klasse besonders aus. Früher gab es doch Sexta, Quinta, Quarta,
zwei Terzien, zwei Secunden und zwei Primen. Heute gibt es aber nur noch eine Secunda.

87 Vgl. H. Neumann, Gespräch 1990; School Certificate Examination vom 18.12.1937.


88 Vgl. Gerd Nothmann, Fb, 2.0 und School Certificate der University of Cambridge,
July 1938.

144
Das andere bleibt so wie es war. Dadurch kommt das Abitur natürlich ein Jahr früher.
Dieses Jahr wäre ich eigentlich in die Untersecunda gekommen. Durch die Schulreform
bin ich aber in die Secunda gekommen. Unsere Klasse hat es deshalb besonders schwer,
denn wir haben zwei Jahrespensen in einem zu schaffen. In meiner Schule besteht dazu
eine englische Klasse, das heißt eine Klasse, die auf das englische Abitur, also auf das
Matrik vorbereitet wird. Gerade auch in unserer Klasse beginnt die Sondervorbereitung
fürs Matrik. Wir haben sozusagen dreifache Arbeit. Diese Vorbereitungsstunden sind auf
den Nachmittag gelegt. Wenn ich auch höchstwahrscheinlich das Matrik nicht mache, bin
ich doch in der Englisch,puppe, um Englisch zu lernen. Zwei englische Lehrer, Englän-
der, sind in der Schule."s

Dadurch konnten entsprechend vorbereitete Schüler aus dieser Secunda


(auch als 6. Klasse bezeichnet) Ostern 1938 bereits auf mittlerem Niveau
(Ern) die Matric-Vorbereitung fortführen. Der Ern-Kurs ("Summer and autumn
term") dauerte bis Anfang Oktober 1938; dann folgte der Eo-Kurs ("winter
term"), der wahrscheinlich bis Juni 1939 gedauert hätte. 90 Wegen der Schlie-
ßung der PriWaKi im März 1939 konnte er aber nicht mehr mit einer Matric-
Prüfung an der PriWaKi abgeschlossen werden. 91
Die im Brief von M. Glaser angesprochenen Primen, die bis zum Abitur
führen sollten, hat es dann nicht mehr gegeben.
Damit ist belegt, daß das deutsche Oberschulprogramm nur bis ein-
schließlich der alten 10. Klasse (= 6. Klasse nach der Schulreform) weiterge-
führt wurde und dann endete. Danach können wir für die einzelnen Schuljah-
re folgende Oberstufenorganisation nach Klassen und Kursen rekonstruieren:

Schuljahr Klasse/Kurs
1936/37 E (Oll)
1937/38 6.(11) E2 EI (bis Dez. 37)
1938/39 Eu (11) Ern Eo

(11 =Sekunda; Oll =Obersekunda; Eu = unterer Englisch-Kurs; Ern = mittlerer Englisch-


Kurs; Eo = oberer Englisch-Kurs)
Die Matric-Ausbildung dauerte ca. 16 Monate,doch da sie immer früher ein-
setzte, verkürzte sich die gesamte Schulzeit von anfangs 11 Jahre 9 Monate
auf zuletzt 10 Jahre 3 Monate bis zur englischen und amerikanischen Reife-
prüfung. Diese permanenten Veränderungen und besonders die Verkürzun-
gen der Schulzeit zeigen auch den äußeren Druck an, unter dem Schule und
Schüler zuletzt standen. Auch in den Schulprospekten (1938 a, c) ist die
Dauer der englischen Examensausbildung für die Oberstufe erwähnt:
"Die Dauer der Ausbildung richtet sich nach Vorkenntnissen und Begabung des Schülers.
Sie erstreckt sich auf etwa zwei Jahre nach Abschluß der deutschen Mittelstufe, da sie in

89 Marianne Friedlander, eh. Glaser, Brief v. 6.5.1937.


90 Vgl. dazu P. Landberg; Zeugnis v. 28.3.38; Report v. 7.10.38; Report v. 21.12.38.
91 P. Landsberg hat die PriWaki Ende Dezember '38 wegen der bevorstehenden Aus-
wanderung verlassen. Er ist dann in England auf eine Schule gegangen und hat dort
die Matric-Prüfung wie vorgesehen Mitte '39 abgelegt. Vgl. Brief v. 17.12.90.

145
unserer Schule bereits während des Besuchs der deutschen Oberschule durch den zusätz-
lichen Unterricht bei Engländern vorbereitet wird. Gegenüber dem Abschluß mit deut-
schem Abitur ergibt sich so ein Zeitgewinn von durchschnittlich einem Jahr.,,92
Damit wurde zu diesem Zeitpunkt (ca. Mai 1938) eine Schulzeit von 11 Jah-
ren ausgewiesen, obwohl diese in der Praxis durch die Vorverlagerung und
Komprimierung des Oberstufen unterrichts deutlich unterboten wurde, wie
gezeigt worden ist.
Die von der Schulgründerin Kaliski und ehemaligen Schülern immer
wieder vorgebrachte Begründung, eine Oberstufe sei nicht zustandegekom-
men oder nicht bis zur Oberprima weitergeführt worden, weil Juden die deut-
sche Reifeprüfung nicht mehr hätten ablegen können, ist nachweislich falsch.
Dies geht sogar aus dem PriWaKi-Schulprospekt von 1938 hervor, denn dort
steht:
"Die Fortführung der deutschen Schulausbildung auf einer deutschen Oberstufe mit dem
Ziel des Abiturs wird von der Schule unter den gegebenen Umständen für den Jugendli-
chen nicht erstrebt, obgleich die Ausbildung und Zulassung unserer Schüler zur deutschen
Reifeprüfung auf Grund der Verfügung des Herrn Reichs- und Preußischen Ministers für
Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung [RMtwEV] vom 2. Juli 1937 möglich wäre."
(Schulprospekt 1938 a)
In dem behördlichen Fragebogen für 1938 wird die Frage "Ist die Schule be-
rechtigt, das Reifezeugnis zu erteilen?" mit "nein" beantwortet. Dies galt aber
nicht generell für jüdische Privatschulen. So war von der erst 1935 gegründe-
ten Goldschmidt-Schule bereits zweieinhalb Jahre später in der jüdischen
Presse zu lesen:
"Die ersten Abiturienten der Jüdischen Privatschule Dr. Leonore Goldschmidt haben am
29. September die Reifeprüfung vor einer staatlichen Kommission abgelegt. Beide Kan-
didaten gehören gleichzeitig einer Schülergruppe an, die von der Universität Cambridge
zur Englischen Reifeprüfung (School Certificate Examination) im Dezember dieses Jahres
zugelassen ist." (Jüdische Rundschau vom 8.10.1937)
Für die Goldschmidt-Schule war von dem zuständigen Schulrat Hübner, der
die Gründung dieser Schule tatkräftig unterstützt hatte und der ab 1937 auch
für die PriWaKi zuständig war, in bezug auf das Abitur allerdings schon eine
spezielle Regelung getroffen worden:
" ... Hübner erreichte, daß die Schule anerkannt wurde als ,Ersatz für eine öffentliche Hö-
here Schule mit dem Recht der Reifeprüfung'. ,,93

Die Goldschmidt-Schule scheint damit zu einem Modell für eine veränderte


Abiturregelung an jüdischen Höheren Schulen geworden zu sein. Diese neue
Regelung erschien am 18.1.1938 als Erlaß des Erziehungsministeriums:
"In dem nach dem Lehrplan höherer Schulen unterrichtenden jüdischen Privatschulen
sind Reifeprüfungen durch einen besonderen Prüfungsausschuß unter Vorsitz eines staat-

92 Schulprospekt 1938 a, Hervorh. im Orig.


93 L. Goldschmidt, Brief an Joseph Walk, 20.1.1962, abgedruckt in Heims 1987

146
lichen Beauftragten abzuhalten. (... ) Im Zeugnis ist zum Ausdruck zu bringen, daß der
Schüler eine jüdische Privatschule besucht hat." (Zit. in Walk 1981, S. 212)
Damit war der Neuzugang zu einer deutschen Universität nicht mehr mög-
lich. Außerdem wurde die Bestimmung vom 2.7.1937 aufgehoben, die jü-
dische Schüler zur Reifeprüfung an öffentlichen Schulen zuließ (ebenda), so-
fern die besuchte Privat- oder Gemeindeschule den Ansprüchen einer Höhe-
ren Schule genügte. Die PriWaKi hätte bis dahin diese Möglichkeit nutzen
können. Auf der Basis des Erlasses vom 18.1.1938 hätte sie auch eine Ge-
nehmigung für Abiturprüfungen erhalten können, wenn sie Kandidaten ge-
habt hätte.
Doch war die Frage der Abiturberechtigung ab 1938 eigentlich kein gro-
ßes praktisches Problem mehr, denn wegen der weitgehenden Unbrauchbar-
keit des deutschen Abiturs gab es nur noch wenige Interessenten. Die Gold-
schmidt-Schule hatte im Herbst 1937 auch nur zwei Kandidaten. Allerdings
realisierte sie die 12jährige Schulzeit und ermöglichte ihren Schülern auch in
der Praxis das deutsche Abitur sogar alternativ im sprachlichen und naturwis-
senschaftlichen Bereich, und darüber hinaus war auch die Matric-Prüfung in
diesem Rahmen möglich. 94

Das Tagesinternat

Das "Tagesinternat" machte die PriWaKi zur Ganztagsschule. Es wurde von


etwa zwei Dritteln der Schüler und Schülerinnen besucht. (Schulprospekt
1938 c)
Aus einem Schreiben Selvers kann die Gestaltung des Tagesinternats für
das Jahr 1933 entnommen werden. Unter Punkt 5 des Schreibens heißt es:
"Der Schule ist ein Tagesinternat angegliedert. Die Schultage Montag bis Freitag verlau-
fen in folgender Weise:
8.30 Uhr - 14.00 Uhr Unterricht.
Für den Vormittag ist von der Schulbehörde eine Pausenordnung genehmigt, die von
11.00 Uhr - 11.30 Uhr eine halbstündige Pause eintreten läßt, während der die Kinder in
der ,Halle' Milch trinken können.

94 Vgl. Heims 1987, S. 5f. Aber auch andere jüdische Privatschulen konnten Rei-
feprüfungen abnehmen. Anfang 1938 waren dies die Privatschule der Jüdischen Ge-
meinde nach dem Lehrplan einer Oberstufe, die Oberschule der Adass-Jisroel-Ge-
meinde und die Lessler-Schule. (Vgl. Wegweiser 1987, S. 243f.) Das Abitur konnte
für jüdische Schüler in Berlin noch erstaunlich lange abgelegt werden, wenn auch
mit zunehmenden Einschränkungen: "Anfang März 1940 wurden an den fünf noch
voll ausgebauten höheren Schulen (ohne Fürth) die deutschen Reifeprüfungen unter
staatlicher Aufsicht abgehalten, denen sich in Berlin vierzehn, in Hamburg nur noch
zwei Abiturienten unterzogen." (J. Walk 1991, S. 224) Die letzte Reifeprüfung fand
im März 1942 an der Berliner Höheren Schule statt. Die drei "Volljuden" unter den
"nichtarischen" Schülern, die bestanden hatten, wurden wenig später in den Osten
deportiert und kamen dort um. (Vgl. Walk 1991, S. 225)

147
14.00 Uhr - 14.20 Uhr Pause für die im Internat verbleibenden Kinder
14.20 Uhr - 15.00 Uhr Mittagessen
15.00 Uhr - 16.00 Uhr Ruhestunde auf den Liegestühlen in der gelüfteten ,Halle'
oder Spaziergang
16.15 Uhr - Schluß Freie Ausgestaltung der Nachmittage mit Spiel, Sport, Gym-
nastik, Werkarbeit, Lektüre und evtl. den Unterricht ergänzenden Studienarbeiten."
Unter Punkt 7 heißt es in dem Schreiben: "Der Schulschluß ist im Sommer um 18.00
Uhr, im Winter um 17.30 Uhr. Am Sonnabend wird die Schule um 1.05 Uhr geschlossen.,,95

Das Tagesinternat entlastete die Eltern von der Beaufsichtigung und Betreu-
ung der Kinder am Nachmittag. Dabei waren besonders vor 1933 sowohl be-
rufliche wie auch familiäre Gründe ausschlaggebend für die Anmeldung der
Kinder auch für die Nachmittagsbetreuung. Auch aus pädagogischen Grün-
den war das Tagesinternat notwendig, denn nur hier war es möglich, die Ide-
en der Waldschul- und Reformpädagogik praktisch umzusetzen, wie auch
schon in der oben zitierten kurzen Beschreibung von Sei ver deutlich wird.
Nach 1933, besonders aber ab 1936, als die Freizeitmöglichkeiten der jüdischen
Kinder immer mehr eingeschränkt wurden und sie auch Beschimpfungen durch
Erwachsene sowie Prügel durch Gleichaltrige befürchten mußten, hatten sie in
den Nachmittagsaktivitäten der Schule einen guten Ausgleich, und vor allem
waren sie nicht sozial isoliert. Das Tagesinternat ergänzte alle Schulstufen.

Pädagogische Ziele

In den pädagogischen Zielvorstellungen und Konzeptionen der PriWaKi gab


es zwischen 1932/33 und 1938/39 große Verschiebungen und Veränderun-
gen, aber auch Kontinuität, wie schon der Darstellung der Schulgeschichte
entnommen werden konnte. Die pädagogische Konzeption des Schuljahres
1932/33 können wir nur aus Erinnerungen der Gründerin Lotte Kaliski und
kleineren Sekundärquellen (z.B. Zeitungsanzeigen) rekonstruieren. Die Pro-
grammatik im letzten Schuljahr (1938/39) wird in den Schulprospekten von
1938 umrissen. Ihre pädagogischen Vorstellungen in der Gründungszeit
(1932) hat Lotte Kaliski rückblickend so formuliert:
"Ich hatte ein großes Interesse an der Landschulbewegung, Reformschul-Schulreformbe-
wegung. An die einzelnen Namen erinnere ich mich außer Odenwald nicht mehr ... Ich
hatte ein großes Interesse, und es wurden ja damals auch viele Bücher veröffentlicht...
Was man hier [in den USA - W.F.] später Progressive Education genannt hat. ( ... ) Der
Hauptgedanke, der so attraktiv für mich war, war im Freien (zu) unterrichten. Es gab eine
gewisse Freizügigkeit, Freiheit. (Dies stand) auch im Zusammenhang mit der Schulre-
formbewegung, und deshalb habe ich es ja auch von Anfang an Waldschule genannt. Wir
waren im ... Eichkamp. Der Sportplatz Charlottenburg war direkt am Wald. Es war ein
großes Gebäude und direkt über die Straße weg war der Wald." (L. Kaliski, Gespräch am
31.1 0.1989)

95 H. Selver, Schreiben an die Baupolizei Wilmersdorf, 4.12.1933, LA Berlin

148
Als konkretes Modell hatte sie aber vor allem die Städtische Waldschule an
der Heerstraße (Grunewald) in Berlin vor Augen, die 1904 als eine der ersten
Waldschulen gegründet worden war. 96 Allerdings hatte Lotte Kaliski diese
Schule nur einmal kurz besucht, und wir wissen nicht, wie stark sie in den
pädagogischen Details tatsächlich als Modell gedient hat. 97
Es bleiben nach alledem einige pädagogische Ideen, die insgesamt der
damaligen Bewegung der Neuen Erziehung (Reformpädagogik) zuzuschreiben
sind. Innerhalb dieser facettenreichen reformpädagogischen Bewegung in
Deutschland zeigte die Waldschulpädagogik aber auch noch einige spezifi-
sche Züge, die in den pädagogischen Zielen der PriWaKi wiederzufinden sind.
So betont Lotte Kaliski immer wieder: "I loved the idea of a school in
the open air ... " (Memories 1983) Der am Wald liegende Sportplatz Charlot-
tenburg sowie das anschließende große Waldgelände waren für die geplante
Schule also von großer Bedeutung, ebenso der Aufenthalt und auch der Un-
terricht in der freien Natur. Auch die Waldschulpädagogen postulierten schon
vor dem Ersten Weltkrieg, daß der "Unterricht im Freien" der "Hauptförde-
rer" der kindlichen Entwicklung sei. (König 1910, S. 90) Wichtig waren auch
Ruhephasen, Spiele, Sport und Gartenarbeit im Freien. All dies wurde auch
an der PriWaKi praktiziert.
Bei der Waldschule, die um die Jahrhundertwende gleichzeitig mit der
Jugendbewegung und der neuen pädagogischen Bewegung entstanden war,
handelte es sich ursprünglich um eine Freiluftschule, die kranke Kinder the-
rapieren oder prophylaktisch wirken sollte. Diese Schulen glichen anfangs
Erholungsstätten und Sanatorien für Kinder, die dort auch nur vorübergehend
verweilten. Daraus entwickelten sich dann Schulen, die nicht mehr vorrangig
medizinische Gesundheitstherapie betrieben, sondern das Lernen und den
Aufenthalt im Freien auch zu einer pädagogischen Norm erhoben:8 Die Phi-
losophie war, daß das Lernen im Freien nicht nur dem Körper guttue, son-
dern auch den Geist anrege, so daß die Kinder sich besser und freier entwik-
keln könnten. Diese Vorstellung scheint auch die Schulgründerin gehabt zu
haben, da sie, wie zitiert, ebenfalls diesen Zusammenhang herstellt. Zu den
Intentionen dieser Freiluftpädagogik gehörte auch der Aufenthalt im Freien
über den Unterricht hinaus. So verbrachten die PriWaKi-Schüler ihre Ruhe-
pausen möglichst draußen in Liegestühlen; auch fanden häufig Wanderungen
und Spiele im angrenzenden Waldgelände statt. Da aber gleichzeitig nach

96 Vgl. K. König, 1910. Unsere weiteren Aussagen über die Waldschulpädagogik fol-
gen dieser Darstellung.
97 Mit der Städtischen Waldschule an der Heerstraße hatte die PriWaKi nur eine äußere
Ähnlichkeit. Eine größere "innere" Übereinstimmung bestand mit der Privaten Wald-
schule Grunewald von Toni Lessler (V gl. Wilmersdorf Museum 1992), die aber von
L. Kaliski nicht erwähnt wird.
98 Dies gilt für die meisten Waldschulen, soweit es private höhere Schulen für den
Mittelstand waren. Die ursprüngliche Therapie-Funktion war bei diesen Kindern in
der Regel überflüssig. Aus dem Freiluft- und Waldschulunterricht war weitgehend
ein Modetrend geworden.

149
dem Lehrplan einer höheren Schule unterrichtet werden sollte, ließ sich die
Waldschulpädagogik nur zufriedenstellend in einer Ganztagsschule realisie-
ren; auch deshalb war die Einrichtung eines "Tagesintemats" notwendig.
Darüber hinaus gab es in der Waldschulpädagogik aber auch noch andere
Vorstellungen, die mit den Zielen, Inhalten und Methoden der Reformpäd-
agogik99 konform gingen und die auch in der PriWaKi des Jahres 1932/33
realisiert werden sollten. Hierbei verweisen wir noch einmal auf den ab Janu-
ar 1932 erschienenen Anzeigentext:
"Waldschulheim" deutete die Verbindung zur Landschulheim-Konzep-
tion an, wobei letztere aber Voll internate waren. Die explizite Erwähnung
von "Gymnastik, Duschen, Höhensonne, Liegeterrasse" kennzeichnet jedoch
stärker einen spezifischen Aspekt der Freiluft- und Gesundheitspädagogik
der Waldschule. Motive dürften auch in der Biographie von Lotte Kaliski lie-
gen. Hierbei ist besonders auf ihren therapeutischen Kampf gegen die Folgen
ihrer Polio-Behinderung zu verweisen. Aber auch in der Jugendbewegung,
der Lotte Kaliski angehört hatte, waren Naturnähe und körperliche Wider-
standskraft erstrebenswerte Ziele, die durch Wanderungen, Sport etc. erreicht
werden sollten.
"Individuelle Behandlung" wiederum ist eine Norm der Reformpädago-
gik, die postuliert, daß der Pädagoge so weit wie möglich auf die besonderen
Begabungen, Probleme und Interessen des einzelnen Kindes einzugehen ha-
be. Damit hatte die PriWaKi sich auch auf eine Förder-Pädagogik für einzel-
ne Kinder verpflichtet.
Das Prinzip der kleinen Lerngruppe bzw. der verkleinerten Klassenfre-
quenz ist ein weiteres Moment der Waldschulpädagogik und darüber hinaus
auch der Reformpädagogik, das die PriWaKi schon deshalb verwirklicht hat,

99 "Reformpädagogik" steht für eine Vielzahl kulturkritischer und pädagogischer Moti-


ve und Entwicklungen, die mit Definitionen und Abgrenzungen nur unzureichend zu
erfassen sind. (Vgl. Oelkers 1989) Im Unterschied zur Waldschulpädagogik läßt sich
kein handfestes Ausgangsproblem bestimmen, sondern nur das sehr viel umfassende-
re, aber auch diffusere Motiv der Kulturkritik und der ideologischen und affektiven
Reaktion auf den gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß ab Ende des 19. Jahr-
hunderts. Das Unbehagen richtete sich gegen die autoritäre Schule des Kaiserreichs,
aber auch gegen die Verkrustung der Gesellschaft. Gegen das Künstliche und Er-
starrte sollte das Natürliche und Lebendige, also vor allem auch die Natur und das
echte Gemeinschaftserlebnis gesetzt werden. Beides war in der Pädagogik der Pri-
WaKi von großer Bedeutung. Viele der pädagogischen Ideen entstammten aber auch
schon der Aufklärungspädagogik des 18. Jahrhunderts. So kann man in der verspro-
chenen "individuellen Behandlung" des PriWaKi-Schülers unschwer das Rousse-
au'sche Postulat der Erziehung "vom Kinde aus" wiederentdecken. (Tenorth 1988, S.
203) Die Vergleiche ließen sich fortsetzen; ein systematischer Vergleich liegt jedoch
nicht in der Intention dieser Arbeit. Jedoch lassen sich alle besonderen methodischen
Ideen der PriWaKi in den pädagogischen Vorstellungen und Didaktiken der bekann-
ten Schulreformer wiederfinden, wie sie Z.B. bei W. Scheibe (1976) vorgestellt wer-
den. Die Überwindung der Entfremdung von der Natur und der sozialen Umwelt war
für junge deutsche Juden ab der Jahrhundertwende ein besonders tiefsitzendes und
starkes Motiv. (Vgl. dazu Kapitel 8 dieser Arbeit)

150
weil sich anfangs nur relativ wenige Schüler angemeldet hatten und Ostern
1933 und 1934 wegen der strengen Quotierung jede weitere Aufstockung
über eine Klassenfrequenz von 12 hinaus ein zusätzliches Risiko für die Pri-
WaKi bedeutet hätte. Etwas später wurden Gartenarbeit und Werken als päd-
agogische Werte betont, die auch in den Landerziehungsheimen eine große
Bedeutung hatten.
Handarbeiten und künstlerische Gestaltung wurden an der PriWaKi von
Anfang an für wichtig erachtet, wie Lotte Kaliski im Zusammenhang mit der
eigens dafür eingestellten Handarbeits- und Kunstlehrerin Anneliese Herr-
mann in ihrer Biographie ausdrücklich erwähnt.
Darüber hinaus war die Schule zwar von der sozialen Zusammensetzung
der Schülerschaft her stark jüdisch geprägt, nicht aber in konfessioneller Hin-
sieht. (V gl. Gerd zu Klampen, Gespräch 1989) Lotte Kaliski spricht deshalb
für die Jahre 1932 und 1933 von einer "non sectarian school" mit einem "non-
denominational status." (Memories 1983)
Auch die Koedukation war ein pädagogisches Prinzip an der PriWaKi,
das erst ab 1936 auf Verlangen der Schulbehörde teilweise aufgegeben wer-
den mußte.
Besondere Leistungen im schulfachlichen Bereich waren jedoch keine
erklärten Ziele im Programm der PriWaKi, auch wenn versucht wurde, das
Niveau einer höheren Schule einzuhalten. Obwohl der Schwerpunkt im sprach-
lich-literarisch-künstlerischen Bereich lag, war Latein bis 1937 keine Pflicht-
fremdsprache. 1°O Die PriWaKi war also eher als eine Förderschule für Kinder
mit gehobenem Bildungsniveau gedacht, keinesfalls aber als Eliteschule für
besonders leistungsstarke Schülerinnen und Schüler. Dies ist einhellig in al-
len Gesprächen von ehemaligen Schülern bestätigt worden.
Bis zum Schuljahr 1938/39 hatte sich nicht nur äußerlich viel geändert,
was vor allem an der Größe der Schule ablesbar war, sondern auch in den
pädagogischen Zielen und Konzepten hatten sich Verschiebungen ergeben,
die siehtbar werden, wenn man das ausformulierte Programm in den Schulpro-
spekten von 1938 mit den pädagogischen Vorstellungen von 1932/33 ver-
gleicht:

"Die Ziele der Schule

Die Waldschule Kaliski ist eine jüdische Schule. Hierin bestimmt sich Aufgabe und Ziel
unserer erzieherischen Arbeit. Das verpflichtende Bewußtsein der Zugehörigkeit zur jüdi-
schen Gemeinschaft ist uns die Grundvoraussetzung künftiger Bewährung unserer Ju-
gend, wohin sie sich auch immer wenden mag. In Unterricht und Erziehung und in der
Gestaltung des Schullebens suchen wir es zu wecken, ohne hierbei parteimäßig gebunden
zu sein. Die Vermittlung gediegenen Schulwissens und guter Kenntnisse der lebenden
Weltsprachen kann allein nicht die Zukunft unserer Jugend gewährleisten. Sie soll den
Weg finden zu einer lebendigen Verbundenheit mit jüdischer Lehre und Geschichte, dem

100 Danach war sie es nur zwei Jahre lang für die "Oberschule Jungen".

151
Fest und dem Brauchtum, dem Lied und der Dichtung, dem Wirken und der Leistung der
Juden in allen Zeiten und in aller Welt. Der Heranwachsende soll das eigene Ziel messen
an dem Vorbild der Menschen, die das jüdische Volk in Geschichte und Gegenwart her-
vorgebracht hat: von den Gestalten der Bibel bis zum Chaluz des Aufbaus. (... )
Auch das Gemeinschaftsleben der Schule ist vom Geiste jüdischer Erziehung ge-
tragen: Es verlangt vom Schüler tätigen Anteil an den sozialen Aufgaben des Tages; es
macht ihm in den Festen der Schule und in regelmäßigen Schabbathfeiern jüdische Inhalte
lebendig.
Wir erstreben so die Erziehung eines Menschen, dem Empfinden und Wissen jüdi-
schen Wesens wieder selbstverständlich geworden ist. Wirklichkeitsnah und tatkräftig,
soll er den Mut zur Selbstbehauptung finden und in ihr dem Sittlichen und Sozialen ver-
pflichtet bleiben.
In dieser Gesinnung suchen wir auch unsere allgemeine Bildungsarbeit zu leisten,
durch die wir der Jugend Kenntnisse und Verständnis der Werte und Güter europäischer
Kultur vermitteln. Die Schule macht es sich zur Pflicht, ihre Kinder mit einer umfas-
senden und gut fundierten Schulbildung auszustatten. Besonderer Wert wird hierbei auf
Sprachen gelegt, auf Kenntnis der modernen Welt und auf praktisches Wissen. Die Schule
bemüht sich ferner, in Anwendung moderner Lehrmethoden auf allen Gebieten die An-
schauungs- und Gestaltungskraft der Kinder, sowie ihre körperliche Entwicklung zu för-
dern." (Schulprospekt 1938 a).
Die zentrale programmatische Intention der PriWaKi im Schuljahr 1938/39
wird gleich im ersten Satz ausgedrückt: "Die Waldschule Kaliski ist eine jü-
dische Schule." Die nachfolgenden Ausführungen dienen dann der Ausdiffe-
renzierung und Konkretisierung dieses nunmehr obersten Ziels der Schule. In
dieser allgemeinen Zielvorstellung ist der Kontrast zum betont nicht-konfes-
sionellen Status der Schule von 1932/33 am deutlichsten. Im letzten Ab-
schnitt wird jedoch auch eine Kontinuität ursprünglicher pädagogischer In-
tentionen sichtbar. Die größte Kontinuität besteht im konventionellen Unter-
richtsprogramm der Mittelstufe (Vormittagsunterricht), wenn man von der
Einführung des Faches Hebräisch und von den Veränderungen durch die
Schulreform ab Ostern 1937 einmal absieht. Weiterhin besteht eine Konti-
nuität im Reformschul-Programm, das unabhängig von einer spezifischen
Erziehung zum Judentum erhalten geblieben ist. Lediglich die Akzentuierung
der Freiluft-Pädagogik fehlt, obwohl in der Praxis ein Teil des Unterrichts und
auch die "Liegestunde" im Freien weiterhin stattfanden. Aber ansonsten
scheint die 1932/33 deutlicher herausgestellte Waldschul- und Freiluftpäda-
gogik in einer partiell umgestalteten und breiter angelegten Reformschulpro-
grammatik aufgegangen zu sein.
Da bei der Beschreibung der Erziehungs-Ziele mehr als drei Viertel des
Textes der Erziehung zum jüdischen Bewußtsein gewidmet sind und nur
knapp ein Viertel der Kennzeichnung konventioneller Unterrichtsziele sowie
allgemeiner reformpädagogischer Ziele, kann man auch inhaltlich die Beto-
nung der Erziehung zum Judentum ablesen.
Aufschlußreich ist allerdings ein Vergleich mit dem nur einige Monate
später gedruckten Schulprospekt in englischer Sprache:

152
" The aims of the school

The School ist striving for a synthesis of intellectual and manual training based on condi-
tions calculated to promote the physical development of children growing up in large ci-
ties.
The instruction in scientific and literary subjects is entirely in the hands of university
graduates and it is intended to give the children a good general education without regard
to their future vocations. The preparation for the School Certificate examination ist under-
taken by fully qualified and experienced English university graduates. Special attention is
paid to the teaching of modern languages (German. English. French. Hebrew). In the
higher forms Latin ist also taken up. By obtaining a deeper insight into Jewish tradition
and history. the children are helped to become upright boys and girls.
For the physical training of the pupils the School has its own playgrounds and a
swimming pool. The children are taught practical work in the workshop, the garden, and
the kitchen belonging to the School premises. The curriculum has been drawn up to meet
these requirements. By this means the children are encouraged to undertake manual pro-
ductive work and, moreover, their interest in arts and crafts and technical studies is awa-
kened, so that they do not look up on manual labour as inferior to intellectual work."
(Schulprospekt 1938 c)

In diesem Prospekt ist mit dem Ziel der "deeper insight into Jewish tradition
and history" die zuvor herausgestellte Erziehung zum Judentum zwar nicht
verleugnet, aber auf eine knappe Formulierung reduziert worden. Auch fällt
das Attribut ,jüdisch" bei der Schulbezeichnung fort. Die Schule heißt in die-
sem Prospekt wieder wie früher: "Private Waldschule Kaliski". Dies zeigt, daß
die Betonung der Erziehung zum Judentum, die zweifellos in der Praxis er-
folgt ist, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird, sehr von den jeweiligen
Adressaten abhing. Während sie in Deutschland besonders gegenüber kon-
servativeren Repräsentanten und Kreisen des Judentums eher demonstrativ
herausgestellt wurde, wurde sie gegenüber den Adressaten im Ausland
(Schulen und Universitäten) nicht betont. Hier machte eine demonstrative
jüdische Erziehung keinen Sinn und erwies sich wahrscheinlich sogar eher
als hinderlich.
Beibehalten wird aber auch in dem englischen Prospekt neben einer
Kurzbeschreibung konventioneller Ziele (Betonung der Fremdsprachen) so-
wie des ab 1937 neu hinzugekommenen Zieles der School Certificate Exami-
nation die Betonung reformpädagogischer Elemente, die mit der New Educa-
tion in den USA sowie mit zionistischen Erziehungszielen in Palästina durch-
aus kompatibel waren. 101 In bezug auf praktische Zwecke und die neuen Er-
fordernisse konnte die ursprüngliche Wald- und Reformschulpädagogik mit
einigen Akzentverschiebungen, aber ohne größere Brüche für die jüdische
Erziehung und auch für die praktische Erziehung zur Emigration dienstbar
gemacht werden. 102

101 Vergleiche dazu Liegle/Konrad 1989, Fölling 1988.


102 Vor diesem Hintergrund ist auch die häufiger zu beobachtende Affinität jüdischer
Pädagogik mit der Reformpädagogik zu erklären. Dies gilt auch für andere histori-
sche Umbruchsphasen in der Geschichte des Judentums.

153
Waldschul- und Reformpädagogik im Tagesintemat
Um die Waldschul- und Reformpädagogik realisieren zu können, war ein
Tagesinternat notwendig. Da in der Mittelschule weitgehend nach staatlichen
Richtlinien und Stundenplänen unterrichtet werden mußte, konnten die Spiel-
räume für die Waldschul-Pädagogik zum großen Teil nur im Nachmittagsun-
terricht geschaffen werden. Auf diese Weise konnte das Nützliche mit dem
Angenehmen, sprich: eine die Eltern entlastende Ganztagsbetreuung mit ei-
ner motivierenden modernen Pädagogik verknüpft werden. Das reformpäd-
agogisch ausgerichtete Tagesinternat war aber kein Resultat umfangreicher
theoretischer Reflexionen oder gar vorausgehender wissenschaftlicher Publi-
kationen der Schulgründerin, sondern Produkt pragmatisch ausgerichteten
Denkens und des sicheren Erfühlens einer Marktlücke. 103
Statt also lange an einem philosophisch-theoretischen Konzept herumzu-
basteln, sorgte Lotte Kaliski für Schulräume in einer Waldrandlage und stellte
Lehrer ein, die in besonderer Weise für die Waldschul-Pädagogik qualifiziert
waren. Aus der Anfangszeit sind uns unter diesem Aspekt vor allem die Hand-
arbeits- und Kunstlehrerin Anneliese Herrmann sowie der Sportlehrer und
Sporttherapeut Max Rackwitz bekannt. Auch ab 1933/34 erfolgte gezielt die
Einstellung von Lehrern, die besondere Qualifikationen für die Gestaltung der
Waldschul- und Reformpädagogik mitbrachten; z.B. Edwin Heinrich für Sport,
Erwin Jospe für Musik, Paul Jacob für die Gestaltung und Aufführung von
Bühnenstücken sowie Ernst Salzberger als besonders qualifizierter Werklehrer.
Im Schulprospekt von 1938 wird das Programm des Tagesinternats so
vorgestellt:

"Das Tagesinternat
In die erzieherische Arbeit der Schule ist das Tagesinternat eingeschlossen, welches die
Kinder vom ersten Grundschuljahr an wochentags von 14 - 18 Uhr betreut. Es ist mit Hil-
fe geeigneter und erfahrener Mitarbeiter planmäßig aufgebaut. Es hilft dem her-
anwachsenden Kinde, sich früh in eine größere Gemeinschaft einzuleben und sich als gu-
ter Kamerad zu bewähren. Viele Schwierigkeiten der individuellen Erziehung in der Fa-
milie lösen sich durch die Einwirkung der Gemeinschaft.
Die Kinder werden jeweils in Gruppen von etwa 20 Gleichaltrigen unter der Leitung
eines Erwachsenen zusammengefaßt. Die Schularbeiten werden unter Aufsicht angefer-
tigt. Eine Reihe von Beschäftigungen sind dazu bestimmt, die Kinder in ihrer Gesam-
tentwicklung zu fördern.

Plan des Tagesinternats:


Je nach der Jahreszeit finden auf dem Grundstück der Schule statt:

103 Waldschulen und Landschulheime galten als modern und wurden deshalb auch von
jüdischen Mittelschichtseltern gegenüber jüdischen Ganztagsschulen bevorzugt.

154
Spiel - Sport - Schwimmen - Eislauf
Gartenarbeiten - Werkarbeit
Chorgesang - Schulorchester
Französische und englische Konversation
Arbeitsgemeinschaften über jüdische und andere Fragen.

Praktische Übungen:
Neben der Ausbildung der manuellen Geschicklichkeit durch den Werkunterricht will die
Schule ihren Kindern eine positive Beziehung zu jeder Art praktischer Betätigung und der
Selbsthilfe im täglichen Leben vermitteln. Jungen und Mädchen in gleicher Weise erhal-
ten deshalb zahlreiche Ordnungsämter in Schule, Hof, Garten und Küche und werden in
besonderen Kursen der praktischen Übungen in Arbeiten wie Schuhputzen, Kleider-
pflege, einfache Reparaturen usw. bis zur Ersten Hilfe und Bürokunde unterwiesen. Ohne
Anspruch auf eine eigentliche fachliche Ausbildung will die Schule auch auf diesem We-
ge im Kinde das Gefühl für die Gleichwertigkeit jeder produktiven Arbeit wecken. Am
Ende eines Schuljahres erhalten die Teilnehmer an diesen Kursen des Internats ein beson-
deres Zeugnis über ihr Können auf diesen Gebieten.
Die musikalische Erziehung der Schule wird durch Schulchor und Orchester vertieft.
Außerdem besteht eine besondere "Spielgruppe", die durch eine Reihe von Aufführungen
die Feste der Schule regelmäßig ausgestaltet und bereichert.
Zum Programm besonders der Kleinen im Tagesinternat gehören häufige Spazier-
gänge in den nahen Grunewald. Bei trocknem Wetter findet auf der Liegeterrasse der
Schule nach dem Essen eine Ruhestunde auf Liegestühlen statt.
Die Verpflegung der Kinder wird nach den Grundsätzen moderner Ernährungslehre
zusammengestellt. Sie ist reichlich und umfaßt:
Frühstück: Milch oder Kakao
Mittag: Gemischte Kost, Kompott, Speise (evtl. Diätverpflegung)
Nachmittags: Milchkakao mit Butterbrötchen oder Kuchen."
Erwähnt wird in dem Schulprospekt auch das große Parkgelände von etwa
11.000 qm, auf dem das Gebäude errichtet war.
Alle im Prospekt erwähnten reformpädagogischen Elemente wurden in
der Praxis auch tatsächlich realisiert, wie aus der Gesamtheit aller Quellen
belegt werden kann. Deutlich ist aus der Beschreibung des Tagesinternats die
dreistufige Entwicklung zu entnehmen, die es von 1932 bis 1938 durchlaufen
hat:
Von der ursprünglich (1932/33) stärker auf Erhalt und Förderung der
Gesundheit ausgerichteten Freiluft- und Waldschulpädagogik sind "Sport -
Schwimmen - Eislauf', "häufige Spaziergänge in den nahen Grunewald"
und die "Ruhestunde auf Liegestühlen" im Freien sowie die Verpflegung der
Kinder "nach den Grundsätzen moderner Ernährungslehre" erhalten geblie-
ben.
Die nächste Stufe war durch eine gewisse Entspezifizierung der Freiluft-
Pädagogik in Richtung einer ausdifferenzierten Reformschulpädagogik (ab
ca. 1934 - 1936) gekennzeichnet: ,,Einwirkung der Gemeinschaft", Behebung
von "Schwierigkeiten der individuellen Erziehung in der Familie" sind päd-
agogische Absichten und Wunschvorstellungen, die auch von der Jugendbewe-
gung stark betont worden sind. "Gartenarbeit", "Werkarbeit", "Spiel", "Chor-

155
gesang", "Schulorchester" sind pädagogische Elemente in fast allen Reform-
schulen; ebenso die Existenz einer Theatergruppe.
Der Ausbau und die Betonung der "Praktischen Übungen" ist die letzte
Stufe in der Entwicklung der Reformpädagogik an der PriWaKi ab 1936 ge-
wesen. Sie diente der Vorbereitung auf die Emigration. Dazu gehörte auch
die "Französische und englische Konversation". Diese dritte Stufe ist durch
eine umfassende Funktionalisierung der Waldschul- und Reformpädagogik
für die Daseins- und Zukunfstbewältigung der jüdischen Kinder gekenn-
zeichnet.

Sport

Ein weiteres wichtiges Element, das auch im Zusammenhang mit der ur-
sprünglichen Intention der Freiluft- und Waldschulpädagogik gesehen wer-
den muß, war der Sport an der PriWaKi: Sport war zunächst wichtig für die
Gesundheit der Kinder. Von daher war das Sportprogramm immer sehr viel-
fältig, auch über den engen Rahmen von Schulsport hinaus. Entsprechend
groß war das Angebot an Möglichkeiten schon auf dem Schulgelände. Die
bereits zitierte Schülerin Marianne Glaser fand bei ihrem Schuleintritt Ostern
1937 auf dem ca. 11.000 qm großen Schulgelände zwei eingezäunte Plätze vor,
worauf Fußball, Faustball, Völkerball etc. gespielt wurde. Dann erwähnte sie
noch eine Sprunggrube für Weit- und Hochsprung sowie zum Kugelstoßen und
die damals (Mai 1937) gerade im Bau befindliche Aschenbahn. Außerdem er-
wähnte sie das Schwimmbassin mit seinem Abmessungen von 6 mal 8 Metern.
(Vgl. Brief vom 6.5.1937) Kaum eine Einrichtung der Schule ist in den Erinne-
rungen der PriWaKi-Schüler so oft erwähnt worden wie das Schwimmbad, ge-
folgt von der selbst hergerichteten Aschenbahn auf dem Schulgelände und dem
Sportplatz im Grunewald. Dies zeigt, auf welch großes Interesse der Sport im
weiteren Sinne bei den Schülerinnen und Schülern der PriWaKi stieß.
Das Schwimmbad wird vermutlich deshalb so gut erinnert, weil prak-
tisch jeder Junge und jedes Mädchen an der PriWaKi Schwimmen lernte, was
damals noch nicht selbstverständlich war. Hinzu kamen Übungen wie Was-
sergewöhnung, Kopfsprung, Tauchen. Das alles wurde nicht mit den damals
im Sportunterricht häufig praktizierten Drill-Methoden, sondern sehr phan-
tasievoll und eher spielerisch gelernt und gelehrt. (V gl. z.B. S. Kneller, Ge-
spräch 1989) Da der Unterricht von jungen und attraktiven Sportlehrern und
Sportlehrerinnen durchgeführt wurde, wird bei den etwas älteren Schüle-
rinnen und Schülern auch eine gewisse erotische Komponente mitgespielt ha-
ben, wie dies auch im Zusammenhang mit der Koedukation öfter angespro-
chen worden ist. Aber auch die einfache Tatsache, daß man an schönen Ta-
gen in der Mittags- oder Nachmittagspause einen erfrischenden Sprung ins
Wasser tun konnte, haben viele Schüler als besonders angenehm empfunden.
Als bemerkenswertes Ereignis wird auch von vielen Schülerinnen und
Schülern der Bau der Aschenbahn auf dem schuleigenen Gelände erinnert.

156
Obwohl den jüdischen Schulen ein Sportplatz zum Training im Grunewald
zur Verfügung stand - andere Plätze durften sie nicht benutzen -, war eine
regelmäßige Nutzung zu umständlich. Deshalb beschloß die PriWaKi nach
ihrem Umzug nach Dahlem, auf dem Schulgelände eine eigene Aschenbahn
und eine Weitsprunggrube anzulegen, um das Leichtathletik-Training auf dem
Schulgelände durchführen zu können. Diese Arbeit wurde von den Schülern
selbst verrichtet und zog sich etwa ein halbes Jahr bis zum Frühsommer 1937
hin. Für diese Mittelschichtskinder war die körperliche Arbeit etwas ganz
Ungewohntes, und sie waren mit Feuereifer dabei. Ein Schüler meinte z.B.:
"Ich erinnere mich noch gut, wie ich an der Fertigstellung der lOO-Meter-
Bahn teilgenommen habe, was möglicherweise die erste Erfahrung mit harter
körperlicher Arbeit war."
Ein dritter Anlaß für Erinnerungen waren die jährlichen Sportfeste. Hier-
bei kam es zu einem Aufmarsch der Sportlerriegen der einzelnen Schulen und
zu einem Wettbewerb der verschiedenen Schulmannschaften. 104 Jede Schule
hatte den Ehrgeiz, nicht allzu schlecht abzuschneiden, so daß solchen Wett-
kämpfen immer auch ein intensiveres Training vorausging.
Wie fast in jedem Fachgebiet, so sorgte die PriWaKi auch im Sport für
besonders qualifizierte Lehrer. Einer davon war Herbert Hecht, der als Zehn-
kämpfer sogar Kandidat für die Olympischen Spiele 1936 war, aber gezwun-
gen worden war, seine Kandidatur zurückzuziehen. Nach einem Jahr Studium
an einer Sporthochschule in Stuttgart (1936) wurde Hecht im Oktober 1937
als besonders qualifizierter Leistungssportler und Werklehrer an der PriWaKi
eingestellt. (Vgl. Chaim Hadar, Gespräch 1989) Aber auch Edwin Heinrich
und Elisabeth Kann galten als hervorragende Sportlehrer. Die Sportpädago-
gik war an der PriWaKi auf einem zweifellos hohen Niveau.
Über den Leistungsstand des PriWaKi-Sports, wie er sich Z.B. bei Wettbe-
werben zeigte, gibt es geteilte Meinungen. Lotte Kaliski meint rückblickend:
"The standards in sports were very high, indeed." (Memories 1983) Ein Teil
der Schüler erinnert sich jedoch anders, wie etwa die damalige Schülerin Ursu-
la Kantorowicz:
"I liked gym, though it was not one of the subjects to which much attention was paid. The
red pants we wore at the Jewish Sportsfests were rightly called Schlußlichter. We usually
finished last in these meets."
Ein anderer Schüler, der an der PriWaKi ein aktiver und begeisterter Sportler
war, meint heute:
"Einmal im Jahr war das große Sportfest von den jüdischen Schulen. Das war wirklich ein
Ereignis! Es gab Handballturniere der jüdischen Schulen untereinander. Es stimmt nicht,
daß die Kaliski-Schule in sportlicher Hinsicht schlecht war. Wenn sie schlecht abschnitt,
dann lag das auch daran, daß es eine so kleine Schule war. Die Adass Jisroel hatte z.B.
dreimal so viele Schüler." (Jochanan Margoninski, Gespräch 1990)

104 Vgl. die Fotos in Christoffel 1987, S. 64f. und die zahlreichen Fotos im Projekt-
Archiv.

157
Bei allen unterschiedlichen Einschätzungen der meßbaren Leistungen, die
auch für andere Fächer und Lernbereiche oft sehr unterschiedlich waren, be-
steht Übereinstimmung darin, daß für Sport an der PriWaKi viel getan wurde
und über den Leistungssport hinaus ein breites sportpädagogisches Angebot
existiert hat, das neben den Sportfesten auch Sportlager im Sommer (z.B.
1937 in Nimmersatt in Litauen) enthielt. Auch gab es Skiaufenthalte, z.B. im
Winter 1937/38 im Riesengebirge. J05
Die PriWaKi wurde also ihren ursprünglichen waldschulpädagogischen
Zielen auch im Sportunterricht weitgehend gerecht. Doch bei genauerer Be-
trachtung kommt ein tieferliegendes und weitaus wichtigeres Motiv als die
Gesundheitspädagogik für die Sportaktivitäten zum Tragen, das von dem
ehemaligen Schüler Margoninski angesprochen wird:
"Sport war ein ganz großes Kapitel an der PriWaKi. (... ) Wir hatten eine Fußballmann-
schaft, eine Handballmannschaft, eine Leichtathletikgruppe usw. Wir hatten ja drei Sport-
lehrer! Die Juden versuchten, sich durch Sport zu assimilieren. Sport war ein ganz großes
Kapitel in der Jüdischen Gemeinde so um 1935/36.,,106

Intensiv Sport zu treiben, sei bei vielen Juden ein Versuch gewesen, antijüdi-
sche Vorurteile zu widerlegen. IO? Gerade im Olympia-Jahr 1936, als die Sport-
begeisterung auch in der jüngeren jüdischen Bevölkerung groß war, mußten
die rassistischen Vorurteile von der auch physischen Minderwertigkeit der
Juden besonders schmerzen. Wie am Beispiel des Sportlehrers Hecht deutlich
wurde, taten die Nazis durch Behinderung jüdischer Olympia-Kandidaten
alles, um dem antijüdischen Stereotyp einen Anschein von Wahrheit zu ver-
leihen.
Vor diesem Hintergrund war die Betonung des Schulsports auch an der
PriWaKi über die Erwägungen der Waldschul-Pädagogik hinaus ein Akt der
Selbstbehauptung und Gegendemonstration gegenüber der vorurteilsbe-
ladenden nichtjüdischen Umwelt. I08

105 Vgl. M. Glaser, Brief vom 6.5.1937; Chaim Hadar, Gespräch 1989.
106 J. Margoninski, Gespräch 1990, Hervorh. d.W.F.
107 Dies war teilweise auch schon vor 1933 der Fall. In der nationaljüdischen Jugendbe-
wegung gab es einen Spottvers über diese Assimilationsversuche: "Es wollt ein Jud
in einen deutschen Turnverein, er wollte gern ein deutscher Turner sein." (F. Kost,
Gespräch 1989)
108 Zur psychologischen Bedeutung des Sports bei den deutschen Juden vgl. auch Hajo
Bernett 1986. Der ,jüdische Sport" war sogar Thema einer Schabbat-Feier der Pri-
WaKi am 16. Okt. 1937. Einleitend hieß es: "Wir Juden sind uns wohl darüber klar,
daß die Anschuldigungen, wir seien nicht in der Lage, sportlich einwandfreie Lei-
stungen zu vollbringen, ungerechtfertigt sind. Daher wollen wir uns heute einen
Überblick über die Leistungen und über die Entwicklung des jüd. Sportes geben.
Schon in biblischen Zeiten stand der Sport immer im engen Zusammenhang mit dem
Judentum." Es folgte ein geschichtlicher Überblick bis zu den Leistungen jüdischer
Sportler der Gegenwart. (Textautor Peter Landsberg, Kopie im Projektarchiv)

158
Formung des jüdischen Bewußtseins

Sport und praktisches Arbeiten hatten an der PriWaKi spätestens ab 1936/37


also einen doppelten Stellenwert: Zum einen bezogen diese Aktivitäten ihre
Legitimation aus der Wald- bzw. Reformschulpädagogik, zum anderen aus
der spezifischen Situation assimilierter deutscher Juden. Körperliche Ertüch-
tigung und praktisches Arbeiten waren als Reaktion auf antisemitische Vorur-
teile psychologisch wichtig für die Selbstachtung. Nachdem nun aus der
verweigerten Integration eine gezielte Ausgrenzung geworden war, mußte
sich die PriWaKi ebenso wie jede andere jüdische Schule nach 1933 darum
bemühen, auf diese Ausgrenzung pädagogisch und auch psychologisch zu
reagieren, denn den Kindern war diese Ausgrenzung noch viel unbegreifli-
cher als den Erwachsenen. Um Minderwertigkeitsgefühlen und Verzweiflung
bei den Kindern entgegenzuwirken, mußte eine positive Antwort auf die Fra-
ge nach der jüdischen Identität gefunden werden; entsprechende pädagogi-
sche Mittel und Wege waren auszuloten. Dies war mit großen Schwierigkei-
ten verbunden, denn das grundsätzliche Problem deutsch-akkulturierter und
vor allem assimilierter Juden bestand ja darin - und dies betraf insoweit auch
die religiösen Juden und die Zionisten -, daß sie im Medium deutscher Kul-
tur groß geworden waren und ihr verhaftet blieben, ob wie wollten oder
nicht. Eine Trennung von der in Deutschland absorbierten Mittelschichtskul-
tur war nicht nur aus sozialpsychologischen Gründen unmöglich, denn die
Identität einer Persönlichkeit bleibt der Ursprungskultur immer zu einem
großen Teil verhaftet, sondern auch deshalb, weil keine der deutschen Kultur
entsprechende jüdische Kultur als Ersatz zur Verfügung stand.
Die einzige Alternative wäre die weitgehend homogene jüdische Kultur
des ostjüdischen StetIs gewesen. Die existierte zwar noch, wurde aber offen
oder unterschwellig von dem übergroßen Teil der deutschen Juden als rück-
ständig abgelehnt. Ein Weg zurück in die Orthodoxie war unmöglich gewor-
den. Selbst den Zionisten, die im allgemeinen der ostjüdischen Kultur positi-
ver gegenüberstanden, war es deshalb nicht möglich, diese zu übernehmen.
Gleiches galt sogar für die jüdische Gemeinschaft (Jischuw) in Palästina, die
zwar mit der Einführung des Hebräischen einen großen Schritt zu einer ei-
genständigen jüdischen Kultur getan hatte, aber mehrheitlich ebenfalls nicht
zu einer Religiosität zurückkehren konnte, wie sie im osteuropäischen StetI
existiert hatte. 109
Es gab also bei realistischer Betrachtung keine Möglichkeit, eine ge-
schlossene kulturelle Welt des Judentums zurückzugewinnen - und die mei-
sten deutschen Juden wollten dies auch nach 1933 nicht. Gleichwohl drängte
sich durch die Ausgrenzung das Problem der jüdischen Identität schmerzhaf-

109 Das Stetl und noch mehr noch das Ghetto waren für die meisten postemanzipierten
Juden Symbole der Diskriminierung durch die christliche Umwelt geworden; deshalb
kam auch Jiddisch als Ersatzsprache nicht in Betracht, obwohl dies beim Aufbau des
jüdischen Palästina praktischer gewesen wäre.

159
ter denn je auf, und vor allem in der Erziehung der jüdischen Kinder mußten
entsprechende Identifizierungsmöglichkeiten geschaffen werden. An religiösen
Schulen wie die der Adass-Jisroel-Gemeinde schien dies relativ leicht zu sein,
da hier weiterhin ein Zugang über die Religion und über die jüdische Tradition
erfolgen konnte, obwohl auch an diesen Schulen die Wiedergewinnung einer
umfassenden jüdischen Kultur wegen der deutschen Akkulturation nicht
mehr möglich war. Ungleich schwieriger hatten es jedoch die assimilierten
und teilassimilierten deutschen Juden. Während die Großeltern zum Teil
noch eine jüdische Grundschule besucht und die Eltern über ihre Großeltern
noch eine Vorstellung vom religiösen Judentum vermittelt bekommen hatten,
waren die Kinder in der Regel noch ein Stück weit assimilierter, womit der
Zugang zum Judentum für sie noch schwieriger wurde. Erst recht galt dies
für die Kinder aus gemischten Familien, die, wie erwähnt, anfangs noch recht
zahlreich an der PriWaKi vertreten waren.
So begann an den säkularen jüdischen Schulen eine Suche nach Mög-
lichkeiten und Wegen zur Stärkung des jüdischen Bewußtseins bei den Kin-
dern. Drei Möglichkeiten kristallisierten sich heraus: Religionslehre, Hebrä-
isch und das Feiern jüdischer Feste; alles verbunden auch mit jüdischer Ge-
schichte.
Naheliegend schien es zu sein, zunächst einmal die Religions/ehre ver-
stärkt auszubauen, um damit einen Weg zurück zur "Seele des Judentums"
(E. Cohn 1923) zu finden. Aber was für die religiösen Schulen auch schon
vor 1933 selbstverständlich war und nun leicht intensiviert werden konnte,
stellte für die säkularen Schulen auch nach 1933 weiterhin ein Problem dar.
(Vgl. Röcher 1992, S. 140)
Dies galt offensichtlich auch für die PriWaKi, denn über den Religi-
onsunterricht wurden von den Schülern weder im Fragebogen noch in den
Gesprächen weitergehende Angaben gemacht. Man erinnerte sich lediglich
an die Namen der Rabbiner E. Cohn und M. Nussbaum, die vorübergehend
dort den Religionsunterricht erteilt hatten. 110 Wir vermuten, daß der Religi-
onsunterricht bei der Mehrheit der Schüler keine allzu großen Spuren hin-
terlassen hat, obwohl er regelmäßig erteilt worden ist, wie man auch an den
Zeugnissen ablesen kann. lll Es ist versucht worden, über die Tochter des
Rabbiners Emil Cohn nähere Informationen über den Religionsunterricht an
der PriWaKi zu erhalten. Die Antwort zu den Erfahrungen ihres Vaters be-
stätigt nur unsere Einschätzung:

110 Nach der Erinnerung von S. Kneller bestand der Unterricht vor allem aus Juden-
tumskunde und jüdischer Geschichte. Es wurde unter anderem ,Die Geschichte der
Bibel' von Joachim Prinz gelesen. Im Herbst 1937 ließ Ludwig Kuttner in der Se-
kunda einen Aufsatz mit dem Thema "Das israelitische Königtum" schreiben. (Peter
Landsberg, Kopie des Aufsatzes im Projektarchiv)
111 Der Stundenplan der Obertertia des Schuljahrs 1937/38 weist nur eine Stunde Reli-
gionslehre aus. Dies war auch für andere Klassen so. (Vgl. Liste der Fächervertei-
lung für alle Klassen, Schuljahr 1937/38, Bez. verw. Zehlendorf III 23)

160
,,Er hat an der PriWaKi nur sehr kurz vom Herbst '33 bis zum Frühjahr '34 unterrichtet.
Danach kam Max Nussbaum. Die Klassen waren schwierig, um es zurückhaltend auszu-
drücken, denn sowohl die Schüler als auch die Schule waren nicht religiös eingestellt."l12
In dem Viertel der PriWaKi-Familien, in denen Religion noch eine größere
Bedeutung hatte (vgl. Pb, bes. die Antworten auf die Frage 1.5), wurde die
religiöse und jüdische Einstellung der Kinder wahrscheinlich mehr durch die
Familie und Gemeinde geformt als durch den Religionsunterricht an der
Schule; für die anderen Kinder schien der Religionsunterricht im allgemeinen
nicht mehr den Zugang zu einem neuen jüdischen Bewußtsein zu eröffnen.
Schon in der ostjüdischen Orthodoxie im 19. Jahrhundert hatte man durchaus
zutreffend erkannt, daß ein Verlust der Gläubigkeit mit rationalen und intel-
lektuellen Mitteln und Methoden in der Regel nicht mehr rückgängig zu ma-
chen war. So war die Situation auch an der PriWaKi und an den anderen
nichtreligiösen jüdischen Schulen. Wenn sich einzelne Schülerinnen und
Schüler der Religion oder auch dem Zionismus zuwandten (wie zum Beispiel
die Schülerin Johanna Stein), so lagen die Motive und Auslöser dafür in der
Regel nicht in der Schule.
Wie auch in der Zeit vor 1933 konnte das Problem des Religionsunter-
richts an den liberalen jüdischen Schulen Deutschlands bis zuletzt nicht zu-
friedensteIlend gelöst werden. (Vgl. auch Gaertner 1963)
Ein besserer Zugang schien durch die Einführung von Hebräisch mög-
lich. In Palästina wurde dies ja seit einiger Zeit mit Erfolg praktiziert. Da
Sprache das kulturell prägendste Medium ist, lag es nahe, über die Ein-
führung des Hebräischen in den Unterricht eine verstärkte kulturelle Identität
zu gewinnen. Darüber herrschte im Schulausschuß der Reichsvertretung
weitgehend Einigkeit. Keine Einigkeit herrschte jedoch darüber, ob Alt- oder
Neuhebräisch gelehrt werden sollte und ob die askenasische (deutsch-polni-

112 Miriam RochIin, Brief 1990. Ähnlich erinnert sich der Erzieher Wilhelm Lewinski.
(1989) Einen humorvoll-kritischen Einblick in die Atmosphäre des Religions- und
Hebräischunterrichts bei dem Rabbiner Max Nussbaum in der Quarta des Schuljah-
res 1934/35, als Hebräisch noch Bestandteil des Religionsunterrichts war, geben fol-
gende Verse des Schülers Peter Landsberg vom 20. März 1935, die auf dem Purim-
fest vorgetragen wurden:
"Hebräisch ist die 5. Stunde
,Bekomm ich ne 5?' fragts aus jedem Munde
Sein I. Wort ist ,Schalom haschewet'
Jeder wird leise, der eben geredet.
Er macht aus seinem Hohn kein Hehl.
Und fragt: ,In welche Kategorien gehört Samuel?'
Alles schweigt, doch er sagt nur:
,Samuel ist eine Übergangsfigur. '
,Sen geb ich in Masse
das ist das Spiegelbild der Klasse. '
Das war Herr Nussbaum, meist ist er nett.
Besonders wenn man nicht zuviel red't."
(Original bei Peter Landsberg, Kopie im Projektarchiv)

161
sche) oder die sephardische (orientalische) Aussprache vorzuziehen sei. Dahin-
ter standen die verschiedenen Überzeugungen der Religiösen, Liberalen und
Zionisten. Die Zionisten wollten natürlich, daß das in Palästina gesprochene
Neuhebräisch gelehrt werden sollte, die Orthodoxen hingegen wollten mit
dem Althebräischen den Zugang zum religiösen Schrifttum eröffnen und da-
durch die Schüler zu einer gefestigten jüdischen Einstellung und Lebensfüh-
rung bringen. In Berlin entbrannte der Streit besonders heftig, da sich vor al-
lem die Liberalen gegen die zionistische Absicht wandten, Neuhebräisch ein-
zuführen, denn sie meinten:
"Für die überwiegend große Zahl unserer Gemeindemitglieder, die ja wohl in Deutsch-
land bleiben werden, in dem sie geboren und erzogen sind, und auch für alle Jugendli-
chen, die ihre Heimat verlassen, aber nicht nach Palästina auswandern, sehen wir im He-
bräischsprechen lernen einen zwecklosen Kraftaufwand.,,113
Diese Einstellung blieb bis 1935/37 im wesentlichen erhalten. Dennoch ge-
lang es, Hebräisch als obligatorisches Fach an jüdischen Schulen bereits 1934
einzuführen; jedenfalls war dies in den vom Erziehungsausschuß der Reichs-
vertretung 1934 verabschiedeten Richtlinien für jüdische Schulen enthalten.
(Vgl. Weiss 1991, S. 97)
Da die PriWaKi nicht zu den jüdischen Gemeindeschulen gehörte, son-
dern eine unabhängige Privatschule war, deren Elternschaft etwa zu drei
Vierteln die oben zitierte Meinung der Liberalen vertreten haben dürfte, hätte
die PriWaKi Hebräisch nicht einführen müssen. Sie hat es dennoch schon ab
Ostern 1934 getan, wie aus den Zeugnissen hervorgeht. Im Schuljahr 1934/35
wurde Hebräisch an der PriWaKi aber noch im Rahmen von Religionslehre un-
terrichtet; es gab jedoch schon getrennte Noten für Religionslehre und Hebrä-
isch. 114 Vermutlich wurde Hebräisch in diesem Schuljahr noch von dem
Rabbiner Nussbaum unterrichtet. Ab Ostern 1935 wurde Hebräisch dann ein
eigenständiges Fach an der PriWaKi. ll5 Allerdings wurden nicht alle Klassen
einbezogen. Zumindest der älteste Jahrgang, der Ostern 1936 die Mittlere
Reife erlangte, scheint keinen Hebräischunterricht mehr erhalten zu haben,
denn in den Zeugnissen dieser Klasse fehlt der entsprechende Noteneintrag. 116
Die nachrückenden Klassen behielten Hebräisch jedoch bis in die (deutsche)
Oberstufe hinein. 117 In der englischen Examensausbildung hingegen wurde
"Hebrew" nicht mehr als Pflichtfach unterrichtet,118 wohl aber in der Grund-
schule vom 1. Schuljahr an. 119
Ab 1936/37, als sich die Einsicht in die Notwendigkeit einer Auswande-
rung, gegebenenfalls auch nach Palästina, durchzusetzen begann, wurde an

113 Jüdische Schulzeitung vom 01.12.1933, zitiert in Weiss 1991, S. 97.


114 Vgl. Peter Landsberg, Zeugnisse des Schuljahres 1934/35.
115 Vgl. P. Landsberg, Zeugnisse zum Schuljahr 1935/36.
116 Vgl. Zeugnisse von Ernst Schlochauer und Miriam Cohn im Schuljahr 1935/36.
117 Vgl. Obersekunda-Zeugnis von P. Landsberg.
118 Vgl. Reports von P. Landsberg und Meta Kochmann.
119 Vgl. Schulprospekt 1938 a.

162
den jüdischen Schulen mehr und mehr Neuhebräisch mit sephardischer Aus-
sprache gelehrt, obwohl die Auseinandersetzungen um den richtigen He-
bräischunterricht zwischen den verschiedenen Fraktionen der deutschen Ju-
den weitergeführt wurden. Eine allgemein befriedigende Lösung wurde auch
für den Hebräischunterricht nicht gefunden, obwohl die Situation nicht ganz
so schlecht war wie beim Religionsunterricht.
An der PriWaKi scheint das Problem pragmatisch gelöst worden zu sein.
Der Stellenwert des Hebräischen wurde ab dem Schuljahr 1935/36 deutlich
angehoben, was schon rein äußerlich daran erkennbar war, daß zwei He-
bräischlehrer eingestellt wurden: Kost und Kuttner. Wie deren Biographien
zeigen, hatten beide nicht in Palästina Hebräisch gelernt, und sie sprachen
demzufolge wahrscheinlich kein Neuhebräisch. Dies belegt auch die Aussage
eines in Israel lebenden Schülers:
"Das Hebräisch, das wir dort gelernt haben, hat man hier später gar nicht direkt anwenden
können. Als ich hier in Tel Aviv zur Ben-lehuda-Schule kam und vom Direktor geprüft
wurde und er mich gefragt hat: Was heißt ,ein Hut' und was heißt ,ein Stock', hatte ich
die falschen Worte. Es waren die richtigen Worte als hebräische Worte, die aber nicht im
Umgang mit dem Neuhebräischen benutzt wurden, und bei jedem Wort sagte er mir, wo
das Gegenwort ist, das man beim täglichen Hebräisch benutzt. Ich bin dann in die Scouts-
Bewegung hier gegangen. Da habe ich sehr schnell das tägliche Hebräisch gelernt. (...) Ich
habe bei Kost und Kuttner Hebräisch gelernt. Das waren die Hebräisch-Lehrer. Kost und
Kuttner haben sich immer hebräisch unterhalten. Das hat einen großen Eindruck auf uns ge-
macht, daß die hebräisch unter sich gesprochen haben. Aber, wie gesagt, dieses Hebräisch
war ein altmodisches, ein archaisches Hebräisch, was uns dann hier nicht mehr so gut gedient
hat. Das war so mehr oder weniger die Erfahrung (... )." (S. Kneller, Gespräch 1989)

Der Schüler Herbert (später Shmuel) Kneller gehörte als Schüler zu den we-
nigen Schülerinnen und Schülern der PriWaKi, die sich für Hebräisch inter-
essierten, weil sie schon an der PriWaKi zionistisch eingestellt waren. Bei
den anderen Schülern hingegen scheint das Interesse im allgemeinen gering
gewesen zu sein, wie sich Fritz Kost erinnert, der von 1935 bis etwa 1937 an
der PriWaKi aushilfsweise als Hebräischlehrer tätig war:
"Da habe ich nur Hebräisch unterrichtet, und das war für die Kinder mehr Belastung,
glaube ich, als interessant, obwohl ich glaube, daß ich sehr gut unterrichtet habe. (... ) Ich
erinnere mich genau, wie ein etwa 11- bis 12jähriger lunge mir mal sagte: Herr Lehrer,
wir gehen in drei Wochen nach Belgien, wozu brauche ich da Hebräisch? (... ) Sie lernten,
sagen wir mal, mit Zurückhaltung. Sie lernten ungefahr mit demselben Gefühl, mit dem
ich Latein gelernt hatte." (Fritz Kost, Gespräch 1989)

Auch der Internatsleiter Lewinski meinte für das Schuljahr 1936/37 in bezug
auf Religion und Hebräisch:
"Alle waren assimiliert. Religion und Lernen und Pflege der hebräischen Sprache wurden
1937 noch als Plagefach empfunden." (W. Lewinski, Brief vom 7.7.1989)

Ebenso wie Religion scheint also auch Hebräisch bei dem weitaus größten
Teil der PriWaKi-Schülerschaft nicht die Wiedergewinnung einer kulturellen
Identität als Jude maßgeblich gefördert zu haben, obwohl Hebräisch als Spra-

163
che wenigstens erlernt werden konnte, Religion als Gottgläubigkeit aber im
Grunde nicht, wie es ein Rabbiner damals treffend formulierte. Es mußten al-
so andere Wege gefunden werden, und ein gangbarer Weg auch für nichtre-
ligiöse junge Menschen war das Feiern jüdischer Feste.
"Ich glaube, es war Heinrich Selvers pädagogischer Grundsatz, daß es in der Erziehung
während des Jahres auch Höhepunkte geben muß. Das war ein Grundsatz, den auch ich
sehr bestätigt gefunden habe bei all meinen späteren pädagogischen Vorhaben.,,120
Bei den erwähnten pädagogischen Ideen handelt es sich nicht um eine spezi-
fisch jüdische Pädagogik, sondern um allgemeine Prinzipien der Reformpäd-
agogik. Kinder lernen besser, wenn sie nicht nur belehrt werden, sondern ei-
gene Ausdrucksformen finden, die auch den sozial-emotionalen Bereich an-
sprechen. Das "Lernen mit Kopf, Herz und Hand" ist ein verbreitetes Prinzip
aller modernen Pädagogik, die eine ganzheitliche Erziehung von Kindern
anstrebt. In bezug auf die jüdischen Feste konnte dieser Ansatz in der Pri-
WaKi besonders fruchtbar gemacht werden, da es einige Lehrer gab, die diese
Ideen kreativ umsetzen konnten. In der Tat scheinen die Feste noch am ehe-
sten bewirkt zu haben, was mit Religionslehre und Hebräisch angestrebt, aber
zumeist nicht erreicht wurde: Sowohl die aufführenden als auch die zu-
schauenden Kinder und Lehrer waren mit Enthusiasmus bei der Sache. Es
wurden Bühnenstücke aufgeführt, die selbst geschrieben worden waren, zu-
meist von Paul Jacob, für die jüngeren Kinder von Ruth Ehrmann. Oft wur-
den die Stücke vom Musiklehrer Jospe vertont. Bei der Herstellung der zum
Teil aufwendigen Kostüme haben sicher auch die Eltern mitgeholfen, die
auch als Zuschauer einbezogen wurden. Es existieren zum großen Teil noch
die Texte und eine Vielzahl von Fotos. (Kopien im Projekt-Archiv)
Das lustigste Fest für die Kinder scheint Purim gewesen zu sein. Purim
wurde im März 1934 als erstes jüdisches Fest an der PriWaKi gefeiert. (Vgl.
Kaliski, Memories 1983) Ein Purimfest war aber auch das letzte Fest im
März 1939, wenige Tage vor der Schulschließung. Es war trotz aller Sorgen
und aller Ängste ein gut vorbereitetes Fest, bei dem das von Paul Jacob ge-
schriebene Stück "Estherspiel ohne Haman" aufgeführt wurde.
Das Purim-Fest ähnelt äußerlich dem Karneval, d. h. die Kinder ver-
kleiden sich und spielen entsprechende Rollen. Das Fest geht historisch zu-
rück auf die Zeit des persischen Exils, als der Berater des Perserkönigs Ahas-
ver, Haman, die Juden umbringen wollte und die jüdische Frau des Perserkö-
nigs, Esther, dies verhinderte. Der von Jacob gedichtete Text war für eine
Bühnenaufführung durch die Kinder wie geschaffen, da er bei aller Beklem-
mung, die der Novemberpogrom verursacht hatte, ein befreiendes Lachen
auslösen konnte, etwa wenn die Juden mit leichter Ironie als Mustervolk dar-
gestellt wurden. In dem Text des Stückes denkt der Perserkönig über alle
Völker seines Reiches nach und kommt dann zu den Juden:

120 L. Kaliski, Memories 1983. Eine ähnliche Einstellung hatte auch der spätere Direktor
Paul Jacob. (V gl. F. Jacob, Gespräch 1989)

164
"Doch was ist das in Stadt und Land,
Ein Volk, mir gänzlich unbekannt,
Ich kuck' mal in den großen D u den.
Aha, da steht' s das Volk heißt ,J u den'!
Und dann ein kurzer Kommentar,
mit nichts als Gutem, sonderbar.
Ein Volk, zerstreut in meinem Reich,
Und alle fleißig, viele reich,
Freigiebig spendend vom Gewinn
Mit zärtlichem Familiensinn.
Viele Aerzte drunter, Dichter, Maler,
Und sehr ergieb'ge Steuerzahler.
Wo nur ein Jude wirkt und schafft,
Da blühn Gewerb und Wissenschaft.
Kurz außer ein paar kleinen Mängeln -
Das ganze Volk - ein Volk von Engeln.
Unglaublich, solche Musterknaben,
Die müsst ich hier bei Hofe haben.
Halloh, halloh mein Kämmerer,
Schaff schnell mir einen Juden her."
Dieses Stück war unter Berücksichtigung der damaligen Situation - Schock
durch November-Pogrom, die Schule kurz vor der Auflösung - ein Meister-
stück. Die positive Darstellung der Juden gab den Kindern ein wenig Selbst-
vertrauen zurück, der Schuß Selbstironie brachte sie zum Lachen und zu-
gleich war das Stück auch eine mutige Persiflage auf die Unsinnigkeit der
nationalsozialistischen Judenverfolgung.
Denn während der Proben und Aufführungen von künstlerischen Veran-
staltungen war zuletzt immer ein Gestapo-Beamter als Aufpasser zugegen,
um zu verhindern, daß etwa Stücke von "arischen" Künstlern gespielt wur-
den und daß etwas Kritisches über das Hitler-Regime gesagt wurde. Dennoch
wurden diese Verbote an der PriWaKi öfter überschritten, wobei die Unkenntnis
der kontrollierenden Beamten einkalkuliert wurde. Beim "Estherspiel ohne
Haman" erfolgte jedoch auch eine Anspielung auf Hitler, die der Beamte sehr
wohl verstand und tolerierte. Franziska Jacob schildert das so:
,,Zu diesen Aufführungen ist immer einer von der Gestapo erschienen. Und die haben sich
köstlich amüsiert und waren überhaupt nicht feindlich. Sie kamen in die Schule. Sie wa-
ren viel positiver, als ich mir vorstellte, daß sie es in der Provinz gewesen wären. ( ... ) Ich
will das an einem Beispiel klarmachen. Wir hatten eine Purim-Aufführung, wo dort der
Feind ,Haman' hieß. Ich war natürlich bei den Aufführungen, und die Gestapo war bei
den Aufführungen. Da kam zum Beispiel - das hab ich noch stark in Erinnerung - ein
Lied vor: ,Ach wie wär es doch so schön, ohne H.. .'. Haman hätte man natürlich sagen
können, aber mein Mann wollte andeuten: Ohne Hitler! Und das war ja allen klar! Das
heißt, die (von der Gestapo) haben sich totgelacht! Die haben das genau begriffen, denn
das sollte ja auch zu begreifen sein. Und man konnte es tun! Das ist doch gar nicht zu
verarbeiten mit Dingen, die gleichzeitig passierten. Die haben schallend gelacht! Und das
ist nur ein Beispiel. Und die andere Seite ist, daß mein Mann es gewagt hat, und ich auch
gewußt hab, er kann es wagen. Er hätte ja auch nicht die Schule deswegen schließen las-
sen wollen." (Franziska Jacob, Gespräch 1990)

165
Es gab aber auch noch andere Feste und Feiern, die zum Teil erst ab 1936
eingeführt worden waren. Eines war "Tischa be aw", von dem ein Vortrags-
text für das Jahr 1937 vorliegt. (Abschrift im Archiv) In diesem Text werden
unter anderem die Niederlage der Juden in den Aufständen gegen die Römer
und die Zerstörung des Tempels thematisiert, und es wird gefragt, woher die
Juden angesichts der Verfolgung und Niederlagen damals den Mut für die
Neuanfänge genommen hätten. Damit wird die Frage verknüpft, ob die Juden
ein duldendes und erduldendes Volk bleiben sollten oder eine positivere
Form des Selbstbewußtseins aufbauen müßten. Dann werden entsprechende
Leistungen der Juden thematisiert, z.B. der Talmud-Gelehrte oder der Siedler
in Palästina. Sie alle werden als positive Vorbilder und nicht als resignierte
Erdulder dargestellt. Fazit: Diejenigen, die ihr Judentum verloren haben, sol-
len sich bemühen, es wiederzugewinnen. Zum Schluß der Aufführung heißt
es in dem Text:
"Wohin auch die Flucht, die Zerstreuung ging, sie nahmen das Judentum mit. Das muß
auch unsere Aufgabe sein.
Frage: Und wenn wir unser Judentum verloren haben?
Antwort: So suchen wir es wiederzufinden.
Frage: Und wenn wir gar nicht mehr wissen, was Judentum ist?
Antwort: So lernen wir, was es gewesen ... "
Ein für die kindliche Gefühlswelt unproblematisches und heiteres Fest war
das alljährliche Chanukka-Fest, das etwa wie das christliche Weihnachten
und auch fast gleichzeitig gefeiert wird. Chanukka heißt Weihung; man ge-
denkt der Siege der Schwachen über die Starken und der Gesetzestreuen über
die Assimilanten. Das historisch zugrundeliegende Ereignis war der Versuch
der Zwangshellenisierung durch Antiochus IV ab 175 v.d.Z. Es kam damals
zum erfolgreichen Aufstand der gesetzestreuen Makkabäer gegen die grie-
chisch-syrische Armee. Anschließend wurde der entweihte Tempel wieder
neu eingeweiht. Als Erinnerung wird der achtarmige Chanukka-Leuchter (Me-
norah) angezündet. Die Kinder erhalten traditionell Geschenke. Die aktuelle
symbolische Bedeutung lag darin, sich weder zu assimilieren, d.h. das Juden-
tum aufzugeben, noch sich einem Tyrannen zu beugen.
Besonders für die jüngeren Kinder wurde das Chanukka-Fest aufwendig
gestaltet. Ruth Ehrmann schrieb ein spezielles Chanukka-Spiel, das sie mit
ihren Kindern aufführte. t2t Eine große Menorah war sowohl bildlich als auch
thematisch Gegenstand des Stückes, das "Unsere Menorah" hieß. Die Spen-
den der Besucher wurden für die "Winterhilfe" verwendet, mit der bedürftige
Menschen der jüdischen Gemeinde unterstützt wurden.
Ein anderes Fest, das 1937 an der PriWaKi gefeiert wurde, war das "Neu-
jahrsfest der Bäume" (Tu be Schwat). Dieses Fest ist kein religiöses Fest und
auch nicht an ein geschichtliches Ereignis gebunden. Es findet etwa Anfang

121 Vgl. Foto in Wilmersdorf Museum 1992, S. 21. Auf dem Bild ist in der Mitte hok-
kend Steffi Guttmann, die Tochter des 1941 verstorbenen Charlottenburger Opern-
sängers Wilhelm Guttmann, zu erkennen.

166
Februar statt. Ursprung ist der Beginn des neuen Steuerjahres im alten Israel;
die Höhe der festgesetzten Abgaben hing unter anderem von den zu diesem
Zeitpunkt blühenden Bäumen ab. Die Erinnerung hat sich in der Diaspora le-
bendig gehalten, und unter der zionistischen Besiedlung Palästinas wurde
daraus ein nationaler Gedenktag, an dem große Pflanzaktionen zur Auffor-
stung des Landes stattfinden. Aus der Diaspora erwartete man auch damals
schon eine entsprechende finanzielle Unterstützung. Auch die PriWaKi hat
für die Anpflanzung von Bäumen in Palästina gesammelt, vermutlich wurden
die Eintrittsgelder, die bei einer entsprechenden Aufführung eingenommen
wurden, gespendet. Als Kostprobe sei eine Strophe aus dem Aufführungstext
zitiert, der gruppenweise gesprochen wurde. Nachdem erwähnt worden ist,
daß in Palästina bereits 1,2 Millionen Bäume von den jüdischen Siedlern ge-
pflanzt worden seien, heißt es:
"Was kommen denn da für kleine Gesellen
Noch etwas kahl an einigen Stellen?
Pfui, spottet nicht, sie sind noch nicht alt
Gehören zum '36er Wald.
Fragt lieber, wer kaufte, wer schenkte sie?
Zweihundert Kinder der PriWaKi
Von ihrem Taschengeld, bedenkt
Haben uns 50 das Leben geschenkt
Dass sie sich als Waldschule stets bewähre
Machen wir ihr in Israel Ehre.,,122

Es blieb jedoch nicht bei sporadischen Festen, sondern am Sonnabend fand


regelmäßig eine Veranstaltung an der PriWaKi statt, die man Oneg Schabbat
(Freude des Schabbat) nannte. Diese Schabbat-Veranstaltungen waren jedoch
nicht unbedingt religiös, sondern es wurden historische, soziale und kulturel-
le Elemente des Judentums thematisiert. Entlehnt wurde diese Idee vom jüdi-
schen Dichter eh. N. Bialik und aus der zionistischen Bewegung Palästinas,
die den Oneg Schabbat als säkularisierte Form der religiösen Schabbat-Feier
eingeführt hatte, um auch für Nichtreligiöse eine kulturelle Basis zu ge-
winnen, ohne die eine stabile jüdische Identität auf Dauer nicht möglich sein
würde. In den jüdischen Schulen wurde der Oneg Schabbat zum Teil auch als
Ersatz und parallel zum nationalsozialistischen Staatsjugendtag eingeführt,
der für die Aktivitäten der Hitler-Jugend zur Verfügung stand. Da die jüdi-
schen Schulen und auch jüdische Schüler an öffentlichen Schulen davon be-
freit waren und nicht alle zu religiösen Schabbat-Feiern oder Jugend-Gottes-
diensten gingen, wurde der Oneg Schabbat als eine Ersatzlösung betrachtet.
Zum Teil nahmen auch die Eltern an diesen Veranstaltungen an den Schulen
teil, so daß der Oneg Schabbat vielfach zum Treffpunkt der Schulgemeinde
wurde. 123

122 Das Spiel wurde von Ruth Ehrmann für die jüngeren Kinder verfaßt; Abschrift im
Projektarchiv .
123 Vgl. z. B. den Text zur Schabbatfeier der Grundschüler v. 29.10.37, Kopie im Pro-
jektarchiv.

167
Außer in Religionslehre, Hebräisch und über Feste und Gedenktage wur-
de an der PriWaKi versucht, Elemente des Judentums im weiteren Sinne
überall im Unterricht mit zu thematisieren, wobei wiederum reformpäda-
gogische Methodik angewandt wurde:
"Die Prinzipien der Progressiven Erziehung und damit auch die Verbindung mit dem täg-
lichen Leben wurden in allen Fächern sichtbar: Farbige Broschüren in Mathematik, Illu-
strationen von ,Lehrsätzen', in Arithmetik Statistiken über die Emigration der Juden, die
jüdische Bevölkerung im Ausland, die Exporte Palästinas, etc." (Kaliski 1983)

Letzteres entsprach auch dem pädagogisch-didaktischen Postulat der ,jüdi-


schen Durchdringung des Unterrichts", das auch im Landschulheim Herrlingen
praktiziert wurde. (Schachne 1989, S. 13lf.) Das Postulat galt für alle jüdi-
schen Schulen, denn es entstammte den 1934 herausgegebenen Richtlinien des
Schulausschusses der Reichsvertretung der Deutschen Juden. (Vgl. Weiss
1991, S. 153ff.) Darin hieß es:
"Die Schule soll von einem sich selbst begreifenden jüdischen Geist durchdrungen sein.
Das heranwachsende Kind soll seines Judeseins in gesundem Bewußtsein sicher werden
... Zur Erreichung dieses Ziels ist das Jüdische in den Mittelpunkt aller dafür in Betracht
kommenden Unterrichtsfächer zu stellen." (Zit. in Weiss 1991, S. 158)

In der PriWaKi wurden Judentumskunde und jüdische Geschichte im Rah-


men der Schulfächer Hebräisch, Religionslehre und Geschichte unterrichtet.
"Gesinnungsfächer" wie Deutsch und Geschichte erwiesen sich als besonders
geeignet für die didaktische Durchdringung.
Doch war gerade in diesen Fächern immer auch die Frage zu klären, in-
wieweit noch deutsche Bildung vermittelt werden sollte (oder durfte), denn
es handelte sich ja bei der PriWaKi wie auch den anderen jüdischen Schulen
im Kern immer noch um eine an die deutsche Kultur gebundene Schule, in
der vor allem die Sprache als Ausdrucksmittel der Kinder unverzichtbar
blieb, vor allem in der Grundschule und in der Mittelstufe. Obwohl es an der
PriWaKi nie zu einer Deutschtümelei gekommen ist, standen deutsche Bil-
dungsinhalte ohne Zweifel im Mittelpunkt, doch wurden sie nach und nach
relativiert durch einen europäischen und jüdischen Humanismus. Im letzten
Schuljahr 1938/39 bildeten diese drei Komponenten eine - wie es scheint -
gleichwertige Mischung. l24

124 Indiz dafür ist auch der Stundenplan der Obertertia vom Schuljahr 1938/39, der von
der zeichnerisch begabten Schülerin LiIIi Cassel mit Bild-Motiven geschmückt wor-
den ist. (VgI. Schutzumschlag von Busemann, Daxner, FölIing 1992) Diese zeigen
Goethe: Götz von Berlichingen; Shakespeare: Julius Caesar, Moses Maimonides-
Jüdische Geschichte, Europäische Geschichte 1789-1914. Andere Beispiele für die
Durchdringung des Faches Deutsch mit jüdischer Thematik enthalten die Schulhefte
von Peter Landsberg. Sie lassen erkennen, wie auch in diesem Fach jüdische Themen
von Jahr zu Jahr an Bedeutung gewannen:
Aufsatzthemen in U III, Schuljahr 1935/36, Lehrer Paul Jacob:
Als Zuschauer beim Avusrennen; Im Vorstadtkino; Licht in der Nacht; Die Heilung
des armen Heinrich - ein Wunder?; Beim Friseur

168
In Musik wurde das von Dr. Jacobsen und Erwin Jospe 1935 herausge-
gebene Liederbuch HAWA NASCHIRA! (Auf! Lasst uns singen!) mit deut-
schen, jiddischen und hebräischen Liedern (und zum Teil auch hebräischen
Schriftzeichen) häufig benutzt. Manche Lieder werden den assimilierten
Kindern genauso folkloristisch in den Ohren geklungen haben wie uns heute.
Aber es wurde eben nichts unversucht gelassen, um jüdisches Bewußtsein zu
fördern.

Palästinakunde und Zionismus

Neben der allgemeinen Ausrichtung der PriWaKi-Pädagogik auf die For-


mung des jüdischen Bewußtseins gab es auch speziellere Orientierungen, wie
etwa die Kenntnis vom jüdischen Chaluziut (Aufbau werk) in Palästina und
die Reflexion zionistischer Ideen. Dies war aber noch nicht die Verpflichtung
auf einen Zionismus, sondern diente einer positiven Identifizierung mit dem
Judentum insgesamt, wobei die Aufbauleistungen in Palästina als ein Beispiel
für die kulturelle Leistungsfähigkeit des Judentums dargestellt wurden, wie
dies an der PriWaKi auch zum "Tischa be aw"-Gedenktag geschah, als etwa
der Talmudgelehrte zusammen mit dem Kibbuz-Pionier als positive Beispiele
und Identifikationsfiguren hingestellt wurden. In diesem Sinne wurden Pa-
lästinakunde und Zionismus für die Gesamtheit der Schülerschaft auch in der
PriWaKi behandelt; nur wer darüber hinaus zionistisch eingestellt war, konnte
in der "Palästina-Gruppe" ein weitergehendes Engagement als Lehrer oder
Schüler zeigen. 125 In den vom Schulausschuß der Reichsvertretung vorgeleg-
ten Richtlinien für jüdische Schulen (1934) wurde das "Aufbauwerk in Palä-
stina" eigens erwähnt, doch nur im Rahmen von Erdkunde. Auf Druck der
Zionisten und weil 1934 schon mehr als ein Drittel der 24.000 Auswanderer
nach Palästina ging, gaben die Liberalen ihren Widerstand gegen eine Aus-
weitung der Palästinakunde auf, und 1936 wurde den Schulen sogar über die

o III, Schuljahr 1936/37, Paul Jacob:


War Mark Anton ein großer Redner?; Kulturwandel der Renaissance; Hirschl, Moni-
ca, Gerson - drei Stufen in Davids Entwicklung (nach Max Brods Roman: Reubeni);
Kants Gedanken über den Völkerbund; Judentum als Aufgabe.
U 11 (Sekunda), 1937/38, Paul Jacob (1. Halbjahr):
Fausts Entwicklungslinie zum Pakt mit Mephistoles; Goethes Glaubensbekenntnis
im Faust und Lessings Religionsauffassung im Nathan; Was stellen sich Egmont und
Marquis Posa unter Freiheit vor? (Auswahlthemen: Bibeltext und Dichterwort -
Vergleiche von Bibelversen mit Stellen aus Beer Hofmanns ,Jakobs Traum'; Gedan-
ken zum ,Teilungsplan' [von Palästina, erstellt durch die Peel-Kommission im Juli
1937 - W.F.])
2. Halbjahr, Alfred Cohn:
,Kann uns zum Vaterland die Fremde werden? (Iphigenie) Gedanken zur heutigen
jüdischen Lage; Gesetz und Gefühl. Ein dramatisches Kräftespiel im ,Prinzen von
Homburg'.
125 Auf die Palästina-Gruppe werden wir noch gesondert eingehen.

169
Reichsvertretung eine materialreiche "Palästina-Sammlung" angeboten, mit
der sie jetzt ihren Unterricht gestalten konnten. (Vgl. Walk 1991, S. 133f.)
Der zionistische Schulleiter Hans Gärtner (Herzl-Schule Berlin) offe-
rierte sogar eine Unterrichtseinheit über die Urbarmachung und Besiedlung
des Emek, ein berüchtigtes malariaverseuchtes Sumpfgebiet in der Nordhälf-
te Palästinas, durch zionistische Chaluzim (Pioniere). Dies wurde auch an der
PriWaKi unterrichtet; ein eigenständiges Fach Palästinakunde hat es aber
nicht gegeben, denn in den Zeugnissen findet sich kein Hinweis darauf.
Die ersten Hinweise auf Palästinakunde und Zionismus (als ein Thema
im Rahmen von Palästinakunde) finden wir etwa für das Jahr 1934/35. Zu
dieser Zeit wurde das Thema im Unterricht der ältesten Klasse aber nicht pri-
mär von den Lehrern eingebracht, sondern von zionistischen Schülern:
"Da gab es mal einen Jungen, daran erinnere ich mich jetzt zum ersten Mal nach 50 Jah-
ren wieder, der hat Krebs geheißen, der war damals schon Zionist und die Hanni (Stein)
auch. Und der hielt mal einen Vortrag (über Zionismus). Das war damals ganz neu, daß
Schüler so etwas machten." (Lilli Ithai, Gespräch 1990)

Etwa 1935 machte der neu eingetretene Schüler Günther Stensch zum ersten
Mal Bekanntschaft mit dem Thema:
"Mein erster Kontakt mit der intellektuellen Basis des Zionismus war die ,Autoemanzipa-
tion der Juden,!I26 Das mußten wir lesen. Das war das erste Mal, daß ich von dem ganzen
gehört habe: Daß da ein jüdischer Staat sein soll, weil die Assimilation in der Diaspora
nicht funktionieren wird. ( ... ) Da war ich 11 Jahre alt. Da mußte ich das lesen." Ob die
Schule als zionistisch eingestuft wurde, "hing sehr davon ab, where you come from. Für
mich war die Sache sehr zionistisch. Zum Beispiel Jospe, der Musiklehrer, bei dem haben
wir hebräische Lieder gesungen. Meine ganze Bekanntschaft mit der jüdischen Kultur
fängt eigentlich nur mit der Kaliski-Schule an. ,,127
Wir haben den letzten Satz hervorgehoben, weil diese Aussage sinngemäß in
unseren Gesprächen häufiger gemacht worden ist. Sie ist typisch für unsere
Interviewpartner aus den schon weitgehend assimilierten Familien. Aller-
dings bezog sich diese Aussage zumeist nicht nur auf Palästinakunde und
Zionismus, sondern auf die gesamte Erziehung zum Judentum an der Pri-
WaKi. Auch die Lehrer selbst wurden davon beeinflußt und wandelten sich,
wie etwa der Lehrer Franz Mühlhauser, zu Zionisten:
,,zionistische Gedanken kamen auf, denn wir lernten Hebräisch, sprachen von Palästina
und sangen Chaluzim-Lieder, bis ich im Laufe der Jahre den festen Entschluß faßte, nach
Palästina auszuwandern. ,,128

126 Gemeint ist das Buch von Leon Pinsker: Autoemanzipation. Mahnruf an seine Stam-
mesgenossen von einem russischen Juden, Berlin 1882 (8. Auflage 1936).
127 G. Stent, Gespräch 1989, Hervorh. d. W. F.
128 Ephraim Millo, Autobiographie 1989. Nach unserem Eindruck scheinen die mit der
Palästinakunde und den jüdischen Festen befaßten Lehrer besonders stark geprägt
und verändert worden zu sein. Dies lag auch daran, daß sie die Thematik nicht ein-
fach reproduzieren konnten, sondern sie intensiv aufarbeiten und kreativ umsetzen
mußten. Die Materialien von der Reichsvertretung zur Palästinakunde boten zwar

170
Die meisten Schüler aus assimilierten oder deutsch-jüdischen Elternhäusern
blieben jedoch distanzierter:
"Die PriWaKi, würde ich sagen, war ein bißehen pro Palästina. (... ) Ich erinnere mich an
Gespräche (über Palästina): Ein paar Mark geben für das Pflanzen von Orangenbäumen
und so ... " (0. Hirschberg, Gespräch 1989)
"Die Palästinakunde fand ich sehr nett, bestimmt interessant, aber ... die Richtung
war sozialistisch und ich war niemals in der Richtung." (S. Weinberger, Gespräch 1989)
Die zitierten verschiedenen Stimmen zeigen, wie schwierig es für die Pri-
WaKi gewesen sein muß, auf dem heiklen Terrain der Palästinakunde und
des Zionismus einen für die ganze Elternschaft tragbaren gemeinsamen Nen-
ner zu finden. So verwundert es nicht, daß Lotte Kaliski und Heinrich Selver
eher zurückhaltend blieben, zumal sie selbst persönlich noch am wenigsten in
Richtung Palästina und Zionismus tendierten, während Lehrer wie Jacob,
Jospe, Hecht, Mühlhauser, Salzberger und Kuttner sich sehr viel stärker in
der Palästinakunde oder auch in der Palästina-Gruppe engagierten.
Ein großes und auch von der jüdischen Presse gewürdigtes Ereignis war
die PriWaKi-Aufführung "Die blinden Passagiere" Ende 1935. Das Bühnen-
stück war von Paul Jacob geschrieben und von Jospe teilweise vertont wor-
den. Der Theaterkritiker Heinzwerner Goldstein schrieb in der Jüdischen Rund-
schau über die "Chanukka-Feier der Wald schule Kaliski am 18. Dezember"
unter anderem:
"Weiter gab es: ,Die blinden Passagiere' (Dr. Paul Jacob). Das sind wilde Jungen und
Mädel, die sich an Bord eines Palästinaschiffes begegnen, einem Bodenspekulanten eini-
ge lustige Streiche spielen, die sie dann, als sie auf abenteuerliche Weise sich im Lande
begegnen, fortsetzen, um den ,Herrn Bodenkauf' zur Senkung der Bodenpreise zu zwin-
gen. Aber das allein soll nicht ihr Ziel sein, sie wollen arbeiten, um das Land für das Volk
zu besitzen. Die ,blinden Passagiere' werden in Ben Shemen aufgenommen. Hier erreicht
sie ,Herr Bodenkauf' , um sie der losen Streiche willen bestrafen zu lassen. Aber er wird
umgewandelt und schenkt den Ausreißern Boden. Die fünf sehr gut gespielten Bilder en-
den mit einem wirklichen Happy-End, das eigentlich zu schön ist, um wahr zu sein." (IR,
20.10.35)
Auch in anderen Unterrichtsfächern wurden Palästina und der Zionismus
thematisiert, wie eine große Schulausstellung im Herbst 1937 erkennen läßt.
Hierzu wurden in den Presseberichten verschiedene Ausstellungsgegenstände
erwähnt, die mit Palästina und dem Zionismus zu tun hatten. Die Besucher
sahen ein "sorgsam hergerichtetes Modell des ,Ruthenberg'-Werkes in Pa-
lästina", dargestellte "Scenen aus der jüdischen Vergangenheit und der palä-
stinensischen Gegenwart" im Rahmen des Geschichtsunterrichts, den "he-
bräisch-englischen Briefwechsel zweier Freunde" sowie "Drucksachen aus
Palästina als Anschauungsmaterial". Eine Journalistin meinte gar: "Palästina

Hilfen, waren aber kein fertiges Programm. Außer dem Hebräisch-Lehrer Kost war
kein Lehrer anfangs zionistisch, aber nicht wenige sind es geworden und nach Palä-
stina/Israel ausgewandert. Zu den Lehrerbiographien Vgl. Fölling in Busemann u.a.
1992, S. 257ff.

171
nimmt im Gedankenleben der Schüler den größten Raum ein. Kvutza-Model-
le, ja sogar das Ruthenberg-Kraftwerk mit dem Stausee und Jordan und Jar-
kon sind plastisch und naturgetreu". 129
Sicher war es übertrieben zu behaupten, 1937 habe Palästina "im Gedan-
kenleben" der PriWaKi-Schüler "den größten Raum" eingenommen. Aber
mit zunehmendem nationalsozialistischen Druck auf die deutschen Juden
wurden Palästina und der Zionismus auch an nichtzionistischen Schulen wie
der PriWaKi zweifellos stärker thematisiert. Im Schulprospekt von 1938(a)
schließlich erhielt die Palästina-Orientierung eine Spitzenstellung in den Er-
ziehungs zielen der Schule:
"Palästina hat einen besonderen Platz in dieser Erziehung. Es beansprucht nicht nur das
Interesse des Teiles der Jugend, der sich auf ein Leben in Palästina vorbereitet. Durch
Kenntnis seiner Eigenart und Verstehen seiner Bedeutung soll das Land produktivster jü-
discher Lebensgestaltung zu einer lebendigen Verpflichtung für alle erwachsen."
Palästina erhielt im Unterricht also eine immer ausgeprägtere symbolische
Bedeutung für alle Schülerinnen und Schüler der PriWaKi und bekam da-
durch auch eine identitätsstiftende Funktion. Darüber hinaus hat Palästina-
kunde unseres Wissens aber keine "Bekehrung" zum Zionismus und zur ver-
stärkten Auswanderung nach Palästina bewirkt - wobei wir die Lehrer und
die Palästina-Gruppe von dieser Feststellung ausnehmen. Soweit wir jedoch
die in Israel lebenden ehemaligen PriWaKi-Schüler interviewt haben, ist die
Weichenstellung für PalästinalIsrael immer durch außerschulische Faktoren
bewirkt worden. Wie wir aus einer anderen Studie über zionistische Jugendli-
che der Weimarer Republik wissen (vgl. Fölling, Melzer 1989), war für eine
zionistische Überzeugung immer auch eine Art Bekehrungs-Erlebnis not-
wendig. Dafür war eine Palästinakunde an der Schule aber emotional nicht
tiefgehend genug. Ab 1938 spielten für die Auswanderung nach Palästina
aber eher Fluchtmotive als ideologische Überzeugungen eine Rolle.

Vorbereitung auf die Emigration

Die bewußtere und gezieltere Vorbereitung auf die Emigration begann an der
PriWaKi etwa mit dem Schuljahr 1936/37, setzte voll aber erst mit dem
Schuljahr 1937/38 ein. Dabei versuchte die PriWaKi, die Kinder im Rahmen
ihrer Möglichkeiten nicht nur praktisch, sondern auch psychologisch auf die
Emigration vorzubereiten, deren Unumgänglichkeit sich mit einer gewissen
Zeitverzögerung von etwa einem Jahr nach Verabschiedung der Rassengeset-
ze im Bewußtsein auch der nichtzionistischen deutschen Juden durchsetzte.
Bis dahin war auch die Politik der Reichsvertretung der deutschen Juden eher

129 Schulausstellung der Waldschule Kaliski, Herbst 1937. Zusammenstellung der Be-
sprechungen in der jüdischen Presse in Berlin, Kopien im Projektarchiv. Die Modelle
der Kvutza und des Kraftwerks wurden wahrscheinlich im Werkunterricht des späte-
ren Ben-Shemen-Lehrers Salzberger hergestellt. Vgl. Fotos im Projektarchiv.

172
noch auf Bleiben und Durchhalten in Deutschland als auf Emigration ausge-
richtet gewesen. 1933 hatten ja selbst die Zionisten in Deutschland dazu auf-
gerufen, den "gelben Fleck", das Zeichen der Stigmatisierung der Juden, "mit
Stolz" zu tragen, statt so schnell wie möglich auszuwandern. Für die Funk-
tionäre der jüdischen Gemeinde, des Centralvereins deutscher Staatsbürger
jüdischen Glaubens (C.V.) oder gar des Reichsbundes jüdischer Frontsolda-
ten (R.j.F.) galt dies in noch viel stärkerem Maße. Es bedurfte also erst weite-
rer schmerzhafter Erfahrungen und Erniedrigungen durch die Nazis, bis der
innere Widerstand gegen eine Emigration schwand.

"Praktische Übungen"

In der PriWaKi begann die Vorbereitung praktisch und psychologisch mit


kleineren Schritten. Sie wurde eingeleitet mit dem Beschluß, das reformpäd-
agogische Programm vor allem des Tagesinternats stärker für die Emigra-
tionsvorbereitung zu funktionalisieren. Die damalige Schülerin Lilli Bern-
hard erinnert sich noch an diese Veränderung:
"Eines schönen Tages kommt Dr. Selver zu uns in die Klasse und sagt sehr bestimmt,
aber doch sehr höflich und etwas reserviert: Es wäre ja vielleicht vorauszusehen, daß wir
ja nicht alle weiter mit Dienstmädchen und Köchinnen leben würden, und wir sollten des-
halb auch innerhalb des Schulprogramms lernen, daß man selbständig werden kann. Des-
halb würden wir jetzt einmal etwas Praktisches lernen. Was hat man gelernt? Fensterput-
zen, Kakao kochen, ein Spiegelei machen, ein Fahrrad reparieren. Das muß ungefähr so
1936 gewesen sein. Das waren eben diese verwöhnten Kinder aus jüdischen Familien."
(Lilli Ithai, Gespräch 1990)
Wegen dieser neuen oder verstärkten Lernbereiche wurde auch der Lehrer
Hecht für die Fächer Sport, Zeichnen und Werken eingestellt. In der Kaliski-
Schule war er Turn- und Zeichenlehrer, hat aber auch praktisches Arbeiten
gelehrt, wie zum Beispiel Karton- und Papierarbeiten, kleine Elektroarbeiten,
Fensterputzen, Knöpfe annähen. Das wurde "Kleine Werkarbeit" genannt.
Das Ziel war, daß auch ein Junge sich allein die Strümpfe stopfen und Knöp-
fe annähen und auch eine Wohnung sauberhalten können sollte: "Die Kinder
haben das schrecklich gern gemacht; an der Kaliski-Schule waren doch alles
Kinder aus gutem Hause." Die Überlegung sei gewesen, so Hecht, die Kinder
auf eine ungewisse Zukunft und eine Auswanderung vorzubereiten. "Wir
wußten alle, wir müssen raus." Das galt für die Zeit ab Winter 1937/38. 130
Um die Bedeutung und die Ernsthaftigkeit dieser praktischen Vorbereitung
auf eine ungewisse Zukunft hin zu unterstreichen, wurden sogar eigene Zeug-
nisse eingeführt, die zwar keine Benotung enthielten, aber dokumentierten,

130 Vgl. Chaim Hadar, eh. Herbert Hecht, Gespräch 1989.

173
welche praktischen Übungen die Schüler jeweils absolviert hatten. Optisch
ähnelten die Zeugnisformulare Schulleistungs-Zeugnissen. l31
Über die Effektivität dieser allgemein-praktischen Vorbereitung durch
Funktionalisierung und Intensivierung reformpädagogischer Elemente gibt es
ebenfalls wieder unterschiedliche Meinungen. Sicher ist die Einschätzung der
in diesem Bereich unterrichtenden Lehrer richtig, daß die Kinder dies
"furchtbar gern" (H. Hecht) gemacht hätten. Aber über das spielerische (und
dadurch im Sinne der Reformpädagogik motivierende) Lernen ist dieser Be-
reich nicht hinausgekommen und konnte es mit den Mitteln einer normalen
Schule wohl auch nicht. Mit dieser Begrenztheit der Mittel stand die PriWaKi
nicht allein da, sondern dies galt auch für andere jüdische Schulen, sofern sie
nicht ein Hachschara-Ausbildungszentrum zur Verfügung hatten. Diejenigen
Schülerinnen und Schüler, die nach der Emigration durch ein liberales Schul-
system (besonders in den USA) weich aufgefangen wurden und deren Fami-
lien keine Not litten, haben diese positive Einstufung der "Praktischen Übun-
gen" in der Regel beibehalten. Diejenigen aber, die in der Emigration hart
um ihre Existenzsicherung kämpfen mußten, hielten das ganze später eher für
einen "Baby-Sitting-Service". (Werner Stein, Gespräch 1989)
Über diese praktische Vorbereitung hinaus, die im wesentlichen nur im
Tagesinternat geleistet werden konnte, scheint es aber auch eine kindgemäße
Form der seelischen Vorbereitung und Auseinandersetzung mit der bevorste-
henden Emigration gegeben zu haben, als diese 1938 unumgänglich wurde.
So wurden zum Beispiel die jüngeren Kinder aufgefordert, einen Aufsatz zu
schreiben mit dem Thema: "Hans X. ... ausgewandert!" Der damals etwa
12jährige Werner Michael Blumenthal schrieb dazu folgendes:

131 Eines wurde für den Schüler Werner Stein im April 1937 ausgestellt. Es lautete:
"Zeugnis
Werner Stein, Schüler der Klasse Quinta, hat während des Winterhalbjahres 1936/37
im Tagesinternat der Schule an außerschulischen praktischen Übungen teilgenom-
men. Er hat folgende Arbeiten ausgeführt:
im Garten: (kein Eintrag)
in der Küche: Rührei, Kartoffelpuffer, Mürbekuchen, Haferschleim-
suppe, Pudding
im Haus:
Reinigung: Geschirr abwaschen, Fenster putzen
Instandhaltung: (kein Eintrag)
Kleiderpflege:
Reinigung: (kein Eintrag)
Instandhaltung: (kein Eintrag)
in Kursen f. Erste Hilfe: (kein Eintrag)
in allgemeinen
praktischen Aufgaben: Autowaschen.
Er hat während des Winterhalbjahres 1936/37 das Kartenamt verwaltet.
Allgemeine Beurteilung: Werner hat alle praktischen Arbeiten schnell und geschickt
geleistet.
Berlin, den 30. Apri11937
E. Heinrich, Gruppenleiter Dr. Selver, Schulleiter"

174
"Ich kann es immer noch nicht fassen. Hans X.... ausgewandert! Hans X. mein bester
Freund. Hans X., der Junge, mit dem ich vor einigen Tagen noch lachend in meiner Woh-
nung herumgetollt bin, fährt nun nach Argentinien. Vielleicht sehe ich ihn nie mehr wie-
der! Vielleicht auch in einigen Monaten. Und vielleicht in vielen Jahren. An etwas muß
ich aber immer wieder denken! Wie ich vorhin schluchzend meiner Mutter erzählte, daß
Hans X. auswandert, sagte sie: ,Nimm es dir nicht so zu Herzen, Werner, es haben schon
viele auf dem Bahnhof gestanden und dem Zug nachgesehen, der ihre Verwandten oder
Bekannten vielleicht auf nimmer Wiedersehen in die weite Welt hinaustrug. Es ist nun
einmal das Schicksal des Judentums, von einem Land ins andere zu wandern, ohne ein ei-
genes Land zu haben!' Ich hatte mich umgedreht, war in mein Zimmer gelaufen, hatte
mich auf mein Bett geworfen und nachgedacht. Nachgedacht über die Frage: Wieso?
Wieso hat denn das Judentum kein eigenes Land? Wieso gab es etwas, was die Juden von
einem Land ins andere trieb? ,Wieso?' Erst hatte ich meine Mutter fragen wollen, ob die
Juden sich nicht ein eigenes Land aufbauen könnten, ein unbewohntes Land, was nieman-
dem gehört! Vielleicht sogar eine riesige Wüste! Aber dann, ich weiß nicht wieso, hatte
ich doch von der Frage abgelassen, denn auch da weiß ich nicht wieso, ich kam mir etwas
zu klein, zu dumm, zu unwissend für das große ,Wieso' vor!" (W. M. Blumenthal1938)
Doch gab es über diese psychologischen und allgemein-praktischen Ansätze
der Emigrations-Vorbereitung hinaus auch zwei ganz handfeste Wege, sich
an der PriWaKi auf die Emigration vorzubereiten; nämlich durch die engli-
sche Examensausbildung und durch die "Palästina-Gruppe".

" Englische und amerikanische Examensausbildung "

Schon mit der Einsicht in die Notwendigkeit der Emigration zeichneten sich
besonders die USA als Einwanderungsland ab, weil es dort bereits viele jüdi-
sche Gemeinden gab, gefolgt von England, das ab 1938/39 besonders viele
jüdische Kinder aufnahm. Deshalb lag es für eine Schule wie die PriWaKi
nahe, zu versuchen, die Kinder und Jugendlichen nicht nur sprachlich auf die
angelsächsischen Länder vorzubereiten, sondern auch von der Gesamtquali-
fikation her, so daß die Kinder nach ihrer Auswanderung sofort einen An-
schluß in der Schule oder in der Universität finden könnten. Als Lösung wur-
de das Programm zur englischen und amerikanischen Examensausbildung ab
Anfang 1937 entwickelt und bis Ostern 1938 voll ausgebaut. Im Schulprospekt
von 1938 wird das Ausbildungsprogramm wie folgt beschrieben:

"Diese Ausbildung hat folgende Ziele:

I. School Certificate Examination der University of Cambridge


Dieses Examen wird von der Universität Cambridge abgehalten; es stellt den
Ausweis über eine abgeschlossene englische Schulbildung dar und berechtigt
nach Maßgabe der Prüfungsergebnisse zum Studium in England und Ameri-
ka und zahlreichen anderen Ländern.
Die Ausbildung für dieses Examen umfaßt an unserer Anstalt die Lehr-
fächer:

175
Englisch Geschichte General Science:
Deutsch Religious Knowledge Physik
Französisch (Bibel kunde) Chemie
Latein (fakultativ.) elementare Mathematik Biologie
fortgeschrittene Mathema-
tik (fakultativ)

II. Prüfung des College Entrance Examination Board in New York


Ihre Anforderungen sind individuell und richten sich hauptsächlich nach den
speziellen "requirements" der Universität in Amerika, die der Kandidat zu
besuchen beabsichtigt. Das bestandene Examen berechtigt auf alle Fälle zum
Studium, ist aber auch für praktische Berufe in U.S.A. von großem Wert.

Ill. Eintrittsberechtigung in ein amerikanisches College ohne Prüfung


Sie wird nach Abschluß unserer englischen Ausbildung erreicht bei ameri-
kanischen Colleges, die sie als gleichberechtigt mit der einer "graduate school"
in Amerika anerkennen. So nimmt ein bedeutendes College in Chikago Ab-
solventen unserer Ausbildung als reguläre Studenten auf, ohne daß es noch
eines der unter I und 11 erwähnten ausländischen Examina bedarf.
Die Ausbildung für diese Prüfungen erfolgt zum Hauptteil durch engli-
sche akademische Lehrkräfte, die mit behördlicher Genehmigung an unserer
Schule tätig sind. Sie umfaßt ca. 40 Wochenstunden, von denen über 30 in
englischer Sprache erteilt werden. Die Dauer der Ausbildung richtet sich
nach Vorkenntnissen und Begabung des Schülers. Sie erstreckt sich auf etwa
2 Jahre nach Abschluss der deutschen Mittelstufe, da sie in unserer Schule
bereits während des Besuches der deutschen Oberschule durch den zusätzli-
chen Unterricht bei Engländern vorbereitet wird. Gegenüber dem Abschluß
mit dem deutschen Abitur ergibt sich so ein Zeitgewinn von durchschnittlich
einem Jahr. Die Ausbildung läuft für die englische und für die amerikanische
Ausbildung vielfach parallel.
Nur wirklich geeignete und arbeitsfreudige junge Menschen können zu
dieser Ausbildung zugelassen werden.
Die Prüfungen für das Cambridge School Certificate wie für das College
Entrance Examination sind ausschließlich schriftlich. Sie werden in Berlin
abgelegt unter der Aufsicht einer von der betreffenden Universität ernannten
neutralen Persönlichkeit. Die Aufgaben werden von der ausländischen Uni-
versität gestellt; sie und die Prüfung selbst sind für alle ausbildenden Schulen
gleich. Auch die Ergebnisse werden allein von der Universität nach Erhalt
der Prüfungsarbeiten beurteilt. Die Meldung der Kandidaten erfolgt durch
uns.
Die ersten Kandidaten unserer Schule haben das Cambridge School Cer-
tificate Examination im Dezember 1937 absolviert und erfolgreich bestan-
den."

176
Es ist bereits erwähnt worden, wie es zu dieser Ausbildung kam. Auslöser
war der "Schulstreik" des ältesten Jahrganges 1936, der nach der Mittleren
Reife nach einem sinnvollen Abschluß suchte, weil das deutsche Abitur für
jüdische Jugendliche zusehens wertloser wurde. Aus dem gleichen Grund
hatte die Gründerin der Goldschmidt-Schule, Leonore Goldschmidt, ihre frü-
heren Kontakte nach England genutzt und erreicht, daß die Universität Cam-
bridge sich bereit erklärte, entsprechend vorbereitete Kandidaten der Gold-
schmidt-Schule zu prüfen und ihnen mit bestandener Reifeprüfung (School
Certificate Examination, auch Matric genannt) den Zugang zur Universität
Cambridge und damit auch zu anderen englischen und amerikanischen Uni-
versitäten zu eröffnen. Die PriWaKi hörte davon und muß sich gleichzeitig um
diese Möglichkeit bemüht haben, denn die ersten Kandidaten beider Schulen
ließen sich auch zur gleichen Zeit im Dezember 1937 in England prüfen. Von
der PriWaKi waren das die Schülerinnen Hilde Richard, Johanna Stein und
die Schüler Ernst Schlochauer und Helmut Bernstein; auch die "select four"
genannt. 132
Nachdem die kleine Gruppe Anfang 1937 für einige Monate in einer
englischen Internatsschule in Cambridge gelernt hatte, kam sie etwa im April
1937 mit den beiden englischen Lehrern Plotnick und Jones an die PriWaKi
zurück. Dann begann eine intensive Examensvorbereitung auch für die neuen
Oberstufenklassen, die schon im 10. Schuljahr und ab Ostern 1938 schon im
9. Schuljahr einsetzte.
Es gab auch eine Zulassungsprüfung für die Matric-Kurse an der Pri-
WaKi. Wer die Prüfung nicht bestand, wurde nicht aufgenommen. Wahr-
scheinlich wollte die PriWaKi ihren Ruf als kompetente Vorbereitungs schule
gegenüber den englischen und amerikanischen Aufsichtsbehörden nicht ver-
lieren, so daß sie lieber eine Einschränkung ihrer Englisch-Schülergruppe in
Kauf nahm.
Nachdem die erste Gruppe die Prüfung Ende 1937 noch in England ab-
legen mußte, hat sich die PriWaKi offenbar mit Erfolg darum bemüht, selbst
eine Examens-Schule zu werden, denn am 14.6.1938 schrieb das Local Exami-
nations Syndicate der University of Cambridge (W. Williams) an die Pri-
WaKi:

132 Der Text des Zertifikats nach bestandener Prüfung lautete bei Johanna Stein:
"University of Cambridge, Local Examination Syndicate.
This is to certify that Johanna Stein has passed the School Certificate Examination
reaching the required standard in the following groups.
I English Subjects 11 Languages other than Englisch III Mathematics and Science
and has passed with credit in two subjects namely
1. Religious Knowledge 2. German
Age: 18 Date of Examination: December 1937 Index-number
2426
Place of Examination: Eating
The Board of Education accept the Examination as reaching the approved standard."
(Original im Besitz von Hanni Neumann, Kopie im Projektarchiv)

177
"Dear Dr. Selver, I thank you for your letter dated 11 June. I am glad to know that Mrs.
Flora Volkmann, who is norninated by the British Consul-General for the supervision of
the July Examination at your School, has undertaken to do the work. We are now satisfied
that all the necessary conditions have been fulfilled for the holding of the Exarnination
Centre."

Wie groß die Zahl der erfolgreich geprüften Kandidaten im Juli 1938 war,
wissen wir nicht genau. Sie kann kaum höher als 10 bis 15 gewesen sein, da
von dieser zweitältesten Oberstufenklasse, die bis zum Mai 1938 auf 16 Schü-
lerlnnen angewachsen war (im Juni 1937 waren es nur 5 gewesen), nicht alle
den Prüfungstermin im Juli 1938 wählten oder nicht die erforderliche Lei-
stung erbrachten. Da auch im Dezember 1938 die Zahl der Kandidaten nicht
groß war, können also höchstens 20-30 Schülerinnen und Schüler dieser
Schule ihre Cambridge-Examensprüfungen abgelegt haben; alle übrigen Kan-
didatinnen und Kandidaten sind nicht fertig geworden. Sie konnten aber im
Ausland dann leichter einen Anschluß finden und eine Hochschulzugangs-
prüfung nachholen, wie dies zum Beispiel der Schüler Peter Landsberg im
Juli 1939 in England getan hat. Insofern behielt die englische Examensvorbe-
reitung auch für das spätere Leben ihre praktische Bedeutung. 133
Im Unterschied zur PriWaKi war die Goldschmidt-Schule stärker als bi-
linguale Schule und auf eine Doppelqualifikation ausgerichtet, d. h. auf die
Kombination der deutschen Reifeprüfung (ohne Studienberechtigung an
deutschen Universitäten) mit der Cambridge Certificate Examination. Damit
standen den Schülern folgende Möglichkeiten offen:
"They were admitted at all universities of U.S.A., Canada, Australia and of course Eng-
land on account at the university entrance examination of the local exarnination syndicate,
Cambridge university."l34

Hinzu kam noch die Möglichkeit des Studiums in nicht-angelsächsischen


Ländern durch die erfolgreich absolvierte deutsche Reifeprüfung.
Die PriWaKi bemühte sich ebenfalls um eine breitere Anerkennung und
Aufnahme ihrer Schüler. Dies war vor allem für diejenigen Schüler wichtig,
die nicht das Cambridge-Zertifikat erwarben, weil dies zu lange dauerte oder
weil es zu anspruchsvoll war. Auch aus diesem Grunde war der Schulleiter
Selver im Juni 1937 in die USA gereist, wo er mit verschiedenen Universitä-
ten und Colleges wegen der potentiellen Aufnahme von emigrierten PriWa-
Ki-Schülern Verhandlungen führte, die auch erfolgreich waren. Am 16.7.1937
schrieb ihm der "College Entrance Examination Board" (New York), daß der
Board in Berlin im ,,Amerika-Institut, Universitaet Straße 8" schon seit eini-
gen Jahren ein öffentlich zugängliches Examenscenter eingerichtet habe, das
bereit sei, in Zukunft auch PriWaKi-Schüler zu prüfen. Schüler, die gezielt

133 Auch Französisch hatte einen relativ hohen Stellenwert, doch Versuche, eine fran-
zösische Reifeprüfung und die entsprechende Ausbildung dazu an der PriWaKi zu
institutionalisieren, sind unseres Wissens nicht erfolgt.
134 E. Goldschrnidt, in: Heims 1987, S. 2. Dafür scheint die Goldschrnidt-Schule die jü-
dische Erziehung weniger ausgebaut zu haben als die PriWaKi.

178
eine amerikanische Hochschulzulassung anstrebten, konnten sich dann dort
anmelden und prüfen lassen. Die Möglichkeit der amerikanischen Hochschul-
zulassungsprüfung ist im zitierten Schulprospekt unter 11 aufgeführt.
Auch für Schüler, die schon nach Beendigung des 10. Schuljahres die
PriWaKi verließen und entsprechende Sprachkenntnisse hatten, erreichte Sel-
ver eine Anerkennung beim Central YMCA-College in Chicago. Es existiert
ein Schreiben vom 6. Oktober 1937, in dem die Anerkennung der Schule
durch den Präsidenten des College erfolgt:
"I have today discussed the curriculum of the Private Waldschule Kaliski in Berlin-
Dahlem with Dr. Schwarz. 1 find that the program is essentially that of the regular Real-
schulen in Germany, representing the equivalent of high school education in the United
States. 1 recommend that graduates of this school who have facility in the use of English,
be admitted to Central YMCA College as regular students".
Dieser Hochschulzugang ist im zitierten Schulprospekt unter III erwähnt.
Damit erhält auch die schulinterne Prüfung am Ende des 10. Schuljahres eine
zusätzliche Erklärung; sie diente vermutlich auch der Feststellung der ameri-
kanischen College-Reife. Auch der bereits erwähnte Schulprospekt in Eng-
lisch (Schul prospekt 1938 c) dürfte vor allem für die aufnehmenden Hoch-
schulen in Amerika gedruckt worden sein, damit diese eine Einschätzung des
Curriculum und des Leistungsniveaus der PriWaKi vornehmen konnten.
Darüber hinaus gab es noch eine weitere Möglichkeit der sprachlichen
Fortbildung an der PriWaKi, die in einem dritten Schulprospekt (1938 b) er-
wähnt wird. Es handelt sich um ein:

,,Englisches Sprachexamen der Universität Cambridge


(Certificate of Proficiency in English)
Auf vielfachen Wunsch hat sich die Wald schule Kaliski entschlossen, die
Ausbildung für das Certificate of Proficiency in English, dessen Bedeutung
in Nachstehendem erläutert wird, einzurichten, und zwar in der Weise, daß
der Unterricht für Jugendliche und Erwachsene am Abend stattfindet.

Bedeutung des Certificate


Das Certificate of Proficiency in English ist ein Zeugnis der Universität
Cambridge für Nichtengländer, welches einen bestimmten Abschluß im Stu-
dium des Englischen bescheinigt und den Beweis liefert für die praktische
Beherrschung der Sprache, sowohl im schriftlichen als auch im mündlichen
Gebrauch, und für die Fähigkeit, Werke der englischen Literatur mit Ver-
ständnis zu lesen.
Das Certificate hat die offizielle Anerkennung des Board of Education
und gilt somit in England sowie den meisten anderen Ländern der Welt als
anerkaimter Nachweis ausreichender englischer Sprachkenntnisse. Die Wich-
tigkeit eines solchen offiziellen Zeugnisses, ausgestellt von einer führenden
englischen Universität, liegt auf der Hand. Es erleichtert ebenso die Über-

179
nahme praktischer Betätigungen im Ausland, für die die Beherrschung der
englischen Sprache Voraussetzung ist, wie es bei akademischen Behörden im
Zusammenhange mit dem deutschen Abitur die Gleichberechtigung in der
Zulassung zum Studium verschafft."
Nach dem oben zitierten Prospekt sollte der erste Lehrgang am 1. Mai 1938
beginnen. 135
Wie schon bei der Grundschule, scheint die PriWaKi bis 1938 die Profi-
ciency-Kurse ohne Genehmigung der deutschen Behörden (wahrscheinlich
aber mit deren Duldung) durchgeführt zu haben. Eine Genehmigung wurde
erst am 24. Juni 1938 beantragt; dem Antrag wurde bereits am 5. Juli 1938
vom Stadtpräsidenten Berlin, Abteilung für Höheres Schulwesen, stattgege-
ben.
Von einer behördlichen Genehmigung der E-Klassen haben wir keinen
Quellen-Nachweis; es kann aber als sicher gelten, daß die Genehmigung be-
antragt und erteilt worden ist, wenn dies selbst für den Unterricht der Lehrer
aus England und für die Sprachkurse der Fall war. Darüber hinaus scheint es
aber keine Schulaufsicht oder Interventionen der Abteilung für Höheres
Schulwesen gegeben zu haben. Da die englische Examens- und Sprachaus-
bildung nicht Teil des deutschen Schulsystems war und die Teilnehmer oh-
nehin auszuwandern beabsichtigten, scheint der Unterricht für die Schul-
aufsicht nicht mehr von Interesse gewesen zu sein. Zur englischen Examens-
ausbildung und zu den Proficiency-Kursen steht in dem wahrscheinlich im
Herbst 1938 gedruckten englischsprachigen Schulprospekt:
"The School Certificate examination has since July 1938 been taken at our own centre at
the School . The School further holds English courses for adults preparing for the Certifi-
cate of Proficiency in English of the University of Cambridge (England) and these cour-
ses are attended by about 100 students."
Damit waren die Proficiency-Kurse doppelt so stark besucht wie die E-Kurse
der Oberstufe, was ihre Bedeutung unterstreicht. Insbesondere für junge Er-
wachsene mit Abitur boten sie die Möglichkeit einer wichtigen Zusatzquali-
fikation, da ihnen nach bestandener Proficiency-Prüfung auch der Zugang zu
englischen und amerikanischen Hochschulen gewährt wurde.
Der intensive Englisch-Unterricht mit seinen verschiedenen Zielen ist
wahrscheinlich von allen Elementen der Erziehung zur Emigration an der
PriWaKi der nützlichste gewesen. Französisch stand zwar ebenfalls hoch im
Kurs und wurde vor allem durch den letzten Direktor Jacob ausgezeichnet
unterrichtet, gewann aber nicht annähernd die Bedeutung von Englisch, denn
Belgien und Frankreich verstanden sich nicht als Einwanderungsländer, und
die bereits dorthin geflüchteten Juden aus Deutschland wurden nicht selten
angefeindet. (Vgl. Lilli Ithai, Gespräch 1990)

135 Von einem der Teilnehmer wissen wir jedoch, daß bereits 1937 solche Kurse an der
PriWaKi existiert haben. (vgl. R. Kneller, 7.8.1990) Der Teilnehmer Rolf Kneller hat
seine Prüfung aber erst im Dezember 1938 abgelegt.

180
Palästina-Gruppe

Wie bereits erwähnt, wurden in mehreren Unterrichtsfächern und anläßlich


mancher jüdisch-historischer Feste und Gedenktage Palästina und der Zio-
nismus thematisiert. Für viele Assimilierte, anscheinend aber noch mehr für
die Eltern mit betont deutsch-jüdischer Einstellung, war die Schule deshalb
zionistisch; ihre Kinder übernahmen häufig diese Meinung. 136 Die wenigen
überzeugten Zionisten, die es unter den Eltern und Schülern gab, fanden das
Programm jedoch unzureichend. Einer von ihnen, Shmuel Kneller, meint:
"Die Kaliski-Schule war ja eigentlich auch nicht zionistisch. Es war eine jüdische Schule,
aber man hat sehr wenig über Zionismus gehört. ( ... ) Leute wie Jacob und andere haben
ein bißchen Palästina-(Kunde) gemacht. Lotte Kaliski hat auch mal Mathematik-Auf-
gaben gegeben über den Export der Apfelsinen aus Palästina. Aber das war nicht zioni-
stisch im wahrsten Sinne des Wortes. Mit Jacob haben wir Aufführungen gemacht, daß
ein Boot nach Israel flihrt,137 aber sonst (wurde) sehr wenig (gemacht), und auch der He-
bräischunterricht ist eben sehr spät eingeführt worden, und auch die ,Palästina-Gruppe' ist
sehr spät eingeführt worden - eigentlich erst, als die Jugendalija bekanntgegeben hat, daß
sie bereit ist, auch Kinder herauszunehmen aus Deutschland ohne die Eltern." (S. Kneller,
Gespräch 1989)
Weil die normale Palästina-Orientierung einer zionistisch orientierten Min-
derheit unter den Eltern also nicht ausreichte, wurde zusätzlich eine eigene
Palästina-Gruppe an der PriWaKi etabliert. Dies spiegelt auch das zuneh-
mende Interesse am Zionismus unter den deutschen Juden wider, das sich
zum Beispiel an der Steigerung der Auflagenhöhe der zionistischen ,,Jüdischen
Rundschau", in der ab 1936/37 auch die PriWaKi inserierte, von 7.000 auf
zuletzt 40.000 ausdrückte. Dabei war dieser neue Zionismus nicht immer von
Idealen und Überzeugungen getragen, sondern häufig auch von dem Kalkül,
mit Hilfe der Zionistischen Organisation eine Emigrationsmöglichkeit zu fin-
den. (Vgl. H. Freeden 1991)
Im Rahmen der zionistischen Jugendbewegung und Sozialfürsorge hat es
aber schon ab 1934 eine in Deutschland organisierte Einwanderung (Alija) in
das "Land Israel" (Erez Israel) gegeben. Recha Freier hatte in Berlin eine Ju-
gendalija ins Leben gerufen und war dafür in den ersten Jahren nach der
"Machtergreifung" sogar aus jüdischen Kreisen kritisiert worden. Der auch in
Berlin engagierte Sozialpädagoge und Zionist Dr. Siegfried Lehmann baute
in Ben Shemen (Palästina) ein auch nach reformpädagogischen Grundsätzen
arbeitendes Jugenddorf auf (gegründet schon 1927), in dem ursprünglich
polnische Kinder und Jugendliche aufgenommen wurden, die verwaist, ent-
wurzelt oder aus anderen Gründen von ihren Eltern getrennt waren. Spätestens
1938/39 wurden in Ben Shemen und ähnlichen Jugenddörfern auch Kinder aus
Deutschland aufgenommen, allerdings ohne Eltern, denn dafür konnten die
durch die englische Mandatsregierung knappgehaltenen Einwanderungszerti-

136 Vgl. Gespräche mit G. Stent, W. Stein 1989.


137 Gemeint ist das Stück "Die blinden Passagiere".

181
fikate nicht vergeben werden. Auch die PriWaKi unter P. Jacob sah zuletzt
diese Möglichkeit und richtete dafür eine eigene Gruppe ein, die im Rahmen
des Nachmittagsprogramms auf die Auswanderung vorbereitet wurde. Nach
der Aussage von S. Kneller geschah dies aber erst relativ spät:
"Die Palästina-Gruppe ist meines Erachtens erst frühestens 1937 eingeführt worden, wenn
nicht Anfang 1938. ( ... ) Ich glaube, es war eine ziemlich kleine Gruppe, nicht mehr als 20
bis 30, soweit ich d~~8in Erinnerung habe. Nach Ben Shemen sind damals acht Kinder ge-
gangen ... " (Ebenda)

An das Ausbildungsprogramm der Gruppe hat S. Kneller noch folgende Er-


innerungen:
"Ich habe ... die Zeugnise der Palästina-Gruppe gesucht, denn für die Palästina-Gruppe
hat man Zeugnisse ausgegeben. Ich erinnere mich sehr gut, daß ich das Zeugnis bekom-
men habe, denn wir lernten in der Palästina-Gruppe natürlich auch, selbständig zu sein,
also Sicherungen auszuwechseln oder zu reparieren oder Strümpfe zu stopfen, zu kochen,
damit wir als Kinder unabhängig sind. Wir sollten ja nach Ben Shemen auswandern mit
der Ben Shemen-Gruppe und lernten auch intensiver Hebräisch." (Ebenda)

Von diesem intensivierten Hebräisch-Unterricht einmal abgesehen, der auch


nur begrenzte Resultate hatte, entsprach das Trainingsprogramm also weitge-
hend dem sonstigen Programm der praktischen Übungen des Tagesinternates.
Da man aber unter Gleichgesinnten war, konnten Palästina und der Zionis-
mus als uneingeschränkt positive Werte und Ziele betont werden.
Nach längerer Zeit und nach vielen Umwegen ist es gelungen, einen
Schüler aus der Gruppe der Ben-Shemen-Emigranten ausfindig zu machen.
Hans Georg Hirsch, heute Chanan Choresh, erinnert sich, daß die Schüler
James Gruft, Walter Lewy, Max Wolf, Gertrud Wohl und die Gebrüder Stern
mit ihm nach Ben Shemen gekommen sind:
"Diese Schüler stammten damals aus derselben Klasse - Quarta - außer Ernst Stern
(Quinta). Wir waren daher im gleichen Alter und kannten uns. ( ... ) Entweder 1938 oder
Anfang 1939 kam Herr Dr. Lehmann, der Leiter von Ben Shemen, nach Berlin und be-
suchte auch die Kaliski-Schule, um Kandidaten/Schüler für Ben Shemen zu sprechen und
auszuwählen. Da wir noch sehr jung waren, habe ich eigentlich keine Ahnung, warum
wer gewählt wurde und warum die sogenannte Gruppe so aussah und nicht anders. Ob die
PriWaKi zionistisch war? Meiner Meinung nach ja, aber die Dinge (sind) rekonstriert ge-
sehen. Wir, nicht nur die Schüler der Gruppe, waren überzeugt von der Wichtigkeit des
National-Fonds, dem ,Keren Kajemet Leisrael', d. h. Erlösung des Bodens und meint, Bo-
den zu kaufen, zu entsteinen, Sümpfe (Hula-Sumpf u. a.) zu trocknen, den Boden zu pfle-
gen. Der Keren Kajemet war außer der Organisation ein Symbol, welches wir auch da-
mals sehr ernst nahmen, und ich kann mich heute noch daran erinnern, mit welcher Be-
geisterung wir Geld gesammelt haben und Leute dazu überzeugten. Ich nehme an, daß
meine persönliche Neigung, den Boden zu bearbeiten und die besondere Wichtigkeit, die
ich darin sah und sehe, schon aus dieser Zeit stammt.

138 Shmuel Kneller gehörte nicht dazu, da er mit seinen Eltern nach Palästina gehen
konnte. Kurz nach seiner Einwanderung - etwa 1940 - hat er die Gruppe zusammen
mit dem ebenfalls ausgewanderten Lehrer Mühlhauser in Ben Shemen besucht; spä-
ter hat kein Kontakt mit der Gruppe mehr bestanden.

182
Man lernte Hebräisch ... Hebräisch konnten wir zwar nicht gut sprechen, aber man ist
mit erster ziemlich guter Basis in ein neues Land gekommen. Weiterhin lehrte der Musik-
lehrer - ich glaube Herr Jospe - die damals neuen hebräischen Lieder. Wenn ich mich
nicht irre, gab er diese Lieder in einem Buch heraus. Dies sind viel1eicht Kleinigkeiten,
aber das hat die Farbe gegeben, und auf irgendweIche Weise hat es beeinflußt, jedenfal1s
mich. Den speziel1en Lern- und Trainingsplan von damals kann ich nicht darstel1en, denn
- wie gesagt - wir waren damals erst ungefähr um die 12 Jahre alt. Außerdem stand für
,Extras' kaum Zeit zur Verfügung.
Wie gesagt, kam Dr. Lehmann Ende 1938/Anfang 1939 (an die PriWaKi), die Ent-
scheidung fiel und am 27.3.1939 haben wir Berlin verlassen. (Die Lehrer, die die Palä-
stina-Gruppe besonders gefördert haben, waren Paul Jacob, Kuttner, Cohn, Hecht.) Diese
Lehrer habe ich niemals mehr getroffen, obwohl sie im Laufe der Zeit nach Israel kamen.
Am Tage der Ankunft, am 3.4.1939, hat uns von Ben Shemen Herr Salzberger im Tel
Aviver Hafen getroffen. Ich habe aber keine spätere Erinnerung an ihn.
Unsere Gruppe war am Anfang in der Fremdheit, herausgerissen aus dem familiären
Milieu. Man hielt sich besser über Wasser, wenn man mit Bekannten zusammenhielt und
diese stammten in der damaligen Zeit aus der nächsten Umgebung - aus der PriWaKi. Die
Zeit tat das ihrige und aus verschiedenen Gründen trennten sich die Wege. Warum, was,
wer und wann unternahm, weiß ich heute nicht mehr. Die Leutchen haben sich in al1e
Richtungen zerstreut.
Ich persönlich habe Landwirtschaft gelernt und mit einer Gruppe, deren Kern in Ben
Shemen keimte - und einige Mitglieder stammen aus der al1gemeinen Kindergruppe von
1939 - gründeten wir im Jahre 1946 eine Siedlung in einer Steinwüste, den Kibbuz
Amiad. Seit damals lebe ich hier, habe Familie mit Kindern und Enkeln.
Kibbuz Amiad, 20. April 1991, Chanan Choresh."
Wie aus dem obigen Brief hervorgeht, scheint das praktische Programm der
Palästina-Gruppe sich inhaltlich nicht sehr von den praktischen Übungen
(Garten- und Werkarbeit) unterscliieden zu haben, wie sie der etwa gleichal-
trige Werner Stein in seinem - bereits zitierten - Zeugnis bescheinigt bekom-
men hat. Sogar Hebräisch scheint nach Choresh überwiegend im Vormittags-
unterricht gelehrt worden zu sein, und der war für alle gleich. Dennoch las-
sen die Urteile von Werner Stein, Shmuel Kneller und Chanan Choresh, die
in etwa gleich alt waren und praktisch die gleichen Erfahrungen im Tagesin-
ternat gemacht haben müssen, deutlich unterschiedliche Wertungen erken-
nen.
Eine sehr kritische ("Baby-Sitting-Service") bei W. Stein, eine zwar po-
sitive, aber doch die Relevanz des Programms reduzierende Kritik bei Shmuel
Kneller und eine uneingeschränkt positive bei Chanan Choresh.
Da - wie gesagt - gleiches Alter und gleichwertige Programme bei allen
drei Schülern vorausgesetzt werden können, ist die unterschiedliche Bewer-
tung des Nachmittagsprogramms erklärungsbedürftig, geht man doch zu-
nächst von der (wie es scheint: naiven) Vorstellung aus, daß "schlechte" Lern-
programme von den Absolventen später allgemein negativ, "gute" hingegen
allgemein positiv bewertet werden.
Die obigen Bewertungen der drei PriWaKi-Schüler zeigen jedoch, daß
eine solche Bewertung nicht unbedingt von der Qualität des Programms
(extrem schlechte Programme ausgeschlossen), sondern weit mehr von der
Nützlichkeit für die eigene Biographie abhängt!

183
Werner Stein konnte als Kind einer deutsch-jüdisch eingestellten Familie
(Vater war im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten) und als Mitglied des rech-
ten "Schwarzen Fähnleins" mit Palästina-Orientierung und Zionismus schon als
Schüler vermutlich nichts anfangen und stand dem ablehnend gegenüber. In-
haltlich erwies sich das Gelernte (besonders Hebräisch) nach der Familien-
Emigration in die USA weitgehend als überflüssig. Gleichzeitig erlebte er als
15jähriger einen sehr harten Übergang von der beschützenden kindorientier-
ten PriWaKi in die schonungslose Arbeitswelt der USA, der er sich sofort
stellen mußte, um die Existenz der Familie sichern zu helfen. Daher auch sei-
ne Einschätzung als "Baby-Sitting-Service".139 Unausgesprochen steht dahin-
ter, daß eine auf härtere, auch konventionelle Leistung und Disziplin oder
auch auf wirklich harte körperliche Arbeit (wie in den zionistischen Aus-
bildungszentren) ausgerichtete Schule den Schock des Übergangs hätte re-
duzieren können, obwohl nicht erkennbar ist, wie die Schule diesen besonde-
ren biographischen Bruch hätte inhaltlich auffangen können. l40
Die gegenteilige Einschätzung liefert Chanan Choresh. Er war schon in
der PriWaKi überzeugter Zionist, wobei offen bleibt, ob ihn die PriWaKi da-
zu gebracht hat oder seine Familie und/oder die zionistische Jugendbe-
wegung. Dementsprechend fühlte er sich auch weltanschaulich in der Palästi-
na-Gruppe zuhause und bewertete alle Aktivitäten positiv. Nur aufgrund der
engagierten Teilnahme in der Palästina-Gruppe der PriWaKi wurde er dann von
Dr. Lehmann für Ben Shemen ausgewählt,141 was ihn auch vor der Vernichtung
durch die Nazis gerettet hat! In Ben Shemen wiederum wurde das Lernpro-
gramm der Palästina-Gruppe fortgesetzt, und zwar viel intensiver als in der
PriWaKi selbst. Hier gab es also durch die Emigration keinen Bruch. Auf-
grund der Erziehung zur Arbeit in der Kinder- und Jugendfarm Ben Shemen
wiederum wurde Choresh zum Kibbuz-Pionier, der aus "steinigem Boden"
einen Kibbuz aufbauen half. Mit dieser Biographie entsprach er geradezu den
Idealvorstellungen des Zionismus, wie sie zuletzt auch zu den Zielen der
PriWaKi ("Chaluz des Aufbaus") gehörten. Die Palästina-Vorbereitung der
PriWaKi bildete also die Basis für eine nach weltanschaulichen Kriterien
bruch lose und ideale Biographie. Vor diesem Hintergrund ist die hohe po-
sitive Einschätzung der Palästina-Vorbereitung zu verstehen.
Shmuel Kneller nimmt hierbei eher eine MittelsteIlung ein. Er war Zio-
nist, verdankte diese Einstellung aber ebensowenig wie seine Auswanderung
nach Palästina der PriWaKi. Von daher kann er trotz engagierten Mitma-
chens in der Palästina-Gruppe distanzierter den Nutzen für seine Biographie
bewerten. Da er nicht Chaluz (Pionier) im engeren Sinne geworden ist, son-
dern Lehrer und Schulleiter einer angesehenen Höheren Schule in Jerusalem

139 Vgl. auch die Kritik von John Weitz, Brief vorn 10.11.89, der im Unterschied zu W.
Stein und als einziger die PriWaKi insgesamt negativ beurteilt.
140 Zu den biographischen Angaben vgl. W. Stein, Gespräch arn 30.10.1989.
141 Über die Auswahl der Palästina-Gruppe an der PriWaKi gibt eine Liste Auskunft, die
von Dr. Lehmann seinerzeit mit handschriftlichen Vermerken versehen worden ist.
(Original im Archiv Ben Shemen; Kopie im Projekt-Archiv)

184
wurde, war die gesamte Arbeits - und Werkerziehung für ihn selbst nicht von
großer biographischer Bedeutung. Von zentraler Bedeutung war für seinen
Werdegang jedoch die Sprache (Neuhebräisch); dementsprechend relativiert
er auch die Qualität des Hebräisch-Unterrichts an der PriWaKi.
Diese drei Beispiele belegen, wie bis in die Details hinein eine Bewer-
tung schulischer Lehr-Lern-Programme nach der berufsspezifischen, aber
auch allgemeineren Nützlichkeit für das spätere Leben von den Betroffenen
erfolgen kann.
Mit der Palästina-Gruppe werden immer die Namen bestimmter Pri-
WaKi-Lehrer in Verbindung gebracht; insbesondere Salzberger, Hecht, Kutt-
ner und A. Cohn, die vor allem die praktischen Übungen, den Hebräischun-
terricht sowie die Judentums- und Palästinakunde angeleitet haben. 142 Einge-
richtet wurde die Palästina-Gruppe zwar Ende 1937/Anfang 1938 noch unter
der Schulleitung von L. Kaliski und H. Selver, doch intensiv gefördert wurde
sie dann vor allem unter dem letzten Schulleiter Paul Jacob, der sich in Ver-
handlungen mit Dr. Lehmann sehr um die Aufnahme der Gruppe in Ben
Shemen bemüht hat. Dabei spielte auch die Unterstützung durch den Vater
des Schülers Kneller eine Rolle, der der PriWaKi vor seiner Auswanderung
noch einen Bechstein-Flügel zur Verfügung gestellt hatte, den die Palästina-
Gruppe nach Möglichkeit mitnehmen sollte. In dem Brief des Schulleiters Dr.
Paul Jacob an Dr. Lutz Kneller vom 26.1.1939 (Briefkopf auch jetzt noch: Pri-
vate Wald schule Kaliski), hieß es unter anderem:
"Wir verhandeln zur Zeit mit Ben Shemen und kommen so auf unseren ursprünglichen
Plan zurück. Sollte Lehmann uns annehmen, so würden sehr viel Schwierigkeiten zur
Certifizierung und der Finanzierung wegfallen und auch die pädagogische Einordnung
der Gruppe würde leichter erfolgen können. Wir haben Lehmann auch schon mit dem
Bechstein-Flügel den Mund wässerig gemacht. Ich hoffe sehr, daß wir ihn, wenn wir als
Schulgruppe hinübergehen, als Eigentum der Gruppe mit hinübernehmen können."
Gemessen an der geringen Größe der Palästina-Gruppe war das Resultat be-
merkenswert: Mindestens ein Drittel der Mitglieder konnte noch Anfang
1939 organisiert nach Ben Shemen flüchten und damit der Vernichtung ent-
kommen. Einige andere, wie Herbert Kneller, fanden ebenfalls den Weg nach
Palästina.
Das Gesamtprogramm der Vorbereitung auf die Emigration wird trotz
der Kritiken an Details insgesamt jedoch von den Schülerinnen und Schülern
positiv beurteilt, da es die Emigration erleichtert hat.

142 Oft ist von der Salzberger-Gruppe die Rede, aber Salzberger war zuletzt (1938)
wahrscheinlich im jüdischen Landschulheimn Herrlingen und ist von dort aus ohne
die Gruppe nach Ben Shemen gegangen. (Vgl. Gespräch mit Agnes Eisenstadt und
Richard Levinsohn 1990) Erst bei ihrer Ankunft in Tel Aviv hat er die Gruppe abge-
holt, später anscheinend jedoch nicht betreut.

185
Die meisten flüchteten nach Amerika und England und in die Länder, die
gerade Flüchtlinge aufnahmen. Insgesamt konnten sich etwa 93 Prozent der
PriWaKi-Schüler retten! 143

Lehrer-Biographien'"

Der Lehrerberuf war im Judentum traditionell wenig angesehen - im deutlichen


Unterschied zum geistlichen Gelehrten, der ein sehr hohes Prestige genoß. Der
Volksschullehrer wurde auch in den jüdischen Gemeinden im 19. Jahrhundert
zumeist schlecht bezahlt und war eher ein Beruf für Söhne aus ärmeren Famili-
en. Das hohe Prestige, das ein Gymnasiallehrer in Deutschland genoß, konnte
Juden kaum locken, denn der christliche Staat verweigerte ihnen zumeist die
Anstellung als Beamte. Deshalb wählten jüdische Söhne mit Abitur eher freie
akademische Berufe und wurden bevorzugt Ärzte und Rechtsanwälte. Leo
Baeck sagte sicher nicht zu Unrecht in der Zeit der Weimarer Republik zu ei-
nem engagierten jüdischen Pädagogen: ,,sie werden es niemals erreichen, daß
ein jüdischer junger Mann mit dem Abitur Volksschullehrer wird." (Zit. in
Walk 1991, S. 30) In den höheren Schulen betrug der Anteil jüdischer Lehrer
1932 etwa 1 Prozent, in den öffentlichen Volksschulen nur 0,25 Prozent.
Deshalb hatten jüdische Schulen oft Probleme mit der Rekrutierung ge-
eigneter Lehrkräfte und stellten aus diesem Grund für die profanen Fächer
auch christliche Lehrer ein. Dies war auch an der PriWaKi vor 1933 der Fall.
Anfangs waren lediglich die Schulleiter Lotte Kaliski und Heinrich Selver
jüdisch. Erst mit der Entlassung jüdischer Lehrer aus den öffentlichen Schu-
len gab es die Möglichkeit, ausschließlich jüdische Lehrkräfte einzustellen.
Oft war ihre Berufswahl eine Verlegenheitswahl, weil sich andere Möglich-
keiten zerschlagen hatten. Eine selbständige Existenz war gegen Ende der
Weimarer Republik auch aufgrund der ökonomischen Entwicklung immer
schwieriger geworden. Durch die Berufsverbote von 1933 wurden die Mög-
lichkeiten weiter drastisch eingeschränkt, und die Betroffenen waren froh,
wenn sie als Lehrer an einer jüdischen Schule unterkamen.
Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, im Mai 1938, gab es an der Pri-
WaKi 15 hauptamtliche und 6 nebenamtliche Lehrer und Lehrerinnen. Von
den 15 hauptamtlichen Lehrkräften waren 8 weiblich. 6 Lehrkräfte waren aus

143 V gl. Dazu das Kapitel "Überleben, Flucht und Emigration" in Busemann u. a. 1992,
S. 320ff sowie in Fölling 1993, S. 287ff.
144 Dieses Teilkapitel ist eine Zusammenfassung meines Kapitels "Lehrer und Schüler" in
Busemann, Daxner, Fölling 1992, S. 257ff. Die Abschnitte über die Schulgründerin
Lotte Kaliski und den Schulleiter Heinrich Selver basieren auf den ausführlichen Dar-
stellungen von Hertha Busemann in ebd., Kap. 3 und 4, sowie auf mehreren biographi-
schen Interviews, die der Verfasser in den Jahren 1989/90 mit Lotte Kaliski, ihrer Ju-
gendfreundin Stephanie Landsberger u. a. sowie mit Irrni Selver, der Witwe von Hein-
rich Selver, durchgeführt hat. (Abschriften im Projektarchiv) Auf Quellenverweise wird
in diesem Teilkapitel weitgehend verzichtet. Sie sind in Busemann u.a. 1992 zu finden.

186
dem Gymnasiallehramt entlassen worden, 2 waren Lehrerinnen an Oberschu-
len für Mädchen gewesen, 2 waren MittelschullehrerInnen. Dann gab es noch
3 Fachlehrer für jüdische Religion, Sport und Zeichnen. Weitere Fachlehrer
sowie 3 VolksschullehrerInnen waren nebenamtlich beschäftigt.
Nachfolgend sollen die Biographien derjenigen Lehrerinnen und Lehrer
kurz vorgestellt werden, die nach den Erinnerungen der Schüler und nach
den schriftlichen Quellen besonders wichtig waren, entweder als Pädagogen
oder als Leiter und Organisatoren des Schulbetriebs.

Die Schulgründerin Lotte Kaliski wurde 1908 in Breslau als Tochter eines
Rechtsanwalts und einer Lehrerin geboren. Beide Eltern waren jüdisch, aber
schon weitgehend assimiliert. 1915 erkrankte Lotte an spinaler Kinderläh-
mung, was zu einer starken Gehbehinderung führte. Bis 1918 besuchte sie
eine private "Vorschule" und danach eine private Mittelschule. 1922 wech-
selte sie zur Augusta-Schule, einem soeben staatlich gewordenen Mädchen-
Lyzeum, und belegte dort den neusprachlichen Zweig ohne Latein. Um auch
sozial integriert zu sein, trat sie in den jüdischen Jugendbund "Kameraden"
ein. Dieser Bund war weder zionistisch noch religiös orientiert und wurde
auch von Kindern aus weitgehend assimilierten Familien besucht. Trotz ihrer
Behinderung nahm Lotte auch an Tagesausflügen und Heimabenden teil;
größere Wanderungen konnte sie aber nicht mitmachen.
Ostern 1925 erlangte Lotte die Mittlere Reife und wechselte zum städti-
schen Oberlyzeum über, dessen Abschluß seit 1924 auch die Hochschul-
zulassung einschloß. 1928 machte sie dort das Abitur.
Zunächst ging sie zum Studium nach Heidelberg und wählte als Studien-
fächer Mathematik und Physik für das Lehramt an Gymnasien. Nach einem
Semester kam sie jedoch nach Breslau zurück, um ab dem Wintersemester
1928/29 dort weiter zu studieren. Sie wurde auch Mitglied im Sozialistischen
Studentenbund. Im Sommer 1930 ging sie für ein Semester nach München,
danach kam sie erneut nach Breslau zurück. Aufgrund zunehmender Span-
nungen mit ihrer Mutter - ihr Vater lebte inzwischen getrennt von der Fami-
lie - beschloß sie jedoch, baldmöglichst selbständig zu werden und legte
deshalb 1931 ein Mittelschullehrerexamen ab, was bis dahin für Universi-
tätsstudenten, die ein ordnungsgemäßes Studium von mindestens 6 Seme-
stern nachweisen konnten, ohne ein zusätzliches Studium möglich war.
Lotte Kaliski fuhr nun nach Berlin, um dort eine Anstellung zu finden,
mußte aber bald feststellen, daß sie aufgrund der Wirtschaftskrise und zu-
nehmender Lehrerarbeitslosigkeit keine Chance hatte, zumal sie deutlich
körperbehindert war.
In einer Mischung aus Verzweiflung und Willensstärke, die sich im
Kampf gegen die Folgen der Kinderlähmung entwickelt hatte, gründete sie
dann 1932 die Private Waldschule Kaliski, deren Entwicklung bereits aus-
führlich dargestellt worden ist.
Wie erwähnt, gab Lotte Kaliski nach den ersten Schwierigkeiten die
Schulleitung an Heinrich Selver ab, auf dessen Namen auch die Lizenz zum

187
Schul betrieb von der Schulaufsichtsbehörde ausgestellt wurde. Lotte Kaliski
führte weiter den Besitztitel, allerdings gehörte ihr materiell nichts, dann die
verschiedenen Schulgebäude waren immer gemietet. Dennoch scheint sie
auch als zweite Schulleiterin von den Schülern und Eltern akzeptiert worden
zu sein. Sie unterrichtete vor allem in Mathematik.
1938 wanderte sie in die USA aus. Eine Auswanderung nach Palästina
hat sie aus nicht näher erläuterten "persönlichen Gründen" nicht in Erwägung
gezogen, obwohl dort seit 1935 ihre Schwester und ihr Schwager lebten. Fest
steht, daß sie weder religiös noch zionistisch eingestellt war. Die Einreise in
die USA erwies sich in ihrem Fall als besonders schwierig, da sie wegen ihrer
Behinderung zunächst von der Einwanderungsbehörde zurückgewiesen wur-
de. Doch mit vielen Mühen bekam sie die notwendigen Bürgschaften, so daß
sie im August 1938 einreisen konnte. Später konnte sie auch ihre Mutter
nachholen, während ihr Vater 1941 in Theresienstadt umkam.
In den USA gründete Lotte Kaliski zunächst einen Kindergarten für
Flüchtlings- und Emigrantenkinder und 1947 dann eine Schule für behinderte
Kinder, "The New Kaliski Country Day School for the child with learning
disabilities", die ein großer Erfolg wurde und heute noch existiert. Lotte Ka-
liski lebt heute aktiv im Zentrum New Yorks und nimmt großen Anteil an der
Entwicklung ihrer Schule und am Leben ihrer ehemaligen deutschen Schüle-
rInnen, von denen ein großer Teil ebenfalls in den USA lebt. Sie besucht re-
gelmäßig die Familie ihrer Schwester in Israel und scheint zu dem Land, in
das sie ursprünglich nicht auswandern wollte, inzwischen eine intensive Bin-
dung aufgebaut zu haben.

Der Schulleiter Heinrich Selver wurde als Hersch Laib Zelwer 1901 im rus-
sisch-polnischen Blaszki als achtes von insgesamt zehn Kindern des Ehepaa-
res Abraham und Baila Zelwer geboren. Seine Biographie und auch die Ge-
schichte seiner Familie sind typisch für Schicksale und Lebensläufe von
Ostjuden. Wie so viele von ihnen, wanderte auch Abraham Zelwer aus Angst
vor weiteren Pogromen nach Westen und ließ sich 1907 in Chemnitz nieder.
Seine Frau Baila (später Berta) kam mit den jüngsten Kindern bald nach. Die
älteren Söhne folgten z.T. später. In Chemnitz handelte Abraham mit Textil-
waren, begann aber bald mit der Fabrikation von Handschuhen und Strümp-
fen. Da er erfolgreich war, ging es mit seiner Firma bis 1914 bergauf. Seine
ältesten Söhne waren weniger erfolgreich und konnten wirtschaftlich nicht
Fuß fassen.
So sollte wenigstens Hersch Laib, jetzt Heinrich genannt, das soziale An-
sehen der Familie durch einen akademischen Beruf festigen. 1911 bestand er
die Aufnahmeprüfung für das "Königliche Gymnasium", der humanistischen
Elite-Schule von Chemnitz. Er war nun der ganze Stolz der Familie und
schien sich seines besonderen Status durchaus bewußt gewesen zu sein. Der
Besuch dieser Schule sowie die vorhergehenden Namensänderungen zeigen,
wie schnell sich die Familie, die in Blaszki wahrscheinlich noch an jüdischen
Vorschriften und Gebräuchen festgehalten hatte, nicht nur akkulturierte, son-

188
dern auch schon assimilierte. Heinrich Sei vers Biographie enthält emen
Wandel, der sonst nur in zwei bis drei Generationen bewältigt wurde.
Doch schon 1914 erhielt sie einen ersten katastrophalen Bruch, denn
kurz nach Kriegsausbruch wurde er wegen seiner russischen Staatsangehö-
rigkeit als "Feind" des deutschen Volkes vom Königlichen Gymnasium re-
legiert, was wegen der schon sprichwörtlichen Deutschfreundlichkeit der
Ostjuden eine geradezu absurde Reaktion der Schule war. Die Selvers gaben
jedoch nicht auf, und der inzwischen 13jährige Heinrich erhielt nunmehr Pri-
vatunterricht, um später als Externer die Abiturprüfung ablegen zu können.
Doch nun geriet die Familie in eine wirtschaftliche Krise. Durch den
Krieg waren die Exportmärkte im Osten weggebrochen, und es gab keinen
Ersatz dafür. Die Firma mußte aufgegeben werden, und Abraham Selver be-
gab sich auf Wanderschaft, um durch Gelegenheitsarbeiten seine Familie mit
dem Allernötigsten zu versorgen. Auch nach Kriegsende gelang ihm kein
Neuanfang mehr. Die Not und die Belastungen seines Lebens verzehrten sei-
ne Kräfte. Er starb 1920 im Alter von 61 Jahren.
Heinrich hatte etwas Glück. Sein älterer Bruder Moses (später Max), der
in Russisch-Polen geblieben war, kam 1919 nach Chemnitz und gründete
dort eine Handelsfirma, die genug zum Leben abwarf. Heinrich wurde als
Buchhalter eingestellt; gleichzeitig bildete er sich mit großer Selbstdisziplin
autodidaktisch weiter. 1919 hatte er vor einer staatlichen Kommission als
Externer die "Einjährigen"-Prüfung abgelegt.
Da die Firma seines Bruders nunmehr einen Aufschwung nahm und sich
schnell vergrößerte, wurde er dort zum leitenden Mitarbeiter, der seine Or-
ganisations- und Verhandlungsfähigkeit unter Beweis stellen mußte, was ihm
später an der PriKiWa sehr zustatten kommen sollte. 1922 ging es mit der
Firma jedoch wieder bergab. Heinrich verließ die Firma und zog nach Leip-
zig, wo er sich 1923 als "Student 11. Ordnung" für die Studienrichtung Philo-
sophie eintrug, was wegen seines bestandenen "Einjährigen"-Examens mög-
lich war. Da es jedoch nicht zu einem Abschluß an der Universität berechtig-
te, entschloß er sich, als Externer die Abiturprüfung nachzuholen, was ihm
im September 1926 gelang. Danach nahm er sofort ein Voll studium für das
Lehramt an Gymnasien in den Fächern Deutsch, Geschichte und Geographie
auf. Doch nach vier Semestern entschied er sich für ein Promotionsstudium
in Germanistik und besuchte ein exklusives Oberseminar bei dem renom-
mierten Germanisten Korff, der ihm im Anschluß daran sein Dissertations-
thema gab: "Die Auffassung des Bürgers im deutschen bürgerlichen Drama
des 18. Jahrhunderts." Sei ver schloß die Promotion trotz bisher sehr guter
Studienleistungen und einem "Sehr gut" in der mündlichen Prüfung aber nur
mit "cum laude" ab, was für die vielleicht erhoffte Universitätslaufbahn nicht
gut genug war. Für das Lehramt an Gymnasien hatte er noch nicht lange ge-
nug und auch nicht in der notwendigen Breite studiert, so daß eine solche
Prüfung erst etwa 1932 möglich gewesen wäre. So lange konnte er jedoch
nicht mehr studieren, da ihm dazu die finanziellen Mittel fehlten. Bisher hatte
seine Frau Charlotte, eine diplomierte Gymnastiklehrerin, die er Ende 1926

189
in Leipzig geheiratet hatte, sein Studium mitfinanziert, doch nun war die Ehe
zerrüttet und wurde 1931 geschieden. Heinrich Selver war also gezwungen,
einen Beruf zu ergreifen und sah ebenso wie Lotte Kaliski in dem Mittel-
schullehrerexamen eine Möglichkeit, kurzfristig eine berufsbezogenen Studi-
enabschluß zu erreichen. 1931 zog er nach Berlin um und bestand dort im
selben Jahr auch die Mittelschullehrerprüfung. Sein Antrag auf Verleihung
der deutschen Staatsbürgerschaft wurde in diesem Jahr ebenfalls bewilligt,
doch nach nur gut zwei Jahren wurde sie ihm von den Nazis wieder aber-
kannt.
Obwohl nichts in seiner Biographie auf eine zionistische Einstellung
schließen ließ, bekam er im Herbst 1931 eine Anstellung an der privaten Theo-
dor-Herzl-Schule in Berlin. Dabei handelte es sich um eine achtklassige
Volksschule für Kinder aus zionistisch eingestellten Elternhäusern, die nach
reformpädagogischen Grundsätzen arbeitete. Hier konnte Selver einiges von
der Pädagogik lernen, die später dann auch an der PriWaKi praktiziert wurde.
Als promovierter Germanist mit weitergehenden Ambitionen wird er sich auf
dieser vermutlich schlecht bezahlten Stelle nicht sehr wohl gefühlt haben.
Deshalb kam ihm das Angebot von Lotte Kaliski, ab April 1932 ihre noch
kleine Schule als Direktor zu übernehmen und weiter auszubauen, gerade
recht, denn nun konnte er seine Fähigkeiten besser entfalten. Wie sehr diese
schon ein Jahr später gefordert werden sollten, haben weder er noch Lotte
Kaliskigeahnt.
Im August 1938 emigrierte er, ebenso wie Lotte Kaliski, in die USA;
beide gingen dort jedoch getrennte Wege. Selver bekam eine Stelle an der
Pleasentville Cottage School der Jewish Childcare Association in New York,
wo entwurzelte jüdische Kinder betreut wurden. So entdeckte er das Feld der
Sozialarbeit und Sozialpädagogik, auf dem er sich nunmehr professionalisier-
te. 1939 immatrikulierte er sich für zwei Jahre an der New York School of
Social Work und wurde dann stellvertretender Direktor in Pleasentville. 1942
heiratete er die ebenfalls aus Deutschland geflüchtete Irmgard (Irmi) Frank,
mit der er zwei Töchter hatte. 1946 wurde Selver Direktor der jüdischen
Children's Institution Marks Nathan Hall in Chicago, wo er die Idee eines
Jugenddorfes realisierte. 1948 übernahm er die Leitung eines Heimes für jü-
dische Kinder in Newark, New Jersey. 1949 ging er für den "Joint" nach
Frankreich, um in Versailles die Paul Bearwald School of Social Work zu
leiten; eine Fachhochschule, die Sozialarbeiter für die Betreuung entwurzel-
ter oder gefährdeter jüdischen Kinder in Nordafrika, dem Nahen Osten und
auch noch in Europa qualifizierte. 1954 schien sie ihre Aufgabe in Europa er-
füllt zu haben und wurde auf Betreiben Selvers 1958 an die Hebräische Uni-
versität nach Jerusalem verlegt. An der Eröffnung konnte Selver jedoch nicht
mehr teilnehmen. Er verstarb im September 1957 in Paris nach längerer
Krankheit im Alter von 56 Jahren. Es ist wahrscheinlich, daß die vielen Be-
lastungen und die unermüdlichen Aktivitäten seinen frühen Tod mitverur-
sacht haben.

190
Paul Jacob übernahm nach der Auswanderung von Selver als zweiter Direk-
tor die PriWaKi. Er galt als begnadeter Lehrer, der sich auch intensiv um ei-
ne jüdische Erziehung bemühte, obwohl er aus einem assimilierten Eltern-
haus kam. Paul Abraham Jacob wurde 1893 in Berlin geboren. Seine Mutter
stammte aus einer assimilierten Familie in Quedlinburg, konnte dort jedoch
keinen geeigneten Lebenspartner finden und ging deshalb nach Berlin, wo sie
den aus Posen stammenden Kaufmann Magnus Jacob heiratete. Das Ehepaar
blieb in Berlin und hatte zwei Kinder. Der Sohn Paul wurde auf das Franzö-
sische Gymnasium geschickt, eine zweisprachige Schule in Berlin, auf der
Französisch auch Unterrichtssprache war. 1914 meldete er sich als Kriegs-
freiwilliger und erhielt Auszeichnungen. Nach Kriegsende wandte er sich je-
doch wieder der französischen Kultur zu. Bereits seit 1912 hatte er an der
Universität in Berlin Französisch, Germanistik und Philosophie studiert. Das
Studium nahm Jacob nach Kriegsende wieder auf und beendete es mit einem
Staatsexamen für Gymnasiallehrer und 1921 mit der Promotion in Germani-
stik. 1921 bis 1929 arbeitete er als Gymnasiallehrer am Goethe-Gymnasium
und am Dorotheen Oberlyzeum in Berlin. 1929 ließ er sich beurlauben und
ging als Austauschlehrer nach Paris, dann als Lektor an die Universität Lille.
Im August 1933 wurde Paul Jacob aus dem deutschen Schuldienst entlassen,
so daß er nach seiner Rückkehr aus Frankreich im April 1934 eine neue Be-
schäftigung finden mußte. Auf diese Weise gelangte er an die PriWaKi, wo
er der vermutlich beliebteste aller Lehrer war.
Ab Juli 1938 übernahm er bis zur Schließung der Schule deren Leitung.
Im September 1939 emigrierte er mit seiner Frau Franziska, mit der er seit
1934 zusammenlebte, nach Palästina. Dort lernte er zunächst intensiv Hebrä-
isch und übernahm dann die Schulleitung sowie die kulturelle Leitung in Meir
Shefayah, einem Kinder- und Jugenddorf, ähnlich wie Ben Shemen. Hier
wurden Kunst und Theater kreativ und sozialtherapeutisch eingesetzt. Jacob
wurde mit diesem Konzept erfolgreich und bekannt. Nicht wenige seiner
Zöglinge wurden selbst Künstler und Schauspieler. 1965 verstarb er in Israel.
Bemerkenswert an Jacob ist nicht nur, daß er ein beliebter Lehrer mit
großer pädagogischer Kreativität war, sondern auch, daß er sich an der Pri-
WaKi sehr für die jüdische Erziehung der Kinder einsetzte und zuletzt auch
zionistisch wurde, obwohl er aus einem sehr weitgehend assimilierten El-
ternhaus kam. Seine pädagogischen Vorstellungen, daß Erziehung immer
von den vier Säulen "Lernen, Arbeiten, Gemeinschaft und Kultur" getragen
sein müsse, hat er immer auch praktisch umgesetzt und dabei das soziale und
künstlerische Lernen besonders betont, wobei er zugleich auch ein hochqua-
lifizierter Fachlehrer für Französisch und Deutsch war.
Man kann unter Bezug auf die drei Schulleiter von einer gelungenen Ar-
beitsteilung für die Belange der PriWaKi sprechen. Lotte Kaliski gründete sie
mit ihrem Mut und ihrer Eigenwilligkeit gerade noch zur rechten Zeit, denn
1933/34 wäre die Gründung nicht möglich gewesen; Heinrich Selver vertei-
digte sie gegenüber den Behörden mit großem Geschick und aller Kraft; Paul
Jacob (zusammen mit einigen anderen Lehrern) gab ihr die sozial-emotionale

191
"Seele". Auch die Palästina-Gruppe verdankt ihre Existenz und ihren Erfolg
letzten Endes Paul Jacob.

Erwin Jospe war Musiklehrer, und seine Arbeit ergänzte die von Paul Jacob
sehr gut. Dies galt sowohl für die Erziehungsbereiche Kunst und Kultur als
auch für die Förderung des Gemeinschaftslebens. Darüber hinaus unterstützte
er engagiert die jüdische Erziehung der Kinder im nichtreligiösen kulturellen
Bereich. Sowohl zur Musik als auch zum Judentum hatte er eine ursprüngli-
che familiäre Bindung. Sein Vater war Oberkantor in der jüdischen Gemein-
de in Oppeln, der Großvater war Oberkantor in Breslau gewesen. Im mütter-
lichen Familienzweig gab es Pianisten. Auch Erwin Jospe wollte eigentlich
Konzertpianist werden, doch drängten ihn die Eltern dazu, sich an der Uni-
versität Breslau und an der Berliner Hochschule für Musik in Berlin auch für
den Beruf des Musiklehrers zu qualifizieren. Nach Beendigung seines Studi-
ums wurde er Organist und Chorleiter der Synagogen gemeinde Lützowstraße
in Berlin. Gleichzeitig unterrichtete er als Musiklehrer an der Kaliski-Schule,
wo er sich viel Mühe mit dem Komponieren von Musikstücken gab, sei es als
Einlagen in Jacobs oder Ehrmanns Bühnenstücken, sei es als eigenständige
Sing- und Spiel aufführungen wie etwa der "Jüdische Bilderbogen", in dem
ein breites Spektrum des Judentums in jeweils verschiedenen Kulturen und
Ländern vorgestellt wurde. Jospe wollte durch den Musikunterricht das jüdi-
sche Bewußtsein bei den Schülern fördern. Ausdruck und Dokument dafür ist
auch sein Liederbuch (vgl. Jacobson, Jospe 1935), das zum größten Teil jid-
dische und hebräische Lieder enthielt, von denen assimilierte Juden zuvor
kaum etwas wissen wollten.
Jospe wurde wie Jacob durchweg positiv gesehen als ein Lehrer mit
größter Fachkompetenz, einem ungebrochenen jüdischen Selbstverständnis
und gemeinschaftsförderndem Engagement. Ein typisches Schülerurteil über
ihn lautete: "Alles was ich anfangs über Judaismus und jüdische Musik ge-
lernt habe, wurde mir von Herrn Jospe beigebracht."
Die weitere Karriere von Erwin Jospe war brilliant: 1938 wanderte er in
die USA aus, nachdem er ein Angebot angenommen hatte, Musikdirektor
und Organist einer großen Reformgemeinde in Cleveland, Ohio, zu werden.
Ein ähnlich gutes Angebot hätte er damals in Palästina sicherlich nicht bekom-
men können. Später ging er nach Chicago, wo er Musikdirektor einer großen
Gemeinde wurde und auch an der Roosevelt-Universität unterrichtete. Dort
leitete er die Abteilung für Opern. Er hat als Dirigent Orchester vor vielen
tausend Zuhörern geleitet, Choräle komponiert, war Mitarbeiter der Lyric
Opera Company of Chicago und ging auch im Auftrag des US-Außenmini-
steriums auf Auslandstournee. Er wechselte dann von Chicago nach Los An-
geles, wo er Dekan der School of Fine Arts an der Universität für Judaismus
wurde und sich wieder als musikalischer Leiter in der dortigen Synagogen-
gemeinde engagierte. Wie es scheint, hat sich seine Hinwendung zum Juden-
tum mit zunehmendem Alter weiter verstärkt. Nachdem er sieben Jahre an
der Universität für Judaismus gearbeitet hatte, führte ihn ein Sabbatical Year

192
nach Israel, wo er Material über die Musik der jemenitisch-jüdischen Volks-
gruppe sammelte. Nach seiner Pensionierung ging er nach Israel zurück, um
an dem Projekt weiterzuarbeiten. Parallel dazu übernahm er aber auch den
Opern-Workshop an der Universität Tel Aviv. Das gesammelte Material wur-
de nicht mehr veröffentlicht, denn 1983 verstarb Jospe in Israel. Die Brücke,
die er mit seinen hebräischen Liedern schon während der Zeit in der Kaliski-
Schule nach Israel geschlagen hatte, hatte ihn zuletzt doch noch in das Land
geführt.

Wenn von Kultur und Kunst als einem in der Kaliski-Schule favorisierten
Bereich die Rede ist, muß auch Ruth Ehrmann, spätere Albert, erwähnt wer-
den. Sie hat sich engagiert um die Grundschulkinder an der PriWaKi geküm-
mert und vor allem deren Feste kreativ gestaltet, indem sie auch kleine Stük-
ke geschrieben hat, die von den Kindern gern aufgeführt wurden. Auch jüdi-
sche Thematik wie im Chanukka-Spiel "Unsere Menorah" wurde dabei aus-
gestaltet. Sie gehörte an der Schule zum inneren Zirkel und hatte großen
Einfluß. Außer in den unteren Klassen hat sie in der Mittelstufe Englisch und
Sport unterrichtet, war in diesen Fächern dort aber nicht führend. 1938 ist sie
nach Chile ausgewandert, wo sie promovierte und ein Buch über Kinderer-
ziehung geschrieben hat. Sie hat sich dort sozial und beruflich integriert und
einen einheimischen Bildhauer geheiratet.
Werkunterricht und Sport waren an der PriWaKi zentrale Bestandteile
der Reform- und Waldschulpädagogik. Für die Erziehung zur Emigration
kamen auch noch die "Praktischen Übungen" hinzu. Zuständig dafür waren
besonders die Lehrer Hecht und Mühlhauser, die von den Ehemaligen häufig
erinnert werden, obwohl beide nur nebenamtlich an der PriWaKi beschäftigt
waren.
Der Turnlehrer Herbert Hecht wurde in Beuthen geboren, wo er in den
ersten vier Jahren die jüdische Grundschule besuchte und dann auf das dorti-
ge Gymnasium überwechselte. Dort bestand er 1930 das Abitur. Er wollte
Apotheker werden, machte zuerst die DrogistenpfÜfung und hat bis 1936 in
diesem Beruf gearbeitet, bis sein jüdischer Chef nach Palästina auswanderte.
Da er immer ein sehr guter Sportler war, bewarb er sich als Kandidat für die
Olympia-Mannschaft 1936 (Zehnkampf). Man teilte ihm jedoch mit, daß sei-
ne Kandidatur aus "gesundheitlichen" Gründen nicht akzeptiert werden kön-
neo
Hecht besuchte dann eine Sporthochschule in Stuttgart, die faktisch jü-
disch war, aber von einer Nichtjüdin geleitet wurde. Nach nur einem Jahr be-
stand er die Abschlußprüfung und wurde als Turn- und Zeichenlehrer an der
zionistischen Theodor-Herzl-Schule eingestellt und im September 1937 auch
mit einem Teildeputat an der Kaliski-Schule, wo er neben Sport in den
"Praktischen Übungen" und in der "Kleinen Werkarbeit" auch im Rahmen
der Palästina-Vorbereitung unterrichte. Dies scheint ihn überzeugt zu haben,
jedenfalls schlug er die Möglichkeit aus, nach Chile auszuwandern und ging
statt dessen nach Palästina. Er war vorher nicht besonders jüdisch oder zio-

193
nistisch eingestellt, aber er war in einer kleinen jüdischen Gemeinde in Beuthen
aufgewachsen und hatte vier Jahre lang die jüdische Grundschule besucht. Dies
scheint doch einige Spuren hinterlassen zu haben, die eine Umorientierung er-
leichterten. Jedenfalls scheint dieser Umorientierungsprozeß ganz pragmatisch
verlaufen zu sein. Er gelangte illegal über Holland mit einem Schiff nach Pa-
lästina und ging dort heimlich an Land. Eine in Aussicht gestellte Stelle in Ben
Shemen wurde aber nicht frei, so daß er zunächst als Hausmeister und dann als
Erzieher im Kinderheim Kiriat Bialik arbeitete. Danach ging er nach Pardes
Hanna in ein Schulheim, wo er als Lehrer bis zu seiner Pensionierung arbeiten
konnte. Seinen Namen änderte er in Chaim Hadar.
Der andere Lehrer, der Sport und Praktische Übungen unterrichtete, war
Franz Mühlhauser. Auch er emigrierte nach Palästina und nannte sich dort
Ephraim Millo. Mühlhauser wurde 1912 in Augsburg geboren. Die Eltern
stammten aus den alteingesessenen westjüdischen Familien Mühlhauser und
Dreyfuß. Die Familie zog nach Speyer, wo Franz 1931 seine Abiturprüfung
bestand. Anschließend studierte er in Heidelberg und Leipzig Jura, mußte
sein Studium aber 1934, ein Jahr vor dem angestrebten Staatsexamen, abbre-
chen. Franz Mühlhauser war bis dahin nicht zionistisch und gehörte sogar ei-
ner schlagenden jüdischen Verbindung an, dem "Kartell-Convent deutscher
Studenten jüdischen Glaubens".
Wegen seiner betont deutschen Akkulturation und weitgehenden Assimi-
lation trafen ihn die Ereignisse und Erlebnisse während der Nazizeit völlig
unvorbereitet. Er erlebte, wie in Speyer das elterliche Geschäft boykottiert
wurde und wurde in Heidelberg und Leipzig an der Universität angepöbelt
und dann auch relegiert.
Zunächst war er völlig orientierungslos, doch 1934 richtete der Preußi-
sche Landesverband der Juden eine Lehrerakademie ein, auf der er nach zwei
Jahren Studium 1936 sein Staatsexamen als Volksschullehrer bestand. Erwin
Jospe, der an der Akademie auch Musik lehrte, empfahl ihn der PriWaKi, wo
er dann auch eingestellt wurde. Dort unterrichtete Mühlhauser in den unteren
Klassen seinen Neigungen entsprechend Musik, Zeichnen, Puppentheater und
Sport; Musik und Sport auch in den oberen Klassen. Darüber hinaus arbeite er
im Tagesinternat, bei der Schulaufgabenbetreuung und unterrichtete im Wer-
ken und in den Praktischen Übungen. Vielseitige Lehrer waren an der Pri-
WaKi sehr willkommen und beliebt.
Mühlhauser unterrichtete auch die zionistische Palästina-Gruppe. Die
Überzeugungen, die er dort vertreten mußte, schienen ihn schließlich selbst ge-
formt zu haben: ,,Zionistische Gedanken kamen auf, denn wir lernten Hebrä-
isch, sprachen von Palästina und sangen Chaluzim-Lieder, bis ich im Laufe
der Jahre den festen Entschluß faßte, nach Palästina auszuwandern." (Millo
1990) Die Auswanderung war 1938.
In Palästina hielt sich Millo zuerst mit Blockflötenunterricht über Was-
ser, leitete dann ein Heim für Schwererziehbare, trat 1944 in den Bewäh-
rungshelferdienst der Mandatsregierung ein und wurde nach der Staatsgrün-
dung Abteilungsdirektor im Wohlfahrtsministerium. Nach einem Magister-

194
Studium in den USA ging sein Weg in der Sozialadministration immer weiter
aufwärts, bis er schließlich Chef der Familienfürsorge und der Wohlfahrtsäm-
ter in Israel war. 1976 ging er in den Ruhestand.
Ein von vornherein zionistisch eingestellter Lehrer war Fritz Kost, der
als Hebräisch-Lehrer bis ca. 1937 an der PriWaKi gearbeitet hat, allerdings
nur zur Aushilfe. Er war auch nicht als Lehrer, sondern als Jurist ausgebildet.
Die Beherrschung der hebräischen Sprache ging mit seiner Herkunft zusam-
men. Seine Eltern kamen beide aus Ostgalazien und gingen nach ihrer Heirat
1901 sofort nach Berlin, was für sie als österreichische Staatsbürger nicht all-
zu schwierig war. Die Eltern sprachen deutsch, polnisch und jiddisch. 1914
flüchteten alle vier Großeltern ebenfalls nach Berlin. Der Vater hatte in Ber-
lin ein kleines Geschäft mit Schmuckfedern aufgemacht, von dem die Fami-
lie einigermaßen leben konnte, obwohl sie nicht reich wurde. Anfangs wurde
der Haushalt koscher geführt, doch dann setzte eine schnelle Assimilation
ein, und zuletzt waren selbst der Weihnachtsbaum und der Schinken nicht
mehr tabu. Dennoch blieben die Eltern in vielem immer noch jüdisch.
Auf sein Jüdischsein als Besonderheit wurde Kost in der Schule gesto-
ßen, als ein Lehrer - durchaus wohlmeinend - den anderen Schülern der dritten
Klasse sagte: "Und schämt ihr euch nicht, daß der kleine galizische Judenjunge
besser deutsch kann als ihre alle!" Er interessierte sich schon recht früh für
Palästina, und schon in jungen Jahren stand für ihn fest: "Da gehöre ich hin!"
Doch zunächst machte er eine für deutsche Juden typische Karriere. Er been-
dete das Gymnasium und studierte dann in Heidelberg Jura. Das Studium be-
endete er dann mit dem Staatsexamen und dem Dr. jur. In Heidelberg lernte
er auch seine spätere Frau kennen, ebenfalls eine Juristin aus einer jüdischen
Familie. Nach dem Studium gingen beide nach Berlin und begannen dort ein
Referendariat, aus dem sie 1933 entlassen wurden. Danach arbeitete Kost
freiberuflich als Hausverwalter, was ihm die notwendige zeitliche Flexibilität
gab, um zwischendurch auch an der PriWaKi als Hebräisch-Lehrer tätig zu
sein. Dadurch, daß er schon in der Schule als Ostjude gekennzeichnet wurde,
wurde seine Assimilation (nicht aber seine Akkulturation) verhindert, sein
Bewußtsein als Jude blieb stark und entwickelte sich nach und nach zu einem
zionistischen Bewußtsein, nachdem er einen Vortrag von Ernst Simon über
Palästina gehört hatte. Daraufhin lernte er "perfekt Hebräisch", so daß er
schon als junger Mensch Autoren wie Achad Haam oder Agnon in hebräi-
scher Sprache lesen konnte. Die Ausbildung erhielt er privat bei Hebrä-
ischlehrern. Die zionistische Richtung wurde dann durch den jüdischen Ju-
gendbund "Blau-Weiß" geformt, dem er Ende 1919 beitrat.
Aus dieser jüdisch-zionistischen Einstellung heraus hat Kost dann auch
"als Hobby" einige Jahre an der PriWaKi Hebräisch unterrichtet. Trotz guter
Vorbereitung fand er aber die Resonanz bei den Kindern enttäuschend. Gera-
de in den ersten Jahren war er mit seiner zionistischen Position noch ein Au-
ßenseiter unter den Lehrern. Kost engagierte sich nach seiner Zeit im Blau-
Weiß weiterhin in zionistischen Organisationen, etwa als Sammler für den
Palästina-Bodenfonds (Keren Hajessot).

195
Die Eltern von Kost sind mit dem "Instinkt der galizischen Juden" sofort
im Sommer 1933 nach Palästina gegangen. Kost selber sah die Gefahr noch
nicht so stark, aber 1937 war auch er entschlossen auszuwandern und gelang-
te Anfang 1938 nach Palästina. Dort konnte er sofort als freiberuflicher
Hausverwalter weiterarbeiten, wodurch der Familie viel von den Problemen
anderer Einwandere erspart blieb.
Ludwig Kuttner war wie Kost schon stark jüdisch geprägt, als er in die
PriWaKi (wahrscheinlich 1934) als Lehrer für Hebräisch, Religion und jüdi-
sche Geschichte eintrat. Ob er anfangs schon Zionist war, wissen wir nicht,
aber später scheint er Hebräisch und jüdische Geschichte auch für die Palä-
stina-Gruppe unterrichtet zu haben. Im Fragebogen der Schulbehörde vom
Mai 1938 war er als Lehrer für jüdische Religionslehre eingetragen.
Von Kuttners Biographie wissen wir bis zum Eintritt in die PriWaKi
nichts. Das Ehepaar Kost, das von der Familie Kuttner damals öfter besucht
worden ist, da beide Familien ein Kind im gleichen Alter hatten, sagt über
ihn, daß er ein sehr sympathischer Kollege gewesen sei und "daß Kuttner, der
absolut jüdische Bindungen hatte, wahrscheinlich auch Hebräisch gekonnt
hat." Das beeindruckte manche Schüler aus assimilierten Elternhäusern:
"Zuletzt erinnere ich mich auch noch ein wenig an Herrn Kuttner als
Lehrer für Hebräisch und Jüdische Geschichte. Ich bin ziemlich sicher, daß
er uns in beiden Fächern unterrichtet hat. Meine zentrale Erinnerung an ihn
ist, daß er weit mehr jüdisch war als andere Lehrer ... Dies kann nicht überra-
schen, denn aufgrund meines familiären Hintergrundes war ich zuvor kaum
mit kenntnisreichen und jüdisch bewußten deutschen Juden (Jewish German-
Jews) in Berührung gekommen." (W. M. Blumenthal1989)
Was jedoch dem Schüler W. M. Blumenthai eine große Achtung abnötig-
te, nahmen andere Schüler aus assimilierten Familien weit weniger ernst,
denn Religionslehre und besonders Hebräisch wurden von den meisten
Schülern zumindest bis 1937 noch als "Plagefächer" angesehen.
Doch Kuttner war offenbar nicht verbittert wegen des weitgehenden Des-
interesses der Schüler und Schülerinnen an seinen Unterrichtsinhalten. Er
förderte die Schulgemeinschaft und nahm etwa auf Sportfesten an den Wett-
bewerben auf Lehrerseite teil. Möglicherweise war die Ablehnung jüdischer
Themen und Inhalte in den Jahren 1938/39 nicht mehr so groß. Die Persön-
lichkeit Kuttners trat um so deutlicher hervor, je größer Not und Verfolgung
der jüdischen Kinder und Jugendlichen in Deutschland wurden. Obwohl er
verheiratet war und zuletzt zwei Kinder hatte, wanderte er nicht aus. Dabei
wäre es ihm relativ leicht möglich gewesen, denn er sprach hebräisch, war
zionistisch eingestellt und seine Schwester war mit einem hohen Beamten in
der Stadtverwaltung in Tel Aviv verheiratet. Die Familie hätte ein Einwande-
rungszertifikat nach Palästina bekommen können, wenn Kuttner es rechtzei-
tig gewollt hätte. Warum er sich nicht darum bemüht hat, ist allen Bekannten
von der PriWaKi ein Rätsel.
Es ist gut möglich, daß Kuttner etwas fatalistisch war oder naiv die Be-
drohung unterschätzt hat; es spricht jedoch auch vieles dafür, daß er blieb,

196
weil er die jüdischen Kinder und Jugendlichen, die ihm nun anvertraut wa-
ren, nicht im Stich lassen wollte. Sein weiteres Schicksal zeigt einige Paralle-
len zu dem von Janusz Korczak. Kuttner ging etwa im Sommer 1939 mit sei-
ner Familie in das zionistische landwirtschaftliche Ausbildungszentrum Schnie-
binehen, um dort zu unterrichten und auch, um die Gruppenleiter weiterzu-
bilden. Das änderte sich, als Schniebinchen im August 1941 aufgelöst und
die Gruppe nach Paderborn verlegt wurde. Paderborn war dann schon ein
Zwangsarbeitslager, wo es wenig zu essen, dafür aber viel harte Arbeit gab.
Kuttner lebte dort mit seiner Familie und den Kindern nachweislich ab dem
1. August 1941. Unter diesen schon extremen Bedingungen sorgte er dafür,
daß keine geistige Verwahrlosung bei den Kindern und Jugendlichen einsetz-
te. So wurde zum Beispiel der Oneg Schabbat eingehalten, auch wenn die
Gestaltungsmöglichkeiten im Vergleich zur PriWaKi sehr eingeschränkt wa-
ren. Es mußte viel improvisiert werden, und Kuttner trug zum Beispiel den
"Erlkönig" vor und erwies sich überhaupt als sehr begabt im Vortragen von
Gedichten, was nunmehr andächtige Zuhörer fand. Auch Theatervorführun-
gen gelangen unter Kuttners Leitung, trotz der Erschöpfung und der Müdig-
keit nach einem langen Arbeitstag. Kuttner verbreitete weiter Hoffnung, und
eine allzu große Angst scheint sich deshalb bei den Kindern und Jugendli-
chen nicht eingestellt zu haben. Ein Überlebender meint rückblickend: "Wir
waren überzeugt davon, daß wir die Möglichkeit hatten, Deutschland noch zu
verlassen." (1. Löwenstein 1989)
1943 hieß es dann, daß die Gruppe nach Auschwitz verlegt werden soll-
te. Zumindest von den Jugendlichen nahm jeder an, daß es sich um ein ande-
res Arbeitslager im Osten handeln würde, das dem in Paderborn ähnlich sei.
Von den Lehrern, also auch von Kuttner, bekam jeder der etwa einhundert
Mitglieder (davon etwa ein Drittel weiblich) den Auftrag, ein Reclam-Klassi-
ker-Heftchen einzustecken, damit man im neuen Lager wieder eine kleine
Bibliothek aufbauen könne. Am 1. März 1943 erfolgte der mehrtägige Ab-
transport nach Auschwitz in einem Viehwaggon. In Auschwitz wurden Män-
ner und Frauen (mit Kindern) getrennt. Entweder wurden Frau Kuttner und
die Kinder Michael und Uri gleich in die Gaskammer getrieben, oder sie ka-
men erst in das Frauenlager und starben später. Kuttner wurde zum Arbeits-
einsatz in die Bunawerke kommandiert und bekam die Häftlingsnummer
104968. Der Arbeitseinsatz in den Bunawerken aber erfolgte unter un-
menschlichen Bedingungen. Kuttner konnte dies nicht lange durchhalten und
erkrankte schnell. Er kam zunächst in das Krankenlager, wo ihn die Pader-
borner Gruppe aus dem Auge verlor und ihn nicht mehr unterstützen konnte.
In den Lagerakten wurden erst kürzlich zwei Hinweise gefunden, aus denen
sich schließen läßt, "daß sich Ludwig Kuttner bis zum 15. April 1943 im
Häftlingskrankenbau der Bunawerke/Auschwitz III Monowitz aufhielt. Von
dort aus wurde er am selbigen Tag wegen einer Pharyngitis (Entzündung der
Rachenschleimhaut, auch chronisch) ins Stammlager (Auschwitz I) verlegt.
Hier gibt es einen Vermerk, aus dem hervorgeht, daß er sich dort in der Chir-
urgie im Block 21 aufhielt bzw. ,behandelt' wurde. Ein eindeutiger Vermerk

197
über seinen Tod hat sich nicht erhalten." (J. Löwenstein 1991) Es kann aber
als sicher gelten, daß Kuttner nicht mehr lange gelebt hat. Wahrscheinlich
starb er bald an den Folgen seiner Krankheit, vielleicht wurde er auch als ar-
beitsunfähig in die Gaskammer geschleppt.
Außer Ludwig Kuttner, Willy Gottfeld, Julius Lewin und Hilde Laub-
hard konnten alle anderen Lehrer auswandern, ein bemerkenswert großer Teil
von ihnen ging nach Palästina. Vielfach hatte die pädagogische Arbeit sie
dorthin geführt. Sie mußten den Kindern jüdische und gegebenenfalls auch
zionistische Überzeugungen vorleben und scheinen dadurch selber geformt
worden zu sein. Der jüdische Lehrer, dessen Ansehen bis 1933 (außerhalb
zionistischer Kreise) gering war, erlebte mit der Herausforderung an die jüdi-
sche Erziehung ab 1933 eine Aufwertung, die sich bis in die 50er Jahre hin-
ein auch in Israel fortsetzte, weil eine ungeheure soziale und pädagogische
Integrationsarbeit notwendig wurde. Diese Arbeit ist mit viel Idealismus er-
folgreich geleistet worden. Die ausgewanderten Lehrer aus Deutschland und
auch die von der PriWaKi haben dazu ihre konstruktiven Beiträge geleistet.
Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß fast alle Lehrer und Lehrerinnen
der PriWaKi Zionisten gewesen oder geworden seien. Doch werden gerade
diese Lehrer besonders gut erinnert. Das liegt daran, daß sie oft außerhalb des
normalen Fachunterrichts aktiv waren und damit den Schülern und Schüle-
rinnen ein willkommenes Kontrastprogramm anboten. Diese Lehrer galten
dann als die engagierten und vielseitigen Pädagogen. Lehrer und Lehrerin-
nen, die sich nur auf den Fachunterricht beschränkt haben und sonst nicht
weiter durch besondere Funktionen oder Merkmale auffielen, werden nicht
oder selten erwähnt. Zwei nichtzionistische Lehrer bilden jedoch eine Aus-
nahme, da sie einige persönliche und pädagogische Besonderheiten aufwie-
sen: Edwin Heinrich und Willy Gottfeld.

Edwin Heinrich war Lehrer für Mathematik, Physik und Sport. Zugleich war
er ein vorzüglicher Organisator von unvergessenen Sportfesten sowie länge-
ren Schulfahrten, wie das Sommerlager 1937 in NimmersattlLitauen. Obwohl
er durchaus streng sein konnte und stellvertretend auch Aufgaben in der
Schulleitung übernahm, hatte er kein so distanziertes Verhältnis zu den Schü-
lern wie Kaliski und Selver. Nicht nur, daß er über Sportfeste und Sommerlager
Gemeinschaftserlebnisse vermittelte und im Physikunterricht anschaulich ex-
perimentierte, er kümmerte sich darüber hinaus auch sehr um einzelne Schüler,
wenn diese Probleme hatten. Damit setzte er die von der Schule versprochene
"individuelle Behandlung" auch in die Tat um. Edwin Heinrich wanderte u. W.
als erster PriWaKi-Lehrer des inneren Zirkels Ende 1937 in die USA aus; mit
seinen Fächern fand er auch sofort eine Anstellung an der Mc Donogh-School,
Mc Donogh MD, USA, wie ein Briefkopf (1938) zeigt. In der 50er Jahren hat
ihn D. Hirschberg noch einmal in den USA getroffen. Dies ist der letzte uns be-
kannte Kontakt zu einem PriWaKi-Ehemaligen gewesen.

198
Vom Lehrer Willy Gottfeld kennen wir das Ende seines Lebens, nämlich sei-
nen Tod in Auschwitz. Es spricht alles dafür, daß ihn persönliche und fami-
liäre Bindungen an der Auswanderung gehindert haben. An der PriWaKi war
er Mittelschullehrer für Geschichte, Erdkunde und Sport und scheint allge-
mein sehr beliebt gewesen zu sein - besonders bei den Mädchen. Er galt als
früherer oder auch nur verhinderter Schauspieler, da er sich im Unterricht
häufig sehr theatralisch gab. Dadurch war sein Unterricht nie langweilig.
Auch für ihn war die persönliche Zuwendung zu den Schülern kennzeich-
nend für sein pädagogisches Verhalten. Die damalige Schülerin Lilli Cassel
schreibt über Gottfeld: "Seine Lehrmethode war immer interessant, ob in
Geographie oder Geschichte. Er beeinflußte mich besonders durch jüdische
Geschichte, zeigte mir die Nofretete im Museum."
Die Lehrerbiographien sind zwar alle typisch jüdisch, weil z.B. Herkunftmi-
lieus und damit verbundene Erfahrungen (z.B. das Aufwachsen im Osten
oder im Westen) für Teilgruppen gleich sind, doch können die Merkmale
biographisch ganz unterschiedliche kombiniert sein, so daß jede Biographie
unverwechselbar wird und keinem festen Muster folgt. Dadurch ergibt sich
eine erstaunliche Vielfalt von Biographien und Identitäten, die gleichwohl
unverkennbar als die von Juden aus Deutschland zu identifizieren sind. So
konnte z.B. ein Ostjude wie H. Selver einen Akkulturationssprung von zwei
Generationen machen und trotz seiner Herkunft aus einem unverkennbar
traditionell geprägten jüdischen Milieu und der mehrfach erfahrenen Aus-
grenzung und Vertreibung den nationaljüdischen Weg meiden, während
Westjuden wie Paul Jacob oder Franz Mühlhauser zum Zionismus "bekehrt"
wurden, obgleich sie doch keinem ausgeprägten jüdischen Milieu entstamm-
ten. Hieran zeigt sich, daß auch jüdische Biographien nicht einfach nur als
Reaktionen auf äußere Ereignisse zu verstehen sind, die einem einheitlichen
Muster folgen, sondern immer wieder individuelle Entscheidungen und Wei-
chenstellungen unterschiedlichster Art möglich waren, wodurch eine große
Vielfalt auch bei den Lehrerbiographien entstanden ist. Ähnliches konnten
wie auch schon bei den Familien-Geschichten der Schüler feststellen.

199
6. Erinnerungen an das Leben im "Dritten Reich" bis
1939

Wie schon an der Geschichte und am pädagogischen Programm der PriWaKi


deutlich geworden ist, ging es immer auch um die Bewältigung praktischer
und nicht zuletzt auch psychologischer Probleme, die durch die antijüdische
Politik und den willkürlich ausgeübten Terror des Nazi-Regimes entstanden
waren. Die SchülerInnen sind danach gefragt worden, welche Erfahrungen
sie persönlich mit den Nationalsozialisten machen mußten bzw. wie die anti-
jüdische Politik von ihnen persönlich wahrgenommen und verarbeitet wor-
den ist. Darüber hinaus sollte festgestellt werden, inwieweit überhaupt noch
von einem normalen Leben, das ja auch im außerschulischen Bereich für die
Sozialisation und Persönlichkeitsbildung Heranwachsender von zentraler Be-
deutung ist, für jüdische Schüler bis 1939 gesprochen werden kann.
Erfahrungen jüdischer Schüler und Jugendlicher während des "Dritten
Reiches" sind vereinzelt in Zusammenstellungen von Biographien (z.B. bei
Richarz 1989), Einzelbiographien (z.B. Edvardson 1986; Rosenthai 1987;
vgl. auch die "Selbstzeugnisse" in Benz 1988, S. 757) oder auch in Gesamt-
darstellungen jüdischen Lebens in dieser Zeit (Benz 1988; Ginzel 1984) ge-
schildert worden. Es gibt auch speziell auf Erziehung, Schule und Unterricht
sich beziehende Arbeiten. (Z.B. Mann 1989; Walk 1991; Weiss 1991; Rö-
eher 1992) Manche Schilderungen haben ihren Schwerpunkt in den Jahren ab
1939/40, als das Überleben mehr und mehr in der Illegalität bzw. im Unter-
grund stattfinden mußte. (Z.B. Angress 1985; Schwersenz 1988) Diese Zeit-
phase haben wir für die Minderheit der damals noch im Machtbereich der
Nationalsozialisten lebenden Priwaki-Schüler an anderer Stelle bereits be-
rücksichtigt (vgl. Fölling 1993, S. 287ff.; auch in Busemann u.a. 1992, S.
320ff.), so daß wir uns nachfolgend vor allem auf den Zeitraum konzentrie-
ren wollen, in dem die PriWaKi existiert hat. Die Befragung einer größeren
Gruppe von etwa 60 ehemaligen SchülerInnen bietet zusammen mit den ver-
tiefenden Interviews die Möglichkeit, über Einzelerfahrungen hinaus zu ei-
nem Mosaik von Erfahrungen und damit zu einem etwas repräsentativeren
Bild der Lebensumstände jüdischer Kinder und Jugendlicher vor dem Einset-
zen des Vernichtungsprozesses zu gelangen.
Verglichen mit der Zeit ab November 1938 oder gar ab 1941 war der na-
tionalsozialistische Terror während der Existenz der PriWaKi noch nicht auf

201
Vernichtung, sondern eher auf Ausgrenzung und Verdrängung aus der deut-
schen Gesellschaft und auch aus Deutschland selbst ausgerichtet. Allerdings
bekamen die politischen Gegner der Nazis die ganze Brutalität des Regimes
schon von Anfang an zu spüren. earl von Ossietzky kann hier als Beispiel
dienen.
In einigen Fällen berichten auch PriWaKi-Schüler von frühen Gewalt-
maßnahmen der Nazis innerhalb ihrer engeren Verwandtschaft. So mußte et-
wa der Onkel von Robert B. Sommer, Kurt R. Grossmann, Sozialdemokrat
und bis 1933 Generalsekretär der Deutschen Liga für Menschenrechte, sofort
nach der Machtergreifung flüchten und verlor die deutsche Staatsbürger-
schaft.!4S
Deutlich härter gingen die Nazis gegen den Onkel von Dimitri Hirsch-
berg vor, der nicht geflüchtet war und als engagierter Sozialdemokrat schon
bald in ein Konzentrationslager kam, wo er noch in den 30er Jahren sein Le-
ben ließ. Trotz vieler Bemühungen ist es der Familie Hirschberg nicht gelun-
gen, ihn auch nur vorübergehend aus dem KZ herauszuholen. Diese Ereig-
nisse warfen dunkle Schatten auf die jeweiligen Familien und auf die Kinder
in diesen Familien.
Aber im al~emeinen gab es noch keine systematisch ausgeübte physi-
sche Brutalität.! Entlassungen aus dem Öffentlichen Dienst, Boykott der Ge-
schäfte und Einschränkungen für Freiberufler stellten jedoch eine zunehmend
stärker werdende ökonomische Belastung für die Familien dar, die insbeson-
dere von den älteren Kindern durchaus registriert wurde. Die erniedrigenden
Nürnberger Gesetze vom Herbst 1935 trafen zunächst weniger die Kinder als
die Eltern, die nun ihren Status als Reichsbürger verloren. Zwar hatte dies

145 Im Reichssteuerblatt Nr. 40 vom 1.9.1933 wurde eine Liste mit den Namen der Aus-
gebürgerten veröffentlicht, in der außer Kurt R. Grossmann auch Lion Feuchtwan-
ger, Alfred Kerr, Heinrich Mann, Dr. Kurt Tucholski (sie!), Dtto Wels und andere
Prominente aus Politik und Geistesleben aufgeführt waren. Die deutsche Staatsbür-
gerschaft wurde diesen Menschen aberkannt, "weil sie durch ein Verhalten, das ge-
gen die Pflicht zur Treue gegen Volk und Reich verstößt, die deutschen Belange ge-
schädigt haben." (Ebenda) Mit der Ausbürgerung war eine Beschlagnahme des Ver-
mögens verbunden sowie die Androhung, auch den Familienangehörigen ggfs. die
deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen.
146 Doch kam es gerade in den ersten beiden Jahren des Hitlerregimes zu zahlreichen
"wilden Einzelaktionen" vor alIem von SA-Leuten, wie Innenminister Frick bei einer
interministeriellen Besprechung am 20.8.1935, an der auch der Erziehungsminister
Rust und der Reichsbankpräsident Schacht teilnahmen, selbstkritisch zugeben mußte.
(Vgl. Hilberg 1990, S. 41) Man kam überein, daß dies in Zukunft nicht mehr gestat-
tet sein sollte. Die Nürnberger Gesetze von 1935 waren dann die Basis für "legale"
Verfolgungsmaßnahmen. Streicher erklärte am 4.10.1935 sogar: "Wir schlagen keine
Schaufenster ein und schlagen auch keinen Juden nieder." (Zit. in Hilberg 1990, S.
43) Eben dies war aber schon vielfach geschehen. Die Einzelaktionen der Jahre 1933
bis 1935 waren durchaus nicht harmlos, wenn auch im Ausmaß nicht mit dem No-
vemberpogrom von 1938 zu vergleichen. Viele jüdische Menschen wurden schwer
mißhandelt und einige getötet. (Vgl. z.B. die DarstelIungen in dem vom Comite des
Delegations Juives 1934 in Paris herausgegebenen "Schwarzbuch", S. 492-511)

202
zunächst noch keine unmittelbaren Auswirkungen, doch wurde das Signal
der endgültigen Ausgrenzung der jüdischen Bürger von diesen sehr wohl ver-
standen, und das Selbstwertgefühl der deutsch-jüdisch eingestellten Erwach-
senen wurde so stark beeinträchtigt, daß viele begannen, sich nun ernsthaft
auf die Emigration vorzubereiten.
Aber inwieweit wurden jüdische Kinder vor 1939 in Mitleidenschaft ge-
zogen? Haben sie die antijüdischen Maßnahmen in allen Einzelheiten wahr-
genommen oder lebten sie eher in einer von den Eltern und der Schule ge-
schaffenen Schutzzone, die eine stärkere Beeinträchtigung ihrer Kindheit und
Jugend, soweit sie noch bis 1939 in Deutschland verbracht worden ist, ver-
hindert hat? Kurz: Gab es für die PriWaKi-Schüler eine im großen und gan-
zen normale Kindheit in den ersten sechs Jahren des "Dritten Reiches" oder
wurde sie eher von Unsicherheit und Angst gestört oder gar zerstört? Um
darauf Antworten zu finden, ist gefragt worden:

" Was haben Sie von der antijüdischen Nazi-Politik als Kind in Berlin mitbe-
kommen?"

Bedrohung und Gewalt

Die meisten Schülerinnen und Schüler, etwa 80 Prozent, haben die Diskri-
minierungen sehr bewußt registriert. Vor allem einige der älteren Schüler ha-
ben den zunehmenden Antisemitismus und die Nazi-Aktivitäten auch schon
vor 1933 deutlich gesehen; wie zum Beispiel der 1920 geborene Werner
Guttmann:
"Im Schuljahr 1931/32 habe ich die Herder-Realschule in Berlin besucht und saß in einer
Bank mit einem Werner von Hössling, der sogar im Unterricht eine Hitler-Jugend-
Uniform trug. Eines Tages stach er sich in den Finger und schmierte das Blut auf meinen
Federkasten und schrieb daneben: ,Wenn Judenblut vom Messer spritzt!'"
Auch die Rabbiner-Tochter Miriam Cohn spürte den Antisemitismus vor
1933 nicht nur bei einzelnen Personen, sondern erkannte ihn als eine verbrei-
tete Stimmung:
"Ich habe vor und nach 1933 Antijudaismus verschiedener Art in Berlin gespürt, obwohl
ich nichtjüdische Schulfreundinnen hatte."
Die PriWaKi-Schülerin Lilli Bernhard bemerkte das Anwachsen des Natio-
nalsozialismus als Bewegung:
"Der war damals in Berlin schon unübersehbar. Das ist eine meiner eingeprägtesten Erin-
nerungen: Diese riesigen Wahlkampagnen und Demonstrationen. Und all diese Plakate:
,Jude verrecke', ,Juden raus' und ,Die Juden sind unser Unglück'! Das habe ich schon seit
'31, '32 mitbekommen. Dann gab es noch andere Kindheitserlebnisse: Mein Bruder und
ich spielten auf der Straße; damals konnte man noch auf der Straße spielen, und da kamen
irgendweJche Kinder, die nahmen ihm den Ball weg und schrien: Jude! Jude! Und er

203
wußte gar nicht, was mit ihm geschieht! Damals (vor 1933) ging mein Vater noch runter
und haute den Kindern noch eins hinter die Löffel."
Die Erinnerungen aus der Zeit vor 1933 stammen fast ausschließlich von den
Schülern des ältesten Jahrganges, die etwa 1920 geboren wurden. Jüngere
Kinder (geboren ab 1923) scheinen vor 1933 in der Regel den sich verschär-
fenden Antisemitismus und die nationalsozialistische Bedrohung nicht als
solche wahrgenommen zu haben. Entweder waren sie aus Altersgründen
noch nicht in der Lage, die antisemitischen Auswüchse zu verstehen und zu
deuten, oder sie wurden von ihren Eltern bei entsprechenden Fragen abge-
lenkt oder beschwichtigt, da die Eltern ihnen keine Angst machen wollten
und auch, weil sie die Illusion von einem harmonischen deutsch-jüdischen
Zusammenleben nicht aufzugeben bereit waren. Viele Erwachsene - viel-
leicht sogar die meisten - haben ja die drohenden Wolken am politischen
Horizont 1932 selbst nicht gesehen - wie etwa die Schulgründerin Kaliski -
oder nicht sehen wollen.
Nach der "Machtergreifung" war die antijüdische Propaganda aber so
allgegenwärtig, daß selbst jüngere Kinder sie in der Regel wahrnehmen
mußten, wenn sie im schulpflichtigen Alter waren. Die nachfolgenden Ant-
worten zeigen, welche Elemente dieser Propaganda sich den Kindern beson-
ders eingeprägt haben, da sie noch bis heute erinnert werden.
"Haßpropaganda, ,Juden verboten' (Schwimmen, Theater, Reisen, bestimmte Straßen),
Adolf Hitlers haßerfüllte Reden; Karikaturen von Juden; Reden von Goebbels."
"Ich erinnere mich an die Stürmerkästen mit den Karikaturen von jüdischen Gesichtern,
an die Diskriminierungen in den öffentlichen Schulen, etc., etc."
"Besuchsverbote von Schwimmbädern, Kinos, Theater etc., Schilder ,Juden sind hier un-
erwünscht'"
"Wir sahen die Stürmer-Kästen an vielen Straßenecken und lasen die Aufrufe und Slo-
gans der Parteiführer. "
"Kinos, Konzerte, öffentliche Plätze waren verboten; Schilder mit den Aufschriften
,Juden verboten' oder ,Juden unerwünscht'"
"Gelbe Bänke in den Parks ... "
"Horst WesseI Lied ... "
"Publikation des ,Stürmer', Kristallnacht; keine Erlaubnis, in Theater oder Sporthallen zu
gehen; spezielle Bänke in den Parks"

Erinnert werden von den damaligen PriWaki-SchülerInnen heute primär die


visuellen Formen der Hetzpropaganda sowie die Zutritts-Verbote. An zweiter
Stelle kommen verbale Hetzpropaganda und Aufmärsche. Wie es scheint,
konnten die Kinder durch Abstellen des Radios oder durch das Fernhalten
von Aufmärschen leichter vor der akustischen Propaganda geschützt werden
als vor deren visuellen Formen. In der Erinnerung rangieren die Stürmer-
Kästen ganz oben, denn diese standen an Haltestellen und Straßenecken und
waren für die jüdischen Schulkinder unübersehbar, wenn sie auf die U-Bahn
oder den Bus warteten. Auch die Zutrittsverbote haben eine nachhaltige Wir-
kung gehabt, denn solche Verbote werden für zahlreiche Orte erinnert: Ki-
nos, Sportplätze, Theater, Schwimmbäder und bestimmte Straßen. Die durch

204
die Verbote signalisierte Ausgrenzung aus der nichtjüdischen Gesellschaft
scheint psychologisch besonders verheerend gewesen zu sein. Die Verbote
nahmen nach den Nürnberger Gesetzen und der Olympiade ab 1937 deutlich
zu, so daß sie besonders von den Kindern erinnert werden, die bis 1938
Deutschland nicht verlassen hatten.
Eine Steigerung der antijüdischen Aggressivität entstand, wenn Erwachse-
ne jüdische Kinder beleidigten, da die Autorität der Erwachsenen gerade für
jüngere Kinder eine direkte verbale Attacke besonders schwerwiegend machte.
PriWaKi-SchülerInnen erlebten häufiger ,,Anfeindungen durch Luftwaffenan-
gehörige auf dem Schulweg (V-Bahn) zur Kaliski-Schule". (1. Jacoby) Die da-
malige Schülerin Gisela Rosenfeld erinnert sich an "beleidigende Bemerkungen
von Fahrgästen im Bus, der voll mit Schulkindern war." Auch der Schüler S.
Kneller erinnert sich an eine solche Szene ganz detailliert:
"Auf dem Schulweg mit der U-Bahn vom Wittenberg-Platz nach Dahlem hatte man Zeit
genug, die Gesichter der Fahrgäste zu betrachten und die Schlagzeilen im ,Völkischen
Beobachter' zu lesen. Sogar ein lOjähriger Schüler mußte die Feindseligkeit spüren. Beim
Nachhauseweg, auf dem Bahnsteig, schnell noch ein Biß in das Butterbrot, das ich aus
Zeitmangel in der Schule nicht gegessen hatte. Plötzlich zeigt ein Deutscher mit dem Fin-
ger auf mich und erklärt seinem etwa 4jährigen Sohn, daß der da (gemeint war ich) ein
Jude sei, der ihm das Brot wegesse!" (S. Kneller 1982)
Viele Eindrücke sind von den Kindern und späteren Erwachsenen abgewehrt
und verdrängt worden, so daß die Erinnerung zunächst nur besonders trau-
matische Ereignisse an die Oberfläche kommen läßt; vieles von den alltägli-
chen Schikanen der ersten Jahre (bis 1937) kann deshalb ad hoc gar nicht
mehr erinnert werden:
"Das ist ja das Komische. Ich habe das ganze Leben darunter gelitten, aber konkrete Er-
innerungen außer in der Schule habe ich kaum. Aber zum Beispiel bin ich einmal von ei-
nem Motorrad überfahren worden. Und der Motorradfahrer, der ist auch gestürzt. Der hat
dann angefangen mich anzupöbeln. Der hat gesagt: Du dreckiger Jude, paß doch auf, wo
Du hingehst!" (G. Stent, Gespräch 1989)
Die jüdischen Kinder mußten sehr schnell erfahren, daß die Agitationen der
Nazis handfeste und schmerzliche Auswirkungen auch für sie persönlich
hatte, denn die soziale Ausgrenzung aus dem Kreis der nichtjüdischen Kinder
war nicht aufzuhalten:
"Ich mußte das Lyzeum 1936 verlassen, wurde zuvor schon vom Sport ausgeschlossen
und von den Vorbereitungen für die Eröffnungsfeier für die Olympischen Spiele 1936 .....
"Ich konnte nicht mehr länger das Hohenzollern-Lyzeum besuchen."
"Ab 1937/38 mieden mich die anderen Kinder. Ich fühlte mich total isoliert und ausgesto-
ßen."
"Einige Freundinnen wollten nicht mehr mit mir spielen, obwohl wir im selben Haus
wohnten."
"In der Grundschule mußte ich Nazi-Filme mitansehen, z.B. ,Jud Sueß' und wurde von
der Schule geworfen .....
"Ich wurde als 7jährige in der öffentlichen Schule angespuckt."
"Schikanen während des Unterrichts und Belästigungen etc. auf dem Schulweg .....
"Ich durfe nach 1936 nicht mehr meine staatliche Schule in der Sybelstraße besuchen."

205
Die Erfahrung der sozialen Ausgrenzung durch nichtjüdische Kinder und das
Verlassen- müssen öffentlicher Schulen ist neben den "Stürmer-Kästen" und
,,Juden-verboten"-Schildern die am häufigsten wiedergegebene Erinnerung.
Damit wird deutlich, daß auch diese Form der Stigmatisierung und Ausgren-
zung von den Kindern besonders schmerzlich erfahren worden ist. 147 Aller-
dings muß bezweifelt werden, daß die Mehrheit der PriWaKi-Schüler zwangs-
weise von den Schulen verwiesen worden ist. Die Gesetzeslage war vielmehr
bis 1939 die, daß der Staat für die schulpflichtigen Kinder den Unterricht an
öffentlichen Schulen garantierte. Die "legale" Verdrängung erfolgte lediglich
von den Gymnasien und anderen höheren Schulen, wobei jedoch die Quoten
auch dort oft keine zwangsweise Relegierung bewirkten, da es viele Aus-
nahmefälle gab, wie zum Beispiel die Kinder aus gemischten Familien und
die Kinder von Frontkämpfern. l48 Bei der Mehrzahl der PriWaKi-SchülerIn-
nen dürfte das Verlassen einer nichtjüdischen Schule nicht auf einem gesetz-
lichen Zwang beruht haben, sondern verursacht worden sein durch die Schi-
kanen von Seiten der Mitschüler und zum Teil auch der Lehrer. Dabei schreck-

147 Die ganze Schwere und das ganze Ausmaß der Erniedrigung und Verzweiflung die-
ser Ausgrenzung von Schulkindern kommt in den Fragebogen-Antworten nicht rich-
tig zum Ausdruck. Deshalb sei ergänzend die Schilderung einer Mutter aus Dort-
mund wiedergegeben: "Ich war verzweifelt, als eines Tages das jüngere meiner bei-
den Kinder weinend aus der Schule nach Hause kam. Sie war weggeschickt worden,
während die anderen zu irgendeinem Kindertheater oder einer anderen Belustigung
geführt wurden. Meine kleine Tochter weinte, nicht, weil sie das Theaterstück nicht
sehen konnte - sie wußte ja, daß ihre Mutter jederzeit bereit war, mit ihr ins Theater
zu gehen -, sie weinte, weil sie aus der Gruppe ausgeschloßen war. Dieses Ausge-
schloßensein machte das Erlebnis so hart und bitter für sie. ( ... ) Fast jede Unter-
richtsstunde wurde für die Kinder zu einer Quälerei. Es gab eigentlich kein Thema
mehr, bei dem der Lehrer nicht über die ,Judenfrage' gesprochen hätte. Die jüdi-
schen Kinder mußten mit anhören, wie die Lehrer alle Juden ausnahmslos als Ver-
brecher bezeichneten und als zersetzende Kraft in allen Ländern, in denen sie lebten.
Während solcher Reden durften meine Kinder das Klassenzimmer nicht verlassen,
sie wurden gezwungen, dabeizusitzen und zuzuhören, und sie mußten fühlen und er-
leben, wie die anderen Kinder sie als Musterexemplare einer verachteten Rasse an-
starrten. An jedem Schultag waren meine Kinder beleidigenden und bedrückenden
Erlebnissen ausgesetzt." (Marta Appel, zit. in Richarz 1989, S. 438f) Das Demüti-
gende solcher Situationen wird auch auf einem Foto sichtbar, das in einem Bildband
von Ginzel (1984, S. 83) veröffentlicht ist. Es zeigt zwei Schüler, die vor der Klasse
wie am Pranger neben der Wandtafel stehen, auf der in großer Sütterlin-Schrift ge-
schrieben steht: "Der Jude ist unser größter Feind! Hütet euch vor den Juden!"
148 Schon bei der Anwendung des "Arier-Paragraphen" 1933 auf beamtete Richter,
praktizierende Rechtsanwälte und Ärzte mit Krankenkassenzulassung hatte sich ge-
zeigt, daß die Zahl der Ausnahmen sehr hoch war. So konnten zunächst 47% aller
"nichtarischen" Richter im Dienst bleiben, fast 70% der Rechtsanwälte und fast 75%
der Krankenkassen-Ärzte behielten ihre Zulassung. (Vgl. Rürup in Paucker 1986, S.
101, Anm. 18) Die für die PriWaKi-Familien ermittelten Sozialdaten lassen den
Schluß zu, daß vermutlich mindestens die Hälfte der SchülerInnen von der Quotie-
rung ausgenommen war.

206
ten insbesondere die Mitschüler nicht vor physischer Gewaltanwendung zu-
rück; wie der frühere Schüler Hans Margoninski schreibt:
"Wenn wir auf der Straße waren, wurden mein Bruder und ich oft angerempelt von frühe-
ren christlichen Klassenkameraden ... (Pb 1989)
"Zuvor war ich in der Privaten Waldschule von Frau von Waldheim, und da war ich
der einzige jüdische Schüler und hab' dann eben die ganzen Schikanen mitgemacht. Täg-
lich wurde ich dann, nachdem die Hitlergeschichte anfing, von meinen früheren Freunden
auf der Straße geschlagen, bis mich meine Eltern erst ins Landschulheim Caputh ge-
schickt haben und dann, weil das zu weit weg war, in die Kaliski-Schule." (S. Weinber-
ger, Gespräch 1989)
Werner Stein wurde nach Beendigung der Grundschule Ostern 1935 auf das
Goethe-Gymnasium in Berlin geschickt,
"wo ich ja durchaus hingehen durfte, denn mein Vater war ja Frontkämpfer mit EK I, aber
meine Schulkameraden haben uns - ich glaube, wir waren sechs jüdische Jungen - jeden
Tag verhauen. Wir mußten jeden Tag nach Hause rennen. Deshalb haben mich meine El-
tern nach vier Wochen von der Schule genommen ..... (W.Stein, Gespäch 1989)

Viele Jungen berichten von solchen physischen Attacken durch Mitschüler,


wobei die Prügeleien sie aber weniger belastet zu haben scheinen als die damit
verbundene soziale Ausgrenzung und das Verstoßenwerden durch die Schul-
kameraden. Bei den Mädchen gab es solche physischen Übergriffe kaum, doch
war die Ausgrenzung durch Beschimpfungen oder durch das Zerbrechen von
Freundschaften mit nichtjüdischen Mitschülerinnen fast genauso schlimm.
Von physischen Angriffen der Lehrer auf jüdische Kinder ist uns nichts
berichtet worden. Die Mehrzahl der Lehrer hat sich scheinbar neutral verhal-
ten, faktisch aber Partei gegen die jüdischen Kinder genommen, da sie ihnen
den Schutz und Beistand zumeist verweigerten, wenn sie von den Mitschüle-
rinnen und Mitschülern beschimpft, ausgegrenzt oder gar verprügelt wurden.
Ein Teil der Lehrer sowohl auf den Volksschulen als auch auf den Gymnasi-
en hat sich jedoch auch offen antisemitisch gegenüber späteren PriWaKi-
SchülerInnen verhalten, wie aus nachfolgenden Antworten hervorgeht:
"Es gab einige fanatische Nazi-Lehrer an meiner Volksschule."
"Als ich einmal eine Aussage eines Lehrers in der Volksschule kritisiert hatte, wurde
ihm dies zugetragen, und ich wurde vor der ganzen Klasse wegen ,Jüdischer Spitzfindig-
keit' gescholten."
"Ich wurde öffentlich von meinem Lehrer gedemütigt, bevor ich von der staatlichen
Schule entlassen wurde."
,,Am Kaiser-Friedrich-Realgymnasium gab es mehrere Lehrer in SA-Uniform, die
jüdische Schüler völlig ignorierten und ihnen dann die Note ,mangelhaft' gaben. Ich
mußte das Gymnasium auf Anraten des Direktors mit dem ,Einjährigen' 1936 verlassen
und vieles, vieles mehr .....

Doch war die Ablehnung und Ausgrenzung nicht in allen Fällen total, son-
dern es gab insbesondere in der Zeit bis 1936 durchaus auch gelegentliche
Unterstützung für jüdische Kinder, die den Schock der Ausgrenzung etwas
lindern konnte und als besondere, weil positive Erfahrung in den Interviews
und Fragebögen immer angegeben worden ist:

207
"Ich erfuhr Antisemitismus in der Volksschule Delbrückstraße von einigen Mitschülern,
aber nachdem sich meine Mutter deswegen beim Rektor beschwert hatte, wurden diese
Schüler bestraft."
"Ich wurde aus der Schule geworfen und besuchte dann eine Schule des katholischen
Ursulinen-Ordens, wo man extra eine Zionistin für uns einstellte, die uns jüdische Religi-
onslehre vermitteln sollte."
Insbesondere bei den Mädchen scheint der Antisemitismus nicht immer so
stark ausgeprägt gewesen zu sein. Dies galt auch für einige Lehrerinnen.
"Ich war am Bismarck-Lyzeum, was natürlich nicht typisch war: Wir waren in unserer
Klasse 20 jüdische Mädchen, 16 Protestantinnen und 2 Katholikinnen. Ich erinnere mich
ganz genau. Auf die Lehrer hat das sicher gewirkt. Ich erinnere mich nicht an antisemiti-
sche Äußerungen, wohl an sehr viele ultrarechte Bemerkungen: Deutschland soll wieder
Kolonialmacht werden .. .Ich erinnere mich bis 1933 an keine antisemitische Bemerkung.
Da war ein einziger Lehrer, der hat mal gesagt: Die Chemie ist eine jüdische Wissen-
schaft. Sie kennen das ja: CO-HN. Das war das einzige, woran ich mich erinnere. Hitler
wurde am 30. Januar 1933 Kanzler, und im April wurde mein Vater entlassen. Ich erinne-
re mich ganz genau an den Reichtagsbrand. Bis zu den großen Ferien war ich dann noch
auf diesem Lyzeum, denn der Direktor war absolut korrekt. Ich erinnere mich noch ganz
genau,da gab es irgendeinen Feiertag, da kamen die Nazi-Mädchen mit braunen Joppen,
wir jüdischen Mädchen kauften alle blaue Jacken und die Katholikinnen graue - glaube
ich. Und unter uns jüdischen Mädchen fingen die ersten leisen Diskussionen an. Es gab
da ein Mädchen, dessen Eltern sofort nach Amerika gingen. Ich gehörte auch zu den er-
sten (Sommer 1933 nach Belgien), und der Direktor sagte noch: Das ist aber schade!
Warum wollen Sie uns verlassen? Ich habe an dieser Schule von Antisemitismus über-
haupt nichts gespürt. Ich habe es in der allgemeinen Atmosphäre gespürt." (L. Ithai, Ge-
spräch 1990)
Der Schüler Jochanan Margoninski ging von der Volksschule direkt auf die
Kaliski-Schule. Seine Erfahrungen an der Volksschule waren
"ausgezeichnet! Wir hatten einen Klassenlehrer, Herrn Tietz, der war ein Preuße im be-
sten Sinne des Wortes. Als ich zum Beispiel die vier Jahre Volksschulzeit beendet hatte
und abging (Ostern 1936), machte meine Mutter einen Abschiedsbesuch bei ihm, und da
sagte er zu ihr: Ich hoffe, daß wir zusammen noch viele glückliche Jahre in unserem ge-
meinsamen Vaterland verbringen werden. Das war 1936! Natürlich war so etwas selten.
Mein Bruder zum Beispiel, der war am Herder-Gymnasium, der wurde schon angepöbelt,
zwar mehr von seinen Klassenkameraden als von seinen Lehrern, aber er hatte auch ein
paar Lehrer, die waren schon Nazis." ( Margoninski, Gespräch 1990)

Viele von diesen positiven Erfahrungen beziehen sich vor allem auf die An-
fangsjahre. Nach 1936 scheint sich die Situation insgesamt und auch atmo-
sphärisch für jüdische Kinder verschlechtert zu haben. Das Verprügeltwerden
durch Mitschüler, vor allem aber die soziale Ausgrenzung, war für die Pri-
WaKi-Schüler eine bittere soziale und emotionale Erfahrung. Hinzu kamen
aber auch die Auswirkungen des Terrors gegen die Eltern, Verwandten sowie
Freunde und Bekannten der Familie, die die Schüler sehr wohl registrierten,
selbst wenn die Eltern sich bemühten, die Kinder, vor allem wenn sie jünger
waren, davor abzuschirmen. Doch auch diese Formen der Gewalt haben sich
tief in die Erinnerungen der Kinder eingegraben; vor allem aber die Ereignis-
se des Novemberpogroms 1938:

208
"Wie hätte ich es vermeiden können, die wachsende Unterdrückung durch die antijüdi-
sche Politik und Aktionen zu bemerken und zu fühlen, ganz besonders diejenigen, die von
einem Kind von 7 bis 12 Jahren wahrgenommen werden? Es gab einige besonders dra-
matische Ereignisse, die tief in mein Gedächtnis gedrungen sind: der Geschäftsboykott
von 1933, die Inhaftierung meines Vaters 1938, die Ereignisse der Kristallnacht ... "
"Die Kristallnacht entging nicht unserer Aufmerksamkeit ... "
"Vater verlor seine Stellung. Mein Bruder wurde inhaftiert! Die Kristallnacht! Rab-
biner Prinz wurde in der Synagoge während einer Predigt verhaftet."
"Mein Vater wurde zum erstenmal am 1. April 1933 verhaftet, war danach eine Wo-
che im Gefangnis (1934) und nochmals zwei Wochen zu Rosh Hashana [jüd. Neujahr-
W.F.] 1935, mit nachfolgender Verhandlung vor dem Sondergericht im Juni 1936."
"Ich war Zeuge des Boykotts von jüdischen Geschäften am 1. April 1933 und auch
Zeuge der Kristallnacht-Ereignisse."
"Mein Vater kam 1938 ins Konzentrationslager. Ich erinnere mich noch an den
Rauch nach der Kristallnacht."
"Verhaftungen, Konzentrationslager, Kristallnacht."
"Als Folge der Nürnberger Gesetze und anderer Maßnahmen verlor mein Vater seine
Praxis. Die Kulmination des Terrors war die Kristallnacht, die schlimmste Erfahrung mei-
nes Lebens."
"Die Unmöglichkeit, das Familiengeschäft weiterzuführen. Meine Großeltern begin-
gen deshalb Selbstmord."
Diese Antworten ließen sich fortsetzen. (Vgl. Fölling 1993, S. 313 f.) Bei den
meisten Kindern kam es zu einer tiefgreifenden Verwirrung und Identitäts-
krise, denn sie mußten bei der Frage nach Gründen oder Ursachen für die
Verfolgungen ratlos bleiben. Wie die nachfolgenden Antworten zeigen, galt
dies besonders stark für Kinder aus gemischten Familien, wenn sie - wie es
überwiegend der Fall war - nicht jüdisch erzogen waren, sowie für Kinder
aus sehr assimilierten jüdischen Familien. Auch in den bewußt deutsch-
jüdisch eingestellten Familien ehemaliger Frontsoldaten kam es zu größten Irri-
tationen über die Ausgrenzung aus der nichtjüdischen Gesellschaft und über die
physischen und psychischen Mißhandlungen ihrer Kinder. Schon das Selbst-
verständnis der Eltern wurde erschüttert, doch bei den Kindern war das Unver-
ständnis darüber, was mit ihnen passierte, häufig total, und viele von ihnen
wagten nicht einmal, bei ihren Eltern um Aufklärung nachzusuchen, weil sie
deren Desorientierung ebenfalls deutlich spürten. Dieses Unverständnis über
die erfahrene Diskriminierung wird in folgenden Antworten deutlich:
"Am Anfang, in der Frau-von-Waldheim-Schule, da wußte ich überhaupt nicht, was das
eigentlich bedeutete, daß ich Jude war, bis dieser Unsinn anfing, denn meine ganzen
Freunde waren Nichtjuden, also mit denen ich als Kind spielte. Alle nicht Juden! Die er-
sten jüdischen Freunde, die hatte ich dann im Landschulheim Caputh und in der Kaliski-
Schule." "Anstatt ein Pferd war ich jetzt ein Zebra." (Weinberger, Gespräch 1989)
"Also meine beste Freundin hat gesagt: Du kannst nicht mehr meine Freundin sein,
du bist Jüdin. Ich sah nicht ein wieso. Ich möchte diese Erfahrung keinem wünschen."
(Schlochauer-Nelson, Gespräch 1989)
Kinder aus gemischten Familien waren noch fassungsloser über die plötzli-
che Ausgrenzung. Der Schüler Dimitri Hirschberg, der "nullkommanichts"
an jüdischer Erziehung erhalten hatte, wurde von den Aggressionen seiner
Mitschüler völlig überrascht:

209
"Das erste Mal, als ich feststellte, daß ich jüdisch war oder daß es so was überhaupt gab,
da war ich ungefahr 8 oder 9 Jahre alt. Da war ich in der 3. Klasse in der Schule in Berlin,
und auf einmal gab es ein großes Geschrei: Jude raus! Jude raus! Jude raus! Ich wußte gar
nicht, daß ich damit gemeint war. Das passierte eines Tages, als wir Religionsunterricht
hatten, evangelisch wahrscheinlich, ich weiß nicht. Ich saß da mit drin. Ich habe da immer
mit drin gesessen, mit allen anderen zusammen. Es gab keinen Grund für mich, nicht da-
bei zu sein. Wie gesagt, es fing mit Geschrei an, und dann hat mich der Lehrer genommen
und mich rausgeführt, und wie ich mich erkundigt hab, was los wäre, hat er gesagt, dar-
über solle ich doch mal mit meinen Eltern sprechen. Und das war eigentlich so das erste
Mal, daß ich festgestellt habe, daß ich jüdisch war und was das bedeutete ... "
Vielfach getrauten sich die Kinder gar nicht, ihre Probleme mit den Eltern zu
besprechen:
"An die Stürmerkästen erinnere ich mich. Auf dem Weg nach Hause von der Schule. Sie
waren an jeder Straßenecke. Überhaupt da, wo eine Straßenbahnhaltestelle war oder ähn-
liches. Ich hab mir die immer angeguckt und mich sehr gewundert und gedacht: Kann das
wirklich sein? Ist das möglich? Da ich so wenig über das Judentum wußte, war ich mir
nicht vollkommen klar darüber. Deshalb wollte ich zu Hause auch nicht fragen, denn ich
hatte das Gefühl, das gehört sich nicht, und ich weiß noch, ich habe ihn immer angestarrt,
den Stürmerkasten."
"Ich habe mir oft den ,Stürmer' angeschaut und war ganz verwirrt, denn das was sie
über Juden schrieben, traf offensichtlich nicht auf mich und meine Familie zu."
Ein aus einer gemischten Familie (jüdische Mutter, nichtjüdischer Vater)
stammender Schüler beklagt heute:
"Die (Eltern) haben das irgendwie abgelehnt, über jüdische Sachen und so (zu reden), das
war ihnen nicht ,vornehm' genug. Ich hätte es lieber gehabt, ich hätte mehr über das Ju-
dentum gewußt, so daß ich wenigstens gewußt hätte, wo ich reinschlittere. Da sagt man
auf einmal zu mir: Du bist Halbjude! Du kriegst keine bessere Stelle."
Der ebenfalls aus einer gemischten Familie (Vater jüdisch, Mutter nichtjü-
disch) stammende Helmut Schwersenz schildert seine Gefühle so:
"Als kleiner Junge war ich mir überhaupt nicht bewußt, daß ich politisch oder rassisch
etwas Besonderes sein sollte; bis 1935 nicht! Dann habe ich die Aufnahmeprüfung für das
Goethe-Gymnasium bestanden. In dieser Zeit auf dem Goethe-Gymnasium, von 1935-
1937, entstand allmählich bei den (nichtjüdischen) Schülern eine Art Verfolgungswahn.
Bis 1935 hatte ich an der Volksschule eigentlich keine Schwierigkeiten. Deshalb war mir
auch überhaupt nicht bewußt bis dahin, irgendetwas anderes zu sein als meine Mitschüler,
bis mir dieser Eindruck aufgedrängt wurde. In dem Familienkreis meiner Mutter war ich
das einzige Kind, so daß ich dort immer in Erwachsenenkreisen verkehrte und so nie Un-
terschiede zu anderen Kindern verspürte. In den öffentlichen Schulen wurde ich auch
schon vor 1933 als ,jüdisch' registriert, natürlich hätte ich auch protestantisch werden
können. Aber bis in die Hitlerzeit hinein habe ich das nie als etwas Andersartiges regi-
striert, bis dann eine zwangsweise (enforced) Segregation stattfand. Ich bin aber eigent-
lich auch nie von der jüdischen Seite voll aufgenommen worden."
Aber auch die Verfolgung der Eltern durch berufliche Einschränkungen und
vor allem Verhaftungen verunsicherte die Kinder tief, denn sie konnten sich
oft nicht erklären, warum man ihren Eltern das antat:

210
"Wie kann man einem Mann, der dreimal verwundet war, der alles getan hat für sein Va-
terland, so behandeln? Wie ich schon sagte, er war schon um '35 im KZ und in der Zeit
hat mich meine Mutter mit meiner Schwester nach Rumänien geschickt zu Bekannten,
damit wir das nicht täglich miterleben mußten, denn zu uns kam jeden Tag jemand, der
eine Nachricht brachte oder sonst etwas. Meine Mutter wollte eben nicht, daß wir das
mitmachen mußten, und da waren wir (Kinder) vier Monate in Rumänien. Das war 1935
( ... ) Natürlich war das kein schönes Gefühl, weil uns früher immer gesagt worden war,
was es bedeutet, wenn jemand im Gefängnis ist, und wir wußten nicht den Unterschied.
Für mich war ein KZ ein Gefängnis: ,Warum ist mein Vater im Gefängnis?' Das ist sehr
schmerzhaft für ein Kind.( ... ) Später kannte man den Unterschied, aber damals nicht! Auf
jeden Fall war ich nicht informiert genug, um das zu verstehen. Für mich war mein Vater
plötzlich ein Verbrecher, und er war doch für mich bis dahin immer ein großer Mann ge-
wesen!" (S. Weinberger, Gespräch 1989)

Für die Zeit vor der "Kristallnacht" ist in zwei Fällen von physischen Verlet-
zungen berichtet worden, die jedoch eine ganz unterschiedliche Erinnerung
hinterlassen haben. Der damals etwa 7jährige Dimitri Hirschberg erinnert sich,
wie sein Vater, ein engagierter Sozialdemokrat, schon vor der Machtergrei-
fung von einer Gruppe Nationalsozialisten (vermutlich SA) zusammenge-
schlagen wurde:
"Da stand mein Vater an einem Sonntagmorgen mit jemand an der Straßenecke, wo sie
auf einen Bus gewartet haben. Da war eine Parade mit Nazis und da kam jemand zu mei-
nem Vater und sagte: ,Machen Sie das (SPD-Abzeichen) weg!' Und bei meinem Vater
hatten sie natürlich den Falschen angesprochen. Er sagte: ,Nein, das tue ich nicht!' Und
da hat ihm einer mit dem Schlagstock auf den Kopf gehauen. Er wurde dann in ein Hospi-
tal gebracht und verbunden." (Hirschberg 1989)

Der einzige Schüler der PriWaKi, der angegeben hat, bis 1939 selbst miß-
handelt worden zu sein, war der damals (1938) 17jährige Rolf Kneller. Auf
unsere Bitte hin, den Vorfall etwas genauer zu beschreiben und die Gründe für
seine Verhaftung und Mißhandlung zu nennen, schreibt er:
,,Bezüglich meiner Verhaftung als 17jähriger Junge bin ich nur bereit, folgendes zu sagen:
Ich wurde auf dem Kurfürstendarnm Ecke Wielandstraße von zwei Gestapo-Beamten verhaf-
tet. Als ich fragte ,Warum', sagten sie:'Du bist doch Jude, nicht wahr?' Als ich das bejahte,
erwiderten sie: ,Ist das nicht Grund genug?' Es war ja Grund genug, denn Juden waren
Freiwild. Die Verhaftung und was man mir antat, erzeugten ein Trauma, welches mich bis
heute nicht verlassen hat. Ich bin nicht bereit, Einzelheiten aufzuflihren! Es sei nur gesagt,
daß jede Minute bis heute in mir lebt, als wäre es gestern gewesen, daß ich bis heute davon
träume und oft nachts im Traum schreie etc." (Rolf M. Kneller, Brief vom 7.8.1990)

Auch der Schüler Dimitri Hirschberg bekam bald eine Ahnung von der Bru-
talität des Nazi-Regimes, als der Bruder seines Vaters, ebenfalls ein aktiver
SPD-Mann und höherer Richter, von den Nationalsozialisten 1934 verhaftet
wurde, nachdem die Gestapo während seiner Abwesenheit in seine Wohnung
eingedrungen war und vermutlich belastendes Material versteckt hatte, das
bei der Verhaftung gefunden wurde. Obwohl die Familie Hirschberg die
Auswanderung immer wieder hinausschob, um den Bruder aus dem Kon-
zentrationslager zu retten, gelang dies nicht mehr. Er starb noch in den drei-
ßiger Jahren im KZ. Jetzt war der Widerstand gegen die Naziherrschaft kein

211
öffentlich anerkanntes politisches Heldentum mehr, sondern die Angst vor
der Brutalität der Gestapo und des KZ bestimmte das Klima für die Familie
Hirschberg mit. Dies entging auch dem damals 1O-12jährigen Dimitri nicht:
"Wir hatten oft das Gefühl, daß wir persönlich überwacht würden, daß uns irgendjemand
beobachtete und folgte usw ... Und ich weiß, daß ich, als wir in Dahlem waren, daß ich
sehr oft aus der Untergrundbahn erst ausgestiegen bin, wenn sie sich wieder in Bewegung
setzte, um sicher zu sein, daß einem niemand folgt. Denn wenn noch jemand rausspringt,
dann ist es ziemlich klar, daß einem jemand folgt. Ich glaube, mein Vater hat mir gesagt,
daß ich das ab und zu mal machen soll, um zu sehen,ob mir jemand folgt. Oh ja, es gab
das Gefühl der Gefahr... Am Telefon sprach man immer nur so in Halbsilben, aber wenn
irgendetwas wichtig war, dann besprach man es nicht am Telefon, denn man hatte Angst,
daß Leute zuhörten, wenn man jüdisch war! Und ich weiß, daß der Anwalt meines Onkels
meine Mutter anrief, er müsse unbedingt noch mit ihr sprechen, und sie sollten sich tref-
fen, und am besten wäre es auf der Straße, da könne man sich ungestört unterhalten. Wir
trafen uns auf dem Alexanderplatz um 10 Uhr abends, da haben sich die Mutter und der
Anwalt unterhalten, und ich bin zwei Schritte hinterher gegangen die ganze Zeit. Und
dann sind wir wieder zurückgefahren. Ja, man hatte das Gefühl, man wurde verfolgt und
paßte auf, und man guckte sich um, ob man noch dieselbe Person sah. Und wenn man
Leute in Uniform kommen sah, ging man um die andere Ecke ... !" (Hirschberg, Gespräch
1989)149

Die Gebrüder Hirschberg mußten als SPD-Mitglieder ihr politisches Weltbild


nicht grundsätzlich ändern, sondern sahen sich höchstens in ihren Befürch-
tungen über die Gewalt des Nationalsozialismus durch die Realität auch
schon in den dreißiger Jahren übertroffen, denn sonst wären sie sicher schon
1933 geflüchtet. Doch für die deutsch-national eingestellten Juden war es un-
faßbar, daß gerade aus ihren Reihen prominente Persönlichkeiten verhaftet
wurden. Werner Stein berichtet von der Verwirrung und der Identitätskrise
seines Vaters, die sich psychologisch auf die ganze Familie ausweitete:
"Ich weiß noch, wie meine Mutter immer sagte: Geh in dein Zimmer, Vater ist wieder
aufgeregt. Das war täglich! Ich weiß nicht mehr genau, ob das geschäftliche Anlässe wa-
ren oder politische. Ich nehme an, mehr politisch wie geschäftlich. Aber der Zusam-

149 Die Angst vor der Bespitzelung und Beobachtung war durchaus nicht eingebildet;
man nannte sie "Hitleritis": "Der Bespitzelung und dem Denunziantentum waren Tür
und Tor geöffnet. Sie wurden zu einem Kennzeichen des Systems. Der Staat war all-
gegenwärtig. Keine Sitzung eines jüdischen Gremiums, kein Synagogengottesdienst,
keine Veranstaltung, ohne daß erkennbar Beamte der Geheimen Staatpolizei anwe-
send waren. Außerdem wurden alle größeren Treffen zusätzlich observiert." (Ginzel
1984, S. 91) Auch das Verhältnis von Juden und Nicht-Juden wurde dadurch immer
problematischer: "Nicht nur staatliche Organe und Partei stellen halfen bei der Über-
wachung jüdischer Menschen. Tausende von Privatleuten, ausgerüstet mit Notiz-
block und Fotoapparat, machten Jagd auf Juden. Partei- und Polizei büros wurden mit
Anzeigen überschwemmt. Wer sich wann wo aufhielt, wen er traf; es wurde alles
registriert und denunziert. Jeder Händedruck zwischen einem Juden und einem
Nicht-Juden, jedes freundliche Wort wurde protokolliert. So konnten relativ wenige
Judenhasser an einem Ort die Isolation der jüdischen Nachbarn erzwingen."
(Ebenda, S. 94) Lediglich die Großstädte boten wegen der größeren Unkontrollier-
barkeit mehr Bewegungsfreiheit.

212
menhang von politisch und geschäftlich war ja sehr stark, denn er konnte ja verschiedene
Aufträge nicht kriegen, weil er Jude war.( ... ) So war politisch und geschäftlich alles in ei-
nem Zusammenhang, denn der Geschäftsaufbau fing 1922 an und hörte 1932 sozusagen
auf.( ... ) Im allgemeinen war er immer aufgeregt, und natürlich, wir Kinder wußten ja ge-
nau,(was los war), überall waren ja die Schilder: Juden verboten! Ich konnte nicht ins Ki-
no gehen, ich konnte keinen Fußballplatz betreten, wir konnten ja nirgends hingehen.
Deshalb war die Kaliski-Schule der richtige Platz für uns; die haben uns doch Mittagessen
gegeben, und nachmittags haben wir Sport gehabt..."
"Ich weiß noch ganz genau, daß im Sommer 1938, wo wir nicht mehr in Ferien ge-
hen konnten, mein Vater für mich und meine Schwester ein Boot gekauft hat, das wir in
Pichelsberg am Wannsee hatten. Da haben sie verlangt, daß mein Vater die Sache unter-
schreibt, was er ja nicht konnte. Er mußte ja den Namen ,Israel' mit hineinschreiben. lso
Ich weiß noch ganz genau, jedes Wochenende haben sie mich bedrängt, ich soll doch die
Unterschrift besorgen. Aber geldlich haben sie natürlich alles sofort bezahlt gekriegt. Und
so war das.( ... ) Ich bin manchmal ins Kino gegangen, da hat mein Vater mich nach jwd
Ganz ~eit draußen) gefahren, damit ich nur ja nicht als jüdischer Junge erkannt werde.( ... )
Nach 1938, nach dem Novemberpogrom, hat man das nicht mehr gewagt." (Werner Stein,
Gespräch 1989)
Wie aus den schon zitierten Fragebogen-Antworten hervorgeht, haben fast
alle ehemaligen Schülerinnen und Schüler der PriWaKi, die im November
1938 noch in Deutschland wohnten, den Novemberpogrom als besonders
schockierendes Ereignis in der Kette nationalsozialistischer Verfolgungsmaß-
nahmen angegeben. Dazu bedarf es eigentlich keiner besonderen Erklärun-
gen, denn die Bilder brennender und zerstörter Synagogen mußten sich je-
dem jüdischen Kind einprägen. Das nationalsozialistische Regime eröffnete
mit dem Novemberpogrom die kollektiv ausgerichtete physische Gewalt ge-
gen jüdischen Besitz und nun auch gegen Leib und Leben jüdischer Männer.
Waren Mißhandlungen bisher Einzelfälle gewesen oder im Rahmen von Ein-
zelaktionen geschehen, und konnten die meisten Eltern denken, sie seien so-
zial oder politisch zu unauffällig, um als Opfer von Verhaftungen oder gar
Mißhandlungen in Betracht zu kommen, so zeigte der Nationalsozialismus
jetzt, daß er jüdische Männer unterschiedslos internieren, mißhandeln oder
auch umbringen konnte. 151 Das war ein Schock, der nicht mehr vor den Kin-

150 Hier irrt sich Werner Stein im Zeitpunkt. Die Namenszusätze "Sara" und "Israel"
wurden erst ab dem 1.1.1939 verlangt.
151 Vor dem Hintergrund der späteren Schikanen, Deportationen und Massenmorde in
den Ghettos und Vernichtungslagern des Ostens werden die Gewalttaten beim und
nach dem Novemberpogrom leicht unterschätzt. Es wurden mehr als 1000 Synago-
gen abgebrannt oder in anderer Weise zerstört, darüber hinaus 7500 jüdische Ge-
schäfte sowie tausende von Privatwohnungen. Zwar konnten sich insbesondere in
Berlin noch viele Männer rechtzeitig verstecken, doch wurden im Reichsgebiet fast
30 000 jüdische Männer verhaftet und in den Konzentrationslagern Dachau, Bu-
chenwald und Sachsenhausen/Oranienburg inhaftiert. Schon durch die Mißhandlun-
gen in der Nacht vom 9.110. November wurden 91 jüdische Menschen getötet und
mindestens 300 begingen Selbstmord. Andere wurden schwer mißhandelt. Zu Miß-
handlungen kam es auch während der Überführungen in die Konzentrationslager,
und in den Lagern selbst waren die Demütigungen, Mißhandlungen und Haftbedin-
gungen dermaßen schrecklich, daß mindestens 800 Männer die Lagerhaft nicht

213
dern verborgen werden konnte - schon gar nicht vor den älteren -, und der
durch eine Reihe von unmittelbar folgenden allgemeinen Verfügungen gegen
Besitz und Bewegungsfreiheit der Juden noch verstärkt wurde. Nun hieß es:
Flucht! Aus dem bisherigen gesellschaftlichen und kulturellen Ghetto hatten
die deutschen Juden durch vielerlei Anstrengungen insbesondere für die jün-
geren Kinder eine Lebenswelt mit teilweise angenehmen Nischen der Gebor-
genheit machen können. Damit war es jetzt vorbei. Auch die Kinder begrif-
fen: Jetzt war ihre jüdische Gemeinschaft von einem Pogrom fast wie im
Mittelalter heimgesucht worden - und das im ordnungsliebenden Deutsch-
land! Diesen Atavismus hatte kaum jemand für möglich gehalten.
Den meisten PriWaKi-SchülerInnen gelang in den nächsten Monaten die
Flucht. Doch das, was sie in dieser kurzen Zeit an Gewalt erleben mußten,
war mehr und brutaler als alle Verfolgung in den knapp sechs Jahren davor.
So darf es nicht verwundern, daß auch die Erinnerung diese wenigen Monate
vom 9./10. Nov. 1938 bis zur Flucht 1939 in den Vordergrund treten läßt.
Nur bei denen, die über 1939 hinaus unter der nationalsozialistischen Gewalt-
herrschaft leben mußten, relativieren sich die Schrecken des Novemberpo-
groms durch die noch schlimmeren Erfahrungen danach.
Gleichwohl gab es bei manchen Kindern (und späteren Erwachsenen) die
Fähigkeit, den Naziterror nur eingeschränkt oder fast nicht wahrzunehmen
oder zu erinnern, insbesondere, wenn sie Deutschland vor dem Novemberpo-
grom verlassen hatten.
Entweder wurden diese Kinder von ihren Eltern so stark behütet und ge-
gen die Außenwelt abgeschirmt, daß sie tatsächlich nichts oder kaum etwas
bemerkten, oder sie haben das, was sie gesehen haben, erfolgreich aus ihren
Erinnerungen verdrängt. Weitere Vorteile hatten auch Kinder mit unauffälli-
gem Aussehen, da sie nicht befürchten mußten, auf den Straßen oder in den
öffentlichen Verkehrsmitteln angepöbelt zu werden. Zusammen mit einer gut
abgestimmten Tages - und Wochenendplannung sowie einem Ganztagsauf-
enthalt in der PriWaKi konnte es dann den Eltern gelingen, den nationalso-
zialistischen Terror für die Kinder weitgehend vergessen zu machen. Wie die
quantitative Auswertung des Fragebogens jedoch gezeigt hat, war dies nur
bei etwa einem Fünftel der Kinder der Fall. Diese ehemaligen Schüler haben
auf die Frage, was sie damals von dem Naziterror mitbekommen hätten, zu-
meist geantwortet: "Sehr wenig", "nicht viel"," Ich war nicht direkt betrof-
fen" etc.
Eine derartige Ignoranz der politischen Geschehnisse war aber die Aus-
nahme. Es fällt dabei auf, daß fast alle diejenigen, die angegeben haben, nichts
oder fast nichts vom nationalsozialistischen Terror mitbekommen zu haben,

überlebten, obwohl sie meistens nur einige Wochen oder Monate dauerte. Viele
Männer kamen physisch und psychisch gebrochen zu ihren Familien zurück. (Vgl.
M. Richarz 1982, S. 57; bes. die Erinnerungen von Hans Berger S. 323ff sowie von
Alfred Schwerin, S. 346ff; vgl. ebenso W. Benz 1988, S. 498-544. Die Zustände in
Sachsenhausen/Oranienburg, wohin die verhafteten Väter der PriWaKi-SchülerInnen
verschleppt wurden, werden geschildert in Benz 1988, S. 529-531.)

214
Frauen sind. Wie es scheint, haben die Eltern die Mädchen besonders behü-
tet.
In starkem Kontrast dazu haben besonders diejenigen Jungen viel vom
nationalsozialistischen Terror bis 1938 mitbekommen, die aus verschiedenen
Gründen von ihren Eltern nicht gegen die Außenwelt abgeschirmt worden
sind. Dabei handelte sich oft um Schüler, die von ihrem Aussehen her oder
auch aufgrund ihrer Abstammung (nichtjüdischer Vater) eine größere Bewe-
gungsfreiheit hatten, und die deshalb auch mehr von dem sehen konnten, was
auf den Straßen passierte. Schüler mit weiten Schulwegen oder solche, die
ihre Zeit außerhalb der Schule draußen zubrachten, mußten die meisten Er-
fahrungen verarbeiten, wie zum Beispiel Gunther Stent:
"Ich glaube, ich habe alles registriert, was es zu sehen gab und war überzeugt, daß die
Nazis keinen Spaß machten, wenn sie sagten, daß sie uns alle umbringen würden. Ich
hatte Angst, mißhandelt oder umgebracht zu werden, so lange ich mich erinnern kann.
Diese Angst verschwand erst vollständig 1945 mit dem Tag der Kapitulation (VE-day)."
Gunther Stent lebt schon seit 1939 in den USA, und dennoch blieb diese dif-
fuse Angst bis zum Kriegsende in ihm noch erhalten. Ergänzend führt er da-
zu im Gespräch aus:
"Ich war immer auf der Straße. Meine Mutter war schon lange krank, und niemand hat
sich viel um mich gekümmert. Und mein Leben spielte sich auf der Straße ab. Und da ist
die SA marschiert, die haben gesungen: ,Wenn das ludenblut vom Messer spritzt, dann
geht es nochmal so gut!' Da hatte ich wirklich keinen Grund anzunehmen, daß die das
nicht ernst gemeint haben. Ich hatte keine Protektion; ich war immer ganz allein. Und die
sahen auch alle wie Schlächter aus! Ich meine, die SA, das waren keine feinen Leute ...
Und auch Hitler... Seine Reden habe ich nur am Radio gehört. Es gab keinen Grund an-
zunehmen, daß der da wirklich Spaß gemacht hat. Trotzdem, mein Vater, der glaubte, das
sei alles nur Propaganda."
Aber auch bei Schülern, die angeblich nur wenig vom nationalsozialistischen
Terror mitbekommen haben, kann man bei gezielterem Nachfragen feststel-
len, daß das Gefühl einer latenten Bedrohung doch auch für sie bestanden
hat; es konnte unversehens in die Wahrnehmung einer akuten Bedrohung
umschlagen . Ein Beispiel dafür liefert die schon ältere Schülerin Mia Pick,
die in einer weitgehend assimilierten Künstlerfamilie mit vielen nichtjüdi-
schen Freunden lebte, und die 1936 bereits nach Palästina auswanderte. Auf
die Frage, was sie auf der Straße erlebt habe, antwortet sie spontan: "Persön-
lich nichts." Doch dann erinnert sie sich an folgende Szene:
"Natürlich habe ich die Aufmärsche gesehen. Das einzige Mal, woran ich mich erinnere,
daß ich gezittert habe, das war bei einem Zwischenfall mit meinem Hund. Ich habe einen
Hund gehabt, und meine Tante aus Breslau war bei uns zu Besuch. Wir sind spazieren ge-
gangen, und ich hatte diesen Hund mit. Und der konnte diese Stiefel von den Nazis nicht
ausstehen und ist auf einen losgegangen und hat ihm die Hosen zerrissen. Meine Tante
und ich waren völlig außer uns und haben dem Mann sofort Geld gegeben, nur damit er
nichts weiter unternehmen sollte. Das war das einzige Mal, daß ich persönlich etwas mit-
gemacht habe, wo ich Angst hatte."

215
Darüberhinaus erinnert sich Mia Pick jedoch auch an die Schließung des Ca-
fe-Theaters Leon am Kurfürstendamm, von der sie persönlich betroffen war,
da sie dort an Aufführungen beteiligt war.
Auch der durch seinen "arischen" Vater anfangs gut geschützte Gerd zu
Klampen berichtet von einer solch bedrohlichen Situation, in die er unverse-
hens geriet:
"Da habe ich mal in einer Kneipe eine Bemerkung gemacht, da wurde über die Juden ge-
sprochen. Da habe ich nur gesagt: Juden sind auch Menschen! Da war ein blinder Bank-
beamter dabei, der hat sofort gesagt: Paß bloß auf, ich laß dich abholen durch die
Gestapo! Da wußte man wirklich nicht, ob man nicht abgeholt wurde."
Diese Zwischenfälle zeigen, daß insbesondere die älteren Schüler auch unter
günstigen Bedingungen das Gefühl der Gefährdung nicht verdrängen konn-
ten. Gerade diejenigen, die kurz nach der "Machtergreifung" in ihre Jugend-
phase kamen, und die deshalb aus sozialpsychologischen Gründen auf eine
Akzeptanz der Gesellschaft besonders angewiesen waren, z.B. wegen der Be-
rufswahl, traf die Ausgrenzung auch besonders hart, da sie nicht mehr über
den Schutzschirm und die Kompensationsmöglichkeiten von jüngeren Schü-
lern verfügten. Eine ältere Schülerin ist bis heute so verbittert, daß sie sich
außerstande sah, eine ausführliche Antwort zu geben: "Man kann meine Trä-
nen nicht drucken."

Solidarität und Hilfe

Doch sind die Erfahrungen vieler Schüler keineswegs nur von der Verfol-
gung bestimmt worden, sondern es gibt auch zahlreiche Erinnerungen an Hil-
fe und Unterstützung auch von nichtjüdischen Bekannten und Freunden so-
wie Erinnerungen an Lebensbereiche und Aktivitäten, die von der national-
sozialistischen Verfolgung ausgenommen waren. Dies bezieht sich jedoch
weitgehend auf die Zeit vor dem Novemberpogrom 1938. Über Hilfen von
nichtjüdischen Bekannten und Freunden wird öfter berichtet, wobei auffällt,
daß dies überwiegend bei Kindern von sozial exponierteren Vätern der Fall
ist: So war der Vater von Werner Stein engagiert im Reichsbund jüdischer
Frontsoldaten, und er konnte auch noch bis unmittelbar nach dem Novem-
berpogrom 1938 auf Unterstützung von nichtjüdischen Freunden und ehe-
maligen Kriegskameraden bauen:
"Mein Vater war vielleicht ein dutzend Mal verhaftet, wegen seiner Involvierung in jüdi-
schen Angelegenheiten. Er ist nie über Nacht am Alexanderplatz geblieben. Er wußte nie,
wer es war, der ihn sofort rausgeholt hat. Er konnte sich nur vorstellen, daß es jemand
war, dem er im Ersten Weltkrieg einen Gefallen getan hat, vielleicht sein Leben gerettet
hat. Er hat nicht gewußt, wer es war, aber zum Beispiel in der Pogromnacht am 9. No-
vember kriegte er um 11 Uhr abends einen Anruf, und als sie ihn verhaften wollten, war
er natürlich nicht zuhause. Ich war zuhause, und meine Mutter hat mich in einem Wand-
schrank versteckt, als die Polizei kam, um ihn zu verhaften. Sie haben akzeptiert, daß er
nicht zuhause ist. Sie sind aber nicht in die Wohnung gegangen und haben nach ihm ge-
sucht!" (W. Stein, Gespräch 1989)

216
Kurze Zeit später gelang es dem Vater von Werner Stein, persönlich in das
Konzentrationslager Sachsenhausen zu gelangen, um Freunde herauszuholen.
Auch der Vater von Siegbert Weinberger, der ebenfalls "sehr (deutsch-)na-
tional gesinnt" und ehemaliger Frontkämpfer war und zugleich als Großkauf-
mann entsprechend einflußreiche nichtjüdische Geschäftsfreunde hatte, er-
hielt von ihnen Unterstützung und Hilfe.
"Als größter Butterimporteur und -lieferant in Deutschland hatte er riesige Beziehungen.
Aus dem Grund woIlte er nie glauben, was dann später passierte. Er konnte das eigentlich
gar nicht verstehen. Und mein Vater war schon 1935 im KZ. Er war einer der aIlerersten.
Die ganz Reichen wurden zuerst geholt. Er war in Oranienburg, vier Monate lang, mit
zwei Brüdern, und wurde dann entlassen. Ihm wurde vorgeworfen, er hätte die Butter-
knappheit in Deutschland verursacht, was natürlich Blödsinn war. Er war einer der ange-
sehensten Kaufmänner in Berlin. Die Leute haben ihn beschützt. Zuletzt der Berliner Po-
lizeipräsident, der ihm in der größten Gefahr den endgültigen Arrestbefehl der Gestapo
vorlegte und ihm sagte: ,Adolf - mein Vater hatte leider diesen unangenehmen Namen -,
du mußt sofort über die Grenze!' Von seinen besten Freunden, von denen ich weiß, war
nur einer jüdisch, der kam aus dem kleinen Geburtsort meines Vaters. AIle anderen waren
(nichtjüdische) Deutsche. Sein bester Freund, Jonny Kirsten, ein bekannter Schiffsreeder
aus Hamburg, der hat uns sogar nachher noch auf's Schiff gebracht, auf die George Wa-
shington ... Das war Vaters Freund und in Berlin hatte er ebensolche Freunde und - wie
gesagt - der Polizeipräsident war ebenfaIls sein Freund. Es gab damals - er hat es jeden-
faIls nicht erwähnt - keine Leute, die ihn geseIlschaftlich nicht akzeptiert haben, weil er
Jude war." (Weinberger, Gespräch 1989)
Doch das Sicherheitsgefühl, das aus solchen positiven Erfahrungen von ge-
sellschaftlich exponierten Juden mit standesgleichen Nichtjuden resultierte,
war trügerisch, denn es hielt die Nazis nicht davon ab, gerade diese jüdischen
Menschen immer wieder neu zu verhaften und sie schließlich geschäftlich
und physisch so zu zermürben, daß sie doch aufgaben und auswanderten,
wenn sie nicht schon zu alt waren. Der Einfluß nichtjüdischer prominenter
Freunde konnte schließlich die Verhaftungen nicht verhindern und die späte-
re Vernichtung schon gar nicht. Für das Überleben im Untergrund waren
dann oft nicht mehr prominente "Arier" wichtig, sondern couragierte Men-
schen mit klaren moralischen Maßstäben.
Auch der Rabbiner Cohn wurde öfter verhaftet, kam aber nach Inter-
ventionen nichtjüdischer Freunde immer wieder frei. Da Cohn nicht deut-
schnational eingestellt, sondern eher zionistisch orientiert war, läßt sich nicht
sagen, welche Motive seine nichtjüdischen Freunde hatten und wer sie wa-
ren. Wahrscheinlich waren es Künstler, Schriftsteller oder auch engagierte
und tolerante Christen. Letztere erwähnt die Tochter und damalige PriWaKi-
Schülerin Miriam Cohn:
"Mein Vater hatte ein Verfahren im Juni 1936 vor dem Sondergericht (Gestapo) in Berlin.
Christliche Freunde haben auf eigenes Risiko für ihn ausgesagt!"
Auch die Familie Guttmann hatte in der besonders schweren Zeit ab 1941
Unterstützung durch künstlerische, kirchliche und adlige Kreise, und deshalb
konnten Mutter und Tochter sogar in Deutschland überleben. (V gl. Gross-
mann 1961) Besonders tolerant und auch in den späten dreißiger Jahren noch

217
von Mitgefühl geprägt und zu Hilfeleistungen bereit scheint man im Künst-
lermilieu gewesen zu sein. 1s2
Und nicht zuletzt waren es die nichtjüdischen Verwandten in gemischten
Familien oder auch nichtjüdische Hausangestellte, die sich häufig loyal ver-
hielten. Insgesamt hat ein beträchtlicher Teil der PriWaKi- Familien auch
nach 1933 positive Sozialerfahrungen mit Nichtjuden gemacht. Doch scheint
der größte Teil der PriWaKi-Familien keine solidarischen und helfenden
Freunde oder Verwandte aus nichtjüdischen Kreisen gehabt zu haben. Nach
dem Novemberpogrom 1938, besonders aber nach Kriegsausbruch, wurde
eine Unterstützung jüdischer Freunde auch für Nichtjuden immer schwieri-
ger. Die Nationalsozialisten ließen sich beim Erreichen ihrer Ziele, nämlich
Ausgrenzung und Vertreibung der Juden bis 1940, ihre Vernichtung ab 1941,
letztlich auch nicht von einzelnen Reichswehr- und Wehrmachtsangehörigen
stören, die ihre jüdischen Kameraden schützen wollten.
Insofern blieb es meistens eine Illusion, wenn einzelne Eltern, Familien
oder Kinder geglaubt haben mögen, durch nichtjüdische Freunde einen ge-
wissen Schutz zu bekommen.

Freizeit

Wie bereits zitiert, geben viele Schülerinnen und Schüler an, daß ihre Frei-
zeitmöglichkeiten und damit die Normalität ihres Lebens durch zahlreiche
Verbote eingeschränkt gewesen seien. So sei auch der Eintritt bei Sportplät-
zen, Kinos, Theatern, Schwimmbädern sowie das Betreten bestimmter Stra-
ßen, öffentlicher Plätze und mancher Orte für Juden nicht erlaubt gewesen.
Sie erinnern sich an entsprechende Schilder und Aufschriften wie "Juden un-
erwünscht" und "Für Juden verboten".
Da nach unseren Erfahrungen das Erinnerte manchmal sachlich oder
auch zeitlich falsch zugeordnet wird, erscheint eine Skizzierung des histori-
schen Sachverhalts notwendig, um die Objektivität der Erinnerungs-Aussa-
gen beurteilen zu können. Es läßt sich vorab sagen, daß alle von den Ehema-
ligen erwähnten Einschränkungen und Verbote existiert haben; lediglich über
den Zeitpunkt des Eintretens werden zumeist keine genauen Angaben ge-
macht.
Eine allgemeine Einschränkung der Bewegungsfreiheit für die jüdischen
Menschen in Deutschland begann erst unmittelbar nach dem Novemberpo-
grom 1938. Neben der Stigmatisierung durch die Namenszusätze "Sara" und
"Israel" zum 1.1.1939 wurde den deutschen Juden ab Oktober 1938 ein gro-
ßes J in den Reisepass gestempelt, und zum 1.1.1939 wurden spezielle Kenn-
karten für sie eingeführt, deren Vergessen oder Verlieren unangenehme Fol-
gen haben konnte. (Vgl. W. Stein, Gespräch 1989) Dies waren die Vorläufer
des Gelben Sterns, der in Deutschland allerdings erst fast drei Jahre später

152 Vgl. auch Mia Pick, Gespräch 1990; Franziska Jacob 1982, Gespräche 1989 und 1990.

218
zum 15.9.1941 für alle Menschen jüdischer Abstammung vom 6. Lebensjahr
an eingeführt wurde. Aber schon zwei Tage nach dem Novemberpogrom
wurde am 12.11.1938 ein allgemeines Besuchsverbot für Theater, Kinos,
Konzerte, Ausstellungen etc. erlassen. Am 28.11.1938 kam es zu einer all-
gemeinen Einschränkung der Bewegungsfreiheit, und am 3.12.1938 wurde das
Autofahren für Juden durch Einzug der Führerscheine unmöglich gemacht.
Und so ging es Schlag auf Schlag weiter, besonders nach Kriegsbeginn. (Vgl.
Walk 1981; Benz 1988, S. 757f) Die meisten PriWaKi-SchülerInnen waren
Ende 1938 noch in Deutschland, so daß sie neben der physischen Brutalität des
Novemberpogroms auch noch von Einschränkungen der Freizügigkeit be-
troffen waren - wenn auch zumeist nur noch einige Monate lang. Doch ha-
ben sich diese verschärften Verfolgungsmaßnahmen zusammen mit dem
Schock des Novemberpogroms besonders stark in das Bewußtsein eingegra-
ben, so daß sie häufiger als typisch für die gesamte in Deutschland ver-
brachte Zeit ab 1933 erinnert werden.
Zahlreiche erinnerte Verbote sind aber nicht erst 1938 in Kraft getreten,
sondern teilweise schon ab 1933 - wenn auch noch nicht als allgemeine Ver-
bote, sondern als lokal beschränkte. Initiiert wurden sie dann von übereifri-
gen und besonders fanatischen NS-Funktionären. Oft waren dies Ortsgrup-
penleiter, nicht selten waren sie zugleich auch Bürgermeister. Sie sorgten da-
für, daß Schilder mit der Aufschrift "Juden unerwünscht" an Ortseingängen,
öffentlichen Plätzen und Straßen schon bald sehr zahlreich wurden. Waren
die verantwortlichen Nazis fanatische Judenhasser, wurden die antijüdischen
Parolen auf den Schildern und Transparenten besonders perfide, wie z.B.:
"Die Juden sind unser Unglück"
" Vor JUDEN und Taschendieben wird gewarnt!"
"Der Jude ist kein Bürger sondern ein Würger. "
(Vgl. Fotos in G.B. GinzeI1984, S. 57-59)
1935 hatte die Anzahl der Schilder mit antijüdischen Parolen und Verboten
derartig zugenommen, daß die Nationalsozialisten im Zusammenhang mit
der bevorstehenden Olympiade eine schlechte Auslandspresse befürchteten.
Deshalb ergingen regierungsamtliche Verfügungen, wie die des preußischen
Innenministeriums vom 11.6.1935, daß antijüdische Schilder und Aufschrif-
ten an Hauptverkehrsstraßen, Ortseingängen und anderen exponierten Plät-
zen zu entfernen seien. (Vgl. Walk 1981, S. 117) Doch war dies nur als vor-
übergehende Maßnahme gedacht. Nach der Olympiade tauchten die Schilder
wieder auf. Dies galt auch für Berlin, obwohl sich im Vergleich zur Provinz
der Antisemitismus dort weniger brutal gezeigt haben soll, wie öfter von den
PriWaKi-Schülern betont worden ist. Wer jedoch nach längerer Abwesenheit
nach Berlin zurück kam, war schockiert über die Veränderungen, die er sah.
Der Jugenderzieher Jizchak Schwersenz schildert seine Eindrücke so:
"Ende 1937 kehrte ich nach Berlin zurück. (... ) Berlin hatte sich in den wenigen Jahren
völlig verändert. An Restaurants, Hotels und öffentlichen Einrichtungen waren Schilder
angebracht, die uns den Eintritt verboten. Juden konnten nur noch einige Gaststätten, Kaf-

219
feehäuser und Einrichtungen besuchen, die entsprechend gekennzeichnet waren. Als ich
1936, im Olympiajahr, mit den Kindern aus Köln Berlin besuchte, sah ich diese Schilder
nicht. Man hatte sie scheinheilig abgenommen, nun wieder angebracht. Erst hier, in der
Stadt, die ich kannte, konnte ich ganz ermessen, was in den vier Jahren nationalsozialisti-
scher Herrschaft geschehen war. Die Juden waren zu Menschen zweiter Klasse geworden
und gezwungen, in einem gesellschaftlichen Ghetto zu leben." (Schwersenz 1988, S. 32)
Besitzer von Kinos, Gaststätten, Geschäften etc. sperrten Juden oft auch nur
deshalb aus, weil sie von lokalen Nazi-Funktionären unter Druck gesetzt
wurden. Aber das änderte nichts an den Folgen für die Juden.
Auch aus den nichtjüdischen Vereinen mit ihren vielen Freizeitmöglich-
keiten wurden Juden zumeist kurz nach der ,,Machtergreifung" ausgeschlos-
sen. Die deutschen Turn- und Sportvereine führten schon am 25.4.1933 den
"Arierparagraphen" ein. Juden konnten nur noch auf eigenen Sportplätzen
und in eigenen Vereinen Sport treiben. Ähnliches ereignete sich auch in an-
deren Vereinen wie etwa im Deutschen Sängerbund, im Kyffhäuserbund
(Reichskriegerbund) oder im Studentenbund. (Vgl. Walk 1981; Benz 1989 S.
739f.i 53
Selbst Kurorte von Norderney bis Bad Tölz wollten keine Juden mehr
sehen - es sei denn, ihre Geschäfte gingen schlecht. (V gl. Comite 1934) Auf-
fallend früh, nämlich schon im Sommer 1933, kam es vielerorts zu
Schwimmbad-Verboten. In Berlin meldete das 8-Uhr-Abendblatt bereits am
11. August 1933:
"Auf Veranlassung des Staatskommissars Dr. Klein ist den Juden das Betreten des
Strandbades Wannsee verboten worden. Ein entsprechender Hinweis ist am Eingang des
Bades angebracht."(Zitiert in Comite 1934, S. 469)
Das Motiv für die Schwimmbadverbote entstammte einer pervertierten Se-
xualphantasie, so daß durchaus zutreffend von einem "Sexual-Antisemitismus"
(Comite 1934, S. 468) gesprochen werden konnte. l54 Das gleiche Motiv führte
auch zu öffentlich angebrachten Sprüchen wie "Frauen, Mädchen hütet euch
vor dem Juden, dem Schänder" sowie zu Mißhandlungen jüdischer Männer

153 Der Ausschluß aus den deutschen Vereinen, in denen Juden oft und gern Mitglieder
waren, wenn man sie ließ, sowie aus den wichtigen Berufsverbänden erfolgte häufig
nicht durch einen expliziten Hinauswurf, sondern mit der "weichen" Methode der
Sprachregelung, indem man im Sprachgebrauch immer häufiger zwischen "deutsch"
und ,jüdisch" unterschied. Es reichte dann aus, die Vereinssatzung dahingehend zu
ändern, daß nur "deutschstämmige" Menschen Mitglieder sein konnten, und damit
waren die Juden hinausdefiniert. Dies war de facto die Einführung eines "Arier-
Paragraphen" schon 1933/34. (Vgl. dazu auch Rürup in Paucker 1986, S. 106) Durch
das Ausschließen aus den Vereinen wurden Juden ihrer häufig einzigen außerberuf-
lichen Kontakte zu Nichtjuden beraubt.
154 Dies Motiv ist oft geradezu greifbar. So stand etwa im "Hakenkreuzbanner" vom
11.8.1933 über das Herweck-Bad in Mannheim: "Mit Intelligenzhornbrillen sausen
freche Judendirnen und noch viel frechere Jünglinge im Wasser herum. Vor ihren
Blicken kann das anständige Mädchen (es ist schon lange kein anständiges deutsches
Mädchen mehr in diesem Bad zu sehen) nur aus dem Bade fliehen." (Zit. in Comite
1934, S. 460)

220
mit "arischen" Freundinnen -lange bevor die ,,Nürnberger Gesetze" die "Blut-
schande" mit hohen Zuchthausstrafen belegten.
Häufiger werden auch "Judenbänke", die zumeist gelb gestrichen waren,
von den PriWaKi-SchülerInnen erinnert. Diese sind jedoch erst später einge-
führt worden - in Berlin wahrscheinlich nicht vor 1937. 155 Auch wenn solche
Bänke eher eine symbolische als praktische Bedeutung für die Ausgrenzung
der Juden aus den Bereichen Freizeit und Erholung hatten, so stellten sie
doch eine weitere Form der Apartheid dar.
Häufig erwähnt werden Kino- und Theaterverbote, die es jedoch als all-
gemeine Verbote bis zum November 1938 noch nicht gab. Doch auch für
diese Kultur- und Freizeiteinrichtungen scheint es eine Vielzahl von Einzel-
verboten gegeben zu haben, und es war für jüdische Menschen nicht ratsam,
nichtjüdische Kultureinrichtungen zu besuchen, wenn sie nicht angepöbelt
werden wollten. So ging man überwiegend in die Kinos jüdischer Besitzer,
die jedoch schon 1935 zum Verkauf gezwungen wurden, und in jüdische
Theater. Ohnehin hatten jüdische Künstler - von wenigen Ausnahmen abge-
sehen - Auftrittsverbote an nichtjüdischen Theatern schon ab 1933. Als Re-
aktion darauf wurde der jüdische Kulturbund gegründet, der ein reichhaltiges
und anspruchsvolles künstlerisches Programm entwickelte, das vom jüdi-
schen Publikum gerne angenommen wurde. Doch bedeutete diese Exklusivi-
tät auch, in einem kulturellen Ghetto leben zu müssen. Dies ist auch von
vielen älteren PriWaKi-SchülerInnen so registriert worden. Auch die gut
ausgestatteten Nischen waren letztlich kein gleichwertiger Ersatz für einen
freien Zugang zu allen kulturellen Einrichtungen.
Zusammenfassend kann also für die Situation jüdischer Menschen au-
ßerhalb des Berufs- und Geschäftslebens sowie der Schule festgehalten wer-
den, daß es zwar bis 1938 nur wenige allgemeine Verbote zur Einschränkung
der Freizügigkeit und Bewegungsfreiheit gegeben hat, aber dafür ein ganzes
Netz von Einzelverboten, Einzelaktionen und vor allem die ausnahmslose
Aufkündigung der Mitgliedschaften in den nichtjüdischen Vereinen und
Clubs. Das läßt eine erhebliche Beeinträchtigung des außerschulischen Le-
bens auch der PriWaKi-SchülerInnen vermuten. (Dies ist durch die bisheri-
gen Antworten zum Teil auch schon belegt worden.) Um festzustellen, wel-
che Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und Erholung außerhalb der Pri-
WaKi und der elterlichen Wohnung den Kindern bis 1938/39 überhaupt noch
offen standen, ist gefragt worden:
"Wie haben Sie damals Ihre Freizeit (Wochenende, Ferien) verbracht?"

155 Folgende Erinnerung bezieht sich etwa auf das Jahr 1937: "Wir hatten eine Gemein-
schaft, die uns in gewisser Weise immun machte gegen die Anfeindungen der Um-
welt. Wir diskutierten später einmal, ob wir uns auf die gekennzeichneten
,Judenbänke' setzen sollten oder nicht und wir sagten: Nein. Das hatten wir nicht
nötig. Wir hatten unsere Unternehmungen, unsere Werte, die Natur - diese Bänke in
den Berliner Parkanlagen gingen uns nichts an." (J. Schwersenz 1988, S. 42)

221
Die Frage beantwortet haben fast alle Schülerinnen und Schüler aus der Fra-
gebogengruppe. Als soziale Träger und Organisatoren von Freizeit und Erho-
lung ab 1933 werden zunächst vor allem die Familie sowie jüdische Freunde
und Bekannte genannt. Sie zeigen, daß vor allem die Familie und der Be-
kanntenkreis zu einer Rückzugsmöglichkeit geworden war, die auch weiter-
hin soziale Geborgenheit und Normalität zu bieten vermochte.
An zweiter Stelle rangierten die jüdischen Vereine und die jüdische Ju-
gendbewegung mit ihren verschiedenen Bünden. Zahlenmäßig dominant wa-
ren vor allem die Sportvereine. Deren Mitglieder verbrachten ihre Freizeit
z.B.:
"Meistens im jüdischen TenniscJub und auf dem jüdischen Sportplatz im Grunewald."
"Ich habe die Makkabi Sportveranstaltungen wöchentlich besucht ... "
,,1937-38 ging ich zum Rudern auf den Berliner Gewässern mit dem jüdischen RudercJub
,Undine' in Grünau."
"Ich war Mitglied des Tennis-Clubs SCHWARZ-ROT in Grunewald und spielte dort Tennis
"
"Sport, Tennis, Schwimmen ... "
"Mitglied im Tennis-, Schwimm- und Leichtathletikverein ... "

Die oben genannten Aktivitäten im Sport beschränkten sich keineswegs nur


auf die Jungen. Mindestens die Hälfte der Antworten stammt von ehemaligen
Schülerinnen. Insgesamt hatte der Sport bei beiden Geschlechtern einen her-
vorragenden Stellenwert sowohl in der Schule als auch in der außerschuli-
schen Freizeitgestaltung. Alle in den Antworten genannten Vereine waren
jüdische Sportvereine. Das war nicht immer so gewesen. Zwar gab es schon
den zionistischen Turnverein "Bar Kochba" (gegründet 1898 in Berlin), den
ebenfalls zionistischen Turn- und Sportverband Makkabi (ab 1921) sowie
den antizionistischen "Sportbund Schild" vom Reichsbund jüdischer Front-
soldaten (gegründet 1925), doch viele sportbegeisterte Juden blieben in nicht-
jüdischen Vereinen, z.B. im Verband der Deutschen Turnerschaft (DT) mit sei-
ner liberalen Satzung. Die Anpassung an die nationalsozialistische Politik er-
folgte jedoch blitzschnell. Schon im April 1933 bekannte sich der DT
"einstimmig zum arischen Grundsatz" (zit. in Bernett 1986, S. 228) und nö-
tigte dadurch allein in Berlin Tausende von "nicht-arischen" Mitgliedern zum
Austritt. Es schlossen sich an der Deutsche Schwimmverband, die beiden
Boxsportverbände für Amateure und Berufsboxer, Fußball- und Leichtathle-
tikverbände, der Deutsche Ruderbund, der ADAC, der deutsche Ski-Ver-
band, die Deutsche Schachvereinigung, die Deutsche Lebensrettungsgesell-
schaft, der Deutsche Tennisbund etc.
Die meisten dieser Vereine hatten zahlreiche jüdische Mitglieder, die
sich oft überdurchschnittlich stark für ihren Verein engagiert hatten. Doch
half ihnen das nichts. Selbst jüdische Spitzensportler, wie der Davis-Cup-
Spieler Daniel Prenn, wurden nicht mehr aufgestellt, obwohl dies weltweit
Aufsehen erregte. Die Anpassung der meisten deutschen Sportvereine an die
rassistische Doktrin des Nationalsozialismus erfolgte so schnell und umfas-
send, daß der am 28.4.1933 berufene Sportkommissar nicht einmal mehr ein-

222
zugreifen brauchte, um die "Arisierung" des Sports zu beschleunigen. (Vgl.
ebd.)
So war es kein Wunder, daß jüdische Sportvereine nunmehr massenhaft
Zulauf erhielten und sich bemühten, die "physische Erziehung und Stärkung
mit doppelter Kraft zu betreiben" und die Jugend zu "aufrechten, selbstbe-
wußten (und) starken Juden" heranzubilden, wie der Vorsitzende des Mak-
kabi betonte. (Zit. in ebenda, S. 229) Die jüdischen Jugendvereine und -ver-
bände traten fast geschlossen der Makkabi-Jugend oder dem Sportbund
Schild bei - je nach weltanschaulicher Orientierung. Die Mitgliedschaft der
jüdischen Sportvereine verdoppelte sich auf 40.000, und von 1933-1938 fan-
den etwa 50.000 zumeist junge Menschen eine zusätzliche soziale Nische in
den jüdischen Sportvereinen, die immer zahlreicher wurden und fast so viele
Sportarten ermöglichten wie die nichtjüdischen Vereine. Es gab allein 33 jü-
dische Boxsportvereine, und für die 3.000 Tennisspieler existierten 35 Verei-
ne. Die Jüdische Gemeinde besaß einen eigenen Sportplatz in Grunewald, auf
dem auch Sportwettkämpfe mit vielen tausend Zuschauern stattfanden. Am
letzten Schulsportfest der Berliner Jüdischen Gemeinde im Spätsommer 1938
beteiligten sich 6.000 Schüler und Schülerinnen. (Vgl. ebenda, S. 231)
Nachdem ab 1935 insbesondere die nichtzionistischen Jugendbünde ver-
boten wurden, bildeten die noch verbliebenen jüdischen Sportvereine oft die
letzte Zufluchtstätte für eine Freizeitgestaltung außerhalb der Familie. Doch
nach dem Novemberpogrom war damit endgültig Schluß; auch diese Mög-
lichkeit des sozialen Refugiums und der psycho-physischen Stärkung wurde
durch Verbote zerschlagen. Ähnlich wie bei den jüdischen Schulen waren
Boom und Blüte des jüdischen Sports durch Ausgrenzung aus der nichtjüdi-
schen Gesellschaft mitbedingt. Die zionistischen Funktionäre des Makkabi
mögen darin auch positive Möglichkeiten für eine zionistische Überzeu-
gungsarbeit gesehen haben. Für die assimilierten Erwachsenen und älteren
Jugendlichen war der Preis in jedem Fall viel zu hoch - vor allem, wenn sie
zuvor anerkannte und nicht nur geduldete Mitglieder insbesondere in einem
der renommierten Tennis-, Golf- oder Yachtclubs gewesen waren.
Neben den Sportvereinen wurden die Jugendbünde von besonderer Be-
deutung für die Freizeitgestaltung jüdischer Kinder bis hin zu den jungen
Erwachsenen. Gegenüber den Sportvereinen war die soziale Segregation in
den Jugendbünden auch schon vor 1933 weiter fortgeschritten. Dies lag auch,
aber nicht nur, am Antisemitismus, denn liberale Bünde wie die Freideutsche
Jugend oder linke Vereinigungen wie der Sozialistische Studentenbund ak-
zeptierten auch jüdische Mitglieder - ebenso die Parteijugend der Sozialde-
mokraten oder der Kommunisten. Doch alle diese Bünde und Organisationen
wurden 1933 sofort verboten, so daß die jüdischen Mitglieder notgedrungen in
eigenen Bünden Zuflucht suchen mußten. Deren Mitgliederzahl nahm ebenfalls
beträchtlich zu, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie bei den Sportvereinen.
Sie stieg von etwa 12.000 iJ. 1929 auf ca. 20.000 bis 1935. (Vgl. Richarz 1982,
S. 33; Ginzel 1984, S. 227ff.) Etwa jeder dritte jüdische Jugendliche war um
1935 Mitglied, wobei die Mitgliedschaft in den Sportvereinen nicht mitgezählt

223
ist. Der Anteil der Mädchen scheint nicht viel niedriger als der der Jungen ge-
wesen zu sein; dies gilt zumindest für die PriWaKi-SchülerInnen.
Die Befragung erbrachte folgendes Ergebnis: Insgesamt 35 von 60
SchülerInnen haben angegeben, nicht Mitglied in einem jüdischen Jugend-
bund gewesen zu sein. 15 der 60 Befragten haben angegeben, Mitglied in ei-
nem jüdischen Jugendbund gewesen zu sein. Das ist ein Viertel und liegt
unter dem Durchschnitt von etwa einem Drittel der jüdischen Jugend (12 bis
21 Jahre alt). Mögliche Gründe für diese Abweichung: Jugendbünde wurden
stärker von den unteren als von den oberen Mittelschichten und ab 1935 stär-
ker von zionistisch als von nichtzionistisch eingestellten Jugendlichen fre-
quentiert. Außerdem beanspruchte das "Ta~esinternat" mehr Zeit als eine
Halbtagsschule, und auch inhaltlich gab es Uberschneidungen mit dem Pro-
gramm der Jugendbünde (praktische Übungen, Palästinagruppe, Sport, Ge-
ländespiele, Sommerlager).
Es gab bei den Jugendbünden drei Richtungen: zionistisch, deutsch-
jüdisch sowie religiös. Zu den zionistischen Bünden gehörten 10 SchülerIn-
nen. Zu den nichtzionistischen deutsch-jüdisch eingestellten Bünden BDJJ
und "Schwarzes Fähnlein" gehörten insgesamt drei Schüler. Zwei Schüler
können sich an den Namen ihres Bundes nicht mehr erinnern. Einem religiö-
sen Bund gehörte keiner aus der Fragebogengruppe an. 156

156 Die von den PriWaKi-SchülerInnen genannten Bünde lassen sich folgendermaßen
kurz charakterisieren: Das "Schwarze Fähnlein" war eine Rechtsabspaltung (1932)
des ehemaligen deutsch-jüdisch orientierten Bundes "Kameraden". Der Bund war
antizionistisch und deutsch-national eingestellt, bekannte sich aber auch zum Juden-
tum. Er wurde bereits 1934 verboten, weil die Nazis einen deutsch-national einge-
stellten jüdischen Jugendbund nicht dulden wollten. (V gl. Rheins 1978)
Der "Bund Deutsch-Jüdischer Jugend" (BD11), der sich umbenennen mußte in
"Ring-Bund jüdischer Jugend", weil die Nazis das Attribut "deutsch" ab 1935 bei jü-
dischen Organisationen nicht mehr dulden wollten, war ideologisch gekennzeichnet
durch seine "entschiedene Weigerung, sich aus dem bisherigen kulturellen oder we-
sensmäßigen (deutschen) Milieu mit Gewalt und ohne Not herausreißen" zu lassen.
(Zit. in Ginzel 1984, S. 231) Er wollte zwar jüdisches "Geschichtsdenken" fördern,
war aber antizionistisch eingestellt. Auflösung 1938.
Der "Jüdische Pfadfinderbund" war 1933 noch assimilatorisch orientiert und pflegte
vor allem das Scouting. 1934 fusionierte er mit dem zionistischen "Makkabi Hazair"
(Junger Makkabäer). Der neue Bund war danach zionistisch und zählte 1936 6000
Mitglieder. Auflösung vermutlich 1938.
Die "Werkleute" gingen wie das "Schwarze Fähnlein" 1932 aus dem "Kameraden"-
Bund hervor und waren ab 1933 zionistisch. Der Bund hatte 1936 1150 Mitglieder
und wurde 1938 aufgelöst.
Der "Habonim" (Bauleute) war linkszionistisch und durch einen Zusammenschluß
(1933) des "Brith Haolim" (Bund der Aufsteigenden) mit dem Pfadfinderbund
"Kadimah" (Vorwärts) entstanden. Er war gekennzeichnet durch ein großes Enga-
gement beim Chaluziut (Pionierturn) in Palästina auch schon vor 1933. 1936 hatte
der Bund 5100 Mitglieder.
"Haschomer Hazair" (Der Junge Wächter) war ein internationaler linkszionistischer
Pfadfinderbund, der ebenfalls stark die Besiedlung Palästinas unterstützte. Er hatte
viele Ostjuden als Mitglieder und bestand in Deutschland bis 1938.

224
Außer dem ehemaligen BDJJ gab es nach 1935 fast nur noch zionistisch
ausgerichtete Bünde; die anderen waren verboten worden. Sie boten ihren
Mitgliedern zunächst einmal das herkömmliche Programm aller Jugendbün-
de: Ein Gemeinschaftserlebnis durch Heimabende, Wanderfahrten und Zelt-
lager. Darüberhinaus beschäftigten sich alle jüdischen Jugendbünde mehr oder
weniger intensiv mit der Geschichte und der Kultur des Judentums. Bei den
zionistischen Bünden kam die moralische Verpflichtung zum Chaluziut (Auf-
bau landwirtschaftlicher Siedlungen) hinzu, die nach 1933 immer häufiger in
die Tat umgesetzt wurde, so daß die Jugendbünde wichtige Personal-"Liefe-
ranten" für die Siedlungen in Palästina wurden. Dies setzte freilich eine Hach-
schara, d.h. ein mindestens halbjähriges Vorbereitungspraktikum in der
Landwirtschaft, im Handwerk oder bei Mädchen auch in der Hauswirtschaft
voraus. Begonnen werden konnte ein solches Praktikum erst im Alter von 16
Jahren. Ein Vollzeitschulbesuch war gleichzeitig nicht möglich. Deshalb
konnten sich die PriWaKi-Schüler daran nicht beteiligen. Einen teilweisen
Ersatz bot aber die Palästina-Gruppe an der PriWaKi.
Die Freizeitmöglichkeiten der Jugendbünde waren zunächst nur äußerlich
begrenzt. Fahrten und Wanderungen waren eingeschränkt gestattet157 , doch
wurde ihnen die Benutzung von öffentlichen Jugendherbergen sowie das Tra-
gen einer Kluft verboten. Auch das Zelten wurde riskant, da man immer mit
Überfällen der Hiltlerjugend rechnen mußte. Deshalb mußte man sich bei
Fahrten entweder auf die Einrichtungen der jüdischen Gemeinden oder auf das
Entgegenkommen von Privatleuten stützen oder eben inkognito bleiben. Größe-
re Lager mußten jedoch angemeldet werden und wurden von der Gestapo, der
SA oder der Hiltlerjugend überwacht. Man lebte also hinter Stacheldraht; "der
Freiraum war künstlich." (GinzeI1984, S. 103) Um dieses Gefühl der Überwa-
chung und des Eingesperrtseins loszuwerden, wurden oft Lagerplätze und Feri-
enheime im benachbarten Ausland gesucht. Kleinere Gruppen konnten aber
auch in Deutschland auf Fahrt gehen, wenn sie vorsichtig waren. Aber man
ging das Risiko ein, verprügelt zu werden, wenn man als jüdische Gruppe er-
kannt wurde.
Nach der Pogromnacht 1938 wurden auch die zionistischen Bünde ver-
boten, die jetzt nur noch als Hachschara-Gruppen legal bleiben konnten oder
im Untergrund weiterarbeiten mußten. 1939, vor allem nach Kriegsbeginn,
wurde die Bewegungsfreiheit nochmals deutlich eingeschränkt. Einige ganz
Mutige gingen aber auch weiterhin auf Fahrt. 158

157 Am 10.7.1935 gab das Erziehungsministerium einen Erlaß zur einheitlichen Behand-
lung jüdischer Jugendverbände heraus: "Die Errichtung jüdischer Jugendherbergen
an Stellen, die anderen Instituten oder Wohnungen nicht benachbart sind, und die der
Polizei bequemen Zutritt zwecks Überwachung ermöglichen, ist zu erlauben. Jüdi-
sche Zeltlager sind verboten, außer wenn sie auf Boden, der Juden gehört, errichtet
sind und sich nicht in der Nähe nichtjüdischer Wohnungen befinden. Wanderungen
jüdischer Jugend von mehr als 20 sind verboten." (Zit. in Walk 1981, S. 121)
158 Der Jugendleiter einer kleinen Gruppe des zionistischen Pfadfinderbundes Makkabi
Hazair berichtet über die nach 1939 noch verbliebenen Möglichkeiten für mutige Ju-

225
Inhaltlich wurden jüdische Geschichte, Judentumskunde, Palästinakunde
sowie das Hebräischlernen immer wichtiger, je länger das Hitler-Regime
dauerte. Neben der Vorbereitung auf die Hachschara, die ihrerseits wiederum
eine Vorbereitung auf die rettende Auswanderung nach Palästina war, war
die emotionale und psychologische Leistung dieser Gemeinschaften für die
Kinder und Jugendlichen wohl am wichtigsten,
denn "ohnehin mußten die jüdischen Kinder ja ganz anders lernen und ganz anders leben
als Kinder in normalen Zeiten. Wo andere ihrer Neugierde und Unternehmungslust freien
Lauf lassen konnten, da mußten sie mit Hänseleien, Prügeln und Verfolgung rechnen.
Von den Erwachsenen hörten sie: Das dürfen wir nicht, da geh' nicht hin, und sage ja
nichts Falsches! In der Familie erlebten sie Sorge und Verzweiflung, und manches Kind
hatte mit ansehen müssen, wie der Vater oder der Bruder verhaftet wurde. Was noch
blieb, war die Jugendgemeinschaft, vielleicht in einer jüdischen Schule, vor allem aber im
Bund. Er rückte während der Hitlerzeit immer mehr in den Mittelpunkt des jugendlichen
Lebens. Der Jugendbund, das war für viele Kinder das ganze Leben, ein Ort wenigstens,
an dem sie Freude und Ausgelassenheit erleben konnten, eine Gemeinschaft, die ihnen
Mut und Vertrauen gab und eine Idee, für die es sich zu leben lohnte." (J. Schwersenz
1988, S. 43)
Bei den PriWaKi-SchülerInnen scheint dies etwas anders gewesen sein. Da
das Tagesinternat viele der Funktionen eines Jugendbundes erfüllte, wurde
ein Jugenbund - sofern man überhaupt noch das Bedürfnis verspürte, dort
Mitglied zu werden - eher als Ergänzung zur PriWaKi gesehen. (Vgl. G.
Stent, Gespräch 1989) Bei einem Besuch von Halbtagsschulen hingegen, vor
allem wenn sie nicht jüdisch waren, war das sicherlich anders. Ab 1939 ver-
lagerte sich die Erziehungsarbeit auf die Jugendalija-Schulen und Hachscha-
ra-Kibbuzim, die maßgeblich von den Jugenderziehern geprägt wurden und
in denen auch PriWaKi-Lehrer (A. Cohn, L. Kuttner) mitarbeiteten. (Vgl.
Fölling in Busemann u.a. 1992, S. 282ff.)
Die Orte der Freizeitgestaltung wurden von den verbliebenen Möglich-
keiten der jüdischen Sportvereine, Jugendbünde sowie von den Möglichkei-
ten der Familien mitbestimmt. Da es sich bei den PriWaKi-Eltern weitgehend
um gutsituierte Mittelständler gehandelt hatte, besaßen nicht wenige in und

gendliche: "Unglaublich mag es klingen, daß es uns in den Kriegs- und Verfolgungs-
jahren bis 1941 noch gelang, größere Fahrten zu machen. Sie bedeuteten für unsere
Jugendlichen eine vorübergehende Befreiung aus dem Ghetto und aus der bedrük-
kenden Atmosphäre des Elternhauses. Ich unternahm damals mit meiner Gruppe
meist Radtouren, und wir besuchten dabei immer auch die Vorbereitungslager der
Jugend-Alija, die auf dem Wege lagen. So waren wir im Frühjahr 1939 fünf Tage im
Harz und machten im Kibbuz Ahrensdorf bei Treblin Station. 1940 fuhren wir in das
Gebiet von Hamburg. Auf dieser Fahrt erlebten wir die ersten Luftangriffe, ohne daß
uns dabei etwas passiert ist. Im religiösen Kibbuz Steckelsdorf konnten wir die Fahrt
dann abschließen. Selbst im Sommer 1941, kurz vor Beginn der Deportationen, wa-
ren wir auf einer Fahrt, die uns in das Gebiet von Cottbus in der Lausitz führte. Da-
bei haben wir in den Kibbuzim Eichow, Schniebinchen und Jessen halt gemacht." (J.
Schwersenz 1988, S. 50) Der Leiter von Schniebinchen war damals der ehemalige
PriWaKi-Lehrer Ludwig Kuttner.

226
um Berlin noch Wochenendhäuser, die nunmehr intensiv genutzt wurden. Zu
den Wochenenden wurden auch Verwandte und Freunde dorthin eingeladen.
Es wurde aber auch noch viel gereist - besonders in den Ferien. Auffal-
lend ist, daß die meisten der genannten Reiseziele und Ferienorte im Ausland
lagen. Bei den vertiefenden Interviews wurde häufiger erwähnt, daß diese
Ziele vor allem nach 1935 gewählt wurden, um der Diskriminierung in
Deutschland zu entgehen und sich als freie Menschen fühlen zu können.
Um das Bild abzurunden und die verschiedenen Möglichkeiten, die ein
einzelnes jüdisches Kind bis 1938 hatte, exemplarisch zu zeigen, seien nach-
folgend einige ausführlichere Antworten auf die Frage nach der Freizeitge-
staltung zitiert:
"Ich habe die Makkabi-Sportveranstaltungen wöchentlich besucht und auch an den Aus-
flügen der ,Werkleute' teilgenommen, aber ich bin auch ins Theater und in Kinos gegan-
gen und habe regelmäßig die Jugendbühne gesucht. Ich habe auch ziemlich viel gelesen."
(w)
"Ich habe mich mit meinen Schulfreunden getroffen, und wir haben mit unseren Mo-
dellschiffen der deutschen Marine, Jagdflugzeug- und Eisenbahnmodellen gespielt; ver-
mutlich genauso wie die Kinder der Nazis. In den Ferien war ich mit meinen Eltern in
Dänemark, der Schweiz und an verschiedenen Orten in Süddeutschland." (m)
"Lesen, zeichnen, Freunde besuchen, Familienausflüge mit dem Auto; Theater-,
Opern-, Museumsbesuche." (w)
Man kann diesen Antworten entnehmen, daß die Freizeitmöglichkeiten für
jüdische Kinder bis 1938 trotz aller "Juden-verboten"-Schilder und der Aus-
grenzung aus nichtjüdischen Vereinen doch noch vielfältig waren, wenn die
Familie einen entsprechend hohen sozialen und ökonomischen Status hatte.
Die Einschränkungen waren allerdings in Berlin nicht so gravierend wie in
einer deutschen Kleinstadt, aber auch in Berlin nahmen die wirtschaftlichen
Möglichkeiten der jüdischen Mittelstandsfamilien gegen 1939 rapide ab. Be-
rücksichtigt man die demographische Entwicklung im Judentum, die dazu
geführt hatte, daß in vielen Familien nur ein oder höchstens zwei Kinder
existierten, was häufig zu einer Vereinzelung der Kinder in den Familien ge-
führt hatte, so kann sogar von einer sozialen und kulturellen Verdichtung in
der Freizeitgestaltung ab 1933 gesprochen werden, die durchaus auch von
vielen PriWaKi-Schülern als vorteilhaft empfunden wurde. (Vgl. z.B. G. Stent,
1989) Gleichwohl ließ sich nicht verdrängen, daß für diese Verdichtung des
Kultur- und Gemeinschaftslebens der Preis der Ausschließung gezahlt wer-
den mußte, der besonders für die älteren Schüler aus assimilierten Familien
viel zu hoch und mit unerträglichen Demütigungen verbunden war, wie die
folgende Antwort zeigt:
"Wann immer es möglich war, hat mein Vater mich auf Fahrten ins Ausland mitgenom-
men, denn die Nazis hatten nicht die Absicht, Plakate, auf denen unsereins ,Volksfeind'
genannt wurde, wieder zu entfernen. Sie karikierten uns im ,Stürmer' oder verglichen uns
mit Hunden, die nicht mit ins Schwimmbad durften." (w)
Auch in PriWaKi-Familien, in denen schon früh eine Verfolgung einsetzte,
und in denen die Väter verhaftet und vorübergehend in Konzentrationslager

227
gebracht wurden, mochte der Gedanke an eine unbeschwerte Freizeit nicht
aufkommen, sondern der dunkle Schatten der Bedrohung erstickte in diesen
Fällen das Gefühl einer Normalität des Lebens:
"Mein Vater war nervlich durch die Verfolgung schwer belastet. Von Freizeitgestaltung
war nicht die Rede. Hauptsächlich Fahrradausflüge in und um Berlin und die Ferienreise
(mit der PriWaKi) nach Nimmersatt (Litauen) 1936, mit Mitschülern unter Leitung der
Lehrer Herr Heinrich und Frl. Kann." (m)
Die beiden Antworten zeigen deutlich, daß von einer unbeschwerten Nor-
malität im Freizeitbereich dann keine Rede sein konnte, wenn Gewalt und
Ausgrenzung in besonderer Weise erfahren wurden. Doch die meisten Ant-
worten lassen eine solche drastische Beeinträchtigung des Freizeitverhaltens
vor 1938 eigentlich nicht erkennen; in vielen Antworten wird sogar die Nor-
malität der Schülerfreizeit und der jeweiligen Aktivitäten betont. So meint
etwa Michael W. BlumenthaI:
"Wir waren eigentlich Gruppen und Cliquen von ganz normalen Jungen, die Räuber und
Gendarm spielten, Spaß am Sport hatten etc."
Die Antworten auf die Frage nach der Freizeitgestaltung zeigen, daß es durch-
aus Normalität und glückliche Stunden in der Kindheit und Jugend jüdischer
Kinder in Deutschland zumindest bis 1938 gegeben hat. Doch gleichzeitig müs-
sen die Antworten auf die Frage nach der Wahrnehmung des Naziterrors gegen
Juden mitberücksichtigt werden, die dazu im Widerspruch stehen. Bei der Be-
fragung hat sich gezeigt, daß das Erinnerungsvermögen hierbei hochgradig se-
lektiv arbeitet und entweder nur die Bedrohung rekonstruiert oder die Normali-
tät im Abseits, die zugleich existierte, wobei dann das Bedrohungspotential
meistens ausgeblendet wird. Um eine Bilanz ziehen zu können, haben wir in
den Interviews einige ehemalige Schüler gezielt gefragt, ob sie ihre Kindheit im
Nationalsozialismus trotz aller antijüdischen Maßnahmen der Nazis als noch
normal einstufen würden. Hierzu einige Antworten:
"Ich bin morgens um 8 ( in die PriWaKi) gegangen und kam abends um 6 nach Hause.
Und dann habe ich noch zu Makkabi und zu den Werkleuten gehärt. Und dann hatten
Verwandte ein Haus am Wannsee, da waren wir dann am Wochenende. Also die Schule
war nicht alles, man hatte auch sonst noch Interessen. Aber die Kindheit, nein, sie war
nicht normal, obwohl mein Vater nicht im Konzentrationslager war ... Im Grunde waren
wir doch irgendwie protected, aber man hat schon gesehen, was los war, aber es war nicht
normal. Man spürte schon, wenn man dauernd zur Seite geschoben und beschimpft wurde
und so. Ich mächte das keinem Kind wünschen." (Ursula Schlochauer-Nelson, 1989)
Siegbert Weinberger antwortet auf die Frage, ob er nach der Machtergreifung
im nationalsozialistischen Deutschland eine normale Kindheit gehabt habe:
"Ich würde sagen, daß geht zu weit." Er hat zwar einerseits in seiner Antwort
betont, daß er gespielt habe wie alle anderen Kinder, doch waren für ihn die
Bedrohungen des Nationalsozialismus immer gegenwärtig. Er fühlte sich
zum Beispiel durch die Prügeleien mit der Hitlerjugend sowohl an seiner frü-
heren Grundschule als auch im jüdischen Landschulheim Caputh bedroht.
Schließlich erinnert er an die Verhaftungen seines Vaters, die ihn als Kind in

228
eine tiefe Krise gestürzt haben. Dies alles habe eine Normalität nicht zugelas-
sen.
Auch Werner Stein antwortet spontan auf die Frage, ob er eine normale
Kindheit gehabt habe: "Die gab es nicht!" Er führt zur Begründung die Bela-
stung und die Nervosität seines Vaters an, die auch in der Familie nicht un-
terdrückt werden konnte. Auch die Ausgrenzung von öffentlichen Plätzen
(Kinos, Fußballplätze) hat Werner Stein als Beeinträchtigung seiner Lebens-
möglichkeiten erfahren.
Nur die schon erwähnte kleine Minderheit von Schülerinnen jüngeren
Alters hat die nationalsozialistische Bedrohung weitgehend ignoriert und in-
sofern auch im Nationalsozialismus fast in einer "heilen Welt" gelebt. Aber
das war nicht typisch für Kinder, die 1938 das Alter von mindestens 13 Jah-
ren erreicht hatten.
Typischer und eher den durchschnittlichen Erfahrungen und Einschät-
zungen entsprechend ist die Meinung von Dimitri Hirschberg, der auf die
Frage, ob er seine Kindheit in Deutschland als einigermaßen normal be-
zeichnen würde, antwortet:
"Im großen und ganzen ja. Man war sich irgendwie klar, daß man in Gefahr war, aber
man konnte auch noch lachen. Wir waren bei weitem nicht den ganzen Tag in Trauer,
durchaus nicht! Man war vorsichtig ... Es wurde einem eingeprägt, man kann nichts ma-
chen gegen Hitler und die Regierung ... ""·

159 In dem Vorwort zu dem Buch "Jüdischer Alltag in Deutschland 1933-1945" von
Günter Bernd Ginzel heißt es unter anderem: "Unbegreiflich fast, daß die jüdischen
Nachbarn ... sich und ihren Kindern in aller Drangsal und Verfolgung ein menschen-
würdiges Leben zu bewahren wußten: auch im düsteren Alltag Tradition, Humor, das
Lachen der Kinder und das Gottvertrauen der Alten." (M. Lotsch in Ginzel 1984, S.
7) Dieses Nebeneinander von Angst und Normalität existiert auch in den Erinnerun-
gen der meisten PriWaKi-SchülerInnen, wie gezeigt worden ist. Das Ausgrenzen des
jeweils anderen Aspekts, entweder der Normalität oder der Bedrohung, ist ein psy-
chologischer Mechanismus, der damals wie heute wirkt. Erst bei dem expliziten Ver-
such einer Bilanzierung des damaligen Lebensgefühls werden beide Momente zuein-
ander in Beziehung gesetzt. Dem Satz von Peter Brückner: "Immer bleibt (.) eine
Kindheit im Faschismus eine Kindheit" (Brückner 1980, S. 25) ist durchaus zuzu-
stimmen, wenngleich Brückners Schülererfahrungen mit dem Dritten Reich eher die
eines Nicht-Juden waren und deshalb mit denen der PriWaKi-SchülerInnen nicht
vergleichbar sind. Doch läßt die Beschreibung von Erfahrungen einer jüdischen
Schüler-Gruppe eben auch die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Differenzierung
und Unterscheidung zu. Eine normale Kindheit gab es nach 1938 kaum noch und da-
vor auch kaum für Kinder, deren Eltern schon individuelle Opfer der Nazis gewor-
den waren. Aber auch die "Normalität" selbst hielt eine außerordentlich breite Skala
unterschiedlicher Empfindungen bereit, wie gezeigt worden ist. In einem Kommentar
zu den in seinem Bildband veröffentlichten Fotos schreibt G.B. Ginzel: "Mich lassen
die Aufnahmen der lachenden Kinder nicht mehr los. Was wurde aus ihnen? Oder:
Da spielen Bewohner eines Elternheimes friedlich in der Abendsonne. War das der
jüdische Alltag im NS-Staat? Ja. Es war der Alltag der Freiräume, der Fluchtburgen.
Der Alltag, den man sich bewahrte, den man sich gegenüber einem anderen Alltag
erkämpfte, dem der Diffamierung und Verfolgung." (Ebenda, S. 17) Dies entspricht
im großen und ganzen dem, was uns von den ehemaligen PriWaKi-SchülerInnen

229
Diese eingeschränkte Normalität galt allerdings nur bis zum Novemberpo-
grom 1938. Mit diesem Ereignis war die Bedrohung derartig massiv und
handgreiflich geworden, daß sie trotz aller Bemühungen von Schule und El-
ternhaus auch vor den Kindern nicht mehr verborgen werden konnte. Durch
eine Flut von gesetzlichen Einschränkungen wurde das normale Leben mehr
und mehr stranguliert.

mitgeteilt worden ist, wobei wir zusätzlich die o.a. Einschränkungen und Differen-
zierungen geltend machen möchten.

230
7. Die pädagogische und sozialisatorische Wirkung
der PriWaKi aus der Sicht ehemaliger Schülerinnen
und Schüler

Die meisten Schulen, Schulsysteme und andere Erziehungseinrichtungen sind


bei der Formulierung pädagogischer Ansprüche nicht unbedingt bescheiden -
zumal wenn sie etwas Besonderes sein wollen. In den Erinnerungen und Be-
wertungen ehemaliger Schüler werden diese Ansprüche aber nicht unbedingt
bestätigt; Schüler filtern häufig aus der Schulwirklichkeit ganz andere, nicht
selten auch konträre Erfahrungen heraus. Die Qualität einer Schule wird man
auch danach bemessen können, inwieweit diese Erfahrungen und Erinnerun-
gen positiv sind. Allerdings wird es kaum einer Schule gelingen, ausschließ-
lich positive Lern- und Sozialerlebnisse zu vermitteln; immer wird es auch
Beispiele für persönliche Unzulänglichkeiten bei einzelnen Lehrern und Mit-
schülern geben, und auch nicht jeder Unterricht kann eine gleichmäßig hohe
Qualität in den Inhalten und insbesondere in den Methoden haben. Wie jeder
Erwachsene bei sich selbst leicht überprüfen kann, sind es häufig gerade ne-
gative Schulerfahrungen, die sich im Erinnerungsprozeß "nach vorn" drän-
gen, so daß sie leicht überproportional bei der Beurteilung einer Schule ins
Gewicht fallen können und damit das andere Extrem zu den überzogenen
Präambeln in den pädagogischen Schulrichtlinien bilden können. Eine Schu-
le, so läßt sich resumieren, muß eine gute Schule gewesen sein, wenn von
ehemaligen Schülern neben Kritik auch viel Positives erinnert wird, wobei
aus dem Verhältnis von Kritik und Lob eine entsprechende Beurteilung abzu-
leiten ist.

Erinnerungen an das Schulleben

Erinnerungen haben aber auch in anderer Hinsicht ein unterschiedliches


Gewicht. Spontane Erinnerungen fördern häufig nur trivial erscheinende
Dinge zutage, bei denen zunächst nicht klar ist, ob ihnen eine Bedeutung zu-
kommt. Nur wer die Schule schon kennt, wird einigermaßen sicher die Rele-
vanz abschätzen können. Die Beurteilung einer Schule in ihrer Bedeutung für
die eigene Biographie wird jenseits der rein formalen Schulabschlüsse und
den damit verbundenen Berechtigungen für weitere Bildungs- und Ausbil-
dungsgänge für den späteren Erwachsenen eine intensivere Reflexion erfor-

231
dern als nur eine spontane Erinnerung; ein klares Fazit ist auch dann keines-
wegs immer zu erwarten. Insgesamt zeigen diese Formen der spontanen und
reflektierenden Erinnerung an, wie breit das Spektrum der verschiedenen
Erinnerungen sein kann. Mit mehreren Fragen haben wir versucht, dieses
Spektrum zu erfassen. Zunächst ist gefragt worden:
,,An welche Lehrer und Mitschüler erinnern Sie sich noch?"
Ohne Erinnerungsstützen (Photos, Namenslisten) werden vorwiegend die
MitschülerInnen erinnert, mit denen man als Junge in Cliquen und bei den
Mädchen als "beste Freundin" besonders verbunden war. Diese exklusiven
schulischen Sozialkontakte wurden zum großen Teil auch nach der Flucht ins
Ausland aufrechterhalten, entweder als Briefkontakte oder in Form sporadi-
scher oder sogar regelmäßiger Treffen, für die die Reunions der PriWaKi in
den USA oftmals willkommene Anlässe geboten haben. Über den Klassenrah-
men hinaus werden Schüler seltener erinnert. Dies geschieht dann, wenn diese
SchülerInnen im Schulleben engagiert waren. Besondere Lernleistungen
scheinen für die Erinnerungen an Mitschüler hingegen von untergeordneter
Bedeutung zu sein.
Bemerkenswert ist, daß eine spätere Prominenz als Erwachsener nicht zu
einer häufigeren Erwähnung durch die ehemaligen Mitschüler führt. Es blei-
ben also das frühere soziale Verhältnis und die frühere Schülerpersönlichkeit
bestimmend für die spontane Erinnerung. Das gilt auch im negativen Sinne.
Nicht bereinigte Konflikte sowie persönliche Aversionen können auch ein
halbes Jahrhundert überdauern, obwohl sie aus heutiger Sicht und nach alle-
dem, was geschehen ist, als völlig belanglos erscheinen. Doch werden solche
negativen Erinnerungen an MitschülerInnen selten erwähnt.
Häufig werden dagegen MitschülerInnen genannt, weil man sich in sie
verliebt hatte, was zumeist mit der Formulierung "I had a crush on ... " ausge-
drückt wird. Diese Erinnerungen sind nur dadurch möglich, daß die PriWaKi
eine Koedukationsschule war. Koedukation gab es an öffentlichen höheren
Schulen damals normalerweise nicht, und für Schüler und Schülerinnen hatte
das schulische Zusammenleben mit dem anderen Geschlecht den Reiz des Neu-
en und Unbekannten. Mit der Pubertät verstärkte sich der erotische Reiz, den
das jeweils andere Geschlecht auf die Schülerinnen und Schüler ausübte. Gera-
de im ganztägigen Schulbetrieb gab es genügend Möglichkeiten zu Kontak-
ten, wobei die geschlechtsspezifischen Rollen ausprobiert werden konnten.
Zu sexuellen Kontakten auch unter den ältesten Schülern ist es wohl nicht
gekommen; dies wurde durch die damaligen sozialen Normen des Sexual-
verhaltens noch unterbunden.
Auffallend erscheint, daß die Namen von MitschülerInnen, die dem Ho-
locaust zum Opfer gefallen sind, bei den spontanen Erinnerungen fast immer
vergessen werden. Dies ist keinesfalls als Gleichgültigkeit oder bewußte
Pietätlosigkeit zu interpretieren, sondern eher als unbewußtes Ausweichen
vor den unangenehmen und schrecklichen Erfahrungen der Vergangenheit,
deren ständige Erinnerung die Bewältigung der eigenen Vertreibung und des

232
Verlustes von Angehörigen noch schwerer machen würde. Auch für das
Nichterinnern sind also emotionale Motive ausschlaggebend. l60 Hinzu kommt
die banale Tatsache, daß eher diejenigen SchülerInnen erinnert werden, zu
denen nach der Flucht noch Kontakte aufrecht erhalten wurden; dies konnte
bei den Holocaust-Opfern nur noch kurze Zeit der Fall sein.
Soweit also auf die allgemeine Frage nach Namen von MitschülerInnen
außer deren Namen auch noch die Erinnerungskontexte oder -motive genannt
worden sind, so sind diese fast immer auf ein soziales und/oder emotionales
Beziehungsgefüge zurückzuführen und nur ausnahmsweise von den Eigen-
schaften "guter Schüler"/"schlechter Schüler" und gar nicht von dem damali-
gen oder heutigen Sozialstatus beeinflußt.
Auch bei den Erinnerungen an die Lehrer dominieren zunächst typische
Schülererinnerungen, doch viele der erinnerten Besonderheiten und Verhal-
tensweisen einzelner Lehrer sind auch durch die Zeitumstände direkt oder in-
direkt geprägt. Erinnert werden diejenigen Lehrer und Lehrerinnen, die zu-
mindestens ein Jahr lang in der Mittel- und Oberstufe der PriWaKi unterrich-
tet haben. LehrerInnen, die ausschließlich Kinder im Grundschulalter erzo-
gen haben, werden gar nicht erinnert. 161
Ohne Bedeutung für die Erinnerung an einen PriWaKi-Lehrer scheint
hingegen dessen akademischer Status gewesen zu sein. So werden etwa die
Volksschullehrer Mühlhauser und Hecht, die Sport, Werken und praktische
Übungen auch bei den älteren Schülern unterrichtet haben, häufig genannt,
während einige in den Lehrerlisten von 1936 und 1938 eingetragene promo-
vierte ehemalige Gymnasiallehrer nie erinnert worden sind.
Von Bedeutung für die Häufigkeit, mit der die LehrerInnen erinnert
worden sind, waren auch deren Unterrichtsfächer und -bereiche. Die Lehrer
mit den besonders nützlichen modernen Fremdsprachen (Englisch und Fran-
zösisch, weniger Hebräisch) werden am häufigsten genannt. Es folgen die
Lehrer für Literatur und Geschichte. Lehrer mit naturwissenschaftlichen Fä-
chern werden seltener genannt, ebenso Lehrer für Kunst und Religionslehre.
(Dies gilt aber nur für die spontanen Erinnerungen. Wenn nach der Nütz-
lichkeit des Unterrichts gefragt wird, holen die Fächer Mathematik und Phy-
sik deutlich auf.) Auch die Beliebtheit der jeweils unterrichteten Fächer be-
einflußt die Erinnerung. Deshalb werden vor allem diejenigen Lehrerinnen
und Lehrer, die besonders im reformpädagogischen Alternativprogramm und
damit stark im Nachmittagsunterricht des "Tagesinternats" oder bei Theater-
und Musikaufführungen, Schulfahrten und nicht zuletzt im Sport beschäftigt
und engagiert waren, besonders häufig genannt und auch überwiegend posi-

160 Vielleicht liegt hier auch ein unterdrücktes Schuldbewußtsein der Überlebenden ge-
genüber den Holocaust-Opfern zugrunde. (Vgl. P. Gay in Paucker 1986, S. 31)
161 Dies betrifft zum Beispiel die Lehrerin Käthe Fränkel oder den Betreuer der Tagesin-
ternatskinder, Dr. Wilhelm Lewinski, obwohl zahlreiche Quellen, vor allem die Brie-
fe der Kinder, die Beliebtheit dieser Pädagogen belegen. Hier zeigt sich, daß die Fra-
gebogengruppe sich überwiegend aus ehemaligen Mittel- und Oberstufen-Schülern
zusammensetzt. Dies gilt auch für die Interviewpartner.

233
tiv beurteilt. Dies gilt vor allem für die Lehrer Jacob (Französisch, Schulthea-
ter), Jospe (Musik und musikalische Aufführungen), Jones und Plotnick (briti-
sche Lehrer), sowie für Hecht, Mühlhauser und Heinrich als Sportlehrer (zu-
sammen mit Frl. Kann) und auch als Lehrer für Werken und "praktische
Übungen".
Neben den für Schüler interessanten Fächern und Lernbereichen ist auch
die praktizierte Unterrichtsmethodik mitentscheidend für die Beliebtheit und
damit auch für die positive Erinnerung an einzelne Lehrer: Jacob und Jospe
werden dadurch in besonderem Maße aufgewertet; abgeschwächt trifft dies
auch für etwa ein halbes Dutzend anderer Lehrer und Lehrerinnen zu. Mit ih-
ren einfallsreichen Methoden haben diese Lehrer dazu beigetragen, den Un-
terricht zu einem intellektuellen und auch emotionalen Erlebnis zu machen.
Solche Lehrer fanden auch eine gewisse Resonanz, wenn sie zu einem be-
wußten Judentum erziehen wollten und werden in diesem Kontext auch eini-
ge Male erinnert; ansonsten finden die Lehrer für Religionslehre und Hebrä-
isch nur selten Erwähnung.
Für Schüler-Erinnerungen an Lehrer sind auch die Erfahrungen im per-
sönlichen Umgang in hohem Maße mitbestimmend oder sogar ausschlagge-
bend; dies gilt sowohl bei negativen wie auch bei positiven Erfahrungen.
In den Lehrer-Schüler-Beziehungen war die PriWaKi keineswegs nur
von Harmonie geprägt, wie einige "schwache" Lehrer und Lehrerinnen zu spü-
ren bekamen, die Opfer von Schülerstreichen und -aggressionen wurden. So
wurde der Hebräisch- und Religionsunterricht bei Kuttner in manchen Klas-
sen nicht recht ernst genommen, und Kuttner mußte immer wieder gegen Un-
ruhe und Störungen ankämpfen. Der Biologie-Lehrer Wachsmann wurde
wegen seiner geringen Körpergröße mit dem Spottvers bedacht: "Alle Män-
ner wachsen, nur der kleine Wachsmann nicht". Die Schüler beschmierten
seinen Stuhl mit nasser Kreide oder legten ihm eine tote Maus in den Kreide-
kasten, in den er wegen seiner geringen Körpergröße nicht hineinschauen
konnte. (Vgl. W. Stein 1989) Als Wachsmann im Rahmen eines Biologie-
Projektes einen kleinen Botanischen Garten auf dem Gelände im Dol einrich-
ten wollte und an allen Pflanzen und Bäumen Schilder mit den botanischen
(lateinischen) Fachbezeichnungen anbrachte, vertauschen die Schüler diese
Schilder immer wieder, so daß aus dem Projekt ein ,joke" wurde. Eine Schü-
lerin schreibt über ihn: "Wir nannten ihn Wachsmännchen. Meine Freundin
ahmte ihn nach, und wir brachen in hoffnungsloses Gelächter aus." Herr
Wachsmann muß bittere Stunden an der PriWaKi erlebt haben.
Dies galt auch für eine junge Lehrerin, die von einer Schüler-Clique im
Unterricht so lange terrorisiert wurde, bis sie aus Verzweiflung die Schule
verließ. (Vgl. Stent 1989) Eine andere Lehrerin, die aus Hamburg kam, ernte-
te jedesmal ein großes Gelächter, wenn sie das "st" hamburgisch aussprach.
Doch soll sie sich später gegenüber den Schülern behauptet haben. (Vgl. J.
Margoninski 1989) Manche Streiche waren kreativer, und Lehrer mit star-
kem Durchsetzungsvermögen konnten an Ansehen gewinnen, wenn sie sou-
verän reagierten, wie folgendes Beispiel zeigt:

234
,,1934 kam ein neuer Physiklehrer. Die Klasse beschloß, die Namen zu wechseln. Aus
Werner Guttmann wurde Wolfgang Amadeus; ich wurde Mary Franklin aus New York.
Das hielten wir einige Tage lang durch. Mein Deutsch mußte sehr mangelhaft sein und
ständig verbessert werden durch ,Übersetzungen' von Susie Meyer. Nach einigen Tagen
kam unser Klassenlehrer Edwin Heinrich herein, ging zu mir, schaute sich meine Hände
an und meinte: ,In Amerika haben junge Mädchen keine dreckigen Fingernägel.' Damit
endete die Geschichte." (M. Rochlin 1989)
Der Einfluß der Schule auf die Schüler, soweit er sich in den spontanen Erin-
nerungen an MitschülerInnen und LehrerInnen widerspiegelt, ist eher der ei-
ner ganz normalen Schule oder besser: einer reformpädagogischen Ganztags-
schule. Die SchülerInnen erinnern sich aus den gleichen sozialen und emo-
tionalen Motiven an ihre MitschülerInnen wie dies sehr wahrscheinlich auch
Schüler und Schülerinnen aus einer nichtjüdischen koedukativen Reform-
schule tun würden.
Dies gilt zunächst auch für die Erinnerungen an die Lehrer. Vorrangig
erinnert wird, wer Nützliches und Interessantes methodisch abwechslungs-
reich lehren konnte. Genauso wichtig war aber auch die Lehrerpersönlich-
keit, wie sie sich im sozialen Umgang mit den Schülern ausdrückte. Hierbei
werden sehr selektiv im hohem Maße die gegenseitigen Verletzungen erin-
nert, wobei Lehrer wie Schüler sowohl Täter als auch Opfer sein konnten.
Dies zeigt auch eine Schattenseite der PriWaKi auf, die - pädagogisch schein-
bar paradox - zugleich auch ein Indikator für die sozialpsychologische Nor-
malität des Schullebens war, denn jede Schule ist für die Lehrer und Schüler
immer auch eine Zwangsgemeinschaft und hat damit auch ein wenig von den
negativen Zügen einer Anstalt. Obwohl die PriWaKi gegenüber den meisten
staatlichen Gymnasien jener Zeit (auch schon vor 1933) eher ein Hort der
Liberalität und der mitmenschlichen Toleranz war, wie von vielen Ehemali-
gen in anderen Zusammenhängen immer wieder betont worden ist, konnte sie
sich nicht ganz von repressiven Zügen befreien, die gelegentlich auch de-
struktive und aggressive Verhaltensweisen bei Lehrern und Schülern frei-
setzten oder mitbedingten. Insoweit konnte die PriWaKi bis 1938 als normale
Schule gelten. Die geschilderten Streiche und Rüpeleien der Schüler, die ein-
zelnen Lehrerinnen und Lehrern schwer zugesetzt haben, wären nach dem No-
vemberpogrom 1938 kaum noch denkbar gewesen. Jetzt wich das Gefühl eines
normalen Schullebens, das noch genügend Spielraum bot für harmlose und
weniger harmlose Schülerstreiche, dem Gefühl einer Notgemeinschaft und der
gegenseitigen Hilfsbedürftigkeit. Lehrer und Lehrerinnen, die sich vorher nur
schlecht behaupten konnten, hatten nunmehr keine Autoritätsprobleme mehr.
Bei dem durch die SchülerInnen kritisierten strengen, gelegentlich aber
auch ungerechten Verhalten einiger Lehrer spielen zeitbedingte Faktoren
durchaus schon mit, denn die meisten Lehrer waren bereits entlassen und so-
zial deklassiert worden. 162 Der Schulleiter Selver und Kaliski standen in ei-

162 Deshalb müssen für manche Lehrer die Streiche und Aggressionen der Schüler be-
sonders bedrohlich gewesen sein. Sie waren nun erst recht auf die Stelle an der Ka-
liski-Schule angewiesen. Eine andere Anstellung zu bekommen, wurde immer schwie-

235
nem ständigen und zermürbenden Kampf gegen Nazi-Funktionäre und Be-
hörden, um die Schließung der Schule zu verhindern. Diese ständige Exi-
stenz-Bedrohung zerrte an den Nerven, und so darf es nicht verwundern, daß
sie gelegentlich harsch reagieren, wenn die Schüler laut waren und auf dem
Grundstück umherrannten, da dies vor allem in der Bismarckallee den Be-
hörden leicht als Vorwand für eine Schulschließung hätte dienen können. Die
SchülerInnen wußten davon nichts; sie hielten deshalb das disziplinierende
Verhalten häufig für übertrieben und unbegründet. Diese negativen Erinne-
rungen beeinträchtigen aber nicht wesentlich das insgesamt sehr positive Bild
von den Lehrern auch in den spontanen Erinnerungen.
Die Entwicklung der PriWaKi wurde - wie bereits ausführlich dargestellt
- von der nationalsozialistischen antijüdischen Schulpolitik maßgeblich mit-
bestimmt. Es war deshalb zu vermuten, daß die Ereignisse innerhalb der
Schule von politischen Umständen deeZeit nicht unbeeinflußt waren. Lotte
Kaliski hatte dies in ihrer kurzen Abhandlung (1983) über die Schule bereits
herausgestellt. Wir wollten herausfinden, ob auch die Schüler das Leben in
der Schule ebenfalls von der antijüdischen Nazipolitik mitbestimmt gesehen
haben oder ob das Schulleben eher ohne einen solchen Einfluß erinnert wird.
Die Frage dazu lautete:
"An welche Ereignisse aus der Zeit an der ,Privaten Waldschule' erinnern
Sie sich noch?"
Der überwiegende Teil der Antworten bezieht sich, wie schon bei der voran-
gehenden Frage nach den Mitschülern und Lehrern, auf das normale Schulle-
ben. Dies läßt sich unter anderem daran ablesen, daß die ganz menschlichen
Dinge im Vordergrund stehen wie etwa die Gefühle gegenüber dem jeweils
anderen Geschlecht und die damit verbundenen Verhaltensweisen. Bei den
älteren Jungen und Mädchen (ab 13 Jahre) beeinflußten zunehmend Erotik
und sexuelle Motive das Verhalten gegenüber den MitschülerInnen. Während
sich aber die Mädchen eher in einzelne Jungen verliebten, blieben die Jungen
eher im Schutz der Clique und konzentrierten sich mit ihren zumeist plumpen
Annäherungsversuchen (z.B. "zufällige" Körperberührung, Luft aus den Fahr-
radreifen lassen etc.) auf "ausgewählte" Mädchen. (Vgl. Stent, Gespräch
1989) Auch das schon erwähnte rüpelhafte Verhalten gegenüber einzelnen
jungen Lehrerinnen dürfte von sexuellen Motiven mitgetragen worden sein. 163

riger. Von der Arbeit an der Schule hing somit im hohen Maße auch die persönliche
Existenz ab. Für die Schüler galt das nicht in gleicher Weise. Zwar hatten auch sie
öffentliche Schulen verlassen müssen, doch wurde der anschließende Besuch der
PriWaKi eher als Verbesserung ihrer Lage empfunden, weil sie sich dort aus mehre-
ren Gründen viel wohler fühlten.
163 Die Schüler haben nie zugegeben, sich damals auch in eine Lehrerin verliebt zu ha-
ben, obwohl das sehr wahrscheinlich war. Die Schülerinnen sprechen hingegen heute
offen darüber, sich in einen der jungen Lehrer verliebt zu haben. Die Mädchen haben
sich bei der Wahl der Freundinnen, Freunde und auch in ihren Liebschaften fast im-
mer individualistisch verhalten; die Jungen haben anscheinend viel häufiger Cliquen

236
Das romantische Verliebtsein in einen der jungen Lehrer wird von den ehe-
maligen Schülerinnen häufig erinnert. Dazu ein typisches Beispiel:
"Ich war bis über beide Ohren in ihn verliebt, aber er nicht in mich, und das war die Tra-
gödie einer Fünfzehnjährigen. Ich hab ihn nicht nur angehimmelt, sondern ihm auch klei-
ne Geschenke gemacht, was so damals möglich war. Heute geht das ja in einem ganz an-
deren Stil. Ich meine, wir waren ja ganz sexualitätsfeindlich. Wenn ich dagegen höre, wie
meine Enkel heute darüber reden! Dagegen waren wir doch arme Schäfchen!"
Es blieb also bei Romanzen l64 , die sich jedoch als persönlich wichtige Erinne-
rungen gut erhalten haben. Das Ausprobieren der Geschlechterrollen in einer
außerfamilialen sozialen Lebenswelt war sozialpsychologisch wichtig für die
Bildung eines klaren Selbstkonzepts und für die weitere Persönlichkeitsent-
wicklung. Diese Erfahrungen und Erinnerungen waren noch frei von Ein-
wirkungen von außen.
Doch bei manchen Erinnerungen an Lehrer sind die Zeitumstände deutli-
cher sichtbar. So werden etwa zwei nichtjüdische Lehrer, Rackwitz und Kun-
ze, die 1933/34 an der PriWaKi tätig waren, erinnert, weil sie vermutlich als
Kommunisten oder Sozialdemokraten verfolgt wurden. (V gl. Guttmann und
Sommer, Fb. u Briefe 1989/90) Auch wenn Schüler Schwierigkeiten mit den
Behörden oder wegen der Ausreise hatten, halfen die Lehrer nach Kräften.
So schreibt die damalige Schülerin Lilli Bernhard, deren Eltern schon in
Brüssellebten, über die Unterstützung durch den Lehrer Edwin Heinrich:
"E. Heinrich hat viel für mich getan. Erst einmal hat er mich in Mathematik auf die Füße
gestellt, und dann gab es 1937 eine schwere Zeit, wo ich auf das belgische Visum warten
mußte. Das war schrecklich. Er hat mich oft begleitet zur belgischen Gesandtschaft und
zu allen möglichen Behörden."
Die persönliche Zuwendung und Hilfe durch einen Lehrer oder eine Lehrerin
ist ebenso wie die ungerechte persönliche Behandlung als wichtiges Ereignis
("event") in den Erinnerungen der einzelnen Schüler ganz ausgeprägt enthalten.
Sogar Heinrich Selver, der leicht aus der Haut fuhr, wenn die Schüler zu laut
wurden, bewies Geschick, wenn es um die Lösung schwieriger pädagogischer
Probleme ging, wie folgender Fall zeigt: Die Geschwister VIi und Lilli Bern-
hard waren 1934 ohne Eltern aus Belgien nach Berlin zurückgekommen, wo
sie bei Bekannten der Eltern wohnten und ganztags die PriWaKi besuchten:

gebildet und sich dann auch bei ihren Annäherungsversuchen an das weibliche Ge-
schlecht stärker gruppenkonform verhalten, was auch Ausdruck ihrer Unbeholfenheit
war. Die Unbefangenheit heutiger Schülerinnen und Schüler beim Umgang oder Flirt
mit Freund oder Freundin fehlte den damaligen SchülerInnen noch weitgehend.
164 Gegenüber den rigiden Normen im Kaiserreich gab es in der großstädtischen Mittel-
schichtsjugend der Weimarer Republik allerdings eine gewisse Enttabuisierung des
Sexuellen. Gefördert wurde diese auch durch die Jugend(kultur)bewegung, in der
man sich intensiv um sexuelle Aufklärung bemühte. (Vgl. dazu U. Linse 1985) Zu
einer Liberalisierung des Sexual verhaltens auch unter den älteren Gymnasialschülern
ist es jedoch kaum gekommen; dies galt unseres Wissens auch für die Oberstufen-
schülerInnen an der PriWaKi. Auch das Verliebtsein der Mädchen in einen ihrer
Lehrer war rein romantischer Natur.

237
"Wir waren damals an der Kaliski-Schule noch ein Sonderfall: Kinder ohne Eltern! Ich weiß
noch, an einem Geburtstag bekam ich von Dr. Selver ein Büchlein geschenkt. Das war etwas
ganz Außergewöhnliches, daß man vom Direktor zum Geburtstag ein Buch bekam. Man war
gut zu uns. Ich erinnere mich, daß mein Bruder mal einen Feuerlöscher in Selvers Zimmer
ausprobiert hat. Er hat dem Selver den ganzen Teppich kaputt gemacht; der Schaum ging
nicht raus. Mein Bruder war ein Lausejunge; er war auch kein guter Schüler. Mir war es sehr
unangenehm. Aber sie haben uns zunächst kein Wort gesagt. Erst nach zwei, drei Tagen ha-
ben sie uns gerufen und gesagt: Wenn man an einen fremden Ort käme, solle man doch vor-
sichtig sein ... Ich habe Selver immer sehr verehrt. Sein Deutschunterricht war sehr gut. Er
bemühte sich, sehr ausgeglichen zu sein zwischen Klassik, Goethe usw. und ein bißehen Ju-
den turn." (L. Ithai, Gespräch 1990)

Die persönlich erinnerten ,,Ereignisse" decken sich nur selten mit schulge-
schichtlich relevanten Geschehnissen und Veränderungen, die politisch be-
wirkt wurden. Die wichtigsten Erinnerungen beziehen sich auf Situationen,
in denen unmittelbar die eigene Person betroffen war, manchmal negativ bei
einer persönlichen Verletzung, überwiegend aber positiv bei pädagogischer
Zuwendung und Hilfe. Die persönlichen Erfahrungen mit den MitschülerIn-
nen werden vielfach noch genau als Szenen oder Ereignisse rekonstruiert.
Darüber hinaus haben vor allem die reformpädagogisch induzierten Aktivitä-
ten außerhalb des konventionellen Fachunterrichts Anlaß für ein breites
Spektrum von erinnerten Ereignissen geschaffen, wie aus den zahlreichen
Antworten hervorgeht. (Vgl. Fölling 1993, S. 353ff.)
Strukturiert man das Spektrum der Antworten, so zeichnen sich im we-
sentlichen vier schulische Aktivitäts-Bereiche ab, denen die erinnerten Er-
eignisse zugeordnet werden können:

Sport (einschließlich Sporttage und -feste), Schwimmen (im schuleigenen


Bassin), Schuljahrten (mit Sportprogrammen)
praktische Übungen und Tätigkeiten (als Kontrast zum normalen Vormit-
tagsunterricht)
kulturelle Veranstaltungen und Aufführungen (Theater, Schulorchester,
Feste, Schulfeiern)
Schülergemeinschajt (Spiele mit Freunden, Schülerstreiche, Verliebtsein)

Es ist unschwer zu erkennen, daß diese Erinnerungen aus den Bereichen des
Schullebens stammen, die in besonderem Maße von den Ideen der Reform- und
Waldschulpädagogik geprägt worden sind. Dies kann als Bestätigung dafür an-
gesehen werden, daß diese Pädagogik auch in der Praxis bei den Schülern all-
gemein gut ankam.
Die von den SchülerInnen der PriWaKi genannten und geschilderten ,,Er-
eignisse" stellen jedoch keine Abbildung der eigentlichen Geschichte der Schu-
le dar! Diese wäre aus der Summe dessen, was die ehemaligen SchülerInnen in
ihren Erinnerungen als ,,Ereignisse" definieren, überhaupt nicht rekonstruier-
bar; nicht einmal die beiden Umzüge der Schule an jeweils einen anderen
Standort sind noch als allgemein erinnerte Ereignisse von besonderer Bedeu-
tung. Vorrangig wird das von der "äußeren" Schulgeschichte nicht unmittelbar

238
abhängige Schulleben in der Erinnerung als ereignisreich empfunden. Ein
Schüler pointierte seine Antwort so: "Ich glaube, jeder Tag war ein Ereignis!"
Die Ehemaligen haben also in ihren Erinnerungen ihre Schülersicht bei-
behalten und sind auch als Erwachsene nicht zu Schulhistorikern geworden.
Das damalige unmittelbar erfahrene "Innenleben" der Schule steht ihnen
auch heute immer noch näher als die Organisations- und Standortgeschichte.
Im alltäglichen Schulleben sind die unsichtbaren, aber sozial höchst realen
Ghetto-Mauem tatsächlich meistens vergessen worden. Dies entsprach durch-
aus dem Bemühen der Lehrer und besonders denen der Direktoren Kaliski,
Selver und Jacob. Die Erinnerungen beweisen: Es ist ihnen gelungen, in der
PriWaKi eine soziale Welt entstehen zu lassen, in der es Freude machte, zu
lernen, aber auch intensiv zu leben, und in der es deshalb relativ leicht fiel,
die grausame Außenwelt zu vergessen.
Biographisch relevant waren vor allem die Situationen im Schulleben, in
denen Schüler sich persönlich exponieren und bewähren mußten. Solche
Gelegenheiten gab es an der PriWaKi häufiger, etwa bei den Auftritten zu
den zahlreichen und künstlerisch ambitionierten Schulaufführungen wie z.B.
"Der Biberpelz" von G. Hauptmann. Daran zeigt sich, daß die PriWaKi ihre
innere Qualität nicht nur als Reaktion auf den außeren Druck entwickelt,
sondern auch eine eigenständige pädagogische Kreativität entfaltet hat, denn
das Schulleben vor der "Machtergreifung" wird mindestens ebenso positiv
erinnert wie die Zeit danach. Doch hat auch die inhaltliche Veränderung der
PriWaKi von einer nichtjüdischen in eine jüdische Schule bei einigen Schüle-
rInnen zu persönlichen Schulerlebnissen geführt, die sich in deren Langzeit-
Erinnerung festgesetzt haben:
"Außer an die Sportereignisse erinnere ich mich an die Schabbat-Feiern am Freitagabend.
Obwohl ich völlig areligiös war, wurde ich ausgewählt, auf einem Stuhl stehend den Se-
gen beim Anzünden der Kerzen zu singen. Dies geschah wahrscheinlich deshalb, weil ich
als Kind ,eine gute Stimme' hatte. Dies war die erste Gelegenheit für mich, aktiver Teil-
nehmer bei der Ausübung jüdischer Religionszeremonien zu sein. Das hat mich außeror-
dentlich beeindruckt, und ich erinnere mich noch ganz klar daran."
"Wir haben ein sehr schönes Stück ('Blinde Passagiere') aufgeführt, über eine Grup-
pe, die nach Israel gehen will. Meine Erinnerung daran ist noch sehr lebendig."

Gerade diese persönlichen Erlebnisse konnten vielfach eher einen Um-


schwung in der Einstellung zum Judentum herbeiführen als ein oft als lang-
weilig empfundener Hebräisch- oder Religionsunterricht. Eine solche Verän-
derung der Einstellung hatte zur Folge, daß das Judentum weniger als Bela-
stung empfunden wurde, sondern auch als etwas Positives, auf das man stolz
sein konnte. Doch der Einfluß des Nationalsozialismus ließ sich nicht ganz
aus dem Schulleben heraushalten, wie folgende Erinnerungen zeigen:
"Ich wurde in das Konferenzzimmer gerufen, wo die meisten Lehrer anwesend waren. Ich
hatte mir eine hölzerne Brosche zum Anstecken gekauft mit der Aufschrift ,Toi, toi, toi'.
Man erklärte mir dann, daß toi, toi, toi ein typisch jüdischer Ausdruck sei und daß jüdi-
sche Kinder es vermeiden sollten, solche Dinge zu tragen."

239
"Ich erinnere mich besonders an Gottfelds ,Imitation' von Joseph Goebbels während der
Geschichtsstunden. "
"Violinenspiel im Schulorchester unter Erwin Jospe. Konzertprogramrn mit Ankün-
digungen von Tschaikowski, Mendelssohn, etc., was gegen den Erlaß verstieß, daß Juden
keine deutsche Musik spielen durften. Aber wir spielten Mozart, Haydn, Schubert, und
der dabeisitzende Polizist hatte keine Ahnung."
Diese kleinen Schulerlebnisse zeigen, daß der Nationalsozialismus noch nicht
als totale Bedrohung empfunden wurde; er konnte psychologisch noch
"entschärft" werden, indem man sich über Goebbels oder den ungebildeten
Polizei- oder späteren Gestapobeamten, der als politischer und künstlerischer
Zensor an die PriWaKi abgeordnet worden war, lustig machte. Vielleicht ist
es auch nur eine Verharmlosung oder Beschönigung der damaligen Situation,
die erst später durch Anekdotenbildung entstanden ist. Doch die vielen zuvor
geschilderten Schuleriebnisse sprechen dafür, daß die Schüler das Schulleben
selbst nicht für bedroht hielten.
Das änderte sich schlagartig mit dem Novemberpogrom 1938. Wie durch
einen eisigen Nachtfrost wurde das blühende Schulleben eingefroren und
zum großen Teil zerstört. Willy Gottfeld, der kurz zuvor zum Vergnügen der
Schüler noch Goebbels imitiert hatte, stand am 11. November völlig verstört
und verwirrt vor seiner Klasse, weil man seinen alten Vater verhaftet und ins
KZ Sachsenhausen verschleppt hatte. Die ganze Schule stand unter Schock:
"Am Morgen nach der Kristallnacht versammelten wir uns im Schulsaal, und Dr. Jacob
stellte die Frage: ,Wessen Väter sind verhaftet worden?' Außer mir meldeten sich nur
zwei weitere Schüler. 165 Die zweite Frage lautete: ,Wessen Väter sind nicht zu Hause?' (in
anderen Worten: ,versteckt') Dies wurde von den restlichen Schülern beantwortet. Es war
ein sehr bedrückendes Gefühl. In den folgenden Tagen und Wochen hatten wir keinen
richtigen Unterricht, kamen aber doch täglich in die Schule, da die Atmosphäre zu Hause
sehr bedrückend war. Wir vertrieben uns die Zeit auf die verschiedenste Art, und unsere
Lehrer taten ihr Bestes, uns über die schwere Zeit hinwegzuhelfen. Ende 1938/Anfang Ja-
nuar 1939 verkleinerte sich mein Freundeskreis täglich. Einer nach dem anderen sagte
,Auf Wiedersehen' - manche verschwanden plötzlich ohne Abschied - und jeder fuhr in
eine andere Richtung." (Schaefer 1989)
Nunmehr prägten auch die äußeren politischen Ereignisse die Schulerinne-
rungen bis zur Schulschließung. Aber gerade für diese letzten Monate vom
November 1938 bis zur Schulschließung Ende März 1939 gilt, daß die Pri-
WaKi "eine schwere Zeit erträglich gemacht hat", wie eine der Schülerinnen
meint.

165 Wenn die Zahl stimmt, woran wenig Zweifel bestehen, dann sind vergleichsweise
wenige PriWaKi-Väter verhaftet worden, denn von den erwachsenen männlichen
Berliner Juden wurden 12000 in das KZ Sachsenhausen gebracht. (Vgl. Ehmann u.a.
1988, S. 243) Wie es scheint, verfügten die PriWaKi-Väter noch über genügend
Verbindungen, Informationen und Kontakte, um sich den Verhaftungen zu entzie-
hen. Wie häufig dabei auch Nichtjuden geholfen haben, ist nicht bekannt.

240
Die Besonderheiten der PriWaKi aus der Sicht der Schüler

Die PriWaKi wollte als selbsternannte Waldschule vor allem eine moderne
Reformpädagogik praktizieren und sich dadurch von den Staatsschulen positiv
unterscheiden. Die zweite Besonderheit entwickelte sie als jüdische Schule mit
ihrem Ziel, die Schüler zu einer jüdischen Gesinnung zu führen. Und schließ-
lich waren es die alternativen Qualifikationsziele, nämlich die Studien-
berechtigung an englischen und amerikanischen Hochschulen sowie die prak-
tischen Fertigkeiten, die den alternativen Charakter der Schule ausmachten.
Wir wollten herausfinden, ob die ehemaligen SchülerInnen die PriWaKi
ganz bewußt als Alternativschule wahrgenommen haben und welche konkre-
ten Besonderheiten dieser Schule in ihrem Gedächtnis haften geblieben sind.
Deshalb ist gefragt worden:
,,Im Vergleich mit normalen Staatsschulen hatte die Private Waldschule eini-
ge besondere Merkmale. Erinnern Sie sich noch an einige?"
Als Spezifika und Unterscheidungsmerkmale der PriWaKi von öffentlichen
Schulen werden in den Antworten genannt: Persönliches Lehrer-Schüler-
Verhältnis, Kameradschaft, viel Sport, Gartenarbeit, Schwimmbecken, Bau
der Sportanlagen auf dem Schulgelände im Dol, Koedukation, Unterricht im
Freien, Ausruhen in Liegestühlen, ganztägiger Aufenthalt, Schulspeisungen,
Aktivitäten außerhalb des normalen Schulcurriculums, zusätzliche Unterrichts-
angebote (z.B. in Englisch). In einigen Antworten werden die alternativen
pädagogischen Inhalte der PriWaKi so zusammengefaßt:
"Wir lernten Buchbinden, Gärtnern und Tischlern ... "
"Alles, was heute ,modern' ist, wurde schon damals vorweggenommen. Chor, Mu-
sik, Handfertigkeit, Sport am Nachmittag - was heute unter dem Titel ,enrichment' geht.
Wir fühlten uns sehr frei, hatten aber auch das Gefühl, gut geführt zu werden."

Besonders häufig werden von den Ehemaligen Aktivitäten und Inhalte ange-
geben, die von den Didaktikern dem psychomotorischen Bereich des Lernens
zugeordnet werden, also Sport, Werken, Gartenarbeit und sonstige praktische
Tätigkeiten. Der kreative Bereich (Musik, Theater, gestaltende Kunst), der
eine mindestens ebenso wichtige "Säule" (P. Jacob) in der Alternativpäd-
agogik der PriWaKi war und der in anderen Kontexten von den Ehemaligen
auch viel gelobt worden ist, ist hier seltener erwähnt worden. Dies hat zwei
Gründe: Sport und vor allem praktische Arbeit bildeten einen stärkeren Kon-
trast zum Leben jüdischer Mittelschichtskinder, vor allem in den Großstäd-
ten. Das Theater und die Musik hatten sie oft schon durch die Elternhäuser
kennengelernt. Hinzu kam das schon beschriebene psychologische Motiv der
Selbstbestätigung durch physische Arbeit und Sport, das unter dem Druck
der antisemitischen Dauerpropaganda, die den Juden unter anderem eine
physische Minderwertigkeit zuschrieb, immer stärker wurde. Dies scheint als
(unbewußter) Reflex immer noch in den Antworten der Ehemaligen zum
Ausdruck zu kommen.

241
Aber nicht nur die alternativen Inhalte werden als das Besondere an der
PriWaKi geschätzt, sondern mehr noch die pädagogischen und sozialen Um-
gangsformen:
"Insgesamt war die Einstellung entspannter (more relaxed). Weniger autoritär. Kleinere
Klassen. Ein engeres Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern."
"Die Lehrer kümmerten sich auf eine sehr persönliche Weise um die Schüler. Man fühlte
sich geachtet und geschätzt, auch als junger Mensch."
"Die Art des Unterrichts. Kleine Klassen. Persönliche Zuwendung."
"Enger Kontakt mit den Lehrern. Belohnungen."
"Das informelle, koedukative System; besonders das ,demokratische' Gefühl gegenüber
der Lehrerschaft. Das Gefühl, daß dies ,unsere' Schule war ... "

Insbesondere im Kontrast zum überwiegend autoritären Lehrerverhalten an


den öffentlichen Schulen, in denen nach den früheren Erfahrungen von Schü-
lern der "Pauker"-Typ allzu häufig vorherrschte, wurde die Reduzierung der
statusbestimmten Autorität zugunsten eines mehr kameradschaftlichen Ver-
hältnisses zu den Schülern von diesen sehr geschätzt. Zusammen mit den in-
teressanten inhaltlichen Angeboten außerhalb des regulären Schulunterrichts
kristallisierte sich so ein spezifisches Schulprofil der PriWaKi heraus, das
sich deutlich von einer öffentlichen Schule unterschied, wie die Bewertung
durch die Ehemaligen zeigt. Es entstand ein Soziotop mit einem angenehmen
Schulklima, in dem die meisten Schüler sich sehr wohl fühlten. Dieser Zu-
sammenhang wird in den folgenden Antworten hergestellt:
"Es gab eine individuelle Zuwendung, ein breites Fächerspektrum, keine politisch-
ideologische Manipulation in den religiösen und historischen Fächern, wie ich das zuvor
in der Volksschule und auf dem Gymnasium erlebt habe. Im allgemeinen hatten wir sehr
gute Lehrer. Die Schülerschaft war sozial homogen und gehörte zur mittleren und oberen
Mittelschicht, wo auf das schulische Lernen sehr geachtet wurde."
"Die Schule dauerte von früh morgens bis ungefahr 5 Uhr nachmittags. Wir aßen
gemeinsam zu Mittag, und das Essen schmeckte mir weit besser als zu Hause. Dadurch
entstand ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Kameradschaft unter den Schülern
- ganz anders als das allgemein feindselige und aggressive Verhalten an der staatlichen
Schule, ohne daß sich jedoch die sozialpathologischen Züge mancher Vollinternate ent-
wickelten. "
"Wir hatten ,praktischen' Unterricht und lernten zum Beispiel, wie man mit Klei-
dung umgeht, Knöpfe annäht, Kartoffeln kocht etc. Ich glaube, dies war als praktische
Vorbereitung für die Emigration gedacht. Es war besonders die behagliche, farniliale und
gemeinschaftsbetonte Art, in der alle diese Aktivitäten stattfanden, die der Kaliski-Schule
eine besondere Note gab. Es war das Gefühl, daß wir alle etwas gemeinsam hatten."

Dieses Schulklima unter Einschluß der besonderen Lehrer-Schüler-Bezieh-


ungen und der erwähnten alternativen Inhalte und Methoden sichert der Pri-
WaKi die hohe Wertschätzung bis heute.
Die Leistungen der Schule im konventionellen Unterrichtsbereich wer-
den nur in wenigen Fällen als Besonderheit hervorgehoben. Dabei wird die
gute Qualität des Unterrichts in Englisch und Französisch gelobt, zusammen
mit dem Zusatzangebot an Sprachübungen im Nachmittagsunterricht und die
Vorbereitung auf die englische Reifeprüfung.

242
Relativ selten wird die PriWaKi in ihrer Eigenschaft als jüdische Schule
betont. Nur in drei Antworten werden einige Bestandteile der Erziehung zum
Judentum als Besonderheit der Schule erwähnt, z.B.: "Hebräisch-Unterricht";
"das Feiern jüdischer Feste", "hebräische Lieder".
Eine wesentliche Funktion hatte die PriWaKi ab 1933 darin, den ausge-
grenzten und diskriminierten jüdischen Kindern ein Refugium zu schaffen, in
dem sie möglichst zusammen mit anderen jüdischen Schulen unbehelligt
vom Nazi-Terror leben und lernen konnten. In den nichtjüdischen Schulen
waren viele PriWaKi-Schüler zuvor von Mitschülern beleidigt oder sogar
verprügelt worden. Sie hörten im Radio und auf der Straße die haßerfüllten
Reden und Gesänge der Nazis, wurden in der U-Bahn selbst von Erwachse-
nen angepöbelt und sahen an den Straßenecken und Haltestellen in den dort
aufgestellten "Stürmer-Kästen" die entstellenden antijüdischen Karikaturen,
durch die sie zutiefst verunsichert und verwirrt wurden. In der abgeschirmten
Welt der PriWaKi waren sie vor diesem Haß sicher, was nicht unwesentlich
zur Wertschätzung dieser Schule beigetragen haben dürfte, wie die von El-
tern, Lehrern und Schülern geprägten Bezeichnungen "himmlisches Ghetto",
"Oase", "Paradies", "Festung Kaliski" etc. für diese Schule bezeugen. Nach
der beschützenden Funktion der Schule ist auch gesondert gefragt worden:
"Einige der ehemaligen Schüler haben geschrieben, daß sie sich in der Pri-
vaten Waldschule besonders geschützt gefühlt hätten. Hatten Sie auch dieses
Gefühl?"
Insgesamt haben 55 von 60 befragten ehemaligen SchülerInnen eine Antwort
gegeben. 15 von ihnen können sich nicht mehr erinnern, ob sie sich damals
beschützt gefühlt haben, oder sie verneinen die Frage.
Für die Verneinung der Frage werden ganz verschiedene Begründungen
angeführt. Einige SchülerInnen hatten nicht das Gefühl der Bedrohung und
demzufolge auch nicht das Gefühl, in der Schule in besonderer Weise geschützt
werden zu müssen. Hierbei handelt es sich um relativ früh ausgewanderte
SchülerInnen, die den Novemberpogrom 1938 nicht mehr erleben mußten. An-
dere, zumeist ältere Schüler und Schülerinnen, wiederum hatten schon so viel
vom nationalsozialistischen Terror mitbekommen, daß sie nicht das Gefühl hatten,
die Schule könne sie gegebenenfalls beschützen. Insgesamt stimmten genau zwei
Drittel der Frage, ob sie sich an der PriWaKi besonders geschützt ("sheltered")
gefühlt hätten, grundsätzlich zu. Einige der vorbehaltlosen Antworten lauten so:
"Ja. Einmal auf dem Schulgelände, versank die Welt außerhalb,und obwohl wir über die
Gefahren informiert wurden, waren wir dort glückliche und normale Kinder."
"Ja. Innerhalb der Schule gab es keine Angriffe, weil man jüdisch war, weder von
Mitschülern noch vom Lehrkörper. Ich fühlte mich sicher und nicht bedroht. Die PriWaKi
war eine kleine Insel der Geborgenheit in einer sehr feindseligen Umwelt."
"Ja, es war eine Oase in einer schlimmen Zeit."

Von dem Damokles-Schwert der Schulschließung, das fast ständig über der
Schule schwebte, wußten die SchülerInnen offenbar nichts, sonst wäre das
Sicherheitsgefühl wohl kaum so ausgeprägt gewesen.

243
Doch gibt es bei der Mehrheit der Antworten eine wichtige Akzentver-
schiebung zu der Metapher "Shelter". Für die meisten SchülerInnen war die
PriWaKi nicht einfach ein "Shelter" im Sinne eines Schutzbunkers oder einer
reinen Fluchtburg, sondern die innere pädagogische Qualität scheint viel ent-
scheidender gewesen zu sein für die Vermittlung des Gefühls der Geborgen-
heit. Dies geht vor allem aus folgenden Antworten hervor:
"Sehr ausgeprägt. Die Schule sorgte für eine normale Alltagswelt für ihre Schüler in einer
Zeit des Schreckens. Die Lehrer waren herausragend und interessant, und wir Schüler
verbrachten mit ihnen zusammen wunderschöne Tage. Alle verhielten sich zuvorkom-
mend, und man beachtete die Freuden und Probleme der anderen. Es gab sehr viel Moti-
vation und Engagement."
,,Ja. Es war offensichtlich, daß die Schule das jüdische Motiv stärken wollte als Anti-
these zur Umwelt draußen. Es war das erste Mal, daß ich Hebräisch in meinem Stunden-
plan hatte. Jüdische Geschichte und jüdische Musik wurden ebenfalls gepflegt, was einen
dauerhaften Eindruck bei mir hinterlassen hat. Die jüdischen Volkslieder schienen mich
damals mehr anzusprechen als die deutschen, mit denen ich aufgewachsen war."
"Ich weiß nicht mehr, ob ich mich ,beschützt' fühlte, aber ich war dort so glücklich,
wie es nur möglich war, vor allem im Hinblick auf die antisemitische Atmosphäre in der
Stadt. Ich mochte die meisten Lehrer, die dort viel humaner waren als diejenigen, die ich
auf der Volksschule erlebt habe oder auf dem Bismarck-Gymnasium. Natürlich war es ei-
ne große Erleichterung, endlich davon erlöst zu sein, ,Judenjunge' genannt zu werden."
Es war also nicht nur der Fluchtburg-Charakter der PriWaKi, der positiv ge-
würdigt wird, sondern das Geborgenheitsgefühl der Schülerinnen und Schü-
ler beruhte auch stark auf dem Gemeinschaftserleben und den damit verbun-
denen Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung. Die PriWaKi war für
die meisten SchülerInnen, vor allem für die jüngeren, eine Art Hort, und was
sie dort suchten und fanden, war Nestwärme. Nur ältere Schüler und Schüle-
rinnen schienen zu wissen, wie leicht ein Nest durch äußere Gewalt zerstört
werden kann; für die jüngeren Schüler blieb das Erlebnis dieser Nestwärme
entscheidend. Die PriWaKi wird nicht nur in ihrer abschirmenden und schüt-
zenden Funktion gewürdigt, sondern diese wird meistens verbunden mit der
pädagogischen und sozialpsychologischen Leistung des Personals - außer den
Lehrern waren dies auch Erzieher, Hausmeister, das Küchenpersonal und an-
dere. So wurde eine inhaltlich, sozial und emotional reichhaltige und empa-
thische Lebenswelt geschaffen als Gegenwelt zur äußeren, weitgehend feind-
lich gesinnten Umwelt.
Diese großartige pädagogische und sozial psychologische Leistung der
PriWaKi läßt deshalb wenig grundsätzliche Kritik durch die SchülerInnen
vermuten. Um ganz sicher zu gehen, haben wir gefragt:
"Haben Sie eine grundsätzliche Kritik an der PriWaKi?"
Die meisten Antworten lauten kurz und eindeutig: Nein! Auch in den ande-
ren Antworten werden jeweils nur einzelne Mängel oder Fehlleistungen der
Schule kritisiert; dabei sind zumeist ganz spezifische Probleme und Be-
dürfnisse einzelner Schüler, denen die Schule nicht gerecht geworden ist, An-
laß für kritische Bemerkungen. Ein Anlaß ist die schon in anderen Antworten

244
erwähnte gelegentliche Strenge und das persönlich erfahrene ungerechte Ver-
halten einzelner Lehrer. Ein Schüler meint: "Discipline was sometimes too
harsh." Nur ein Schüler, ein bekannter und sehr erfolgreicher New Yorker De-
signer und Unternehmer, schreibt in einem kurzen Brief über die Schule:
"Die Kaliski-Zeit war kurz und chaotisch und unglücklich - eine kleine, böse Pause zwi-
schen Boarding-Schule (Internat) in England und baldiger Rückkehr nach England ... Ich
war unglücklich und die Lehrer waren unglücklich - es ist alles vergessbar." (1989)

Wie auch aus seiner Biographie hervorgeht, hatte dieser Schüler in renom-
mierten englischen Internaten, vor allem an der St. Paul 's School in London,
gelebt. Der Besuch der PriWaKi war nur ein kurzes Intermezzo, er wurde nur
vorübergehend für einige Monate dort eingeschult, während die Eltern in
Berlin Geschäftliches und die Ausreiseformalitäten regelten. Dadurch konnte
oder wollte er keine Identifikation mit der PriWaKi aufbauen, sondern regi-
strierte eher das äußere Bild der Schule, das ab 1937 durch eine verstärkte
Fluktuation von Lehrern und Schülern gekennzeichnet war. Auch scheint die
liberale Waldschulpädagogik mit seinem konservativ-elitären Weltbild retro-
spektiv zu kollidieren. Seine Biographie ist die eines Erfolgsmenschen, der
seinen Erfolg eher auf Tugenden wie Disziplin, Strenge und Leistung zurück-
führt, die er an den konservativen englischen Internaten erworben hat. Auch
dies ist ein Beispiel dafür, wie die (spätere) Biographie die Einschätzung und
Bewertung von Schulerfahrungen entscheidend mitbestimmt.

Biographische Einflüsse einer jüdischen Reformschule

Schulerinnerungen decken sich nicht unbedingt mit der objektiven Bedeu-


tung der besuchten Schule für die eigene Biographie und auch nicht - wie bei
der PriWaKi deutlich geworden ist - mit der eigentlichen Schulgeschichte.
Vielmehr spielen emotionale und psychologische Faktoren bei den Erinne-
rungen eine entscheidende Rolle. So kann eine persönlich erfahrene kleine
Ungerechtigkeit durch einen Lehrer noch nach einem halben Jahrhundert er-
innert werden, obwohl sie keinerlei erkennbare Auswirkung auf die Schul-
laufbahn und den späteren Lebenslauf gehabt hat. Direkte Einflüsse, die ei-
nen biographischen "turning point" verursachen, dürften vergleichsweise sel-
ten nachweisbar sein, kommen aber vor. So könnte etwa das erfolgreiche
Spielen einer Hauptrolle in Gerhard Hauptmanns "Biberpelz" für die Schüle-
rin Miriam Cohn den Weg zur Bühnendarstellerin eröffnet haben oder die
Palästina-Gruppe dem Schüler Hans-Georg Hirsch den Weg zum Kibbuz-
Pionier. Einige andere Beispiele ließen sich hinzufügen.
Im allgemeinen dürfte ein spezifischer Einfluß einer Schule auf die Bio-
graphien ihrer Schüler nur schwer nachzuweisen sein. Der Versuch, solche
Einflüsse herauszufinden, hängt letztlich von den subjektiven Urteilen der
betroffenen SchülerInnen ab. Während man von einer normalen öffentlichen
Schule eher annimmt, daß sie ihren biographischen Einfluß über die Vermitt-

245
lung von fachlichen Qualifikationen und den damit verbundenen Berufs-
wahlmöglichkeiten ausübt, werden an eine Reformschule zumindest implizit
höhere Erwartungen gestellt, die durch die anspruchsvollen pädagogischen
Ziele der Schule geweckt werden. Für die PriWaKi waren das neben den all-
gemeinen Zielen einer Reformschule, wie Schülerorientierung, Förderung
der Kreativität, praktisches Tun, körperliche Ertüchtigung, Naturnähe etc.,
vor allem auch die Erziehung zu einem positiven jüdischen Bewußtsein so-
wie die Vorbereitung auf die Emigration. Wie aus den bisher schon darge-
stellten Meinungen und Ergebnissen hervorgeht, können diese Ziele fast alle
als erreicht gelten, wobei in bezug auf den biographischen Einfluß die Vor-
bereitung auf die Emigration besonders gut gelungen ist, denn die Emigrati-
onsquote liegt deutlich über 90 v.H. Von schulischen Leistungsdefiziten, die
den Anschluß an das englische oder gar amerikanische Bildungssystem er-
schwert hätten, ist nur in zwei Ausnahmefällen die Rede.
Schwieriger zu beurteilen ist jedoch die biographische Relevanz der re-
formpädagogischen Ziele. Ein gutes Schulklima und eine behagliche "Nest-
wärme" mögen eine angenehme Erinnerung an die Schule wachhalten, doch
der Nachweis eines größeren biographischen Einflusses ist damit noch nicht
erbracht. Auch die Erziehung zu einer stärkeren und positiven jüdischen
Identität ist in ihren längerfristigen biographischen Auswirkungen vermutlich
nur schwer zu erfassen. Letztlich bleibt kaum eine andere Möglichkeit, als
über eine Selbsteinschätzung der Betroffenen derartige biographische Ein-
flüsse zu registrieren. Darum ist zunächst folgende Frage stellt worden:

"Welche der besonderen Merkmale der ,Privaten Waldschule' waren even-


tuell nützlichJür Ihr späteres Leben?"

Die Antworten ergeben folgendes Bild: Von einem großen Teil der Ehemali-
gen wird die Qualität des schulfachlichen Unterrichts als nützlich für das spä-
tere Leben betont. Hierbei dominieren klar die Fremdsprachen. Fast jeder
zweite Antwortende hat Englisch und Französisch als nützlich für das spätere
Leben bewertet. Mit weitem Abstand rangieren Hebräisch (zwei Nennungen)
und Latein (eine Nennung). Die wenigen Nennungen für Hebräisch überra-
schen etwas, doch wissen wir bereits, daß diese Sprache nicht sonderlich be-
liebt war und als wenig nützlich angesehen wurde, da bis 1938 nur wenige
Schüler nach ,,Erez Israel" auswandern wollten. Die Nützlichkeit von Englisch
war hingegen zu jedem Zeitpunkt unumstritten.
Gut wird auch der Mathematikunterricht beurteilt; insgesamt 7 Schüler
loben seine Nützlichkeit und Qualität, was vermutlich ein Verdienst von
Edwin Heinrich war, der außer in Sport auch Mathematik und Physik unter-
richtet hat und sich dabei als guter Didaktiker erwies. An einer amerikani-
schen High-School konnten die so erworbenen Mathematikkenntnisse schon
einen Spitzenplatz sichern. (Vgl. Hirschberg, Gespräch 1989) Andere Schul-
fächer erhalten nur vereinzelte Nennungen, das sind Geographie, Geschichte,
Chemie, Literatur, Musik. Auch hier ist ein guter Lehrer, z.B. Gottfeld für

246
Geographie und Geschichte, für die Nennung ausschlaggebender als die
Nützlichkeit des Faches für das spätere Leben.
Mehr als die Hälfte der Meinungen und Bewertungen bezieht sich positiv
auf die konventionellen Schulfächer. Diese Ehemaligen unterscheiden also
deutlich zwischen Beliebtheit und Nützlichkeit für das spätere Leben; letztere
liegt für sie mehr im konventionellen Fachunterricht und korrespondiert mit
den Motiven der Eltern bei der Wahl der PriWaKi. Schrumpft die PriWaKi
also unter dem Aspekt der späteren Nützlichkeit auf ein normales Maß zu-
sammen?
Dies wäre als Feststellung zu einseitig. Denn ebenso wie bei der positi-
ven Einschätzung der Fächer auch der "gute Lehrer" mitspielte, werden für die
Nützlichkeit im späteren Leben auch die guten Lehrer-Schüler-Beziehungen
herangezogen, wie z.B. aus folgenden Antworten hervorgeht:
"Die informelle Atmosphäre zwischen Schülern und Lehrern. Der Lehrer war ein hilfsbe-
reiter Mensch, kein Pauker."
"Vor allem die Kameradschaft, die häufig mit den jüngeren Lehrern herrschte. Der
Pauker und gefürchtete Klassentyrann war dort nicht zu finden."

Antworten dieser Art werden häufiger gegeben. Meistens ist das Erwähnen
der guten Lehrer-Schüler-Beziehung gekoppelt an die Erwähnung der guten
Sozialbeziehungen und des emotionalen Klimas der Schule.
Obwohl aus diesen und anderen Antworten nicht hervorgeht, worin der
konkrete biographische Nutzen eines guten Schulklimas und einer persönli-
chen Lehrer-Zuwendung bestanden hat, muß von den Antwortgebern implizit
ein solcher Einfluß angenommen worden sein. Gerade im Kontrast zur Au-
ßenwelt waren die soziale Integration und die emotionale Geborgenheit in
der Schule, die maßgeblich durch das kameradschaftliche Verhältnis zu den
Lehrern und durch die Freundschaften der Schüler untereinander mitbedingt
waren, von besonderer Bedeutung. Während die Politik der Nationalsozialisten
eine soziale Ausgrenzung und eine systematisch betriebene Zerstörung des
Selbstwertgefühls der jüdischen Kinder inszenierte, wurde in der PriWaKi die-
ses Selbstwertgefühl wieder hergestellt und verstärkt. Die oben zitierten Ant-
wortgeber scheinen erkannt zu haben, auch wenn es ihnen vielleicht nicht im-
mer voll bewußt ist, daß die PriWaKi ihnen in einer Zeit der Verunsicherung
und sozialen Ausgrenzung ein soziales "Urvertrauen" und einen Glauben an die
Wichtigkeit der eigenen Person zurückgegeben hat. Dies geschah vor allem
über die pädagogisch sensiblen Lehrer; die Kameradschaft der Peers war dabei
eine wichtige Ergänzung. In dieser emotionalen Stabilisierung durch die Schule
sehen viele Ehemalige die Voraussetzungen dafür, mit den zweifellos großen
Problemen der Flucht und des Lebens in einem neuen Land nicht nur fertig ge-
worden zu sein, sondern darüber hinaus auch zu einer persönlich befriedigen-
den Lebensform gefunden zu haben. Insofern schreiben sie auch dem pädago-
gischen Verhältnis und dem Schulklima eine allgemeine Nützlichkeit zu.
Unter praktischen Aspekten werden nicht nur die Fremdsprachen und
Mathematik-Kenntnisse als nützlich für das spätere Leben erwähnt, sondern

247
auch die Aktivitäten innerhalb des reformpädagogischen Programms der
Schule, insbesondere der Komplex der "praktischen Übungen". Eine der
Antworten dazu lautet:
"Ich erinnere mich, daß jeder Junge und jedes Mädchen kochen und ein wenig nähen und
Socken stopfen lernte. Weiter lernten wir, Holz zu sägen und einen Schraubenzieher zu
benutzen bei einfachen Reparaturen. Das hat mich davon überzeugt, daß ich alles selber
tun kann oder lernen kann, es zu tun."
Wie bereits erwähnt, wird die Relevanz dieser praktischen Tätigkeiten unter-
schiedlich gesehen; ein Teil der Schüler scheint sie aber auch in biographi-
scher Hinsicht für wichtig zu erachten, auch wenn auf Dauer keiner von ih-
nen einen handwerklichen Beruf ausgeübt hat. Am meisten werden diejeni-
gen Schüler davon profitiert haben, die nach der Emigration nicht sofort eine
weiterführende Schule oder Universität besuchen konnten, sondern auf der
Flucht vor Hitler mehrere Jahre unter improvisierten Bedingungen leben
mußten. Manche Schüler scheinen das pädagogische Ziel der Selbständigkeit
in praktischen Dingen zu einer Art Lebensphilosophie gemacht zu haben (wie
etwa der oben zitierte Dimitri Hirschberg), die auch als Orientierung in der
Lebensführung gedient hat. Damit ist selbst in den praktischen Übungen eine
weltanschaulich-philosophische Komponente enthalten gewesen, die mit der
gesamten Reformpädagogik der Schule noch viel umfassender und ausge-
prägter vermittelt und von den SchülerInnen aufgenommen und internalisiert
worden ist. Das zeigt sich in folgenden Antworten:
"Ich erhielt einen Sinn für humanistische Werte und eine entsprechende ,Weltanschauung'."
"Die erhaltene Allgemeinbildung ... hat mir einen sehr guten Ausgangspunkt gegeben."
"Keine der Besonderheiten der PriWaKi im fachlichen Bereich war nützlich für mein
späteres Leben. Ich war nur ein mittelmäßiger Schüler, zumindest, was meine Zensuren
anging. Aber die Lehrer hatten einen außerordentlich bedeutsamen allgemeinen Einfluß
auf mein späteres Leben über die Charakterbildung, und dadurch haben sie mich zum In-
tellektuellen gemacht. Irgendwie habe ich von ihnen gelernt, daß Vorstellungen (ideas)
über Politik, Literatur und Religion sehr wichtig sind."

Die jüdischen SchülerInnen im "Dritten Reich" steckten - bedingt durch die


nationalsozialistische Verfolgung - vor einer unüberwindlichen biographi-
schen Hürde in bezug auf ihre Zukunft in Deutschland. Mit dem Entschluß
zur Flucht und Emigration war ein biographischer Wendepunkt erreicht. Die
PriWaKi beanspruchte, diese biographische Wende meistern zu helfen. In-
wieweit dieser Anspruch eingelöst werden konnte und ob auch später die
PriWaKi über die oben konzedierte allgemeine Nützlichkeit hinaus noch ei-
nen konkreteren Einfluß auf den beruflichen oder persönlichen Lebenslauf
hatte, sollte mit folgender Frage herausgefunden werden:
"Hat der Besuch der PriWaKi einen besonderen Einfluß auf ihren berufli-
chen oder persönlichen Lebenslauf gehabt?"
Etwa 60 Prozent SchülerInnen sind von einem positiven Einfluß der Schule
auf ihre persönliche und/oder professionelle Biographie überzeugt. In fol-

248
genden Antworten wird überwiegend die Relevanz für den weiteren persönli-
chen Bildungsgang und/oder die berufliche Entwicklung erwähnt:
"Ich glaube, daß ich eine gute Grundlagenbildung (basic education) im Alter von 10 bis
13 Jahren dort erhalten habe. Ich hatte keine Probleme, mich der britischen Schule anzu-
passen in einer Situation, als meine Eltern einem großen Druck und einer starken Nerven-
belastung ausgesetzt und den ganzen Tag voll damit beschäftigt waren, in der neuen Um-
gebung Fuß zu fassen. Ohne Zweifel hat sie mir geholfen, normaler aufzuwachsen und
besser mit dem Schock und dem Streß fertigzuwerden, der durch die völlig andersartige
und schwierige Umwelt ausgelöst wurde, die uns in Shanghai erwartete."
"Die Fremdsprachenkenntnisse könnten einen Einfluß gehabt haben auf meine späte-
re Geschäftstätigkeit und auf mein Leben."
"Sie sorgte für ausgezeichnete Grundlagen für die nachfolgenden Schulbesuche."
"Ja, sie leitete dazu an, sich um die beste Bildung zu bemühen und den Erfolg anzu-
streben. Mein gegenwärtiger Status: Chirurg, Hochschullehrer, Autor."
,,sie sorgte für einen unproblematischeren Übergang zu einer akademischen Karriere
im Ingenieurwesen in den USA, als er sonst möglich gewesen wäre. Ich war in der Lage,
an der Purdue Universität die Prüfungen für Fortgeschrittene zu absolvieren und konnte
den Beruf des Ingenieurs mit wenig Schwierigkeiten erreichen."
"Die Bildung, die wir unter schwierigen politischen Umständen damals erhielten,
war wirklich ausgezeichnet. Als ich 1940 in die USA kam, wurde ich zwei Jahrgänge hö-
her eingestuft, obwohl ich von November 1938 bis März 1940 keine Schule besuchen
konnte. Der Berater der Highschool stellte fest, daß ich aufgrund der guten vorhergehen-
den Bildung an der Kaliski-Schule den [gleichaltrigen] Mitschülern weit voraus war."
"Als Sechszehnjähriger kam ich nach Chicago und ich glaube, daß die PriWaKi mir
dazu verholfen hat, schnell in die US-Gesellschaft integriert zu werden und eine einiger-
maßen erfolgreiche Geschäftskarriere zu erreichen. Sie enthielt einen großen Teil der
Grundlagen für die Zufriedenheit, die ich in meinem persönlichen Leben erreicht habe."
Die Antworten betonen primär das gute Qualifikationsniveau als Vorausset-
zung für eine erfolgreiche weitere Schul-, Hochschul- und Berufsausbildung.
Zu berücksichtigen ist dabei, daß das Highschool-Niveau in den USA eher
dem einer deutschen Realschule und nicht dem eines Gymnasiums entsprach.
Auch eine mittelmäßige höhere Schule mußte so eine relativ gute Vorberei-
tung auf eine amerikanische höhere Schule vermitteln, sofern der sprachliche
Anschluß schnell gelang. Aus einem Teil der Antworten geht hervor, daß nicht
nur das Schulwissen, sondern auch die erworbene Sozialkompetenz und Moti-
vation den professionellen Werdegang mit gefördert haben. Ansonsten wird ein
unmittelbarer beruflicher Einfluß der Schule - etwa als entscheidender Einfluß-
faktor bei einer beruflichen Alternative - nur in Ausnahmefällen geltend ge-
macht. Zu diesen Ausnahmen gehören zwei Lehrerinnen und ein Lehrer aus der
Fragebogen-Gruppe; sie scheinen durch die PriWaKi in der Wahl des Lehre-
rInnen-Berufs zumindest bestärkt worden zu sein; möglicherweise haben die
Erfahrungen mit der PriWaKi sogar die Entscheidung herbeigeführt:
"Die PriWaKi setzte hohe Maßstäbe für den Unterricht und auch für das Sozialverhalten -
ganz im Gegensatz zu der Schule, an der ich jetzt arbeite (in der Bronx), wo auch die
Schulaufsicht ein Armutszeugnis ist. Ich versuche dennoch als Konrektorin, hohe Stan-
dards zu erreichen und verlange es auch von den Schülern und dem Lehrerkollegium -
was mein Leben dort nicht gerade leichter macht. Ich versuche, beispielgebend zu unter-
richten und anderen zu helfen und hohe Erwartungen zu erfüllen." (Reni Roberts)

249
Die damalige Schülerin Johanna Stein hatte schon an der PriWaKi erste Er-
folgserlebnisse im Unterrichten jüngerer Kinder:
"Immer wenn ich vom PriWaKi-Schulleiter in die unteren Klassen geschickt wurde, um
eine fehlende Lehrerin zu vertreten, wurde ich für meinen erfolgreichen Umgang mit den
Schülern gelobt. Es ist möglich, daß ich mich deshalb dem Lehrerberuf zugewendet habe
und selbst jetzt noch im Pensionsalter schon 10 Jahre lang freiwillig weiter unterrichte".
(Hanna Neumann)

Auch der spätere Direktor des angesehenen Hebräischen Gymnasiums in Je-


rusalem, Shmuel Kneller, hat seine berufliche Weichenstellung durch die
PriWaKi erhalten: ,,1 chose to become an educator."
Nun ist es nicht unüblich, daß Schüler, die sich mit dem Leben in einer
Schule anfreunden können, auch Lehrer oder Lehrerin werden. Doch im Fal-
le der zitierten Alumni hatte die PriWaKi geradezu einen pädagogischen Mo-
dell- und Vorbildcharakter. Shmuel Kneller hat aus der Sicht eines professio-
nellen Pädagogen im vertiefenden Gespräch herausgestellt, was ihm an der
Pädagogik der PriWaKi besonders beeindruckt hat:
"Ich glaube, daß mir das Lehrer-Schüler-Verhältnis in der Kaliski-Schule sehr zugesagt
hat, und ich darin nicht einen Beruf, sondern eine Berufung gesehen habe. Ich habe die
ganze Pädagogik der Kaliski-Schule sehr bewußt aufgenommen; also ich habe im Alter
von 10 bis 14 die Schule besucht, und ich glaube, sie hat sich mir eingeprägt. Ich würde
nicht sagen, daß ich später im wesentlichen die Kaliski-Schule kopiert habe, aber ich
glaube, daß eine besondere pädagogische Erfindungskraft, besonders von Jacob und ähn-
lichen Lehrern, mir sehr nahe gegangen ist, daß man eben nicht nur auf einem sehr trok-
kenen und ,regulären' Weg Kinder erziehen kann, sondern auch einen anderen Zugang zu
Kindern haben kann. Ein Beispiel: Als wir bei Hecht Schwimmen gelernt haben im Bas-
sin, da hat er gesagt: Jetzt setzt euch, jetzt legt euch ,schlafen'. Da wollte er uns das Tau-
chen beibringen, daß wir auch mit dem Kopf unter Wasser bleiben konnten. Also solche
kleinen Ideen sind mir geblieben, daß man manches den Kindern durch Spiel oder mit ei-
nem anderen approach beibringen kann."

Auch andere Szenen, die scheinbar klein und nebensächlich waren, haben sich
bei ihm als Schlüsselszenen und damit auch als pädagogische Leitnormen für
seinen Lehrerberuf festgesetzt. So habe Selver, als er zum ersten Mal den Ge-
schichtsunterricht in seiner Klasse übernahm, an die Tafel geschrieben: "Die
Geschichte Wiens" und ,,Eine Geschichte Wiens" und die Schüler gefragt:
"Was ist der Unterschied?" Dabei sei er schon als junger Schüler zu der Er-
kenntnis gelangt, daß man Geschichte aus ganz verschiedenen Perspektiven se-
hen und interpretieren könne. Auch eine andere kleine Begebenheit mit dem
Lehrer Jacob war für seine Biographie als Pädagoge so etwas wie eine Schlüs-
selszene:
"Von Jacob habe ich die Erinnerung - er hat auch Deutsch unterrichtet, nicht nur Franzö-
sisch -, daß wir einen Aufsatz geschrieben haben, und ich habe sehr schlechte Aufsätze
geschrieben, denn ich habe immer nur die Vorgänge beschrieben und nicht das, was inter-
essant war. Und wir bekamen das Thema ,Rosh Hashana' (jüdisches Neujahrsfest - W.F).
Ich begann meinen Aufsatz so: ,Am Rosh Hashana ging ich mit meiner Familie in die
Synagoge'. Und dann sehe ich Jacobs roten Stift neben meinem Auge auf mein Heft her-

250
unterkommen - er lief so durch die Reihen durch -, und er strich das Wort ,Am' aus, und
hinter ,Rosh Hashana' machte er einen Punkt. Was rauskam war: ,Rosh Hashana. Ich ging
mit meiner Familie in die Synagoge'. Und das gab mir einen Ruck, ein bißchen in einem
anderen Stil zu schreiben, und ich bin ihm bis heute dankbar, denn das war mehr oder
weniger der Umschwung bei mir, denn dieser Punkt ist mir bis heute in Erinnerung, der
mir den Ruck gegeben hat, meinen Stil ein wenig zu verändern, was mir dann nachher
auch geholfen hat, als ich öffentlich sprechen mußte als Direktor und so weiter, was mir
nicht so gelegen hat, aber immer habe ich mich an Jacob erinnert ... "

An diesen Schlüsselszenen wird besonders deutlich, wie eine gute Pädagogik


eine biographische Wirksamkeit entfalten kann. Doch waren es nicht nur ein-
fallsreiche Methoden, die für Kneller und andere Schüler dieser Schule vor-
bildlich waren, sondern vor allem das immer wieder betonte und gelobte
Ernstnehmen der Schüler durch die Lehrer:
"Ich hatte den Eindruck, daß die Kaliski-Schule die Kinder nicht aUe über einen Kamm
geschert hat, sondern individueUe Beziehungen mit einzelnen Schülern aufgenommen hat
und dadurch auch für mich ein neues Bewußtsein geschaffen hat für das, was ich später in
der Pädagogik als Lehrer-Schüler-Verhältnis kennengelernt habe. Damals habe ich noch
nicht verstanden, worum es sich handelt. Ich habe dort aber eine Vorstellung davon be-
kommen, daß Lehrer zugänglicher sind, daß man sich mit ihnen persönlich unterhalten
kann und daß man sich mit Lehrern auch treffen kann außerhalb des formellen Unter-
richts. In den Pausen, bei gemeinsamen Theaterbesuchen, Konzerten und in den
(Nachmittags-) Gruppen, die wir hatten, konnte man sich mit den Lehrern beinahe an-
freunden; es gab also nicht nur den Respekt im Unterricht, sondern man konnte fühlen,
daß einem die Lehrer nahe sind. Ich habe Mühlhauser, Jacob und etwas weniger auch
Kuttner nahegestanden. Lotte Kaliski hatte mehr Respekt, und man hatte mehr Angst vor
ihr, als Leiterin und Lehrerin. Sie war sehr streng mit uns. Aber eben die anderen Lehrer,
auch Hecht im Sport mit seinen Spielen, machten Sachen, die ich neu gelernt habe, die es
in der Volksschule bestimmt nicht gegeben hat. Und ich glaube, daß die Lehrer der Kali-
ski-Schule mir ein Gefühl für kreative Pädagogik gegeben haben, d. h., daß der Unterricht
nicht nach ,Schema F' ablaufen muß, sondern daß man das sehr viel erweitern kann. Die
Fragen von Selver: Die Geschichte Wiens - Eine Geschichte Wiens - das war ein Blitz!
Jospe zum Beispiel hat uns im Musikunterricht gezeigt, daß man (den Ausruf des Zei-
tungsverkäufers) ,BZ am Mittag' auch in Noten schreiben kann, daß Noten nicht nur zu
Komponisten gehören oder zur hohen Musiktheorie, sondern auch etwas Alltägliches sein
können, daß man sogar den Zeitungsaufruf ,BZ am Mittag' vertonen kann. (... ) Es war so,
daß wir eben mehr Kultur bekommen haben statt nur Unterricht. Ich glaube, daß mir das
sehr viel für das Leben und für die spätere Pädagogik gegeben hat, denn ich habe immer
versucht, pädagogische Probleme nicht schematisch anzugehen. (... ) Ich habe dann auch
in Amerika studiert und John Dewey und andere pädagogische Philosophen kennenge-
lernt, auch an der Hebräischen Universität: Pestalozzi, Montessori und so weiter. Es war
also nicht nur die Kaliski-Schule allein. Ich glaube, daß beides zusammen eine große
Wirkung auf mich gehabt hat. Ich habe erlebt, daß die Schule eine Umgebung
(environment) sein kann, in der der Schüler die Schule beinahe lieben lernt; daß er das
Gefühl bekommt, die Schule existiert für ihn und ist nicht etwas, was gegen ihn gerichtet
ist. Und das war die Kaliski-Schule für uns, weil wir uns wie eine Gruppe, wie eine große
Familie gefühlt haben. Wir hatten auch zwischen den Klassen Kontakt, durch die Auffüh-
rungen und andere Begegnungen. Ich glaube, daß auch eine Art von student council be-
standen hat und wir uns da etwas über Probleme aussprechen konnten. Und das war na-
türlich als VorsteUung von Schule etwas Enormes, was mir geblieben ist. Und ich habe
dann versucht, meine Schule so zu gestalten, daß die Schüler sich gut fühlten, und als

251
dann einmal die Abiturienten an die Fensterscheiben geschrieben haben: ,Hier haben wir
sechs Jahre gern gelernt', war das für mich ein sehr großes Kompliment, denn allgemein
verbindet man ja Schule und Schulwesen mit etwas, dem man sehr abgeneigt ist, und man
hat oft sehr negative Erinnerungen an die Schule. Und obwohl an der Kaliski-Schule
Disziplin bestanden hat und ein gewisser Zwang da war, indem wir z.B. Tischmanieren
gelernt haben beim Mittagessen, die Sauberkeit der Finger überprüft wurde, und wir die
erste Portion zu Ende essen mußten, weil wir die zweite auf denselben Teller bekommen
haben, glaube ich, daß wir verstanden haben, warum diese Sachen verlangt wurden, auch
in der Palästina-Gruppe. - Man wollte uns etwas für unser Leben beibringen, was nicht
nur trockenes Lernen sein sollte ..... (H.S. Kneller, Gespräch 1989; Hervorh. d. W. F.)

Wie aus den ausführlichen Darstellungen des in Pädagogik promovierten


Gymnasialdirektors Kneller hervorgeht, hat es nicht nur eine Beeinflussung
seines professionellen Lebensweges durch die Reformpädagogik der Pri-
WaKi gegeben, sondern darüber hinaus hat die PriWaKi ein soziales Milieu
geschaffen, das auch die nicht-professionelle Persönlichkeitsentwicklung er-
heblich beeinflußt hat. Dies gilt nicht nur für ihn, sondern auch für andere
PriWaKi-Schülerlnnen:
"Man hat doch in der Volksschule wenige Freunde gehabt. Ich hatte ein paar jüdische
Freunde, aber der Nazismus und das alles hat nicht erlaubt, daß man große Freund-
schaften schließt. In der jüdischen Schule konnte man Freundschaften schließen, konnte
man sich auch gegenseitig zu Hause besuchen. (... ) Ich habe dort absolut das Gefühl der
Zugehörigkeit bekommen. Ich wurde ein ,soziales Wesen' mehr in der Kaliski-Schule als
in der Volksschule."

Auch andere Alumni unterstreichen, daß vor allem der soziale Zusammenhalt
und das Gefühl, zu einer großen Familie zu gehören und anerkannt zu wer-
den, ihr Lebensgefühl und ihre Lebenseinstellung positiv beeinflußt haben.
"Als ich später in Belgien die Schule besucht habe, habe ich bemerkt, welch eine exzel-
lente Bildung ich an der PriWaKi erhalten habe und welch wunderbare Beziehungen dort
entstanden waren und daß nichts in meinen späteren Schulen mit den wenigen Jahren in
der Kaliski-Schule vergleichbar war."
"Die Schule hat vor allem die Werthaltungen und Lebenseinstellung geprägt."
"Ganz bestimmt. Nicht so sehr professionell, sondern mehr die Einstellung; z.B. ler-
nen, nach einem Fehlschlag, persönlich oder auch beruflich, nicht aufzugeben."
"Die Schule hatte keinen Einfluß auf meine eventuelle Laufbahn als Wissenschaftler,
denn ich hatte dahingehend damals noch keine Ambitionen. Aber mein Interesse an Phi-
losophie, die ich auch etwas studiert habe und worüber ich in den letzten Jahren einige
Bücher geschrieben habe, wurde wahrscheinlich durch die PriWaKi geweckt, nämlich
durch den Deutschlehrer Herrn Cohn, der uns eines Tages fragte, ob Wilhelm Tell hätte
das Gesetz in die eigene Hand nehmen und Gessler in der Hohlen Gasse hatte töten dür-
fen. Ich habe diese erste Lektion in Moralphilosophie nie vergessen. Obwohl meine Mut-
ter selber musikalisch war und Klavier spielte und ich viel Musik zu Hause hörte, hat der
Musiklehrer, Herr Jospe, uns besondere musiktheoretische Kenntnisse vermittelt, was
vielleicht mitbeeinflußt hat, daß ich eine Musikerin geheiratet habe."
"Sie half, einen unabhängigen und kreativen Geist zu formen und festigte meine jü-
dische Identität."
"Sie half, meinen Charakter zu formen, lehrte mich, weltoffen zu sein, und sie hat
mein Interesse für viele Dinge geweckt."

252
Insgesamt zeigen die Antworten ein ziemlich klares Profil prägender Einflüs-
se, die allerdings weniger zu beruflichen Weichen stellungen geführt haben,
sondern eher zu einer positiven Beeinflussung der Lebenseinstellung. Dies ist
ein wichtiger Indikator für die pädagogische und sozial psychologische Quali-
tät der Schule. Insoweit lassen sich die Schüler-Antworten als positive Eva-
luation der Erziehungsziele der PriWaKi einstufen.
Auffallend an der bisherigen Evaluierung der PriWaKi-Pädagogik durch
die Schüler ist, daß die jüdische Erziehung kaum erwähnt worden ist. Dies
steht - so scheint es jedenfalls zunächst - im krassen Gegensatz zum zentra-
len Anspruch und damit auch zum Erziehungsziel der PriWaKi, eine jüdische
Schule zu sein und die Schüler zum jüdischen Bewußtsein erziehen zu wol-
len. Dies war so formuliert worden im (schon ausführlich zitierten) Schulpro-
spekt von 1938, und fast die gesamte pädagogische Intentionalität war die-
sem obersten Ziel untergeordnet. Wir konnten bereits zeigen, daß auch die
inhaltlichen Bemühungen der Schule in dieser Hinsicht durchaus zahlreich
und vielfältig waren: Religionslehre, Hebräisch, Palästinakunde, jüdische
Themen in Literatur, Geschichte und Kunst, jüdische Lieder, Oneg Schabbat
und das Feiern jüdischer Feste boten den Schülern zahlreiche und verschie-
dene Lern- und Identifikationsmöglichkeiten mit dem Judentum.
Doch trotz der Vielzahl pädagogischer Initiativen und Anstrengungen
scheint die PriWaKi als jüdische Schule nicht in gleicher Weise überzeugend
gewirkt zu haben, wie sie es zweifellos mit ihren reformpädagogischen Erzie-
hungsideen getan hat. Diesen Eindruck hatte auch Shmuel Kneller, der als
zionistischer Schüler anfangs in eine sehr ambivalente Gefühlslage geriet:
"Man fühlte sich irgendwie doch zugehörig; obwohl als Zionist hat man sich ziemlich
fremd gefühlt in diesem Milieu. (... ) Als Zionist war man absolut in der Minorität. An der
Herzl-Schule oder an der Goldschmidt-Schule ist der Zionismus, glaube ich, mehr geprägt
worden. Dort waren mehr jüdisch bewußte Schüler. l66 Ich glaube, daß Lotte Kaliski und
Selver im großen und ganzen sehr assimiliert waren. Kaliski hat ja die Schule nicht als ei-
ne jüdische Schule begonnen; sie ist erst 1934 umgestellt worden, als es ihr verboten
wurde. Also sie hatte nicht diese Ideen und Selver auch nicht. Sie sind dann ja auch 1938
nach Amerika ausgewandert."
In bezug auf ihre erzieherische Wirkung als jüdische Schule gibt es also ei-
nen Widerspruch oder zumindest Ungereimtheiten zwischen dem program-
matischen Anspruch der Schule und ihrem erzieherischen Einfluß. Ein Urteil
über die Wirksamkeit der Erziehung hin zu einer positiven Akzeptanz des
Judentums bei den PriWaKi-SchülerInnen ist deshalb nur schwer möglich.
Wie schätzen die anderen SchülerInnen die Wirkung dieser Erziehung auf die
Herausbildung ihrer jüdischen Identität ein? Die Frage dazu lautete:
"Hat die Private Waldschule möglicherweise einen Einfluß auf die Entwick-
lung Ihrer jüdischen Identität gehabt?"

166 Dies galt für die zionistische Herzl-Schule, keinesfalls aber für die Goldschmidt-
Schule. Deren Schul prospekt und auch die von Schülern verfaßten Erinnerungen las-
sen keine besonders ausgeprägte jüdische Erziehung erkennen. (V gl. Heims 1987)

253
Insgesamt haben 53 von 60 Ehemaligen diese doch sehr persönliche Frage
beantwortet. Knapp die Hälfte der SchülerInnen bejaht die Frage, einige al-
lerdings mit Einschränkungen. Ein etwa gleich großer Teil verneint die Fra-
ge entweder vollständig oder mit kleineren Relativierungen, und etwa sechs
Antwortgeber sind skeptisch, verneinen aber auch nicht die Frage. Ein ganz
klares Bild wie bei der Bewertung der reformpädagogischen Ziele ergibt sich
also nicht.
Die meisten ablehnenden Antworten sind kurz und beschränken sich auf
ein "Nein" oder "Wahrscheinlich nicht". Auffallend ist, daß darunter auch
ein großer Teil der Schüler ist, die aus zionistischen und/oder religiösen Fa-
milien stammen. Diese Schüler und Schülerinnen hatten ihr jüdisches Be-
wußtsein außerhalb der PriWaKi vor allem durch die Familie, die Gemeinde
und vielleicht auch die Jugendbewegung erworben und gefestigt. Die jüdi-
sche Erziehung an der PriWaKi war für sie nicht ausgeprägt genug, um noch
einen zusätzlich nennenswerten Einfluß haben zu können. Dies ist auch
schon aus anderen Antworten dieser Schüler deutlich geworden.
Bei den anderen ca. 20 SchülerInnen, die angeben, daß die PriWaKi ihre
jüdische Identität nicht beeinflußt habe, handelt es sich mehrheitlich um
weitgehend assimilierte Schüler, die sich vermutlich nur widerwillig zu einer
neuen "Jüdischkeit" bekehren lassen wollten und nach der Auswanderung ih-
re ursprüngliche Distanz beibehalten haben. Ein Teil von ihnen hatte schon
früher die Schule verlassen und die intensivere Phase jüdischer Erziehung,
die Ende 1937/Anfang 1938 etwa mit der Bildung der Palästinagruppe ein-
setzte, kaum noch mitgemacht.
Einige der Antworten verweisen darauf, daß es mehr die Elternhäuser
und vor allem die Zeitumstände waren als die Kaliski-Schule, die die Her-
ausbildung eines jüdischen Bewußtseins gefördert haben:
"Wie ich schon erwähnt habe, lag es mehr an den Zeitumständen, daß wir uns unseres Juden-
tums und unserer jüdischen Identität während der Jahre an der Kaliski-Schule bewußt wur-
den. Ich bin nicht sicher, ob dies in einer normalen Zeit so geschehen wäre. Ich glaube, daß
aus der Kaliski-Schule dann nicht das geworden wäre, was dann tatsächlich aus ihr geworden
ist. Es wäre vielleicht eine Schule für Kinder mit Lernproblernen gewesen ... "
"Meine Erinnerungen an die Kaliski-Schule sind sehr positiv. Jedoch kann ich meine
Erfahrungen dort wirklich nicht auf die Entwicklung meines Judentums oder meiner jüdi-
schen Identität beziehen. Möglicherweise auch deshalb, weil meine Familie und ich schon
sehr am Judentum orientiert waren und ich deshalb bereits eine gut ausgebildete jüdische
Identität hatte, als ich an die Kaliski-Schule kam. Ich glaube, ähnlich wie bei den meisten
deutschen Juden in jener Zeit, wurde unsere jüdische Identität in erheblichem Maße durch
die Ereignisse um uns herum gestärkt - aber ich assoziiere nicht die Kaliski-Schule als ei-
nen besonderen Faktor bei dieser Entwicklung."
"Sie lehrte mich meine jüdische Identität. Das Alter von 10 bis 12 Jahren ist wichtig im
Leben eines Kindes. Bedauerlicherweise hatten die ,Nazi-Deutschen' den größten Einfluß
auf meine jüdische Identität und mein Judentum. Ich habe mich nie als etwas anderes gefühlt
als andere (nichtjüdische) Kinder. Ich war jüdisch, sie christlich - das war alles!"
"Die Atmosphäre in Berlin jener Jahre hat sicherlich dazu beigetragen. Ich glaube
nicht, daß die ,Private Waldschule Kaliski' einen besonderen Einfluß auf uns hatte; unter
den damaligen Umständen hatte alles einen Einfluß."

254
Andere Schüler nehmen einen größeren Einfluß der PriWaKi auf die Ausbil-
dung ihrer jüdischen Identität zwar an, relativieren diesen Einfluß aber auch
deutlich:
"Wie ich schon an anderer Stelle erläutert habe, ist die Antwort ja. Sie war die erste Stel-
le, wo ich mit Dingen des Judentums konfrontiert wurde. Es war der erste Ort, wo ich mir
der Tatsache bewußt wurde, daß es andere gute Freunde gab, die wie ich waren und die
sich in der gleichen Lage befanden. Es war der erste Ort, wo ich wenigstens etwas über
das Judentum lernte. In diesem Sinne war die Erfahrung an der Schule wichtig. Doch war
meine Situation damals eine besondere. Ich kam aus der Berliner Welt in die von Shang-
hai und mußte während des Krieges dort in dem Ghetto leben, das durch die Japaner
zwangsweise entstanden war. Dort wurde man sehr viel stärker mit jüdischen Dingen kon-
frontiert, und im Ghetto von Shanghai war Judentum (Jewishness) unvergleichlich inten-
siver und hinterließ bei mir einen viel stärkeren Eindruck. Die Beeinflussung an der Ka-
liski-Schule war nur eine sehr schmale Einführung, aber eine gute und nützliche Vorberei-
tung für das, was noch kam."
"Die PriWaKi hatte einen sehr großen Einfluß, aber nicht auf die Entwicklung mei-
ner jüdischen Identität, sondern auf meine Kenntnis der jüdischen Geschichte - sowohl
die alte als auch die moderne - und des modernen Hebräisch und hat uns vielleicht den
Gedanken nahegebracht, daß Judesein möglicherweise etwas sein könnte, worauf man
stolz sein könnte, statt sich dessen tief zu schämen. Auch habe ich den Zionismus mit et-
was freundlicheren Augen zu sehen begonnen ... "

In den beiden letzten Antworten wird angesprochen, daß es vor allem die as-
similierteren Schüler waren, denen das Judentum durch den Nationalsozia-
lismus wieder aufgezwungen wurde und denen die jüdische Erziehung an der
PriWaKi half, eine negative Einstellung zum Judentum nicht entstehen zu
lassen und oder zu überwinden. Auf diese Gruppe und auf diese Funktion hin
scheint die jüdische Erziehung der PriWaKi in besonderer Weise zugeschnit-
ten gewesen zu sein, und hier hat sie ihren eigentlichen Erfolg gehabt. Al-
lerdings wurde das jüdische Bewußtsein nicht so ausgeprägt, daß man von
einer Bekehrung zum religiösen Judentum sprechen könnte, denn die positive
Haltung zum Judentum bei den Assimilierten ging längst nicht so weit, daß
sie mit einer jüdischen Lebensführung verbunden worden wäre.
Nur eine Minderheit bejaht die Frage nach dem Einfluß der PriWaKi auf
die Entwicklung ihrer jüdischen Identität vorbehaltlos und ohne Relativierun-
gen:
"Ja, sicher. Als Kind war ich mir kaum bewußt, jüdisch zu sein. Das alles entwickelte sich
erst in der Kaliski-SchuIe."
"Absolut. Die Schule unternahm es, ihre Schüler auf die Emigration vorzubereiten
und gab uns ein Gefühl für jüdische Identität."
"Ja. Erstens lernten wir etwas Hebräisch in der Schule; zweitens gab es Instruktionen
in Religion und jüdischer Kultur; drittens wurde viel über Israel (Palästina) gesprochen.
Wir haben für die Anpflanzung von Orangenbäumen gesammelt. Ich würde sagen, daß
der Einfluß sich mehr auf die jüdische Kultur als auf die Religion richtete. Ich würde
mich nicht religiös nennen, weder damals noch heute."
"Absolut. Aber ich bin niemals religiös geworden, außer in einem ethisch-
humanistischen Sinne; wie es im Grunde mein Vater auch immer war. Ich habe Israel be-
sucht und mich dort etwas fremd gefühlt ... "

255
"Ja. Obwohl es keine religiöse Schule war, doch die ,Oneg Shabbats' jeden Samstag
führten mich in die jüdische Liturgie ein. Wir lernten auch einiges über Palästina. Außer-
dem hatten wir einen guten Musiklehrer, der uns jüdische Songs lehrte."
"Ja. Da ich aus einer ,gemischten' Familie kam, hatte ich keine Ahnung vom Juden-
tum. Die PriWaKi machte mir meine jüdische Identität bewußt."
"Die Schule verstärkte das, was uns zu Hause gelehrt und gesagt wurde."
"Natürlich. In einer jüdischen Schule zu sein, beeinflußte unser Identitätsgefühl. Ich
habe mein gesamtes Leben als Erwachsener und besonders die letzten 35 Jahre damit ver-
bracht, jüdische Erziehung aktiv zu unterstützen ... "
"Selbstverständlich. Es wurde uns die jüdische Kultur in allen Formen nahegebracht,
sei' s durch Scholem Alechem oder Scholem Asch oder politisch durch Theodor Herzl,
Pinsker, Achad Haam u. a. m. Keiner meiner Mitschüler hatte einen jüdischen Vornamen.
Ich glaube, daß in der Kaliski-Schule die Schüler häufig das Judentum in ihr Elternhaus
brachten."
Auch diese zustimmenden Antworten zeigen, daß von einer durchschlagen-
den Bekehrung zum religiös und/oder zionistisch geprägten Judentum ei-
gentlich keine Rede sein kann. Erhebliche biographische Auswirkungen sind
nur in Einzelfällen erkennbar.
Trotz dieser Einschränkung bleibt festzuhalten, daß die jüdische Erzie-
hung in der PriWaKi immerhin in der schwierigsten Zeit ihre positive psy-
chologische Wirkung hatte und den Kindern auch in bezug auf ihr Judentum
ein positives Selbstkonzept ermöglichte. Eine grundsätzlich positive Einschät-
zung des Judentums ist den meisten Ehemaligen geblieben; dies läßt nicht
erwarten, daß sie noch einen weiteren Assimilationssprung vollzogen haben,
wie dies mehrheitlich bei den Großeltern und Eltern der Fall war. Auch hier-
zu haben wir eine Frage gestellt:
"Gab es Ihrer Meinung nach einen Unterschied zwischen Ihrer Einstellung
zum Judentum und der Ihrer Eltern?"
Von mehr als der Hälfte der SchülerInnen werden keine Unterschiede zum
jüdischen Bewußtsein ihrer Eltern angegeben. Dies bedeutet zumindest eine
Unterbrechung des Assimilationsprozesses. Das gilt auch für Kinder aus Fa-
milien mit stärker ausgeprägtem jüdischen Bewußtsein. Auch dies verweist
auf die schon mehrfach festgestellte Tatsache, daß sich jüdisches Bewußtsein
vor allem durch die Familie und durch die Synagogengemeinde bzw. ihre
Rabbiner oder auch durch die Jugendbewegung als Überzeugung festigen
läßt, weniger durch Schule.
Es gibt aber auch Schüler und Schülerinnen, die aussagen, daß sich bei
ihnen das jüdische Selbstbewußtsein gegenüber dem ihrer Eltern zurückge-
bildet habe - trotz PriWaKi und Holocaust. Solche expliziten Bekenntnisse
sind allerdings nicht häufig:
"Ich war vielleicht sogar noch weniger religiös als meine Eltern."
"Ich habe kein jüdisches Bewußtsein."
"Ich habe mich nicht besonders jüdisch gefühlt."
"Das Judentum hat ihnen nur wenig und mir gar nichts bedeutet."
"Kein Unterschied, meine Eltern lebten kaum ,jüdisch', und ich tue es auch nicht."

256
Für diese SchülerInnen, oft aus gemischten Familien, geht der Prozeß der
Assimilation weiter oder ist sogar schon vollendet. Das Jüdische ist nicht
mehr das bindende Element mit der PriWaKi, sondern die Bindung besteht
eher in der Erinnerung an eine damalige Schicksalsgemeinschaft, mit der
man trotz des Naziterrors eine schöne gemeinsame Zeit in der PriWaKi ver-
bracht hat. Diese Gemeinschaft ist möglich gewesen und geblieben, weil die
PriWaKi eben nicht "nur" eine jüdische Schule, sondern eine pädagogisch
gestaltete, reichhaltige Lebenswelt für jüdische Kinder und Jugendliche war,
die von der Gesellschaft mehr und mehr verstoßen, beleidigt und bedroht
wurden, und die oftmals auch in den Familien nicht mehr die Geborgenheit
finden konnten, die sie gebraucht hätten, da die Bedrohungen, Berufsverbote,
Geschäftsboykotts oder gar Verhaftungen oft keine entspannte Familienat-
mosphäre mehr zuließen. Umso wichtiger wurde die sozialemotionale Ersatz-
funktion der Schule, was ein Schüler rückblickend so ausdrückt: "Kaliski-
Schule was my home away jrom home. "

Damit ist die wohl bedeutendste Leistung der Schule für die große Mehrzahl
der PriWaKi-SchülerInnen benannt worden. Alle anderen Leistungen der
Schule - auch wenn sie als wichtig anerkannt werden - nehmen demgegen-
über in der Bewertung durch die SchülerInnen eher einen zweiten Rang ein.
Dies gilt auch für die Erziehung zu einem tiefen und dauerhaften jüdischen
Bewußtsein, die im Schulprospekt von 1938 als oberstes Ziel der Schule vor-
an- und herausgestellt worden ist. Auch wenn deren Resultat nach der Bewer-
tung der Schüler nicht dem höchsten programmatischen Anspruch gerecht
wurde, so war sie damit jedoch nicht erfolglos, sondern hat bei mindestens
der Hälfte der SchülerInnen wenigstens vorübergehend Ersatz-Identität für
die mehr und mehr eingeschränkte deutsche Identität mitgeschaffen und da-
mit eine wichtige psychologische Kompensationsfunktion gehabt.
Die fundamentalen Einstellungen zum Judentum, ob mehr positiv oder
mehr distanziert, sind jedoch kaum verändert worden. Sie waren primär Re-
sultat der familialen Sozialisation und Erziehung und blieben relativ stabil.
Sofern fundamentale Einstellungsänderungen überhaupt erfolgt sind, wurden
sie entweder durch die äußeren Ereignisse, also durch die Verfolgung indu-
ziert, oder sie erfolgten durch die Synagoge bzw. den Rabbiner (etwa bei der
Bar-Mitzwa-Vorbereitung) und auch durch die zionistische Jugendbewe-
gung. Doch sind solche fundamentalen Einstellungsveränderungen bei den
befragten PriWaKi-SchülerInnen nicht häufig vorgekommen.
Die Evaluation der pädagogischen Ziele durch die SchülerInnen zeigt
damit auch, daß affektive Lernziele selbst unter "optimalen" Bedingungen,
wie sie paradoxerweise durch die Verfolgung für die pädagogische Arbeit an
der PriWaKi entstanden waren, nicht zu hoch angesetzt werden dürfen. Eine
liberale Schule bleibt auch unter extremen Bedingungen immer noch eine
Schule, die vor allem dem Lernen dient und im besten Fall ein vielseitiges,
auch emotional befriedigendes Schulleben entfalten, jedoch weder primäre
Sozialisationsinstanzen wie die Familie, noch Institutionen ersetzen kann, die

257
ausschließlich auf die Vermittlung und Festigung von Weltanschauungen und
Überzeugungen ausgerichtet sind, wie etwa die Synagoge oder ein zionisti-
scher Jugendbund. (Analoges dürfte auch für nichtjüdische Reformschulen
gelten.)
Die Maßstäbe für die Bewertung der PriWaKi-Pädagogik sind durch die
befragten SchülerInnen also einer realistischen Korrektur unterzogen wor-
den. Ihre Anwendung läßt durchaus größere Erfolge dieser Schule erkennen,
auch im affektiven Bereich. Hier werden vor allem nichtreligiöse oder nicht
unmittelbar religiöse Einstellungen und Haltungen erwähnt, die als dauerhaf-
te Resultate der PriWaKi-Erziehung angesehen werden können: sozialer Op-
timismus, Selbstvertrauen, Selbständigkeit, geistige Beweglichkeit sowie mo-
ralisches und wissenschaftliches Urteilsvermögen. Es wurde also weniger ein
Gesinnungsjudentum als vielmehr eine allgemeine positive Lebensphiloso-
phie bewirkt und gefestigt; zumindest aber ein allzu großer Pessimismus in
der Einstellung zum Leben verhindert.
Verantwortlich dafür war aber weniger die Erziehung zum bewußten Ju-
dentum (obwohl dieses meistens die Anlässe für die beliebten Schulfeiern
bot), sondern hauptsächlich eine verantwortungsbewußt angewandte Re-
formpädagogik. Während Elemente daraus (z.B. die Gemeinschaft als Erzie-
hungsfaktor) von der nationalsozialistischen Erziehung zur Manipulation,
Entmündigung und letztlich auch zur Unterdrückung individuellen Men-
schentums mißbraucht wurden (vgl. z.B. E. Mann 1989; Gamm 1984), wurde
sie in vielen jüdischen Schulen und besonders auch in der PriWaKi zu einer
humanistischen Pädagogik entfaltet, die in einer besonders schwierigen Zeit
den Schülern Lebensmut, Selbstbewußtsein und Lebenstüchtigkeit vermittel-
te, und die dabei statt Haß und Aggression Toleranz und menschliche Ach-
tung lehrte. Das Beispiel der PriWKi zeigt, was Reformpädagogik gerade in
besonders schwierigen und verzweifelten Situationen für das emotionale Be-
finden und die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen zu
leisten vermag, wenn die traditionelle geisteswissenschaftliche Norm der
Mündigkeit und Individualität des ,,zöglings" beachtet und ein Mißbrauch
für radikale politische Ziele verhindert wird.

258
8. Auf der Suche nach Identität

Die Familien, die ihre Kinder auf die PriWaKi schickten, verstanden sich,
wie im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt worden ist, von wenigen Ausnahmen
abgesehen als deutsche Familien, bis ihnen der Nationalsozialismus mit bru-
talen Methoden diese Zugehörigkeit absprach. Viele der Erziehungsbemü-
hungen an der PriWaKi können als unfreiwillige pädagogische Experimente
zum Aufbau von Ersatz-Identität betrachtet werden. Das Problem der Identi-
tätssuche war jedoch kein grundsätzlich neues in der Geschichte der deut-
schen Juden, sondern bei genauer Betrachtung eher ein permanentes, seit sie
sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts angeschickt hatten, das Ghetto oder später
das Stetl des Ostens und damit die orthodoxe Glaubens- und Lebenswelt zu
verlassen. Selbst für die Juden im heutigen Deutschland existiert das Identi-
tätsproblem weiter. 167 Bei dem Übergang von eher statischen, traditions ge-
prägten Gemeinschaften in eine moderne industrielle Gesellschaft mußte es
zwangsläufig Übergangs- und Orientierungsprobleme geben. Das Verlassen
der traditionsgebundenen kulturellen und sozialen Welt mochte erleichtern
und ein Gefühl neuer Freiheiten und sozialer Möglichkeiten eröffnen, es brach-
te häufig aber auch ein schlechtes Gewissen über den Verrat an den Über-
zeugungen und Werten der Vorfahren mit sich. Eine soziale und persönliche
Identitätskrise entstand vor allem dann, wenn die erhofften und angestrebten
neuen Standards nicht erreicht wurden. Auch bei den Juden, die im 18. und
19. Jahrhundert die Ghettos in Deutschland und später die orthodoxen Ge-
meinschaften des polnischen Stetls verließen, gab es solche Identitätskrisen -
die Romane und Erzählungen von Isaac B. Singer etwa liefern dafür plasti-
sche Beispiele. l68
Doch haben wir es bei dem Versuch der in Deutschland lebenden Juden,
sich in die deutsche Gesellschaft vollends zu integrieren (unter Beibehaltung
eines Restes von schwer zu beschreibender "Jüdischkeit"), mit einem weite-
ren Faktor zu tun, der die eigentliche und spezifische Identitätsproblematik

167 Dazu sind inzwischen zahlreiche Bücher und Schriften erschienen, z.B.: Broder,
Lang 1979; Fleischmann 1980; Brumlik u.a. 1988; Blasius, Diner 1991; Wojak 1985.
168 Ein Beispiel ist die Figur des Euser Heschel in Isaac B. Singers Roman: Die Familie
Moschkat (1986).

259
der Juden erst konstituiert: dem Antisemitismus und der damit verbundenen
Verweigerung der vorbehaltlosen gesellschaftlichen Akzeptanz. Erst daraus
erwächst die "Judenfrage" (A. Bein 1980), die als "ungelöste" nicht nur ein
dauerhaftes und unlösbares Identitätsproblem bei den Juden schuf, sondern
auch spiegelbildlicher Ausdruck für die ungelösten Identitätsprobleme der
nichtjüdischen Deutschen war und geblieben ist, deren soziale und psycho-
logische Wurzeln mit dem Stichwort "verspätete Nation" (Plessner 1959) hier nur
angedeutet werden können. Diese Identitätsproblematik läßt sich als Mi-
schung von Minderwertigkeits- und Überlegenheitsgefühlen charakterisieren.
Die Deutschen hatten als national und kulturell verspätete Nation Minder-
wertigkeitsgefühle gegenüber den älteren Nationen (und Kolonialmächten)
England und Frankreich. Sie versuchten, diese durch einen schon im Kaiser-
reich immer aggressiver werdenden übersteigerten Nationalismus und schließ-
lich Rassismus (Überlegenheit der "arischen" Rasse) zu kompensieren.
Bei den Juden resultierten die Minderwertigkeitsgefühle aus der verwei-
gerten vollen Akzeptanz durch die Nichtjuden sowie aus der partiellen Selbstat-
tribuierung des Vorwurfs der sozialen und dann der rassischen Minderwer-
tigkeit. Ihre Überlegenheitsgefühle basierten vor allem auf dem Erfolg der
Akkulturation (Bildung, Beruf, Einkommen, kulturelle Kreativität etc.).
Statt der besonders jüdischerseits erwünschten "deutsch-jüdischen Sym-
biose"l69 entwickelte sich eine immer stärker werdende Ablehnung der Juden:
zuerst ab 1873 ("Gründerkrach", "Antisemitismusstreit"), dann verstärkt
durch die Ereignisse im Kontext des Ersten Weltkriegs und zuletzt durch die
Reghettoisierung im "Dritten Reich". Eine Minderheit, die mehr oder weni-
ger ständig auf die Ablehnung durch die Mehrheit stößt, zu der sie aber gern
gehören möchte, muß in ihrem Selbstwertgefühl beeinträchtigt werden, wird
aber auch intensiv nach Kompensationsmöglichkeiten suchen. Bei der Ent-
stehung und Entwicklung der Identitätsproblematik der deutschen Juden sind
drei historische Phasen zu unterscheiden: Als erstes die Phase der Aufklä-
rung, Emanzipation und grundlegenden Akkulturation, die von ca. 1750 bis
zur Reichsgründung 1871 dauerte. Danach folgte die Phase der verzögerten
Assimilation von 1873/1900 bis 1933 und als dritte Phase die Reghettoisie-
rung ab 1933 mit der anschließenden Vernichtung ab 1941.

169 Vgl. dazu A. Bein, Bd. 11, 1980, S. 328-331. Der Begriff wurde von M. Buber ver-
wendet. Er schrieb am 10. März 1939 in der jüdischen Weltrundschau einen Aufsatz
mit dem Titel: "Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose". Darin heißt es: "Denn
die Symbiose von deutschem und jüdischem Wesen, wie ich sie in den vier Jahrzehn-
ten, die ich in Deutschland verbrachte, erlebt habe, war seit der spanischen Zeit die
erste und einzige, die die höchste Bestätigung empfangen hat, welche die Geschichte
zu erteilen hat, die Bestätigung durch die Fruchtbarkeit. ( ... ) Das war kein parasitä-
res Dasein; ganzes Menschentum wurde eingesetzt und trug seine Frucht. Aber tiefer
noch als durch individuelle Leistung wird die Symbiose durch ein eigentümliches
Zusammenwirken deutschen und jüdischen Geistes beglaubigt." (Zit. in Bein 1980,
S.329)

260
In der Zeit von 1812 bis 1871 erwarben die deutschen Juden ihre politi-
sche und rechtliche Gleichberechtigung und wurden zu preußischen und
deutschen Staatsbürgern. Den meisten gelang es in dieser Zeit, sich von ver-
achteten Hausierern, Händlern und Geldverleihern zumindest zu soliden
Kleinbürgern hochzuarbeiten und ihren Bildungsstand über den Durchschnitt
der christlichen Bevölkerung zu heben.
Dies galt - wie wir gesehen haben - auch für die Großeltern der PriWa-
Ki-Schüler, obwohl fast zwei Drittel von ihnen damals noch nicht in Berlin
wohnten, wo die Akkulturations- und Assimilationsprozesse besonders be-
schleunigt wurden. Diese erste Phase war wahrscheinlich für die Entwick-
lung einer deutsch-jüdischen Identität die fruchtbarste, obwohl der soziale
Aufstieg vieler jüdischer Familien (und insbesondere der PriWaKi-Familien)
auch nach 1871 weiterging und bis 1871 manche administrative Diskriminie-
rungen schmerzhaft zu spüren waren.
Doch hing die Identitätsproblematik, verstanden als Folge-Problem der
verweigerten sozialen Anerkennung, nicht immer und unmittelbar von dem
rechtlichen und materiellen Wohlergehen ab, wie an den Juden des Ghettos
oder des Stetls deutlich wird. Juden, die ohne Veränderungs wünsche in der
orthodoxen Gemeinschaft weiterleben wollten, verloren auch bei antisemiti-
schen Angriffen nicht ihre innere Orientierung, wie Josef Roth geschildert
hat, der selbst dem ostjüdischen Milieu entstammte:
"Denn so groß die Not ist, die Zukunft bringt die herrlichste Erlösung. Die scheinbare
Feigheit des Juden, der auf den Steinwurf des spielenden Knaben nicht reagiert und den
schmähenden Zuruf nicht hören will, ist in Wahrheit der Stolz eines, der weiß, daß er
einmal siegen wird und daß ihm nichts geschehen kann, wenn Gott es nicht will, und daß
eine Abwehr nicht so wunderbar schützt, wie Gottes Wille es tut. Hat er sich nicht schon
freudig verbrennen lassen? Was tut ihm ein Kieselstein oder was der Speichel eines wü-
tenden Hundes? Die Verachtung, die ein Ostjude gegen den Ungläubigen empfindet, ist
tausendmal größer als jene, die ihn selbst treffen könnte. Was ist der reiche Herr, was der
Polizeioberst, was ein General, was ein Statthalter gegen ein Wort Gottes, gegen eines je-
ner Worte, die der Jude immer im Herzen hat? Während er den Herrn grüßt, verlacht er
ihn. Was weiß dieser Herr von dem wahren Sinn des Lebens? ( ... ) Dem Juden, der so
denkt, ist jedes Gesetz, das ihm persönliche und nationale Freiheit verbürgt, höchst
gleichgültig. Von den Menschen kann ihm nichts wirklich Gutes kommen. Ja, es ist fast
eine Sünde, bei den Menschen um etwas zu kämpfen." (J. Roth 1985, S. 24f.)

So konnten ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland immer weniger Ju-


den denken und fühlen, denn die Außenwelt begann sich rasant zu verändern,
auch im weltanschaulichen Bereich. "Aufklärung" hieß das Zauberwort, das
sich in Berlin auch Juden, insbesondere die der Oberschicht, zueigen mach-
ten. Als "Haskalah" sorgte sie auch für Unruhe und erbitterte Gegenwehr,
denn die orthodoxen Rabbiner und Gemeindeältesten wußten, daß der Ein-
bruch der Haskalah in ihre geschlossene jüdische Welt wie ein zersetzendes
Gift wirken würde und versuchten, das Eindringen zu verhindern. 170 Moses

170 V gl. etwa die Erfahrungen von S. Maimon um 1789 in Berlin; dok. in Ehmann u.a.
1988, S. 69 f. Vgl. auch Meisl 1919.

261
Mendelssohn und einige prominente akkulturierte Juden aus der Berliner
Oberschicht wurden die Wegbereiter für die Akkulturation der großen Masse
der preußischen und deutschen Juden, die zu jener Zeit aber noch überwie-
gend in den Provinzen bleiben mußten. Mendelssohn legte das philoso-
phisch-ideologische Fundament für den "Bürger zweier Welten". Die Diskus-
sion, die damals zwischen aufgeklärten Juden und Nichtjuden (C.W. Dohm,
W.v. Humboldt u.a.) geführt und in den "Berliner Salons" fortgesetzt wurde,
hat jüdischerseits den Wunsch nach einer deutsch-jüdischen Symbiose ent-
stehen lassen, die im 19. Jahrhundert (bis 1870) nicht selten als schon reali-
siert angesehen wurde oder zumindest als vielbeschworene Utopie die zu-
künftige Stellung und Funktion der Juden in Deutschland festlegen sollte.
Moses Mendelssohn lieferte zunächst das Modell, denn es gelang ihm für
seine Person, traditionelle Bildung und Lebensweise mit weltlicher Ge-
lehrsamkeit zu verbinden.
Doch gerade diese Konstruktion erwies sich als brüchig, denn die tradi-
tionelle orthodoxe Lebensweise setzte eine ungebrochene Gläubigkeit vor-
aus, die im Widerspruch zum aufgeklärten weltlichen Denken stand. Men-
deissohn konnte eine solche widersprüchliche Konstruktion in seiner Lebens-
führung noch äußerlich aufrechterhalten, doch schon seine Kinder ließen sich
fast alle taufen. Dies wurde ein vielbegangener Weg der akkulturierten jüdi-
schen Mittel- und Oberschicht in der Zeit bis 1871. Fast alle sozial höher ste-
henden Familien, die bis zur Jahrhundertwende in Berlin lebten, haben sich
taufen lassen, obwohl ihre Eltern oder Großeltern noch orthodox gelebt hat-
ten. Das Verlassen der Orthodoxie führte damals oft zu einer schnellen und
besonders radikalen Assimilation. (Vgl. Scholem 1987, S. 35) Der Grund lag
darin, daß Zwischenstufen kaum möglich waren. Lebte man nicht mehr or-
thodox, war man in einer orthodoxen Gemeinschaft isoliert. Als konfes-
sionsloser Dissident wäre man in jener Zeit erst recht suspekt gewesen und
von Juden und Christen gleichermaßen geschnitten worden. Mischehen wa-
ren in der christlichen Gesellschaft bestenfalls in einer kleinen liberalen Mit-
tel schicht möglich. Also blieb nur der Übertritt zum Christentum, der dann
auch den Weg zu Ämtern und Berufspositionen eröffnete, die vorher ver-
schlossen waren. Heinrich Heine sah bekanntlich in dem "Taufzettel" das
"Entreebillet zur europäischen Kultur". Die schnelle und gründliche Assimi-
lation schien ein Identitätsproblem höchstens kurzfristi* zuzulassen. Doch
der Eindruck scheint nicht selten falsch gewesen zu sein.! !
Auch Heinrich Heine konnte mit seiner Taufe seine selbstquälerischen
Identitätsprobleme nicht lösen. Als Motiv für seine Taufe schrieb er in einem
Brief: ,,Auch ich habe nicht die Kraft, einen Bart zu tragen und mir ,Judenmau-
schei' nachrufen zu lassen ..... (Zit. in Ehmann u.a., 1988, S. 96) Er konnte
aber auch im Christentum nicht heimisch werden, das er eine "zertretene Ide-
en-Wanze" nannte, die den armen Juden seit Jahrhunderten die Luft verpeste.
(Ebenda) Zuletzt gestand er, daß er trotz Taufe das Judentum innerlich ei-

171 Vgl. dazu A. Bein 1985, Bd. 1, 255ff., Bd. 2, 213ff. u. 246 (Heine-Zitat).

262
gentlich gar nicht verlassen habe. So wird es zunächst vielen konvertierten
Juden gegangen sein. Da sie damals meistens auch konvertierte Partner heira-
teten, blieb das Jüdische an ihnen über mehrere Generationen haften, sowohl
als innerpsychisches Relikt als auch als ein von außen angeheftetes Etikett.
Erst für spätere Generationen und in Verbindung mit Mischehen konnte die
Herkunft und damit das Identitätsproblem in Vergessenheit geraten.
Die Erwartungen an die Emanzipation beruhten auf einem grund-
sätzlichen Mißverständnis zwischen Juden und Christen. Während die Juden
glaubten, nun einen Komprorniß zwischen Judentum und Volkszugehörigkeit
oder Staatsbürgerstatus im "Bürger zweier Welten" bzw. als (deutsche) "Staats-
bürger mosaischen Glaubens" gefunden zu haben und damit akzeptiert zu
werden, erwarteten die Christen im Grunde die volle Assimilation, also letzt-
lich die Konversion als Preis für die volle soziale Integration. Das Vorenthal-
ten attraktiver Positionen etwa im Militär oder an den Universitäten für nicht
getaufte Juden signalisierte dies deutlich. Dieser Vorbehalt hatte die Emanzi-
pationsphase von vornherein begleitet und bestand auch bei den nichtjüdi-
schen Aufgeklärten, wie bei dem für die damalige Zeit sehr progressiven
Christi an Wilhelm Dohm. Sein Satz: "Der Jude ist noch mehr Mensch als Ju-
de" läßt diesen Vorbehalt nur allzu deutlich erkennen: Der Mensch, und ge-
meint war der zivilisierte Staatsbürger, bildet einen Gegensatz zum Juden,
und so lange jemand noch Jude ist, wenn auch nur eingeschränkt, kann er
nicht uneingeschränkt ein zivilisierter, d.h. ein im christlichen Sinne sittlich
handelnder Staatsbürger sein! Diese Meinung überdauerte mindestens bis zur
Reichsgründung und verschwand dann nicht etwa, sondern wurde in den fol-
genden Jahrzehnten nach und nach überlagert und dann auch ersetzt durch
einen postemanzipatorischen Antisemitismus, der die Assimilation, auch die
vollständige durch Konversion, überhaupt nicht mehr wollte, sondern mit
Kriterien der Rassezugehörigkeit die Juden wieder sozial auszugrenzen ver-
suchte.
Bis 1871 scheinen diese Identitätsprobleme der sich erfolgreich akkultu-
rierenden deutschen Juden noch nicht so sehr von der Verweigerung der so-
zialen Integration mitbestimmt worden zu sein. Es überwog der Optimismus,
besonders nach der Revolution von 1848. Trotz gelegentlicher Rückschläge
war man sich sicher, daß die Toleranz der deutschen Gesellschaft weiter zu-
nehmen und man als Konfessionsjude auch die völlige soziale Gleichstellung
erreichen würde. Die relativ großen Zahlen der zum Christentum konver-
tierenden Juden waren ein Ausdruck der optimistischen Einstellung sowohl
der christlichen als auch der jüdischen Seite, daß neben der Konfessiona-
lisierung eine weitergehende Assimilation die "Judenfrage" in nicht allzu
ferner Zeit lösen würde. 172

172 Trotz des zunehmenden Antisemitismus ab den 1870er Jahren und der Entstehung
des organisierten Zionismus wurde diese Meinung auch von nüchternen Experten
des Judentums, wie z.B. A. Ruppin (1920), bis zum Ersten Weltkrieg vertreten.

263
Pädagogik als Hilfsmittel der Akkulturation und Assimilation

Der Prozeß der Akkulturation wurde in Deutschland von Anfang an auch mit
pädagogischen Mitteln unterstützt. Mit dem Erlernen des Hochdeutschen
wurde der Damm eingerissen, der die religiös bestimmte Lebenswelt bisher
noch von der nichtjüdischen sozialen und geistigen Welt getrennt hatte.
Gleichwohl versuchten schon die Aufklärer, pädagogische Steuerungs- und
Auffangvorrichtungen aufzubauen, damit der "Bürger zweier Welten" nicht
zum Konvertiten würde. Ausgangspunkt und Modell für diese Versuche war
die Gründung der jüdischen Freischule in Berlin im Jahre 1781. Sie führte als
erste jüdische Schule Hochdeutsch als Unterrichts sprache ein sowie die Fä-
cher Französisch, Rechnen, Buchführung, Geographie und Geschichte. (Kurz-
weil 1987, S. 19) Es war also vor allem eine Schule für angehende Kaufleute,
denn andere Berufe konnten Juden damals noch kaum ausführen. Es ist be-
zeichnend und unterstreicht auch im pädagogischen Bereich die Vorstellung
von einem kulturellen Dammbruch, daß an dieser Schule die jüdischen In-
halte schon nach wenigen Jahren reduziert wurden und sie ab 1806 auch zu-
nehmend mehr christliche Schüler bekam - ein Indiz für die Attraktivität des
profanen Curriculums und zugleich für den relativ geringen Grad an jüdi-
scher Erziehung, die jedoch nicht ganz aufgegeben und nach der Schließung
der Freischule 1825 an einer neu gegründeten Knabenschule der jüdischen
Gemeinde weitergeführt wurde. (V gl. Dietrich, Lohmann 1994) Zuvor schon
hatte Wessely eine pädagogische Programmatik entwickelt, mit der er den
Kindern aus orthodoxen Familien den Übergang in eine bürgerliche Gesell-
schaft ermöglichen wollte, wobei er eine religiöse und profane Erziehung
miteinander zu kombinieren suchte. Auch bei diesen Versuchen waren die
Vorstellungen vom "Bürger zweier Welten" leitend. Die Schüler sollten sich
in der bürgerlichen deutschen wie in der religiösen jüdischen Kultur glei-
chermaßen zu Hause fühlen und beide Teile als gegenseitige Ergänzung und
Bereicherung erfahren. Bemerkenswert ist dabei, daß sich Wessely in starkem
Maße die Pädagogik der Philanthropinisten, der "Menschenfreunde", zueigen
machte und von Basedow, Campe, Salzmann und anderen zahlreiche pro-
gressive pädagogische Ideen und Einsichten übernahm; zum Beispiel, "daß
auch in jüdischen Schulen Pausen zwischen' Unterrichtsstunden einzuführen
und Raum zu schaffen sei für Spiel und Muße, daß Lehrer den Kindern
freundschaftlich zugetan sein sollten, daß Lernen anschaulich gemacht und
mit Tun und Schaffen verknüpft werde ... " (Kurzweil 1987, S. 16)
Die Übereinstimmung mit einigen zentralen Erziehungsvorstellungen
und auch mit der pädagogischen Praxis der PriWaKi ist erstaunlich, aber kei-
neswegs zufällig. Denn die Reformpädagogik, auf die die PriWaKi zurück-
griff, hatte in der Aufklärungspädagogik (Rousseau, Pestalozzi) und insbe-
sondere in der philanthropinistischen Pädagogik ihre Vorläufer und Vorbil-
der. 173 Außerdem gab es trotz aller sonstigen Unterschiede eine wichtige Ge-

173 Vgl. dazu Tenorth 1988, S. 203; Blankertz 1982, S. 69ff. u. S. 214.

264
meinsamkeit in der historischen Konstellation: In beiden Fällen sollten Kin-
der und Heranwachsende aus einer statischen und ständischen Gesellschaft in
eine freiere bürgerliche Welt hinübergeleitet werden. Dazu bedurfte es prak-
tischer Fertigkeiten, Kenntnis d~r modernen Welt und einer Persönlichkeit
mit größerer Handlungsautonomie. Die seit dieser Zeit zu beobachtende Af-
finität jüdischer Erziehung zur Reformpädagogik und ihren Vorläufern liegt
in ihrer Eignung für die Durchführung kultureller und sozialer Transitionen
mit pädagogischen Mitteln. Solche Übergänge waren in der kollektiven Ge-
schichte der Juden, aber auch in den individuellen Familiengeschichten, häu-
figer notwendig.
Die Freischule war zunächst Modell für eine Reihe anderer reformierter
jüdischer Schulen mit philanthropinistischer Pädagogik, die jedoch zumeist
nach einigen Jahrzehnten entweder geschlossen wurden oder eine andere,
nämlich konservative Funktion bekamen. Die Schulen der Konservativen und
Neo-Orthodoxen erwiesen sich als weitaus weniger anfallig für die Assimila-
tion.
Eine Ausnahme unter den liberalen jüdischen Reformschulen bildete je-
doch das Frankfurter Philanthropin, das 1803 gegründet und erst 1942 von
den Nazis geschlossen wurde. 17 Auch am Philanthropin gab es christliche
Kinder und Lehrer. Daß die Schule sich halten konnte, lag an ihrer pädagogi-
schen Qualität. Ein Teil der Lehrer hatte das Niveau von Hochschullehrern,
die aber als Juden bis 1918 nur eine geringe Chance auf einen Ruf an die
Universität hatten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde aus dem Philanthropin
eine moderne reformpädagogische Tagesschule, die unter anderem den "Ge-
samtunterricht", die Schülerorientierung und die Projektmethode einführte.
Die Schule wurde zum Reformrealgymnasium mit Abiturberechtigung. Ne-
ben der besonderen pädagogischen Qualität und Modernität dürfte die Ab-
iturberechtigung erheblich zur Existenzsicherung der Schule beigetragen ha-
ben. Sie blieb eine jüdische Schule; inhaltlich war dies aber nur am jüdischen
Religionsunterricht abzulesen. Eine ausgeprägte jüdische Identität war nicht
Voraussetzung für den Besuch des ehemaligen Philanthropins, das um 1932
durchaus auch Lotte Kaliski als Modell für ihre Schulgründung hätte dienen
können, wenn sie eine liberale jüdische Schule gewollt hätte.

174 Das Frankfurter Philanthropin wurde 1803 als sozialpädagogische Einrichtung für
jüdische Waisenkinder gegründet, geriet aber bald in das Fahrwasser der jüdischen
Aufklärungspädagogik. Schul träger wurde die jüdische Gemeinde. Als erster Schul-
leiter wurde 1806 Michael Hess berufen, ein weitgehend assimilierter Jeschiwa-
Absolvent aus Fürth. In seiner Autobiographie beschreibt Hess die Faszination und
den Sog, den die moderne Bildung damals auf die Jeschiwa-Studenten in Deutsch-
land ausübte: "Ein unbestimmter Drang nach Erkenntnis und Wissen bemächtigte
sich vieler Jünglinge, die ihre Geisteskräfte nur an talmudischen Studien geübt hat-
ten, und ohne Wegweiser, bloß dem inneren Drange folgend, wurden hebräische und
deutsche Werke, Sprachlehren, Lehrbücher der Mathematik, philosophische und
poetische Erzeugnisse, ohne Auswahl und mit einem wahren Heißhunger verschlun-
gen." (Michael Hess, zitiert in Kurzweil 1987, S. 55) Hess kannte die Schriften Pe-
stalozzis, der Philanthropinisten und auch die Pädagogik der Berliner Freischule.

265
Die Geschichte der liberalen jüdischen Reformschulen widerlegt aber
nicht grundsätzlich die Möglichkeit, den "Bürger zweier Welten" auch mit
pädagogischen Mitteln zu formen, denn dies wurde nunmehr an den neuge-
gründeten Schulen der Neo-Orthodoxie erreicht, die auch für die jüdische Er-
ziehung noch genügend Substanz bewahren konnten. Als herausragendes und
bekanntes Beispiel kann hier die konservative Samson-Raphael-Hirsch-
Schule in Frankfurt am Main genannt werden.
Diese Schule wurde mit einer religiösen Erziehungsphilosophie begrün-
det, die dem Konzept der "Thora im Derech Erez,,17s folgte und eine Kombi-
nation von weltlicher und religiöser Bildung vorsah, um damit zu verhindern,
daß die Akkulturation der modernen Welt in eine unwiderrufliche Assimila-
tion abglitt:
"Was uns retten kann, [... ] das ist die innige Vermählung des religiösen Wissens und des
religiösen Lebens mit echter wahrhaft sozialer Bildung, das ist die innige aufrichtige
Vermählu~~ der Thora mit Derech Erez, wie es Lehre und Erbgut unserer Altvorderen
gewesen".
Hirsch wollte einen integrierten Unterricht an einer jüdischen Ganztagsschule
und keineswegs nur eine jüdische Religionslehre als isoliertes Fach. In seiner
1853 gegründeten Schule gab es 50 Unterrichtsstunden pro Woche, davon
waren 20 für die jüdischen Fächer vorgesehen und 30 für die profanen. Der
Stundenplan erwies sich jedoch als zu belastend für die Schüler, und nach
und nach wurde der Anteil der jüdischen Fächer gesenkt. Zuletzt waren nur
noch 6 Stunden ausschließlich für die religiöse Erziehung vorgesehen, was
aber immerhin noch eine Stunde Thora-Studium pro Tag bedeutete. Damit
blieb der jüdische Charakter der Schule noch gewahrt. Gegen die Assimilati-
on hatte die Neo-Orthodoxie mit ihren eigenen Schulen eine wirksame Bar-
riere aufgebaut, wie die weitere Entwicklung im Vergleich mit den höheren
Schulen des liberalen und Reformjudentums zeigen sollte, denn 1933 hatte
nur noch das Frankfurter Philanthropin als liberale jüdische Schule überlebt.
Alle anderen neun noch in Deutschland existierenden höheren jüdischen
Schulen waren konservativ oder neo-orthodox orientiert. 177 Sie hatten mit der
integrierten weltlich-jüdischen Bildung die notwendige Anpassung an die

175 "Derech Erez" heißt wörtlich "Weg des Landes"; gemeint ist die nichtreligiöse Kul-
tur.
176 Hirsch, Bd. I, 1908, S. 262; zit. in Kurzweil 1987, S. 75. Hirsch meinte mit "Derech
Erez" durchaus auch die Bildung in deutscher Kultur, denn er war von Schillers
Werken begeistert, doch mied er auch in der weltlichen Bildung die Fixierung auf
das Deutschtum, sondern er woHte ein übernationales humanistisches Menschentum
erreichen. Sein personales Erziehungsziel war der ,,Jisroel-Mensch", der "eine sym-
biotische Verbindung von aHgemeinem Menschentum und gesetzestreuem Judentum
darsteHte". (Kurzweil 1987, S. 76)
177 Siehe ZentralwohlfahrtssteHe 1933, auch Röcher 1992, S. 95. In Berlin gründete
noch 1919 die neo-orthodoxe Austrittsgemeinde Adass Jisroel eine eigene höhere
Schule, die auch die Abiturberechtigung erhielt.

266
moderne Gesellschaft und die deutsche Kultur geleistet und damit ihre Zög-
linge tatsächlich zu "Bürgern zweier Welten" gemacht.
Bislang ist nur von den jüdischen Schulen mit weiterführender Bildung
gesprochen worden. 178 Eine sehr viel breitere Wirkung hatten jedoch die jüdi-
schen Elementar- und Volksschulen, die von den jüdischen Gemeinden ein-
gerichtet wurden. Initiiert wurden sie ebenfalls noch im 18. Jahrhundert von
den Aufklärern, durchgesetzt in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts
mit Hilfe einer staatlichen Schulgesetzgebung, oft unter tatkräftiger Mithilfe
jüdischer Aufklärer. 179 Sie lösten die Chadarim, die rein religiösen Elementar-
schulen ab - oft gegen den erbitterten Widerstand orthodoxer Rabbiner. Ge-
dacht waren sie vor allen als Akkulturationshilfen für die Kinder unter Bei-
behaltung einer jüdischen Einstellung. Die für eine soziale Integration not-
wendige Anpassung an die deutsche Kultur wurde innerhalb von nur einer
Generation geleistet, im wesentlichen von etwa 1815 bis 1870. Diese Leistung
war "eine Großtat, die dem jüdischen Lehrer ein Ruhmesblatt, wenn nicht in
der allgemeinen, so doch in der jüdischen Geschichte sichert", so schrieb die
AJZ am 17.2.1905.
Doch kaum war die Akkulturation gelungen, begann man sich in groß-
städtischen jüdischen Gemeinden auch schon von den jüdischen Volksschu-
len zu distanzieren, denn nunmehr schien durch die Aufrechterhaltung der jü-
dischen Schulen die angestrebte Integration in die deutsche Gesellschaft ge-
fährdet zu sein.
Bereits 1864 besuchten in Preußen mehr als die Hälfte (53 v.H.) der
37500 schulpflichtigen jüdischen Kinder christliche Schulen; 1901 waren es
schon fast drei Viertel (71 v.H.). In Berlin besuchte 1906 nur noch ein Fünf-
tel (20 v.H.) eine jüdische Elementarschule. Obwohl zahlreiche Quellen dar-
über Auskunft geben, wie jüdische Kinder auch im 19. Jahrhundert in nicht-
jüdischen Schulen drangsaliert wurden - oft mit den gleichen Methoden wie
in der Hitlerzeit (vgl. Schatzker 1988, S. 40ff.) -, nahmen die jüdischen El-
tern den hohen Preis, den ihre Kinder zahlen mußten, in Kauf, um die soziale
Integration ihrer Kinder in die nichtjüdische Umwelt zu fördern. Der Besuch
einer "Judenschule" wurde deshalb mehr und mehr vermieden, denn "wir (... )
wollen nicht schon unsere Kinder in ein Ghetto sperren", wie in der Allge-
meinen Zeitung des Judentums (AJZ) am 4. November 1910 zu lesen war.
Dies war inzwischen die mehrheitlich vertretene Meinung bei den jüdischen
Deutschen geworden.

178 Die philanthropinistisch ausgerichteten Freischulen und auch die privaten konserva-
tiven Schulen nach dem Programm der "Thora im Derech Erez" hatten überwiegend
das Niveau von lateinlosen Bürger- und Realschulen; oft mit Französisch als Fremd-
sprache neben Deutsch und Hebräisch. Auch dadurch wurden vor allem schulgeld-
zahlende Eltern zur Anmeldung ihrer Kinder bewegt.
179 Hierbei gab es allerdings große regionale und länderspezifische Unterschiede. Zu
Bayern vgl. Prestel 1994, zu Hessen vgl. Berding, Schimpf 1991, zu Hamburg vgl.
Pritzlaff 1994, zu Berlin und Preußen vgl. auch Fehrs 1993.

267
Die Assimilation ließ das Jüdische zugunsten des Deutschen weit hinter
sich, aber die weiterhin eingeschränkte soziale Akzeptanz durch die nichtjü-
dische Umwelt sorgte dafür, daß diese Menschen immer wieder auf ihr Jude-
sein zurückgeworfen wurden, ohne daß sie es wollten. So mußte zwangsläu-
fig ein innerer Zwiespalt und eine "seelische Not" bei den jüdischen Heran-
wachsenden entstehen. Die zweite Generation nach der Emanzipation, also
die Großeltern der PriWaKi-Schüler, konnte noch relativ optimistisch auf das
Gelingen der sozialen Anerkennung setzen, denn erst ab den 1870er Jahren
erstarkte der postassimilatorische Antisemitismus. Für die Eltern der Pri-
WaKi-SchülerInnen, die zum größten Teil zwischen 1890 und 1900 geboren
wurden und die damit die dritte Generation nach der Emanzipation bildeten,
war nach Chaim Schatzker die Identitätskrise tiefer als bei der Generation
davor, denn "im Gegensatz zu den 70er Jahren, in denen das Ziel der wo-
möglich reibungslosen Integration in die deutsche Gesellschaft unter Beibe-
haltung jüdischer Belange, wenn auch noch nicht restlos erfüllt, so jedoch
durchaus vollziehbar und harmonisch vereinbar erschien, begann sich zu Be-
ginn der durch die antisemitische Welle geprägten achtziger Jahre die Brü-
chigkeit dieses Konzeptes abzuzeichnen. ,,180
Inwieweit die Großeltern persönlich mit Identitätsproblemen zu kämpfen
hatten, haben wir nicht erfahren können. Es gibt allerdings ein Indiz dafür,
daß sie vorhanden waren: Obwohl nach der Statistik mindestens ein Drittel
der Großeltern noch jüdische Elementarschulen besucht haben muß, scheinen
sie dies möglichst verschwiegen zu haben, denn zumindest ihre ansonsten gut
informierten Enkel und Enkelinnen haben darüber keine Auskunft geben
können. Ob dies allerdings dahingehend zu interpretieren ist, daß der Besuch
der jüdischen Schule sie eher vom Judentum weggeführt hat, wie Schatzker
die Sozialisationswirkungen dieser Schule einschätzt, muß bezweifelt wer-
den. 181 Immerhin blieben diese Großeltern dadurch in einem jüdischen Mi-
lieu. Unsere Befragungen haben gezeigt, daß in vielen Familien die Großel-
tern noch deutlich jüdischer eingestellt waren als ihre Kinder und Enkel.
Die Phase der relativ ungestörten Akkulturation und Assimilation endete,
wie erwähnt, eigentlich schon in den 1870er Jahren, als der neue Antisemi-
tismus sich am sogenannten "Gründerkrach" entzündete und in den achtziger

180 Schatzker 1988, S. 19. Zur Identitätskrise der Elterngeneration der PriWaKi-Schü-
lerlnnen vgl. ders., S. 22.
181 Auch Zwi Erich Kurzweil bezweifelt die These Schatzkers, daß die jüdische Schule
im 19. Jahrundert vor allem eine "Sozialisationsagentur zum Deutschtum" gewesen
sei und die nichtjüdischen Schulen wegen des Antisemitismus der "Rücksozialisie-
rung zum Judentum" gedient hätten. Die jüdischen Schulen mögen der Assimilation
vielleicht zu wenig entgegengesetzt haben, was aber noch nicht heißen muß, daß da-
mit auch eine aktive Förderung der Assimilation verbunden war. Das jüdische Milieu
- es gab nur jüdische Kinder und Lehrer - war an diesen Schulen zweifellos noch
sozialisationswirksam. Kurzweil vertritt nachdrücklich den Standpunkt, daß jüdische
Schulen zur Erhaltung des Judentums "absolut notwendig" gewesen seien, "weil nur
die jüdische Schule die Chance bietet, eine jüdische Identität weiter zu entwickeln ... "
(Kurzweil 1987, S. 121)

268
Jahren weiter eskalierte. Doch wurde dies vielfach nur als eine vorüberge-
hende Phase betrachtet und nicht als dauerhafte Verschlechterung des Ver-
hältnisses der nichtjüdischen Mehrheit zur kleinen jüdischen Minderheit. Bis
zum Ersten Weltkrieg glaubten die meisten Juden noch an eine Behebung
dieser Störungen und an einen weiteren Fortgang der Assimilation und sozia-
len Integration, wie dies zum Beispiel in der 1910 erstmals erschienenen
Schrift von Arthur Ruppin (1920) erkennbar ist. Ruppin sah im Antisemitis-
mus zwar ein gewisses retardierendes Element, das aber die weitere Assimi-
lation bis an den "Rand des Judentums und darüber hinaus" nicht aufhalten
könne. Insgesamt sah er einen weiteren Zerfall des Judentums in allen Berei-
chen voraus und knüpfte nur an den noch jungen organisierten Zionismus ei-
ne bescheidene Hoffnung, daß hierin wenigstens ein Teil der Juden eine neue
Bestimmungsform des Judentums erblicken könnte.
Doch die Gründung von immer mehr jüdischen Vereinen und Organisa-
tionen um die Jahrhundertwende und nicht zuletzt die Gründung der Zionisti-
schen Organisation war ein Indikator dafür, daß Juden zunehmend an die
Grenzen der sozialen Akzeptanz in der nich~üdischen Gesellschaft stießen und
deshalb ihre eigenen Institutionen gründen mußten, um ein ungestörtes Gemein-
schaftsgefühl erleben zu können. So kam es neben der Gründung der Zionisti-
schen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) zur Gründung zahlreicher ande-
rer rein jüdischer Vereinigungen, Verbände und Clubs: Studentenverbindun-
gen, Jugendbünde, Sportvereine, Gesangvereine, Veteranenvereinigungen
und vieles andere mehr. Das jüdische Vereinsleben erwies sich Anfang der
dreißiger Jahre als mindestens so vielfältig wie das der anderen Mittelschichts-
Deutschen. Bei oberflächlicher Betrachtung ließe sich daraus ein Widerstand
jüdischer Kreise gegen die vollständige Assimilation ableiten. Dies war zwei-
felsfrei bei den Neo-Orthodoxen und Zionisten der Fall.
Aber für drei Viertel der jüdischen Deutschen und auch der PriWaKi-Fa-
milien waren die jüdischen Gemeinschaftseinrichtungen möglicherweise viel
weniger Barrieren gegen die Assimilation, als vielmehr Umwege zur Assimi-
lation, die gewählt wurden, weil der direkte Weg durch den Antisemitismus
blockiert wurde. Vermuten läßt sich dies, weil nichtzionistische Jugendbün-
de, Studentenvereinigungen, Sportvereine oder auch der Reichsbund jüdi-
scher Frontsoldaten weitgehend Imitate der entsprechenden nichtjüdischen
Einrichtungen waren, in denen Juden "deutsche" Werte und "deutsches" Ver-
halten, kurz: eine deutsche Mentalität entwickeln konnten, ohne dabei von
Nichtjuden infrage gestellt zu werden. Dahinter wird oft die (heimliche)
Hoffnung gestanden haben, bei entsprechenden Fortschritten eines Tages ei-
ne nichtdiskriminierte Zugehörigkeit zum deutschen Volk doch noch errei-
chen zu können. Vorerst aber mußte man speziell im Freizeitbereich unter
sich bleiben, um ungestört "deutsch" sein zu können.
Bei einer differenzierteren Betrachtung ist die These jedoch etwas zu rela-
tivieren. Es wurden auch Elemente des Jüdischen zur Identitätsstabilisierung
herangezogen, etwa wenn sich der größte jüdische Sportverein in Erinnerung
an die heldenhaften Makkabäer ,,Maccabi" nannte, oder wenn der Jugendbund

269
"Kameraden" auch über das Judentum in seinem Bundesblatt "Kameraden
Deutsch-jüdischer Wanderbund" diskutierte. (Vgl. etwa die Jahrgänge 1924
und 1925)
Aber im großen und ganzen ging es doch um die Weiterführung der Ak-
kulturation und - zögernder - auch der Assimilation. Erkennbar ist diese Ent-
wicklung daran, daß jüdische Einrichtungen, die eine vermeintliche Behinde-
rung dieser Entwicklung darstellten, wie etwa jüdische Schulen, weiterhin im
Schwinden begriffen waren, während jüdische Einrichtungen, die den Prozeß
der Adaptation "deutscher" Eigenschaften und Merkmale förderten, wie etwa
Studentenverbindungen, Wanderbünde und Sportvereine, mehr und mehr Zu-
lauf bekamen.
Wenn also im Zusammenhang mit der Zunahme von jüdischen Vereini-
gungen und ihrer Mitgliederzahl von "Rückbesinnung" oder "Selbstbesin-
nung" gesprochen wird, so heißt das nicht, daß weitere Anpassungsprozesse
an die nichtjüdische Umwelt gestoppt oder gar rückgängig gemacht worden
wären; man suchte vielfach nur nach anderen Wegen, um den Deutschen
ähnlicher zu werden und damit das Ziel der vollen sozialen Akzeptanz doch
noch eines Tages zu erreichen.
Die Reorientierung am Judentum war demgegenüber eher ein soziales
und psychologisches Bedürfnis zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung ei-
nes "Wir-Gefühls", das emotional noch notwendig war und solange einen
Rückhalt gegenüber der nichtjüdischen Gesellschaft darstellte, bis diese eines
Tages ihre Vorbehalte gegen ihre jüdischen Mitbürger aufgeben würde. Die-
se Funktion, und weniger eine religiöse, hatten auch die liberalen und refor-
mierten Synagogengemeinden. Aber weil der erwünschte Zustand nicht ein-
trat und dadurch das jüdische Zusammengehörigkeitsgefühl eine sozialpsy-
chologische Notwendigkeit blieb, wirkte es auch als retardierendes Element
im Assimilationsprozeß, solange ein besserer Ersatz in Form einer vorbehalt-
losen sozialen Anerkennung durch die deutsche "Volksgemeinschaft" nicht
gegeben war. Dies erklärt, warum so viele areligiöse Juden noch Mitglied in
einer Synagogengemeinde blieben.

Der "deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens"

Das Identitätskonzept, das sich ab Ende des 19. Jahrhunderts für die große
Mehrheit der deutschen Juden und auch der PriWaKi-Eltern herauskristalli-
sierte, wurde besonders vom 1893 gegründeten "Centralverein deutscher
Staatsbürger jüdischen Glaubens" (C.V.) ausformuliert und repräsentiert. Die
Umrisse dieses Selbstkonzepts werden in § 1 der Satzung des C.V. so formu-
liert:
"Der C.V. d. St. j. GI. bezweckt die deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens ohne Un-
terschied der religiösen und politischen Richtung zu sammeln, um sie in der tatkräftigen
Wahrung ihrer staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung sowie der unbe-
irrten Pflege deutscher Gesinnung zu bestärken." (Zit. in Reichmann 1974, S. 23)

270
Ob sich dahinter noch der "Bürger zweier Welten" verbarg, kann durchaus in
Frage gestellt werden, denn in der "unbeirrten Pflege deutscher Gesinnung"
deutete sich bereits eine zwanghafte Anpassung an ein idealisiertes Deutsch-
tum an, das für das Jüdische nur noch wenig Raum ließ. Das zentrale Ziel des
C.V. war "die Herbeiführung einer tatsächlichen Gleichberechtigung" aller
Menschen jüdischer Abstammung, was ihm auch die breiteste Unterstützung
jüdischer Kreise eintrug, doch die entscheidende Frage war: Welches Maß an
assimilatorischer Vorleistung sollten die deutschen Juden dafür erbringen?
Das Dilemma und auch die Tragik des C.V. und der durch ihn repräsentierten
Mehrheit der jüdischen Deutschen lag ja darin, daß sie sich geradezu mit Überei-
fer als gute Deutsche der nichtjüdischen Volksgemeinschaft empfahlen und von
ihrem Konfessionsjudentum nur noch einen kleinen Rest zurückbehielten, aber
von der deutschen Volksgemeinschaft dennoch nur in den Vorraum ihres Hauses
gelassen wurden. Als Reaktion versuchten nicht wenige jüdische Deutsche, sich
möglichst noch deutscher als bisher schon zu geben, was von vielen Nichtjuden,
aber auch von konservativen oder zionistischen Juden als entwürdigende Anbie-
derung betrachtet wurde, wie dies z.B. der konservative Rabbiner und PriWaKi-
Religionslehrer Emil Cohn (1923) deutlich genug kritisiert hatte.
Der jüdische Liberale Gabriel Rießer, politisch-weltanschauliche Leitfigur
auch für den C.V., hatte schon um die Jahrhundertmitte gesagt: "Wir sind nicht
eingewandert, wir sind eingeboren. Wir sind entweder Deutsche, oder wir sind
heimatlos." (Zit. in Reichmann 1974, S. 111) Und noch 1930 wurde dem deut-
schen Judentum nach einem Goethe-Wort eine "geeinte Zwienatur" (deutsch
und jüdisch) zugeschrieben, denn "es bringt dem deutschen Volkstum die glei-
che glühende Liebe zur deutschen Kultur wie zu einer jüdischen Eigenart."
(Ebd, S. 30)
Bei aller Kritik am C.V., die sich auf dessen starke Orientierung an ei-
nem oft ideologisch und emotional überhöhten Deutschtum bezieht, muß von
ihm aber doch gesagt werden, daß er die Assimilation bis zum Letzten, d.h.
bis zur Aufgabe des Judentums, nicht wollte und sich nachhaltig für den Er-
halt der ,jüdischen Eigenart" einsetzte, auch wenn ihm deren Definition nur
unzureichend gelang. Er bemühte sich deshalb nicht nur um den Vollzug der
gesetzlich zugesicherten Gleichberechtigung, sondern auch um eine gegen
den Selbstzweifel wirkende "innere Erziehungsarbeit":
"Sie dient dazu, Selbstkritik zu schärfen, der Verbitterung vorzubeugen, den berechtigten
Stolz auf die jüdische Leistung ebenso zu bestärken wie den Willen zum Aufbau der deut-
schen Nation". (Ebenda, S. 24)

An dem letzten Ziel sollten die C.V.-Mitglieder selbst dann festhalten, wenn die
nichtjüdischen Deutschen mit ihnen nicht zusammengehen wollten. Die Syn-
these von Deutschtum und Judentum sowie des notwendige Gemeinschaftsge-
fühl müßten die Juden dann eben allein herbeiführen. 182 Dies war zwar eine

182 Hier wird auch das Motiv für die Bildung jüdischer Vereinigungen deutlich vorge-
stellt. Die sozialen Zusammenschlüsse und Einrichtungen der deutschen Juden dien-

271
gewisse Anerkennung der sozialen Realitäten, zugleich aber auch (zumindest
aus zionistischer Sicht) eine schon bis ins Absurde verzerrte Version der ur-
sprünglichen Utopie von der "deutsch-jüdischen Symbiose", die nie realisiert
worden sei, wie der Judaist Gershorn Scholem meint:
"Ich bestreite, daß es ein solches deutsch-jüdisches Gespräch in irgendeinem echten Sinne
als historisches Phänomen je gegeben hat. Zu einem Gespräch gehören zwei, die aufein-
ander hören, die bereit sind, den anderen in dem, was er ist und darstellt, wahrzunehmen
und ihm zu erwidern. Nichts kann irreführender sein, als einen solchen Begriff auf die
Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Juden in den letzten 200 Jahren anzu-
wenden. Dieses Gespräch erstarb (... ), als die Nachfolger Moses Mendelssohns, der noch
aus irgendeiner, wenn auch von den Begriffen der Aufklärung bestimmten, jüdischen
Totalität her argumentierte, sich damit abfanden, diese Ganzheit preiszugeben, um klägli-
che Stücke davon in eine Existenz herüberzuretten, deren neuerdings beliebte Bezeich-
nung als deutsch-jüdische Symbiose ihre ganze Zweideutigkeit offenbart. Gewiß, die Ju-
den haben ein Gespräch mit den Deutschen versucht, von allen möglichen Gesichtspunk-
ten und Standorten her, fordernd, flehend und beschwörend, kriecherisch und auftrotzend,
in allen Tonarten ergreifender Würde und gottverlassener Würdelosigkeit, und es mag
heute, wo die Symphonie aus ist, an der Zeit sein, ihre Motive zu studieren und eine Kri-
tik ihrer Töne zu versuchen." (Scholem 1987, S. 7f.)
Der C.V. reagierte auf die Machtübernahme durch die Nazis zwiespältig;
teilweise revidierte er frühere Meinungen, teilweise reagierte er mit Trotz,
indem er an dem Wert des Deutschtums festhielt und auch 1934 noch darauf
bestand, "daß deutsch-jüdische Zukunft nicht nur sein kann, sondern auch
sein soll, ja sein muß." (Reichmann 1974, S. 53i 83 Doch wichtiger als Orien-
tierungshilfe war das Postulat der verstärkten Hinwendung zum Judentum,
wie es in folgender, 1934 verfaßter Passage zum Ausdruck kommt:
"Das Zeitalter der Emanzipation ist beendet. Unsere seelische Sicherheit ist geborsten. Sie
hatte uns vielleicht wirklich stumpf gemacht, allzu selbstbewußt und satt. Zwar - an ju-
denfeindlichen Anfechtungen fehlte es eigentlich nie, aber wir ließen sie kaum je in uns
hineindringen. Wir sahen die Geschichtsentwicklung zu einseitig, als daß wir an wirkliche
Erschütterungen geglaubt hätten. Es ist schwer vorstellbar, denkt man etwa weiter, daß

ten nicht nur der Renaissance des Judentums, sondern wichtig war "vor allem in ih-
ren jugendlichen Kreisen das beglückende Gesinnungserlebnis der Gemeinschafts-
bildung. Je stärker ihre deutsche Volkszugehörigkeit von außen bestritten wurde, um
so innigere Einkehr hielten sie bei ihrer Liebe zur deutschen Heimat, zur deutschen
Sprache und zum deutschen Geistesgut, um so bewußter wurde ihnen die schon fast
unproblematische Ganzheit ihrer deutschen und ihrer jüdischen Wesensart." (Reich-
mann 1974, S. 29)
183 Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, zu dem auch PriWaKi-Väter gehörten,
schrieb am 27. Oktober 1933 in seinem Verbandsorgan "Der Schild": "Kameraden!
Es geht um Deutschlands Ehre und Lebensraum. Da übertönt in uns ein Gefühl alles
andere. In altsoldatischer Disziplin stehen wir mit unserem deutschen Vaterlande bis
zum Letzten!" (Zit. in Ehmann u.a., 1988, S. 274) Dies war subjektiv ehrlich und lei-
denschaftlich ernst gemeint. Faßt man jedoch die Situation 10 Jahre später ins Auge,
so erscheint dieser Aufruf als eine grotesk-makabre Ironie, z.B. im Hinblick auf den
"Lebensraurn", in dem ja gerade die Juden keinen Platz hatten und deshalb vernich-
tet worden sind.

272
die Gleichberechtigung der deutschen Juden noch jemals wiederkommen könnte, wie sie
früher bestand. Wenn sie aber nicht wiederkehrt, bleiben wir für immer ausgeschlossen
von dem Volk, das wir mit unsagbarer Hingebung als unser eigenes empfunden haben
und unter Schmerzen auch heute empfinden. In dieser inneren Entwurzelung, zu der die
wirtschaftliche Existenznot noch einen schweren äußeren Kampf hinzufügt, bleibt uns in-
nerer Halt: unser Judentum. Wir haben in der Zeit unseres äußeren Aufstiegs unser Ju-
dentum allzusehr vernachlässigt. Wer von uns wußte noch etwas von unseren heiligen
Büchern, wer kannte die jüdische Geschichte, wer hielt noch unsere schönen, innigen, al-
ten Bräuche? Wer trug sein Judentum, selbst wenn er noch darum wußte, anders denn als
unabänderliches, müdes Schicksal, wer erlebte es noch als eine liebend zu gestaltende
schöpferische Kraft?" (Ebenda, S. 50)

Darin war auch für die liberalen jüdischen Schulen wie die PriWaKi die Auf-
forderung enthalten, wieder stärker jüdische Geschichte, Kultur oder Religi-
onslehre im Unterricht zu berücksichtigen, was ja auch tatsächlich schon ab
1934 geschehen ist.
Gegenüber dem Zionismus, der sich nunmehr als rettende Zukunftsper-
spektive anbot, blieb der C.V. auch noch 1934 reserviert, ebenso gegenüber der
sogenannten "Berufsumschichtung", womit vor allen die Zionisten die Aus-
bildung für praktische (landwirtschaftliche und handwerkliche) Berufe mein-
ten. Für den C.V. irrten die ,,zionisten-Revisionisten" mit ihrer Idee vom ,,Ju-
denstaat". Die Ausbildung in praktischen Berufen führe zu einem "Nieder-
gang des Niveaus". Um die "Gefahr der Fellachisierung" zu bannen, bedürfe
es einer "entgegenwirkenden deutsch-jüdischen Geistigkeit". (Ebenda, S.
55f) 1936 hatte sich die Meinung des C.V. um einiges verschoben, wenn auch
nicht grundsätzlich geändert. Der Zionismus wurde nicht mehr rundheraus
abgelehnt, aber sehr schonungslos und skeptisch in seinen Motiven seziert:
"Aus den praktischen Möglichkeiten der Palästinawanderung in allen ihren Formen
wächst der Idee des Zionismus neue Unterstützung zu. Aber sofern diese Unterstützung
nur die Ideologie einer Not ist, ist sie keine echte Kraftquelle. Sie trägt nur so weit, wie
die Aufnahmefähigkeit Palästinas wirklich Menschen helfen kann. Sie rechnet scharf und
knapp: Existenzrettung gegen politische Anerkennung, Zertifikat gegen Zionismus."
(Ebenda, S. 76)

Der Weg zurück zum Judentum konnte äußerlich leicht gegangen werden,
denn dafür gab es viele Angebote und Möglichkeiten. Als innerer Prozeß zur
Herausbildung einer stabilen jüdischen Identität war er für die schon weitge-
hend assimilierten Juden schwer und für viele von ihnen wohl auch innerlich
unmöglich. Die Schulen, die von den Kindern aus diesen Kreisen besucht
wurden - und dazu gehörte zweifellos auch die PriWaKi -, befanden sich in
einer ebensolchen schwierigen Situation. Forcierten sie den Prozeß der Rück-
führung zum Judentum mit pädagogischen Mitteln allzusehr, so kam es zu
den allenthalben registrierten Abwehrreaktionen der Schüler. Nur ein behut-
sames sensibles Vorgehen und vorgelebte Überzeugungen der Lehrer konn-
ten diese verhindern.
Obwohl die Ausgrenzung der Juden aus dem deutschen Kulturleben eine
der ersten Maßnahmen der Nazis war, blieb das Deutsche schon aus sprachli-

273
chen Gründen in den dreißiger Jahren noch das wichtigste kulturelle Element
- trotz aller jüdischen Bildung und Erziehung. Dennoch gab es auch Anzei-
chen kultureller Heimatlosigkeit. Letztere beklagte der Rabbiner Joachim
Prinz, den viele PriWaKi-Eltern und SchülerInnen kannten, da seine Predig-
ten im "Friedenstempel" sehr beliebt waren. Prinz schrieb unter anderem am
17. April 1935 in der Jüdischen Rundschau:
"Wir leben in einer sehr merkwürdigen Kultursituation. Wenn man bedenkt, daß wir in-
nerhalb des deutschen Kulturschaffens keinen legitimen Ort mehr haben, nicht so sehr
von uns her, sondern von jener Kultur aus, dann entpuppt sich uns das alles, was wir so an
Kultur ,betreiben'.Wir spielen Beethoven, Bach und Mozart, wir kehren zu Goethe und
Hölderlin zurück, wir lauschen sehnsüchtig den großen Offenbarungen dieser Deutschen.
Das ist eine gute Sache, und die Rückkehr zu alten Dingen hat immer etwas Schönes und
Ergreifendes. Aber welches Schauspiel, welche Tragödie für Menschen, die in einer Zeit
leben, ohne in ihr zu leben. Die Tatsache, daß wir z.B. auf unseren Bühnen keinen heuti-
gen deutschen Dramatiker spielen dürfen, die Tatsache, daß kein großes deutsches Or-
chester die Melodien, die Schöpfungen eines Juden von heute spielen würde, die großen
Barrieren, die vor der Schöpfung unserer Maler stehen, verurteilen unsere kulturelle Si-
tuation zu einem Scheinleben von grausiger Wirklichkeitsferne. Da hilft auch kein Be-
trieb, kein Verein, kein Kulturbund. Denn es gibt keine ,befristete Kultur'! Ich weiß nicht,
wie lange man so leben kann. Ich weiß nicht, wie lange die Jugend so leben kann." (Zit.
in Ehmann u.a. 1988, S. 279f.)

Assimilation und "jüdischer Selbsthaß "

Der Zionist Gershorn Scholem betont in einem historischen Rückblick, daß


sich zwar die jüdische Oberschicht besonders im 19. Jahrhundert ohne große
äußere Skrupel bis hin zur Taufe assimiliert habe, daß die große Masse des
Judentums vor einem solchen Schritt aber immer zurückgeschreckt sei und
sich zumindest einen (oft undefinierbaren) Rest des Judentums bewahren
wollte:
"Sehr breite Schichten der deutschen Juden waren zwar bereit, ihr Volkstum zu liqui-
dieren, wollten aber, in freilich sehr verschiedenen Ausmaßen, ihr Judentum, als Erbe, als
Konfession, als Ichweißnichtwas, ein undefinierbares und doch im Bewußtsein deutlich
vorhandenes Element bewahren. Sie waren, was oft vergessen wird, zu jener totalen As-
similation, welche die Mehrheit ihrer Elite mit dem Verschwinden zu zahlen bereit war,
nicht bereit. Sie waren in ihrem Gefühl unsicher und verwirrt, aber das Schauspiel ihrer
eigenen Avantgarde, die ihnen davonrannte, war ihnen zuviel." (G. Scholem 1987, S. 35)

Doch gab es auch nach 1900 unter den deutschen Juden nicht wenige, die die
Erwartung der nichtjüdischen Umwelt nach Aufgabe des Judentums sich zu
eigen machten und sich verstärkt assimilierten. Manche von ihnen blieben
zwar noch Mitglied der jüdischen Gemeinde, nahmen aber auch schon vor
1933 nicht mehr am Gemeindeleben teil. Viele von ihnen hätten sicher keine
grundsätzlichen Einwände dagegen gehabt, wenn ihre Kinder auch nichtjüdi-
sche Partner geheiratet hätten. Im Unterschied zum 19. Jahrhundert dominier-
ten nunmehr nicht die Übertritte zum Christentum, sondern Austritte ("Dissi-

274
denten") und vor allem Mischehen. l84 Dies war der "eleganteste" Ausstieg
aus dem Judentum, der von Juden wie Nichtjuden einigermaßen akzeptiert
wurde, da er weniger als Verrat am Judentum ausgelegt wurde. Der zuneh-
mende Antisemitismus ab den 1880er Jahren hatte den Willen zum Austritt
aus dem Judentum vor allem bei denen gefördert, die ohnehin schon am Ran-
de des Judentums standen.
Die Assimilierten kamen damit den Forderungen eines Treitschke, aber
auch eines Mommsen und selbst eines Rathenau nach, die allesamt eine wei-
tere Assimilation und ein Aufgeben der jüdischen Eigenart angemahnt hatten,
wenn die Juden von den Deutschen akzeptiert werden wollten. Doch für die
assimilierten Juden war die Lage in Deutschland komplizierter als in anderen
westeuropäischen Ländern wie etwa England, denn sie lebten in einem un-
auflösbaren Dilemma, da sie trotz Assimilation das Stigma des Jüdischen
nicht verloren und es ihnen selbst durch die Taufe nicht genommen wurde l85 •
Oft sicherte erst die biologische Vermischung mit Deutschen nichtjüdischer
Abstammung ihren Nachkommen in der zweiten Generation die erwünschte
Volks zugehörigkeit.
Es gab im deutschen Volk offenbar eine weitverbreitete, nicht nur ideo-
logische, sondern auch reflexhafte Abwehrreaktion auf Menschen jüdischer
Abstammung, die jüdischerseits auch durch eine noch so weitgehende As-
similation nicht aufgehoben werden konnte; die Verkennung oder Verdrän-
gung dieser Tatsache gehört mit zu den tragischen Irrtümern der Assimilan-
ten und hat wesentlich zu deren Identitätskrisen und häufig auch zu einem
von Nichtjuden und Juden gleichermaßen kritisierten oder sogar verachteten
Verhalten beigetragen. Diesen Mechanismus der Nichtanerkennung und da-
mit die eigentliche Unmöglichkeit der Assimilation beschreibt Robert Weltsch,
Chefredakteur der zionistischen Jüdischen Rundschau, aus eigener Erfahrung
so:
"Die Differenzen wurden immer fühlbarer, je mehr die Juden die (durch die erfolgte Ge-
setzgebung formell bestätigte) Auffassung hatten, daß nun alle Scheidewände gefallen
seien. Zur Überraschung der Assimilationsgläubigen ergab sich aber das Paradox, daß ge-
rade der rückhaltlose Assimilationswille der Juden, der sozusagen die positive Antwort
auf die oft erhobene Assimilationsforderung der Umwelt war, in wachsendem Maß zu ei-
nem Hemmnis der Integration wurde. So hatten die Befürworter der Emanzipation sich
das Ergebnis nicht vorgestellt. So gleichberechtigt sollten die Juden sich nicht gebärden.
Plötzlich waren sie überall. Aber man wollte doch gar nicht, daß Juden deutsche Belange
vertraten oder als Deutsche repräsentativ auftraten. Dagegen wehrte sich der völkische

184 In der Weimarer Republik heirateten in den größeren Städten 20 bis 30 v.H. nicht-
jüdische Partner, ihre Kinder wurden zu drei Vierteln nicht Juden.
185 Als illustrierendes Beispiel mag eine Bemerkung von Bernhard Dernburg, einem
ehemaligen Staatssekretär im Reichskolonialamt, dienen, die er gegenüber dem
ZVfD-Sekretär Kurt Blumenfeld machte, als dieser Ende der 20er Jahre auch nicht-
jüdische Förderer für sein Pro-Palästina-Komitee anwarb. Dernburg, dessen Familie
schon in der zweiten Generation christlich war, erwiderte Blumenfeld: "Mich können
Sie, wenn es Ihnen paßt, ruhig zu den Juden rechnen - die Nichtjuden glauben so-
wieso, daß ich zu Ihnen gehöre." (Zit. in K. Blumenfeld 1961, S. 177)

275
Instinkt der Deutschen, die darin eine Verfälschung sahen, auch wenn die Vornehmen
unter ihnen zunächst davon kein Aufhebens machen wollten, und auch wenn sie die Dif-
ferenz nicht gen au definieren konnten, sondern nur in feinen Nuancen empfanden. Der
Wunsch einer Definition dieses wieder erwachten Fremdheitsgefühls führte notwendi-
gerweise zu plumpen Formulierungen und in seinen vulgären Reaktionen mehr und mehr
zu direkten Angriffen auf die - nun assimilierten und emanzipierten - Juden. Verbunden
mit anderen Faktoren, worunter sicherlich der wirtschaftliche Aufstieg der Juden nicht der
unwichtigste war, ergab sich bald ein lawinenartiges Anwachsen des Antisemitismus, der
in der Zeit des Ersten Weltkrieges seinen Höhepunkt erreicht." (R. Weltsch 1981, S. 12)
Die Demütigung durch den verlorenen Krieg ließ die alte Unsicherheit der
Deutschen wieder verstärkt aufbrechen und steigerte ihre Aggressivität, die
sich vorerst nur nach innen richten konnte und sich wieder die Juden als Op-
fer suchte. Keine Assimilation konnte verhindern, daß die Juden als Aggres-
sionsobjekt herhalten mußten. Nichts macht dies deutlicher als das tragische
Ende von Walter Rathenau und Maximilian Harden, die sich beide als voll
assimilierte Juden betrachteten.
Was aber sollten die Menschen jüdischer Abstammung tun, die keine
Beziehung mehr zum jüdischen Glauben hatten? Sie waren in der deutschen
Umgebung aufgewachsen, dachten und fühlten "deutsch", und sie hatten kei-
ne Alternative, als in der deutschen Gesellschaft ihren Platz zu sichern. Also
entwickelten sie noch mehr Ehrgeiz in Bildung und Beruf und wurden noch
erfolgreicher (und beneideter), gaben sich demonstrativ noch deutscher (und
wirkten dadurch unglaubwürdig oder komisch) und assimilierten sich noch
weiter bis zur Selbstverleugnung (und wirkten dadurch opportunistisch). Wie
auch immer die deutschen Juden sich verhalten mochten, in den Augen einer
mehr oder durchaus auch weniger antisemitischen Bevölkerung war immer
etwas falsch an dem, was sie taten. Damit befanden sie sich in einer - sozi-
alpsychologisch gesprochen - "Beziehungsfalle" zur nichtjüdischen Umwelt,
aus der sie nicht herauskamen - dies war auch schon vor der rassistischen
Ausgrenzung durch die Nazis so. Nun ist bekannt, daß permanente "Double
bind" - Situationen pathogen wirken auf die Persönlichkeitsentwicklung und
schizophrene Züge hervorrufen können. (Vgl. Watzlawik u.a. 1974, S. 195ff.)
Auch bei vielen deutschen Juden entwickelte sich ein psychisches Syndrom,
das von zeitgenössischen und späteren Autoren als "der jüdische Selbsthaß"
(Th. Lessing 1930, 1984; P. Gay 1989, S. 21Off.; S. Gilman 1993) benannt und
analysiert worden ist.
In einer Anamnese von sechs Lebensläufen, die vom Selbsthaß defor-
miert waren und zu einem unglücklichen Ende gelangt sind, hat Theodor
Lessing dieses Syndrom zu analysieren versucht. Unschwer läßt sich folgen-
de Ursachen-Wirkungs-Kette ausmachen: Die Verweigerung der vorbehaltlo-
sen Akzeptanz durch Nichtjuden, deren Anerkennung für die Selbstbestäti-
gung wichtig war, führte zu einer Entfremdung von der Gesellschaft. Daraus
entwickelte sich eine Selbstentfremdung, die dann in Selbsthaß umschlug
und seine persönlichkeitszerstörende Wirkung entfaltete, die zu einem Ge-
fühl permanter Verzweiflung und in extremen Einzelfällen sogar bis zum
Selbstmord führen konnte. Obwohl Lessing nur besonders schwerwiegende

276
und spektakuläre Fälle analysiert hatte, sah er das Phänomen des jüdischen
Selbsthasses als ein verbreitetes Syndrom an, von dem im Grunde nur tief
überzeugte religiöse oder zionistische Juden in Deutschland verschont blei-
ben könnten. Dies mußte sich aus der psychosozialen Konstellation, in der
sich die liberalen und vor allem die assimilierten Juden speziell in Deutsch-
land befanden, zwangsläufig entwickeln. Läßt man dies gelten, müßten mehr
oder weniger auch die PriWaKi-Familien und SchülerInnen mit Selbsthaß
infiziert gewesen sein, wobei zu vermuten ist, daß nur die Sensiblen beson-
ders schwer darunter litten, während die Mehrheit vor 1933 damit einigerma-
ßen leben konnte, aber auch nicht ganz unberührt davon war. 186
Die tiefere Ursache des Selbsthasses sieht Lessing darin, daß es den Ju-
den an einer egoistischen Selbstliebe fehle, die anderen Nationen und Völ-
kern zueigen sei und die erst seelische Ausgeglichenheit und ein Glücksge-
fühl ermögliche. Statt sich als völkisches Kollektiv zu begreifen und für des-
sen Interessen eigennützig zu kämpfen, würden die Juden sich den anderen
Völkern andienen und für deren vermeintliche Ideale kämpfen, was ihnen
aber keineswegs Anerkennung, sondern Kopfschütteln, Ablehnung und Haß
einbringe und damit keineswegs ihre soziale Position verbessere, denn es
bleibe dabei: "Der Jude steht draußen." (Ebenda, S. 43) Dies würden die as-
similierten Juden jedoch nicht wahrhaben wollen, sondern mit verstärkten,
aber verfehlten Anpassungsbemühungen reagieren:
"Die große Wandlung gelingt, jede ,Mimikry' gelingt. Du wirst einer von den anderen
und wirkst fabelhaft. VieIleicht ein wenig zu deutsch, um völlig deutsch zu sein." (Eben-
da, S. 50)
Auch Gershorn Scholem kritisiert rückblickend den "Selbstbetrug, dessen
Entdeckung eines der entscheidendsten Erlebnisse meiner Jugend war. Die
Urteilslosigkeit der meisten Juden in allem, was sie selbst anging ... , diese
Fähigkeit zum Selbstbetrug gehört zu den wichtigsten und trübseligsten
Aspekten der deutsch-jüdischen Beziehungen." (Scholem 1978, S. 39)
Noch schärfer urteilte seinerzeit der zeitweilig an der PriWaKi lehrende
neokonservative Rabbiner Emil Cohn über den - wie er meinte - Selbstbe-
trug der Assimilation und dessen persönlichkeitszerstörende Wirkungen bei
seinen jüdischen Zeitgenossen:

186 Wenn wir den Selbsthaß nur an der verweigerten sozialen Integration festmachen,
werden wir aIlerdings Theodor Lessings Ansatz nicht ganz gerecht, denn dieser
nimmt noch tiefergehende Wurzeln an. Danach gründet der Selbsthaß schon in der
jüdischen Religion, derzufolge es für den Menschen kein schuldloses Leben geben
kann. Danach wäre der Selbsthaß ein andauerndes Los der Juden und kein zeitlich
und sozial eingeschränktes Spezifikum. In dieser Arbeit konstatieren wir Selbsthaß
jedoch nur, wenn sich ein Entstehungszusammenhang mit der eingeschränkten sozia-
len Akzeptanz durch die nichtjüdische soziale Umwelt herleiten oder vermuten läßt.
Auch P. Gay (1989) hält die DarsteIlung von Th. Lessing für übertrieben, ohne al-
lerdings die weite Verbreitung von Selbsthaß in Abrede zu steIlen.

277
"Was aber (im Aufklärungsprozeß - W.F.) Gärung, Lockerung, Fruchtbarkeit war, mußte
in dem selben Augenblick Zerlösung, Entfugung und Grenzenlosigkeit werden, wo jenes
Firmament zusammenbrach, das bis dahin das Leben und die Seele des Juden umwölbte:
Die religiöse Lebensform. Wir haben gesehen, wie sie mit dem Eintritt der neuen Zeit in
Trilmmer ging, der Jude, ein Mensch der tiefen Mitte, zu einem Randmenschen ohne Halt
und Haften wurde. ( ... ) Der Charakter des Juden entstellte und verbog sich. Sein Schicksal
war ihm sinnlos geworden, er begann, es zu hassen. ,Das Judentum ist keine Religion,
sondern ein Unglilck', spottjammerte Heine. Selbsthaß und Selbstverachtung traten an die
Stelle reiner Gläubigkeit. ( ... ) Der tiefste Beweggrund all seines HandeIns und Wartens
als Jude in und außerhalb seines Judentums war - der Blick auf den Goi. Der Blick des
modernen entfugten und lebensentfremdeten Juden ist der Blick des armen Tieres auf die
Hand des Herrn und unsere Menschen der Bildungsmitte bis zu den NotabIen hinauf sind
auf das ,Apport!' der Umwelt nur zu oft und nur zu gehorsam gesprungen." (Cohn 1923,
S. 120ff.) An anderer Stelle schreibt er: ,.Ja, der filrchterliche Gleichberechtigungskampf
hat Israel wahrhaft entadelt. Daß der christliche Staat hundert Jahre lang seinen Juden
narrte und ihn wie einen Jahrmarktssprung nach der Wurst den vergeblichen Sprung nach
der Gleichberechtigung machen ließ, ist die furchtbare, nie bezahlbare Schuld der Welt
am Juden. (... ) Denn damit haben sie das Ebenbild Gottes im Juden verhunzt und ihn völ-
lig zur Entartung gefilhrt." (Ebenda, S. 123f.)
Aufgrund der Lebensbedingungen in der Vergangenheit - so Lessing - sei
den Juden auch ihre Natürlichkeit abhanden gekommen, was zu einer ent-
sprechenden Entfremdung und Künstlichkeit im Verhalten geführt habe.
"Der Kern aller Völkerpathologik war die erzwungene Naturlosigkeit und Lebensent-
fremdung hinter Mauern und Folianten. Unserem Volke fehlten einige Jahrhunderte die
Regulative alles gesunden Lebens. Wälderrauschen und Quellgeriesel, Meereswelle, sin-
gender Wind, Umgang mit Pflanze und Tier. Unser Volk ward verkilnstelt. Hinter Mauern
wuchsen bleiche Kinder, die lebenslang keine Landschaft mehr sahen, keine Weizenfel-
der, keine Eiche, keine Föhre. Es ist bekannt, daß den Juden kein Beruf gelassen wurde
als der Händlerberuf. Bauer, Jäger und Soldat konnte er nicht sein. Seine Heimat war der
Geist, seine Scholle das Papier, sein Acker das Gehirn." (Lessing 1984, S. 214f.)

Damit ist ein zentrales und tiefsitzendes Motiv angesprochen worden, das
Schulen wie die PriWaKi oder auch die Lessler-Schule mit dazu gebracht
hat, die Pädagogik der Waldschulen und Landerziehungsheime zu adaptie-
ren.
Praktische Übungen, Gartenarbeit, Spaziergänge und Geländespiele im
Grunewald, Schulfahrten in die Natur sowie der Sport galten auch unabhän-
gig von der aktuellen Situation als Mittel, Entfremdung und Selbstentfrem-
dung aufzuhalten. Dies galt auch schon für die Zeit vor 1933, und es ist an-
zunehmen, daß die PriWaKi trotz ihres betont überkonfessionellen Status von
Anfang an nicht nur soziologisch durch die zahlenmäßige Dominanz der
Schüler mit jüdischer Abstammung, sondern auch von den tieferen sozial-
psychologischen Motiven her eine jüdische Schule war, denn in ihrem Pro-
gramm als Waldschulheim und in ihrer Betonung der Gemeinschaft ist u.a.
die heimliche Intention erkennbar, sowohl die soziale Entfremdung als auch
die Entfremdung von der Natur und damit auch die Ursachen der Selbstent-
fremdung aufzuheben. Dieses Motiv hatte Kontinuität, und diesbezüglich war
die PriWaKi immer eine jüdische Schule - auch schon 1932. Widersprüche

278
in den Einstellungen sind dabei unübersehbar, denn bis 1933/34 war die
PriWaKi nur eine "heimliche" jüdische Schule; danach war sie es erzwunge-
nermaßen, und zuletzt war sie es auch bewußt und gewollt.
Für Kinder und Jugendliche mochten Waldschulpädagogik und jüdischer
Wanderbund noch eine kompensatorische Wirksamkeit entfalten. Bei vielen
erwachsenen Menschen jüdischer Abstammung verstärkten sich aber die
Probleme, wenn sie merkten, daß sie aus ihrem unsichtbaren Ghetto nicht
herauskamen und Gefangene ihre Herkunft blieben. Wenn diese Erkenntnis
gepaart war mit dem übermächtigen Wunsch, so zu sein wie alle anderen,
wurde das Jüdische zum Makel und die Schwelle zum Selbsthaß wurde über-
schritten. Man verfluchte heimlich (und manchmal auch offen) die eigene
Herkunft, und es entstand im Innern die nagende Frage: "Womit habe ich das
verdient?" (Lessing 1984, S. 228) und gleichzeitig der sehnliche Wunsch, der
jüdischen Herkunft entrinnen zu können. (Vgl. ebd., S. 239ff)
Es ist bereits erwähnt worden, daß gerade die assimilierten Juden oft jü-
dische Schulen ablehnten. Aus der kritischen Sicht eines Theodor Lessing
mußte auch dies Ausdruck des jüdischen Selbsthasses sein. Doch ging es
nicht nur um die Ablehnung jüdischer Schulen, sondern viele Assimilanten
lehnten selbst nichtjüdische Klassen oder Schulen ab, wenn der Anteil jüdi-
scher Schüler zu hoch war und nahmen dafür sogar Antisemitismus in Kauf.
So mußte Lessing, der 1902 als Lehrer an einem der ersten deutschen
Landerziehungsheime (an der Lietz-Schule Haubinda) arbeitete, die bittere
Erfahrung machen, daß diese Schule eine Art vorgezogenen "Arier-Paragra-
phen" einführte und für die Zukunft höchstens noch ausnahmsweise jüdische
Kinder aufnehmen wollte. (Vgl. Meier-Cronemeyer 1969, S. 18) Nicht nur
war er der einzige Lehrer, der aus Protest kündigte, sondern auch die jüdi-
schen Eltern reagierten erstaunt auf seine Frage, ob sie nicht auch ihre Kinder
auf eine andere Schule schicken wollten: "Ich verstehe überhaupt nicht, was
Sie wollen, Herr Doktor, wenn die Landerziehungsheime künftig keine Juden
mehr aufnehmen, man aber unsere Kinder hier läßt, dann wissen wir ja doch,
daß unsere Kinder in wirklich guter Gesellschaft sind." (Lessing 1984, S.
250)
Nach dieser Logik verhielten sich viele Eltern in liberalen und assimilier-
ten jüdischen Kreisen auch weiterhin, wodurch selbst das renommierte
Frankfurter Philanthropin Anfang der 20er Jahre in eine Krise geriet, weil
immer weniger jüdische Eltern bereit waren, ihre Kinder dorthin zu schicken,
obwohl die Schule auch von christlichen Kindern besucht wurde. Aber es
war eben eine jüdische Schule. Ende der zwanziger Jahre mußte sogar die
traditionsreiche jüdische Samson-Schule in W olfenbüttel, die 1786 gegründet
worden war, mangels Unterstützung geschlossen werden. Der zuständige
Braunschweiger Landesrabbiner zeigte sich verbittert über die Gleichgültig-
keit der jüdischen Eltern:
"Jüdisches Geld und jüdische Schüler finden sich für Landerziehungsheime, für Wald-
schulen, für alles, was den Ruf des Modernen, ,Zeitgemäßen' hat. Jüdische Eltern sind zur
Genüge da, die in der Lage sind, ihren Kindern in Schulgemeinden die beste und mo-

279
dernste Erziehung angedeihen zu lassen." (Zit. in Schachne 1989, S. 224) Der Landesrabbi-
ner verwies auch darauf, "daß die Samsonschule in ihrer heutigen Form die Möglichkeit
bietet, ein jüdisches Wickersdorf, eine jüdische Odenwaldschule zu sein." (Ebenda)
Gerade dieser Hinweis ist interessant, denn er zeigt, daß es nicht an pädago-
gischer Qualität und Modernität gefehlt hat. Die Samson-Schule hatte in den
Augen der liberalen und weitgehend assimilierten Eltern offensichtlich nur
den einen Fehler, eine jüdische Schule zu sein. Die PriWaKi bezeichnete sich
in den ersten Jahren nicht als jüdisch und inserierte auch 1932 nicht in jüdi-
schen Zeitungen. Darin lag offenbar auch das Erfolgsgeheimnis: Lotte Kaliski
kannte die Einstellungen und die Mentalität des assimilierten Mittelschichtsju-
dentums offenbar nur zu gut - sie gehörte schließlich selbst dazu.
Gegenüber der Einstellung der jüdischen Eltern von 1902, die Theodor
Lessing zitiert hat, hatte sich die Einstellung der Eltern, die ihre Kinder auf
Schulen wie die PriWaKi oder die Lessler-Schule schickten, um einiges ver-
schoben. Die Eltern von 1902 glaubten noch an die Assimilation, die Eltern
von 1932 hatten jedoch erkannt, daß es nicht so schnell und vor allem nicht
ohne Umwege gehen würde. Sie wollten zwar keine nominell und inhaltlich
geprägte jüdische Schule, wohl aber eine "heimliche", d.h. eine Schule, die
nach den sozialen und psychischen Bedürfnissen jüdischer Kindern gestaltet
war - wobei natürlich auch die praktischen Belange von Eltern und Schülern
bei der Schul wahl zusätzlich ins Gewicht fielen.
In der Fachliteratur zur jüdischen Schulerziehung wird die Aversion libe-
raler Juden gegen nominell und inhaltlich jüdische Schulen übereinstimmend
hervorgehoben. Joseph Walk (1991, S. 25ff.) erwähnt, daß in Preußen im
Schuljahr 1932/33 von den 17000 jüdischen höheren Schülern nur 2000 (12
v.H.) eine jüdische Schule besuchten, überwiegend aus orthodoxen Familien.
Selbst die zionistischen "Wortführer (... ) zogen es häufig vor, ihre eigenen
Kinder in renommierte deutsche Schulen zu schicken oder bestenfalls die er-
sten vier Grundschulklassen einer jüdischen Volksschule besuchen zu lassen
und sie dann auf eine allgemeine höhere Schule zu schicken." Auch die libe-
ralen Juden sahen durch die Einrichtung jüdischer Konfessionsschulen, die
ab 1905 möglich gewesen wären, "das Prinzip der Integration in die deutsche
Gesellschaft gefährdet und die Gefahr der Segregation der jüdischen Schüler
und eine Rückghettoisierung ins ,Ghetto-Juden schule , nähergerückt ... "
(Schatzker 1988, S. 36) Schon der Gedanke daran sei den meisten Juden ein
"Greuel" gewesen. Die Auflösung jüdischer Schulen ist also nicht auf Druck
der nichtjüdischen Bevölkerung oder des Staates erfolgt, sondern der Nieder-
gang der jüdischen Schule ist vielmehr auf die ablehnende Haltung der Mehr-
heit der deutschen Juden zurückzuführen. Dies unterstreichen auch andere
Autoren:
"Dem nichtorthodoxen jüdischen Bürgertum der Großstädte waren die jüdischen Schulen
ein Dom im Auge. Weit entfernt von der religiösen Tradition, nach Assimilation strebend
und dem kleinbürgerlichen sozialen Milieu dieser Schulen abgeneigt, sahen sie keinen
Grund, ihre Kinder in die ,Judenschulen' zu schicken, wie sie von ihnen voller Verach-
tung genannt wurden." (Weiss, 1991, S. 13)

280
"Die allermeisten jüdischen Schulen waren deshalb den eingewanderten Ostjuden
vorbehalten und diesen ,Judenschulen' hatten die eingesessenen deutschen Juden, ausge-
nommen die orthodoxe und zionistische Minderheit unter ihnen, zumeist ablehnend ge-
genüber gestanden." (Angress 1986, S. 214)
Diese ablehnende Einstellung blieb auch nach der "Machtergreifung" noch
längere Zeit erhalten:
"So kam es, daß viele Eltern aus eben diesen assimilierten Kreisen anfangs dem Gedan-
ken, ihre Kinder in ein ,Lernghetto' umzuschulen, ablehnend gegenüberstanden, wobei so
manche von ihnen noch die Vorstellung von der verpönten ,Judenschule' hatten."
(Ebenda,S.215)
Selbsthaß schien also auch gegen jüdische Schulen gewirkt zu haben. 187 Aus-
druck des Selbsthasses, auch da, wo er keine spektakuläre Ausprägung hatte,
war die Selbstabwertung alles Jüdischen 188 und damit auch die Geringschät-
zung jüdischer Institutionen bei den meisten nichtzionistischen und nichtre-
ligiösen Juden als Resultat einer Selbstattribuierung der negativen Ein-
stellung zum Judentum durch die nichtjüdische Umwelt. Doch gleichzeitig
benötigte man in Einrichtungen des Judentums einen sozialen und psycholo-
gischen Rückhalt und eine Kompensation für das Anderssein und die Aus-
grenzung.
Ausdruck dieses Zwiespalts war auch die ambivalente Einstellung zum
Judentum an der PriWaKi; sie scheint ein durchgängiges Merkmal dieser
Schule geblieben zu sein. Dies zeigt sich an der Einstellung, einerseits durch-
aus eine Schule für die Bedürfnisse der jüdischen Klientel bis 1933 sein zu
wollen und ab Ostern 1934 schrittweise und behutsam auch inhaltlich zu ei-
ner jüdischen Schule zu konvertieren, aber gleichzeitig die Namensbezeich-
nung "Jüdische Schule Kaliski" zu meiden, wo immer es nur ging. Dies wur-
de - wie gezeigt - sogar bis Anfang 1939 durchgehalten. 189 Auch der Begriff
"Judenschule" scheint psychologisch eine erhebliche Rolle gespielt zu haben.
Dies ist mehr als verständlich, denn der Begriff wurde von den Nazis nur all-
zu gern benutzt und in beleidigender Absicht auch gegen die PriWaKi gerich-
tet. Die Nazis hatten zwar schlimmste Vorurteile gegenüber den Juden, kannten
sie aber als "nahestehende Fremde" (Freud) wiederum gut genug, um ihre
Probleme, die ja durch einen generationenlangen Antisemitismus entstanden
waren, in ihren antijüdischen Kampagnen und Aktionen gnadenlos auszunut-

187 Möglicherweise ist dieses Urteil auch zu sehr von zionistischer Kritik bestimmt.
Vielleicht haben weniger ideologische oder psychologische Motive, sondern eher
praktische Gründe die Eltern davon abgehalten, ihre Kinder auf jüdische Schulen zu
schicken. Das müßte weitere Forschung klären.
188 Vgl. dazu auch Th. Lessing 1984, S. 30. Oft war der Se\bsthaß als ,jüdischer Anti-
semitismus" auch gegen die Ostjuden als Verkörperung des Jüdischen gerichtet.
(Vgl. Gay 1989)
189 Zeugnisse, Schulstempel, Briefköpfe etc. trugen weiterhin den Aufdruck "Private
Waldschule Kaliski". Das Namensattribut ,jüdisch" wurde erst ab Dezember 1936
und nur dort benutzt, wo die staatliche Schulaufsicht kontrollierte.

281
zen. Dies geschah auch mit dem Begriff "Judenschule". Der wirkliche histo-
risch-kulturelle Hintergrund spielte dabei natürlich keine Rolle.
Aber auch in jüdischen Kreisen selbst wurde der Begriff nicht positiv
gewendet, was ja mit einer entsprechenden Gegenreaktionen durchaus mög-
lich gewesen wäre, wenn man etwa die pädagogische und kulturelle Leistung
der traditionellen Chadarim und des Bethauses ("Schul") herausgestellt und
positiv für den Erhalt des Judentums bewertet hätte. Ein orthodoxer Jude et-
wa oder auch ein überzeugter Zionist, der dies tat, war mit dem Begriff "Ju-
denschule" kaum wirklich zu beleidigen; ein assimilierter Jude aber sehr
wohl, weil er mit dem konfrontiert wurde, was er im Grunde seines Herzens
ablehnte oder gar haßte, weil es Anlaß zu antijüdischen und trennenden Vor-
urteilen bot. Deshalb konnte es auch nur zwischen weitgehend assimilierten
Juden mit Aversionen gegen vermeintlich minderwertige Relikte des Traditi-
onsjudentums zu einer solch absurden Diskussion über "Judenschule" kom-
men, wie in der schon erwähnten Diskussion zwischen L. Schutz und H. Sel-
ver. (Israelitisches Familienblatt vom 26. Nov. 1936) L. Schutz brach in sei-
nem Artikel eine Lanze für die jüdischen Gemeindeschulen und griff die Pri-
vatschulen an, weil sie sich angeblich zu opportunistisch gegenüber den
zahlenden Eltern verhalten müßten. Da diese Eltern zumeist stark assimiliert
seien, werde die jüdische Erziehung nicht intensiv genug betrieben:
"Die Privatschule ist mehr oder weniger ein Geschäftsunternehmen, angewiesen auf eine
häufig nicht faßbare, jüdisch mehr oder weniger desinteressierte Elternschaft, die zudem
noch den eigentlichen pädagogischen Problemen mit einer oft schwer begreifbaren Un-
wissenheit gegenübersteht. (... ) Sie wollen eben nur ihre Kinder aus der nichtjüdischen
Umgebung herausnehmen, sie aber häufig nicht in eine jüdische hineinsetzen. "

Dies traf im Kern auch auf die PriWaKi zu - zumindest bis etwa 1936. Die
PriWaKi-Eltern wollten mehrheitlich eine Schule mit jüdischen Lehrern und
Schülern sowie einem pädagogischen Programm, das den praktischen, sozia-
len und psychischen Bedürfnissen jüdischer Kinder aus liberalen oder assi-
milierten Elternhäusern entgegenkam, aber keine Schule, die zumindest nach
außen zu sehr als jüdische Schule Flagge zeigte.
Schutz argumentierte weiter, daß die Abhängigkeit der Lehrer von den
zahlenden Eltern negative Folgen für Leistung und Disziplin an den Privat-
schulen haben müsse:
"Es würde in diesem Rahmen zu weit führen, noch auf die zutage liegenden Unzu-
träglichkeiten einzugehen, die sich unter den geschilderten Verhältnissen für die Disziplin
und die Leistungen ergeben. Man könnte sonst dahin kommen, aus der an sich höchst
fruchtbaren Begegnung zwischen Juden und Schule eine Judenschule entstehen zu sehen,
welcher Begriff (an sich ungerechtfertigt) doch eine Fülle von unangenehmen Einzelhei-
ten in sich schließt".

Wenn die Bezeichnung Judenschule "an sich ungerechtfertigt" ist, warum be-
nutzt sie dann L. Schutz zur Kritik der vermeintlichen Mißstände an Privat-
schulen? Es ist sicher nicht von der Hand zu weisen, daß hier eine zwanghaf-
te Übernahme eines antijüdischen Klischees erfolgt ist.

282
Auch Selver kann sich diesem Zwang nicht ganz entziehen. Er wehrt die
Kritik an der mangelnden jüdischen Erziehung ab, indem er zugibt, daß die
Eltern zwar kaum noch einen richtigen Zugang zum Judentum fänden, daß
sie aber ihren Kindern diesen Weg nicht verbauen würden, und insofern kön-
ne jüdische Erziehung an Privatschulen durchaus stattfinden. Das Argument,
durch finanzielle Abhängigkeit würden Disziplin und Leistung in der Schule
leiden, weist er als absurd zurück; gerade die finanzielle Abhängigkeit zwin-
ge die Schule zu guten Leistungen:
"Indem sie (die Privatschule-W.F.) aufuörte, eine gute Schule zu sein und sich dem Zerr-
bild der ,Judenschule' näherte, würde sie nicht allein ihrer Aufgabe nicht genügen, son-
dern sich auch materiell zum Tode verurteilen". (Selver 1936)
Auch Selver steht also unter dem inneren Zwang, den Begriff zu benutzen,
um sich sogleich von ihm zu distanzieren. Bei beiden Kontrahenten erfolgt
eine widersprüchliche Distanzierung. Der Begriff wird zwar einerseits als
Vorurteil entlarvt, indem versichert wird, die Bezeichnung Judenschule sei "an
sich unangemessen" (Schutz) oder ein "Zerrbild" (Selver); zugleich wird ihm
aber eine potentielle Realität unterlegt. Diese Aversion gegen alles, was die
PriWaKi auch nur in einen assoziativen Kontext zu einer "Juden schule" brin-
gen könnte, scheint auch von den Schülern aufgenommen worden zu sein. In
seiner Dankesrede sagte der Schülersprecher Peter Landsberg bei Selvers
Verabschiedung am 24. Juni 1938:
"Wo immer Sie in der Schule erschienen, sei es mit dem bekannten und gefürchteten Lä-
cheln, sei es mit dem noch mehr gefürchteten Ernst, in jedem Falle herrschte zunächst
einmal ein Sie respektierendes Schweigen. Was auch immer der Grund des Schweigens
war, es bürgte dafür, daß aus unserer Schule nie, wie man sie so fälschlich nennt, eine ,Ju-
denschule' werden konnte." (P. Landsberg 1938)
Als etwa acht Monate später der letzte Direktor Paul Jacob verabschiedet
wurde, wurde betont, wie sehr dieser die Schule zu einer jüdischen gemacht
habe. Die "Judenschule" war weder für den inzwischen zionistischen Paul
Jacob noch für den ebenfalls zionistischen Abschiedsredner Alfred Cohn ein
Problem, weswegen sich eine Thematisierung auch erübrigte.
Bemerkenswert ist - allerdings auf einer anderen Ebene -, daß in den
damaligen Briefen der Schüler, die sich auf das Schulleben in der PriWaKi
beziehen, nie erwähnt worden ist, daß die PriWaKi eine jüdische Schule sei.
Die Identifizierung mit der Schule als einer jüdischen erfolgte also nie spon-
tan, sondern nur zweck- und ereignisbezogen, etwa bei jüdischen Festen oder
zu mehr oder weniger offiziellen und formalen Anlässen. Die Waldschul-
Merkmale der PriWaKi sind hingegen häufig spontan erwähnt worden.
Die ambivalenten Einstellungen in bezug auf ,,Judenschule" und ,jüdi-
sche Schule" waren, wie schon bei den Lehrerbiographien angesprochen (vgl.
auch Busemann u. a. 1992, S. 257ff.), in erster Linie ein Problem des stärker
assimilierten Teils des Kollegiums, das 1937/38 vielleicht noch die Hälfte des
"inneren Zirkels" ausmachte. Bei den Eltern und Schülern dürften es auch zu
dieser Zeit mindestens noch zwei Drittel gewesen sein, die noch keine "we-

283
sensjüdische" Einstellung gefunden hatten. Vom Gefühl her blieben Aver-
sionen, weil ,jüdisch" immer auch ein durch die Nazis aufgezwungenes Stig-
ma mit äußerst schmerzhaften Folgen war, doch gleichzeitig bemühten sich
zumindest die Lehrer, die Schule in ein positives Verhältnis zum Judentum
zu bringen. So setzte sich Selver in seiner Streitschrift von 1936 ganz eindeutig
auch für den Aufbau positiver jüdischer Einstellungen ein. Er forderte:
"Die jüdische Schule muß eine Gesinnungsschule sein. Sie scheint mir ihre Aufgabe miß-
zuverstehen, wenn sie sich als eine reine Wissensschule betätigt ... " (H. Selver 1936)

Für die weniger assimilierten Lehrer, die zu dieser Zeit an der PriWaKi un-
terrichteten, wie Kost, Kuttner, Salzberger und zunehmend auch für Paul Ja-
cob, war dies ohnehin zu einem selbstverständlichen Ziel ihrer pädagogi-
schen Bemühungen geworden.
Ob und inwieweit auch die PriWaKi-Eltern und -SchülerInnen unter Selbst-
haß litten, läßt sich nur vermuten. Nimmt man alle diejenigen aus, die nach-
weislich eine etwas stärkere Bindung an die jüdische Religion, Tradition oder
gar an die zionistische Nationalstaatsidee hatten, so könnten mindestens noch
zwei Drittel der Schülerlnnen-Familien entsprechend prädisponiert gewesen
sein. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Selbsthaß (insbesondere vor 1933) schon
manifest wurde oder gar pathologische Züge angenommen hätte. Vor allem die
Kinder waren sich ihrer Außenseiter-Situation noch nicht bewußt, da sie ent-
weder wenig mit der nichtjüdischen Außenwelt in Berührung kamen oder die
nichtjüdischen Spielkameraden noch keinen Unterschied machten. Das änderte
sich dann oft mit dem Schuleintritt, wobei aber die Erfahrungen höchst unter-
schiedlich sein konnten. Kinder mit eindeutig jüdischen Namen und ,jüdischem
Aussehen" waren eher abweisenden Reaktionen ihrer Mitschüler, Lehrer und
Spielkameraden ausgesetzt als jüdische Schüler, die diese Attribute nicht oder
nicht so stark ausgeprägt besaßen. Manche Schulen, Orte, Stadtviertel etc. wa-
ren weniger antisemitisch geprägt, andere mehr. Manche Erfahrungen mit der
nichtjüdischen Umwelt hingen auch nur vom Zufall ab.
Darüber hinaus war auch die innere Verarbeitung solcher Erfahrungen
extrem unterschiedlich. Einige Kinder mit jüdischen Elternteilen verdrängten
Bemerkungen über ihr Jüdischsein, andere reagierten darauf mit intensiver
Selbstreflexion und manchmal auch mit einer "Bekehrung", d.h. einer verstärk-
ten Hinwendung zum Judentum - etwa mit Hilfe eines jüdisch-zionistischen
Jugendbundes, von dem sie sich "keilen" ließen.
Über solche Schlüsselszenen und ihre Verarbeitung wird oft in Autobio-
graphien - besonders von Zionisten - berichtet. So schreibt Kurt Blumenfeld,
der spätere Generalsekretär der ZVtD, über seine Erfahrungen in Familie und
Schule:
"Ich stamme aus einer jüdischen Familie deutscher Kultur. Mein Vater war Richter in In-
sterburg. Der Familie meiner Mutter ersetzte deutsche Gesinnung die verlorengegangene
jüdische Tradition. Von der Existenz einer besonderen Judenfrage wußte ich nichts. Der
Verkehr meiner Eltern bestand ausschließlich aus geistig und musikalisch interessierten
Nichtjuden. Von der antisemitischen Bewegung war in unserer abgeschlossenen Welt

284
nichts zu merken. Ich erlebte keine Zurücksetzung in der Schule und im gesellschaftli-
chen Leben." (Blumenfeld 1962, S. 26)
So oder annähernd ähnlich werden auch viele PriWaKi-SchülerInnen anfangs
ihre Kindheit erlebt haben. Aber die verdrängte Identitätsproblematik trat
meistens doch irgendwann zutage. So bemerkte Blumenfeld, daß es seinen
Eltern peinlich war, wenn das Wort "Jude" fiel, weshalb es bei Unterhaltun-
gen tunlichst vermieden wurde. 190
Doch konnten auch solche Kinder Erlebnisse nicht vermeiden, durch die
ihnen dann plötzlich ihr verstecktes Judesein vor Augen geführt wurde. So
berichtet Blumenfeld, er sei als Kind von einem Ostjuden nach dem Weg ge-
fragt worden und habe so getan, als ob er den Mann nicht verstünde. Eine ihn
begleitende nichtjüdische Bekannte zeigte sich darüber sehr verwundert und
fragte ihn, ob er sich etwa seines Judeseins schäme. Für Blumenfeld war dies
ein Schock, denn er hatte begriffen, daß er sich auch von den polnischen Ju-
den nie würde lossagen können. Damit war sein Weg in den Zionismus vor-
bereitet.
So weitgehend reagierten jüdische Kinder und auch PriWaKi-Schü-
lerlnnen vor 1933 nur in seltenen Ausnahmen. Aber auch sie werden ähnli-
che Szenen erlebt haben, die jedoch zumeist verdrängt wurden oder zumin-
dest keine grundsätzliche Einstellungsänderung bewirkten.
Doch als 1933 die Kinder aus assimilierten Familien völlig überraschend
zu Ausgestoßenen der Gesellschaft gemacht wurden, gerieten sie, wie aus-
führlich beschrieben worden ist, häufig in einen Zustand der psychischen
Desorientierung und Verzweiflung. Fast zwangsläufig mußten vor allem die
Kinder, denen durch die Familie und die Synagoge keine überzeugende jüdi-
sche Identität vermittelt worden war, und dies war an der PriWaKi die große
Mehrheit, zunächst den ihnen "angeborenen Makel" hassen, bevor dann die
pädagogischen Maßnahmen der jüdischen Erziehungsinstitutionen greifen
und den Haß auf die Herkunft und das Anderssein in eine weniger destrukti-
ve oder sogar positive Sichtweise und Einstellung umlenken konnten.
Doch war dies in den ersten Jahren des Hitler-Regimes noch nicht so; ein
mangelhaftes jüdisches Bewußtsein konnte unter der Belastung der Erniedri-

190 Vgl. Blumenfeld 1962, S. 29. Auch ein anderes biographisches Beispiel zeigt, daß
Assimilation das Problem des Jüdischseins psychologisch nicht beseitigen konnte.
Reinhard Bendix (geb. 1916 in Berlin), der aus einer assimilierten Familie stammte,
die aus der jüdischen Religionsgemeinschaft ausgetreten war, und der selber im Ge-
gensatz zu Blumenfeld assimiliert geblieben ist, schreibt über das Verhältnis zum
Judentum in seiner Familie: "Als kleiner Junge und auch als Halbwüchsiger war ich
mir nicht bewußt, Jude zu sein. Ich wuchs mit Zitaten aus den deutschen Klassikern,
nicht aus der Bibel oder dem Talmud auf. Was meine Schwester betraf, war jüdische
Assimilation nicht einmal ein Problem und ich war es kaum gewohnt, daß meine EI-
tern darüber sprachen. Sie glaubten, dieses Problem aus der Welt geschafft zu haben.
Uns Kindern hatte man deutsche und nicht ,jüdisch klingende' Namen gegeben, und
man schärfte uns ein, alles zu unterlassen, was angeblich ,jüdische Manieren' wa-
ren." (Bendix 1985, S. 219)

285
gungen und Ausgrenzungen nicht wie durch ein Wunder ad hoc in eine posi-
tive und bruchlose jüdische Identität umschlagen, sondern machte Gefühle
des Selbsthasses zumindest als Zwischenstufe bei den Kindern aus assimilier-
ten Familien mehr als wahrscheinlich. Vor diesem Hintergrund können die
nachfolgend geschilderten Fälle als Beispiele für ein weit verbreitetes Gefühl
gesehen werden.
Offen thematisiert worden ist ein solcher Selbsthaß jedoch nur in einem
Fall: Gunther Stent hat sowohl im Interview (1989) als auch in seiner (noch
unveröffentlichten) Autobiographie (1992) geschildert, er habe damals als
Schüler wie viele andere seiner (auch jüdischen) Mitschüler und Bekannten
eine deutschnationale Einstellung gehabt, die mindestens bis 1935 noch er-
halten geblieben sei. Der in Deutschland verbrachte Lebensabschnitt bis zum
14. Lebensjahr wird in seiner Autobiographie unter der Überschrift ,,self-
hater" subsumiert, denn sein "innigster Wunsch" sei es damals gewesen "to
be a Jew no more, free to join the Hitlerjugend." (Stent 1989, 1992) Sein
Selbsthaß sei durchaus kein Einzelfall gewesen, sondern war nach seinen Be-
obachtungen auch typisch für die Mitglieder der Reformgemeinde, "der die-
jenigen Assimilanten angehörten, deren verbleibender Stolz auf ihre Vorfah-
ren sie von dem allerletzten Schritt abhielt, mit dem jüdische Selbsthasser ih-
re Herkunft abschütteln, nämlich durch Taufe zum Christentum überzutre-
ten."(Ebd.) Stent weist zugleich auf die Unumgänglichkeit des Selbsthasses
für deutsche assimilierte Juden hin, denn dieser habe auch mit dem Selbsthaß
der Deutschen zu tun gehabt:
"Unglücklicherweise waren auch die Deutschen selbst nicht frei von Selbsthaß, denn ihr
Nationalcharakter enthielt ein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den Franzosen und
Briten. 191 So wurde ich in einer jüdischen Gemeinschaft geboren, die deutsche Werthal-
tungen übernommen hatte (that had assimilated a set of Gentile values), die sowohl eine Ab-
wertung des Juden enthielten, der man selbst war, als auch des Deutschen, der man gern
sein wollte." (Ebenda)
Und über den Entstehungszusammenhang und den Mechanismus der
Selbstattribuierung schreibt Stent:
"Wie es normal ist für Angehörige einer unterdrückten Rasse oder Ethnie, habe ich die
Verachtung, die meine Unterdrücker für mich hatten, akzeptiert und auf mich bezogen. So
war es möglich, daß ich meine unfreiwillige Mitgliedschaft bei den Kindern Israels zu
verheimlichen suchte, um als einer von meinen antisemitischen Unterdrückern angesehen
zu werden. Tatsächlich hat mich das Aufwachsen als deutscher Jude mit einer besonders
hemmenden (debilitating) Version der widersprüchlichen Affektstörung (affective disor-
der) des Selbsthasses belastet." (Ebenda)

191 Dies Inferioritätsgefühl beruhte, wie bereits erwähnt, auf dem vermeintlichen Zu-
spätkommen Deutschlands als Nation. Die Selbstbehauptung im europäischen Kon-
text wurde schon unter Wilhelm 11 und besonders nach dem Rücktritt Bismarcks zum
aggressiven Akt. Diese Mischung von Unsicherheit und Aggression bestimmte die
politische Entwicklung Deutschlands maßgeblich mit und führte zunächst zum Er-
sten Weltkrieg und schließlich zum "Dritten Reich".

286
Diese Bedingungen galten, wie gesagt, mehr oder weniger für alle assimilier-
ten Juden und damit für mindestens zwei Drittel der PriWaKi-Familien. In
einer weniger ausgeprägten pathologischen Form als in Theodor Lessings
Fallbeispielen war Selbsthaß unter den assimilierteren Juden latent vermut-
lich weit verbreitd 92 und wurde ab 1933 manifest, da die Bedingungskonstel-
lation ihn fast zwangsläufig herstellte.
Mit Ausnahme von Stent ist der Selbsthaß jedoch nicht explizit von Pri-
WaKi-Schülern und Lehrern erwähnt worden. Besonders nach dem Holo-
caust verlangt die Pietät gegenüber den Opfern und das dadurch geprägte
positive Zugehörigkeitsgefühl zum Judentum sowie das weitgehende Wegfal-
len der ursprünglichen Bedingungsfaktoren in der Regel eine Tabuisierung
des früheren Selbsthasses, so daß auch ehemals Betroffene ihn von sich aus
nicht mehr erwähnen, wenn sie dazu keinen besonderen Anlaß haben. Den-
noch gibt es Hinweise auf entsprechende Identitätsprobleme auch bei einigen
anderen Schülern: Stents Klassenkamerad S. W. meint ebenfalls, daß er bei
der Hitlerjugend mitgemacht hätte, wenn man ihn nur gelassen hätte. Und der
fast gleichaltrige W. S. war Mitglied im Schwarzen Fähnlein und kann über
seine Mitgliedschaft in diesem deutschnationalen jüdischen Jugendbund, der
seiner Meinung nach teilweise auch eine Hitlerjugend-Imitation war, heute
nur noch entsetzt den Kopf schütteln. (Gespräch 1989)
Noch in den Jahren 1935 bis 1938 war es zumindest unter den Jungen in
der Klasse von Gunther Stent durchaus üblich, sich im Spiel gegenseitig mit
antisemitischen Schimpfwörtern zu belegen und antisemitische Spottverse zu
zitieren. (V gl. Stent 1992) Zwischen Selbstironie und Selbsthaß hat es ver-
mutlich keine klare Abgrenzung gegeben.
Das wird aber nicht nur an der PriWaKi oder in der Stent-Clique der Fall
gewesen, sondern auch an anderen Schulen vorgekommen sein, die von
überwiegend assimilierten SchülerInnen besucht wurden.
Der ehemalige Schüler der Berliner jüdischen Goldschmidt-Schule, Peter
Wyden, erwähnt in einer Veröffentlichung im "Spiegel" (Nr. 45/1992) eine
Schulkameradin, die gegenüber Mitschülern immer wieder abgestritten habe,
jüdischer Abstammung zu sein, obwohl daran kein Zweifel bestehen konnte.
Ein anderes Beispiel, das erschüttert, weil es die Selbsthaß-Reaktion eines erst
siebenjährigen Jungen darstellt, wird von dem Schulbuchautor Ernst Löwen-
berg aus dem Jahr 1933 berichtet. Es handelt sich bei dem Kind um seinen
eigenen Sohn:
"Im Sommer 1933 kommt eine Verordnung heraus, daß die Schüler mit dem Hitlergruß
grüßen müssen und das Horst-Wessel-Lied in der Schule zu singen haben. Bisher hatten

192 Theodor Lessing meinte (ebenso wie Gunther Stent im Gespräch 1989): "Es lebt kein
Mensch aus jüdischem Blut, bei dem wir nicht wenigstens Ansätze zum ,jüdischen
Selbsthasse' fänden." (1984, S. 40) Vergleiche dazu auch A. Bein, 1980, Bd. 2, S.
219-221. Hier wird über weitere Aspekte und über Arbeiten zum jüdischen Selbsthaß
berichtet, der als verbreitetes Phänomen gelten kann, wenn man nicht nur seine auf-
fälligen Formen registriert. Ebenso P. Gay 1989, S. 21Off.

287
wir ihm beides untersagt. Er ist nun sehr froh, durch diese Verordnung zur Masse hinzu-
zugehören. Um die gleiche Zeit kommt er mit einem Hakenkreuz ins Zimmer. ,Was bist
du?' ,Ein SA-Mann!' ,Was wollen Sie denn?', fragt der Vater. ,Ihnen mitteilen, daß Sie
entlassen sind ... ' (Zit. in Weiss, 1991, S. 25)
Selma Schiratzki, die Leiterin der damaligen zionistischen Volksschule Ry-
kestraße in Berlin, beschreibt folgende Szene:
,,1939. Der Beginn des Schuljahres brachte ein neues Verhängnis. Auch alle christlichen
Schüler jüdischer oder halbjüdischer Herkunft hatten die öffentliche Schule zu verlassen
und mußten in die jüdische Schule aufgenommen werden. Die christlichen Eltern wehrten
sich natürlich gegen diesen Beschluß, machten Gesuche über Gesuche, mußten aber
schließlich doch nachgeben; und eine Anzahl Kinder, die gestern noch im Hitlergeist er-
zogen worden waren, zogen in die ,Judenschule' ein. Da kam u.a. ein kleiner Junge in un-
sere Schule, der am 9. November eifrigst Steine in unsere Fensterscheiben geworfen hatte
und von dem die christliche Mutter mir wütend erklärte: ,Das kann ich Ihnen sagen, das
ist der größte Rischeskopf, den Sie sich vorstellen können. ,,193

Dennoch kam es bei den meisten Schülern und vor allem bei den Schülerin-
nen nicht zu offenen Ausbrüchen von Selbsthaß, denn vieles fraßen die
Schüler in sich hinein, weil - wie auch bei den PriWaKi-Schülern gezeigt
worden ist - sie auch die Verunsicherung ihrer Eltern bemerkten und von ih-
nen entweder keine Hilfe erwarteten oder sie nicht auch noch zusätzlich be-
lasten wollten. Die Gefühle und das Verhalten der jüdischen Kinder hat Mar-
tin Buber in seiner ausdrucksstarken Sprache schon im Mai 1933 so formu-
liert:
"Die Kinder erleben was geschieht und schweigen, aber nachts stöhnen sie aus dem
Traum, erwachen, starren ins Dunkel: die Welt ist unzuverlässig geworden. Man hatte ei-
nen Freund, der Freund war selbstverständlich wie das Sonnenlicht. Nun plötzlich sieht er
einen fremd an, die Mundwinkel spotten: Hast du dir etwa eingebildet, ich mach mir
wirklich etwas aus dir? ( ... ) Das Kind ängstigt sich, aber es kann seine Verängstigung kei-
nem sagen, auch der Mutter nicht. Das ist nicht etwas, was sich sagen läßt. Es kann auch
keinen fragen. Niemand weiß ja Bescheid, warum alles so ist wie es ist. Das Kind empört
sich, aber für diese Empörung gibt es keinen Ausbruch, sie schlägt in die Tiefe zurück.
Das ist eine Leidenschaft, die nicht auflodern darf; sie schwellt und verdirbt. Die Seele
mündet nicht mehr in die Welt, sie verstockt sich. So wird man schlecht." (Zit. in Weiss
1991, S. 119)
Adolf Leschnitzer, der den Erziehungsausschuß der "Reichsvereinigung"
geleitet hat, befürchtete ebenfalls schon 1933, daß selbst jüdische Erwachse-
ne "an die Wahrheit aller (antisemitischen - W.F.) Vorwürfe und Beschuldi-
gungen glauben" könnten und befürchtete Schlimmes für die Psyche der
Kinder:
"Wenn schon der Erwachsene in dieser Weise gefährdet ist, um wieviel mehr das Kind,
um wieviel mehr vor allem der Jugendliche in den Entwicklungsjahren, in denen schon an
und für sich die innere Sicherheit leicht zu erschüttern ist und in denen alles darauf an-
kommt, daß die noch zarte und leicht verwundbare Psyche des jungen Menschen nicht

193 Zitiert in A. Ehmann u.a. 1988, S. 288. Das Wort ,Rischeskopf' stammt aus dem
Jiddischen und bezeichnet einen fanatischen Antisemiten.

288
Narben davonträgt, die die Charakterbildung für das gesamte Leben unheilvoll beeinflus-
sen können. Wie entsetzlich, wenn in den Seelen junger Juden sich der Gedanke festsetzt:
Es ist eine Schande, es ist ein Fluch, daß ich in die Gemeinschaft hineingeboren bin; ich
schäme mich Jude zu sein." (JÜd. Rundschau, 20.9.1993)

Die Bemühungen um eine jüdische Erziehung

"Eltern, Erzieher", - so fragte Martin Buber - "was ist gegen das Schlecht-
werden, gegen das ,Ressentiment' zu tun?" (Zit. in Weiss 1991, S. 25) Im
Grundsatz war die Antwort allen Pädagogen klar: Eine jüdische Erziehung,
die letztlich zu einer positiven Identifizierung mit dem Judentum führen
müßte, schien das Gebot der Stunde zu sein. Dies galt ab Ostern 1934 auch
für die PriWaKi. Doch bei der Ausgestaltung und in den Zielen der jüdischen
Erziehung gab es in den 30er Jahren auch Widersprüche und Veränderungen,
gerade auch in bezug auf die anzustrebende jüdische Identität. Dies läßt sich
an den unterschiedlichen Erziehungszielen in den Richtlinien für die Volks-
schulen der Jahre 1934 und 1937 aufzeigen, die auch richtungsweisend für
die PriWaKi gewesen sind. 194 In den am 15. Januar 1934 beschlossenen Richt-
linien ist die Handschrift der liberalen Vertreter des Centralvereins noch
deutlich erkennbar, denn es heißt dort bei den Allgemeinen Zielen zuerst:
"Die jüdische Schule erfährt ihre besondere Prägung aus dem doppelten Urerlebnis, das
jedes in Deutschland lebende jüdische Kind in sich trägt: dem jüdischen und dem deut-
schen. Diese beiden Grunderlebnisse sind gleichmäßig zu entwickeln und ins Bewußtsein
zu heben; sie sind in ihrem Neben- und Miteinander wie auch in ihrer Spannung fruchtbar
zu machen und zu entfalten." (Zit. in Weiss, 1991, S. 157f.)
Hier wird also mit dem Wunsch vom "doppelten Urerlebnis" die deutsch-
jüdische Identität der liberalen Juden aufrechterhalten und sogar zum Lern-
ziel erklärt. Dahinter standen der Wunsch und die Hoffnung, weiter in
Deutschland bleiben zu können. Erst in der überarbeiteten Fassung der Richtlinien
von 1937 verschwand dieses Lernziel; die Illusion von einem deutsch-jüdischen
Zusammenleben war nun auch bei den meisten liberalen Juden einer nüch-
ternen Betrachtung der Realität gewichen. Nunmehr war die Erziehung zu
einem ungebrochenen jüdischen Bewußtsein als oberstes pädagogisches Ziel
nicht mehr umstritten. Entsprechende Teilziele waren allerdings auch schon
in den Lehrplänen von 1934 enthalten, wenn auch im Rang dem "doppelten
Urerlebnis" untergeordnet. So hieß es sowohl 1934 als auch 1937:
"Die Schule soll von einem sich selbst begreifenden jüdischen Geiste durchdrungen sein.
Das heranwachsende Kind soll seines ludeseins in gesundem Bewußtsein sicher werden;

194 Die Lehrpläne wurden entwickelt vom Erziehungsausschuß der "Reichsvertretung


der luden in Deutschland", wobei ein Komprorniß gefunden werden mußte zwischen
Liberalen, Konservativen und Zionisten. Die L